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Full text of "Vierteljahrsschrift Für Gerichtliche Medizin Und Öffentliches Sanitätswesen ( 3. F.) 28.1904"

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Yiertelj ahrsschrift 

für 

gerichtliche Medizin 

und 

öffentliches Sanitätswesen. 


Unter Mitwirkung der Königl. wissenschaftlichen Deputation 
für das Medizinalwesen im Ministerium der geistlichen, 
Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten 

herausgegeben 


Dr. A. L. Schmidtmann, und Dr. Fritz Strassmann, 

Prof.. Qeb. Ober-Med.- u. vortr. Rat im Kgl. Prenss. Gerichtsarzt, a. o. Professor und Direktor der 
Ministerinm der geistlichen, Unterrichts- nnd Königl. Unterrichts-Anstalt für Staatsanuiei- 

Medizinal-Angelegenheit$n. knnde zu Berlin. 


Dritte Folge. XXVIII. Band. 

Jahrgang 1904. 


BERLIN, 1904. 

VERLAG VON AUGUST HIRSCHWALD 

NW. UNTEU DEN LINDEN «8. 

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Inhalt. 


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Seite 


1. Gerichtliche Medizin 


1—101. 219—;i23 




1. Aus der Ostpreussischen Provinzial-lrrenanstalt Kortau (Sanitätsrat 
Dr. Stoltenhoff): Die Diagnose der plötzlichen idiopathischen 
Todesfälle im Anschluss an einen Fall von tödlicher Ruptur einer 


Kranzarterie. Von Dr. A. Ehrhardt, leitendem Arzt der Anstalt 

für Epileptiker, Carlshof bei Rastenburg. 1 

2. Zur Lehre von der Rückenmarkserschütterung. Erwiderung an Herrn 
Dr. Schäffer-Bingen. Von Professor Dr. P. Stolper, Kreisarzt 
in Göttingen. in 


3. Aus der Unterrichtsanstalt für Staatsarzneikunde zu Berlin (Direktor: 
Professor Strassmann): Zur Frage des Nachweises individueller 
Blutdifferenzen. Von Dr. Ernst Ehrnrooth, Dozent für patho- 


logische Anatomie in Helsingfors (Finland). 04 

4. Pachymeningitis externa fungosa. Von Medizinalrat Dr. Braun, 

Gerichtsarzt in Elberfeld. 71 

5. Ueber den gegenwärtigen Stand der Frage des sog. Shoks als Todes¬ 
ursache. Von Dr. Georgii, Oberamtsarzt in Maulbronn ... 78 

6. Simulation und Geistesstörung. Von Dr. H. Hoppe, Nervenarzt in 

Königsberg. (Schluss). 91 

7. Ans dem gerichtlich-medizinischen Institute der K. K. Jag.-Univer- 
sität in Krakau: Experimentelle Studien zur Lehre vom Ertrinkungs¬ 
tod. Von Prof. Dr. Leo Wachholz, Vorstand des Institutes und 

Dr. Stefan Horoszkiewicz, Assistenten am Institut .... 219 

8. Aus dem Institut für gerichtl. Medizin der Kgl. Universität Pavia. 

(Leitung: Prof. Filomusi-Guelfi.) Nachweis des Strychnins in 

den Knochen. Von Dr. Angelo De Dominicis, Assistent . . 284 

9. Ein strittiger Fall von sogen. Kontusionspneumonie infolge von 

Ueberschreitung des Züchtigungsrechts seitens eines Lehrers. Von 
Sanitätsrat Dr. Kob, Stolp i. Pom. 288 

10. Simulation oder Geistesstörung? Von Dr. Mönkemöller, Oberarzt 

an der Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt zu Osnabrück . . . 296 

11. Oeffentliches Sanitätswesen. 102—172. 324—40. r > 

1. Gutachten der Königl. Wissenschaftl. Deputation für das Medizinal¬ 
wesen betreffend die Absonderung der Typhuskranken in Kranken¬ 
anstalten. Referent: Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Kraus, Korreferent: 

Geh. Ober-Med.-Rat Prof. Dr. Kirchner . 102 

2. Die Bedeutung der Verseuchung unserer öffentlichen Gewässer und 

der hierdurch bewirkten Verbreitung des Typhus und des Milz¬ 
brandes. Von Dr. Krohne, Kreisarzt in Grosskamsdorf . . . 107 


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Seite 


3. Nach welchen Grundsätzen hat die staatliche Uoborwachung der 

zentralen Wasserversorgungen seitens der Medizinalbeamten statt¬ 
zufinden? Von Stadtarzt Dr. Schrakamp, Kreisarzt für den Stadt¬ 
kreis Düsseldorf. 131 

4. Ueber die für das Puerperalfieber in Betracht kommenden Mikro¬ 
organismen und die Prophylaxe der Krankheit vom sanitätspolizei¬ 
lichen Standpunkt. Von Dr. Hugo Marx, Assistent der Unter- 

, richtsanstalt für Staatsarzneikundo zu Berlin .. 149 

f). Jahresbericht der Königlichen Versuchs- und Priifungsanstalt für 
Wasserversorgung und Abwässerbeseitigung für das Jahr vom 


1. April 1903 bis 31. März 1904 . 1G5 

6. Die Bekämpfung der Impfgegnersohaft. Von Dr. Berger, Kreisarzt 

in Hannover, Dirigent der Königl. Anstalt zur Gewinnung tierischen 
Impfstoffes.. 324 

7. Welche Anforderungen sind vom hygienischen Standpunkte an die 
Unterbringung der Mannschaften auf Kauffahrteischiffen zu stellen? 

Von Dr. med. Karl Opitz . 334 

8. Ueber die für das Puerperalfieber in Betracht kommenden Mikro¬ 

organismen und die Prophylaxe der Krankheit vom sanitätspolizei¬ 
lichen Standpunkt. Von Dr. Hugo Marx, Assistent der Unterrichts¬ 
anstalt für Staatsarzneikunde zu Berlin. (Schluss). 3f>2 

III. Besprechungen, Referate, Notizen .... 173—191. 40(1-434 

IV. Amtliche Mitteilungen . 192—218. 433-438 


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I. Gerichtliche Medizin. 


1. 

Aus der Ost.preussischen Provinzial - Irrenanstalt Kortau. 

(Sanitätsrat Dr. Stoltenhoff.) ' 

Die Diagnose der plötzlichen idiopathischen Todes¬ 
fälle im Anschluss an einen Fall von tödlicher 
Ruptur einer Kranzarterie. 

Von 

Dr. A. Ehrhardt, 

leitendem Arzt der Anstalt für Epileptiker, ('«rlsfiot bei Kastenburg. 

In der Literatur, wie sie uns in den Yirchow - Hirsclrschcn 
Jahresberiehten vorliegt, findet sieh nur ein einziger Fall von Ruptur 
einer Kranzarterie veröffentlicht. 

Auch die Handbücher von Rosenbach, Fräntzel, v. Sehrötter, 
Krehl und die einschlägigen Aufsätze über Sklerose der Koronar¬ 
arterien von Leyden u. a. erwähnen weder diesen, noch einen ähn¬ 
lichen Fall. 

Nach Oglie, welcher denselben im Jahre 1867 in den _St. Georges 
Hospital Reports“. Bd. II unter der Ueberschrift: „On a case of dcatli 
from haemorrhage into the pericardium“ beschreibt. war folgendes 
(I a ran bem erkensweri. 

Ein 26jähriger Grobschmied, welcher mehrfach Neigung zu rheu¬ 
matischen Beschwerden gezeigt hatte und mit den Erscheinungen auf¬ 
geregter Herztätigkeit, einem unregelmässig intermittierenden Pulse 
von 104, einem systolischen Geräusche an der Herzspitze, in schlechtem 
Ernährungszustände, aber ohne Oedeme, in das Hospital eingeliefert 
worden war, verstarb am nächsten Tage, ohne dass die klinische 
Beobachtung genügendes Material für die Diagnose der Erkrankung 
geliefert hätte. 

Der Patient war im Spital zweimal wegen Leibschmerzen zu 
Stuhl gegangen und beide Male in liefe Ohnmacht gefallen; kurz 
darauf trat der Tod ein unter hochgradiger Dyspnoe, ohne Konvulsionen. 

Bei der Sektion fand sich im Herzbeutel eine reichliche Menge 

Vierteljthrsfichrifl f. ger. Med. u. öff. San.-Wesen. 3. Folfre. XXVIII. 1. j 

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Dr. A. Khrhardt, 

IVstcr BliitgmnnsiL Das Il<*rz war schlaff: die Aortenklappen waren 
stark verdickt. An drei Stellen des Herzens lagen Aneurysmen vor. 
Zwei davon waren erbsengross; das eine lag in der Mitte der linken 
Herzkante und stand mit dem in seinem vorderen Abschnitte sklero- 
sierten Lämrsaste der linken Kranzarterie in Verbindung. Das zweite 
sass ebenfalls an der vorderen Fläche, nahe der Wurzel der Pulmonal- 
arterie. und gehörte einem völlig sklerosierten und obturierten Längs- 
aste der rechten Kranzarterie an. Beide waren im Uebrigen \öllig 
um ersehn. Das dritte Aneurysma war haselnussgross und geplatzt. 
Dasselbe lag an der rechten Herzkante im Sulcus eornnarins und 
stand in offener Verbindung mit einem sonst durchaus gesunden und 
völlig wegsamen Längsaste der rechten Kranzarterie. 

Oglie war geneigt, diese Aneurysmen auf trübere hypnstaiisehe 
Kmbolien oder Thrombosen der Kranzarterien zurüekzutiiliren. 

Der von mir beobachtet-e Fall war ftdgender: 

Patient wurde im Mai 1900 in die Irrenanstalt Kortau aufgenommen. Kr war 
07 Jahre alt und von Beruf Lehrer. Im Alter von 24 Jahren machte er einen schweren 
Typhus mit meningitischen Symptomen durch, infizierte sich drei Jahre später 
luetisch und wurde in der Folgezeit mehrfach mit Schmierkuren behandelt. Er 
heiratete 3 Mal, zuerst im Alter von 23 Jahren, und erhielt aus dieser Ehe 
12 Kinder, von denen die ersten 5 am Leben geblieben sind, während die 7 letzten 
teils tot. teils zu früh geboren wurden, teils im ersten Lebensjahre verstorben 
sind. Ein einziges wurde 4 Jahre alt. Eine zweite im Alter von 46 Jahren ge¬ 
schlossene, nur 7 Monate dauernde Ehe blieb kinderlos, desgleichen die dritte. 

Patient war körperlich schwächlich, geistig gut veranlagt und hat 41 Jahre 
lang, zuletzt als erster Stadtschullehrer und Organist in einer kleinen Stadt Ost- 
preussens gewirkt. 

Im Jahre 1880 liess er sich auf mehrere Monate, wegen hochgradiger Nervo¬ 
sität, beurlauben. Dieses Leiden steigerte sich allmälig immer mehr, so dass er 
im Oktober 1894 unter überaus ehrender Anerkennung seiner Tätigkeit seitens 
der Stadt pensioniert wurde. 

Patient hat stets eine massige, enthaltsame Lebensweise geführt: es lag 
keine Veranlassung vor, seine Nervosität auf Trunksucht, Epilepsie oder Schädel¬ 
verletzungen zurückzuführen. Da sich die Krankheit allmälig bis zu hochgradiger 
geistiger Verwirrung steigerte, führte ihn seine Frau im Mai 1900 der Irrenanstalt zu. 

Patient war von massig kräftigem Knochenbau und befand sich in massigem 
Ernährungszustände. Fieber bestand nicht. Dagegen zeigte Patient anhaltende 
Kurzatmigkeit, welche sich häufig zu äusserst heftigen Anfällen von Angina pectoris 
steigerte. An den Arterien fand sich überall starke Sklerose. In den anfallsfreien 
Zeiten war der Puls kaum beschleunigt, 80 Schläge in der Minute, und zwar voll, 
aber wenig hebend, während der Anfälle auf ö0—00 Schläge herabgesetzt und 
unregelmässig. Im Gesicht bestand leichte Cyanose. Ifydropische Erscheinungen 
fehlten. Die Haut zeigte sich am ganzen Körper, vom Gesicht bis zu den Zehen 


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Die Diagnose der plötzlichen idiopathischen Todesfälle etc. 


guirlandenartig gestreift, indem sie teils völlig pigmentfrei, anfallend weiss, teils 
stark braun verfärbt war. Die absolute Herzdämpfung war stark verbreitert; nach 
links reichte sie einen Finger breit über die linke Mammillarlinie hinaus, nach 
rechts bis znm rechten Brustbeinrande. Ihre obere Grenze stand an der vierten 
Hippe. Eine relative Dämpfung, wie sie beim beginnenden Aortenaneurysma 
oberhalb des Herzens zu besteben pflegt, war nicht nachzuweisen. Ueber der 
Aorta hörte man ein massig lautes diastolisches Geräusch, der zweite Pulmonalton 
war stark accentuiert, paukend, der Spitzenstoss erschien beim Botasten verbreitert. 
Die Herztöne waren überhaupt auffällig laut. 

Die Lungengrenzen standen links wie rechts an der 7. Rippe, waren aber 
beim Inspirium kaum verschieblich. Der Lungenschall war leicht tympanitisch, 
das Atemgeräusch rauh, von Giemen und leisem Pfeifen begleitet. Patient klagte 
über Rauhigkeit auf der Brust und hustete etwas schleimiges, nicht eitriges Sputum 
aus. An Leber und Milz war klinisch nichts Auffälliges nachweisbar. Dagegen 
enthielt der Harn eine Spur Eiweiss und spärliche hyaline Zylinder, keinen Zucker. 
Am Penis trat die erwähnte guiriandenartige Hautfärbung ebenfalls recht auffallend 
hervor. • An der Innenseite der Vorhaut zeigte sich eine unscheinbare leichte, 
hellere Verfärbung, ähnlich einer luetischen Narbe, doch war eine solche nicht 
deutlich nachweisbar. Die Hoden waren sehr klein, taubeneigross und recht derb. 

Der Schädel war von normaler Form, ohne Zeichen früherer Verletzungen 
oder Erkrankungen. Störungen der Sinnesorgane, der Sprache, der Sensibilität 
und der Reflexe waren nicht vorhanden. Dagegen bestand von motorischen Ano¬ 
malien ein hochgradiger Tremor, so dass Patient seinen Namen nicht mehr lesbar 
.schreiben konnte. 

In geistiger Beziehung offenbarte sich eine bedeutende Schwäche des Ge¬ 
dächtnisses und eine allgemeine ängstliche Unruhe. Patient wusste sich zwar auf 
die oben erwähnten Daten seines Lebens zu besinnen, doch waren ihm insbesondere 
die Jahreszahlen der Ereignisse entfallen. 

So behauptete er, im April 1833 geboren zu sein, den Tag könne er nicht 
nennen, das sei für sein Gedächtnis zu viel, ln Wahrheit fiel sein Geburtstag auf 
den 13. Oktober jenes Jahres. 

Das Todesjahr seiner ersten Frau vermochte er nicht mehr zu berechnen; 
er behauptete, dies läge 20 Jahre zurück und rechnet dann auf wiederholtes Be¬ 
fragen 1897 als Datum aus. Die Daten seiner zweiten und dritten Hochzeit seien 
seinem Gedächtnis gleichfalls entschwunden. Ebensowenig habe er sich die Namen 
der Anstaltsärzte gemerkt. 

Alles dies entschuldigte er mit seinei grossen Gedächtnisschwäche. 

In seinem Benehmen offenbarte sich eine grosse nervöse Hast und Unruhe. 
Er erzählte fortwährend endlose, wirre Geschichten und schwatzte in einem fort, 
so dass er oft in kurzer Zeit die ganze Krankenstube in die gleiche Unruho ver¬ 
setzte. Auch nestelte er fortwährend an seinen Kleidern herum, oder bemalte 
Tische und Stühle mit Tinte und Kreide. Während der Nächte schlief er, trotz 
aller Schlafmittel, selten mehr als eine Stunde. Während der übrigen Zeit sass 
er aufrecht im Bett und sprach in einem fort. Seine Gespräche handelten von 
seinen früheren Erlebnissen, von den Beschwerden des Lehrerberufes. von seiner 
40jährigen Lehrtätigkeit und den Auszeichnungen, die ihm die Stadt boi seinem 
40jährigen Dienstjubiläum zu teil werden Hess. 

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Dr. A. Ehrhardt. 


Nur dem Arzte gegenüber klagte er, dass er öfters an Herzklopfen, Schwindel, 
Schmerzen in der Brustbeingegened und im linken Oberarm, sowie an höchster 
Atemnot leide. 

„Fühlen Sie nur, Herr Doktor, wie mein Herz klopft; ich muss mich so 
garnicht aufregen, damit ich daran nicht leide; ich komme so leicht ausser Atem; 
warm baden kann ich mich garnicht; ich muss mich wirklich ruhig verrhalten,“ 
äussorte er, und konnte doch keinen Augenblick im Bett still liegen oder sitzen. 
Fortwährend musste er sprechen oder sich im Bette herumwälzen, oder an seinen 
Bettdecken etwas glätten und ordnen. Täglich ereignete es sich ein oder mehrere 
Male, zur Tages- wie zur Nachtzeit, dass Patient plötzlich aus dem Bette heraus¬ 
sprang und mit lauten Hülferufen ganz verstört und angsterfüllt zur Tür lief, wie 
wenn er lliehcn wollte: „Hülfe! Feuer! Feuer!“ rief er dann oder er stürzte dem 
Arzt in höchster Atemnot und Todesangst entgegen mit den Worten: 

„Retten Sie mich, Excellenz!“ Wenn man ihn genauer ausfragte, so klagte 
er: „Mich hat Jemand soeben erwürgen wollen; man würgt mich Tag und Nacht; 
cs bedrückte mir Jemand die Brust; man hat mir mit einem Beilhiebe den Kopf 
spalten wollen; ich habe wieder Kopfschmerzen, als wenn mir der Kopf springen 
will“ u. a. in. Ein anderes Mal erklärte er das Essen für vergütet. Auch ver¬ 
suchte er wiederholt, sich mit einem Halstuche zu erwürgen. Gewöhnlich betätigte 
er lebhaften lleisshunger, sodass er in der Anstalt 6—8 kg an Gewicht zunahm. 
Sein Stuhlgang war recht erschwert; täglich ging er 6—8 Mal auf das Klosett. 
Oft steigerte sich die ängstliche Verwirrung bis zur Tobsucht, sodass er wiederholt 
isoliert werden musste. 

In der Nacht vor seinem Tode, welcher am 6. Oktober 1900 eintrat, war 
Patient besonders unruhig. Morgens um 3 Uhr erwachte er und erzählte: 

„Heute ist Sonntag,“ während es in Wirklichkeit ein mittlerer Wochentag 
war, „heute würde sich noch etwas Besonderes ereignen.“ Dann ging er um 
3 Uhr 15 Min. und 6 Uhr 30 Min. auf das Klosett. Um 7 Uhr erhielt er eine Tasse 
Kaffee; blieb dann im Bett, sprach viel und besah zuletzt Bilder in einer Zeitschrift. 
Um 9 Uhr gab es Frühstück. Schon beim ersten Bissen fiel Patient plötzlich in 
Ohnmacht und aus dem Bette heraus auf den vorgestreckten rechten Arm. 

Im gleichen Augenblick fing ihn auch der Wärter auf und legte ihn ins Bett 
zurück. Sofort erfolgte eine Entleerung von Kot und Urin. 

In diesem Zustande sah ich den Patienten. Sein Gesicht war dunkelrot, 
cyanotisch, die Atmung stark dyspnoisch. Der Puls verlangsamt, 60 Schläge, 
unregelmässig; die Herztöne laut, das diastolische Aortengeräusch deutlich hörbar. 
Die Herzdämpfung war dieselbe wie früher beschrieben. Auf der Lunge hörte ich 
Giemen und Pfeifen. Patient lag ganz schlaff, wie völlig erschöpft da; das Be¬ 
wusstsein war fast erloschen; Patient griff sich mit der rechten Hand bald an den 
Hinterkopf, bald nach dem Herzen und murmelte in einem fort: „Herr Jesus, ach 
der Kopfschmerz! Meine Mutter! Hülfe!“ Nachdem dieser Zustand etwa eine 
halbe Stunde gedauert hatte, traten klonische Krämpfe ein, zuerst als schwache 
Zuckungen und leichte motorische Unruhe im rechten Arm und den Beinen. 

Dann verstärkten sich die Krämpfe allmälig; sie traten schliesslich alle 
2 Minuten auf und entsprachen völlig den gewöhnlichen Verblutungskrämpfen. 

Patient warf den Kopf mit einem Buck in den Nacken und krümmte den. 


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L>ie Diagnose der plötzlichen idiopathischen Todesfälle etc. 


ganzen Rumpf hintenüber; gleichzeitig zeigten sich kräftige Schüttelkrämpfe im 
rechten Arm und den Beinen. Nur der linke Arm war ganz schlaff und blieb 
unbeweglich. Patient wurde massig cyanotisch, völlig soporös, der Puls wurde 
klein und beschleunigt, 120 -140. Die Herzdämpfung verbreiterte sich, sodass sie 
bis zur linken vorderen Axillarlinie und 2 Finger über den rechten Sternalrand, 
nach oben bis zur dritten Rippe reichte. Die Herztöne waren über der Spitze und 
Basis unhörbar. Desgleichen das diastolische Aortengeräusch. 

Auf den Lungen, deren Grenzen unverändert bei der siebenten Rippe blieben, 
hörte man feuchtes, klangloses Rasseln. Die Atmung wurde hochgradig dyspnoisch; 
schliesslich trat Cheyne-Stokes’sches Atemphänomen auf. 

Die Krämpfe hielten 2y 2 Stunden an und waren so heftig, dass Patient oft 
aus dem Bette gefallen wäre, wenn ihn die Wärter nicht ins Bett zuriiekgedrangt 
hätten. Auch erfolgte noch mehrmals Entleerung von Kot und Urin. Erbrechen 
blieb aus. Um 3 / 4 12 Uhr hörten die Krämpfe auf, die Cyanose verschwand aus 
dem Gesichte des Patienten; er wurde kreideweiss und sank matt in die Kissen 
zurück. Er atmete nur noch ganz oberflächlich, leicht hauchend, Trachcalrasseln 
trat auf. 12 Uhr 10 Min. nachmittags war Patient tot. 

Am folgenden Tage fand die Sektion statt. Ihre Ergebnisse waren folgende: 

Die Leiche gehört einem mittelgrossen Manne an; Körperlänge beträgt 1,03m: 
das Körpergewicht 59 kg. Totenstarre besteht am ganzen Körper. Der Rücken 
der Leiche ist durch hypostatisebe Blutfüllung allgemein blass blaurot verfärbt. 
Die Bauchseite ist von blassgelblichcr Farbe. Die Körperöffnungen sind frei von 
Fremdkörpern; Kopf, Rumpf und Gliedmassen weisen keine Verletzungen auf. Das 
Unterhautfettgewebe ist mässig reichlich entwickelt; die Körpermuskulatur ist 
dunkelbraun, gleichmässig durchscheinend, nicht verfettet, auch nicht brüchig. 

Mund, Rachen, Speiseröhre und Kehlkopf enthalten weder Fremdkörper, 
noch zeigen sie irgendwelche Abweichungen vom normalen Bau, insbesondere 
finden sich keine luetischen Gaumennarben. Die Schilddrüse ist von mittlerer 
Grösse und zeigt starke venöse Hyperämie. 

Die Halsarterien stellten starre Kalkröhren dar. Die Halswirbelsäule ist 
unversehrt. Das Brustbein ist stark gewölbt, auffallend starr, unelastisch und 
lest. Das Zwerchfell steht beiderseits bei der 6. Rippe. Die Organe der Bauch¬ 
höhle liegen in normaler Anordnung vor: die Därme sind mässig meteoristisch 
gebläht, grauweiss; ihr Bauchfellüberzug spiegelt allenthalben und zeigt nirgends 
petechiale Blutungen. Die Bauchhöhle ist frei von Flüssigkeit. An dem heraus¬ 
genommenen Brustbein zeigen sich auch auf der Innenseite keine Abweichungen 
von der normalen Form, insbesondere keine grubenförmigen Vertiefungen oder 
irgendwelche Rauhheiten. 

Die venösen Gelasse des Brustbeins stellen federkieldicke, dunkelblaurote 
Stränge dar. Nach Eröffnung der Brusthöhle findet sich ihr ganzer Bereich, so 
weit er hinter den Rippenknorpeln liegt, eingenommen vom Herzbeutel und darüber 
vom Mittelfell. 

Beide Lungen sind bis zur vorderen Axillarlinie zurückgedrängt. Der Herz¬ 
beutel ist fettarm, durchscheinend, prall gespannt; die Herzbeutelhöhle enthält 
1200 ccm dunkelroten, fast schwarzen, teils flüssigen, teils zu lockeren Klumpen 
geronnenen Blutes ohne Speckhautgerinnsel. Die Innenseite des Herzbeutels weist 


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<’> Dr. A. Ehrhardt, 

keine Narben oder sammelartige Fibrinbeschliige auf: auch zeigen sicli nirgends 
petechiale Blutungen. Das Herz ist doppelt so gross als die rechte Faust der 
Leiche. Sein Gewicht betrug, wie später festgestellt wurde, 453 g. Es ist von 
stumpfkegclförmiger Gestalt. An der Bildung der Herzspitze beteiligt sich nur 
der linke Ventrikel. Die Länge der Herzkammern beträgt 12 cm, ihre basale Breite 
11 cm, ihre Dicke 6 cm. Das Herz ist völlig unversehrt, zeigt nirgends eine an¬ 
eurysmaartige Ausbuchtung, auch keine Zerreissung. Der linke Ventrikel ist starr 
kontrahiert, auffallend brettartig hart; der rechte Ventrikel ist gleichfalls gut kon¬ 
trahiert; beide Vorhöfe und Herzohren sind zusammengefallen. Das Perikard ist 
zart, durchscheinend, nirgends narbig verändert oder zerrissen. Auch zeigt es 
nirgends, ausser an der später erwähnten Stelle, petechiale Blutungen oder Fibrin¬ 
beschläge. Das subepikardiale Fettgewebe ist mässig reiohlich. 

Beide Hauptstämme der Kranzgefässe sind stark geschlängelt und stellen 
federkieldicke, starre, vollständig verkalkte Böhren von 2—3 mm Durchmesser dar. 
Sie sind blutleer. 

Dagegen zeigt sich der sogenannte Kamus circumfluens coronariae sinistrae, 
d. h. der quere Ast der linken Kranzarterie, kurz hinter seinem Abgänge aus dem 
Hauptstamme in einer Länge von 1 1 / 2 cm vollständig zerrissen. 

Der noch bestehende unversehrte Endast des Gefässes ist im Anfang feder¬ 
kieldick und in ein starres, vollständig verkalktes Rohr umgewandelt. An dieser 
Stelle ist das subepikardiale Gewebe des Herzens von klumpig geronnenem Blute 
erfüllt. Das Perikard selbst weist einen queren ovalen Riss von 2 cm Länge und 
1 cm Breite mit unregelmässig zerfetzten Rändern auf. Die Zertrümmerung und 
Durchtränkung des subepikardialen Bindegewobes erstreckt sich von hier in die 
Adventitia und Media der Aorta hinein. Dementsprechend findet sich an der kon¬ 
kaven Seite des Aortenbogens in ihrer Media ein klumpig geronnener Bluterguss, 
welcher den halben Umfang des Gefässes umgreift, und das Gefass über die 
Teilungsstelle der Pulmonalis hinaus verfolgt. Die Länge dieses intermediären 
Blutergusses beträgt 12 cm, die Breite 5 cm, die Dicke im Maximum l 1 /* cm. An 
seiner äusseren Umgrenzung wird er schmäler und löst sich in einzelne stecknadel¬ 
kopfgrosse Blutflecke auf. 

In der Gegend des Aortenostiums hat der Erguss die Adventitia, weiter oben 
die äussere Hälfte der Media von dem Gefässrobre abgelöst. 

Die Vena magna cordis ist blutleer und vollständig unversehrt. 

Beide Herzhälften erweisen sich vollständig blutleer. Die Mitralis ist für 
zwei, die Tricuspidalis für drei Finger durchgängig. Die Aortenklappe lässt auf¬ 
gegossenes Wasser in die linke Herzkammer zurückfliessen, schliesst also nicht 
vollkommen; die Pulmonalis dagegen schliesst gut. Der Herzmuskel ist von 
mässig dunkelbraunroter Farbe, mattglänzend, leicht verfettet und fühlt sich derb 
an; ganz anders als ein infarcierter oder akut entzündlich erweichter Herzmuskel. 
Seine Dicke beträgt am linken Ventrikel überall iy 2 —2 cm, am rechten Ventrikel 
3 mm. Beide Herzhöhlen sind auffallend weit, vom Volumen eines kleinen Apfels. 
Die Herzscheidewand wölbt sich etwas in den rechten Ventrikel vor. Nirgends 
ist die Kammerwand auflallend verdünnt, erweicht (wie bei einem Herzinfarkt) 
oder durch Bindegewebe gebildet. 

Im linken Herzen stellen die Papillarmuskeln 2 cm lange, kleinfingerdicke 


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Die Diagnose der plötzlichen idiopathischen Todesfälle etc. 7 

Pfeiler dar. Auch die Trabekel sind entsprechend verdickt: die Sohnenfäden der 
Mitralis sind 1 cm lang, also verkürzt und stricknadeldick. Die Mitralis selbst 
ist diffus bindegewebig verdickt, porzellanartig undurchsichtig, doch nicht verkalkt, 
auch nicht verkürzt, von glatter Oberfläche und unversehrter Form. Die Aorten¬ 
klappen stellen papierartig dünne, allerdings sehnig-weisse und undurchsichtige, 
elastische, nicht verkalkte, halbmondförmige Segel von völlig glatter Oberfläche 
dar. Auch dio Basis der Aortensegel ist nur wenig sklerosiert. Ebenso erweisen 
sich die Mündungen der Kranzgefässe fasi garnicht arteriosklerotisch verändert; 
die Mündungen besitzen einen Durchmesser von 2 mm, sind also bis auf Feder¬ 
kieldicke erweitert. Dementsprechend sieht man im Umkreise dieser Mündungen 
einen Kranz von feinen radiären Furchen. Die Aorta zeigt sich in ihrem ganzen 
Umfange bis über die Teilungsstelle der Pulmonalis spindelförmig aneurvsmatisch 
erweitert. 

Die M asse ihres Umfanges bis zum Kreuzbein sind folgende: Unmittelbar an 
ihrem Abgänge vom Herzen misst ihr Umfang 12 cm. Diesen Umfang behält die 
Aorta während der ersten 10 cm ihrer Länge; von hier nimmt der Umfang allmälig 
ab und beträgt — 5 cm weiter — nur noch fi cm. An der Teilungsstelle in die 
Arteriae iliacae beträgt derselbe nur noch 5 cm. In ihrem ganzen Verlaufe zeigt 
sich die Aorta hochgradig arteriosklerotisch verändert. Während die Gegend der 
•Sinus Valsalvae auffallend wenig verändert ist und nur eine diffuse bindegewebige 
Verdickung, aber keine Verkalkung oder atheromatöse Erweichung aufweist, zeigen 
sich schon 1 cm weiter hochgradige atheromatöse Veränderungen. Die Intima der 
Aorta ist überall von pfennig- bis markstückgrossen, meist ovalen, beotartig vor- 
springenden Kalkplatten durchsetzt, und auch zwischen diesen grösseren Kalk¬ 
platten ist die Aortenwand starr, von Kalk durchsetzt und von unregelmässig ge- 
wulsteter Beschaffenheit gegen das Lumen hin. Die Oberfläche jener grossen 
Kalkplatten ist zum Teil völlig glatt, zum Teil aber auch etwas zerklüftet. Ob¬ 
wohl sich in 3 oder 4 dieser Kalkplatten im Bereich des Aortenbogens Löcher vom 
Durchmesser einer Stricknadel finden, durchbohrt doch keines dieser Löcher die 
Intima; denn die Intima lässt sich vollständig von der den beschriebenen Bluterguss 
enthaltenden Media ablösen, und wenn man nunmehr die Intima von ihrer Aussen- 
seite betrachtet, so lässt sich an dieser nirgends auch nur das feinste Loch wahr- 
nebmen. 

Der oben erwähnte Bluterguss ist gegen die Intima zu ganz von einer durch¬ 
sichtigen, weisslich glänzenden Haut der Media überzogen. Auch linden sich jene 
Löcher der Innenseite der Aorta am Bogen des Gefässes, während der Bluterguss 
grösstenteils in ihrem aufsteigenden Teile gelegen ist und nur als eine ganz dünne 
Blutschicht sich bis in den Aortenbogen hinaufzieht. Nirgends lässt sich also 
eine Kommunikation des Lumens der Aorta mit dem intermediären Blutergusse 
wahrnehmen. Der Ductus Botalli ist ein sehniges, für Blut völlig undurchgängiges 
und nicht zerrissenes Band. Auch die Wand des rechten Herzens, beider Vorhöfe 
und Herzohren, sowie der Pulmonalis und ihrer Aeste,erweistsich als völligunversehrt. 

Die Pulmonalis ist allerdings erweitert: ihr Umfang betragt dicht oberhalb 
ihres Abganges aus dem Herzen 8 cm. Der Klappenapparat des rechten Herzens 
ist etwas sehnig verdickt: doch stellen die Klappen noch zarte, durchschimmemde 
Häute dar, sind nicht verkalkt, auch nicht in ihrer Gestalt verändert. 


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Df. A. Ehrhardt, 


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Beide Brusthöhlen sind frei von Flüssigkeit; auch bestehen keine abnormen 
Verwachsungen der Lungen mit der Brustwand. Die Lungen sind kollabiert, von 
sehr geringem Volumen. Beide bieten annähernd das gleiche Bild. Sie sind von 
dunkelgrauer, fast schwarzer Farbe. Die Oberlappen enthalten nur wenig Blut; 
die Unterlappen sind luftleer und fühlen sich lederartig zäh an. Abnorme Infil¬ 
trationen des Lungengewebos bestehen nicht. Auf dem Durchschnitt erscheint 
das Gewebe dunkelgrau, trocken. Bei Druck tritt aus dem Oberlappen sehr spär¬ 
liche, dunkelrote Blutflüssigkeit mit wenigen Gasblasen hervor; aus dem Unter- 
lappen lässt sich fast gar keine Flüssigkeit ausdrücken. Die Bronchialdrüsen sind 
erbsengross, anthrakotisch. Die Bronchien lassen sich mit der Schere bis zur 
Peripherie der Lungen aufschneiden, sind also erweitert; ihre Schleimhaut ist- 
trocken; Oedemflüssigkeit findet sich in den Bronchien nicht. 

Die Lungenarterien und Venen sind völlig leer von Blut- und Fibrin¬ 
gerinnseln. 

Die Bauchhöhle ist frei von Flüssigkeit. Ihre Organe zeigen die gewöhnliche 
Anordnung. Die Därme sind massig meteoristisch gebläht. Die Milz ist von 
zungenförmiger Gestalt. Ihre Länge beträgt 11, ihre Breite 6, ihre Höhe 4 cm; 
ihr Gewicht ist 139 gr. Die Konsistenz ist auffallend lederartig derb, Farbe 
dunkelgrau, fast schwarz. Die dem Zwerchfell zugekehrte Oberfläche ist zur Hälfte 
von einer schwieligen, unregelmässig zackig begrenzten, gelblich weissen, narbigen 
Verdickung der Milzkapsel eingenommen, die auf dem Durchschnitt 1 mm dick ist, 
aber von der Substanz der Milzpulpa sich scharf abgrenzt. Die Milzpulpa tritt 
etwas unter das Niveau der Schnittfläche zurück, ist von schwarzroter Farbe; die 
Trabekel sind mächtiger entwickelt, als das Lymphgewebe und stellen fast milli¬ 
meterdicke Stränge dar, die nur durch stecknadelkopfgrosse Beste von Lymph¬ 
gewebe getrennt sind. 

Auf Druck entleert sich von der Schnittfläche ziemlich viel teerartig dunkles, 
schwerflüssiges Blut. 

Beide Nieren zeigen das gleiche Aussehen. Ihre Fettkapsol ist miissig reich¬ 
lich entwickelt; ihre Gestalt ist die gewöhnliche; die Länge einer jeden beträgt 12, 
die Breite 11, die Dicke 6 cm, ihr Gewicht je 162 g. Die Kapsel lässt sich leicht 
von der Nierenoberfläche abziehen. Die Nierenoberfläche zeigt sich grob granuliert, 
die Konsistenz der Nieren ist brettartig derb, die Farbe schwarzrot. Auf dem 
Durchschnitt zeigt sich dieselbe Farbe; aus den durchschnittenen Gelassen tritt 
reichlich schwärzlichrotes Blut hervor; die Rinde ist etwas verschmälert, 2—3 mm 
breit, ihre Glomeruli an Zahl sehr vermindert; die Marksubstanz lässt sich deut¬ 
lich von der Rindensubstanz unterscheiden, obwohl beide dieselbe Hyperämie und 
schwarzrote Farbe zeigen. Das Nierenbecken ist frei von Fremdkörpern. Die 
Nierenarterien sind, wie die gesamten Körperarterien, stark sklerotisch verdickt 
und verkalkt; die Nierenvenen enthalten dunkles Blut. Die Nebennieren zeigen 
das gewöhnliche Verhalten, nur sind sie ebenfalls hyperämisch und dunkelrot 
gefärbt. Die Harnblase, Vorsteherdrüse und die Ureteren weisen keine Abnormi¬ 
täten auf. Der Penis zeigt die schon zu Lebzeiten nachgewiesene undeutliche 
Vorhautnarbe. Die Hoden sind sehr klein, taubeneigross. Rechts besteht eine 
Morgagnische Hydatide von Erbsengrösse, welche eine bernsteingelbe Flüssigkeit 
enthält. Das Hodengewebe ist dunkelgrau, leicht bräunlich. Die Pulpa quillt 


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Die Diagnose der plötzlichen idiopathischen Todesfälle etc. t> 

nicht über die Sohnittfläche empor. Die Struktur der Hoden ist die gewöhnliche. 
Es besteht eine diffuse Vermehrung des Bindegewebes, doch lässt sich eine um¬ 
schriebene Narbenbildung, wie sie nach luetischer Entzündung zurückzubleiben 
pflegt, nicht nachweisen. Die Nebenhoden sind in gleichem Masse, wie die Hoden, 
atrophiert, die Venengeflechte stark mit dunklem Blut erfüllt. 

Der Magen ist von normaler Form und Grösse; in seinem Innern findet sieh 
sauer riechende, von der Nahrung herrührende Flüssigkeit. Die Schleimhaut zeigt 
eine diffuse braunrote Verfärbung, herrührend von zahllosen punktförmigen bis 
stecknadelkopfgrossen petechialen Blutungen: die Dicke der Muskulatur ist die 
gewöhnliche. Die Serosa zeigt keine Narben oder petechiale Blutungen. Das 
Duodenum enthält gallige Flüssigkeit: der Gallengang ist gut durchgängig. Die 
Leber ist von gewöhnlicher Form; ihre Breite beträgt 26,5 cm, die Länge des 
rechten Lappens 24, die des linken 17 cm; die Höhe des ersteren 8, die des letz¬ 
teren 4,5 cm. Ihr Gewicht ist 1840 gr. Der ganze Bezirk der Leber, welcher die 
Gallenblase bedeckt, ist stark atrophisch, fast bandartig dünn; auf seiner Ober¬ 
fläche zeigen sich vielfach verästelte, graue, undurchsichtige Bindegewebszüge, 
die sich von da auch auf die benachbarten Teile der Leberkapsel erstrecken. Die 
Leber fühlt sich derber, als normal an; ihre Farbe ist auffallend dunkelbraun. 
Auf dem Durchschnitt, welcher ebenfalls tief dunkelbraun ist und auf Druck reich¬ 
lich dunkelrotes, fast schwarzes Blut entleert, lassen sich die einzelnen Leber¬ 
läppchen deutlich erkennen. Dieselben sind kleiner als normal; sie messen etwa 
1 mm im Durchmesser; ihr Zentrum ist dunkelbraun, durchscheinend, die Peri¬ 
pherie mehr hellbraun, trübe. Das Gewebe der Leberpforte ist deutlich vermehrt. 
Das Pankreas zeigt sich etwas atrophisch. Das Bindegewebe zwischen den Drüsen¬ 
lappen ist stark vermehrt; die Drüsenlappen sind linsengross, von gelber, leicht 
bräunlicher Farbe und derber Konsistenz. 

Kalksteine lassen sich in der Drüse nicht nachweisen. Dünndarm und Dick¬ 
darm zeigen ausser starker Blutfüllung der Venen keine Abweichungen von der 
Norm. Dagegen zeigt sich ira Mesokolon der Flexura sigmoidca eine diffuse, 
narbige Verdickung von zackig unregelmässiger Begrenzung, die knorpelhart, por¬ 
zellanartig weiss und undurchsichtig ist. Die Artoriae iliacae sind vollständig 
verkalkt. Die Vena cava enthält dunkelflüssiges Blut. 

Der Schädel weist keine Difformitäten oder Zeichen von Verletzungen auf. 
Er ist recht stark. Die harte Hirnhaut ist so fest mit ihm verwachsen, dass sie 
zugleich mit der Schädelkapsel entfernt werden muss. Auch dann gelingt es nur 
unter grosser Mühe, sie von der Schädelkapsel abzureissen, wobei überall Teile 
der äusseren Lamellen der Dura an der Schädelkapsel haften bleiben. Die harte 
Hirnhaut ist diffus sehnig verdickt und von Kalk durchsetzt; sie ist milchweiss 
und ganz undurchsichtig. Der Längsblutleiter der harten Hirnhaut enthält reich¬ 
lich viel teerartig dunkles, flüssiges Blut. Vom Gehirn lässt sich die harte Hirn¬ 
haut leicht trennen. Die weichen Hirnhäute erweisen sich ebenfalls diffus sehnig 
verdickt, namentlich in der Umgebung der Venen der Hirnkonvexität. 

Die Hirnhäute sind hier allenthalben milchweiss, derb und völlig undurch¬ 
sichtig. In den Hirnfurchen zeigt sich mässig weichliche, wässrige Flüssigkeit. 
Die Hirnvenen stellen federkieldicke, mit schwarzem, flüssigem Blute prall gefüllte 
Stränge dar. Die Arterienstämme der Hirnbasis, wie alle ihre Verzweigungen, 


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1(1 


Dr. A. Ehrhardt, 

sind in starre Kalkrölircn umgewandelt und blutleer; auch sind sie weiter als 
normal, die Hauptäste der Basis (Vertebralis, Ophthalmien) fast bleistiftdick. 

Kine Zerreissung der Arterien oder Venen, oder eine frische Ekchymose in 
den weichen Hirnhäuten ist nicht aufzufinden. Die weichen Hirnhäute lassen sich 
als eine derbe Haut, last in Stärke einer normalen Dura roater, leicht im Zusammen¬ 
hänge von der Hirnoberfläche abziehen. Die Hirnfurchen sind stark vertieft und 
waren mit reichlicher wässriger, klarer Flüssigkeit erfüllt, die indes nicht so reich¬ 
lich war, dass sie die weichen Hirnhäute von der Höhe der Windungen abgehoben 
hätte. Die Hirnwindungen sind in allen Hirnregionen, rechts wie links, kamm- 
artig verschmälert. Die Hirnfurchen sind etwa t>—7 mm breit, die Hirnwindungen 
1—2 mm. Die Farbe der Hirnrinde ist abnorm grünlichgelb, die Konsistenz der¬ 
selben auffallend, fast lederartig derb. Das Gehirn wiegt 1411 gr. Die Him- 
höhlen sind etwas weiter als normal, doch enthalten sie nur Spuren klarer, wäss¬ 
riger Flüssigkeit. Die Plexus chorioidei sind stark geschwollen und von dunkel¬ 
roter Farbe; sie enthalten Hirngries: ebenso die Zirbeldrüse. Die Hirnrinde zeigt 
auch auf dem Durchschnitt überall das oben geschilderte Verhalten, sie misst 
kaum 1 mm in der Dicke. 

Das weisse Marklager ist von vielen stecknadelkopfgrossen, dunklen Blut¬ 
punkten durchsetzt und ist ebenfalls etwas derber als normal. Seine Farbe ist 
weiss mit einem leichten rötlichen Schimmer, wie man ihn nur selten findet. Das 
Ependym der Hirnventrikel ist nicht granuliert, auch nicht verdickt, sondern 
durchsichtig und völlig glatt, glänzend. Die basalen Ganglien weichen weder in 
Zeichnung, noch in Grösse und Farbe von der Norm ab; dasselbe gilt vom Hirn¬ 
stamm und Rückenmark. 

Die Hirnnerven sind nicht atrophisch; der Hirnanhang ist über erbengross 
und von gelbroter Farbe auf der Oberfläche, gelblichweiss auf dem Durchschnitt. 
Die Schädelbasis ist nirgends frakturiert. Die Stirnhöhlen zeigen nur eine diffuse, 
bindegewebige Verdickung ihrer Schleimhäute; auch in den Knochenräumen der 
Gehörorgane zeigt sich nichts abnormes, ausser einer diffus sehnigen Verdickung 
der sie auskleidenden Häute und der Trommelfelle. Die Augen wurden nicht 
weiter untersucht. 

Epicrise: Verblutung aus einer Kranzader des Herzens, dm Herzbeutel 
über ein Liter schwarzroten, z. T. klumpig geronnenen Blutes, ohne Speckhaut¬ 
gerinnsel.) Spindelförmiges, nicht geplatztes Aortenaneurysma. Hochgradige 
Arteriosklerose aller Schlagadern, auch derer des Hirns und der Kranzarterien des 
Herzens. Hypertrophie beider Herzkammern, besonders der linken, infolge von 
Aorteninsuffizienz. (Herzgewicht 4. r w gr. l Uebrige Klappen intakt. Senile Atrophie 
und agonale Atelektase der Lungen. Stauungshyperämie aller Enterleibsorgane. 
Narbe einer luetischen Initialsklerose am Penis. Diffuse Atrophie beider Hoden. 
Granularatrophie der Nieren. Abgelaufene typhöse Perisplenitis und narbige 
Schrumpfung des Mesokolon der Flexura sigmoidea. Leberatrophie (luetischen 
Ursprunges?). Agonale petechiale Blutungen der Magenschleimhaut. Darm, 
Gallenblase und Pankreas intakt. Halsorgane normal, ohne Fremdkörper. Chro¬ 
nische diffusse Pachymeningitis und Leptomeningitis. Hochgradige Sklerose, Ver¬ 
kalkung und Dilatation der Hirnarterien. Stauungshyperämie in den Venen. 
Kammartige Atrophie der Hirnwindungen und vikariierendes Uedem der Hirn- 


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furchen. Hirn sonst ohne makroskopisch nachweisbare Veränderungen; sein Ge¬ 
wicht 1430 gr. Nerven und Sinnesorgane intakt. 

U rsach e d er G eisteskrankhei t: Arteriosklerotische Encephalitis chronica. 
Ursache des Todes: Ruptur einer Kranzarterie bei Koronarsklerose. 


Nitrit vielfiU'ltent Stielten ist es mir gelungen, nneli 3 weitere 
Fälle atilznlimlen. welche offen har mit dem mehligen eine mehr oder 
weniger weitgehende Aehnlirhkeij aufweisen. 

Der erste ist von Elldaume in seinem „Essai sur les ruptures du coeur. 
These de Paris 1857“ geschildert und bestand (s. Meyer, Zur Kenntnis der spon¬ 
tanen Herzruptur, S. 394, der ihn für einzig dastehend hält) in dem gleichzeitigen 
Durchbruch eines Aneurysmas eines Kranzgefässes nach dem Herzbeutel und der 
Ventrikelhöhle. 

Der zweite ist von Batterham unter dem Titel: „Notes on a case of hämo- 
pericardium front ruptured coronary artery“ im „Lancet“ (Juni 1886) veröffent¬ 
licht. Es handelte sich dabei um eine 75jährige Frau, die — nach voraufgehen¬ 
den Klagen über Brustschmerzen — unter Erbrechen ganz plötzlich verstarb. Die 
Muskulatur des Herzens war fest und angeblich von normaler Farbe. (?) — Die 
Kranzarterien zeigten sich sklerosiert und in der Mitte des Verlaufes des absteigen¬ 
den Astes der rechten Kranzarterie bestand ein Riss, aus dem die tötliche Ver¬ 
blutung ins Perikard erfolgt war. 

Nur der dritte Fall, der von Tschermak unter dem Titel: „Aneurysma 
dissecans mit Ruptur der Arteria coronaria dextra und zweizeitigem Durchbruch 
nach dem Herzbeutel hin“ in „Virchow’s Archiv für pathologische Anatomie und 
Physiologie“ Bd. 146, 1896, publiziert wurde, hat mir im Original Vorgelegen. 

Der klinische Verlauf ist leider nur ganz kurz angedeutet. Es heisst da: 
„Es handelte sich um einen 52jährigen, kräftig gebauten und gutgenährten Mann, 
welcher seit längerer Zeit über Kurzatmigkeit geklagt hatte und plötzlich gestorben 
war. Die klinische Diagnose lautete auf Aortenstenose und Perikarditis.“ 

Tschermak schliesst daran eine sehr schöne und sorgfältige makro- und 
mikroskropische Studie an, aus der ersichtlich ist, dass dieser Fall, ausser in 
einigen Punkten, darunter einem sehr wesentlichen, mit dem ineinigen überein- 
stimmte. 


Das li(‘i(l('ii (ictnoinsamr besieht darin, dass beide Male eine 
Kranzarterie rnpturiert und ein lötlielier Bluterguss in den Herzbeutel 
<in meinem Falle von 1200 mit. in dem seinigen von unbestimmtem 
Volumen i einget roten war, und dass der Bluterguss in der Aorton- 
media sielt beide Male bis an den Abgang der grossen Halsgefässe 
hinzog. wobei er in meinem Falle sielt auf die konkave Seite dos 
Aortenbogens besehränkie. in dem seinigen aber das ganze Belass 
zylindrisch umgriff. 

Was beide Fällt' von einander unterscheidet, war zunächst, dass 
in Tseliermak’s Fall die Aorta normal weil i7 ein im Unifamrt. in 


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Dr. A. Ehrhardt. 


dem mehligen diH'us aneurysmatisch «zweiten war (12 cm wein. das> 
ferner in Tsehermak’s Fall eine Ruptur des Querastes der rechten, 
in meinem dagegen eine solche der linken Kranzarterie vorlag, sowie 


dass endlich dort der tödlichen intermediären Blutung eine zweit«' 
tödliche vorangegangen war. während hier sofort die erste Gefäss- 
zerreissnng den Tod herbeigeführt hatte. 

Während dort der Herzbeutel, sowohl in seinem .visceralen, wie 
in seinem parietalen Blatte überall mit membranösen und zottigen 
Fibrinauflagerungen bedeckt war. und der intermediäre Bluterguss an 
seinem zentralen linde, d. h. in der Umgebung der zerrissenen Kranz¬ 
arterie, bereits bindegewebig organisiert, an seinem distalen Endo 
ebenfalls von älterer weissroter, zäher, thrombotischer Beschaffenheit 
und nur in seinem .Mittelstück frisch schwarzrot bezw. weich war. 
zeigte in meinem Falle der Herzbeutel ein in jeder Beziehung normales 
Aussehen, und war der intermediäre Bluterguss, abgesehen von einer 
höchstens VlO mm hohen fibrinösen Hülle, von frischer, kruorartiger 
Beschaffenheit. Der wichtigste Unterschied zwischen den beiden 
Fällen bestellt aber darin, dass Tsehermak auf der Innenfläche der 
Aorta, 8 mm oberhalb des oberen Randes der hinteren Aortenklappe, 
einen 1 cm langen (bei 7 cm Aortenumfangi klaffenden Querriss mit 
eingerolltem unteren Rande auffand, der die Wand bis in die inter¬ 
mediäre mit Blut gefüllte Höhle durchbohrte, während in meinem 
Falle — trotz aufmerksamen Suehens — die Innenwand der Aorta 
nirgends durchlöchert war. — 

Nun wiesen zwar mehrere plenniggross«* athommaiöse Blatten 
der Aorten-Intima trichterförmige Vertiefungen auf. die so aussahen, 
als wenn sie mit einer Stricknad«;l gebohrt wären, so dass man auf 
die Vermutung kommen könnte, das Blut wäre von diesen Vertiefungen 
aus in die Media eingedrungen. 

Indes waren diese Vertiefungen an ihrem («runde durch eine 
Y 10 — 2 /io 1,1,11 dicke, derbe Membran gegen die intermediäre Bluthöhle 
abgeschlossen, und die Membran setzte sich, makroskopisch beurteilt 
(obwohl ich leider die mikroskopische Prüfung unterlassen habe, halte 
ich doch diese Ansicht für richtig), aus dem Boden der atheromaiösni 
Platte, einigen Schichten der Media, und einem leichten Fibrinbeschlag 
auf der Aussenseite des Gelasses zusammen. 

Für diesen Fall steht cs fest, dass di«' tödliche, intermediäre 
Blutung ausschliesslich aus der rupturierien Kranzarterie herstammt. 

Wenn ich auch Tsehermak’s Ansicht, dass entzündlich«' Proz«\s>«' 


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ifi der Aortenmedia den Grund zu dein Aneurysma dissecans legen, 
vollauf beistimme, so möchte ich doch die Behauptung aufstellen, 
dass die intermediäre Blutung, von der sich die Benennung dieses 
pathologischen Befundes herleitet, in vielen Fällen von Aneurysma, 
dissecans aus einer mpturierten Kranzarterie entsteht; dagegen muss 
ich die Richtigkeit der Anschauungen Tschermak's, jedenfalls soweit 
der von ihm seihst beschriebene Fall in Frage kommt, bezweifeln. 

Tschermak denkt sich die Entstehung des Aneurysma dissecans 
in seinem Falle in der Art, dass, infolge eines primären intermediären 
Entzündungsprozesses, die Aorten-Intima in Fonn des oben beschriebenen 
Querspaltes gerissen sei. und so einen intermediären Bluterguss erzeugt 
habe, welcher nicht nur die Aortenwand, sondern auch die Wand der 
aus ihr abgehenden Kranzarterie — ähnlich wie die Wände der Ilals- 
gefasse — der Länge nach gespalten habe. 

Dieser intermediäre Bluterguss sei durch das fortwährende Nach¬ 
sickern des Blutes aus dem Riss der Intima immer mächtiger ge¬ 
worden, und habe die auseinandergeplatzten Gefässhäute und das 
zwischen ihnen als eine schmale Querbrücke ausgespannte Innenrohr 
der Kranzarterie immer mehr auseinander gezerrt, bis es schliesslich 
zerriss. — Nunmehr habe sich das Aortenblut so reichlich in den 
intermediären Blutsack entleert, dass er auch an seiner Aussenseite 
in Form eines rechtwinkligen. 5 cm langen epikardialen Einrisses auf¬ 
platzte und so die tödliche Verblutung in den Herzbeutel veranlasste. 
i Der Riss befand sich an der Vorderseite der Aorta und an der 
l’nierscite des an ihr hängenden intermediären Blutsackes; 4 cm über 
«lein Aortenring, 3 cm über dem Abgang der rechten Kranzarterie. 
Auf seiner Innenfläche klaffte der Hiss 1 cm weiter, als auf seiner 
Aussenfläehe.) 

Mir erscheint es dagegen eher annehmbar, dass die Wand der 
Kranzarterie — gemeinsam mit der Aortenwand durch den von 
Tschermak in allen mikroskopischen Einzelheiten vortrefflich ge¬ 
schilderten, intermediären Entzündungsprozess zuvor erweicht und zer- 
nussbarer geworden — dem auf beiden Gefässwänden gleichstark 
lastenden Blutdrucke früher nachgeben musste, als die Wand der 
Aorta. — Indem sich nun ein immer mächtiger anwachsender inter¬ 
mediärer Bluterguss bildete, wurden ebensowohl durch die zunehmende 
Dehnung, wie durch «lie vom Blute ausgeübte Arrosion, die Aorten¬ 
intima und die ihr anliegenden inneren Schichten der Media immer 
mehr verdünnt, bis sie schliesslich — gemäss der ihnen eigentiim- 


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Dr. A. Ehrhardt, 

liehe» Spaltbarkeit nicht der Länge, sondern der teuere 1 » »ach 
einrisse». 

Auch wurde ich diesem (,hierriss im Gegensatz zu Tschermak 
mir geringe Bedeutung für die weitere Zunahme des intermediäre» 
Blutergusses beimessen, sonder» ihn vielleicht (“ist für ein«* in dem 
Organe entstandene unbedeutende Veränderung ansohen. Wenn ihm 
die Bedeutung zukäme, dass sieh das Blut hauptsächlich durch ihn 
in den intermediären ßlutsack entleert hat. so wäre der (Juerriss bei 
der von Tschermak angeg<*benen Schwäche der inneren (ielasshülb* 
wahrscheinlich in grösserer Ausdehnung eingerissen, und hätte auch 
ein weit klaffendes Loch und nicht einen feinen, linearen (Jucrspah 
dargestellt. 

Den Beweis für meine Annahme, dass die Kranzarterie und nicht 
die Aortenintima als erste dem Blutdruck nachgegeben haben muss, 
sehe ich nicht bloss in dem oben her\ orgehobenen theoretischen Moment 
ihrer geringeren Wandstärke, sondern ich linde ihn auch in dem thai- 
säehlichen Befunde meines vorliegenden, wie des Tschermak'schen 
Palles. Mein Fall, in dem nur eine frische, von sofortigem Tode 
gefolgte Blutung in die Media des Aorienrohres hei Ruptur einer 
Kranzarterie — ohne jede Verletzung der Inlima — vorlag. ist ein 
vollgültiger Beweis dafür, dass nach vorangehender alheromalöser 
Kntzündnng eine Kranzariericnrupiur die einzige Prsaehe eines An¬ 
eurysma dissecans sein kann. 

Lbenso wies in Tschcrmak's Fall, wo offenbar mehrfache, nicht 
alsbald tödliche Blutungen in die Media erfolgt waren, die in der 
Lmgebung der Kranzarterie besonders umfangreiche und weil fort¬ 
geschrittene Organisation des intermediären Blutergusses darauf hin. 
dass hier, und nicht von dem Ijuerspalt der Aortenintima ans. die 
erste, wie alle nachfolgenden Blutungen in die Media ausgegaugen 
waren. 

Leber die Fnlsielnmg des Aneurvsma dissecans sind bisher 
'1 Theorien aufgestellt worden. 

Die ältere, früher allgemein angenommene Theorie, als deren 
hauptsächlichste Vertreter ich Rokitansky. Friedländer, Jacohsen 
und Tschermak hervorheben möchte, geht dahin, dass primäre ent¬ 
zündliche Veränderungen, die man heule allgemein in die Media und 
nicht mehr in die Advent hin (Rokitansky) oder Intima verlegt, die 

1/ ladess sind auch Längsrisse beobachtet worden, s. ßostrüin. 

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Arterienwand erweichen. so dass dieselbe dem Rlutdruck niehl mehr 
zu widerstehen vermag und in ihrer Inlima cinreisst, worauf dann 
das Jilut in die Media rindringen kann. 

Die zweite Theorie ist von Roström aufgestellt worden und 
lautet dahin, dass die meisten - wenn nicht alle der 177 aus 
dein vorigen Jahrhundert von ihm gesammelten Fälle von Aneurysma 
dissecans bei ursprünglich vollständig normalen Arterienwänden zustande 
gekommen seien, und dass man daher annehmen müsse, dass eine 
völlig normale Aortenintima, mitsamt einer mehr oder minder breiten 
Lage der Media, bezw. auch der Adventilia. eiureissen und so das 
\neurvsma dissecans hervorrufen könne. 

Die Veranlassungen für diese primären Rupturen der Intima sieht 
Roström in einer vorausgegangenen traumatischen Zerrung oder 
(Jiietschung des Gefässes und nimmt an, dass alle diese Individuen 
früher eine Kompression oder eine Heberst reckung der Wirbelsäule, 
bezw. einzelner Rippen, infolge einer Beschädigung bei ihrer Arbeit, 
oder einer schweren körperlichen Misshandlung, erlitten haben. Die 
in manchen Fällen aufgefundenen Fnlzündungsvnrgänge in den Gefäss- 
wättden erklärt Roström für sekundärer Natur, indem sie erst nach 
dem Kintritt des intermediären Wutergusses sich gebildet hätten, aus 
Fibrinniederschlägen und Granulationsgewebe hervorgegangen wären, 
und eine Ausheilung des pathologischen Zustandes bezweckten. 

Beide Theorien sind heute als vollgültig bewiesen unzusehen: 
die erste durch Tsehermak. die zweite durch Roström. 

Tschermak hat bei seinem Krankheitsfall eine chronische dilfuse, 
atheroinatöse Fntzündung der Gefässhäute. welche au den beiden 
inneren besonders stark ausgeprägt war. nachgewie.sen und eine sehr 
schöne Darlegung des mikroskopischen Befundes geliefert. 

Roström hat ebenfalls den Beweis geführt, dass ein Aneurysma 
dissecans bei völlig normalen Gefässhäuten sieh entwickeln kann, und 
es höchst wahrscheinlich gemacht, dass es bei seinem Kranken zu 
einer äusseren Verletzung in Beziehung stand. Dieser Kranke war, 
2*2 Jahre vor seinem Tode, das Opfer einer dermassen schweren 
Prügelei gewesen, dass die Haut des ganzen Körpers fassförmig ver¬ 
sehwollen, blutig sugilliert, dem Verletzten auch die Clavicula und 
erste Rippe linkerseits partiell frakturiert war. Fs ist nun. wie 
Rost röm ausfiihrl. recht gut denkbar, dass jene schweren Hiebe, 
welche das Schlüsselbein und die erste Rippe, wenn auch nur teil¬ 
weise zerbrachen, auch den Aortenbogen dermassen zerquetschten. 


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Dr. A. Ehrhardt, 


dass er auf seiner Innenfläche zerriss. Wie ausgedehnt, derartige Hisse 
der inneren Gelasshäute sein können, zeigt ausser der Bo ström 'sehen 
Abbildung in drastischer Weise das schöne Bild, welches v. Schrot i-er 
(auf S. 327 seines Buches) veröffentlicht hat. 

Bei einem während der Arbeit an Aorteiiruptur und Verblutung 
in den Herzbeutel plötzlich verstorbenen Maurer fand sich als Todes¬ 
ursache - - 2 cm oberhalb der Aortenklappen — ein fingerbreiter, 
das ganze Gefäss ringförmig umgreifender Hiss der inneren Gefäss- 
hiillcn. 

An diese beiden Entstehungsweisen des Aneurysma dissecans 
möchte ich, als dritte, diejenige anreihen, wo — nach vorangehender 
chronischer, atheromatöser Entzündung der Aortenwände — plötzlich 
eine primäre Kranzarterienruptur entsteht, die nun den intermediären 
Bluterguss in den Gefässhäuten herbeiführt. Mein Fall lässt jeden¬ 
falls keine andere Deutung zu. und ich vermute deshalb, da jeder 
Intimariss fehlte, dass dies Ereignis auch in manchem anderen Falle 
von Aneurysma dissecans, wo der Einriss der Intima nur geringfügig 
war— wie z. B. in Tschermak’s Fall — den ersten Anlass für den 
intermediären Bluterguss abgab. — 

Was nun an diesem Falle hauptsächlich interessieren muss, ist 
die Frage, ob es jemals erhebliche Schwierigkeiten haben kann, den 
Eisprungs- und Endort einer spontanen inneren Verblutung klinisch 
fesizustellen. 

Strümpell äussert sich in seinem berühmten Lehrbuche unter 
dem Titel: ? Schwielige Myocarditis“ folgendermassen: 

„Die Schwierigkeit in der Diagnose der Fälle mit plötzlichem 
apoplektischen Insult („Herzschlag“) und ihre Enierseheidung 
von Gehirnapoplexien, Embolien. Pankreasblutungcn und ähn¬ 
lichen Ursachen eines plötzlichen Todes liegt auf der Hand“ 
und v. Schröder schreibt („Erkrankungen der Gcfässe“. Wien 1897. 
S. 115): „Bei der durch Sklerose der Kranzarterien bedingten Brady¬ 
kardie kommt es nicht nur zu Ohnmachtsanfällen, sondern auch während 
dieser und den Anfällen vollkommener Bewusstlosigkeit nicht selten 
zu leichten Zuckungen, aber auch zu klonischen Krämpfen in den 
Gesichts-Stamm- und Extreniitäten-Muskcln. Mit der Verlangsamung 

des Pulses kommt es zur auffallenden Blässe des Gesichtes, Aussetzen 
der Hespiration mit leichterer oder stärkerer (Zyanose. .Solche Anfälle, 
wie sie teils dem epileptischen, teils dem Bilde der Eheync-Stokes- 
sehon oder Adams - Stokes'schen Hespiraiionsstörung entsprechen. 


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Die Diagnose der plötzlichen idiopathischen Todesfälle etc. 


17 


können in ihrer Deutung sehr schwierig sein. Im speziellen Falle 
können Zweifel entstehen, ob es sich um einen toxisch-urämischen 
Anfall, nach Verlegung einer Koronararterie durch die verlangsamte 
Herzaktion bedingte Hirnanämie, oder vielleicht um eine Mutung in 
der Medulla oblongata mit Schädigung desRcspirationszentrums handelt." 

Aehnlichen Behauptungen bin ich noch mehrfach begegnet. Ihnen 
steht die Ansicht FräntzeFs gegenüber, die er in dem unten ange¬ 
führten Aufsatze ausspricht, wonach die Unterscheidung zwischen 
diesen Krankheitszuständen leicht sei. 

v. Schrötter führt dann einen hierher gehörigen Fall an, in 
welchem er Urämie aussehliessen zu können und die Ursache des 
Todes in einer Verlegung der Kranzarterien suchen zu müssen glaubt e, 
ohne dass er indes einen sicheren Beweis führte, da ihm die Autopsie 
nicht gestattet wurde. 

Es ist nun nicht meine Absicht, mich mit allen plötzlichen, nicht 
traumatischen Todesfällen zu beschäftigen, sondern es soll hier Hin¬ 
auf die Unterscheidung jener Todesfälle eingegangen werden, welche 
auf spontaner innerer Blutung beruhen. 

I)a ich nun der Ansicht bin, dass es immer gelingen wird, eine 
innere Blutung erheblichen Grades klinisch zu erkennen, wenn man 
den Kranken während der letzten Stunden seines Lebens selbst 
beobachten kann, oder eine nicht zu oberflächliche Schilderung der 
letzten Lebensphasen von seinen Angehörigen erhält, so würde sich 
die Zahl der seitens des Arztes nicht näher diagnostizierten plötzlichen 
Todesfälle damit erheblich einschränken lassen. 

W enn sich bei einem Kranken plötzlich hochgradige Blässe des 
ganzen Körpers, wiederholte schwächere oder einmalige tiefe Ohnmacht, 
starke Pulsbeschleunigung bis auf 120—140 Schläge in der Minute 
und starke klonische Krämpfe in den Gliedern einstcllen *), so ist. 
auch ohne dass Blut aus einer der natürlichen Körperöffnungen entleert 
wird, die Diagnose des inneren Verblutungstodes gesichert. 

1) Wenn diese Schilderung auch bei flüchtiger Betrachtung den Eindruck 
macht, als ob sie auch auf den epileptischen Krampfanfall zuträfe, so lässt sich 
diese Ansicht zwar nicht völlig ablehnen, indes ist doch die Blässe beim Ver¬ 
blutungstode intensiver, das Koma anhaltender; und die Tatsache, dass ein 
Epileptiker niemals beim ersten Anfall gestorben ist, und dass beim zweiten oder 
dritten Anfall die Diagnose der Epilepsie — wegen des voran gegangenen gut 
abgelaufenen Anfalles — gesichert ist, lässt eine Verwechslung einer inneren Ver¬ 
blutung und eines epileptischen Anfalles ausgeschlossen erscheinen. 

Vterteljahrsscbrift f. ger. Med. u. Off. San.-Wesen. 3. Folge. XXVIII. I. .) 


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J 


IS L>r. A. Elirliardt, 

Bei den meisten Ursachen des spontanen inneren Yerblutungs- 
todcs, insbesondere bei der Lungenblutung des Phthisikers, der Ruptur 
des Herzens, eines Kranzgefässes oder eines Aortenaneurysmas, der 
spontanen Milz-. Leber- oder Nierenruptur, oder der Ruptur des graviden 
Uterus, sowie der Verblutung aus einem Magen- oder Darmgeschwüre, 
oder der Hämorrhagie des Pankreas werden jene klinischen Ersehoi- 
nungen nie vermisst werden, während ihr Gesamtbild bei der Urämie 
und anderen nicht auf einer Hämorrhagie beruhenden Ursachen eines 
plötzlichen Todes nicht zu beobachten ist. So fehlt namentlich bei 
der Urämie die Anämie des Gesichtes, welches im Gegenteil cvanotisch 
blau xerfärbt erscheint, die Ohnmacht hat sich bis zum liefen Koma 
gesteigert, indem der Patient — im Gegensatz zum massig Ohnmäch¬ 
tigen — vollständig benommen ist und - trotz etwaiger Delirien 
nicht ein verständliches Wort äussert; dazu kommen bei der Urämie 
andere charakteristische Symptome, die der Verblutung, abgesehen 
von der Ruptur der Bauchorganc mit der dabei stattlindenden peri- 
tonischen Reizung, fehlen, insbesondere wiederholtes Erbrechen. Auch 
dürfte es wohl für die weitaus grösste Mehrzahl, wenn nicht für alle 
Fälle von Urämie zutrelfen, dass sie erst auf der Höhe der Nieren¬ 
krankheit einsetzen. d. h., wenn diese bereits andere unverkennbare 
Symptome, allgemeines Anasarea undRetinitisalbuminurica. gezeitigt hat. 

Es mührigt sich wohl, auf die anderen plötzlichen, nicht auf 
einer Hämorrhagie beruhenden, spontanen Todesfälle (Thymustod. 
t 'oma diabeticum, eholaemieum. Tabes, echte und Pseudobulbärparalyse') 
einzugehen, da sie abgesehen vom Fehlen der sämtlichen Zeichen 
der inneren Blutung - immer irgend ein charakteristisches Merkmal 
aufweisen werden, welches über ihre Entstehung eine gewisse, nicht 
bloss wahrscheinliche Diagnose stellen lässt. 

Dennoch müssen wir noch zwei ebenfalls auf innerer Blutung 
beruhende plötzliche Todesfälle erwähnen, welche wir auch in den 
Kreis eingehender Betrachtung einbeziehen wollen, bei denen aber 
nicht die Blutung als solche, sondern die Ausschaltung zum Leben 
unentbehrlicher Organbezirke den Tod herbeiführt: nämlich die Apo¬ 
plexia cerebri und den Lungeninfarkt. .Die mit einer leichten, nicht 
alsbald tödlichen Apoplexia cerebri klinisch verwechselte llirnerwciehung 
kann bei unserer jetzigen Betrachtung ausser Acht gelassen werden, 
da sie keinen plötzlichen, sondern (‘inen erst nach Monaten oder 
Jahren, unter fortschreitender Ycrblödunir und wiederholten akuten 
1 lirninsulten langsam eintreienden Tod veranlasst. 



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Die Diagnose der plötzlichen idiopathischen Todesfälle etc. 


1» 


Wenn wir uns nun des weiteren die oben aufgezählten, auf innerer 
Blutung beruhenden Ursachen eines plötzlichen Todes genauer ansehen, 
so leuehlet es ohne Frage ein, dass die Lungenblutung eines Phthisikers, 
die Verblutung aus einem Magen- oder Darmgeschwüre und die Ruptur 
der Unterleibsorgane, namentlich des Uterus, der Milz. Leber und der 
Nieren auch bei grober Beobachtung des Patienten und seines Vor¬ 
lebens von einem Arzte nicht verkannt werden können. Auch mag 
hier noch erwähnt werden, dass zwar spontane, nicht traumatische 
Rupturen des schwangeren oder kreissenden Uterus, nicht aber solche 
des nicht graviden Organes, oder der Milz. Leber und Nieren in der 
Literatur beschrieben worden sind. 

Wenn Aerzte über die Natur eines plötzlichen inneren Verblutungs- 
ludes mit Recht im Zweifel sein konnten, so konnte es sich nur um 
die Ruptur des Herzens, einer Kranzarterie oder eines Aortenaneurysmas, 
eine Hirnapoplexie, einen Lungeninfarkt oder eine Pankreasblutung 
gehandelt haben, und es wird im Folgenden meine Aufgabe sein, die 
Differenzierung dieser Todesursachen — auf Grund der in der Literatur 
veröffentlichten Fälle - zu versuchen. 

Hierbei unterstützt mich die Erinnerung an einige, während meiner 
mehrjährigen Tätigkeit an Krankenanstalten t mit Ausnahme der Pankreas¬ 
blutung) selbst beobachtete, und durch die Sektion gesicherte hierher 
gehörige Krankheitsfälle und dürfte mich zu einem selbständigen Urteil 
befähigen. 

Die Kenntnis der Vorgeschichte, welche diese plötzlichen Todes¬ 
fälle meist haben werden, wird uns bei der Mehrzahl unfehlbar auf 
die richtige Diagnose führen. Besonders charakteristisch ist diese 
Vorgeschichte bei einem Lungeninfarkt, einem Aortenaneurysma, und 
bei der Herz- und Kranzarterienruptur. 

Dagegen wird sie uns bei der Diagnose einer Apoplexie nur ganz 
unsichere, zweideutige Merkmale liefern. --- Der Lungeninfarkt entsteht 
nur bei einem früheren Herzfehler, insbesondere bei einer Mitralstenose 
oder einer Thrombose einer peripheren Körpervene, namentlich einer 
Vene der unteren Gliedmassen, wenn wir hier von den ja stets richtig 
zu erkennenden, aus den Venen der Gebärmutter stammenden Lungen¬ 
infarkten, während des Puerperiums und nach einer gynäkologischen 
Exstirpation der Geschlechtsorgane absehen. 

Hat man als Arzt Gelegenheit gehabt, die betreffenden Kranken 
nicht allzulange vor ihrem Tode zu untersuchen, so wird man die 
Venenthrombose oder die Stenose der Mitralis wegen ihrer recht auf- 

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20 


Dr. A. Ehrhardt, 


fälligen Symptome schwerlich verkennen. Uedem eines Heines, Schmerz¬ 
haftigkeit bei Druck auf die Gegend der Vena saphena, eruralis oder 
poplitea und das Fühlen eines zylindrischen, derben Stranges an diesen 
Stellen wird im ersteren Falle ebensowenig fehlen, als im zweiten 
Falle eine Verbreiterung der Herzdämpfung über den rechten Brust¬ 
beinrand. ein präsystolisches Geräusch und palpables Schwirren, sowie 
((in kleiner, langsam anschwellender Pulsus tardus von verminderter 
Schlagzahl in der Minute. Da nun die Venenthrombosc einen plötz¬ 
lichen Tod nur in der einen Art des Lungeninfarktes hervorrufen 
kann, und bei der Mitralstenose in solchen Fällen daneben nur die 
Hirnembolie in Frage kommen kann, — auf deren Unterscheidung 
vom Lungeninfarkt ich später bei Besprechung der Hirnblutung ein- 
gehen werde — so wird die Kenntnis der Ursache uns mit völliger, 
oder doch nahezu absoluter Sicherheit auf das den Tod auslösende 
Moment hinweisen. 

Der Ruptur des Aortenaneurysmas geht immer eine lange Leidens¬ 
geschichte voraus, die den Kranken nionate- und jahrelang genötigt 
hat, die Hülfe des Arztes in Anspruch zu nehmen, so dass dieser, 
da die klinischen Symptome des Aortenaneurysmas nur mit denjenigen 
eines Mediastinaltumors verwechselt werden können (und auch dann 
nur in den ersten 2—3 Monaten des Krankheitsverlaufes), falls die 
Krankheit mit plötzlicher Verblutung endet, über die Lrsache des 
Todes nicht in Zweifel geraten kann. 

Die charakteristischen Merkmale des Aneurysmas, wonach das¬ 
selbe eine pulsierende, dlnem Gelasse aufsitzende Geschwulst darstellt, 
über der man ein systolisches Geräusch hört, werden dann leicht zu 
konstatieren sein, w enn das Aneurysma allmälig bis auf Eigrösse an¬ 
gewachsen ist, und dem aufsteigenden Teile der Aorta, ihrem Bogen 
oder den davon abgehenden Halsgefässen, oder endlich der Bauchaorta 
angehört. 

Schwierigkeiten wird nur der Nachweis eines Aneurysmas der 
absteigenden Brustaorta — vorzüglich aber seine Differenzierung von 
einem Carcinom der Wirbelsäule, weniger die von einem Carcinom der 
Speiseröhre — bereiten. 

Auch auf dem Röntgenbilde wird es nicht immer gelingen, die 
Geschwulst wahrzunehmen. Heftige Schmerzen im Bereich der Inter¬ 
kostalnerven w'erden auch hei den erwähnten Carcinomen Vorkommen: 
das Garcinom der Speiseröhre wird aber an den es kennzeichnenden 
höchstgradigen Schlingbeschwerden leicht zu unterscheiden sein. Die 


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Die Diagnose der plötzlichen idiopathischen Todesfälle etc. 21 


Schlingbeschwerden beim Aneurysma treten monatelang nur massig 
auf und steigern sich erst in den letzten Tagen vor dem Tode bis 
zur gänzlichen Nahrungsverweigerung. 

Auch zeigen sich die Schlingbeschwerden beim Speiseröhrenkrebs 
gleich bei Beginn der Krankheit und bleiben meist bis zum Tode das 
einzige und hauptsächlichste klinische Merkmal. Beim Aortenaneurysma 
dagegen setzen sie erst nach monatelangem Bestand des Leidens ein 
und assoziieren sich mit anderen Symptomen, unter welchen nament¬ 
lich diejenigen seitens des arteriellen Gcfässsystems und der intra- 
ihoracischen Nerven hervorzuheben sind. 

Jedes Aneurysma der absteigenden Aorta erzeugt ein systolisches 
Berausch, welches am Rücken — zwischen dem linken Schulterblatt 
und der Brustwirbelsäule — bei genauer Untersuchung hörbar ist und 
hat eine Verspätung des Pulses an den Kruralartcrien gegenüber dem 
Radialpuls zur Folge. Ferner führt auch das Aneurysma der ab¬ 
steigenden Aorta — nicht allein dasjenige des Bogens — eine links¬ 
seitige Stirn in bandlähmung, durch Kompression des Nervus recurrens, 
herbei, während eine solche beim Speiseröhrenkrebs nur selten zustande 
kommt. 

Beim Wirbelsäulcnkrebs fehlen ebenfalls die eben erwähnten für 
«las Aneurysma charakteristischen Erscheinungen an den Gelassen: 
und zu den beiden Krankheiten gemeinsamen Interkostalneuralgien ge¬ 
sellen sich hier im weiteren Krankheitsverlaufe Symptome, die dem 
Krankheitsbilde des Aortenaneurysmas fremd,sind, nämlich: Druck¬ 
empfindlichkeit bestimmter Wirbel, Kyphose und Kompressions-Er¬ 
scheinungen am Rückenmark. Dieselben äussern sich klinisch in 
spastischen Paraplegien, gesteigerten Sehnenreflexen, Darm- und Blasen¬ 
lähmungen. 

Der genauen Feststellung dieser klinischen Unterschiede muss 
ein um so grösserer Wert beigemessen werden, als es ohne sie un¬ 
möglich sein wird, jene seltenen Fälle von spontanem inneren Vor¬ 
blutungstode, die auf einer Arrosion der Aorta thoracica — vermittels 
der wuchernden und zerfallenden careinomatösen Neubildungen — 


beruhen, noch zu Lebzeiten zu d'aggostjzißren. : , , 

Die charakteristischen Züge, i*uKeaakhc\t:d,mie /Jgs Aorten-j y 
aneurysmas sind weniger subjektiver als objektiver ,Natju\ , „ 

Die Kranken klagen meist über zunehmende Beengung auf der 
Brust, einen unbestimmten nagenden oder, brennenden .Schmerz am 


Halse, hinter dem Brustbein oder an der Bruslwbnlsäwle.. Bei An- 



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22 


Dr. A. l'ihrhai'dt, 


eurysmen dn - Bauchaorta klagen die Patienten über einen ebensolchen 
Schmer/ in der Magengegend, bezvv. über ein unangenehmes Pulsieren 
an diesen Körperstellen. Des öfteren leiden sie auch an Anfällen 
von Heiserkeit, Husten oder einer zunehmenden Atemnot, entstanden 
durch Kompression des Nervus recurrens, der Luftröhre und des linken 
— seltener des rechten — Bronchus, sowie durch Beengung der 
Lungen und des Herzens und der zu ihm tretenden Venen. Immer 
aufs Neue treiben diese Erscheinungen die Kranken an, ärztlichen Ritt 
einzuholen. Indes diese subjektiven Beschwerden haften anderen 
Krankheiten der verschiedensten Art — z. B. solchen des Herzens, 
der Lungen, des Zentralnervensystems (Hysterie und Neurasthenie) — 
gleichfalls an. Deshalb kommt diesen Beschwerden nur der Wert 
eines immer wiederkehrenden Antriebes zur sorgsamen klinischen 
Lntersuchung zu. 

Von wirklichem Wert für die Diagnose des Leidens sind nur die 
objektiven klinischen Zeichen, welche derart unverkennbar sind, dass 
sie die Diagnose des Leidens mit absoluter Gewissheit stellen lassen. 
Solange an dem Kranken nur eine Dämpfung meist rechterseils, 
seltener auf der linken Seite des oberen Brustbeinrandes, eine Ver¬ 
spätung und Verkleinerung des linken, bezw. rechten Radialpulses, 
oder des Kruralpulses wahrzunehmen ist; wenn ferner eine Venen- 
slauung am Halse, Gesicht oder Annen, eine Verschiebung des Herzens, 
linksseitige Stimmbandlähmung und ein systolisches (ev. bei gleich¬ 
zeitiger Aorteninsuffizienz auch ein diastolisches; Geräusch über der 
Aorta wahrnehmbar, oder endlich ein Pulsieren des Kehlkopfes (Oliv er- 
Cardarellis Symptom zu konstatieren ist, solange kann auch noch ein 
Mediastinaltumor, namentlich ein Sarkom oder eine Cyste, vorliegen. 

Sobald man aber — sei es am oberen Brust beinrande, der linken 
Seile der ßrustwirbelsäule oder im Epigastrium — in der Aorten- 
gegeud einen pulsierenden - und zwar allseitig pulsierenden — Tumor 
fühlt oder sieht, dann ist jeder Zweifel über die Natur dieses Tumors, 
als eines Aortenaneurysmas, behoben. 

Lin nicht minder charakteristisches Symptomenbild bietet die 
Jv'ajikyjig/iSiduchtQ jdor RatkmterwH(ü. Koronarsklerose, sodass der Arzt. 

V iwj'ffij Vhu^lVitlltijijtJr^deAf äjuierer Verblutung erfolgt, auf die 

Diagnose. UujyUyti dos» .Herzens oder eines Kranzgefässes wohl vor- 

bereite/»*fje/«V • *:*•. •* 

Die.••'i^mokgrdLseljo n j \ n f ä 11 e. woran derartig»! Kranke, seit meh¬ 
reren v*ij : gjpcm Jahrzehnt und länger, h'iden, sind nur 


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Die Diagnose der plötzlichen idiopathischen Todesfälle etc. 


2M 


dieser einen Krankheit eigentümlich und mit keinem anderen Krank¬ 
heitsbilde zu verwechseln. 

Wohl klagen auch Kranke mit llcrzklappenfehlorn, wenn das 
Leiden in das Stadium der Kompensationsstörung eingetreten ist, über 
ein Gefühl von grosser Beklemmung über dem Herzen. Aber diese 
Beklemmung erreicht, offenbar weil der Herzmuskel durch die dabei 
statt findende Dehnung und sonstige Entartung nicht so unmittelbar 
und so plötzlich geschädigt ist, wie bei der Koronarsklerose, bei 
welcher ihm momentan die ernährende Blutflüssigkeit abgeschnitten 
wird, niemals denselben hohen Grad, wie bei dieser Krankheit. 

Nie lernt der Kranke, der an einem unkompensierten Herzklappen¬ 
fehler leidet, das Gefühl augenblicklicher Vernichtung seines Lebens 
und wahnsinniger Todesangst kennen, welches den Kranken mit 
Stenokardie ergreift und ihn jeder Fassung beraubt, sodass er unter 
lauten Angstrufen und wimmerndem Wehklagen über einen unsäglichen 
Herzschmerz wirr im Zimmer umherirrt, bis er vollständig erschöpft 
zu Boden sinkt. 

Nur bei einem mit schwerster Melancholie und Präkordialangst 
behafteten Geisteskranken findet sich noch dieses Gefühl völliger 
Selbstvernichtung. 

Ein weiteres Kennzeichen des stenokardisehen Anfalles ist, ausser 
seiner masslosen Intensität noch dies, dass der Schmerz vom Herzen 
in den linken Oberarm auszustrahlen pflegt und die Kranken ausser 
Stand setzt, den Arm zur Schulterhöhe zu heben. Ferner verspüren 
die Kranken, während des Anfalles, meist einen lebhaften Drang zur 
Stuhlentleerung, den sie, oft vergebens, wiederholt zu befriedigen suchen. 
Wer einen Kranken im stenokardisehen Anfall gesehen hat, vergisst 
das Bild sein Leben lang nicht; so erschütternd wirkt die Todesangst 
des Kranken. 

Die körperliche Untersuchung der Koronarsklerose ergiebl nur 
wenig bemerkenswerte Abweichungen von der Norm. Ausser der an 
der Radialarterie leicht fühlbaren Arteriosklerose und einem leicht 
unregelmässigen, oft beschleunigten, während des stenokardisehen 
Anfalles verlangsamten Puls findet man über dem Herzen eine mässige 
Hypertrophie des linken Ventrikels, eine leichte Verstärkung dos 
zweiten Aortentons, und — wenn zugleich ein Aortenaneurysma oder 
eine Aorteninsufficienz besteht — ein systolisches, bezw. diastolisches 
Geräusch im zweiten rechten Tnterkostalraum. Ein ovent. bei den 
Patienten vorkommendes Lungenemphysem als kompensatorisch»' Folge- 


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*24 


Dr. A. Ehrhardt, 

erscheinung der Koronarsklero.se anzusehen. wie das Rosenbaeh will, 
halte ich nicht für gerechtfertigt. 

Nach Rosenbach’s Ansicht ist diese Folgeerscheinung nämlich 
dazu bestimmt, die Sauerstoffaufnahme, welche durch verlangsamte 
Blutzirkulation gehemmt wurde, in dem Organismus zu heben und zu 
fördern. 

In dem Emphysem würde ich, sofern es keinen ungewöhnlichen 
Grad erreicht, vielmehr nur eine bedeutungslose Alterserscheinung 


Dagegen stimme ich seiner Ansicht bei. wenn er eine gelegent¬ 
liche Bronchitis auf eine venöse Blutstauung in den Lungen, infolge 
Versagens der Herztätigkeit, zurückführt, da so manche Kranke mit 
Koronarsklerose unter den Zeichen des Lungenödems sterben. Be¬ 
sonders hervorheben möchte ich noch, dass ein stenokardischer Anfall 
niemals mit einem Zustande von Bronchialasthma verwechselt werden 
kann, da die Atemnot bei dem letzteren und das Aushusten fibrinöser 
Bronchialpfröpfe bei der Stenokardie fehlen, und bei dem Bronchial¬ 
asthma die Klagen über Herzbeklemmung, sowie die Angst vor dem 
Tode nie den schrecklichen Grad, wie bei der Stenokardie erreichen. 
Eine Assoziierung beider Krankheiten, wie sie etwa in der Art denk¬ 
bar wäre, dass die fibrinöse Exsudation des Bronchialasthmas die Folg»' 
des Versagens der Herztätigkeit bei der Stenokardie wäre, ist nicht 
beobachtet worden. 

Ein weiteres hierher gehöriges Krankheitsbild, das nicht immer 
leicht von den vorher erwähnten abzugrenzen ist, stellt die Hirn¬ 
blutung dar. 

Ihre charakteristischen Merkmale beruhen darauf, dass der letale 
Ausgang hier nicht sowohl einer inneren Verblutung, als der durch 
den Bluterguss gesetzten Himzertrümmcrung und Hirnkompression 
zuzuschreiben ist. Zu einer Verblutung kann es hier deshalb nicht 
kommen, weil die Blutextravasation nicht in eine freie Körperhöhle, 
sondern in die wenig nachgiebige Hirnmasse erfolgt. Dies Moment 
prägt sich denn auch in der klinischen Gesamterscheinung der Hirn¬ 
blutung aufs Deutlichste aus. 

Zunächst ist die Dauer der Agone auffallend lang. 12 bis drei¬ 
mal 24 Stunden pflegen darüber hinzugehen, bis der Tod dem apo- 
plektischen Insulte folgt. Das Gesicht des Apoplektikers ist nicht 
blass und blutleer, sondern fast ausnahmlos stark hvperä misch. ge¬ 
dunsen und cvanotisch. Infolge der starken Hirnreizung ist ferner 


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Die Diagnose der plötzlichen idiopathischen Todesfälle etc. 


25 


der Puls verlangsamt und voll, und erst unmittelbar vor dem Tode 
wird er — wie bei einem Verblutenden — stark beschleunigt und 
fast unfühlbar klein. Auch die langsame, gleichmässige Atmung des 
Apoplektikers kontrastiert aufs Deutlichste mit der krampfhaft ange¬ 
strengten, unregelmässigen — allmälig bis zu wiederholtem Aussetzen 
und keuchendem Wiedereinsetzen (Oheyne - Stokes’schen Ahnungs¬ 
phänomen) sich steigernden — Atmung des Verblutenden. 

Dagegen ist die Benommenheit bei einem Schlaganfall, sofern er 
zum baldigen Tode führt, bis zur tiefsten komatösen Bewusstlosigkeit 
gesteigert, während der Verblutende bis kurz vor seinem^Tode noch 
einen Rest von Bewusstsein behält. 

Noch unmittelbarer als diese allgemeinen Zeichen weisen einige 
andere auf das Gehirn als den Sitz der Krankheit hin. Sie beruhen 
auf den durch die Blutung gesetzten Hirndefekten und bestehen in 
Störungen der Motilität, Sensibilität und Reflextätigkeit. 

Nun begegnet man zwar bisweilen in der Literatur dem Aus¬ 
spruch, dass es während des apoplektischen Komas unmöglich sei, 
derartige Störungen nachzuweisen. Indes bin ich auf Grund eigener 
Beobachtungen der Ansicht, dass dieser Nachweis, wenn er nicht 
bereits öfters bei einschlägigen Krankheiten erbracht worden wäre, 
hei eingehenderer Prüfung an jedem derartigen Kranken leicht geführt 
werden kann; eine Ansicht, die* sich auch auf die Autorität v. Mona¬ 
ko w’s stützen kann. 

Die Störungen bestehen teils in einem Versagen, teils in einer 
Steigerung der erwähnten Hirnfunktionen. Namentlich im Bereiche 
der Motilität und der Sehnenreflexe sind Differenzen in allen Fällen 
einseitiger Himinsulte, mögen diese durch Apoplexie, Embolien oder 
Tumoren hervorgerufen werden, immer deutlich nachzuweisen. Schwie¬ 
liger wird die Ermittelung von Störungen im Gebiete der Sensibilität 
und der Hautreflexe, während des komatösen Zustandes, sein, obwohl 
auch solche Störungen von einzelnen Autoren unzweifelhaft festgestellt 
worden sind. 

Zur Zeit sind noch zu wenig sichere Beobachtungen über die 
Veränderungen der Motilität und SehnenreHexe bei plötzlichen Todes¬ 
fällen an Apoplexie veröffentlicht, sodass sich zuverlässige Behaup¬ 
tungen darüber nicht aufstellen lassen. Mir schien es in den selbst 
gesehenen plötzlichen Todesfällen an Hirnerkrankungen, dass die 
Sehnenreflexe in dem in Betracht kommenden Körperbezirke immer 
verstärkt, die Motilität bald gelähmt, bald bis zur Kontraktur gesteigert 


□ igiti'zed by 


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2(5 L>r. A. Ehrhardt, 

war. Mag dem nun sein, wie ihm wolle; sicher ist, dass derartige 
.Störungen bei jedem Todesfall an einer einseitigen Hirnerkrankung 
bestehen, und uns die Difl'erentialdiagnose der Apoplexie von den 
übrigen inneren \ erblutungstöden erleichtern werden. 

Die bisweilen bei der Apoplexie beobachteten klonischen Krampfe, 
welche ihre Entstehung einem Durchbruch des IHutes an die Hirn- 
oberfläehe oder in das Ventrikelinnere verdanken, sind nur schwach 
und lliichtig und beschränken sich wohl nie auf eine Körperhälfte, 
sodass sic zur Klärung der uns beschäftigenden Diflcrent.ialdiagno.se 
nichts beitragen. 

Als letzte Ursache des spontanen inneren Verblutungstodes ist 
die akute, nicht traumatische Pankreasblutung hier zu betrachten. 

Im Gegensatz zu Os er will es mir nach den in seinem hoch¬ 
verdienstlichen Buche: -Die Erkrankungen des Pankreas“ geschilderten 
Krankheitsfällen scheinen, dass die akute, nicht traumatische Pankreas¬ 
blutung ein durchaus charakteristisches Krankheitsbild darstellt, welches 
eine Verwechselung mit einer anderen Krankheit gar nicht zulässt. 
Von den seitens der Autoren über Pankreasblutung vermuteten 
Diagnosen: „Darmokklusion. Perforationsperitonitis, perforierendes 
Magen- oder Darmgeschwür, vom Darm ausgehende Pvoseptikämie, 
purulente Peritonitis“ (S. 293 obigen Buches) dürfte wohl in unserer 
Zeit, wo bereits recht viele Fälle tödlicher Pankreasblutung in detaillierter 
Beschreibung veröffentlicht und von Oser in schöner, klarer Weise 
zusammengefasst sind, nur noch das perforierende Magengeschwür 
ernstlich in Vergleich gezogen werden. Denn nur dieses stimmt in 
allen die akute, idiopathische — nicht durch earcinomatöse und ähn¬ 
liche Tumoren verursachte -— Pankreasblutung kennzeichnenden Sym¬ 
ptomen (wie den heftigen im Epigastrium lokalisierten Schmerzen, dem 
Erbrechen schleimiger oder galliger Massen, der Druckemptindlichkeil 
und der Auftreibung des Epigastriums, sowie dem äusserst raschen, 
meist in 24—38 Stunden, seltener erst in 3 Tagen tödlichen Verlaufet 
mit der Pankreasblutung überein. Aber auch liier dürfte die Unter¬ 
scheidung nicht allzuschwer fallen, wenn man die dem todbringenden Er¬ 
eignisse vorangehende Krankheitsgeschichte und das Aussehen des 
Kranken berücksichtigt. 

Während der am Magengeschwür leidende Kranke seit Monaten 
oder Jahren unter allen (vielleicht das wiederholte Bluterbrechen bis¬ 
weilen ausgenommen) dafür wesentlichen und wohlbekannten Symptomen 
zu dulden hatte und ein blasses, kränkliches, zum mindesten hageres 


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Qrigiralfrcm 

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Die Diagnose der plötzlichen idiopathischen Todesfälle etc. 


*27 

Aussehen zeigte, pliegt der Kranke, der einer Pankreasblutung zum 
Opfer fiel, bis auf die letzten 1 bis 3 Lebenslage sieh völlig gesund 
zu fühlen (eventuell abgesehen von gelegentlichen, leichten Kolik¬ 
sehmerzen in der Oberbauchgegend), und in jedem Falle das den 
(iewohnheitstrinker kennzeichnende fette und gedunsene Aussehen und 
gerötete Gesicht zu zeigen. Was nun aber die uns hier beschäftigenden 
Krankheitsbilder anbetrifft, so ist es charakteristisch, «lass weder 
Oser noch ein anderer der die Pankreasblutung behandelnden Autoren 
diese Erkrankungen differentialdiagnostisch gegenüber der Pankreas¬ 
blutung in Betracht gezogen hat. 

Wenn man die veröffentlichten, hierhergehörigen Krankheitsfälle, 
soweit sie nicht durch eine Verletzung hervorgerufen waren, näher 
ansieht, so nahmen sie im allgemeinen folgenden Verlauf fvergl. die 
Fälle von Draper. Seitz. Hooper, Köt.schau, Baiser 1 ) tyif Seite 
275—279 des Oser’schen Buches.): 

Es waren immer junge, im Alter von 24—32 Jahren stehende 
Personen beider Geschlechter, welche dem Trünke und reichlichem 
Essen gefrölmt hatten und daher ein auffallend fettes, kräftiges und 
gedunsenes Aussehen zeigten. Oie ersten Krankheitserscheinungen 
traten nur in dem Balser’schen Falle 4 Wochen, in den übrigen 3 Tage. 
2 Tage, (5 bezw. 3 / 4 Stunden vor dem Tode auf. Sie bestanden in 
äusserst lebhaften Schmerzen im Epigastrium, die von dort in den 
Rücken und die Lenden ausstrahlten, und in heftigem Erbrechen. 

Diese Beschwerden hielten bis zum Tode an, und waren in dem 
so auffallend langsam verlaufenden Falle Baiser s, in welchem die 
erste Blutung durch Verklebung des Mesocolon transversmn und 
Mesenterium abgekapselt wurde, auch von Fieber begleitet. Als dann 
eine Verschlimmerung — vermutlich infolge einer Nachblutung — 
stattfand, dauerte es auch hier nur noch 5 Tage, bis der Tod 
und zwar ebenfalls mit unerwarteter Plötzlichkeit - - eintrat. Dazu 
gesellt sich rasch eine Auftreibung und Spannung im Epigastrium 
hinzu; der Kranke verliert die Besinnung und stirbt in wenigen (1- i>) 
Stunden. —- Bei der Obduktion war das Pankreas entweder durch 
den Bluterguss vollständig zertrümmert, sodass es eine mannsarmdicke. 


1) Die ausführlich geschilderten Fälle Fearnside's und Sarfert’s lasse ich 
hier unberücksichtigt, da es sich bei dem ersteren vermutlich um ein Karcinoni, 
das bei aufmerksamer, klinischer Untersuchung während der einjährigen Krank¬ 
heitsdauer zu erkennen gewesen wäre, beim zweiten um ein Trauma handelte. 


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Dr. A. Ehrhardt. 


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von «lut strotzend gefüllte, strukturlose Masse darstellte, oder die 
Drüse war in ihrer allgemeinen Struktur unversehrt und nur von «lut 
massig infiltriert. In der Bauchhöhle fanden sieh dagegen 1—2 Liter 
Blut, welches aus der zerrissenen Arteria pancreatica stammte. 

In Baiser’s Fall war die Blutung älteren Datums, der Erguss 
daher rostrot bis sehwarzbraun gefärbt, in oben erwähnter Art abge¬ 
kapselt und betrug ebenfalls 1 Liter. 

Wenn uns also die Kenntnis der Vorgeschichte in allen Fällen 
eines spontanen, inneren Verblutungstodes zu einer unzweideutigen 
klinischen Diagnose über die Natur und den .Sitz der Todesursache 
verhelfen wird, so liefert auch die Beobachtung des Todesverlaufes 
selbst einige, wenn auch nicht immer beweisende, so doch bedeutungs¬ 
volle Kennzeichen, lim diese charakteristischen Züge festzustellen, 
seien hier einige der wenigen veröffentlichten Krankheitsfälle beschrieben, 
in denen die Autoren nähere Angaben über die Art des Todes ge¬ 
macht haben. 1 ) 

Buberl veröffentlichte 2 Fälle von rupturierenden Aortenaneurys¬ 
men, die man indes wohl kaum zu den plötzlichen Todesfällen rechnen 
kann, da sie schon während der letzten 1 bis 2 Lebensmonate mit 
unaufhörlichen, erheblichen Beschwerden für die Kranken einhergingen 
und sie veranlassten, ärztliche Hülfe aufzusuchen. So war denn in 
beiden Fällen die Erhebung einer ausführlichen Anamnese und eine 
genaue klinische Untersuchung möglich, auch die Diagnose der Krank¬ 
heit vor dem Todestage gesichert, sodass der Obduktionsbefund im 
allgemeinen keine Ueberraschungcn darbot. 

In dem ersten Falle litt der Kranke, ein 61 jähriger Mann, 2 Monate vor 
seinem Tode an allgemeiner Mattigkeit und wiederholten, heftigen mit Ikterus ver¬ 
bundenen Schmerzanfällen in der Leber- und Magengegend. Sechs Wochen vor 
dem Tode stellte sich auch Fieber von 38 0 und Husten ein, wobei ein leicht 
blutiger Auswurf geliefert wurde. Bei der klinischen Untersuchung wurde eine 
erhebliche Verbreiterung der Herzdämpfung konstatiert, welcho nach oben bis zur 
3. Rippe, nach rechts bis zur Medianlinie, nach links eine Fingerbreite über die 

1) Viele Beschreibungen des klinischen Verlaufes, wie sie z. B. auch 
Tschermak in seiner sonst recht interessanten Arbeit: „Aneurysma aortae 
dissecans mit Ruptur der Arteria coronaria dextra und zweizeitigem Durchbruch 
nach dem Herzbeutel hin u gibt, sind für die Ausarbeitung der uns hier be¬ 
schäftigenden Frage nicht zu gebrauchen. Diese summarische Beschreibung lautet: 
„Es handelte sich um einen 52jährigen, kräftig gebauten und gut genährten Mann, 
welcher seit längerer Zeit über Kurzatmigkeit geklagt hatte, und plötzlich ge¬ 
storben war. Die klinische Diagnose lautete anf Aortenstenose und Pericarditis u . 


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Die Diagnose der plötzlichen idiopathischen Todesfälle etc. 


29 


linke Mammillarlinie hinausreichte. Daneben fand sich eine Verschiebung der 
Leber nach unten, sodass sie um zwei Fingerbreiten den Rippenrand überragte, 
eine handbreite Dämpfung und abgeschwächtes, von Rasseln begleitetes Atmen 
über dem Unterlappen der rechten Lunge. Die Herztöne waren rein, der 2. Aorten¬ 
ton aber accentuiert; die Herzaktion unregelmässig. Am Puls war weiter nichts 
Auffälliges wahrzunehmen. An den Füssen bestanden mässige Oedeme. — ln 
den letzten 12 Lebenstagen litt der Kranke wiederholt an heftigen, schmerzhaften 
Anfällen von Hämoptoe, wobei er in etwa 20 Minuten 200 ccm roten, wenig 
schaumigen Blutes auswarf. Am Todestage fanden sich plötzlich wieder heftige 
Brustschmerzen und gleichzeitig starke Hämoptoe ein, welcher der Kranke nach 
2 Stunden erlag. Bei der Obduktion zeigte sich als wesentlichster Befund ein 
grosses Aneurysma der Aorta descendens, welches mit dem Unterlappen der 
rechten Lunge fest verschmolzen war, und schliesslich das Lungenparenchym 
arrodiert hatte. 

Die 2. Kranke, eine 56jährige Frau, erkrankte einen Monat vor ihrem Tode 
unter ähnlichen Beschwerden, insbesondere an Rücken- und Kreuzschmerzen; 
später an Husten, geringem Auswurf und Fieber. Hierzu gesellten sich 7 Tage 
vor ihrem Tode noch quälende Halsschmerzen und hochgradige Schlingbeschwer¬ 
den, sodass nur kleine Mengen von Flüssigkeiten unter grossen Schmerzen ge¬ 
schluckt werden konnten, auch gleichzeitig eine sehr druckempfindliche An¬ 
schwellung zur rechten Seite der Luftröhre bis zum Kinn hinauf. Die Aufnahme 
in die Klinik fand erst am Todestage statt. Die Kranke fieberte bis 38,4 °, war 
dyspnoisch (Orthopnoe) und cyanotisch. Die rechte Vorderseite des Halses war 
vom Kinn bis zum Schlüsselbein diffus geschwollen und stark druckempfindlich; 
auch die Schlundorgane waren geschwollen und gerötet. Ueber dem Brustbein¬ 
griff war eine 6 cm breito Dämpfung nachzuweisen, in deren Bereich man (insbe¬ 
sondere im linken ersten Interkostalraum) ein systolisches Pulsieren fühlte. Die 
Herzdämpfung war nur nach links verbreitert; sie reichte nach oben bis zur 
4. Rippe, nach rechts bis zur Brustbeinmitte, nach links bis zur linken Mammillar¬ 
linie. Die Herzspitze war nach unten in den 6. Interkostalraum verschoben, stand 
aber in der Mammillarlinie. Die Herztöne waren rein, der 2. Pulmonalton accen¬ 
tuiert, der Radialpuls bis auf 96 Schläge in der Minute beschleunigt und klein. 
Ueber den Lungen hörte man allenthalben feuchtes Rasseln. Etwa 3—4 Stunden 
vor dem Tode verschlechterte sich der Zustand ganz erheblich, indem die Atem¬ 
not und die Schwellung am Halse Zunahmen und die Kranke zusehends schwächer 
wurde. Unter zunehmender Herzschwäche und immer lauterem stridulösem Atmen 
verschied die Kranke. 

Wie die Autopsie zeigte, sass rechterseits am Uebergange des Aortenbogens 
in die absteigende Aorta ein kleinapfelgrosses Aneurysma, welches durch eine 
2 cm weite Oeffnung an seiner Spitze in das retropharyngeale und mediastinale 
Zellgewebe perforiert war und einen frischen Bluterguss gesetzt hatte, der von 
der Schädelbasis längs der rechten Halsseite bis über den Hilus der rechten Lunge 
hinab reichte. Daneben bestand eine ausgedehnte Stenose der Aorta und eine 
diffuse Miliartuberkulose der Lungen, welcher offenbar das Fieber, der Husten 
•nd Auswurf zuzuschreiben waren. 

Georg Moyor hat sich in seiner ans dem Münchener patho- 


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l)r. A. Ehrhardt. 


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logischen Institut stammenden Arbeit: „Zur Kenntnis der spontanen 
Herzruptur“ aufs Eingehendste mit diesem Krankheitsbildc beschäftigt. 

Leider sind die 34 von ihm zusammengestellten Fälle, mit Aus¬ 
nahme von zweien, so kurz referiert, dass man keine Einsicht in den 
Krankheitsverlauf, insbesondere auch die während des letzten Lebens¬ 
tages aufgetretenen Erscheinungen, gewinnt. 1 ) Hierher gehört auch der 
erste von Sternberg veröffentlichte Krankheitsfall, den ich daher 
hier einreihen will (s. unten>. 


Diese genauer 


geschilderten Krankheitsfälle nahmen folgenden 


Verlauf: 


ln dem ersten Falle handelte es sich um einen 62jährigen Zuchthaussträlling, 
einen früheren Brauknecht, der während der letzten Lebensmonate an schwerer 
Albuminurie und beträchtlichem, allgemeinem Hydrops litt. 

Dazu kamen 8 Tage vor seinem Tode typisch stenokardische Anfälle, sodass 
der Kranke seinen baldigen Tod voraussah. ln der Todesnacht klagte Patient dem 
Krankenwärter um 3 Uhr morgens über starke Schmerzen in der Herzgegend und 
über Atemnot. Nach einiger Zeit Hessen diese Beschwerden nach. 2 Stunden 
danach stand Patient aus dem Bette auf, zog seinen Mantel an und suchte den 
\ btritt auf. 

Von dort zurückgekehrt, setzte er sich aufs Belt und stützte den Kopf auf 
den rechten Arm. Als der Krankenwärter wieder nach ihm sah, war Patient in 
dieser Haltung verschieden. 

Das in beiden Ventrikeln dilatierte und hypertrophische Herz wog mit der 
Brustaorta 870 g. Das subepikardiale Fettgewebe war ungemein reichlich ent¬ 
wickelt, die Kranzarterien stark sklerosiert und in ihren absteigenden Aesten 
thrombotisch oder bindegewebig verschlossen. Der derbe Herzmuskel wies an 
der Spitze des linken Ventrikels, nahe dem Septum, einen schrägen, 4 cm langen 
Längsriss mit zackigen und blutig infiltrierten Rändern auf, aus welchem die töd¬ 
liche Verblutung in den Herzbeutel erfolgt war. 

Der 2. Fall betraf einen 59jährigen Landgerichtsdirektor, der — vor 2*/ 2 
Jahren — 1 Monat hindurch an typisch stenokardischen Anfällen gelitten hatte, 
danach aber wieder gesund geworden war. 

Am 4. Tage vor seinem Tode stellten sich plötzlich heftige Brustbeklemmungen 
ein. sodass er am drittletzten Tage sich zu Bett legte. 

Die Herztöne waren tiefe, der Puls schwach, leicht beschleunigt (<sO pro Mi- 

1) Als interessante Daten seien aus dieser Arbeit die Angaben hervorge¬ 
hoben, dass 3 oder mehr pCt. aller plötzlichen Todesfälle auf Herzruptur entfallen, 
und dass fast alle an Herzruptur gestorbenen Personen zwischen 60—70 Jahren 
und fast keine unter 40 Jahren alt waren. Die Risse waren meist 1—2 cm, 
seltener 4 cm lange Längsrisse im linken — seltener im rechten — Ventrikel, 
oder im rechten Vorhofe, bei straffer Herzmuskulatur, oder sie stellten kreis¬ 
runde Kanäle in einem etwa talergrossen, infarzierten und erweichten Bezirk des 
Herzmuskels dar. 



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Die Diagnose der plötzlichen idiopathischen Todesfälle etc. 


31 


mite) aber regelmässig. Die stenokardischen Beschwerden worden so heftig, 
dass Patient — während der letzten beiden Tage — weder in der Nacht, noch am 
Tage Ruhe fand. Die Schmerzen worden kontinuierlich, höchst qualvoll. Am 
letzten Vormittag stellte sich über den Lungen Knisterrasseln und blutiges Sputum 
ein. Das Sensorium trübte sich. Der Puls war sehr beschleunigt (120), faden¬ 
förmig, aber regelmässig. Um 2 Uhr nachmittags sprang der Kranke in einem 
Anfalle von Raserei aus dem Bett, schlug um sich und fiel tot zu Boden. 

Bei der Sektion wies das mässig vergrösserte Herz eine diffuse fettige De¬ 
generation der Muskulatur auf. Der linke Ventrikel war an seiner Vorderfläche 
in Form eines hühnereigrossen Aneurysmas ausgebuchtet, so dass der Muskel nur 
3—4 mm dick war. ln dieser aneurysmatischen Nische lag im Herzinnern ein 
flacher, über feigengrosser, fester, wandständiger Thrombus. Die Muskulatur der 
aneurysmatischen Ausbuchtung war hämorrhagisch infarziert und enthielt mehrere 
oberflächliche epikardiale Risse, die 1 — 1 y 2 cm lang und mehrere mm breit waren. 

Eine vollständige Durchtrennung der Herzwand bestand also nicht. Das 
Epikard wies in der Umgebung der Risse, innerhalb eines 3 Markstück grossen 
Bezirkes, einen frichen Fibrinbeschlag auf. 

Die linke Kranzarterie war D /2 c,n von ihrem Ursprünge durch einen rot¬ 
braunen, federkieldicken Thrombus völlig verstopft. Der Herzbeutel enthielt 3 bis 
4 Esslöffel braunroter, stark blutgemischter Flüssigkeit. 


So häufig Luugcuombolieu hei Sektionen aufzulinden sind, so 
haben sie doch nur äusserst selten solche IJeschafTenhcit. dass sie 
einen plötzlichen Tod zur Folge halten. 

Man findet daher erst nach vielem Suchen hierher gehörige 
l.iteraturherichtc. Wohl sind plötzliche Verblutungen in die Lungen 
\eröffentlicht, aber hei ihnen handelte es sich entweder um eine Ruptur 
des Aortenaneurysmas oder um die Lungenblutung eines Phthisikers, 
oder eines Kranken mit Lungengangrän. L 


Lin längeres Krankenlager pflegt hei einer Lungenembolie dem 
Tode immer voranzugehen, sodass die Aufstellung einer richtigen 
Diagnose sich sehr vereinfacht. 

So war es auch in einem von Fräntzel ausführlich beschriebenen 
Fall, der mir hier als JBeispiel dienen soll. 


Ein 21 jähriger Knecht, welcher sich bereits 14 Tage krank fühlte, wurde in 


1) Wie rasch und unerwartet die Lungenblutung eines Phthisikers zum 
Tode führen kann, sieht man an einem von Fräntzel (auf S.368) veröffentlichten 
Fall. Ein Mann, der vorher anscheinend nie an einem Lungenleiden gelitten 
hatte, sehr wohl genährt war und keine Spnr eines phthisischen Habitus zeigte, 
starb ganz plötzlich an einer suffozierenden Blutung, und bei der Autopsie fand 
sich in den sonst völlig normalen Lungen nur eine kleine Kaverne in einer Spitz«*, 
mit einzelnen, kleinen, käsig-pneumonischen Herden in der Nachbarschaft, die 
ein arterielles Aneurysma barg, von dem die tödliche Blutung ausgegangen war. 


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Dr. A. Ehrhardt, 

soporösem Zustande und mit ziemlich hohem Fieber von 39 0 in die Charite auf- 
genommmen, sodass man anfangs an Typhus dachte, zumal auch etwas Diarrhoe 
bestand. 

Nach 6 Tagen, in denen sich das Sensorium allmählich etwas aufhellte, das 
Fieber aber und die Pulsbesohleunigung (100—120 pro Minute) in gleicher Höhe 
bestehen blieben, hustete Patient eine klebrige mit Blutstreifen durchsetzte Masse 
aus und über dem Oberlappen der linken Lunge bildete sich eine Dämpfung aus, 
über der unbestimmtes Atmen zu hören war. Am 7.—11. Tage hustete der Kranke 
täglich etwa 1 ) ein Speiglas ziemlich hellroten, schaumigen Blutes aus, in welchem 
aber — wie die mikroskopische Untersuchung ergab — nur auffallend wenige rote 
Blutkörperchen, dagegen viele Lymphozyten nachzuweisen waren. Während die 
übrigen Erscheinungen unverändert blieben, deuteten die immer intensiver wer¬ 
dende Dämpfung und lautes Bronchialatmen über dem unteren Bezirk des linken 
Oberlappens, sowie die Klagen des Patienten über heftige Schmerzen an dieser 
Stelle, immer deutlicher auf einen Lungenherd hin. 

ln den folgenden 7 Tagen wird das Sputum chokoladenartig braun und ent¬ 
hält bis 3 cm lange Lungenfetzen. Am 18 Tage des Lazarcttaufenthaltes tritt der 
Tod ein. 

Bei der Sektion findet sich die untere Hälfte des Oberlappens der linken 
Lunge in eine Gangränhöhle umgewandelt, die von derben Bindegewebsschwarten 
umgeben ist, und deren Arterien durch ältere, der Gefasswand fest anhaftende, 
bräunlich-graue Emboli verstopft sind. 

Da in der linken Prostata ein kirsehengrosscr Abscess und in 
den Venen dieses Organes etwas niissfarbige, feste Gerinnsel vorhanden 
waren, zog Fräntzel den Schluss, dass es sich um (»inen embolischen 
Lungern nfarkt handelte, dessen Ausgangsort die Prostata wäre. 

Obwohl Fräntzel im Jahre 1875 diesen Fall als etwas Ausser- 
gewöhnliches ansieht und ihn deshalb aufs Ausführlichste erörtert, — 
und in jener Zeit, wo die bakteriellen Erreger der Infektionskrank¬ 
heiten noch unbekannt waren, hat die pathologische Unterscheidung 
eines in fauligem Zerfall begriffenen Lungeninfarktes von einer tuber¬ 
kulösen Kaverne, mit Thrombosierung der von ihr abgehenden Gelasse, 
gewiss öfters grosse, unüberwindliche .Schwierigkeiten gemacht -- so 
hat er damit doch nur ein Krankheitsbild beschrieben, wie es heute 

1) loh will hier nur darauf hinweisen, dass Laennec (s. Gerhardt, S. 10), 
der die Blutgerinnsel des Infarktes in die Venen verlegte und für Thromben an¬ 
sah, Infarktkranke 10 Pfund Blut in 24 Stunden und 30 Pfund Blut in 14 Tagen 
aushusten Hess, während ein derartiges Ereignis nur bei tuberkulösen Lungen¬ 
blutungen Vorkommen kann, und dass auch Gerhardt im Jahre 1878, dor eine 
ausgezeichnete Beschreibung und Differenzierung des hämorrhagischen Lungen¬ 
infarktes gibt, diese Laennec’sche Ansicht noch nicht als eine irrige zurück¬ 
weisen mag, so sehr sie auch mit seiner eigenen Erfahrung im Widerspruch stellt 
(S. 10). 


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Die Diagnose der plötzlichen idiopathischen Todesfälle etc. 


33 


jedem an einem grösseren Krankenhause tätigen Arzte jährlich wieder¬ 
holt begegnet und als das gewöhnliche klinische Bild des hämorrhagi¬ 
schen Lungeninfarktes vor Augen steht. 

Während dies also der gewöhnliche Verlauf der meisten Lungen¬ 
infarkte ist (soweit sie nicht, was noch häufiger ist, mit Genesung 
enden), -- ein Krankheitsverlauf, den man gewiss nicht unter die 
plötzlichen Todesfälle einbeziehen kann — so gibt es doch auch 
Lungeninfarkte, welche in wenigen Minuten oder Sekunden den Tod 
herbeiführen. 

Sie begegnen sowohl dem inneren Kliniker, der sie bei Herzfehlern 
und Thrombosen der Beinvenen sieht, als auch dem Geburtshelfer 
und Gynäkologen, und zwar diesem noch häufiger, als jenem; insbe¬ 
sondere bei Exstirpationen eines Teiles oder des ganzen weiblichen 
G eschlech tsapparates. 

Es handelte sich dann stets um eine Verstopfung beider Lungen¬ 
arterienäste oder des Hauptstammes selbst, welche von einem in den 
grossen Beckenvenen oder der unteren Hohlvene entstandenen Thrombus 
ihren Ausgang genommen hatte. 

In letzter Zeit haben sich, infolge der Zunahme der gynäkologischen 
Operationen, derartige Todesfälle häufiger ereignet und sind von 
Mahler aus der Leopold’schen Klinik und von Prof. Wyder in Zürich 
eingehend besprochen worden. 

Der erstere hat 22, der letztere 9 Fälle aus eigener Beobachtung 
geschildert. 

Sieht man sich den klinischen Verlauf dieser letzterwähnten Fälle 
irenauer an, so befanden sich die Kranken nach der Vornahme der 
oben erwähnten gynäkologischen Operationen bis zum Todestage hin 
ganz wohl und lebensfrisch. 

Einer bei einzelnen vom zweiten bis dritten Tage ab aufgetretenen 
geringfügigen Temperaturerhöhung von 37,6 bis 38,2 x ) legt Wyder 
mit Recht für das Entstehen der primären Thrombosen nur geringen 
Wert bei. Als ein sicheres Zeichen für eine Thrombose und eine 
drohende Lungenembolie erscheint ihm und Mahler dagegen eine 
wenige Tage nach der Operation noch bestehende und bis zum Tode 
ansteigende Pulsbeschleunigung auf 85—120 Schläge. 


1) Die Fälle 6, 7, 9, die noch höhere Temperaturen, bis 38,7° aufwiesen, 
habe ich hierbei ausser Acht gelassen, weil die Steigerung der Temperatur hier 
unzweifelhaft dem Grundleiden (Peritoneal-Carcinomatose u. a.) und nicht dem 
gynäkologischen Eingriff zuzuschreiben war. 


Vierteyahrssehrift f. ger. Med. o. öff. San.-Wesen. 3. Folge. XXVIII. 1. 

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u 


Dr. A. Ehrhardt, 


Abgesehen von diesem nur dem Arzte auffälligen Symptome 
befanden sich die Kranken bis zu ihrem Todestage völlig wohl. 

Der Tod trat nach 6—19 (in dem Fall No. 6, wo zwei Operationen 
im Zeitraum einer Woche ausgeführt wurden, sofern man die Throm¬ 
bose der ersten Operation zuschreiben will, erst nach 26 Tagen) ganz 
überraschend plötzlich ein. Frühmorgens, nach gut durchschlafener 
Nacht, bei der Mittagsmahlzeit oder des Abends — vielleicht nach¬ 
dem die Kranken eben noch ihre besondere Zufriedenheit über ihr 
Wohlbefinden ausgesprochen, oder den Arzt mit freundlicher Hand¬ 
reichung begrüsst haben — sinken sie mit dem Rufe: „Mir wird übel, u 
oder „Ich ersticke!“ zu Boden und verlieren rasch das Bewusstsein. 

Hochgradige Cyanose und Dyspnoe tritt ein, der Puls steigt 
während des Komas jäh auf 140—160 Schläge an, und in 5—15 
Minuten erlischt das Leben. 

Wenn der Tod ausnahmsweise nicht gleich beim ersten Erstiekungs- 
anfalle, sondern nach mehrstündlicher Unterbrechung erst beim zweiten 
oder dritten erfolgt, so pflegen die Kranken bei den ersten Anfällen 
über heftige Stiche in einer, oder in beiden Skapulargegenden zu 
klagen. Auffallen muss es. dass Wyder. der 9 plötzliche Todesfälle 
an Lungenembolie selbst beobachtet hat, im Gegensatz zu Gerhardt, 
der anscheinend nur die gewöhnlichen, allmählich zum Tode führenden, 
kleinen Lungeninfarkte gesehen hat. nichts von Konvulsionen berichtet, 
die nach Gerhardt, namentlich wenn der Tod erst nach längerer, 
mehrstündiger Bewusstlosigkeit erfolgt sei, dem Erlöschen des Lebens 
vorangehen sollen. 

Als Beispiele plötzlicher Todesfälle, infolge einer Hirnblutung, 
seien hier 2 angeführt, deren einen Kleiber aus der Eichhorst’schen 
Klinik in seiner Dissertation (No. 35 des Literaturverzeichnisses) ver¬ 
öffentlicht hat. 

Unter den 20 durch die Autopsie gesicherten Fällen befindet sich 
nur dieser eine, in welchem der Tod plötzlich erfolgte. 

Ein 44jähriger Glaser, der in seinem 21. und 35. Lebensjahre zwei Anfälle 
von schwerem Gelenkrheumatismus iiberstiinden hatte, litt, namentlich nach der 
zweiten Erkrankung, an Herzbeschwerden, welche allmählich schwere Erstickungs- 
anfälle und chronische Unterschenkelödeme herbeiführten. In der Klinik konsta¬ 
tierte man eine hochgradige Mitralinsuffizienz. 

Nach etwa fünfwöchentlicher Beobachtungsdauer verlor Patient eines Nach¬ 
mittags 5 Uhr „plötzlich die Besinnung und begann zu würgen. Der herbeigerufene 
Arzt konstatierte eine rechtsseitige Hemiplegie. Das linke Auge w T ar vollkommen 


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Die Diagnose der plötzlichen idiopathischen Todesfälle etc. 


35' 


geschlossen, das rechte stand halb offen. Der Mund war ein wenig nach links ver¬ 
zogen. Die rechte Pupille weiter als die linke.“ Am selben Tage starb der Kranke. 

Bei der Sektion fand sich eine ansehnliche, frische Blutung, welche den 
Boden des linken Seitenventrikels im Bereich des Stirnhirns vollkommen zer¬ 
trümmerte und bis zum Streifenhügel reichte. 

Wegen der Schwierigkeit, welche die Auffindung hierher gehöriger 
Fälle ira Allgemeinen, und die solcher mit genauer Schilderung der 
dem Tode vorangehenden Erscheinungen im Besonderen hat, sehe ich 
mich genötigt, als zweites Beispiel eines plötzlichen Todes — infolge 
Himhämorrhagie — einen ganz aussergewöhnlichen Fall anzuführen, 
den Dähnhardt unter dem Titel: „Gehimhämorrhagie in Folge von 
Echinococcus-Embolie der Hirnarterien“ beschrieben hat. 

So ungewöhnlich auch die Ursache dieser akut-tödlichen Hirn¬ 
blutung sein mag. so dürfte der klinische Verlauf doch in nichts von 
demjenigen jener häufigeren Fälle abweichen, in welchen eine unkom¬ 
plizierte Himarterienzerreissung vorlag. 

Ein 12jähriges Mädchen, welches aus der Schule, wegen einer rasch vorüber¬ 
gehenden Ohnmacht und wiederholten Erbrechens nach Hause gebracht worden 
war, sich hier aber wieder völlig erholt hatte, verfiel am nächstfolgenden Morgen 
um 6 Uhr, wie die das Kind öfters beobachtende Mutter erzählte, plötzlich in 
tiefes Koma, nachdem kurz zuvor, nach einem Zungenbiss und einigen von der 
Mutter wahrgenommenen Zuckungen, ein Krampfanfall eingetreten war. 

Als Dähnhardt das Kind eine Stunde später sah, lag es in tiefem Koma 
mit wachsbleichem Gesichte da. Die Pupillen waren stark verengt, die Augenlider 
halb geschlossen. Die Respiration war oberflächlich, schnarchend, der Puls war 
auf 100—120 Schläge erhöht. (Die linke Radialis war pulslos, was Dähnhardt 
durch die vielleicht gerechtfertigte Annahme einer vollständigen Verstopfung auch 
dieses Gefässes durch eine Echinokokken-Embolie erklärt.) Alle Reflexe, auch die 
Sehnenreflexe, waren völlig erloschen; tiefe Nadelstiche riefen an allen Extremi¬ 
täten allerdings noch ein schwaches Zucken hervor. „Bei passiven Bewegungen, 
wie Heben der Extremitäten, machte es den Eindruck, dass links eine ausgeprägtere 
Lähmung bestand; die Erschlaffung der Muskeln war hier mehr eine totale. Nach 
dem Gefühl beurteilt, war die Körpertemperatur erhöht, bis auf 39° etwa; doch 
war die gelähmte, linke Körperseite deutlich kälter, als die rechte. Auf jedem 
Handrücken zeigten sich markstückgrosse, bläulichgraue Flecken. 

Dieser Zustand hielt bis zu dem 5 Stunden später (um 11 Uhr vormittags) 
eintretenden Tode an; nur schien die Temperatur noch bis auf 40° anzusteigen. 
Da es Sommer war und es sich auch um einen plötzlichen Tod handelte, so 
bildeten sich die den Leichen eigentümlichen Blutsenkungsflecke auffallend rasch 
aus, sodass sie noch in der Agone auoh an der Innenseite des rechten Oberschenkels 
und den beiden Gefässfurchen erschienen. Bei der Sektion, die sich bedauerlicher¬ 
weise nur auf den Schädel erstrecken durfte, zeigte sich ein hämorrhagischer Herd 
im rechten Sehhügel, aus dem sinh Blut bis in den vierten Ventrikel hinab 
ergossen hatte. 


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. Dr. A. Ehrhardt, 


Die Arteria basilaris, die linke Arteria fossae Sylvii und linke Arteria 
cerebri profunda waren duroh Echinokokkenblasen verstopft. Die mikroskopisohe 
Untersuchung wies in ihnen deutlich zahllose Häkchen, aber keine vollständigen 
Scolices nach. (Der Fall wurde in einer Doktordissertation von Bulnheim unter 
dem Titel: „Ein Fall von Echinokokkenembolie der Hirnarterien“, Kiel 1890, aus¬ 
führlicher erörtert.) 

Hammer schildert einen Krankheitsfall unter der Bezeichnung: 
„Ein Fall von thrombotischem Verschluss einer der Kranzarterien des 
Herzens.“ 

Richtiger wäre wohl die Benennung: „Verschluss der rechten 
Kranzarterie des Herzens durch einen Thrombus der rechten Aorten¬ 
klappe“, da der Thrombus wohl den Zugang zu der rechten Kranz¬ 
arterie verlegte, aber keineswegs in dieses Gefäss selber hineindrang. 
Da die Sektion sich überdies auf die Untersuchung des Herzens be¬ 
schränken musste, eine weitere Zerstückelung der Leiche wurde 
von den Anverwandten verweigert — so ist es. trotz der negativen 
und erst in der Agone stattfindenden klinischen Untersuchung, durch¬ 
aus nicht ausgeschlossen, dass noch irgendwelche anderen pathologischen 
Veränderungen, z. B. eine Hirnembolie, für den Tod verantwortlich 
zu machen waren. 1 ) Kurzum, der Fall hat. seiner unvollständigen 
Leichenuntersuchung wegen, etwas Unbefriedigendes, wenn auch zuge¬ 
geben werden muss, dass ein derartiger Befund wohl die einzige 
pathologische Veränderung an einer Leiche sein kann, und dann als 
hinreichender Grund für den Tod angesehen werden muss. 

Ein 34jähriKcr Kaufmann, welcher starker Gewohnheiisbiertrinker war, hatte 
seit einem Jahre wiederholt an Gelenkrheumatismus gelitten. Als ihn ein neues 
Rezidiv 4 Wochen lang ans Bett gefesselt hatte, und der Kranke beinahe als ge¬ 
nesen angesehen wurde, kollabierte er eines Tages zur Mittagszeit. Der eine 
halbe Stunde später eintroffende Arzt fand mir Zeichen weitgehender Herz¬ 
schwäche, insbesondere leichte Blässe und Cyanose der Lippen, leichte Dyspnoe 
und einen schwachen Puls von nur 40 Schlägen in der Minute. Das Sensorium 
war völlig frei. Im Laufe des Nachmittags verlangsamte sich der Puls allmählich 
noch mehr, sodass abends 10 Uhr nur noch 16 Schläge zu zählen waren. Am 
nächsten Morgen um 9 Uhr sah ihn auch Hammer und fand etwa den gleichen 
Zustand. Die Cyanose der Lippen bestand fort. Obwohl die Atemfrequenz etwas 
erhöht war < 24 pro Minute), war die Dyspnoe so wenig ausgeprägt, dass sie von 
Hammer überhaupt geleugnet wird. Das Gesicht und die Haut des ganzen 
Körpers waren blass, kühl und mit klebrigem Schweisse bedeckt. Das Sensorium 
war ungetrübt; Patient glich in seiner Haltung, dem Ausdruck der Gesichtszüge 

1) Gegen die Annahme einer Hirnembolie spräche zum Teil allerdings das 
klinische Verhalten dieses Krankheitsfalles. 


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Die Diagnose der plötzlichen idiopathischen Todesfälle etc. 


37 


and in seiner Konversation einem gesunden Manne. Heber den Lungen war nichts 
Abnormes auffindbar. Die Herzdämpfung war nicht vergrössert, die Töne rein, 
aber leise. Der geringen Pulsfrequenz von 8 Schlägen in der Minute entsprach, 
wie auskultatorisch festgestellt wurde, eine gleiche Zahl von Herzkontraktionen. 
Auf den reinen Doppelton einer normalen Herzkontraktion folgte ein schwirrendes 
Geräusch, das einem klonischen Herzkrampf entsprach und 5 Sekunden anhielt; 
alsdann trat eine Pause von 2 Sekunden ein. Diese Vorgänge wiederholten sich in 
der Minute 8 mal. Wegen des urplötzlichen Eintrittes der Krankheitserscheinungen 
und ihrer stetig fortschreitenden Steigerung bei sonst negativem Herzbefunde, kam 
Hammer auf den Gedanken, dass er es mit einer plötzlichen, aber unvollstän¬ 
digen Hemmung der Herzernährung zu tun haben müsste, und stellte die Diagnose 
auf thrombischen Verschluss einer Kranzarterie. Der Kranke starb erst nach 
weiteren 19 Stunden in der Frühe des folgenden Tages. 

Die (unvollständige) Sektion bestätigte die Diagnose, indem an dem allein 
untersuchten Herzen ausser einer Anämie und mässigen fettigen Degeneration des 
Herzmuskels, sowie einer geringfügigen Verwachsung der Aortenklappen, ein 
fester, haselnussgrosser Thrombus von grauroter Farbe in der rechten Aorten¬ 
tasche sass, der die Mündung der rechten Kranzarterie verstopfte, in das Gefäss 
selber aber nicht weiter eindrang. 

Unter den durch v. Leyden beschriebenen Fällen von Koronar- 
sklerose befindet sich leider keiner, in dem ein weisser oder roter 
Herzinfarkt mit sekundärer Ruptur der Herzwand (Myomalacia oder 
Apoplexia cordis, wie sie von Cruveilhier und Ziegler genannt 
werden) vorlag. 

v. Leyden erklärt dies damit, dass plötzliche Todesfälle wohl 
auf der Strasse, aber nicht gut in Krankenhäusern beobachtet werden 
könnten. (In grösseren Irrenanstalten kommen gelegentlich auch der¬ 
artige Fälle zur Beobachtung, so dass ich selbst einen solchen seziert 
habe, dessen Protokoll aber mir nunmehr nur unter grossen Schwierig¬ 
keiten zugänglich wäre.) Auch bei denjenigen seiner Kranken, die 
eines plötzlichen Todes starben, war die nekrotische Erweichung und 
blutige Durchtränkung der Herzmuskulatur nur auf linsen- bis erbsen¬ 
grosse Bezirke der Kammerwand beschränkt. 

Wegen der ausführlichen Schilderung des Todestages seien hier 
Fall 1 und 4 angeführt. 

In dem ersten Falle bandelte es sich um eine 66jährige Arbeiterfrau, die 
während der letzten Jahre öfters an Schwindel und Kopfschmerzen, Husten und 
mässiger Dyspnoe, angeblich aber nie an stenokardischen Anfällen gelitten hat, 
was bei dem später zu beschreibenden Leichenbefund recht befremden muss. Als 
sie eines Tages auf der Strasse in leichte Ohnmacht verfiel und zu Boden sank, 
wurde sie der Charite zugeführt. Bei der klinischen Untersuchung fand sich an 
der altersschwachen, dürftig ernährten Frau ausser einer leichten Dyspnoe und 
Beschleunigung der Respiration (auf 30 Atemzüge in der Minute) und des Pulses 


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38 


Dr. A. Ehrhardt, 


(100 Schläge in der Minute), sowie feuchten Rasselgeräuschen über den unteren 
Lungenpartieen, nichts Auffälliges. Insbesondere war auch das Bewusstsein 
völlig ungetrübt. Am Gesicht zeigte sich Blässe, Mattigkeit und leichte Cyanose 
der Lippen. 

Nach viertägigem Aufenthalt in der Klinik wurde Patientin in der Nacht am 
1 Uhr plötzlich von äusserst heftiger Atemnot und starker Cyanose befallen. Ob¬ 
wohl Husten und Auswarf fehlten, war die Atmung äusserst mühsam, von lautem 
Kochen auf der Brust begleitet. Die Zahl der Atemzüge stieg auf 44—48, der 
Puls zählte 160 Schläge in der Minute, war fadenförmig und setzte öfters aus. 
Das Gesicht war blass, cyanotisch, die Stirn mit Schweiss bedeckt, die Hände 
kühl. Der Urin, welcher früher auffälligerweise eiweissfrei gefunden war, enthielt 
jetzt eine grosse Eiweissmenge. Der Zustand hielt den Tag über unverändert an: 
Trachealrasseln trat allmählich hinzu und am Abend erfolgte der Tod. 

Bei der Sektion zeigte das vergrösserte Herz, ausser starker Verkalkung und 
Verengerung der Kranzarterien, eine frische entzündliche Trübung und Rötung 
des Perikards. Das schmutzig-graurote Myokard enthielt grössere, graugelbe 
Flecke, in welchen die mikroskopische Untersuchung die Zeichen intensiver, fettiger 
Degeneration nachwies. 

Der zweite Krankheitsfall (No. 4 bei v. Leyden) betraf einen 61jährigen 
Mann in gutem Ernährungszustände. Die ersten stenokardischen Anfälle zeigten 
sich im 57. Lebensjahre, angeblich nach schweren seelischen Aufregungen. Nach¬ 
dem jene einige Wochen angehalten hatten, verschwenden sie wieder vollkommen 
und traten erst im 61. Lebensjahre aufs neue hervor. 

Die Anfälle ergriffen den Kranken mehrfach auf der Strasse und nötigten ihn, 
einige Minuten lang stillzustehen, ehe er weitergehen konnte. Schliesslich 
steigerten sie sich dermassen, dass er das Zimmer nicht mehr verlassen konnte 
und Tag und Nacht im Stuhle sitzend verbrachte. Bettlage war ihm unerträglich. 
Die ärztliche Untersuchung ergab, ausser massigen Unterschenkelödemen, einer 
Beschleunigung des Pulses auf 120—140, einer leichten Steigerung und Er¬ 
schwerung des Atems, sowie feuchten Rasselgeräuschen über den Lungen, keinen 
objektiven Befund. Am Herzen war nur eine gewisse Schwache des Spitzenstosses 
auffällig. 

Um so erheblicher w f aren die subjektiven Beschwerden. Patient litt an an¬ 
fallsweise auftretenden Zuständen heftiger Herzangst, welche mit dem Gefühl der 
Erstickungsgefahr und schmerzhaftem Ziehen in beiden Atmen einherging. Diese 
Anfälle steigerten sich ganz allmählich, bis sie nach 4 Tagen äusserst qualvoll 
und unerträglich geworden waren, wobei der Puls flatternd und kaum fühlbar 
wurde. In der Nacht dieses Tages erfolgte in einem solchen Anfalle der Tod. 

Der Befund bei der Sektion glich demjenigen des vorerwähnten Falles; nur 
war, neben frischen Muskelnekrosen, eine chronische bindegewebige Induration 
nachweisbar. Die Kranzarterien waren stark sklerosiert; die linke durch einen 
frischen Thrombus verschlossen. Auch in der linken Herzkammer fanden sich 
einige nicht ganz frische Thromben. 

Von Sternberg’s Fällen seien hier die unter Xo. 1. 3 und (5, 
wegen ihres ausführlicher beschriebenen Todes, in die Betrachtung 
einbezogen. 


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Die Diagnose der plötzliohen idiopathischen Todesfälle etc. 


39 


Im ersten Fall erkrankte der 75jährige Mann, welcher bereits mehrere schwere 
Pneumonicen überstanden hatte, eines Tages wieder an einer Pneumonie, za der 
sich nach 6 Tagen plötzlich ein stenokardischer Anfall hinzugesellte; der Kranke litt 
dabei an Luitmangel, Angstgefühl und starken Schmerzen hinter dem Brustbein; 
zugleich trat Erbrechen und sehr langsamer, unregelmässiger Puls auf. Die Er¬ 
scheinungen milderten sich allmählich, um am 15. Krankheitstage plötzlich aufs 
neue heftig einzusetzen, und die Symptome des Lungenödems hervorzurufen. Am 
17. Tage trat nachmittags auf dem Wege vom Bett zum Sopha plötzlich Beengung 
und der Tod ein. 

Wie die Sektion ergab, war der Tod durch die Ruptur eines linksseitigen 
Herzinfarktes in den Herzbeutel herbeigeführt. Das ziemlich grosse Herz zeigte 
auf der Vorderseite des linken Ventrikels einen mavkstückgrossen, mattgelb ge¬ 
färbten Infarktbezirk, der von hämorrhagisch verfärbter Muskulatur umgeben war. 
Am oberen Rande des Infarktes zeigte sich ein 5 mm langer Querriss mit blutig 
erweichter Umgebung, durch den die Ventrikelhöhle mit dem Herzbeutel in offener 
Verbindung stand. Im Horzbeutel bestand ein ziemlich reichlicher Bluterguss, 
während das Perikard frische Fibrinbeschläge aufwies. Auch im Septum fand 
sich ein anämischer, mattgelbbraun verfärbter Infarktherd. Die Kranzarterien 
waren sehr stark verkalkt; die linke durch einen \ l /. 2 cm langen derben Throm¬ 
bus vor der Teilung in ihre beiden Hauptäste verschlossen. 

Die zweite Kranke, ein 57jähriges, korpulentes Fräulein, das seit mindestens 
einem Jahre an den Symptomen der Herzverfettung, zeitweiligen stenokardischen 
Anfällen und Kurzatmigkeit litt, starb ganz unerwartet. 

„An einem Märzabend des Jahres 1887 hatte sie bei schlechter Witterung 
den Schnee vor der Türe weggekehrt, ging dann die Treppe hinauf, und brach 
auf dem Wege zum Appartement mit grosser Atemnot unter Rufen: „Luft! Luft!“ 
zusammen. — Die Atemnot, zu der Cyanose hinzutrat, steigerte sich, und nach 
einer Viertelstunde trat bei anscheinend freiem Bewusstsein der Tod ein. 

Der hinzugerufene Arzt fand die Kranke bereits tot; aus den Nasenlöchern 
drang weisslicher Schaum.“ An der Leiche fand sich das Herz vergrössert und 
fettreich. Die Vorderwand des linken Ventrikels enthielt einen talergrossen In¬ 
farkt, der zum Teil weich und frisch gerötet, zum Teil in schlaffes Bindegewebe 
umgewandelt war. Beide Aeste der linken Kranzarterien waren durch bräunliche, 
derbe Thromben von 1 bezw. 2 1 / 2 cm Länge verstopft. 

Der dritte Kranke, ein 53jähriger fettleibiger Mann, hatte vor 8 Jahren in 
der Nacht einen heftigen, stenokardischen Anfall überstanden, sich von da ab 
aber völlig gesund befunden. Eines Tages erkrankte er unter den Symptomen 
einer leichten, katarrhalischen Pneumonie. Fieber bestand nicht; der Auswurf 
hatte anfangs eine leicht blutige, später „katarrhalische“ Beschaffenheit. Der 
linke Lungenunterlappen gab leichte Dämpfung des Perkussionsschalles, doch 
konnte der Arzt keine Geräusche hören. 8 Tage später, als der Kranke seine 
Abendsuppe essen wollte, befiel ihn plötzlich hochgradige Präkordialangst, starkes 
Erstickungsgefübl und Herzschmerzen, die in den linken Arm ausstrahlten. 

Eine Stunde später erfolgte der Tod an Lungenödem. Der linke Ventrikel 
des Herzens war im unteren Teil der Scheidewand und der vorderen Wand in 
sehniges, weisses Bindegewebe umgewandelt. Der absteigende Ast der linken 


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Dr. A. Ehrhardt, 


Kranzarterie war in seinem ganzen Verlauf durch einen, mehrfach durch Lücken 
unterbrochenen, festen, gelben Thrombus ausgefüllt. Das Herz selber war von 
einem starken Fettmantel umgeben, hypertrophiert und im rechten Ventrikel dila- 
tiert. Im linken Herzen lag ein pflaumengrosser, im Kern weisser. in der Schale 
rotbrauner Kugelthrombus. Die klinische Dämpfung über dem Lungenunterlappen 
rührte von einem reichlichen Stauungstranssudat her. Die Lungen waren stark 
ödematös durchtränkt, sonst unverändert. 

Um nun einen genauen Vergleich des Verhaltens der einzelnen 
Krankheitsbilder während des letzten Lebenstages anstellen zu können, 
scheint es mir wünschenswert, meiner Betrachtung eine Tabelle voran¬ 
zusetzen, welche die dem Tode vorangehende Krankengeschichte, die 
von dem letzten Kollaps bis zum Tode verflossene Zeit (welche ich 
als Sterbezeit ansprechen würde) und die den Tod begleitenden 
Symptome, soweit sie von den Autoren erwähnt worden sind, in kurzer 
Bezeichnung nebeneinander stellt. 


I. Aortenanenrsma, 


No. 

Kurzer Krank¬ 
heitsbericht. 

Zeitdauer 

des Todes. 

Symptome in der Agone. 

Fall 1. 
(Buberl.) 

12 tägige Hämo¬ 
ptoe von je 
200 ccm. 
(Symptome des 
Aorten¬ 
aneurysmas.) 

2 Stunden. 

i 

1 

Tod nach 2 ständiger Hämoptoe 
unter heftigen Brustschmerzen. 

Fall 2. 
(Buberl.) 

(Symptome des 
Aorten¬ 
aneurysmas.) | 

1 

3—4 Stunden. 

’ 

! 

1 

1 

Zunehmende Atemnot und Hals¬ 
schwellung. 3—4 Stunden vor 
dem Tode zunehmende Herz¬ 
schwäche. 


II. Herzroptur. 


Fall 1. 
(Meyer.) 

8 tägige steno- 
kardische Anfälle. 

Momentan. 

2 Stunden vor dem Tode Erwachen 
aus dem Schlaf wegen Herz¬ 
schmerzen und Atemnot. Vordem 
Tod Besuch des Abortes. Tod 
momentan in sitzender Stellung. 

FaU 2. 

4tagige steno- 

Wenige Mi¬ 

4 Stunden vor dem Tode Trübung 

(M e y e r.) 

kardische Anfälle. 

nuten. 

i 

i 

des Sensoriums. Dyspnoe, blu¬ 
tiges Sputum, Pulsbeschleunigung 
auf 120, Knisterrasseln. Tod in 
einem Anfall von Raserei unter 
zu Boden stürzen. 


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Die Diagnose der plötzlichen idiopathischen Todesfälle etc. 


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No. 

Kurzer Krank¬ 
heitsbericht. 

! " ' 1 

Zeitdauer 

Svinptome in der Agone. 

des Todes. 

| 

Fall 3. 
(Sternberg 

] j 

Mehrtägige steno-; Momentan. Nach mehrfachen stenokardischen 
kardische Anfälle. Anfällen, die schliesslich zu Lun¬ 

genödem und grosser Schwäche 
, , fülirten, Tod plötzlich unter Brust¬ 

beengung auf dem Wege vom Bett 
i 1 zum Sopha. 

i ! 

HI. Lungenembolie. 

Fall 1.) 
Fall 1—9. 
(Wyder.) 

Vorangehende be¬ 
deutende gynä¬ 
kologische oder 
geburtshülflichc 
Operationen. 

(Totalexstirpation j 
u. a. m.) 

5—15 Minuten 1 
(6—19 Tage 
nach der Ope¬ 
ration). 

i 

1 

1 

j j 

Tod bei vollem Wohlbefinden, inner¬ 
halb 5—15 Minuten unter soforti¬ 
gem Bewusstseins verlusl. hoch - 
gradiger Cyanose, Dyspnoe und 
Pulssteigerung auf 140—160 Sch lä¬ 
ge, ohne Krämpfe, 
i Wenn der Tod erst im 2. oder 3. 
Anfall erfolgte, Klage über heftige 
Stiche in einer oder beiden 
Schultern. 


IV. Hirnblutung. 


Fall 1. 
(Eichhorst- 
K loiber.) 

(Vieljährige [rheu¬ 
matische Mitral¬ 
insuffizienz.) 
Sekundärer allge¬ 
meiner Hydrops. 

4—5 Stunden. 

Plötzliche Bewusstlosigkeit 
mit sufort nachweisbarer rechts¬ 
seitiger Hemiplegie. Tod 4 bis 
5 Stunden später. 

Fall 2. 

(Dähuhardt) 

(Echinokokken¬ 

embolie.) 

Am Vortage Ohn¬ 
macht und Er¬ 
brechen. 

» 

5 Stunden. 

1 

P1 ö t z l i c h e s K o m a, vielleicht nach 
vorangegangenem Krampfanfall. 
Links ausgeprägte Hemiplegie und 
links anscheinend Herabsetzung 
der Temperatur. Völliges Erlöschen 
der Sehnenreflexe u. starke Herab¬ 
setzung d. Sehmerzempfindlichkeit. 
Daneb. Fieber v. 39° (infolge gleich¬ 
zeitig. Echinokokkenperitonitis? E.) 

| Pulsbeschleunigung auf 100—120 

1 Schläge, (iesichtsblässe: oberfläch¬ 
liche, schnarchende Respiration. 

Tod 5 Stunden später. 


V. Koronarsklerose. 

Fall 1. 
(Hammer.) 

Frühere leichte 
stenokardische 
Anfälle. 

2 Tage. 

Tod nach 2 tägigem, plötzlich ent¬ 
standenem Kollaps, der mit zu¬ 
nehmender Herzschwäche, Puls- 
Verlangsamung von 40—8 Schlägen 
pro Minute, Anämie, leichter Dy¬ 
spnoe von 24 Atemzügen in der 
Minute, Cyanose, Schweiss und 
Kälte — aber nicht mit Bewusst¬ 
losigkeit — verbunden war. 


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Dr. A. Ehrhardt, 


No. 

Kurzer Krank- 

i 

heitsberieht. 

Zeitdauer 

des Todes. 

Symptome in der Agone. 

i 

Fall 2. 

(v. Leyden.) 

(Frühere steno- 
kardische Anfälle) 
4 Tage vorher 
Kollaps auf der 
Strasse. 

18 Stunden. 

Tod nach ca. 18 ständigem, akut 
entstandenem 2. Kollaps, der mit 
heftiger Dyspnoe von 44 —48 Atem¬ 
zügen in der Minute, starkem 
Rasseln, Cyanose und Pulsbe¬ 
schleunigung auf 160, Blässe, 

1 Schweiss und Kälte (sowie starker 
Albuminurie) \erblinden war. 

Kall :{. 

(v. Leyden.) 

(Frühere steno- 
kardische Anfälle; 
Desgleichen auch 
in den letzten 
Tagen. 

? (in der 
Nacht';. 

Tod in der Nacht nach mehrfachen 
stenokardisehen Anfällen, die mit 
Pulsbeschleunigung auf 120 -140, 
Dyspnoe, Rasseln, Erstiekungsge- 
fiihl, Herz- und linkem Arm¬ 
sehmer/ verbunden waren. 

Kall 4. 

(S t ern b e i ii.) 

Mehrfache stein»- 
kardisehe Anfälle. 

i 

i 

1 4 Stunde. 

Tod nach 1 y 4 ständigem, plötzlich 
entstandenem Kollaps h. Treppen¬ 
steigen : Zubodenstürzen, starke 
Dyspnoe und Cyanose, aber bei 
a n s c h e i n e rt d frei e m Bewusst¬ 
sein. 

Kall 3. 

(Stern berg.) 

(8 Jahre vorher 
stenokardischer 
Anfall.) 

8 Tage vorher 
leichte Pneumonie 

1 Stunde. 

i 

Tod nach einstündigem, plötzlich 
eingetretenem Kollaps während 
des Abendessens, unter starker 
Präkordialangst. Erstickungsangst. 
Her/.- und linken Armschmerzen. 


VI. Koronarrnptur. 


Einige Am Morgen geht Patient kurz | 

Stunden. hintereinander 2 mal — wegen >• 

heftigen Stuhldrangos — auf den I 

Abort, fällt beidemal in tiefe Ohn¬ 
macht und stirbt kurz darauf 
unter hochgradiger l)yspn*>e. aber 
ohne Konvulsionen. 

Stunden. (rnruhiger'Schlaf, 2maliger Stuhl¬ 
drang.) 

Tod nach 3ständigem,plötzlichem ! 

Kollaps, unter starker Dyspnoe 
und Cyanose, anfangs Pulsver- 
langsamung von 60, später Puls¬ 
beschleunigung von 120—140: 

soporöse Ben om mcnheit, 
heftige zweistündige allgc- | 

meine K r ii m p fe (mit Ausnahme 
« des linken Armes). Herzdäm- 

( pfung verbreitert, Abschwächung 

( der Herztöne. 

Broncbialrasseln. 


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Kall 1. ? 

(Oglie.) (Am Tage vorher 
aufgeregte Herz¬ 
tätigkeit, Pulsbc- 
schleunigung auf 
104, >ystolisches 
Geräusch über der 
Herzspitze.) 

Fall 2. Vielfache steno- 
(Ehrhardt.) kardische Anfälle. 

(Diastolisches 
Aortengeräusch.) 


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Di« Diagnose der plötzlichen idiopathischen Todesfälle etc. 


43 


Obwohl man sich gewöhnt hat, derartige Todesfälle als plötz¬ 
liche zu bezeichnen, so zeigt docli ('ine nähere Betrachtung, dass ihnen 
allen Krankheitserscheinungen vorangegangen waren, und dass diese 
meist derart charakteristisch waren, dass sie unzweideutig auf das 
betreffende Leiden hinwiesen. Wenn ein junger Mann, wie der von 
Leyden und Oestreich untersuchte Offizier, stets rüstig seinen 
Dienst getan hat und allgemein als gesund galt, dann aber plötzlich 
in der Hochzeitsnacht .verstirbt, oder ein 12jähriges Mädchen die 
Schule wegen eines schweren Ohnmachtsanfalles verlassen muss und 
am nächsten Morgen tot ist, oder ein Mann mitten in der Arbeit, in 
der Gerichtssitzung, der er als Präsident Vorsicht, bei einem Geschäfts¬ 
gänge oder Spazierritte, auf einem Hochzeitsfest, bei der häuslichen 
Arbeit oder während des Essens in Ohnmacht sinkt und unmittelbar 
oder in wenigen Minuten oder Stunden stirbt, so sind das Ereignisse, 
die uns rätselhaft erscheinen und uns die Hinfälligkeit des mensch¬ 
lichen Organismus vor Augen führen, den wir sonst, wegen seiner 
Widerstands- und Regenerationsfähigkeit bei schweren Krankheits¬ 
attacken. als etwas Beständiges und Dauerhaftes anzusehen ge¬ 
wöhnt sind. 

Und doch ist es ärztlicherseits noch nie beobachtet worden, dass 
ein völlig gesundes Individuum plötzlich dem Tode verfiel. Stets 
fanden sich bei plötzlichem Tode pathologische Veränderungen an 
einem Organe der Leiche, welche eine hinlängliche Erklärung für den 
unerwarteten Tod ermöglichten. Ein Organ aber, das an der Leiche 
derart befunden wird, dass es den Tod herbeiführt, muss auch zu 
Lebzeiten schon irgendwelche auffälligen klinischen Erscheinungen ver¬ 
anlasst. haben. 

Kurzum, der plötzliche Spontantod eines gesunden Individuums 
ist eine Unmöglichkeit. 

Dies bestätigen auch die von uns hier gesammelten Fälle. Alb* 
diese plötzlich gestorbenen Personen, mochte ihr Tod nun durch ein 
Aortenaneurysma, eine Herzruptur, ('ine Lungenembolie, eine Hirn¬ 
blutung. eine Erschlaffung des Herzmuskels durch einfache Koronar- 
sklerose oder sekundäre Koronarruptur verursacht sein, haben schon 
vor dem Todestage Krankheitssymptome gezeigt, welche nicht nur die 
körperliche Krankhaftigkeit der betreffenden Person im Allgemeinen 
darlegten, sondern auch auf das betreffende erkrankte Organ mit un¬ 
verkennbarer Deutlichkeit hinwiesen. Es erübrigt sich die Schilderung 
dieser für die einzelnen Leiden charakteristischen Symptome an der 


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44 


Dr. A. Ehrhardt, 


Hand der obigen Einzelfälle durchzuführen. da sie ja vorher im All¬ 
gemeinen bereits in detaillierter Ausführung gegeben wurde. 


So sicher nun auch die Diagnose der Todesursache durch die 
Kenntnis der vorangehenden Krankheitserscheinungen gemacht wird, 
so hat doch auch der Tod selbst manches für die betreffenden Krank - 
h e i t en Charakteristische. 

Zunächst ist die Zeitdauer, welche zwischen dem ersten Kollaps 
und dem nachfolgenden Tode verlliesst, bei den einzelnen Krankheiten 
verschieden lang. Am raschesten erfolgt der Tod bei Herzruptur; er 
tritt hier sofort, in wenigen Augenblicken ein. Etwas längere Zeit. 
5—15 Minuten, erfordert der Tod bei der Lungenembolie. 

Hei der Verblutung aus einem Aortenaneurysma und der Hirn¬ 
blutung pflegen mindestens 2—4 Stunden zu verstreichen, ehe das 
Leben, infolge der Blutung, erlischt ; etwas längere Zeit — in unserem 
Falle 4—5 Stunden — dauert es bei der Ruptur einer Kranzarterie. 

Wenn die Koronarsklerose aber ohne diese Komplikation, allein 
durch allmähliche Ernährungsstörung des Herzmuskels, das Lebens¬ 
ende herbeiführt, so vergehen stets viele Stunden. — 12—48 in den 
oben zitierten Fällen. — 

Eine Ausnahme von dieser Regel hat vielleicht jener durch 
v. Leyden und Oestreich untersuchte, oben erwähnte Offizier ge¬ 
bildet, der möglicherweise bereits eine Viertelstunde nach dem ersten 
Kollaps verstarb. 

Die Richtigkeit dieser Regel, welche ich aus den Schilderungen 
der obigen Krankheitsfälle extrahiert habe, ist ja auch ohnedies wahr¬ 
scheinlich. Denn, da der für das Leben notwendige Blutkreislauf 
nirgends so erheblich beeinträchtigt wird, als wenn die Herzvvand 
selbst einen grösseren Einriss erfährt — entweder nach vorangehen¬ 
der breiiger Erweichung eines frischen Infarktherdes, oder infolge 
plötzlichen Platzens einer bindegewebigen, aneurysmatischen Aus¬ 
buchtung — so muss hier der Tod am raschesten erfolgen. 

Da ferner das gesamte Blut des Körpers im Zeitraum von 20 Se¬ 
kunden das Herz passiert und schon ein Blutverlust von y 6 — 1 / 4 des 
Gesamtblutes das Leben endet, so wird kaum eine Minute bei der 
Herzruptur genügen, den Tod herbeizuführen. 

Ebenso wird die Lungenembolie in recht kurzer Zeit das Leben 
des Individuums enden, vorausgesetzt, dass nicht, wie in der weit 
überwiegenden Mehrzahl der Fälle, nur ein kleiner Lungenbezirk, sondern 


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Die Diagnose der plötzlichen idiopathischen Todesfälle etc. 


45 


eine ganze oder gar beide Lungen durch den embolischen Propf von 
der Zirkulation und durch den alsbald erfolgenden Kollaps auch von 
der Atmung ausgeschlossen werden. 

Der Tod ist hierbei der durch Strangulation herbeigeführten, 
künstlichen Erstickung der Selbstmörder gleichzusetzen, bei der gleich¬ 
falls die Luftzufuhr zu beiden Lungen abgesperrt wird und welche 
— nach v. Hofmann’s klassischen Erörterungen — etwa 5—15 Mi¬ 
nuten erfordert, um das Leben unwiderbringlich auszulöschen. 

Wenn der Tod bei der Ruptur eines Aortenaneurysmas oder bei 
einer Hirnblutung erst in wesentlich längerer Zeit erfolgt, so kann 
uns dies nicht überraschen. Denn im ersteren Falle tritt die Blutung 
ganz langsam, fast tropfenweise ein, mag sich das Blut nun durch 
die äussere Haut oder in die Luft- oder Speiseröhre entleeren, und 
nimmt erst allmählich ein mit dem Leben unvereinbares Mass an. 
Sofern aber der Tod nicht infolge einer Verblutung, sondern infolge 
der Kompression lebenswichtiger Organe — z. B. der Halsnerven und 
grossen Halsgefässe — erfolgt, dürfte eine womöglich noch längere 
Zeit zur Auslösung des Todes erforderlich sein. 

Aehnlich wie in diesem Falle ist auch bei der Hirnblutung nicht 
die Blutung an sich, sondern die durch sie herbeigeführte Schädigung 
der betroffenen Organbezirke für den Tod verantwortlich zu machen, 
wobei ausser der Zertrümmerung eines umschriebenen Hirnbezirkes 
noch die ödematöse Durchtränkung und Quetschung der Nachbar¬ 
gebiete in Frage kommen. Die kompakte Hirnsubstanz wird aber 
dem Drucke des ausströmenden Blutes einen noch erheblicheren 
Widerstand entgegensetzen, als das weniger feste Gefüge des eervikalen 
und mediastinalen Zellgewebes: auch verzögert der geringe Blutdruck 
in den Hirngefässen den Austritt des Blutes gegenüber der Blutung 
eines Aortenaneurysmas. 

Wenn trotzdem der Tod hei dem Hirnschlage nicht langsamer 
erfolgt, als bei der Verblutung aus einem Aortenaneurysma, so kom¬ 
pensiert eben der Ausfall jedes grösseren Hirnteiles den Schaden, 
welchen der Organismus bei einer profusen Verblutung erleidet. 

Wieder etwas länger dauert es bei der Ruptur eines Kranzgefässes 
(und vermutlich auch bei der Zerreissung der Aortenintima, sobald 
sie — wie meist — zunächst ein Aneurysma dissecans und alsdann 
eine Blutung in den Herzbeutel veranlasst) bis der Tod erfolgt. Wenn 
wir diesen Vorgang mit den durch die Ruptur eines Aortenaneurysmas 
geschaffenen Verhältnissen vergleichen, so erscheint es einleuchtend, 


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46 


Dr. A. Ehrhardt, 


Hass eine Verblutung iiu letzteren Falle rascher von statten gehen 
muss. Die Grösse des hierbei zerrissenen Gefässes und die unmittel¬ 
bare Kommunikation desselben mit einem leeren Raum (Speise- oder 
Luftröhre), oder mit der äusseren Luft sind hierbei offenbar von Be¬ 
deutung. 

Wenn aber nicht die Verblutung aus dem Aortenaneurysma, son¬ 
dern die Kompression lebenswichtiger, im Zellgewebe des Halses oder 
des Brust raumes gelegener Nerven- und Blutgefässe die unmittelbare 
Todesursache bildet, so mag wohl beim Aortenaneurysma der Tod 
nicht schneller erfolgen, als bei der Koronarruptur (oder jener oben 
näher gekennzeichneten Art des dissezierenden Aneurysmas). 

In dem einen Fall verhindert die Nachgiebigkeit und leichte 
Spaltbarkeit des lockeren Zellgewebes eine zu rasche Kompression 
der in ihm gelegenen hochwichtigen Nerven- und Blutgefässe; im 
zweiten Falle verzögert dagegen die Starrheit und schwere Spaltbar¬ 
keit der Aortenwand eine sofortige Verblutung in den Herzbeutel. 

Zunächst kann es befremden, dass der Tod bei einfacher Koronar¬ 
sklerose, nachdem dieselbe einmal einen mit dem Weiterleben des 
Organismus unvereinbaren, hochgradigen Kollaps erzeugt hat, so un- 
verhältnismässig lange Zeit. 12—48 Stunden auf sich warten lässt. 
Insbesondere wenn eine Embolie oder eine autoehthonc Thrombose 
einer Kranzarterie entstanden ist, tvürde man ein schnelleres Absterben 
erwarten. Wenn die Wirklichkeit dieser Erwartung widerspricht, so 
ist im letzteren Falle zunächst an eine kompensatorische Steigerung 
des Blutzuliusses aus den unverschlossenen Kranzgefässen in den ge¬ 
fährdeten Bezirk der Herzmuskulatur zu denken. 

Die Bedeutung dieser kollateralen Blutversorgung ist um so höher 
zu bewerten, als sie ja in nicht wenigen Fällen — und selbst wenn 
der Herzmuskel in grösserem Umfange und in seiner ganzen Wand¬ 
stärke der Nekrose anheimgefallen ist - genügt, eine Ausheilung 
herbeizuführen, und zwar in der Form einer derben Schwielenbildung. 
Wirkt also schon der kollaterale Bluttransport auf das Erlöschen der 
Herztätigkeit verzögernd ein, so dürfte ein weiteres Moment, das dem 
Herzmuskel besonders eigentümlich ist und ihn vor der übrigen 
Körpermuskulatur auszeichnet, von noch grösserer Bedeutung sein. 

Ich denke hierbei an die von Engelmann u. a. gelehrte Auto¬ 
matic des Herzmuskels, welche ihn von den schwankenden Einflüssen 
des gesunden, wie des kranken Organismus wenigstens teilweise unab¬ 
hängig macht und ihm eine besondere Widerstandsfähigkeit verleiht. 


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Die Diagnose der plötzlichen idiopathischen Todesfälle etc. 


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Wenn das durch Abbinden der Venensinus von jeder Blutzirku¬ 
lation abgesperrte (Gaskell und Wooldridge) oder durch Abschneiden 
aus dem Körper vollständig entfernte Herz des Frosches (Stannins) 
eine Zeit lang ruhig weiter schlägt, so ist damit der unzweifelhafte 
Beweis erbracht, dass es in Wirklichkeit ein zum Teil selbständiges 
Zentralorgan für das Leben darstellt. 

Wenn nun ein gleicher Versuch mit dem Herzen der Säugetiere 
bisher nicht gelungen ist und auch wohl nie gelingen wird, so ist 
doch auch ihrem Herzen eine gewisse Selbständigkeit eigen. Ich will 
hierbei nicht auf den Engelmann’schen Versuch zurückgreifen, wonach 
auch das vielfach eingeschnittene Herz des lebenden Säugetieres seine 
Kontraktionen eine Zeit lang fortsetzt, und ebensowenig auf den höchst 
auffälligen Umstand hinweisen, dass das Menschenherz, ausser an einer 
kleinen Stelle der Hinterwand der Vorhöfe, der Ganglienzellen und 
auch jeder anderen nervösen Endapparate ermangelt, wie solche den 
anderen vom Gesamtorganismus abhängigen Organen, zwecks Ueber- 
tragung dieser zentralen Einflüsse, zukommen. 

Noch viel unmittelbarer wird die höchst merkwürdige Resistenz 
und Selbständigkeit des Herzmuskels durch zwei Umstände bewiesen, 
deren E. v. Hofmann und v. Leyden gedenken. 

Der erstere fand das Herz eines durch den Strang hingerichtcten 
Verbrechers noch 8 Minuten nach der Suspension deutlich pulsieren. 
Während der ersten 3 Minuten war die Pulsation an der Brustwand 
deutlich zu sehen, und während der folgenden 5 Minuten durch das 
Gehör festzustellen, is. S. 480 v. Hofmann's -Lehrbuch der gericht¬ 
lichen Medizin“.; 

v. Leyden hebt (s. Deutsche medizinische Wochenschrift, 1898. 
S. 486 „Kurze kritische Bemerkungen über Herznerven“) hervor, dass 
in Fällen, wo der Tod durch den Druck eines Hirntumors auf das 
im Nachhirn gelegene Atemzentrum herbeigeführt wurde und unter 
fast plötzlichem, dauerndem Ateiustillstande das Leben erloschen war. 
das Herz noch eine halbe Stunde nach diesem Zeitpunkte unbeirrt 
weiterschlug. 

Wenn das Herz aber derartig schweren Eingriffen in seine Lebens¬ 
tätigkeit eine Siebentel, bezw. eine halbe Stunde widerstand, so werden 
wir auch verstehen, dass eine demgegenüber weit geringfügigere Er¬ 
nährungsstörung, wie sie durch eine chronische Koronarsklerose und 
Thrombose, oder auch eine akute Koronarembolie verursacht wird, 
wohl einen akuten Kollaps, aber keinen sofortigen Tod des Herzens 


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Dr. A. Ehrhardt, 


her vor rufen kann. Es bedarf, wie auch obige Fälle aufs Beste illu¬ 
strieren, zum Mindesten eines halben Tages — höchstens aber zweier 
Tage — bis auf diese Weise ein dauernder Stillstand des Herzens 
erzielt wird. 

Weitere Anhaltspunkte für eine Unterscheidung zwischen den bei 
einem plötzlichen, spontanen Tode in Betracht kommenden Krank¬ 
heitszuständen liefert eine genaue Beobachtung der während des Todes 
sich zeigenden klinischen Erscheinungen. Unter diesen Symptomen 
sind drei verschiedene Klassen auseinander zu halten. 

Die erste bilden jene Symptome, die man als allgemeine An¬ 
zeichen des drohenden Todes bezeichnen kann, insbesondere die Be¬ 
wusstlosigkeit. 

Die zweite Klasse wird vonden direkten Organsymptomen dargestcllt. 

Eine dritte Klasse bilden die Symptome des Verblutungstodes, 
unter denen in erster Linie die Krämpfe unsere Aufmerksamkeit auf 
sich ziehen. 

Unter den allgemeinen Anzeichen des drohenden Todes sind Fieber 
und Bewusstlosigkeit besonders hervorzuheben. Was das erstere an¬ 
betrifft, so wäre bei der aseptischen Natur der uns hier beschäftigen¬ 
den, pathologischen Prozesse zu erwarten, dass es stets fehlen würde. 
Dennoch wird es bei der Hirnblutung gelegentlich beobachtet und 
durch die Annahme von Wärmezentren in dem Streifenhügel und ihm 
benachbarten Hirnteilen erklärt, eine Annahme, welche sich auf physio¬ 
logische Experimente von Schiff, Eulenburg und Landois stützt. 
Da diese Versuche aber einer älteren Zeit angehören, so dürften sie 
kaum unter strenger Beobachtung aseptischer Kautelen ausgeführt 
sein. Da nun aber Fieber nur bei der Hirnblutung gelegentlich beob¬ 
achtet wird, so würde sein Nachweis bei plötzlichen Spontantodes¬ 
fällen einen für deren Diagnose wertvollen Anhalt liefern. 

Ein weiteres Moment von erheblicher Bedeutung stellt die Be¬ 
wusstlosigkeit dar. 

v. Leyden sagt hierüber auf S. 479 seiner Arbeit: 

„Das Sensorium bleibt (bei den Todesfällen an Koronarsklerose) 
oft bis zum Tode vollkommen frei, andere Male aber tritt früh¬ 
zeitig eine Verdunkelung ein: Somnolenz. Delirien, erst zuletzt Koma. 
Es ist wichtig, dies hervorzuheben, weil gewöhnlich angenommen 
wird, dass bei diesem plötzlichen Herztod das Sensorium bis zuletzt 
frei bleibt, und dass hierin ein diagnostischer Unterschied von dem 
plötzlichen Tod durch Hirnapoplexie gegeben ist.“ 


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Dieser Ausspruch, welcher sich auf vieljährige Erfahrung und 
überwältigend scharfsinnige Beobachtung stützt, ist unzweifelhaft richtig; 
doch dürfte auch die zurückgewiesene Behauptung einen Kern von 
Wahrheit enthalten. Dies kann um so bereitwilliger anerkannt werden, 
als uns gerade jener Leyden’sche Satz den Weg weist, mittels dessen 
die Bewusstlosigkeit als differentialdiagnostisches Hülfsmittel verwandt 
werden kann. 

Denn es handelt sich hierbei nicht nur um die Frage, ob Bewusst¬ 
losigkeit besteht oder nicht, sondern auch darum, wann die Bewusst¬ 
losigkeit eintrat und welchen Verlauf sie nahm. Je grössere Auf¬ 
merksamkeit man bei plötzlichen Todesfällen den Erscheinungsformen 
der Bewusstlosigkeit widmen wird, desto mehr Eigenheiten wird man 
bei den verschiedenen Krankheitszuständen wahrnehmen. 

Wenn mir diese Eigenheiten auch nicht vollständig bekannt sind, 
so will ich doch Einiges hier hervorheben, das aus einer Betrachtung 
der in obiger Tabelle kurz charakterisierten Krankheitsfälle ent¬ 
nommen ist. 

Da die Bewusstlosigkeit auf einer Hirnveränderung beruht, deren 
physikalische oder chemische Einzelheiten leider nicht näher bekannt 
sind, so tritt sie erst dann in die Erscheinung, wenn die dem plötz¬ 
lichen Tode zu Grunde liegende Krankheit dies Organ in Mitleiden¬ 
schaft gezogen hat. 

Dies geschieht beim Hirnschlage unmittelbar und — soweit jeden¬ 
falls die uns hier beschäftigenden, tödlich endenden Apoplexieen in 
Frage kommen — in ausgedehntem Umfange auch an einem für alle 
Lebensfunktionen bedeutungsvollen Orte, nämlich den basalen Hirn¬ 
ganglien und der ihnen benachbarten, inneren Kapsel. Deshalb wird 
die Bewusstlosigkeit hier im engeren Sinne urplötzlich — geradezu 
schlagähnlich — eintreten und sofort ihren höchsten Grad, den einer 
vollständigen — Todesschlaf ähnlichen — Benommenheit und Reaktions- 
losigkeit erreichen, den wir mit dem Namen Koma bezeichnen. 

Nur bei einer der hier in Betracht kommenden Todesarten nimmt 
die Bewusstlosigkeit mit gleicher Geschwindigkeit denselben Höhepunkt 
an, nämlich bei der ein- oder beiderseitigen, vollständigen Lungen¬ 
embolie, weil hierbei dem Gehirn die Zufuhr der ernährenden Blut¬ 
flüssigkeit in einem Augenblick gänzlich abgesperrt wird. 

Eine Trennung dieser beiden Todesursachen wird aber dann 
möglich sein, wenn man sich der Mühe unterzieht, den Sterbenden 
auf einige Lokalsymptome zu untersuchen. Ich bin überzeugt, dass 


VierteUahrMehrift f. ger. Med. n. Off. San.-Wesen. 3. Folge. XXYIII. 1. 

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Dr. A. Ehrhardt, 


sowohl heim Hirn- wie heim Lungensehlago entsprechende Lokal- 
symptoinc niemals fehlen werden. 

Beim Himschlage sind sie auch bereits von manchem Beobachter 
hervorgehoben worden und sollen von mir später näher erörtert werden. 

Leider ist dies beim Lungenschlage bisher nicht geschehen, offen¬ 
bar deshalb nicht, weil die spontan-tödlichen, in der Literatur nieder¬ 
gelegten Lungenembolieen sich nicht in inneren Kliniken, sondern in 
gynäkologischen Anstalten ereignet haben. 

Es ist aber wahrscheinlich, dass eine ausgedehnte Lungenembolie, 
die innerhalb 5—15 Minuten den Tod offenbar in erster Linie, infolge 
vollständiger Hemmung der Lungentätigkeit, herbeiführt, einerseits an 
und für sich eine erhebliche Abschwächung des Atemgeräusches über 
einer oder beiden Lungen bewirken wird, umsomehr, als sich auch 
nach dem Cohnheim’schen Prinzip eine hyperämische Infarzierung 
der betroffenen Lungenbezirke alsbald einstellen muss; während anderer¬ 
seits in den eventuell noch atmenden Lungenteilen sich ein Zustand 
von akutem Emphysem entwickeln wird. 

Ebenso ist es wahrscheinlich, dass sich bei der Lungenembolie, 
trotz der mehr oder minder vollständigen Absperrung der Luftzufuhr 
von seiten des rechten Ventrikels ein «igonales Lungenödem mit den 
dafür charakteristischen Zeichen — zunächst des Pfeifeus und Giemens, 
alsdann grossblasigen, feuchten Basseins und schliesslich weithin hör¬ 
barer Trachealgeräusche — entwickeln wird. Dies Lungenödem wird 
seine Entstehung verdanken dem zugleich eintretenden, allmählich zu¬ 
nehmenden Versagen des linken Herzens, dem Absinken des Blut¬ 
druckes in den verstopften Arterien der Lungen, endlich aber der 
daraus resultierenden venösen Rückstauung, wie sie der Cohnheim¬ 
sehen Theorie der Infarktbildung zu Grunde liegt, und ferner der mit 
dem gleichen Prinzip motivierbaren Aufsaugung des Blutes aus den 
von der Blutzufuhr ja nicht abgespenten Bronchialarterien. 1 ) 

Da diese Lungensymptome bei der tödlichen Hirnblutung entweder 
ganz ausbleiben oder — - soweit die agonale Asphyxie in Frage kommt — 

1) Wie rasch sich Lungenödem entwickeln kann, habe ich mehrfach an Para¬ 
lytikern gesehen, welche in einigen Minuten — vor Eintreffen des Arztes — an 
Erstickung gestorben waren, indem sie sich beim Essen, mittels grosser Fleisch¬ 
stücke, den Kehlkopfeingang verstopft hatten. Da die Kranken noch nicht in die 
allerletzten Stadien der Paralyse, die sich in allmählicher Atrophie und Lähmung 
aller Körpermuskeln äussern, eingetreten waren, so ist eine allmähliche Entstehung 
dieses Lungenödems aus chronischer Herzschwäche nicht annehmbar. 


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erst nach einigen Stunden sich entwickeln, so wird eine Unterscheidung 
beider Krankheitszustände leicht sein. 

Bei allen übrigen uns hier beschäftigenden Krankheitszuständen 
bleibt die Bewusstlosigkeit bis unmittelbar vor dem Tode vollständig 
aus oder sie entwickelt sich ganz allmählich, indem sie — wie dies 
v. Leyden in obigem Zitate ausspricht — von leichter Somnolenz 
unter deliranter Unruhe in tiefes Koma übergeht. 

Ls gilt dies sowohl von der Ruptur eines Aortenaneurysmas, wie 
von der Koronarsklerose und ihren Folgezuständen, der Herz- und 
Koronarruptur. 

Was insbesondere die einfache, unkomplizierte (oder nur durch 
Thrombose oder Embolie der Kranzarterien komplizierte) Koronar¬ 
sklerose anbetrifft, so ist es auffällig, dass die Autoren ihre Kranken 
bis unmittelbar vor dem Tode bei Bewusstsein (vergl. namentlich 
Hammers und Stern b erg’s Fälle) fanden. Hervorragend charak¬ 
teristisch ist vorzugsweise das Verhalten des Hammer’schen Patienten, 
der, trotz gänzlichen thrombotischen Verschlusses einer Kranzarterie. 
— während des dem Tode vorangehenden, hochgradigen Herzschwäche¬ 
zustandes — bis zuletzt auf alle an ihn gerichteten Fragen in klarer 
Weise Auskunft erteilte. 

Man wird es daher als Regel ansehen können, dass Herzkranke, 
welche eines plötzlichen Todes starben, das Bewusstsein erst nach 
mehrstündiger Dauer des Kollapses — oder erst mit dem Moment 
des Todes — verlieren. Bei einigen Kranken — wie z. B. bei dem 
zweiten von Meyer beobachteten Falle von Herzruptur und bei meinem 
an Kranzarterienruptur sterbenden Patienten — war mit dem Eintritt 
des Kollapses auch eine starke, geistige Benommenheit verbunden, 
die allmählich bis zu vollkommenem Koma anwuehs. 

Weitere Unterscheidungsmerkmale liefern die Lokalsymptome. 

Für die meisten Krankheiten habe ich diese schon vorher erörtert, 
so insbesondere für das Aortenaneurysma und die Lungenembolie. 1 ,) 

Bei der Herz- und Kranzarterienruptur, bei denen sich das Blut 
in den Herzbeutel ergiesst, wird mittels der Perkussion eine Ver¬ 
breiterung der Herzdämpfung nachzuweisen sein, wie ich dies auch in 
meinem Falle vermochte.. 


1) Da von den hier in Frage kommenden Krankheiten nur beim Aorten¬ 
aneurysma die Blutung nach aussen, durch die Luft- oder Speiseröhre, erfolgen 
kann, so wird sic in Verbindung mit den anderen, charakteristischen Erscheinungen 
mit Sicherheit auf dies Leiden hin weisen. 


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Dr. A. Ehrhardt, 


Boi der Koronarsklerose werden die Klagen der Kranken über 
einen heftigen Herzschmerz und ihr eventuelles Tasten nach dem 
Herzen einen Hinweis auf den Sitz des Leidens bilden, da diese 
Klagen bei den anderen Krankheiten — mit Ausnahme des Aorten¬ 
aneurysmas — nicht geäussert werden. Am auffälligsten sind die 
Lokalsymptome bei der Apoplexie. 

