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UNIVERSfTY OF IOWA
Yiertelj ahrsschrift
für
gerichtliche Medizin
und
öffentliches Sanitätswesen.
Unter Mitwirkung der Königl. wissenschaftlichen Deputation
für das Medizinalwesen im Ministerium der geistlichen,
Unterrichts- und MedizinaL-Angelegenheiten
heraasgegeben
Prof. A. Schmidtmann, und Prof. F. Strassmann,
Geh. Ober-Med.-Rat in Berlin. Geh. Med.-Rat in Berlin.
Dritte Folge. XXXII. Band.
Jahrgang 1906.
Mit 9 Tafeln.
BERLIN, 1906.
VERLAG VON AUGUST HIRSCHWALD.
NW. UNTER DEN LINDEN 68.
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Inhalt.
Seito
Gerichtliche Medizin . 1—122. 219—335
Zur Kasuistik der forensischen pathologischen Bewusstseinsstörungen.
Von Oberarzt Dr. Mönkemöller in Hildesheim. 1
Sind die Degenerationszeichen wirklich wertlos? Von Medizinalrat
Dr. P. Näcke in Hubertusburg.45
Gutachten über den Zusammenhang zwischen Gasvergiftung und Geistes¬
krankheit. Erstattet von Wilhelm Peterssen-Borstel in Plagwitz
a. Bober.57
Aus der pathologisch-anatom. Anstalt des Krankenhauses im Friedrichs¬
hain-Berlin (Prosektor: Prof. v. Hansemann): Ueber die Einwirkung
konzentrierter Aetzgifte auf die Magenwand. Von Dr. Walbaum in
Steglitz.63
Aus dem Pharmakologischen Institute zu Halle a. S.: Zum Nachweis
von Chloraten im Harn. Von Dr.Herm. Hildebrandt, Privatdozenten
für Pharmakologie und gerichtliche Medizin.80
Aus der Unterrichtsanstalt für Staatsarzneikunde zu Berlin (Direktor:
Geheimrat Prof. Dr. Strassmann): Zur Permeabilität der Leichenhaut
für Gifte. 1. Sublimat. Von Dr. P. Fraenckel, Assistenten der Anstalt 90
Aus dem gerichtlich-medizinischen Institute der K. K. Jag. Univ. in
Krakau: Experimentelle Beiträge zur Lohre vom Ertrinkungstod. Von
Prof. Dr. L. Wachholz . 96
Kürzere Mitteilungen, Besprechungen, Referate, Notizen.116
Aus dem Institut für gerichtliche Medizin der Kgl. Universität zu Rom
(Direktor: Prof. S. Ottolenghi): Histologische Studien und bakterio¬
logische Versuche über Adipocire. Von Dr. Attilio Ascarelli. (Hierzu
Tafel I—IX.).219
Aus der Unterrichtsanstalt für Staatsarzneikunde zu Berlin (Direktor:
Geh. Rat F. Strassmann): Ueber die Entstehungsweise des epiduralen
Blutextravasates in verbrannten Leichen. Von Dr. St. von Horosz-
kiewicz, Landgerichtsarzt und Privatdozent in Krakau, und Dr. Otto
Leers, Vol.-Assistent der Unterrichtsanstalt.265
Ueber einen Fall von epiduralem Bluterguss in einer verbrannten
Leiche. Von Dr. H. Martini, Gerichtsarzt in Breslau.273
Aus dem Institut Pasteur in Brüssel (Direktor Dr. J. Bordet): Ueber
die praktische Bedeutung der Alexinfixation (Komplementablenkung)
für die forensische Blutdifferenzierung. Von Dr. Ernst Ehrnrooth,
Professor der gerichtlichen Medizin in Helsingfors (Finnland) . . . 276
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IV
Inhalt.
Seite
13. Aas der Königlich sächsischen Heil- and Pflegeanstalt Zschadrass:
Kasuistischer Beitrag zur Frage über die strafrechtliche Zurechnungs¬
fähigkeit der Hysterischen. Von Oberarzt Dr. Hösel.284
14. Die Aufgaben einer Psychologie der Untersuchungshaft. Von Dr. Hugo
Marx, Assistenten der Unterricbtsanstalt für Staatsarzneikunde und
II. Arzt des Untersuchungsgefängnisses Moabit zu Berlin .... 309
15. Besprechungen, Referate, Notizen.333
II. Oeffentliches Sanitätswesen . 123—199. 336—443
1. Phosphor Wasserstoffvergiftung duroh elektrolytisch gewonnenes Ferro-
silicium. Von Dr. Bahr, Köuigl. Kreisarzt des Stadtkreises Duisburg
und des Kreises Ruhrort und Dr. Lehnkering, Vorsteher des
städtischen chemischen Laboratoriums in Duisburg.123
2. Ueber die Aenderung der Arzneibuch-Vorschrift für Digitalisblätter.
Von Dr. Focke in Düsseldorf.130
3. Ueber die zum Schutze der Arbeiter in Gummi-, Phosphor-, Streich¬
holz-und Spiegelfabriken zu treffenden Einrichtungen und Vorkehrungen.
Mit 3 Textfig. Von Dr. Franke, Arzt in Alberschweiler (Schluss) 143
4. Das Giessfieber und seine Bekämpfung mit besonderer Berücksichtigumg
der Verhältnisse in Württemberg. Von Dr. Julius Sigel in Stuttgart. 174
5. Besprechungen, Referate, Notizen.188
6. Aus der Königlichen Versuchs- und Prüfungsanstalt für Wasserversor¬
gung und Abwässerbeseitigung (Leiter: Geh. Ober-Med.-Rat Prof. Dr.
Sohmidtmann): Ueber den Wert der Sandfiltration und neuerer Ver¬
fahren der Schnellfiltration zur Reinigung von Flusswasser bzw. Ober-
tlächenwasser für die Zwecke der Wasserversorgung. Von Dr. med.
R. Hilgermann, wissenschaftlichem Hilfsarbeiter der Anstalt . . 336
7. Das Giessfieber und seine Bekämpfung mit besonderer Berücksichtigung
der Verhältnisse in Württemberg. Von Dr. Julius Sigel in Stutt¬
gart (Schluss).384
8. Untersuchungen über die Verunreinigung der Leine durch die Abwässer
der Stadt Göttingen und ihre Selbstreinigung, ausgeführt im Sommer
1904. Von Dr. Th. Fricke, Göttingen.413
9. Besprechungen, Referate, Notizen.431
III. Amtliche Mitteilungen . 200—218. 444—448
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I. Gerichtliche Medizin.
1 .
Zur Kasuistik der forensischen pathologischen Be¬
wusstseinsstörungen.
Von
Oberarzt Dr. Mönkemöller in Hildesheim.
Trotz der intensiven und langdauernden Beschäftigung der foren¬
sischen Psychiatrie mit den Geistesstörungen der Epileptiker trennt
uns von dem alten von Humanität und Zweckmässigkeit mit gleichem
Nachdruck diktierten Gebote, dass jeder eines Verbrechens beschuldigte
Epileptiker auf seinen Geisteszustand gerichtsärztlich untersucht werden
soll, noch eine weite Kluft. In dieser langen Zeit des liebevollsten
Eingehens auf die Eigenart der Epilepsie ist die forensische Psychiatrie
leider noch nicht zur völligen Einigung über manche der wichtigsten Punkte
dieses bedeutungsvollen Kapitels durchgedrungen. Zwar dass bei den
Dämmerzuständen nicht die völlige Aufhebung des Bewusstseins das
Pathognomonische ist und dass demgemäss nicht die totale oder partielle
Amnesie in erster Linie den absoluten Prüfstein für ihre Echtheit
abgeben darf, sondern dass das traumhaft veränderte Bewusst¬
sein das Charakteristische für diese Zustände ist, dem hat man sich
jetzt ja im allgemeinen angeschlossen, vor allem seit dem bekannten
Vortrage Siemerlings 1 ). Und doch scheut man gelegentlich noch
immer davor zurück, den epileptischen Charakter mancher derartiger
Zustände anzuerkennen, wenn die Erinnerung gut erhalten ist. Als
Schultze 2 ) über seine interessanten Fälle von autoraatisme ambulatoire
1) Siemerling, Ueber die transitorischen Bewusstseinsstörungen der Epi¬
leptiker in forensischer Beziehung. Berl. klin. Wochenschr. 1895. No. 42. S. 908.
2) Schultze, Beitrag zur Lehre von den pathologischen Bewusstseins¬
störungen. Allg. Zeitschr. f. Psych. 1898. Bd. 55. S. 748.
Vierteljahrsschrift f. ger. Med. u. öff. 8an.-Wesen. 3. Folge. XXXII. 1. i
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Dr. Mönkemöller,
berichtete, hielt man ihm entgegen 1 ), dass das Fehlen erheblicher Be¬
wusstseinsstörungen und das Vorhandensein einer so guten Rück-
erinnerung nicht sehr zugunsten der Diagnose Epilepsie sprächen.
Besonders Fürstner 2 ) betonte, dass für den epileptischen Wander¬
trieb das Charakteristische die Amnesie sei. Bei einer ähnlichen Ge¬
legenheit 3 ) hielt Gottlob daran fest, dass die Erinnerung an die Vor¬
kommnisse während der Dämmerzustände vollkommen erlösche.
Ebenso wenig herrscht bis jetzt darüber Uebereinstimmung, ob es
zum Nachweise des epileptischen Charakters einer zweifelhaften Be¬
wusstseinsumnebelung genügt, wenn sich in dem Vorleben die Perio¬
dizität mancher krankhafter Erscheinungen feststellen lässt. Einer
nicht geringeren Uneinigkeit erfreut sich die Abgrenzung so vieles dessen,
was man als epileptische Antezedentien bezeichnen soll.
Was Wunder, wenn in foro bei derartigen Differenzen über so
wichtige Kriterien noch immer in zweifelhaften Fällen die Begutachtung
zu verschiedenen Resultaten gelangen kann. Das Fehlen dieser Ueber¬
einstimmung in wissenschaftlicher Beziehung ist ja bei dem diffizilen
Charakter des Gegenstandes verständlich, aber um so bedauerlicher,
als die praktischen Schwierigkeiten in der forensischen Begutachtung
schon mehr als genügen, um den Gerichtsarzt in Verlegenheit zu bringen.
Man braucht nur an die enorme Vielgestaltigkeit der Psychose
zu denken, an die meist vorhandene Unmöglichkeit, den objektiven
Befund einwandsfrei festzustellen, an den Mangel an ausreichender
Beobachtung im entscheidenden Augenblicke, an das meist nach aussen
hin wenig auffallende Verhalten der Kranken, an das schnelle Vorbei¬
gleiten dieser Zustände. Wohl von keiner andern psychischen Krankheit
gilt wie von ihr die alte Regel, dass kein Fall genau so ist wie der
andere und das es bei der Begutachtung immer der ausgiebigsten Indi¬
vidualisierung bedarf. Wie bei keiner andern muss man in foro
darauf gefasst sein, dass durch plötzliche Zwischenfälle und durch
neue Zeugenaussagen dem Falle eine ganz andere Beleuchtung zuteil
wird, wie in der Voruntersuchung. Dabei braucht man noch garnicht
daran zu denken, dass auch die bewusste Simulation wohl in keiner
1) Schultze, Ueber epileptische Aequivalente. Allg. Zeitschr. f. Psych.
1900. Bd. 57. S. 145.
2) Diskussion über den Vortrag von Schultze, Allg. Zeitschr. f. Psych.
1898. Bd. 55. S. 806.
3) Diskussion über die Vorträge von Schultze und Thomsen. Allg.
Zeitschr. f. Psych. 1900. Bd. 57. S. 147.
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Zur Kasuistik der forensischen pathologischen Bewusstseinsstörungen.
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anderen Psychose derart berücksichtigt werden muss, wie bei diesen
pathologischen Bewusstseinsstörungen, dass man einerseits objektiv
sehr häufig nur sehr schwer die Grenzen der simulatorischen Betätigung
ziehen kann, dass man aber andererseits sich auch gerade hierbei davor
hüten soll, in übertriebener Weise Simulation zu wittern, wenn man
nicht den Angeschuldigten bitteres Unrecht tun soll.
Ob diese Bewusstseinsstörungen gegen früher zugenommen haben,
wird sich wohl schwer feststellen lassen, dass ihnen in foro ein viel
weiteres Feld eingeräumt wird, wie früher, ist sicher. Dafür hat nicht nur
die bessere psychiatrische Ausbildung der Gerichtsärzte gesorgt, auch
in die richterlichen Kreise ist die Kenntnis dieser Zustände weiter ein¬
gedrungen. Dass der Verteidigung diese wirksame Waffe, deren Führung
keiner besonderen Kunst zu bedürfen scheint, nicht entgangen ist
und dass manche Angeklagten, vor allem dann, wenn sie schon früher
einmal einen reellen derartigen Zustand durchgemacht haben, sie ge¬
legentlich gerne als Rettungsanker benutzen Werden, liegt ja in der
Natur der Sache.
Unter den Neuaufnahmen der Heil- und Pflegeanstalt zu Osnabrück
befanden sich in den letzten fünf Jahren 57 Kranke (36 Männer und
21 Frauen), bei denen eine transitorische krankhafte Veränderung des
Bewusstsein nach der Natur der Krankheit erwartet werden konnte.
(Epileptiker, Hysterische, Alkoholisten, Traumatiker). ln der Regel
konkurrieren ja bei vielen dieser Kranken mehrere ätiologische Faktoren.
Bei diesen 57 Kranken liessen sich im ganzen 32 mal pathologische
Bewusstseinsstörungen nachweisen (prae- und postepileptische Ver¬
wirrtheitszustände, Aequivalente, epileptoide Zustände, larvierte Epi¬
lepsie, Wanderzustände, hysterische Dämmer- und Verwirrtheitszustände,
pathologische Rauschzustände). Da nach Wildermuth 1 ) das spezifisch
epileptische Irresein mit Bewusstseinsveränderung ira Verhältnis zur
Epilepsie nicht sehr häufig ist, erschienen diese Zahlen unverhältnis¬
mässig hoch. Erklären lässt sich diese Tatsache zunächst dadurch,
dass die Epilepsie, — denn sie stellt ohne Frage das Hauptkontingent
zu diesen pathologischen Bewusstseinsstörungen — wofern sie über¬
haupt zur Anstaltsbehandlung gelängt, meist in den pastoralen Epi¬
leptikeranstalten strandet. Hier findet man sich zunächst auch mit
einer schweren epileptischen Degeneration ab und selbst die schwerste
1) Wildermuth, Die epileptische Geistesstörung in bezug auf die Straf-
rechtspfloge. Allg. Zeitschr. f. Psych. 1896. Bd. 52. S. 1095
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Dr. Mönkemöller,
Demenz und eine hochgradig gesteigerte Reizbarkeit vermögen meist
nicht, den Kranken aus dem Banne der Fastoralmedizin zu lösen, wenn
nicht die akuten Entladungen der Epilepsie die Umgebung des gefähr¬
lichen Kranken nötigen, ihn schweren Herzens der zünftigen Psychiatric
zu überlassen. Auch der chronische Alkoholismus ohne akute Exazer¬
bation hat sich in unserer Gegend noch nicht die Rittersporen einer
echten psychischen Erkrankung erkämpft, um in der Anstaltsstatistik
die Zahlen für die auf alkoholistischer Basis erwachsenden Bewusstseins¬
störungen im richtigen Verhältnisse erscheinen zu lassen. Andererseits
laufen gerade die pathologischen Rauschzustände — nicht nur im Auf¬
nahmebezirke der Osnabrücker Anstalt — in der Regel zweifellos ab,
ohne vom Irrenarzte beobachtet und erkannt zu werden. Fast aus¬
nahmslos imponieren sie nur als schwere Betrunkenheit und über eine
solche ist Jedermann Sachverständiger, und das Gros der Juristen räumt
in letzter Linie dem Psychiater ein besseres Urteil über diese Sache
ein, ganz abgesehen davon, dass für die Verantwortlichkeit, die einem
schwer Betrunkenen zugemessen wird, die Grenzen meist recht weit
gezogen werden.
Auffälliger ist ja schon der geringe Prozentsatz, mit dem die
weiblichen Kranken an diesen Zuständen sich beteiligen; es fallen hier¬
her nur 6. Es entspricht das übrigens u. a. den Zahlen Aschaffen-
burgs 1 ), der seine periodischen Stimmungsanomalien unter Kranken
bei 44 Männern und nur bei 6 Frauen fand. In gewisser Beziehung
mag ja die Tatsache daran schuld sein, dass die ätiologischen Faktoren,
die das Gewicht der bestehenden epileptischen Disposition nebenher
noch verstärken und die Auslösung derartiger Zustände befördern, also
vor allem Alkoholismus, Kopftrauma und geistige Ueberanstrengung,
bei dem weiblichen Geschlechte viel weniger in Betracht kommen und
dass dem weiblichen Gehirne bei der ganzen Lebensführung und Be¬
schäftigung weniger zugemutet wird, was es aus -dem Gleichgewichte
bringen könnte.
In diesen 27 Bewusstseinsstörungen ist es 21 mal zu einem Konflikte
mit den Strafgesetzen gekommen oder es musste bei Zusammenstössen
mit den bestehenden Gesetzen eine' solche Bewusstseinsstörung in den
Kreis der Betrachtungen gezogen werden. Von den 6 weiblichen
Kranken ist das keiner einzigen passiert, wie überhaupt in der Statistik
1) Aschaffenburg, Ueber gewisse Formen der Epilepsie. Wander¬
versammlung der südwestdeutschen Neurologen und Irrenärzte. Arch. f. Psych.
1895. XXVII. S. 955.
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Zur Kasuistik der forensisohen pathologischen Bewusstseinsstörungen. 5
der forensischen Dämmerzustände die männlichen Delinquenten un-
verhältnissmässig im Vordertreffen stehen. Es ist dies ja auch bei
der Stellung, die das Weib einnimmt, kaum anders zu erwarten. Meist
bleibt die Frau zuhause, erst recht natürlich, wenn sie an Krämpfen
leidet, und geht so der Gefahr, mit der Aussenwelt zu kollidieren,
aus dem Wege. Das Familiengefühl deckt Insulte gegen Familien¬
angehörige, die ja noch hier am ehesten in Betracht kommen, mit
dem Mantel der Liebe zu, und verantwortliche Posten, in denen die
Frau im umflorten Bewusstsein gegen die Pflichten des Amtes ver-
stossen kann, nimmt sie so gut wie gar nicht ein. Dazu hat sich der
agent provocateur in solchen Zuständen, der Alkohol, bei ihnen noch
nicht eine Stellung erobert, wie bei den Männern.
Am instruktivsten bleiben hierbei die Fälle, in denen in diesen
Zuständen merkwürdige Handlungen begangen werden, ohne dass eine
direkte Gesetzesübertretung vorliegt, und bei denen nachher die Er¬
innerung vollkommen erloschen ist. Sie dienen uns als warnendes
Menetekel, wenn man in zweifelhaften forensischen Fällen von einem
allzugrossen Skeptizismus gequält wird. Gerade bei diesen Dämmer¬
zuständen ist es kein Wunder, wenn man manchmal unnötigerweise
von gelinden Zweifeln an der Echtheit derartiger Amnesien erfasst
wird. Verlangt ja auch Kirn 1 ) gerade hierfür eine strenge Kritik.
Nur solche Anfälle, welche einem der heute ganz bestimmt festgcstellten
klinischen Typen entsprechen und sich tatsächlich auf der Grundlage
der epileptischen Neurose entwickelt haben, sollen hierher gerechnet
werden.
Von ganz besonderer Wichtigkeit sind diese nichtforensischen Be¬
wusstseinsstörungen natürlich dann, wenn derartige Kranke in späteren
Dämmerzuständen mit dem Gesetze in Kollision geraten und die Be¬
gutachtung oder die richterlichen Gewalten in die Zurechnungsfähigkeit
des Täters Zweifel zu setzen geneigt sind. Sehr häufig sind sie es
allerdings gerade, die spätere Konflikte mit den Gesetzen nicht zu¬
stande kommen lassen, weil sie die Ueberführung der Kranken in eine
geregelte Ucberwachung nach sich ziehen.
Ein Kranker stand mittags, obgleich von seiner Umgebung absolut nichts
Auffälliges an ihm bemerkt wurde, mitten in der Unterhaltung vom Tische auf und
stürzte sich ohne das geringste Motiv in einen Teich. Totale Amnesie. Am Tage
darauf wiederholt sich derselbe Vorgang mit minutiöser Genauigkeit und mit dem-
1) Kirn, Die epileptischen Geisteszustände mit Bezug auf die Strafrechts¬
pflege. Allg. Zeitschr. f. Psych. 189G. Bd. 52. S. 1104.
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Dr. Mönkemöller,
selben Verluste der Erinnerung. Ein Alkobolist bestieg nach ganz minimalem Al-
kobolgenusse den Rathausturm und versuchte, sich herunterzustürzen. Wiederum
kein Motiv, wiederum nach einigen Stunden vollständiger Verlust der Erinnerung
für den Vorgang.
Bei derartigen Kranken kann man sich natürlich auch am ersten
über die Intensität der Bewusstseinsstörung und die Stärke der vor¬
handenen Erinnerungen ein Urteil bilden, ohne eine Trübung des Er¬
gebnisses durch die Furcht des Kranken vor einer richterlichen Ahndung
befürchten zu müssen.
Sehr bemerkenswert in dieser Hinsicht ist der Bericht eines Epi¬
leptikers, der über alle seine Erlebnisse ein Tagebuch führte.
E., 34 Jahre alt, ohne Beruf. Mutter Hysterika, Schwester dito, ein Bruder
Idiot, zwei andere Brüder sehr begabt aber nervös und leicht aus der Contenance
zu bringen. Seit dem 7. Lebensjahre schwere (meist nächtliche) Anfälle mit Ein¬
nässen, Kotentleerung, Zungenbiss, Kopfschmerzen, Schwindelanfällen. Sehr früh
eintretende Verringerung der Intelligenz, Pat. kommt in der Schule nicht weit,
bringt es trotz aller Anläufe zu keinem Berufe, bleibt in der Familie, ist voll¬
kommen unselbstständig. Reizbar, starker Hang zur Frömmelei. Im Anschlüsse an
die Anfälle stundenlang verwirrt und enorm gehemmt, hat mehrere Male Sinnes¬
täuschungen. Ohne Anlehnung an einen Anfall ist er mehrere Male stundenlang
fortgedämmert, wusste nie, weshalb er fortgewollt hatte. Summarische Erinnerung,
sprach immer mit grossem Widerwillen von diesen Zuständen.
Im Sommer 1904 in Ei. in Pension untergebracht, hatte strenge Weisung,
sich nicht ohne Begleitung von Ei. zu entfernen, fügte sich diesen An¬
ordnungen für gewöhnlich willig. B., von dem später die Rede ist, liegt mehrere
Kilometer von Ei. entfernt. E. hatte die Absicht demnächst dorthin zu
fahren, weil ein Verwandter von ihm dort wohnte, wollte jedoch diese
Fahrt in Begleitung machen:
„Es war ein herrlicher Morgen, dass ich noch so früh erwacht war, einige
Stücke vom Morgenkonzert zu hören. Ich eilte in den Kurpark, wo ich bei einer
Tasse Kaffee bis zum Schluss des Konzerts sass. Nun gedachte ich einen
kleinen Spaziergang zu machen und ging den Weg am kleinen Logierhaus
hinauf. Da verschiedene Kurgäste ebenfalls dahergingen, beschloss ich zu
folgen, denn ich wusste nicht, wohin der Weg führe. Es war die
göttliche Führung. Nach merkwürdig kurzer Zeit bin ich in B. angelangt.
Da fiel mir ein, dass ich dort einen Verwandten habe und frage mehrere Leute
auf der Strasse. Da ich keine Auskunft erhalte, gehe ich in ein kleines Gasthaus,
wo ioh ein Adressbuch zu finden hoffe. Ich geniesse noch eine Tasse Kaffee, er¬
halte aber kein Adressbuch. Ich bat nun die Kellner mir zu sagen, wo hier eine
christliche Herberge sei. Sie schicken mich in eine andere Strasse; auf dem Markt¬
platz steht ein Polizist, der mir die Strasse recht zeigt und auch die Hausnummer
nennt. Ich komme hin. Das Haus sieht mir gamicht recht christlioh aus und es
steht auch nichts davon daran. Ich komme hinein in eine Gaststube, wo etwa
4 Menschen sassen. Einer ein Invalide mit einer ganzen Reihe Ehrenzeiohen. Er
war gerade daran einem anderen stilleren Mann einen Brief an den Fürst zu
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Zar Kasuistik der forensischen pathologischen Bewusstseinsstörungen. 7
diktieren. Er prahlte vom alten Kaiser Wilhelm und musste schon zu viel ge¬
trunken haben. Ein anderer, welcher bessere Reden führte, bot sich mir an mich
zu führen. Auf dem Wege predigt er mir noch von vielen Bibelstellen und fragt
auf der Strasse nach Pastoren. Er sagt mir noch, wie gern er in einen christlichen
Verein, womöglich Temperenzler, treten möchte und bittet mich, ihm bei dem
Pastor mit Fürsprache zu helfen. Wir kommen nun zu einem Pastor (Hofprediger)
und ich bitte dort erst für meinen Begleiter. Derselbe selbst bittet aber den Pastor
um 50 Pf., worüber ich schon fast sprachlos werde, da der Pastor ihm dieselben
auch ohne weiteres gibt. Dann fragt er mich nach meinem Verlangen und ich
bitte um Auskunft der Verwandten, kann aber vor Erstaunen nicht reden,
so wird der Pastor ungeduldig, er behauptet ich sei ein völlig Betrunkener
und er wirft mich zur Türe hinaus. Noch fast in Tränen schwimmend fragte
ich, ob er so hart sein könnte. Auf der Strasse erwartet mich mein Begleiter und
ichhabenunkeineLustmehr, ihmzu folgen. Wir kehren zur Herberge
zurück, wo der Invalide und andere, alle bis auf einen betrunken noch sitzen.
Sie führen Gotteslästerungen im Mund, wobei ich mich nicht fürchte, ihnen
die Reden zu verbieten und siehe, sie sind ruhig. Jetzt bietet sich mir der
nicht Betrunkene, der stets ruhig war, an, mich zum Telephon und zur Post zu
begleiten, damit wir meinen Bruder in Binz über Hannover um Auskunft bitten.
Erstaunt über solche Hülfe gehe ich mit. Wir finden, trotzdem es Mittag ist, die
Post offen und telephonieren nach Hannover, wo wir Auskunft erhalten,
dass Bruder und Mutter in Binz sind. Wir telegraphieren nun nach Binz und
bitten um dringende Antwort, um Adresse der Verwandten; in einer Stunde sollen
wir die Antwort holen. Alles auf der Post ist merkwürdig billig. Wir zwei kehren
nun zur Herberge zurück, wo die Betrunkenen noch sitzen. Mein früherer Be¬
gleiter will mir, ohne zu fragen, ein Mittagessen geben, wofür ich aber natürlich
völlig danke. — Nach einiger Zeit tritt ein Polizist, der, den ich am Morgen nach
diesem Lokal gefragt hatte, in die Stube; er hat einiges mit den Betrunkenen,
welche er zu kennen scheint. Dann bittet er mich, mitzugehen. Ich bitte ihn,
noch auf die Post nach dem Telegramm fragen zu dürfen und er gestattes es.
Er will mioh aber erst zu einem anderen Gasthaus führen, wo mich ein Herr
sprechen will. In einem feinen Hotel, bisher batte ich heute noch nichts gegessen
und der Polizist fragt mich um Essen; mir ist es recht, was gerade zum Tag da ist
und ich erhalte vorzügliches Essen. Obwohl ich glücklicherweise ruhig und nicht
ängstlich, sondern mich ruhig führen lasse, klar alles als Gottesfügung er¬
kenne, weiss ich nicht, ob ich das Essen bezahlt habe. Nach dem Essen
sind zwei Herren da, welche mich sprechen wollen, einer glaube ich, ein ver¬
wandter Assessor. Ich weiss nicht mehr, was man mich fragt, aber nach
Vollendung sagt der Polizeidiener, ich solle nun mit ihm gehen. Er führt mich
zur Polizei, wo ich auf eine Zelle gebracht werde. Stets Gott vertraut, rege
ich mioh nicht auf, sondern hoffe auf seine Erlösung. Ich fand ein Ge¬
sangbuch im Zimmer mit Liedern und Bibelstellen, welche mir Trost und Kraft
gaben. Auf der Strasse geht wohl gerade ein höheres Begräbniss vor¬
bei, denn ich höre Choräle spielen, was mir natürlich noch mehr
Trost gibt. Dann kommen Gefängniswärter herein, welche die Matratze mit
einer anderen vertauschen. Obwohl mir dies den Gedanken eingab, ich werde die
Nacht hier schlafen müssen oder gar Gedanken hatte, als sei mein Todes-
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Dr. Mönkemöller,
urteil gesprochen, bitte ich Gott im Gebet um Hülfe und erhalte wieder Trost.
Es kommt der eine Herr (der Assessor von heute Mittag, also der Verwandte)
herein und fragt so merkwürdig, ob ich noch Wünsche habe, etwa noch was
zu essen, ob ich lesen wolle. Ich sagte indes erstaunt, ich habe nichts zu be¬
fehlen, was er fast nicht anhören will. Als er fort ist, bringt man mir noch Bücher.
Bald kommt der Türschliesser und sagt Herr R. sei da um mich abzuholen und
Herr R. tritt herein und sagt, er habe einen Wagen mitgebracht. Jetzt erhalte ich
nach Liste alle Sachen wieder. Ich danke dem Polizeidiener, der es offenbar gut
gemeint und mich von den Besoffenen befreite, und fahre mit Herrn R., da ich frei¬
gelassen bin, nach Ei. zurück. — Wohl manchmal hat mir über solche Erlebnisse,
deren ich manche im Leben durchgomacht, das Herz brechen wollen, wenn ich
dann bloss dachte, welche Schande es wäre und wer es alle erfahren würde; doch
Gott gab mir stets seinen Trost.
Sehr bezeichnend in dieser Schilderung ist zunächst der eigenartig
mystische Ton, der durch das ganze Erlebnis geht. Er hat während
der Zeit das Gefühl, dass dieser Zustand und sein ganzes Handeln
sonderbar ist und erklärt ihn sich als Fügung Gottes. Dabei ahnt
er hinter ganz harmlosen Erlebnissen einen bedeutungsvollen Hinter¬
grund. Möglicherweise spielt wohl bei Epileptikern, die wie unser
Kranker zum Mystizismus neigen, diese Beeinflussung durch göttliche
Fügung, die gelegentlich noch durch Sinnestäuschungen verstärkt werden
mag, in ihren Wanderzuständen eine gewisse Rolle.
In unserem Falle muss wohl eher berücksichtigt werden, dass bei
ihm die Absicht, nach B. zu reisen, im normalen Gedankeninhalte
enthalten war und dass diese Absicht in den Dämmerzustand hinein¬
genommen wurde, wenn ihre Ausführung sich auch ganz anders ge¬
staltete, als sie in normalen Zeiten gedacht war. Es ist eine Handlung
im Sinne eines schon lange bestehenden Yorstellungskreises bei ver¬
änderter Bewusstseinslage, wie Moeli 1 ) sie bei Alkoholisten beschreibt.
Am Ende des Anfalls fühlt E. sich traurig und gekränkt, gerade
wie die Kranken Donaths 2 ).
In forensischer Beziehung ist diese Schilderung zunächst deshalb
von Bedeutung, weil sie die enonne Schädigung der Willensfreiheit sehr
anschaulich vor Augen stellt, die sich des Kranken in diesem Zustande
bemächtigt. Obwohl er noch so weit bei Bewusstsein ist, dass er eine
ganze Reihe von Erinnerungen bilden kann, obwohl er eine Menge von
1) Moeli, Ueber die vorübergehenden Zustände abnormen Bewusstseins in
Folge von Alkoholvergiftung und über deren forensische Bedeutung. Allg. Zeit¬
schrift f. Psych. 1900. Bd. 57. S. 169.
2) Donath, Der epileptische Wandertrieb (Poriomanie). Arch. f. Psych.
1899. Bd. 32. S. 355.
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Zar Kasuistik der forensischen pathologischen Bewusstseinsstörungen. 9
komplizierten Handlungen vornimmt, obwohl er die Aussenwelt ziemlich
richtig einschätzt, gerät er sklavisch unter fremde Einflüsse und wird
der Spielball seiner Umgebung, mag sie ihm auch noch so herzlich
zuwider sein. Obgleich er sich der Gesellschaft des Schnorrers,
der seinen Zustand ausnutzt und der wahrscheinlich noch ganz andere
Sachen mit ihm hätte aufstellen können, gerne entziehen möchte, ist
er nicht imstande, sich von ihm loszureissen. Andererseits findet er
zwischendurch wieder die Kraft, sobald sein religiöses Gemüt verletzt
wird, diesem Milieu ordentlich die Meinung zu sagen. Später wird er
wieder das willenlose Objekt des Willens seiner Umgebung, ohne jede
Spur von Willenskraft lässt er alles über sich ergehen, was man mit
ihm vornimmt. Die Trübung des Bewusstseins sowohl wie die auto¬
matische Art des Handeln entsprechen am besten den Zuständen des
natürlichen oder hypnotischen Somnambulismus. Dabei entgeht der
Umgebung nicht das Pathologische dieses Zustandes. Ob die minder¬
wertige Gesellschaft, in die er geraten war, es erkannt hatte, Hess
sich nicht feststellen, der Pastor hielt ihn für schwer betrunken und
benachrichtigte die Polizei; im Gefängnis (er würde nur in Schutzhaft
genommen) benachrichtigte man sogleich telegraphisch die Angehörigen,
dass er in eine gefährliche Geisteskrankheit verfallen sei. Es bestätigt
das die Erfahrung Siemerlings 1 ), dass, wenn es gelingt, Erkundi¬
gungen einzuziehen, sich meist recht markante Angaben über das
Sonderbare des Benehmens ergeben. Demgegenüber ist es ganz er¬
staunlich, in wie geringem Masse sein Gedächtnis für diesen Vorfall
gelitten hat. Liest man seinen literarischen Erguss durch, so hat man
das Gefühl, die lückenlose Schilderung der Vorgänge vor sich zu haben,
zumal er in der peinlichsten Genauigkeit auch eine Fülle von belang¬
losen Einzelheiten erwähnt. Trotzdem lässt sich bei ihm nachweisen,
dass sich in diese Kette von tadellosen Erinnerungen zweifellose am¬
nestische Defekte einschieben. So weiss er von der ganzen Tour von
Ei. nach B. trotz angestrengten Nachdenkens auch nicht die geringste
Einzelheit anzugeben. Und das ist gerade derjenige Teil des Erleb¬
nisses, indem die Poriomanie einsetzt und die z. B. beim Militär bei
einer Desertion die Zeit repräsentiert hätte, in die die strafbare
Handlung gefallen wäre. Weiterhin ist bei ihm die Erinnerung dafür
nicht nachzuweisen, dass ihm auf der Polizei alle seine Sachen ab¬
genommen worden sind. Schliesslich ist er im Gefängnisse von einem
1) Siemerling, 1. c. S. 911.
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Dr. Mönkemöller,
Arzte untersucht worden, hat bei der Untersuchung Engel im Zimmer
herumschweben gesehen und sich selbst für Christus ausgegeben. Auch
hier für absolute Amnesie. Wären in diesen Zeitraum kriminelle Hand¬
lungen hineingefallen, so würde man richterlicherseits der Echtheit dieses
Erinnerungsausfalles bei dem sonst so gut erhaltenen Gedächtnisse sicher¬
lich ganz erhebliche Bedenken entgegengesetzt haben und so bleibt
dieser Fall für die forensische Bedeutung der eingesprengten Erinne¬
rungsdefekte bei sonst fehlender Amnesie ein recht brauchbares Beispiel.
Später kam übrigens der Kranke einmal in den Verdacht, mit Kindern
unsittliche Handlungen begangen zu haben. Die Schilderung dieses
Vorganges führte ohne weiteres zur Einstellung des Verfahrens, zu dem
die schwere Demenz des Kranken nicht als ausreichend anerkannt wurde.
Ziemlich häufig, aber forensisch belanglos, sind die schon erwähnten
Familiendelikte, die gegen die Angehörigen und das persönliche Eigen¬
tum gerichtet sind, ohne das Einschreiten der Polizei und des Gerichts
nach sich zu ziehen. Hierher gehört vor allem das Zerreissen der
Kleider und das Zertrümmern der Möbel und anderer Wertgegenstände,
das Einschlagen von Fensterscheiben (7 mal). Manchmal werden die
gegen die nächste Umgebung gerichteten tätlichen Angriffe forensisch,
auch wenn diese selbst auf die Ahndung des Deliktes verzichtet.
Ein Kranker wickelte sich ohne ein Wort zu sagen einen Unterrock seiner
Mutter um den Kopf, um dann eine heftige Attake auf sie zu machen.
Auch wenn die weitere Umgebung unter der Betätigung der sinn¬
losen Triebe dieser Dämmerzustände zu leiden hat, ist oft die einzige
Reaktion nicht das Einschreiten des Staatsanwaltes, sondern die Ueber-
führung in die Irrenanstalt, weil eben das Sinnlose und Pathologische
des Tuns so klar auf der Hand liegt und die Täter meist als Epi¬
leptiker bekannt sind. Besonders bei den protrahierten, Wochen und
Monate dauernden Dämmerzuständen schliesst das Bestehen schwerer
und charakteristischer Krankheitserscheinungen jeden Zweifel an einer
schweren Psychose und der Zurechnungsfähigkeit des Täters auch für
den unkundigen Beobachter aus 1 ).
Ein solcher Kranker erregte dadurch öffentliches Aergemis, dass er wieder¬
holt im Hemde über die belebte Dorfstrasse herüberdämmerte; ein anderer drang
am hellerlichten Tage mehrere Male in fremde Häuser durch das Fenster ein; ein
dritter machte sich einer schweren Beamtenbeleidigung schuldig, indem er einen
Schutzmann auf belebter Promenade umarmte und küsste. In allen 3 Fällen totale
Amnesie.
1) Korn, 1. c.
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Zar Kasuistik der forensischen pathologischen Bewusstseinsstörungen. 11
Verfallen die Dämmerzustände der Rechtsprechung, so wird die
Beurteilung sehr häufig dadurch erleichtert, dass die Erkrankung eine
derartige Verschlechterung des allgemeinen psychischen Zustandes im
Gefolge gehabt hat, dass schon dadurch die Zurechnungsfähigkeit des
Individuums ausgeschlossen ist oder zum mindesten doch zweifelhaft
wird. Dass man in solchen Fällen sich über die Intensität der Auf¬
hebung des Bewusstseins nicht so viel Kopfschmerzen zu machen
braucht und dass es nichts verschlägt, wenn einmal derartig Kranke
die Tiefe dieser Bewusstseinsstörungen intensiver gestalten, als es der
Wirklichkeit entspricht, ergibt sich von selbst. In solchen Fällen ist
es für die praktische Begutachtung meistens ganz angebracht, den
Schwerpunkt auf die Gesamterkrankung zu legen und die akute
psychische Exazerbation nur als begünstigendes Moment zu verwerten.
Sie wird dann um so eher durchdringen, als die Gerichte nun einmal
diesen Zuständen meist mit einer gewissen Skepsis gegenüberstehen.
In klinischer Beziehung verlieren diese Zustände unleugbar an Interesse.
Von anseren Fällen gehört hierher zunächst ein schwer degenerierter Alkohol¬
epileptiker, der in L. aufgegriffen worden war, weil er ohne Gewerbeschein ge¬
handelt hatte. Bei dieser Gelegenheit setzte er sich gegen den Polizisten sehr
energisch zur Wehr und stiess mehrere gröbliche Beleidigungen gegen ihn aus.
Es liess sich bei ihm feststellen, dass eine retrograde Amnesie von 2 Tagen be¬
stand. Er leugnete das Delikt und wusste überhaupt nicht, wie er nach L. ge¬
kommen war. Seine Erinnerung reichte nach dem mit der Bahn in ca. 6 Stunden
erreichbaren Bremen zurück.
Ein zweiter Kranker setzte im alkoholischen Dämmerzustände seine eigene
sehr schlecht versicherte Wohnung in Brand und benahm sich beim Löschen auf¬
fällig und sinnlos. Eine chronische Alkoholparanoia, die mit Sinnestäuschungen
verbunden war, genügte, um ihm den Schutz des § 51 zu erwirken.
Ein anderer schwer degenerierter Kranker fuhr verschiedene Male ohne Billet
auf der Eisenbahn; wieder ein anderer setzte mit unverhältnismässiger Gewalt¬
tätigkeit einen Einbruchsdiebstahl in Szene, um ganz wertlose Gegenstände in
seinen Besitz zu bringen; ein dementer Epileptiker batte vollkommene Amnesie
für eine Erpressung, die er auf der Landstrasse begangen hatte.
Ein klassisches Beispiel eines pathologischen Rauschzustandes bietet
der nachfolgende Fall:
Gr., Bahnarbeiter, erblich nicht belastet. Aergerte sich immer so leicht, dass
er einen roten Kopf bekam. Litt manchmal an heftigen Stirnkopfschmerzen. Wenn
er sich bückte, fleckte es ihm vor den Augen, sodass er auf hören musste zu arbeiten.
Später fiel er mehrere male zu Boden, weil dieses Gefühl sich intensiv steigerte.
Konnte nicht viel Alkohol vertragen; wenn er getrunken hatte, wusste er nachher
nie genau, was passiert war. Aergerte man ihn in diesem Zustand, dann wusste
er nicht, was er tat und ärgerte sich „über alle Welten u . Er fand sich dann in
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Lokalitäten wieder, an denen er garnichts za suchen hatte. So erschien er einmal
beim Pastor, ron dem er sonst gar nichts wissen wollte, ohne eine Ahnung za
haben, was er dort wollte. Seine Frau musste ihm immer alles erzählen, was er
getan hatte. Nach solchen Zuständen fühlte er sich sehr elend. Kopfschmerzen.
Appetitlosigkeit.
In den letzten Jahren periodisch anftretende Alkoholexzesse, die Resistenz*
losigkeit steigert sich, Gr. gerät in Konflikt mit seiner Umgebung. Allmählig ent¬
wickelt sich bei ihm ein ausgeprägtes Wahnsystem mit alkoholistischer
Färbung.
Nach dem Genuss von Schnaps für 15 Pf., sehr erregt, lärmt herum, droht,
schimpft. Beklagt sioh beim Stationsvorsteher über den Assistenten, der ihm nicht
wohlwolle. Muss nach Hause geschickt werden, wehrt sich wütend, als er vom
Bahnsteig mit Gewalt geschleppt werden muss. Schimpft masslos weiter, fragt auf
der Strasse alle Leute, ob er besoffen sei. Geht auf die Post, lässt sich mit
einem ihm sonst gänzlich unbekannten Arzte in einem entfernten Orte
telephonisch verbinden und fragt ihn durch das Telephon, ob er (Pat.) be¬
soffen sei. Das gleiche tut er mit einem Apotheker, der gleichfalls in einem ent¬
fernten Orte wohnt. Bezahlt die Telophongebühr, geht dann zn einem Omnibus¬
besitzer, verlangt einen Omnibus, er wolle nach C. fahren, um sich von einem
Arzte chemisch untersuchen zu lassen. Nachdem er sich noch einen
ganzen Tag auf den nächsten Dörfern herumgetrieben und sehr viel Geld aus¬
gegeben hat, kehrt er, gegen seine sonstige Gewohnheit schmutzig und verwahrlost
nach Ne. zurüok.
Von dem Augenblicke an, wo er vom Bahnsteig geschickt wurde,
bis zum Aufwachen in einem Wirtshause vollkommene Amnesie (2y 2 Tag).
Dass schon die chronische Paranoia genügte, um die Freisprechung
des Angeschuldigten herbeizuführen, erleichterte die Beurteilung in be¬
trächtlichem Masse. Die strafbare Handlung, die zur Begutachtung
führte, fällt allerdings gerade in den Dämmerzustand, aber es war
sehr fraglich, ob dieser allein von durchschlagender Kraft gewesen
wäre, da die ganze Umgebung den Angeschuldigten nur für im geringen
Masse betrunken gehalten hatte und von einer psychischen Störung
durchaus nichts hatte wissen wollen. Obgleich die Menge Alkohol,
die diesen Zustand nach sich zog, auffällig gering war, hätten ander¬
seits die barocken Handlungen, die er in diesem Zustande vornahm,
an eine psychische Krankheit denken lassen müssen. Bemerkt sei
noch, dass bei ihm eine epileptische Disposition sich nicht sicher nach-
weisen liess. Die nervösen Störungen, die bei ihm bestanden, traten
nicht periodisch auf, und ihre Abhängigkeit von dem Alkoholmissbrauche
lag fast immer so nahe, dass man nicht auf die Epilepsie zurückzugreifen
brauchte. Allerdings traten diese Alkoholexzesse selbst später in ziemlich
regelmässiger Periodizität auf und so mag immerhin der Grundcha¬
rakter der ganzen Krankheit der epileptische gewesen sein. Der Fall
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Zur Kasuistik der forensischen pathologischen Bewusstseinsstörungen. 13
reiht sich unter die Fälle Moelis 1 ) ein, bei denen eine kurz vorher
erst entstandene mit einem Affektausbruch verbundene Gedankenreihe
(Notwendigkeit zu konstatieren, dass keine Betrunkenheit vorliege)
auch im veränderten Bewusstsseinszustande gewissermassen aufrecht
erhalten und in Handlungen umgesetzt wird.
Die Schwierigkeiten in der Beurteilung mehren sich naturgemäss
— wenigstens für den Augenblick —, wenn derartige Kranke in diesen
Zuständen ins Wandern geraten und an dem Orte, an dem ihre epi¬
leptischen Antezedentien unbekannt sind, mit dem Gesetze in Konflikt
geraten. Sind sie unauffällig in ihrem Wesen, dann wird die Frage
nach ihrer Zurechnungsfähigkeit häufig schon deshalb gamicht gestellt
werden, weil sie als Vagabunden und Vorbestrafte schon mit der Haft
und dem Gefängnis innig vertraut sind und deshalb keinen Versuch
machen, gegen die Bestrafung irgend welche Schritte zu tun.
Sind die psychischen Krankheitssymptome sehr ausgeprägt und
treten vor allem die körperlichen Begleiterscheinungen in den Vorder¬
grund, dann erheben sich gelegentlich differentialdiagnostische Schwierig¬
keiten, während in forensischer Beziehung die Entscheidung über die
Zurechnungsfähigkeit natürlich sehr erleichtert wird.
Schn., Schuhmacher, 45 Jahre alt. Wird in den städtischen Anlagen in 0.
liegend aufgefunden, nachdem er Blätter und Aeste abgerissen und durch sein
wunderliches Wesen einen Auflauf erregt hat. Man hält ihn für betrunken. Auf
der Wache stellt sich heraus, dass er bei einem Sohuhmacher 1 Tag lang ge¬
arbeitet hat. Im Gefängnisse macht er ohne jeden Grund einen tätlichen Angriff
auf den Gefangenenaufseher. Wegen Geisteskrankheit aus der Haft entlassen und
dem Krankenhause überwiesen. Hier deprimiert, gibt lange Zeit gar keine Antwort,
verweigert die Nahrung. Später sehr ängstlich, man laure auf seinen Tod, man
möge ihm nur den Kopf abschlagen. Nachts werde er furchtbar gequält, man
brenne ihm beständig seine Hände. Pupillen auffallend eng. Beim Sprechen
beständiges Zucken der Gesichtsmuskulatur.
Bei der Aufnahme in die Heil- und Pflegeanstalt starrer Gesichtsausdruck.
Lebhafte Euphorie. Weitschweifige Redeweise, verliert häufig den Faden.
Grosse Demenz. Geringer Affekt. Habe seit mehreren Jahren Anfälle, weiss
aber nicht seit wie lange. Weiss, dass er beim Schuhmacher gearbeitet hat, dagegen
nicht, wie er von diesem fortgekommen ist; für die Vorgänge in den Anlagen fehlt
ihm vollkommen die Erinnerung. Bestreitet, im Gefängnisse gewesen zu sein.
Weiss nicht, wie er in das Krankenhaus gekommen ist. Verwechselt sehr häufig
Anstalt und Krankenhaus.
Sehr spärliches Haupthaar und typisches Leukoderma. L. Lidspalte < R.,
ebenso L. Pupille <[ R. Starke Myosis. R./L. nur spurweise vorhanden,
1) Moeli, 1. c. S. 184.
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R./C. prompt. Der L. Mundwinkel hängt, Pat. spricht nur mit der R. Ge¬
sichtsseite. Die Zunge zittert, zeigt keine deutlichen Narben. Starker
Tremor manuum. Leichte Ataxie der 0. E. Kniephänomene gesteigert. Bei
tiefen Nadelstichen in den Unterschenkel sehr schwache Reaktion. Gang
taumelnd. Sprache häufig hesitierend, beim Nachsprechen der Paradigmata
stärkeres Kleben.
Einige Tage später ist Pat. ganz frei. Es ergiebt sich eine ziemlich be¬
trächtliche Demenz. Wie auch durch die Nachforschungen sich feststellen lässt,
leidet er seit seinem 14. Lebensjahre an Krämpfen, Kopfschmerzen und Sohwindel-
anfällen. War schon mehrere male im postepileptischen Verwirrtheitszustände fort¬
gedämmert. Ueber die letzten Vorgänge weiss er noch immer keine Auskunft zu
geben, habe nur einen Tag bei dem Schuhmacher gearbeitet. Alkoholgonuss in
Abrede gestellt und nicht nachzuweisen, ebenso scheint kein Krampfanfall Vor¬
gelegen zu haben. Die Papillen sind jetzt noch etwas unter mittelweit, die Licht¬
reaktion erfolgt prompt. Die FazialisditTerenz ist noch ausgeprägt. Kniephänomene
etwas lebhaft. Die Analgesie der Unterschenkel besteht nicht mehr, vielleicht
ist noch eine geringe Herabsetzung der Schmerzempfindlichkeit vorhanden. Die
Sprache ist schwerfällig, der Demenz des Kranken entsprechend, dagegen ist eine
artikulatorische Spraohstörung auch beim Nachsprechen der Paradigmata
nicht zu ermitteln.
Ueber die Tatsache, dass Schn, psychisch krank war, bestanden
von vornherein nicht die geringsten Zweifel. Ob aber nur eine epi¬
leptische Psychose vorhanden sei, darüber konnte man in den
ersten Tagen bei dem Fehlen der Vorgeschichte durchaus verschiedener
Ansicht sein, der Verdacht auf Paralyse spielte in die Differential¬
diagnose sehr energisch herein. Ganz abgesehen von den eventuellen
Residuen einer Lues, der ausgeprägten Demenz und der unverkenn¬
baren Euphorie mussten die körperlichen Lähmungserscheinungen diesen
Verdacht nahelegen. Bei alten Epileptikern, bei denen neben der
schweren psychischen Schädigung sich ja sehr häufig nervöse Schädi¬
gungen (Pupillendifferenz, träge Pupillenreaktion, Facialisparesen,
Sensibilitätsstörungen etc.) finden, wird man wohl noch öfters im
ersten Augenblicke nicht imstande sein, zu einer abschliessenden
Diagnose zu gelangen. In dem unsrigen musste die Veränderung
der Sprache während des Dämmerzustandes diesem Verdachte neue
Nahrung zuführen.
Dass die Sprache während des Anfalles häufig verändert ist, ist
ja bekannt, so berichtet Räcke 1 ) über einen Kranken, der nicht auf
Anreden reagierte, kein Wort sprach und nur in stereotyper Weise
1) Räcke, Das Verhalten der Sprache in epileptischen Verwirrtheits¬
zuständen. Münch, med. Wochenschr. 1904. No. 6.
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Zar Kasuistik der forensischen pathologischen Bewusstseinsstörungen. 15
seinen Namen nannte, kurzum den Eindruck eines Aphatikers machte.
Nicht selten beobachtet man eine abgehackte oder skandierende
Sprechweise, oder die "Worte werden in langsamer, gedehnter Weise
ausgesprochen, während die Sprache klanglos und wenig betont ist,
die artikulatorischen Störungen dagegen sind entschieden ziemlich
selten. Siemerling 1 ) berichtet über einen Kranken, dessen Sprache
in diesem Zustande lallend war.
Auf die Dauer wird damit der Annahme Donaths 2 ), dass
Verwechslungen mit Paralyse nicht Vorkommen werden, natürlich kein
Abbruch getan.
Aehnlich, • aber in forensischer Beziehung interessanter ist fol¬
gender Fall.
Hö., 37Jahre alt, Maurer. Wird am 25. 3. 05 in J. beim Betteln aufgegriffen.
In der Vernehmung verkennt er seine Umgebung. Aeussert mehrere male die Ab¬
sicht, in Russland eine Kirche zu bauen. Macht einen dementen Eindruck, ist ge¬
hemmt und unruhig.
Am 26. 3. 05 Anstaltsaufnahme. Hier zunächst äusserst gleichgültig,
euphorisch, nimmt von seiner Umgebung nicht die geringste Notiz, spricht viel
Unverständliches vor sich hin. Gibt auf Fragen gar keine Antwort, ln seinen
Steinbrüchen würden von seinen vielen Arbeitern Steine gebrochen.
Er wolle in Russland zur höheren Ehre Gottes eineKirohe bauen, die
100Meter hoch werden solle. Vernachlässigt sein Aeusseres, steht gerne am
Fenster, macht wiegende Bewegungen, nickt mit dem Kopfe, zeigt nach aussen hin,
dabei unaufhörlich vor sich hinmurmelnd.
Weissliche oberflächliche Narben an verschiedenen Stellen des Körpers,
Leistendrüsen härtlich geschwollen, Tibiakanten gekörnelt. Auf dem Kopfe zahl¬
reiche Narben. Lichtreaktion vorhanden, aber träge. Starkes Händezittern.
Kniephänomene vielleicht etwas schwach, beim Durchstechen der
Haut an den Unterschenkeln minimale Reaktion. Gang breitbeinig.
Sprache etwas gepresst, zeitweise schleppend und schmierend.
Mehrere Tage sehr dämmerig, taut dann auf, ist ziemlich dement, aber nicht
entfernt in dem Masse, wie es bei seiner Aufnahme sohien. R./L. jetzt prompt,
Spraohe ohne Störung. Keine Störung der Schmerzempfindung.
Habe verschiedene Kopfverletzungen erlitten (Fall vom Gerüst, Schlag
mit dem Hammer auf den Kopf). Seitdem Kopfschmerzen und Schwindel, habe
mehrere male alle möglichen Sachen gemacht, für die er später keine Erinnerung
gehabt habe. Gibt zu, vorbestraft zu sein. Jetzt sei er zuletzt in Paderborn ge¬
wesen, habe eine Strafe abgemacht, sei ins Krankenhaus gekommen, habe nachher
noch mehrere Tage gearbeitet und sei dann auf die Wanderschaft nach Münster
gegangen. Auf der Landstrasse höre seine Erinnerung auf. Weiss nicht, dass er
in J. im Gefängnisse und vor dem Gerichte war, dass er von der Kirche gesprochen,
1) Siemerling, 1. c. S. 911.
2) Donath, 1. c. S. 353.
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wie er in die Anstalt gekommen nnd dass er sich auf der Wachabteilung befunden
hat. Seine Erinnerung fängt mit seinem Aufenthalte auf der Siechenstation an.
Sein Strafregister weist zahlreiche Bestrafungen wegen Hausfriedensbruches,
Widerstandes, Sachbeschädigung auf. In Paderborn hatte er im Gefängnisse einen
ernstlichen Selbstmordversuch gemacht und unbestimmte Verfolgungsideen
geäussert. Wurde wegen Delirium im Krankenhause behandelt.
Gibt später spontan an, er habe sich vor einem Jahre in der Universitäts¬
klinik zu H. befunden. War dort tatsächlich 6 Wochen zur Beobachtung:
Am 9. 3. 04 beim Betteln verhaftet, macht einen angetrunkenen Ein¬
druck. Wird bald apathisch, grunzt, bleibt hartnäckig im Bett liegen. Schreit und
lärmt. Der Kreisarzt erklärt, sein Bewusstsein sei getrübt. Recherchen er¬
geben, dass er Trinker, Raufbold und äusserst gewalttätig ist. Hat zu Hause
mehrere male die Möbel in brutaler Weise zertrümmert. Schmutzt ein, läuft nackt
in der Zelle herum, nachdem er Kleider und Essen aus dem Fenster geworfen hat,
macht den Eindruck, als halluziniere er.
Auf dem Wege zur Anstalt ruhig und orientiert. In der Exploration geordnet.
Für die Haft unvollständige Erinnerung, es sei ihm „so im Kopfe gewesen.“
Klagt über Kopfschmerzen. Beide Pupillen reagieren etwas träge, Würg¬
reflex herabgesetzt, Kniephänomene etwas erhöht. Macht in der Auto¬
anamnese dieselben Angaben über seine Traumata, die amnestischen Zustände
kehrten alle Vierteljahre wieder. Erzählt alles richtig, nur für die Zeit seines
Erregungszustandes hat er absolut die Erinnerung verloren, weiss nur noch un¬
deutlich, dass der Kreisarzt da war.
Klagt mehrere male über Angst und Kopfschmerzen. Sitzt meist alleine
für sich.
Das Gutachten kam zu dem Schlüsse, dass sich nicht nachweisen lasse, dass
er zur Zeit der Begehung der strafbaren Handlung geisteskrank gewesen sei, in
der klinischen Krankengeschichte ist die Diagnose nicht ausgefüllt.
Wieder musste bei dem Kranken im Dämmerzustände selbst, als
die Autoanamnese versagt und noch keine weiteren Angaben aus seiner
Vorgeschichte vorliegen, die Vermutungsdiagnose zunächst auf pro¬
gressive Paralyse gestellt werden. In diesem Falle gesellten sich zu
den sonstigen gravierenden schon erwähnten Momenten noch die Grössen¬
ideen, um diese Annahme wahrscheinlich zu machen. Dass er wirklich
krank war, darüber konnte man zur Zeit der Bewusstseinsstörung nicht
verschiedener Meinung sein. Wäre er im Jahre vorher nicht nach,
sondern während der Zeit des Dämmerzustandes selbst der klinischen
Beobachtung verfallen, * so wäre die Begutachtung fraglos zu einem
andern Ergebnisse gelangt. Lag doch auch damals für eine Simulation
kaum ein genügender Grund vor. Das Delikt, das er sich im Dämmer¬
zustände hatte zuschulden kommen lassen, war so geringfügig, dass
es Ho., der schon durch eine lange Reihe von Haftstrafen abgebrüht
war, sich kaum der Mühe der Verstellung unterzogen haben würde,
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Zur Kasuistik der forensischen pathologischen Bewusstseinsstörungen. 17
wie er denn auch die Strafe selbst mit der grössten Seelenruhe auf
sich nahm und vor Gericht nicht den geringsten Versuch machte, seine
psychische Störung als mildernden Grund ins Feld zu führen.
Vielleicht hätte man ihm in theoretischer Beziehung mehr gerecht
werden können — in praktischer Beziehung zog er die kurze Gefängnis¬
strafe dem längeren Aufenthalte in der Irrenanstalt vor, — wenn auf
das Verhalten der Pupillenreaktion ein grösseres Gewicht gelegt
worden wäre, auch in H. wurde ausdrücklich konstatiert, dass die
Lichtreaktion träge war.
Da wir an der Lichtreaktion, wenn sic träge oder negativ ist,
ein objektives Zeichen dafür haben, dass keine Simulation .vorliegt,
so kann in solchen Fällen, wenn sie noch in dem krankhaften Zustande
selbst zur Beobachtung gelangen, nicht dringend genug darauf hin¬
gewiesen werden, dass eine möglichst genaue und öfters wiederholte
Prüfung der Pupillenreaktion vorgenommen werden muss. Es ist ja
schon wiederholt 1 ) betont worden, dass die Lähmung der Pupillen
einen Massstab für die Allgemeinintoxikation des Gehirns darstellt
und uns Gewissheit über das Vorhandensein einer mehr oder weniger
schweren Störung oder Trübung des Bewusstseins gibt. Besonders
wichtig ist auch die Erfahrung, dass sie eine Probe für die Stadien
abgibt, die unmittelbar auf den Alkoholgenuss folgen und gleichzeitig
einen Anhalt für die Annahme einer allgemeinen grossen Vulnera¬
bilität des Nervensystems gewährt (Vogt).
In die Anstalt gelangen sie ja allerdings selten früher als nach
Ablauf des Zustandes, die Fälle, in denen sie wie unsere Kranke so
bald im Anstaltshafen landen, sind entschieden nicht die Hegel. Im
Polizei- oder Gerichtsgefängnisse, in dem sie ja meist zur Untersuchung
kommen, wird diese Untersuchung aber leider noch sehr häufig ver¬
säumt und wenn sie vorgenommen wird, so fehlt den Aerzten, die
mit dieser Aufgabe betraut werden, fast ausnahmslos die nötige Routine,
um auch dem geringen Grade der Abschwächung der Reaktion die
gebührende Aufmerksamkeit schenken zu können.
Die Schwierigkeiten, die der Begutachtung selbst beim Vorhandensein
1) Cramer, Ueber die forensische Bedeutung des normalen und patho¬
logischen Rausches. Offizieller Bericht der 1. Hauptversammlung der deutschen
Medizinalbeamten. München 1902. — Vogt, Ueber die Wirkung des Alkohols auf
die Veränderung der Pupillenreaktion. Berl. Klin. Wochenschr. 1905. Jahrg. 42.
No. 12. S. 322. — Gudden, Ueber die Pupillenreaktion bei Rauschzuständen
und ihre forensische Bedeutung. Neurolog. Zentralbl. 1900. S. 1096.
Vierteljalirsschrift f. ger. Med. u. öff. San.-Wesen. 3. Folge. XXXII. 1 . 9
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einer genauen Vorgeschichte erwachsen können, wenn es sich nur um
psychische Epilepsie handelt, illustriert folgender Fall:
Am 4. 3. 00 entfernte sich der Matrose K. vom Ortsurlaube in W\ Am
nächsten Tage wurde er in E., das 62 km von W. entfernt liegt, verhaftet. Eine
Eisenbahnverbindung bestand um die betreffende Zeit nicht mehr. Er kam am
5. 3. in einer sehr beschmutzten Uniform zu den Matrosen einer Brigg, die in E.
vor Anker lag, sprach mit ihnen über seine Familienverhältnisse und gab sofort
an, er sei desertiert, weil er seine Mutter, die ihn enterbt habe, strafen wolle.
Wenn man ihn verhaften sollte, würde er für verrückt erklärt werden.
Man möge ihn nach Danzig bringen. Dort habe er adelige Verwandte und eine
Schwester, die Schauspielerin sei. (Hat de facto gar keine Schwester.) In England
habe er das Navigationsexamen gemacht. Nachdem er noch ein dickes Buch ge¬
zeigt hatte, aus dem er Aufzeichnungen vorlas, trennte er von seiner Mütze
die Kokarde und das Mützenband und von seinemRocke die Patent¬
knöpfe ab, aufZureden heftete er aber sofort wieder alles an. Gegen Abend
entfernte er sich wieder spontan, nachdem er erzählt hatte, man halte ihn in der
Kompagnie für verrückt. Er erklärte dabei, er werde wiederkommen, obgleich man
ihm gesagt hatte, er werde nicht mitgenommen werden. Die Matrosen hielten ihn
für normal, „obwohl er viel verworrenes Zeug schwatzte.“ Er bummelte
nun gemächlich am Hafen herum und wurde sofort verhaftet. Dom Polizei¬
sergeanten, der ihn festnahm, erzählte er, ein anderer Mann habe an seiner Stelle
seinen Urlaubspass, auf Befragen gab er gleichgültig zu, er sei desertiert.
Am 5. 3. erklärte er in der Vernehmung, er habe nicht fahnenflüchtig werden
wollen, er müsse geistesgestört gewesen sein. Aufden Gerichtsherrn machte
er einen merkwürdigen Eindruck.
Am 13. 4. gab er an, er sei mit einem anderen Matrosen zusammengegangen,
wie weit, könne er nicht sagen, auch nicht, wohin er alleine gegangen sei. Erst
am anderen Tage sei er mittags in E. zum Bewusstsein gekommen und habe sich
auf einer Brigg Essen geben lassen. Was er dort gesagt und getan habe, könne
er nicht mehr genau sagen. Er müsse unbewusst gehandelt haben. Er habe öfters
Zustände, in denen eine Gewalt ihn zwängo, einer momentanen Eingebung un¬
bedingt zu folgen, dann könne er nichts essen und trinken und müsse das tun,
was ihm eingegeben werde. Dann solle er öfters unsinniges Zeug gesprochen
und getan haben, seine Kameraden hätten ihn nachher darauf aufmerksam ge¬
macht, er selbst wisse nichts davon. Früher habe er sich durch einen Sturz auf
dem Schiffe eine Verletzung des Rückens zugezogen, wobei ihm das Gefühl
im Rücken verloren gegangen sei. Am 18. 4. bestritt er, von dem grössten
Teile der Handlungen, die er auf der Brigg begangen hatte, Kenntniss zu haben.
In der Stammrolle ist vermerkt: „Ist in seinem Wesen scheu und macht
häufig den Eindruck eines geistig nicht normalen Menschen, dabei
streitsüchtig.“ Sein Kapitänleutnant hatte nie geglaubt, dass K. sich im Voll¬
besitze seiner geistigen Kräfte befinde und machte darauf aufmerksam, dass er im
Jahre vorher eine ähnliche Handlung begangen habe. Als er damals von K. nach
W. kommandiert wurde und in 0. umsteigen musste, lief er vom Bahnhofe weg
und machte einen sehr weiten Marsch durch die Heide, um sich schliesslich bei
einem Gemeindevorsteher zu melden. Dieser hatte geglaubt, K. sei geistig nicht
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Zar Kasuistik der forensisohen pathologischen Bewusstseinsstörungen. 19
normal oder auffallend dumm. Der Kompagniechef gewann damals bei der
Vernehmung den Eindruck, dass er geistig verwirrt gewesen sei. Auch früher
hatte er die Ueberzeugung gewonnen, dass K. sich nicht im Vollbesitze seiner
geistigen Kräfte befinde. Von einer Disziplinarstrafe wurde Abstand genommen
und die Verhandlung nur aufgehoben, weil es nicht ausgeschlossen erschien, dass
man später noch einmal Gebrauch davon maohen könne.
Bei seinen Kameraden hiess er der verrückte K. Sein Wesen kam ihnen
sehr sonderbar vor, es erschien ihnen häufig als nicht normal. Er war reiz»
bar, von sich selbst überzeugt, wollte andere immer belehren, erzählte gelegentlich
phantastische Geschichten und führte ein dickes Buch über seine Erlebnisse. Ein*
mal kündigte er den Weihnaohtsfeiertag als seinen Todestag an, dann wolle er
sich totschiessen; ein anderes mal sagte er: „morgen kommt der Kaiser, da
will ich mich aufhängen und zu Petrus gehen.“ Bei einer anderen Ge¬
legenheit äusserte er, er wolle die Stube in Brand stecken und Petroleum darauf
giessen, dass sähe so schön aus, wenn es brenne. H'äufig setzte er sich an
den Tisch und stützte den Kopf in die Hand, dann war er einsilbig
und wortkarg. Auf der Strasse führte er manchmal plötzlich ganz konfuse
Reden, und gab so widersinnige Antworten, als ob er seine 5 Sinne nicht bei
einander habe. So wollte er einmal seine Uhr abholen, obwohl er gar keine hatte.
Eines Abends stellte er sämtliche Schemel in der Stube pyramidenförmig über¬
einander, wies den Kameraden die Türe und erklärte, jetzt wolle er die Stube zur
Stelle melden. Als die Wache einmal abends mit der Laterne an sein Bett kam,
üng er an mit Händen und Füssen in ungeheurer Geschwindigkeit um
sich zu schlagen, dann lag er ganz ruhig im Bett und war trotz allen
Rüttelns nicht zu erwecken, sein Gesicht war bleich. Am anderen
Morgen wusste er von dem ganzen Vorfälle nichts. Solche Zustände sollte er
öfters gehabt haben. Von seiner Mutter äusserte er, sie wolle ihn um sein Ver¬
mögen bringen, er werde sie erwürgen und ihr das Haus über dem Kopfe anstecken.
Sämtliche Kameraden waren über die Desertion sehr erstaunt.
Im Gutachten des Oberstabsarztes D. vom 5. 4. 00 war gesagt, es handele
sich wahrscheinlich um einen epileptisohen Dämmerzustand, doch sei die
Möglichkeit einer Verstellung nicht von der Hand zu weisen. Mit Rücksicht
auf die Aussagen der Matrosen und die Behauptung des Angeklagten, dass er nur
für einen Teil der Erlebnisse auf der Brigg die Erinnerung verloren habe,
gelangte die militärärztliche Oberbegutaohtung zur Anschauung, dass Simulation
vorliegen müsse, weil es ein derartiges Ineinandergreifen eines epi¬
leptischen Dämmerzustandes und einer psychisch freien Zeit nicht
gebe.
16. 5.-r 18. 6. Anstaltsbeobachtang. Einwandsfreie Angaben aus seinem
Vorleben waren nicht zu erhalten, nur war er in seiner Jugend in einer
Besserungsanstalt gewesen. — In körperlicher Beziehung ist nur eine in¬
differente Narbe über dem rechten Auge zu erwähnen. Für Hysterie lagen in
körperlicher Beziehung keine Anzeichen vor.
Habe als Kind mehrere male eingenässt. Sei öfters aus dem Schlafe auf¬
geschreckt, habe sich einmal vor das Bett bingestellt und gesagt: „ich bin es
nicht.“ Sei als Kind mehrere male bewusstlos gewesen, habe später viel an
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Dr. Mönkemöller,
Schwindelanfallen gelitten „dann soll ich starr sitzen oder hin- nnd hergeben
und wenn einer kommt, dann muss er mich ein paar mal anreden und dann tu
ich auch mitgehen. Manchmal wird mir unheimlich, dann ist mir so, als
ob das Herz stillstehe, dann steigt die Angst nach dem Kopfe, dann
wird mir schwarz ror den Augen, dann schwitzt mir auch, dann muss ich an
etwas anderes denken.“ Heredität, Trauma, Lues, Potus, Krämpfe, Kopfschmerzen,
Zungenbisse, Lähmungen, Kontrakturen, Sprach Verluste, Schrei-, Lach-, Wein¬
krämpfe, Rcsistenzlosigkeit gegen Hitze und Alkohol negiert.
Ueber die beiden fraglichen Dämmerzustände gibt er prompt Auskunft, ohne
zu überlegen und ohne jemals in den geringsten Widerspruch zu geraten. Wird
bei den wiederholten Fragen sehr gereizt, sucht sich überhaupt nicht im geringsten
das Wohlwollen des Arztes zu erschmeicheln.
In 0. sei er im vergangenen Jahre vom Bahnhofe fortgegangen, weil er einen
Aufenthalt hatte, habe in der Stadt gegessen und 2 Glas Bier und einen
Kognak getrunken. Dann sei er in einem Parke eingeschlafen, habe zum Bahn¬
hof gewollt, diesen aber nicht mehr finden können. Eine alte Frau habe ihm den
Weg gewiesen, er sei ihr gefolgt, was dann passiert sei, wisse er nicht. Seine
Erinnerung fange damit an, dass er in einem Walde gewesen sei, viel Dreck an
den Stiefeln gehabt und sich sehr müde gefühlt habe. In einem Gehöfte habe er
sich orientiert und dann beim nächsten Gemeindevorsteher gemeldet.
Am 5. 3. d. J. habe er nicht zu Mittag gegessen, weil er den ganzen Tag
keinen Appetit gehabt habe. Er sei abends mit einem Kameraden gegangen,
um Schiffsmodelle zu holen, sie hätten u. a. über Verlobungsringe gesprochen,
er habe das dunkle Gefühl, als habe er sich angegriffen und nervös ge¬
fühlt. . . . Dann habe er in einem Kanäle gelegen und gefroren. Er habe sich
besonnen, wo er den eigentlich sei und sehr bald gedacht „da bin ich wohl ein¬
mal wieder spazieren gegangen“. Nachdem er erfahren hatte, dass er in E. sei,
sei er an den Hafen auf ein Sohiff gegangen, das nach Danzig bestimmt sei, da er
Hunger verspürte und nur 30 Pf. bei sich gehabt habe. Er habe gehofft, Bekannte
zu treffen, da er lange in Danzig gewesen sei. Es habe etwas geregnet, es könnten
3—4 Matrosen gewesen sein, er glaube, 2 hätten Backenbärte gehabt. Die Aus¬
sagen der Matrosen bestreitet er zum grössten Teile, soviel er wisse, hätten sie
sich nur von der Schifffahrt erzählt. Dass er von Desertion gesprochen haben
solle, wisse er ebenfalls nicht, obgleich er viel darüber nachgedacht habe, auch
nicht, dass er sich über seine „Verrücktheit“ ausgelassen haben solle. Weiss, was
er auf dem Schiffe gegessen hat, erzählt auch das Zusammentreffen mit dem
Schutzmann ganz genau. Die Aeusserung, dass ein anderer Matrose seinen Pass
gehabt habe, sei dadurch entstanden, dass dieser aus E. gebürtig sei und dass er
gehofft habe, jener könne ihm zu seiner Rückkehr nach W. behülflich sein.
Halluzinationen stellt er in Abrede, er habe nur eine solche innerliche Angst ver¬
spürt und dann habe die Erinnerung aufgehört.
Nach Angabe der Wache hört Pat. oft in der Unterhaltung auf zu sprechen,
starrt vor sich hin, macht zuckende Bewegungen mit den Händen, um dann in
dem unterbrochenen Satze fortzufahren, als wäre nichts passiert. Dabei wird er
sehr blass. Meist guter Laune, führt gerne das grosse Wort, sitzt dann wieder
verdrossen bei Seite, macht einen duseligen Eindruck, um sich plötzlich wieder
an der Unterhaltung zu beteiligen. Im übrigen bietet er nicht den geringsten An-
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Zur Kasuistik der forensischen pathologischen Bewusstseinsstörungen. 21
haltspunkt für die Annahme einer Simulation. Er fallt durch sein gleichgültiges
Wesen auf, dabei häufig unmotivierter Stimmungswechsel, Selbstgefälligkeit.
Dass K. ein psychisch nicht normaler Mensch ist, bedarf nach
Vorgeschichte und Tatbestand keines längeren Beweises und wurde
auch von militärärztlicher Seite ohne weiteres anerkannt. Auch für
den epileptischen Charakter der Psychose sprechen sehr gewichtige
Symptome, die nächtlichen Anfälle, die Schwindelanfälle, die Absencen,
der Dämmerzustand in 0. verbanden sich mit dem Gesamteindrucke,
der Reizbarkeit, der Neigung zu unvermitteltem Stimmungswechsel,
und der Unausgeglichenheit in dem ganzen Wesen zu einem derartigen
Ganzen, dass auch von Seiten der zuerst begutachtenden Seite zunächst
das Vorhandensein eines epileptischen Dämmerzustandes konzediert
wurde. Sehr prägnant waren auch die periodisch auftretenden Anfälle
von Verstimmung und Angst ohne Beeinträchtigung des Bewusstseins,
auf deren Wert Aschaffenburg und Kräpelin ja wiederholt hin¬
gewiesen haben. Ob das heimwehartige Gefühl, das bei den Deser¬
tionen der Epileptiker diesen Verstimmungen entsprechend im Beginne
des Fortwanderns auftritt, bestimmend mitgewirkt hat, liess sich nicht
ermitteln. Manches in der Eigenart des Kranken wies darauf hin, dass
man bei ihm an Hysterie denken konnte, aber ganz abgesehen davon,
dass alle somatischen spezifischen Befunde und die sonstigen hysteri¬
schen Stigmata fehlten, war der Gesamteindruck des Kranken derart,
dass man. nicht von der Diagnose der Epilepsie abzugehen brauchte.
Was die militärärztliche Begutachtung stutzig machte und was
in der Beurteilung den Fall schwieriger erscheinen lässt, sind die
Aeusserungen des Kranken, dass er desertiert sei, und dass man ihn
für verrückt erklären würde, wenn er verhaftet werden sollte. Militär-
ärztlicherseits nahm man ausserdem noch daran Anstoss, dass in der
letzten Zeit dieses krankhaften Zustandes gesunde und kranke Zeiten
nebeneinander hergelaufen sein sollen. Die Tatsache, dass sehr häufig
und besonders beim Abklingen dieser Zustände die Bewusstseinsstörung
in der Intensität wechselt und dass dementsprechend auch die Er¬
innerung an das Durchlebte bald eine grössere Ausbeute gewährt,
bald wieder ganz versagt, sollte ja zur Genüge bekannt sein; dass
diese inselförmigen Erinnerungen noch immer in unnötiger Weise den
Ausschlag nach der negativen Seite hin geben, beweist dieser Fall.
Wie wir uns diesen Aeusserungen. g.egenü^ej'stel^ep; sollen, • lässt
sich zur Zeit wohl um so weniger mit Bestimmtheit sagep, $1$ der
genaue Tenor der Verhandlungen zwischen den Matrosen d.o t m
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ÜrigiGBl fro-m
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Dr. Mönkemöllcr,
Kranken nicht mehr zu ermitteln ist. Und auf die Fragestellung
kommt dabei natürlich sehr viel an. Dass die Rede auf die Deser¬
tion kam, ist bei der Situation eigentlich selbstverständlich und da
der Kranke sehr zum Renommieren neigte, ist es gar nicht so fern¬
liegend, dass er damit geprahlt hat, ohne bei seinem Weggange von
W. ernstlich an eine Desertion gedacht zu haben. Ebenso erscheint
die Redensart vom Verrückterklären sicherlich nicht ganz so gravierend,
wenn man erwägt, dass er ein Jahr vorher wegen einer ähnlichen
Tat mit Rücksicht auf sein psychisches Verhalten nicht zur Verant¬
wortung gezogen worden war.
Mag dem nun sein, wie es will, die Frage, ob er zurechnungsfähig
war, wird dadurch verhältnismässig wenig berührt. Dass er wirklich
in krankhaft umdüstertem Bewusstsein die 62 km weite Reise an¬
getreten hat, wurde von keiner Seite bezweifelt. Und dass die auf
derartige Bewusstseinstrübungen folgende Zeit im allgemeinen nicht
den Anforderungen einer völligen Zurechnungsfähigkeit genügen kann,
ist bekannt und wird durch die Tatsache, dass er noch am Morgen
darauf im Verhöre merkwürdig erschien, mehr als bekräftigt. Dabei
kann von einem zielbewussten Handeln nicht die Rede sein. Die
Naivität, mit der er dem ersten besten sofort unter die Nase bindet,
dass er desertieren will, die Art und Weise, wie er sich den ganzen
Tag auf dem Schiffe herumtreibt, obgleich er doch nicht die mindeste
Zeit zu verlieren hatte, die Unkonsequenz, mit der er die Knöpfe
und die Kokarde lostrennt und eben so willenlos wieder anheftet, als
ihm das von den Matrosen, denen selbst sein verworrenes Geschwätze
auffällt, empfohlen w'ird, die Langatmigkeit, mit der er aus seinem
Buche den Matrosen seine Lebensgeschichte vorliest und mit faust¬
dicken Lügen ihr Vertrauen erschüttert, die Unvorsichtigkeit, mit
der er in beschmutzter Uniform dem Polizisten in die Arme läuft,
alles das muss die Ansicht, dass er zielbewusst handelte und im
Vollbewusstsein seiner Geisteskräfte war, wankend machen. Wollte
er simulieren, so wäre es zudem für ihn am einfachsten gewesen,
wenn er überhaupt jede Erinnerung in Abrede gestellt hätte, da er
über die Tragweite des Symptoms durchaus nicht im Unklaren war.
Nachdem das Gutachten dahin abgegeben worden war, dass er mit
grösster Wahrsclj ejnlickte.it zurZeit der Tat krank gewesen sei,
würde 'gl" ’fp-ig.esj)rotjheny*: ; ‘*
Durch die AxJt.tler Entstehung ausgezeichnet ist folgender Dämmer-
zusiänd." : }:
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Zur Kasuistik der forensischen pathologischen Bewusstseinsstörungen. 23
Pu., Schlosser, 30 J., schwach veranlagt. 1897. Fall mit dem Kopf auf eine
Wagenleiter. Seitdem Krämpfe mit Zungenbiss und Verletzungen. Wird reizbar,
aufbrausend, unberechenbar. Häufig vorbestraft wegen Diebstahls, Körper*
Verletzung, Bedrohung, Beleidigung, Widerstandes gegen die Staatsgewalt u. s. w.
1900 wegen körperlicher Krankheit in das P. L. Hospital in 0. Hier täglich
Krampfanfälle. Deshalb in die Irrenanstalt W. Hier Kopfschmerzen, Schwindel¬
anfälle, Krämpfe. Zeitweise still und zurückhaltend, misstrauisch, ver¬
mutet Gift im Essen. Wechselnde Stimmung.
1904. Hausfriedensbruch. War angetrunken, hatte in einem Wirtshause
andere Gäste geärgert und gedroht, alles kurz und klein zu schlagen. Wurde
zweimal durch den Gendarm aus dem Orte hinaustransportiert. Nach Ansicht
aller Zeugen war er „angetrunken, wusste aber genau, was er tat“. In
der Voruntersuchug erklärte er, er sei angetrunken gewesen, von dem Haus¬
friedensbruch wollte er nichts wissen. Kommt zwischendurch wegen eines Magen¬
katarrhs in das Krankenhaus zu W. Am 11. 12. 04 fängt er plötzlich an, vor sich
hin zu sprechen, greift andere Kranke und das Personal in rücksichtsloser Weise
an, versucht zum Fenster hinauszuspringen. In der Isolierzelle enorm erregt, ent¬
wickelt eine brutale Gewalttätigkeit. Langsame Beruhigung. Hinterher leicht
benommen und amnestisch.
28. 12. 04 Aufnahme in Osnabrück. Buhig, geordnet, körperlich ohne Be¬
sonderheiten. Seit der Verletzung leide er häufig an Kopfschmerzen und fühle
sich dumpf und benommen. Er werde jetzt sehr leicht betrunken. Er könne
nicht mehr auf der Leiter und schmalen Bohlen wegen Neigung zum Schwindel
arbeiten. Werde leicht gereizt, besonders wenn er betrunken sei, dann bringe ihn
die geringste Kleinigkeit aus dem Häuschen. Nach oder vor den Krämpfen sei er
öfters ganz durcheinander gewesen und habe Dummheiten gemacht.
Im Krankenhause sei er zuerst ganz nett gewesen, dann habe ein anderer
Kranker einmal Schnaps mitgebracht und er sei sehr bald ganz be¬
trunken geworden. Er habe viel gesprochen, und als jener ihn dazu auf-
gefordert habe, habe er beschlossen, nach Hause zu gehen. Auf dem Wege dorthin
sei ihm eine Krankenschwester begegnet und habe ihm gesagt, er solle in ein
anderes Zimmer gebracht werden. Er habe sich gewehrt, habe eine Türe ein¬
getreten, da seien sofort einige Wärter auf ihn losgesprungen. Als er zu sich ge¬
kommen sei, habe er im „Keller“ gelegen, es sei ihm wüst im Kopfe gewesen, von
da ab wisse er alles. Dass er aus dem Fenster springen wollte, wisse er nicht mehr.
Bei dem Hausfriedensbrüche sei er etwas betrunken gewesen, wisse aber
noch ungefähr, was er getan habe. Bei dieser Gelegenheit sei er wohl nicht krank
gewesen.
Im übrigen loidlich intelligent, schnelle Auffassung, genügender Ueberblick
über die Sachlage. Ueber seine verschiedenen Bestrafungen spricht er sich in
sehr legerer Weise aus. Seine Haftstrafen machen ihm keinen grossen Kummer.
Dass ein Kranker im Krankenhause, in dem die Dämmerzustände
doch gemeiniglich bei geeigneter Behandlung und strenger Abstinenz
vom Schauplatze abzutreten verpflichtet sind, (ein Umstand, der bei
Beobachtungskranken für die forense Begutachtung manchmal ein
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Dr. Mönkemoller,
direkter Nachteil ist), artefiziell von einem epileptischen Verwirrtheits¬
zustände bezw. pathologischen Rauschzustände befallen wird, ist ent¬
schieden eine Rarität. Diese ungewollte Begleiterscheinung der
Küstenkrankenhaustherapie hatte aber für den Kranken das Gute, dass
sein psychischer Zustand während des Hausfriedensbruches in einem
anderen Lichte erschien. Dass seine Zurechnungsfähigkeit hierbei
bedenklich in Frage gestellt wurde, war ja bei seinen epileptischen
Antezedentien selbstverständlich, immerhin musste die Beurteilung
schwanken, da aus seinem Vorleben für das Vorhandensein psychischer
akuter Störungen nicht genügende Anhaltspunkte Vorlagen und der
Gesamtstatus zur Unzurechnungsfähigkeit nicht ausreichte. Der
künstliche Dämmerzustand, der wie ein klinisches Experiment die
abnorm starke Reaktion des Angeklagten auf Alkohol ad oculos de¬
monstrierte, gestattete es, dem Gutachten eine viel bestimmtere
Fassung zu geben.
Dass die Dämmerzustände häufiger wie früher in den Kreis
forensischer Erwägungen gezogen werden müssen, ist nicht in letzter
Linie dadurch bedingt, dass mehr wie früher von seiten des Ange¬
klagten und der Verteidigung die Frage nach ihnen angeregt wird.
Damit wird die uralte Taktik, dass der Delinquent von der ganzen
Sache nichts wissen will, auf eine wissenschaftlichere Grundlage
gestellt, und dieser Zustand erfüllt zudem in glücklicher Kombination
die Kriterien der Bewusstlosigkeit und Geistesstörung des § 51.
Ohne Zweifel wird man auch in vielen Fällen, in denen die Sache
zweifelhaft erscheint, eher zu einem non liquet gelangen müssen wie
bei anderen Psychosen und die Möglichkeit des Bestehens eines
solchen Zustandes nicht von der Hand weisen können, selbst wenn
man sich mit begründeten Gedanken von Simulation tragen muss.
Meist sind es geistig nicht ganz intakte Individuen, die Veranlassung
dazu geben, dass diese Frage angeschnitten wird. Der Alkoholgenuss
ist mehr oder weniger zur Zeit der Begehung der Delikte im Spiele
gewesen und wenn die Täter zur Zeit überhaupt beobachtet worden
sind, ist diese Beobachtung keine sachgemässe und die epikritische
Betrachtung dieser Zustände kann ohne die geringste Mühe in der
ausgiebigsten Weise verdunkelt werden, vor allem, wenn sich die
Täter der Tragweite des Symptoms bewusst sind. Das sind sie in
der Regel aber mehr wie in früheren Zeiten. Man wird sich gele¬
gentlich mit einer Abwägung der mehr oder weniger grossen Wahr¬
scheinlichkeit begnügen müssen und dass diese Unsicherheit in der
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Zur Kasuistik der forensischen pathologischen Bewusstseinsstörungen. 25
psychiatrischen Beurteilung wenig dazu angetan ist, das Misstrauen,
das nun einmal in richterlichen Kreisen gegen diese pathologische
Aufhebung des Bewusstseins herrscht, zu mindern, wird man sich
mit Wehmut sagen müssen, ohne dass abzusehen wäre, w r ie diesem
Uebelstande gesteuert werden soll.
Bei unserem Materiale war in einem Falle bei einem schwachsinnigen Epi¬
leptiker, der ein Notzuchtsattentat begangen hatte und dafür vollständige Am¬
nesie gehabt haben wollte, die Begutachtung zunächst zu einem positiven Re¬
sultate gekommen. Freisprechung. Anstaltsaufnahme. Nach einiger Zeit stellte
sich bei einer genaueren Untersuchung heraus, dass er über die Einzelheiten der
Tat orientiert war und diese auch zögernd einräumte. Zweimal hatte die Ver¬
teidigung bei Epileptikern (einmal in einem Notzuchtsversuche, ein anderes mal
bei einom Diebstahl) auf die Möglichkeit eines solchen Zustandes bingewiesen, ohne
dass ein solcher konzediert werden konnte. Bei einem dritten leicht degenerierten
Menschen, der desertiert war, wurde diese Frage von militärärztlicher Seite er¬
hoben, ohne dass sie positiv beantwortet werden konnte. Ebenso erwiesen sich bei
einem Zopfabschneider, der jahrelang unzählige Male dies Delikt verübt hatte,
sonst aber psychisch leidlioh intakt war, die Anhaltspunkte für dies jeweilige Vor¬
handensein dieses Zustandes nicht als genügend. Zweimal wurde sie von der
Verteidigung bei Alkoholisten ins Feld geführt, die einer in der hiesigen Ge¬
gend bei unbemittelten Familien ab und zu vorkommenden Sitte folgend, mit ihren
Töchtern zusammen in einem Bette geschlafen und bei dieser Gelegenheit jahrelang
mit ihnen unzüchtige Handlungen verübt bezw. den Beischlaf vollzogen batten.
Bei beiden, bei denen in der ganzen Vorgesohichte keine Analoga für solche Be¬
wusstseinsstörungen aufzufinden waren, liess sich die Anuahme, dass es sich bei
diesen Verstössen gegen das Gesetz gerade immer um einen Dämmerzustand ge¬
handelt hätte, nicht halten, wenn auch das sonstige psychische Verhalten zur
Einschränkung der Zurechnungsfähigkeit mit herangezogen werden musste.
Bemerkt sei nur, dass der eine Alkoholist nach der Inhaft¬
nahme im Untersuchungsgefängnis in eine akute halluzinatorische Para¬
noia verfiel, die mehrere Wochen dauerte. In der Voruntersuchung
wie auch nach Ablauf der Krankheitsphase leugnete er mit aller¬
grösster Bestimmtheit, jemals mit seiner Tochter auch nur eine un¬
sittliche Handlung vorgenommen zu haben und behauptete immer im
Gegenteil, er habe schon deshalb mit ihr immer zusammen schlafen
können, weil er gar nicht sinnlich veranlagt und eine sexuell sehr
frigide Natur sei. Nun offenbarten seine Sinnestäuschungen und Wahn¬
ideen in dieser Krankheit eine ganz intensive Beschäftigung mit ge¬
schlechtlichen Dingen. U. a. hörte er immer, wie • die Tochter, mit
der er diese Handlungen verübt haben sollte, mit seinem Bruder Unzucht
trieb, war sehr ungehalten darüber und verlangte von ihr stürmisch,
dass sie zu ihm ins Bett kommen sollte. Da sich nun ja in den Wahn-
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Dr. Mönkemöller,
ideen und Sinnestäuschungen der wahre Gedankeninhalt wäederspiegelt,
so lag es nicht so ganz ferne, daraus den Schluss zu ziehen, dass bei
dieser Färbung des Wahnsystems von ihm solche Handlungen erwartet
werden konnten. Und da das Beweisraaterial gegen ihn sehr kümmerlich
war —tatsächlich wurde auch das Verfahren gegen ihn wegen mangelnden
Beweises eingestellt —, so war die Verleitung gar nicht so fernliegend,
diese klinische Erfahrung zur Stärkung des Beweises zu verwerten.
Dieser Verlockung musste aber schon deshalb widerstanden werden,
weil sie gar nicht ohne weiteres die Aufgabe psychiatrischer Begut¬
achtung darstellen darf und es sehr leicht zu Trugschlüssen kommen
konnte, da nicht ausgeschlossen werden konnte, dass dieser Gedanken¬
inhalt durch die gegen ihn geführte Untersuchung künstlich in ihn
hineingetragen worden war.
Im übrigen boten diese Fälle nicht mehr als die Schwierigkeiten,
die immer bestehen, wenn man das Vorhandensein einer psychischen
Störung ausschliessen will oder nicht nachweisen kann, und die ja
allerdings meistens grösser sind, als wenn man das Material für das
positive Bestehen einer Krankheit beibringen will.
Ein grösseres Interesse bieten folgende 3 Fälle.
Am 7. 10. 00 wurde der Postassistent H. in P. verhaftet, nachdem ihm nach¬
gewiesen war, dass er im August 1900 amtliche Gelder unterschlagen hatte. Bei der
Vernehmung auf dem Amtsgerichte 8/10 erklärte er, er habe sich in bedrängten
Vermögensverhältnissen befunden. Im August habe er in 3 Fällen Postanweisungs¬
gelder an sich genommen, etwas über 300 M, die Postanweisungen habe er ab-
gosandt, das Geld habe er für seine Familie verbraucht. Wenn er wieder in die
Lage käme, eine solche Kasse zu verwalten, würde er nach seinem Gefühle gar-
nicht anders handeln können, es sei ihm so gewesen, als habe ihn
eine Krankheit ergriffen, die ihn dazu zwinge. Nachdem er in einer
weiteren Vernehmung am 24. 10. 00 nochmals zugegeben hat, das Geld genommen
und verbraucht und die eingegangenen Gelder nicht vorsefariftsmässig in das Post¬
anweisungsbuch eingetragen zu haben, erklärt er am 9. 11. vor dem Unter¬
suchungsrichter, er habe mit seinem Einkommen nicht auskommen können und
3000M. Schulden gemacht. Infolgedessen sei er seit langer Zeit hochgradig ver-
stim mt und aufgeregt und so sei ihm manches, was um ihn vorging, nicht
mehr klar zum Bewusstsein gekommen. Am 24. 5. und 25. 5. 99 sei er
ohne Entschuldigung vom Dienste fortgeblieben, sei planlos im Walde umhergeirrt
und habe versucht, sich aufzuhängen. Als ihm das Gefühl gekommen sei, er
dürfe seine Familie nicht verlassen, sei er nach Hause gegangen. Dies
Verhalten sei die Folge seiner verzweifelten Lage gewesen. Der Post-
meistdr habe auf seine Bitte keine Anzeige gemacht. Am 15. 9. habe er zuletzt
Postdienst getan und abends habe er im Kriegerverein und auf der Bahn ein paar
Glas Bier getrunken, sei aber keineswegs betrunken gewesen.
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Zar Kasuistik der forensischen pathologischen Bewusstseinsstörungen. 27
Ende September oder Anfang Oktober habe er sich in Linz am Rhein wieder*
gefunden, in einem schlechten Anzuge, ohne Uhr, beim Weggange habe er 31 M.
gehabt, die auch verschwunden seien. Er habe seiner Frau geschrieben,
sie möge ihm Geld schicken, und diese habe ihn von Neuss abgeholt. Die Tat
habe er zuerst nur deshalb zugegeben, weil man ihm die Postanweisungen mit
seinen Vermerken vorgelegt habe; er müsse ohne Bewusstsein gehandelt
haben, sonst hätte er doch die Anweisungen nicht abgeschickt und so seine
Entdeckung begünstigt. Ausserdem würde er über die holländische Grenze ge¬
gangen sein. Abzahlungen habe er nicht gemacht, seiner Frau nichts gegeben,
wo das Geld sei, wisse er nicht.
Vom 17. 11.—18. 12. 00 Anstaltsbeobachtung. Ueber sein Verhalten am
23. 8. und 27. 8. fehlen nähere Angaben, auffällig ist nur, dass aus seiner
Schalterkasse plötzlich 20 M. Minus verschwanden, die er als Schalter¬
beamter verschuldet hatte und über die ihm der Postmeister einige Tage vorher
ernstliche Vorhaltungen gemacht hatte.
Am 15. 9. hat seine Frau gar nichts Auffallendes an ihm bemerkt. Nach
Aussage des Postmeisters war er ruhig, normal, freundlich, dienstwillig wie immer
und gab einem Dienstanfänger Unterweisung im Annahmedienste. Weder dieser,
noch die übrigen im Dienste befindlichen Kollegen haben irgend etwas Auffälliges
wahrgenommen. Seinen sonstigen Dienst verrichtete er tadellos, die Bücher waren
in Ordnung, die fraglichen Postanweisungen versah er mit denselben Buch¬
nummern, unter denen er bereits andere gebucht hatte und legte sie in einem
Momente in die Fächer des Briefabfertigungsschrankes, in dem die Auf¬
merksamkeit des Abfertigungsbeamten anderweit in Anspruch ge¬
nommen war. Die Postanweisungen und Quittungen waren ganz regelrecht aus¬
gefüllt, die Schrift wies absolut keine Abweichung von seiner sonstigen Schreib¬
weise auf. Am Abend machte er im Kriegerverein auf Jedermann den Eindruck
eines normalen, nüchternen Mannes.
H. selbst gab an, er habe in den letzten 14 Tagen vor der Tat nichts be¬
sonderes gemerkt. Er entsinne sich noch genau, wie er am 15. 10. Schalterdienst
getan und Unterricht gegeben habe, es sei ihm nicht schwer gefallen, er wisse
genau, dass kein Fehler vorgefallen sei. Er wisse auch, dass Postanweisungen ab¬
gegeben worden seien, viele könnten es nicht gewesen sein. Seine Tochter habe
ihm Essen an den Schalter gebracht, er sei dann nach Hause und von da in den
Kriegerverein gegangen. Hier habe ein Herr aus Hannover 70—80 Lichtbilder ge¬
zeigt. Er habe etwas gegessen und wenig getrunken. Nach der Feier sei er noch
in der Bahnhofsrestauration gewesen, habe aber wenig getrunken; er habe nooh
mit einigen Herren gesprochen, gesehen könne ihn sonst niemand haben.
Anfang Oktober (das Datum weiss er nicht) sei er in einer Hütte im Walde
erwacht. Er habe seine Taschen durchsucht und mehrere unfrankierte Postkarten
vorgefunden, sowie einige Groschen, mit denen er sie frankiert habe, um an seine
Frau zu schreiben. De facto hat er von Linz an seine Frau geschrieben: „Warum
ich so feige geflohen bin, ist mir nicht klar, habe ich gesündigt, so will ich
auch büssen“. Auf einer anderen Karte sprach er direkt von einem Verschulden,
das er zu büssen habe und beklagte seinen Sohn. Dann sei er auf die
Post gegangen und habe dort erfahren, dass er in Linz sei. Auf der Strasse habe
er niemanden darnach fragen wollen, weil er sich wegen seines defekten Anzuges
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Dr. Mönkemöller,
geniert habe. Dann schildert er anschaulich und glaubwürdig seine Fusstour nach
Neuss, wohin er von seiner Frau Geld unter seiner Regimentsnummer in
einem gewöhnlichen Briefe bestellt hatte. Dort holte ihn seine Frau ab,
er fuhr mit ihr nach Hause. Zur Post ging er nicht, weil er zu müde war, er
schrieb nur einen Bericht, In der Nacht Verhaftung.
In körperlicher Beziehnng findet sich nichts Besonderes. In seinen Aeusse-
rungen zahlreiche Widersprüche. Ueberlegt immer lange, gerät ins Stottern, wird
verlegen, rückt auf dem Stuhle hin und her, schwitzt bei den schwierigsten Stellen
und schwatzt viel, weil er einen trockenen Mund hat.
Keine Heredität. Trauma, Potus, Lues negiert. Krämpfe, Kopfschmerzen,
Schwindelanfalle, Pavor nocturnus, Somnambulismus, Absencen, Ohnmächten in
Abrede gestellt. Keine Reizbarkeit, kein unmotivierter Stimmungswechsel, ins*
besondere keine periodischen Verstimmungen. Gegen Hitze und Alkohol tolerant.
Lähmungen, Kontrakturen, Sprach Verluste, Schreib-, Lach-, Weinkrämpfe negiert.
Kein Kopfdruck. Keine Phobien, keine Zwangsvorstellungen. Als Kind keine
Enuresis nocturna, in der Ehe soll er einmal eingenässt haben. (Keine
Spontanangabe!) Kam in der Schule sehr gut fort. Hier ebensowenig Konflikte
wie später beim Militär, wo ihm die Subordination immer leicht fiel. Gute Karriere.