In der medizinischen Literatur findet man vielfach die Meinung 
vertreten, dass eine Apoplexie, sofern sie in kurzer Zeit tödlich ver¬ 
liefe, zu Lebzeiten nicht zu erkennen wäre; und mancher Arzt ist 
geneigt, bei jedem plötzlichen Tode eine Hirnblutung anzunehmen, 
auch dann, wenn der Sterbende absolut keine Lähmung im Bereich 
der Körpermuskulatur gezeigt hat. Und doch ist, meiner Erfahrung 
nach, eine Fehldiagnose hinsichtlich einer Apoplexie ausgeschlossen, 
weil eine Lähmung nach dem Eintritt des Komas entweder sofort, 
oder innerhalb weniger Stunden so deutlich nachweisbar ist, dass ein 
Verkennen nur bei ganz oberflächlicher Prüfung des Krankheitszustandes 
verkommen kann. 

Es ist gewiss richtig — wie dies v. Monakow auf S. 741 seines 
Buches angibt —, dass in manchen Fällen unmittelbar nach erlittener 
Hirnblutung die Lähmung nicht zu erkennen ist, weil der ganze Körper 
schlaff daliegt. Wartet man aber auch in diesen Fällen einige Zeit 
höchstens 2—4 Stunden — (und soviel Zeit pflegt, wie ich oben 
hervorgehoben habe, beim Hirnschlage immer noch zu verstreichen, 
ehe der Tod erfolgt), so wird man alsbald beim Aufheben der einzelnen 
Gliedmassen, oder beim Prüfen der Kraft des Lidschlusses, die schlaffe 
Lähmung eines Gliedes oder einer ganzen Körperhälfte wahrnehmen. 

Dies ist aber tun so auffälliger, als die übrigen Gliedmassen sich 
in einem Zustande gesteigerter Kontraktilität zu befinden pflegen. 

Während das gelähmte Glied, wenn man es aufhebt und dann 
fallen lässt, sofort und schlaff auf das Krankenlager fällt, sinken die 
nicht gelähmten Glieder nur langsam zurück. Auch fühlt man bei 
jeder Bewegung, die man mit ihnen vornimmt — mag das nun ein 
Beugen oder Strecken sein — einen gewissen Widerstand, welcher 
den gelähmten fehlt. Auch führen die nicht gelähmten Glieder einige 
Eigenbewegungen aus, die allerdings von spastischen Zuckungen nicht 
immer leicht unterschieden werden können. 

Einen auffälligen Kontrast bildet auch das Verhalten der Sehnen¬ 
reflexe an den gelähmten und den nicht gelähmten Gliedern. Während 
sie in den ersteren, wenigstens während des apoplektisehen Komas, 


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Die Diagnose der plötzliohen idiopathischen Todesfälle etc. 53 

durchaus nicht auslösbar sind, sind sie in den letzteren, wegen des 
meist bestehenden Muskelspasmus meist hochgradig gesteigert, ein 
Verhalten, das allerdings, wenn der Schlaganfall nicht zum Tode führt, 
sondern zur Genesung kommt, sich in das Gegenteil uinzuwandeln 
pflegt, nachdem das Koma aufgehört hat. 

Noch vor wenigen Tagen hatte ich Gelegenheit, einen jungen 
Epileptiker zu beobachten, der im Anfall von einer Treppe gestürzt 
war und sich dabei einen Bruch der Schädelbasis mit äusserer Blutung 
zugezogen hatte, an welchem er nach 25 Stunden starb. 

Derselbe war sofort in tiefes Koma verfallen, das bis zum Tode 
ohne Unterbrechung anhielt. Schon 2 Stunden nach dem Unfall zeigte 
die rechte Gesichtshälfte alle für eine vollständige Facialisparalyse 
charakteristischen Symptome. Sie hing schlaff herab; die Nasolabial- 
falte war verstrichen. Die geschlossenen Augenlider auf dieser Seite 
ohne Widerstand zu öffnen. Die Muskulatur des übrigen Körpers, 
insbesondere auch der linken Gesichtshälfte, war nur paretisch. All¬ 
mählich ging diese allgemeine Parese in einen spastischen Zustand 
über; die Sehnenreflece an Armen und Beinen wurden immer kräftiger, 
am lebhaftesten an den Fersen, die etwa 5 Stunden nach dem Unfall 
in heftigen Fussklonus gerieten. Auch zeigten sich an allen Gliedern 
zeitweilig einzelne Zuckungen. Gegen den Tod hin liesseh die spastischen 
Erscheinungen etwas nach. Die rechtsseitige Gesichtslähmung bestand 
dagegen fort. 

Als ihre Ursache wurde bei der Sektion eine vollständige Zer¬ 
trümmerung und blutige Erweichung der entgegengesetzten, also linken, 
dritten Stimwindung, soweit sie dem Fascialiszentrum entspricht, ge¬ 
funden. — 

Da dieser pathologische Befund demjenigen einer spontanen 
Apoplexie völlig entspricht, so zweifele ich nicht, dass auch diese 
denselben klinischen Verlauf nehmen wird. 

Von den für den Verblutungstod charakteristischen Erscheinungen 
will ich auf eine Beschreibung der allgemeinen Anämie, den allge¬ 
meinen Schweissausbruch und das Verhalten des Pulses nicht weiter 
eingehen, indem diese Symptome zu einer Differentialdiagnose der uns 
beschäftigenden Krankheiten weniger geeignet sind. 

Dagegen will ich einige Bemerkungen über die klonischen Krämpfe 
anfügen, die ja als ein hervorragendes Symptom des Verblutungstodes 
angesehen werden. Bei den meisten in obiger Tabelle zusammen¬ 
gestellten Krankheitsfällen vermisse ich nähere Angaben darüber, ob 


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bei den fraglichen Patienten nicht stärkere, klonische Zuckungen vor 
dem Verscheiden zu beobachten waren. 

Mir ist es aber wahrscheinlich, dass sie bei der Ruptur eines 
Aortenaneurysmas und der Herzruptur, in Analogie dessen, was bei einer 
traumatischen Verblutung zu beobachten ist, nicht fehlen werden. 

Bei meinem Fall von Verblutung aus einer zerrissenen Kranz¬ 
arterie habe ich sie selbst beobachten können. Da diese Krämpfe 
bei der unkomplizierten Koronarsklerose und bei der Lungenembolie 
(im auffälligen Gegensatz zu dem, was man sonst über den Verlauf 
von Erstickungen — insbesondere bei der Strangulation — weiss) 
fehlen, so wird durch sie ein weiteres Unterscheidungsmerkmal ge¬ 
liefert. 

Was vollends die Hirnblutung anbetrifft, so dürften für sie die 
klonischen Zuckungen, wenn sie zur Beobachtung kommen, gerade 
eine besondere, differentialdiagnostische Bedeutung haben. Indem sic 
nämlich bei den alsbald tödlichen Hirnblutungen nur an den nicht 
gelähmten Körperteilen auftreten und die gelähmten Gliedmassen ver¬ 
schonen (bei solchen Hirnblutungen, die in Genesung übergehen, mögen 
sie ja. wie \<m Monakow behauptet, gelegentlich auch gerade in 
diesen gelähmten Teilen auftreten; doch geht dann, wie dies auch 
v. Monakow betont, die Erscheinung der Krämpfe der Lähmung in 
der Zeit voran), wird dies einseitige Auftreten der Krämpfe einen 
wertvollen Anhalt für die Diagnose der Hirnblutung liefern und sie 
insbesondere von der Verblutung aus einem Herz- oder Kranzarterien¬ 
riss leicht unterscheiden lassen. 

Wenn diese Arbeit Andere zur genauen Beobachtung der koma¬ 
tösen Zustände, die plötzlichen Todesfällen vorangehen, auf die an 
den einzelnen Organen eintretenden Veränderungen veranlassen sollte, 
so würde eine weitere Klärung der klinischen Differentialdiagnose der 
plötzlichen Todesfälle zu erwarten sein. 

Zum Schlüsse ist es mir eine angenehme Pflicht, auch hier meinem 
früheren Chef. Herrn Direktor Sanitätsrat Dr. Stoltenhoff für sein 
gütiges Wohlwollen, das mir in der ärztlichen Tätigkeit entgegen¬ 
gebracht wurde, ehrerbietig zu danken. 


Literatur. 

1) Eulenburgs Realencyklopädie der gesamten Heilkunde. 2. Auflage. 
Die Artikel über Koronarsklerose, Lungenembolie, Hirnblutung, Aortenaneu¬ 
rysma. 


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Die Diagnose der plötzlichen idiopathischen Todesfälle etc. 


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2) Virchow-Hirsch’s Jahresberichte (seit 1865). Die einschlägige Literatur 
dorchgesehen. 

3) Med. Wochenschr. (seit 1895). Die einschlägigen Aufsätze. 

4) Berl. klin. Wochenschr. (seit 1895). Die einschlägigen Aufsätze. 

5) v. Schrott er, Erkrankungen des Herzbeutels und der Gefasse. Bd. 15 von 
Nothnagels Spez. Path. u. Ther. Wien. 1901. 

6) Rosenbach, Die Krankheiten des Herzens. Wien n. Leipzig. 1897. 

7) Krehl, Die Erkrankungen des Herzmuskels u. die nervösen Herzkrankheiten, 
v. Nothnagels Spez. Path. u. Ther. Wien. 1901. 

8) v. Monakow, Gehivnpathologie. Bl. 9 v. Nothnagels Spez. Path. u. Ther. 
Wien. 1897. 

9) Oppenheim, Lehrbuch der Nervenkrankheiten. Berlin. 1894. 

10) v. Strümpell, Lehrbuch der speziellen Pathologie u, Therapie der inneren 
Krankheiten. 12. Aull. Leipzig. 1899. 

11) Sticker, Lungenblutungen, Anämie u. Hyperämie der Lunge, v. Nothnagels 
Spez. Path. u. Ther. Wien. 1900. 

12) Oser, Die Erkrankungen des Pankreas. Bd. 18 v. Nothnagels Spez. Path. u. 
Ther. Wien. 1899. 

13) Hammer, Ein Fall von thrombischem Verschluss einer der Kranzarterien des 
Herzens. Wien. med. Wochenschr. 1878. 

14) v. Leyden, Ueber die Sklerose der Kranzarterien u. die davon abhängigen 
Krankheitszustände. Zeitschr. f. klin. Med. 1884. Bd. VII. 

15) Tschermack, Aneurysma aortae dissecans mit Ruptur der Arteria coronaria 
dextra u. zweizeitigem Durchbruch nach dem Herzbeutel hin. Pericarditis. 
Periarteriitis. Virchows Arcb. f. patholog. Anat. u. Phys. Bd. 146. Berlin. 
1896. 

16) Sternberg, Ueber Erkrankungen des Herzmuskels im Anschluss an Störungen 
des Koronararterienkreislanfes. Diss. Marburg. 1886. 

17) Meyer, Zur Kenntnis der spontanen Herzruptur. Arch. f. klin. Med. Bd. 43. 
1887. 

18) Oglie, On a case of death from haemorrhage into the pericardium. St. Ge¬ 
orges Hosp. Rep. 1867. (Nur im Referat in Virchow-Hirsch’s Jahresher. zu¬ 
gänglich gewesen.) 

19) Oestreich-I.eyden, Plötzlicher Tod durch Verstopfung der Kranzarterien. 
Berl. klin. Wochenschr. 1895. 

20) Boström, Das geheilte Aneurysma dissecans. Deutsches Arch. f. klin. Med. 
Bd. 42. 1888. 

21) Buberl, Zur Kasuistik der Ruptur von Aortenaneurysmen. Wien, medizin. 
Woohenschr. 1897. 

22) Fräntzel, Beobachtungen über das Vorkommen grosser Lungenblutungen. 
Char.-Ann. 2. Jahrg. 1875. 

23) Heiligenthal, Embolie der Aorta abdominalis. Deutsche med. Wochenschr. 
1898. . 

24) Frankel, Beiträge zur Pathologie und Therapie der Aortenaneurysmen. 
Deutsche med. Wochenschr. 1897. 

25) Brunner, Obliteration der Aorta an der Einmiindungsstelle des Ductus 
Botalli. Deutsche med. Wochenschr. 1898. 


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56 Dr. A. Ehrhardt, DieDiagnose der plötzlichen idiopathisohenTodesfälle etc. 


26) v. Leyden, Kurze kritische Bemerkungen über Herznerven. Deutsche med. 
Wochenschr. 1898. 

27) Ostwalt, Ueber einen eigenartigen Fall von Zerreissung einer Aortenklappe. 
Berl. klin. Wochenschr. 1899. 

28) Kuckein, Ueber 2 Fälle von Oesophaguscarcinom, welche unter dem Bilde 
eines Aortenaneurysmas verliefen. Deutsche med. Wochenschr. 1902. 

29) v. Hofmann, Lehrbuch der gerichtlichen Medizin. 8. Aufl. Wien. 1898. 

30) Wyder, Ueber Embolie der Lungenarterien in der geburtshilflich-gynäko¬ 
logischen Praxis. Volkmanns Samml. klin. Vortr. Leipzig. 1896. 

31) Gerhardt, Der hämorrhagische Infarkt. Volkmanns Sammlung klin. Vortr. 
Leipzig. 1875. 

32) Jürgensen, Embolisohe Pneumonie. Ziemssens Handb. d. spez. Path. u. 
Ther. Bd. 5. Leipzig. 1874. 

33) Dähnhardt, Gehirnhämorrhagie infolge von Echinokokkenembolie der Hirn¬ 
arterien. Neurol. Centralbl. 1890. 

34) Eichler, Zur Pathogenese der Gehirnhämorrhagie. Deutsches Arch. f. klin. 
Med. Bd. 22. 

35) Kleiber, Ueber das Verhältnis der Embolie zur Hämorrhagie von Gehirn- 
gefässen bei Herzklappenfehlern. Diss. Zürich. 1894. 


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2 . 


Zur Lehre Yon der Rückenmarkserschütterung. 

Erwiderung an Herrn Dr. Schaffer-Bingen. 

Von 

Kreisarzt, Professor Dr. P. Stolper - Göttingen. 

Nachdem ich seit 1898 in verschiedenen Aufsätzen bestritten 
habe, dass in der Praxis mit der Möglichkeit einer Commotio inedullae 
spinalis zu rechnen sei, gerät neuerdings Emil Schäffer - Bingen J ) 
besonders in Harnisch, weil ich zu sagen wagte: „Es kommt erfreu¬ 
licherweise der Begriff Rückenmarkserschütterung bei allen kritischen 
Köpfen immer mehr in Misskredit“. a ) Er bezeichnet diesen Satz als 
eine „objektive Unwahrheit“. Wer darüber noch im Zweifel sei, 
der solle seine „Autorenzitate und Daten von 1890 (!) bis 1903 noch 
einmal Revue passieren lassen.“ 

Nun, ich habe zum ersten Mal Stellung genommen zu der wich¬ 
tigen Frage im Jahre 1898 in dem mit meinem unvergesslichen Lehrer 
Prof. W. Wagner - Königshütte O.-Schl. zusammen herausgegebenen 
Buche: „Die Verletzungen der Wirbelsäule und des Rückenmarks“. 
(Stuttgart, Enke 1898, S. 95—238), freilich in der Weise, dass ich 
in völligem Einverständnis mit Wagner die „Rückenmarkserschütte¬ 
rung“ mit gutem Grunde und ganz absichtlich überhaupt nicht als 
eigenes Krankheitsbild hehandelte. Sch äff er wird mir zugeben, dass 
sich dieses Buch auf ein aussergewöhnlich grosses, wohl noch von 
keiner anderen Seite erreichtes Eigenmaterial stützt. An diesem über- 

1) „Zur Pathologie der posttraumatischen Rückenmarkserkrankungen, nebst 
Bemerkungen über den derzeitigen Stand der Lehre von der Rückenmarkserschütte¬ 
rung“ (Viertelj. f. gerichtl. Med. 3. Folge. XXVII. Suppl.-Heft 1904). 

2) Rapmund, Der beamtete Arzt und ärztl. Sachverständige. 1902. S. 464. 

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Prof. P. Stolper, 


wiegend frischen klinisch und anatomisch bezw. histologisch unter¬ 
suchten Material hatte ich bereits die felsenfeste Ueberzeugung ge¬ 
wonnen, dass in der Praxis Rüekenmarksersehütterungen nicht Vor¬ 
kommen. Als ich später in Breslau am Institut für Unfallverletzte 
mit seinem grossen Material in der Zusammenarbeit mit Neurologen 
in dieser meiner Auffassung von Jahr zu Jahr mehr befestigt wurde, 
habe ich ihr in kleineren Aufsätzen 1 ) wiederholt Ausdruck gegeben, 
weil ich sah, wie der von Schmaus in einer sonst so verdienstvollen 
Arbeit anscheinend pathologisch-anatomisch gestützte Begriff bei un¬ 
kritischer Verwertung in der Unfallpraxis mancherlei Schaden 
an richtet. 

Ich habe also, wie ich glaube, nicht leichtfertiger Weise oder 
„kurzer Hand“ die „Lehre von der Rüekemnarkserschütterung“ be¬ 
kämpft, weil ich sie für eine Irrlehre halte: und ich hatte, meine ich, 
ein K echt dazu, denn ich habe mich recht eingehend mit diesem 
(iegenstande beschäftigt. 

Worauf aber gründet sich Schäffcr’s stark polemischer Angriff 
gegen mich? Auf die Zitate sehr, sehr vieler Autoren, aber nur 
auf einen einzigen Fall eigener Beobachtung, dessen Beweiskraft 
ich „kritischen Köpfen“ zur Beurteilung getrost anheimgebe. 

Gussenbauer (1893) und Schede (1898) stellt Schaffer als 
„erstklassige Chirurgen“ mir gegenüber und nimmt sie als seine Ge¬ 
folgschaft für sich in Anspruch. Ob die von mir gewiss nicht unter¬ 
schätzten heimgegangenen grossen Lehrer der Chirurgie Herrn Schaffer 
auf seinen Beweispfaden ohne Widerspruch folgen würden, wer ver¬ 
mag es zu entscheiden? Kr, auf den Schaffer besonders sich zu 
stützen scheint. Schmaus schwerlich, denn dieser schrieb 1901 erst, 
„dass die wenigen bisher beschriebenen Fälle von reiner Rüeken- 
markserschütterung nicht mehr ganz so überzeugend sind, als 
es früher schien.“ Das beliebt Sehäffer aber nicht zu zitieren. 

Wenn er nun gar und zwar unter eigenartiger Verwertung einer 
Fussnote (!) in einem Buch von Kocher über Hirnerschütterung, 
das ich mit hoher Bewunderung für diesen Meister der klinischen 
Beobachtung auch gelesen habe, auch ihn, Kocher, als Gegner meiner 
Ausführungen heranzieht, so ist das — um nicht derber zu sein, 
sondern mit Schäffer’s Worten zu reden, zum mindesten „objektiv 
unrichtig“. Kocher’s herrliche Arbeit über Rückenmarksverletzungen 

1) Sachverständigen-Zeitung 1899. — Zeitschr. f. Mediz. Beamte 1903. 

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Zur Lehre von der Rüokenmarkserschütterung. 


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erschien (1897), als Wagner’s und meine Arbeit (1898) zum grössten 
Teil im Manuskript fertig vorlag. Wie erlösend wirkte die Lektüre 
seines Buches auf mich, denn ich fand in vielen Stücken und vor 
allem auch in unserer ketzerischen Nichtachtung der Kückenmarks¬ 
erschütterung einen Punkt für Punkt gleichgestimmten Bundesgenossen, 
Und nun kommt Schaffer und will ihn gegen mich ausspielen! 

Er zitiert ferner das ausgezeichnete Buch: Die Erkrankungen 
des Nervensystems nach Unfällen von Heinrich Sachs und C. S. 
Freund (erschienen 1899) und akzeptiert die darin enthaltene Defi¬ 
nition für den ätiologisch-klinischen Begriff „Rückenmarkserschüttc- 
rung“, „die sich“ — nach Schäffer’s Niederschrift!!! — „klinisch 
in der Weise darstellen muss, „„dass auf anfänglich sehr schwere 
Erscheinungen von allgemeinem Darniederliegen der Riickenmarks- 
funktionen eine bald langsamer oder rascher einsetzende Besserung bis 
zur völligen Heilung ohne Zurückbleiben irgend einer Störung folgt.““ 

Aber, ich bitte sehr. Sachs, der Verfasser gerade dieses Kapitels, 
sagt nicht, dass sich die Rückenmarkserschütterung so darstellen muss. 
Nein! Er schreibt: „Klinisch müsste sich dieselbe in der Weise 
darstellen, dass auf anfänglich sehr schwere Erscheinungen 
u. s. f.“ — Denn Sachs fährt wenige Zeilen weiter unten fort: 
„In den meisten Fällen dürfte es sich bei den sogenannten Er¬ 
schütterungen doch wohl um gröbere organische Veränderungen. 
Quetschungen und insbesondere kleinere Blutungen handeln.“ Er 
erwähnt weiter gegen die Möglichkeit von Kommotionseffekten die von 
mir hervorgehobene und von Sehäffer ebenfalls geleugnete Bedeutung 
der nur dem Rückenmark in der Art. nicht auch dem Gehirn eigenen 
Schutzvorrichtungen. Endlich aber schliesst Sachs: „Wir können 
uns unter Berücksichtigung aller dieser Umstände nur dem Ausspruche 
von Kocher anschliessen, dass das Vorkommen einer reinen 
t’ommotio medullae spinalis für den .Menschen erst noch zu 
erweisen ist.“ — — — 

Nun frage ich: Ist ein solches verstümmelndes Zitieren, ein solches 
Zurechtstutzen von Darlegungen anderer Autoren wissenschaftlich? 
Ich kenne H. Sachs als einen besonders „kritischen Kopf“ und habe 
ihn als einen gründlichen Kenner der Anatomie und pathologischen 
Anatomie des Nervensystems kennen zu lernen, in gemeinsamer Arbeit 
viel Gelegenheit gehabt, ich habe viel von ihm gelernt und ich weiss, 
dass er sich in der vorliegenden Frage von Sch äffe r gegen mich 
nicht in Anspruch nehmen lässt. 




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Prof. P. Stolper, 


Aber das Zitieren gerade im vorliegenden Falle entbehrt nicht 
einer allerliebsten Komik. Sachs hat mir nämlich gerade dieses 
Kapitel „Rückenmarksverletzungen“ im Manuskript vertrauensvoll zur 
Durchsicht und Meinungsäusserung vorgelegt. Mit meinem „Placet“ 
gewissermassen ist cs in die Presse gegangen! Und nun kommt 
Schaffer und verwendet dieses Buch gegen mich! — Malheur!!! — 
Weiter beruft sich Schäffer auf die sehr verdienstvolle Arbeit 
von Lohrisch (Dissert. Leipzig 1901) aus dem Institut von Nau- 
werck - Chemnitz, der schon in Königsberg einen sehr interessanten 
Beitrag zur Pathologie der Rückenmarksverletzungen geliefert hat 
(Dissert. von Bawli). Aber den für die Streitfrage prinzipiell wich¬ 
tigsten Satz der Arbeit von Lohrisch - Nauwerck verschweigt 
Schäffer, nämlich folgenden (S. 37): „Aber auch wenn man im Sinne 
von Schmaus die „Kommotion“ zur Erklärung der Rückenmarks- 
erkrankung heranzieht, bleibt natürlich die Schwierigkeit be¬ 
stehen, dass zwischen der Erschüft erung des Rückenmarks und 
dem Auftreten der spinalen Symptome der genannte, ver¬ 
hältnismässig grosse freie Zeitraum (29 Tage) besteht.“ 1 ) 

Ich frage wiederum, ist es erlaubt, solche den Kernpunkt be¬ 
rührende Selbst einwände der zitierten Autoren einfach fortzulassen ? 

Ob man den von Obersteiner 1879 veröffentlichten Fall von 
Schussverletzung des dritten Brustwirbels bei einem Soldaten mit 
sofortiger totaler motorischer und sensibler Lähmung der Beine, 
mit gelber und kadaveröser (!) weisser Erweichung im Dorsal- und 
Lendenmark, mit umschriebener Pachymeningitis spinalis (!) heute 
noch als Belegfall für Kommotionswirkung zitieren darf, über¬ 
lasse ich dem Urteil kritischer Bearbeiter dieses Gebiets; dasselbe 
gilt von dem bei Obersteiner und neuerdings wieder bei Lohrisch 
dafür verwendeten Falle von Casper, der bereits 1823 (!) veröffent¬ 
licht ist : „Unmittelbar nach dem Unfall keine Erscheinungen. Nach 
6 Monaten Schwierigkeit beim Sprechen (!), Parese des linken Armes. 
Tod nach 4 Jahren. Sektionsbefund: Sklerose des Halsmarks, Ver¬ 
dickungen seiner Häute. 

Man sollte es nicht für möglich halten, wie lange einem medi¬ 
zinischen Autor Jugendsünden vorgehalten werden können! 

Ich brauche, dünkt mir, die Schäffer’schen Autorenzitate nicht 


1) Mit der Kritik des sehr wertvollen Falles von Loh risch und des Ver¬ 
suchs seiner pathogenetischen Deutung werde ich mich anderen Orts befassen. 


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Zur Lehre von der Rückenmarkserschütterung. 


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weiter „Revue passieren zu lassen, um ihre „objektive Richtigkeit“ 
zu beleuchten.“ Aber er kann verlangen, dass ich dem von ihm 
mitgeteilten Falle noch gerecht werde. 

Schaffer resümiert seinen Fall selbst wie folgt: „Es handelte 
sich um eine posttraum atischc Erkrankung des Rückenmarks, welche 
bei einem 21jährigen gesunden Mann im Anschluss an ein unter Er¬ 
schütterung und ohne Wirbelverletzung einwirkendes Rückentrauma 
nach einem mehrtägigen (14tägigen) freien Intervall allmählich begann 
und unter stetiger Steigerung motorischer und sensibler Spinal¬ 
symptome 4y 2 Monate nach der Verletzung letal endete. Klinisch 
bestand das Bild totaler Querschnittsläsion, die Obduktion ergab eine 
den ganzen Querschnitt im Sakralmark einnehmende Erweichungs¬ 
höhle, — — — im oberen Lendenmark ist die dorsale Hälfte zer¬ 
stört , im unteren Dorsalmark totale Quersclmittserweichung mit 
Höhlenbildung.“ Neun Bilder veranschaulichen diese Verhältnisse 
nicht eben deutlich. 

Nun ich kenne in der gesamten neueren deutschen Lite¬ 
ratur keinen Autor, der einen so wenig überzeugenden Fall 
von Rückenmarkserschütterung geliefert hätte, wie Schäffcr 
in dem vorliegenden. Ich stimme bezüglich der Pathogenese 
durchaus mit ihm überein, wenn er Blutung, Wurzelläsion, Quetschung 
des Marks ausschliesst, aber als „Erweichung infolge direkter 
traumatischer Nekrose durch die (?) Rückenmarkserschütte¬ 
rung“ kann ich das Krankheitsbild niemals auffassen. Jeden Unbe¬ 
fangenen muss es Wunder nehmen, wie Schäffer als „Nervenarzt“ 
bei der Abwägung aller Möglichkeiten eine akute Myelitis unbe¬ 
rücksichtigt lassen konnte. Gesetzt, die histologischen Bilder wären 
„objektiv richtig“ gedeutet, so musste Schäffer bei der Differontial- 
diagnosc doch den Fall der akuten Myelitis ohne Quetschung, ohne 
Erschütterung in erster Linie ins Auge fassen. Er hat es nicht getan, 
entweder weil ihm diese Unbekannte bei der Ausrechnung der Gleichung 
zu überwinden unmöglich war, oder weil er, wie ich zu seinen Gunsten 
annehme, von der traumatischen Aetiologie so voreingenommen war, 
dass er den Wald vor Bäumen nicht sah. 

Welcher Natur die von mir vermutete Myelitis, welcher Herkunft 
sie im Falle Schäffer’s war, das ist ja leider nicht mehr zu sagen, 
weil er in Nichtbeachtung dieser Möglichkeit uns keinerlei Unterlagen 
in seiner Krankengeschichte gibt. Aber die Möglichkeit einer gonor¬ 
rhoischen Myelitis hätte in Betracht gezogen werden müssen, da der 


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Prof. F. Stolper, 


in den ersten Tagen besehwerdefreie Patient «am vierten Tage (nach 
der Prügelei) Schmerzen im Kreuz und Druck im Unterleib empfand.“ 
Am 6. Tage wurde Muskelrheumatismus ärztlicherseits bei ihm kon¬ 
statiert; am 10. Tage musste er wegen Urinverhaltung katheterisiert 
werden. 14 Tage nach der Prügelei ging der Patient noch nach 
einem 20 Minute entfernten Ort zur Kirchweih!!! Freilich „wurde ihm 
der Gang schon recht schwer, sodass er zu dem Wege ca. 1 Stunde 
brauchte.“ Vielleicht hat Schaffer die Güte, nach Kenntnisnahme 
der Arbeiten von Dufour, Raymond, v. Leyden, Dreschfeld und 
anderen über gonorrhoische Myelitis sich noch einmal den Fall mit 
Rücksicht darauf zu analysieren. Aber auch di(* infektiöse Myelitis 
auf dem Wege der Embolie oder Thrombose ist nach der nur allzu 
knappen Krankengeschichte nicht ganz von der Hand zu weisen (siehe 
Gowers’ Handbuch); Typhus. Gelenkrheumatismus, Variola, Masern 
kommen für die Erklärung mancher Myelitisformen in Betracht (Pol zt er, 
Bah es u. a.j. 

Was die Bearbeitung des Falles von Sehäffer betrifft, so muss 
ich eine ganze Reihe von Punkten hervorheben, die der Erwähnung 
bedurften, wenn man ihn als völlig einwandsfrei beschrieben bezeichnen 
sollte. .Ich sehe ab davon, dass eine bakteriologische Untersuchung 
unterblieben ist, weil S. an ein*' infektiös** Myelitis eben gar nicht 
gedacht hat; aus demselben Grunde ist wahrscheinlich auch auf Tripper¬ 
residuen in der Harnröhre von ihm nicht gefahndet worden. Aber 
erwarten durfte man eine Angabe, wie lange nach dem Tode die 
Sektion gemacht wurde, eine Angabe, die doppelt wichtig, da es sich 
um eine Obduktion in der wärmsten Jahreszeit und zwar tim die 
einer septischen, also zur raschen Fäulnis besonders disponierten 
Leiche handelte. Die meist verspäteten gerichtlichen Sektionen ergeben 
selten Hirn- bezw. Rückenmarkspräparat**, welche für histologische 
Untersuchungen noch geeignet sind. 

Nach den Akten war der Patient durch Fusstritte, Fauststösse, 
Stockschläge misshandelt worden, bis er bewusstlos zusammenstürzte, 
aber „die Weichteile über der Wirbelsäule zeigten bei der 
Sektion keinerlei Verletzungsspuren.“ Und auch der behandelnd** 
Arzt hatte am 6. Tage nach der Prügelei „einen negativen Ob¬ 
jektivbefund“, 1 ) sodass er Muskelrheumatismus aus den Beschwerden 

1) Nach dem Karlsbader Referat fehlten auch jegliche äussere Verletzungs¬ 
spuren. 

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Zur Lehre von der Rückenmarkserschütterung. 


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diagnostizierte. Ferner nach 6 Wochen hei der Aufnahme in das 
Krankenhaus „keinerlei Veränderung an der Wirbelsäule, keine 
Schmerzen, die Wirbeldornen nirgends druckempfindlich, 
keinerlei Muskelspannungen am Rücken“ — nach Sehäffers 
eigenen Worten. 

So halte ich durch diese Darstellung weder den Tatbestand der 
Rückenmarkserschütterung, noch die Tatsache eines schwereren Rücken- 
traumas überhaupt für erwiesen. Aber selbst wenn man es gelten 
lässt, so bleibt die Schwierigkeit der Leberbrückung des von Spinal¬ 
symptomen freien Intervalls von 14 Tagen doch immer bestehen. 
Weder der Versuch von Lohrisch, diese Frage zu lösen—er spricht 
von einer Art labilen Gleichgewichts, in das die Kommotio die Nerven- 
clemente versetzt — noch der sich daran anlehnende von Schaffer 
dürfte einen anatomisch denkenden Beobachter ganz befriedigen. 

Ich könnte noch recht viele Bedenken gegen Sch äffe r’s Fall von 
„posttraumatischer“ Rückenmarksaffektion Vorbringen, aber, um ihn zu 
überzeugen, vermisse ich bei ihm die dazu nötige Unbefangenheit. 
Ich habe durch Anführung von Zitaten der von ihm genannten 
Autoren, besonders von Schmaus, von Nauwerck, von Kocher 
und von Sachs oben gezeigt, dass er durchaus einseit ig Sätze aus dem 
Zusammenhänge herausgerissen, zum Teil nicht ohne Abänderung 
verwertet hat, um seine Auffassung im vorliegenden Falle zu stützen. 
Jeder wirklich Unbefangene wird mir zustimmen, dass dieser Beweis 
der „objektiven Unrichtigkeit“ meiner Behauptung sehr subjektiv 
ist. Damit bin ich mit Schaffer fertig.. Ich behalte mir aber vor, 
in der Frage der Rückeinnarkserschütt erung weiter zu arbeiten und 
will mich gern überzeugen lassen von meinen Gegnern, wenn sie im¬ 
stande sind, einwandsfreiere Experimentaluntersuchungen oder Tat¬ 
sachen aus der Praxis beizubringen, als dies bislang der Fall gewesen 
ist. Die Klärung der Frage, wie weit traumatische Einflüsse für viele 
Rückenmarkserkrankungen von Bedeutung sind, bedarf dringend weiterer 
Erforschung; ich bin der letzte, der sie als abgeschlossen ansehen 
möchte. 

Götiingen, den 21. März 1904. 


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3. 


Aus der Unterrichtsanstalt für Staatsarznei künde zu Berlin. 
(Direktor: Professor Strassmann.) 

Zur Frage des Nachweises individueller Blut- 

differenzen. 

Von 

Dr. Ernst Ehrnrnoth, 

Dozent für pathologisch© Anatomie in Helsingfors (Finland). 


Die Frage von dem Nachweis individueller Blutdifferenzen für 
die forensische Praxis ist mit den Untersuchungen von Landsteiner 
und Richter (4) und mit denen, die neuerdings von Wcichardt (7) 
veröffentlicht sind, zur Diskussion gestellt. 

Mit Marx habe ich (5) vor kurzem eine Mitteilung über Unter¬ 
suchungen gemacht, nach denen wir u. a. die Resultate der erst¬ 
genannten Autoren bestätigen konnten. Wie bekannt, fanden diese 
Forscher, dass das Blutserum gesunder Menschen in einigen Fällen 
die Erythrocvten anderer Menschen agglutiniert (Isoagglutination), 
während in anderen Fällen Erythrocyten nicht agglutiniert werden. 
Zwischen diesen beiden Typen sieht man verschiedene Uebergänge. 

Wie ich mit Marx hervorgehoben habe, ist diese Agglutination 
nicht mit der zu verwechseln, die bei Einwirkung von tierischem Serum 
auf rote Blutkörperchen von Menschen auftritt. Hier tritt nämlich 
schon bei ziemlich starker Verdünnung mit physiologischer Kochsalz¬ 
lösung eine feste Agglutination mit Hämolyse und Cytolyse ein, wie 
schon seit langem bekannt ist, während die Agglutination mensch¬ 
licher roter Blutkörperchen bei Zusatz von mit NaCl-Lösung ver¬ 
dünntem menschlichen Serum meistens gar nicht vorkommt, und wenn 
sie vorkommt, nur eine lockere ist, ohne Hämolyse und Auflösung der 
Erythrocyten. Bei eingetrocknetem Menschenblut (resp. Serum), in physio- 


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Zur Frage des Nachweises individueller Blutdifferenzen. 


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logischer NaCl-Lösung aufgelöst, ist die Fähigkeit der Isoagglutination 
schon nach einigen Wochen ganz aufgehoben oder jedenfalls, wie 
Landsteiner und Richter sagen, minimal geworden. 

Von den meisten Autoren wird hervorgehohen, dass die Ervthro- 
cvten für Agglutiniue, die sicli im Serum desselben Individuums vor- 
tindeu, unempfindlich sind. Doch scheint unter Umständen auch bei 
gesunden Personen gewissennassen eine Autoagglutination Vorkommen 
zu können. So fand As coli (1), dass das Blutserum gesunder Men¬ 
schen imstande sein kann, die eigenen roten Blutkörperchen bisweilen 
zu agglutinieren, und von Klein (3) wurde nachgewiesen, dass eine 
Autoagglutination bisweilen auch bei Pferdeblut Vorkommen kann. 
Der letztgenannte Autor sagt indessen, dass die autoagglutinierenden 
Substanzen im normalen Pferdeserum wahrscheinlich nur in geringen 
Mengen vorhanden sind. Er bezweifelt kaum, dass weitere Unter¬ 
suchungen zeigen werden, dass die Autoagglutinat ion in gewissen, erst 
ausserhalb des Organismus eintretenden Veränderungen des Blutes 
eine notwendige Voraussetzung haben. 

Ascoli liess Blutserum auf Erythrocyten - Aufschwemmungen in 
physiologischer NaCl-Lösung einwirken und bemerkte hierbei bisweilen 
Autoagglutination. Klein machte seine Experimente mit Blutserum, 
welchem er rote Blutkörperchen zusetzte, die er durch Sedimentierung 
gewonnen hatte. Marx und ich haben dagegen die Untersuchungen 
mit menschlichem Serum bez. Blutlösung angestellt, das wir auf Blut', 
das wir aus der Fingerkuppe durch Einstich entnahmen, einwirken 
Hessen. In diesen Versuchen wurde niemals Autoagglutination bemerkt. 

Für die forensische Praxis wäre es von grosser Bedeutung, w r erm 
diese Beobachtungen durch weitere Versuche bestätigt werden könnten. 
Es wäre dann, wie Landsteiner und Richter sagen, möglich, die 
Nichtzugehörigkeit eines Blutes zu einem bestimmten Individuum dar¬ 
zutun. Wurde* z. B. von einem eines Mordes beschuldigten Individuum 
behauptet, dass Blutflecke, die sich an seiner Kleidung finden, von dem 
Ermordeten nicht herstammen, sondern dass sie* von ihm selbst bor¬ 
rühren, so könnte man, falls mit frisch von dem Beschuldigten ge¬ 
wonnenem Blut die Agglutinationsprobe positiv ausfällt, sagen, dass 
die Blutflecke von ihm allerdings nicht herstammen. Zu weiteren 
Schlüssen berechtigt die Agglutinationsprobe nicht, da ein negativer 
Aösfall in jedem Sinne wertlos ist. 

Die neuerdings von Weichardt (7j beschriebene Methode für 
den individuellen ßlutnaehweis gründet sieh nach dem genannten Autor 


Yierte^ahrsschrift f. ger. Med. u. öff. San.-Weseu. 3. Folge. XXV1I1. 1. 

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Dr. Ernst Ehrnrooth, 

auf die Tatsache, dass die Spezifität der durch Injektionen von Serum 
gewonnenen Aktivsera durch Absorption der heterologen Bestandteile 
erhöht werden kann. Es gelang nämlich Kister und Weichardt (2) 
zwischen Pferdeblutsera sichere diagnostische Unterschiede festzustellen 
mit einem Pferdeblut - Kaninchenserum. Das Aktivserum, welches 
durch Behandlung eines Kaninchens mit Pferdeserum I gewonnen war, 
wurde mit Pferdeserum II resp. III, IV u. s. w. versetzt. Nach dein 
Abzentrifugieren des entstandenen Niederschlages gab dieses so be¬ 
handelte Aktivserum eine Präzipitinreaktion nur mit Pferdeserum 1, 
dagegen nicht mehr mit Pferdesermn II resp. III oder IV. Diese, 
wie Weichardt sagt, „recht ermutigenden Versuche“, wurden von 
ihm mit Menschenblut wieder aufgenommen. In diesen Versuchen (2) 
verfuhr er folgendermassen: Zu dem aktiven Menschen - Kaninchen¬ 
serum, das hochwertig war, wurde Vio Menschenblutserum II (Blut¬ 
serum I ist jenes, mit welchem das Kaninchen vorbehandelt war) 
zugesetzt. Die Flüssigkeit wurde von dem in 15 Stunden entstandenen 
Präzipitat abfiltriert. Zu dem Filtrat wurde dann nochmals Vio Men¬ 
schenblutserum II zugesetzt und der Niederschlag abfiltriert. Zu 0,1 ccm 
Menschenserum I, gemischt mit 10 ccm physiologischer NaCl-Lösung. 
und zu 0,1 com Menschenserum II, ebenfalls mit 10 ccm NaCI-Lösung 
vermischt, wurde 0,3 des mit II behandelten Aktivserums (Diagnosen¬ 
serum) zugefügt. „Reaktion mit Menschenserum 1 sofort Trübung, die 
nach Vs Stunde in Präzipitation überging. Mit Mensehenserum II 
anfangs vollständig klar, nach 9 Stunden leichte Trübung. Also war 
zwischen den Sera der beiden menschlichen Individuen ein deutlich 
erkennbarer Unterschied.“ 

Diese hochinteressanten Resultate hat Puppe (6) leider nicht 
bestätigen können. Allerdings ist er, wie er selbst sagt, zu einem 
Abschluss seiner Untersuchungen noch nicht gekommen. Ich habe 
ebenfalls die Angaben von Weichardt nachgeprüft und möchte nun¬ 
mehr im Folgenden über die Ergebnisse meiner Versuche berichten. 
Weichhardt hat die gleicht? Beschaffenheit seiner Sera, d. h. der zu 
untersuchenden Flüssigkeiten durch Bestimmung des Eiweissgehaltes 
nach Kjeldahl festgesteJIt. Ich glaube, dasselbe dadurch erreicht 
zu haben, dass ich die von mir verwandten Sera mit einem bestimmten 
Aktivserum prüfte. Ich habe für dieses immer dieselbe Wertigkeit 
roststellen können, sodass also die von mir benutzten Sera einander 
ebenfalls gleichwertig waren. 

Versuch T. 8. Dezember 1903. Das in diesem Versuch benutzte Aktiv- 


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Zur Frage des Nachweises individueller Blutdifferenzen. 


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serum war durch Einspritzung eines Serums (I) gewonnen worden, das aus 
menschlichem Retroplacentarblut stammte. Dieses Aktivserum, das mir von der 
Untcrrichtsanstalt freundlichst zur Verfügung gestellt wurde, trübte homologes 
Serum bei Zimmertemperatur innerhalb 30 Minuten bis zur Verdünnung 1 : 8000. 
Zu 5 ccm dieses Aktivserums wurden 0,5 ccm Blutserum II von einer Leiche (Tod 
durch Ueberfahren) zugesetzt. Sofort starke Trübung, die in einigen Minuten in 
Präzipitation übergeht. Das sehr reichliche Präzipitat wurde nach 20 Stunden 
durch Centrifugieren ausgeschleudert. Zu der klaren Flüssigkeit wurden nochmals 
10 pCt. von Serum II zugesetzt. Sofortige Trübung. Nach 20 Stunden wieder ein 
ziemlich reichliches Präzipitat. Mit dem zum zweitenmale ausgeschleuderten, 
klaren Aktivserum (Diagnosenserum) wurde die Reaktion angestellt. Ausser den 
Menschensera I und II benutzte ich noch ein Serum 111 (Blutserum von einem 
durch CO-Vergiftung gestorbenen Individuum). Je 0,1 ccm dieser drei Sera wurde 
mit 10 ccm NaCl-Lösung (0,6 pCt.) gemischt; zu den Proben dann 0,3 des Dia¬ 
gnosenserums zugefügt. Sofort naoh dem Zusatz eine leichte Opaleszenz in den 
drei Röhrchen. Nach 10 Minuten ist die Opaleszenz etwas deutlicher geworden; 
in den Röhrchen 1 und 3 ist sie gleioh stark, etwas stärker in dem Röhrchen 2. 
Nach einer halben Stunde eine leichte Trübung, die in Röhrchen 2 deutlicher 
ist als in den anderen. Die Reaktion wurde noch einmal angestellt, mit demselben 
Resultat. 


Dieser Versuch ist also anders ausgefallen, als man nach 
VVeichardt hätte erwarten müssen. Nach seiner Angabe hätte in 
.Serum II keine Trübung eintreten dürfen. 

Versuch II. 30. Januar 1904. Das Aktivserum ist durch tägliche, 
14 Tage hindurch, fortgesetzte Injektionen in eine Ohrvene von je 1 ccm Serum l 
(Leiche eines Ueberfahrenen) gewonnen worden. Seine Wertigkeit, unter gleiohen 
Bedingungen wie Versuch I, war 1 : 4000. Zu dem Aktivserum wurden zweimal 
10 proz. Menschenserum II (Serum I im vorigen Versuoh) hinzugefügt. Das ziem¬ 
lich reichliche Präzipitat jedesmal abgeschleudert. Reaktion mit Serum I, II und 
III (II im vorigen Versuch); im Röhrchen mit Serum I sofort nach Zusatz des 
Diagnosenserums leichte Opaleszenz, die anderen Röhrchen bleiben fast klar. In 
einer Stunde leichte Opaleszenz in II und III, eine leichte Trübung im Röhrchen l. 
Bei diesen Versuchen war das Diagnosenserum wie in Versuoh I zu einer lproz. 
Serummischung zugesetzt. Sie wurde noch einmal bei einer lOproz. Serummischung 
angestellt, aber mit dem gleichen Erfolge. 


Dieser Versuch ist im Sinne der Weichardt'schen Untersuchungen 
ausgefallen. Die Unterschiede in den Trübungen waren jedoch nicht 
so deutlich, dass sie in der Praxis den Ausschlag hätten geben können. 


Versuch III. 30. Januar 1904. Aktivserum sehr geringer Wertigkeit, 
1 : 1000 innerhalb 30 Minuten, gewonnen durch Injektionen von 18 ccm Leichen- 
blutserum I (plötzlicher Tod durch Herzlähmung), 5 ccm am 13. .lan., 3 ccm am 
16. Jan., 5 ccm am 18. Jan. uud 5 ccm am 22. Jan. Am 25. Januar starb das 
Kaninchen kurz nach Injektion von 5 ccm (losgerissener Thrombus der Ohrvenenj. 
Nach 2 verschiedenen Richtungen wurden Versuche mit dem Aktivserum gemacht. 


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Dr. Ernst Ehrnrooth, 


Einmal wurde es, wie in den Versuchen oben, mit 10 pCt. Serum II zweimal ver¬ 
setzt, in anderen Versuchen wurde es mit 10 pCt von Serum I, mit welchem das 
Kaninchen vorbehandelt war, zweimal behandelt. Die Reaktionen, angestellt wie 
in den vorigen Versuchen, gaben das gleiche Resultat mit beiden Diagnosen¬ 
sera. Es entstand eine leichte Trübung sofort nach dem Zusatz des Diagnosen¬ 
serums bei Serum I, und binnen einer halben Stunde eine ziemlich deutliche Trü¬ 
bung, während in den Röhrchen mit Serum II nur eine leichte Opaleszenz auftrat, 
die auch nach einer halben Stunde fortbestand. 

Also sowohl in den vorigen wie in diesen Versuchen, in welchen 
ein Aktivserum von niedriger Wertigkeit, angewandt wurde, bekam ich 
ähnliche Resultate wie Weichardt, obwohl die Unterschiede zwischen 
den individuell verschiedenen Sera nicht so prägnant waren, wie 
Weichardt sie bekommen haben will. 

Ich verfüge noch über zwei Versuche mit hochwertigen Aktivsera, 
einem Menschenblut - Kaninchenserum von der Wertigkeit 1:10000 
(Va Stunde) und einem Schweineblut-Kaninchenserum von der Wertigkeit 
1 : 12000 (V 2 Stunde). Ihre Resultate sind absolut negativ ansge¬ 
fallen. Das Aktivserum wurde zweimal mit einem anderen homologen 
Serum als dem, mit welchem das Kaninchen vorbehandelt war, versetzt. 
Als ich die Reaktionen anstellte, bekam ich in einer halben Stunde nur 
eine Opaleszenz sowohl bei Serum I wie bei Serum II. Ausserdem 
stellte ich mit dem Menschenaktivserum noch tunen Versuch mit einem 
dritten Blutserum an, aber mit keinem besseren Erfolge. 

Wenn ich bei den oben angeführten Versuchen die Anordnung so 
getroffen habt', wie sie geschildert ist, so bin ich von der Auffassung 
ausgegangen, die nach meiner Ansicht auch Weichardt teilt. Er scheint 
mir von dem Prinzip ausgegangen zu sein, dass ein Aktivserum für das 
Serum, durch das es gewonnen ist, besonders charakteristische Eigen¬ 
schaften hat. Wenn man also diesem Aktivserum die Präzipitine nimmt, 
die durch beliebig andere homologe Sera ausgefällt werden, so behält 
es noch für das Serum, mit dem das Kaninchen vorbehandelt war, 
Präzipitine in so grosser Menge zurück, dass es mit diesem eine 
positive Reaktion gibt, durch die eine individuelle Unterscheidung wohl 
möglich ist. 

Es lässt sich aber noch eine andere Auffassung, von der Weich ardt, 
vielleicht ausgegangen ist, rechtfertigen, bei der man eine besondere Ver¬ 
wandtschaft des Aktivserums mit demjenigen Serum, durch welches 
es gewonnen ist, nicht annimmt. Es Hesse sich ein Diagnosenserum 
auch in der Weise herstellen, dass man ein beliebiges Aktivserum mit 
dem Serum eines bestimmten Individuums versetzt. Alsdafm darf das 


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Zar Frage des Nachweises individueller Blutdifferenzen. 


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Diagnosenserum wohl eine Reaktion geben mit einem beliebigen anderen 
Serum, aber nicht mit dem Serum, durch dessen Zusatz ich die für 
dieses spezifischen Präzipitine ausgefällt habe. Ich habe Versuche auch 
in diesem Sinne gemacht, erhielt aber überall nur Opaleszenzen, 
i‘ine Trübung trat nirgends auf. 

Für den Fall, dass die erste Auffassung zutrifft, würde, selbst 
wenn die Weichardt'sehe Methode immer sichere Resultate gäbe, ihr 
praktischer Wert doch schon durch die Schwierigkeit ziemlich einge¬ 
schränkt sein, die in der Beschaffung des zur Einspritzung des Tieres 
nötigen Serums liegt, wie es z. B. der Fall ist, wenn es sieh um eine 
verblutete oder faule Leiche handelt. 

Wie ans dem oben Gesagten hervorgeht, finde ich nach diesen 
Versuchen, dass die von Weichardt in einer vorläufigen Mitteilung 
veröffentlichten Untersuchungen kaum von irgend welcher praktischen 
Bedeutung sind. 

Ich habe in drei Versuchen gar keinen Unterschied bei den 
individuell verschiedenen Blutsera nach Zusatz des Diagnosen.serums 
bekommen. In zwei Versuchen waren die Unterschiede so gering, dass 
sie in einem praktischen Falle, die nötige Gewähr für die Richtigkeit 
der Diagnose nicht geboten hätten. 

Wenn also auch vorläufig die Unterscheidung individueller Blut¬ 
differenzen kaum möglich ist, so erscheinen die Weichardt'sehen 
Untersuchungen doch nicht ganz aussichtslos, wie meine Nachprüfung 
mit schwachen Aktivsera gezeigt hat, bei denen ich in beiden Fällen 
einen positiven, wenn auch schwachen Ausschlag erhalten habe. Hoch¬ 
wertige Sera sind nach meinen Versuchen jedenfalls untauglich. 

Herrn Professor Strassmann erlaube ich mir meinen ergebensten 
Dank auszusprechen für die Ueberlassung des nötigen Materials zur An¬ 
stellung meiner Nachprüfungen. 

Zu besonderem Dank bin ich Herrn Assistenten Dr. Schulz ver¬ 
pflichtet für die rege Anteilnahme, die er mir bei der Herstellung 
dieser Arbeit hat zu Teil werden lassen. 


Literatur. 

1) Ascoli, M., Isoagglutination und Isolysine menschlicher Blutsera. Münch, 
med. Wochenschr. 1901. No. 31. 

2) Kister u. Weichardt, Weiterer Beitrag zur Frage des biologischen Blut- 
naebweises. Zeitschr. f. Medizinalbeamte. 1902. No. 20. 


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70 Dr. Ernst Ehrnrooth, Zur Frage des Nachweises individueller Blutdifferenzen. 

3) Klein, A., Beiträge zur Kenntnis der Agglutination roter Biutkörperohen. 
Wien. klin. Woohenschr. 1902. No. 16. 

4) Landsteiner und Richter, Ueber die Verwertbarkeit individueller Blut¬ 
differenzen für die forensische Praxix. Zeitschr. f. Medizinalbeamte. 1903. 
No. 3. 

:>) Marx u. Ehrnrooth, Eine einfache Methode zur forensischen Unterscheidung 
von Menschen- und Säugetierblut. Münch, med. Wochenschr. 1904. No. 7 
und No. 16. 

6) Puppe, Biologischer Blutnachweis. Vortr. in der Versamml. der Medizinal¬ 
beamten zu Königsberg am 14. Dez. 1903. Ref. Zeitschr. f. Medizinalb. 1904. 
Beil. III. 

7) Weichardt, W., Der Nachweis individueller Blutdifferenzen. Vorläuf. Mitt. 
Hyg. Rundsch. 1903. No. 15. 


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4. 


Pachymeningitis externa füngosa. 

Von 

Medizinalrat Dr, Brann, Gerichtsarzt in Elberfeld. 


4 


Der nachfolgende Fall aus meiner gerichtsärztlichen Praxis ist 
zwar an sich nicht uninteressant; sein Hauptinteresse liegt aber in 
einer bei der Sektion gefundenen pathologischen Veränderung der 
äusseren Fläche der harten Hirnhaut und der inneren Fläche des 
Schädelknochens an der Konvexität. Da ich einen solchen patholo¬ 
gischen Befund noch niemals gesehen habe, auch einen solchen in den 
Lehrbüchern der gerichtlichen Medizin oder der pathologischen Anatomie 
nicht beschrieben gefunden habe, so halte ich mich für verpflichtet, 
denselben mitzuteilen, und holfe das Interesse der Fachgenossen da¬ 
durch zu erregen. Zum Verständnis des Falles wird es allerdings 
notwendig sein, wenigstens skizzenhaft die Geschichte des Falles, wie 
sie sich bei der Schwurgerichtsverhandlung darstellte, mitzuteilen: 

Der Lehrer D. hatte die üble Gewohnheit, seine Schüler in der Weise zu 
züchtigen, dass er sie mit beiden Fäusten am Rockkragen fasste, schüttelte und 
dabei mit den unter das Kinn gestemmten Daumen ihren Kopf stark nach hinten 
drückte. Dabei stellte er sie gegen die Wand, sodass oft der Kopf der Knaben 
gegen die Wand anschlng. Am 8. Januar 1903 war der 13jährige Schüler B. in 
dieser Weise gezüchtigt worden, wobei sein Hinterkopf mit hörbarem Schlage 
(„Bums“) gegen die Wand prallte. Ausserdem erhielt der Knabe mehrere Ohr¬ 
feigen. 

B. war ein hochaufgeschossener, etwas blasser Knabe, der schlecht lernte, 
besonders schlecht Ende 1902 gelernt haben soll, der aber immer gesund, frisch 
und fröhlich gewesen war; er spielte stets sehr lebhaft (oft „wüst“); or war 
einer der besten Turner. Er stammte aus gesunder Familie; nur sein älterer 
Bruder hat zweimal Blutspuckon gehabt. 

Bei B. stellten sich nun folgende Krankheitsersoheinungen ein: Gleich 
nach der Misshandlung (Vorm. 8—9 Uhr), in der Spielpause, war B. auffallend 
still und spielte gegen seine Gewohnheit nicht mit, sondern hielt sich allein und 


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72 


Dr. Braun, 


abseits von den Mitschülern. — Am Nachmittag besuchte ihn ein Freund, mit 
welchem er verabredet hatte, im elterlichen Garten zu turnen. Doch B. erklärte, 
er könne nicht turnen, er habe Kopfschmerzen; er würde morgen wohl nicht in 
die Schule kommen können. Er sah blass aus. Am folgenden Tage, dem 9. Jan., 
sah B. nachmittags 2—3 Uhr in der Schreibstunde sehr blass aus, zitterte auf¬ 
fallend mit der rechten Hand; ihm war „schlecht“; er musste die Schulstube 
verlassen und sich übergeben. Um 4 Uhr eilte er zurTurnhalle; unterwegs wurde 
ihm schwindlig, sodass er einen Laternenpfahl umklammerte, um nicht umzu¬ 
fallen. Dabei sah er schlecht aus und klagte über fürchterliche Kopfschmerzen. — 
In der Turnhalle angelangt, setzte sich B. auf ein Pferd, von dem er plötzlich 
halb ohnmächtig herabglitt. Die Mitschüler fingen ihn auf, sodass er sich nicht 
wehe tat. Es trat wiederholtes Erbrechen ein, Kopfschmerz, Schwindel. 4 Mit¬ 
schüler trugen ihn mehr, als dass sie ihn führten, nach Hause. Auf dem Wege 
fror er heftig. Zu Hause entwickelte sich ein stürmisches Krankheitsbild: Er 
konnte nicht gehen; seine Beine knickten zusammen; das linke Bein schleppte 
nach. Er hatte Schwindel, heftige Kopfschmerzen und unstillbares Erbrechen, 
welches die ganze Nacht über anhielt. Es fanden sich grosse Hinfälligkeit, 
Appetitlosigkeit und massiges Fieber. Dieses steigerte sich im Laufe von 8 bis 
10 Tagen bis über 39 0 C.; dann liess es nach, um jedoch nicht völlig zu ver¬ 
schwinden. Später entwickelte sich rechtsseitige Lähmung, Druckempfindlichkeit 
am Hinterkopf, endlich Erblindung, und schliesslich trat am3. Juni der Tod ein, also 
nach einer Krankheitsdauer von 5 Monaten. Während dieser Krankheit war der 
Knabe stets bei Bewusstsein, und etwa 10 Tage vor seinem Tode erklärte er dem 
Vater und der Schwester, da er sehe, dass er sterben müsse, teile er mit, um 
seine Mitschüler vor gleichen Misshandlungen zu schützen, dass seine Krankheit 
eine Folge von Misshandlungen sei, welche er von dem Lehrer D. erfahren habe. 

Den behandelnden Aerzten war das Krankheitsbild anfangs nicht klar. Sie 
vermuteten Influenza, beginnenden Typhus, und erst später wurde die Diagnose 
Meningitis gestellt. Doch noch in der Hauptverhandlung erklärte der erstbe¬ 
handelnde Arzt, er könne die Möglichkeit nicht völlig ausschliessen, dass die 
Krankheit des B. mit einer Influenza begonnen habe. Ich und der Kollege, 
welcher mit mir zusammen die Obduktion ausgefübrt hatte, standen dagegen auf 
dem Standpunkt, dass es sich von Anfang an um ein Gehirnleiden (Meningitis) 
gehandelt hat, wofür die initialen Krankheitserscheinungen, besonders das un¬ 
stillbare Erbrechen und die Lähmungserscheinungen, sprachen. 

Infolge besonderer Umstände, welche hier nicht zu erörtern sind, wurde 
die gerichtliche Sektion erst am 16. Juli, also mehr als 6 Wochen nach dem 
Tode, ausgeführt. Wir fanden natürlich eine hochgradig verweste Leiche, an der 
sich wenig mehr feststellen liess. Besonders war das Gehirn ein zerfliessender 
Brei, und von der Pia mater waren nur einzelne schmutzig-graue Fetzen zu 
linden, sodass von den pathologischen Veränderungen, welche an diesen Teilen 
event. vorhanden gewesen waren und welche man nach den Krankheitserschei¬ 
nungen sicher vermuten musste, nichts mehr zu finden war. 

Dagegen fand sich eine höchst bemerkenswerte Veränderung an der 
äusseren Fläche der Dura mater und an der inneren Fläche des 
Scbädelknochcns. Ich führe zunächst das Sektionsprotokoll wörtlich an: 


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Pachymeningitis externa fungosa. 


73 


n 18. Die Innenfläche des Schädels. ... An den Scheitelbeinen und den 
Hinterhauptsbeinen sieht man zahlreiche, unregelmässig gestaltete, wie ange¬ 
fressene Vertiefungen, die vielfach ineinander übergehen und zwischen denen der 
unversehrte Knochen in unregelmässig gestalteten, linsen- bis zehnpfennigstück¬ 
grossen, auch mehr länglich gestalteten Inseln hervorspringt. Die Vertiefungen 
haben einen dunklen, grauen Grund und sind etwa '/ 2 mm tief. Ausserdem zeigt 
die Innenfläche die normalen, unregelmässig gestalteten Furchungen. 

17. Die barte Hirnhaut ist . . . entsprechend dem Stirnbein von grau¬ 
grüner Farbe. Die hinteren Partieen sind mehr grau gefärbt und auf diesen sieht 
man zahlreiche, verwaschen rote, insellorraige Auflagerungen, genau entsprechend 
den sub. 16 beschriebenen Vertiefungen des inneren Schädelblatts. Die Anordnung 
dieser Auflagerungen bezw. Vertiefungen entspricht den Endverzweigungen der 
Gefasse der harten Hirnhaut, Die Blutgefässe der harten Hirnhaut sind leer. 
Die Innenfläche der harten Hirnhaut ist glatt und ohne Auflagerungen. . . 

18. Die weiche Hirnhaut ist missfarbig, grau, ohne Auflagerungen. 

Das knöcherne Schädeldach, welches bei der Hauptverhandlung demonstriert 
wurde, liegt vor mir, und ich bemerke ergänzend zu dem Protokoll, dass auch 
die Schuppe des Schläfenbeins die beschriebenen Veränderungenen zeigt und dass 
diese Usuren der inneren Knochenlamelle so ausgedehnt sind, dass sie in grosser 
Ausdehnung die genannten Knochen dicht bedecken. Diese Auflagerungen auf der 
Aussenseite der harten Hirnhaut und diese Knochenusuren, welche mit photo¬ 
graphischer Treue ineinander passen, schliessen sich räumlich den Verbreitungen 
der Blutgefässe, bezw. den Gefässfurchen in dem Knochen an, sodass sie eine 
blattförmige Gestalt haben. — Die Auflagerungen auf der Dura hafteten ziemlich 
fest, waren von höckeriger Oberfläche und rötlicher Farbe, stellten also ein or¬ 
ganisiertes Exsudat dar. 

Es entstand nun die wichtige Frage, wie dieser Befund zu 
deuten sei: handelte es sieh hier uni ein entzündliches, organi¬ 
siertes Exsudat, welches nach Art einer Caries jene Usuren des 
Knochens erzeugt hatte, — oder handelte es sich um einen mehr 
physiologischen Vorgang, mit anderen Worten um Pacehioni’sehe 
Granulationen. Wir, die beiden Gerichtsärzte, sprachen uns für einen 
entzündlichen Vorgang und gegen die Pacchioni’schen Granulationen 
aus, während die drei von der Verteidigung geladenen .Sachverständi¬ 
gen unbedingt Pacchioni’sche Granulationen annehmen. Zwei dieser 
Herren erklärten mir sogar, dass sie Pacchioni’sche Granulationen 
in solcher Ausdehnung und Verbreitung und an so ungewöhnlicher 
Stelle schon gesehen hätten, allerdings nicht hei Kindern, aber bei 
Erwachsenen. 

Da ich hier bei dem Gegenstände angelangt bin, welcher der 
Zweck und Grund meiner Veröffentlichung ist, so will ich sogleich 
die Gründe anführen, weshalb die Ansicht der drei Gegen sachver¬ 
ständigen wissenschaftlich unhaltbar ist. 


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Dr. Braun, 


1. Die Paechioni’schen Granulationen finden sich bei Kindern 
selten, häufig bei Erwachsenen entsprechend dem Sinus longitudinalis. 
Dass dieselben in solcher Massenhaftigkeit und entsprechend den 
Schläfen- und Scheitelbeinen und dem Hinterhauptsbein Vorkommen, 
besonders bei einem Knaben von 13 Jahren, ist mindestens eine un¬ 
geheure Seltenheit. 

2. Die Pacchioni’schen Granulationen wachsen nicht entsprechend 
den Gcfässvcrzweigungen. Die hier gefundene (entzündliche) Neu¬ 
bildung schliesst sich räumlich so innig an das Gefässsystem an, dass 
sie sich dadurch als eine aus den Blutgefässen stammende, durch 
Entzündungsreize, welche durch den Kreislauf zugeführt waren, ent¬ 
standene Neubildung dokumentierte. Dies trifft absolut nicht für die 
Entstehung der Pacchioni’schen Granulationen zu. 

3. Die Pacchioni’schen Granulationen sind bindegewebige Neu¬ 
bildungen, welche von der Pia (Arachnoidea) ihren Ursprung nehmen, 
die Dura durchwachsen und dann den Knochen usurieren. Natur¬ 
gemäss bedingen sie dadurch eine Verwachsung zwischen Pia und 
Dura und eine Durchlöcherung, Rauhigkeit auch der Innenfläche der 
Dura. Dies hätte in unserem Falle wegen der grossen Verbreitung 
des Prozesses in hohem Masse der Fall sein müssen; aber es war 
keine Verwachsung vorhanden; die Innenfläche der Dura war glatt. 

Also ist die x\nsicht. dass es sich hier um Pacchionische Gra¬ 
nulationen gehandelt habe, wissenschaftlich unhaltbar. Wenn es diese 
nicht waren, so bleibt nur eine Annahme denkbar, dass es sich näm¬ 
lich um eine entzündliche Neubildung, eine Pachymeningitis 
externa chronischen oder subakuten Verlaufs gehandelt hat. 

Der beschriebene pathologische Befund konnte nur beweisen, 
dass in den letzten Monaten vor dem Tode des Knaben ein entzünd¬ 
licher Prozess innerhalb der Schädelkapsel sich abgespielt hatte. Die 
Krankheitserscheinungen, besonders die Lähmung und die Erblindung, 
konnten durch eine Pachymeningitis externa nicht erklärt werden. 
Diese Krankheitserscheinungen sind jedenfalls durch andere Prozesse 
bedingt worden, welche wegen der Fäulnis nicht mehr zu sehen waren. 
Ich denke mir, dass ähnliche exsudative Prozesse, wie an den Ge¬ 
lassen der Dura, auch an manchen anderen Blutgefässen des Gehirns 
zustande gekommen sind, und denke dabei vorzugsweise an die 
Arteria chorioidea und an einejr entzündlichen Prozess, der sich in 
den Hirnventrikeln abgespielt hat und die Corpora striata und Tha- 
lani optici betroffen hat. Jedenfalls konnten die Krankheiis- 


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Pachymeningitis externa fungosa. 


75 


erscheinungen nicht aus dem Sektionsbefunde erklärt werden, der 
überdies für uns Obduzenten so sehr ein Novum war, dass wir unser 
Gutachten weniger auf den Sektionsbefund als vielmehr auf die Krank¬ 
heitserscheinungen gründen mussten, was ich in der Hauptverhandlung 
auch ausgesprochen habe. 

Auf Grund der Krankheitserscheinungen gaben wir das Gutachten 
ab, dass B. an einer Gehirnkrankheit gestorben sei. 

Was nun den ursächlichen Zusammenhang zwischen dieser 
Gehirnkrankheit und der Misshandlung betraf, so haben wir die Miss¬ 
handlung als geeignet bezeichnet, bei einem Knaben von 13 Jahren 
eine solche Gehirnkrankheit hervorzurufen, besonders da man bei dem¬ 
selben eine latente Tuberkulose (einen Tuberkelherd) sehr wohl an¬ 
nehmen konnte; denn der Bruder hatte zweimal Lungenblutung 
gehabt. 

Ferner begann die Krankheit schon ca. 30 Stunden nach der 
Misshandlung, und innerhalb dieser 30 Stunden hatten sich bereits 
leichte Krankheitserscheinungen (Unlust, Unbehagen, Kopfschmerzen) 
gezeigt. All dies Hess den ursächlichen Zusammenhang als fast 
sicher erscheinen, falls diese zuerst auftretende Krankheit 
bereits die später tödliche Gehirnkrankheit (Meningitis) war. 
Dies mussten wir als höchst wahrscheinlich bezeichnen mit Rück¬ 
sicht auf die früher genanntem Symptome (unstillbares Erbrechen, 
fürchterliche Kopfschmerzen, Schwindel, lähmungsartige Zustände). 
Mit voller Sicherheit konnten wir diesen ursächlichen Zusammenhang 
allerdings nicht behaupten, da einerseits durch ein zufälliges Zu¬ 
sammentreffen in der Zeit nach der Misshandlung eine akute Gehirn¬ 
entzündung (Meningitis epidemica oder tuberculosa) entstanden sein 
konnte und da andererseits der erst behandelnde Arzt auch bei der 
Hauptverhandlung die Möglichkeit, dass es sich anfangs um Influenza 
gehandelt habe, nicht völlig ausschloss, und da eine Influenza be¬ 
kanntlich zu Erkrankungen des Gehirns führen kann. Die drei Gegen¬ 
sachverständigen leugneten überhaupt jede Möglichkeit eines ursäch¬ 
lichen Zusammenhanges und hielten zum Theil sogar für nicht er¬ 
wiesen, dass B. an einem Gehirnleiden gestorben sei. — Der An¬ 
geklagte wurde also freigesprochen. 

Der oben beschriebene pathologische Befund ist von mir noch 
niemals gesehen worden, und ich habe in den Lehrbüchern denselben 
nicht beschrieben gefunden. Ich möchte ihn als Pachymeningitis 
externa fungosa bezeichnen und folgendermassen erklären: 


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76 


Dr. Braun, 


Die Pachymeningitis externa kennen wir nur in zwei Formen, 
nämlich als chronische, welche zu bindegewebiger Verdickung der Dura 
und zu Verwachsung derselben mit dem Sehädelknoehen führt, und als 
akute, eitrige, welche sich an äussere Verletzungen, Knochenbrüche, 
an Eiterungen in der Umgebung, also an Otitis purulenta, Sinus-Ent¬ 
zündungen, Caries der Schädelknochen, Erysipelas anschliesst. Die 
hier beschriebene Pachymeningitis stellt eine andere Form dar. Die 
Dura inater ist das innere Periost des Schädelknochens, mit welchem 
sie beim Kinde innig, später locker, aber im 13. Lebensjahre, wo der 
Schädel noch wächst, ziemlich innig verbunden ist. Wir haben nun 
in der tuberkulösen Caries einen pathologischen Vorgang, welcher mit 
unserem Befunde einige Aehnlichkeit besitzt. Wie bei dieser, so ist 
es auch in unserem Falle durch ein in den Knochen eindringendes, 
gefässreiches Gewebe zu einer Einschmelzung des Knochens .gekommen: 
nur dass dieses neugebildete Gewebe nicht von dem Gewebe der 
Markräumc des Knochens ausging, sondern auf der äusseren Fläche der 
Dura um deren Gefässverzweigungen herum entstanden war. Dieser 
örtliche Zusammenhang der fungösen Auflagerungen mit den Gefäss¬ 
verzweigungen der Dura beweist, dass der Entzündungsreiz, die Infek¬ 
tion, die Entzündungserreger auf dem Wege des Blutkreislaufs zur 
Dura gelangt waren und dass sie an den bezeichneten Stellen die 
Kapillaren verlassen hatten und eine fungöse entzündliche Neubildung 
veranlasst hatten. Welcher Art diese Entzündungserreger waren, ist nicht 
aufgeklärt. Ich neige zu der Annahme, dass es sich um Tuherkel- 
bazillen, also um eine tuberkulöse Pachymeningitis externa gehandelt 
hat, ohne jedoch für diese Hypothese einen sicheren Beweis bringen 
zu können. Voraussetzung für die Hypothese ist, dass B. Tuberkel¬ 
bazillen in seinem Körper beherbergte. Ich habe schon ausgeführl, 
dass diese Annahme nicht aus der Luft gegriffen, sondern sehr wohl 
statthaft ist. Diese bisher ruhenden, latenten, eingekapselten Bakterien 
müssen zur Zeit der Erkrankung mobil gemacht worden sein, und dazu 
reicht die körperliche Erschütterung und die seelische Erregung, welche 
mit jener Misshandlung verbunden war, vollkommen aus. — Doch 
nicht nur Tuberkelbazillen, sondern auch andere Entzündungserreger 
können die gefundene Pachymeningitis veranlasst haben. Selbst w'enn 
man die mir unwahrscheinliche Annahme macht, dass B. anfangs an 
Influenza erkrankt war, so kann man die Möglichkeit, dass Influenza¬ 
bazillen die Pachymeningitis verursacht haben, nicht völlig von der 
Hand weisen. 


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Pachymeningitis externa fungosa. 


77 


Za erklären bleibt nur, weshalb dieser entzündliche Prozess an 
der Aussenfläche der Dura, einer gefässarmen Haut, welche (im Gegen¬ 
satz zur Pia mater) niemals der Sitz einer solchen Entzündung — 
soweit mir bekannt — zu sein pflegt, aufgetreten ist. Dafür muss 
eine besondere Ursache vorhanden gewesen sein, und nach der ganzen 
Lage des Falls kann diese Ursache nur in dem Trauma gefunden 
werden. Aus der experimentellen Osteomyelitis ist es genugsam be¬ 
kannt, dass die Entzündungserreger — bei der Osteomyelitis die 
Staphylokokken — sich in einem von einem Trauma betroffenen Organ 
mit Vorliebe ansiedeln. Das Trauma hat mindestens, so viel mir 
bekannt, drei diese Ansiedelung begünstigende Folgen: es lähmt oder 
schädigt die Wand der Blutgefässe, so dass die Blutgefässe sich 
erweitern und für Bakterien durchgängig werden, und es bewirkt mehr 
oder weniger grosse, im vorliegenden Falle vielleicht sehr kleine 
Blutungen; endlich bedingt es Blutstauungen und dadurch öderaatöse 
Ausschwitzungen in das Gewebe. Dadurch wird ein von Trauma be¬ 
troffenes Gewebe zu einem guten Nährboden für die Entzündungs¬ 
erreger, und es wird in einen Znstand versetzt, welcher diesen Bak¬ 
terien den Austritt aus den Kapillaren gestattet. 

Ich muss hier erklären, dass für mich dieser seltene Sitz 
einer seltenen infektiösen Entzündung, ihr Sitz an der von dem 
Trauma betroffenen Stelle ein gewichtiger Grund ist, Trauma und 
tödliche Krankheit des B. in ursächlichen Zusammenhang zu bringen. 

Natürlich gehören diese Ausführungen nicht vor ein Schwur¬ 
gericht. Wenn der Gerichtsarzt einem interessanten Novum gegenüber 
steht, so hat er wohl die Pflicht, wissenschaftliche Betrachtungen und 
Studien daran zu knüpfen; aber ebenso hat er die Pflicht, auf solchen 
wissenschaftlichen Erwägungen nicht sein Gutachten aufzubauen. 


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5. 


Ueber den gegenwärtigen Stand der Frage des sog. 
Shoks als Todesursache. 

Von 

Oboraintsarzt l)r. Oeorgii in Maulbronn. 


Bei gerichtlichen Obduktionen ist es für die beteiligten Aerzte 
immer peinlich, wenn die Todesursache nicht, einwandsfrei aufgedeckt 
wird, weil für den anwesenden Richter oder Staatsanwalt vor allem 


eine unzweideutige Erklärung für den Eintritt des Todes notwendig 
ist und verlangt wird, und weil bei der Diskussion über die mögliche 
Todesursache die Aerzte gewöhnlich verschiedener Meinung sind, was 
für den Zweck, den die gerichtlichen Sektionen haben, nicht förder¬ 
lich ist. 

Ist. nun das Resultat überhaupt ein negatives oder finden sich 
nur solche pathologisch-anatomischen Verändenmgen, die für sich allein 
als Todesursache nicht hingestellt werden können, so werden die 
Schwierigkeiten einer genügenden Erklärung immer grösser und dann 
muss in vielen Fällen als Helfer in der Not das Wort Shok her¬ 
halten, der für alle Beteiligten auch heute noch etwas Mvsteriöses 
bedeutet. 

Die Shokfrage ist schon vielfach erörtert worden und sie ist 
noch nicht, als gelöst zu betrachten. Wie wichtig dieselbe für den 
Gerichtsarzt ist, das zeigt sich jedesmal in den Fällen, in welchen 
es darauf ankommt, ob als Todesursache tatsächlich ein tödlicher 
Shok angegeben werden darf oder ob selbst bei makroskopisch 
negativem Befund ander«* oder wenigstens konkurrierende Zustände in 
Betracht kommen. 

Eine gerichtliche Sektion mit ihrem unbefriedigenden Ergebnis, 
bei der die Ansichten von vier Aerzten sehr auseinandergingen, gal» 


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lieber den gegenwärtigen Stand der Frage des sog. Shoks als Todesursache. 79 

mir Anlass, mich mit dem gegenwärtigen Stand der Frage des Shoks 
als Todesursache etwas eingehender zu beschäftigen, zumal da die 
Kollegen den beliebten Begriff Shok nur als Nervenerschütterung, 
Nervenschlag, Neuroparalyse zu definieren in der Lage waren und die 
anwesenden Juristen hiervon nicht besonders erbaut waren. 

Tm Laufe der Zeit wurde eine Unzahl Hypothesen über das Wesen 
des Shoks aufgestellt; sie können hier übergangen werden. Nur 
Gröningen’s Definition mag erwähnt sein, wonach der Shok eine 
funktionelle Störung ist und in einer durch heftige Insulte erzeugten 
Ermüdung oder Erschöpfung des Bückenmarks und der Medulla oblongata 
besteht. Er zeichnet sich durch einen vollständig negativen Sektions¬ 
befund aus. Dies verführte zu leicht, in solchen Fällen stets mit den» 
„Shok“ als Todesursache sich zu behelfen, so wenig dies dem 
wissenschaftlichen Denken unserer Tage entspricht. Kein Wunder 
daher, dass sich mit der Zeit eine Gegenströmung gegen die immer 
weitere Ausdehnung des Begriffes Shok auf alle möglichen an¬ 
scheinend unerklärlichen Todesfälle gerade von Seiten der Gerichts¬ 
ärzte geltend machte; der negative Befund drängte geradewegs dazu, 
mit den Mitteln der modernen pathologisch-anatomischen Unter¬ 
suchungsmethoden das bisherige grosse Shokgebiet einzuengen, und 
nach makroskopisch oder mikroskopisch nachweisbaren Veränderungen 
in den Organen zu suchen, womit der mehr oder weniger als Lücken- 
büsser dienende Shok möglichst ausgeschlossen werden konnte. So 
ist es gelungen, alle die plötzlichen, durch Embolieen hervorgeruCenen 
Todesfälle, die früher mit so grosser Sicherheit als Nervenschlag er¬ 
klärt wurden, als solche zu erkennen (Fettembolie nach Knochen¬ 
verletzung und nach blosser heftiger Erschütterung des Körpers fett¬ 
reicher Personen; Luftembolie, Lungenembolie bei Wöchnerinnen 
[„Puerperalshok“] u. s. w.). Vom Operationsshok hört man heute 
wenig mehr, man spricht lieber von Kollaps, Synkope, Erschöpfung 
»ind dergleichen. Tritt der Tod einige Tage nach gelungener Operation 
ganz unerwartet ein, so weiss man heute, dass kein Shok daran 
schuldig ist, sondern, wie z. B. bei intraperitonealen Eingriffen, eine 
akuteste Sepsis (s. unten). Vom Verbrennungsshok, vom Shok nach 
Hitzschlag spricht man nicht mehr, weil Physiologie und Pathologie 
genügenden Aufschluss über Organveränderungen gegeben haben, wo¬ 
durch die „negativen“ Sektionsbefunde immer seltener wurden: man 
lernte die Verbrennungsnephritis, -Pneumonie, -Pleuritis, -Meningitis, 
Darin- und ßlutveränderungen u. s. w. kennen. Auf dem grossen. 


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80 


Dr. Georgii, 


Gebiet der Vergiftungen haben Chemie und Pharmakologie durch Aus¬ 
bildung der Diagnostik und mit Hilfe des Tierversuchs die Annahme 
des Vergiftungstodes durch Shok so ziemlich beseitigt. Fenier hat 
die genaue Erhebung der Anamnese und die sorgfältige Ausführung 
der Sektionen ergeben, dass eine Vorgefundene Verletzung oder Organ¬ 
veränderung an sich als Todesursache nicht angesehen werden kann, 
dass aber ausser dem durch die Verletzung bedingten Shok noch 
eine Reihe von Zuständen klinischer und pathologisch - anatomischer 
Natur festgestellt werden, die prädisponierend zum Shok wirken, 
d. h. die allgemeine Eebensenergie und -Kraft herabzusetzen und 
gegenüber Gewalteinwirkungen diese plötzlich lahmzulegen im stände 
sind. Hierher gehören Krankheiten der parenchymatösen Organe. Blut¬ 
verluste, Infektionen, Fettleibigkeit, Abkühlung und Austrocknung des 
Peritoneums, die enorme Resorptionsfähigkeit des gesunden Peri¬ 
toneums, psychische Erregungen und Depressionen, dann der gewohn- 
heitsmässige Konsum der verschiedenen Genussmittel, vornehmlich von 
Alkohol und Tabak; Chloroform, die Antiseptika als Wundflüssig- 
keiten und WundpuJver ii. s. w., alles Faktoren, die zum mindesten 
als konkurrierende Schädlichkeiten, wenn nicht als Shok eliminierende 
Befunde bei Verletzungen in Betracht zu ziehen und gegebenenfalls 
einzeln zu würdigen sind, Erst die Dnterleibschirurgie, die sich an 
alle Abdominalorgane heranwagte, hat diese Zustände ihrer vollen Be¬ 
deutung nach kennen und berücksichtigen gelernt. Bekannt ist, dass 
anscheinend kerngesunde Männer Bauch Verletzungen und Bauchopera¬ 
tionen weniger gut und glatt durchmachen als oft zarte und schwäch¬ 
liche Frauen, die eben die organdegenerierenden Genussmittel nicht 
in dem Masse zu sich zu nehmen pflegen wie die Männer. Bekannt 
sind ferner die Sublimat-. Karbol- und Jodoformintoxikationen aus 
der noch rein antiseptischen Zeit her, die oft eine glücklich vollendete 
Operation urplötzlich illusorisch machten. 

Eine besondere und wohl heutzutage die wichtigste Stellung in 
der Shokfrage nimmt das Verhältnis zwischen Shok und In¬ 
fektion ein. 

Wenn Wern ich in seiner klassischen Arbeit über die neuro- 
paralytischen Todesarten schon 1883 einen Shok vermutete, der 
durch „Infectio acutissima u erzeugt sein müsse, wobei anatomische 
Läsionen gar nicht Zeit hätten, sich auszubilden, im Gegensatz zu 
Fällen mit langsamer und milder Infektion und entsprechenden er¬ 
kennbaren Organ Veränderungen, die Erklärung hierfür aber schuldig 


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Ueber den gegenwärtigen Stand der Frage des sog. Shoks als Todesursache. XI 


bleiben musste, weil die Methoden zum Nachweis der die Infektion 
bedingenden Materien noch in den ersten Anfängen lagen und somit 
die Grundlagen für eben noch nicht grob veränderte Organe damals 
fehlten, so können wir heute sagen, dass Wcrnich mit weitaus¬ 
schauendem Blick das Richtige geahnt hat und die Frage bezüglich 
der „Infectio acutissima“ namentlich in Betreff der Bauchverletzungen 
durch die neuesten Forschungen gelöst ist. Dadurch erfährt glück¬ 
licherweise das Gebiet des Shok eine weitere, ganz wesentliche Ein¬ 
schränkung zur grossen Genugtuung des Gerichtsarztes. 

Von allen tödlich verlaufenden Verletzungen sind bekanntlich die 
Bauch Verletzungen diejenigen, bei welchen der Begriff Shok als 
Todesursache am häufigsten gebraucht wird. Es ist eine alte Er¬ 
fahrung, dass nach Kontusionen des Bauches leichter Shok sich ein¬ 
stellt als nach perforierenden Verletzungen. Man hat dies in Zu¬ 
sammenhang gebracht mit der breiten Ausdehnung der Erschütterung 
auf die grosse Zahl der in den Unterleibsorganen befindlichen Nerven. 
Tritt hier sofort nach dem Stoss oder Schlag der Tod ein und fällt 
die Sektion negativ aus, so dürfte nach dem jetzigen Stand unseres 
Wissens die Diagnose Tod durch genuinen Shok nach der oben ge¬ 
gebenen Definition noch zu Recht bestehen. Während nun Gro¬ 
ningen (1885) die Diagnose Shoktod bis zu 24 Stunden nach der 
Verletzung zulässt, wird derselbe heute höchstens noch bis zu 2 Stunden 
post trauma reserviert, indem ausdrücklich darauf hingewiesen wird, 
dass sowohl für Shok wie bei der Commotio eerebri ohne nachweis¬ 
bare anatomische Läsionen oder auch mit solchen das plötzliche Auf¬ 
treten im unmittelbaren Anschluss an die Verletzung und das ebenso 
schnelle Verschwinden charakteristisch sei, wenn der Tod nicht, cin- 
tritt; erfolgt aber der tödliche Ausgang später als 2 Stunden nach 
der Verletzung, so hat man selbst bei negativem Sektionsbefund füg¬ 
lich nach anderen Erklärungsursachen sich umzusehen (Seliger). 

Die wichtigsten und konstantesten Symptome des ersten Shoks 
sind nun folgende: schwache, kollabierte und unregelmässige Herz- 
aktion mit kleinem, kaum fühlbarem, oft jagendem, oft verlangsamtem 
Puls, Abnahme des Blutdrucks, Sinken der Körpertemperatur, ver¬ 
schieden hochgradige Herabsetzung der Motilität, Sensibilität, Reflex¬ 
aktion, sowie Abschwächung der Hirnfunktionen. Blässe des Gesichts, 
der Lippen, verzerrte Gesichtszüge, eingesunkene Augen, cyanotisch- 
anämische Extremitäten, klebriger Hautsohweiss. u. a. (Groningen, 
Petry). 

Vierteljmhmchrift f. ger. Med. u. öff. Snn.-Wesen. 3. Folge. XXVIII. 1. t; 


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Ur. tieorgii, 

Differentialdiagnostisch kommen Blutungen und die akute septische 
Peritonitis in Betracht,. 

Bei intraperitonealen Blutungen treten zunächst die Zeichen von 
akuter Anämie und dann ein echter Kollaps auf; die Temperatur 
sinkt rasch; objektiv wertvoll ist das Auftreten einer rasch sich 
\ ergrössernden Dämpfung an den abhängigen Partieen des Abdomens 
und über der Symphyse; wichtig für akute Verblutung sind klonische 
Zuckungen, die Verblutungskrämpfe, die bei Shok und Peritonitis nicht 
Vorkommen; der Tod kann in der Zeit bis zu 18 Stunden eintrcten. 

Symptome ausgesprochener septischer Peritonitis "können schon 
P /2 Stunden post trauma auftreteu. Nach Petry hat man zwei 
grosse Gruppen zu unterscheiden: ein Teil derselben steht in direktem 
Zusammenhang mit dem lokalen Prozess (peritonitischer Schmerz, 
Fieber, Meteorismus, Erbrechen, Harn- und Stuhlverhaltung); ein 
anderer ist allgemeiner Natur und kann als Ausdruck der septischen 
Intoxikation des Organismus angesehen werden (Veränderungen der 
Temperatur [oft normale, oft subnormale Grade], des Pulses und Kollaps¬ 
erscheinungen, Facies abdominalis). Die Fälle der zweiten Gruppe 
bilden die schwersten und rapid verlaufenden Formen, sie weisen 
auffallend geringe oder gar keine Symptome der klassischen Per- 
foratiodsperitonitis auf, sie nähern sich mehr der akuten Septikämie 
oder dem rasch tödlich verlaufenden Kollaps. Der Tod tritt nach 
2—3 Tagen, frühestens 8y 2 Stunden nach Beginn der ersten Er¬ 
scheinungen (Seliger) unter dem Bilde der Herzschwäche ein; sie 
haben die grösste Aehnlichkeit mit den Shokerseheinungen. Nach 
Küstner ist der Sektionsbefund sehr gering; fast gar kein Exsudat 
und nur wenig blutig-trübe Flüssigkeit; die Dünndarmschlingen sind 
nur-mit einem eben bemerkbaren Hauch von Exsudat belegt oder ein 
solcher findet sich nur auf einer, gewöhnlich der in den Douglas 
hinabgesunkenen Schlingen; auch kann ein derartiger Belag völlig 
fehlen, so dass seitens des pathologischen Anatomen gar keine Spur 
von Peritonitis festgestellt werden kaum Dies führte Küstner zum 
Vorschlag der bakteriologischen Sektion, d. h. er liess in seinen Fällen 
etwa y 4 Stunde post mortem unter antiseptischen Kautelen das Ab¬ 
domen an einer cirkumscripten Stelle wieder öirnen und mit der Oese 
aus verschiedenen Partieen des Abdomens Materialminima entnehmen 
und diese auf Nährböden übertragen: es wuchsen nun Kulturen meist 
von Streptokokken, in einem Fall von Staphylokokken aus. 

Nach v. Brunn handelt es sich meist um Mischinfektionen 


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Ueber den gegenwärtigen Stand der Frage des sog. Shoks als Todesursache. SH 


(Staphylo-, Strepto-, Pneumokokken neben den nie fehlenden, leieln 
kultivierbaren Kolibazillenj. Bei Peritonitis lindet man selten Bazillen 
im Blut; Bertelsmann ist der Nachweis bei 14 Peritonitikcrn vor 
•lern Tode nicht geglückt (Toxinämie). Nach .lensen geschieht die 
Infektion mit Pneumokokken am häufigsten vom Darm aus mit oder 
ohne Perforation desselben; gleichzeitiges Bestehen einer Pneumonie 
ist selten. 

Die sehr giftigen Stoffweehselprodukte dieser Keime werden nun 
in grosser Menge vom Bauchfell resorbiert und führen den Tod durch 
llerzlähmung herbei, ehe es zur Ausbildung einer anatomisch nach¬ 
weisbaren Bauchfellentzündung kommt. Küstner will daher, weil 
das Entzündliche des Prozesses in den Hintergrund tritt, ja bis zum 
Nichtvorhandensein in den Hintergrund treten kann, diese Erkrankungs¬ 
form nicht als septische Peritonitis, sondern als peritoneale Sepsis 
oder, noch schärfer charakterisiert, als akute peritoneale septische 
Intoxikation bezeichnet wissen. Daraus ergibt sich, dass die diffe¬ 
rentialdiagnostischen Schwierigkeiten zwischen Slmk und peritonealer 
Sepsis sowohl klinisch wie auch anatomisch unter Umständen recht 
schwierig werden können. Wichtig ist, und das muss wenigstens 
vom streng wissenschaftlichen Standpunkt aus gefordert werden, dass 
in allen zweifelhaften Fällen die bakteriologische Sektion vorgenommen 
wird, sie wird meist die vermutete Diagnose sichern und den Slmk 
eliminieren: leider ist diese Untersuchungsmeihode in der gerichts¬ 
ärztlichen Praxis unmöglich. 

Unter Zugrundelegung der neueren Arbeiten im Bereich der Bak¬ 
teriologie und Pathologie der Peritonitis hat nun Seliger behufs Ein¬ 
engung des Shokgebiets die traumatische subkutane septische Diffu¬ 
sionsperitonitis konstruiert; unerlässliche Voraussetzung sind patho¬ 
logisch-anatomische Substrate am Dann wie Oedeme, Dehnungen, 
Rupturen, Quetschungen, Nekrose der Mucosa, Läsion der Serosa, die 
makroskopisch überhaupt nicht einmal palpabel zu sein brauchen, 
ferner Blutergüsse und Darraparalyse. Die intakte Darmwand ist für 
Gase, Bakterien und chemische Giftstoffe des Darminhalts nicht 
durchgängig. Existiert nur eine von den'eben erwähnten Bedingungen, 
so kann der Darm sich zwar ganz gut. und reaktionslos erholen, 
andererseis aber kann er seine normale Widerstandskraft einbiissen. 
weil das Trauma einen Locus minoris resistentiae gesetzt hat. die 
Damiwand wird, ohne dass sie tatsächlich perforiert zu sein braucht, 
paralytisch und lässt auf das durch die Kontusion gleichfalls schon in 

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Dr. Georgii, 


seiner Ernährung und Widerstandsfähigkeit herabgesetzte Bauchfell 
Bakterien, Gase und Toxine übergehen und einen ausserdem etwa 
noch vorhandenen Bluterguss durch die letzteren zersetzen. Es handelt 
sich also nicht um eine plötzlich eintretende Infektion des Peri¬ 
toneums wie bei der klassischen Darmperforation, sondern um eine 
allmähliche, aus dem Darminnern durch die Dannwand auf die Serosa 
hindurch stattfindende Diffusion der Bakterien und deren Produkte. 
Die Darmgase spielen dabei als Herzgifte eine sehr wichtige Rolle, 
indem sie durch ihre Diffusion die Zersetzung mit vorbereiten, bei 
aufgeblähtem Darm wird die Herzkraft reflektorisch gelähmt und 
infolge des hohen Drucks die Aufnahme der Gifte in den Kreislauf 
begünstigt. Kommt es noch zur anatomischen Peritonitis, so hat das 
Peritoneum eben noch Zeit gehabt, sich durch Bildung von Ver¬ 
klebungen der Därme gegen die Infektion zu wehren. Fraglicher 
Shoktod ist auszuschlicssen oder höchstens als konkurrierende Todes¬ 
ursache anzunehmen. 

Mit dieser Diffusionsperitonitis lassen nun viele Fälle, die später 
als 2 Stunden post trauma shokähnliche Symptome aufweisen und 
ad exitum gelangen, sich als Nichtshokfälle erklären, namentlich 
auch der bisher als Spätshok bezeichnete Zustand (Eintreten des 
„Shoks“ mit nachfolgendem Tod erst einige Tage nach der Ver¬ 
letzung) kann jetzt leicht richtig und wissenschaftlichen Anforderungen 
entsprechend gedeutet werden. 

Die Lehre von der akuten peritonealen septischen Intoxikation 
lässt sich selbstredend auch auf alle offenen Verletzungen anwenden, 
wobei also die Bauchhöhle durch das verletzende Instrument eröffnet 
wird, der Tod aber erst nach 2 -3 Tagen ganz unerwartet «intritt, 
ohne erhebliche Veränderung am Peritoneum. Hier liegt übrigens die 
Erklärung handgreiflicher als bei den subkutanen Verletzungen, weil 
nachweislich einzelne Darmabschnitte kürzere oder längere Zeit unter 
meist höchst ungünstigen Bedingungen ich habe die Stich - 
vorletzungen im Auge — wie Abkühlung, Zerrung durch Repositions¬ 
versuche mit unsauberen Laienhänden, mangelhafter erster Ver¬ 
band u. a. der atmosphärischen Luft ausgesetzt, sind. Kommt es zu 
keiner anatomischen Peritonitis, so bieten diese Fälle, wie sie in der 
gerichtsärztlichen Praxis häufig Vorkommen, das sprechend ähnliche, 
von Küstner entworfene Bild der peritonealen Sepsis, und es unter¬ 
liegt keinem Zweifel mehr, dass ihre bakteriologische Prüfung im 
Sinne Kästners ausfallen würde. Und wenn Küstner in seiner 


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Ueber den gegenwärtigen Stand der Frage des sog. Shoks als Todesursache. 85 

Frauenklinik trotz den denkbar günstigsten Operationsbedingungen ab 
und zu diese überraschenden, bis daher als Operationsshok auf¬ 
gefassten Todesfälle erleben muss, um so begreiflicher müssen uns 
die Todesfälle sein, welche im Anschluss an Schlägereien und Steche- 
reien sich ereignen und den Gerichtsarzt immer und immer wieder 
beschäftigen. 

Dieser ist jetzt in der grossen Mehrzahl der'einschlägigen Fälle 
in der angenehmen Lage, wie hei entwickelter Peritonitis, so auch in 
den pathologisch-anatomisch wenig oder gar nicht ausgesprochenen 
Fällen dieser Art unter Zuhilfenahme der Anamnese, der klinischen 
Erscheinungen und der modernen Forschungsergebnisse seinem Gut¬ 
achten eine wissenschaftlich wohlbegründete Stütze zu geben. 

Der reine genuine Shok dürfte heutzutage nur noch für die¬ 
jenigen Fälle als einzige konkurrenzlose Todesursache in Betracht 
kommen, in welchen der Tod spätestens 2 Stunden nach der Ver¬ 
letzung eingetreten sein wird und die Sektion keine andere aus¬ 
reichende Todesursache, weder makroskopisch noch mikroskopisch, 
herausfinden kann. 

Von welch hochbedeutsamer Wichtigkeit die Lehre von der 
traumatischen Peritonitis übrigens auch für die Unfallheilkunde ist, 
von deren sozialen Organen die beamteten Aerzte als Untersucher 
und Gutachter mit Vorliebe in Anspruch genommen werden, mag an 
dieser Stelle nur beiläufig erwähnt sein. 


Zur Illustration der obigen Ausführungen sollen nun 3 Fälle, die 
im Laufe des letzten Jahres Gegenstand einer strafrechtlichen Be¬ 
handlung wurden, besprochen werden. Der erste betrifft einen selbst¬ 
erlebten Fall, für die beiden anderen wurden mir durch die liebens¬ 
würdige Vermittlung der König!. Staatsanwaltschaft Heilbronn die 
Akten in dankenswertester Weise zur Verfügung gestellt, 

1. Fall. Am Ostermontag, den 31. März wurde der 24jähr. ledige Bauer R. 
abends zwischen 8 und 9 Uhr im Wirtshaus in den Unterleib gestochen, er konnte 
sich auf eine im Zimmer befindliche Bank begeben, wo sofort die Schwere der 
Verletzung an den hervorgetretenen Darmschlingen erkannt wurde; er wurde nach 
Hause befördert, wo bis zum Eintreffen der gerufenen Aerzte versucht wurde, die 
Därme wieder in den Leib bineinzuschaffen. Etwa nach Stunden trafen die 
Aerzte ein, welche an dem nicht bewusstlosen aber sehr apathischen Verletzten 
Shok konstatierten und deshalb eine Narkose unterliessen; ohne Reaktion seitens 
des Patienten erweiterten sie nach vorheriger subkutaner Kochsalzinfusion die 
Wunde, nähten eine Netz-, eine Mesenterial- und einige Darm Verletzungen und 


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Dr. Georgi i, 


brachten das Konvolut der prolabierten Darmschlingen in die Bauchhöhle zurück; 
ein Jodoformgazedocht diente als Drain. Die Blutung war relativ gering. Am 
andern Tag hatte sich der Verletzte soweit erholt, dass er gerichtlich vernommen 
werden konnte und auch Nahrung verlangte. Am 2. April trat eine plötzliche 
Aenderung ein, der Kranke kollabierte, erholte sich nicht mehr und starb bei 
normaler Temperatur 37,5 0 unter den Zeichen zunehmendor Herzschwäche am 
3. April, morgens 5y 2 h, also 56 Stunden nach der Verletzung. 

Am 4. April gerichtliche Sektion: Es handelte sich um einen kräftigen, gut 
ernährten jungen Mann. In der Mitte des Bauches war eine 9 cm lange Schnitt¬ 
wunde, die in ihrem unteren Winkel in der Ausdehnung von'2 l / 2 cm durch drei 
Nähte zusammengehalten war; im übrigen offene Wundbehandlung: 2 Gummi¬ 
röhren und ein Jodoformgazestreifen ragten aus der Wunde hervor; letztere war 
mit den der Hautwunde am nächsten liegenden und unter sich verklebten Darm¬ 
schlingen ebenfalls leicht verklebt; die der Wunde entfernter gelegenen Darmteile 
waren stellenweise mässig aufgetrieben, ihre Gefässe etwas injiziert, ihre Ober¬ 
fläche spiegelnd glatt. In der Bauchhöhle mit kleinem Becken waren 100 ccm 
dunkelrote blutige Flüssigkeit. Am freien Netzrand, der sugilliert war, fand sich 
eine Unterbindungsnaht; im Mesenterium war eine handtellergrosse Blutunter¬ 
laufung und eine Unterbindung sichtbar. 1,55 m vom Magen abwärts waren im 
Dünndarm, dessen Oberfläche überall glänzend war und teilweise kleinere Su- 
gillationen zeigte, am Ansatz des Mesenteriums 2 Katgutnähte, 2 cm hiervon ent¬ 
fernt 3 Darmnähte wahrnehmbar; noch 9 cm weiter abwärts war eine 2. Darm¬ 
naht; die Umgebung aller dieser Nähte war spiegelnd glatt, entzündliche Er¬ 
scheinungen (Trübungen, Rötungen, Verklebungen) waren nicht vorhanden; 
beide Darmnähte hatten die Löcher im Darm derart gut vereinigt, dass weder 
Darminhalt noch Darmgase dazwischen herausgedrückt werden konnten. 

Die rechte Lunge war mit dem Brustkorb derb verwachsen, beide Lungen 
zeigten venöse Stauung, namentlich hinten unten. In der rechten Brusthöhle 
waren 2 ccm und in der linken 16 ccm dunkle blutige Flüssigkeit; am rechten 
Herzen war die Wand von dem aufgelagerten Fett durchwachsen. 

Nieren blutreich, nicht verkleinert, Stich ins Gelbliche; die Leber blut¬ 
reich mit Bindegewebswucherungen und von fettgelber Farbe. 

Das Schlussgutachlen wurde damals dahin abgegeben, dass R. infolge der 
erlittenen Bauch Verletzung an Herzlähmung gestorben sei. Die besonderen Um¬ 
stände des Falles, (Entartung von Herz, Leber, Nieren — anamnestisch wurde 
Alkoholmissbrauch erhoben — schwere Reizung des Zentralnervensystems durch 
abnorm lange Abkühlung des Bauchfells, schwere Reizung durch unzweckmässige 
Hilfeversuche durch Laien, Blutverlust) haben das Zustandekommen dieser Herz¬ 
lähmung begünstigt. — 

In den ersten Stunden nach der Verletzung hat cs sich sicher 
um das gehandelt, was man heute noch als einen Shok bezeichnen 
würde; hiervon hat sich der Verletzte aber trotz der im Shok vor¬ 
genommenen Operation rasch und gut erholt; erst am 2. Tage nach 
ringetretener Besserung des Allgemeinbefindens trat eine plötzliche 
Aenderung ein, es traten wieder shokähnliche Erscheinungen auf, 

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Ueber den gegenwärtigen Stand der Frage des sog. Slioks als Todesursache. 87 

unter welchen der Patient starb. Sie sind nicht als Shok oder Spät- 
shok zu bezeichnen, sondern auf Grund der obigen Ausführungen als 
Zeichen einer Toxinämie. erzeugt durch akuteste peritoneale Sepsis, 
anzuerkennen. Als Eingangspforte ist die Bauchwunde zu betrachten. 
Der Sektionsbefund für diffuse Peritonitis war negativ, weil der 
schnelle tödliche Verlauf der Vergiftung mit den bakteriellen Stoff¬ 
wechselprodukten hierzu keine Zeit liess. Die Injektion und die Auf¬ 
blähung der der Wunde entfernter gelegenen Darmschlingen müssen 
übrigens trotz des noch spiegelnd glatten Peritonealüberzugs als 
Zeichen beginnender Peritonitis angesprochen werden. Alle anderen 
im seiner Zeit abgegebenen Schlussgutachten als besondere Umstände 
des Falles benannten Faktoren, welche das Zustandekommen der 
Herzlähmung nach den damals gegebenen Darlegungen begünstigt 
hatten, würde ich heute zwar anführen, ihnen aber nicht mehr die 
zuerkannte Bedeutung beimessen, weil eben einer solchen Sepsis alle, 
auch die von Haus aus gesündesten und kräftigsten Menschen un¬ 
rettbar erliegen. 

2. Fall. Am 15. Dezember 19*31 wurde M. abends zwischen 9 und 10 Uhr 
mit einem Dolch in den Bauch gestochen; M. konnte noch 127 m gehen, wurde 
bewusstlos aufgefunden, für betrunken gehalten und auf die Polizeiwache ge¬ 
schleift; dort entdeckte man die Bauchwunde, starke Verblutung des Hemds, aus¬ 
getretene Darmscblingen. Notverband. Die sofortige im Wachlokal vorgenommene 
gerichtliche Vernehmung und Beeidigung war möglich und dauerte etwa D/o 
Stunden, währenddem bekam M. öfters Ohnmachtsanfälle, konnte aber nach 
Wiederkehr des Bewusstseins stets wieder Rede und Antwort geben; dann er¬ 
folgte der Transport ins Krankenhaus, dort Ankunft x / 2 12 h. Unterdessen war M. 
völlig bewusstlos und pulslos geworden, Herztöne schwach zu hören, Pupillen 
maximal erweitert ohne Reaktion; nach y 2 ständiger Bemühung (Kampher, In¬ 
fusion, küustliche Atmung) wurden die Pupillen enger und der Puls fühlbar; 
jetzt wurden zwei Löcher im Darm und eines im Gekröse vernäht; der Tod trat 
um V 2 2 h in der Frühe ein, also nach 4 Stunden. 

Die Sektion ergab: Links vom Nabel 13 cm lange Bauchwunde; Darm¬ 
schlingen liegen vor dem Bauch, letztere kräftig braunrot gefärbt; Peritoneal¬ 
überzug glatt spiegelnd, am Gekröse in ziemlicher Ausdehnung blutig unterlaufen. 
Etwa iy 2 m unterhalb dem Magen am Darm 3 genähte Wunden und eine solche 
am Gekröse. An den sonstigen Organen keine krankhaften Veränderungen. Im 
rechten Brustfellsack gegen 100 ccm dunkles dünnflüssiges Blut. 

Sohlussgutachten: die Todesursache ist nach dem Sektionsbefund allein 
nicht zu erklären; der klinisohe Verlauf schliesst Shok aus, ebenso der lapid 
tödliche Verlauf eine beginnende Peritonitis. Trotzdem die inneren Organe und 
die grossen Gefässe keine ausgesprochene Blutleere zeigten, ist nach dem 
klinischen Verlauf als Todesursache Verblutung aus den Gefässen der verletzten 
Bauchdecken, des Gekröses und des Darmes anzunehmen. Die Kochsalzinfusion 


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Dr. Goorgi i, 


hat die Füllung der Gefässe wieder hergestellt; durch die hiermit verbundene 
Blutverdünnung muss die Farbe dos Blutes sich nicht in auffallender Weise ver¬ 
ändern; eine genauere Untersuchung des Blutes hat nicht stattgefunden. 

Der Bericht des Chirurgen sagt noch: M. war bei der Aufnahme total aus¬ 
geblutet, der tödliche Ausgang wurde begünstigt durch Abkühlung des nur mit 
einem Notverband bedeckten Gedärmvorfalls und Verzögerung der Ueberführung 
ins Krankenhaus zur energischen ärztlichen Hilfeleistung. 


Dieser Fall endigte nach dem Gutachten tödlich durch Verblutung. 
Shok- oder Sepsistod sind hier von vornherein auszuschliessen. Be¬ 
gründet wird die Verblutung mit dem klinischen Verlauf; von Anfang 
an keine Shokerscheinungen, der Verletzte konnte noch 127 m gehen 
und sofort ca. l 1 /, Stunden lang gerichtlich vernommen und beeidigt 
werden. Dann endlich kollabierte er und kam so im Krankenhaus 
2—3 Stunden nach erhaltener Verletzung an. Von Verblutungskrämpfen, 
die bei akuter Anämie meist auftreten, ist zwar in den Berichten 
nichts erwähnt; sie könnten ja vor der Ankunft im Krankenhaus 
unterwegs stattgefunden haben. Der Sektionsbefund war auch für 
akute Verblutung nicht beweisend, die inneren Organe und grossen 
Gefässe zeigten keine ausgesprochene Blutleere, die Vorgefundene, 
gegen akute Verblutung sprechende Blutmenge wurde in Zusammen¬ 
hang mit der Infusion gebracht. 

Ich glaube, dass in diesem Fall nur ein kleiner bis mittlerer 
Blutverlust, dann der durch die besonderen Umstände bedingte enorme 
Wärmeverlust des Organismus und drittens die neu hinzutretende 
psychische Alteration (gerichtliche Vernehmung und Beeidigung) als 
Todesursachen mit einander konkurrierten. Grosse Gefässe waren 
nicht verletzt; der Wärmeverlust war zunächst durch die Blutung 
nach aussen verursacht, noch mehr aber dadurch, dass die in Masse 
prolabirten Därme lange Zeit hindurch eine höchst ungenügende Ver¬ 
sorgung erfahren hatten. Solche Abkühlungen des Peritoneums werden 
durchweg schlecht vertragen und führen ähnlich wie der wirkliche* 
Shok zu Störungen des Zentralnervensystems und des Herzens (Puls¬ 
end Bewusstlosigkeit). Das dritte' sehwerwiegende Moment ist die 
psychische Erschütterung, welche den Verletzten durch den sehr auf¬ 
regenden Akt der gerichtlichen Vernehmung traf; letztere wirkte meines 
Erachtens wie ein erneutes heftiges und weil nach jedem Ohnmachts¬ 
anfall immer wieder cinsetzcnd und treffend als ein äusserst gefähr¬ 
liches Trauma psychischer Natur, wodurch das gesamte Seelenleben, 
der innere Mensch, aufs schwerste alteriert wurde; das Schlimmste, 


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Ueber den gegenwärtigen Stand der Frage des sog. Shoks als Todesursache. 89 

was geschehen konnte, wurde in dem Ahnungslosen wach gerufen, die 
Todesangst und Todesahnungen, sie lähmten den Lebensmut und der 
gleichmässig fortdauernde Wärmeverlust die Lebenskraft: mit unheim¬ 
licher Drastik schildert das Protokoll dem sachverständigen Arzt den 
nahenden Zusammenbruch und wie aus dem nur schwer Verletzten, 
den eine sofortige Verbringung in aktiv chirurgische Behandlung 
wenigstens vom ersten drohenden Kollapstod sicher errettet hätte, ein 
Sterbender wurde. — — — 

3. Fall. Am 26. Januar 1902 wurde B. abends zwischen 9 und 10 Uhr 
durch einen Messerstich in den Bauch verletzt, woran er zwei Tage später in der 
Nacht vom 28./29. Januar morgens I / 2 il h starb, also 52 Stunden nach der Ver¬ 
letzung. B. konnte sich noch mit Hilfe in seine Wohnung schleppen. Bei der 
sofort ihm zu Teil gewordenen ärztlichen Behandlung sass B. auf dem Bettrand 
und erzählte den Hergang; kurz vor Ankunft des Arztes trat Erbrechen auf; die 
Blutung war gering. Aus der 10 cm langen Bauchwunde waren viele Darm¬ 
schlingen vorgefallen, welche durch die Wundränder fest eingeschnürt waren, des¬ 
halb in Chloroformnarkose Erweiterung der Wunde; es fand sich keine Darmver¬ 
letzung aber Blutstauung; trotz Erweiterung dauerte es noch 20 Minuten, bis die 
Därme sich zurückhalten Hessen; sehr rasch erwachte B. aus der Narkose und 
erbrach sich noch einigemal, dann bis zum Tode nicht mehr; Tod an Herz¬ 
schwäche. 

Sektion: Kräftiger 30jähr. Mann; genähte Wunde in der Mitte der linken 
Bauchseite; in der ganzen linken Bauchgegend das Unterhautzellgewebe blutig 
infiltriert. Bei Eröffnung des Peritoneums in der Linea alba treten sofort prall 
luftgefüllte Darmschlingen hervor, alle Dünndarmschlingen stark gebläht, zeigen 
glatte glänzende Oberfläche, da und dort Andeutungen eines fibrinösen Belags und 
Gefässinjektionen. Im kleinen Becken 150 ccm einer schmutzig-braunroten, blutig¬ 
eitrigen Flüssigkeit. Die rechte Pleurahöhle enthält 200 ccm einer dunkel-schwarz¬ 
roten serösen Flüssigkeit, die linke 100 com. Der Dünndarm vielfach ziemlich 
stark injiziert und ekchyrnosiert. Der ganze Inhalt der Bauchhöhle zeigt keine 
Verletzung ausser der des Peritoneums parietale. 

Schlussgutachten: Als Todesursachen sind Shok (Herzlähmung) und 
diffuse Bauchfellentzündung anzunehmen: der Shok trat ein infolge langen 
Ausgetreten- und Eingeklemmtseins der Därme, infolge der Blutstauung und Ab¬ 
kühlung, infolge des vielen und langen Manipulierens behufs Reposition. Der 
Verletzte erholte sich zwar von diesem Schock, das Herz erlag aber den örtlichen 
und allgemeinen Folgen an Herzlähmung. — Der seröse blutige Erguss in den 
Pleuren ist als Ausdruck der allgemeinen Blutvergiftung bezw. Zersetzung an¬ 
zusehen. — 

In diesem Fall kann und muss Shok ohne weiteres ausgeschlossen 
werden, dafür spricht der Verlauf und der Sektionsbefuud. Der Ver¬ 
letzte konnte sich mit Hülfe nach Hause schleppen, sass beim sofortigen 
Eintreffen des Arztes auf dem Bettrand und konnte den ganzen Her- 


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90 Dr. Georgii, Ueber den gegenwärtigen Stand der Frage des sog. Shoks etc. 


gang erzählen, dann machte er sogar eine Narkose anstandslos und 
rasch durch. Das alles spricht gegen die Annahme des Shoktodes. 
Erst nach relativem Wohlbefinden traten plötzlich die bedrohlichen 
shokgleichen Erscheinungen auf, welchen der Verletzte erlag. Die 
Sektion ergab die deutlichen Zeichen (prallgedehnte Darmschlingen, 
Gefässinjektionen, Andeutung eines fibrinösen Belags, im Becken blutig¬ 
eiterige Flüssigkeit) der septischen Peritonitis, die ebensogut durch 
Diffusion von Danngasen infolge Darmparalyse wie durch von aussen 
her stattgehabte Infektion erklärt werden kann und als einzige Todes¬ 
ursache klinisch, anatomisch und gerichtlich medizinisch vollauf genügt. 


Literaturverzeichnis. 

1) Wernich, Ueber die als Neuroparalyse etc. bezeichnete Todesart vom ge¬ 
richtsärztlichen Standpunkt. Viertelsjahrschr. f. gerichtl. Med. u.ö. Sanitäts¬ 
wesen. Berlin. 1883. 38. Bd. 

2) Groningen, Ueber den Shok. Wiesbaden. 1885. 

3) Petry, Ueber die subkutanen Rupturen und Kontusionen des Magen- und 
Darmkanals. Beitr. z. klin. Chir. Tübingen. 1896. 

4) Küstner, Peritoneale Sepsis und Shok. Münch, med. Wochcnschr. 1899. 
No. 40. 

5—8) Seliger, Ueber den Shok, namentlich nach Kontusionen des Bauchs etc. 
Prag. med. Wochenschr. XXV. 1900. XXVI. 1901. XXVI. No. 52. 1901. 
XXVIII. No. 32. 1903. 

9) Bertelsmann, Weitere Erfahrungen über den Beginn derSepsis etc. Münch, 
med. Wochcnschr. 1902. No. 50. S. 2101 f. 

10) M. v. Brunn, Ueber Peritonitis bei Seliger 1. c. 

11) Krautwig, Ueber plötzliche Todesfälle im Kindesalter. Hef. in Mfinch. 
med. Wochenschr. 1903. No. 4. S. 172. 

12) Jensen, Ueber Pneumokokkenperitonitis. Münch, med. Wochenschr. 1903. 
No. 22. S. 956. 


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Simulation und Geistesstörung. 

Von 

Dr. H. Hoppe, Nervenarzt in Königsberg. 


II. Simulation bei chronischem Alkoholismus. 

(Schluss.) 

3. 

3. Gutachten über Carl F. 

Anamnestische Vorbemerkungen. Carl F., Arbeiter aus T . . . 
47 Jahre alt (geboren November 1849), verheiratet, stammt aus einer Trinker¬ 
familie und ist selbst seit vielen Jahren starker Trinker mit bösem Rausch, da¬ 
bei geistig und moralisch verkommen. Seit dem 27. Lebensjahre ist er durch zahl¬ 
reiche Diebstähle und Gewalttätigkeiten mit dem Strafgesetz in Konflikt geraten. 


Straftaten. 

1. Juni 1875. Einfacher Dieb¬ 
stahl. 

2. 27. Januar 1884. Desgl. (Holz¬ 
diebstahl.) 

3. 28. November 1884. Desgl. (Holz¬ 
diebstahl.) 

4. 1896. Bettelei. 

5. 1887. Gefährliche Körperver¬ 
letzung (schlug einen Schmied, 
der ihn dabei betraf, wie er an 
seinem Amboss die Axt schärfte 
und ihn beschuldigte, den Amboss 
gestohlen zu haben, nach einigen 
Schimpfreden mit dem stumpfen 
Teil der Axt gegen den Kopf, so- 
dass jener mehrere Kopfwunden 
davontrug und blutüberströmt zu¬ 
sammenstürzte). 


Bestrafungen. 

1. 25. Mai 1875 in K. 3 Monate Ge¬ 
fängnis. 

2. 5. Juni 1884 in J. 3 Tage Gefäng¬ 
nis, verbüsst 11. Januar 1885. 

3. 4. November 1885 in T. 14 Tage 
Gefängnis, verbüsst 28. Dezember 
1885. 

4. 15. Mai 1886 in K. 2 Tage Haft. 

5. 2. Mai 1887 in T. 8 Monate Gefäng¬ 
nis, verbüsst 19. Mai 1888. 


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Dr. H. Hoppe, 


6. 1890. Betrug (stellte sich einem 6. 4. November 1890 in T. 3 Monate 

lnstmann als Schneidermeister K. Gefängnis. 

vor, nahm ihm Mass zu einem An¬ 
zug, zu dem er sich Stoff geben 
liess und verkaufte den Stoff). 

7. 1891. Schwerer Diebstahl 7. 0. September 1891 in T. l 1 ^.fahre 

(brach mit zwei Genossen, seinem Zuchthaus. 

Stiefsohn und einem Arbeiter, bei 
einem Besitzer ein und stahl vom 
Boden Getreide, Lebensmittel und 
Kleider. — P. gab an, stark be¬ 
trunken gewesen zu sein und sich 
nur undeutlich des Vorgangs zu 
erinnern). 

8. 1891. Diebstahl (mit Hilfe seines 8. 9. Oktober 1891 in T. 3 Monate 

Sohnes, seines Stiefsohnes und Zuchthaus (zus. ad 7). 

eines dritten Genossen stahl er vom (Die 3 letzten Strafen verbüsst 

Hofe eines Kaufmanns aus einer <>. August 1893.) 

Tonne, die er angebohrt hatte, ca. 

4—5 Schock Heringe). 

9. 1893. Diebstahl (stahl einem Be- 9. 18. Juli 1893 in T. 9 Monate Ge- 

sitzer, bei dem er arbeitete, P/s fängnis. 

Scheffel Getreide vom Boden). 

10. 1893Sachbeschädigung (schlug 10. 28. November 1893. 5 Mark Geld- 

eiher Witwe, die Geld von ihm be- strafe resp. 2 Tage Haft, 

kommen hatte, um Schnaps zu 

holen, aber weder den Schnaps 
brachte noch das Geld zurückgab, 
unter Vollführung grossen Lärms 
die Fenster ein). 

11. 22. Oktober 1895. Mord (er schlug ln Untersuchung. 

ein Pflegekind, das uneheliche Kind Am 28. März 1890 zur Beobachtung nach 
seines Bruders, das er zu den Gross- Allenberg, 

eitern bringen sollte, unterwegs tot). 

Auf Requisition der Kgl. Staatsanwaltschaft zu Tilsit ist der Arbeiter Carl F. 
aus T., welcher sich wegen Mordes in Untersuchung befindet, vom 28. März bis 
zum 1. Mai 1895 in der Irrenanstalt Allenberg auf seinen Geisteszustand beob¬ 
achtet worden. Es hat sich dabei herausgestellt, dass die Erscheinungen von 
Geistesstörung, welche F. zeigte, simuliert waren, während der Unterzeichnete 
Sachverständige bezüglich seines eigentlichen Geisteszustandes nur die, besonders 
aus dem Aktenmaterial gewonnene, Anschauung aussprechen kann, dass F. ein 
durch langjährigen und hochgradigen Alkoholmissbrauch verkommener Mensch ist, 
dessen geistige Funktionen durch chronische Alkoholvergiftung des Gehirns, zum 
Teil vielleicht auch infolge einer Kopfverletzung, erheblich gelitten haben. 

F., welcher am 2. November in Untersuchungshaft genommen wurde, scheint 
um Weihnachten herum zuerst angefangen zu haben, Zeichen \on Geistesstörung 



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Simulation und Geistesstörung. 


93 


kundzugeben. Wie ein Mitgefangener, der Besitzerssohn Sch., angibt, soll F. da¬ 
mals fast in jeder Nacht geistliche Lieder gesungen und ab und zu so viel durch¬ 
einander gesprochen haben, dass Sch. meinte, F. sei nicht recht von Sinnen (Unt. 
Akt. Fol. 266). Nach den übereinstimmenden Aussagen der übrigen Mitgefangenen 
behielt F, dieses Verhalten auch späterhin bei. Gr betrug sich sonderbar, erzählte 
stets dasselbe, sprach oft unsinnige und unverständliche Sachen und sang fast in 
jeder Nacht geistliche Lieder. Die Mitgefangenen kamen deshalb zur Ansicht, dass 
F. nicht ganz zurechnungsfähig, nicht ganz gesund sei (ibid. Fol. 261, 264, 265, 
266, 267). Dem Gefangnisarzt Dr. K. macht F. den Eindruok eines beschränkten, 
aber nicht eines unzurechnungsfähigen Menschen; vielmehr schien es demselben, 
als ob F. zu simulieren versuchte (ibid. fol. 278). 

In Allenberg trug F. von Anfang an ein so verwirrtes und blödsinniges 
Wesen zur Schau und zeigte sich über seine Personalien, sowie über die ein¬ 
fachsten Dinge und die gewöhnlichsten Gegenstände so unorientiert, dass er sich 
schon bei der Aufnabmeverhandlung der Simulation dringend verdächtig machte. 
Auf alle Fragen antwortete er übrigens zögernd, stockend und stotternd, um seine 
Unsicherheit und Verwirrtheit zu markieren. Geboren wollte er in Plimballen sein, 

während sein Geburtsort N.sehen ist. Sein Alter gab er auf 37 Jahre an 

und als sein Geburtsjahr gleichfalls das Jahr 37. (Er ist am 4. November 1849 
geboren.) Nach einigen Tagen wollte er gar erst so „30 Jahre“ alt sein, und als 
ihm vorgehalten wurde, dass er doch anfangs gesagt habe, er sei 37 Jahre alt, 
gab er willig zu: „Ja 37“. Soldat, behauptete er, sei er nicht gewesen (er hat 
1870 beim 1. Trainbataillon in K . . . . gedient). Dass er wegen Mordes in 
Untersuchung sei, teilte er zögernd mit. Er habe ein Kind gemordet und ver- 
sebarrf. Vordem sei er nnr einmal bestraft worden, und zwar mit Zuchthaus. 
(Er hat 10 Vorstrafen.) Den Namen des Zuchthauses, in welchem er seine Strafe 
verbüsst hat, wollte er nicht kennen („Es war dooh dort“), während er den 
Namen eines Aufsehers aus demselben richtig zu nennen'wusste. Sohliesslich 
stimmte er dem Begleiter, welcher ihn bei seinen unsicheren, stockenden Angaben 
teilweise unterstützte, zu, dass es I ... . gewesen sei. 

Wo er hier sei, wollte er nicht wissen, meist meinte er, er sei hier zu 
Hause in seiner Wohnung, in T . . . . Auf die Frage, an welchem Flusse T . . . . 
liege, meinte er, „da ist gar kein Fluss“. Auch wollte er keine Strasse in T . . . . 
kennen. 

Ebenso unorientiert zeigte sich F. in Bezug auf Zeitverhältnisse. Am zweiten 
Tage seines Hierseins gab er auf Befragen ab, er sei „an jenem Tag“ hierherge¬ 
kommen, und auf die Frage, was das für ein Tag gewesen sei: „Es war doch 
jener Tag“. Schliesslich meinte er, er sei seit heute Morgen hier. Tags darauf 
meinte er, er sei „so 7 Tage“ hier, Hess aber mit sich reden, denn aof die Frage: 
Sind es nicht 8 Tage? erwiderte er: „Ja 8 Tage“. Kann es auch 14-Tage sein? 
„Na ja, 14 Tage“. 

Noch mehr Widersprüche zeigte er einige Tage später in seinen Angaben. 
Erst wollte er bereits 1 Jahr hier wohnen, dann meinte er: „Na, so 6 Wochen 
schon“. Auf die Frage: „Wann kamen Sie her?“, erwiderte er schliesslich: „Sie 
schickten mich gestern her, da fuhren wir mit dem'Zuge spazieren. Wir stiegen 
ein, wie gesagt, ich bin schon hier 10 Wochen“. Nach dem Monat gefragt, er- 


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Dr. H. Hoppe, 


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widerte er nach einigem Ueberlegen and Stottern, dass jetzt Juli sei. Auf die 
Frage, woran er dies erkenne, erfolgte keine Antwort.“ 

Wie sehen denn die Bäume im Juli aus (er konnte von seiner Zelle aus die 
damals noch völlig kahlen Bäume des Gartens sehen)? — „Gross.“ 

Auf die Frage, in welchem Monat die Bäume denn kahl seien, erfolgte 
wiederum keine Antwort. Die Zahl der Monate im Jahre gab er auf 5 an. Aufge¬ 
fordert, die Namen dieser 5 Monate zu nennen, sprach er zunächst leise vor sich 
hin; „Da ist Sommer und Winter“, dann zählt er laut an den Fingern: „August 
. . . August . . . Juli“. 

Sind das 5? Ja. 

Wieviel Tage hat die Woche? 17. 

Wollen Sie mir alle aufzählen. Ja ich werde alle . . . Sonntag . . . 

und Freitag . . . und Mittwoch . . . 
und Sonntag. 

F. ging aber in seiner törichten Uebcrtreibung noch weiter. Er zeigte sich 
sogar unklar über die verschiedenen Tageszeiten, behauptete z. B. am Abend um 
6 Uhr (am 30 März, wo es bereits anfing, erheblich dunkel zu werden), es gebe 
bald Frühstück, es wäre jetzt Morgen, so etwa 11 Uhr, er erkenne dies daran, 
dass es anfange, hell zu werden. Auf den Einwurf, ob es im Juli um 1] Uhr 
hell zu werden beginne, meinte er schliesslich, es werde wohl so 4 Uhr morgens 
sein. Dabei wurde er des Widerspruchs nicht inne, zu welchem er sich verleiten 
liess, indem er den Gutenabendgruss, der ihm geboten wurde, anstandslos er¬ 
widerte, 

In der falschen Konsequenz der Simulanten, welche glauben, recht verwirrt 
zu erscheinen, wenn sie alles gerade verkehrt beantworten, äusserte er eine Woche 
spätor bei der Morgenvisite, als er nach dem Grunde gefragt wurde, warum ei¬ 
sern Frühstück stehen gelassen habe: „Ich will kein Abendbrot“. — Was haben 
wir für eine Tageszeit? „Na, es ist jetzt Nacht“. -- Ist jetzt bell oder dunkel? 
„Dunkel“. 

Eine hochgradige l'norientiertheit und Unwissenheit gab er auch im 
Rechnen und bei der Bestimmung der einfachsten Dinge zu erkennen. Erzählte 
„l, 2, 5, 7, 10, 17, dann 20, 27 . . . also 30“; rechnete 1 —{— 1 = 7, 
2 X 2 = 10, 7 — 1=1; meinte einmal, dass er 3 Ohren hätte und suchte 
das dritte auf dem behaarten Kopfe, ein andermal wollte er zwei Nasen und auf 
auf jeder Seile zwei Ohren haben, die Finger zählte er „1, 2 . . . und wieder 
2 . . . das sind 7“ und dergleichen mehr. Einen Taler bezeichnete er richtig, 
meinte aber, derselbe sei aus Gold; ein Pfennigstück, 1 Zehnpfennigstück, 
1 Fünfzigpfennigstück und 1 Zehnmarkstück waren für ihn alle „ein Dittchen J ) 
aus Gold“, 1 Mark dagegen „ein grosses Dittchen, auch aus Gold“. 

Selbstverständlich gab er auch die Zeit auf der Uhr falsch an, z. B. meinte 
er, als es lO 1 ^ Uhr war, es sei 7 Uhr, übrigens behauptete er, die (silberne) 
Uhr sei aus Eisen. Die Farbe des Himmols nannte er grün, die (goldene) Kette 
blauweiss, den roten Bleistift schwarz. Als er am ersten Osterfeiertag 2 Eier und 
einen Feststrietzei erhielt, zeigte er auf diese Sachen mit läppischer Freude und 


l) Provinzialismus für Groschen (10 Pfennige;. 


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Simulation und Geistesstörung. 


95 


sagte: „Das sind hier meine Pferde und das ist mein Schaf“. Speichel, welcher 
ihm aus dem Munde floss, bezeichnete er als Spiritus, eine vorgehaltene Zigarre 
als „verfaultes Holz“. Ein Stück Seife erklärte er für Zucker, griff auch danach 
und biss herzhaft hinein. 

Diese Beispiele dürften genügen, um die plumpe Simulation des P. ins 
rechte Licht zu setzen. 

Sein übriges Verhalten blieb sich im allgemeinen gleich. Er lag meistens 
ruhig da und schlief auch nachts fest, nur zuweilen ging er unruhig in der Zelle 
auf und ab oder tanzte in derselben umher, manchmal sang er auoh wohl mehr 
oder weniger laut. Bei den Kolloquien setzte er sioh gewöhnlich auf seinem Lager 
auf und begleitete alle seine Reden mit eigentümlichem Wiegen oder Hin* und 
Herdrehen des Körpers, wobei er zuweilen allerlei sinnlose Bewegungen mit den 
Armen machte. 

Von Zeit zu Zeit teilte er phantastische Erlebnisse mit, um Sinnes* 
täusobungen oder Wahnvorstellungen glaublich zu machen. So erzählte er eines 
Morgens: „Ich war heut in der Stadt; da war so ein grosses Wasser, da sind 
wir mit dem Kahn hinübergefahren. Der Kabn, der wurde umgeworfen, da kam 
der Gensdarm und sagte, ich hätte den Kahn umgeworfen. Da habe ich mich 
durch die Häuser durchgescbliohen und kam wieder zurück“. Dass solche Er¬ 
zählungen ihrer ganzen Natur nach zusammengefabelt waren und nur als weiterer 
Beweis seiner Simulation gelten konnten, unterliegt keinem Zweifel. 

Nachdem F. die Simulation über 3 Wochen fortgesetzt batte, änderte er auf 
wiederholte Einreden, dieselben doch endlich fallen zu lassen, am 20. April 
plötzlich sein Verhalten. Er gestand dem Oberwärter unter Tränen ein, dass er 
das Kind gemordet und verscharrt habe und bat ihn, dem Arzte mitzuteilen, dass 
er nunmehr alles gestehen wollte. Bei der Abendvisite zeigte F. ein deprimiertes, 
aber völliges verständiges Wesen. Er gab auf alle Fragen klare und präzise Ant¬ 
worten, zeigte sich über Ort und Zeit orientiert und gestand zu, dass er simuliert 
habe, um daduroh von der Strafe für sein Verbrechen loszukommen. Ueber seine Tat 
machte er am nächsten Tage ausführliche Mitteilungen, jedoch und unter mannig¬ 
fachen Verdrehungen und Flunkereien, welche mit den früheren, den Tatsachen 
entsprechenden Darstellungen vor Gericht in offenbarstem Widerspruch standen 
und andeuten sollten, dass er über die einzelnen Vorgänge an dem Tage nur 
nooh eine unklare Erinnerung und Vorstellung habe. Besonders musste seine 
Behauptung auffallen, dass er das Kind, welches in Wirklichkeit infolge eines 
auf stumpfe Gewalteinwirkung zurüokzuführenden Schädelbruchs ums Leben ge¬ 
kommen war, geschlachtet habe, indem er demselben den Bauch aufgesohlitzt 
und die Kehle durchschnitten habe; allerdings fugte er hinzu, dass ihm dies der 
Gefängnisaufseher L. erzählt habe, und da werde es auch stimmen. 

ln der Folge suchte F., welohem das offene Geständnis seiner Simulation 
bald leid zu werden sohien, dieselbe wenigstens in einigen Punkten fortzusetzen. 
So wollte er das Jahr seiner Geburt nioht wissen, wenn er auoh sein Alter jetzt 
richtig auf 49 Jahre angab; seinen Geburtstag behauptet er nicht genau angeben 
zu können, entweder falle derselbe auf den 14. September oder 14. Dezember (er 
ist am 4. November geboren). Als Geburtsort nannte er beharrlich Plimballen. 
Selbst als ihm Kl. N . . ; in Erinnerung gebracht worden war, blieb er bei 
Plimballen, Budszen oder dergleichen kenne er nicht, wer solle sich die kleinen 


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L>r. H. Hoppe, 


Dörfer alle behalten. Dabei ist zu bemerken, dass F.noch bei der Vernehmung am 
3. November 1894 ebenso wie bei den früheren Strafsachen alle seine Personalien 
richtig angegeben hatte. F. wollte ferner nicht genau wissen, wann er nach Allen¬ 
berg gekommen sei, es könne so im Februar gewesen sein; ebenso zeigte er sich 
über das Datum des Tages unorientiert. Am nächsten Tage gab er triumphierend 
die richtigen Daten an, er habe den Wärter gefragt (was auch den Tatsachen 
entspricht) und der habe ihm alles gesagt. Von da ab konnte er täglich das 
richtige Datum nennen. Auffällig musste noch erscheinen, dass er, während er 
die Zahl der Tage im Monat und der Monate im Jahr nunmehr richtig nennen 
konnte, die Zahl der Tage im Jahre auf „270 oder 280“ angab, mehr seien es 
sicher nicht. Später meinte er, es seien doch über 300, er habe es sich an den 
Steinen der Zelle berechnet. 

Im übrigen suchte er wieder öfters ein kindisches und läppisches Wesen an 
den Tag zu legen. So gefiel er sich in törichten Spielereien mit seinem Barte, 
den er zuletzt beinahe täglich in eine Reibe einzelner Locken drehte. Darüber 
befragt, gab er an, er wolle so stark werden, wie der Mann aus der Bibel (sc. 
Simson), welcher durch Einstürzen eines Hauses seine Feinde begraben habe; 
später meinte er, er sei wohl doch schon zu alt dazu. Beim Photographieren 
äusserte er eine läppische Freude über den Apparat. Zuweilen ging er singend 
auf und ab und meinte auf Befragen, ob er sich denn so glücklich und behaglich 
fühle: „Ja, sterben müsse er ja doch, warum solle er so traurig sein“. Im 
Gegensatz dazu zeigte er ein andermal wieder bei den Kolloquien ein recht ver¬ 
ständiges und einsichtsvolles Verhalten. Er weinte dann viel und klagte, dass er 
sterben und den Kopf verlieren müsse — und dies alles wegen seines Bruders, 
der ihn belogen und betrogen habe. 

Wenn es demnach auch keinem Zweifel unterliegen kann, dass p. F. nicht, 
nur in den ersten Wochen seines hiesigen Aufenthalts Geistesstörung zu simulieren 
versucht bat, sondern teilweise auch noch nach dem Eingeständnis der Simulation, 
so ist damit noch nicht erwiesen, das F. geistig normal ist. Im Gegenteil muss 
Simulation von Geistesstörung, welche erfahrungsgemäss nicht selten von Geistes¬ 
kranken oder geistesschwachen Personen geübt wird, stets den Verdacht er¬ 
wecken, dass der Simulation eine wirkliche Geistesstörung zu Grunde liegen 
könne und, dazu autfordern, die sich unter der Simulation verbergende eigentliche 
Geistesverfassung einer sorgfältigen Untersuchung zu unterziehen. Zu diesem 
Zwecke wird esn otwendig sein, einen Blick auf das Vorleben des F. zu werfen. 

Wenn man den Angaben des F. Glauben schenken kann, so stammt der¬ 
selbe aus einer Trinkerfamilie. Sein Vater soll früher eine kleine Besitzung (von 
ca. 1 Hufe) besessen, dieselbe aber durch Trunk schnell heruntergebracht und 
verloren haben, sodass er seit Jahrzehnten als Losmann und Arbeiter sein Brot 
verdienen musste. S,ein Bruder Leopold (welcher in der Untersuchung wegen 
Mordes mit verwickelt war) soll gleichfalls stark trinken, wofür übrigens die 
in den Untersuchungsakten enthaltenen Angaben sehr zu sprechen scheinen (cf. 
U.-A. Fol. 167, 168, 175). 

F. behauptet, die Schule wenig besucht zu haben, da er, weil sein Vater 
bereits damals verarmt war. als Hütejunge Dienste verrichten musste. Seit 


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Simulation und Geistesstörung. 


1)7 

seiner Einsegnung habe er sich erst durch Hüten, dann als Tagelöhner seinen 
Unterhalt erworben. Im Jahre 1870 habe er beim 1. Trainbataillon in K . . . . 
gedient, ln der Militärzeit will er sich das Trinken angewöhnt haben, wenn er 
auch zugibt, schon früher gelegentlich getrunken zu haben. Danach wäre F. seit 
ca. 25 Jahren gewohnheitsmässiger Trinker. Dem scheinen auch die Tatsachen zu 
entsprechen. Am 29. Dezember 1874 abends wurde er von einem Schutzmann in 
Königsberg in total trunkenem Zustande in der Brotbänkenstrasse liegend aufge¬ 
funden und arretiert. (A.d.Kgl. Pol.-Präs. Königsberg, Fol. 1.) Am 30. Dezember 
aus dem Polizeigewabrsam entlassen, wurde er bereits 3 Tage später wieder arre¬ 
tiert, weil er in total betrunkenem Zustande am Ostbahnhofe lag (ibid. fol. 2). 
Diese beiden Facta, welche zufällig bekannt worden sind, besagen genug. Ob 
und wie oft F., welcher seinen Wohnsitz vielfach gewechselt hat, ausserdem 
wegen Trunkenheit sistiert worden ist, ist nicht zu ermitteln. 

Jedenfalls scheint F. bei den meisten seiner vielen Straftaten in einem ange¬ 
trunkenen oder betrunkenen Zustande gewesen zu sein. Die erste dieser Straf¬ 
taten fällt in das Jahr 1875, wo F. wegen einfachen Diebstahls zu 3 Monaten 
Gefängnis verurteilt wurde. Dann folgt eine lange Pause bis zum Jahre 1884. 
Nunmehr beginnt aber eine fortlaufende Reihe von Straftaten, die einander auf 
dem Fusse folgen und die rasch zunehmende Verkommenheit des F. zeigen. Mög¬ 
licherweise lässt sich diese durch eine verminderte Widerstandsfähigkeit seines Ge¬ 
hirns besonders gegen Alkohol erklären, welche seit einem Sturz im Jahre 1883 
datieren soll. Wie F. vor Gericht ausgesagt (of. Unt.-Akt. Fol. 73) und überein¬ 
stimmend damit seinen Mitgefangenen erzählt (ibid. Fol. 268), sowie auch in 
Allenberg angegeben hat, verunglückte er damals in T . . . durch Sturz von einem 
Bau, indem er auf das Strassenpflaster fiel und sich am Kopf verletzte. Er will 
eine Zeit lang bewusstlos gewesen und in der Heilanstalt zuT. . . behandelt worden 
«ein. Das Attest des Dr. S., wonach F. vom 23. bis zum 27. April 1883 wegen 
einer Quetschung des Rückens in der Heilanstalt behandelt worden ist, scheint 
diese Angabe zu bestätigen. Von dieser Zeit an will F. an Schwindel leiden und 
einon bösen Rausch haben. Dem Gefangenen David J. teilte er mit, dass er, wenn 
er betrunken sei, einen Vogel bekomme. Seit der Verunglückung werde er, wenn 
er betrunken sei, ganz wirr im Kopfe und wisse nicht, was er tue. ln diesem 
Zustande habe er einmal sein an der Tür hängendes Jackett, welches er für einen 
Mann und seinen Gegner gehalten habe, zerrissen (Fol. 268). Vor Gericht gab er 
an, dass er seit jener Zeit im Rausche sehr aufgeregt sei, sodass er sich schon 
immer gehütet habe, Schnaps zu trinken. Er sehe dann die Menschen für wilde 
Tiere an und ebenso auch die Kleider und andere Sachen. Er zerschlage dann 
alles, jage die Familie aus der Stube, zerreisse die Kleider, reisse sich die Haare 
aus, springe in der Nacht auf u. s. w. Dem Sachverständigen machte er in Allen¬ 
berg ähnliche und sehr wahrscheinlich klingende Angaben u. a., dass er, wenn 
er betrunken gewesen, öfter auf der Chaussee betroffen worden sei, wie er mit dem 
Stock in der Luft herumgefuchtelt und wild auf die Chausseesteine geschlagen 
habe; er selbst wisse nichts davon, es sei ihm nur hinterher berichtet worden. 
Dass Gehirnerschütterungen, welche so häufig mit einem Sturz verbunden sind, 
auch ohne gröbere äussere Verletzungen imstande sind, mehr oder weniger schwere 
funktionelle Störungen in der Tätigkeit des Zentralnervensystems hervorzubringen, 
Viprtoljahrsschrift f. gor. Med u. tfff. .San.-Wesen. Folge. XXVIII I. 7 


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!>8 


l)r. H. Hoppe, 


u. a. auch solche, welche als böser oder pathologischer Rausch bezeichnet werden, 
ist durch die ärztliche Erfahrung erwiesen, llebrigens trägt F. an seinem Schädel 
mehrere Narben und Knochenauftreibungen, welche auf Kopfverletzungen hin- 
weisen und zum Teil von Schlägereien herrühren sollen, in die sich F. vielfach 
verwickelt zu haben scheint; besonders auffallend ist eine ungefähr markstückgrosse 
Narbe am Grunde des rechten Scheitelbeins, welche eben von dem Sturz vom 
■lahre 1883 herrühren soll. Seine Reizbarkeit und Brutalität wird ja durch seine 
Verurteilungen wegen gefährlicher Körperverletzung — F. schlug einem Schneider¬ 
meister, der ihn, wie es scheint mit Recht, eines kleinen Diebstahls beschuldigte, 
mit dem stumpfen Teil einer Axt, welche er in den Händen hatte, so gegen den 
Kopf, dass derselbe blutüberströmt zusammenstürzte (cf. M. IV 11/87) und wegen 
Sachbeschädigung (D. 383/93) — genügend gekennzeichnet. Andererseits enthalten 
die Untersuchungsakten zahlreiche Angaben, welche die masslose Reizbarkeit und 
sinnlose Wut des F. in trunkenem Zustande darlegen und die Mitteilungen des F. 
über sein Verhalten in demselben bestätigen. Nach den Angaben seiner Frau, 
welche völlig glaubwürdig sind, da sie im übrigen gerade nicht sehr zu Gunsten 
ihres Mannes redet, war F., wenn er angetrunken war, sehr heftig und wütend; er 
wusste nicht, was er im Trünke tat; einmal habe er im angetrunkenen Zustande 
in der Stube alles zertrümmert (cf. Unt.-Akt. Fol. 130). Aber auch sonst scheint 
er sehr brutal gewesen zu sein. „Widersprechen konnte ich nicht, denn er war 
sehr heftig und schlug gleich.“ Noch beachtenswerter sind die Mitteilungen des 
Eigenkätners F. B. aus K . . . ., bei dem F. vor seiner Uebersiedelung nach T . . . . 
eine zeitlang gewohnt hat, um schliesslich mit seiner Familie ohne Bezahlung der 
Miete heimlich auszurücken. „F. war eine sehr wütende Natur, man konnte ihm 
nicht viel sagen, dann wollte er gleich losschlagen. Die Frau F. äusserte, wenn 
ihr Mann angetrunken sei, dann frage er nach nichts, sondern schlage gleich los. 
Er selbst äusserte zu mir: wenn er mal im Zorn sei, könne er sich nicht helfen; 
wenn der Betreffende nicht fortgehe oder nachgebe, könne er ihn gleich tod¬ 
schlagen. Als ich einmal von der Frau Bezahlung forderte, wollte F. gleich auf 
mich loskommen und mich schlagen. Einmal schlug er mich ins Gesicht, weil 
ich auf seiner Flurseite ging“ (Fol. 172 u. 173). Aehnlich lautet die Aussage der 
Frau B., bei der F. zur Miete gewohnt hat. Frau F. habe ihr beim Mieten der 
Wohnung mitgeteilt, sie sei mit ihrem Manne auseinander, er dürfe nicht zu ihr 
kommen, denn wenn er betrunken nach Hause komme, lasse er die Federn gleich 
in die Luft fliegen und zerreisse die Betten. Wenn er mal betrunken sei, frage er 
nach nichts und schlage Fenster und Türen aus. „Bald nach seinem Eintreffen 
war auch gleich Spektakel und wollte F. auf meinen Mann losgehen und ihn 
schlagen, während dieser das Kind hatte. Ein andermal, als er in T . . . gewesen 
war, wollte er in unsere Stube einbrechen, sodass wir die Tür zuhalten mussten. 
Um Skandal zu vermeiden, suchten wir mit ihm im Guten zu verkehren. Aus¬ 
setzen wollten wir ihn nicht, weil wir fürchteten, er könne uns irgendwie schaden“ 
(ibid. Fol. 173). In dieselbe Zeit fallt auch die Szene, von der Gastwirt E. be¬ 
richtet. Es könne anfangs September 1894 geweson sein, als F. an einem Sonn¬ 
abend stark angeheitert in sein Lokal gekommen sei. „F. benahm sich unmanier¬ 
lich, tastete ein Frauenzimmer an und wurde, als E. ihn verwies, frech. Schliess¬ 
lich aufgefordert, das Lokal zu verlassen, wurde F. noch frecher, sodass E. ihn 


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Simulation und Geistesstörung. 


95» 


hinauswarf. F. begann nun auf E. fürohterlich zu schimpfen. Unterdes waren 
zwei Maurer gefahren gekommen. Diese hatte er jetzt angefallen, auch ein Messer 
gegen sie gezogen. Wir hörten draussen Hallo. F. schien jedoch den Kürzeren 
zu ziehen, denn er wurde durchgebläut, ihm auch der Stock weggenommen, welchen 
die Frau des F., der um Entschuldigung bitten liess, in den nächsten Tagen von 
E. abholte.“ (Unt.-Akt. Fol. 175). 

Aus allen diesen Berichten leuchtet das klassische Bild des psychisch und 
moralisch verkommenen, brutalen, gewalttätigen ohronischenAlkoholisten deutlich 
hervor, welcher, wie seine Straftaten zeigen, bettelt, betrügt und stiehlt, wo 
er nur kann, der, was er verdient und zusammengestohlen hat, zum grossen 
Teil für Schnaps ausgibt, der kein Bedenken trägt, die Kleidungsstücke, die 
er an hat, zu versetzen, um sich dafür Branntwein zu kaufen (cf. Unt.-Akt. Fol. 
149), der schon in nüchternem Zustande wegen seiner Unverträglichkeit und 
Reizbarkeit gefürchtet, im Trunk allenthalben Spektakel macht und Streit an¬ 
fängt, durch die geringste Kleinigkeit in masslosen Zorn gerät und zu den hef¬ 
tigsten Wutausbrüchen gereizt wird und dann sinnlos auf alles.losschlägt, was 
ihm in den Weg kommt, wobei ihm jede Waffe, auch die gefährlichste, recht ist. 
Die krankhafte Reizbarkeit und die sittliche Degeneration, beides charakteristische 
Symptome des chronischen Alkoholismus, eine der Formen von Geistesstörungen, 
in welcher sich die chronische Alkoholvergiftung des Gehirns äussert. ist unver¬ 
kennbar. Wie weit auch eine Geistesschwäche, das dritte Hauptsymptom des 
chronischen Alkoholismus, vorliegt, ist nicht sicher zu entscheiden, doch scheint 
darauf, neben der ausserordentlichen Plumpheit des Simulationsversuches, das 
sehr geringe Mass von Wissen hinzuweisen, welches F. nach Fallenlassen der Simu¬ 
lation in den elementaren Fächern und bezüglich der einfachsten sozialen Verhält¬ 
nisse zeigte: nur in der Religion resp. im Aufsagen auswendig gelernter 
Formeln und Sprüche erwies er sich verhältnismässig gut beschlagen. 

Nachdem wir so einen Einblick in die allgemein geistige Verfassung des F. 
gewonnen haben, bleibt nun noch übrig, die speziellen Umstände der Straftat, 
wegen welcher F. sich in Untersuchung befindet, einer kurzen Betrachtung zu 
unterziehen. Dabei muss zunächst bemerkt werden, dass das Kind, welches sein 
Bruder und die Braut desselben Ende September vorigen Jahres dem F. ins Haus 
des T. gebracht hatten, damit es dort verpflegt werde, fortwährend für F. ein 
Gegenstand des Aergers war, weil die versprochenen Pflegegelder ausblieben. 
„Ich musste ihn (sc. den Bruder) und das Kind umsonst unterhalten, war ärger¬ 
lich darüber, murrte und schimpfte bei Tag, auch bei Nacht, wenn ich aufwachte, 
auf den Bruder, dass er mich belogen und beschwindelt und das Kind mit Lügen 
zu mir hergebracht.“ (Unt.-Akt. Fol. 67, vgl. auch Fol. 122.) Als er nun schliess¬ 
lich sich mit seinem Bruder verabredet hatte, das Kind gemeinsam zu den Eltern 
der Braut nach B . .. . zu bringen und er auf dem Bahnhof zu Kl . . . seinen Bru¬ 
der, welcher vorausgegangen sein sollte, nicht vorfand und unverrichteter Sache 
mit dem Kinde zurückkehren musste, war es bei der Rohheit des F., welcher sich 
wieder betrunken hatte, nicht erstaunlich, dass er seinen Aerger und seine Wut 
an dem armen Kinde ausliess, wie er dies auch schon öfter früher getan haben 
soll (cf. Unt.-Akt. Fol. 110). Nach den übereinstimmenden Angaben seiner 
Nachbarsleute, der Frau und der Kinder des F. kam F. betrunken, wie immer 

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100 


Dr. H. Hoppe, 


A 


polternd und schimpfend nach Haus, fragte zornig nach seiner Frau, die augen¬ 
blicklich abwesend war, warf das Kind wiederholt aufs Bett, dass dasselbe in ein 
jämmerliches Geschrei ausbrach und schlug es mit der Faust ins Gesicht, bis es 
nicht mehr schrie und nur noch leise röchelte. Dabei sohimpfte er: „Du Mist, 
Du brauchst mir nicht mehr in die Augen zu kommen!“ nnd drohte, er werde das 
Kind mit dem Messer zerschneiden, aufritzen und gegen die Wand schmeissen (cf. 
Unt.-Akt. Fol. 109, 110 u. 113). Als die Frau, welche unterdes nach Hause ge¬ 
kommen war, das Kind aufnehmen und vor dem Wüterich schützen wollte, schrie 
er: „Was — das Mist! raus mit ihm!“, stiess mit den Füssen nach ihr und jagte 
sie mit dem Kinde hinaus (Fol. 125). Es ist wohl nur einem Zufall zu verdanken, 
dass das Kind, welches bald darauf in Krämpfe verfiel (Fol. 109), nicht bereits an 
diesem Tage unter den Händen des wütenden Säufers sein Leben aushauchte. 

Am übernächsten Tage (am 22. Oktober) machte sich F. auf, um das Kind, 
welches er auf jeden Fall los werden wollte, selbst zu den Grosseltern in B . . . . 
zu bringen. Er nahm „wie gewöhnlich“ eine Schnapsfiasche mit, welche er sich 
unterwegs füllen lassen wollte (Fol. 126) und sich auch angeblich noch in T . . . . in 
der Destillation bei R. füllen liess. Dass er mit der Absicht fortgegangen sei, das 
Kind zu töten, kann den Umständen nach kaum angenommen werden, da er unter¬ 
wegs wiederholt von seiner Absicht, dass Kind nach B .... zu bringen, erzählte, 
sich nach dem Wege dorthin erkundigte und schliesslich auch kein genügendes 
Motiv zur Ermordung des Kindes hatte, bevor es nicht von den Grosseltern zurück¬ 
gewiesen war, was wohl auch kaum geschehen wäre. Man wird daher nur ver¬ 
muten können, dass F. in einem ähnlich trunkenen Zustande wie zwei Tage vor¬ 
her, seinen Aerger und seinen Zorn über das Kind an demselben durch erneute 
Misshandlungen ausgelassen hat. Er wurde nachmittags 3y 2 Uhr, während es 
regnete und stürmte, einige hundert Schritte von dem Dorfe K . . . . beobachtet, 
wie er das Bündel mit dem Kinde zur Erde warf, mehrere Schläge gegen dasselbe 
führte und es mit den Händen mehrmals gegen die (damals jedenfalls etwas 
gefrorene) Erde stukte (Fol. 141 u. 142). Es ist nicht unwahrscheinlich, dass bei 
diesen in der Wut ausgeführten Misshandlungen das Kind den tödlichen Schädel¬ 
bruch erlitten hat. 

Wenn auch verschiedene Zeugen behaupten, dass F. ihnen nicht betrunken 
erschienen sei, so will das nicht viel sagen, da häufig die Trunkenheit schon bis 
zu einem hohen Giade der geistigen Alteration gediehen sein muss, ehe sie vom 
Volke als solche anerkannt wird, während geringere Grade der Trunkenheit ge¬ 
wöhnlich übersehen werden. Wie dem auch sein mag, soviel ist sicher, dass F. im 
Gasthause zu R. . . (der Endstation) hastig ein Glas Bier getrunken und sich die 
Selterllasche mit einem Quartier Schnaps neu batte füllen lassen. Dass er — zumal 
bei dem nasskalten Wetter eines stürmischen Herbsttages — bald einen gehörigen 
Schluck zu sich genommen haben wird, kann man bei einem Trinker wie F. mit 
Sicherheit annehmen. Jedenfalls konnte bei der oben besprochenen geringen 
Widerstandsfähigkeit des F. gegen Alkoholika auch eine nicht besonders grosse 
Menge Schnaps, namentlich in Verbindung mit Bier, genügen, ihn zu berauschen 
und den Aerger, welcher schon lange in ihm kochte, und durch das schlechte Wetter, 
in dem er das Kind in unbekannter Gegend mit sich herumschleppen musste, viel¬ 
leicht auch durch das Weinen des Kindes, noch erhöht wurde, zu einem Wutanfalle 
zu steigern, dem das Kind in der beschriebenen Weise zum Opfer gefallen ist. 


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Simulation und Geistesstörung. 


101 


Danach gibt der Unterzeichnete Sachverständige sein Gutachten dahin ab. 
dass F. die inkriminierteTat wahrscheinlich in einem Zustande krankhafter Störung 
seiner Geistestätigkeit verübt hat, welche seine freie Willensbestinrnmlig aus- 
schliessen oder doch in hohem Grade herabsetzen musste. 

Auf dieses Gutachten hin wurde F. ausser Verfolgung gesetzt 
und am 2. Juli 1895 der Anstalt als gemeingefährlicher Geisteskranker 
wieder zugeführt. F. zeigte jetzt keine Spur von Simulation mehr, 
sondern ein völlig ruhiges und klares Verhalten, beschäftigte sieh 
tleissig mit Netzstricken und schien sieh ganz behaglich zu fühlen. 
Sein Schwachsinn trat jetzt deutlich hervor. F. zeigt einen ausser¬ 
ordentlich beschränkten Gesichtskreis, ein sehr geringes Mass von 
Wissen (die Ausführung selbst einfacher Bechenexempel, die über das 
kleine Einmaleins hinausreichen, das er auch nur sehr mangelhaft be¬ 
herrscht, fiel ihm ungemein schwer) und eine grosse Weitschweifigkeit 
in seinen Erzählungen, in denen er fortwährend vom Thema abkam. 
In dem Entmündigungstermin am 15. Dezember 1895 wurde jedoch 
noch auf die Möglichkeit einer gewissen Besserung hingewiesen und 
daraufhin die Entmündigung vorläufig vertagt. In der Tat halte sich 
bis zum zweiten Explorationstermin, der am 8. März 1898 slattfand. 
wie das körperliche Befinden des F. (er hatte 8 kg an Körpergewicht 
zugenommen), so auch das geistige gebessert. Er war teilnehmender 
und urteilsfähiger geworden und auch sein Gedächtnis hatte sieb ge¬ 
bessert. So wurde denn, obgleich hervorgehoben wurde, dass F., sobald 
er aus der Anstalt entlassen würde, die nur unter dem Zwange der An¬ 
staltsbehandlung innegehaltene Enthaltsamkeit von alkoholischen Ge¬ 
tränken in der Freiheit höchstwahrscheinlich bald wieder aufgeben und 
dann in dieselben schweren psychischen Störungen verfallen würde, 
welche dann vermutlich zu neuen impulsiven und gemeingefährlichen 
Handlungen führen würde, die Entmündigung abgelehnt. Daraufhin 
wurde F. am 24. April 1898 aus der Anstalt entlassen. 


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II. Oeffentliches Sanitätswesen. 


1 . 

Gutachten 

der Königl. Wissenschaftl. Deputation für das Medizinal wesen 

betreffend 

die Absonderung der Typhuskranken in Kranken¬ 
anstalten. 1 ) 

Heitrem: Geh. .Med.-Rat Prof. Dr. Krass. 

Korreferent: Geh. Ober-Med.-Rat Prof. Dr. Kirchner. 

An den 

Königlichen Staatsministcr und Minister der geist¬ 
lichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten 
Herrn Dr. Studt, Exzellenz, hier. 

Merlin, den 17. Februar 11)04. 

Fw. Exzellenz 

haben durch hohen Erlass vom 11. Dezember 1903 von der gehor- 
samst Unterzeichneten Wissenschaftlichen Deputation eine gutachtliche 
Aeusscrung erfordert über die Frage: «Ob es nach dem augenblick¬ 
lichen Stande der medizinischen Wissenschaft als zulässig anzusehen 
ist, Typhuskranke zum Zwecke der Verpflegung und Behandlung mit 
anderen Patienten zusammen in dieselben Krankenräume zu legen, 
oder olt es nicht, vielmehr notwendig erscheint, die Absonderung der 
Typhuskranken in allen Krankenanstalten grundsätzlich zu fordern.“ 
Veranlassung hierzu gaben die in den jährlichen Bezirksgesund- 
heil «berichten der Regierungs- und Medizinalräte immer wiederkehren¬ 
den Meldungen von Typhusübertragungen in Krankenanstalten. 

Die Beantwortung der gestellten Frage muss sich auf eine Be¬ 
trachtung des Wissenschaft liehen »Standpunktes, den wir gegenwärtig 
in betreff der Uebertragung des Typhus von Kranken auf den Gesunden 

]) cfr. Erlass des Herrn Medizinal-Ministers an die sämtlichen Herren Re¬ 
gierungs-Präsidenten vom 28. März 1904, betreffend Unterbringung Typhuskranker 
in Krankenanstalten. 


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betr. die Absonderung der Typhuskranken in Krankenanstalten. 1(K1 

cinzunehmen haben, und der vorliegenden Erfahrungen in Spitälern, 
wo fortgesetzt verhältnismässig viel Typhuskranke interniert werden, 
stützen. Volle Uebereinstimmung herrscht bis jetzt in dieser Hinsicht 
nicht. Vielfach wird noch der Abdominaltyphus wenigstens für keine 
besonders leicht ansteckende Krankheit gehalten, ln der ärztlichen 
Praxis bemerkt man deshalb auch zwei verschiedene Verfahren, nach 
denen der Typhuskranke als Infektionsträger behandelt wird. Xaeli 
»ler Meinung verschiedener Kliniker und in manchen Spitälern wird er 
bereits streng isoliert, z. B. in neuerer Zeit endlich auch in der Charite: 
in anderen wiederum je nach den freien Betten nach einem beliebigen 
Saal mitten zwischen anderweitige Patienten verlegt und mit den 
letzteren sogar von demselben Wartepersonal bedient. Man ging und 
geht hierbei davon aus, dass die Krankheitskeime vom Typhuskranken 
spärlich abgeschieden werden, man glaubte ferner die Desinfektion 
von Stühlen, Urin und Wäsche der Kranken sicher in der Hand zu 
haben und hielt die letztere Massregel auch für vollkommen aus¬ 
reichend zur Verhütung der Uebertragung. Auch berief man sich 
darauf, dass besonders dort, wo Typhus endemisch herrscht, ein¬ 
schlägige Krankheitsfälle in verschiedenen Häusern einer Stadt in 
Behandlung zu stehen pflegen, wobei Wohnungsgenossen und Kranken¬ 
pfleger auch noch im Verkehr mit ihren Bekannten bleiben, ohne dass 
hiernach in der Regel sicher nachweisbare Weiterverbreitung beobachtet 
würde. Endlich ist in betreff kleinerer Städte und Spitäler, in denen 
der Typhus ein überhaupt seltenes und oft ganz vereinzeltes Ereignis 
bildet, von den leitenden Aerzten eingewendet worden, dass die Iso¬ 
lierung der Kranken mit dem IJebelstande der Verwendung eines 
weniger geschulten, ausser der Typhusperiode zu wenig verwendeten 
Wartepersonals verknüpft sei. 

Zugegeben aber, es seien andererseits von den Anhängern einer 
strengen Isolierung in neuester Zeit vielleicht cinigermassen über¬ 
triebene Vorstellungen über die Kontagiosität des Typhus überhaupt, 
und speziell über die Bedeutung des Kontaktes, soweit es sich um 
das Entstehen von ganzen Epidemien handelt, geäussert wor¬ 
den; zugegeben, dass man die Beweiskraft verschiedener in der Literatur 
vorhandener Darlegungen und Beobachtungen, betreffend die Ausdehnung 
des Typhus zur wirklichen Epidemie allein von Person zu Person sehr 
verschieden hoch veranschlagen, zum Teil selbst bezweifeln darf; 
trotzdem gibt es eine ausreichend grosse Anzahl aus Wissenschaft 
und Praxis sich ergebender Gründe für eine stärkere als die bisher 


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104 Gutachten der Künigl. Wissenschaft!. Deputation für das Medizinalwesen. 


beliebte Betonung der Kontagiositüi des Darmtyphus und für <lie Iso¬ 
lierung der Typhuskranken in den Spitälern. 

Im Körper des einzelnen Typhuskranken kommt es tatsächlich 
jedenfalls zu einer solchen Vermehrung des Krankheitsstoffes, dass 
unter geeigneten sonstigen Umständen derselbe auch das selbst zum 
Ausbruch einer Epidemie genügende Infektionsmaterial abscheidet. Die 
wirksame Desinfektion von Kot, Harn, Sputum und die entsprechende 
Behandlung der dem Patienten abgenommenen Leib- und Bettwäsche 
allein schaltet durchaus nicht absolut alle praktisch in Betracht 
kommenden Anst eekungsmodalitätcn aus. Die Möglichkeiten im 
Einzelfalle, speziell auch der Kontaktinfektion, sind tatsächlich recht 
zahlreiche. Wir werden uns zunächst mit diesen Möglichkeiten, gleich¬ 
zeitig aber auch mit dieser Ansteckungswahrscheinlichkeit und 
Häufigkeit zu beschäftigen haben. Ohne hier die verschiedenen 
Faktoren, welche die epidemiologische Forschung als Ursachen der 
eigentlichen Typhusepidemieen festzustellcn bemüht gewesen ist 
(Trinkwasser, Nahrungsmittel etc.), in Diskussion zu ziehen, muss für 
Städte und Gegenden, in welchen Typhus endemisch herrscht, z. B. für 
Prag, als immer wieder zu machendes Erfahrungsergebnis betont 
werden, dass gerade ausserhalb der Perioden grosser Epidemiecn, die 
Krankheit mit ganz erheblich ansteckender Kraft nach Art kontagiöser 
Infekte sich verbreitet. Fast immer handelt es sich da um dasselbe 
Bild: Irgendwo ist ein Typhusfall. z. B. ein sicher eingekehrter, nach 
der entsprechenden Inkubationszeit erkranken darauf solche Individuen, 
welche in nächster Berührung mit dem ersten Patienten standen. 
Pfleger, Verwandte. Stubengenossen; dann folgen nicht selten Bewohner 
anderer Zimmer desselben Hauses, weiter solche von Nachbarhäusern, 
bei Freunden der erst durchseuchten Familie. — bis die Spur endlich 
verloren geht. Vor allein ereignen sich Uebertragungen des Typhus 
durch grob - manifeste Besudelung mit Fäces und Urin der Kranken 
bei dessen Wartung und Pflege, bei der Reinigung, bei der Behand¬ 
lung der Wäsche, bei der Entfernung der Stuhlgänge. Eine ziemlich 
unzweifelhaft festgestellte Infektion anderweitiger Patienten desselben 
Zimmers, welche von denselben Personen gepflegt werden, ist die 
vorschriftswidrige Benutzung der gleichen Leibschüssel. Es soll ferner 
einmal vorgekommen sein, dass der Typhus durch Thermometer, die 
zur Temperaturmessung im After bei Typhuskranken und sonstigen 
Patienten benützt worden waren und an deren einem man nach der 
Herausnahme aus dem Rectum eines Typhuskranken auch wirklich 


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betr. die Absonderung der Typhuskranken in Krankenanstalten. 10.» 


Typhusbazillen nachweisen konnte, sogar auf mehrere Personen naeli 
einander übertragen wurde! Krankheiten, welche, wie der Typhus, mit 
grosser Schwäche und oft sehr starken Diarrhoen einhergehen, ge¬ 
statten ferner auch bei aufmerksamster Pflege keine absolute Sauber- 
Haltung des ganzen Körpers der Patienten und der Leibwäsche, bezw. 
des Bettes. Es gelangen sehr leicht und wohl fast immer mit dem 
unbewaffneten Auge gar nicht sichtbare Fäeesteilchen auf die 
Haut zunächst der Hände des Kranken und von da auf den ganzen 
Leib, auf Wäsche und Bettzeug. Diese „mikroskopischen“ Fäkal¬ 
stoffe vertrocknen und werden dann eventuell verstäubt. Das solche 
bazillenhaltige Partikel zur direkten Infektion Anlass geben können, 
ist nach Erfahrungen, die beim bakteriologischen Arbeiten mit Typhus 
gelegentlich gemacht worden sind, kaum zu bezweifeln. Wenn man 
also auch den Kot sorgfältig auffängt und beseitigt, ist doch der 
infektiöse Fäkalstoff nicht völlig aus der Welt geschafft; auch mit 
Beachtung aller sichibaren Reste auf Haut und Wäsche ist nicht alle 
Gefahr behoben. Dass die Typhusbazillen sich, besonders in halb- 
trockenem Zustande, für eine gewisse Zeit lebend und virulent erhalten, 
ist experimentell erwiesen. Eine Verbreitung des Typhus durch Fäces- 
partikelchen durch die Luft ist wenigstens öfter vermutet worden. 
Die Bedeutung der direkten Fäkalinfektion fällt praktisch aber wohl 
in der Hauptsache mit der Verschleppung durch die Hände zu¬ 
sammen. Die Hände, welche mit dem Typhuskranken in Berührung 
gekommen, gefährden jedoch nicht etwa bloss ihren eigenen Besitzer, 
sondern eventuell auch andere Personen. Dasselbe gilt auch von der, 
sit venia verbo, mikroskopischen Urininfektion. Auch Urinspuren 
können Hand- und Fingerinfektion und direkte Ansteckung verschulden: 
die Mengen der Typhusbazillen im Harn sind ja nicht so selten sehr 
grosse. Dazu kommt ferner vielleicht noch die mögliche Auswurf- 
und Exantheminfektion. Die Roseolaflecken bilden sich unter 
feiner Abschilferung zurück; Typhusbazillen finden sich aber nicht 
bloss im Blute der Roseolen, sondern auch in der Pars papillaris der 
Haut. Braucht man auch die Eventualität direkter Ansteckungen 
durch die beiden letztangeführten Momente und durch den Eiter der 
Patienten durchaus nicht hoch zu veranschlagen, so genügt doch das 
früher Gesagte, um darzutun, dass die ganze Körperoberfläche 
des Typhuskranken infektiös sein kann, also in der Praxis so 
angenommen werden muss. Der Ansteckungsmöglichkeit entspricht 
auch die allen Krankenhausärzten, welche in Spitälern an Orlen gedient 


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10(5 Gutachten betr. die Absonderung der Typhuskranken in Krankenanstalten. 


haben, wo Typhus häufiger ist, bekannte verhältnismässige Häufigkeit 
der Kontaktinfektion, Bei der langen Inkubationszeit des Typhus 
liegen gelegentlich die Hausansteckungen ziemlich weit auseinander. 
Neben dem sprunghaften Erscheinen eines oder des anderen Falles, 
der nach allen Umständen nur im Spital selbst entstanden sein kann, 
bilden sich gelegentlich selbst kleine Typhusherde in Krankenhäusern, 
ja sogar vereinzelte kleine Epidemieen. Die Kontaktansteckung be¬ 
trifft vor allem sonst bereits geschwächte Patienten desselben Saales: 
so verliert man gelegentlich unter diesen Bedingungen einen Diabetiker 
unter massigen Fiebersymptomen, erst der Prosektor stellt den im 
Hause zustande gekommenen Typhusinfekt als Todesursache fest. 
Eine Statistik solcher direkten Ansteckungen in den Hospitälern an¬ 
zuführen. ist wohl unmöglich; zu den Ausnahmen, ja zu den grossen 
Seltenheiten gehören dieselben aber gewiss nicht. 

Nach dem dcrmaligen Stande unserer wissenschaftlichen Kenntnis 
von der Art der Verbreitung des Abdominaltyphus und ebenso nach 
den vorliegenden üblen Erfahrungen in der Hospitalpraxis kann es 
demnach nicht mehr als zulässig angesehen werden, Typhuskrankt' 
zusammen mit anderen Patienten in dieselben Krankenräume zu legen. 
Will man vielmehr der allerersten Aufgabe, welche wir bei der Unter¬ 
bringung von lnfektiöskranken zu erfüllen haben, dieselben unschäd¬ 
lich zu machen für andere Menschen, vollauf Genüge leisten, so ist 
die Isolierung der Typhösen in allen »Spitälern prinzipiell zu fordern. 
In demselben Sinne hat sich bereits der Hygiene - Kongress in Paris 
1900 ausgesprochen. Ein Verfahren, wobei Typhöse zwischen ander¬ 
weitig Kranke gelegt werden, und wobei die Desinfektion von Stuhl 
und Wäsche als zureichend erachtet wird, stellt übrigens wenigstens 
in Preussen im Geltungsbereich des Regulativs vom 8. August 1835 
als Rückschritt da. Praktisch ist die Absonderung der Typhuskranken, 
ähnlich wie bei Diphtherie, Scharlach. Erysipel, durchzuführen; es 
werden aber, da der Typhus wieder sein Haupt erhebt, in allen grösseren 
Spitälern spezielle Typhusbaracken mit eigenem, geschultem Personal, 
am vorteilhaftesten Schwestern, nötig sein. Das Boxensystein genügt 
hier (auch in idealerer Durchführung) nicht. An Orten, wo der Typhus 
nicht häufig vorkommt, könnten die Isolierzimmer der Sammelbaracken 
verwendet und im Einzelfall gute Pflegerinnen exponiert werden. 

(Unterschriften.) 


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2 . 

Die Bedeutung der Verseuchung unserer öffentlichen 
GewKsser und der hierdurch bewirkten Verbreitung 
des Typhus und Milzbrandes. 1 ) 

Von 

Kreisarzt Dr. Krohtie in (irosskamsdorf. 


Die zunehmende Verunreinigung unserer öffentlichen Wasserläufe 
und die Notwendigkeit einer gründlichen Beseitigung der dadurch be¬ 
wirkten Missstände bilden eines der ernstesten Kapitel unserer öffent¬ 
lichen Gesundheitspflege und fordern gebieterisch von uns die Lösung 
eines Problems, das alle berufenen Instanzen schon lange ernstlich 
beschäftigt hat. 

Ich kann es unterlassen, auf die sämtlichen »Schäden, die eine 
fortdauernde Verunreinigung der Wasserläufe bewirkt, auf die viel¬ 
fältigen und wichtigen Interessen, die durch die Flussverunreinigungen 
in schwere Mitleidenschaft gezogen werden, hier näher einzugehen — 
uns soll an dieser Stelle nur die bedeutungsvolle Frage beschäftigen, 
welche gesundheitlichen Gefahren für die Anwohner eines verseuchten 
Flusses entstehen, d. h. eines Flusses, der beladen ist mit bestimmten, 
vom Menschen stammenden und den Menschen gefährdenden Krank¬ 
heitsstoffen, mit Keimen, deren Verbreitung eine Volkskrankheit, eine 
Seuche zur Folge haben. 

Kurz zusammenfassend möchte ich zunächst folgende allgemein 
gültigen Tatsachen hervorheben: Jeder Fluss wird an zahllosen Stellen 
seines Laufes durch Abwässer aller Art, insbesondere durch mensch¬ 
liche und tierische Exkremente mehr oder weniger stark verunreinig!: 


1) Nach einem in der amtlichen Konferenz der Medizinalbeamten des Regie¬ 
rungsbezirkes Erfurt in .Mühlhausen am 19. Dezember 1903 gehaltenen Vortrage. 


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108 


Dr. Krohnc, 


hygienisch absolut reine Ströme gibt es jedenfalls nicht. Daraus er¬ 
gibt sich von selbst, dass jeder Wasserlauf gelegentlich einmal von 
Menschen herrührende Infektionskeime enthalten wird bezw. enthalten 
kann. Das Mass der Gefahr, mit der ein so infizierter Fluss seine 
Anwohner bedroht, wird bestimmt: erstens durch den Grad der Ver¬ 
dünnung, den die unreinen Zuflüsse in einem Strom erleiden, zweitens 
durch die mehr oder minder zahlreichen und engen Berührungen, die 
zwischen den Anwohnern eines Flusses und seinem Wasser stattfinden 
und drittens — und das ist wohl die Hauptsache - - durch die spezi¬ 
fische Art und Lebensdauer der im Wasser befindlichen Infektions¬ 
keime. Ich verzichte auf eine besondere Würdigung der gegenüber 
den Gefahren infizierter Ströme immer so viel gepriesenen Selbst¬ 
reinigung eines Flusses. Denn einmal ist diese ein noch vielfach 
ungeklärtes Problem 1 ), eine Art Bequemlichkeitstheorie für alle die¬ 
jenigen, die den ihnen unbequemen Kampf gegen die Flussverunreini¬ 
gung als eine quantite negligeable betrachten zu dürfen glauben, dann 
aber spielt bei dem Vorgang der sogenannten Selbstreinigung eines 
verschmutzten Gewässers nach den neuesten Forschungsergebnissen 
höchstwahrscheinlich der von mir schon erwähnte besonders hohe Grad 
der Verdünnung unreiner Beimengungen eine Hauptrolle. 

Nun ist die Verdünnung unreiner Zuflüsse zweifellos daun von 
grossem Vorteil, wenn der verunreinigte Strom so wasserreich ist, dass 
selbst grosse Mengen eingeleiteter Abwässer nur einen verschwindend 
kleinen Bruchteil der gesamten Flusswassermenge ausmachen; wie 
kolossal ist aber doch die dauernde Verunreinigung eines Wasserlaufes 
durch zahlreiche kleine Ortschaften, die an einem schmalen Bach 
liegen und diesem zu bestimmten Tageszeiten solche Mengen von 
Mistjauche und anderen Abwässern zuführen, dass die Flüssigkeits¬ 
menge eines solchen Baches beim Verlassen der Ortschaft oft auf das 
Doppelte des Wasserquantums angeschwollen ist, das der Bach vor 
Eintritt in die betreffende Ortschaft in seinem Oberlauf enthalten hat. 
Um einen so unreinen Flusslauf zu einer schweren Gefahr für seine 
Anwohner werden zu lassen, bedarf es wahrhaftig nicht erst des be¬ 
dauerlichen Notstandes, dass — wie es ja vielfach geschieht — ein 
so verunreinigtes Gewässer in seinem Unterlauf als Trinkwasser be¬ 
nutzt wird, nein, schon die verschiedensten Hantierungen mit solchem 
Wasser, wie Wäschespülen, Waschen von Haus- und Küchengerät, 


1) Weyl, Flussverunreinigung. 1897. 


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Die Bedeutung der Verseuchung unserer öffentlichen Gewässer etc. 105) 


Baden im verunreinigten Fluss etc., können die mittelbare Ursache 
zu schweren Erkrankungen gehen, wenn das Wasser bestimmte In¬ 
fektionskeime, wie Cholera- oder Typhusbazillen, enthält. 

So selbstverständlich dies alles wohl den meisten Aerzten und 
insbesondere der Mehrzahl der Medizinalbeamten erscheinen mag, so 
notwendig erscheint es uns, immer und immer wieder auf jene Be¬ 
fahren der Stromverseuchungen hinzuweisen angesichts der Tatsache, 
dass die entgegengesetzte, die Flussverseuchung als harmlos betrach¬ 
tende Pettenkofer’sche Theorie auch heute noch zahlreiche Anhänger 
hat, nicht nur in den Kreisen des gebildeten Publikums überhaupt, 
sondern auch unter den Aerzten. Pettenkofer bestritt 1 ) die Mög¬ 
lichkeit einer direkten Cholera- oder Typhusinfektion durch den Genuss 
verseuchten Wassers mit der Behauptung, dass die Cholera- und 
Typhusbazillen entweder im Wasser rasch zu Grunde gingen oder 
alter, wenn sie wirklich im Wasser infektionstüchtig bleiben sollten, 
mit dem in den Körper gelangenden geringen Bakterienquantum dem 
Menschen kaum ernstlich schaden könnten. Es ist zweifellos, dass 
dieses von Pettenkofer mit seltener Hartnäckigkeit verfochtene 
Dogma nicht nur für den Laien, sondern auch für seine zahlreichen, 
zu dein grossen Meister der Hygiene mit gerechter Bewunderung auf¬ 
schauenden Schüler etwas ungemein Bestechendes hat, und es ist 
ferner nur natürlich, dass die bedenkliche Richtung im Aerztestand. 
welche die schwer errungenen, feststehenden, wissenschaftlichen Tatsachen 
unserer Bakteriologie mit den bekannten Schlagwortcn von „törichter 
l»azillenfurcht u kritiklos abzuurteilen beliebt, jederzeit geneigt ist, die 
Autorität eines Pettenkofer für die scheinbare Richtigkeit ihrer 
Lehren in Anspruch zu nehmen. Demgegenüber ist es erforderlich, 
den breiten Pfad theoretischer Auseinandersetzungen zu verlassen und 
an der Hand eines beweiskräftigen Materials bedeutsamer Tatsachen 
aus dem letzten Jahrzehnt die eminente Gefahr der Flussverseuchungen 
klarzustellen. 

Zunächst sei darauf hingewiesen, dass die Penenkofcr'sclie 
Aulfassung, dass Typhus- und (’holerabazillen im Wasser rasch zu 
Grunde gingen, und die vielfach ausgesprochenen Zweifel an der Mög¬ 
lichkeit, lebensfähige Typhusbazillen überhaupt und auch im Wasser 
nachzuweisen, durch die neuesten Forschungsergebnisse ihre einwand- 

1) Pettenkofer, Die Verunreinigung der Isar durch das Schwemmsystem 
von München. Vortrag im ärztlichen Verein in München 1*9"). 


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110 


Dr. Krohne, 


freie Widerlegung gefunden haben. Wir wollen zugeben, dass die 
Richtigkeit früherer Feststellungen bezüglich des angeblich sicheren 
Nachweises von Typhusbazillen im Wasser mit Rücksicht auf die 
erheblichen Mängel der damaligen Untersuchungsmethoden starken 
Zweifeln unterliegt, 1 ) seitdem aber Lösener, Kühler, Neufeld und 
andere durch ihre Untersuchungen nachgewiesen haben, dass wir in 
dem Typhusserum (Pfeiffer’sche Reaktion) und der Grube r-Widal- 
schen Agglutination ein zuverlässiges Reagens für die Unterscheidung 
des Typhusbacillus besitzen, sind die oben angedeuteten Einwände nicht 
mehr stichhaltig. In jüngster Zeit ist es mit dieser Methode Konradi 
gelungen, in sehr instruktiver Weise aus dem Wasser eines nach¬ 
weislich durch Typhusausleerungen verseuchten Brunnens Typhus¬ 
bazillen zu isolieren und zu züchten. Gelegentlich anderer Unter¬ 
suchungen hat Konradi gefunden, dass Typhusbazillen ca. 500 Tage 
im Wasser lebensfähig blieben! 

Sehr wertvoll für uns sind fernerhin die Untersuchungsergebnisse 
der Pariser Typhuskommission in den letzten beiden Jahren, und es 
ist recht lehrreich, hierauf mit einigen Worten näher einzugehen. Das 
plötzliche Ansteigen der Typhusmorbidität in Paris in den Jahren 1890 
und 1900 veranlasst** die Bildung einer aus Bakteriologen, Chemikern 
und Geologen 2 ) zusammengesetzten Kommission, die sich die Aufgabe 
stellte, sämtliche für die Entstehung der Typhusfälle in Paris irgend 
in Betracht kommenden Faktoren auf das genaueste zu untersuchen, 
die Bodenverhältnisse in und um Paris eingehend zu studieren und 
durch tägliche Untersuchungen des Trinkwassers sämtlicher 4 Wasser¬ 
leitungen von Paris den längst bestehenden Verdacht, dass das Trink¬ 
wasser mit Typhus verseucht sei, genau aufzuklären. Der unermüd¬ 
lichen Arbeit der Kommission gelang es unter anderem festzustellen, 
dass das tributäre, aus sehr spaltenreichem Kreidegebirge bestehende 
Gebiet einer der Haupüjuellen. der Source de Ja Vanne, durch Ver¬ 
sickern oberirdischer Abwässer mehrerer, 140 km von Paris entfernter, 
von Typhus heimgesuchter Ortschaften, reichliche Beimengungen dieser 
Abwässer enthielt, die nun mit dem Quellwasser wieder zu Tage traten. 
Da gerade in dem Bereich der aus dem Vanne-Quellgebiet versorgten 
Wasserleitung die weitaus grösste Mehrzahl der Typhuserkrankungen 

1) Konradi, Typhusbazillen im Brunnenwasser. Zentralbl. f. Bakteriologie 
Bd. 35. No. 5. 

2) Bienstock, Bekämpfung des Typhus in Paris. Hygienische Bundschau. 
1903. No. 3. 


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Die Bedeutung der Verseuchung unserer öffentlichen Gewässer etc. 111 


beobachtet worden war, so erschien die Annahme, dass Typhuskeime 
aus dem Yannegebiet auf eine Entfernung von 140 km in strömendem 
Wasser fortgeführt worden und in völlig lebensfähigem Zustande in 
die Pariser Wasserleitung hineingespült worden waren, durchaus be¬ 
rechtigt. Diese Vermutung wurde aber glänzend bestätigt, als es im 
.Juni 1901 und im Sommer 1902 Gambier 1 ) gelang, in dem Trink- 
wasscr der Yannerpiellenlcitung insgesamt 7 Mal in absolut sicherer 
Weise lebensfähige Typhusbazillen nachzuweisen und durch Züchten 
auf einer von ihm selbst hierzu kombinierten Nährbouillon durch ein 
besonderes Yerfahren die Typhusbazillen von Kolibakterien und einigen 
Yibrionen so genau zu trennen, dass ein Zweifel an dem Charakter 
der Typhusbazillen als solcher ausgeschlossen werden konnte. 

Nach alledem erscheint uns die Lehre, dass das Wasser einer 
der Hauptträger der Typhuskeime ist, ebenso sicher bewiesen zu sein, 
wie die Annahme, dass die Pariser Typhusepidemie hauptsächlich 
entstanden war durch eine Trinkwasserinfektion — hervorgerufen durch 
unterirdische Verunreinigung des Quellwassers mittels versickerten und 
vorher verseuchten Oberflächenwassers. 

Nicht immer gelingt es, den Zusammenhang zwischen Typhus 
und Wasser so klar festzustellen wie in Paris, aber zahllos sind die 
Fälle, in denen der Gebrauch infizierten Wassers mit höchster Wahr¬ 
scheinlichkeit für die Entstehung einer Typhusepidemie verantwortlich 
gemacht werden konnte. 

Schlegtcndahl 2 ) hat 682 Typhuserkrankungen im Regierungs¬ 
bezirk Aachen, die 1900—1902 in den verschiedensten Ortschaften 
aller Kreise vorgekommen und zufolge amtlicher Anweisung in jedem 
einzelnen Falle von dem zuständigen Medizinalbeamten an Ort und 
.Stelle untersucht worden waren, in äusserst gewissenhafter Weise nach 
den festgestellten Krankheitsursachen gesichtet und ist dabei zu folgen¬ 
dem Resultat gekommen: Yen 682 Erkrankungen konnten 223 Fälle 
auf eine Infektion mit Wasser — 187 Brunnen-, 36 Flusswasser 
zurückgeführt werden. 151 Erkrankungen waren durch Hebertragung, 
61 durch andere Frsachen entstanden und bei 247 Fällen war die 
Ansteckungsursache unbekannt. Ob und wieviel Wasserinfektionen in 
diesen 247 unaufgeklärten Typhusfällen enthalten sind, wollen wir 

1) Kirsch, Ueber Catnbier’s Verfahren zur Isolierung von Typhusbazillen. 
Deutsche med. Wochenschrift 1903. No. 41. 

2) Schlegtendahl, 682 Typhusfalle und ihre Kntstehungsursachen. Zeit¬ 
schrift für Medizinalbeamte 19(13. No. IS. 


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Dr. Kroline, 


dahingestellt sein lassen. Von besonderem Interesse ist in dieser 
Zusammenstellung SchlegtendahUs die Entstehung einer Epidemie 
in einem kleinen Dorfe, das keine Wasserleitung hatte und auf die 
Benutzung eines den Ort durehfliessenden Baches angewiesen war. An 
einem Haus am Oberlauf wurde im Bach Wäsche eines — zunächst 
noch unbekannten — Typhuskranken gespült ; nach und nach erkrankten 
talabwärts noch 16 andere Personen am Typhus. 

Schüder 1 ) hat in einer sehr umfangreichen Arbeit aus den 
Jahren 1870—1899 für <>38 Typhusepidemien in 14 verschiedenen 
Ländern — darunter Deutschland mit 377 Epidemien — die er¬ 
mittelten Ursachen vergleichend zusammengestellt. Das hier gebrachte 
statistische Material erscheint uns gerade deshalb sehr wertvoll, weil 
dasselbe in einem Zeitraum von 30 Jahren in 14 verschiedenen Ländern 
Europas und Amerikas unter der Mitwirkung von vielen Hunderten 
von Aerzten gesammelt worden ist. Nach der Schüder’.sehen Statistik 
konnte für 70,8 pCt. der 638 Typhusepidemien Wasser als Ursache 
für die Entstehung des Typhus angesehen werden und nur für 1,5 pCt. 
die Verunreinigung des Bodens beschuldigt werden. Von den 70 pCt. 
der Wasserinfektionen verteilen sich 11,8 pCt. auf Leitungswasser. 
20,9 pCt. auf Brunnen, 8—9 pCt. auf Flusswasser; 29 pCt. der 
Wasseransteckung sind nicht näher erklärt. 

Nach diesen statistischen Darlegungen wollen wir im folgenden 
eine Reihe in allen Einzelheiten genau studierter Typhusepidemien 
aus der jüngsten Zeit kritisch betrachten, die in Entstehung und Ver¬ 
lauf die prägnanten Merkmale einer durch Flussverseuchung entstandenen 
W asserinfektion darbieten. 

In Lüneburg entstand im Hochsommer 1895 explosionsartig eine 1 
Typhusepidemie, die sich schnell und scheinbar regellos über die 
ganze Stadt verbreitete und bei einer Bevölkerung von 22 000 Menschen 
in 2 f /o Monaten bis zu der Krankheilszi(Ter von 227 Fällen anstieg. 
Eine Erklärung für die Ursache der Seuche konnte zunächst nicht 
gefunden werden. Lüneburg liegt auf ausgedehnten Sandschichten 
an dem Flüsschen Ilmenau; die Boden- und Untergrund Verhältnisse 
sind fast überall gleichmässig: eine besondere Bodenverunreinigung 
konnte wenigstens nicht angenommen werden; die Stadt ist kanalisiert 
und entleert ihre sämtlichen Abwässer in die Ilmenau, hat aber ein 

1) Schüder, Zur Aetiologie des Typhus. Zeitschrift für Hygiene und 
Infektionskrankheiten. 190]. I>d. 28. H. •!. 


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Die Bedeutung der Verseuchung unserer öffentlichen Gewässer etc. 113 

gesondertes Tonnenabfuhrsystem für Beseitigung der Fäkalien. Sohr 
ungünstig war nun, wie Pfeiffer anlässlich seiner Untersuchungen 
fcststellte, die damalige Wasserversorgung, die von 6 verschiedenen 
Privatgesellschaften mit ebensovielen, höchst primitiven Wasserwerken 
besorgt wurde, deren Leitungen aber in der .Stadt regellos neben- und 
durcheinander liefen. Das grösste dieser Werke, die Ratswasser- 
kunst, versorgte 769 Grundstücke mit einwandfreiem Grundwasscr, 
die Abtswasserkunst, die ausschliesslich unfiltriertes, ober¬ 
halb der Stadt geschöpftes Ilmenauwasser führte, speiste 430 
Grundstücke, der Rest von 95 Häusern erhielt sein, übrigens recht 
minderwertiges, Wasser aus den 4 übrigen unbedeutenden .Wasser¬ 
werken. 

Aon sämtlichen 227 Typhuserkrankungen entfielen nun allein 
169 auf solche Familien, die nur an die Abtswasserkunst ange¬ 
schlossen waren, 21 Fälle auf Häuser, die von der Ratswasserkunst 
und 9 Fälle auf solche Grundstücke, die von den 4 kleineren Wasser¬ 
werken versorgt wurden. Nur für 26 Fälle musste die Wasserver¬ 
sorgung zweifelhaft bleiben. Der in diesen Zahlen liegende, geradezu 
zwingende Hinweis darauf, dass offenbar die Abtswasserkunst der 
Hauptträger der Typhuskeime war, wird aber noch deutlicher durch 
die Tatsache, dass im Beginn der Epidemie fast ausschliesslich nur 
im Bereich der Abtswasserkunst Erkrankungen vorkamen und erst 
allmählich — offenbar durch persönliche Ucbertragung — auch Familien, 
die an die anderen Wasserwerke angeschlossen waren, von Typhus 
befallen wurden. Das Missverhältnis der Beteiligung der Abtswasser¬ 
kunst mit 169 und der Ratswasserkunst mit nur 21 Fällen wird aber 
noch besonders beweisend für die Annahme einer Verseuchung des 
Abtswassers, wenn wir bedenken, dass die Ratswasserkunst, wie oben 
erwähnt, fast doppelt so viel Häuser versorgte, als die Abtswasser¬ 
kunst. Die weiteren Untersuchungen sollten aber für die stattgefundene 
Wasserinfektion einen fast mathematischen Beweis erbringen. Tm 
Sommer 1895 war die Aerwaltung der Abtswasserkunst infolge aus¬ 
gedehnter Vorarbeiten zur Aerlegung der bisherigen Entnahmestelle 
des Wassers an einen höher flussaufwärts liegenden Punkt und der 
dadurch bewirkten Betriebsstörungen genötigt gewesen, die bisherige 
Schöpfstelle oberhalb der Stadt aufzugelten. Um die Wasserlieferung 
nicht einstellen zu müssen, wurde nun von der Wassergesellschaft vom 


1) Pfeiffer, Typhusepideroicn und Trinkwasser. Klm. Jahrbuch. J>d. VII. 

VierteUahrssehrift f. ger. Med. u. Öff. San.-Wesen. 3. Folge. XXVIII. 1. u 


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Dr. Krohne, 

15.—20. Juli ohne Wissen des Publikums und der Behörden 
der gesamte Wasserbedarf an der mitten in der Stadt liegenden Abts- 
miihle aus der Ilmenau entnommen, die hier infolge ihrer Lage 200 m 
unterhalb des städtischen Hauptsieleinlaufes schon hochgradig ver¬ 
unreinigt war. Wie sich später herausstellte, wurden die Ausleerungen 
einer Typhuskranken, deren Erkrankung am 16. Juli erst festgestellt 
wurde, aus einem 100 m oberhalb der Abtsmühle gelegenen llausc 
gerade in jener Zeit täglich in den Fluss entleert, sodass den Ab¬ 
nehmern der Abtswasserkunst vom 15.—20. Juli ein mit zahllosen 
Typhuskeimen verseuchtes Flusswasser als Trinkwasser direkt in die 
Häuser geliefert wurde oder mit anderen Worten, dass — wie Pfeiffer 
richtig sagt — die betreffenden Familien 6 Tage lang verdünnte 
Typhusstühle getrunken haben! Ende Juli und Anfang August, also 
nach einer etwa 10—14 tägigen Inkubationsfrist, trat nun plötzlich 
eine über die ganze Stadt verbreitete, aber zunächst im Bereich der 
Abtswasserkunst verbleibende Typhusepidemie ein, und es darf wohl 
als zweifellos gelten, dass mit der oben geschilderten stattgefundenen 
Verseuchung von Fluss- und Trinkwasser die Ursache der Epidemie 
genügend erklärt ist. Von Lüneburg aus verbreitete sich der Typhus 
den Unterlauf der Ilmenau entlang, während oberhalb Lüneburgs auf 
eine Strecke von 70 km in den an der Ilmenau gelegenen Ortschaften 
kein Typhus beobachtet wurde. Die Erkrankungen am Unterlauf 
konnten sämtlich auf den Genuss von Ilmenauwasser zurückgeführt 
werden und zeigten in ihrer Entwickelung eine ganz bestimmte Zcit- 
folge, die der gewöhnlichen Inkubationsdauer analog war. Von den 
26 in 5 Ortschaften vorkommenden Erkrankungen wurden nämlich die 
ersten Fälle im August, die Mehrzahl aber Anfang September beob¬ 
achtet; da nun die Epidemie in Lüneburg etwa Mitte bis Ende August 
ihren Höhepunkt erreicht hatte und zu dieser Zeit, infolge Aufnahme 
der sämtlichen städtischen Abwässer die Ilmenau mit Typhuserregem 
wohl in besonders hohem Grade verseucht war, so war naturgemäss 
auch die Gefahr der Infektion am Unterlauf zur selben Zeit am 
grössten und das Entstehen zahlreicher Typhusfälle, die 2—3 Wochen 
später flussabwärts beobachtet wurden, sehr wohl erklärlich — dies 
umsomehr, als gerade zahlreiche Personen erkrankten, die als Fischer 
oder Schifier vielfache Gelegenheit gehabt hatten, sich mit Ilmenau¬ 
wasser zu infizieren. 

Die Verseuchung der Ilmenau, die oberhalb Hamburg in die Elbe 
mündet, hat vielleicht zu einem Teile mit beigetragen zu dem Auf- 

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Die Bedeutung der Verseuchung unserer öffentlichen Gewässer etc. 115 


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flackern einer Reihe von Typhuserkrankungen, die im Sommer und 
Herbst 1895 in Hamburg gehäuft auftraten. Aber auch wenn wir 
diesen Zusammenhang ausser Betracht lassen, so liefert doch schon 
aus anderen Gründen das Studium der Epidemiologie des Typhus in 
Hamburg so interessante Beiträge für das Kapitel derStromverscuchungen, 
dass es wohl verlohnt, darauf näher einzugehen. 

Anlässlich der grossen Typhusepidemieen in Hamburg in den acht¬ 
ziger Jahren hatten bereits ('urschmann 1 ) und Simmonds die un¬ 
günstigen Wassereerhältnisse der Stadt, die mit «infiltriertem Klbwasser 
versorgt wurde, als die Hauptursache für die Ausbreitung des Typhus 
beschuldigt; sie hatten diese Vermutung unter anderem damit begründet, 
dass die Verbreitung der Seuche in allen Stadtteilen und unter allen 
Bevölkerungsschichten ohne Unterschied der sozialen Verhältnisse eine 
völlig gleiehmässigc war, dass aber die in der Stadt liegende Infanterie¬ 
kaserne. die eine selbständige Grundwasserversorgung hatte, trotz 
sonst unhygienischer Anlage vom Typhus verschont blieb, und auch 
der Vorort Wandsbek, der sein Wasser nicht aus der Elbe, sondern 
aus eigenen Brunnen erhielt, im Gegensatz zu den anderen Hamburger 
Vororten nur ganz vereinzelte, offenbar durch Personen übertragene 
Typhusfälle aufwies. Diese Auflassung über die Aetiologie jener Epi- 
demieen war damals von vielen Seiten angefochten worden, unter 
anderen Autoren auch von Reineke. Als nun in den Jahren 1893 
bis 1895 der Typhus wieder explosionsartig in einzelnen Epidemien 
sich in Hamburg ausbreitete, kam auch Reineke 2 ) auf Grund sehr 
exakter Untersuchungen der gesamten Untergrund-, Kanalisations- und 
Wasserverhältnisse von Hamburg zu der bestimmten Ueberzeugung, 
dass offenbar für die zahlreichen Typhusausbrüche der letzten Jahre 
das von der Wasserleitung gelieferte Elbewasser als Träger und Weiter¬ 
verbreiter der Krankheitskeime anzusehen sei. Reineke wies zunächst 
auf die auffallende Tatsache hin, dass die Schiffer der Elbkähne, die 
in fortdauernde Berührung mit dem von ihnen auch getrunkenen Klb¬ 
wasser kommen, mehr als den zehnten Teil aller in der Stadt ge¬ 
meldeten Erkrankungen an Typhus lieferten, ein Umstand, der jeden¬ 
falls durch die Annahme, dass die Schiffer ihre Krankheit in vielen 
Fällen von auswärts mitbrächten, nicht hinreichend erklärt wird. Dass 


1) Curschmann, Hamburger Typhusepidemie 1886—87. Deutsche mcd. 
Wochenschrift. 1888. S. 361. 

2) Reineke, Zur Epidemiologie des Typhus in Hamburg u. Altona. Deutsche 
Vierteljahresschrift für öffentliche Gesundheitspflege. 1896. 


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Dr. Krohne, 


die in den Strom gelangenden Ausleerungen der Schiffer diesen übrigens 
in noch höherem Grade verseuchen mussten, wollen wir als weiteren 
Beitrag für die zunehmende Infizierung der Elhe nur kurz erwähnen. 

Im August 1893 brach unter der Arbeiterschaft einer grossen 
Schiffswerft eine sehr verdächtige Brechdurchfallepidemie aus; von 
110 Erkrankungen wurden später 19 Fälle als Typhus sicher 
erkannt. Diese Werft gab ihren Arbeitern ein direkt der Elbe ent¬ 
nommenes und nur mangelhaft filtriertes Wasser zu trinken. Den 
sofort entstandenen Verdacht, dass der in der Werft ausgebrochene 
Typhus aus der verseuchten Elbe stamme, wurde fast mit Sicherheit 
bestätigt durch die Tatsache, dass nicht nur sämtliche, eigene Brunnen 
führenden benachbarten Betriebe, sondern auch die auf dem Schwimm¬ 
dock jener Werft und den dortigen Schiffen beschäftigten Arbeiter, 
die mit anderem Wasser versorgt wurden, vom Typhus völlig frei 
blieben. 

Eine ähnliche Beobachtung konnte auch in dem am Unterlauf 
der Elbe liegenden Cuxhaven gemacht werden. Dieser Ort mit. rund 
6000 Einwohnern hat eine äusserst ungünstige Wasserversorgung, die 
eine grosse Anzahl von Bewohnern zwingt, ihren Wasserbedarf aus 
sogenannten Wasserkellern, in denen angesammeltes Regenwasser unter 
den Häusern sich befinde!, zu entnehmen. Andere, die selbst diese 
primitive Versorgung mit Trinkwasser entbehren müssen, schöpfen ihr 
Wasser direkt aus einem durch den Ort fliessenden Bach, dem Döser 
Wettern. Im Oktober 1894 brach nach einer höchstwahrscheinlich 
vorher erfolgten Verunreinigung jenes Baches mit Typhusstühlen eines 
dann ins Krankenhaus aufgenommenen Patienten eine Typhusepidemie 
in Cuxhaven aus; von 52 Kranken hatten nachweislich 37 Bach¬ 
wasser getrunken oder sonstwie sich damit infiziert; von 29 späteren 
Fällen entfielen 25 auf Häuser, die ihr Wasser dem Bach entnahmen. 

Unter den vielfachen Anzeichen dafür, dass der Hamburger Typhus 
offenbar in dem verseuchten Elbwasser seine Ursache hatte, führt 
Reineke auch die bemerkenswerte Tatsache an, dass ein sofortiger 
Abfall in der Zahl der Typhusfälle eintrat, sobald das der Wasser¬ 
leitung zugeführte rohe Elbwasser durch eine entsprechende Filtration 
vor seinem Gebrauch gereinigt wurde. 

Die Annahme, dass an der damaligen Ausbreitung des Typhus 
in Hamburg das Elbwasser die Schuld trage, wurde ebenso, wie die 
feststehende Tatsache, dass die grosse Choleraepidemie 1892 in 
Hamburg durch das Wasser weiter verbreitet worden war, damals von 


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Die Bedeutung der Verseuohung unserer öffentlichen Gewässer etc. 117 




Pettenkofer*) besonders heftig bekämpft. Er hielt an der Ansicht 
fest, dass die erhebliche Bodenverunreinignng von Hamburg die Ursache 
für die Epidemieen sei, und dass die schon in den 80er Jahren auf¬ 
gestellte Behauptung, die am Oberlauf der Elbe liegende Schöpfstelle 
der Wasserleitung werde durch die mit der Flut heraufgetriebenen 
Abwässer des am Unterlauf befindlichen Hauptsielwerkes verunreinigt, 
vollkommen hinfällig sei, nachdem im Jahre 1884 die Wasserentnahme¬ 
stelle erheblich weiter stromaufwärts verlegt worden sei. Gegen die 
erstgenannte Ansicht Pettenkofer’s konnte Reineke geltend machen, 
dass in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, in der Hamburgs 
Wasserversorgung aus hochgradig mit Fäkalien verunreinigten Brunnen 
noch viel schlechter als die spätere Versorgung mit rohem Elbwasser 
war, die Verbreitung des Typhus auch viel umfangreicher gewesen 
sei, als jemals wieder in neuerer Zeit; dass aber die Bodenverunreini¬ 
gung Hamburgs in neuerer Zeit eine viel schlimmere geworden sei, 
so dass — wenn Pettenkofer Recht hätte — zwischen früher und 
jetzt gerade das umgekehrte Verhältnis hätte eintreten, d. h. dass der 
Typhus in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts hätte erheblich 
schwerer auftreten müssen, als früher — was eben nicht der Fall 
war. Aber auch der zweite Einwand Pettenkofer’s, der ja schein¬ 
bar vieles für sich hatte, fand seine Widerlegung durch Feststellung 
der interessanten Tatsache, dass infolge einer anlässlich der Strom¬ 
regulierung erfolgten Ausschaltung einer seitlichen Ausbiegung der 
Elbe — der durch einen Erdwall abgeschlossenen Billwärder Konkave 
— die Flutverhältnisse des Elbstromes erheblich verändert waren, 
sodass nun die Flut jedesmal bis an die weiter stromaufwärts liegende 
neue Schöpfstelle der Wasserleitung hinaufschwoll und hier nicht ge¬ 
ringe Mengen, vom Sieleinlauf heraufflutender Abwässer heranspülte. 
Eine weitere Verunreinigung der neuen Wasserentnahmestelle wurde 
höchstwahrscheinlich durch die in seiner Nähe entstehenden, zahlreichen 
Neubauten und menschlichen Ansiedlungen mit bewirkt. Fassen wir 
alles dies zusammen und vergleichen wir die angeführten Tatsachen 
mit den oben genannten neuesten Feststellungen betreffend die Lebens¬ 
fähigkeit der Typhuskeime im Wasser, so kann wohl kaum ein Zweifel 
bestehen, dass die geschilderten Typhusepidemieen in Hamburg haupt¬ 
sächlich durch das verseuchte Elbewasser in der Stadt verbreitet 
werden. 

1) Pettenkofer, Choleraexplosion und Wasserversorgung von Hamburg. 
Münchener med. Wochenschrift. 1895. 


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Dr. Krohne, 

Sehr lehrreich für die von uns behandelte Frage sind die Typhus- 
epideinieen in Bochum und Gelsenkirchen im rheinisch-westfälischen 
Kohlenrevier, deren Zusammenhang mit Stromverseuchungen Spring¬ 
feld 1 ) in sehr instruktiver Weise beschrieben hat. Das von Spring - 
fcid zusammengetragene reiche Beobachtungsmaterial erstreckt sich 
auf den Regierungsbezirk Arnsberg, der mit seiner auf einem äusserst 
engen Raum zusammenwohnenden, meist industriellen, stark fluktuieren¬ 
den Bevölkerungsmenge von mehr als 1 1 / 2 Millionen, durch die über¬ 
stürzte Besiedlung mit ihren naturgemäss vielfach noch unhygienischen 
Wohnungen und sonstigen bedenklichen gesundheitlichen Einrichtungen 
und nicht zuletzt durch die äusserst mangelhaften und schwer kon¬ 
trollierbaren Wasserverhältnisse und die gewaltige Anhäufung von 
Abfallstoffen jeder Art für die Ausbreitung von Epidemieen den 
günstigsten Nährboden abgibt. Nicht nur die geologischen Verhält¬ 
nisse der Gegend bringen es also mit sich, dass der in eingeschnittenem 
Gelände verlaufende Hauptfluss — die Ruhr — und deren Nebenflüsse 
fortdauernd zur Aufnahme aller möglichen Abwässer dienen müssen; 
da aber infolge des enormen Wasserbedarfes der Industrie die Be¬ 
schaffung der nötigen Wassermengen auf so engem Baum ungemein 
schwierig ist, so ist die Bevölkerung zur Deckung ihres Wasserbedarfes 
wiederum auf die Ruhr angewiesen, sodass damit ein höchst bedenk¬ 
licher Circulus vitiosus von Infektion der Wasserläufe und seiner Be¬ 
wohner unvermeidlich ist. Springfeld hat an der Hand tatsächlicher 
Feststellungen den Nachweis geführt, dass die Ruhr und ihre Neben¬ 
flüsse in zahllosen Fällen durch Typhusstühle von Kranken, die oft 
erst von auswärts hergezogen -waren, verunreinigt worden sind, und 
er führt eine ganze Reihe von Einzelbeobachtungen an, bei denen der 
Genuss des infizierten Flusswassers nach einer entsprechenden Inku¬ 
bationsdauer als prompte Reaktion das Auftreten eines Typhus nach 
sich zog. Diese ungünstigen hygienischen Bedingungen des Bezirkes 
wurden nun aber noch erheblich verschlimmert, als die privaten Wasser¬ 
werke, um dem lästigen Wassermangel zu begegnen, damit begannen, 
ihren Leitungen entweder ungereinigtes Ruhrwasser direkt zuzuführen 
oder ihre in der Nähe des Ruhrbettes liegenden Sammelbrunnen durch 
Anfügen von sogenannten Stichrohren, die bis auf wenige Meter an 
den Fluss heranreichten und nur mit groben Steinen oder Geröll ver- 

1) Springfeld, Die Typhusepidemieen im Regierungsbezirk Arnsberg und 
ihre Beziehungen zu Stromverseuchungen. Klinisches Jahrbuch. Bd. X. 

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Die Bedeutung der Verseuchung unserer öffentlichen Gewässer etc. 119 

deckt wurden, die Brunnen mit einem Wasser auffüllten, das jeden¬ 
falls nicht als filtriertes, sondern als unreines Flusswasser angesehen 
werden musste; und es ist bezeichnend, dass diese durch die Ver¬ 
legenheit geschaffenen Einrichtungen von den Wasserwerken geheim 
gehalten wurden. Mit dieser Art der Wasserversorgung musste natur- 
gemäss die Typhusgefahr immer grösser werden. 

Anfang 1900 brach in Bochum eine Typhusepidemie aus, die 
zweifellos auf eine Verseuchung des Trinkwassers durch die in oben 
geschilderter Weise angelegten, unfiltriertes Ruhrwasser aufsaugenden 
Brunnen zurückgeführt werden konnte; die Seuche stieg bis zu der 
Ziffer von 143 Erkrankungen mit 43 Todesfällen an, verlief also mit 
30 pCt. Sterblichkeit ungemein schwer. Damals fiel es auf, dass die 
Stadt Herne, die mit Bochum wegen Wasserlieferung ein Vertrags¬ 
verhältnis hat, vom Typhus nur wenig heimgesucht wurde, und man 
glaubte daher diesen Umstand gegen die Annahme einer Trinkwasser¬ 
infektion des Bochumer Werkes anführen zu können. Indessen fand 
sich, wie Tenholt 1 ) feststellte, dass schon seit Jahr und Tag die 
Stadt Herne ihren Wasserbedarf grösstenteils von einem anderen, 
einwandfreien Wasserwerk entnahm, sodass damit die geringe Beteili¬ 
gung Herne’s an dem Typhus der Bochumer W asserleitung in indirekter 
Weise den Charakter der Bochumer Seuche als einer WTasserepidemie 
bestätigte. Von Bochum wurden zahlreiche Typhuskeime in der 
ganzen Gegend verstreut. Nun folgte 1901 ein explosionsartiger Aus¬ 
bruch von Typhus in dem bisher ganz typhusfreien, von 400 000 
Menschen bewohnten Gelsenkirchener Bezirk; Anfang, Verlauf und 
gleichmässiges Befallenwerden der Bevölkerung mit 3300 Erkrankungen 
sprachen auch hier für eine Trinkwasserinfektion. Nach genauer 
Untersuchung der ziemlich komplizierten Trinkwasserverhältnisse kam 
Springfeld zu der Auffassung, dass eine Infektion der Wasserleitung 
nur infolge eines in der Nacht vom 15.—16. August erfolgten Rohr¬ 
bruches der Leitung in Königssteele an einer Stelle, an der höchst¬ 
wahrscheinlich der umgebende Boden durch Abwässer mit Typhus¬ 
keimen verseucht war, stattgefunden haben könnte. Eine ausserordent¬ 
lich geschickt vorgenommene Desinfektion der Wasserleitung mit 
Schwefelsäure hatte den Erfolg, dass die Leitungswasserepidemie all¬ 
mählich zurücktrat und in eine Kontaktepidemie überging. Spring- 


1) Tenholt, Ueber Unterleibstyphus im rhein.-westfälischen Kohlenrevier. 
Zentralblatt für allgemeine Gesundheitspflege. 1901. 


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Dr. Krohne, 


feld, clor an der Art der Anlage und Versorgung einzelner Wasser¬ 
werke eine scharfe Kritik übt, wird nun von Grahn x ), der den Stand¬ 
punkt des Wasserbautechnikers vertritt, angegriffen, weil er zur Er¬ 
klärung der Gelsenkirchener Epidemie als einer Wasserinfektion 
Behauptungen aufstelle, die er nicht sicher beweisen könne. Grahn 
weist auf die verdienstlichen Leistungen der Wasserwerksingenieure 
hin, er meint, dass dieselben jedenfalls auf dem strittigen Gebiet 
schon mehr geleistet hätten, als der erst neuerdings zur Begutachtung 
von Wasserversorgungsanlagen herangezogene Kreisarzt und bemerkt 
zu dem oben geschilderten heimlichen Gebrauch der Entnahme von 
ungereinigtem Ruhrwasser in die angeblich mit Filtration arbeitenden 
Wasserwerke, dass das schon früher oft und ohne Schaden geschehen 
sei und sich nicht immer vermeiden Hesse. Wenn Grahn nun auch 
damit die Benutzung der bekannten Stichrohre nicht entschuldigen 
will, so erscheint es uns doch nötig, zunächst entschieden zu betonen, 
dass eine solche Art. der heimlichen Verabreichung eines hochgradig 
verunreinigten Flusswassers zu Trinkzwecken aufs schärfste zu ver¬ 
urteilen ist und das Bestehen eines Zwanges für ein solches Verfahren 
seitens der Wassertechniker nicht zugegeben werden kann, und dass 
cs uns ferner doch trotz der verdienstlichen Leistungen der Wasser¬ 
ingenieure erwähnenswert zu sein scheint, dass erst das Einschreiten 
der Medizinalbcamten die für eine Bevölkerung von Hunderttausenden 
so gefährliche Art der Wasserversorgung beseitigen half. Wenn nun 
ferner Grahn die für die Erklärung der Gelsenkirchener Epidemie 
von Springfeld gegebene Rohrbruchhypothese bemängelt, so kann 
ohne weiteres zugegeben werden, dass die Auffassung Springfeld’s 
betreffend der Infektion der Wasserleitung infolge eines Rohrbruches 
auch »ms nicht genügend begründet erscheint und nur geringe Wahr- 
scheinMchkeit besitzt. Dagegen erscheint uns eine andere Tatsache, 
für die die Springfeld ? sche Arbeit selbst genügendes Material liefert, 
vollkommen ausreichend, die Entstehung der Gelsenkirchener Epidemie, 
deren Charakter als einer Leitungsw r asserepidemie doch kaum ernst¬ 
lich bestritten w'erden kann, zu erklären. 

Schon wochenlang vor dem Ausbruch der Seuche in Gelsen- 
kirchen hatte das die Stadt versorgende Wasserwerk durch ein Stich¬ 
rohr rohes Flusswasser aus der Ruhr entnommen und der Wasser- 


1) Grahn, Die Typhusepidemie in Gelsenkirchen, deren Entstehung, Ver¬ 
lauf und Ursache. Journal f. Gasbeleuchtung ü. Wasserversorgung. 1904. No. 4. 


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Die Bedeutung der Verseuchung unserer öffentlichen Gewässer etc. 121 

leitung beigemischt. Nur 200 m oberhalb dieses Stichrohres mündet 
aber der sogenannte Eibergbach, der fortdauernd grosse Mengen Unrat 
aufnimmt und gerade zur kritischen Zeit — Juli - September — mit 
Typhusstühlen mehrerer Kranker vielfach verunreinigt worden war. 
Dass somit der Eibergbach das Flusswasser der Ruhr hochgradig ver¬ 
seuchen musste und verseuchtes Wasser mit jenem Stichrohr in die 
Wasserleitung übertrat, darf wohl als unbestrittene Tatsache angesehen 
werden, und wir gehen wohl kaum fehl in der Annahme, dass die 
Anfang September ausbrechende Typhusepidemie in Gelsenkirchen 
lediglich eine Folge des Genusses des mit Typhus verseuchten Leitungs¬ 
wassers war. 

Diese unsere Auffassung findet eine weitere Stütze in einer Arbeit 
Kruse’s 1 ), der schon vor demErscheinen der Springfeld’schen Abhand¬ 
lung die Hypothese der Entstehung der Gelsenkirchener Epidemie 
durch einen Rohrbruch etc. abgelehnt hat, im übrigen aber auf Grund 
seiner genauen Kenntnis der ganzen Wasserverhältnisse im Ruhrrevier 
die bestimmte Ueberzeugung ausspricht, dass nur die Einleitung von 
rohem Ruhrwasser in die Brunnen des Gelsenkirchener Wasserwerks 
dieses infiziert hätte. Auch Kruse weist darauf hin, dass dieser 
Modus der Wasserversorgung eben im Ruhrgebiet an der Tagesordnung 
sei, und dass man überall verfolgen könne, dass der Typhus nur mit 
der Einleitung rohen Ruhrwassers in die Wasserleitungen gebracht 
würde, dass aber z. B. zahlreiche Orte am Rhein, die ihren Leitungen 
ein vorher sorgfältig filtriertes Flusswasser zuführten, vom Typhus 
frei blieben. Jedenfalls schöpfen wir aus allen diesen Ausführungen, 
sowie auch insbesondere aus dem Studium der Springfeld’schen Arbeit 
den sicheren Beweis, dass bei der Ausbreitung des Typhus im Arns- 
berger Regierungsbezirk die Stromverseuchungen zu ganz erheblichem 
Teile mitgewirkt haben. 

Die Stadt Belgard 2 ) in Hinterpommern, ein Kreisstädtchen von 
80U0 Einwohnern, hatte 1901 eine Typhusepidemie, deren Entstehung 
durch verseuchtes Flusswasser kaum zu verkennen ist. Belgard liegt 
an dem Flüsschen Leitznitz, das den nordöstlichen Rand der Stadt 
umzieht, einen Nebenbach in die Stadt sendet und südlich der Stadt 
in die Persante mündet. Seit langer Zeit dient die Leitznitz zur 

1) Kruse, Was lehrt uns die Typhusepidemie in Gelsenkirchen? Technisch. 
Gemeindeblatt. 1901. No. 16. 

2) Schmidt, Zur Frage der Weiterverbreitung des Typhus durch Fluss¬ 
wasser. Zeitschrift für Medizinalbeamte. 1903. No. 21. 


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Dr. Krohne, 


Aufnahme sämtlicher Abwässer Belgards und der flussaufwärts liegen¬ 
den Ortschaften, gleichzeitig wird aber auch das Leitznitzwasser un¬ 
gereinigt 5 grösseren Brunnen innerhalb der Stadt zugeführt und von 
der Bevölkerung unbedenklich getrunken. Zwar befinden sich die 
Wasserentnahmestellen für jene Brunnen am Oberlauf der Leitznitz 
kurz vor ihrem Eintritt in die Stadt, liegen hier aber der Mündung 
mehrerer Schmutzgräben so nahe, dass deren Abwässer die Schöpf¬ 
stellen der Brunnen direkt umspülen. Dass Belgard seit vielen Jahren 
regelmässig eine mehr oder minder grosse Zahl einzelner Typhusfälle 
hatte, erscheint bei dem Bestehen derartiger primitiver hygienischer 
Einrichtungen nicht verwunderlich. Im Sommer 1901 brach plötzlich 
eine auf 102 Erkrankungen anschwellende Typhusepidemie aus, die 
mit einzelnen Erkrankungen in ganz verschiedenen Stadtteilen und in 
Familien, die gar keine Beziehungen miteinander hatten, begann und 
sich dann über die ganze Stadt gleichmässig verbreitete. Eine Ein¬ 
schleppung der Seuche von auswärts, eine Verbreitung mittels infizierter 
Nahrungsmittel, Milch u. dergl., konnte mit Bestimmtheit ausgeschlossen 
werden — und doch sprach alles für eine gemeinsame Ursache. Der 
nur zu begründete Verdacht, dass das Leitznitzwasser die Krankheits¬ 
keime ausgestreut habe, wurde vollauf bestätigt. Fast alle im An¬ 
fang der Epidemie entstehenden Erkrankungen konnten auf den Genuss 
von Wasser aus einem der Leitznitzbrunnen zurückgeführt werden. 
Insbesondere erkrankten auch zahlreiche Kinder, die an den Bächen 
gespielt, Frauen, die in der Leitznitz Wäsche gespült, Familienange¬ 
hörige, die nachweislich nur Bachwasser im Haushalt verwendet hatten. 

Bei weiterer Nachforschung stellte sich heraus, dass im Mai ein 
— damals nicht erkannter — Typhusfall in einer 12 km flussaufwärts 
liegenden Ortschaft vorgekommen war, und dass nicht nur die Wäsche 
jener Kranken in der Leitznitz gespült, sondern auch deren Aus¬ 
leerungen dem Fluss zugeführt worden waren. Die einige Wochen 
später in Belgard ausbrechende Epidemie kann als direkte Wirkung 
der mit jenem Typhusfall geschehenen erheblichen Verseuchung des 
Leitznitzbaches angesehen werden. 

Wir haben bisher die Bedeutung der Stromverseuchungen an einer 
Reihe von Typhusepidemieen zu studieren versucht, die in den ver¬ 
schiedensten Gegenden Deutschlands beobachtet worden sind. Dem¬ 
gegenüber ist es für uns von ganz besonderem Interesse, dass auch 
unser Regierungsbezirk Erfurt, dessen geographische Lage und Aus¬ 
dehnung äusserst vielgestaltig und zerrissen sind, in den letzten Jahren 


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Di® Bedeutung der Verseuchung unserer öffentlichen Gewässer etc. 123 

zu der Frage der Flussverseuchung eine ganze Fülle einzelner inter¬ 
essanter Tatsachen geliefert hat. Von den 9 Kreisen unseres Bezirkes 
sind nur die Kreise Mühlhausen und Worbis von Erkrankungen, 
die als Flussverseuchungsfolgen angesprochen werden konnten, frei¬ 
geblieben. Aus allen übrigen Kreisen kann ich, insbesondere infolge 
der dankenswerten Unterstützung meiner beamteten Kollegen, über 
ein mehr oder minder reichliches Material der schlimmen Folgen der 
Verseuchungen der öffentlichen Gewässer an dieser Stelle berichten. 

Im Kreise Heiligenstadt liegt das Dorf Lengefeld an einem 
von Osten nach Westen in der Hauptstrasse des Ortes verlaufenden 
Fluss — dem Friedabach —, der in die Werra mündet. 

Lengefeld, das sich in das Unterdorf und das höherliegende 
Oberdorf teilt, hatte schon in früherer Zeit öfters schwere Typhus- 
epidemieen, von denen aber meist das Oberdorf mehr oder weniger 
verschont blieb. Die Brunnen in Lengefeld sind fast alle schlecht 
und undicht, werden viel verunreinigt, daher wird auch das Wasser 
des Friedabaches viel getrunken und im Haushalt verwendet — trotz¬ 
dem der Bach zur Aufnahme alles möglichen Unrates, vieler Jauche 
aus undichten Dungstätten imd anderer Hausabwässer dient. Ende 
Mai 1903 traten einzelne Typhuserkrankungen in Lengefeld auf, wurden 
aber als solche anfänglich nicht erkannt, sondern wochenlang als 
Meningitis und dergleichen behandelt. Alle Ausleerungen dieser Kran¬ 
ken wurden dem Friedabach überliefert. Einige Wochen nach dem 
Beginn dieser ersten Fälle verbreitete sich plötzlich der Typhus in 
der ganzen Ortschaft mit besonderer Bevorzugung von Häusern, die 
nahe dem Friedabach lagen, und erhob sich bis zu 48 Erkrankungen 
mit 4 Todesfällen. Höchst auffallend war cs, dass von dieser Kranken¬ 
ziffer allein 18 rasch hintereinander folgende Erkrankungen auf das 
Personal einer Zigarrenfabrik entfielen, in der nur Wasser aus dem 
Friedabach getrunken und gleichfalls Bachwasser zum Anfeuchten des 
Tabaks und der Schneidemesser benutzt wurde. In einer kleineren 
Zigarrenfabrik, in der die ganz gleichen Wasserverhältnisse herrschten, 
traten unter den Arbeitern 4 Erkrankungen auf. 4—5 Wochen nach 
dem Auftreten der ersten Typhusfälle in Lengefeld — deren Aus¬ 
leerungen sämtlich dem Friedabach überliefert wurden — wurden in 
der kleinen Ortschaft Geismar, 5 km flussabwärts am Friedabach 
gelegen, 8 Typhuserkrankungen mit einem Todesfall beobachtet. Gegen 
die bestimmte Annahme, dass bei der weiteren Ausbreitung des Typhus 
in Lengefeld und Geismar nur das Wasser des Friedabaches die ent- 


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124 Dr. Krohne, 

scheidende Rolle gespielt hat, können wohl ernste Bedenken nicht 
geltend gemacht werden. 

Im Nordhäuser Kreise liegt die von einem kleinen Bach — 
der Ufle — durchströmte Ortschaft Klettenberg, 3 km flussaufwärts 
von Klettenberg im Braunschweigischen der Ort Neuhof, in dem seit 
Jahren öfters Typhus auftritt. Etwa 2—4 Wochen nach dem Aus¬ 
bruch von Typhuserkrankungen in Neuhof ist in mehreren Jahren — 
1894 und. 1899 — wiederholt in den flussabwärts gelegenen, zu 
Klettenberg gehörenden Mühlen gleichfalls Typhus aufgetreten — ein 
Umstand, der mit grosser Wahrscheinlichkeit dafür spricht, dass die 
Mühlenbewohner sich ihre Krankheit jedesmal aus dem mit Typhus¬ 
keimen aus Neuhof verseuchten Bachwasser geholt haben. Die gleiche 
Beobachtung konnte an dem Flusslauf der Zorge gemacht werden; 
das Auftreten von Typhuserkrankungen in den oberhalb im Hildes¬ 
heimer Bezirk liegenden Orten Sülzhagen und Werna hat mit einer 
gewissen Regelmässigkeit ein Aufflackern einzelner Typhusfälle auf 
den am unteren Flusslauf liegenden Mühlengrundstücken zur Folge. 

In Gross-Vargula, Kreis Langensalza, wurden vor 2 Jahren 
2 Typhusfälle und in Sömmerda, Kreis Weissensec, erst vor 
wenigen Wochen eine gleiche Erkrankung beobachtet — sämtliche 
Erkrankungen in Häusern, deren Bewohner nachweislich von dem 
hochgradig verunreinigten Wasser der Unstrut einen sehr regen Ge¬ 
brauch zu Wirtschaftszwecken gemacht hatten. Die Vermutung, dass 
wir es auch in diesen drei Einzelfällen mit einer Flusswasserinfektion 
zu tun haben, ist zum mindesten sehr wahrscheinlich. 

Eine grosse Anzahl von Typhuserkrankungen, die zweifellos auf 
der Basis einer Infektion mit verseuchtem Flusswasser entstanden 
sind, sind in den letzten 3 Jahren im Kreise Schleusingen vorge¬ 
kommen. Die grosse Ortschaft Heinrichs, südlich von Suhl am 
Unterlauf des in Suhl durch Abwässer und grosse Mengen von Unrat 
fortdauernd hochgradig verunreinigten Lauterbaches gelegen, hatte in 
den Jahren 1899—1902 eine fortlaufende Reihe von 40 Typhus¬ 
erkrankungen. Kurz vor dem Auftreten der Seuche in Heinrichs und 
auch noch während des Bestehens derselben wurden aus dem fluss¬ 
aufwärts liegenden, in die Lauter abwässernden Suhl mehrfach Typhus¬ 
fälle gemeldet. 1 ) Zu jener Zeit standen die Trinkwasserquellcn von 

1) In diesem Ort hat der Typhus überhaupt von 1890—1900 endemische 
Verbreitung gehabt. 

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Die Bedeutung der Verseuchung unserer öffentlichen Gewässer etc. 125 


Heinrichs im Zusammenhang mit. der verseuchten Lauter, das Bach¬ 
wasser wurde aber auch noch von zahlreichen Ortsbewohnern zu den 
verschiedensten Haushaltimgszwecken benutzt. Dass der Ort Heinrichs 
unter diesen Umständen, trotz sonst wirksamer Bekämpfung der Seuche, 
den Typhus nicht loswerden konnte, ist ebenso verständlich, wie die 
allmähliche Weiterverbreitung des Typhus mit 32 Fällen auf das strom¬ 
abwärts liegende Dorf Wichtshausen, in dem gleichfalls das nun 
wieder von Heinrichs in noch höherem Grade infizierte Lauterwasser 
unbedenklich getrunken und zu sonstigen Zwecken gebraucht wurde. 
Auch ein Beweis dafür, dass in Heinrichs Genuss und Gebrauch ver¬ 
seuchten Flusswassers und der damit infizierten Brunnen die Ursache 
für die Ausbreitung der Erkrankungen war, ist wohl die Tatsache, 
dass nach Herstellung einer einwandfreien Hochdruckwasserleitung und 
Kanalisation in Heinrichs die Epidemie aufhörte. 

Im Sommer dieses Jahres wurde in den Ortschaften Bens- 
hausen, Ebertshausen und Schwarza eine fortlaufende Reihe von 
11 Typhuserkrankungen beobachtet. Sämtliche Orte liegen an dem 
Erbstrom, einem von dem gothaischen Städtchen Mehlis herabkommen¬ 
den Gewässer, wo wenige Wochen vorher eine Typhusepidemie aus¬ 
gebrochen war und zweifellos zahllose Typhuskeime dem Erbstrom 
zuflossen. Auch hier können wir wohl nahezu mit Sicherheit eine 
Stromverseuchung als Krankheitsursache ansprechen, und es ist wohl 
kein Zufall, sondern nur ein natürliches Glied in der Kette der Folge¬ 
wirkungen, dass gerade zahlreiche Kinder, die im Erbstrom gebadet 
hatten, vom Typhus befallen wurden. 1 ) 

Von einer ausgedehnten Epidemie mit 27 Typhusfällcn, deren 
Beginn mit unverkennbarer Deutlichkeit auf eine Flussinfektion hin¬ 
weist, wurde von Ende Juli bis Ende Oktober dieses Jahres der Ort 
Viernau heimgesucht. Hier muss man offenbar ein aus dem Kreise 
Schmalkalden kommendes und durch Viernau fliessendes Gewässer — 
den Hergesbach — als Infektionsquelle ansehen, da in den am Ober¬ 
laufe dieses Flüsschens liegenden Ortschaften Hengst und Hallenberg 
anfangs Juli, also 2—3 Wochen vor Beginn der Epidemie in Viernau, 
Typhus ausgebrochen und durch ihre sämtlichen Abwässer der Herges- 

1) In Ebertshausen herrscht seit März 1904 wieder eine heftige Typhus¬ 
epidemie, welche bis Anfang April unter den 300 Einwohnern 37 Erkrankungen 
mit 3 Todesfällen hervorgerufen hat. Die Ursache wird in einer erneuten Ver¬ 
seuchung des Erbstroms gesucht und darin, dass er mit einem als Brunnen dienen¬ 
den Wasserbecken in Verbindung steht. 


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126 


L>r. Kiohne, 

hach erheblich verunreinigt worden war. Für die Annahme, dass wir 
es liier mit einer ausgesprochenen Flussverseuchung zu tun hatten, 
spricht auch die Tatsache, dass am Beginn der Epidemie fast aus¬ 
schliesslich solche Personen erkrankten, die am Ufer des Baches oder 
in dessen nächster Nähe wohnten. 

Aus dem Kreise Erfurt sind nur aus dem an der Wipfra ge¬ 
legenen Dorfe Kirchheim einige Typhusfälle zu erwähnen, deren 
wahrscheinliche Entstehung durch verseuchtes Flusswasser so interessant 
und lehrreich ist, dass es zweckmässig erscheint, hierauf ausführlicher 
einzugehen. In dem ca. 16 km von Kirchheim am Oberlauf der 
Wipfra in einem einsamen Tale fern von allem Verkehr liegenden 
schwarzburgischen Dorfe Oherwillingen trat plötzlich Typhus auf, 
für dessen Entstehung bezw. Einschleppung jegliche Erklärung fehlte. 
Hinter den zuerst befallenen Häusern, dicht an der Wipfra, entspringt 
('ine starke zur Wipfra fliessende Quelle, von der viel getrunken 
wurde. Nach eingehenden Untersuchungen der geologischen Verhält¬ 
nisse der ganzen Gegend gelang es Professor Gärtner - Jena 0 durch 
entsprechende Versuche mit Farblösungen und Chemikalien den strikten 
Nachweis zu führen, dass die oben genannte Quelle auf eine Ent¬ 
fernung von 4 km mit der in einem benachbarten Tale fliessenden 
Ilm in unterirdischer Kommunikation stand und dass die betr. Quelle 
nur ein Abfluss versickerten Ilmwassers war. Die Um aber war 
damals durch Abwässer aus Langewiesen. Ilmenau etc., wo zahlreiche 
Typhusfälle vorkamen, mit Typhuskeimen wohl reichlich gesättigt, 
und die Behauptung Professor Gärtners, dass der Ort Oberwillingen 
seinen Typhus auf unterirdischem Wege aus der mit Ilmwasser ver¬ 
seuchten Quelle erhalten hat, ist wohl kaum ernstlich zu beanstanden. 
Von Oberwillingen aus kroch der Typhus dem Unterlauf der Wipfra 
entlang, sodass von den auf eine Entfernung von 16 Kilometer 
stromabwärts liegenden 8 Ortschaften 7 Orte mehr oder weniger 
schwer vom Typhus heimgesucht wurden und nur eine Ortschaft 
verschont blieb, in der nachweislich kein Wipfrawasser getrunken 
oder zu sonstigen Haushaltungszwecken benutzt worden war. Der 
zuletzt betroffene Ort war das an der Wipfra liegende Dorf Kirch¬ 
heim des Erfurter Kreises. 

In meinem Amtsbezirk, Kreis Ziegenrück, haben wir den Ort 


1) Gärtner, Die Quellen in ihren Beziehungen zum Grundwasser und zum 
Typhus, Ivlin, Jahrbuch. Bd. X. 


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Die Bedeutung der Verseuchung unserer öffentlichen Gewässer etc. 127 


Krölpa, in dem in früheren Jahren mehrfache Typhusfälle vorkamen, 
deren Entstehung durch verunreinigtes Bachwasser vielfach behauptet 
wurde. Anlässlich einer infolge mehrerer Typhuserkrankungen in 
Krölpa stattfindenden lokalen Untersuchung im Jahre 1901 konnte 
ich feststellen, dass die eine alte Holzröhrenleitung des Ortes ver¬ 
sorgenden, sehr primitiv eingefassten Trinkquellen so dicht am Rande 
des den Ort durchfliessenden Kotschaubaches lagen, dass bei einem 
geringen Anschwcllen des Baches die Quellen überflutet und mit Bach¬ 
wasser verunreinigt wurden; dieser Bach kommt von dem 5 km fluss¬ 
aufwärts liegenden Städtchen Ranis herab, das seine sämtlichen Ab¬ 
wässer dem Kotschaubachc zuführt. 30 Tage vor dem Bekanntwerden 
des ersten Typhusfalles in Krölpa war eine Typhuserkrankung aus 
Ranis gemeldet worden. Es ist zweifellos, dass Ausleerungen des 
Kranken in Ranis anfänglich dem Bache zugeführt wurden und auf 
dem oben geschilderten Wege eine Infektion der Holzröhrenleitung in 
Krölpa bewirkt haben, die höchstwahrscheinlich den Ausbruch der 
Typhuserkrankungen in Krölpa verursacht hat. Auf meine Veran¬ 
lassung wurden die Quellen in Krölpa, die möglicherweise auch unter¬ 
irdisch mit dem Bach kommunizieren, in einem mit Zement aufgemauerten 
hohen Wasserbehälter derart gefasst, dass das Einfliessen von unreinen 
Wässern nunmehr ausgeschlossen erscheint; seitdem sind dort Typhus¬ 
erkrankungen nicht mehr vorgekommen. 

Die von uns angeführten zahlreichen Beispiele zeigen uns die 
eminente Gefahr der Uebcrtragung und epidemischen Verbreitung des 
Typhus durch einen Flusslauf. Dass die Gefahr einer Verbreitung der 
Cholera auf dem gleichen Wege eine noch viel grössere ist, ist hin¬ 
länglich bekannt. Ob auch die Ruhr durch einen Wasserlauf weiter 
verschleppt werden kann, ist ja nach dem bisherigen Stande unserer 
Forschung noch zweifelhaft, scheint mir aber doch im Bereich der 
Möglichkeit zu liegen. 

Dass aber auch eine Infektion mit Milzbrand scheinbar durch 
einen Strom vermittelt werden kann, möge folgendes Beispiel aus 
unserem Kreis Ziegenrück lehren. 

In H., einem thüringischen Städtchen an der Südgrenze unseres 
Kreises, werden von einer grossen Lederfabrik ungereinigte amerikanische 
Rindshäute verarbeitet, und die Saale wird durch Abwässer dieser 
Fabrik ganz erheblich verunreinigt. Nun haben wir unter dem Rind- 
viehbestande des Kreises Ziegenrück in den Jahren 1900—1903 jähr¬ 
lich eine Reihe von Milzbranderkrankungen gehabt, von denen aus- 


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128 


Dr. Krohne, 


schliesslich solche Tiere befallen wurden, die nachweislich auf Wiesen 
geweidet oder Futter von Wiesen gefressen hatten, die vorher von 
der Saale bewässert worden waren. Bei dem Fehlen jeder anderen 
Erklärung für die Infektionen hat die auf genauen Feststellungen be¬ 
ruhende Annahme unseres Kreistierarztes, Herrn Bernhard in Ranis, 
dass die Tiere sicJi an dem aus jener Fabrik mit Milzbrandsporen 
verseuchten Saalewasser bezw. mit dem von Saalewiesen stammenden 
Kutter infiziert hatten, sehr viel für sich, umsomehr, als der Kreis¬ 
tierarzt in allen Fällen bestimmte Schrunden an Maul oder Schlund 
der befallenen Tiere als Eingangspforten für das Milzbrandgift fest- 
steilen konnte. Die mittelbare Gefahr solcher Milzbrandfälle für den 
Menschen liegt auf der Hand. 

Die hier gegebene Mitteilung über Verbreitung von Milzbrand auf 
dem Wege einer Stromverseuchung betrifft nicht die einzige Beobach- 
tung dieser Art, vielmehr sind in den letzten Jahren ganz analoge 
Fälle auch in anderen Gegenden Deutschlands festgestellt worden. So 
wurden vor einigen Jahren in den Hohenzollem’schen Landen l ) unter 
dem Rindviehbestande zahlreiche Milzbranderkrankungen beobachtet, 
die sich auf das Ufergebiet des sogenannten Schmciebaches (aus dem 
Schwarzwaldkreis zufliessend) beschränkten und auf Grund der ein¬ 
gehendsten Nachforschungen auf eine Infektion der Tiere durch das 
Wasser des Schmciebaches, der aus mehreren neu angelegten Gerbereien 
am Oberlauf des Flusses in Ebingen in Württemberg mit Milzbrand¬ 
sporen verseucht wurde, zurückgeführt werden konnten. 

In Schleswig - Holstein wurde in den Jahren 1900—1902 aus 
insgesamt 92 Gemeinden eine immer mehr zunehmende Häufung von 
Milzbranderkrankungen gemeldet, von denen hauptsächlich Tiere be¬ 
fallen wurden, die an den Ulem von Wasserläufen geweidet hatten, 
an denen flussaufwärts kurz vor Ansbruch der Erkrankungen neue 
Gerbereien gegründet waren oder ältere Gerberei betriebe an Aus¬ 
dehnung gewonnen hatten. Auch hier wiesen alle Anzeichen auf eine 
Flussverseuchung mit Milzbrandkeimen als Infektionsquelle hin. 

Aehnliche Beobachtungen wurden aus Pommern, vom Odergebiet 
und aus der Hamburger Gegend an der Unterelbe mitgeteilt. Der in 
die Unterelbe cinmündende Störfluss kommt von Neumünster in 
Schleswig-Holstein herab, wo verschiedene Gerbereien bestehen. In 


1) Verhandlungen der XXXI. Plenarversammlung des Deutschen Landwirt¬ 
schaftsrates 1903. 


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Die Bedeutung der Verseuchung unserer öffentlichen Gewässer etc. 129 


den Jahren 1895—1896 trat unterhalb Neuniünstcr am Ufergebict des 
Stör eine bösartige Milzbrandepidemie auf. Seitdem ist von Jahr zu 
Jahr eine flussabwärts verlaufende Weiterverbreitung des Milzbrandes 
deutlich zu beobachten, die uns für die Annahme einer Flussinfektion 
mit Milzbrandgift einen um so höheren Grad von Wahrscheinlichkeit 
gibt, wenn wir die hinlänglich bekannte ausserordentliche Widerstands¬ 
fähigkeit und lange Lebensdauer der Milzbrandsporen berücksichtigen. 

Leider ist der von dem Deutschen Landwirtschaftsrat in Form 
einer Resolution an die Reichsregierung kürzlich gestellte Antrag, 
sämtliche über die Reichsgrenzen eingehenden Rohhäute auf das Vor¬ 
handensein von Milzbrand zu untersuchen, völlig undurchführbar. 

Wenn wir das Resultat unserer Betrachtungen zusammenfassen, 
so können wir behaupten, dass die Notwendigkeit, die Stromverseuchun- 
iren wirksam zu bekämpfen, eine zwingende ist. Es ist leider eine 
unbestrittene Tatsache, dass die Verunreinigung unserer öffentlichen 
Gewässer durchaus noch nicht überall die gebührende ernste Beachtung 
findet. Die Meinung, dass es nur an einer ausreichenden gesetzlichen 
Handhabe zur Bekämpfung der Flussverseuchungen fehle, kann man 
nicht gelten lassen: ich meine vielmehr, dass es in den meisten Fällen 
schon vollauf genügen wird, wenn die AI lg. Minist erial-Verfügung vom 
20. II. 1901 betr. Fürsorge für Reinhaltung der Gewässer nur immer 
mit der nötigen Energie angewendet wird. .Selbstverständlich muss 
('ine reichsgesetzliche Regelung dieser Frage — schon mit Rücksicht 
auf die oft sich entgegenwirkenden Bestimmungen der Einzelstaaten 
— als beste Lösung der Materie angestrebt werden. 

Bis dahin ist aber zur Vorbeugung von Strom Verseuchungen 
nachdrücklich folgendes zu fordern: 

1. Die zahllosen Fälle der Einleitung von Fäkalien und ungeklärten 
Abwässern, insbesondere auch der Abwässer von Gerbereien in 
kleinere Flussläufe, für die eine nach Lage des Falles zwingende 
Notwendigkeit nicht vorliegt, ebenso der damit zusammenhängende 
Missstand unhygienischer Anlage und Entleerung von Jauehe- 
gruben sind — mehr als bisher — mit scharfen Massnahmen 
zu bekämpfen, 

2. die rechtzeitige Feststellung der' ersten Fäll«* von Typhus 
bezw. Typhusverdacht etc. ist noch besser als bisher durchzu¬ 
führen. Typhuskranke sind möglichst zu isolieren und — so 
weit tunlich — die Behandlung derselben in Krankenhäusern 
anzustreben, 

Viertelj’ahrsschrift f. ger. Med. u. öff. San.-Wesen. 3. Folge. XXVIII. 1. i) 


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130 Dr.Krohne, DielJedeutunjr d. Verseuchung unserer öffentlichen Gewässer eie. 


3. eine zweckmässige Desinfektion (Irr T\|iliusstiililr ctr. ist sofort 
eüizulrilen. 

4. vor (Irr Fnl nähme von Wasser aus verseuchten Gewässern ist 
das Publikum in gemeinverständlicher Form ölfentlicli zu warnen. 

5. insbesondere ist überall die Yersorirunir mit einwandfreiem Trink- 
vvasser mehr und mehr durehzuliiliren, 

(>. das Wasser v on Leit untren. die mit Flttsswasser versorgt werden, 
ist fortdauernd hakierinlotrisch zu überwachen. 

Finden alle diese Punkte trenütrende l»cacliluntr. dann wird es 
trelintren, in Zukunft Slromverseuehuntren wenn auch nicht trän/, 
zu vermeiden so doch zum inind«‘st«*n zu vermindern und die er¬ 
heblichen (iefahren derselben bedeutend abzuscliwäclien. 


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Nach welchen Grundsätzen hat die staatliche Ueber- 
wachung der zentralen Wasserversorgungen seitens 
der Medizinalbeamten stattzufinden? 

Von 

Stadlarzt l»r. Schrakamp, Kreisarzt für «Ion Stadtkreis Düsseldorf. 


Kin "Utes Trinkwasser ist für dir gesamte Lebensführung inslu*- 
somlere aber für die Gesundhcitsverhältnissc des Menschen von ausser¬ 
ordentlicher Wichtigkeit. — Es muss daher mit Recht auffallen, dass 
auf die Kontrolle der Trinkwasserversorgung seiiens der Aufsichts¬ 
behörde bis vor wenigen Jahren so wenig Gewicht gelegt wurde. 

Weder für die Neueinrichtung von Wasserwerken, noch für die 
Kontrolle der bestellenden Anstalten gab es allgemeine gültige gesetz¬ 
liche Verordnungen, ln dem § 1(5 der Reichs-Gewerbeordnung, welcher 
die einer besonderen Genehmigung bedürfenden gewerblichen Anlagen 
aufführt, werden Wasserversorgungsanlagen nicht genannt, obgleich sie 
doch zweifellos, von Privaten und zu Erwerbszwecken betrieben, als 
gewerbliche Anlagen aufzufassen und für die Gesundheilsverhältnisse ihres 
Versorgungsbezirks von der allergrössten Wichtigkeit sind. Aber weder 
in dem § 16 der Reichs-Gewerbeordnung noch an irgend einer anderen 
Stelle derselben lindel sieJi etwas auf die sanitäre Seite der Wasser¬ 
werke bezügliches. Wohl konnte auf Grund des § 51 G T wegen über¬ 
wiegender Nachteile und Gefahren für das Gemeinwohl* eventuell ein 
privates Wasserwerk geschlossen werden. Eine Genehmigung unter 
bestimmten Redingungen, sowie eine 1 Kontrolle des Betriebes war da¬ 
gegen hei Wasserwerken auf Grund der Reichs-Gewerlieordnung nicht 


1) „Wegen überwiegender Nachteile und Gefahren für das Gemeinwohl kann 
die fernere Benutzung einer jeden gewerblichen Anlage durch die höhere Ver¬ 
waltungsbehörde zu jeder Zeit untersagt werden.“ 


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9 * 

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Dr. Schrakamp, 



zu begründ«'!!. Auch der § 961 8 dos A. L.-lv. koiinio wohl kaum 
herangezügen worden, da er sich weniger auf die sanitären Verhält¬ 
nisse bezieht. — Handelte es sich um ein kommunales Wasserwerk, 
so stand allerdings dem Regierungspräsidenten kraft seines Aufsichts- 
rochis über die Kommunen ein Konzessionsrecht zu und konnten Be¬ 
dingungen an dasselbe geknüpft werden. Kamen aber private Unter¬ 
nehmungen in Frage, so gab es keinerlei rechtliche Unterlage, dieselben 
als konzessionspflichtig zu erklären, wenn sie nicht an schiffbaren 
Strömen lagen. Wohl konnte, wenn der Verdacht des schlechten 
Wassers bei einer Wasserleitung vorlag, eine gelegentlich«' Kontrolle 
der im Betriebe befindlichen Anlagen herbeigeführt worden durch 
Heranziehung «los § 10 Teil II Tif. 17 des A. L.-R. 1 ), welcher den 
'Polizeibehörden die Befugnis gibt, durch Verfügung das Notwendige 
anzuordnen, um eine der Bevölkerung drohende Gefahr für Leben 
und Gesundheit abzuwenden, sowie den § 6 ff. des Gesetzes über die 
Polizeiverwaltung vom 11. März 1850, 2 ) welcher Gleiches besagt, Und 
tatsächlich haben auch vielfach bei privaten Wasserwerken die Unter¬ 
nehmer es vorgezogen, vor der Errichtung der Anlagen di«' Genehmi¬ 
gung der zuständigen Polizeibehörde freiwillig einzuholen, um späteren 
Unbequemlichkeiten aus dem Wege zu gehen. Aber, wie gesagt, frei¬ 
willig; denn eine Konzessionspflichtigkeit lag ebensowenig vor, wie 
die Verpflichtung, eine fortlaufende Kontrolle zu dulden. 

Ih'rgleichen Zustände waren aber auf die Daut'r nicht möglich. 

Mit dem Fortschreiten der Wissenschaft kam man mehr und mehr 

zu der Erkenntnis, dass die Qualität des Trinkwassers für «lie Gu- 

sundheit der Konsumenten von allergrösster Bedeutung ist; «hum zahl- 

r«'iche, gut studierte Epidemieen, wie z. B. die Choleraepülemie in 
Hamburg, di«' Typhusepidemieen in Lüneburg, Beuthon und vielen 
anderen Städten hatten gezeigt, welch enorme Gefahr ein mangelhaft»'* 
Wass«'rwerk für die Bevölkerung werden kann. 

Auch die Verwaltungsluduörden zogen die entsprechenden Folge¬ 
rungen. Die Ix'reits im .Jahre 1893 zusainmengestellten Grundsätze 


für «len Betrieb von Wasserwerken mit Sandfiltration in Z»'iten der 


( boh'ragelühr wurde am 19. März 1894 durch Minist«'rialerlass ver- 


1) „Die nötigen Anstalten zur.Abwendung der dem Publikum oder 

einzelnen Mitgliedern desselben bevorstehenden Gefahr zu treffen, ist das Amt der 
Polizei. “ 

2) (5: Zu den Gegenständen der ortspolizeilichen Vorschriften gehören 
.f. Sorge für Leben und Gesundheit.“ 



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Staatliche Ueberwachung der zentralen Wasserversorgungen. 


133 

Offentlicht. — Int Jahre 1898 wurden sie durch eine besondere Kom¬ 
mission von Sachverständigen einer erneuten Durchsicht unterzogen. 
Man beschloss zu empfehlen, jenen Grundsätzen auch in cholerafreien 
Zeiten Geltung zu geben und wurden sie entsprechend am 15. Januar 1899 
\on dem Reichskanzler zur Kenntnis der Bundesregierungen gebracht. 1 ) 
Für Preussen ordnete ferner ein Runderlass dos Ministers der Medi¬ 
zinal-Angelegenheilen und des Ministers des Innern vom 24. August 1899 
an, dass von den Verwaltungsbehörden bei Anträgen auf Erwirkung 
des Enteignungsrechtes zwecks Einrichtung von Wasserversorgungs¬ 
anlagen stets die hygienische Prüfung des Projektes, insbesondere auch 
der Verhältnisse der Wasserentnahmestelle zu veranlassen und die 
Genehmigung zu etwaigen Anleihen nicht zu erteilen sei, bevor nicht 
die Zweckdienlichkeit der Anlage auch vom hygienischen Standpunkte 
aus geprüft, und ausser Zweifel gestellt wäre. — Ferner wurden diese 
angewiesen, den bestehenden öffentlichen zentralen Wasserversorgungen 
fortgesetzt eingehende Beachtung zu schenken, insbesondere die von 
ihnen zu veranlassende sanitätspolizeiliche Beaufsichtigung darauf zu 
richten, dass die Wasserentnahmestelle, die Reservoire und die Haupt¬ 
stränge der Leitung vor Verunreinigung geschützt würden und dass, 
soweit die Verhältnisse es geboten erscheinen Hessen, eine regelmässige 
Besichtigung durch den zuständigen Medizinalbeamten und die Fnter- 
suehung von Wasserproben stattfände. 

Weitere Vorschriften für die Kontrolle der Wasserwerke gib! der 
S 35 des R.-G., betreffend die Bekämpfung gemeingefährlicher Krank¬ 
heiten vom 30. Juni 1900, welcher lautet : 

„Die dem allgemeinen Gebrauche dienenden Einrichtungen für 
Versorgung mit Trink- oder Wirtschaftswasser . . . sind fortlaufend 
durch staatliche Beamte zu überwachen. — Die Gemeinden sind 
verpflichtet, für die Beseitigung der Vorgefundenen gesundheits¬ 
gefährlichen Missstände Sorge zu tragen. Sie können nach Mass- 
gabe ihrer Leistungsfähigkeit zur Herstellung von Einrichtungen 

der.bezeielmeten Art, sofern dieselben zum Schutze gegen 

übertragbare Krankheiten erforderlich sind, jederzeit angehalten 
werden . . . u 

Speziell den Medizinalbeamten wird die Kontrolle der Wasserwerke 


1) „Grundsätze für die Reinigung des Oberflächen Wassers durch Sandfiltra¬ 
tion.“ Verödend, d. Reichsgesundheitsamtes. 1900. p. 92. 


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134 Dr. Schrakamp, 

aiifgdragon «luivli den 74 ilor Dienstanweisung für die Kreisärzte 
vom 23. März 1901. D 

Durch die vorerwähnten liest immunem wird das Kontrollrecht 
der Verwaltungsbehörde über den Betrieb der vorhandenen Wasser- 
Versorgungsanstalten ausreichend begründet. Auch bei Neuankuren 
wird ihr in vielen Fällen ein genügender Fintluss gesichert, jedoch 
nicht immer, da nach wie vor eine KonzessionspHieht nirgendwo aus¬ 
gesprochen ist. Fs fehlt eben ein entsprechender Passus in der 
R.-G.-O. bezw. ein deutsches Wasserrecht, in welchem auch, wie es 
wiederholt von den Vereinigungen ,| or Hygieniker gefordert wurde und 
wie es anderswo, z. B. in England, längst besteht, der Schutz des 
Trinkwassers in genügender Weise berücksichtigt wird. Eine definitive 
Regelung der Materie wäre um so mehr notwendig, als auch noch 
andere Punkte dringend der Regelung bedürfen. So z. B. kann es 
zweifelhaft sein, welche Behörde zuständig ist, wenn die Förderungs¬ 
anlage eines Wasserwerkes, wie es vielfach vorkommt, in dem einen 
Regierungsbezirk liegt, während das Wasser in einem anderen ver¬ 
braucht wird. Auch bestimmte allgemein gültige Vorschriften über 
den Betrieb fehlen bisher. 

Der § 74 der Dienstanweisung für Kreisärzte unterscheidet 
zwischen der Prüfung der Projekte von mm zu errichtenden zentralen 

1) „Die Beschallung ausreichenden und hygienisch einwandsfreien Trink- 
und Gebrauchswassers ist für den öffentlichen Gesundheitszustand von grösster 
Bedeutung und wird der besonderen Fürsorge des Kreisarztes empfohlen. 

Durch fortgesetzte Belehrung und Anregung muss er darauf hinwirken, dass 
mangelhafte und nicht genügend gegen Verunreinigungen geschützte Trinkwasser¬ 
anlagen beseitigt und an ihrer Stelle zweckmässige Einzel- oder Zentralanlagen 
errichtet werden. 

Die bestehenden Trinkwasserversorgungsanlagen hat der Kreizarzt zu über¬ 
wachen ; er darf keine Gelegenheit vorübergehen lassen, um sich über deren Be¬ 
schaffenheit zu unterrichten. Dabei wird er den Schwerpunkt weniger auf die 
chemische und bakteriologische Untersuchung von Wasserproben, als auf die ört¬ 
liche Besichtigung zu legen und dahin zu streben haben, fortlaufend ein Bild von 
den Trinkwasserverhältnissen in den einzelnen Ortschaften seines Bezirkes zu 
erhalten, und gegebenenfalls die zur Beseitigung von gesundheitswidrigen Ver¬ 
hältnissen geeigneten Massnahmen vorschlagen zu können. 

Ueber alle Projekte der zentralen Wasserleitungen hat sich der Kreisarzt 
gutachtlich zu äussern und hierbei die Beschaffenheit und Menge des Wassers, die 
Entnahmestellen insbesondere im Hinblick auf die Möglichkeit einer Verseuchung 
oder unzureichenden Zuführung, die Einrichtung der Wasserbehälter u. s. w. zu 
berücksichtigen.“ 

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Wasserversorgungsanlagen und der Ueberwaehung der bereits b<‘- 
stehenden. In <ler folgenden B<*spreehung soll nur von der letzteren 
die Rede sein, da gerade bez. der Art der Kontrolle der Wasser¬ 
werke durch den Kreisarzt noch kein feststehender Modus, der doch 
«•in Bedürfnis wäre, vorhanden ist. 

Bei dem sehr grossen Umfange des Materials kann nur auf die 
Hauptpunkte eingegangen werden, auf welche hei der Beaufsichtigung 
der Wasserwerke der Kreisarzt sein Augenmerk wesentlich zu 
richten hat. 

Für die Qualität des Trinkwassers kommt hei einer zentralen 
Versorgungsanlagc wesentlich in Betracht seine Herkunft, die Förde¬ 
rungsanlage des Werkes, das Reservoir und das Leitungsnetz. Fs lässt 
sich nicht vermeiden, an dieser Stelle ganz kurz auf die Prinzipien 
der Beurteilung des Trinkwassers einzugehen. Diese Prinzipien 
haben im Laufe der Zeit sehr gewechselt. Während man früher das 
Wasser lediglich nach den physikalischen Eigenschafen, dem Ge- 
sehmacke, der Klarheit, der Temperatur und dem Gerüche beurteilte, 
wurde mit dem Fortschreiten der Wissenschaft mehr und mehr die 
Chemie zur Begutachtung herangezogen. Man stellte den Gehalt an 
Nitraten und Nitriten, Chloriden, organischer Substanz, Kalk und 
Eisen fest und erklärte nach den Ergebnissen der Untersuchung ein 
Wasser für gesund oder gesundheitsschädlich, indem man gewisse 
Grenzziffern als ganz allgemein gütig für die Beurteilung ansah. Auch 
dieser Standpunkt hat sich seit einigen Jahren geändert. Man hat 
«ungesehen, dass jene gewöhnlich vorkommenden chemischen Bestand¬ 
teile an sich keineswegs gesundheitsschädlich sind, und dass man 
durch kritiklose Verwendung jener Grenzziffern vielfach ganz gesundes 
Wasser zu gesundheitsschädlichem und gesundheitsschädliches zu gutem 
stempeln würde; andererseits wurde mehr und mehr klar, dass die 
Gesundheitsschädlichkeit, eines Wassers, wenn von den ganz seltenen 
Fällen abgesehen wird, wo direkte Gifte, wie Blei, Arsenik oder der¬ 
gleichen dem Wasser beigemischt sind, lediglich auf der Anwesenheit 
von lebenden Infektionserregern in demselben- beruht. Es ist aber 
nun sehr schwer und nur ganz ausnahmsweise selbst dem geübten, 
mit allen Mitteln der Wissenschaft ausgerüsteten Bakteriologen mög¬ 
lich, jene Infektionserreger im Wasser direkt nachzuweisen. Damit 
soll der Wert einer fortlaufenden bakteriologischen Untersuchung des 
Wassers nicht geschmälert werden: dieselbe ist vielmehr meines Er¬ 
achtens dringend zu fordern, denn sie gibt uns sehr wertvolle An- 


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haltspunkic für die Beurteilung des Wassers dadurch, dass bei einer 
plötzlichen starken Vermehrung der Keime auf den Ursprung der¬ 
selben und eine akut cingetretene gröbliche Verunreinigung des Wassers 
geschlossen werden kann. Von ausschlaggebender Bedeutung ist aber 
die bakteriologische Untersuchung allein nicht und zwar besonders 
nicht, wenn sie nur gelegentlich von dem kontrollierenden Kreisärzte 
ausgeführt wird. Sowohl das Ergebnis der chemischen Untersuchung 
als auch das der bakteriologischen kann nur als Vergleichswert für 
die Begutachtung des Wassers einer zentralen Anlage durch den 
Kreisarzt herangezogen werden. Er muss verlangen, dass bei dem 
Leitungswasser die Ziffer jener vorgenannten chemischen Bestandteile 
nicht grösser ist als diejenige, welche einem guten, aus reinem Boden 
in jener Gegend stammenden Grundwasser zukommt, dass ferner die 
Zahl der Keime nicht zu sehr wechselt und sich in den gleichen 
Grenzen hält, in welcher sie sich bei dem fraglichen Grundwasser 
iindet. 

Im übrigen hat er sein Urteil über die gesundheitlichen Quali¬ 
täten des Wassers hauptsächlich zu begründen auf das Ergebnis der 
praktisch hygienischen Untersuchung der ganzen Anlage. Er hat 
dabei besonders zu berücksichtigen die Herkunft des Wassers, den 
Zustand des Reservoirs und denjenigen des Leitungsnetzes, soweit 
derselbe seiner Beurteilung zugänglich ist. Die Beurteilung der 
Herkunft des Wassers und die Beantwortung der Frage, ob die 
Möglichkeit einer Verunreinigung desselben vorliegt, bildet den wich¬ 
tigsten Teil der Kontrolle der Wasserwerke. 

Man hat in dieser Beziehung zu unterscheiden zwischen Anlagen, 
welche Quellwasser, Talsperrwasser, Flusswasser. Grundwasser und 
Tiefbrunnenwasser verwenden. 

Für Städte, welche an fliessenden Gewässern liegen, ist die Ver¬ 
wendung des Wassers derselben für ihre Leitungen sehr bequem. 

Früher war sic auch sehr billig; denn bis vor einer Reihe von 
Jahren galt das Flusswasscr als genügend rein und für Genuss¬ 
zwecke ohne weiteres brauchbar. Diese Ansicht ist allerdings heute 
nicht mehr vorhanden. Die fortschreitende Verunreinigung der Flüsse 
durch die Abwässer der Industrie und die gewaltigen Massen des 
Kanalinhaltes der anliegenden Städte, die zahlreichen durch den Ge¬ 
nuss des ungereinigten Flusswassers verursachten Epidemien (ich er¬ 
innere nur an die Choleraepidemic des Jahres 1892 in Hamburg) 
haben gezeigt, welche Gefahren dasselbe bringen kann, und dass un- 


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bedingt, wenn Flusswasser überhaupt verwendet werden soll, Filtration 
desselben notwendig ist. 

Die Filter gewähren nun ja auch nur einen relativen Schutz 
gegen das Eindringen der eventuell in dem ungereinigten Flusswasser 
vorhandenen Infektionserreger in die Leitung, und bedenklich bleibt 
das Flusswasser immer. Die meisten grossen Städte mit Flusswasser¬ 
leitung versuchen daher zur Zeit, sich von derselben frei zu machen: 
denn sie sehen ein, dass Flusswasser als ein jederzeit einwandfreies 
Trinkwasser heute nicht mehr angesehen werden kann. Aber vielen 
ist dieses bis jetzt noch nicht gelungen; denn die Beschaffung eines 
anderen Wassers ist bisweilen ausserordentlich schwer oder uner¬ 
schwinglich teuer. Um so sorgfältiger muss aber die Kontrolle der¬ 
artiger Flusswasser-Versorgungsanlagen sein. Der Kreisarzt muss sich 
eine möglichst genaue Kenntnis der Qualität des Rohwassers ver¬ 
schaffen; er muss sich fortlaufend darüber orientieren, ob dieselbe 
gleich bleibt, oder ob sie nach und nach durch Vennehrung der ver¬ 
unreinigenden Zuflüsse derartig sinkt, dass es als Trinkwasser über¬ 
haupt nicht mehr in Frage kommt. Insbesondere hat er darüber zu 
wachen, (lass oberhalb der Schöpfstelle die Ufer reingehalten werden 
und dass nicht in zu grosser Nähe der ersteren Schmutzstoffe in den 
Fluss gelangen. Die grösste Aufmerksamkeit hat er aber bei Fluss¬ 
wasserversorgungen den Filterwerken zuzuwenden, da dieselben, wenn 
sie gut eingerichtet sind und mit der peinlichsten Sorgfalt überwacht 
werden, eine, wenn auch nicht absolute, so doch immerhin ziemlich 
weitgehende Garantie für die Unschädlichkeit des Reinwassers ge¬ 
währen. 

Die Filtration des Wassers kann erfolgen durch Sandfilter 
und durch Plattenfilter. Die Frage der Sandfiltration ist eine ausser¬ 
ordentlich umfangreiche. Die Grundsätze, nach welchen der Betrieb 
erfolgen soll, sind ausgiebig in dem vorerwähnten Erlasse vom 
15. Januar 1899 festgestellt. Es dürfte daher genügen, wenn an 
dieser Stelle kurz auf die bei den Besichtigungen der Medizinalbeamten 
wesentlich in Betracht kommenden Punkte eingegangen wird. Zuerst 
muss die Grösse der Filterfläche und die Anzahl der Filter in einem 
entsprechenden Verhältnisse stehen zu der Menge des erforderlichen 
Wassers. Man darf annehmen, dass 1 cpn Filterfläche in 24 Stunden 
2,5 cbm Reinwasser liefert. Steigt also mit der Einwohnerzahl der 
Stadt der Wasserverbrauch, so ist zur richtigen Zeit auf Einrichtung 
neuer Filterbecken zu dringen. Auch die Anzahl der Reservefilter 


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Dr. Sohra Kamp, 


muss dementsprechend vermehrt werden und zwar so, dass ihre Fläche 
siels etwa 1 .-> der Gesamt fillerfläehl* betragt. Bei Neuanlago von 
Filtern ist darauf zu sehen, dass das Füllmaterial die erfahrungsgemäss 
zweckmässige Korngrösse hat, gut gesiebt und bei dor Einbringung 
von organischen Verschmutzungen gut gereinigt ist. Um eine zu 
schnelle Arbeit und damit die Gefahr der ungenügenden Heimgang 
des Wassers zu verhindern, muss höchstens 1,5 m über der Sanri- 
oberflaehe ein l ebcrlauf für das Rohwasser sein. Der Medizinal¬ 
beamte hat darauf zu achten, dass dieser Ueberlauf nicht verschlossen 
ist. Fr hat ferner darauf zu achten, dass der Filtrationsprozes» 
möglichst gleich massig vor sich geht und zwar durch Beobachtung 
der Apparate in der am Ausllusse des Filters angebrachten Kontroll- 
kammer. resp. der Aufzeichnungen jener Apparate, die ja zum Teil 
automatisch registrieren, ln Betracht für sein Urteil kommt Filter¬ 
geschwindigkeit, Menge des abfliessenden Reinwassers und Differenz 
zwischen dem Rohwasser- und Reinwasserspiegel. Bei ragt die letztere 
mehr als t>0 cm, so ist eine Reinigung des Filters notwendig. Auf 
die bei der Erledigung der letzteren notwendigen Yorsichtsmassregeln 
kann ich im einzelnen nicht (‘ingehen. Jedesmal sollte aber der 
Medizinalbeamte bei der Revision der Filterwerke feststellen, ob und 
wie lange man das erste Wasser nach der Reinigung hat abfliesseu 
lassen. Wieviel man fortlaufen lassen muss, ist für jedes Filterwerk 
verschieden und hängt von den Ergebnissen der zu diesem Zwecke 
anzustellenden bakteriologischen Untersuchungen ab. Auf die An¬ 
forderungen, welche an die nur ganz vereinzelt vorkommende Platten¬ 
filtration zu stellen sind, möchte ich nicht näher eingeben. Es liegen 
auch bezüglich derselben bis jetzt nur wenige und keineswegs besonders 
günstige Erfahrungen vor, sodass es beinahe scheint, als ob dieses 
System sich nicht recht bewährt hat. Die Beurteilung des gewonnenen 
Wassers geschieht am besten durch eine fortlaufende bakteriologische 
Untersuchung. Einen absoluten Wert für ein ungünstiges Urteil haben 
die Ergebnisse derselben allerdings nur dann, wenn sie dauernd eine 
zu grosse Keimzahl feststellen. Viel grösser ist aber ihr relativer 
Wert, da plötzliches Schwanken der Keimzahl eines Filterproduktes 
stets auf eine ungenügende Funktion des Filters schliessen lässt, 
welche Ausschaltung und genaue Untersuchung desselben nötig macht. 
Derartige fortlaufende bakteriologische Untersuchungen, womöglich 
tägliche Untersuchungen des Produktes jedes Filterbeckens und Führung 
eines Buches über das Ergebnis derselben, von welchem dem Kreis- 


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arzte allwöchentlich Abschrift zu übermitteln wäre, sollten eigentlich 
bei jedem Filterwerk gefordert werden. Fs ist dazu die Anstellung 
eines besonderen Bakteriologen keineswegs notwendig, wenn der Tech¬ 
niker sich für die durchaus schematisch auszuführenden Untersuchungen 
die notwendigen Kenntnisse erworben hat. Fiu Qualifikationsnachweis 
müsste allerdings gefordert werden. Unter allen Umständen ist aber 
die tägliche Untersuchung zu fordern, wenn Gründe vorliegen, die das 
Bohwasscr als infektionsverdächtig erscheinen lassen. Steigt die Keim¬ 
zahl an den Fntnahmestellen des Wassers, während dasselbe an den 
Filterabflüssen einwandfrei ist, so ist der Fehler zu suchen in dem 
Reinwasserreservoir, oder in der Leitung. 

Bei dem Reservoir kann eine Verschmutzung ein treten dadurch, 
dass zu lange mit der von Zeit zu Zeit stets notwendigen Reinigung 
gezögert wird, namentlich, wenn das Bohwasscr sehr reichlich sus¬ 
pendierte Stoffe führt, bis ist daher zu fordern, dass über die Reinigung 
des Reservoirs ein Buch geführt wird, welches dem Medizinalbeamten hei 
der Besichtigung vorzulegen wäre. Dass ein Reservoir die Bedingungen 
bieten muss, welche eine leichte Reinigung gestatten, wie glatte Innen¬ 
fläche, abgerundete Winkel, einen nach dem Reinigungsrohre zu ab¬ 
fallenden Boden, dass es ferner genügend gross, gegen Witterungs- 
Einflüsse geschützt, gut ventiliert und so konstruiert sein muss, dass eine 
Stagnation, sowie eine Verunreinigung von aussen ausgeschlossen ist, 
sind Forderungen, die zwar wesentlich bei Neueinrichtungen in Betracht 
kommen, auf welche aber auch bei der Revision zu achten ist. 
Schlammablagerungen werden am häufigsten angetroffen werden bei 
den llausreservoiren. Fine Kontrolle derselben ist natürlich für den 
Kreisarzt, von gelegentlich vorkommenden Finzelfällen abgesehen, ganz 
unmöglich. Sie haben sich auch aus anderen Gründen nicht bewährt 
und können allgemein als hygienisch bedenklich bezeichnet werden. 
Als hygienisch weniger vollkommen und der Aufsicht in höherem 
Grade bedürftig müssen auch die sogenannten Gegenreservoire ange¬ 
sehen werden, d. h. diejenigen Reservoire, welche in der Richtung des 
Zuflusses hinter dem Versorgungsgebiete liegen und dazu dienen, bei 
ungleichmässigem Gebrauche der Leitung in den Zeiten der geringeren 
Wasserentnahme die mehr produzierten Mengen aufzuspeichcm. Da 
hierbei kein regelmässiger Durchfluss und keine regelmässige Erneuerung 
des Wassers in dem Behälter stattfindet, kann leicht durch Stagnation 
ein Verderben des Wassers eintreten und zwar um so eher, wenn das 
Zu- und Abflussrohr, wie es sehr häufig sich findet, das gleiche ist. 


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Dr. Schrak am p, 


Auf die Möglichkeit, einer Verunreinigung von aussen ist besonders zu 
achten hei den Niederreservoiren, jenen bei natürlicher Hochlage des 
Wasserwerks in den Hoden eingebauten gewölbten nnd gegen Tem- 
peraturschwankungen mit einer ca. 1,5 in dicken Erdschicht bedeckten 
Becken, in die gelegentlich durch schlechte Stellen in dem Decken¬ 
gewölbe, oder, wenn die auf den — bei ihnen, wie bei allen Reservoiren 
notwendigen — Lüftungsrohren befindlichen Siebe defekt sind, Schmutz. 
Tiere, oder sonstige Fremdkörper in das Wasser gelangen können. 

Die Kontrolle des Leitungsnetzes entzieht sich im allgemeinen 
dem Kreisärzte lind ist meines Erachtens mehr Sache des Technikers. 
Wohl aber wird er gelegentlich in besonderen Fällen bei Verun¬ 
reinigung des Wassers in bestimmten Bezirken, oder in einzelnen 
Häusern in die Lage kommen, sich über die Qualität des Wassers, 
die Quelle der Verunreinigung, bezw. die zur Abhilfe erforderlichen 
Massnahmen gutachtlich zu äussern. 

Wasserleitungen, welche Quellwasser verwenden, haben in der 
Regel einen kleineren Umfang. Es ist mir sehr wohl bekannt, «lass 
auch grosse Städte wie Wieu, Wiesbaden, Paris Quellwasser ver¬ 
wenden. Sie bilden aber den zahllosen kleineren und kleinsten An¬ 
lagen gegenüber, deren wir z. B. im Regierungsbezirk Düsseldorf 
noch 04 haben, die Ausnahmen. Und gerade bei diesen kleinen 
Leitungen, welche vielfach von einer ortsansässigen, mehr oder 
weniger geeigneten Persönlichkeit mit recht, wenig Sachkenntnis an¬ 
gelegt sind, ist die schärfste Beaufsichtigung notwendig. Quellen sind 
bekanntlich, auch wenn sie dem Laien wunderbar erfrischend und 
kristallhell erscheinen, vielfach hygienisch keineswegs einwandsfrei. 
Besonders ist dieses in felsigen Gegenden der Fall. Eine Felsen- 
quclle ist oft nichts anderes, als ein im Steinschut t völlig ungenügend 
filtriertes Oberflächenwasser, welches jederzeit und auf alle Weise in¬ 
fiziert werden kann. Es ist daher bei der Besichtigung einer Quell¬ 
wasseranlage in erster Linie notwendig, die Umgebung der Quelle zu 
untersuchen und festzustellen, ob von der Oberfläche her durch in 
der Nähe liegende Aborte, Viehweiden, gedüngte Felder, gewerbliche 
Abfälle und dergleichen Verunreinigungen in das Quellwasser gelangen 
können. Zeigen nach jedem Regengüsse eintretende Trübungen, dass 
das Quellwasser den oberflächlichsten Bodenschichten, ohne genügend 
filtrierende Schichten zu passieren, entstammt, und sind die vorer¬ 
wähnten Verunreinigungsmöglichkeiten vorhanden, so wird es sich 
bisweilen zur Begründung des Urteils empfehlen, durch Versuche mit 


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Staatliche Ueberwachung der zentralen Wasserversorgungen. 


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Saprol, Farbstoffen oder Bazillenkulturen den Beweis des tatsäch¬ 
lichen Eindringens von Verunreinigungsstoffen in die Leitung zu 
bringen. 

Ferner inusser der revidierende Medizinalbeamte sein Augenmerk 
auf die Quellenfassung richten. Gerade die Fassung ist häufig 
recht mangelhaft angelegt und gegen Verunreinigungen von der Ober- 
Hache her ungenügend geschützt. Handelt es sich um ein einfaches 
Eisenrohr, so ist zu verlangen, dass dasselbe genügend tief in den 
Quellgrund getrieben ist. Wird die Quelle durch einen gemauerten 
Stollen geführt, so muss die Mauerung seitlich dicht sein. Das Gleiche 
ist von den Mauern der Quellkammern zu fordern, welche ebenfalls 
genügend tief in den Quellgrund Vordringen müssen. Dicht muss 
ferner die Abdeckung der Quellkammern sein; zur Ermöglichung der 
Kontrolle, Reinigung und Ventilation dürfte ein Einsteigeschacht vor¬ 
zusehen sein, dessen Notwendigkeit allerdings nicht von allen Tech¬ 
nikern anerkannt wird. Bei seiner Anlage ist zu beachten, dass 
seine Benutzung nicht zu einer Verunreinigung, oder Infektion des 
W assers führen darf. Auch etwa seitlich zur Vermehrung der AVasser- 
menge fortgeführte Sickerstellen sind bez. der Möglichkeit des Ein¬ 
dringens von Verunreinigungen genau zu kontrollieren. 

Ein Reservoir ist bei kleineren Quellwasserleitungen vielfach nicht 
vorhanden. Bestellt aber ein solches, so sind an seine Einrichtung 
die gleichen Ansprüche zu stellen, welche an Reservoire ganz allge¬ 
mein gestellt werden müssen. 

In einem gewissen Zusammenhänge mit den Quellwasserleitungen 
stehen die in letzter Zeit mehr und mehr in Aufnahme kommenden 
Talsperren-Wasserversorgungsanlagen. Das Talsperrenwasser ist 
zweifellos als ein OberHächenwasser anzusehen und zwar als ein 
OberHächenwasser, bei welchem leicht die Gefahr einer Verunreinigung 
eintreten kann. Umsomehr ist es Pflicht des Medizinalbeamten, das 
ganze Niederschlaggebiet einer Talsperre ausgiebig zu kontrollieren. 

Bekanntlich legt man W r ert darauf, dass jenes Gebiet möglichst 
wenig menschliche Niederlassungen enthält und in möglichst geringem 
Umfange der landwirtschaftlichen Kultur dient, vielmehr ganz oder 
grösstenteils aufgeforstet sei. Das sind aber Wünsche, die sich, 
wenigstens im Westen Deutschlands, wohl nie vollständig erfüllen 
lassen. Die betreffenden Bezirke sind eben zu gross. 80 wohnen 
z. B. auf den 5y 2 qkm der Barmener Sperre ca. 650 Menschen, un¬ 
gefähr ebenso viele auf dem des Remseheider Beckens, auf den IU /2 ( lkm 


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Dr. Schrakamp, 


der Solinger Talsperre' sogar mehr als 1000. Alle derartigen An¬ 
siedelungen sind aufs genaueste he/, des Verbleibes der menschlichen, 
tierischen und eventuell gewerblichen Dejekte zu kontrollieren. Der 
Medizinalbeamie hat insbesondere darauf zu achten, dass jedes von 
ihnen ausgehende Rinnsal, ehe cs in das Staubecken eintriil, durch 
vorherige Reinigung unschädlich gemacht oder, wenn dieses in ein¬ 
wandfreier Weise nicht möglich ist, von demselben abgeleitet wird, 
und dass durch Anlage eines gut funktionierenden l’inlaufkanals für 
die zeitweilige Abteilung derjenigen Zuflüsse gesorgt ist. welche bei 
plötzlichen heftigen Regengüssen erfahrungsgemäss stark verun¬ 
reinigt sind. 

Mögen nun bezüglich der Herkunft des Wassers auch alle mög¬ 
lichen Vorsichtsmassregeln getroffen sein, die Zuflüsse der Talsperre 
bleiben als Oberllächenwasser immer in gewissem Sinne verdächtig. 
Bekanntlich wird aber das Talsperrenwasser nicht so verbraucht, wie 
es zutliesst. Hs macht vielmehr, bevor es an den Abnehmer gelangt, 
einen Reinigungsprozess durch, welcher geeignet ist. die Bedenken 
gegen dasselbe zu heben oder wenigstens zu vermindern. Dieser 
Weinigungsprozess ist ein doppelter: erstens tritt bei dem Wasser 
durch die Aufspeicherung im Becken eine Selbstreinigung ein, und 
zweitens wird es, wenigstens in Deutschland, bevor es an den Ab¬ 
nehmer gelangt, filtriert, resp. in irgend einer anderen Weise gereinigt. 
Auf beide Prozesse hat der Medizinalbeamte bei den Revisionen 
sein Augenmerk zu richten. Bekanntlich bieten die Stauweiher 
günstige Bedingungen für eine Selbstreinigung: Kinen langen, meist 
monatelangen Aufenthalt in dem Becken und einen fast völligen Still¬ 
stand des Wassers. Durch diese Momente wird bewirkt, dass die 
etwa in dem zutliessenden Wasser vorhandenen Bakterien durch Nah¬ 
rungsmangel und den Hinfluss des Lichtes sowie der Luft absterben, 
beziehungsweise durch Sediment ierung aus dem Wasser sich nieder- 
schlagen. Der in dieser Beziehung erwünschte lange Aufenthalt des 
Wassers in dem Becken tritt natürlich nur ein. wenn der Wasser¬ 
verbrauch in einem bestimmten Verhältnisse zu der Hrosse des 
Beckens steht, oder mit anderen Worten, wenn das Becken nicht über¬ 
mässig stark in Anspruch genommen wird. Mit Rücksicht hierauf 
hat der Medizinalbeamie bei der Revision den durchschnittlichen täg¬ 
lichen Wasserverbrauch und das Verhältnis desselben zu dem Becken- 
inhalfe festzustellen. — Hin Absterben der Bakterien infolge von 
Nahrungsmangel tritt aber, wie wir wissen, nur in reinem Wasser 


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Staatliche l'ebervvachung der zentralen Wasserversorgungen. 


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bald ein. Es ist also narb Möglichkeit dafür zu sorgen, dass das 
Wasser rein bleibt, wozu grösserer Fischreich!um des Beckens, Be¬ 
lebung seines Spiegels mit Schwänen und dergleichen meines Frachtens 
nicht, beiträgt.. Auch halte ich Promenadenwege an dem Hecken und 
Wirtshäuser in seiner unmittelbaren Nähe keineswegs für erwünscht. 
Dass die Lage des Zu- und Abflusses für den Selbstreinigungsprozess 
und die Qualität des Wassers von der grössten Bedeutung ist, braucht 
wohl nicht besonders betont zu werden. Dieser Punkt dürfte aber 
wohl mehr bei der Prüfung von Talsperrenprojekten und hei eventuellen 
l inänderungen der Hecken in Betracht kommen. 

Auf die Frage, ob eine Filtration des Wassers bei gut angelegten 
und sorgfältig angelegten Talsperren notwendig ist, möchte ich mich 
hier nicht weiter einlassen. Ich will nur erwähnen, dass Kruse, der 
im Bezirke Düsseldorf ja vielfach als Gutachter bei der Errichtung 
von Talsperren tätig gewesen ist, ausdrücklich sagt, .das Obertläehen- 
vvasser. welches den Talsperren zuströmt, erleidet in «lern Staubecken 
bei richtiger Anlage derselben Veränderungen, die es zu einem unver¬ 
dächtigen Genussmittel machen;- 1 » während ein Gutachten der König¬ 
lichen Versuchs- und Prüfungsanstalt für Wasserversorgung vom 
20. Februar 1903 2 ) erklärt, dass das Talsperren« asser nicht einwandfrei 
sei und dass man wohl ausnahmslos zu einer weiteren Behandlung 
desselben greifen müsse, um es zu Genusszweeken brauchbar zu 
machen, Die Frage ist also wohl noch nicht ganz klar. Aber gerade 
aus diesem Grunde ist sie für den Medizinalbeamten von Bedeutung. 
Findet er bei einer Talsperrenanlage ohne Filtration, dass der Keim¬ 
gebalt des Wassers häutiger stark und plötzlich schwankt, so wird er 
daraus auf das Eindringen von Verunreinigungen sch Hessen, das Wasser 
für hygienisch nicht einwandfrei erklären und auf die Einschaltung 
von Filtern dringen müssen. 

Sind Filter vorhanden, so werden sie in der gleichen Weise zu 
revidieren sein, wie bei den sonstigen Anlagen. 

Am besten und sichersten arbeiten wohl gut angelegte Grund- 
wasserversorgungen, nota bene wenn die einzelnen Teile der 
Fürderungsanlage einwandfrei und ihre Dispositionen zweckmässige 

1) Kruse: „Hygienische Beurteilung des Talsperrenwassers.“ Zentralblait 
für allgemeine Gesundheitspflege. 1901. S. 169. 

2) Günther und Smreker: „Gutachten, betreffend das Projekt der Wasser¬ 
versorgung der Stadt Magdeburg“. Mitteilungen aus der Königlichen Prüfungs¬ 
anstalt für Wasserversorgung und Abwasserbeseitigung zu Berlin. 1903. S. 117. 

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Dr. Schrakamp, 


sind. Auf diese Punkte und alles, was mit ihnen zusammenhängt, 
hat also der Kreizarzt bei Grundwasseranlagen sein Hauptaugenmerk 
zu richten. Er hat darauf zu sehen, dass mit dem Wachsen der auf 
das Wasserwerk angewiesenen Bevölkerungszahl auch die Zahl der 
Brunnen vermehrt wird, damit nicht durch Ueberanstrengung der Brunnen 
eine zu starke Absenkung des Grundwasserspiegels um den Brunnen 
und damit ein zu schnelles Zuströmen des Wassers von den Seiten 
stattfindet. Je geringer diese Absenkung ist, um so langsamer ver¬ 
läuft der Filtrationsprozess und um so reiner wird das geförderte 
Wasser. Ist das Wasser zeitweise spärlich, so liegt die Gefahr vor, 
dass Versuche gemacht werden, durch allerlei Anreicherungsmethoden, 
durch Stichrohre nach einem fliessenden Wasser, nach Ueberlaufs- 
weihern, durch Siekerrohrc nach der Oberfläche hin etc. das Wasser- 
!|uantum zu vermehren. Dergleichen Versuche sind aber meist recht 
bedenklich. Das Wasser soll nur aus Brunnen, oder sonstigen Anlagen 
entnommen werden, welche von gewachsenem, oder künstlich ange- 
sehüttctem feinporigen und daher gut filtrierenden Boden in einer 
genügend mächtigen Schicht umgeben sind. 

Alle Sickerrohre, Bassins und dergleichen Anlagen, welche eine 
Vermehrung der Brunnenergiebigkeit bezwecken, müssen unbedingt 
dieser Anforderung genügen. Stagnierende Ueberläufe, künstliche 
Loberschwemmung des Förderungsterrains, insbesondere auch Stich¬ 
rohre in freie Gewässer sind ganz zu verwerfen. Manche Grundwasser¬ 
werke in Flusstälern sind nun auffallend nahe den Flussbetten ange¬ 
legt. Für den Laien könnte es auf den ersten Blick leicht scheinen, 
als ob dieses geschähe, um von der Nähe des Flusses für die Wasser¬ 
förderung zu profitieren. Dieser Grund mag allerdings hin und wieder 
wohl ausschlaggebend gewesen sein und manche Städte glauben 
Grundwasser zu haben, während sie tatsächlich durch die immer 
wachsenden Ansprüche an das Wasserwerk und die immer grössere 
Ausdehnung desselben längst das mehr oder weniger gut filtrierte 
Wasser des Flusses, in dessen Nähe das Wasserwerk liegt, wenigstens 
zeit weise gemessen, ohne dass dieses offiziell bekannt ist, resp. zuge¬ 
standen wird. End doch sollten meines Erachtens diese Verhältnisse 
völlig klar sein, um den Gefahren, welche in der Beimischung vielleicht 
verseuchten Flusswassers zu dem Leitungswasser liegen, rechtzeitig 
durch entsprechende Massregcln entgegen treten zu können. Auf diesen 
Punkt hat also der Kreisarzt- ebenfalls ganz besonders zu achten. 
Das ist alter nun leichter gesagt als getan. Eine einmalige gelogen 1- 


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Staatliche Ueberwachung der zentralen Wasserversorgungen. 


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liehe Untersuchung kann hier dem Urteile nicht die notwendigen 
Unterlagen liefern. Es sind vielmehr fortlaufende Ueberwachuug und 
fortlaufende Untersuchungen notwendig, um Resultate zu erzielen, aus 
denen die entsprechenden Schlüsse mit genügender Sicherheit gezogen 
werden können. Derartige Leistungen kann der Kreisarzt natürlich 
nicht selbst übernehmen. Er soll aber darauf dringen, dass jene fort¬ 
laufenden Untersuchungen tatsächlich, in zweckmässiger Weise und 
durch nachweislich dazu ipialilizierte Personen stattfindet und dass 
ihm regelmässig die Ergebnisse derselben zugänglich gemacht werden. 

Es fragt sich nun: Wie hat er dieselben zu verwerten? Um einen 
möglichst grossen Grundwasserbezirk für die Werke zur Förderung 
desselben zu haben, legt man diese naturgemäss in Flusstälern, 
möglichst nahe dem tiefsten Punkte derselben. Der Fluss Hiesst nun 
aber auch in der Regel durch die tiefste »Stelle der Talrinne und das 
Grundwasser strömt auf ihn zu. Bei normalen Wasserverhältnissen 
hat also, einen ganz schematischen Fall angenommen, die Nähe des 
Flusses kein Bedenken. Anders ist es aber, wenn der Fluss schnell 
steigt und besonders, wenn plötzlich Hochwasser eintritt. Dann dringt 
das Flusswasser, wie man es vielfach beobachtet hat, auch bei Wasser¬ 
werken, welche für gewöhnlich tatsächlich wirkliches Grundwasser 
schöpfen, in die dem Flusse zunächst liegenden Brunnen, eine Gefahr, 
die nicht zu unterschätzen ist, und gegen welche gewisse Massnahmen 
zweifellos erforderlich sind. Ein derartiger direkter Zusammenhang 
von Brunnen mit dem Flusse ist nun aber aus den Ergebnissen der 
fortlaufenden chemischen und bakteriologischen Untersuchung des 
Wassers leicht zu erkennen. Wird bei jedem plötzlichen Steigen des 
Flusses die chemische Zusammensetzung des Wassers einzelner oder 
aller Brunnen des Werkes derjenigen des Flusswassers ähnlicher, steigt 
jedesmal die Ziffer der Keime plötzlich und erheblich (und man hat 
Schwankungen von weniger als 100 auf mehr wie 1000 im Kubikzenti¬ 
meter beobachtet), so ist kein Zweifel, dass Flusswasser in die Brunnen 
tritt. Auch der Vergleich des Wasserstandes im Brunnen mit dem¬ 
jenigen in dem Flusse kann, falls längere Beobachtungen vorliegen, 
dem Urteile über diesen Punkt wertvolles Material bieten. Derartige 
besonders gefährdete Brunnen müssen in Hochwasserperioden ausge- 
schaltetet werden und zu diesem Zwecke, ebenso wie der etwa vor¬ 
handene Hauptsammelbrunnen, mit Ausschallungsvorrichtungen ver¬ 
sehen sein. Ist eine Ausschaltung nicht, möglich, so ist, wenigstens 
wenn der Ausbruch einer Epidemie droht, zu beantragen, dass vor 

Vierteljahrsschrift f. ger. Med. n. l\ ff. San.-Wesen. 3. Folge. XXVIII. 1. j() 


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14 « 


Dr. Schrakamp, 


der Verwendung des ungekochten Wassers in einer entsprechenden 
Bekanntmachung gewarnt wird. 

Die übriiren Teile eines Grundwasserwerkes, die Reservoire, etwa 
vorhandene Filterwerke etc. sind nach den vorher bereits besprochenen 
Gesichtspunkten zu beaufsichtigen. 

Ist auf keine andere Weise ein brauchbares Wasser zu erlangen, 
so versucht man hin und wieder, das Grundwasser der tieferen 
Schichten zu gewinnen, und kann ich daher nicht umhin, auch auf 
dieses, wenn auch nur mit einigen Worten, einzugehen. Man findet 
gewöhnlich die Ansicht, dass eine Febertragung ansteckender Krank¬ 
heiten durch dasselbe nicht möglich sei, da angeblich in den Tiefen, 
wo es geschöpft wird, jedes organische Leben fehlt. Meist ist jene 
Ansicht richtig. Wir wissen allerdings, dass Tiefenwasser gewisser 
Bodenformationen so gut wie keimfrei ist. Wir wissen aber auch, 
dass Brunnen von «0 und mehr Meter Tiefe zeitweise massenhaft, 
niedere und selbst höhere Organismen führen, ein sicheres Zeichen, 
dass es sich um unterirdisch fortgeleitetes Tagewasser handelt. Man 
kann also die für bestimmte Bodenformationen und Bodenschichten 
als zuversichtlich richtig erwiesene Tatsache der Keimfreiheit des 
Tiefenwassers nicht, ohne weiteres als ein überall geltendes Gesetz 
mischen, und eine Tiefbrunnenanlage bedarf daher ebenso der Beauf¬ 
sichtigung wie die übrige Grund Wasserversorgung. Dass überall bei 
der Besichtigung eines Wasserwerkes, insbesondere bei der erstmaligen, 
die Vorlage von Beschreibung und Plänen verlangt werden 
muss, halte ich für unumgänglich notwendig, da ohne eine gute Ueher- 
siehl für den Kreisarzt genügende Orientierung unmöglich ist. 

Auch die Dienstanweisung derjenigen im Betriebe beschäftigten 
Beamten, deren Tätigkeit von Einfluss auf die Qualität des Wassers 
sein kann, muss zur Prüfung auf ihre Zweckmässigkeit in gesundheit¬ 
licher Hinsicht vorgelegt werden. 

Endlich möchte ich noch bemerken, «lass auch die Zeit der 
Besichtigung von Wasserwerken von grösster Bedeutung ist und 
dass es sich empfehlen wird, dieselbe vorwiegend dann vorzunehmen, 
wenn für die Gewinnung des Wassers die ungünstigsten Bedingungen 
vorliegen. 

In dem vorhin Gesagten habe ich geschildert, wie ich mir die 
Teilnahme des Kreisarztes an der staatlichen Feherwachung der zen¬ 
tralen Wasserversorgungsanstahen ungefähr denke. Für manchen wird 
es nun aber auch angenehm sein und für eine gleichmässige Er- 

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Staatliche Uoberwachung der zentralen Wasserversorgungen. 


147 


letligung der Sache wäre es erwünscht, wenn es ein Formular gäbe, 
nach welchem über derartige Besichtigungen berichtet wird. Bei dem 
kolossalen Umfange des Materials und hei der sehr grossen Ver¬ 
schiedenheit der in Frage kommenden Anlagen ist aber die Zu¬ 
sammenstellung eines solchen Formulars sehr schwer. Der nach¬ 
folgende Entwurf dürfte daher nur als eine Vorarbeit aufzufassen 
sein, auf deren Boden eine weitere Entwickelung eventuell erfolgen 
kann. 


Entwurf eines Formulars für kreisärztliche Berichte über die Be¬ 
sichtigung von Wasserwerken. 

I. Allgemeine Verhältnisse der besichtigten Anlage. 

1. Bezeichnung derselben. 

2. Tag der Besichtigung und Bezeichnung der bei derselben beteiligten Per¬ 
sonen. 

3. Besitzer. 

4. Versorgungsbezirk der Anstalt. — Zahl und Bezeichnung der angeschlossenen 
Gemeinden; Gesamtziffer der das Wasser benutzenden Bevölkerung; Zahl 
der angeschlossenen Grundstücke. 

5. Durchschnittsverbrauch im letzten Jahre pro Tag und Kopf. 

6. Art der Wasserversorgung. — Quellwasser; Talsperrenwasser; Grund¬ 
wasser ; Oberflächenwasser. 

7. Gesamtförderung im letzten Jahre nach Monaten. 

8. Findet eine regelmässige Untersuchung des Wassers statt? — In welchen 
Zwischenräumen; welcher Art; durch eine nachweislich dazu qualifizierte 
Person ? 

9. Bedingungen der Wasserabgabe. — Preis des Wassers; Art der Gebühren¬ 
berechnung (Tarif, Wassermesser). 


II. Besondere Verhältnisse der besichtigten Anstalt. 

1. Oertliches.— Lage; Untergrund; umgebendes Gelände; Entfernung der 

nächsten bewohnten Gebäude, industriellen Werke, offenen Gewässer. 

2. Wasserförderung 

a) Quellen. — Fassung derselben, 

b) Talsperren. — Beschreibung des Niederschlagsgebietes nach Grösse, 
Benutzung, Bevölkerung; Zuläufe; Umlaufkanal, 

c) Grundwasser. — Stärke und Lage der wasserführenden Schicht; Art 
der Wassergewinnung (Brunnen, Filtergalerien, event. vorhandene An¬ 
reicherungsanlagen. — Beschreibung nach Konstruktion, Art, Zahl und 
Zustand.), 

d) Oberflächenwasser. — Genaue Beschreibung der Situation und Anlage 
der Schöpfstelle, sowie ihrer Umgebung. 

3. Reinigungsanlagen. — Rieselanlagen; Klärbecken, — Filterwerke (Sand-, 

Plattenfilter), Betrieb, Behandlung, Kontrolle, Reinigung derselben; Ge- 

10 * 


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148 


Dr. Schrakamp, Staatl. l'eberwachung d. zentralen Wasserversorgungen. 


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samtlilterfläche; Zahl, Konstruktion und Beschaffenheit der einzelnen Filter; 
Reservefilter. — 

4) Reinwasserreservoire. — Zahl, Lage, Konstruktion, Grösse, Behandlung; 
Reserveanlagen. 

5. Enteisenungsanlagen. — System, Behandlung, Zustand der Anlage. 

6. Sonstige Nebenanlagen. 

7. Dienstanweisung für die Angestellten. — 

8. Veränderungen seit der letzten Besichtigung. 

III. Qualität des Wassers. 

1. Ergebnisse der Untersuchung des Wassers nach den Berichten der Ver¬ 
waltung des Wasserwerks. Durchschnittsergebnisse; Maximum-, Minimum¬ 
befunde. 

2. Ergebnisse der gelegentlich der Besichtigung durch den Kreisarzt selbst, 

oder auf seine Veranlassung durch.vorgenommenen Untersuchung 

unter Bezeichnung des Ortes der entnommenen Proben (Brunnen, Reservoir, 
Leitung), 

a) physikalische Beschaffenheit.— Farbe: Trübung, Niederschlag unmittel¬ 
bar nach dem Schöpfen, — nach längerem Stehen: Geruch bei Erwär¬ 
mung auf 50° C.; Geschmack bei Erwärmung auf 20° C.; Wärmegrad. 

b) chemische Beschaffenheit. — Reaktion; Gesamt-, bleibende Härte 
(deutsche Grade); Chlor, Schwefelsäure, Salpetersäure, salpetrige Säure, 
Schwefelwasserstoff, Ammoniak, organische Substanz, 

c) mikroskopischer Befund, 

d) bakteriologischer Befund. 

.“>. Begutachtung des Wassers. 

4. Veränderungen seit der letzten Besichtigung. 

IV. Gesamtergebnis der Besichtigung. 

V. Abänderungsvorschläge. 

(Ort, Datum.) (Unterschriften der beteiligten Personen.) 


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4. 


Ueber die für das Puerperalfieber in Betracht 
kommenden Mikroorganismen und die Prophylaxe 
der Krankheit vom sanitätspolizeilichen Standpunkt. 

Von 

Dr. Hugo Marx, 

Assistent der l'nterriehtsanstalt für 8tn»tsarzneikmide zu Berlin. 




Wenn man iilx*r die Bakteriologie des Puerperalfiebers schreiben 
will, so ist es notwendig, eine Definition dieses Krankheitsbildes voraus- 
zuschicken. Man muss sich darüher klar werden, welche lieberhaften 
Erkrankungen der Wöchnerinnen mit dem Namen Puerperalfieber be¬ 
zeichnet werden müssen. — Darüber kann heute kein Zweifel mehr 
bestehen, dass das Puerperalfieber ein« 1 Wundinfektion ist, ausgehend 
von den wunden Genitalien einer Frau. ..Nach der Geburt ist die 
ganze Innenfläche des Uterus einer Wunde gleich zu achten. u (Ols- 
liausen und Veit [1]). F rische Einrisse am Muttermund, am Scheidcn- 
«‘ingang bieten den Infeklionsern'gem weitere Eintrittspforten in den 
Körper der Wöchnerin. 

Man ist sich ferner ebenso klar darüber geworden, dass das 
Puerperalfieber eine besondere Wundinfektionskrankheit, die ihren 
eignen, einzigen, nur diese Krankheit hervorrufenden Mikroorganismus 
aufweist, nicht ist. Wir eine Phlegmone, eine Lvmphangitis, ein 
Abszess an jedem anderen Teile d«‘s Körpers durch <*ine Reihe ver¬ 
schiedener Organismen bewirkt sein kann, also haben wir als Erreger 
der puerperalen Wundinfektion eine ganze Anzahl verschiedener Keim¬ 
arten kennen gelernt, deren jed«' unter Umständen tödliches Puerperal¬ 
fieber hervorrufen kann. Ehe wir nun zum Studium dieser Keiroarten 
übergehen, müssen wir auf die Definition des Begriffes „Puerperal¬ 
fieber“ näher eingehen. 

Olshausen (2) definiert also: „Puerperalfieber sollen wir. 

nur solche Erkrankungen der Wöchnerinnen nennen, welche durch 
septische Mikroorganismen, einschliesslich d«‘r gewöhnlich nur als 
Saprophvtcn im Gcnitalkanal «‘xistierenden Anaeroben, bedingt werden; 


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150 


Dr. Hugo Marx, 

einerlei, ol> dabei ein«“ Infektion im engeren Sinne oder nur eine In¬ 
toxikation zu Stande kommt. ü Mit andern Worten: Olsliausen 
scheidet von den Mikroorganismen des Puerperalfiebers streng die 
Gonokokken, den Erreger des Tetanus, des Typhus, der Diphtherie, 
der Searlatina (Olsliausen [3jj. Dass Tetanus, Typhus (Williams [6]. 
Whitridge [49]), Diphtherie (Dumm [7]), Searlatina vom eigentlichen 
Puerperalfieber scharf zu trennen sind, wird man Olsliausen ohne 
weiteres zugeben, lieber die Gonokokkeninfektion im Wochenbett 
kann man wohl anderer Ansicht sein, (wie es Hofmeier, Menge. 
Krönig [*22J in der Tat sind), umso eher, als, wie Olsliausen selbst 
zugibt, die klinischen Symptome einer gonorrhoischen Woehenbetts¬ 
erkrankung denen des Puerperalfiebers ähnlich sein können, und ob 
nicht auch tödlich endende gonorrhoische Erkrankungen im Wochen¬ 
bett (gonorrhoische Peritonitis) auftreten können, ist noch nicht aus¬ 
gemacht. Trotz allem aber muss man, glaube ich, ganz abgesehen 
von der lledeutung, welche eine Gonokokkeninfektion für die gerichts¬ 
ärztliche Beurteilung eines Falles von Puerperalfieber hat, gerade vom 
bakteriologischen Standpunkte aus, Olsliausen zustimmen. Der Gono- 
coeeus ist zunächst dadurch ein besonders ausgezeichneter Spaltpilz, 
dass er von der intakten Schleimhaut aus infizieren kann, sodass eine 
gonorrhoische Infektion als eigentliche Wundinfektion nicht bezeichnet 
werden kann. Zweitens sind die Toxine des Gonoeoceus, soweit sich 
dies bisher entscheiden lässt (Flügge [54], Wertheim [50]), und 
soweit überhaupt solche gebildet werden, ungleich weniger leben¬ 
gefährdend, als die des Puerperalfiebers sensu strietiori. Endlich, und 
dies scheint mir ein keineswegs indifferentes Moment zu sein, ist die 
Tenacität des gonorrhoischen Virus bedeutend geringer als diejenige 
der Streptokokken und der Staphylokokken; Streptokokken und Sta¬ 
phylokokken sind je nach ihrer Virulenz noch wochenlang infektions¬ 
fähig; gonorrhoisches Sekret aber verliert, sobald es vollkommen ein¬ 
getrocknet ist, seine ansteckende Kraft. Vom klinischen Standpunkte 
aus lässt sich für Olsliausen's Ansicht anführen: das meist spätere 
Auftreten der Zeichen einer Infektion (gegen Ende der ersten Woche 
oder noch später), das lleschränktbleiben der Infektion auf den Becken¬ 
abschnitt des Peritoneum, die der septischen Peritonitis gegenüber 
relativ geringe Pulsfrequenz, das Freibleiben des Sensorium und der 
schnelle und günstige Verlauf. Im zweiten Hauptabschnitt dieser 
Arbeit soll die Gonorrhoefrage auch vom sanitätspolizeilichen Stand¬ 
punkte besonders mit Rücksicht auf die Meldepflicht besprochen werden. 

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Leber die für das Puerperalfieber in Betracht kommend. Mikroorganismen etc. 151 


Wir werden somit die Gonokokken von unserer Betrachtung aus- 
schliessen und gehen nunmehr dazu über, die Mikroorganismen des 
Puerperalfiebers abzuhandeln. r ) 

A. Die Keimarten. 

1. Die Mikrokokken. 

Nachdem zuerst Waldeyer (42) Kokken bei Puerperalfieber nach- 
gewiesen hatte, gab Orth (43) wohl als erster, Abbildungen von 
Kettenkokken, die er in Fällen von Puerperalfieber gefunden hatte. 
Seitdem haben sich in fast unabsehbarer Fülle die Arbeiten über die 
Mikroorganismen des Puerperalfiebers gehäuft. Zunächst herrscht die 
Meinung vor, dass die kettenbildenden Kokken, die Streptokokken, 
die eigentlichen und alleinigen Erreger des Puerperalfiebers sind 
(Doleris [27], Lomer [28], Eisenberg [29]), und man kam dazu, 
ähnlich wie Fehleisen (60) für das Erysipel einen besonderen 
Kettencoecus nachwies, einen spezifischen Puerperalfieber-Streptococcus 
anzunehmen. Andrerseits ging man so weit, das Erysipel der Wöch¬ 
nerinnen mit der Puerperalinfektion zu identifizieren und demgemäss 
für beide Erkrankungen denselben spezifischen Mikrococcus verant¬ 
wortlich zu machen. Nun, wir wissen jetzt längst, dass der Fehl- 
cisen’sche Streptococcus erysipelatis absolut identisch ist mit dem 
Rosenbach’sehen Streptococcus, den die Bakteriologen jetzt den 
Streptococcus pathogenes longus zu nennen gewohnt sind (56), wir 
wissen andrerseits, dass eine Puerperalinfektion keinesfalls ohne weiteres 
als Erysipel der Genitalien aufzufassen ist (Gusserow [25]). Dass 
natürlich derselbe Streptococcus, der ein Erysipel an den äusseren 
Genitalien macht, von der Erysipelfläche aus auch auf die inneren 
Genitalien der Wöchnerin überwandern und dort eine puerperale Sepsis 
inszenieren kann, ist begreiflich. Wenn auch diese Ucberwanderung 
glücklicherweise in den meisten Fällen ausbleibt, müssen wir uns 
dennoch bewusst bleiben, dass beide Erkrankungen den gleichen Er¬ 
reger haben können, der eben einmal nur eine flächenhafte Infiltration 
der Lymphgefässe der Haut, das andere Mal eine schwere puerperale 

\) Eine Geschichte der Bakteriologie des Puerperalfiebers gibt Lomer, wir 
müssen darauf verzichten, sie hier auch nur im Auszug wiederzugeben. Ebenso¬ 
wenig kann auf die Geschichte des Puerperalfiebers überhaupt hier eingegangen 
werden. Die Namen White, Denman, Semmel weis sind die ragenden Merk¬ 
steine auf dem Wege zur Erkenntnis der Aetiologie des Puerperalfiebers. 


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152 


Dr. Hugo Marx, 


Sepsis zustande bringt. - Die Bakteriologie ist dann noch einen 
Schritt weiter gegangen, und wiederum kann uns die Lehre von den 
Kriegern des Erysipels als Paradigma des Fortschrittes gelten. Nach¬ 
dem die Untersuchungen v. Eiselberg’s (64), E. Fraenkel’s (65), 
Petruschky's (40). Marmorek’s (61) u. a. die Identität des Ervsipel- 
coecus mit dem gewöhnlichen Streptococcus dargetan hatten, mehren 
sich nun die Untersuchungen, welche beweisen, dass Erysipel auch 
von Staphylokokken (J ordan [63J), von Pneumokokken (Neufeld [67]), 
ja selbst vom Bacterium coli (Petruschkv 1. c. und Uhlenhuth [68J> 
hervorgerufen werden kann. Auch eine andere Domäne, die Osteo¬ 
myelitis, ist dem Streptococcus genommen worden (Lcxer [69], Marx 
und Woithe [70]), die er nun mit dem Staphylococcus zu teilen hat. 
Und so ist es auch mit. dem Puerperalfieber gegangen. Allerdings muss 
gesagt werden, dass noch immer der Streptococcus am häufigsten und 
vorwiegend bei den schwersten Fällen von puerperaler Sepsis gefunden 
wird; allein wir werden sehen, dass auch die Staphylokokken und 
der Diploeoecus pneumoniae in integrierender Weise an der Aetiologie 
schwerer Puerperalfieberfälle beteiligt sind. Zunächst soll eine kleine 
Tabelle die Beteiligung der Mikrokokken an der Aetiologie des Puer¬ 
peralfiebers darstellen. 


Autor 

Streptokokken' Staphylo- Diplokokken 

allein j kokken allein allein 

Staphylo¬ 
kokken und 
Streptokokken 

Burckhardt (13) . . 

- 1 - 1 i ! 

_ 

Walthard (57) . . . 

— ‘ — i 1 ! 

— 

Czerniewski (26) . . 

35 - , - i 

1 

v. Fran<jue (41). . . 

— i — 1 

2 

Krünig (15) . . . . 

5« — ! — 1 

— 

Dnderlein (102/3) . . 

7 — — 

— 

Widal (24) .... 

14 — ! — 

— 

Aufrecht (53) . . 

- — l i 

— 

Mumm (12a) .... 

17 ‘ — — i 

12 

Weich so 1 bäum . . 

| - 1 1 

— 

fanon (35) .... 

| 5 : i 

— 

Hahn (30). 

3 1 — 

— 

1> r ieger (31) . . . 

2 | 5 1 — 

— 

Hoff (32). 


— 

Lcvy (34). 

- ! 4 ! - 

— 

tiiirlner (36/37). . . 

— 2 1 — 

2 

Kloinknecht (38) . .. 

- i ! 

— 

Hetruschky (40) . . 

8 , 1 i - 

— 

Bl umborg (46) . . . 

2 . — — 

— 

< i ü n n c r (106) .... 

5 1 — i — 

— 

v. Magnus (47) . . . 

— 1 — 

— 


Es fanden sieh insgesamt: 15*2 mal Streptokokken. 22 mal Staphylokokken, 

5 mal der Diploeoecus pneumoniae, 17 mal Streptokokken und Staphylokokken. 


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lieber die für das Puerperalfieber in Betracht kommend. Mikroorganismen etc. 158 


Benutzt sind für die Zusammenstellung dieser Tabelle insgesamt, 
489 bakteriologisch untersuchte Fälle schwerster Puerperalinfektion, 
sodass Streptokokken in etwa */$, Staphylokokken in etwa V20 der 
Fälle gefunden wurden; also verhielten sich die Streptokokken zu den 
Staphylokokken in ihrer Häufigkeit wie 7:1. Unter den Staphylo¬ 
kokken ist am häufigsten der Staphyloeoeens pyogenes aureus ver¬ 
treten, aber auch Staphylococcus citreus und albus (Hoff (32), 
Brieger (34) sind gefunden worden. Zur Vervollständigung soll noch 
erwähnt w T erden, dass Czernievvski (26) Streptokokken einmal in 
(iesellschaft einer Sarcine sah. 

Welche Unterschiede bestehen zwischen Streptomykose und 
Staphylomykose? Es ist sicher, dass die meisten Fälle puerperaler 
Sepsis durch Streptokokken verursacht werden, indess betreffen unter 
den oben angeführten 22 Fällen von Staphylokokkeninfektionen nicht 
weniger als 15, also weit über die Hälfte, tödliche puerperale Sepsis 
und Pyämie, bei denen die Staphylokokken im Blute kreisten. Ein 
prinzipieller Unterschied zwischen Staphylokokken- und Streptokokken¬ 
infektion besteht nicht. Man hat behauptet, dass Streptokokken die 
Neigung zu flächenhafter Ausbreitung und schleuniger Propagation in 
Lvmph- und Blutbahnen besässen, dass sie demnach geeignet seien, 
die mehr serösen Entzündungen mit Hyperämie und Transsudation, 
wie das Erysipel, und eine Septikämie zu erzeugen, während den 
Staphylokokken eher die Fähigkeit, Eiterungen und pyämische Meta¬ 
stasen hervorzurufen, zugesehrieben w’urde. (Petruschky 1. c., 
Klemm (66). Krönig (1. c.) schreibt sowohl Streptokokken wie 
Staphylokokken die Fähigkeit flächenhafter Ausbreitung zu und be¬ 
weist dies für die Staphylokokken durch seinen bekannten Versuch, 
in welchem Staphylokokken in 56 Stunden einen Weg von 80 cm 
zurücklegten. Krönig sieht einen Unterschied darin, dass die Strepto¬ 
kokken grössere Neigung haben, Gewebsnekroscn zu erzeugen und so 
zur Trombenbildung zu führen, dass sie zum andern energischer in 
die Lvmph- und Blutbahnen eindringen und sich rascher und häufiger 
durch den ganzen Körper verbreiten als Staphylokokken, so zwar, 
dass sie bei der Infektion Kreissender auch in die Blutbahnen der 
Kinder übertreten, wo sie dann nachgewiesen werden können. (Die 
Kinder erliegen zumeist der Streptokokkeninfektion.) Die Mortalität 
der Streptomykose für die Mutter berechnet Krönig auf 3,6 pCt.; 
in 9 von 76 Fällen fand ein Transport der Streptokokken vom 
primären Herd ans statt. In seinem Referat auf dem Pariser Kongress 


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von 1900 (1*20» betont Krönig indessen den Unterschied zwischen 
Staphylokokken- und Sfreptokokkeninfektion kaum noch als einen 
charakteristischen; er kommt zu dem Schlüsse, dass das Krankheits¬ 
bild keinen sicheren Rückschluss auf die Art des Erregers zulässt. 

Wenn es erlaubt ist. die Erfahrungen der Chirurgie auf die Ge¬ 
burtshilfe anzuwenden, so kann man sagen: Die Streptokokken sind 
vielleicht besser als die Traubenkokken dazu befähigt, in die aller- 
feinsten Lymphkapillarcn einzudringen und in ihnen fortzuwachsen, 
das mag die grössere Invasionsfähigkeit der Streptokokken gegenüber 
den Staphylokokken erklären. Die Staphylokokken sollen nach Lcxer r i 
vermöge ihrer Anordnung in Häufchen die weiteren Blutwege bevor¬ 
zugen und leichter als Streptokokken zu pyämischen Metastasen und 
Abscessen Anlass geben. Jedenfalls sieht man die schwersten Phleg¬ 
monen, tödliche Osteomyelitiden, Peritonitiden in gleicher Weise durch 
Streptokokken wie durch Staphylokokken verursacht werden. Ver¬ 
fasser konnte einen Fall beobachten, in dem ein Kollege einen 
Furunkel inzidiert hatte, der Staphylococcus aureus enthielt; dem 
Kollegen kam durch einen Zufall etwas Furunkeleiter in eine Rasier¬ 
schnittwunde der Wange, und es entwickelte sich ein mächtiges Ge¬ 
sichts- und Kopferysipcl. An einen prinzipiellen Unterschied zwischen 
der Wirkungsweise der Staphylokokken und Streptokokken kann man 
nach solchen Erfahrungen nicht mehr glauben; es erscheint eben 
weniger auf die Keimart als vielmehr auf die Provenienz und die 
teilweise mit ihr zusammenhängende Virulenz der Keime anzukommen: 
davon soll weiter unten die Rede sein. Die Bildung von Toxinen 
kommt Streptokokken und Staphylokokken in gleicherweise zu; ihre 
Tenazität ist annährend die gleiche, besonders bleiben Keime aus an¬ 
getrocknetem Eiter, einerlei, ob es sich um Staphylokokken oder 
Streptokokken handelt, sehr lange virulent. Eiterung können beide 
Keiinarten hervorrufen, beide können aber auch entzündliche, ohne 
Eiterung einhergehende Prozesse bewirken. Gewebsnekrosen werden 
sowohl durch Streptokokken wie durch Staphylokokken und durch 
ihre Toxine häufig bewirkt, sodass diese Eigentümlichkeit von Ivrönig 
durchaus zu Unrecht für die Streptokokken allein in Anspruch ge¬ 
nommen wird. Im Blute fiebernder Wöchnerinnen werden Staphylo¬ 
kokken relativ ebenso häufig gefunden wie Streptokokken (vgl. die 
Fälle von Petrusehky, Canon, Brieger. Lew, Hoff, Gärtner). 

1) Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie und Archiv für 
klinische Chirurgie. lt*0H. 


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Ueber die für das Puerperalfieber in Betracht kommend. Mikroorganismen etc. 1 


Die wenigen bekannten Fälle von puerperaler Infektion mit dem 
Diplococcus pneumoniae (Aufrecht [53], Canon [35], Burckhardi 
[13]) und ein Fall Walthards [57] von Infektion mit einem Diplo- 
streptococcus, der vermutlich mit dem gewöhnlichen pathogenen 
Streptococcus identisch ist, gehören zu den Seltenheiten: cs ist in- 
dessen nicht zu verwundern, dass der Pneumoniecoccus eine schwere 
puerperale Sepsis verursachen kann, er gehört zu den typischen Septi- 
kämieerregem und spielt in der Aetiologie der akuten eitrigen Menin¬ 
gitis, der Phlegmonen und sonstigen Eiterungsprozesse des mensch¬ 
lichen Körpers eine nicht unerhebliche Rolle. 

Ganz absehen will ich von solchen Fällen, in denen die Puer¬ 
peralinfektion als Metastase aus einem kranken Herde des Körpers 
der Wöchnerin oder als Kontaktinfektion von einer eitrigen Salpingitis 
aus aufzufassen ist. Diese Fälle kommen natürlich auch für die 
Streptokokken- und Staphylokokkeninfektion in Betracht; sie sollen 
aber nicht Gegenstand einer besonderen Besprechung sein. 

2. Das Bacterium coli und die Anaeroben. 

Von den aeroben Stäbchenformen kommt nur das Bacterium coli 
commune in Betracht. Wir sahen oben, dass das Bacterium coli ein 
Erysipel verursachen kann, wir kennen es als Erreger von Peritonitis, 
von Gallenblasenempyem. Appendicitis, Meningitis; die Fähigkeit, 
Puerperalfieber zu bewirken, kann ihm daher, wenigstens theoretisch, 
wohl zugesprochen werden. Marmorek 1 ), Krönig (I. e.), Ahlfcld 
<85), Schenck (59), Gebhard (51), v. Franquc (41) haben Puer¬ 
peralinfektion mit Bacterium coli beobachtet. Gebhard fand in 
25 Fällen von Tympania uterl 18 mal die Stäbchen in den Lochien 
von Wöchnerinnen, dreimal verlief dabei das Wochenbett fieberhaft, 
einmal kam es zur tödtlichen Sepsis, v. Schencks Fälle verliefen 
leicht; er spricht die Vermutung aus, dass das Bacterium coli vom 
Mastdarm aus in die Genitalien gelangt ist. Im Falle v. Franques 
handelte es sich nur um eine harmlose Lochiometra, Bacterium coli 
fand sich in Reinkultur in den Lochien. Krönig fand unter 296 fieber¬ 
haften Puerperalerkrankungen 9 mal das Bacterium coli, Marmorek 
unter 16 Fällen 4 mal, indes nur einmal allein, ohne Beimengung 
anderer Keimarten. 

Gebhard (51) machte in seiner ersten Publikation das Bacterium 
coli für die Tympania uteri allein verantwortlich; in einer späteren 
Arbeit (52) ergänzt er seine Angaben dahin, dass zwar das Bacterium 

1) Annales de 1’Institut Pasteur. 1895. 


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156 


Dr. Hugo Marx, 


coli eine wichtige Rolle für die Entstehung der Tvmpania uteri spiele, 
dass aber die eigentliche Infektion, von der die Tvmpania uteri be¬ 
gleitet werden kann, anaeroben Bakterien zuzuschreiben sei. Linden- 
ilial (71) hat 4 Fälle von Tvmpania uteri bakteriologisch untersucht: 
er ist der Ansicht, dass das Bacterium coli für die Entstehung der 
Tympanie vollkommen bedeutungslos, dass vielmehr ein anaerober 
Bacillus, den er jedesmal nachweiscn konnte, der Erreger der Tym¬ 
panie sei. Zu einem ähnlichen Resultat kommt Goebcl (72). Die 
gleichzeitige Anwesenheit von Bacterium coli hätte demnach als zu¬ 
fälliger Nebenbefund zu gelten. So lange es indessen nicht erwiesen 
ist, dass das Bacterium coli kein Puerperalfieber machen kann, muss 
es mindestens als dringend verdächtig erscheinen, schon im Hinblick 
auf seine sonstigen, für den Menschen höchst gefährlichen Eigenschaften. 

Ausser Linden»hal und Goebel haben sich Wood (75) Eins» 
(73) Krönig (1. c.), Dobbin (76) llrindeau und'Mace (23) um das 
Studium der für das Puerperalfieber in Betracht kommenden anaeroben 
Bakterien bemüht. Ernst (1. c.) war der erste, der in einem Falle 
in den Organen der Leiche einen kapseltragenden, Gasblasen erzeugenden 
anaeroben Bacillus fand; dieser Bacillus scheint identisch zu sein mit 
dem Bacillus aerogenes capsulatus von Welch und Nuttal (54); den¬ 
selben Bacillus fanden Wood (1. c.) und Dobbin (I. c.) in je einem 
Falle tödtlich verlaufener puerperaler Sepsis. Der ganze Körper der 
Verstorbenen war geschwollen, das subkutane Gewebe war emphyse¬ 
matos ; die Hautvenen waren mit stinkendem Gas gefüllt. Leber, 
Milz und Nieren enthielten Gas. Neben dem Bacillus aerogenes cap¬ 
sulatus wurden Streptokokken und Bacterium coli gefunden. Dunham 
(77) konnte in einem Jahn 4 5 Fälle anderweitiger tödtlicher Infektion 
mit diesem Anaeroben nachweiscn: wir wissen, dass er auch in der 
Aetiologie der akuten eitrigen Meningitis, hei der ihn Fraenkel (55.> 
gefunden hat, eine Rolle spielt. Krönig hat 40, bezw. 30 Fälle von 
puerperaler Endometritis mit geteilt, in denen Anaeroben mit Aeroben, 
bezw. Anaeroben allein, gefunden wurden; allerdings war die Temperatur 
der betreffenden Wöchnerinnen nur bei dreien von ihnen über 40 0 
gestiegen, ein einziger Fall verlief tödtlich. Auch Brindeau und 
Macö (23) konnten auf dem Pariser Kongress von 1900 einen tödt- 
liehcn Fall von Anaerohen-Infektion im Wochenbett mit teilen. Krönig 
glaubt, dass in seinen 25 Fällen von fieberhafter Endometritis mit 
negativen bakteriologischen Resultaten auch anaörobe Bakterien die 
Erreger der Endometritis gewesen seien. 


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Feber die für das Puerperalfieber in Betracht kommend. Mikroorganismen etc. 157 


Morphologisch lernen wir durch Krönig, ßrindeau und Mao* 
(I. e.) von Anaeroben ausser dem Welch-Nuttall’schen Bacillus 
noch andere Stäbchen, dann Kokken in Ketten, mittelgrosse Kokken 
und Diplokokken kennen. Doleris (22a) zählt ausserdem noch eine 
ganze Reihe von Anaeroben auf, die für das Puerperalfieber in Be¬ 
tracht kommen: Micrococcus foetidus, Bacillus nebulosus, Bacillus 
eaducus, Bacillus oedematis maligni. Wahrscheinlich gehört auch 
K. Fraenkels (74) Bacillus pldeginones emphysematosae noch hier¬ 
her. — Immer todtbringend ist wohl die Infektion mit dem Aerogenes 
capsulatus, mit dem llacillus des malignen Oedems und dem Bacillus 
der Gasphlegmone. Im übrigen scheinen die genannten Anaeroben in 
der Hauptsache ein saprophvtisches Dasein in der Uterushöhle, zu 
führen. Sie halten sich an der Oberfläche des Endometrium (Krönigi 
auf, ihre Invasionsfähigkeit ist eint* minimale. Ihre Tätigkeit beschränkt 
sich auf Zersetzung der Lochien; übelriechende Lochien, in seltenen 
Fällen Tympania uteri (s. o.) sind die Folgen der Zersetzung. Kommt 
es zur Resorption der von den Anaeroben produzierten Toxine, so 
können die Zeichen der Intoxikation resultieren, mit Fieber und leichter 
Störung des Allgemeinbefindens. Das Fieber übersteigt selten 40 0 
(Krönig), der Puls ist nicht so fretpient wie bei der Infektion, das 
Allgemeinbefinden viel weniger gestört. Das Peritoneum und die 
Parametrien bleiben frei. 

Es empfiehlt sich vielleicht, die Anaeroben einzuteilen in In¬ 
fekt ions- und Intoxikationserreger. Zu den crsteren würden gehören 
die drei Bacillen aerogenes capsulatus (Welch und Nuttall), oede- 
matis maligni (Koch), phlegmones emphysematosae (E. Fränkel). 
Zu der zweiten Art würden alle übrigen gehören, die eben nur ganz 
ausnahmsweise einmal eine wirkliche Infektion (vielleicht auch nur 
eine tödliche Saprämie) zur Folge haben können. Eine Puerperal¬ 
infektion mit dem Bazillus des malignen Oedems und dem der Gas¬ 
phlegmone gehört glücklicherweise zu den grössten Seltenheiten. 
Ausser bei Doleris (1. c.) und E. Fränkel (1. e.Y und ausser einer 
Angabe von Carl, die Kruse (54) referiert, habe ich nichts in der 
Literatur finden können, was auf Erfahrungen über Puerperalinfektion 
mit diesen Keimen Bezug hat. (Puerperalinfektionen von Tieren da¬ 
gegen mit dem Bazillus des malignen Oedems sollen häufiger sein i. 
Der Bazillus des malignen Oedems ist der einzige von allen den hier 
genannten Anaerobiern, der Sporen bildet. Die Tenazität der übrigen 
ist ähnlich derjenigen der aeroben Mikrokokken. Gemeinsam ist den 


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158 


Dr. Hugo Marx, 


Anaeroben die Bildung von Gas blasen im Körper und im Kultur- 
versueh. Die obligaten Anaeroben werden selten allein angetroffen, 
meist in Gesellschaft von »Staphylokokken und »Streptokokken. Wir 
wissen von dem Bazillus des Starrkrampfes, dass das gleichzeitige 
Vorhandensein von »Staphylokokken und Streptokokken die Entwicke- 
lung des Anaerobiers begünstigt. Man nimmt an, dass die Aeroben 
den vorhandenen »Sauerstoff an sich reissen und den Anaerobiern so 
geeignete Lebensbedingungen schaffen; möglicherweise handelt es sich 
bei der Symbiose* von Anaeroben mit Staphylokokken und Strepto¬ 
kokken in der Uterushöhle um ähnliche Verkältnisse. Ls ist natür¬ 
lich ebenso denkbar und muss für manche Fälle als zweifellos ange¬ 
nommen werden, dass umgekehrt, die Anaeroben den aeroben Mikro- 
kokken durch die »Symbiose Infektion und Invasion erleichtern. Bekannt, 
ist die Tatsache, dass unwirksam gewordene Eitererreger, wenn man 
sie mit Saprophyten zusammenbringt, ihre volle Virulenz wieder¬ 
gewinnen können. Nach den Untersuchungen von Menge und 
Krönig (15), Brindeau und Maee (23), Bohne (94) können wir 
heute nicht mehr daran zweifeln, dass sowohl im puerperalen Uterus 
unter Umständen, als auch in der Scheide relativ häufig streng 
anaerobe Streptokokken, nach den französischen Autoren auch, nur 
anaerob, wachsende »Staphylokokken gefunden werden. Wie weit 
diese eine puerperale Infektion oder Intoxikation bewirken können, 
ist noch ungewiss. Die Untersuchungen von Brindeau und Mace 
machen es sehr wahrscheinlich, dass sie zur Intoxikation führen 
können. Im Kapitel über die »Selbstinfektion soll von den anaeroben 
Kokken ausführlicher die Rede sein. 

Die Wirkung der Bakterien. 

Wenn wir zunächst, die lokalen Wirkungen der Bakterien be¬ 
sprechen, so müssen wir uns gewisser Tatsachen erinnern, die für 
das Verständnis der Wirkungsweise von Bakterien nötig sind. Wir 
haben es hier nur mit Bakterien zu tun, die einer Wunde bedürfen, 
um wirken zu können. An diesen Wunden fehlt es bei der Puerpera 
ja nicht. Zunächst sind da die frischen Einrisse an der Vulva, im 
Introitus, in der Vagina selbst, an der Cervix, dann die mächtige 
Wundfläche des Endometriums, die den Ort für die Ansiedlung der 
Bakterien abgeben können. Absterben und Vermehrung der Keime 
gehen Hand in Hand. Sie wirken einmal als Fremdkörper, sui 
generis, vor allem alter durch die Produktion gewisser Giftstoffe, der 


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l'eber die für das Puerperalfieber in Betracht kommend. Mikroorganismen etc. 15B 


Toxine. Wir limlen nach den Darstellungen von Bumm (!)), 
Krönig (15) und andern an der Infektionsstelle, die manchmal durch 
das ganze Endometrium, öfters durch die Plazentarstelle allein dar¬ 
gestellt wird, eine schmale Zone nekrotischen Gewebes, dann einen 
breiten Grenzwall ausgewanderter Leukoeyten und proliferierter Binde¬ 
gewebszellen und zahllose, in Leukoeyten eingeschlossene Bakterien. 
Es sind nach Büchners 1 ) Experimenten gerade die im Absterben 
begriffenen Bakterienindividuen, weiche die chemotaktische Wirkung, 
die Anziehungskraft auf die Leukoeyten, die anregende Wirkung auf 
die fixen Bindegewebszellen ausüben, wohingegen die Nekrose durch 
die lebenden Organismen bewirkt zu werden scheint. Die Nekrose 
ist indessen niemals so tiefgehend, wie z. B. bei den spezifischen 
Entzündungen, die der Diphtheriebazillus bewirkt. Die Toxine der 
Staphylokokken und Streptokokken bewirken vorwiegend Leukoeytose 
mit nachfolgender Eiterung (pyogene Kokken). Der Grenzwall von 
Leukoeyten und die Wucherung von Bindegewebszellen stellt eine 
Schutzreaktion des Organismus dar; und Krönig (1. c.) geht so weit, 
zu sagen, dass zahlreiche Leukoeyten in den Lochien prognostisch 
günstig zu deuten sind. Die saprophytisehen Keime machen fast 
immer an diesem Leukocytengrenzwall halt. Diese geringe Invasions¬ 
fähigkeit und die Zersetzung der Lochien unter Gasbildung ist ihr 
besonderes Kennzeichen als Intoxikationskeime gegenüber ihm In- 
fektionskeimen. Ist die Vermehrung der Infektionskeime eine rapide, 
sind sie in grosser Menge und mit einer hohen Virulenz ausgerüstet 
in die Genitalien eingedrungen, so wird der Leukoeyten wall durch¬ 
brochen, die Keime dringen tief in die Uteruswaud ein, durchsetzen 
die ganze Dicke der Muskulatur, nicht selten unter gleichzeitiger Er¬ 
weichung der Wand und gehen auf die Parametrien und das Peritoneum 
über. Die Intima der Gefässe wird zerstört, infektiöse Thromben 
werden gebildet, die Lymphgefässe sind prall mit Keimen gefüllt. 
Dieses Eindringen in die Tiefen des Gewebes und in die Blut- und 
Lymphgefässe wird den pyogenen Kokken durch ihre Eigenschaft als 
fakultative Anaerobier erleichtert. Leukoeyten werden spärlich oder 
garnicht an der Infektionsstellc angetroffen, das Bild der septischen 
Endometritis tritt in die Erscheinung. Aus den örtlichen Wirkungen 
der Bakterien erwachsen die Allgemeinwirkungen. Auf dem Wege 
der Blutbahnen oder den Lymphwegcn, zuweilen auf beiden zugleich, 
treten die Bakterien ihre Wanderung durch den ganzen Körper an. 
Bumm (l. e.) sah zweimal auf dem Lymph-, zweimal auf dem Blut- 


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160 


Dr. Hugo Marx, 


wege, einmal auf beiden zugleich die Propagation der Keime; Widal 
(I. e.) fand 11 mal die Lymphwege erfüllt und immer die Organ¬ 
kapillaren mit den Mikroben wie ausgegossen. Krönig (1. c.) hat 
dreimal den Transport auf dem ßlutwege konstatieren können. Wir 
wundern uns nicht, zu hören, dass die anaeroben Infektionskeime die 
Lymphbahn bevorzugen. Die Wirkungsweise der verschleppten Keime 
kann eine zweifache sein: einmal können sie als ßakterienzooglöen, 
die mit einem Thrombus transportiert werden, in entfernten Organen 
ganze Gefässabschnitte verstopfen; eitrige Prozesse, die pyämischen 
Metastasen, sind die Folge; ein andermal kommt es zur Thrombose 
der Organkapillaren, meist ohne Abscessbihlung; zuweilen bilden sich 
allerkleinste Abscesse in Mark und Rindensubstanz der Nieren, end¬ 
lich aber können die Keime vollkommen auf den Uterus und das be¬ 
nachbarte Para- und Perimetrium beschränkt bleiben und die Ver¬ 
giftung des Körpers geschieht durch die an der Ansiedelimgssirlle 
gebildeten Toxine. 

In gewissem Sinne können die 'pyämischen Metastasen weniger 
als Allgemeinwirkung der Bakterien, denn als sekundäre Lokal¬ 
wirkungen am entfernten Orte gelten; auch klinisch ist die Prämie 
der Pucrpera von den beiden anderen Krankheitsbildern, die wir als 
Septikämie bezeichnen, toto coelo verschieden. Wir können indessen 
hier unmöglich die einzelnen Krankheitsbilder zeichnen, das würde 
den Rahmen der Arbeit weit überschreiten. 

Wir wollen hier nur noch einmal auf die Unterschiede zwischen 
Streptokokken und Staphylokokken zurückkommen. Wir sahen, dass 
bei den schwersten Formen von puerperaler Sepsis in der über¬ 
wiegenden Mehrzahl der Fälle Streptokokken gefunden werden. Nun 
unterscheidet sich aber die Sepsis von der prognostisch etwas 
günstigeren Pyäraie vor allem durch die bei Sepsis immer vorhandene 
Peritonitis, die der Pyämie fehlt. Dies scheint die Annahme, dass 
die Streptokokken die Propagation auf dem Lymphwege bevorzugen, 
zu bestätigen, denn wenn wir von der Fortpflanzung der Infektion von 
der Tubenschleimhaut auf das Peritoneum ahsehen, so ist die septische 
Peritonitis wohl stets als eine Lymphoperitonitis aufzufassen. Es soll 
damit nicht gesagt sein, dass nicht auch die Staphylokokken auf dem 
Lymphwege, die Streptokokken nicht auf dem Blutwege wandern 
können, es soll nur konstatiert werden, dass die Streptokokken sich 
leichter und öfter des Lvmphweges bedienen, als die Staphylokokken. 


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Leber die für das Puerperalfieber in Betracht kommend. Mikroorganismen etc. 1B1 


Die 11 .Beobachtungen Widals (s. o.) beziehen sieh sämtlich auf 
Streptokokken. 

Nicht anders wie die pyogenen Kokken wirkt unter Umständen 
das Baeterium coli. Man kann sich einer Septikämie wie einer Pv- 
äniie von ihm wohl versehen. — Die anaeroben Infektionskeime he- 
dürfen zu voller Entfaltung ihrer deletären Wirkung stets des tiefen 
Eindringens in die Gewebe, damit die für ihn* anaerobe Existenz 
nötigen Bedingungen gegeben sind. Charakteristisch für ihre lokale 
und allgemeine Wirkungsweise ist, wie schon angedeutet, die faulige 
Zersetzung der Lochien unter Bildung stinkender (läse, die Bildung 
eines gasblasenhaltigen, sanguinolenten Oedems, das sich über den 
ganzen Körper, durch das Unterhautbindegewebe verbreiten kann, das 
sich regelmässig in den inneren Organen findet: Gasblascn erfüllen 
die Gefässe. Die Mikroben linden sich überall im infizierten'Körper. 

Wenn auch in ganz seltenen Fällen die saprogenen Anaerobier 
zu dem gleichen schweren Krankheitsbilde führen, so ist doch ihre 
Wirkungsweise für gewöhnlich eine ganz, andere, weit harmlosere; sic 
verbleiben an der Innenoherfläche des Gcnitaltraktus und beschränken 
sich darauf, die Lochien zu zersetzen, stinkender Wochenfluss, eventuell 
eine Tyrnpiana uteri bewirkend, bis kann dabei zur Resorption der 
Stoffwechselprodukte der Saprophyten kommen; und es kommt, wie 
bei der eigentlichen schweren Infektion, auch hier zur Vergiftung des 
Körpers mit Bakteriengiften, sodass eine theoretische Unterscheidung 
von Infektion und Intoxikation in diesem Sinne im Grunde nicht ge¬ 
rechtfertigt ist, denn die Vergiftung ist in beiden Fällen dasjenige, 
was die Allgemeinerscheinungen hervorruft.. Der Unterschied bestellt 
darin, dass bei der eigentlichen Infektion die giftigen Produkte in der 
Tiefe der Substanz der Organe produziert und alsbald • in die offenen 
Blut- und Lvmphbahncn überführt werden; dass hei der Intoxikation 
dagegen das Wachstum der Bakterien und ihre Giftproduktion sieh 
an der Oberfläche des Genitalschlauches abspielen, und dass Bakterien 
und Gifte ganz oder teilweise durch die Schutzvorrichtungen der Ge¬ 
webe von dem Körperinneren ausgeschlossen werden. Fieber und 
Störungen des Allgemeinbefindens sind der Infektion und der Intoxi¬ 
kation gemeinsam; indessen sind die klinischen Erscheinungen der 
Infektion qualitativ durch die Organerkrankungen, quantitativ durch 
die Höhe des Fiebers und die Schwere der Allgemeinerseheinungen 
von der Intoxikation verschieden. Vor allem verlangt die Prognose 
eine strenge Scheidung von Infektion und Intoxikation, die darum für 

Vierteljahrsschrift f. ger. Med. u. tfff. San. -Wesen. 3. Folge. XXVIII. 1. 

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l(i2 Dr. Hugo Marx, 

die Zwecke der Praxis durchaus beibehallcn werden muss, und end¬ 
lich können wir auch tpto-ad thcrapiam die Scheidung zwischen In¬ 
fektion und Intoxikation nicht entbehren. Eine Pyämie. eine Septi- 
kämie ist erfolgreicher Behandlung so gut wie unzugänglich, eine 
Saprämie ist oft dadurch zu beseitigen, dass man eine Retention der 
Lochien, einen übelriechenden Ausfluss durch eine vorsichtige Vaginal¬ 
spülung kupiert. Es können zweifellos die Streptokokken und die 
Staphylokokken, wie das Bauten um coli, zu einer blossen Intoxikation 
ebenso Anlass geben wie die Anaerobier, lvriinig (15) sah z. B. 
unter 56 Fällen von Streptokokken-Endometritis nur 7 mal Infektion 
mit zwei tödlichen Fällen. Dieser von Krönig gebrachte Nachweis, 
dass eitle Slreptokokken-Endometritis ohne jedes Fieber, ohne jede 
Störung des Allgemeinbefindens, nur unter vermehrter eitriger Lochien¬ 
sekretion, verlaufen kann, ist von grosser Bedeutung. Dadurch wird 
die Möglichkeit, dass auch die pyogenen Kokken ein saprophytisches 
Dasein im l lerus führen können, gleich den saprophyten Anaerobiern, 
zur Evidenz bewiesen: und ein leichtes, in solchen Fällen auftretendes 
Fieber werden wir ebenso wie bei der Anaeroben-Saprämie als In- 
mxikations- oder Eesorpt ionslieber bezeichnen. .Man muss sich aber 
immer bewusst bleiben, dass eine klare .Anschauung des Wesens der 
Intoxikation, des l'nicrsehiedes zwischen Infektion und Intoxikation 
noch nicht erreicht ist. Olshausen (2) betont, dass es Aufgabe der 
bakteriologischen Forschung sein muss, eine scharfe Trennung der 
beiden Begriffe Infektion und Intoxikation herboizuführen. Die Be¬ 
deutung einer derartigen Scheidung für die sanitätspolizeiliche Be¬ 
handlung des Puerperalfiebers wird im II. Abschnitt der Arbeit zu 
erörtern sein. 

Die Ausbreitung der Organismen in den Genitalien von unten 
nach oben, d. h. von der Vulva, von der Scheide aus in die Gebär¬ 
mutterhöhle hinein, erfolgt, wenn wir von der Verschleppung durch 
die Hand oder das Instrument des Geburtshelfers zunächst absehen. 
durch intensives Flächenwaehslum tvergl. das zitierte Krönig’sche 
Experiment), für die beweglichen Bakterien vielleicht auch durch ihre 
lebhafte Eigenbewegung; endlich ist noch zu bedenken, dass durch 
die lebhafte Sekretion in den Genitalien eine kontinuierliche Flüssig¬ 
keitssäule hergestellt ist. in der die Bakterien wie in der Bouillon¬ 
kultur, schnell und beiptem sieh nach allen Richtungen ausbreiten 
können. Zu statten kommt ihnen das vorzügliche Nährmalerial des 
Blutes mul des loden Gewebes, und ferner die zusagende Innen- 



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Ueber die für das Puerperalfieber in Betracht kommend. Mikroorganismen etc. 1<»3 




J 


femperatur der Genitalien. Dies alles sind Momente, die es ermög¬ 
lichen, dass selbst bei geringem infektiösen Material, d. h., dass selbst 
dann, wenn nur ganz wenige Keime in die Genitalien gelangt sind, 
in kurzer Zeit eine kolossale Vermehrung der Keime statthaben und 
eine schwere Infektion möglich werden kann. 

Die Lieblingsstelle der Infektion ist die Plaeentarstelle, von der 
aus die schwersten Puerperalliebererkrankungen ausgehen. Die puer¬ 
peralen Geschwüre in der Scheide und an der Cervix geben, dank 
ihrem starken Leukocytenwall, höchst selten für eine Pyämie oder 
Septikämie die Eingangspforte ab. Gleichwohl ist an der Möglichkeit 
einer schweren Infektion von diesen Stellen aus festzuhalten. Ols- 
hausen und Veit (1) erinnern daran, dass die, an die Infektion von 
Vulva- und Vaginadefekten sich anschliessenden Phlegmonen des sub- 
mukösen Bindegewebes, manchmal die Ursache des Fiebers abgeben 
mögen. Bei der pyogenen Endometritis scheinen die Streptokokken 
als Erreger ziffernmässig die Staphylokokken noch mehr zu überwiegen, 
als bei der puerperalen Sepsis. Bei Krönig (15) kommen auf 75 Fälle 
von Streptokokken - Endometritis nur 4 Fälle von Staphylokokken- 
Endometritis, sodass ein Verhältnis von 19:1 hergestellt wird: von 
«liesen 75 Fällen von Streptokokken-Endometritis endigten (5 letal. 

Von besonderem bakteriologischen Interesse sind die Fälle von 
Pyämie und die seltenen Fälle von Septikämie, in denen der patho¬ 
logisch-anatomische Befund an der Schleimhaut der Genitalien gleich 
Null ist. Der Befund eitrig zerfallener Thromben in den Venen des 
kleinen Beckens und die Tatsache, dass sich gerade Pyämie häufig 
an Anomalien der Nachgeburtsperiode und an Placenta praevia an- 
scldiesst (Olshauscn und Veil, l. e.) lässt vielleicht daran denken, 
dass es in den Fällen von Pyämie zum baldigen Eintritt pyogener 
Kokken in die zahllos geöffneten Blutbaimen gekommen ist. es hat 
sich die allgemeine Infektion schneller vollzogen, als die lokale Reaktion 
an den Eintrittspforten. 

Wie bei jeder Infektion sind auch beim Puerperallieber gewisse 
individuelle Dispositionen lokaler und allgemeiner Natur zu berück¬ 
sichtigen, die in dem einen Falle die Invasion pathogener Keime in 
die Genitalien mit nachfolgender Intoxikation oder Infektion mehr 
begünstigen als in dem andern Falle. Von lokalen, für das Puer¬ 
peralfieber prädisponierenden Momenten sind zu nennen: starke 
Quetschung der Weicht eile in einer langdauernden schwierigen Geburt. 
First gebärende erkranken leichter als Mehrgebärende. Wurde während 

II* 



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104 Dr. 11 ugo Marx, Ueber die für das Puerperalfieber in Betracht etc. 


der Gehurt häufig innerlich untersucht, wurden operative Eingriffe not¬ 
wendig. so wächst natürlich die Gefahr der Infektion. Es disponieren 
ferner, wie schon erwähnt ist, starke Blutungen, die Eröffnung vieler 
Gefässe durch die Blutung hei Placenta praevia, alle Anomalien in 
der Aussfossung der Nachgeburt, Zurückbleiben von Plaeentart eilen, 
dann der ungenügende bezw. der behinderte oder erschwerte Abfluss 
der Lochien. Ein starker Blutverlust in der Geburt gehört schon zu 
den prädisponierenden Momenten allgemeiner Natur. Die Anämie 
setzt die Reaktionsfähigkeit herab; die natürlichen Mittel im Kampf 
gegen die Infektion. Die Leukocvtose, die Gewebsreaktion, vielleicht 
auch, um mit Ehrlich zu reden, die Produktion und Abstossung von 
Seitenketten (nach Büchners Sprache: Die Bildung von Antitoxinen) 
ist nicht genügend oder versagt ganz. Auch Diabetes und allgemeine 
Ernährungsstörungen der Wöchnerinnen sind geeignet, sie empfäng¬ 
licher für Puerpcralinfektion zu machen. Von hohem Interesse sind 
die experimentellen Untersuchungen Casellis (80), Rossis (78), die 
feststellen, dass die Schwangerschaft als solche schon ein prädispo¬ 
nierendes Moment für schwere Infektionen darstellt. 

(Schluss 


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Jahresbericht 

der Königlichen Versuchs- und Prüfungsanstalt 
für Wasserversorgung und Abwässerbeseitigung für 
das Jahr vom 1. April 1903 bis 31. März 1904. 


* 


Im Anschluss an die Berichte über die drei ersten Quartale des Geschäfts¬ 
jahres und unter Berücksichtigung des im 4. Quartal vorliegenden Materials gibt 
die Anstalt die nachstehende Uebersicht über ihre Tätigkeit während des Etats¬ 
jahres 1903. 

Das Etatsjahr 1903 zeigt in der wiederum erhöhten Inanspruchnahme das 
wachsende Interesse der beteiligten Kreise und die allgemeine Bedeutung der An¬ 
stalt. Ein Stück der weiteren inneren Entwickelung der Anstalt stellt ihre Er¬ 
gänzung nach der wassertechnischen Seite dar, welche am Schlüsse des vorher¬ 
gehenden und im Laufe des jetzigen Etatsjahres durchgeführt ist. Sie ermöglichte 
die Erledigung der von ihr in stets wachsendem Umfang auf diesem Gebiete be¬ 
anspruchten Arbeiten. 

Das Hauptjournal weist 4121 Nummern, das Probeneinlaufjournal 
1297 und das Exkursionsjournal 118 auf. 

Die Zahl der gebührenpflichtigen Aufträge beträgt 248, unter ihnen 
solche von erheblichem Umfang, wie die Inanspruchnahme durch die Provinzial¬ 
verwaltung der Rheinprovinz, für welche allein im Etatsjahre 1903 170 Wasser¬ 
versorgungsprojekte einer technischen Prüfung unterzogen und 34 örtliche Besich¬ 


tigungen vorgenommen wurden. 

Von den gebührenpflichtigen Aufträgen entfallen auf 

a) Reichs- und Staatsbehörden.127 

b) Behörden der weiteren und engeren Kommunalverwaltung 

und Selbstverwaltungsbehörden der Provinz.77 

c) Private.44 


Zu den regelmässigen Kontrollen, welche die Anstalt über bestehende Wasser- 
versorgungs- und Abwässerbeseitigungsanlagen auftragsmässig ausführt, kamen 
im Berichtsjahre noch hinzu: die Kontrolle über die Wasserversorgung der Stadt 
Rathenow und über die Kläranlage der Gemeinde Neu-Weissensee bei Berlin. 

Die Anstalt vereinnahmte mit Einschluss der auf die ständigen Kontrollen 
entfallenden Beiträge insgesamt 45104 M. 22 Ffg. 

Gebührenfrei erledigte die Anstalt 10 durch den Vorgesetzten Herrn Minister 
gestellte Aufträge. 


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1 (»<» Jahresbericht d. Kgl. Versuchs- u. Prüfungsanstalt f. Wasserversorgung etc. 
Die nachstehende Tabelle gibt eine kurze Gegenüberstellung des diesjährigen 


Geschäftsumfanges gegen den der Vorjahre. 

Klaisjahr 

| Nummern des 

1 Hauptjournalsl 

Auffträge 

Eingegangenc 

Proben 

Einnahmen 

M. 

1901 

1639 ( 

121 

910 

1 _ .. ,_J 

16954.47 

l 

1902 

3521 

280 

1124 

36465.70 

1909 

4121 

248 i) ' 

1297 ! 

45104.22 1 2 .) 


Eine zweckdienliche und erwünschte Aenderung der Gebührenordnung ist 
darin herbeigeführt worden, dass der tägliche Gebührensatz für die Inanspruch¬ 
nahme eines Anstaltssachverständigen bei auswärtigen Geschäften von 30 M. auf 
20 M. ermässigt worden ist. Weiterhin ist durch den Erlass des Herrn Ministers 
der pp. Medizinalangelegenheiten vom 26. Februar 1904 M.-No. 10202 die Inan¬ 
spruchnahme für arme, insbesondere ländliche Gemeinden, denen eine sachver¬ 
ständige Beratung fehlt, dahin erleichtert, dass auf Antrag Stundung oder 
Ermässigung der Gebühren und in besonderen Fällen auch eine unentgeltliche 
Mitwirkung der Anstalt eintreten kann. 

Auftrags- und Besichtigungsreisen wurden ausgeführt nach: 

Dresden, Düsseldorf, Elsterwerda, Goldberg i. Schl., Görbersdorf, Görlitz, 
Hadmersleben, Hanau, Lissa i. Pr., Luckenwalde, Lüneburg, Merseburg, Zeh- 
denick, Buckow bei Müncheberg, Anklam, Oranienburg, Witten, Wilhelmsburg bei 
Hamburg, Dortmund, Essen, Höchst a. Main, Göttingen, Remscheid, Helmsdorf 
bei Hettstedt, Stendal, Griebnitzsee, Sputendorf, Seligenstadt, Höchst a. Main, 
Frankfurt a. Main, Rathenow, Loebejün bei Halle, Inowrazlaw, Lichtenrade, 
Grabowsee, Slawentzitz, Beuthen Ob.-Schl., Chorzow bei Königshütte, Zabrze, 
Landeck, Schmiedeberg, Schreiberhau, Flinsberg, Gross-Schweidnitz bei Löbau, 
Dobritz bei Dresden, Jüterbog, Unna, Gnesen, Kiel, Sorau N.-L., Solingen, 
Brandenburg a. Havel, Kolberg; ausserdem wurden die Kreise der Rheinprovinz 
Altenkirchen, Wetzlar, Adenau, Malmedy, Euskirchen, Siegburg, Wipperfürth, 
Trier-Land bereist. 

Ueber die wissenschaftlichen Arbeiten der Anstalt ist folgendes 
zu berichten: 

In der chemischen Abteilung wurden u. a. weitere Untersuchungen über 
die Einwirkung des Ozons auf Abwässer angestellt, und das Verhalten von Ger- 


1) Die Verminderung der Aufträge ist nur eine scheinbare und erklärt sich 
daraus, dass neuerdings verschiedene Einzelaufträge von Eisenbahndirektionen etc. 
in einem Auftrag zusammengefasst werden. 

2) Der Anstaltsetat für 1903 sah eine Einnahme von 45000 M. bei einer Ge¬ 
samtausgabe von 82060 M. vor. Im Etat für 1904 ist bei gleichem Voranschlag 
der Einnahme der Ausgabebedarf mit 107220 M. eingesetzt worden; es stehen 
somit im laufenden Etatsjahr 25160 M. für die allgemeinen Aufgaben und die ge¬ 
bührenfreie Tätigkeit der Anstalt mehr zur Verfügung. 


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4 


Jahresbericht d. Kgl. Versuchs- u. Prüfungsanstalt f. Wasserversorgung etc. lii7 

bereiabwässern gegenüber verschiedenen Reinigungsarten studiert, ln Verfolg der 
systematischen Prüfung neuerer Methoden zur Reinigung von Kesselspeisewasser 
wurden Gesichtspunkte gewonnen, welche für die Begutachtung im einzelnen 
Falle der Praxis sich als brauchbar erwiesen. Bestimmte in der neueren Literatur 
angegebene Analysenmethoden, namentlich die Bestimmung von Eisen und von 
Nitraten betreffend, wurden einer vergleichenden Prüfung mit den in der Anstalt 
üblichen unterzogen. Weitere Versuche betrafen die Verteilung und Reinigung 
von Abwässern und den Abbau reiner Substanzen (Harnstoff, Zucker etc.) in 
Tropfkörpern, sowie das Studium der Vorgänge im Faul raum. 

Die Arbeiten der biologischen Abteilung behielten im wesentlichen 
dasselbe Gepräge wie in den vorhergehenden Jahren. Die zu bewältigenden Auf¬ 
gaben waren umfassender, aber auch die zur Verfügung stehenden Hilfsmittel an 
Apparaten u. s. w. reichlicher. Bei zahlreichen Untersuchungen zeigte sich immer 
wieder der Nutzen der Anwendung der biologischen Analyse und die Ueberein- 
stimmung ihrer Ergebnisse mit denen der chemischen und bakteriologischen 
Prüfung. In einem Falle konnte bereits durch die biologische Untersuchung allein 
der Nachweis des Zutrittes von Flusswasser zu dem eine Trinkwasserleitung 
speisenden Grundwasser erbracht werden. 

Zu biologischen Zwecken in Verbindung mit chemischen Flusswasserunter¬ 
suchungen wurde im Berichtsjahre die Oberhavel von den Mecklenburgischen 
Seeen abwärts befahren. Hierbei wurde neben der Mikroflora und Mikrofauna (der 
freischwebenden und der festsitzenden) auch die gröbere Tier- und Pflanzenwelt 
eingehend studiert und Gelegenheit genommen, neu hergestellte Entnahmevor¬ 
richtungen für Untersuchungsmaterial aller Art zu erproben. Die Havelbefahrung 
soll im Etatsjahr 1904 fortgesetzt werden. Auch bei anderen auftragsgemäss aus¬ 
geführten Flussuntersuchungen wurden Fauna und Flora der einzelnen Flüsse 
bestimmt und die Organismen nach ihrem Vorkommen im reinen oder ver¬ 
schmutzten Wasser sowie nach ihren Lebensgemeinschaften in einem Zettelkatalog 
zusammengetragen. Auch der Flussschlamm und seine Bewohner waren Gegen¬ 
stand eingehender Untersuchungen. So wurde eine Reihe von Grundlagen und 
Beiträgen zu einer vergleichenden Beschreibung der Eigenart der einzelnen Flüsse 
nach ihrer biologischen Gesamtbeschaffenheit gewonnen. 

Die hygien isch-bakteriologische Abteilung bestrebte sich, die für 
die Probeentnahme und Verarbeitung der Proben ausserhalb des Laboratoriums 
Verwendung findenden Apparate in möglichst zweckmässige und praktische Form 
zu bringen, die Kulturensammlung zu vermehren und das Instrumentarium des 
Laboratoriums zu vervollkommnen. Einen grossen Teil der Arbeitskraft nahm die 
dauernde bakteriologische Kontrolle der Wilmersdorfer biologischen Versuchsanlage 
auf der Hauptpumpstation in Charlottenburg in Anspruch, da hierbei nicht nur die 
allgemein üblichen Methoden der bakteriologischen Prüfung angewandt wurden, 
sondern auch die neuesten, namentlich die von englischer Seite vorgeschlagenen 
Untersuchungsarten Berücksichtigung erfuhren. Die Abteilung richtete ferner ihr 
Augenmerk auf die zahlreichen jüngst empfohlenen Verfahren zum Nachweis von 
Typhusbazillen im Wasser und leitete insbesondere in der letzten Zeit systematische 
Untersuchungen darüber in die Wege, ob sich mittels des neuen Iloth-Ficker- 
Hoffmann’schen Anreicherungsverfahrens Typhusbazillen in den Abflüssen bio- 


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168 Jahresbericht d. Kgl. Versuchs- u. Prüfungsanstalt f. Wasserversorgung etc. 


logischer Tropfkörper gelegentlich nachweisen lassen. Die reduzierenden Eigen¬ 
schaften der Bakterien und die Verwertbarkeit dieser Eigenschaft zur Aufstellung 
eines Indikators für einen genügenden Grad der Abwasserreinigung beschäftigten 
ausserdem die Abteilung. Ausser bakteriologischen Arbeiten im engeren Sinne 
wurden auch tierische Parasiten, so z. B. das Ankylostomum duodenale, in den 
Kreis der Untersuchungen einbezogen. 

Die wassertechnische Abteilung hatte, wie schon erwähnt, eine grosse 
Anzahl von Projekten zu prüfen, unterzog ausserdem u. a. auf Veranlassung des 
Regierungspräsidenten in Trier die dortsoits aufgestellten „Allgemeinen Vorschriften 
über den Bau, den Betrieb und die Unterhaltung der dem öffentlichen Gebrauch 
dienenden Wasserversorgungsanstalten im Regierungsbezirk Trier“ einer gutacht¬ 
lichen Bearbeitung, beteiligte sich an den Begehungen des Ruhrllusses und den im 
Anschluss an dieselben zu erledigenden fortlaufenden Arbeiten. Bei ihren Arbeiten 
und der umfassenden Prüfungstätigkeit ist stets das Augenmerk darauf gerichtet 
gewesen, allgemeine Gesichtspunkte und Grundsätze für die Behandlung der in der 
Wasserversorgungstechnik noch strittigen Punkte zu gewinnen. Hinsichtlich der 
im Aufträge der Provinzialverwaltung der Rheinprovinz bearbeiteten Projekte sind 
eine Reihe solcher Gesichtspunkte vereinbart, welche für die Behandlung als Richt¬ 
schnur dienen. 

Die Bücherei hat durch beständiges Wachstum nicht nur an Bändezahl 
erheblich zugenommen, sondern vor allem an Vollständigkeit und innerem Wert 
auf den hauptsächlich in Betracht kommenden Gebieten der Wasserversorgung 
und Abwässerbeseitigung wesentlich gewonnen. Neben allen neuen wichtigen 
Erscheinungen der Literatur des In- und Auslandes ist bei Gelegenheit und im 
Rahmen der verfügbaren Mittel auch zur Erwerbung hervorragender älterer Werke 
geschritten worden. Die Zahl der regelmässig gehaltenen Zeitschriften ist gegen 
früher erheblich vermehrt. Die im vorigen Jahresbericht geschilderte innere Ord¬ 
nung der Bücherei und die Art der Verwertung der neuesten Literatur hat sich 
als zweckmässig erwiesen. 

Um die Mitte des Berichtsjahres wurde das zweite lieft der „Mitteilungen 
der Königlichen Prüfungsanstalt für Wasserversorgung und Ab- 
wässerbeseitigung u herausgegeben, welches folgende Arbeiten enthält: 

1. lieber die nitrifizierenden Mikroorganismen der Filterkörper biologischer 
Abwässerreinigungsanlagen. Von Dr. Schultz-Schultzenstein. 

2. Beiträge zur biologischen Wasserbeurteilung 

a) Trinkwasseruntersuchung von Privatdozent Dr. Kolkwitz, 

b) Flussschlamm-Untersuchungen. Von Prof. Dr. Marsson. 

3. L eber Bau und Leben des Abwasserpilzes Leptomitus laeteus. Von Pi'ivat- 
dozent Dr. Kolkwitz. 

4. Beitrag zur mechanischen Reinigung von Kanalwasser. Bemerkungen zur 
Kanalisation von Düsseldorf. Von Beigeordneten Geusen (Düsseldorf) und 
Dr. Loock (Düsseldorf). 

5. Gutachten der Kgl. Prüfungsanstalt für Wasserversorgung pp., betreffend 
das Projekt der Wasserversorgung der Stadt Magdeburg aus dem Fiener 
Bruch. Berichterstatter Prof. Dr. Carl Günther undlngenieur 0. Smreker. 