Keine Bestrafung. Heiratete früh. 7 Kinder! 3000 M. Schulden! Seine Frau hat
ihn nie für geisteskrank oder nervös gehalten.
Bei der Schilderung des angeblichen Dämmerzustandes vom Jahre vorher
überlegt er immer sehr lange, stottert. Geber die Einzelheiten bringt er an ver¬
schiedenen Tagen verschieden lautende Variationen vor, dabei stellt er in Ab¬
rede, ohne Bewusstsein gewesen zu sein. Dass er den Selbstmordversuch
gemacht habe, wisse er ganz genau, schildert ihn allerdings in 3 verschiedenen
Versionen. Er habe ihn nicht ausgeführt, weil er das Gefühl gehabt habe, er
dürfe das seiner Frau nicht antun. Er habe absichtlich mit seiner Frau
nicht darüber gesprochen, für Krankheit habe er diesen Zustand nicht
gehalten und deshalb auoh keinen Arzt konsultiert. Auch dem Post¬
meister gegenüber sei es ihm peinlich gewesen, darüber zu sprechen. Dass er
in den ersten Vernehmungen die Tat zugegeben hatte, erklärte er dadurch, dass
er sioh auch damals in einem krankhaften Zustande befunden habe. Nach einigem
Hin- und herfragen gab er diese Ansicht aber ohne weiteres auf, wie sich auch
bei den genauen Erhebungen für diese Zeit absolut kein Anhaltspunkt dafür er¬
halten liess, dass er in irgend einer Weise psychisch verdächtig gewesen wäre.
Die Begutachtung musste zu einem negativen Resultate gelangen.
Bei dem Yorliegen eines isolierten Dämmerzustandes von solcher Dauer
ist man sicherlich verpflichtet, einen strengen Masstab anzulegen. In
diesem Falle aber bot die anamnestische Ausbeute sowohl wie der
körperliche Befund und die klinische Beobachtung so auffallend geringe
Handhaben, dass man gewiss mit grosser Sicherheit eine epileptische
oder hysterische Diathese auszuschliessen berechtigt war. Denn „ohne
alle epileptische Antezedentien gibt es keine epileptische Psychose“ x ).
1) Siemerling, 1. c. S. 941.
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Zur Kasuistik der forensischen pathologischen Bewusstseinsstörungen. 29
Einzig und allein das einmalige Bettnässen, das dazu nicht einmal er¬
wiesen war, hätte dafür eine Stütze gegeben. Dass man aber in der
Verwertung psychischer Einzelsymptome quoad Epilepsie vor¬
sichtig sein muss, ist eine ebenso alte wie berechtigte Regel.
Dazu treten dann plötzlich die Dämmerzustände ohne äussere
Veranlassung ein, ohne dass sie im Vorleben auch nur den bescheidensten
Vorläufer aufzuweisen haben. Denn den Vorfall im Vorjahre als
Präzedenzfall heranzuziehen, war um so misslicher, als er einen sehr
unechten Eindruck machte. Die erste Angabe, die er dem Postmeister
gemacht hatte, dass er aus Verzweiflung über seine trostlose Lage
umhergeirrt sei und sich eventuell das Leben habe nehmen wollen,
weil er sich nicht mehr habe durchfinden können, entspricht wohl sicher¬
lich mehr der Wirklichkeit und reicht dann aber auch fraglos in die
physiologische Breite. Und nun stellen sich plötzlich 3 Anfälle ein,
und umfassen .nur die Zeit, in der er die Unterschlagungen begeht, während
er alle sonstigen dienstlichen Verpflichtungen in tadelloser Weise vor¬
nimmt und auch zu Hause gar nicht weiter auffällt. Dabei vermissen
wir trotz einer genauen Erhebung der Anamnese das von Siemerling
(1. c. S. 911) mit Recht als so charakteristisch bezeichnete mechanische
Abspielen von rein gleichgiltigen, anscheinend geordneten Handlungen
und sonderbaren Aeusserungen, die zur Situation in keinem rechten
Zusammenhang stehen. Immer ereilen ihn diese Anfälle nur dann,
während grössere Summen in seinen Händen bleiben, während er
den äusseren Formalitäten ohne jeden Fehler genügt. Dabei hat er
für die sonstigen Ereignisse eine ganz ganz gute Erinnerung, nur die
Ueberwanderung des Geldes in seinen Besitz wird von der Amnesie
dahingerafft. Zugegeben muss ja werden, dass sein Umherwandern,
wenn es als Flucht aufgefasst werden muss, nicht allen Ansprüchen
an ein zielbewusstes Entweichen genügt und dass er sie nicht zum
Abschlüsse brachte. Aber dass ein solcher Flüchtling wie er, der im
Grunde zweifellos keine Verbrechernatur ist, unter der Last der Gegen¬
vorstellung die Zielbewusstheit einbüsst und schliesslich der ungewissen
Zukunft im Auslande die Strafe vorzieht, finden wir doch öfters; ob
er rein mechanisch und automatisch herumgewandert ist, liess sich
nicht ermitteln. Auffällig zum mindesten bleibt auch die Art und
Weise, wie er sich aus diesem Dämmerzustände herausfindet, wie er
sich zu orientieren bemüht, wie er das Geld unter einer Deckadresse
zu erheben sucht; in hohem Masse verdächtig auch der Inhalt der
Karten, die er aus Linz schreibt und in denen er seine Tat bereut,
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Dr. Mönkemöller,
von deren Vorhandensein er nichts wissen will. Dazu kommt noch sein
Verhalten bei der Exploration, die Unfähigkeit, das Erlebte in klinisch
echter Weise zu schildern, und die Tatsache, dass er zuerst behauptet,
unter einem bestimmten Zwange gehandelt zu haben, während er später
mit keinem Worte mehr davon spricht, geschweige denn sich mit einer
glaubhaften Schilderung abzufinden vermag, ist wirklich nicht dazu
angetan, um seine Glaubwürdigkeit zu mehren. Auch wenn man der
alten Erfahrung Rechnung trägt, dass der Gedächtnisinhalt einige Zeit
nach dem Anfalle sehr schwankend ist, dass zuerst eine gewisse Er¬
innerung vorhanden ist, die wieder verloren gehen kann — in der
Zeit, in der er exploriert wurde, musste schon eine grössere Stabilität
in dem Erinnerungsmaterial eingetreten sein und derartige Widersprüche,
■wie er sie sich zuschulden kommen liess, können die Neigung, an der
Echtheit dieser Amnesie zu zweifeln, kaum vermindern.
Und selbst, wenn man sich von der Echtheit des 3 Wochen langen
Dämmerzustandes hätte überzeugen können, für die Tat selbst konnte
er als straffreimachendes Moment nicht in Betracht kommen. Milde Ver¬
urteilung bei Anrechnung der Untersuchungshaft. Dass er die Be¬
gutachtung nicht als ein zu grosses Unrecht empfand, geht vielleicht
schon daraus hervor, dass er nach seiner Entlassung den Arzt bat,
ihm zu einer Stellung, vielleicht als Wärter an einer Anstalt, zu ver¬
helfen. Weitere Dämmerzustände sind bei ihm nicht zur Beobachtung
gelangt.
Eine grosse Aehnlichkeit mit diesem Fall hat der folgende.
Am 9. 2. 02 wurde der Postassistent Kr. aus E. unter Unterschlagung von
25000 Mark flüchtig. Seiner Umgebung war er weder an dem betreffenden Tage
noch an den vorhergehenden aufgefallen. Er hatte 3 Wertsendungen unterschlagen,
einen Brief von 100, einen von 730 und ein Wertpaket von 24000 Mark. Zur Zeit
der Unterschlagungen war der Schalterverkehr immer sehr schwach. Alle anderen
um diese Zeit eingelieferten Postanweisungen, die sämtlich auf kleinere Beträge
lauteten, hatte er richtig gebucht, die 3 Sendungen garnicht. In den Einlieferungs¬
büchern hatte er Quittung erteilt. Um 9 Uhr verliess er den Dienst und sagte seinen
Vorgesetzten, er werde am anderen Tage (Sonntag) wiederkommen, da sein Abschluss
nicht stimme. Seine Frau bemerkte abends an ihm nichts Besonderes. Am anderen
Morgen ging er um 7 Uhr zur Post, nachdem er gesagt hatte, sie solle das Mittags¬
essen bereit halten und sein Zimmer heizen, da er nachmittags arbeiten wolle,
abends wollten sie den Weihnachtsbaum anzünden. Auf der Post arbeitete er bis
8 Uhr in unauffälliger Weise, seinem Naohfolger übergab er Schlüssel, Bücher und
Kasse. Dann ging er zur Bahn und löste ein Billet nach Bremen, wo sein Schwieger¬
vater lebte, den er sonst gelegentlich besuoht hatte. Am 10. 2. Entdeckung, Ver¬
folgung, Benachrichtigung der Polizei in den in Frage kommenden Hafenorten.
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Zur Kasuistik der forensischen pathologischen Bewusstseinsstörungen. 31
Bei einem bekannten Schaffner erkundigte er sich in Leer (wo sich die Linien nach
Bremen und Neuschanz kreuzen) nach dem Zuge nach Neuschanz (holländische
Linie) und liess sich ein Coup£ 2. Klasse für sich allein geben. In Neuschanz
zeigte er zuerst ein Billet E.—Bremen und erst dann die richtige Karte. Dort liess
er sich eine Karte nach Groningen geben und dabei eine grössere Geldsumme
wechseln, eine ähnlich grosse Summe im Wartesaal. In Groningen nahm er eine
Karte nach Amsterdam. Hier entschwand er den Nachforschungen, nur liess sich
später ermitteln, dass er mehrere Malo sein Logis gewechselt hatte. Die Polizei
beobachtete daraufhin seineFrau, die nach mehreren Monaten plötzlich verschwand.
Mit Hilfe vorausgeschickter Photographien wurde sie in N^w-York bei der Ankunft
erkannt und beobachtet. Sie wechselte mehrere Male den Zug; als ihr Mann sie
in San Francisko in Empfang nahm, wurde er verhaftet und ausgeliefert.
In der ersten Vernehmung gab er an, er habe früher an nervösen Kopf¬
schmerzen gelitten, sodass er zuletzt in Bremen seinen Posten als Schutzmann
nicht mehr habe ausfüllen können. In E. habe sich infolge der schlechten Be¬
handlung durch seine Vorgesetzten seine Nervosität erheblich gesteigert. Er habe
sich nicht ärztlich behandeln lassen, weil das doch nichts nütze. Die Tat habe
er begangen r habe aber keine Erinnerung für das Geschehene und ziehe es vor,
sich darüber nicht zu äussern. Erst als er auf dem Dampfer einige Nächte
Ruhe gefunden habe, sei er wieder zu sich gekommen. Er habe geahnt, woher
das viele Geld stamme, habe es aber nicht gezählt. In Amerika habe er es in einem
Unternehmen deponiert, das pleite gemacht habe.
Vom 3. 11.—21. 11. Anstaltsbeobachtung.
Nach seinen eigenen Angaben soll sein Vater getrunken und ein Bruder
an Krämpfen gelitten haben. Kein Potus. Konnte sehr viel vertragen. Kein
Trauma. Keine Lues. Enuresis nocturna, Somnambulismus, Pavor nocturnus
negiert. Keine Kesistenzlosigkeit gegen Hitze. Keine Zwangsvorstellungen, Hallu¬
zinationen. Keine hysterischen Stigmata. Litt als Kind an Kopfschmerzen, des¬
gleichen seit mehreren Jahren, besonders wenn er viel lernen musste. Da¬
bei drehte sich alles um ihn, er fühlte sich sehr übel, es flimmerte
ihm vor den Augen. Abends konnte er angeblich nicht einschlafen,
hatte das Gefühl, als ob er im Wasser schwebe, hatte Angst, wurde häufig wach
und konnte nicht wieder einschlafen. Will im Januar Schwierigkeiten beim Nach¬
denken gehabt haben, auch soll sein Gedächtnis schlecht gewesen sein.
In der letzten Zeit dauernd verstimmt. Depressionen, die aber keinen periodi¬
schen Charakter tragen. Will schwer gelernt haben. Mit seinen Mitschülern ver¬
träglich. Handlungslehrling; weshalb er diesen Beruf aufgab, will er nicht sagen.
1886—90 diente er, erhielt die Dienstauszeichnungsmedaille, ging als Sergeant
ab. Zwischendurch mehrere Monate in Hamburg Zeitungskorrespondent. Die Schlaf¬
losigkeit steigerte sioh; er will Dr. Scholz in Bremen konsultiert haben. Sei gegen
seine Untergebenen sehr scharf gewesen, weil er zu aufgeregt war. 1897—1901
Gendarm, gute Behandlung, nichts Besonderes. 1897 Heirat, glückliche Ehe, sehr
selten leichte häusliche Scenen. Seit 1901 bei der Post. Der Schalterdienst sei
ihm nicht schwer gefallen, nur der Weihnachts- und Neujahrsverkehr habe
ihn umgeworfen, zumal auch die Schlafpulver nicht mehr wirkten. Einen Arzt
habe er jetzt nicht mehr um Rat gefragt, weil er wegen Krankheit herausgescbmissen
worden wäre. Die Vorgesetzten seien nicht wohlwollend gegen ihn gewesen, weil
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die Militäranwärter nioht beliebt seien. Den übrigen Postasssistenten sei der Um¬
gang mit ihm untersagt worden. Der Verkehr mit dem Publikum sei nicht schwer
gewesen, keine Konflikte.
Gibt erst nachher auf Befragen scheu und widerwillig zu, dass er vor
der Militärzeit schon 2 Jahre in Amerika gewesen ist und zwei uneheliche Kinder
zu alimentieren hat.
Datum der Straftat will er nicht mehr wissen. Im Januar habe er den Dienst
nicht ordentlich getan, da müsse er viele Böcke geschossen haben. Er habe die
leichtesten Arbeiten nicht mehr verrichten können. (Ist de facto garnicht aufge¬
fallen.) Sonstige Einzelheiten aus diesem Monat könne er nicht angeben, es sei so
gewesen, als ob ihm Jemand die Hand festgehalten habe, er sei von einer
furchtbaren Angst erfüllt gewesen. Er habe darüber mit Keinem gesprochen, seine
Frau sei zu oberflächlich, seine Kollegen hätten kein Verständnis für Nervosität.
Das letzte, was er wisse, sei, dass er am 8. Januar in Berlin gewesen sei, weil er
ohne Vorwissen seiner Behörde in den Kolonialbetrieb habe eintreten wollen, sonst
ist er nicht im Stande, aus dem Januar auch nur das geringste Erlebnis anzugeben.
Seine Erinnerung fangt auf dem Dampfer an, es sei Ende Februar gewesen,
er war schon hinter England. „Da habe ich Schlaf gefunden .und bin so
zum Bewusstsein gekommen.“ Er batte die Taschen voll Geld, es dämmerte
ihm auf, wie er dazu gekommen sei, er habe mit keinem darüber gesprochen, weil
doch keiner Verständnis dafür gehabt habe. Das Geld habe er nicht zurückschicken
wollen, weil ihm ja doch keiner geglaubt haben würde. Dann wäre er ins Gefängnis
gekommen, hätte seine Stellung verloren und wie ein Bettler dagestanden.
Einen ähnlichen Zustand habe er früher nie durchgemacht. Seinen
Lebenslauf zu schreiben, weigert er sich ganz energisch. Das Beobachten könne
er nicht aushalton, er sei ganz konfus geworden, er wisse wohl, dass er sich nicht
ganz so benommen habe, wie ein Kranker seiner Art das tun müsse; er habe schon
dem Untersuchungsrichter gesagt, er wolle sich nicht ganz aussprechen, er wisse
auch noch einiges, das wolle er aber nicht sagen, weil es ihn eventuell belasten
könne, man glaube ihm ja dooh nicht. Dabei war ihm gegenüber in keiner Weise
zum Ausdruck gelangt, dass man ihm nicht alles glaube. Als ein anderer Kranker
zufällig „Oberspitzbube“ vor sich hinruft, wird er gewaltig erregt. Man wolle ihn
hier zur Verzweiflung treiben. Gegen Abend wieder beruhigt.
Dem Beobachter gegenüber übertrieben höflich, bei der Krankenvisite lauernd,
achtet intensiv auf jedes Wort, bringt jedesmal seine Klagen, nervöse Beschwerden
vor. Will immer schlecht geschlafen haben, ist dabei mehrere Male von der
Wache fest schlafend und schnarchend angetroffen worden. Als ein
anderer Kranker bei der Visite von einer Halluzination berichtet, erzählt K. am
anderen Tage von einer ähnlichen Sinnestäuschung, obgleich er ruhig ge¬
schlafen und früher auch nie etwas Aehnliches erlebt haben will. Gibt zu, dass
das wohl nur eine Einbildung gewesen sein könne. Dabei in der Unterhaltung un¬
sicher, stockend, sondierend, viele Widersprüche, ln seiner Wäsche versteckt wird
eine grosse Feile gefunden.
Nach dem Urteile seiner Bekannten galt er als ein Sonderling, als eine
verschlossene Natur und sehr sinnlich veranlagt. Sein Haushalt war be¬
scheiden eingerichtet, als Gendarm sparte er. Keine Sohulden. Hielt sich ab¬
geschlossen von jedem Verkehr. Weib und Kind misshandelte er oft bei ge-
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Zur Kasuistik der forensischen pathologischen Bewusstseinsstörungen. 33
ringfügigen Anlässen in brntaler Weise, sonst lebte er mit seiner Familie in gutem
Einvernehmen. Hatte immer grosse Sehnsucht nach dem Auslande. Im
Postdienst fühlte er sich nicht wohl. Nach Aussage eines Kollegen, der immer
geglaubt hatte, jenem fehle etwas, war er als Schutzmann nervös, widersprach
ihm jemand, wenn er einschreiten sollte, dann zitterten seine Hände, die
Lippen flogen und er blickte stier. Immer sehr wortkarg. Hing oft seinen
eigenen Gedanken nach, wenn andere sich mit ihm unterhielten. Als Schutz¬
mann entlassen, weil er gesagt hatte, er betrachte diesen Posten als Durchgangs-
Station. Dem Postmeister war er nie aufgefallen, er war stets ruhig und korrekt.
Stets verschlossen. Nach Ansicht des Oberpostassistenten war er er nioht nervös,
auf seine Leistungen übermässig stolz, verkehrte mit keinem Kollegen. Ge¬
legentlich einer Rektifikation so erregt, dass es aussah, als würde es zu
Tätlichkeiten kommen. Hat nie über Nervosität geklagt. Direktor Scholz
hat ihn de facto nicht behandelt, ein praktischer Arzt Dr. B. wegen Schlaf¬
losigkeit und nervösen Kopfschmerzen. Nur subjektive Angaben: „hochgradige
Nervosität lag nicht vor“. Ausserdem wurde ermittelt, dass er sehr viel in
medizinischen Büchern gelesen hatte.
Bei der körperlichen Untersuchung liess sich keine Abweichung von der Norm
feststellen, auffällig war nur, dass die Unterschenkel beim Beklopfen der Patellar-
sehnen hoch in die Luft flogen, während sich bei einer mit den nötigen Kautelen
wiederholten Untersuchung feststellen liess, dass die Kniephänomene vollkommen
normal waren.
Dass Kr. eine psychopathische Persönlichkeit war, unterlag von
vornherein keinem Zweifel, ob aber die Abweichungen, die er von
der Norm darbot, genügten, um ihn der Strafe zu entziehen, war eine
andere Frage. Und noch fraglicher war es, ob man ihm den Dämmer¬
zustand glauben solle. Nimmt man die von ihm produzierte Amnesie
als Massstab für die Dauer dieser Bewusstseinsstörung an, so haben
wir es mit einem Dämmerzustände von rund zwei Monaten zu tun
und setzen wir den Erinnerungsverlust für die Vorgänge im Januar
auf die Rechnung einer retrograden Amnesie, so weist die Zeit der
dauernden Bewusstseinsstörung noch immer die respektable Länge
von mehreren Wochen auf. Dabei ist die Amnesie für die Zeit, auf
die cs ankommt, total, — für die Wanderzustände dieser Zeit
sicherlich nicht das Normale (vergl. Schultze, Donath u. a.). Und
dieser schwere Bewusstseinsverlust setzt wieder bei einem Manne ein,
der für einwandsfreie Epilepsie und Hysterie eine so gut wie freie
Vergangenheit hat, es sei denn, dass man die Reizbarkeit auf Rechnung
einer epileptischen Degeneration setzen will. Zur Not liessen noch
die Zustände, die er als Schutzmann darbot, an Absencen denken,
wenn sie auch nach der ganzen äusseren Schilderung sich viel
zwangloser als Folge der Gereiztheit und als gesteigerte Ablenkbarkeit
Vierte^jahrsselurift f. ger. Med. u. öff. San.-WeseD. 3. Folge. XXXII. 1. 3
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deuten lassen. Will man nach Donath 1 ) in der epileptischen Porio-
manie ein psychisches Aequivalent besonderer Art sehen, das sich
von den gewöhnlichen dadurch unterscheidet, dass die Bewusstseins¬
störung entweder gänzlich fehlt oder infolge ihrer Geringfügigkeit in
den Hintergrund tritt, so werden die Bedingungen für eine epileptische
Grundlage kaum in hinreichender Weise erfüllt und wir sind
gezwungen, uns um so intensiver an den „Dämmerzustand“ selbst zu
halten. Jedenfalls fehlen aber ßewusstscinsverluste in der Vor¬
geschichte ganz und der exorbitante Dämmerzustand setzt ohne irgend
welche Vorboten erst dann ein, als zur Zeit einer geringeren Beob¬
achtung von aussen her verhältnismässig grosse Summen in seinen
Besitz gelangen. Wieder werden die geringfügigen Geldsummen, die
in dieser Zeit eingehen, von den Krankhcitscntladungen nicht getroffen,
wieder funktioniert der ganze formelle amtliche Apparat, soweit es
nötig ist, um die Entdeckung im allerersten Augenblicke zu verhüten,
tadellos, wieder bleibt der Kranke seiner Umgebung vollkommen
unverdächtig und weicht in keiner Weise von seinem gewohnten
Verhalten ab. Aus den Einzelumständen der Tat ist weder eine
Trübung, noch eine Beschränkung der Ucberlegung ersichtlich und
ebensowenig ist anderweitig eine Bewusstseinsveränderung festzustellen,
weder vor noch nach der Tat (Moeli 1. c.). Die Art und Weise, wie
er nach Amerika fortgedämmert, entspricht auch nicht gerade nach
dem, was davon bekannt geworden ist, dem Benehmen, wie es in
solchen Zuständen gebräuchlich ist. Auch wenn man der Erfahrung,
dass in solchen Zuständen äusserst komplizierte Handlungen vor¬
genommen werden können, gerecht wird, muss man sagen, dass sein
Verhalten auf der Eisenbahn und in Amsterdam, wo die Verfolger
ihm dicht auf den Fersen waren und die bei solchen Gelegenheiten
sehr gewitzigte Hafenpolizei auf ihn lauerte, alle Hochachtung verdient.
Von einer automatischem Ausführung kann man wohl mit dem
besten Willen nicht sprechen. Belastender für ihn sind meiner Ansicht
nach seine eigenen Angaben. Dass er aus dem Monat Januar nur
solche Tatsachen anzugeben weiss, die ihn entschuldigen und für
seine psychische Erkrankung sprechen müssen, während aus dem
Dunkel dieses Dämmerzustandes auch nicht das geringste sonstige
harmlose Erlebnis hervorleuchtct, muss bei dem äusserlich gänzlich
normalen Verhalten sicherlich befremden. Und selbst wenn man sich
1) Donath, 1. c. S. 353.
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Zur Kasuistik der forensisoben pathologischen Bewusstseinsstörungen. 35
zu der Ansicht aufzuschwingen vermag, dass der wohltätige Mantel
der Bewusstseinsumflorung sich während der Tat wirklich auf sein
Gemüt gesenkt hätte und dass die Poriomanie, die ihn auf das Schiff
führte, — echt gewesen sei, — seine Schilderung, die er von dem
Erwachen aus dem Schlafe gibt, ist sicherlich nicht geeignet, unserem
Glauben unbegrenzte Dimensionen zu verleihen. Trotz der Amnesie,
die auf ihm lastet, weiss er, dass er mehrere Nächte geschlafen
hat und dass erst die gefundene Ruhe ihn erwachen liess. Wäre er
nun wirklich der pflichtgetreue Beamte gewesen, als den er sich immer
hinzustellen beliebte, dann würde er zweifellos anders gehandelt haben,
als er es tat. Dazu kommt noch die ganze Art seines Auftretens
in der Anstalt, die angebliche äusserst verdächtige Unterbringungs-
methodo des Geldes in Amerika, und seine Weigerung, sich durch
eine schriftliche Rekapitulation seiner Aussagen in Widersprüche zu
verwickeln. Alles das trägt wohl kaum dazu bei, uns für seine
Glaubwürdigkeit zu erwärmen. Legt man noch die versteckte Feile
in die WagschaJe, so wird diese kaum nach der Seite hin sinken,
dass er von der durchschlagenden Kraft seiner psychischen Ent¬
lastungssymptome felsenfest überzeugt gewesen wäre. Gewiss steht
ja die Tat im Gegensatz zu seinem sonstigen Tun und Lassen, aber
von einer Motivlosigkeit der Tat kann nicht die Rede sein. Bei der
geringen Lust, die er an seinem Berufe hatte, den Widerwärtigkeiten,
die er angeblich von seiner Umgebung auszustehen hatte und der
Sehnsucht, die ihn nach dem Auslände hinzog, hat seine Reise nach
Amerika nichts Befremdendes an sich.
An der Realität dieses Dämmerzustandes konnte man mit dem
besten Willen nicht festhalten. In der Hauptverhandlung beschränkte
er sich denn auch auf trotziges Leugnen und die sonst sehr tätige
Verteidigung machte nicht den geringsten Versuch, diese ausgedehnte
Umdämmerung auszunutzen.
Anders steht es ja mit der Gesamtpersönlichkeit, vor allem
konnte man ja bei manchen Krankheitsäusserungen an Paranoia
denken. Der Kürze halber sei nur bemerkt, dass die Nachforschungen
nach dieser Richtung hin ein negatives Resultat hatten. Eine grössere
Beachtung verdient die bei ihm vorhandene Neurasthenie. Nach
den Angaben des Angeklagten selbst, sowie seiner Umgebung und
dem Ergebnisse der Anstaltsbeobachtung konnte ohne jede Frage
eine derartige Form von Neurasthenie, die die Zurechnungsfähigkeit
in Frage gestellt hätte, nicht angenommen werden. Den vor-
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Dr. Mönkomöller,
handenen psychischen Abweichungen wurde bei der Begutachtung
genügend Rechnung getragen.
Die bei dem letzten Angeklagten beobachteten Symptome von
Neurasthenie nötigen noch zu einer kurzen Abschweifung. Verfolgt
man die Inanspruchnahme des forensischen Psychiaters in der letzten
Zeit, so findet man, dass bei Unterschlagungen im Amte und
ähnlichen Delikten die Angeklagten verhältnismässig oft behaupten,
sie wüssten nicht, wie sie dazu gekommen seien und dass sie es
überhaupt getan hätten, so dass man sich also der Ventilation der
Frage, ob sie nicht im Dämmerzustände gehandelt hätten, nicht ent¬
ziehen kann.
Meist handelt es sich um junge, gerade im Beginne der Post-
carriere stehende Beamte, die z. T. die anstrengende Subalternen¬
militärkarriere hinter sich haben, denen der Alkoholgenuss nicht
ganz fremd geblieben und denen z. T. auch die luische Infektion nicht
erspart worden ist. Wie so viele Männer aus diesen Kreisen haben
sie relativ sehr früh geheiratet, durch eine mit ihren Einkünften im
Widerspruch stehende grosse Kinderzahl ihre pekuniäre Lage ver¬
schlechtert und da sie gezwungen sind, eine Kaution zu stellen, treten
die meisten von ihnen mit Schulden in die neue Karriere ein. Nun
liegen sie einer Beschäftigung ob, die mit ihrer früheren in schnei-
denstem Gegensätze steht. An Stelle der ausgiebigen Muskelübung
in der frischen Luft sind sie gezwungen im dumpfen Schalterdienste
der meist etwas einförmigen Beschäftigung sich zu widmen. In
ihren dienstfreien Stunden müssen sie zur Erholung für das Examen
mehr geistig arbeiten als ihnen in ihrer früheren Laufbahn zugemutet
wurde. Vorläufig sind sie noch nicht fest angestellt, die Besoldung
ist nicht allzu üppig, von ihren Zivilkollegen werden sie in der neuen
Karriere nur mit wiederwillig geöffneten Armen aufgenommen und
müssen sich ihre Stellung erst erkämpfen.
Bei dieser Belastung des Nervensystems ist natürlich kein Wunder,
dass es solchen Anforderungen oft seinen Tribut zahlen muss. Die
Lage wird drückender, der Schlaf Nachts entsprechend schlechter und
bei Tage quält die ungewohnt grosse Verantwortung um so mehr,
als diese Beamten ja für die Gelder, die im Schalterdienste durch
Rechenfehler und Unachtsamkeit minus gemacht werden, ersatzpflichtig
gemacht werden.
Auf der anderen Seite gehen die grössten Geldsummen im
Schalterdienste durch ihre Finger, die Aufsicht fällt häufig für einige
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Zar Kasuistik der forensischen pathologischen Bewusstseinsstörungen. 37
Zeit fort und die Technin der Unterschlagung ist, für den Augenblick
wenigstens, oft ein Kinderspiel. Was Wunder, dass, wenn in einem
solchen Momente an die Psyche so konzentriert starke Anforderungen
gestellt werden, die Gegenvorstellungen leicht zurückgedrängt werden,
dass die erschlaffte Willenskraft ganz erlahmt und dass die Genug¬
tuung, wenigstens für die Sekunde der schweren Lage ein Ende
machen zu können, den Sieg davon trägt. Gelangt ein solcher
Defraudant aus irgend* welchen Gründen zur psychiatrischen Beob¬
achtung, dann ist diese nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet,
auf diesen eigenartigen Zustand der Psyche, auf die ätiologischen
Faktoren, die neurasthenische Grundlage und auch die intensive auf
einen Augenblick zusammengedrängte starke Zumutung an die
Willenskraft hinzuweisen und diesem eigenartigen, die Schuld mil¬
dernden psychischen Zustande gerecht zu werden. Dass damit die
volle Zurechnungsfähigkeit im allgemeinen nicht in Frage gestellt
wird, ist ja selbstverständlich, aber wenn noch andere Faktoren hierbei
ihre Tätigkeit entfalten, ist es sehr leicht möglich, dass der Begut¬
achtung eine heikle Aufgabe auferlegt wird. Je nach der Stärke,
die eine derartige Berufsneurasthenie erreicht hat, wird die Beur¬
teilung manchmal recht schwierig werden und bei den schwersten
Graden der Nervenschwäche wird in einzelnen Fällen die Begutachtung
mehr oder weniger durch den Standpunkt beeinflusst, den der
Begutachter zu den neurasthenischen Dämmerzuständen ein¬
nimmt.
Konnte man sich in den beiden letzten Fällen wohl kaum mit
der Annahme befreunden, dass Epilepsie oder Hysterie das Eintreten
eines solchen Zustandes ermöglicht hätten, so waren die nervösen
Beschwerden in dem letzten Falle wenigstens genügend stark aus¬
geprägt, um einen solchen neurasthenischen Dämmerzustand nicht
ohne weiteres von der Hand weisen zu können. Bekanntlich hat
Krafft-Ebing 1 ) ganz besonders für das Vorhandensein derartiger
Zustände plaidiert. Auf der Höhe einer Neurasthenia cerebralis
beobachtete er als Kulminationspunkt eines zerebralen Erschöpfungs¬
zustandes, meist unter dem Einhergehen von äusserlichen Zeichen der
Inanition und Erschöpfung, Bewusstseinstrübungen, die sich bis zur
1) Krafft-Ebing, Ueber transitorisches Irresein auf neurasthenischer
Grundlage. Irrenfreund. 1883. No. 8. — Wiener klin. Wochenschr. 1881. No. 51.
— Arbeiten aus dem Gesamtgebiete u.s.w. 1897—1899. Lehrbuch der Psychiatrie.
Stuttgart 1890. S. 524. — Lebrb. der Psychopathologie. Stuttgart. 1892. S. 268.
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Dr. Mönkemöller,
Bewusstlosigkeit steigern konnten und mit entsprechenden Erinnerungs¬
defekten verbunden waren. Als letzte Ursache ergaben sich meist
schlaflose den letzten Rest von Spannkraft aufzehrende Nächte. Diese
transitorischen Psychosen schwankten von Dämmer- bis zu Träum-,
Stupor- und deliranten Zuständen, die vollkommen mit solchen auf epi¬
leptischer Grundlage entstandenen übereinstimmten. Während dieser
Anfälle waren die Pupillen erweitert und reagierten träge, der Puls
war klein, die Arterie drahtartig kontrahiert. Vor und nachher
bestanden deutliche Zeichen schwerer Neurasthenie. Als veran¬
lassende Ursachen sah er kalorische Einflüsse, selbst mässigen
Genuss von Spirituosen und Tabak, und Gemütsbewegungen. In
forensischer Beziehung traten diese Attacken den epileptischen,
alkoholistischen und hysterischen dadurch sehr nahe, dass er auch
Zustände fand, in welchen stark gefühlsbetonte Vorstellungen der
luziden Lebensstunden dominierend auftraten und in Folge einer
allgemeinen Assoziationsstörung pathologische Handlungen auslösten.
Die neurasthenischen Dämmerzustände fristen in der Literatur
keine allzu ausgedehnte Existenz.
Schüle machte bei Gelegenheit der Diskussion über die
Schultzeschen Wandertriebsfälle darauf aufmerksam, dass sie den
von Krafft-Ebing beschriebenen glichen und auch Moeli (1. c. S. 183)
beobachtete bei Inanition und nach heftigen depressiven Affekten
Schwächlicher vorübergehende Bewusstseinsstörungen mit Verwirrtheits¬
zuständen.
Pätz 1 ) berichtete über einen derartigen Fall, bei dem ein Neura¬
stheniker in einem Dämmerzustände ohne Rücksicht auf seine amtlichen
Pflichten, ohne für eine Vertretung zu sorgen oder seiner Frau davon
Kenntnis zu geben, sich von Hause entfernte, plan- und ziellos herum¬
reiste und unregelmässig lebte, bis er schliesslich nach Eintritt geistiger
Klarheit aus eigenem Antriebe wieder nach Hause zurückkehrte.
Im allgemeinen ist ihre Existenzberechtigung durchaus nicht über
alle Anfechtungen erhaben. In den meisten Lehrbüchern sind sie
überhaupt mit keinem Worte erwähnt. Ziehen 2 ) hielt es für sehr
zweifelhaft, ob wirklich ohne wesentliche unmittelbare Ursache
ausschliesslich auf Grund der Neurasthenie nach Analogie der epi-
1) Pätz, Diskussion über den Vortrag von E. Schnitze: Beitrag zur Lehre
von den pathologischen Bewusstseinsstörungen. Allg. Zeitsohr. f. Psych. Bd. 53.
1898. S. 808.
2) Ziehen, Psychiatrie. 2. Aull. 1902. S. 281.
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Zar Kasaistik der forensischen pathologischen Bewusstseinsstörungen. 39
leptischen und hysterischen Dämmerzustände Vorkommen. Donath 1 )
sah das krankhafte Wandern bei Degenerierten, Schwachsinnigen, Blöd¬
sinnigen, Paralytikern, Alkoholisten und Hysterischen. Die Neura¬
stheniker erwähnt er mit keinem Worte. Löwenfeld 2 ) berichtet zwar
von Zuständen von Betäubung und Verwirrtheit bei Neurasthenikern,
in denen sie umhergehen, ohne zu wissen, was sie tun, in denen sic
sich in einer wohlbekannten Gegend nicht zurechtfinden können und
in ihrem Geschäfte nicht wissen, was sie tun sollen; aber er billigt
ihnen nur eine Dauer von wenigen Minuten oder höchstens Stunden zu.
Erkennt man die Existenz derartiger Zustände an, so tut man in
forensischer Beziehung einen folgenschweren Schritt: Denn bei einer
Menge von Vergehen und Verbrechen wird man, ähnlich wie in dem
letzten Falle, in Folge der vorausgegangenen zahlreichen psychischen
Traumata, der dauernden Seelenkämpfe, der schweren Verantwortung
mehr oder weniger zahlreiche Symptome der Neurasthenie, Schlaf¬
losigkeit, innere Unruhe, Denkzwang, Unlust zum Arbeiten u. s. w.
vorfinden, nur dass sie weit in das Physiologische hineinragen. Tritt
dann noch zu dieser Grundlage das für die Dämmerzustände durch so
viele Beispiele als charakteristisch bezeichnete Fortdämmern, das in
solchen Fällen vom Staatsanwalte meist mit dem kürzeren Namen
Flucht bezeichnet wird, so wird man leichter dazu kommen, eventuell
in der Abwägung der Zurechnungsfähigkeit milder zu urteilen. Immer
wird man jedenfalls verlangen müssen, dass nur die schwersten Grade
der Nervosität zur Entschuldigung des Täters herangezogen werden
dürfen. Solange aber die Existenz dieser längerdauernden Dämmer¬
zustände sich noch keiner allgemeinen Anerkennung erfreuen, wird
man ihnen vor dem Forum noch mit grosser Vorsicht gegenübertreten
müssen, wenn man nicht in falscher Sentimentalität der Theorie
zu weitgehende Opfer bringen will. Dass nur die schwersten Grade
der Neurasthenie herangezogen werden können, um die Bedin¬
gungen des § 51 zu erfüllen, ist nun ja im allgemeinen schon an¬
erkannt und man wird füglich verlangen können, dass, wenn schon
die Bewusstseinsstörungen der Epileptiker und Hysterischen nie ohne
die nötige Kritik angesehen werden, dies bei den „neurasthenischen
Dämmerzuständen“ in doppeltem und dreifachem Masse geschieht.
Auf einem anderen Gebiete lagen die Schwierigkeiten in folgendcmF alle:
1) Donath, 1. c. S. 353.
2) Löwenfeld, Pathol. und Therap. der Neurasthenie und Hysterie. 1894.
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Dr. Mönkemöller,
Re . . 34 Jahre alt, Bäckergeselle, kam 1901 in den Verdacht, mehrere
male und zwar innerhalb eines Zeitraums von 14 Tagen Feuer angelegt zu haben.
In dem ersten Falle brannte das väterliche Bäckergeschäft, das nicht besonders
gut ging, aber nicht sehr hoch versichert war. Verdächtig wurde er dadurch, dass
ein Mann, der auf einem den meisten Dorfbewohnern kaum bekannten Wege in
der entsprechenden Zeit in sehr eiligem Laufe dorthin gestrebt war, mit ihm
identifiziert wurde. Nachher soll er beim Löschen wenig geholfen, vielmehr in
wahnsinniger Weise immer gerufen haben, „ach unser Boden, unser Mehl“.
Der zweite Brand fand in einem benachbarten Hause statt, in dem der
Gensdarm des Ortes schlief. Hier wurde Re. dadurch auffällig, dass er „wie
wahnsinnig“ in das Zimmer hereinstürzte, in dem dieser lesend sass, und ihm den
Brand meldete.
Beim dritten Male nahm man ihm übel, dass er, obgleich er nicht Mitglied der
Feuerwehr war, eine Trommel vom Boden holte und trommelte, „offenbar nur,
um einen besonderen Eifer an den Tag zu legen und sich als möglichst unschuldig
hinzustellen“. Bei den drei Brandtaten wurde er von verschiedenen Zeugen als
angetrunken oder betrunken bezeichnet, allerdings liess sich nachweisen, dass
er vorher mehrere Glas Bier getrunken hatte. Bei zwei Bränden entdeckte man,
dass sie sorgfältig vorbereitet waren, man fand mehrere „Nester“ von
Zeitungen, Holz und Torf. Der Verdacht fiel auf Re., weil die Zeitungsnummer,
die man an der Brandstelle gefunden hatte, einzig und allein in seinem Vorräte
fehlte, weil er sich bei den Nachforschungen danach auffällig benommen haben
sollte und weil man ihn in der Nähe der Brandstätten gesehen haben wollte.
Ohne dass er selbst irgendwie darauf hingewiesen hätte, kam in der Vor¬
untersuchung zu Tage, dass er Epileptiker war. Vom Militär war er wegen
eines epileptischen Verwirrtheitszustandes entlassen worden, später hatte
er zu Hause einen ähnlichen Erregtheitszustand durchgemacht, in dem er seine
Eltern zu töten gedroht, alle Fensterscheiben zerschlagen hatte und gehalten
werden musste. Später trat im Untersuchungsgefängnis ein gleicher Zustand auf.
Re. wird als verlogener und moralisch heruntergekommener Mensch
geschildert, der vor keiner Schandtat zurückscheute. Dem Trünke sei er sehr er¬
geben, er ärgere immer andere Leute, renommiere gern und sei sehr selbst-
gefällig.
Zunächst ausser Verfolgung gesetzt wegen der Möglichkeit eines krankhaften
Geisteszustandes, später Wiederaufnahme des Verfahrens. Anstaltsbeobachtung.
In der Anstaltgab er sich natürlich, sprach sich frei aus, war intelligent,
nicht reizbar, über den Stand der Sache und über die Bedeutung der eventuellen
Bewusstseinsverluste vollkommen orientirt.
Krämpfe seit dem 16. Lebensjahre ohne Aura. Früher Schwindelanfälle, seit
mehreren Jahren nicht mehr, ebenso Ohnmachtsanfälle, die früher bestanden und
bei denen er um fiel. Kurze Dauer, Amnesie, seit 16 Jahren nicht mehr. Hitze
und Alkohol werden gut vertragen, Enuresis nocturna, Somnambulismus, Pavor
nocturnus negiert. Keine stereotypen Träume, keine Vorliebe für Flammen und
Feuer, keine Halluzinationen. Absencen, epileptoide Zustände, Dämmerzustände,
Wandertrieb, Zwangsvorstellungen und -handlungen, periodische Depressions¬
zustände, Neigung zu Stimmungsschwankungen werden strikte negiert, keine
nächtlichen Anfälle, keine impulsiven Handlungen. Hysterische Stigmata fehlen
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Zar Kasuistik der forensischen pathologischen Bewusstseinsstörungen. 41
gänzlich, der Gesamteindruck spricht nicht für Hysterie, die körperliche Unter¬
suchung erweist keine Abweichungen von der Norm.
Am Nachmittage des 1. Brandes fühlte er sich wohl, hatte guten Appetit,
arbeitete noch nach dem Abendessen. Als er nachher einen Korb in den Stall
bringen wollte, brannte es lichterloh. Erzählt ausführlich, was er alles gerettet hat.
Fühlte sich subjektiv ganz wohl.
Beim 2. Brande will er ebenfalls an sich kein krankhaftes Symptom wahr¬
genommen haben. Ging zu Bett, konnte aber nicht einschlafen, sah das Nachbar¬
haus von seinem Bette aus. Als dieses auffallend hell war, eilte er hin und weckte
den Gendarm und die Nachbaren, später die Feuerwehr. Fühlte sich wohl und
munter.
Beim 3. Brande hatte er eine Geschäftstour gemacht und 6—7 Glas Bier ge¬
trunken. Schildert bis ins kleinste Detail die Ereignisse bis zum Abend. Schlief
fest ein, wurde durch Trommeln und Blasen wach. Sprang sofort aus dem Bette,
holte die alte Dorftrommel, die auf dem Boden seines elterlichen Hauses hing,
trommelte und deponierte sie nachher beim Spritzenhause. Beteiligte sich, als ge¬
nügend Löschmannschaften da waren, beim Löschen, will sich wie immer gefühlt
haben. Auch für die folgende Zeit tadellose Erinnerung. Stellt immer wieder in
Abrede, sich zur Zeit der Brände in einer geistig abnormen Verfassung befunden
zu haben, er entsinne sich wohl noch, dass er früher die beiden Anfälle gehabt
habe, von ihnen selbst wisse er nichts mehr, es sei ihm alles nachher ge¬
sagt worden, er habe sich mehrere Stunden müde und zerschlagen ge¬
fühlt, davon sei jetzt aber auch nicht entfernt die Rede gewesen. Auch in der
Hauptverhandlung machte er keinen Versuch, aus seiner psyohischen Krankheit
Kapital zu schlagen.
Daran, dass R. wirklich eine psychopathologische Persönlichkeit
war, liess sich nach der ganzen Vorgeschichte nicht zweifeln. Obgleich
der erste Anfall von militärärztlicher Seite als ein klassischer Fall
von Delirium tremens bezeichnet wurde, muss man nach der Schilderung
annehmen, dass es sich um einen epileptischen Verwirrtheitszustand
gehandelt hat. Dem widersprach auch nicht der Gesamteindruck, den
R. machte. Manches deutete allerdings auf eine hysterische Psychose
hin, vor allem liess sich nicht verkennen, dass er sich stets sehr
behaglich fühlte, wenn er sich im Mittelpunkte des Interesses sah
und auch seine Neigung zum Renommieren und seine Selbstgefälligkeit
fügten sich sehr gut in dies Bild ein. Aber sonst fehlten die Anhalts¬
punkte in körperlicher und psychischer Beziehung ganz, um an dieser
Diagnose festhalten zu können. Für die forensische Beurteilung
brauchte man sich ja wegen dieser differentialdiagnostischen Schwie¬
rigkeiten keine grossen Kopfschmerzen zu machen. Soviel stand
jedenfalls fest, dass sein psychischer Gesamtstatus nicht ausreichte,
um ihm die Verantwortlichkeit für sein Tun abzunehmen.
Dass die geräuschvollen Verwirrtheitszustände, die früher bei
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Dr. Mönkemöller,
ihm beobachtet worden waren, zur Zeit der Tat nicht Vorgelegen
haben konnten, liegt ja auf der Hand: hatte er die Taten wirklich
in geistiger Störung begangen, so konnten nur die stillen und geräusch¬
losen Dämmerzustände in Frage kommen. Und wenn auch die Aehn-
lichkeit oder Identität der Einzelanfälle sicher verstärkend für die
Wahrscheinlichkeit des einzelnen Anfalles zu verwerten ist, beweist
die Verschiedenartigkeit natürlich nicht das Geringste für das Gegen¬
teil. Dass die Möglichkeit für das Auftreten dieser unauffälligen
Zustände vorlag, konnte bei dem Vorhandensein der epileptischen
Diathcse und den nachgewiesenen akuten Entladungen gar nicht
geleugnet werden. Ob man aber selbst nur die Wahrscheinlichkeit
konzedieren dürfte, war in diesem Falle ausserordentlich schwer zu
sagen.
Merkwürdig war ja, dass, während früher bei ihm nicht der¬
artige Zustände beobachtet waren, und die psychischen Insulte so
selten und in so auffallend grossen Zwischenräumen aufgetreten waren,
sich nun plötzlich ohne jede äussere Veranlassung in Zeit von
14 Tagen gleich drei solche Anfälle einstellten und dass er jedes¬
mal in solch einem Insult dieselbe Handlung beging. Dabei licss
sich nicht sagen, dass diese sehr zweckmässig gewesen wären, aber
ebensowenig konnte man von einer ausgesprochenen Motivlosigkeit
reden. So schlecht war das Haus doch nicht versichert, dass die
Erhebung der Versicherungssumme ein so ganz von der Hand zu
weisendes Geschäft gewesen wäre und bei den allgemeinen Anfein¬
dungen, deren er sich zu erfreuen hatte, konnte man die Rachsucht
bei seiner Gemütsart durchaus nicht ausser Rechnung setzen. Ob
man sich dem Staatsanwalte oder dem Verteidiger anschliessen w'ollte,
war in diesem Fall reine Geschmackssache.
Dazu kam noch, dass in zwei Fällen der Brand ganz planmässig
vorbereitet war, und wenn auch in den Dämmerzuständen alles
möglich ist, ist es doch wohl meist das Gewöhnliche, dass der Kranke
sich bei solchen Gelegenheiten alle Umständlichkeiten schenkt und
ohne jede Rücksicht auf etwaige Entdeckung und Folgen handelt.
Hauptsächlich wurde aber die Beurteilung dadurch erschwert,
dass es gar nicht feststand, ob er die Taten überhaupt begangen
hatte oder nicht. Denn dadurch wurden zunächst die eigenen An¬
gaben des Angeklagten über die Zeit der Handlungen so gut wie
wertlos. Hatte er die Tat nicht begangen, dann erübrigten sich
die Nachforschungen nach Amnesie von selbst. Hatte er sie im
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Zar Kasuistik der forensischen pathologischen Bewusstseinsstörungen. 43
Dämmerzustände begangen, so musste ja die eventuelle Amnesie ein
negatives Resultat zeitigen und war er dabei geistig frei gewesen, so
führte sein Leugnen zu demselben Resultat wie diese Amnesie.
Und ebenso vieldeutig wurden die Angaben seiner Umgebung
über sein Verhalten während oder unmittelbar nach der Tat. War
er wirklich der Täter bezw. der Mann, den man an der Stelle der
Tat hatte so eilig gehen sehen, so war es immerhin auffallend, dass
er so rasch ging, denn ganz abgesehen davon, dass die Bewegungen
und Handlungen im Dämmerzustände, in der Regel wenigstens, nicht
mit allzu grosser Hast erfolgen, hatte er ja keinen Grund zu laufen,
da er ja im Dämmerzustände weder vom bösen Gewissen, noch von
der Angst vor Entdeckung gefoltert wurde. Nach der Tat erschien
er ohne Zweifel in mancher Beziehung auffallend, aber gewiss auch
nicht mehr, als es sich durch den vorher beobachteten Alkoholgenuss
erklären liess. Diese Auffälligkeiten konnten ihre Erklärung darin
finden, dass er sich in den Nachwehen des Dämmerzustandes befunden
hatte, aber auch gerade so gut dadurch, dass er schuldig war und die
Spuren seines Tuns verwischen wollte. War er gar nicht der Täter,
so konnte er sich recht gut in begreiflicher Aufregung befunden haben,
zumal auch alle seine Handlungen durch die Brille eines tiefen Hasses
angesehen wurden.
Bei der Unbestimmtheit aller dieser Neben um stände, die bei
der forensischen Begutachtung ja so wie so alle einen recht zweifel¬
haften Wert haben und oft durch unvermutete Zeugenaussagen eine
ganz andere Bedeutung gewinnen, musste das Gutachten sich darauf
beschränken, die Möglichkeit solcher Zustände zuzugeben, gleichzeitig
aber zu erklären, dass für die Wahrscheinlichkeit des Bestehens
keine genügenden Anhaltspunkte Vorlagen. Weitere Dämmerzustände
sind nicht beobachtet worden, ebensowenig sind in seiner näheren
Umgebung weitere Brände beobachtet worden.
Die Geschworenen erklärten ihn für nicht schuldig. In diesem
Urteil kam wieder ein alter Mangel der jetzt bestehenden Process-
ordnung zu Tage, der sich in allen solchen Fällen, bei denen weder
die Täterschaft noch die psychische Krankheit des Angeklagten über
allen Zweifel erhaben ist, bemerkbar macht. Nach der Formulierung
der Fragen, wie sie an die Geschworenen gestellt werden, ist, falls
ihr Votum auf „Nichtschuldig“ lautet, gar nicht zu ersehen, ob die
Freisprechung erfolgt, weil sie glauben, er sei nicht der Täter oder
weil sie ihn für den Täter, aber für geisteskrank und unzurechnungs-
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44 Dr. Mönkemöller, Zar Kasuistik d. forens. pathol. Bewusstseinsstörangen.
fähig halten. Denn da nach § 51 St. G. B. eine strafbare Handlung
nicht vorhanden ist, wenn der Täter zur Zeit der Begehung der straf¬
baren Handlung sich in einem Zustande von Geistesstörung befunden
hat, so lautet die Antwort in beiden Fällen gleich. Da der Staats¬
anwalt aber nicht wissen kann, ob der Angeklagte freigesprochen ist,
weil man ihn für krank hielt, so fehlt eine genügende Handhabe, um
die Ueberweisung an eine Irrenanstalt in die Wege leiten zu können.
In vielen Fällen wird das ja für die Interessen des Angeklagten wie
für die allgemeine Sicherheit ziemlich irrelevant sein, in manchen
Fällen aber, vor allem wenn der Alkohol mit bei der Auslösung dieser
Zustände im Spiele war, ist eine systematische Anstaltsbehandlung
sicher zu empfehlen, und dem Gerechtigkeitsgefühl wird die obligate
Klage erspart, dass solche Kranke nicht bestraft werden können, aber
auch nicht in die Anstalt kommen.
Die Frage nach der Anstaltsbedürftigkeit derartiger Kranken ist
ja so wie so manchmal schwer zu lösen. Bei der schweren All¬
gemeindegeneration sind die interkurrenten Bewusstseinsstörungen
nur verhältnismässig wenig ausschlaggebend, wenn sie es ja auch
häufig sind, die den äusseren Anlass zur Anstaltsaufnahme geben.
Hier erscheint der Aufenthalt in der geschlossenen Anstalt selbstver¬
ständlicher. Dem Betreffenden und seinen Verwandten kann die Not¬
wendigkeit des Aufenthaltes viel leichter vor Augen geführt werden.
Treten aber die Anfälle nur sehr selten auf und liegen sie Jahre aus¬
einander, so erscheint es häufiger als eine unnütze Härte, den Be¬
treffenden die Freiheit zu entziehen, während anderseits die Unberechen¬
barkeit dieser Zustände und die stete Gefahr schwerer Konflikte mit
den Strafgesetzen eine energische Berücksichtigung erheischen. Eine
ausgesprochene Periodizität gibt ja gewisse Anhaltspunkte für die
Lösung dieser Frage, bei unregelmässigem Turnus aber wird diese
Frage nie glatt gelöst werden können.
Am dankbarsten sind die Fälle in denen sich durch Beseitigung
der auslösenden Momente: Alkohol, Ueberarbeitung u. s. w. in kurzer
Zeit die Verwendung einer solchen Eventualität mit relativer Sicherheit
erwarten lässt.
Zum Schlüsse erfülle ich die angenehme Pflicht, meinem verehrten
früheren Chef, Herrn Direktor Dr. Schneider, für die liebenswürdige
Ueberlassung des Materials meinen verbindlichsten Dank auszusprechen.
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2 .
Sind die Degenerationszeichen wirklich wertlos?
Von
Medizinalrat Dr. P. Nücke in Hubertusburg.
In dieser Zeitschrift (3. Folge, XXXI, 1) haben vor kurzem
Dohrn und Scheele einen Aufsatz veröffentlicht 1 ), worin sie auf
Grund eigener Untersuchung bewiesen zu haben glauben, „wie wenig
die ganze Lehre von den Degenerationszeichen einer sachgemässen
Nachprüfung standhält“. Da nun in Deutschland gewiss nur wenige sich
mit den somatischen Entartungszeichen so in- und extensiv beschäftigt
haben wie ich seit Jahren, so glaubte ich jenem vernichtenden Verdikte
an dieser Stelle entgegentreten zu müssen. Dies um so lieber, als ich
so Gelegenheit finde, auf manches näher einzugehen, was ich früher
nicht berührt oder nur gestreift habe.
Aus einer neueren Arbeit von mir 2 ) will ich zunächst nur die
prägnantesten Stellen bez. der Definition von Entartung und Ent¬
artungszeichen vorausschicken, die Interessenten auf die Studie selbst
verweisend.
„Entartung... ist eine von der grossen Menge der Menschen stark ab¬
weichende Reaktion auf verschiedene äussere und innere Reize, welche das In¬
dividuum und die Umgebung stören, ja sogar schädigen kann. . . Unsere
Definition ist also eine physio-psychologische und stützt sich nicht nur auf ein
einzelnes Symptom, sondern auf eine Reihe solcher . . . Entartung an sich noch
keine Krankheit (ist), sondern nur einen abnormen, oder besser gesagt, krankhaften
Zustand bezeichnet, der allerdings sehr leicht zu wirklicher Krankheit führt.
Immerhin bezeichnet es etwas Pathologisches, im Gegensätze zum bloss Ab¬
normen ... Entartet in echtem Sinne sind also .. . keine Kranken, wohl aber
1) Beiträge zur Lehre von den Degenerationszeichen.
2) In Monatsschr. f. Kriminalpsychologie etc. 1904. H. 1. Der Titel lautet:
Ueber den Wert der sogen. Degenerationszeichen.
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Dr. P. Näoke,
Kanditaten der Krankheit... Die Entartung ist ferner angeboren — besser einge¬
boren- oder erworben, meist jedoch ersteres ... Es bedeutet also Entartung meist
ein irgendwie mehr allgemein als lokal defektes ab oro invalides Zentralnerven¬
system, und somit müssen auch die Körperfunktionen mehr oder weniger leiden . . .
Woran sollen wir die Entartung erkennen? An den Entartungs-, Degenerations¬
zeichen, Stigmen. Was sind diese aber? Hier gilt es sich reserviert auszudrücken.
Am besten unterscheiden wir anatomische, physiologische, psychologische und so¬
ziale Entartungszeichen und wir rechnen hierzu alles, was die Variationsbreite der
einzelnen Bildungen oder Eigenschaften entschieden überschreitet, oder, da uns die
Grenzen der Variationsbreite leider noch unbekannt sind, was mindestens scheinbar
seltenere Variationsphänomene sind, die zusammengenommen eben die Folgen oder
Zeichen der Entartung darstellen ... es sind auf somatischer Seite anatomische Varie¬
täten, pathologische oder endlich atavistische Bildungen. Ueber die atavistischen zu
urteilen steht .allein dem Anatomen und Zoologen zu . . . empfehle ich nur die
A-, Hypo-, und Hyperplasien, ferner die Atavismen, die sicher meist Pseudo-Ata¬
vismen sind und von den pathologischen nur die angeborenen hierher zu rechnen,
die früh erworbenen dagegen — durch Rhachitis, Skrofulöse etc. — am liebsten
ausser acht zu lassen . . . Insgesamt stellen die Stigmen also angeborene (höchstens
sehr früh entstandene) Bildungen verschiedener Genese und verschiedener Wertung
dar, die das gemeinsam haben, dass sie die Funktion nicht oder kaum stören.
Manche sind nur „ästhetische“ Fehler. . . Hauptsache ist, dass sie klinische
Stigmen bedeuten und zwar in der Reihenfolge, dass die A-, Hypo- und Hyper¬
plasien die am wenigsten wichtigen darstellen ... die pathologischen schon
wichtiger, am bedeutsamsten dagegen die Atavismen, resp. Pseudo-Atavismen sind.
Diese Sätze dürften in der Hauptsache von allen, die in dieser
Materie nur einigermassen kompetent erscheinen, unterschrieben werden.
Aus obiger Darstellung erhellt also zunächst, dass vorsichtigerweise
vielleicht lieber statt: Degenerationszeichen, seltenere Varie¬
täten zu sagen ist. Denn der Anatom kennt, wie einmal Sticda
sagte, von seinem Standpunkte aus, nicht den Begriff des Entartungs¬
zeichens. Für uns soll cs auch nur ein klinischer Begriff sein und nur
als solcher und als seltenere anatomische Variation soll im Folgenden
daher der Ausdruck: Stigma etc. gelten. Wie sahen aber auch weiter,
dass die somatischen Stigmata die am wenigsten wichtigen
sind. Wenn sie trotzdem mit so grosser Vorliebe von Hunderten
studiert wurden, so geschah cs, weil sie sich allein zu Massen¬
untersuchungen eignen. Bei den psychologischen und sozialen ist
ist dies unmöglich, weil sie weniger augenfällig sind, vor allem aber
meist eine längere Beobachtung der betreffenden Person verlangen.
Sollen aber solche Massenuntersuchungen irgend welchen Wert bean¬
spruchen, so sind eine Reihe von Fehlerquellen zu vermeiden. Des¬
halb habe ich in meiner angezogenen Arbeit die Haupterfordernisse
folgendermassen formuliert:
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Sind die Degenecationszeichen wirklich wertlos?
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„1. Grosses Material abnormer Menschen der verschiedensten Art, von den
einfach Entarteten bis zu den Nerven— Geisteskranken und Verbrechern,
eventuell auch Dirnen, unter denen viele Abnorme sind. Sehr wünschenswert ist
es, alle zu untersuchen und so miteinander zu vergleichen. 2. Eine gleiche Zahl
Normaler, oder besser gesagt sogenannter Normaler, da es weder physisch noch
psychisch eine absolute Normalität gibt... 3. Sehr wichtig ist, dass alle unter¬
suchten Personen möglichst derselben Volksschicht, demselben Milieu entstammen ..
4. Zur Vergleichung ist es erwünscht, dass man sich über die zu untersuchenden
somatischen Stigmen einigt und besonders über den Grad, von dem ab das eine oder
andere Gebilde als solches zu zählen ist, um allem Subjektivismus aus dem Wege
zu gehen . . . sollte man nur die höheren Grade zählen und am besten durch
Messung feststellen. So lange letzteres nicht geschieht — und es geschah bisher
meist nicht — empfiehlt os sich weiter, dass zwei Untersucher zugleich das
Material vornehmen und zwar möglichst schnell hintereinander, weil so der fatale
Subjektivismus nach Möglichkeit eingedämmt wird.“
Als ein ferneres Desideratum, welches ich in verschiedenen anderen Arbeiten
betonte, ist endlich noch anzuführen, dass möglichst nach einem bestimmten
Schema gearbeitet werden sollte, um vergleichbare Statistiken zu
gewinnen. Selbst bei Innehaltung eines schlechten Schemas sind immer nochmehr
vergleichbare Werte zu erlangen als, wie es sonst geschieht, wenn jeder Unter¬
sucher nach seinem eigenen verfährt, bald viele, bald wenige Stigmata zählt, bald
sie nur auf beschränktem Gebiete, bald am ganzen Körper berücksichtigt, bald
alle leichten Grade, bald nur die schweren unter den Entartungszeichen etc.
Sehen wir mm zu, wie Dohrn und Scheele diesen methodolo¬
gischen Forderungen nachgekommen sind. Als Untersuchungsmatcrial
benutzten sie die Insassen von 4 Zuchthäusern, solche von einer
Besserungsanstalt und endlich einer Hilfsschule. Das für die Klasse der
„Entarteten“. Die Soldaten gaben dann die „Normalen“ ab. Die
Verfasser haben selber empfunden, dass das Material, so gross es
auch war, doch kein vollständig getreues Bild geben kann. Sicher gibt
es bei obigen Insassen sehr viele Entartete, gewiss aber auch so
manche Geisteskranke, Epileptiker, Schwachsinnige u. s. f., die wohl
kaum dort abgesondert worden sind, folglich nicht eigentlich zu den
Verbrechern gehören. Hier hätte zunächst eine reinliche Scheidung
vorgenomracn werden sollen, wenigstens soweit dies möglich war.
Bei den Verbrechern muss man aber weiter die Gewohnheits- von den
Gelegenheits- und noch mehr von den Leidenschafts-Verbrechern trennen,
da besonders letztere so gut wie ganz zu den „Normalen“ zu zählen
sind. Also nur die Gewohnheitsverbrecher, nach Abzug der Geistes¬
kranken, Epileptischen u. s. f. wären zu untersuchen gewesen. Und
dabei ist nicht zu vergessen, dass sogar die meisten Gewohnheitsver¬
brecher es vorwiegend nur durch das Milieu geworden sind, weniger
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Dr. P. Näcke,
also durch den endogenen Faktor. Für die Abnormen bietet aber die
Irrenanstalt ein viel günstigeres Terrain zu Untersuchungen dar, weil
hier eine Keihe verschieden schwerer Zustände sich befinden, die sich
in der Menge, Wichtigkeit etc. der Entartungszeichen verschieden er¬
weisen müssen, und es auch tun. So bin ich selbst verfahren. Ausser¬
dem nahm ich irre Verbrechcrinnen vor, die allerdings fast ausnahmslos
nur verbrecherische Irre waren.
Dohm u. Scheele betonen selbst, dass die Soldaten, ihre „Nor¬
malen“, eine gewisse Elite des Volks darstellen. Das ist vollkommen
richtig. Ich habe s. Z. Pflegerinnen und Pfleger in grösserer Zahl unter¬
sucht. Unter letzteren waren ziemlich viele, die nicht Soldaten gewesen
waren. Sie näherten sich somit dem eigentlichen Volksdurchschnittc sicher
mehr, als die Soldaten. Fast besser noch wäre esnachDiem, Leute
in allgemeinen Hospitälern vorzunehmen, nach Ausschluss eigentlich
Geisteskranker etc. Hier gibt es Entartete und Nichtentartete, wie
beim Volke, von ersteren aber wahrscheinlich noch mehr, so dass der
wirkliche Durchschnitt des Volkes besser erscheint. Versteht man aber
unter „Normalen“ alles, was draussen in der Freiheit lebt, also was
nicht in Gefängnissen, Irrenanstalten, Krankenhäusern, Bordellen zurück¬
gehalten wird, so sind viele Geisteskranke (oder solche, die es waren),
Schwachsinnige, Epileptiker etc. darunter und das gäbe wieder falsche
Zahlen. Das Idealste wäre z. B. alle männlichen Individuen von der
Pubertät ab auf gröbere geistige Defekte einzeln zu prüfen und solche
grob Abnorme dann von der anthropologischen Untersuchung auszu-
schliessen. Wer vermöchte dies aber bei einer grösseren Menge aus¬
zuführen? Darum erscheint der von Diem eingeschlagene Weg noch
als der beste.
Soweit, was das Material anlangt. Jetzt zu den Entartungszeichen
selbst. Um vergleichbare Werte zu gewinnen, hätten Dohrn u. Scheele
nach einem bestimmten Schema arbeiten sollen, z. B., nach dem uneini¬
gen. Das ist leider nicht geschehen. Verfasser beschränken sich nur auf den
Kopf und auch das bloss in unvollständiger Art und Weise sogar bezüglich
des von ihnen am genauesten untersuchten Gebiets, des Mundorganes. Das
Auge ist garnicht geprüft worden, vom Ohr nur die unwesentlichsten
Dinge. Das zweitwichtigste Gebiet nach dem Kopfe, die Genitalien 1 ),
1) Verff. behaupten, dass der Begriff des Klöppelpenis ein zu schwankender
sei. Dies ist ein Irrtum. Es handelt sich hier stets um ein von hinten nach vorn
zu verbreitertes Glied, mag nun der Schwellkörper dabei mitbeteiligt sein oder
nicht. Stets ist es ein sehr wichtiges Stigma. Niemals sah ich es bei
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Sind die Degenerationszeichen wirklich wertlos?
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kamen garnieht in Betracht. Schon das zeigt die Unzulänglichkeit
des Gebotenen. Ich gebe freilich zu, dass unter den gegebenen Um¬
ständen eine vollständige Untersuchung sehr erschwert war. Aber
dann hätten eben die Schlüsse vorsichtiger sein sollen! Man bedenke
ferner, wie viele schwere Abnormitäten der ganze übrige Körper haben
kann, was gar nicht berücksichtigt wurde!
Ein Fehler endlich — allerdings von dem die übrigen Autoren,
darunter auch ich, gleichfalls nicht freizusprechen sind — besteht
darin, dass Verff. bis auf einige Ausnahmen keine Messungen Vor¬
nahmen, denn das Augenmass trügt nur zu oft, wie ich es immer
betonte und hier speziell gegen Verff. nochmals aussprechen muss,
weshalb ich riet, unter solchen Umständen lieber zu zweit zu unter¬
suchen, um wenigstens gröbere Subjektivitäten auszuschliessen. Denn
es kommt nicht nur auf die Natur, sondern auch auf den Grad des
Stigmas an. Leichte Grade sind absolut wertlos. Man sollte nur
stark ausgeprägte zählen. Was aber heisst: „mässig“, „stark“
etc., wenn man kein bestimmtes Mass untergelegt hat? Nur bei
Messungen kann eine wirkliche Vergleichung stattfinden.
Als einen besonderen Vorzug bezeichnen es die Verfasser, dass
hier ein Arzt und zwei Zahnärzte das Mundorgan untersucht haben.
Wiederholt habe ich in verschiedenen Arbeiten darauf aufmerksam
gemacht, dass es für gewisse Untersuchung en sehr wünschenswert sei,
Fachleute zur Kontrolle heranzuziehen. Es will z. B. ein Psychiater
die Paralytiker auf Testierende Zeichen von Lues prüfen. Das ist eine
so heikle Untersuchung, dass nur ein Syphilidolog einwandsfrei sie
vornehmen kann. Oder, wenn ferner Auge, Ohr etc. bei geistigen
oder sonstigen Erkrankungen funktionell in Betracht kommen, so gehört
ein Fachmann dazu. Also: Wenn es gilt eine Funktion zu prüfen,
muss stets ein Spezialist zugezogen werden. Bei gröberen
äusseren anatomischen Dingen dagegen, wie z. B. den Ent¬
artungszeichen, erscheint dies meist überflüssig. Ob z. B.,
um bei dem Mundorgan zu bleiben, die Zähne gross, klein, schief,
gerieft, kariös etc. sind, ob der Gaumen hoch, schmal etc. ausgefallen
ist, sieht jeder Arzt, der nur wenige anatomische Kenntnisse und die
nötige Uebung besitzt. Der Vergleich mit Normalen wird ihm sehr
Normalen, sehr selten bei Geisteskranken, relatir häufiger aber, immerhin noch
selten genug, bei Idioten.
YiertoJjfthrMQhrift f. ger. Med. n. Off. San.-We*en. 3. Folge. XXXII. 1. j
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Dr. P. Näcke,
bald zeigen, was häufig, was selten ist. Ein Zahnarzt ist hier gänzlich
unnötig! Anders freilich, wenn Spezial-Untersuchungen in Frage
kommen, es sich z. B. darum handelt, die Zahl, Art der Höckerchen
festzustellen 1 ) oder bei der Karies die genaue Ausdehnung derselben
etc., hier ist ein Spezialist nicht zu umgehen, auch nicht,, wenn es
sich bei Unterzahl der Zähne oder Lücken darum handelt zu wissen,
ob früher hier nicht Zähne dagewesen sind oder nicht. Das aber
sind alles nur seltene Fälle. Die eigentlichen Erkrankungen des
Mundorgans wiederum kommen aber für die Stigmen nicht in Frage.
Ich bezweifle auch stark, dass ein Zahnarzt eine Bildung an den
Zähnen, dem Gaumen etc sicher als rhachitisch hinstellen kann oder
nicht. Es erscheint viel natürlicher, dass dies dem praktischen Arzte
zukommt und nicht jenem. Nur wo sonstige Zeichen der Rhachitis
vorliegen wird man auch von rhachitischen Zähnen etc. sprechen
dürfen. Diese Krankheit wird aber bei geringer Ausprägung leicht
einmal übersehen und nur die mikroskopische Untersuchung der Knochen
etc. kann dann Sicherheit verschaffen. Oder andererseits: manches
wird fälschlicherweise für Rhachitis ausgegeben, was Osteomalacie,
Skrofulöse etc. ist.
Man hat sich gewöhnt, bei Ricfungen, Kleinheit, Knopfung, Aus¬
einanderstellung, Verstellungen, Abgeschliffensein der Zähne etc. von
Rhachitis zu sprechen. Sicher ist dies auch oft richtig, wenn nämlich
gleichzeitig am Körper weitere rhachitische Anzeichen vorliegen. Aber oft
genug — in welchem Verhältnisse ist z. Z. unbekannt — ist letzteres
nicht der Fall und wir können dann nur allgemein von Ernährungs¬
störungen reden, die schon intrauterin einsetzten — namentlich die
dadurch entstandenen Querfurchen lassen sich zeitlich genau bezüglich
des Eintretens bestimmen — oder erst später, ganz besonders durch
die Infektionskrankheiten, wobei besonders die vorderen Zähne ins¬
gesamt oder nur teilweis in Betracht kommen. Freilich ist der
Ausdruck „Ernährungsstörung“ etwas sehr vage, z. Z. noch nicht
definierbar, ein reines Schlagwort. Wir können aber so entstandene
1) Gerade die Untersuchung auf die Höcker der Zähne ist so gut wie nicht
gemacht worden — in grösserem Masse wohl nur von Talbot — und als eventuell
atavistische Gebilde sind sie wichtig. Meines Wissens ist ferner eine vergleichende
Prüfung des Speichels nicht gemacht worden und das wäre nur die Sacho des
physiologischen Chemikers. Gerade eine solche Prüfung verspricht vieles, da allem
Anscheine nach bei Entarteten auch die Sekrete, darunter der Speichel, abnorm
zusammengesetzt sind, qualitativ und quantitativ.
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Sind die Degenerationszeichen wirklich wertlos?
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Störungen, wenn sie intrauterin oder bald nach der Geburt auftraten,
nicht gut von den Entartungszeichen ausschliessen. Ob es freilich
wirklich eine fötale Rachitis gibt, ist noch strittig, nicht aber die
später entstandene. Ob daher Ausbuchtungen am Schädel, Ver¬
längerungen etc. von fötaler Rhachitis stammen, weiss man nicht
recht. Es kann spätere Rhachitis hier vorliegen, wobei diese Aus¬
buchtungen jedoch auch ohne Periostitis bestehen können, oder eine
andere Ernährungsstörung, die bloss die Knochen etc. weich erhält,
wodurch dann durch Lagerung, unpassende Kopfbedeckung u. s. w.
Deformitäten entstehen. Allen solchen Verbildungen ist kaum ein Gewicht
beizulegen, ebensowenig einer leichten Asymmetrie des Schädels und
Gesichts, die normal ist.' Nur wo sie stark auftritt, ist sie be¬
achtenswert und lässt sich zum Teil zahlenmässig feststellen. Das¬
selbe bezieht sich auch auf die schiefe Nase, die gewiss meist
nicht traumatischen Ursprungs ist. Alle solche starken Asymmetrien,
resp. Ausbuchtungen, ebenso die höheren Grade von Skaphocephalie
oder gar des „Turmschädels“ haben deswegen eine Bedeutung, weil
in solchen Fällen Unregelmässigkeiten in der Gehirnentwickelung
gewöhnlich das Primäre sind, mit oder ohne zutretende Rhachitis etc.
Letztere könnte vielleicht aber auch einmal ein ursprünglich gesundes
Gehirn bei langer Andauer ungünstig beeinflussen. Bekanntlich sind
Krämpfe häufig bei englischer Krankheit, letztere hat sie dann ent¬
weder sekundär erzeugt, oder sie sind wahrscheinlich meist, wie
die Rhachitis selbst, durch eine Ernährungsstörung des Gehirns ent¬
standen. Dies führt uns nun zur kurzen Besprechung gewisser Ein¬
zelheiten bezüglich der Stigmen, die ich in der Reihenfolge, wie Dohrn
etc. sie erwähnen, vornehmen will.
Alles soeben von der Asymmetrie Gesagte gilt vor allem bezüglich des
Hydro- und Mikrocephalus, die freilich immer wichtigere Zeichen bleiben
als jene. Auch hier gilt es zu messen, um nicht subjektiv zu sein 1 ).
Bei der Hydrocephalie kommt es aber auch auf das Verhältnis zum
Gesicht und zum übrigen Körper an. Der sogenannte „front
bombö“ muss gewiss manchmal als Anfang der Hydrocephalie be¬
zeichnet werden. Die Schiefheit der Stirn ist zu messen und hat
nur in den höheren Graden Bedeutung. Gespaltenes Zäpfchen ist
1) Wie subjektiv hier oft vorgegangen wird, mag folgender Fall beweison.
In den Akten einer Patientin fand ich sie einmal in einem Gutaohten als „hydro-
oephal“, in einem anderen als „mikrocephal“ bezeichnet, während ich sie als
„mesocephal ansah!
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Dr. P. Näcke,
abnorm selten, auch bei Entarteten. Ich konnte die Uvula fast stets
untersuchen. Anfänge der Spaltung in Form von Einkerbung werden
leicht übersehen, sollten aber nicht als Spaltung mit aufgeführt werden.
Viel wichtiger als die spitze Zunge ist die lange, die Dohrn etc.
gar nicht erwähnen. Auch hier ist zu messen und zwar entweder die
Länge der ganz ausgestreckten Zunge von den oberen Schneidezähnen
ab, oder die Entfernung der Spitze vom unteren Rande des Unter¬
kiefers, wobei dann freilich auch die Höhe des letzteren zu bestimmen
bleibt. Meist ist die lange Zunge auch zugleich spitz. Die breite
Zunge kann dick oder dünn sein. Die Art des Gefurchtseins der
Zunge muss näher beschrieben werden, auch sind die Papillen zu
beachten.
Da die Ohrmuschel ein rudimentäres Organ vorstellt, so variiert
sie als solches ungemein stark. Darum haben alle oder die meisten
Reliefverschiedenheiten keinerlei Wert als Stigmata und sind nur
als anatomische Varietäten interessant. Also sind z. B. angewachsene
Ohren, Abstehen derselben — beides lässt sich auch messen! —
völlig belanglos, eher schon das sogen. Satyrohr. Bedeutung dagegen
haben zu lange, zu kleine, verschieden hoch angeheftete oder ungleiche
Ohren oder sogen. Trichterohren etc., Dinge, die Dohrn etc. überhaupt
nicht berühren.
Wenn man von Prognathie spricht, d. h. von der alveolären resp.
subnasalen, so meint man nur die höheren Grade derselben, wo solche
nicht etwa ethnisch bedingt sind, da ja leichte Pragnathie physiologisch
ist. Auch hier ist Messung nötig. Wenn ich die Progenie in „halbe“
und „ganze“ oder „echte“ einteilte, so geschah es zunächst nur dem
Augenscheine nach. Die Genese kann verschieden sein, trotzdem bleibt
die Progenie stets zu beachten und wird sich gern mit allerlei anderen
Degenerationszeichen verbinden. Bezüglich des Kinns haben Dohrn etc.
nicht der von mir beschriebenen Form des „schiefliegenden“ Kinns
gedacht, welche auch interessante Korrelationsstörungen an den Zähnen
bedingt. Der sogen, „offene Biss“ ist mir ganz abnorm selten vor¬
gekommen.
Bezüglich der sogen, rhachitischen Zähne habe ich schon oben ge¬
sprochen. Unter dem Diastema haben nur die scheinbar atavistischen
Bildungen Wert. Das sind die Lücken (künstlich erzeugte sah ich
selbst nie!) zwischen den oberen mittleren Schneidezähnen oder vor
den oberen Eckzähnen, während solche Diastemen zwischen allen oder
den meisten, gewöhnlich den Vorderzähnen,.ziemlich wertlos erscheinen
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Sind die Degenerationszeichen wirklich wertlos?
53
und ja nicht mit den^mdern Diastemen zugleich zu zählen sind x )! Solche
verbreiterte Lücken sieht man nämlich wohl ausnahmslos bei den
kleinen, gerieften, rhachitischen Zähnen, mag dabei der Oberkiefer
breit angelegt sein oder Dicht. Rhachitisch sind aber gewiss auch
wenigstens teilweis die Verstellungen der Zähne, sowie die Verbiegungen
und das Eckigwerden der Zahnbögen. Im ersten Falle finden sich
alle sonstigen Charakteristika der sogen, rhachitischen Zähne und
Knochen. Bei abnormer Weichheit der Alveolen kann dann durch un¬
regelmässigen Druck der oberen Zähne, oder durch Lippen-, Zungen¬
druck der junge Zahn verschoben werden oder die Zahnanlagen sind schon
vielleicht von Anfang an falsch orientiert gewesen. Ein rhachitischer
oder sonst wie weicher Zahn wird auch dem Drucke weniger wider¬
stehen. Die Ernährungsstörung — mag es nun Rhachitis sein oder
nicht — wird aber ferner in zu dünner oder unregelmässig starker
Schmelzauflage sich zeigen, die an sich schon leicht äusseren Agentien
gegenüber nachgibt und Karies erzeugt oder schon ob ovo waren kleine
Erosionen oder vielmehr Defekte gesetzt, die dann Ausgangspunkt der
Zerstörung werden. Rhachitisch ist gewiss meist auch das Abschleifen
der Kauflächen. Nie aber traf ich gesunde oder kranke Personen,
die „gewohnheitsmässig“ im Schlafe kauten. Knirschen kommt gewiss
zeit weis bei nervösen etc. Kindern vor, auch bei Geisteskranken,
namentlich Idioten, aber selbst dann nur selten und wohl kaum die
ganze Nacht hindurch. Dann wird gewöhnlich auch tagsüber geknirscht,
besonders bei den Paralytikern. Wo nachts geknirscht wurde — immer
viel seltener als am Tage — geschieht es meist im Wachen und nicht
im Schlafe. Ich selbst sah ferner nie durch dies Knirschen ein Ab¬
schleifen der Kauflächen bewirkt. Dies kann umso weniger geschehen,
als das Knirschen meist durch seitliche Bewegungen der Volarflächen
der Zähne aufeinander geschieht, fast nie auf den Kauflächen selbst.
Es müssten also mehr Abschliffe auf den Vorderseiten der untern
Schneidezähne sichtbar sein. Aber das ist noch viel seltener der
Fall als auf den Kauflächen, eben weil der Druck ein zu geringer
und nicht kontinuierlicher ist.
Bezüglich des Gaumens haben Dohrn und Scheele viel weniger
Abnormitäten untersucht, als ich z. Z. angegeben hatte. Der hohe und
1) Viel wertvoller als Stigma dagegen erscheinen die abnorm grossen und
breiten mittleren Schneidezähne oben und hauerartige Eckzähne, beides Pseudo-
Atavismen.
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54
Dr. P. Näcke,
der breite Gaumen hängen namentlich mit der^Gesichtsbreite zu¬
sammen. Langes Gesicht geht mit hohem, breites mit breitem Gaumen
Hand in Hand. Und so ist hoher Gaumen nur dann abnorm, wenn
er sich beim Breitgesicht findet, und ein breiter Gaumen beim Schmal¬
gesicht. Bei hohem Gaumen habe ich übrigens, im Gegensätze zu
Dohrn, fast nie Mundatmung angetroffen.
Soweit diese kurzen Bemerkungen. Wir sehen jedenfalls, dass
für uns Stigmata „klinische“ Zeichen sind, abgesehen von ihrer Ge¬
nese und Wertung. Gerade die wichtigsten unter ihnen, die sogen,
„atavistischen“, die wie schon früher gesagt, meist Pseudo-Atavismen
sind, haben Dohrn und Scheele fast nicht berührt. Wir sahen
ferner, dass sie nur eine sehr ungenügende Zahl von Stigmen unter¬
suchten, bloss am Kopfe und hier nicht einmal die wichtigsten. Auch
das Material war nicht einwandsfrei. Trotzdem verurteilen die Verf.
schlankweg den Wert der Degenerationszeichen!
Um nun auf ihrem eigensten Gebiete, der Untersuchung des Mund¬
organs, zu bleiben, hätten allein die Untersuchungen des berühmten
Professors der Zahnheilkunde in Chicago, Tal bot, — von dem sie
nur eine Arbeit zu kennen scheinen — sie eines Besseren belehren
können. Sicher hat kein Mensch so unzählig viele Gaumen, Zähne und
Kiefer untersucht wie jener und zwar bei normalem und abnormem
Materiale, ferner nicht nur in Amerika, sondern auch in Europa und
ausserhalb. Und alle seine Untersuchungen lassen immer bloss das
eine erkennen, dass nämlich das gesamte Mundorgan bei Ent¬
arteten ganz bedeutend mehr sogen. Stigmen darbietet als
bei Normalen. Diesem ungeheuren Materiale gegenüber wollen die
Untersuchungen von Dohrn und Scheele nicht viel besagen, da es
eben überall wirkliche oder scheinbar lokale Differenzen in der Zahl
etc. der Entartungszeichen gibt. Und wer weiss, was Dohrn und
Scheele gefunden haben würden, wenn sie den ganzen Körper unter¬
sucht hätten? Und selbst die äussere Besichtigung ist nicht alles,
da ich bisweilen die sogen, „inneren“ Stigmen, d. h. solche an den
inneren Hauptorganen, bez. der Zahl etc. nicht mit den äusseren
parallel gehend fand, wie doch gewöhnlich.
Wenn also bezüglich der Degenerationszeichen so ungeheuer viele
Untersuchungen aus aller Herren Länder vorliegen, die trotz Mangel¬
haftigkeit und geringer Vergleichbarkeit immer nur im ganzen das Eine
zeigen, dass serial d. h. im Durchschnitte, der Wert der Ent¬
artungszeichen feststeht, so werden auch die Untersuchungen von
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Sind die Degenerationszeichen wirklich wertlos?
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Dohrn und Scheele an diesem Satze nichts ändern. Es handelt
sich überall um mehr oder weniger exakte Untersuchungen,
die nicht bloss durch die Mode gezeitigt wurden.
In meiner angezogenen Arbeit sagte ich: „Wir sahen also, dass
im allgemeinen ein klinischer Zusammenhang zwischen Zahl,
Wichtigkeit und Verbreitung der Stigmata und dem Zustande
des Zentralnervensystems ganz entschieden besteht. Dabei
verschlägt es wenig, dass in concreto die grösste Vorsicht
bei Beurteilung eines solchen Zusammenhanges nötig ist»
wenn nicht der ganze Mensch physio- und psychologisch
untersucht werden konnte. Ein Normaler kann nämlich wohl ein¬
mal — immerhin sehr selten! — viele Entartungszeichen darbieten
und andererseits ein wirklich Degenerierter wenige oder keine. .. In
concreto, um es nochmals zusammenzufassen, besagen also die
äusseren Stigmen nicht allzu viel. Sie sollen nur ein „Signal“
sein, eine Aufforderung, das betreffende Individuum näher
zu untersuchen, daher sind die physiologisch-psychologi¬
schen Entartungszeichen entschieden viel wichtiger. Die
Bedeutung jener steigt aber mit der Zahl, der Wichtigkeit
und Ausbreitung am Körper, während ein einzelnes Stigma
oder nur wenige unwichtige ohne Wert sind, sintemal es kaum
einen „Normalen“ gibt, der nicht das eine oder andere darböte. Die
Bedeutung der somatischen Entartungszeichen kann so weit gehen,
dass sie zur Stütze einer unsicheren Diagnose in foro dienen... Man
sieht jedenfalls, dass die Degenerationslehre nicht nur theo¬
retisches, sondern auch praktisches Interesse erweckt. Bei
der Untersuchung in Bausch und Bogen galt aber ganz sicher
der Satz vom Parallelismus zwischen Zahl, Wichtigkeit und
Ausbreitung der Stigmen und einem ab ovo defekten Zentral¬
nervensystem.“
Klarer und vorsichtiger, glaube ich, kann man die Sache nicht
darstellen. An der serialen Bedeutung der Degenerationszcichen ist
also nicht zu zweifeln, ebenso wenig wie an der der anthropologischen
Daten, die ja auch nur seriale Geltung haben. In concreto sind
jene immer nur ein „Signal“. Wenn endlich auch die somatischen
Stigmen viel weniger wertvoll sind als die physiologisch-psychischen,
so sind sie doch nicht zu unterschätzen. Schon dass im allgemeinen
mit der Schwere, Zahl und Ausbreitung derselben auch die Schwere
der hereditären Belastung parallel geht, spricht für eine gewisse Be-
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Dr. P. Näcke, Sind die Degenerationszeichen wirklich wertlos?
Ziehung vom Stigma zum Zentralnervensystem. Namentlich Bittorf 1 )
hat dies auf scharfsinnige Weise zu erhärten gesucht, und sein Satz:
„Degenerationszeichen und neuropathische Anlage werden also meist...
in Parallele stehen“ deckt sich bestens mit dem eben Gesagten. Seine
Arbeit erscheint überhaupt für die Genese und Bewertung der Degene¬
rationszeichen äusserst wichtig.
1) Bittorf, Ueber die Beziehungen der ektodermalen Keimblattschwäche zur
Entstehung der Tabes. Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk., 1905, S. 404.
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3.
Gutachten über den Zusammenhang zwischen Gas¬
vergiftung und Geisteskrankheit
erstattet von
Wilhelm Peterssen-Borstel in Plagwitz a. Bober.
Von dem Vorstand der Sektion V der Knappschafts-Berufsgenossenschaft W.
bin ich unterm 23. August er. ersucht worden, nach Einsichtnahme der Akten
ein begründetes Gutachten darüber erstatten zu wollen, ob mit einiger Wahrschein¬
lichkeit anzunehmen sein wird, dass die Geisteskrankheit bei dem Hüttenarbeiter
Ernst T. auf eine Gasvergiftung zurückzuführen ist.
Zur Saohe ist der Hüttenarbeiter Ernst T. aus N. am 6. Mai 1905 wegen
Geisteskrankheit in die meiner Leitung unterstellte Provinzial-Heil- und Pflege-
Anstalt Plagwitz am Bober aufgenommen worden. T. ist am 17. Juli 1888 zu
Nieder-D. Kreis N. ehelich geboren, evangelischer Religion, ledig und unbestraft.
Erbliche Belastung besteht nach unseren Akten bei T. nicht; doch findet sich in
dem Berichte der Königlichen Gewerbeinspektion R. vom 18. Juli 1905 die Angabe:
„Von der Familie des p. T. konnte ich noch in Erfahrung bringen, dass die männ¬
lichen Verwandten des p. T. etwas beschränkt seien“ . , . Die geistige und
körperliche Entwickelung des T. soll ohne Besonderheiten verlaufen sein. Nach
Angabe der Mutter ist T. stets sehr empfindlich und peinlich gewesen. Etwa
1900 hat T. 6 Wochen lang an Typhus krank gelegen. Nach dem ärztlichen Frage¬
bogen zum Aufnahmegesuch vom 29. April 1905 datiert der eigentliche Beginn
der Erkrankung des T. vom 10. März 1905 ab, an welchem Tage durch Aus¬
strömen von Gas aus dem Gasofen, in dessen Nähe Patient arbeitete, gleichzeitig
noch mehrere Arbeiter erkrankten. ' Während letztere in einigen Tagen von ihrer
Vergiftung wieder hergestellt waren, wurde T. bewusstlos ins Elternhaus gebracht
und von dem behandelnden Arzt dem Krankenhaus N. überwiesen. Er soll damals
schon „wirres Zeug“ gesprochen haben. Den authentischen Hergang bei dem Unfall
entnehme ich dem Untersuchungsbericht der Königlichen Gewerbeinspektion, R. den
18. Juli 1905. Danach hat p. T. (in den schlesischen Nickelwerken zu F.) zu¬
sammen mit 2 Arbeitern an einer und derselben Stelle gearbeitet. Der eine Ar¬
beiter gibt an, dass p. T. gegen 9 Uhr früh (am 10. März 1905) über Kopfschmerzen
und Uebelkeit geklagt habe, später gegen 11 Uhr habe es sich gezeigt, dass T.
„ganz irre“ war; er wurde von seinem Bruder nach Hause geführt. Auch dem
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58
Wilhelm Peterssen-Borstel,
Erzähler ist übel geworden; er musste brechen und am Nachmittag von der Arbeit
wegbleiben, die er am andern Tage wieder aufgenommen hat. Einem anderen
jugendlichen Arbeiter, der in demselben Raume beschäftigt wurde, ist ebenfalls an
demselben Vormittage übel geworden. Ein weiterer Arbeiter sagt aus, er hätte zu¬
sammen mit einem Kollegen den Generator-Wärter G., der am gleichen Vormittage
an dem in demselben Raume befindlichen Generator vor Uebelkeit hingefallen wäre,
an die frische Luft getragen, worauf ihm wieder besser geworden sei. Der Generator
sei oben offen gewesen, und sei dies öfters bei G. bemerkt worden. Aus allen
diesen Umständen zieht der Königliche Gewerbe-Assessor den Schluss, dass beim
Anheizen des Generators nicht mit der nötigen Vorsicht verfahren worden ist, dass
Wassergase aus demselben gestiegen und dass diese Gase — insbesondere wohl
das Kohlenoxydgas — die Vergiftungserscheinungen an den einzelnen Leuten
hervorgerufen hat. Am 11. März — also am Tage nach dem Unfall — wurde der
Knappschaftsarzt Dr. A. zu dem p. T. gerufen. Der Arzt fand den Pat. „schwer¬
krank, in Delirien liegend“ vor und veranlasste in diesem schweren Falle die so¬
fortige Ueberführung in das nächste Krankenhaus.
Der Krankenhausarzt Dr. E. berichtet unterm 10. Juni 1905, dass T. damals
besinnungslos war und fortwährend brach. Die Herztätigkeit war eine unregel¬
mässige. Die geschilderten Erscheinungen einerseits, die Aussagen der Mutter
andererseits und der sich allmählich ausbildende krankhafte Geisteszustand des
Patienten haben den Gutachter zu der Ansioht gebracht, dass p. T. an einer
seelischen Störung leidet, hervorgerufen durch eine Gasvergiftung. Hinsichtlich
des Geisteszustandes des T. ergiebt der in den diesseitigen Akten befindliche
ärztliche Fragebogen, dass im Krankenhause beim T. Zustände von Somnolenz
und völliger Apathie mit Erregungszuständen von kürzerer oder längerer Dauer
gewechselt haben. Das Attest führt weiter aus: Anfangs betete T. viel, da er ein
schlechtes Gewissen habe, sprach viel von Geldangelegenheiten, verhielt sich im
allgemeinen ruhig. Mitunter zeigten sich tonische Muskelkrämpfe und Tremor.
Der Kranke ass nur unregelmässig, namentlich nicht zur Zeit des somnolenten
Zustandes, der mitunter drei Tage lang anhielt und in dem er dann wenig Aeusse-
rungen von sich gab. Einige Male soll T. das Bett mit Urin verunreinigt haben.
Allmählich bildete Pat. sich ein, allerhand Misshandlungen, Schimpfereien an sich
erfahren zu haben und wurde dann zeitweise sehr erregt. Er schlug eine Schwester
mit der Faust, trat eine andere vor den Leib, warf mit einem Wasserglase nach
einem Kranken, schüttete wiederholt das Essen aus. Medizin weigerte T. sich
stets zu nehmen, witterte auch in den Speisen leicht beigemengte bittere Arzneien.
Der Arzt bezeichnet T. im Ganzen als eigensinnig, misstrauisch, launisch, hinter¬
listig. ln maniakalischer Erregung glaubte sich der Kranke stets — vom Arzt bis
zu den Mitkranken — schlecht behandelt, er hätte Misshandlungen zu erdulden
(Schädel eingeschlagen, Brust eingeklemmt, Puls abgebunden). Mitunter verlangte
Pat. stürmisch unter Drohungen mit Zuchthaus nach seinen Sachen und schlug
um sich. Er demolierte ein Holzgitter vor seinem Zimmer, warf das Klosett um,
zerriss seine Leibwäsche, verliess nachts öfters das Bett. Der stellvertretende
Krankenhausarzt kommt zu dem Resultat, dass es sich bei T. um eine mit Er¬
regungszuständen verbundene Erkrankung der Psyche handelt, deren Entstehen
auf die Vergiftung mit Gas zurückgeführt wird.
Am 6. Mai 1905 erfolgte die Aufnahme des T. in die hiesige Anstalt. Die
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Gutachten üb. d. Zusammenhang zwischen Gasvergiftungu. Geisteskrankheit. 59
Krankheitszeichen, die T. hier in der Anstalt geboten hat und noch bietet, ent¬
sprechen einem klinisch -wohlbekannten Bilde, das die Wissenschaft mit „Manie“
bezeichnet. Das Krankheitsbild hat bis vor kurzem in der Intensität keine grossen
Schwankungen gezeigt; in den letzten Wochen macht sich ein Nachlassen des
Krankheitsprozesses bemerklich. Beide der Manie zukommenden primären Haupt¬
symptome, sowohl eine heitere resp. zornige Verstimmung, als auch eine Beschleuni¬
gung des Vorstellungsablaufs sind im Falle T. in ausgeprägter typischer Weise zu
konstatieren gewesen. Auch der krankhafte Bewegungsdrang als Teilerscheinung
des beschleunigten Vorstellungsablaufes war deutlich vorhanden, ln seinerheiteren
Erregung grimassiert, singt, trommelt, pfeift der Kranke, äussert viele und über¬
flüssige Wünsche, neigt zu Unfug und wird, wenn ihm dies verwehrt wird, gegen
die Pfleger grob und ausfällig. So zupfte und neckte er in seiner Erregung andere
Kranke. T. verlangte energisch aufzustehen und wurde grob, wenn ihm dies nicht
gestattet wurde, bedrohte die Aerzte mit Gefängnis und Zuchthaus, wenn sie ihn
nicht aufstehen lassen wollten. „Hier ist die Prügelei mode, ioh muss halb ver¬
hungern. Wir werden sehen, dass die Aerzte zeitlebens Zuchthaus kriegen.“
Wie wollen Sie das machen? „Ich klage eben, und da kriegt Ihr (!) halt
Zuchthaus ! u Dass Essen nennt er einen Schweinefrass und meint im übrigen, er
sei hierher nicht krank gekommen, „ich war gesund, bloss furchtbar abgemagert
war ich“. Als Ursache seines Zustandes führt T. Gasvergiftung an. Das Gas sei
aus dem Ofen in grossen Mengen ausgeströmt, ihm sei elend davon geworden, im
Krankenhause habe er keinen Appetit gehabt, konnte schlecht schlingen, war
schläfrig, hatte keinen Atem, vor den Augen drehten sich rötliche Räder. Wenn
auch in den letzten Wochen die manische Erregung nachgelassen hat, so war doch
das Krankheitsbild bei einer am 28. August er. von mir vorgenommenen Unter¬
suchung noch unverkennbar vorhanden. Der Pat. war krankhaft heiter und auf¬
geräumt, renommistisch und hatte keine Spur von Krankheitseinsicht. Auf meine
Aeusserung, dass wir Aerzte ihn noch nicht für gesund hielten, meinte er: „Ja,
das soll mich nicht kümmern. Da will ich nochmal untersucht werden. Jetzt
kann ich jede Frage beantworten. Ich war in der Schule der beste Schreiber, der
beste Rechner und alles.“ Im krassen Gegensatz zu dieser maniakalischen Auf¬
schneiderei stehen die beschränkten und dürftigen Schulkenntnisse des T. Zwar
rechnet Pat. ganz gut, das ist aber auch alles. Luther lebte nach seiner Angabe
1810. Der letzte Krieg gegen Frankreich war 1864 und 66. „Die Franzosen
wollten das Elsass-Lothringen wieder haben.“ Die Oder geht bis in die Nordsee,
„die muss in den ganzen Nordseekanal gehen, die gebt durch ganz Europa durch“.
Als Regierungsbezirke von Schlesien nennt er Breslau, Neumarkt, Beuthen, Oppeln,
Glatz u. s. w. Von dem Erlösungsbegriff hat er keine Vorstellung. Auf die Frage,
warum Christus habe leiden müssen, meint der Kranke: „Unsere Sünden hat er
vergossen“. Und weiter „Christus brauchte uns ja nicht, aber unsere Vorfahren
musste er erlösen. Zu der Zeit muss das doch nicht gegangen sein“. „Dazumal
war die Welt noch nicht so klug wie jetzt.“ Körperlich ist T. ein kleiner, grazil
und schmächtig gebauter, wohlgenährter junger Mensch mit auffällig langen oberen
Extremitäten. Die Scheitelbeine springen ziemlich stark vor. Die Schneidezähne
des Oberkiefers sind auffallend gross und etwas vorstehend und verleihen im Ver¬
ein mit dem meist offen gehaltenen Mund dem Gesicht etwsa Dummes, Blödes.
Innervationsstörungen sind nicht vorhanden. Die mittelweiten Pupillen reagieren
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Wilhelm Peterssen-Borstel,
prompt auf Belichtung. Die Zunge wird sicher und gorade hervorgestreckt. An
den inneren Organen des T. ist nichts krankhaftes nachzuweisen. Herztätigkeit
72 in der Minute. Es besteht kein Bruch. Während der Untersuchung fallen
einige male Gesichtszuckungen auf. Nahrungsaufnahme und Verdauung sind in
Ordnung.