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Jahresbericht d. Kgl. Versuchs- u. Prül’ungsanstalt f. Wasserversorgung etc. 169 

6. Versuche über die Reinigung der Abwässer von Tempelhof bei Berlin durch 
das biologische Verfahren. Von Dr. K. Thumm und Dr. A. Pritzkow. 

7. Weitere Versuche über die Reinigung des Charlottenburger Abwassers auf 
der Pumpstation Westend durch das biologische Verfahren. Von Dr. Curt 
Zahn. 

Das 3. Heft, das die Ergebnisse einer von dem Mitgliede der Anstalt Dr. 
Thumm und dem Stadtbaurat Bredtschneider in Charlottenburg unter¬ 
nommenen Reise nach England zum Studium der dort üblichen biologischen Ab¬ 
wasserreinigungsverfahren behandelt, konnte im Manuskript fertiggestellt und in 
Druck gegeben werden. Ein viertes Heft befindet sich in Vorbereitung. Eine in 
der Anstalt entstandene Abhandlung des Stabsarztes Dr. Kühnemann über die 
Verwendbarkeit verschiedener Rohrmaterialicn für Hauswasserleitungen mit be¬ 
sonderer Berücksichtigung der Bleiröhren wurde Ende März d. .1. in der Viertel¬ 
jahrsschrift für gerichtliche Medizin 3. Folge XXVII. 2. veröffentlicht. 

Die in Gemeinschaft mit dem Verein für Wasserversorgung in AngrilT 
genommenen Arbeiten, für welche derselbe wiederum die Mittel in dankenswerter 
Weise zur Verfügung stellte, wurden fortgeführt. So fanden Begehungen der Ruhr 
in der Zeit vom 23. bis 26. Juli und vom 30. November bis 4. Dezember v. .1. 
statt. Die hierbei gewonnenen Ergebnisse, sowie die von den örtlichen Stationen 
eingesandten Untersuchungs- und Beobachtungsergebnisse wurden bearbeitet und 
systematisch zusammengestellt. Das Bestreben der Anstalt ist darauf gerichtet, 
möglichst bald einen, wenn auch vorläufigen Abschluss dieser umfangreichen und 
wichtigen Arbeiten zu erreichen und den beteiligten Kreisen die tatsächlichen Er¬ 
gebnisse bekannt zu geben. 

Das 1902 begonnene praktische Studium der Talsperren und Rieselwiesen, 
namentlich der Anlagen in Remscheid, wurde durch wiederholte, auf einige 
Wochen ausgedehnte Untersuchungen' (vom 14. bis 30. September, 25. November 
bis 6. Dezember v. J. und vom 10. bis 20. März 1904) nach physikalischer, 
chemischer, bakteriologischer und biologischer Richtung wesentlich gefördert. 

In Verfolg der systematischen Untersuchung und Zusammenstellung der mit 
künstlichen biologischen Verfahren arbeitenden Kläranlagen liess die Anstalt 19 
grösstenteils in Schlesien und Sachsen belegene Anlagen hinsichtlich ihrer Bauart 
und Leistungsfähigkeit an Ort und Stelle prüfen. Weitere Bereisungen sind für 
die nächste Zeit in Aussicht genommen. 

Die bei der stattgehabten Umfrage seitens der Mitglieder des Vereins ge¬ 
stellten Fragen wurden, soweit dies nach den seitherigen Erfahrungen und 
Literaturstudien möglich war, beantwortet. 

Am 28. August v. J. begann die Anstalt mit der dauernden Kontrolle über 
die auf der Hauptstation Charlottenburg von der Gemeinde Wilmersdorf erbaute 
biologische Versuchsanlage, nachdem die Umgestaltung eines seitens des Char¬ 
lottenburger Tiefbauamtes zur Verfügung gestellten Zimmers im Verwaltungs¬ 
gebäude der Pumpstation zu einem chemischen, biologischen und bakteriologischen 
Laboratorium durchgeführt war. Der Betrieb erfuhr Anfang Dezember eine Unter¬ 
brechung durch den Umbau der Vorreinigungsanlage, deren Aenderung nach den 
inzwischen gesammelten Erfahrungen wünschenswert erschien und mit dem er¬ 
warteten Erfolge durchgeführt ist. Es w'urden gleichzeitig Vorkehrungen getrollen, 


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170 Jahresbericht d. Kgl. Versuchs- u. Prüfungsanstalt f. Wasserversorgung etc. 

um die der Kälte besonders ausgesetzten Teile der Rohrleitungen durch Kork¬ 
bedeckung vor dem Einfrieren zn schützen. Die Kontrolle der Anlage wurde durch 
beständige Ueberwachung des Betriebes sowie regelmässige, zweimal in der Woche 
stattfindendc Probeentnahme ausgeübt. Die Zahl der bisher untersuchten Proben 
beträgt 707. Die chemische Untersuchung fand nach den gebräuchlichen Methoden 
statt. Die Arbeiten der bakteriologischen Abteilung sind bereits oben erwähnt. 
Auch bezüglich der Mikrofauna und Mikroilora in den biologische^ Körpern und 
den Abflüssen wird eine regelmässige Beobachtung ausgeführt. 

Auf dem Gelände der Hauptpumpstation Charlottenburg werden neben der 
Wilmersdorfer Versuchsanlage zwei weitere Versuchsanlagen errichtet. Die Anstalt 
wird somit demnächst Gelegenheit haben, vergleichende Studien über die Wirk¬ 
samkeit der verschiedenen Formen des biologischen Reinigungsverfahrens anzu¬ 
stellen, sobald die jetzt im Bau befindlichen Anlagen der Allgemeinen Städte- 
reinigungs-Gesellschaft zu Wiesbaden, bestehend aus einer Vorreinigungsanlage, 
je einem primären und sekundären Füllkörper, und der Firma David Grove, be¬ 
stehend aus einem primären und sekundären Tropfkörper nach Dunbar, betriebs¬ 
fertig hergestellt sind. 

Von dem regen Interesse, mit welchem diese Versuche auf der Hauptpump¬ 
station Charlottenburg verfolgt werden, legt die sich auf ca. 90 Personen be¬ 
laufende Besucherzahl Zeugnis ab. 

Ein neuer wichtiger Wirkungskreis ist der Anstalt durch die Abhaltung 
von Unterweisungskursen eröffnet worden. Der erste derartige Kursus fand 
statt im Aufträge der Herren Minister der öffentlichen Arbeiten und für Handel 
und Gewerbe für Baubeamte und Gewerbeaufsichtsbeamte vom 20. April bis 
2. Mai 1903, der zweite im Aufträge des Herrn Ministers für Handel und Gewerbe 
für Gewerbeaafsichtsbeamte vom 3. bis 13. November v. Js. und der dritte auf 
Veranlassung des Herrn Ministers für Landwirtschaft, Domänen und Forsten für 
Meliorationsbaubeamte vom 22. bis 27. Februar d. Js. Die Unterweisung erstreckte 
sich auf folgende Vortragsthemata: 

Entwickelung, Aufgaben und Ziele der Anstalt für Wasserversorgung 
und Abwässerbeseitigung. Wichtige in Gesetzen und Erlassen niedergelegte 
gesundheitspolizeiliche Bestimmungen auf dem Gebiete der Wasserversorgung 
und Abwässerbeseitigung. 

Bedeutung der Wasserversorgung und Abwässerbeseitigung für die 
öffentliche Gesundheitspflege. 

Grundzüge für die Projektierung, Ausführung, Prüfung und Begutachtung 
von Wasserversorgungs- und Kanalisationsanlagen. 

Stand der Abwässerbeseitigung mit besonderer Berücksichtigung des 
biologischen Verfahrens. 

Die Beseitigung der festen Abfallstoffe (Hausmüll, Klärrückstände, 
Tierkadaver u. s. w.). 

Grundzüge der biologischen Beurteilung von Gewässern 'mit besonderer 
Berücksichtigung der Verunreinigung durch gewerbliche Abwässer. Unter¬ 
suchungsapparate. Demonstration mikroskopischer und makroskopischer 
Objekte. 


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Jahresbericht d. Kgl. Versuchs- u. Prüfungsanstalt f. Wasserversorgung etc. 171 

Grundzüge der bakteriologischen Methodik mit besonderer Rücksicht¬ 
nahme auf die Untersuchung von Trinkwasser und Abwässern. 

Grundzüge der chemischen Untersuchung von Trinkwasser und Abwässern. 

Beziehung der Industrieabwässer zu den Fischgewässern nach makro¬ 
skopischer Beurteilung. 

Ueber die Personalien ist folgendes zu berichten: 

Ausser dem Anstaltsleiter und Anstaltsvorsteher gehörten der Anstalt am 
Schlüsse des Etatsjahres an 

4 etatsmässige wissenschaftliche Mitglieder, 

7 ausseretatsmässige wissenschaftliche Mitglieder, 

3 ständige wissenschaftliche Hilfsarbeiter, 

2 freiwillige wissenschaftliche Hilfsarbeiter, 

3 wissenschaftliche Mitarbeiter. 

Das wissenschaftliche Personal umfasst somit 21 Personen, darunter ihrem 
Berufe nach 

7 Mediziner (mit Einschluss von 2 freiwilligen Hilfsarbeitern), 

8 Chemiker, 

2 Botaniker, 

1 Zoologe, 

3 gesundheitstechnische Ingenieure. 

Der Vorsteher der Anstalt, Professor Dr. Carl Günther, wurde durch Aller¬ 
höchste Kabinettsordre vom 28. August v. .1. zum Geheimen Medizinalrat ernannt. 

Dem wissenschaftlichen Mitgliede Dr. phil. Kolkwitz ist durch Patent vom 
24. Dezember 1903 vom Herrn Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal¬ 
angelegenheiten das Prädikat „Professor“ beigelegt worden. 

Durch Allerhöchsten Erlass vom 13. Februar d. Js. wurde dem wissenschaft¬ 
lichen Mitarbeiter Ingenieur Smreker der Rote Adlerorden IV. Klasse verliehen. 

Die bisher remuneratorisch beschäftigten wissenschaftlichen Mitglieder Dr. 
Thumm und Dr. Thiesing rückten in 2 der durch den Staatshaushaltsetat 1903 
geschaffenen 4 etatsmässigon Stellen ein; die 2 verbleibenden Stellen wurden mit 
dem Regierungsbaumeister Reichle und dem Privatdozenten Dr. med. Spitta 
zunächst kommissarisch und durch Erlass des Herrn Ministers der pp. Medizinal¬ 
angelegenheiten vom 29. September 1903 — M. No. 13083 U. I. — vom 1. Juli 
v. Js. ab endgültig besetzt. 

Dr. Pritzkow, Dr. Zahn, Prof. Dr. Marsson und Dr. Schreiber wurden 
zu wissenschaftlichen Mitgliedern ernannt. 

Die erhebliche Steigerung der Arbeiten auf dem wassertechnischen Gebiete 
machte zunächst auf die Dauer von 2 Monaten die Heranziehung einer Hilfskraft, 
und am 1. September v. Js. die Errichtung der Stelle eines 2. technischen Mit¬ 
gliedes notwendig. Dieselbe wurde dem Grossherzoglich Badischen Regierungs¬ 
baumeister Imhoff übertragen, welcher somit aus seiner Stellung bei der Ober¬ 
direktion des Wasser- und Strassenbaues zu Karlsruhe ausschied. 

Für den wegen Erkrankung ausgeschiedenen Bibliothekar Dr. med. Beitzke 
übernahm in der Zeit vom 21. April bis 30. September 1903 der nunmehrige Kreis¬ 
assistenzarzt Dr. med. Kraemer in Saarbrücken die Geschäfte der Bücherei und 


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172 Jahresbericht d. Kgl. Versuchs- u. Prüfungsanstalt f. Wasserversorgung etc. 

Auskunftei. Am 1. Oktober 1903 wurde die Stelle dem neu eintretenden wissen¬ 
schaftlichen Mitglied Generalarzt der Marine a. D. Dr. med. Gl obig übertragen. 

Durch den ständigen Aufenthalt des wissenschaftlichen Hilfsarbeiters Dr. 
Weid ert auf der Versuchsanlage zu Charlottenburg wurde die Einstellung einer 
weiteren analytischen Hilfskraft notwendig, welche in der Person des Dr. phil. 
lpsen am 3. Juli v. Js. in den Anstaltsverband eintrat. 

Als freiwillige Hilfsarbeiter wurden 2 Aerzte beschäftigt. 

Auf Ersuchen des Herrn Oberbürgermeisters Z weigert in Essen wurde dem 
Regierungsbaumeister Wattenberg, welcher im Aufträge der Regierung und des 
„Vereins zur Aufstellung eines generellen Entwässerungsprojektes für das 
Emschertal“ und mit Unterstützung des „Vereins für Wasserversorgung und Ab- 
wässerbeseitigung- 4 eine Studienreise nach England und Amerika unternahm, Ge¬ 
legenheit gegeben, eine Uebersicht über die einschlägige englische und amerika¬ 
nische Literatur in der Anstalt persönlich zu gewinnen. 

Auf Antrag des Auswärtigen Amtes genehmigte der Vorgesetzte Herr Minister, 
dass der Kaiserliche Regierungsarzt von Togo Dr. med. Krüger etwa 14 Tage in 
den Verfahren der Anstalt bei der Beurteilung von Wasser, besonders von Kessel¬ 
speisewasser unterwiesen wurde. Der Herr Minister verfügte ferner die informa¬ 
torische Beschäftigung eines Kreisarztes, welcher vom 1. bis 27. Februar d. Js. in 
der Anstalt verweilte. 

Die durch den Etat geschallene Stelle eines Bureaudiätars wurde dem Eisen¬ 
bahnpraktikanten Eisonberg von der Königlichen Eisenbahndirektion in Berlin 
übertragen; auch wurde eine weitere Schreibhilfe eingestellt. 

Wie früher, so hatte auch in diesem Jahre die Anstalt sich eines regen Be¬ 
suches zu erfreuen: sie hatte die Ehre, u. a. Landtagsabgeordnete, Mitglieder von 
Ministerien, Bürgermeister, Stadtverordnete, Militär- und Kreisärzte in ihren Räumen 
zu empfangen. 


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III. Besprechungen, Referate, Notizen. 


Dr. med. Carl Kaiserling. Lehrbuch der Mikrophotographie. Berlin 
1903. Verlag von Gust. Schmidt. 4 Mark. 

Der Verfasser des „Praktikum der wissenschaftlichen Photographie“ hat in 
dem vorliegenden Buch eine Neubearbeitung des VI. Kapitels seines Praktikums 
„die Vergrösserung und Mikrophotographie“ herausgegeben. Er bespricht zunächst 
in einem allgemeinen Teil die theoretischen Grundlagen der mikrophotographischen 
Technik, um dann in einem speziellen Teil auf die Ausführung der Aufnahmen 
einzugehen, speziell auch auf die Aufnahme mit Hülfe des Mikrospektroskops, die 
Verwendung des polarisierten Lichtes, die Anfertigung von Stereoskopbildern mit 
dem Mikroskop und die Projektion mikroskopischer Objekte. Das dritte Kapitel ist 
der Technik gewidmet. 

Die vorzügliche, auf alles eingehende, dabei aber kurz gefasste Behandlung 
des Stoffes beweist die reiche Erfahrung des Verfassers. Das Buch ist namentlich 
auch aus dem Bestreben bervorgegangen, einen Führer zu schaffen, aus dem man 
sich über die jüngsten Neuerungen der Technik Rats erholen kann. Es darf ihm 
die Voraussage gestellt werden, dass es für jeden, der sich mit wissenschaftlicher 
Photographie, insbesondere der Mikrophotographie beschäftigt, bald ebenso wie 
das Praktikum ein unentbehrlicher Ratgeber sein wird. 

Arth. Schulz - Berlin. 


Sammlung ärztlicher Obergutachten. Aus den „Amtlichen Nachrichten 
des Reichs-Versicherungsamts“ 1897—1902. 1. Band der Buchausgabe. Berlin 
1903. - Verlag von A. Asher u. Cie. Preis 4 Mark. 

Um eine weitere Nutzbarmachung der ärztlichen Obergutachten, die dem 
Reichs-Versicherungsamt auf sein Ersuchen in Unfallversicherungssachen seit 
Jahren fortgesetzt erstattet werden, zu ermöglichen, sind 60 solcher Obergutachten, 
die seit dom Jahre 1897 einzeln im nichtamtlichen Teile der Amtlichen Nachrichten 
des Reichsversicherungsamtes veröffentlicht wurden, in der vorliegenden Sammlung 
vereinigt. Es wird in den Gutachten dem ärztlichen Sachverständigen zur Beur¬ 
teilung der traumatischen Entstehung verschiedenartigster Leiden ein wertvolles 
Material an die Hand gegeben, in welchen er die Erfahrungen und Ansichten her¬ 
vorragender Aerzte und Spezialisten niedergelegt findet. Die Benutzung der Gut¬ 
achten wird durch ein sorgfältig angelegtes Sachregister, ein Verzeichnis der 
einzelnen Veröffentlichungen, eine Liste der Verfasser und eine Uebersicht über 
die in dem Gutachten angeführten Schriftwerke erleichtert. 

Arth. Schulz - Berlin. 


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174 


Besprechungen, Referate, Notizen. 


Prof. Dr. J. Kratter. Erfahrungen über einige wichtige Gifte und deren 

Nachweis. Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik. 14. Bd. 

3. u. 4. lieft. 

In einer Reihe von Aufsätzen behandelt Kratter in fesselnder, durch Ein¬ 
fügung eigener Beispiele aus seiner reichen gerichtsärztlichen Erfahrung belebter 
Darstellung die wichtigsten Vergiftungen und ihren Nachweis unter Berücksichti¬ 
gung des neuesten Standes der gerichtlichen Giftlehre. Wenn die Ausführungen 
auch nicht, wie Verfasser selbst hervorhebt, erschöpfende Abhandlungen darstellen 
und in der Hauptsache wohl für Leser aus richterlichen Kreisen bestimmt sind, 
so verdienen sie in hohem Masse doch auch die Beachtung der gerichtsärztlichen 
Kreise, ln der vorliegenden Serie werden von giftigen KohlenstolTverbindungen 
Kohlenoxyd, Blausäure, Alkohol, Essigsäure, Chloroform, Karbolsäure und deren 
Abkömmlinge besprochen. Der Gegenstand und der Name des Autors rechtfertigen 
es, wenn auf einzelne Punkte der Ausführungen hier eingegangen wird. 

Für die Differentialdiagnose zwischen Kohlendunst.- und Leuchtgasvergiftung 
stellt Verf. quantitative und qualitative Unterschiede auf. Sind die Leichenbefunde 
in typischer Klarheit an allen Organen ausgeprägt, sind die Totenflecke ausge¬ 
breitet und auffallend hellrot, ist das Blut durchweg kirschrot und vollkommen 
flüssig, besteht starke Blutüberfüllung der Hirnhäute und des Gehirns sowie der 
Lungen, so handelt es sich um eine Kohlenoxydvergiftung, um eine Leuchtgas¬ 
oder Wassergasvergiftung. Es liegt in diesem Falle nicht eine Erstickung infolge 
Sauerstoffmangels und Ueberladung des Blutes mit Kohlenoxyd vor, eine Theorie, 
die noch vielfach vertreten wird, sondern eine zentrale Atmungslähmung, eine in 
den Tod übergehende Kohlenoxydnarkose. Findet sich dagegen in der Leiche 
neben hellrotem Kohlenoxydblut noch viel ausgesprochen dunkles Blut vor, dunkel 
gefärbte Gerinnsel, so ist eine Kohlendunstvergiftung anzunehmen, die unzweifel¬ 
haft ist, wenn Russteile auf den Schleimhäuten der Luftwege vorhanden sind. Bei 
der Kohlendunstvergiftung, von der Verf. die Koksgasvergiftung ausnimmt, die in 
ihren Erscheinungen der reinen Kohlenoxydgasvergiftung ähnelt, wirkt neben dem 
toxischen Komponenten, dem Kohlenoxyd, noch ein irrespirables Gas, die Kohlen¬ 
säure, mit; sie ist also keine reine Vergiftung, sondern eine Kombination von Er¬ 
stickung und Vergiftung. Der Tod durch Kohlendunsteinatmung ist als eine Er¬ 
stickung durch Kohlensäureanreicherung und Sauerstoffverdrängung anzusehen, 
dem Kohlenoxyd kommt in der Regel eine geringere Bedeutung zu als der Kohlen¬ 
säure. 

Der Auffassung, dass bei der Blausäurevergiftung die Totenflecke fast immer 
hellrot angetrolfen werden, ist bereits Richter in einer Arbeit, die vor 3 Jahren 
in diescrZeitschrift erschienen ist, entgegengetreten. Richter hatte den vollgültigen 
Beweis erbracht, dass der Befund hellroter Totenflecke durch die Praxis nicht be¬ 
stätigt wird. Verf. tritt dieser Auffassung bei und führt für ihre Richtigkeit 
gleichfalls Beispiele an. Den äusseren Momenten, die nach Richter die hellere 
Farbe der Senkungsflecke in einzelnen Fällen verursachen, glaubt er innere — 
Anämie und Hydrämie — hinzufügen zu können. 

Die Verätzung der Schleimhaut bei aknter Vergiftung durch stärkere Kon¬ 
zentrationen des Alkohols bleibt bei Menschen, welche gewohnheitsmässig starken 
Alkohol gemessen, aus. Daher erklärt sich, dass die Leichenbefunde beim Alkohol- 


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Besprechungen, Referate, Notizen. 


175 


tod in Bezug auf die Beschaffenheit des Magens nicht einheitlich sind. Yerf. teilt 
einen instruktiven Fall von Verätzung der Schleimhaut der Verdauungswege von 
den Lippen bis über den Zwölffingerdarm hinaus bei einem Selbstmorde durch 
Brennspiritus mit. 

Die Beobachtungen über Vergiftungen durch Essigsäure (Essigessenz) haben 
sich in jüngster Zeit in recht bedenklichem Masse gemehrt. In Oesterreich ist 
deshalb 1901 verfügt worden, dass Essigsäurelösungen mit einem Gehalt von mehr 
als 20 pCt. denselben Verkehrsbeschränkungen unterworfen seien, wie andere 
«gesundheitsgefährliche chemische Präparate“. Die Essigsäure ist nicht nur ein 
ausgesprochenes Aetzgift, sondern wegen ihrer grossen Flüchtigkeit irritiert sie wie 
Ammoniak und Blausäure auch die Luftwege in hohem Masse und ruft eine Ent¬ 
zündung der Atmungsorgane hervor. 

Von Interesse ist die Angabe, dass es Verf. gelungen ist, Chloroform in 
faulendem Blute von an Chloroformvergiftung Gestorbenen mittels der höchst 
empfindlichen Isonitrilreaktion noch nach mehr als anderthalb.fahren nachzuweisen. 

Bei der Vergiftung durch Karbolsäure und ihre Abkömmlinge (Lysol etc.) 
gelangt endlich ein Fall von Bazillolvergiftung zur Besprechung, bei der wie bei 
der Karbolsäurevergiftung eine doppelte Wirkung hervortrat: Die ätzende Wirkung 
auf die Schleimhaut und die Wirkung auf das Zentralnervensystem, die sich in 
einer rasch einsetzenden und während des ganzen mit dem Tode endenden Ver¬ 
laufes andauernden Bewusstlosigkeit. Lähmung der gesamten motorischen Sphäre, 
Störungen des Atmungsmechanismus, der Herztätigkeit und einem Abfall der 
Körpertemperatur kundgab. Arth. Schulz - Berlin. 

Ueber plötzlichen Tod durch llerziähmung. Von Dr. Emst Ehrnrooth. 

Berlin 1904. Aug. Hirschwald. 94 Ss. 

Das in der Literatur schon mehrfach behandelte Kapitel über den plötzlichen 
Tod hat durch Ehrnrooth unter Berücksichtigung des jetzigen Standes der 
Forschung über das Herz und seine Tätigkeit in der vorliegenden Schrift, die aus 
dem pathologischen Institut zu Helsingfors und der Unterrichtsanstalt für Staats¬ 
arzneikunde zu Berlin hervorgegangen ist, eine umfassendeNeubearbeitung erfahren. 
Mit grossem Fleiss ist alles zusammengetragen worden, was dazu dienen kann, 
die Frage nach den Ursachen des plötzlichen Todes durch Herzlähmung der 
Lösung näher zu bringen. Allerdings kommt Verf. zu dem Ergebnis, dass sicli 
die plötzliche Herzlähmung aus sicheren anatomischen Merkmalen nicht erkennen 
lässt, sondern fast mehr durch die negativen Leichenbefunde und auf Grund der 
Kenntnis der Umstände, unter welchen der Tod eingetreten ist. Hierin wird sich 
auch, wie es scheint, vor der Hand wenig ändern. .Jedenfalls aber enthält die 
Arbeit eine so grosse Fülle von Material und sind die Anregungen und Fingerzeige 
dafür, wie die vorliegende Aufgabe gefördert werden kann, so zahlreich, dass sie 
schon deshalb die volle Beachtung der interessierten Kreise verdient. 

Ich kann mich hier nur darauf beschränken, einen kurzen Ueberblick über 
die Schrift zu geben. Sie beginnt mit dem plötzlichen Tode bei Arteriosklerose 
(Myokarditis), als dem wichtigsten Kapitel. Unter 21 Fällen von plötzlichem 
Herztod, die meist gerichtsärztlich seziert waren und die Verf. mikroskopisch ge- 
genau untersucht hat, befanden sieh 16 mit mehr oder weniger deutlichen arterio- 


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i7<; 


Besprechungen, Referate, Notizen. 


sklerotischen Veränderungen, ln einem Drittel der Fälle wies er eine ziemlich 
ausgesprochene Fragmentatio myocardii nach. Diese ist von keiner gerichtsärzt¬ 
lichen Bedeutung, da sie einen agonalen Vorgang darstellt, der bei den ver¬ 
schiedensten Todesursachen und auch im Herzen kräftiger gesunder Individuen 
angetroffen wird. Auffallend ist es, wie oft der plötzliche Tod infolge Herz- bezw. 
Aorta-Syphilis junge Individuen betrifft; nach einer aufgestellten Tabelle liegt der 
höchste Prozentsatz zwischen 20 und 30 Jahren. Es überwiegen bei den plötz¬ 
lichen Todesfällen dieser Art an Zahl bedeutend die Männer. Für die Beobachtung, 
dass bei spontanem Hämatoperikard der Tod fast immer rasch eintritt, während 
Stichwunden des Herzens bisweilen mit noch reichlicherem Blutaustritt in den 
Herzbeutel erst nach mehreren Stunden den Tod zur Folge haben, wird in der 
starken Blutunterlaufung, die in dem ersten Falle statthat und durch die infolge 
der Auseinanderdrängung der Muskelfasern gemäss der myogenen Theorie die 
Reizleitung im Herzen erheblich herabgesetzt wird, eine neue Erklärung bei¬ 
gebracht. In ähnlicher Weise betrachtet Verf. die Fettdurchwachsung bei Fettherz 
als ein Hindernis für die ungestörte Reizleitung innerhalb des Herzens, ohne dabei 
aber auch die Bedeutung zu verkennen, die für die verminderte Leistungsfähigkeit 
des Herzens in einer verhältnismässig schwachen Entwickelung desselben liegt. 
Die Bedeutung der chronischen Klappenfehler als Todesursache will E. keineswegs 
unterschätzen, aber es bestehen gleichzeitig fast immer auch myokarditische Pro¬ 
zesse, die im Verein mit jenen bei dem Vorhandensein irgend welcher Neben¬ 
ursachen, bei gesteigerten Anforderungen an die Herzpumpe, den plötzlichen Tod 
verursachen können. Auf die Beziehungen der chronischen adhäsiven Perikarditis 
zum plötzlichen Herztod, die Bildungsanomalieen der Aorta, die Neubildungen 
des Herzens, den „Thymustod“ und den plötzlichen Tod durch Herzlähmung 
nach Operationen und nach infektiösen Krankheiten geht Verf. ebenfalls ein. Er 
ist mit anderen Autoren geneigt, einen Teil der plötzlichen Todesfälle im Kindes¬ 
alter auf das Vorhandensein von kapillären Bronchitiden, von Drüsenschwellungen 
und Erkrankungen der Nasenhöhle und des Nasenrachenraums zu beziehen; auf 
reflektorischem Wege entstehe Laryngospasmus und mehr oder weniger starke 
Kohlensäureüberladung des Blutes. Die nächste Aufgabe der Forschung wäre es, 
auf diese Zustände ein besonderes Augenmerk zu haben. Aus dem letzten Kapitel 
..Gelegcnheitsursachen des plötzlichen Todes durch Herzlähmung“ verdient der 
Hinweis noch besondere Erwähnung, dass bei den bisher in der Literatur ver¬ 
öffentlichten Fällen sehr oft krankhafte Prozesse nicht hinreichend gewürdigt 
wurden, die bei der Entstehung des Todes von nicht zu unterschätzender Be¬ 
deutung gewesen sind. Es sind dies vor allem, ausser chronischen Nephritiden, 
Krankheiten der Lunge und des Brustfells, die häufig als Komplikation angetroffen 
werden und durch die, wie z. B. durch die flächenhafte feste Verwachsung der 
Pleurablätter — worauf auch schon von anderer Seite hingewiesen ist — eine 
erhebliche Mehrarbeit des Herzens verlangt wird. 

Da der plötzliche Herztod, wie schon erwähnt, sich durch keine sicheren 
anatomischen Merkmale erkennen lässt, so ist es, damit schliesst Verfasser, für den 
Obduzenten von der allergrössten Bedeutung, möglichst vollständige Angaben 
darüber zu bekommen, wie der Betreffende gestorben ist, und ob er etwa auch 
früher in ähnlicher Weise und mit ähnlichen Symptomen, unter denen der Tod 
eintrat, plötzlich erkrankt war. Arth. Schulz-Berlin. 


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Stempel, W. Bas Malum coxae senile als Berufskrankheit und in 
seinen Beziehungen zur sozialen Gesetzgebung. S.-A. aus der 
Deutschen Zeitschrift für Chirurgie. 

Auf Grund seiner Beobachtungen an 58 Fällen kommt S. zu dem Schluss, 
dass das Malum coxae senile eine Berufskrankheit des landwirtschaftlichen Berufes 
sei. Das Hüftgelenk ist von allon Gelenken das meist belastete, und die Land¬ 
wirtschaft nimmt bei dem Mangel an Arbeitskräften die Kinder schon in frühen 
Jahren für die schwersten Arbeiten in Anspruch. Dazu kommt, nach S., eine 
meist unzureichende Ernährung des Landvolkes (ungenügender Fleischkonsum) 
und schlechte hygienische Verhältnisse, welche die Abnutzung der Organe, be¬ 
sonders der Gelenke, noch begünstigen. In vielen Fällen waren der Erkrankung 
nachweisbar Traumen, z. B. Quetschungen der Hüfte, vorausgegangen. Der Ver¬ 
fasser bespricht dann weiter eingehend die Klinik des Leidens und die Differential- 
diagnose gegen andere Gelenkaffektionen, vor allem gegen die Arthritis deformans. 
Von grosser Bedeutung ist die Tatsache, dass bei Malum coxae senile fast in 
allen Fällen die übrigen Gelenke ganz oder nahezu ganz frei von Erkrankungen 
gefunden werden. 

Die Therapie erfordert zunächst in prophylaktischer Hinsicht möglichste 
Schonung der Hüftgelenke. Zur Korrektur fehlerhafter Gelenkstellungen sind 
Hessing’sche Stützapparate zu empfehlen. Frühzeitige Massage und Elektrisieren 
sind erforderlich. Bei der Prüfung der Beweglichkeit der Gelenke darf man 
sich durch die Mitbewegungen des Beckens nicht täuschen lassen. Hochgradige 
Beugekontraktnren sind eventuell durch blutige Operationen zu beseitigen. 

In den meisten Fällen wird man auf Arbeitsunfähigkeit erkennen müssen, 
bei doppelseitigem Bestehen des Leidens unter allen Umständen. Eine Besserung 
des Leidens bis zu einer einige Jahre anhaltenden Arbeitsfähigkeit ist ausge¬ 
schlossen, daher ist die Uebernahme der Behandlung durch die Versicherungs¬ 
anstalten nicht angängig. Wenn dem Leiden ein erwiesener Unfall zu Grunde 
liegt, so hat die Berufsgenossenschaft einzutreten; anderenfalles fällt die Ent¬ 
schädigungspflicht der Invaliditätsversicherung zu. Dem Arzte liegt es auch hier 
ob, dafür zu sorgen, dass die selbst anfänglich unscheinbaren Unfälle von den 
Verletzten rechtzeitig angemeldet werden. — Ein Literaturverzeichnis von 
141 Nummern beschliesst die lesenswerte Arbeit. Marx - Berlin. 

Stempel, "W. Fingerverletzungen und ihre gerichtsärztliche Be¬ 
urteilung. S.-A. aus der Aerztlichen Sachverständigen-Zeitung, 1903, 21. 

Nach des Verfassers Ansicht wird in der konservativen Behandlung der 
Fingerverletzungen viel zu weit gegangen. Bei komplizierten Frakturen, bei aus¬ 
gedehnter Quetschung der Weichteile, Eröffnung von Gelenken entfernt S. unter 
allen Umständen das verletzte Glied. Sorgfältige Reinigung der Hand, Oberst- 
sche Anästhesie vor der Operation und gründliche Blutstillung nach der Operation 
sind unerlässliche Bedingungen für die perfekte Heilung. — Den zu weitgehenden 
Konservatismus, allzulange Fixation der verletzten Hand macht Verfasser für die 
Entstehung der „Glanzhaut“ verantwortlich. St. warnt daher auch vor zu 
langem Fixieren und empfiehlt frühzeitige Massage. Was die gerichtsärztliche 
Beurteilung der Fingerverletzungen betrifft, so weist er darauf hin, dass das 

Vierteljahrsselirift f. ger. Med u. tfff. San.-Wosen. 3. Folge. XXVTII 1. J2 


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Besprechungen, Referate, Notizen. 


R. V. A. den Verlust einzelner Fingerglieder bei nicht qualifizierten Arbeitern 
nicht entschädigt. Umso grössere Sorgfalt muss in der Behandlung dieser Ver¬ 
letzten stattfinden. Bei der Untersuchung Fingerverletzter ist darauf zu achten, 
ob die Hände Spuren kürzlicher Arbeitstätigkeit (Schwielen, Bräunung) tragen: 
vor allem ist die Glanzhaut zu berücksichtigen. Nach Exartikulationen sind die 
Narben gewöhnlich schmerzlos und verschieblich; das Gegenteil pllegt nach Am¬ 
putationen der Fall zu sein. Zu achten ist dann auf Beweglichkeit, Kraft der 
Hand- und Armmuskulatur, auf Sensibilität des verletzten Gliedes. Bei quali¬ 
fizierten Arbeitern ist die Erwerbsunfähigkeit höher einzuschätzen als bei nicht 
qualifizierten, ebenso bei weiblichen. Der glatte Verlust des rechten Daumens ist 
mit 25pCt., der des linken Daumens mit 20 pCt., derVerlust eines Daumenglicdes 
ist mit 10—20 pCt. zu bewerten. Zeigefingerverlust gilt gleich 10—20 pCt. Der 
glatte Verlust eines der anderen Finger ist mit 10 pCt. genügend entschädigt. 
Für die Dauer eines Vierteljahres ist eine „Gewöhnungsrente“ von 10—15 pCt. 
hinzuzufügen für die meisten Fingerverletzungen, welche mit'Yerlust von ganzen 
Gliedern oder auch nur Teilen derselben verbunden waren, ln Fällen von 
Panaritien, Phlegmonen ist der Nachweis eines Betriebsunfalles nicht immer leicht 
zu führen; hier erwächst dem Arzte die Aufgabe, unter Erhebung einer genauen 
Anamnese und eines exakten Befundes vor der Operation die Eingangspforte der 
Infektion festzustellen; oft wird das Auffinden eines Schiefer- oder Steinsplitters 
oder irgend eines anderen Fremdkörpers doch noch erlauben, den Betriebsunfall 
zu erweisen» Marx - Berlin. 

Simmonds, M. Ueber bakteriologische Blutuntersuchungen an der 
Leiche. Virchows Archiv für pathologische Anatomie 175, 3. 1004. 

Die im XXV. Bande dieser Vierteljahrsschrift veröffentlichten Untersuchungen 
Canons hatten die bakteriologische Prüfung des Herzblutes von Leichen in hohem 
Masse diskreditiert. Canon wollte nachgewiesen haben, dass bald nach dem Tode 
Bakterien aus den Lungen oder Bauchorganen in das Herzblut einwandern, wo¬ 
durch die Baktorioskopie des Herzblutes natürlich zu höchst unsicheren Resultaten 
und unerlaubten Schlüssen auf eine vitale Bakteriämie führen müsste. Im Gegen¬ 
satz zu Canon ist nun Simmonds der Ansicht, dass noch 30 bis 40 Stunden 
post mortem angestellte bakteriologische Untersuchungen des Herzblutes einwands¬ 
freie Resultate geben, die durchaus einen berechtigten Schluss auf vitale bezw. 
agonale Bakteriämie zulassen. So fand Simmonds im Blute des rechten Herzens 
bei 1200 Leichcns 548 mal oder in 95 pCt. der Fälle mit einem positiven bakterio¬ 
logischen Resultat nur eineeinzige Keimart vor; 26 mal fand er 2Arten, 1 mal 3 Arten 
von Keimen. Postmortale Verunreinigungen des Herzblutes kamen innerhalb der 
erwähnten Zeitgrenzen selten vor. Die Keimarten entsprachen den infektiösen 
Prozessen, denen die betreffenden Personen erlegen waren. So sah Simmonds 
Pneumokokken 73 mal bei krupöser Pneumonie, 4 mal bei exsudativer Pleuritis, 
5 mal bei eitriger Meningitis. Staphylokokken kamen vor bei Osteomyelitis, Py- 
ämie, Septikämie, Streptokokken bei Scharlach, Diphtherie, Erysipel, Phthise, 
Phlegmone; Bacterium coli bei Perityphlitis, Erkrankungen des Digestions- 
tractus etc. Nach Simmonds hat die Herzblutuntersuchung vor der Canoirschen 
Armvenenpunktion den Vorzug, dass die Bakterien im Herzblut zahlreicher ver- 


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treten sind als im Armvenenblut; das Herzblut hat noch bis 12 Stunden p. m. 
Temperaturen bis zu 35° C. 

Die Bedeutung der Simmond’schen Arbeit für den Gerichtsarzt liegt, falls 
sich die Untersuchungen bestätigen, offen auf der Hand. Bedeutsam sind in dieser 
Beziehung5 der Simmond’schen Fälle, in denen, bei sonst negativem Obduktions¬ 
befund, erst die bakteriologische Untersuchung des Herzblutes durch den Nachweis 
von Streptokokken eine stattgehabte Septikämie offenbarte. Vor allem aber werden 
wir auch durch diese Arbeit wieder eindringlich darüber belehrt, wie notwendig 
es ist, die Sektionen so bald wie möglich nach dem Tode vorzunehmen. Bak¬ 
teriologische Untersuchungen, die später als 40 Stunden nach dem Tode vorge¬ 
nommen werden, können für die Ursache des Todes nichts mehr beweisen. 

Marx-Berlin. 


Dr. Max Herford, Ueber die histologischen Veränderungen bei der 
Kapillar-Bronchitis der Säuglinge. (Ein Beitrag zur Deutung der plötz¬ 
lichen Todesfälle im Kindesalter.) Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. 1904. 
No. 7. 

Herford hat, einer Anregung Strassmann’s folgend, in der Unterrichts¬ 
anstalt für Staatsarznei Kunde bei einer Anzahl von Säuglingssektionen, wo makro¬ 
skopisch die Diagnose diffuse und kapilläre Bronchitis gestellt war, eine histo¬ 
logische Untersuchung der Lungen vorgenomraen. Bekanntlich gibt der plötzliche 
Tod von Säuglingen nicht allzu selten Anlass zum Verdacht der beabsichtigten 
oder fahrlässigen Erstickung; es kommt zur gerichtlichen Obduktion. Man findet 
makroskopisch Veränderungen der Bronchialschleimhaut, die aber nicht so 
auffallend erscheinen, dass sie das schnelle Absterben der Kinder erklären könnten. 
Gerade in solchen Fällen sieht man nun mikroskopisch, worüber auch von 
Perrin de la Touche schon berichtet ist, die ausgedehntesten Veränderungen 
in den Bronchien, welche den schnellen tödlichen Ausgang vollauf erklären. Es 
handelt sich nach Herford vor allem um die ausgedehnte Verlegung kleiner 
Bronchiallumina, durch die „eine ganz rasch einsetzende Aufhebung des Luft¬ 
zutritts zu einer Menge von Alveolarbezirken erfolgt“. Dieser Prozess erklärt zur 
Genüge die dem Tode vorausgehende hochgradige Dyspnoe der Säuglinge. Her¬ 
ford erinnert an die Aehnlichkeit dieser Vorgänge mit der Bronchiolitis fibrosa 
obliterans, die A. Fraenkel beschrieben hat. Der Verschluss der Bronchien 
wird nach Herford’s Untersuchungen durch Schleim, abgeschilfertes Bronchial¬ 
epithel und durch Rundzellenanhäufungen in der Bronchialwand herbeigeführt. 
Die Beteiligung des Lungenparenchyms selbst ist gering, die Alveolen, die zu den 
verstopften Bronchien gehören, sind atelektatisch kollabiert; von pneumonischen 
Veränderungen war in keinem der 6 beobachteten Fälle etwas zu sehen. Dagegen 
fand sich in allen Fällen eine grosse Thymusdrüse. Herford weist indessen die 
Annahme, dass der Thymusvergrösserung die Schuld an dem plötzlichen Tode 
im Sinne Seidel’s, Paltauf’s oder Soehla’s zuzuschreiben sei, mit vollem 
Rechto, wie dem Ref. scheint, zurück. Die Luftröhre zeigte in keinem Falle die 
Zeichen stattgehabter Kompression; gegen die Kompression der Halsgefässe sprach 
das Fehlen klinischer und anatomischer Gehirnerscheinungen. Auffallende 
Schwellungen der lymphatischen Apparate wurden nicht notiert. Eine Ilyper- 

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thymisation des Blutes kann höchstens als schwächendes Moment gegenüber der 
akuten Krankheit in Frage kommen. Demnach ist die vergrösserte Thymus nur 
als Nebenbefund aufzufassen, dem ein prädisponierender Effekt für die tödliche 
Wirkung der Bronchitis natürlich nioht ganz abzustreiten sein wird. Die eigent¬ 
liche Todesursache wird in Herford’s wie in allen ähnlichen Fällen, die dem 
Gerichtsarzt gewiss nicht zu selten zu Gesicht und Beurteilung kommen, in der 
akuten ausgedehnten Kapillar-Bronchitis zu suchen sein. Die mikroskopische 
Lungenuntersuchung ist für alle derartige Fälle dringend zu verlangen. 

Marx-Berlin. 

La rassomiglianza fisica in tribunale. (Die Körperähnlichkeit vor Gericht: 
bei Gelegenheit des Kwilecka-Prozesses in Berlin.) Archivio di Psichiatria. 
Medicina legale ed Antropologia criminale. Vol. XXV — Fase. 1 — 11. Von 
Prof. Strassmann, Berlin. 

In demKwilecka-Prozess sind mehrere fürden medizinischen Sachverständigen 
wichtige Fragen aufgeworfen worden. Vor allem interessiert die Frage, ob man 
auf Grund der Aehnlichkeit in den äusseren Formen eine Entscheidung darüber 
treffen kann, dass ein fragliches Kind das rechtmässige seiner Eltern ist, oder ein 
untergeschobenes. Diese Frage ist für den medizinischen Sachverständigen voll¬ 
ständig neu, nur Taylor erzählt von einigen ähnlichen Fällen vor dem englischen 
Gerichtshof. — Yerf. war mit Gerichtsarzt Dr. Stürmer. Porträtmaler Prof. 
Vogel und Polizeiinspektor K latt, dem Direktor des Erkennungsdienstes, Mitglied 
der „Aehnlichkeitskommission“. Diese untersuchte den fraglichen Knaben, einen 
um li/ 2 J. älteren Sohn der Frau M. und ein Neugeborenes derselben Frau, diese 
selbst und ihre Schwester, sodann Graf und Gräfin, deren drei Kinder und den 
Bruder der Gräfin. 

Zwischen den beiden Knaben bestand keine äussere Aehnlichkeit, ausser 
dass sie beide braune Augen hatten. Bei der körperlichen Untersuchung fand man 
bei beiden Kryptorchismus. Der um l l /. 2 Jahre ältere war der kleinere und zeigte 
deutliche Spuren von Rhachitis, er glich seiner Mutter M., während der jüngere 
grosse Aehnlichkeit mit der gräflichen Familie zeigte. Im besonderen waren Kinn 
und Uhren ähnlich geformt, es fand sich bei allen ein Darwinscher Knoten. Da¬ 
gegen hatte dieser Knabe im Gegensatz zu den anderen Familienmitgliedern eine 
abgeplattete Nase, die von einem Fall in der Jugend herrühren sollte, und ihm 
fehlte eine Linie in der Hand, die bei den übrigen vorhanden war. 

Auch das Benehmen der beiden Knaben zeigte einen deutlichen Unterschied, 
der jedoch mehr weniger Folge der Erziehung sein dürfte. 

In der Verhandlung führte Professor Vogel aus, dass er den fraglichen 
Knaben als zur gräflichen Familie gehörig betrachte, während Polizeiinspektor 
Klatt auf die sprichwörtliche ..täuschende Aehnlichkeit“ hinwies, die auch im 
Erkennungsdienst neue Systeme (Messung, Fingerabdrücke) als notwendig erwiesen 
habe. Gerichtsarzt Dr. Stürmer führte aus, dass kein sicherer Beweis nach 
der einen oder anderen Richtung vorliegt: dem schloss sich auch Verf. an, 
indem er weiter hervorhob, dass für eine derartige Beurteilung noch keine Er¬ 
fahrungen aus früheren ähnlichen Fällen vorlägen. Man müsse erwägen, ob es 
überhaupt eine wahre Familienähnlichkeit gebe und ob zur Entscheidung dieser 


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Besprechungen, Referate, Notizen. 


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Frage das Auge des Malers oder der Mediziner kompetenter sei. Verf. erinnert 
daran, dass Mitglieder derselben Familie ganz verschiedenes Aeussere zeigen 
können und dass sich sehr ähnlich sehende Menschen nicht verwandt zu sein 
brauchten; er betont ferner bei der Beurteilung der Aehnlichkeitsfrage auch das 
subjektive Moment. Im vorliegenden Falle sei der Vergleich noch dadurch er¬ 
schwert gewesen, dass man ein gesundes Kind mit einem krankhaft veränderten, 
einen Knaben mit einem Erwachsenen habe vergleichen müssen. Eine Aehnlich- 
keit zwischen dem fraglichen Knaben und der gräflichen Familie sei indess unbe¬ 
streitbar. Für denMediziner sei noch zurEntscheidung der Frage dieAuffindung von 
Bildungsanomalieen von Bedeutung, wenn man auch hierbei imtner an die Mög¬ 
lichkeit zufälligen Zusammentreflens denken müsse, das jedoch um so weniger 
Wahrscheinlichkeit für sich habe, um so seltener die Anomalie sei. Da der 
Kryptorchismus in dem Alter dieser Knaben nicht gerade selten sei, so könne man 
auch hier obige Möglichkeit nicht ausschliessen. 

Es sei demnach zweifelhaft, ob man die Aehnlichkeit oder den Kryptorchismus 
als wichtigeren Faktor zur Entscheidung der Frage heranziehen müsse, dieselbe 
müsse deshalb unentschieden bleiben. Sorge. 


Enzyklopädisches Handbuch der Schulhygiene. Herausgegeben von 
Dr. R. Wehmer, Regierungs- und Geheimer Medizinalrat zu Berlin. Zweite 
Abteilung (mit 305 Abbildungen). Wien und Leipzig 1904. Verlag von 
A. Pichlers Witwe u. Sohn. 

Nach der Herausgabe der zweiten Abteilung liegt das genannte Werk nun 
vollständig vor. Ueber die erste Abteilung des Handbuches ist seiner Zeit an 
dieser Stelle berichtet. Die zweite Abteilung enthält als direkte Fortsetzung der 
ersten die einzelnen Teile der behandelten Materie ebenfalls lexikalisch angeordnet 
und zwar mit dem Anfangsbuchstaben N. (von „Nase“ ab) beginnend bis Z. 

Die vorliegende Enzyklopädie bezieht sich in ihren Ausführungen, wo 
Näheres nicht angegeben ist, auf die Königlich Preussischen Schulverhältnisse, 
doch berücksichtigt sic auch die Hygiene der Schulen ausserpreussischer Staaten, 
insbesondere im vorliegenden Bande die der Thüringischen Staaten, Nordamerikas, 
Norwegens, Oesterreich-Ungarns, Russlands, der Schweiz und Türkei. — Auf die 
eingehende und erschöpfende Behandlung des Kapitels „Schulgebäude“ sei be¬ 
sonders hingewiesen. Die zahlreichen Abbildungen von Bauten, Plänen, Schul¬ 
bänken, und, soweit es für den Zweck erforderlich ist, medizinisch wichtige Ab¬ 
bildungen erleichtern das Verständnis und erhöhen den Wert des Werkes, welches 
sowohl den sich mit Schulhygiene beschäftigenden Aerzten als auch den Bau- 
Sachverständigen und Verwaltungsbeamten wegen seines umfassenden Inhalts und 
seiner grossen üebersichtlichkeit ein willkommenes und unentbehrliches Handbuch 
werden wird. Schm. 

Hygiene und Seuchenbekämpfung von Dr. M. Kirchner, Geh. Ober- 
Medizinalrat und Vortragender Rat, a.-o. Prof. — Berlin 1904. Rieh. Schoctz. 
658 Ss. 

Der Arzt, der sich mit praktischer Hygiene zu befassen hat, sowie besonders 
der Medizinalbeamte wird mit Freuden ein Buch begriissen, in welchem der auf 


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Besprechungen. Referate. Notizen. 


dem Gebiete des öffentlichen Gesundheitswesens rühmlichst bekannte Verfasser 
seine in den verschiedensten Fachzeitschriften zerstreuten Veröffentlichungen auf 
diesem Gebiete zusammengefasst hat. Die in dem Werke niedergelegten An¬ 
schauungen erhalten insbesondere auch dadurch ihren Wert, dass sie von autori¬ 
tativer Seite ausgesprochen sind. 

Es würde zu weit führen, auf den Inhalt der einzelnen Abhandlungen an 
dieser Stelle näher einzugehen, zumal sie zum grossen Teil schon Gegenstand der 
Besprechung gewesen sind, es genüge hier der Hinweis, dass ausser allgemein 
hygienischen Abhandlungen und einigen Aufsätzen über Schulhygiene der wesent¬ 
liche Inhalt des Buches sich mit den Infektionskrankheiten, ihrem Wesen, ihrer 
Verbreitung, Verhütung und Bekämpfung beschäftigt. Einer besonderen Erwähnung 
verdient die dem Verfasser eigene, lebendige und ansprechende Darstellungsweise, 
die das Werk nicht bloss zu einer belehrenden, sondern zugleich auch anregenden 
und angenehmen Lektüre macht. 

So reiht sich dieses Buch dem vor mehreren Jahren erschienenen ..Grundriss 
der Militür-Gesundheitspllege u des Verfassers ebenbürtig an die Seite. 

K ü h n e m a n n. 

Pli th isiogenesc und Tuberkulosebekämpfung von E. v. Behring. 

Sonderabdruck aus der Deutschen medizinischen Wochenschrift 1904 No. 6. 

v. Behring wendet sich auf Grund seiner Beobachtungen und Tierexperi¬ 
mente gegen die Lehre von der Häufigkeit einer primären Inhalationsschwindsucht 
und unterzieht den diese Lehre stützenden Begriff: Disposition zur Schwindsucht 
einer scharfen Kritik, welche er mit einigen medizinisch-historischen Daten noch 
besonders interessant illustriert. 

Im Gegensatz zu den Anhängern jener obengenannten Doktrin von der 
Phthisiogenese nimmt v. Behring an, dass der Grund zur Schwindsucht in der 
Regel gelegt wird im frühen Kindesalter und dass die Schwindsuchtskandidaten 
ihre vielbesprochene Disposition einer infantilen Infektion mit Tuberkulosevirus 
verdanken, welches zuerst nicht in die Lungen, sondern zuerst in die Lymphbahnen 
und in das Blut gelangt und auf dem Umwege über die Skrophulose und ihre 
Folgezustände in der Lungenspitzenverkäsung seine erste Manifestation erfährt. 
Den Hauptimport der Tuberkelbazillen aber in den Mund des Säuglings liefert die 
Milch, weshalb die Frage einer zweckmässigen Milchernährung in dem Mittelpunkte 
des v. Bohr in gesehen Bekämpfungsplanes steht. 

Die in die landwirtschaftliche Praxis eingeführte Tuberkuloseschutzimpfung 
von Rindern wird es ermöglichen, dass in absehbarer Zeit tuberkelbazillenfreie 
Milch von schutzgeimpften Kühen erhältlich ist. 

Die heute übliche Sterilisierung der Milch zum Schutze gegen die Tuberkulose 
hält v. Behring dagegen für verkehrt, da die antibakteriellen Antikörper der Milch 
durch Kochen zerstört und mit ihnen den Säuglingen heilsame Kräfte gegen ander¬ 
weitige intestinale Infektionen entzogen würden. 

An Stelle der Milchsterilisierung will v. Behring die Milchkonservierung 
setzen, ein Verfahren, welches nach seiner Ueberzeugung die antibakteriellen 
Faktoren der Milch erhält und sich bereits für die Kälberaufzucht und gegen ge¬ 
wisse Formen der Kälbersterbe in mehreren Teschener Gutsbezirken glänzend be- 


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Besprechungen, Referate, Notizen. 


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währt hat. In der sich an diesen Vortrag anschliessenden Diskussion hält 
B. Frankel an der Annahme einer aörogenen Entstehung der Tuberkulose als 
Volkskrankheit als der ,.natürlichsten und wahrscheinlichsten“ fest und fürchtet, 
es werde die im Sinne dieser Anschauung bis jetzt verfolgte und von Erfolg ge¬ 
krönte Prophylaxe der Tuberkulose durch die Theorie v. Behrings einen Stoss 
erleiden, wobei er auch auf die positiven Inhalationsversuche Tappeiners, 
lvochs, Cornets, Heimanns hinweist. Durch Statistik sucht er zu beweisen, 
dass von mit Tiermilch ernährten Kindern wenig mehr an Lungenschwindsucht 
starben als von den Brustkindern und botont, dass die 1 Tauptsterblichkeit an Tuber¬ 
kulose erst nach dem dreissigsten Jahr beginne, v. Behring weist in einem 
längeren Schlusswort diese Einwendungen als nicht stichhaltig zurück, sowie er 
auch die nach seiner Ansicht vielen Aorzten innewohnende irrtümliche Auffassung 
bekämpft, dass, wenn infantile Infektion stattgefunden, die Kinder durchaus im 
ersten Lebensjahr tuberkulös oder schwindsüchtig sein müssen: vielmehr dauere 
es unter regulären Bedingungen ausserordentlich lange, ehe die Tuberkulose nach 
der unter natürlichen Lebensbedingungen stattfindenden Säuglingsinfektion für 
gewöhnlich sich als Lungenschwindsucht manifestiere. Wagener-Köslin. 


Zur Bekämpfung der Tuberkulose von l’rof. C. Flügge in Breslau. 

Sonderabdruck aus der Deutsch, med. Wochenschr. 1904. No. 8. 

F. glaubt, dass die Entscheidung, ob eine Alveolarinfektion durch Tuberkel¬ 
bazillen stattfinden könne oder dieselben, w'ie v. Behring jetzt behauptet, vor¬ 
zugsweise vom Rachen oder Darm aus aufgenommen und von da in den Lymph- 
bahnen der Lunge zugeführt werden, die bisher üblichen hygienischen Massregeln 
in keiner Weise berühre, ebenso wie die Richtigkeit der v. Behring'schen Ansicht 
über die Häufigkeit der Tuberkelbazilleninfektion im kindlichen Alter voraus¬ 
gesetzt, doch die prophylaktischen Massnahmen gegen die Infektion auch der Er¬ 
wachsenen durch aörogene Aufnahme von Tuberkelbazillen dieselben bleiben 
müssten. Die Behauptung v. B.’s jedoch, dass das Kind vorzugsweise gefährdet 
sei durch die Milch perlsüchtiger Kühe und demgegenüber andere Arten der Tu¬ 
berkelbazillenzufuhr in den Hintergrund träten, bekämpft F. auf das entschiedenste. 
Denn einmal sei die Gefahr der Infektion des Säuglings mit tuberkulöser Milch 
durch die in den breitesten Schichten des Volkes geübte Methode des Abkochens 
derselben eine verschwindend geringe, weit mehr seien die Kinder, Brustkinder 
wie künstlich genährte, der Tuberkelbazilleninfektion ausgesetzt durch Kontakte mit 
phthisischen Eltern und Inhalation, Gefahren, welche nur durch die bislang gül¬ 
tigen Abwehrmittel eingedämmt werden könnten. Für völlig unmotiviert aber 
erklärt F. die aus dieser Auffassung v. Behring’s sich ergebenden und von 
diesem selbst gezogenen praktischen Konsequenzen, in erster Linie die erstrebte 
Einführung roher Formolmilch, aus folgenden Gründen: 1. weil diese eben gegen 
den Hauptimport von Tuberkelbazillen durch Inhalation und Kontakte gänzlich 
wirkungslos sei, 2. weil sie ein Freisein der Milch von Tuberkelbazillen nur dann 
gewährt, wenn die Milch von perlsuchtfreien Kühen stammt, 3. weil sie, sobald 
letzteres nicht sicher gewährleistet ist, zum Tuberkelbazillenimport viel geeigneter 
als die bisherige gekochte Milch ist. 


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Besprechungen, Referate, Notizen. 


Der Einführung der Formolmilch stünden aber auch ernste gesundheitliche 
Bedenken entgegen, denn der Zusatz von Fonnol selbst in der Menge von 1:5000 
ist für die dauernde Ernährung der Säuglinge nicht als indifferent anzusehen, 
umsomehr als einige Autoren, welche über die Milchkonservierung durch Formol- 
zusatz gearbeitet haben, zweifellose Schädigungen durch denselben bei Kindern 
beobachteten: sodann bietet das Fonnol für das Kochen der Milch keinen Ersatz, 
da es die in der Kuhmilch (ganz abgesehen von den Tuberkelbazillen) eventuell 
vorhandenen pathogenen Bakterien wie die Erreger der Maul- und Klauenseuche, 
die Mastitisstreptokokken, die Bazillen der infektiösen Enteritis, die Typhusbazillen 
und Scharlacherreger nicht abtötet. 

Ferner ist im Falle der gesetzlichen Zulassung des Fonnolzusatzes eine 
Kontrolle des (Quantums dieses Zusatzes kaum möglich und damit einer geradezu 
gefährlichen Milchverlalschung Tür und Tor geöffnet. 

Schliesslich kann auch auf Grund des vorliegenden experimentellen Materials 
der bakteriziden Eigenschaft der rohen Kuhmilch, deren ungeschwächte Erhaltung 
v. Behring durch den Formolzusatz bezweckt, einstweilen eine Bedeutung nicht 
zuerkannt werden. 

Selbst der einzige Punkt, in dem das v. Behring’sche Programm jetzt 
schon Bedeutendes geleistet: die Immunisierung der Rinderherden, spielt nach 
Ansicht Fliigge’s für die Bekämpfung der menschlichen Tuberkulose eine nur 
untergeordnete Rolle. Wagener-Köslin. 

Feber einige Zeit- und Streitfragen aus dem Gebiete der Tuber¬ 
kulose von J. Orth, Berlin. Sonderabdruck aus der Berl. klin. Wochenschr. 
11K)4. No. 11—13. 

0. nimmt in der vorliegenden Arbeit Stellung zu dem lebhaften Streite, 
welcher durch die neuesten Theorien v. Behring’s über die Phthisiogenese, ins¬ 
besondere über die Frage: Inhalationskrankheit oder nicht, entbrannt ist und teilt 
seine pathologisch-anatomischen Erfahrungen über die Häufigkeit einer primären 
Darmtuberkulose mit. Unter 203 Obduktionen von Kindern im Alter von 3 Monaten 
bis 15 Jahren fanden sich 47 tuberkulöse, d. h. 23,15 pCt.: unter diesen waren 2 
mit unzweifelhafter primärer Darm- und Mesenterialdrüsentuberkulose behaftet, 
d. h. 0,9S pCt. aller Kinder von 3—15 Jahren und 4,25 pCt. der tuberkulösen. 
Diese Ortirschen Zahlen stehen hinter der Heller’schen Statistik (Kieler pathol. 
Institut), welche unter 936 Kindern vom 3. Monat bis 15 Jahren 25,1 pCt. primäre 
Dann- und Mesenterialdrüsentuberkulose aufweist, erheblich zurück. Orth hält nun 
unter Berücksichtigung der die Verschiedenheit der Statistik bedingenden ursäch¬ 
lichen Momente solche Zahlen überhaupt nicht für bedeutungsvoll genug, um 
daraus Schlüsse auf die Häufigkeit ziehen zu dürfen, mit welcher der Darmkanal 
die Eintrittspforte für Tuberkulose abgibt, und verleiht seiner bereits vor dem 
v. Bellring*schen Streit stets verteidigten Ansicht nochmals Ausdruck, dass 
nämlich Tuberkulose von den Schleimhäuten aufgenommen werden könne, ohne 
örtliche Tuberkulose zu machen. 

Im folgenden analysiert der Autor die Behring’schen Tuberkuloseleitsätze 
und belindct sich bei allen quantitativen Abweichungen im einzelnen doch in den 
prinzipiellen Punkten mit dessen qualitativen Anschauungen über die Phthisio- 


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Besprechungen, Referate, Notizen. 


185 


genese in Uebereinstimmung. Orth versucht schliesslich eine Brücke zu schlagen 
von den v. Behring'schen Theorien zum feindlichen Lager, indem er die zu¬ 
weilen schroff pointierten Aeusserungen Behring’s aus dessen eigenen Prämissen 
ergänzt und dem Leser verständlich zu machen sucht; ob Orth hiermit die Zu¬ 
stimmung der Inbalationstheoretiker sich erwirbt oder im Sinne v. Behring’s 
handelt, lassen wir dahingestellt. Denn wenn auch letztgenannter Autor im Hin¬ 
blick auf seinen Kasseler Vortrag, in welchem er die Säuglingsmilch als Haupt¬ 
quelle für die Schwindsuchtsentstehung bezeichnete, ausdrücklich zugibt, dass 
hustende Phthisiker aufs sorgfältigste vom Säugling fern zu halten sein und dass 
das in einer Phthisikerwohnung überall verstreute Tuberkulosevirus sicherlich auf 
die eine oder andere Art seinen Weg auch in den Säuglingsmund finden und dann 
ebenso gut wie die Tuberkelbazillen der Milch in die Lymphgefässe und in die 
Blutbahnen käme, so ist doch der Impetus gegen die alte Schule, wie es sich im 
Vortrag vom 28. Januar 1904 präsentiert, ein so durchgreifender, dass nicht „so 
ziemlich alles beim Alten bleiben“ dürfte. 

Mit Orth aber glauben wir, dass es die Zukunftsarbeit vor allem der Kliniker 
sein muss, festzustellen, ob und inwieweit die Annahme einer häufigen infantilen 
Tuberkuloseinfektion berechtigt ist. 

Ob wir aber selbst in dem Falle, dass die Forschung der nächsten Jahr¬ 
zehnte zu gunsten der v. Behring’schen Theorie entscheidet, an Stelle der un¬ 
verfälschten Milch eine Formolnahrung, welche ja mit der ganzen Frage der 
Phthisiogenese und ihrer Bekämpfung im Grunde genommen nichts gemein hat, 
setzen dürfen, darüber dürfte uns die Entscheidung wohl noch recht schwer fallen. 

Wagener-Köslin. 


Grosser, Paul. Leber den Zusammenhang von Lungentuberkulose 
und Trauma. Inaugnral-Dissertation. Leipzig 1903. Berlin. Druck von 
Simon Nachf. 

Verfasser beschreibt einen Fall aus der II. medizinischen Klinik der Charitä 
bei einem Zimmermann, der durch Ausgleiten beim Abladen von Balken mit der 
Brust auf einen dieser Balken aufschlug und dadurch zunächst einen Bruch der 
9. und 10. Rippe erlitt, nach etwa 4 Wochen zu husten anfing, Nachtschweisse 
bekam und unter allmählicher Zunahme der Beschwerden nach 5 Monaten das 
Bild einer ausgesprochenen Lungenschwindsucht bot. In der Familie war kein 
Fall von Tuberkulose vorhanden; anderweitige Berührung mit Tuberkulösen liess 
sich nicht nachweisen. Der von Stern geforderte Nachweis, dass zur Zeit der 
Verletzung die Lungen von tuberkulösen Veränderungen frei waren, ist hier durch 
die ärztliche Untersuchung aus Anlass des Rippenbruches geführt. 

Unter 1000 Krankenblättern derselben Klinik über Tuberkulöse fand der 
Verf. 7 ähnliche Fälle, doch war bei diesen der Zusammenhang nicht so unzwei¬ 
deutig. Verf. schliesst sich den Autoren an, welche annehmen, dass durch das 
Trauma aus den abgekapselten tuberkulösen Drüsen- und Lungenherden Tuberkel¬ 
bazillen frei gemacht werden. Globig - Berlin. 


Dr. med. Alfred Baur. Lehrbuch für den Samariterunterricht an 
Seminarien, Präparandenanstalten, höheren, Mittel-und Volks- 


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186 


Besprechungen, Referate, Notizen. 


schulen sowie zum Selbstunterricht. Wiesbaden, Otto Nemrich, 1903. 
IV und 292 Ss. und 30 Tafeln mit Abbildungen. 

Der Verf.. Seminararzt in Schw. Gmünd, bezeichnet im Vorwort als Haupt¬ 
zweck seines Buches mit Rücksicht auf die im Stundenplan knapp bemessene Zeit 
des Unterrichts die Selbstbelehrung der Seminaristen, die gemäss Erlass des 
Kultusministers als freiwillige Krankenpfleger im Kriege ausgebildet werden 
müssen. Natürlich ist es auch für Schüler anderer Anstalten passend und eine 
gute Grundlage für die Erteilung des Samariterunterrichts überhaupt. Zunächst 
werden die Knochen und Muskeln, dann die Kreislauforgane, der Atmungsapparat, 
die Unterleibsorgane und das Nervensystem, sowie ihre Verletzungen behandelt 
und aus ihrem Bau und ihrer Tätigkeit die Regeln für das Wirken der Samariter 
abgeleitet, dann folgt der Samariterdienst in der Krankenpflege, die Bedeutung 
des Kommandos beim Krankentransport, der Samariter im Kriege und die Grenzen 
der Samaritertätigkeit. 

Zahlreiche kurze und trefl'endc Beispiele vorgekommener Fälle bringen Ab¬ 
wechselung in das ohnehin frisch geschriebene Buch, das weite Verbreitung ver¬ 
dient. Die Abbildungen am Schluss sind trotz ihres kleinen Massstabes meistens 
sehr gut geeignet, den beabsichtigten Zweck zu erfüllen. Globig - Berlin. 

Grassberger, R. und Hamburg, M. Ueber die Anwendung des Oxy¬ 
dationsverfahrens zur Reinigung von Zuckerfabrikabwässern. 

Verf. prüften die Wirksamkeit der Oxydationsanlage einer Rohrzuckerfabrik 
in Nieder-Oesterreich durch wiederholte Untersuchungen der Abwässer in den ver¬ 
schiedenen Stufen des Reinigungsprozesses. 

Die Untersuchungen, deren Ergebnisse in Tabellen übersichtlich niedergelegt 
sind, fanden in 5—12tägigen Zwischenräumen während der Dauer einer Kampagne 
statt. Sie beziehen sich hauptsächlich auf die Oxydierbarkeit des Wassers, seinen 
Gehalt an GesamtstickstofF, Ammoniakstickstoff, auf die Menge des Trockenrück¬ 
standes, den Glühverlust und auf den SchwefelwasserstofTgehalt. 

Die Oxydationsanlage, welche vier Batterien umfasst, deren jede aus einem 
primären und zwei sekundären Körpern besteht, arbeitete nach dem Kontakt- 
verfahren und wurde pro Tag mit 1 cbm Rohwasser pro 1 cbm Füllmaterial 
beschickt. 

Während die primären Oxydationskörper durchweg mit Schlacke von 20 bis 
60 mm Korngrösse beschickt waren, hatten die sekundären Körper eine Füllung 
teils mit Schlacke und Grobkoks, teils mit grobkörnigem Koks von der Korngrösse 
60—120 mm, teils mit Koks von 40—80 mm Korngrösse. 

Das Abwasser, mit dem die Anlage beschickt wurde, bestand aus den 
DifTusions- und Schnitzelpresswässern; die Rübenwaschwässer wurden für sich 
allein in Sedimentierbecken gereinigt. 

Als wichtigste Ergebnisse der von den Verf. angestellten Untersuchungen 
seien folgende erwähnt: 

Während anfangs die Anlage leidlich arbeitete, trat bald (nach einem Monat) 
eine erhebliche Verschlammung der Körper ein, die gegen Ende der Kampagne so 
stark war, dass die primären Körper die ihnen zugedachte Wassermenge nicht 
mehr aufnehmen konnten, sondern dass das Rohwasser zum Teil direkt vom 


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Besprechungen, Referate, Notizen. 


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primären Körper auf den sekundären Körper überflutete. Während anfänglich die 
Wässer soweit gereinigt wurden, dass sie nicht mehr fäulnisfähig waren, ver¬ 
schlechterte sich die Wirkung der Körper derart, dass bald Schwefelwasserstoff in 
den gereinigten Wässern auftrat, nach dessen Entfernung ausgesprochener Fäulnis¬ 
geruch zurückblieb. 

Demgegenüber war die Abnahme der Oxydierbarkeit durchweg bis zum 
Schluss der Untersuchungen eine relativ hohe (80 pCt., im Filtrat 73,8 pCt.). 
Ammoniakgehalt und Gesamtstickstoff zeigten im filtrierten Wasser keine Ab¬ 
nahme. Die suspendierten organischen Stoffe sanken von 916 auf 277 mg. pro 
Liter, der Trockenrückstand nahm um 56,3pCt. (im Filtrat 55,5pCt.) ab. — Letzter 
Versuch — Zucker konnte im „Rcinwasser“ nicht nachgewiesen werden. 

Verff. heben besonders hervor, dass bei keinem der Versuche weder in den 
Körpern noch in den gereinigten Wässern Nitrate und Nitrite aufgefunden wurden. 

Die Herabsetzung, der Oxydierbarkeit des gereinigten Wassers führen Verf. 
hauptsächlich auf biologische Prozesse (Vergährung des Zuckers) zurück, während 
sie annehmen, dass die Entfernung der anderen schwerer angreifbaren Ver¬ 
bindungen durch rein physikalische Vorgänge — Absorption — erfolgt. 

Bei der biologischen Untersuchung der Oxydationskörper zeigte sich die 
Oberfläche des Füllmaterials mit einer schleimigen, wcisslichen oder gelblichen, 
bis 1 mm dicken Schicht überzogen, die eine reiche Bakterienflora enthielt, deren 
Tätigkeit die Zersetzung der leicht angreifbaren Substanzen des Abwassers zuge¬ 
schrieben wird. 

Aus dem Fehlen jeglicher Nitrate und Nitrite wird der Schluss gezogen, dass 
die Natur der Zuckerfabrikwässer eine Anreicherung jener Bakterienarten, die die 
Mineralisierung des Stickstoffes bewirken, nicht begünstigt. 

Die Reinigung der Rübenwaschwässer durch die Sedimentierbecken war zu¬ 
nächst befriedigend. Doch kurz vor Schluss der Kampagne waren sämtliche 
Becken so verschlammt, dass eine Reinigung des Wassers nicht mehr erfolgte. Die 
alkalisch reagierenden Abflüsse zeigten vielmehr eine höhere Oxydierbarkeit und 
waren reicher an suspendierten. Stoffen als das Rohwasser. 

Aus dem Gesamtergebnis ihrer Untersuchungen ziehen Verf. den Schluss, 
dass das angewendete Verfahren imstande sei, eine rasche Zersetzung der leicht 
angreifbaren Substanzen zu bewirken und so die Gefährlichkeit des Wassers für 
die Flussverunreinigung zu vermindern. 

Immerhin stellte sie eine erhebliche Verschlechterung des Vorfluters, der für 
die Aufnahme der Abwässer die günstigsten Verhältnisse bot, nach Einleitung der 
gesamten Abwässer in denselben fest, eine Verschlechterung, die nach ihrer An¬ 
sicht bei weniger günstigen Verhältnissen Anlass zu Klagen geben könnte, 

Die günstigen Untersuchungsergebnisse, welche Dunbar und Thumm 
(Beitrag zum derzeitigen Stande der Abwässerreinigungsfrage mit besonderer Be¬ 
rücksichtigung der biologischen Reinigungsverfahren, 1902, S. 131) über das 
Oxydationsverfahren der Zuckerfabrik Wendessen veröffentlichten, erklären sie 
damit, dass der Anlage in Wendessen die gesamten neutral oder schwach alkalisch 
reagierenden, wenig gehaltreichen (300—800 mg Permanganat pro Liter) Fabrik¬ 
abwässer zugeführt wurden, während die von ihnen geprüfte Reinigungsanlage die 
stark sauren, konzentrierten (3000—4000 mg Kaliumpermanganat pro Liter) Dif¬ 
fusions- und Schnitzelpresswässer zu verarbeiten hatte. 


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Besprechungen, Referate, Notizen. 


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Günstig für den Reinigungsaffekt der Wendesser Anlage sei auch der Um¬ 
stand, dass sich das Rohwasser dort in einem gewissen Stadium der Fäulnis be¬ 
funden hätte. Als Beweis für die Wichtigkeit letzterer Annahme teilen sie das 
Ergebnis folgenden Versuches mit. Sie Hessen die sauer reagierenden Diffusions¬ 
und Schnitzelpresswässer vergären und behandelten dann die vergorenen, jetzt 
schwach alkalisch reagierenden, den Rübengeruch zeigenden, aber keineswegs 
stinkenden Wässer nach dem Oxydationsverfahren, wobei sie ziemlich klare, fast 
völlig geruchlose Produkte, die sich auch nach längerem Stehen an der Luft nicht 
veränderten, erhielten. 

Bei Prüfung der Frage, ob es zweckmässig sei, die gesamten Zuckerfabrik¬ 
abwässer dem reinen Oxydationsverfahren zu unterwerfen oder, wie im vorliegen¬ 
den Falle, die Wässer getrennt zu behandeln und zwar die Rübenwaschwässer nur 
durch Sedimentierung, die Diffusions- und Schnitzelpresswässer durch das Oxy¬ 
dationsverfahren, empfehlen sie, letztere Art der Reinigung zu versuchen, jedoch 
die Diffusions- und Schnitzelprosswässer erst dann auf die Oxydationskörper zu 
leiten, nachdem sie durch einen mindestens 24stündigen Aufenthalt in genügend 
grossen Becken vergärt seien. 

Nach Ansicht des Ref. dürften die günstigen Ergebnisse der Wendesser 
Anlage hauptsächlich auf das dort verwendete feinere Füllmaterial zurückzuführen 
sein. In Wendessen hatte das Füllmaterial der ersten Stufe eine Korngrösse von 
10—30 mm, das der zweiten eine solche von 3—10 mm. (Dunbar und Thumm, 
Beitrag zum derzeitigen Stande der Abwässerfrage mit bes. Berücksichtigung der 
biologischen Reinigungsverfahren, 1902). 

Ref. ist weiter der Ansicht, dass bei zweckmässiger, rein mechanischer Vor¬ 
reinigung und bei Verwendung eines feinkörnigen Materials auch für konzen¬ 
trierteres Abwasser von Zuckerfabriken eine befriedigende Reinigung erzielt 
werden kann. 

Das Fehlen von Nitraten und Nitriten in den Abflüssen aus den biologischen 
Körpern darf nach Ansicht des Ref. nicht überraschen, da auch in den Abflüssen 
befriedigend arbeitender Rieselfelder, die mit Zuckerfabrikabwässern beschickt 
sind, derartige Verbindungen entweder gar nicht oder nur in sehr geringen Mengen 
sich nachweisen lassen. Sohle. 

.lahresbericht über die Verwaltung des Medizinalwesens u. s. w. der 
Stadt Frankfurt a. M. Herausgegeben vom ärztlichen Verein. XLV1. .Jahr¬ 
gang. 1902. 

Die Einteilung des Jahresberichtes ist die nämliche wie früher. Der erste 
Teil schildert die meteorologischen Verhältnisse. Der mittlere Luftdruck 
betrug 753,0 (etwas unter dem Durchschnitt der letzten 50 Jahre), die mittlere 
Temperatur -(- 9,4° C. (ebenfalls etwas weniger als der Durchschnitt), die höchste 
Temperatur -j- 33,1 0 C., die niedrigste —13,2° C. Das Jahr hatte 62 Frosttage, 
l.S Eisiage (an denen das Thermometer auch mittags nicht über 0 hinaufgeht), 
35 Sonnentage, 129 heitere, 180 Regen- und Schneetage. Die Regenmenge betrug 
516,1 mm. 

Der zweite Teil behandelt die Bevölkerungsstatistik. Die mittlere 
Einwohnerzahl berechnete sich für 1902 auf 300 000. Die Zahl der Geburten 


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Besprechungen, Referate, Notizen. 


18 » 


zeigt seit 1897 einen Rückgang, der für 1902 nur infolge der Eingemeindung 
kinderreicher Vororte durch eine kleine Erhöhung auf 29,4 p. M. unterbrochen 
wird. Die Zahl der Totgeborenen ist in ständiger Abnahme begriffen und betrug 
1902 30,5 p. M. dor Geburten, die der unehelich Geborenen 127,5 p. M. Die ge¬ 
ringste Geburtenziffer hatten die Villenrtadtteile, die höchste die Vororte Bornheim 
und Niederrad. 

Die Zahl der Todesfälle mit 14,8 p. M. war so niedrig wie in keinem 
früheren Jahre seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts, die Sterblichkeit des ersten 
Lebensjahres stand mit 143,2 auf 1000 Lebendgeborene bedeutend unter dem 
50jährigen Durchschnitt. 

Die Eheschliessungen haben in den letzten Jahren langsam abgenommen 
und betrugen 1902 10,8 p. M. 

Die GesundheitsVerhältnisse waren ausserordentlich günstig, und die 
erwähnte niedere Sterbeziffer würde ohne die Eingemeindung neuer Vororte noch 
niedriger sein. Es starben an Altersschwäche 170, durch Selbstmord 98, durch 
Mord 22, durch Unglücksfall 83 Menschen. Von Infektionskrankheiten ist 
zu erwähnen, dass an Pocken keine, an Masern 16, an Scharlach 11, an Diph¬ 
therie 38, an Keuchhusten 60, an Typhus 7, an Influenza 28. an Wochenbettfieber 
5 Personen starben. Sämtliche Infektionskrankheiten sind seltener aufgetreten als 
im Durchschnitt der letzten 50 Jahre. Ferner fanden Todesfälle statt an Apoplexie 
178, an Tuberkulose 683, an Carcinose der verschiedenen Körperteile 270 (gegen 
254 im Vorjahre). Von den im ersten Lebensjahre stehenden starben 458 an Krank¬ 
heiten der Verdauungsorgane. 

Dritter Teil. Oeffentliche Gesundheitspflege. Die städtische Ge¬ 
sundheitskommission beschäftigte sich u. a. mit Wohnungsuntersuchungen, 
mit der Verwendung natürlich filtrierten Mainwassers, mit dem Milchverkehr. Die 
Anfrage des Polizeipräsidiums, ob die Errichtung einer Krankenutensilien-Verleih- 
anstalt angezeigt wäre, wurde verneint. 

Aus der Tätigkeit des Stadtarztes sei erwähnt seine Mitwirkung bei der 
Vorbereitung der „Medizinischen Akademie“ und bei der Einrichtung der ärzt¬ 
lichen Fortbildungskurse. 

Die städtischen Armenärzte behandelten 4591 Personen gegen 3740 im 
Vorjahre. 

Der Bericht der Schulärzte teilt mit, dass die Organisation auch in diesem 
Jahre, dem vierten seit Beginn der Institution, sich bewährt habe, sodass nur ganz 
unwesentliche Aenderungen getroffen wurden. Das Verhältnis der Schulärzte zu 
Rektoren und Lehrern, zu den Eltern und zu den Hausärzten war ein ungestörtes. 
Eine Tabelle unterrichtet über Grösse, Gewicht und Konstitution der neu in die 
Schule eingetretenen Kinder. Die Zahl derjenigen Kinder, die durch hausärztliche 
Zeugnisse der schulärztlichen Untersuchung entzogen werden, wird immer geringer 
und beträgt im Berichtsjahre nur 8, das beste Zeichen steigenden Vertrauens zu 
den Schulärzten, ebenso wie die steigende Benutzung dor schulärztlichen Sprech¬ 
stunden durch die Eltern der Schüler. 

Zu den Impfungen wurde ausschliesslich Tierlymphe verwendet. Die Zahl 
der Erstimpfpflichtigen betrug 9024, davon wurden 7011 geimpft, und zwar 6732 
mit Erfolg. Vorschriftswidrig der Erstimpfung entzogen wurden 371 Kinder. 


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Besprechungen, Referate, Notizen. 


Wiederimptlichtig waren 5129 Kinder, davon wurden 4747 geimpft, 3899 mit Er¬ 
folg. 178 wurden der Impfung gesetzwidrig entzogen. 

Kreisärztliche Mitteilungen. Es gab 1902 in Frankfurta.M. 323 Aerzte, 
darunter 2 Aerztinnen. Von den 65 gemeldeten Typhusfällen erwiesen sich 7 nicht 
als Typhus, 10 stammten von ausserhalb, 16 waren ausserhalb infiziert. Von den 
20 gemeldeten Wochenbettfiebern erwiesen sich 7 als andere Krankheiten, 5 endeten 
tödlich. 

Vierter Teil. Leistungen der Hospitäler. Dieser Teil, der ausführ¬ 
liche Berichte und Tabellen über Frequenz und Diagnosen in den 6 städtischen 
und in 30 nichtstädtischen Kranken- und Entbindungsanstalten, sowie im Senkon- 
berg’schen Institute bringt, eignet sich nicht zu einem kurzen Referate. 

Fünfter Teil. Aerztlicher Verein. Bericht über Mitgliederstand, Vor¬ 
träge, Demonstrationen und Bibliothek. Den Schluss bilden Nekrologe. 

Dreyfuss- Kaiserslautern. 


Notizen. 

Deutscher Verein für öffentliche Gesundheitspflege. 

Neunundzwanzigste Veisammlung zu Danzig in den Tagen vom 14. bis 
17. September 1904, unmittelbar vor der am 18. September beginnenden Versamm¬ 
lung Deutscher Naturforscher und Aerzte in Breslau. 

Tagesordnung : 

Mittwoch, den 14. September. 

1. Die Ruhr und ihre Bekämpfung. Referenten: Prof. Dr. Kruse (Bonn), 

Regierungs- und Medizinalrat Dr. Doepner (Gumbinnen). 

2. Die Kältetechnik im Dienste der öffentlichen Gesundheitspflege. 

Referent: Konsultierender Ingenieur Stetefeld (Pankow-Berlin). 

Donnerstag, den 15. September. 

8. Die hygienischen Anforderungen an zentrale Heizanlagen. 

Referenten: Geheimer Regierungsrat Professor Rietschel (Berlin), 
Professor Dr. von Esmarch (Göttingen). 

4. Die Ausbildung und Organisation des Krankenpflegepersonals. 

Referent: Dr. med. Mugdan (Berlin). 

Freitag, den 16. September. 

5. Städtische Kläranlagen und ihre Rückstände. Referenten: Stadt¬ 

baurat Bred tschnei der (Charlottenburg), Professor Dr. Proskauer 
(Charlottenburg). 

Samstag, den 17. September. 

Ein gemeinsamer Ausflug, voraussichtlich nach Schloss Marienburg. 


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Besprechungen, Referate, Notizen. 


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Dem Redakteur dieser Zeitschrift, Geheimen Ober-Medizinalrat Dr. Schmidt¬ 
mann, ist „in Rücksicht auf seine anerkennenswerten wissenschaftlichen Leistun¬ 
gen“ das Prädikat „Professor“ verliehen worden. 

Die Generalversammlung des Deutschen Vereins für Volkshygiene hat am 
o. und 4. Juni 1904 in Frankfurt a. M. stattgefunden. 


Von dem Werke: „Der Preussische Kreistiorarzt als Beamter, Praktiker und 
Sachverständiger“ von R. Froehner, Kreistierarzt in Fulda und K. Wittlinger, 
Kreistierarzt in Habelschwerdt, ist der erste Band bei Louis Markus, Berlin SW., 
erschienen. 


Der 10. Jahresbericht des Vereins für jüdische Krankenpflegerinnen zu Berlin 
ist erschienen bei Louis Borchardt, Berlin. 


Von der Zeitschrift „Das Schulzimmer“, Verlag von Müller u. Co. in Char¬ 
lottenburg, ist das 2. Heft des zweiten Jahrgauges erschienen mit einem Aufsatze: 
„Zur Einrichtung und Ausstattung der Schulstuben im Interesse der Lehrer¬ 
wohlfahrt.“ 


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IV. Amtliche Mitteilungen. 


Erlass des Herrn Ministers der geistlichen, Unterrichts* und Medizinal* 
Angelegenheiten (I. A.: Wever) an die Herren Oberpräsidenten, betreffend 
die Amtstätigkeit der Kreisärzte bei der Beaufsichtigung der sanitären 
Einrichtungen ihres Amtsbezirks vom 1. Juni 1904. 

Die auf meinen Erlass vom 25. März vorigen .(ahres erstatteten Berichte über 
die Amtstätigkeit der Kreisärzte bei der Beaufsichtigung der sanitären Ein¬ 
richtungen ihres Amtsbezirks haben mich mit Befriedigung erkennen lassen, dass 
die Vorschriften der Dienstanweisung für die in meinem Erlasse näher bezeichneten 
Dienstgeschäfte sich bei der praktischen Ausführung im allgemeinen bewährt 
haben und dass insbesondere mannigfache Verbesserungen auf dem Gebiete des 
Gesundheitswesens durch das kreisärztliche Wirken angeregt und zum Teil schon 
durchgeführt worden sind. Dem Eifer, der Pflichttreue und dem Takte der Kreis¬ 
ärzte ist vielfach besondere Anerkennung gezollt worden. Nach den Berichten 
haben die Kreisärzte die Schwierigkeit, welche sich für ihre Diensttätigkeit daraus 
ergibt, dass die Aufdeckung sanitärer Missstände und die zu ihrer Beseitigung er¬ 
forderlichen Aufwendungen leicht geeignet sind, in den Kreisen der Beteiligten 
Missstimmung hervorzurufen, im allgemeinen durch massvolles Vorgehen zu über¬ 
winden verstanden und dadurch dazu beigetragen, dass sich mehr und mehr das 
erwünschte Vertrauensverhältnis zu der Bevölkerung und ein zweckdienliches Zu¬ 
sammenarbeiten mit den örtlichen und staatlichen Behörden entwickelt. 

Indessen lassen die Berichte doch auch andererseits ersehen, dass bei 
einigen, insbesondere jüngeren Kreisärzten die Neigung hervorgetreten ist, zu weit- 
tragende, über die finanziellen Kräfte der Gemeinden bisweilen hinausgehende 
Vorschläge behufs Abstellung Vorgefundener gesundheitlicher Mängel zu machen 
und dass sich bei ihnen noch nicht das volle Verständnis dafür entwickelt hat, 
das Wünschenswerte vom Notwendigen und das praktisch Erreichbare vom Un¬ 
durchführbaren zu unterscheiden. Ich nehme deshalb Veranlassung, Euer Hoch¬ 
wohlgeboren zu ersuchen, den Kreisärzten, insbesondere auch bei Gelegenheit der 
Versammlungen der Medizinalbeamten aufs neue die geeigneten Direktiven zu 
geben, auch erforderlichenfalls die sorgfältige Nachachtung der Vorschrift des 
§ 38 der Dienstanweisung vom 30. März 1901 bei den ihnen durch § 6 des Gesetzes 
vom 16. September 1899 zugewiesenen Amtsgeschäften auf dem Gebiete des Ge¬ 
sundheitswesens erneut zur besonderen Pflicht zu machen. 

Im übrigen vertraue ich, dass die Beamten der Medizinalverwaltung im 


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Amtliche Mitteilungen. 11)3 

Sinne der vorstehenden Ausführungen auf dem bisher erfolgreich betretenen Wege 
fortschreiten, dass sie unter Vermeidung aller unnötigen Schärfen und durch 
Herbeiführung eines zielbewussten Zusammenwirkens aller in der öffentlichen 
Gesundheitspflege interessierten Kreise an der Durchführung der wünschenswerten 
sanitären Verbesserungen in planmässiger, sachgemässer Entwicklung erfolgreich 
arbeiten und so das Vertrauen und die freudige Mitwirkung der Bevölkerung in 
immer steigendem Masse gewinnen werden. 


Erlass des Herrn Ministers der geistlichen, Unterrichts* nnd Medizinal* 
Angelegenheiten (Studt) Tom 25. März 1904 an die Herren Oberpräsidenten. 

Die in letzterer Zeit gemachte Wahrnehmung, dass praktische Aerzte in ihrer 
Praxis sich vielfach durch Studierende und Kandidaten der Medizin auf kürzere 
oder längere Zeit vertreten lassen, gibt mir Veranlassung, im Anschluss an den 
Erlass vom 21. April 1893 — M. 3437 — erneut auf das Bedenkliche der Zu¬ 
ziehung von dergleichen nicht approbierten Vertretern hinzuweisen. Ein solches 
Verfahren lässt nicht nur die gebotene Rücksichtnahme auf die berechtigten Inter¬ 
essen des arztbedürftigen Publikums vermissen, sondern erscheint auch geeignet, 
sowohl die Stellung und das Ansehen des Aerztestandes in der Oeffentlichkeit 
herabzusetzen, als auch die vertretenden Personen selbst in eine bedenkliche Lage 
zu bringen. Denn letztere würden event. genötigt sein, den Beginn der Ausübung 
der Heilkunde in Gemässheit des Erlasses vom 28. Juni 1902 (M. Bl. f. Med. Angel. 
S. 241) gleich den Kurpfuschern bei dem Kreisärzte anzumelden. 

Auch wird in Frage kommen, ob nicht gegebenenfalls nach Massgabc der 
obwaltenden Umstände die Herbeiführung einer ehrengerichtlichen Bestrafung des 
auftraggebenden Arztes angezeigt sein dürfte. 

Ew. Exzellenz ersuche ich ergebenst, der Aerztekammer der dortigen Provinz 
von Vorstehendem gefälligst Kenntnis zu geben und sie zu ersuchen, auch ihrer¬ 
seits in geeigneter Weise auf die Beseitigung des Missstandes hinzuwirken. 

Im Anschluss an diesen Erlass ist zugleich dem Regierungspräsidenten in 
Cöln auf seinen Bericht vom 2. Oktober 1903 mitgeteilt, dass Studenten und 
Kandidaten der Medizin, welche als Vertreter von Aerzten die Heilkunde gegen 
Entgelt ausüben, nach derAbsicht desErlasses vom 28. Junil902 — M.No. 1692 1 — 
unter die Bestimmung des § 1 der dortigen Polizei-Verordnung vom 14. April v.Js. 
(Amtsblatt S. 167) fallen und sich demgemäss vor dem Beginn der Vertretung 
bei dem Kreisärzte in der vorgeschriebenen Weise anzumelden haben. 


Erlass des Herrn Ministers der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal- 
Angelegenheiten (I. A.: Förster) vom 26. März 1904, betreffend Tragung 
der Kosten für die von einem Kreisärzte vorgenommenen Revision einer 

Sammelmolkerei. 

Es haben sich in der Praxis Zweifel darüber ergeben, wem die Kosten einer 
von einem Kreisärzte ohne besonderen Auftrag der Ortspolizeibehörde vorgenommenen 
Revision einer Sammelmolkerei (§ 79 der Dienstanweisung für Kreisärzte) zur Last 

Vierteljahrsschrift f. ger. Med. u. 8ff. Sau.-Wesen. 3. Folge. XXVIII. 1. jg 


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Amtliche Mitteilungen. 


fallen. Zur Beseitigung dieser Zweifel bemerke ich im Einverständnisse der Herren 
Minister des Innern, der Finanzen und für Landwirtschaft, Domänen und Forsten, 
dass die Beaufsichtigung des Verkehrs mit Milch und im Zusammenhänge hiermit 
auch die Revision von Sammelmolkereien den Kreisärzten aus Gründen ortspolizei¬ 
licher Natur übertragen ist, und dass deshalb auch die hierdurch entstehenden 
Kosten von den zur Tragung von Ortspolizeikosten Verpflichteten zu bestreiten, 
sind. Wenn auch die Träger der Ortspolizeikosten zur Zahlung der Vergütung 
für Dienstreisen der Kreisärzte im allgemeinen nur dann für verpflichtet erachtet 
werden können, wenn die Verrichtung auf Ersuchen der Ortspolizeibehörde erfolgt 
oder bei Gefahr im Verzüge durch die Aufsichtsbehörde angeordnet ist, so erleidet 
doch diese Kegel dann eine Ausnahme, wenn es sich um solche ortspolizeilielie 
Verrichtungen handelt, welche den Kreisärzten durch Gesetz oder Dienstvorschrift 
auch unabhängig von besonderen behördlichen Aufträgen übertragen sind. In 
Fällen dieser Art sind auch ohne besonderes jedesmaliges Ersuchen der Orts¬ 
polizeibehörde die zur Tragung der Ortspolizeikosten Verpflichteten zur Tragung 
der entstandenen Kosten verbunden. Behufs möglichster Verringerung der Kosten 
empfiehlt es sich jedoch, die Kreisärzte mit Anweisung dahin zu versehen, dass 
die in Rede stehenden Verrichtungen ausserhalb ihres Wohnortes tunlichst bei ge¬ 
legentlicher anderweitiger Anwesenheit an den betreffenden Orten vorzunehmen sind. 


Erlass des Herrn Ministers der geistlichen, Unterrichts- and Medizinal- 
Angelegenheiten (I. A.: Förster) vom S. April 11)04 an die Herren 
Regierungspräsidenten, betreffend Ausstellung zur Vorlage bei Militär¬ 
behörden bestimmter Atteste seitens der Kreisärzte. 

Neuerdings sind wieder einige Fälle zu meiner Kenntnis gelangt, in denen 
Kreisärzte entgegen der Vorschrift des Erlasses vom 4. November 1878 — M. 4A47 
— an Privatpersonen auf deren Ansuchen amtliche, zur Vorlage bei Militärbehörden 
bestimmte Atteste erteilt haben. Ich nehme hieraus Veranlassung, Ew. Hochwohl¬ 
geboren zu ersuchen, den Medizinalbeamten die Beachtung jenes Erlasses unter 
Hinweis auf §§22 und 117) der Dienstanweisung für die Kreisärzte erneut zur 
Pflicht zu machen. 


Erlass des Herrn Justizininisters (Schönstedt) vom 21. März 1904, an 
die Herren Kammergerichtspräsidenten und sämtliche Herren Oberlandes¬ 
gerichtspräsidenten, betreffend die Zuziehung von Sachverständigen in 

Entmündigungssachen. 

Die Allgemeine Verfügung vom 1. Oktober 1902 (Just.-Min.-Bl. S. 24(>) ist 
vielfach dahin verstanden worden, dass dadurch, unter Abänderung früherer An¬ 
ordnungen, die Zuziehung des Leiters oder eines Arztes der Irrenanstalt, in der 
sich der zu Entmündigende befindet, als Sachverständiger habe untersagt werden 
sollen. Ganz abgesehen davon, dass eine solche Anordnung im Verwaltungswege 
garnicht getroffen werden konnte, und dass die Allgemeine Verfügung der Gerichte 
nur auf die aus dem Gesetze sich ergebende Rechtslage aufmerksam machen sollte, 
wird bei jener Auffassung übersehen, dass nach dem in der Allgemeinen Verfügung 


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Amtliche Mitteilungen. 


195 


wiedorgegebenen § 4U4 Abs. 2 der Zivilprozessordnung der Leiter einer Anstalt 
dann zugezogen werden kann, wenn besondere Umstände es erfordern. 

Solche besonderen Umstände werden bei den Leitern und Aerzten solcher 
Anstalten häufig vorliegen. Sie können sowohl in der besonderen psychiatrischen 
Ansbildung, die namentlich bei den öffentlichen Anstalten mit Rücksicht auf die 
bei ihrer Auswahl geübte Sorgfalt vorauszusetzen ist, als in der durch ihre Tätig¬ 
keit erlangten grossen Erfahrung beruhen, vor allem aber darin bestehen, dass die 
in Rede stehenden Aerzte bei der Behandlung des Kranken viel eingehendere 
Wahrnehmungen zu machen in der Lage sind, als ein anderer nur auf Besuche 
beschränkter Sachverständiger. 

Es wird sich empfehlen, die Amtsgerichte darauf hinzuweisen, dass sie 
geeignctenfails diese Erwägungen bei der Auswahl der Sachverständigen in Be¬ 
tracht ziehen. Zu diesem Zwecke sind . . . Druckexemplare dieser Rundverfügung 
hier angeschlossen. 


Erlass des Herrn Ministers der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal- 
Angelegenheiten (I. V.: Wever) an die Herren Regierungspräsidenten 
vom 5. Mai 1904, betreffend Untersuchungsämter für ansteckende Krank¬ 
heiten. 

Wie ich in meinem Erlass vom 21. Oktober 1901 — M Nr. 12592 U I - 
bekannt gegeben habe, hat die Stadt Halle a/S. im Anschluss an das Hygienische 
Institut der dortigen Universität ein Untersuchungsamt für ansteckende Krank¬ 
heiten errichtet, welches den Aerzten die Möglichkeit gewährt, in zweifelhaften 
Krankheitsfällen tunlichst bald zu einer sicheren Diagnose zu gelangen. Dieses 
Amt führt die Bezeichnung „Städtisches Untersuchungsamt für ansteckende 
Krankheiten“ und steht unter der Leitung des Direktors des Hygienischen Instituts. 
Zur Errichtung des Amtos hat die Stadt einmalig 1000 M. gezahlt, daneben zahlt 
sie fortlaufend jährlich 3500 M. und zwar 1200 M. zur Remunerierung eines 
Assistenten, (500 M. als Lohn für einen Diener, 1500 M. zur Deckung der laufenden 
sächlichen Unkosten. Dafür hat das Amt die erforderlichen bakteriologischen 
Untersuchungen in verdächtigen oder zweifelhaften Krankheitsfällen kostenlos 
vorzunehmen. 

Neuerdings ist es den Bemühungen des Regierungspräsidenten in Merseburg 
und des Institutsdirektors gelungen, das Untersuchungsamt für den ganzen Re¬ 
gierungsbezirk Merseburg nutzbar zu machen, nachdem sich die Kreise haben 
bereit linden lassen, an das Institut zusammen einmalig 1000 M. zur Beschaffung 
von Apparaten und Instrumenten und ausserdem fortlaufend jährlich 2800 M., 
nämlich 1200 M. zur Remunerierung eines Assistenten, 600 M. als Lohn für einen 
Diener und 1000 M. zur Deckung der laufenden sächlichen Unkosten zu zahlen. 

Aehnliche Verhandlungen schweben zur Zeit zwischen dem Regierungs¬ 
präsidenten in Erfurt und dem Direktor des Hygienischen Instituts in Halle a/S. 

Bei der Wichtigkeit, welche die bakteriologischen Untersuchungsmethoden 
mehr und mehr für die Erkennung und Bekämpfung der ansteckenden Krankheiten 
gewinnen, muss es als eine wesentliche Aufgabe der Medizinal-Verwaltung be¬ 
zeichnet werden, die Verwertung dieser Methoden für die Zwecke der Seuchen- 

13* 


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15»« 

bekämpfung müglichst zu verallgemeinern. Da aber die Errichtung einer grösseren 
Anzahl von Untersuchungsanstalten auf Schwierigkeiten stossen dürfte, so ist zu 
erwägen, ob e,s nicht angängig ist, nach dem in den Regierungsbezirken Merse¬ 
burg und Erfurt gegebenen Beispiele auch in anderen Bezirken zu verfahren. 

In denjenigen Bezirken, in welchem staatliche wissenschaftliche Institute 
vorhanden sind, 

in Königsberg, Berlin, Stralsund, Breslau, Schleswig, Hildesheim, Cassel, 
Cöln, die Hygienischen Institute der Universitäten in Königsberg, Berlin, 
Greifswald, Breslau, Kiel, Göttingen, Marburg und Bonn; in Berlin das 
Institut für Infektionskrankheiten; in Posen das Hygienische Institut; in 
Oppeln das Bakteriologische Institut in Beutben; in Wiesbaden das Institut 
für experimentelle Therapie in Frankfurt a/M.; in Trier das Bakterio¬ 
logische Institut in Saarbrücken — 
oder in denen städtische oder sonstige geeignete Institute bestehen, 

— in Danzig das Städtische Untersuchungsamt der Stadt Danzig, in Arns¬ 
berg das Hygienisch-bakteriologische Institut in Gelsenkirchen, in Wies¬ 
baden das Fresenius’sche Institut in Wiesbaden, in Cöln das Städtische 
Untersuchungsamt der Stadt Cöln —, 

wird, wie es in Königsberg, Danzig, Frankfurt a/M. und Breslau schon teilweise 
geschehen ist, es möglich sein, die betreffenden Institute für die Zwecke der 
Seuchenbekämpfung nutzbar zu machen. 

In denjenigen Bezirken, in denen bakteriologische Untersuchungsstellen im 
Anschluss an die Regierung eingerichtet sind, wird zu erwägen sein, ob bezw. in 
wieweit es möglich sein wird, auch diesen durch Angliederung der leistungs¬ 
fähigen Städte und der Kreise des Bezirks ein erweitertes Arbeitsgebiet zu ver¬ 
schaffen. 

Ehe ich der Durchführung dieses Gedankens näher trete, ersuche ich Euer 
Hoch wohlgeboren ergebenst um eine gefällige eingehende Aeusserung über die 
Zweckmässigkeit und Durchführbarkeit desselben unter Beifügung geeigneter Vor¬ 
schläge über die Kostendeckung, eventuell nach Einziehung geeigneter In¬ 
formationen über die Anschauungen der beteiligten Kreise und ihre Bereitwilligkeit, 
sich an diesen Bestrebungen finanziell zu beteiligen. 

Einem Berichte hierüber will ich binnen drei Monaten entgegensehen. 


Erlass des Herrn Ministers der geistlichen, Unterrichts* und Medizinal* 
Angelegenheiten (I. V.: Weyer) an die Königl. Provinzlal-Schulkollegien 
und die Königl. Regierungen vom 18. April 1904, betreffend Ergebnisse 
mit den als Fussbodenanstrich empfohlenen Oelprfiparaten. 

Nach den auf meinen Erlass vom 7. August 1902 erstatteten Berichten, haben 
die Versuche mit den als Fussbodenanstrich empfohlenen Oelpräparaten, wie Dust¬ 
lessöl, Staubfrei, Sternolit u. a., ein im allgemeinen günstiges Resultat gehabt. 

Als Vorzüge des Verfahrens werden fast übereinstimmend eine deutliche 
Staub Verminderung, eine wesentliche Vereinfachung und Verbilligung der Reinigung 
der Zimmer, sowie eine merklich geringere Abnutzung, also eine grössere Halt¬ 
barkeit der Dielen hervorgehoben. 


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l'.»7 

Dem gegenüber werden als Uebelstände bezeichnet die grosse Glätte des 
Fussbodens in den ersten Tagen nach jeder Oelung, welche die Anwendung des 
Verfahrens auf Treppen und in Turnhallen ausgeschlossen erscheinen lässt; der 
Umstand, dass das Oel an den Stiefelsohlen, den Säumen der Frauenkleider, den 
zu Boden fallenden Gegenständen haftet und in denselben unangenehme Flecke 
erzeugt: der namentlich in den ersten Tagen nach der Anwendung der Präparate 
sich bemerklich machende unangenehme Geruch; die schmutzigdunkle Färbung, 
welche die Dielen bei längerer Anwendung der Oele annehmen; endlich die nicht 
unerheblichen und namentlich für kleinere Gemeinden empfindlichen Kosten des 
Verfahrens. In ländlichen sowio in Elementarschulen, welche von Kindern mit 
eisenbeschlagenen Stiefeln oder mit Pantinen besucht werden, sowie überall da, 
wo die Dielen nicht vollkommen gehobelt und nicht gestrichen sind, soll die An¬ 
wendung der Fussbodenöle jedenfalls nicht am Platze sein. 

Nach anderen Berichterstattern lassen diese Uebelstände sich ganz beseitigen 
oder wenigstens erheblich einschränken, wenn man möglichst frische, jedenfalls 
nicht ranzige Oele anwendet, nach jedesmaliger Oelnng einige Tage bis zur Be¬ 
nutzung der Zimmer verstreichen lässt und nicht teure Spezialpräparate aus dem 
Auslande, sondern deutsche Fabrikate in grösseren Mengen zu Engrospreisen 
bezieht. Letzteres empfiehlt sich um so mehr, als nach den bis jetzt vorliegenden 
Versuchen keines der verwendeten Oele einen besonderen Vorzug vor den übrigen 
zu verdienen scheint. Eine Kostenersparnis soll auch durch die Anwendung der 
von einigen Firmen, z. B. von der Laupheimer Oel- und Fettwarenfabrik von 
J. Weil in Laupheim in den Handel gebrachten Fussboden-Oelwischer zu er¬ 
zielen sein. 

Bei dem günstigen Urteil der überwiegenden Mehrzahl der Berichterstatter 
empfiehlt es sich, die Versuche mit dem Fussboden-Oelanstrich womöglich in 
grösserer Ausdehnung fortzusetzen. 

Für die Versuche bleibt folgendes zu beachten: 

1. DerOelanstrich ist während der Ferien und zwar so zeitig vorzunehmen, dass 
er womöglich 48 Stunden vor Wiederbeginn des Unterrichts beendigt ist. 

2. Der Oelanstrich ist dünn und gleichmässig auszuführen und zwar am 
zweckmässigsten mit einem Oelwischcr. 

3. Die Erneuerung des Oelanstrichs hat je nach der Stärke des Verkehrs auf 
Gängen von 2 zu 2, in Klassenzimmern von 3 zu 3 Monaten, in seltener 
benutzten Räumen in noch grösseren Zwischenräumen zu erfolgen. 

4. Zur Verhütung von Geruch sind möglichst frische Präparate anzuwenden. 

5. In Turnsälen ist von dem Oelanstrich in der Regel Abstand zu nehmen. 
Wird ausnahmsweise auf die Ausführung desselben Wert gelegt, so ist das 
Fortgleiten der Turngeräte durch Unterlegen von Filzstücken zu verhindern, 
auch für das Vorhandensein von Matten, Matratzen und dergl. in aus¬ 
reichender Zahl und Grösse Sorge zu tragen. 

Ueber das Ergebnis der weiteren Versuche will ich einem Berichte nach 
Jahresfrist entgegen sehen. 


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Erlass des Herrn Ministers der geistlichen, Unterrichts* und Medizinal* 
Angelegenheiten (I. A.: Förster) und des Innern (I. A.: von Kitzing) 
an die Herren Regierungspräsidenten und den Herrn Polizeipräsidenten 
in Berlin, vom 22. April 1904, betreffend die Neubearbeitung des Yer* 
zeichnisses der Krankheiten und Todesursachen. 

Den statistischen Erhebungen und Veröffentlichungen über die Sterblichkeit 
und die Todesursachen in Preussen ist bisher bezüglich der Benennung der 
Todesursachen das System von Virchowzu Grunde gelegt worden, welches, ur¬ 
sprünglich für das statistische Amt der Stadt Berlin bestimmt, den Aerzten durch 
die Aufnahme in den Preusischen Medizinalkalender bekannt geworden ist und in 
den letzten drei Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts unter den Statistikern all¬ 
gemeine Verbreitung gefunden hat. 

Die neuerlichen Fortschritte auf dem Gebiete der wissenschaftlichen Medizin 
haben schon seit längerer Zeit in den beteiligten Kreisen das Bedürfnis einer Er¬ 
gänzung und Neubearbeitung des vielfach veralteten Systems nach Virchow her¬ 
vortreten lassen. 

Mit Rücksicht hierauf ist auf eine Anregung des Preussischen Statistischen 
Bureaus und des statistischen Amtes der Stadt Berlin eine Erörterung der An¬ 
gelegenheit in einer Konferenz von ärztlichen Sachverständigen und Statistikern 
veranlasst worden, aus deren Verhandlungen der anliegende Entwurf eines Ver¬ 
zeichnisses der Krankheiten und Todesursachen hervorgegangen ist. Dieser 
Entwurf trägt unter voller Würdigung des grundlegenden Aufbaues des Systems 
der Todesursachen nach Virchow dem augenblicklichen Stande der medizinischen 
Wissenschaft und der gebräuchlichen Bezeichnung der Krankheiten und Todes¬ 
ursachen durch die Streichung der Abänderung veralteter Benennungen und durch 
eine andere Abgrenzung der Krankheitsgruppen in der erforderlichen Weise 
Rechnung. 

Indem wir uns mit diesem Verzeichnisse einverstanden erklären, ersuchen 
wir ergebenst, dasselbe für die Benutzung bei den statistischen Erhebungen und 
Veröffentlichungen den beteiligten Kreisen in geeigneter Weise bekannt zu geben. 
Abgesehen von der Bekanntmachung in dem Amtsblatle empfiehlt es sich, jedem 
Kreisarzt und jedem Arzte des dortigen Bezirkes einen Abdruck des Verzeichnisses 
— und zwar den Aerzten durch Vermittlung der Kreisärzte — zu übermitteln. 

Wenn auch die Aerzte in der Wahl der wissenschaftlichen Bezeichnung der 
Todesursachen unbehindert sind, so ist es im Interesse einer grösseren Sicherheit 
bei der weiteren statistischen Verwertung der Angaben doch dringend erwünscht, 
dass auf den Leichenscheinen, sowie dem Publikum und den Standesbeamten 
gegenüber ausschliesslich die in dem anliegenden Verzeichnisse enthaltenen Be¬ 
nennungen Verwendung finden. 

Auch ersuchen wir Euer Hochwohlgeboren, den der dortigen Aufsicht unter¬ 
stellten Gemeindeverwaltungen, soweit diese ein eigenes statistisches Amt besitzen 
oder die Sterblichkeitsangaben selbständig bearbeiten lassen, einen Abdruck des 
Verzeichnisses zu übersenden mit der Anweisung, im Interesse einer gleich- 
massigen Verwertung des statistischen l'rmaterials das anliegende Verzeichnis an 
Stelle des Systems der Todesursachen nach Virchow den statistischen Aus¬ 
zählungen zu Grunde zu legen. 


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UM» 


Die Bekannlgebung eines ausführlichen alphabetischen Verzeichnisses 
<ler Krankheiten uml Todesursachen zum Gebrauche für die Bearbeitung des 
statistischen Urmaterials bleibt Vorbehalten. 

Ich, der Minister der Medizinal-Angelegenheiten, erkläre mich bereit, die für 
den dortigen Bezirk erforderliche Anzahl von Abdrücken des Verzeichnisses zur 
Verfügung zu stellen und ersuche ergebenst, mir binnen 4 Wochen überschläglich 
anzugeben, wieviel Abdrücke für den dortigen Bezirk erforderlich sein werden. 

Verzeichnis der Krankheiten und Todesursachen. 


I. Infektionskrankheiten, Zoonosen 

und Schmarotzerkrankheiten (In¬ 
fektionskrankheiten allgemeiner 

Natur, 1—25, Zoonosen 20—29. 

Schmarotzerkrankheiten 30—Mo). 

11. V ergiftungcn (34—36). 

III. Aeussere Einwirkungen (37). 

IV. Störungen der Entwickelung und 

Ernährung (38—50). 

V. Krankheiten der Organe (57- 175). 

A. der Haut(57,.58) und des Zell¬ 
gewebes (7)9—63), 

B. der Muskeln (64—00) und 
Sehnen (67), 

C. der Knochen (68), Knorpel (09) 
und Gelenke (70—72), 

D. des Blutes und der blutbilden¬ 
den Drüsen (73—77), 

E. des Gefässsystems (Herzkrank¬ 
heiten 67—86, Gefässkrank- 
heilen 87, 88), 

F. des Nervensystems (Hirnhaut 
und Gehirn 89—96, Miieken- 


mark 97—104, Nerven 105 bis 

112 ), 

G. des Ohres (113), 

II. des Auges (114), 

.1. der Respirationsorgane (der 
Nase 115, des Kehlkopfs 110 
bis 119, der Bronchien 120, 
121, der Lunge 122—128, des 
Brustfells 129), 

K. des Verdauungsapparats (der 
Mundhöhle 130, des Rachens 
und Halses 131, der Speichel¬ 
drüsen 132, der Speiseröhre 
133, des Magens 134, des 
Darms 135—141, Brüche 142, 
des Bauchfells 143, der Leber 
144—146, der Gallenblase 147, 
der Bauchspeicheldrüse 148), 

L. der Harnorgane (149—154), 

M. der Geschlechtsorgane (17)5 bis 
175, beim männlichen Ge¬ 
schlecht 155—101, beim weib¬ 
lichen Geschlecht 102—175). 

VI. Andere sowie nicht angegebene 
und unbekannte Krankheiten (170). 


[Krankheitsbezeichnungen, welche nur ungenaue Diagnosen, Begleit- und Folge¬ 
erscheinungen von Krankheiten darstellen, sind in eckigen Klammern gedruckt.] 


I. Infektionskrankheiten, 
Zoonosen mul Schmarotzerkrank- 
heiten. 

Infektionskrankheiten all¬ 
gemeiner Natur. 

1. a) Masern, Morbilli, 
b) Röteln. 

2. Scharlach. 

a) Scharlach, Scarlatina. 


b) Scharlach-Nierenentzündung, 
o) Scharlach-Bräune, Scharlach- 
Diphtherie, 
d) Scharlach-Sepsis. 

3. Frieseln (Miliaria, Schweisfriesei 
bei 57 d). 

4. Pocken, Variola,VarioloTs: natür¬ 
liche, modifizierte,blutige Menschen- 
blattern. 


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200 


Amtliche Mitteilungen. 


. r ). Windpocken, Varicellae. 

6. Kose, Erysipelas; Wander-, 
Blatter-, Haut-, Kopfrose: Rotlauf, 
Blasenrotlauf, phlegmonöses, bran¬ 
diges Erysipel. 

7. Diphtherie: 

a) Diphtherie, diphtherische Ge¬ 
schwüre; diphtherische Bräune; 
brandige Bräune; brandige 
Rachenentzündung; brandige j 
Entzündung der Mundschleim¬ 
haut; Diphtherie des Hachens, 
der Mandeln, der Nase, der 
Augen. Croup, häutige Bräune, 
Anginamembranacea; Laryngitis 
fibrinosa, Kehlkopfbräune, Luft¬ 
röhrenbräune. 

b) Diphtherie der Haut, der äusseren 
Genitalien. 

c) Diphtherische Laryngosteno.se. 

d) Diphtherische Lähmungen. 

e) Diphtherie-Nierenentzündung. 

f) Diphtherie-Sepsis. 

8. Keuchhusten,Stickhusten,Tussis 
convulsiva, Pertussis. 

9. Grippe, Inlluenza. 

10. Blutvergiftung, Wundfieber, 
Eitervergiftung, Eiterlieber, Paeymia, 
Septhämie, Septikämie, Fleisch¬ 
vergiftung, bazilläre (Fleischgift s. 
34a«; Scharlach-Sepsis bei 2d, 
Diphtherie-Sepsis bei 7 f). 

11. Kindbettfieber, Febris puer- 
peralis, Wochenbettfieber; Pyämie 
im Wochenbett; Endometritis puer- 
peralis; Pelviperitonitis puerperalis. 

12. Starrkrampf: 

a) Tetanus und Trismus; Kinn¬ 
backenkrampf, Mundklemme, 
Wundstarrkrampf, Tetanus und 
Trismus traumaticus. 

b) Tetanus neonatorum 

c) Tetanus puerperalis. 

13. a) Typhus, Abdominaltyphus. 

Typhus abdominalis, Typhoid¬ 
fieber; Unterleibtyphus: Nerven- 


lieber, typhöses Fieber, [gastri¬ 
sches Fieber, Febris gastricaj. 
b) Weilsche Krankheit, 
e) Paratyphus. 

14. Fleckfieber, Flecktyphus,Ty¬ 
phus exanthematicus, Typhus pete- 
chialis; Ausschlagtyphus. 
lf>. Rückfallfieber, Febris recurrens, 
Rückfalltyphus. 

1<>. Ruhr, übertragbare, Dysentcria, 
rote, weisse, epidemische, endemi¬ 
sche Ruhr: Darmdiphtherie. 

17. a) Asiatische Cholera,Cholera 
asiatica s. epidemica. 

b) Cholera nostras, einheimi¬ 
scher Brechdurchfall (Brech¬ 
durchfall s. 13f>c.) 

18. Pest. 

| 19. Mumps, Parotitis epidemica s. ma¬ 
ligna; Ziegenpeter, epidemische, 
bösartige Ohrspeichcldriisenent- 
zündung. 

20. Genicksarre, übertragbare, epi¬ 
demische Hirnhautentzündung, Me- 

1 ningitis (Arachnitis) cerebrospinalis 
epidemica. 

21. Wechselfieber, kaltes Fieber. 
Febris intermittens; Malaria. 

22. Akuter Gelenkrheumatismus, 
Rheumatismus articulorum acutus: 
Polyarthritis acuta. 

23. Venerische Krankheiten: 

A. Syphilis, Lues. 

a) Primäre Syphilis (harter 

i Schanker). 

b) Sekundäre (Roseola, Papulae 
madidantes, breite Kondy¬ 
lome, syph. HalsalTektionen). 

e'i Tertiäre (Gumraata, Haut¬ 
ausschläge, Syphilide usw.). 
Gehirnsyphilis, Knochen- 
affektionen, syphilitische 
Exostosen, Tophi. 

d) Kongenitale (Hereditäre). 

e) Ohne Bezeichnung der 
Grade. 


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Amtliche Mittheilungen. 


201 


B. Gonorrhoe. 

a) Gonorrhöe.Tripper. Blennor- 
höe; 

b) Tripper-Folgekrankheiten: 

a) Gelenkrheumatismus, 

ß) sonstige (gonorrhoische 
Endokarditis, Epididy- 
mitis, Salpingitis usw.). 

C. Weicher Schanker, Bubo. 

24. Lepra, Aussatz. 

25. Tuberkulose. 

a) Lungenschwindsucht, Phthisis 
pulmonum; Schwindsucht, Tu¬ 
berkulose; [Lungenabzehrung; 
hektisches Fieber, Zehrfieber], 
galoppierende Schwindsucht, 
tuberkulöse Hämoptoe, Lungen¬ 
blutsturz. 

b) Halsschwindsucht, Kehlkopf-, 
Luftröhrenschwindsucht, Phthi¬ 
sis laryngea. 

c) Miliartuberkulose. 

d) Skrofeln, Scrofulosis; tuber¬ 
kulöse Driisenleiden, [Drüsen¬ 
krankheit; Drüsenanschwellung, 
Drüsen Verhärtung, Drüsenfieber], 
Drüsentuberkulose. 

e) Hauttuberkulose; Lupus; fres¬ 
sende Flechte. 

f) Knochen-, Gelenktuberkulose, 
tuberkulöser Abscess, kalter Ab- 
scess, Tumor albus. 

g) Tuberkulöse Hirnhautentzün¬ 
dung, Meningitis (Arachnitis) 
tuberculosa s. granulosa; akuter 
Hydrocephalus. 

h) Solitärer Gehirntuberkel. 

i) Unterleibschwindsucht, Phthisis 
intestinalis; Darmschwindsucht; 
tuberkulöse Darmgeschwüre; 
Darmtuberkeln; tuberkulöse 
Bauchfellentzündung, Gekrös- 
schwindsucht, Phthisis mesen- 
terica. 

k) Nierentuberkulose; Nephro- 
phthisis. 


1 1) Blasentuberkulose, 

j m) Tuberkulose der männlichen Ge- 

, schlechtsorgane. 

n) Tuberkulose der weiblichen Ge- 

j schlechtsorgane. 

o) Allgemeine Tuberkulose. 

Zoonosen: 

26. Hundswut, Hydrophobia. 

| 27. Milzbrand, Pustula maligna, 
Anthrax contagiosus, Milzbrand- 
j karbunkel. 

| 28. Rotzkrankheit,Malleushumidus. 

| 29. Maul- und Klauenseuche, Aphthae 
j epizooticae. 

j Schmarotzerkrankh eiten, 
j 30. Wurmkrankheiten. 

a) Blasenwürmer, Cystica; Cvsti- 

| cercus (Finnen), Echinococcus. 

Insbesondere: 

«) Blasenwürmer des Gehirns. 
ß) Blasenwürmer der Leber, des 
Auges. 

j b) Cestoden: Bandwurm. Taenia 
(mediocanellata, solium), Botli- 
riocephalus latus. 

c) Nematoden: 

a ) Trichinenkrankheit, Trichi- 
nosis. 

| ß) Anchylostoma duodenale. 

y) Fadenwurm, Oxyuris verini- 
cularis; Ascaris lumbricoides, 
Spulwurm; Strongylus duo- 
denalis, Anguillula intesti¬ 
nalis (stercoralis), Tricho- 
cephalus dispar. 

d) SonstigeWürmer. Helminthiasis. 

31. a) Krätze, Scabies, Räude. 

b) Läuse, Phthiriasis. Kopfläuse, 
Kleiderläuse, Filzläuse, (Pedi- 
culi pubis). 

32. Fadenpilzkrankheiten: 

a) Schwämmchen, Aphthae (Aph¬ 
thae epizooticae bei 29); Soor, 
Stomatitis aphthosa s. mycotica. 

b) Favus. 

c) Pityriasis. 


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202 


Amtliche Mitteilungen. 


<lj Herpes lonsuntns. 

c i Aspergillus und andere. 

Ad. .Strahlenpilzkrankheit, Akti- 

nomykosis. 

II. Vergiftungen. 

i Angegebene Selbstmordo bezw. Selbst¬ 
mord versuche und Verunglückungen 
werden als solche unterschieden). 

34. a> Organische Gifte (das Gift 
ist anzugeben!): 
et) Fleischgift, Wurstgift, 
Muschelgift, Fischgift, Käse¬ 
gift usw., 

ß) Schlangenbiss, Insektenstich, 
y) Pilze. Schwämme; Toll¬ 
kirsche ; Mutterkorn(Ergotis- 
mus; Kriebelkrankheit): 
Stechapfel; Schierling: Ni¬ 
kotin; Morphium; Strychnin; 
Aether; Chloroform; Lach¬ 
gas; Coffein, Atropin; Cocain, 
Nitrobenzol, Anilin, Karbol¬ 
säure, Jodoform usw. 

b) Anorganische Gifte (das 
Gift ist anzugeben!): 

u) akute Vergiftung: Brech- 
weinstein, Sauren (Vitriol), 
Aetzlauge (Ammoniak), Ar¬ 
senik, Quecksilber, Sublimat, 
Phosphor, Bleiessig, Blei¬ 
zucker usw. 

ß) chronische Vergiftung; Blei¬ 
präparate, Brom, Chlor, Jod. 
Phosphor, Quecksilber, Ar¬ 
senik usw. 

c) Vergiftungen ohne näh. Ang. 

3f>. Giftige Gase: Kohlendunst, 

Kohlenoyd-, Rauchvergiftung: 

Leuchtgas: Schwefelwasserstoffgas, 

Kloakengasc, Grubengase usw. 

:M>. A1 k o h o 1 v e rg i ft u n g. 

a) akute. 

b) chronische; Trunksucht. 

c) Delirium tremens; Säuferwahn¬ 
sinn. 


i 


i 


i 


i 


HL Aeussere Einwirkungen. 

( Angegebene Selbstmorde bezw. Selbst¬ 
mordversuche und Verunglückungen 
werden als solche unterschieden. 

37. a) Quetschungen und Zer¬ 
re i s s u n g e n. 

b) K nochenbriich e: 

(() des Schädels, 

ß) des Schulterblatts und 
Schlüsselbeins, 

;') der Wirbelsäule, 

()) der Kippen, 

*■) des Beckens, 

£) der oberen Gliedmassen, 

/y) der unteren Gliedmassen, 

//) oline nähere Angabe. 

c) Verstauch ungen. 

d) Verrenkungen: 

и) an den oberen Gliedmassen, 
ß\ an den unteren Gliedmassen, 
y) sonstige Verrenkungen. 

e) Wunden: 

к) durch Hieb, Stich, Schnitt, 
jü) durch Schuss, 

;') durch Biss (ausser 2<> und 

34 «,,*), 

()) durch sonstige Ursachen. 

f) Verbrennung und Verbrüh¬ 
ung, Brandwunden. 

g) Erfrieren. 

h) G e h i r n e r s c h ii 11 e r u n g. 

i) H i t z s e h 1 a g, Sonnenstich 
(Insolation). 

k) Bl itzsch lag. 

l) Elektrischer Strom. 

m) Ertrinken. 

n) E rh iin gen. 

o) Ersticken. 

p) Hin r i c h t u n g. 

<\ i FremdkörpermitBezeichnung 
des Organs. 

r) [Verletzung ohne nähere An¬ 
gabe der Art und des Sitzes. 
u) durch Explosion, 
ß) durch Ueberfahren, 

;') durch Maschinen, 


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Amtliche Mittheilungen. 


203 


d) durch Sturz, Fall, Schlag, 
Wurf, Stoss, 
f) durch Erschütterung, 

£) auf sonstige Weise.] 

s) [Verblutung ohne nähere An¬ 
gabe.] 

t) [Operationen ohue näh.Ang.] 

IV. Störungen der Eutwicklnng 
nnd Ernährung. 

tBei No. 38 und 39 sind die gestorbenen 
Kinder bis zum Alter von einem Monat 
und bei No. 45 die gestorbenen unter 
60 Jahre alten Personen besonders her¬ 
vorzuheben. 

38. Angeborene Lebet»sschwache, 
Debilitas et Asphyxia neonatorum 
(Mangel an Atembewegung). 

39. Bildungsfehler, Missgeburt, 
Vitia primae formationis, z. B. an¬ 
geborener Darmverschluss (Atresia 
ani), Gehirnbruch, Hasenscharte, 
Wolfsrachen, Spina bifida, gespal¬ 
tenes Rückgrat, Rückenmarkwasser- 
sucht, andere Spallbildungen 
u. s. w., üoppelmissbildungen, 
Teratome, Steissgeschwulst u. s. w. 
(ausser den unter No. 81b, 156, 
158b besonders angeführten Bil¬ 
dungsfehlern). 

40. Zahnen, Dentitio; Zahndurch¬ 
bruch, Zahnkrampf, Zahnfieber. 

41. Englische Krankheit,Rachitis; 
weicher Hinterkopf, Craniotabes. 

42. Osteomalacia, Knochener¬ 
weichung. 

43. Abzehrung der Kinder, Atro¬ 
ph ia infantum. 

44. a) Erschöpfung, Entkräftung, 
Inanitio. 

b) Hungertod. 

45. Altersehwäche, Marasmus se¬ 
nilis. 

46. Brand, Gangraena. 

a) Brandgeschwür, Ulcus gangrae¬ 
nosum. 


j b) Druckbrand, Decubitus, bran- 
! diges Durchliegen. 

I c) Wasserkrebs,Noma,Cancer aqua- 
I ticus. 

| d) Brand der Alten, Gangraena 
' senilis, Arteriosklerotischer 

I Brand. 

' 47. a) Myxoedem. 

b) Kachexia strumipriva. Kachexia 

thyreopriva. 

48. Kretinismus. 

I 49. Zuckerkrankheit.Diabetesmelli- 
j tus, Melliturie, Zuckerruhr, Harn¬ 
ruhr, diabetischer Brand, 
j 50. Diabetes insipidus, Zuckerlose 
j Harnruhr. 

| 51. Gicht, Arthritis urica. 

52. Bronzekrankheit, Addisonsche 
Krankheit. 

53. Fettsucht, Polysarcia. 

54. Akromegalie. 

55. Riesenwuchs. 

56. Neubildungen. (Sitz anzugeben! 

j Lymphome bei 73 e.) 

I A. Bösartige Neubildungen. 

a) Krebs, Karcinom (Cancroid) 

i «) der äusseren Bedeckungen 

1 (HautmitSchweissdrüsen 

i und Talgdrüsen, Unter- 

hantzellgewebe), Ulcus 
I rodens, 

ß) der Verdauungsorgane 
! (Magen, Speiseröhre, 

| Gallenblase u. s. w.), 

i y) der Atmungsorgane 

(Lunge, Kehlkopf, Luft¬ 
röhre u. s. w.), 

()) des Hamapparats (Niere, 
) * ^ 

Blase u. s. w.), 

i e) der Geschlechtsorgane, 

I s) sonstige Karcinome, all- 

I gemeine Karcinose, 

1 b) Sarkom. 

c) Andere bösartige Neu- 

! bildungen (wie Melanom, 

i Endotheliom, Skirrhus, My- 


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204 


Amtliche Mitteilungen. 


cloni, Kpulis, Gliom, Hyper¬ 
nephrom, Mischgeschwülste, 
Kystoma papillare, Malignes 
Adenomvom, Chorionepi- 
theliom, Blasenmole, Deci- 
duom, Gliosarkom). 

B. Gutartige Neubildungen. 

a) Fibrom, Lipom, Angiom, 
Myxom, Atherom (Grütz¬ 
beutel), Adenom, Warze 
(Verruca),Molluscum conta¬ 
giosum ; Chondrom, Enchon- 
drom, Osteom, Exostose; 
Myom: Kystom; Adenomvom, 
Neurom, Gangliom, Psam¬ 
mom u. s. w. 

b) Polypen, 

c) Kropf, Struma. 

C. [Geschwülste, Tumoren ohne 

nähere Angabe.] 

V. Krankheiten der Organe 

(ausschl. der bei Gruppe I bis IV auf¬ 
geführten). 

(Angegebene Selbstmorde bezw. Selbst¬ 
mordversuche und Verunglückungen 
werden als solche unterschieden.) 

A. Krankheiten der Haut nnd des 
Zellgewebes. 

57. a) Ekzem, nässende Flechte (am 
Ohre ll.'ia). 

b) Psoriasis. 

c) Urticaria. 

d) Miliaria, Schwcissfriesel. 

e) Pemphigus, Blasenausschlag. 

f) Herpes zoster, Gürtelrose. 

g) Grind, Seborrhöe. 

h) Haarschwund, Alopecia. 

i) Ichthyosis. 

k) Muttermal,Nävus.Blutschwamm, 
Naevus vasculosus. 

l) SonstigeHautausschläge, Derma¬ 
titis, Erythem, Prurigo, Pruritus 
(Pr. vulvae bei 102a), Lichen, 
Impetigo, AkneiFinnen), Herpes, 


Hühneraugen, Ilyperhidrosis 
u. s. w. 

58. Furunculnsis, Blutgeschwür, 
Karbunkel (Milzbrand-Karbunkel 
bei 27). 

59. Zellgewebsentzündung: 

a) Phlegmone, Abscess, Geschwür, 

Zellgewebsvereiterung, Eiter¬ 
geschwulst ; Ly mph gelassen t- 

ziindung, Lymphangitis, Zell¬ 
hautentzündung (Phi. colli pro- 
funda bei 131). 

b) Panaritium, Akelei, infektiöses 
Fingergeschwür. 

c) Eingewachsener Nagel. Ent¬ 
zündung des Nagelbettes. 

00. a) Zellgewebeverhärtungder 
Neugeborenen, Induratio 
telae cellulosae. Sklerema neo¬ 
natorum: Bindegewebever¬ 

härtung. 

b) Sklerema adultorum: Skle- 
rodermia. 

01. a) Nabelentzündung, Ompha¬ 
litis: Nabelvereiterung; Nabel¬ 
brand. Nabeldiphtherie. Nabel- 
gefässentzündung; Nabel¬ 
arterienentzündung, 
b) Nabelblutungen, Haemor- 
rhagia umbilicalis. 

62. Ulcus cruris, Fussgeschwiir. 

63. Elephantiasis. 

B. Krankheiten der Muskeln und Sehnen. 
Krankheiten der Muskeln. 

64. Muskelentzünduüg,Myositis,Psoitis. 

05. Muskelrheumatismus; Lumbago, 

Hüftweh; Hexenschuss; [Reissen; 
Kreuzschmerzen. Rheumatismus 
ohne nähere Bezeichnung.] 

00. Muskelentartung, Muskelatro¬ 
phie; Muskelhypertrophie (pro¬ 
gressive Muskelentartung, Du- 
chenne’sche Krankheit bei No. 102). 
Krankheiten der Sehnen. 

67) a) Sehnenscheidenentzündung. 

Tendovaginitis, Tendosynovitis. 


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Amtliche Mittheilungen. 


205 


Ueberbein, Ganglion, Hygroma. j 
Bursitis praepatellaris. 1 

b) Dupuytrensche Krankheit, Hand¬ 

sehnenschrumpfung, Sehnen¬ 
kontraktur. j 

c) Sehnenverkürzung, Torticollis ! 

u. s. w. J 

C. Krankheiten der Knochen, Knorpel j 
und Gelenke. 

<;s. a) [K nochen Verletzung. | 

Knochenbrüche, Knochenein¬ 
knickungen, falsches Gelenk, j 
Pseudarthrose] (sofern äussere | 
Einwirkungen bei 37 b). 

b) Knochenentzündung, Osti- i 
tis, Periostitis (Knochenhaut- ■ 
entzündung), Osteomyelitis : 

(Knochenmarkentzündung), , 
Osteomyelitis infectiosa acuta, 
Knocheneiterung, Knochenfrass, I 
t'aries, Knochenbrand, Nekrosis, 
Becken-, Wirbel-, Senkungs- i 
Abscess. ! 

c) Exostose (nicht syphilitische), j 


GO. 


70. 


Knorpelentzündung, Chondri- j 

tis, Perichondritis. 

’ | 

a) [GelenkVerletzung, Ge - j 

lenkverrenkung, Luxatio; | 
Bluterguss in die Gelenke; | 
Gelenkversteifung, Gelenk- j 
kontraktur, Ankylose] (sofern 
äussere Einwirkungen bei 37 b). i 

b) Gelenkentzündung, Glied- j 

wasser, Hydarthros; Gelenk- ; 
eiterung, Pyarthros. , 


71. a) Chronischer Gelenkrheu¬ 

matismus. 

b) Arthritis deformans, defor¬ 
mierende Gelenkentzündung. 

72. a) Verkrümmung der Wirbelsäule, 

Kyphose, Skoliose, Lordose, 
b) Plattfuss, Klumpfuss, Spitzfuss, 
Genuvalgum,Bäckerbein n. s. w. 


D. Krankheiten des Blntes and der 
blntbildenden Drüsen. 

73. a) Blutmangel,Anaemia;Bleich¬ 

sucht, Chlorosis. 

b) Anaemia perniciosa. 

c) Weissblütigkeit, Leukaemia. 

d) Pseudoleukämie, Hodgkin- 
sche Krankheit; Anaemia 
splenica, Bantische Krankheit. 

e) Lymphom. 

74. a) Skorbut, Scharbock, Scor- 

butus. 

b) Barlow’sche Krankheit. 

c) Blutfleckenkrankheit,Mor¬ 
bus maculosus Werlhofii; Pur¬ 
pura (haemorrhagica)- 

d) Hämoglobinurie. 

75. Bluterkrankheit, llaemophilie. 
7(5. Drüsenentzündung, Lymph¬ 
drüsenentzündung, Adenitis, 

Lymphadenitis, Drüsen Vereiterung, 
Lymphdrüsenvereiterung, Lymph- 
driisenabscess. 

77. Milzkrankheiten:Milzvergrösse- 
rung, Milzverhärtung, Milzan¬ 
schwellung, Tumor lienis, Milzent¬ 
zündung, Splenitis, Milzinfarkt. 

E. Krankheiten des Gefässsystems. 
Herzkrankheiten. 

(Bei Ko. 81b sind die gestorbenen 
Kinder bis zum Alter von einem Monat 
besonders hervorzuheben.) 

78. Akute Endokarditis, Herz¬ 
klappenentzündung. 

79. a) Herzbeutelentzündung, 

Perikarditis. 

b) [HerzbeutelWassersucht, 
Hydropericardium.] 

80. Herzvergrösserung, Ilyper- 

trophia et Dilatatio cordis; Herz¬ 
erweiterung. 

81. Herzfehler: 

a) Herzklappenfehler. 

b) Angeborener Herzfehler, ange¬ 
borene Blausucht, Cyanosis. 


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Amtliche Mittheilungen. 


206 

82. a) llerzmuskelentartung ! 

(Herzmuskelentzündung). Myo- j 
karditis. 

h) Herzverfettung, Fettherz. 

83. [Zerreissung des Herzens, 

Ruptura cordis.] ! 

84. [Herzschlag, Apoplexia cordis; j 

Herzschwäche, Herzlähmung, Para- i 
lysis cordis.] j 

8;'>. a) Herzkrampf; Angina pec¬ 
toris. 

h) Herzneurosen, Herzklopfen, Pal- 
pitationen, Tachykardie. 

86. | Herzleiden ohne nähere Angabe, 
Herz-Asthma.-] 

Gefässkrankheiten. 

87. Arterienkrankheiten, Arteri- 1 
arum morbi. 

a) Aneurysma, Schlagadererweite- 
rung: Pulsadergeschwulst. ! 

b) |Schlagaderriss, Bersten eines 
Blutgefässes. | 

ci Arterienverstopfung, Embolia, 
di Arterienverkalkung. Arterio- ; 
sklerose, Arterien Verhärtung; i 
Gefässverkalkung, Atheromatose 
der Arterien (arteriosklerotische 
Gehirnerweichung bei 93a). 

88. Venenkrankheiten, Venarum 
morbi. 

a) Aderbruch; Krampfaderbruch, 

Varicocele, Krampfadern, Varix, 
Krampfaderblutung. ■, 

b) Venenentzündung, Phlebitis, 
Periphlebitis. 

c) Blutgefäss Verstopfung: Venen¬ 
verstopfung, Thrombosis; Sinus- 
thrombose. 

d) Hämorrhoidalknoten, Hämor¬ 
rhoidalblutung. 

F. Krankheiten des Nervensystems. 

Hirnhaut- und Gehirnkrank¬ 
heiten: l 

89. Hirnhautentzündung, Menin- j 

gitis: Entziindungder harten Hirn- 1 


haut, Pachymcuingitis: Entzün¬ 
dung derweichen Hirnhaut, Arach- 
nitis. 

90. G e h i r n h ö h 1 e n w a s s e rs u c h t, 
Ilydrocephalus internus s. chro¬ 
nicus; Gehirnwassersucht ;\Vasser- 
kopf. 

91. a) Gehirnentzündung,Akute 

Encephalitis. 

bi Gehirneiterung, Gehirn- 
abscess. 

1*2. Gehirn schlag, Apoplexia s. 
Haemorrhagia cerebri, Apoplexia 
sanguinea, Schlaganfall, Schlag- 
lluss; Gehirnblutung; Bluterguss 
in die Schädelhöhle, Hemiplegie. 

93. a) Erweichungsherde im Ge¬ 

hirn, arteriosklerotische und 
andere, 

b) G e h i r n 1 ä h m u n g, 1 ’aralysis 
cerebri. 

94. Störungen der Blutfüllung: 

a) Kongestionen, Blutandrang 
nach dem Gehirn, Gehirnödem. 

b) G e h i r n a n ä m i e. 

9f>. [Gehirnleiden ohne nähere Be¬ 
zeichnung.] 

96. Geisteskrankheit: 

a) Einfache Seelenstörungen (Ma¬ 
nie, Melancholie, halucinato- 
rische, paranoiische Psychose, 
Verwirrtheitzustände, Demenz). 

b) Progressive Paralyse, Gehirn¬ 
erweichung. 

c) Dementia senilis. 

d i Epileptisches und hysterisches 
Irrsein. 

ei Idiotie, Imbecillitiit (Kretinis¬ 
mus bei 48l. 

f) Geisteskrankheit ohne nähere 
Angabe. 

R ü c k e n m a r k s k r a n k h e i t e n: 

97. Paralysis agitans, Schüttel¬ 
lähmung. 

98. a) Rückenmarkentzündung, 

Myelitis. 


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207 


b) Rückenmarkhautentzün¬ 
dung, Meningitis spinalis. 

99. [Kompressionsmyelitis, 

Druckschwund des Rückenmarks j 
durch Geschwülste. Fraktur.] 

100. a) Rückenmarkschwind- 

s u eh t, Tabes dorsalis, Rücken¬ 
markdarre. 

b) Friedreichsche Krank¬ 
heit. 

101. a) Rückentnar kl äh mung, Pa¬ 

ralysis spinalis, Syringomyelie, 
Rückenmarkerweichung; Para¬ 
plegie ohne nähere Bezeichn. 

b) Kinderlähmung (essen¬ 
tielle). 

c) Rücken mar kleiden ohne 
nähere Angabe. 

102. Progressive Muskelatrophie 
(spinale, neutrale und myopa- 
thische). Duchennesche Krankheit. 

103. Apoplexia spinalis. 

104. Rückenmarksklerose, mul¬ 
tiple. 

Nervenkrankheiten. 

105. Multiple Neuritis. 

106. Neuralgie (Ischias usw.). 

107. Lähmungen der peripheren Nerven. 

108. Raynaudschc Krankheit, 
symmetrische Gangrän. 

109. Migräne, Hemikranie. 

110. a) Fallsucht, Epilepsie (epilep- i 

tisches Irrsein bei 96d). 1 

b) Veitstanz, Chorea. 1 

c) Sonstige Krämpfe, Spastni et 
Convulsiones; Tetanie, Eklam¬ 
psie der Kinder (ausser 11 Id, . 
117 b, 134 b. 135 b, 154 a). 

111. a) Neurasthenie. 1 

b) Hysterie. 

c) Traumatische Neurosen. 

d) Beschäftigungsneurose (z. B. j 
Schreibkrampf). 

et [Nervenkrankheit ohne [ 
nähere Angabe.] i 

112. Basedowsche K ra n k h e i t. 


6. Krankheiten des Ohres. 

113. a) Erkrankungen des äusseren 

Ohres: Entzündung des Ohr- 
knorpels (Perichondritis auri- 
culae), Othämatom, Ohrblut¬ 
geschwulst, Nässende Flechte 
(Ekzem) der Ohrmuschel und 
des äusseren Gehörgangs, Ent¬ 
zündung des äusseren Gehör¬ 
gangs, Otitis externa, Furunkel 
im Gehörgang, Ceruminal- 
pfropf. 

b) Erkrankungen des Trommel¬ 
fells und mittleren Ohres: Ka¬ 
tarrh der Eustachischen Trom¬ 
pete. Katarrh der Paukenhöhle, 
Erkrankung des Trommelfells, 
Myringitis, Entzündung der 
Paukenhöhle, Otitis media. 
Otorrhoea, Ohrcnlaufen, Ent¬ 
zündung, Vereiterung des War¬ 
zenfortsatzes , Cholesteatom, 
Ohrenentzündung ohne nähere 
Angabe, Sklerose ner Pauken¬ 
schleimhaut. 

ci Erkrankungen des inneren 
Ohres: Hyperämie: Anämie; 
Entzündung, Otitis interna, 
Labyrinthblutung, Meniöresehe 
Krankheit. 

d) Schwerhörigkeit. 

e) Ohrenleiden ohne nähere An¬ 
gabe. 

H. Krankheiten des Auges. 

114. a) Erkrankungen der Augenlider, 

Blepharoadenitis; Blepharitis: 
Gerstenkorn (Hordeolum). 

b) Eklropion, Entropion. 

c) Erkrankungen der Bindehaut: 
u) Blennorrhoe der Augen: 
ft) Conjunctivitis granulosa s. 

Trachoma; Ophthalmia 
militaris s. aegyptiaca: 
y) sonstige Conjunctivitis. 

d) Erkrankungen der Lederhaut 
und der Hornhaut: Skleritis, 


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‘208 


Amtliche Mittheilungen. 


Episkleritis; Hornhautentzün¬ 
dung, Keratitis. Eitrige Kera¬ 
titis ; Hornhantgesohwür; Kera¬ 
titis interstitialis, Hornhaut¬ 
trübungen, Leukoma corneae. 
Staphyloma corneae. 

e) Erkrankungen der Regenbogen¬ 
haut; Iritis idiopatbica, rheu- 
matica. 

f) Erkrankungen der Linse: Trü¬ 
bungen, GrauerStar, Cataract. 

g) Erkrankungen des Glaskörpers. 

h) Erkrankungen der Gefässhaut 
(Aderhaut), Chorioiditis, Blu¬ 
tungen in die Chorioidea. 

i) Glaukom, Grüner Star. 

k) Erkrankungen der Netzhaut: 
Netzhautablösung, Amotio s. 
Sublatio retinae; Entzündung 
der Netzhaut, Retinitis usw. 

l) Erkrankungen des Nervus op¬ 
ticus: Neuritis. Sehnervatro¬ 
phie, Amaurose, schwarzerStar. 

in) Refractionsanomalien: Hyper- 
metropie(Weitsichtigkeit), My¬ 
opie (Kurzsichtigkeit). Astig¬ 
matismus. ! 

n) Lähmungen derAugenmuskeln, 1 
der Lider; Schielen, Strabis- I 
mus, Ptosis, Lagophthalmus. | 

o) Erkrankungen der Tränen- ! 
Organe, Dakryocystitis usw. 

p) Augenleiden ohne nähere An¬ 
gabe, 

J. Krankheiten der Respirationsorgane. 

115. Krankheiten der Nase: 

a) Nasenkatarrh, Rhinitis. 

b) Ozaena, Stinknase. 

c) Rhinoskerom,SkleromderNase. 1 

d) Epistaxis, Nasenbluten. j 

e) Erkrankungen der Nasen-, I 
Rachenmandeln, Schwellung, 
Wucherung. 

f) Erkrankungen der knöchernen 
Nase. 


g) Erkrankungen der Nasen- 
Nebenhöhlcn (Stirnhöhle, Kie¬ 
ferhöhle, Keilbeinhöhle usw.). 

h) Schnupfenfieber, Heufieber. 

i) Nasenleiden ohne näh. Ang. 

Krankheiten des Kehlkopfes und 
der Bronch ien. 

1 IG. Kehlkopfentzündung, Laryngitis 
simplex; Pseudocroup. 

117. a) [Oedema glottidis.] 

b) Stimmritzenkrampf, La- 
ryngospasmus. 

118. [Kehlkopfverengung, Luft¬ 
röhrenverengerung.] 

119. Luftröhrenkatarrh; Entzün¬ 
dung der Luftröhre, TracheYtis. 

120. Akute Bronchitis, Kapillar- 
Bronchitis; Broncheolitis; [Ka¬ 
tarrhalfieber]. 

121. a) Chronischer Bronchial¬ 

katarrh, Bronchitis chronica: 
[Chronischer Katarrh]; [Lun¬ 
genverschleimung], Peribron¬ 
chitis ; [Luftröhrenverschlei¬ 
mung], Luftröhrenerweiterung, 
Bronchiektasie; putride, fibri¬ 
nöse Bronchitis (nicht diph¬ 
therische). 

b) Bronchialkatarrh ohne nähere 
Bezeicnung. 

Krankheiten der Lungen: 

122. Lungenentzündung, Pneu¬ 
monie: 

a) Fibrinöse oder genuine (lobäre, 
croupöse). 

b) Katarrhalische (lobuläre) Lun¬ 
genentzündung, Bronchopneu¬ 
monie. 

c) [Hypostatische Lungententzün- 
dung.] 

d) [Lungenentzündung ohne 
nähere Angabe.] 

123. Staubkrankheiten, Pneumo- 
nokoniosen. Anthrakose, Siderose 
usw. 


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209 


J 

Amtliche Mittheilungen. 



124. [Lungen krank heit, Lungen- ' 

leiden ohne nähere Bezeichnung, j 
Lungenkatarrh]. j 

125. Lungenblutsturz, Haemoptoe; j 

Bluthusten, Blutsturz, Lungen- I 
blutung, Lungeninfarct. j 

126. Lungenemphysem, Emphy- ( 
sema pulmonum; Lungenerweite- I 
rung; [Lungenblähung, Lungen- j 
krampf, Brustkrampf, Asthma]. 

127. a) Lungenabscess. 

b) Lungenbrand, Gangraena 
pulmonum. 

128. [Lungenlähmung, Paralysis 1 

pulmonum; Lungenödem, Oedema 1 
pulmonum; Lungenschlag, Apo- | 
plexia pulmonum.] l 

Krankheiten des Brustfells: 

129. a) Brustfellentzündung,Rip- j 

penfellentzündung, Pleuritis. I 
a) seröse; [Brustwasser- | 
sucht, Hydrothorax]. 
ß) eitrige; Eiterbrust, Em¬ 
pyem, Brustfistel. 
y) Brustfellentzündung 
ohne nähere Angabe. 

b) [LuftaustrittindieBrust- 
fellhöhle, Pneumothorax.] 

c) [BI uterguss in die Brust¬ 
fellhöhle (Hämothorax).] 

K. Krankheiten des Verdauungs¬ 
apparates. 

130. Krankheiten derMundhöhle: 
a) Mundentzündung, Stomatitis; 

Mundfäule; Stomatitis ulce¬ 
rosa (aphthosa bei 32 a); Sto¬ 
makake; Ranula, Fröschlein- 
geschwulst; Staphylitis, Ent¬ 
zündung der Uvula, des Zäpf¬ 
chens. 

• b) Zahnkrankheiten: Zahncaries. 
Entzündung der Zähne; Gin¬ 
givitis, Wurzelhautentzün¬ 
dung, Pulpitis, Zahngeschwür, 
Parulis, Zahnfistel. 

Vierteljahrsschrift f. ger. Metl. u t üft*. San.-Wesen. 

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c) ErkrankungenderZunge; Glos- 
sitis. Leukoma linguae, Leuko¬ 
plakie der Zunge. Phlegmonöse 
Glossitis. Zungenblutung. 

131. Halsentzündung; Pharyngitis. 
Rachenkatarrh; Tonsillitis, Man¬ 
delentzündung; Angina, Hals¬ 
abszess ; Mandelabszess. Retro¬ 
pharyngealabszess; Phlegmone 
colli profunda (Angina Ludovici). 

132. Krankheiten der Speichel¬ 
drüsen (Parotis, Glandula sub- 
lingualis), Parotitis (Mumps bei 
No. 19) Ohrspeicheldrüsenentzün¬ 
dung, Ohrspeicheldrüsenvereite¬ 
rung; Speichelfistel. 

133. Krankheiten der Speise¬ 
röhre, Morbi oesophagi (ausser 
Krebs). Speiseröhrenentzündung; 
[Speiseröhren Verengerung],Speise¬ 
röhrenerweiterung (auch Diver¬ 
tikel). 

134. Magenkrankheiten: 

a) Magenkatarrh, Catarrhus ven- 
triculi; Magenleiden, Dys¬ 
pepsie, Magenentzündung, 
Gastritis. 

b) Magenkrampf; [Magenschmer¬ 
zen]. 

c) Magengeschwür, Ulcus ventri- 
culi; Magenerweichung u. Zer- 
reissung, Magendurchbohrung, 
Magenperforation. [Magenblu¬ 
tung, Blutbrechen, Haemate- 
mesis.] 

d) Magen fistel. 

e) [Magenverengerung, Stenosis 
pylori, Sanduhrmagen.] 

f) [Magenverhärtung.] 

g) Magenerweiterung. 

135. Darmkrankheiten: 

a) Darmkatarrh, Darmentzün¬ 
dung, Enteritis; Magendarm¬ 
katarrh, Gastroenteritis. 

b) Darmkramf, Spasmus intesti- 
norum; Darmkolik, Kolik: Me- 

3. Foljje. XXVIII. 1. 

Original fro-m 

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210 Amtliche Mittheilungen. 


teorismus, Tympanie, Rläh- 
s uclit. 

c) Durchfall, Diarrhoe, Sommer¬ 
durchfall, Kinderdurchfall, 
Diarrhoeainfantum; Zahnruhr, 
Zahndurchfall; Verdauungs- 
schwäche der Neugeborenen, 
BrechdurchfallCholera noslras 
bei 17 b). 

d) Darmträgheit, Verstopfung (Ob- 
stipatio). 

e) Ulcus duodenale. 

f) Darmgeschwüre ohne nähere 
Angabe. 

136. Darmblutung, llaemorrhagia 
intestinorum; Melaena. 

137. Blinddarmentzündung, Peri¬ 
typhlitis (Appendicitis). 

138. Darmversch 1 uss(ausserKrebs), 

Ileus; Darmverengung; Darmer- 
weitcrung; Darmverschiebung: 
innere Einklemmung, Incarceratio 
interna; Darmeinschiebung, In- 
tussusceptio; Darmachsendrehung, 
Darmverschlingung, Volvulus; 
Darm verseh Messung. Enterosle- 

nosis; Koterbrechen, Miserere. 

139. [Darmzerreissung, Kupturuin- 
testinorum; Darmdurchbohrung, 
Perforatio intestini.j 

140. Ma s td arm erkrank u ngen 

iausser Krebs, Hämorrhoiden bei 
88 d): 

a) Proktitis, Periproktitis, Mast- 
d armen t ziindung. 
bi Mastdarmvorfall, Prolapsus 
rccti. 

c) Mastdarmfistel; Mastdarm¬ 
fissur. 

dl Mastdarmverengung (ausser 
Krebs). 

141. Darmfistel: widernatürlicher 

After, Anus praeternaturalis. 

142. Brüche, Interleibsbrüche, Hcr- 
niae: Bauchbruch, Nabclbruch, 
Loi:4onbrueh, llernia inguinalis, 


Schenkelbruch, Hernia cruralis, 
llernia obturatoria, Netzbruch 
u. s. w.: 

a) eingeklemmte, 

b) nicht eingeklemmte, 

c) ohne nähere Angabe. 

143. Bauchfellentzündung, Un¬ 
terlei bsentziindung. Perito¬ 
nitis, Unterleibsabszcss; Bauch¬ 
höhlenabszess. 

Krankheiten der Leber und der 
Gallenblase: 

144. a) Leberentzündung, Hepa¬ 

titis; Leberabszess, Lcberver- 
sclnvärung. 

b) Pyc 1 oph 1 cbitis und Pfort¬ 
aderthrombose. 

c) Akute Leberatrophie. 

d) Lebercirrhose, chronische 
Leberatrophie, Atrophiahepatis 
chronica; Leberschrumpfung. 

143. a) Gelbsucht, Ikterus; Gallen¬ 
fieber; Oholcdochus-Vcrschluss 
ohne nähere Angabe der Ur¬ 
sache, 

b) Gelbsucht der Neugeborenen. 

146. Leber leiden ohne nähere Be¬ 
zeichnung. 

147. Gallensteine, Cholelithiasis; 
Gallensteinkolik; Cholecystitis 
acuta. 

148. Erkrankungen des Pankreas 
(Bauchspeicheldrüse). 

L. Krankheiten der Harnorgane. 

149. [Nierenentzündung,Nephritis; 
Bright’sche Krankheit, Morbus 
Brightii: Nephritis albuminosa; 
Nierenschrumpfung, Nierenatro¬ 
phie; Granularatrophie. 

150. a) Pyelitis, Pyelonephritis, Nie¬ 

renbeckenentzündung. 

b) Hydronophro.se. 

c) Nieren Vereiterung, Ne¬ 
phritis purul enta. 

151. S Lei nkran k h ö i t, Lithiasis; Nie- 


t 



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Amtliche Mittheilungen. 


211 




rensteine; Ifarnleitersteine; Bla- i 
sensteine. j 

152. Wanderniere, Ren mobilis. 

155. Uraemia [HaVn Vergiftung]. | 

154. Entzündungen und Liih- | 

mungen der Harnwege: j 

a) Cystitis; Blasenkatarrh; Bla¬ 
senvereiterung;. Blasenbrand; 
Blasenkrampf; Urinverhaltung, ^ 
Incontinentia urinae, Harn- j 
träufeln, Blasenleiden ohne 
nähere Angabe. 

b) Urethritis. 

c) Sonstige Krankheiten der Harn- ^ 
wege beim männlichen Ge- ■ 
schlecht: 

a ) Harninfiltration. I 

I#) Harnröhren Verengerung; 
Harnröhrenabszess, Harn- , 
röhrenfistel. 

M. Krankheiten der Geschlechtsorgane. 

(Gonorrhoe u. s. w. bei 23.) 

Män n 1 iche: 

t 

155. Phimose, Paraphimose, Balanitis, j 
Eicheltripper (nichtgonorrhoisch). ! 

150. Epispadie, Hypospadie. j 

157. Pollutionen, Spermatorrhoe. 

158. a) Hodenentzündung, Orchitis; j 

Hodenabszess, Hodenvereite- 1 
rung. 

b) Kryptorchismus. 

159. Hydrocele, Wasserbruch. 

100. Epididymitis, Nebenhodenentzün¬ 
dung (nicht gonorrhoisch). 

101. Erkrankungen der Prostata, 
Entzündung, Vereiterung, Ver- 
grösserung. 

Weibliche: 

102. a) Krankheiten der Vulva: Vul¬ 

vitis ; Pruritus; Entzündung 
der Bartholinischen(Duverney- 
schen) Drüsen. 

b) Krankheiten der Scheide: Va- 
ginitis, Kolpitis; Fluor albus; 

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Vaginismus; Atresie der Vagina 
und Vulva. 

c) Scheidenfistel, Blasenscheiden¬ 
fistel, Mastdarmscheidenfistel. 

d) Vorfall der Scheide. 

103. a) Dysmenorrhöe; Amenorrhoe; 

Menses nimii. 
b) Parametritis. 

104. Beschwerden der Wechseljahre, 
des Klimakterium. 

105. Gebärmutterentzündung und 
sonstige Gebärmutterleiden ausser¬ 
halb der Geburt und des Wochen¬ 
bettes: Metritis non puerperalis; 
Gebärmuttervereiterung; [Gebär¬ 
mutterleiden]. 

100. Gebärmutterblutung ausserhalb 
der Geburt und des Wochenbettes, 
Metrorrhagia non puerperalis. 

107. Lage Veränderung der Gebärmutter. 

108. a) Eierstocksentzündung, Oopho¬ 

ritis. 

b) Tubenentzündung, Eileiterent¬ 
zündung, Salpingitis (nicht 
gonorrhoisch), Tubenabszess. 

109. Eierstockswassersucht, Hy¬ 
drops ovarii. 

170. Schwangerschaft ohne weitere An¬ 
gabe. 

171. a) Bauchschwangerschaft, 

Graviditas extrauterina; ab¬ 
norme Schwangerschaft; 
Schwangerschaft am Unrechten 
Ort, ektopische Schwanger¬ 
schaft, Tubenschwangorschaft. 
b) Zufälle der Schwanger¬ 
schaft, Morbi gravidarum; 
Blutungen in der Schwanger¬ 
schaft; Placenta praevia, un¬ 
stillbares Erbrechen, 
o) Eklampsie der Schwan¬ 
geren. 

d) Eklampsie der Gebären¬ 
den und Wöchnerinnen. 

172. Folgen der Entbindung (mit 

14* 

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Amtliche Mittheilungen. 


212 


Ausnahme von Kindbettfieber und | 

Tetanus puerperalis): 

a) Blutungen während der Geburt 
und im Wochenbett, Metror- 
rhagia, Haemorrhagia puer¬ 
peralis. 

b) Phlegmasia alba dolens, 
Thrombosis puerperalis, Phle¬ 
bitis puerperalis. 

c) Zurückbleiben, Retention der 
Nachgeburt u. s. w. 

d) Gebärmutterdurchreibung: Ge- 
bärmutterriss. Ruptura uteri. 

e) Erkrankung der Brüste. 

17H. Frühgeburt. 


I 174. Fehlgeburt, Abortus. 

175. Erkrankungen der Brüste, 
Schrunden, Rhagaden der Brust¬ 
warzen, Brustdrüsenentzündung 
und -Vereiterung, Mastitis und 
Mastitis apostcmatosa(ausser Neu¬ 
bildungen und Folgen der Ent¬ 
bindung). 

i 

VI. Andere sowie nicht angegebene 
nnd unbekannte Krankheiten. 

176. (Besonders auszuführen z. B. Beri- 
beri, Gelbfieber, Wassersucht, 
Unterleibsleiden u. s. w.) 


Bekanntmachung des Stellvertreters des Reichskanzlers (Graf von Posn- 
dowsky) vom 4. Mai 1904, betreffend Vorschriften über das Arbeiten nnd 
den Verkehr mit Krankheitserregern, ausgenommen Peslerreger. (Reichs* 

Gesetz-Blatt No. 100.) 

§ 1. Wer mit den Erregern der Cholera oder des Rotzes oder mit Material, 
welches solche Erreger enthält, arbeiten will, ferner wer derartige Erreger in 
lebendem Zustand aufbowahren oder abgeben will, bedarf dazu der Erlaubnis der 
Landeszentralbehörde. An Stelle der letzteren treten für das Kaiserliche Ge¬ 
sundheitsamt das Keichsamt des Innern, für Militäranstalten das zuständige 
Kriegsministerium, für Marineanstalten das Reichsmarineamt. Die Erlaubnis darf 
nur für bestimmte Räume und nur nach Ausweis der erforderlichen wissenschaft¬ 
lichen Ausbildung erteilt werden. Die den Leitern öffentlicher Anstalten er¬ 
teilte Erlaubnis gilt auch für die unter ihrer Leitung in diesen Anstalten be¬ 
schäftigten Personen. 

Der Erlaubnis bedarf es nicht bei Untersuchungen, welche der behandelnde 
Arzt oder Tierarzt zu ausschliesslich diagnostischen Zwecken in seiner Praxis bis 
zur Feststellung der Krankheitsart nach den üblichen diagnostisch-bakteriologischen 
Untersuchungsmethoden vornimmt. 

Lebende Erreger der Cholera oder des Rotzes dürfen nur an Personen und 
Stellen, die von der zuständigen Behörde die Erlaubnis zur Annahme erhalten 
haben, abgegeben werden. 

§ 2. Wer mit anderen als den im § 1 bezeichneten Erregern von Krankheiten, 
welche auf Menschen übertragbar sind, oder von Tierkrankheiten, welche der An¬ 
zeigepflicht unterliegen, oder mit Material, welches solche Erreger enthält, arbeiten 
will, ferner wer derartige Erreger in lebendem Zustande aufbew’ahren will, bedarf 
dazu der Erlaubnis der zuständigen Polizeibehörde des Ortes, in welchem der 
Arbeits- oder Aufbewahrungsraum liegt. Die Erlaubnis darf nur für bestimmte 
Räume und nur nach Ausweis der erforderlichen wissenschaftlichen Ausbildung 
erteilt werden. 


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Amtliche Mitteilungen. 


213 


Auf Aerzte und Tierärzte linden die Vorschriften im Abs. 1 mit der Ein¬ 
schränkung Anwendung, dass sie der Polizeibehörde nur eine Anzeige von ihrem 
Vorhaben unter Angabe des Raumes nach Lage und Beschaffenheit zu erstatten 
und später jeden Wechsel des Raumes in gleicher Weise anzuzeigen haben. 

Weder der Erlaubnis noch der Anzeige bedarf es, wenn die Arbeit und Auf¬ 
bewahrung 

a) in öffentlichen Krankenhäusern, welche mit den zur Verhinderung einer 
Verschleppung von Krankheitskeimen erforderlichen Einrichtungen versehen sind, 
oder 

b) in staatlichen Anstalten, welche zu einschlägigem Fachunterrichte dienen 
oder behufs Bekämpfung der Infehtionskrankheiten zur Anstellung von Unter¬ 
suchungen oder zur Herstellung von Schutz- und Heilstoffen bestimmt sind, oder 

c) vom behandelnden Arzte oder Tierarzt ausschliesslich zu diagnostischen 
Zwecken in seiner Praxis vorgenommen werden. 

§ 3. Wer lebende Kulturen von den im § 2 Abs. 1 bezeichneten Krankheits¬ 
erregern oder Material, welches solche Erreger enthält, feilhalten oder verkaufen 
will, bedarf dazu der Erlaubnis der zuständigen Polizeibehörde des Ortes, in 
welchem das Geschäft betrieben wird. Die Erlaubnis darf nur für bestimmte 
Räume und nur an zuverlässige Personen erteilt werden. 

Der Händler hat über die Abgabe von Kulturen oder Material ein Ver¬ 
zeichnis zu führen, in welches die Art der Krankheitserreger, der Tag der Abgabe, 
der Name und die Wohnung des Erwerbers sowie des etwaigen Ueberbringers 
sofort nach der Verabfolgung vom Abgehenden selbst einzutragen sind, und zwar 
stets in unmittelbarem Anschluss an die nächst vorhergehende Eintragung. Das 
Verzeichnis ist drei Jahre lang nach Abschluss aufzubewahren. 

§ 4. Wer eine Tätigkeit der im § 1 Abs. 1, § 2 Abs. 1 und § 3 Abs. 1 be- 
zeichncten Art in einem ihm zur Verfügung stehenden Raume einer anderen 
Person gestattet oder aufträgt, hat dies der zuständigen Polizeibehörde (§ 2 Abs. 1 
und § 3 Abs. 1) unter Angabe des Raumes sowie der Wohnung, des Berufs, des 
Vor- und Zunamens dieser Person, ferner jeden Wechsel des Raumes sofort anzu¬ 
zeigen. Diese Bestimmung findet auf Leiter der im § 2 Abs. 3 bezeichneten 
öffentlichen Krankenhäuser und staatlichen Anstalten keine Anwendung. 

Die sich für die andere Person aus den Bestimmungen in §§ 1 bis 3 er¬ 
gebenden Pflichten bleiben unberührt. 

§ 5. Die im § 1 Abs. 1, § 2 Abs. 1 und § 3 Abs. 1 bezeichnte Tätigkeit 
sowie die nach § 4 gestattete oder aufgetragene Ausübung solcher Tätigkeit durch 
andere ist einzustellen, wenn die Erlaubnis der Landeszentralbehörde oder 
Polizeibehörde zurückgenommen oder wenn die Tätigkeit von der zuständigen 
Behörde untersagt wird. Die Zurücknahme der Erlaubnis oder die Untersagung 
soll erfolgen, wenn aus Handlungen oder Unterlassungen der betreffenden Person 
der Mangel derjenigen Eigenschaften erhellt, welche für jene Tätigkeit voraus¬ 
gesetzt werden müssen. 

§ 6. Wer eine der im § 1 Abs. 1, § 2 Abs. 1 und § 3 Abs. 1 bezeichneten 
Handlungen vornimmt, hat — auch wenn er von der Einholung der Erlaubnis 
oder von der Anzeigepflicht entbunden ist — die Erreger so aufzubewahren, dass 
sie Unberufenen unzugänglich sind; auch hat er sonst alle Vorkehrungen zu 


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Amtliche Mitteilungen. 


treffen, um eine Verschleppung der Krankheitserreger, insbesondere durch Ver¬ 
suchstiere, zu verhüten. Kulturen, infizierte Versuchstiere und deren Organe sowie 
sonstiges, die Krankheitserreger enthaltendes Material müssen, sobald sie ent¬ 
behrlich geworden sind, derart beseitigt werden, dass jede Verschleppung der 
Krankheitskeime tunlichst ausgeschlossen wird. Instrumente, Gefässe u. s. w., 
welche mit infektiösen Gegenständen in Berührung waren, sind sorgfältig zu 
desinfizieren. 

§ 7. Die Versendung von lebenden Kulturen der Cholera- oder Kotzerreger 
hat in zugeschmolzenen Glasröhren zu erfolgen, die, umgeben von einer weichen 
Hülle (Filtrierpapier und Watte oder Holzwolle), in einem durch übergreifenden 
Deckel gut verschlossenen Blechgefässe stehen; das letztere ist seinerseits noch 
in einer Kiste mit Holzwolle, Stroh oder Watte zu verpacken. Es empfiehlt sich, 
nur frisch angelegte Agarkulturen zu versenden. 

Material, welches lebende Krankheitserreger dieser Art enthält oder zu ent¬ 
halten verdächtig erscheint, ist so zu verpacken, dass eine Verschleppung des 
Krankheitskeims tunlichst ausgeschlossen wird. Zur Aufnahme des Materials sind 
besonders geeignet starkwandige Pulvergläser mit eingeschliffenem Glasstöpsel 
und weitem Halse, oder in deren Ermangelung Gläser mit glattem zylindrischen 
Halse, zu deren Verschluss gut passende, frisch ausgekochte Korke zu verwenden 
sind. Nach der Aufnahme des Materials sind die Gläser sicher zu verschliessen, 
der Stöpsel ist mit Pergamentpapier oder dergleichen zu überbinden; auch ist an 
jedem Glase ein Zettel fest aufzukleben oder sicher anzubinden, der genaue An¬ 
gaben über den Inhalt enthält. Zum Verpacken dürfen nur feste Kisten — keine 
Zigarrenkisten, Pappschachteln und dergleichen — benutzt werden. Die Gläser 
und sonstigen Behälter sind in den Kisten mittels Holzwolle, Heu, Stroh, Watte 
und dergleichen so zu verpacken, dass sie unbeweglich liegen und nicht an¬ 
einander stossen. 

Die Vorschriften über die Entnahme choleraverdächtiger Untersuchungs- 
objekte behufs bakteriologischer Feststellung der Cholera und über die Ver¬ 
sendung des Materials an eine Untersuchungsstelle werden durch vorstehende 
Bestimmungen nicht berührt. 

Die Sendungen (Abs. 1 und 2) müssen mit starkem Bindfaden umschnürt, 
versiegelt und mit der deutlich geschriebenen Adresse sowie mit dem Vermerke 
„Vorsicht“ versehen werden. Bei Beförderungen durch die Post sind die Sendungen 
als „dringendes Paket“ aufzugeben und den Empfängern telegraphisch anzu¬ 
kündigen. Bei Versendung lebender Kulturen hat der Empfänger dem Absender 
den Empfang der Sendung sofort mitzuteilen. 

§ 8. Die Versendung von lebenden Kulturen der im § 2 Abs. 1 bezeichneten 
Krankheitserreger hat in wasserdicht verschlossenen Glasröhren zu erfolgen. Diese 
Köhren sind entweder in angepassten Hülsen oder, mit einer weichen Hülle (Holz¬ 
wolle, Watte und dergleichen) umgeben, derart in festen Kisten zu verpacken, dass 
sie unbeweglich liegen und nicht aneinander stossen. Der Empfänger hat dem 
Absender den Empfang der Sendung sofort mitzuteilen. 

Material, welches lebende Krankheitserreger dieser Art enthält oder zu ent¬ 
halten verdächtig erscheint, ist so zu verpacken, dass eine Verschleppung des 
Krankheitskeims ausgeschlossen wird. 


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Amtliche Mitteilungen. 


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Die Sendungen fAbs. 1 und 2) müssen fest verschlossen und mit deutlicher 
Adresse sowie mit dem Vermerke „Vorsicht“ versehen werden. 


Erlas» der Herren Minister der geistlichen, Unterrichts' und Medizinal* 
Angelegenheiten (i. V.: Wevcr) and des Innern (i. V.: von Kitzing) 
vom 10. Mai 1904 an die Herren Ober-Präsidenten, betreffend Unter¬ 
bringung bedürftiger Lungenkranker in Heilstätten. 

Ew. Exzellenz übersenden wir in der Anlage Abschrift eines an uns ge¬ 
richteten Schreibens des Herrn Reichskanzlers vom 5. April d. Js., betreffend die 
Bildung besonderer Fonds behufs Unterbringung bedürftiger Lungenkranker in 
Heilstätten, mit dem ergebenen Ersuchen, dieser für die Volksgesundheit wichtigen 
Frage Ihr besonderes Interesse zuwendon und durch geeignet erscheinende An¬ 
regung bei Gemeinden und weiteren kommunalen Verbänden für die Verwirk¬ 
lichung des in der Anlage dargelegten Gedankens eintreten zu wollen. 

Dem Berichte über den Erfolg Ihrer Bemühungen wollen wir in .lahresfrist 
entgegensehen. 

Dieses Schreiben lautet : 

Der Reichskanzler. Berlin d e n 5. April 1904. 

(Reichsamt des Innern.) 

I A. 671 

In dem Kampfe gegen die Tuberkulose spielt seit einigen Jahren die Heil¬ 
stättenbehandlung der Lungenkranken eine wichtige Rolle. Die Anwendung dieses 
Mittels hat durch eine unterm 19. Oktober 1901 ergangene Entscheidung des 
Bundesamts für das Heimatwesen wesentliche Förderung erfahren. In dieser Ent¬ 
scheidung ist ausgesprochen worden, dass die Unterbringung in eine Heilstätte 
dann zu den pilichtmässigen Aufgaben der öffentlichen Armenpflege gehört und 
somit die Erstattung der hierfür aufgewendeten Kosten von dem endgiltig ver¬ 
pflichteten Armenverbande verlangt werden kann, wenn eine solche Unterbringung 
nach ärztliohem Gutachten das einzige, einen wesentlichen Heilerfolg verheissende 
Mittel bildet. 

Trotzdem scheitert zuweilen die Verbringung in eine Heilstätte an dem Um¬ 
stande, dass der Kranke es vermeiden will, die öffentliche Armenpflege in An¬ 
spruch zu nehmen, zumal der Bezug von Armenunterstützung bekanntlich gewisse 
Nachteile öffentlich-rechtlichen Charakters (Verlust der Wahlberechtigung und 
Wahlfähigkeit u. s. w.) zur Folge hat. Um diesen Schwierigkeiten zu begegnen, 
haben sich neuerdings verschiedene grosse Stadtgemeinden dazu entschlossen, für 
die Unterbringung bedürftiger Lungenkranker in Heilstätten in möglichst weit¬ 
gehendem Masse Stiftungsgelder verfügbar zu machen. Wo dies mangels geeig¬ 
neter Stiftungen nicht zu ermöglichen ist, würde es im Interesse einer wirksamen 
Bekämpfung der verheerenden Volkskrankheit von grösstem. Werte sein, wenn 
seitens der Gemeinden oder weiterer kommunaler Verbände zu dem angegebenen 
Zweck besondere Fonds, deren Verwendung für Unterbringung Lungenkranker in 
Heilstätten nicht das Merkmal der Armenuntcrstiitziing an sich tragen würde, 
flüssig gemacht werden möchten. 


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Amtliche Mittheilungen. 


Bei der hohen Bedeutung dieser Frage habe ich nicht unterlassen wollen, 
die Aufmerksamkeit auf dieselbe zu lenken und der gefälligen Erwägung anheim¬ 
zugeben, ob es sich nicht empfehlen möchte, bei den dortigen in Betracht kom¬ 
menden Kreisen die Ergreifung gleichartiger Massnahmen in Anregung zu bringen. 

Abschrift dieses Schreibens habe ich den Herren Ministern der Finanzen, 
des Handels pp., der öffentlichen Arbeiten, des Krieges und für Landwirtschaft pp. 
zugehen lassen. 

I. V.: (gez.) Graf v. Posadowsky. 

An den Herrn Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten 
und den Herrn Minister des Innern. 


Erlass der Herren Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal- 
Angelegenheiten (i. A.: Förster) und des Innern (i. A.: von Kitzing) 
vom 20. Mai 1904 an die Herren Oberpräsidenten, betreffend die Ent¬ 
lassung verbrecherischer Personen ans den öffentlichen Irrenanstalten. 

In dem Erlasse vom 15. Juni 1901 ist bestimmt, dass geisteskranke auf 
Grund des § 51 des Strafgesetzbuches oder des § 203 der Strafprozessordnung 
ausser Verfolgung gesetzte Personon, welche polizeilicherseits öffentlichen An¬ 
stalten für Geisteskranke überwiesen worden sind, sofern ihnen ein Verbrechen 
oder ein nicht ganz geringfügiges Vergehen zur Last gelegt ist, nicht entlassen 
werden sollen, bevor dem Landrat, in Stadtkreisen der Ortspolizeibehörde des 
künftigen Aufenthaltsorts Gelegenheit zur Aeusserung gegeben ist. 

Zugleich ist weiter angeordnet, dass die Leiter der Anstalten über die beab¬ 
sichtigte Entlassung erst nach Eingang dieser Aeusserung oder nach Ablauf einer 
Frist von drei Wochen seit deren Benachrichtigung Entscheidung treffen können. 
Im Anschluss hieran bestimmt sodann der Erlass vom 16. Dezember 1901, dass 
in Fällen von besonderer Wichtigkeit und Schwierigkeit von der Polizei¬ 
behörde vor Abgabe ihrer Aeusserung die Entscheidung des Regierungspräsidenten 
nachzusuchen ist. 

Wir bestimmen hiermit, dass fortan in gleicher Weise alle Fälle der vorge¬ 
dachten xVrt zu behandeln sind, in denen ein richterliches Urteil über die 'Päler- 
schaft eines Angeschuldigten, welcher erhebliche Vorstrafen nicht erlitten hat, 
nicht vorliegt, weil der § 51 des Strafgesetzbuches oder der § 203 der Straf¬ 
prozessordnung zur Anwendung gekommen ist. 


Unter Hinweis auf die Notiz in Bd. XXV11, Heft 2, S. 426 dieser Zeitschrift 
wird mitgeteilt, dass die Fortsetzung der Bekanntmachung, betreffend Bestimmun¬ 
gen zur Ausführung des Gesetzes über die Bekämpfung gemeingefährlicher Krank¬ 
heiten, sich im Ministerial- Blatt für Medizinal- und medizinische Unterrichts-An¬ 
gelegenheiten No. 7 vom 1. April 1904, S. 129—143, findet. 


Durch den Erlass des Herrn Ministers der geistlichen, Unterrichts- und Me¬ 
dizinal - Angelegenheiten (Wovor) vom 12. März 1904 wird bestimmt, dass die 


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Amtliche Mitteilungen. 


‘217 


Bestände an Trockenserum für die Choleradiagnoso in Zeiträumen von je 6 bis 
9 Monaten zu erneuern sind, da nach den im Institut für Infektionskrankheiten 
gemachten Untersuchungen das getrocknete Choleraserum nur etwa 10 Monate lang 
seine Löslichkeit behält, auch die Agglutinine in demselben bereits nach 9 Monaten 
abzunehmen beginnen, während die Bakteriolysine sich zwar länger halten, aber 
beim Eintritt der Unlöslichkeit des Serums gleichfalls nicht mehr verwertbar sind. 