Nach meinen Ausführungen ist es zweifellos, dass T. geisteskrank
ist. Die Seelenstörung des Patienten hat sich bislang in Plagwitz
unter dem Bilde der „Manie“ gezeigt; im Krankenhau.se zu N. scheinen
Zustände von Somnolenz und Apathie mit maniakalischen Zustands¬
bildern gewechselt zu haben. Ist nun mit einiger Wahrscheinlichkeit
anzunehmen, dass die Geisteskrankheit des Pat. T. durch eine Gas¬
vergiftung entstanden ist?
Der Aeusserung des Vorstandes der Sektion V der Knappschafts-
Berufsgenossenschaft W. in dem an mich unterm 23. August 1905
gerichteten Ersuchen „Wenn eine solche Vergiftung überhaupt statt¬
gefunden hat, dann kann sie doch wohl nur ganz leicht gewesen sein“
(vgl. Blatt 9 und 17 unserer Akten, den Bericht der Werksverwaltung
vom 28. Juli d. J. [Beilage zu den Anstaltsakten] und die aus der
Zeichnung ersichtlichen Verhältnisse an der Arbeitsstelle) kann ich
nicht beipflichten. Der Untersuchungsbericht der Königlichen Gew r erbe-
Inspektion R., vom 18. Juli 1905 lässt nach meiner Auffassung doch
keinerlei Zweifel darüber auf kommen, dass tatsächlich eine Gas¬
vergiftung — insbesondere wohl durch Kohlenoxyd, wie der Bericht
betont, stattgefunden hat. Daran kann auch die Tatsache, dass B.
von einem Gas- oder sonstigen Geruch nichts wahrgenommen hat,
nicht das Geringste ändern. Das Kohlenoxyd ist eben ein färb- und
geruchloses Gas und seine Gegenwart kann deshalb an dem in einem
Raum wahrnehmbaren Geruch nicht erkannt werden. Wenn die Tat¬
sache anscheinend aufgefallen ist, dass T. intensivere Vergiftungs¬
erscheinungen zeigte als die anderen betroffenen Personen, so be¬
schränke ich mich darauf anzuführen, dass die Erfahrung lehrt, dass
unter sonst anscheinend gleichen Bedingungen nicht alle dabei Betei¬
ligten dieselbe Intensität der Vergiftungserscheinungen zeigen und dass
in dieser Hinsicht Zufall und individuelle Bedingungen eine Rolle
spielen. So scheinen Kinder z. B. empfindlicher gegen Kohlenoxyd
zu sein als Erwachsene, auch die Entfernung von der Giftquelle -—
wenn beispielsweise von den in demselben Raume arbeitenden Per¬
sonen der Eine oder der Andere sich in der Nähe eines Fensters oder
einer Tür befindet — ist unter Umständen sehr massgebend. (Hand-
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Gutachten üb. d. Zusammenhang zwischen Gasvergiftung u. Geisteskrankheit. 61
buch der gerichtlichen Medizin von Schmidtmann.) Zu prüfen,
welcher oder welche Faktoren in dieser Hinsicht im Falle T. in Be¬
tracht kommen, gehört nicht in den Rahmen dieses Gutachtens. Je¬
denfalls muss ich der Ansicht des Vorstandes „dann kann sie (die
Vergiftung) wohl nur ganz leicht gewesen sein“, widersprechen.
Wenn der Knappschaftsarzt Dr. A. am Tage nach der Vergiftung den
Patienten „schwerkrank in Dilirien liegend“ vorfindet und den schweren
Fall sofort dem nächsten Krankenhaus überweist und wenn der
Krankenhausarzt Dr. E. Besinnungslosigkeit, fortwährendes Erbrechen
und unregelmässige Herztätigkeit konstatiert, so kann die Vergiftung
gewiss keine ganz leichte gewesen sein. Ich nenne sie eine erhebliche.
Wenn ferner in den Akten hervorgehoben wird, dass T. nicht um¬
gefallen ist, sondern von seinem Bruder noch nach Hause geführt
wurde, so hat diese Tatsache für den Arzt nichts Befremdendes und
spricht nicht gegen eine erhebliche Vergiftung. Nach meinen Aus¬
führungen bin ich demnach zu der Auffassung gelangt, dass T. am
10. März 1905 durch Einatmen von Gasen — höchstwahrscheinlich
von Kohlenoxyd — eine erhebliche Vergiftung erlitten hat.
Als Tag des Beginns der Geistesstörung wird man bei T. den
10. März 1905 annehmen müssen. Vorher soll T. geistig völlig gesund
gewesen sein. Vielleicht ist der Kranke aber von jeher etwas be¬
schränkt gewesen, an welche Möglichkeit wenigstens die dürftigen
Schulkenntnisse denken lassen. Im übrigen habe ich, abgesehen da¬
von, dass sich nirgends in den Akten die Behauptung oder auch nur
eine Andeutung dafür findet, dass T. schon vor dem 10. März seelen¬
gestört gewesen sei, nochmals ausdrücklich bei der Familie schriftlich
angefragt, ob vorher irgend welche Zeichen beim T. beobachtet worden
seien, die auf eine Gemütskrankheit schliessen lassen könnten. Die
Antwort lautete, T. sei vor dem 10. März 1905 immer frisch und
gesund gewesen und habe vor der Zeit nichts von Geistesstörung ge¬
zeigt. „Er ist am 10. März früh noch gesund in die Arbeit gegangen.“
Da es sich nach Blatt 17 der Akten des Vorstandes der Sektion V
der Knappschafts-Berufsgenossenschaft am 10. März 1905 Vormittags
zeigte, dass T., nachdem er gegen 9 Uhr früh über Kopfschmerzen
und Uebelkeit geklagt habe, gegen 11 Uhr „ganz irre“ war, so steht
damit als Beginn der Psychose der 10. März 1905 fest. Im Kranken¬
hause zu N., wohin T. am nächsten Tage kam, wurde dann weiter
das schon beschriebene Wechselbild zwischen Zuständen von Somnolenz
und völliger Apathie einerseits und Erregungszuständen andererseits
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62 Wilhelm Peterssen-Borstel, Gutachten über den Zusammen hang etc.
beobachtet, in Plagwitz endlich bis jetzt ein rein maniakalisches Zu¬
standsbild.
Dass Gasvergiftungen — und speziell Kohlenoxyd-Vergiftungen —
Geisteskrankheiten im Gefolge haben können, ist eine wissenschaftlich
sichergestellte Tatsache. Der durch Kohlenoxyd-Vergiftung bewusst¬
los Gewordene gerät — wenn er mit dem Leben davonkommt —
manchmal, bevor er das Bewusstsein voll zurück erlangt, in maniakalische
Erregungszustände, in denen er auch gewalttätige, strafbare Handlungen
begehen kann. Solche Erregungszustände können sich nach einigen
Tagen wiederholen.
Im übrigen verliefen die bis jetzt nach Gasvergiftung beobachteten
nervösen Störungen ungemein mannigfaltig, z. B. unter dem Bilde von
schweren Nervenkrankheiten, oft auch unter dem Bilde akuter, manchmal
mit unheilbarer Verblödung endender Geisteskrankheiten (Handbuch der
gerichtlichen Medizin von Schmidtmann). Rekapitulieren wir nun¬
mehr den Fall T., so handelt es sich um einen 17 jährigen jungen
Menschen, der bis zum 10. März 1905 geistig gesund gewesen ist und
in dessen Vorleben sich bis dahin keine wesentlichen Geisteskrankheit
vorbereitenden oder veranlassenden Momente auffinden lassen. Dieser
Mensch erleidet am 10. März 1905 eine Gasvergiftung und verfällt
nach resp. während der Vergiftung in eine Geisteskrankheit, die bis
jetzt fortbesteht.
Diese Tatsachen einerseits und die wissenschaftlich festste¬
hende Erfahrung andererseits, dass nach solchen Vergiftungen akute
Geisteskrankheiten Vorkommen, zwingen mich zu der Annahme, die
Ursache der Seelenstörung in der stattgehabten Vergiftung zu suchen.
Ich gebe daher mein Gutachten dahin ab:
Aus den angeführten Gründen erachte ich es für erwiesen, dass
die Geisteskrankheit des p. T. eine Folge der Gasvergiftung ist, welche
derselbe am 10. März 1905 erlitten hat.
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4.
(Aus der pathologisch-anatom. Anstalt des Krankenhauses im
Friedrichshain-Berlin. Prosektor: Prof. v. Hansemann.)
Heber die Einwirkung konzentrierter Aetzgifte auf
die Magenwand.
Von
Dr. Walbaum in Steglitz.
Die makroskopischen Befunde, die bei Einwirkung der ver¬
schiedenen Aetzgifte auf die Magenwand erhoben werden, finden sich
in sämtlichen Hand- und Lehrbüchern der speziellen pathologischen
Anatomie, der gerichtlichen Medizin, der Toxikologie, der inneren
Medizin und in zahlreichen Einzelarbeiten beschrieben. Die Be¬
schreibungen stützen sich offenbar im ganzen mehr auf die bei ver¬
gifteten Menschen beobachteten Veränderungen als auf die Ergebnisse
von Tierversuchen und weisen naturgemäss oftmals kleine Unterschiede
auf, die sich aus der Konzentration und der Wirkungsdauer des Giftes,
dem Einfluss etwa angewandter Gegenmittel und der Zeit, die seit
dem Tode bis zur Sektion verflossen ist (Selbstverdauung, Fäulnis),
hinreichend erklären lassen. Im ganzen aber herrscht eine befriedigende
Uebereinstimmung, und in den meisten Fällen dürften die lehrbuch-
massigen Darstellungen eine Diagnose mit grosser Wahrscheinlichkeit
ermöglichen.
Anders bei Betrachtung des mikroskopischen Verhaltens. Zu¬
nächst sind nur spärliche Untersuchungen am verätzten Magen vor¬
genommen worden und diese mit verschwindenden Ausnahmen am
Magen von Menschen, die der Einverleibung eines Aetzgiftes zum
Opfer gefallen waren. Hier aber sind Zufälligkeiten und sekundäre
Veränderungen, wie sie schon oben angedeutet wurden, von weit
grösserer Bedeutung, da sie sich im mikroskopischen Bilde gewiss
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64
Dr. Wal bau m,
eher geltend machen und stärker vordrängen, als bei der Betrachtung
mit blossem Auge. Demnach dürften wohl nur Tierexperimente, bei
denen die Versuchsbedingungen gleichmässig zu gestalten und Zufällig¬
keiten auszuschalten sind, als Grundlage zu einer Vergleichung der
mikroskopischen Befunde bei der Verätzung der Magenwand mit
den verschiedenen Giften herangezogen werden. Das ist, soviel ich
sehen kann, nur von Ebstein, Besser und Strassmann geschehen.
Selbst grössere Hand- und Lehrbücher bringen über die Histologie des
verätzten Magens so gut wie nichts. Und doch wäre es, ganz ab¬
gesehen von dem wissenschaftlichen Interesse, zweifellos von grösster
Wichtigkeit, durch das Mikroskop die Art des Aetzgiftes feststellen zu
können und so eine Diagnose zu ermöglichen oder die makroskopische
Diagnose zu stützen.
Ebstein 1 ) studierte den Einfluss des Alkohols auf den Magen, indem er
Händen, die 3 Tage lang gehungert hatten, nichts weiter gab, als eine gewisse
Menge von Kornbranntwein mit einem Alkoholgehalt von 20—30 pCt. Bei dieser
Versuchsanordnnng konnte naturgemäss von einer intensivon, akuten Verätzung
nicht dio Rede sein. Demgemäss traten denn auch nur die Zeichen einer stärkeren
Reizung in die Erscheinung, namentlich im mikroskopischen Bilde. Im ganzen
entsprachen die Veränderungen denen des Verdauungsaktes, hielten jedoch be¬
sonders lange an und machten dann dem Auftreten degenerativer Vorgänge Platz.
Bemerkenswert erscheint mir ausserdem nur, dass die Belegzellen stets intakt ge¬
funden wurden.
Recht eingehende Untersuchungen hat Lesser 2 ) angestellt, und zwar über
die Einwirkung von Schwefel-, Salz-, Salpetersäure, Aetzalkalien, Sublimat und
Carbolsäure. Nach ihm verhalten sich Schwefel- und Salzsäure vollständig
gleich. Sie machen an sich weder direkt Schwarzfärbung noch Volumsvermehrung
der Magenwand, sondern verwandeln zunächst nur das gesamte verätzte Gewebe
durch Eiweissgerinnung in eine derbe, ausserordentlich brüchige Masse von inten¬
siv opak grau-weisslicher Farbe. Nur wo Extravasate auftreten, wird die Wand
dicker. Durch Umwandlung des Hämoglobins in Hämatin tritt Braun- bis Schwarz-
farbung auf, die sich rasch in grössere Tiefe ausdehnt. Das Hämatin wird aus
den Blutkörperchen ausgelaugt und von den Geweben aufgenommen, sodass auch
diese tief dunkelbraun oder schwarz erscheinen. Es handelt sich also nicht um
einen Prozess wie bei der Verkohlung des Korkes durch aufgegossene Schwefel¬
säure. — Die Brüchigkeit des Gewebes geht soweit, dass selbst bei vorsichtigstem
Auseinanderlegen der Magenwände Risse und Sprünge in der Mukosa und Ab¬
blätterungen derselben von der Submukosa entstehen. Abgesehen davon aber sind
1) Ebstein, Wilhelm, über die Veränderungen, welche die Magenschleim¬
haut durch die Einverleibung von Alkohol und Phosphor in den Magen erleidet.
Virch. Arch. Bd. 55. V" v
2) Lesser, Adolf, die anatomischen VeräÄ^Wngen des Verdauungskanals
durch Aetzgifte. Virch. Arch. Bd. 83.
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Ueber die Einwirkung konzentrierter Aetzgifte auf die Magenwand. 65
die Elemente der Magenwand auch mikroskopisch nach Form und Anordnung er¬
halten , nur sind sie starrer und stärker liohtbrechend als gewöhnlich und daher
bei auffallendem Licht hellglänzend. Die Zellen sind fein granuliert oder homogen,
die Kerne gut erhalten, mehr oder minder verdickt. An Stelle der feinen Faserung
sieht man in dem ebenfalls getrübten Interstitium oft eine feine Körnelung. Die
Gefässe sind auffallend häufig nur in der unteren Hälfte der Sohleimhaut stark
und gleichmässig gefüllt, führen entweder wohlerhaltene und nur durch Um¬
wandlung des Blutfarbstoffes in Hämatin bräunlich aussehende Blutkörperchen
oder lediglich Blutplasma im ganzen Querschnitt oder nur in der Randzone.
— Sehr früh tritt in der starren Magenwand wahrscheinlich durch Lösung der
die einzelnen Elemente mit einander verbindenden Massen fleckweise eine Er¬
weichung auf. Die erweichten Partien können dieselbe Opazität darbieten, wie
die hart gebliebenen, sie können aber auch gallertig, transparent erscheinen,
namentlich wenn Zeit genug vorhanden war, dass die in den Zellen enstandenen
Fällungen sich wieder lösen konnten. Immer aber bleiben sämtliche Elemente
der Magenwand der Form nach vollständig erhalten und nur in den gallertig aus¬
sehenden Teilen sind die Bindegewebsfasern fast ganz verschwunden. Von einer
Auflösung der Gewebe durch die Säure kann also keine Rede sein. Dagegen
kommt bei konzentrierten Lösungen schnell eine Abstossung der mortifizierten
Gewebe zustande; an den Stellen der stärksten Einwirkung fehlt vielfach das
Deckepithel oder die ganze Mukosa, ja es kann sogar die Submakosa verloren
gehen und selbst in wenigen Minuten eine Perforation durch die ganze Wanddicke
zustande kommen.
Bei Vergiftung mit Salpetersäure finden sich im allgemeinen die gleichen
Verhältnisse. Die Xantboproteinreaktion tritt nur bei stärkster Konzentration der
Lösung auf; schwächere Lösungen machen lila oder schmutzig-graue bis grau-
weisse Färbung. Die Brüchigkeit des Gewebes ist nicht so hochgradig, wie bei
Salz- und Schwefelsäure, auch findet primär keine Abstossung der Gewebe, wohl
aber eine frühzeitig einsetzende Selbstverdauung statt, sodass fast ebenso schnell
ausgedehnte Substanzverluste entstehen können wie dort. Der Blutfarbstoff wird
gebräunt und von den Geweben aufgenommen, sodass eine Differenzialdiagnose
gegenüber der Vergiftung mit Salz- und Schwefelsäure auch makroskopisch manch¬
mal nicht möglich ist.
Hier möchte ich einen Befund einschalten, den Ipsen 1 ) bei der 19 Stunden
post mortem erfolgten Sektion einer 3 Stunden nach der Aufnahme von 125 ccm
rauchender Salpetersäure gestorbenen Frau erheben konnte. Der Magen war stark
kontrahiert, seine Wandung äusserst brüchig. Die bräunlich-gelbe Schleimhaut
war in eine bröcklige Masse umgewandelt, die fast allenthalben von der Unterlage
sich gelöst hatte und mit braunen Blutgerinnseln vermischt den einzigen Inhalt
des Organs ausmachte. Die Muskelbündel lagen wie herauspräpariert offen zu
Tage. Mikroskopisch fanden sich hier und da Rudimente von Drüsenschläuchen,
mit geronnenen Massen ausgegossen, umfängliche Mengen von vielgestaltigen ver¬
kohlten roten Blutkörperchen und braunes körniges Pigment. Die Epithelzellen
waren gequollen, ihr Protoplasma getrübt, von vermehrtem Glanz, körnig; es ver-
1) Ipsen, Ein Fall von Salpetersäurevergiftung. Vierteljahrsschr. f. ger.
Med. III. Folge, Bd. VI, 1893. .
Vierteljahrsschrift f. ger. Med. u. öff. San.-Wesen. 3. Folge. XXXII. 1. 5
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Dr. Walbaum,
deckte die Kerne, die von den Farbflüssigkeiten wenig oder garnicht berührt
wurden, zum Teil vollständig. Die Zellmembran war manchmal durchsichtig und
scharf begrenzt, manchmal verwaschen nnd undeutlich, sodass die Epithelzellen un¬
förmliche schollige Massen bildeten. Diese letztere Erscheinung wird auch von
Lesser beschrieben, aber ausdrücklich als kadaverös bezeichnet.
Ueber dieVergiftung mit konzentrierten Aetzalkalien besagt dieLessersche
Arbeit folgendes:
Die Lauge macht genau dieselben Prozesse wie die Schwefelsäure, d. h. in
der Schleimhaut und in den tieferen Teilen unzweideutige Trübungen von mehr
oder minder rein weisslicher Farbe gleichzeitig mit beträchtlicher Konsistenz¬
zunahme, wenn die Aetzung bis in die genügende Tiefe reicht. Auch mikroskopisch
existieren keine Unterschiede; hier wie dort sind die einzelnen Elemente gut er¬
halten und in gleichem Sinne verändert. Ein Unterschied besteht in dem Fehlen
der Brüchigkeit des Gewebes. Daher fehlen auch oberflächliche Substanzverluste.
Ferner ist die Farbe eine andere, sowohl die korrodierten, wie die hämorrhagisch
infiltrierten Abschnitte sind oft rötlich-braun, letztere durch Umwandlung des Farb¬
stoffes der im übrigen unveränderten Blutkörperchen, erstere durch Imbibition von
dem stark blutige Beimengungen enthaltenden Mageninhalte. Bei grösserem Ueber-
schuss an freiem Alkali entsteht eine abnorme Transparenz der Gewebe, die jede
Spur der Aetzung und Infiltration verdeckt, indem die primär erzeugten Fällungen
gelöst werden. Gleichzeitig wird der Blutfarbstoff ausgelaugt und in die Gewebe
der ganzen Wand aufgenommen. So erscheint schliesslich der Magen als ein hell-
rötliches, durchaus transparentes Gebilde, dessen Konsistenz an vielen Stellen
subnormal ist, so dass selbst Perforationen entstehen können; die Erweichung geht
aber nicht parallel mit der Aufhellung; glasartig aussehende Partien sind oft noch
von aussergewöhnlicher Derbheit.
Die Strukturverhältnisse treten fast immer mit derselben Schärfe zu Tage,
wie am normalen Organ. Auch die Zellgrenzen sind in den getrübten Partien
stets, in den transparenten häufig noch naohzuweisen. Die Zellkörper sind in den
opaken Partien durch feine Granula wie bestäubt, durch weiteren Alkalizusatz
verschwinden sie; der Kern ist durch die Granula mehr oder weniger verdeckt.
In den transparenten Abschnitten ist das Protoplasma durchsichtig, homogen,
lässt den etwas blass erscheinenden Kern oft nooh erkennen. Die roten Blut¬
körperchen sind in jedem Falle zerstört.
Diesen Angaben gegenüber betont Strassmann 1 ) in Uebereinstimmung mit
Hofmann 2 3 ), dass die Schorfe bei der Laugenvergiftung ursprünglich ein anderes
Aussehen haben als bei der mit Säuren erzeugten, sie sind aufgequollen und trans¬
parent, weich, von seifenartigem Gefühl. Auch mikroskopisch sind die Zellen ge¬
quollen und durch Imbibition mit gelöstem Blutfarbstoff gelblich gefärbt.
In einem späteren Aufsatz 8 ) bestätigt Lesser für die starken Laugen¬
lösungen diese von Strassmann aufgestellten Behauptungen, will aber bei ge¬
ringerer Stärke des Giftes trotzdem an seiner Ansicht festhalten.
1) Verhandl. d. X. internat. Kongr. f. gerichtl. Med. 1890 und Lehrb. d.
gerichtl. Med. 1893.
2) Lehrb. d. ger. Med. 1895.
3) Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Med. 1898. III. Folge. Band 16.
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Ueber die Einwirkung konzentrierter Aetzgifte auf die Magenwand. 67
Die konzentrierte Suhlimatlösung macht nach Lesser im wesentlichen
die gleichen Veränderungen, wie die Säuren und Alkalien. Nur treten die irri-
tativen Wirkungen, die bei Säuren und Alkalien um so stärker sind, je schwächer
die Lösung war, gegenüber den ätzenden ganz in den Hintergrund. Es entsteht
also ein fast rein weisser Aetzschörf, in dem Blutungen äusserst spärlich, plastische
oder wässerige Ezsudationen kaum vorhanden sind. Ueber die Muscularis mucosae
geht die Aetzung selbst bei stärkster Konzentration nioht hinaus. Defekte, sekun¬
däre Erweichung, Brüchigkeit kommen nicht vor, wohl aber starke Konsistenz¬
vermehrung.
Die Carbolsäure macht genau die gleichen Veränderungen, wie das
Sublimat.
Von mir wurde experimentell geprüft die Einwirkung von
1. Salzsäure, conc.,
2. Schwefelsäure, 50 pCt.,
3. Salpetersäure, conc.,
4. Liq.- Natr. caustici (=15 pCt. Na OH),
5. Alkohol absolut.,
6. Sublimat, conc. (= 6 Y 2 pCt.),
7. Ac. carbolic. liquefact.,
8. Lysol, conc.
auf den Magen des Hundes in der Weise, dass dem durch Injektion
von 0,04 Morphium betäubten Tier, nachdem es 24 Stunden gehungert
hatte, mittels Magenschlauches das Gift eingeführt wurde. Die
Menge schwankte je nach der Grösse der Tiere zwischen 150 und
200 ccm. W T ährend der Eingiessung wurde eine Aethernarkose be¬
gonnen und bis zum Tode fortgesetzt. Wo dieser nicht sehr bald
spontan eintrat, wurde er nach 10 Minuten durch reichliches Auf¬
giessen von Chloroform auf die Maske herbeigeführt. Die Sektion
wurde sofort angeschlossen, der Magen herausgenommen, aufgeschnitten,
abgespült, kleine Stückchen zur mikroskopischen Untersuchung, teils
in Alkohol, teils in eine Mischung von Müllerscher Flüssigkeit und
5 proz. Formalin zu gleichen Teilen gebracht, das Organ selbst in
JCayserlingscher Flüssigkeit aufgehoben.
1. Salzsäure (Acidum muriaticum purum).
Der Magen ist total verätzt, in ein starres, enges Gebilde ver¬
wandelt, dessen Wand beim vorsichtigsten Auseinanderlegen einbricht.
Die Innenfläche ist stark gewulstet, dunkelgraurötlich, die Wanddicke
vermehrt, der Pylorus ist fest kontrahiert, doch hat sich auch ins
Duodenum und den oberen Teil des Jejunums, die ätzende Flüssigkeit
ergossen; hier ist die Schleimhaut hellgrau-weisslich, in scharfer
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Dr. Walbaum,
Grenze von der des Magens sich abhebend. Die Peritonealseite ist
glatt und glänzend, bläulich-grau, mit dunkelbrauner bis schwarzer
Gefässzeichnung.
Bei Beurteilung des mikroskopischen Bildes ist hier wie bei
allen folgenden Versuchen zu berücksichtigen, dass auch bei Verätzung
mit den stärksten Mitteln die Wirkung nie gleichmässig über die
ganze Mageninnenfläche verteilt ist. In den Nischen und in der Tiefe
der Falten finden sich geringere Veränderungen, als auf der Höhe.
So können nebeneinander die verschiedensten Bilder Vorkommen.
Die in Müller-Formol fixierten Präparate nehmen keinerlei
Kernfarben an, weder wenn sie in Paraffin, noch wenn sie in Celloidin
eingebettet sind. Bei tagelangem Liegen in Hämatoxvlinlösung werden
sie ganz diffus blass-blau-grau, lassen sich aber nicht durch Einlegen
in Salzsäure und Nachspülen mit Ammoniak differenzieren.
Die in absolutem Alkohol fixierten Präparate nehmen auch nur
sehr schwer das Hämatoxylin an, werden dann aber diffus dunkel-blau-
grau und lassen erst bei Einwirkung von Salzsäure und Ammoniak
Zellen und Kerne sichtbar werden. Trotzdem bleibt auch bei den
besten Präparaten ein Schleier, dadurch bedingt, dass beim Auswaschen
das Protoplasma nicht ganz den aufgenommenen Farbstoff abgegeben
hat; darum lassen auch schwächere Vergrösserungen vielfach die
Einzelheiten nicht mit der wünschenswerten Schärfe hervortreten. —
In Lithioncarmin verhalten sich die Schnitte ganz ähnlich: sehr lange ,
Färbedauer, geringe Neigung zur Differenzierung. Die Protoplasma¬
farben dagegen nehmen sie leicht auf. Dabei bekommt das Gewebe
mit Eosin keinen schönen roten, sondern mehr einen bräunlichen,
kupferartigen Ton, und bei Nachfärbung mit dem van Giesonschen
Farbengemisch treten anstatt des reinen Gelb grünliche Töne, anstatt
des leuchtenden Rot ein blasses, ins graue spielendes Rot auf.
Man ist überrascht, bei der schweren grobanatomischen Läsion
der Magenwand ihre Komponenten mikroskopisch noch in leidlichem
und sehr wohl erkennbarem Zustande anzutreffen. Es ist nicht nur
jede Schicht als solche deutlich zu sehen und scharf, wie in normalem
Zustande, gegen die benachbarten Schichten abzugrenzen, sondern
jede einzelne Zelle, sogar die der obersten Decke, ist in ihrer äusseren
Form unverändert. Nirgends ein Epitheldefekt; wo bei der Brüchigkeit
des Gewebes Risse und Spalten entstanden sind, lassen sie sich sofort
als Artefakte erkennen.
Das in seiner Form tadellos erhaltene Magenepithel hat sehr
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Ueber die Einwirkung konzentrierter Aetzgifte auf die Magenwand. 69
scharfe Konturen, so dass die einzelnen Zellen deutlich gegen einander
abgrenzbar sind. Die Kerne sind sämtlich bodenständig und nur
selten als kugelige Gebilde zu erkennen; meist haben sie sich als
dunkel-blau-grau gefärbte Schollen an der Zellbasis ausgebreitet. So
entsteht am Grunde des zelligen Belages ein fast kontinuierlich aus¬
sehender schmaler Streifen, indem die auseinandergeflossenen Kerne
sich seitlich berühren. Nur an wenigen, besonders geschützten Stellen,
in der Tiefe von Nischen und Winkeln, sind die Kerne einzeln als
kugelige, ovale oder stäbchenförmige Gebilde zu sehen. — Bei
Immersionsvergrösserung und einiger Abblendung löst sich das dunkle
Kernband vielfach noch in seine Bestandteile auf. Aber die Kerne
sind nirgends scharf und deutlich zu erkennen, nirgends ihr Aufbau
aus Kernmembran, Kerngerüst und Kernkörperchen zu sehen; vielmehr
haben wir günstigenfalls einen dunklen Fleck vor uns, mehr oder
weniger scharf umschrieben und gegen die Umgebung abgrenzbar.
Die Zellen sind durchweg sehr hochzylindrisch, nach der freien
Oberfläche zu fächerförmig etwas breiter werdend, sehr hell und durch¬
sichtig, als ob sie gänzlich leer wären, nur an der Basis befindet
sich eine ganz schmale, etwas dunklere Schicht, die durch einen fein
konturierten nach oben offenen Bogen gegen den übrigen Teil der
Zelle abgesetzt ist. In dieser dünnen protoplasmatischen Schicht
liegt der Kern. Am Grunde eines kleinen Rezessus findet sich auch
gelegentlich eine Reihe von Deckepithelien, die nicht glasig klar aus-
sehen, sondern in ihrem ganzen Körper mit feinen Protoplasmagranu¬
lationen ausgefüllt sind. Ihre Kerne sind grösser und stets stäbchen¬
förmig. — Leukozyten kommen zwischen den Epithelien nur ganz
vereinzelt vor, ebenso in den tieferen Schichten der Schleimhaut.
Die Bindegewebs- und glatten Muskelfasern der Tunica propria
sind gut erhalten. Ihre Blutgefässe und Kapillaren sind sehr weit,
strotzend mit Blut gefüllt. Das Blut ist in eine feiner oder gröber
gekörnte gleichmässige Masse verwandelt, die einzelnen Blutkörperchen
sind meist nicht mehr zu erkennen. Das Gefässendothel ist gut er-
erhalten, mit deutlichen Kernen versehen, die sehr oft auch noch ein
Kernkörperchen aufweisen.
An den Drüsen, die von normalem Aussehen sind, lassen sich
•Haupt- und Belegzellen überall gut unterscheiden. Die helleren Kerne
der Hauptzellen weisen deutlich erkennbar Membran, Gerüst und
Kernkörperchen auf, die dichteren Kerne der Belegzellen dagegen nicht.
Von Schrumpfungs- oder Quellungsprozessen ist nichts zu merken.
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Dr. Walbaum,
Die stark gefüllten Kapillaren zwischen den Drüsen treten auffallend
deutlich hervor, besonders auch durch den von der Umgebung stark
abstechenden bräunlichen Farbenton. Das Bild gewinnt dadurch an
Plastizität.
An der Muscularis mucosae fehlen bemerkenswerte Veränderungen.
Bei der Submukosa fällt am meisten auf die enorme Gefäss-
erweiterung. Stellenweise liegen ganz gewaltige Hohlräume neben
einander, wie bei einem Angiom. Die Gefässwand ist überall deutlich
erkennbar, ihre Zellen sind von guter Beschaffenheit. Blutaustritte
sind selten und klein, manchmal wohl durch die Präparation bedingt;
in der Mukosa sind sicherlich keine zu finden. Die Erweiterung der
Gefässe erstreckt sich mehr auf die Venen als auf die Arterien. Der
Gefässinhalt ist, wie in der Schleimhaut, eine gleichmässige, gelbbraun
gefärbte grob granulierte Masse. Die ebenfalls, aber nicht so stark
dilatierten Lymphgefässe haben einen feinkörnigen oder homogenen, sehr
blass sich färbenden Inhalt. — Das Bindegewebe ist grobfaserig, ge¬
quollen, starr, durchscheinend, sehr arm an Kernen. Leukozyten¬
anhäufungen fehlen. Feinere Elemente, wie Nervenfasern und -Zellen,
sind nicht zu differenzieren.
Die starke Gefässerweiterung setzt sich auch in die Muskularis
fort. Im übrigen zeigt diese Schicht, abgesehen von besonders
schlechter Färbbarkeit der Muskelfasern, die das Hämatoxylin intensiv
festgehalten und eine weitergehende Differenzierung nicht zugelassen
haben, nichts Auffallendes. Verhältnismässig gut erhalten sind viel¬
fach die Zellen und Fasern des Plexus Auerbachii, sowie die Endothelien
der diese Gebilde begleitenden Lymphscheiden.
Die am weitesten von der Stelle der Giftwirkung entfernte Schicht,
die Serosa, zeigt auch die geringsten Veränderungen. Wohl sind auch
hier noch die Gefässe stark erweitert und ihr Inhalt körnig geronnen,
aber das sonst so empfindliche Epithel ist lückenlos vorhanden und
in gutem Zustande. ••
2. Schwefelsäure. (y 2 - konzentriert).
Der Magen verhält sich in Bezug auf Grösse, Konsistenz und
Brüchigkeit genau wie bei der Vergiftung mit Salzsäure. Die Schleim¬
haut ist stellenweise auf grössere Strecken von der Unterlage abgehoben.
Die Farbe der Innenfläche ist dunkelgraubraun bis schwarz, manche
Stellen sind intensiv kohlschwarz gefärbt. Von der Peritonealseite her
sieht das Organ dunkler aus, als bei der Salzsäureverätzung, im übrigen
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Ueber die Einwirkung konzentrierter Aetzgifte auf die Magenwand. 71
besteht kein Unterschied. Der Pylorus ist festgeschlossen und hat nur
sehr wenig von dem Gift durchgelassen, daher ist auch nur der oberste
Teil des Duodenums mit grauweisslicher Farbe oberflächlich verätzt.
Unter dem Mikroskop finden wir genau das gleiche Verhalten wie
bei der Salzsäure Vergiftung. Die Gewebe mögen im ganzen eine
Kleinigkeit besser erhalten sein, insbesondre ist stellenweise das Deck¬
epithel in ausgezeichneter Verfassung, allerdings dabei starr, glänzend
und sehr blass gefärbt. Auch die Belegzellen der Drüsen sind in
gutem Zustande, während die Hauptzellen und namentlich die ihnen
entsprechenden Zellen der Pylorusdrüsen manchmal recht stark alteriert
erscheinen, derart, dass auf grössere Strecken von ihnen weiter nichts
übrig ist als ein feinkörniger oder fädiger Detritus von graubläulicher
Farbe, in dem leidlich erhaltene oder mehr oder weniger verklumpte
und verzerrte Kerne liegen. An anderen Stellen wiederum lassen die
Hauptzellen deutlich ihre Conturen erkennen. Eigentümlicherweise
geht die beschriebene Veränderung nicht parallel mit den Veränderungen
an den benachbarten Geweben. Die Hauptzellen können zerstört sein,
wo die Deckepithelien und Belegzellen am geringsten angegriffen er¬
scheinen und umgekehrt.
Die Blutgefässe sind in allen Schichten ganz kolossal erweitert,
noch stärker als bei der Salzsäureverätzung. Weniger als hier haben
aber die roten Blutkörperchen gelitten, die vielfach noch ihre Form
gut erkennen lassen. Auch die Erweiterung der Lymphgefässe ist
eine wesentlich stärkere. Im übrigen sind keinerlei Unterschiede fest¬
zustellen.
3. Salpetersäure (Ac. nitricum purum).
Die Peritonealseite des eng kontrahierten Magens ist dunkelgrau¬
braun mit deutlicher, fast schwarzer Gefässzeichnung. Die Innenfläche
verhält sich genau wie bei den anderen Säurevergiftungen; ihre Farbe
ist dunkelgraubraun mit unregelmässig gestalteten diffus in die Um¬
gebung übergehenden schmutziggelben Flecken. Die Darmschleimhaut
ist auf % m vom eng kontrahierten Pylorus an verätzt, brüchig,
zitronengelb gefärbt.
Von dem mikroskopischen Bilde eine Schilderung zu geben erscheint
überflüssig, da es in keiner Weise von dem bei der Salz- und Schwefel¬
säureverätzung abweicht. Wie bei der letzteren sind die Hauptzellen
und die ihnen analogen Zellen der Pylorusdrüsen stellenweise schwer
verändert.
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72
Dr. Walbaum,
4. Natronlauge (Liq. Natr. caustici).
Der Exitus erfolgt sofort nach dem Eingiessen des Giftes ohne
jeden Todeskampf. — Der Magen ist nicht verkleinert, sieht von
aussen dunkclbraunrot aus. Eine Gefässzeichnung ist nur sehr schwach
ausgeprägt. Die Höhlung ist mit blutiger Flüssigkeit gefüllt, die
Wand verdickt, weich und leicht zerreisslich, von dunkelburgunder¬
roter Farbe, nirgends transparent; die gewulstete, gallertig sich an¬
fühlende Schleimhaut von einer dicken, zähen Schleimlage bedeckt.
Der fest verschlossene Pylorus hat nichts in den Darm 'durchgelassen-
Die zur mikroskopischen Untersuchung bestimmten Stückchen,
sowohl die in Alkohol, wie die in Müller-Formol fixierten, werden
ungemein hart, sodass sie sich nicht schneiden lassen, und es geradezu
einen Zufall bedeutet, wenn ein auch nur einigermassen brauchbarer
Schnitt zustande kommt. Das gilt in gleicher Weise für Paraffin-
wie für Celloidineinbettung.
Die Färbbarkeit der Objekte durch Kern- und Protoplasmafarben
ist normal.
Ausserdem fallen gegenüber dem Verhalten der Magenwand bei
den Säure Vergiftungen folgende Punkte am meisten auf:
In allen Schichten ist die bindegewebige Zwischensubstanz
(Tunica propria der Schleimhaut, Submukosa, Interstitium zwischen den
Muskelschichten, Serosa) so vollständig homogenisiert, dass von der
normalen Struktur nichts mehr zu erkennen und nur bei Immersions-
vergrösserung und Abblendung hin und wieder eine Andeutung von
Faserung zu finden ist. Die zugehörigen Kerne liegen ungleichmässig
in der homogenen glasklaren Masse verteilt. Auch das Protoplasma
beieinanderliegender Zellen ist vielfach zu einer hellen homogenen
Masse zusammengeflossen, in der eine Abgrenzung der einzelnen
Komponenten gegeneinander nicht mehr möglich ist.
Die Blutgefässe sind eng kontrahiert, die Arterien enthalten
durchweg gar kein Blut, die Venen nur wenig. Das Blut ist absolut
homogen, hellgelbbraun, und enthält als einzige geformte Bestandteile
die den weissen Blutzellen angehörigen Kerne, während von den Zell-
leibem nichts mehr sichtbar ist. Der Blutfarbstoff ist eine kleine
Strecke weit in die Umgebung der Gefässe diffundiert. Die Wand der
Gefässe erscheint dick durch die Zusammenziehung; alle Kerne, auch
die der Intima, sind schön erhalten, während eine Abgrenzung der
Zelleiber mit ihrem bis zur Unsichtbarkeit aufgehellten Protoplasma
meist nicht mehr gelingt, — Kapillaren sind in keiner Schicht der
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Ueber die Einwirkung konzentrierter Aetzgifte auf die Magenwand. 73
Magenwand nachzuweisen. Wenn auch aus der Analogie geschlossen
werden muss, dass ihre Endothelkerne vorhanden sind, so gelingt es
doch nicht, sie aus der grossen Menge gleichartiger Kerne herauszu-
finden. Wohl aber sind die Kerne der Lymphgefässendothelien an
vielen Stellen gut erkennbar.
Das Deckepithel fehlt im allgemeinen, nur in den versteckten
Winkeln [der Magengrübchen ist es erhalten. Wo die. Lauge voll
zur Wirkung kommen konnte, ist es nebst dem Stützgewebe der
Tunica propria zu Schleim verflüssigt und beim Reinigen abgespült
worden. An einzelnen Stellen hat die Schleimschicht fester gehaftet
und ist im Präparat als bläulichrot gefärbte streifige Masse sichtbar.
Innerhalb dieser Masse liegen tief dunkelblau gefärbte schollige, lang¬
gezogene oder verästelte Kernreste mit unregelmässigen, wie ange¬
fressen aussehenden Rändern. Nach der Tiefe zu gehen die Schleim¬
auflagerungen in besser erhaltene Zellgruppen und schliesslich in schöne
Durchschnitte von Magengrübchen und Drüsen über.
Da, wo das Deckepithel noch leidlich erhalten ist, zeigt es
folgende Eigentümlichkeiten: Die Zellgrenzen sind meist deutlich, nur
die Oberfläche ist manchmal nicht geradlinig, sondern rauh und uneben.
Der Zellinhalt zeigt keine scharfe Trennung in protoplasmatische und
Schleimschicht, wenn auch der basale Teil der Zellen vielfach einen
etwas dunkleren Farbenton angenommen hat. In diesem basalen Teil
liegt der meist gut konservierte, kugelige oder ovale, seltener auch
stäbchenförmige, grosse, vielleicht etwas gequollene Kern, der fast
stets Membran, Gerüst und Kernkörperchen aufweist. Zuweilen sind
die Kerne auch blass, aufgehellt, ohne deutliche Struktur, und am
Rande wie angefressen, oder sie scheinen aus einer Reihe teilweise
sich deckender Vakuolen zu bestehen, die von besonders dichter
Substanz umgeben sind. — Die oberflächlichen Partien der Schleim¬
haut sind durch ausgelaugten Blutfarbstoff hellbraun gefärbt; neben
dem diffusen Farbstoff findet sich gelegentlich auch körniges, braunes
Pigment, besonders in dem nekrotischen aus verschleimtem Epithel
bestehenden Material, von dem oben die Rede war.
Die Drüsenschicht verhält sich überall gleich. Die hier be¬
sonders auffallende Homogenisierung des Interstitiums mit Muskelfasern
und Kapillaren wurde schon hervorgehoben; die Kerne, die ihm an¬
gehört haben, sind an ihrer Form, Grösse und Lagerung zu erkennen.
Die Drüsenzellen selbst sind schwer gegeneinander und gegen die
Umgebung abzugrenzen, da auch ihr Protoplasma stark aufgehellt
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Dr. Wal bäum,
ist. Es finden sich zwar — bei Immersionsvergrösserung und inten¬
siver Abblendung gelegentlich sogar recht deutlich — zwischen Inter-
stitium und Drüsenschlauch feine Spalträume, die zweifellos auf
Schrumpfung durch das fixierende Agens zurückzuführen sind; an
anderen Stellen lässt sich auch innerhalb der Drüsen eine Andeutung der
Konturen gut aneinanderliegender Zellen, namentlich der Belegzellen,
bemerken; meist aber finden wir eine mehr oder weniger homogene
und helle Masse mit eingebetteten Kernen. Mehr oder weniger homogen,
d.h. das Protoplasma der Belegzellen ist regelmässig auch nach der Homo¬
genisierung etwas dichter und dunkler gefärbt, als das der Hauptzellen.
Diese haben auch in ihrem Kern weit mehr gelitten, als die offenbar •
viel widerstandsfähigeren Belegzellen. Und zwar zeigen die Haupt¬
zellenkerne ungemein häufig eine grobschaumige Struktur, die sie aus
einem Konglomerat von teilweise sich deckenden Vakuolen mit starker
blaugefärbter Umrandung zusammengesetzt erscheinen lässt, oder sie
sind zu unregelmässigen Gebilden auseinandergeflossen, die sich mit
den phantastischen Figuren, wie sie beim Bleigiessen entstehen, ver¬
gleichen lassen. Aehnliche Wirkungen, wenn auch nicht in so starkem
Masse, hat das Gift an den Kernen der Tunica propria hervorgebracht.
Die Belegzellenkerne dagegen sind fast immer in guter Verfassung
und weisen nur selten die beschriebene vakuoläre Veränderung in ge¬
ringerem Masse auf.
Natürlich sind die oberflächlichen Schichten der Schleimhaut am
meisten mitgenommen; nach der Tiefe zu nehmen die Wirkungen des
Aetzmittels rasch an Ausdehnung und Intensität ab. Die Basis der
Magendrüsen ist an manchen Stellen ausgezeichnet erhalten.
Das Gleiche gilt für die Muscularis mucosae. Nur sind die
längsgetroffenen Fasern fast garnicht, die quergetroffenen nicht so
leicht wie normal von einander abzugrenzen. Die Kerne zeigen ver¬
einzelt eine schaumige Struktur.
An der Submukosa ist, abgesehen von denjenigen Veränderungen,
welche die ganze Wanddicke in gleicher Weise betreffen, nichts Be¬
sonderes zu bemerken. Elemente des Meissnerschen Plexus sind nicht
aufzufinden.
Die Muskularis ist von allen Schichten am besten erhalten.
Die Fasern sind nicht so scharf von einander trennbar wie normal,
etwas gequollen und miteinander verschmelzend. Die Kerne zeigen
stellenweise stark vakuoläre Struktur, aber überall einen scharfen
Kontur. Fasern und Zellen des Auerbachschen Plexus ohne Veränderung.
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Ueber die Einwirkung konzentrierter Aetzgifte auf die Magenwand. 75
Die Serosa hat stark gelitten. Das Epithel ist fast nirgends
erhalten, das subseröse Bindegewebe ist verflüssigt, seine Kerne sind
vakuolär und zerrissen.
5. Absoluter Alkohol.
Der Magen ist weit, schlaff und gefülllt. Von aussen bietet er
nichts Besonderes, die Serosagefässe sind lebhaft injiziert. Die
Schleimhaut ist tief dunkelrot, auf der Höhe der stark ausgeprägten
Falten weisse kleinflockige Beläge, die ziemlich fest haften, sich aber
ohne Substanzverlust abziehen lassen (geronnener Schleim?), Blutungen
sind mit blossem Auge nirgends zu erkennen. Durch den weiten Pylorus
ist der Alkohol ungefähr 8 / 4 m in den Dünndarm hineingeflossen
und hat auch hier eine lebhaft rote Färbung der Schleimhaut bewirkt.
Sämtliche Zellen sind ausgezeichnet erhalten und völlig normal.
Im Deckepithel finden sich hin und wieder Mitosen. Der in den
lebenden Magen eingeführte Alkohol bewirkt genau dasselbe, was der
Anatom bezweckt, wenn er die zur Untersuchung bestimmten Objekte
in absoluten Alkohol bringt, die Zellen werden getötet, aber in ihrer
Form fixiert (Fixation im Leben). Die Blutgefässe, namentlich die
Venen und Kapillaren der Submukosa und der angrenzenden Mukosa¬
schicht sind stark gefüllt. In den oberflächlicheren Schleimhautpartien
sind die mässig erweiterten Kapillaren nicht so gut zu sehen, weil
sich die roten Blutkörperchen fast ganz entfärbt und ihren Farbstoff
an die Gewebe abgegeben haben. Die letzteren haben dadurch einen
hellbraunroten Farbenton angenommen. In der Submukosa enthalten
die Venen vielfach frische weisse oder gemischte Thromben. Hier sind
auch die Lymphspalten enorm ausgedehnt und mit einem feinkörnig
oder homogen geronnenen Inhalt versehen. Dem Deckepithel liegt
stellenweise eine Schicht, bestehend aus geronnenem Schleim und ab-
gestossenen Epithelien auf. In den unteren Schichten der Schleimhaut
liegen reichlich Lymphknötchen und einzelne Lymphkörperchen, die
bis an die Oberfläche dringen. Das Protoplasma der Hauptzellen ist
hell und fast farblos; in den Belegzellen finden sich vereinzelte Va¬
kuolen.
6. Konzentrierte Sublimatlösung.
Der Magen ist äusserlich von normalen Aussehen, dickwandig und
starr. Innen zeigt er eine fast schneeweisse Farbe. Die Schleimhaut
ist wenig gefaltet, hart. Der Pylorus ist fest geschlossen, das Duo¬
denum ohne Veränderungen.
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76
Dr. Walbaum,
Sämtliche mikroskopische Präparate können als Paradigmen für
eine gut erhaltene normale Magenwand gelten. Auch hier handelt es
sich um eine Fixation des Gewebes im Leben. Zu bemerken ist nur
folgendes: An der Oberfläche und in den obersten Schichten der Schleim¬
haut finden sich vereinzelte Sublimatniederschläge. Die kleinen Gefässe
und Kapillaren sind stark gefüllt und erweitert; Blutaustritte jedoch sind
nirgends zu sehen. Die Hauptzellen weisen vielfach eine ziemlich grobe
grau-blaue Granulierung ihres Protoplasmas auf, die manchmal ein weit¬
maschiges intrazelluläres Netzwerk darstellt; die Belegzellen enthalten
häufig eine oder mehrere kreisrunde Vakuolen. Die Muskelschichten sind
stark kontrahiert, was in der Breite der Fasern und der vielfach kork¬
zieherartigen Form der Kerne einen anatomischen Ausdruck findet.
7. Karbolsäure (Ac. carbolicum liquefactum).
Aeusserlich ist dem Magen nichts Pathologisches anzusehen. Die
Innenfläche ist fast schneeweiss, stark gefaltet. Die Schleimhaut ist
hart, lederartig; die Submukosa auf dem Durchschnitt schleimig, graurot,
von Blutungen durchsetzt, die Muskularis stark kontrahiert, sonst nicht
verändert. Obwohl der Pförtner eng zusammengezogen ist, hat sich doch
ziemlich viel von dem Gift in den Dünndarm ergossen, dessen Schleim¬
haut auf eine grössere Strecke hin mit weisser Farbe verätzt ist.
Im mikroskopischen Bilde erscheint die Magenwand im ganzen
gut erhalten, insbesondere in den tieferen Schichten. Nur das Deck¬
epithel hat streckenweise stark gelitten, ist sogar, wie bei der Laugen¬
vergiftung, auf grösseren Flächen schleimig zusammengeflossen und
teilweise abgeschwemmt 1 ), so dass der Eingang in die Magengrübchen
und dazwischen die Strebepfeiler der Tunica propria vielfach frei zu
Tage liegen, teilweise ist es von seiner Unterlage ganz abgehoben.
Die Tendenz der protoplasmatischen Zellbestandteile zu erweichen
und zusammenzufliessen setzt sich häufig auch auf die Zellen der
Magengrübchen fort. Wo das Epithel in gutem Zustande geblieben
ist, weist es keine Besonderheiten auf. Die oberen Schichten der
Mukosa sind durch ausgelaugten Blutfarbstoff in gelblichem Tone gefärbt
und dunkler. — Die Drüsenschicht ist sehr niedrig, ihre Zellen.zeigen,
abgesehen von häufigen grossen und kleinen Vakuolen in den Beleg¬
zellen, nichts Bemerkenswertes. Die Blut- und Lymphgefässe sind
ziemlich stark erweitert, namentlich in der Submukosa.
In den vorliegenden Präparaten fehlen Blutaustritte. Die Blut-
1) Eine gute Abbildung s. Strassmann, Lehrb. d. gerichtl. Med.
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Ueber die Einwirkung konzentrierter Aetzgifte auf die Magenwand. 77
körperchen sind gut erhalten. In den Lymphgefässen findet sich
feinkörnig geronnene Lymphe.
8. Lysol (Liquor Kresoli saponatus).
Der Magen ist ziemlich fest kontrahiert und ohne Besonderheiten
von aussen. Seine Höhlung ist voll von lockerem rötlichem Schaum.
Die stark gewulstete Schleimhaut ist im Fundusteil trüb-grau-rot,
im Pylorusteil trüb-weisslich mit diffusen rosenroten Flecken. Die
Oberfläche fühlt sich etwas schmierig, nicht starr an. Blutungen
fehlen. Zwölffingerdarm ohne Veränderungen, was durch die einen voll¬
ständigen Abschluss bewirkende Kontraktion des Pylorus erklärt wird.
Gegenüber den ausgesprochenen makroskopischen Veränderungen
fällt im mikroskopischen Bilde der tadellose Zustand sämtlicher
Schichten auf. Fast kann man die Präparate denen bei Sublimat¬
vergiftung als gleichwertig an die Seite stellen. Hin und wieder sind
die Zellgrenzen etwas verschwommen, und es besteht eine Andeutung
von Homogenisierung des Protoplasmas, besonders bei den Fundus¬
drüsen, im ganzen aber sind Zellen und Kerne überall klar und
scharf. Die Belegzellen der Fundusdrüsen enthalten Vakuolen. Die
Blutgefässe und Kapillaren sind eng; die in ihnen befindlichen roten
Blutzellen sind meist gegen einander gut abzugrenzen, wenn auch oft
von verzerrten Formen, stellenweise sind sie auch zu homogenen
Massen verschmolzen. Die breiten Muskelfasern sind vielfach mit
korkzieherartigen Kernen versehen, die nicht selten wie aus Farb-
Kreisen zusammengesetzt erscheinen.
•-
Ueberblicken wir die mitgeteilten Befunde am verätzten Tiermagen
bezüglich ihres Wertes in differenziell-diagnostischer Hinsicht, so ist
leicht zu erkennen, dass es im allgemeinen gelingen muss, allein aus
dem mikroskopischen Verhalten die Diagnose auf Verätzung mit einer
starken Mineralsäure zu stellen. Die mangelhafte Färbbarkeit der Objekte
bei tadellosem Erhaltensein fast sämtlicher Gewebselemente, das starre
Aussehen des Epithels, die starke Erweiterung der Blut- und Lymphge-
fässe dürfte charakteristisch genug dafür sein. Dagegenerscheintesabsolut
unmöglich, die einzelnen Säuren von einander zu unterscheiden.
Alkohol und Sublimat sind eigentlich nur dadurch von einander
verschieden, dass beim ersteren die roten Blutkörperchen mit Eosin
eine viel blässere Farbe annehmen, fast ungefärbt, leicht gelblich er¬
scheinen, während sie beim Sublimat das Rot in schöner Weise fest-
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Dr. Walbaum,
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Ueber die Einwirkung konzentrierter Aetzgifte auf die Magenwand. 79
halten. Analog verhalten sich die Präparate bei Nachfärbung mit
van Giesonscher Lösung. Aber hierauf eine Differenzialdiagnose
zu stützen, erscheint mir sehr gewagt. Auch die Sublimatniederschläge
dürften nicht charakteristisch genug sein.
Fast genau so gut wie beim Alkohl und Sublimat ist beim Lysol
jede Gewebsschicht erhalten; die geringen Veränderungen am Drüsen¬
epithel und am Blut können kaum mit wünschenswerter Sicherheit
eine Unterscheidung gestatten.
Ebenso starke, aber ganz andersartige Veränderungen, wie die
Säuren, machen die Aetzalkalien, deren Diagnose sich in der Mehrzahl
der Fälle wohl auch aus dem mikroskopischen Bilde stellen lassen
wird. Die gute Färbbarkeit der Schnitte, die Kontraktion der Blut¬
gefässe, das Verschwinden der roten Blutkörperchen, die Homogenisierung
des gesamten Bindegewebes, die Verwischung der Zellgrenzen, die
Aufhellung des Protoplasmas und die Verzerrung der Kerrie sind hier
die wichtigsten Charakteristika.
Recht schwer dürfte es fallen, aus dem mikroskopischen Bilde
allein den Schluss auf eine Vergiftung mit Karbolsäure zu ziehen.
Es finden sich bei ihr Erscheinungen, die an den Befund bei Läugen-
vergiftung erinnern, neben durchaus gut erhaltenen oder kaum ver¬
änderten Stellen, wie beim Lysol; und wiederum im Gegensatz zu
beiden Giften sind die Blut- und Lymphgefässe ziemlich stark erweitert.
Die beifolgende Tabelle gestattet eine schnelle und ausreichende Ueber-
sicht über die erhobenen Befunde.
Im ganzen stimmen meine Befunde sehr wohl mit denen Lessers
überein. Die geringfügigen Unterschiede ergeben sich daraus, dass
ich mich zunächst darauf beschränkte, die akutesten, durch Verätzung
mit konzentrierten Lösungen bedingten Veränderungen zu untersuchen,
bevor noch irgend welche Wirkungen von anderer Seite zu Tage ge¬
treten sein konnten, während jener Untersucher den Verlauf der Vergiftung
über längere Zeit hinaus verfolgte und dadurch gleichzeitig die Reaktion
der Gewebe auf die Attacke beobachten konnte, vielfach auch die
Gifte in schwächerer Lösung zur Anwendung brachte. Nur für die
Laugenvergiftungen muss ich mich nach den erhobenen Befunden
durchaus auf den von Strassmann eingenommenen Standpunkt stellen.
Meinem hochverehrten früheren Chef und Lehrer Herrn Prof,
v. Hansemann, spreche ich für die Anregung zu diesen Unter¬
suchungen und die liebenswürdige Zuweisung des Materials meinen
ergebensten Dank aus.
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5.
Aus dem Pharmakologischen Institute zu Halle a. S.
Zum Nachweis von Ohioraten im Harn.
Von
Dr. Herrn. Hildebrandt,
Privatdozenten fUr Pharmakologie und gerichtliche Medizin.
Im Jahre 1893 hat R. v. Maschka 1 ) das Ergebnis der Sektion
eines Kindes mitgeteilt, bei der im Blute Met-Hämoglobin, in der
Milz und den Nieren Veränderungen gefunden wurden, die den Ver¬
dacht einer Vergiftung mit Kali chloricum nahe legten; das Ergebnis
der gerichtlich-chemischen Untersuchung fiel negativ aus. Es
konnte fast mit Sicherheit festgestellt werden, dass dem Kinde kein
Kali chloricum oder andere Met-Hämoglobin bildende Stoffe gereicht
waren, so dass anzunehmen war, dass unter Umständen aus unbe¬
kannter Ursache im Blute sich Met-Hämoglobin bilden könne. Auch
sonst ist bereits in der blutigen Bauch- und Brustflüssigkeit von
Leichen, wenn sie 2 bis 3 Tage gelegen haben, Met-Hämoglobin ge¬
funden worden, sowie im blutigen Harn, wenn er lange in der Blase
gestanden hat. Auch andere Blutgifte können Veranlassung zur Met-
Hämoglobin-Bildung geben. Ein der Chloratvergiftung sehr ähnliches
klinisches wie pathologisch-anatomisches Bild zeigt nach Bostroem 2 )
die Morchelvcrgiftung.
Nach den Untersuchungen von Marchand 8 ) beginnen die Haupt¬
veränderungen des Blutes, wenn die grösste Menge des einverleibten
Chlorates bereits ausgeschieden ist. Der negative Ausfall der
chemischen Untersuchung spricht demnach nicht unter allen Um-
1) Prager med. Wochenschr. No. 19. 1893.
2) Sitzungsbericht d. physikal-med. Sozietät zu Erlangen. 1887.
3) Virchows Archiv. Bd. 77.
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Zum Nachweis von Chloraten im Ham.
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ständen gegen eine stattgefundene Vergiftung mit chlorsaurem Kali.
Von Interesse ist vielleicht der von A. Lacassagne 1 ) mitgeteilte
Fall, wo bei einer nach 14 Tagen ausgegrabenen Leiche in den Nieren
Spuren von Chlorat nachzuweisen waren.
Der Umstand, dass das Chlorat verhältnismässig schnell zur
Ausscheidung gelangt, kann auch beim Lebenden den chemischen
Nachweis illusorisch machen, zumal in den schwer verlaufenden Fällen
die Harnmenge gering zu sein pflegt.
Durch die erwähnten Momente wird der Wert der chemischen
Untersuchung auf Chlorate in keiner Weise beeinträchtigt; doch muss
sie der Gerichtsarzt berücksichtigen, wenn er das Ergebnis der
chemischen Untersuchung zu deuten hat. Von grösster Wichtigkeit
ist sie natürlich, wenn noch Reste der Substanzen vorhanden sind,
deren Genuss den Verdacht der Vergiftung veranlasste.
Färbt man die Lösung eines chlorsauren Salzes mit etwas
schwefelsaurer Indigolösung hellblau, fügt ein wenig verdünnte Schwefel¬
säure zu und tropft dann vorsichtig eine Auflösung von schweflig¬
saurem Natron hinzu, so verschwindet die Farbe des Indigo sogleich.
Die schweflige Säure entzieht der Chlorsäure Sauerstoff und setzt
Chlor oder eine niedrigere Oxydationsstufe desselben in Freiheit,
welche den Indigo entfärben. Qualitativ lässt sich die Chlorsäure
auch vermittelst Stärkekleister, Jodkali und starker Salzsäure nach-
weisen. Zur quantitativen Bestimmung benutzt man die Eigenschaft
der Chlorate, mit Silberlösung nicht wie die Chloride einen Nieder¬
schlag von Chlorsilber zu geben; ein solcher tritt erst nach ihrer
Reduktion zu Chlorid auf. Wenig genau ist die Bestimmung des
chlorsauren Kalis auf jodometrischem Wege, wobei man das Salz mit
Salzsäure erwärmt und das entweichende Chlor in Jodkaliumlösung
leitet. Zum Zwecke der Reduktion der Chlorate zu Chloriden sind
verschiedene Methoden angegeben worden. Erst kürzlich wurde von
Jan nasch und Jahn 2 ) die Reduktion durch Erhitzen des Chlorates
mit konzentrierter Salpetersäure im geschlossenen Rohr bei 275° oder
durch Einwirkung roter, rauchender Salpetersäure bei gewöhnlicher
Temperatur zum Zwecke der gewichtsanalytischen Bestimmung herbei¬
geführt. Es ist klar, dass diese Verfahren zur Bestimmung der
Chlorate im Harn nicht ohne weiteres Verwendung finden können.
1) Arch. de l’anthropol. crim. et des Sciences pönales. 1887. Tome II.
2) Bericht d. deutschen Gesellschaft. Bd. 38. S. 1576. 1905.
Viertoljahrsaehrift 8 er * Med. u * öff* San.-Wesen. 3. Folge. XXXII. 1. g
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82
Dr. Herrn. Hildebrand,
Rabuteau 1 ) hat zuerst das Chlorat im Harn quantitativ zu be¬
stimmen versucht. Er fällte die Chloride mittels Silberlösung, kochte
das Filtrat mit Soda, um das überschüssige Silber zu entfernen und
filtrierte nochmals. Das eingedampfte Filtrat wurde geglüht, um das
Chlorat in Chlorid überzuführen. Diese Methode kann trotz ihrer
Umständlichkeit als nicht genau gelten; sie rechnet auch die aus
organischem Chlor stammenden Mengen als Chloratc an, was an sich
nicht zulässig ist. Isambert 2 ) ging so vor, dass er den Harn mit
basischem Bleiazetat versetzte, um die Chloride und organischen Be¬
standteile auszufällen. Im Filtrat wurde durch Schwefelwasserstoff
das überschüssige Blei entfernt, der Rest der Chlorverbindungen durch
Silber gefällt, schliesslich durch Einleiten von schwefliger Säure
die Reduktion herbeigeführt und die Chloride als Chlorsilber be¬
stimmt.
v. iJiering 3 ) benutzte zur Reduktion der Chlorate die von
Fleissner angegebene Methode mittels Zinkstaub, fand aber, dass
dabei ein Zusatz von verdünnter Schwefel- oder Essigsäure erforder¬
lich ist, wenn es sich um chlorsaure Salze im Harne handelt. Auch
durch Erwärmen der mit Salpetersäure angesäuerten Flüssigkeit unter
Zusatz von schwefliger Säure konnte er eine vollständige Reduktion
herbeiführen.
Unlängst hat M. Scholtz 4 )-Greifswald eine sehr einfache Me¬
thode zur Reduktion von Chloraten angegeben: „Säuert man eine sehr
verdünnte wässrige Lösung von Kaliumchlorat mit Salpetersäure an
und setzt etwas Natriumnitrit hinzu, so ist das Chlorat nach kurzer
Zeit vollständig zu Chlorid reduziert, so dass das Chlor durch Silber¬
nitrat quantitativ gefällt wird. Da die Lösung freie Salpetersäure
enthält, so kann das Chlor nach der Volhardschen Methode titriert
werden.“ Die Reduktion der Chlorsäure verläuft nach der Gleichung:
HC10 3 + 3 HN0 2 = HCl + 3 HN0 3 .
Demnach vermag 1 g Natriumnitrit beinahe 0,6 g Kaliumchlorat zu
reduzieren. Wenn 0,2 bis 0,3 g des Salzes in ca. 100 ccm Wasser
gelöst und der Lösung 10 ccm Salpetersäure vom spez. Gew. 1,2 und
10 ccm einer 10 proz. Natriumnitritlösung zugefügt wurden und
1) Compt. rend. des s^ances et m£moires de la soci(*t<$ de biologie. 1868.
Tome V.
2) Gaz. m6d. de Paris. 1875.
3) Das chlorsaure Kali. A. Hirschwald. Berlin 1885.
4) Arch. f. Pharmacie. Bd. 243. H. 5. S. 353. 1905.
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Zum Naohweis von Chloraten im Harn.
83
dann die Flüssigkeit 15 Minuten bei Zimmertemperatur gestanden hat,
so kann, wie der Autor durch eine Anzahl von Analysen nachweist,
sicher angenommen werden, dass nur noch Chloride in der Flüssigkeit
sich befinden. Diese können nun am einfachstem auf titrimetrischem
Wege, natürlich auch auf gewichtsanalytischem Wege quantitativ be¬
stimmt werden.
Die leichte Ausführbarkeit dieser Methode veranlasste mich fest¬
zustellen, ob auch, wenn es sich um eine Lösung der Chlorate
nicht in Wasser, sondern in Harn handelt, brauchbare Werte zu ge¬
winnen sind. Ich setzte 0,2 bis 0,3 g des chlorsauren Kali gelöst zu
100 ccm frischen Harns und fügte dann in der oben angegebenen
Weise die Reagentien hinzu. Nach 15 Minuten setzte ich soviel
Vio Normal-Silbernitratlösung hinzu, bis kein Niederschlag mehr er¬
zeugt wurde und auch das Filtrat mit Silberlösung keine Trübung
mehr gab. Da ein Molekül KC10 S ein Atom fällbares Chlor liefert
und das Molekulargewicht des chlorsauren Kalis 122,45 beträgt, so
entspricht 1 ccm der Silberlösung 0,012245 g KC10 3 . Zur vollstän-
ständigen Fällung des aus 0,3 g zugesetztem Chlorat entstandenen
Chlorids würden also nahezu 30 ccm der Silberlösung erforderlich
sein. Da aber der Harn noch reichliche Mengen von Chloriden
enthält, ist der Zusatz der Silberlösung noch erheblich reichlicher zu
bemessen. Das schliesslich erhaltene klare Filtrat enthielt natürlich
noch Silbernitrat in Lösung, gab auch auf weiteren Zusatz von Silber¬
lösung keine Trübung. Als ich nun noch weiter Nitritlösung
hinzusetzte, trat noch erhebliche Ausscheidung ein. Ebenso
ungenügend erwies sich für den Harn die Menge Nitrit, wenn ich zu¬
erst den mit Salpetersäure versetztenHammitSilberlösung vollständigaus-
fällte und dann die für 0,3 chlorsaur enKalis mehr als genügende Menge
von 1 g Nitrit zusetzte. Wenn nach 15 Minuten mit Silberlösung gefällt
wurde, so zeigte das klare Filtrat wiederum auf neuerdings zu¬
gesetztes Nitrit reichliche Fällung. Mehrere normale Harne, d. h.
Harne, die kein Chlorat enthielten, zeigten, wenn ich nach dem An¬
säuern mit Salpetersäure die Chloride vollständig ausfällte und dann
filtrierte, keine Trübung, wenn ich nachträglich Lösungen von
Nitrit und Salpetersäure zusetzte. Es geht hieraus hervor, dass im
Harn ein Stoff enthalten ist, welcher die reduzierende Wirkung
der salpetrigen Säure beeinträchtigt, indem er letztere entweder
reduziert oder, was auch'nicht unmöglich wäre, oxydiert.
Die oxydierende Kraft des Harnes hat zuerst Schoen-
6 *
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Dr. Herrn. Hildebrand,
bein 1 ) durch einen überzeugenden Versuch illustriert. Setzt man zu frisch
gelassenem Harn soviel Indigolösung, dass das Gemisch eine deut¬
lich grüne Färbung zeigt, so ruft Eisenvitriol eine Farben Ver¬
änderung hervor, die durch Zerstörung des Indigo bedingt ist. Das
Eisenoxydulsalz dient bei seiner leichten Oxydierbarkeit nur als An¬
reger für den Austausch des aktiven Sauerstoffs. In einer Lösung
mit destilliertem Wasser findet in der gleichen Zeit jene Veränderung
nicht statt. Diese Fähigkeit des Harns ist später von C. Binz 2 3 )
und seinen Schülern noch in weiteren Beispielen festgestellt worden,
jüngst noch durch einen Versuch von P. Schiirhoff 8 ), welcher zeigte,
dass Ferrosulfat durch Harn zu Ferrisulfat oxydiert wird, das mit
zugesetztem Rhodanammonium eine tiefrote Färbung gab. In be¬
sonderen Versuchen fand nun Schürhoff, dass der Urin, weicher
einen Zusatz von ungefähr 0,5 pM. Natriumnitrat enthielt, mindestens
eine doppelt so grosse oxydierende Wirkung ausübte, wie der normale
Urin. Durch Kochen des Urins ging seine oxydierende Eigenschaft
nicht verloren. Er nimmt daher an, dass die oxydierende Wirkung
des Harnes durch die Nitrate der Nahrung bei gleichzeitiger
Anwesenheit saurer Phosphate hervorgerufen wird; Natriumnitrat
in neutraler Lösung hatte keinen Einfluss. Dagegen zeigten Versuche
mit Natriumhydrosulfitlösung, dass die Nitrate in saurer Lösung leicht
zur Oxydation geneigt sind. Freilich gelang ihm die Schönbeinsche
Reaktion nicht, wenn er statt Urin eine wässrige Lösung von Nitrat
bei Gegenwart von saurem Phosphat anwandte.
Die von Schürhoff als günstig für die oxydierende Wirkung
angesprochenen Momente sind nun in unserem Falle von vornherein
gegeben. Beim Einwirken von Salpetersäure auf Natriumnitrit bildet
sich Nitrat und bei der Oxydation der salpetrigen Säure durch Re¬
duktion des Chlorates bildet sich Salpetersäure, so dass die Reaktion
stets sauer bleibt. Ferner kann die Menge Nitrat bei Verwendung
von Harn eine grössere sein und sie wird sicher noch bedeutender,
wenn man im mit Salpetersäure angesäuerten Harne die Chloride mit
Silbernitrat ausfällt. Gerade in diesem Falle wären also die Be¬
dingungen günstig für eine oxydierende Wirkung des Harnes. Man
könnte in der Tat das von mir festgestellte Vermögen des Harnes,
1) Journ. f. prakt. Chemie. Bd. 92. S. 171. 1864.
2) Arch. f. d. gesamte Physiol. Bd. 108. 1905.
3) Arch. f. d. gesamte Physiol. Bd. 109. S. 93. 1905.
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Zum Nachweis von Chlorateü im Harn.
85
die Reduktion von Chloraten zu beeinträchtigen, auf die Gegenwart
von Nitraten in saurer Lösung zurückführen.
Ich habe einige quantitative Bestimmungen in der Weise aus¬
geführt, dass ich in vier Proben die Einwirkung des Nitrits auf
Chlorat untersuchte; zu den beiden ersten diente normaler Harn
(Probe I frisch, Probe H nach einstündigem Kochen- und zwar in
Mengen von je 100 ccm; Probe HI wurde angesetzt mit 100 ccm
0,1 pCt. CINa-haltigem destillierten Wasser, Probe IV mit reinem
destillierten Wasser. Zu allen Proben wurde nach dem Ansäuern
mit Salpetersäure und nach Zusatz von je 0,25 g Kalichloricum
Silbernitrat gesetzt, bei den Proben I bis III so lange, bis weiterer
Zusatz auch im Filtrate keine Trübung mehr erzeugte. Nun wurde
filtriert und in allen Proben je 10 ccm Salpetersäure vom spezifischen
Gewicht 1,2 und 10 ccm einer lOproz. Natriumnitritlösung zugefügt;
der Zusatz war absichtlich so gross gewählt, dass die in jeder Probe
enthaltenen 0,25 g chlorsauren Kalis vollständig reduziert werden
konnten. Endlich wurden zu jeder Probe noch je 30 ccm Silber¬
lösung gefügt, welche Menge zur Bestimmung von je 0,367 g Kalium-
chlorat ausreichend ist.
Nach 20 Minuten wmrden alle Proben filtriert und das klare
Filtrat mit weiteren Mengen von je 10 ccm Salpetersäure und 10 ccm
10 proz. Natriumnitritlösung versetzt. Die Proben I und H zeigten
in wenigen Minuten einen deutlichen Niederschlag, Probe III einen
nur geringfügigen, Probe IV blieb klar.
In den Proben I und II hatte also die Gegenwart des Urins die
Reduktion durch die salpetrige Säure erheblich eingeschränkt, in
Probe HI in geringem Masse die Gegenwart des — aus dem CINa -j-
AgN0 8 entstandenen — Nitrates in salpetersaurer Lösung, während
bei Probe IV der Verlauf ein normaler war.
Die Niederschläge wurden durch aschefreie Filter von der
Flüssigkeit getrennt und das erhaltene Chlorsilber in bekannter Weise
gewogen.
Die Resultate waren: bei Probe I 0,0725 g AgCl = 0,062 C10 3 K
* n II 0,0740 „ „ = 0,063 „
» * HI 0,0065 „ „ = 0,005 „
Diese Mengen würden direkt die Grösse der oxydierenden Wirkung
des Harnes bzw. gewisser Bestandteile angeben. Auf die Menge des
ursprünglich vorhandenen Chlorats berechnet ergibt sich 24,8 und
25,2 pCt. in Probe I und II, 2 pCt. in Probe III. Kochen des
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Dr. Herrn. Hildebrandt,
Harnes verminderte demnach nicht die oxydierende Wirkung; Zusatz
von Nitrat in saurer Lösung verhinderte die reduzierende Wirkung
des Nitrits nur in geringem Grade. Etwas stärker war der hemmende
Einfluss von Nitrat, wenn ich gleichzeitig etwas Orthophosphor-
säure zu Beginn der Wechselwirkung von Chlorat und Nitrit zugab.
Nach dem Abfiltrieren des ausgeschiedenen Chlorsilbers konnte ich
durch weiteren Zusatz von Nitrit und Salpetersäure noch 0,063 g
AgCl = 0,054 g C10 3 K nach weisen, eine Menge, welche auf den
störenden Einfluss von Nitrat und Orthophosphorsäure zu beziehen
wäre. Es steht nichts im Wege, in diesem Falle eine oxydierende
Wirkung auf die salpetrige Säure anzunehmen.
Komplizierter liegen indes die Verhältnisse in dem Falle, wo der
Harn als solcher zur Wirkung kommt. Es unterliegt keinem Zweifel,
dass der Harn Stoffe enthält, welche reduzierend auf salpetrige
Säure einwirken können. Sicher ist ja, dass das salpetrigsaure
Salz im lebenden Körper teilweise reduziert wird, denn sonst
könnte es nicht als direktes Oxydationsmittel aufs Blut wirken und
Methämoglobin erzeugen nach Art des chlorsauren Kalis. Durch die
Reduktion könnten zunächst sauerstoffärmere N-Verbindungen ent¬
stehen, sodann Stickstoff selbst, und endlich Hydroxylamin' und Am¬
moniak. Auf die Uebereinstimmung der Nitritvergiftung mit der
Ammoniakvergiftung in manchen Punkten haben besonders E.Harnack 1 )
und Zietzschmann 2 ) unlängst hingewiesen. Andererseits ist durch
die Untersuchungen Rohm an ns 8 ) festgestellt, dass die salpetrige
Säure des Nitrits fast vollständig im Körper verschwindet, was die
genannten Autoren bestätigten. Nebenbei erfahren übrigens gewisse
Mengen eine Oxydation zu Nitrat im lebenden Organismus. Nun
ist kaum anzunehmen, dass die Nitrite dem Harne gegenüber sich
genau ebenso verhalten müssten. Würden sie durch Harn oxydiert,
so wäre ihr Nachweis im Harne eines mit Nitrit Vergifteten kaum
möglich. Dagegen spricht manches dafür, dass Nitrite durch den
Harn eine Reduktion erfahren können. Millon 4 ) hat gezeigt, dass
Harnstoff in der Wärme auf Nitrit zerstörend einwirkt:
C °\NH + N2 ° 3 = C ° 2 + 2 Ns + 2 H * 0 '
1) Archives internat. de pharmacodyn. Bd. 13. S. 185. 1904.
2) Zietzschmann, Inaug.*Diss. Halle 1903.
3) Zeitschr. f. pysiolog. Chemie. Bd. V. S. 233. 1S81.
4) Annal. Chemie n. Pharm. 8. 6. 37.
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Zum Nachweis von Chloraten im Harn.
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Piccini 1 ) beobachtete, dass diese Reaktion beim Ansäuern mit
Schwefelsäure schon in der Kälte vor sich geht. Nach den mole¬
kularen Verhältnissen können 0,6 g Harnstoff 1,38 g Natriumnitrit
reduzieren. Mit Rücksicht hierauf habe ich eine Versuchsreihe an¬
gestellt, durch welche diese Verhältnisse aufgeklärt werden sollten:
Probe I: 0,6 g Harnstoff -|- 0,25 g Kali chlor, -j- 1,38 g NOoNa-f-
Salpetersäure in 100 ccm destilliertem Wasser,
„ II: 0,25 g Kali chloricum -(- 1,38 g N0 2 Na -f- Salpetersäure
in 100 ccm destilliertem Wasser,
n III: 0,25 g Kali chloricum + 1,0 g N0 2 Na -J- verd. Schwefel¬
säure in 100 ccm destilliertem Wasser,
„ IV: 30 ccm frischer Harn -f- 0,25 g Kali chloricum -j- 1,0 g
N0 2 Na -|- verd. Schwefelsäure in 100 ccm destill. Wasser,
„ V: 30 ccm frischer Harn -{- 1,0 g N0 2 Na -(- verd. Schwefel¬
säure in 100 ccm destilliertem Wasser.
Bei den Proben I und II wurde nach 20 Minuten mit Silber¬
lösung gefällt, bis kein Niederschlag mehr eintrat; es zeigte sich
dabei, dass während Probe II noch intensiv nach salpetriger Säure
roch, Probe I nur wenig roch. Es wurde nun filtriert, das Filtrat
gab mit Silberlösung keinen Niederschlag. Auf Zusatz von Nitrit fiel
in Probe I ein erheblicher Niederschlag, der auf aschefreiem Filter
gesammelt und zur gewichtsanalytischen Bestimmung verarbeitet wurde.
Es ergaben sich 0,128 g AgCl = 0,106 g C10 3 K. Dies ist also die¬
jenige Menge Chlorsäure, welche nicht reduziert wurde; die Zugabe
von Harnstoff hat demnach die Reaktion zwischen Chlorat und
Nitrit durch teilweise Reduktion des letzteren gestört; hiernach
ist der Harnstoff als einer der Faktoren im Harn zu betrachten,
welche nicht durch Oxydation, sondern durch Reduktion des
Nitrites störend wirken bei der Reaktion von Chlorat mit Nitrit.
Frobe „V u wurde in der Absicht angestellt, zu ermitteln, ob
frischer Harn zugesetztes Nitrit in nachweisbarer Menge oxydiert.
Nachdem Harn und Nitrit 20 Min. in Mischung gestanden hatten,
wurde mit Schwefelsäure angesäuert, nochmals 20 Min. gewartet und
nun unter Zusatz von Essigsäure auf dem Wasserbade eingedampft;
der Zusatz von Essigsäure wurde einige Male wiederholt. Die
Essigsäure bewirkt, dass sich die salpetrige Säure verflüchtigt 2 ),
während die Salpetersäure zurückbleibt. Die schliesslich nach diesem
1) Annal. der Chemie. 19. S. 354. 1880.
2) v. Miller u. Kiliani, Handb. d. analyt. Untersuchungen. 1891. S. 325.
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Dr. Herrn. Hildebrandt,
Verfahren erhaltene Lösung hat eine gelbliche Färbung und eignet
sich zum Nachweis von Salpetersäure mittels der Jodkali-Stärke -
kleister-Probe. Bleibt diese ungefärbt, so ist kein ISitrit vorhanden;
tritt aber nach der Reduktion mit metallischem Zink Bläuung ein,
so war Nitrat vorhanden, das durch Zink in Nitrit verwandelt wurde.
Der Versuch ergab, dass weder Nitrit noch Nitrat nachweisbar war.
Das zum Harn zugesetzte Nitrit wäre demnach nicht zu Nitrat oxydiert
worden unter dem Einfluss des Harnes. Vielmehr würde hier eine
Reduktion desNitrits analog der Wirkung des Harnstoffes anzunehmen sein.
Probe „IV“ hatte einen Zusatz von Chlorat erhalten, um fest¬
zustellen, ob die Intensität der hemmenden Wirkung des Harnes so
intensiv ist, dass das Nitrit- überhaupt nicht mehr das Chlorat zu
reduzieren vermag. Fand diese Wechselwirkung trotz Gegenwart von
Harn statt, so musste in der Probe nach dem eben besprochenen
Verfahren Nitrat’ nachweisbar sein. Das Ergebnis war ein völlig
negatives. Man müsste sich also vorstellen, dass bei gleichzeitiger
Anwesenheit von Chlorat und einer nicht zu grossen Menge Nitrit
letzteres so schnell durch den Harn verändert wird, dass der Sauer¬
stoffaustausch zwischen Chlorat und Nitrit überhaupt nicht stattfinden
könne. Dieser Schluss hat sich als hinfällig erwiesen. Wie nämlich
das Resultat von Probe III zeigt, sind zwar die bei der Wechselwirkung
von Chlorat und Nitrit entstehenden Mengen Salpetersäure deutlich
nachweisbar: Beim Zufügen von metallischem Zink zur Lösung in
Gegenwart von Jodkali-haltigem Stärkekleister trat tief dunkelblaue
Färbung ein. Als ich jedoch die Reaktion unter Zusatz eines Teiles
der in Probe V erhaltenen Lösung austellte, war das Resultat eben¬
falls ein negatives. Der in der angegebenen Weise behandelte Ham
enthält eben Stoffe, welche die Probe mit Stärkekleister nicht zustande
kommen lassen. Es kann demnach nicht mit Sicherheit aus¬
geschlossen werden, dass der Harn die Eigenschaft hat, Nitrite
•zu Nitraten zu oxydieren. Immerhin spricht die Tatsache, dass
der Harnstoff auf Nitrite reduzierend wirkte, dafür, dass es sich bei
dem störenden Einfluss des Harnes auf die Reaktion zwischen Chlorat
und Nitrit im wesentlichen um einen Reduktionsvorgang handelt.
In der Praxis würde sich also unter Berücksichtigung dieser
Verhältnisse der Nachweis von Chloraten im Harne derart gestalten,
dass man eine abgemessene Menge des verdächtigen Harnes nach dem
Ansäuern mit Salpetersäure so lange mit Silberlösung versetzt, bis
man ein klares Filtrat erhält, darauf setzt man die zur Reduktion
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Zum Nachweis von Chloraten im Harn.
89
erforderlichen Reagentien 1 ) so wie Silberlösung so lange zu, bis kein
Niederschlag mehr entsteht. Die auf einem aschenfreien Filter ge¬
sammelte Menge Chlorsilber wird in bekannter Weise gewichtsanalytisch
bestimmt. Aus der grösseren oder geringeren Menge des nach der
Reduktion erhaltenen Chlorsilber-Niederschlages wird man schon während
der Operation einen Anhaltspunkt gewinnen können, ob grosse Mengen
Chlorates vorhanden sind.
Wollte man nach abgeschlossener Reduktion auf titrimetrischem
Wege die Chloride bestimmen, so müsste man natürlich erst das
mit dem Chlor in Verbindung getretene Silber fortschaffen, was immer¬
hin umständlich wäre; würde man das Verfahren der feuchten Ver¬
aschung wählen, so würden auch . diejenigen Chlormengen über¬
destillieren, welche dem organisch gebundenen Anteile entstammen.
Ich habe festgestellt, dass das nach der Reduktion durch die Silber¬
fällung gewonnene Filtrat beim Erhitzen mit dem Säuregemische
(Schwefelsäure und Salpetersäure) noch gewisse Mengen Chlorwasser¬
stoffsäure übergehen lässt, die nach einigen von mir angestellten Ver¬
suchen an mit Chloraten vergifteten Hunden beträchtlicher sind als beim
normalen Tiere. Es soll damit jedoch nicht gesagt sein, dass in dieser
Weise sichraitSicherheit alles organisch-gebundeneChlornachweisen lasse.
Ich habe schon oben angegeben, dass normale Harne, wenn man
sie nach dem Zusatze von Salpetersäure mit Silberlösung vollständig
ausfällt, ein Filtrat geben, das auf Zusatz des Reduktionsmittels keine
Fällung mit Silberlösung gibt, was beweist, dass sie keine ähnlich
den Chloraten redüzierbare Verbindungen enthalten. Es war indes
nicht unmöglich, dass unter Umständen solche Verbindungen auftreten
könnten; E. Harnack und J. Gründler 2 ) haben die Beobachtung
gemacht, dass nach Darreichung von Jodoform beim Menschen und
Kaninchen bisweilen in nicht unbeträchtlicher Menge jodsaure Salze
sich im Harn nachweisen Hessen, wobei anzunehmen ist, dass das
Jodalkali eine Oxydation erlitten hat, während für gewöhnlich das
in den Körper eingeführte jodsaure Salz eine Reduktion zu JodalkaH
erfahren soll (Binz). Dies gab mir Veranlassung in einem Versuche
am Hunde festzustellen, ob nach Darreichung des entsprechenden
Chloroform etw r a im Harne Chlorate auftreten können. Nach sub¬
kutaner Injektion von 20 ccm Cloroform habe ich im Harne keine
Spur Chlorat nachweisen können.
1) Diese müssen natürlich chlorfrei sein!
2) Berl. klin. Wochenschr. 1883. No. 47.
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6 .
Aus der Unterrichtsanstalt für Staatsarzneikunde zu Berlin.
(Direktor: Geheimrat Prof. Dr. Strassmann.)
Zur Permeabilität der Leichenhaut für Gifte.
1. Sublimat.
Von
Dr. P. Fraenckel, Assistenten der Anstalt.
Auf die Frage, ob und wieviel Sublimat aus Lösungen durch die
Haut in eine Leiche einwandem kann, geben die gebräuchlichen Lehr¬
werke und, soviel sich feststellen liess, auch die Literatur keine
Antwort. Das ist erklärlich, denn einerseits schliesst die Kenntnis
der Durchgängigkeitverhältnisse der Haut für gelöste Stoffe schon
ziemlich die Möglichkeit eines solchen Eindringens aus, andererseits
dürften die Fälle, die die gestellte Frage nahelegen, im Ganzen selten
sein. Die lebende unversehrte Haut hat ja bekanntlich ein sehr ge¬
ringes Resorptionsvermögen für wassergelöste Stoffe, die nicht unter
einem gewissen Drucke auf sie gebracht werden, wie es bei der Ver¬
reibung, der Einstäubung mittels Sprayapparates, in gewissem Sinne
auch bei der Kataphorese der Fall ist. Es ist nach heutigen Kennt¬
nissen nicht anzunehmen, dass aus dem Badewasser Stoffe ohne kerato-
lvtische Eigenschaften überhaupt auf dem perkutanen Wege zur Re¬
sorption gelangen 1 ).
Die Verhältnisse, die diese schwere Durchdringbarkeit der Haut
amLebenden bewirken, sind die Beschaffenheit der Hornschicht, die fettige
Auskleidung der Hautporen und vielleicht auch, wie I. Munk 2 ) erwähnt,
der positive Druck, unter dem das Sekret der Drüsen abgeschieden
und von innen nach aussen fortbewegt wird, und der dem Aufsteigen
1) J. Glax, Balneotherapie, Stuttgart, F. Enke, 1906.
2) J. Munk, Physiologie d. Menschen u. d. Säugetiere. 4. Aufl. 1897. S. 207.
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Zar Permeabilität der Leichenbaut für Gifte.
91
der Flüssigkeit entgegenwirkt. Wenn dieses letzte Moment in der
Leiche auch nicht in Betracht kommt, so genügen doch die beiden
ersten, die unverändert auch nach dem Tode fortbestehen, um eine
Wanderung eines im Wasser gelösten Giftes überhaupt durch die Haut
recht unwahrscheinlich zu machen. Dazu kommt für das Sublimat
im besonderen seine eiweisskoagulierende Wirkung, die sich durch die
Härtung und Schrumpfung des toten Gewebes kund tut und eine neue
Erschwerung für osmotische Vorgänge darstellt. Andererseits aber ist
von vornherein nicht entscheidbar, ob eine längere Berührung einer
ätzenden Lösung mit der Haut, wie sie an der Leiche möglich ist, nicht
auch einen die Einwanderung begünstigenden Einfluss haben kann; ferner,
ob die Erweichung der Haut durch Fäulnis in diesem Sinne wirkt.
Würde durch solche Umstände die Haut durchgängig, so könnte
allerdings an die Möglichkeit gedacht werden, dass bei der nachge¬
wiesenen leichten Diffundierbarkeit des Sublimats in den inneren Weich¬
teilen 1 ), Quecksilber in weiterer Verbreitung in der Leiche sich finden,
und, wenn auch kaum den Verdacht einer Vergiftung, doch Zweifel
an seiner Herkunft auslösen könnte.
Die Gelegenheit zu solchem postmortalen Eindringen von Sublimat
kann vor allem durch Desinfektion der Leiche gegeben werden, von
Hoffmann-Kolisko 2 3 * ) weisen daraufhin, dass hierbei die Desinfizientien
in die Schling- und Respirationswege und von da durch nachträgliche
Imbibition tiefer hineingelangen können. Etwas Aehnliches machte
der Angeklagte in dem Falle geltend, der den Anlass zu den nach¬
stehenden Untersuchungen gegeben hat und der vielleicht interessant
genug ist, hier kurz erwähnt zu werden 8 ).
Es handelt sich am einen Arzt in B., der des Gattenmordes angeklagt war,
weil in der exhumierten Leiche seiner Fran grosse Meegen Sublimat aufgefunden
wurden. Die Hauptmenge fand sioh im Magen, wenig in Darm, Leber und Nieren;
nichts in Gehirn, Knochen und Muskeln. Dagegen wurde auch in den ober¬
flächlichen Hautschichten und in dem Leichenlaken Quecksilber konstatiert. Die
Frau war monatelang an Symptomen eines Magengeschwürs mit Oedemen und
Nephritis von 4 Aerzten behandelt worden, ohne dass Anzeichen einer Sublimat¬
vergiftung bemerkt wurden. Im Anschluss an einen Abort im 4. Monat wurde dann
der Uterus mit Sublimat ausgespült, und hierdurch entwickelte sich eine Stomatitis.
1) Strassmann, Zeitschr. f. Medizinalbeamte. 1893. — Haberda und
Wachbolz, Ibidem.
2) v. Hofmann-Kolisko, Lehrb. d. gerichtl. Med. S. 665. 1903. Anm.
3) Die Kenntnis von diesem Falle verdanke ich einer von Herrn Geh.-Kat
Strassmann mir gütigst überlassenen brieflichen Mitteilung.
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92
Dr. P. Fraenckel,
12 Stunden vor dem Tode war die Frau jedooh ziemlich wohl, es bestanden
weder Stomatitis, noch Enteritis, noch stärkere Magenschmerzen. Der Tod trat
plötzlich unter dyspnoischen Erscheinungen ein. Die Obduktion ergab weder
Stomatitis, noch Veränderungen der Darmschleimhaut, nur einige grössere Ek-
chymosen in der Tiefe der Magenschleimhaut und ein oberflächliches Geschwür mit
Verdickung der Ränder nnd des Grundes unterhalb der Kardia, in der die histo¬
logische Untersuchung Granulationsgebilde und sklerotische Geiasse erkennen liess.
An den Nieren konnte infolge der Verwesung am Parenchym nichts mehr erkannt
werden. Kalkinfarkte waren ebenfalls nicht vorhanden, wohl aber die Zeichen
einer chronischen interstitiellen Nephritis.
Die Sachverständigen waren teils für zweifellose superakute Sublimat¬
vergiftung, teils für ein non liquet.
Wenn auch bei der skizzierten Sachlage in diesem Falle keine
Zweifel möglich waren, dass eine Einwanderung aus dem Laken durch
die Haut nicht allein an dem Befunde beteiligt sein konnte, so er¬
schien es immerhin von Interesse, da ähnliche Fragen doch hier oder
dort auftauchen könnten, der Sache experimentell näher zu treten.
Zu den Untersuchungen verwendete ich aus äusseren Gründen
Kinderleichen und zwar von Neugeborenen. Um die Verhältnisse der
Haut denen Erwachsenen ähnlich zu machen, wurde sie durch vor¬
sichtiges Abreiben mit Aether möglichst von den Vernixresten befreit.
Dann legte ich die Leichen in ein mehrfach zusammengeschlagenes
Laken, das mit 5 prom. Sublimatlösung aus Angererschen Pastillen
stark durchtränkt war, und das der Haut des Rumpfes und der Glied¬
massen dicht auflag. Hierin blieben die Leichen verschieden lange Zeit,
bis zu 8 Tagen liegen, während der die Verdunstung der Lösung durch
Abschluss in einem Blechkasten oder durch nachträgliches Wieder-
anfeuchten des Lakens verhindert wurde. Kleine Traumen wurden ge¬
setzt, um die schützende Kraft der verschiedenen Schichten zu prüfen.
Die Haut wurde zunächst von der anhaftenden Sublimatlösung
gereinigt, dann mit dem Unterhautbindegewebe in grossen Lappen
abgelöst und darauf in kleine und kleinste Stückchen zerschnitten.
Eine kleine Menge davon wurde bei 105° C getrocknet, von dem aus-
geschmolzenen Fett befreit und zur vorläufigen Prüfung auf Quecksilber
mit trockener Soda im Glühröhrchen erhitzt. Es sei gleich bemerkt,
dass diese Probe wiederholt negativ ausfiel, obwohl die folgende
Untersuchung nach Zerstörung der organischen Substanz Hg nachwies.
Es erklärt sich dies daraus, dass sich ohne Aetherextraktion, die
wegen der Löslichkeit des Sublimats im Aether nicht anwendbar war,
das Fett nicht völlig entfernen lässt. Die von den entstehenden
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Zur Permeabilität der Leichenhaut für Gifte.
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Dämpfen mit hochgerissenen Fettröpfchen beschmieren und erhitzen
dann die Wand des Glasrohres, und verhindern dadurch die Kristallisation
des sublimierten Quecksilbers. Auch durch starke Verlängerung des
Rohres ist es mir nicht immer gelungen, diesem Uebelstande zu be¬
gegnen. Aus diesem Grunde wurde auch bei negativer Vorprobe
regelmässig die Isolierung des Quecksilbers versucht.
Die Zerstörung der organischen Substanz geschah nach der gewöhnlichen
Fresenius- und Baboschen Methode mit Kaliumchlorat und Salzsäure. Nach
dem Verdampfen der überschüssigen Salzsäure, Ansäuern mit verdünnter Schwefel¬
säure und Erkaltenlassen wurde filtriert und das Filtrat in gewohnter Weise mit
H 2 S gesättigt. Nach 24 Stunden wurde die stark nach H 2 S riechende Flüssigkeit
vom Niederschlag getrennt, dieser zur Entfernung etwaigen aus dem Schwefeleisen
herrührenden Arsens auf dem Filter mit einer heissen Mischung aus Ammoniak
und gelbem Schwefelammonium behandelt, und darauf der bleibende Rest wieder¬
holt mit einigen Kubikzentimetern heisser Salpetersäure (33 Volumprozent) über¬
gossen. Der nun bleibende Rückstand wurde mit heisser, zu y 2 —y 3 verdünnter
Salzsäure und etwas Kaliumchlorat behandelt, das Filtrat in einer kleinen Por¬
zellankapsel auf dem Wasserbade zur Trockene eingedampft, der Rückstand mit
3ccm salzsäurehaltigem Wasser aufgonommen, abfiltriert und mit Zinnchlorürlösung
und Kupferplatte auf Quecksilber untersucht.
Auf diese Weise erhielt ich nachstehende Resultate:
I. Frische Kindesleiche, 48 Stunden in dem Sublimatlaken auf¬
gehoben. Die Brust- und Bauchhaut war unversehrt gelassen, die
Rückenhaut teils oberflächlich geschunden (des Epithels beraubt), teils
bis in die Unterhaut durchschnitten worden.
Von der unversehrten Haut werden zwei Lappen gebildet, die
frisch 23,0 bezw. 18 g wiegen, der erstere wird so wie er ist, der
zweite nach Abtragung der oberen Epithelschichten mit einem Rasier¬
messer verarbeitet. Aus dem ersten bildet sich ein mässiger, aber
deutlicher schwarzer Niederschlag mit H 2 S und die Endreaktionen
sind stark positiv; aus dem zweiten wird nur ein grauer, zum grössten
Teil aus Schwefel bestehender Niederschlag erhalten, das letzte Filtrat
gibt mit Zinnchlorürlösung eine Spur Trübung, auf dem Kupferblech
hinterlässt es einen ganz schwachen grauen Fleck, der beim Reiben
glänzend wird. —
In der Rückenhaut, soweit sie die Einschnitte zeigte, — 23 g
frisch —, fanden sich sehr grosse Mengen von Quecksilber; in der nur
geschundenen, die durch einen ca. 10 cm breiten Streifen gesunder
Haut von den Einschnitten getrennt war, — 40 g frisch — nur ge¬
ringe Spuren.
II. Die 24 Stunden alte Leiche bleibt 8 Tage in dem sublimat-
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94
Dr. P. Fraenckel,
getränkten Laken. Sie ist am Ende dieser Zeit etwas faul, die Haut
stellenweise blasig abgehoben. Aus der noch gut erhaltenen Rücken¬
haut wird ein 45 g schwerer Lappen zur Untersuchung verwendet.
Er wird vollständig von den obersten Epithelschichten entblösst. So¬
wohl die Vorprobe wie die genaue qualitative Untersuchung fallen
negativ aus.
III. Die IV 2 Tage alte Leiche wird 4 X 24 Stunden im Sub¬
limattuche gelassen. Dann wie in I die Haut zum Teil des obersten
Epithels entblösst, zum Teil einfach abgetrocknet und untersucht.
Die Teile ohne Stratum corneum lassen wiederum weder in der
Vorprobe, noch bei der Hauptuntersuchung eine sichere Quecksilber¬
reaktion auftreten. Dagegen geben die abgeschabten Epithelfetzchen
bei der Erhitzung im Glühröhrchen die charakteristischen Queck¬
silbertröpfchen. — In der unversehrten Haut fiel die Vorprobe eben¬
falls negativ aus; die Hauptprobe ergab aber deutliche Reaktionen
mit Zinnchlorür und Kupferplatte.
IV. Die ca. 3 Tage alte Leiche blieb 4 X 24 Stunden im Sub¬
limattuche. Die ganze Rumpfhaut wird verarbeitet: Spärliche, aber
deutliche Quecksilbermengen. Muskeln (Pectoralis und Latissimus):
absolut negatives Resultat.
V. Zum letzten Versuche wurde angesichts der stets so spärlichen
Ausbeute das Laken statt mit 0,5 proz. mit 1 proz. Sublimatlösung
getränkt. Das Resultat, nach 4 X 24 Stunden, war jedoch ähnlich
den bisherigen: deutliche, aber nur mässig starke Hg-Reaktionen in
den mit dem ganzen Epithel versehenen Hautstücken, schwache An¬
deutung einer Reaktion in den geschundenen.