Durch Erlass vom 18. März 1904 ist den Farbwerken, welche sich mit der 
Herstellung von Sera für Heil- und Immunisierungszwecke beschäftigen, die Be¬ 
stimmung des Herrn Ministers mitgeteilt, dass derartige Sera im Institut für expe¬ 
rimentelle Therapie in Frankfurt a. M. einer Prüfung auf ihren Wert und ihre 
Keimfreiheit unterzogen werden dürfen. Solche Prüfungen sollen jedoch nur einen 
provisorischen Charakter haben, und die vorläufig nur zur provisorischen Prüfung 
zugelassenen Sera sind auf den Anpreisungen, Etiketten und Gebrauchsanweisun¬ 
gen deutlich erkennbar als solche zu bezeichnen. 


Durch Erlass vom 9. April 1904 ist eine Berichterstattung angeordnet über 
den Umfang und die Bedingungen, unter denen nach Auffassung der Regierungs¬ 
präsidenten und der Abteilungen für Kirchen- und Schulangelegenheiten Schul¬ 
schliessungen wegen übertragbarer Krankheiten zweckmässig zu erfolgen haben. 
Zu diesen Berichten hat sich auch der Oberpräsident nach Anhörung des Provinz.- 
Medizinal- und Provinzial-Schulkollegiums zu äussern. 


Durch Erlass des Herrn Ministers vom 20. April 1904 ist auf das vom Hafen¬ 
arzt Dr. Nocht in Hamburg angewandte Verfahren bei der Desinfektion des mit 
mit Pest infizierten Ratten eingelaufenen Dampfers Cordowa hingewiesen und je ein 
Exemplar der in der Deutschen medizinischen Wochenschrift veröffentlichten Be¬ 
schreibung des Verfahrens den Hafenämtern der Preussischen Häfen zur Nach¬ 
achtung überwiesen. 


Nach dem Bericht des Instituts für Infektionskrankheiten über Schutzimpfung 
gegen die Tollwut sind bis zum Ausgang des Jahres 1903 in der 1898 gegründeten 
Abteilung für Schutzimpfung im ganzen 1816 Personen nach dem von Pasteur 
angegebenen Verfahren geimpft; von diesen sind 10 gestorben. Zieht man von 
diesen Verlusten, wie üblich, 3 ab, welche vor Beendigung der Impfung, und 4, 
welche innerhalb von 14 Tagen nach Beendigung der Impfung starben, so ver¬ 
ringert sich die Zahl der Todesfälle auf 9, gleich 0,49 pCt. der Geimpften. Unter 
Hinweis auf dieses günstige Ergebnis wird dringend geraten, dass niemand, der 
von einem tollen Hunde gebissen wurde, es unterlassen möge, sich unverzüglich 
der Schutzimpfung in dem Institut für Infektionskrankheiten zu unterziehen. 




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Amtliche Mitteilungen. 


Durch die Bekanntmachung des Reichskanzlers (Graf von Posadowsky) 
vom 18. Mai 1904, wird mitgeteilt, dass auf Grund der Bestimmungen im § 29 der 
Reichs-Gewerbeordnung der Bundesrat einer neuen Prüfungsordnung für Apotheker 
seine Zustimmung erteilt hat. 


ln der Zeit vom 31. Mai bis zum 10. Juni fand auf Grund des Erlasses des 
Herrn Ministers für die geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten 
vom 5. Mai 1904 in der Königlichen Versuchs- und Prüfungs-Anstalt für Wasser¬ 
versorgung u. s. w. in Berlin ein Unterweisungskurs für 12 Regierungs- und Medi¬ 
zinalräte statt, um dieselben mit den neueren Erfahrungen auf dem Gebiete der 
Wasserversorgung und Abwässerbeseitigung vertraut zu machen. 


Druck von Ij. Schumacher in Berlin N. 24. 


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I. Gerichtliche Medizin. 


7. 

Aus dem gerichtlich-medizinischen Institute der K. K. Jag.- 

Universität in Krakau. 

Experimentelle Studien zur Lehre vom 
Ertrinkungstod. 

Von 

Prof. Dr. Leo Wachholz, Dr. Stefan Horoszkiewicz. 

Vorstand des Institutes Assistenten am Institut. 


ln der vorliegenden Arbeit wollen wir die Ergebnisse unserer 
Forschungen auf dem Gebiete der Lehre vorn Ertrinkungstod nieder¬ 
legen. Da sich aber diese Forschungen auf verschiedene, dies Gebiet 
tangierende Fragen beziehen, so schien es uns angezeigt zu sein, über 
dieselben in vier nachstehenden Abschnitten zu berichten. 


I. Der physio-pathologische Mechanismus des Ertrinkungstodes. 

Der Unkenntnis des physio-pathologischcn Mechanismus des Er¬ 
trinkungstodes folgten Meinungsdifferenzen in Bezug auf die Todes¬ 
ursache nach Ertrinken, trotzdem diese Todesart seit altersher bekannt 
war und trotzdem schon Galenus (1) versuchte, an Affen sie näher 
zu erforschen. Anfänglich hatte man die Möglichkeit des Eindringens 
der Ertränkungsflüssigkeit in die Luftwege des Ertrinkenden vollkommen 
ausser Acht gelassen. So berichten z. B. Par6 (2), Zacchias(3) 
und Fedeli(4) über Eindringen der Ertränkungsflüssigkeit (Wasser) 
in den Verdauungskanal, wodurch der Bauch des Ertränkten an Um¬ 
fang gewinnen soll, verschweigen aber die Möglichkeit des Eindringens 
von Wasser in die Luftwege. Dennoch erachtet Zacchias eher die 
Aufhebung der Atmung als die Ausdehnung des Magens mit Wasser 
als Todesursache beim Ertrinken. Im chinesischen Si-Yuen-Lu (5) wird 
dem Befunde in den natürlichen Mündungen der oberen Luftwege be¬ 
sondere Aufmerksamkeit zugewendet; es wird nämlich hervorgehoben, 


Yiertelj&hrssohrift f. ger. Med. u. öff. San.-Wesen. 3. Folge. XXVIII. 2. 


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Original ffom 

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220 


l’rof. Leo Wach holz u. L>r. Stefan II oroszkiewicz, 


dass die Mund- und Nasenhöhle Ertrunkener Sand enthält, •welchen 
sie während des Ertrinkens vom Boden der Flüsse u. s. w. einatmen. 

Erst Sylvius(6) schreibt im Jahre 1630 die Todesursache beim 
Ertrinken an erster Stelle dem Eindringen von Wasser in die Atmungs¬ 
organe zu, seine Ansicht wurde aber von der medizinischen Fakultät 
in Leipzig im Jahre 1689, dann von Leonhardi, Walter, Borelli(7), 
Wepfcr, Waldschmid, Beckers (8) u. s. w. für irrig erklärt. Plater 
hat öfters im Kehlkopf Ertränkter Wasser, leider nur in spärlicher 
Menge gefunden und wagte deshalb nicht, diesen Befund mit der 
Todesursache in kausalen Zusammenhang zu bringen. Littre hatte 
sogar in den Lungen Wasser festgestellt, ebenfalls aber in unbe¬ 
trächtlicher Menge. Erst Morgagni (9) konnte an jungen Schweinen 
und Katzen, die er ertränkte, in den Lungen schaumige Flüssigkeit 
(„spumosus duntaxat humor manu e pulmonibus exprimebatur“), und 
trotzdem öfters eine stärkere Luftblähung derselben („sed aere hos 
magis, quam humore plenos deprehendi“) wahmchmcn. Morgagni 
gelangte zugleich auf Grund seiner Tierversuche und auf Grund von 
zwei Beobachtungen von Haller’s (bei zwei Leichen ertrunkener 
Frauen fand sich Wasser in den Lungen) zum Schluss, dass bei Leichen 
in kaltem Wasser Ertränkter weder im Magen noch in den Lungen 
Wasser nachgewiesen werden kann, „quia frigidissima tune aqua 
dcglutitionem inspirationemque prohibuisset“. Auf diese Weise wurde 
die früher für irrig erklärte Ansicht Sylvius’ durch die Versuche 
Morgagni’s und die Beobachtungen von Haller’s, sodann Louis’, 
Boerhaavc’s und Goodwyn’s (10) vollkommen bestätigt. Gegen¬ 
wärtig unterliegt es schon keinem Zweifel, dass während des Ertrinkens 
Wasser in die Atmungswege aspiriert wird, wenn auch Cuvier(ll) 
diese Tatsache jüngst auf Grund seiner Autoobservation zu widerlegen 
versucht. 

Bereits handelt es sich um Erforschung von drei Fragen d. i. 
1. in welcher Phase des Ertrinkens Wasser in die Atmungswege des 
Ertrinkenden, 2. in wie grosser Quantität und 3. wie tief es in die¬ 
selben eindringt. Neben diesen Fragen beschäftigte uns noch eine 
vierte Frage d. i. von was für Umständen die sehr verschiedenen 
Quantitäten des in die Atmungsorgane der Ertrunkenen aspirierten 
Wassers abhängen. 

Die Mehrzahl der Autoren teilt die während des Ertrinkens zu 
beobachtenden Symptome in drei Stadien ein d. i. in das Stadium 
des teils instinktiven, teils reflektorischen Einhaltens des Atems, in 


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Experimentelle Stadien zur l.ehre vom Ertrinkungstod. 


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das Stadium der Dyspnoe mit anfänglich überwiegenden Inspirationen, 
später aber mit krampfhaften Exspirationen und teils klonischen, teils 
titanischen Krämpfen, und in das asphyktische Stadium mit voll¬ 
kommener Sistierung der Atmung, Bewusstlosigkeit und Erloschensein 
der Reflexe, endlich mit sogenannten terminalen Atembewegungen, 
welche nicht konstant, verschieden an Zahl, in immer länger werden¬ 
den Intervallen aufzutreten pflegen. Diese terminalen Atembewegungen 
bestehen aus tiefen Inspirationen, die mit weitem Aufreissen des 
Mundes und Zusammenkrümmen des ganzen Körpers verbunden sind. 
Brouardcl und Loye(12) unterscheiden während des Ertrinkens 
fünf Phasen: 

1. Phase de surprisc, welche 5—10 Sekunden dauert und sich 
durch 1—2 Inspirationen auszeichnet; 

2. Phase de resistance der Atmung und der Bewegungen, die 
ca. 1 Minute dauert, wobei der Ertrinkende nicht atmet, um nicht 
Wasser zu aspirieren; 

3. Phase der tiefen Atmung, die ebenfalls ca. 1 Minute dauert 
und während derer der Ertrinkende sich ruhig verhält, mit oflenen 
Augen tief atmet und Wasser schluckt; 

4. Phase der aufgehobenen Atmung mit Schwund der Sensibilität. 
Sie dauert beinahe 1 Minute, die Pupillen erweitern sich; 

5. Phase der terminalen Atembewegungen von ca. 30 Sekunden 
zählender Dauer. 

Die Einteilung der Symptome in Stadien ermöglichte genauer den 
Zeitpunkt zu bestimmen, in welchem die meiste Quantität von Wasser 
in die Atmungsorgane aspiriert wird. Mayer, Wistrand (13), 
Krahmer(14) u. A. behaupteten, dass das Wasser in die Luftwege 
gleich beim ersten Untertauchen eindringe, Bert (15), Falk (16) und 
Zschokke(17) meinen hingegen, das Wasser werde erst nach Ein¬ 
treten der Bewusstlosigkeit aspiriert. Hofmann (18) und Seydel 
sind der Ansicht, dass das Wasser während der terminalen Atem¬ 
bewegungen in die Luftwege gelangt. Hof mann überzeugte sich 
davon durch Tierversuche, die er auf die Weise angestellt hat, dass 
er einige Tiere frei ertrinken liess, dass er aber anderen Tieren vor 
dem Eintritt der terminalen Atembewegungen die Luftröhre mit einer 
Schlinge zudrückte, wodurch kein Wasser in die tieferen Luftwege 
mehr eindringen konnte. In den Lungen der ersteren Tiere fand er 
stets die Ferrocyankaliumlösung, in der die Tiere ertränkt wurden, 
die Lungen der letzteren enthielten keine Ferrocyankaliumlösung. 


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l’rof. Leo Wachholz u. Dr. Stofan Horoszkiewicz, 


Hofmann meint, dass im zweiten d. i. dyspnoischen Stadium nur 
ausnahmsweise Wasser in die Luftwege ein dringen könnte, da zu 
dieser Zeit die Reflexerregbarkeit noch nicht erloschen ist und daher 
das inspirierte Wasser reflektorisch sofort exspiriert werden muss. 
Hofmann glaubte in den Versuchen, die Seydel (19) unternahm, 
die Bestätigung dieser seiner Ansicht gefunden zu haben. Seydel 
ertränkte Kaninchen von ein und demselben Gewicht teils in kaltem, 
teils bis zur Bluttemperatur erwärmtem Wasser, teils im nüchternen 
Zustande, teils nach vorangegangener Chloroformnarkose. Nach er¬ 
folgtem Tode wurde den Leichen die Luftröhre fest unterbunden, 
sodann das Verhältnis zwischen dem gesamten Körpergewicht der Tiere 
und dem Gewicht ihrer Lungen ermittelt. Dies Verhältnis fiel bei 
den vor dem Ertrinken chloroformierten Tieren wie 1 : 58,2 aus, bei 
in warmem Wasser ertränkten wie 1 : 56 bis 1 : 68, bei in kaltem 
Wasser ertränkten wie 1: 70. Da nun aus diesen Versuchsergebnissen 
hervorgeht, dass in die Luftwege des Ertrinkenden destomehr Wasser 
cindringt, je mehr die Erregbarkeit der Luftwege herabgesetzt ist und 
je geringer erregend das eindringende Wasser auf dieselben cinwirkt, 
so können sic auch zur Bestätigung der oben erwähnten Meinung 
Hofraann’s herangezogen werden. Unterdessen haben aber Noth¬ 
nagel und Paltauf bewiesen (20), dass die Luftwege an verschiedenen 
Stellen verschieden erregbar sind, dass der Grad ihrer Erregbarkeit 
je nach der Individualität wechselt, dass endlich durch wiederholte 
Reizungen dieselbe schnell erlischt. Auf diese Weise kann nun nach 
Pal tauf schon bei der ersten tiefen Inspiration Wasser in die Luft¬ 
wege gelangen und dort zurückgehalten werden. Deswegen wird von 
Pal tauf die Möglichkeit, dass die Ertränkungsflüssigkeit noch vor 
dem Eintreten der terminalen Atembewegungen in die Atmungsorgane 
eindringen und Zurückbleiben kann, nicht von der Hand gewiesen (21). 
Brouardel und Loye wiederholten die Versuche Bcrt’s und bemühten 
sich die in einzelnen Phasen des Ertrinkens in die Luftwege ein¬ 
dringenden Wassermengen zu bestimmen. Zu diesem Zweck wurden 
Tieren in die Luftröhre Kanülen von der Gestalt eines Y eingeführt. 
Der eine Arm der Kanüle erlaubte den Tieren frei zu atmen, der 
andere war mit einem Wasserbehälter verbunden und blieb bis zum 
Beginn des Versuches geschlossen. Der Wasserbehälter enthielt einen 
Schwimmer, welcher die jeweiligen Schwankungen der Wasserober¬ 
fläche an rotierenden Trommeln genau aufzeichnete. Ausserdem wurden 
die Tiere mit einem Pneumo- und Kymographen versehen, die eben- 


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Experimentelle Studien zur Lehre vom Ertrinkungstod. 


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falls ihre Kurven auf denselben Trommeln verzeiehncten. Zu Beginn 
des Versuches wurden die Tiere in einer mit Wasser gefüllten Wanne 
untergetaucht, zugleich wurde der eine Arm der Trachealkanüle ge¬ 
schlossen, der andere hingegen, welcher mit dem Wasserbehälter in 
Verbindung stand, geöffnet. Die in einzelnen Phasen in die Luftwege 
aspirierten Wassermengen wurden auf diese Weise durch den Schwimmer 
genau notiert. Die Tiere gingen bei diesen Versuchen unter denselben 
Symptomen zu Grunde, wie bei gewöhnlichem Ertrinken. In der 
„phasc de surprise“ aspirierten die Tiere nur unbeträchtliche (22 ccm) 
Wassermengen, in der dritten Phase aspirierten sic 4 / 5 jener Wasser¬ 
menge, die sie überhaupt von Beginn des Versuches bis zum Tode 
einatmen konnten. Diese Wassermenge belief sich bei einem 5 kg 
schweren Hunde auf 352 ccm. In der zweiten und vierten Phase 
drang kein Wasser ein, in der fünften Phase (der terminalen Atem¬ 
bewegungen) aspirierten die Tiere wieder nur unbedeutende (bis 22 ccm) 
Wassermengen und dies ohne Rücksicht auf die Zahl und Ergiebigkeit 
der terminalen Atembewegungen. Nach Brouardel und Loye wird 
also die meiste Wassermenge im dritten d. i. im dyspnoischen Stadium 
und nicht im Stadium der terminalen Atembewegungen vom Ertrinken¬ 
den aspiriert. Strassmann (22) erachtet die Ergebnisse der Ver¬ 
suche ßrouardel’s und Loye’s für nicht beweiskräftig, da in diesen 
Versuchen durch die ausgeführte Tracheotomie Ausnahmebedingungen 
geschaffen worden seien, die bei gewöhnlichem Ertrinken nicht Vor¬ 
kommen. Trotzdem aber erwähnt Strassmann die Ergebnisse der 
von seinem Schüler Brückner (23) in der von Hofmann angewandten 
Weise ausgeführten Versuche, laut denen Brückner zu gleicher An¬ 
sicht wie Brouardel und zur entgegengesetzten wie Hofmann ge¬ 
langt. Nach Brückner kann die Aspiration von Wasser in die Luft¬ 
wege nicht von den terminalen Atembewegungen abhängen, denn 
einerseits können sie vollkommen ausbleiben, andererseits müssen sie 
als ein Teil der allgemeinen, kurz dauernden Muskelzuckungen des 
ganzen Körpers gedeutet werden, weswegen sie auch nicht im Stande 
sind, bei gleichzeitigem, krampfhaftem Glottisverschluss durch den 
Kehldeckel besonders grössere Quantitäten Wassers in die Lungen zu 
befördern, in denen das im früheren Stadium aspirierte Wasser die 
negativen Druckverhältnisse zum Minimum herabsetzte. Die oben¬ 
erwähnte Ansicht Brouardel’s und Loye’s wird von allen franzö¬ 
sischen Forschern und jüngst auch von Stoenescu (24) geteilt. 

Revenstorf (25) schreibt dem Gesagten zufolge irrtümlich 


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Prof. Leo Wachholz u. Dr. Stefan Horoszkiewicz, 

Brouardel und Loyc die Behauptung zu, die Ertränkungsflüssigkeit 
gelange um so tiefer in die Lungen hinein und in um so ergiebigerer 
Menge, je länger die terminalen Atembewegungen gedauert haben und 
je intensiver sie gewesen sind. Revenstorf beruft sich des weiteren 
auf die Beobachtung Brouardel’s, dass die Resorption von Wasser 
durch die Lungenkapillaren nur in Fällen einer langsamen Ertränkung 
(„submersion prolongec u ) zum Ausdruck gelangt. Wir lassen vorläufig 
die Richtigkeit dieser Beobachtung ausser Acht, wir müssen aber be¬ 
merken, dass die daran sich anknüpfenden Erwägungen Revenstorf’s 
wenig stichhaltig erscheinen. Den Grund, dass bei schnellem Ertrinken 
das Blut der linken Herzhälfte nach Brouardel keine Verdünnung 
durch das in die Lungen aspirierte Wasser erfährt, findet Revenstorf 
darin, dass dabei die in der Lunge noch befindliche Residualluft dem 
mit den terminalen Atembewegungen eindringenden Wasser nicht bis 
in die Alveolen hinein zu gelangen gestattet. Bei dem protrahierten 
Verlauf des Ertrinkens gelangt, seiner Ansicht nach, das Wasser viel¬ 
fach vor dem Tode in die Luftwege und es wird anfangs kräftig, 
später aber mit zunehmender Ermüdung und herabgesetzter Reflex¬ 
erregbarkeit mangelhaft exspektoriert; die terminalen Atembewegungen 
befördern dies bereits schon in den Luftwegen befindliche Wasser bis 
in die Alveolen hinein. Diese theoretischen Erwägungen Revenstorf's 
stehen aber mit der von ihm zuvor hervorgehobenen und von ihm 
geteilten Ansicht, dass das Wasser erst mit den terminalen Atem¬ 
bewegungen in die Luftwege gelangt, in krassem Widerspruch, indem 
er annimmt, dass es sich auch vor dem Stadium der terminalen 
Atembewegungen in den Luftwegen befindet. Unserer Ansicht nach 
kann eine „submersion prolongee“ nicht im Sinne Revenstorf’s auf 
die Menge des bis in die Alveolen aspirierten Wassers von Einfluss 
sein, denn es müssen die terminalen Atembewegungen infolge der bei 
verlängertem Verlaufe stärkeren Ermüdung der gesamten Kürper¬ 
muskulatur schwächer und geringer an Zahl ausfallen. 

Der günstige Einfluss einer „submersion prolongee“ auf die Tiefe, 
bis zu welcher Wasser in die Luftwege gelangt, kann eher dadurch 
erklärt werden, dass der mehrmals aus der Wassertiefe auftauchende 
Ertrinkende zuerst das schon aspirierte Wasser aus seinen Luftwegen 
herauszubefördern versucht, dabei aber neben Wasser Luft aus dem 
unter den Wasserspiegel in seinen Lungen mitgebrachten Vorrat exspek¬ 
toriert. Je mehr nun dieser Luftvorrat in den Lungen dadurch ge¬ 
schmälert wird, desto tiefer muss nach abermaligem Untertauchen das 


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Experimentelle Studien zur Lehre vom Ertrinkungstod. 


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neu aspirierte Wasser in die Luftwege (in die Alveolen) eindringen. 
Dessenungeachtet muss Revenstorf zu den Vertretern der Hof- 
mann’schen Ansicht, dass die Ertränkungsflüssigkeit erst mit den 
terminalen Atembewegungen eindringt, gezählt werden. 

Die einmal festgestellte Tatsache, dass während des Ertrinkens 
Wasser bis in die Alveolen und über dieselben in das Blut der Lungen¬ 
kapillaren, endlich in das Blut der linken Herzhälfte gelangt, führte 
dazu, die Diagnose des Ertrinkungstodes auf den Nachweis der Ver¬ 
dünnung des linken Herzblutes zu stützen. Zu diesem Zweck hat 
Carrara (26) zwei Methoden angegeben d. i. die Bestimmung des 
osmotischen Druckes (A) im Blut der linken Herzhälfte mittels des 
Kryoskops und die Bestimmung der elektrischen Leitfähigkeit des¬ 
selben Blutes mittels des Kohlrausch'schen resp. Ostwald’schcn 
Apparates. Die von Carrara mittelst des Kryoskops erzielten posi¬ 
tiven Erfolge wurden experimentell von Revenstorf (27), Stoenescu 
und H. K. W. Schmidt (28) bestätigt. Diese kryoskopischen Ver¬ 
suche, die von Placzek (29) mit dem Haram crschlag’schen Aräo¬ 
meter ausgeführten Bestimmungen der Dichte des linken Herzblutes, 
die Zählung der roten Blutkörperchen in demselben (Brouardel und 
Vibcrt [30]), die quantitative Bestimmung des Hämoglobins von 
Paltauf (31), die Bestimmung des trockenen Rückstandes von Brou¬ 
ardel und Loye (32) u. s. w. haben hinlänglich bewiesen, dass das 
Blut der linken Herzhälfte durch Ertrinken stets mehr oder weniger 
mit Wasser verdünnt wird und zwar auch dann, wenn das Ertrinken 
schnell verlief. Da nun diese Verdünnung sich kaum einstellen 
könnte, wenn der Ertrinkende nur mit den terminalen Atembewegun¬ 
gen Wasser aspirieren würde, weil ja doch dieses Stadium nach 
Brouardel und Loye nur durch ca. 30 Sekunden dauert und dem 
Tode dicht vorangeht, so steht auch die bereits bewiesene Verdünnung 
des linken Herzblutes mit der Ansicht Hofmann’s, das Wasser werde 
erst in diesem Endstadium aspiriert, in gewissem Widerspruche. 

Diese bereits erwähnten Meinungsunterschiede bewogen uns, den 
physio-pathologischen Mechanismus des Ertrinkungstodes genau zu 
studieren, insbesondere aber waren wir. bemüht, nachstehende Fragen 
experimentell zu lösen: 

1. in welcher Reihenfolge die Symptome während des Ertrinkens 
zum Vorschein gelangen? 

2. in welchem Stadium die meiste Quantität Wasser aspiriert und 
in den Luftwegen zurückgehalten wird? 


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3. von was für welchen Faktoren und in wie hohem Grade die 
Menge des aspirierten Wassers abhängt? 

4. erlaubt die von Carrara empfohlene kryoskopische Blutunter¬ 
suchungsmethode den Ertrinkungstod festzustellen? 

Die zur Lösung dieser Fragen an Kaninchen, Katzen und Hunden 
angestellten Versuche teilen wir wegen der verschiedenen Art ihrer 
Ausführung und ihres Zweckes in 4 Gruppen. 


1. Versuchsreihe. 

Diese Versuchsreihe besteht aus 12 Experimenten, die auf die 
Weise ausgeführt worden sind, dass die Dichte des Blutes nach 
Placzek mit dem Hammerschlag’schen Aräometer, A desselben 
und die Zahl der roten Blutkörperchen sowohl vor dem Ertränken, 
wie auch nach dem Ertränken bestimmt wmrden. Die Versuchstiere 
(Katzen und Hunde) wurden teils in gewöhnlichem, teils in mit Methylen¬ 
blau stark gefärbtem, kaltem oder bis -]- 37° C. erwärmtem Wasser 
ertränkt. Das Ertränken geschah schnell, indem die Tiere mit fest¬ 
gebundenen Extremitäten und mit Gewichten belastet in geräumige 
Wasserbehälter gestürzt wurden, weswegen sie auch gegen die Wasser¬ 
oberfläche nicht auftauchen konnten. Die belastenden Gcw'ichtc be¬ 
fanden sich einseitig an den Extremitäten. Einigen Tieren hatte man 
die zuvor blossgelegte Luftröhre vor dem Eintritt der terminalen Atem¬ 
bewegungen mittels chirurgischer Kompressorien dicht zugedrückt und 
dann die Tiere aus dem Wasser herausgezogen. Der Tod der Tiere 
trat durchschnittlich in 4 Min. 3 Sek., maximal in 5 Min., minimal 
in 3 1 /o Minuten ein. Die ‘Dichte des Blutes der Hunde belief sich 
vor dem Ertränken im Mittel auf 1062, das A auf —0,61, die Zahl 
der Erythrocyten auf 6 800 000, die Dichte des Blutes der Katzen 
vor dem Ertränken auf 1057, das A auf — 0,64, die Zahl der roten 
Blutkörperchen auf 9 200 000. 

Nach dem Ertränken beliefen sich dieselben Werte im Mittel bei 
Hunden: Dichte = 1048, A = —0,34, Zahl der Erythrocyten = 
4 400 000; bei Katzen: Dichte = 1046, A = —0,43, Zahl der 
Erythrocyten = 6 300 000. * Das zu untersuchende Blut entnahm 
man zu Lebzeiten aus den Karotiden, nach dem Tode (durchschnitt¬ 
lich V 2 Stunde nach erfolgtem Tode) aus der linken Herzhälfte, wobei 
die zur Kryoskopic bestimmte Blutportion stets genau defibriniert 
wmrden war. 

Bei 3 Hunden (Durchschnittsgewicht 8200 g), denen vor dem 


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Eintritt der terminalen Atembewegungen die Luftröhre zugedrückt 
wurde, waren die Lungen sehr umfangreich, sie kollabierten nicht bei 
der Eröffnung des Thorax und enthielten reichlich Mcthylenblaulösung, 
in welcher die Tiere ertranken. Die überlappen und schon zumeist 
ihre der Lungenwurzel zunächst gelegenen Partien der Lungen waren 
intensiver blau gefärbt und mit dieser Lösung gefüllt, als die Enter¬ 
lappen und die mehr gegen die Ränder der Lungen gekehrten Partien. 
Die Dichte ihres Blutes belief sich vor dem Ertränken im Mittel auf 
1065, das A auf — 0,61, nach dem Tode die Dichte auf 1051, das 
A auf — 0,38. Das A des Institutsleitungswassers, in welchem die 
Tiere aller Versuchsreihen ertränkt wurden, lag bei —0,012. Die 
obenerwähnten Dichte- und A-Werte erhielt man nach dem Tode, 
trotzdem die Hunde während der 3 resp. 15 und 20 bei ihnen ge¬ 
zählten terminalen Atembewegungen kein Wasser mehr in die Lungen 
zu aspirieren vermochten. Bei einem Hunde von 4530 g Gewicht 
und bei einer 2820 g schweren Katze, die ebenfalls in derselben 
Methylenblaulösung nur ohne Zudrücken ihrer Luftröhre ertränkt 
worden waren, zeigten die Lungen dasselbe, obenerwähnte Bild. Die 
Dichte des Hundeblutes vor dem Tode = 1060, A = — 0,60; nach 
dem Tode die Dichte = 1045, A = —0,31. Die Dichte des 
Katzenblutes vor dem Tode = 1055, A = —0,64; nach dem Tode 
die Dichte = 1042, A = — 0,43. Dasselbe Ergebnis lieferte der 
Versuch mit einem 3670 g schweren Hunde, der ohne Zudrücken 
seiner Luftröhre in derselben bis ca. 37° C. erwärmten Methylenblau¬ 
lösung ertrank. Die Dichte seines Blutes vor dem Tode = 1061, 
A = —0,61, nach dem Tode A = —0,26. 

Diese Versuche beweisen also, dass die meiste Quantität des 
Wassers noch vor Eintritt der terminalen Atembewegungen aspiriert 
wird, denn es konnte kein Unterschied in dem Verhalten der Lungen 
von frei ertränkten Tieren und solchen, denen man die Luftröhre vor 
den terminalen Atembewegungen zudrückte, festgestellt werden, ausser¬ 
dem waren die Dichte und A-Unterschiede dieser Tiere nur sehr 
geringfügig. Die Differenz zwischen der Dichte vor dem Tode und 
nach dem Tode jener Tiere, denen man die Luftröhre vor Eintritt 
der terminalen Atembewegungen zudrückte, zählte 14, dieselbe Diffe¬ 
renz der A = 0,23. Dieselben Differenzen bei den frei ohne Zu¬ 
drücken der Luftröhre ertränkten Tieren beliefen sich auf 15 und 13 
für die Dichte und auf 0,29 und 0,21 für das A- Diese Erfolge der 
Verdünnungsbestimmung im Blute frei und mit Zudrücken der Luft- 


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röhre ertränkter Tiere stehen übrigens im Einklänge mit allen bis jetzt 
von anderen Experimentatoren erzielten Resultaten der kryoskopischen 
Blutuntersuchung, welche bei schnellem Ertränken stets ergiebige Er¬ 
höhung des Gefrierpunktes nachwics. Es ist kaum zu denken, dass 
das nach Hofmann nur während den terminalen Aterabcwegungen 
zu aspirierende Wasser in der kurzen Zeit, die noch zum gänzlichen 
Aufhören des Blutkreislaufes erübrigt, und während der die Herz¬ 
tätigkeit und der Blutdruck sehr schwach resp. herabgesetzt erscheinen 
(Brouardel [33]), eine so bedeutende Blutverdünnung zu verursachen 
vermöchte. Dieser Einwand gegen die Ansicht Hofmann’s entging 
Revenstorf (34) bei seinen schon angeführten Erwägungen. Der 
Versuch mit Ertränken in warmem Wasser ergab eine bedeutendere 
Blutverdünnung (A-Differenz — 0,35) als jene mit Ertränken in 
kaltem Wasser (A-Differenz = 0,29). Daraus folgt nun der Schluss, 
dass beim Ertrinken in warmem Wasser mehr Wasser in die Lungen 
aspiriert wird, als beim Ertrinken in kaltem Wasser. Dieser die 
schon von Morgagni und vor einiger Zeit von Seydel gemachte 
Beobachtung bestätigende Versuch kann keineswegs zur Aufrecht¬ 
erhaltung der Hofmann’schen Ansicht über das Stadium, in welchem 
Wasser in die Lungen eindringt, dienen, denn erstens zählten wir bei 
dem in warmem Wasser ertränkten Hunde nur zwei, mässig kräftige 
terminale Atembewegungen, zweitens ist es klar, dass das warme 
Wasser die Luftwege weniger als das kalte zum Exspektorieren reizt. 
Da aber im Stadium der terminalen Aterabewegungen die Reflexerreg¬ 
barkeit der Luftwege so herabgesetzt, beziehungsweise gänzlich er¬ 
loschen erscheint, dass der schwächere Reiz, den das warme Wasser 
für die Luftwege bildet, nicht mehr zur Geltung gelangt, so muss er 
auf ein früheres Stadium als das der terminalen Atembewegungen 
bezogen werden. 


2. Versuchsreihe. 

Dieselbe besteht aus 20 — an 9 Katzen und 11 Hunden — 
angestellten Versuchen. Vor und nach jedem Versuch wurde A des 
zu Lebzeiten einer Karotis und nach dem Tode der linken Herzhälfte 
entnommenen Blutes bestimmt. Fünf an 3 Katzen vom Mittelgewicht 
3 kg und an 2 Hunden vom Mittelgewicht 6 kg unternommene Ver¬ 
suche wurden auf die Weise ausgeführt, dass man den Tieren eine 
Trachealkanüle einlegte, deren freies Ende mit einem Gummischlauch 
verbunden war. Das freie Ende des Schlauches hatte man bei Beginn 


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Experimentelle Studien zur Lehre vom Ertrinkungstod. 


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des Versuches in einen mit Wasser gefüllten Messzylinder bis zu 
dessen Boden eingeführt; diese Anordnung gestattete, jene Wasser- 
mengen quantitativ zu bestimmen, die vom Tier in einzelnen Stadien 
aspiriert worden waren. 

In anderen 15 Versuchen (6 Katzen vom Mittelgewicht 2 3 / 4 kg 
und 9 Hunde vom Mittelgewicht. 6 kg) hat man die von Brouardel 
und Loye angewandte Anordnung getroffen. Zu diesem Zweck war 
die Trachealkanüle mit einem Y-Rohr verbunden, dessen einer Arm 
wieder mit einem Rohr eines kalibrierten Wasserbehälters in Verbindung 
stand. In dem Wasserbehälter befand sich noch ein zweites, kurzes 
Rohr, aus welchem sich das freie Ende eines Schwimmers erhob. 
Dies Ende war mit einer Schreibvorrichtung versehen, die eine den 
Schwankungen des Wasserspiegels entsprechende Kurve auf eine 
(rotierende Trommel) bewegliche Papierrolle zeichnete. Der zweite 
Arm des Y-Rohres, welcher auch eine Gummiverlängerung trug, erlaubte 
dem Tiere vor Beginn des Versuches Luft zu atmen. Bei Beginn des 
Versuches wurde dieses Ende mit einer Klemme zugedrückt und in 
demselben Augenblick jene Klemme entfernt, die die Verbindung des 
anderen Armes mit dem Wasserbehälter verschloss, infolge dessen 
musste das Tier anstatt Luft Wasser atmen. Die Wasseroberfläche 
befand sich bei Beginn der Versuche 25—30 cm über dem Niveau 
der Luftröhre der Tiere. In den ersten 6 Versuchen (siehe die Zu¬ 
sammenstellung) war das Verbindungsrohr, durch welches die Tiere 
Wasser atmeten, von oben in den Wasserbehälter eingesetzt und so 
mussten diese Tiere das Wasser selbst aspirieren. In allen anderen 
Versuchen und auch in den weiter zu besprechenden Versuchsreihen 
lief dies Rohr von unten d. i. vom Boden des Wasserbehälters aus 
so, dass die auf diese Weise ertränkten Tiere wie untergetaucht sich 
befanden, indem das Wasser bei Beginn des Versuches unter dem 
Druck einer 13— 15 cm hohen Wassersäule in ihre Luftwege einlief. 
Diesem Umstand müssen die bedeutend grösseren Wassermengen zu¬ 
geschrieben werden, welche die in der zuletzt beschriebenen Weise 
ertränkten Tiere im Vergleich mit den ersten 6 Versuchstieren 
aspiriert hatten. Da sich Brouardel und Loye (35) überzeugten, 
dass bei dieser Versuchsanordnung das Resultat, um welches es 
sich handelt, vom Untertauchen des Versuchstieres gar nicht abhängig 
ist, so wurden die Tiere bei unseren Versuchen mit Ausnahme jener 
zwei in der dritten Versuchsreihe zu erwähnenden nicht in Wasser 
versenkt. 


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In allen diesen Versuchen konnte man die 5 Phasen Brouardel’s 
und Loye’s genau beobachten. Die Dauer dieser Phasen betrug: 

1. Phase von 4— 16 Sekunden 

2. „ „ 27— 60 „ 

3. „ „ 60-150 

4 - V » 6 °— 96 » 

5. „ „ 29 50 „ 

Der Tod trat nach 3 Minuten bis 6 Minuten 2 Sekunden und 
nur einmal nach 8 Minuten ein. Diese ungewöhnlich lange Versuchs¬ 
dauer beobachteten wir bei einem 4650 g schweren Hunde, den wir 
vor Beginn des Versuches mittelst Aether narkotisiert haben. 

In der nebenbei stehenden Zusammenstellung werden genau die 
Einzelheiten von 15 noch zu besprechenden Versuchen zusammen- 
gcstellt. 

Diese Versuche ergeben nun, dass das Tier gleich in der ersten 
Phase Wasser inspiriert, aber den grössten Teil desselben gleich 
danach exspektoriert, sodass die zu Ende dieser Phase in den Luft¬ 
wegen zurückbleibende Wassermenge durchschnittlich x / 7 der während 
des ganzen Versuches aspirierten und in den Luftwegen behaltenen 
Wasserquantität ausmacht. Der grösste Teil der gesamten aspirierten 
Wassermenge wird in der dritten Phase in die Luftwege eingezogen, 
wobei er nicht auf einmal, sondern allmählich bei einzelnen Inspi¬ 
rationen eindringt und teilweise zurückbehalten wird. Die während 
der Dauer der dritten Phase aspirierten und in den Luftwegen be¬ 
haltenen Wassermengen sind unter III. in der Zusammenstellung ver¬ 
zeichnet. In der letzten Phase wird trotz einer manchmal grösseren 
Zahl und Tiefe der terminalen Atembewegungen nur eine spärliche 
Wassermenge in die Luftwege eingezogen. Zumeist konnte man wahr¬ 
nehmen, dass das Tier die bei terminaler Inspiration eingedrungene 
Wassermenge bei der gleich danach folgenden terminalen Exspiration 
vollständig auswarf so, dass dadurch kein Wasser in den Luftwegen 
in dieser Phase behalten werden konnte. Manchmal waren wieder 
die terminalen Exspirationen stärker als die terminalen Inspirationen, 
wodurch das Tier in dieser Phase nicht nur kein Wasser in seinen 
Luftwegen zurückhielt, vielmehr noch einen Teil des in den vorigen, 
besonders in der dritten Phase aspirierten Wassers ausstiess (Versuch 
4, 10, 22). In diesen Versuchen, in denen das Tier einen Teil des 
in der letzten Phase aspirierten Wassers in seinen Luftwegen behielt, 
betrug diese Menge durchschnittlich y 16 , maximal y 7 , minimal y 32 


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Prof. Leo Wach holz u. Dr. Stefan Horoszkicwicz, 

der gesamten in den Luftwegen behaltenen Wassermengen. Daraus 
folgt nun, dass die terminalen Atembewegungen einen sehr geringen 
und deswegen ausser Betracht kommenden Einfluss auf die gesamte 
während des Ertrinkens aspirierte und in den Luftwegen behaltene 
Wassermenge ausüben. Dieser Schluss wird noch durch den Ausfall 
des 14. Versuches bekräftigt. In diesem Versuch wurde in der vierten 
Phase die Verbindung mit dem Wasserbehälter abgeschlossen so, dass 
das Tier mit den 11 terminalen Inspirationen kein Wasser mehr 
aspirieren konnte. Trotzdem war die hier aspirierte und in den Luft¬ 
wegen behaltene Wassermengc für 1 kg Körpergewicht grösser als 
dieselbe Menge für 1 kg im 10. Versuch, obwohl daselbst das Tier 
5 terminale Atembewegungen machte und dabei Wasser einzichcn 
konnte. Als Beweis dessen, dass die terminalen Atembewegungen 
auf die Gesamtmenge des aspirierten Wassers beinahe keinen Einfluss 
üben, kann der Ausfall der kryoskopischen Blutuntersuchung gelten. 
Das Blut des 14. Versuchstieres erwies vor dem Ertränken Ai = 
— 0,60, und bald nach dem Ertränken As — —0,43, somit Ai—A2 
= 0,17. Denselben A“U n t ersc hied fanden wir im 12. Versuche 
(Ai — —0,64, A 2 = —0,57; Ai — As — 0,17), trotzdem hier das 
Tier 13 terminale Atembewegungen machte und dabei Wasser aspi¬ 
rieren konnte. 

In 4 Versuchen wurden die Tiere zuerst mit Billroth’schem 
Gemenge tief narkotisiert. Wir konnten nun die von Brouardelund 
Loye (36) erwähnte Tatsache, dass bei narkotisierten Tieren die ersten 
zwei Phasen gänzlich entfallen, vollkommen bestätigen. Daraus folgt 
aber, dass das Zustandekommen der ersten zwei Phasen innig von 
der erhaltenen Reflexerregbarkeit der oberen Luftwege und dem er¬ 
haltenen Bewusstsein des Ertrinkenden abhängt. Die zuvor narkoti¬ 
sierten Tiere aspirierten sofort mit Beginn des Versuches das Wasser 
und zwar so, dass sie in den ersten Sekunden ununterbrochen ca. -/ z 
der gesamten bis zum Todeseintritt inspirierten Wassermenge einge¬ 
atmet haben, sodann erst stellten sich auch Exspirationen ein, wo¬ 
durch der Wasserspiegel im Behälter die den alternierenden In- und 
Exspirationen entsprechenden Schwankungen darbot. Bei den narko¬ 
tisierten Tieren haben wir stets viel zahlreichere und tiefere Terminal¬ 
atembewegungen wahrgenommen als bei nicht narkotisierten. Die 
Durchschnittszahl dieser Atembewegungen beläuft sich bei ersteren 
auf 12, bei letzteren nur auf 5. Dementsprechend verhält sich auch 
die in dieser Phase aspirierte und behaltene Wassermenge, wenn über- 


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haupt die Tiere in dieser Phase aspiriertes Wasser in ihren Luftwegen 
zurückhielten. 

Die durchschnittliche Wassermenge, die von zwei narkotisierten 
Tieren (Versuch 8 und 13) in der V. Phase aspiriert und behalten 
worden war, beträgt 28 ccm, dieselbe Wassermenge bei zwei nicht 
narkotisierten Tieren (Versuch 9 u. 11) beläuft sich nur auf 12,5 ccm. 
Der Mittelwert der für 1 kg Körpergewicht berechneten Quantität 
Wassers, welche die zuvor narkotisierten Tiere während des Ertränkens 
aspiriert und in ihren Luftwegen behalten haben, beträgt 44,8 ccm, 
derselbe Wert für nicht narkotisierte Tiere beträgt nur 36,4 ccm. 
Auf diese Weise ist es wieder festgestellt, dass die zuvor narkotisierten 
Tiere mehr Wasser aspirieren und in ihren Luftwegen behalten, als 
nicht narkotisierte Tiere. Anders dagegen verhielten sich bei diesen 
Tieren die A* Unterschiede, denn während bei den narkotisierten 
Ai—A> im Mittel 0,15 betrug, so stellte sich derselbe A-Unterschied 
bei den nicht narkotisierten auf 0,20. Daraus folgt nun, dass bei den 
vor dem Ertränken narkotisierten Tieren das Blut der linken Herz¬ 
hälfte weniger verdünnt wird, als dasselbe Blut der nicht narkoti¬ 
sierten, trotzdem erstere mehr als letztere Wasser aspirieren und in 
ihren Luftwegen behalten. Dies Missverhältnis zwischen der aspirierten 
Wassermenge und dem Verdünnungsgrad des Blutes in der linken 
Herzhälfte sollte nun erklärt werden. Zuerst lehrten uns die bereits 
besprochenen Versuche, dass die narkotisierten Tiere während des 
Ertränkens viel länger am Leben bleiben (im Mittel 6 Minuten, maximal 
8 Minuten, minimal 4 Minuten 32 Sekunden), als die nicht narkoti¬ 
sierten (ira Mittel 4 Min. 7 Sek., maximal 5 Min., minimal 3 Min., 
wobei der Todeseintritt mit dem Augenblick der Sistierung des Atmungs¬ 
vorganges und der Herztätigkeit bezeichnet wurde). Dieser Umstand 
war auch schon von Brouardel und Loye hervorgehoben worden (37). 
Ausserdem fiel es uns auf, dass die Herztätigkeit bei den zuvor 
narkotisierten Tieren bedeutend länger (bis 1 Minute) nach Aufhören 
der terminalen Atembewegungen, als bei den nicht narkotisierten, an¬ 
dauerte. Dies bewog uns, an 2 Kaninchen das Verhalten des Blut¬ 
drucks während des Ertränkens mit und ohne vorhergegangene Narkose 
zu prüfen. Bei dem einen, nicht narkotisierten Kaninchen erhob sich 
der arterielle Blutdruck in den ersten 9 Sekunden während des Er¬ 
tränkens über die Norm, sodann stellten sich bis Ende der 39. Sekunde 
erhebliche Schwankungen, von da ab bis Ende 1 Min. 16 Sek., von 
Beginn des Ertrinkens ist er allmählich bis auf 0 gesunken und 


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Prof. Leo Wachholz u. Dr. Stefan Iloroszkiowicz, 


wies nur während der terminalen Atembewegungen kurze Erhöhungen 
auf. Dies Verhalten entsprach vollkommen den Untersuchungsergeb¬ 
nissen Pisek’s (38), Brouardel’s und ßorri’s (39). Anders verhielt 
sich der Blutdruck bei dem zweiten, vor dem Ertränken tief mittelst 
Billroth’schem Gemenge eingeschläferten Kaninchen. Jn den ersten 
8 Sekunden erfuhr er keine Aenderung, sodann fing er an zu sinken 
so, dass er zu Ende der weiteren 7 Sekunden um 2 /a niedriger war, 
wie bei Beginn. Im weiteren Verlauf erhob er sich bis Ende 1 Min. 
20 Sek. seit Versuchsanfang um y 3 seiner anfänglichen Höhe, von da 
fiel er allmählich bis 0 und erhob sich mehrmals auf kurze Zeit und 
schwach während der terminalen Atembewegungen. Dies verschiedene 
Verhalten des Blutdruckes bei narkotisierten und nicht narkotisierten 
Tieren zeichnete sich ausser anderem dadurch aus, dass das Abfallen 
bis 0 bei narkotisierten Tieren viel später eintrat als bei den wach 
ertränkten, denn während der Blutdruck bei dem wach ertränkten 
Kaninchen den 0-Punkt nach Ablauf von 1 Min. 16 Sek. beinahe 
schon erreichte, war er nach 1 Min. 20 Sek. beim zuvor narkotisierten 
Kaninchen erst kaum um y s niedriger, wie bei Beginn des Versuches 
und er fiel bis 0 erst nach 3 Min. 40 Sek. herab. 

Schon Carrara (40) hat darauf hingewiesen, dass mitunter der 
/^-Unterschied zwischen dem Blut der linken und rechten Herzhälfte 
eines Ertrunkenen ausbleiben kann. Diese Gleichartigkeit der A-Werte 
des rechten und linken Herzblutes erklärt Carrara auf folgende 
Weise: Wie gross das Absorptionsvermögen der Lungenschleimhaut für 
Wasser auch sein mag, kann es sich doch vor dem Stillstand des 
Herzens ganz erschöpfen. Ist dies eingetreten, so muss die Fort¬ 
dauer des Kreislaufes die Unterschiede in der Blutkonzentration in 
den beiden Herzhälften vermindern, resp. auch gänzlich aufheben. 

Diese Behauptung Carrara’s könnte unserer Ansicht nach zur 
Erklärung der von uns oben schon erwähnten Beobachtung dienen, 
dass bei den vor dem Ertränken narkotisierten Tieren das Blut der 
linken Herzhälfte weniger mit Wasser verdünnt erscheint, als dasselbe 
Blut der im wachen Zustande ertränkten. Denn, da bei erschöpfter 
Resorptionsfähigkeit der Lungenschleirahaut durch Fortdauer des Kreis¬ 
laufes das verdünnte Blut aus der linken Herzhälfte in die rechte 
Hälfte geleitet wird, so muss einerseits das rechte Herzblut dadurch 
eine, wenn auch mässige, Verdünnung erfahren, andererseits aber das 
linke Herzblut durch Zufluss des sich nicht mehr in den Lungen ver¬ 
dünnenden Blutes eine höhere Konzentration erlangen, als es zuvor, 

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Experimentelle Studien zur Lehre vom Ertrinkungstod. 


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d. i. vor dem Erschöpfen der Lungenresorptionsfähigkeit besass. Um 
uns von der Richtigkeit dieser theoretischen Auseinandersetzung zu 
überzeugen, haben wir zwei Versuche an zwei 7650 und 11 460 g 
schweren Hunden unternommen. Beide Hunde sind in der eingangs 
der Besprechung der zweiten Versuchsreihe erwähnten Weise ertränkt 
worden. Die Ertränkung geschah bei beiden nach ausgeführter Ex¬ 
spiration, zugleich haben wir den einen Hund tief mittelst Billroth- 
schem Gemenge vor dem Ertränken narkotisiert. Der narkotisierte 
Hund war nach 6 Min. 35 Sek., der nicht eingeschläferte nach 5 Min. 
20 Sek. tot; beim ersten zählten wir 35 (5 schwache, 30 starke), 
beim zweiten 15 (darunter 5 sehr schwache) terminale Atembewegun¬ 
gen, zugleich dauerte beim ersten die Herztätigkeit nach Aufhören 
der terminalen Atembewegungen noch durch 1 Minute, beim zweiten 
nur durch 20 Sekunden. Der zuvor chloroformierte Hund aspirierte 
und behielt in seinen Luftwegen pro 1 kg Gewicht 64 ccm, der zweite 
nur 28 ccm Wasser. Vor dem Ertränken wurden beide A ihres, den 
Halsschlagadern entnommenen Blutes (Ai) und 25 Minuten nach dem 
Tode A des linken Herzblutes (A2) und A des rechten Herzblutes 
(As) bestimmt. 

Die erhaltenen A-Werte beliefen sich: 

1 . narkotisierter Hund 

Ai = -0,62, A 2 = -0,34, As = -0,52, 

2 . nicht narkotisierter Hund 

Ai == —0,62, A2 == —0,49, As == —0,62. 

Diese Versuchsergebnisse beweisen nun klar, dass die vorerwähnten 
theoretischen Auseinandersetzungen vollkommen richtig und der Wahr¬ 
heit entsprechend sind, denn während das rechte Herzblut des zuvor 
narkotisierten Hundes durch Ertränken verdünnt worden ist, indem As 
einen niedrigeren Wert darbot, als der niedrigste Normalwert für das 
Hundeblut (—0,549 nach Hamburger [41]), ausserdem sich zwischen 
Ai und A 3 eine Differenz von 0,10 ergab, so blieb das rechte Herz¬ 
blut des nicht narkotisierten Hundes nach dem Ertränken unverdünnt, 
da Ai und As = —0,62, also denselben Wert aufwiesen. Somit 
ist es festgestellt, dass der Grund, warum das linke Herzblut eines 
in Narkose Ertränkten, trotz grösserer Menge des aspirierten Wassers 
unverhältnismässig wenig verdünnt wird, darin zu suchen ist, dass 
wegen der sogar nach Ausbleiben der terminalen Atembewegungen 
erhaltenen Herztätigkeit ein Vermischen des noch vor dem Erlöschen 
der Resorptionsfähigkeit der Lungen verdünnten linken Herzblutes 

VierteljahrBeehrift f. ger. Med. n. öff. San.-Wesen. 3. Folge. XXVIII. 2. 10 


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236 l'rof. Leo Wachholz u. Dr. Stefan Horoszkiewicz, 

mit dem unverdünnten rechten Herzblut eintritt, wodurch im linken 
Herzblut die Verdünnung geringer ausfallen muss. Damit stimmen 
auch die früheren, von Strassmann erwähnten Beobachtungen über¬ 
ein, laut denen, die mit Chloroform narkotisierten Tiere leichter ge¬ 
rettet und wieder belebt werden können, als Tiere, die ohne Narkose 
ertränkt worden sind. Strass mann erblickt die Ursache dieser ge¬ 
ringeren Widerstandsfähigkeit der zuvor nicht narkotisierten Tiere 
darin, dass erstens bei ihnen die Lungen im I. und III. Ertrinkungs¬ 
stadium durch starke Exspirationen an Luftgehalt beträchtlich ein- 
büssen und zweitens ihre Luftwege mehr mit Wasser sich anfüllen. 
Da nun festgestellt wurde, dass die in der Narkose ertränkten Tiere 
mehr Wasser in ihren Lungen behalten, so muss unserer Ansicht nach 
besonders der zuerst von Strass mann angeführten Ursache die ge¬ 
ringere Widerstandsfähigkeit der im wachen Zustande ertränkten Tiere 
zugeschrieben werden. 

Im 1., 3. und 15. Versuche (siehe die Zusammenstellung) wurdeu 
die Tiere in bis 37° C. erwärmten Wasser ertränkt. Da diese Tiere 
für 1 kg Gewicht in ihren Lungen im Mittel 44 ccm Wasser behielten, 
während dieselbe Menge bei in kaltem Wasser ertränkten Tieren nur 
36 ccm betrug, so folgt daraus, dass während des Ertränkens im 
warmen Wasser mehr von demselben aspiriert und in den Luftwegen 
behalten wird, als von dem kalten Wasser. Da endlich dieselbe Menge 
kalten Wasser bei den vor dem Ertränken narkotisierten Tieren eben¬ 
falls 44 ccm betrug, so ersieht man, dass beim Ertrinken in warmem 
Wasser oder in kaltem, aber nach zuvor eingeleiteter Narkose, mehr 
Wasser in die Luftwege aspiriert und zurück behalten wird, als beim 
Ertrinken in kaltem Wasser und ohne vorhergegangene Narkose. Was 
den V erdünnungsgrad des linken Herzblutes der in warmem Wasser 
ertränkten Tiere anlangt, so belief sich bei ihnen der Unterschied 
zwischen Ai und /\ 2 im Mittel auf 0,23, war somit grösser als der¬ 
selbe Unterschied bei in kaltem Wasser (= 0,20) oder bei in kaltem 
Wasser und in Narkose (= 0,15) ertränkten Tieren. Dieser grössere 
Verdünnungsgrad des linken Herzblutes von in warmem Wasser er¬ 
tränkten Tieren entspricht der grösseren von ihnen für 1 kg Gewicht 
aspirierten und in den Lungen behaltenen Wasser menge. Somit 
aspirieren Tiere, die im warmen Wasser ertränkt werden, mehr Wasser, 
als im kalten Wasser ertränkte und demgemäss erfährt ihr linkes 
Herzblut einen stärkeren Verdünnungsgrad. 


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Experimentelle Stadien zur Lehre vom Ertrinkungstod. 


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3. Versuchsreihe. 

Strassmann (42) meint, dass die Behauptung ßrouardel’s und 
Loye’s, die grösste Wassermenge werde während des dyspnoetischen 
Stadiums aspiriert, nicht ohne weiteres als giltig angesehen werden 
kann, da sie sich auf Versuche stützt, die an tracheotomierten Tieren 
angestellt worden sind. An einer anderen Stelle schreibt Strass¬ 
mann (43) die Entstehungsursache der „phase de rösistance“ einem 
Reflexvorgange zu, welcher durch Reizung der Schleimhaut der oberen 
Luftwege mittelst aspirierten Wassers in der „phase de surprise“ aus¬ 
gelöst wird und bemerkt dabei, dass der zugleich erfolgende Glottis¬ 
schluss nur von sekundärer Bedeutung ist, denn die „phase de resi- 
stance u wird auch an tracheotomierten Tieren beobachtet, bei denen 
somit der Einfluss des Glottisschlusses ausgeschlossen ist. Wenn nun 
die vor dem Ertränken ausgeführte Tracheotomie, trotzdem hier der 
Glottisverschluss vollkommen entfällt, keinen Einfluss auf das Zustande¬ 
kommen der „phase de resistance“ ausübt, so kann sie ebenfalls keine 
Bedeutung in Bezug auf den Zeitpunkt des Wasseraspirierens haben. 
Uebrigens lassen sich sowohl an tracheotomierten wie auch an den 
ohne Tracheotomie ertränkten Tieren die nämlichen und in ein und 
derselben Reihenfolge erscheinenden Ertränkungssymptome feststellen. 
Würde ein ohne Tracheotomie ertränktes Tier im Stadium der termi¬ 
nalen Atembewegungen Wasser aspirieren, so müsste dies auch ein 
tracheotoraiertes Tier tun, da auch bei ihm die terminalen Atem¬ 
bewegungen ausgelöst werden. Ungeachtet dieser theoretischen Er¬ 
wägung und der von Falk, Paltauf, Brückner und uns in der 
ersten Versuchsreihe erwiesenen Tatsache, dass die grösste Wasser¬ 
menge noch vor dem Stadium der terminalen Atembewegungen aspi¬ 
riert w'ird, wie dies zuerst Brouardel und Loye behauptet haben, 
machten wir uns zur Aufgabe, die Belanglosigkeit der Tracheotomie 
in Bezug auf den Zeitpunkt, in welchem die grösste Wassermenge 
aspiriert wird, experimentell zu beweisen, um dem Einwande Strass- 
inan n’s gerecht zu werden. 

Wir unternahmen zwei Versuche. Im ersten wurde eine 1740 g 
schwere Katze in einer mit kaltem Wasser gefüllten Wanne unter¬ 
getaucht. Bevor dies aber geschah, haben wir derselben eine eigens 
dazu angefertigte Gummimaske über den Kopf gesetzt. An dem die 
Schnauze der Katze bedeckenden Teil der Maske befand sich ein 
•Gummischlauch, der mit dem eingangs der zweiten Versuchsreihe be- 

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Prof. Leo Wachholz u. Dr. Stefan Horoszkiewicz, 


schriebenen kalibrierten Wasserbehälter verbunden war. Diese An¬ 
ordnung gestattete graphisch die aspirierten Wassermengen darzustellen. 
Nachdem nun die Katze samt dem Brett, an das sie festgebunden 
war, in die Wanne getaucht wurde, haben wir den Schlauch der Maske 
mit dem Wasserbehälter verbunden und den Versuch begonnen. Sein 
Verlauf entsprach genau dem bei den in der 2. Versuchsreihe be¬ 
sprochenen Verlauf. In der ersten Phase behielt die Katze in ihren 
Luftwegen 15 ccm Wasser, in der dritten Phase 105 ccm, in der 
fünften Phase bei 5 terminalen Atembewegungen nur 10 ccm. ln der 
zweiten und vierten genau zu beobachtenden Phasen hat das Tier 
kein Wasser aspiriert. Die gesamt aspirierte und in den Luftwegen 
behaltene Wassermenge betrug 130 ccm, wovon V18 auf den Zeitpunkt: 
der terminalen Atembewegungen entfiel. Die Zahl der roten Blut¬ 
körperchen belief sich vor dem Ertränken auf 6 800 000 die Dichte 
des Carotisblutes auf 1059 und Ai auf —0,65; 20 Minuten nach 
erfolgtem Tode enthielt das linke Herzblut 5 100 000 in ccm, die 
Dichte = 1047 (Differenz = 12) A 2 = —0,50 (Ai —A 2 = 0,15). 
Im speisefreien Magen befand sich mässige Wassermenge. 

Der 2. Versuch wurde an einem 2600 g schweren Kaninchen aus¬ 
geführt. Demselben wurde dicht oberhalb des Brustbeins die Luft¬ 
röhre quer durchgeschnitten und in ihren unteren Teil eine h- Kanüle, 
in den oberen Teil aber eine geradlinige Kanüle eingeschoben. Die 
einander gegenüberstehenden Enden beider Kanülen wurden mittelst 
entsprechenden Gummischlauches verbunden, welcher bis zum Beginn 
des Versuches durch eine Klemme verschlossen blieb. Bis dahin 
atmete das Tier durch den zur Luftröhre senkrechten Arm der unteren 
Kanüle, der ebenfalls mit einem Gummischlauch versehen war. Der¬ 
selbe ragte, nachdem das Tier in die mit kaltem Wasser gefüllte 
Wanne getaucht worden ist, aus dem Wasser über seine Oberfläche 
und gestattete dem untergetauchten Tier weiter frei zu atmen. Dem 
Tier wurde dieselbe Gummimaske aufgesetzt, sodann der zwischen 
ihren Wänden und dem Kopf des Kaninchens befindliche freie Raum 
durch den Gummischlauch mit Wasser gefüllt, endlich der Gummi¬ 
schlauch mit dem Wasserbehälter verbunden. Jetzt wurde zu gleicher 
Zeit die Klemme über dem die zwei Trachealkanülen verbindenden 
Schlauch entfernt und auf diese Weise die Verbindung zwischen den 
beiden Kanülen hergestellt, ausserdem der über den Wasserspiegel 
der Wanne ragende Gummischlauch, durch welchen das Tier bis dahin 
frei atmete, zugedrückt. Somit musste jetzt das Kaninchen durch 


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Experimentelle Studien zur Lehre vom Ertrinkungstod. 


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Maul und Nase atmen und Wasser aus dem Behälter aspirieren. Da 
die obere Kanüle unterhalb des Kehlkopfes endete, so konnte sie 
keinen hemmenden Einfluss bei etwaigem reflektorischem Glottisver¬ 
schluss geltend machen. Die Wasseroberfläche im kalibrierten Be¬ 
hälter befand sich bei Beginn der beiden Versuche 25 cm oberhalb 
des Niveaus der Luftröhre der Tiere. 

Den Verlauf dieses zweiten Versuches stellt die dabei gewonnene 
Kurve (s. umstehende Fig. 1) dar. Unterhalb der Kurve befindet sich 
der Sekundenanzeiger, die einzelnen an der senkrechten Linie ange¬ 
brachten Abschnitte bezeichnen die durch das Tier während des Ver¬ 
suchs aspirierten Wassermengen in Kubikzentimetern. Die Kurve zeigt 
nun an, dass das Kaninchen in der ersten, 9 Sekunden dauernden 
Phase von 65 aspirierten ccm Wasser, 37 ccm behielt, in der zweiten 
15 Sekunden dauernden Phase kein Wasser einatmete, in der dritten 
1 Min. 24 Sek. dauernden Phase von den 113 bei grossen Schwankungen 
aspirierten Kubikzentimetern 100 ccm behielt, in der vierten (60 Sek.) 
Phase wieder kein Wasser aspirierte, endlich in der fünften Phase 
/52 Sek.) von den durch vier terminale Atembewegungen aspirierten 
13 ccm nur 5 ccm Wasser behielt. Die Gesamtmenge des aspirierten 
und in den Lungen behaltenen Wassers betrug somit 142 ccm, wovon 
Y 28 auf die während der terminalen Atembewegungen behaltene Wasser¬ 
menge entfällt. Die Zahl der roten Blutkörperchen belief sich vor 
dem Ertränken auf 7 900 000, — 40 Minuten nach dem Tode auf 
3 400 000, Blutdichte und A ist nicht bestimmt worden. 

Diese Versuche beweisen einwandfrei, dass bei tracheotomicrten 
Tieren dieselben Ertrinkungssymptome in derselben Reihenfolge, wie 
bei ohne Tracheotomie ertränkten Tieren, sich beobachten lassen. Sie 
beweisen zugleich, was schon aus den ersten zwei Versuchsreihen 
hervorging, dass bei Ertrinken die bedeutend grösste Wasserquantität 
im dyspnoetischen Stadium und nicht im Stadium der terminalen 
Atembewegungen aspiriert und in den Luftwegen zurückgehalten wird. 

4. Versuchsreihe. 

Aus der letzten Rubrik der Zusammenstellung der 2. Versuchs¬ 
reihe ist ersichtlich, dass die für 1 kg Gewicht berechneten Mengen 
des aspirierten und in den Luftwegen behaltenen Wassers grosse 
Schwankungen darbieten. Diesen Schwankungen entspricht vollkommen 
der verschiedene Befund der Lungen, welcher bei der Sektion von 
Leichen Ertränkter angetroffen wird. So sind einmal die Lungen 


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Experimentelle Studien zur Lehre vom Ertrinkungstod. 


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Ertrunkener fast normal beschaffen, ein anderes Mal stellen sie sich 
wie ödematös, also flüssigkeitsreich, oder stark mit Luft gebläht wie 
emphysematos, dar. Die Verschiedenheit des Lungenbefundes war 
schon lange bekannt und wurde auf verschiedene Weise gedeutet. 
Hofmann (44) glaubt, dass sie von der Quantität und Qualität (Stärke) 
der terminalen Atembewegungen abhängt und, falls diese Atem¬ 
bewegungen vollkommen ausbleiben, die Lungen fast normal beschaffen 
erscheinen. Nach den bereits schon besprochenen Versuchsergebnissen 
muss die von Hofmann gegebene Deutung dieses Befundes als nicht 
stichhaltig erklärt werden. Der von Seydel hervorgehobene und von 
uns bestätigte Umstand, dass beim Ertrinken im warmen Wasser mehr 
desselben in die Lungen eindringt, kann manchmal zur Deutung dieses 
Befundes wohl herangezogen werden. 

Brouardel (45) unterscheidet plötzliches und verlangsamtes Er¬ 
trinken (submersion brusque et lente ou prolongee). Er gelangt dabei 
auf Grund einiger weniger Versuche zum Schluss, dass, während bei 
plötzlich — in ca. 4 Minuten — ertränkten Tieren (wie in unseren 
ersten 3 Versuchsreihen) die Zahl der roten Blutkörperchen keine 
Aenderung erfährt und somit ihr Blut nicht verdünnt wird, so ver¬ 
mindert sich die Zahl der Erythrocyten um 1 / i bis V 3 , wenn ein Tier 
langsam während 7—8 Minuten ertrinkt, wobei es anfangs stets im 
Bassin frei schwimmt und erst ermüdet untersinkt. Uebrigens hat er 
beim langsamen Ertrinken dieselben fünf Phasen festgestellt, deren 
Verlauf nur weniger regelmässig erschien. Besonders unregelmässig 
verläuft die zweite Phase, indem sie bei jedem Auftauchen des Tieres 
gegen die Wasseroberfläche gleich wieder in die erste umschlägt. Die 
drei letzteren Phasen haben einen gleichen Verlauf mit dem beim 
plötzlichen Ertrinken. In den von Brouardel und Vibert(46) an- 
gestellten Versuchen ertranken Hunde nach Verlauf von 20, 25 und 
40 Minuten, wobei die Zeit seit dem Untersinken des bis dahin frei 
schwimmenden und bereits schon ermüdeten Tieres bis zum Todes¬ 
eintritt 2 Minuten ausmachte. Brouardel bemerkt dabei mit Recht, 
dass der Mensch unter denselben Bedingungen viel schneller ertrinkt, 
da er bei weitem kein so tüchtiger Schwimmer ist, wie ein Hund. 

Die von Brouardel ausgesprochene Meinung, dass erst bei lang¬ 
samem Ertrinken das Blut des Ertränkten durch das aspirierte Wasser 
verdünnt wird, gestattet die Annahme, dass ein langsam ertrinkendes 
Tier mehr Wasser in seine Lungen aspiriert, als ein plötzlich ertränktes, 
umsomehr noch, als Revenstorf (47) auf Grund der Meinung Brou- 


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ardel’s zum Schluss gelangt, das Wasser könnte in die Lungenbläschen 
der plötzlich ertrinkenden Tiere deswegen nicht eindringen, weil dem 
Wassereintritt von seiten der in den Lungenalveolen befindlichen 
Residualluft entschiedener Widerstand gegenübertritt. Ertrinkt aber 
ein Tier langsam, so dringt das Wasser — laut Revenstorf — in 
seine Luftwege noch lange vor Todeseintritt ein, von wo es während 
der terminalen Atembewegungen in die Lungenbläschen und in das 
Blut überführt wird. Diese Erwägungen Revenstorf’s sind nicht 
stichhaltig, weil sich in den Lungenbläschen doch immer und unge¬ 
achtet der Schnelligkeit, mit der jemand ertrinkt, Residualluft finden, 
die somit dem Eindringen von Wasser stets Widerstand entgegen¬ 
setzen muss, ausserdem, weil Revenstorf den terminalen Atem¬ 
bewegungen einen Einfluss zuschreibt, der ihnen laut Ergebnissen 
unserer drei Versuchsreihen nicht zukommt. Endlich ist auch die 
obenerwähnte Behauptung Brouardel’s, auf die Revenstorf seine 
Erwägungen stützt, irrig. Brouardel teilt nur zwei Versuche mit, 
in denen er vor und nach dem Ertränken die Zahl der Erythrocyten 
bestimmt und dabei keine Aenderung dieser Zahl festgestellt hatte. 
Unterdessen erhielt Carrara (48) bei seinen Versuchen an ebenfalls 
plötzlich ertränkten Hunden ganz andere Resultate, denn er konnte 
eine Verminderung der Zahl der Erythrocyten z. B. von 6 500 000 
vor dem Ertränken auf 3 000 000 nach dem Ertränken oder von 
7 000 000 auf 4 000 000 feststellen. Desgleichen haben auch wir bei 
den in den ersten drei Versuchsreihen plötzlich ertränkten Tieren be¬ 
deutende Verminderung der Zahl der Erythrocyten wahrgenommen. 
Ausserdem widersprechen der Behauptung Brouardel’s die von 
Carrara, Stoenescu, Revenstorf, H. K. W. Schmidt und uns 
erzielten A-Bestimmungen des Blutes von plötzlich ertränkten Tieren. 
Diese Bestimmungen haben ebenfalls bestätigt, dass das Blut der 
plötzlich ertränkten Tiere verdünnt wird, womit sich die Behauptung 
Brouardel’s nicht aufrecht erhalten lässt. Trotzdem unternahmen 
wir einen Versuch, um festzustcllen, ob und inwieweit bei langsamem 
Ertrinken mehr Wasser in die Lungen eindringt. Eine 1690 g schwere 
Katze wurde in ein grosses mit kaltem Wasser gefülltes Bassin hinein¬ 
geworfen. Das Wasser war stark mit Dahlialila gefärbt. In den 
ersten 11 Minuten schwamm die Katze frei herum, sodann sank sie 
ermüdet zu Boden; während des jetzt erfolgenden Ertrinkens konnte 
man die fünf Phasen genau beobachten. Von dem Untersinken der 
Katze bis zu ihrem Tode vergingen 3 Minuten, der ganze Versuch 


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Experimentelle Studien zur Lehre vom Ertrinkungstod. 


243 


dauerte somit 14 Minuten. In der 5. Phase zählten wir nur zwei 
schwache terminale Atembewegungen. Bei der Sektion wurde derselbe 
Befund in den Lungen festgestellt, wie bei allen Versuchen der drei 
ersten Reihen, d. i. die Lungen waren hypervoluminös, ihre vorderen, 
besonders die randständigen Partieen, zeigten das Bild der akuten 
Blähung (sie knisterten stark bei Druck, auf der Schnittfläche waren 
sie trocken, an den Rändern polsterartig gedunsen), ihre hinteren und 
abwärts gelegenen Partieen zeigten hingegen das Bild eines Oedems, 
wobei die auf der Schnittfläche sich entleerende Flüssigkeit deutlich 
violett gefärbt erschien und demgemäss aus der Ertränkungsflüssigkeit 
bestand. Die Untersuchung des Carotisblutes vor dem Ertränken ergab: 
Zahl der Erythrocyten = 8 700 000, Ai = —0,63. Die Untersuchung 
des linken Herzblutes 25 Minuten nach dem Tode ergab: Zahl der 
Erythrocyten = 5 600 000, A2 = —0,42. Somit verminderte sich 
die Zahl der Erythrocyten um etwas mehr als um ■A, Ai—A2 = 0,21. 
Selbstverständlich liess sich die aspirierte Wassermenge nicht auf die 
in der zweiten und dritten Versuchsreihe angewandte Weise bestimmen, 
immerhin konnte jedoch festgestellt werden, dass die Lungen nur 
mässig mit dem violett gefärbten Wasser gefüllt waren, d. i. bei weitem 
nicht so stark, wie wir es bei manchen plötzlich ertränkten Tieren 
der früheren Versuchsreihen wahrnehmen konnten. Ueber die Menge 
des von der Katze aspirierten Wassers giebt der Vergleich der hier 
erlangten ßlutbefunde mit denen, die wir bei den plötzlich ertränkten 
Tieren erhielten, einen gewissen Aufschluss. Während sich nun bei 
den plötzlich ertränkten Katzen (siehe die 1. Versuchsreihe) die Zahl 
der Erythrocyten nach vollzogener Ertränkung in kaltem Wasser im 
Mittel von 9 200 000 auf 6 300 000, also um etwas mehr als um x / 3 
verminderte und die Differenz zwischen Ai und A2 0,21 ausmachte, 
so fielen dieselben Werte bei der Untersuchung des Blutes der lang¬ 
sam ertränkten Katze desgleichen so hoch aus, trotzdem diese Katze 
erst nach Verlauf von 14 Minuten, die plötzlich ertränkten aber maximal 
nach Verlauf von 5 Minuten ertranken. Daraus ersieht man, dass 
beim langsamen Ertränken die gleiche Verdünnung des linken Herz¬ 
blutes eintritt, wie beim plötzlichen Ertränken. Dieser Erfolg ist 
übrigens auch theoretisch gerechtfertigt, da die „submersion prolongee“ 
eigentlich aus anfänglichem freien Schwimmen und nach erfolgter Er¬ 
müdung erst aus eigentlichem Ertränken besteht. Das Stadium des 
eigentlichen Ertrinkens entspricht aber sowohl den Symptomen, wie 
auch der Dauer nach vollkommen dem besprochenen Vorgang bei 


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•244 


Prof. Leo Wachholz u. Dr. Stefan Horoszkiewicz, 


plötzlichem Ertrinken. Da ein Tier, solange es frei schwimmt, kein 
Wasser aspiriert, und das Eindringen des Wassers in seine Luftwege 
erst dann erfolgt, wenn es ermüdet untertaucht und da von nun an 
der Vorgang vollkommen dem bei plötzlichem Ertrinken zu beobach¬ 
tenden entspricht, so ist es klar, dass es weder mehr Wasser zu 

Zusammenstellung der 


73 

S2 

7 . 

Tier¬ 

xs 

o 

*5 

o 

bß 

>- 

Der 
Tod er¬ 

! .“ 

Wassertemperatur 

Quantität des aspirierten und 
exspirierten Wassers in den 
Phasen 

Hr?' 

5 

7 

gattung 

cu 

u 

:0 

Ssd 

folgte 

nach 

Narkose vor 

I. III. | V. 

> 


8 



Kubikzentimeter 


Hund | 4720 4' 

Hündin 5750 5' 

I 

Hund 6300 ! 4' 

Hund 5720 4' 

Hund 7200 3' 45" 

I | 

Hund 4400 | 7' 

Hund 6470 6' 30" 

Hund 5150 7' 

| 

Hund 5130 | 4' 

Hund 3550 ! 4' 20" j 


Hund I 4260 8' 50" 


Hündin 5500 16' | 

Hund 7650 6' 35" | 

Hund 4870 ^3'40" 

Hund 11460 5' 20" 

Hund . 5400 4'20" 


kaltes 

nach Exspiration 
kaltes 

nach Inspiration 
warmes 

nach Exspiration 
kaltes 

nach Exspiration 
warmes 

nach Exspiration 

Narkose. Kaltes 
nach Exspiration 

Narkose. Kaltes 
nach Inspiration 

Narkose. Kaltes 
nach Exspiration 

kaltes 

nach Inspiration 
warmes 

nach Exspiration 
warmes 

nach Inspiration 

Narkose. Kaltes 
nach Inspiration 

Narkose. Kaltes 
nach Exspiration 

kaltes 

nach Exspiration 
kaltes 

nach Exspiration 
warmes 

nach Inspiration 


75-50 


-|- 25 
75-75 

250 

0 

120—50 

i 287 

+ 70 

305 

— 

343 

— 

394 ! 

1 

320 i 

— i 

1 

344 

j 

100-50 j 

260 

+ 50 

212 

140—50 | 

, , r | 

~+~90~” 

75—12 

21o 

1 

1 

+~62 

187 j 

1 

1 

350 ! 

100—75 

370 

4“ 25 
25-25 

287 

0 

60—20 ! 

300 

i 

^40 

320 



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Google 


156-81 

+ 75 

20-20 

62-33 

+ 29 
50-31 

+ 19 

56—50 

4 ~ 6 

120-90 

+ 30“ 
100-59 

4 " 41 

110—49 

+ 61 
75—50 

+ 25 
25—13 

4 - 12 
12—12 

0 

120—83 

“+~37~ 

143-25 

TnV 

51 — i3 

+ 38 
38-20 

+ 18 
60—40 

+ 20 


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Experimentelle Studien zur Lehre vom Ertrinkungstod. 


245 


aspirieren vermag, noch sein Blut in der linken Herzhälfte mehr ver¬ 
dünnt wird, als dies bei plötzlich ertränkten Tieren festgestellt werden 
kann. Somit hat der zeitliche Verlauf, ob plötzliches oder verlang¬ 
samtes Ertrinken, keinen Einfluss auf die aspirierte und in den Lungen 
behaltene Wassermenge. 


IV. Versuchsreihe. 


Zahl der 

terminalen Atem¬ 
bewegungen 

Allgemeine 
Quantität des 
aspirierten 
Wassers in ccm 

Die für 1 kg 
Körpergewicht 
berechnete 
Quantität des 
aspirierten 
Wassers 
in ccm 

Ai 

I 

a 2 

1 

1 

i 

Unterschied 

zwischen 

Ai A 2 

9. 

5 starke 

350 

74,1 

— 0,62 

— 0,14 

0,48 

4 schwache 

1 287 

50 

— 0,61 

— 0,41 

i 

0,20 

7. 

5 starke 

404 

64 

— 0,60 

l 

j — 0,35 

0,25 

9. 

2 starke 

362 

63 

— 0,61 

- 0,41 

0,20 

6. 

4 starke 

400 

55,5 

— 0,62 

— 0,27 

0,35 

35. | 

25 starke 

350 

79 

— 0,63 

1 

| 

— 0,37 

0,26 

18. | 
11 starke 

385 

59 

— 0,58 

— 0,40 

0,18 

17. | 

12 starke 

321 

62,3 

— 0,61 

— 0,41 

0,20 

19. 

9 starke ! 

1 

287 

56 

— 0,61 

— 0,46 

0,15 

4 schwache 

317 

88 

— 0,61 

— 0,34 

0,27 

4 schwache 

: 

249 

58 

— 0,59 

— 0,43 

0,16 

19. I 

8 starke 

387 

70 

— 0,60 

| 

— 0,40 

0,20 

35. 

30 starke 1 

488 

64 

— 0,62 

1 

— 0,34 

0,28 

8. 

3 starke 

350 

71 

1 

© 

Ol 

& 

— 0,40 

. 

0,19 

8. 

3 starke j 

318 

28 

— 0,62 

— 0,49 

0,13 

6. 

4 starke ; 

380 

70 

— 0,60 

— 0,36 

0,24 


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246 


Prof. Leo Wachholz u. Dr. Stefan Horoszkiewicz, 


Um weiter zu erforschen, inwieweit die Atmungsphase, nach 
welcher ein Tier unter den Wasserspiegel gerät, auf die zu aspirierende 
und in den Lungen zu behaltende Wassermenge von Belang sein kann, 
haben wir die 16 vorstehend zusammengestellten Versuche derart aus¬ 
geführt, dass wir einige Tiere nach künstlich ausgelöster tiefer Exspiration, 
andere nach eben solcher Inspiration auf die in der zweiten Versuchs¬ 
reihe beschriebene Weise ertränkt haben. 

Die vorstehend zusammengestellten 16 Versuche ergeben nun 
Unterschiede in der aspirierten Wasserraenge, je nachdem ein Tier 
nach erfolgter Exspiration oder Inspiration unter Wasser geriet. Zu¬ 
gleich lässt sich hier auch der von der Wassertemperatur und von der 
vorangeschickten Narkose abhängige Unterschied in der aspirierten 
Wassermenge ersehen. Folgende Zusammenstellung erleichtert die 
Uebersicht dieser Unterschiede: 


Ertränken nach einer Exspiration. 


Wasserquantität für 1 kg 


.k» k«k... K * UeS W “ Mr »it Narkose W *™"> < 37 ’ « > 


74,1 ccm 

. . . 0,48 

79,0 ccm . . . 

0.26 

64,0 ccm 

. . . 0,25 

63,0 „ 

. . . 0,20 

62,3 ,, ... 

0,20 

55,5 „ 

. . . 0,35 

71,0 „ 

... 0,19 

64,0 „ ... 

0,28 

88,0 ,. 

. . . 0,27 

28,0 „ 

. . . 0,13 

Im Mittel: 




59,0 ccm 

. . . 0,25 

68,4 ccm . . . 

0,24 

69,0 ccm 

. . . 0,29 


Ertränk 

en nach einer 

Inspiration. 


50,0 ccm 

. . . 0,20 

59,0 ccm . . . 

0,18 

58,0 ccm 

. . . 0,16 

56,0 „ 

. . . 0,15 

70,0 „ ... 

0,20 

70,0 „ 

. . . 0,24 



Im Mittel: 




53,0 ccm 

. . . 0,17 

64,5 ccm . . . 

0,19 

64,0 ccm 

. . . 0,20 


Es ist nun ersichtlich, dass Tiere, welche nach der Exspiration 
unter Wasser gelangen, um 6, bezw. 3,9, bezw. 5 ccm mehr Wasser 
in ihren Lungen behalten, als Tiere, die nach der Inspiration unter- 
getaucht, werden. Dementsprechend verhält sich der Verdünnungs¬ 
grad des Blutes in der linken Herzhälfte. Nur bei jenen Tieren, die 
zuerst narkotisiert und dann erst ertränkt worden sind, war der Ver¬ 
dünnungsgrad des linken Herzblutes aus dem bereits schon besprochenen 
Grunde unverhältnismässig geringer, als er der grösseren Menge des 
aspirierten und in den Lungen behaltenen Wassermenge zufolge zu 


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Experimentelle Studien zur Lehre vom Ertrinkungstod. 


247 


erwarten wäre. Es sei hier nochmals darauf hingewiesen, dass die 
narkotisierten Tiere länger dem Todeseintritte Widerstand leisten, als 
die nüchtern ertränkten, denn während erstere im Mittel nach 6 Min. 
53 Sek. dem Tode erlagen, so starben letztere durchschnittlich schon 
nach 4 Minuten. Zugleich ist der Ertränkungsverlauf bei den narko¬ 
tisierten Tieren etwas anders gestaltet. Ein zuvor narkotisiertes Tier 
aspiriert gleich bei Anfang des Ertränkens ergiebige Wasserquanta, 
ohne dass dabei irgend welche von reflektorischen Exspirationen her¬ 
rührende Schwankungen aufträten. Erst nachdem eine beträchtliche 
Wassermenge in die Lungen eingedrungen ist, stellen sich einige 
schwache exspiratorische Schwankungen ein, denen eine weitere Aspi¬ 
ration eines bereits schon geringeren Wasserquantums, sodann asphyk- 
tischer Atcrastillstand und zuletzt die terminalen Atembewegungen 
folgen. Die terminalen Atembewegungen erscheinen bei ihnen grösser 
an Zahl und kräftiger, sodass, während sic bei den 5 in Narkose 
ertränkten Tieren im Mittel 24, darunter 17 kräftige terminale Atem¬ 
bewegungen (maximal 35, darunter 30 kräftige) an Zahl waren, so 
konnten wir bei den ohne Narkose in dieser vierten Versuchsreihe 
ertränkten Hunden im Mittel nur 7, darunter 3 kräftige (maximal 19, 
darunter 9 kräftige) terminale Atembewegungen zählen. Trotzdem 
entsprach aber die in der fünften Phase (terminale Atembewegungen) 
in die Lungen aspirierte und hier behaltene Wassermenge bei den zuvor 
narkotisierten Hunden nicht der grösseren Zahl ihrer terminalen Atem¬ 
bewegungen, denn während die obige Wassermenge bei den 11 in 
dieser Versuchsreihe ohne Narkose ertränkten Hunden im Mittel V15 
des gesamt aspirierten Wasserquantums ausraachte, so betrug sie bei 
den 5 in Narkose ertränkten Ye der eingedrungenen Gesamtwasser¬ 
menge, sollte aber im Verhältnis zur bedeutend grösseren Zahl ihrer 
terminalen Atembewegungen y 6 der Gesamtmenge des aspirierten 
Wassers betragen. Die Ursache dieses Missverhältnisses bildet der 
bei den narkotisierten Tieren zu beobachtende Umstand, dass die 
terminalen Exspirationen bei ihnen an Kraft bedeutend die entsprechen¬ 
den Inspirationen übertreffen, wodurch ein beträchtlicher Teil des 
während einer terminalen Inspiration eingedrungenen Wasserquantums 
bei der darauf folgenden terminalen Exspiration herausbefördert wird. 
Diesen hier besprochenen Ertrinkungsverlauf bei zuvor narkotisierten 
Tieren erläutert genau die in umstehender Figur 2 abgebildete Kurve, 
aus welcher leicht das konstante Fehlen der zwei ersten Ertrinkungsphasen 
(d. i. der „phase de surprise et de rösistance“) bei ihnen zu ersehen ist. 


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Experimentelle Studien zur Lehre vom Ertrinkungstod. 


249 


Endlich sei bemerkt, dass bei ohne Narkose nach einer Inspiration 
ertränkten Hunden stets zuerst eine kurze Exspiration bemerkt werden 
konnte, welcher dann die schon mehrmals erwähnten weiteren Symptome 
folgten. 

Die für 1 kg Gewicht berechneten Quantitäten des von den Tieren 
der zweiten (mit Ausnahme der sechs ersten Versuche) und vierten 
Versuchsreihe aspirierten Wassers schwanken zwischen 9 und 60 ccm, 
während dieselben Quantitäten bei den in kaltem Wasser nach einer 
Exspiration und einer Inspiration ertränkten Tieren um 6 ccm, bei im 
warmen und im kalten Wasser nach einer Exspiration ertränkten um 
10 ccm, bei denselben nach einer Inspiration ertränkten um 11 ccm, 
endlich bei nach Exspiration in Narkose und bei nüchtern ertränkten 
um 9,4 ccm, bei denselben nach Inspiration ertränkten um 11,5 ccm 
Wasser im Mittel differierten. Da nun die zuletzt angetührten mitt¬ 
leren Werte der Differenz des für 1 kg Gewicht aspirierten Wassers 
bedeutend geringer sind, als dieselbe Differenz im Allgemeinen (60 ccm 
minus 9 ccm = 51 ccm), so muss man zum Schluss gelangen, dass 
der im allgemeinen so hohe Unterschied in der Menge des für 1 kg 
Gewicht aspirierten Wassers von einem bis jetzt noch nicht berück¬ 
sichtigten Faktor herrührt. Diesen Faktor bildet unserer Ansicht nach 
die vitale Kapazität der Lungen, d. i. dasjenige Luftvolumen, welches 
von der höchsten Inspirations- bis zur tiefsten Exspirationsstellung 
des Brustkorbes aus den Lungen entweicht. Die vitale Lungenkapa¬ 
zität ist individuell verschieden und sie hängt, von pathologischen 
Veränderungen absehend, von der Körperlänge, dem Körpergewicht, 
Alter, Geschlecht, Stand und Beschäftigung, Rumpfvolumen, der Körper¬ 
lage bei ihrer Bestimmung u. s. w. ab. Unter gleichen Bedingungen 
nimmt sie mit grösserer Körperlänge, Rumpfvolumen, bei männlichem 
Geschlecht, im reifen Alter, bei stehenden, physisch nicht ermüdeten 
Individuen u. s. w. zu. Die Zunahme des Körpergewichts erhöht sie 
ebenfalls, eine Ueberschreitung aber um 7 pCt. des normalen Mittels 
bedingt anfänglich mit jedem zunehmenden Kilo ihre Verminderung 
um 37 ccm. Wir konnten in unseren Versuchen dem Verhältnis 
zwischen der vitalen Lungenkapazität und dem Geschlecht resp. dem 
Körpergewicht unsere Beachtung schenken. Zugleich sei erwähnt, 
dass, da die Tiere in der 2. und 4. Versuchsreihe in liegender Lage 
an einem Operationsbrett befestigt worden waren, wodurch sie ermüdet 
sein konnten, ihre vitale Lungenkapazität dadurch eine Verminderung 
erfahren musste. — Der Einfluss des Körpergewichts auf die vitale 


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250 


Prof. Leo Wachholz u. Dr. .Stefan Horoszkiewicz, 

Lungenkapazität, somit auch auf die aspirierte und in den Lungen 
behaltene Wassermenge ist aus der Zusammenstellung der mittleren 
für 1 kg Gewicht aspirierten Wassermenge der schwersten (2. Versuchs¬ 
reihe: No. 11 und 14; 4. Versuchsreihe: No. 5, 13, 15), und der am 
wenigsten schweren Hunde (2. Versuchsreihe. No. 15; 4. Versuchsreihe: 
No. 10) ersichtlich. Bei den 5 schwersten Hunden (Körpergewicht 
8300, 12800, 7200, 7650, 11460 g) vom mittleren Körpergewicht 
9482 g, betrug die durchschnittliche für 1 kg aspirierte Wassermenge 
51,1 ccm, während sie sich bei den 2 Hunden vom geringsten (3220 
und 3550 g) im Mittel 3385 g ausraachenden Körpergewicht auf 
79 ccm belief. Somit ergiebt sich hier in der für 1 kg Gewicht 
aspirierten Wassermenge ein Unterschied von 27,9 ccm Wasser zwischen 
den Hunden vom niedrigsten und höchsten Körpergewicht. Alle die 
hier in Rede stehenden Hunde waren Rüden, die nach Exspiration 
und zwar 3 in kaltem, 3 in warmem, 1 in kaltem Waser aber nach 
vorangegangener Narkose ertränkt worden sind. Indem nun die mitt¬ 
leren für 1 kg Körpergewicht berechneten Unterschiede der aspirierten 
Mengen des kalten und warmen Wassers, des kalten Wassers ohne 
und mit Narkose bei sonst gleichen Bedingungen, d. i. nach Exspira¬ 
tion, wie früher schon angegeben wurde, 10 und 9,4 ccm ausmachten, 
so beweist der oben erwähnte auf 27,9 ccm sich belaufende, somit 
um 17,9 und 18,5 ccm die 10 und 9,4 ccm übertreffende Unterschied 
in der für 1 kg Gewicht aspirierten Wassermenge am deutlichsten den 
Einfluss des Körpergewichts auf die vitale Lungenkapazität und auf 
die aspirierte Wasserquantität. 

Das mittlere für 1 kg Gewicht von 18 Rüden (2. Versuchsreihe: 
No. 9, 11, 14, 15; 4. Versuchsreihe: No. 1, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 
11, 13, 14, 15, 16) vom Durchschnittsgewicht 6153 g aspirierte 
Wasserquantum betrug 66 ccm, dasselbe Wasserquantum aber bei 
5 Hündinnen (2. Versuchsreihe: No. 10, 12, 13; 4. Versuchsreihe: 
No. 2, 12) vom Durchschnittsgewicht 5104 g nur 53 ccm Wasser. 
Wenn man nun erwägt, dass das Durchschnittsgewicht der Hündinnen 
um 1 kg geringer war, als dasjenige der Rüden und dass bei höherem 
Körpergewicht die aspirierte Wassermenge geringer zu sein pflegt, als 
bei niedrigerem Gewicht, so beweist die hier zu Gunsten der Rüden 
trotz ihres höheren Körpergewichts resultierende, 13 ccm Wasser be¬ 
tragende (mehr als der Unterschied in der aspirierten Menge kalten 
und warmen Wassers, ohne und mit Narkose, nach Exspiration und 
Inspiration) Differenz unzweideutig, dass bei Individuen des männlichen 


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Experimentelle Studien zur Lehre vom Ertrinkungstod. 


251 


Geschlechts die vitale Lungenkapazität und somit auch die von ihnen 
während des Ertrinkens aspirierte und in den Lungen behaltene Wasser¬ 
menge grösser sind, als bei weiblichen Individuen. 

Aus diesen in der 4. Versuchsreihe erlangten Resultaten lässt 
sich der Schluss ziehen, dass die Menge des während des Ertrinkens 
zu aspirierenden Wassers und folglich auch der Lungenbefund und 
der Grad der Blutverdünnung (im linken Herz und solange sich noch 
keine Fäulniserscheinungen einstellten) an erster Stelle von der Grösse 
der vitalen Lungenkapazität des betreffenden Individuums, sodann von 
der Temperatur des Wassers, in welchem es ertrinkt, von der Reflex¬ 
erregbarkeit seiner oberen Luftwege (Ertränken in Narkose, Bewusst¬ 
losigkeit), von der Respirationsphase, nach der es ertrinkt (ob nach 
Exspiration oder nach Inspiration unter den Wasserspiegel geraten), 
und endlich an letzter Stelle von der Zahl, Kraft und dem Ueber- 
wiegen der terminalen Inspirationen abhängen. Dass die terminalen 
Atembewegungen in dieser Hinsicht wirklich von untergeordneter Be¬ 
deutung und Einfluss sind, folgt daraus, dass die in 31 Versuchen 
der 2. und 4. Versuchsreihe im Mittel während der terminalen Atem¬ 
bewegungen für 1 kg Gewicht aspirierte und in den Lungen behaltene 
Wassermenge kaum 3 ccm aufwies. — 


H. Das Eindringen der Ertränknngsflnssigkeit in die Atmungs- 
organe der Leichen nnd dessen Folgen. 

Die Beobachtungen und Versuche von Engel (49), Liman (50), 
Hofmann (51), Bougier (52), Hnevkovsky (53), Lesser (54) haben 
sichergestellt, dass die Ertränkungsflüssigkeit auch an Leichen in die 
Atmungsorgane, besonders in die Lungen hineingelangen kann und 
wirklich in dieselben hineingelangt. Einige Forscher haben aber den 
Umstand hervorgehoben, dass dickflüssige Massen durch einfaches 
Hineinlaufen in die feinsten Bronchialäste und in die Lungcnalveolen 
nicht eindringen können, weswegen auch der Befund solcher Massen 
für Aspiration während des Lebens spricht. Demzufolge hat Stuben¬ 
rath (55) unlängst behauptet, der Nachweis von Fremdkörpern in der 
Lunge von Wasserleichen erlaube den Tod mit einem Ertränkungs- 
versuch in ursächlichen Zusammenhang zu bringen, desgleichen be¬ 
trachtet auch Reinsberg (56) den Befund von Diatomaceen in den 
Lungenalveolen und unter der Lungenpleura als das wichtigste Kenn¬ 
zeichen des Ertrinkungstodes, welches in 95 pCt. aller von ihm unter¬ 
suchten Fälle nachgewiesen werden konnte. Nun hat aber Haberda (57) 

Viertel) ah rsschrift f. ger. Med. u. öff. San.-Wesen. 3. Folge. XXVIII. 2. i n 


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252 


Prof. Leo Wachholz u. Dr. Stefan Horoszkiewicz, 


experimentell dargetan, dass in Flüssigkeiten aufgesehwemmte Fremd¬ 
körper und dickere Masse wie Abortsjauche in relativ kurzer Zeit 
bis in die Lungenalveolen von Kindesleichen also postmortal eindringen 
können. Auf Grund dieser von Haberda angestellter Versuche muss 
man zugeben, dass dem Befunde von Fremdkörpern oder dickflüssiger 
Ertränkungsflüssigkeit in den Lungenalveolen von Leichen die Be¬ 
deutung, es handle sich um Ertrinkungstod, unbedingt nicht zukomme. 

Weiter ergiebt sich die Frage, wie sich die postmortal in die 
Lungen eingedrungene Flüssigkeit verhält, ob sie das bekannte Bild 
des Hypervolumens der Lungen und Schaum in dem ßronchialbaum 
erzeugt, endlich ob sie in das Blut der linken Herzhälfte hineingelangt? 

Was nun die schaumige Beschaffenheit der Flüssigkeit in den 
oberen Luftwegen von Wasserleichen anbelangt, so schreiben ihr 
Metzger (58\ Mende (59), Henke (60), Wildberg (61), Kanzler (62), 
Maschka (63), Casper - Liman (64), Champeaux und Faissole (65) 
u. s. w., und neuerdings Strassmann (66) und Brouardel (67) gegen¬ 
über Meckel (68), Bock (69), Niemann (70), Büchner (71) und 
M. Richter (72) eine entschieden wichtige Bedeutung für die Diagnose 
des Ertrinkungstodes zu, indem sie behaupten, dass die nach dem 
Tode in die Luftwege von in Wasser gestürzten Leichen eindringende 
Ertränkungsflüssigkeit niemals schaumige Beschaffenheit aufweist. Bei¬ 
spielsweise seien hier zwei entgegengesetzte Meinungen Büchner’s 
und Strassmann’s angeführt. Büchner sagt: „Das Vorhandensein 
schaumiger Flüssigkeit in den Luitröhrenverzweigungen verliert viel 
an seinem Werte als Zeichen des Ertrinkungstodes in Anbetracht, dass 
die umgebende Flüssigkeit auch in die Luftwege der Leiche eindringen 
und sich in diesen Gischt erzeugen kann, indem bei Bewegungen der 
Leiche, wäre es auch beim Ausziehen derselben aus dem Wasser oder 
bei der Leichenöffnung, Luft aus den Lungenbläschen austritt in die 
Luftröhrenäste und sich mit der daselbst befindlichen Flüssigkeit mengt.“ 
Strass mann behauptet andererseits: „Wenn das Eindringen von 
Flüssigkeit in die Lungen der Leiche möglich ist, so wird dadurch 
doch keine Vergrösserung derselben bewirkt und ebenso kommt es 
dabei nicht zur Ausbildung jenes feinblasigen Schaumes, der beim 
Ertrinken durch die wiederholte Mischung des eingeatmeten Wassers 
und der ausgeatmeten Luft entsteht.“ 

Diese auseinandergehenden Meinungen bewogen uns, der Sache 
experimentell nachzuforschen, wiewohl ja doch genügend bekannt ist, 
dass man der schaumigen Beschaffenheit des Luftröhreninhaltes aus 


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dem Grunde wenig diagnostischen Wert zuschreiben kann, weil ähn¬ 
licher Schaum bei Leichen von Menschen gefunden wird, die unter 
Erscheinungen des Lungenödems starben, und andererseits sich dieser 
Schaum mit der Zeit verliert, somit sich nicht allzuoft bei der Sektion 
vorfinden lässt. Und auch in dieser Richtung sind die Behauptungen 
verschiedener Autoren geteilt. So hat Klein (73) diesen Schaum in 
den Luftwegen Ertrunkener niemals, Senac, Gardane, Leonhardi, 
Kite, von Haller, Bernt (74) u.s.w. haben ihn nur bisweilen, A. Palt¬ 
auf (75) und Brouardel (76) sehr oft, sogar stets gefunden, wenn 
nur die Leichen nicht zu lange im Wasser verblieben oder wenn es 
hieb nicht um Ertrinkungstod, sondern um Tod im Wasser durch 
„Inhibition“ u. dergl. m. gehandelt hat. Auf 46 Fälle von Ertrinkungs¬ 
tod, die in den letzten Jahren in unserem Institut zur Sektion ge¬ 
langten, haben wir diesen Schaum nur in 6 (13 pCt.) Fällen ange- 
■troffen. Diese 6 Fälle beziehen sich auf Leichen Ertrunkener, die in 
den ersten 24 Stunden nach dem Tode aus dem Wasser herausgezogen 
wurden. Leider verbleibt aber die Mehrzahl der Leichen Ertrunkener 
. länger (eiuige Tage) im Wasser, bevor sie gefunden werden, wodurch 
genug Zeit zum Verschwinden dieses Schaums gegeben ist. Dies mag 
wohl die Ursache gewesen sein, warum es uns so selten gelungen ist, 
den Schaum in den oberen Luftwegen Ertrunkener zu finden. Nun 
waren wir bemüht experimentell zu erschliessen: 1. wie sich die post¬ 
mortal in die Luftwege eindringende Flüssigkeit verhält und ob sie 
Schaum in denselben erzeugt, 2. ob dabei das Bild des Hypervolumens 
entsteht und 3. ob das Blut der linken Herzhälfte eine Verdünnung 
erfährt. 

Zu diesem Zweck wurden sowohl Tierleichen wie auch Leichen 
totgeborener Kinder in eine Wanne mit stark mittelst Methylenblau 
gefärbtem Wasser versenkt und 24 Stunden darin belassen, sodann 
seziert. 

Diese an 8 Tierleichen und 4 Kinderleichen ausgeführten Versuche 
überzeugten uns zuerst, dass das Wasser postmortal in die Atmungs¬ 
wege wirklich eindringt, und zwar manchmal nur in die oberen Luft¬ 
wege, ein andermal bis in die Lungenbläschen, wobei die Flüssigkeit 
mehr die unteren und mittleren Lungenpartieen anzufüllen scheint. 
Dies verschiedene Verhalten der Flüssigkeit, was die Tiefe ihres Ein¬ 
dringens anbelangt, hängt zuerst davon ab, ob die Luftwege der Leichen 
wegsam, oder im Gegenteil etwa mit Fruchtschleim oder dergleichen 
mehr verlegt waren, zweitens davon, wie tief dieselben untergetaucht 

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Prof. Leo VVachholz u. Dr. Stefan Horoszkiewicz, 

lagen, somit wie gross der Druck der über denselben befindlichen 
Flüssigkeitsmengen war. Bei Verlegtsein der Luftwege mit Frucht¬ 
schleim konnten wir in zwei Leichen totgeborener Kinder feststellen, 
dass das mit Methylenblau gefärbte Wasser nur bis zur Bifurkations¬ 
stelle der Luftröhre eindringen konnte, ln Leichen, die seicht unter 
der Oberfläche des gefärbten Wassers untergetaucht lagen, liess sich 
die Methylenblaulösung desgleichen nur in den oberen Luftwegen bis 
in die Hauptbronchien verfolgen. Waren dagegen Leichen in hohen 
Wasserbehältern versenkt und lagen sie am Boden derselben, sodass 
über ihrem Körper das Wasser eine höhere (50 cm) Schicht bildete, 
so drang es bis in die Lungenbläschen hinein und erschien bei der 
nach 6—24 Stunden ausgeführten Sektion mehr oder weniger in den 
oberen Luftwegen mit Luft zu feinblasigem Schaum vermengt. Immer¬ 
hin war dieser Schaum stets nicht so dicht, wie er an frischen Leichen 
Ertrunkener beobachtet werden kann. Der Unterschied in der Dichte 
des schaumigen Gischtes ist leicht erklärlich. Der Gischt, welcher 
an frischen Leichen Ertrunkener zu sehen ist, verdankt sein Entstehen 
der sich wiederholenden Mischung des eingeatmeten Wassers und der . 
ausgeatmeten Luft während des Ertränkens, der mehr lose und dünnere 
Schaum der in Wasser versenkten Leichen entsteht durch Vermischen 
des in die Luftwege cinlaufenden Wassers mit der daselbst befind¬ 
lichen Luft, beziehungsweise mit der in der Leichenlunge noch zurück¬ 
gebliebenen sogenannten Residualluft, die, wie bekannt, nach Pflüger 
bis 800, nach Gad ± 1600, nach Davy und Grell an t 1200—1700 (77), 
nach den neuesten Messungen von A. Durig (78) im normalen Durch¬ 
schnitt 1000—1250 ccm beim Menschen beträgt. Je stärker der 
Druck, unter welchem die Flüssigkeit in die Luftwege der Leichen 
eintritt, desto mehr mehr vermischt sie sich mit der Residualluft und 
bildet destomehr ergiebigen Schaum. Nebstdem kommen in dieser 
Hinsicht noch andere, zum Teil von Engel, Büchner und neuerdings 
von Severi (79) hervorgehobene Umstände in Betracht. Diese Um¬ 
stände bilden die Bewegungen, welchen eine im Wasser liegende Leiche 
ausgesetzt ist und schon zumeist jene, die bei ihrem Ausziehen aus 
dem Wasser oder bei ihrem Auftauchen aus der Tiefe gegen die Wasser¬ 
oberfläche zum Ausdruck gelangen. Diese Bewegungen, sowie etwaige 
Stösse gegen den Brustkorb der im Wasser befindlichen Leichen be¬ 
wirken eine Aspiration des Wassers in ihre Luftwege, wodurch wieder 
die Mischung des auf diese Weise aspirierten Wassers mit der Residual¬ 
luft somit auch Bildung von Schaum in den Luftwegen befördert wird. 


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In den oberen Luftwegen einiger Kindes- und Tierleichen, denen 
wir durch eingeführte'Trachealkanüle, die mit dem kalibrierten Wasser¬ 
behälter verbunden war, mit Methylenblau gefärbtes Wasser (bei Be¬ 
ginn des Versuches war der Wasserstand 45 cm über der Luftröhre 
der Leiche) einlaufen liessen, fanden wir ziemlich dichten Schaum 
neben reichlicher blaugefärbter Flüssigkeit. Der Schaum und die 
Flüssigkeit quollen zuerst aus der geöffneten Kanüle von selbst und 
ziemlich schnell heraus, wobei die zuvor stärker gewölbten Brustwände 
und Bauchdecken sichtlich zurücksanken, später aber entleerten sie 
sich allmählich langsamer, endlich nur bei Druck auf den Thorax oder 
die Bauckdecken. Das frei in die Luftwege und Lunge aus dem 
Wasserbehälter hineingelangte Wasser betrug für 1 kg Leichengewicht 
(Hunde) im Durchschnitt 75 ccm. 

Die meisten Forscher, wie Fothergill (80), Eggert (81), Casper- 
Liraan (82), ßelohradsky (83), Skrzeczka (84), Falk (85), Lesser 
(86), Cerardini (87) u. s. w. behaupten, dass die in den Luftwegen 
und in der Lunge von Ertrunkenen zu findende Flüssigkeit ein Gemisch 
von Ertränkungsflüssigkeit, Schleim und Transsudat aus den Lungen¬ 
bläschen sei, wodurch eben diese Flüssigkeit so leicht dichten Schaum 
durch Vermischen mit Luft bildet. Paltauf (88) meint dagegen auf 
Grund seiner Versuche, dass diese Flüssigkeit „aus der Ertränkungs¬ 
flüssigkeit bestehe, der etwas Schleim, Blut, Epithel, dagegen Oedem- 
flüssigkeit höchstens in Spuren beigemengt seien“. Nach Brouardel (89) 
ist endlich nur der durch Reizung der Schleimhaut ausgeschiedene 
Schleim die Ursache der Bildung dieses dichten Schaumes. 

Wie schon oben erwähnt, konnten wir die Anwesenheit von 
Schaum auch in Leichen, die ins Wasser getaucht wurden, wahrnehmen, 
nur war dieser Schaum nie so ergiebig und dicht, wie an Leiehen 
ertränkter Tiere. Diesen quantitativen und qualitativen Unterschied 
des zu Lebzeiten und postmortal erzeugten Schaumes haben wir schon 
durch die viel geringere Mischung der postmortal eindringenden Flüssig¬ 
keit mit der bedeutend geringeren Quantität von Luft in den Lungen 
von in Wasser versenkten Leichen gedeutet. Indem aber auch der 
von so vielen Forschern hervorgehobene Umstand, die Flüssigkeit in 
den Luftwegen Ertrunkener sei eine Mischung von Ertränkungsflüssig¬ 
keit, Schleim und Transsudat (Oedemflüssigkeit) der Lungenbläschen 
nicht von der Hand zu weisen war, da ja doch eine etwa mit Trans¬ 
sudat vermengte, also Eiweissstoffe und Salze enthaltende Flüssigkeit 
leichter zu dichten Schaum sich schlägt, so haben wir zur Klärung 


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dieser Frage nachstehende Versuche unternommen. Es wurden einige 
Hunde durch Schuss gegen den Kopf getötet, sodann ihre Leichen in 
eine mit blau gefärbtem (Methylenblau) Wasser gefüllte Wanne neben 
den Leichen anderer zuvor darin ertränkter Hunde hineirigelegt. Nach 
6 Stunden wurden alle Leichen herausgenommen, der aus den aufge¬ 
schlitzten Luftröhren sich entleerende Schaum samt Flüssigkeit mit 
Hilfe einer Wasserstrahlpumpe in einem Kolben aufgefangen und dann 
kryoskopisch untersucht. Ausserdem wurde der zuerst aus der Luft¬ 
röhre hervorquellende Raum mikroskopisch untersucht, wobei man im 
Schaum sowohl der ertränkten wie auch der durch Schuss zuvor ge¬ 
töteten Tiere ein und dieselben morphotischen Bestandteile, wie massen¬ 
hafte Epithelzellen, zumeist Becherzellen, Erythrocyten, spärliche 
Leukocyten und Schleimfäden gefunden hatte. 

Die kryoskopische Untersuchung ergab: A des gefärbten Wassers, 
in welchem einige Tiere ertränkt, andere erst postmortal versenkt 
wurden, belief sich auf — 0,055, A der aus den Luftwegen ertränkter 
Hunde erhaltenen Flüssigkeit durchschnittlich = — 0,29, A derselben 
Flüssigkeit der zuvor erschossenen Hunde durchschnittlich = — 0,12. 
Da nun die Leichen dieser Tiere genau durch 6 Stunden im Wasser 
lagen und sich trotzdem bei der kryoskopischen Untersuchung ihrer 
Trachea!- und Lungenflüssigkeit ein bedeutender Unterschied des A 
ergab, so kann es keinem Zweifel unterliegen, dass die Lungenflüssig¬ 
keit der ertränkten Hunde mehr solcher Bestandteile enthielt, die den 
Gefrierpunkt des Wassers erniedrigen, als jene der zuvor erschossenen 
Hunde, trotzdem letztere während der Agone etwas Blut aspirierten 
und in’den Bronchien spärliche Blutgerinnsel enthielten. Diese den Gefrier¬ 
punkt erniedrigenden Bestandteile der Lungenflüssigkeit ertränkter 
Hunde stammen unbedingt aus dem Blute ihrer Lungenbläschengefässe. 
Nun handelt es sich aber um die Art und Weise, in welcher diese 
Blutbestandteile aus dem Blut der Alveolengefässe in das in die 
Lungenbläschen aspirierte Wasser herübertreten. Da nun gegenwärtig 
zweifellos bewiesen worden ist, dass die während des Ertränkens 
aspirierte Flüssigkeit in das Blut der Alveolargefässe cindringt, so ist 
kaum anzunehmen, wie schon mit Recht Paltauf hervorhob, dass zu 
derselben Zeit auch ein Transsudationsprozess in entgegengesetzter 
Richtung, d. i. vom Blut der Alveolargefässe aus, gegen die bereits 
schon aspirierte Ertränkungsflüssigkeit der Lungenbläschen stattfinden 
könnte. Aus diesem Grunde kann und muss der höhere Gehalt an 
den Gefrierspunkt erniedrigenden Bestandteilen der Tracheal- und 


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Experimentelle Studien zur Lehre vom Ertrinkungstod. 


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Lungenflüssigkeit ertränkter Tiere durch Diosraose erklärt werden, die 
zwischen dem Blut der Alveolargefässe und der in die Alveolen bereits 
schon aspirierten Ertränkungsflüssigkeit stattfindet. Dass aber die 
Diosraose während des Lebens ergiebiger vor sich gehen muss, wie 
dies der ^-Unterschied in den obigen Versuchen klar beweist, lässt 
sich leicht dadurch erklären, dass während des Ertränkens das ein¬ 
geatmete Wasser immer mit neuer Menge des durch die Gefässe der 
Lungenbläschen kreisenden Blutes, also immer mit gleich chemisch 
zusammengesetztem Blut in osmotischen Prozess gerät. Nebstdem 
kann auch eine etwa verminderte Durchlässigkeit tierischer Membranen 
nach dem Tode zur Erklärung des obigen A-Unterschiedes heran¬ 
gezogen werden. 

Diese Versuche beweisen also einwandsfrei, dass die Flüssigkeit, 
die man in den Luftwegen Ertrunkener findet, durch Diosmosc in die¬ 
selbe übergetretene Blutbestandteile in weit grösserer Menge enthält, 
als jene, der man in den Luftwegen der postmortal in Wasser ge¬ 
tauchten Leichen begegnet. Demzufolge muss auch erstere Tätigkeit 
leichter und einen mehr dichten Schaum bilden, als die letztere. 

Aus diesen unseren Versuchen geht nun hervor, dass man auch 
bei in Wasser getauchten Leichen mitunter Schaum in den oberen 
Luftwegen antreffen kann, dass derselbe, was die morphotischen Be¬ 
standteile anlangt, sich vom Schaum Ertrunkener nicht im mindesten 
unterscheidet, endlich dass er nur an frischen, genau solange in ein 
und demselben Wasser liegenden Leichen eines Ertrunkenen und eines 
zuvor auf andere Weise Verstorbenen einen diagnostisch verwertbaren 
quantitativen und qualitativen (bei Ertrunkenen ist der Schaum reich¬ 
licher und dichter) Unterschied wahrzunehmen gestattet. Anderenfalls, 
und dies trifft in allen in der Praxis vorkommenden Fällen zu, kann 
man der schaumigen Beschaffenheit der in den Luftwegen Vorgefundenen 
Flüssigkeit keinen Wert für die Diagnose des Ertrinkungstodes zu¬ 
schreiben, weil sie auch in postmortal in Wasser getauchten Leichen 
angetroffen und der bereits hervorgehobene Unterschied des bei Leb¬ 
zeiten und des nach dem Tode entstandenen Schaumes hier aus den 
obenerwähnten Gründen nicht verwertet werden kann. 

Das Hypervolumen der Lungen Ertrunkenerund das damit verbundene 
Hervortreten derselben aus derThoraxhöhle bei der Sektion war schon den 
alten Autoren bekannt und bildete für sie ein genügendes Merkmal zur 
Diagnose des Ertrinkungstodes. Die Beschaffenheit der Lungen Ertränkter 
wird verschieden beschrieben. Albert bemerkt, dass die Lungen die 


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ganze Brusthöhle ausfällen, selbst Eindrücke von Rippen aufweisen, sich 
teigig und matschig anfühlen; nachRiedel sind sie „ausgedehnt, teigigtund 
matsch“, nach Günther einfach nur „ausgedehnt“, nach Hermann „auf¬ 
geblasen“, nach Maschka „aufgedunsen“, nach Wistrand „voluminös“; 
Kanzler bezeichnet sie ebenfalls als „gedunsen und aufgetrieben“ 
und fügt hinzu, dass diese Lungen beschaffenheit häufig genug deutlich 
vorhanden ist „und dann neben anderen wichtigen Zeichen kein zu 
verachtendes Merkmal des Ertrinkungstodes“ bildet. Nach Büchner (90) 
ist „die Gedunsenheit der Lungen das sicherste Kennzeichen des Er¬ 
trinkungstodes“. Zugleich erblickt er „die Ursache des vermehrten 
Lungenumfanges teils im Blutreichtum derselben, teils in wirklicher 
Luftüberfüllung der Lungenbläschen (Hyperaerie nach Casper), teils 
endlich in Ueberfüllung der Luftröhrenäste und -Zweige mit der Er- 
tränkungsflüssigkeit. und dadurch bedingter Eintreibung der Luft in 
die Lungenbläschen.“ Diese von Büchner gegebene Erklärung stützt 
sich auf Casper (91), der diesen Zustand „Hyperaerie“ der Lungen 
nannte und glaubte, dass sie sich vorzugsweise dann vorfinde, wenn 
der Ertränkende während des Ertrinkens mehrmals an die Oberfläche 
auftauchte und hier viel Luft einatmete. Demzufolge wird dieser 
Zustand der Lungen von Casper einem akuten Emphysem zugeschrieben. 
Mücke (92) erklärt das Hypervolumen der Lungen durch ihre über¬ 
mässige Ausdehnung infolge sehr forcierter Inspirationen, wodurch das 
Lungengewebe seine Elastizität einbüsst, so dass die Lungen sich 
nach Eröffnung der Brusthöhle nicht mehr normal zu retrahieren ver¬ 
mögen. Derselben Meinung ist Laub (93), welcher behauptet, dieser 
Befund könne nicht durch blosses Absperren der Lungenluft mit Er- 
tränkungsflüssigkeit gedeutet werden, da die Lungen auch dann nicht 
kollabieren, wenn die Flüssigkeit mit der Zeit verschwindet. Entgegen¬ 
gesetzter Meinung sind Tardieu (94) und Skrzeczka (95), welche das 
Hypervolumen auf den Druck der in den Luftwegen befindlichen Flüssig¬ 
keit, die cs nicht gestattet, der Luft aus den Lungen zu ent¬ 
weichen, zurückführen. Nach v. Cerardini und Lesser (96) bildet 
eine während des Ertrinkens vermehrte Schleimabsonderung in den 
Bronchien und die dadurch verursachte Verlegung der Bronchiolen die 
Ursache des Ausbleibens von Lungenkollaps bei Oeffnen der Brust¬ 
höhle. Lesser behauptet zugleich gegenüber Laub, dass diese Lungen 
erst dann wieder kollabieren nach Oeffnung der Pleuren, wenn der 
schleimige Bronchialinhalt sich durch Fäulnis zersetzt. Bei Leichen, 
die er als solche ins Wasser tauchte, vermochte seiner Ansicht nach 


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Experimentelle Studien zur Lehre vom Ertrinkungstod. 


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sogar ein reichlicher Gehalt der Alveolen an Wasser den Kollaps ihrer 
Lungen nicht hintanzuhalten. Auf diese Weise wäre nach Lesser 
das Zustandekommen des Hypervolumens und des damit verbundenen 
Nichtkollabierens der Lungen bei Oeffnen der Brusthöhle nur bei Er¬ 
trinken, nicht aber bei Untertauchen von Leichen möglich. Nach 
Pal tauf ist die Ursacho der Lungenauftreibung in dem schon während 
des Ertrinkens stattfindenden Eindringen der Ertränkungsflüssigkeit 
aus den Lungenbläschen in das Zwischengewebe zu suchen. Strass- 
roann (97) erscheint es am geratensten, den in Rede stehenden Lungen¬ 
befund mit einer von Traube aufgestellten Theorie zu erklären. Laut 
dieser Theorie ziehen sich die im Leben und an der Leiche die Pleura¬ 
höhlen ausfüllenden Lungen zusammen infolge ihrer natürlichen Elasti¬ 
zität, sobald die Brusthöhle eröffnet wird. Befinden sich aber in den 
Luftwegen fremde Massen, welche kraft ihrer Schwere und Adhäsion 
an die Wände der Luftwege Widerstand der Lungenelastizität leisten, 
so muss ihre Wirkung ausbleiben und die Lungen ziehen sich nach 
Oeffnung des Thorax nicht zusammen. Die Traube’sche Theorie 
erklärt somit die Auftreibung und das Niehtkollabieren der Lungen 
zumal bei Ertrunkenen auf rein physikalische und nicht physiologische 
Weise. Indem nun auch bei Lungen einer ins Wasser versenkten 
Leiche das in ihre Luftwege eindringende Wasser durch seine Schwere 
und Adhäsion an die Bronchialwände der Lungenelastizität Widerstand 
leisten muss, so ist es zu erwarten, dass sich das Hypervolumen und 
das Niehtkollabieren der Lungen auch an Lungen von in Wasser ge¬ 
senkten Leichen ergeben wird, falls diese Befunde wirklich von den 
durch Traube herangezogenen Faktoren abhängig sind. Und trotz¬ 
dem behauptet Strassmann, dass das Eindringen von Flüssigkeit in 
die Lungen von Leichen, „doch keine Vergrösserung derselben“ be¬ 
wirken kann, ln jüngster Zeit hat Margulies (98) auf theoretisch¬ 
physiologischer Grundlage diesen Lungenbefund zu deuten versucht. 
Er nimmt mit Casper und Strassmann an, dass diese abnorme 
Lungenausdehnung bei Ertrunkenen durch abnorm starken Luftgehalt 
derselben verursacht ist. Zufolge seinen theoretischen Betrachtungen 
besitzt jeder Ertrinkende in seinen Lungen ausser der Residuallult 
noch die Reserve - Respirations- und vielleicht auch einen nicht uner¬ 
heblichen Teil der Komplementärluft, somit um etwa 2—3y 2 Liter 
mehr Luft, als Leichen, welche ins Wasser gelegt werden. Diese Luft 
verteilt sich auf die Lungenbläschen und sie wird daselbst, da sie 
wegen Anwesenheit der in den kapillären Bronchiolen mit „betracht- 


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Prof. Leo Wachholz u. Dr. Slefan Horoszkiewicz, 


licher Gewalt“ zurückgehaltenen Ertränkungsflüssigkeit nicht entweichen 
kann, stark komprimiert. Wird nun die Leiche eines Ertrunkenen 
aus dem Wasser gezogen, so entfällt jetzt der frühere von aussen auf 
dem Thorax lastende Wasserdruck, wodurch sich die vorhin kompri¬ 
miert gewesene Luft innerhalb der Alveolen erweitert und dieselben 
ausdehnt. Wird weiter bei der Sektion noch die einen gewissen Wider¬ 
stand der Lungenausdehnung setzende ßrustwand eröffnet, so dehnen 
sich die mit komprimierter Luft gefüllten Alveolen noch mehr aus, und 
die Lungen quellen infolgedessen aus der Thoraxhöhle hervor. Je mehr 
nun ein Ertrunkener Luft unter die Wasseroberfläche in seinen Lungen 
miigebracht hatte, desto mehr wird sie während des Ertrinkens in den 
Lungenbläschen komprimiert, somit wird sich desto ergiebiger bei der 
Sektion die Hyperaerie der Lungen darbieten. Hochgradige Lungen- 
hyperaerie wird nach Margulies dann zu erwarten sein, wenn jemand 
nach tiefster Inspiration ertrank, dagegen muss man Fehlen dieses 
Befundes bei nach tiefster Exspiration Ertrunkenen vermuten. Aus 
diesen bereits zusammengestellten Meinungen geht nun hervor, dass 
das Hypervolumen und Nichtkollabieren der Lungen Ertrunkener nach 
Oeffnung ihres Thorax als nur vital zu Stande kommende Befunde 
gedeutet werden müssen, denen somit eine grosse Bedeutung für die 
Diagnose« des Ertrinkungstodes nicht abgestritten werden kann, falls 
sie nur deutlich genug bei der Leichenöffnung zum Vorschein gelangen. 

Bevor wir zur Schilderung unserer Versuche übergehen, die wir 
unternahmen, um uns genau zu überzeugen, ob dieser Lungenbefund 
nicht auch postmortal erzeugt werden kann, sei noch erwähnt, dass 
derselbe „nicht allzu häufig“, wie sich Hofmann (99) äussert, in 
Leichen Ertrunkener bei der Sektion festgestellt wird. So hat z. B. 
Reinsberg (100) die ballonartige Auftreibung der Lungen überhaupt 
nur in 45 pCt. seiner Fälle, wir auf 46 Fälle von Ertrinkungstod, die 
in den letzten 12 Jahren zur Sektion gelangten, in 16, d. i. in 34 pCt. 
der Fälle gesehen. 

In den eingangs schon erwähnten Versuchen, die wir an 8 Tier- 
und 4 Kindesleichen unternahmen, bekamen wir in allen Fällen, in 
denen die feinen Luftwege nicht vorher verlegt waren und die Leichen 
etwa 50 cm tief unterhalb der Wasserfläche zu liegen kamen, ein 
exquisites Hypervolumen und Nichtkollabieren der Lungen bei der 
.Sektion zu Gesicht. Es gelang uns, denselben Befund auch an weiteren 
3 Kindesleichen dadurch zu erzeugen, dass wir in ihre Lungen das 
stark mit Methylenblau gefärbte Wasser aus einem Glasbehälter durch 

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Exporimenteile Studien zur Lehre vom Ertrinkungstod. 


261 


eine Trachealkanüle (bei Beginn des Versuches befand sich die Wasser¬ 
oberfläche im Behälter 50 cm über der Trachea) einlaufen Hessen. 
In dem einem Versuch wurde vor dem Einlaufen des Wassers der 
Brustkorb in der üblichen Weise geöffnet, wodurch wir die allmähliche 
Vergrösserung und Austreten der Lungen durch die Oeffnung im Thorax 
genau beobachten konnten. Gleich nachdem der Wasserbehälter ent¬ 
fernt worden war, quoll zuerst aus der Trachealkanüle das mit fein¬ 
blasigem Schaum vermengte Wasser von selbst und ziemlich schnell 
heraus mit gleichzeitiger entsprechender Schrumpfung der Lungen, 
später quoll es immer langsamer heraus, endlich nur bei Druck auf 
die Lungen resp. auf die Brustwand. Die von selbst aus den Lungen 
herausgetretene Flüssigkeit bildete nur einen geringen Bruchteil des 
zuvor eingedrungenen Wassers, weswegen auch die Lungen in allen 
diesen Versuchen eine beträchtliche Umfangszunahme und das damit 
verbundene Nichtkollabieren aufwiesen. Diese Lungen fühlten sich 
teigig und matschig ganz ähnlich den stark ödematösen Lungen an. 
Auf der Schnittfläche quoll überall reichliche, feinblasige, blaugefärbte 
Flüssigkeit hervor, sodass wir dieses Bild mit dem am meisten zu¬ 
treffenden Ausdruck „oedema aquosum“ bezeichnen müssen. Auf 
Grund dieser Versuche behaupten wir, dass das Hypervolumen und 
das Nichtkollabieren der Lungen auch an der Leiche entstehen kann 
und muss, wenn nur ihre Luftwege wegsam sind, die Leiche tiefer 
ins Wasser gelangt, wodurch das Wasser bis in die Lungenbläschen 
mit Leichtigkeit unter genügendem Druck eindringt. Selbstverständ¬ 
lich hängt dies auch von der Wasserracnge ab, welche in die Lungen 
eindringt, denn nur beträchtlichere Quantitäten von in die Luftwege 
eingeführtem Wasser vermögen das Hypervolumen der Lunge zu er¬ 
zeugen. Diese Versuche beweisen zugleich die vollkommene Richtig¬ 
keit der Traube’schen Theorie in Bezug auf Entstehung des Hyper¬ 
volumens und Nichtkollabierens der Lungen Ertränkter. Da es sich 
aber in unseren Untersuchungen um postmortale Entstehung des Hyper¬ 
volumens der Lungen handelt, in welchen sich schon im Augenblick 
des Untertauchens im Wasser weniger Luft (nur die Residualluft) be¬ 
findet, als in den Lungen Ertränkter, so müssen wir neben der 
Traube’schen Theorie noch einen anderen Umstand zur Erklärung 
dieses Befundes bei in Wasser gelegten Leichen heranziehen. Das 
unter gewissem Druck (= 50 cm Wassersäule bei Beginn unserer 
Versuche) in die Lungen einlaufende Wasser dehnt die Lungen aus 
teils dadurch, dass es die Alveolen ausfüllt, teils wieder dadurch, 


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Prof. Leo Wachholz u. I)r. Stefan Horoszkiewicz, 


dass es die in den Alveolen befindliche Residualluft komprimiert. Je 
mehr nun die Lungen durch das postmortal eingedrungene Wasser gedehnt 
werden, desto mehr muss das elastische Lungengewebe an seiner 
Elastizitätskraft einbüssen. Dieser Verlust an Elastizität bewirkt aber 
des weiteren in den Lungen die Unfähigkeit, sich wieder zusammen¬ 
zuziehen und zu kollabieren im Augenblick, wo das Wasser nicht mehr 
; in die Luftwege eindringt, und die bereits schon in sie eingedrungene 
j Wassermenge nicht dem früheren Druck ausgesetzt ist. Dass aber 

I das Wasser sowohl zu Lebzeiten bei Ertrinken, wie auch postmortal 
bei tieferem Untertauchen der Leichen in die Lungen unter gewissem 
und beträchtlichem Druck eindringt und auf diese Weise die ihnen 
zukommende Elastizität stark in Anspruch nimmt, beweist der Um¬ 
stand, dass die Alveolenwände sowohl der Lungen Ertränkter, wie 
auch der Lungen von in Wasser gelegten Leichen dieselben, ausge¬ 
dehnten Zerreissungen aufweisen. Von diesem mikroskopischen Befund, 
welchem erst kürzlich unverdienter Weise H. K. W. Schmidt (101) 
den Wert eines „wesentlichen leicht festzustellenden“ Kennzeichens des 
Ertrinkungstodes zuschrieb, haben wir uns überzeugt, indem wir Stücke 
von Lungen ertränkter und zuerst totgeschossener, dann durch 6 Stunden 
in Wasser getauchter Hunde teils nach Unna - Taenzer (102) mit 
Orcein, teils nach Weigert mit Elastin behandelten. Das mikro¬ 
skopische Bild der Lungen von diesen ertränkten und postmortal in 
Wasser gelegten Tieren zeichnete sich durch starke Dehnung der rand- 
wärts befindlichen Alveolen aus, die hier und da durch Zerreissung 
der Alveolarsepta zu den von Schmidt treffend beschriebenen „ketten¬ 
artig aneinander gelagerten Hohlräumen“ sich vereinten. Nur in einigen 
Lungen ertränkter Tiere, die schon makroskopisch Blutaustritte erkennen 
Hessen, fanden wir in einzelnen Alveolen und in dem Zwischengewebe 
ergiebige Ecchymosen, ausserdem scheinen die Lungenalveolen ertränkter 
Tiere mehr desquamiertes Epithel als jene der postmortal in Wasser 
gelegten zu enthalten. Trotzdem wir in Lungen von postmortal ins 
Wasser gelegten Tieren niemals Blutaustritte gesehen haben, schreiben 
wir diesem Befund in den Lungen Ertränkter wenig diagnostische 
Bedeutung zu, indem wir solche Blutaustritte in Lungen Ertränkter 
nur in sehr vereinzelten Fällen (5 pCt.) gefunden haben. 

Diese makroskopische Beschaffenheit der Lungen, die postmortal 
durch Wasser an Umfang gewannen, bewog uns für ihre Bezeichnung 
als den entsprechendsten Terminus, den Ausdruck „Oedema aquosum“ 
anzugeben. Wenngleich auch dies Bild des Oedema aquosum makro- 


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Experimentelle Studien zur Lehre vom Ertrinkungstod. 


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skopisch sehr dem Bilde eines bei Lebzeiten entstandenen Lungen¬ 
ödems ähnelt, so ist doch leicht mit Hilfe des Kryoskops zwischen 
ihnen zu unterscheiden, indem, wie Revenstorf (103) es feststellte, 
die wahre Oedemflüssigkeit der Lungen als ein Transsudat einen be¬ 
deutend niedrigeren Gefrierpunkt besitzt, der dem Gefrierpunkte des 
normalen Blutes gleichkommt. 

Die verschiedene Bezeichnung derLungenbeschaffcnheit Ertrunkener, 
die sich bei älteren Autoren findet, beweist, dass die Lungen Ertrunkener 
nicht immer reich an Ertränkungsflüssigkeit sich erweisen. Die genaueste 
Schilderung des Lungenbefundes Ertrunkener finden wir bei Strass¬ 
mann: „Das Lungengewebe ist auf der Schnittfläche bald ebenfalls 
flüssigkeitsreich, bald mehr trocken; auch in letzteren Fällen ist die 
ungewöhnliche Ausdehnung der Lungen vorhanden, und schon die 
blosse äussere Betrachtung der Lungen zeigt dann, dass es sich um 
eine wirkliche Hyperaerie, um eine Ausdehnung der Lungen durch 
abnormen Luftgehalt handelt, in Folge dessen sie sich ballonartig, 
luftkissenartig, ähnlich wie emphysematose Lungen anfühlen.“ Von 
dieser präzisen Schilderung Strassmann’s ausgehend, müssen wir 
hervorheben, dass sich die Lungenbeschaffenheit der 58 von uns er¬ 
tränkten Tiere auch dann, wenn ihre Lungen nach Strass mann „auf 
der Schnittfläche flüssigkeitsreich“ waren, bedeutend von der Beschaffen¬ 
heit unterschied, die wir stets an Lungen der in Wasser gelegten 
Kinder- oder Tierleichen beobachtet haben. Dieser Unterschied bestand 
darin, dass die Lungen ertränkter Tiere stets mehr Luft enthielten 
und wenigstens an den vordem oberen, besonders aber an den rand- 
wärtigen Partieen wie emphysematos gegenüber den übrigen Teilen 
sich darstellten, während nun die Lungen der nach dem Tode in 
Wasser gelegten Leichen sichtlich weniger mit Luft gefüllt und überall 
gleichmässig flüssigkeitsreich, also ödematös waren. Dieser leicht 
festzustellende Unterschied, dem eine differentialdiagnostische Bedeutung 
in Bezug auf die Frage, ob lebend oder tot in Wasser gestürzt, nach 
unserem Dafürhalten zukommen muss, findet seine Erklärung in den 
von Margulies hervorgehobenen Umständen. Gelangt ins Wasser 
eine Leiche, deren Lunge nur die Residualluft enthält, so füllen sich 
ihre wenig Luft enthaltenden Lungenalveolen leicht mit dem unter 
Druck eindringenden Wasser; ertrinkt aber jemand im Wasser, so 
bringt er unter den Wasserspiegel in seinen Lungen stets einen be¬ 
trächtlicheren Luftgehalt (Residual- + Reserve- -f- Respirations- -j- 
vielleicht auch teilweise Komplementärluft) mit, welcher auch nach 


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264 Prof. Leo Wachholz u. Dr. Stefan Horoszkiewicz, 

erfolgtem Tode durch die mit Ertränkungsflüssigkeit gefüllten Luft¬ 
wege nicht entweichen kann, somit in den Lungen zurückbleibt und 
mindestens in einigen ihrer Partieen die hyperaerische, d. i. stark mit 
Luft gedunsene Beschaffenheit hervorruft. Als besten Beweis hiefür, 
dass eine Lunge Ertrunkener deswegen mehr Luft als eine Lunge 
gewöhnlicher Leichen enthält, weil aus ihr nach dem Tode die Luft 
in der üblichen Weise nicht entweichen kann, können wir einen von 
uns unlängst sezierten Fall von Selbstmord durch Halsdurchschneiden 
anführen. In den oberen Luftwegen dieser Leiche, und zwar in der 
Luftröhre und den grösseren Bronchieu, fanden sich Blutgerinnsel, 
die das Lumen der Bronchien vollständig ausfüllten. Die Lungen 
waren beiderseits stark ausgedehnt, von bedeutend grösserem Umfang 
als normal, sie kollabierten bei Eröffnung der Brusthöhle nicht, sondern 
sie wölbten sich durch die Oeflfnung stark hervor. An der Schnitt- 
| fläche waren sie überall trocken, stark blutarm, knisternd, lufthaltig. 

! Dieser hier festgestellte Lungenbefund, der eine wirkliche Hyperaerie 
zeigte, kann nicht anders gedeutet werden als nur durch den Um- 
i stand, dass nach erfolgtem Tode wegen Verlegtsein der Bronchien 
! mit Blutgerinnseln die Luft aus den Lungen bis auf die Residualluft 
nicht entweichen konnte. Und derselbe Vorgang muss ja auch bei 
Lungen Ertrunkener stattfinden. 

Wie wir schon oben bemerkten, waren die Lungen der 58 von 
uns ertränkten Tiere stets bedeutend stärker und sei es nur teilweise 
lufthaltig, als die Lungen der in Wasser gelegten Leichen, sodass, 
während die ersteren mindestens in den vorderen oberen und rand- 
wärtigen Lungenanteilen sich wie emphysematos darstellten, so glich 
das Bild der letzteren vollkommen und überall dem eines Lungen¬ 
ödems. Da wir diese ödematöse Lungenbeschaffenheit mit „Oedema 
aquosum“ bezeichnen, so erlauben wir uns, das entgegengesetzte Bild 
der trockenen Lungenblähung bei Ertrunkenen nach Brouardel 
„Emphysema aquosum“ zu benennen. Bei 7 Hunden, die nach einer 
Inspiration in der IV. Gruppe unserer Versuche ertränkt wurden, waren 
ihre Lungen bedeutend mehr emphysematos beschaffen als die Lungen 
der nach einer Exspiration ertränkten; denn während bei den zuerst 
genannten wenigstens die Hälfte ihrer Lungen, d. i. die oberen und 
zum grössten Teil auch die mittleren Lappen stark lufthaltig und 
gebläht, die übrigen Lungenteile aber wie ödematös erschienen, so 
waren die Lungen der letzteren nur in den Randpartieen der Ober¬ 
und Mittellappen emphysematos, sonst aber überall ödematös. Bei 


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Experimentelle Studien zur Lehre vom Ertrinkungstod. 


•265 


einem Hunde (IV. Gruppe, No. 9), der ebenfalls nach einer tiefen In¬ 
spiration ertränkt worden ist, war das Bild des Emphysema aquosum 
über 2/3 seiner Lungen nur mit Ausnahme ihrer paravertebral gelegenen 
Teilen ausgebreitet. Wir betonen dabei, dass in diesen Versuchen 
die Tiere in Rückenlage Wasser eingeatmet haben. Ausserdem sei 
noch hervorgehoben, dass sich die emphysematose Lungenbeschaffen- 
heit bedeutender und mehr über die Lungen ausgebreitet bei diesen 
Tieren fand, die vor dem Ertränken narkotisiert wurden, was damit 
in Zusammenhang gebracht werden muss, dass, wie schon früher be¬ 
merkt, narkotisierte Tiere gleich bei Beginn des Ertränkens das in 
ihre Luftröhre hineingelangende Wasser nicht reflektorisch heraus¬ 
befördern, wodurch auch der Luftgehalt ihrer Lungen keine Einbusse 
erfährt. Diese hier geschilderten Resultate unserer Versuche bestätigen 
vollkommen die theoretischen Erwägungen Margulies, indem sie klar 
dartun, dass, je mehr (nach vorangehender Inspiration) der Ertrinkende 
Luft in seinen Lungen unter den Wasserspiegel mitbringt, destomehr 
seine Lungen sich bei der Sektion als mit Luft gebläht, hvperaerisch, 
schlechtweg emphysematos aufweisen. Sie zeigen aber auch an, dass, 
je weniger der Ertrinkende nach dem Untertauchen ausatmet (Narkose, 
Rauschzustände), desgleichen destomehr seine Lungen lufthaltig und 
gebläht erscheinen. 

Nach Laub können die geblähten (Hyperaerie, Emphysema aquo¬ 
sum darbietenden) Lungen Ertrunkener auch dann nicht kollabieren, 
wenn die in den Luftwegen befindliche Flüssigkeit mit der Zeit ver¬ 
schwindet, nach Tardieu und ebenfalls nach Margulies wäre dies 
aber zu erwarten mit dem Augenblick, wo die Ertränkungsflüssigkeit 
aus den Luftwegen schwindet. Unterdessen sagt Strassmann, 
Lim an beipflichtend, „dass die abnorme Ausdehnung der Lungen trotz 
vorgeschrittener Fäulnis als einziges Zeichen des Ertrinkungstodes mit¬ 
unter zurückbleibt“. Dies Zurückbleiben des Emphysema aquosum 
der Lungen Ertrunkener trotz vorgeschrittener Fäulnis, somit trotz 
Verschwindens der Ertränkungsflüssigkeit aus den Luftwegen, kann 
unserer Meinung nach wieder mit der sehr starken Dehnung des 
elastischen Lungengewebes gedeutet werden, wodurch dasselbe, wenn 
es durch längere Zeit ausgedehnt blieb, an seiner Elastizität, somit 
auch an seiner Retraktionsfähigkeit zumal schon postmortal Einbusse 
erfahren muss. 

Aus all dem Gesagten zufolge ersehen wir: 

1 . dass das postmortal in die Lungen eingetauchter Leichen ein- 


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Prof. Leo Wachholz u. Dr. Stefan Horoszkiewicz, 

dringende Wasser eine beträchtliche Zunahme ihres Volumens und 
Unfähigkeit ihrer Schrumpfung nach Eröffnen der Brusthöhle verursacht : 

2 . dass aber eine solche Lunge überall wenig lufthaltig ist und 
das von uns geschilderte Bild des Oedema aquosum darstellt, während 
andererseits 

3. die Lungen Ertrunkener stets mehr luftgefüllt sind und wenigstens 
teilweise das Bild der trockenen Lungenblähung (Strassmann), d. i. 
der Hyperaerie (Casper) resp. des Emphyscma aquosum (Brouardel) 
aufweisen; 

4. diese wenn auch teilweise vorhandene trockene Lungenblähung 
(Emphyscma aquosum, Hyperaerie') beweist, dass Ertrinkungstod ge¬ 
gebenen Falles vorliegt; 

5. die Volumzunahme und Unfähigkeit zu kollabieren nach Er¬ 
öffnen des Thorax von Lungen, sowohl Ertrunkener wie auch der nach 
dem Tode ins Wasser Geratenen, wird teils nach der Traube’schen 
Theorie und den Erwägungen Margulies’, teils unserer Meinung nach 
damit gedeutet, dass die durch komprimierte Luft oder durch das in 
Lungenbläschen hineingelangte Wasser stark gedehnte Lunge an ihrer 
Elastizität und somit an ihrem Retraktionsvermögen cingebüsst hat. 

In Lösung der von uns zuletzt aufgeworfenen Frage: ob das Blut 
der linken Herzhälftc der zuerst auf andere Weise getöteten und nachher 
ins Wasser gestürzten Individuen verdünnt wird, konnten wir mit 
Hilfe der kryoskopischen Untersuchung, die bereits von Carrara, 
Stoenescu und H. K. W. Schmidt erzielten Erfolge vollkommen be¬ 
stätigen. Der des Blutes, welches aus der linken Herzkammer 
der durch 6—24 Stunden im Wasser ruhenden Tierleichen aufgefangen 
wurde, glich vollkommen dem A des zu Lebzeiten ihnen aus der 
Karotis entnommenen Blutes. Auf Grund dieser Untersuchungsergeb¬ 
nisse unterliegt es keinem Zweifel, dass das Blut der in Wasser ge¬ 
legten Leichen dadurch nicht verdünnt wird. 

III. Das Verhalten des Blutes nach dem Ertrinkungstod. 

Die Meinungen über das Verhalten des Blutes in Leichen Er¬ 
tränkter sind geteilt. Walter schrieb: „si homo vivus in aquam 
projicitur et periit in undis, videbimus sanguinera talis hominis post 
mortem liquidissimum esse, hominis autem interfecti et tune in aquam 
praecipitati sanguinem spissum . . .“ Während zahlreiche Experimen¬ 
tatoren, wie Loder, Kölpin, Klose, Wildberg, Klein und Albert 
in Leichen ertränkter Tiere stets flüssiges Blut fanden, während 


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Experimentelle Studien zur Lehre vom Ertrinkung^ 




Maschka, Günther, Metzger, Elvert, Schaffer, Casper u. s. vv. 
der flüssigen Beschaffenheit des Blutes von Leichen Ertrunkener eine 
wertvolle diagnostische Bedeutung zuschrieben, so halten andere wie 
Henke und Roose diesen Befund für trügerisch. Avisard, Mahon, 
Viborg, Osiander und Orfila behaupten endlich, dass in Leichen 
Ertrunkener nur in den Gefässen flüssiges Blut angetroflfen werden 
kann, hingegen sei das Blut in den Herzhöhlen stets wegen geringerer 
Abkühlung dieses Organs geronnen. Lafosse hat geronnenes Blut in 
Leichen ertrunkener Menschen, Löffler und Riedel in Leichen er¬ 
tränkter Tiere und zwar sowohl im Herz, wie in den Blutgefässen 
gefunden, weswegen auch Siebold, Bock und Niemann diesem 
Befunde nur eine untergeordnete diagnostische Bedeutung zukommen 
lassen. Kanzler (104) hat in Leichen seiner Versuchstiere stets „in 
hohem Grade“ flüssiges Blut angetroffen, deswegen war ihm daher 
auffallend, „dass andere Experimentatoren das entgegengesetzte Resultat 
erlangt haben“. Den Grund dieser verschiedenen Erfolge erblickt er 
in der zu geringen Wassermenge, in welcher einzelne Forscher ihre 
Tiere ertränkten, wodurch eine nur unvollkommene Abkühlung der 
Tierkörper eintreten musste. Seiner Ansicht nach „scheint keinem 
Zweifel zu unterliegen, dass die Kälte des Wassers auf das Flüssig¬ 
bleiben des Blutes mitwirkt“, denn Riedel hatte bei einer Katze, die 
er „in ziemlich heissera Wasser ertränken liess, nach Verlauf von 
24 Stunden nach dem Tode grosse Blutgerinnsel in beiden Herzhälften, 
Hohlader und Aorta, hingegen bei einer anderen, in Eiswasser ertränkten 
nur flüssiges Blut gefunden. Nach Kanzler bildet das Flüssigbleiben 
des Blutes in Leichen Ertrunkener zwar kein pathognomonisches Zeichen 
für diese Todesart, indem es („ausserordentlich selten“) vermisst 
werden und andererseits auch bei anderen Todesarten Vorkommen 
kann, dennoch muss es für „eines der wertvollsten Merkmale des 
Ertrinkungstodes erklärt werden“. Devergie (105) hebt die ausser¬ 
ordentliche Flüssigkeit des Blutes Ertrunkener hervor und bemerkt, 
dass* Blutgerinnsel nur höchst ausnahmsweise bei ihnen angetroffen 
werden. Orfila hat Blutgerinnsel nur in einem Fall von Ertrinkungs¬ 
tod, Avisard und Devergie selbst nur in je zwei Fällen gesehen. 
Tourd es und Metzquer (106) erklären das wie Wasser flüssige Blut 
für ein charakteristisches Merkmal des Ertrinkungstodes, welches sie 
auf 113 Fälle 89 mal antrafen. In den 24 zurückbleibenden Fällen 
fanden sie lockere, dunkelrote, mehr weniger leicht zerfliessende Blut¬ 
gerinnsel, die sie als die Folge eines längeren Todeskampfes ansehen. 

Viertelj&hrwchrift f. ger. Med u. öff. San.-Wesen. 3. Folge. XXVIII 2. ig 


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268 


Prof. Leo Wach holz u. Dr. Stefan Horoszkiewicz, 


\ 


Sie haben nur in einem, als Ausnahme von ihnen erklärten Fall, 
feste, entfärbte, von den Herzhöhlen in die grossen Gefässe hinein- 
ragendc Speckgerinnsel gefunden. Belohradskv (107) bemerkte ge¬ 
ronnenes Blut nur bei einer Leiche eines Selbstmörders, der zuerst 
Salpetersäure schluckte und sich nachher ins Wasser stürzte. Im 
Fall Zschokke’s, in welchem ein Mädchen den nächsten Tag nach 
erfolgter Entbindung im Anfangsstadium einer puerperalen Peritonitis 
sich ertränkte, in zwei Fällen Paltauf’s (108), in welchen neben Er¬ 
trinkungstod eine Phosphorvergiftung, beziehungsweise eitrige Peri¬ 
tonitis festgestcllt wurde, fanden sich Fibringerinnsel im Blute, deren 
Bildung Pal tauf auf die vor dem Ertrinken bestehenden Erkrankungen 
zurückführt. Masehka (109), welcher auf 234 Fälle von gewaltsamem 
Erstickungstod nur in 25 Fällen geronnenes Blut vorfand, behauptet, 
nur in 5 pCt. der von ihm sezierten Fälle von Ertrinkungstod Blut¬ 
gerinnsel gesehen zu haben. Strassmann (110) hat „mehrfach bei 
sicher ertrunkenen Personen, besonders im Herzen, nicht nur locker 
geronnenes Blut, sondern auch feste speckhäutigo Gerinnsel gefunden“, 
und zwar in Leichen, die keine anderweitigen, die Gerinnbarkeit des 
Blutes befördernden (Paltauf) Erkrankungen darboten. Auf 46 Fälle 
von Ertrinkungstod, die von uns seziert wurden, konnten wir nur in 
2 Fällen (4 pCt.) lockere, dunkle Blutgerinnsel im Herzen verzeichnen. 
Brouardel und Vibcrt (111), desgleichen Bougier(112) heben die 
auffallende Flüssigkeit des Blutes, besonders des in der Leber befind¬ 
lichen (worauf vor kurzem auch Hough [113] hinwies) bei Ertrinkungs¬ 
tod hervor. Später aber stimmen Brouardel und Loye (114) auf 
Grund ihrer Versuche mit Faure überein, dass das Blut der Ertrunkenen 
stets schwarze, lockere Gerinnsel bildet. Diese Gerinnsel kann man 
ihrer Meinung nach stets wahrnehmen, wenn man die Sektion bald 
nach erfolgtem Tod ausführt, denn sie werden einige Stunden nach 
dem Tode weicher und zeigen eine Neigung zum Zerfliessen. Wird 
die Sektion also in 24 Stunden oder noch länger nach dem Tode aus¬ 
geführt, so findet man schon flüssiges, mit kleinen, schwarzen Gerinnsel¬ 
überresten vermengtes Blut. Von dem gleich nach dem Ertrinkungs¬ 
tode gerinnenden Blut verflüssigen sich zuerst die Blutgerinnsel der 
rechten, dann der linken Herzhälfte, zuerst die der Brusthohlader, 
dann die der Bauchhohlader und zuletzt die der Pfortader. Den 
Prozess der Verflüssigung von Blutgerinnseln nennen sie Dekoagulation 
des Blutes. Bei Hunden, denen vor dem Ertränken die Nervi vagi 
durchschnitten wurde, vermissten die genannten Experimentatoren auch 


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Experimentelle Studien zur Lehre vom Ertrinkungstod. 


‘269 


3 Tage nach erfolgtem Tode diesen Dekoagulationsprozess. Bei Hunden, 
die vor dem Ertränken mittelst Chloroform narkotisiert wurden, war 
das Blut stark geronnen. Eben solchen Befund hat Bergeron an 
der Leiche eines ertränkten Morphinisten feststellen können. Brou- 
ardel wusste nicht die Ursache dieses Dekoagulationsprozesses anzu¬ 
geben, und er warf nur in dieser Richtung die offene Frage auf, ob 
nicht vielleicht die Fäulnisbakterien oder andere, etwa in der Lunge (?) 
entstehende, sodann ins Blut übertretende Substanzen die Verflüssigung 
der Blutkoagula bedingen. Der Verdünnung des Blutes durch aspi¬ 
riertes Wasser glaubt er die Ursache der Dekoagulation nicht zuschreiben 
zu können, indem er sich überzeugte, dass auch stark mit Wasser 
verdünntes Blut ertränkter Tiere nach dem Tode geronnen erschien. 
Coutagne (115) tritt der von Brouardel und Loye vertretenen An¬ 
sicht als entschiedener Gegner gegenüber, nachdem er in der Mehrzahl 
der von ihm in 6—24 Stunden nach dem Tode sezierten Leichen 
Ertränkter flüssiges Blut im Herzen, den Hohladern und der Pfortader 
vorfand. Das Verhalten des Blutes nach dem Ertrinkungstod ist, 
seiner Meinung nach von ihrer Gerinnbarkeit abhängig und diese 
wechselt je nach der Art der Tiere. Das Blut der Hunde, welche 
Brouardel als Versuchstiere dienten, ist sehr leicht gerinnbar. Strass¬ 
mann (116) teilt die Ansicht Coutagne’s, da er bei einem ertränkten 
Hunde und Kaninchen gleich nach dem Tode flüssiges Blut feststellte, 
welches erst beim Herauslassen aus den Herzhöhlen oder Venen gerann. 
L. Wachholz (117) überzeugte sich von dem Flüssigbleiben des Herz¬ 
blutes bei 17 Tieren von 18 Hunden und Katzen, die er nach erfolgtem 
Erstickungstod (zweimal Ertrinkungstod) in 10 Minuten post mortem 
sezierte. Dieses Blut gerann sofort, nachdem es in Glasschalen auf¬ 
gefangen wurde. Bei Tierleichen, die erst 24 Stunden nach dem Tode 
seziert worden sind, konnte er zumeist neben flüssigem Blut Blut¬ 
gerinnsel antreffen. Dies neben den Gerinnseln angetroffene flüssige 
Blut gerann nur ganz locker und erst nach längerer Zeit, nachdem es 
in dieselben Glasschalen entleert wurde. Diese Versuchsergebnisse 
Wachholz’ standen somit mit denen Brouardel’s im Widerspruch. 
In jüngster Zeit hat diese Frage Sarda zu lösen versucht (118), wobei 
er vollkommen Brouardel beistimmt. Seinen Versuchen zufolge ge¬ 
rinnt das Blut der plötzlich oder langsam Ertrunkenen, sowie auch 
das Blut der mechanisch Erstickten sofort nach dem Tode und die 
Blutgerinnung muss hier als Regel betrachtet werden. Die Blut¬ 
gerinnsel sind postmortal entstanden, somit locker, weich und schwarz 


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270 


Prof. Leo Wach hol 7 . u. Dr. Stefan Ho ros 7, kicwicz. 


und sie verflüssigen sich mit der Zeit (am 6.—10. Tage nach dem 
Tode) wegen der durch Fäulnis bewirkten Dekoagulation. 

Diese auseinandergehenden Meinungen in Bezug auf das Verhalten 
des Blutes in Leichen Ertrunkener bewogen uns, einschlägige Unter¬ 
suchungen an dem gesamten Material zu unternehmen, welches uns 
zur Lösung der vorher schon besprochenen Fragen diente. Wir beob¬ 
achteten das Verhalten des Blutes an 57 Tierleichcn, von denen 40 
gleich nach erfolgtem Ertrinkungstode (in 10 Minuten bis zu 1 Stunde), 
8 in 24 Stunden, resp. in 4 und 11 Tagen nach dem Tode zur Sektion 
gelangten. Die 8 zuletzt erwähnten Leichen stammten von Tieren, 
die ohne Narkose in kaltem Wasser ertränkt worden sind. Von den 
49 Tieren, deren Leichen bald nach dem Tode seziert waren, sind 26 
in kaltem, 10 in warmem Wasser, endlich 13 in kaltem Wasser mit 
vorangehender Narkose ertränkt worden. Bei der Sektion haben wir 
das Verhalten des Blutes in den Hals- und ßrustvenen und in den 
beiden Herzhälften in Auge gefasst. In den genannten Venen war 
mit Ausnahme von zwei Tierleichen, die 4 resp. 11 Tage nach 
dem Tode seziert wurden, das Blut stets dunkelflüssig, in den Herz¬ 
höhlen fand sich bei 16 Leichen geronnenes, bei 41 Leichen flüssiges, 
meistens als auffallend flüssig in den Protokollen bezeichnetes Blut. 
Somit belief sich die Zahl der Fälle, wo im Herzen (linke Hälfte) 
Blutgerinnsel angetroffen wurden, auf 28 pCt. Die in den Herzhöhlen 
gefundenen Gerinnsel waren zumeist spärlich an Zahl, weich, locker, 
und neben ihnen befand sich stets eine ziemlich beträchtliche Quantität 
flüssigen Blutes. Zugleich fiel es uns auf, dass das zuerst aus der 
linken Kammer bald nach dem Tode entleerte Blut in den Blutgerinnsel 
enthaltenden Fällen locker geronnen, während das später aus dem 
Vorhof und den Lungenvenen hervorquellende Blut dünnflüssig und 
mehr weniger lackfarben war. Die weissen Blutkörper jener Tiere, 
die in einer Methylenblaulösung ertränkt und deren Leichen bald nach 
dem Tode seziert worden sind, wiesen blaugefärbte Kerne auf. Auf 
diesen Befund hatte kürzlich H. K. W. Schmidt (119) hingewiesen. 
Entfärbte, feste und zwischen die Trabekeln verfilzte Gerinnsel haben 
wir in keinem Fall zu Gesicht bekommen. Von den 8 in 24 Stunden 
resp. in 4 und 11 Tagen nach dem Tode sezierten Leichen war das 
Blut der drei nach Verlauf von 24 Stunden geöffneten Leichen teils 
dickflüssig, teils loeker geronnen, noch mehr dickflüssig und geronnen 
war es in zwei nach 4 und 11 Tagen sezierten Katzenleichen (trotz 
sichtlicher, wenn auch nicht sehr weit vorgeschrittener Fäulnis), endlich 

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Experimentelle Studien zur Lehre vom Ertrinkungstod. 


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in den drei übrig bleibenden nach 24 Stunden sezierten Leichen war 
es flüssig. Somit war nun das Blut im Herz in 62 pCt. der 
24 Stunden und noch länger nach dem Tode sezierten Leichen ge¬ 
ronnen gefunden. 

Von den 49 Leichen, die bald nach dem Tode geöffnet worden 
waren, konnten wir bei 11 Leichen (22,4 pCt.) im Herz lockere Blut¬ 
gerinnsel nach weisen. Diese Gesamtzahl der Fälle mit geronnenem 
Blut im Herzen (linke Hälfte) verteilt sich folgendermassen: Von den 
26 im kalten Wasser ertränkten Tieren besassen 7 (26,9 pCt.) lockere 
Blutgerinnsel, von den 13 ebenfalls in kaltem Wasser aber nach voran¬ 
gehender Narkose ertränkten Tieren enthielten 2 (20 pCt.), endlich 
von den 10 in warmem Wasser ertränkten enthielten desgleichen nur 2 
(20 pCt.) lockere Blutgerinnsel. Indem in allen diesen Fällen das 
Blut aus der linken Kammer zur kryoskopischen Untersuchung ent¬ 
leert worden war, so hat man es stets in breiten Eprouvetten aufge¬ 
fangen, dann mit Glasperlen stark geschüttelt, endlich zentrifugiert. 
Bei diesem Defibrinierungsverfahren blieb in dem sich am Boden ab¬ 
setzenden Rückstände stets wenig Fibrin bezw. Gerinnsel, ja sogar in 
diesen Fällen, in denen das zuerst aus der linken Kammer hervor¬ 
tretende Blut locker geronnen erschien. 

Freund, und sodann Haycraft und Carlier(120) haben dar¬ 
getan, dass das durch eingefettete Kanüle in ebenfalls eingefettete Glas- 
gefässe direkt aus dem Blutgefäss herausgelassene Blut nicht gerinnt und 
sogar auch dann flüssig bleibt, wenn man es mit einem eingefetteten 
Glasstab schlägt. Diese Versuche lehren somit, dass das Blut insofern 
nicht gerinnt, als man es, bezw. seine Formelemente, vor direkter 
Berührung mit Fremdkörpern schützt, d. h. dem Entstehen von Adhäsion 
zwischen ihm und den Fremdkörpern vorbeugt. Andererseits hat 
wieder Strassmann (121) bewiesen, dass, wenn man dem 24 Stun¬ 
den nach dem Tode entnommenen, flüssigen und spontan nicht ge¬ 
rinnenden Leichenblute etwas Perikardialflüssigkeit zusetzt, dasselbe 
bald gallertförmig gerinnt. 

Diesen Erfahrungen gemäss haben wir bei 44 Leichen, die bald 
nach dem Tode seziert wurden, auf diese Weise das Herz geöffnet, 
dass wir nach Durchtrennung des Pericardiums die Herzoberfläche 
genau mit dcstill. Wasser abspülten, dann sie mit Watte abtrock¬ 
neten, endlich die linke Kammer mit einem reinen, gut mit Vaselin 
eingefetteten Messer aufschnitten. Von den 5 Leichen, denen wir das 
Herz ohne die beschriebene Vorkehrung öffneten, enthielten 3, somit 


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Prof. Leo Wachholz u. Dr. Stefan Horoszkiewicz, 

60 pCt. lockere Blutgerinnsel, während von den 44 in der oben be¬ 
schriebenen Weise behandelten nur 8, somit 18 pCt. Blutgerinnsel im 
linken Herz aufwiesen. Wenn nun dieser Erfolg der vorgenommenen 
Massregeln beim Aufschneiden der linken Herzkammer nicht vollkommen 
war, indem sich ja noch in 8 Fällen geronnenes Blut vorfinden liess, 
so kann dies dem Umstande zugeschrieben werden, dass man nach 
Aufsohneiden der linken Herzkammer manchmal noch die wenig 
klaffenden Ränder mit nicht eingefetteten Fingern auseinanderlegte. 
Wir konnten dabei öfters sehen, wie das im ersten Augenblick flüssige 
Blut unter unseren Augen locker gerann. Da bereits schon Wach¬ 
holz bewiesen hat, dass das 10 Minuten nach dem Erstickungstod 
eines Tieres vom Herzen entleerte Blut in Glasschalen ähnlich dem direkt 
bei Lebzeiten aus Blutgefässen herausgelassenen Blut gerinnt, da end¬ 
lich Carrara (122) sich von der grösseren Gerinnbarkeit des Erstickungs¬ 
blutes überzeugte, so waren wir bemüht, in Erwägung dieser Tatsachen 
einige Versuche auf diese Weise anzustellen, um möglichst das aus 
dem Herz sich entleerende Blut vor direkter Berührung mit porösen, 
adhäsiven Fremdkörpern zu schützen. Zu diesem Zweck haben wir 
ausschliesslich der früheren, noch drei nachstehende Versuche ange¬ 
stellt. Es wurden 3 Hunde mittels einer Trachealkanüle mit dem 
Wasserbehälter verbunden und auf diese Weise ertränkt. 15 Minuten 
nach dem Tode hat man ihnen in die aufsteigende Aorta eine glatt- 
wandige Kanüle eingeführt, sodann sie mit einer ebenfalls glattwandigen, 
bis an den Boden einer zweihalsigen Wulf’schen Flasche reichenden 
Glasröhre verbunden. Der zweite Hals der Flasche stand mit einer 
Wasserlultpumpe in Verbinduug. Die Kanüle, die Röhren und die 
Flasche waren gut eingeölt, ausserdem befand sich am Boden der 
Flasche eine geringe Quantität Oel. Indem nun die Pumpe in Be¬ 
wegung gesetzt wurde, sammelte sich in der Flasche und unter Oel 
allmählich dunkelflüssiges Blut. Nach Beendigung dieses Auspumpens 
öffneten wir die linke Kammer, in der wir spärliche Mengen flüssigen 
Blutes noch vorfanden. Das aus der Flasche probeweise in Glas¬ 
schalen entleerte, mit Oel vermengte Blut bildete mit der Zeit nur 
sehr lockere und kleine Gerinnsel. In 24, 48 und 72 Stunden (nach 
dem Tode), nachdem dies Blut im Eiskasten aufbewahrt stand, wollten 
seine Proben in Glasschalen auch bei Berührung mit Holzstäben nicht 
mehr gerinnen, und es gerann nach 72 Stunden auch diese seine Probe 
nicht, die wir mit Perikardialflüssigkeit und laut den Untersuchungen 
Co rin’s (123) mit nach AI. Schmidt hergostelltem Fibrinferment ver- 

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Experimentelle Studien zur Lehre vom Ertrinkungstod. 


273 


setzten. In diesen unseren Versuchen liess das Oel das Blut sowohl 
bald nach dem Tod als auch später sogar bei Hinzufügen von Fibrinogen 
und Fibrinferment nicht gerinnen, obwohl nach Corin und Strass¬ 
mann der Grund, weswegen flüssiges Leichenblut 24 resp. 48 Stunden 
nach dem Tode bereits spontan ungerinnbar erscheint, in dem Fehlen 
von Fibrinferment resp. von Fibrinogen zu suchen ist. 

Die Ergebnisse unserer Untersuchungen stimmen mit denen überein, 
die unlängst aus einem anderen Grund Carrara (124) und Stoen es cu(125) 
veröffentlicht hatten. So hat Carrara von 12 gleich nach dem Er¬ 
stickungstode sezierten Hunden bei sieben im Herzen lockere Gerinnsel 
neben flüssigem Blut, bei fünfen nur flüssiges Blut, Stoenescu von 
4 Hunden, die 1 / 2 —2 Stunden nach dem Tode durch Ertrinken seziert 
wurden, bei zweien lockere Gerinnsel, bei zweien nur auffallend flüssiges 
Blut gefunden, ln den Versuchen Carrara’s belaufen sich die Fälle, 
wo geronnenes Blut angetroffen worden war, auf 58 pCt., in den Ver¬ 
suchen Stoenescu’s auf 50 pCt. Carrara scheint ohne besondere 
Vorkehrungen das Blut dem Herzen der Tierleichen entnommen zu 
haben, Stoenescu hat hingegen die Herzoberfläche vor dem Ein¬ 
schneiden in Kompressen eingehüllt, wodurch die Perikardialflüssigkeit 
sich mit dem hervorquellenden Blute nicht mischen konnte. Die 
Prozentzahl der Fälle Carrara’s (58 pCt.) und Stoenescu’s (50 pCt.), 
in denen sie Blutgerinnsel im Herz antrafen, entspricht ziemlich genau 
unserer Prozentzahl (60 pCt.) dieser Fälle, in denen wir das Blut vom 
Herz ohne die beschriebenen Vorkehrungen aufgefangen haben und 
dasselbe locker geronnen fanden. 

Unsere Untersuchungen haben ausserdem ergeben, dass das post¬ 
mortale Verhalten des Blutes ertränkter Tiere bis zu einem gewissen, 
jedoch nicht beträchtlichen Grade von der Quantität des während 
des Ertränkens in die Lungen aspirierten Wassers abhängt. So belief 
sich die durchschnittliche von 11 Tieren aspirierte Wassermenge, bei 
denen sich im Herz gleich nach dem Tode locker geronnenes Blut 
befand, auf 45,6 ccm für 1 kg Lebendgewichts, während dieselbe 
Wassermenge bei 39 Tieren, die bald nach dem Tode nur flüssiges 
Blut im Herz aufwiesen, 63,4 ccm ausmachte. Trotzdem aber ent¬ 
hielten auch solche Tiere ira Herzen Blutgerinnsel, die z. B. auf 1 kg 
Lebendgewicht 74,7 und 78,3 ccm Wasser aspirierten, während anderer¬ 
seits auffallend flüssiges Blut im Herz von Tieren erhalten werden 
konnte, die auf 1 kg Lebendgewicht z. B. kaum 24 ccm Wasser ver¬ 
brauchten. 


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Prof. Leo Wachholz u. Dr. Stefan Horoszkiewicz, 


Auf Grund dieser hier erörterten Versuche und der bis jetzt bei 
Sektionen von Leichen Ertrunkener (Erstickter und überhaupt plötzlich 
Verstorbener) gesammelten Erfahrungen gelangen wir zu nachstehenden, 
das Verhalten des Blutes betreffenden Endschlüssen: 

1. In Fällen von Ertrinkungstod (von plötzlichem Tod) wird in 
den Venen und im Herz zumeist (in der Regel) flüssiges, mitunter 
auffallend flüssiges Blut und nur manchmal locker geronnenes Blut 
gefunden. Geronnenes Blut wird besonders dann angetroffen, wenn 
der Ertränkte vor dem Ertrinkungstod mit einer Krankheit behaftet 
war, welche die Gerinnbarkeit des Blutes erhöhte (Paltauf); 

2. flüssiges, bald nach erfolgtem Ertrinkungstod aus Venen oder 
Herz entleertes Blut äussert eine Neigung zum Gerinnen und besonders 
derjenige Anteil des Blutes, welcher beim Aufschneiden der (linken) 
Herzkammer zuerst herausfliesst; 

3. wird das Blut (aus der linken Herzkammer) der Ertrunkenen 
nach vorherigem Abspülen der Herzoberfläche mit Wasser und Ab¬ 
trocknen derselben, durch Einschneiden mit eingefetteten Messern in 
eingefetteten Glasgefässen aufgefangen, so bleibt es mindestens in der 
grössten Mehrzahl der Fälle flüssig. Wenn nun Brouardel und Loye, 
endlich jüngst Sarda stets nur geronnenes Blut im Herzen ertränkter 
und erstickter Tiere bald nach dem Tode antrafen, so gerann es wegen 
der bald nach dem Tode noch erhaltenen Gerinnbarkeit im Augen¬ 
blick, wo es mit porösen und adhäsiven Fremdkörpern, wie etwa 
Messern, Händen u. s. w. in Berührung geriet; 

4. es giebt keinen Grund, einen Dekoagulationsprozess anzu¬ 
nehmen, denn, ungeachtet der Tatsache, dass das Blut der ertränkten 
Tiere bald nach dem Tode zumeist flüssig bleibt, könnte eine Dekoa- 
gulation nur durch weit vorgeschrittene Fäulnis verursacht werden, 
(wobei nach Falk das Fibrin in Globuline uragewandelt werden soll), 
unterdessen lehrt die tägliche Erfahrung, dass bei ganz frischen Leichen 
Ertrunkener das Blut ira Herz zumeist flüssig und nicht geronnen, 
wie bei ebenso frischen Leichen von langsamen Todes verstorbenen 
Personen angetroffen wird; 

5. das Flüssigbleiben des Blutes Ertrunkener wird durch das in 
die Lungen während des Ertrinkens aspirierte, sodann das Blut ver¬ 
dünnende Wasser günstig beeinflusst, dennoch bildet die dadurch be¬ 
dingte ßlutverdünnung nicht die Haupt-, sondern nur die Nebenursache 
seines Flüssigbleibens; 


(i. die Temperatur (das Erwärmen bis 37" C.) des Wassers, 


in 


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Experimentelle Studien zur Lehre vöntjE^Tn'k^i^thd.v, V* v j,/275 

welchem sich das Ertränken vollzieht, desgleichen die dem Ertrinken 
vorangehende Chloroform- oder Aethcrnarkose üben keinen Einfluss 
auf das Flüssigblciben des Blutes aus; 

7. das flüssige Blut von Leichen überhaupt büsst seine Gerinn¬ 
barkeit mit der seit dem Tode verstreichenden Zeit ein. Dessenun¬ 
geachtet wird dies Blut mit der Zeit allmählich wegen postmortaler 
Diffusion seiner flüssigen Bestandteile dickflüssiger und das auf diese 
Weise eingedickte Blut kann leicht den Schein erwecken, es sei locker 
geronnen; 

8. flüssiges Herzblut von Lcicheu, welches bald nach dem Tode 
bei Berührung mit porösen und adhäsiven Fremdkörpern leicht gerinnt, 
verliert nach einer gewissen Zeit (24—48 Stunden nach dem Tode 
laut Strassmann und Corin) diese seine Gerinnungsfähigkeit. Die 
Ursache dieses Blutverhaltens lässt sich ebenso wie die Ursache seines 
Gerinnungsvorganges zur Zeit noch nicht endgiltig erklären. — 

IV. Diagnostische Bemerkungen. 

Wenngleich der durch Casper(126) geäusserte Wunsch: „Bei 
dem heutigen Standpunkt der gerichtlichen Arzneiwissenschaft wüsste 
ich kaum ein grösseres Desiderat für ihre praktische Anwendung, als 
ein irgend sicheres Kriterium zur Feststellung der Tatsache, ob ein 
Mensch ertrunken ist?“ zum grossen Teil bereits in Erfüllung ging, so 
fehlt es dennoch an einem solchen Kriterium, welches in allen Fällen 
feststellbar wäre, somit auch die Diagnose in jedem Falle ausser 
Zweifel setzen würde. 

Am Schlüsse unserer Arbeit erlauben wir uns diese Befunde hervor¬ 
zuheben und zu besprechen, die unserer Meinung nach es gestatten, 
den Ertrinkungstod als solchen am Seziertisch zu erkennen. Als solche 
Befunde erachten wir 1. die Hyperaerie Casper’s, welche wir schlecht¬ 
weg nach Brouardel „Emphysema aquosum“ benannten, 2. die auf 
irgend welche Weise ermittelte Verdünnung des in der linken Herz¬ 
hälfte befindlichen Blutes, endlich 3. die Anwesenheit charakteristischer 
und dadurch leicht erkenntlicher Ertränkungsflüssigkeit in dem oberen 
Dünndarm einer noch frischen Leiche. 

1. Wie wir im II. Kapitel dieser Arbeit dargetan haben, entsteht 
durch postmortales Eindringen der Ertränkungsflüssigkeit in die Lungen 
eine Vergrösserung ihres Volumens ähnlich jener, die seit langem als 
ein typisches Merkmal bei Leichen durch Ertrinken verstorbener Per¬ 
sonen beschrieben worden ist. Dessenungeachtet unterscheidet sich 


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Prof. Leo Wachholz u. Dr. Stefan Horoszkiewicz, 


aber wesentlich das anatomische Bild, welches die Lungen Ertränkter 
besonders an der Schnittfläche liefern, von jenem, das wir an Lungen 
von in Wasser gestürzten Leichen zu sehen bekommen. Denn während 
die ersteren wenigstens teilweise, zu mindest etwa in ihrem vierten 
Teil durch Luft gedunsen, hyperaerisch, schlechtweg emphysematos 
erscheinen, liefern die letzteren überall das Bild „des Wasserödems“, 
welches von dem wahren Lungenödem leicht mittelst der Kryoskopie, 
jedoch bald nach dem Tode, unterschieden werden kann. Da wir diese 
verschiedenen Lungenbefunde bei Ertrunkenen und bei in Wasser ge¬ 
ratenen Leichen im 11. Teil eingehend besprochen haben, so verweisen 
wir des näheren auf das dort Gesagte. Hier müssen wir aber dies 
ausdrücklich betonen, dass, wie die Erfahrung lehrt, Fälle von Er¬ 
trinkungstod Vorkommen können, in denen der Lungenbefund sich 
vollkommen negativ darstcllt, wodurch also dies Kriterium solchen¬ 
falls im Stiche lässt. 

2. Eingehende Untersuchungen, die Brouardel, Vibert und Love, 
dann Paltauf, Carrara, Revenstorf, Stoenescu, H. K. W 7 . 
Schmidt, endlich Placzek und zuletzt wir (I. und II. Teil dieser 
Arbeit) unternommen haben, beweisen zweifellos, dass das in der 
linken Herzhälfte bei Leichen ertrunkener Individuen befindliche Blut 
verdünnt ist, während sich diese Blutverdünnung in Leichen, die als 
solche erst ins Wasser gelegt wurden, nicht feststellen lässt. Die 
zum Zwecke der Feststellung dieser Blutverdünnung gebrauchten 
Methoden waren sehr verschieden und mehr oder weniger praktisch. 
Als die unbedingt praktischste und am leichtesten zu handhabende 
müssen wir die kryoskopische Methode bezeichnen, neben der wir die 
ebenfalls zuerst von Carrara versuchte Methode mittelst des Ost¬ 
wal d’schen Apparates zur Bestimmung der spezifischen elektrischen 
Leitfähigkeit hinstellen müssen. Selbstverständlich ist aber letztere 
Methode nur in gut ausgerüsteten Instituten ausführbar. Da wir erst 
nach Abschluss unserer bereits schon besprochenen Versuche in den 
Besitz des Ostwald’schen Apparates gelangten, so haben wir damit 
erst kürzlich zwei hier näher zu besprechende Untersuchungen ange- 
steilt. Es wurden 2 Hunde von 6900 und 4500 g Gewicht auf die 
in der zweiten Versuchsreihe (siehe den I. Teil) beschriebene Weise 
ertränkt, wobei der erste 63,3 ccm, der zweite 58,0 ccm Wasser pro 
1 kg Gewicht aspirierten und in ihren Lungen behielten. Der erste 
war nach 5 Min. 35 Sek., der zweite nach 4 Min. 30 .Sek. tot, die 


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277 


Zahl der terminalen Atemzüge belief sich auf 6 und 11 schwache. 
Den Tieren wurde vor dem Ertränken aus der Karotis, nach dem Er¬ 
tränken aus der linken Herzhälfte Blut entnommen, dann durch Schütteln 
mit Glasperlen defibriniert und auf seine spezifische elektrische Leit¬ 
fähigkeit im Ostwald’schen Widerstandsgefäss untersucht. Die Kapa¬ 
zität dieses Widerstandsgcfässes wurde zuvor bei 25° des Wasserbades 
mehrmals mittelst einer gesättigten NaCl- und Vio norm. KOJ-Lösung 
bestimmt. Die Messungen fanden stets wo möglich auf der Hälfte 
der Messbrücke statt. Bei jeder Untersuchung sind drei Bestimmungen 
vorgenommen worden, wobei verschiedene Widerstände im Rheostat 
eingespannt wurden. Aus den dabei erhaltenen Widerstandswerten 
berechnete man erst ihren Mittelwert. Das spezifische elektrische 
Leitvermögen des untersuchten Blutes und Ertränkungs- (Instituts- 

O 

leitungs-) Wasser (k) berechneten wir nach der Formel k = ^ (127) 


und drücken sie in 


1 


cm aus, nachdem wir ihre Zahl nach Carrara 


Ohm 

mit 10 3 multipliziert haben. 

Ertränkungswasser k = 1,56. 
Blut des 1. Hundes vor dem Ertränken k x 
n v 1■ n nach „ „k 2 

v v *2. „ vor „ n k| 


2 . 


vor 

nach 


ko = 


4,43. 

2,31. 

5,65. 

3,62. 


Die Unterschiede zwischen k x und k 2 , die 2,12 und 2,03 ausmachen, 
beweisen die durch Ertränken hervorgerufene Verdünnung des Blutes 
in der linken Herzhälfte. Das Blut entnahmen wir aus der linken 
Kammer der Hunde 30 Minuten nach erfolgtem Tode. Das Blut war 
in beiden Herzhälften flüssig, die Lungen der Tiere zeigten in 2 / 3 der 
Oberlappen Wasseremphysem, sonst und zumeist in den Unterlappen 
Wasserödem. Beim ersten Hunde waren an den Unterlappen zahl¬ 
reiche subpleurale Ekchymosen zu sehen. 