Nach diesem ziemlich gleichmässigen Ausfall der Versuche kann
also von einem tieferen Eindringen des Sublimats durch die Haut
keine Rede sein. In der abgetrockneten Haut scheint das Sublimat
nur in den obersten Epithelschichten regelmässig nachweisbar zu sein;
es liegt nahe, anzunehmen, dass es hauptsächlich in den Drüsen¬
ausführungsgängen abgelagert ist. Ein weiteres Vordringen war nicht
zu beobachten. Das gelegentliche Vorkommen von Spuren Queck¬
silbers in dem Stratum mucosum dürfte zum Teil auch noch auf un¬
vollständiger Ablösung des Stratum corneum beruhen. Dass dann
auch in den zunächst liegenden Muskeln kein Quecksilber nachweisbar
sein würde, war nach diesem Befunde vorauszusehen, wurde aber der
Vollständigkeit wegen dennoch durch Untersuchung festgcstellt. Sobald
die das Eindringen des Sublimats verhindernde tiefe Epithelschicht
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Zur Permeabilität der Leichenhaut für Gifte.
95
aber durchtrennt ist, findet, wie der erste Versuch zeigt, eine reich¬
liche Imbibition mit Sublimatlösung statt.
Einer Uebertragung dieser Ergebnisse auf die Leichen Erwach¬
sener steht, meiner Meinung nach, nichts im Wege.
Das Ergebnis der Untersuchung für die gerichtliche Medizin wäre
demnach, dass die Einwanderung von Sublimat durch die unversehrte
Haut der Leiche nicht in Betracht kommt, wenn bei sonst günstigen
äusseren Umständen, wie langer Berührung der Leiche mit stark sub¬
limathaltigen Gegenständen, Quecksilber in den tieferen Schichten der
Haut in irgendwie grösserer Menge nachgewiesen wird. Es ist dann
eine andere Art des Eindringens — Injektion, Diffusion u. s. w. —
mit höchster Wahrscheinlichkeit anzunehmen. Die von ausssen rein
mechanische erfolgende Imbibition bleibt, wenigstens nach diesen Ver¬
suchen, auf die allerobersten Epithelschichten beschränkt.
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I.
Aus dem geriehtlich-medizinischen Institute der K. K. Jag.
Univ. in Krakau.
Experimentelle Beiträge zur Lehre vom
Ertrinkungstod.
Von
Prof. Dr. L. Wachholz.
In der mit Horoszkiewicz gemeinschaftlich verfassten Arbeit (1)
hatten wir auf Grund von 53 auf verschiedene Weise ausgeführten
Tierversuchen dargetan, dass der Schluss von Hofmanns, die Er-
tränkungsflüssigkeit gelange in die Lungen der Ertrinkenden während
der Terminalatembew r egungen dahin geändert werden muss, dass dieses
Einatmen der Flüssigkeit zum grössten Teil bereits schon früher und
zwar im Stadium der Dyspnoe, oder wie dies Brouardel zuerst genau
bewies, im Stadium der tiefen Atmung stattfindet. Die Ergebnisse
unserer Untersuchungen wurden jüngst durch Margulies in zwei
Aufsätzen angefochten.
In dem ersten Aufsatze (2), in welchem Margulies die Aussicht
auf Wiederbelebung von Ertrinkenden bespricht, gelangt er zu diesem
Schlüsse, diese Aussichten seien deswegen günstig, da man es für
erwiesen betrachten muss, dass die Ertränkungsflüssigkeit erst mit
den terminalen Atembewegungen in die Lungen eindringe. Hierbei
erwähnt er die entgegengesetzte Meinung Brouardels, der wir uns
auf Grund unserer experimentellen Erfahrung anschliessen mussten,
und meint, die Ergebnisse unserer Versuche vermögen an der Be¬
hauptung v. Hofmanns nichts zu ändern, da eben unsere Versuche
„nach dem Vorbild von Brouardel an tracheotomierten Tieren“ unter¬
nommen worden waren. Dadurch muss uns der Vorwurf nicht erspart
bleiben, dass bei dieser unserer Versuchsanordnung der Schluck-
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Experimentelle Beiträge zur Lebre vom Ertrinkungstod.
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raechanisraus ausgeschaltet war, welcher „nach v. Hofmann doch
gerade während des Stadiums der Dyspnoe eine bedeutende Rolle
spielt, da er nach Verlauf dieser Phase keine oder nur wenig Er-
tränkungsflüssigkeit in den Lungen, wohl aber bereits im Magen
nachweisen konnte.“ Manche andere Einwände gegen unsere Aus¬
führungen behielt er sich vor, da er aus Mangel an verfügbarem Platz
„das gefährliche Gebiet der Polemik hier nicht zu betreten“ wagte.
Dies Gebiet betritt Margulies in seiner zweiten Abhandlung(3),
wobei er wieder das Endziel seiner Ausführungen genau andeutet.
Es handelt sich ihm nämlich um den theoretischen Nachweis, dass die
Aussichten auf Wiederbelebung von Ertränkten sich günstig darstellen,
und zwar desto günstiger, je später die Ertränkungsflüssigkeit in die
Lungen einlaufe. Bei diesem Sachverhalt ist für Margulies die Be¬
hauptung v. Hof man ns die alleinig günstige.
Nach einer sehr zutreffenden neu von Margulies vorgeschlagenen
Einteilung der Ertrinkungssymptome in zwei Hauptphasen, die der
Abwehr und jene der Wehrlosigkeit, meint er, dass je mehr und je
früher eins der von ihm erwähnten Abwehrmittel in seiner Wirkung
beeinträchtigt oder gänzlich aufgehoben wird, um so früher und in
um so grösserer Menge die Flüssigkeit in die Lungen eindringen wird.
Zu diesen Abwehrmitteln zählt Margulies in erster Reihe den
Schluckmechanismus, der „seines Wissens,“ und zwar trotzdem er
schon in seiner ersten Abhandlung in dieser Hinsicht die Ansicht
v. Hofmanns geltend machte, bis jetzt unberücksichtigt blieb. Da
durch das von Brouardel und nachher von uns eingeschlagene Ver¬
suchsverfahren die Abwehrmittel und besonders der Schluckmechanismus
ausgeschaltet waren, so ist schon darin die genügende Erklärung ge¬
geben, warum unsere Versuchstiere in einem früheren Stadium d. i.
in dem Stadium der Dyspnoe das Wasser in ihre Lungen einatmeten.
Um sich nun davon zu überzeugen, welche von den divergierenden
Behauptungen, die v. Hofmanns, oder jene Brouardels, meine
und Horoszkiewicz’, die wahrheitsgemässe ist, führte er Versuche
an 4 Kaninchen von gleichem Wurf in dieser Weise aus, dass er sie
mit einem 2 kg schweren Gewicht an den Hinterläufen beschwerte,
sodann sie in ein mit Wasser gefülltes Bassin versenkte. Drei dieser
Kaninchen hat er nach mehreren terminalen Atembewegungen schnell
aus dem Wasser gezogen, das vierte aber unmittelbar nach einer
solchen Atembewegung. Zunächst hat er ihnen die Luftröhre bloss¬
gelegt und unterbunden, dann ihre Lungen herauspräpariert und das
Vierteljahrssehrift f. ger. Med. n. öff. San.-Weseo. 3. Folge. XXXII. 1. q
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98
Dr. L. Wachholz,
Gewicht und Volumen letzterer genau ermittelt. Da das Gewicht
dieser Lungen der Summe von normalem Lungengewicht und vom
Gewicht des in dieselben eingedrungenen Wassers entspricht, so
musste er zuvor das Gewicht des normalen Lungengewebes ermitteln,
um darnach das Gewicht des in die Lungen eingelaufenen Wassers
berechnen zu können. Er fand nun, dass auf 1 kg Körpergewicht
bei Kaninchen 5,978 g Lungengewicht kommen. Zieht man nun von
dem gefundenen Wert des Lungengewichts eines ertränkten Kaninchens
das im Verhältnis zu seiner Körperschwere bestimmte Gewicht seines
Lungengewebes ab, so erübrigt das Gewicht der darin enthaltenen
Ertränkungsflüssigkeit. Die Ergebnisse seiner 4 Versuche stellten
sich dar:
No. des
Versuchs
Gewicht
der
Tiere in
e
Geschlecht
Herausgez
Mi¬
nuten
iogen nach
terminalen
Atembe¬
wegungen
Lungen¬
gewicht
in g
Gewicht
des
Wassers in
denLungen
in g
Gewicht des
Wassers in
den Lungen
pro kg Körper¬
gewicht
i
2047
männlich
31/4
6
41
29
14,5
2
2020
3 Vs
7
43
31
15,5
3
2400
weiblich
3
9
46
31,5
13,1
4
2565
2
1
24
9
3,6
Diese Versuche legen nun, laut Margulies, ein beredtes Zeugnis
darüber ab, dass die Ertränkungsflüssigkeit nur mit den terminalen
Atembewegungen in die Lungen der Ertrinkenden hineingelangt. Um
dem etwaigen Vorwurf vorzubeugen, diese Versuchstiere hätten noch
früher d. i. im Stadium der Dyspnoe Wasser eingeatmet, das aber
in den Lungen resorbiert worden war, bemühte er sich noch in vier
weiteren Versuchen festzustellen, wieviel Wasser überhaupt in die
Kaninchenlungen hineingelangt, wieviel davon in den Lungen zurück¬
bleibt und wieviel resorbiert wird. Diese an vier Kaninchen unter¬
nommenen Versuche musste er trotz seiner früher schon erwähnten
Einwände, an zuvor tracheotomierten Tieren modo Brouardel aus¬
führen. Dabei wurden die Tiere, deren Trachealkanüle mit einem
Wasserbehälter verbunden war, im Gegensatz zu unseren (laut
Margulies) Versuchen in einem mit Wasser gefüllten Bassin ver¬
senkt, wobei ausserdem wieder im Gegensatz zu unserer Versuchs¬
anordnung das Wasserniveau im Bassin dem des Wasserbehälters
gleich war. Diese Versuche lehrten ihn, dass die in den Lungen re¬
sorbierte Wassermenge 5—7,1 ccm für 1 kg Körpergewicht betrug.
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Experimentelle Beiträge zur Lehre vom Ertrinkungstod.
99
Da aber die Tiere bei dieser Versuchsanordnung angesichts des aus¬
geschalteten Schluckmechanismus mehr Wasser in ihre Lungen ein-
atmen mussten, als wenn sie in natürlicher Weise ertränkt worden
wären, so muss bei natürlichem Ertränken die Menge des in die
Lungen aufgenommenen Wassers noch geringer ausfallen und dieser
Umstand bildet laut Margulies den letzten Beweis für die Richtig¬
keit der Behauptung v. Hofmanns, dass das Ertränkungswasser in
die Lungen erst mit den terminalen Atembewegungen hineinbefördert,
wird. So Margulies.
Diese gegen unsere Versuche erhobenen Einwände erscheinen
vollkommen gerechtfertigt, leider aber nur auf den ersten Blick, wenn
man sich noch dazu unseren Untersuchungsgang nicht genau ver¬
gegenwärtigt. In den schon erwähnten Auseinandersetzungen Mar¬
gulies’ taucht in der Art eines Leitmotivs besonders ein gegen uns
erhobener Einwand, welchen einst Strassmann mit vollstem Recht
der Versuchsanordnung Brouardels entgegenbrachte. Dieser Ein¬
wand war uns wohl bekannt und deswegen wollten ich und Horosz-
kiewicz uns experimentell von seiner praktischen Richtigkeit in
unserer HI. Versuchsgruppe überzeugen. Unterdessen hören wir jetzt
seitens Margulies denselben Vorwurf, indem er alle unsere Versuche,
was ihre Ausführungsart anlangt, mit denen Brouardels identifiziert.
Damit beweist aber Margulies, dass er entweder unsere Arbeit nur
nach einem minder gelungenen Referate beurteilt, oder beim Verfassen
seiner zwei erwähnten Mitteilungen den Inhalt unserer Arbeit zum
grössten Teil schon vergessen hatte.
Ich hatte mit Horoszkiewicz unsere Versuche, die in vier
Reihen eingeleitet wurden, auf verschiedene Weise ausgeführt. Indem
wir nun nachweisen wollten, welche von den divergierenden Ansichten,
die von v. Hofmann oder jene von Brouardel zutreffend sei, hatten
wir einen Teil unserer Versuche nach der Versuchsmethode v. Hof¬
manns, den anderen nach der Methode Brouardels unternommen.
Unsere erste Versuchsreihe besteht aus 12 an Katzen und Hunden
nach v. Hofmanns Vorgehen ausgeführten Versuchen, wodurch diese
Tiere unter Wasser getaucht wurden und, da sie zuvor untrache-
otomiert blieben, während des Ertränkens ihren Schluckmechanismus
ungestört zur Geltung bringen konnten. Um, wie schon früher be¬
merkt, dem seitens Strassmanns gegen die Brouardelschen Ver¬
suche gemachten Einwand, gerecht zu werden, haben wir in der
in. Versuchsreihe an einer Katze und an einem Kaninchen den Ver-
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7*
Original from
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100
Dr. L. Wach holz,
such auf diese Weise ausgeführt, dass diesen Tieren, trotzdem sie nur
aus dem kalibrierten Wasserbehälter Wasser atmen konnten, Dank
der speziell für diesen Zweck angefertigten Maske der Schluck¬
mechanismus erhalten blieb. Endlich hatten wir eine Katze in unserer
IV. Versuchsreihe auf die Weise ertränkt, dass wir sie in ein ge¬
räumiges Bassin mit Wasser warfen, in welchem sie eine zeitlang
hin und her schwamm und Ende der 14. Minute erschöpft ertrank.
Es war dies somit ein dem natürlichen Ertrinken gleichkommender
Versuch. Diese hier hervorgehobenen 15 Versuche beweisen nun zur
Genüge, dass die Gleichstellung unserer Versuche mit denen
Brouardels seitens Margulies’ grundlos ist und der Wahrheit nicht
entspricht. In Berücksichtigung dieses aus mangelnder Kenntnis
unserer Arbeit hervorgehenden Einwandes wird erst die Befürchtung
einer Polemik seitens Margulies’ verständlich. Uebrigens sei noch
bemerkt, dass nur unsere II. und IV. (mit Ausnahme des ersten
Versuchs) Versuchsreihe an tracheotomierten Tieren in der Brouardel-
schen ähnlichen Weise ausgeführt worden war.
Obwohl nun die bereits schon erwähnten 15 Versuche, bei denen
den Tieren die Abwehrmittel, und zumal schon der Schluckmechanismus
während des Ertrinkungsverlaufs zu Gebote standen, vollkommen die
Behauptung rechtfertigen, das Wasser gelange in die Lungen der Er¬
trinkenden zum weit grössten Teil während der Dyspnoe, habe ich
vor kurzem noch einige Versuche nach dem Vorbild von Margulies
angcstellt. Bevor ich sie aber schildern werde, sehe ich mich ge¬
zwungen, noch einige andere Beweise für die Richtigkeit unserer
Behauptung vorzuführen, die Margulies vollends entgangen zu sein
scheinen.
Die Behauptung, das Wasser gelange in die Lungen der Er¬
trinkenden schon in-einem frühen Stadium, nämlich dem der Dyspnoe,
haben auf Grund ihrer Untersuchungen viele Forscher, wie Mayer,
Eggert, Albert, Wistrand (der trotzdem die Aussicht auf Wieder¬
belebung für günstig hält), Krahmer, Doehne, Bert, Falk, weiter
A. Paltauf (4), der bekannte Schüler und Mitarbeiter v. Hofmanns
und Brückner (5) aufgestellt und gerechtfertigt. Bei all ihren Ver¬
suchen war der Schluckmechanismus der Tiere nicht ausgeschaltet.
Massgebend ist der Ausspruch Paltaufs in seiner neunten Schluss¬
bemerkung: „Die Ertränkungsflüssigkeit dringt im zweiten (d. i. dys¬
pnoetischen) und dritten (terminale Atembewegungen) Stadium des
Ertrinkungstodes in die Lungen ein; hierfür, sowie für die Menge
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der eingedrungenen Flüssigkeit sind verschiedene Momente mass¬
gebend.“
Brückner unternahm unter Strassmann seine Versuche an
Kaninchen, die er nach dem Verfahren v. Hofmanns in Ferrocyan-
kaliumlösung ertränken liess, wobei er einem Teil dieser Tiere die
Luftröhre vor dem Eintritt der terminalen Atembewegungen zudrückte.
Die Ergebnisse seiner Versuche führten ihn zum Schluss, „dass das
Eindringen der Flüssigkeit bei Kaninchen im Stadium der Dyspnoe
stattfindet,“ denn „dass die Inspiration der Ertränkungsflüssigkeit nicht
von den terminalen Atembewegungen abhängig ist, scheint einmal aus
den Fällen hervorzugehen, wo jene, ohne den Befund irgendwie zu
verändern, ganz ausblieben, andererseits aber aus dem Wesen dieser
letzten Bewegungen.“ Diese Bewegungen bilden seiner Ansicht nach
einen Teil der kurzdauernden, über die ganze Körpermuskulatur ver¬
breiteten Zuckungen; sie sind nicht imstande das Einziehen von
Flüssigkeit in die Lungen, oder höchstens nur „in ganz unbedeutender
Menge“ zu bewirken, da sie „die Luftröhre zugleich mittels der Epi¬
glottis vcrschliessen“ und „da ferner durch das während der Dyspnoe
eingeatmete Wasser der negative Druck in den Lungen auf ein Minimum
herabgesetzt worden ist.“
Unsere erste nach dem Vorbild von Hofmanns ausgeführte
Versuchsreihe bewies, dass trotz Zudrückens der entblössten Luftröhre
vor dem Eintritt der terminalen Atembewegungen, die Lungen der
Tiere (Katzen und Hunde) das tiefblaue mit Methylenblau gefärbte
Wasser in ergiebiger Menge enthielten. Denselben Schluss, dass
nämlich schon im Stadium der Dyspnoe das Wasser von ihnen aspiriert
worden war, rechtfertigt das Ergebnis der ^/-Bestimmung im linken
Herzblute. Während nämlich der (zu Lebzeiten entnommenes
Karotisblut) und d«- (nach dem Tode dem linken Herz entnommenes
Blut) Unterschied bei den mit Zudrücken der Trachea vor den letzten
Atembewegungen ertränkten Tieren 0,23 ausmachte, belief er sich bei
anderen ohne Zudrücken der Luftröhre ertränkten Tieren auf 0,21
und 0,29, somit auf denselben Wert. Einige unserer Versuche der
ersten Versuchsreihe, bei denen ein Teil der Tiere im warmen Wasser
nach dem Prinzip von Hofmanns ertränkt wurde, bestätigten die
Behauptung Seydels, dass bei Ertrinken im warmen Wasser mehr
Wasser in die Lungen aspiriert wird, als bei Ertrinken in kaltem
Wasser, indem nämlich der d x und ^"Unterschied bei den im
warmen Wasser ertränkten Tieren 0,39, bei den im kalten Wasser
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Dr. L. Wachholz,
ertränkten maximal 0,29 ausmachte. Die bedeutend höhere Blut¬
verdünnung bei den ersteren deutete auf Aspiration ergiebigerer Wasser¬
menge in die Lungen und dies zwar bei dem Tier, bei welchem kaum
zwei mittelstarke terminale Atembewegungen wahrgenommen werden
konnten. Die von Seydel angegebene, von von Hofmann bestätigte
Deutung der Tatsache, dass warmes Wasser in grösserer Menge als
kaltes während des Ertrinkens in die Lungen aspiriert wird, geht nun
dahin, dass warmes Wasser einen viel geringeren Reiz für die Luft¬
wege bildet als kaltes Wasser, somit auch ersteres nicht so schnell
und energisch zurückgestossen wird. Wenn nun die grössere Menge
des warmen, aspirierten Wassers von seiner geringeren Reizfähigkeit
der oberen Luftwege abhängt, so kann dieser Umstand sich nur so
lange geltend machen, als noch die Reflexerregbarkeit der Luftwege
erhalten ist. Da aber laut der allgemeinen somit auch seitens
von Hofmanns (6) anerkannten Tatsache, die Reflexerregbarkeit der
Luftwege im Stadium der terminalen Atembewegungen erloschen er¬
scheint, so könnte der erwähnte Einfluss des warmen Wassers auf
die Menge der zu aspirierenden Flüssigkeit nicht zur Geltung gelangen,
wenn der Satz, das Wasser gelange in die Lungen erst mit den ter¬
minalen Atembewegungen, richtig wäre. Somit beweisen diese mittels
Ertränkens im warmen und im kalten Wasser, sowie jene mit voran¬
geschickter Chloroformnarkose ausgeführten Versuche unserer ersten
Versuchsreihe, dass die Flüssigkeit schon im Stadium der Dyspnoe
in die Lungen gelangt.
Schon an dieser Stelle muss ich einen weiteren, von Margulies
gegen uns erhobenen Einwand widerlegen, und zwar einen Einwand,
der wieder die Unkenntnis unserer Arbeit seitens Margulies deutlich
verrät. Margulies meint, wir hätten bei unseren Versuchen die
Tiere nicht mit dem Körper ins Wasser versenkt, indessen waren
unsere schon zuvor erwähnten 14 Versuche (12 der I. Reihe,
2 der III. und 1 der IV. Reihe) mit vollständigem Versenken der
Tiere im Wasser ausgeführt. Dieser Einwand könnte somit nur gegen
den Rest unserer Versuche, d. i. gegen die II. und mit Ausnahme
eines Versuchs gegen die IV. Versuchsreihe erhoben werden. Da
wir in diesen ohne Versenken der Tiere im Wasser unternommenen
Versuchen dieselben Verdünnungsgrade des linken Herzblutes mittels
Kryoskopie feststellen konnten wie in den oben erwähnten 15 Ver¬
suchen, in denen die Tiere vollends im Wasser versenkt worden
waren, so ist unser Schluss vollkommen gerechtfertigt, dass, trotz der
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103
entgegengesetzten Meinung Margulies, das Nichtversenken der Tiere
mit ihrem Körper im Wasser ohne Einfluss auf den Verdünnungsgrad
des linken Herzblutes und folglich auch auf die Menge des aspirierten
Wassers bleibt. Desgleichen ist auch ein weiterer Einwand Margulies
belanglos, nämlich der, dass bei unseren an tracheotomierten Tieren
ausgeführten Versuchen bei Beginn des Versuchs das Wasserniveau
im graduierten Wasserbehälter 25—30 cm über dem Niveau der
Luftröhre der Tiere lag. Wenn bei seinen Versuchen die Wasser¬
oberfläche in dem Behälter, aus welchem das Wasser in die Tracheal¬
kanüle des Tieres einfloss, sich in demselben Niveau befand, wie
die Oberfläche des im Bassin, in welches das Tier versenkt wurde,
befindlichen Wassers, so mussten diese gleichen Wasserstände sofort
sich ändern, nachdem das Tier bei Beginn des Versuches zu atmen
und Wasser zu aspirieren anfing, woraus ebenfalls, wie bei unserem
Vorgehen, ein Fehler in dem endgiltigen Versuchsergebnis resultieren
konnte. Wir haben bei unserem Vorgehen keinen Fehler in dem
Schlussergebnis der an tracheotomierten Tieren ausgeführten Versuche
bemerkt, denn diese Ergebnisse stimmten vollkommen mit denen
überein, die wir bei den 15 an nicht tracheotomierten Tieren aus¬
geführten Versuchen, was die Blutverdünnung anbelangt, erhalten haben.
Die in dem ersten Versuch unserer IV. Versuchsreihe festgestellte
Blutverdünnung (A x —A 2 =0,21.) glich vollkommen jener, bei der I. H.
und der sonstigen IV. Versuchsreihe im Durchschnitt nachgewiesenen
Blutverdünnung. Indem nun dieser Versuch die natürlichste Ertrinkungs¬
art darstellte, weil er ja doch auf diese Art ausgeführt worden ist, dass
das Tier (Katze) ungefesselt in ein geräumiges Bassin geworfen, darin
frei schwimmen konnte und erst Ende der 14. Minute ertrank, dabei
nur 2 schwache terminale Atembewegungen ausführte, so beweist der
bei diesem Versuche erzielte, mit den bei allen anderen unserer Ver¬
suche festgestellte gleiche Verdünnungsgrad des linken Herzblutes ohne
weiteres, dass die Ertränkungsflüssigkeit im Stadium der Dyspnoe in
die Lungen gelangt.
Endlich war in dieser Richtung das Ergebniss der HI. Versuchs¬
reihe vollkommen übereinstimmend mit den Ergebnissen anderer unserer
Versuche, und konnten doch die für diese IH. Versuchsreihe gewählten
Tiere (Katze und Kaninchen) wegen besonderer Vorrichtung (Maske)
sowohl das in dem Behälter befindliche Wasser in die Lungen aspirieren,
wie auch es in den Magen herunterschlucken. Dabei waren beide
Tiere mit ihrem Körper im Wasser versenkt.
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Dr. L. Wach holz,
Trotzdem auch aus diesem kritischen Resume unserer früheren
Versuchsergebnisse, bei Wiederlegung der gegen uns seitens Margulies
erhobenen Einwände, klar hervorgeht, dass das Wasser während der
Dyspnoe in die Lungen der Ertrinkenden eindringt, unterliess ich nicht,
neuerdings einige Versuche nach dem Vorbild Margulies auszuführen,
um sich auch auf diese Weise zu überzeugen, welche von den in Rede
stehenden Ansichten über den Zeitpunkt des Wassereindringens in die
Lungen der Wahrheit entspricht.
Ich unternahm Versuche an zwei Kaninchen desselben Wurfes,
deren Gewicht ich zuvor genau bestimmt habe. Beide wurden in ein
stark mit Methylenblau gefärbtem Wasser (A= —0,05) gefülltes Glas¬
bassin ungefesselt und ohne mit Gewichten beschwert zu werden geworfen,
das Bassin sodann mit Glasdeckel zugedeckt. Auf diese Weise kam
ich in diesen meinen Versuchen allen von Margulies gestellten Be¬
dingungen nach und zwar in noch höherem Grade als er selbst, da
er seine Tiere mit Gewichten an den Hinterläufen vorerst beschwerte.
Das erste Kaninchen wurde nach erfolgtem Tode, das zweite gegen
Ende des Stadiums der Dyspnoe aus dem Wasser gezogen. Dem
zweiten wurde sofort eine Schlinge über dem Hals zusammengezogen
und jetzt ausserhalb des Wassers sein Tod abgewartet. Bei beiden
Kaninchen habe ich Ai (Karotisblut bei Lebzeit entnommen) und Az
(linkes Herzblut gleich nach dem Tode) ermittelt. Gleich nach erfolgtem
Tode wurde dem Tiere die Luftröhre fest unterbunden, dann die Lunge
herauspräpariert und ihr Gewicht bestimmt, sodann in der von Margulies
angegebenen Weise das Gewicht des in den Lungen enthaltenen
Wassers, sowie das Gewicht des pro 1 kg Körpergewichts in den
Lungen nachzuweisenden Wassers ermittelt. Das Ergebnis dieser
Versuche ist aus der Tabelle ersichtlich:
o
Gewicht
der Tiere
Geschlecht
Herausgezt
3 gen nach
termin.
Lungen¬
gewicht
Gewicht
des
Wassers in
ÖJ bC
fl 3
•o •“ &.S
4
4
— ^2
in g
Minuten
Atembe¬
wegungen
in g
denLungen
in g
'S 8 ~
.2 ^ o £
^ ^ CL,
i
3170
männlich
7
24
33,60
14,64
4,6
— 0,59
— 0,40
0,19
2
2660
weiblich
2 */*
—
23,60
7.7
3,5
-0,62
— 0,51
0,11
Auf diese Weise war das Gewicht des in den Lungen des ersten
Kaninchens pro 1 kg Körpergewicht nachgewiesenen Wassers von
demselben Gewicht bei dem zweiten Kaninchen kaum um 1,1 g
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höher, trotzdem das erste Kaninchen während der 24 bei ihm ge¬
zählten, teils starken, teils schwachen, terminalen Atembewegungen
Wasser in die Lungen aspirieren konnte, während das zweite Ka¬
ninchen noch vor seinen terminalen Atembewegungen (13 an der Zahl)
und zwar noch kurz vor Ende des dyspnoetischen Stadiums aus dem
Wasser entfernt und seine Luftröhre resp. Hals mit einer Schlinge
zugeschnürt wurde. Dies minimale Uebergewicht des pro 1 kg
Körpergewicht in den Lungen des ersten Kaninchens nachgewiesenen
Wassers wäre noch geringer ausgefallen, hätte ich das zweite Ka¬
ninchen nicht vor Ende des dyspnoetischen Stadiums, während es
noch Wasser in die Lungen einziehen konnte, sondern erst im
asphyktischen Stadium aus dem W r asser gezogen. Ich habe mich aber
mit dem Herausholen des zweiten Kaninchens aus dem W’asser des¬
wegen beeilt, um für die von mir und Horoszkiewicz verfochtene
Behauptung die ungünstigsten Bedingungen zu schaffen. Die von mir
bei diesen zwei Versuchen ausgeführte Bestimmung des Ai und A 2
erwies ebenfalls hinlänglich die Richtigkeit unserer Behauptung betreffs
des Zeitpunktes, in welchem die Ertränkungsflüssigkeit in die Lungen
aspiriert wird. Die bei der obigen Blutuntersuchung erhaltenen Unter¬
schiede zwischen Al und A 2 waren, trotzdem beide Kaninchen mit
dem ganzen Körper ins Wasser getaucht wurden, ganz dieselben, wie
jene bei den Tieren, welche ich mit Horoszkiewicz durch die
Trachealkanüle ertränkte, ohne sie im Wasser zu versenken (vergl.
z. B. IV. Reihe, Versuch No. 4, 7, 8, 9, 11, 12, 13). Wenn dem¬
nach Margulies die von uns nachgewiesenen, bedeutenden Blutver¬
dünnungsgrade von dem Nichtversenken unserer Versuchstiere ins
Wasser ableitete, so beweisen die bereits besprochenen zwei meiner
neuen Versuche (ähnlich denen der I., UI. Versuchsreihe und dem
ersten Versuch der IV. Reihe meiner früheren mit Horoszkiewicz
ausgeführten Untersuchungen), wie unbegründet dieser Einwand von
Margulies erhoben wurde.
Behufs genauester Klärung der Frage nach dem Zeitpunkt der
erfolgenden Wasseraspiration in die Lungen unternahm ich noch weitere
zwei Versuche. Da alle Forscher bis jetzt zu diesem Zweck den
von v. Hofmann gewählten Weg einschlugen, d. h. ein Tier ungestört
unter Wasser sterben liessen, einem anderen dagegen noch vor Ein¬
tritt der terminalen Atembewegungen die Luftröhre zudrückten, so
habe ich in den zwei jetzt zu besprechenden Versuchen ein entgegen¬
gesetztes Verfahren angewendet. Ein Kaninchen männlichen Geschlechts
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Dr. L. Wachholz,
von 2070 g Körpergewicht wurde in der früher besprochenen Weise
ungefesselt im Bassin (dieselbe Methylenblaulösung) ertränkt. Ich
notierte bei ihm 15 starke und 3 schwache terminale Atembewegungen,
die letzte 4' 25" nach erfolgtem Versenken im Wasser. Sein Lungen¬
gewicht betrug nach dem Ertränken 23 g, somit betrug laut der
Margu lies sehen Berechnung das Gewicht des in den Lungen ent¬
haltenen Wassers 10,68 g oder pro 1 kg Körpergewicht 5,1 g. Die
Blutuntersuchung ergab: Ai (Blut aus der Arteria femoralis vordem
Ertränken) = —0,60, A2 (linkes Herzblut) = —0,40; Ai—A2
= 0 , 20 .
Das zweite Kaninchen, ebenfalls männlichen Geschlechts,, von
2160 g Körpergewicht, wurde mittels einer über den Hals gelegten
Schlinge stranguliert. Im Augenblick, als bei dem Tier das asphykti-
sche Stadium eintrat, entfernte ich die Halsschlinge und versenkte es
in die übliche (dieselbe) Methylenblaulösung. Jetzt erfolgten bei ihm
18 starke und 9 schwache terminale Atembewegungen. Die Dauer
der Strangulationszeit belief sich auf 1' 35", die Dauer des Unter-
wasserliegens auf 2' 20". Bei der gleich nach dem Tode ausgeführten
Sektion, wobei zuerst die Trachea blossgelegt und genau unterbunden
wurde, erwiesen sich die Lungen dieses Kaninchens im Gegensatz zu
den Lungen der drei früheren Tiere nirgends blau gefärbt, ausserdem
waren sie, ebenfalls im Gegensatz zu den früheren, dicht mit sub¬
pleuralen, frischen Ekchymosen besät. Das Lungengewicht dieses
Kaninchens betrug nach dem Tode 31 g, somit betrug das Gewicht
des darin befindlichen Wassers nach Margulies’ Ermittelungsmethode
18 g oder pro 1 kg Körpergewicht 8,3 g.
Dies Resultat der in die Lungen aspirierten Wassermenge, trotz¬
dem sich ihre Anwesenheit durch ihre Blaufärbung nicht verriet,
stand im krassen Widerspruch zu dem Ergebnis der kryoskopischen
Blutuntersuchung, denn Ai (Blut aus Arteria femoralis vor dem Er¬
tränken = — 0,61, Aa (linkes Herz) = — 0,55, Ai—A 2 = 0,06.
In Berücksichtigung des Widerspruches zwischen dem Ergebnis der
nach Margulies nachgewiesenen Wassermenge in diesem letzten und
jenem Ergebnis in den drei früheren Versuchen, sowie in Berück¬
sichtigung der Widersprüche, die sich aus dem Vergleich der Blut¬
verdünnungsgrade bei diesem vierten und den drei ihm vorangeschickten
Versuchen ergaben, sah ich mich gezwungen, die von Margulies
angegebene Ermittelungsmethode des normalen Lungengewichts der
Kaninchen nachzuprüfen, umsomehr als sie mir schon im Vornherein
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Experimentelle Beiträge zur Lehre vom Ertrinkungstod. 10 7
wenig genau und zutreffend schien. Zu diesem Ende wurde ein
männliches, 1650 g schweres Kaninchen erdrosselt, alsdann seine
Lunge herauspräpariert. Laut Margulies sollte das Gewicht dieser
normalen Lunge 9,86 g betragen, indessen betrug es in der Wirk-
14,65 g, d. i. um 4,79 g mehr, als Margulies ihm erlauben würde!
Ich könnte schon hier abbrechen und die wahrhaftige Kette von
Beweisen gegen die Ausführungen und die Behauptung Margulies’
schliessen. Wenn ich auf Grund all des Vorhergesagten und besonders
auf Grund der übereinstimmenden Ergebnisse meiner so zahlreichen
und in so verschiedener Weise ausgeführten Versuche meine frühere
Behauptung, das Wasser gelange in die Lungen der Ertrinkenden vor¬
wiegend in dem Stadium der Dyspnoe und nicht während der ter¬
minalen Atembewegungen, als vielseitig bewiesen entgegen Margulies
aufrechthalte, so kann ich doch nicht unterlassen, Margulies ausser
der schon hervorgehobenen noch andere Ursachen für die von ihm
begangenen Fehler hier namhaft zu machen.
Die Hauptursache dieser Fehler Margulies’ liegt darin, dass er
sich weder mit der bisherigen einschlägigen Literatur, noch mit unserer
Arbeit, die er anfechtet, vorerst genau vertraut machte, und zweitens,
dass er auf Grund von 8 Tierversuchen die streitige Frage lösen
wollte. Und wenn irgend welche Frage nur auf Grund zahlreicher
und verschiedenartig ausgeführter Versuche gelöst werden kann, so
ist es eben die Frage nach dem Zeitpunkt des Wassereindringens in
die Lungen Ertrinkender, da man doch der Meinung A. Paltaufs,
„dass hierfür sowie für die Menge der eingedrungenen Flüssigkeit ver¬
schiedene Momente“ massgebend sind, vollkommen beipflichten muss.
Diese verschiedenen Momente lassen sich aber an einer so geringen
Anzahl von Versuchen, die noch auf ungenauer, ja sogar falscher Be¬
rechnung basieren, wie die Versuche Margulies’, unbedingt nicht
studieren.
Den von A. Paltauf erwähnten „verschiedenen Momenten“
suchten wir mit Horoszkiewicz näher zu treten und sie näher
zu ergründen, diese unseren Bestrebungen und ihre Ergebnisse scheinen
aber Margulies unbekannt geblieben zu sein.
Die Ergebnisse der vier ersten Versuche Margulies’ ins Auge
fassend, ersehen wir, dass die pro 1 kg Körpergewicht von ihm in
seinen ersten drei Versuchen nachgewiesenen Wassermengen in den
Lungen, die 14,5, 15,5 und 13,1 g ausmachten, in keinem Verhältnis
zu der Zahl der ausgelösten terminalen Atembewegungen stehen.
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Dr. L. Wachholz,
Wenn das erste Tier bei 6 terminalen Atembewegungen in die Lungen
14,4 g Wasser pro 1 kg, und das zweite bei sieben ebensolchen Atem¬
zügen 15,5 g Wasser aspirierten, so bildet dies beim zweiten Tier
auf 1 g sich belaufende Mehrgewicht des eingeatmeten Wassers keinen
Beweis dafür, dass zwischen der Zahl der terminalen Atemzüge und
der Menge des aspirierten Wassers ein gerades Verhältnis besteht,
denn es widerspricht einer solchen Annahme das Resultat des dritten
Versuchs. In diesem dritten Versuch zählte Margulies 9 terminale
Atemzüge, somit müsste bei Annahme eines geraden Verhältnisses
die Menge des in den Lungen dieses dritten Kaninchens nachgewiesenen
Wasser sich höher, wie bei den vorangehenden erweisen. Nehmen
wir auf Grund des Unterschiedes zwischen den pro 1 kg bei den
zwei ersten Versuchstieren gefundenen Werten für die aspirierte
Wassermenge an, dass auf einen terminalen Atemzug 1 g Wasser pro
1 kg Körpergewicht kommt, so müsste laut dieser Annahme das
dritte Kaninchen, weil die Zahl der terminalen Atemzüge bei ihm um
2 die des zweiten übertraf, um 2 g mehr Wasser pro 1 kg in seine
Lungen eingezogen haben. Es müsste demnach 17,5 g Wasser pro
1 kg aspiriert haben. Unterdessen hat es nach Margulies nur
13,1 g aspiriert, somit um 4,4 g weniger Wasser, als dies laut obiger
Annahme zu erwarten war, und um 1,4 g beziehungsweise um 2,4 g
weniger Wasser, als das erste resp. zweite Kaninchen bei nur 6 resp.
7 terminalen Atembewegungen. Hieraus folgt nun, dass die Menge
des in die Lungen eindringenden Wassers von der Zahl der terminalen
Atemzüge unabhängig ist.
Wir hatten mit Horoszkiewicz bewiesen, dass die Menge des
in die Lungen gelangenden Wassers ausser von der Wassertemperatur
und etwaiger Narkose der Tiere vor dem Ertrinken, vorwiegend von
der vitalen Lungenkapazität des Individuums abhängt. Wie bekannt,
ist die vitale Lungenkapazität beim männlichen Geschlecht grösser
als beim weiblichen, sie erhöht sich auch bei Zunahme des Körper¬
gewichts, doch wird sie bei Ueberschreitung desselben um 7 pCt.
des normalen Mittels wieder beträchtlich geringer. Unsere früheren
Versuche ergaben, übereinstimmend mit der obigen Erfahrung, dass
unsere männlichen Versuchstiere mehr Wasser als die weiblichen ein¬
geatmet haben, und dass Tiere von besonders hohem Körpergewicht
weniger Wasser in ihre Lungen einzogen als jene von mittelmässigem
Gewicht. Dies ist z. B. besonders genau aus dem 14. und 15. Ver¬
such der IV. Gruppe ersichtlich, wo zwei Rüden, die unter sonst den
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Experimentelle Beiträge zur Lehre vom Ertrinkungstod.
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gleichen Bedingungen ertränkt worden sind, bei derselben Anzahl und
Intensität der terminalen Atemzüge der erste von 4870 g Körper¬
gewicht 71 ccm Wasser pro 1 kg, der zweite von 11460 g Körper¬
gewicht nur 28 ccm Wasser pro 1 kg in ihre Lungen einatmeten.
Der Einfluss des Geschlechts auf die Menge des aspirierten Wassers
macht sich auch bei den vier ersten Versuchen Margulies’ geltend.
Das Kaninchen in seinem dritten Versuch, welches bei 9 terminalen
Atemzügen nur 13,1 g Wasser pro 1 kg aspirierte, war weiblichen
Geschlechts, musste somit weniger Wasser als die zwei ersten männ¬
lichen Kaninchen (14,5 und 15,5 g) in die Lungen einziehen. Sein
im vierten Versuch gleich nach dem ersten terminalen Atemzuge aus
dem Wasser herausgenommenes Kaninchen war ebenfalls weiblich,
zugleich übertraf es die zwei ersten Tiere an Körpergewicht um
25 pCt., es konnte somit wegen geringerer Lungenkapazität bedeutend
weniger Wasser als jene in seine Lungen aspirieren. Laut Berech¬
nung fand nun Margulies bei diesem vierten Versuchstier pro 1 kg
nur 3,6 g Wasser in den Lungen, d. h. viermal weniger Wasser als
bei seinem ersten Versuchstier. In unseren bereits kurz zuvor er¬
wähnten zwei früheren Versuchen (IV. Gruppe. Vers. 14 und 15) as¬
pirierte der schwerere Rüde 2y 2 mal weniger Wasser als der leichtere.
Auf Grund dieses Vergleichs unserer zwei Versuche mit den Er¬
gebnissen der Marguliesschen Versuche wäre es als gerechtfertigt zu
betrachten, wenn sein viertes Kaninchen, welches an Körpergewicht
sein erstes weit übertraf, ebenfalls nur 2% mal weniger Wasser von
dem ersten aspiriert hätte. Es bliebe noch zu rechtfertigen, warum
es (sein viertes Versuchstier) viermal und nicht, wie oben schon er¬
wähnt, nur 2y 2 mal weniger Wasser in die Lungen aufnahm, als das
erste Tier. Dies ist aber leicht möglich angesichts der Tatsache,
dass unsere zwei hier in Vergleich gebrachten Versuche an Tieren
desselben Geschlechts, dagegen der erste und vierte Versuch Mar¬
gulies’ am männlichen und am weiblichen Tier ausgeführt worden
sind, somit das vierte Versuchstier Margulies’ auch als Weib¬
chen schon weniger Wasser aspirieren musste. Dass sein viertes
Versuchstier wirklich geringere Lungenkapazität besass als das erste,
gestattet schon der Vergleich ihrer von Margulies ermittelten Lungen¬
volume einen positiven Schluss zu ziehen. Sein viertes Tier besass
bei 2565 g Körpergewicht ein Lungenvolumen von nur 37 ccm, wo¬
gegen sein erstes Versuchstier bei 2047 g Körpergewicht ein Lungen¬
volumen von 49 ccm ermitteln liess!
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Dr. L. Wachholz,
Aber noch ein und dazu gewichtiger Umstand, den Margulies
leichtfertig übersah, fällt hier in die Wagschale und das ist die
Atemphase, nach welcher seine verglichenen Versuchstiere im Wasser
untergetaucht worden sind. Wir hatten mit Horoszkiewicz dargetan,
dass Tiere, die nach dem Exspirium ertränkt werden, um 6 ccm mehr
Wasser in ihre Lungen pro 1 kg Körpergewicht aufnehmen, als jene
nach dem Inspirium ertränkten. Margulies konnte bei seiner ersten
Versuchsanordnung die Atmungsphase des Tieres kurz vor dem Er¬
tränken der Tiere nicht ermitteln, liess sie überhaupt ausser Acht;
nun ist wohl erlaubt, anzunehmen, dass sein viertes, nach dem ersten
terminalen Atemzug aus dem Wasser entferntes Kaninchen, nach
einer Inspiration unter Wasser gelangte, während sein erstes Kaninchen
bevor es im Wasser versenkt worden ist, expiriert hatte. Auf diese
Weise musste das vierte Kaninchen Margulies’ um 6 ccm weniger
Wasser pro 1 kg Körpergewicht aspiriert gehabt haben. Angenommen,
dass das Gewicht dieses Wassers dem des destillierten glich, so hat
dieses Tier dadurch um 6 g weniger Wasser in seine Lungen auf¬
genommen. Umgekehrt angenommen, wäre dies vierte Kaninchen
gleich dem ersten nach einer Exspiration ertränkt, so hätte es um
6 g mehr Wasser pro 1 kg, d. i. statt nur 3,6 g wirklich 9,6 g Wasser,
also kaum um 4 g weniger Wasser vom ersten Tier trotz Ausschal¬
tung seiner terminalen Aterabewegungen in die Lungen aufgenommen.
Auf Grund obiger kritischer und experimenteller Beweise steht
es nun fest, dass beim Ertrinken die Ertränkungsflüssigkeit vorwiegend
im Stadium der Dyspnoe in die Lungen gelangt.
II.
In einer seiner letzten Abhandlungen behauptet Revenstorf (7),
dass das Blut der linken Herzhälfte auch postmortal im Wege einer
natürlichen Leichenerscheinung durch Wasser verdünnt werden kann,
dass somit die Feststellung von Blutverdünnung im linken Herz noch
nicht gestattet, ein Eindringen von Flüssigkeit in die Lungen noch
während des Lebens, also überhaupt Tod durch Ertrinken anzunehmen.
Diese Behauptung begründet er mit 8 an Menschenleichen auf diese
Weise ausgeführten Versuchen, dass er den Leichen durch eine
Trachealkanüle Leitungswasser in die Lungen eingegossen hatte. Bei
drei Leichen fand er sodann das linke Herzblut verdünnt (A = — 0,40,
— 0,39, — 0,45). Diese nun erwiesene postmortale Blutverdünnung
beschränkt sich selbstverständlich nur auf das Blut der linken Herz-
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111
hälfte, während bei Ertrunkenen auch das venöse Blut (der rechten
Herzhälfte) eine Verdünnung erfährt, die aber Revenstorf leider nur
selten trotz notorischen Ertrinkungstodes an Leichen feststellen konnte.
Diese Unzulänglichkeit der Kryoskopie für Zwecke der Diagnostik des
Ertrinkungstodes bewogen Revenstorf nach anderen diagnostischen
Merkmalen zu forschen.
Den Rat Reinsbergs befolgend, untersuchte er zahlreiche Lungen
von Ertrunkenen auf ihren Planktongehalt (8), sowie auf die Verteilung
desselben in dem Lungengewebe. Laut theoretischer Erwägung gelangt
er zum Schluss, dass die gleichmässige Verteilung der Plankton¬
bestandteile (besonders der Diatomeen) über das gesamte Lungengewebe
das sicherste Zeichen des vitalen Eindringens von Wasser in die
Lungen also auch des Todes durch Ertrinken bildet, denn es verteilt
sich das vom Ertrinkenden eingeatmete, planktonhaltige Wasser, dem
Inspirationsluftstrom folgend, in der ganzen Lunge. Postmortal ein¬
dringendes Wasser verteilt sich in den Lungen nach Revenstorfs
Meinung nach dem Gesetz der Schwere, wodurch das Wasser resp.
seine Planktonbestandteile nur in gewissen Lungenpartien anzutreffen
sein werden.
Endlich empfahl noch Revenstorf (9) in dieser Richtung die Er¬
scheinung der Hämolyse ins Auge zu fassen. Wie bekannt, gelangt
die Ertränkungsflüssigkeit in den Blutkreislauf d. i. bei Ertrinkenden
erstens in das arterielle jund weiter in das venöse Blut. Ist diese
Flüssigkeit anisotonisch, so erzeugt sie eine Konzentrationsdifferenz
zwischen dem Blutplasma und dem Blutkörpercheninhalt, wodurch
die Blutkörperchen aufgelöst werden. Diese von Revenstorf als
Ertränkungshämolyse bezeichnete Lösung der Blutkörperchen ist, wie
leicht verständlich, stets intensiver im Blut des linken als im Blut
des rechten Herzens wahrnehmbar. Während der Fäulnis entsteht
ebenfalls in jeder Leiche Hämolyse, welche eins „der frühesten, makro¬
skopisch sichtbaren Zeichen der eingetretenen Fäulnis“ darstellt. Der
Verlauf der Leichenhämolyse ist aber ein anderer, wie der der Er¬
tränkungshämolyse. Die Fäulnishämolyse pflegt am intensivsten im
Pfortaderblut, weniger intensiv im venösen Blut (des rechten Herzens),
am wenigsten stark im arteriellen Blut (linkes Herz) zu sein. Dieser
Unterschied zwischen der Ertränkungs- und Fäulnishämolyse erlaubt
nun die gegebenen Falles erwiesene Ertränkungshämolyse als Beweis
des durch Ertrinken erfolgten Todes zu betrachten, dabei ist sie „ein
qualitatives Kennzeichen des Ertrinkungstodes, das die übrigen physi-
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Dr. L. Wachholz,
kalischen Methoden des Nachweises von Ertränkungsflüssigkeit im
Blut an Schärfe übertrifft.“ Wird Hämolyse nur im Blut des linken
Herzens und nicht zugleich, wenn auch weniger intensiv im Blut des
rechten Herzens einer Wasserleiche nachgewiesen, so ist der Schluss
gestattet, dass die Flüssigkeit erst postmortal in das Blut (des linken
Herzens) gelangt ist, somit dass die Leiche als solche ins Wasser
geriet.
Da alle Forscher bisher, wir nicht ausgenommen, bei Tierleichen,
die als solche ins Wasser gelegt wurden, im linken Herzblut mittels
Kryoskopie keine Blutverdünnung feststellen konnten, so war der
Erfolg der an erster Stelle erwähnten Versuche Revenstorfs wirklich
unerwartet und er bewog mich deshalb die Angelegenheit näher zu
studieren.
Zu diesem Zweck wurde einigen Menschen!eichen (die Leiche
eines Erhängten und Leichen neugeborener Kinder) und der Leiche
eines mit Cyankalium vergifteten Hundes in aufrechter Stellung durch
die eingeführte Trachealkanüle aus einem gewöhnlichen Irrigator Wasser
eingegossen, nachher ihr linkes Herz eröffnet und das ihm entnommene
Blut kryoskopisch untersucht. In vier dieser Versuche konnte ich
allemal Blutverdünnung nachweisen. In einem Versuch habe ich
schon bei eröffnetem Thorax und linkem Herz wiederholt Wasser ein¬
gegossen, wobei ich feststellen konnte, dass aus den Pulmonalvenen
wiederum Blut und zwar immer mehr verdünntes Blut herausquoll.
Das verdünnte Blut quoll desto reichlicher heraus, unter je grösserem
Druck das Wasser durch die Trachealkanüle in die Lungen einlief.
Dagegen konnte ich, wie seit Carrara alle Forscher, im Blut des
linken Herzens von Leichen, die durch 24 Stunden in mit Methylen¬
blau gefärbtem Wasser untergetaucht lagen, niemals und sei es eine
Spur von Verdünnung feststellen. Dass aber in diesen Versuchen
das Wasser doch bis in die Lungen eingedrungen war, bewies die
Blaufärbung der Lungen, das an ihnen festgestellte Bild des von uns
beschriebenen Pseudooedema aquosum, endlich das Ergebnis der
kryoskopischen Untersuchung des ausgepressten Lungensaftes, dessen
A zwischen —0,09 und —0,13 schwankte. Der Lungensaft einer
Kindesleiche, welcher mit Methylenblau gefärbtes Wasser durch die
Trachealkanüle eingegossen wurde, ergab A = —0,08, während das
eingegossene Wasser A = —0,05 hatte.
Diese Versuche beweisen, dass auch das postmortal in die Lungen
eindringende Wasser das Blut im linken Herz zu verdünnen vermag,
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Experimentelle Beiträge zur Lehre vom Ertrinkungstod.
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aber nur dann, wenn cs direkt durch die eröffnete Trachea und unter
Druck einläuft: anderenfalls, wenn die Leiche in natürlicher Weise
unter Wasser gerät, trifft dies nicht zu. Da nun in der Praxis nur
Fälle der zweiten x\rt Vorkommen können (d. h. Fälle, in denen
Leichen ins Wasser geworfen werden), so muss die bei Wasserleichen
festgestellte Verdünnung des Blutes im linken Herz nur als bei Leb¬
zeiten entstanden, somit als Beweis des Ertrinkungstodes gelten. Die
Verdünnung des Blutes im linken Herz von Wasserleichen lässt sich
aber, wie schon früher Revenstorf mit Recht hervorhob, nur selten,
zumal in der wärmeren Jahreszeit nachweisen und dieser Umstand
bildet die alleinige, leider ebensowohl praktisch wichtige Schattenseite
dieser Feststellungsmethode des Ertrinkungstodes.
Der kryoskopischen Untersuchung des Lungensaftes kann ich
Revenstorf gegenüber keinen diagnostischen Wert beimessen, denn
da die Flüssigkeit sowohl intra vitam wie postmortal in die Lungen
eindringt, so muss der ausgepresste Lungensaft in beiden Fällen die
nämlichen Resultate bei ausgeführter Untersuchung auf seine osmotischen
Druckverhältnisse, seine elektrische Leitfähigkeit und Hämolyse liefern.
Uebrigens hatten wir mit Horoszkiewicz schon auf die Belang¬
losigkeit dieser Untersuchungen der Lungenflüssigkeit hingewiesen.
Was die von Revenstorf warm empfohlene Planktonmethode
anbelangt, so hegen wir gegen dieselbe gewichtige Bedenken. Die
Behauptung Revenstorfs, dass bei Ertrinken das mit Plankton ver¬
unreinigte Wasser, dem Inspirationsluftstrom folgend, sich über die
gesamte Lunge verteilt, wäre nur insofern richtig, wenn die Lunge
kurz zuvor luftleer sich erwiese. Aus den sehr zutreffenden theoretischen
Erwägungen Margulies (10) geht hervor, dass die Lungen notorisch
Ertrunkener in einzelnen Abschnitten trocken und mehr emphysematisch
mit Luft gebläht erscheinen müssen. Die Ertränkungsversuche in
gefärbter Flüssigkeit, welche A. Paltauf und ich mit Horoszkiewicz
unternahmen,-erwiesen genügend, dass die Ertränkungsflüssigkeit sich
nur mehr über gewisse Lungenabschnitte, nicht aber über das ganze
Lungengewebe verteilt. Eher kann sich diese Flüssigkeit, wenn sie
postmortal in die Lungen eindringt, über grössere Lungenpartien ver¬
teilen und zwar deswegen, weil postmortal die Lungen weniger Luft
enthalten, -welche der eindringenden Flüssigkeit Widerstand leistet.
Dies ist auch aus dem durch postmortales Eindringen von Wasser
entstehenden Bild des Pseudooedcma aquosum gegenüber dem durch
Vierteljahrssehrift f. ger. Med. u. öff. San.-Wcsen. 3. Folge. XXXII. 1. g
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Dr. I.. Wachholz,
intravitales Eindringen von Wasser erzeugten Emphyscma aquosum
(Brouardcl) leicht verständlich und erklärlich.
Die Erscheinung der Hämolyse im Blut des linken Herzens ist
mir und Horoszkicwicz (11) bei unseren Untersuchungen nicht ent¬
gangen, nur haben wir ihr, wie dies mit Recht Revenstorf bemerkt,
nicht die hohe diagnostische Bedeutung zugeschrieben, wie das
Revenstorf tut. In den vier Versuchen, über die ich hier neu
berichtet habe, konnte ich die Ertränkungshämolysc fcststellcn. Trotz¬
dem scheint die von Revenstorf angegebene hämolytische Methode
nicht allzu sehr die kryoskopische zu übertrelTen. In den 21 Ertrin-
kungsfällcn, die Revenstorf untersuchte, hatte er in 3 Fällen kryo¬
skopisch Blutverdünnung, und in 7 Fällen Ertränkungshämolysc nach¬
gewiesen; in 6 Fällen hat er die Hämolyse gänzlich vermisst, in den
8 übrigen Fällen liess sie sich nur als Fäulnishämolyse auffassen.
Aus diesem Grunde wird auch die Untersuchung auf Ertränkungs-
hämolyse, ähnlich der auf Blutverdünnung, zumal wegen der bei
Wasserleichen rasch fortschreitenden Fäulnis, nur in mehr vereinzelten
Fällen es gestatten, die Diagnose des Ertrinkungstodes sicherzustellen.
Uebrigens können die physikalischen Untersuchungsmethoden nicht
so leicht Gemeingut der praktischen Gerichtsärzte worden, weswegen
es weiterhin geboten erscheint, nach anatomischen Kennzeichen des
Ertrinkungstodes zu suchen. In dieser Richtung ist von grösster
Bedeutung der Lungenbefund, insofern das Bild des Brouardclschen
„Emphysema aquosum“ für Ertrinkungstod, das Bild des von mir
und Horoszkicwicz „Pseudooedema aquosum“ benannten Lungen¬
befundes für postmortales Ilineingcraten ins Wasser spricht. Der Wert
und die Bedeutung des von Fagerlund seiner Zeit angegebenen
Befundes (die Anwesenheit der Ertränkungsllüssigkeit im Dünndarm
einer noch frischen Wasserleiche beweist nach Fagerlund, dass
Ertrinkungstod vorliegt) sollte sowohl experimentell, wie auch in der
Praxis noch nachgeprüft werden.
Literatur.
1 ) Experimentelle Studien zur Lehre vom Ertrinkungstod. Vicrteljahrsc-hr. f.
gerichtl. Med. Bd. 28. 1904. Genaues Literaturverzeichnis.
2) Ertrinkungsgefahr und Kettungswesen an der See. Beil. klin. Wochenschr.
1905. No. 25.
3) Zur Lehre vom Ertrinkungstode. Deutsches Archiv f. klin. Med. Bd. 86. 1905.
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Experimentelle Beiträge zur Lehre vom Ertrinkungstod.
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4) Ueber den Tod durch Ertrinken. S. 111—123. Wien-Leipzig 1888.
5) lieber den Tod durch Ertrinken. Inaug.-Dissert. S. 21—23. Berlin.
(5) Lehrb. d. gerichtl. Med. Wien-Berlin 1903.
7) Der gerichts-ärztliche Nachweis des Todes durch Ertrinken. Aerztl. Sach-
verständigen-Zeitung. 1905. No. 5
8 ) Der Nachweis der aspirierten Ertränkungsllüssigkeit als Kriterium des
Todes durch Ertrinken. Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. ßd. 27. 1904.
9) Weiterer Beitrag zur gerichts-ärztlichen Diagnostik des Ertrinkungstodes.
Münch, med. Wochenschr. No. 11/12. 1905.
10) Die Caspersche Hyperaerie. Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. Bd. 26. 1903.
11) (wie sub 1.) S. 270.
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8 .
Kürzere Mitteilungen, Besprechungen,
Referate, Notizen.
Eine Chloroformvergiftung vom Magen aus.
Von
Dr. med. Wollenweber, Stadtassistenzarzt in Düsseldorf.
Die „grosse Seltenheit,, 1 ) der Vergiftungen mit Chloroform, bei denen das
Gift vom Magen aus in den Blutkreislauf gelangt ist, veranlasst mich zur Ver¬
öffentlichung eines in meiner früheren Landpraxis beobachteten Falles. Ich
schildere ihn mit allen Einzelheiten, da das Zustandekommen der Vergiftung durch
Verwechselung neben dem klinischen Bilde Interesse haben dürfte.
Es handelte sich um einen kräftigen Knaben von 3 1 /, Jahren. Seiner Mutter
hatte ich zu Einreibungen das offizinelle Chloroformöl (Chloroform, Ol. Olivar.
ana.) verordnet. Da der Knabe wegen Husten und Fieber nachts nicht geschlafen
hatte, so wollte ihm die Grossmutter — eine rüstige Frau von 50 Jahren mit gutem
Sehvermögen, aber von etwas hastigem, aufgeregtem Wesen, die übrigens ihr
einziges Enkelkind abgöttisch liebt — morgens um 1 / 2 8 Uhr einen Löffel voll
Fenchelhonig geben. Es war noch dämmerig, und man hatte gerade das Licht
ausgelöscht. Die Grossmutter (verwechselte die nebeneinander stehenden
Flaschen des Fenchelhonigs und des Chloroformöls und gab dem Knaben einen
Esslöffel voll Chloroformöl. Das Kind schluckte das Oel glatt herunter, stiess dann
einen Ekellaut aus und sagte: „Brüstchen tut weh“ - Die Grossmutter merkte
darauf sofort die Verwechslung und lief eilends zu dem 5 Minuten entfernt
wohnenden Arzt. Der Knabe, der vor dem Einnehmen vollständig wach geweson
war, schlief bald ein, nachdem er noch einmal gesagt hatte: „Brüstchen tut weh“.
Als die Grossmutter zurückkehrte, etwa 10 Minuten nach dem Einnehmen, lag das
Kind in tiefem Schlafe, aus dem sie es nicht zu wecken vermochte. Ich traf den
Knaben 1 / i Stunde später — also etwa l / 2 Stunde nach dem Einnehmen — in
tiefem Schlafe. Er reagierte nicht auf Anrufen, Schütteln und starke Schmerzreize.
1) A. J. Kunkel, Handb. d. Toxikologie. I. 437. 1899. — Für weitere
Kasuistik wird hier noch auf das bekannte Werk von Taylor und auf Hofmanns
Lehrb. d. gerichtl. Med. verwiesen.
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Die Atmung war ruhig und leicht schnarchend, der Puls regelmässig, etwa 100,
die Pupillen mittelweit bis eng, reagierten auf Lichteinfall.
Um Erbrechen herbeizuführen, wurde zunächst ein Versuch mit dem in den
Schlund eingeführten Finger gemacht. Es stellte sich aber weder Erbrechen, noch
irgend eine andere Reaktion ein. Sofort wurde darauf die mitgebrachte Magen¬
pumpe angewandt. Als die Sonde in die Tiefe drang, trat Kieferklemme ein. Der
Mund musste gewaltsam mit Löffel- und Gabelstiel geöffnet werden, und so gelang
die Einführung der Sonde, doch liess die Grossmutter Gabelstiel und Sonde wieder
aus dem Munde gleiten, während ich Wasser holte. Nach der erneuten Einführung
der Sonde trat Erbrechen ein. Der zum Teil neben der Sonde emporgetriebene
Mageninhalt führte Aspirations- und Erstiokungsgefahr herbei, sodass die Sonde
wieder entfernt und Schlund und Mund gereinigt werden mussten. Erst nach der
dritten Einführung der Magensonde konnte eine reichliche Magenauspülung statt¬
linden. Dabei wurde eine trübe ölige Flüssigkeit, die schwach nach Chloroform
roch, entleert. Nach beendigter Magenausspülung schlief der Knabe zunächst
ruhig weiter, reagierte auf Hautreize nach 10 Minuten durch Augenaufschlag und
war nach 1 / 2 Stunde wieder soweit wach, dass er auf Fragen antwortete.
Am Nachmittage erbrach der Knabe nochmals und hatte an den beiden
folgenden Tagen Durchfall. Am Tage nach der Vergiftung bekam er eine Er¬
krankung der Atmungsorgane mit 39,3—39,7 T., die ich als lobuläre Pneumonie
auffassen musste. Nach 6 Tagen trat Genesung ein.
Das das Chloroformöl enthaltende Glas war sechseckig und trug ausser der
gewöhnlichen Signatur den vorschriftsmässigen Vermerk: „Aeusserlich“ und „Vor¬
sicht“! Der zum Einnehmen benutzte Löffel enthielt der versehentlich gegebenen
Füllung angeblich entsprechend gefüllt 14 g Chloroformöl, da das Oel mit 50pCt.
Chloroform gemischt war, also 7 g Chloroform. Der grösste Teil dieser Chloroform¬
menge war zweifellos in den Blutkreislauf des Kindes übergegangen und hatte
eine etwa einstündige Narkose hervorgerufen.
Das Chloroform hat eine Maximaldosis von 0,5prodosi, 1,0 pro die, die
jedoch wohl nur in Rücksicht auf seine toxische Wirkung auf die Magendarm¬
schleimhaut — Erzeugung von Gastroenteritis --- gegeben ist. Als innerliches
Arzneimittel ist Chloroform oft genug angewandt worden und besonders von Stepp
empfohlen worden („Ueber innerliche Anwendung des Chloroforms“. Münch, med.
Wochenschr. 1889. No. 8.). Auch Salkowski verordnete Chloroform als Aqua
chloroformiata 5,0: 1000 esslöffelweise gegen Typhus, Koliken u. s. w. Gegen
Tänien bei Erwachsenen wurde es angewandt in der Zusammensetzung: Chloro¬
form 4,0, 01. Croton. gt. I, Glycerin 30,0 auf einmal zu nehmen. Alle diese Gaben
sind gegen die hier bei einem Kinde versehentlich gegebene gering. Wie hoch
bei interner Anwendung die Dosis letalis für Erwachsene und Kinder ist, bin ich
nicht in der Lage anzngeben. Jedenfalls musste ich im vorliegenden Fall mit der
Möglichkeit rechnen, dass die 7g Chloroform für das 3y 2 jährige Kind tödlich sein
konnten.
Nach dem ganzeu Verlauf der Vergiftung erscheint es mir allerdings nicht
wahrscheinlich, dass sie den Tod bewirkt haben würden. So schnell auoh die
schlaf bringende Chloroformwirkung eingesetzt hatte, so hatte sie doch selbst nach
»/a Stunde nicht den gefahrdrohenden Zustand — weite reaktionslose Pupillen,
kleiner Puls etc. — berbeigeführt, wie wir ihn bei allzutiefer Narkose vor der
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Asyphyxie sehen. Offenbar wurde das Chloroform in dem Masse, wie es auf¬
genommen wurde, auch wieder aus dem Körper beseitigt, sodass mit der mittel¬
tiefen Narkose eine Art Gleichgewichtszustand hergestellt war. Die am Nach¬
mittage und an den folgenden Tagen vorhandene Gastroenteritis möchte ich als
eine reine Nachwirkung der Aufnahme des Chloroformöls ansehen. Ob die am
Tage nach der Vergiftung einsetzende lobuläre Pneumonie eine Schluckpneumonie,,
oder eine Folge des bereits vorher vorhandenen fieberhaften Bronchialkatarrhs
war, dürfte sich schwer entscheiden lassen; zweifellos aber kommt die un¬
beabsichtigte Narkose mit als ätiologisches Moment in Betracht.
Der Fall scheint mir neben dem Interesse, das er anderweitig beanspruchen
dürfte, zu beweisen, dass der Arzt wohltut, unter Umständen aus Vorsicht bei der
Verordnung derartiger differenter Mittel wie Ol. Chloroformii, Ol. Hyoscyami, Ol.
Sinapis etc. die Giftsignatur auf dem Arzneiglase anbringen zu lassen. Das
Giftzeichen macht auch auf das ungebildete Volk einen genügend starken Eindruck,
um Verwechselungen wie die vorliegenden fast unmöglich werden zu lassen,
während die Merkmale, die versehentliche innere Anwendung verhüten sollen, wie
sechseckiges Glas und Signatur „Aeusserlich“ und „Vorsicht!“ leicht übersehen
werden. Im Falle, dass die Vergiftung unglücklich verlaufen und das Kind ge¬
storben wäre, würde der Strafrichter sich zwar wohl nur mit der Fahrlässigkeit der
Grossmutter beschäftigt haben, vom Standpunkt eines strengen ärztlichen Ver¬
antwortlichkeitsgefühls und auch vom Standpunkt des Laienpublikums aus würde
aber zweifellos auch die Frage aufgeworfen worden sein: Warum haben Arzt und
Apotheker das gefährliche Arzneimittel nicht besser als solches gekennzeichnet?
Zu der von mir im Juliheft 1905 dieser Zeitschrift veröffentlichten Zusammen¬
stellung zufälliger Verletzungen der weiblichen äusseren Genitalien sendet mir
Kollege Klunzinger aus Steyr, Ober-Oesterreich, als Beitrag folgenden von ihm
beobachteten Fall, den ich mit seiner Zustimmung hier bekannt gebe: Ein zwei¬
jähriges Tischlerskind wurde von seiner Mutter im Kinderwagen einige Minuten
allein gelassen. Bei ihrer Rückkehr fand sie es schreiend auf dem Boden liegend
und aus den Genitalien blutend. Befund: Starke Blutung. Der Introitus vaginae
samt Urethra und unverletztem gelappten Hymen ringförmig total vom Vorhof ab¬
gerissen, sodass eine 5—6 mm klaffende Wunde entstand. S zirkuläre Nähte, die
aber bis auf eine durchschnitten. Gute Heilung durch Granulation in 4 Wochen.
Ausser dem Kind hatte sich der dreijährige Bruder desselben in dem Zimmer be¬
funden. Wahrscheinlich war die Verletzung an dem vorstehenden Scharnier des
zurückgeschlagenen Wagendaches oder durch Aufschlagen auf ein Rad entstanden.
0. Leers-Berlin.
Prof. Dr. Otto Busse, Das Obduktionsprotokoll. Dritte, vermehrte und
veränderte Auflage. Berlin 1906. Verlag von Richard Schötz. Preis 4 M.
Die vorliegende dritte Auflage ist den am 4. Januar 1905 erlassenen „Vor¬
schriften für das Verfahren der Gerichtsärzte bei den gerichtlichen Untersuchungen
menschlicher Leichen“ entsprechend umgestaltet. In Anlehnung an diese Vor¬
schriften wird der Gang und die Technik der Obduktion geschildert und werden
— ebenso wie in den früheren Auflagen — bei jedem einzelnen Organ in Gestalt
von Fragen alle die Punkte hervorgehoben, welche der Obduzent beim Diktieren
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Kürzere Mitteilungen, Besprechungen, Referate, Notizen.
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des Protokolls zu beachten hat. Diese Fragen sind, soweit es möglich war, so ab¬
gefasst, dass ihre Bejahung schon die charakteristischen Merkmale für die normale
Beschaffenheit des Organs einschliesst. Im Anschluss daran wird gleichzeitig
kurz der Befund bei den wichtigsten pathologisch-anatomischen Veränderungen
des betreffenden Organs beschrieben. Die in den vorhergehenden beiden Auflagen
vorhanden gewesenen Fremdwörter sind, dem Bedürfnisse der beamteten Aerzte
entsprechend, in den für die Protokollierung bestimmten Fragen ausgemerzt
worden. Neu aufgenommen sind die Abschnitte über Untersuchung der Nasenhöhle
und des Auges. Dem früheren Musterprotokolle des Phthisikers ist das Protokoll
eines ertrunkenen Knaben und das eines neugeboronen Mädchens hinzugofügt. Bei
dem letzteren vermisst man die bei gerichtlichen Sektionen notwendige Beschreibung
der Trennungsfläche des Nabelschnurrestes sowie eine Angabe darüber, ob letzterer
unterbunden war oder nicht. Eine entsprechende Bemerkung mit der Anweisung,
dass ein vertrockneter Nabelschnurrest eventuell zum deutlichen Erkennen der
Trennungsfläche in Wasser anfzuweichen ist, wäre wohl auch in dem Kapitel:
„Obduktion der Neugeborenen“ erforderlich gewesen. Ebenso vermisst Referent
in diesem Kapitel, resp. in dem über die Untersuchung des Auges, eine Schilderung
der Präparation der Regenbogenhaut zur Untersuchung auf das Vorhandensein der
Pupillarmembran.
Zum Schluss sind die oben erwähnten neuen Vorschriften für die Leichen¬
untersuchungen der Gerichtsärzte abgedruckt.
Als Anlage ist in Oktavformat ein kleines Buch beigegeben, das Schemata
für Obduktionsprotokolle in Form von Stichwörtern enthält und allen denen, die
seltener Gelegenheit haben, Sektionen auszuführen, zur Unterstützung des Ge¬
dächtnisses beim Diktieren des Protokolls ein willkommener Ratgeber sein wird.
Das Studium des klar und übersichtlich geschriebenen Buches sei allen
Studierenden und Aerzten, besonders aber den Medizinalbeamten zum Repetieren
angelegentlichst empfohlen. Die Kandidaten zum Kreisarzt-Examen, unter denen
das Buch sich schon in seinen früheren Auflagen einer allgemeinen Verbreitung er¬
freute, werden durch das Studium desselben sich leicht im Abfassen des Sektions¬
protokolls einüben und gleichzeitig ihre Kenntnisse von dem normalen und patho¬
logischen Verhalten der einzelnen Organe wieder auffrischen. Pflanz-Berlin.
Georges Bogdan, Strangulation, suicide ä l’aide d’une courroie.
Revue de mödecine legale. Dezember 1905.
Prof. Bogdan-Jassy berichtet über einen neuen Fall von Selbsterdrosselung
mittels eines Hosenriemens. Täter war ein 32jähriger Kutscher, der wegen
häuslichen Kummers schon mehrfach Lebensüberdruss geäussert hatte. Er wurde
tot in seinem Stall gefunden. Ein hinterlassener Brief bekundete aufs neue die
Absicht des Selbstmordes. Er hatte den Riemen zunächst einmal von vorn nach
hinten um den Hals gelegt, dann ihn beiderseits nach vorn und an der Brust
herabgezogen, wobei er jedes Ende mehrfach um die betreffende Hand geschlungen
hatte. Nach Entfernung des Strangwerkzeuges fand man eine zirkuläre Strang¬
marke am Halse in der Höhe des Kehlkopfes, blass,.etwa einen Finger tief. Von
ihr ging auf der rechten Seite eine schwächere Marke nach unten hin ab. Innere
Verletzungen fanden sich nicht. Etwas Randemphysem der Lungen und zahlreiche
subpleurale Ekchymosen waren der einzige Befund. Str.
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G. Corin, Sur les procedös les plus pratiques dans l’examen des
taches de sang. Ann. d. la soc. d. med. legale de Belgique. XVII. No. 1.
Unter den zahlreichen Verfahren zum Blutnachweis sind es nach Corins
reicher Erfahrung einige wenige, die wegen ihrer Sicherheit und Zweckmässigkeit
den Vorzug vor allen anderen verdienen und von ihm nur noch angewendet werden.
Als Vorprobe kommt für ihn nur die Wasserstoffsuperoxydprobe in Betracht, deren
Vorzüge sind, dass sie unabhängig von der Farbe des Substrats ist, den Blutfleck
für jede andere Untersuchung unversehrt erhält und rasch und einfach auszuführen
ist. Der Einwand, dass das H 2 0 2 rote Körperchen zerstören könnte, ist ohne
Belang, weil Flecke, in denen noch wohlerhaltene Erythrozyten sind, keiner Vor¬
prüfung bedürfen. Für alle weiteren chemischen Untersuchungen ist das Pyridin
das überlegene Reagens. Es löst sehr leicht die Blutspuren, für die Bildung des
Hämochromogenspektrums genügt es, die Lösung gegen die Luft abzuschliessen,
da sich dann die Reduktion von selbst vollzieht; sollte ausnahmsweise das Spektrum
nicht entstehen, so kann man das Pyridin durch Erhitzen verjagen, und selbst bei
äusserst spärlichem Material durch vorsichtige Behandlung des Hämatinrück¬
standes mit Eisessig Häminkristalle darstellen. Durch seine Flüchtigkeit zeichnet
sich das Pyridin eben vor allen Lösungsmitteln aus, die feste Teile beim Ver¬
dampfen hintcrlassen. Die Umwandlung des Hämochromogenspektrums in das
des sauren Hämatoporphyrins gelingt auch aus Pyridinlösung leicht mit kon¬
zentrierter Schwefelsäure. In den Fällen, wo sich der Farbstoff des Substrats
sowohl im Pyridin wie in der Schwefelsäure löst, sodass keines der beiden Spektra
zu erhalten ist, und auch die Häminkristalle sich nicht bilden, führt Corin das
saure Hämatoporphyrin in das alkalische über, nach einem von ihm modifizierten
Dominicisehen Verfahren: Neutralisierung der sauren Lösung mit Ammoniak,
Aufnahme des vorher gewaschenen Niederschlages ohne Trocknung mit warmem
Pyridin; in wenigen Minuten, bisweilen noch früher, ist die Lösung konzentriert
genug, um ein charakteristisches Spektrum zu liefern.
Zur Darstellung von Blutkörperchen in alten Blutflecken bevorzugt Verf. die
Virchowsche Natronlauge, er warnt aber aus noch so blutkörperchenähnlichen
Gebilden, die hier entstehen, allein die Diagnose auf Blut zu stellen. Für die
Erkennung der Blutart haben allein Wert die biologische Reaktion (Präzipitation)
und die Marx-Ehrnroothscho Agglutinationsprobe, der Corin eine grosse Zu¬
kunft weissagt. P. Fraen ekel-Berlin.
A. Lecha-Marzo (Valladolid), Un nuevo procedimiento para el dia-
gnöstiko mödio-legal de las manchas de sangre. Revista de medicina
y cirurgia präcticas. Marzo 1906.
Das vom Verf. hier neu empfohlene Verfahren soll bessere und beständigere
Hämochromogenkristalle geben als die Methoden von Donogany, de Dominicis
und Cevidalli. Zu der Blutspur, die beliebig klein und beliebig alt sein darf,
gibt er auf dem Objektträger etwas alkoholische Jodlösung, dann Pyridin und
schliesslich Ammoniumsulfid; darauf bedeckt er lose mit dem Deckglas und die
Kristallbildung beginnt sofort, im Verzögerungsfalle wird sie durch gelindes Er¬
wärmen beschleunigt. So erhält man nebeneinander Kristalle von Hämochromogen
und von Jodhämatin. Die Reaktion gelingt an allen Blutarten in ganz ähnlicher
Weise. Die nadelförmigen, teils isoliert, teils in Rosetten liegenden Kristalle sind
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Kürzere Mitteilungen, Besprechungen, Referate, Notizen.
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mehr oder weniger stark rot und geben das Hämochromogenspektrum. Die an-
gewendete Jodlösung (4—lOpCt.) soll 2pCt. Jodkali enthalten.
P. Fraenckel-Berlin.
Kern, Ueber die Grenzen des gerichtsärztlichen Urteils in Fragen
der Zurechnungsfähigkeit. Sonderabdruck aus der v. Leutbold-Gedenk-
schrift. 11. Band. Hirschwald. Berlin 1906.
Kern legt seinen Erörterungen die gegenwärtige Fassung des § 51 St.-G.-B.
zu Grunde. Bekanntlich hat besonders M en dol immer wieder betont, dass der
Arzt sich lediglich auf die Feststellung der Bewusstlosigkeit oder der krankhaften
Störung der Geistestätigkeit beschränken solle, und dass der Relativsatz „durch
welchen seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war“ nicht Gegenstand
ärztlicher Erwägung sein könne, insofern als die freie Willensbestimmung kein
medizinischer Begriff sei. Kern ist im Gegensatz hierzu der Ansicht, dass das
Urteil des sachverständigen Arztes durchaus eine Beziehung gerade auf diesen
Relativsatz, auf die freie Willensbestimmung, enthalten muss. Der Arzt darf sich
durchaus des Begriffes der freien Willensbestimmung bedienen. Dabei kommt eben
nur alles darauf an, was unter der freien Willensbestimmung zu verstehen sei.
Um Kern bei den entsprechenden Ausführungen ganz folgen zu können, muss
man sich des Inhaltes seiner Schrift: „Das Wesen des menschlichen Seelen- und
Geisteslebens“ erinnern, die ich im Supplementheft 1906 dieser Vierteljahrsschrift
besprochen habe. Darnach ist der Wille nichts anderes als ein „psychisch ge¬
fasster Ausdruck für die ihm völlig gleichnamige äussere Handlung“. Die
Freiheit dos Willens wird zu einer Freiheit der Entschliessung. Der Sinn der
freien Willensbestimmung kann nur dahin definiert werden, „dass er eine Willens¬
tätigkeit oder besser eine Handlungsweise umfasst, welche frei ist von krankhaften
Störungen des dem geistig vollwertigen Menschen zukommenden, von ihm zu
fordernden Verstellungsverlaufs und Urteilsvermögens“. Durch diese von Kern
in Konsequenz eines intellektuellen Indeterminismus vollzogene Deutung des
Relativsatzes des § 51 wird dem ärztlichen Sachverständigen in der Tat ein sicherer
Boden geschaffen, auf dem er mit seinem Urteil über die freie Willensbestimmung
feststeht, ohne irgendwie die Grenzen seiner Kompetenz überschritten zu haben.
Auch Verantwortlichkeit und Zurechnungsfähigkeit sind in eben diesem Sinne Be¬
griffe, deren der Arzt sich ohne Furcht vor vermeintlichen Zuständigkeitsüber¬
schreitungen bedienen darf.
Zu verurteilen ist die so oft beliebte Fassung des Gutachtens „Geisteskrank
im Sinne des § 51“; diese Fassung bedeutet in Wirklichkeit eine Znständigkeits-
überschreitung seitens des Arztes, denn der §51 beginnt mit dem Satze: „Eine
strafbare Handlung ist nicht vorhanden“, und dieser Satz steht lediglich zur Be¬
urteilung des Richters. „Der Arzt soll vielmehr an der Hand des Inhalts jenes
Paragraphen den Geisteszustand nur erläutern, die Art der etwaigen Geistesstörung
zu jenem Inhalt in erläuternde Beziehung setzen, und ihren Grad an jenem Inhalt
abmessen, diesos Abmessen aber gewissermassen vor den Augen des Richters vor¬
nehmen, anstatt diesem nur das subjektive und deshalb anfechtbare Ergebnis der
Abmessung aufzudrängen. Macht der Arzt dabei von Worten wie: freie Willens¬
bestimmung, Verantwortlichkeit oder Zurechnungsfähigkeit Gebrauch, so ist das
gewiss kein Unglück und noch weniger ein sog. Kunstfehler; denn der Richter
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Kürzero Mitteilungen, Besprechungen, Referate, Notizen.
nimmt ja dann mit eigenem Urteil an der Abmessung teil und prüft entscheidend
ihre Richtigkeit.“ Marx-Berlin.
Notizen.
Die Breslauer dermatologische Vereinigung bittet uns um Ver¬
öffentlichung des nachfolgenden Aufrufes:
Ersuchen an die deutschen Aerzte.
Die Breslauer dermatologische Vereinigung hat beschlossen, Schritte zu tun,
um von den Unfallversicherungsgesellschaften bei
Syphilisinfektion im Berufe
für die Aerzte günstigere Entschädigungsbedingungen zu erlangen als bisher.
Die zur Zeit gültigen Versicherungsbedingungen entsprechen gerade in der¬
artigen, gar nicht so seltenen Fällen den Interessen der Aerzte nicht. Es sind
einzelnen Mitgliedern der Vereinigung Fälle zur Kenntnis gekommen, in welchen
sehr berechtigt erscheinende Entschädigungsansprüche der Aerzte von den Ver¬
sicherungsgesellschaften zurückgewiesen wurden oder nur unter Schwierigkeiten
geltend gemacht werden konnten.
Bevor die Breslauer dermatologische Vereinigung mit Vorschlägen hervortritt,
in welcher Weise die Versicherungsbedingungen abzuändern wären, richtet sie an
die deutschen Aerzte dringend die Bitte, ihr diejenigen ihnen bekannten Fälle
mitzuteilen, in welchen
1. die Anerkennung von beruflicher Syphilisintektion als Unfall¬
ursache vor Abschluss der Unfallversicherung zurückgewiesen oder nur
unter hohem Prämienzuschlage bewilligt wurde;
2. eine Entschädigung für vorübergehenden Verlust der Arbeitskraft nach
dem 400. Tage seit der Entstehung des Unfalles beanstandet wurde;
3. die Anerkennung von voraussichtlich lebenslänglicher Ver¬
minderung der Arbeitskraft, d. h. von Invalidität auf Grund be¬
ruflicher Syphilisinfektion verweigert wurde resp. erst erstritten werden
mussto.
Die Vereinigung ersucht, die Mitteilung der einschlägigen Fälle — sowohl
der erfolglos als auch der erfolgreich geltend gemachten Ansprüche — durch Zu¬
sendung des Briefwechsels mit den Gesellschaften und etwaiger Schiedsgerichts¬
verhandlungen zu ergänzen.
Nur auf Grund genauer Kenntnisse über das Verhalten der Versicherungs¬
gesellschaften in den einzelnen Fällen und auf Grund eines reichhaltigen Materials
wird es möglich sein, in dieser für die gesamte Aerzteschaft wichtigen An¬
gelegenheit eine Besserung zu erreichen.
Die Vereinigung bittet, Zuschriften an den Unterzeichneten Dr. Chotzen zu
senden, welcher die Bearbeitung dieser Frage übernommen hat. Für strengste
Geheimhaltung der mitgeteilten persönlichen Angaben wird Gewähr geleistet.
Breslauer dermatologische Vereinigung.
Prof. Dr. Albert Neisser, Geh. Med.-Rat, Dr. Martin Chotzen,
derzeitiger Vorsitzender. Breslau XVIII, Landsberger Strasse 1.
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II. Oeffentliches Sanitätswesen.
1 .
PhosphorwasserstoffYergiftung durch elektrolytisch
gewonnenes Ferrosilicium.
Von
Dr. Bahr, und Dr. Lelmkering,
Kttnigl. Kreisarzt des Stadtkreises Duisburg Vorsteher des städtischen chemischen
und des Kreises Kuhrort Laboratoriums in Duisburg.
Der Schiffer Kühnle hatte auf seinem Schiffe Caroline am Donners¬
tag, dem 15. März 1906, im Mannheimer Hafen Ladung eingenommen,
die in Papierballen und 750 Ztr. Ferrosilicium bestand. Um 10 Uhr
abends war die Ladung an Bord, und am Freitag, morgens um 5 x / 2 Uhr,
verliess Kühnle den Hafen, um nach seinem Bestimmungsort Duisburg
zu fahren. Das Wetter war windig und regnerisch, die Kajüte musste
geheizt werden. In der Nacht vom Freitag zum Sonnabend legte der
Schiffer bei Oberlahnstein an, und setzte erst am Sonnabend früh
seine Reise fort. Am Sonnabend Morgen trat bei zwei seiner Kinder,
dem 2y 2 jährigen Adolf und dem 4 x / 2 Jahre alten Heinrich Erbrechen
auf. Im Laufe des Tages wurden die Kinder wieder wohler, und als
das Schiff um 5 Uhr nachmittags in Duisburg ankam, waren sie
wieder ganz munter, so dass man davon Abstand nahm, einen Arzt
zu befragen.
Am Sonnabend früh war der Kanarienvogel, der in seinem Käfig
an der Kajütenwand hing, tot von seiner Stange gefallen.
Am Sonnabend um 10 Uhr abends wurden die beiden Kinder
wieder unruhig, erbrachen und klagten über heftigen Durst.
Am Sonntag wurde der Zustand des jüngeren Adolf bedenklich,
es wurde ein Arzt gerufen, der das Kind benommen fand, und nach
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124
Dr. Bahr und Dr. Lehnkering,
seiner Angabe zunächst an Typhus dachte. Das Kind schlief fort¬
dauernd, und um 7 Uhr trat der Tod ein. Inzwischen hatte auch
der ältere Knabe dieselben Erscheinungen gezeigt, wie sein jüngerer
Bruder, und starb um 11 Uhr, bevor noch der Vater mit dem Arzte
zum Hafen eilen konnte.
Nach der Leichenschau schrieb der behandelnde Arzt in den
Totenschein, dass die Kinder an „Genickstarre“ verstorben seien, und
so kamen die Todesfälle zur Kenntnis des Kreisarztes. Das Schiff
wurde isoliert, und das dritte, gesund gebliebene Kind dem Vincenz-
hospital zur Beobachtung überwiesen.
An Ort und Stelle fand sich Folgendes:
Auf dem Schiffe waren zwei Wohnabteilungen für die Familie
des Schiffers vorhanden. Die Kajüte auf Deck, über dem Laderaum,
gegen diesen nur durch den Kajütsboden abgeschlossen, und sodann
im Hinterschiff das sogenannte „Achteronder“, ein durch wasser- und
luftdichte Schotten abgeteilter Raum. Unter der Kajüte und neben
dem Aehteronder befanden sich im Laderaum ungefähr 750 Zentner
elektrolytisch gewonnenes Ferrosilicium. Die verstorbenen zwei Kinder
hatten sich andauernd in der geheizten Kajüte aufgehalten, das gesund
gebliebene Kind mit einem 15 Jahre alten Mädchen aber im abge¬
schlossenen hinteren Schiffsraum. Der Ofen der Kajüte war in Ord¬
nung, und ohne Klappe.
Von dem Ferrosilicium der Ladung entnahm ich Proben und
übergab sie dem Leiter des städtischen chemischen Laboratoriums,
Herrn Dr. Lehnkering, zur chemischen Untersuchung, nachdem ich
ihm die näheren Angaben über Oertliehkeit und Ladung gemacht
hatte. Der Königlichen Staatsanwaltschaft teilten wir mit, dass Schuld
eines Dritten zwar nicht in Frage komme, dass aber eine Leichen¬
öffnung aus allgemeinem, öffentlichem Interesse dringend anzuraten
sei. Die Obduktion des erst-verstorbenen Kindes wurde angeordnet,
und am 22. März vom Kreisarzt vorgenommen.
Aus dem Leichenbefund sei Folgendes angegeben:
A. Aeussere Besichtigung.
2. Die Farbe der Leiche ist im allgemeinen blass, am Rücken und den ab¬
hängigen Körperabschnitten frischrot, beim Einschneiden daselbst kein freies Blut
im Gewebe.
5. Im blassen Gesicht sind die Augenlider geschlossen; Bindehäute blass,
Hornhäute stark getrübt, Regenbogenhäute bläulich, Sehlöcher rund, beiderseits
gleich weit, 4 mm im Durchmesser.
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Phosphorwasserstoffvergiftung durch elektrolyt. gewonnenes Ferrosilicium. 125
6. Die natürlichen Oeffnungen dos Kopfes frei von fremden Körpern. Ohr¬
muscheln frischrot, beim Einschneiden daselbst kein freies Blut im Gewebe.
7. Der frischrote Hals unverletzt und in den üblichen Grenzen beweglich.
9. Bauch massig gewölbt, teils rosa, teils grünlich gefärbt, unverletzt.
12. Rücken frischrot, an den gedrückten Stellen weiss.
B. Innere Besichtigung.
I. Brust- und Bauchhöhle,
a) Brusthöhle.
15. Die Lungen zurückgesunken, nähern sich mit ihren freien Rändern in
der Nähe des Herzgrundes bis auf 3 x / 2 cm - Beide Brustfellsäcke leer, Brustfell
glatt und gläuzend.
16. Herzbeutel zart, blassrosa; an der Innenseite feucht, glatt und glänzend,
blass. Er enthält 10 ccm einer klaron, rosa gefärbten Flüssigkeit.
17. Das Herz hat feste Beschaffenheit, ist bläulichrot gefärbt, 5:5:2,5 cm
gross, nicht mit Fett bewachsen, seine Kranzgefässe sind strotzend gefüllt. Von
der bläulichroten Grundfarbe der Horzoberfläche heben sich 5 stecknadelkopfgrosse,
dunkelrote Fleckchen ab. Beim Einschneiden daselbst freies Blut im Gewebe
(Ekchymosen). Im rechten Vorhof und der rechten Kammer je 5 ccm dunkles,
flüssiges Blut. In der linken Kammer nur einige Tropfen Blutes von gleicher Be¬
schaffenheit. Vorhofkammermündungen lassen die Kuppe des kleinen Fingers ein-
dringen. Die arteriellen Klappen schliessen wasserdicht. Klappenapparate, Sehnon¬
fäden und Balkenmuskeln unverändert. Innenhaut des Herzens glatt und glänzend.
Die Dicke der rötlichen Herzmuskulatur beträgt links 1 cm, rechts V 2 cm - Aus
den durchschnittenen grossen Gefässen entleeren sich noch 10 ccm dunkles,
flüssiges Blut. Dies Blut und das Blut aus dem Herzen werden in ein Gefäss A
getan.
18. Die linke Lunge hat eine bläulichrote, marmorierte Oberfläche; an drei
Stellen stecknadelkopfgrosse, dunkelrote Fleckchen. Beim Einschneiden daselbst
frisches Blut im Gewebe (Ekchymosen). Die Lunge fühlt sich überall lufthaltig
an. Die aufgeschnittenen Luftröhren äste leer, ihre Schleimhaut rötlich. Auf dem
Durchschnitt ist das Lungengewebe dunkelrot, bei Druck tritt wenig feinblasiger,
weisser Schaum und dunkles Blut auf die Durchschnittsflächen.
19. Die rechte Lunge verhält sich wie die linke, nur sind keine dunkelroten
Fleckchen aufzufinden.
20. Innere Brustdrüse 10 cm lang, 1—5 cm breit und 1 cm dick. An der
Oberfläche blassrot, an drei Stellen stecknadelkopfgrosse, dunkelrote Fleckchen,
beim Einschneiden Spuren freien Blutes daselbst im Gewebe (Ekchymosen). Auf
den grauroten Durchschnitt der Brustdrüse tritt bei Druck weisse milchige Flüssigkeit.
25. Kehldeckel, Eingang des Kehlkopfes und seine Innenseite frisch hell¬
rot, mit zahlreichen feinsten Gefässchen. Im Kehlkopf wenig feinblasiger Schaum.
26. Oberer Teil der Luftröhre enthält gleichfalls wenig weissen Schaum,
seine Schleimhaut blassrötlich.
28. An den grossen Gefässen des Halses, die mit dunklem, flüssigem Blute
mässig gefüllt sind, sowie an den Nerven und tiefen Muskeln des Halses keine
Abweichungen.
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Dr. Bahr und Dr. Lehnkering,
b) Bauchhöhle.
33. Linke Niere, mit zarter, leicht abziehbarer, wenig fettreicher Kapsel, hat
bläulichrote Oberfläche mit zahlreichen stecknadelkopfgrossen dunkelroten Fleckchen.
Beim Einschneiden daselbst Spuren freien Blutes im Gewebe (Ekchymosen). Im
übrigen ist die Oberfläche glatt, gelappt. Durchschnitt bläulichrot, in der Mark¬
substanz dunkler als in der Rinde, blutreich.
34. Rechte Nebenniere und Niere wie links, nur sind auf der rechten Niere
weniger dunkelrote Fleckchen. Beide Nieren werden in ein Gefäss D getan.
42. Die Leber hat gelblichrote, glatte Oberfläche und feste Beschaffenheit.
Sie ist 15:8:4y 2 cm gross. Durchschnitt gelblichrot. Leberläppchen mit dunklem
Zentrum und hellerer Peripherie deutlich erkennbar.
45. Untere Hohlader und Bauchschlagadcr mit dunklem, flüssigem Blute bis
zur halben Rundung gefüllt.
II. Kopfhöhle.
50. Harte Hirnhaut blass, weiss, glatt und glänzend auf Oberfläche und
Innenseite; im Längsblutleiter einige Tropfen hellroten, flüssigen Blutes.
52. Die weiche Hirnhaut ist in der Gegend der Hirnfurchen leicht getrübt
und wässrig durchtränkt. Ihre Gefässe sind bis in die kleinsten Verzweigungen
prall gefüllt.
53. Gehirn weich, symmetrisch gebaut, Windungen rundlich, deutlich aus¬
geprägt. Auf grossen glatten Sohnitten zeigt die Rinde einen schwachroten
Schimmer. Es treten zahlreiche abspülbare Blutpunkte hervor.
59. Harte Hirnhaut am Schädelgrunde perlmutterglänzend, ihre Blutleiter
mit dunklem, flüssigem Blut prall gefüllt.
Das vorläufige Gutachten lautete:
I. Die Obduktion hat eine bestimmte Todesursache nicht ergeben.
II. Die an den inneren Organen Vorgefundenen kleinsten Blutaustretungen,
Ekchymosen, könnten auf Erstickungstod binweisen.
III. Spuren äusserer Gewalt wurden an der Leiche nicht vorgefunden.
IV. Die der Leiche entnommenen Teilo werden vorschriftsmässig bezeichnet,
dem Richter zum Zwecke einer eventuellen chemischen Untersuchung übergeben.
Der Leichenbefund zeigt entschieden Aehnlichkeit mit dem bei
Kohlenoxydgasvergiftung, nur waren Totenflecke, Gewebe und Blut
nicht kirschrot, wie bei dieser; in der ganzen Leiche fand sich nur
flüssiges Blut.
Die Untersuchung der Leichenteile nahm der Leiter des städti¬
schen chemischen Laboratoriums, Herr Dr. Lehnkering, vor, sein Gut¬
achten lautete:
„Die Untersuchung der Leichenteile des obduzierten Kindes hat
chemisch'und spektralanalytisch nichts Positives ergeben, da wahr¬
scheinlich] bereits eine Umwandlung des eingeatmeten Phosphorgases
in Phosphorsäure, welche stets im menschlichen Körper vorkommt,
stattgefunden hatte.
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PhosphorwasserstofTvergiftung durch elektrolyt. gewonnenes Ferrosilicium. 127
Da aber aus der unter den in Betracht kommenden Aufenthalts¬
räumen befindlichen Ladung fortgesetzt Phosphorwasserstoff sich ent¬
wickelte, und dieses höchst giftige Gas von den verstorbenen Kindern
eingeatmet werden musste, so dürfte die Todesursache mit grösster
Sicherheit auf diesen Umstand zurückzuführen sein.“
Ferrosilicium ist an sich ein Material, von dem nicht zu ver¬
muten ist, dass es giftige Gase entwickelt.
Die eingehende Untersuchung dieses elektrolytisch hcrgestellten
Ferrosiliciums hat aber ergeben, dass cs geringe Mengen Phosphor¬
calcium enthielt, welches schon durch Einfluss feuchter Luft den
äusserst giftigen, gasförmigen Phosphorwasserstoff entwickeln kann,
welcher nach der einschlägigen Literatur schon bei einem Gehalt
von 0,25 pCt. in der Atmungsluft für den Menschen tödlich sein soll. 1 )
Der Nachweis der Phosphorwasserstoffentwicklung wurde in fol¬
gender Weise geführt.
Das Ferrosilicium befand sich in undichten Holzfässern, welche
der Luft ungehinderten Zutritt gestatten. Nachdem der Deckel eines
Fasses abgenommen war, machte sich bereits der charakteristische Geruch
nach Phosphorwasserstoff bemerkbar. Die obere Schicht des Ferro¬
siliciums wurde entfernt, und in das Fass eine Porzellanschale gestellt,
welche eine wässerige Lösung von Silbernitrat enthielt. Schon nach
kurzer Zeit bildete sich ein schwarzbrauner Ueberzug auf der Flüssig¬
keit, welcher sich nach mehrmaligem Umrühren zu einem erheblichen
Niederschlag verstärkte. Die Untersuchung im Laboratorium ergab,
dass dieser Niederschlag aus Phosphorsilber bestand.
In der entnommenen Probe des Ferrosiliciums wurde fcstgestcllt:
Gehalt an Silicium 57,69 pCt., Gehalt an Gesamtphosphor
O, 16 pCt. Das zerkleinerte Ferrosilicium wurde mit Wasser ange¬
feuchtet und das sich entwickelnde Gas durch einen Luftstrom in
eine Lösung von Silbernitrat in Wasser getrieben. Vorher musste das
Gas ein mit Aetzkali gefülltes Rohr passieren, um etwa auftretenden
und zu Irrtümern führenden Schwefelwasserstoff zurückzuhalten.
Ferner war bereits vorher festgestellt worden, dass das Gas in
ammoniakalischer Kupfersulfatlösung keinen Niederschlag erzeugte,
also kein Accthylen enthielt, welches ebenfalls einen dunklen Nieder-
1) Eulenberg, Die Lehre von den giftigen Gasen. 1865. S. 424. —
Dybkowski, Hoppe - Seylers med.-chem. Untersuchungen. 1866. S. 49. —
Boehm, A. C. P. Ph. 15 (1882). S. 439. — Boltenstern - Schulz, A. C.
P. Ph. 27 (1890). S. 314.
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128
Dr. Bahr und Dr. Lehnkering,
schlag in der Silberlösung hätte erzeugen, und damit Phosphorwasser-
stofif hätte vortäuschen können.
Der Niederschlag konnte daher nur bestehen aus fein verteiltem
metallischem Silber, aus Arsensilber und aus Phosphorsilber.
Die Untersuchung ergab, dass der Niederschlag lediglich aus
Phosphorsilber bestand. Aus seiner Menge berechneten sich 0,0227 g
gasförmigen Phosphorwasserstoffs für ein 1 Kilo Ferrosilicium. Dem¬
nach würden die 750 Ztr. der Ladung 851 g Phosphorwasserstoff
haben entwickeln können.
Die Bildung des gasförmigen Phosphorwasserstoffs erfolgte aus
Phosphorcalcium, welches seinerseits bei der Schmelzarbeit im elek¬
trischen Ofen entsteht aus dem Kalk- und Phosphorgehalt der Koks¬
asche, sowie dem Phosphor des Eisens. Es entwickelt sich bei der
Berührung des Phosphorcalciums mit Wasser oder feuchter Luft zu¬
nächst flüssiger Phosphorwasserstoff, der sich durch den Einfluss des
Eisens in festen und gasförmigen Phosphorwasserstoff umwandclt. Nur
der letztere ist bekanntlich giftig.
Die über dem erschöpften Ferrosilicium stehende Wasserschicht
enthielt auf 1 kg Ferrosilicium berechnet 0,0476 g Aetzkalk gelöst,
also erheblich mehr, als dem gefundenen gasförmigen Phosphorwasser¬
stoff entspricht, was auch zu erwarten stand, da vor der Untersuchung
ja schon Phosphorwasserstoff entwichen war, und ausserdem für die
beiden nicht bestimmten Phosphorwasserstoffarten Kalk in Rechnung
zu stellen ist.
Die örtlichen Verhältnisse und die Witterungsvcrhältnissc be¬
günstigten das Eindringen der sich aus dem Ferrosilicium entwickelnden
giftigen Gase in den Wohn- und Schlafraum der Kinder. Denn die
wohlgeheizte Kajüte sog durch den undichten Bretterfussboden die
Gase wie ein Schröpfkopf an, zumal Fenster und Türen wegen des
rauhen Wetters dicht geschlossen gehalten wurden. Als am Sonn¬
abend ,im Laufe des Tages die Tür zeitweise offen gestanden hafte,
hatten sich die Kinder sofort wieder erholt.
Das dritte Kind und seine jugendliche Pflegerin blieben gesund,
weil sic durch ein luftdichtes Schott von der gefährlichen Ladung ge¬
trennt waren, ebenso der Vater, der fast immer draussen zu tun
hatte. Die fortgesetzte Entwicklung des Phosphorwasserstoffes erklärt
sieh einmal daraus, dass das Ferrosilicium beim Einladen feucht ge¬
worden war, und ferner daraus, dass während der ganzen Reise
feuchtes, regnerisches Frühjahrswetter herrschte. Uebrigens hatte der
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Phosphorwasserstoffvergiftung durch elektrolyt. gewonnenes Ferrosilicium. 129
Schiffer Kühnle bereits am Freitag, dem 16. März 1906, morgens den
eigenartigen Geruch des giftigen Phosphorgases in dem Schlafraum
bemerkt, hatte aber nicht gewusst, woher er kam.
Leider scheinen diese beiden Todesfälle in der Familie Kühnle
nicht die einzigen durch Phosphorwasserstoff bewirkten zu sein, denn
durch wiederholtes Nachforschen bei den Schiffern brachten wir noch
Folgendes in Erfahrung:
I. Der Schiffer Philipp Müssig aus Wimpfen hatte seine Frau und
seine 15 jährige Schwägerin an Bord, er hatte an einem Sonnabend
seine Ladung eingenommen, darunter Ferrosilicium. In der Nacht
von Sonntag auf Montag erkrankten die beiden Frauen unter den¬
selben Erscheinungen, wie die Kinder Kühnle. Müssig brachte seine
kranke Frau in das Krankenhaus zu Ludwigshafen, das junge Mädchen
war schon vor der Ueberführung gestorben. Müssig erfuhr nun von
dem Schiffer Franz Hamberger aus Haspenheim, dass dieser seinen
Hund und seine Katze in einen Schiffsraum eingesperrt hatte, der
Ferrosilicium enthielt, die Tiere sollten Mäuse aus dem Raum ver¬
tilgen. Als er am Morgen die Tiere herauslassen und füttern wollte,
lagen sie tot unter der Luke. Müssig wiederholte nun sofort diesen
Versuch, indem er abends seinen eigenen Hund in den Raum
sperrte, am nächsten Morgen war das Tier tot.
II. Der holländische Schiffer Sack, nähere Angaben waren bisher
nicht zu erlangen, erkrankte samt seiner Frau auf der Reise von
Mannheim nach Duisburg in der Gegend von Bonn. Beide schliefen
in der Kajüte, unter der Ferrosilicium lagerte. Der Schiffer brachte
die zuerst erkrankte Frau in die Bonner Klinik, wo sie starb, er selbst
starb auf der Weiterreise nach Duisburg.
IU. Soll der Schiffer Vollmer, der für die Firma Fendel in
Mannheim fährt, sein 2 Jahre altes Töchterchen auf der Reise ver¬
loren haben, während er Ferrosilicium geladen hatte. Das Kind
erkrankte plötzlich nachts und starb bereits am nächsten Morgen.
Wenn nun auch die letztgenannten Fälle nicht absolut sicher
sind, so genügt doch unseres Erachtens der von uns beschriebene
Fall Kühnle, um die Forderung aufzustellen, dass für den Transport
des elektrolytisch gewonnenen Ferrosiliciums besondere Kautelen ge¬
schaffen werden, damit weitere Unglücksfälle vermieden werden.
Abgeschlossen: Duisburg, den 26. Mai 1906.
Vierteljahrsschrift f. ger. Med. u. öff. San.-Wesen. 3. Folge. XXXII. 1.
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UNiVERSUY OF IOWA
2 .
Uefoer die Aenderung der Arzneibuch-Vorschrift
für Digitalisblätter.
Von
Dr. Focke in Düsseldorf.
Die Vorbeugung derjenigen Intoxikationen, die gewöhnlich auf
medizinalem Wege entstehen, gehört zu den Aufgaben des klinischen
Unterrichts; das gilt auch für die Digitalis, weil das Auftreten der
toxischen Kumulation durch die Dosierung vermieden werden kann. 1 )
Aber das ist natürlich nur möglich unter der Voraussetzung, dass die
Apotheker in allen Fällen gleichmässig starke Präparate dispensieren;
und hierfür zu sorgen, ist Aufgabe der Medizinalpolizei.
Die so vielfach beklagte Ungleichmässigkeit in der Stärke unserer
wichtigen Arzneidroge bedarf dringend der Abstellung. Das ist längst
anerkannt (vergl. Berl. klin. Wochenschr. 1906. No. 20) und ebenso
Ast bekannt, dass die Gleichmässigkeit der Wirkungsstärke auch im
Grossen technisch erreicht werden kann, worauf ich (sub 2) noch
zurückkomme. Es blieb bisher nur die eine Frage offen: Wie könnte
diese Gleichmässigkeit in den Apotheken durch die betreffende Arznei¬
buch-Vorschrift gesetzlich eingeführt werden? Die Vorschritt müsste
überhaupt mit den Ergebnissen der neueren Forschung bezüglich
unserer Droge in Einklang stehen; und auf dieser Grundlage einen
möglicherweise brauchbaren Wortlaut der Vorschrift anzugeben und
zu begründen, ist der Zweck der folgenden Zeilen.
* *
*
Die jetzige Arzneibuchvorschrift lautet:
„Folia Digitalis — Fingerhutblätter. Die zu Beginn der Blütezeit
1) Vgl. Medizin. Klinik. 1905. No. 31.
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Ueber die Aendernng der Arzneibuch-Vorschrift für Digitalisblätter. 131
gesammelten, getrockneten Laubblätter wildwachsender Pflanzen von Digitalis
purpurea. Die Blätter sind höchstens 30 cm lang; ihre Spreite ist am Rande un¬
gleich gekerbt, länglich-eiförmig, sitzond oder in einen dreikantigen, geflügelten
Blattstiel verschmälert. Die Seitennerven erster Ordnung geben unter einem spitzen
Winkel vom Mittelnerven ab und bilden wie diejenigen zweiter und dritter Ord¬
nung auf der Unterseite des Blattes hervortretende Rippen, zwischen welchen ein
nicht hervortretendes Nervennetz im durchscheinenden Lichte beobachtet werden
kann. Die Spreite ist nur mit mehrzelligen (meist ein- bis vierzelligen), spitz zu¬
laufenden Haaren und mit kopiigen Drüsenhaaren besetzt. Oxalatkristalle fehlen
im Blattgewebe.
Fingerhutblätter schmecken widerlich bitter.
In dem aus 1 Teile Fingerhutblätter mit 10 Teilen siedendem Wasser her¬
gestellten Auszuge soll nach dem Erkalten durch Zuträufeln von Gerbsäurelösung
ein reichlicher Niederschlag entstehen, welcher von überschüssiger Gerbsäurelösung
nur schwer wieder aufgelöst wird.
Vorsichtig, nicht über 1 Jahr aufbewahren.
Grösste Einzelgabe 0,2 g.
Grösste Tagesgabe 1,0 g.“
Darin sind mehrere Stellen der Aenderung oder Ergänzung be¬
dürftig.
1. Zuerst nenne ich die Bestimmung über die Zeit der Blätter¬
ernte; mit dieser Frage zugleich kann auch die nach dem eventuellen
Ausschluss der einjährigen Pflanzen erörtert werden.
Wenn man die Vorläufer des jetzigen Arzneibuchs ansieht, so
findet man, dass die Pharmacopoea Borussica I von 1799, die die
Herba Digitalis schon aufgenommen hatte, über obige Punkte noch
gar nichts enthält. Dasselbe gilt von den Ausgaben II und III.
Erst in der Editio IV von 1827 erscheint die auch von der Ed. V.
übernommene Einschränkung „tempore primo florescentiae“, was genau
denselben Sinn gibt wie die heutigen Worte „zu Beginn der Blütezeit“.
Beide Fassungen bedeuten nur eine Zeitbestimmung, die ins Praktische
übersetzt lautet „Ende Juni bis Anfangs Juli“. Damit ist nicht ge¬
sagt, dass die Blätter nur von blühenden (d. h. 2 jährigen) Pflanzen
genommen werden dürften; auch die nichtblühenden (d. h. 1jährigen)
Pflanzen sind zugelassen. Letzteres haben erst die Ausgaben VI von
1846 und VII ausdrücklich verneint durch den Wortlaut „e plantibus
florescentibus“, ebenso noch die Pharm. Germanica I durch „e planta
florescente“. Erst nach 35 Jahren, d. h. vom Jahre 1882 ab, hat
man die frühere Form wieder eingesetzt oder vielmehr noch erweitert;
denn die Pharm. Germ. II und das Arzneibuch III sagen nur „floris
aetate“ und „zur Blütezeit“. Wenn man nun während des ganzen
9*
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132
Dr. Focke,
Jahrhunderts, ausser von 1846—82, die einjährigen Pflanzen zuliess,
so geschah es doch wohl auf Grund der klinischen Erfahrung. Deren
Richtigkeit ist überdies jetzt durch die chemische und physiologische
Prüfung bestätigt worden; denn obgleich die Blätter der einjährigen
Pflanzen an Digitoxingehalt und physiologischer Wirksamkeit den
zweijährigen zu Beginn der Blütezeit nachstehen, so werden sie ihnen
im Verlauf der Blütezeit doch ebenbürtig und können gegen Ende
dieser Zeit sie sogar übertreffen. Es liegt also weder ein Grund
vor, die nichtblühenden Pflanzen auszuschliessen, noch die Ernte auf
den Beginn der Blüte zu beschränken. Das ist von praktischer Be¬
deutung, weil etwa in drei Jahren einmal auf den Beginn der Blüte¬
zeit eine Regenperiode fällt und es dann ohnehin notwendig ist, das
Sammeln auf eine trockenere Zeit zu verschieben. Man könnte ja
fordern, dass die verschiedenwertigen (weil von verschiedenen Ent¬
wickelungsstadien, Orten und Zeiten stammenden) Blätterposten einer
Erntezeit gemischt werden sollen; eine solche Forderung braucht aber
nicht im Arzneibuch zu stehen, weil sie sich für die Arzneidrogen¬
firmen von selbst ergibt, wenn die unten folgende Vorschrift über den
Wirkungswert aufgenommen wird. Da indessen doch eine gewisse
Abgrenzung für die Zeit des Sammelns nötig ist, so müsste sie lauten
„zwischen Ende Juni und Ende August“, weil nur in dieser Jahres¬
zeit die gemischten Blätter von (nicht ganz im Schatten) wild ge¬
wachsenen Pflanzen die volle Kraft besitzen.
2. Alle in Betracht kommenden Massnahmen zur Konservierung
der Blätter sind bisher zusammengedrängt in das eine Wort „getrocknet“!
Ob das Trocknen kurz oder lang, bei höherer oder niederer Temperatur
stattfindet, ob es sofort nach dem Einsammeln oder beliebig nachher
und bis zu welchem Wassergehalt es geschieht, das ist alles freigestellt.
Nach der bisherigen Praxis pflegt es allerdings möglichst anschliessend
an das Sammeln auf luftigen Böden zu geschehen, aber je nach der
Witterung oft viele Tage zu dauern; währenddessen treten leicht Zer¬
setzungen in den Blättern ein und auf alle Fälle behalten sie einen
Wassergehalt von mindestens 4 pCt. Gewöhnlich sind 5—8 pCt.,
manchmal auch über 8 pCt. Wasser in diesen offizinellen „trocknen“
Blättern. Das schadet ihrem Aussehen nicht; im Gegenteil, sie haben
dann, wenn nur das Hinzutreten von Schimmel verhindert wird, sogar
ihr bestes Aussehen und verlieren beim Verschicken am wenigsten
ihre ganze Form, die das Arzneibuch so genau beschreibt. Leider
sind aber diese schönen Blätter hinsichtlich ihrer Wirkung meistens
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Ueber die Aenderung der Arzneibuoh-Vorscbrift für Digitalisblätter. 133
minderwertig. Vor einigen Jahren konnte ich auf Grund zahlreicher
Frosch versuche zeigen (Archiv der Pharmazie. 1903. Heft 2 und 9),
dass gerade die grösste Abschw'ächung des Wirkungswertes nach
solcher ungenügenden Trocknung eintritt. Es kamen da Verluste von
2 / 3 des Wertes in 3 Wochen und von s /4 des Wertes in 3 Monaten
vor. Dadurch wird es erklärlich, dass der Wirkungsw'ert der Blätter
w r ährend eines Jahres in den Apotheken bis auf y 6 des Anfangswertes
herabsinken kann, wie es uns die klinische Kasuistik als ein ganz
häufiges Vorkommnis gelehrt hat (vgl. Zeitschr. f. klin. Med. 46 Bd.)
Aus meinen Versuchen musste ich schliessen, dass ein anfänglich
scharfes Trocknen bis auf 1—1,5 pCt. Feuchtigkeit notwendig ist und
ebenso ein luftdichter Verschluss nachher. Diese Folgerung, die von
grossen Firmen schon mit bestem Erfolg als Grundsatz in die Praxis
übertragen worden ist, habe ich in den letzten Jahren weiter kon¬
trolliert. Es hat sich dabei ergeben, dass es in der Tat bei der
Konservierung die wichtigste Aufgabe ist, die Blätter möglichst rasch,
bis zu einem Wassergehalt unter 1,5 pCt. zu trocknen. Ein Rest von
etwa 1—1,5 pCt. ist so fest gebunden, dass er nicht mehr schädlich
wirkt. — Wenn das hieraus hervorgehende Pulver mehrere Tage oder
Wochen lang mit der Luft in Berührung kommt und darauf aufs
neue einige Prozente an Feuchtigkeit aufnimmt, so verliert es dadurch
verhältnismässig weit weniger an Wert als ein nur lufttrocken ge¬
wesenes , d. h. 5—8 pCt. Wasser haltendes Pulver. Ich erkläre mir
dies dadurch, dass die an der Glukosidzersetzung schuldigen Enzyme,
als kolloide Substanzen, wenn sie einmal ganz stark ausgetrocknet
sind, sehr schw’er wieder sow'eit quellen, dass sie aufs neue schädlich
wirken können. Immerhin muss man sagen: auch der luftdichte Ver¬
schluss des Pulvers ist zur Sicherung eines langen unveränderten
Gleichbleibens des Wertes notwendig.
Dass durch diese Massnahmen das Gleichbleiben wirklich für
mindestens ein Jahr erreicht wird, habe ich schon früher (Ther. der
Gegenw. 1904 Juni) hervorgehoben; es hat sich mir seitdem bei
allen nachuntersuchten Proben bestätigt. Hier gebe ich die Befunde
nur von den beiden Proben, die ich am längsten verfolgt habe, natürlich
nur aus den zur quantitativen Digitalisprüfung an Fröschen geeigneten
Monaten Juli bis September — vgl. Tab. I —. Beide Proben haben, wie
man sieht, in 2 bezw. 3 Jahren ihren Wert unverändert behalten, da die
kleinen Schwankungen innerhalb des etwa 10 pCt. betragenden Fehler¬
spielraumes liegen. Von der Probe 1 gab übrigens der letzte Rest,
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134
Dr. Focke,
Tabelle 1.
Probe
Untersuchungsdatum
"Wirkungswert
V
1. Bei Mettmann 1901 selbst ge-
14. Aug. 1902
4,40
sammelt, im August 1902 scharf
30. Juni 1903
4,37
nachgetrocknet, grob gepulvert
6. Juli 1904
4,20
und luftdicht aufbewahrt.
1. Juli 1905
4,50
2. Frisches „eingestelltes“ Blätter¬
Sommer 1903
5,6
pulver (Fol. Digit, titrata, Marke
7. Juli 1904
6,1
C. u. L.j — Originalglas.
30. Juni 1905
5,5
9. Sept. 1905
5,4
der wesentlich aus den feineren Teilen bestand, am 8. August 1905
noch einen höheren Wert, nämlich 4,7: das ist nicht auffallend, weil
ja beim Verbrauch eines jeden gut konservierten Teequantums immer
die feineren Teile den Aufguss stärker wirkend machen. Bemerkens¬
wert ist, dass mehrere der nach einem Jahr nicht veränderten Proben
und auch die nach 2 Jahren unverändert gebliebene Probe 2 dem
Grossbetrieb (C. und L.) entstammten, womit bewiesen ist, dass die
obigen Vorschriften sich eben auch im Grossen bewährt haben und
zur allgemeinen Einführung reif sind. (Nb. Die Firma Caesar & Loretz
in Halle geht, soweit ich orientiert bin, folgendermassen vor: die
Blätter werden sofort nach dem Sammeln auf Trockenböden gut aus¬
gebreitet zu einem etwa 2tägigen Vortrocknen; hierauf kommen sie
in grosse Trockenschränke auf übereinander befestigte zahlreiche
Tafeln, wo ein Strom trockner Luft von 70—80° C mehrere Stunden
lang über sie hinstreicht. Dann ist die scharfe Austrocknung schon
erreicht. Es folgt das Mahlen und die vorläufige Aufbewahrung in
meterhohen luftdichten Blechbüchsen, bis die Resultate der physio¬
logischen Prüfung bekannt sind. Auf Grund dieser Befunde geschieht
dann die Mischung der verschiedenwertigen Posten zu dem gewünschten
Mittelwert: worauf die Abfüllung in Gläser und deren sofortiges Ver¬
korken den Schluss bildet. In ähnlicher Weise ist schon vorher die
Firma Dr. Siebert & Dr. Ziegenbein, Universitätsapotheke in Marburg
vorgegangen und fährt auch heute noch damit fort).
3. Werden die Blätter bis auf weniger als 1,5 pCt. Wasserge¬
halt getrocknet, so sind sie spröde wie Glas und zerfallen beim Ver¬
schicken, wenn man sie nicht einzeln zwischen Watte legen will, zu
Krümeln. Daraus folgt für die Aufbewahrung als Form die des
Pulvers als Notwendigkeit. Und da die grösste Form, in der die
Blätter gebraucht werden (zu Extraktionszwecken), ohnehin das mittel-
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Ueber die Aenderung der Arzneibuch-Vorschrift für Digitalisblätter. 135
starke Pulver ist, so liegt gar kein Grund dazu vor, noch das Vor¬
handensein ganzer Blätter ausser den Herbariumexemplaren in den
Apotheken zu verlangen, um so weniger als auch die pharmakognostische
Identifizierung neuerdings schon wesentlich dem Mikroskop zugcfallen,
war. Sie wären also vollständig zu ersetzen durch die „Folia Digi¬
talis pulverisata — Fingerhutblätterpulver.“ Dem entsprechend müsste
dann der bisherige erste Teil ihrer Beschreibung fortfallen und es
wären nur diejenigen Merkmale anzugeben, die das Pulver bei der
Vergrösserung zeigt. Ob diese Merkmale auf Grund der sehr gründ¬
lichen mikroskopischen Vergleichungen, die Hartwig und Bohny
angestellt haben (Apoth.-Ztg. 1906 No. 24—28), noch zu ergänzen
wären, muss von botanisch-pharmakognostischer Seite entschieden
werden. Was die Korngrösse des Pulvers betrifft, so glaubte ich vor
drei Jahren, dass am zweckmässigsten das ganz feine Pulver sei, weil
es die Wirkung am vollkommensten hergibt; allein man schreibt dem
feinen Pflanzenpulver eine besonders grosse hygroskopische Neigung
zu, und ausserdem ist bei ihm die mikroskopische Erkennung der
charakteristischen Teile zu schwierig. Deswegen scheint ein mittel¬
feines (griesförmiges) Pulver als Norm in jeder Hinsicht am besten
zu sein.
Die hier vorgeführte Aufbewahrungsart wäre übrigens vielleicht
auch noch für einzelne andere empfindliche Drogen zu empfehlen;
jedenfalls ist sie keine unerhörte Neuerung. Schon um die Wende
des 18. zum 19. Jahrhundert hatten englische Aerzte, wie Withering,
Maclean, J. Mason Cox, aus ihrer Erfahrung eine derartige Be¬
handlung der Digitalisblätter als notwendig gefunden; ihre Ratschläge
sind aber damals in Vergessenheit geraten. Nachdem sie nun auf
der Basis der physiologischen Forschung wieder auferstanden sind,
werden sie hoffentlich dauernd der Allgemeinheit dienen.
4. Im Text folgt die Prüfung des 10 proz. Blätteraufgusses mit
Gerbsäurelösung. Daran hat sich nun als wichtigster Abschnitt
die Vorschrift der physiologischen Prüfung anzuschliessen. Zu der
Ueberzeugung, dass sie unumgänglich ist, führen die Tatsachen, an
die ich hier kurz .erinnere: Wenn ein ursprünglich nicht scharf ge¬
trocknetes Blätterpulver, das durch die ihm noch innewohnende oder
später aufgenommene Feuchtigkeit einen grösseren Teil seines Wirkungs¬
wertes verloren hatte, nachträglich scharf getrocknet wird, so ist nun
seine Minderwertigkeit weder durch die Sinne noch durch eine
chemische Prüfung erkennbar. Es kann tadellos aussehen, kräftig
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136
Dr. Focke,
nach Digitalis riechen, den Durchschnittsgehalt an Digitoxin besitzen,
und dennoch physiologisch minderwertig sein, wie meine gemeinsam
mit Fromme (Halle) ausgeführten Versuche gezeigt haben. Die
etwaige Minderwertigkeit kann also nur durch eine physiologische
Prüfung erkannt werden; und wenn es erreicht werden soll, dass alle
Apotheken immer ein möglichst gleich starkes Digitalisblätterpulver
führen, so bleibt eben nichts anderes übrig, als die physiologische
Prüfungsvorschrift. — Wie aus meinen Mitteilungen in der Deutschen
Aerzte-Zeitung 1904 (Juni, Abschnitt IV.) hervorgeht, gelten diese
Sätze in ähnlicher Weise auch für die Tinktur. Zur Bestätigung
dessen kann der Befund von Ziegenbein (Apoth.-Ztg. 1903, S. 280)
dienen; und bei Gelegenheit der British Pharm. Conference von 1904
haben, anscheinend unabhängig davon, auch Barger und Shaw fest¬
gestellt, dass die physiologische Prüfung der einzige zuverlässige
Weg zur Wertbestimmung der Tinktur ist. (Pharm. Ztg. 1904, S. 705.)
Wenn somit die Ueberlegenheit der physiologischen Prüfung
ausser Zweifel steht, so fragt es sich, welche Art ihrer Ausführung
am zweckmässigsten ist? — Es stehen da 2 Methoden zur Wahl. Die
eine, seit Jahrzehnten gebrauchte, wurde mit geringen Verschieden¬
heiten noch von Bührer (Basel 1900), A. Fränkel (Badenweiler 1902)
und Ziegenbein (Marburg 1902—03) benutzt; es ist die Methode
der minimalen Dosen. Bei ihr wird mit der betreffenden Lösung die
Mindestzahl von Milligrammen (der Blätter) gesucht, durch deren In¬
jektion (als Infus) bei mehreren mittelgrossen Landfröschen überhaupt
noch, d. h. zwischen 1—2 Stunden, ein systolischer Ventrikelstillstand
eintritt; das gefundene Mindestgewicht des Medikaments wird dann
auf 100 g Froschgewicht berechnet. Der Mittelwert ist „0,04 g : 100 g
Froschgewicht“. Die andere, von mir ausgearbeitete Methode nimmt
Kücksicht auf die Tatsache, dass der Ventrikelstillstand dann am besten
in Beziehung zu der Dosis steht und auch am genauesten beobachtet
werden kann, wenn man mittlere Dosen injiziert und damit den Ven¬
trikelzustand erzielt innerhalb eines kurzen und relativ nahe der In¬
jektion liegenden Zeitraumes, der somit als der physiologisch günstigste
betrachtet werden muss. Ich hatte dafür vor zwei Jahren die Zeit
von 7—20 Minuten angegeben, während ich heute 7—15 Minuten für
noch besser halte. Es ergibt sich dann in natürlicher Weise der
Wirkungswert aus den 3 Daten (Dosis, Zeit, Tiergewicht) nach einer
einfachen Gleichung als ganze Zahl V. Der dem obigen gleichende
Mittelwert ist „V = 5,0“.
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Ueber die Aenderung der Arzneibuch-Vorschrift für Digitalisblätter. 137
Selbstverständlich kann auch die ältere Methode ebenso exakte
Werte liefern; aber ich möchte, ohne eingehende Vergleiche zu
wiederholen, die wesentlichen Vorzüge der neueren Methode doch
nennen, nämlich dass sie erstens kürzer dauert, was im Interesse der
Tiere und des Untersuchers liegt, zweitens, dass sie weniger Tiere
erfordert und drittens (statt reziproker Werte) gleich ganze Zahlen
liefert, mit denen in vergleichenden Arbeiten viel besser zu
hantieren ist. (Von den oben genannten, meines Wissens einzigen
Firmen, die bis jetzt eingestellte Blätter liefern, hat die eine, Caesar
und Loretz-Halle, von Anfang an nach dieser Methode prüfen lassen;
und auch der Nachfolger der anderen Firma, Herr Apotheker Scholl-
meyer-Marburg, wird, wie er mir auf Anfrage mitteilte, sich der¬
selben neben der früheren Methode künftig bedienen.)
Obgleich das Resultat einer jeden physiologischen Prüfung nur
richtig ist innerhalb eines gewissen Wertspielraumes, der durch die
Individualität der Tiere und kleine Massdifferenzen bedingt wird, und
obgleich es sogar vorkommt, dass neben mehreren einander sehr
ähnlich reagierenden Tieren auf einmal eines mit ganz schwacher oder
starker Reaktion ausfällt, so beträgt bei einem geübten Untersucher
und bei einer sorgfältig ausgeführten Prüfung jener Spielraum nicht
mehr als 10 pCt. des Wirkungswertes, was doch eine ziemliche Zu¬
verlässigkeit bedeutet.
Mein Vorschlag für die physiologische Prüfung lautet nun folgender-
massen: Wenn während des Juli, August oder September in einem
kühlen Raume von dem 10 proz. Blätterauszuge mittelgrossen, einige
Tage vorher gefangenen Landfröschen eine dem 50. Teil ihres Ge¬
wichts gleichende Menge in die Oberschenkellymphsäcke gespritzt
wird, so soll die darauf bis zum Dauerstillstand der blossgelegten
Herzkammer vergehende Zeit bei mindestens 4 Versuchen, von denen
bei keinem jene Zeit unter 7 oder über 15 Minuten dauerte, durch¬
schnittlich zwischen 9 und 11 Minuten betragen!
Dieser Satz enthält alles Wesenliche. Es wäre hier nicht ange¬
bracht, jede technische Einzelheit bis ins Kleinste darzulegen; in dieser
Hinsicht darf wohl auf das Arch. d. Pharm. 1903 (Dez.) verwiesen
werden. Nur wenige ergänzende Bemerkungen seien angefügt.
Zuerst ein praktisches Beispiel: Ein auf dem Brettchen be¬
festigter Frosch wiege, nachdem das vorher notierte Gewicht des mit
seinen Befestigungsmitteln ausgerüsteten Brettchens abgezogen ist,
netto 30 g, wobei die Wägung bis auf 0,5 g abgerundet werden darf.
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138
Dr. Focke,
Es wird ihm von der zu prüfenden Lösung 0,6 ccm injiziert, d. h. in
jeden Oberschenkel davon die Hälfte. Der Ventrikel steht von der
10. Minute an in Dauerkontraktion still. Dann hatte bei diesem
30
Tier die Lösung den Wirkungswert V =—— = 5,0. Dauerte es
O,o * 10
bis zum Stillstand 9 Minuten, so wäre der Einzelwert = 5,5; dauerte
es 14 Minuten, so war der Wert = ca. 3,6. Dauerte die durch¬
schnittliche Zeit bei 4 Fröschen, deren Einzelzeiten zwischen 7 und
15 Minuten lagen (immer das Verhältnis des Injektionsgewichts zum
Froschgewicht =1:50 vorausgesetzt) genau 10 Minuten, so haben
die Blätter gerade den Mittelwert 5,0; war die durchschnittliche Zeit
kürzer als 9 Minuten, so sind die Blätter zu stark, was bei den im
Handel befindlichen aber selten vorkommt; dauerte die Durchschnitts¬
zeit länger als 11 Minuten, so haben sie einen zu geringen Wert
und sind zu beanstanden.
Zweitens: das zu den Injektionen dienende Infus soll nicht nach
der für das offizineile Infus bisher geltenden Vorschrift mit nur 5 Mi¬
nuten langer Extraktion bereitet werden; denn es wird dann in
unregelmässiger Weise zu schwach, und zwar um etwa Ys schwächer
als wenn es nach dem Aufgiessen 30 Minuten lang allmählich sich
abkühlend auf dem Pulver zugedeckt geblieben war und dann erst
abfiltriert wurde. Ein Extrahieren über 30 Minuten hinaus schien mir
keine wesentliche Verstärkung mehr zu bringen. Es wäre also für
den zur Prüfung bestimmten Aufguss eine Extraktionsdauer von
30 Minuten vorzuschreiben. Die Gerbsäureprüfung wird hierdurch
nicht verändert. Auch verlieren die Apothekerrevisoren durch
diese Verlängerung keine Zeit, da ja die Digitalisprüfung von
ihnen künftig überhaupt nicht mehr vorgenommen würde. (Nebenbei
wäre auch beim offizinellen Digitalisinfus eine Verlängerung des
Extrahierens auf mindestens 15 Minuten gewiss empfehlenswert; früher
war dafür ja vielfach eine solche längere Dauer üblich.)
Drittens ist auf die Beachtung der Lufttemperatur, in der die
Frösche vor und während der Untersuchung gehalten werden, mehr
Gewicht zu legen, als es früher nötig erschien. Der Aufbewahrungs¬
raum (Keller) darf nicht wärmer sein als 13 oder höchstens 14° C.;
und wenn die Temperatur des Untersuchungsraumes sich 17° C. nähert,
so sollen die Tiere erst kurz vor der Untersuchung dorthin gebracht
w T erden. Keinesfalls aber darf es in der Höhe des Untersuchungstisches
mehr als 17,5° C. sein; sonst werden die Reaktionen langsamer und
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Ueber die Aenderung der Arzneibuch-Vorschrift für Digitalisblätter. 139
die gefundenen Werte {zu niedrig. Die Untersuchungen müssen also
ausgesetzt werden, solange die Temperatur die genannten Werte über¬
steigt. Ueber die Jahreszeit der Untersuchungen habe ich mich
vor 2 Jahren geäussert. Auf Grund einer längeren Versuchsreihe (mit
den oben in Tabelle I angeführten Mettmanner Blättern) war ich zu
dem Satze gelangt, dass nur die Monate Juli bis September geeignet
seien. Seitdem habe ich die vergleichenden Prüfungen mit dieser Probe
bis zu ihrem Best fortgesetzt und gebe , hier in der Tabelle II, an¬
schliessend an eine Zusammenfassung der früheren Daten, die voll¬
ständigen Zahlen der weiteren Befunde. Wie man sieht, sind auch
weiterhin die Werte in den andern Monaten wesentlich hinter dem
richtigen Durchschnittswert dieser Probe 4,36 zurückgeblieben, und
zwar in ganz unregelmässiger Weise; während im Juli beider Jahre
das Resultat dem in den vorhergegangenen Sommern 1902 und 03 ge¬
fundenen wieder ganz entsprach. Was den Oktober betrifft, so hat
sich mir (gegenüber dem Ausnahmefall von 1903) in den Jahren 1904
und 1905, auch bei allen anderen Untersuchungen von Digitalis- und
Strophanthus-Proben*, für diesen Monat ein so rasches Sinken der Frosch¬
reaktion ergeben, dass der Oktober als zur Prüfung durchaus ungeeignet
betrachtet werden muss. Es können somit Befunde, die in anderen
Monaten als im Juli, August oder September gewonnen wurden,
nicht zu Vergleichungen dienen; das ist eine Tatsache, die bisher,
selbst von sorgfältigen Beobachtern, noch zn wenig berücksichtigt
worden ist 1 ).
5. Im Arzneibuch folgt der Satz über die Aufbewahrung. Dar¬
über ist ja das nötigste schon unter 2 gesagt worden. Dass man die
Dauer der Aufbewahrung mit gutem Gewissen auf zwei Jahre verlängern
könnte, wird nach den bisher so günstigen Erfahrungen bezüglich der
Haltbarkeit eines gut präparierten Pulvers kaum auf Widerspruch
stossen. Es liegt doch kein Grund dazu vor, unangebrochene Gläser
mit erst 1V* Jahre altem konserviertem Pulver zu vernichten, wenn
man weiss, dass ihr Inhalt an Wirksamkeit nichts eingebüsst haben
kann.
6. Falls man es nicht vorzieht, nach dem Vorbilde <jer neuen
Farmacopea Espafiola die Maximaldosen ganz aufzugeben, an deren
1) Auch Ende Juni sind die Untersuchungen schon brauchbar; aber im all¬
gemeinen kommt diese Zeit nicht in Betracht, weil man dann wegen des Vege¬
tationsstandes det Felder frischgefangene Frösche in ausreichender Zahl nicht be¬
kommen kann.
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140
Dr. Focke,
Tabelle II.
Der Untersuchung
Rana temporaria
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V
1902
_
14.August.
/
4,40.
1903
I bis
21. April
1
•
3,05—3,12—
VII.
bis 4. Juni.
2,80-3,45—
2,42—2,52—
VIII
bis
30. Juni,
Juli bis
l Zusammen 18 Tage mit 82 Einzelunter- J
/suchungen (gekürzt aus Bericht von 1903). j
2,50.
4,37-4,30—
4,17—4,57—
XIII.
16. Sept.
l
i
4,35-4,45.
XIV u.
1., 19-,
\
(
5,10—5,00—
XVIII
30. Okt.,
00
o»
1
Oö
OO
©
bis XX.
20. Nov.
/
\
1904
3
6. Juli.
Jetzt bei ’
m.
27
0,6
SV*
5,3
Mors ge-
m.
30
0,65
8V*
5,4
} 4,20.
fangen
in.
27
0,45
19‘/2
3,0
(Send. 1).
m.
25
0,5
15»/-
3,2
J
37
5. Okt.
Mitte Sept.
ra.
16
0,4
7 V*
5,3
\
bei Mett-
in.
18 Va
0,4
15
3,0
1 4,00.
mann ge-
m.
22 V*
0,6
10V*
3,5
fangen
(Send. 4).
m.
25
0,6
9V*
4,4
1
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9. Okt.
Ende Sept.
m.
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bei Mett-
m.
18
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(26;
—
I
mann ge-
w.
25
0,5
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> 3,10.
fangen
m.
18*/*
0,55
9
3,7
(Send. 5).
m.
34
0,9
12
3,1
J
45
29. Nov.
dito.
m.
27
1,0
10
2,7
m.
17
0,6
11
2,5
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w.
15
0,7
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io »/ 2
2,0
m.
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1
1905
1
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Sendung 5
w.
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des Vor-
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| 27 V»
0,65
10
4,2
m.
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0,6
9
4,0
'
*) Hier war das 20proz. Infus, also die Hälfte des angegebenen Volumens,
injiziert worden.
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Ueber die Aendernng der Arzneibuch-Vorschrift für Digitalisblätter. 141
Stelle die durchschnittlichen therapeutischen Dosen treten könnten,
so käme beim Digitalisblätterpulver eine Zweiteilung der Maximaldosen
in Frage je nach Benutzung der Pulver- oder Infusform; denn nach
der klinischen Erfahrung wirkt ungefähr 0,6 als Pulver genommen
ebenso stark wie 1,0 im Infus. Aber obwohl ich selbst besonders
auf diesen Unterschied hingewiesen habe, so glaube ich doch nicht,
dass für eine solche Zweiteilung ein Bedürfnis vorliegt, weil in der
Pulverform eine Einzeldosis von 0,1 und eine Tagesdosis von 0,5 doch
selten überschritten wird. Es könnten daher gewiss die bisherigen
Zahlen ohne Schaden beibehalten werden. Ebenso würde ich es nach
Aufnahme der physiologischen Vorschrift nicht für notwendig halten,
noch den Extrakt- oder Aschengehalt des Pulvers aufzunehmen, wie
es die Pharm. Austriaca von 1906 getan hat.
Aus allen diesen Darlegungen ergibt sich nun die nachfolgende
Arzneibuchvorschrift, in der die Stellen, die anders als früher lauten,
durch besonderen Druck bezeichnet sind:
„Folia Digitalis pulverisata — FingerhutblätterpwZrer. Die
von Ende Juni bis Ende August gesammelten Laubblätter wild¬
wachsender Pflanzen von Digitalis purpurea, in längstens 3 Tagen
soweit getrocknet , dass der Wassergehalt weniger als 1,5 pCt. beträgt,
und mittelfein gepulvert. Das mattgrüne Pulver zeigt bei Ver-
grösserung die Blätterteile mit mehrzelligen (meist ein- bis vierzeiligen)
spitz zulaufenden Haaren und kopfigen Drüsenhaaren; Oxalatkristalle
fehlen. Es schmeckt widerlich bitter.
In dem aus 1 TeilFingerhutblätter^mZw durch Aufgiessen siedenden
Wassers und 30 Minuten dauerndes Stehenlassen hergestellten 10 Teile
betragenden Auszuge soll nach dem Erkalten durch Zuträufeln von
Gerbsäurelösung ein reichlicher Niederschlag entstehen, der von über¬
schüssiger Gerbsäurelösung nur schwer wieder aufgelöst wird.
Wenn während des Juli, August oder September in einem kühlen
Baume von diesem Auszuge mittelgrossen, einige Tage vorher ge¬
fangenen Landfröschen (Rana temporaria) eine dem 50. Teil ihres
Gewichts gleichende Menge in die Oberschenkellymphsäcke eingespritzt
wird, so soll die darauf bis zum Dauer Stillstand der blossgelegteti
Herzkammer vergehende Zeit bei mindestens 4 Versuchen , von denen
bei keinem jene Zeit unter 7 oder über 15 Minuten dauerte. durch¬
schnittlich zwischen 9 und 11 Minuten betragen.
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142 Dr. Focke, Ueber die Aendening der Arzneibuch-Vorschrift etc.
In luftdicht geschlossenen Gläsern vorsichtig nicht länger als
2 Jahre aufzubewahren.
Grösste Einzelgabe — 0,2
Grösste Tagesgabe — l,0. u —
Der Zwischenraum von 9—11 Minuten für den Zeitdurchschnitt
gestattet mit einem Spielraum von 20 pCt. einen Blätterwert von
4,5—5,5. Rechnet man' dazu den unvermeidlichen Fehlerspielraum
von lOpCt., so ergibt sich ein Gesamtspielraum von etwa 30pCt.
Diese Differenz liegt ja freilich an der Grenze dessen, was bei einem
guten Arzneimittel noch als zulässig gelten kann; obwohl selbst mit
dieser Differenz, die einem Blätterwert von 4,1—6,0 entspräche, der
Gewinn gegenüber dem früheren Schwanken (von etwa 1,5—8,0!)
noch sehr erheblich wäre. Da im übrigen aber die von den grossen
Firmen stammenden Blätterpulver doch nur um 10 pCt., also von
etwa 5,0—5,5 differieren, so käme jener ungünstige Fall doch wohl
nur äusserst selten vor und das Resultat wäre jedenfalls eine sehr
befriedigende Gleichmässigkeit.
Dass die Einrichtung allen Beteiligten zum grossen Vorteil dienen
würde, sowie dass die Prüfungen mit Zuhilfenahme der öffentlichen
Untersuchungsanstalten und mit geringer Erhöhung des Taxpreises
ohne irgendwelche verwaltungstechnische Schwierigkeiten oder Kosten
durchgeführt werden könnten, habe ich bereits an anderer’ Stelle
(Berl. klin. Wochenschr. No. 20) näher gezeigt.
Obgleich ich selbst wohl weiss, dass etwas ganz Vollkommenes
mit der vorgelegten Fassung noch nicht geschaffen ist, so bin ich
doch überzeugt davon, dass ihre Einführung einen ausserordentlichen
Fortschritt bedeuten würde.
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3.
Ueber die zum Schutze der Arbeiter in Gummi-,
Phosphor-, Streichholz- und Spiegelfabriken zu
treffenden Einrichtungen und Torkehrungen.
Von
Dr. Franke, Arzt in Alberschweiler.
(Schluss.)
Um mir einen Einblick in den Betrieb einer Zündholzfabrik zu
verschaffen, konnte ich durch die Güte des Herrn Gewerbe- und
Regierungsrats Rick in Metz eine derartige Fabrik in Lothringen
besichtigen. In derselben waren einschliesslich des Besitzers 11 Per¬
sonen beschäftigt; unter diesen 7 junge Mädchen. Die „Fabrikgebäude“,
wenn man die unansehnlichen Bauten so nennen kann, lagen um einen
ziemlich geräumigen Hof. Zur rechten führte mich der erste Arbeiter,
ein Verwandter des Direktors, zunächst in ein wohl noch nicht 3 m
hohes, flach gedecktes, ca. 4 1 / 2 m langes, stallartiges Gebäude. Durch
eine kleine Seitentür gelangte man in das Innere, welches im wesent¬
lichen 3 nebeneinander gelagerte „Backöfen“ enthielt. Dieselben
wurden dargestellt durch 3 von Backsteinen umschlossene Hohlräume,
ca. 70 cm hoch, 1,50 m lang und in der Mitte ca. 1 m breit. Das
ganze wurde durch ein solides Mauerwerk umschlossen. Vor diesen
Heizkörpern blieb noch Raum für einen genügend breiten Gang. Die
Vorrichtung diente zum Trocknen des zu Streichhölzern zu verar¬
beitenden Holzes: Die 3 Backöfen wurden erst durch Holz sehr
energisch erhitzt (wobei der Rauch durch ein Abzugsrohr entweichen
konnte), darauf das zu trocknende Material hineingeworfen und die
eiserne Tür vorn vorgelegt und deren Ritzen mit Ton verschmiert.
Nach 2 Tagen etwa, wurde mir gesagt, sei das Holz trocken. Dies
bestand seinerseits aus 6 Y 2 cm dicken, ca. 6 —7 cm im Radius messenden
zylindrischen soliden Scheiben aus Birken und Pappelholz (wie mir
gesagt wurde).
Nach dem Trocknen wurden die Holzstücke in einem sehr
kleinen und niedrigen Raum nebenan weiter verarbeitet. Durch einen
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144 Dr. Franke,
einfachen Apparat, der nach Art der bekannten Brotmaschinen gebaut
war (Hebelmesser in einem Gestell) wurden die Holzblöcke in äusserst
geschwinder Weise in schmale, 2 mm breite Scheiben zerlegt. Durch
Wiederholung der Prozedur an den wieder zusammengelegten Scheiben,
aber senkrecht zur ersten Schnittrichtung, waren die Streichhölzer
sofort fertig und meist von durchaus korrekter Form. Eine Arbeiterin
band vermittelst einer einfachen Vorrichtung (in einem Rahmen) je
1000 Stück (wie man mir sagte) der fertigen Hölzchen in runde
Bündel zusammen. Das war die Form, in welcher die weitere Ver¬
arbeitung zu Zündhölzern vor sich ging.
Auf der entgegengesetzten linken Seite des Hofes befand sich
zunächst ein Schuppen, welcher dem Besitzer zum Arbeitsplatz diente
(Fabrikation von Hölzchen) und nebenbei als Aufbewahrungsraum des
Holzmaterials etc. diente. Das eigentliche Fabrikgebäude nun bestand
aus einem ca. 6 m hohen, 12 m langen und 3 m breiten flachgedeckten
Haus, das nach dem Hof hin mit Fenstern ausgestattet war, während
die Längsfront nach der Strasse hin nur eine glatte Mauer darstellte.
Um zum Beginn der Verarbeitung der Hölzer zu gelangen, musste
man durch das ganze Gebäude (vom Packraum beginnend) hindurch
und gelangte am Ende desselben in einen ca. 2 m langen Raum; da
derselbe wie alle Räume sehr hoch (ca. 5 m) und 3 m tief war, so
kam auf jeden der beiden Arbeiter ungefähr 15 cbm Luftraum. Der
Raum war mit einem ca. D/ 2 —2 qm grossen Fenster ausgestattet, das
geöffnet werden konnte, aber jetzt wegen kalten Wetters geschlossen
war. Ein primitiver Backsteinherd diente zum Erwärmen eines kleinen
Kessels mit Schwefel. In die flüssige Masse tauchte der mich her¬
umführende erste Arbeiter mit grosser Geschwindigkeit die beschrie¬
benen Päckchen zusammengebundener Hölzchen bis zu einer Tiefe
von reichlich 1 cm ein. Der flüssige Schwefel haftete sofort in ge¬
nügender Menge und nach wenigen Augenblicken des Trocknens wurde
die geschwefelte Seite des Päckchens von einer Arbeiterin energisch
auf eine glatte, dicke Glasplatte gestampft, sodass der überflüssige
Schwefel abstaubte. Weder durch diesen Schwefelstaub noch durch das
durch den flüssigen Schwefel entstehende Schwefeldioxyd schien eine
nennenswerte Belästigung hervorgerufen zu werden. Dagegen war auch in
diesem Raum ein merkbarer Phosphorgeruch zu spüren, der durch
die (wie es mir scheint, überhaupt meist) geöffnete, kleine, ungenügend
schliessende Tür vom Nachbarraum hereindrang. Dieser, kaum grösser
als der vorige, wurde durch eine bis an die Decke reichende, ca. 5 cm
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Ueber die znm Schutze der Arbeiter etc.
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dicke, zum Teil aus Holz bestehende, weiss getünchte Wand, von dem
zum Schwefel bestimmten getrennt. Ein gleiches Fenster wie im Nach¬
barraum konnte auch . hier zur Ventilation benutzt werden. An der
Decke führte eine runde OefFnung von ca. 15 cm Weite zu einem
über das Dach geführten Lüftungsrohr. Die gleiche Einrichtung be¬
stand übrigens auch im Schwefel- und Trockenraum. Dieser zweite
Raum diente zum Bereiten der Zündmasse und zum Tunken der
Hölzer. Auf einem kleinen Tisch neben der Tür wurde zunächst die
Masse bis auf den Phosphor fertig bereitet. Sie sollte im wesent¬
lichen aus Leim, Wasser, Fuchsin und auch etwas Mennige bestehen.
Der von Coignet pere et fils bezogene Phosphor wurde dagegen unter
einem kaminförmigen Abzug in die Masse eingetragen, dessen Rohr
ca. 3 / 4 m über das Dach hinausgeführt und hier derartig abgeschlossen
war, dass anscheinend eine geringe saugende Wirkung stattfinden
konnte. Zur Zeit stand unter der rechteckigen Oeffnungsfläche des
Kamins (Grösse ca. 70 : 40 cm) ein kleiner ungefähr 35 cm im Durch¬
messer haltender Kessel, in welchem die rote „salbcnartige“ Masse
sich befand; von deren Oberfläche stieg ein merklicher leichter Dampf
auf, der nur teilweise in den 60 cm davon entfernten Abzug weg¬
geführt wurde. Es roch in dem Raume nach Phosphor. Vor dem
Tunken der geschwefelten Päckchen glättete der damit beschäftigte
Arbeiter mit einer Art Kelle die Oberfläche der Masse und tauchte
Yierteljahrssebrift f. ger. Med. u. öff. San.-Wesen. 3. Folge. XXXII. 1. |Q
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Dr. Franke,
dann die Kuppen 3 mal hintereinander ein; damit war das Zündholz
fertig. Der Tunker sah sehr blass aus, äusserlich waren aber sonst
Anzeichen einer Erkrankung nicht zu sehen. Eine Arbeiterin hatte
die Aufgabe, einzelne durch die Tunkmasse verklebte Hölzer mit
der Hancf etwas aus dem Bündel herauszustossen; sie legte darauf
dieselben kurze Zeit auf einen in der Nähe des Abzuges befindlichen
Tisch und brachte sie dann in den angrenzenden Trockenraum. Dieser
entsprach bis auf den hier fehlenden Abzug ganz dem Tunkraum.
An der fensterlosen Seite befand sich nahe dem Fussboden ein aus
eisernen Stäben hergerichtetes, primitives, mit Blech belegtes Gerüst,
auf welchem das endgiltige Trocknen der Hölzer stattfand. Es be¬
fanden sich hier, wie es scheint, meist nur eine kleine Zahl von Zünd¬
holzbündeln (etwa 1—2 Dutzend), während die übrigen schon in dem
angrenzenden kleinen Saal zur weiteren Verarbeitung lagen. Dieser
etwa 6 m lange Raum diente zum Verpacken der fertigen Hölzer,
welche nach Lösung des die Zündhölzer zusammenhaltenden Bindfadens
teils in gelb-graues Papier in grösserer oder geringerer Zahl einge¬
schlagen, teils in Kästchen von blauer Pappe verpackt wurden. Auf
einige Schachteln wurden gedruckte Zettel mit der Aufschrift: „Allu-
mettes du diable“ geklebt, eine jedenfalls nicht unpassende Bezeichnung.
Auch in diesem Raume war der Geruch der Weissphosphorzündhölzer
deutlich wahrnehmbar. Am Boden stehend befanden sich hier eine
Reihe von Kisten, in welchen die fertige Ware untergebracht wurde.
Die Heizung aller Räume geschah durch eiserne Oefen. Auf
meine Frage, ob Erkrankungen beobachtet seien, wurde mir von dem
ersten Arbeiter gesagt, das sei noch niemals vorgekommen und auch
jetzt seien alle Arbeiter gesund. Erwähnt sei noch, dass sämtliche
in dem Betriebe beschäftigte Personen vom Unternehmer gelieferte
weissgraue Schürzen trugen.
Entsprechen die Einrichtungen dieser Fabrik den Forderungen
der Hygiene und sind genügend Vorkehrungen zur möglichsten Ver¬
meidung von Erkrankungen an Phosphornekrose getroffen? Die Fabrik
steht unter dem Gesetz betr. Anfertigung und Verzollung von Zünd¬
hölzern vom 13. Mai 1884, dessen Inhalt übernommen und sehr erweitert
worden ist durch die Ausführungsbestimmungen vom 8. Juli 1893.
Legen "wir diesen sanitär notwendigen Masstab an, so müssen
wir sagen, dass der Betrieb zwar in den meisten Punkten dem Buch¬
staben nach dem Gesetze genügt, aber nicht dem wahren Sinn.
Durchgeführt ist erstlich die Trennung der einzelnen Fabrikräume.
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Aber die Trennung ist nicht genügend: Die Wände müssten dicker
sein, damit nicht durch irgend welche Lücken Dämpfe von einem
zum andern dringen können. Die Türen müssen luftdicht schliessen
und während des Betriebes nicht geöffnet sein. Beides wurde besonders
zwischen den Räumen zum Tunken und Schwefeln der Hölzer ver¬
misst. Sehr wünschenswert würde es überhaupt sein, wenn zwischen
den einzelnen Räumen ein ausreichend breiter Gang eingeschaltet
wäre, den auf beiden Seiten Türen abschliessen. Der für den ein¬
zelnen Arbeiter zur Verfügung stehende Luftraum in der Fabrik ent¬
spricht an sich den Vorschriften des Bundesrats, die 10 cbm als
Minimalmass festlegen. Dasselbe erhält aber nur durch seine Be¬
ziehung zur Lufterneuerung in den Räumen seinen Wert.
Allgemein gesprochen richtet sich der Ventilationsbedarf eines
Fabrikraumes nach dem Grade der Verunreinigung, wie sie erstens
durch den Aufenthalt der Arbeiter an sich — nach Pettenkofer
noch jetzt durch das Mass der sich anhäufenden Kohlensäure ge¬
messen — gegeben ist, wie sie zweitens durch die Menge der staub-
und gasförmigen Schädlichkeiten bestimmt ist. Morin fordert für
Werkstätten mit besonderen Quellen der Luftverderbnis 100 cbm pro
Kopf und Stunde (Rubner S. 205), Vallin(48) (S. 154) verlangt für
die gefährlichen Räume der Phosphorzündholzfabriken 150 cbm zum
mindesten, für den Tunkraum (trempage) das doppelte.
In den von der französischen Kommission besuchten belgischen
Fabriken kamen auf den Kopf des Arbeiters in der Stunde ungefähr
90—I40cbm. Dieselben waren daneben in guter, zum Teil mustergiltiger
Weise eingerichtet. Die Richtung der Absaugung der Phosphordämpfe
geschah in den französischen Fabriken fast durchgängig nach unten.
Die Verpackung der Ware wurde auf Tischen vorgenommen, deren
eiserne Platten vielfach durchbrochen waren, und durch diese hindurch
wirkte nach unten die Ventilation. Ganz abgesehen davon, dass diese
Oeffnungen sich häufig verstopften, konnte auch sonst das Eindringen
von schädlichen Dämpfen so keineswegs verhindert werden. Das Ab¬
saugen der Phosphorgase am Orte der Entstehung ist allerdings
zweifellos das beste, was geschehen kann, aber der Luftstrom wird
am richtigsten wagerecht von der Seite, auf der der Arbeiter sich
befindet, auf die Phosphormasse bezw. auf die zu verpackenden oder
auszulesenden Zündhölzer treffen, um die giftigen Dämpfe nach der
entgegengesetzten Seite fortzuführen; ausserdem scheint eine „Hilfs¬
ventilation“ an der Decke der Fabrikräume nach dem, was Vallin
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Dr. Franke,
(S. 155) über die belgischen Fabriken berichtet, zum mindesten sehr
wünschenswert zu sein. Gehen wir zu der von mir besichtigten Fabrik
zurück, so müssen wir zunächst feststellen, dass für dieselbe ein
besonders hohes Ventilationsbedürfnis besteht. In grossen Fabriken
geschieht das Bereiten der Zündmasse und das Betunken der Hölzer
in besonderen Apparaten. Die ersteren sind überall luftdicht ge¬
schlossen und müssen gesetzlich so eingerichtet sein, dass ihre Füll¬
öffnung zugleich als Sicherheitsventil wirkt (§ 3 Abs. 2). Auch die
Tunkapparate bezwecken neben Ersparung an Arbeiterkräften, wodurch
allein schon die Gefahr der Vergiftung auf eine viel kleinere Zahl
von Individuen beschränkt wird, die Verhinderung des Eindringens
von Phosphordämpfen in die Fabrikräume. Die Apparate besorgen
drittens das Eintauchen der in Rahmen am besten zu 1800—2000
(Vallin S. 156) zusammengehaltenen Hölzchen in weit bessererWeise,
als es gewöhnlich im Handbetrieb geschieht. Mussten doch in franzö¬
sischen Fabriken nicht selten 25—30 pCt. der mit der Hand getunkten
Hölzer später als unbrauchbar ausgelesen werden, während dies ausser¬
ordentlich gefährliche Geschäft in den Fabriken Belgiens auf 1—2 pCt.
der Zündhölzer beschränkt, war (Vallin S. 156). Eine der besten
Apparate derart ist der von Higgins (cf. Albrecht [2], S. 904). Hier
gelingt die Absaugung der giftigen Dämpfe am Orte der Entstehung¬
tatsächlich in sehr vollkommener Weise.
Wie anders in der Lothringischen Zündholzfabrik! Fast scheint
es, als hätten wir in ihr eine der alten von jener französischen
Kommission besichtigten Fabriken vor uns, die nach den Vorschriften
des Bundesrats vielleicht mit beträchtlichen Geldopfern vonseiten des
Besitzers zu dem jetzigen weit besseren, aber noch durchaus nicht
vollkommenen Zustande reformiert ist. Das Bereiten der Zündmasse
geschah, wie wir gesehen haben, bis auf den Zusatz von Phosphor
in einem offenen Gefäss; angenommen auch, die Eintragung des
Phosphors unter dem Abzug würde stets in einem verdeckten Gefäss
vorgenommen, so bleiben noch immer das Eintauchen der ge¬
schwefelten Hölzer mit der Hand ebenso das Hervorstossen der mit
den Kuppen verklebten Zündhölzer aus dem Niveau der übrigen durch,
die Arbeiterin, welche dabei notwendig das Gesicht auf etwa 40 cm
der Ware nähern muss, so gefährliche Beschäftigungen, dass eine sehr
energische Lüftung gerade dieses Raumes gefordert werden muss.
Auch wenn die Fenster fortgesetzt geöffnet würden, genügten die vor¬
handenen Ventilationseinrichtungen durchaus nicht und dürfte auf
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lieber die zum Schutze der Arbeiter etc.
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eine künstliche Erneuerung der Luft keinesfalls verzichtet werden.
Dieselbe müsste erstlich sehr energisch, wie oben auseinandergesetzt,
an dem Tunkkessel in der Richtung vom Arbeiter weg einzusetzen
haben und ferner müsste auch die Arbeiterin ihre Tätigkeit nur unter
einem in gleicher Weise wirkenden Luftstrom vornehmen. Dazu
würde ausserdem noch eine kräftige Ventilation des gesamten Raumes
zu kommen haben. Ein Luftraum von 150 cbm pro Kopf und Stunde
dürfte als Mindestmass für die Wirksamkeit der gesamten Ventilations¬
anlage unter den geschilderten Verhältnissen gefordert werden müssen.
Das würde bei dem 30 cbm fassenden Raum für die beiden Arbeiter
eine zehnmalige Erneuerung der gesamten Luftmenge in der Stunde
ausmachen. Eine derartig starke Ventilation ist praktisch tatsächlich
noch möglich. Denn nehmen wir an, dass die gesamte Luft an der
Decke des 5 m hohen Raumes eintrete und am Boden denselben ver¬
lasse, so streicht die Luft mit einer Geschwindigkeit von 50 m in der
Stunde oder 0,014 m in der Sekunde hindurch. Im Hinblick darauf,
dass wir im Freien bei trockner Haut eine Luftbewegung erst wahr¬
nehmen, wenn sie mit grösserer Geschwindigkeit als 0,5 m pro »Se¬
kunde strömt, wird man nicht annehmen können, dass 0,014 m pro
Sekunde für die Arbeiter Belästigungen mit sich bringen werden.
Vallin (S. 154) behauptet sogar, dass lm und 1,50 m pro Se¬
kunde sich nicht unangenehm bemerkbar machen sollen. 1 )
1) Die vorstehenden Betrachtungen über die Lothringer Zündholzfabrik be¬
dürfen nach dem, was ich nachträglich nooh über dieselbe in Erfahrung bringe,
einer gewissen Korrektur* Es bandelt sich hier um eine ganz kleine primitive An¬
lage, die sich in der Tat aus der Hausindustrie entwickelt hat und die nicht
ständig betrieben wird. Die Fabrikation richtet sich nach den Bestellungen und
war bei den amtlichen Revisionen häufig eingestellt bezw. eingeschränkt. Die
Arbeiterinnen sind durchschnittlich nur 4—5 Monate jährlich mit mehr oder min¬
der langen Unterbrechungen in derselben beschäftigt. Noch bis vor 2 Jahren war
mit der Zündholzfabrikation gleichzeitig ein grosser Gärtnereibetrieb verbunden,
der infolge von neuen Bauten in der Nähe heute fast vollständig verschwunden
ist. Die Arbeiterinnen wurden mehr im Garten als in der Fabrik beschäftigt.
Die männlichen Arbeiter waren bis vor kurzer Zeit nur Familienangehörige, der
Vater mit 3 Söhnen. Diesem Wechsel in der Beschäftigung der Arbeiter und
Arbeiterinnen mag es wohl zuzuschreiben sein, dass Fälle von Phosphor¬
nekrose nie vorgekommen sind: Seit 1888, d. h. seitdem die Gewerbeaufsicht in
Elsass-Lothringen besteht, sind keine derartigen Erkrankungen zu verzeichnen
gewesen und auch aus früheren diesbezüglichen Erhebungen — vonseiten der
Gesundheitsbehörden — hat sich ergeben, dass in diesem mehr gartenwirtschaft¬
lichen Betriebe keine Phosphorkrankheiten festgestellt worden sind, während in
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Dr. Franke,
Um die Gefährlichkeit der Phosphormasse selbst zu vermindern,
sind hier noch 3 Punkte zu betonen. Es sollte nur kalte Phosphor¬
masse, die statt des Leims eine andere Bindemasse z. B. Gummi
arabicum enthält, zur Anwendung kommen. Wird erwärmte Tunk¬
masse gebraucht, so dürfen nach der Vorschrift des ßundesrats nur
Vorrichtungen benutzt werden, welche für diesen Zweck von der
höheren Verwaltungsbehörde besonders genehmigt sind, d. h. die eine
besonders vollkommene Absaugung der Phosphordämpfe an der Ent¬
stehungsstelle gewährleisten. Ferner wird die Tunkmasse um so ge¬
fährlicher sein, je mehr Phosphor sie enthält. Die von Vallin
(S. 159) sehr gelobten „englischen“ Zündhölzer enthalten nach dessen
Angabe 3 pCt. im Sommer, 5—6 pCt. Phosphor im Winter und in
feuchter Zeit, ein Gehalt der als zweckentsprechend und genügend
bezeichnet werden kann. In Frankreich war die Masse früher 6,5
bis 10 proz. Endlich macht Roth (45) darauf aufmerksam, dass ein
Zusatz von Terpentin zur Zündmasse zu erwägen ist, wenn dadurch
die Entwicklung der Phosphordämpfe gehindert wird. Chemische
Vorbeugungsmittel anderer Art, z. B. Verwendung von Kupfersalzen,
Ozonisieren der Luft, welches den Phosphordampf oxydieren sollte,
Einleiten von Wasserdampf in die Räume sind in der Praxis unbe¬
achtet geblieben. (Weyl [3], S. 780). Eine fundamentale Forderung
für den Fabrikbetrieb wird eine peinlich durchgeführte Sauberkeit
sein; tägliche Reinigung der Räume nicht während der Arbeitszeit,
regelmässiger halbjährlicher Anstrich der Wände mit Kalkmilch,
Lieferung von Arbeitskitteln und Sorge für reichliche Waschgelegcn-
heit, Vorrichtung zum Mundspülen (z. B. mit einer Lösung von über¬
mangansaurem Kali), das werden die Pflichten der Fabrikanten sein,
der gut eingerichteten, grösseren Fabrik in Saargemünd mit luftigen Räumen,
Bade- und Wascheinrichtungen, Ventilatoren etc., in welcher 70 Arbeiter ständig
beschäftigt werden, fast jedes Jahr mehrere Fälle von Phosphornekrose vorkamen.
Wegen dieser günstigen Ergebnisse wurde gegenüber der kleinen in Rede stehen¬
den Fabrik von der Einrichtung weiterer kostspieliger Anlagen bis jetzt abgesehen.
Hätten sich Uebelstände ergeben, so hätte man bessere Einrichtungen verlangen
müssen; mit diesen etwaigen Forderungen stand jedoch die Existenz der Anlage
in Frage.
Interessieren dürfte noch die Tatsache, dass im Jahre 1892 in Lothringen
noch 3 hausindustrielle Betriebe bestanden, die jedoch infolge der gesetzlich ver¬
langten Einrichtungen ihren Betrieb alsbald einstellten. Das ist zugleich ein Be¬
weis dafür, dass man von amtlicher Seite da energisch durchgegriiren hat, wo die
Notwendigkeit cs erheischte.
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Ueber die zum Schutze der Arbeiter etc.
151
Benutzung der vorhandenen Schutzmassregeln die der Arbeiter. Nur
in grösseren Fabriken wird man besondere Anlagen für Wasch- und
Badegelegenheit (die jetzt anscheinend mit Recht immer mehr in Auf¬
nahme kommenden „Brausebäder“) verlangen können. Sommerfeld
(24), S. 76, macht mit gutem Grund auf den Leichtsinn aufmerksam,
mit dem die Arbeiter aus bequemer Gleichgültigkeit verfahren. Das
allgemeine ßekanntgeben der für die Arbeiter wichtigen Vorschriften
durch Anschlag in der Fabrik ist daher eine sehr wichtige Be¬
stimmung (§ 15).
Ueberblicken wir die staatlichen Massnahmen zur Vermeidung
der Gefahren des Phosphors, so müssen wir sagen, dass sie abge¬
sehen von einem etwa noch zu verlangenden grösseren Luftkubus auf
den Kopf des Arbeiters und der Verkürzung der Arbeitszeit eines
wesentlichen weiteren Ausbaues kaum noch fähig sein dürften. Haben
diese Vorschriften genügt, die Phosphomekrose zu beseitigen? In der
Jenaer Klinik machten die Fälle von Phosphornekrose von 1857 bis
1890 1,7 pCt. aller Operierten aus, von 1890 bis 1895 3,6 pCt.! Es
ist ferner eine Tatsache, dass in Deutschland alljährlich im Durch¬
schnitt noch etwa 6 Fälle zur amtlichen Kenntnis kommen; in Wirk¬
lichkeit sind es zweifellos noch mehr. Man wird im Hinblick auf
die erwähnte lothringische Fabrik einwenden, dass die mangelhafte
Durchführung der gesetzlichen hygienischen Massnahmen Schuld an
dem Misserfolg ist. Das ist aber nur zum Teil richtig. Es ist aller¬
dings trotz der Bemühungen der Meiningischen Regierung nicht ge¬
lungen, in Thüringen jene berüchtigte Hausindustrie zu unterdrücken,
welche zur Degeneration ganzer Gegenden geführt hat. (56). Anderer¬
seits aber sind auch „in den bestgeleiteten Fabriken unzweifelhaft
Fälle von Nekrose vorgekommen, in Fabriken, wo all die Sicherheits-
massregeln ergriffen sind, die das Gesetz von 1884 vorschreibt. u
(Reichstagsverhandlungen [49] S. 7534.)
So bleibt noch ein Mittel: die Eliminierung des weissen Phosphors
aus der Zündholzindustrie. Angesichts der Tatsache, dass dem
weissen Phosphor in allen Kulturländern eine so allgemeine gewaltige
industrielle Bedeutung zukommt, erscheint der Ausweg als ein geradezu
heroisches Mittel. Man konnte den Entschluss nur fassen, wenn ge¬
eignete Ersatzmittel zu Gebote standen und die Staaten gemeinsam
vergingen. Schon 1856 hatte Lundström in Jönkoping (Schweden)
die Sicherheitszündhölzer erfunden. Sie enthalten statt des weissen
Phosphors die rote Modifikation desselben, welche durch Erhitzung
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des ersteren (bei Luftabschluss) auf 230—250° entsteht. Er leuchtet
nicht, bleibt an der Luft unverändert, schmilzt selbst bei hohen
Temperaturen nicht, ist unlöslich in Schwefelkohlenstoff und — was
das wichtigste ist — er ist vollkommen ungiftig; nur ungenügend
gereinigt kann er durch Beimengung von kleinsten Mengen des gelben
Phosphors einen gewissen Grad von Giftigkeit erlangen. Es sei da¬
her schon jetzt erwähnt, dass er immer nur in wirklich reinem Zu¬
stande zur Verwendung kommen darf, sollen Vergiftungen sicher ver¬
mieden werden. Die Köpfchen der schwedischen Zündhölzer bestehen
aus einem Gemenge von Schwefelantimon, Mennige, chlorsaurem Kali
und gewöhnlich verschiedenen anderen Oxydationskörpern; der rote
Phosphor ist getrennt von dem Zündholz in einer besonderen Masse
enthalten, welche zu beiden Seiten der allbekannten Schachteln auf¬
gestrichen ist. Nur an diesen Reibflächen, die als wesentlichen Be¬
standteil gewöhnlich noch Schwefelantimon enthalten, entzündet sich
das Streichholz. Daher der Name. Diese Industrie der „Schweden“
hatte von Anfang an die Tendenz zum Grossbetriebe, da zu deren
Fabrikation Maschinen nicht entbehrt werden können. In neuester
Zeit werden jedoch der zu ihrer Herstellung nötige Holzdraht und
ebenso die Holzschachteln im grossen dargestellt und es ist so auch
für einen kleineren Betrieb die Möglichkeit gegeben, Sicherheits¬
zündhölzer zu fabrizieren (Sprenger 49). Allerdings ist ihre Er¬
zeugung im Grossbetrieb am rentabelsten. Das Holz der „Schweden“
ist der besseren Brennbarkeit wegen mit Paraffin imprägniert; ausser
dieser Fähigkeit sich damit leicht durchtränken zu lassen, bedarf es
wegen der hohen Entzündungstemperatur der Masse ferner einer be¬
trächtlichen Festigkeit des Holzes. Beide Eigenschaften sind in dem
Aspenholz vereinigt, das in Schweden reichlich zur Verfügung steht,
in Deutschland aber nur ganz vereinzelt vorkommt.
Das ist der Hauptgrund, weswegen die Sicherheitszündhölzer für
die deutsche Industrie als Ersatzmittel nicht allgemein in Betracht
kommen können. Die deutsche Regierung fand in der Sehwieningschen
Masse eine Zusammensetzung, w r elche zwar nicht das „ideale Zündholz“
des belgischen Preisausschreibens [cf. Holzers Darstellung bei
Bauer (51) S. 33], das wohl niemals existieren wird, darstellt, aber
als ein durchaus befriedigender, wirklicher Ersatz des Weissphosphor-
ziindholzes angesehen werden muss. Die Schwieningsche Mischung
gehört zu denjenigen, welche roten Phosphor und oxydierende Körper
wieder in einer Masse vereinigen. Die letzteren sind aber derart
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lieber die zum Schutze der Arbeiter etc.
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gewählt und ihre Wirksamkeit ist durch Zusatz indifferenter Bestand¬
teile so abgestuft, dass eine Explosionsgefahr mehr oder weniger ver¬
mieden wird. Die Hölzer zünden daher nicht nur an präparierten
Flächen. Das Schwieningsche Patent (50) ersetzt einen wechselnden
Teil des Kaliumchlorats durch Kalciumplumbat bis zu 30% je nach
den Anforderungen an die Entzündbarkeit. Durch das langsame
Abbrennen der Masse und die im Verhältnis zu den Sicherheitszünd¬
hölzern niedrige Entzündungstemperatur ist es bedingt, dass der Holz¬
draht, auch ohne, dass er paraffiniert worden ist, bei der Entflammung
in Brand gerät. Ueberdies ist es gelungen, das deutsche Fichten-
Tannen- und sogar Buchenholz (wenn auch etwas schwierig) zu
paraffinieren [Bauer 51 XXXHI]. Für die Schwieningsche Masse
wird allerdings wohl dem Schwefeln der Hölzer in der Praxis der
Vorzug gegeben werden. Das Gemenge ist ferner dadurch besonders aus¬
gezeichnet, dass die dadurch hergestellten Streichhölzer dauerhaft sind
auch gegen Feuchtigkeit, was mit Rücksicht auf die praktischen Ver¬
hältnisse von der grössten Wichtigkeit ist (z. B. für Förster, Fischer);
für diese ist auch die Fähigkeit der Hölzer, sich an allen Flächen,
sogar unter bestimmten Umständen an Kleidungsstücken zu entzünden,
eine wertvolle Eigenschaft. Für uns ist hier besonders der Vorwurf
der Explosionsgefahr, welcher gegen die Schwieningsche Masse er¬
hoben worden ist, von Bedeutung. Denn das würde allerdings für
die Arbeiter eine neue grosse Gefahr mit sich bringen. Mit Recht
wiese man da auf das Beispiel der „Sicherheitszündhölzer“ hin, welche
trotz ihres harmlosen Namens in Göteberg eine Explosion veranlassten,
dass 41 Arbeiterin die Luft flogen! [Popper (52)]. Die Schwieningsche
Masse ist jedoch in der Tat nicht explosiv: Eine mit derartigen Zünd¬
hölzern gefüllte Kiste wurde aus dem oberen Stock der Fabrik
Schwienings in Bettenhausen bei Kassel hinausgeworfen und
explodierte nicht, ebenso konnte sich die vom Reichstag dorthin entsandte
Kommission von der Ungefährlichkeit der Zündmasse nach dieser Richtung
hin überzeugen. Natürlich wird man aber nicht vergessen dürfen, dass
eine gewisse Feuergefährlichkeit als Zündstoff auch derSchwieningschen
Masse anhaftet. Das ist aber in weit geringerem Masse der Fall als
bei den Weissphosphorstreichhölzern, welche sich meist schon bei 80—100°
entzünden. Konnten doch in manchen Jahren ein Drittel aller Brand¬
fälle in Deutschland auf diese zurückgeführt werden (Sprenger: Reichs¬
tagsverhandlungen (49) S. 8950). Man hat die höhere bei 160—180°
gelegene Entzündungstemperatur der Schwiening-Ilölzer als einen
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Dr. Franke,
Nachteil angesehen: Mag man auch die Muskelkraft, die der einzelne
zum Entzünden derselben mehr aufwendet, als eine beklagenswerte
Kraftvergeudung ansehen, so ist doch unzweifelhaft volkswirtschaftlich
(Brände!) diese Eigenschaft als ein Vorteil zu betrachten: auch die
Arbeiter in den Fabriken sind weniger gefährdet.
Eine zweite Art von Ersatzmitteln für den weissen Phosphor sind
ungiftige Phosphorverbindungen, und es sind hier die zur Zeit in Frank¬
reich eingeführten, welche als Hauptbestandteil das Phosphorpentasulfid
enthalten, zu nennen.
Es fragt sich nun: Enthalten die bisher erwähnten Ersatzmittel
für den gelben Phosphor nicht etwa andere schädliche Bestandteile,
welche den Nutzen mehr oder weniger aufheben?
Die eben genannten Schwefelphosphorhölzer entwickeln beim
Feuchtwerden leicht den ebenso giftigen wie übelriechenden Schwefel¬
wasserstoff. Es scheint dieser Nachteil allerdings in den französischen
Fabriken keine grosse Rolle zu spielen. Von grösserem Gewicht ist
die Tatsache, dass man bis vor kurzem den Schwefelphosphor nicht
rein d. h. nicht ohne Beimengungen von weissem Phosphor darstellen
konnte.
Des roten Phosphors war schon Erwähnung getan. Während
Vallin (48) über einen Fall von Phosphornekrose aus einer mit rotem
Phosphor arbeitenden Fabrik leicht mit der Bemerkung hinweggeht,
der Arbeiter sei wohl indirekt mit weissem Phosphor in Berührung
gekommen (S. 152), führt Kuipers (34) 3 Fälle (No. 14, 15 u. 16)
an, welche aus einer ausschliesslich mit rotem Phosphor arbeitenden
Kasseler Fabrik stammten. Ich glaube nicht, dass die Frage danach
schon spruchreif ist. Jedenfalls muss festgehalten werden, dass der
reine rote Phosphor unbedingt ungiftig ist (siehe die Lehrbücher der
Intoxikation und gerichtlichen Medizin), und dass er nur, wie auch
Kuipers hervorhebt, durch die Beimengungen von kleinsten Mengen
der weissen Modifikation giftige Eigenschaften erhalten kann. Es sei
hier auch darauf besonders hingewiesen, dass man bei der Beurteilung
von Phosphornekrosefällen in mit rotem Phosphor arbeitenden Fabriken
immer daran wird denken müssen, dass auch Jahre nach dem Auf¬
geben der Beschäftigung mit weissem Phosphor die Nekrose als deren
Folge auftreten kann. Das wird besonders für die ersten, aber auch
noch späteren Jahre nach dem Inkrafttreten des Phosphorverbots für
die Statistik zu beachten sein, da dann wohl sicher die meisten Ar¬
beiter aus den Fabriken für Weissphosphorzündhölzer in solche, die
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roten verwenden, übergehen werden. Aus den von Hölzer [Bauer
(51, S. 34 u. 35)] erwähnten Zusammensetzungen von weissphosphor¬
freien Zündmassen geht hervor, dass an schädlichen Substanzen bei
denselben vor allem noch das doppeltchromsaure Kali, Bleisalze,
Chlorkalium und höchstens wohl noch Kupfersalze in Betracht kommen.
Blei und Chrom sind auch Bestandteile vieler Arten von Sicherheits¬
zündhölzern. Wodtke (53) berichtet, dass das doppeltchromsaure
Kali in der Zündmasse derselben 3—6 pCt. ausmacht. Es gehen
täglich 100—170 g Kalium bichromatum durch die Hände der Ar¬
beiterinnen, und in die Arbeitsräume gelangen Tag für Tag einige
Kilo dieses Giftes in einer trockenen und daher verstäubungsfähigen
Form. Die Erkrankungen bestehen vor allem in Entzündung und
Geschwürsbildung am Septum der Nasenscheidewand mit folgender
Perforation; Wodtke (53) fand z. B. in den ersten von ihm besuchten
hinterpommerschen Fabriken unter 84 Arbeitern (darunter 74 Ein¬
schachtelfrauen!) bei 8 Durchlöcherungen der Nasenscheidewand, bei
5 Geschwürsbildungen daselbst, bei 4 Narben als Reste solcher Ge¬
schwüre, 3 mal an der Nasenscheidewand, 1 mal im Rachen. Be¬
merkenswert ist der schmerzlose Verlauf. In Ostpreussen wurden
bei Personen, die im Tunkraum und an der Füllmaschine beschäftigt
waren, dieselben und ähnliche Veränderungen festgestellt. Roepkc
(54) sah derartige; spezifische Schleimhautreizungen der oberen Luft¬
wege, vorzüglich der Nasenscheidewand, bis zur Geschwürsbildung
übrigens auch bei Arbeitern einer AVeissphosphorzündholzfabrik in
solchen Räumen, wo feiner Holzstaub und Schwefeldioxyd einwirkten.
In den Lauenburger Fabriken, wo Kalium bichromatum verwendet
wird, beobachtete man leichtere und schwerere ekzematöse Haut¬
erkrankungen [1896 und 1897: Jahresberichte der Preussischen Ge¬
werberäte. S. 218 bzw. S. 252: Wodtke (53)], welche nach hygienischen
Massnahmen jetzt zu verschwinden scheinen. Es ist indessen sehr
daran zu denken, dass dieselben auch durch unreines Paraffin ent¬
standen sein konnten, wofür man sich von amtlicher Seite entschied.
Die Klagen einiger Personen über Kopfschmerzen und Hinfälligkeit
lassen immerhin den Verdacht einer leichten Allgemeinintoxikation
aufkommen, wenn man bedenkt, dass nach Kobert (29) 30 mg
Kalium bichromatum hinreichen, um eine leichtere Vergiftung hervor¬
zurufen. Wodtke berichtet über einen derartigen Fall in der dritten
Fabrik, wo nach langer Tätigkeit solche Wirkungen hervortraten,
ßurghart weist auf die Allgemeinerscheinungen hin, auf Nieren-,
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Magen- und Darmkrankheiten und den Symptomenkomplex der „Chrom¬
kachexie“ [Burghart, Charitöann. 1898. XXIII. Jahrg.': Wodtke (53)].
Schliesslich soll nicht unerwähnt bleiben, dass nach Wodtkes An¬
gabe eine kleine Schachtel mit 70 Zündhölzern 35 mg doppeltchrom¬
saures Kali enthält und daher auch volkswirtschaftlich solche Sicher¬
heitszündhölzer die Auszeichnung „giftfrei“ nicht verdienen. Viel
weniger als das Chrom scheint der Bleigehalt der Zündmasse Anlass
zu Vergiftungen zu geben. Lüdemann (55), der selbst eine an
allen Flächen zündende Masse mit bleisaurem Calcium konstruierte,
glaubt, dass eine Bleigefahr nicht vorhanden sei, da die bis zu 60 pCt.
Bleisuperoxyd enthaltenden „Vulkanhölzer“ nie zu Vergiftungen ge¬
führt haben. Das gibt uns aber nicht das Recht, diesen Bestandteil
zu ignorieren, wohl aber werden wir mit Grund erwarten dürfen,
dass Massregeln, welche für das Unschädlichmachen des chrorasauren
Salzes als genügend erachtet werden können, auch zur Abwehr des
Saturnismus ausreichen werden. Dasselbe gilt für die noch übrigen
giftigen Bestandteile (Chlorkali, Kupfersalze usw.).
Welcher Art müssen diese Einrichtungen und Vorkehrungen sein?
Es ist vielleicht mit der Zeit möglich, statt des doppeltchromsauren
Kalis das Barytsalz einzuführen; es wäre das die beste Lösung.
Wodtke (53) führt als die Hauptgelegenheit, wo die Arbeiter dem
Staub ausgesetzt sind, das Mahlen (Zerkleinern) des Chromsalzes und
das Einschachteln der fertigen Zündhölzer an, aber auch beim Be¬
reiten der Tunkmasse und beim Tunken selbst sind Schädigungen
möglich. Am besten wird das Chrorasalz schon in gemahlenem Zu¬
stande in die Fabrik gelangen; wo das nicht geschieht, wird die
Zerkleinerung nur in dicht ummantelten Apparaten erlaubt werden
dürfen. Die feuchte Verarbeitung des Materials ist sonst schon durch
die Natur des Betriebes geboten und wird auch durch ■ die Feuer¬
gefährlichkeit erheischt. Man wird aber die strengen Vorschriften,
wie sie der Bundesrat durch die „Bekanntmachung, betr. die Ein¬
richtung und den Betrieb von Anlagen zur Herstellung von Alkali¬
chromaten, vom 2. Februar 1897“ gegeben hat, nicht auf die Zünd¬
holzfabriken, in denen das Chromsalz verwendet wird, übertragen
dürfen. Es wird dagegen zu fordern sein: für jeden Arbeiter ein
genügender Luftraum von mindestens 10 cbm, kräftige natürliche
Ventilation, in den Räumen zur Zerkleinerung des Chromsalzes und
in den Packräumen in der Regel auch eine künstliche Ventilation,
daneben peinliche Sauberkeit: Regelmässige gründliche Reinigung der
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Fabrikräume, Lieferung von Arbeitsröcken, Vorrichtung zum Mund-
und Nasenspülen, reichliche Gelegenheit zum Waschen ausserhalb der
Arbeitsstätten, am besten Einrichtung von Douchen und Bädern, be¬
sondere Räume zum Essen, für die Pausen, zum Wechseln der Kleider,
Belehrung der Arbeiter z. B. durch Aufhängen von Tafeln, regel¬
mässige ärztliche Aufsicht und Untersuchung (Führung eines Arbeits¬
buches). Als Werkstelle zur Herstellung von Zündhölzern fallen auch
solche Fabriken unter das Kinderschutzgesetz (Verbot der Kinder¬
arbeit). Auch für die bleihaltigen Schwieninghölzer werden diese
Vorschriften ausreichen und vielleicht noch im ganzen etwas milder
gehandhabt werden können. Hinsichtlich der Feuergefährlichkeit sei
auf den § 2 der Bekanntmachung vom 8. Juli 1893 (Weissphosphor-
ziindhölzer) hingewiesen, welcher z. B. für die Schwieninghölzer um¬
somehr wird aufrecht erhalten werden müssen, als die jetzigen Be¬
triebe schon dem Paragraph nachgekommen sein müssen. Für die
Sicherheitszündhölzer werden dagegen erheblich strengere Vorschriften
Platz zu greifen haben, da sie Explosivstoffe sind. Die Anweisung
der Minister für Handel und Gewerbe, des Innern, des Ministers der
Medizinalangelegenheiten und des Ministers für Landwirtschaft, Do¬
mänen und Forsten zur Ausführung der Gewerbeordnung, vom
9. August 1894 bemerkt zum § 17 der Gewerbeordnung: „Bei ....
Anlagen.zur Bereitung von Zündstoffen aller Art sind genaue
Angaben über die Bestimmung und Einrichtung der einzelnen Räume
sowie über den Hergang der Fabrikation erforderlich. Auch ist für
jeden einzelnen Raum das Maximum der darin zu verarbeitenden
oder zu lagernden Stoffe anzugeben.“
Das sind die hauptsächlichsten Ersatzmittel der Weissphosphor¬
zündhölzer. Auch sie werden die Gesetzgebung nicht entbehren
können, aber sie sind ein gewaltiger Fortschritt gegenüber dem
Schreckgespenst der Phosphornekrose.
Aber mit der Darbietung von Ersatzmitteln sind die Schwierig¬
keiten, die dem Phosphorverbot entgegenstehen, noch nicht alle aus
dem Wege geräumt. Schon 1879 wurde es in Deutschland angeregt,
aber mit Rücksicht auf den Zündholzexport sah man damals von der
radikalen Massregel ab und begnügte sich mit dem Gesetz vom
13. Mai 1884 und dessen Ausführungsbestimmungen vom Jahre 1893.
Dadurch war Deutschland in das von Bauer ([51] S. XXIX) als
zweite Phase bezeichnete Stadium des Kampfes gegen die Phosphor¬
nekrose eingetreten, während Russland sich noch jetzt in der ersten
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Phase dieser Entwicklung befindet, welche Bauer von der Zeit an
rechnet, wo die Industrie der Sicherheitsziindhölzer den Konkurrenz¬
kampf beginnt (1854). Aber auch in Russland sah man ein, dass
der Grundsatz des laisser faire, laisser aller nicht ausreiche und
suchte die Entwicklung dadurch zu beschleunigen, dass man die Weiss¬
phosphorhölzer stärker besteuerte als die Schweden — ohne durch¬
schlagenden Erfolg. In Frankreich war es in erster Linie Tardieu,
welcher seit dem Jahre 1856 immer und immer wieder auf den roten
Phosphor als Ersatzmittel des weissen hinwies (45). Der Staat ver¬
suchte es erst mit der Monopolisierung der Zündholzindustrie und
genauen Durchführung hygienischer Massnahmen; da die Nekrose nicht
verschwand, werden jetzt vom Staute nur Schwefelphosphorhölzer
fabriziert. Verkauf und Einfuhr anderer Hölzer ist verboten.
Auch in Deutschland ist man, wie oben geschildert, zu der Er¬
kenntnis gekommen, dass nur ein Verbot des weissen Phosphors die
Arbeiter vor dessen Gefahren schützen könne. In Meiningen gelang
es nicht die volksgefährliche Hausindustrie zu unterdrücken. Die
Sachsen-Meiningische Staatsregierung war es daher, welche eine be¬
sondere Erhebung über die Wirkungen des Gesetzes vom Jahre 1884
und dessen Ausführungsbestimmungen sowie über den Umfang und
die Bedeutung der zurzeit noch bestehenden deutschen Weissphosphor¬
zündholzindustrie anregte (56). Das Resultat der Umfrage des Reich¬
kanzlers war die Einbringung des Gesetzentwurfs, der den weissen
Phosphor beseitigen sollte. Während er in Dänemark schon seit 1874
staatlich unterdrückt war, hatte man mittlerweile an dem Beispiele
der Schweiz gesehen, dass das Verbot durchführbar sei. Auch hier
hatte es schwere Kämpfe gekostet, bis dasselbe 1880 ausgesprochen
wurde. Die Folgezeit schien den Gegnern Recht zu geben. Denn
alsbald entstand im Lande eine weit ausgebreitete Geheimfabrikation
und ein schwunghafter Schmuggel mit Weissphosphorzündhölzern und
1882 kam das Gesetz wieder zu Fall! Indessen hat Lunge (57) die
inneren Gründe des Ereignisses in der ungenügenden Strafbefugnis
des Schweizer Bundesrates und den dadurch möglichen Machenschaften
der geheimen Fabrikanten unwiderleglich aufgedeckt.
Das wiederaufgelebte Gesetz bestimmt im Jahre 1898, Art. 4:
„Fabrikation, Einfuhr, Ausfuhr und Verkauf von Zündhölzern mit
gelbem Phosphor sind verboten.“ Der Bundesrat besitzt jetzt ge¬
nügend Machtbefugnis, um dem Gesetz Geltung zu verschaffen. Durch
ein solches Verbot werden jedoch neben grossen Fabriken besonders
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die kleineren betroffen, da es ihnen an Mitteln fehlt, Neueinrichtungen
in der Fabrik und Maschinen zu beschaffen, etwa um Sicherheits¬
zündhölzer zu fabrizieren. In der Tat sind in der Schweiz von 1895
bis 1901 18 Betriebe eingegangen. Derartige Schädigungen der In¬
dustrie w r erden für ein Land, das einen starken Export hat, sehr
empfindlich sein können. Aber auch für ein Reich, das nur einen
massigen Export besitzt — und ein solches ist Deutschland — wird
eine internationale Regelung der Phosphorfrage zum mindesten sehr
wünschenswert sein. Hängt doch von der Blüte oder dem Nieder¬
gang einer bedeutenden Industrie nicht nur das Wohl einiger Fa¬
brikanten, sondern das Wohl vieler Tausende von Arbeitern ab. Wer
würde es daher nicht als eine grossartige Tat empfinden, wie unter
der Initiative Deutschlands im Jahre 1890 die erste internationale
Arbeiterschutzkonferenz in Berlin zusammentrat und derselbe Kongress
im Jahre 1897 in Brüssel das gänzliche Verbot des Bleies und
Phosphors ins Auge fasste? Deutschland ist der erste grosse Staat,,
der unter Wahrung der Interessen und der Freiheit der Zündholz¬
industrie den Plan in die Tat umsetzte: Der dem Reichstage unter
dem 15. November 1902 von der Reichsregierung zugegangene Gesetz¬
entwurf (58) wurde am 22. April 1903 mit grosser Mehrheit vom
Reichstage angenommen. Der § 1 Abs. 1 des Gesetzes bestimmt:
Weisser und gelber Phosphor, darf zur Herstellung von Zündhölzern
und anderen Zündwaren nicht verwendet werden. Zündwaren, die
unter Verwendung von weissem oder gelbem Phosphor hergestellt
sind, dürfen nicht gewerbsmässig feilgehalten, verkauft oder sonst in
Verkehr gebracht werden. Durch die Fassung des Gesetzes ist die
Konkurrenz des Auslandes ausgeschaltet. Während das schweizerische
Gesetz nur eine Uebergangszeit von 18 Monaten freiliess, sieht das
das deutsche Gesetz 3Vo Jahre vor (bis 31. Dezember 1907). Da¬
durch ist die Härte des Eingriffes des Gesetzes bedeutend gemindert
und es dürften schon deshalb verhältnismässig wenige Existenzen
merklich geschädigt werden. Trotzdem hörte man im Reichstage
Stimmen, die Entschädigung durch den Staat verlangten. Mit vollstem
Recht stellte der Staatsminister und Bevollmächtigte des Bundesrats
demgegenüber den Grundsatz auf: „Es hat niemand das Recht, zum
schwersten Schaden seiner Nebenraenschen an Leben und Gesundheit
ein gewinnbringendes Gewerbe zu betreiben.“ (Reichstagsverhand¬
lungen [49] S. 8937.) Besonders muss man es dem Gesetzgeber
Dank wissen, dass er auch dem Kleinbetriebe nach Möglichkeit ein
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Mittel an dieHandgegeben hat, um ihn vor Schädigungen durch das Gesetz
zu schützen. Das Reich hat von dem Erfinder das Schwieningsche
Patent erworben, um es kostenlos jedem, der es verwenden will, zu
überlassen. Die Schwieningschen Hölzer sind, wie wir sahen, ein
durchaus befriedigender Ersatz für die Weissphosphorzündhölzer. Der
Betrieb vermittelst der Schwieningschen Masse gestaltet sich min¬
destens so einfach wie der des mit dem giftigen Phosphor arbeitenden.
So steht Deutschland jetzt am Ende des Kampfes gegen ein
Gift, das nicht nur viele Arbeiter an Gesundheit und zum Teil auch
Leben geschädigt hat, sondern durch seine allgemeine Verbreitung im
Volke sich geradezu als gemeingefährlich erwiesen hat. Noch aber
ist nicht jede Quelle verstopft. Die Bestimmungen des Gesetzes vom
10. Mai 1903 finden auf Zündbänder, die zur Entzündung von Gruben¬
sicherheitslampen dienen, keine Anwendung. Grund zu dieser Aus¬
nahme ist die Tatsache, dass alle übrigen mit andern Zündmassen
gefüllten Zündbänder mehr oder weniger explosiv sind, so dass bei
Entzündung der Grubenlampe die Flamme herausschlagen und brenn¬
bare Gase zur Explosion bringen kann (59). Auch die Phosphorpillen
sind noch nicht aus der Welt geschafft. Möchte es bald gelingen,
auch die letzten Eingangspforten des weissen Phosphors in das Gebiet
der Oeffentlichkeit zu verschliessen. Damit wäre auch eine Gefahr
für die Arbeiter an sich ausgeschlossen.
Spiegelbelegen.
Der Merkurialismus ist die Gewerbekrankheit der Spiegelbeleg¬
anstalten. Kuss maul (60) unterscheidet drei Stadien der chronischen
Quecksilbervergiftung. Die erste Stufe ist der Erethismus mercurialis,
die zweite der Tremor, die dritte das Stadium terminale. Als Be¬
ginn der Intoxikation zeigen sich spezifische Entzündung der Mund¬
schleimhaut und des Zahnfleisches, die Geschwüre, Verlust der Zähne,
ja Kiefernekrose zur Folge haben kann. Weiterhin gewinnt die Haut
ein blasses und fahles Aussehen, der Panniculus adiposus schwindet,
die Muskulatur atrophiert, fast ausnahmslos bestehen in allen schwereren
Fällen Verdauungsstörungen (Verstopfung und Diarrhoe). Dieser
Cachexia mercurialis gesellt sich eine hochgradige nervöse Reizbarkeit
bei, welche den Kranken auf kleine Anlässe hin zu unbedachten Taten
hinreissen kann (Erethismus mercurialis). Der Tremor besteht in
einem anfallsweise auftretenden heftigen Zittern u. zw. stets klonischer,
nie tetanischer Art. Nach Kussmaul soll auch Tuberkulose bei
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Quecksilberarbeitem häufig sein. Unter anderen seltenen Erkrankungen
sei noch eine von demselben Autor gesehene, neuerdings von Hirsch¬
feld (61) beobachtete eigentümliche Nagelkrankheit bei Spiegelbelegem
erwähnt, die anscheinend als spezifisch anzusehen ist. In seltenen
Fällen können die oben genannten schweren Erscheinungen unter
Delirien oder Verblödung und gänzlichem Verfall des Körpers zum
Tode führen. Aber auch die leichten Fälle brauchen wenigstens
mehrere Wochen zur Genesung, schwerere Monate lang. Eine Ge¬
wöhnung an das Gift tritt nicht ein. Nach Hirt (31) sollten Frauen
„öfter und schneller“ erkranken als Männer, doch gibt Wollner (62)
den Prozentsatz zu ungunsten der Frauen nur um 1,6 höher an.
Nach ihm scheinen dagegen die Männer intensiver zu erkranken:
Besonders wichtig ist die Neigung der quecksilberkranken Frauen zu
Abort und Frühgeburt, welche ebenfalls schon Hirt bekannt ist.
Auch die Nachkommenschaft der kranken Frauen scheint vielfach
schwächlich und elend zu sein (cf. Darstellung von Bluhm in
Weyl [3], S. 91). Die Aufnahme des Quecksilbers geschieht als Dampf
durch die Schleimhaut der Atmungs- oder Verdauungswege, nur aus¬
nahmsweise kann die verletzte äussere Haut in Betracht kommen;
im Blut und in den Organen wirkt das Metall als Albuminat. Die
Ausscheidung geschieht durch den Urin, die Galle, den Darm, den
Speichel und den Schweiss [Roth (45)]. Interessant sind die Unter¬
suchungen Laqueurs (63) über die Form, in welcher das Queck¬
silber im Harn auftritt: Es scheint hauptsächlich in Verbindung mit
den Säuren und sauren Salzen (Harnsäure, Hippursäure, sauren Phos¬
phaten etc.), daneben auch mit dem Kreatinin zur Ausscheidung zu
kommen. Das aufgenommene Quecksilber kann lange im Körper
zurückgehalten werden, um erst nach Jahren Erscheinungen zu machen.
Gorup-Besanez (64) fand in der Leiche einer Frau, welche Spiegel¬
arbeiterin gewesen, aber bereits über ein Jahr vor ihrem Tode den
Dienst verlassen hatte, noch deutliche Spuren von Quecksilber. Zur
Erklärung der ersteren Tatsache nimmt man an, dass an irgend einer
Stelle des Körpers das Metall lange Zeit deponiert werden kann, um
erst dann in den Kreislauf zu gelangen. Am gefährlichsten und be¬
rüchtigtsten sind auch in dieser Industrie die „Heimbelegen“. Aber
auch wenn nur eine Person eines Hausstandes in einer Spiegelbelege
arbeitet, können durch mangelnde Vorsicht Bedingungen geschaffen
werden, welche das gefährliche Gift in die Familie bringen. So er¬
zählt Wollner (62) eine Beobachtung, wo die Kinder des Arbeiters
Vierteljahrsscbrift f. ger. Med. o. Off. San.-Wesen. 3. Folge. XXXII. 1. } ]
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eher erkrankten als dieser selbst, weil er die Kleider nicht wechselte.
Die Notwendigkeit peinlicher Sauberkeit im Betriebe kann auch eine
Beobachtung Mörners (65) über das Verdampfen des Quecksilbers
in Wohnräumen illustrieren: In einer Pflegeanstalt war mit Sublimat
desinfiziert worden. Es stellten sich bei den Kindern schwere Darm¬
erscheinungen ein. Es wurde der Verdacht rege, dass zurück¬
gebliebenes Sublimat durch organische Substanzen oder durch Be¬
rührung der Lösung mit dem Kalk des Mörtels zu Quecksilber
reduziert sein könnte, und die schlechten Stühle der Kinder vielleicht
darauf zurückzuführen seien. Tatsächlich wurden in dem Urin der
Kinder und ebenso in der Zimmerluft namhafte Mengen des Metalls nach¬
gewiesen, obwohl bereits Monate seit der Desinfektion vergangen waren!
Das Belegen der Quecksilberspiegel geschieht in folgender Weise:
Auf einer völlig glätten und geschliffenen Tischplatte aus Marmor,
Schiefer oder Glas wird zunächst ein Stück Zinnfolie* das etwas
grösser als das geblasene resp. gegossene Spiegelglas ist, ausgebreitet
und auf ihr eine kleine Menge Quecksilber gleichraässig verteilt. Zu
dieser Manipulation wurden früher zuweilen die Hände benutzt, was
selbstredend grosse Gefahren mit sich bringt. Dann wird reichlich
Quecksilber aufgegossen, die sich bildende trübe Haut rasch entfernt
und die peinlich saubere, vollkommen trockene Glasscheibe allmählich
vom Rande her auf das Metall geschoben; sie sinkt bis zur Amalgam¬
schicht und wird noch mit Gewichten beschwert, um überschüssiges
Quecksilber herauszupressen. Hat die Belegung die genügende Festig¬
keit, so neigt man die Glasplatte allmählich immer mehr gegen den
Horizont, damit das überflüssige Quecksilber ganz langsam abfliesst.