Als grosser Vorzug der beiden zuletzt erwähnten Methoden, d. i. 
der kryoskopischen und der mittelst des Ostwald’schen Apparates 
ausgeführten, muss der Umstand hervorgehoben werden, dass sie mit 
Sicherheit anzugeben gestatten, ob der Ertrinkungstod in Süss- oder 
Meerwasser eintrat. Leider lassen diese Methoden behufs Feststellung 
der eingetretenen Blutverdünnung nur zu oft im Stich, wie dies 
Carrara in seiner Mitteilung schon hervorhob. Carrara sagt, dass 


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Prof. Leo Wachholz u. Dr. Stefan Horoszkiewicz, 

ein positives Ergebnis dieser Blutuntersuchungen nur dann erzielt 
werden kann, wenn die zu untersuchende Leiche frisch und ihr Blut 
„ziemlich gut u erhalten ist. Ist hingegen die Leiche schon teilweise 
durch die Fäulnis angegriffen und ihr Blut verändert, so erfährt 
der osmotische Druck eines solchen Blutes durch die in ihm ent¬ 
standenen molekularen Dissoziationen eine bedeutende Steigerung, 
wodurch die ßlutverdünnung nicht mehr nachgewiesen werden kann. 
Zugleich hat Carrara auf den übrigens, seiner Meinung nach nicht 
konstanten Unterschied der A-Werte des Blutes aus der linken und 
rechten Herzhälfte von Ertrunkenen hingewiesen. Die von Carrara 
mittelst Kryoskopie des Blutes Ertrunkener erzielten Resultate wurden 
experimentell an Tieren durch Revenstorf, H. K. W. Schmidt, 
Stoenescu und durch uns bestätigt. Revenstorf hat aber mit der 
kryoskopischen Methode auch das Blut einiger Leichen von ertrunkenen 
Personen untersucht, wobei er schon in seiner ersten (128), aber noch 
mehr in seiner zweiten Mitteilung (129) zu der Uebcrzeugung gelangt, 
dass die kryoskopische IMutuntersuchung auch dann negative Resultate 
liefert, wenn die Leiche noch frisch war, d. i. wenn seit dem Tode 
24 bis 48 Stunden erst verflossen sind. Aus diesem Grunde hat 
Revenstorf verschiedene Transsudate und Flüssigkeiten von Leichen 
Ertrunkener kryoskopisch untersucht und ist zu nachstehendem Schluss 
gelangt. Die Cerebrospinalflüssigkeit besitzt die geringste Molekular¬ 
konzentration, trotzdem liegt aber der A-Wert des vom linken Herz 
bald nach dem Ertrinkungstod entnommenen Blutes viel näher dem 
0°-Punkt als der A-Wert der Cerebrospinalflüssigkeit. Mit der Zeit, 
welche stets zwischen Tod und Sektion (von 24 Stunden angefangen) 
verstreicht, ändern sich die A-Wcrte für das Herzblut und die Cerebro¬ 
spinalflüssigkeit, und zwar derart, dass sie eine Steigerung der gleich 
nach dem Tode feststellbaren Konzentration aufweisen. Da nun aber 
der A-Wert des Blutes aus der linken Herzhälfte bald nach erfolgtem 
Tod durch Ertrinken viel geringer war, als der A-Wert der Ccrebro- 
spinalflüssigkeit, so kann der erste den zweiten nicht so bald einholen 
und auf diese Weise entsteht zwischen beiden ein Unterschied, der 
umgekehrt als bei anderen Leichen sich darstellt. Während nämlich 
bei Leichen von nicht an Ertrinkung Verstorbenen der A-Wert der 
Cerebrospinalflüssigkeit geringer ist als der des linken Herzblutes, so 
ist er bei Ertrunkenen nach Verlauf von 24 bis 48 Stunden nach 
dem Tode viel grösser als derjenige ihres Blutes aus der linken Herz- 

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Experimentelle Studien zur Lehre vom Ertrinkungstod. 


279 


hälfte. Dieser Unterschied zwischen den ^-Werten beider Flüssig¬ 
keiten beweist nach Revenstorf, dass das Blut der linken Herzhälfte 
verdünnt worden ist, dass somit Ertrinkungstod gegebenenfalls vorliege. 
Die Ausführungen Rcvenstorl’s müssen wir aus eigener Erfahrung 
bestätigen, da wir bei Untersuchung des linken Herzblutes einer 
48 Stunden nach Ertrinken sezierten Leiche ein vollkommen negatives 
Resultat (A = —0,68) erhielten. Aus all dem Gesagten folgt nun, 
dass man die kryoskopische Blutuntersuehung möglichst schnell nach 
dem Tod ausführen soll; erhält man negatives Resultat bei dieser 
Untersuchung, so bestimme man den A der Cerebrospinalflüssigkeit 
nach Angabe Revenstorf’s und vergleiche ihn mit dem A des linken 
Herzblutes. 

3. Da laut den Untersuchungen Fagerlund’s (130) die in den 
Magen gelangte Ertränkungsflüssigkeit unter gewöhnlichen Verhältnissen, 
postmortal bei frischen Leichen über den Pylorus hinaus in den oberen 
Dünndarm nicht eindringen kann, so bildet ihre Anwesenheit in dem¬ 
selben einen Beweis dafür, dass sie bei Lebzeiten durch aktive Magen¬ 
kontraktionen weiter befördert wurde, somit dass gegebenenfalls Tod 
durch Ertrinken vorliege. Selbstverständlich erlangt aber dieser von 
Fagerlund und Hofmann hervorgehobene Befund nur dann seine 
Beweiskraft, wenn die im oberen Dünndarm befindliche Ertränkungs¬ 
flüssigkeit sich als solche durch ihre spezifischen Merkmale (z. B. 
Abortjauche) leicht erkennen lässt. So konnten wir z. B. bei zwei 
frischen Leichen von Kanalarbeitern, die in flüssigem Kanalinhalt er¬ 
trunken sind, denselben in beträchtlicher Menge im Magen, Zwölf¬ 
fingerdarm und Leerdarm, bei der Leiche eines Geisteskranken, der 
in einem mit Wasserlinsen dicht bedeckten Fortifikationswassergraben 
den Tod fand, im Magen und im Zwölffingerdarm ziemlich zahlreiche 
Wasserlinsen finden. 

Alle anderen ab und zu als wichtige Erkennungszeichen des Er¬ 
trinkungstodes beschriebenen Befunde bilden unseres Erachtens nur 
Beweismittel hierfür, dass die Leiche im Wasser gelegen hat. Wie 
wir schon im II. Teil dieser Arbeit auseinandersetzten, bildet sich unter 
gewissen Verhältnissen leicht Schaum in den oberen Luftwegen dieser 
Leichen, die in Wasser untergetaucht werden. In Folge dessen kann 
der schaumigen Beschaffenheit der in den oberen Luftwegen von 
Wasserleichen befindlichen Flüssigkeit kein gewichtiger diagnostischer 
Wert beigemessen werden. Zwar haben unsere im TL Teil näher gc- 


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Prof. Loo Wachholz u. Dr. Stefan Horoszkiewicz, 


schilderten Versuche dargetan, dass das erst nach dem Tode in die 
Luftwege cingedrungene Wasser einen höheren Gefrierpunkt besitzt, 
als das Wasser, welches zu Lebzeiten beim Ertrinken aspiriert worden 
ist, dennoch können wir diesem kryoskopischen Verhalten der zu Leb¬ 
zeiten aspirierten und erst nach dem Tode eingedrungenen Flüssig¬ 
keit keine diagnostische Bedeutung zuschreiben und zwar aus folgen¬ 
dem Grunde: 

in mit Methylenblau gefärbtem Wasser haben wir Hunde plötzlich 
ertränkt. Ausserdem wurden einige Hunde teils erschossen, teils mit 
Chloroform resp. Cyankalium vergiftet, sodann ihre Leichen in dasselbe 
Wasser gelegt, in welchem sich die Leichen der ertränkten Hunde be¬ 
fanden. Nach 6 Stunden wurden alle Hundeleichen aus dem Wasser 
gezogen und die aus ihren Luftwegen gewonnene Flüssigkeit kryo¬ 
skopisch untersucht. Das Resultat dieser Untersuchung war folgendes: 
A des mit Methylenblau gefärbten Wassers = —0,055; A der Tracheal- 
flüssigkeit der ertränkten Hunde nach Ostiindigem Liegen im Wasser 
im Mittel = —0,29; A derselben Flüssigkeit von erschossenen und 
erst nach dem Tode durch 6 Stunden in demselben Wasser ruhenden 
Hunden im Mittel = —0,12; endlich A derselben Flüssigkeit von 
Hunden, die mit Chloroform oder Cyankalium vergiftet wurden und 
nach dem Tode ebenfalls durch 6 Stunden in demselben Wasser lagen, 
im Mittel = —0,36. Daraus folgt nun, dass mitunter die aus den 
Luftwegen von in Wasser gelegten Leichen gewonnene Flüssigkeit einen 
sogar niedrigeren Gefrierpunkt aufzuweisen vermag, als jene Flüssig¬ 
keit, die man von ertränkten Tieren gewinnt. Die Ursache der Ge- 
frierpunktsinkung der Trachealflüssigkeit von mit Chloroform oder 
Cyankalium vergifteteten Hunden muss dem Vermischen der post¬ 
mortal in die Luftwege eingedrungenen Flüssigkeit mit der in Folge 
der Vergiftung zu Lebzeiten ausgeschiedenen Lungenödemflüssigkeit, 
zugeschrieben werden. Ausserdem sei noch bemerkt, dass hier auch 
die bei beginnender Fäulniss entstehenden Diflfusionsprozesse auf das 
kryoskopische Verhalten der den Luftwegen entnommenen Flüssigkeit 
von nicht zu unterschätzendem Einfluss sein können. Aus diesen 
Gründen kann der kryoskopischen Untersuchung der in den Luftwegen 
befindlichen Flüssigkeit keine diagnostische Bedeutung beigemessen 
werden. 


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Experimentelle Studien zur Lehre vom Ertrinkungstod. 


*281 


Alphabetisches Literatur-Verzeichnis. 

(Pi»» hier in Parenthese aufgefuhrten Ziffern entsprechen den Literaturziffcrn des Textes ) 

Bert: Letjons sur la Physiol. comp, de la respir. Paris 1870 (15). 

Borri: Sul contegno della pressione sanguigna sperimentale 1896. F. 3. (39). 
Bougier: Etüde sur la submersion. These. Paris 1884. (52 u. 112). 
Brouardel: La pendaison. Paris 1897. S. 424 (12). S. 455 (30). S. 461 (32). 
S. 447 (33). S.442 (35). S.436 (36 u. 37). S. 422 u. 451 (45). S.455 (46). 
S. 473 (67 u. 76). S. 472 (89). 's. 462 u. ff. (114). 

Brouardel et Vibert. Annal. d’hyg. publ. 1880. S. 452 (111). 

E. Brückner: Ueber den Tod durch Ertrinken. Inaug.-Diss. Berlin 11S95. S. 21 
u. 23 (23). 

Büchner: Lehrbuch der gerichtlichen Medizin. München 1867. S. 313 (71). 
S. 311-312 (90). 

Carrara: La cryoscopia del sangue nella diagnosi medico-legale della mortc per 
sommersione. Arch. p. 1. scienze mediche. 1901. V. 25. N. 5. -- Unter¬ 
suchungen üb. den osmotischen Druck und die specif. elektrische Leitfähig¬ 
keit u. s. w. Vierteljahrschr. 1902. Bd. 24. S. 236 u. ff. (26. - - 40. — 
48. — 124. —). Sulla coagulabilitä del sangue asfit. Giorn. di med. leg. 
1902. No. 5 (122). 

Casper-Liman: Prakt. Handb. d. ger. Med. VIII. Autl. Berlin 1889. Bd. 2. 
S. 789 (64). 

Corin: Ueber die Ursachen des Flüssigbleibens des Blutes u. s. w. Vierteljschr. 

d. ger. Med. 1883. Bd. 5. S. 234 (123). 

Coutagne: Note sur le sang des noyes. Arch. de phys. norm. 1891. S.599 (115). 
Cuvier: Communic. de l’asphyxie par submersion. Virchow’s Jahresber. f. 1892. 
t. (ii). 

Devergie: Medecine legale. Paris 1840. Bd. 2. S. 413 (105). 

Durig: Centralbl. f. Physiol. 1903. No. 10 (78). 

Fagerlund: Vierteljahrsschr. f. ger. Med. 1890. Bd. 52 (130). 

Fodeli: De relationibus medicorum u. s. w. Lipsiae 1674. L. IV (4). 
Galenus: De anat. administrationibus. 1821 edit. Kühn. L. I. Cap. 6 (1). 
Haberda: Dringen in Flüssigkeiten aufgeschwemmte Fremdkörper post mortem 
in fötale Lungen ein. Friedreich’s Bl. 1898. S. 81 (57). 

Hamburger: Osmotischer Druck und Jonenlehre u. s. w. Wiesbaden 1902. 
S. 458 (41). 

Hammarsten: Lehrb. d. physiol. Chemie. Wiesbaden 1899. S. 162 (120). 
Henke: Lehrbuch d. gerichtlichen Medizin. X. Aull. Berlin 1841. S. 329 (60). 
Hnevkovsky: Wien. med. BL 1883. No. 26—34 (53). 

Hofmann -Kolisko: Lehrb. der ger. Mediz. Wien-Berlin 1903. S. 588 (18). 

S. 589 (44). S. 591 (49. - 50. — 51. —). S. 590 (99). 

Hough: Virch. Jahresber. f. 1895. I. (113). 

Kahlden: Technik u. s. w. Jena 1898. S. 109 (102). 

Kanzler: Der Tod durch Ertrinken. Vierteljahrsschr. f. ger. Med. 1852. Bd. 2. 
S. 242 (8). S. 247 (62). S. 244 (65). S. 243 (68. — 69. - 70. — 73. - 
74. —). S. 238 u. ff. (104). S. 201 (126). 

Krahmer: Handb. d. ger. Med. Braunschweig 1857. S. 539 (14). 

Landois: Lehrb. d. Physiologie. Wien-Leipzig 1887. S. 208 (77). 


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282 


Prof. Leo Wai'hhol/. u. I»r. Stefan Horoszkiewicz. 


I.esser: Atlas II. S. 17f> — I eher die wichtij^sien Sektionsbefunde bei dem Tode 
d. Krtrinken. Vierteljahrssohr. f. ger. Medizin. 1884. Bd. 40. S. 1 (54). 
S. 8 (TI- 1)4). S. 15. lti. 28. 20 (96). 

Margulies. Oie Casper’sche llyperaerie. Vierteljahrssc.hr. f. ger. Med. 1008. 
Bd. 26. S. 21 u. ff. (08). 

Martin: Expose des princ. pas. cont. dans le Si-Vuen-Lu. Baris 1884. S. 48 (5). 
Masehka: Der Ertrinkungstod. I’rag. Vierteljahrsschr. d. Ileilk. 1840. (68). 

Handbuch der gerichtlichen Medizin. Tübingen. Bd. 1. S. 688(107). 
S. 578 (100). 

Meckel: Lohrb. d. ger. Med. Halle 1821. § 208 210 (68). 

Men de: Ausfiihrl. Handb. d. ger. Med. 111. Teil, 475 (50). 

Metzger: System d. ger. Staatsarznei-VViss. V. Aull. Königsberg-Leipzig 1820. 
S. 230 (58). 

Morgagni: De sedibus et causis morborum. Lipsiae 1827. Bd.2. S.209 u. IT. (0). 
Mücke: Physiologie des Ertrinkungstodes. Deutsche Klinik. 1868. No. 25 und 
26 (92). 

Paracus: Opera ohirurgica. Erancofurti ad Moetiurn 1504. S. 845 C. (2). 
Paltauf, A.: lieber den Tod d. Ertrinken. Wien - Leipzig 1888. S. 12 (7). 
S. 127 (13). S. 111 (16 -17). S. 109 (20). S. 113 (21). S. 12 (751. 
S. 100 (80. — 81. - - 82. 83. — 84. - 85. — 86. - 87. — 88). S. 33 

(108). — Berl. klin. Woc-henschr. 1892. S. 299 (31). 

Pisek: Virch. Jahresber. f. 1882. I. S. 247 (38). 

Placzek: Die Blutdichte alsZeichen des Ertrinkungstodes. Vierteljahrsschr. 1903. 
Bd. 25. S. 13 (29). 

Reinsberg: Beitrag zur Lehre vom Ertrinkungstod. Zeitschr. d. böhm. Aerzte. 
1901. No. 23 (56—100). 

Revenstorf: Ueber den Wert der Kryoskopie zur Diagnose des Todes d. Er¬ 
trinken. Münch, med. Wocherschr. 1902. S. 1881 (25. -- 27. — 34. — 
47. — 128). — Resultate der Kryoskopie bei Ertrunkenen. Viertoljahrsschr. 
f. g. Med. 1903. Bd. 26. S. 32, 33 (103 -129). 

Richter, M.: lieber das Oedem der Kehlkopfeingangsfalten. Wien. klin. Wochen¬ 
schrift 1899. No. 25 (72). 

Sarda: Rech, ex per. sur P£tat du contenu cardiaque dans la mort par submersion. 
Annal. d’hyg. publ. 1903. No. 2. — Rech, exper. s. l’etat du cont. card. 
d. la mort par asphyxie möcanique. Ebenda 1902. No. 6 (118). 
Schmidt, H. K. W.: Zur Würdigung der Blut- und Lungenbefunde beim Er¬ 
trinkungstod. Aerztl. Sachverst.-Ztg. P.M>4. No. 1 (28 — 101 — 119). 
Schmidt, H.: Der Tod durch Ertrinken. Friedreich’s Bl. 1899. S. 96 (91). 
Sevcri: Per la conoscenza di alz. cause che favor. la penetr. delP acquua u.s.w. 
Riv. di med. leg. 1901. F. 2 (79). 

Stoenescu: Diagnostic de la submersion. Annal. d’hyg. publ. 1903. S. 16 
(10- 24 ). S. 32 -41 (125). 

Seydel: 'l’od durch Aspirationserstickung im bewusstlosen Zustande. Viertel¬ 
jahrsschrift f. g. M. 1895. Bd. 9. S. 2*5 (19). 

Strassmann: Lohrb. der ger. Med. Stuttgart 1895. S. 281 (22—42). S. 280 
(43j. S. 293 (66). S. 283 u. tT. u. 293 (97). S. 285 (110). S. 282 (116). 
S. 224 (121). 

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Experimentelle Studien zur Lehre vom Ertrinkungstod. 


283 


Stubenrath: Ueber Aspirationspneumonie u. s. w. Wien 1898. (55). 

Sylvius: Isagoge anatomiae. Lib. III. (6). 

Skrzeczka: Zur Lehre vom Erstickungstode. Vierteljahrsschr. f. g. Med. 1867. 
Bd. 7. S. 250 u. ff. (95). 

Tourdes et Metzquer: Traite de la m&lecine legale. Paris 1896. S. 756 (106). 
Vaubel: Lehrb. d. theoret. Chemie. Berlin 1903. Bd. 2. S. 647 (127). 
Wachholz, L.: Ueber den diagnostischen Wert der flüssigen Blutbeschaffen- 
heit u. s. w. Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Medizin. 1902. Bd. 23 (117). 
Wiedemann u. Ebert: Physikalisch. Praktikum. Braunschweig 1899. S. 423 
u. ff. (127). 

Wildberg: Handbuch der gesamten Arznei-Wissenschaft. § 367 (61). 
Zacchias: Quostionum medico-legalium. T. 1. Lib. V. S. 394 (3). 


Vierteljahrsschrift f. ger. Med. u. öff. Sau.-Wesen. 3. Folge. XXVIII. 2. 


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8 . 

Aus dem Institut für gerichtl. Medizin der König]. Universität 
Pavia. (Leitung: Prof. Filomusi-Guelfi.) 

Nachweis des Strychnins in den Knochen. 

Von 

Dr. Angelo De Dominicis, Assistent. 


Die Möglichkeit eines Nachweises von Pflanzengiften in den 
Knochen dürfte schon auf den ersten Blick als eine in gerichtsärzt¬ 
licher Beziehung wichtige erscheinen. Das eigentümliche Verhalten 
der Knochen im Verlaufe der Fäulnis wäre dazu geeignet — mit 
welcher Berechtigung Hesse sich a priori schwerlich sagen — den 
Gedanken zu erwecken an die Möglichkeit, einen anderswo bereits 
zersetzten Pflanzenstoff in denselben wieder aufzufinden, mit Rücksicht 
auf ein Pflanzengift aber vor» so extremer Widerstandsfähigkeit der 
Fäulnis gegenüber, wie eben das Strychnin ist, dessen Gegenwart in 
den Eingeweiden selbst nach langen Jahren nachgewiesen worden ist, 
dasselbe auch ln einer sehr fernen Zeit anzutreffen. 1 ) 

Letzterer Frage suchte ich nun einen Halt zu geben. Ich bediente 
mich hierbei des mikrochemischen Nachweises des Strychnins, durch 
den ich der Reaktion mit Schwefelsäure und Kalibichromat eine Em¬ 
pfindlichkeit bis auf Millionstel gesichert 2 ) und den ich auch benutzt 
habe bei dem von mir gelieferten experimentellen Nachweis des Ueber- 


1) Vgl. Ipsen, Vierteljahrsschr. f. gerichtl - Med., 1892 u. 1894: Allard, 
Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Med. 1903. 

2) De Dominicis, Giornale di Medicina legale. 1902 u. 1903. Bereits 
vor längerer Zeit hat sich HelVig (Casper’s Vierteljahrsschr. 1864, Mainz 1865) 
mit Mikrochemie eingehend befasst. 


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Nachweis des Strychnins in den Knochen. 


285 


gangs des Strychnins von der Mutter zum Fötus. 1 ) Wenn wir nun 
einerseits auf die Empfindlichkeit der Untersuchung rechnen durften, 
so war uns andererseits die Gelegenheit geboten, an der Hand der 
Tatsachen einen Beweis für die praktisch-wissenschaftliche Bedeutung 
der toxikologischen Mikrochemie zu erbringen. 

Dies vorausgeschickt, teile ich hier einen Versuch mit. Hund 
7,600 kg schwer; 1 cg in destilliertem Wasser aufgelöstes salzsaures 
Strychnin verabreicht. Tod binnen ungefähr 40 Minuten. Nach 24 Stunden 
werden die langen Knochen der Hinterbeine abgenommen und in den 
zwei darauffolgenden Tagen von jeder Spur von Weichteilen befreit. 
Das Gesamtgewicht dieser Knochen beträgt 90 g. Mittelst der Säge 
werden dieselben zuerst in grössere Stücke zerlegt und sodann in 
einen Mörser gebracht, wo sie in eine ziemlich fein verteilte Masse 
verwandelt werden. Das Material wird schliesslich dem Stas-Otto- 
schen Verfahren unterzogen. 

Wird das Vorhandensein geringer Giftmengen vermutet, so wird 
2—3 mal ausgezogen, die Stücke werden wiederholt ausgelaugt. Die 
verdampften alkalischen Flüssigkeiten hinterlassen einen Rückstand; 
derselbe wird mit. destilliertem Wasser ausgelaugt und mit Aether ge¬ 
schüttelt. Nachdem sich letzterer ausgeschieden, werden auch die 
letzten Spuren desselben durch die Hitze entfernt. Die grüngefärbte 
wässerige Flüssigkeit wird durch Aetzkali alkalisch gemacht und mehr¬ 
fach mit Chloroform geschüttelt. Das in einer mit einem Hahn ver¬ 
sehenen Bürette sich ausscheidende Chloroform wird in ein weites 
Uhrglas gebracht und darin verdunsten gelassen, wodurch man einen 
weisslichen bitterschmeckenden Rückstand erhält. Wird nun eine 
Spur dieses letzteren mit Schwefelsäure und Kalibichromat versetzt, 
so sieht man an einer Stelle derselben die beginnende Färbung sowie 
die darauffolgenden Veränderungen der Strychninreaktion, was umso¬ 
mehr hervorzuheben ist, als es sich um einen unreinen Rückstand 
handelt, der trotzdem mikroskopisch ein positives Resultat ergeben 
hatte. 

Um den Rückstand zu reinigen, wird derselbe in wenig mit 
Schwefelsäure schwach angesäuertem Wasser aufgelöst, sodann alkalisch 


1) DeDotninicis, Sul passagio della stricnina della madre al feto: Poli- 
clinico 1903, Giornale di Medicina legale. 1904. — In ähnlicher Weise habe ich 
mich der mikro-chemischen Probe bedient, um. den Uebergang des Veratrins von 
der Mutter zum Fötus nachzuweisen. Giornale di Medicina legale. 1904. 


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Dr. Angelo De Dominicis, 


gemacht und schliesslich dreimal nacheinander mit Petroläther x ) ge¬ 
schüttelt. Die drei Quantitäten Petroläther werden in je 3 Uhrgläser 
gebracht und darin verdunsten gelassen. Nach Verdunstung des Petrol¬ 
äthers in den Uhrgläsern werden einige Tropfen mit Schwefelsäure 
schwach angesäuert und Wasser hinzugesetzt, die Gläser an einer 
Flamme gelinde erhitzt und hierbei mittelst eines Glasstabes die 
Flüssigkeit mit der ganzen Innenfläche der Gläser in Berührung ge¬ 
bracht. Bei Konzentrierung der Lösungen durch gelindes Erhitzen 
bilden sich mikroskopische Kristalle von Strychninsulfat. Dieselben 
treten zahlreicher auf in jenem Uhrglas, worin der zuerst mit der 
alkalischen Lösung geschüttelte Petroläther gesammelt worden, weniger 
zahlreich dagegen im zweiten, und spärlich im dritten. Auch nimmt 
der bittere Geschmack der Lösungen stufenweise ab. Eine auf dem 
Objektträger verdampfte Probe, mit Schwefelsäure oder Kalibichromat 
behandelt, gibt unter dem Mikroskop die Strychninreaktion. Darauf 
werden die in den drei Uhrgläsern enthaltenen wenigen Tropfen Flüssig¬ 
keit vereinigt; mit der einen Hälfte der Gesamtflüssigkeit wird sodann 
der physiologische Nachweis des Strychnins versucht. Es wird hierzu 
ein kleiner Frosch (3,3 g) benutzt, dem man subkutan die Flüssigkeit 
injiziert. Man bemerkt hierbei eine Zunahme der Reflexerregbarkeit 
des Tieres bei direkten sowie indirekten Reizen, wenn auch ein kon¬ 
tinuierlicher Tetanus selbst nach längerer Zeit nicht zu erzielen ist; 
offenbar ist der Strychningchalt ein sehr geringer. Der zweite Anteil 
der Lösung ruft, einem solchen Frosch injiziert, die gleichen Er¬ 
scheinungen hervor. 

Ohne besondere Schwierigkeit, einzig und allein mit den langen 
Knochen der hinteren Extremitäten ist es uns zweimal gelungen, den 
Nachweis des Strychnins durchzuführen. Die Menge des Materials 
kann nun also unter unseren Verhältnissen auf die Hälfte reduziert 
und zur Feststellung des bitteren Geschmackes sowie mikroskopisch 
zur Schwefelsäure- und Kalibichromatreaktion noch viel kleiner ge¬ 
nommen werden, ohne Heranziehung des physiologischen Nachweises, 
wofür verhältnismässig viel grössere Quantitäten erforderlich sind. 

Wenn nun einerseits der Nachweis an und für sich keine so 
grosse Menge an Materiell erfordert, so ist andererseits nur eine ge¬ 
ringe Menge desselben nötig, um hierin Anhaltspunkte zu gewinnen, 
die für das Gesamturteil doch ihren Wert haben könnten. 

1) Vgl. Vital i, Deila ricerca chimica - tossicologica degli alcaloidi ed in 
üpecie della strienina. Bolletino cheniico-farinaceutico. 18%. 


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Nachweis des Strychnins in den Knochen. 


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In Anbetracht dieser Ergebnisse — auch von Fällen abgesehen, 
in denen eine rasche Zerstörung der Weichteile möglich wäre — 
glaube ich, cs sei die Möglichkeit eines Nachweises des Strychnins 
in den Knochen zu einer vom Tode so weit entlegenen Zeit, dass 
jede anderweitige Untersuchung sich als fruchtlos erweisen muss, in 
Betracht zu ziehen, eine Möglichkeit, die, obgleich auf den ersten Blick 
als eine unerwartete anzusehen ist, nach Durchprüfung der damit er¬ 
zielten Erfahrungen und Resultate doch wenigstens einer Berücksich¬ 
tigung nicht unwürdig erscheinen dürfte. 


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Ein strittiger Fall von sogen. Kontusionspneumonie 
infolge von Ueberschreitung des Züchtigungsreclits 

seitens eines Lehrers. 

Von 

Snnitätsnit Dr. Kob, Stulp i. h»m. 


Auch schon vor Beginn der sozialpolitischen Gesetzgebung, welche 
dem ärztlichen Attestwesen so viele neue Wege öffnete, trat wohl an 
jeden Arzt oft genug die Pflicht heran, sein sachverständiges Urteil, 
sei es mündlich, sei cs schriftlich, abzugeben, und es gestaltete sich 
dieser Teil seiner praktischen Tätigkeit vielleicht schon immer zum 
wahren Prüfstein seiner wissenschaftlichen Bildung und Berufstreue. 
Denn so schwer und verantwortungsvoll auch unsere Hauptbeschäfti¬ 
gung, nämlich die kurative Behandlung unserer Mitmenschen in allen 
Verhältnissen und Schichten derselben für uns sein kann und in un¬ 
gezählten Fällen tatsächlich ist, heikler, und mehr noch Vorsicht 
heischend wird erfahrungsraässig unser Amt dann, wenn Behörden 
oder Private uns zu sachverständigen Bekundungen heranziehen. Die 
Wahrheit, welche allein und möglichst bestimmt man sagen soll, — 
—- wie schwer ist sie oftmals zu finden! Und dann gehört es fast 
zur traurigen Regel, dass man durch sein Attest hier Freunde, dort 
Feinde erwirbt. Es gehört nun gewiss zu den anerkannt vornehmsten 
Anforderungen, welche wir an uns selbst zu stellen haben, solchen 
Kollisionen unserer Pflichten nicht klüglich aus dem Wege zu gehen, 
aber schwer kann diese Anfechtung sein. Nehmen wir die einfachsten 
und scheinbar leichtesten Verhältnisse: unsere praktische Tätigkeit in 
der Medicina forensis; alle Faktoren und nicht bloss Staatsanwalt und 
Verteidiger, auch Richter: wie oft treten sie mit offenbar schon vor¬ 
gefasster Ansicht über die Fragen, welche von uns beantwortet werden 


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Ein strittiger Fall von sogen. Kontusionspneumonie etc. 


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sollen, in die Verhandlung der Sache ein und gehen nur ungern und 
gezwungen als „Besiegte“ aus derselben hervor, sodass wir wirklich 
nicht gar so selten eine Art Mut der Ueberzeugung aufbieten müssen, 
um unserem Beruf treu zu bleiben. Und nun gar die Parteien! Dass 
man von diesen für seine Bekundung als Sachverständiger Nacken- 
schlägc empfangen kann, die sehr lange wehtun, haben gewiss schon 
viele von uns am eigenen Leibe fühlen müssen. 

Jedenfalls erkennt man aus solchen Erwägungen heraus, wie gross 
die Gefahr für den Sachverständigen ist, dass er seine Erfahrung und 
sein Urteil nicht allemal mit vollem Nachdruck zur Geltung bringt, 
und wie schwer es auch anderseits oft genug den Herrn Faktoren 
gemacht werden mag, unsere Gutachten richtig zu bewerten. 

Sehr belehrend, aber zu denken gebend, sind seit langer Zeit 
auch die Fälle, in welchen eine Ueberschreitung des Züchtigungs¬ 
rechtes unserer Lehrer in Frage kommt. Die wechselnden Minister 
der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheitcn, und mit 
ihnen die Sozialpolitiker und mit diesen wiederum auch die Kollegen, 
scheinen jetzt mehr als früher über die Grenzen dieses Rechtes ver¬ 
schiedener und oft wechselnder Ansicht zu sein. Was Wunder, dass 
die Lehrer selbst für diese Grenzen möglichst weiten Spielraum und 
denselben möglichst festgelegt wünschen, dabei der uralten Erfahrung 
vergessend, dass nur die unfähigsten Lehrer überhaupt des Prügels 
bedürfen, um sich bei ihren Schülern jeden Milieus im nötigen Respekt 
zu erhalten, und dass schon oft genug ihr Prügeln Kinder nicht bloss 
gesundheits- und lebensgefährlich, sondern auch tödlich getroffen hat! 

Ausser einer Reihe von in meiner Praxis vorgekommenen Fälle 
hierher gehöriger Art, auch solchen mit Todesfolge, verfüge ich über 
einen aus letzter Zeit, welcher in fast allen eben beregten Beziehungen 
für manchen Leser von Interesse sein dürfte, und dessen aktenmüssige 
Beschreibung daher hier folgen mag. 

Ein Tjähriger Schalknabe, Sohn einer ziemlich kinderreichen, nicht schlecht 
situierten, gesunden und ordentlichen Maurerfamilie hier, welcher auch selbst* 
bisher im allgemeinen stets frisch und gesund gewesen war, ging am 14. Mai 1901 
10 Uhr vormittags munter in die Schule. Nachdem er bereits 8 Tage vorher von 
seinem Lehrer wegen eines nicht erheblichen Versehens in solchem Masse ge¬ 
züchtigt worden war, dass sein Vater dieserhalb Beschwerde erhoben hatte, wird 
er mittags nach Schluss der Schule sofort zu mir von seiner Mutter mit der Mit¬ 
teilung gebracht, dass er von demselben Lehrer wieder, „weil er an der Tafel nicht 
zu rechnen verstanden hatte, „wie der Augenschein lehro“, ganz über Gebühr ge¬ 
schlagen worden sei, indem er „3 Ohrfeigen mit solcher Kraft erhalten hätte, dass 
er zur Erde und gegen einen Vorsprung des Pultes geschleudert wurde.“ 


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290 


Dr. Kob, 

Auf Wunsch der Mutter untersuchte ich nun den Knaben. Mir fiel sofort 
auf, dass der Junge, welcher mir schon vor längerer Zeit bei ärztlicher Behandlung 
seines Bruders als ein lebhaftes, munteres Kind bekannt geworden war, „sehr be¬ 
nommen aussah und nur mit Müho und langsam auf Fragen Rede stehen konnte. 
Beide Ohrmuscheln waren rot wie blutrünstig, geschwollen, mit wahren kleinen 
Exkoriationen an ihren hinteren Flächen versehen, etwas geschwollen auch nament¬ 
lich die ganze linke Backe,“ ausserdem klagte er noch „über rechtsseitige Brust¬ 
schmerzen“. Da der Knabe zugleich „einen auffallend jagenden Puls darbot“, so 
erschien es mir möglich, dass aus dem Vorgänge für den mir persönlich nicht ge¬ 
nügend bekannten Lehrer event. unangenehme Weiterungen entstehen würden und 
riet daher, dass die Mutter das Kind dem Schulrektor gleichfalls vorstellen möchte, 
wenn der Lehrer sein Unrecht nicht bekennen wollte. Nachdem dieser Rat befolgt 
worden war, hatte ich kurativ angeordnet, dass der Junge zu Bett gebracht und 
kalte Umschläge auf Kopf und Brust gemacht werden und dass mir event. später 
Bericht erstattet werden sollte, wie sich das Befinden des Kranken gestaltet hätte. 

Die Eltern hatten nooh am 14. Mai den Fall polizeilich gemeldet, der Knabe 
selbst aber konnte der alsdann erfolgenden polizeilichen Ladung nicht Folge leisten, 
weil er, wie ich bekundete, das Bett hüten müsse. Als mir am 16. Mai derselbe 
dennoch vorgeführt wurde, stellte ich „starkes Fieber, vermehrte rechtsseitige 
Seitenstiche, Kurzatmigkeit und etwas Blut im Hustenauswurf fest“. Es war daher 
anzunehmen, dass es sich bei dem Knaben „um eine entzündliche Krankheit inner¬ 
halb der rechten Brusthöhle“ handelte, wenn es sich auch bei der physikalischen 
Untersuchung noch nicht feststellen liess, welcher Art dieselbe war, namentlich 
ob „Rippen- oder Lungenfellentzündung vorlag“. 

Der weitere Verlauf der Krankheit war nun keineswegs ein typisch akuter, 
sondern zog sich unter anfangs remittierendem und erst später allmählich kon¬ 
tinuierlichem Fieber viele Wochen hindurch in die Länge, ohne dass man zu irgend 
einer Zeit Krisen, weder durch Auswurf, noch durch Schweiss u.dergl. beobachten 
konnte. Am 23. Mai mussto ich noch einmal zum Gebrauch vor der Polizei be¬ 
kunden, dass der Knabe noch lebensgefährlich krank sei, und am 8. Juni auf Er¬ 
fordern des Gerichts, dass er frühestens erst nach weiteren 2 bis 3 Wochen an 
Gerichtsstelle würde erscheinen können. Auffallend war noch die Erscheinung, 
dass „trotz des absolut fehlenden Auswurfs, doch starker Husten mit ziemlich 
erheblichen rechtsseitigen Brustschmerzen bestand, das Atraungsgeräusch über der 
rechten Lunge abgeschwächt, fast fehlend war, niemals aber bronchialen, sondern 
lediglich vesikulären Charakter hatte und mit Reibungsgeräuschen verbunden war, 
der Perkussionston an der ganzen Vorderlläche der rechten Brusthälfte leer und 
gedämpft, hinten überall voll war. „Alle genannten objektiven Krankheitserschei¬ 
nungen, auch das Fieber, der Kräftezustand und das subjektive Befinden des 
Kranken hatte aber erst Ende Juli normalen Verhältnissen ganz allmählich Platz 
gemacht, sodass der Knabe am 5. August, völlig gesund, beim Amtsgericht ver¬ 
nommen werden konnte. Hierbei beschrieb er den Hergang der Sache so, wie ich’s 
mir von der Mutter hatte erzählen lassen und eingangs wiedergegeben habe.“ 

Nun wurde von der Staatsanwaltschaft unter dem 7. August meine Verneh¬ 
mung als Sachverständiger beantragt und vom Amtsgericht am 14. August vor¬ 
genommen. und ich gab „ausschliesslich auf Grund dessen, was mir von dem ge¬ 
schlagenen Knaben von früher her bekannt war und von ihm und dessen Eltern 


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Ein strittiger Fall von sogen. Kontusionspneumonie etc. 


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über die Art seiner körperlichen Züchtigung mitgeteilt worden war und was ich 
bei der ärztlichen Behandlung des Geschlagenen über den Beginn, die Symptome 
und den Verlauf seiner Krankheit etc. persönlich wahrgenommen hatte, folgende 
gutachtliche Erklärung dictando zu Protokoll: 

1. Der Knabe Willy Boldnan stammt aus einer gesunden Familie und ist 
auch selbst bisher gesund gewesen und hat noch niemals Zeichen von Prädisposition 
zu irgend einer Krankheit, namentlich auch keine Disposition zur Tuberkulose dar¬ 
geboten. Als er mir am 14. Mai er. aber von seiner Mutter zugeführt wurde, wobei 
letztere erklärte, dass er wenige Stunden vorher von seinem Lehrer so stark geohr- 
feigt worden wäre, dass er zur Erde stürzte und nun wie betäubt sei, — da stellte 
ich Folgendes fest: 

Beide Ohrmuscheln waren blutrünstig, und zwar nicht bloss etwas entzünd¬ 
lich gesohwollen, sondern auch an ihren hinteren Rändern teilweise der Oberhaut 
beraubt. Zugleich fiel mir auf, dass der Kranke in der Tat wie betäubt war, kaum 
reden konnte und einen jagenden Puls hatte. Auch die ganze linke Schläfe war 
geschwollen, hie und da der Oberhaut beraubt und abnorm gerötet. 

Trotz kalter Umschläge, auf deren Anordnung ich mich zunächst beschränkte, 
wnrde mir gemeldet, dass der Knabe aus Nase und Mund Blutung bekommen hätte, 
in der rechten Brusthälfte, wo er schon bei der ersten Besichtigung einen Druck 
zu empfinden erklärt hatte, dauernde Schmerzen bekommen hätte. 

Als ich ihn darauf am 16. Mai wieder untersuchte, konstatierte ich, dass 
nicht nur die Ohrmuscheln selbst noch blutrünstig waren, sondern sogar in beiden 
Hinterohrgegenden dieZitzenfortsätze derSchläfenbeine sehr deutlicheSugillationen 
(Blutunterlaufungen) vorhanden waren, nunmehr ausserdem mit den rechtseitigen 
Brustschmerzen auch allgemeines Fieber und hochgradige Atembeengung ver¬ 
bunden war. 

Die weitere Untersuchung am 17. Mai ergab dann, dass der Knabe eine ge¬ 
fahrvolle Entzündung des Lungen- und Brustfelles hatte. Diese Krankheit hatte 
ein mehrwöchentliches Krankenlager zur Folge, mit welchem eine eingreifende Kur 
verbunden war; Heilung aber erfolgte erst am 27. Juni a. c. 

Es kann einem Zweifel nicht unterliegen, dass schon die von den Ohrfeigen 
an den Ohren stattgehabten direkten Verletzungen erheblicher Art waren. Noch 
erheblicher, ja gefährlich war selbstredend die zweite genannte und beschriebene 
Krankheit. 

Was die Entstehungsart beider Krankheiten anbetrifTt, so ist anzunehmen, 
dass die entzündlichen Anschwellungen beider Ohrmuscheln und die Exkoriationen 
und Blutunterlaufungen in der Umgegend derselben, nämlich an der linken Schläfe 
und den beiden Zitzenfortsätzen der Schläfenbeine durch derbe Ohrfeigen und 
derbes Reissen an den Ohren entstanden sind. Auch für die Lungern- und 
Brustfellentzündung müssen die Ohrfeigen insofern verantwortlich gemacht werden, 
als durch dieselben der Knabe zur Erde, vielleicht sogar an einen vorstehenden 
Gegenstand geschleudert wurde und auch durch diesen Stoss die Krankheit entstand. 

Dass diese Krankheit nicht etwa eine infektiöse, namentlich nichteine tuber¬ 
kulöse, vielmehr eine sogenannte Kontusionspneumonie (durch äussere Veranlassung 
entstandene Lungenentzündung) gewesen ist, wird nicht etwa durch das Fehlen 
irgendeiner äusseren Verletzungsspur am Thorax widerlegt: dass sie vielmehr 
wirklich eine solche Kontusionsentzündung ist, ist aus dem Grunde mindestens 


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Dr. Kob, 


sehr wahrscheinlich, weil der Krankheitsanfang mit der stattgehabten Erschütte¬ 
rung des Thorax zeitlich zusammenfiel, die meisten Krankheitserscheinungen und 
der Krankheitsverlauf bezw. -Ausgang eine andere Ursache auszuschliessen ge¬ 
eignet sind. 

Ich bin daher zu dem Entschluss gekommen, dass der Willy Boldnan durch 
die ihm am 14. Mai zugefügten Schläge erheblich verletzt worden ist und im Be¬ 
sonderen eine sogenannte Kontusionspneumonie erlitten hat, welche, wenn auch 
nicht seinen Tod, so doch wenigstens ein mehrwöchentliches gefahrvolles Kranken¬ 
lager für ihn zur Folge gehabt hat.“ 

Wie jeder Leser meiner vorstehenden Darstellung cs mir nach¬ 
fühlen dürfte, konnte ich keinen anderen Glauben haben als den, dass 
nunmehr die Staatsanwaltschaft gegen den Lehrer qu. wegen Miss¬ 
handlung seines Schülers Anklage erheben würde; denn ich wusste 
zwar, dass die Polizei bereits am 15. Mai vom zuständigen Armen¬ 
bezirksarzt ein Attest erhalten hatte, welches sich dahin äusserte, 
„der Knabe habe zwar eine Anschwellung der linken Wange, welche 
wahrscheinlich auf Ohrfeigen zurückzuführen sei, aber er sei sonst 
ganz munter, und die Anschwellung der Wange mache ihm keine 
Beschwerden“; doch konnte ich mir dabei nichts anderes denken, als 
dass diese Bekundung nur das Ergebnis einer ersten, ganz oberfläch¬ 
lichen und nun und nimmer ausreichenden Untersuchung gewesen sei T 
gleich wie ich auch bald darauf einem anderen Kollegen, welcher 
auf Ersuchen des beschuldigten Lehrers den kranken Knaben 
untersucht hatte und welcher mir auf der Strasse gelegentlich seine 
Meinung dahin äusserte, „der Knabe leide lediglich an Phthisis von 
früher her“, die gänzliche Unrichtigkeit dieser seiner Ansicht mit 
grosser Sicherheit Vorhalten konnte und musste. 

Nicht gering war daher mein Erstaunen, als ich später erfuhr, 
dass die Staatsanwaltschaft dennoch gegen den Lehrer das Verfahren 
eingestellt hätte. In dem Bescheide, mit welchem der erste Staats¬ 
anwalt in den von mir eingesehenen Akten den Strafantrag zurück¬ 
gewiesen hat, wird zwar auffallenderweise auch erklärt, dass die 
Zeugenaussagen der vernommenen Mitschüler des Knaben und des 
Schulrektors keinen genügenden Verdacht dafür begründen, dass der 
Lehrer sich strafrechtlich verantwortlich gemacht hätte, obwohl doch 
alle diese Zeugen protokollarisch dahin sich aussprachen, „dass der 
Knabe vom Lehrer dreimal geohrfeigt und dabei gegen das Pult und 
zur Erde geschleudert worden war“, bezw. „dass der Lehrer schon 
früher zu vielen Beschwerden wegen zu groben und ganz unangebrachten 
Ohrfeigens seiner Schüler Veranlassung gegeben hätte“, — aber der 


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Ein strittiger Fall von sogen. Kontusionspneumonie otc' 


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Hauptgrund der Ablehnung des Strafantrags wird in dem schriftlichen 
motivierten Gutachten gefunden, welches nach meinem protokollarischen 
Gutachten von dem beregten Armen bezirksarzt eingefordert worden war. 

Ich kann es mir nicht versagen, in folgenden epikritisehen Ein¬ 
wendungen wenigstens die springenden Punkte dieses Gutachtens, 
übrigens mit Zustimmung des Verfassers, aus den Akten wiederzu¬ 
geben und zu kennzeichnen. 

Schon die erste ßefundaufnahme am 15. Mai ist unvollständig 
gewesen; ausser der „Anschwellung der linken Wange“ soll nichts 
Abnormes vorhanden gewesen sein; ja es wird ausdrücklich berichtet, 
„ich fand weder die Ohrmuscheln entzündlich geschwollen, noch blut¬ 
rünstig, noch wahrnehmbar an einer Stelle der Oberhaut beraubt; von 
Brustschmerzen oder von Beschwerden irgend einer Art war bei meiner 
Untersuchung am 15. Mai garnicht die Rede“. 

Ich muss es bestreiten, dass der Kollege diese Untersuchung, wie 
er sagt, „mit grosser Sorgfalt ausgeführt“ hat; denn ich habe diese 
Erscheinungen, wie schon am 14. Mai, so noch am 16. Mai deutlich 
genug erkannt und so charakteristisch entwickelt gefunden und ausser¬ 
dem noch — Anschwellungen der Schläfen und wahre Sugillationen 
in den Hinterohrgegenden bis über die Zitzenfortsätze der Schläfen¬ 
beine über den 18. Mai hinaus, dass es mir ohne Weiteres recht wohl 
begreiflich erschien, wie die dem Knaben erteilten Ohrfeigen mit Kraft 
und einer, wie angegeben wurde, mit einem Ringe besetzten Hand 
appliziert worden waren, ja, dass die Ohrmuscheln mit den Fingern 
gepackt und daran kräftig gerissen worden war, worauf ich besonders 
die beregten Sugillationen hinter den Ohren neben den Exkoriationen 
an der Hinterfläche der Ohrmuscheln unschwer zurückführen konnte. 

Ebenso erscheint es mir wenig glaubwürdig, event. aber irrelevant, 
wenn der Kollege behauptet, dass „der Knabe am 14. Mai fieberfrei 
gewesen wäre und über keinerlei Brustschmerzen geklagt habe“, da 
im ersten Stadium solcher Krankheit das Fieber sehr oft noch Remissionen 
macht, und ich nicht bloss am 14. Mai Klagen über rechtseitige Brust¬ 
schmerzen hörte und einen jagenden Pulsschlag gefunden habe, sondern 
auch am 16. Mai und dann täglich hohes Fieber notierte. 

Alles dieses lässt mich unschwer erkennen, dass das Bemühen 
des Kollegen, die Unabhängigkeit der wochenlangen Krankheit des 
Knaben von den am 14. Mai erlittenen Schlägen zu beweisen, schon 
auf falscher Grundlage ruht. Aber auch die darauf gerichtete Diagnose 
„kroupöse Pneumonie“ des Kollegen muss beanstandet werden. Eine 


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gewöhnliche kroupöse Pneumonie war sie gewiss nicht.“ Seine un¬ 
zweifelhaft flüchtigen am Beginn dieser Krankheit stattgehabten zwei 
Untersuchungen des Knaben konnten auch unmöglich genügen, die 
hier erforderliche Differentialdiagnose richtigzustellen. Der Kollege 
ignoriert ganz und gar, gleich wie der andere Kollege, welcher im 
Aufträge des Lehrers den Kranken einmal sich ansah und sofort mit 
der Diagnose „Phthisis“ fertig war, dass der Knabe nicht bloss früher 
bis zur Stunde des fraglichen Vorfalls immer frei von Krankheits¬ 
anlagen gewesen war, sondern gesund und munter in die Schule ge¬ 
gangen und 2 Stunden darauf nach der Verletzung krank nach Hause 
gekommen war; und als der Kollege am dritten Tage darauf, am 
18. Mai, die Lungenentzündung bereits erkannte, kann es nach seiner 
Meinung nicht mehr möglich sein, dass diese Krankheit noch von den 
am 14. Mai empfangenen Schlägen herrühre. In der Tat eine kühne 
und eigentümliche Behauptung! Und noch mehr als diese Kühnheit 
fällt auf, dass der Kollege es nicht der Mühe für wert hält, die eigent¬ 
lichen Krankheitssymptome genauer festzustellen. Hätte er dieses 
getan, so hätte er davon Kenntnis bekommen, dass das „bronchiale 
Atmungsgeräusch nicht bloss von ihm nicht gefunden wurde, weil die 
Krankheit zur Zeit seiner Untersuchung erst im Beginn stand, „sondern 
dass dieses Zeichen überhaupt bis zum Schluss der Krankheit fehlte, 
vielmehr immer nur abgeschwächtes, vesikuläres Atmungsgeräusch zu 
hören war auf der ganzen rechten Brusthälfte, dass dieses Atmungs¬ 
geräusch auch niemals mit irgend einem Schleim rasseln, sondern nur 
mit knisterndem Reibungsgeräusche verbunden war, ferner der Husten 
des Knaben von Anfang der Krankheit bis zur Genesung des Knaben 
immer trocken, d. h. ohne den geringsten Auswurf — das von mir 
am 15. Mai gesehene Blut war lediglich ausgespuckt worden — von 
statten ging, und dass an derselben Partie der Brust (an der rechten 
Hälfte), wo das Atmungsgeräusch nur abgeschwächt war, auch der 
Ton beim Beklopfen der Brust ganz charakteristisch leer und gedämpft 
sich erwies und der Knabe anfangs die Schmerzen empfand. Hätte 
der Kollege alle diese Symptome in ihrer allmählichen Ausbildung in 
einer täglichen Beobachtung des Kranken von dem beschriebenen Vor¬ 
fall, namentlich vom Fall des Knaben gegen das Pult an bis ans 
Ende der Krankheit, wie der Schreiber dieses, aufmerksam verfolgt, 
so hätte cs auch ihm nicht entgehen können, dass er vor einem 
Krankheitsbilde stand, welchem wir in der Unfallpraxis vielfach be¬ 
gegnen. In dem letzten Jahrzehnt ist dieses charakteristische Krank- 


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Ein strittiger Fall von sogen. Kontusionspneumonie etc. 295 

heitsbild bekanntlich von Litten, Stern, Schild u. a. wiederholt 
bearbeitet werden. Zum Unterschiede von den katarrhalischen und 
kroupösen Pneumonieen nennen wir diese Krankheit Kontusions¬ 
pneumonie, d. h. Lungenentzündung, welche durch eine äussere Ver¬ 
letzung, welche aber keineswegs immer eine grosse, wie hier der 
Kollege anzunehmen scheint, etwa eine mit Wunden oder sonstiger 
Trennung des Zusammenhanges der Rippen oder Weichteile des Thorax 
verbundene Quetschung gewesen sein muss, sondern auch eine relativ 
gering scheinende Quetschung der Brust gewesen sein kann, entstanden 
ist, eine Krankheit, die eigentlich gar keine echte und reine Lungen¬ 
entzündung, vielmehr richtiger eine durch äussere Verletzung entstandene 
Lungen- und Brustfellentzündung ist und als solche bezeichnet werden 
müsste. 

Das sind die wesentlichsten Punkte, welche ich aus dem meiner 
ausgedrückten Ansicht über den Fall qu. von der Staatsanwaltschaft 
entgegengehaltenen Gutachten eines Kollegen herausheben und be¬ 
sprechen wollte. Was in diesem Gutachten sonst noch enthalten und 
dazu bestimmt war, die Schuldfrage zu Gunsten des Beschuldigten zu 
beleuchten, übergehe ich, weil alles dies nur Wiederholungen und 
Variationen von dem sind, was in Vorstehendem zur Sprache ge¬ 
kommen ist. 

Was ich mit dieser Arbeit bezweckte, dürfte für jeden Leser klar 
sein: es ist das, — darzutun, dass in Bezug auf das Züchtigungsrecht 
der Lehrer nicht allein bei diesen und den massgebenden Behörden, 
selbst auch dem Gericht, sondern auch besonders bei den Kollegen 
hie und da Ansichten und Grundsätze vorherrschend sind, welche dem 
Geist und Wortlaut unzweideutiger gesetzlicher Bestimmungen gegen¬ 
über in bedauerlichem Grade lax erscheinen und dass hiergegen Front 
gemacht werden sollte. 

Auch dürfte der mitgeteilte Fall für manche Kollegen gleichsam 
als Paradigma zur Belehrung dienen können, dass es bedenklich ist, 
über einen Krankheitsfall ein Gutachten abzugeben, ohne sich durch 
Rücksprache mit dem behandelnden Arzte über den Verlauf desselben 
und über seine Vorgänge, wenn irgend möglich, genau zu informieren. 


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10 . 

Simulation oder Geistesstörung? 

Von 

l)r. Mönkemöller, 

Oberarzt an (U-r Provinzial-Heil- und Pflegoanstalt zu Osnabrück. 


August Ilabakuk R. wurde am 14. März 1871 in H. geboren. Erbliche Be¬ 
lastung liegt in seiner Familie insoweit vor, als sein Grossvater mütterlicherseits 
geisteskrank gewesen sein soll. Auf weitere Angaben aus seinem Vorleben muss 
verzichtet werden, da hierfür nur die eigenen Angaben des Kranken vorliegen, 
deren Glaubwürdigkeit nicht über allen Zweifel erhaben ist. Bemerkt sei nur, 
dass er bis zum Jahre 1898 körperlich und geistig vollkommen gesund gewesen 
und nur in der Schule schlecht gelernt haben will. Alle epileptischen und hyste¬ 
rischen Antezedentien werden von ihm mit grosser Bestimmtheit in Abrede gestellt. 
Nachdem er Federmesserreidergehilfe geworden war, trat er am 4. Novem¬ 
ber 1891 beim Infanterie-Regiment No. 56 ein, von wo er 1894 mit dem Führungs¬ 
prädikate „schlecht“ entlassen wurde. 19 mal während seiner Dienstzeit war er 
revier- oder lazarettkrank, seine Krankheiten betrafen fast ausnahmslos leichte 
Quetschungen, Hautabschürfungen, Panaritien, Verbrennungen. Zuletzt war er 
wegen Blutarmut und zur Beobachtung auf Bluthusten im Lazarett. 8 mal wurde 
er mit kleinen Disziplinarstrafen belegt, während 14 Arrestdisziplinarstrafen über 
ihn verhängt wurden, die zwischen 3 Tagen Mittelarrest und 4 Tagen strengen 
Arrest schwankten. Die Veranlassung dieser Bestrafungen waren meist Bummeleien 
im Dienste und Ungehorsam gegen die Befehle der Vorgesetzten bei geringfügigen 
Anlässen. 

Nachdem er sich 1897 und 1898 je mehrere Wochen im Diakonissenhause 
zu Kaiserswerth (zweimal), im Bürgerhospitale zu Koblenz und im 
Marienkrankenhause zu Düsseldorf aufgehalten hatte, machte er 1898 in 
Nouss 7 Tage Gefängnis wegen Diebstahls ab und fiel darauf der Armen Verwal¬ 
tung zur Last. In demselben Jahre nahm er diese nochmals in Münohen-Glad- 
bach in Anspruch, nachdem er sich im Polizeigefängnisse „in einem Anfalle von 
Irrsinn“ die Kleider vom Leibe gerissen hatte. 1898 wurde er dreimal im 
Augustahospitale zu Köln aufgenommen, nachdem er zuletzt als Ziegel¬ 
arbeiter tätig gewesen war. Er litt jedesmal an Uiimoploö. In seinem Sputum 
wurden nie Tuberkelbazillen gefunden, ebensowenig wie ein sicherer Lungenbefund 
erhoben werden konnte, sodass der bestehende Verdacht auf Phthise nie zur Ge- 


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i 


( 



Simulation oder Geistesstörung? 


297 


wissheit wurde. „Stets war sein Benehmen höchst gemein“, er zankte 
sich mit den Mitkranken und bedrohte sie mehrere Male mit dem Messer, 
sodass er zuletzt auf dem Disziplinarwege entlassen werden musste. Eine psychische 
Störung wurde nie bemerkt, er war nach des Arztes und der Schwester Ansicht 
ein höchst gefährlicher, verlogener und unverschämter Mensch und ein ganz ge* 
fährlioher Gauner.“ Der Arzt war der festen Ueberzeugung, dass die Hämoptoe 
artefiziell sei, konnte ihn aber nicht der Simulation überführen. 

Im Mai 1898 wurde er dem Bürgerhospitale zu Köln zur Beobachtung 
auf seinen Geisteszustand übergeben und von hier in die Lindenburg in Köln 
überführt. Hier gab er an, seine Mutter leide viel an Kopfschmerzen, er selbst sei 
viel krank gewesen und immer sehr leicht ängstlich geworden. In der Sohule habe 
er gut gelernt, aber schnell vergessen. Beim Militär habe er 9 Monate 
Festung abmachen müssen wegen Desertion, zu der er durch einen 
holländischen Werber veranlasst worden sei. Er habe nur 4 Monate gedient. 
Seit November 1897 wisse er manchmal nicht, was er tue, auch sei er so gedächtnis¬ 
schwach geworden, dass er schon nach 10 Minuten vergessen habe, wonach man 
ihn gefragt habe. Als Monat gab er Dezember an, als ihm die grünen Blätter 
gezeigt wurden, verbesserte er sich auf Juni; der Wärter, der ihn zur Anstalt 
gebracht habe, habe ihm gesagt, es sei Dezember. Manchmal müsse er weinen 
oder lachen, ohne etwas davon zu wissen. Später gab er an, er habe solche Zu¬ 
stände auch beim Militär gehabt und sei häufig deshalb gemisshandelt worden. 
Nach seiner Desertion habe er 7 Monate in der holländischen Fremden¬ 
legion in Algier gedient, später wollte er in dieser Zeit in Toulon in Afrika 
gedient haben, 20 Stunden weit von Tunis. Bis zum 7. Februar habe er in 
Kaiserswerth als Krankenpfleger gedient, was er seitdem gemacht habe, wisse er 
nicht mehr. Im März sei er in das Bürgerhospital gekommen wegen Affektion der 
rechten Lungenspitze, von Anfang April an wisse er nichts mehr, auch nicht, wie 
er in die Anstalt gekommen sei. Sobald man auf seine Zustände von Bewusst¬ 
losigkeit zu sprechen kam, fing er an zu lachon, später gab er an, dass ihm 
eingefallen sei, er sei vor der Zeit, für die ihm die Erinnerung fehle, in der Cito¬ 
fahrradfabrik in Mühlheim beschäftigt gewesen. Auf dem linken Seitenwandbeinc 
fand sich eine verschiebliche, angeblich von einem Messerstiche herrührende, 
Narbe vor, die auf Druck schmerzhaft sein sollte. 

Im Mai 1898 wurde er in die Irrenanstalt zu Bonn überführt. Entwickelt 
auf die üblichen Schulfragen die seiner Erziehung und seinem Stande zukommen¬ 
den Kenntnisse. Ein Bruder sei an Krämpfen gestorben, sonstige Heredität 
negiert. Macht über sein Vorleben annehmbare und indifferente Angaben. Für 
die Zeit vom 7. 1. bis 1. 3. fehlt ihm angeblich ganz die Erinnerung. Dann habe 
er Arbeit gesucht, das Genauere könne er nicht angeben, er sei wahrscheinlich 
umhergeirrt. Seine Erinnerung fange mit dem Augenblicke an, in dem er von der 
Polizei aufgegriffen worden sei. Macht widersprechende Angaben über die Dauer 
seines Aufenthaltes in der Lindenburg, auch für die Einzelheiten des Transportes 
will er nur kümmerliche Erinnerungen haben. Zeitlich und örtlich orientiert. 
Habe 1889 einen Messerstich in den Kopf bekommen (Narbe); ohne augen¬ 
blickliche Folgeerscheinungen, leide nur zeitweise an Druckschmerz. Stellt Potus 
in Abrede, könne nicht viel vertragen. Beim Militär habe er nur einmal Arrest 
erhalten wegen Urlaubsiiberschreitung, sei sonst nicht bestraft worden. 


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298 


Dr. Mönkemoller, 


Habe öfters Anfälle, in denen er lachen oder weinen müsse, ohne zu wissen, 
weshalb. Keine Krämpfe, kein Zungenbiss, keine Enurese. Bei der körperlichen 
Untersuchung lacht Pat. albern, zurechtgewiesen unterlässt er das Lachen. Bemerkt 
spontan, er habe nicht gesohlafen, er sehe oft viele schwarze Gestalten, 
Soldaten u. s. w., die allerhand Spuk machten. 

In der Folgezeit macht er über die streitigen Tage und seinen Aufenthalt im 
Hospitale verschiedene und sich widersprechende Angaben. Beim Militär habe 
er viel Arrest gehabt wegen Urlaubsüberschreitung und Gehorsamsverweige¬ 
rung, desertiert sei er nie, sei nie aus Deutschland weg gewesen. Später wurde 
er einmal ohne Anlass erregt, drohte gewalttätig zu werden, man werde 
noch was erleben. Beruhigte sich bald, stellte die Sache später sehr harmlos dar. 
Verlangte gelegentlich nach einer anderen Station, wenn das nicht geschehe, gäbe 
es Keile, der Wärter habe gesagt, er sei auf Festung gewesen, das lasse er sich 
nicht gefallen. Das letztere sei allerdings der Fall gewesen und zwar wegen 
achtungswidrigen Benehmens und Ungehorsams gegen den Vorgesetzten 
vor versammelter Mannschaft auf der Senne, er wisse ganz genau das Datum. Er 
sei kolossal reizbar und müsse sofort loslegen, wenn ihm etwas zweimal gesagt 
werde. Aeusserte, man habe in seinem Auswurfe 3 Bazillen gefunden. Als 
man seiner Schwindsucht gegenüber sich skeptisch äusserte, lachte er sehr ver¬ 
schmitzt und sagte: Um so besser, dann ist es eben nichts mit der Schwindsucht. 
Einen Tag später leugnete er wieder, jemals auf Festung gewesen zu 
sein, einmal sei er 1895 wegen Körperverletzung im Gefängnis gewesen. Beim 
Militär seien einmal alle 22 Leute von der Stube auf ihn losgestürzt, als 
er nur eine Hose angchabt habe und hätton ihn am Tische festgebunden, der Unter¬ 
offizier habe ihn mit einer Peitsche mit 13 Riemen durchgeprügelt, nachher habe 
man ein mit Essig befeuchtetes Tuch auf die Wunden gelegt, er habe deshalb 
6 Wochen im Lazarett liegen müssen. 

Seine Mutter habe ihm häufig, wenn er gearbeitet habe, gefragt: „Was stehst 
Du so in Gedanken da?“ Beim Tode des Vaters habe ihm die Mutter oft gesagt, 
er müsse nach Grafenberg. Seine Eltern hätten ihn verstossen, weil er sich 
mit seinen Geschwistern ganz entzweit habe. Behauptet jetzt, die Gespenster, 
die er gesehen habe, seien zehnmal so gross gewesen wie er, sie hätten Trikots 
angehabt und seien in der Luft herumgeturnt; Soldaten habe er nicht gesehen. 
Ueber die Farbe der Visionen macht er widersprechende Angaben. 

Später schüttelt ersieh vor albernem kindischem Lachen aus, oft ganz 
spontan, oft im Anschlüsse an seine eigenen Erzählungen oder ganz harmlose 
Fragen. 

Zuhause sei er im Turnverein gewesen und habe 18 Ehrenpreise und 
15 Ehrenauszeichnungen bekommen. In Witten habe er einen der bekann¬ 
testen Ringer geworfen und den Titel Meisterschaftsringer für Rhein¬ 
land und Westfalen erworben und ein Trinkhorn für 71 Mark bekommen. Er 
wolle mit Eberle im Zirkus Krembser ringen, dann werde er Meisterschaftsringer 
von ganz Deutschland und bekomme 1000 Mark. 

Er selbst kam am Ende seines Anstaltsaufenthaltes spontan damit heraus, 
er habe von der I. oder H. Strafkammer des Landgerichts zu Elberfeld eine An¬ 
klageschrift bekommen. 

„R. hat hier kein Zeichen einer ausgesprochenen Geisteskrankheit dargeboten, 


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Simulation oder Geistesstörung? 


299 


im Gegenteil sich als ein Mensch gezeigt, der es mit der Wahrheit nicht genau 
nimmt. So hat er Ref. sehr oft, oft innerhalb einer Stunde belogen. Dabei recht 
jähzornig, gewalttätig, frech, unverschämt.“ Als nicht geisteskrank wurde er 
entlassen; kurz nach seiner Entlassung erschien ein Steckbrief in den Zeitungen, 
durch welchen auf ihn wegen Betrugs und Urkundenfälschung gefahndet wurde. 

4 Tage nach seiner Entlassung ging er in Düsseldorf in das Sprechzimmer 
eines Arztes und erzählte, er komme direkt von Moskau und wolle 1000 Mark 
haben. Dabei lachte er laut auf. Er wurde in das Pflegehaus zu 
Düsseldorf und von hier in die Irrenanstalt zu Grafenberg überführt. 
Hier zeigte er ein freundliches Grinsen und verfiel mehrere Male in Lachausbrüche. 
Vollkommen orientiert, machte bei der Prüfung auf Intelligenz und Merkfähigkeit 
sehr prompte Angaben. In den letzten Tagen habe er Stimmen gehört, er habe 
geglaubt, er sei im Manöver und habe einen Tornister vor sich. In der Folgezeit 
hielt er sich gut, arbeitete fleissig, nur räsonnierte er viel, drängte manchmal 
heraus und zeigte eine starke Neigung zum Renommieren. Diagnose: Verwirrt¬ 
heitszustand auf epileptischer oder hysterischer Basis. — Auf eine 
Anfrage der Staatsanwaltschaft in Elberfeld antwortete die Anstalt, Anhalts¬ 
punkte für das Bestehen geistiger Krankheit zur Zeit der Tat (1897) beständen 
nicht. — 

ln der Ilauptverhandlung wegen der Urkundenfälschung gab Dr. Brie sein 
Gutachten dahin ab, dass R. in einem Dämmerzustände auf epileptischer 
oder hysterischer Grundlage gehandelt habe, dass wahrscheinlich Alkohol¬ 
exzesse den Verwirrtheitszuständen vorausgegangen seien und dass R. intolerant 
gegen Alkohol sei. 

Nachdem dieser nach 4 Wochen einen dreiwöchigen Aufenthalt im Kranken¬ 
hause zu Mühlheim a. Rhein zelebriert hatte, verbrachte er im Beginn des 
.lahres 1899 die gleiche Zeit im Krankenhause zu Elberfeld. Von hier ent¬ 
lassen, gab er sich in einem Laden in Barmen für den Herzog von Braun¬ 
schweig aus, wollte grosse Einkäufe machen und verlangte Geld für eine 
Reise nach Palästina. Im Krankenhause zu Barmen lachte er viel ohne 
Grund und war sehr gehobener Stimmung. Vor zwei Jahren sei er vom Reck 
gefallen und deshalb nach Bonn gekommen. In der Irrenanstalt zu Grafen¬ 
berg beteiligte er sich spontan an der Hausarbeit. Er klagte viel über Kopf¬ 
schmerzen, hatte angeblich Amnesie für die Reise nach Barmen und wollte in 
der letzten Zeit viel getrunken und von Soldaten und Manöver geträumt haben. 
Bei den ernstesten Fragen grinste er. Zunächst arbeitete er fleissig, wurde später 
vorübergehend unruhig, machte sich unnütz, drängte lebhaft heraus, neckte die 
anderen Kranken und blieb von der Arbeit zurück. Den Ringkämpfer Alberti 
forderte er brieflich zum Preisringen heraus. Hielt sich darauf eine zeitlang gut; 
dann erneutes Herausdrängen. Blieb einen Tag aus der Anstalt weg. Seine Be¬ 
hauptung, er sei zu Hause gewesen, erwies sich als unwahr. Wollte bei der Ent¬ 
lassung (Februar 1899) seine Kleider nicht anerkennen, verlangte neue. Geheilt 
entlassen. 

Im August 1899 wurde er wieder durch einen Schutzmann wegen Geistes¬ 
störung dem Bürgerhospitale zu Köln zugeführt und am Tage darauf der 
Lindenburg überwiesen. Er macht ähnliche Angaben wie bei seiner ersten 
Aufnahme, er sei von Adel und ein Sohn des Herzogs von Braunschweig, infolge- 
Vierteljahrssehrift f. ger. Med. u. öff. San.-Wesen. 3. Folge. XXVIII. 2. 20 


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300 


L)r. Mönkemöller, 



dessen habe er Anspruch auf eine Anzahl öffentlicher Kassen. Wenn er entlassen 
sei. gehe er zu irgend einem Büreau und fordere 1000 Mark. Wie er in das 
Hospital gekommen sei, könne er nicht sagen, er habe in den letzten Tagen viel 
getrunken und komme dann gleich von Sinnen. „Nach der Art seiner Wahnideen 
wurde Anstaltspflege für dringend nötig gehalten. Pat. fing sofort von selbst an 
zu arbeiten. Nach 9 Tagen Ueberführung in die Irrenanstalt zu Bonn. 

Hier völlig orientiert, verlangt sofort nach Arbeit, will nur isoliert von den 
übrigen Kranken arbeiten. Habe zuletzt als Athlet 60 M. wöchentlich verdient, 
die er für alkoholische Getränke ausgegeben habe. Habe zuviel getrunken, sei 
verwirrt und in das Bürgerhospital gebracht worden, sei jetzt aber gesund. Arbeitet 
lleissig. Nach 6 Tagen als nicht geisteskrank entlassen. 

Zwei Tage später wurde er auf dem Bahnhofe in Neuss aufgegriffen, wo 
er ein Billet 1. Klasse nach Paris lösen wollte. Bei der Verhaftung wurde er 
gewalttätig und musste in das Krankenhaus zu Neuss überführt werden. Hier 
zerreisst er seine Kleider, glaubt sich von einem schwarzen Kerl angegriffen, ln 
der Irrenanstalt zu Grafenberg fängt er sehr bald an zu arbeiten, um später 
verschiedene Male mit der Arbeit auszusetzen, ln Briefen unterschreibt er sich 
als Meisterschaftsringer von Rheinland. Absentiert sich an einem Nachmittage 
mit einer Kranken in ein benachbartes Wäldchen. Hetzt gerne an anderen Kranken 
herum, setzt einmal eincBeschwerdeschrilt «auf und lässt dieanderenunterschreiben. 
Schlägt gelegentlich andere Kranke, einmal auch den Oberwärter. Abwechselnd 
gute und schlechte Zeiten. Zuletzt mehrere Konflikte mit den Waschmädohen. 
Läuft einmal fort. Gebessert Ende Januar 1900 entlassen mit der Diagnose: 
Periodische Verwirrtheitszustände auf alkoholisch - epileptischer 
Basis. 

Schreibt umgehend einen Brief an den Bürgermeister von Höhscheid: 
„Ersuche Sie freundlichst, mir 1000 Mark zu schicken, für nach Paris auf die 
Weltausstellung zu fahren, um mich anwerben zu lassen, für mit den Arabern zu 
kämpfen, sonst muss ich an den Kaiser Wilhelm nach Schloss Rolandsburg 
schreiben. Achtungsvoll: Fritz von R. 

4 Tage später geht er in Bochum auf die Polizei und giebt an, er sei 
geisteskrank und aus Grafenberg entsprungen. Wird im Friedrichs-Wilhelms¬ 
hospitale untergebracht und nach Höhsdheid transportiert, wobei ärztlich be¬ 
scheinigt wurde, dass er der Irrenanstaltsbehandlung nicht bedürfe. Unmittelbar 
darauf Aufnahme im Krankenhause zu Mühlheim a. Rhein, wo er ungefähr 
7 Wochen lang bleibt. Als von hier wegen Aufnahme mit Bonn verhandelt wird, 
lehnt die Anstalt die Aufnahme ab mit der Begründung, er habe sich dort beide 
Male als Simulant entpuppt. Es sei ein Gauner und ein gefährliches Individuum, 
dessen Aufnahme beanstandet werden müsse, da man auch diesmal nicht an seine 
Geistesstörung glaube. Wenn irgend angängig, sei er nach Brauweiler (Korrektions¬ 
anstalt) zu schicken oder es sei ihm auch damit zu drohen. Die Direktion bezweifle 
nicht, dass er sich alsdann der weiteren Behandlung durch die Flucht entziehen 
werde. — Darauf wurde er sofort entlassen. 

Sehr bald schon (Ende März) wurde er wieder in Köln durch Schutzleute 
aufgegriffen und der Lindenburg zugeführt. Erzählte hier, er sei in Wien ge¬ 
wesen und sei direkt von da nach Köln gereist. Ueberführung in die Bonner 
Irrenanstalt. 


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Simulation oder Geistesstörung? 


301 


Hier vollkommen orientiert. Heiterer Stimmung, immer zum Lachen bereit. 
Gibt über seine Vergangenheit sehr prompt und mit gutem Gedächtnis Auskunft. 
U. a. erzählt er, er habe nach Petersburg fahren wollen und erst in Rüdesheim 
bemerkt, dass er im falschen Zuge sei. Da der Zug keine III. und IV. Klasse ge¬ 
habt habe, sei 'er erste gefahren und deshalb in Köln aufgegriffen worden. Bei 
der Exploration fallt eine gewisse Neigung zu Flunkereien auf, er sagt z. B.: 
„Prinz Heinrich ist 26 Monate Kaiser von China gewesen, jetzt aber abgesetzt 
worden.“ Bittet spontan um Arbeit und fragt, ob er bald entlassen werden könne. 
Erzählt beim Spazierengehen einer Frau, er habe als Ringkämpfer 222 Preise, 
darunter goldene Medaillen erworben. Dem Arzte giebt er an, er habe — 
im April — schon im Rhein gebadet. An den Direktor schreibt er einen Brief, 
er sei sehr unglücklich, man möge ihm doch Papiere und einen schönen Anzug 
geben, da er lange genug unglücklich gewesen sei. Zum Beweise, dass er Arbeit 
bekommen könne, legt er einen Zettel „Ich bescheinige hiermit, dass der Messer¬ 
schleifer Fritz R. bei mir sofort anfangen kann, bei mir zu arbeiten. Achtungs¬ 
voll Wilhelm Becker. Ziegel-Meister!“ bei. Diese Bescheinigung hatte er 
selbst geschrieben. Im Mai 1900 erhielt er einen Gestellungsbefehl zu einer 
militärischen Uebung. Auf seinen Wunsch, sich noch etwas verdienen zu können, 
wurde er vorher als gebessert entlassen. Schon nach 14 Tagen wurde er von 
•einem Polizeisergeanten aus Dortmund wiedergebracht, wo er eine Woche im 
Luisenhospitale untergebracht gewesen war. Daraufhin wurde er sofort als 
dauernd dienstuntauglich ausgemustert. 

Bald darauf hatte er Temperatursteigerung bis zu 40 Grad, geballtes Sputum 
und blutigen Auswurf. Ueber dem rechten Schulterblatte abgeschwächten Perkussions¬ 
schall und abgeschwächtes Atmen. Verlangt noch während der Zeit der erhöhten 
Temperatur nach Arbeit. Nutzt den freien Ausgang aus, um in ein verrufenes 
Haus zu gehen, erzählt nachher, er sei auf einer benachbarten Kirmess als Athlet 
aufgetreten. Schlägt den Gärtner, der ihn zurechtweist, ins Gesicht. Wirft dann 
wiedei reichlich Blut aus. Drängt auf Arbeit, ist nicht mehr davon zurückzuhalten. 
Bittet wieder um seine Entlassung. Als nicht geisteskrank entlassen. (Sep¬ 
tember 1900.) 

Nach 3 Wochen zweiwöchiger Aufenthalt im Krankenhause zu Gelsen¬ 
kirchen, wird darauf von der Polizei in Dülmen aufgegriffen, aber auf tele¬ 
graphische Nachricht von Grafenberg aus wieder freigelassen, hierauf dreitägiges 
Gastspiel im Krankenhause zu Iserlohn, wo er sich als Luftkünstler und 
Akrobat ausgibt. Landet auf der Polizei in Unna, wird hier auf ein Tele¬ 
gramm von Höhschcid: „Wegen Simulation sofort zu entlassen“, weitergeschickt. 
Nachdem er in Gütersloh von neuem polizeilich aufgegrifTen und auf tele¬ 
graphische Mitteilung von Grafenberg wieder entlassen ist, taucht er Mitte 
November im Krankenhause zu Hamm auf. Hier gibt er an, er habe sich dauernd 
in Höhscheid aufgehalten, nur einmal sei er 14 Tage in Grafenberg gewesen und 
da hätten seine Eltern für ihn bezahlt. An den Bürgermeister von Höhscheid 
schrieb er: „Ich muss Ihnen jetzt mitteilen, dass ich jetzt mit Höhscheid nichts 
mehr zu schaffen habe. Ich bin jetzt russischer Untertan. Ich werde nächste 
Woche nach Petersburg reisen, um dort am Russischen Hofe angestellt zu werden. 
Schicken Sie mir meine Invalidenkalte und Militärpass, damit ich um Gotteswillen 
aus Deutschland herauskomme.“ Nachdem Höhscheid ihn als frechen Simulanten 

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302 


Dr. Mönkemöller, 


bezeichnet hat, der geistig gesund, arbeitsscheu und dem Trünke ergeben sei, 
erfolgt schleunige Entlassung. 

Nach 2 Tagen wird er auf dem Bahnhofe in Bielefeld veranlasst, aus dem 
Zuge auszusteigen. Behauptete, er sei von Wien nach Basel gereist und verlangte 
ein Billet von Basel nach Petersburg, da er zum Hausdiener des Zaren ernannt 
worden sei. In Basel läge Geld bereit. Von der Polizei verlangte er 1000 Mark 
zur Weiterreise, gab sonst klare und zutreffende Antworten. Ira Krankenhause 
erzählte er in der Personalvernehmung, sein Vater sei Messerfabrikant gewesen, 
seine Mutter habe Vermögen, er selbst sei Seilkünstler und gehöre der Artisten¬ 
kasse in Hannover an. Er beziehe eine Militärpension von 24 Mark und habe ein 
Vermögen von 8000 Mark auf der Sparkasse in Solingen liegen. Schreibt zwei 
Briefe an den Kaiser: 


Basel, d. 12. 10. 1900. 

Hoch Geerthe Magestät. 

Ich muss ihnen eben mitheilen, dass ich hier beim Luzifer dass ist derjenige 
der alles vcräth, gefangen bin. Ich war auf der Kreiskasse, um mir 1000 Mark 
zu holen, hat mich dieser dicker Kerl, welche der Oberst von den Veralbern ist ein¬ 
fach eingesperrt. Ich mochte sie nun bitten mir dass Geld nach hier zu schicken 
damit ich die stelle als erster Hausdiener annehmen kann. Denn ich will hier in 
Deutschland nicht mehr sein hier sind nichts als lauter Nihili-sten das sind die 
grössten Vcrräther der Welt. Ich habe schon eine Depesche von der Priefeckte 
abgegeben die scheinen mir aber die Judasse nicht abgeschickt zu haben, 
bitto sofort um Antwort. 

Damit ich um Gotteswillen aus Deutschland herauskomme. 

Achtungsvoll 

Zimmer No. 5 Fritz R. 

in Magisterhaus Aakrobat und 

zu Basel. Zahn-Ahtlet. 


Theure Magestät. 

Ich theile ihnen mit dass ich biss jetzt noch keine Antwort erhalten habe. 
Wie ist dass? Sollte vieleicht der Luziefer der Oberst von den Vcrräthern den 
Brief oder dass Geld unterschlagen haben. Es ist möglich genug. Ich bitte sie 
die Sache ganz ganz genau zu untersuchen. Den bald naht der Tag der Ver¬ 
geltung und den wehe über das Haus der Magister. Ich muss ihnen auch noch 
mitheilen dass ich wieder am Blutspucken bin und ich wieder Schmerzen im 
rechten Schulterblatt habe. Man kann aber zu niemand mehr Zutrauen haben, 
denn gede Nacht komt ein Bedienter und sieht nach mir. Was der vor hat weiss 
man auch noch nicht. Also schreiben sie mir und schicken mir dass Geld damit 
ich kommen kann. Den hier ist es nicht mehr zum Aushalten. Erstens jeden Tag 
in eine Zelle liegen auf einen Lager kein Bett eine Matratze und ein Lacken 
welches Gott weis wie lange nicht mehr gewaschen wird und gar kein frische Luft 
die ich doch so nötliig habe denn das hat mir der Herr Professor Leichenstern im 
Augusta Hospital gesagt ich musste immer in die frische Luft. Heute soll der Tag 
des Herrn sein es ist der Tag des Teufels ein Tag des lebendigen Sat&nsl 


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Simulation oder Geistesstörung? 


303 


Hiermit will ich schliessen in der Hoffnung dass ich von den VeräthePll 
wegkomme. 

Mit Achtung. 

bitte sofort Fritz R. Akrobat 

Um im Hause der verbuchten 

Antwort Magister. 

Darauf erfolgt die Höhscheider Simulationswarnung. Aerztlichc Bescheini¬ 
gung: Es sei wohl möglich, dass er ein geriebener Simulant sei, doch lasse der 
Verdacht auf Monomanie sich nicht zurückweisen. Bei seiner Ungefähr- 
lichkeit sei Irrenanstaltsbeobachtung nicht notwendig, aber zweckmässig. 

In der Irrenanstalt zu Lengcrich, die R. jetzt ihre Pforten eröffnete, gab 
er an, er sei vor einem Jahre beim Ringen mit dem Meisterschaftsringer von 
Westfalen mit dem Kopfe gegen eine Tisch kante gefallen, man habe ihn 
bewusstlos ins Krankenhaus getragen. Intelligenzprüfung hat ein sehr gutes 
Resultat. Behauptet u. a., Christus sei der Sohn des Zimmermeisters 
Kreme, das habe ihm ein Pensionär gesagt. Er habe wegen der Haus¬ 
dienerstelle dreimal an den Kaiser von Russland geschrieben, Finanzminister 
Michel habe ihm mitgeteilt, er solle sich 1000 Mark von der Sparkasse zu Basel 
holen. An den deutschen Kaiser habe er sich nicht gewandt, weil hier das Land 
der Verräter sei. Lucifer habe ihn verraten; das sei der erste Geschäftsführer an 
der Kasse von Bielefeld. Aeussert diese Ideen mehrere Tage lang, lacht dazu 
häufig explosionsartig, zieht aus seinen Wahnideen keine Konsequenzen, verfolgt 
keine Pläne. Hilft willig bei jeder Arbeit, ist unauffällig, bescheiden und zufrieden. 
Spricht später ungern von seinen Wahnideen, lenkt ab. 

Der Zug, aus dem man ihn geholt habe, habe ein Schild: Berlin —Basel ge¬ 
tragen und drei gelbe Wagen gehabt, es sei ein Extrazug für den kommandierenden 
General von Münster gewesen. Ein anderes Mal gibt er an, er sei mit einer 
Artistengesellschaft in der Gegend von Witten herumgezogen und von dort nach 
Bielefeld gefahren. Während der Militarzeit habe er in einem Jahre 270 Tage 
strengen Arrest gehabt. Will nicht gerne nach der Rheinprovinz und lieber 
nach Grafenberg als nach Bonn, ^Trotz genauer Beobachtung gibt R. keinen 
Anlass zu Klagen, und zum Schlüsse gerät er auf die Angaben eines anderen 
Kranken hin in den Verdacht, einen Paralytiker bestohlen zu haben. Nach 2 Mo¬ 
naten (Februar 1901) als nicht geisteskrank in die Irrenanstalt zu Galk- 
hausen überführt. Hier äusserte er u. a., zeitweise laufe ihm das Blut durch die 
Glieder, dann würde er aufgeregt und wild. Nach 3 Wochen wurde er als nicht 
geisteskrank wegen Ungebühr entlassen. 

Nachdem er sich im Oktober 1901 einen Tag im Krankenhause zu Dort¬ 
mund aufgehalten hatte, ging er im Januar 1902 in Tangermünde auf die 
Polizei und verlangte Geld, um zum Kaiser von Russland zu fahren, wo er Haus¬ 
diener ja werden solle. Aus dom Krankenhause in Tangermünde in die 
Irrenanstalt l’chtspringe überführt. 1900 sei er mit dem Kopfe auf eine 
Tischkantc gefallen und 14 Tage lang bewusstlos gewesen. Stimmen hätten 
ihm gesagt, er solle nach Russland gehen, umsonst habe er sich die Ohren ver¬ 
stopft. Nach einigen Tagen „Krarkheitseinsicht“. Klagt später öfters über Kopf- 


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Dr. Mönkemöl 1er, 

schmerzen. Zankt sich öfters, schlägt einmal einem anderen Kranken die Mütze 
vom Kopf. Später äussert er Flachtgedanken, ist dann wieder sehr erregt, weil 
er nicht zur Aussenarbeit darf. Einmal Hämoptoe. Als seine Verlegung in eine 
rheinische Anstalt in Frage kommt und mit Rücksicht auf seine Vorgeschichte von 
der Landeshauptmannschaft Schwierigkeiten gemacht werden, erstattet Alt dem 
Landeshauptmann der Provinz Sachsen ein Gutachten über R. Es fehle für eine 
Simulation jeder Beweggrund: irgend eine strafbare Handlung für die er die Ver¬ 
antwortung abwälzen wolle, sei nicht vorhanden, jedenfalls sei in Tangermünde 
nichts passiert. Auch habe er in der Anstalt dauernd sehr fleissig gearbeitet und 
sich sogar die schwerste Arbeit ausgesucht, sodass die Arbeitsscheu als Motiv aus¬ 
falle. Immer aus einer Irrenanstalt in die andere zu wandern, sei ein Vergnügen, 
das einem geistig Gesunden kaum Zusagen dürfe, von pathologischen Individuen 
sei aber bekannt, dass es sie immer und immer wieder nach der Anstalt ziehe, 
weil sie sich nur dort sicher und wohl fühlten. Während R. für gewöhnlich willig, 
friedfertig, arbeitsfreudig und sehr vergnügt sei, sei er einige Male tagelang ver- 
driesslich und reizbar gewesen, habe einen mürrischen, geängsteten, fast ver¬ 
wirrten Gesichtsausdruck gehabt, habe dann Händel bekommen, nicht gearbeitet 
und fortgedrängt, sodass daraus geschlossen werden musste, dass er an Sinnes¬ 
täuschungen leide. Bei seiner ziemlichen Beschränktheit sei ihm nicht zuzutrauen, 
dauernd die Miene eines Halluzianten annehmen zu können. Alt vermochte nicht, 
die Aeusserungen betr. die Stimmen, die ihn zu den merkwürdigen Handlungen 
verleiteten, als Unwahrheit aufzufassen. Ebenso erscheine ihm das plötzliche 
ziellose Durchwandern weiter Strecken, ohne dass er über die Zeit einigermassen 
genaue Angaben machen könne, krankhaft. Im Gegensätze zu Simulanten, die 
Jedem ihre Ideen vorbrächten, habe R. dem Personale gegenüber nie über seine 
Ideen gesprochen. Nach seiner Ansicht leide R. an plötzlich einsetzenden 
mitWandertrieb und Verfolgungsideen, wahrscheinlich auchGrössen- 
ideen einhergehenden Verwirrtheitszuständen. — Ob diese epileptisch 
seien, vermöge er nicht mit Bestimmtheit zu entscheiden. Dass er in der Anstalt, 
wo ihm keine Möglichkeit zum Alkoholgenusse gegeben sei, weniger zu Verwirrt¬ 
heitszuständen neige, spreche mehr für als gegen seine Auffassung. 

Daraufhin wurde R. nach der Irrenanstalt Galkhausen überführt, wo 
er 3 Wochen blieb, nichts Besonderes darbot und als nicht geisteskrank ent¬ 
lassen wurde. Ende Mai hält er sich 14 Tage wegen Geisteskrankheit im Kranken¬ 
hause zu Unna auf. Giebt hier an, er sei in Solingen geboren, sei Heizer, 
sein Vater sei Maschinenfabrikant, habe aber kein Vermögen, gesteht bei einer 
späteren Vernehmung ein, mit Solingen sei ihm ein Irrtum untergelaufen. Nach 
kurzer Gastrolle im Krankenhause zu Soest, wird er Mitte Juni 1902 in 
Paderborn wegen Landstreichens aufgegriffen, von der Staatsanwaltschaft aber 
wegen Geisteskrankheit entlassen. Nach mehreren Wochen kehrt er zurück und 
verlangt energisch Aufnahme ins Krankenhaus, will nicht freiwillig nach Höh¬ 
scheid zurück. Höhscheider Simulationsdepesche! Entlassung. 

Unmittelbar darauf Erscheinen in Detmold. Ist mit dem Expresszuge ans 
Rom angekommen, will in sein Haus (Rathaus i einziehen, ist kaiserlicher Haus¬ 
diener. morgen kommt der Kaiser. Das ärztliche Attest: „Leidet zur Zeit an Kopf¬ 
schmerzen und Grössenideen mit halluzinatorischer Verwirrtheit“ bringt ihn 
in die Irrenanstalt Lindenhaus (Lemgo). Hier bei der Aufnahme orientiert 


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Simulation oder Geistesstörung? 


und besonnen. Habe seit seiner Entlassung aus Grafenberg immer bei seiner 
Mutter gewohnt, sei dann im Zirkus Irnmaus in Minden als Zahnathlet aufge¬ 
treten, da er es nicht aushalten könne, habe er sich brieflich an den Kaiser ge¬ 
wandt. In Detmold sei er 8 Tage im Gefängnis gewesen, weil er sich eine Wohnung 
gemietet habe, man habe ihm eine Zwangsjacke angelegt, weil er so sehr geschrieen 
habe. Arbeitet unregelmässig, unter Aufsicht dagegen fest und lleissig. 
Poussiert die Küchenmädchen, vagabundiert gerne, hat mehrfach mit anderen 
Kranken erregte Wortwechsel, alle Monita helfen nicht viel. „Er schwindelt 
andern ganz unglaubliche Geschichten vor, meist Erzählungen aus seinem 
Zirkusleben, siegreich be tandone Ringkämpfe. u Zuletzt nach Solingen abge¬ 
schoben. „Er ist ein geistig abnormer Mensch, der vielfach kriminell und an¬ 
dauernder Arbeit unfähig ist, der häufig in Irrenanstalten wegen angeblicher 
Geisteskrankheit verpflegt worden ist. Es ist ausser Frage, dass R. Geistes¬ 
krankheit simuliert, um sich für einige Zeit ein behagliches sorgenfreies Leben 
zu sichern. Diagnose: Vagabund, Psychopath, Simulant. Patholo¬ 
gischer Schwindler. Vermindert zurechnungsfähig. Nachdem er das 
Krankenhans in Oberhausen mit einer fünftägigen Anwesenheit beglückt hat, 
wird er wieder der Irrenanstalt zu Galkhausen zugeführt, wo er nichts be¬ 
sonderes darbietet, sehr selbstbewusst auftritt, auf freie Bewegung drängt und nach 
14 Tagen als nicht geisteskrank entlassen wird. 

Erklärt bald darauf in einem Restaurant in Düsseldorf, wo er gegessen 
und getrunken hat und nun bezahlen soll, er sei mit dem Kaiser von Russland 
verwandt, der werde für ihn bezahlen. Telegraphische Anfrage in Höhscheid mit 
stereotyper Antwort. Trotzdem Aufnahme in der Departementsirrenanstalt 
zu Düsseldorf. Orientiert. Giebt sehr gute Auskunft. Verschmitzte Phy¬ 
siognomie. Psychopathisches Auge. Febertreibt bei der Prüfung des 
Patellarreflexes. Stellt die Zechprellerei in Abrede, sei möglicherweise wieder 
verwirrt gewesen, könne nicht sagen, was seit mehreren Tagen passiert sei, sei 
mit Kopfschmerzen auf der Polizeiwache erwacht. Will zur Heilsarmee. Habe 
beim Militär als Lazarettgehülfe gedient, sei mit 5 Tagen strengen Arrest be¬ 
straft worden, weil er einem Kranken Primtabak mitgebracht habe, sei sonst unbe¬ 
straft. Von der ganzen Strafsache in Elberfeld will er nichts wissen. Habe vor 
kurzem den Meisterschaftsringer von Mehlich geworfen und die ausgeklingelten 
1(X> Mark bekommen. Betont mehrere Male, dass er in mehreren Irren¬ 
anstalten gewesen und dass sein Grossvater geisteskrank gewesen sei. Resurne: 
Gegen Epilepsie spricht: das Fehlen jeden Anhaltspunktes aus Anamnese und 
Status präsens, die tadellose Auffassung und sichere Reaktionsfähigkeit, die 
Grössenideen, der gleichgültige Charakter, wo man Reizbarkeit erwarten sollte: 
die Art der Delikte, die schwere Charakterisierfähigkeit der früheren Anfälle. Für 
Simulation spricht: Das Verhalten der Palcllarrellcxo, die Grössenideen als iso¬ 
liertes Symptom, die starke Betonung, dass er geisteskrank gewesen sei. Diagnose: 
Simulation. (?) Epilepsie (???). Wahrscheinlich simulierte Geistesstörung. 
Versuch, sich als Epileptiker darzustellen. Vielleicht Simulation hei einem 
psy c h i sc h A b n orm e n , j ed en fa 11 s a he r n i c h t u n zurech n ungs füll i g i. S. 
des § 51. 

Nachdem R. zwischendurch in Mülheim an der Ruhr eine l’ntersuchung 
verlangt hat, wobei er seinen Vater als Kaufmann bezeichnet, geht er im Oktober 


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Dr. Mönkemöl 1er, 

1902 auf die Generalkasse in Bremen und verlangt 500 Mark, um nach Amerika 
reisen zu können. Befund des Kreisarztes: Kopfschmerzen, innere Unruhe, 
Schlaflosigkeit, Halluzinationen. Aufnahme im Jürgenasyl. Zwangs¬ 
lachen. Habe Stimmen gehört, er solle Hausdiener beim Kaiser werden. Müsse 
nach Solingen, weil seine Schwester dort schon lange krank sei. Dem Bürger¬ 
meister von Solingen schrieb er, er möge ihm einen Pass nach Amerika schicken. 
Bei dem Kaiser beschwerte er sich über die Bürgermeister von Solingen und Höh¬ 
scheid, die an seinem Unglücke schuld seien. Er möge ihm Reisegeld schicken 
oder die Bürgermeister absetzen, damit er wieder nach Solingen könne. Nach 
einem Monat entlassen. Diagnose vakat. 

Zwei Tage darauf meldet er sich beim Magistrat in Wilhelmshaven und 
verlangt 200 Mark. Er müsse nach Berlin fahren, wo er erster Hausdiener beim 
Kaiser geworden sei. Ueberführung in das Krankenhaus. Sei 1898 vom Trapez 
gefallen und darauf längere Zeit im Krankenhause gewesen. In Bremen habe 
man ihm ein Billet gekauft und ihn auf die Bahn gesetzt, dann sei er in eine Stadt 
gekommen, in der ein Geburtstag gefeiert wurde (Oldenburg). Hier habe man 
ihm wieder ein Billet gekauft. Erzählt mit vergnügt lächelndem Gesichte, er 
solle beim Kaiser die Stuben fegen, Stiefel putzen etc., er müsse mit dem D-Zug 
1. Klasse dahin. Man habe ihm 68 Mark gestohlen. (Hatte de facto 68 Pfg. bei 
sich.) Macht in der Zelle Musik, sonst ruhig. Diagnose: Paranoia, Prognose 
deshalb nicht günstig, Therapie Brom- und Jodkali. Schreibt an den Kaiser 
folgenden Brief: 

Wilhelmshafen in Nov. 1902. 

Hoch Gecrthc Magestet! 

Ich theile ihnen hierdurch mit das ich sie bald besuchen werde um Haus¬ 
diener bei ihnen zu werden. Ich war hier auf der Volkskasse um mir Geld zu 
borgen für nach Berlin zu fahren lässt mich dieser alte Esel hier in den Keller 
bringen. Aber sie können sich alle auf den Kopf stellen ich komc einmal zu ihnen. 

Achtungsvoll. 

Fritz R. 

Aakrobat Luftseilturner. 

Im Dozember 1902 Ueberführung in die Irrenanstalt zu Osnabrück. 
Orientiert, lacht viel. Erzählt spontan von seinen Sinnestäuschungen. 1898 Fall 
vom Trapez, Ueberführung nach Grafenberg. Seitdem heftige Kopfschmerzen, 
Schwindelanfälle, Resistcnzlosigkeit gegen Hitze und Alkohol, werde über jeden 
Dreck wütend, unmotivierter Stimmungswechsel. Leide zeitweise an Verwirrtheits¬ 
zuständen, die mit Angst anfingen. In diesen höre er imperatorische Männer¬ 
stimmen; so habe er jetzt in den letzten Tagen Jehova plärren gehört. Das habe 
jetzt nachgelassen, er schlafe nur schlecht. Kommt aus dem Lachen nicht heraus, 
wird dann plötzlich ohne äussere Veranlassung vorübergehend niedergeschlagen. 
Körperliche Untersuchung ohne alle Besonderheiten, insbesondere keine Gefühls¬ 
störungen, Gesichtsfeldeinengung, Druckpunkte etc. 

Schläft mehrere Nächte sehr schlecht (Beobachtung der Wache'?, will wieder 
einzelne Stimmen gehört haben. Schreibt an den Kaiser: 

Osnabrück, d. 18. 12. 1902. 

Hoch Geei t he Magestüt. 

Jch muss ihnen rnilheilen dass ich ihnen sclum drei Briefe geschrieben habe 


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Simulation oder Geistesstörung? 


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habe aber noch immer kein Antwort bekommen. Ich habe nun Tag und Nacht von 
ihnen sprechen gehört ich sollte mich melden als Hausdiener. Wäre es nun nicht 
besser wenn ich einmal zu ihnen komme um mit ihnen über die Sache zu sprechen 
damit ich auch wieder glücklich werde sie müssen es mir nicht für Uebel nehmen 
dass ich ihnen schreibe den meine Gedanken waren Tag un Nacht bei ihnen. Mir 
hat sogar eine Stimme gesagt ich war ein grosser Schafskop dass ich nicht bei 
ihnen war. Ich kann nicht anders Gott helfe mir Amen. 

Achtungsvoll 
Fritz R. 

Meisterschafts Ringkämpfer v. Rheinland u. Westfahlen. 

Heil Anstalt Osnabrück. 

Arbeitet auf eigenen Wunsch in den verschiedensten Beschäftigungsbranchen 
mit, leistet ganz ausgezeichnetes. Verträgt sich zunächst gut mit seiner Umgebung, 
ist sehr anspruchslos. Ist in übertriebenem Masse von seinen Kenntnissen und 
Leistungen eingenommen, renommiert unaufhörlich mit seinen Kunstproduktionen, 
die er zu Kaisers Geburtstag auf dem Anstaltsfeste zum Besten geben werde. Kein 
Mensch könne wie er die Messer schleifen. Im Zirkus Althoff habe ihn vor kurzem 
ein riesenstarker Neger so gequetscht, dass er Nierenblntungen bekommen habe, 
trotzdem habe er jenen so geworfen, dass er nicht mehr habe aufstehen können. 
Auf der Station versucht er stets die erste Rolle zu spielen, gibt den Kranken Be¬ 
fehle, wirft einmal einem anderen Kranken einen Teller an den Kopf. Mit den 
Wärtern sehr vertraut. Erzählt diesen spontan, er habe in Bonn zwei Wärter 
denunziert, die einen Kranken gemisshandelt hätten. Da nichts erfolgt sei, habe 
er zuerst in einem Pavillon sämtliche Scheiben eingeworfen und schliesslich an 
den Staatsanwalt geschrieben, worauf eine strenge Bestrafung erfolgt sei. Seitdem 
wolle man in Bonn nichts mehr von ihm wissen. 

Arbeitet weiter, auch als er sich eine Verletzung am Fusse zugezogen hat. 
Hält eine zeitlang an der Realität der angeblichen Sinnestäuschungen fest. In 
den Anstalten selbst habe er nie daran gelitten, höchstens in den ersten Tagen. 
Beim Militär sei er dutzende Male bestraft worden, zählt die schwersten Frei¬ 
heitsstrafen mit brüllendem Gelächter und äusserster Selbstgefälligkeit auf, er 
passe nun einmal nicht zum Soldaten. Bei einer Unterhaltung über seine Neigung 
zum Lügen bleibt er äusserst vergnügt, will davon nichts wissen, stelltauchNeigung 
zum Renommieren entschieden in Abrede. Ueber seine Zukunft beruhigt, wolle 
Hausdiener in einem Krankenhause werden, dann hörten seine Anfälle von selbst 
auf und er brauche nie mehr in eine Anstalt. 

Wirkt bei der KaiserautTührung als Zahnathlet mit, leistet trotz langer und 
angestrengter Uebungen nur die ersten Anfänge dieser Kunst. Ist auf das äusserstc 
mit sich zufrieden, werde bei der Wiederholung eine ganz neue grossai'tige Piece: 
„Den Salamander in der Hölle mit den neuesten Lichteffekten“ produzieren. Gibt 
in Wirklichkeit später die erste Produktion ohne jede Zutat zum besten. 

Hatte eine zeitlang dem Pförtner geholfen, war aber von hier fortgenommen 
worden, weil er sich zu intensiv in der Gegend der Waschküche herumgetrieben 
hatte. Als er ein paar Tage darauf Wäsche in die Waschküche bringen soll, wird 
er heftig erregt, weigert sich. Die Waschmädchen hätten mehrere Male das Kouplet 
vom kleinen Kolm hinter ihm hergesungen, um ihn zu verhöhnen. Hatte sich 
schon mehrere Tage darüber beschwert, dass man dies Lied hinter ihm hergesungen 


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Dr. Münketnöller. 


habe. Bei genauester Untersuchung Hess sich kein Anhaltspunkt dafür, dass das 
Lied wirklich gesungen worden wäre, ermitteln. War darauf mehrere Tage grimmig 
erregt, blieb bei seiner Behauptung. Es sei ein Racheakt der Waschmädchen ge¬ 
wesen, weil er eins von ihnen, das mit einem Wärter ein Verhältnis habe, nicht 
habe telephonisch mit diesem verbinden wollen. Als ein Kranker ans Bonn ein¬ 
geliefert wird, behauptet R., jenen genau zu kennen, erzählt die intimsten Details 
von ihm, obgleich er de facto nie mit jenem zusammen gewesen ist. 

Als die Ueberfübrung in eine rheinische Anstalt in Frage kommt, weigert 
sich die Rheinprovinz, auf Grund der Gutachten von Galkhausen und Bonn R. zu 
übernehmen, da er nicht an Geisteskrankheit leide. Nur dann werde er übernommen 
werden, wenn sein Zustand anders sei, als bei seiner letzten Entlassung aus Galkhausen. 
Darauf längeres Gutachten aus Osnabrück, Gegengutachten von Galkhausen, das 
dabei bleibt, dass kein Grund zur Annahme einer Geisteskrankheit, die Anstalts¬ 
bedürftigkeit bedinge, vorhanden sei. Anfrage des Landesdirektorinms zu Hannover, 
ob R. entlassen werden könne oder dauernd anstaltsbedürftig sei. Antwort, die 
Notwendigkeit der Anstaltsbehandlung sei bei Menschen, wie R. einer sei, immer 
erst klar, wenn eine längere Reihe von Misserfolgen bei den Versuchen, ihn ausser¬ 
halb der Anstalt zu halten, vorlägen. Wenn man den augenblicklichen 
Geisteszustand ins Auge fasse, sei er entlassungsfähig, doch würde die Entlassung 
zweifellos dieselben Misserfolge haben, wie bisher. Darauf wird die Entlassung 
angeordnet. Bei der Mitteilung von seiner Entlassung, auf die R. selbst zuletzt 
immer energisch gedrängt hatte, wird er zunächst sehr erregt, verlangt einen neuen 
Anzug, er werde in den ersten besten Laden einbrechen und einen Anzug stehlen, 
selbst wenn er ins Zuchthaus komme. Gebessert entlassen. (März 1903.) Zieht 
seelenvergnügt ab. In den letzten 14 Tagen hatte er über Brustschmerzen und 
allgemeines Uebelbefinden geklagt, ohne mit Arbeiten aufzuhören. In dieser Zeit 
erfolgte trotz reichlicher Nahrungsaufnahme eine Gewichtsabnahme von 10 Pfund. 

Mitte April meldet er sich als obdachlos auf der Polizeihauptwache in 
Düsseldorf. Am anderen Morgen verlangt er Reisegeld, um nach Jerusalem zu 
fahren, er wolle dort beim Botschafter Fürsten Eulenburg als Silberdiener eintreten. 
Wird daraufhin sofort der Departementsirrenanstalt zu Düsseldorf zuge¬ 
führt. Auf der Fahrt dorthin erzählt er dem Wärter, er habe jetzt seinen Zweck 
erreicht, er freue sich sehr, in die Anstalt zu kommen, da dort ein guter 
Happen gekocht würde. Dem Arzte erzählte er mit verschmitztem Lächeln, Jehovas 
Stimme habe ihn zur Reise nach Jerusalem aufgefordert. Später verneinte er 
stets die Frage nach Halluzinationen. Im übrigen sehr korrekt, arbeitete fleissig, 
erzählte mit Vorliebe, er sei bei Dr. Münkemöller in Osnabrück Silberdiener ge¬ 
wesen. Dem Personale gegenüber äusserte er mehrere Male seine Befriedigung, 
dass er sein Unterkommen habe. Die Leute draussen seien dumm, wenn sie 
hungerten. Heutzutage brauche man bloss zu sagen, man wolle zum 
Kaiser oder Minister und schleunigst käme man in die Irrenanstalt, 
wo man ein faules Leben, gutes Essen und gute Bell and lang habe. 

Nach der Auffassung der Düsseldorfer Aerzte ist R. ein ethisch defekter 
Mensch, dessen geistige M i n d erwertigkei t sich in strafrechtlicher Beleuch¬ 
tung als Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit darstelle, durch welche 
die 1 re i e W i 11 e n sbcs t i m m u n g erheblich e i nge sc h rä n k t, aber nicht völlig 
aufgehoben sei. 


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Simulation oder Geistesstörung? 


309 


Auf den Wunsch der Polizeiverwaltung entlassen. 

Im Mai 1903 kehrt R. wieder einmal in die Lin den bürg in Köln ein. 
Verhandlungen wegen Uebernahme mit der Irrenanstalt in Bonn. Antwort 
aus Bonn: R. ist ein Bummler, der sich jedesmal geisteskrank stellt, wenn er das 
Bedürfnis nach Ruhe und Wohlleben hat. Ich halte es geradezu für Unfug, den 
nichtsnutzigen Burschen einer Irrenanstalt zu übergeben und bitte jedenfalls, die 
hiesige Anstalt nicht in Betracht ziehen zu wollen. R. kann ebensogut aus der 
Lindenburg wie von hier aus entlassen werden, damit wenigstens die Kosten der 
Ueberführung gespart werden. 

Darauf Entlassung. 


Ich habe längere Zeit geschwankt, ob es angemessen sei, die 
Krankheitsgeschichte R.’s der weiteren Oeffentlichkeit zugänglich zu 
machen. Es ist ihm von den verschiedenen Seiten eine recht wechselnde 
Beurteilung zu Teil geworden, die auf einen psychiatrischen Laien 
einen zum mindesten verwirrenden Eindruck machen muss, und wenn 
der bemitleidenswerte Bürgermeister von Höhscheid, der den ganz 
exorbitanten Aktenverkehr wegen des Unterstützungswohnsitzes zu 
leiten hatte, von gelinden Zweifeln an der Unfehlbarkeit psychiatrischer 
Diagnostizierkunst erfasst worden ist, — wer mag es ihm verdenken. 
— Zudem ist es recht schwierig und im Grunde genommen vollkommen 
unmöglich, in einem in so widersprechender Weise beurteilten Falle, 
in dem man selbst schon Partei ergriffen hat, ganz objektiv zu bleiben, 
umsomehr, als eine Nichtnennung oder anonyme Bezeichnung der vielen 
Anstalten, die R. durch seine Anwesenheit erfreut hat, sich nicht, 
durchführen lässt, ohne den schon so wie so allzu verzwickten Lebens¬ 
lauf noch konfuser zu gestalten. 

Aber der Fall liegt nun einmal so, dass er einer verschiedenen 
Auslegung durchaus fähig ist. Und da die Grenzfälle eigentlich immer 
die instruktivsten sind, wird es hoffentlich zu verzeihen sein, wenn 
ich mich über jene Bedenken hinwegsetzc und dem psychischen Status 
des immerhin seltenen Falles etwas näher trete. Denn ein Mann, der 
es fertig bringt, in einem Zeiträume von ungefähr 6 Jahren 21 Mal 
in Irrenanstalten und 29 Mal in Krankenhäusern von ärztlicher Kunst 
zu profitieren, gehört sicherlich nicht zu den Alltagserscheinungen, 
zumal wenn man bedenkt, dass, wenigstens was die Krankenhäuser 
anbetrifft, die angegebene Zahl nur ein Minimum darstellt, dass man 
sich alle mögliche Mühe gegeben hat, ihm den Weg zu dem heiss- 
ersehnten Ziele zu verbarrikadieren, und dass er ausserdem bei allen 
möglichen sonstigen Gelegenheiten die Segnungen eines geordneten 
Gemeindewesens in vollstem Masse ausgenutzt hat, soweit man polizei- 


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310 


Dr. Mönkemöllcr, 


liehe Behandlung, Unterstützungen durch Armenbehörden und Berüh¬ 
rungen mit den rechtsprechenden Körperschaften unter diesen Begriff 
mit aufzunehmen gezwungen ist. 

Was nicht unwesentlich dazu beigetragen hat, die Differenzen in 
der Einschätzung des Krankheitszustandes des R. zu vergrössern, ist 
die Schwierigkeit, ihn in das Kleid einer bestimmten Diagnose einzu¬ 
zwängen, wohlverstanden immer nur unter Einschätzung der Momente, 
die als über jeden Zweifel erhaben anerkannt werden müssen. Von 
allem etwas, aber von der einzelnen Psychose nicht alle Symptome, 
so fügt er sich noch schliesslich am zwanglosesten in den Rahmen 
der Degenerationspsychosen ein, unter dem sich so viel unterbringen 
lässt und die so häufig das ultimum refugium für Kranke von R.’s 
Schlage gewesen sind. 

In erster Linie muss man bei derartigen Existenzen mit einer 
solch zerrissenen Lebensführung wohl an die angeborene geistige 
Schwäche denken. Aber ohne weiteres lässt er sich sicherlich nicht 
hier unterbringen. Von verschiedenen Seiten wird er zwar gelegentlich 
als beschränkt, kindisch und albern hingestellt. Aber im grossen und 
ganzen stimmen doch die meisten Beobachter darin überein, dass seine 
Intelligenz keine wesentliche Trübung aufweist, dass seine Schul¬ 
leistungen selbst weitgehenderen Anforderungen genügen und dass ihm 
eine nicht unbeträchtliche Portion Mutterwitz zur Verfügung steht. 
Ob damit allerdings genügendes Material beigebracht worden ist, um 
ihm in intellektueller Beziehung das normale Mass zuzuerkennen, wage 
ich zu bezweifeln, selbst wenn noch zugegeben wird, dass er ziemlich 
schnell auffasste. 

Schon die Lebensführung, die er sich auserkoren hat, weicht der¬ 
artig vom Normalen ab, und das Milieu, in welches er sich immer 
wieder hereinzudrängen sucht, ist doch ein so minderwertiges, dass 
ein anderer Mensch von auch nur mittlerer Intelligenz sich entschieden 
dafür bedanken würde, sein Leben auf diese Weise zu fristen. 
Dass R. sich immer wieder unter solchen Verhältnissen wohl und 
behaglich fühlen kann, das beweist nach meiner Ansicht seinen 
beschränkter Blick und seine Minderwertigkeit schlagender als lange 
Intclligenzprüfungen. Immer nur der Mann des Augenblicks, immer 
nur seinen plötzlichen Eingebungen folgend, für seine Zukunft nie 
auch nur eine Sekunde opfernd, so vegetiert er in sorgloser Unbe¬ 
fangenheit weiter. Dabei wird es ihm nirgendswo auf die Dauer 
möglich, die Verhältnisse, in denen er gerade lebt, so zu gestalten, 

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Simulation oder Geistesstörung? 


311 


dass sie ihm den grösstmöglichsten Vorteil bringen, und sich den 
gegebenen Situationen völlig anzupassen. Mit seiner Familie zerfällt 
er sehr bald, beim Militär ist es ihm trotz seiner manuellen Geschick¬ 
lichkeit und seiner körperlichen Kraft unmöglich, sich ordentlich zu 
führen und ohne zahllose Strafen fortzukommen; in den Anstalten 
bringt er es nicht fertig, auf die Dauer sich auf den besseren Stationen 
zu halten und beschwört durch seine törichten Streiche und sein un¬ 
überlegtes Handeln immer wieder die straffere Behandlung auf einer 
weniger behaglichen Station auf sich herauf. Wenn man nicht nur 
durch formell richtiges Denken, sondern auch durch entsprechendes 
Handeln den Nachweis seiner geistigen Leistungsfähigkeit erbringen 
muss, so ist R. uns bis jetzt diesen Beweis sicherlich schuldig ge¬ 
blieben. 

Auch dass die von ihm zum besten gegebenen Lügen eine be¬ 
sonders geschäftige Phantasie verraten hätten, kann man wohl mit 
dem besten Willen nicht sagen; seine Erfindungskraft verrät eine un¬ 
verkennbare Dürftigkeit, auf Detailmalerei lässt er sich überhaupt so 
gut wie gar nicht ein, auf eine innere Verknüpfung und Motivierung 
der einzelnen Lügen verzichtet er stets, sodass es nie die geringsten 
Schwierigkeiten macht, ihn im Kreuzfeuer der Exploration auf das 
Glatteis zu führen. 

Auf der anderen Seite muss allerdings wieder zugegeben werden, 
dass das, was er produzierte, für gewöhnlich hinreicht, ihm das Ziel, 
das er sich gesteckt hat, zu erreichen. Und dass die geistige Schwäche 
allein nicht genügt, um sein Verhalten zu erklären, mag ohne weiteres 
zugegeben werden. 

Sehr häufig hat man dann daran gedacht, dem Wesen des Kranken 
dadurch gerecht zu werden, dass man ihn im Rahmen der Epilepsie 
unterbrachte. Will man überhaupt an der Echtheit der bei ihm so 
häufig auftretonden Verwirrtheitszustände festhalten, so könnte die 
Epilepsie ja sicherlich am ungezwungensten die Erklärung seines 
bizarren Verhaltens abgeben. Die Aetiologie dieser Krankheit Hesse 
sich ja zur Not aus dem Kopftrauma herleitcn, dass R. erlitten haben 
will. Ueber die Realität dieses Traumas sind ja allerdings leider die 
Akten auch noch nicht geschlossen. Ob wir uns damit zufrieden geben, 
die objektiv nachweisbare Narbe als hinreichendes Beweismaterial für 
eine Verletzung anzuschen,' deren Schwere genügte, um in dem Orga¬ 
nismus die epileptische Diathese zu hinterlassen, das ist Geschmacks¬ 
sache, nach meiner Ansicht ist es mit diesem Trauma ziemlich windig 


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Dr. Mönkeinöller, 

bestellt. Zweckmässigerweise gehen wir an diese Verletzung mit 
tiefster Skepsis heran, umsomehr, als sich R. über den Ursprung der 
Narbe in den abwechslungsreichsten und mannigfaltigsten Erklärungs¬ 
versuchen zu ergehen beliebt. 

Im übrigen ist die bei ihm wirklich vorhandene Symptomatologie 
der Epilepsie recht dürftig. Auf den Nachweis der klassischen 
Epilepsie müssen wir von vornherein verzichten, und wenn wir nicht 
die Dämmerzustände, auf die noch zurückgekomraen werden muss, 
als ausschlaggebend anerkennen, um an einer larvierten Epilepsie 
festhalten zu können, bleibt auch für diese recht wenig übrig. Sehen 
wir von den ab und zu beobachteten Kopfschmerzen und von seiner 
angeblichen Resistenzlosigkeit-gegen Alkohol ab, so bleibt im grossen 
und ganzen aus Vorgeschichte und gegenwärtigem Vorhalten nur die 
gesteigerte Reizbarkeit übrig, die ja bei dem Kranken im ausgepräg¬ 
testen Masse vorhanden war und ihn fast in sämtlichen Anstalten in 
Konflikt mit seiner Umgebung gebracht hat. Sie und die ebenfalls 
unverkennbare Veranlagung zum unmotivierten Stimmungswechsel 
steigern sich zu manchen Zeiten in hohem Masse. In fast sämt¬ 
lichen Anstalten, in denen er sich längere Zeit aufgehalten hat, wird 
von einer ziemlich periodisch auftretenden Verschlechterung des All¬ 
gemeinverhaltens berichtet, in der er empfindlicher wurde, sich mehr 
gehen licss, nicht arbeitete, herausdrängte und den Typus der reiz¬ 
baren Schwäche in exquisitem Masse darbot. Sehen wir diese periodisch 
auft.retendc Verschlechterung des gewöhnlichen Gesamtverhaltens als 
gleichwertig mit einer der vielgestaltigen Aequivalente der Epilepsie 
an und fassen sie als die mildeste Form einer solchen auf, so könnte 
man vielleicht an dem epileptischen Grundcharakter der Krankheit 
festhalten. Ob wir auf Grund dieser immerhin ziemlich kümmerlichen 
Anhaltspunkte dazu berechtigt sind, wage ich wieder zu bezweifeln. 

Mehr noch als die Epilepsie muss nach meiner Ansicht die Hysterie 
in den Kreis der differential - diagnostischen Betrachtungen gezogen 
werden. Zunächst muss allerdings wieder zugegeben werden, dass die 
ortsüblichen Stigmata völlig ausfallen und dass die körperliche Unter¬ 
suchung rein negative Resultate darbietet. Ob aber nicht der Grund¬ 
charakter seines ganzen Wesens als hysterisch angesprochen werden 
darf und muss, darüber lässt sich schon viel eher reden. R. gehört 
zu den Menschen, bei denen das eigene Ich stets im Vordergrund der 
eigenen Betrachtungen steht, und der immer die entschiedene Neigung 
verrät, seine Person in den Mittelpunkt des Interesses zu drängen. 

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Simulation oder Geistesstörung? 


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Nimmt man noch das Flackernde und Unbestimmte in seiner ganzen 
Denk- und Handlungsweise hinzu, vergegenwärtigt man sich, dass er 
äusserst leicht beeinflussbar war und neben der unvermittelt schnellen 
Bestimmbarkeit durch äussere Verhältnisse stets der Autosuggestion 
in stärkstem Masse unterlag, bedenkt man, dass seine Stiramungslage 
alles andere als beständig war, so wird man sicher der Annahme 
eines hysterischen Grundcharakters nicht allzufeindlich gegenüberzustehen 
brauchen. 

Störend ist bei allen diesen differential-diagnostischen Experimenten, 
dass auf die subjektiven Angaben, ohne welche man bei so schemen¬ 
haft ausgeprägten Krankheitsbildern kaum weiter kommt, völlig ver¬ 
zichtet werden muss. Und auch sonst wird die Betrachtung nicht 
gerade durch die Tatsache erleichtert, dass R. vom ersten Anfänge 
seiner Anstaltstätigkeit an in den Geruch der abgefeimtesten Simula¬ 
tion geraten ist und ihr auch ohne jeden Zweifel in nicht geringem 
Masse gefröhnt hat. Infolge des eigentümlichen Lebenswandels, den 
R. sich ertrotzt hat, infolge der reichhaltigen Anstaltserfahrungen, die 
zu sammeln ihm vergönnt war, infolge der zahllosen Explorationen, 
in denen es nicht zu vermeiden war, dass das, was ihm an Erfah¬ 
rungen fehlte, ihm künstlich aufgenötigt wurde, würde es zur Zeit nur 
einem psychiatrischen Papste möglich sein, in dem Knäuel von simu¬ 
lierten und echten Krankheitssymptomen eine unfehlbare Entscheidung 
zu treffen. 

Das, was von vornherein den entschiedensten Anfechtungen nicht 
entgangen ist, sind die Verwirrtheitszustände, die ihm immer wieder 
das Sprungbrett abgeben mussten, um in die heissbegehrte Anstalt zu 
gelangen. Und wohl nicht mit Unrecht. Ich halte es allerdings nicht 
für ausgeschlossen, dass er früher, vielleicht einmal, vielleicht mehrere 
Male wirklich solche Insulte durchgemacht hat, die ihm dann später 
als Paradigma dienten, um in die Anstalt zu gelangen. Es ist wenig¬ 
stens nicht recht ersichtlich, wie er sonst zur Kenntnis eines solchen 
amnestischen Zustandes, den er bei seinen ersten Anstaltsaufenthalten 
mit leidlich grosser klinischer Wahrheit schilderte, gekommen sein 
sollte. Für die letzten Fälle aber kann die Skepsis gar nicht gross 
genug sein. 

Es ist ja zunächst sehr eigentümlich, dass es ihm trotz seiner 
vielen Anstaltsbesuche kein einziges Mal beschieden gewesen ist, vor 
einem zünftigen Psychiater diese Verwirrtheitszustände zu absolvieren. 
Man mag ja einwenden, dass bei der Natur und der kurzen Dauer 


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314 Dr. Mönkemöller, 

der Anfälle bis zum Eintreten in die Anstalt die Symptome abgelaufen 
waren und dass in der Anstalt selbst bei der völligen Abstinenz von 
Alkohol, der zweckmässigen Diät, der psychischen Ruhe und der 
trefflichen und liebevollen psychiatrischen Behandlung der Ausbruch 
der Anfälle hintangehalten worden wäre. Aber auffällig wäre das unter 
allen Umständen, und wenn die Anstaltsbehandlung wirklich solche 
therapeutische Wunder verrichtete, dann würden wir Psychiater sicher¬ 
lich mehr von einer tieferen inneren Befriedigung über unsere thera¬ 
peutischen Leistungen erfüllt werden, als das leider jetzt der Fall ist. 
Noch merkwürdiger wäre es aber, dass in der Osnabrücker Anstalt, 
als ihm nach langer Abstinenz an Kaisers Geburtstag ein relativ 
reichlicher Biergenuss gestattet wurde, der Verwirrtheitszustand sich 
von unserem Kranken ängstlich fernhielt. Dass er sich häufig bei der 
Rekapitulation der angeblich erlebten Krankheitszustände nicht kon¬ 
sequent blieb und sich namentlich bei der Feststellung der amnestischen 
Defekte in direkte Widersprüche verwickelte, das mag ihm bei der 
proteusartigen Natur dieser Zustände nicht allzu hoch angerechnet 
werden, ebensowenig wie der Umstand, dass die beliebte photographische 
Aehnlichkeit dieser Zustände in recht wichtigen Punkten viel zu 
wünschen übrig liess. Dass wir allerdings durch diese fehlende Kon¬ 
sequenz nicht gerade zu glühenden Anhängern seiner Glaubwürdigkeit 
herangezogen werden, versteht sich am Ende. Ausschlaggebender 
ist die Tatsache, dass sich diese Zustände mehrere Male — als er 
sich in polizeilicher Obhut und zwar bis dahin in ganz geordnetem 
Zustande befunden hatte —, zunächst unterdrücken Hessen und dass 
erst, als ihm die weitere Fürsorge versagt wurde, die ersehnten An¬ 
fälle prompt auf der Bildflächc erschienen. Und seine freimütigen 
Erklärungen in Düsseldorf lassen über die Natur der letzten Dämmer¬ 
zustände zum mindesten keinen Zweifel aufkommen. 

Noch klarer liegt die Sache bei den verschiedenartigen Briefen, 
in die seine psychische Krankheit ausgeströmt ist. Sie sind so gut 
wie ohne jede Ausnahme in Zeiten abgefasst worden, in denen er 
zweifellos nicht mehr unter dem Banne der angeblichen Wahnideen 
und Sinnestäuschungen stehen konnte und höchstens noch, um den 
Anstand zu wahren, an ihnen festhielt. Wenn er trotzdem gerade bei 
dieser Gelegenheit, wo er es häufig gar nicht mehr nötig hatte, um 
Glauben für seine Krankheit zu werben, in den krankhaften Ideen schwelgte, 
so zeigt das nur, dass er, wie es nicht so selten psychisch defekte 
Simulanten tun, mit seiner Krankheit, um einen harten Ausdruck zu 


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Simulation oder Geistesstörung? 


315 


gebrauchen, Schindluder trieb und die Gutmütigkeit seiner Zuhörer 
auf eine sehr unziemliche und verwerfliche Probe stellte. 

Einen nicht ganz so strengen Massstab dürfen wir an die Sinnes¬ 
täuschungen anlegen, unter denen er gelitten haben will. Nach der 
ausgiebigen psychiatrische^ Belehrung, die er in den vielen Anstalten 
erfahren hat, ist es recht schwer, ihm ein für allemal hierfür Glauben 
zu schenken. Aber schon in Uchtspringe machte er gelegentlich nach 
aussenhin den Eindruck eines Halluzinanten, und sein Benehmen in 
unserer Anstalt zur Zeit der angeblichen Verhöhnungen durch die 
Rezitation des kleinen Kohn wich in so eklatanter Weise von seinem 
sonstigen Verhalten ab, dass seine Angaben über Halluzinationen unter 
keinen Umständen als rein simuliert zurückgewiesen werden dürfen. 

Für seine Simulation spricht schliesslich noch der Umstand, dass 
R. nie sehr dafür schwärmte, in die rheinischen Anstalten überführt 
zu werden und dass er den Aufenthalt in Grafenberg, wo man ihn 
für krank hielt, dem Unterkommen in Bonn, wo man ihn nur als 
Simulanten einschätzte, ganz entschieden vorzog. Dass er trotzdem 
immer wieder die Simulationskomödie in Gegenden in Szene setzte, 
aus denen er in die degoutierten Anstalten wandern musste, obgleich 
ihm doch das ganze Reich zur Betätigung seiner Simulationskünste 
offen gestanden hätte, spricht zum mindesten nicht für seine Umsicht. 

Dass überhaupt auf der anderen Seite, selbst wenn man der 
Simulation ein noch so weites Feld einräumt, auch abgesehen von den 
oben erwähnten krankhaften Symptomen, noch genügendes Material 
übrig bleibt, um R. als einen Psychopathen erscheinen zu lassen, 
dürfte wenigstens nach meiner Ansicht als sicher gelten. Dass R. in 
Bezug auf seine Simulationsgelüste nicht immer volle Gerechtigkeit 
widerlahren ist, beweist seine Hämoptoe. Auch hierin hat man ihm 
nicht geglaubt, auch hier sollte der objektive Befund gegen seine sub¬ 
jektiven Klagen sprechen, bis dann schliesslich schwere Blutstürze 
und Temperatursteigerungen und zuletzt die rapide Gewichtsabnahme 
ihn glänzend rechtfertigten. Man kann ja schliesslich noch einwenden, 
dass auch Blutspeien künstlich gemacht werden und auch die Tem¬ 
peratur artifiziell erhöht werden kann. Aber dann wären wir bei 
Lichte besehen so tief im Reiche der Hysterie angelangt, dass wir 
für die schwere psychische Erkrankung R.’s keine weiteren Beweise 
beizubringen brauchten. 

Man hat das Ziel, welches seine Simulation erstrebte — denn 
ohne einen bestimmten Zweck gibt sich ja sicherlich kein bewusster 


Vierteljahrsschrift f. ger. Med. u. Off. San.-Wesen. 3. Folge. XXVIII. 2. 

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Simulant die Mühe, seine Umgebung so andauernd zu hintergehen —, 
darin gesucht, dass er immer in die Anstalt kommen wollte. Warum 
wollte denn nun R. immer in die Anstalt? Ich bin durchaus von den 
enormen Vorzügen unserer modernen Irrenanstalten durchdrungen. 
Aber ein solcher Schwärmer für das straffe System bin ich denn doch 
nicht, um nicht darin, dass jemand ohne genügenden Grund immer 
wieder in das Paradiesgärtlein einzudringen versucht, obgleich so viele 
Cherubs mit dem Flammenschwerte ihm den Eintritt zu verwehren 
suchen, das Sympton einer höchst eigenartigen Gemütsverfassung zu 
sehen. Ich kann mich in dieser Beziehung nur unbedingt der Ansicht 
Alt’s anschliessen, das R. zu den minderwertigen Naturen gehört, die 
von der Anstalt magnetisch angezogen werden. Dass ein gesunder 
Mensch diesen gefährlichen Sport zum Lebensberufe erwählen sollte, 
das widerspricht doch einigermasscn allen Erfahrungen. 

Aber man wird einwenden: R. hat sich den Aufenthalt in der 
Anstalt immer nur deshalb erkoren, um Wohlleben, gute Kost und 
ein angenehmes Dasein zu erringen, wie er das selbst bei mehreren 
Gelegenheiten verlauten liess. Aber wenn R. wirklich nach einem 
solchen Wohlleben lechzte, dann ist es gänzlich unerfindlich, weshalb 
er in den Anstalten immer arbeitete. Dass er gerne und spontan an 
die Arbeit heranging, dass er sich meistens sogar die schwersten 
Arbeiten auserkor, ist eine unbestrittene Tatsache. Hätte er dasselbe 
ausserhalb der Anstalt geleistet, so hätte er sich mühelos selbst er¬ 
nähren können und dabei doch nicht die freie Selbstbestimmung ent¬ 
behren müssen, die er nutzlos opferte, wenn er in die Anstalt ging. 
Man hat auch die Art seiner Arbeit geringer eingeschätzt, weil er erst 
dann dauernd und ordentlich zu arbeiten vermochte, wenn er unter 
straffe Aufsicht gestellt wurde. Aber gerade hierin spricht sich doch 
wieder seine Unselbständigkeit und Inferiorität in klarster Weise aus. 
Und wenn R. wirklich so enormen W'ert auf den Aufenthalt in der 
Abgeschlossenheit der Anstalt legte, weshalb drängte er denn, sobald 
er einmal längere Zeit in diesem Wohlleben gesessen hatte, immer 
wieder in der energischsten Weise darauf, sich in das schwere Leben 
ausserhalb der Anstalten herausstossen zu lassen. Die zerfahrene 
Haltlosigkeit, die unruhige Zerrissenheit, die den Grundcharaktcr seines 
Wesens bildet, bricht in diesem unkonse»|uenten, planlosen Handeln 
wieder auf das deutlichste durch. Hätte er es darauf abgesehen, sich 
den Aufenthalt in der Anstalt zu sichern, dann hätte er sich wohl 
zweifellos politischer benommen, er würde den Konflikten mit der 



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Simulation oder Geistesstörung? 


317 


Hausordnung aus dem Wege gegangen sein und sich vor allem u. a. 
gehütet haben, durch das Aufhetzen anderer Kranken und durch seine 
plumpen Renommagen den Wärtern gegenüber hinsichtlich seines Ein¬ 
schreitens gegen das Wartepersonal sich seine Position zu verderben. 

Vermag dieser Wunsch R.’s nicht als genügende Motivierung 
des eigenartigen Anstaltsdranges zu dienen, so kann es das üblichste 
Motiv der Simulanten, dass nämlich für sie den strafverhängenden Ge¬ 
walten gegenüber etwas auf dem Kerbholze vorliegt, noch viel weniger. 
Zwar ist R. mehrfach mit dem Gesetze in Konflikt gekommen, aber 
bei der weitaus grossen Mehrzahl der Fälle, in denen er den Frieden 
der Irrenanstalt durch sein Erscheinen zu stören versuchte, lag für 
ihn nicht der mindeste Grund vor, sich dem Staatsanwalte gegenüber 
hinter die Maske des Geisteskranken zu stecken. Das Verhalten R.’s 
bleibt nach wie vor motivlos und rätselhaft. 

Dem entspricht auch sein ganzes sonstiges Auftreten. R. unter¬ 
schied sich in manchen Punkten in nicht unerheblicher Weise von 
einem gewöhnlichen Simulanten. Schon der äussere Anblick machte 
einen psychopathischen Eindruck. Der trotzige Gesichtsausdruck, die 
unruhigen Augen, die hastigen Bewegungen, die in jedem Augenblicke 
wechselnde Innervation des Gesichtes, die sprudelnde Sprache, alles 
das vereinte sich zu einem Gesamtbilde, das dem zerrissenen Bilde 
seiner Psyche auf das Vollkommenste entsprach. Dazu kam sein 
eigentümliches Lachen, das von den verschiedenen Beobachtern als 
frech, als albern, als kindisch, als Zwangslachen, jedenfalls immer 
als der Norm nicht ganz entsprechend bezeichnet wurde. Und R. 
lachte gerade dann nicht am wenigsten, w T enn er seine Geschichten 
vortrug und Anspruch darauf machen musste, ernst genommen zu 
werden. Ein zielbewusster Simulant würde sich wohl gehütet haben, 
durch ein solches törichtes Lachen den Zweifel in dem Busen seiner 
Zuhörer zu wecken. Für seine Zielbewusstheit spricht es jedenfalls auch 
nicht, dass er sich eigentlich nie die geringste Mühe gab, konsequent 
zu bleiben, dass er sich ganz unnötiger Weise in Widersprüche ver¬ 
wickelte, dass er über die wichtigsten Sachen in demselben Atem so 
vollkommen widersprechende Angaben machte. Ein Simulant, der 
sich von seinen Behauptungen etwas verspricht, würde diese Wider¬ 
sprüche mit Leichtigkeit haben vermeiden können und sich fraglos 
viel mehr zusammengenommen haben. Und er würde wahrscheinlich 
auch mehr Wert darauf gelegt haben, dass man seinen Erzählungen 
Glauben schenkte. Darum war es aber R. nie zu tun. Im Gegen- 


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Dr. Mönkemöller, 


teil, er bewahrte auch den stärksten Anzweifelungen gegenüber eine 
unzerstörbare Heiterkeit des Gemütes und machte kaum die geringsten 
Anstrengungen, für die Wahrheit seiner Behauptungen eine Lanze zu 
brechen. 

Dasjenige Symptom, welches ohne jede'Frage am meisten dazu 
beigetragen hat, die Stellung R.’s als Simulant zu festigen und ihm 
das Wohlwollen aller der Kreise, die zu ihm in Berührung getreten 
sind, auf das Bedenklichste zu schmälern, ist der bei ihm auf das 
intensivste ausgeprägte Hang zum Lügen. Gerade dieses Symptom 
ist aber vielleicht auch imstande, den Schlüssel zu seinem Wesen zu 
geben und den Ausweg aus dem Labyrinthe, , in dem die Psychose R.’s 
sich verirrt hat, zu geben. 

Dass R. in der gröblichsten Weise überall und zu allen Zeiten 
der Lüge gehuldigt hat, braucht nicht mehr bewiesen zu werden. 
Dieser Grundzug seines ganzen Wesens ist allen Beobachtern aufge¬ 
fallen und diese Neigung hat bei ihm derartige Dimensionen ange¬ 
nommen, dass wir sie nach meiner festen Ueberzeugung als patho¬ 
logisch ansehen müssen. Ich bin mir dabei voll bewusst, dass cs ein 
böses Ding ist, bei einem Menschen wie R. die Krankhaftigkeit eines 
solchen Triebes anzunehmen. Denn das Wesen der Simulation besteht 
ja eben in der Lüge, wer Krankheit heucheln will, kann nicht in der 
Wahrheit schwelgen. Und ebenso würde ich mich hüten, die eklatante 
Neigung R.’s zum Renommieren ohne weitertfk als den Ausfluss einer 
psychischen Krankheit anzusehen. 

Aber bei R. wurzelt diese Neigung doch entschieden tiefer und 
fällt nicht mehr in den Bereich der physiologischen Gesundheitsbreite. 
Für ihn war es ein Lebensbedürfnis zu lügen. Neben der bewussten 
Lüge, die ja in ihm ohne jede Frage leider nur zu häufig den dank¬ 
barsten Vertreter fand, spielt die unbewusste Lüge eine mindestens 
eben so grosse Rolle. Dass er bei der Ausschmückung aller der 
Momente, die für seine geistige Krankheit ins Feld geführt werden 
mussten, log, ist ja selbstverständlich. Weniger ist es schon zu ver¬ 
stehen, dass er, wie schon erwähnt, sich nicht die Sache leichter 
machte, dass er, um Widersprüche zu vermeiden, sich ein und das¬ 
selbe und deshalb leicht zu behaltende Lügenprogramm zurecht machte, 
sondern dass er fast jedesmal mit neuen, wenn auch äusserst kümmer¬ 
lichen, wenig durchgearbeiteten und gerade deshalb w’enig glaubwürdigen, 
Variationen hervortrat. Man vergleiche in dieser Hinsicht u. a. nur 
die zahlreichen Abänderungen, die er sich über das angeblich erlittene 


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Simulation oder Geistesstörung? 


319 


Kopftrauma leistete. — Es kam ihm, wie erwähnt, gar nicht darauf 
an, ob er in Widersprüche geriet oder nicht. Im Verlaufe von einer 
Viertelstunde produzierte er über ein und dieselbe Sache ganz ver¬ 
schiedenartige Auffassungen; ein Fehler, den er bei seinem mehr als 
mittelguten Gedächtnisse mit der grössten Leichtigkeit hätte vermeiden 
können. 

Er log weiterhin bei Gelegenheiten, bei denen auch nicht der 
geringste Vorteil zu ersehen war, den die Lüge ihm hätte bringen 
können. Hierher gehören unter anderem die verschiedenartigen An¬ 
gaben, die er über seinen Beruf und über seine angebliche Artisten¬ 
laufbahn machte, die wechselnden Mitteilungen, die er den einzelnen 
Behörden über seine Familien- und Vermögensverhältnisse zum Besten 
gab, die widersprechendsten Angaben über seine Militärzeit und die 
sinnlosen Wahrheitsentstellungen, die er über seine verschiedenen Ab¬ 
stecher in die Irrenanstalten sich erlaubte. Auch hier scheute er 
nicht vor den fettesten Lügen zurück, selbst wenn er sich bewusst 
sein musste, dass er im nächsten Augenblicke überführt werden 
konnte. 

Und dabei produzierte er immer wieder gelegentlich Lügen, die 
durchaus nicht darnach angetan waren, seine gegenwärtige Lage zu 
verbessern. Im Gegenteil, er brachte mehrere Male bei verschiedenen 
Anlässen Lügen zu Tage, die ihn direkt in einem sehr ungünstigeren 
Lichte erscheinen lassen mussten. Es sei nur darauf hingewiesen, wie 
er von den schwersten Strafen erzählte, die er beim Militär erlitten 
haben wollte und wie er damit renommierte, wie er in Bonn den 
Aerzten und dem Wartepersonal übel mitgespielt haben wollte, ein 
Umstand, der ihn bei seiner Umgebung alles andere als empfehlen 
musste u. s. w. 

Jedenfalls gehörte er zu den Lügnern, die im vollsten Hoch¬ 
genüsse ihrem Handwerke obliegen. Das Gefühl der Ueberlegenheit, 
die er sich durch seine Spezialität im Lügen seiner Umgebung gegen¬ 
über gesichert zu haben wähnte, spricht sich wieder ganz besonders 
in den Briefen aus, mit denen er so häufig seine Mitmenschen beglückte. 

Der Charakter des pathologischen Lügners, wie er von Delbrück 
so treffend gezeichnet worden ist, vollendet das Bild der Degenerations- 
psychose, an der R. leidet. Aber leider ist es gerade dadurch so gut 
wie unmöglich geworden, das Krankheitsbild zu überschauen und wir 
werden uns damit begnügen müssen, in dem verschwommenen Sym- 
ptomenkomplexe einen psychisch defekten Menschen zu sehen, ohne 


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320 Di” Mönkemüllcr, 

die Grenzen nach Krankheit und Gesundheit hin mit wünschenswerter 
Schärfe ziehen zu können. 

Es fragt sich nun, in weichem Umfange in praktischer Be¬ 
ziehung der eigentümlichen Geistesveranlagung R.’s Rechnung getragen 
werden muss. Dass die Unsicherheit in der Beurteilung dieses Grenz- 
zustandes hier am fühlbarsten und schwersten zum Austrag kommen 
muss, liegt ja auf der Hand, und ebenso, dass es hier so gut wie 
unmöglich ist, zu einer unanfechtbaren Entscheidung zu gelangen. Am 
ersten Hesse sich noch eine Einigung erzielen, wenn die Entmündigung 
bei ihm in Frage kommen sollte, der R. sich bis jetzt nur deshalb 
noch immer entzogen hat, weil er immer nur kurze Zeit in den An¬ 
stalten verweilte. Mag man die psychischen Abnormitäten, über deren 
Vorhandensein ein Zweifel existiert, auch noch so gering einschätzen, 
die Frage, ob R. im Stande ist, seine eigenen Angelegenheiten zu 
eiten, braucht bei der enormen Plan- und Ziellosigkeit, die er bei 
seiner bisherigen Lebensführung dokumentiert hat, nicht erst durch 
lange theoretische Erwägungen entschieden zu werden. Ein energischer 
Vormund würde vielleicht von vornherein den Wandergelüsten R.\s 
doch sanfte Zügel haben anlegen können. 

Bedeutend schwieriger gestaltet sich schon die Beantwortung der 
Frage nach seiner Zurechnungsfähigkeit. Er ist ja nicht nur schon 
mit den Strafgesetzen in Konflikt geraten und hat die psychiatrische 
Sachverständigentätigkeit in Anspruch genommen, bei der Art seiner 
Krankheit ist es auch jeden Augenblick wieder möglich, dass die 
rächende Hand des Gesetzes sich auf ihn legt. Wegen Zechprellerei, 
Führung eines falschen Namens, Urkundenfälschung, Verübung groben 
Unfugs, Vagabondage, Betteins hätte er schon verschiedentlich in An¬ 
klagezustand versetzt werden können, wenn nicht die nach aussen 
dem Laien mehr als dem Fachmann als krankhaft imponierenden 
„Dämmerzustände“ von vornherein das Eingreifen des Staatsanwaltes 
verhütet hätten. Ist aber einmal den polizeilichen Behörden, unter 
deren Augen sich die Gesetzesüberschreitung abspielt, bekannt, dass 
gerade diese Zustände durchaus nicht ganz von psychiatrischer Seite 
anerkannt werden, dann kann es R. einmal sehr leicht noch einmal 
blühen, dass der Gerichtsarzt sich etwas intensiver mit seinem psy¬ 
chischen Status abgibt. Es ist das um so eher zu erwarten, als R. 
durch seine bisherigen Erfolge in grosse Sicherheit gewiegt worden 
ist und gewissermassen einen Freibrief für eventuelle Vergehen bei 
sii h zu tragen glauben darf. 


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Simulation oder Geistesstörung? 

Während man bei den ersten Dämmerzuständen bei der Beur¬ 
teilung des Angeklagten nach dem Grundsätze des „in dubio pro reo“ 
fraglos zum mindesten zu dem Ergebnisse des non liquet kommen 
musste, sind wir jetzt nach der Entwickelung, welche diese Zustände 
genommen haben, gezwungen, am besten ganz davon abzusehen, ihm 
diese Zustände zu seinen Gunsten anzurechnen. Zur Entscheidung, 
ob seine freie Willenskraft ausgeschlossen ist, kann man mit gutem 
Gewissen nur den allgemeinen Geisteszustand ins Auge fassen. Und 
ob dieser genügt, ihm die Wohltat des § 51 zu erwirken, darüber 
kann man fraglos ganz divergierender Meinung sein. Die verschiedenen 
theoretischen Wege, auf denen man diese Frage lösen könnte, will 
ich nicht einschlagen. Jedenfalls muss man immer im Auge behalten, 
dass ihm, wenigstens in der letzten Zeit, die Strafbarkeit aller dieser 
Handlungen nicht verschlossen gewesen ist und dass sie gerade mit 
seiner eigentümlichen Neigung in die Anstalten zu wandern, im Zu¬ 
sammenhang stehen. Auf der anderen Seite darf nicht vergessen 
werden, dass, wenn er auch wirklich bewusst an diese Gesetzesüber¬ 
tretungen heranging, das Mass seiner Willenskraft, dessen er bedurfte, 
um dieser Gelüste Herr zu werden, als sehr gering eingeschätzt wer¬ 
den muss. 

Die Frage hingegen, ob ihm ein grosses Unrecht geschähe, wenn 
er in eine Detentionsanstalt käme, glaube ich, können wir ohne grosse 
Gewissensbisse verneinen. Setzen wir alle die Punkte, welche seine 
geistige Verfassung als minderwertig erscheinen lassen, in Rechnung, 
so können wir ihm eine — wenn auch nur sehr bedingte Zurechnungs¬ 
fähigkeit — nicht aberkennen. Jedenfalls liegen bei ihm kaum Zu¬ 
stände von Geistesstörung oder Bewusstseinsverlust vor, die seine 
freie Willensbestimmung ganz aufheben. Die „bedingte Zurechnungs¬ 
fähigkeit“ würde wohl noch am besten seiner psychischen Verfassung 
gerecht werden. 

Wäre er im Anfänge seiner Anstaltenlaufbahn einmal für einige 
Zeit einem strengen Regime überantwortet worden, so wäre er wohl 
sicher zu einer grösseren Selbstzucht angehalten worden und hätte 
— vielleicht — seinen späteren Lebenslauf anders und zweckmässiger 
gestaltet. Möglich wäre es allerdings auch gewesen, dass die krank¬ 
hafte Seite seines Wesens in der Haft zu einer ausgeprägteren Ent¬ 
wickelung gekommen wäre. Und dann hätte sich für ihn die ganze 
Sachlage wesentlich geklärt. Wenn sein wahrer Krankheitszustand 
nicht in vollem Masse gewürdigt werden kann, so ist er übrigens in 


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Di . Mönkemöller, 


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gewissem Masse selbst daran schuld, wenn man ihm weiter nicht volle 
Gerechtigkeit widerfahren lassen kann. 

Zum Schlüsse sei noch die heikle Frage der Anstaltsbedürftig¬ 
keit kurz gestreift. Praktisch liegt die Sache wohl so, dass er noch 
häufig in Anstalten abgeliefert werden wird. Denn der beamtete Arzt, 
der ihn bei seinen „Anfällen“ zu Gesicht bekommt, wird, möge er 
über noch so eminente psychiatrische Kenntnisse gebieten, nicht umhin 
können, an die Echtheit dieser Krankheitssymptome zu glauben, da 
ihm ja die ganze Vorgeschichte unbekannt ist. 

Wie sollen sich nun die Anstalten R. gegenüber stellen? Dass 
die Anstaltsbedürftigkeit R.’s eine äusserst relative ist, muss unter 
allen Umständen zugegeben werden. Und ebenso sicher ist es, dass 
bei seinen ersten Anstaltsaufnahmen, wenn die Menge der simulierten 
Erscheinungen mit der der zweifellos vorhandenen psychischen Ab¬ 
weichungen abgewogen wurde, eine recht baldige Entlassung als das 
einzig Ratsame erscheinen musste. Denn die Fälle der krankhaften 
Symptome, die er in der Anstalt darbot, waren nicht derart, dass sie 
den Anstaltsaufenthalt gebieterisch erheischten, wie er sich in der 
Anstalt gerierte, musste man entschieden annehroen, dass er imstande 
sei, draussen für sich selbst zu sorgen. Dass die Rücksicht auf seine 
Gemeingefährlichkeit sein längeres Verweilen in der Anstalt erheischt 
hätte, dafür lagen auch nicht entfernt genügende Anhaltspunkte vor. 

Ob wir allerdings jetzt noch diese Ansicht aufrechterhalten können, 
das wird sich nicht so ohne weiteres entscheiden lassen. Genügt uns 
die theoretische Betrachtung, ob sein psychischer Zustand ihm den 
Anstaltsaufenthalt gebietet, nicht, um hierüber die Entscheidung zu 
treffen, so wird das sicherlich durch die praktische Erwägung er¬ 
möglicht, wie einerseits seinem Besten am meisten gedient wird, ohne 
dass anderseits den Interessen der Allgemeinheit geschadet würde. 

Nun hat aber das ganze Leben R.’s einmal die Richtung ge¬ 
nommen, dass er selbst sich den Weg in die Anstalt erzwingen will. 
Sehen wir ganz davon ab, welche Motive ihn hierbei leiten, so können 
wir es uns nicht verhehlen, dass es auf die Dauer ganz unmöglich 
sein wird, ihm die Erfüllung dieses Wunsches unmöglich zu machen. 
Selbst angenommen den Fall, dass ihm die Tore der Anstalten, die 
er bis dahin mit seinem Besuche beehrt hat, verschlossen bleiben. 
Dann wird R. seine Exkursionen immer weiter nach Norden, Osten 
und Süden ausdehnen, wie er das schon mit grösstem Erfolge getan 
hat. Dann wird sich nur die Menge des Schreibwerks steigern, und 

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Simulation oder Geistesstörung? v* 


die Gemeinde Höhscheid wird mit blutendem Herzen die höheren Ver- 


pflegungskosten in anderen Provinzen und Bundesstaaten weiterzahlen. 
Und da die Frage, ob R. geisteskrank und anstaltsbedürftig ist, nur von 
der Stelle getroffen werden kann, an der er sieh aufhält, so werden 
die rheinischen Anstalten, um ihn entlassen zu können, höchstwahr¬ 
scheinlich noch manche Transporte abwarten müssen, die um so teurer 
werden, je weiter er seine Kreise zieht. Und sollte immer wieder 
die Entlassung aus anderen Anstalten durchgesetzt werden können, — 
die Zeit, die er hier zubringt, wird fraglos lange genug sein, um den 
Höhscheider Stadtsäckel in unliebsamster Weise zu belasten. 


Ein Versuch, ihm einmal eine lange und ziemlich energische 
Anstaltsbehandlung angedeihen zu lassen, ist daher meines Erachtens 
schon deshalb indiziert, weil ihm auf diese Weise vielleicht noch eine 
etwas grössere Stetigkeit in seinem Wollen und Tun angequält werden 
könnte. Wenn er für lange Zeit der Selbstbestimmung völlig entraten 
muss, so wird vielleicht für später seine Sehnsucht nach Anstalts¬ 
behandlung etwas gedämpft werden. Da er, wenn man einigermassen 
den Daumen etwas auf ihn legt, ein tadelloser Arbeiter ist, der die 
Kosten seines Anstaltsaufenthaltes reichlich selbst verdient, so wäre 
dieser Versuch, in sein Leben eine grössere Stabilität zu bringen und 
dem betrübten Bürgermeister von Höhscheid seine Seelenruhe wieder¬ 
zugeben, sicher wohl indiziert. 

Wie sich das Leben dieses psychiatrischen Odysseus weiter ge¬ 
stalten wird, das liegt im Schosse der Zukunft verborgen, sein letztes 
Wort hat er zweifellos noch nicht gesprochen. 

Zum Schlüsse erfülle ich die angenehme Pflicht, Herrn Direktor 
Dr. Schneider für die freundliche Ueberlassung des Materials meinen 


verbindlichsten Dank auszusprechen. 


Nachtrag: Soweit es hier aktenkundig geworden ist, hat sich R. 
seit Mai 1903 in den Irren- und Krankenanstalten zu Hannover, Lüne¬ 
burg, Kiel, Dalldorf, Altona und Delmenhorst vorübergehend aufge¬ 
halten. 





II. 


Oeffentliches Sanitätswesen. 


6 . 

Die Bekämpfung der Impfgegnerschaft. 

Von 


l)r. Berger, Kreisarzt in Hannover. 

IOrient der K*"»ni lt l. Anstalt zur (.ewinmnig tieri'.rhen 1 nipM-tflYs. 


ln der Publikation des Council of the British Medieal-Association 
(Jan. 1898) „Facts about Small-Pox and Vaccination and The Lesson 
of a Hundred Years of Vaccination in Europc“ (1796—1896) *] werden 
Beweise gebracht für folgende Thesen: 

1. Die Sterblichkeit an Pocken ist heute viel geringer als in der 
Zeit vor Einführung der Impfung. 

2. Die grösste Verminderung der Pockensterblichkeit erfuhren die 
ersten Lebensjahre, in denen der Impfschutz der stärkste ist. 

3. In Ländern, in denen die Impfung und Wiederimpfung der 
Bevölkerung eine relativ gute ist, sind die Pocken selten. 

4. In denjenigen Bevölkerungsklassen, in welchen Impfung und 
Wiederimpfung häufig ist, sind die Pocken selten. 

5. In Orten, wo die Pocken herrschen, befallen dieselben eine 
grössere Zahl Ungeimpfter als Geimpfter, besonders Frischgeimpfter. 

6. In Häusern, die während einer Epidemie von Pocken befallen 
sind, erkranken von den geimpften Einwohnern prozentual längst nicht 
so viel als von den Ungeimpften. 

7. Die Mortalität der von den Pocken Befallenen ist in allen 
Altersklassen unter den Ungeimpften grösser als unter den Geimpften. 

8. Man kann nicht behaupten, dass ganz unabhängig von der 
Impfung die Pocken jetzt einen milderen Verlauf nehmen als in früheren 
Jahrhunderten. 

1* Besprochen von Kreisarzt Dr. Meder. Im Klinischen dahrbuch. Kitter 
Band. Jena. Gustav Fischer. 1903. 


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Die Bekämpfung der Iiupfgognerschaft. 


32 5 


9. Der Grad des durch die Impfung erreichten Schutzes entspricht 
der Sorgfalt, mit welcher die Operation ausgelührt wurde, indem 3 oder 
4 Narben besser sind als I oder 2, und eine grosse besser als eine kleine. 

10. Alle diese Tatsachen können nicht als die Wirkung von 
blossen Assanierungsmassregeln erklärt werden. 

11. Die Isolierung der Pockenfälle in den Hospitälern ist ein 
nützliches Hilfsmittel bei der Pockenbekämpfung, sie kann die Impfung 
jedoch nicht ersetzen. 

12. Die Impfung ist unschädlich. 

Fasst man das Gesamtergebnis dieser Sätze zusammen, so kommt 
man zu dem Ergebnis: „Die Schutzpockenimpfung ist ein grosser 
Fortschritt und von grösstem Nutzen in gesundheitlicher Beziehung . a 

Aber diese öeberzeugung ist keine allgemeine. Die Impfgegner, 
die in Deutschland in nicht geringer Zahl vorhanden sind, behaupten, 
dass einmal die Abnahme und der mildere Verlauf der Pocken un¬ 
abhängig von der Impfung sei, dann, dass die Impfung häufig gesund¬ 
heitliche Nachteile zur Folge hat. 

Der erste Satz der Impfgegner ist leicht zu widerlegen für jeden 
sich triftigen Beweisgründen nicht geradezu Versehliessenden. Die 
günstigen Pockenverhältnisse in Deutschland sprechen seit dem Gesetz 
vom 8. April 1874 eine deutliche Sprache im Vergleich zu England, 
in dem die Wiederimpfung nicht vorgeschrieben ist, in dem es noch 
hie und da zu kleinen Epidemieen kommt, wenn die Impfung an 
einzelnen Orten abgeschafft wird; erinnert sei an das wirklich tragische 
Geschick des Geburtsorts Jenners. 

Es sei gestattet, hier einige Worte über die kleine Pockenepidemie 
in Westfalen (November 1903 bis April 1904) in Bochum und Um¬ 
gebung einzufügen. 

Es erkrankten in der angegebenen Zeit 55 Personen an Pocken, 
an sich gewiss eine geringe Zahl. Von diesen 55 waren überhaupt 
nicht geimpft 10 = 18 pCt., 4 davon waren unter 1 Jahr alt. Bei 
zwei weiteren Personen war der Impfzustand fraglich, sie wiesen keine 
Impfnarben auf, fraglich war der Impfzustand bei einer Person, die 
aber Impfnarben hatte. 

26 von den Befallenen waren einmal geimpft, 13 zweimal, zwei 
dreimal, einer viermal; von den 26 einmal Geimpften zeigten 5 keine 
Impfnarben, bei einem waren diese zweifelhaft, von den 26 waren 
3 im Alter von 1 bis 4 Jahren, 2 im Alter von 18 bis 28 Jahren, 
21 über 30 Jahre alt. 


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Dr. Berger, 

Von den Geimpften waren in den letzten 5 Jahren geimpft 7, 
in den letzten 10 Jahren 10, sonst lag die Impfung über 16 Jahre 
zurück. 

Von den 6 Gestorbenen waren 3 nicht geimpft, bei 1 war die 
Impfung zweifelhaft, 1 war einmal, 1 zweimal geimpft; letztere war 
eine Schwester. 

Die Zahlen bedürfen keines Kommentars. 

Als Infektionsgelegenheiten werden angegeben Schule, Wäsche, 
Kirche, Krankenhaus, Waisenhaus, Milchaustragen, Schlafgänger, Her¬ 
berge. Den Ausgang der Erkrankungen bildete ein aus Mons (Belgien) 
zugereister Fabrikarbeiter. 

Die Behauptung der Impfgegner, dass die Impfung häufig gesund¬ 
heitliche Nachteile im Gefolge hat, fordert zu eingehenderen Erwägun¬ 
gen auf. 

Die Uebertragung der Syphilis, die früher wohl vorgekommen ist, 
ist zu einem Schlagwort herabgesunken, dem jede innere Berechtigung 
fehlt. Die Impfungen werden jetzt mit Kälberlymphe vorgenommen, 
und das Kalb ist für Syphilis unempfänglich. 

Da bei der Impfung Wunden gesetzt werden, welche die Integrität 
der äusseren Oberfläche des Menschen verletzen, so kann alles das im 
Gefolge der Impfung eintreten, was sich an eine Wunde anschliessen kann. 

Dem Vorbeugen müssen alle Massnahmen, wie sie bei dem An¬ 
legen einer Wunde von ärztlicher Seite wissenschaftlich anerkannt 
sind: peinliche Reinlichkeit des Operationsfeldes, peinliche Reinlichkeit 
der Instrumente, peinliche Reinlichkeit des Operateurs, dazu kommt 
hier die besondere Reinheit des Impfstoffes. 

In der Reinigung des Operationsfeldes wird erfahrungsgemäss das 
Ziel erreicht durch Waschung des Armes, mir scheint das geeignetste 
eine Waschung mit Aether zu sein. Zuviel geschieht in dieser Rich¬ 
tung, wenn das Operationsfeld nicht bei Vornahme der Operation 
wieder vollkommen trocken ist, dann wird der Zweck der Impfung 
gefährdet. Zuviel geschieht auch in der Richtung Reinlichkeit der 
Instrumente, wenn diese nach dem Glühen nicht wieder erkaltet sind. 
Einfache, ganz glatte, nicht scharfe Messer, etwa drei, die nacheinander 
gebraucht werden und ausser Gebrauch in Alkohol stehen, sind durch¬ 
aus genügend, gegen die Verwendung kleiner Messer oder Federn für 
jeden einzelnen Impfling ist gewiss nichts zu erinnern. Der Operateur 
hat sich wie zu jeder Operation zu reinigen und zu desinfizieren. 
Mir scheint noch wichtiger zu sein, dass der Operateur mit dem Impf- 


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Die Bekämpfung der Impfgegnerschaft. 


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feld gar nicht in Berührung kommt, und das ist ja in der Tat auch 
ganz unnötig und eigentlich unmöglich, die den zu impfenden Arm 
umspannende Hand des Operateurs bleibt ausserhalb des Operations¬ 
feldes. 

Der Impfstoff muss einwandfrei sein, die Erfahrungen mit keim¬ 
freiem Impfstoff sind bekannt, jeder Impfstoff muss bakteriologisch 
untersucht sein. 

Ist der Impfstoff nicht einwandfrei, so gibt sich das ja auf ein¬ 
fache Weise zu erkennen, dann macht sich die Impfung eben nicht 
bei einem einzelnen Kind unangenehm bemerkbar, da gibt immer die 
Zahl der Erkrankungen einen deutlichen Fingerzeig. 

Reinigung des Impflings, des Instrumentes, des Operateurs lassen 
sich äusserlich feststellen und nach den Anschauungen der Wissen¬ 
schaft bestimmen. 

Ob der Impfstoff den zu stellenden Anforderungen genügt hat, 
dafür gibt — abgesehen von der Gewinnung, Zubereitung und Auf¬ 
bewahrung des Impfstoffes bis zur Verwendung — ex post Aufschluss 
der Erfolg, das Ausbleiben von unangenehmen Folgeerscheinungen bei 
der Gesamtzahl oder der Mehrzahl der Geimpften. 

Da nun immer ab und zu unter den Geimpften solche gesehen 
werden, die an ihrem Arm oder allgemein andere Folgen der Impfung 
zeigen als die Menge, bei denen der Eingriff ohne Entzündung in einer 
bestimmten Zeit abläuft, so ist es eigentlich klar —- ich glaube dass 
der Begriff einer besonderen Disposition, wenn auch für einzelne Er¬ 
scheinungen wie Fieber vielleicht zutreffend, nicht derartig verallge¬ 
meinert werden kann für alle, bei denen die Impfung nicht* ganz 
regelmässig verläuft — dass für unangenehme Folgen der Impfung 
im grossen ganzen eigentlich nur einer von den zusumraenwirkenden 
Faktoren in Betracht kommt, das ist das geimpfte Kind. Ich möchte 
nicht missverstanden werden, es gibt natürlich Fälle, in denen es zu 
irgend einer Entzündung kommt, die nicht eingetreten wäre, wenn das 
Kind nicht geimpft wäre, in denen selbst die sorgfältigst ausgeführte 
Impfung diese unangenehmen Folgen hatte, wo also die Impfung als 
solche veranlassend ist, das liegt bei der ganzen Art der Impfung, 
der Setzung einer Wunde, auf der Hand; aber man muss eben auch 
da sagen, es muss doch einen besonderen Grund haben, dass dieses 
Kind anders auf die Impfung antwortete. Das Kind ist es natürlich, 
um das sich die ganze Frage handelt, soll aber die Impfgegnerschaft 
eines besseren belehrt werden, so ist unter allen bei der Impfung 


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8*28 Dr. Beiger, 

zusammen wirkenden Faktoren diesem die eingehendste Beachtung zu 
schenken. 

Der § 12 der Vorschriften, welche von den Acrzten bei der Aus¬ 
führung des lmpfgcschäfts zu befolgen sind, schreibt vor: „Die zu 
impfenden Kinder sind vom Impfarzte vor der Impfung zu besichtigen; 
auch sind die begleitenden Angehörigen von ihm über den Gesund¬ 
heitszustand der Impflinge zu befragen.“ 

Diese Bestimmung erscheint mir nicht ausreichend. Die Besich¬ 
tigung geschieht, geschieht auch die Befragung? Wie oft wird das 
Kind zu der lästigen Impfung geschickt, es hängt auf dem Arm einer 
nicht besser nachmittags zu verwendenden Grossmutter oder eines 
unmündigen Mädchens aus der Nachbarschaft. Zur Impfung müsste 
ein zur Auskunft fähiger Angehöriger des Kindes, in der Regel die 
Mutter, erscheinen. Vor allen Dingen aber hat der Impfarzt die ver¬ 
sammelten Angehörigen zu fragen, ob die Kinder ganz gesund sind 
bezw. auf vorgebrachte Klagen einzugehen. Die Angehörigen — im 
stillen sind die meisten Mütter Impfgegner! — bringen so schon genug 
Bedenken gegen die Impfung vor,Krankheiten allgemeiner und besonderer 
Art, Krankheiten und sogar Abnormitäten aller Organe. Manche 
werden sich ohne weiteres erledigen, manche nach näherem Eingehen, 
manchen wird Rechnung zu tragen sein. Die Feststellung erscheint 
mir wichtig, um etwaige unangenehme Folgen der Impfung damit 
Zusammenhalten zu können, ein Vermerk in der Liste ist zu erwägen. 
Besondere Vorsicht erscheint angezeigt bei allgemeiner Schwäche und 
Ausschlägen. 

Mit einem Vermerk versehene Kinder sind bei der Nachschau 
besonders ins Auge zu fassen auf den bisherigen Verlauf der Impfung. 
Die Angehörigen der Erstimpflinge erhalten Verhaltungsvorschriften. 
Natürlich zum Lesen! Sie. werden gelegentlich als Einwickelpapier 
verwendet, ohne vorher ihren Zweck erfüllt zu haben. Meine gelegent¬ 
liche Frage, ob sie denn die Vorschriften gelesen hätten, haben viele 
Mütter mit „nein“ beantwortet, sie hatten den Zettel säuberlich ein¬ 
gewickelt wieder bei sich und legten ihn bei der Impfung auf den 
Tisch des Hauses, manche hatten ihn für eine zweite Ladung gehalten. 

Die Vorschriften müssen im Impftermin verlesen werden. Es 
muss im Impftermin meines Erachtens mehr mündliche Verhandlung 
sein, Befragen der Angehörigen und Verlesen der Vorschriften. Be¬ 
sonderer Nachdruck isl bei dem Verlesen auf den zweiten Absatz des 
S 10 zu legen „Bei jeder erheblichen, nach der Impfung entstehenden 

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Die Bekämpfung der Impfgegnerschaft. 


32t) 


Erkrankung ist ein Arzt zuzuziehen; der Impfarzt ist von jeder solchen 
Erkrankung, welche vor der Nachschau oder innerhalb 14 Tagen nach 
derselben eintritt, in Kenntnis zu setzen“. 

Mir erscheint die ausdrückliche Betonung notwendig, dass auch 
der zugerufene Arzt dem Impfarzt Nachricht gibt. Die Einhaltung 
dieser Bestimmung, welche nicht nachdrücklich genug verlesen werden 
kann, ist ausserordentlich wichtig. 

Auf die Impfung wird alles mögliche und unmögliche bezogen, 
wie oft noch eine Lungenentzündung nach einem halben Jahre. Das 
ist menschlich, die Mutter sucht nach Ursachen und da erscheint ihr 
die unangenehme Impfung im Nebel der Vergangenheit riesengross. 

Nur die Einhaltung dieser Bestimmung kann zu einer Klärung, 
zu einer Ueberzeugung der Impfgegner oder auch der Impffreunde 
führen; uns Aerzten ist es nicht weniger um das höchste irdische 
Gut, die Gesundheit, zu tun als den Impfgegnern, wir Aerzte wollen 
nur Klarheit; um zu dieser zu gelangen, müssen die Folgen der Impfung 
für Impfanhänger und Impfgegner klar lestgestellt werden; wir Aerzte 
sind nicht voreingenommen; werden die Feststellungen ergeben, dass 
bedenkliche gesundheitliche Folgen nach der Impfung eintreten können, 
der Arzt wird der Letzte sein, der dann für sie spricht; aber ist es 
nicht auffallend, dass gerade die Aerzte lür ihrer Kinder Impfung 
eintreten? Wie oft habe ich schon meine Familie geimpft und mich 
impfen lassen bei möglichen Gefahren, es war nicht uninteressant zu 
sehen, dass nur mein Dienstmädchen die Impfung verweigerte, einmal 
wegen des Eingriffs an sich, dann aber unter Hinweis auf das Aus¬ 
gehen am nächsten Sonntag. 

Werden Impfschäden gemeldet, so har ihre Feststellung durch 
den Impfarzt im Verein mit dem Kreisarzt bezw. mit dem Regicrungs- 
medizinalrat zu erfolgen. Die Sachen müssen ans Tageslicht gezogen 
werden. 

In den Verhaltungsvorschriften für die Angehörigen der Impflinge 
(Min.-Erlass vom 6. April 1886) stand früher in § 9 „wenn die Pocken 
sich öffnen, so umwickelt man den Oberarm mit einem in Baumöl 
getauchten oder noch besser mit Vaseline bestrichenen kleinen Lein¬ 
wandläppchen“. Mir klagte eine Mutter noch in diesem Jahre, bei 
deren Kind sich um die Impfpusteln herum immer neue kleine Pustel¬ 
chen gebildet hatten, weinend, sie sei nun die einzige, die das mit 
dem Baumöl nach Vorschrift gemacht hätte, alle anderen Mütter hätten 
es nicht gemacht, und ihr Kind, sonst so gesund, sei nun das einzige 


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L)r. Berger, 


erkrankte. Wie kam sie zu den alten Vorschriften? In den neuen 
steht von Baumöl nichts. Nach meinen Erfahrungen eignet sich zum 
Verbinden der Impf blattern nur trockene aseptische Watte, ich glaube, 
dass jede Feuchtigkeit zu vermeiden ist; in § 10 der Verhaltungs¬ 
vorschriften für die Angehörigen der Erstimpflinge (nach den Beschlüssen 
und Vorschriften zur Ausführung des Impfgesetzes; Min. r Erlass vom 
28. Februar 1900) werden häufig zu wechselnde Umschläge mit abge¬ 
kochtem Wasser empfohlen. Die erwähnte Frau hatte offenbar gar 
keine Vorschriften gelesen, sondern etwas früher Geltendes gehört. 
Die Vorschriften müssen eben verlesen werden. 

Dass einige von den geimpften Kindern erkranken, ist nicht zu 
verwundern, es erkranken jahraus jahrein eine Anzahl Kinder, ob ge¬ 
impft oder nicht geimpft; ging zufällig die Impfung vorher, so muss 
diese die Schuld haben. Es bedarf des Nachweises des kontinuier¬ 
lichen Zusammenhanges mit der Impfung, und der ist nur zu erbringen 
durch die Feststellungen seitens des Impfarztes bezw. in der oben 
angegebenen Weise. 

Jeder Arzt müsste den etwaigen Zusammenhang einer Erkrankung 
mit der Impfung, die ja zu gern angegeben wird, erwägen und ge¬ 
gebenenfalls dem Impfarzt Mitteilung machen. Ist innerhalb 14 Tagen 
nach der Nachschau dem Impfarzt keine Mitteilung gemacht, hat auch 
später der behandelnde Arzt dem Impfarzt nichts mitgeteilt, so schweben 
etwaige Behauptungen der Angehörigen des Impflings in der Luft. Die 
impfgegnerische Presse, die sich ja gern von solchen vagen Behaup¬ 
tungen der Angehörigen nährt, wird auf ihre Angaben zu kontrolieren 
und zur Rechenschaft zu ziehen sein. 

Bei der Behandlung der Frage der Impfgegnerschaft möchte ich 
eines vor allem betonen: die Stellung der praktischen Aerzte. Nicht 
alleAerzte sind Impfärzte, zu wieviclen Haus- und Gelcgenheitsärzten 
kommt eine Mutter mit der Angabe, ihr Kind sei geimpft, ob die 
Krankheit nicht vom Impfen kommen könne. Hier ist es Pflicht jedes 
Arztes, mit aller Energie der beliebten Manier, alles auf die Impfung 
zu schieben, entgegenzutreten, selbstverständlich nur wenn es seine 
Ucberzeugung ist. es ist aber seine Pflicht, dann auch nicht den ge¬ 
ringsten Zweifel aufkommen zu lassen oder zu nähren, dass die Impfung 
eine Schuld treffe. Wenn ein Arzt Gegner der Impfung ist, dann 
kann er es offen sein, dann darf er auch selbst nicht impfen, die 
Anhänger der Impfung werden gern mit ihm die der Impfung in die 
Schuhe geschobenen Schäden klären, das dient nur der Sache, und 


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Die Bekämpfung der Impfgegnerschaft. 


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an dieser liegt es, nicht hie Welf, hie Waiblingen. Ich meine aber 
hauptsächlich die Liebenswürdigkeit des humanen Arztes, der den 
Klagen der Mutter schweigend oder gar mit den Worten „das mag ja 
sein“ mit irgend welchen Zusätzen der Wahrscheinlichkeit oder Un¬ 
wahrscheinlichkeit zuhört. Pflicht des Arztes, der nicht selbst über¬ 
zeugter Impfgegner ist und dann das Impfen zu lassen hat, ist es, 
allen den vagen Behauptungen von der Schuld der Impfung entgegen¬ 
zutreten nach seiner Ueberzeugung, die Rücksicht gegen den impfenden 
Arzt kommt nicht so sehr in Frage, wohl aber die Stellung gegenüber 
einer in der ärztlichen Wissenschaft anerkannten Massnahme. 

Ungemein illustrierend ist sowohl für die Sucht nach der Be¬ 
schuldigung der Impfung als für die nicht immer genügende energische 
Stellungnahme der Aerzte mein Erlebnis. 

An den Landrat gelangt eines Tages folgendes Schreiben: „Infolge 
der am 12. April vorgenoramenen Impfung meines Kindes durch den 
Kreisphysikus, ist dasselbe nach dem Gutachten des Dr. X. nicht un¬ 
bedenklich erkrankt. Ich ersuche daher Kgl. Landratsamt, dass mir 
die entstandenen und noch entstehenden Kosten resp. Verluste ersetzt 
werden.“ 

Die Auskunft des Arztes lautete: „Das Kind ist geimpft am 
22. April. Nach Angaben der Eltern begann der geimpfte Arm nach 
der Impfung stark anzuschwellen und feurigrot zu werden. Auf dem 
Höhepunkt der Schwellung war der ganze Oberarm und ein entsprechend 
grosser Teil der Achselhöhle geschwollen, ca. 3 Wochen nach der 
Impfung soll der Arm wieder blass geworden sein, dagegen ist das 
Kind weinerlicher und unruhiger Stimmung geblieben. Am 2. Juni 
wurde ich wegen Husten gerufen, konnte jedoch keine krankhaften 
Lungenerscheinungen konstatieren, fand aber in der Achselhöhle des 
geimpften Armes eine kleinhandtellergrosse, sehr schmerzhafte Drüsen¬ 
geschwulst vor, die zur Abszedierung kam und am 8. Juni geschnitten 
wurde. Eine mikroskopische Untersuchung habe ich nicht machen 
können, da ich kein Mikroskop besitze. Im übrigen habe ich nicht 
direkt geäussert, die Krankheit rührte von der Impfung her, ich kann 
wohl die Möglichkeit zugegeben haben. Eine solche Aeusserung kann 
einem entfahren in der Gaststube, wo stets so und soviel Zuschauer 
bei der Konsultation anwesend, sind, sie hat aber augenscheinlich ge¬ 
nügt, um den Bauer zur Eingabe zu bewegen.“ 

Ich enthalte mich am besten jedes Kommentars, denn besser als 
dieses Schreiben können meine noch so langen Auseinandersetzungen 

Vierteljahrsschrift f. ger. Med. u. öff. San.-Wesen. 3. Folge. XXVIII. 2. 9^ 


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Dr. Berger, 


nicht das zum Ausdruck bringen, was ich sagen will. Ich erinnere 
mich, dass vor Jahren ein praktischer Arzt einem Impfarzt, der mir 
den Brief zeigte, geschrieben hatte, seines Erachtens sei an dem Tode 
des und des Kindes die Impfung schuld. Das war Ueberzeugung; 
solche Fälle müssen eben klargestellt werden, und diese Klarstellung 
wird die Impfgegner zweifellos überzeugen, dass sie in der Verfechtung 
ungenügend begründeter Behauptungen zu weit gehen. Die Impf¬ 
gegner müssen überzeugt werden, dass schwere gesundheitliche Schädi¬ 
gungen infolge der Impfung überhaupt nicht Vorkommen, dass aber 
seltene leichte Unannehmlichkeiten nicht im Verhältnis stehen zu dem 
Segen, den die Einrichtung schafft; dass auf die Impfung aus dem 
Grunde verzichten, hiesse: nicht mehr das Zimmer verlassen und die 
Fenster öffnen, weil einen eine Biene stechen kann. 

Die Handschrift in dem oben erwähnten Schreiben an das Land¬ 
ratsamt war nicht die eines Bauern. Ich weiss es aus langjähriger 
Erfahrung, dass Eingaben vom Lande häufig vom Lehrer verfertigt 
sind. Der Lehrer stilisiert die oft krausen Angaben der Bauern, 
manchmal hat der Bauer das gar nicht sagen wollen, was der Lehrer 
geschrieben hat. Der Bauer unterschreibt, ob das nun gerade so ist 
oder nicht; prozesssüchtig, rechthaberisch ist er, er hat erst mal 
„schrcwen“. Ich habe einmal festgestellt, dass der Bauer sich dessen 
überhaupt nicht bewusst war, was er unterschrieben hatte. 

Der Lehrer muss sich dazu nicht hergeben, wenn er die erste 
Stellung einnehmen will, der Lehrer müsste sich jeder solchen agita¬ 
torischen, unberechtigte Ansprüche nährenden, Unzufriedenheit stiften¬ 
den Tätigkeit enthalten; sein Recht, wenn es das zu sichern gilt, 
findet schon jeder, dazu ist nicht der Lehrer da. 

Ich bedaure diese Tätigkeit einzelner Mitglieder des von mir ver¬ 
ehrten und hochgeschätzten Lehrerstandes und wünschte, dass aus dem 
Stande selbst heraus, der ja so stark ist, Stellung dagegen genommen 
würde. 

Notwendig ist der Unterricht des Lehrers in gesundheitlichen 
Dingen auf dem Seminar, damit er, wie in vielen anderen Sachen, 
auch über den Segen der Impfung die Bevölkerung aufklärt, während 
jetzt darüber geklagt wird, dass gerade in diesem Stande zahlreiche 
Impfgegner vorhanden sind. 

Ich kann meine Wünsche nach einer mündlichen Verhandlung in 
dem Impftermin, nach einer genauen Feststellung des Gesundheits¬ 
zustandes vor der Impfung und einer genauen Klarstellung etwaiger 


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Die Bekämpfung der Impfgegnerschaft. 


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lrapfungsfolgen nicht schliessen, ohne noch zwei mir in meiner jahre¬ 
langen umfangreichen Tätigkeit als Impfarzt gekommeneErwägungenhier 
zum Ausdruck zu bringen. In der heissen Zeit wird an sich schon wenig 
geimpft, die Impfungen empfehlen sich da nicht wegen des Verlaufs 
der Pocken, in der heissen Zeit werden Pocken leicht wund gescheuert, 
der Sommer ist die Zeit der freieren Beweglichkeit des Menschen, im 
Sommer leiden kleine Kinder häufig an Durchfällen etc., das ist zu 
berücksichtigen. Eine auffallende Beobachtung ist, dass während eines 
Gewitters der Impfstoff unwirksam werden kann (die Milch verdirbt 
während des Gewitters!), worauf auch im Sommer, besonders bei 
Fahrten des Impfarztes über Land, Rücksicht zu nehmen ist. Die 
Beobachtung steht fest, eine Erklärung ist aber bisher nicht zu geben. 
Wäre es nicht möglich, die öffentlichen Impfungen festzulegen auf die 
Monate April, Mai, September und Oktober? Endlich könnten die 
Impftermine in anderer Weise statistisch verwertet werden, wie das 
kürzlich von Hahn 1 ) vorgeschlagen und von Groth 2 ) durchgeführt 
wurde. Ich habe ein, wenn auch kleines, so doch sehr interessantes 
Material gesammelt über natürliche und künstliche Ernährung der Kinder. 

1) Statistik auf öffentlichen Impfterminen. Von Prof. Martin Hahn in 
Mönchen. Münch, medizin. Wochenschrift. 1904. No. 21, S. 923. 

2) Ans der K. b. Zentralimpfanstalt. Die wahrscheinliche Ausdehnung der 
natürlichen und künstlichen Ernährung in München und ihr Einfluss auf die Säug¬ 
lingsterblichkeit. Ebenda. S. 924. 


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Welche Anforderungen sind yom hygienischen Stand¬ 
punkte an die Unterbringung der Mannschaften auf 
Kauffahrteischiffen zu stellen? 

Von 

l>r. nud. Karl Opitz. 


Während fast alle seefahrenden Nationen in ausführlichen Gesetzen 
und Verordnungen dafür gesorgt haben, dass die Zwischendeckspassagiere 
an Bord überseeischer Dampfer in hygienisch erträglicher Weise unter¬ 
gebracht werden, sind ebenso übereinstimmend kärglich die Bestim¬ 
mungen über die Unterbringung von Mannschaften auf Kauffahrtei¬ 
schiffen. Man hat als Grund für diese grössere Fürsorge für die 
Auswanderer die folgenden Gesichtspunkte angeführt (44, 60)*]: es 
seien dies des Seelebens ungewohnte Individuen, aus allen Altersklassen 
und Geschlechtern zusammengewürfelt, vielfach schwach, kränklich, 
während sich die Mannschaft der Seeschiffe nur aus Leuten rekrutiert., 
die an sich eine für ihren Beruf unerlässliche Kraft und Zähigkeit 
besitzen, die an die Unbilden der Seefahrt gewohnt, durch dieselben 
noch gestählt sind, und sämtlich im rüstigsten Mannesalter stehen. Man 
hat bei diesen Erwägungen ausser Acht gelassen, dass die Auswanderer 
an Bord eine ihnen zum Teil ungewohnte, und deshalb doppelt wohl¬ 
tuende Untätigkeit gemessen, die durch das psychische Moment der 
Heiseerwartung nur teilweise paralysiert werden dürfte, und dass sie 
heutzutage wenigstens zum grössten Teil nur eine bis zwei, höchstens 
vier Wochen an Bord sind, während der Mannschaftsraum für das 
Personal jahrelang, ja häufig zeitlebens derjenige Ort ist, wo sich 
dasselbe von seinem überaus aufreibenden Dienste erholen soll. Anstatt 

1) Dio erste Zahl bezeichnet die Nummer des zitierten Werkes in der am 
Schlüsse folgenden Quellenzusammenstellung, die zweite die betreffende Seite. 


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Welche Anforderungen sind vom hygienischen Standpunkte etc. 335 

also, wie bislang, nur die Zwischendeckspassagiere vor unhygienischer 
Unterbringung zu schützen, erweist es sich als notwendig, dem Wohn- 
raume der Mannschaft genügende Beachtung zu schenken, ja für diesen 
höhere hygienische Forderungen zu stellen, als sie zur Zeit für erstere 
üblich sind. 

Die Frage, ob denn überhaupt die Gesundheitsverhältnisse der 
seemännischen Bevölkerung ungenügend sind, ob man sich nicht viel¬ 
mehr mit den bestehenden Verhältnissen begnügen könne, hatNocht 
(35, 152 ff.) auf Grund des ihm wie keinem anderen zu Gebote stehen¬ 
den Materials genügend entschieden; nach ihm ist die Sterblichkeit 
an vermeidlichen Krankheiten unter den Seeleuten, trotz des ausge¬ 
suchten Menschenmaterials, grösser als in der gleichaltrigen Bevölke¬ 
rung an Land. 

Welche Anforderungen sind denn nun vom hygienischen 
Standpunkte an die Unterbringung der Mannschaften auf 
Kauffahrteischiffen zu stellen? An sich dieselben, die man an 
Land an eine gesunde Wohnung stellen kann, nur mit der Einschränkung, 
dass manche Punkte durch die eigenen Verhältnisse der Seefahrt nicht 
unwesentlich abgeändert werden. Es wird also zuerst der Baugrund 
und das Material der W'ohnung in Erwägung zu ziehen sein, sodann 
die Beschaffung genügender guter Luft, einer entsprechenden Tem¬ 
peratur und ausreichenden Lichts, und endlich wird die innere 
Einrichtung, soweit sie als Teil der Wohnung in Betracht kommt, 
und die hygienischen Bedürfnissen des täglichen Lebens dienenden 
Nebenräume zu besprechen sein. 

Der Baugrund der Mannschaftsräume ist unmittelbar das Schiff, 
mittelbar das dasselbe jeweilig umgebende Wasser. Um mit dem 
weiteren Begriffe zu beginnen, so sind des letzteren Verhältnisse so 
ungemein wechselnd, dass es hiesse, eine Klimatologie der gesamten 
Küsten und Meere der Erde schreiben, wollte man dieselben berück¬ 
sichtigen. Gerade infolge dieses innerhalb der weitesten Grenzen der 
Möglichkeit liegenden Wechsels werden an die Schiffshygiene besonders 
schwierige Anforderungen gestellt, indem die Wohnung an Bord sämt¬ 
liche nur denkbare Kliraate, das des Gebirges und das binnenländischer 
Ebenen ausgenommen, in ein möglichst gleichbleibend gemässigtes 
verwandeln soll. Ein gemeinsames Merkmal dieser Klimata ist der 
hohe Feuchtigkeitsgehalt der Luft, gegen den zu schützen der Unter¬ 
kunftsraum meist ausser Stande ist, während es hauptsächlich Sache 
der Kleidungshygiene ist, seinen schädlichen Folgen vorzubeugen. 


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336 


Dr. Karl Opitz, 


Das Schiff ist insofern als Baugrund nicht einwandfrei, als 
sein Material, seine Ladung, vor allem seine nicht nach aussen ent¬ 
leerten Abfallstofie gesundheitliche Gefahren in sich bergen können. 

Das Material an sich ist nur bei den aus Holz gebauten Schiffen 
bedenklich, indem es fault und in seinen zahllosen Ecken und Ritzen 
schädlichen Lebewesen einen unnahbaren Schlupfwinkel gewährt. Bei 
eisernen Schiffen liegen in dieser Beziehung die Verhältnisse ungleich 
günstiger: das Material verändert sich nicht in gesundheitgefährdender 
Weise, die Winkel und Ritzen sind bedeutend zugänglicher und weniger 
zahlreich. 

Was die Ladung betrifft, zu der man Kohlen, Proviant und 
andere Vorräte hinzuzählen kann, so würde es zu weit führen, alle 
möglicher Weise aus derselben drohenden Gefahren aufzuzählen; lassen 
sich dieselben nicht beseitigen, ehe die Ladung an Bord gebracht wird,, 
so wird man dieselben doch wesentlich verringern können, indem man 
sie auf einem eisernen Frachtschiffe durch wasserdichte Schotte mög¬ 
lichst getrennt von den Mannschaftsräumen, also beispielsweise im 
hinteren Teile des Schiffs, verstaut, so dass auch die von solcher 
Ladung unmittelbar oder mittelbar durch das Bilgwasser produzierten 
Abgase nicht mit dem bewohnten Teile des Schiffs in Berührung 
kommen, sondern während der Fahrt hinten abgeweht werden. 

Am bedenklichsten sind jedoch die Ab fall Stoffe, Teile vom 
Proviant, Reste der Ladung, Unrat, Scheuerwässer u. dgl., die, bei 
Holzschiffen mit reichlich durchgesickertem Meerwasser, bei Dampfern 
mit Maschinenöl und Kühlwasser der Drucklager gemengt, sich im 
Schiffsboden als Bilge- oder Sodwasser ansammeln. Man wird 
natürlich eine Verunreinigung dieses Raumes möglichst zu verhüten 
suchen, und auf eisernen Schiffen soll dieser Bilgraura bei gehöriger 
Aufsicht tatsächlich trocken gehalten werden können (28, 191), mit 
Ausnahme natürlich seiner zur Maschine gehörigen Abschnitte. Das 
Sodwasser wird allgemein als Brutstätte verschiedener Krankheiten 
angesehen (3; 39, 246), mit welchem Rechte, ist hier nicht der Ort, 
zu entscheiden. Jedenfalls sind die Wohnräume der Mannschaft in 
jeder Weise vom Bilgraum abzuschliessen, schon wegen des daselbst 
produzierten und nach oben steigenden, höchst übelriechenden Schwefel¬ 
wasserstoffs und anderer, unter Umständen gefährlicher Gase (Ammoniak, 
Kohlensäure, Kohlenwasserstoff), aber auch um eine Verschleppung 
von etwa vorhandenen Krankheitserregern aus dem Sodwasser durch 
Hatten, Kakerlaken u. dgl. zu verhüten. Auch auf Holzschiffen gelingt 

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Welche Anforderungen sind vom hygienischen Standpunkte etc. 


837 


ein genügender Abschluss durch Verpechung und Abkittung der die 
Kommunikation bildenden Spalten; auf Eisenschiffen schliessen die 
Decks an sich luftdicht und ist nur durch die in den Bilgeraura 
mündenden Abflussrohren und durch die Luken eine Kommunikation 
möglich; denn bei neueren Schiffen dürfte es wohl nicht mehr zu finden 
sein, dass der Bilgeraum zu Ventilationszwecken absichtlich mit be¬ 
wohnten Räumlichkeiten in Verbindung steht (40, 10), eine Einrichtung, 
die übrigens sehr weise von den Bewohnern der zu ventilierenden 
Räume durch Verkleben der Ventilationsöffnungen mit Papier aufge¬ 
hoben zu werden pflegte. Das Aufsteigen belästigender Gase lässt 
sich bei den Abflussrohren verhindern durch eingeschaltete, selbsttätige 
Ventile (Siphons sind wegen der Schwankungen des Schiffs ungenügend), 
unterhalb deren ein bis 2—3 m über Deck verlängertes Nebenrohr 
abzweigt; bei den Luken genügt eine gute, in mehreren Schichten 
wiederholte Verschalkung mit Presennings, durch die bei anderweiter 
Ventilation des Lade- und Bilgeraums keine Gase austreten. An der 
Forderung, dass der Sodraum möglichst rein oder gar trocken gehalten 
und vor Verunreinigungen geschützt, sowie in gewissen Zwischenräumen 
geleert, gereinigt und desinfiziert werden muss (27, 199; 32), ändern 
die beschriebenen Vorsichtsmassregeln nichts; wie dies zu geschehen 
hat, berührt das gegenwärtige Thema nicht. 

Hat man so die aus dem Baugrund unter Umständen entstehen¬ 
den Schädlichkeiten nach Möglichkeit ausgeschlossen, so entsteht die 
neue Frage: wo auf dem Schiffe sollen die Mannschaften untergebracht 
werden? Da es sich nur um Handelsschiffe handelt, so kann man 
sagen, dass die Mannschaft zur Zeit regelmässig im vorderen Teile 
des Schiffs auf Deck, häufig in einem „Back“ genannten Aufbau, 
untergebracht wird; wie regelmässig, beweist die seemännische Rede¬ 
wendung: „als Matrose vor dem Mast fahren“, vor dem Mast im 
Gegensatz zu den mittschiffs oder hinten im Schiff logierten Steuer¬ 
leuten. Erst die modernen Riesendampfer haben darin eine Wandlung 
gebracht, als die Besatzung zu zahlreich wurde, um in der Back Platz 
zu finden. Für normale Verhältnisse ist gegen die beschriebene Lage 
des „Volkslogis“ nichts einzuwenden, zumal wenn es in einem Auf¬ 
bau über Deck liegt; der hauptsächlichste Nachteil dieses Ortes ist 
der, dass hier die stampfenden Bewegungen des Schiffes bei See¬ 
gang am unangenehmsten bemerkbar sind und weil hier aus demselben 
Grunde die Fenster (Ochsenaugen) am häufigsten geschlossen sein 
müssen. 


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« 


388 Dr. Karl Opitz, 

Eigentlich sollten sich in der Back höchstens die Räume des 
speziell seemännischen Personals, nicht auch die der Heizer befinden. 
Die Köche, Stewards u. dgl. werden an sich schon meist in derselben 
Gegend des Schiffes logiert, wo die Kajüts- und Offiziersräumlichkeiten 
liegen, und dies ist sicher nicht der schlechteste Platz an Bord. Aber 
auch die Heizer sollten in die Nähe ihrer Arbeitsstätte quartiert wer¬ 
den. Nocht (35, 170) ist zwar gegenteiliger Ansicht, weil die Heizer¬ 
logis in der Nachbarschaft der Maschinen- und Heizräume meist heiss, 
dunkel und schwer zu ventilieren seien; da man aber die genannten 
Missstände beseitigen kann, ist doch die erwähnte Lage vorzuziehen: 
denn der Heizer kommt nach Schluss seiner „Wache“ mangelhaft be¬ 
kleidet aus der heissen Atmosphäre des Maschinen- oder Heizraums 
an Deck und muss nun, wie die Verhältnisse jetzt meist liegen, selbst 
wenn eiskalte Wellen das Deck überspülen und scharfer Wind ver¬ 
spritztes Wasser durch die Luft peitscht, ungeschützt über Deck gehen, 
um das in der Back belegene Bad und Logis aufzusuchen, wobei es 
nur zu verwundern ist, dass nicht noch viel mehr Leute an den unter 
ihnen weitverbreiteten Rheumatismen leiden. Auch die Forderung 
Kulenkampf’s (28, 227) „eigene Waschhäuser“ (für die Heizer), 
„die, ohne dass das zugige Deck überschritten w r erden braucht, zu 
erreichen sind“, einzurichten, genügt nicht, denn ein Heizer wird auch 
das Waschhaus höchst mangelhaft bekleidet verlassen, wenn er nachts 
unmittelbar nach dem Bade zum Schlafen geht. Dass man auch in 
der Nähe des Heizraums und der Maschine erträgliche Unterkunft 
finden kann, beweisen die Kabinen der Maschinisten, und es wird mit 
der Quartierung der Heizer in die Mitte des Schiffes wohl vereinbar 
sein, dass dieselben zur Kompensation für ihre unhygienische Arbeits¬ 
stätte und zur nötigen Abkühlung in der arbeitsfreien Zeit (35, 170) 
„die hellsten, luftigsten“ Wohnräume (53, 112) bekommen. 

Weit schwieriger, als auf kleinen und mittleren Schiffen mit nicht 
wesentlich mehr als 50 Mann Besatzung, gestaltet sich die Unter¬ 
bringung von einem 600 Köpfe zählenden Personal (11, 19) auf einem 
modernen Schnelldampfer, dessen gute und leidliche Räumlichkeiten 
sämtlich von den noch viel zahlreicheren Passagieren beansprucht 
werden. Ueberdies bedingt auf ihnen die immer gesteigerte Fahrt¬ 
geschwindigkeit grössere Maschinenanlagen und geringere Wasserver¬ 
drängung, wodurch im Interesse der Rentabilität Raumbeschränkungen 
cintreten müssen (6, 151). Als einigermassen kompensierende Momente 
sind anzuführen, dass Schnelldampfer mit technischen Hilfsmitteln 

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Welche Anforderungen sind vom hygienischen Standpunkte etc. 339 


reichlichst ausgestattet sind, dass sie nur verhältnismässig kurze Reisen 
machen, und sich — wenigstens was die deutschen Schiffe betrifft — 
nicht ausserhalb gemässigter Klimate bewegen. Hier wird man sich 
also in Bezug auf die Lage des Leutelogis mit den bescheidensten 
Forderungen begnügen müssen, die auch sonst unerlässlich und eigent¬ 
lich selbstverständlich sind: Die Räume sollen mit allen nur möglichen 
Mitteln abgeschlossen und isoliert werden vom Bilgeraum, von den 
Heiz- und Maschinenräumen, den Kohlenbunkern, dem Laderaum, aber 
auch den Provianträumen und dem Vorratsraum (Kabelgatt), das, wie 
vielfach üblich, ein Deck unter dem Logis belegen, nur von diesem 
aus zugänglich ist, und seine gesamte üble Abluft, sowie sein Unge¬ 
ziefer (Ratten) an dasselbe abgibt. Ferner sollte das Logis wenigstens 
mit den Ochsenaugen über der Wasserlinie liegen, wie dies z. B. für 
Auswandererunterkunftsräume vorgeschrieben, jedoch selbst bei modern¬ 
sten Schiffen nicht immer der Fall ist (20, 332). 

Als Baumaterial des Mannschaftslogis war wenigstens in mancher 
Beziehung das Holz dem Eisen vorzuziehen. Da ein Schiff ebensogut 
im nordischen Winter wie in den Tropen der Mannschaft ein künst¬ 
liches, weniger grossen Schwankungen unterworfenes Klima bilden soll, 
erfüllte das Holz als schlechter Wärmeleiter diese Aufgabe besser als 
Eisen. Aus demselben Grunde machte sich auf Holzschiffen die Hitze, 
die von der Maschine ausgeht, nicht so lästig überall an Bord be¬ 
merkbar. Nun aber Eisen und Stahl zufolge ihrer sonstigen vorzüg¬ 
lichen Eigenschaften in weitaus den meisten Fällen zur Verwendung 
kommen, muss man eben in dem einen Punkte anderweit Abhilfe zu 
schaffen suchen. 

Als Fussboden sollte das Eisen nie ohne dicke Holzbebohlung 
zur Anwendung gelangen; dieselbe wird zweckmässig zur leichteren 
Reinigung, sowie um Feuchtigkeitsansammlungen und Staubentwicklung 
hintanzuhalten, mit Leinöl oder Dustless-Oil getränkt; noch vorteil¬ 
hafter wäre wohl ein Linoleumbelag. Die Forderung, dass der Fuss¬ 
boden, wie überhaupt das ganze Logis durchaus sauber und trocken 
zu halten und häufig zu reinigen ist (29, 174), berührt unser Thema 
nicht unmittelbar. 

Als Decke ist Eisen, wenn sich noch andere Räume darüber 
befinden, nicht zu beanstanden; als oberstes Deck ist jedoch das 
blosse Metall, wenn unmittelbar darunterliegende Räume bewohnt 
werden sollen, nicht zu verwenden, weil es sich unter Umständen zu 
stark erwärmt und abkühlt. Für Auswandererschiffe ist vorgeschrieben, 


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340 


Dr. Karl Opitz, 


dass unter einem Eisendeek nur dann Passagiere befördert werden 
dürfen, wenn dasselbe 7 cm dick mit Holz bebohlt ist (53, 360); 
eine ähnliche Bestimmung für Mannschaftsräume wäre wünschenswert. 
Der Vorschlag Bourdon’s (4), zum Schutz gegen das durch die Sonne 
erhitzte Eisendeck 4—5 cm vom Plafond eine Asbestdecke anzubringen, 
erscheint infolge der dadurch bewirkten Temperaturherabsetzung um 
5—6° C. sehr empfehlenswert. 

Ebenso sollte die eiserne Bordwand bewohnter Räume nie einer 
dickeren Bekleidung entbehren, weil sonst in der Winterszeit im Norden 
die Nähe einer so viel strahlende Wärme absorbierenden Fläche ebenso 
unangenehm und gesundheitsbedrohend ist, als in den Tropen eine 
intensive Wärme ausstrahlende Wand. Ueberdies wird bei geringer 
Temperatur der umgebenden Luft oder gar des umgebenden Wassers 
die künstliche Erwärmung eines Raumes mit Eisenwänden fast zur 
Unmöglichkeit und schlägt sich Feuchtigkeit am Metall nieder. Die 
Absorption von Sauerstoff durch kahle Eisenwände, die Gärtner (17) 
in den tiefsten Schiffsräumen nachweisen konnte, kommt in Decks¬ 
räumen wohl nicht vor oder wenigstens nicht in Betracht. Eine Ver¬ 
schalung der Wände mit glattem Holz oder mit der Fäulnis unzugäng¬ 
lichem Asbest genügt im allgemeinen. Die inneren Wände lassen sich, 
soweit sie nicht zum eisernen Verband des Schiffs gehören, zweck¬ 
mässig als verstellbare Jalousien konstruieren (51, 100), um mit ihrer 
Hilfe die Ventilation zu erleichtern. 

Wo jedoch der Wohnraum an bedenkliche Lokalitäten grenzt — 
den Laderaum, wenn sich das Logis unter Deck befindet; die Heiz- 
und Maschinenanlagen, sowie die Bunker, wenn die Heizer zweck¬ 
mässig in deren Nähe logiert sind; Vorrats-, Proviantkammern —, 
da wird man natürlich unter allen Umständen eine feste, womöglich 
eine doppelte mit einer Isolierschicht gefüllte Wand ziehen. Als Haupt¬ 
regel für alle Schiffswände muss es gelten, dass dieselben nicht unnötig 
mit kleinen Oeffnungen versehen werden dürfen. Häufig laufen 
zahlreiche Stränge, Röhren für Heizung, für Abflusswasser, Drähte für 
Beleuchtung, Klingeln, Ketten u. dgl. durch die Wände, je ein kleines, 
nicht zu dichtendes Loch lassend, durch das Wasser, schädliche Gase, 
Ungeziefer, Moskitos u. s. w. ihren Weg ins Logis finden. Auch pflegen 
es diese Stellen zu sein, an denen eine unter Umständen vorhandene 
Füllung der Bekleidung zuerst schadhaft wird, und Ratten eine er¬ 
wünschte Gelegenheit bietet, sich ein uneinnehmbares Heim zwischen 
Verschalung und Bordwand zu begründen; verendet etwa gar ein 


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Welche Anforderungen sind vom hygienischen Standpunkte etc. 341 

solches Tier dort, so verpestet es die Luft des ganzen Raumes, bis 
man die Wandverkleidung abreisst und es entfernt. Deshalb soll die 
Wand eines Wohnraumes, einschliesslich der zum Schutz gegen das 
Einfliessen von Wasser angebrachten, y 4 m hohen Türschwellcn (Sülle), 
ebenso wie Fussboden und Decke, allerseits undurchlässig sein, ausser 
wo grosse, durch einen entsprechenden Verschluss leicht zu dichtende 
Oeffnungen angebracht sein müssen. Wenn diese genannten Stellen 
in den Tropen wegen der herrschenden Hitze sämtlich geöffnet sind, 
soll, solange sich das Schiff in der Nähe einer Malariaküste aufhält, 
jede derselben (Türen, Fenster, Ventilatoren, Oberlichte) mit einem 
Moskitonetz verschlossen werden; derartige Einrichtungen, die nirgends 
Löcher oder Ritzen aufweisen dürfen, werden schon länger von den 
Matrosen angebracht, nicht aus hygienischen Gründen, zur Malaria¬ 
bekämpfung, sondern um die schlafraubenden Moskitos abzuhalten. 
Uebrigens ist die Beeinträchtigung des Lichts und der Lufterneuerung 
durch dieselben nur minimal (41, 139). Ferner soll das Logis so 
wenig Ecken und Winkel, etwa durch sich kreuzende Spanten u. dgl., 
als möglich haben, um leicht gereinigt und desinfiziert werden zu 
können. 

Auf denselben Punkt muss Rücksicht genommen werden bei der 
Auswahl der Farbe, mit der die Innenwand gestrichen wird; die 
Nachteile einer eisernen Wand sollen sich durch Verwendung einer 
mit kleinen Korkstückchen angerührten Farbe (1, 8) mindern lassen, 
die vor allem die Kondensation von Wasserdampf und die Absorption 
von strahlender Wärme beschränkt; die Desinfektion und selbst die 
Reinigung einer solchen rauhen Fläche bleibt jedoch stets unvollständig. 
Besser ist also auch von diesem Gesichtspunkte aus eine glatte Holz¬ 
verkleidung. Dieselbe mit, Kalk zu streichen, ist am billigsten, also 
am häufigsten zu erneuern (53, 368). Oelfarbe ist besser und auch 
gut zu reinigen; noch besser dürfte jedoch eine der haltbaren, an 
organischen Substanzen armen Farben sein (Amphibolinfarbe: 13,1033), 
wie auch nach Heimes (22) die Zoncafarbe bereits mit Erfolg in der 
italienischen Kriegsmarine angewandt ist. Am allerempfehlenswertesten 
würden wohl die neuen, dauernd desinfizierend wirkenden Anstriche 
mit Porzellanemaillefarben (42, 529) sein, auf denen sich vor allem 
auch Tuberkelbazillen nur kurze Zeit virulent erhalten. Da man sich 
aber auf die Wirkung dieser Farben nicht zu sehr verlassen darf, 
empfiehlt es sich auch bei ihnen, und ist es nötig bei den anderen, 
des öfteren, mindestens aber am Ende jeder Reise oder sonst halb- 


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Dr. Karl Opitz, 




jährlich, den Anstrich zu erneuern, wie es bereits von manchen 
Rhedereien regelmässig geübt wird (35, 163). Als Farbe des Anstrichs 
dürfte sich nach Uthemann (53, 368) hellgrün oder hellgrau am 
meisten empfehlen, da beide Töne das Licht gleich gut reflektieren, 
ohne durch leichtes Schmutzen so unpraktisch wie weiss zu sein. 

Einen ähnlichen äusseren Anstrich sollte man für diejenigen 
Teile von in den Tropen fahrenden Schiffen, hinter denen sich bewohnte 
Räumlichkeiten befinden, obligatorisch machen; streichen doch die 
Kriegsmarinen ihre Tropenkreuzer durchgehends weiss; viele Rhedereien 
geben ihren für südliche Routen bestimmten Passagierdampfern einen 
gleichen Anstrich, während die entsprechenden Frachtdampfer grau 
gemalt sind; andere versehen ihre sonst schwarzen Schiffe mit einer 
über das Logis und die Kajüte laufenden weissen Borde. Ein grauer 
Anstrich würde hygienisch genügen und selbst bei Kohlendampfern 
nicht unpraktisch sein. 

Weitere Einrichtungen an den Wänden, die hauptsächlich der 
Wärmeregulierung dienen, sollen bei dem betreffenden Abschnitte er¬ 
wähnt werden. 

Ferner ist zu berücksichtigen die Grösse des Logis, ein Punkt, 
der von allen Autoren dieses Gebietes ausführlich erörtert wird. Zu¬ 
nächst sei auf eine missverständliche Bemerkung, die bei mehreren 
Autoren wiederkchrt (44, 60; 28, 206; 48, 359), eingegangen. Es wird 
nämlich behauptet, dass man den pro Kopf zu gewährenden Raum¬ 
inhalt deshalb geringer ansetzen dürfe, weil ja nur die Hälfte der 
Mannschaft zur selben Zeit schliefe, während sich die andere Hälfte, 
die jeweilige „Wache u , dauernd an Deck befände. Abgesehen davon, 
dass ja ein Teil des speziell seemänischen Personals zu keiner der 
beiden „Wachen“ gehört, dass die Heizer in drei „Wachen“ Dienst 
tuen, dass die Stewards, Köche, Kajütsjungen u. dgl. gar keine Wache 
gehen, sondern sämtlich, mit wenigen Ausnahmen auf Passagier¬ 
dampfern, nachts dienstfrei sind; abgesehen ferner davon, dass z. B. 
auf einem Schnelldampfer nur wenige Prozent der Besatzung zum 
wachegehenden, seemännischen Personal gehören; abgesehen ferner 
davon, dass dieses im Hafen, bei Segelschiffen also oft monatelang 
ununterbrochen, auch keine Wache geht, sondern insgesamt Tagesdienst 
verrichtet; abgesehen von alledem ist die „Wache“ nachts keineswegs 
durchgehends an Deck beschäftigt, sondern kann sich, ausser dem 
Mann am Ruder, dem auf Ausguck und dem „Läufer“, sehr wohl im 
Logis aufhalten, nur darf sie nicht zur Koje gehen und muss jeder- 


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Welche Anforderungen sind vom hygienischen Standpunkte etc. 343 


zeit sofort zu jedem Dienst klar sein. Tatsächlich sind es also nur 
einige wenige, im Hafen in der Regel ein einziger Matrose, der nachts 
im Logis fehlt. 

Ferner möchte ich, ehe ich auf die zahlenmässige Festlegung der 
Grösse des zu gewährenden Raums eingehe, noch einen Punkt erörtern, 
der besonders bei zur tropischen Fahrt verwendeten Schiffen nicht 
ohne Einfluss auf die Raumabmessung sein sollte: es ist die vielum¬ 
strittene Frage, ob in den Tropen durch Schlafen im Freien an Deck 
Erkältungskrankheiten entstehen können, wobei Malaria durch schützende 
Moskitonetze ausgeschlossen sein soll. Während der Fahrt, wo durch 
die Eigenbewegung des Schiffes die Wärme im Logis gemildert wird, 
kann der Schlaf in der Koje möglich und erquickend sein; im Hafen, 
bei tropischer Windstille, wird die Mannschaft trotz aller Warnungen 
im Freien schlafen, wenn nicht ihr Unterkunftsraum sehr gross und 
luftig ist. Ob man dem Personal überhaupt erlauben darf, an Deck 
zu schlafen, darüber sind die Ansichten sehr geteilt (23, 85; 28, 227; 
29, 178; 41, 139; 51, 86; 51, 106). Yorzuziehen ist es auf jeden 
Fall, dem Matrosen durch Gewährung eines reichlich grossen Wohn- 
raums die Möglichkeit zu verschaffen, auch in den Tropen geschützt 
zu schlafen. 

Wieviel Luftkubus soll also für den Seemann gefordert werden? 
Der § 55 der deutschen Seemannsordnung (38, 29) besagt, dass die 
Schiffsmannschaft an Bord Anspruch hat auf einen „ihrer Zahl und 
der Grösse des Schiffs entsprechenden, nur für sie und ihre Sachen 
bestimmten, wohlverwahrten und genügend zu lüftenden Logisraum“. 
In § 56 lautet es: „Ueber Grösse und Einrichtung des Logisraums 
und über die Einrichtung von Wasch- und Baderäumen und Aborten 
an Bord der Schiffe beschliesst der Bundesrat“. Rubner (47, 204) 
fordert für den Kopf mindestens 20 cbm Luftkubus; eine solche Menge 
ist nicht einmal an Land durchgehends zu erreichen, viel weniger also 
an Bord zu verlangen. Die Zahlen, die von Verordnungen der ver¬ 
schiedenen seefahrenden Staaten, meist auch nur für Zwischendecker, 
gefordert werden, schwanken häufig, je nachdem die Passagiere in 
einem oberen oder einem unteren Deck untergebracht werden. Die 
entsprechenden Angaben finden sich in der Literatur ziemlich zerstreut 
und beschränke ich mich auf die Angabe der Grenzwerte, wobei alle 
Masse auf Meter berechnet sind. In den verschiedenen Bestimmungen 
wird als Bo den fläche gefordert für Passagiere zwischen 1,11 qm 
(55, 503) und 2,32 qm (23, 101), für Mannschaften, wenn überhaupt, 


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Dr. Karl Opitz, 


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überall 1,11 qm. Das verlangte Minimum der Deckshöhe schwankt 
bei Passagieren zwischen 1,66 m (53, 360) und 2,10 m (53, 361), 
während als Höhe für Mannschaftsräume 1,83 m (51) üblich ist; tat¬ 
sächlich werden Zwischendecks bis über 2,55 m Höhe (20, 287) an¬ 
getroffen und soll ein 2,40 m übersteigendes Mass bei Berechnung 
des Kubikinhalts unberücksichtigt bleiben (28, 208). Endlich wird 
ein Luftkubus gefordert für Passagiere von zwischen 2,83 cbm (28, 208) 
— früher nur 1,69 cbm (55, 503) — und 4,24 cbm (53, 360), für 
farbige Reisende 2,13 cbm (55, 503), für Mannschaften zwischen 
2,05 cbm (51, 113) und 2,13 cbm (28, 266). Für Kranke wird in 
Deutschland tatsächlich weniger verlangt als für die übrigen Zwischen¬ 
decker (2,38 cbm statt 2,85 cbm; siehe 48, 379), während ihnen auf 
Hospitalschiffen schon vor 30 Jahren 5,66 cbm (10, 359) zur Verfügung 
standen und bis 15 cbm (26, 1306) stehen sollen. Tatsächlich war 
früher der gewährte Luftraum nicht selten beträchtlich geringer: er 
betrug auf kleinen Kriegsschiffen bis zu 1,13 cbm (54, 15) herab, auf 
Kanonenbooten 1,5 cbm (40, 18); jetzt findet man auf Kriegsschiffen 
bis 8 cbm (40, 18); einem Kajütspassagier sollen allein in seiner 
Kabine mindestens 5—6 cbm zur Verfügung stehen (53, 357). Bei 
100 Messungen von Mannschaftslogis fand Nocht (33) im Mittel 3,5 cbm. 
Wenn man bedenkt, dass davon noch ein erheblicher Teil durch Kojen, 
Kleiderkisten, Schränke beansprucht wird, dass ausser durch die Mann¬ 
schaft die Logisluft noch anderweit durch feuchte Kleidung, Speisen¬ 
gerüche und anderes verdorben wird, so wird man einsehen, dass ein 
solcher Raum nicht genügt. Um das Logis in gemässigtem Klima zu 
einer angenehmen, Erholung ermöglichenden Aufenthaltsstätte, in den 
Tropen zu einem erträglichen Nachtquartier zu machen, das die Mann¬ 
schaften nicht zu gefährlichem Schlafe im Freien zwingt, dürfte wenigstens 
ein Luftkubus von 5 cbm als Durchschnitt zu verlangen sein, womit 
dem Seemann für seinen Wohnraum erst die Hälfte dessen bewilligt 
wird, was einem Schlafburschen für die Nacht nach Gärtner (18, 226) 
polizeilich gewährt werden muss. Selbst bei dieser im Vergleich zu 
den jetzt noch bestehenden Verhältnissen sehr hoch erscheinenden 
Forderung würde nach Rubner (47, 204) noch eine zwölfmalige Luft¬ 
erneuerung pro Stunde nötig werden, um das erforderliche Luftquantnm 
von 60 Kopf-Stunden-Kubikmeter zu liefern. 

Wie weit davon entfernt, gut zu sein, die Luft im Mannschafts¬ 
logis ist, weiss jeder, der einmal Gelegenheit gehabt hat, solchen 
„gemeinschaftlichen, engen, überfüllten, dunklen, nassen und schlecht 


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Welche Anforderungen sind vom hygienischen Standpunkte etc. 


345 


gelüfteten Wohnraum (Logis)“ (36, 407) zu betreten. Genauere 
Messungen über den Grad der Luftverderbnis im Logis von Handels¬ 
schiffen fehlen. Rattray (43, 106) berichtet von 4—14,6 pM., 
Hayne (21, 106) von 1,03—3,21 pM. Kohlensäure an Bord; 
Boehr (3) hat im Zwischendeck bis 2,7 pM. Kohlensäure gefunden; 
im Spital und Arrestlokal S. M. S. Sachsen sollen bis 5,5—6,5 pM. 
(17) beobachtet worden sein. Die Feuchtigkeit stieg nach Turner (5*2) 
und Boehr (3) bis auf 95 und 97 pCt. im Zwischendeck. Dass die 
Luft so verdorben ist, dass sich weisser Oelanstrich schwärzt (23, 100) 
oder dass Silber und andere blanke Metallgegenstände sich mit einer 
schwarzen Schicht beziehen (40, 9), ist wohl nur bei einer# vermeid¬ 
lichen Kommunikation mit dem Bilgeraum möglich. Auch sonst wird 
man jede irgend zu umgehende Verschlechterung der Luft vom Logis 
fernzuhalten suchen; dazu gehören Abortgerüche, Düfte, die bei der 
Zubereitung der Mahlzeiten entstehen, Ausdünstungen feuchter Be¬ 
kleidungsstücke, Ungeziefer, aber auch absichtlich gehaltene Tiere, 
Affen, Papageien, die der Seemann mit Vorliebe im Logis beherbergt. 

Die Luftverderbnis zu beseitigen, liegen während der Fahrt die 
Verhältnisse an Bord an sich recht günstig; denn man hat dauernd 
zwei die natürliche Ventilation bewerkstelligende Faktoren: die 
Eigenbewegung des Schiffs und den fast ausnahmslos wehenden Wind 
zur Verfügung, wenn sich nicht zufällig beide mit gleicher Geschwindig¬ 
keit in gleicher Richtung bewegen. Im Hafen fällt der erstere Faktor 
weg, und auch der zweite kann durch ungünstige Lage, z. B. am 
Quai neben einem den Wind abfangenden Güterschuppen, fehlen. 
Ungünstig für die Ventilation ist die Tatsache, dass alle Ritzen und 
Löcher festgedichtet sein müssen, und dass das Material der Wand — 
Eisen und Holz, dessen Poren mit Wasser gefüllt sind — ebenfalls 
luftundurchlässig ist, sodass zur Lufterneuerung ausser Fenstern und 
Türen nur eigens angelegte Ventilatoren vorhanden sind. Da erstere 
beide des Seegangs wegen häufig geschlossen werden müssen, ist man 
zeitweise fast ausschliesslich auf die künstliche Lufterneuerung an¬ 
gewiesen. Dass man die Zwischenwände zur Erleichterung des Luft¬ 
austauschs und ebenso die Türen oder Teile derselben verstellbar 
jalousieartig konstruieren kann, wurde schon erwähnt. Die Fenster, 
die bei vervollkommneter Technik der eisernen Schiffskonstruktion 
und der Glasindustrie immer zahlreicher und grösser gebaut werden 
können, lassen sich mit dem Ulley’schen Patent versehen, das, selbst¬ 
tätig bei Seegang eindringendes Wasser abhaltend, doch den Luft- 


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346 Dr. Karl Opitz, 

Zutritt gestattet. Ausserdem lassen sich, auch auf einer für die 
Mannschaft bestimmten Back, Oberlichte, sogenannte Skylights, an¬ 
bringen, die an dieser Stelle nach vorn zu als Schutz gegen Brech- 
seeen eine eiserne Wölbung in Form eines Souffleurkastens oder eines 
liegenden Viertelzylinders, nach hinten zu über einem niedrigen Süll 
senkrecht gestellte, aufklappbare Glasfenster haben müssen. 

Alle diese, unter ungünstigen Verhältnissen für die Ventilation 
unbrauchbaren Einrichtungen sind ungenügend, weil sie eben zu häufig 
luftdicht verschlossen werden müssen. Deshalb hat man schon seit 
langem an Bord den ausgiebigsten Gebrauch gemacht von eigentlichen 
Ventilationsanlagen. Als solche wirken bei bestimmter Stellung 
die Segel, von denen der Wind nach unten durch die Luken und 
Niedergänge in die unteren Decks reflektiert wird (40, 25); ihnen 
schliessen sich an die Windsäcke, Röhren aus Segelleinewand, mit 
flügelartig sich erweiterndem oberen Ende, in das hinein sich der 
Wind drängt, um die Röhre zum unteren Ende im Zwischendeck oder 
Raum zu verlassen. Unter dem Namen „Windtutscn“ sind gebräuch¬ 
lich blecherne Schirme, die während der Fahrt, seitlich das Schiff 
überragend, den Wind abzufangen und in den Wohnraum zu leiten 
suchen. Am besten und, so lange überhaupt Wind weht, am zu¬ 
verlässigsten arbeiten die Ventilatoren, xnr’ tt-oxyr; wenn man 
deren je zwei in jedem Raume bis auf den Boden führt und über 
dem Boden und unter der Decke mit verschliessbaren Klappen ver¬ 
sieht, so sind sie insofern wahre Universalinstrumente, als man sie 
je nach der Stellung des Kopfes zur Windrichtung und der Oeffnung 
der unteren oder oberen Klappen als Aspiratoren oder Propulsoren 
verwenden kann; ebenso lässt sich 'die Einströmungsgeschwindigkeit 
bei starkem Winde ganz nach Belieben modifizieren, indem man den 
Kopf des Ventilators, der als Propulsor dient, direkt gegen den Wind 
oder in einem gewissen Winkel zu dessen Richtung dreht. Zur Raum¬ 
ersparnis kann man bei eisernen Schiffen nach Plumert (40, 9) die 
Zwischenspantenräume in die Ventilation einbeziehen; natürlich müssen 
dieselben in diesem Falle doppelt gut gegen den Bilgeraum abgedichtet 
sein. Sonst ist bei der Aufstellung der Ventilatoren noch zu berück¬ 
sichtigen, dass sie hoch genug sind, um kein Wasser von oben ein- 
dringen zu lassen, oder dass man nach Boyle konstruierte (28, 201) 
anwendet, welche eingedrungenes Wasser über Deck wieder ablaufen 
lassen. Ferner darf der Luftstrom nicht durch eine 1 m pro Sekunde 
übersteigende Geschwindigkeit oder kalte Temperatur lästig oder 


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Welche Anforderungen sind vom hygienischen Standpunkte etc. 347 


schädlich wirken; man wird, dies zu verhüten, Drosselklappen an¬ 
bringen und schräg vor das untere Ende einen Schutzschirm oder ein 
Drahtnetz aufstellen, oder den Querschnitt vor der Mündung trichter¬ 
förmig oder in Röhren erweitern. Jeder Raum ist weiterhin getrennt 
zu ventilieren, und wird zweckmässig an zwei möglichst entfernten 
Enden desselben je ein Ventilator angebracht; beide können, den je¬ 
weiligen Verhältnissen entsprechend, ihre Rollen als Aspirator und 
Propulsor tauschen, und zwar soll, da im allgemeinen im Schiff die 
Luftbewegung dem Winde entgegengesetzt läuft (1, 9), der luvwärts 
gelegene vom Wind ab, der leewärts gelegene Ventilator als Propulsor 
in den Wind hinein gedreht werden. Ist aus technischen Gründen 
nur ein Ventilator möglich, so wähle man die Propulsion (8, 27), um 
nicht unbekannte, also im Zweifelsfalle verdorbene Luft in den Raum 
einzusaugen. Sehr praktischer Weise werden auch die hohlen, eisernen 
Masten und hohle Betinge 1 ), sowie hohle Davids 1 ) in das Ventilations¬ 
system einbezogen (20, 330). 

Alle bisher genannten Einrichtungen zur Lufterneuerung versagen 
in dem Augenblicke, wo sie am allernotwendigsten werden: bei sub¬ 
jektiver Windstille, d. h., wenn zwischen der Fahrt des Schiffs und 
der Bewegung des Windes keine wesentlichen Richtungs- und Ge¬ 
schwindigkeitsunterschiede bestehen, und bei objektiver Windstille im 
Hafen; auch die durch natürliche Temperaturunterschiede erzeugte 
Ventilation stockt, wenn dieselben geringer als 5° C. sind, und dies 
ist in den Tropen eigentlich stets der Fall. Hier bleibt nun weiter 
nichts übrig, als mit mechanischen oder thermischen Mitteln 
nachzuhelfen. Welche von den gebräuchlichen oder möglichen Me¬ 
thoden angewendet wird, tut nichts zur Sache; Bedingung ist nur, 
dass weder unangenehme Geräusche erzeugt, noch die Hitze und 
Luftfeuchtigkeit vermehrt werden. Auf Dampfern mit elektrischer 
Beleuchtung empfehlen sich die durch die gleiche Kraft getriebenen 
Flügel- und Schraubenräder; ist keine Lichtmaschine an Bord, so 
könnte die Luft durch Dampf abgesaugt oder in den Kaminmantel 
geleitet werden, wo sie sich erwärmt und nach oben steigt. Für 
kleine Frachtdampfer, die im Hafen kein „Feuer auf“ haben, und für 
Segelschiffe bleibt nichts über, als ein kleines Lockfeuer anzuzünden 


1) Betinge: starke, senkrechte Balken zur Befestigung von Ankerketten, 
schwerem Tauwerk u. dgl.; Davids: Krahne zum Aufziehen von Scbiffsboten. 

Yierteljfthrsschrift f. ger. Med. u. öff. Sau.-Wesen. 3. Folge. XXVIII. 2. 9 « 


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Dr. Karl Opi tz, 


348 

oder durch Menschenkraft mit einfachen Luftpumpen oder Blasebälgen 
die Zirkulation herzustellen. 

Hat man also meist genügend Mittel und Wege, um die Ven¬ 
tilation durchzuführen, so muss man sich noch über die quanti¬ 
tative Seite der Frage klar werden. Für Auswandererschiffe besteht 
in Deutschland die Vorschrift (53, 363), dass für je 100 Passagiere 
je zwei Ventilatoren von je 30 cm Durchschnitt gefordert werden; 
eine entsprechende amerikanische Verordnung verlangt etwa das 
Doppelte (50 Passagiere: 2 Ventilatoren zu je 32 cm). Da hier¬ 
durch bei einer maximalen Ausströmungsgeschwindigkeit von 1 m 
pro Sekunde stündlich rund 360 cbm Luft geliefert werden, erhält 
jeder Kopf statt der von Rubner geforderten 60 cbm (47, 204) nur 
den achten Teil davon. Für Mannschaftslogis, die ja stets mit einer 
geringeren Anzahl Leute belegt sind, wird man also leicht einen ver¬ 
hältnismässig grösseren Querschnitt wenigstens der Endverzweigungen 
eines sich etwa in Röhren auflösenden Ventilators fordern dürfen, so- 
dass man jedem Manne bei einem Querschnitt von 40 qcm etwa 
15 cbm Luft = rund 1 / i des von Rubner (47, 204), = 1 / 2 des 
von Gärtner (33 cbm; 18, 226) geforderten Quantums liefern würde. 
Dies entspräche bei einem Luftkubus von 5 cbm einer dreimaligen 
Lufterneuerung pro hora, wie sie ja auch an Land ohne Belästigung 
durchgeführt wird. Der Erfolg würde theoretisch sein, dass der 
Kohlensäuregehalt der Luft, der auf See im Freien 0,5 pM. wohl nie 
erreicht, bei einer Kopfstundenproduktion von 22,6 1 nicht über 2 pM. 
stiege; eine solche Zahl würde jedoch nie erreicht werden, denn bei 
wehender Brise unterstützt diese bei jedesmaliger Oeffnung der Türe 
u. dgl. durch die Pression des Windes die Ventilation, während bei 
subjektiver und objektiver Windstille im warmen Klima die geöffneten 
Fenster und Türen der Luftverderbnis Vorbeugen. 

Die Luft auf andre Weise zu verbessern, nämlich statt sie 
zu erneuern, sie ihrer belästigenden Eigenschaften zu berauben, hat 
man bisher ohne nennenswerten Erfolg versucht; der Vorschlag Sen ft- 
leben’s (51, 104f), Netzkörbe mit Holz- oder Tierkohle im Logis 
aufzustellen, um durch Absorption die üblen Ausdünstungs- und Aus¬ 
atmungsstoffe zu entfernen, ist wohl nie praktisch verwendet worden. 

Hat nun also der Seemann, wenn auch nicht reichlich, so doch 
bescheidensten Ansprüchen genügende Mengen Luft, so muss dieselbe 
auch angemessen temperiert sein. Welche Eigenschaften die Wände 
besitzen, bezw. besitzen sollen, um die Wärme zu regeln, wurde 


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Welche Anforderungen sind vom hygienischen Standpunkte etc. 


S49 


schon oben berührt; hier seien die Mittel erörtert, welche, unterstützt 
durch jene mehr natürlichen, künstlich das umgebende Klima zu einem 
erträglichen gestalten helfen. 

Für unser Klima kommt in erster Linie die Beheizung im 
Winter in Betracht. Auf Dampfern pflegt man schon mit Rücksicht 
auf die Feuersicherheit zumeist eine Dampfheizung einzurichten, die 
bei genügend zahlreichen und grossen Heizkörpern in der Regel ein¬ 
wandfrei ist; um die frische Ventilationsluft anzuwärmen, legt man 
auch wohl einige Heizschlangen um den Ventilator herum. Liegt das 
Schiff im Hafen ohne Dampf, so muss wenigstens ein Neben- (Donkey-) 
Kessel die Heizung speisen. Schwieriger gestalten sich die Verhältnisse 
an Bord von Segelschiffen, sowie ganz kleinen Dampfern, wo aus 
Sparsamkeit keine Dampfheizung vorhanden ist. Senftleben sagt 
noch 1876 (51, 86), dass Oefen im Logis fast niemals existierten, 
ein Zustand, der jetzt wohl eher eine Ausnahme bildet. Sämtliche 
Arten von eisernen Oefen lassen sich hier verwenden, und muss 
nur darauf geachtet werden, dass dieselben weder durch strahlende 
Hitze in dem engen Raum, noch durch Produktion von Gasen oder 
Staub lästig oder gefährlich werden; auch soll ihre Wärmeproduktion 
eine möglichst gleichmässige sein. Dass die Oefen besonders fest 
gebaut sein müssen, damit sie beim „Arbeiten“ des Schiffes keine 
gasdurchlässigen Ritzen bekommen oder gar Feuerungsmaterial ins 
Logis entleeren, braucht wohl nicht besonders hervorgehoben zu werden. 
Man wird also am besten eiserne Dauerbrandöfen mit einem oder mit 
mehreren Mänteln, durch die man zweckmässig die Ventilationsluft 
leitet, wählen, während man die Füllung möglichst, von aussen oder 
von einem Vorraura aus besorgt. 

Schwieriger als die Erwärmung ist die Abkühlung der Luft 
im Logis. Hat uns zwar die Technik schon die Mittel in die Hand 
gegeben, auch auf diesem Gebiete Befriedigendes zu leisten, so sind 
«ntsprechende Maschinen zur Kälteerzeugung doch erst auf 
wenigen Dampfern vorhanden, und sind auch dort zufolge ihres kost¬ 
spieligen Betriebs nur für wertvolle Ladung und für die Passagiere der 
ersten Kajüte in Verwendung; für die Mannschaft muss man fürs 
erste davon absehen. Hier bleibt zur Zeit das souveräne Mittel eine 
reichliche Ventilation, bei der man in Anbetracht der höheren 
Temperatur der Luft auch gern über den Grenzwert der sonst zu¬ 
lässigen maximalen Einströmungsgeschwindigkeit hinausgehen kann. 
Abgesehen davon stehen dem Seemann noch verschiedene andere 


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Dr. Karl Opitz, 


Mittel zur Verfügung: vor allem schützt er seine Wände vor einer 
zu intensiven Bestrahlung durch die senkrechten Strahlen der Tropen¬ 
sonne, indem er über Deck ein horizontales Sonnensegel zieht; 
dasselbe in zwei etwa 0,5 m von einander entfernten Exemplaren 
vermehrt den Erfolg (29, 177). Sehr vorteilhaft abkühlend wirkt 
auch die Verdunstung von Wasser. Von selbst wird dieselbe 
unterhalten, indem stets, selbst bei glattem Meeresspiegel, etwas 
Gischt vor dem Bug des fahrenden Schiffes verspritzt wird und sich 
an den Wänden der Back niederschlägt, um hier zu verdunsten. 
Künstlich kann man das über dem Logis befindliche Deck und die 
Seitenwände von Zeit zu Zeit mit Wasser überspülen (40, 6) oder 
berieseln. Dies geschieht ziemlich einfach von der Zirkulationswasser- 
leitung aus, einem System von Röhren, das sich über das ganze Schiff 
ausdehnt und aus zahlreichen Hähnen Seewasser zur Deckreinigung 
und zum Feuerlöschen liefert; wenn man die zu berieselnden Flächen 
mit hellen, wasseraufsaugenden Lappen belegt, kann man bei inter¬ 
mittierender Berieselung den Erfolg noch steigern, eine Methode, deren 
Zweckmässigkeit der Tropenbewohner an in weisse Strümpfe gesteckten 
Weinflaschen häufig zu erproben Gelegenheit hat. In ähnlicher Weise 
kann man übrigens auch die Sonnensegel feucht halten (29, 177). 
Leider ist, wo es oft am nötigsten wäre, in sumpfigen Tropenhäfen, 
dieses einfache Mittel nicht anwendbar, weil die Pumpe hier die ge¬ 
fährlichsten Krankheitskeime aus den verseuchten Flussmündungen an 
Bord befördern würde. 

Ist der Seemann an Deck dauernd von einem unendlichen Reich¬ 
tum an Licht umgeben, das von dem Meeresspiegel, weissen Wolken, 
dem blanken Deck, glänzendem Metall, hellen Segeln überreichlich 
zurückgeworfen wird, so pflegt im schroffen Gegensätze hierzu sein 
Logis mindestens in ein Halbdunkel getaucht zu sein; meist ist nur 
in der Nähe der Ochsenaugen Druckschrift zu lesen. Ja, gibt es doch 
vielfach bewohnte Räume an Bord, die nie Tageslicht erhalten; die 
ganz unterhalb der Wasserlinie gelegenen Unterkünfte sind durchaus 
nicht die einzigen, dem Sonnenlichte völlig entzogenen Räume: alles 
was mittschiffs in den mittleren und unteren Decks liegt, und weder 
mit den seitlichen Ochsenaugen in Verbindung steht, noch durch Ober¬ 
licht erhellt wird, teilt das Bergwerkslos der Unterwasserlinie. Fordert 
an sich die Hygiene natürliches Licht in möglichst grosser Menge 
für geschlossene Räume, so ist es an Bord doppelt notwendig, um 
die bei so engem Zusammenleben zahlreicher Menschen fast unver- 


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Welche Anforderungen sind vom hygienischen Standpunkte etc. 351 


meidliche Feuchtigkeit und Unreinlichkeit zu mindern; besonders auf 
Schiffen tropischer Fahrt wird reichliche Beleuchtung das lichtscheue, 
höchst lästige Ungeziefer: Kakerlaken, Moskitos, aber auch Ratten, 
vom Logis fernhalten; auch zur Unschädlichmachung von Mikroorganis¬ 
men, insbesondere Tuberkelbazillen, wird das Licht das Seine beitragen. 
Je mehr natürliches Licht man hat, desto weniger Wärme, Feuchtig¬ 
keit und sonstige Luftverderbnis wird durch künstliches erzeugt. Jeder 
Raum kann zur Genüge belichtet werden, wenn man ihn unabgeteilt 
— auch für die natürliche Ventilation vorteilhafter Weise — von einer 
Bordwand zur anderen durchführt. Frankreich bestimmt die Fenster 
im Passagierzwischendeck zu 0,22—0,30 m im Durchmesser; England 
schreibt für Auswanderer für je 9,29 qm Bodenfläche Fenster von 
0,279 qm Grösse vor, also ein Verhältnis von Fenster zu Bodenfläche 
von 1 : 33,3; in den Ausführungsbestimmungen für die Vermessung 
englischer Schilfe heisst es (53, 371), man müsse, wenn ein Drittel 
der Fenster geschlossen sind, an jeder Stelle des Raums eine gewöhn¬ 
liche Zeitung lesen können. Eine ähnliche Forderung sollte man auch 
für Mannschaftslogis in Deutschland aufstcllen. 

Mindestens ebenso kümmerlich, wie mit Tageslicht, ist der Mann- 
schaftsraum in der Regel mit künstlichem Lichte versehen. Für 
Auswandererdecks ist vorgeschrieben (53, 371), dass pro 100 Köpfe 
zwei starke Laternen vorhanden sein müssen. Für die Zwischendecker 
ist das Schiff ein vorübergehendes Transportmittel, für die Mannschaft 
dauernd eine Wohn-, ja vielfach für lange Zeit die einzige Erholungs¬ 
stätte, und doch ist die Beleuchtung oft nicht wesentlich anders. Das 
künstliche Licht soll nicht bloss die Möglichkeit gewähren, sich im 
Schlaf raum zurechtzufinden, wie bei den Auswanderern: es soll den 
Matrosen in den Stand setzen, nach des Tages Arbeit zu lesen, Briefe 
zu schreiben, Karten zu spielen, auch die von Seeleuten viel geübten 
feineren Handarbeiten, Schnitzen, Nähen, ohne erhebliche Anstrengung 
auszuführen. Das elektrische Licht, das sich wegen der verminderten 
Feuersgefahr immer mehr Schiffe erobert, hat ausser den an Land 
hervortretenden günstigen Eigenschaften, unter denen an Bord be¬ 
sonders in Betracht kommen der Wegfall von Luftverschlechterung 
und die geringe Wärmerzeugung, noch den ganz besonderen Vorzug, 
dass es nicht in kardanischen Ringen aufgehängt werden muss, und 
deshalb auch bei stark schwankendem Schiff eine ihren Ort nicht 
wechselnde Lichtquelle bietet. Unvergleichlich minderwertig im Ver¬ 
gleich dazu sind die übrigen ßeleuchtungsarten; Gase sind an Bord 


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352 Dr. Karl Opitz, 

nicht verwendbar und von den flüssigen haben die inexplosiblen den 
Vorzug. Welcher Brennstoff es auch sei, er darf weder durch Ver- 
brennungsga.se oder Geruch die Luft verderben, noch durch Wärme¬ 
erzeugung lästig fallen; er muss genügendes Licht verbreiten, damit 
man auch in grösserer Entfernung Druckschrift mühelos lesen kann; 
bei grossen Räumen muss natürlich eine Mehrzahl von Lichtquellen 
vorhanden sein, deren jede die genannten Forderungen erfüllt. 

Ist hiermit die Beschaffenheit des Raumes als solchen, wie er ist 
und wie er sein soll, vom hygienischen Standpunkte aus charakterisiert, 
so erübrigt es noch, seine innere Einrichtung zu besprechen; denn 
im Gegensatz zum Bewohner des festen Landes ist der Seemann nicht 
in der Lage, seine Räume nach eigenem Geschmack einzurichten, und 
dementsprechend ist bei der Unterbringung der Mannschaft auch die 
Ausstattung des Raumes zu berücksichtigen. Meist steht dem See¬ 
mann nur ein Raum zur Verfügung; zweckmässig teilt man eine grössere 
Mannschaft in einzelne „Backschaften“ ab, die je getrennte Logis 
haben, und wird auch auf den grössten Dampfern das zahlreiche Per¬ 
sonal in kleineren oder grösseren Gruppen überall dort quartiert, wo 
eben Platz ist. Ganz gewöhnlich ist auch die, wenn auch nur durch 
eine Medianwand in der Back, bewerkstelligte Trennung der Heizer 
von dem speziell seemännischen Personal. Auf den modernen Riesen¬ 
segelschiffen, wo in luftigen Decksaufbauten genügender Platz für die 
verhältnismässig wenig zahlreiche Besatzung ist, soll es getrennte 
Tages- und Schlafräume geben; ein solch idealer Zustand ist aber 
zur Zeit nur auf Segelschiffen mit sehr reichlichem Platz möglich. 
Auf Dampfern würde eine Trennung der Räume gar nicht einmal 
hygienisch vorteilhaft, sein: statt eines Logis mit leidlichen Luftver¬ 
hältnissen würden wir dann, wenn der gleiche Kubikinhalt geteilt wird, 
zwei kleinere haben, von denen der Tagesraum ausserhalb der Mahl¬ 
zeiten nur wenig benutzt werden würde, aber trotz seiner geringen 
Abmessungen vielleicht in Bezug auf die Güte der Luft nicht unge¬ 
nügend wäre, indes der Schlafraum, in seiner Ausdehnung durch Ab¬ 
zug des Tagesraumes doppelt beschränkt, noch viel ungünstigere 
Luftverhältnisse bieten würde, als ein einziger, durch die tagsüber 
darin befindlichen Menschen und deren Verrichtungen in Bezug auf 
die Luft nicht zu hochgradig verunreinigter Raum. 

Des weiteren ist, ehe wir auf die Musterung der einzelnen Inventar¬ 
stücke und deren Plazierung eingehen, noch ein Punkt zu erörtern, 
der das Mannschaftslogis wesentlich vom Auswandererzwischendeck 


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Welche Anforderungen sind vom hygienischen Standpunkte etc. 


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unterscheidet, der also des letzteren hygienische Einrichtungen nicht 
ohne Modifikation auf das Logis übertragen lässt: der Seemann will 
sein Heim gemütlich haben, und dies ist im allgemeinen in hygienisch 
einwandfreien Massenquartieren nicht leicht zu erreichen. Dem Zwischen¬ 
decker kann man gern für die kurze Zeit seiner Fahrt kahle Wände 
anweisen; er wird an Bord nie heimisch werden, wie der Reisende in 
der Luxuskabine des Schnelldampfers es auch nicht wird; dem See¬ 
mann hiesse es aber eines der wichtigsten psychischen Erholungsmittel 
rauben, wollte man ihn in ein leeres Logis einquartieren, dem aus 
hygienischen Gründen jede anheimelnde Einrichtung fehlte. Selbst¬ 
verständlich kann es durch gesundheitsgemässe Erziehung und Beleh¬ 
rung erreicht werden, dass an Stelle der typischen, durch dichte Vor¬ 
hänge verschlossenen Kojen eine saubere, gesundheitlich einwandfreie 
Schlafstelle tritt, in der sich der Seemann doch zu Hause fühlt. Ueber- 
haupt nützen alle hygienischen Verbesserungen an Bord nichts, wenn 
sich der Matrose nicht der grössten Reinlichkeit befleissigt; die un¬ 
vermeidlichen Ecken im Logis sollten dauernd unter Kontrolle stehen, 
damit sich dort kein Ungeziefer, vor allem auch keine Kakerlaken, 
einnisten. 

Was gehört denn nun zu dem festen Inventar des Logis? 
Da sind vor allem die Kojen zu nennen. Wenn zwar Hängematten 
aus Segeltuch den festen Kojen vorzuziehen sind: sie nehmen tags¬ 
über keinen Raum in Anspruch, lassen sich leicht reinigen, bilden 
keine schmutzfangenden Winkel, gewähren einen durch den Seegang 
weniger gestörten Schlaf —, so ist doch die Abneigung des Matrosen 
dagegen so gross, dass sie in der Handelsmarine kaum benutzt werden. 
Die Kojen sind bislang fast ausnahmslos aus Holz, mit hohen Seiten¬ 
wänden, ja zum Teil wohl sogar völlig hölzern umschlossen, bis auf 
ein nicht allzu grosses Einkriecheloch. Für Auswanderer werden die¬ 
selben aus Eisen hergestellt, nicht bloss aus hygienischen Gründen, 
damit sie leicht zu reinigen sind, sondern weil sie in dieser Aus¬ 
führung dauerhaft und in kürzester Zeit aufzuschlagen, bezw. abzu¬ 
brechen sind. Gleiche Kojen sind auch für die Mannschaft zu fordern, 
und sie sind zweifellos auch für diese am praktischsten. Abgesehen 
von allen anderen Vorzügen, die solche eiserne Gestelle haben, kommt 
bei den Seeleuten noch in Betracht, dass dieselben in ihrer hölzernen 
Koje unter und neben dem Bettzeug allerlei Habseligkeiten, auch 
Kleidungsstücke, Nahrungsmittel, bewahren, die die Reinhaltung der 
dunklen Winkel nicht gerade erleichtert. Diese Unsitte würde bei 


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Dr. Karl Opitz, 


eisernen Bettstellen von selbst in Wegfall kommen, wie auch die 
schmutzfangenden Vorhänge. Ein in der hellen Farbe der Logiswände 
gehaltener Anstrich würde stets freundlich aussehen und sauber zu 
halten sein, und leicht desinfiziert werden können. Gegen den Brauch, 
zwei Kojen übereinander anzubringen, wird man nichts tun können; 
ist dies doch selbst in den Kabinen der ersten Kajüte fast aus¬ 
nahmslos üblich; drei Reihen übereinander, wie es nach Reineke 
(44, 51) früher die Regel war, wie es aber selbst auf den grössten, 
neuesten Schnelldampfern (oder wieder? 35, 165) zu finden ist, sollte 
für die Mannschaft ebenso verboten sein, wie es für die Zwischen¬ 
decker meist ist (28, 207); nur Frankreich gestattet drei Schichten 
für dieselben, vorausgesetzt, dass das Deck 2,60 m hoch ist (53, 369). 
Auch die für die Reisenden geltende Vorschrift, dass die untere Koje 
mindestens 15 cm über dem Fussboden, die obere mindestens 75 cm 
unter dem Deck ist, könnte ohne weiteres für die Mannschaft Platz 
greifen. Die für Passagiere durchgehends geforderte (28, 208) und 
auch Mannschaften gewährte Grösse der Koje von 1,83 X 0,5 bis 
0,6 m genügt; ein breiteres Bett wäre an Bord oft gar nicht er¬ 
wünscht, wenn man sich bei Seegang zwischen den Kojenwänden mit 
den Knieen feststemmen muss, um nicht durch die heftigen Bewegungen 
des Schiffs aus der Koje geschleudert zu werden. Der Ort, an dem 
die Kojen aufgeschlagen werden, ist an sich gleichgültig: nur empfiehlt 
sich die jetzt vielfach übliche Anordnung am allerwenigsten. Ge¬ 
wöhnlich liegen sie nämlich erstens der Bordwand fest an; ist dies 
bei hölzernen Kojen nicht unzweckmässig, so stellt man eiserne lieber 
frei auf, damit der Schläfer nicht der kalten oder heissen Wand an¬ 
liegt, und damit auch die Rückseite gereinigt werden kann. Zweitens 
sind sie zumeist an der Aussenwand so verteilt, dass sich jedesmal 
ein Ochsenauge über der Mitte der oberen Koje befindet, sodass, 
wenn dasselbe geöffnet ist, der Luftzug unmittelbar über den Unter¬ 
leib des Schläfers streicht, während der Bewohner der unteren Koje, 
wohin Leichtmatrosen und noch in der Entwicklung begriffene Schiffs¬ 
jungen gelegt zu werden pflegen, sich in völligem Abschluss von Licht 
und Luft befindet: „in a box, painfully suggestive of a coffin“ (Arm¬ 
strong; 2, 3CB. Man bekleide also nur die Binnenwände des Logis 
mit Kojen, und sichere so der Luft und dem Licht freien Eintritt 
und Verbreitung im ganzen Raume. An dem Platz längs der Bord¬ 
wand wird zweckmässig ein aufklappbarer Tisch und eine ausserhalb 
der Benutzung an die Decke zu schlagende Bank davor angebracht, 


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Welche Anforderungen sind vom hygienischen Standpunkte etc. 355 


zwei gleichfalls zum unentbehrlichen Inventar zählende Stücke. Dass 
es sich empfiehlt, zur Verhütung von Infektions- und Ungeziefer¬ 
verschleppungen vermittelst ihres eigenen Kojenzeuges, den Leuten, 
wie den Zwischendeckern, von seiten der Rhederei zu ßeginn jeder 
Reise, sonst halbjährig neue, billige, nach Gebrauch zu vernichtende 
Matratzen und Kopfkissen zu liefern, sei als nicht unmittelbar hier¬ 
hergehörig nur kurz erwähnt; nach Nocht haben sich in England 
entsprechende Versuche bewährt (35, 163); für die Tropen wären 
ausserdem noch Moskitonetze zu liefern (41). 

Von sonstigen Einrichtungen würde noch ein Wasserbehälter 
zu erwähnen sein, aus dem das Wasser nur in gefiltertem Zustande 
getrunken werden sollte. EinSpucknapf zur Aufnahme von Auswurf 
wird geeignet sein, die gerade bei Seeleuten zufolge ihres engen Zu¬ 
sammenlebens und der Unsitte des häufigen Ausspeiens so erschreckend 
verbreitete Tuberkulose (35) bekämpfen zu helfen, während ein Blech¬ 
korb oder Eimer für die Abfälle (53, 370), die bei geschlossenen 
Ochsenaugen nicht unmittelbar an den Ort ihrer Bestimmung gelangen, 
zur Aufrechterhaltung der Reinlichkeit und Ordnung sehr wünschens¬ 
wert wäre, jedoch bis jetzt kaum irgendwo zu finden sein dürfte. 

Neben dem eigentlichen Wohnraume sind gewisse Nebenlokale 
unerlässlich; leiderfindet sich zuweilen nicht einmal ein einziger, nicht 
einmal ein Abort. Ausser diesem ist aber unbedingt ein Bad, ein 
Vorraum, und wo sich keine gemeinsame Küche findet, ein für diesen 
Zweck abgeteilter Raum zu fordern. 

Um mit letzterem zu beginnen, so ist natürlich das Kochen von 
Speisen im Logis, wie häufig noch auf Segelschiffen, schon wegen der 
dort höchst primitiven, rauchentwickelnden Herdanlage zu verbieten; 
aus der Küche sind die von Speisen und Heizung ausgehenden Dünste 
abzuleiten, wie überhaupt dieser meist enge Raum wegen der höchst 
belästigenden Wärmestrahlung doppelt gut gelüftet sein muss. Die 
Hitze muss durch Isolierschichten oder eine geeignete Aufstellung des 
Kochherdes vom Logis ferngehalten werden. Sonst bietet die Räum¬ 
lichkeit der Küche hygienisch nichts zu bemerken. Wird das Logis 
nicht durch Dampfheizung erwärmt, so kann der Füllschacht des 
Ofens zweckmässig in eine benachbarte Küche münden. 

Ein Vorraum ist aus verschiedenen Gründen notwendig: es ist 
nicht wünschenswert, dass der Weg vom Logis zum Abort über Deck 
führt, da derselbe nachts oft in dürftiger Bekleidung, auch von Kranken 
aufgesucht werden muss; dasselbe gilt noch mehr vom Bade; einen 


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Dr. Karl Opitz, 


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von beiden Räumen unmittelbar ins Logis mündenden Eingang zu 
schaffen, ist gleichfalls wegen der unter Umständen belästigenden 
Luftverderbnis verwerflich; überdies ist ein Raum erforderlich, in dem 
der Seemann feuchtes, wassertriefendes Oelzeug und Stiefel, sowie 
nasse Kleider ablegen kann, ehe er das Logis betritt; beides würde 
sonst durch Feuchtigkeit und üblen Geruch lästig werden (9, 355). 
Im gleichen Vorraum befinden sich vorteilhaft auch abschliessbare 
Kästen, in denen andere Kleidungsstücke und sonstige hygienisch 
zweifelhafte Habseligkeiten besser verstaut werden, als in der üb¬ 
lichen, das Logis einengenden Seekiste. Der Schrank für das Oelzeug 
muss, etwa durch eine Türe aus Drahtgeflecht, gut zu lüften sein; 
der Fussboden sei zementiert, und habe ein Abflussrohr für das nieder- 
triefende Wasser; im übrigen kann er dem sogleich zu beschreibenden 
Bade gleichen. 

Ein solches findet sich noch durchaus nicht auf allen Schiffen, 
und doch ist die Pflege der Haut, besonders in den Tropen, eine 
conditio sine qua non des Wohlbefindens. Auch mit Rücksicht auf 
die häufigen übertragbaren Krankheiten an Bord, Krätze, Trachom, 
Geschlechtskrankheiten, Furunkulose, sowie Läuse und andere Para¬ 
siten, ist künftig mehr als bisher auf Reinlichkeit zu achten. Der 
§ 56 der Seemannsordnung (38, 29) fasst die Einrichtung von Wasch- 
und Bade räumen ins Auge, und auch § 120 der Gewerbeordnung 
(19) Hesse sich wenigstens für Dampfer anwenden: „In Anlagen, deren 
Betrieb es mit sich bringt, dass die Arbeiter sich umkleiden und nach 
der Arbeit reinigen, müssen ausreichende Waschräume vorhanden sein.“ 
Aus oben bereits erwähnten Gründen hat das Bad so zu liegen, dass 
es vom Wohnraume aus zu erreichen ist, ohne dass man das Deck 
überschreitet. Für die Wände und Decken ist ein Anstrich des Eisens 
mit Oelfarbe oder einer antibakteriellen Farbe empfehlenswert. Der 
Fussboden sei zementiert und habe einen Abfluss nach aussenbor.ds, 
der jedoch vermittelst eines Ventils das Regurgitieren der Flüssigkeit 
verhindere. Eine abnehmbare, hölzerne Gräting schützt die Füsse 
am besten gegen die kalte Nässe des Zements und ist leicht zu 
reinigen. An Badeeinrichtungen genügt zur Not eine von der Zir¬ 
kulationswasserleitung gespeiste Seewasserbrause; ist letzteres aber 
zum Duschen zu kalt, so wird man es am besten mit Dampf aus 
der Zentralheizung erwärmen (28, 208). Welche Methode, dies zu 
tun, am zweckmässigsten ist, sei hier nicht erörtert. Selbst primitive 
Brauseeinrichtungen behauptet Nocht (35, 164) noch nie mit Wärme- 


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Welche Anforderungen sind vom hygienischen Standpunkte etc. 357 

Vorrichtungen gesehen zu haben. Eine Badewanne für Vollbäder ist 
nur in heissen Gegenden zu verwenden, da die Erwärmung genügender 
Seewassermengen für die Mannschaft zu kostspielig wäre. Da eine 
Brause vollauf zur Körperreinigung genügt, kann man häufig von der 
Aufstellung einer Badewanne ganz absehen. Nach dem Bade ist eine 
Abspülung des Körpers mit wenig Süsswasser vorteilhaft, um eine 
Entzüudung der zumal in den Tropen an sich empfindlichen Haut 
durch den Reiz des zurückbleibenden Salzes zu verhüten. Dass der 
Baderaum auch einer genügenden Lüftung ohne Erzeugung er¬ 
kältenden Zuges, sowie ausreichenden Lichtes bedarf, ist wohl selbst¬ 
verständlich. 

Für die Klosetts empfiehlt sich eine dem Bade entsprechende 
Einrichtung; auch sie sollen nur an Deck liegen. Der Trichter sei 
aus verzinntem Kupferblech oder einer irdenen Masse; eine hölzerne 
Brille und ein gleicher Deckel vervollständigen die Einrichtung. Die 
Spülung erfolgt dauernd oder intermittierend von der Zirkulations¬ 
pumpe aus, der Abfluss geht aussenbords bis zur Wasserlinie und hat, 
um das fontäneartige Rückspritzen des Wassers bei andrängendem 
Seegange zu verhüten, ein möglichst tiefliegendes Ventil und ein unter¬ 
halb desselben abzweigendes, bis über das oberste Deck verlängertes 
Luftabrohr. Urinrinnen lassen sich neben dem Trichter anbringen, 
finden sich aber auch vielfach ausserhalb des Klosettraums an Deck; 
zur Minderung ihres Geruchs werden sie mit Kohlenteer bestrichen (1, 9). 

Kranke Seeleute sollten stets nach Möglichkeit aus dem Logis 
entfernt werden und in einem Hospital Unterkunft finden; ein solches 
sollte auf keinem Schiffe für grosse Fahrt fehlen; welche Anforderungen 
die Hygiene an die Einrichtung desselben zu stellen hat, liegt ausser¬ 
halb des Rahmens dieser Arbeit. 

Fassen wir das Vorstehende zusammen, so wird man bei 
der Aufstellung von Anforderungen an die Unterbringung von Mann¬ 
schaften auf Kauffahrteischiffen, wie Nocht(35, 165) hervorhebt, nicht 
für alle Schiffe Gleiches verlangen dürfen; die Forderungen müssten 
sich sonst auf ein zu geringes Minimalmass beschränken, um unter 
allen Umständen durchführbar zu sein. Es kann also z. B. für grosse 
Segelschiffe in Bezug auf den Luftkubus mehr verlangt werden, während 
man auf grossen Schnelldampfern die Forderungen in dieser Beziehung 
reduzieren muss, wofür hier die künstliche Lufterneuerung um so er¬ 
giebiger sein kann. Die folgenden Sätze dürften etwa als diejenigen 
Anforderungen zu bezeichnen sein, die man vom hygienischen 


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Dr. Karl Opitz, 


Standpunkte an die Unterbringung der Mannschaften auf dem 
Durchschnitt der Kauffahrteischiffe, auf mittelgrossen Fracht¬ 
dampfern mit wenig Passagierbeförderung, stellen kann: 

Das Mannschaftslogis soll von Bilge-, Lade-, Heiz-, Maschinen-, 
Kohlen-, Proviant- und Vorratsräumen nach Möglichkeit isoliert und 
nicht unter der Wasserlinie liegen. 

Der Fussboden sei mit leinölgetränktem Holze oder einem 
Materiale von ähnlichen Eigenschaften belegt. Die Wände seien mit 
einem glatten Holzkleid belegt, das mit einem glatten, leicht zu reinigen¬ 
den, und zu Beginn jeder Reise, sonst mindestens halbjährig zu er¬ 
neuernden, hellen Farbenanstrich versehen sei. In den Tropensei 
die Aussenwand gleichfalls hell gestrichen. Liegen bewohnte Räume 
unmittelbar unter einem oberen, eisernen Deck, so ist dasselbe mit 
einer 7 cm dicken Holzbebohlung zu bekleiden. 

Für den Kopf der Besatzung sind im Durchschnitt mindestens 
5 cbm Rauminhalt bei mindestens 2 qm Bodenfläche und einer 
Deckhöhe von mindestens 2 m zu gewähren. Zur Lüftung dienen 
für jeden Raum mindestens zwei Ventilatoren, die für jeden Be¬ 
wohner mindestens 80 qcm Gesamtdurchmesser haben, und für künst¬ 
liche Lufterneuerung dienende Einrichtungen besitzen. 

Das Logis muss mit einer dasselbe genügend und gleichmässig er¬ 
wärmenden Heizvorrichtung versehen sein, sowie natürliches Licht 
und ohne Belästigung funktionierende künstliche Lichtquellen in 
solcher Menge haben, dass das mühelose Lesen kleiner Druckschrift, 
tagsüber an allen Stellen des Raumes, ermöglicht wird. 

Die Kojen, 1,83 m lang und 0,60 m breit im Minimum, sind 
aus mit heller Farbe gestrichenem Eisen herzustellen*, es sollen nicht 
mehr als zwei Schichten übereinander vorhanden sein; die untere 
sei mindestens 15 cm vom Fussboden, die obere mindestens 75 cm 
von der Decke entfernt. Bettzeug und für die Tropen Moskito¬ 
netze werden von der Rhederei zu Beginn der Reise, ausserdem aber 
mindestens halbjährlich, geliefert. 

Zum Kochen und zur Aufbewahrung feuchter Kleidung seien 
vom Wohnraum gesonderte Gelasse vorhanden. -Für je 20 Mann 
der Besatzung befinde sich nahe beim Logis über Deck je mindestens 
ein Kloscttsitz und ein Baderaum mit genügender Einrichtung für 
kalte und warme Douehen. 


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Welche Anforderungen sind vom hygienischen Standpunkte etc. 359 


Benutzte Unellen. 1 ) 

1. Anleitung zur Gesundheitspflege an Bord von Kauffahrteischiffen. 1899. 

2. Armstrong: Diskussion zu: Coppinger, Sanitation afloat. Transactions 
of the 7th international Congress of Hygiene and Demograpby. 1892. VIII, 30. 

3. Boehr, Ueber Schiffsluft. Beiheft zum Marineverordnungsblatt. 1882. 

4. Bourdon, Projet d’installation d’un second plafond en amiante pour diminuer 
la chaleur des chambres et de l’infirmerie. Archives de mödecine navale. 
1900. 4. 

5. Busley, Die gesundheitlichen Einrichtungen der modernen Dampfschiffe. 
Zeitschrift des Vereins deutscher Ingenieure. 1897. 1 ff. 

6. Derselbe, Referat über: Die gesundheitlichen Verhältnisse in der Handels¬ 
marine und auf den modernen Dampfschiffen. Deutsche Vierteljahrsschrift f. 
öffentliche Gesundheitspflege. 1897. XXIX. 

7. Cannstadt - Virchow - Hirsch’s Jahresberichte über die Leistungen und 
Fortschritte der gesamten Medizin. 

8. Coppinger, Sanitation afloat. Transactions of the 7th. international Congress 
of Hygiene and Demography. 1892. VIII. 

9. Davids, Schiffshygiene. 17. Jahresbericht über die Fortschritte u. Leistungen 
auf dem Gebiete der Hygiene. 1899. 

10. Das englische Transport- und Hospitalschiff Serapis und einige Bemerkungen 
über Hygiene auf Seereisen. Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medizin und 
öffentliches Sanitätswesen. 1869. 

11. Der neue Doppelschraubenschnelldampfer Kaiser Wilhelm II. Norddeutscher 
Lloyd. 1903. 

12. Deutsche Seemannsordnung vom 2. Juni 1902. 

13. Deycke, Versuche mit Amphibolinfarben. Cbl. f. Bakteriolog. 1898. XXIII. 

14. Dittmer, Handbuch der Seeschiffahrtskunde. 1894. 

15. Eulenburg, Handbuch des öffentlichen Gesundheitswesens. 1881. 

16. Flügge, Grundriss der Hygiene. 1897. 

17. Gärtner, Untersuchungen über die Ventilationsverhältnisse an Bord S. M. 
Panzerkorvette „Sachsen“. Vierteljahrsschrift f. öffentliche Gesundheitspflege. 
1881. 

18. Derselbe, Leitfaden der Hygiene. 1899. 

19. Gewerbeordnung vom 21. Juni 1869. 

20. Haack, Hygienische Einrichtungen auf Schiffen. Hygienische Rundsch. 1891. 

21. Hayne, Proceedings of the Royal Medico-chirurgical Society of London. 
1873. VII. 

22. Heimes, Ueber das Verhalten der Anstrichfarben zu den pathogenen Bakterien. 
Deutsche medizinische Wochenschrift. 1899. 

23. Herwig, Ueber Schiffshygiene an Bord von Auswandererschiffen unter Berück¬ 
sichtigung der See-Sanitätsgesetzgebung von Bremen und Hamburg, England, 
Frankreich und Nordamerika. Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medizin und 
öffentliches Sanitätswesen. 1878. XXVIII. 

1) Römische Zahlen bezeichnen einen Band, arabische ein Heft, arabische 

nach einem Komma eine Seite. 


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24. Hüppe. Handbuch der Hygiene. 1899. 

25. Jahresbericht über die Fortschritte und Leistungen auf dem Gebiete der 
Hygiene. 

26. Kleffel, Hospitalschiffe. In: Liebe - Jacobsohn - Meyer, Handbuch der 
Kranken Versorgung und Krankenpflege. 1903. 

27. Koch-Gal'fky, Versuche über die Desinfektion des Kiel- oder Bilgeraums von 
SchilTen. Arbeiten aus dem Kaiserlichen Gesundheitsamte. 1886. 

28. Kulenkampff, Schiffshygiene. In: Weyl, Handbuch der Hygiene. 1897. ' 

29. Marinesanitätsordnung an Bord. 1893. 

30. Merchant Shipping Act. 1867. 

31. Nocht, Wie sind an Bord die Aborte, Wasch- und Badeanstalten zweckmässig 
einzurichten? Beiheft zum Marineverordnungsblatt. 1888. 

32. Derselbe, Hygienischer Teil von: Behring, Bekämpfung der Infektions¬ 
krankheiten. 1893. 

33. Derselbe, Deutsche nautische Zeitschrift Hansa. 1895. 

34. Derselbe, Bemerkungen zur Schiffshygiene. Hygienische Rundschau. 1895. 

35. Derselbe, Korreferat über: Die gesundheitlichen Verhältnisse in der Handels¬ 
marine und auf den modernen Dampfschiffen. Deutsche Vierteljahrsschrift für 
öffentliche Gesundheitspflege. 1897. XXIX. 

36. Derselbe, Spezielle Krankenversorgung in der Handelsmarine. In: Liebe- 
Jacobsohn-Meyer, Handbuch d. Krankonversorgung u. Krankenpflege. 1903. 

37. Pappenheim, Handbuch der Sanitätspolizei. 1858. 

38. l’erels, Die Seemannsordnung vom 2. Juni 1902. 

39. Persistance of Yellow Fever Infection on Shipboard. Medical Record. New- 
York. 1901. 

40. Plumert, Gesundheitspflege auf KriegsschilTen. 1900. 

41. Poech, Lrgebnisse einer Reise längs der Küste von Senegambien und Ober¬ 
guinea. Archiv für Schiffs- und Tropenhygiene. 1903. 

42. Rabinowitsch, Leber desinfizierende Wandanstriche mit besonderer Berück¬ 
sichtigung der Tuberkulose. Zeitschrift für Hygiene und Infektionskrank¬ 
heiten. 1902. 

43. Rattray; Proceedings of the Royal Medico-chirurgical Society of London. 
1873. VII. 

44. Reineke, Referat über Schiffshygiene. Deutsche Vierteljahrsschrift für öffent¬ 
liche Gesundheitspflege. 1881. 

45. Derselbe, Schiffshygiene, ln: Eulenburg, Handbuch des öffentlichen Ge¬ 
sundheitswesens. 1881. 

46. Derselbe, Das hamburgische Gesetz betreffend das Aus Wanderer wesen vom 
14. Januar 1887. Deutsche Vierteljahrsschrift f. öffentliche Gesundheitspflege. 

1888. 

47. Rubner, Lehrbuch der Hygiene. 1900. 

48. Schonek, Leber Schiffshygiene. Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medizin 
und öffentliches Sanitätswesen. 1898. 

4'.*. Schmidt, Jahrbücher der gesamten Medizin. 

50. Sen ftl eben, Leber Sterblichkeit und Erkrankungen auf Auswandererschiffen. 
Deutsche Vierteljahrsschrift für öffentliche Gesundheitspflege. 1869. 


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Welche Anforderungen sind vom hygienischen Standpunkte etc. 361 

51. Senftleben, Zum Sanitätswesen der Handelsflotte. Vierteljahrsschrift für 
gerichtliche Medizin und öffentliches Sanitätswesen. 1876. 

52. Turner, zitiert von Kulenkampff 28, 192. 

53. Uthemann, Ueber die sanitätspolizeilichen Massnahmen zur Herstellung ge¬ 
sunder Unterkunftsräume auf Schiffen. Vierteljahrsschrift für gerichtl. Medizin 
und öffentliches Sanitätswesen. 1900. 

54. Walbrach, Zur Schiffshygiene. Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medizin 
und öffentliches Sanitätswesen. 1861. 

55. Wernich, Schiffshygiene. In: Daume, Handwörterbuch der öffentlichen 
und privaten Gesundheitspflege. 1891. 


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8 . 


Uefoer die für das Puerperalfieber in Betracht 
kommenden Mikroorganismen und die Prophylaxe 
der Krankheit vom sanitätspolizeilichen Standpunkt. 

Von 

Dr. Hugo Marx, 

Assistent der rnterrichtsansialt für Staatsarzneikunde zu Berlin. 

(Schluss.) 


Der Nachweis der Bakterien 

kann auf verschiedene Weise geführt werden. Zunächst durch die 
bakteriologische Untersuchung der Lochien. Diese hat nicht nur 
kulturell, sondern vor allem auch mikroskopisch zu geschehen. Die 
Entnahme des Sekrets geschieht am zweckmässigsten nach der von 
Menge und Krönig (1. c.) angebenen Methode, die hier nicht weiter 
ausgeführt werden kann. Der grösste Teil des gewonnenen Sekretes 
wird zu Kulturzwecken und zwar zur Anlegung aerober und anaerober 
Kulturen sofort in bekannter Weise verarbeitet. Der Sekretrest wird 
nach Bestimmung seiner chemischen Reaktion, seines Geruches und 
des makroskopischen Aussehens zunächst ungefärbt bei schwacher Ver- 
grösserung (Zählung der Leukozyten), sodann im hängenden Tropfen 
und endlich, nach Färbung mit einer basischen Anilinfarbe, unter dem 
Mikroskop betrachtet. Die mikroskopische Untersuchung bringt uns 
alle vorhandenen Keimarten, wenigstens morphologisch zu Gesicht. 
Im Kulturverfahren werden bekanntlich oft genug Arten, die nur durch 
wenige Keime repräsentiert sind, von andern Arten überwuchert. End¬ 
lich ist noch in jedem Falle ein Tierexperiment in Erwägung zu ziehen; 
davon später mehr. In Fällen von Septikämie und Pyämie ist die 
Bakterioskopie des Blutes (am besten nach Canon, Petruschky 1. c.) 


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lieber die für das Puerperalfieber in Betracht kommend. Mikroorganismen etc. 363 


vorzunehmen, bei Pyämie soll auch, event. aus Abszessen entleerter 
Eiter untersucht werden. Die Entnahme von Blut zur Vornahme von 
Agglutinationsversuchen kann geschehen, es ist nicht undenkbar, dass 
uns die agglutinierende Wirkung des Serums auf die eine oder andere 
Keimart gelegentlich eine sichere Differentialdiagnose stellen lassen 
kann. Nach tödlich endigenden Fällen muss die bakteriologische 
Untersuchung, wenn sie zuverlässige Resultate liefern soll, spätestens 
"24 Stunden p. m. gemacht werden, da nach dieser Zeit Darmbakterien in 
fast alle Organe, in die Blutgefässe und in das Herz einzuwandern 
pflegen. Die postmortale Bakterioskopie hat sich im besonderen auch 
auf die histologisch-bakteriologische Untersuchung des Endometrium, 
des Peritoneum, der Lymph- und Blutgefässe der Genitalorgane und 
des kleinen Beckens zu erstrecken. (Vgl. die Untersuchungen von 
Bumm, Gärtner, Krönig, Widal 1. c.) 

Finden wir in den Organen die Lymph- oder Blutgefässe oder 
beide mit Keimen angefüllt, so dürfen wir mit Gewissheit behaupten, 
dass eben diese Keime die Erreger der Infektion gewesen sind, ebenso 
wie die Gasphlegmone, ein gasblasenhaltiges Oedem eine Anaeroben- 
infektion anzunehmen gestatten. Sehr häufig aber kann uns der bak¬ 
teriologische Befund vollkommen im Stich lassen, nicht weil er gar 
nichts ergibt, sondern weil er zu viel ergibt. Der Fälle, in denen 
mikroskopisch wie kulturell in den Lochien nur eine Keiraart vor¬ 
handen ist, sind nur wenige. So sind wir eben für eine Reihe von 
Fällen auf die Annahme einer Mischinfektion verwiesen. Welche Rolle 
die Vorgefundenen Keime in der Symbiose spielen, ist eigentlich fast 
nie mit Gewissheit zu entscheiden. Selbst der Tierversuch kann uns 
in solchen Fällen nicht immer unsere Frage nach der oder nach den 
virulentesten Keimarten beantworten. Wenn wir den Tierversuch zur 
Klärung des bakteriologischen Befundes heranziehen, so darf man m. E. 
nicht erst die kultivierten und isolierten Keime benutzen: es ist viel¬ 
mehr ein Quantum des frisch entnommenen Sekretes oder Blutes dem 
Tiere zu injizieren. In einer Reihe von Fällen können wir dann er¬ 
warten, in den Organen des getöteten Tieres den oder die eigentlichen 
Erreger der Puerperalinfektion vorzufinden. In andern Fällen versagt 
das Experiment vollkommen. Die Mitteilung Rieländer’s (48), der 
die einer schweren Sepsis entstammenden Streptokokken im Tierversuch 
als vollkommen avirulent erfand, ist bezeichnend für die Bewertung 
dieses Experimentes. Im übrigen wird man sich damit begnügen 
müssen, zu sagen, dass die Infektion eben der Einwanderung mehrerer 

Vierteljahrsschrift f. ger. Med u. tfff. San.-Wesen. 3. Folge. XXVIII 2. 94 


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364 


Dr. Hugo Marx, 


Keimarten zuzuschreiben sei; wir finden ja auch im Eiter von infek* 
tiösen Prozessen, die ihrerseits die Infektionsquelle für eine Puerperal¬ 
erkrankung abgegeben haben, häufig genug mehrere Keimarten neben 
einander. Heber die Wahl der Nährböden, vor allem über die zu be¬ 
vorzugende chemische Reaktion derselben gehen die Meinungen weit 
auseinander. Bouillon darf nur da gewählt werden, wo man sicher 
sein kann, nur eine einzige Keimart anzutreffen, sonst ist unbedingt 
Agar zu verwenden. Die Bruttemperatur soll natürlich immer 37° sein. 

Die Virulenz der Bakterien. 

Wir sind berechtigt anzunehmen, dass ceteris paribus eine Keim¬ 
art um so stärkere Wirkungen ausübt, in je grösserer Mpnge sie in 
den Körper eingeführt wird. Wir besitzen natürlich keinen Massstab. 
weder dafür, wieviel Keime eingeführt sind, noch dafür, bei welchem 
Quantum die Keime beginnen gefährlich zu werden. Sind wenige 
Keime in den Genitalschlauch gelangt, so wird ein kräftiger Organis¬ 
mus ihrer bald Herr; ein Leukozytenwall errichtet eine unüberwind¬ 
liche Grenze: Phagozytose und die natürlichen bakteriziden Kräfte des 
Blutes und der Gewebszellen tun das Ihrige, die wenigen Keime un¬ 
schädlich zu machen. 

Ein zweiter feststehender Satz ist der, dass, je virulenter die 
Keime sind, eine desto geringere Anzahl von ihnen genügt, eine schwere 
Infektion hervorzurufen. Aber was ist nun diese Virulenz selbst? 
Wir sehen einmal Streptokokken eine fieberlose, fast harmlos zu 
nennende Endometritis hervorrufen. Streptokokken sind ein andermal 
die Erreger der schwersten Sepsis. Dort wuchern sie unschädlich an 
der Oberfläche des Endometrium, hier brechen sie in die Tiefen des 
Gewebes ein und überschwemmen den ganzen Körper mit ihren Leibern 
und Giften. Es ist in die Hand des Experimentators gegeben, durch 
Variieren der Lebensbedingungen der Bakterien ihre Virulenz in ge¬ 
wissem Grade abzustufen. Züchtung bei Temperaturen oberhalb oder 
unterhalb des Teraperaturoptimum mindert die Virulenz, häufiges Durch¬ 
schicken durch den Tierkörper steigert sie bis zu den höchsten Graden; 
züchtet man die Mikroben in Tieren, die für die betreffende Keimart 
relativ immun sind, so schwächt man die Virulenz der Keime u. s. f. 
Dies alles vermag das Experiment — ausserhalb des menschlichen 
Körpers. Jenseits der Schwelle des menschlichen Körpers wechselt 
die Virulenz der Keime unberechenbar und rätselhaft. Die Virulenz 
im menschlichen Körper scheint eine ganz anders geartete zu sein, 


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Ueber die für das Puerperalfieber in Betracht kommend. Mikroorganismen etc. 365 


als diejenige, welche der experimentierende Bakteriologe im Tierexperi¬ 
ment erzeugt und vorfindet. Der beste Kenner der Puerperalfieber¬ 
mikroorganismen, Krönig, sagt (20, S. 35), dass Streptokokken von 
fieberlosen Wöchnerinnen am Kaninchenohr ein ausgedehntes Erysipel, 
dass umgekehrt Streptokokken von schwerkranken Wöchnerinnen 
manchmal „kaum nachweisbare entzündliche Erscheinungen erzeugten“. 
Zweifellos findet das Rätsel der Virulenz zum Teil in der verschiedenen 
Disposition der Frauen für die Infektion, in der verschiedenen Art der 
Körper, auf die Einführung von Bakterien zu reagieren, seine Lösung. 
Die Momente, die für der. Grad dieser Disposition massgebend sein 
können, wurden schon erwähnt. Ferner hat uns die später zu erörternde 
Lehre von der Selbstinfektion gewisse Tatsachen offenbart, die einiges 
Licht über das Wesen der Virulenz verbreiten. Wir sahen, dass die¬ 
selbe Keimart, innerhalb der Genitalien, parasitisch und saprophytiseh 
existieren und wirken kann. Wir wissen, dass Bakterien, die eine 
zeitlang saprophytiseh gelebt haben, für gewöhnlich nicht im stände 
sind, einen gefährlichen Parasitismus auszuüben; man muss sagen: 
für gewöhnlich, denn auch diese Regel erduldet viele Ausnahmen, 
deren Bedingungen sich bisher unserer Kenntnis entziehen. Bekannt 
ist die saprophytische Natur der auf der normalen Menschenhaut 
existierenden Mikrokokken (Streptokokken und Staphylokokken), und 
es ist doch nicht daran zu zweifeln, dass selbst diese harmlosen Keime 
gelegentlich, z. B. für die Entstehung eines Abszesses, Furunkels, ja 
einer traumatischen eitrigen Meningitis eine bedeutsame Rolle spielen 
können. Jedenfalls aber dürfen wir, vor allem aus praktischen Gründen, 
diese eine zeitlang saprophytiseh fortgewachsenen Keime in einen 
scharfen Gegensatz bringen zu jenen Keimen, die unmittelbar aus einer 
parasitischen Existenz heraus, ausgerüstet mit den höchst ausgeprägten 
und verderblichsten Arteigenschaften ihren Eingang in die Genitalien 
finden. Damit sind gemeint die Keime, die einem Erysipel, einem 
Abszess, einer Phlegmone, einem Leichenteile, einem zerfallenden 
Karzinom entstammen. Hier ist der parasitische Artcharakter auf das 
Vollkommenste ausgebildet, hier hat der Mikroorganismus die günstigsten 
Lebensbedingungen erfahren, und aus diesen günstigsten Bedingungen 
wird er, so kann man sagen, unter die allergünstigsten, in die wunden 
Genitalien einer Wöchnerin, versetzt. Olshausen und Veit (1. c ) 
illustrieren die Wahrheit dieses Satzes durch die Wiedergabe einer Reihe 
ebenso unzweideutiger, wie trauriger Fälle von Puerperalfieberepidemieen. 
In gewissem Sinne bedeutet diese Herkunft der infektiösen Keime aus 


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366 


Dr. Hugo Marx, 


einem Erysipel, einer Phlegmone, nichts anderes, als eine Passage 
durch einen von den Keimen schwer infizierten Körper, eine Passage, 
welche die Virulenz auf ein hohes Mass gebracht hat. 

Sehen wir zunächst einmal ab von den selteneren Fällen, in 
denen ein Erysipel eine Phlegmone oder sonst ein eitriger Prozess 
am Körper der Wöchnerin selbst die Keime (ür die puerperale In¬ 
fektion abgibt, so sind es zunächst die Hände des Geburtshelfers, 
der Hebamme, des Arztes, die Instrumente, Verbandstoffe u. s. w., 
welche den Zwischenträger der Infektion darstellen. Es ist müssig 
zu sagen, wie oft der Arzt in der allgemeinen Praxis gezwungen ist, 
an demselben Tage z. ß. eine Phlegmone, einen Furunkel zu in- 
zidieren, und wenige Stunden später eine schwere Geburt zu leiten: 
genug, dass diese Möglichkeit mehr als zu häufig gegeben ist. Es 
leidet ebensowenig einen Zweifel, dass die Hebamme, vor allem wenn 
sie in einem weitläufigen ländlichen Bezirk die einzige ihres Gewerbes 
ist, nicht nur von normalen, sondern auch von fiebernden Wöchnerinnen 
zu einer Kreissenden zu eilen, oft genug gezwungen ist. Für eben 
diese Zwischenträgerrolle der Hände und Gegenstände, auch der 
Kleider der Geburtshelfer, ist von bedeutsamem Einfluss die Wider¬ 
stands- oder besser die Lebensfähigkeit, die Tenazität der Infektions¬ 
keime. Der einzige Sporenbildner unter den Mikroorganismen des 
Puerperalfiebers ist der Bazillus des malignen Oedems, der indes 
ausserordentlich selten gefunden wird. Alle übrigen werden zwar 
gleichmässig durch heisses Wasser von 55—60° in 5—10 Minuten 
abgetötet, aber ihre Tenazität allen übrigen Einflüssen, vor allem dem 
Eintrocknen gegenüber, ist eine ganz verschiedene und gerade dieser 
Umstand ist von hervorragender praktischer Bedeutung. Eben dies 
hat uns ja auch raitbestiramt, gerade den Gonokokkus von den Er¬ 
regern des Puerperalfiebers auszuschliessen; vollkommene Eintrocknung 
macht diesen Mikroorganismus durchaus infektionsuntüchtig: nach 
wenigen Stunden der Eintrocknung ist seine Wachstumsfähigkeit für 
immer erloschen. Ara längsten leben die aus infektiösen Prozessen 
stammenden Staphylokokken und Streptokokken. Noch nach Wochen 
der Eintrocknung hat man sie lebensfähig gefunden. In Blut an¬ 
getrocknet, leben Streptokokken bis zu 45 Tagen; Staphylokokken 
bleiben im Eiter sogar bis zu 100 Tagen lebendig. Für die sporen¬ 
losen Anaerobier sind meines Wissens solche Tenazitätsprüfungen noch 
nicht gemacht. Es wäre wünschenswert, auch von ihnen die Wider¬ 
standsfähigkeit im Zustande der Eintrocknung keimen zu lernen. — 


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Ueber die für das Puerperalfieber in Betracht kommend. Mikroorganismen etc. 3H7 


Eine Darstellung der Bakteriologie des Puerperalfiebers darf nicht 
vorübergehen an der Lehre von der 

Selbstinfektion. 

Name und Begriff der Selbstinfektion in der Geburt und im 
Wochenbett knüpfen sich an den Namen Semmelweis. Zersetzung 
des Lochienflusses, Zurückbleiben und Zersetzung von Plazentarteilen 
und Blutgerinnseln, Quetschungen der Genitalien, das waren ihm die 
Momente für das Zustandekommen einer Selbstinfektion. Wurde die 
ektogene Infektion durch Einbringen eines zersetzten tierisch-orga¬ 
nischen Stoffes von aussen verursacht, so war die Selbstinfektion 
durch eine innerhalb der Grenzen des Organismus selbst erfolgende 
Zersetzung eines solchen Stoffes zu erklären. 

Das war in der vorbakteriologischen Zeit. Nun ist die Bakterio¬ 
logie gekommen, Asepsis und Antisepsis sind zu hoher Vollendung 
gediehen, die klinische Beobachtung mit ihren exakten Temperatur¬ 
messungen hat neue Erkenntnis vermittelt, und all’ diese Momente 
haben an die Stelle jenes Semmelweis’schen Begriffes einen neuen 
Begriff der Selbstinfektion gestellt. 

Die Gebärhäuser der Universitäten mit ihren vollkommenen Ein¬ 
richtungen, ausgerüstet mit allen Erfordernissen einer vorgeschrittenen 
Hygiene, bedient von wohlunterrichteten, in allen Künsten der Asepsis 
und Antisepsis bewanderten Aerzten, haben die Morbidität und 
die Mortalität der Wöchnerinnen nicht ganz beseitigen können. Man 
hat die Frauen ununtersucht gelassen, man hat selbst die Hände der 
Frauen desinfiziert, um etwaige Selbstuntersuchungen unschädlich zu 
machen: ein Rest fiebernder Wöchnerinnen ist geblieben, hier und da 
erliegt immer wieder eine Frau dem Fieber. Man wurde mit zwingender 
Notwendigkeit auf die Annahme einer Selbstinfektion hingewiesen. 
Man begann nach ihren Ursachen zu suchen, und man hat mancherlei 
gefunden. 

Von jenen Fällen von Selbstinfektion, wie sie oft genug draussen 
in der -Praxis Vorkommen mögen, von jenen Fällen, die durch Selbst¬ 
untersuchung, durch den Schmutz und den fahrlässigen Leichtsinn der 
Frauen selbst und ihrer Umgebung verursacht werden, und welche 
den Gerichtsarzt lebhaft interessieren, von diesen wird hier nicht die 
Rede sein. Sie sind nicht verwendbar für die einwandsfreie bak¬ 
teriologische Begründung der Lehre von der Selbstinfektion, zu 
deren Darstellung wir nunmehr übergehen. 


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368 


Dr. Hugo Marx, 


Ahlfeld (84—88) unterscheidet genitale, hämatogene und Kon- 
tinuitäts-Selbstinfektion. Die Selbstinfektion per continuitatera ent¬ 
steht durch Exazerbation alter entzündlicher Prozesse im Bereiche 
der Genitalorgane und ihrer Umgebung; hämatogene Selbstinfektion 
ist möglich von einem anderen Infektionsherd im Körper der Wöch¬ 
nerin aus (Streptokokkenangina, Pneumonie, Mastitis [Ahlfeld, 
v. Rosthorn 111]). Die genitale Selbstinfektion liegt da vor, „wo 
schon vor der Geburt oder während derselben, in einzelnen Fällen 
vielleicht auch erst nach derselben, die pathogenen Mikroorganismen 
spontan oder durch Hilfe eines aseptischen Fingers oder Instrumentes 
in die keimfreien Partien des Genitalschlauches oder in die Gewebe 
gelangen und so Intoxikation oder Infektion hervorrufen“ (Ahlfeld 84). 
Mit Ahlfeld’s Definition deckt sich annähernd die von Kaltenbach 
(83), während andere Geburtshelfer den Begriff der Selbstinfektion 
sehr viel enger fassen. So will Bumm (18) unter Selbstinfektion 
nur diejenige Puerperalinfektion verstanden wissen, welche durch die 
normalerweise in der Scheide lebenden Mikroorganismen hervorgerufen 
werden kann. Menge und Krönig (15, 20, 22) fordern, dass auch 
eine Infektion, welche von den auf der Haut der Wöchnerin, be¬ 
sonders auf der Haut der äusseren Genitalien vorkommenden Mikroorga¬ 
nismen hervorgerufen werden kann, als Selbstinfektion bezeichnet werde. 

Scheidet man die hämatogene und die Kontinuitäts- bezw. Kontakt- 
Selbstinfektion, deren Möglichkeit niemand leugnen wird, aus dem 
Gebiet der Selbstinfektion aus, so bleiben die Fälle übrig, in denen 
die Bakterien der gesunden Haut der Genitalien und des normalen 
Genitalschlauches selbst, eine puerperale Infektion hervorzurufen fähig 
sein sollen. Man kann aber mit Bumm noch einen Schritt weiter 
gehen und auch die Hautbakterien ausschalten; die Streptokokken, 
Staphylokokken, das Bacterium coli, die wir an der Haut der äusseren 
Genitalien und ihrer nächsten Umgebung vorfinden, führen dort einmal 
zweifellos eine saprophytische Existenz, sodass sie kaum jemals zu 
einer ernsthaften puerperalen Infektion Anlass geben werden. Dann 
aber können wir ihnen leicht durch unsere antiseptischen Massnahmen 
beikommen; wenn wir auch nicht hoffen dürfen, mit unseren Haut¬ 
desinfektionsmethoden, selbst mit den vollkommensten, die Haut im 
bakteriologischen Sinne keimfrei zu machen, so gelingt es doch, ein¬ 
mal, die Keimzahl auf ein Minimum zu verringern, zweitens die Virulenz 
der übrigen Keime auf Null herabzusetzen. 

So blieben denn noch die normalerweise im GenitalsehJaueh vor- 


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Leber die lur das Puerperalfieber in Betracht kommend. Mikroorganismen etc. 369 


kommenden Keime für die Frage der Selbstinfektion zu berücksichtigen. 
Von einer Infektionsmöglichkeit durch Luftkeime ist heute nicht mehr 
ernsthaft die Rede. 

Die moderne Lehre von der Selbstinfektion hat ihren Ursprung 
in der Erfahrung, dass trotz sorgfältigster Antisepsis und Asepsis, 
innerlich untersuchte sowohl wie innerlich nicht untersuchte Wöch¬ 
nerinnen in einer nicht geringen Anzahl fiebern. Von 1036 nicht 
untersuchten Wöchnerinnen Bucura’s (138) fieberten 95, davon 23 
schwerer bis zu 41°; v. Scanzoni (134) sah in 11,5 pCt. der Fälle 
Fieber bei nichtuntersuchten Schwangeren, Löwenstein (135) sah 
zweimal Sepsis ohne innere Untersuchung. Ahlfeld (86) stellt 23 Fälle 
von schwerem* Puerperalfieber ohne nachweisbare äussere Infektion 
zusammen. Verhält sich nun auch in der Statistik Bumm’s (136) 
z. B. das Verhältnis der Nichtuntersuchten zu den Untersuchten für 
die Morbidität wie 17 : 6, so muss es doch unerklärlich bleiben, warum 
nichtuntersuchte Wöchnerinnen, die auf keine Weise von aussen in¬ 
fiziert sein konnten, die auch keinerlei Eiterherde in sich tragen, die 
einer einwandsfreien Wochenbettshygiene teilhaftig wurden, dennoch 
fiebern. Einer der ersten, der sich zur Klärung der Frage mit der 
Bakteriologie der normalen Genitalien befasste, war Winter (90). 
Seither sind 15 Jahre verflossen, viele neue Tatsachen sind zu Tage 
gefördert, aber eine Einigung über die Resultate der bakteriologischen 
Forschung ist nicht erzielt. Man kann Fehling (112) getrost zu¬ 
stimmen, wenn er sagt, dass die letzten Jahre nur die Kompliziertheit 
der Verhältnisse gezeigt haben. Nur darüber scheint man heute eine 
allgemeine Gewissheit zu haben, dass Tuben und Uterushöhle gesunder 
Schwangerer und Wöchnerinnen keimfrei sind. Döderlein und Win¬ 
ternitz (105) fanden das Uterussekret bei 250 fieberfreien Wöch¬ 
nerinnen 207 mal, Czerniewski (26) fand es unter 57 Fällen 56mal 
steril. In den 43 Fällen von Döderlein und Winternitz (1. c.), 
die einen positiven bakteriologischen Befund zeigten, hatten die Wöch¬ 
nerinnen Rektumteraperaturen von 38—38,5, sodass man diese 43 
garnicht als normale Wöchnerinnen bezeichnen kann. Krönig fand 
das Uterussekret in 79 pCt. der Fälle steril; indessen ist er der An¬ 
sicht, dass die Uterushöhle absolut fieberfreier Wöchnerinnen immer 
keimfrei sei. Eine gewisse Einigkeit scheint ebenso bezüglich des 
Keimgehaltcs der Cervix der Schwangeren eingetreten zu sein. Wir 
geben hier eine schematische Zeichnung VValthard’s (99) wieder, 
welche diese Verhältnisse am besten illustriert. 


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370 


Dr. Hugo Marx, 


* 


Er teilt die Cervix in drei Zonen ein, die erste, der Scheide 
zunächst gelegene Zone enthält Mikroben und Leukozyten, die zweite 
intermediäre Zone wird durch einen Leukozytenwall gebildet, die 
dritte, dem Cavum uteri zugekehrte Zone enthält weder Leukozyten, 
noch Bakterien; auch Ahlfeld hat in seinem Lehrbuch dieses Schema 
akzeptiert. 





Eine fast absolute Dissonanz besteht in den Anschauungen über 
den Bakteriengehalt der Scheide und dessen Bedeutung für die Puer¬ 
peralinfektion. Auf der einen Seite stehen Menge und Krönig(15—22), 
Williams 1 ), Gönner (106), Samschin (109), v. Ott (108), die die 
Möglichkeit einer Selbstinfektion durch die Bakterien der Scheide 
durchaus in Abrede stellen. Menge und Krönig haben mit einem 
ungewöhnlichen Aufwand von Fleiss zu beweisen versucht, dass die 
pyogenen Kokken und das Bacteriura coli in der Scheide der Wöch¬ 
nerinnen unter normalen Verhältnissen nicht als Saprophyten leben, 
dass vielmehr die Stäbchen und die den pyogenen, morphologisch 
ähnlichen Kokken der normalen Scheide der Schwangeren und Wöch¬ 
nerinnen obligate Anaerobier sind, denen eine pathogene Wirkung 
nicht zukommt. Sie schliessen, dass die Vagina jeder nichttouchierten 
Schwangeren aseptisch ist. Auf dem Pariser Kongress fügt Menge 
(22) hinzu, dass das Verschleppen dieser anaeroben Keime nach oben, 
durch einen desinfizierten touchierenden Finger für eine Infektion be¬ 
deutungslos sei. Williams (1. c.) ist der Ansicht, dass die von an¬ 
deren Autoren gefundenen Staphylokokken und Streptokokken durch 
das Spekulum, das bei der Materialentnahme benutzt wird, mit ein¬ 
gebracht sind. Sobald er nämlich das Menge’sche Glasrohr benutzte, 
konnte er weder Staphylokokken noch Streptokokken nachweisen, 
deren Anwesenheit ein vorher benutztes Spekulum ihm vorgetäuscht 
hatte. Gönner (106, 107» fand Kokken, die leicht, und Stäbchen, 
die selten wuchsen; beide Formen erwiesen sich als nicht pathogen. — 

1) American obstet, jonrn. 18üs. 


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l 7 eber die für das Puerperalfieber in Betracht kommend. Mikroorganismen etc. 371 


Von besonderem Interesse sind die Anschauungen Bumm’s, wie aus 
den Verhandlungen des vorjährigen Kongresses der Deutschen Ge¬ 
sellschaft für Gynäkologie hervorgeht. Er konnte Streptokokken im 
Vaginalsekret Schwangerer in 75—86 pCt., im Uterussekret in 70pCt. 
und in den Lochien in 100 pCt. nachweisen und zwar nur kulturell 
in flüssigen Nährböden. Pathogene Wirkung entfalteten sie nur in 
drei Fällen; eine Differenzierung der Scheidenstreptokokken von pyo¬ 
genen Streptokokken ist nicht möglich. Gleich Bumm haben alle 
übrigen Autoren im Vaginalsekret der Schwangeren und Wöchnerinnen 
Staphylokokken und Streptokokken gefunden, als erster Winter (1. c.). 
Er fand die Kokken im Tierversuch zwar nie pathogen, schreibt aber 
dies Verhalten einer abgeschwächten Virulenz zu, die sich unter ge¬ 
wissen Bedingungen w'ieder steigern kann. Steffeck (91) fand im 
Vaginalsekret von 12 normalen Schwangeren, von denen 8 noch nie 
untersuchte Primaparae waren, 11 mal Staphylokokken und lmal 
Streptokokken, die im Tierversuch Abszesse und 5mal eine Allgemein¬ 
infektion erzeugten. Burguburu (39) fand im Vaginalsekret nicht 
untersuchter Erstgebärender unter 12 Fällen 3 mal pathogene Staphylo¬ 
kokken. Walthard (1. c.) konstatierte unter 100 Fällen 27mal 
Streptokokken, fast stets Staphylokokken. Die Streptokokken er¬ 
wiesen sich in gesundem Gewebe als schwach, in vorher in seiner 
Widerstandsfähigkeit geschwächtem Gewebe als hoch virulent; er 
kommt zu dem Schlüsse, dass die Vaginalstreptokokken für gewöhn¬ 
lich saprophytischen Charakter haben, dass sie aber durch Sinken 
der Resistenz des Gewebes parasitär werden können. Koblanck (101), 
Vahle (96), Stähler und Winkler 1 ), Kottmann 2 ) und Bohne (94) 
fanden häufig Staphylokokken und Streptokokken, die sich im Tier¬ 
experiment zum Teil als avirulent, zum geringen Teil als schwach 
und selten, hauptsächlich in vorher in ihrer Widerstandsfähigkeit ge¬ 
schwächten Geweben, als hoch virulent erwiesen. Anaerobe Strepto¬ 
kokken fand ausser Menge und Krönig nur Bohne (94) in 2 Fällen; 
sie erwiesen sich als absolut avirulent. Von allen Autoren wurden 
in erster Linie unberührte, d. h. seit langer Zeit oder überhaupt nicht 
untersuchte Schwangere verwendet, in den meisten Fällen dazu nur 
Erstgebärende. Mehrgebärende eignen sich, wie Bohne bemerkt, der 
klaffenden Vulva wegen, die den Bakterien der Aussenwelt den Ein- 


1) Monatsschr. f. Gynäkol. u. Geburtsh. XI. 

2) Archiv f. Gynäkol. LV. 


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J» 


372 Dr. Hugo Marx, 

tritt erleichtert, nicht in dem Masse zu den hier in Frage stehenden 
Untersuchungen. 

Eine Sonderstellung nehmen die Untersuchungen Döderlein’s ein. 
Düderlcin (102, 103) unterscheidet normales und pathologisches 
Scheidensekret der Schwangeren. Das normale Sekret ist weisslich, 
kriimlich, von einer intensiv sauren Reaktion und enthält von Mikro¬ 
organismen nur den Döderlein’schen Scheidenbazillus. Dieses Sekret 
findet sich in 55,3 pCt. der Fälle, und zwar fast nur in ganz nor¬ 
malen Genitalien Erstgebärender. Das pathologische Sekret ist gelb¬ 
lich bis gelbgrün; zäher gelber Schleim ist beigemischt; die Konsistenz 
ist rahmähnlich, die Reaktion ist schwach sauer, neutral, häufig alka¬ 
lisch. Die Döderl ein’schen Bazillen fehlen, statt ihrer enthält das 
pathologische Sekret dicke Kurzstäbchen, Staphylokokken, Strepto¬ 
kokken, Gonokokken. Das pathologische Sekret findet sich in der 
Hauptsache bei Mehrgobärenden mit Katarrhen, Erosionen, Vaginitis. 
Die Ursachen sind unreiner Koitus, Masturbation, das Tragen von 
weichen Mayer’schen Pessaren, Schwämmen, Tampons u. s. w. Das 
normale Scheidensekret wirkt bakterizid, die pyogenen Kokken gehen 
im Kampfe mit dem Döderlein’schen Bazillus zu Grunde. Staphylo¬ 
kokken, die Döderl ein in die Scheide einer Virgo brachte, waren 
nach 4 Tagen verschwunden. Die saure Reaktion des normalen 
Scheidenschleiras ist von dem Scheidenbazillus bewirkt. Das normale 
Sekret erweist sich im Tierversuch nicht als pathogen. Dagegen be¬ 
wirkten Injektionen von pathologischem Sekret 18mal ausgedehnte 
Eirerungen im Kaninchencxperiraent. Das pathologische Sekret ist 
ein ausgezeichneter Nährboden für pyogene Kokken. 8mal unter 
87 Fällen von pathologischem Sekret sah Döderlein Streptokokken, 
die sich 5 mal als pathogen erwiesen. Mit dem Einsetzen der Lochial- 
sekretion verschwindet das normale Sekret in jedem Falle: das den 
Lochien beigemischte Blut bereitet einen alkalischen Nährboden, die 
Scheidenbazillen gehen zu Grunde, um der Kokkenvegetation Platz 
zu machen. Sobald das Wochenbett beendigt ist, tritt wieder normales 
Sekret ein. Die von dem Döderlein’schen Bazillus produzierte Säure 
ist Milchsäure. 

Bestätigung finden die Untersuchungen Döderlein's durch Burck- 
hardt (14), der auch zahlcnmässigc Angaben über den Einfluss der 
verschiedenen Sekrete auf den Verlauf des Wochenbettes macht. Von 
78 Schwangeren mit normalem Sekret erkrankten 16 = 23,3 pCt., 
von 38 mit pathologischem Sekret 19 = 50 pCt. Entsprechend der 


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r 


l'eber die für das Puerperalfieber in Betracht kommend. Mikroorganismen etc. 378 


Milchsäureproduktion des Döderlein’schen Bazillus fordert Burck- 
hardt vor operativen Eingriffen und bei Vorhandensein von pathologischem 
Sekret gleich Döderlein Ausspülungen mit 1 proz. Milchsäure. 

Den lebhaftesten Widerspruch erfuhren Döderlein’s Untersuchun¬ 
gen durch Krönig (1. c.) [bezw. durch Menge und KrönigJ. Während 
Walthard (99) zwar die Scheidung in pathologisches Sekret (57 pCt. 
der Fälle) und normales Sekret (43 pCt. der Fälle) anerkennt, aber 
das Vorkommen einer alkalischen Sekretion der Scheide nicht für 
erwiesen ansieht, so lehnt Krönig, neuerdings auch Bergholm (110) 
die Scheidung in die beiden Sekretarten ab. Krönig (17) hat dann 
noch besonders über die Selbstreinigung der Scheide eingehende Unter¬ 
suchungen angestellt. Virulente Staphylokokken in die Scheide 
Schwangerer gebracht, gingen durchschnittlich in 21,7, Streptokokken 
in 11,3 Stunden in der Scheide zu Grunde. Auch Pyozyaneus war 
nach 24 Stunden nicht mehr nachzuweisen. Jedoch fand Krönig in 
beinahe der Hälfte aller seiner Untersuchungen (43 pCt.) den Bakterien¬ 
gehalt der Scheide vermehrt, den Säuregehalt des Sekretes vermindert. 
Nach der Geburt findet auch nach Krönig (15) ein Wechsel in der 
Bakterienflora statt, bedingt durch die Lochialsekretion; die bakterizide 
Kraft des Scheidensekretes ist herabgesetzt, aber nicht aufgehoben. 

Dass Döderlein, Krönig gelegentlich Hcfepilze und Czer- 
niewski einmal Sarzinen im Scheidensekret fand, sei der Vollständig¬ 
keit halber erwähnt. 

Bei aller Verschiedenheit der Anschauungen über die Bakteriologie 
des Genitalkanals scheint doch wenigstens darüber eine allgemeine 
Einigkeit zu bestehen, dass mit dem Moment der Geburt, oder sagen 
wir korrekter, mit dem Augenblick des Einsetzens der Lochialsekre¬ 
tion, eine Art von Revolution in den bakteriellen Verhältnissen der 
Scheide stattfindet. Das Paradigma für diese Erscheinung ist das 
Verhalten der Gonokokken; latent und wirkungslos vor der Geburt 
erwachen sie zu neuem Leben und hoher Virulenz, wenn die Lochien 
fliessen, und machen eine Wochenbettsgonorrhoe. Und man sollte 
glauben, dass die pyogenen Kokken in den puerperalen Genitalien 
noch viel günstigere Existenzbedingungen vorfmden, als die Gonokokken, 
denn ausser dem vorzüglichen Nährmaterial kommen ihnen noch die 
Wundflächen zu gute. Die Zahl der Autoren, die in der Scheide 
Schwangerer Streptokokken und Staphylokokken fanden, welche sich 
durch nichts von den gewöhnlichen Eitererregern charakteristisch unter¬ 
schieden, ist zu gross und ihre Befunde sind zu übereinstimmend, als 


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374 


Dr. Hugo Marx, 


dass man das Vorkommen pyogener Kokken in der Scheide gesunder 
Schwangerer leugnen könnte. Interessant ist die Mitteilung Knapp’s 
(93), der das Eindringen von Bakterien in die Scheide der neuge¬ 
borenen Mädchen während der allerersten Lebenstage konstatieren 
konnte. Gibt man aber die Existenz der Kokken in der normalen 
Scheide zu, und das muss man meines Erachtens, so kann man die 
Möglichkeit einer Selbstinfektion durch diese Keime nicht in Abrede 
stellen; und man muss noch weiter gehen und Ahlfeld und Hof¬ 
meier zugeben, dass unter Umständen einmal auch so eine tödliche 
Autointektion zu Stande kommen kann, wenn auch in der Regel die 
Fälle von endogener Infektion milde und günstig zu verlaufen pflegen, 
wie die blosse Erfahrung lehrt. 

Wir wissen, dass die Lochialsekretion und die physiologische 
Verwundung der Genitalien durch die Geburt wesentliche Momente 
für das Zustandekommen der Infektion sind; w r arum aber in dem einen 
Falle die Infektion statt hat und in dem andern nicht, das ist für 
die endogene Infektion noch viel rätselhafter und mehr verborgen, 
als für die ektogene Infektion. Kultur- und Tierversuch, um es noch 
einmal zu wiederholen, können nicht massgebend sein für die Höhe 
der Virulenz der Keime dem menschlichen Körper gegenüber. Solange 
es Mikroorganismen in den normalen Genitalien der Schwangeren gibt, 
müssen sie als der Infektionsfähigkeit verdächtig erscheinen. Berech¬ 
tigt aber sind wir, für diese Keime eine abgeschwächte Virulenz anzu¬ 
nehmen, die vielleicht in der diesen Keimen aufgenötigten saprophy- 
tischen Lebensweise ihren Ursprung hat. Die physiologischen Ver¬ 
letzungen des Genitalkanals durch die Geburt, die Produktion eines 
geeigneten Nährmaterials durch die Lochialsekretion, müssen als die¬ 
jenigen Momente gelten, w'elche den Mikroben den Uebergang aus einer 
saprophytischen zu einer parasitischen Lebensweise ermöglichen. Von 
den Anaerobiern gibt Menge (27, S. 44) selbst zu, dass es unmöglich 
ist, kulturell, morphologisch oder im Tierexperiment die harmlosen 
Saprophyten von den gefährlichen Parasiten zu unterscheiden, sodass 
selbst Menge und Krönig, die eifrigsten Leugner der Selbstinfektion, 
die absolute Unmöglichkeit einer Selbstinfektion durch Anaerobier 
nicht zu behaupten wagen. 

Es ist indifferent für die Frage der Selbstinfektion, ob die nor¬ 
maler Weise in der Vagina lebenden Keime eine Infektion oder nur 
eine Intoxikation hervorrufen können. Der Einfluss auf den Körper 
kann in beiden Fällen der gleiche bleiben (sagen Olshausen und 


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Ueber die für das Puerperalfieber in Betracht kommend. Mikroorganismen etc. 375 

Veit [1. c.]). Ein Fieber, das durch eine Lochiometra bedingt und 
mit der Beseitigung dieser abgeschnitten ist, können wir zweifellos 
als Intoxikationserscheinung ansehen, im übrigen aber wissen wir oft 
genug nicht zu sagen, wo klinisch die Intoxikation aufhört und wo 
die Infektion anfängt. Es versteht sich von selbst, dass eine Selbst¬ 
infektion nur da angenommen werden darf, wo eine sorgfältige Unter¬ 
suchung einmal jede andere Ursache für eine fieberhafte Erkrankung 
im Wochenbett ausschliessen kann. Zweitens aber sollten für eine 
unantastbare Begründung der Lehre von der Selbstinfektion nur solche 
Fälle fieberhafter Wochenbettserkrankungen herangezogen # werden, in 
denen jede Möglichkeit einer Infektion von aussen ausgeschlossen ist. 

Die sorgfältige Temperaturmessung, wie sie jetzt in den ge¬ 
burtshilflichen Kliniken gehandhabt wird, hat uns gelehrt, dass auch 
die innerlich nicht berührten Wöchnerinnen, die in den Anstalten ent¬ 
bunden werden, die also von der höchsten Sauberkeit umgeben sind, 
in einem nicht geringen Prozentsatz erkranken. Und eben solche Fälle 
sind wohl verwendbar für die Begründung der Lehre von der Auto¬ 
infektion. Bumm (12), neuerdings Gebhard und Zangemeister (122a) 
treten mit besonderem Nachdruck für die Anschauung ein, dass die 
kurzdauernden Fieber im Wochenbett, die Febriculae (Eintagsfieber) 
als Resorptionsfieber anzusehen sind. Retention von Lochien, Resorp¬ 
tion des Wundsekretes von den grossen genitalen Wundflächen, auch 
von den extragenitalon Wundflächen der Dammrisse, Introitusverletzun¬ 
gen aus, werden besonders von Zangemeister für diese Eintags¬ 
fieber verantwortlich gemacht. Man kann sich mit diesen Anschauungen 
wohl einverstanden erklären; die Lehre von der Selbsinfektion bleibt 
aber durch sie unberührt; ob nämlich anerobe oder aerobe Keime die 
Zersetzungder Wundsekrete herbeiführen, immer sind es Mikroorganismen, 
die den fieberhaften Prozess verschulden, Mikroorganismen, die schon 
vor der Geburt in der Scheide vorhanden waren und die nun in den 
Wundsekreten ein willkommenes Material ihrer zersetzenden Tätigkeit 
gefunden haben. Ob man die Aufsaugung der Zersetzungsprodukte 
und das begleitende Fieber als Resorptions- oder als lntoxikations- 
erscheinung, oder endlich als saprämisches Fieber bezeichnen will, ist 
belanglos; die Hauptsache ist immer die, dass in all diesen relativ 
harmlosen Erkrankungen ein bakterieller Prozess zu Grunde liegt, der 
sich an der Oberfläche des Genitalschlauches abspielt, ein Prozess, 
der sich auf die Zersetzung der Sekrete beschränkt, die produzieren¬ 
den Organe selbst aber unberührt lässt. 


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876 


Dr. Hugo Marx, 


Für diejenigen Geburtshelfer, denen das Vorkommen pyogener 
Kokken in der normalen Scheide für erwiesen galt, lag es nahe, den 
Einfluss dieser Keime durch desinfizierende Scheidenspülungen prophy¬ 
laktisch abzustellen. Aber weit entfernt, Klarheit zu schaffen, hat 
der Streit über Wert und Unwert der prophylaktischen Scheiden¬ 
spülungen die ganzen Verhältnisse nur noch unklarer und komplizierter 
gestaltet. Auf der einen Seite geht der Vorkämpfer der prophylak¬ 
tischen Scheidenspülungen, Hofmeier (118), so weit, das Unterlassen 
der antiseptischen Scheidenspülung vor geburtshilflichen Operationen 
seitens des- Geburtshelfers als eine grobe schuldhafte Fahrlässigkeit, 
als eine Unterlassung zu bezeichnen, die nach seiner, Hofmeier’s, 
unumstössliehen Meinung, den Tod einer Wöchnerin zur Folge haben 
kann. Der Passus in der Münchener medizinischen Wochenschrift 1889, 
No. 48, heisst wörtlich: „. . . dass ein Arzt, der vor einer geburts¬ 
hilflichen Operation, besonders vor einer manuellen Nachgeburtsoperation, 
es unterlässt, die äusseren Geschlechtsteile und die Scheide gründlich 
zu desinfizieren, sich eines Vergehens im Sinne des § 222 des Straf¬ 
gesetzbuches schuldig macht.“ Einen solchen Standpunkt in einer 
eigentlich noch ganz ungeklärten Frage einzunehraen, ist natürlich 
absolut unstatthaft und man kann Kühn (120) und Menge (22) nur 
beistimmen, wenn sic Hofmeier’s gefährliche Anschauung auf das 
Energischste verurteilen. Dabei kann man Ho fm ei er gerne zugeben, 
dass seine Resultate im Verhältnis z. B.zu denen der BrcsIauerHebammen- 
schule ausserordentlich günstige sind; in seinem Berichte von 1898 (117) 
hatte Hofmeier bei 4000 Geburten eine Gesamtmorbidität von 9,5 pCt., 
bei denen eigentliche puerperale Infektion nur mit 5,9 pCt. beteiligt 
war. Von Morbidität ist die Rede, sobald die Temperatur in der 
Achsel gemessen einmal über 38° steigt. 1902 (119) berichtet Hof- 
meier wiederum über 1000 Geburten mit einer puerperalen Morbidität 
von 7,61 pCt. Die Steigerung der Morbidität um fast 2 pCt. führt 
Hofmeier auf die Ueberfüllung der Wöchnerinnenzimmer zurück, die 
die Uebertragung von Keimen von einer Wöchnerin zur andern er¬ 
leichtert. Wie es sich von selbst versteht, sind diejenigen Geburts¬ 
helfer, welche eine Selbstinfektion a limine ablehnen, auch die ent¬ 
schiedensten Gegner der prophylaktischen Scheidenspülung. Aber auch 
die Mehrzahl der Geburtshelfer, welche wenigstens die Möglichkeit der 
Selbstinfektion zugeben, steht auf dem Standpunkte, dass die obligate 
prophylaktische Scheidenausspülung vor und nach jeder normalen Ge¬ 
burt, vor und nach jeder inneren Untersuchung oder geburtshilflichen 

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Ueber die für das Puerperalfieber in Betracht kommend. Mikroorganismen etc. 377 

Operation, ein Unding sei, das überflüssig und schädlich zugleich ist. 
Krönig (15, 17, 18) hat versucht, die Schädlichkeit der desinfizieren¬ 
den Scheidenspülungen experimentell zu begründen. Einmal hat er 
nachgewiesen, dass es garnicht möglich ist, durch 1 proz. Lysol- oder 
1 prom. Sublimatspülungen in der Scheide befindliche Keime zu ver¬ 
nichten. Vor allem aber wird nach Krönig durch diese Spülungen 
die bakterizide Kraft der Scheide erheblich herabgesetzt, sodass Keime, 
die von der Scheide sonst in Stunden vernichtet wurden, nach den 
Spülungen noch tagelang in der Scheide nachzuweisen waren. Und 
das ist sehr begreiflich: Die Scheidenspülung entfernt mechanisch 
und zerstört chemisch die schützende Sekretschicht; und mehr: das 
freigelegte Epithel wird ebenso mechanisch wie chemisch angegriffen: 
die Widerstandsfähigkeit der Epitheldecke wird vermindert. Die für 
den guten Fortgang de* Geburt notwendige Schlüpfrigkeit des Scheiden¬ 
schlauches wird beseitigt. Die Schleimhaut wird spröde. Einrisse sind 
die unausbleibliche Folge. Hierzu kommt, dass durch den Akt der 
Spülung, durch das Ansatzstück des Spülschlauches Verletzungen be¬ 
wirkt, vor allem aber, dass Keime, die am Introitus oder in der 
Vagina leben, direkt in höher gelegene Abschnitte des Geburtskanals, 
bis in das Cavum uteri hinauf transportiert werden können. 

Hofmeier (116, 117), Ahlfeld (I. c.), Walthard (99), Frommei 
(121), Steffeck (92), Eberhard (122) sind etwa die Hauptvertreter 
der obligatorischen prophylaktischen Scheidenausspülung. Döderlein 
(102, 103) und Burckhardt (14) verlangen eine prophylaktische 
Behandlung für das „pathologische“ Scheidensekret und zwar Scheiden¬ 
spülung mit 1 proz. bezw. YaP 1 ' 02 - Milchsäurelösung (s. o.). Ols- 
hausen (5) hält die Scheidenspülung für die manuelle Plazentar¬ 
lösung, die in seiner Gefährlichkeitsskala geburtshilflicher Operationen 
quoad Puerperalinfektion als die gefährlichste figuriert, für wünschens¬ 
wert. Olshausen und Veit (1. c.) empfehlen die prophylaktische 
Scheidenspülung ausserdem noch, wenn eitriger Vaginalausfluss vor 
der Geburt besteht, „schon um die Gefahr der Blennorrhoea conjunctivae 
bei den Neugeborenen zu vermindern.“ 

Es empfiehlt sich, nun zunächst diejenigen Geburtshelfer zu hören, 
die keine Scheidenspülungen machen. Da sind vor allem die Resultate 
der Mannheimer Entbindungsanstalt zu nennen, die von Mermann 
(124—127) und Peiser (128) veröffentlicht wurden. Der Publikation 
Peiser’s (128) ist zmentnehmen, dass auf 2660 Geburten, für welche 
die Anstalt die Verantwortung trug, kein Todesfall kam. Die Mot- 


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Dr. Hugo Marx. 


V 

> 


bidität betrug 8,84 pCt., die Mortalität betrug hier also 0,0 pCt. gegen 
0,13 pCt. Hofmeier’s, die Morbidität differenziert um etwa 1 pCt. 
zu Gunsten Hofmeier’s. Aehnlich gute Resultate wie Peiser teilen 
Leopold und Goldberg (139, 140), v. Mars (129), v. Scanzoni 
(134) mit. Scanzoni’s Untersuchungen erstrecken sich auf präzipi- 
tierte und solche Geburten, bei denen keine Hilfeleistung durch Ge¬ 
burtsfehler stattfand; Scanzoni hatte 11,5 pCt. Morbidität, ohne dass 
schwere Erkrankungen oder Todesfälle vorkamen. 

Auf der anderen Seite sind natürlich diejenigen Untersuchungen 
von hohem Interesse, die in gewissem Sinne ein exaktes Experiment 
für die gegenwärtige Frage darstellen; ich meine jene klinischen 
Untersuchungen, in denen der Wochenbettsverlauf nach prophylak¬ 
tischer Spülung und der Verlauf ohne vorangegangene Spülung in 
zwei Reihen einander gegenübergestellt sind. Besonders lehrreich sind 
die Zusammenstellungen von Bretschneider (137), dessen Tabelle 
ich hier folgen lasse: 


mit Scheidenspülungen: 


Es wurden behandelt 

nur mit Desinfektion der äusseren 
Genitalien: 


1154 1126 

davon wurden nicht operiert: 

1018 972 


Temperaturen: 


216 = 

21,21 pCt., 

über 

38,5 

170 = 

17,49 pCt. 

137 = 

13,46 

V 

7) 

39 

101 == 

10,39 

V 

73 = 

7,17 

V 

7) 

39,5 

60 = 

6,17 

7) 

34 == 

3,34 

n 

n 

40 

26 = 

2,67 

7) 

1 = 

0,098 

71 

Mortalität 

1 = 

0,103 

71 


Wir sehen, dass die Wochenbetten ohne prophylaktische Spülung 
günstiger verlaufen, besonders sind die schweren Fälle von Fieber 
über 39° sehr viel häufiger bei den ausgespülten Wöchnerinnen. 
Selbst beim Touchieren fand Bretschneider die Morbidität für die 
nicht desinfizierten Fälle um 7,55 pCt. günstiger als für die innerlich 
desinfizierten. Auch Baumm (136) und Löwenstein (135) sahen 
einen ungünstigen Einfluss auf die Morbidität von der inneren Des¬ 
infektion, ebenso Leopold und Goldberg (I. c.), Bokelmann (130, 
131), Bumm (1. c.), Rossi-Doria (1. c.) u. a. ra. 

Das Angeführte dürfte genügen, um zu zeigen, dass auch die 


J 


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Ueber die für das Puerperalfieber in Betracht kommend. Mikroorganismen etc. 379 


Resultate der prophylaktischen Scheidenspülung nicht imstande sind, 
uns Aufklärung über das. Wesen und die Bedeutung der Selbst¬ 
infektion zu bringen. Gleichwohl müssen wir an der Möglichkeit 
einer Autoinfektion durch normalerweise in der Scheide lebende Keime 
festhalten. Selbst wenn wir die Sturzgeburten ausschliessen, da bei 
solchen ungereinigte äussere Genitalien, schmutzige Wäsche, Strassen- 
staub die Infektionsquelle abgeben können, so bleiben doch eben noch 
etwa 8—15 pCt. fiebernder Wöchnerinnen, für die wir auf die An¬ 
nahme einer Selbstinfektion mit unabweisbarer Konsequenz hingewiesen 
sind. Wenn Thorn (114) sagt, dass die Selbstinfektion ein Nonsens 
ist, weil schliesslich doch alle Keime doch irgendwann und irgendwie 
in die Scheide hineingekommen sein müssen, so ist das natürlich ein 
irrelevantes Spiel mit Worten. Gewiss mögen ferner nach Thorn und 
Chazan (115) ungenähte Dammrisse oder nach Timmermann (123) 
die kleinen Scheideneingangsverletzungen gelegentlich die Eingangs¬ 
pforte für eine Infektion abgeben, die dann den Schein einer Auto¬ 
infektion hervorruft. Ich kann mir aber nicht denken, dass in gut 
geleiteten Anstalten das Uebersehen solcher Infektionspforten die Regel 
ist, und bis nicht der strikte Beweis vom Gegenteil gebracht ist, 
muss man an der Möglichkeit einer Selbstinfektion festhalten. Gleich¬ 
zeitig muss allerdings gesagt werden, dass schwere fieberhafte Er¬ 
krankungen oder gai tödliche Sepsis oder Pyämie zwar wohl einmal 
so zustande kommen können, dass die Regel aber bleibt, dass Fälle 
von Selbstinfektion im Wochenbett ausserordentlich günstig verlaufen. 
Wir können noch einen Schritt weiter gehen und sagen, dass der 
grösste Teil der leichten fieberhaften Wochenbettserkrankungen nur 
durch die überaus sorgfältigen Temperaturmessungen, wie sie in den 
geburtshilflichen Anstalten gehandhabt werden, zu unserer Kenntnis 
kommt. Indes haben die dankenswerten Untersuchungen Baumm’s 
(163) gezeigt, dass draussen in der Privatpraxis unter den Wöch¬ 
nerinnen eine mindestens ebenso grosse Morbidität herrscht, wie sie 
von fast allen geburtshilflichen Anstalten verzeichnet wird. Von 
119 Wöchnerinnen in Breslau, die Baumm durch seine Schülerinnen 
ausserhalb der Anstalt messen lassen konnte, fieberten 47, d. h. 
39,5 pCt. Von diesen 47 hatten 10, d. h. 8,4 pCt., eine Mastdarm¬ 
temperatur von 39° oder eine Achselhöhlentemperatur von 38,5° und 
darüber. In 9 Fällen konnten die Frauen am 10. Tage aufstehen, 
in einem Falle, über den nicht weiter berichtet wird, bestand noch 
am 10. Tage eine Temperatur von 38,8°. Hier wurde ein Arzt am 


Vierteljahrsschrift f. ger. Med. u. Off. San.-Wesen. 3. Folge. XXVIII. 2. 

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380 


Dr. Hugo Marx, 


10. Tage zugezogen, alle übrigen Fälle wurden nur von der Hebamme 
besorgt. Leider berichtet Bau mm nicht, ob und wie oft von der 
Hebamme innerlich untersucht wurde. Die Tatsache, dass auch in 
der Praxis eine nicht unerhebliche Wochenbettsmorbidität statthat, 
ganz abgesehen von der gleich zu besprechenden Mortalität, kann 
nicht verwundern, wenn wir bedenken, dass selbst die ausgezeichneten 
hygienischen Bedingungen der Gebärhäuser eine gewisse Morbidität 
nicht zu beseitigen vermögen. 

Jedenfalls wollen wir noch einmal konstatieren, dass es einen, 
ich möchte fast sagen undefinierbaren und bis dato auch unbekämpf- 
baren Rest von fieberhaften Wochenbettserkrankungen gibt, die in der 
Privatpraxis und in den Anstalten gleich häufig sind und die wir bis 
auf weiteres zum grössten Teil einer Autoinfektion durch normaler¬ 
weise in der Scheide lebende Mikroorganismen zuschreiben müssen. 

B. Die Prophylaxe des Puerperalfiebers vom sanitätspolizeilichen 

Standpunkt. 

Ueberleitend zum zweiten Teil unserer Ausführungen müssen wir 
die Mortalität des Puerperalfiebers einer kurzen Betrachtung unter¬ 
ziehen. 

Vorüber sind, dank Semmelweis, jene Zeiten, wo einzelne 
Monate eine Sterblichkeit bis zu 32 und 33 pCt. (Semmelweis 82) 
unter den Wöchnerinnen der Gebärhäuser zeitigten. Damals waren 
die Verhältnisse in der Privatpraxis bei weitem günstiger als in den 
Entbindungsanstalten. Ja, einzelne Anstalten, wie die Kieler (siehe 
hei Semmelweis 1. c.), mussten zeitweise wegen allzu grosser Sterb¬ 
lichkeit geschlossen werden. Heute hat sich das Verhältnis um¬ 
gekehrt. Ich zitiere nach Löwenstein (1. c.) folgende Mortalitäts¬ 
tabelle geburtshilflicher Kliniken: 


Fehling .... 

. . . 0,04 pCt. 

Mermann . . . 

. . . 0,00 r 

Schauta.... 

. . . 0,105 „ 

Hofmeister. . . 

. . . 0,13 „ 

Olshausen . . . 

. . . 0,048 „ 

Rosthorn . . . 

. . . 0,15 „ 

Baumm .... 

. . . 0,181 „ 

Ahlfcld (1. c.) . . 

. . . 0,00 „ 


Die Sterblichkeit im Wochenbett in der Privatpraxis hat sich 
zwar auch vermindert, jedoch längst nicht in dem Masse, wie in den 


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lieber die für das Puerperalfieber in Betracht kommend. Mikroorganismen etc. 381 


Entbindungsanstalten; wenn z. B. Ahlfeld’s Mortalität sich seit 1868 
bis 1893 von 4,6 pCt. auf 0,0 pCt. verringert hat, so hat sich die 
Puerperalfiebermortalität in Preussen überhaupt von 775 auf je 
100000 Entbundene (Boehr 142) in den Jahren 1861—1870 nur 
auf 392,8 auf je 100000 Entbundene in den Jahren 1889—1897 
vermindert (Ehlers 141). Die Abnahme der Sterblichkeit im Kind¬ 
bett beträgt nach Ehlers (1. c.) von 1871—1889 zu 1892—1896 
= 32,4 pCt. Besonders auffallend ist der Unterschied zwischen der 
Wochenbettsmortalität in den Städten und auf dem J^ande. Sie betrug 
in den Städten 388, auf dtfm Lande aber 476 auf je 100000 Ent¬ 
bundene in den Jahren 1892—1894. Besonders unsere östlichen 
Provinzen, Ost- und Westpreussen, Posen zeigten nach Ehlers sogar 
eine Zunahme der Sterblichkeit im Kindbett, statt der zu erwartenden 
Abnahme. Auch He gar (143) ist der Meinung, dass die Puerperal¬ 
fieberfälle eher zu- als abgenommen haben, dank der ungenügenden 
Ausbildung der Hebammen 1 ). Nehmen wir noch hinzu, dass die 
Todesfälle der Entbindungsanstalten in der Mehrzahl Wöchnerinnen 
betreffen, die schon schwer krank von draussen hereingeschafft werden, 
so kommt man zu der Erkenntnis, dass die Sterblichkeit an Puer¬ 
peralfieber in der allgemeinen Praxis noch eine erschreckend grosse 
ist und dass die Praxis von den Anstalten zu lernen hat, wie man 
dieser Krankheit, die unsere Frauen in ihren besten Lebensjahren 
dahinrafft, am wirksamsten zuvorkommt. 

Nach Anführung einiger, auch von uns gebrachten Ziffern aus der 
Statistik Ehlers 1 , schliesst der Entwurf eines Ausführungsgesetzes zu 
dem Reichsgesetz, betreffend die Bekämpfung gemeinfährlicher Krank¬ 
heiten, vom 30. Juni mit den Worten: „Die vorstehenden Ziffern 
sprechen mit hinreichender Deutlichkeit für die Notwendigkeit der 
Einführung sanitätspolizeilicher Massnahmen gegenüber dem Kindbett¬ 
fieber.“ Eine Geschichte der Entwicklung der sanitätspolizeilichen 
Massnahmen gegen das Wochenbettfieber in Preussen findet sich bei 
Nesemann (166); den mächtigsten Anstoss zur Würdigung des Puer- 


1) Zu bemerken ist, dass die Statistiken sich auf alle Todesfälle im Kindbett 
beziehen, die Zahlen für Puerperalfiebertodesfalle vermindern sich durch Sub¬ 
traktion der Todesfälle an Verblutung, interkurrenten Krankheiten etc., jedoch 
erfahrungsgemass nicht erheblich. Andrerseits muss man bedenken, dass das 
Puerperalfieber, wenn es nicht zum Tode führt, schwere Eiterprozesse, chronische 
Entzündungen hinterlassen kann, welche die davon befallene Frau auf Monate 
und .Jahre dem tätigen Leben und einem gesunden Dasein entziehen können. 


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Dr. Hugo Marx, 


peralfiebers als einer gemeingefährlichen Krankheit gab der bekannte 
Bericht der Puerperalfieberkommission der Gesellschaft für Geburts¬ 
hilfe und Gynäkologie in Berlin, insonderheit der statistische Bericht 
Boehr’s (142). Diese an den Kultusminister gerichtete Denkschrift 
brachte den Stein ins Rollen, und von jenem Zeitpunkt, dem 4. De¬ 
zember 1877, datieren eigentlich die Anfänge sanitätspolizeilicher 
Massnahmen gegen das Puerperalfieber. 

Es sollen hier besprochen werden 

1. die Massnahmen, welche die Entstehung des Kindbettfiebers, 

2. die Massnahmen, welche die Wtfiterverbreitung des Kind¬ 
bettfiebers verhüten sollen. 

Dabei können natürlich nicht alle einzelnen Verfügungen und An¬ 
ordnungen dem Wortlaut nach zitiert werden. Die Grundlage für die 
Handhabung der sanitätspolizeilichen Massnahmen sind gegeben a) in 
den Verfügungen des preussischen Kultusministers vom 6. April 1883 
und den Runderlassen und Bekanntmachungen desselben Ministers vom 
22. November 1888, vom 16. Mai 1894, vom 3. Oktober 1895, vom 
1. April 1899, vom 24. Februar 1900; b) in den §§ 57—63 der 
Dienstanweisung für die Kreisärzte. 

> Endlich ist vor allem c) das preussische Hebammenlehrbuch von 
1892 mit seinen Vorschriften massgebend für das Verhalten der Heb¬ 
ammen hinsichtlich der Verhütung des Kindbettfiebers. Besondere 
sanitätspolizeiliche Verordnungen, welche das Verhalten des Arztes bei 
Kindbettfieber betreffen, existieren, wenigstens einheitlich für die ganze 
Monarchie, noch nicht. 1 ) Wir werden indessen später sehen, dass 
solche für die Zukunft in Aussicht genommen sind. 

ad 1: Wenn wir zunächst die Desinfektionsvorschriften für die 
Hebammen erörtern, so geschieht dies wohl am besten im organischen 
Zusammenhänge mit dem ersten Teil dieser Arbeit. Die Selbstinfek¬ 
tion kann hier füglich nicht mehr in Frage kommen. Wohl aber ist 
einmal die Infektionsmöglichkeit von den äusseren Genitalien der 
Wöchnerin aus, dann aber vor allem natürlich die ektogene Infektion 
durch die untersuchende Hand und durch infizierte Instrumente, Ver¬ 
bandsstoffe, Wäsche und Kleidungsstücke zu berücksichtigen.- 

Die §§ 109 und 112 des Hebammenlehrbuches schreiben die 
Waschung der äusseren Geschlechtsteile und deren Nachbarteile mit 

1) Die Uebersicht über diejenigen preussischen und deutschen Bundesstaaten, 
in donen schon solche Vorschriften für Aerzte bestehen, ist in Rapmund’s 
„Acrztliche Rechts- und Gesetzkunde“ auf Seite 150 enthalten. 


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Ueber die für das Puerperalfieber in Betracht kommend. Mikroorganismen etc. 383 


lauwarmem Wasser vor. Diese Waschung muss als eine recht unzu¬ 
verlässige Vorsichtsmassregel bezeichnet werden. Mit Recht verlangen 
Olshausen und Veit (1. c.) eine Reinigung der äusseren Genitalien 
mit Seife, Wasser und einem Desinfektionsmittel. Diese Forderung, 
die wohl von allen geburtshilflichen Kliniken erfüllt wird, ist unbe¬ 
dingt auch an die Hebammen (natürlich ebenso an die praktischen 
Aerzte), zu stellen. Den segensreichen Erfolg der Hautdesinfektion 
haben uns operative Chirurgie und Gynäkologie kennen gelehrt. Bei 
der Desinfektion der Hände werden wir den Modus der Waschungen 
und die Wahl des Desinfektionsmittels erörtern. Die Kürzung der 
Schamhaare, die Timmermann, Bröse u. a. verlangen, dürfte, wenn 
sie auch nicht ganz überflüssig erscheint, doch ohne Schaden zu 
unterlassen sein. Eine ideale Forderung ist das warme Vollbad für 
jede Kreissende, zwar ist die Möglichkeit einer Infektion durch das 
Badewasser (Winternitz 157—58, Bucura 138) nicht ganz auszu- 
schliessen, daher denn manche Geburtshelfer die ihnen anvertrauten 
Kreissenden im fliessenden Wasser sich reihigen lassen (Bucura 1. c.); 
gleichwohl bleibt das Vollbad in einer gereinigten Wanne mit reinem 
Wasser für jede Kreissende ein erstrebenswertes Ideal. Schon darum 
wäre der Vorschlag Sperling’s (173), in jedem Dorfe eine allgemeine 
Wochenbettskammer, die dann auch eine Badewanne enthalten müsste, 
einzurichten, in Erwägung zu ziehen; wiewohl andrerseits die Gefahren 
einer solchen Kammer für die Entstehung einer Puerperalfieber-Epidemie 
nicht zu verkennen sind. 

Eine präliminare Scheidenspülung wird in § 296 für die manuelle 
Entfernung der Plazenta und in § 202 für die Wendung verlangt. 
Wir haben oben den Wert einer desinfizierenden Scheidenspülung ein¬ 
gehend erörtert und erwähnen noch einmal, dass auch Olshausen (l.c.5.) 
die Berechtigung einer Scheidenspülung vor der Entfernung der Plazenta 
anerkennt. 

Für die Desinfektion der Hände und Arme der Hebamme schreiben 
die §§ 109, 113 und 114 Waschungen mit Wasser, Seife und Bürste 
und Desinfektion mit 3proz. Karbollösung vor. Die Ergänzungsblätter 
3 und 8 gestatten an Stelle der 3prozentigen Karbollösung eine 
Iproz. Lysol- bezw. Kresolseifenlösung zu benutzen. Die Vorschrift, 
die Mischung nur im Waschgefäss selbst, niemals in der Spülkanne 
vorzunehmen, ist zweckmässig im Interesse einer gründlichen Solution 
und Verteilung des Desinfektionsmittels im Wasser. Im übrigen aber 
müssen auch diese Desinfektionsvorschriften des Lehrbuches für unzu- 


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reichend erachtet werden. Zweifel (155) hebt besonders das Fehlen 
von Zeitangaben für die Desinfektion hervor. Es hat die sachgemässo 
Desinfektion der Bände für eine Kunst zu gelten, die mit heissem 
Bemühen gelernt sein will. Trotz Ahlfeld und Vahle (152), Rein icke 
(153) muss man daran festhalten, dass eine absolute Keimfreiheit der 
Hände in bakteriologischem Sinne, heute wenigstens, durch keine 
einzige Desinfektionsmethode erreicht werden kann (Paul und Sar- 
wey [151], Hägler [150]). Indess zeigen die Erfolge der operativen 
Chirurgie, dass man im praktischen Sinne wenigstens die Hände 
aseptisch machen kann. Als die beste Methode hat sich die Heiss¬ 
wasser-Alkohol-Sublimatdesinfektion nach Fürbringer bewährt; es 
ist aber zu betonen, dass es weniger auf die Methode als solche, als 
vielmehr auf die Art ihrer Handhabung ankommt. Das Postulat 
lautet: mindestens 5 Minuten langes Bearbeiten der Hände und Unter¬ 
arme mit heissem Wasser (nicht lauwarmem Wasser, wie es das Lehrbuch 
vorschreibt), Seife und Bürste unter besonderer Berücksichtigung der 
Unternagelräume nach vorheriger Beschneidung und Reinigung der 
Fingernägel; nach dem Waschen nochmalige Nägelreinigung. Dann 
folgt das Abreiben der Finger und Arme mit 90—96proz. Alkohol 
während 3—5 Minuten, endlich für eine Minute Abbürsten der Hände 
mit l% 0 iger Sublimatlösung oder einem andern Desinfiziens. Vielleicht 
ist aber ein Desinfiziens neben dem Alkohol ganz überflüssig, da der 
Alkohol in 90—96proz. Konzentration für die Händedesinfektion ausser¬ 
ordentlich leistungsfähig ist (Weigl 154). Solange man indessen mit 
den Vorschriften des Hebammenlehrbuches zu rechnen hat, wird die 
Karbolsäure bezw. das Lysol oder die Kresolseife das Desinfiziens der 
Hebamme bleiben müssen, aber unbedingt zu verlangen ist die Des¬ 
infektion nach der Uhr; man darf die Dauer der Desinfektion nicht 
in das Belieben der Hebamme stellen. Die Kontrolle der verbrauchten 
Karbolmenge allein setzt den Kreisarzt natürlich durchaus nicht in die 
Lage, die Güte der Desinfektion einer Hebamme zu beurteilen. Es wäre 
vielleicht dienlicher, in das Verzeichnis der Hebamme eine jedesmalige 
Angabe über Art und Dauer der Händedesinfektion eintragen zu lassen. 

Die für die Geburtshilfe geradezu brennende Frage, ob durch die 
Desinfektion eine mit pathogenen Keimen beladene Hand im prak¬ 
tischen Sinne aseptisch gemacht werden kann, ist wohl mit absoluter 
Sicherheit weder mit ja, noch mit nein zu beantworten. In der Praxis 
lautet für die sanitätspolizeilichen Anordnungen die Frage so: darf 
eine Hebamme, wenn sie mit infektiösem Material ihre Hände in Be- i 


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L eber die für das Puerperalfieber in Betracht kommend. Mikroorganismen etc. 385 


rührung gebracht hat, bald darauf, eine gründliche Händedesinfektion 
nach obigem Modus natürlich vorausgesetzt, eine Kreissende innerlich 
untersuchen? Diese Frage ist identisch mit derjenigen von der Not¬ 
wendigkeit einer Abstinenzzeit für den Geburtshelfer. Sarwey (156) 
hat 1895 einen Fragebogen an die deutschen geburtshilflichen Kliniken 
versandt; für eine Abstinenzzeit haben sich alle ausgesprochen, 
Zweifel sogar für eine solche von viertägiger Dauer; und es ist sicher, 
dass eine solche Abstinenz von der geburtshilflichen Tätigkeit nach 
Berührung mit Infektionsmaterial einen idealen Zustand darstellt, der 
auch für die Aerzte und Praktikanten einer Entbindungsanstalt durch* 
geführt werden kann. Für die allgemeine Praxis, besonders aber für 
die Hebamme, die in ihrem oft weit ausgedehnten ländlichen Bezirk 
die Einzige ist, kann das Postulat nicht aufrecht erhalten werden. 
Etwas anderes ist es natürlich mit der Abstinenzzeit für Hebammen, 
die an Puerperalfieber erkrankte Wöchnerinnen behandeln; doch davon 
wird erst später zu sprechen sein. Hier kommt es darauf an, zu 
entscheiden, ob wir der Händedesinfektion soviel Zutrauen schenken 
können oder müssen, dass wir für die Hebamme auf eine Abstinenz¬ 
zeit verzichten. Der § 303 des Hebammenlehrbuches verlangt nur 
für den Fall, dass in der Wohnung der Hebamme eine an Kindbett-, 
Faul-, Eiterfieber, Rose, Scharlach u. s. w. erkrankte Person sich 
aufhält, eine Meldung und Einholung einer Instruktion vom Kreisarzt. 
Aufgegeben wird der Hebamme nur nach stattgehabter Berührung mit 
Infektionsmaterial, natürlich auch nach Berührung mit den Lochien, 
eine sofortige gründliche Händedesinfektion, Desinfektion der Instru¬ 
mente, Kleiderwechsel. Und es ist zuzugeben, dass wenn diese Des¬ 
infektion wirklich mit Gründlichkeit vorgenommen, und wenn speziell 
die Händedesinfektion vor der geburtshilflichen Untersuchung, mit 
gleicher Gründlichkeit wiederholt wird, wenn die Kleider gewechselt 
werden, dass dann die geburtshilfliche Tätigkeit der Hebamme ge¬ 
stattet werden kann. Alles aber kommt darauf an, dass die Hebamme 
willig und fähig ist, sich zu desinfizieren. An den Unterrichtsstätten 
für die Hebammen, in den Hebammenschulen, sollen diese Mädchen 
und Frauen, die anerkanntermassen zum grössten Teil aus den unteren 
Schichten der Bevölkerung stammen, in fünf Monaten zur vollendeten 
Antisepsis und Asepsis erzogen werden, und zwar so, dass ihnen 
Begriff und Handhabung der Asepsis und Antisepsis in Fleisch und 
Blut übergehen. Wie es dann nachher in praxi mit den Begriffen und 
Methoden der Desinfektion aussieht, haben uns die Berichte von Nese- 


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Dr. Hugo Marx, 


mann (166), Schroeder (175), Gottschalk (176) u. a. gezeigt: das 
Gelernte war nur zum Teil im Gedächtnis geblieben, die Karbolsäure¬ 
lösung wurde in unwirksamer Form bereitet und benutzt. Bei den 
Nachprüfungen, denen sich die Hebammen alle drei Jahre durch den 
Kreisarzt zu unterziehen haben (§ 61 der Dienstanweisung für die 
Kreisärzte), traten diese mangelhaften Kenntnisse der Hebammen in 
empfindlicher Weise zu Tage. Man sollte annehmen, sagt Nese- 
raann (1. c.), dass man, wie man den beschränktesten Rekruten drillen, 
so die unbefähigteste Hebamme in der Desinfektion müsse ausbilden 
können. Da in der Tat dies aber nicht möglich ist, so hat man auf 
Abstellung der Ursachen dieses Misslingens gedacht. Zu nennen sind 
die Vorschläge Ahlfeld’s (161 u. 162), die Verhandlungen des preussi- 
schen Medizinalbeamtenvereins von 1899 (159), die Berichte Dohms 
(177), deren Kernpunkte in folgendem beruhen: statt der fünfmonat¬ 
lichen sind neunmonatliche Kurse in den Hebammenlehranstalten zu 
fordern; nur solche weiblichen Personen sind als Schülerinnen zuzu¬ 
lassen, die sich eine gute Volksschulbildung erworben haben; die Heb¬ 
amme muss ein wirkliches Verständnis der Begriffe Infektion und Des¬ 
infektion bekommen (Langerhans 159). [Verfasser hatte selbst 
Gelegenheit, Diakonissen in die Geheimnisse der Anti- und Asepsis 
einzuführen. Ich zeigte den Mädchen, die zum Teil nur eine ganz 
mangelhafte Schulbildung genossen hatten und den unteren Volks¬ 
schichten entstammten, die Eiterereger in der Kultur und unter dem 
Mikroskop, ich impfte eine Maus und ein Kaninchenohr mit Strepto¬ 
kokken, bezw. Staphylokokken, und demonstrierte den Diakonissen 
den Tod der Maus und den Abszess am Kaninchenohr. Und ich hatte 
die Freude, den Eindruck dieser Vorführungen und den vermehrten 
Eifer bei den Händewaschungen zu sehen.] Die Nachprüfungen werden 
als ganz unzulängliche Einrichtungen für die Verbesserung der Leistungen 
der Hebammen angesehen; sie helfen für den Tag der Prüfung, im 
besten Falle für ein paar Tage länger; die weiteren Forderungen gehen 
deshalb dahin, 3—4wöchige Wiederholungskurse einzuführen, an denen 
jede Hebamme alle 3—5 Jahre teilzunehmen habe. Vielleicht aber 
sind die jährlich stattfindenden achttägigen Wiederholungskurse, die nach 
L ö h 1 e i n’s (167) Bericht für Hessen eingeführt sind, noch empfehlenswerter. 
Weitere Forderungen, deren Erfüllung für die Praxis wünschenswert 
erscheint, sind diese: eine ausreichende Besoldung der Hebamme und 
feste Anstellung durch den Kreis. Die Hebamme bekommt ihren 
Bezirk zugewiesen, ausser etwa Schröpfen, Blutegelsetzen und andern 


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Ueber die für das Puerperalfieber iu Betracht kommend. Mikroorganismen etc. 387 


kleinen Hilfeleistungen sind ihr neben den eigentlichen Berufsgeschäften 
andere Beschäftigungen untersagt. Für den Altersr und Invaliditäts¬ 
fall ist der Hebamme eine angemessene Pension zu gewähren. Die 
Hebammen eines Kreises sollen sich ferner in Vereinen zusammen¬ 
finden (Lemraer 159), in denen zweckmässig von Zeit zu Zeit der 
Kreisarzt oder andere Aerzte Vorträge über Desinfektion, über die 
Verhütung von Puerperalfieber u. s. f. halten sollten. Die Desinfektions^ 
mittel sollten der Hebamme, damit sie nicht an Unrechter Stelle spart, 
von Kreiswegen geliefert werden. 

Von hoher Bedeutung ist der § 116 des Hebammenlehrbuches 
für die Verhütung des Kindbettfiebers. Die Vorschrift, die innere 
Untersuchung möglichst selten vorzunehmen, ist den Hebammen neben 
den Lehren der Desinfektion auf das Eindringlichste einzuprägen. Der 
grösste Teil der deutschen Kliniker ist wohl einig darin, dass in der 
Unterlassung der inneren Untersuchung eine grosse Garantie für die 
Verhütung der Infektion gegeben ist (Credö [148], Winckel [149], 
Hegar [143—144], Leopold und Goldberg [139—140], Olshausen 
und Veit [1. c.]). Es ist aber nicht möglich, den Hebammen jede 
innerliche Untersuchung zu verbieten, ebenso wie es unmöglich ist, 
ihnen auf alle Fälle die Vornahme geburtshilflicher Operationen zu 
untersagen. Der Satz aber, dass die möglichste Einschränkung der 
innerlichen Untersuchung Pflicht der Hebamme sein muss, bleibt zu 
Recht bestehen. 

Die Reinigung und die Desinfektion der Instrumente wird den 
Hebammen durch die §§ 113 und 303 des Hebammenlehrbuches zur 
Pflicht gemacht. Werden diese Vorschriften gewissenhaft befolgt, so 
dürfen sie als ausreichend angesehen werden. Die Desinfektion der 
Kleider der Hebamme sollte stets in Desinfektionsapparaten erfolgen, 
die Desinfektionsapparate der Kreiskrankenhäuser dürften die geeignete 
Desinfektionsquelle sein. Vielleicht empfiehlt es sich auch, von den 
Kreiskrankenhäusem aus die Hebammen des Kreises mit sterilisierten 
Wattekugeln bezw. Gaze zu versorgen. 

Von hoher Bedeutung für die Prophylaxe des Puerperalfiebers 
ist die Regelung der individuellen Wochenbettshygiene. Bei den Wöch¬ 
nerinnen der besser situierten Kreise wird es sich ohne Schwierig¬ 
keiten erreichen lassen, dass die Wochenstube gründlich gelüftet und 
gereinigt, dass das Bett der Wöchnerin, wie . diese selbst, gleich vor 
und gleich nach der Geburt mit sauberer Wäsche versehen wird, dass 
Licht und Luft regelrechten Zutritt haben. Wer aber nur einmal ge- 


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sehen hat, in welch’ grauenhaften Räumen in der Armenpraxis Ent¬ 
bindungen vor sich gehen müssen, in Räumen, die oft den Namen 
einer menschlichen Wohnung kaum verdienen, der kann die ganze 
Schwierigkeit ermessen, solch’ einem armen Weibe die Grunddinge 
jeder Hygiene: Luft, Licht und Reinlichkeit angedeihen zu lassen, 
ln den Städten ist wenigstens (ür einen Teil dieser Armen durch 
Entbindungsanstalten, durch die neuerdings an manchen Orten ein¬ 
gerichteten Wöchnerinnenasyle Sorge getragen. Aerzte und Hebammen 
sind in den Städten bald zur Hand, Armenpflege und Fürsorge sind 
hoch entwickelt. Die Vereine für „Hauspflege“ sind allezeit hilfs¬ 
bereit. Nicht so ist’s auf dem Lande. Ehlers’ Statistik beweist es 
mit trauriger Deutlichkeit. Da sind die Vorschläge Ahlfeld’s (162) 
höchst beherzigenswert. Für jeden ländlichen Hebammenbezirk ist 
eine Helferin zu ernennen, die ein Depot von Leibwäsche, Bettwäsche, 
Kinderwäsche u. s. f. zu ihrer Verfügung hat; aus diesem Depot 
versorgt sie bedürftige Wöchnerinnen; diese Helferinnen sollen wo¬ 
möglich Mitglieder der .Vaterländischen Frauenvereine sein. Zu er¬ 
wähnen ist ferner die Einrichtung der Wochenpflegerinnen. Dies sind 
Mädchen oder Frauen, die 2—3 Monate lang in Wöchnerinnenasylen 
oder Entbindungsanstalten ausgebildet werden, und die dann die 
Wochenpflege, keineswegs aber die Entbindung selbst, besorgen sollen. 
Der Hebamme würde dann die gefährliche Berührung mit dem Wochen¬ 
fluss erspart. Auch die Ausbildung dieser Personen sollte Sache der 
Vaterländischen Frauenvereine sein. (Erlass des Kultusministers vom 
22. 6. 1900.) Für die Desinfektion der Wochenstube würde es sich 
eventuell empfehlen, dass die Gemeinden einen Schering’schen For¬ 
malingas-Desinfektionsapparat beschafften, der in all’ den Fällen in 
Wirksamkeit treten müsste, in denen in der Wochenstube an Infek¬ 
tionskrankheiten leidende Familienmitglieder gewohnt haben. Ein 
solcher Apparat würde auch da am Platze sein, wo die Desinfektion 
der Kleider der Hebamme durch einen Dampfdesinfektionsapparat nicht 
besorgt werden kann. 

Die glänzenden Resultate der öffentlichen Entbindungsanstalten 
in der Prophylaxe des Puerperalfiebers haben die Forderung nach 
der Einrichtung solcher Anstalten an möglichst vielen Orten des 
Landes rege werden lassen; eine Reihe der grössten Städte der 
Monarchie hat bereits Wöchnerinnenasyle errichtet. Brennecke (172) 
verlangt die Errichtung von Heimstätten für Wöchnerinnen durch Kreis- 
und Kommunalverbände. Brennecke stellt sich unter diesen Heim- 


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lieber die für das Puerperalfieber in Betracht kommend. Mikroorganismen etc. 389 


statten gleichfalls selbständige Entbindungsanstalten vor, mit denen 
die Hebammen des ganzen Bezirks in enger Beziehung bleiben sollen. 
Die Hebammen selbst sollen, so fordert Queisner (174), in diesen 
Anstalten die Frauen, welche sic der Anstalt überweisen, natürlich 
unter Aufsicht eines Arztes, entbinden. Die Wöchnerinnenasyle sind 
für die allerärrasten Frauen bestimmt, in deren Wohnung auch nicht 
annähernd die Bedingungen erfüllt werden können, die an eine hy¬ 
gienisch einwandsfreie Wochenstube zu stellen sind. Es ist bemerkens¬ 
wert, dass von den 25 Deutschen Wöchnerinnenasylen, die 1901 
existierten, nur zwei auf das ostelbische Deutschland kamen. 

Zum zweiten Male tritt uns im Laufe dieser Arbeit hier die 
Tatsache entgegen, wieviel gerade im Osten unseres Vaterlandes noch 
für die Prophylaxe des Wochenbettfiebers geschehen muss. Wenn die 
Zahl der fieberhaften Wochenbettserkrankungen ein Massstab für die 
Kultur eines Landes ist, und das ist sie zweifellos, so ist in den Ost¬ 
marken noch ein mächtiges Stück Kulturarbeit zu leisten; wir dürfen 
nicht zweifeln, dass es gelingen wird. 

Es ist bekannt, dass sich schwangere Frauen, namentlich aus 
den unteren Volksschichten, schon in der Schwangerschaft, sei es um 
diese selbst feststellen zu lassen, sei es um Hilfe für ihre Beschwerden 
zu suchen, an die Hebamme wenden. Die Hebamme sollte in dieser 
Zeit die Schwangere über die Prophylaxe des Puerperalfiebers be¬ 
lehren, soweit die Schwangere selbst die Prophylaxe zu handhaben 
vermag. Der § 85 unterweist die Hebamme in der Belehrung 
Schwangerer etwa in dem hier angedeuteten Sinne. Die Hebamme 
mag die Frau darauf hinweisen, dass sie Selbstuntersuchungen unter¬ 
lässt; sie mag sie zu regelmässigen Waschungen der äusseren Genitalien 
anhalten. Ihre Belehrung gebe ferner dahin, dass die Schwangere 
nach Möglichkeit ihre Wochenstube, ihr Bett roin hält; dass sie 
Verkehr mit Personen, die an ansteckenden Krankheiten leiden, nach 
Möglichkeit vermeidet, dass sie für die Geburt selbst einen Vorrat 
reiner Leib- und Bettwäsche bereit halten soll. 

Last not least ist der Hebamme selbst für ihren eigenen Körper 
und ihre ganze Lebenshaltung peinliche Sauberkeit zur höchsten Pflicht 
zu machen. Hägler’s Worte, dass nichts so sehr die Möglichkeit, 
die Hände vollkommen zu desinfizieren, fördere, als eine sorgfältige 
Pflege der Hände, sind auch für die Hebammen beherzigenswert. 
Eine mit Schrunden bedeckte Hand und schmutzige, schwarzrandige 
Fingernägel sind die Zeichen einer unzuverlässigen Hebamme. Es 


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darf nicht geschehen, dass, wie Den ecke (169) es sah, die Berufs¬ 
tasche der Hebamme mit ungenügendem Verschluss zwischen ge¬ 
brauchter Wäsche, Brot, Stiefeln und Kämmen aufbewahrt wird. 

2 . Die Massnahmen, welche die Weiterverbreitung des Puerperal¬ 
fiebers verhindern sollen. 

a) Die Pflichten der Hebamme. 

Durch den § 303 des Hebammenlehrbuches und die §§ 57 u. 59 
der Dienstanweisung für die Kreisärzte wird die Meldepflicht der 
Hebamme in Fällen von Kindbettfieber geregelt. Die Meldung setzt 
natürlich eine Erkennung der Krankheit voraus, und die §§ 304 und 
306 und 333 des Hebaramenlehrbuches belehren die Hebammen, wann 
Kindbettfieber oder der Verdacht dieser Krankheit besteht. Das 
souveräne Mittel zur Diagnose ist die Temperaturmessung. Es wird 
also eine verdienstliche Aufgabe der Hebammenlehrer sein, die Frauen 
gründlich in der Handhabung des Fieberthermometers zu unterweisen. 
In den geburtshilflichen Kliniken wird die Temperatur jetzt wohl all¬ 
gemein durch rektale Messung bestimmt; es erübrigt sich indessen 
für die Hebamme diese Art der Messung, da man weiss, dass die 
Differenz zwischen axillarer und rektaler Temperatur um 0,3—0,5 
schwankt, sodass einer Achseltemperatur von 38° einer Rektum¬ 
temperatur von 38,5 etwa entsprechen dürfte. Eine rektale Tem¬ 
peratur von 38,5 hat man aber als die obere Temperaturgrenze für 
ein normales, fieberfreies Wochenbett anzusehen sich gewöhnt. 

Die Hebamme wird nun zunächst anzuhalten sein, für jede Wöch¬ 
nerin einen Teraperaturzettel anzulegen; den in den Kliniken ge¬ 
brauchten ähnliche Formulare sollten der Hebamme durch den Kreis¬ 
arzt übermittelt werden. Es wäre für die Statistik, für die Hand¬ 
habung der Sanitätspolizei von der allergrössten Bedeutung, wenn 
jede Hebamme für jede W'öchnerin einen Temperaturzettel anlegte, 
unter Zugrundelegung einer täglichen zweimaligen Messung; diese Mühe 
kann nicht gross sein im Verhältnis zu der Bedeutung dieser Mass¬ 
nahme. Diese Temperaturzettel sind dann entweder nach Ablauf des 
betreffenden Wochenbettes oder sonst etwa allmonatlich dem Kreis¬ 
arzt zu übergeben. Die Meldepflicht der Hebammen wird dadurch 
nicht berührt. Der Kreisarzt hat in diesen Temperaturblättern zu¬ 
gleich ein vorzügliches Kontrollmittel über die Gewissenhaftigkeit der 
Hebammen bezüglich ihrer Meldepflicht in der Hand, immer natür- 

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lieber die für das Puerperalfieber in Betracht kommend. Mikroorganismen etc. 391 

lieh vorausgesetzt, das die Hebamme wahrheitsgemässe Eintragungen 
macht. 

Baumm (163) kritisiert nun mit Recht die nicht ganz klaren, 
sich teilweise widersprechenden Bestimmungen der Paragraphen des 
Hebammenlehrbuches über die Diagnose des Wochenbettfiebers. § 304 
sagt: „Geht dieselbe (Temperatur nämlich) um mehrere Zehntel über 
38 hinauf, so ist bereits Fieber da.“ § 333: „War die Temperatut 
um mehrere Zehntel über 38,5 gestiegen, so ist Fieber da und ein 
Arzt zu benachrichtigen.“ § 158: „Bis auf 38,5 darf die Körper¬ 
wärme einer Wöchnerin nicht steigen, wenn sie noch als gesund 
gelten soll. Wäre sie so hoch oder darüber, so würde die Zuziehung 
eines Arztes zu verlangen sein.“ Solchen Vorschriften gegenüber ist 
zu sagen, dass die Hebamme durchaus einer ganz bestimmten An¬ 
weisung bedarf, wann sie dem Kreisarzt ihre Meldung über Wochen¬ 
bettfieber oder den Verdacht von Wochenbettfieber zu machen hat. 

Es ist zweifellos, dass jede Temperatur über 38° als Fieber an¬ 
zusehen ist; somit würde der § 304 zu Recht bestehen, und in etwas 
erweiterter Fassung nebst einer gewissen Ausführung könnte er die 
Grundlage einer klaren Anweisung für die Meldepflicht abgeben. 
Baumm merkt an, dass nicht nur die Höhe, sondern auch die Dauer 
des Fiebers massgebend sei, ferner das Allgemeinbefinden und endlich 
die Schmerzempfindlichkeit des Leibes. Im übrigen will Baumm die 
Meldepflicht von der Diagnose des Arztes abhängig machen. In den 
Fällen, in denen nach zweitägigem Bestehen das Fieber nicht herab¬ 
geht, oder trotz fallender Tendenz am 4. Tage nicht definitiv auf 
37,5 herabgeht, soll die Hebamme den Arzt verlangen. Der Arzt 
soll ihr dann sagen, ob Wochenbettfieber vorliegt. Verdacht auf 
Wochenbettfieber liegt vor und ist von der Hebamme zu melden, 
wenn die Zuziehung eines Arztes von der Wöchnerin oder deren An¬ 
gehörigen verwehrt wird, oder der Arzt die Diagnose noch offen lässt. 
Im übrigen sollen nach Baumm, abgesehen von den Geschlechts¬ 
krankheiten, auch alle anderen ansteckenden Krankheiten der Wöch¬ 
nerinnen und der in deren Wohnung lebenden Personen meldepflichtig 
sein. Vorsichtsmassregeln hat die Hebamme in jedem Falle, in dem 
Fieber eintritt, zu treffen; sie soll nach Möglichkeit die fiebernde 
Wöchnerin unberührt lassen, vor dem Verlassen derselben muss sie 
Hände und Arme desinfizieren, die Instrumente sind auszukochen; 
bevor sie zu einer andern Wöchnerin oder Gebärenden geht, soll sie 
ein neues Obergewand anlegen und die innere Untersuchung soll in 


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dieser Zeit möglichst unterlassen werden. Soweit Baumm. Zunächst 
kann man wohl Baumm darin beistimmen, dass eine Temperatur¬ 
steigerung über 38 °, die länger als 2 Tage besteht — besser zu sagen 
ist vielleicht eine Steigerung über 38°, die an zwei aufeinanderfolgenden 
Tagen besteht —, die strikte Indikation für die Hebamme ist, den 
Arzt zu verlangen. Man tut gut hinzuzufügen, dass bei plötzlichem 
Temperaturanstieg auf 39° und darüber unter Schüttelfrost schon 
diese einmalige Temperaturerhöhung der Hebamme die Zuziehung des 
Arztes zur Pflicht macht. Schlechtes Allgemeinbefinden und Schmerz¬ 
haftigkeit des Leibes müssen auch ohne Vorhandensein von Fieber 
die Hebamme verpflichten, den Arzt zu verlangen. In jedem Falle, 
in welchem dem Verlangen der Hebamme nicht entsprochen wird, 
soll sie alsbald dem Kreisarzt die Meldung machen. Wird ein Arzt 
zugezogen, so erhebt sich die Frage, soll die Hebamme über den 
Kopf des Arztes hinweg ihre Meldung erstatten, oder soll sie diese 
von der Diagnose des Arztes abhängig machen. Im Interesse eines 
richtigen, zuträglichen Verhältnisses zwischen Acrzten und Hebammen 
einerseits, zwischen den beamteten und praktischen Aerzten anderer¬ 
seits, dürfte es sich in der Tat empfehlen, die Meldung der Hebamme 
von der Diagnose des Arztes bestimmen zu lassen. Von der Heb¬ 
amme kann man natürlich nicht verlangen, dass sie sich eine klare 
Anschauung von der Ursache des Fiebers in jedem Einzelfalle ver¬ 
schafft. Nur der Arzt wird entscheiden können, ob eine Temperatur¬ 
steigerung, ganz abgesehen von interkurrenten Infektionskrankheiten, 
das Zeichen einer wirklichen Puerperalinfektion oder nur einer be¬ 
deutungslosen Intoxikation ist. Wie schwierig, ja unmöglich für den 
Arzt selbst es sein kann, diese Differentialdiagnose zu stellen, braucht 
hier nicht noch einmal erörtert zu werden. Jedenfalls illustriert 
diese Tatsache deutlich genug, wie zweckmässig es ist, die Meldung 
der Hebamme an den Kreisarzt von dem Votum des behandelnden 
Arztes abhängig zu machen. 