Dieses Trocknen geschah früher zum Teil in Kästen neben den Beleg¬
tischen. Nach 2—4 Wochen ist das Amalgam gleichmässig fest an
der Glasscheibe befestigt und der Spiegel fertig. Ein „Beleger“ ar¬
beitet mit je einer „Wischerin“ oder auch deren zwei. Die Aufgabe
der letzteren ist das Trocknen und Reinigen der Glasplatten. Das¬
selbe kann zum Teil in Nebenräumen der eigentlichen Belegwerk¬
stätten geschehen, das letzte Fertigstellen der Gläser muss jedoch
unmittelbar vor dem Belegen stattfinden. Bei feuchtem oder nebeligem
Wetter oder bei intensivem Betriebe bediente man sich daher als
Trockenmittel der Kohlenhäfen, die mit verglimmenden Holzkohlen,
welche bekanntlich reichlich Kohlendioxyd entwickeln, beschickt waren.
Ueber der Heizvorrichtung waren die Trockenlappen auf einem Gestell
gelagert. Da an solchen Tagen auch die Fenster der Belegen oft
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geschlossen wurden und also ausserdem der Quecksilberdampf nur
sehr ungenügend oder fast gar nicht entweichen konnte, so springt die
Schädlichkeit der kombinierten Giftwirkungen in die Augen [Mayer (66)].
Die Frage, ob dem Quecksilberdampf oder Quecksilberstaub bei
dem Zustandekommen des chronischen Merkurialismus die Schuld
allein oder beiden zugleich beizumessen ist, ist auf der einen Seite
von Renk (67), auf der anderen von Hilger und Raumer (68) er¬
forscht worden. Sie kommen zu verschiedenen Resultaten. Renk
folgert aus seinen exakten und sehr schönen Laboratoriumsversuchen,
welche der Wirklichkeit möglichst nahe zu kommen suchten, dass
die gewerbliche Quecksilbervergiftung hauptsächlich durch den Dampf
des Metalls hervorgerufen wird, während der Metallstaub als solcher
weniger schädlich ist und mehr indirekt durch Verdunstung eine Be¬
deutung erlangt. Er zieht daraus den Schluss, dass die Verdunstung
des Quecksilbers in den Spiegelbeleganstalten mit allen möglichen
Mitteln verhindert werden müsse. Da das aber infolge der Art des
Betriebes nicht völlig durchführbar sei, so müsse als gleichwertige
Ergänzung eine sehr ausgiebige Ventilation gefordert werden. Der
Staub wird nach Renk hauptsächlich beim Reinigen erzeugt.
Hilger und Raumer fanden durch genaue Versuche, die im
Belegsaale der Fürth-Erlanger Aktienspiegelfabrik angestellt wurden,
nicht, wie sich aus den Renk sehen Versuchen ergab, 2 mg Hg in
Dampfform im Kubikmeter Luft, sondern nur 0,39 mg. Für den
Beleger am Belegtische steigt die Zahl allerdings um zirka das Drei¬
fache. Es wird danäch die jährlich von einem Arbeiter eingeatraete
Menge Quecksilberdampf auf 360 mg, bzw\ für einen Beleger auf
etwas über l g berechnet, wenn man 8 Arbeitsstunden am Tage an¬
nimmt, in der Tat eine sehr geringe Menge. Weit grösser fanden
Hilger und Raumer die Menge des staubförmig verschleuderten
Quecksilbers in allen Teilen des Belegsaales (selbst direkt unter der
Decke), z. B. in Mundhöhe bei den Belegtischen, pro Quadratmeter
berechnet 0,099 g Hg.
Die ersten Vorschriften für den Schutz der Arbeiter in Spiegel¬
belegen wurden 1877 von dem Polizeipräsidenten in Berlin erlassen
(Weyl [3], S. 994). Aber noch lange währte es, bis in Deutschland
«ine allgemeine gesetzliche Regelung des enorm gefährlichen Betriebes
in Wirksamkeit trat. Das gilt besonders für Baiern, wo Fürth von
Alters her das Zentrum der Spiegelfabrikation überhaupt bildet.
Den Bemühungen der Aerzte ist es wesentlich zu danken, dass
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vom Glasbeleger-Hilfsverein zu Fürth hier Vorschriften durchgeführt
wurden, welche einen grossen Fortschritt bedeuten. Es sind kurz
zusammengefasst die folgenden:
1. Für jeden Arbeiter sind mindestens 40 cbm Luftraum zu
fordern (oft kamen aber über 100 auf einen Arbeiter).
2. Der Fussboden muss glatt, undurchdringlich und so her¬
gerichtet sein, dass sich das Quecksilber an einem Orte sammelt.
Die Wände müssen glatt sein.
3. Genügende Ventilation (Arbeiten bei offenen Fenstern).
4. Das Quecksilber muss verschlossen aufbewahrt werden.
Es werden ferner besondere Räume zum Peinigen des Körpers,
zum Vertauschen der Kleider mit vom Arbeitgeber zu liefernden
Arbeitskitteln gefordert, das Essen und Trinken in den gefährlichen
Sälen wird verboten, sorgfältige Mundreinigung und Körperpflege zur
Pflicht gemacht; der Arbeiter muss eine Bescheinigung über das ge¬
nommene Bad vorlegen. Für besonders wichtig hält Wollner (61a)
nicht mit Unrecht die Vorschrift, dass jeder neu eintretende oder er¬
krankt gewesene Arbeiter nur mit ärztlicher Erlaubnis zugelassen
wird. Es ist selbstverständlich, dass gerade schlecht genährte
heruntergekommene Individuen leichter der Vergiftung zum Opfer
fallen als kräftige; ebenso hat die Erfahrung nur allzu häufig gezeigt,
dass ein merkurialkrank gewesener Arbeiter zur erneuten, oft schwereren
Form der Hydrargyrose neigt. Ausserordentlich bedeutungsvoll ist
endlich die Festsetzung einer maximalen Arbeitszeit von 8 Stunden
und die Bestimmung einer vierwöchentlichen Unterbrechung der Arbeit,
während welcher zwar nicht der ganze Lohn, aber eine Entschädigung
gezahlt wird. Eine Ergänzung und wesentliche Erweiterung dieser
Vorschriften brachte der „Erlass des königl. preussischen Ministeriums
für Handel und Gewerbe vom 18. Mai 1889, betreffend Vorschriften
über die Einrichtung und den Betrieb von Spiegclbeleganstalten“.
Bayern übernahm die gleichen Bestimmungen, doch trat ein Teil der
„finanziell tief eingreifenden“ Massnahmen hier erst vom Juli 1895 an
in Kraft [Sommerfeld (24, S. 504)].
Die Vorschriften gliedern sich im wesentlichen in solche, welche
das Entstehen des Quecksilberdampfes und Staubes zu verhindern
bezw. die dadurch verunreinigte Luft fortschaffen und durch neue zu
ersetzen bezwecken und solche, die durch Auslese der Arbeiter, Ueber-
wachung von deren Gesundheitszustand und Kürzung der Arbeitszeit
die noch bleibenden Gefahren der Vergiftung zu beseitigen streben.
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Wir finden daher eine Trennung der einzelnen Betriebsräume
angeordnet (Aufbewahrung der Quecksilbervorräte ausserhalb der Be¬
legen in geschlossenen Gefässen), Reservierung jedes Fabriksaales für
den ihm allein zukommenden Zweck (der Belegen und der Trocken¬
räume, die mit Wohn- Schlaf- und Haushalteräumen nicht in nnmittel-
barer Verbindung stehen dürfen). Hierher gehört auch das Verbot
der Reinigung von Quecksilberabfällen und der quecksilberhaltigen
Wischlappen und Anreibeballen in den Arbeitsräumen, während dasselbe
in den Aufbewahrungsräumen erlaubt ist. Die Trennung des Metalls
von anderen Beimengungen darf nur in gläsernen Scheidetrichtern, die
Reinigung der Tücher und Anreibeballen mechanisch in geschlossenen
Behältern vorgenommen werden. Ferner wird gefordert die Lage der
Belegen zu ebener Erde, der Fenster der quecksilbergefährlichen
Räume nach Norden (Gefahr der Verdampfung vou Hg durch Sonnen¬
bestrahlung!); alles überschüssige Quecksilber muss möglichst rasch
gesammelt werden. Daher muss der Fussboden der Belegen und
Trockenräume aus glattem Asphalt-Belag, ohne Fugen, Ritzen und
Sprünge bestehen und so eingerichtet sein, dass alles auf den Boden
gelangende Quecksilber durch Sammelrinnen nach Sammelbecken ge¬
leitet wird. Auf den Belegtischen muss das bei den einzelnen Phasen
der Manipulation Überfliessende Metall über die im übrigen vollkommen
glatten Tische in vorgesehene Rinnen und von da in Auffangebehälter
gelangen, welche bis auf eine kleine Oeffnung zum Einlassen des
Quecksilbers geschlossen sind. Es ist klar, dass die früher in der
Nähe der Belegtische aufgestellten, zum Anwärmen der Wischtücher
dienenden eisernen Kohlenöfen sehr zur Erzeugung von Quecksilber¬
dampf beitragen mussten. Es ist daher bestimmt, dass zu dem an¬
gegebenen Zweck nur solche W T ärmevorrichtungen benutzt werden
dürfen, bei welchen ein Ausstrahlen der Wärme auf das geringste
Mass herabgesetzt wird. Etwaige Abgase der Wärmevorrichtung müssen
in einen besonderen Schlot abgeleitet werden. Aus dem gleichen
Grund der Vermeidung von Metalldämpfen ist jede direkte Heizung
der quecksilbergefährlichen Räume untersagt und durch Zuführung
kalter bezw. — nie über 15° C — vorgewärmter Luft die Regulierung
der Temperatur zu erzielen, welche niemals 25° C übersteigen darf.
In diesem Falle muss der Betrieb an dem Tage geschlossen werden.
Der Verhinderung von Staubentwicklung dient die Vorschrift gewissen¬
haftester Vorsicht, damit kein Metall verspritzt wird, und peinlichster
Sauberkeit: Der Fussboden ist vor Beginn der Arbeit und vor Wieder-
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beginn derselben nach vorangegangener Pause reichlich mit Wasser
zu besprengen und täglich nach der Arbeit nach reichlicher Besprengung
auszukehren.
Der trotzdem unvermeidliche Dampf und Staub muss unschädlich
gemacht werden. Zu dem Zwecke sind in dem Belegraume mindestens
40 cbm Luftraum für jede beschäftigte Person, im Trockenraum
mindestens 30 cbm vorgesehen. Da ein sehr niedriger Raum wegen
der Schwere der Quecksilberdämpfe den Nutzen dieser Vorschrift zum
Teil vereiteln könnte, so ist die Höhe der Räume auf wenigstens
3,5 m festgesetzt. Wichtiger noch ist die angeordnete künstliche Ven¬
tilation (Lockfeuerung oder Motor), welche pro Kopf und Stunde
60 cbm Luft zu- und abführen muss. Die Schwere der Quecksilber¬
dämpfe erfordert die Abführung der schädlichen Luft am Boden,
Zuführung der frischen an der Decke der Beleg- und Trocken¬
räume.
Zum weiteren Schutze der Arbeiter sind indessen noch Betriebs¬
regelungen und eine Auslese unter dem Arbeitspersonal notwendig.
Die Arbeitszeit ist nach den preussischen und bayrischen Bestimmungen
auf 8 Stunden im Winter, 6 im Sommer festgelegt. Die Vorschrift,
dass nur körperlich genügend kräftige Arbeiter auf Grund des Zeug¬
nisses eines approbierten Arztes zum Betriebe zugelassen werden
dürfen, schützt vor ungeeigneten Arbeitskräften. Der Gesundheitszustand
der Arbeiter unterliegt ferner einer mindestens einmaligen Kontrolle
in 2 Wochen durch einen vom Fabrikanten damit beauftragten Arzt.
Die Beschäftigung von Kindern ist durch das Kinderschutzgesetz vom
30. März 1903 untersagt. Für jugendliche Arbeiter und Arbeiterinnen
gelten die Bestimmungen der §§ 135, 136 und 137 der Gewerbe¬
ordnung, soweit dieselben nicht durch die Festsetzung der maximalen
Arbeitszeit in den Spiegelbelegen überholt sind. Der Wöchnerinnen¬
schutz erstreckt sich auf 4 resp. 6 Wochen; für Schwangere existieren
spezielle Vorschriften leider nicht.
Wollner polemisiert gegen einige der tatsächlich sehr energischen
Vorschriften und wendet sich im besonderen (62 e)
1. gegen die Bestimmungen über die Länge der Arbeitszeit im
Winter (Maximum 8 Stunden) und im Sommer (Maximum
6 Stunden).
2. über die Lage der Belegen und der Fenster ausschliesslich
nach Norden.
3. gegen die Forderung der künstlichen Ventilation.
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4. gegen die Verlegung der Belegen in die Parterreräume.
Zweifellos liegen diesen Massnahmen die Versuche Renks zu
Grunde. Indessen ist keineswegs bewiesen, dass die Vorschriften
des Glasbeleger-Hilfsvereins genügt haben würden, um den Mer¬
kurialismus zu unterdrücken. Zwar sank die Zahl der durch Queck¬
silbervergiftung bedingten Krankheitstage von noch 13,52 im Jahre
1875 auf 4,09 (1888), 3,74 (1889), 0,66 (1890) und kam 1891
überhaupt kein Fall von Merkurialismus mehr zur Behandlung, aber
Wollner hebt selbst mit Recht hervor, dass in der gleichen Zeit
auch die Zahl der Quecksilberarbeiter in rapider Weise abnahm; von
169 im Jahre 1885 auf 77 im Jahre 1890! Die Ursache lag in dem
Verschwinden gerade der Spiegelbelegen, aus welchen die meisten
quecksilberkranken Arbeiter stammten (lange Arbeitszeit, schlechte
Bezahlung) und vor allem in dem Ersatz der Quecksilberspiegelfabrikation
durch die von Silberspiegeln. Wenn die preussischen und bayrischen
Vorschriften diesen Prozess noch beschleunigt haben, so kann man das
nur mit lebhafter Freude begrüssen, denn der Silberspiegel ist haltbarer
und dauerhafter als der Quecksilberspiegel und reflektiert das Licht
vollständiger als der letztere. Es fehlt ihm allerdings das Dunkle
und Tiefe des Quecksilberspiegels. Der Reflex ist leicht gelblich.
Aber einem solchen Produkt der Technik gegenüber kann doch wohl
die Frage aufgeworfen werden, ob die Quecksilberspiegelindustrie für
die allgemeine Wohlfahrt unentbehrlich ist.
Jedenfalls wird die Aufsicht und die Durchführung aller hygienisch
notwendigen Massnahmen in den Fabriken um so leichter gelingen,
je kleiner die Industrie ist. Denn die Quecksilberspiegel werden um
so höher im Preise stehen, je weniger von ihnen auf den Markt-
kommen.
Das Prinzip der Silberspiegelfabrikation ist folgendes: Eine al¬
kalische Silbersalzlösung wird durch reduzierende Mittel unter Ab¬
scheidung von metallischem Silber zersetzt. Dieses schlägt sich als
glänzender Spiegel auf der Glasfläche nieder. Wollner (69) glaubt,
dass der dabei notwendige Aufenthalt der Arbeiter in einer Temperatur
von 28—40° C. zu subakuten und chronischen Lungenaffektionen
fuhren müsse, wodurch eine viel höhere Sterblichkeitsziffer sich er¬
geben werde. Sommerfeld (24) hält diese Anschauung jedoch
keineswegs für gerechtfertigt, und man wird demselben darin Recht
geben müssen, dass sich plötzliche Abkühlungen beim Verlassen eines
heissen Raumes leichter vermeiden lassen werden, als Vergiftungen
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Dr. Franke,
beim Hantieren mit einem so gefährlichen Material, wie es gerade das
Quecksilber darstellt. Wenn indessen wirklich derartige Krankheiten
der Arbeiter in Zukunft beobachtet werden sollten, so muss darauf
hingewiesen werden, dass neben der allmählichen Abkühlung des
Körpers noch andere Schutzraassregeln getroffen werden müssten.
Ueber die Art derselben sei hier nur allgemein soviel bemerkt: Liegt
in der hohen Temperatur des Betriebes die Gefahr, so wird darauf
gesehen werden müssen, dass dieselbe nach Möglichkeit niedrig ge¬
halten werde. Dem Luftkubus und der Ventilation wird eine so hohe Be¬
deutung wie in den bisher betrachteten Fällen nicht zukommen, wenn diese
Faktoren auch keineswegs verachtet werden dürfen. Dagegen würden,
die Massregeln neben der Auswahl der Arbeiter und der Regelung der
Arbeitszeit eine besondere Wichtigkeit erlangen, welche die Erhaltung
und Stärkung der Reaktionsfähigkeit der Haut auf Temperatur- (70
u. 71) und Druckreize (72) zum Ziel haben.
Der Kreisarzt und der Fabrikarzt.
Um die für die Arbeiter in gefährlichen Fabriken notwendigen Ein¬
richtungen und Vorkehrungen zu bestimmen und zu überwachen, kommt
im Deutschen Reich neben den Gewerbeaufsichtsbeamten dem Medizinal¬
beamten eine wichtige Aufgabe zu, welche durch die Paragraphen 18, 21,
76, 91, 92 und 93 der Dienstanweisung für die Kreisärzte und die
Anweisung zur Ausführung der Gewerbeordnung Tit. I, II, IV und V
vom 9. August 1899 bestimmt ist. Dadurch sind dem Medizinalbeamten
wichtige Befugnisse bei der Genehmigung und Beaufsichtigung von
gewerblichen Betrieben übertragen. Besonders wichtig wird dessen
Funktion, wenn so gesundheitsgefährliche Fabriken zu begutachten und
zu überwachen sind, wie wir sie im Vorstehenden betrachtet haben.
Aber das letztere, die Ueberwachung, kann nicht allein Aufgabe des
Kreisarztes sein. Die regelmässige Kontrolle des Gesundheitszustandes
der Arbeiter in Gummifabriken mindestens einmal monatlich, in den
Weissphosphorzündholzfabriken mindestens einmal vierteljährlich, in
den Spiegelbelegen mindestens einmal in 2 Wochen, ebenso die Aus¬
lese der tauglichen Arbeiter hat der Arbeitgeber einem dem Gewerbeauf-
sichtsbcamten namhaft zu machenden approbierten Arzt zu übertragen.
Demselben wird demgemäss aber noch eine andere sehr wichtige Rolle
zufallen. Wir haben wiederholt gesehen, wie notwendig zur Beurteilung
der Gefährlichkeit eines Betriebes und der Wirksamkeit von hygienischen
Massnahmen eine zuverlässige Statistik wäre. Unter den hier be-
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lieber die zum Schutze der Arbeiter etc.
169
handelten Fabriken ist die Statistik der Spiegelbelegen in Fürth die
einzige, welche auf Vollständigkeit Anspruch machen kann und daher
ein Bild der wirklichen Verhältnisse zeichnet. Trotz der Einführung
der Kontrollkrankenbücher, durch welche dem Kreisarzt die Unterlagen
zu statistischen Zusammenstellungen gegeben werden sollten, sind diese
Verhältnisse noch kaum gebessert. Die Gründe liegen, wie Roth (45 u. 73)
und Hölzer (51) (S. 14 u. 15) mit Recht hervorheben, in der grossen
Abhängigkeit des Fabrikarztes gegenüber dem Fabrikanten. Nur ein
möglichst unabhängiger Fabrikarzt wird wirklich seinen Posten aus¬
füllen können. Wodtke (53) (S. 331) betont, dass sich der Staat
zum mindesten einen Einfluss auf die Anstellung, Honorierung und
Dienstanweisung der Kassenärzte bei Fabrikkrankenkassen von ge¬
fährlichen Betrieben sichern solle. Mit diesem Vorschläge würde sich
meines Erachtens auch das Bestreben in der heutigen Aerztewelt nach
freier Arztwahl vereinigen lassen, wenn gleichzeitig — ähnlich wie
in England — allgemeiner die Anzcigepflicht der gefährlichsten Ge¬
werbekrankheiten durchgeführt würde. Indessendürfteesmehrimlnteresse
der Sache liegen, wenn ein Arzt mit der Ueberwachung des Gesundheits¬
zustandes (Führung des Kontrollbuches) der Arbeiter und deren Aus¬
wahl für die Fabrikarbeit betraut würde. Dagegen müsste auch hier
gefordert werden, dass die Anstellung, Honorierung und Dienstanweisung
dieses Fabrikarztes nicht ohne Genehmigung des Staates geschehen
könne. Es dürfte auch der Erwägung wert sein, ob es nicht zweck¬
mässig wäre, dem Fabrikarzt die Qualität eines Beamten zu geben,
der mit dem Kreisarzt zusammenarbeitet. Zu den Aufgaben des Fabrik¬
arztes, welcher Art auch seine Stellung sein mag, kommt endlich noch
eine letzte, welche in ihrer Wichtigkeit nicht unterschätzt werden
darf: Ihm kommt es zu, die Arbeiter immer wieder in die ihnen aus
der Nichtbefolgung von Kleinigkeiten erwachsenden schweren Gefahren
für Leben und Gesundheit und den Sinn der gesetzlichen Vorschriften
z. B. Verbot des Essens in den giftigen Räumen, Verbot des Tragens
langer Bärte für Quecksilberarbeiter nachdrücklich hinzuweisen. Er
wird das zweckmässig hin und wieder im Zusammenhang durch kürzere
Vorträge an die Arbeiter tun. Je mehr der Fabrikarzt in die einzelnen
Zweige der Industrie hineingeschaut hat, sei es (am besten) durch
Kenntnis der Praxis selbst oder etwa durch Besuch von Ausstellungen,
wie es jetzt möglich ist (74), umsomehr wird er fähig sein, hier
segensreich zu wirken. Denn es ist eine Tatsache, dass die meisten
Arbeiter für derartige Belehrungen durchaus zugänglich, ja dankbar sind.
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170
I)r. Franke,
Zweifellos gehört ein kluges und taktvolles Benehmen dazu, um
eine Stellung in der Mitte zwischen zwei vielfach in scharfem politischen
Gegensatz stehenden Parteien, Arbeitgebern und Arbeitnehmern, voll
auszufüllen, auf der einen Seite als Berater und nicht als Polizeiorgan
zu erscheinen, auf der anderen das Vertrauen nicht zu verlieren. Richtig
aufgefasst wird die Stellung des Fabrikarztes der sozialen Bedeutsamkeit
nicht entbehren.
Neben Herrn Gewerberat Rick in Metz, welcher mir die Be¬
sichtigung der Zündholzfabrik ermöglichte, bin ich für die Beschaffung
des literarischen Materials Herrn Gewerberat Giesecke und Herrn
Physikus Dr. Pfeiffer in Hamburg zu Dank verpflichtet.
Literaturbelege.
1. a) Landmann, Kommentar zur Gewerbeordnung für das deutsche Reich.
München 1903. — b) Neukamp, Die Gewerbeordnung für das deutsche
Reich. Berlin 1903. 6. Aufl.
2. Albrecht, Handbuch der praktischen Gewerbehygiene. Berlin 1896.
3. Weyl, Handbuch der Hygiene. Bd. VIII: Gewerbehygiene. 1897.
4. Referat nach den Resultaten einer Besichtigung.
5. Lewin, Lehrbuch der Toxikologie. 1897. S. 202 und Virchows Archiv. 1888.
S. 112.
6. Kunkel, Handbuch der Toxikologie. 1899.
7. Lassar, Virchows Archiv. Bd. 77. S. 157.
8. Dämmer, Handbuch der Arbeiterwohlfahrt. 1. Bd. S. 824. 1902.
9. Kaemerer u. Oppler, Ueber das Verhalten von Sicherheitslampen gegen
explosive Gasgemische. Separatabdruck. Augsburg 1891 (Albrecht, Hand¬
buch der Gewerbehygiene).
10. Eulenberg, Die Lehre von den schädlichen und giftigen Gasen. 1865.
11. Sapelier, Etüde sur le sulfure de carbone. These de Paris. 1885.
12. Delpech, Nouvelles rocherches sur l’intoxication spSoiale que döterminc lo
sulfure de carbone. Paris 1860.
13. Lehmann, Experimentelle Studien über den Einfluss technisch u. hygienisch
wichtiger Gase und Dämpfe auf den Organismus. Arch. f. Hygiene. XX. 1894.
14. Sprenger, Ueber Vergiftungen durch Schwefelkohlenstoff bei Arbeitern
einiger Gummiwarenfabriken. Zeitschr. der Zentralstelle für Arbeiterwohlfahrts¬
einrichtungen. 1896. No. 18.
15. Laudenheimer, Die Schwefelkohlenstoffvergiftung der Gummiarbeiter
Leipzig 1899.
16. Hampe, Ueber psychische Störungen infolge Schwefelkohlenstoffvergiftung.
Dissert. Leipzig 1895.
17. Delpech, Ann. d’hyg. publ. II. S6r. T. XIX. 1863.
18. Stadelmann, Ueber Schwefelkohlenstoffvergiftung. Berliner Klinik. 1896.
No. 98.
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Ueber die zum Schutze der Arbeiter etc.
171
19. Köster. Zur Lehre der Schwefelkohlenstoffneuritis. Arch. f. Psych. XXXIII.
1900. '
20. Marie, Sulfure de carbone et bystörie. Bull, et möm. de la soc. möd. des
hdpit. de Paris. 1888.
21. Maradon de Montyel, Ann. d’hyg. publ. 1885. Bd. 33. und ebenda 1901.
Bd. 45.
22. Roeseier, Die durch Arbeiter mit Schwefelkohlenstoff entstehenden Er¬
krankungen und die zu ihrer Verhütung geeigneten Massregeln. Vierteljahr¬
schrift f. gerichtl. Med. u. öffentl. Sanitätswesen. 3.Folg. XX. 2. S.293. 1900.
23. Jahresberichte der Gewerbeaufsichtsbeamten: a) 1900. 111. S. 696. — b) 1900.
I. S. 112. - c) 1902. 1. 1. S. 362.
24. Sommerfeld, Handbuch der Gewerbekrankbeiten. Berlin 1898.
25. Cazeneuve, L’industrie du phosphore et des allumettes. Ann. d’hyg. publ.
3. Sörie 21. 1889. S. 289.
26. Hager, Handbuch der pharmazeutischen Praxis. II. Bd. Berlin 1902. S. 593.
27. Rubner, Lehrbuch der Hygiene. 7. Anfl. 1903. S. 788.
28. Medicinisches Jahrbuch des K. K. österreichischen Staates. 51. Bd. 257.
29. Kobert, Lehrbuch der Intoxikationen. Stuttgart 1899.
30. v. Bibra u. Geist, Krankheiten der Arbeiter in den Phospborzündhölzchen-
fabriken. Erlangen 1847.
31. Hirt, Die Krankheiten der Arbeiter. UI. Teil: Die gewerbl. Vergiftungen.
Leipzig 1875.
32. Billroth, Chirurgische Erfahrungen, v. Langenbecks Archiv. Bd. X.
33. Haeckol, Die Phosphornekrose, v. Langenbecks Archiv. Bd. 39.
34. Kuipers, Ueber Phosphornekrose. Dissert. Jena 1895.
35. Stockmann, On the cause of so called phosphorus nekrosis of the jaw in
matohworkers. Brit. med. Journ. Jan. 7. 1899. p. 9.
36. v. Stubenrauch, Experimentelle Untersuchungen über Phosphornekrose.
• Arch. f. klin. Chirurgie. LIX. 1899. S. 144.
37. v. Stubenrauoh, Die Lehre von der Phosphornekrose, v. Volkmanns
Sammlung klin. Vorträge. 1901.
38. Wegener, Der Einfluss des Phosphors auf den Organismus. Virchows Arch.
Bd. 55. 1872.
39. Kocher, Zur Kenntnis der Phosphomekrose. Biel 1894.
40. Riedel, Phosphornekrose, v. Langenbecks Archiv. Bd.53. 1896.
41. Magitot, Des accidents industriels du phosphore et en particulier du phos-
phorisme. Bull, de Pacad. de möd. S£rie XXXIII. 1895.
42. Arnaud, Recherches sur l’urologie du pbosphorisme chronique chez les
ouvriers des manufactures d’allumettes chimiques. Ann. d’hyg. publ. 3. S6r.
XXXV. 1%. 1896.
43. Courtois-Suffit, Le phosphorisme professionel. Presse möd. VII. 1899.
44. Jost, Zur Phosphornekrose. Beitr. zur klin. Chirurgie. XII. 1894. S. 181.
45. Roth, Die gewerbliche Blei-, Phosphor-, Quecksilber-, Arsen- und Schwefel¬
kohlenstoffvergiftung. Berl. klin. Wochenschr. 1901. No. 20.
46. Hirsch, Ueber die Verwendung von Phosphor in der Zündholzindustrie.
Aerztl. Sachverständigenzeitung. 1901. No. 8.
47. Hahn, Die fabrikmässige Herstellung von Phosphorpillen zur Vertilgung
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172
Dr. Franke,
der Feldmäuse and ihre sanitäre Bedeutung. Zugleich als Beitrag zur Wirkung
des Pbosphordampfes. Vierteljahrschrift für gerichtliche Medizin. 3. Folge.
.XVII. 1899.
48. "Vallin, Sur l’assainissement de la fabrication des allumettes. Bull, de l’acad.
de mM. III. S<5rie. T. 37. 1897. S. 141 flf.
49. Reichstagsverhandlungen, 29. Januar u. 22. April 1903 (246. u. 293. Sitzung).
50. Patentschrift des deutschen Reiches. No. 86203.
51. Bauer, Gesundheitsgefährliche Industrien. Jena 1903.
52. Popper,. Lehrbuch der Arbeiterkrankheiten. Stuttgart 1882. (Weyl.)
53. Wodtke, Ueber Gesundheitsschädigungen in Fabriken von Sicherheits¬
zündhölzern durch doppelchromsaures Kali. Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med.
3. Folge. XVIII. 1899. S. 325.
54. Roepke, Zeitschrift der Zentralstelle für Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen.
1901. No. 1.
55. Lüdemann, Giftfreie Zündhölzer. Zeitschr. d. Zentralstelle f. Arbeiter-
Wohlfahrtseinrichtungen. 1900. No. 24.
56. Aerztliche Sachverständigenzeitung. 1899. S. 440.
57. Lunge, Das Verbot der Phosphorzündhölzchen in der Schweiz und seine
Aufhebung.
58. Veröffentlichungen des Kaiserlichen Gesundheitsamts. 1902. S. 1183.
59. Glückauf, Berg- u. Hüttenmännische Wochenschr. 1898. No. 38. (Bauer.)
60. Kussmaul, Untersuchungen über den konstitutionellen Merkurialismus.
Würzburg 1861.
61. Hirschfeld, Berl. klin. Wochenschr. 1901. No. 18. S. 489.
62. Wollner, Münch, med. Wochenschr. a) 1888. S. 105. — b) 1890. S. 365.
— c) 1891. S. 268. — d) 1892. S. 533. — e) Pentzold-Stintzing, Hand¬
buch der Therapie innerer Krankheiten. II. Bd. Abt. III. Jena 1897.
63. Laqueur, Ueber Quecksilberbindung im Urin. Berl. klin. Wochenschr. 1903.
No. 3. S. 51.
64. Hofnanns Lehrbuch der gerichtl. Medizin. 7. Aufl. 1895. S. 643.
65. Mörner. Einige Beobachtungen über das Verdampfen des Quecksilbers in den
Wohnräumen. Zeitschr. f. Hygiene u. Infektionskrankheiten. XVIII. 1894.
S. 251.
66. Mayer, Die sanitären Zustände der Quecksilber-Spiegelbelegen. Friedreichs
Blätter f. gerichtl. Med. 1884. XXV. S. 176flf u. 285fF.
67. Renk, Untersuchungen über das Verstäuben und Verdampfen von Quecksilber
etc. Arbeiten aus dem Kaiserl. Gesundheitsamt. Bd. V. 1889.
68. Hilger u. Raumer, 1) Ueber den Quecksilbergehalt der Luft in Spiegelbeleg¬
anstalten. Bericht über, die X. Versammlung der freien Vereinigung bayerischer
Vertreter der angewandten Chemie in Augsburg. 1891. 2) Ueber. den Queck¬
silbergehalt der Luft in Spiegelbeleganstalten. Forschungsberichte über
Lebensmittel und ihre Beziehungen zur Hygiene. I. Jahrgang. München 1894.
69. Wollner, Ueber die Fürther Industriezweige mit ihren Schattenseiten. Ver¬
handlungen der 65. Versammlung der Gesellschaft deutscher Naturforscher
und Aerzte. Leipzig 1894. II. Teil. II. Hälfte. S. 421. (Sommerfeld.)
70. Kn aut he, Bronchitis catarrhalis. Eulenburgs Realenzyklopädie. I. Aufl.
Bd. II. S. 490—527 (Rosenthals Untersuchungen).
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Ueber die zum Schutze der Arbeiter etc.
173
71. Chelmonski, Ueber Erkältung als Krankheitsursache. Deutsch. Arch. f.
klin. Med. Bd. 59. H. 1 u. 2. 1897.
72. Kosenbaoh, Die Bedeutung kleinerer Schwankungen des atmosphärischen
Druckes für den menschlichen Organismus. Münchner med. Wochenschr.
1902. No. 17.
73. Roth, Die Mitwirkung des Kreisarztes auf dem Gebiet der Gewerbehygiene.
Aerztl. Sachverständigenzeitung. 1902. No. 4 u. 5.
74. Pannwitz, Bericht über die erste Versammlung der Tuberkulose-Aerzte.
Berlin 1904. S. 81.
75. Lesser, Ueber die Verteilung einiger Gifte im menschlichen Körper. Viertel-
jahrschr. f. gerichtl. Med. u. öffentl. Sanitätswesen. III. Folge. Bd. 15. 1898.
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4.
Das Giessfieber und seine Bekämpfung
mit besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse in Württemberg.
Von
Dr. Julias Sigel in Stuttgart.
I.
Die in der Industrie der Metalle beschäftigten Arbeiter sind wie
allbekannt, mannigfachen Gefahren und Schädlichkeiten ausgesetzt.
Diesen abzuhelfen ist eine sehr dankbare, aber ungemein schwierige
Aufgabe der Hygiene. Schwierig deshalb, weil wir sehr häufig noch
nicht imstande sind, bei vielen Berufskrankheiten Ursache und Wirkung
genau zu beurteilen, ja weil wir bei nicht ganz wenigen Erkrankungen
selbst bei einzelnen Symptomen noch im Unklaren sind, ob wir es
mit einer spezifischen, d. h. in unmittelbarem Zusammenhang mit dem
Beruf stehenden Schädigung des Organismus zu tun haben oder nicht.
In ein solches Dunkel ist auch heute noch das in der Metallindustrie
wohl bekannte Giessfieber(Messingfieber, Staubfieber, brass-foundersague,
fievre des fondeurs) gehüllt.
Zwar erwähnte schon Thakrah (1) im Jahre 1830 in seinem
berühmten „Essay on the Effects of Arts, Trades and Professions, on
Health and Longevity“ das Giessfieber, ohne aber eine genaue Kennt-
niss desselben und seiner Entstehung zu haben. Er sagt nur, dass
die brass-melters in Birmingham zu intermittierendem Fieber neigen,
das als brass-ague von Zeit zu Zeit aufträte und den Befallenen je¬
weils in einen Zustand grosser Hinfälligkeit bringe. Als Präventiv¬
mittel seien Brechmittel empfohlen. Nicht nur in England, sondern
auch in Frankreich kannte man diese Erkrankung schon lange. Denn
schon im Jahre 1845 beschrieb Blandet(2) eine Erkrankung, die bei
Kupfergicssern vorkomme. Am Abend des Giesstages oder auch erst
am folgenden Tag bekommen nach Blandet die Giesser Beschwerden,
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Das Giessfieber und seine Bekämpfung.
175
die in Mattigkeit, Muskelschmerzen, Bangigkeit, Kopfschmerzen und
Erbrechen bestehen. Die Erscheinungen dauern mehrere Stunden und
endigen mit febriler Reaktion und Schweissausbruch. Blandet führt
die Erkrankung auf das in den meisten Kupferlegierungen enthaltene
Zink zurück. Auch erwähnt Blandet einen Fall von Soyez (3), der
17 Stunden lang beim Giessen einer Kupferlegierung, die 10 pCt. Zink
enthielt, beschäftigt war. Wenige Stunden nach dem Giessen erkrankte
Soyez an ausserordentlich grosser Schwäche, Muskelschmerzen in den
Extremitäten, die sich in den Beinen zu Krämpfen steigerten. Es
stellten sich dann Schüttelfrost, Erbrechen, kalte Haut, später Hitze,
Delirien und Ohrensausen ein. In der folgenden Nacht Schweiss¬
ausbruch, am andern Morgen war die Krankheit vorüber. Das Ganze
wurde für eine Zinkvergiftung gehalten. Ein Giesser, der mit Soyez
gearbeitet hatte, bot dieselben Erscheinungen. Greenhow(4) erwähnt
noch eine Arbeit von Bouschut (annales d’hygiene vol. XLVII. p. 26),
in der er ausführt, ähnliche Erscheinungen, wie Blandet sie beschrieben,
kommen bei Leuten vor, die Zinkoxyd zu Farben herstellen und bei
Kupfergiessem, wenn viel Zink in die Legierung komme. Die erste
ausführliche und gründliche Beschreibung der Krankheit verdanken wir
Greenhow(5). Er hat das Giessfieber im Jahre 1858 bei einem
Besuch der Fabriken von Birmingham, Wolverhampton, Cheffield und
Leeds beobachtet und genauer studiert. Auf Grund seiner Untersuchungen
kam er zu folgenden Schlüssen:
1. Messinggiesser und zweifellos alle Arbeiter, die mit Zink¬
dämpfen zu tun haben, bekommen leicht eine Krankheit, die Aehn-
lichkeit mit einem intermittierenden Fieber von unregelmässigem
Typus hat.
2. Die Symptome sind: Uebelkeit, Abgeschlagenheit, Glieder¬
schmerzen, Kopfweh, Schüttelfrost, gelegentlich Erbrechen, manchmal
Fieber, regelmässig profuse Schweisse.
3. Die Häufigkeit und Stärke der Anfälle wird beeinflusst von
der Regelmässigkeit, mit der die Leute im Giessraum arbeiten; die¬
jenigen, welche dauernd dieser Beschäftigung obliegen, scheinen eine
gewisse Toleranz zu bekommen, die indes nur temporär ist, da nach
kurzer Abwesenheit selbst die an die Zinkdämpfe gewohnten Arbeiter
oft wieder eine Attacke bekommen.
4. Die Stärke und Häufigkeit der Attacken hängt hauptsächlich
von der Menge der Zinkdämpfe ab, die in die Atmosphäre des Giess-
rauras gelangt. Die Schmelzer bzw. Giesser werden ähi meisten be-
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176
Dr. Julius Sigel,
troffen. Wenn viel Zink beim Gusse verwendet wird, ist die Gefahr
Giessfieber zu bekommen eine grössere, als wenn wenig Zink ge¬
nommen wird.
5. Alle Momente, welche eine rasche Verflüchtigung der Dampfe
verhindern — schlechte Ventilation, ungünstige Witterung etc. —
vergrössern die Neigung zum Giessfieber.
6. Dem Ausbruch des Giessfiebers gehen häufig Prodromal¬
erscheinungen voraus, doch können geringfügige Ursachen, z. B. leichte
Gesundheitsstörungen oder ein kaltes Bett beim Aufsuchen der Nacht¬
ruhe bei disponierten Leuten den Anfall auslösen.
7. Arbeiter in Bronze- und Eisengiessereien sind vollkommen
immun gegen das Giessfieber.
Im Anschluss an diese Publikation Greenhows teilte Schnitzer
(6, 7) folgenden interessanten Fall mit, den ich im Wortlaut wiedergebe,
da Schnitzer als erster in Deutschland 1862 auf das Giessfieber
aufmerksam gemacht hat. Sch. sagt: Einen Fall, wie Greentow ihn
beschrieb, habe ich bei dem Gelbgiesser A. zu beobachten Gelegen¬
heit gehabt. Derselbe giesst nicht ununterbrochen, sondern in etwas
längeren Zwischenräumen.
In den letzten Monaten hat sich das Fieber regelmässig nach
jedem längeren Guss eingestellt, während dieses bei kürzer dauernden
nicht der Fall war. Die Werkstatt in welcher gegossen wird, ist
zwar ziemlich geräumig, aber eine Ventilation oder anderweiter Abzug
der Dämpfe, als durch den Schornstein findet nicht statt und so ist
denn das Lokal während des Gusses ungemein stark mit Dämpfen
gefüllt. Schon während der Arbeit oder nach Beendigung derselben
tritt heftiger Kopfschmerz ein, sowie die Neigung zum Erbrechen,
hierauf folgt Frost, der sich jedoch nicht zum Schüttelfrost steigert
und nach diesem Hitze und starker Schweiss, der mehrere Stunden
lang anhält. Am darauffolgenden Tage ist grosse Mattigkeit vor¬
handen. Die Zunge ist belegt. Der Appetit fehlt. Hiermit schliesst
aber auch der Anfall, denn am nächsten Tage befindet sich A. wieder
wohl und ein nachfolgender Fieberanfall, sei es am 2. oder 3. Tage
ist bisher niemals eingetreten. Herr A. teilte mir mit, dass dieses
Giessfieber, wie er es nannte, nichts Ungewöhnliches sei. — Ein¬
gehend wurde das Giessfieber in Deutschland von Hirt (8) studiert:
Hirt hat das Giessfieber zweimal an sich selbst beobachtet, er be¬
schreibt es folgendermassen: Einige Stunden nach der Inhalation der
Metalldämpfe empfindet man ein eigentümliches, unbehagliches Gefühl
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Das Giessfieber and seine Bekämpfung.
177
im ganzen Körper, eine Abspannung und Schwäche, welche mit
ziehenden Schmerzen im Rücken verbunden, zum Aufgeben der ge¬
wöhnlichen Beschäftigung zwingt, die Schmerzen in der Muskulatur
erscheinen bald in den oberen, vorzugsweise in den unteren Extre¬
mitäten und können einen hohen Grad erreichen. Dabei ist der Puls
noch ruhig, die Respiration nicht beschleunigt. Bald nachdem man
das Bett aufgesucht hat, stellt sich ein allgemeiner Frostschauer ein,
der sich gewöhnlich bis zum ausgesprochenen 15—20 Minuten
dauernden Schüttelfrost steigert. Der Puls wird beschleunigt und
kann innerhalb 1—2 Stunden die Höhe von 100—120 Schlägen in
der Minute erreichen. Der Husten, der vorher unbedeutend, eigentlich
nur ein Kratzen im Halse gewesen war, wird quälend und erzeugt
ein wundes Gefühl in der Brust. Der Stirnkopfschmerz, welcher
sich infolge der anstrengenden Hustenstösse dem Allem noch bei¬
gesellt, macht den Zustand zu einem fast unerträglichen. Indes der
Höhepunkt der Krankheit ist bald (nach 3—6 Stunden) erreicht. Der
Beginn des Stadium decremenf.i macht sich durch den Ausbruch eines
reichlichen Schweisses bemerklich, die Erscheinungen lassen an Heftig¬
keit nach und fast immer verfällt der Kranke bald in einen tiefen
Schlaf, aus welchem er erst nach mehreren Stunden erwacht; der
Puls ist dann wieder normal, der Husten verschwunden und nur eine
allgemeine Abgespanntheit mit leichtem Kopfweh verbunden, erinnert
noch an die überstandene Krankheit.
In ähnlicher Weise beschreibt auch Eulenberg (9) die Sym¬
ptome. Er hatte oft Gelegenheit, die Krankheit in einer grossen
Gefangenanstalt zu beobachten. Die Anfälle treten nach E. meist
gegen Abend oder nachmittags ein, wenn die Arbeiter sich den Tag
über mit Giessen beschäftigt hatten. Druck in den Hypochondrien,
Widerwillen gegen Essen, Uebelkeit oder auch Erbrechen bezeichnen
den Anfang des Leidens. Seltener sind kolikartige Schmerzen und
reissende Zahnschmerzen, häufiger tritt dagegen ein fixer Kopfschmerz
in der Schläfengegend ein, zu welchem sich ein Gefühl von allge¬
meiner Zerschlagenheit mit Gliederschmerzen hinzugesellt. Das
Frösteln zeigt sich zuerst unter der Form von Kompilationen zwischen
den Schulterblättern mit leichtem Zittern, steigert sich aber immer
mehr zu einem heftigen Frostanfall wie im Kältestadium der Inter-
raittens. Der Frost kann 1, 2 selbst 3 Stunden lang anhalten, in
der Regel dauert er aber 20—30 Minuten, hierauf folgt ein nicht
stark ausgesprochenes Hitzestadium, welches alsbald in einen pro-
Vierteljahrasehrift f. ger. Med. u. öff. San.-Weien. 3. Folge. XXXII. 1. 22
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178
Dr. Julius Sigel,
fuscn Schweiss übergeht, wobei sich der Körper sehr heiss anfühlt.
Am anderen Morgen sind alle beunruhigenden Symptome ver¬
schwunden und der Kranke fühlt nur eine Mattigkeit, die ihn aber
selten hindert, seine Arbeit wieder aufzunehmen; nicht immer zeigt
sich ein anfangs trockner, kitzelnder Husten, welcher sich später mit
einem Auswurf von zähem Schleim verbindet. Nicht unwesentliche
Verschiedenheiten in der Symptomatologie finden wir bei Dr.
R. Simon (10). Dieser Autor schreibt: Wenige Stunden nach der
Arbeit wird der Giesser matt, er fühlt sich abgeschlagen und es friert
ihn. Er wird blass, kommt in das Stadium des Kollapses, sein Gesicht
ist mit kaltem Schweiss bedeckt^ er wird unruhig und ängstlich, er
bekommt Kopfweh und Muskelschmerzen. Die Erscheinungen dauern,
bis Erbrechen eintritt, entweder als Wirkung eines Brechmittels oder
auch ohne ein solches. Es folgt Schlaf, andern Tags besteht oft
grosse Hinfälligkeit. Im Gegensatz zu Greenhow und Hogben (11),
der in den wesentlichsten Punkten mit Hirt übereinstimmt, findet
Simon, dass das Hitzestadium fehlte, auch Schweisse nicht regel¬
mässig vorhanden sind. Es ist nach Simon keine Berechtigung vor¬
handen, von einem Wechselfieber (ague) zu sprechen, vielmehr handelt
es sich um Symptome, wie sie auch sonst bei Metallvergiftungen vor¬
zukommen pflegen.
Nach Czajkowski (12) setzt die Krankheit plötzlich ohne Vor¬
boten mit heftigen Kopf- und Muskelschmerzen und Brustbeengung
ein. Nach 1—2 Stunden stellen sich heftige Schüttelfröste und
darauf hohe Temperaturen (39°—40°) ein. — Es ist dies die einzige
Temperaturangabe, die ich in der Literatur finden konnte. — Die
Haut wird trocken und heiss, es kommen trockener Husten, sowie
heftige Brustschmerzen hinzu. Nach einigen Stunden geht das Fieber
unter starkem Schweissausbruch zurück. Manchmal tritt kurz darauf
ein zweiter, schwächerer Fieberanfall auf mit denselben, aber
schwächeren Symptomen. Dieser endigt, wie der erste, nach kurzer
Zeit unter Schweissausbruch.
Villaret (13) beschreibt die Symptome fast genau wie Hirt,
ebenso berufen sich fast alle Autoren der neueren Zeit auf die Arbeiten
Hirts. Rubner (14), Heinzerling (15) u. a. Flügge (16) spricht
von eigentümlichen Vergiftungserscheinungen mit malariaähnlichen
Symptomen, die als „Giessficber“ bei Giessern Vorkommen, die mit
Messing zu tun haben. Die Entstehungsursache ist nach Flügge
nicht sicher erkannt. Die neuesten Untersuchungen über diesen
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Das Giessfieber und seine Bekämpfung.
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Gegenstand ergaben als typisches, nie fehlendes Zeichen heftigen
Schüttelfrost und Krisis mit Schweissausbruch; Hohmann (17).
Nach der jüngsten Beschreibung durch Roth (18) befällt bald
kurze Zeit nach Beginn des Gusses, bald gegen Ende der Schmelz¬
arbeit den Arbeiter das Gefühl der Mattigkeit, Abgeschlagenheit und
Beklemmung auf der Brust, es treten Frostschauer hinzu, die zuweilen
einige Stunden dauern; die Gesichtsfarbe wird fahl und bleich, die
Haut bedeckt sich mit kaltem Schweiss, es treten Kopfschmerz,
Brechneigung und Gliederschmerzen hinzu. Dem Frost folgt häufig
ein Hitzestadium, das mit reichlicher Schweissbildung endet. Schon
am folgenden Tage sind alle Beschwerden geschwunden, nachdem in
der Regel spontanes Erbrechen erfolgt ist.
Wir sehen auf Grund dieses in chronologischer Reihenfolge auf¬
geführten Literaturbelegs, dass das Giessfieber eine akute, im An¬
schluss an das Giessen von Metallen entstehende, malariaartige Er¬
krankung ist, deren Symptome jedoch von den einzelnen Autoren
nicht ganz einheitlich beschrieben sind.
Ehe wir zur Besprechung der Diagnose und Differentialdiagnose,
sowie der Prognose der Erkrankung gehen, erscheint es mir not¬
wendig, folgende Fragen zu beantworten:
1. In welchen Gewerben bzw. Giessereien kommt das Giess¬
fieber überhaupt vor?
2. Wie gross ist die Disposition zu dieser Erkrankung, gibt es
eine Immunität?
3. Was ist die Ursache, das Wesen der Erkrankung?
ad 1. Bei sämtlichen genannten Autoren, die sich mit der Frage
des Vorkommens des Giessfiebers beschäftigten, finden wir angegeben,
dass Giessfieber nur in Giessereien vorkommt, in denen Zink- und
Kupferlegierungen gegossen werden, während in Eisen- und anderen
Giessereien kein Giessfieber beobachtet wird. Wie im zweiten Teil
der Arbeit ausgeführt werden wird, stimmt diese Erfahrung auch mit
unseren Untersuchungen überein, es ist in erster Linie das Messing,
bei dessen Guss das Giessfieber beobachtet ist (Messingfieber). Nur
wenige Fälle sind bekannt, in denen in anderen Gewerben dem Giess¬
fieber ähnliche Erscheinungen gesehen wurden. Hohmann (17) er¬
wähnt in seiner Arbeit einen bei einem Eisenschmelzer vorgekommenen
Fall, der folgende Symptome bot: Plötzlichen Stillstand der Tran¬
spiration, Gefühl eisiger Kälte, Zittern sämtlicher Glieder, nächtliche
Erstickungsanfälle, endlich zum Schluss reichliche Schweissproduktion.
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Dr. Julius Sigel,
Die Ursache soll nach Layet in der Erschöpfung und der Einwirkung
der in den schmelzenden Metallen enthaltenen Gase und der dem
Gusseisen entströmenden Kohlendämpfe zu suchen sein. . Dieser Fall
steht völlig isoliert da, trotz genauester Nachforschung konnte ich in
Eisengiessereien nie einen Fall von Giessfieber finden. Nach Plaseller
(8) soll das Giessfieber auch bei Messinghämmerern Vorkommen, der
deshalb dem Giessfieber den Namen „Staubfieber der Messinghämraerer“
gab, in der Annahme, dass die Erkrankung durch Inhalation des
Messing- bzw. Zinkstaubes zustande komme.
Einen dem Giessfieber ähnlichen Symptomenkomplex beschreibt
Eulenberg (9) als Prototyp der Zinkoxyd Vergiftung: Ein Apotheker¬
lehrling hatte aus Unvorsichtigkeit bei der Bereitung von Zinkoxyd
das ganze Laboratorium mit Zinkoxyddämpfen angefüllt, es traten an
demselben Tage Beklemmung der Brust, Schwindel, Kopfschmerz,
nach einer schlaflosen Nacht am anderen Morgen Husten, Erbrechen,
Steifigkeit in allen Gliedern ein. Am dritten Tage zeigten sich
starker Kupfergeschmack im Munde, Speichelfluss, Magendrücken und
ein so starker Schwindel, dass Pat. nicht aufbleiben konnte. Nach
starken Ausleerungen durch Laxantien wurden die Zufälle gelinder,
es stellte sich dann Fieber ein, nach der darauffolgenden Transpiration
war die Krankheit gänzlich gehoben. Auch Seifert (19) beschreibt
in der Zinkhüttenindustrie vorkommende, dem Giessfieber analoge
Zustände. S. schreibt: Die Einwirkung der Zinkdämpfe bei Zink¬
hüttenarbeitern ist eine geringe, da diese beim Entweichen in die
kühleren Arbeitsräume zu Zinkoxyd sich verdichten. Deshalb ist es
nicht zu verwundern, dass die bei den Gelbgiessern im sogen. Zink¬
fieber beschriebene, durch Zinkdämpfe veranlasste akute Zinkvergiftung
— stechende Schmerzen, Frösteln, Schüttelfrost, schlagender Puls,
quälender Husten mit dem Gefühl des Wundseins, Kopfschmerz,
manchmal Krämpfe, schliesslich Schweiss —, die den einmal Be¬
fallenen bei jedem Guss wieder heimsucht, bei den Zinkhüttenleuten
in dieser Weise nicht vorkommt. Ich, sagt S. weiter, wäre aber ge¬
neigt, einen ähnlichen Symptomenkomplex, der oft genug sich geltend
macht, besonders dann, wenn die Schmelzer gezwungen sind, in dem
unter dem Ofen befindlichen Kanal die durchgesickerten Schlacken zu
zerkleinern und von dort zu entfernen, wo also heisse Temperatur
und nicht genügende Zufuhr frischer Luft die schnelle Oxydation aus
den Oefen durchdringender und sich aus der Schlacke entwickelnder
Zinkdämpfe behindern, auf diese zu beziehen. Die Leute erkranken
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Das Giessfieber und seine Bekämpfung.
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nach einigen Stunden mit Erbrechen, das sie als erstes Symptom aus
dem Schlaf weckt. Wundgefühl im Halse, Heiserkeit, trockener
Husten, Kopfschmerzen, stechende Schmerzen an einzelnen Körper¬
stellen, Mattigkeit, schliesslich Durchfall folgen. Es fehlt aber bei
diesem Symptomenkomplex der typische Schüttelfrost und der Schweiss¬
ausbruch. Ob wir es hier in der Tat mit einer Zinkvergiftung, wie
Seiffert meint, zu tun haben, erscheint mir durchaus nicht bewiesen.
ad 2. Die Mehrzahl der Gelbgiesser wird vom Giessfieber be¬
fallen. Nach Hirt (20), Roth u. a. sind es 75 pCt. aller Giesser.
Nach Hirt tritt eine Gewöhnung niemals ein, wer das Giessfieber
einmal gehabt, hat die erfreuliche Aussicht, es bei jedem Gusse
wieder zu akquirieren. Nur sehr wenige Individuen sind von vorn¬
herein immun dagegen. Andere Autoren, Villaret, Greentow u. a.
sagen, dass man allmählich immun gegen Giessfieber werde. Auch
Simon (10) glaubt, dass wie bei den Opium- und Arsenikessem Ge¬
wöhnung möglich sei. Diese tritt aber nicht bei allen Arbeitern ein.
ad 3. Ehe wir nun das Wesen der Krankheit besprechen, erscheint
es angezeigt, einige Worte über die Darstellung des Messings einer¬
seits und den Vorgang des Giessens andererseits zu sagen. Das
Messing wird teilweise in den Giessereien selbst erst hergestellt durch
Legierung von Kupfer und Zink, teilweise wird zum Gusse Altmessing
verwendet. Das Messing (21) ist eine Kupferlegierung, die 20—50 pCt.
Zink enthält, meist ist das Verhältnis von Zink zu Kupfer, wie 30: 70
oder 40 : 60. Reine Metalle werden selten in der Industrie verwendet,
häufig kommen Verunreinigungen mit anderen Metallen vor. Solche
fremden Substanzen sind Zinn, Blei, Eisen, Antimon, Arsen, Cadmium.
Nach dem Bericht der Gewerbeaufsichtsbeamten in Württemberg
vom Jahr 1903 sind in den in Württemberg gebräuchlichen Legierungen
Mischungen von Zink und Kupfer im Verhältnis von 1: 2 üblich, die
Legierungen enthalten noch Zinn, auch Blei, selten Kupferphosphor.
Die Darstellung des Messings geschieht nach der älteren Methode
mittelst Kupfers und Zinkoxvd enthaltender Substanzen oder mittelst
Kupfers und metallischen Zinks. Es empfiehlt sich die Beschickungs¬
bestandteile gemeinschaftlich zu erhitzen und nicht das flüssige Zink
zum flüssigen Kupfer zu giessen, weil dann die Nietalle sich weniger
mischen und durch entstehende Explosionen die Masse teilweise aus
den Tiegeln geschleudert wird. Es verbindet sich nämlich Kupfer
und Zink mit grosser Heftigkeit, infolgedessen viel Zink verflüchtigt
wird. Häufig wird aber in der Praxis das Zink dem geschmolzenen
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Dr. Julius Sigel,
Kupfer zugesetzt. Die Beschickung wird in abwechselnden Lagen bei
einer Decke von Kohlenstaub in die Tiegel, die aus feuerfestem Ton
oder Graphit bestehen, eingetragen. Als Schmelzöfen dienen meist
Gefässöfcn für Glüh- und Flammenfeuerung, seltener eigentliche Flamm¬
öfen. Schon beim Schmelzen dringen oft weisse Dämpfe von Zink
oder Galmei, wie die Arbeiter sagen, in den Arbeitsraum. Sehr stark
aber ist die Entwicklung der Zinkdämpfe beim Füllen der Formen
mit dem flüssigen Metall, bei welcher Prozedur sich ein dichter,
weisser Rauch bildet. Der Guss beginnt meist sofort, wenn die
glühenden, blauweissen Dämpfe des verbrannten bzw. ins Sieden
kommenden Zinkes sich verflüchtigen. Es würde, wenn in diesem
Momente nicht gegossen wird, die Legierung zinkärmer. Damit der
Guss gut wird, darf kein Zug herrschen, es müssen daher Fenster
und Türen geschlossen werden, weshalb auch bei guter Ventilation
stets mehr oder weniger Dämpfe im Giessraum während des Giessens
sich ansammeln. Die Giesser und Schmelzer sind nun folgenden
Schädlichkeiten ausgesetzt:
1. Häufig, nicht immer dem Staub, der bei der Herstellung der
Gussformen entsteht, der aus feinem, tonhaltigem Sand besteht und
eventuell auch dem Messingstaub, wenn, wie in kleinen Betrieben in
ein und demselben Raum die Weiterverarbeitung des gegossenen
Materials vor sich geht.
2. Der beim Giessen entstehenden grossen Hitze und den in den
Arbeitsraum einströmenden Feuerungsgasen.
3. Den beim Giessen entstehenden Dämpfen.
Auf welche dieser Schädlichkeiten ist das Giessfieber zurückzu¬
führen? Staubentwicklung, grosse Hitze entsteht auch bei anderen
Gewerben, namentlich in den verschiedenen Giessereien, wo Zink-
Kupferlegierungen gegossen werden, tritt Giessfieber auf, es können
die ersten zwei genannten Schädlichkeiten nur als prädisponierend
angesehen werden, wenn ihnen bei der Entstehung des Giessfiebers
überhaupt eine Bedeutung zukommt.
Die schon erwähnte von Plaseller aufgestellte Theorie, dass
Inhalation von Messingstaub das Giessfieber hervorrufe, spielt, wie
noch ausgeführt werden wird, in der Praxis nur eine äusserst unter¬
geordnete Rolle, wenn auch zuzugeben ist, dass die Inhalation von
Sand- und Messingstaub nicht ganz unbedenklich für die Lungen ist.
Doch werden durch diese andere Störungen, als Giessfieber bedingt.
Viel wichtiger ist die dritte der genannten Schädlichkeiten, denn
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Das Giessfieber und seine Bekämpfung.
183
es ist schon theoretisch wahrscheinlich, dass diese Dämpfe die Ursache
des Giessfiebers sind. Welche Zusammensetzung haben nun diese
Dämpfe bezw. die aus diesen in der Luft sich kondensierenden Staub¬
massen? Von Analysen fand ich nur die des chem. Laboratoriums der
Königl. Zentralstelle für Gewerbe und Handel (22). Die Untersuchung
des in der Giesserei umherliegenden (alten?) Flugstaubes ergab, dass
derselbe etwas Eisen, Kupfer und Spuren von Zink enthielt. Es wäre
nach dieser Untersuchung das Wahrscheinlichste, dass es sich beim
Giessfieber um eine Kupfer- oder Zinkvergiftung handelte. Allein ge-
gewichtige Stimmen führen diese Erkrankung auf andere Momente
zurück.
von Jacksch (23) sagt: Die Angaben, dass bei Zinkarbeitern
Erkrankungen auftreten sollen, welche mit Fieber einhergehen, welches
in seinem Typus mit jenem, das wir bei der Malaria sehen, identisch
sein soll, bedürfen noch sehr der Bestätigung, v. Jacksch glaubt,
dass Tracinski (24) das Richtige getroffen hat, wenn er als wirk¬
sames Agens in solchen Fällen das Blei ansieht, v. Jacksch hält
es für wahrscheinlich, dass die Wirkung auch anderer Gifte, als vor
allem des Arsens mitspielt, welches das sog. Zinkfieber oder Gelb-
giesserfieber hervorruft. Kunkel (25) glaubt, dass die Noxe beim
Giessen in den aus dem miteingetragenen Schmutz und Staub sich
entwickelnden Gasen: Kohlenoxyd und brenzlichen Dämpfen zu suchen
sei. Auch an Arsen, Cadmium, Blei, das immer im technischen
Zink vorkommt, ist zu denken. Untersuchen wir zunächst, welche
dieser bis heute noch nicht bewiesenen Hypothesen am meisten Wahr¬
scheinlichkeit für sich hat.
a) Bekanntlich bestehen die giftigen Wirkungen des Kohlen¬
oxydes darin, dass es den Sauerstoff aus den roten Blutzellen ver¬
drängt und sich mit dem Hämoglobin zu Kohlenoxydhämoglobin ver¬
bindet, wodurch die Funktion des Blutes, Sauerstoff an die Gewebe
abzugeben, aufgehoben wird. Die. Affinität des Kohlenoxydes zum
Hämoglobin ist 200 mal grösser als die des Hämoglobins zum Sauer¬
stoff. Es nimmt daher das Blut sehr leicht Kohlenoxyd auf und es
entsteht relativ leicht eine CO-Vergiftung. Da bei dem Giessprozess
Kohlenoxyd sich bilden kann, so ist an eine derartige Vergiftung wohl
zu denken. Kopfschmerz, Husten, Mattigkeit, Schwere im Kopf,
Sinken der Pulsfrequenz, Dyspnoe, Zyanose, Koma, die typischen
Erscheinungen der CO-Vergiftung (v. Jacksch) sind grösstenteils
beim Giessfieber nicht vorhanden, andererseits ist bei der CO-In-
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Dr. Julius Sigel,
toxikation nie Schüttelfrost und Schweissausbruch, die fast regel¬
mässigen Begleiterscheinungen des Giessfiebers, nachzuweisen, wenn¬
gleich auch Temperatursteigerungen — allerdings selten — bei der
CO-Vergiftung gesehen wurden. Es ist daher unwahrscheinlich, dass
cs sich beim Giessfieber um eine CO-Vergiftung handelt. Blutunter¬
suchungen im Anfall sind in der Literatur nirgends erwähnt (s. u. bei
exper. Untersuchungen).
b) Auch die Möglichkeit einer akuten Bleivergiftung, der von den
genannten Toxikologen die Entstehung des Giessfiebers zugeschrieben
wird, können wir nicht von der Hand weisen. Allein die Erschei¬
nungen, welche eingcatmete Bleidämpfe hervorrufen, entsprechen nicht
unsrem Krankheitsbild. In der Zinkhüttenindustrie, wo bekanntlich
das metallische Zink durch Verhüttung aus der Zinkblende und Galmei
gewonnen wird, entstehen bleihaltige Dämpfe (26), denen die Zink¬
hüttenarbeiter ausgesetzt sind. Allein die hierdurch entstehenden
akuten und chronischen Bleivergiftungen, die Seiffert (19) ausführlich
beschreibt: „Ernährungs- und Verdauungsstörungen, Schädigungen des
Nervenend- und Muskelapparates, ßleikolik, Bleilähmung“ entsprechen
ebenfalls nicht dem Krankheitsbild des Giessfiebers. Auch ist der
Bleigehalt dieser Dämpfe ein viel höherer, als beim Giessen von
Messing, wo meist bleifreies oder fast bleifreies Zink zum Guss ver¬
wendet wird.
c) Von v. Jacksch, Chevallier u. a. wird die Ursache in einer
Arsenikvergiftung gesucht. Bei der Arsenik Vergiftung stehen zunächst
die lokalen Symptome im Vordergrund, Brennen, Kratzen, Druck
im Halse und Magen; Uebelkcit, Erbrechen, Durchfälle, später Ohn¬
machtsanfälle, Kollaps kommen hinzu. Auch hier kein Schüttel¬
frost und Schweissausbrüche. Dass wir es beim Giessfieber mit
einer Arsenvergiftung zu tun haben, ist schon aus dem Grunde
wenig wahrscheinlich, als bei Zinkhüttenarbeitern, die den Arsen¬
dämpfen weit mehr ausgesetzt sind, auch nichts von Arsenvergiftung
bekannt ist.
d) Dasselbe können wir vom Cadmium sagen. Bei dieser
Intoxikation finden wir Schwindel, Schwächegefühl, Verlangsamung
der Respiration, Bewusstlosigkeit, Krämpfe, Symptome, die nicht im
mindesten denen des Giessfiebers ähneln.
e) Ebensowenig kommt unserer Ansicht nach eine Zinnvergiftung
in Betracht, da der Symptomenkomplex eines solchen ein ganz andrer ist
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Das Giessfieber und seine Bekämpfung.
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und auch beim Rotguss, wo der Zinngehalt ein relativ hoher ist, fast nie
Giessfieber vorkommt.
So drängt sich uns mehr und mehr der Gedanke auf, dass wir
es mit einer Kupfer- oder Zink Vergiftung zu tun haben. Schon
Blaudet beschreibt dem Giessfieber analoge Erscheinungen in Frank¬
reich, glaubt aber die Intoxikation auf das in den Kupferlegierungen
enthaltene Zink zurückführen zu sollen. Nach den Jahresberichten
der Gewerbeaufsichtsbeamten in Württemberg 1903 ist das Giess¬
fieber auf das in den Zinkdämpfen mechanisch mitgerissene Kupfer
zurückzuführen. Diesen Hypothesen möchte ich eine Arbeit von
A. Houles und de Pietra Santa (27) gegenüberstellen: lm Dorfe
Durfort des Departements Tarn lebt eine ausschliesslich industrielle
Bevölkerung von der Bearbeitung des Kupfers durch Giessen, Hämmern,
Feilen und Polieren. Manche Arbeiter arbeiten täglich 12 Stunden
in einer Luft, die mit Staub von Kupferoxyd im Gemisch mit Eisen¬
oxyd oder von Kupfer allein erfüllt ist. An dieser Bevölkerung haben
wir, so schreiben H. und de P. weiter, während einer Beobachtungs¬
zeit von 10 Jahren keine Berufskrankheit, kein einziges charakte¬
ristisches Krankheitszeichen, das auf das Einatmen der Metallteilchen
zurückzuführen wäre, aufgefunden. Die Verfasser kommen auf Grund
ihrer Studien zu dem Schluss:
1. dass ein Mensch in einer mit Kupferstaub beladenen Atmos¬
phäre ohne wesentliche Beeinträchtigung seiner Gesundheit leben
kann.
2. Dass die Kupferkolik, welche die Schriftsteller des 18. Jahr¬
hunderts (Desbois de Rochefort, Combalusier) später auch
Blau de t beschrieben, nicht existiert.
Sommerfeld (28) hält das Giessfieber für eine Zinkvergiftung,
da dasselbe nur in solchen Giessereien beobachtet wird, welche Zink¬
legierungen des Kupfers verwenden. Auch Roth hält dasselbe für
eine Zinkintoxikation, während andere Autoren eine Mittelstellung ein¬
nehmen. Hirt (29) sagt, dass das Giessfieber am häufigsten be¬
obachtet wird, wenn neben Zink noch andere Dämpfe, z. B. von
Kupfer inhaliert werden. Man kann sich nach Hirt also nicht
ohne Grund versucht fühlen, bei der Entstehung der Krankheit nicht
bloss an den möglichen Arsengehalt des Zinkes, sondern auch an die
ev. Mitwirkung des Kupfers zu denken. Gerade der Umstand, dass
die Zinkhüttenarbeiter, welche reine Zinkdämpfe ohne Beimischung
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Dr. Julius Sigel,
von Kupfer einatmen, von der Krankheit verschont bleiben, während
die Zink- und Kupferdämpfe inhalierenden Arbeiter sie unendlich
häufig akquirieren, kann diese Vermutung veranlassen, wenn man da¬
bei auch nicht vergessen darf, dass die in den kleinen Werkstätten
der Giesser etc. fehlende Ventilation, die enorme Anhäufung der
Dämpfe, welche oft beim Giessen so dicht werden, dass man nicht
einen Schritt w’eit sehen kann, mit in Betracht zu ziehen ist. Aus
alledem geht hervor, dass die Aetiologie der Krankheit noch nicht
aufgeklärt ist, dass man aber wohl berechtigt ist, in ihr eine akute,
durch Zink und Kupferdämpfe erzeugte Metallvergiftung zu vermuten.
Auch Villaret (13) nimmt diese Mittelstellung ein. Er sagt: Da
reine Zinkdämpfe kein Giessfieber erzeugen, so müssten die Kupfer¬
dämpfe die Causa nocens sein. Ob es möglich ist, dass bei dem
Kontakt der beiden Körper im Schmelztiegel vielleicht besondere
flüchtige, bisher nicht erkennbare Produkte entstehen, welche das
Giessfieber erzeugen, ist eine nur durch das Fehlen jeder anderen
Erklärung gestützte Vermutung. Während wir uns bisher lediglich
auf hypothetischem Gebiet bewegt haben, war Hohmann (17) der
erste, der auf dem Wege des Experimentes die Frage nach der Ursache
des Giessfiebers zu lösen suchte. Hohmann machte zusammen mit
Lehmann den interessanten Versuch, durch Zink- bezw\ Messing¬
dämpfe bei Tieren das Giessfieber hervorzurufen. Die Versuchs¬
anordnung war folgende: In einem Schrank, der durch Glaswände ab¬
geschlossen und durch ein mit brennender Flamme versehenes Abzugs¬
rohr ventiliert war, wurden in einem kleinen Muffelofen in einem
Platintiegel Messing- und Zinkstücke geschmolzen. In dem Raum
befanden sich in Drahtkäfigen die Versuchstiere, etwa ein x / 2 m weit
von dem Tiegel entfernt. Die Versuchstiere, Katzen, Kaninchen,
Hunde und Tauben wurden 1—2 Stunden den Dämpfen von Zink,
Messing und von Messing- und Kupferphosphor ausgesetzt. Die Ver¬
hältnisse wurden möglichst denen beim Giessen angepasst. Die cin-
getretenen Veränderungen, Atcmbeschleunigung, Durst w r aren w'ohl die
Folge der Hitze, Schleimausfluss aus Nase und Maul Folge der
chemischen Reizung der Schleimhaut durch den Zinkoxydstaub. Ein¬
mal wurde ein kolikartiger Anfall von einer Katze beobachtet, der
möglicherweise als eine akute Vergiftung mit Zinkoxyd gedeutet
werden konnte. Auch die Versuche Hohmanns Hessen, wie er selbst
zugibt, die Ursache des Giessfiebers im Dunkeln. Neue, von Leh-
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Das Giessfieber und seine Bekämpfung.
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mann (17) in Aussicht gestellte Versuche sollen die Frage klären.
L. beabsichtigt an einem Arbeiter, der sehr zum Giessfieber neigt,
einen Versuch anzustellen, wobei in einem engen Raum eine grosse
Menge chemisch reinen Zinks verbrannt wird. Erkrankt der Mann,
so ist die Zinkhypothese bewiesen, und es wird weiter zu untersuchen
sein, ob neben Zinkoxyd überhaupt Zinkdampf in der Luft vorhanden
ist. Zinkdampf dürfte wohl durch ein Wattefilter oder besser Asbest¬
filter mindestens zum Teil hindurchgehen, während sich Zinkoxyd
auf demselben niederschlägt. Bleibt der Mann gesund, so wären
analoge Versuche unter Anwendung von Messing zu machen.
(Schluss folgt.)
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5.
Besprechungen, Referate, Notizen.
Dr. J. Kaup, K. K. Bezirksarzt im Handelsministerium und Privatdozent an der
technischen Hochschule in Wien, Die Reinigung der gefährlichen Ab¬
wässer einer Zuckerfabrik auf biologischem Wege. Der chemische
Teil in Gemeinschaft mit Fr. Adam, Assistent der K. K. allgemeinen Unter¬
suchungsanstalt für Lebensmittel in Wien. Separat-Abdruck aus der „Oesterr.-
Ung. Zeitschr. f. Zuckerindustrie u. Landwirtschaft“. V. Heft. 1905.
Verf. berichten über die Beobachtungen, die sie in der Kampagne 1903/04
an der Abwasserreinigungsanlage der Rohzuckerfabrik in Leopoldsdorf (Marchfeld)
bei Wien gemacht haben.
Es handelt sich hier um eine Zuckerfabrik, die bei einer täglichen Rüben¬
verarbeitung von etwa 6000 Doppelzentnern, im ganzen etwa 77 Sekundenliter Ab¬
wasser erzeugt, wovon auf die Rübenwaschwässer etwa 50 Sekundenliter und auf
Diffusions- und Schnitzelpressabwässer etwa 22 Sekundenliter entfallen. Die
Reinigung beider Abwasserarten erfolgt getrennt. Die Rübenwaschwässer werden
in fünf grossen Klärteichen von insgesamt 1600 qm Fläche bei 1,5 m Tiefe be¬
handelt; für die Reinigung der Diffusions-, und Schnitzelabwässer war ursprünglich
das Pnoskowetzsche Verfahren in Aussicht genommen, doch musste hiervon in¬
folge ungünstiger Bodenverhältnisse abgesehen werden. Es wurde dann für diese
Art Abwässer das biologische Verfahren eingeführt.
Ueber die mit diesem Verfahren in der Kampagne 1902/03 erzielten Erfolge
haben bereits Grassberger und Hamburg in der Zeitschrift „Hygienische Rund¬
schau“. No. 7. 1903 berichtet. Infolge zu groben Materials für die biologischen
Körper und infolge des Umstandes, dass wegen ungenügender Einrichtungen die
gröberen Bestandteile des Abwassers, fast ganz erhaltene Rübenschnitzel, nicht
hinlänglich zurückgehalten werden konnten, hatten diese Versuche kein befriedigendes
Resultat ergeben, und die Verf. waren damals zu dem Schluss gekommen, dass
den Abwässern durch das biologische Verfahren die Fäulnisfähigkeit nicht ge¬
nommen worden war, dass jedoch aus den eben angeführten Gründen ein Urteil
über die Verwendbarkeit des Verfahrens nicht gezogen werden konnte.
Bei den Versuchen im Jahre 1903/04 war durch Einbringen eines grossen
Pülpenfängers für eine genügende Zurückhaltung der gröberen Stoffe Sorge ge¬
tragen und die verschlammten biologischen Körper waren entsprechend gereinigt,
bezw. mit frischer Schlacke beschickt worden. Die Anlage bestand nun aus 4
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Besprechungen, Referate, Notizen.
189
primären Körpern mit Schlacke von 10—30 mm Korngrösse, 2 sekundären Körpern
mit Schlacke von ebensolcher Korngrösse und 6 weiteren sekundären Körpern mit
frischer Schlacke von höchstens 10 mm Korngrösse. Die 4 primären und die 2
sekundären Körper mit gröberer Schlacke zeigten bei 144 cbm Rauminhalt für jeden
einzelnen ein Aufnahmevermögen von rund 61 cbm Abwasser (etwa 42pCt.). Die
übrigen 6 sekundären Körper von derselben Grösse besassen je ein Aufnahme*
vermögen von rund 66 cbm (46pCt.).
Die Einwirkungszeiten der Abwässer auf die Körper betrugen während der
Dauer der Kampagne s / 4 Stunden für die primären und 2 ] / 2 Stunden für die sekun*
dären Körper und wurden nur vorübergehend kurze Zeit zur Anstellung besonderer
Beobachtungen abgeändert.
Die Versuche haben gezeigt, dass die Schnitzelpress- und Diffusionswässer
sich mit befriedigendem Erfolge in den biologischen Körpern reinigen lassen. Der
ursprünglich in den Abwässern vorhandene Zuckergehalt (bis zu 1048 mg i. L.)
war in dem gereinigten Abwasser kaum noch nachweisbar. Die Abnahme des
Kaliumpermanganatverbrauches betrug anfänglich 69—70pCt. und steigerte sich
nach Einarbeitung der Körper auf durchschnittlich 90pCt. Der Kohlenstoffgehalt,
mit Ausnahme des in den flüchtigen Säuren enthaltenen Kohlenstoffes, war das
eine Mal um 91pCt., bei einer späteren Untersuchung um 86,6pCt. herabgesetzt
worden. Demgegenüber hatte in allen Fällen der Gehalt an flüchtigen Säuren
stark zugenommen, wodurch der Beweis erbracht wurde, dass in den Körpern in
rascher und intensiver Weise eine Vergärung des Zuckers unter Bildung flüchtiger
organischer Säuren stattfand und dass gegenüber diesem Abbau der Kohlenhydrate
die Veränderungen in den Eiweissstoffen in den Hintergrund traten.
Auf diese in den Körpern sich abspielenden Prozesse, die bei der Veränderung,
bezw. beim Abbau der organischen Stoffe die Hauptrolle spielen, haben die Verf.
ihr besonderes Augenmerk gerichtet und eingehende Beobachtungen hierüber an¬
gestellt, die sie zu dem Schlüsse führten, dass bei den Zuckerfabrikabwässern bei
dem bedeutenden Ueberwiegen der Kohlenhydrate über die Eiweissstoffe und bei
der raschen und intensiven Art der Vergärung eine Eiweissfäulnis nach allen Er¬
fahrungen ausgeschlossen erscheint.
Demgemäss müsste die Bildung von Schwefelwasserstoff, der sich sowohl in
den Abläufen der primären, wie auch in noch stärkerem Grade in den Abläufen
der sekundären Körper zeigte, mehr auf Reduktion der in den Abwässern reichlich
vorhandenen Sulfate zu Sulfiden, bezw. Schwefelwasserstoff, als auf direkte Eiweiss-
faulnis zurückgefübrt werden.
Für diese Annahme spricht besonders die Abnahme der Sulfate vom Einlauf
des Abwassers bis zum Ablauf des gereinigten Abwassers und ferner der Umstand,
dass ausser der Bildung von Schwefelwasserstoff andere charakteristische Merk¬
zeichen einer Eiweissfäulnis nie vorgefunden wurden.
Die Aufnahmefähigkeit der biologischen Körper hatte anfänglich durch das
schlechte Funktionieren des Pülpenfängers erheblich gelitten, hielt sich aber später
bis zum Ende der Kampagne nahezu unverändert.
Bezüglich des Einflusses der gereinigten Zuckerfabrikabwässer, d. h. der bio¬
logisch gereinigten Schnitzelpress- und Diffusionswässer und der nur mechanisch
behandelten Rüben wasch wässer auf den Vorfluter, den Russbach, der für ge-
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Besprechungen, Referate, Notizen.
wohnlich rund 700 Sekundenliter führt, bei Regengüssen aber häufig weit mehr
Wasser führen kann, haben Verf. ebenfalls eingehende Beobachtungen angestellt
und hieraus die Ueberzeugung gewonnen, dass die eigentliche Verschmutzung des
Baohwassers mehr auf die Zuführung der nur mechanisch behandelten Waschwässer
als auf die Einleitung der biologisch gereinigten Schnitzelpress- und Diffusions¬
wässer zurückgeführt werden müsse, und dass, wenn nur die letzteren allein in
den Bach eingeleitet würden, sie denselben bei seiner ungefähr 30fachen Wasser¬
menge kaum wesentlich verunreinigt hätten.
Während des normalen Funktionierens der Anlagen wurden abnorme Algen¬
vegetationen oder Pilzwucherungen im Bachlaufe unterhalb der Kläranlage nicht
vorgefunden, während diese Uebelstände sich in der Kampagne 1902/03, als die
biologische Anlage schlecht arbeitete, deutlich aufgetreten waren.
Nach Ansicht der Verf. scheint lediglich der Zuckergehalt der Abwässer das
Auftreten derartiger Vegetationen zu begünstigen, während bei vollständiger Ver¬
gärung des Zuckers diese unterbleibt.
Ueber die Kosten der Reinigungsanlage, die eingehend besprochen wurden,
äussern sich die Verf. dahin, dass sie zwar im vorliegenden Falle, durch un¬
günstige Verhältnisse bedingt, sehr hohe waren, dass sie aber unter normalen Ver¬
hältnissen erheblich reduziert werden könnten. Trotzdem käme die Anwendung
dieses Verfahrens selbst unter den ungünstigsten Verhältnissen billiger als das
für Zuekerfabrikabwässer, was die gefährlichen Bestandteile anbelangt, unwirksame
Kalkmilchverfahren.
Die Verf. neigen wie Rolands (Revue d’hygiene. November 1904) der An¬
sicht zu, „dass das biologische Verfahren gegenwärtig das einzige ist, welches
zur Reinigung der Zuckerfabrikabwässer gute, praktische Resultate liefert. Die
Einrichtungskosten kommen allein in Betracht, denn die Betriebskosten sind gleich
Null und verschwinden vollkommen bei einem grossen Betriebe, der soviel Hunderte
von Arbeitern täglich beschäftigt.“
(Nach Ansicht des Ref. sollten die Betriebskosten nicht zu gering eingeschätzt
werden, da nach den bisherigen Erfahrungen nur eine ständige sachgemässe Ueber-
wachung und sorgfältige Instandhaltung aller einzelnen Teile der biologischen
Anlagon einen dauernd befriedigenden Reinigungseffekt verbürgen können. Es ist
ferner eine bekannte Tatsache, dass auch bei grossen Betrieben trotz eines an¬
scheinenden Ueberflusses an Arbeitskräften gerade die Abwasserreinigungsanlagen
häufig genug stiefmütterlich behandelt zu werden pflegen.) Pritzkow-Berlin.
Reform und Ausbau der österreichischen Arbeiterversioherung:
Wien 1906, Alfred Hölders Buchhandlung.
Das arbeitsstatistische Amt im K. K. Handelsministerium gibt in dieser
Schrift das offizielle Protokoll über die „Einvernahme ärztlicher Auskunfts¬
personen“, welche auf Anregung des vom ständigen Arbeiterbeirate eingesetzten
Arbeiterversicherungsausschusses am 6., *7. und 8. November 1905 im arbeits¬
statistischen Amt in Wien stattgefunden hat unter dem Vorsitz des Sektionschefs
Dr. Victor Mataja. Die Verhandlungen ergeben einen interessanten Ueberblick
über die mancherlei Wünsche der Aerztesohaft in Bezug auf Reformen der Arbeiter-
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Besprechungen, Referate, Notizen.
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Versicherungsgesetze Oesterreichs, die ja im wesentlichen den Deutschen nach¬
gebildet sind, und etwa 5 Jahre später in Wirksamkeit traten.
Beklagt wurde in erster Linie auch dort, dass bei den Vorarbeiten für diese
den Arzt so sehr angehenden Gesetze Aerzte gar nicht gehört wurden. Zu der
jetzt mit etwa 12 Aerzten aus allen Teilen des Landes gepflogenen Diskussion über
Reformen waren 17 Fragen gestellt, die Bezug nehmen auf das „Programm für die
Reform und den Ausbau der Arbeiterversicherung vom Dezember 1904 u . Beschlüsse
hat die Versammlung nicht gefasst; aus den Darlegungen der Delegierten ergaben
sich etwa folgende Wünsche:
Der Kreis der krankenversicherungspflichtigen Personen ist nach ärztlicher
Anschauung vor allen Dingen auch auf die land- und forstwirtschaftlichen Arbeiter
auszudehnen. Ellmann-Wien betont, dass je nach den wirtschaftlichen Ver¬
hältnissen des Ortes die Einkommensgrenze für Angestellte auf dem flachen Lande
mit 2000 Kr., in den grösseren Städten mit 2400 Kr. festgelegt werden sollte. Für
gewisse Kreise, wie z. B. Handelsangestellte und andere genüge die Versicherung
auf Krankengeld, sie sollten also den Arzt selbst bezahlen, weil viele besser ge¬
stellte sich sonst neben dem Kassenarzt noch einen Privatarzt halten, ein Anlass
zu vielen Schwierigkeiten.
Die Angehörigenversicherung wird im Hinblick auf die Bekämpfung
der Säuglingssterblichkeit und der Volksseuchen als dringend wünschenswert be¬
zeichnet, indes von einigen nur unter der Voraussetzung freier Arztwahl und an¬
gemessener Honorierung des Arztes. Die bedingte freie Arztwahl und die ge¬
setzliche Festlegung von Mindesthonoraren wird nach den Erfahrungen in Deutsch¬
land für durchführbar und auch mit den Interessen der Kassen vereinbar an¬
gesehen. Es seien Kollektivverträge zwischen Kassen- und Aerzteorganisation ab-
zuschliessen, durch welche die Aerzte unabhängig von den Kassenvorständen zu
machen seien.
Zwang zur Krankenhausbehandlung wird für gewisse Fälle als erwünsoht
bezeichnet; er soll vom ärztlichen Zeugnis abhängig gemacht werden.
Ueber die Frage, ob die Krankenkassen besondere Einrichtungen für Rekon¬
valeszentenpflege treffen sollen, besteht keine Uebereinstimmung.
Bezüglich der Unfallversicherung ist man einig, dass die Universitäten einige
Lehrkanzeln für versicherungsrechtliche und soziale Medizin einrichten sollten,
die Versicherungsanstalten (bei uns Berufsgenossenschaften) aber Auskunftsstellen
und Museen für Schutzvorrichtungen. Merkwürdiger Weise sprachen sich einige
Redner gegen die Uebernahme des Heilverfahrens bei Unfallverletzten aus; in
Deutschland hat man damit sehr günstige Erfahrungen gemacht.
In Bezug auf die Invalidenversicherung interessieren die Ausführungen des
Prager Hygienikers Prof. Hueppe. Er warnt vor Luxusanstalten, wie sie in
Deutschland errichtet sind, insbesondere in Beelitz. „Es hört sich auf den ver¬
schiedenen internationalen Kongressen wohl sehr schön an, dass das Deutsche
Reich in dieser Beziehung an der Spitze aller Kulturnationen marschiert, alloin
die Leistungen dieser Anstalten seien ausserordentlich bescheiden und von der
früher erwarteten Heilung, insbesondere der Tuberkulose, sei man schon ganz ab¬
gekommen. u Hüppe wünscht Heimstätten statt Heilstätten. Ellmann betont
dem gegenüber die Erziehung der Kranken in den Heilstätten zu einem hygienischen
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Besprechungen, Referate, Notizen.
Leben. Prof. Sternberg-Wien spricht sich auch für Kuren in Badeorten und
klimatischen Kurorten aus.
Er verlangt auch eine geschultere Bureaukratie für die Krankenkassen. Die
Regierung müsse mehr für deren Ausbildung und wirtschaftliche Besserung sorgen.
Das Protokoll lässt manches Streiflicht auf die deutschen Einrichtungen
fallen, deren Vorzüge vielfach anerkannt werden; ihre Fehler kommen indes auch
zur Sprache und gerade diese Erörterungen verdienen Beachtung.
Stolper- Göttingen.
Schreiber, Dr. med. K., Bericht über Versuche an einer Versuchsanlage
derJewell-Filter-Compagnie.
Während in Deutschland zur Reinigung des Trinkwassers für zentrale Wasser¬
versorgungen fast ausschliesslich die sogenannte englische, langsame Sandfiltration
in Gebrauoh ist, hat in Amerika im letzten Jahrzehnt die Schnellfiltration eine
grosse Verbreitung gewannen. Der Grund dafür ist wohl der, dass Wasser, welches
durch Tonschlamm getrübt oder durch Huminsubstanzen gelblich gefärbt ist, wie
das Flusswasser, auf welches viele amerikanische Städte für ihre Wasserversorgung
angewiesen sind, sich durch langsame Sandfiltration ohne Chemikalien garnicht
oder nur sehr unvollkommen reinigen lässt. Die günstigen Erfahrungen, welche
mit der Schnellfiltration in Amerika gemacht worden sind, veranlassten die Kgl.
Prüfungsanstalt für Wasserversorgung etc. in Berlin dazu, von einem Anerbieten
der Jewell-Filter-Export-Compagnie, eine Versuchsanlage in der Nähe von Berlin
zu errichten, und der Anstalt zu Versuchszwecken zur Verfügung zu stellen, Ge¬
brauch zu machen. Dieselbe wurde auf dem Gelände des Berliner Wasserwerkes
am Müggelsee errichtet. Diese Lage hat den Vorteil, dass die Versuchsanlage
neben einem für langsame Sandfiltration eingerichteten Wasserwerk arbeitete, und
dass deshalb die erzielten Effekte der Methode direkt miteinander verglichen werden
konnten. Von einer Beschreibung der recht komplizierten Versuchsanlage sei ab¬
gesehen. Erwähnt sei nur, dass die Jewellfilter, wie fast alle Schnellfilter auf dem
Prinzip beruhen, dass das Wasser, nachdem es durch einen Zusatz von Chemikalien
(schwefelsaure Tonerde) und Absitzenlassen vorgereinigt ist, mit sehr hoher
Filtrationsgeschwindigkeit durch Sand filtriert wird. Die Waschung des Filters
findet durch Verwendung von Rüokspülung, die mitunter mit Lüftung oder Rühr¬
vorrichtung verbunden ist, statt. Der Betrieb der Versuchsanlage begann am
2. September 1904, musste jedoch mit Eintritt des Winters abgebrochen werden.
Im April 1905 von neuem aufgenommen, dauerten die Versuche bis etwa Anfang
Juli. In dieser relativ kurzen Zeit die Anlage unter allen in Betracht kommenden
Verhältnissen zu prüfen, war unmöglich. Denn für die Bedingungen, von denen
die Leistungsfähigkeit einer Schnellfilteranlage abhängig ist, kommt nicht nur,
wie bei der langsamen Sandfiltration, die Beschaffenheit des Rohwassers in Be¬
tracht, sondern auch die Dauer der Sedimentation, ferner die Filtrationsge¬
schwindigkeit, die Menge des zugesetzten chemischen Fällungsmittels und die Art,
in welcher dasselbe zugesetzt wird, ob es nur beim Eintritt des Rohwassers in die
Sedimentationsbehälter oder auch beim Austritt aus denselben oder an beiden
Stellen zugleich zugegeben wird. Daher hat sich der Verf. auf die Untersuchung
einiger der ihm am wichtigsten scheinenden Punkte beschränkt. Auf die Schil-
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Besprechungen, Referate, Notizen.
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derung der einzelnen, zum Teil sehr umfangreichen Versuche, welche mit allen
Kautelen angestellt und mit grosser Genauigkeit durchgefiihrt wurden, sei hier
nicht eingegangen. Es sollen hier nur die Resultate sowie der Vergleich mit der
langsamen Sandliltration gebracht werden.
Als ein sehr sicherer Indikator für die Leistungsfähigkeit eines Sandfilters
hat sich im Laufe von mehreren Dezennien die Keimzahl herausgestellt. Wenn
daher bei einem Rohwasser durch Schnellfilter dieselben Keimzahlen erzielt werden,
wie sie sich bei einer gut funktionierenden langsamen Sandfiltration ergeben, so
ist wohl der Schluss berechtigt, dass ein solches Schnellfilter auch hinsichtlich
der Ausschaltung pathogener Bakterien und der Verhinderung von Epidemien
dasselbe leisten wird. Die im Filtrat des Städtischen Wasserwerkes festgestellten
Keimzahlen betrugen im Durchschnitt 21 pro ccm. Fast dieselbe Keimzahl (20—24)
wurde bei der Schnellfiltration erreicht, wenn der Zusatz an schwefelsaurer Ton¬
erde 30—43 g pro cbm Wasser, und die Zeit des Sedimentierens ca. iy 2 Std. be¬
trug bei einer Filtrationsgeschwindigkeit von 4 m pro Std. Beachtet man die er¬
zielten Effekte, bezogen auf das jeweilige Rohwasser, und interpoliert den Zusatz
des Fällungsmittels, so würde zu einem von 94,3 pCt., welche die langsame Sand-
filtration bewirkte, ein Zusatz von 33,6 g schwefelsaure Tonerde pro cbm bei einer
Sedimentationsdauer von ca. \ l j 2 Std. und 4 m Filtrationsgeschwindigkeit pro Std.
genügen, um einen gleichgünstigen Effekt mit der Schnellfiltration zu erreichen.
Eine wesentliche Beobachtung, welche bei den Versuchen gemacht werden konnte,
war die, dass der Planktongehalt des Wassers unter Umständen eine bedeutende
Beeinträchtigung der Betriebssicherheit hervorrufen kann. Einige nach dieser
Richtung hin vorgenommene Versuche ergaben, das Planktonorganismen, wenn
dieselben in grosser Menge auftreten, durch den Alaunzusatz nicht mehr in den
Sedimentierbehältern zurückgebalten werden, sich auf der Filteroberfläche an¬
sammeln und dadurch sowohl die Filtration selbst, als auch die Reinigung des
Filters in empfindlichster Weise zu stören vermögen.
Es muss daher das zur Schnellfiltration zur Verwendung kommende Wasser
in Bezug auf seinen Planktongehalt genau kontrolliert und ev. Vorrichtungen zur
Entfernung solcher Organismen aus dem Wasser, Filtertücher, bevor es zu den
Filtern gelangt, eingerichtet werden. Die chemische Zusammensetzung des Wassers
erfährt durch die Behandlung nach der Schnellfiltermetbodc, ausser in Bezug auf
Eisen, welches ausgefällt wird, nur insofern eine Beeinflussung, als die schwefel¬
sauren Salze eine geringe Zunahme aufweisen. In Bezug auf Trübungen des
Wassers, z. B. durch Ton, sowie auf gelbliche Färbungen desselben, welche durch
im Wasser gelöste Huminsubstanzen hervorgerufen werden, lehrten die Versuche,
dass die Schnellfiltration unter Zusatz schwefelsaurer Tonerde die bisher übliche
alte Filtermethode übertrifft. Betrachtet man die Reinigung von Trinkwasser durch
Jewell-Filter vom hygienischen Standtpnnkte, so könnte man höchstens an dem
durch den Zusatz von schwefelsaurer Tonerde in das Wasser gebrachten Aluminium
Anstoss nehmen. Die Menge desselben ist aber äusserst gering und würde nach
der Berechnung der Verf. bei einem Trinkwasserverbrauch von 1 L. pro Tag sich
im Jahre auf 2y 2 g Aluminium betragen. Nun gelangt aber, wie die Unter¬
suchungen ergaben, bei ordnungsmässigem Betriebe kein Aluminium in das Rein¬
wasser. Im übrigen haben Umfragen bei 44 grossen amerikanischen Städten,
Viertel; ah rssehri ft f. ger. Med. u. öff. San.-Wesen. 3. Folge. XXXII. I. jg
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Besprechungen, Referate, Notizen.
welche ihr Wasser durch Sclraellfiltration reinigen, ergeben, dass Gesundheits¬
schädigungen irgend welcher Art durch das Wasser nicht beobachtet worden sind.
Im übrigen besitzt eine Schnellfilteranlage vom hygienischen Standpunkte aus
einen ausserordentlichen Vorzug vor der langsamen Sandfiltration durch die An
ihrer Filterwaschung. Dieselbe muss bei langsamen Sandfiltern stets durch Aus-
und Einbringen des Filtermaterials mittelst Handbetriebes stattfinden und gibt
immer zu Infektionsmöglichkeiten in Hülle und Fülle Anlass. In einer Schnell¬
filteranlage hingegen geht die Waschung des Filters vollkommen maschinell vor
sich. Das Personal kommt mit seiner Kleidung und mit seinen Händen in gar
keine Berührung mit dem Filter und dem Wasser. Auch die eventuell nötige Des¬
infektion der Schnellfilter ist, schon in Hinsicht auf die geringere Grösse der¬
selben, gegenüber den alten Sandfiltern mit verhältnismässig geringeren Kosten
durchzuführen.
Die Ergebnisse der Untersuchungen fasst der Verf. in folgende Sätze zu¬
sammen :
1. Nach richtiger Anpassung der Betriebsbedingungen an die bestehenden
Verhältnisse ist das Jewell-Filter hinsichtlich seiner Leistungsfähigkeit in bak¬
teriologischer Beziehung der langsamen Sandfiltration an die Seite zu stellen.
2. In Bezug auf die Entfernung von Trübungen und Färbungen aus dem
Wasser ist das Jewell-Filter den alten Systemen unbedingt überlegen.
3. Das zur Anlage eines Wasserwerkes erforderliche Areal ist bei Erbauung
einer Anlage nach dem System der Jewell-Filter-Export-Compagnie kleiner, als
die zur Anlegung von Sandfiltern alten Systems erforderliche Fläche.
4. Die Betriebsbedingungen und deren Anpassung an die jeweilige Be¬
schaffenheit des Rohwassers ist, besonders wenn hinsichtlich des Planktongehaltes
bedeutende Schwankungen bestehen, mit gewissen Schwierigkeiten verknüpft.
5. Ueber die Kosten des Schnellfilterverfahrens lässt sich auf Grund der bei
einer kleinen Versuchsanlage gemachten Beobachtungen kein Urteil abgeben. Die
in Amerika gemachten Erfahrungen lehren, dass die Anlage des Schnellfilterwerkes
etwas billiger ist, während der Betrieb sich etwas teurer stellt, als bei einer An¬
lage mit gewöhnlichen Sandfiltern. Weldert-Berlin.
Schreiber, Dr. med. K., Zur Beurteilung des Ozonverfahrens für die
Sterilisation des Trinkwassers.
Da die zur Sterilisation des Trinkwassers erbauten Ozonanlagen in ihrer Be¬
triebssicherheit des öfteren angezweifelt wurden, beauftragte die Kgl. Versuchs¬
und Prüfungsanstalt für Wasserversorgung etc. im Einvernehmen mit der Firma
.Siemens und Halske den Verf. das Paderborner Wasserwerk speziell mit Rücksicht
auf die Frage der Betriebssicherheit, sowie zur Erlangung von Gesichtspunkten
für die Kontrolle von Ozonanlagen einer eingehenden Prüfung zu unterziehen. Die
zu diesem Zwecke notwendigen experimentellen Untersuchungen fanden in der Zeit
vom 12.—24. September 1904 statt. Auf die Versuche im einzelnen sei hier nicht
eingegangen. Es sei nur erwähnt, dass als Beweis für den ordnungsmässigen Be¬
trieb folgende Feststellungen herangezogen wurden: 1. die Verminderung der im
Rohwasser enthaltenen Keime auf ein Minimum, und 2. die Feststellung, dass in
dem ozonisierten Wasser sofort nach Verlassen der Sterilisationstürmo ein Ueber-
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schass von Ozon vorhanden ist. Im Bezug auf den letzten Punkt sei bemerkt,
dass der Verf. auf Grund vorliegender Versuche und Erfahrungen zu dem Schlüsse
kommt, dass der positive Ausfall der Ozonreaktion beweist, dass das Ozon auch
auf die Bakterien seine Wirksamkeit ausgeübt hat. Hinsichtlich des Rohwassers
sei angeführt, dass in demselben im Durchschnitte unter 150 Keime pro ccm ent¬
halten waren, welche Zahl jedoch bei starken Niederschlägen während der Versuchs¬
periode beträchtlich wuchs. Im Reinwasser waren im Durchschnitt 1,1 Keime
pro ccm vorhanden, und die Anlage funktionierte auch an Tagen, wo das Roh¬
wasser offensichtlich eine Verschmutzung erfahren hatte, völlig zur Zufriedenheit.