Schliesst der Arzt mit Bestimmtheit Wochenbettfieber aus, so 
unterbleibt die Meldung an den Kreisarzt. Diagnostiziert der Arzt 
Wochenbettfieber, oder vermag er es nicht mit Bestimmtheit auszu- 
schliessen, so erfolgt die Meldung der Hebamme. Uebrigens hat eine 
Anzahl von Regierungen ihren Verordnungen über Meldepflicht bereits 
diese Fassung gegeben, so z. B. die Hildesheimer Regierung. Diese 
Massnahme würde nebenbei auch den Erfolg haben, dass die Heb¬ 
amme sich niemals der Ausrede bedienen kann, sie habe nicht ge- 


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lieber die für das Puerperalfieber in Betracht kommend. Mikroorganismen etc. 393 

wusst, dass Kindbettfieber vorhanden sei; andererseits bringt diese 
Einrichtung gewisse 


Pflichten der Aerzte 

mit sich. Im preussischen Regulativ von 1835 war das Kindbett¬ 
fieber aus bekannten Gründen noch nicht unter die ansteckenden 
Krankheiten aufgenommen, es war in diesem Regulativ daher auch 
keine Meldepflicht für Fälle von Puerperalfieber angeordnet. Seither 
sind nun für einzelne Regierungsbezirke die praktischen Aerzte ange¬ 
wiesen worden, jeden Fall von Kindbettfieber ihrer Praxis zu melden. 
Der Entwurf eines Ausführungsgesetzes zu dem Reichsgesetz betreffend 
die Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten vom 30. 6. 1900 
sieht für die ganze Monarchie die Meldepflicht, Schutzmassregeln, Er¬ 
mittelungen durch den beamteten Arzt auch für das Kindbettfieber 
vor (1. Abschnitt § 1; 3. Abschnitt §..3 und Begründung). Es wird 
wie für Typhus u. s. w. auch für das Puerperalfieber den Aerzten die 
Meldepflicht auferlegt; und zwar dürfte es wirksamer sein, wenn die 
Meldung von Kindbettfieberfällen direkt an den Kreisarzt gerichtet 
würde; dadurch wäre ein promptes und erspriessliches Zusammen¬ 
arbeiten von beamteten und praktischen Aerzten möglich gemacht. 
Zugleich darf es der Arzt natürlich nicht unterlassen, auch die Heb¬ 
amme jzu ihrer Meldung anzuhalten; er wird den Kreisarzt unter¬ 
stützen in der Beaufsichtigung der Hebammen und der Durchführung 
der für sie angeordneten Massnahmen. Es braucht hier nicht noch 
einmal besonders betont zu werden, dass nicht jede fiebernde Wöch¬ 
nerin als puerperalfieberverdächtig anzusehen ist Der Gewissen¬ 
haftigkeit und den Kenntnissen des Arztes vom Wesen des Puer¬ 
peralfiebers bleibt es überlassen, über die Notwendigkeit einer Meldung 
zu entscheiden. 

Wir müssen hier noch einmal auf die gonorrhoische Wochenbett¬ 
erkrankung zurückgreifen. Eine Hebamme wird, falls eine fieberhafte 
Wochenbettsgonorrhoe auftritt, zweifellos den Arzt verlangen müssen, 
bezw. zur Meldung verpflichtet sein; der Arzt wird auf dem Wege 
der Anamnese durch die bakteriologische Untersuchung, durch das 
ganze klinische Bild gewiss manchmal die Diagnose auf Gonorrhoe 
zu stellen wissen. Olshausen und Veit (1. c.) betonen, dass nicht 
einfach der Nachweis der Gonokokken zur Diagnose genügt, dass 
vielmehr Abwesenheit anderer Kokken festgestellt werden muss. Eine 
einwandsfrei diagnostizierte Wochenbettsgonorrhoe ist kein Puerperal- 


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Dr. Hugo Marx, 


fieber, also auch nicht meldepflichtig. Ist der Arzt seiner Sache aber 
nicht gewiss, so wird er seine Meldung erstatten, bezw. die Hebamme 
zur Meldung veranlassen. Die zu treffenden Massnahmen werden in 
unklaren Fällen in praxi mit denjenigen identisch sein, die in allen 
anderen Fällen von Puerperalfieber zu treffen sind. Für die Praxis 
ist entschieden dem Grundsatz zu huldigen, dass es besser ist, einmal 
zu viel zu melden und prophylaktische Massnahmen zu treffen, als 
einmal zu wenig. So streng daher die Wochenbettsgonorrhoe bak¬ 
teriologisch wie klinisch vom eigentlichen Puerperalfieber zu trennen 
ist, so wenig erscheint diese Trennung vom sanitätspolizeilichen Stand¬ 
punkt als konsequent durchführbar, weil die Diagnose der Wochen¬ 
bettsgonorrhoe in der allgemeinen Praxis in den meisten Fällen nicht 
mit genügender Sicherheit gestellt werden wird. An der Trennung 
der Gonorrhoe vom ansteckenden und übertragbaren Kindbettfieber 
muss festgehalten werden, wenn es sich darum handelt, über eine 
etwaige Schuld der Hebamme oder des Arztes für die Entstehung 
der Infektion zu entscheiden. Doch diese Frage spielt schon auf 
das forensische Gebiet hinüber, das uns hier verschlossen bleiben muss. 


b) Die Pflichten des Kreisarztes. 

Zunächst liegt dem Kreisarzt ob, die sich für die Hebammen- 
schule meldenden Frauen und Mädchen zu prüfen (§ 60 d. D. A.). 
Schon bei dieser Gelegenheit wird es ihm möglich sein, Personen, deren 
körperlicher Habitus (Krankheit, mangelhafte Sauberkeit) und deren 
geistige Minderwertigkeit den erforderlichen Grad von Bildungsfähigkeit 
ausschliessen, von den Hebammenschulen fernzuhalten. Neben einer voll¬ 
kommenen körperlichen Gesundheit ist Rücksicht zu nehmen auf eine gute 
Volksschulbildung und eine absolute Unbescholtenheit (§ 3 der Ver¬ 
fügungen vom 6. August 1883). Die im Beruf stehenden Hebammen 
sind nach § 61 alle drei Jahre durch den Kreisarzt einer Nachprüfung 
zu unterziehen. Bei dieser Nachprüfung, die, wie schon angeführt ist, 
bei weitem nicht ausreichen kann, die Hebammen in der Desinfektion 
sicher und zuverlässiger zu machen, ist natürlich das Hauptgewicht 
auf die Desinfektion, überhaupt auf die Kenntnis der Massnahmen zur 
Verhütung des Kindbettfiebers zu legen. Die Hebammen müssen vor 
den Augen des Kreisarztes eine praktische Händedesinfektion vor¬ 
nehmen; der Kreisarzt wird alsdann erkennen, wess Geistes Kind die 
Hebamme ist. Es wurde schon gesagt, dass es sich für den Kreisarzt 
empfiehlt, in ständiger Berührung mit der Hebamme als ihr Lehrer 


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Ueber die für das Puerperalfieber in Betracht kommend. Mikroorganismen etc. 395 


zu bleiben; die Hebammen vereine, die in jedem Kreis gegründet werden 
sollten, dürften der geeignete Vereinigungspunkt sein. § 63 ordnet die 
Bekämpfung der Hebammenpfuscherei durch den Kreisarzt an; ein Teil 
der grossen Kindbettsmortalität auf dem Lande, besonders in den Ost¬ 
marken, dürfte in der Tat den Hebammenpfuscherinnen zur Last zu legen 
sein. — Dem Kreisarzt wird nun ein Fall von Kindbettfieber gemeldet. 
Abs. 3 des § 57 ordnet zunächst Ermittelungen an Ort und Stelle an. 
Der Kreisarzt setzt sich, falls ein Arzt zugezogen war, mit diesem in 
Verbindung und begibt sich mit diesem, in anderen Fällen allein, an 
das Bett der erkrankten Wöchnerin. Diese Ermittelungen an Ort und 
Stelle sind bisher nur für einzelne Regierungsbezirke durch Polizei¬ 
vorschrift geregelt. Eine allgemeine gesetzliche Regelung für die 
Monarchie sieht der schon öfters erwähnte Entwurf zum Ausführungs¬ 
gesetz des Reichsgesetzes vor. Ara Krankenbett dürfte eine kurze 
Untersuchung (Temperaturmessung, Bestimmung der Pulsfrequenz und 
Qualität, Berücksichtigung des Allgemeinbefindens) den Kreisarzt in 
den meisten Fällen über die Natur der Erkrankung vergewissern. 
Denecke (1. c.) macht darauf aufmerksam, dass sich der Kreisarzt 
durch einen Blick auf die Reinlichkeit der Wohnung, des Bettes der 
Wöchnerin selbst zugleich klar werden soll über „das Risiko, . . . . 
welches die Hebamme auch unter strenger Beachtung der Reinlichkeits¬ 
vorschriften lief 41 , d. h. er wird sich schon hier zum Teil klar machen 
können, in wieweit die Hebamme eine Schuld treffen kann. So erzählt 
Denecke aus seiner Erfahrung einen Fall, in welchem die Mutter 
der Wöchnerin, welche mit im Wochenzimmer verweilte, an einem 
eitrigen Ulcus cruris litt; die Wöchnerin aber hatte noch kurz vor 
der Niederkunft die gebrauchten Verbandstoffe der Mutter gewaschen. 
Was Wunder, dass ein Puerperalfieber sich einstellte. Wo es an¬ 
gängig ist, sollte der Kreisarzt die bakteriologische Untersuchung der 
Lochien vornehmen, in forensisch zu beurteilenden Fällen ist die 
Bakterioskopie ein dringendes Postulat. Man wird sich noch nach 
dem Geburtsverlauf, nach stattgehabten inneren Untersuchungen u. s. f. 
erkundigen. Darnach soll die Hebamme, wenn möglich unvorbereitet, 
besucht werden; natürlich hat ihr der Kreisarzt schon bei der münd¬ 
lichen Meldung des Fieberfalles bis auf weiteres die Berufstätigkeit 
untersagt. Bei der Hebamme ist gleichfalls nach dem Geburtsverlauf, 
nach der Art der Händedesinfektion, nach inneren Untersuchungen 
oder gar vorgenommenen Operationen zu fragen. Es werden nunmehr 
die Hände der Hebamme auf Schrunden, Paronychien, auf deren Be- 


Vierte^jahrsfiehrift f. ger. Med. u. öff. San.-Wesen. 3. Folge. XXVIII. 2. 

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Dr. Hugo Marx, 


deutung für die Aetiologie des Puerperalfiebers besonders Hegar (144) 
aufmerksam macht, untersucht. Der Aufbewahrungsort der Instrumente 
(s. o.), ihre Sauberkeit ist zu prüfen. Vor allem muss sich der Kreis¬ 
arzt vergewissern, ob in der Wohnung der Hebamme sich Personen 
mit infektiösen Krankheiten befinden, endlich ob die Hebamme selbst 
Personen, die mit solchen Krankheiten behaftet waren, behandelt hat. 
Ist die Hebamme selbst Mutter, so wird man sich auch ihre Kinder 
auf ihre Reinlichkeit, auf etwaige infektiöse Erkrankungen ansehen. 
Diese Ermittelungen geben die Grundlage ab für die Art der zu er¬ 
greifenden Massnahmen. Eine gründliche Desinfektion ist in jedem 
Falle anzuordnen. Die Instrumente werden eine bis mehrere Stunden 
ausgekocht; die Hebamme selbst muss zunächst womöglich ein oder 
mehrere Vollbäder nehmen, mindestens aber ihren ganzen Körper mit 
warmem Wasser und Seife gründlich abwaschen. Die Desinfektion 
der Hände und Arme ist nach der Uhr und zwar nicht einmal, 
sondern mehrmals am Tage vorzunehmen. Die am Bett der fiebernden 
Wöchnerin getragenen Kleider müssen desinfiziert werden, einschliess¬ 
lich der Leibwäsche der Hebamme; nach dem Vollbad muss sich die 
Hebamme von Kopf bis Fuss frisch einkleiden. 

Befinden sich in der Wohnung der Hebamme infektiös Erkrankte, 
so sind diese womöglich aus der Wohnung der Hebamme zu entfernen, 
da sonst natürlich jede Desinfektion illusorisch wird. Ist eine Ab¬ 
sonderung dieser Kranken nicht möglich, so muss der Kreisarzt von 
seinem durch § 59 der Dienstanweisung für die Kreisärzte begründeten 
Rechte der Untersagung der Berufstätigkeit Gebrauch machen, die im 
übrigen natürlich auch in allen anderen schweren Fällen von Kind¬ 
bettfieber, je nach Ermessen des Kreisarztes, Platz greifen kann. 

Es versteht sich von selbst, dass die Untersagung der Berufs¬ 
tätigkeit nur dann einen Zweck hat, wenn die Hebamme diese Zeit 
voll ausnützt zur persönlichen und sachlichen Desinfektion, die vom 
Kreisarzt zu überwachen ist. Der Kreisarzt kann eine achttägige 
Sperre verhängen; Untersagung der Berufstätigkeit auf längere Zeit 
ist vom Regierungspräsidenten nach eingehender Prüfung durch den 
Kreisarzt anzuordnen. Diese längere Sperre wird in folgenden Fällen 
besonders stattfinden müssen; einmal, wenn sich infektionskranke Per¬ 
sonen in der Wohnung der Hebamme auf halten, deren Absonderung 
auf keine Weise möglich ist, zweitens, wenn ein zweifelhaftes Ver¬ 
schulden der Hebamme vorliegt; drittens wenn die Hebamme die ihr 
aufgegebenen Desinfektionsvorschriften nicht befolgt hat. In dem 


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Ueber die für das Puerperalfieber in Betracht kommend. Mikroorganismen etc. 397 


zweiten Falle wird es, abgesehen von etwaigen Bestrafungen, wie 
Denecke (I. c.) ausführt, sich empfehlen, die Hebamme alsbald zu 
einem Wiederholungskursus in der Hebammenschule einzuberufen. Heb¬ 
ammen, die wiederholt durch ein schuldhaftes Verhalten erwiesener- 
massen Puerperalfieber verursacht haben, und solche Hebammen, die 
durch weit vorgeschrittenes Lebensalter nicht mehr tauglich erscheinen, 
ihren verantwortungsvollen Beruf fürder zu versehen, sollten alsbald 
durch andere ersetzt werden (Denecke). 

Wie lang im Einzelfalle die Untersagung der Berufstätigkeit zu 
bemessen ist, bezw. ob einfache Massregeln (Desinfektion der Heb¬ 
amme) genügen, muss der Kreisarzt nach seinem Ermessen entscheiden. 
Eine als zuverlässig ihm bekannte Hebamme wird er eher zur Berufs¬ 
tätigkeit wieder zulassen können als eine unsichere Kantonistin. 
Wenn die Medizinalbeamten in zahllosen Veröffentlichungen — man 
sehe nur die letzten 10 Jahrgänge der Zeitschrift für Medizinalbeamtc 
durch — über die ungenügende Meldepflicht seitens der Hebammen, 
zum Teil auch der Aerzte, klagen, so mag der Grund für die unter¬ 
lassene Meldung teilweise in der nicht ganz einwandsfreien Fassung 
und in der nicht einheitlichen Durchführung der Vorschriften beruhen; 
dass auch andere hier nicht näher zu erörternde Motive mitspielen, 
ist nicht zu bezweifeln. Wir dürfen indes hoffen, dass die durch den 
erwähnten Gesetzententwurf einheitlich für die Monarchie geplante 
Fassung der Meldevorschriften den Aerzten eine grössere Klarheit über 
ihre Pflichten bei Puerperalfieber der Sanitätspolizei gegenüber bringen 
wird. Andrerseits ist von dem in Vorbereitung befindlichen neuen 
Hebamraenlehrbuch eine klarere und gründlichere Belehrung der Heb¬ 
ammen über Desinfektion und Meldepflicht zu erhoffen. Endlich ist 
zu wünschen, dass die Bestrebungen zur Besserung und Hebung des 
ganzen Hebammenstandes von Erfolg begleitet sein werden zum Wohle 
der Mütter unseres Volkes. 

Beachtenswert sind die Vorschläge Runge’s (178) zur Reform 
des Hebammenwesens. Er fordert die Verlängerung der Ausbildungszeit 
auf 1 Jahr, einen besseren Hebammenersatz, vor allem die unmittel¬ 
bare Unterstellung des Hebammenwesens unter die Medizinalabteilung 
des Kultusministeriums. Das Wort Hebamme ist durch „Helferin“ zu 
ersetzen. Wünschenswert ist die Erschliessung des Hebammenberufs 
für die Frauen und Mädchen aus den mittleren bezw. „besseren“ 
Bevölkerungsschiehten. 

•2C,* 


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Dr. Hugo Marx, 


Die Ergebnisse dieser Arbeit lassen sich in folgenden Sätzen 
zusammenfassen: 

1. Die Erreger schwerer Puerperalfieberinfektion sind in erster 
Linie die pyogenen Kokken, am häufigsten werden Streptokokken ge¬ 
funden, daneben aber auch Staphylokokken in einer grossen Anzahl 
von Fällen. Ein prinzipieller Unterschied zwischen Streptokokken- 
und Staphylokokken-Infektion besteht weder vom bakteriologischen 
noch vom klinischen Standpunkte; 

2. in seltenen Fällen verursacht der Diplokokkus pneumoniae 
eine puerperale Sepsis; 

3. die Erreger des Tetanus, der Diphtherie, des Scharlachs, des 
Typhus gehören nicht zu den für das Puerperalfieber in Betracht 
kommenden Mikroorganismen; 

4. die gonorrhoische Wochenbettserkrankung ist nicht als Puer¬ 
peralfieber im engeren Sinne anzusehen, denn der Gonokokkus ist 
nicht als Erreger einer eigentlichen Wundinfektion zu betrachten, seine 
Tenazität ist in eingetrocknetem Zustande gleich Null.. Der klinische 
Verlauf lässt häufig die scharfe Abgrenzung der Wochenbettsgonorrhoe 
gegen das eigentliche Puerperalfieber zu. Bezüglich der Meldepflicht 
ist dagegen eine strenge Sonderung der Gonorrhoe vom Puerperal¬ 
fieber nicht immer durchzuführen; 

5. selten verursacht das Bacterium coli eine Puerperalinfektion. 
Die Tympania uteri scheint nicht von ihm bewirkt zu werden, sondern 

6. von anaeroben Bakterien. Anaerobe Bakterien leben meist 
als Saprophyten im Genitalschlauch an der Oberfläche der Schleim¬ 
haut; sie können als solche gelegentlich eine Intoxikation (Sapraemie) 
bewirken; in ganz vereinzelten Fällen erregen anaerobe Bakterien 
eine schwere puerperale Infektion mit tödlichem Ausgang (Aerogenes 
capsulatus, Bazillus der Gasphlegmone); 

7. die Virulenz der Bakterien hängt zum Teil von der Herkunft 
des Infektionsstoffes ab; die Infektionsquelle kann dargestellt werden 
durch Erysipele, Phlegmonen, Paronychien, zerfallende Neubildungen etc. 
Der Tierversuch kann uns nicht immer über die Virulenz der Keime 
auf klären; 

8. es ist nicht daran zu zweifeln, dass normaler Weise in der 
Scheide gesunder Schwangerer und Gebärender pyogene Kokken Vor¬ 
kommen; eine Selbstinfektion mit diesen Keimen ist als möglich zuzu¬ 
geben. Diese Fälle von Selbstinfektion verlaufen fast stets günstig; 
indessen kann nicht in Abrede gestellt werden, dass ganz vereinzelt 


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Ueber die für das Puerperalfieber in Betracht kommend. Mikroorganismen etc. 399 

einmal eine tödliche Selbstinfektion Vorkommen kann. Auch die sapro- 
phytischen Anaeroben des Scheidenschlauches können gelegentlich zur 
Selbstinfektion Anlass geben; 

9. die prophylaktischen Scheidenspülungen bei normalen Geburten 
vor und nach der inneren Untersuchung sind zu unterlassen; 

10. die Desinfektionsvorschriften des Hebammenlehrbuches be¬ 
dürfen einer Verbesserung, vor allem sind Zeitangaben für die Des¬ 
infektion erforderlich; 

11. die Ausbildungszeit der Hebammen muss auf 9 Monate bezw. 
auf 1 Jahr verlängert werden; es empfiehlt sich, jährliche Wieder¬ 
holungskurse von achttägiger Dauer einzurichten; die Gründung von 
Hebamraen-Vereinen ist wünschenswert; 

12. die soziale Stellung der Hebamme muss aufgebessert werden; 

13. wenn eine Wöchnerin an zwei aufeinanderfolgenden Tagen 
über 38° misst, so muss die Hebamme einen Arzt verlangen. Wird 
der Arzt zugezogen, so hat die Hebamme ihre Meldepflicht von seiner 
Diagnose abhängig zu machen; kann der Arzt Puerperalfieber nicht 
ausschliessen oder wurde die Zuziehung eines Arztes abgelehnt, so 
muss die Hebamme dem Kreisarzt Meldung machen; 

14. wie für jede Infektionskrankheit, ist den Aerzten auch für 
Puerperalfieber die Meldepflicht aufzugeben; 

15. es ist Aufgabe der bakteriologischen und klinischen Forschung, 
eine Unterscheidung der Begriffe Infektion und Intoxikation möglich 
zu machen: 

16. ein einträchtiges Zusammenarbeiten von praktischen und 
beamteten Aerzten ist dringend notwendig im Interesse einer erfolg¬ 
reichen Bekämpfung des Puerperalfiebers; 

17. der Kreisarzt kann, abgesehen von der Beobachtung der Vor¬ 
schriften der §§ 57—63 der Dienstanweisung für die Kreisärzte durch 
den ständigen belehrenden Verkehr mit den Hebammen in den Heb- 
aramen-Vereinen und durch ein gutes Einvernehmen mit den praktischen 
Aerzten seines Kreises, einen erfolgreichen Kampf gegen das Puerperal¬ 
fieber führen. 

Abgeschlossen am 30. November 1903. 


Literatur. 

1) Olshausen und Veit, Lehrbuch der Geburtshilfe. 1902. — 2) Ols- 
hausen, Ueber den Begriff des Puerperalfiebers und die praktische Bedeutung 
der Definition der Krankheit. Centralblatt für Gynäkologie. 1899. 1 und 6. — 


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Dr. Hugo Marx, 


3) Derselbe, Untersuchungen über die Komplikationen des Puerperalfiebers mit 
Scharlach und die sogenannte Scarlatina puerperalis. Archiv für Gynäkologie. IX. 
1876. — 4) Derselbe, Ueber puerperale Parametritis und Perimetritis, v. Volk- 
mann’s Sammlung klinischer Vorträge. 28. 1871. — 5) Derselbe, Ueber Asepsis 
und Antisepsis in der Gynäkologie und Geburtshilfe. Berliner klinische Wochen¬ 
schrift. 1899. 45. — 6) Williams, Ein Fall von puerperaler Infektion, bei dem 
sich Typhusbazillen in den Lochien fanden. Centrallblatt für Gynäkologie. 1898. 

— 7) Bumm, Ueber Diphtherie und Kindbettfieber. Zeitschrift für Geburtshilfe und 
Gynäkologie. 33. 1893. — 8) Derselbe, Ueber Aufgaben weiterer Forschungen 
auf dem Gebiete der puerperalen Wundinfektion. Archiv für Gynäkologie. 34. 
1888. — 9) Derselbe, Histologische Untersuchungen über die puerperale Endo¬ 
metritis. Archiv für Gynäkologie. 40. 1891. — 10) Derselbe, Verhandlungen des 
X. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie 1903. (Referat im 
Centralblatt f. Gynäkologie. 1903.) — 11) Derselbe, Zur DeGnition des Begriffes 
Puerperalfieber. Centralblatt für Gynäkologie. 1899. 6. — 12) Derselbe, Zur 
Kenntnis des Eintagsfiebers im Wochenbett. Centralbl. f. Gynäkologie. 1897. 45. 

— 12a) Derselbe, Die puerperale Wundinfektion. Centralblatt f. Bakteriologie. 
2. 1887. — 13) Burckhardt, I. Die endogene Puerperalinfektion; II. Puerperal¬ 
infektion mit Pneumococcus Fraenkel. Hegar’s Beiträge zur Geburtshilfe und 
Gynäkologie. V. 3. — 14) Derselbe, Ueber den Einfluss der Scheidenbakterien 
auf den Verlauf des Wochenbettes. Archiv für Gynäkologie. 45. 1894. — 15) 
Menge und Krönig, Bakteriologie des weiblichen Genitalkanals. Leipzig. 1897. 

— 16) Krönig, Bemerkungen zu dem Aufsatz von Stich er: Händesterilisation 
und Wochenbettsmorbidität. Zeitschr. f. Geburtshilfe u. Gynäkologie. 46. 1901. 

— 17) Derselbe, Zur Frage der Selbstinfektion in der Geburtshilfe. Münchener 

medizinische Wochenschrift. 1902. 26. — 18) Derselbe, Scheidensekretunter¬ 
suchungen bei 100 Schwangeren. Centralbl. für Gynäkologie. 1894. — 19) Der¬ 
selbe, Diskussion über Händedesinfektion auf dem X. Kongress der Deutschen 
Gesellschaft für Gynäkologie. (Referat im Centralblatt für Gynäkologie. 1903.) — 
20) Derselbe, Etiologie et nature des infections puerperales. Xlll. Congres inter¬ 
national de m&lecine. 1900. — 21) Derselbe, Ueber das bakterienfeindliche 
Verhalten des Scheidensekretes Schwangerer. Deutsche med. Wochenschr. 1894.— 
22) Menge, Etiologie et nature des infections puerperales. Xlle Congres inter¬ 
national de medtlcinc Paris 1900. — 22a) Dolöris, Dasselbe, Ibid. — 23) Brin- 
denau et Mac 6 , Sur les ana<5robies dans l’infection puerpdrale. Ibid. — 24) 
Widal, Etüde sur l’infection puerperale, la phlegmatia alba dolens et l’6rysipele. 
Theses de Paris. 1889. — 25) Gusserow, Erysipelas und Puerperalfieber. Archiv 
für Gynäkologie. XXX. 1885. — 26) Czerniewski, Zur Frage von den puer¬ 
peralen Erkrankungen. Eine bakteriologische Studie. Archiv für Gynäkologie. 
33. 1888. — 27) Doldris, La fievre puerperale. Paris. 1880. — 28) Lomer, 
Ueber den heutigen Stand der Lehre von den Infektionsträgern bei Puerperalfieber. 
Zeitschrift für Geburtshilfe u. Gynäkologie. X. 1883. — 29) Eisenberg, Zur 
Aetiologie des Puerperalfiebers. Centralblatt für Bakteriologie. III. 1888. — 
30) Hahn, ZurLeichendiagnose der septischen und pyämischen Prozesse. Virchow’s 
Archiv 123. 1891. — 31) Brieger, Klinische Beobachtungen. II. Teil. Ueber 
bakteriologische Untersuchungen bei einigen Fällen von Puerperalfieber. Charite- 
Annalen 13. 1888. — 32) Hoff, Aetiologie der septischen und pyämischen Er- 


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Ueber die für das Puerperalfieber in Betracht kommend. Mikroorganismen etc. 401 

krankungsprozesse. Inaugural-Dissertation. Strassburg 1890. — 33) Strünck- 
mann, Zur Bakteriologie der Puerperalinfektion. Berlin 1898. — 34) Levy, 
Ueber die Mikroorganismen der Eiterung, ihre Spezifizität, Virulenz, ihre diagnostische 
und prognostische Bedeutung. Archiv für experimentelle Pathologie und Pharma¬ 
kologie. 1892. 29. — 35) Canon, Zur Aetiologie der Sepsis, Pyämie und Osteo¬ 
myelitis. Deutsche Zeitschrift für Chirurgie. 37. 1893. — 36) Gärtner, Versuch 
der praktischen Verwertung des Nachweises von Eiterkokken im Schweiss Sep¬ 
tischer. Centralblatt f. Gynäkologie. 1891. — 37) Derselbe, Beitrag zur Lehre 
von den septischen und pyämischen Infektionen des Uterus. Arch. f. Gynäkol. 43. 
1893. — 38) Kleinknecht, Beitrag zur Frage der Mischinfektion bei puerperalen 
Erkrankungen. Inaugural-Dissertation. Strassburg 1895. — 39) Burguburu, 
Zur Bakteriologie des Vaginalsekrets Schwangerer. Archiv für experimentelle 
Pathologie und Pharmakologie. 30. 1893. — 40) Petruschky, Untersuchungen 
über Infektionen mit pyogenen Kokken. Zeitschrift für Hygiene und Infektions¬ 
krankheiten. 17. 1894. — 41) v. Franqu6, Bakteriologische Untersuchungen bei 
normalem und fieberhaftem Wochenbett. Zeitschrift für Geburtshilfe und Gynä¬ 
kologie. 25. 1893. — 42) Waldeyer, Ueber das Vorkommen von Bakterien bei 
der diphtheritischen Form des Puerperalfiebers. Archiv für Gynäkologie. III. — 

43) Orth, Untersuchungen über Puerperalfieber. Virchow’s Archiv 58. 1873. — 

44) E. Frankel, Zur Aetiologie des Puerperalfiebers. Deutsche med. Wochenschr. 
1885. 34.— 45) A. Fraenkel, Ueber puerperale Peritonitis. Ebendas. 1884. 14. 

— 46) Blumberg, Beobachtungen bei der Behandlung von Puerperalfieber- 
Erkrankungen mit Marmorek’schem Antistreptokokkenserum. Berl. klin. Wochen¬ 
schrift. 1901. 5 u. 6. — 47) v. Magnus, Ueber reine puerperale Staphylokokken- 
pyämje. Centralblatt für Gynäkologie. 1902. — 48) Rieländer, Ein Beitrag zur 
Streptokokkeninfektion im Wochenbett. Zeitschrift für Geburtshilfe und Gynä¬ 
kologie. 49. 1903. — 49) Whitridge, Ein Fall von Puerperalinfektion, bei dem 
sich Typhusbazillen in den Lochien fanden. Centralbl. f. Gynäkologie. 1898. 34. 

— 50) Werth eim, Die aszendierende Gonorrhoe beim Weibe. Bakteriologische 
und klinische Studien zur Biologie des Gonokokkus Neisser. Archiv für Gynä¬ 
kologie. 42. 1892. — 51) Gebhard, Klinische Betrachtungen und bakteriologische 
Untersuchungen über Tympania uteri. Zeitschrift f. Geburtshilfe u. Gynäkologie. 
38. 1897. — 52) Derselbe, Ueber das Bacterium coli commune und seine Be¬ 
deutung in der Geburtshilfe. Ebendaselbst. 38. 1897. — 53) Aufrecht, Patho¬ 
logische Mitteilungen III. 1886. (Referat in Orth, Lehrbuch der speziellen patho¬ 
logischen Anatomie.) — 54) Flügge, Die Mikroorganismen. 1896. — 55) Leh¬ 
mann-Neumann, Bakteriologische Diagnostik. 1899. — 56) Rosenbach, 
Mikroorganismen bei den Wundinfektionskrankheiten des Menschen. 1884. — 
57) Walthard, Der Diplostreptokokkus und seine Bedeutung für die Aetiologie 
der Peritonitis puerperalis. Monatsschrift für Geburtshilfe und Gynäkologie. XII. 

— 58) Eisenhart, Puerperale Infektion mit tödlichem Ausgang, verursacht durch 
Bacterium coli commune. Archiv für Gynäkologie. 47. 2. — 59) Schenck, Die 
Beziehungen des Bacterium coli zur Entstehung von Wochenbettfieber. Ebenda¬ 
selbst. 55. 1898. — 60) Fehleisen, Die Aetiologie des Erysipels. Arbeiten aus 
(kr chirurgischen Klinik der Universität Berlin. III. 1885. — 61) Marmorek, 
Die Arteinheit der für den Menschen pathogenen Streptokokken. Berliner klinische 
Wochenschrift. III. 1885. — 62) Derselbe, Streptocoque et serum antistrepto- 


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402 


Dr. Hugo Marx, 


coccique. Annales de lTnstitut Pasteur. 1895. — 63) Jordan, Ueber die Aetio- 
logie des Erysipels und sein Verhältnis zu den pyogenen Infektionen. Münchener 
medizinische Wochenschrift. 1901. 35. — 64) v. Eiseisberg, Nachweis von 
Erysipelkokken in der Luft chirurgischer Krankenzimmer. Archiv für klinische 
Chirurgie. 35. — 65) E. Fraenkel, Zur Lehre von der Identität des Streptococcus 
pyogenes und erysipelatis. Centralblatt f. Bakteriol. IV. 1888. — 66) Klemm, 
Ueber das Verhältnis des Erysipels zu den Streptokokken. Mitteilungen aus den 
Grenzgebieten der Medizin upd Chirurgie. 1901. — 67) Neufeld, Ueber die Er¬ 
zeugung von Erysipel am Kaninchenohr durch Pneumokokken. Zeitschrift für 
Hygiene und Infektionskrankheiten. 36. 1901. — 68) Uhlenhuth, Beiträge zur 
Pathogenität des Bacterium coli. Ebendaselbst. 26. 1897. — 69) Lex er, Experi¬ 
mente über Osteomyelitis. Archiv f. klinische Chirurgie. 53. 1896. — 70) Marx 
und Woithe, Morphologische Untersuchungen zur Biologie der Bakterien. Central¬ 
blatt für Bakteriologie. 28. 1900. — 71) Lindenthal, Beiträge zur Aetiologie 
der Tympania uteri. Monatsschrift für Geburtshilfe und Gynäkologie. VII. 1898. 

— 72) Goebel, Ueber einen Fall von Gasblasen im Blute einer nach Tympania 
uteri gestorbenen Puerpera. Ebendaselbst. V. 1897. — 73) Ernst, Ueber einen 
gasbildenden Anaeroben im menschlichen Körper und seine Beziehungen zur 
Schaumleber. Virchow’s Archiv. 133. 1893. — 74) E. Fraenkel, Ueber den 
Erreger der Gasphlegmone. Münchener medizinische Wochenschrift. 42. 1899. 

— 75) F. C. Wood, Puerperal infection with the bacillus aerogenes capsulatus. 
(Welch u. Nuttal.) New York Medical Record. 55. 1899. — 76) G. W. Dobbin, 
Puerperal sepsis due to infection with the bacillus aerogenes capulatus. Hopkins 
hospital bulletin 1897. Referat in Virchow’s Jahresbericht. — 77) E. Dunham, 
Report of five cases of infection by the bacillus aerogenes capsulatus. Ibidem. 
Referat im Centralblatt für Bakteriologie. 24. 1898. — 78) Rossi, Ueber die 
Widerstandskraft von Tieren während der Schwangerschaft und im Puerperium 
gegen Infektion und Intoxikation. Arcli. f. Gynäkolog. 68. 1903. — 79) Rossi- 
Doria, Ueber die lokalen und allgemeinen Intoxikationen als prädisponierende 
Ursachen der Puerperalinfektion. Münchener raedizin. Wochenschrift. 1896. 51/52. 

— 80) Caselli, Experimentelle und bakteriologische Untersuchungen über das 
Puerperalfieber. Centralblatt für Bakteriologie. 25. 1899. — 81) Artikel „Puer¬ 
perium“ in Eulenburg’s Realenzyklopädie. 1888. — 82) Semmelweis, Die Aetio¬ 
logie, der Begriff und die Prophylaxe des Kindbettfiebers. Pest 1861. — 
83) Kaltenbach, Zur Antisepsis in der Geburtshilfe, v. Volkmann’s Sammlung 
klinischer Vorträge. 295. 1887. — 84) Ahlfeld, Lehrbuch der Geburtshilfe. 1903. 
85) Derselbe, Beiträge zur Lehre vom Resorptionsfieber in der Geburt und im 
Wochenbett und von der Selbstinfektion. Zeitschrift für Geburtshilfe und Gynä¬ 
kologie. XXVII. 1892. — 80) Derselbe, Klinische Beiträge zur Frage von der 
Entstehung der fieberhaften Wochenbettserkrankungen. Ebendaselbst. 40. 1899. 

— 87) Derselbe, Beiträge zur Frage von der Entstehung der fieberhaften Wochen¬ 
bettserkrankungen. Ebendaselbst. 43. 1900. — 88) Derselbe, Die Lehre von 
der puerperalen Sclbstinfektion und vom Sclbsltouchieren in forensischer Beziehung. 
Zeitschrift für Medizinalbeamte. 1897. — 89) Derselbe, Ein Nachwort zur Puer¬ 
peralfieberdebatte des letzten Gynäkologen-Kongresses. Centralblatt für Gynäko¬ 
logie. 1899. — 90) Winter, Die Mikroorganismen im Genitalkanal der gesunden 
l'rau. Zeitschrift für Geburtshilfe und Gynäkologie. 14. 1888. — 91) Steffeck, 


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lieber die für das Puerperalfieber in Betracht kommend. Mikroorganismen etc. 403 


Bakteriologische Begründung der Selbstinfektion. Ebendaselbst. XX. 1890. — 
92) Derselbe, Zur Desinfektion des Genitalkanals. Centralblatt für Gynäkologie. 
1889. — 93) Knapp, Zur Frage von dem Verhalten des Scheidensekrets in den 
ersten Lebenstagen. Monatsschrift für Geburtshilfe und Gynäkologie. 1897. — 
94) Bohne, Beitrag zur Bakteriologie der Scheide nicht untersuchter Schwangerer. 
Inaugural-Dissertation. Berlin 1902. — 95) Goebel, Der Bakteriengehalt der 
Cervix. Centralblatt f. Gynäkologie. 1896. — 96) Vahle, Ueber das Vorkommen 
von Streptokokken in der Scheide Gebärender. Zeitschrift für Geburtshilfe und 
Gynäkologie. 35. 1896. — 97) Thomen, Bakteriologische Untersuchungen nor¬ 
maler Lochien und der Vagina und Cervix Schwangerer. Archiv für Gynäkologie. 
36. 1889. — 98) Albert, Latente Mikrobenendometritis in der Schwangerschaft. 
Puerperalfieber und dessen Prophylaxe. Ebendaselbst. 63. 1901. — 99) Waithard, 
Bakteriologische Untersuchungen des weiblichen Genitalsekretes in graviditate und 
im Puerperium. Ebendaselbst. 48. 1895. — 100) Stroganoff, Bakteriologische 
Untersuchungen des weiblichen Genitalschlauches. Centralbl. f. Gynäkol. 1893. — 
101) Koblanck, Kurze Bemerkungen zur Bakteriologie der Scheide Schwangerer. 
Zeitschrift für Geburtshilfe und Gynäkologie. 40. 1899. — 102) Döderlein, 
Das Scheidensekret und seine Bedeutung für das Puerperalfieber. Leipzig 1892. — 
103) Derselbe, Ueber das Verhältnis pathogener Keime zur Scheide. Deutsche 
medizinische Wochenschrift. 1895. 10. — 104) Derselbe, Zur Verhütung der 
Infektion Gebärender. Berliner klinische Wochenschrift. 1898. 50. — 105) Döder¬ 
lei n und Winternitz, Die Bakteriologie der puerperalen Sekrete. Hegar's Bei¬ 
träge zur Geburtshilfe und Gynäkologie. 3. 1900. — 106) Gönner, Ueber Mikro¬ 
organismen im Sekret der weiblichen Genitalien. Centralblatt für Gynäkologie. 
1887. — 107) Derselbe, Streptokokken im Vaginalsekret gesunder Schwangerer 
und Gebärender? Ebendaselbst. 1899. — 108) v. Ott, Zur Bakteriologie der 
Lochien. Archiv für Gynäkologie. 32. 1888. — 109) Samschin, Ueber das Vor¬ 
kommen von Eiterstaphylokokken in den Genitalien gesunder Frauen. Deutsche 
medizinische W'ochenschrift. 1890. 6. — 110) Bergholm, Ueber Mikroorganismen 
des Vaginalsekreles Schwangerer. Archiv für Gynäkologie. 66. 1902. — 111) 

v. Rosthorn, Wochenbettsstatistik. Monatsschrift für Geburtshilfe und Gynä¬ 
kologie. 5. 1897. — 112) Fehling, Ueber die Berechtigung der Selbstinfektions¬ 
lehre in der Geburtshilfe. Münchener medizinische Wochenschrift. 1900. 48/49.— 
113) Fritsch, Zur Klärung in der Puerperalfieberfrage. Deutsche medizinische 
Wochenschrift. 1888. 11/12.— 114) Thorn, Wider die Lehre von der Selbst- 
infektion. v. Volkmann’s Sammlung klinischer Vorträge. No. 327. 1888. — 
115) Chazan, Die Streitpunkte in der Puerperalfieberfrage. Ebendaselbst. 1890. 
No. 12. — 116) Hofmeier, Zur Prophylaxe der Wochenbettserkrankungen. 
Deutsche medizinische Wochenschrift. 1891. — 117) Derselbe, Zur Verhütung 
des Kir.dbettfiebers. Berliner klinische W'ochenschrift. 1898. 46. — 118) Der¬ 
selbe, Zur Behandlung der Nachgeburtszeit. Münchener medizinische W'ochen¬ 
schrift. 1899. 48. — 119) Derselbe, Zur Verhütung des Kindbettfiebers. 
Ebondaselbst. 1902. 18/19. — 120) Kühn, Erwiderung auf Hofmeister’s Aufsatz 
in der Münchener medizinischen W'ochenschrift. No. 48. 1899. Ebendaselbst. 
1899. 51. — 121) Frommei, Zur Prophylaxe der Wochenbettserkrankungen. 
Deutsche medizinische Wochenschrift. 1891. 19. — 122) Eberhardt, Asepsis 
und Antisepsis in der operativen Geburtshilfe. Münchener medizinische Wochen- 


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404 


L)r. liugo Marx, 


schrift. 1902. 2. — 122a) Zangemeister, Klinische Beiträge zur Wochenbetts- 
niorbidität. Zeitschrift für Geburtshilfe und Gynäkologie. 47. 1902. — 123) 

Timmermann, Der Einfluss der Geburtsverletzungen des Introitus vaginac auf 
das Wochenbett. Archiv für Gynäkologie. 60. 1900. — 124) Mermann, Ueber 
Entbehrlichkeit und Gefahren einer Desinfektion bei normalen Geburten. Eben¬ 
daselbst. 35. 1889. — 125) Derselbe, Zweihundert Geburten ohne prophylak¬ 
tische Scheidenausspülungen. Centralblatt für Gynäkologie. 1889. — 126) Der¬ 
selbe, Weitere zweihundert Geburten ohne innere Desinfektion. Ebendaselbst. 

1890. — 127) Derselbe, Sechster Bericht über Geburten ohne innere Desinfektion. 
Ebendaselbst. 1894.— 128) Peiser, Klinische Beiträge zur Frage der Entstehung 
und Verhütung der fieberhaften Wochenbettserkrankungen. Archiv für Gynäkologie. 
58. 1899. — 129) v. Mars, Ueber die Verhütung des Wochenbettfiebers in Lehr¬ 
anstalten. Wiener klinische Wochenschrift. 1898. 18.— 130) Bokelmann, Zum 
gegenwärtigen Stand der Antisepsis in der Geburtshilfe. Berliner klinische 
Wochenschrift. 1887. 37. — 131) Derselbe, Die Antisepsis während der Ge¬ 
burt. Verhandlungen der Gesellschaft für Geburtshilfe und Gynäkologie zu Berlin 
1889. — 132) Veit, Asepsis in der Geburtshilfe. Berliner klinische Wochenschrift. 
1892. — 133) Derselbe, Zur Prophylaxe des Puerperalfiebers. Ebendaselbst. 

1891. 19. — 134) v. Scanzoni, Ueber den Wochenbettsverlauf bei präzipitierten 
Geburten und solchen Geburten, bei denen keine Hilfeleistungen von seiten geburts¬ 
leitender Personen stattfand. Archiv für Gynäkologie. 65. 1902. — 135) Loewen- 
stein, Klinisch-statistische Beiträge zur Puerperalfieberfrage. Ebendaselbst. — 
136) Baumm, 5 Jahre Wochenbettsstatistik. Ebendaselbst. — 137) Bret- 
schneider, Klinische Versuche über den Einfluss der Scheidenspülungen wäh¬ 
rend der Geburt auf den Wochenbettsverlauf, nebst einem Beiwort von Dr. Krönig. 
Ebendaselbst. 63. 1901. — 138) Bucura, Wochenbettsstatistik. Ebendaselbst. 
69. 1903. — 139) Leopold und Goldberg, Zur Verhütung des Kindbettfiebers. 
Deutsche medizinische Wdchenschrift. 1891. 13. — 140) Dieselben, Ueber die 
Entbehrlichkeit der Scbeidenausspülungen und Auswaschungen bei regelmässigen 
Geburten und über die grösstmöglichste Verwertung der äusseren Untersuchung 
in der Geburtshilfe. Archiv für Gynäkologie. 40. 1891. — 141) Ehlers, Die 
Sterblichkeit im Kindbett in Berlin nnd in Preussen 1877—1896. Stuttgart 1900. — 
142) Boehr, Die Arbeiten der Puerperalfieberkommission der Gesellschaft für 
Geburtshilfe und Gynäkologie in Berlin 1878. — 143) Hegar. Zur geburtshilf¬ 
lichen Statistik in Preussen und zur Hebammenfrage, v. Volkmann’s Sammlung 
klinischer Vorträge. 29. 1891. — 144) Derselbe, Das Puerperalfieber. Münch, 
medizinische Wochenschrift. 1901. 38. — 145) Preussisches Hebammenlehrbucb. 

1892. — 146) Dienstanweisung für die Kreisärzte vom 23. März 1901. — 147) 
B. S. Schultze, Unser Hebammenwesen und das Kindbettfieber, v. Volkmann’s 
Sammlung klinischer Vorträge. 247. 1884. — 148) Cr^de, Gesunde und kranke 
Wöchnerinnen. Leipzig 1886. — 149) Winckel, Pathologie und Therapie des 
Wochenbetts. 1878. — 150) C. S. Magier, Händereinigung, Händedesinfektion 
und Händeschutz. Basel 1900. — 151) Paul und Sarwey, Experimentalunter¬ 
suchungen über Händedesinfektion. Münchener medizinische Wochenschrift. 1901. 
30, 37 u. 38. — 152) Ahlfeld und Vahle, Die Wirkung des Alkohols bei der 
geburtshilflichen Desinfektion. Deutsche medizinische Wochenschrift. 1896. 6. — 
153) Reinicke, Bakteriologische Untersuchungen über die Desinfektion derHände. 


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Ueber die für das Puerperalfieber in Betracht kommend. Mikroorganismen etc. 405 

Centralblatt für Gynäkologie. 1894.— 154) Weigl, Untersuchungen über die 
bakterizide Wirkung des Aethylalkohols. Archiv für Hygiene. 44. 4. — 155) 
Zweifel, Die Desinfektionsvorschriften in den neuesten deutschen Hebammen¬ 
lehrbüchern. Centralblutt für Gynäkologie. 1894. — 156) Sarwey, Ueber die in 
klinischen Lehranstalten bestehende Notwendigkeit einer geburtshilflichen Ab¬ 
stinenzzeit für „infizierte“ Studenten, v. Volkmann’s Sammlung klinischer Vor¬ 
träge. 122. 1895. — 157) Winternitz, Das Bad als Infektionsquelle. Central¬ 
blatt für Gynäkologie. 1901. — 158) Derselbe, Ueber das gleiche Thema. 
Therapeutische Monatshefte. 1902. — 159) Bericht über die XVI. Hauptversamm¬ 
lung des preussischen Medizinalbeamten-Vereins zu Berlin. Zoitschrift für Medi¬ 
zinalbeamte. 1899. — 160) Entwurf eines Ausführungsgesetzes zu dem Reichs¬ 
gesetz betr. die Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten vom 30. Juni 1900. — 
161) Ahlfeld, Die Zukunft unseres Hedammenstandes. Centralbl. f. Gynäkologie. 
1902. — 162) Derselbe, Die Reorganisation des Hebammenwesens. Entwurf 
einer neuen Hebammenordnung. Zeitschrift für Medizinal beamte. 1889. — 163) 
Baumm, Wochenbettfieber und Fieber im Wochenbett. Verhalten der Hebamme 
dabei. Ebendaselbst. 1903. — 164) Bauer, Ein Wort über die Nachprüfungen 
der Hebammen. Ebendaselbst. 1889. — 165) Dyrenfurth, Glossen zur Heb¬ 
ammenfrage. Ebendaselbst. — 166) Nesemann, Die Entwickelung der sanitäts¬ 
polizeilichen Massnahmen in Preussen gegen das Wochenbettfieber und ihre Wirk¬ 
samkeit. Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medizin und öffentliches Sanitätswesen. 
III. Folge IV. 1892. — 167) Löh lein, Die ersten Wiederholungslehrgänge für 
Hebammen im Grossherzogtum Hessen. Deutsche medizinische Wochenschrift. 
1892. 9. — 168) Steinkopf, Das Hebammenwesen im Kreise Liebenwerda. 
Zeitschrift für Medizinalbeamte. Sonderheft. 1902. — 169) Denecke, Die sa¬ 
nitätspolizeiliche Bekämpfung des Wochenbettfiebers. Ebendaselbst. — 170) 
Schwabe, Gewährt eine von der Differentialdiagnose zwischen infektiösem und 
nicht infektiösem Wochenbettfieber abhängig gemachte Anzeigepflicht den Wöch¬ 
nerinnen ausreichenden Schutz? Zeitschr. f. Medizinalbeamte. 1901. — 171) Erlass 
des Kultusministers über die Ausbildung von Wochenpflegerinnen vom 22. Juni 
1900. — 172) Brennecke, Bericht der XXI. Versammlung des Deutschen Vereins 
für öffentliche Gesundheitspflege 1896 (in der Zeitschrift für Medizinalbeamte). — 
173) Sperling, Wöchnerinnenasyl und Reform der Geburts- und Wochenbetts¬ 
hygiene. Centralblatt für Gynäkologie. 1900. — 174) Queisner, Wöchnerinnen¬ 
asyle und Wochenbettspflegerinnen. Zeitschrift für Medizinalbeamte. 1901. — 
175) Schroeder, Das Hebammenwesen im Kreise Weissenfels und das Ergebnis 
der Nachprüfungen. Ebendaselbst. 1891. — 176) Gottschalk, Die Hebammen- 
verhältnisse an der Ostgrenze der Monarchie, insbesondere im Kreise Rosenberg. 
Ebendaselbst. — 177) Dohm, Zustände des Hebammenwesens in Ostpreussen. 
Zeitschrift für Geburtshilfe und Gynäkologie. XI. 1885. — 178) Runge, Ein 
Wort zur Hebammenreform. Monatsschrift für Geburtshilfe und Gynäkologie. 
16. 1902. 


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IH. Besprechungen, Referate, Notizen. 


Prof. Dr. Adolf Lesser, Stereoskopischer gerichtsärztlicher Atlas. 
Erste Abteilung. Tafel 1—50. Preis 15 Mk. Breslau. Schlesische Verlags¬ 
anstalt von S. Schottländer. 1903. 

L. plant die Herausgabe eines gerichtsärztlichen Atlas in vier Abteilungen 
zu je 50 Tafeln. Die vorliegende Abteilung behandelt Verletzungen des Kopfes 
und der Wirbelsäule, die zweite soll Verletzungen des Halses und der Brustorgane, 
die dritte Verletzungen der Bauchorgane und Beiträge zur Beurteilung der Vir- 
ginität, Schwangerschaft, Abort und Puerperium bringen und die letzte Abteilung 
ausser traumatischen Verletzungen der Extremitäten Veränderungen durch hohe 
Temperaturen, Darstellungen toxischer Läsionen und einiger Leichenerscheinungen. 

Die Darstellungen der ersten Abteilung, die nicht nur Verletzungen während 
des Lebens betreffen, sondern auch solche nach dem Tode entstandenen, die leicht 
verkannt werden können, sind recht instruktiv. Sehr lehrreich sind namentlich 
die Photographieen traumatischer Läsionen des Gehirns und spontaner Blutergüsse 
in dasselbe. Der Atlas wird jedem, der sich mit gerichtsärztlichen Dingen zu be¬ 
fassen hat, eine willkommene Gabe sein. Arth. Schulz-Berlin. 


M. Goldschmidt, Die Florence’sche Probe. Inaug.-Diss. Groifswald. 1903. 

G. bespricht einleitend die Bedeutung der Spermauntersuchung in der ge¬ 
richtlichen Medizin und die früher gebräuchlichen Methoden des Spermanach¬ 
weises, um dann auf die Florence’sche Probe einzugehen, an deren kritische 
Prüfung er in eigenen Untersuchungen herantritt. Er kommt zu dem Schluss, 
dass sie für die forensisch-medizinische Praxis eine bequeme und zuverlässige 
Vorprobe ist. Fällt sie negativ aus, so ist kein Sperma vorhanden. 

Arth. Schulz-Berlin. 


Dr. Moser, Weimar, Trauma — Lungenblutung — Lungentuberkulose. 

Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. 1904. No. 11 u. 12. 

Verf. führt 2 Fälle von Lungenblutung an, die auf ähnlich wirkende Ur¬ 
sache zurückzuführen waren und in der Folge ähnlich verliefen, aber doch ver¬ 
schieden gutachtlich beurteilt wurden, sodass in dem einen eine Rente bewilligt, 
in dem anderen aber abgelehnt wurde. Im Anschluss hieran bespricht Verf. unter 


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Besprechungen, Referate, Notizen. 


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Heranziehen der einschlägigen Literatur die Fragen, welche bei Beurteilung des 
Zusammenhanges einer Lungenblutung und der ihr folgenden Tuberkulose mit 
einem Unfall berücksichtigt werden müssen. 

Die völlig intakten Lungen sind so genügend gegen Verletzungen geschützt, 
dass es schon einer ausserordentlichen Gewalt bedarf, um in ihnen ein Gefäss 
zum Platzen zu bringen. Da Krankheiten wie Hirnleiden, Herzfehler, Hämophilie, 
hämorrhagische Diathese und Infektionskrankheiten anderer Art, in deren Gefolge 
Blutungen zuweilen auftreten können, hier kaum in Betracht kommen, so kann 
man in der „überaus grössten Mehrzahl der Fälle“, in denen nach Ueberanstren- 
gung des Körpers, nach einfachen heftigeren Quetschungen, nach Stoss, Druck 
u. s. w. Blutspucken oder Blutstürze auftreten, eine tuberkulöse Erkrankung der 
Lunge als vorhanden annehmen. Nach den Entscheidungen des R.-V. genügt es 
zum Begriffe des Betriebsunfalls, dass der Betrieb sich als mitwirkende Ursache 
darstellt, wenn auch noch ausserdem körperliche Veranlagung und bestehende 
Lungenleiden mitgewirkt haben. Es genügt ferner jedes plötzliche auch betriebs- 
übliohe Ereignis, welches schädigend wirkt, sodass mit dem Nachweis des letzteren 
der Unfall tatsächlich wird. 

In vielen Fällen überrascht die Blutung bei bestem Wohlbefinden und völliger 
Arbeitsfähigkeit die tuberkulös erkrankten Leute, sehr oft aber auch kommt es 
durch Thrombenbildung zum Verschluss des Gelasses, bevor dieses eröffnet wird, 
sodass sich keine Blutung äusserlich bemerkbar macht, erst durch einen Unfall 
kann dann die Thrombosirung aufgehoben und die Rückbildung verhindert werden. 

Wenn also nach einer plötzlichen Körperschädigung Lungenblutung auftritt, 
so müssen wir dieselbe, wenn nicht zwingende anderweitige Anhaltspunkte vor¬ 
liegen, auf erstere zurückführen. 

Wenn die Blutung nicht direkt nach dem Unfall, sondern einige bis mehrere 
Stunden später aufgetreten ist, wird oft der ursächliche Zusammenhang abgelehnt. 
Aber mit Unrecht! Denn wenn auch grössere Blutungen sich alsbald bemerkbar 
machen, bedarf es bei geringeren einer gewisson Zeit, bis das Blut vom Orte der 
Entstehung bis zur Gegend unterhalb der Stimmbänder gelangt. Ausserdem wird 
durch solche Blutung eine gute Grundlage geschaffen, auf der sich das Leiden 
schneller weiterentwickeln kann, da nach Gluzinski’s Versuchen das in die 
tuberkulös affizierte Lunge ergossene Blut in derselben eine Schädigung des Ge¬ 
webes hervorruft, in dem dann die Bakterien einen guten Boden zur Weiterent¬ 
wicklung finden. Daher rät M. den Berufsgenossenschaften, möglichst bald und 
frühzeitig die Fürsorge für diese Kranken zu übernehmen, event. durch Errichtung 
eigener Heimstätten für diese Anfangsfälle. 

Auch der bei Negierung des ursächlichen Zusammenhanges bisweilen er¬ 
hobene Einwand, dass die Blutung nur gering gewesen und der Verletzte sie nicht 
beachtet und weiter gearbeitet habe, ist nicht stichhaltig. Wenn allerdings auch 
bisweilen nach grösseren Blutungen bei Tuberkulösen günstige Wirkungen beob¬ 
achtet sind — da mit dem Blute ein grosser Teil des Geschwürs nach aussen be¬ 
fördert wird —, so sind gerade die geringeren Blutungen gefährlicher, weil sie 
einmal nicht so beachtet werden, sodann aber auch durch dieselben die Infektions¬ 
erreger in Menge in die Umgebung des Geschwürs gebracht werden. Wenn also 
durch einen Unfall bei einer latenten Tuberkulose eine Blutung ausgelöst wird, 
so folgt auf diese stets eine Verschlimmerung des zugrunde liegenden Leidens, 


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Besprechungen, Referate, Notizen. 


die latente Tuberkulose wird also manifest. Diese Verschlimmerung braucht sich 
nicht gleich nach dem Unfälle zu zeigen, auch wenn sie erst nach längerer Zeit 
in die Erscheinung tritt resp. nachweisbar wird, müssen wir sie mit dem Unfälle 
in Zusammenhang bringen. Denn wir finden in keinem Falle einen sicheren An¬ 
haltspunkt dafür, dass das Leiden auch ohne Unfall in gleicher Weise zur Ent¬ 
faltung gekommen wäre. 

Zum Beweise der Richtigkeit seiner Auseinandersetzungen zieht M. 13 ähn¬ 
liche Fälle von latenter Tuberkulose heran, die nach seiner Ansicht unzweifelhaft 
den Zusammenhang zwischen Unfall und Lungenblutung, sowie eine teils schneller, 
teils langsamer eingetretene Verschlimmerung nach dem Unfall erkennen lassen, 
die aber so verschiedenartig von den einzelnen Gutachtern beurteilt wurden, dass 
in einander sehr ähnlichen Fällen einmal eine Rente bewilligt, ein andermal ab¬ 
gelehnt wurde. Auch das R.-V. hat sich diesem Gutachten teilweise angeschlossen 
und in gleichartigen Fällen auf Grund der Gutachten in entgegengesetztem Sinne 
geurteilt. 

Um eine Gleichmässigkcit der Rechtsprechung, nach der das R.-V. strebt, 
zu erzielen, schlägt M. vor, dass bei allen den Krankheiten und Erkrankungen, 
über deren Entstehung und Wesen die Wissenschaft noch keine gemeinsam ge¬ 
fügten Urteile hat, dem R.-V. eine einheitliche letztinstanzliche Obergutachter¬ 
tätigkeit zur Verfügung steht, bestehend aus einem Kollegium von 3 Aerzten, die 
auf Grund der Erfahrungen der Wissenschaft wie der Unfallpraxis ihr endgiltiges 
Urteil abgeben. Die dort angenommenen Normen wirken zurück auf die Aerzte 
der unteren Instanzen, auf die Berufsgenossenschaften selbst und es wird rasch 
eine einheitlichere Begutachtung zu Worte kommen an Stelle der jetzigen Un¬ 
sicherheit. P fl an z- Adlershof-Berlin. 


Fritz Reuter, l'eber die Beziehungen zwischen Spondylitis trau¬ 
matica und Ankylose der Wirbelsäule. Arch. f. Orthopädie, Mechano- 
therapie u. Unfallchirurgie. Bd. II. Heft 2. 1904. 

Die von Schede und Kümmell 1895 zuerst beschriebene Spondylitis trau¬ 
matica ist seither von Klinikern oft beobachtet und beschrieben worden. In allen 
Fällen war der Befund ein typischer und dadurch charakterisiert, dass der Ver¬ 
letzte gleich nach dem Statthaben des Traumas nur geringe Erscheinungen zeigte, 
bald wieder seiner gewohnten Arbeit nachging und erst nach Ablauf eines kürzeren 
oder längeren freien Intervalles, das Wochen und Monate betragen konnte, unter 
schweren Erscheinungen die Ausbildung einer arkuären Kyphose auftrat. Während 
also das klinische Bild schon ein recht bekanntes ist, herrscht über das Wesen 
des Krankheitsprozesses, die anatomischen der Krankheit zu Grunde liegenden 
Veränderungen bisher noch wenig Klarheit. Verf. ist von dem Bestreben ausge¬ 
gangen, diese Lücke auszufüllen. Er berichtet in der vorliegenden Arbeit über 
die Befunde, die er an kontundierten und anderen Wirbelsäulen erhoben hat. Auf 
Grund der sorgfältig angelegten Untersuchungen darf ihm die Anerkennung nicht 
versagt werden, unser Verständnis der eigenartigen Erkrankung ein gutes Stück 
gefördert zu haben. Es würde zu weit führen, wenn ich hier den Inhalt der gehalt¬ 
reichen Arbeit wiederzugeben versuchte; da treffliche Photogramme ihr beigegeben 
sind, würde ein Referat auch unvollkommen bleiben. Ich muss mich deshalb mit 
einem blossen Hinweis begnügen. Der Sachverständige wird in einschlägigen 


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Besprechungen, Referate, Notizen. 


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Fällen bei der Begutachtung Unfallverletzter jedenfalls nicht umhin können, auf 
R.’s Arbeit zurückzukommen. Arth. Schulz-Berlin. 


Prof. J. Seegen. Ueber Leberprobe (docimasie hepatique). Wiener klin. 
Wochenschrift. 1903. No. 9. 

Die „Leberprobe“ von Lacassagne und Martin erfährt auch durch S. eine 
Widerlegung. Dass der Zucker- und Glykogenbestand der Leber eines an Krank¬ 
heit Verstorbenen nur ein sehr mässiger sein kann, ergibt schon die blosse Er¬ 
kenntnis der physiologischen Bedeutung beiden Stoffe für den Tierkörper. Aber 
auch bei plötzlich verstorbenen Individuen kann der Zuckergehalt der Leber ein 
sehr geringer und das Glykogen ganz oder bis auf Spuren geschwunden sein, wie 
S. bei einem Todesfälle durch Erstickung (Hämatom des Kehlkopfeinganges nach 
einem Messerstich in den Hals) und zwei Fällen von Kohlenoxydvergiftung fest¬ 
stellen konnte. — Verf. glaubt übrigens seinerseits nun den Satz aufstellen zu 
können, dass das gänzliche Fehlen von Glykogen in der Leber eines in voller Ge¬ 
sundheit Verstorbenen die Vergiftung durch Kohlenoxydgas oder den Tod infolge 
einer länger dauernden Asphyxie beweist. Um dieses behaupten zu können, dazu 
ist das von ihm beigebrachte Material doch wohl noch zu klein. 

Arth. Schulz-Berlin. 

Placzek. Ueber Pupillen Veränderungen nach dom Tode. Virchow ? s 
Archiv für pathologische Anatomie. 173. 1903. S. 172. 

Albrand. Bemerkungen zu den Leichen Veränderungen des mensch¬ 
lichen Auges. Archiv für Augenheilkunde. 50, 2. S. 145. 

Zwei bemerkenswerte Arbeiten, die sich mit den Leichenerscheinungen des 
Auges beschäftigen. Placzek beschäftigt sich ausschliesslich mit den Erscheinun¬ 
gen, die sich nach dem Tode an den Pupillen abspielen; er bat sie an mensch¬ 
lichen Leichen und im Experiment an Tieren studiert. Die Tiere wurden zum 
Teil mit pupillenerweiternden, andere mit pupillenverengcrnden Mitteln vergiftet, 
um zu beurteilen, ob und wieweit post mortem deren Wirkung an der Pupillen- 
weite noch abzulcsen ist. Auf Grund seiner Beobachtungen kommt Placzek zu 
folgenden Schlüssen: 1. Die Pupillen von Tier und Mensch verändern sich nach 
dem Tode in einer Art, die Placzek als das Gesetz der postmortalen Pupillen¬ 
starre bezeichnen möchte. 2. Die Einwirkung der Mydriatica und Miotica (mit 
Ausnahme des Nebennicrenextraktes), wie stark auch die lebende Pupille durch 
sie umgeformt wird, ist ohne Einfluss auf die postmortale, gesetzmässige Pupillon- 
veränderung. 3. Der die Pupillen erweiternde Nebennierenextrakt verzögert die 
gesetzmässigenPupillenveränderungen wesentlich und beeinträchtigt ihre Intensität. 
4. Die postmortale Pupillenslarre ist ein rein muskulärer Vorgang. — Im übrigen 
soll die Pupillenstarre unabhängig sein von der Totenstarre der quergestreiften 
Muskulatur, sie beginnt frühestens 10 Stunden p. m. Die Ursache der Pupillen¬ 
starre sieht Placzek darin, dass der Tonus des M. dilatator früher nachlässt als 
der des M. sphincter iridis. 

Der Verfasser der zweiten Arbeit, Albrand, hat schon im XXVJI. Bande 
dieser Vierteljahrsschrift über den Augenspiegelbefund am Leichenauge berichtet, 
ln der vorliegenden Abhandlung gibt der Verf. weitere Aufschlüsse über ophthal¬ 
moskopische Befunde an den Augen menschlicher Leichen. Eine Tafel illustriert 


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Besprechungen, Referate, Notizen. 


den Text mit trefflichen Abbildungen von Fundis des Leichenauges. Interessant 
ist Albrand’s Beobachtung, dass bei einem Individuum, welches bei stark nach 
rechts geneigter Kopfhaltung gestorben war, eine stärkere Füllung der rechts¬ 
seitigen Ketinalgefässe gefunden wurde. Ein deutliches Fundusbild erhält man 
noch bis zu 8 Stunden nach dem Tode. Indessen lassen sich Einzelheiten an der 
Regenbogenhaut und der Pupille, Zeichnung der vorderen Irisfläche sowie ihre 
Farbe noch nach 50 Stunden, unter günstigen Umständen noch länger, ophthala- 
moskopisch wahrnehmen. Weiter erörtert Albrand die Leichenerscheinungen an 
den übrigen Teilen des Auges, der Hornhaut, der Pupille, der Linse, des Hnmor 
aqueus u. s. f. Er betont, dass die postmortalen Veränderungen dem Grade wie 
der Zeit nach individuell ausserordentlich schwanken können. Massgebend für 
diese Differenzen sind einmal die physikalischen Bedingungen, denen die Leiche 
unterliegt, wie die Temperatur, dann aber auch der jeweilige Zustand, der vor 
dem Tode bestand, wie Ernährungszustand, Lebensalter, ein schnelles oder lang¬ 
sames Sterben. Weitere Einzelheiten sind in der interessanten Arbeit nachzulesen. 
Fernere Mitteilungen, besonders über die Totenstarre der Pupillen, werden ange¬ 
kündigt. Marx-Berlin. 


Ueber Psychosen bei Militärgefangenen nebst Reform Vorschlägen. 

Eine klinische Studie von Prof. Dr. Emst Schultze. 

Als Grundlage seiner Ausführungen hat Sch. die Beobachtung von 32 Militär¬ 
gefangenen benutzt, die er im Laufe von 4 Jahren an der Andernacher Heil- und 
Pflegeanstalt untersucht hat. Es handelte sich um Gefangene, die dorthin zum 
Teil auf Veranlassung des Gerichts entsprechend § 217 M.-St.-P.-O. (analog dem 
§81 St.-P.-O.) zugesandt waren, zum Teil zur Behandlung übergeben, zum 
Teil vom Lazarett aus zur Feststellung ihres Geisteszustandes zugeführt waren. 
Die diesbezüglichen Krankheitsgeschichten sind höchst zweckmässig in extenso als 
Anhang der Abhandlung beigefügt, um während der Lektüre im Texte nicht auf¬ 
zuhalten. Im Hauptteil der Arbeit sind die verschiedenen Fälle nach den einzelnen 
in Betracht kommenden Krankheitsformen besprochen und zwar diagnostiziert als 
manisch-depressives Irresein, Imbezillität, Dementia praecox, Epilepsie, Hysterie 
und als einige verschieden zu klassifizierende Fälle. In einem besonderen Kapitel 
sind die Forderungen zusammengestellt, zu denen Verf. während seiner Beschäf¬ 
tigung mit dem Thema, auch noch ausserhalb der beschriebenen Fälle, gelangt ist. 
Soweit sie sich auf rein militärische Dinge beziehen, sei auf das Original ver¬ 
wiesen. Der Art der Kranken entsprechend ist der Fiage nach der bewussten 
Vortäuschung von Geistesstörung ein breiter Raum gewidmet und Sch. weist hin, 
wie viel schwerer es ist, von jemandem zu sagen: er ist geistig normal, als: er 
ist geistesgesund. Nur bei einem der übergebenen Militärgefangenen wurde be¬ 
wusste Vortäuschung angenommen und auch dieser war ein erblich belasteter, 
durchaus nicht normaler Mensch. 

Erwähnt seien hierbei die vom Verf. bei den als dementia praecox aulgefassten 
Kranken beobachteten Stellungen und absichtlich aufgesuchten schwierigen Beob¬ 
achtungen und Lagen, die leicht zu fälschlicher Annahme von Simulation führen 
können. 

Die Erkrankungen selbst sind im wesentlichen nicht von denen, die bei Zivil¬ 
gefangenen Vorkommen, verschieden, nur dass sie eben als Soldaten leichter zu 


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Besprechungen, Referate, Notizen. 


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Konflikten etc. gelangt zu sein scheinen. Was die Arbeit besonders lesenswert 
macht, sind die im Toxt eingestreuten Ausführungen des Autors über verschiedene 
Beobachtungen und Fragen der allgemeinen Psychiatrie. So charakterisiert er 
z. B. treffend das Unzulängliche der Zeugenaussagen, wenn es gilt ein Urteil über 
die pathologische Alkoholwirkung auf ein Individuum zu bekommen. Sie bestreiten 
häufig aus den anscheinend logischen Handlungen der Angeklagten, dass die Mög¬ 
lichkeit einer sinnlosen Trunkenheit Vorgelegen habe, während die Analyse des 
Psychiaters erhebliche Zweifel an der Logik des Handelns entstehen lässt, und aus 
anderen Umständen (wie der Amnesie u. s. w.) schliessen muss, dass der Alkohol 
Handlungen gezeitigt hat, welche unter den § 51 St.-G.-B. fallen, wiewohl sie 
auf den Laien nicht diesen Eindruck machen. Seelig. 


Stolper. Traumatische Psychose bei latenter Syphilis; ein Beitrag 
zum Kapitel Syphilis und Trauma. Aerztliche Sachverständigen-Zeitung 
1904. No. 6. 

St. berichtet über 2Fälle traumatischer schwerer Psychose mit hypochondrisch 
depressivem Charakter bei Syphilitikern. Im Fall I Kontusion der Stirngegend 
mit kurzer Bewusstlosigkeit; allmähliche Verblödung und Kräfteverfall. Diagnose: 
traumatische Neurose, l 3 / 4 Jahr später Symptome von Spätsyphilis, die bis dahin 
in keiner Weise erkennbar waren. Besserung unter antiluetischer Behandlung. 
Im Fall II alte Syphilis; Sturz 2 Stockwerke herab, Gehirnerschütterung mit zwei¬ 
tägiger Bewusstlosigkeit, im Anschluss daran Psychose, Schwermut, Gedächtnis¬ 
schwäche. In dem Gutachten wird in beiden Fällon der Unfall als auslösendes 
Moment für das Aufllackern bis dahin latenter konstitutioneller Erkrankung ver¬ 
antwortlich gemacht. Dr. Wagener-Cöslin. 


Gunnar Hedr6n. Zur Kenntnis der nervösen Nachkrankheiten bei 
akuter Kohlenoxyd Vergiftung nebst einigen Bemerkungen über 
ihre forensische Bedeutung. Nordiskt medicinskt Arkiv 1902. Abt. II. 
Heft 4. 


Die klinische Beobachtung einer akuten Kohlenoxydvergiftung bei einem 
57jährigen Manne, der von seiner Vergiftung sich vollkommen erholt zu haben 
schien, aber nach wenigen Tagen des Wohlbefindens der Nachkrankheit erlag, hat 
dem Verf. Veranlassung gegeben, die heutigen Kenntnisse der Symptomatologie 
und der pathologischen Anatomie der akuten Kohlenoxydvergiftung zusammen¬ 
zustellen. Er bespricht zuerst die motorischen, sensiblen, sensorischen, trophischen, 
vasomotorischen und psychischen Störungen, um dann auf die pathologisch-ana¬ 
tomischen Veränderungen bei unmittelbar tödlich endenden Vergiftungen einzu¬ 
gehen und zum Schluss die pathologische Anatomie der nervösen Nachkrankheiten 
zu besprechen. Dass die bei den Nachkrankheiten am häufigsten sich einstellen- 
Encephalomalacieen nicht immer bloss ischämischer Natur sind, sondern, wie es 
für das Tier bereits nachgewiosen ist,auch hämorrhagischen Ursprungs sein können, 
diese Möglichkeit scheint Verf. durch die Befunde, die er im Rückenmarke des 
von ihm beobachteten und sorgfältig untersuchten Falles erhalten hat, erwiesen 
zu sein. Was das Wesen der Giftwirkung des Kohlenoxyds betrifft, so bemerkt er 
allgemein, dass es ausser.seiner durch Verdrängung des Sauerstoffs verursachten 
Blutalteralion auch eine direkte spezifische Einwirkung auf das Nervensystem aus- 


Vierteljahrsächrift f. gen Med. u. üff. San.-Weseu. 3. Folge. XXVIII. 2. 

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Besprechungen, Referate, Notizen. 


übt; er macht keinen Unterschied, wie Kratter neuerdings es tut (man vgl. mein 
Referat über Kratter’s Arbeit im J uliheft dieser Zeitschrift) zwischen Kohlcnoxyd- 
vergiftung und Kohlendunsterstickung. 

Bemerkenswert sind die Angaben über die Dauer, während welcher nach der 
Vergiftung das Kohlenoxyd im Blute nachzuweisen ist. In dem oben erwähnten 
Fall gelang es etwa 30 Stunden nach der Vergiftung, Kohlenoxyd im Blute 
spektroskopisch nachzuweisen. In einem anderen Falle (Wachholz) konnte bei 
der Sektion eines 7 Tage nach der Vergiftung gestorbenen Mannes Kohlenoxyd im 
Blute nachgewiesen werden. Auf Grund von Tierversuchen hatte man früher an¬ 
genommen, dass schon ein verhältnismässig kurz dauerndes Atmen von frischer 
Luft genügt, um das Kohlenoxyd aus dem Blute verschwinden zu machen. 

Arth. Schulz-Berlin. 


Besprechung von Arbeiten klinischen Inhaltes aus der Festschrift 
zu Robert Koch ’s (»0. Geburtstag. Von C. A. Ewald. 

Bei der Besprechung der Festschrift zum 60. Geburtstage R. Koch’s muss 
ich als Kliniker, der nicht ausdrücklich und spezialistisch bakteriologisch ge¬ 
arbeitet hat, zunächst diejenige nicht geringe Zahl in diesem Festbande vereinigter 
Arbeiten ausschliessen, welche sich mit rein bakteriologischen Problemen be¬ 
schäftigen oder besondere Fragen aus der Lehre der Toxine und Immunkörper 
betreten. 

Fs bleiben dann 2 grosse Gruppen von Arbeiten übrig, von denen die einen 
die Tuberkulose, die anderen den Typhus, Ruhr, die Pest, die Maul¬ 
und Klauenseuche betreffen. 


I. 

Die Aufsätze, welche das Gebiet der Tuberkulose behandeln, sondern sich 
in solche, die sich damit begnügen, bestimmte Beobachtungen mitzuteilen und in 
eine zweite Gruppo von Mitteilungen, welche an derartige Beobachtungen noch 
besondere Vorschläge ankniipfen. 

Ks liegt auf der Hand, dass in einer Festschrift für den gefeierten Entdecker 
der T. B. und des Tuberkulins nur Beobachtungen mitgeteilt und nur An¬ 
schauungen geäussert werden, die sich im grossen und ganzen in den von Koch 
vorgezeichneten Bahnen bewegen. 

1 1 Soweit es sich dabei um einfache Mitteilungen von Krankengeschichten 
handelt, wie in dem Aufsatz von Kartulis (Alexandrien) „Heilerfolge mit dem 
alten Tuberkulin“ wird man sie als schätzbare Beiträge zur Beurteilung der 
mit einer rationellen Tn.-Therapie unter Umständen zu erzielenden Heilerfolge 
ansehen müssen. 

Skeptischen Gemütern gegenüber wird allerdings ein 'Teil der in dem Auf¬ 
satz von Kartulis mitgeteilten Fälle den unseres Erachtens nach berechtigten 
Zweifel aufkommen lassen, wieweit an dem erzielten Erfolge das für Lungenkranke 
so günstige Klima Unter-Egyptens, wieweit die spezifische Behandlung schuld war. 
Es fehlt jedenfalls an einer vergleichenden Uebersicht annähernd gleicher Fälle, 
von denen die einen mit, die anderen ohne Tn. behandelt waren. Wenn K. an¬ 
seheinend die Menge der im Sputum gefundenen T. B. als ein Mass für die 
Schwere der Erkrankung ansieht, so sind wir bekanntlich längst von der Un- 


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Besprechungen, Referate, Notizen. 


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Sicherheit oiner derartigen Beurteilung überzeugt, weil die Menge der T. B. im 
Auswurf von einem Tag zum anderen, durch Zufälligkeiten bedingt, erheblich 
wechseln kann, und die ursprünglich von Fräntzel aufgestellte Skala' nur über 
die Intensität der Exspektoration, aber nicht über den Zustand des Lungengewebes 
selbst eine Anschauung resp. ein Mass gibt. 

2) Kirchner berichtet „Ueber die Anzcigepflicht bei Tuberkulose“. Ob¬ 
gleich sich der Verf. im wesentlichen referierend verhält und keine neuen 
Vorschläge bringt, so geht doch aus dem Tenor seines Aufsatzes hervor, dass er 
die von der Preussischen Staatsregierung in dem Ausführungsgesetz zum Reichs¬ 
gesetz betr'. die Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten vom 30. Juni 194*0 
aufgestellten Grundsätze billigt und dieselben unter den tatsächlich in Deutsch¬ 
land obwaltenden Umständen, wenn auch nicht den idealen Ansprüchen genügend, 
doch für praktisch durchführbar hält. Man hat sich bekanntlich im Gegensatz zu 
anderen Ländern, z. B. Norwegen, Amerika, in denen den staatlichen Organen 
eine viel grössere Machtvollkommenheit den Tuberkulösen gegenüber zugestanden 
wird, bei uns darauf beschränkt, die Anzeigepflicht für Todesfälle an Lungen- und 
Kehlkopftuberkulose und für Erkrankungen in den Fällen, in denen ein an vor¬ 
geschrittener Lungen- und Kehlkopftuberkulose Leidender seine Wohnung wechselt, 
zu fordern. K. hat die berechtigte Ueberzeugung, dass es bei einer sorgfältigen 
Durchführung dieser Bestimmungen möglich sein muss unter gleichzeitiger öffent¬ 
licher Belehrung und hygienischer Erziehung der breiten Bevölkerung, die grössten * 
Gefahren der T.-Verbreitung zu verhüten. 

Wir fügen hinzu, dass gerade im letzteren, d. h. im hygienisch-erziehlichen 
Sinne, den Heilstätten ein ausserordentlicher Wert zukommt. Sie sind die Zentren, 
von denen aus nicht nur die daselbst befindlichen Kranken, sondern durch die 
letzteren eine nicht zu übersehende Zahl ihrer Schicksalsgefährten mit den Grund¬ 
sätzen einer rationellen Lebensführung (inkl. Berücksichtigung der Ansteckungs¬ 
gefahr!) bekannt gemacht werden. 

3) In diese Gruppe gehört auch die in erster Linie die lokalen Verhältnisse 
der „Tuberkuloseverbreitung in der Stadt Posen“ behandelnde Arbeit von Wer- 
nicke. Der Verf. zeigt an der Hand von statistischen Erhebungen über das Be¬ 
fallensein bestimmter Stadtteile und Strassenzüge bezw. einzelner Häuser, und 
über die sozialen Verhältnisse ihrer Bewohner, dass auch in Posen wie anderwärts 
die Dichte der T.-Erkrankungen wächst im Verhältnis zu der schlechten Be¬ 
schaffenheit der Häuser und Wohnungen, der Engo und Unsauberkeit der Strassen¬ 
züge und der Aermlichkeit ihrer Bewohner. Er schliesst, „dass bei der Ueber- 
tragung und Ausbreitung der T. in erster Linie der kranke Mensch in Frage 
kommt, dürfte die mitgeteilte Statistik ergeben. Die Entstehung der T. durch den 
Genuss von Molkereiprodukten und von Fleisch kranker Tiere spielt sicherlich 
keine so erhebliche Rolle. Denn der Genuss ungekochter Molkereiprodukte ist in 
der hiesigen Bevölkerung ganz allgemein, und doch zeigt das Auftreten der T. ein 
solches Bild, das auf den kranken Menschen als wesentliche Uebertragungsursache 
mit Notwendigkeit hinweist.“ Mit Recht betont aber der Verf., dass seine Er¬ 
hebungen, welche auf die Eintragungen der Standesämter gegründet sind, kein 
in jeder Beziehung zutreffendes Bild von der Verbreitung der T. in Posen geben. 
Eine ärztliche Leichenschau fehlt leider dort ebenso wie in den meisten anderen 
Städten Preussens, und es ist von vornherein klar, dass zahlreiche Fälle von T., 

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Besprechungen, Referate, Notizen. 


besonders von T. der Kinder, nicht als Tuberkulose, sondern unter anderen Todes¬ 
ursachen eingetragen sind, also nicht zur Verwertung kommen konnten. 

Wie weit der oben angeführte Schlusssatz von W., „dass der Genuss von 
Molkereiprodukten keine so erhebliche Rolle“ bei der Entstehung der T. 
spiele, richtig ist, mag dahingestellt bleiben. Dem v. Beh ring’schen Standpunkte 
entsprechend kann man die Tatsachen auch dahin deuten, dass die vorhandenen 
lokalen und sozialen Schäden im vermehrten Masse den Ausbruch der T. bei In¬ 
dividuen begünstigen, die vorher durch den Genuss undesinfizierter Molkerei¬ 
produkte dazu disponiert sind. Ich mache, was diese Frage angeht, auf die 
ausserordentlich klar und objektiv gehaltenen Ausführungen aufmerksam, welche 
Prof. Orth bei Gelegenheit der Diskussion über einen Vortrag von Dr. Westen- 
hüfer in der Berl. med. Gesellscb. am 10. Februar 1904 (Berl. klin. Wochenschr. 
No. 8. S. 202) gehalten hat. Dort heisst es ausdrücklich, und dem ist bisher, 
soweit mir bekannt, nicht widersprochen worden, „Eine infantile T. disponiert zur 
Schwindsucht, v. Behring sagt nicht, die Lungenschwindsucht entsteht nur aus 
den Bazillen, die im infantilen Lehen in den Körper hineingekommen sind, sondern 
eine additioneile, später eintretende, sogar sich vielleicht öfter wieder¬ 
holende Infektion mit T. B. spielt hierbei eine grosse Rolle .... Wenn man 
alles genau betrachtet, so bleibt so ziemlich Alles beim Alten.“ 

4) Positive und über das Mass des bisher Lieblichen hinaus- 
• gehende Vorschläge zur Tuberkulinbehandlung bringen die Arbeiten von 
Petruschky (Kriterien und Kontrolle der Heilung bei Lungentuberkulose) und 
f>) Spengler (Klassonstadien-Einteilung und Tuberkulinbehandlung). 

Der Aufsatz von P., der ein entscheidendes Gewicht auf den Ausfall der 
Tn.-Reaktion legt und den positiven Befund für ebenso beweisend hält wie den 
Bazillenauswurf, gipfelt in dem Satze: „Es gibt zwar zu 7 ei absolute Anzeichen 
dafür, dass Heilung noch nicht eingetreten ist, nämlich Bazillenauswurf und 
positive Tn.-Reaktion; ein sicheres Beweismittel dafür, dass Heilung eingetreten 
ist, gibt es beim Lebenden aber nicht.“ Es gelingt nämlich ohne grosse Schwierig¬ 
keiten durch mildes Steigen in der Dosierung, Phthisiker mit Bazillenauswurf 
auch gegen Dosen von über 1 g (lief.?) hinaus unempfindlich zu machen, ohne 
dass sie den Bazillenauswurf verlieren. Ferner hat sich gezeigt, dass ungeheilte 
Patienten ihre Unempfindlichkeit gegen Tn. in der Regel nach 3 Monaten wieder 
verlieren, s< dass man durch wiederholte Nachprüfungen sich von dem Vorhanden¬ 
sein oder Fehlen der Reaktion überzeugen muss. Dabei ist in der zu verwendenden 
Dosis in raschen Sprüngen von 1- 5 -10-15 mg aufzusteigen. 

Durch Befolgung eines auf diese Erfahrungen aufgebauten Systems wieder¬ 
holter Prüfungen bezw. wenn nötig, erneuerter Tn.-Behandlung, sind wir in der 
Lage, alle noch nicht geheilten Fälle rechtzeitig herauszufinden und, soweit 
möglich, einer Dauerheilung zuzuführen. Dies kann bei der Mehrzahl der ge¬ 
eigneten Fälle ohne Berufsstörung geschehen. Beginnende Fälle, die noch garnicht 
oder erst seit kurzer Zeit T. B. auswerfen und nicht liebem, also das Material, wie 
es die Heilstätten wünschen, heilen unter Tn.-Behandlung ausnahmslos. Von 
den schweren Fällen ist durch die kombinierte Behandlung (erst Heilstätte, dann 
Tn.) immer noch ein wesentlicher Bruchteil, wahrscheinlich mehr als 30 pCl., 
zu retten. 

Es ist klar, dass, wenn diese Auffassung von P. zu Recht be- 


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steht, die Heilstättenbehandlung, wie sie heutigen Tages geübt 
wird, als gänzlich verfehlt anzusehen wäre! Wir würden dasselbe, was 
die Heilstätten an ihrem Krankenmaterial bestenfalls unter Aufwand eines enormen 
Apparates erreichen, viel billiger und sicherer durch die ambulante Tn.- 
Behandlung erzielen können! Diese Folgerung wird auch in der Tat alsbald von 
Spengler gezogen. 

5) Die Abhandlung von Spengler bewegt sich nämlich in demselben Ge¬ 
leise. Auch er misst der Tn.-Reaktion eine weit höhere Bedeutung für die Er¬ 
kennung der Phthise und die Beurteilung ihres Verlaufes bei als den physika¬ 
lischen Untersuchungsmethoden. Auf die von S. aufgestellte, etwas komplizierte 
Stadieneinteilung der Erkrankung, die sich teils ausschliesslich auf die Tn.- 
Reaktion gründet, teils unter ihrer Beihilfe durchgeführt wird, hier einzugehen ist 
nicht angängig. Hervorzuhcben ist, dass S. unter den nicht fiebernden Fällen von 
inaktiver geschlossener Tuberkulose und von inaktiver Initialphthise beide Mal 
100 pCt. Heilungen verzeichnet, also in dieser Hinsicht mit Petrusohkv iiberein- 
stimmt. 

Von besonderem Interesse sind aber die Ansichten des Verf. über die Be¬ 
kämpfung der Tuberkulose als Volkskrankheit. Durch einen rechnerischen Ueber- 
schlag kommt er zu dem Schluss, dass die T. auf dem von den Heilstätten be¬ 
tretenen Wege der Heilung der allerfrühesten Stadien ohne Rücksicht auf die 
infektiösen vorgerückten Formen, in zirka 14 Jahren aus einem Volke, aber aller¬ 
dings mit immensen Kosten auszurotten wäre, wenn man jährlich soviel Früh¬ 
formen heilte, als der Grund zu tödlichen Infektionen jedes Jahr gelegt werde. 
Aber eine andere, wesentlich billigere und dabei wirksamere Bekämpfungsart wäre 
die, dass die noch arbeitsfähigen Früherkrankten, die jetzigen Heil¬ 
stättenkranken, poliklinisch oder ambulatorisch behandelt werden, 
dass dagegen die infektiösen Mittelfällo und auch die Fälle der Spät¬ 
stadien in den Heilstätten mit Tn. geheilt würden, „eine Aufgabe, die 
ich zu den einfachsten und leichtest durchführbaren zähle.“ 

Die Initialphthisiker, die ganz wenig Sputum produzieren und reinlich damit 
umgehen, sind nach S. als harmlose Kranke in Bezug auf ihre Infektionsgefahr 
zu betrachten. 

Wie ersichtlich, stützen sich Auffassung und Vorschläge der Herren P. und 
S. ganz wesentlich auf die Heilwirkung und die diagnostische Zuverlässigkeit 
des Tuberkulins, wobei den verschiedenen Tuberkulinarten nur qualitative, 
aber keine prinzipielle Unterschiede beigemessen werden. Beide Autoren halten 
den diagnostischen Wert des Tn. bei geeigneter Verwendung für ausgemacht und 
nehmen auf die zahlreichen Einschränkungen, welche demselben durch die Ar¬ 
beiten der letzten Jahre geworden sind, keine Rücksicht. Aber es kann unter Be¬ 
rücksichtigung des Nachweises der latenten T., die nach den Untersuchungen von 
Schlonker, Nägeli, Burkhardt u. a. nicht weniger wie 90 bis 97,5 pCt. der 
Leichen betreffen soll, kaum einem Zweifel unterliegen, dass viele Personen auf 
Tn. reagieren müssen, die gar keine Tendenz zu einer Verbreitung des Prozesses 
und zur Entwickelung einer Phthise im klinischen Sinne haben. In der Tat 
kommen uns Klinikern gelegentlich Fälle vor, die eine ausgesprochene Tn.- 
Reaktion geben und doch, wie der Verlauf zeigt, nur an einer bronchialen resp. 
nicht tuberkulösen Aflektion leiden. Werden solche Fälle dann konsequent mit 


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Tn. behandelt, so bildet sich eine gewisse Giftfestigkeit bei ihnen heraus und sie 
gelten als geheilte Tuberkulosen, wenn man, wie dies Petruschky und 
Spengler tun, die Diagnose nur auf die Tn.-Reaktion gründet. 

Selbst ein so ausgesprochener Anhänger des Koch’schen Behandlungs¬ 
verfahrens wie Cornet kommt zu dem Schluss (Berl. klin. Wochenschr. 1904. 
No. 14/15): „Die positive Tn.-Reaktion wird also künftig allein nicht entscheiden 
dürfen, sondern nur eine wertvolle Unterstützung der diagnostischen Hilfsmittel 
bleiben, wenn andere Symptome bereits auf Tuberkulose hindouten.“ 

Beck fand bei 2504 mit Tuberkulin geimpften Menschen nach Ausschliessen 
der notorisch Tuberkulösen noch 54 pCt. ohne nachweisbare Tuberkulose mit 
positivem Resultat der Impfung. Franz impfte im Oktober 1901 in dem Bos¬ 
nischen Infanterie-Regiment No. 1 400 Rekruten, junge kräftige Leute, dio vorher 
mit negativem Resultat auf Tuberkulose untersucht waren, mit Dosen von 1 bis 
3 mg und fand bei 61 pCt. positive Reaktion und bei 2,5 pCt. eine zweifelhafte 
Reaktion. 

Dem stehen allerdings die Versuche von Schlüter gegenüber, der unter 
100 Injektionen mit dem alten Tuberkulin (von 2 mg anfangend), welche der 
Mehrzahl nach an nicht der Tuberkulose verdächtigen Individuen ausgeführt 
wurden, in 70 pCt. keine Reaktion erhielt. Die 30 restierenden Fälle waren in der 
überwiegenden Zahl direkt auch klinisch der Tuberkulose verdächtig resp. hatten 
offene Tuberkulose. ... S. kommt daher zu dem Schluss, dass auf kleine Dosen 
fast ausnahmslos nur wirklich aktiv Tuberkulöse reagieren, dass harmlose latente 
Herde und wirklich Tuberkulosefreie fast ausnahmslos nicht reagieren. Das Re¬ 
sultat seiner Untersuchungen ist also im grossen und ganzen ein der diagnostischen 
Tuberkulinreaktion günstiges. Indessen befindet sich unter den auf Tuberkulin 
reagierenden Fällen gerade ein Fall, eine perniziöse Anämie mit positiver Re¬ 
aktion, bei dem die Sektion keine tuberkulösen Veränderungen in den Organen 
ergab. 

Indessen soviel geht jedenfalls aus den bisherigen Untersuchungen hervor, 
dass wir, so lange dio Ergebnisse derselben noch so widersprechende und unsichere 
sind, unbedingt in der Verwertung derselben und ganz besonders bei den von 
vornherein zweifelhaften Fällen, sehr vorsichtig sein müssen. 

Aber selbst angenommen, es wären die Reaktionen ein sicherer Beweis eines 
vorhandenen tuberkulösen Herdes, so ist noch zweierlei zu berücksichtigen. 
Einmal gibt es säurefeste Bazillen, die der Gruppe der Gras-, Butter-, Kaltblüter¬ 
bazillen angehörig in gleicher Weise auf das Tn. zu reagieren imstande sind, wie 
die echten T. B. Friedmann hat z. B. bei Tieren, die mit Schildkrötenbazillen 
geimpft waren, eino Reaktion durch Tn. hervorgerufen. Sodann haben dio Ver¬ 
suche von Kos sei, Weber und Ileuss einwandsfrei erwiesen, dass den T. ß. 
eine verschiedene Virulenz zukommt, d. h. milde und schwer verlaufende In¬ 
fektionen nach der Einimpfung verschiedener Stämme von T. B. Vorkommen. Man 
wird demnach nur mit einem gewissen Vorbehalt aus dem Heilerfolg auf die 
Heilwirkung des Tn. schlossen dürfen. Allerdings dürfte es sich bei den auf- 
gezähltcn Funkten nicht um die Regel, sondern nur um Ausnahmen handeln, aber 
sic müssen doch in Betracht gezogen werden, wenn es sich um die Beurteilung 
der von Petruschky und Spengler erzielten Resultate handelt. Es bleibt in» 
höchsten Grade auffallend, dass sich derart günstige Heilerfolge bisher in Deutsch- 


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land, ja man kann sagen in der ganzen Welt, auf einige wenige Stellen 
konzentrieren — man kann die Autoren, welche über so gute Erfolge berichten, 
«an den 5 Fingern herzählen -- und dass die anempfohiene Behandlungsart nicht 
längst von anderer Seite aufgenommen und mit gleichem Erfolge durchgeführt ist. 
Wir Kliniker und Krankenhausärzte sind dazu nicht in der Lage, weil unser Ma¬ 
terial für derartige weitaussehende therapeutische Massnahmen nicht stabil genug 
und auch zu weit vorgeschritten ist; es sollte aber Aufgabe der Heil¬ 
stätten und der staatlich subventionierten Polikliniken sein, den 
an empfohlenen Weg zu betreten und konsequent an einem grossen und mit 
aller Vorsicht beobachteten Material durchzuführen. Erst dann wird man den 
von Spengler und Petruschky gcrmachten umwälzenden Vorschlägen 
hinsichtlich der Verteilung der Kranken auf die Heilstätten und die Ambulanz 
näher treten können. Speziell «Spengler gegenüber habe ich noch zwei Bedenken 
vorzubringen. S. hält die leichten Fälle für h.armlos hinsichtlich der durch sie zu 
befürchtenden Infektionsgefahr. Das trifft «aber bestenfalls nur unter der Voraus¬ 
setzung zu, dfiss jeder Patient die ihm gegebenen hygienischen Unterweisungen 
strikte und dauernd durchführt; wie es dtimit «aber beschaffen ist, weiss Jeder in 
der Praxis stehende Armen- oder flospit.als«arzt leider nur zu gut! Einige Zeit, ja, 
auf die Dauer nicht. Da erscheint cs doch zweckmässiger, wenigstens einen Teil 
der Leichterkrankten in den Heilstätten unterzubringen und die Sch werk ranken 
wie bisher den Krankenhäusern, deren Bettenz.ahl insgesamt immer noch sehr viel 
grösser wie die der Heilstätten ist, zuzuweisen. 

Sehr bedenklich, ja geradezu unverständlich ist mir der Ausspruch, dass die 
Heilung der infektiösen Mittelfälle und auch Fälle der Spätstadien mit Tn. in den 
Heilstätten eine Aufg.abe sei, „die zu den einfachsten und leichtest durchführ¬ 
baren 14 zähle. Dies widerspricht direkt den eigenen Angaben von S., der für diese 
Kategorieen bestenfalls 50 pCt. Heilungen angibt. Was geschieht mit dem Rest? 
Die Kranken werden gebessert (oder «auch verschlechtert!) entlassen und bleiben, 
bis sie wieder in ein Krankenhaus eintreten, eine ergiebige Infektionsquelle nach 
wie vor! 

Nach alledem scheint mir der Vorschlag der gen. Herren zum 
mindesten verfrüht und empfiehlt es sich jedenfalls, zunächst noch 
auf dem alten Wege fortzufahren. Ob cs dabei nötig ist, die Tuberkulösen 
von den übrigen Kranken in den Krankenhäusern zu trennen oder, wie Neisser 
will, in besonderen Kolonieen — nicht den Heilstätten -- ausserhalb der Stadt 
unterzubringen, ist eine andere Frage, die ich hier nicht anschneiden will. 

II. 

Die auf den Typhus u. s. w. bezüglichen Arbeiten bringen eine Reihe von 
sehr wertvollen Beiträgen zur Epidemiologie, bieten aber, da es sich zumeist um 
Mitteilungen positiver Versuchsergebnisse oder um die Erörterung von Beobach¬ 
tungen bezw. Tats.achen zur Genese und Verbreitung der belr. Krankheiten handelt , 
kaum Anlass zu einer kritischen Erörterung derselben. 

0) Fischer beobachtete eine Epidemie von Paratyphus, welche auf 
einen kleinen Bezirk der Stadt Kiel beschränkt blieb. Da ein Einfluss des Wassers, 
des Bodens und der Milch nach sorgfältiger Erwägung aller Verhältnisse auf die 
Entstehung der kleinen Epidemie nicht entdeckt werden konnte, so war es «am 


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wahrscheinlichsten, dass die Quelle der Infektion im Fleisch, welches die grösste 
Mehrzahl der Befallenen von ein und demselben Schlächter bezogen hatte, zu 
suchen war. Leider liess sich die Probe auf das Exempel, nämlich der Nachweis 
der Erreger in dem betr. Fleisch nicht führen, da dasselbe zu der Zeit, als die 
Untersuchungen begonnen wurden, nicht mehr habhaft war. — In einer ähnlichen, 
unter dem Bilde eines fieberhaften Magen-Darmkatarrhes verlaufenden Massen¬ 
erkrankung, die etwa 50 Personen betraf, wurden aus 2 eingesandten Stuhlproben 
und aus den Leichenteilen von 2 eingegangenen Kühen Stäbchen von dem Typus 
der Schottmüllcr’schen Paratyphusbazillen gezüchtet. Mit der Mahnung des 
Verf.’s eine sorgfältige Fleischbeschau sowie eine tierärztliche Ueberwachung der 
milchliefernden Tiere eintreten zu lassen und Fleischwaren nur nach gründlichem 
Kochen resp. Braten zu geniessen, wird man sich nur einverstanden erklären können. 

7) Sehr interessant sind die Angaben von Dönitz: „Ueber die Quellen 
der Ansteckung mit Typbus nach Berliner Beobachtungen.“ Ausser¬ 
ordentlich sorgfältig ist D. mit einer Anzahl eifriger Mitarbeiter den Quellen der 
zur Anzeige gelangten Typhen nachgegangen. Die Untersuchung beschränkte sich 
nicht nur auf die Kranken selbst, sondern auch auf die Dejektionen ihrer Haus¬ 
genossen. Von hoher Bedeutung ist die hierbei aufgedeckte vielfache Verseuchung 
unserer Wasserläufe. Häufig wurde eine Ansteckung nicht nur durch getrunkenes 
Fluss- oder Seewasser, sondern auch durch das Baden nachgewiesen. Auch 
das Rieselwasser der Rieselfelder ist in dieser Hinsicht gefährlich. Dass die Milch 
und die Molkereiprodnkte gelegentlich die Ansteckung vermitteln, ist bekannt. Es 
hat sich aber gezeigt, dass die jetzt gebräuchlichen Methoden des Bazillcnnach- 
weises eine gute Grundlage für die sachgemässe Bekämpfung des Typhus abgeben. 
Leider ist ein anderes Erfordernis dazu, nämlich die ausnahmslose Anmeldung der 
Typhusfälle — und zwar nicht nur der ausgesprochenen Fälle, sondern auch der 
verdächtigen oder von sogen, gastrischem Fieber befallenen — noch nicht ver¬ 
wirklicht. Es würde sich daher empfehlen, geeignete Ausführungsbestimmungen 
zum Reichsseuchengesetz eintreten zu lassen. 

8) An eine ausführliche Beschreibung einer durch Genuss von Pferde¬ 
fleisch erfolgten Massenvergiftung in Nenkirch (Bez. Trier) knüpft v. Dri- 
galski die Forderung, in allen verdächtigen Fällen eine bakteriologische 
Untersuchung des Fleisches der betr. Tiere erfolgen zu lassen. Es genügt, dass 
Teile der Milz und der Muskulatur an das nächste bakteriologische Laboratorium 
geschickt werden. Für die Erkennung der von dem Vcrf. scharf charakterisierten 
Bakterien werden sichere und rasch arbeitende Methoden angegeben. 

fl) In gleicher Richtung bewegen sich die Mitteilungen von Gaffky, der bei 
einer 11 ausepidemie von fieberhaftem Brechd urchfall in den Dejektionen 
einen besonderen schleimbildenden Bazillus fand, welcher als Bacillus enteri- 
tidis mucosus bezeichnet wird. Er entfaltet eine schwere Giftwirkung, welche 
ollenbar erst im Tierkörper erzeugt oder hier aus den Leibern der absterbenden 
Bazillen frei wird. Da diese Beobachtung vorläufig noch vereinzelt dasteht, so 
werden weitergehende Schlüsse aus ihr noch nicht gezogen. 

10) Von besonderem Interesse sind die Ermittelungen von Conradi bei Ge¬ 
legenheit einer Ruhrepidcraie in der Umgebung von Metz. Es gelang 
nämlich, die Ruhrbazillen nicht nur während der eigentlichen Krankheitsperiode, 
sondern auch noch geraume Zeit später, als die Stühle schon wieder ihre gewöhn- 


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liehe Beschaffenheit angenommen hatten und weder Durchfall noch Stuhldrang 
mehr bestand, in den Exkrementen nachzuweisen. Bei mehreren Kindern wurden 
dieselben sogar trotz vollkommenen körperlichen Wohlbefindens in den völlig 
normal aussehenden Stühlen wiederholt gefunden, bei einem leicht Erkrankten 
sogar noch bis in die 9. Woche. .Jeder Ruhrkranke ist deshalb 1 bis 
2 Wochen über die Zeit der eigentlichen Krankhoitserscheinungen 
hinaus infektionstüchtig. Diese Ergebnisse entsprechen den analogen bei 
Typhus von Frosch, Drigalski und Conradi gefundenen Verhältnissen und 
geben eine neue Stütze für die von Koch inaugurierte Bekämpfung dieser Seuche, 
der Cholera und der Malaria. Es ist das die von Koch sogenannte Kontaktinfek¬ 
tion, d. h. nicht nur die Ansteckung vermittelst direkter Berührung, sondern auch 
jene, welche vermittelst eines Zwischengliedes erfolgt, sofern es auf einzelne Per¬ 
sonen wirkt und nicht eine Epidemie hervorzurufen imstande istr. 

Wie schon eingangs gesagt, bewegen sich dio besprochenen Arbeiten sämt¬ 
lich auf dem Boden der Koch’schcn Anschauungen über die Propagation der ge¬ 
nannten infektiösen Krankheiten resp. geben eine neue Stütze für dieselben ab. 

Es liegt nicht innerhalb der Zuständigkeit des Refer., hierüber ein kritisches 
Erteil abzngeben, ich kann aber nicht umhin, bei dieser Gelegenheit meinen Be¬ 
denken gegenüber einer Massregcl Ausdruck zu verleihen, die offenbar von ähn¬ 
lichen Erwägungen hinsichtlich der Gefahren der Kontaktinfektion ausgegangen 
ist. Ich meine dio neuerlich erlassene Verordnung, wonach auch in den 
Krankenhäusern die Typhen isoliert und in besonderen Räumen 
untergebracht werden sollen. Abgesehen davon, dass durch eine solche 
Vorschrift den kleineren Krankenhäusern eine ganz erhebliche Erschwerung hin¬ 
sichtlich des Krankendienstes und der Verwaltung auferlegt wird, handelt es sich 
hier doch um wesentlich .andere Verhältnisse wie bei einer in ihren Häusorn 
wohnenden resp. frei fluktuierenden Bevölkerung. Ich erinnere mich aus meiner 
fast 30jährigen Tätigkeit als llospitalsarzt nur eines einzigen Falles, in dem eine 
solche durch Kontakt entstandene Hausepidemie, die sich auf etwa 5 oder 6 Fälle 
beschränkte, stattgefunden hatte. An dieser Infektion war aber eine grobe Nach¬ 
lässigkeit dos Wartepersonals schuld. Weder vor- noch nachher ist mir jemals 
eine direkte oder mittelbare Ansteckung vorgekommen, obgleich ich von jeher ganz 
besonders darauf geachtet habe und meine Typhen niemals von den anderen 
Kranken abgesondert sind. Selbstverständlich muss streng darauf geachtet werden, 
dass sich das Pflegepersonal nach jeder Hantierung mit dem Kranken und seinen 
Utensilien resp. Dcjekten ordnungsgemäss desinfiziert und der Kranke von dem 
Verkehr mit seiner Nachbarschaft, z. B. durch einen um das Bett gestellten Schirm, 
abgeschlossen wird. Wenn das Pflegepersonal aber aus Bequemlichkeit oder Leicht¬ 
fertigkeit diese Vorsichtsmassregeln unterlässt, so kann das ebenso gut auf einer 
Isolierstation geschehen wie im Krankensaal: und da die Betreffenden doch 
nicht von dem Verkehr mit dem anderen Personal oder den Kranken gänzlich aus¬ 
geschlossen werden können, so kann eine Infektion auch auf diesem Wege erfolgen 
bezw. durch die Absonderung des Kranken nicht verhindert werden. Man wird 
hier durch eine eindringliche Belehrung über die Infektionsgefahr (des Personals 
und auch des Kranken, sobald es sein Zustand erlaubt!) mehr erreichen als durch 
Absperrungsinassregcln, die sich doch nie strikte und zuverlässig durchführen 
lassen. 


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Bredtschneider, A. und Thumm, K. Die Abwasserreinigung in Eng¬ 
land, dargestellt auf Grund einer in der Zeit vom 23. Januar bis 
15. Februar 1903 ausgeführten Besichtigungsreise. Mitteilungen aus 
der Königlichen Prüfungsanstalt für Wasserversorgung und Abwässerbeseitigung 
zu Berlin. Herausgegeben von A. Schmidtmann und Carl Günther. Heft 3. 
Berlin 1904. August Hirschwald. 

Das vorliegende stattliche Heft wäre schon von grossem Wert, wenn es nichts 
weiter enthielte als die Beschreibung der städtischen Abwässerreinigungsanlagen 
in den 18 englischen Orten, welche die Verfasser im Aufträge des „Vereins für 
Wasserversorgung und Abwässerbeseitigung“ und der Priifungsanstalt für Wasser¬ 
versorgung und Abwässerbeseitigung gemeinschaftlich besucht und studiert haben. 
Es bietet aber weit mehr, nämlich nicht bloss einen Vergleich der englischen Ver¬ 
hältnisse mit den deutschen, sondern eine kritische Erörterung der ver¬ 
schiedenen Reinigungsverfahren überhaupt und eine zwar kurze, aber 
vollständige Darstellung des Standes, in welchem sich die Abwässer¬ 
frage gegenwärtig befindet. 

Allerdings bildetdie Schilderung der sehr verschiedenartigen englischen 
Anlagen die Grundlage des Werkes, und dies kommt schon rein äusserlich da¬ 
durch zum Ausdruck, dass das Kapitel IV, in welchem sie enthalten ist, fast 
des Buchs einnimmt, und dadurch, dass nicht weniger als 4G Blätter mit Zeich¬ 
nungen und Plänen zur Erläuterung beigegeben sind. Der Massstab der letzteren 
ist überall der gleiche, sodass Vergleiche zwischen Einzelheiten der Anlagen ohne 
weiteres möglich sind. 

Dass die Verfasser als Einleitung kurze klare Begriffsbestimmungen 
der von ihnen gebrauchten Bezeichnungen vorausschicken, erscheint sehr zweck¬ 
mässig, weil vielfach sehr verschiedene Benennungen für ganz dieselben Dinge 
und BegrilTe im Gebrauch sind. 

Kapitel I gibt kurze Mitteilungen über Zweck und Plan der Reise und 
über die Ausrüstung dazu. Im Kapitel 11 folgen allgemeine Angaben über 
englische Verhältnisse, Boden, Wasser, Klima, Industrie, Städtehygiene, 
gesetzliche Bestimmungen, Aufsichtsbehörden u. s. w. Daraus soll hier, nur um 
ein Beispiel des vielseitigen Inhalts zu geben, kurz angeführt werden, dass in 
England Ebenen mit sandigem Untergrund fast fehlen, dass der Boden unter einer 
dünnen Humusschicht meistens felsig und undurchlässig ist, und dass der 
wenigstens an der Ostküste reichlicher als in Norddeutschland fallende Regen 
deshalb schneller in die Wasserläufe gelangt; W r älder fehlen fast überall; 30pCt. 
des Bodens werden als Ackerland, 40 pCt. als Weide benutzt; Wasser-, Gas- und 
Elektrizitätswerke sind vielfach im Besitze der Städte; Fabriken sind überaus 
zahlreich; können sic ihre Abwässer nicht städtischen Leitungen zuführen , so 
reinigen sie sie selbst, bevor sie in die öffentlichen Wasserläufe eingelassen 
werden. 

Das Kapitel III beschäftigt sich mit den Vorgängen in den Faulräumen 
und biologischen Körpern. Nach englischer Auffassung handelt es sich dabei 
wesentlich nur um Bakterienwirkung und zwar zunächst um Fäulnis durch An¬ 
aerobier, wobei die gelösten organischen Stoffe abgebaut und zerlegt, die unge¬ 
lösten verflüssigt und vergast werden, dann folgen Oxydationsprozesso unter dem 
Einlluss von aerobischcn Bakterien. Nach der deutschen Auffassung kann dagegen 


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die Mineralisierung des Stickstoffs auch ohne Fäulnis vor sich gehen und os sind 
hierbei nicht bloss Bakterien, sondern auch physikalisch-chemische Einflüsse 
wirksam; erst bei der Zersetzung der zurückgehaltenen Schmutzstoffe unter Luft¬ 
zutritt (die beim Füllkörper in der Ruhepause vor sich geht) sind Bakterien und 
höhere Organismen tätig. Dann werden die Unterschiede zwischen den englischen 
und deutschen Untersuchungsverfahren erörtert und es wird hervorgehoben, dass 
die englischen Angaben sich -auf Abwasser zu beziehen pflegen, in welchem die 
Schwebestoffe noch enthalten sind, die deutschen aber auf filtriertes Abwasser. 

Das interessanteste Kapitel ist das V., in welchem als Schluss eine ver¬ 
gleichende Besprechung der Reisecrfahrnngen gegeben wird. In England 
sind Reinigungsanlagen vielfach nötig, Rieselfelder aber überhaupt nicht oder nur 
sehr teuer zu erwerben. Die früher sehr verbreitete chemische Reinigung ist im 
Allgemeinen zu teuer und nicht recht befriedigend. Deshalb wird das Ziel neuer¬ 
dings auf biologischem Wege zu erreichen gesucht. Beim Vergleich mit deutschen 
Verhältnissen ist zu berücksichtigen, dass die englischen Abwässer wegen des 
grösseren Wasserverbrauchs meistens weniger konzentriert sind. 

An die Erörterung der Zusammensetzung des Abwassers schliesst sich die 
Besprechung der Lage der Reinigungsanlage, welche nicht bloss wegen der Ent¬ 
fernung von der Stadt, der Länge der Rohrleitungen und der Dauer des Ver- 
wcilens der Abwässer in den Zuleitungen, sondern auch wegen des Schutzes 
gegen Frost, Versandung, Geruchsbelästigungen u. s. w. von Bedeutung ist. 
Dann werden die verschiedenen Teile der Reinigungsanlagen behandelt, 
zunächst die Beseitigung der groben Schwimmstoffe, dann die schweren Sink¬ 
stolle, hierauf der etwaige Zusatz von chemischen Mitteln (Kalk, Eiscnsulfat, 
Eisonalaun) und die Vorbehandlung in Faul- oder Absetzbecken, die Fragen der 
Schlammverzehrung und der Schlammbeseitigung. Nun werden die biologischen 
Verfahren, zunächst das Füllverfahren, dann das Tropfverfahren im 
einzelnen durchgegangen, ihr Material und seine Korngrösse, ihre Beanspruchung, 
ihre Abmessungen, die Wasserzuführung, -Verteilung und -ableitung, der Luft¬ 
zutritt. Beim Vergleich zwischen Füll- und Tropfverfahren sprechen sich die Ver¬ 
fasser dahin aus, dass sie bei genügendem Gefälle und beschränktem Raum im 
allgemeinen das Tropfverfahren, bei wenig Gefälle und reichlichem Platz das 
Füllverfahren bevorzugen würden. Die Nachbehandlung des gereinigten Ab¬ 
wassers zur Beseitigung der fast stets noch vorhandenen leichten Trübung und 
zur Entfernung der darin enthaltenen Bakterien geschieht der Regel nach durch 
liiesclung auf Land oder durch künstliche Filter; auch Desinfektion kann bei 
Epidemien in Frage kommen. 

Die Baukosten biologischer Anlagen schätzen die Verfasser im grossen 
Durchschnitt etwa auf 20 M. für den Kopf der angeschlossenen Bevölkerung, 
wovon sie 2 M. auf den Grunderwerb und 18 M. auf die Bauten rechnen. Der 
Betrieb beansprucht durchschnittlich bei kleinen Anlagen 1,5 Pfennige, bei 
grossen 1,1 Pfennige für den cbm Abwasser ausschliesslich der Verzinsung und 
Amortisation. 

Den Schluss bilden Bemerkungen über Rieselfelder, deren Grösse, ab¬ 
gesehen von der grösseren oder geringeren Durchlässigkeit ihres Bodens, je nach 
der Beschaffenheit des Abwassers verschieden zu bemessen ist. Während man bei 
überhaupt nicht vorbehandeltem Abwasser 1 ha auf 250 Einwohner rechnet, kann 


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man bei mechanisch oder chemisch geklärtem Abwasser mit dem 5. Teil und bei 
biologisch behandeltem mit dem 10. Teil des Bodens auskommen. Die Riesel¬ 
felder sind im Vergleich zum biologischen Verfahren nicht bloss wirksamer, sondern 
auch billiger, wenigstens da, wo der Bodenpreis für den ha geringer als etwa 
10000—12000 M. ist. Gl obig-Berlin. 

Gutachten des Reichsgesundheitsrates über die Einleitung der Ab¬ 
wässer Dresdens in die Elbe. Berichterstatter: Geh. Hofrat Professor 
Dr. Gaertner. Mitberichterstatter: Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Rubner. Ar¬ 
beiten aus dem Kaiserlichen Gesundheitsamt. Bd. XIX, Heft 3. Berlin 1903. 
.Julius Springer. 

Dresden, dessen Einwohnerzahl jetzt 430000 beträgt und nach Schätzung 
in 20 Jahren auf etwa 720000 anwachsen wird, hat gegenwärtig auf dem linken 
Elbufer 17, auf dem rechten 9 Kanäle zur Ableitung des Regenwassers und sämt¬ 
licher Hansabwässer, welche aber — wenn auch unrechtmässiger Weise — zu¬ 
gleich etwa die Hälfte der Fäkalien der Elbe zufiihren. Die andero Hälfte der 
Fäkalien wird in 13000 Gruben gesammelt und abgefahren, kann aber nur zum 
Teil für die Landwirtschaft verwertet oder aufgestapelt werden und der Rest muss 
deshalb seit etwa 10 Jahren ebenfalls in die Elbe geschüttet werden. Jetzt sollen 
nun die vorhandenen Kanäle als Notauslässc Verwendung finden und zwei neue 
Abfangkanäle, beiden Elbufern folgend, sämtliche SchmutzstolTe, auch alle Fä¬ 
kalien anfnehmen, dann sollen die Sink- und Schwimmstofle abgefangen werden; 
wenn diese grobe Klärung nicht genügt, soll eine biologische Reinigung einge¬ 
richtet und schliesslich das gesamte Abwasser unterhalb der Stadt in die Elbe 
geleitet werden. Hierdurch wird zugleich bezweckt, künftig die Keller und Strassen 
llutfrei zu halten, während jetzt ein mehr oder minder grosser Teil des Kanal- 
nct/.es fast die Hälfte des Jahres von Elbwasser erfüllt und dadurch im Abfluss 
gestört wird. Da die Gemeinde Mickten, die Elbstrombauverwaltung, das sächsische 
Kriegsministcrium Einspruch gegen diesen Plan erhoben und auch Preussen einige 
Bedenken dagegen vorgebracht hatte, so wurde der Reichsgesundheitsrat um ein 
Gutachten ersucht. 

Die Elbe, gut reguliert und eingedeicht, hat in Dresden bei mittlerem Wasser¬ 
sland eine Geschwindigkeit von 0,61 m in der Sekunde und führt 220 cbm 
Wasser in der gleichen Zeit. Bei dem niedrigsten Wasserstande, der alle Jahre 
I mal ein tri tt, beträgt die Wasserführung immer noch 63 cbm, bei dem nächst¬ 
höheren, der an 8 Tagen im Jahre einzutreten pflegt, 80 cbm in der Sekunde. 
Stromabwärts wächst die Wassermenge durch die Nebenflüsse erheblich und be¬ 
trägt zur Zeit niedrigen Wasserstandes bei Magdeburg doppelt, an der Ham- 
burgischen Grenze drei mal so viel wie in Dresden. Die Menge der Abwässer 
Dresdens wird nach dem ziemlich reichlichen Masse von 171,2 1 für den Kopf 
und Tag, im Ganzen auf 76613 cbm (bei 430000 Einwohnern) und 123293 cbm 
(bei 720000 Einwohnern) berechnet. Auf die Sekunde macht dies 0,852 cbm (bei 
430(KX) Einwohnern), und 1,427 cbm (bei 720000 Einwohnern), so dass beim 
niedrigsten Wasserstande jetzt eine Verdünnung der Abwässer im Verhältnis 
von 1 : 74, beim nächstniederen wie 1:94 stattfindet, und bei 720000 Einwohnern 
diese Zahlen sich immer noch auf 1 : 44 und 1 : 56 stellen werden. Die festen 
Bestandteile — nach Baumeister zu 190 g fiir den Kopf und Tag gerechnet 


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— erfahren eine Zunahme um 12 mg (bei 430000 Einwohnern) und 20 mg (bei 
720000 Einwohnern) im Liter und diese Vermehrung ist so gering, dass sie sich 

— selbst bei gänzlich fehlender Reinigung der Abwässer — chemisch kaum be¬ 
merkbar machen würde. Schon jetzt, wo 3 / 4 aller festen Unratstoffe in die Elbe 
gelangen, ist in den Befunden der chemischen Untersuchung des Elbwassers ober¬ 
halb und unterhalb von Dresden kein deutlicher und ständiger Unterschied vor¬ 
handen und Renk fand das Einschütten des Grubeninhalts 900 m weiter abwärts 
ohne Einfluss auf die Zusammensetzung des Elbwassers. Der ßakteriengehalt 
des Elbwassers erfahrt allerdings durch die Abwässer Dresdens eine erhebliche 
Steigerung — etwa auf das 4fache; weiter abwärts tritt zwar wieder eine Ver¬ 
minderung ein, jedoch nicht bis zu dem früheren Grade. Schwimm- und Sink¬ 
stoffe sind in beträchtlicher Menge vorhanden, sie sind teils Tonteilchen, teils 
rühren sie von städtischen Abwässern her, lagern sich an flachen Stellen, z. B. 
den Ostra-Ufern ab und machen sich dort unangenehm bemerkbar. 

Auf dem fast 400 km langen Lauf von Dresden bis Wittenberge wird in den 
an der Elbe gelegenen Orten ungereinigtes Wasser nirgends getrunken und fast 
nirgends anderweitig in den Häusern verwendet, da sie teils ausserhalb des lloch- 
wasserbereichs vom Strom ziemlich entfernt, teils zwar dicht am Strom, aber auf 
Erhöhungen liegen. Dagegen benutzt die Fischerei, Schiffahrt und Flösserei 
treibende Bevölkerung der Elbe, die auf 5000 Köpfe berechnet wird, das Wasser 
in ausgedehntem Masse zum Trinken und für häuslichen Gebrauch. Indessen ist 
Dresden eine gesunde Stadt und namentlich Typhus in ihr nicht erheblich ver¬ 
breitet: in den letzten 10 Jahren ereigneten sich zwischen IO und 28, im Durch¬ 
schnitt 19 Todesfälle an Typhus. 

Die Beschaffung von Land zur Anlegung von Rieselfeldern ist für Dresden 
zwar nicht völlig ausgeschlossen, aber teils wegen der hohen Grundstückspreise, 
teils wegen der grossen Entfernung oder der Notwendigkeit, die Abwässer durch 
Pumpen zu heben, kostspielig. Der Itcichsgesundheitsrat hat deshalb zwar die 
Reinigung der Abwässer durch Rieselfelder in erster Linie empfohlen, aber doch 
nur, insoweit sie sich vom wirtschaftlichen Standpunkt aus durchführen lässt. 
Sollte dies nicht der Fall sein, so wird die Einleitung der Abwässer in den 
Strom als statthaft erklärt, so lange keine Uebelstände sich zeigen und wenn 
gewisse Bedingungen erfüllt werden. Die Bedingungen bezwecken die Verhütung 
von Belästigung und Gefahr für die Unterwohner und sind 1. die Entfernung 
der Schwimm- und Sinkstoffe bis zu 3 mm Durchmesser zur Vermeidung 
der Entstehung übler Gerüche, zur Beseitigung ekelhaft aussehender Stolle und 
zur Hinderung des Unbrauchbarwerdens des Elbwassers für bestimmte Zwecke, 
wie z. B. Waschen und Baden; 2. Massnahmen zur Unschädlichmachung 
der in den Strom gelangenden Krankheitskeime, nämlich strenge Durchführung 
der Anzeigepflicht bei Infektionskrankheiten, zumal bei Cholera und Typhus, Des¬ 
infektion im Hause des Kranken, Möglichkeit der Vornahme allgemeiner Desin¬ 
fektion der Abwässer im Falle des Ausbruchs einer Epidemie, Fernhaltung der 
Abwasserauslässe von den Liegeplätzen der Schiffe, Flösse u. s. w. und von den 
Badeanstalten, Sorge für leicht erreichbares gutes Trinkwasser an den Liegeplätzen 
der Schiffer. Auch die Reinigung schädlicher Industriewässer, die gegenwärtig 
nicht von Bedeutung sind, wird verlangt. 

Schliesslich werden einige Aenderungen an dem Plan, den die Stadt Dresden 


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Besprechungen, Relerate., Notizen. 


für die Abwasserbeseitigung aufgestellt hat, für notwendig erklärt: nämlich die 
Anbringung von Abfangvorrichtungen für Schwimm- und Sinkstotfe auch an den 
Notauslässen in der Stadt, die Verlegung der Reinigungsanlagen weiter stromab¬ 
wärts, womöglich ihre Vereinigung zu einer einzigen, und eine Vergrösserung 
des Querschnittes der Stammsiele. Globig-Berlin. 

Die in den Jah ren 1876—1900 in Breslau vorgekomtnenen Todesfäl le 
an Krebs, mit besonderer Berücksichtigung örtlicher Verhältnisse 
auf diese Krankheit. Von Dr. F. Frief. Klinisches Jahrbuch. 1904. 
XII. Bd. (Aus dem hygienischen Institut in Breslau.) 

Im Anschluss an die neueren Krebsstatistiken grösserer Städte, wie Berlins 
von Aschoff, Wiens von Rosenfeld, Hamburgs von Reiche etc. liefert Frief 
mit dieser fleissigen und sorgfältigen Publikation einen wichtigen Beitrag zur 
Klärung jetzt schwebender Krebsfragen. Nach einleitenden Bemerkungen über die 
vielfach behauptete Zunahme der Krebserkrankungen ist nach des Verf.’s Ansicht 
im gegenwärtigen Anfangsstadium einer ätiologischen Krebsforschung zur Ent¬ 
scheidung der so wichtigen Punkte über die Ursache und Zunahme des Karzinoms 
namentlich die Statistik berufen, die Wege zur weiteren Erkenntnis zu bahnen. 
Nicht überall führen jedoch solche Statistiken zu brauchbaren Resultaten. An den 
bisherigen Methoden der Krebsstatistik übt Frief eine sachgemässc Kritik. Er hat 
die Krebstodesfälle in Breslau in der Zeit von 1876—1900 zum Gegenstand einer 
statistischen Studie gemacht, weil diese Stadt seit 1874 ein statistisches Amt be¬ 
sitzt und der Registrierung der Todesursache eine ganz besondere Sorgfalt zu- 
wendet. Allgemeinbezeichnungen, wie Wassersucht etc., werden den Aerzten zur 
genaueren Bezeichnung der Todesursache zurückgegeben. Er bespricht der Reihe 
nach folgende Punkte: das statistische Material und die Fehlerquellen bei dessen 
Sammlung, dann die Zunahme der Krebsmortalität, darauf die Verteilung der Kar- 
zinomtodesfälle nach den befallenen Organen, nach Beruf und Wohlhabenheit der 
Gestorbenen, ferner die örtlichen Differenzen in der Ausbreitung des Krebses, so¬ 
dann die Verbreitung in den Allcrsversorgungsanstahen und endlich das Vorkommen 
von Doppeletkrankungen bei Eheleuten. In Bezug auf die Verwertung des statisti¬ 
schen Materials macht der Verfasser auf mehrere bisher von den Krebsstatistikern 
gemachte Fehlet quellen aufmerksam. Man hat vielfach die ganze Rubrik: „Bös¬ 
artige Neubildungen“ verwendet und die einzelnen Geschwulstarten nicht ausein¬ 
andergehalten. In Breslau werden seit 1888 die Krcbsneubildungen speziell 
registriert. Behufs einer richtigen Kreisstatistik scheidet er 24pCt. aller Fälle aus. 
Ferner scheidet er aus die auswärtigen Fälle, welche zur Operation nach Breslau 
kommen (16 pCt.). Sodann berücksichtigt er bei der Krebsstatistik nur besondere 
Altersstufen — was auch schonPrinziggeforderthat —,nurdiekrebsempfänglichen 
Personen über 30 Jahre. Nach Ausschaltung dieser Fehlerquellen ergibt sich für 
Breslau in dem Zeitraum von 2j Jahren an der Hand genauer Tabellen eine lang¬ 
sam ansteigende, häutig wieder abfallende, im ganzen stark wechselnde Kurve, die 
jedoch vom Anfangsjahr bis zum Schluss in geringem Grade zugenommen hat. 
Ein starkes Anwachsen ist nicht zu konstatieren. Die Zunahme beträgt 0,4 °/ooo 
gegen Maeder = 0,6 "/ 000 ivgl. Maeder, Die stetige Zunahme der Krebserkran¬ 
kungen in den letzten Jahren. Zciischr. f. Hygiene. Bd. XXXII). Die Differenz 
erklärt sich durch die Berücksichtigung der vorhergenannten Faktoren. Die Alters- 


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klasse, wolclic nach Frief die Zunahme der Krebsmortalitäl bedingt, ist aus¬ 
schliesslich die Klasse von 51 —70 Jahren. Speziell die Zunahme beim männlichen 
Geschlecht ist um das Doppelte gewachsen. Die Männer werden in früheren Jahren 
vom Krebs hingerafft als die Weiber. Was die Organstatistik betrifft, so hat Uterus- 
und Mammakrebs in den letzten Jahren keine Zunahme erfahren, wohl aber wird 
der Intestinaltraktus viel häufiger befallen, besonders beim Mann, und zwar in den 
oberen Teilen — Beobachtungen, die mit Asch off und anderen Statistikern über¬ 
einstimmen. Nach der Breslauer Statistik wird kein Beruf vorzugsweise von Kar¬ 
zinom heimgesucht, dasselbe gilt von den einzelnen Rassen. Eine Untersuchung 
der Krebsfälle bei Juden, Katholiken und Protestanten zeigte keine auffallenden 
Unterschiede des Befallenseins. Armut und Wohndichtigkeit äussern nach des 
Verfassers diesbezüglichen Feststellungen in Bezug auf Einkommen und Miete 
keinesfalls einen die Krebserkrankung begünstigenden Einfluss. Die Wohnungs¬ 
dichtigkeit hat beim Krebs nicht die Bedeutung wie bei der Tuberkulose. Be¬ 
sondere Aufmerksamkeit hat Verfasser der zur Zeit viel diskutierten Frage ge¬ 
widmet, ob manche Stadtteile, Strassen, Häuser Breslaus ein gehäuftes Vorkommen 
von Krebs aufweisen und ob die geologische Bodenbeschaffenheit, die Wohnungs¬ 
feuchtigkeit, Grundwasserstand, Trinkwasser, Art der Ernährung etc. Beziehungen 
zum Krebs erkennen lassen. Wenn auch der Süden Breslaus vielleicht durchweg 
eine geringere Krebsmortalität zeigt, während in der nördlichen Hälfte mehr und 
stärkere Abweichungen auftreten, so weist die Krebsmortalität in Bezug auf die 
lokalen Verhältnisse keine konstant bleibenden örtlichen Häufungen auf, für welche 
man örtliche Einflüsse als ursächlich bezeichnen könnte. Von 9962 bewohnten 
Gebäuden sind in Breslau 20 pCt. von Karzinom befallen, in 256 Häusern kamen 
2, in 53 3, in 10 4 Krebsfälle vor. Eine besondere ätiologische Beziehung zu so¬ 
genannten Schwammhäusern (in Breslau 179) liess sich nicht feststellen. 20 pCt. 
dieser Schwammhäuser fallen mit Krebstodeswohnungen zusammen. Von der An¬ 
sicht ausgehend, dass in Altersversorgungsanstalten, Siechenhiiwsern etc., also 
Stätten mit Personen über 50 Jahre, besonders Gelegenheit zur l'ebertragung 
gegeben sei, zog Frief in 20 derartigen Anstalten Erkundigungen ein. Von den 
betreffenden Aerzten wurde eine Ueberlragung dort niemals beobachtet. Schliess¬ 
lich widmet er dem Cancer ä deux eine eingehende Untersuchung im Anschluss 
an die Beobachtungen des Referenten. Es wurden in den 25 Jahren in Breslau 
65 derartige Fälle ermittelt. Die Zwischenzone des Auftretens bei Mann und Frau 
schwankt zwischen 5 Tagen und 25 Jahren, und zwar bei 5 Fällen = 1 f A Jahr, 
20 = 2 Jahre, 26 = 3 Jahre, 32 = 4 Jahre, 57 — 5 Jahre, 42 = 6 Jahre. 
Bei */a aller Fälle war die Zwischenzeit = 2.Jahre. Die 65 Fälle betrugen 1 pCt. 
aller Todesfälle. Der Autor, in der Meinung, dass hierbei vielleicht ein Zufall 
walten könne, berechnet zilfernmässig das Verhältnis der Tatsächlichkeit und 
Wahrscheinlichkeit: danach scheint ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem 
Tod der Ehegatten vorhanden zu sein, doch bedeutet nach ihm der Cancer ä deux 
nicht ohne weiteres ein Beweis für die Ucbertragbarkeit des Karzinoms. Es ist 
nicht ausgeschlossen, dass eine gemeinsame Noxe, die auf beide Ehegatten in 
gleicher Weise eingewirkt hat, dabei im Spiele,ist. Auf diesen Punkt sei in der 
Folgezeit besonders zu achten. Wenn also die Doppelerkrankungen bei Eheleuten, 
besonders in bald aufeinander folgender Zeit, den Gedanken an Ansteckung nahe 
legen, so ist damit nicht gesagt, dass dieselbe in grossem Umfange vorkommt. 


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Besprechungen, Referate, Notizen. 


Ein Erreger braucht nur in besonderen Fällen zu infizieren, wie z. B. bei der Pneu¬ 
monie. Eine Krankheit kann parasitär sein, ohne dass sie ansteckend zu sein 
braucht, oder sie ist es nur in geringem Grade. Jedenfalls liegen die Verhältnisse 
beim Krebs nicht so, wie bei den uns bekannten Infektionskrankheiten. Verfasser 
hält die Beteiligung eines Parasiten für möglich. Derselbe kann in spezifischer 
Weise an gewissen Oertlichkeiten von Substraten der äusseren Umgebung den 
Menschen befallen, oder er ist allverbreitet und ist dem Menschen gegenüber so 
lange harmlos, bis eine besondere Disposition das Wuchern im lebenden Orga¬ 
nismus gestattet. Wenn Verfasser meint, dass grosse Zahlenübersichten und grosse 
Städte zur Klärung der Krebsursache erforderlich sind, so kann ihm Referent 
darin nicht beistimmen. Nach seiner Meinung sind gerade kleinere Orte mit ende¬ 
mischem Vorkommen dazu angetan, durch genaues Detailstudium der einschlägigen 
ätiologischen Faktoren Licht zu bringen. Hier muss die weitere Forschung ein- 
setzen. Referent legt nach wie vor Gewicht auf die geographisch-statistische 
Methode, welche für ihn geradezu eine ätiologische Forschungsmethode ist. Durch 
die allerorts angefachte lokale Krebsforschung sind in der letzten Zeit eine Reihe 
von Orten mit gohäuflem Vorkommen bekannt geworden. Ich erinnere nur an 
Plötzkau. Hier mit sesshaften Einwohnern sind die Verhältnisse viel durchsichtiger 
und leichter zu übersehen als bei der immer fluktuierenden Bevölkerung der Gross¬ 
städte. Die neueren Uebertragungen des Mäusekrebses, welche schon 1889Morau 
in gleicherweise wie jetzt in verschiedenen Serien gelungen sind, haben der para¬ 
sitären Theorie eine mächtige weitere Stütze verliehen. In Bezug auf die Ein¬ 
würfe, dass man die fraglichen Krebszelleneinschlüsse auch experimentell durch 
verschiedene Einspritzungen erzeugen kann, verweist Referent auf seine Aus¬ 
führungen in der Deutsch, med. Wochenschrift, 1904, No. 23 u. 28 (Sitzungs¬ 
berichte des Komitees für Krebsforschung vom 17. Dez. 1903 und 21. Jan. 1904). 
Dass man in manchen Zellen keine Einschlüsse findet, ist nicht auffallend. Es 
handelt sich eben um Parasiten anderer Art als Bazillen, um Epithelschmarotzer, 
die eine Anfangszeile infizieren und zur Proliferation reizen, eine Fernwirkung 
durch Fermente setzend. Ein Spermatozoon ist imstande, durch Eindringen in eine 
Zelle einen ganzen Organismus hervorzubringen. Findet man etwa diese Sperma¬ 
tozoon später in den gewucherten Zellen? Danach ist verständlich, dass von einer 
infizierten Zelle eine mächtige Zellwucherung ausgehen kann. Man muss sich voll¬ 
ständig freimachen von den uns geläufigen Anschauungen bei den bazillären 
Krankheiten, besonders auch in Bezug auf die Forderung der Züchtung. Gibt es 
aber wirklich einen Krebserreger, so fragt man sich: Wie gelangt er denn in den 
Körper? Durch die Luft, durch das Wasser, durch Nahrungs- und Genussmittel 
u. s. w.? Was kann das Medium, der Träger der Infektion in grossen Städten 
sein? Die Luft — das ist nach den Erfahrungen wohl sicher auszuschliessen, das 
Leitungswasser, das gut untersuchte Fleisch, das gekochte Fleisch, die gekochten 
Nahrungsmittel — auch das ist mit grosser Wahrscheinlichkeit per exclusionem 
nicht anzunchmen. Es können nur Medien sein, die roh einverleibt werden, wo¬ 
bei die Keime durch Kochen nicht abgetölet werden. Auch Fische erkranken tat¬ 
sächlich an Krebs. Dieselben können sicli doch nur im Wasser infizieren. Sind 
die Krebskeime vielleicht auch in dem uns so viele Krankheiten übermittelnden 
Wasser und an den Substraten vorhanden, die mit ihm in Berührung kommen? 
Diese Fragen, die sich dem lokalen Krebslbrschor aufdrängen und in Anbetracht 


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einer Verhütung des Karzinoms so enorm wichtig sind, werden kaum in Gross¬ 
städten mit ihren unkontrollierbaren Infektionsquellen gelöst werden, viel eher an 
krebsendemischen Orten, wo die Keime stationär sind und von wo bei den heutigen 
Verkehrsverhältnissen ein Ausstrahlen in alle Häuser und in alle Berufe ohne 
Unterschied des Standes möglich ist. Robert Behla. 


Die Kapsclbazillen. (Bac. pneumoniae Friedländer und verwandte Bazillen.) 
Von Dr. Rudolf Abel, Regierungs- und Medizinal-Rat in Oppeln. (Separat- 
abdruck aus dem Handbuch der pathogenen Mikroorganismen.) 

Abel hat in dieser Publikation alles zum Studium der Kapselbazillen 
Wissenswerte, gestützt auf reiche eigene Erfahrungen, zusammengetragen und die 
hierher gehörige Literatur kritisch und erschöpfend behandelt. 

Der erste Hauptabschnitt ist einer eingehenden Schilderung der morpholo¬ 
gischen, kulturellen und bilogischen Eigenschaften der Kapselbazillengruppe ge¬ 
widmet, welche ausser der Fähigkeit der Hüllenbildung durch folgende Merkmale 
sich auszeichnet: Vorwiegend kurze plumpe Stäbchenform, Unbeweglichkeit, man¬ 
gelnde Sporenbildung, leichte Färbbarkeit mit den gebräuchlichen Anilinfarben, 
Nichtempfänglichkeit für die Gram’sche Färbung, Anspruchslosigkeit hinsichtlich 
des Nährbodens, Wachstum bei Luftzutritt und Luftabschluss, jedoch besseres 
Gedeihen unter aeroben Verhältnissen, Wachstum auf Gelatine ohne Verflüssigung. 
Neigung zur Bildung von Schleimmassen in den Kulturen, fehlende Indolbildung, 
in welch’ letzterer Tatsache ein wichtiges Abgrenzungsmittel gegen die Koligruppe 
gegeben ist, unter welche Kruse, Wilde, Lehmann-Neumann die Kapsel¬ 
bakterien einreihen wollen. 

In der pathogenen Wirkung im Tierexperimont verhalten sich die Angehö¬ 
rigen der Kapselbazillengruppe, einander sehr ähnlich, wenn auch quantitative 
Differenzen jeden Grades Vorkommen. Die empfänglichsten Tiere sind die weisse 
Maus und das Meerschweinchen, letzteres bei intraperitonealer Applikation der 
Bazillen; zur Infektion genügen sehr kleine Dosen von dem frisch aus pneumo¬ 
nischem Sputum, Rhinoskleromgewebe, Ozaenasekret, Eiter gezüchteten Bazillen. 
Im Herzblut und allen Organen der so geimpften Mäuse linden sich dieselben 
massenhaft. Manche Stämme töten intraperitoneal oder intravenös injiziert auch 
Kaninchen und Tauben unter den Erscheinungen der Peritonitis und Septikämie; 
erwähnt werden auch die interessanten Versuche Buchner’s und v. Dungern’s 
über die Beeinflussbarkeit der Milzbrandinfektion im Tierkörper duroh injizierte 
Kapselbazillen. 

Von den verschiedensten Forschern ist der Versuch einer Systematisierung 
der Kapselbazillen gemacht, so benutzte Wilde das verschiedene Gär- und 
Säurebildungsvermögen zur Unterscheidung von Bakterientypen. Ganz brauchbar 
ist auch sein Schema, nach welchem innerhalb der Aerogenes-Gruppe fünf Typen 
unterschieden werden (Bacillus lactis innocens, Sklerombacillus, Bac. pneumon. 
Friedländer, Bac. aerog. (Bact. coli immobilis). Durch Hinzufügung der 
Typhus-Coligruppe ist dieses Schema dann von Escherich erweitert worden. 

Jedoch ist daran festzuhalten, dass mit unserem heutigen Wissen nicht mög¬ 
lich ist, spezifische Kennzeichen für die einzelnen Arten aufzustellen, wir uns viel¬ 
mehr mit derBenennungder einzelnen Bakterienstämme nach ihren Fundorten begnügen 
müssen. Auch die zahlreichen Versuche einer Differenzierung mit Hilfe der Im- 


Vierteljahrsschrift f. ger. Med. u. öff. San.-Wesen. 3. Folge. XXVIII. 2. 

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Besprechungen, Referate, Notizen. 


inunitäts- und Serum-Reaktionen haben zu übereinstimmenden Resultaten nicht 
geführt. 

ln dem zweiten Hauptabschnitt werden die Beziehungen der Kapselbazillen 
zu Krankheitsprozessen erörtert, bei welchen sie die Rolle der Erreger oder sekun¬ 
dären Eindringlinge spielen können. Wie die Pneumokokken, pyog. Streptokokken 
und andere pathogene Keime können auch die Kapselbazillen in den mit der 
Aussenwelt in Verbindung stehenden Körperhöhlen sich finden, ohne krankheits¬ 
erregend zu wirken; in 111 gesunden Nasenhälften fand Hasslauer länial Bac. 
pneum. Friedländer, Netter denselben in 4,5 pCt. der Fälle in der Mundhöhle, 
im Darm des Säuglings ist der Aerogenes ein regelmässiger Gast. Pneumonie¬ 
bazillen und diesen ähnliche wurden im Fussboden, Staub, Kanalwasser, Fluss¬ 
schlamm, in der Luft, der Bac. aerog. in Milch, Luft und Wasser gefunden, wes¬ 
halb Gelegenheit zur Aufnahme in den Körper überall reichlich vorhanden ist. 
Am bekanntesten ist der Anteil, welchen der Bac. pneum. Friedländer nach den 
Untersuchungen von Weichselbaum, Wolf, Netter, Klein, Pipping als 
ätiologisches Moment an der croupösen Pneumonie und Bronchopneumonie nimmt; 
gelegentlich fand man ihn auch im Sputum bei Influenza, Phthisikern, Bronchi- 
tikern, bei Stomatitis ulcerosa, Anginen, im eitrigen Sekret einer Parotitis in Hein¬ 
kulturen (Girede). 

Kaum zweifelhaft ist die ursächliche Beziehung der Kapselbazillen zur Ent¬ 
stehung des Rhinoskleroms, umstritten dagegen die Frage, ob auch Ozaena Sim¬ 
plex als eine durch Kapselbazillen erzeugte Infektionskrankheit gelten kann. Im 
positiven Sinne entscheidet sich Abel, welcher gemeinsam mit Strübing, der 
den klinischen Teil bearbeitete, bei seinen auf die Bakterientlora von mehreren 
hundert Nasen sich erstreckenden Untersuchungen alle als klinisch ausgesprochene 
Ozaenaprozesse auch bakteriologisch als zusammen gehörig charakterisieren konnte. 
Sämtliche zeigten in dem schleimig-eiterigen Sekret Kapselbazillen vom Typus des 
Rhinoskleroms und der Friedlander-Bazillen in grosser Menge. Dagegen beob¬ 
achtete Abel solche niemals bei Untersuchung gesunder oder nicht von der 
Ozaenaerkrankung in irgend einem Stadium betroffenen Nasen; ferner gelang es 
A. durch Einreiben von Kulturmaterial in die Nasenschleimhaut eines Phthisikers 
bei diesen Erscheinungen zu erzielen, wie sie den Anfangsstadien der Ozaena- 
all'ektion (<chleimig-eitriges Sekret mit Borkenbildung) entsprechen. 

Die Konstanz des Bakterienbefundes bei Ozaena ist unabhängig von Abel 
auch von Paulsen erhoben und neuerdings von Stein und einer Reihe anderer 
Autoren bestätigt worden. Auf die Einwände eines grossen Teiles der Rhinologcn, 
welche die Auffassung AbeUs von der Aetiologie der Ozaena nicht teilt, sondern 
die Bazillen als Neoparasiten betrachtet, kann hier des Näheren nicht eingegangen 
werden: zu betonen ist, da*s Abel glaubt an seiner Ansicht festhalten zu müssen. 
In der Pathologie des Auges ist den Kapselbazillen nur gelegentlich einiger Falle 
von Dakryocystitis, eines Falles von Ulcus corneae, von Kcratomalacie eine Rolle 
zugeschrieben worden. Ferner sind sie Lei Brechdurchfällen im Stuhl, manchmal 
fast in Reinkultur nachgewiesen worden (Abel, Frieke). Fütterungsversuche bei 
Tieren mit Reinkulturen hatten positiven Erfolg. Als Erreger eitriger Pleuritiden, 
Meningitis, Pcriearditis, Cystitis, Pyelonephritis hat man die Kapselbazillen ver¬ 
schiedentlich angesprochen. Wagen er - Köslin. 


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lieber den Nachweis von Typhusbazillen im Wasser durch Fällung 
mit Eisensulfat. Von l’rivatdozeiu l’rof. Dr. M. Ficker. .Separatabdruck 
aus der Hygienischen Rundschau 1904. No. 1. 

F. fand bei der Nachprüfung der Val let-Schüder’schen Methode des 
Nachweises von Typluibazillen im Wasser (Fällung mit Natriumhyposulfit und 
Bleinitrat und läisen des Niederschlages durch Natriumhyposulfit), dass bei einer 
Reihe von Versuchen mit genauer Zählung der einem sterilisierten Leitungs- oder 
Spreewasser eingesäten Typhusbazillen bei weitem nicht die Summe der Einsaat 
in dem gelösten Niederschlage aufzulinden war, in einem Falle sogar nur knapp 
ein Zehntel der Gesamtaussaat. Es stellte sich heraus, dass ein Teil durch die 
Fällung überhaupt nicht niederzuschlagen war, der andere sicher zu Grunde ging, 
jedoch zeigten die einzelnen Typhusstämme in ihren vitalen Eigenschaften sich 
ganz und gar verschieden durch das Fällungsmittel beeinflusst. In dem Eisen¬ 
sulfat fand nun F. ein neues Mittel, welches starke Fällkraft hat und indifferent 
für Typhusbazillen ist, ferner in den weinsauren Salzen ein geeignetes Lösungs¬ 
mittel für den Eisenniederschlag. Mit Hilfe dieser Methode, deren Technik im 
Einzelnen erläutert wird, gelang es im Mittel 97- 98 pCt. der Einsaatmenge im 
gelösten Sediment wieder zu gewinnen, während der kleine Rest in der über¬ 
stellenden Flüssigkeit suspendiert blieb. Dr. Wagen er-Köslin. 


Die Oholerad iagnose mit Hilfe eines neuen Nährbodens. (Aus d. kgl. 
hygienischen Institut in Posen.) Dr. Albert Hirschbruch, Klinisches 
Jahrbuch. 2. Bd. 3. Heft. Jena 1904. 

Nachdem Verfasser zusammen mit Schoer (Die Choleradiagnose mit Hilfe 
eines Spezialagars. Zentralbl. f. Bakt. Bd. 34. 1903. S. 583) schon früher den 
Agar nach v. Drigalski und Conradi angelegentlichst für die Choleradiagnose 
empfohlen hatte, beschreibt er in diesem Artikel einen neuen Spezialnährboden 
für Cholera, der in einer Modifikation des v. Drigalski-Conrad i’schen Typhus¬ 
nährbodens besteht. Der neue Nährboden hat einen weit geringeren Agargehalt 
und erhält gar keinen Nutrose- oder Troponzusatz. Im übrigen wird bei der Zu¬ 
bereitung, die im grossen und ganzen dem bekannten Verfahren bei der Her¬ 
stellung des Dr. C. entspricht, das Hauptgewicht auf die Alkalisierung gelegt. 
Der nach der genau angegebenen Vorschrift hergestellte Spezialnährboden soll 
durchsichtig wie Glas sein und eine violett-blaue Farbe besitzen. Bei durch- 
lällcndem Licht erscheinen die Kolikolonien rot mit einem leichten Stich ins 
Violette, sie sind opak und irisieren. Die Cholerakolonien dagegen werden als 
tautropfenartig durchsichtig, von schön himmelblauer Farbe beschrieben. Sie 
sollen sich dadurch entschieden von dem violetten Nährboden abheben. Schon 
nach 10—12 Stunden ist nach dem Verfasser auf sehr dünnen Platten, die mit 
einem Cholera- und Koligemisch beimpft sind, der Farbenunterschied zwischen 
den beiden Bakterienarten zu erkennen, bei dickeren Platten ist er nach 16 bis 
18 Stunden am schönsten ausgeprägt; auch noch nach 36—48 Stunden tritt der 
Farbenunterschied deutlich hervor. Während die Kolikolonien noch rot oder 
schon wieder blau gefärbt sind, erscheinen die Cholerakolonien bei auffallendem 
Licht dunkel-violett, bei durchfallendem völlig schwarz. 

Als Vorzüge seines neuen Spezialnährbodens hebt Hirschbruch hervor, 
dass sich die verschiedenen Cholerastämme auf ihm durchaus gleichmässig ver- 

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Besprechungen, Referate, Notizen. 


halten, dass die verschieden gefärbten Kolonien, selbst wenn sie sehr nahe bei 
einander liegen, ausserordentlich leicht zu unterscheiden sind, dass künstliche 
Beleuchtung die Erkennbarkeit der Kolonien nicht stört, sondern sie eher noch 
erhöht, dass ferner die Transparenz der Cholcrakolonien nicht verloren geht und 
dass der sehr deutliche Farben unterschied die Erkennung der Cholera nicht nur 
bei typischen, sondern auch bei atypischen Kolonien erleichtert und sichert. 
Schliesslich würden die Kulturen durch gänzliche Ausschaltung einer Reihe von 
Bakterien und durch Verlangsamung des Wachstums bei anderen übersichtlicher 
gemacht. 

Gegen diese Vorzüge habe der empfohlene Nährboden aber denselben Mangel 
wie der einfache Bouillonagar, dass nämlich die anderen Vibrionen fast genau so 
aussehen wie die Clioleravibrionen. Ausschlaggebend für die Diagnose bleibe 
deshalb auch für deif neuen Nährboden die Agglutinationsprobe und der Pfeiffer¬ 
sche Immunitätsversuch. Sohle-Charlottenburg. 

Der beamtete Arzt und ärztliche Sachverständige. Mit besonderer Be¬ 
rücksichtigung der deutschen Reichs- und proussischen Landesgesetzgebung. 
Herausgegeben von Dr. O. Rapmund, Regierungs- und Geh. Med.-Rat in 
Minden i. W. Unter Mitarbeit von Dr. A. Cramer, o. ö. Prof, an der Uni¬ 
versität und Direktor der Provinzial-Heil- und Pflege-Anstalt in Göttingen, 
Dr. G. Puppe, a. o. Prof, an der Universität und Gerichtsarzt in Königsberg 
i. Pr. und Dr. P. Stolper, Privatdozent an der Universität und Kreisarzt in 
Göttingen. 2 Bände. Berlin. Fischer’s medizin. Buchhandlung. 1904. 

Die Verfasser haben ihre Aufgabe in vollkommener Weise gelöst, wenn sie 
sich vorgenommen hatten, ein Handbuch zu schaffen, welches den beamteten 
Acrzten eine Ucbersicht über das ganze Gebiet ihrer amtlichen Tätigkeit ver¬ 
schaffen, den praktischen Aerzten bei ihrer Sachverständigen-Tätigkeit ein Rat¬ 
geber und ein Lehrbuch zur Vorbereitung für die staatsärztlicho Prüfung sein soll. 

Aus dem reichhaltigen Inhalte des Werkes heben wir besonders die er¬ 
läuternden und kritischen Anmerkungen Rapmund’s zum Kapitel über die ärzt¬ 
liche Sachverständigen-Tätigkeit im allgemeinen hervor. Die praktischen Er¬ 
läuterungen zu der gerichtlichen Obduktion menschlicher Leichen sind in Form 
von Anmerkungen zu den einzelnen Paragraphen des Regulativs vom 13. Februar 
1873 gebracht. — Auf die Erörterungen über ärztliche u. s. w. Kunstfehler und 
die Berechtigung der Schadenersatz-Ansprüche sei besonders hingewiesen. 

Das Kapitel über die Feststellung der Todesart bietet in gedrängter Kürze 
ein Ganzes, jedoch sind auch kritische Erörterungen, wo sie dem Verfasser er¬ 
forderlich erschienen, nicht vermieden, z. B. über die Anhaltspunkte für die Dia¬ 
gnose des Todes durch Erstickung. 

Sowohl der reiche Inhalt des III. Teils, welcher von der psychiatrischen 
•Sachverständigen-Tätigkeit handelt, wie die für die Praxis wichtigen Ratschläge, 
welche Cramer aus seiner reichen Erfahrung gibt, werden dem Gerichtsarzte 
sehr willkommen sein, desgleichen die eingehende Behandlung und Erläuterung 
der Unfallversicherung durch Stolper. 

Der zweite Band behandelt die Organisation des öffentlichen Gesundheits¬ 
wesens und der Gesundheitsbehörden, Wohnungshygiene, Beseitigung der Abfall- 
stnffe, Kanalisation, Miillbeseitignng und Strassenhygiene. Der Supplemcnlband 


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Besprechungen, Referate, Notizen. 


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bringt amtliche Verfügungen, gerichtliche Entscheidungen und Formulare in Form 
eines Nachtrags zum 2. Buch. 

Besondere Anerkennung verdient es, dass das Buch überall die praktische 
Nutzanwendung für den amtierenden Kreisarzt in den Vordergrund gestellt hat 
und ihm deshalb in Wahrheit ein verwertbarer Ratgeber sein wird. Mit dem Er¬ 
scheinen des Supplementbandes ist dieses für alle Medizinalbeamten so wertvolle 
Buch zu einem vorläufigen Abschluss gebracht, insofern als nach der Absicht des 
Herausgebers die bisher noch nicht berücksichtigten Abschnitte des öffentlichen 
Gesundheitswesens in weiteren besonderen Supplemcntsheftcn bearbeitet werden 
sollen. 

Wir können dem Herausgeber zu dieser Absicht nur beglückwünschen und 
es wird die Durchführung derselben den Wert des Buches nur noch mehr steigern. 

S c h u 1 tz - S ch u 1 tz e n s t e i n. 


Fritz Schaudinn. Untersuchungen über die Fortpflanzung einiger 
Rhizopoden. (Vorläufige Mitteilung.) Arbeiten aus dem Kaiserlichen Gesund¬ 
heitsamte (Beihefte zu den Veröffentlichungen des Kaiserlichen Gesundheits¬ 
amtes). 1003. Bd. 19, Heft 3. S. 547—576. 

In dieser sehr sorgfältigen und inhaltreichen Arbeit beschäftigt sich der 
Verfasser mit dem Erreger der ulcerösen Amöben-Enteritis des Menschen, der 
Amöbenruhr. Um über den komplizierten Entwickelungskreis der in Betracht 
kommenden Erreger genügende Klarheit zu gewinnen, schickt Verfasser zunächst 
Untersuchungen über die Entwickelungsgeschichte mehr oder weniger verwandter, 
nicht parasitärer Formen voraus; so wird die Entwickelung von Polystomella 
crispa, Centropyxis aculeata und Chlamydophrys stcrcorea beschrieben. Von letzt¬ 
genannter Form z. B. verschluckte Verf. Dauerstadien und beobachtete die Ent¬ 
wickelung der daraus im Darm hervorgehenden vegetativen Zustände. 

Nach diesen einleitenden Studien schildert Sch. die auf das Thema speziell 
bezüglichen Darmamöben. Ueber den gleichen Gegenstand liegt bereits eine sehr 
sorgfältige Arbeit von .Jürgens vor, deren Ergebnisse von Schaudinn bestätigt 
werden. 

Die bisher oft genannte Araoeba coli ist nach diesen Untersuchungen keine 
einheitliche Art, sondern ist in zwei zu zertrennen, welche Schaudinn als Ent¬ 
amoeba coli und Entamoeba histolytica (wegen ihrer gewebszerstörenden 
Fähigkeit) bezeichnet. Die erstgenannte ist harmlos und bereits von Casagrandi 
und Barbagallo gut studiert worden, die letztgenannte dagegen parasitär. Beide 
unterscheiden sich schon in den jüngeren vegetativen Stadien: „Bei Entamoeba 
coli ist das hyaline Pseudopodioplasma gegen das übrige Plasma nicht abgesetzt 
und wesentlich schwächer lichtbrecjiend, bei der Dysenterie-Amöbe ist stets ein 
deutlich entwickeltes Ektoplasma als besondere Plasmazone vorhanden und besitzt 
ein stärkeres Lichtbrechungsvermögen als das Entoplasma“. 

Beide Arten besitzen Dauerstadien, die aber bei Entamoeba histolytica von 
besonders auffallender Kleinheit sind. Dieselben treten erst dann auf, wenn die 
vegetativen Teilungen nachlassen. Fülterungsversuche an Katzen lehrten, dass 
diese Cysten imstande sind, die Krankheit auf gesunde Körper zu übertragen. 
Das Material zu diesen Versuchen stammte aus mehreren Ländern. 

Da die Arbeit nur eine vorläufige ist, sind ihr Figuren nicht beigegeben. 

K o I k witz- Berlin. 


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432 


Besprechungen, Referate, Notizen. 


Staatsrat Professor Dr. R. Kobert- Rostock, Beiträge zur Kenntnis der 
Saponinsubstanzen. Stuttgart 1904. Verlag von Ferdinand Enke. 

Nach kurzer Mitteilung im Vorwort über die Entstehung nachstehender 
Arbeit bespricht Kobert zunächst einleitend den jetzigen Standpunkt unserer 
Kenntnisse über die Saponinsubstanzen und zwar in physikalischer, chemischer 
und physiologischer Beziehung, ferner ihr Vorkommen sowie das Mengenverhältnis 
derselben. Daran anschliessend erlahren wir an der Hand vieler von ihm selbst 
angestellter Versuche über das Verhalten der Saponinsubstanzen zu Ammonium- 
sulfat und einigen Farbstoffen sowie über die Spaltbarkeit dieser Körper mittels 
der Enzyme. Des längeren erörtert er weiter die Frage bezüglich der Hämoglo¬ 
binurie bei Einführung von Saponinsubstanzen. Im speziellen "Feile seiner Arbeit 
liefert er uns dann neue Beitrüge zur Kenntnis der Eigenschaften und Wirkungen 
der beiden Saponinsubstanzen in der Ouillajarindc. Nach kurzen Angaben über 
einige neue chemische Beobachtungen bespricht er alsdann ziemlich eingehend 
die hämolytische Wirkung genannter Rinde, geht darauf zur Beantwortung der 
Frage in Bezug auf Abnahme der Empfindlichkeit des Organismus gegen diese 
beiden Saponine bei wiederholter Einspritzung, sowie in Bezug auf Wirkung der 
Ouillajagiftc auf das überlebende Herz auf Grund sorgfältig ausgefiihrtcr Versuche 
über. Des weiteren teilt er seine Untersuchungen und Erfahrungen über die Wir¬ 
kung der Quillajagifte auf Seetiere mit und zwar ad 1 bei Einsetzen dieser Tiere in 
Saponinlösungen, ad 2 bei Einspritzung in das Körperinnere und ad 3 bespricht 
er die von ihm beobachteten Veränderungen der roten sowie weissen Blutkörperchen 
genannter Tiere durch obige Gifte. Zum Schluss erwähnt er noch die Stellung 
der Obrigkeit zu den Saponinsubstanzen. 

Die Arbeit stützt sich auf eingehende Versuche, deren Resultate in den vielen 
heigefiigten Tabellen zusammengestellt sind. Kobert’s Schrift kann allen In¬ 
teressenten wann empfohlen werden. Dr. Klut. 


Notizen. 

Medizinalrat Dr. Räuber hat die Bestimmungen über den Verkehr mit Giften, 
Geheimmitteln und Arzneimitteln ausserhalb der Apotheken zusammengestellt. 
Verlag von L. Schwann in Düsseldorf. 1904. Preis 76 Pfg. 


ln der Generalversammlung des „Deutschen Vereins für Volkshygiene 44 am 
4. .Juni 1904 in Frankfurt a. M. sind bei den gehaltenen Vorträgen die nachstehen¬ 
den Thesen aufgestellt: 

Vortrag des Herrn Schuldirektor Dr. Beyer-Leipzig: „Wandern als Mittel 
der Jugcndbildung“. 

1. Das Wandern sollte in Zukunft bei der Erziehung unserer Jugend eine 
weit grössere Rolle spielen, nicht zum wenigsten mit Rücksicht auf seine Bedeutung 
für eine gesunde Entwickelung des Körpers. 

2. Die Wanderungen der Jugend hätten zunächst mit der Heimat zu be¬ 
ginnen und deren Bildungsmittel für das Kind möglichst auszunutzen. 

3. Es ist erwünscht, dass der Deutsche Verein für Volkshygiene zu solchen 
Wanderungen anregt, durch eigene Veranstaltungen mustergiltige Vorbilder schafft, 


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J 



Besprechungen, Referate, Notizen. 


433 


uml die fortdauernde Förderung aller damit in Verbindung stehenden Bestrebungen 
durch die Zentralstelle in geeigneter Weise ins Auge fasst. -- 

Vortrag des Herrn Dr. E. Fromm - Frankfurt a. M.: „Volksgesundhcit 
und Ferien für jeden Beruf 4 *. 

1. Zur Erhaltung der Gesundheit, Leistungsfähigkeit und Arbeilsfrcudigkeit 
ist es notwendig, dass in Städten den Angestellten in solchen Berufen, mit deren 
Ausübung ein langdauernder Aufenthalt in geschlossenen Räumen (Stuben, Werk¬ 
stätten) verbunden ist, abgesehen von der Sonntagsruhe die Möglichkeit einer 
alljährlich einmaligen Unterbrechung ihrer regelmässigen Tätigkeit durch einen 
Erholungsurlaub gewährt wird. 

2. Es ist zu erstreben, dass während des Urlaubes die Gehalts- und Lohn¬ 
bezüge fortdauern und dass die Bewerbung und Gewährung des Urlaubes mit 
keinerlei Nachteilen für die Erholungsbedürftigen verbunden ist. 

3. Es ist ferner wünschenswert, dass durch den Deutschen Verein für Volks¬ 
hygiene Einrichtungen getroffen und Vermittclungsslellcn geschaffen werden, um 
gute und billige Erholungsorte den Suchenden nachweisen zu können. 

Vortrag des Herrn Prof. Dr. Ostertag-Berlin: „Versorgung der Städte 
mit einwandfreier Säuglingsmilch 44 . 

1. Als „Säuglingsmilch“ darf nur Milch in den Verkehr gebracht werden, 
die nachfolgenden Anforderungen entspricht: 

a) Die Milch muss von Tieren stammen, die gesund sind, mit erlaubten Futter¬ 
mitteln ernährt und reinlich gehalten werden. 

b) Die Milch muss sauber gewonnen, nach dem Melken sofort in zweckent¬ 
sprechender Weise geseiht, abgekühlt und hierauf in reinen Gelassen kühl 
auf bewahrt werden. 

<■) Die Milch darf keine Erscheinungen einer Zersetzung zeigen. 

Die Art des Melkens der Kühe, des Seihens und Abkiihlens der Milch, 
sowie die Art der Reinigung der Milchgerätc ist genau vorzuschreiben. Des¬ 
gleichen sind die Futtermittel zu bezeichnen, <1 io an Säuglingsmilehkiihc 
nicht verabreicht werden dürfen. Um die Säuglingsmilch zu möglichst 
billigen Preisen beschaffen zu können, empfiehlt es sich, nur diejenigen 
Futtermittel von der Verwendung auszuschliessen, von denen nach wissen¬ 
schaftlichen und Krfahrungsgrundsätzen fcststeht, dass sie die Milch schäd¬ 
lich machen. 

2. Zur Versorgung der Städte mit einwandfreier Säuglingsmilch ist die 
polizeiliche Regelung des Verkehrs mit Säuglingsmilch anzustreben. 

Dort, wo die Gewinnung und Inverkehrgabe der Säuglingsmilch überhaupt 
nicht oder nicht in ausreichender Weise überwacht wird, sind seitens des Deut¬ 
schen Vereins für Volkshygiene Kommissionen zu bilden, die nach Verständigung 
mit einer ausreichenden Zahl zuverlässiger Milchproduzenten auf dem Vertrags¬ 
wege die Ueberwachung der Gewinnung und Inverkehrgabo der Säuglingsmilch 
herbeiführen. 

In einer Arbeit „Staubbindende Fussbodenöle und ihre Verwendung" 4 tritt 
Dr. Engels, Assistent am hygienischen Institut der Universität in Marburg, für 
die Verwendung von Original-Dustless-Oel ein. 


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Besprechungen, Referate, Notizen. 


Jn der Zeitschrift für Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten tritt Dr. Baer- 
mann (Breslau) für eine wöchentlich zweimalige mikroskopische Untersuchung des 
(,’ervikal- und Urethralsekrets der Prostituierten ein und fordert ambulatorische 
Behandlung der an chronischer Gonorrhoe leidenden Prostituierten. 


Von Dr. Kraft, Privatdozent in Strassburg i. E. und Dr. B. Wiesner, Arzt 
in AschatTenburg, wird seit 1. April 1904 eine Zeitschrift: „Physikalisch-Medi¬ 
zinische Monatshefte“ herausgegeben, welche im Verlage von Dr. Dunker, Berlin W., 
erscheint, dieselbe wird die Radiologie besonders berücksichtigen. 

Die Deutsche Gesellschaft für Volksbäder, Berlin, Karlstrasse 19, versendet 
zwei neue Hefte ihrer Veröffentlichungen, worin die Ergebnisse des Preisaus¬ 
schreibens für ein kurzgefasstes Plakat über Notwendigkeit des regelmässigen 
Badens zusammengestellt sind und die praktische Ausgestaltung des Volksbade- 
Wesens behandelt wird. 

Am 12. und 13. September tagte in Danzig die dritte Hauptversammlung des 
Deutschen Medizinalbeamtenvercins. Auf der Tagesordnung standen für den ersten 
Tag die gerichtsärztlichen Wünsche für die bevorstehende Neubearbeitung des 
Strafgesetzbuches und der Strafprozessordnung für das Deutsche Reich. Referenten 
waren Prof. Heimberger-Bonn, Prof. Aschaffenburg-Halle, Prof. Strass¬ 
mann und Gerichtsarzt Dr. Hoffmann-Berlin. Am zweiten Tage referierte 
Professor Sobernheim-Halle über die Prüfungen mit den neueron Methoden der 
bakteriologischen Typhusdiagnose und Medizinalrat Flinzer-Plauen über die 
Stellung, Kranken-, Alters- und Invaliditäts-Versicherung der Hebammen im 
Deutschen Reich. Der ausführliche Bericht über die Versammlung wird als Bei¬ 
lage zur Zeitschrift für Medizinalbeamte erscheinen. 


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IV. Amtliche Mitteilungen. 


Erlass des Herrn Ministers der geistlichen, Unterrichts* und Medizinal* 
Angelegenheiten (Studt) rom 2. Jnni 1904 an den Herrn Regierangs* 
Präsidenten in Breslau, betreffend das Verhältnis der Medizinalbeamten 
za den von den Aerztekammern eingesetzten Vertragsprüfungs* und Yer- 

tranenskommissionen. 

Hinsichtlich der Beteiligung der beamteten Aerzte an der von der Aerztc- 
kammer der Provinz Schlesien getroffenen Organisation der Vertragsprüfungs- und 
der Vertrauenskommission bemerke ich das Folgende: 

Ew. Hochwohlgeboren stimme ich darin bei, dass die Vertragsprüfungs¬ 
kommissionen keinerlei Hecht auf die dienstliche Inanspruchnahme 
der Medizinalbeamten haben. Dass ein solches Recht durch das Rund¬ 
schreiben vom 1. März hat in Anspruch genommen werden sollen, nehme ich zwar 
nicht an, bin aber damit einverstanden, dass diese Auffassung der Vertragsprüfungs¬ 
kommission gegenüber besonders zum Ausdruck gebracht wird. 

Ebenso ist eine Beteiligung der Medizinalbeamten an der von der Aerzte- 
kammer in Aussicht genommenen Organisation z. Zt. im allgemeinen unerwünscht, 
oine amtliche unter aller. Umständen unzulässig. Sofern dieselben bei der Bildung 
und an den Arbeiten der Kommissionen im einzelnen Falle sich beteiligen, haben 
sie keinen Zweifel darüber zu lassen, dass sie dies lediglich in ihrer 
Eigenschaft als Mitglieder des Aerztestandes, nicht aber als Beamte 
tun. Auch haben die Medizinalbeamten sich ausdrücklich das Recht vorzubehalten, 
jederzeit von dieser Tätigkeit und von allen darauf bezüglichen Verpflichtungen 
zurückzutreten, sobald ihnen selbst das dienstliche Interesse dies er¬ 
forderlich erscheinen lässt, oder sobald ihre Vorgesetzte Dienstbehörde es 
verlangt. Keinesfalls kann es gutgeheissen werden, dass Medizinalboamte die 
Organisation derartiger Kommissionen selbst in die Hand nehmen, wie das Rund¬ 
schreiben vom 1. März d. Js. ihnen zumutet, oder sonst eine führende Rolle in 
dieser Bewegung übernehmen, da sie dadurch Irrtümer über den privaten Cha¬ 
rakter derselben begünstigen, sich auch der immerhin vorliegenden Gefahr dienst¬ 
lich unerwünschter Konflikte aussetzen würden. 

Ew.Hochwohlgeboren ersuche ich ergebenst, die Ihnen unterstellten Medizinal¬ 
beamten hiernach mit Anweisung zu versehen. 


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Amtliche Mitteilungen. 


Bekanntmachung des Herrn Stellvertreters des Reichskanzlers (Graf von 
Posadowsky) vom 10. Juni 1904, betreffend die Beschäftigung von 
Arbeiterinnen in Meiereien (Molkereien) und Betrieben zur Sterilisierung 

von Milch. 

1 . 

ln Meiereien (Molkereien) und Betrieben zur Sterilisierung von Milch dürfen 
für die Beschäftigung von Arbeiterinnen über 16 Jahre die Bestimmungen im 
§ 137 Abs. 1 der Gewerbeordnung und unter Ziffer 5 Abs. 1 der Bekanntmachung 
vom 13. Juli 1900 (Reichsgesetzbl. S. 566) während der Zeit vom 1. April bis 
1. Oktober mit folgenden Massgaben ausser Anwendung bleiben: 

1. Die Arbeitsstunden müssen zwischen 4 Uhr morgens und 10 Uhr abends 
liegen. 

2. Denjenigen Arbeiterinnen, welche abends nach 8Y 2 Uhr beschäftigt werden, 
ist an Stelle der nach § 137 Abs. 3 der Gewerbeordnung und nach Ziffer 5 Abs. 3 
der Bekanntmachung vom 13. Juli 1900 (Reichsgesetzbl. S. 566) zu gewährenden 
Pause um Mittag eine mindestens dreistündige Pause zu gewähren. 

II. 

In Meiereien (Molkereien) und Betrieben zu Sterilisierung von Milch, welche 
von der unter I nachgelassenen Ausnahme Gebrauch machen, muss an einer in 
die Augen fallenden Stelle eine Tafel ausgehängt worden, welche in deutlicher 
Schrift die vorstehenden Bestimmungen wiedergibt. 

Die Vorschriften im § 138 Abs. 2 Satz 4 der Gewerbeordnung und unter 
Ziffer 6 Abs. 2 der Bekanntmachung vom 13. Juli 1900 (Reichsgesetzbl. S. 566) 
bleiben unberührt. 

III . 

Die vorstehenden Bestimmungen haben für zehn Jahre Giltigkeit. Sie treten 
am 15. Oktober 1904 in Kraft und an Stelle der durch die Bekanntmachung des 
Reichskanzlers vom 17. Juli 1895 (Reichsgesetzblatt S. 420) verkündeten Be¬ 
stimmungen. 


Durch den Erlass vom 1. Mai 1904 (Ministerial-Bl. für Med. und med. Unter.- 
Angel. vom 15. Juni 1904, S. 232 u. ff.) zur Ausführung der Gewerbeordnung für 
das deutsche Reich (Reichsgesetzbl. 1900, S. 871) ist von den zuständigen Herren 
Ministern eine neue Anweisung erlassen, die an die Stelle der zu den einzelnen 
Titeln oder Abänderungsgesetzen der Gewerbeordnung erlassenen Ausführungs¬ 
anweisungen tritt, und zugleich eine Zusammenfassung der wichtigeren zur Er¬ 
läuterung der Bestimmungen der Gewerbeordnung ergangenen Einzelerlasse dar¬ 
stellt. Die Bestimmungen beziehen sich auf die in Frage kommenden Behörden, 
ferner auch auf den Beginn des Gewerbebetriebes (§§ 14, 15, 35, Abs. 6), das 
Verfahren bei Errichtung oder Veränderung genehmigungsspdichtiger Anlagen 
16IT.), die Konzession, Approbation, Erlaubnis und das Befähigungszeugnis, 
die Schliessung gewerblicher Anlagen, Untersagung des Gewerbebetriebes u. s. w. 
(§§ 35, 53), sowie auf polizeiliche Verfügungen (§§ 120d, 147, Abs. 1, Ziffer 4), 
Polizeiverordnungen (§ 120e, Abs. 2) und auf Gehilfen, Lehrlinge und Arbeiter 
in offenen Verkaufsstellen (§ 139c u. tlg.). 


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Amtlicho Mitlheilungon. 


437 


Durch den Erlass des Herrn Justizministers vom 14. April 1904, betreffend 
Durchführung des Gesetzes über den Verkehr mit Wein vom 24. Mai 1901 an die 
Oberstaatsanwälte ist darauf hingewiesen, dass das Versagen der Rechtsprechung 
bei diesbezüglichen Strafsachen nicht in einer Unzulänglichkeit der einschlägigen 
Gesetzgebung, sondern darin zu suchen ist, dass die Vorschriften des Gesetzes 
vom 24. Mai 1901 nicht mit dem wünschenswerten Nachdruck gehandhabt werden. 

Die Grenzzahlen für den Gehalt der Weine haben für sich allein eine ausschlag¬ 
gebende Bedeutung nicht: es ist vielmehr in den einschlägigen Strafsachen dahin 
zu wirken, dass die ausgeführten chemischen Analysen vollständig sind und sioh 
nicht nur auf Ermittelung der Grenzzahlen beschränken, sowie dass auch das 
Urteil zuverlässiger Sachverständiger, die nioht Chetniker sind, geeignetenfalls 
herangezogen wird. 

Durch den Erlass vom 13. Juni 1904 wird eine Uebersicht über die zur amt¬ 
lichen Kenntnis gekommenen Bissverletzungen von Menschen durch tolle oder toll¬ 
wutverdächtige Tiere im Jahre 1903 mitgeteilt, aus welcher hervorgeht, dass solche 
Verletzungen (insgesamt 307) durch 194 Tiere, nämlich 183 Hunde, 6 Katzen, 

2 Kühe, 1 Pferd, 1 Schwein und 1 Schaf hervorgebracht wurden, und zwar in 
den Regierungsbezirken Oppeln 54, Gumbinnen 52, Breslau 38, Düsseldorf 28, 
Danzig und Marienwerder je 27, Liegnitz 22, Köslin 17, Bromberg 11, Münster 10, 
Königsberg und Köln je 6, Erfurt 5, Stettin 4. — 183 Hunde verletzten 290 Men¬ 
schen, 6 Katzen 12 Menschen, die 2 Kühe, das Schaf und das Pferd je einen 
Menschen. 

Von den 307 Verletzten suchten 281 = 91.5 behufs Vornahme der Schutz¬ 
impfung nach Pasteur das Institut für Infektionskrankheiten in Berlin auf. Diese 
Prozentzahl ist vom Jahre 1898 bis 1903 von 29 auf 91,5 gestiegen; es ist daraus 
zu ersehen, dass das Vertrauen zur Schutzimpfung eine weitere Zunahme gefunden 
hat. 9 Personen hatten überhaupt keine ärztliche Behandlung aufgesucht. Bei 
7 Personen brach die Tollwut aus und führte bei 6 derselben zum Tode; von 
diesen 7 Personen war die, welche die Tollwut überstand, und 4 andere, die star¬ 
ben, Schutzgeimpfte, eine war ärztlich behandelt, eine ohne ärztliche Behandlung 
geblieben. 

Durch Erlass vom 6. Juli 1904, betreffend frühzeitige Erkennung des Fleck¬ 
typhus wird auf den Erlass vom 21. Januar 1881 erneut hingewiesen und derselbe 
den Kreis-Medizinalbeamten in Erinnerung gebracht. Letzterer Erlass weist auf 
die Notwendigkeit hin, die grösste Aufmerksamkeit auf die frühzeitige Erkennung 
des Flecktyphus zu richten und die durch denselben drohende Ansteckungsgefahr 
in Schranken halten zu können. Als Symptome der Krankheit werden zur Siche¬ 
rung der Diagnose angegeben: Das schnell bis 40° C. und mehr ansteigende 
Fieber, grosse Muskelschwäche und starkes Benommensein des Bewusstseins, häu¬ 
figer, oft doppelschlägiger Puls und ein weit verbreiteter Fleckenausschlag, welcher 
gewöhnlich bald petechial wird; ferner das Fehlen örtlicher Krankheitsherde * 
ausser mässigem Katarrh der Luftwege und Milzschwellung. Im Beginn der 
Krankheit sind Verwechslungen mit Masern und event. mit Unterleibstyphus mög¬ 
lich, jedoch ist bei ersteren das Fieber niedriger, der Puls weniger frequent und 
die Hirnsymptome fehlen; Conjunctivitis und Nasen-, Kehlkopf- und Bronchial- 


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438 


Amtliche Mitteilungen. 


katarrh stehen im Vordergrund. Bei Unterleibstyphus entwickelt das Fieber sich 
langsamer, die Flecken sind spärlich und ohne Neigung zur Petechienbildung, es 
besteht blass gefärbter, dünner Stuhl, Auftreibung und Schmerzhaftigkeit des 
Unterleibes, der Krankheitsverlauf ist von längerer Dauer, der Fieberabfall zieht 
sich lange hin. 

Durch Erlass vom 14. Mai 1904 wird darauf hingewiesen, dass das Werk: 
„Das Gesundheitswesen des Preussischen Staates im Jahre 1902“ im Verlage von 
Schütz, Berlin NW., Luisenstrasse 36 erschienen ist und bei directem Bezug von 
der Verlagshandlung den Königlichen Behörden und den Medizinalbeamten zum 
Vorzugspreise von 10 M. geliefert wird, wenn sich dieselben auf oben genannten 
Erlass beziehen. Die Beschaffung des Werkes wird besonders den Medizinal¬ 
beamten empfohlen. 


Druck Tun L. Schumacher in Berlin S. 24. 


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