Zeigte so die direkte Keimzählung schon den guten und regelmässigen Effekt der
Anlage, so konnte duroh den stets positiven Ausfall der Ozonreaktion der Beweis
erbracht werden, dass zur Unschädlichmachung so hoher Verschmutzungen, wie die¬
jenigen, welche während der Beobachtungszeit auftraten, die in Anwendung
kommenden Ozonmengen noch ausreichen. Der Verf. kommt auf Grund seiner
Versuche zu dem Schlüsse, dass eine entsprechend konstruierte und in Bezug auf
die Menge und die Zusammensetzung des Rohwassers richtig dimensionierte Ozon¬
anlage mit genügender Sicherheit die Sterilisation mit Wasser, welches zu Zwecken
der Wasserversorgung Verwendung finden soll, zu leisten vermag.
Für die Genehmigung und Beaufsichtigung von Ozonanlagen durch die Be¬
hörden stellt der Verf. folgende Gesichtspunkte auf.
1. Die ungünstigste Beschaffenheit des zur Verwendung kommenden Wassers
muss aufs genauste festgestellt werden, insbesondere mit Bezug auf den höchsten
in demselben vorkommenden Gehalt an organischer Substanz.
2. Hiernach sind die zur Sterilisation in gewöhnlichem Betriebe zur An¬
wendung kommenden Ozonmengen zu bemessen, sodass auch im ungünstigsten
Falle, d. h. bei dem höchsten Gehalt an organischer Substanz, das zur Sterilisation
des Wassers erforderliche Mass von Ozon noch überschritten wird.
3. Die Prüfung einer Neuanlage hat durch die Festellung ihres Reinigungs¬
effektes nach der von Proskauer und Scbüder angewendeten Methode zu er¬
folgen.
4. Die Einstellung der Sicherbeitsvorrichtungen für die Ozonkonzentration
und die Luftmenge sind zu prüfen, und diese Apparate vor Eingriffen des Personals
zu sichern.
5. Die Kontrolle von Ozonanlagen wird sieb auf Prüfung des Innehaltens
der unter 1, 2 und 4 genannten Punkte beschränken können. Als Indikator für
die tadellose Funktion einer Anlage wird sich, nach Sammlung grösserer Er¬
fahrungen die Anstellung der Ozonreaktion mittelst Jodkalium im Reinwasser als
ausreichend erweisen. Weldert-Berlin.
Schreiber, Dr. med. K., Enteisenung bei Einzelbrunnen nach dem Ver¬
fahren der Firma Deseniss und Jakobi in Hamburg.
Für die Enteisenung von Trink- und Wirtschaftswasser sind mehrere Ver¬
fahren ausgebildet, welche im Grossbetriebe mit genügender Sicherheit arbeiten.
Auch an Bestrebungen eine Handpumpe mit Enteisenungsvorrichtung zu kon¬
struieren, hat es nicht gefehlt, und dieselben haben zu mehr oder weniger
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Besprechungen, Referate, Notizen.
brauchbaren Modellen, wie z. B. die Enteisenungspumpe der Gesellschaft Phönix,
Dunbarsches Fass u. a. m., geführt. Die Einrichtungen werden jedoch den An¬
sprüchen der Praxis und Hygiene nicht gerecht. Vor einigen Jahren ist nun von
Firma Deseniss und Jakobi in Hamburg-Bergfelde eine Enteisenungspumpe, die
sogenannte Bastardpumpe konstruiert worden, bei welcher die Enteisenung in
ähnlicherWeise bewirkt wird, wie es im Grossbetriebe bei dem Büttner-und
Me versehen und ähnlichen Enteisenungsverfahren geschieht und welche den
hygienischen und praktischen Anforderungen zu genügen schien. Bei der
Wichtigkeit einer derartigen Neukonstruktion für Einzelbrunnen wurde von der
Kgl. Versuchs- und Prüfungsanstalt für Wasserversorgung beschlossen, eine
Prüfung der Pumpe in Bezug auf ihre hygienische und praktische Brauchbarkeit
vorzunehmen, .und der Verf. mit der Anstellung der dazu nötigen Versuche be¬
auftragt. Die von der Firma für diesen Zweck gelieferte Versuchspumpe bestand
im wesentlichen aus drei Teilen, der Bastardpumpe und dem Filter. Die Bastard¬
pumpe unterscheidet sich dadurch von einer gewöhnlichen Pumpe, dass auf dem
jeder Pumpe eigentümlichen Zylinder mit Saug- und Druckklappe noch ein zweiter,
als Luftpumpe dienend, aufgesetzt ist. Mit jedem Kolbenstoss wird daher ein Ge¬
menge von Luft und Wasser dem Filter, welches aus Sand bestehend in einen
allseitig geschlossenen eisernen Zylinder eingebaut ist, zugeführt, durch dasselbe
von oben nach unten durchgepresst und gelangt darauf zum Abflüsse. Durch
einen Vierwegehahn kann der Weg des Luftwassergemisches so geändert werden,
dass die Rückspülung des Filters in bequemer und, wie der Versuch zeigte, aus¬
reichender Weise möglich ist.
Die vorstehend kurz beschriebene Pumpe wurde auf einen etwa 44 m tiefer*
Rohrbrunnen aufgesetzt. Die Versuche erstreckten sich über eine Zeit von etwa
3 Monaten. Das zur Verwendung kommende Rohwasser war, wie die Analyse
zeigte, reich an Eisen, (5,5—7,5 mb F 2 0 3 i. L.) welches sich beim Stehen an der
Luft nur langsam ausschied. Das aus der Pumpe austretende Reinwasser enthielt,
wie dies aus den zahlreich ausgeführten Analysen hervorgeht, nur sehr wenig
Eisen, welches sich auch bei langer Aufbewahrungszeit der Probe nicht mehr aus¬
schied, sodass das Wasser dauernd klar blieb.
Die Untersuchungsergebnisse zeigen demnach, dass die Enteisenung des
Wassers durch die Bastardpumpe eine so weitgehende war, dass das abfliessende
lteinwasser allen Anforderungen, die man in dieser Richtung an ein gutes Trink-
und Wirtschaftswasser zu stellen hat, vollkommen genügt. Den hygienischen An¬
forderungen entspricht die Bastardpumpe in jeder Weise, da das Wasser auf seinem
Wege durch Pumpe und Filter in keiner Weise verunreinigt werden kann. Die
einzige Möglichkeit einer Verunreinigung, die ev. in Frago kommen könnte, nämlich
dadurch, dass Staub in das Luftaussaugeventil der Luftpumpe mit eingesaugt
wird, lässt sich durch ein auf das Ventil aufgesetztes Luftfilter leicht vermeiden.
Soweit demnach auf Grund einer dreimonatlichen Prüfung geurteilt werden darf,
entspricht nach Ansicht des Verf. die Bastardpumpe allen Anforderungen, die
hinsichtlich der Einfachheit der Konstruktion, der leichten Bedienung, der Ent¬
fernung des Eisens und des Schutzes gegen Verunreinigung an eine Handpumpe
gestellt werden können. Weldert-Berlin.
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Besprechungen, Referate, Notizen.
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Rosenthal, Sanitätsrat Dr. O., Alkoholismus und Prostitution. Zwei
Vorträge, gehalten in den wissenschaftlichen Kursen des Zentralrerbandes zur
Bekämpfung des Alkoholismus im Jahre 1905. Verlag von A. Hirschwald,
Berlin.
Verf. fasst in anschaulicher Darstellung die mannigfachen Wechselbeziehungen
•zwischen Alkoholismus und Prostitution zusammen. Der Alkohol führt als Kuppler
der Prostitution die Opfer zu. Die Prostitution lässt ihre Opfer rettungslos dem
Alkoholismus verfallen. Der Alkoholkonsum in den Bordellen ist für die Prosti¬
tuierte als auch für den Prostituierenden als Anregungs- und Betäubungsmittel
von besonders schädlicher Wirkung. Er verleitet den Besucher die einfachsten
Massnahmen der Prophylaxe ausser Acht zu lassen. Auch auf den an Geschlechts¬
leiden Erkrankten übt der Alkohol noch seine Wirkung aus. Lues und Gonorrhoe
werden in ihrem Verlauf aufs Ungünstigste beeinflusst.
So sind Alkoholismus und Prostitution aufs Innigste miteinander verbunden;
einer ist der Helfershelfer des Anderen. Als dritter Bundesgenosse gesellen sich
ihnen die Geschlechtskrankheiten zu. Wollen wir sie erfolgreich bekämpfen, so
muss sich unser Angriff zunächst gegen den Alkoholismus richten.
Dr. Dohrn-Cassel.
Koljago, Oberstabsarzt, Dr. Cyrillus, Der Malzkaffee bei Truppen Ver¬
pflegung. Militär. Medizinal-Journal, St. Petersburg.
Bemerkenswert sind Versuche, welche Verf. mit einer Anzahl russischer
Soldaten anstellte, die er eine Zeit lang statt mit dem sonst gebräuchlichen Tee
mit Malzkaffee ernährte. Die Gerste, woraus Malzkaffee bereitet wird, enthält in
100 Teilen: Eiweisstoffe 12,96, Stärkemehl 66,43, Dextrin 10,0, Fett 2,76, Zell¬
stoff 4,75undAsche3,10. Der Malzkaffee ist also dem nur als Genussmittel dienen¬
den Tee gegenüber als billiges Nahrungsmittel vom diätetischen Standpunkte aus
vorzuziehen.
Verf. fand auch an den mit Malzkaffee Ernährten eine Gewichtszunahme, die
er auf Rechnung des letzteren glaubt setzen zu können und nimmt auf Grund
seiner Versuche an, dass derselbe „in hohem Grade die Eigenschaft besitzt, auf die
Assimilation der Nährstoffe der von der Mannschaft gebrauchten Speisen überhaupt
günstig einzuwirken“. Angesichts der Tatsache, dass der bei uns als Morgen¬
getränk meist getrunkene Kaffee oft Magenbeschwerden verursacht und nervöse
verschlimmert, dürfte eine Nachprüfung obiger Versuche mit dem billigeren und
nahrhafteren Malzkaffee durchaus angemessen sein. Dr. Lindemann.
Fassbender, Prof. Dr. Martin, Die Ernährung des Menschen in ihrer
Bedeutung für Wohlfahrt und Kultur. Berlin. Carl Heymanns Verlag.
In der lesenswerten Schrift wird die Ernährungsfrage physiologisch, sowie
in ihrer Beziehung zur Wohlfahrtspflege besprochen. Am Schluss beschreibt Verf.
eingehend die volkswirtschaftlich und gesundheitlich empfehlenswerteste Art des
Kochens und hebt besonders die Vorteile des „Selbstkochers“ im Haushalt hervor.
Die Lektüre der allgemeinverständiich abgefassten Schrift sei bestens empfohlen.
Dr. Lindemann.
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Besprechungen, Referate, Notizen.
Notizen.
Von den ärztlichen Kongressen, welche in der zweiten Hälfte des Jahres 1906
stattfinden, verdienen besonders hervorgehoben zu werden:
I. Der am 11.—lö.September in Berlin unter dem Ehrenpräsidium Sr. Exz. des
Herrn Ministers der Medizinal-Angelegenheiten, Staatsministers Dr. Studt tagende
IV. internationale Kongress für Versicherungs-Medizin.
Das wissenschaftliche Programm umfasst folgende Hauptgegenstände:
A. Aus dem Gebiete der Lebensversicherung:
1. Die frühzeitige Feststellung des Vorhandenseins einer Veranlagung zur
Tuberkulose, insbesondere zur Lungentuberkulose.
2. Die Fettleibigkeit in ihrer Bedeutung für die Versicherung.
3. Der Einfluss der Syphilis auf die Lebensdauer.
4. Die Impfklausel im Versioherungs-Vertrag.
B. Aus dem Gebiete der Unfallversicherung:
5. Die Beeinflussung innerer Leiden durch Unfälle im allgemeinen.
6. Die akute Verschlimmerung von Geisteskrankheiten im Verlauf von Unfällen.
7. Einfluss des Traumas bei latenten und offenbaren organischen Rückenmarks¬
und Gehirnkrankheiten.
8. Die Kriterien der Verschlimmerung von funktionellen Neurosen durch Unfälle.
Die Verhandlungen und Berichte des voraussichtlich im preussischen Abge¬
ordnetenhause tagenden Kongresses werden in deutscher, französischer und eng¬
lischer Sprache abgefasst.
Anmeldungen, Anfragen und Mitteilungen sind zu richten an den General¬
sekretär des Deutschen Vereins für Versicherungs-Wissenschaft, Herrn Dr. Alfred
Man es, Berlin W. 50, Spichernstr. 22.
Im einzelnen wird das Programm sich wie folgt gestalten:
Montag, d. 10. Septbr., 8y z Uhr abends: Empfang im Reichstag durch den
Organisations-Ausschuss.
Dienstag, d. 11. Septbr., 9y a Uhr: Feierliche Eröffnung des Kongresses im
Abgeordnetenhaus. 11—1 Uhr: Arbeitssitzung; 1—2y a Uhr: Frühstück;
27,—5 Uhr: II. Arbeitssitzung.
Auf Allerhöchsten Befehl: Festvorstellung im Königlichen Opemhause.
Mittwoch, d. 12. Septbr., 9 1 / 2 —1 Uhr: III. Arbeitssitzung; 1—2 1 /«, Uhr: Früh¬
stück; 2y 2 —5 Uhr: IV. Arbeitssitzung; 7y 2 Uhr: Empfang der Kongress¬
mitglieder durch die städtischen Behörden im Rathause.
Donnerstag, d. 13. Septbr., 9 1 / 2 —l Uhr: V. Arbeitssitzung; 1— 2y 2 Uhr:
Frühstück; 2 1 / 2 — b Uhr: VI. Arbeitssitzung.
Freitag, d. 14. Septbr., 9 1 /,»—1 Uhr: VII. Arbeitssitzung; Uhr: Früh¬
stück; 2y«,—5 Uhr: VIII. Arbeitssitzung. 4 Uhr: Schluss des wissenschaft¬
lichen Teiles des Kongresses. 7 1 /, Uhr: Festessen in den Restaurations¬
räumen des Zoologischen Gartens.
Sonnabend, d. 15. Septbr.: Ausflüge.
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Besprechungen, Referate, Notizen.
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II. Am 15. September d. J. findet in Stuttgart die
V. Hauptversammlung des Deutsohen Medizinal-Beamten-Vereins
statt, wofür mit Rücksicht auf die vom 16.—22. ebenfalls in Stuttgart tagende
Naturforscher-Versammlung nur ein Tag in Aussicht genommen ist.
Vorläufige Tagesordnung:
1. Eröffnung der Versammlung.
2. Geschäfts- und Kassenbericht.
3. Die Medizinalvisitationen der Gemeinden, ihre Durchführung, Ziele und
Erfolge auf Grund einer 30jährigen Erfahrung in Württemberg. Referent:
Herr Ober-Med.-Rat Dr. Scheur len -Stuttgart.
4. Mikroskopie in der gerichtlichen Medizin. Referent: Herr Prof. Dr. Kockel,
Direktor des Instituts für gerichtliche Medizin in Leipzig.
5. Die Beaufsichtigung des Verkehrs mit Arzneimitteln. Referent: Herr Reg.-
u. Med.-Rat Dr. Springfeld in Arnsberg.
6. Ueber Testierfahigkeit vom gerichtsärztlichen Standpunkt. Referent: Herr
Dr. Marx, Assistent am Institut für Staatsarzneikonde in Berlin.
7. Vorstandswahl.
Minden, d. 1. Juni.
Der Vorstand.
des Deutschen Medizinal-Beamten-Vereins.
Dr. Rapmund,
Reg.- u. Geb. Med.-Rat in Minden.
III. Am 13.—15. September 1906 findet zu Augsburg die 31. Versamm¬
lung des
Deutschen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege
statt, wofür folgende Tagesordnung festgesetzt worden ist:
Mittwoch, d. 12. September:
1. Die Bekämpfung der Tollwut. Referent: Prof. Dr. Frosch (Charlottenburg).
2. Die Milchversorgung der Städte mit besonderer Berücksichtigung der Säuglings¬
ernährung. Referenten: Stadtbezirksarzt Dr. Poetter (Chemnitz),
Beigeordneter Brugger (Köln).
Donnerstag, d. 13. September:
3. Walderholungsstätten und Genesungsheime. Ref.: Dr. R. Lennhoff (Berlin).
4. Die Bekämpfung des Staubes im Hause und auf der Strasse. Referenten:
Prof. Dr. Heim (Erlangen), Stadtbaumeister Nier (Dresden).
Freitag, den 14. September:
5. Welche Mindestforderungen sind an die Beschaffenheit der Wohnungen, insbe¬
sondere der Kleinwohnungen, zu stellen? Referent: Regierungsbaumeister a. D.,
Beigeordneter SohiHing (Trier).
Samstag, d. 15. Septbr.: Gemeinsamer Ausflug nach Hohenschwangau.
Anfragen sowie Anmeldungen zur Mitgliedschaft nimmt entgegen
der ständige Sekretär: Dr. Pröbsting in Köln.
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III. Amtliche Mitteilungen.
Erlass des Ministers der Medizinal-Angelegenheiten (I. T.s Wever) an
die Herren OberprSsidenten vom 19. Februar 1906, betr. Abändernng der
Vorschrift in § 25 No. 2 der Dienstanweisung für die Kreisärzte Toni
23. März 1901.
Obwohl die Dienstanweisung für. die Kreisärzte vom 23. März 1901 klar er¬
kennen lässt, dass an zahlreichen Stellen nicht neue Vorschriften gegeben, sondern
schon bestehende lediglich der Vollständigkeit wegen nachrichtlich wiedergegeben
werden sollen (vgl. z. B. § 1 Abs. 1 u. 2 Satz 1 u. 2; § 2 Abs. 2; § 3, No. 1, 2, 3
Satz 1; § 4 Abs. 3; § 7 Satz 1; § 8; § 24 Abs. 1 und Abs. 2 No. 1 u. 3), hat
dennoch in einer höchstrichterlichen Entscheidung die Auffassung Geltung ge¬
funden, dass die Dienstanweisung die Rechte und Pflichten der Kreisärzte durch¬
weg selbständig begründe. Insbesondere ist daselbst im Widerspruch mit der
Absicht, welche bei dem Erlass der Dienstanweisung obgewaltet hat, angenommen
worden, dass der Vorschrift in § 25 unter No. 2 eine konstitutive, mit derogato-
rischer Kraft selbst Gesetzen gegenüber ausgestattete Wirkung derart zukomme,
dass hier für die Kreisärzte ein Gebührenanspruch selbst in solchen Fällen be¬
gründet worden sei, wo bis zum Erlass der Anweisung ein Gebührenanspruch
nicht bestanden habe.
Gegenüber einer solchen Auslegung halte ich es für angebracht, für die Zu¬
kunft jedem Missverständnis durch eine andörweito Fassung der fraglichen Vor¬
schrift vorzubeugen
Im Einverständnis mit dem Herrn Finanzminister bestimme ich daher, dass
an die Stelle der bisherigen No. 2 im § 25 der Dienstanweisung für die Kreisärzte
vom 23. März 1901 folgende Vorschrift tritt:
2. die ihm nach Massgabe des Gesetzes vom 9. März 1872 (G.S. S. 265)
oder der dort aufrecht erhaltenen besonderen Vorschriften zustehenden
Gebühren, (cfr. Min.-Blatt 1906, No. 6, S. 112.)
Erlass des Ministers der Medizinal-Angelegenheiten (Exzellenz Stadt),
des Ministers des Innern (I. V.: t. Bischoffshansen) and des Ministers
für Handel und Gewerbe (I. A.s y. d. Hagen) an die Herren Ober¬
präsidenten Yom 22. Februar 1906, betreffend die Polizeiverordnung Ober
den Handel mit Giften.
Die im Reichs- und Staatsanzeiger zur Veröffentlichung gelangte Polizei¬
verordnung über den Handel mit Giften vom heutigen Tage ist alsbald durch die
Amtsblätter bekannt zu machen.
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Amtliche Mitteilungen.
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In dem beifolgenden Exemplare der Polizeiverordnung sind die Aenderungen
und Ergänzungen gegenüber der Polizeiverordnung vom 24. August 1895, welche
sich aus der Bekanntmachung vom 16. Oktober 1901 ergeben, durch punktiertes
(.) und insoweit sie durch den Bundesratsbeschluss vom 1. Februar 1906
herbeigeführt sind, durch doppeltes Unterstreichen ( ■ ) kenntlich gemacht.
Polizeiverordnung
über
den Handel mit Giften.
Auf Grund des § 136 Abs. 3 des Gesetzes über die allgemeine Landes¬
verwaltung vom 30. Juli 1883 — G.S. S. 195ff. — wird unter Bezugnahme auf
die Beschlüsse des Bundesrats vom 29. November 1894, 17. Mai 1901 und
1. Februar 1906 die nachstehende Polizeiverordnung erlassen:
§ 1. Der gewerbsmässige Handel mit Giften unterliegt den Bestimmungen
der §§ 2 bis 18.
Als Gifte im Sinne dieser Bestimmungen gelten die in Anlage I aufgeführten
Drogen, chemischen Präparate und Zubereitungen.
Aufbewahrung der Gifte.
§ 2. Vorräte von Giften müssen übersichtlich geordnet, von anderen Waren
getrennt, und dürfen weder über noch unmittelbar neben Nahrungs- oder Genuss¬
mitteln aufbewahrt werden.
§ 3. Vorräte von Giften, mit Ausnahme der auf abgeschlossenen Giftböden
verwahrten giftigen Pflanzen und Pflanzenteile (Wurzeln, Kräuter usw.), müssen
sich in dichten, festen Gefässen befinden, welche mit festen gut schliessenden
Deckeln oder Stöpseln versehon sind.
In Schiebladen dürfen Farben, sowie die übrigen in den Abteilungen 2 u. 3
der Anlage I aufgeführten festen, an der Luft nicht zcrfliessenden oder ver¬
dunstenden Stoffe aufbewahrt werden, sofern die Schiebladen mit Deckeln ver¬
sehen, von festen Füllungen umgeben und so beschaffen sind, dass ein Verschütten
oder Verstäuben des Inhalts ausgeschlossen ist.
Ausserhalb der Vorrätsgefässe darf Gift, unbeschadet der Ausnahme¬
bestimmung im Absatz 1, sich nicht befinden.
§ 4. Die Vorrätsgefässe müssen mit der Aufschrift „Gift“, sowie mit der
Angabe des Inhalts unter Anwendung der in der Anlage I enthaltenen Namen,
ausser denen nur noch die Anbringung der ortsüblichen Namen in kleinerer Schrift
gestattet ist, und zwar bei Giften der Abteilung I in weisser Schrift auf schwarzem
Grunde, bei Giften der Abteilungen 2 und 3 in roter Schrift auf weissem Grunde,
deutlich und dauerhaft bezeichnet sein. Vorrätsgefässe für Mineralsäuren, Laugen,
Brom und Jod dürfen mittels Radier- oder Aetzverfahrens hergestellte Aufschriften
auf weissem Grunde haben.
Diese Bestimmung findet auf Vorrätsgefässe in solchen Räumen, welche
lediglioh dem Grosshandel dienen, nioht Anwendung, sofern in anderer Weise für
eine, Verwechselungen ausschliessende Kennzeichnung gesorgt ist. Werden jedoch
aus derartigen Räumen auch die für eine Einzelverkaufsstätte des Geschäfts¬
inhabers bestimmten Vorräte entnommen, so müssen, abgesehen von der im Ge-
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202 Amtliche Mitteilungen.
schäfte sonst üblichen Kennzeichnung, die Gefässe nach Vorschrift des Absatzes 1
bezeichnet sein.
§ 5. Die in Abteilung 1 der Anlage I genannten Gifte müssen in einem be¬
sonderen, von allen Seiten durch feste Wände umschlossenen Raume (Giftkammer)
aufbewahrt werden, in welchem andere Waren als Gifte sich nicht befinden.
Dient als Giftkammer ein hölzerner Verschlag, so darf derselbe nur in einem vom
Verkaufsräume getrennten Teile des Warenlagers angebracht sein. Die Giftkaromer
muss für die darin vorzunebmenden Arbeiten ausreichend durch Tageslioht erhellt
und auf der Aussenseite der Tür mit der deutlichen und dauerhaften Aufschrift
„Gift“ versehen sein.
Die Giftkammer darf nur dem Geschäftsinhaber und dessen Beauftragten zu¬
gänglich und muss ausser der Zeit des Gebrauchs verschlossen sein.
§ 6. Innerhalb der Giftkammer müssen die Gifte der Abteilung 1 in einem
verschlossenen Behältnisse (Giftsohrank) aufbewahrt werden.
Der Giftschrank muss auf der Aussenseite der Tür mit der deutlichen und
dauerhaften Aufschrift „Gift“ versehen sein.
Bei dem Giftschranke muss sich ein Tisch oder eine Tischplatte zum Ab¬
wiegen der Gifte befinden.
Grössere Vorräte von einzelnen Giften der Abteilung 1 dürfen ausserhalb
des Giftschrankes aufbewahrt werden, sofern sie sich in verschlossenen Gefässen
befinden.
§ 7. Phosphor und mit solchem hergostellte Zubereitungen müssen ausser¬
halb des Giftschrankes, sei es innerhalb oder ausserhalb der Giftkammer, unter
Verschluss an einem frostfreien Orte in einem feuerfesten Behältnisse, und zwar
gelber (weisser) Phosphor unter Wasser aufbewahrt werden. Ausgenommen sind
Phospborpillen; auf diese finden die Bestimmungen der §§ 5 und 6 Anwendung.
Kalium und Natrium sind unter Verschluss, wasser- und feuersicher und
mit einem sauerstoffreien Körper (Paraffinöl, Steinöl oder dergleichen) umgeben,
aufzubewahren.
§ 8. Zum ausschliesslichen Gebrauch für die Gifte der Abteilung 1 und zum
ausschliesslichen Gebrauch für die Gifte der Abteilungen 2 und 3 sind besondere
Geräte (Wagen, Mörser, .Löffel und dergleichen) zu verwenden, welche mit der
deutlichen und dauerhaften Aufschrift „Gift“ in den, dem § 4 Absatz 1 ent¬
sprechenden Farben versehen sind. In jedem zur Aufbewahrung von giftigen
Farben dienenden Behälter muss sich ein besonderer Löffel befinden. Die Geräte
dürfen zu anderen Zweoken nicht gebraucht werden und sind mit Ausnahmo der
Löffel für giftige Farben stets rein zu halten. Die Geräte für die im Giftschranke
befindlichen Gifte sind in diesem aufzubewahren. Auf Gewichte finden diese Vor¬
schriften nicht Anwendung
Der Verwendung besonderer Wagen bedarf es nicht, wenn grössere Mengen
von Giften unmittelbar in den Vorrats- oder Abgabegefassen gewogen werden.
§ 9. Hinsichtlich der Aufbewahrung von Giften in den Apotheken greifen
nachfolgende Abweichungen von den Bestimmungen der §§ 4, 5 und 8 Platz:
(zu § 4). Die Bestimmungen im § 4 gelten für Apotheken nur insoweit, als
sie sich auf die Gefässe für Mineralsäuren, Laugen, Brom und Jod be¬
ziehen. Im übrigen bewendet es hinsichtlich der Bezeichnung der Ge¬
fässe bei den hierüber ergangenen besonderen Anordnungen.
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Amtliche Mitteilungen.
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(zu § 5). Die Giftkammer darf, falls sie in einem Vorratsraum eingerichtet
wird, auch durch einen Lattenverschlag hergestellt werden. Kleinere
Vorräte von Giften der Abteilung 1 dürfen in einem besonderen, ver¬
schlossenen und mit der deutlichen und dauerhaften Aufschrift „Gift“
oder „Venena“ oder „Tabula B“ versehenen Behältnisse im Verkaufs¬
räume oder in einem geeigneten Nebenraume aufbewahrt werden. Ist
der Bedarf an Gift so gering, dass der gesamte Vorrat in dieser Weise
verwahrt werden kann, so besteht eine Verpflichtung zur Einrichtung
einer besonderen Giftkammer nicht.
(zu § 8). Für die im vorstehenden Absatz bezeichneten kleineren Vorräte
von Giften der Abteilung 1 sind besondere Geräte zu verwenden und in
dem für diese bestimmten Behältnisse zu verwahren. Für die in den Ab¬
teilungen 2 u. 3 bezeiohneten Gifte, ausgenommen Morphin, dessen Ver¬
bindungen und Zubereitungen, sind besondere Geräte nicht erforderlich.
Abgabe der Gifte.
§ 10. Gifte dürfen nur von dem Geschäftsinhaber oder den von ihm hiermit
Beauftragten abgegeben werden.
§ 11. Ueber die Abgabe der Gifte der Abteilungen 1 und 2 sind in einem
mit fortlaufenden Seitenzahlen versehenen, gemäss'Anlage II eingerichteten Gift-
buohe die daselbst vorgesehenen Eintragungen zu bewirken. Die Eintragungen
müssen sogleich nach Verabfolgung der Waren von dem Verabfolgenden selbst,
und zwar immer in unmittelbarem Anschluss an die nächst vorhergehende Ein¬
tragung ausgeführt werden. Das Giftbuch ist zehn Jahre lang nach der letzten
Eintragung aufzubewahren.
Die vorstehenden Bestimmungen finden nicht Anwendung auf die Abgabe
der Gifte, welche von Grosshändlern an Wiederverkäufer, an technische Gewerbe¬
treibende oder an staatliche Untersuchungs- oder Lehranstalten abgegeben werden,
sofern über die Abgabe dergestalt Buch geführt wird, dass der Verbleib der Gifte
nachgewiesen werden kann.
§ 12. Gift darf nur an solche Personen abgegeben werden, welche als zu¬
verlässig bekannt sind und das Gift zu einem erlaubten gewerblichen, wirtschaft¬
lichen, wissenschaftlichen oder künstlerischen Zwecke benutzen wollen. Sofern
der Abgebende von dem Vorhandensein dieser Voraussetzungen sichere Kenntnis
nicht hat, darf er Gift nur gegen Erlaubnisschein abgeben.
Die Erlaubnisscheine werden von der Ortspolizeibehörde nach Prüfung der
Sachlage gemäss Anlage III ausgestellt. Dieselben werden in der Regel nur für
eine bestimmte Menge, ausnahmsweise auch für den Bezug einzelner Gifte während
eines, ein Jahr nicht übersteigenden Zeitraumes gegeben. Der Erlaubnisschein
verliert mit dem Ablaufe des vierzehnten Tages nach dem Ausstellungstage seine
Giltigkeit, sofern auf demselben etwas anderes nicht vermerkt ist.
An Kinder unter 14 Jahren dürfen Gifte nicht ausgehändigt werden.
§ 13. Die in Abteilung 1 u. 2 verzeichneten Gifte dürfen nur gegen schrift¬
liche Empfangsbescheinigung (Giftschein) des Erwerbers verabfolgt werden. Wird
das Gift durch einen Beauftragten abgeholt, so hat der Abgebende (§ 10) auch
von diesem sich den Empfang bescheinigen zu lassen.
Die Bescheinigungen sind nach dem in Anlage IV vorgeschriebenen Muster
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Amtliohe Mitteilungen.
auszustellen, mit den entsprechenden Nummern des Giftbuchs zu versehen und
zehn Jahre lang aufzubewahren.
Die Empfangsbestätigung desjenigen, welchem das Gift ausgehändigt wird,
darf auch in einer Spalte des Giftbuches abgegeben werden.
Im Falle des § 11 Absatz 2 ist die Ausstellung eines Giftscheines nicht
erforderlich.
§ 14. Gifte müssen in dichten, festen und gut versohlossenen Geiassen ab¬
gegeben werden; jedoch genügen für feste, an der Luft nicht zerfliessende oder ver¬
dunstende Gifte der Abteilungen 2 u. 3 dauerhafte Umhüllungen jeder Art, sofern
durch dieselben ein Verschütten oder Verstäuben des Inhalts ausgeschlossen wird.
Die Gefässe oder die an ihre Stelle tretenden Umhüllungen müssen mit der
im § 4 Absatz 1 angegebenen Aufschrift und Inhaltsangabe sowie mit dem Namen
des abgebenden Geschäftes versehen sein. Bei festen an der Luft nicht zer-
fliessenden oder verdunstenden Giften der Abteilung 3 darf an Stelle des Wortes
Gift die Aufschrift „Vorsicht“ verwendet werden.
Bei der Abgabe an Wiederverkäufer, technische Gewerbetreibende und
staatliche Untersuchungs- oder Lehranstalten genügt indessen jede andere, Ver¬
wechselungen ausscbliessende Aufschrift und Inhaltsangabe; auch brauchen die
Gefässe oder die an ihre Stelle tretenden Umhüllungen nicht mit dem Namen dos
abgebenden Geschäfts versehen zu sein.
§ 15. Es ist verboten, Gifte in Trink- oder Kochgefässen oder in solchen
Flaschen oder Krügen abzugeben, deren Form oder Bezeichnung die Gefahr einer
Verwechselung des Inhalts mit Nahrungs- oder Genussmitteln herboizuführcn ge¬
eignet ist.
§ 16. Auf die Abgabe von Giften als Heilmittel in den Apotheken finden
die Vorschriften der §§ 11 bis 14 nicht Anwendung.
Besondere Vorschriften über Farben.
§ 17. Auf gebrauchsfertige Oel-, Harz- oder Lackfarben, soweit sie nicht
Arsenfarben sind, finden die Vorschriften der §§ 2 bis 14 nicht Anwendung. Das
Gleiche gilt für andere giftige Farben, welche in Form von Stiften, Pasten oder
Steinen oder in geschlossenen Tuben zum unmittelbaren Gebrauch fertiggestellt
sind, sofern auf jedem einzelnen Stück oder auf dessen Umhüllung entweder das
Wort „Gift“ beziehungsweise „Vorsicht“ und der Name der Farbe oder eine das
darin enthaltene Gift erkennbar machende Bezeichnung deutlich angebracht ist.
Ungeziefermittel.
§ 18. Bei der Abgabe der unter Verwendung von Gift hergestellten Mittel
gegen schädliche Tiere (sogenannte Ungeziefermittel) ist jeder Packung eine Be¬
lehrung über die mit einem unvorsichtigen Gebrauche verknüpften Gefahren bei¬
zufügen. Der Wortlaut der Belehrung kann von der zuständigen Behörde vor¬
geschrieben werden.
Arsenhaltiges Fliegenpapier darf nur mit einer Abkochung von Quassiaholz
oder Lösung von Quassiaextrakt zubereitet in viereckigen Blättern von 12 : 12 cm,
deren jedes nicht mehr als 0,01 g arsenige Säure enthält und auf beiden Seiten
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Amtliche Mitteilangen.
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mit drei Kreuzen, der Abbildung eines Totenkopfes und der Aufschrift „Gift“ in
schwarzer Farbe deutlich und dauerhaft versehen ist, feilgehalten oder abgegeben
werden. Die Abgabe darf nur in einem dichten Umschläge erfolgen, auf welchem
in schwarzer Farbe deutlich und dauerhaft die Inschriften „Gift“ und „Arsen¬
haltiges Fliegenpapier“ und im Kleinhandel ausserdem der Name des abgebenden
Geschäfts angebracht ist.
Andere arsenhaltige Ungeziefermittel dürfen nur mit einer in Wasser leicht
löslichen grünen Farbe vermischt feilgehalten oder abgegeben werden; sie dürfen
nur gegen Erlaubnisschein (§ 12) verabfolgt werden.
Strychninhaltige Ungeziefermittel dürfen nur in Form von vergiftetem Ge¬
treide, welches in tausend Gewichtsteilen höchstens fünf Gewichtsteile salpeter¬
saures Strychnin enthält und dauerhaft dunkelrot gefärbt ist, feilgehalten oder
abgegeben werden.
Vorstehende Beschränkungen können zeitweilig ausser Wirksamkeit gesetzt
werden, \yenn und soweit es sich darum handelt, unter polizeilicher Aufsicht
ausserordentliohe Massnahmen zur Vertilgung von schädlichen Tieren, z. B.
Feldmäusen, zu treffen.
Gewerbebetrieb der Kammerjäger.
§ 19. Personen, welche gewerbsmässig schädliche Tiere vertilgen (Kammer¬
jäger) müssen ihre Vorräte von Giften und gifthaltigen Ungeziefermitteln unter
Beachtung der Vorschriften in den §§ 2, 3, 4, 7 und, soweit sie die Vorräte nicht
bei Ausübung ihres Gewerbes mit sich führen, in verschlossenen Räumen, welche
nur ihnen und ihren Beauftragten zugänglich sind, aufbewahren. Sie dürfen die
Gifte und die Mittel an andere nicht überlassen.
§ 20. Diese Polizeiverordnung tritt am 1. März 1906 in Kraft, mit Ausnahme
der Bestimmungen über den Verkehr mit arsenhaltiger und arsenfreier Salzsäure
und Schwefelsäure, die erst am 1. Juli 1906 Geltung erlangen. Alle entgegen¬
stehenden Verordnungen, insbesondere die Polizeiverordnung vom 24. August 1895
— Min.-Bl. f. d. inn. Verw. S. 265 — und die Bekanntmachung vom 16. Ok¬
tober 1901 — Min.-Bl. f. Med. pp. Angel. S. 263 — werden von dem gleichen
Zeitpunkte ab aufgehoben.
§ 21. Die für Apotheken über den Handel mit Giften bestehenden weiter¬
gehenden Vorschriften bleiben auch ferner in Kraft.
§ 22. Zuwiderhandlungen gegen diese Polizeiverordnungen werden, soweit
in den bestehenden Gesetzen nicht höhere Strafen vorgesehen sind, naoh § 367
No. 5 des Strafgesetzbuches mit Geldstrafe bis zu Einhundertfünfzig Mark oder
mit Haft bestraft.
Berlin, den 22. Februar 1906.
Der Minister der geistlichen, Unterrichts- Der Minister des Innern,
und Medizinal-Angelegenheiten. In Vertretung.
Studt. v. Bischoffshausen.
Der Minister für Handel und Gewerbe.
Im Aufträge, v. d. Hagen.
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Amtliche Mitteilungen.
Anlage I.
Verzeichnis der Gifte.
Abteilung 1.
Akonitin, dessen Verbindungen und
Zubereitungen,
Arsen, dessen Verbindungen und Zu¬
bereitungen, auch Arsenfarben,
Atropin, dessen Verbindungen und Zu¬
bereitungen,
Brucin, dessen Verbindungen und Zu¬
bereitungen,
Curare und dessen Präparate,
Cyanwasserstoffsäure (Blausäure)
Cyankalium, die sonstigen cyan¬
wasserstoffsauren Salze und deren
Lösungen, mitAusnahme des Berliner
Blau(Eisencyanör) u. des gelben Blut¬
laugensalzes (Kaliumeisencyanür).
Daturin, dessen Verbindungen und Zu¬
bereitungen,
Digitalin, dessen Verbindungen und
Zubereitungen,
Emitin, dessen Verbindungen und Zu¬
bereitungen,
Erythrophlein, dessen Verbindungen
und Zubereitungen,
Fluorwasserstoffsäure (Flusssäure),
Homatropin, dessen Verbindungen und
Zubereitungen,
Hyoscin(Duboisin), dessen Verbindungen
und Zubereitungen,
Hyoscyamin (Duboisin), dessen Ver¬
bindungen und Zubereitungen,
Kantharidin, dessen Verbindungen und
Zubereitungen,
Kolchicin, dessen Verbindungen und
Zubereitungen,
Koniin, dessen Verbindungen und Zu¬
bereitungen,
Nikotin, dessen Verbindungen und Zu¬
bereitungen,
Nitroglycerinlösungen,
Phosphor (auch roter, sofern er gelben
Phosphor enthält) und die damit be¬
reiteten Mittel zum Vertilgen von
Ungeziefer,
Physostigmin, dessen Verbindungen und
Zubereitungen,
Pikrotoxin,
Queoksilberpräparate,auchFarben ausser
Quecksilberchlorid (Kalomel) und
Schwefelquecksilber (Zinnober),
Salzsäure, arsenhaltige,*)
Schwefelsäure, arsenhaltige,*)
Skopolamin, dessen Verbindungen und
Zubereitungen,
Strophanthin,
Strychnin, dessen Verbindungen und
Zubereitungen, mit Ausnahme von
strychninhaltigem Getreide,
Uransalze, lösliche, auch Uranfarben,
Veratrin, dessen Verbindungen und
Zubereitungen.
*) Anmerk.: Salzsäure und Schwefel¬
säure gelten als arsenhaltig, wenn 1 ccm
der Säure mit 3 ccm Zinnchlorürlösung
versetzt, innerhalb 15 Minuten eine
dunklere Färbung annimmt.
Bei der Prüfung auf den Arsengehalt
ist, sofern es sich um konzentrierte
Schwefelsäure handelt, zunächst 1 ccm
durch Eingiessen in 2 ccm Wasser zu
verdünnen und 1 ccm von dem erkalteten
Gemische zu verwenden. Zinnchlorür¬
lösung ist aus 5Gewichtsteilen kristalli¬
siertem Zinnchlorür, die mit 1 Gewichts¬
teile Salzsäure anzurühren und voll¬
ständig mit trockenem Chlorwasserstoffe
zu sättigen sind, herzustellen, nach
dem Absetzen durch Asbest zu filtrieren
und in kleinen, mit Glasstopfen ver¬
schlossenen, möglichst angefüllten
Flaschen aufzubewahren.
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Amtliche Mitteilungen.
207
Abteilung 2.
Acetanilid (Antifebrin),
Adonis - kraut,
Aethylenpräparate,
Agaricin,
Akonit-extrakt, -knollen, -kraut, -tinktur,
Amylenhydrat,
Amylnitrit,
Apomorphin,
Belladonna-blätter, -extrakt, -tinktur,
wurzel,
Bilsen • kraut, -samen, Bilsenkraut
-extrakt, -tinktur,
Bittermandelöl, blausäurehaltiges,
Brechnuss (Krähenaugen), sowie die
damit hergestellten Ungeziefermittel,
Brechnuss-extrakt, -tinktur.
Brechweinstein,
Brom,
Bromäthyl,
Bromalhydrat.
Bromoform,
Butylchloralhydrat,
Calabar - extrakt, -samen, -tinktur,
Cardol,
Chloräthyliden, zweifach,
Chloralformamid,
Chloralbydrat,
Chloressigsäuren,
Chloroform,
Chromsäure,
Cocain, dessen Verbindungen und Zu¬
bereitungen,
Convallaraarin,dessenVerbindungenund
Zubereitungen,
Convallarin, dessen Verbindungen und
Zubereitungen,
Elaterin, dessen Verbindungen und Zu¬
bereitungen,
Erythrophleum,
Euphorbium,
Fingerhut - blätter, -essig, -extrakt,
-tinktur,
Gelsemium-wurzel, -tinktur,
Giftlattich - extrakt, -kraut, -saft (Laktu-
karium),
Giftsumach-blätter, -extrakt, -tinktur,
Gottesgnaden-kraut, -extrakt, -tinktur,
Gummigutti, dessen Lösungen und Zu¬
bereitungen,
Hanf, indischer, -extrakt, -tinktur,
Hydroxylamin, dessen Verbindungen
und Zubereitungen,
Jalapen-harz, -knollen, -tinktur,
Kirsch lorbeeröl,
Kodein, dessen Verbindungen und Zu¬
bereitungen,
Kokkelskörner,
Kotoin,
Krotonöl,
Morphin, dessen Verbindungen und Zu¬
bereitungen,
Narcein, dessen Verbindungen und Zu¬
bereitungen,
Narkotin, dessen Verbindungen und
Zubereitungen,
Nieswurz (Helleborus) grüne, -extrakt,
-tinktur, -wurzel,
„ „ schwarze,-extrakt,
•tinktur, -wurzel,
Nitrobenzol (Mirbanöl),
Opium und dessen Zubereitungen mit
Ausnahme von Opium-pflaster und
-wasser,
Oxalsäure (Kleesäure, sog. Zuckersäure),
Paraldehyd,
Pental,
Pilokarpin, dessen Verbindungen und
Zubereitungen,
Sabadill-extrakt, -früchte, -tinktur,
Sadebaum-spitzen, -extrakt, -öl,
Sankt-Ignatius-samen, -tinktur,
Santonin,
Scammonia-Harz(Scammonium)-wurzel,
Schierling (Konium) - kraut, -extrakt,
-früchte, -tinktur,
Senföl, ätherisches,
Spanische Fliegen u. deren weingeistige
und ätherische Zubereitungen,
Stechapfel - blätter, -extrakt, -samen,
-tinktur — ausgenommen z. Hauchen
oder Räuchern —,
Strophantus-extrakt, -samen, -tinktur,
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208
Amtliche Mitteilungen.
Strychninhaltiges Getreide, Veratrum (weisse Nieswurz) - tinktur,
Sulfonal und dessen Ableitungen, -Wurzel,
Thallin, dessen Verbindungen und Zu- Wasserschierling-kraut, -extrakt,
bereitungen, Zeitlosen - extrakt, -knollen, -samen,
Urethan, -tinktur, -wein.
Abteilung 3.
Antimonchlorür, fest oder in Lösung,
Baryumverbindungen ausser Schwer-
spath (schwefelsaurem Baryum),
Bittermandelwasser,
Bleiessig,
Bleizucker,
Brechwurzel (Jpecacuanha) - extrakt,
-tinktur, -wein,
Farben, welche Antimon, Baryum, Blei,
Chrom, Gummigutti, Kadmium,
Kupfer, Pikrinsäure, Zink oder Zinn
enthalten, mit Ausnahme vonSchwer-
spath (schwelelsaurem Baryum),
Chromoxyd, Kupfer, Zink, Zinn und
deren Legierungen als Metallfarben,
Schwefelkadmium, Schwefelzink,
Schwefelzinn (als Musivgold), Zink¬
oxyd, Zinnoxyd,
Goldsalze,
Jod u. dessen Präparate, ausgenommen
zuckerhaltiges Eisenjodür und Jod¬
schwefel,
Jodoform,
Kadmium und dessen Verbindungen,
auch mit Brom oder Jod,
Kalilauge, in 100 Gewichtsteilen mehr
als 5 Gewichtsteile Kaliumhydroxyd
enthaltend,
Kalium,
Kaliumbichromat (rotes, chromsaures
Kalium, sogenanntes Chromkali).
Kaliumbioxalat (Kleesalz),
Kaliumchlorat (chlorsaures Kalium),
Kaliumchromat (gelbes, chromsaures
Kalium),
Kaliumhydroxyd (Aetzkali),
Karbolsäure, auch rohe, sowie ver¬
flüssigte und verdünnte, in 100 Ge¬
wichtsteilen mehr als 3 Gewichtsteile
Karbolsäure enthaltend,
Kirsch lorbeerwasser, •
Koffein, dessen Verbindungen und Zu¬
bereitungen,
Koloquinthen- extrakt, -tinktur,
Kreosot,
Kresole u. deren Zubereitungen (Kresol-
seifenlösungen, Lysol, Lysosolveol
usw.), sowie deren Lösungen, soweit
sie in 100 Gewichtsteilen mehr als
1 GewichlsteU der Kresolzubereitung
enthalten,
Kupferverbindungen,
Lobelien-kraut, -tinktur,
Meerzwiebel-extrakt, -tinktur, -wein,
Mutterkorn - extrakt (Ergotin),
Natrium,
Natriumbichromat,
Natriumhydroxyd (Aetznatron, Seifen¬
stein),
Natronlauge, in 100 Gewichtsteilen
mehr als 5 Gewichtsteile Natrium-
Hydroxyd enthaltend,
Paraphenilendiamin, dessen Salze,
Lösungen und Zubereitungen,
Phenazetin,
Pikrinsäure und deren Verbindungen,
Quecksilberchlorür (Kalomel),
Salpetersäure (Scheidewasser), auch
rauchende,
Salzsäure, arsenfreie*), auch verdünnte,
in 100 Gewichtsteilen mehr als 15
Gewichtsteile wasserfreie Säure ent¬
haltend,
Schwefelkohlenstoff,
*) Anmeikung: Siehe Anmerkung zu
Abteilung 1.
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Amtliche Mitteilungen.
209
Schwefelsäure, arsenfreie*), auch ver- Silbersalze, mit Ausnahme von Chlor-
diinnte, in 100 Gewichtsteilen mehr Silber,
als 15 Gewiohtsteile Schwefelsäure- Stephans (Staphisa gria)-körner,
monohydrat enthaltend, Zinksalze, mit Ausnahme von Zink-
_ karbonat,
*) Anmerkung: Siehe Anmerkung zu Zinnsalze.
Abteilung f.
Giftbnch.
Anlage II.
d
Bezeichnung
Des Giftes
Zweck, zu welchem
des Erlaubnisscheines
Tag der
das Gift vom
2
nach Behörde
und Nummer.
Abgabe.
Name. j Menge.
Erwerber benutzt
werden soll.
Des Erwerbers
Name Wohnort
sZd. (Wohnung).
Des Abholenden
Wohnort
Stand. (Ahnung).
Name des Eigenhändige
Verab- Namensschrift
folgenden, des Empfängers.
(Name der ausstellenden
Behörde.)
No.
Anlage m.
Erlaubnisschein zum Erwerb von Gift.
Der p. (Name, Stand).zu (Wohnort u. Wohnung)
.die (Firma).wünscht (Menge) ....
(Name des Gifts).zu erwerben, um damit.
(Zweck, zu welchem das Gift benutzt werden soll).
Gegen dieses Vorhaben ist diesseits nach stattgefundener Prü¬
fung nichts zu erinnern.
.den . . ten.19 . .
(Bezeichnung der ausstellenden Behörde.)
(Namensunterschrift.)
(Siegel.)
Dieser Schein macht die Ausstellung einer Empfangsbescheinigung (Gift¬
schein) gemäss § 13 nicht entbehrlich. Er verliert mit dem Ablaufe des 14. Tages
nach dem Ausstellungstage seine Giltigkeit, sofern etwas anderes oben nicht aus¬
drücklich vermerkt ist.
Viertelj ahrsseh ri ft f. ger. Med. u. öff. San.-Wesen. 3. Folge. XXXII. I. 14
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Amtliche Mitteilungen.
Anlage IV.
No. . . (des Giflbuchs).
Oiftschein.
Von (Firma des abgebenden Geschäfts).zu (Ort)
.bekenne ich hierdurch .... (Menge).
(Name des Gifts).zum Zwecke de.wohl
verschlossen und bezeichnet erhalten zu haben.
Der aus einem unvorsichtigen Gebrauche des Giftes entstehenden
Gefahren wohl bewusst, werde ich dafür Sorge tragen, dass dasselbe
nicht in unbefugte Hände gelangt und nur zu dem vorgedachten
Zwecke verwendet wird.
Das Gift soll durch.abgeholt werden.
(Wohnort, Tag, Monat, Jahr (Name und Vorname,
und Wohnung.) Stand oder Beruf des Erwerbers.)
(Eigenhändig geschrieben.)
(Zusatz, falls das Gift durch einen anderen abgeholt wird.)
Das oben bezeichnete Gift habe ich im Aufträge des.
(Namen des Erwerbers) in Empfang genommen und verspreche, das¬
selbe alsbald unversehrt an meinen Auftraggeber abzulieforn.
(Ort, Tag, Monat, Jahr.) (Name und Vorname,
Stand oder Beruf des Abholenden.)
(Eigenhändig geschrieben.)
(cfr. Min.-Blatt 1906. No. 6. S. 114-122.)
Erlass des Ministers der geistlichen pp. Angelegenheiten (I. V.: Wever)
nnd des Ministers des Innern (I. V.: von Bischoffs hausen.) an die
Herren Regiemngspriisidenten (Polizeipräsidenten in Berlin) vom 2. April
1906, betr. Direktiven für die Untersuchung der Bindehauterkrankungen
bei Militärpflichtigen.
Die Direktiven für die Untersuchung und Beurteilung augenkranker Militär¬
pflichtiger, welche von dem Herrn Kriegsminister im Jahre 1893 erlassen worden,
sind von einer Kommission, an welcher ausser Ministerialkommissaren angesehene
Vertreter der Augenheilkunde teilgenommen haben, einer Neubearbeitung unter¬
zogen worden. Der in diesen Beratungen festgestellte Entwurf hat des Herrn
Kriegsministers und meine, desMinisters der geistlichen, Unterrichts-undMedizinal-
Angelegenheiten, Genehmigung gefunden. Die neuen „Direktiven für die Unter¬
suchung und Beurteilung der Bindohauterkrankungen bei Militärpflichtigen“ werden
von jetzt an für die Militärärzte bei der Musterung und Aushebung von Militär¬
pflichtigen massgebend sein.
Wir bestimmen, dass diese Direktiven fortan auch für die Beurteilung und
Bezeichnung der Kranken bei der Bekämpfung der Körnerkrankheit (Granulöse,
Trachom) verbindlich sind und in allen Listen und Nachweisungen, welche die
Granulöse betreffen, Berücksichtigung zu finden haben,
Ew. Hochwohlgeboren lassen wir in den Anlagen .... Abdrücke der Di¬
rektiven mit dem Ersuchen ergebenst zugehen, je einen dem zuständigen Referenten
bei der dortigen Regierung, den Landräten — in Stadtkreisen den Ortspolizei-
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Nummer
Amtliche Mitteilungen.
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behörden —, Kreisärzten sowie den bei der Granulosebekämpfung beteiligten
Aerzten auszuhändigen.
Einen etwaigen Mehrbedarf wollen Sie bei mir, dem Minister der geistlichen,
Unterrichts- und MedizinaUAngelegenheiten, erbitten.
Direktiven für die Untersuchung und Beurteilung der Bindehauterkrankungcn
bei Militärpflichtigen.*)
Die Untersuchung der Augcnlidbindehäutc hat durch Umstülpen der Lider, in
trachomverscuchten Gegenden stets auch der oberen, zu erfolgen.
Abkürzungen
I. Die Aushebung ist nicht zulässig
für die
bei:
Eintragungen
in die Listen
allen Formen von fcstgestelltem Trachom (granulöser
Augen -
Bindehautentzündung, Körnerkrank hei t).
Tr.*)
Dabei ist die Bindehaut gerötet, geschwollen, gewulstet
und von unebner Oberfläche; sie enthält trübe, rötlich graue
Körner (Granula) besonders in den Ucbergangsfaltcn. Der
obere Teil der Hornhaut ist häufig miterkrankt, getrübt, von
baumfürmig verästelten Gelassen überzogen (Pannus): im
späteren Verlauf kommt es zu strich- und fleckförmigen
Narben von bläulich-weisscr Färbung in der Bindehaut,
narbiger Schrumpfung der Lider und Einwärtsdrehung der Lid¬
ränder.
2. schweren Bindehauterkrankungen (ohne Kennzeichen des Augcn-
Trachoms) und deren Folgezuständen, wenn tiefergehende K. II.
Gewebsveränderungen oder Gewebszerstörungen vorliegcn, gemäss
der Ziffer 20 und 21 Anlage 1 D und E der Heerordnung.
*) Anmerkung.
In den Bezirken, in welchen eine systematische Bekämpfung
des Trachoms unter staatlicher Beihilfe stattfindet, werden unter¬
schieden:
I. Das der Behandlung noch bedürftige Trachom, bei
welchem auseinander zu halten sind-
a) leichte Fälle (eine oder beide Uebergangsfaltcn sind Augen¬
befallen). Tr. I.
b) mittel schwere Fälle (die ganze Bindehaut der Lider Augen-
— Uebergangsfalte und Bindehaut des Tarsus — ist be- Tr. m.
fallen).
c) schwere Fälle (die trachomatösc Erkrankung befindet Augen-
sich im Stadium der sulzigen Entartung, der Geschwürs- Tr. s.
und Narbenbildung. Die Körner sind in den Uebergangs-
lalten zu Wülsten oder Strängen zusammengeflossen, die
Oberfläche neigt zu gesehwürigem Zerfall und reichlicher
Absonderung; in der oberen Hälfte der Hornhaut zeigen
sich Epithelabschürfungen, Infiltrate, kleine Substanz¬
verluste oder Trübungen und Gefässentwieklung; die Binde¬
haut der Uebergangsfaltcn und der Tarsi ist mehr oder
weniger von Narbenzügen durchsetzt oder verkürzt, der
Tarsus geschrumpft und verbildet-, der Lidrand mit den
Wimpern einwärts gerichtet).
II. Das abgelaufene Trachom mit erheblichen Folgezuständen Augen-
(vernarbtes Trachom). Tr. n.
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Nummer
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Amtliche Mitteilungen.
Abkürzungen
II. Die Aushebung ist zulässig für die
l )C j : Eintragungen
in die Listen
1. traehomverdächtigcn Erkrankungen. Augen-
Tr. v.
2. FolIikelschwel 1 ung der Bindehaut ohne den Charakter Äugen¬
des Trachoms, sei es mit oder ohne Katarrh. F.
Hierunter sind diejenigen Fälle zu verstehen, bei denen
sieh im Bereiche vornehmlich der unteren Hebergangsfalten ober-
iläehliehe, leicht durchschimmernde Erhabenheiten von Bläschen¬
form auf normaler oder nur wenig veränderter glatter Binde¬
haut betinden.
3. akuten um! chronischen Bindehauterkrankungen nicht Augen-
trachomatöscr Art ohne tiefergreifende Gewcbsverände- K. I.
ruu gen.
Zu berücksichtigen ist auch Anlage 1 C 20 der Heerordnung.
(cfr. Min.-Blatt 1906, No. 8, S. 177—179.)
Bekanntmachung des Ministers der geistlichen pp. Angelegenheiten (Studt)
rom 13. März 1906, betr. Ergänzung der Gebühren-Ordnung für approbierte
Aerzte nnd Zahnärzte vom 15. Mai 1896.
Auf Grund des § 80 der Gewerbeordnung für das Deutsche Reich (Reichs-
Gesetzblatt 1900 Seite 871 ff.) bestimme ich bezüglich der Gebührenordnung für
approbierte Aerzte und Zahnärzte vom 15. Mai 1896 folgendes:
1. Hinter den Ziffern 5 und 37 des Abschnittes IIA werden folgende
Ziffern 5a und 37a eingefügt:
5 a. Beratung eines Kranken durch den Fernsprecher 1—3 M. Findet die
Beratungvon einer öffentlichen Fernsprechstelle aus statt,so stehtdemArzt
neben derGebiihr für die Beratung eine Entschädigung für Zeitversäumnis
zu, und zwar für jede angefangene Stunde in Höhe von 1,50—3 M.
37a. Einspritzung von Heilmitteln direkt in eine Blutader (ausser dem Be¬
trage für die Mittel) 3—20 M.
2. Die Vorschrift in Ziffer 10 erhält nachstehende Fassung:
Für Besuche oder Beratungen in der Zeit zwischen 9 Uhr abends
und 7 Uhr morgens das Zwei- bis Dreifache der Gebühr zu Nr. 1 — 4,
Nr. 5 a, Nr. 7 und zu Nr. 20.
Die Gebühr unter Nr. 2 ist jedoch nicht unter 3 M. zu bemessen,
(cfr. Min.-Blatt 1906, No. 7, S. 162.)
Erlass des Ministers der Medizinal-Angelegenheiten (I. V.: Weyer) an
die Herren Regierungspräsidenten und den Herrn Polizeipräsidenten in
Berlin vom 6. April 1906, betr. die Tätigkeit des Desinfektionsschulen
im Jahre 1904.
Aus den auf meinen Erlass vom 22. Juli 1904 — M. No. 12310 U. I — er¬
statteten Berichten habe ich mit Befriedigung ersehen, dass die Desinfektions¬
schulen auch im Jahre 1904 eine eifrige und erfolgreiche Tätigkeit entfaltet haben.
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Wie aus der anliegenden Nachweisung hervorgeht, sind während des genannten
Jahres in 41 Kursen insgesamt 402 Desinfektoren ausgebildet worden, von denen
396 die Prüfung bestanden und das Zeugnis als staatlich geprüfter Desinfektor
erhalten haben. Die Zahl der im Lande vorhandenen sachverständigen Personen,
denen die Ausführung der Desinfektion übertragen werden kann, hat dadurch eine
erfreuliche Zunahme erfahren.
Die von mir gegebene Anregung, die Dauer der Kurse auf je 9 Wochentage
zu verlängern, die Zahl der Teilnehmer an den einzelnen Kursen auf höchstens 10
und das Höchstalter der zur Ausbildung zuzulassenden Personen auf 45 Jahre
festzusetzen, hat fast allseitige Zustimmung erfahren. Ich bestimme daher, dass
bei der Einrichtung der Kurse auch in Zukunft hiernach zu verfahren ist.
Besonderer Wert ist darauf zu legen, dass die Kreisärzte bei der Auswahl
der zur Ausbildung als Desinfektor zuzulassenden Personen noch mehr als bisher
auf das Vorhandensein einer gewissen Vorbildung sehen, auf Grund deren die
Ausbildung wirklich aussichtsvoll erscheint.
Auch die weitere Anregung, die Desinfektoren von drei zu drei Jahren zu
einer Nachprüfung durch den zuständigen Kreisarzt und von sechs zu sechs Jahren
zu einem Wiederholungskursus bei der zuständigen Desinfektorenschule einzu¬
berufen, hat eine beifällige Aufnahme gefunden. Ich bestimme daher, dass die
Desinfektoren nach Bestehen der Prüfung sich bei dem zuständigen Kreisarzt unter
Vorlegung des Prüfungszeugnisses persönlich zu melden, und dass die Kreisärzte
ein Verzeichnis der in ihrem Kreise angestellten, staatlich geprüften Desinfektoren
anzulegen haben, in dem ausser dem Namen, Alter, Stand der Desinfektoren, der
Ort und die Zeit ihrer Ausbildung als Desinfektor und das Prüfungsvutum, sowie
der Ort ihrer Niederlassung einzutragen sind. Auf Grund dieses Verzeichnisses
sind dann die Einberufungen zu Nachprüfungen beziehungsweise Wiederholungs¬
kursen an zuständiger Stelle in Anregung zu bringen.
Der Gedanke, Gemeindeschwestern in grösserer Anzahl in der Desinfektion
ausbilden zu lassen, hat nur in beschränktem Umfange Nachachtung gefunden.
Ich ersuche, diesem Gegenstände noch grössere Aufmerksamkeit zuzuwenden.
Wenn auch die Wohnungsdesinfektion und überhaupt die sogenannte Schluss¬
desinfektion in der Regel geprüften Desinfektoren vorzubehalten ist, so wird dio so
überaus wichtige fortlaufende Desinfektion am Krankenbett in der Mehrzahl der
Fälle den Angehörigen oder den berufsmässigen Pflegern der Kranken überlassen
werden müssen. Diese Desinfektionen zu leiten und zu überwachen, ist eine wich¬
tige Aufgabe der Gemeindeschwestern, und deswegen muss ich auf eine gründ¬
liche Ausbildung möglichst vieler Krankenschwestern in der Desinfektion besonderen
Wert legen.
Nachdem inzwischen das Gesetz, betreffend die Bekämpfung übertragbarer
Krankheiten, vom 28. August 1905, durch dessen Ausführungsbestimmungen das
Desinfektionswesen neu und durchgreifend geregelt worden ist, Gesetzeskraft er¬
langt hat, wird erneut zu prüfen sein, ob in allen Kreisen beziehungsweise in
allen grösseren Orten eine genügende Anzahl von geprüften Desinfektoren und ein
hinreichender Bestand an Desinfektionseinrichtungen vorhanden ist.
Es ist dahin zu wirken, dass staatlich geprüfte Desinfektoren in hinreichender
Anzahl seitens der Kreise beziehungsweise Gemeinden mit festem Gehalt oder
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Amtliche Mitteilungen.
unter Garantierung einer bestimmten Mindcstoinnahme an Gebühren angestellt
werden.
Die noch in mehreren Bezirken durchgeführte Ausbildung der Desinfektoren
durch die Kreisärzte kann ich als zweckmässig nicht anerkennen und ersuche,
allgemein davon Abstand zu nehmen. Ein Bedürfnis dafür ist umsoweniger vor¬
handen, als zu den 14 Desinfektorenschulen, welche Ausgangs des Jahres 1903
vorhanden gewesen sind, im Jahre 1904 drei weitere — in Gelsenkirchen, Koblenz
und Trier — hinzugetreten sind, und die Begründung von zwei weiteren — in
Düsseldorf und Beuiben O./'S. — in Aussicht genommen ist. Die Errichtung
weiterer Desinfektorenschulen wird dann voraussichtlich nicht erforderlich, und
damit diese wichtige Organisation vorläufig zum Abschluss gelangt sein.
Einem Berichte über die weitere Entwicklung der Angelegenheit unter Vor¬
lage eines namentlichen Verzeichnisses der im Jahre 1905 ausgebildeten Desinfek¬
toren aus dem dortigen Bezirk will ich zum 1. Juli d. ,1s. ergebenst entgegon-
sehen. (cfr. Min.-Blatt 190(5, No. 9, S. 192/193.)
Vorschriften des Bnndesrats für die Beförderung von Leichen auf dein
Seewege.
Vom 18. Januar 1900, bekanntgegeben von der Kolonialabteilung des Auswärtigen
Amts (I. V.: von König) am 9. April 190(5.
Der Bundesrat hat in seiner Sitzung vom 18. Januar 190(5 für die Be¬
förderung von Leichen auf dem Seowege die nachfolgenden Vorschriften
erlassen:
Vorschriften für die Beförderung von Leichen anf dem Seewege.
Beschlossen in der Sitzung des Bundesrats vom 18. Januar 1906.
§ 1 .
1. Für die Beförderung einer Leiche zwischen den Seehäfen des Deutschen
Reichs und seiner Schutzgebiete und zwischen einem dieser Häfen und einem
ausländischen Hafen ist ein nach anliegendem Muster ausgefertigter Leichenpass
beizubringen, welchen der SchifTskapitän für die Dauer der Fahrt in Verwahrung
nimmt.
2. Die Ausstellung der Leichenpässo liegt im Deutschen Reiche den von
den Landesbehörden, in den Schutzgebieten den vom Reichskanzler zu bezeichnen¬
den Stellen, im Auslande den dazu ermächtigten Gesandten und Konsuln des
Reichs ob. Für Leichen von Personen, welche an Cholera, Fleckfieber, Pest oder
Pocken verstorben sind, dürfen solche Pässe erst dann ausgestellt werden, wenn
mindestens ein Jahr nach dem Tode verflossen ist.
3. Dem Gesuch um Erteilung eines Leichenpasses sind in Urschrift oder
beglaubigter Abschrift beizufügen:
a. eine vorschriftsmässig ausgefertigte Sterbeurkunde, welche Namen, Stand,
Alter und Todestag des Verstorbenen enthält;
b. eine tunlichst auf Grund einer Aeusserung des Arztes, welcher den Ver¬
storbenen behandelt hat, ausgestellte Bescheinigung über die Todesursache.
Kommt die Leiche aus einem Orte, an dem Cholera, Flecküeber, Pest oder Pocken
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Amtliche Mitteilungen.
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herrschen, so ist gleichzeitig zu bescheinigen, dass der Beförderung der Leiche
gesundheitliche Bedenken nicht entgegenstellen;
c eine Bescheinigung des bei der Einsargung zugegen gewesenen Sach¬
verständigen (§ 2 Abs. 1) darüber, dass die Einsargung vorschriftsraässig er¬
folgt ist.
4. Bei Leichen von Angehörigen der Armee oder der Marine genügen die
von der zuständigen Militärbehörde oder Dienststelle ausgefertigten Nachweise zu
Abs. 3, a bis c. Im Auslande kann auf die zu b vorgesehene Bescheinigung ver¬
zichtet werden, wenn dem zur Ausstellung des Leichenpasses zuständigen Ge¬
sandten oder Konsul des Reichs die zu bescheinigenden Tatsachen bekannt sind.
5. Bei Leichen aus solchen ausländischen Staaten, mit welchen eine Ver¬
einbarung wegen wechselseitiger Anerkennung der Leichenpässe abgeschlossen
ist, genügt die Beibringung eines die Vereinbarung entsprechenden Leichenpasses.
6. Bei der Beförderung von Leichen in das Ausland hat der Kapitän auch
darauf zu sehen, dass die nach den Bestimmungen des Auslandes erforderlichen
Nachweise beigebracht sind. Werden ausländische Häfen angelaufen, so hat der
Kapitän auch die dort geltenden Bestimmungen zu beachten.
§ 2 .
1. Die Einsargung der Leiche hat in Gegenwart einer von der zuständigen
Behörde des Sterbeorts und des seitherigen Bestattungsorts hierzu zu bestimmenden
sachverständigen Person zu erfolgen. Diese Person wird bei Leichen von Ange¬
hörigen der Armee oder der Marine von der zuständigen Militärbehörde oder Dienst¬
stelle, im Ausland in Ermangelung einer für den Ort zuständigen Landesbehörde
von dem Gesandten oder Konsul des Reichs bestimmt.
2. Die Leiche muss in einem hinlänglich widerstandsfähigen, luftdicht zu
verlötenden Metallsarg eingeschlossen und dieser von einem festgefugten Holzsarge
dergestalt umgeben sein, dass jede Verschiebung des Melallsarges in der Um¬
hüllung verhindert wird. Der Holzsarg ist in einer Kiste derart zu verpacken, dass
auch hier jede Verschiebung des Inhaltes ausgeschlossen ist.
3. Falls die Leiche nicht vollständig einbalsamiert wird und es sicht nicht
um eine Beförderung von kürzerer Dauer handelt, ist die Leiche durch Einspritzung
einer konservierenden Flüssigkeit, z. B. von etwa 5 1 einer weingeistigen Lösung
von Formaldehyd (lOproz.) oder Rokrcsol (5proz.) oder Sublimat (2proz.) oder
Chlorzink (lOproz.), in eine oder mehrere leicht zugängliche Arterien usw. gegen
Verwesung möglichst zu schützen; auch ist der Boden des inneren (Metall-) Sarges
mit einer reichlichen Schicht Sägemehl, Torfmull oder mit anderen aufsaugenden
Stoffen zu bedecken.
4. Diese Bestimmungen finden sinngemässo Anwendung bei Leichen
(Leichenresten), welche für die überseeische Beförderung wieder ausgegraben
worden sind.
§3.
1. Sollen Leichen von Personen, welche während der Reise an Bord ge¬
storben sind, ausnahmsweise bis zum Bestimmungshafen mitgeführt werden, so
ist tunlichst nach § 2 Abs. 2 und 3 zu verfahren. Dauert die Reise von der Todes¬
stunde bis zur Ankunft am Begräbnisorte weniger als drei Tage, so darf von der
Einsargung abgesehen werden.
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Amtliche Mitteilungen.
2. Leichen von Personen, welche während der Reise an Cholera, Fleck¬
fieber, Pest oder Pocken verstorben sind, dürfen an Bord nicht weiter befördert
werden.
§4.
Leichen sind an Bord von Schiffen tunlichst getrennt von Nahrungs- und
Genussmitteln und derart aufzubewahren, dass eine Belästigung der Reisenden
und der Besatzung vermieden wird.
§5-
Die vorstehenden Bestimmungen treten am 1. Juli 1906 in Kraft.
Muster.
Leichenpass
(für Leicbenbeförderung auf dem Seewege).
Die Ueberführung der nach Vorschrift eingesargten Leiche de . . am.
19 ... zu.an (Todesursache).
verstorbenen.jährigen (Vor- und Zuname, Stand des Verstorbenen, bei
Kindern Stand der Eltern) von.nach.
auf dem Seewege wird hierdurch genehmigt.
.. den.19 . . .
(Dienststempel.) (Unterschrift.)
Diese Vorschriften werden mit dem Hinzufügen bekanntgegeben, dass die
Ausstellung der Leichenpässe (§ 1 No. 1 der Vorschriften) in den Schutzgebieten
Afrikas und der Südsee durch die von dem Gouverneur eines jeden Schutzgebietes
zu bestimmenden Dienststellen erfolgt. Die Gouverneure haben auch die sonst er¬
forderlichen Bestimmungen zur Ausführung der Bundesratsvorschriften zu treffen.
Die Vorschriften über die Beförderung von Leichen auf dem Seewege zwischen
dem Schutzgebiete Deutsch-Südwestafrika und einem deutschen Hafen, vom 15. De¬
zember 1904 (Kol.-Bl. 1905 S. 37), treten am 1. Juli 1906 ausser Kraft, (cfr. Min.-
Blatt 1906 No. 9 S. 205-207.)
Erlass des Ministers der geistlichen pp. Angelegenheiten (I. A.: Förster)
an die Herren Regierungspräsidenten (Polizeipräsident in Berlin) vom
27. April 1906, betreffend die Besetzung von Bahnarztstellen.
Unter Bezugnahme auf den Erlass vom 7. Juni 1884 übersende ich beifolgend
ergebenst die Abschrift eines an die Königlichen Eisenbahndirektionen gerichteten,
die Besetzung von Bahnarztstellen betreffenden Erlass des Herrn Ministers der
öffentlichen Arbeiten vom 14. April d. Js, zur gefälligen Kenntnisnahme.
Der Minister der öffentlichen Arbeiten. Berlin W., 66, den 14. April 1906.
Nach den Erlassen vom 14. März 1884 und vom 3. Juli 1901 soll bei Be¬
setzung von Bahnarztstellen unter sonst gleichen Verhältnissen auf die am Orte
ansässigen Medizinalbeamten an erster Stelle Rücksicht genommen werden. Bei
Durchführung dieser Bestimmung hat sich in mehreren Fällen herausgestellt, dass
die für die Uebertragung der bahnärztlichen Geschäfte hauptsächlich in Frage
kommenden Kreisärzte durch ihre übrigen Dienstgeschäfte so stark in Anspruch
genommen waren, dass die Ausübung der bahnärztlichen Tätigkeit für sie mit er-
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Amtliohe Mitteilungen.
217
heblichen Schwierigkeiten verbunden war. Die Königlichen Eisenbahndirektionen
werden deshalb angewiesen, in künftigen Fällen, sofern in dieser Beziehung
Zweifel bestehen, den zuständigen Regierungspräsidenten um eine Auskunft zu er¬
suchen. Im übrigen setze ich voraus, dass als Bahnärzte nur solche Aerzte, ein¬
schliesslich der Kreisärzte, bestellt werden, von denen feststeht, dass sie den Ein¬
richtungen, welche die Staatseisenbahnverwaltung hinsichtlich der ärztlichen
Versorgung ihres Personals getroffen hat, nicht unfreundlich gegenüberstehen.
In Vertretung: Fleck.
An die Königlichen Eisenbahndirektionen — je besonders.
Erlass des Ministers für Medizinal-Angelegenheiten (I. V.: Förster) an den
Herrn Regierungspräsidenten in Cassel vom 24. Januar 1906, betr. Tagegelder und
Reisekosten bei Stellvertretung eines Kreisarztes.
Danach ist für den Stellvertreter eines Kreisarztes sein ständiger dienstlicher
Wohnort, bzw. bei einem mit der Stellvertretung beauftragten Privatärzte dessen
gewöhnlicher Wohnort hinsichtlich der Berechnung von Tagegeldern und Reise¬
kosten als massgebend auzusehen. (cfr. Min.-Bl. für Med.- und med. Unterrichts-
Angelegenheiten, 1906, No. 4, S. 81.)
Erlass des Ministers für Medizinal-Angelegenheiten (1. V.: Wever) an den
Herrn Vorsitzenden der ärztlichen Prüfungskommission vom 30. Januar 1906, betr.
den Nachweis öffentlicher Impfungstermine seitens der Medizinalpraktikanten.
Die im §63, Absatz 1 der Prüfungsordnung für Aerzte vom 28. Mai 1091
vorgeschriebene Beteiligung an mindestens zwei öffentlichen Impfungs- und eben-
sovielen Wiederimpfungsterminen hat nach vollständig bestandener ärztlicher
Prüfung zu erfolgen und ist auch dann nachzuweisen, wenn dem Kandidaten ein
Teil des praktischen Jahres erlassen wird.
Es wird vielfach angenommen, dieser Vorschrift sei genüge geleistet, wenn
nachgewiesen werden kann, dass der Kandidat während der Studienzeit an einer
entsprechenden Zahl von Impfungsterminen teilgenommen hat. Diese Annahme
ist unzutreffend, (cfr. Min.-Bl. 1906, No. 4, S. 81.)
Erlass des Ministers für Medizinal-Angelegenheiten (I. V.: Förster) an die
Herren Regierungspräsidenten und den Herrn Polizeipräsidenten in Berlin vom
2. Februar 1906, betr. die Meldekarten für übertragbare Krankheiten.
Die durch das Reichsgesetz, betr. die Bekämpfung gemeingefährlicher Krank¬
heiten vom 30. Juni 1900 und das preussische Gesetz, betr. die Bekämpfung über¬
tragbarer Krankheiten vom 28. August 1905 nebst den ergangenen Ausführungs¬
bestimmungen vorgeschriebenen Meldekarten (Kartenbriefe) sind in der Hof- und
Waisenhausbuchdruckerei in Cassel nach vorgescbriebenem Muster hergestellt und
stellt sich ihr Bezug auf 8 M. pro Tausend bei dem Bezug von 5000 St., bei
kleineren Mengen auf 10 M für das Tausend, (cfr. Min.-Bl. 1906, No. 4, S. 82.)
Erlass des Ministers für Medizinal-Angelegenheiten (I. V.: Wever) an die
Herren Regierungspräsidenten vom 14. Februar 1906, betr. die Besichtigung etc.
aller den Provinzialschulkollegien unterstellten Lehranstalten durch die Kreisärzte.
Die Vorschriften des Erlasses vom 15. März 1905 sind in vollem Umfange
auf alle den Königl. Provinzialschulkollegien unterstellten Anstalten, insbesondere
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Amtliche Mitteilungen.
auch auf Lehrer- und Lehrerinnenseminare, auf die Präparandenanstalten, sowie
auf die den Königl. Provinzialschulkollegien unterstellten höheren Mädchenschulen
ausgedehnt. Die vorgeschriebenen Bestimmungen sind in diesem Erlasse nur noch
auf die Besichtigung und die hygienische Untersuchung der Verhältnisse der
höheren Lehranstalten (Gymnasien, Realgymnasien und dgl.) durch die Kreisärzte
ausgedehnt, (cfr. Min.-Bl. 1906, No. 5, S. 97.)
Erlass des Ministers für Medizinal-Angelegenheiten (I. V.: Förster) an die
Herren Regierungspräsidenten in Berlin vom 13. Februar 1906, betr. die Abgabe
von mit Holzgeist denaturiertem Spiritus hergestellten Heilmitteln.
Mit denaturiertem Branntwein hergestellte Heilmittel sind, auch wenn sie nur
zu äusserlichem Gebrauch bestimmt sind, als echt und zum Gebrauch geeignet
nicht anzusehen. Sie dürfen daher ausserhalb der Apotheken, ebensowenig wie
innerhalb derselben, abgegeben werden, (cfr. Min.-Bl. 1906, No. 5. S. 98.)
Erlass des Ministers für Medizinal-Angelegenheiten (I. V.: Wover) an die
königl. Regierungen und Provinzialschulkollegien der östlichen Provinzen der
Monarchie vom 24. Januar 1906, betr. die Aufnahme lungenkranker Volksschul-
lelirer und Seminaristen in die Dr. Brehmersche Heilanstalt in Görbersdorf.
Durch diesen Erlass wurde festgestellt, dass von den 10 Plätzen in der
B re hm ersehen Heilanstalt zum reduzierten Tagepreise von 4M pro Person 7 Stellen
für lungenkranke Volksschullehrer und 3 für Seminaristen bestimmt sein sollten.
Bewerbungen um diese Stellen sind an die Königl. Regierung, bezw. das Königl.
Provinzialschulkollegium zu richten, (cfr. Min.-Bl. 1906, No. 5, S. 99.)
Erlass des Ministers für Medizinal-Angelegenheiten (1. V.: Wever) und des
Innern (I. V.: Bischoffshauscn) an die Herren Regierungspräsidenten und den
Polizeipräsidenten in Berlin vom 26. März 1906, betr. Vorsichtsmassregeln gegen
die russischen Saisonarbeiter.
Zur Vermeidung der Choleragefahr und Choleraeinschleppung durch russisch¬
polnische Saisonarbeiter ist den Arbeitgebern zur Pflicht gemacht, dass sie jede
unter solchen Arbeitern auftretende verdächtige Krankheit unverzüglich zur Anzeige
bringen und die erkrankte Person, sofern sie derselben Wohnung zu gewähren
haben, bis zum Eintreffen des beamteten Arztes in zweckmässiger Weise absondern,
(cfr. Min.-Bl. 1906, No. 8, S. 181.
Durch Erlass des Ministers für Medizinal-Angelegenheiten (I. V.: Dietrich)
an die Herren Regierungspräsidenten vom 14. Mai 1906, betr. die Ausführung der
bei den Stromüberwachungsstellen vorzunehmenden Desinfektion wird mitgeteilt,
dass es nicht erforderlich ist, dass bei den Desinfektionen an den Stromüber¬
wachungsstellen stets staatlich geprüfte Desinfektoren zu verwenden sind, sondern
dass in der Regel es genügt, nach den Erfahrungen an der Weichsel und Warthe,
wenn zu diesen Vorrichtungen einfache Arbeiter (Bootsruderer und dgl.) heran¬
gezogen werden, (cfr. Min.-Bl. No. 11, 1906, S. 233.)
Druck von L. Schumacher in Berlin N. 24.
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I. Gerichtliche Medizin.
9.
Aus dem Institut für gerichtliche Medizin der Kgl. Universität
zu Rom (Direktor: Prof. S. Ottolenghi).
Histologische Studien und bakteriologische Versuche
über Adipocire.
Von
Dr. Attilio Ascarelli.
(Hierxu Tafel 1—IX.)
I. Kapitel.
Den Namen „Fettwachs“ oder „Verseifung“ haben die Verfasser
einer eigentümlichen und charakteristischen Verwandlung gegeben,
welche die Leichen der Menschen und der Tiere erleiden, wenn sie
sich an feuchten Orten oder im Wasser befinden. Eine Hauptbedin¬
gung des Zustandekommens dieses Zustandes ist Mangel oder Karg¬
heit der Luft. Die Verseifung der Leichen ist seit langer Zeit bekannt,
von ihr sprechen Chouret 1789, Güntz 1827, Orfila et Lerieur
1832; nach dieser Zeit finden wir eine grosse Literatur, reich an
Beobachtungen und Diskussionen. Das Phänomen ist nicht nur den
Gelehrten bekannt, sondern auch dem Volke, und in der Tat wissen
die Totengräber von einigen Stellen in grossen Friedhöfen, an welchen
man bei Ausgrabungen sicher einen in Fettwachs verwandelten Leichnam
findet.
Das chemische, sowie das die Genesis betreffende und das biolo¬
gische Studium der Verseifung war für die Gelehrten von höchstem
Interesse, aber trotz aller bisher ausgeführten Studien und Versuche
(Lehmann [10], Kratter [7], Borri [1]) hat man bis heute nicht
bestimmen können, welche spezielle biologische Tätigkeit fähig ist,
den gewöhnlichen Fäulnisprozess zu hemmen und den Leichnam in
Fettwachs zu verwandeln.
Viertelj&hrssehrift f. ger. Med. a. Off. San.-Wesen. 3. Folge. XXXII. 2.
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220
Dr. A. Ascarelli,
Die Forscher haben sich bemüht, zwei Probleme, das Leichen¬
wachs bet reffend, zu lösen; das eine über die chemische Zusammen¬
setzung, das andere über die Genesis: d. h. ob eine wirkliche Um¬
wandlung der Albuminoiden in Fett möglich sei, oder ob man nicht
lieber von einer Metamorphose in Fettwachs sprechen könnte, und
zwar des blossen präformierten und präexistierenden Fettes der Leiche,
an den gewöhnlichen Lagerorten desselben in einen chemisch gleichen
Körper.
Das erste Problem kann als völlig gelöst betrachtet werden, da
die Mehrzahl darüber einig ist, dass das Fett wachs ein Gemisch von
Fettsäuren (Palmitin-, Margarin-, Oleinsäure) und Seifen ist, welche
genannte Säuren mit den Basen bilden (Kalk, Magnesia, Ammoniak,
Soda oder Kalium).
Was aber den zweiten Punkt anbetrifft, so ist man noch weit
entfernt, eine Einigkeit erreicht zu haben.
Hervorragende Autoren und Gelehrte sind auf dem einen wie
auf dem anderen Felde vertreten. Ohne in das Studium der schwie¬
rigen und verwickelten Fragen einzudringen, welche bisher weder durch
physiologische noch durch pathologische Studien gelöst sind, möchte
ich hervorheben, dass man die Genesis des Fettwachses nicht auf die
einzige Tatsache der Möglichkeit der Umwandlung der Albuminoiden
in Fett beziehen, und wenn diese Möglichkeit zugelassen oder ausge¬
schlossen ist, das Problem der Genesis des Fettwachses als gelöst
betrachten kann. Letzteres ist viel wichtiger als oben genanntes.
Die in Fettwachs verwandelte Leiche, welche wir einige Monate
nach dem Tode beobachteten, ist sehr lange, unter besonderen und
noch nicht untersuchten Bedingungen, des Ortes und des Lichtes ge¬
wesen; die von uns untersuchten Gewebe bestehen aus Zellen, welche
nicht mehr die biologische Tätigkeit der lebenden Elemente besitzen.
Auf die Leiche haben die Mikroorganismen der Fäulnis gewirkt, und
wir können nicht bestimmen, welchen Einfluss dieselben auf die Genesis
des Prozesses gehabt haben.
Das Fettwachs ist hinsichtlich seines Wesens und seiner Genesis
in anderer Weise zu studieren, als die gewöhnlichen Probleme der
Physiologie und Pathologie.
Die Fragen, welche von den Verfassern bezüglich des Fettwachses
wenig behandelt wurden und die, welche die Histologie der Gewebe
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Histologische Studien und bakteriologische Versuche über Adipocire. 221
betreffen, welche das Aussehen dieser neuen Substanz angenommen
haben:
In den vielen von mir studierten Arbeiten habe ich gefunden,
dass nur Voit (21) und Borri (1) sich cinigermasscn mit dem bak¬
teriologischen Teil beschäftigt haben, sowie sie auch die Bildung des
Fettwachses bei in Kalkwasscr gelegten Muskeln beobachtet haben,
und Salkowski (13), welcher behauptet, dass die Fettwachsmassc
bakteriologisch steril war, und Duc lau x (3) welcher sagt, dass sich
kein Fettwachs entwickeln kann an einer von Mikroorganismen freien
Stelle.
Ebenso karg wie die bakteriologischen Arbeiten über Fettwachs,
sind auch die histologischen, besonders die, welche die inneren Organe
betreffen.
Histologische Studien machte Slavik (14) 1901, welcher behauptet,
dass man mikroskopisch den Rest einzelner Organe und Gewebe nacli-
weisen kann; dann Borri (1) 1902, welcher die Muskeln noch er¬
kennbar fand; Hofmann (5) 1879 hingegen sagt nur, dass es unmög¬
lich sei, die Struktur der Organe mikroskopisch zu erkennen. Zillner
(22) studierte an einer verstümmelten Leiche, welche im Januar 1883
aus dem Don gezogen wurde.
Mikroskopisch betrachtete der Verf. fast ausschliesslich frische Präparate. —
Der Haut fehlte die Epidermis, nur die Netzschicht war ganz dünn, und die Haut
bestand aus einem Gemisch von Fasern und Anhäufungen von Fettsäurokristallen;
das Unterhautfett war erkenntlich an dem Gerüst der Bindegewebsfasern, deren
Maschen ohne Fettsäurekristalle waren. In der Nähe der Gefässstämme beobaohtete
Zillner eine pigmentartige Ablagerung, welche bei blossem Auge grau erschien,
und mikroskopisch aus rhombischen Kristallen von 8—30 gebildet bestand.
Das Muskelgewebe war nur in den Rücken- und Herzmuskeln erkennbar.
Die inneren Gefässwände zerstört und das Lumen mit Fettsäuren und Pigmenten
angefüllt. Die Darmwände aus gelblichen Fasern gebildet, ohne eine Spur Muskel¬
wand oder der Drüsen; das Parenchym zu einer körnigen, gelben Masse reduziert
mit braunem Pigment.
Man sieht wohl, dass die Beobachtungen Zillner’s mangelhaft
und unvollkommen sind, und wenig Licht auf den histologischen
Prozess der Adipocire werfen. — Etwas ausgedehnter ist die Arbeit
von Kratter, welcher experimentelle Studien machte, aber er be¬
schränkte seine Versuche nur auf die Haut, Muskeln und Knochen.
Auch er machte mikroskopische, meistens frische Präparate. Das Muskel¬
gewebe war unter dem Mikroskop durch eine Andeutung der charakteristischen
Streifung erkennbar; die mikroskopischen Schnitte zeigten stets einen foinfaserigen
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Verlauf, und bei polarisiertem Licht geprüft gaben sie die bewussten charakte¬
ristischen Bilder. Mit Glycerin erschienen die Präparate wie aus vielen Schollen
gebildet, zwischen welchen feine strahlige Kristalle waren, und hier und da waren
die Schollen von Resten der Muskelfasern ersetzt, in welchen eine Streifung sichtbar
war. Nachdem dünne Blättchen des Knochens gemacht waren, beobachtete Kratter
zahlreiche Buchten mit adipösen Schollen und Kristallen unter normalem Knochen¬
gewebe, und er schliesst daraus, dass alle Hohlräume und Knochenröhrchen mit
einer speziellen Form von Fettwachs angefüllt sind, welche noch die histologische
Struktur des alten Gewebes erkennen lässt.
Beim Studium der Adipocire der Haut beobachtete Kratter, dass dieselbe
bis zum Chorion und subcutanen Gewebe reduziert ist. Das Chorion geht aus
einer Faseranhäufung hervor, zwischen welcher man zahlreiche adipöse, meistens
sphärische Schollen von strahliger Struktur sieht.
Kratter beobachtete bei den Sektionen eine schwierige Färbung mit Karmin
und Hämatoxylin.
Die von dem deutschen Forscher gezogenen Schlussfolgerungen
waren folgende:
In allen untersuchten Geweben kann man nachweisen, dass die
adipöse Substanz im allgemeinen an die Struktur des ursprünglichen Ge¬
webes erinnert. — Von besonderer Wichtigkeit für den Verf. ist der
Befund von Muskelresten, und die zahlreichenüebergangsformen zwischen
dem in Adipocire verwandelten Muskel und dem in Umwandlung be¬
griffenen, so dass die Frage des Ursprungs des Verseifungsprozesses
seiner Meinung nach absolut durch das Mikroskop gelöst wird, und
er bestätigt, dass seine Studien die Umwandlung der albuminoiden
Substanzen in Fett deutlich bewiesen haben.
Der Zweck dieser Arbeit ist nicht der von Kratter, d. h.
durch das histologische Studium zur Genesis der Adipocire zu gelangen,
sondern einen Beitrag zur Kenntnis der Gewebe der verwandelten
Organe zu bringen, mit den zahlreichen Mitteln, welche die Mikro¬
chemie und besonders die histologische Technik im allgemeinen dem
Forscher zu Gebote stellen, die viele Monate nach dem Tode von den
Fasern und Zellen in einem gewissen Prozess, welcher keine Zerstörung
der Materie, sondern eine spezielle und charakteristische Konservierung
ist, erlittenen Veränderungen zu studieren; zu erforschen und zu be¬
stimmen, ob diese spezielle natürliche Veränderung der Leichen einer
parasitischen, spezifischen, biologischen Tätigkeit zuzuschreiben ist,
oder nicht. — Gerade dieser Teil fehlt im Studium der Adipocire;
denn die bakteriologischen und die histologischen Arbeiten genügen
nicht. — Die bakteriologischen, welche nicht neuzeitlich sind (sie
stammen vom Jahre 1891), wurden ausschliesslich mit aerober
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Histologische Studien und bakteriologische Versuche über Adipocire. 223
Züchtung ausgeführt; bei den histologischen Studien wurde keines
der zahlreichen technischen Mittel, mit denen sich die Histologie von
1880—1885 so bereichert hat, die Zeit, aus welcher ungefähr die
Arbeiten von Kratter und Zillner stammen, angewandt, und auch
im Verhältnis der damaligen Studien wurde den histologischen Unter¬
suchungen nicht die Bedeutung gegeben, die sie verdienten. — In der
Literatur fehlen sogar die kleinsten Andeutungen von Versuchen an
den wichtigsten Organen, wie z. B. Darm, Magen, Niere usw. —
Wir hatten Gelegenheit, drei Leichen in den verschiedenen Stadien
der Verseifung zu untersuchen.
Wir heben zuerst das makroskopische Aussehen hervor, welches
die von uns studierten Leichen aufwiesen; sowohl bei der äusserlichen
Untersuchung als bei der Autopsie werden wir die angewandten Me¬
thoden und die durch unsere histologischen und bakteriologischen
Forschungen erhaltenen Resultate beschreiben.
Indem wir diese Resultate zusammenfassen und analysieren, ver¬
suchen wir, die bakteriologische und die histologische Natur des
Fettwachses genauer zu bestimmen. Wenn unsere Versuche einen
Beitrag zur Genesis des Fettwachses brächten, wären wir doppelt
erfreut, da wir auf diese Weise das uns gesetzte Ziel überschritten
hätten.
H. Kapitel.
Makroskopische Untersuchung der 3 Fettwachsleichen.
I. Fall. Vollständige Umwandlung in Fettwachs.
Am 18. Oktober 1904 wurden in die Morgue des Institutes für gerichtliche
Medizin Reste eines im Tiber gefundenen Leichnams gebracht. Diese Reste
bestanden aus Teilen der Wirbelsäule, des Beckens, rechten Beins, rechtem Fuss
(vom Bein getrennt), Knochen des linken Beines. — Von der Wirbelsäule waren
nur die letzten Wirbel vorhanden, deren Wirbelknochen fast ganz von einander
gelöst und nur im hinteren Segment vereinigt waren (Taf. I, Fig. 1).
Nachdem die Leiche entblösst war, erschienen die Knochen an vielen Stellen
ohne Weichteile. Was vom Schenkel und vom rechten Bein ganz geblieben, war
hellgelb, an einigen Stellen weisslich gefärbt. Die äussere Oberfläche war marokko¬
lederartig, nachgiebig beim Druck, sehr zerbrechlich, fettig und stark sauer
riechend.
Der rechte Fuss, welcher vom Rest des Körpers abgelöst war, erschien als
eine weisse, krümelige und fettige Wachsmasse (Taf. I, Fig. 4). Nach einem
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Schnitt durch die ganze Dicke, in Korrespondenz der III. Schicht des linken
Schenkels, beobachteten wir, dass der Schnitt wie aus vielen Schichten gebildet
aussah. Die erste, aus Haut und Unterbaut bestehende, fest untereinander ver¬
bundene, wie aus vielen dünnen übereinanderliegenden Schichten, wie die Blätter
einer Zwiebel, alle zusammen steif wie Leder und von ca. 1 cm Durchmesser;
die zweite Schicht durch die Muskeln gebildet, welche eine ins Graue gehende
Farbe angenommen haben.
Man erkannte die Muskeln makroskopisch an ihrer Faserstruktur, sie waren
bei Berührung sehr fettig und in Wasser gelegt, hinterliessen sie sehr viele
Fettröpfohen. Im Zentrum des Schnittes erschien der Knochen, dessen Mark¬
höhle mit einer weichen, fettigen, schwimmenden Substanz angefüllt war, welche
beim Hineinstechen mit einer Nadel den Eindruck einer Buttermasse machte.
Der Widerstand der Knochen war vermindert, aber nicht verschwunden und
es gelang nicht, dieselben mit einem Messer zu durchschneiden (dasselbe beob¬
achtete Kratter bei Adipocireknochen).
Bei den zur Identifizierung gemachten Studien konnten wir uns überzeugen,
dass es sich um einen 15jährigen mageren Knaben handelte, dessen Leiche un¬
gefähr 1 Jahr unter Wasser gewesen war.
II. Fall. Unvollständige Verwandlung in Fettwachs.
Am 14. Dezember 1904 sahen einige Bootsleute eine Leiche an der Ober-
lläche der Tiber schwimmen; sie wurde aus dem Wasser gezogen und zur Erken¬
nung in die Morgue gebracht.
Die Leiche war vollständig von schmutziggelber Farbe; die Hautober-
lläche, besonders an den Gliedern und am Thorax, hatte ein Aussehen wie Ma¬
rokkoleder. Die Haut war von der ganzen Körperoberfläche verschwunden, ebenso
die Nägel. Die Leiche hatte einen sauren Geruch, wie verdorbener Käse.
Das Gesicht war unkenntlich, wie aus Taf. I, Fig. 4 ersichtlich.
Was die Besonderheiten betrifft, welche bei der Autopsie auftraten, wird der
Leser auf die histologische Beschreibung der einzelnen Organe und Gewebe ver¬
wiesen, in welcher auch das makroskopische Aussehen angedeutet wird (Herz wie
in Taf. I, Fig. 5).
Wir heben aus der äusseren und inneren Untersuchung nur hervor, dass es
sich um eine kleine, nicht fette männliche Leiche zwischen 20 bis 40 Jahren
handelt.
III. Fall (Taf. I, Fig. 3). Beginn und teilweise Verwandlung in
Fettwachs.
Am 15. Mai 1904 wurde aus dem Tiber die Leiche einer Frau gezogen und
in die Morgue des Institutes für gerichtliche Medizin gebracht.
Die Leiche zeigte bei der äusseren Betrachtung ein ganz ungleiches Aus¬
sehen aller Regionen; während das Gesicht aschgrau war, erschien die Haut mit
kleinen Kugeln besetzt, welche durch leichte Einsenkungen von einander getrennt
waren; die Thoraxoberlläche war glänzend, glatt und ohne jegliche kugelige Er¬
hebung, von grünlicher Farbe mit rotgelben Flecken. Auf dem Bauch hingegen,
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Histologische Studien und bakteriologische Versuche über Adipocire. 225
am rechten Bein hinten hatte die Haut das charakteristische Aussehen des Ma¬
rokkoleders (Fig. 6). Die Kugeln waren von verschiedener Grösse, von einem
Hirsekorn bis zu einer kleinen Erbse und auf der Oberfläche wie zahlreiche Beulen
hervortretend.
Die Haut des linken Beines zeigte bei der genauen Abgrenzung des Stumpfes
dasselbe Bild wie der Thorax. Von den oberen Gliedmassen war die linke dem
rechten Beine gleich, die rechte der Haut der Bauchgegend. Bei Berührung war
die Oberfläche der Haut überall fettig, aber während sie an den Stellen, an
welchen sie ein marokkolederähnliches Aussehen hatte, hart und lederartig war
und so gespannt, dass sie sich beim Beginn des Ablösens wie ein Stück Pappe
hob, war sie an andern weich und schlaff und hinterliess die Spuren des Finger¬
druckes. Die Epidermis fehlte am ganzen Körper und von den Nägeln war keine
Spur mehr vorhanden. Die Leiche hatte einen ekelerregenden Geruch, welcher an
den Geruch von ranzigem Käse und an vorgeschrittene Leichenfäulnis erinnerte.
Das Gesicht war unkenntlich, die Augenhöhlen fast leer, die weiohen Nasen-
theile verschwunden, so dass man die entblössten Nasenknochen sah. Auch der
obere Kiefer war teilweise entblösst. Die Leiche hatte deshalb äusserlich ganz
verschiedenes Aussehen, je nach den verschiedenen Regionen; an einigen trat der
gewöhnliche Verwesungston im grünen Fäulnisstadium und Emphysem auf
(Thorax, linkes Bein), an anderen (Bauch, rechtes Bein, Schenkel), das Aussehen
der Verwandlung in Fettwachs, noch in andoron das Stadium der Fäulnis und
des Fettwachses (Gesicht, obere Gliedmassen). Die in Fettwachs verwandelten
Teile entsprachen den entblössten oder wenig bekleideten Teilen, während die
verwesten denen entsprachen, welche vom Schnürleib (Thorax) und von den
Strümpfen und Schuhen (Bein und linker Fuss) eingeengt waren. An den Teilen,
an welchen die Kleidung nicht ganz der Haut anliegend war, trat die Adipocire
nur teilweise auf (obere Glieder). Bei der Autopsie wurdo in den inneren Organen
nur der gewöhnliche Verwesungston, im Stadium von Emphysem und in dem der
beginnenden Auflösung gefunden.
III. Kapitel.
Histologische Untersuchungen.
a) Untersuehungsmethoden.
Wir halteu es für nützlich, in einem Kapitel alle verschiedenen
angewandten Untersuehungsmethoden zusammenzufassen, sowie die in
allen Geweben angetroffenen technischen Schwierigkeiten. Hei der Be¬
schreibung der einzelnen Organe werden wir dann die besondere
Technik, welche jedem einzelnen Organ eigen ist, hervorheben.
Konservierung und Fixierung der Stücke. Die Leichenstücke
wurden fixiert in:
a) Formalinlösung (im Handel 5 pCt.),
b) Alkohollösung (0,70 pCt.),
c) Müllerscher Flüssigkeit,
d) Flemming.scher Flüssigkeit.
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Die in Formalin bewahrten Stücke wurden mit Gefriermikrotom geschnitten;
ebenso worden Schnitte von kleinen Leichenstückchen ausgeführt und bis zum
Augenblick der Sektion in destilliertem Wasser gehalten.
Einbettung. Die Einbettungsmethode war die mit Paraffin und mit ge¬
wöhnlicher Technik ausgeführt.
Gefrierschnitte. Nichts von Bedeutung wurde bei der Gefrierung des
Stückes gefunden; der Schnitt wurde schwieriger, man hatte das Gefühl, Wachs
zu durchschneiden; der Schnitt zerbröckelte mit grosser Leichtigkeit.
Die Schnitte wurden mit Sudan III gefärbt, mit Hämalaun Meyer, mit
Sudan und Hämalaun. Man traf auf grosse Färbungsschwierigkeiten bei jeder der
genannten Substanzen. Sudan färbte erst nach 24 Stunden und nicht in Ver¬
hältnis zur Quantität des Fettes, aber sozusagen mit der Qualität, denn dieselbe
Färbungsscbwierigkeit zeigte sowohl das subkutane Gewebe, als die Haut, der
Muskel und das Herz, welches das Aussehen eines fettigen Stückes hatte, und
dio Sehnen z. B., welche garnicht oder sehr wenig verseift waren.
Die besten und auch die beweisendsten der mit Gefriermikrotom ausge¬
führten Präparate gelangen bei Vereinigung der beiden Färbungen von Sudan und
Hämalaun, mit welcher Methode die fetten Teile sich sehr gut von den nicht ver¬
seiften unterschieden, und man sah alle Farbentöne, von dem Hochrot des Fettes,
welches nicht die charakteristische Färbung des Sudan angenommen hatte, und
dem der elastischen und Bindegewebssubstanz, welche durch die blaue Farbe des
Hämalaun hervortrat.
Wir haben jene Teile als saponifiziert erklärt, welche die chemische Re¬
aktion des Sudan positiv gegeben hatten, und als nicht verseift die andern; ent¬
sprechend der mehr oder weniger vorgeschrittenen Verseifung, der stärkeren oder
geringeren Rotfärbung, welche dem Sudan III eigentümlich ist.
Einbettungs präparate.
Die verschiedensten Färbungsmethoden wurden angewandt: Hämalaun
Meyer-Eosin und Erythrosin, Hämatoxylin-Eosin und Erythrosin, Karmin-Pikrin¬
säure, Safranin-Pikrinsäure, auch einfache Färbungen mit saurem Fuchsin, Gen-
zian-Lila, Eisen-Hämatoxylin usw.
Als spezielle Färbung benutzten wir Weigerts Lösung für die elastischen
Fasern und die Lösung van Giesons für die Bindegewebsfasern.
Bei allen Farbstoffen begegneten wir einer grossen Schwierigkeit in verschie¬
denen Graden, je naoh dem Farbstoff. Eine andere nennenswerte Tatsache ist
folgende: Bei den doppelten Färbungen unterschied man nie die zwei Farben,
sondern man erhielt eine gemischte unbestimmte Farbe, welche z. B. etwas vom
Blau des Hämalauns und etwas vom Rot des Eosins hatte, hie und da mit Flecken
gefällter Farbe, so dass zu unserem Zweck die einfachen Färbungen mit starken
Farben angezeigter waren. — Am besten entsprachen das Fuchsin und das
Hämalaun. Weigerts Lösung färbte nicht nur die elastischen Fasern, sondern
den ganzen Schnitt, die elastischen Fasern nahmen das charakteristische Blau
Weigerts an, das übrige eine bläuliche Färbung, welche an verschiedenen
Stellen verschieden war. Nach alledem können wir sagen, dass die Färbungs¬
substanz und besonders die nukleären Farben, wie Karmin, Hämatoxylin usw.,
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Histologische Studien und bakteriologische Versuche über Adipocire. 227
nicht als chemische Affinität auf das mit ihnen in Berührung gebrachte Gewebe
wirkten, sondern mittelst Durchtränkung.
Nicht alle Gewebe verhielten sich gleich, und während es bei einigen nicht
gelang, sie mit gewöhnlichen Farben zu färben (Haut, Herz), färbten andere sich
leichter (Muskeln in der nahen Knochenschicht, Sehnen, Nieren usw.), und die
Schwierigkeit der Färbung stand in direktem Zusammenhang mit dem Versei¬
fungsgrad, so dass wir bei der Ausführung der Präparate sohon einen ziemlich
richtigen Begriff von dem Fettwachsgrade der Gewebe hatten.
Für das zentrale und peripherische Nervensystem haben wir ausser den ge¬
nannten Methoden auch die rapide Osmium-bichromische Durchtränkungsmethodo
von Golgi benutzt. In dieser letzten sind wir keinen besonderen technischen
Schwierigkeiten begegnet.
Für die durch Fixierung in Flemmings und Müllers Flüssigkeit ge¬
härteten Präparate trat nichts von Bedeutung auf hinsichtlich der Fixierung und
Einbettung, für die Färbung hingegen die gleichen sohon beschriebenen Schwie¬
rigkeiten. Die Schnitte der in Flemming fixierten Stücke konnte man ohne jede
besondere Färbung untersuchen.
Ausser den genannten Untersuchungsmethoden haben wir an den Muskeln
und am Herzen die besonderen Eisenreaktionen ausgeführt, und zwar die Reaktion
von Perls mit Ferrozyankalium und Chloräure, und die von Quincke mit
Schwefel-Ammon. — Diese Reaktionen wurden angewandt, um die Gegenwart
einer pigmentierten Substanz zu studieren und zu definieren, welche wir im
gestreiften Muskelgewebe fanden.
Es sei bemerkt, dass diese Reaktionen negativ ausfielen.
Die zahlreichen angewandten Untersuchungsmethoden sowohl für die Fixierung,
als auch für die Färbung der Stücke, Methoden, welche man als Kontrollmethoden
unter einander betrachten kann, bestätigten unsere erlangten Resultate, über welche
wir im folgenden Teile sprechen werden.
b) Beschreibung der Präparate.
Wir werden jetzt darüber sprechen, wie sich die Organe und
Gewebe, welche mehr oder weniger vollständig verseift waren, bei
unserer Untersuchung präsentierten.
Zum Studium der inneren Organe hatten wir die Eingeweide zur
Verfügung, welche bei der Autopsie des 2. Falles herausgenommen
waren. Unter dem Mikroskop sahen wir in allen Organen interessante
und vielfältige Eigenheiten, auch über den Grad und die Art der
Verseifung, welche bei der äusseren Betrachtung nicht geschätzt
werden konnten und die bis jetzt weder hervorgehoben noch studiert
wurden.
Haut.
Wir erinnern daran, wie die Haut in allen Fällen, aber beson¬
ders im 2. und 3., das typische Aussehen des Marokkoleders hatte;
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sie war hart, steif und beim Berühren fettig und erinnert so an das vom
Verf. beschriebene Charakteristische der Fett wachshaut. Wir haben
das Hautgewebe aller drei Leichen studiert und bei diesem Studium
hatten wir nicht allein den Zweck im Auge, die Histologie des Ilaut-
fettwachses zu bestimmen, sondern auch zu erforschen, woraus die
kugeligen Erhebungen, die der Haut das charakteristische Aussehen
des Marokkoleders gaben, gebildet waren und was sie vorstelllcn,
wofür noch kein Verf. eine genügende und genaue Erklärung ge¬
geben hat.
Und da die Histologie des Hautfettwachscs und die Bildung und
Ausbreitung dieser Auswüchse sehr intim untereinander verbunden
sind, so halten wir es für logisch, die zwei Fragen in einem einzigen
Kapitel zu vereinigen.
Beim mikroskopischen Studium der Haut beobachteten wir, dass jeder dieser
Auswüchse aus einer Fettanhäufung gebildet und von einer Schale, einer nicht
adipösen, krümeligen, schmierigen Substanz bedeckt war, welche das Aussehen
einer mazerierten Haut hatte. Das Vorhandensein dieser Schale, d. h. der Hülle
dieser Auswüchse, konnte mit Leichtigkeit bewiesen werden, wenn man sie mit
sehr spitzer Schere an der Basis abschnitt und dann eine dünne Sonde in den
Schnitt einführte; so gelang es, die Beule zu entschoten und auf diese Weise eine
dünne hemisphärische Schale, ähnlich der eines Hanfsamens, zu erhalten. So¬
wohl die Schale, als auch der Inhalt wurden in verschiedener Weise behandelt.
— Wir sagten, dass der Inhalt wie reines Fett erschien und dafür erhielten wir
den mikroskopischen und chemischen Beweis; mikroskopisch, weil der Gefrierungs-
schnitt, mit Sudan III gefärbt, die perfekte Struktur des adipösen Gewebes zeigte,
chemisch, woil diese Massen sich in den Fettlösungsmitteln lösten (Aether, Xylol,
Chloroform).
Wir richteten daher unsere besondere Aufmerksamkeit nur auf die Schale
und machten viele Versuche, unter Anderem:
I. Versuche an frischen Präparaten.
a) Quetschung der Hülle zwischen zwei Glasplättchen; zu einigen Präpa¬
raten wurden einige Tropfen Glyzerin zugefügt, anderen Essigsäure, zu noch an¬
deren physiologische Kochsalzlösung. — Diese Präparate zeigten bei starker Ver-
grösserung (am deutlichsten in denen mit Zufügung von Glyzerin), eine enorme
Anhäufung von nadelförmigen Bildungen, bald in Büschel vereinigt, wie Eisen¬
feilspäne an der Spitze eines Magnetes, bald vereinzelt, immer wohl erkennbar als
Fettsäurekristalle. — Ausser diesen nadelförmigen Bildungen beobachtete man,
besonders in den Präparaten, welche eine leichte Quetschung erlitten hatten, eine
reichliche Anzahl kleiner Kugeln, mit einem mehr lichtbrechenden Umriss als
der Inhalt, von verschiedenen Dimensionen, von einem roten Blutkörperchen bis
zu einer Eizelle; einige von einer stark lichtbrechenden Körnung angefüllt, einige
vakuolisiert, andere nicht. Die Vakuolen hatten meistens deutliche Umrisse, bald
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Histologische Stadien und bakteriologische Versuche über Adipocire. 229
waren sie einzeln, bald mehrfach vertreten. £inige dieser Körperchen erschienen
ganz mit Fettsäurekristallen angefüllt, in andern waren die Kristalle an der Peri¬
pherie angehäuft, ihrem Aussehen nach, einem Seeigel ähnlich. Im Präparat be¬
obachtete man noch Ranken- oder Büschelkristallbildungen von verschiedener
Grösse, aber alle rankenförmig, welche das Aussehen von Magnesiumsulfat¬
kristallen oder von biphosphorsaurem Kalk hatten.
Zwischen diesen beschriebenen Bildungen beobachtete man mehr oder we¬
niger unter einander gruppiert, aber auch vereinzelt, eine sehr reiche Anzahl
Gewebsfasern verschiedener Grösse, bald mit deutlichem Rand, geradlinig, ganz
hyalin, bald sehr feine und sehr kleine Körnung enthaltend. Die Grenze dieser
Fasern zeigte oft eine unterbrochene Kontinuität (Taf. II, Fig. 1).
b) Ausser diesen Versuchen machten wir Präparate durch Quetschung, Zer-
reissung und mit verschiedenen Färbungen, legten die Hüllen in verschiedene
fettlösende Mittel, indem wir diese bei Kälte und Wärme wirken Hessen und be¬
obachteten, dass sie sich nicht lösten.
II. Hautpräparate, bei Gefrierung geschnitten und mit Sudan III
gefärbt.
Mit dieser Technik wurden sowohl Schnitte der ganzen Haut, als auch der
blossen Beule ausgeführt. Bei ersteren beobachtete man einen Rinden- und einen
Zentralteil. Der Zentralteil war ein mehr oder weniger grossmaschiges, mit Fett
angefülltes Netz, an dem subkutanen Hautgewebe erkennbar, und zeigte keine be¬
merkenswerten Eigenschaften.
Mit diesem Teil vereint war die Rindenhaut, welche aus einem dichten Ge¬
liecht sehr feiner Fasern bestand, die nach allen Richtungen ausliefen. Diese
Fasern waren stark lichtbrechend und zwischen einer und der andern hatte das
Sudan die Zwischensubstanz, welche man an einigen Stellen angehäuft sah,
gelbrot gefärbt (Taf. III, Fig. 1).
Nun wurde dieses enge Bündelnetz, welches unter einander verflochten war
und hie und da Räume bildete, dio mit einer Substanz angefüllt waren, welche
die rote Färbung des Sudan gut angenommen hatte und unter welcher sich adi¬
pöse Gewebe befanden, als Derma anerkannt, welches, wie bekannt, aus solcher
Bildung besteht; die in Rot gefärbte Substanz, sowie der Rest der Dermadrüsen,
welche die Verseifung erlitten hatten und teilweise auch die Lappen und Fett¬
läppchen, welche die kleinen Flächen der unteren Hautfläche ausfüllten.
Als Schnitte in Korrespondenz der Hautkugeln, welche, wie schon mehr¬
mals bemerkt, die Adipocire charakterisieren, gemacht wurden, überzeugten w’ir
uns durch die mikroskopische Untersuchung von dem Mechanismus der Bildung
und der Substanz dieser Kugeln.
Es wurden sowohl senkrechte, als auch tangentiale Schnitte an der Haut¬
oberfläche gemacht. Die am meisten beweisbaren waren die senkrechten Schnitte.
Die Hautkugel zeigte sich aus einer äusseren Hülle gebildet, welche aus einem
Geflecht von Bindehaut und elastischen Fasern bestand, die nach allen Rich¬
tungen verliefen und in welches sich das subkutane adipöse Gewebe hineindrängt.
Die äussere Fläche der Hülle war an einigen Stellen mit sehr kleinen Erhebungen
versehen und wurde als Ueberrest der Dermapapillen erklärt. Die Hülle setzte
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sich nach unten fort, bildete allein den Zwischenraum zwischen einem und dem
anderen Vorsprung, um sich dann zu erheben und die Hauthülle des nächsten
Hügels zu bilden. — In dem Raum zwischen einem und dem andern Vorsprung
beobachteten wir, dass die Dermaschicht spindelförmig war, das heisst dünner
an den Enden als im Zentrum, als ob sie an beiden Enden ausgezogen wäre
(Taf. II, Fig. 2).
Um nun unseren Erklärungen eine Bedeutung zu geben, so sind wir über¬
zeugt, dass die Hautboulen der Adipocire aus dem Derma gebildet sind, welches
nach oben gedrängt wurde, sich verbreiterte und gezwungen war, an einigen
Stellen der Hautoberfläche einen Durchbruch zu gestatten für das subkutane adipöse
Gewebe, welches, sich nach oben drängend, die elastischen und Bindegewebsfasern
verfeinert und ausdehnt, die dem Druck mehr oder weniger widerstehen und
je nach ihrem Widerstandsexponenten und ihrer Elastizität die charakteristischen
Hervorragungen bilden.
Adipöses subkutanes Gewebe und Aponenrose.
Von diesem Gewebe haben wir Schnitte bei Gefrierung ausgeführt und
Färbung mit Sudan III. Das Fett war normal vorhanden; bemerkenswert ist aber,
dass auch in diesem Fall das Sudan sehr langsam reagierte.
Unter der Fettschicht beobachtete man die aponeurotische Schicht wie ein
enges, feinfaseriges, lichtbrechendes, farbloses Geflecht (Taf. III, Fig. 2).
Knochen.
Zur Untersuchung des Knochengewebes haben wir uns des Schenkelknochens
und des Schienbeins der ersten Leiche bedient, welche das Aussehen einer voll¬
ständigen Verseifung hatten. — Makroskopisch erschien der Knochen ohne Knochen¬
haut, der Markkanal halb mit einer butterigen, weissen, krümeligen Substanz von
nicht ganz normaler Konsistenz angefüllt. Mikroskopisch hingegen war nichts
besonderes geboten.
Wir fanden weder die Fettsäureanhäufungen in den Haversischen Kanälchen,
noch die von normaler Knochensubstanz begrenzten Buohten von Kristallanhäu¬
fungen und von amorpher Substanz angefüllt, wie es Kratter beschrieben hat.
Die untersuchte frische Marksubstanz erschien grösstenteils aus Fetttröpfchon
gebildet, aus Fettsäureschollen, aus sphärischen und stachlichen Körperchen, ähn¬
lich den in der Hautadipocire untersuchten und beschriebenen.
Sehnen.
Nur einige Worte über die Sehnen. Zur Untersuchung derselben
bedienten wir uns der Strecksehnen des Fusscs vom ersten und zweiten
Leichnam. Das makroskopische Aussehen glich dem normalen, abge¬
sehen von einer gelblich-weisscn Farbe ohne den gewöhnlichen Glanz
der Sehne und einem fettigen Gefühl, welches man bei der Berührung
empfand.
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Histologische Studien und bakteriologische Versuche über Adipocire. 231
Mikroskopisch sind die einzigen, nioht mehr bemerkbaren Sehnenelemente,
auch wenn die Präparate mit Silbersalzen durchtränkt werden, die Endothelien-
schicht, welche die Sehno gewöhnlich an ihrer Oberfläche zeigt, und die Stern¬
zellen. — Der fibröse Teil des Gewebes und auch der elastische sind gut erhalten.
Die bei Gefrierung ausgeführten und mit Sudan III behandelten Schnitte haben
die Sudanfärbung nicht angenommen, sondern eine rosige, verblasste, gleichmässige
Farbe. Wir können deshalb sagen, dass in der Sehne eine Hemmung des Fäulnis¬
prozesses stattgefunden hat (Tamassia beobachtete, dass am 75.Tage das Sehnen¬
gewebe ganz zerstört war), aber der Verseifungsprozess hat noch nicht begonnen.
Muskeln.
Makroskopisch waren die Muskeln im ersten Falle auf der ganzen
Schicht von der Haut bis zum Knochen von einer einförmigen grauen
Farbe; im zweiten Falle, in welchem die Adipocire weniger vorge¬
schritten war, war statt dessen die Muskelschicht in der Nähe der
Haut von einförmiger, grauer Farbe, während die Schicht neben dem
Knochen das Aussehen gewaschenen Fleisches hatte und die fibrilläre
Struktur deutlicher war.
Die histologischen Studien an den Muskeln wurden sowohl im ersten als im
zweiten Falle ausgeführt und von beiden wurden Serienpräparate gemacht. Die
Muskelmasse wurde der ganzen Dicke nach durchschnitten im mittleren Drittel
des Schenkels, indem man einen Muskelzylinder entnahm, welcher das subkutane
Gewebe als obere, den Knochen als untere Basis hatte. Dieser Muskelzylinder
wurde in fünf Würfel von je y 2 cm Dicke geteilt, jeder einer Serie entsprechend,
welche wir in der Folge beschreiben werden. — Aber während diese Serien¬
präparate im ersten Falle wenig verschieden von einander ausfielen, fand man
hingegen im zweiten Falle mehr akzentuierte, von der Oberfläche naoh unten
gehende Veränderungen.
Was die Technik betrifft, muss bemerkt werden, dass die Schwierigkeiten
der Färbung viel grösser in der Nähe der Haut waren, als in den Schnitten in der
Nähe des Knochens.
Um die Beschreibung abzukürzen, werden die Präparate illustriert werden
und in zwei Kapitel zusammengefasst, d. h. Präparate in Einschliessung und
frische Präparate.
I. Einbettungspräparate.
I. Serie: Gleich unter dem Fettgewebe (Taf. IV, Fig. 1). Der Muskel ist
an der Anordnung der aneinanderliegenden Fasern erkennbar, zwischen welchen
man Bindegewebsranken sieht.
Bei Beobachtung jeder dieser Fasern mit Immersions-Objektiv sehen wir, wie
jede Faser einen wenig unterbrochenen Umriss hat, welcher stärker gefärbt ist als
der Inhalt, der sich fein punktiert zeigt. Die Punktierung ist nicht unregelmässig
verteilt, sondern auf eine Weise, dass Streifen mit unterbrochenen Linien entstehen,
sowohl Längs- als Querstreifen. — Die Querstreifung ist deutlicher als die Längs-
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Dr. A. Asc-arelli,
stroifun^. Die Andeutung der Streifung ist sichtbarer an den Rändern der Faser
als im Zentrum.
Bei den Schnitten mit Fixierung in Flemmings Flüssigkeit fanden wir
ausser dem oben Gesagten sehr zahlreiche, durch Flemming tiefschwarz ge¬
färbte Punkte, welche keine besondere Anordnung haben, sondern über die ganze
Faser zerstreut und von verschiedenen Dimensionen und sphäroider Form sind.
Solche Punkte erkennt man als Fettschollen nach der charakteristischen Reaktion
der Osraiumsäure.
Serie II (Taf. IV, Fig. 2). Die Muskelstruktur ist deutlicher erkennbar, be¬
sonders die Querstreifung der einzelnen Fasern, und die Streifen erscheinen mit
wenig unterbrochener Kontinuität.
Bei diesem Präparat ist es wichtig, das Erscheinen eines aus kleinen runden
Körperchen gebildeten Pigmentes von gelblicher Farbe und fast alle untereinander
gleich, die Grösse eines Mikrokokkus wenig überragend, zu beobachten. Die pig¬
mentierten Stellen sind in ihrer Farbe durchaus nicht von der färbenden Lösung,
welche auf den histologischen Schnitt gewirkt hat, verändert. Was die Verteilung
anbelangt, so waren sie meistens zu Haufen an einigen Stellen der Faserperipherie
und besonders da, wo man gewöhnlich die Kerne antrifft, gruppiert. Ausserhalb
der Faser sieht man keine. Dies Pigment ist reichlicher und sichtbarer in den
muskulären Fasern und verhältnismässig besser konserviert, während es in denen
mit unsichtbarer oder kaum sichtbarer Streifung (wie in den Präparaten der
I. Serie) nicht bemerkbar ist oder nur sehr geringe Spuren auftreten.
Der Lage und dem Aussehen nach kann dies Pigment mit dem verglichen
werden, welches man in der braunen pigmentären Atrophie des Herzens findet.
Auch in den Schnitten nach Fixierung in Flemming ist das Pigment
sichtbar, und es hat durchaus nicht die Osmiumsäure-Reaktion erlitten.
Man erkennt hier die Fettschollen wie in den Präparaten der ersten Serie,
aber kleiner und weniger zahlreich.
III. Serie (Taf. IV, Fig. 3). Die Muskelstruktur wird immer deutlicher.
Einige Fasern zeigen Querstreifung und auch eine Andeutung zur Längsstreifung;
einige andere sind wie in viele übereinander liegende Scheiben verteilt und von
einem dünnen, leeren Raum getrennt. — In einigen Disken erkennt man die
Streifen, andere haben ein körniges Aussehen angenommen, und man kann die
Körner wohl voneinander unterscheiden, ln derselben Faser ist oft in einem Teil
die Diskenbildung evident, in einem anderen die Streifung.
Das in den Präparaten der zweiten Serie beschriebene Pigment ist hier auch
vertreten, und zwar reichlicher, so dass hier Fasern sind, welche, wie man sagen
kann, einen pigmentierten Umriss haben.
ln den Flemmingschen Präparaten sind die Fettschollen weniger.
IV. Serie (Taf. IV, Fig. 4). Hier behält der Muskel seine Struktur bei. —
Nur in wenigen Fasern sieht man die Querstreifung nicht deutlich, während man
in vielen die Längsstreifung deutlich erkennt. Die Faser ist nicht zerstückelt, so
dass man sie unter dem mikroskopischen Felde auf eine ziemlich weite Strecke
verfolgen kann, und das Ende ist fast immer glatt geschnitten und nicht aus¬
gefasert, wie in den vorigen Schnitten. Auch in den Querschnitten des Muskels
ist die Streifung deutlich erkennbar; die verschiedenen Fäserchen sind zuweilen
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Histologische Studien und bakteriologische Versuche über Adipocire. 233
zu Bündeln vereint, und in einigen Fasern ist eine Andeutung der sogenannten
Cohn heim sehen Felderbildung. Hier ist das Pigment sehr vermindert, das wenige
existierende bietet stets das gleiche Bild.
V. Serie (Taf. IV, Fig. 5). In diesen Präparaten würde die Muskelfaser
normal erscheinen, wenn die Aufmerksamkeit des Beobachters nicht durch die voll¬
ständige Abwesenheit der Kerne überrascht wäre. Die Struktur ist so deutlich,
dass die Schnitte erscheinen, als wären sie ausgeführt, um die histologische Bil¬
dung des Muskels so evident als möglich zu machen. Die Querslreifen sind so
erkennbar, dass sie wie von einander getrennt scheinen, und man sieht die Ab¬
wechslung von mehr oder minder leichtbrechenden Streifen, die einep mehr, dio
anderen weniger intensiv. — Bei genauer Beobachtung sieht man, dass in einigen
Fasern jeder Streifen wieder von Amicischen oder von Hensenschen Streifen
durchsetzt ist.
Hier und da findet man in den Schnitten Spuren des vorher genannten gelben
Pigments.
In den in Flemming fixierten Schnitten beobachteten wir auch die perfekte
Konservierung der Streifen, nur die Fettschollen sind in diesen Präparaten sehr
karg. Sie treten als sehr seltene, über die ganze Faser zerstreute Pünktchen auf,
ohne eine besondere Anlage und besonderes Aussehen anzunehmen.
Wenn wir die Ergebnisse der histologischen Untersuchung der
muskulären Schnitte mittels Einbettung zusammenfassen, so haben wir:
1. Färbungsschwierigkeit, welche sich von der Hautoberfläche
nach dem Knochen zu mehr und mehr verringert.
2. Histologische Struktur, welche immer deutlicher von der Ober¬
fläche nach der Tiefe wird.
3. Vorhandensein einer pigmentierten Substanz, welche bei der
II. Serie unserer Präparate beginnt, um sich in der II1. zu
vermehren und sich dann wieder zu vermindern, bis nur
Spuren im Schnitt in der Nähe des Knochens bleiben.
4. Vorhandensein von Fettschollen, welche durch Flemmingsehc
Flüssigkeit hervortreten und sich in Ausdehnung und Grösse
von der Oberfläche zur Tiefe vermindern.
Frische Präparate.
Auch von diesen machten wir Serienschnitte, werden abor nicht den histo¬
logischen Befund jeder Serie angeben, sondern nur die Synthesis unserer Beob¬
achtungen.
a) Präparate durch Zerreissung und Entfaserung.
Wir beobachteten die Roste der Muskelfaser, die leicht erkennbar an einer
deutlichen Streifung war, welche einige Fasern durchfurchten, besonders in der
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Dr. A. Ascarelli,
Nähe der Ränder. Diese Streifang erschien deutlich aus vielen nahe bei einander
liegenden Pünktchen gebildet, sowohl in Längs- als auch in Querserien. Mitten
in diesen Faserresten, welche immer zahlreicher, evidenter und besser konserviert
waren, beobachteten wir, indem die Schnitte von der Oberfläche zur Tiefe ge¬
macht wurden, gruppirte und regelmässig in an einander liegende Serien ange¬
ordnete Massen. In unseren Schnitten beobachteten wir jede Uebergangsstufe der
muskulären deutlich gestreiften Faser bis zur vollständig homogenen Scholle.
Ausserdem bemerkten wir, dass die verschiedenen Fasern sich durch Zerreissung
sehr leicht von einander trennten.
Ueber den ganzen Abschnitt verstreut, besonders in den mehr oberflächlichen
Schnitten, war eine enorme Quantität von Fettsäuren, in Büschel geordnet oder
vereinzelt, oder in stacheligen Anhäufungen vereinigt.
Als wir warmes Xylol auf den Schnitt wirken Hessen, wurde beobachtet,
dass die meisten homogenen beschriebenen Schollen und die Fettsäurekristalle
sich lösten, und aus diesem Grunde erklärten wir jene parallel geordneten An¬
häufungen als adipöse Substanz.
Die Uebergangsstufen von der wohlgebildeten Muskelfaser zur Fettscholle
überzeugten uns von dem stufenweisen Uebergang von jener zu dieser.
b) Gefrierschnitte und Färbung mit Sudan III.
Das Sudan III hat dem Schnitt nicht soine charakteristische gleichmässige
Färbung gegeben, sondern nur streckenweise. Während einige Fasern intensiv
rot gefärbt sind, haben andere nur eine rosige Farbe angenommen und man sieht
gleich, dass die Sudanfärbung evidenter und charakteristischer ist in den Präpa¬
raten der I. und II. Serie, als in denen in der Nähe des Knochens. — Und die
deutliche Sudanfärbung ist im umgekehrten Verhältnis in Evidenz bei der musku¬
lären Streifung; während man in der Tat die Muskelstreifung nur mit einer ge¬
wissen Schwierigkeit an den intensiv rot gefärbten Stellen erkennt, erscheint sie
in den rosigen Zonen noch ziemlich gut erhalten.
Die Querstreifung ist wie immer deutlicher als die Längsstreifung und die
verschiedenen Streifen erscheinen nicht von einander getrennt, sondern durch eine
homogene Substanz verbunden.
In diesen Präparaten finden wir immer, mit dem gleichen Aussehen und mit
derselben quantitativen, genau beschriebenen Verteilung, in den Schnitten bei
Einbettung in Paraffin die Gegenwart des gelblichen Pigmentes. Zwischen und
auf den Fasern sind zahlreiche Fettsäurekristalle (Serie II, Taf. IV, Fig. 6).
Nach unseren frischen Präparaten und aus dem, was wir in den Ein¬
bettungspräparaten gesehen haben, können wir schliessen:
Eine allmähliche Umwandlung des Muskelgewebes mit allen
Ucbergangspcrioden, von der erhaltenen Muskelfaser bis zu der in
Adipocire verwandelten Masse, was aus dem verschiedenen histolo¬
gischen Aussehen der Faser und aus der Verschiedenheit der mikro¬
chemischen Reaktion auf Sudan hervorgeht.
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Histologische Studien und bakteriologische Versuche über Adipocire. 235
Herz.
Das Herz wurde blossliegend in der Thoraxhöhle gefunden, dem
makroskopischen Aussehen nach glich es einem Fettherzen und nur
bei Durchschneidung desselben erschien der innerste Teil der Ven¬
trikelwände und die innere Oberfläche des Myokard bräunlich gefärbt.
— Der Muskel war sehr fettig, im Wasser schwimmend und von
sehr zerbrechlicher Konsistenz.
Von dem Aussehen reinen Fettes, welches der äussere Teil
zeigte, bis zu dem eben beschriebenen des inneren Teiles sah man in
einem Querschnitt alle Uebergangsstufen.
Mikroskopisch wurden ausgeführt:
1. Schnitte von der rechten und linken Ventrikelwand.
Die Wand der Herzkammer erscheint wie ein Netz aus Maschen von ver¬
schiedener Form und Grösse, deren kleine Balken mehr oder weniger dünn und
aus zarten Faserbündeln gebildet sind, um welche sich grobe Körnungen von ver¬
schiedener Grösse gruppieren und in sehr verschiedener Quantität verdichten, je
nach den verschiedenen Punkten des Präparates. Solche Körnungen, zu Haufen
vereinigt, sieht man auch im Innern der Maschen, welche bald unversehrt, bald
zerstückelt und an mehreren Stellen zerrissen erscheinen, so dass die von ihnen
beschriebenen Räume freie Verbindung untereinander haben.
In den Schnitten erkennt man die Blutgefässe, das grosse und leere Lumen
und die aus elastischen Faserbündeln gebildete innere Wand, gewellt und spiral¬
förmig, welche sich nach und nach von innen nach aussen hin verdünnt.
Nach dem mikroskopischen Verhalten sowohl, als nach dem histologischen
Aussehen glaubten wir, dass in diesen entfetteten Präparaten die Herzwand zu
einem Gerüst elastischer und Bindegewebsfasern reduziert wäre, auf dessen
Maschen sich Körner anhäuften, welche den Rest des Gewebes darstellten. Und
hiervon überzeugte uns auch die Untersuchung der Gefrierpräparate.
Bei diesen sehen wir kein Netz mit grösstenteils leeren Maschen mehr, son¬
dern ein unregelmässiges Geflecht von Fasern, einige sehr fein, andere grösser;
in einigen dieser letzteren kann man sogar eine Andeutung von Streifung er¬
kennen; inmitten dieser Fasern beobachten wir einen reichlichen körnigen Detritus,
grösstenteils vom Sudan intensiv rot gefärbt. Ausserdem sind die feinen Fasern
ungefärbt geblieben, während die grossen auf Sudan reagiert haben, d. h. sie
haben die Verseifung erlitten. Aus dem Gesagten kann man schliessen, dass vom
Herzen nur der Bindegewebsteil dem Fettwachsprozess widerstanden hat.
2. Schnitte von der inneren Oberfläche der Ventrikelhöhle
(Taf. IV, Fig. 7).
Wenn man die Einbettungsschnitte nicht in Korrespondenz der Ventrikel¬
wand untersucht, sondern des Teils nahe der Höhle, so beobachtet man zahl-
Vierteljahrsschrift f. ger. Med. u. öff. San.-Wesen. 3. Folge. XXXII. 2. iß
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/
Dr. A. Ascarelli,
reiche Fasern, welche in ihrem Innern regelmässig verteilte Pünktchen haben,
so dass sie im Komplex das Aussehen der Querstreifung haben, Fasern,
welche kurz, fragmentiert und zerstückelt auftreten. In einigen derselben bemerkt
man bei starker Vergrösserung auch das Erscheinen eines gelben Pigmentes, dem
im Muskelgewebe beschriebenen gleich.
Bis hier erkannte man durch histologische Beobachtung durchaus nicht die
Struktur des Herzens, und wenn die Andeutung eines Muskelgewebes in diesen
letzten Präparaten gefunden wurde, so geschah dies nicht in den erst beschrie¬
benen der Herzwand, in welchen der Schnitt das Aussehen eines Fettgewebes an¬
genommen hatte, von welchem es sich nur durch den Reichtum elastischer Fasern
und durch die Blutgefässe unterschied.
3. Schnitte der Papillarmuskeln des linkon Ventrikels.
In solchen Schuitten, und zwar immer bei entfetteten Präparaten, finden wir
Bündel grober Fasern, die sich unter einander verschiedenartig verflechten, einige
schräg, andere längs, noch andere quer geschnitten. Von diesen Faserbündeln
gehen andere Bündel aus, welche mit den Hauptbündeln anastomosieren. In vielen
dieser Fasern erkennt man die Querstreifung, doch nicht in fortlaufenden Linien,
sondern jeder Streifen erscheint als aus vielen nahe nebeneinander liegenden
Pünktchen gebildet. Bei anderen Fasern sind diese Pünktchen so mit einander
koordiniert, dass sie als Längsstreifung erscheinen. Im grössten Teil dieser das
Muskelnetz, welches man deutlich als Herzmuskelnetz erkennt, bildenden Fasern
sieht man in verschiedener Menge Anhäufungen von gelb pigmentierten Körnern,
welche mit Vorliebe auf der Peripherie der Fasern und in den Muskeln liegen.
Diese pigmentierten Schollen sind dem bei den Muskeln beschriebenen Pigment
ganz gleich, sowohl im Aussehen als in Gleichmässigkeit und Grösse der ein¬
zelnen Körner, sowie in Form und Lage.
4. Gefrierschnitte.
In diesen mit Sudan gefärbten Präparaten ist nichts, was einer besonderen
Beschreibung wert wäre, beobachtet worden.
Das Pigment hat das nämliche Aussehen, das gestreifte Muskelnetz des
Herzens hat an einigen Stellen eine rosige Färbuög angenommen, an anderen ist
es intensiv tiefrot, ausgenommen in den elastischen und Bindebautfasern, welche
lichtbrechend und farblos erscheinen. Auf dem Schnitt sind ausserdem zahlreiche
Fettsäurekristalle.
Die Schlussfolgerungen, welche wir aus dem histologischen Studium des
Herzens ziehen können, sind denen, welche der Beschreibung des Muskelgewebes
folgen, sehr ähnlich. Auch hier ist tatsächlich die histologische Struktur des
Herzens deutlicher, je mehr wir von aussen nach innen vorschreiten. Ausserdem
wird sowohl im Herzen, als auch in den Muskeln die Gegenwart eines Pigmentes
beobachtet, in den Teilen, in welchen die Muskelfaser nicht ganz verseift ist, ein
Pigment, welches in diroktem quantitativen Rapport steht zu der histologischen
Evidenz der Muskelstreifung. — Deshalb haben wir beim Herzen, wie auch bei
den Muskeln alle Uebergangsstufon von einer unvollständigen Verseifung des Ge¬
webes (zentraler Teil) bis zu einer vollständigen Adipocire (peripherischer Teil).
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Histologische Studien und bakteriologische Versuche über Adipocire. 237
Arterien nnd Venen.
Die Gefässe, und besonders die arteriellen, hatten makroskopisch
ihr röhrenartiges Aussehen behalten; wie alle anderen Gewebe waren
sie fettig und klebrig und hatten grösstenteils ihren Spannungswider¬
stand vermindert.
Wir haben Präparate aasgeführt von der Aorta, Lungenader, Karotis.
Der Kürze halber fassen wir die an der Aorta und der Lungenader ausge¬
führten Studien zusammen. Man erkennt in den entfetteten Präparaten nur eine
einzige, aus elastischen Fasern gebildete Schicht, welche Fasern einen geschlän¬
gelten Lauf angenommen haben. Die elastischen Elemente sind sehr entwickelt
und haben zuweilen das Aussehen gefensterter Membranen. An der Peripherie
der elastischen Schicht sicht man eine andere, aus elastischen und Bindehaut¬
fasern gebildete Schicht, in welcher aber die elastischen Elemente fragmentiert
und zerstückelt sind. Ein kleiner Raum, welcher von wenig Detritusanhäufungen
angefüllt ist, trennt die beiden Schichten.
In don Präparaten bei Gefrierung und mit Sudan III gefärbt beobachtet man,
dass der Schnitt nicht die charakteristische Färbung des Sudan angenommen,
sondern ein unbestimmtes Rosa zur Grundfarbe hat, auf welcher vollständig licht¬
brechende und farblose Faserbündel hervortreten. Es ist nur zu bemerken, dass
die Muskelwand, welche in den entfetteten Präparaten aus einem kargen Detritus
besteht, in den Sudanpräparaten als ein Haufen stark rot gefärbter Fasern auftritt.
In den histologischen Präparaten der Karotis beobachtet man, dass die Lage
der arteriösen Hüllen deutlicher als bei der Aorta ist.
Was die histologische Beschreibung der parenchymatösen Gefässchen betrifft,
verweisen wir auf das über die verschiedenen Organe Gesagte.
Wir wissen also, dass in Gofässen von grossem Kaliber, in welchen die
elastischen Fasern vorherrschen, nur karge Spuren von Verseifung vorhanden sind
und diese nur in der Muskelschicht.
Hingegen zeigen die elastischen Fasern die verschiedenen Stufen der gewöhn¬
lichen Fäulnis von der Schlängelung bis zur Zerreissung.
Gehirn.
Das Gehirn war auf mehr als ein Drittel des normalen Volumens
reduziert und erschien als eine rötliche, sehr weiche Masse, in
welcher es sogar unmöglich war, die weisse von der grauen Substanz
zu unterscheiden.
Ausser den Färbungen und histologischen Präparaten, wie bei den übrigen
Organen, haben wir mit dem Gehirn auch Präparate mit der Golgischen Methode
ausgeführt. Die von uns erhaltenen Resultate waren aber sehr karg. — In allen
Präparaten, mit welcher Teohnik sie auch ausgeführt waren, gelang es nie, irgend
ein bildliches Element, noch eine Andeutung der Struktur und dem Aussehen der
Rinden- oder Marksubstanz des Gehirns zu unterscheiden.
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Dr. A. Ascarelli,
Man bemerkte nur ein Netz mit sowohl in Grösse als auch im Aussehen unter¬
einander sehr verschiedenen Maschen; auf diesen Maschen befinden sich dicht an¬
liegende Anhäufungen von körnigem Detritus von verschiedener Grösse und Form.
— Dieser Detritus erfüllt bisweilen auch das Innere der Maschen.
Gefässe werden nicht angetrotTen und auch die elastischen Fasern, welche
immer in allen Präparaten aller untersuchten Organe beobachtet wurden, sind hier
nicht erhalten. Die Gefrierschnitte mit Mikrotom ausgeführt und mit Sudan III
gefärbt verhalten sich ebenso.
Demnach hat das Gehirn keine Verseifung erlitten, sondern einen Fäulnis¬
prozess; in der Tat haben die Schnitte nicht die Farbe des Sudan III angenommen.
Auch in den Präparaten mit Golgi beobachtete man keine von der Osmiumsäure
schwarz gefärbten Punkte.
Das Hirngewebe ist zu einem Netz reduziert, dessen Maschen sowohl in den
entfetteten Präparaten als in den Gefrierpräparaten leer oder halbleer sind;
also hat hier eine Zerstörung der Substanz stattgefunden und keine Verseifung.
Das makroskopische sowie das histologische Aussehen, welches die Ilirnmasse bot,
entspricht vollkommen der Beschreibung, welche die Verfasser vom Gehirn im auf¬
lösenden Fäulnisstadium machen.
Nerven.
Das peripherische Nervengewebe erschien makroskopisch nicht
sehr verändert, man erkannte bei der Nervenscktion die Bündelstruktur
sehr gut.
Zur histologischen Untersuchung nahmen wir den linken Medianus
der zweiten von uns studierten Leiche.
a) Einbettungspräparate,
Man erkennt die Struktur des Nerven ohne Schwierigkeit. Die Schnitte in
den Quersektionen sind beweisender. Besonders gut erhalten scheint das Binde¬
gewebe des Nerven. Im Innern jedes Nervenbündels erscheinen die Quersektionen
der Schwannschen Hülle sehr deutlich, einige grösser, andere kleiner, wie sie
auch bei der normalen Histologie gefunden werden. Wir bemerken gleich, dass
es in keiner Weise gelang, die Kerne der Schwannschen Hülle sichtbar zu
machen. Einige derselben sind ganz leer, andere teilweise, und teilweise mit
körnigem Detritus angefüllt, weniger intensiv gefärbt als das stützende Binde¬
gewebe und die Hülle; noch andere sind fast ganz angefüllt mit diesem amorphen
Detritus.
In einigen Schwannschen Hüllen glaubt man im Zentrum ein dunkleres
Pünktchen zu sehen, welches fast den Querschnitt der Nervenachse vorstellt
(Taf. V, Fig. 1).
Sehr gut erhalten waren die Blutgefässe, nur die elastischen Fasern der¬
selben, die wie immer in allen von uns studierten Geweben und Organen auftraten,
hatten einen geschlängelten Verlauf, und an einigen Stellen erschienen sie unter¬
brochen.
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Histologische Studien und bakteriologische Versuche über Adipocire. 239
Das Fett, welches gewöhnlich als schützendes Gewebe um jeden Nerv herum
besteht, hat nichts Abnormes.
b) Gefrierpräparate.
Diese, wie gewöhnlich mit Sudan III gefärbt, sind nicht sehr beweisend.
Man hat im Schnitt eine rosige Färbung, sowohl im Bindegewebsbündel, im
peripheren und im lnterfaserbündcl, als auch in der Sch wann-Hülle. Nur die
körnigen Bildungen, welche bei den Präparaten mit Einbettung weniger intensiv
gefärbt erschienen, haben hier im Innern der Schwann-Hülle eine rötliche
Färbung angenommen.
Aber höchst interessant bei diesen Präparaten ist, dass die Sch wann sehen
Hüllen, welche in den entfetteten Schnitten leer erscheinen, in denen mit Sudan
mit einem körnigen Detritus angefüllt und intensiv rot gefärbt erscheinen.
Luftröhre.
Die Luftröhre, welche nach der makroskopischen Untersuchung nur die un¬
vollständigen, von einander getrennten Luftröhrenringe aufwies, erschien unter dem
Mikroskop in ihrem knorpeligen Teil fast normal. Man erkennt in der Tat die
Knorpelzellen zu Gruppen vereint, oder vereinzelt mit einem grossen glänzenden
Kern in ihren Kapseln.
Im Innern dieser Zellen sind (in den Gefrierungspräparaten und mit Sudan)
stark rot gefärbte Körnungen. Hier und da erkennt man in der Grundsubstanz
sehr dünne, farblose, lichtbrechende Fäserchen. — Unter und über der Knorpel¬
schicht ist das Bindegewebe, in welchem aber keine Spur mehr vom Epithelium
sich findet. Die Knorpelschicht hat die Sudanfärbung nicht angenommen, und in
den mit solcher Technik ausgeführten Präparaten sieht man die oben genannten
Körnungen gut gefärbt, welche vielleicht die Fetttröpfchen vorstellen, die sich im
normalen Zustand im Protoplasma der Knorpelzellen befinden. Anstatt dessen hat
die gemeinschaftliche, protoplasmatische und Kernfärbung die Schnitte mit
Einbettung in Paraffin ziemlich gut gefärbt (Taf. V, Fig. 2). Man kann deshalb
schliessen, dass die Luftröhre keine Umwandlung in Fettwachs erlitten hat, oder
wenigstens hat der Verseifungsprozess nicht angefangen, während eine Hemmung
im gewöhnlichen Fäulnisprozess beobachtet wurde, welcher sich auf die Zerstörung
der Epithelial- und Drüsenschicht beschränkt hat, wovon man einen überzeugen¬
den Beweis in dem normalen Zustand hat, welchen die histologische Struktur der
Luftröhre bietet, die im Kontrast zum Grade der bei der Autopsie makroskopisch
beobachteten Verwesung steht.
Lungen.
Die Lungen, welche zu kleinen, weichen, zusammengeschrumpften,
fettigen Fetzen reduziert sind, mit der Thoraxwand Zusammenhängen
und an einigen Stellen adhärent und mit dünnen, harten, gelben, ins
Graue gehenden Scheiben bedeckt sind, welche die parietale Pleura
vorstellen, lassen ihre feine histologische Struktur ziemlich gut er¬
kennen.
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Dr. A. Ascarelli,
a) Einbettungspräparate.
Diese Präparate gehen aus einem grossen Netz hervor, mit bald engen, bald
weiten, bald länglichen oder unregelmässig runden Maschen, welche bald ganz
sind, oder an mehreren Stollen zerstückelt, und aus dünnen elastischen Fasern
gebildet, meistens festoniert, mit geschlängeltem Lauf und an einigen Stellen
nnterbrochen. Die Maschen dieses unregelmässigen Netzes, welches das alveolär©
Gerüst vorstellt, sind meistens leer, nur einige enthalten einen feinkörnigen Detritus.
In den Schnitten beobachtet man ausser diesem aus dem Lungengerüst gebildeten
Netz, noch einige andere Elemente, welche die Diagnose der Lungenstruktur er¬
leichtern. Man sieht in der Tat die kleinsten Bronchien, erkennbar durch die
fibröse Tunika, welche nur zu elastischen und Bindegewebfaserbündeln reduziert ist.
(Tafel V, Fig. 3.)
b) Gefrierpräparate.
Auch in diesen, wie immer mit Sudan gefärbt, beobachtet man ebenfalls die
Netzstruktur, dessen Maschen nur eine rosige Färbung angenommen haben, es ist
aber von Wichtigkeit zu konstatieren, wie diese Maschen, bald aneinander liegend,
bald freiliegend in ihrer Höhle, eine bedeutende Menge von körnigen Anhäufungen
enthalten, die sowohl in Grösse, als in Form und Lage sehr verschieden von ein¬
ander und mehr oder weniger stark rot gefärbt sind, von welchen sich in den ent¬
fetteten Schnitten nur wenige und vereinzelte Körnchen fanden.
Diese Körnungen glauben wir als Rest der Endothelialschichten erklären
zu können, welche den Verseifungsprozess erlitten haben.
ln allen Präparaten findet man anthrakotische Pigmentanhäufungen, er¬
kennbar an der schwarzen Färbung, an der groben und sehr unregelmässigen
Körnung und an der besonders eigenartigen Verteilung in den peribronchialen
und perivasalen Räumen.
Deutlich erscheinen in allen Schnitten die Blutgefässe, deren Lumen von
einigen elastischen, fcstonierten und kreisförmigen Fasern abgegrenzt wird, ausser¬
halb welcher ein mehr oder weniger grosser, von kleinen, wenig gefärbten Körnern
angefüllter Raum ist. Zuweilen erkennt man auch die kleinen Venen der letzten
Bronchialverzweigungen.
Die Pleura
bietet sowohl in den entfetteten Präparaten, als auch in den anderen nichts Be¬
sonderes. Man erkennt in derselben noch die tiefe Schicht, welche aus einer
kleinen Schicht aneinander liegender elastischer und Bindegewebsfasern und aus
einem leeren Kaum gebildet ist, in welchem zahlreiche, aus roten Pünktchen ge¬
bildete Schollen sichtbar sind (in den Präparaten mit Sudan), welche vielleicht
den endothelialen liest der oberflächlichen Schicht darstellen.
Hiernach zu schlossen, haben wir in den Lungen die Erhaltung des elasti¬
schen Gerüstes des Lungengewebes, welches den Verseifungsprozess nicht erlitten
hat, und den epithelialen Rest, welcher verseift und zu fettigen Körneranhäufungen
reduziert ist.
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Histologische Studien und bakteriologische Versuche über Adipocire. 241
Leber.
Die Leber, von welcher auch das kleinste Zeichen der lobulären
Struktur makroskopisch verschwunden war und welche als braune,
einförmige, sehr erweichte Masse auftrat, liess in gewissem Masse
die eigentliche histologische Struktur erkennen.
a) Einbettungspräparate.
Diese erscheinen wie ein Netz mit Maschen verschiedener Grösse und Form,
in fortgesetzter oder unterbrochener Linie. Das Netz dieser Maschen zeigt ab und
zu mehr oder weniger voluminöse Verdickungen, welche, bei starker Vergrösse-
rung betrachtet, aus dicht aneinander liegenden körnigen Anhäufungen gebildet
zu sein scheinen.
Die Struktur der Leberdrüsen ist besonders erkennbar ari der Erhal¬
tung der triangulären Räume, welche sich dem Beobachter als ein Geflecht von
Bindegewebsfasern darbieten, in dessen Mitte wir drei Oeffnungen erkennen, die
wir als Mündung der hepatischen Arterienverzweigungen der Pfortader und des
Gallenkanals erklären; ausserdem erkennt man an einigen Stellen eine andere
kleine Oeffnung, sichtlich die Zentralader, von welcher in gestrahlter Verteilung
dünne Fäserchen ausgehen, welche im ganzen Präparat das vorher besprochene
Maschennetz bilden und in dessen Verlauf und dicht an den Maschen anliegend
man körnige Anhäufungen sieht. Diese Eigentümlichkeiten sind deutlicher in den
Schnitten, welche mit der van Giesonschen und mit Weigerts Lösung behan¬
delt sind, in welchen die elastischen Fasern der Gefässe sich blau färben, das
Bindegewebsnetz rot und die körnigen Massen nur eino unbestimmte Farbe an¬
nehmen (Taf. VI, Fig. 1).
Hiernach schliessen wir, dass die Fäserchen das zarte Bindegewebsstroma
vorstellen, welches im Innern der Leberläppchen ist und die körnigen Anhäufungen
den Rest der epithelialen Substanz der Leber.
b) Gefrierpräparate.
Wir beschreiben eine Stelle, an welcher man die Mündung der Zentralader
des Läppchens sieht, von welchem, bei Schematisierung der Beobachtung,
strahlenförmige Streifen ausgehen, die nicht glatt fortlaufen, sondern aus vielen
einander genäherten Schollen gebildet sind, deren einige mehr, andere weniger die
rote Färbung des Sudan III angenommen haben.
Diese Anhäufungen erinnern an die Lago der Zellenstränge der Leber. Die
Struktur der Drüse ist auch erkennbar an der Lage der Blut- und Gallengefässe
in den triangulären Räumen.
Das Gefrierpräparat vervollständigt das entfettete; in diesem beobachtet
man ein leeres Bindegewebsnetz, in jenem hingegen den Inhalt des Netzes, der
aus verseifter Substanz, d. h. solcher, die auf Sudan III reagiert hat, besteht
(Taf. VI, Fig. 2).
Aus den oben beschriebenen Beobachtungen kann man schliessen, dass auch
die Leber keine vollständige Verseifung erlitten hat, denn auch hier hat sich das
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Dr. A. Ascarelli.
Bindegewebsgeriist, sowie das elastische erhalten; und auch das Epithelium zeigt
sich als noch nicht vollständig verseift, so dass auch in den vorher entfetteten
Präparaten Reste sichtbar sind.
Nieren.
Diese erschienen makroskopisch wie zwei fleischige Massen, in
welchen auch nicht das geringste an die Nierenstruktur erinnerte.
Auch die allgemeine Xicrenform war nicht erhalten; nur die Topo¬
graphie des Organes bewog uns während der Autopsie, diese Massen
für die Nieren zu halten.
Von aussergewöhnlichem Interesse war die histologische Unter¬
suchung; wäre es möglich gewesen, aus den mikroskopischen Präpa¬
raten die Diagnose des Organs zu machen, wo es auf dem Obduk-,
tionstisch nicht möglich war?
Die Einbettungspräparate
waren wie folgt:
Eine enorme Anzahl kleiner, in doppelter Längsserie liegender Körner;
zwischen beiden Serien war zuweilen ein leerer Raum und manchmal kleine kör¬
nige Anhäufungen. Der Raum zwischen diesen beiden Reihen Pünktchen ist im
ganzen Präparat ungleich, bald breiter, bald enger. — Nach einer langen Beob¬
achtung erkennt man das Schema des Nierenparenchyms und die so gelagerten
Körnungen als Ueberresl der Nierenkanälchen, welche von verschiedener Grösse
sind, je nach den verschiedenen Zonen des Präparates.
Wo die Körnungsserien einander mehr genähert sind, sieht man kleine ab¬
gerundete Körperchen, aus einer Anhäufung von unregelmässig liegenden und an
Grösse verschiedenen Körnern gebildet, dio aussen von einer ziemlich dicken, aus
Bindegowebc gebildeten kleinen Membran begrenzt sind (da sie die van Gieson-
sche Farbe angenommen hat). Diese Körperchen, welche man nur in den Kanäl¬
chen mit feinerem Kaliber fand, vertreten die Malpighischen Körperchen, in
welchen die grobon zentralen Körnungen uns den Ueberrest von dem Nierenknäuel
der äusseren kleinen Membran, der Bowmannschen Kapsel, andeuten. Zwischen
der Kapsel und den Körperchen ist ein leerer Raum, grösser, als er gewöhnlich
im normalen Zustande auftritt, als ob das Körperchen nicht nur verkörnert, son¬
dern auch zusammengeschrumpft wäre (Taf. VII, Fig. 1).
Die Marksubstanz ist besser erkennbar als die Rindensubstanz und sehr gut
erhalten; der Beobachter hat davon einen evidenten Beweis, wenn er die Schnitte
untereinander vergleicht; während die in Korrespondenz des Rindenteils ausge¬
führten, trotz des langen Verbleibens in der färbenden Substanz, nur eine sehr
blasso Farbe angenommen haben, sind die andern hingegen in derselben Zeit viel
stärker gefärbt worden.
Und ausser der mikroskopischen Reaktion, welche in beiden Teilen, dem
Rinden- und dem Markteil, verschieden auftritt, ist auch die histologische Struktur
deutlicher, und besonders die Lage der Sammelkanälchen ist deutlicher, als die
der geraden und gewundenen.
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Histologische Studien und bakteriologische Versuche über Adipocire. 243
Gefrierpräparate.
In diesen mit Sudan III und Hämalaun gefärbten Schnitten erscheinen die
Röhren wie viele in Serien liegende Körner, und zuweilen sind diese Körner von
einer kleinen Membran begrenzt. Diese einzelnen Pünktchen erscheinen bald stark
rot, bald rosa und bald leicht bläulich gefärbt. In der Glomeruluszone erkennt
man die einzelnen Körperchen gut, die Kapsel ist bläulich gefärbt, während im
Nierenknäuel die meisten Körner vom Sudan gelbrot gefärbt sind, ein kleiner Teil
ist vom Hämalaun blau gefärbt.
Im Präparat hat man alle Farbentöne, von rot zu rosa, zu blau (Taf. VII,
Fig. 3). In dem Markteil, wie schon bei den Einschliessungsschnitten beschrieben,
erscheint die Nierenzeichnung auch deutlicher: sehr interessant ist es, das Binde¬
hautskelett der Röhren zu erkennen, welche in den nur mit Sudan behandelten
Sektionen farblos geblieben sind und mit Hämalaun eine bläuliche Farbe ange¬
nommen haben.
Im Zentrum eines jeden Kanälchens sieht man Anhäufungen, welche meistens
eiförmig sind und aus sehr kleinen, nebeneinander liegenden Körnchen bestehen,
welche intensiv rot sind. Diese Massen repräsentieren dasNierenepithelium, welches,
nachdem es sich in der ersten Fäulnisperiode von der Basalmembran abgelöst
und im Lumen der Kanälchen angesammelt hat, bei der mikrochemischen Reaktion
als verseift erscheint (Taf. III, Fig. 2). Die Blutgefässe der Niere sind gut er¬
kennbar, sowohl in den entfetteten als auch in den Gefrierungspräparaten.
Betreffs der Nieren können wir also sagen, wenn wir die verschiedene Emp¬
fänglichkeit für Sudan III und für die anderen Farben, für das verschiedene Aus¬
sehen der Sektionen in Betracht ziehen, dass sie keine vollständige Verseifung
erlitten haben, sondern in vorgeschrittener Adipocire begriffen sind.
Magen.
Der Magen bildete einen sackartigen Bruch im linken Hvpo-
chondrium. Seine schwärzliche Wand war dünner als im normalen
Zustand; durch die grosse Fettigkeit entschlüpfte er bei der Betastung,
und seine innere Oberfläche liess nicht mehr die normalen Falten der
Magenschleimhaut erkennen.
Die histologischen Präparate des Magens, seien sie mit Einbettung in Pa¬
raffin oder bei Gefrierung ausgeführt, sind sehr beweisend.
a) Einbettangspräparate.
Nach Untersuchung einiger dieser Schnitte sind wir erstaunt, in denselben
alle Schichten der Ventrikelwand zu erkennen. Wir sehen in der Tat die Schleim¬
haut, welche wie ein Netz mit mehr oder weniger grossen Maschen erscheint, die
an einigen Stellen in ihrem Zusammenhang unterbrochen sind. Im Lumen dieses
Netzes beobachtet man kleine körnige Anhäufungen, welche bei starker Vergrösse-
rung als Ueberrest der gastrischen Drüsen erkannt werden, da sie zuweilen kreis¬
förmig oder etwas verlängert sind und in ihrem Zentrum einen kleinen leeren Raum
enthalten, so dass sie im ganzen an den Querschnitt der peptischen Drüsen er-
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244 Dr. A. Ascarelli,
Innern, während das Netz das Skelett, das Gerüst des ganzen Drüsenapparates des
Magenbodens vorstellt.
Unter der Schleimhaut sieht man eine kleine Schicht dicht aufeinander
liegender Längsfasern, welche durch Form und Lage an die „Muscularis mucosae“
erinnert und im Innern dieser einen breiten Raum, der an einigen Stellen von
einem breitmaschigen Netz besetzt ist, in dessen Maschen sich mehr oder weniger
dichte Anhäufungen befinden mit von der van Giesonschen Lösung gut gefärbten
Fasern, während andere ganz leer sind, an die untere Schleimhautschicht er¬
innernd.
An begrenzten Stellen bemerkt man auch das Gerüst eines Fettgewebes.
Die Muskelwand endlich besteht aus eng aneinander gedrängten und in jeder
Richtung zerschnittenen Fasern, welche bei starker Yergrösserung als aus vielen
Fragmenten punktierter Fasern bestehend erscheinen, welche dicht aneinander
liegen und in Längsserien angelegt sind (Taf. VIII, Fig. 1).
b) Gefrierpräparate.
Diese vervollständigen fast das vorige Bild. Die kleinen runden Schollen
mit engem Lumen im Zentrum, welche wir als Drüsenüberrest am Niveau der
Schleimhaut erklärt haben, sind hier noch deutlicher erkennbar und stark rot
gefärbt vom Sudan III, während die Maschen des Netzes, in welchem diese An¬
häufungen enthalten sind, nicht auf die eigentliche Fettfarbe reagiert haben.
Auch in der Unterschleimhaut sehen wir nicht nur das Gerüst kleiner Strecken
Fettgewebes, sondern wir beobachten wirkliche Fettschollen, welche charakte¬
ristisch im Aussehen und Farbe sind.
Die einzelnen Fasern der Muskelwand erscheinen als viele rote Pünktchen,
mit vielen anderen rosa gefärbten oder farblosen untermischt. Die Punkte, welche
in entfetteten Präparaten verschwunden waren, erschienen hier gefärbt (Taf. VIII,
Fig. 2).
Wenn wir uns die beiden Figuren übereinander liegend denken, so haben
wir das vollständige Bild der Histologie der Magenwand: in den Präparaten mit
Sudan das in Rot gefärbt, was in den Einbettungspräparaten nicht erscheint
oder was man ungefärbt sieht und umgekehrt.
Wir sind der Meinung, dass der Magen eine vorgeschrittene Fettwachs¬
umwandlung erlitten hat und dass wie gewöhnlich nur das elastische und Binde¬
hautgewebe der Verseifung widerstanden hat.
Darm.
Hei der Autopsie des zweiten Falles haben wir gesehen, dass die
Darmmasse noch gut erkenntlich war und wie eine leere Röhre mit
sehr dünnen Wänden auftrat, in welchen sogar die Schleimhaut eine
Andeutung ihrer normalen Falten bewahrte.
Auch bei der mikroskopischen Untersuchung sahen wir die histo¬
logische Darmstruktur in verhältnismässig besseren Verhältnissen als die
der anderen Organe.
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Histologische Studien und bakteriologische Versuche über Adipocire. 245
a) Einbettungspräparate.
Die besten sind auch hier, wie beim Magen, die mit Weigert oder
ran Gieson behandelten. In diesen erkennt man das Gerüst der intestinalen
Struktur sehr gut. In der Tat sehen wir die Schleimhaut mit ihren Darmzotten,
deren jede aus einem sehr feinen Fasernetz hervorgeht, von einer dickeren Faser
begrenzt, welche die Zotten umgibt, sich noch mehr verdickt und die basale Mem¬
bran der Schleimhaut bildet. An der Basis einer jeden Zotte finden wir ausserdem
kugelige Anhäufungen mit einem kleinen leeren Raum im Zentrum, welche bis
zur Grenze der unteren Schleimhaut gehen und ihrem Aussehen nach an die Dünn¬
darmdrüsen erinnern.
Unter der mit Zotten belegten Schleimhaut erkennen wir die „Muscularis
mucosae“, an einer Einhüllung von nicht sehr dicken Längsfasern und von welchen
einige Fasern sich ins Innere der Zotten selbst fortsetzen; dann die untere Schleim¬
haut, durch einen weiten, grösstenteils leeren Raum dargestellt, in welchem man
unregelmässige Anhäufungen sieht von mehr oder weniger untereinander zu¬
sammen gruppierten Fasern, deren einige sichtlich die van Giesonsche, andere
die Weigertsche Färbung angenommen haben, endlich die Muskelwand, welche
wie ein Geflecht dünner, aneinander liegender, buchtiger, gewundener, licht-
brechender, fast farbloser Fasern erscheint (Taf. IX, Fig. 1).
b) Gefrierpräparate.
Das Netz, welches das Zottengerüst bildete, ist in diesen Präparaten unkennt¬
lich und die Zotte selbst geht aus einer Anhäufung mehr oder weniger grosser
Körnungen hervor, welche an einigen Stellen oder Haufen intensiv rot gefärbt sind.
Unter diesen Körnungen heben sich scharlachrote Gewebszellen stark ab. An der
Basis einer jeden Zotte sehen wir wie auch bei den entfetteten Präparaten, aber
viel evidenter, den Rest der Drüsen.
Der Schleimhaut folgt eine kleine Schicht rötlicher, in Längsreihen nahe
aneinander liegender Pünktchen mit einem kleinen, lichtbrechenden Raum zwischen
dem einen und dem anderen Pünktchen: dann die untere Schleimhaut, deren
Fasern nur eine unbestimmte, rosige Färbung angenommen haben; endlich die
Muskelhaut, in welcher, wie bei der „Muscularis mucosae“ die Faser aus in Serien
liegenden Pünktchen gebildet scheint (Taf. IX, Fig. 2).
Auch im Darm und im Magen erkennt man die Blutgefässe, deren Lumen
deutlich von gut erhaltenen elastischen Fasern abgegrenzt ist.
Die verseifte Substanz hat die Stelle des epithelialen Gewebes und einen
Teil der muskulären Fasern eingenommen. Wir sehen in der Tat im entfetteten
Präparat das Gerüst der Zotte; in den Schnitten mit Sudan sind die Maschen des
Gerüstes mit einer Substanz angefüllt, welche auf das mikrochemische Reagenz
der Fette reagiert hat. Die zwei Bilder in den entfetteten Präparaten und die der
Gefrierungspräparate vervollständigen sich gegenseitig, so dass sie dem Beobachter
das histologische Bild der Darmwand geben.
Hoden.
Diese erscheinen bei der Untersuchung der Leiche gepresst,
an Konsistenz härter als im normalen Zustande. Sie waren bloss-
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gelegt, da der Hodensack grösstenteils fehlte, hatten aber ihre
eiförmige Gestalt beibehalten. Wie alle andern Organe sind sie krü¬
melig und fettig. An der Schnittoberfläche war ihre Struktur un¬
kenntlich und sie schienen aus vielen dünnen, mehr oder weniger
dicht aneinander anliegenden Blättchen gebildet. Von den Nebenhoden
war keine Spur mehr vorhanden.
a) Einbettungspräparate.
In denselben erkennt man absolut nichts. Bindehaut- und elastische Fasern
erscheinen geschlängelt und fragmentiert, und haben weder eine definitive Form,
noch einen regelmässigen Verlauf.
Man trifft auf keine Spur von epithelialen Elementen, auch nicht zu feinen
Körnungen reduzierten; sogar die Blutgefässe, welche in allen Geweben mehr oder
weniger enthalten, aber immer erkenntlich sind, behalten in diesen Organen nicht
ihre anatomische Form.
b) Gefrierschnitte, Färbung mit Sudan III.
Auch in diesen Präparaten gelingt es nicht, das histologische Bild der
Hoden zu unterscheiden, obgleich die Kanälchenstruktur des Organes an einigen
Stellen erscheint. Man sieht röhrenartige Bildungen mit einem körnigen, intensiv
roten Detritus angefüllt in einigen Zonen; in andern hat das Sudan III dem Ge¬
webe nur eine unbestimmte rosige Farbe gegeben, noch in andern erscheinen nur
zerstückelte, fast ganz farblose Fasern.
Fettkristalle treten in den Schnitten selten auf.
Aus dem Gesagten schliessen wir, dass in den Hoden, besonders an einigen
Teilen derselben, eine Verseifung stattgefunden hat und in der Tat sieht man dies
in dem Präparat der intensiv rot gefärbten Zonen; aber der Verseifungsprozess
hat in diesem Organ begonnen, als die Putrefaktion schon grösstenteils ihr zer¬
störendes Werk begonnen hatte, so dass der Prozess die anatomische Form des
Gewebes nicht fixieren konnte, wie in den vorhergehenden untersuchten Organen.
IV. Kapitel.
Bakteriologische Versuche 1 ).
Obgleich mehrere Verfasser behauptet haben, dass die z\dipocire
auch in Räumen Vorkommen kann, in welchen bakterielles Leben
nicht existiert [Voit (21, 22), Borri (1)], behaupten hingegen andere
[z. ß. Duclan (3)], dass die Verseifung eines Leichnams unmöglich
sei in einem bakterienfreien Raum.
1) Die bakteriologischen Versuche wurden im hygienischen Institut der
Universität zu Itom ausgeführt unter Leitung des Prof. De Blasi, Privatdozent
für Bakteriologie.
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Histologische Studien und bakteriologische Versuche über Adipocire. 247
Auf Grund dieser Meinungsverschiedenheiten haben wir die bak¬
teriologische Frage berücksichtigt, und auch um unsere Forschungen
über Fettwachs zu vervollständigen, suchten wir, wo es möglich war,
die Mikroben aus der verseiften Masse zu isolieren.
Kulturelle Versuche.
Die Versuche wurden an aseptischem Material ausgefübrt vom ersten vor¬
kommenden Fall, in welchem die Verseifung vollständig und evident erschien.
Die Proben wurden sowohl oberflächlich gemacht, d. h. indem die Platinöse unter
die Haut geschoben wurde, als auch tief entsprechend der III. Schicht des
linken Schenkels, in der Nähe der Hüfte, an der rechten Hinterbacke, die Platin¬
öse tief in die Muskelmasse stechend, und im Fussblatt, ungefähr l 1 /*, cm von der
Oberfläche.
Das in allen Regionen gesammelte Material wurde in Röhren mit sterilisierter
Bouillon gelöst. Mit diesem Material wurden aerobe und anaerobe Kulturen
angelegt und zwar: Agarplatten bei 37°, Gelatineplatten bei 22°.
In anaeiober Kultur entwickelten sich:
a) Kolonien von konzentrischer Struktur.
b) Gleichförmige, kleine, runde, körnige, schmutzigweisse, mit deutlichen
Umrissen versehene Kolonien.
c) Runde, dünne, durchsichtige, gelatineschmelzende Kolonien.
Aus diesen Kolonien machten wir:
1. Gelatinestiche und erhielten von a und b ein weisses Bändchen mit
Entwicklung an der Oberfläche, nicht verflüssigend; von c nach 24Stunden
einen Anfang von Flüssigwerden, erst oberflächlich, dann in Zylinder¬
form.
2. Von der Agarplatte: sie erschienen alle gleich, ziemlich dünn, schleierig,
mit Wasser von etwas trüber Kondensation und leichtem Niederschlag.
Deutliche Fluoreszenz.
Aerob entwickelten sich:
a) Transparente Kolonien mit stark gelapptem Rande, feinkörnig, kernlos.
b) Kleine, runde, körnige, schmutzigweisse. mit deutlichem Rande ver¬
sehene Kolonien.
Von den auf Platten entwickelten Kolonien machten wir Gelatinestiche und
erhielten ein weisses Bändchen mit Entwicklung an der Oberfläche und leichter
Fluoreszenz der Oberschicht.
Nach mikroskopischer Untersuchung der Präparate, sowohl der Aeroben, als
auch der Anaeroben, wurden Kulturen ausgeführt. Im hängenden Tropfenglas,
mit einfacher Färbung und mit der Gramschen Methode beobachtete man abge¬
rundete Stäbohen, welche sehr beweglich waren. Schon diese wenigen Charaktere
genügen zu beweisen, dass die isolierten Mikroben zu folgenden Bakterienarten
gehören: I. Fluorescens non liquefaciens, II. Fluorescens lique-
faciens.
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248
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Versuche an Geweben.
An allen Geweben und an den inneren Organen wurden zu bakteriolo¬
gischen Zwecken Färbungen ausgeführt:
a) mit der Methode Gram und Lithium-Karmin,
b) doppelte Färbung von Weigert.
Die Versuche wurden sowohl am I. als am II. Fettwachsfall gemacht.
In allen Präparaten fand man Bakterienformen, welche aber viel zahlreicher
in der Haut und in den Muskeln waren, als in äen inneren Organen.
Bei den Muskeln waren die Schnitte in der Nähe der Haut bakteriologisch
reicher als die tieferen.
Von den inneren Organen enthielten das Herz und die Nieren die meisten
Bakterien. Alle beobachteten Mikroorganismen können zwei Typen zugeschrieben
werden:
I. Zahlreiche Bazillenformen, welche der Gram sehen Methode wider¬
stehen, von 1,5—2 Mikromillimeter lang und 0,8 Mikromillimeter breit,
mit abgerundeten Enden, einige gut gefärbt, andere vakuolisiert. Neben
diesen Bazillenformen beobachtete man vereinzelte elliptische Sporen,
in ihrer Membran gut gefärbt, im zentralen Teil ganz oder fast farblos,
1,5—1,7 Mikromillimeter lang und ungefähr 0,8 Mikromillimeter breit.
Diese Mikroorganismen können nach dem mikroskopischen Aussehen der
Gruppe des Bacillus subtilis zugeschrieben werden.
II. Bakterische Formen, 0,8—1—2 Mikromillimeter lang und 0,6—0,8 Mi¬
kromillimeter breit, einige abgerundet, andere elliptisch, noch andere
verlängert, gleichmässig färbbar, ohne Widerstand gegen die Methode
G ram.
Diese Formen können dem mikroskopischen Aussehen nach zu den isolierten
Fluorescentes gehören.
Auch bei den Gefrierpräparaten, welche mit Sudan III gefärbt waren,
wie in denen mit Paraffin-Einbettung, die mit den verschiedenen Farben der
normalen Histologie gefärbt waren, wurden bakterische Formen gefunden,
meistens nicht gefärbt (keine hatte das Sudan angenommen), welche den Cha¬
rakteren nach nicht von den beschriebenen Formen abwichen.
Nach allen bakteriologischen Versuchen können wir schliesson:
I. Man hat keine definierte charakteristische Bakterienform ge¬
funden.
II. Die angetrolfenen Mikroorganismen gehören zur gewöhnlichen
bakterischen Flora des Wassers und der Fäulnis.
III. Die Verseifung ist bei Gegenwart der Bakterien zustande ge¬
kommen; wir haben alter keine Daten, um sagen zu können,
dass diese Mikroorganismen den Fettwachsprozess deter¬
miniert, dazu beigetragen haben oder ihm hindernd in den
Weg getreten seien.
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Histologische Studien and bakteriologische Versuche über Adipocire. 249
V. Kapitel.
Verlauf der gewöhnlichen Fäulnis in Leichen, welche sich in
Adipocire befinden nnd die Topographie derselben.
In allen Organen und Geweben hat man Zeichen der gewöhn¬
lichen Putrefaktion gefunden, aber während in einigen die Fäulnis ihr
zerstörendes Werk fortgesetzt hat, so dass es unmöglich ist, das
Organ oder Gewebe zu erkennen, von welchem das Präparat ist,
(z. B. Gehirn, Iloden), ist hingegen in andern die Fäulnis stehen ge¬
blieben; in einigen früher (Magen, Darm), in anderen später (Lungen,
Nieren, Leber). Der Fäulnis ist dann der verseifende Prozess gefolgt,
welcher bald stark vorgeschritten (Ilerz, Muskeln in der oberflächlichen
Schicht), bald nur kaum angedeutet auftritt (Luftröhre).
Dies verschiedene Verhalten der Organe steht in Beziehung weder
zu ihrer anatomischen Bildung noch zu ihrer Topographie. Wir
haben zwar gesehen, dass die Bindegewebe und die elastischen
immer in viel besseren Verhältnissen erschienen sind als die anderen;
aber die an Bindegeweben reicheren Organe waren nicht am besten
erhalten. In der Tat, mit Ausnahme der Gefässe, der Luftröhre, der
Sehnen, in welchen die Knorpel, das Bindegewebe und die elastischen
Fasern vorwiegend sind, sehen wir z. B. die Lunge (welche auch ein
sehr grosses elastisches Gerüst hat), viel weniger erhalten als die
Gedärme und den Magen, in welchen die Menge solcher Gewebe
karg ist.
Und wie gesagt, hat auch die Topographie keine Wichtigkeit für
den Prozess: Lunge und Herz, welche topographisch sehr nahe bei¬
einander liegen, haben ein sehr verschiedenes Verhalten gezeigt; da
das Herz sowohl makroskopisch als auch histologisch als eins der
am meisten verseiften Organe erscheint, ganz im Gegensatz zu der
Lunge.
VI. Kapitel.
Vergleichende Histologie der gewöhnlichen Fäulnis und der Adipocire.
Zuerst hat man, wie schon angedeutet, und wie auch die Ver¬
fasser beobachtet haben, (aber nur makroskopisch) eine der gewöhn¬
lichen Fäulnis ähnliche Phase. Wenn hier das, was uns über die
Fäulnis bekannt ist, angewendet wird, besonders die klassischen
Studien von Tamassia (15—16—17—18) Bossi (12), so sehen wir,
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250 Dr. A. Ascarelli,
dass alle von uns untersuchten Organe, ohne Ausnahme, die Fäulnis¬
phase erlitten haben.
In der Haut verschwindet die Epidermis zuerst, und wir haben
die ganze Hautfläche ohne Epidermis gefunden und nur von mehr
oder weniger alteriertem Derma gebildet; in allen Geweben fragmentiert
sich der Kern und verschwindet und nie haben wir Spuren von Kernen
gefunden; die elastischen Fasern werden gewunden, dünn, reissen
endlich und werden körnig; das zelluläre Protoplasma erleidet
erst eine Vakuolisation, dann körnt es, was auch wir beobachtet
haben.
Und gerade bei diesem Stadium der mehr oder weniger vorge¬
schrittenen Körnung in den oft kaum angedeuteten Geweben (z. ß.
in den Muskeln und noch mehr in den elastischen und Bindehaut¬
fasern) geschieht, es, dass die Fäulnis gehemmt wird. Wenn die
Fäulnis tatsächlich erfolgte, so würde die Auflösung und danach das
Verschwinden der Gewebe die Folge sein. In unseren Fällen ist es
nicht so gewesen, wie wir beweisen können. Wir nehmen z. B. die
muskuläre Faser. Tamassia (17) fand bei der Muskelfäulnis im
Wasser, dass die Streifen sich erst nähern, dann sich untereinander
anhäufen; unter ihnen sieht man gelbe Körner, scheibenförmig und
durchsichtig, welche sich nicht mit den fettlösenden Mitteln verändern;
während endlich diese Körner sich immer vermehren, verschwinden
die Streifen, und am 40. Tage sind die einzigen, morphologisch
deutlichen Elemente die elastischen Fasern und die Körnungen, welche
die Ueberreste der kontraktilen Substanz repräsentieren, sind äusserst
karg; endlich, am 77. Tage, ist alles zu einer amorphen Masse
reduziert, in welcher nicht einmal mehr Fragmente der elastischen
Fasern erkenntlich sind. Und auch wir fanden, nach einigen Notizen
über ein histologisches Studium der Fäulnis, welches in unserem
Institut gemacht wurde, dass 25 Tage nach dem Tode, bei an der
Luft oder bei Temperatur von 14—20° verwesten Muskeln (Musculus
([uadriceps cruris eines Meerschweinchens) auch nicht die geringste
Spur der Streifung bleibt; das Muskelgewebe ist zu einer unförmigen
Detritusanhäufung reduziert. In den von uns untersuchten Muskeln
erkannte man stets, dass man es mit Muskeln zu tun hatte. Die
Körnung der Fasern erreicht denselben Grad im ersten von uns be¬
schriebenen Fettwachsfall, in welchem die Leiche wenigstens ein Jahr
im Wasser lag, wie auch im zweiten, ungefähr sechs Monate nach
dem Tode. In den tiefen Muskelschichten, in welchen die Fäulnis
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Histologische Studien und bakteriologische Versuche über Adipooire. 251
sichtlich schnell gehemmt war, haben wir eine erstaunlich gute
Erhaltung des Bindegewebes.
Ein anderes, vielleicht noch mehr beweisendes Beispiel, haben
wir im Magen und im Darm. Die Schleimhaut wird bei der gewöhn¬
lichen Fäulnis sehr schnell zerstört, die Zotten verschwinden und
Magen und Darm haben in der Chronologie des Fäulnisprozesses eine
der ersten Stellen. Wir hingegen haben in einer Leiche sechs Monate
nach dem Tode, diese so leicht faulenden Organe besser erhalten ge¬
funden, als die, welche weniger empfindlich für Fäulnis sind, wir
haben die Darmschleimhaut mit Zotten belegt erkannt und sind sogar
Spuren von Magendrüsen begegnet. Auch in diesen Organen hat die
Fäulnisphase nicht gefehlt, auf eine Verkörnung besonders des
epithelialen Gewebes beschränkt, welches aber nicht seine ursprüngliche
Form verloren hatte. Und wer könnte wohl an einen gewöhnlichen
Fäulnisprozess denken, wenn in einer Niere, von welcher jede makro¬
skopische Struktur verschwunden war, sichere Ueberreste der
Malpighischen Körperchen gefunden wurden?
VII. Kapitel.
Spezielle Noten über die Histologie des Fettwachses, im Vergleich
zur Histologie der Fäulnis.
a) Verkörnungen.
Indem ich die Vergleiche zwischen gewöhnlicher Fäulnis und
Fettwachs fortsetze, sei mir gestattet, eine sehr wichtige differentiale
Tatsache hervorzuheben zwischen Verseifung und Fäulnis.
Bei den sich in Fäulnis befindenden Geweben werden die Gewebe
opak, die Kerne verschwinden, indem sie eine Leere hinterlassen, die
Zellen nehmen ein körniges Aussehen an und zerbröckeln in opak¬
gelbe Fragmente, welche, wenn noch mehr zerkleinert, jenen amorphen
Detritus geben, zu welchem sich alle anderen Gewebe in einer
Zeitperiode von höchstens drei Monaten reduzieren. Man spricht
also bei der Fäulnis von einem körnigen Detritus. Auch wir hoben
in der Beschreibung unserer Präparate oft hervor, dass die Drüsen-
und Epithelialgewebe mit Vorzug, aber auch die anderen ein wenig,
zu einem körnigen Detritus reduziert waren.
Aber die Körner der Fäulnis sind sehr verschieden von denen
der Adipocire, sowohl chemisch als auch morphologisch. Jene bieten
VierteJjahruehrift f. ger. Med. u. ftff. San.-Wesen. 3. Folge. XXXII. 3* j 7
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Dr. A. Ascarelli,
nicht das Charakteristische der Fetttropfen. Es handelt sich, wie
Tamassia (15) sagt, um einen Zerstörungsprozess, in welchem man
keine wichtigen chemischen Veränderungen in den Geweben, welche
im Verschwinden begriffen sind, erkennen kann. Dieser Detritus
bietet den chemischen Reagentien Widerstand, löst sich nicht in
Alkohol, Acther, Benzin, Xylol, auch nicht bei Wärme, reagiert nicht
auf Sudan III; von besonderer Wichtigkeit ist, dass es sich aus amorphen
Anhäufungen von Bakterien, Vibrionen, Ammonium, Magnesiaphosphat¬
kristallen, Kochsalz, Leucin usw. gebildet zeigt.
Fast das Gegenteil dieser Charakteristik haben hingegen jene von
uns in den Präparaten beschriebenen Körnungen, diese sind tatsäch¬
lich aus Fett gebildet, d. h. sie lösen sich in den Fettlösungs¬
mitteln, färben sich mit Sudan rot, oder schwarz mit Flemmings
Flüssigkeit.
Morphologisch bewahren sie oft die Form eines gewissen morpho¬
logischen Elementes, so in den Muskeln das der Streifung, in der
Niere das der gewundenen Kanälchen, im Magen und Darm das der
Drüsen. Man findet keine Krystalle (Kochsalz, Ammonium, Magnesia¬
phosphat, Leuzin usw.) mit ihnen gemischt, welche die einhiiilcnden
Formen der organischen Substanz andeuten, aber Fettsäurekristalle,
welche das Wesen des Fettes der Körnungen bestätigen.
b) Pigmentierungen.
Bei Beschreibung der Muskel- und Herzpräparate müssen wir
die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Gegenwart eines gelben
Pigments lenken, welches man in der gestreiften Muskelfaser findet.
Wie ist die Gegenwart dieses Pigmentes zu erklären?
Falk (4), welcher 1866 als erster von der Muskelfäulnis sprach,
sagte, dass die Streifen sich nähern, sich zerstückeln und sich zuletzt
in gelbe Körnungen verwandeln, welche nach und nach verschwinden;
Tamassia (17) beobachtete dann, 1875, immer in den Muskeln
gelbe Körnungen, die er als Fragmente der Bowmann’schen Disken
erklärte, welche sich in der Fäulnis durch ein alkalisches Prinzip,
Lösungsmittel der vermittelnden albuminoidcn Substanz, trennen und
dann ein körniges Aussehen annehmen.
Krattcr (1. c.) sprach in seinen experimentellen Studien über
Fettwachs von keinem Pigment. Das von uns gefundene gelbe
Pigment ist verschieden in seinem Charakter von dem von Falk und
Tamassia. Obwohl das von uns studierte Pigment auch nicht aus
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Histologische Studien und bakteriologische Versuche über Adipocire. 253
Fettkörnungen gebildet ist, so unterscheidet es sich durch andere
Charaktere von dem von Tamassia beschriebenen.
Letzteres ist um so reichlicher, als die Struktur der Faser weniger
sichtbar erscheint, die Störungen nehmen zu und die Streifen ver¬
schwinden, sagt Tamassia, und wenn jede Spur der Faser ver¬
schwunden ist, werden auch die Körnungen seltener und verlieren sich.
Das von uns studierte gelbe Pigment existiert nicht (oder ist kaum
angedeutet), wenn das Bindegewebe gut erhalten ist; es existiert nicht,
oder ist kaum angedeutet in den Abschnitten der Muskeln, welche nahe
der Haut liegen, da wo die Streifen aus vielen Pünktchen gebildet
scheinen, welche grösstenteils verseift und regelmässig angeordnet
sind; reichlicher ist es hingegen im Bindegewebe, in welchem die Streifung
weder gut erhalten noch die Adipocire vollständig ist. Es erscheint
im mittleren Stadium der Verseifung, und wie wir an Präparaten be¬
wiesen, hat man die Uebergangsstufen von dem Erscheinen des Pig¬
mentes bis zum Höhepunkt seiner Menge wie bis zum Verschwinden.
Dieses Pigment scheint also eine Substanz zu sein, welche in
direkter Beziehung zu der Verseifung der muskulären Faser steht,
und zwar sowohl im Muskel als auch im Herzen.
Es liegt ausserdem an den Rändern der Faser oder an den im
normalen Zustand von Kernen eingenommenen Stellen. Dieser Lage
wird in der Beschreibung von Tamassia nicht einmal Erwähnung
getan.
Und doch kann es nicht auf eine sehr verschiedene Art betrachtet
werden, wie wir noch sehen werden.
In der Pathologie sind zwei grosse Pigmentgruppen bekannt, die
wahren, welche aus der Bildung und Lage der färbenden Substanzen
in den Geweben sich im Organismus selbst gebildet haben, und die
exogenen und falschen. Das von uns studierte Pigment gehört unbe¬
dingt zur Gruppe der wahren und endogenen Pigmente. Es ist den
pathologischen Pigmentierungen des Herzens ähnlich, welche unter dem
Namen: braune oder gelbe pigmentäre Atrophie auftreten. In dem
von uns beschriebenen Pigment waren die Eisenreaktionen negativ,
es trat in Körnern und nicht in Kristallen auf, und wenn es eine
hämatische Abkunft hätte, könnte es nur Hämosiderin sein, welches
das Eisen verloren hat, oder Hämofuchsin von Recklinghausen.
Sowohl das eine als das andere hätte sich bei Lebzeiten bilden
müssen, denn wir wissen nach den jetzigen Bedingungen der allge¬
meinen Pathologie, dass das Hämosiderin biologische Tätigkeit der
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Gewebe zur Bildung braucht, obgleich man diese Intervention nicht zu
erklären vermag. Das Hämofuchsin, welches vorwiegend in den glatten
Muskelfasern gefunden wurde, aber auch im Herzen, besonders im
vorgerückten Alter, findet man unter pathologischen Verhältnissen,
in welchen man einer Vermehrung der hämolytischen Prozesse be¬
gegnet; und auch dieses stammt direkt vom Hämoglobin ab, durch
eine spezifische Tätigkeit der Elemente bewirkt. Nun ist es aber
sehr zweifelhaft, dass unser Pigment aus den Lebzeiten stamme, denn
dann müsste man zugeben, dass in beiden Leichen, in welchen es
gefunden wurde, jene krankhaften Zustände aufgetreten seien, welche
eine starke Zerstörung der roten Blutkörperchen hervorbringen konnten,
oder auch, dass in ihnen sowohl das Herz als auch alle gestreiften
muskulären Gewebe einen atrophischen Prozess erlitten haben, was
äusserst selten, um nicht zu sagen nie, bei jungen Individuen vor-
koramt (wir erinnern daran, dass die von uns studierten Leichen
die eine einem unter 20 Jahre alten Knaben angehörte, und die andere
einem Manne unter 45 Jahren).
Und auch die Lage dieses Pigments schliesst die Abkunft von
einem pathologischen Prozesse aus. — Wie kann überhaupt eine
krankhafte Ursache möglich sein, die sich mit Vorliebe in jenen Muskel¬
schnitten lokalisiert, die weder unter der Haut, noch nahe beim
Knochen sind?
In der allgemeinen Pathologie ist auch eine andere Gruppe von
Pigmentierungen unter dem von Klebs eingeführten Namen bekannt,
und zwar die albuminogene. — Es ist ein braunes oder schwärzliches
Pigment, das sich unter normalen Verhältnissen findet, und nach
einigen, teilweise von der färbenden Substanz des Blutes stammen
soll, durch eine Elaboration, welche diese im Schosse der zellulären
Elemente erleiden soll.
Aber die Genesis solcher Pigmente ist für die meisten Verfasser
ungewiss.
Jedenfalls können wir das von uns studierte Pigment nicht zu
dieser Gruppe rechnen, und zwar wegen seiner Lage, welche keine
pathologische und vitale Abkunft zulässt, und weil es nicht braun ist,
und seines Aussehens wegen, welches keiner der albuminogenen Pig¬
mentierungen entspricht: so z. B. der von Virchow beschriebene
Ochronosis der Knorpel, der Sehnen usw.
Unsere Schlussfolgerungen über dieses Pigment sind, dass cs in
Beziehung steht zu der Umwandlung des gestreiften Gewebes in Adipo-
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Histologische Studien und bakteriologische Versuche über Adipocire. 255
cire, und dass es nicht von hämatischer Abkunft sein kann. Es muss
sich „in situ“ gebildet haben in der muskulären Faser selbst, und
„post mortem“. Aehnlich dem von Tamassia und Falk, welches die
Zerstörung der Sarkoeleraente vorstellt, was die Zersetzung der mus¬
kulären Faser beweist, in welcher die Fäulnis gehemmt wurde. In
der Tat ist den Fasern, in welchen die Zersetzung nicht stattgefunden
hat, kein Pigment, weil es sich da nicht gebildet hat; in denen, in
welchen Fäulniszersetzung gewesen ist, wo die Adipocire angefangen
hat, ist das Pigment reichlich; in denen, welche eine Zerstörung der
kontraktilen Substanz erlitten haben, aber die Adipocire sehr vorge¬
schritten ist, existiert kein Pigment, weil es schon zerstört ist.
VIII. Kapitel.
Genesis der Adipocire.
Am Ende unserer Arbeit angelangt, können wir nicht umhin,
unsere Anschauung über das grosse Problem der Genesis der Adipo¬
cire darzulegen.
Stammt sie von einer Umwandlung der Albuminoiden, oder von
einer Infiltration des präformierten Fettes?
Dass die Albuminoiden sich in Fett umwandeln können, ist, ob¬
gleich experimentell nicht zur Genüge bewiesen, möglich. Aus den
Albuminoiden bilden sich Kohlenhydrate, und aus diesen Fett. Diese
Tatsachen beweisen, dass die Elemente der tierischen Gewebe nicht
weniger Fähigkeit für ziemlich komplizierte synthetische Prozesse, als
die vegetabilischen, besitzen.
Das kann also bei der Adipocire Vorkommen, welche sich in
Gegenwart der biologischen Tätigkeit der Mikroorganismen entwickelt.
Unsere Studien gehen aus den, ich möchte fast sagen, suggestiven Tat¬
sachen hervor, welche diese albuminoide Genesis betreffen. Man
hatte Adipocire in zwei Leichen von mageren Individuen; und dies
wurde auch in den inneren Organen bewiesen, welche wenig oder gar
kein Fett enthielten (Lungen und Leber); mikroskopisch konnte man
bestätigen, dass die epithelialen und drüsenartigen Körnungen teil¬
weise Fett waren und teilweise nicht; und noch mehr, dass in der
muskulären Faser die Streifung aus Fetttröpfchen und Fragmenten
der Streifung bestand, so orientiert, dass sie uns das Bild der ganzen
Streifung der Faser geben. Alle Uebergangsstufen zwischen einem
Fetttröpfchen, welches den Raum eines morphologischen Elementes
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eines gewissen Gewebes einnimmt, und alle mikrochemischen Eigen¬
schaften des Fettes zeigte, und Körnungen, in welchen diese Reak¬
tionen nicht vollständig waren, und andere mit gar keinen, sind be¬
wiesen worden. Ausserdem hat man gesehen, dass in der Niere z. B.,
welche von einem Fettlager umgeben ist, der nahe dem Fettlager
liegende Rindenteil weniger verseift ist, als der Markteil; und da sich
die mikroskopische anatomische Form des Organes und des Gewebes,
auch in den stark verseiften Teilen konstant erhalten hat, so glauben
wir, dass die Adipocire grösstenteils von einer Umwandlung der
Albuminoiden herrühre.
Wir können aber nicht verbergen, dass trotz dieser Anhäufung
von Tatsachen, welche für eine albuminoide Genesis sprechen, nicht
noch andere da seien, die uns in Erstaunen setzen, und zu Gunsten
der anderen Thesis sprechen. Gewöhnlich waren die am meisten
verseiften Organe die, welche Fett enthielten, oder sie waren topo¬
graphisch in fettreichen Gegenden; wie z. B. das Herz; und besonders
an der Peripherie, in den Muskeln, in der Nähe des subkutanen Ge¬
webes, im Magen und Darm. Wenn wir nun zugeben, dass durch
einen chemischen, nicht definierten Prozess, das Fett in den gewöhn¬
lichen Lagerorten des Organismus sich löst, und nach und nach, wenn
die histologischen Elemente sich durch die Fäulnis entfernen und ver¬
lieren, dieses Fett ihre Stelle einnimmt, würden vielleicht dann nicht
dieselben mikroskopischen Figuren auftreten, welche wir in unsern
Präparaten beobachtet haben?
In der Tat steht damit nicht das stärkere Verseiftsein des Mark¬
teils als des Rindenteils der Niere im Einklang; das makroskopische
Aussehn des Fettes, das, wie bei der Autopsie magerer Leichen
beobachtet, dichter und fester als das normale ist; aber solche Argu¬
mente genügen nicht, um die Hypothese zu stürzen.
Nachdem wir alles erwogen und besprochen haben, das Für und
Wider des grossen Problems, sind wir der Meinung, dass es nicht mit
den mikroskopischen Studien der mehr oder minder verseiften Ge¬
webe gelöst werden kann, weil es unmöglich ist, anatomisch zu
unterscheiden, ob das Fett den durch flüssige Fäulnis leer gelassenen
Raum im Gewebe einnimmt, oder ob das Gewebe selbst eine Fett¬
umwandlung erlitten hat.
Aber obgleich wir keinen sicheren unzweifelhaften Beweis haben,
sind wir geneigt zu glauben, dass die Adipocire grösstenteils eine
Umwandlung der Albuminoiden darstellt, vielleicht durch das Werk
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bis jetzt unbekannter Fermente, und damit ist die Verseifung der
präcxistierenden Fette nicht ausgeschlossen.
Schlussfolgerungen.
I. Ueber Histologie.
Aus der histologischen Beschreibung verschiedener Organe, welche
wir aus den Figuren der Präparate erhielten, können wir sehliessen,
dass die Veränderungen, welche in den verschiedenen verseiften Ge¬
weben auftreten, untereinander gleich sind. In den von uns in Adi¬
pocire beurteilten Organen war stets die anatomische Struktur zu er¬
kennen. Dieses rührte hauptsächlich von der Erhaltung des Binde¬
gewebes und des elastischen Gewebes her. Wir halten es für
angezeigt, die Beobachtungen in Kürze zusammenzufassen.
Die Haut wurde stets ohne Epidermis gefunden, und das Derma
erkennbar durch das Geflecht der Bindegewebsfasern, die meistens
parallel mit der Oberfläche verliefen; diese Fasern umschreiben Räume,
in welchen sich eine verseifte Substanz angcsammelt hat, die gut den
Fettreagentien widerstanden hatte, und die von uns als Drüsenüber¬
rest erklärt wurde, teils als Fettläppchen, welche die Areolen der
tiefen Fläche des Derma anfüllen. Die in der Adipocire charakte¬
ristischen Hautkugeln sind aus einer äusseren vom Derma gebildeten
Haut entstanden, welche vom unterliegenden Fett nach oben gedrängt
wurde, sich erweiterte und gezwungen wurde, sich zu vielen anein¬
anderliegenden Kugeln zu erheben.
Das subkutane Gewebe hatte keine tiefen Alterationen erlitten.
Die Muskeln waren mehr oder weniger verändert, je nach dem
man von der Oberfläche gegen die Tiefe ging, immer war in ihnen
nicht nur die zusammenziehbare Substanz, sondern auch die Muskel¬
streifung erkennbar. In den mehr oberflächlichen Schnitten war die
Faser zu einer cylinderartigen Bildung reduziert, die gut abgegrenzt
vom Perimysium war, welches wenig Unterbrechungen zeigte; die
Streifen waren zu vielen dicht aneinanderliegenden Pünktchen reduziert
und in Längs- und Querserien gelegen. Der Raum zwischen einem
Pünktchen und dem andern war nicht leer, sondern wie mit den
Sudan IH Präparaten bewiesen, mit einer verseiften Substanz ange¬
füllt, so dass die Streifung von vielen nahe aneinanderliegenden teils
verseiften, teils nicht verseiften Körnern gebildet erschien. Gegen
die Achse fortschreitend wurde beobachtet, dass die Muskelstreifung
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Dr. A. Ascarelli,
immer evidenter erschien, und während die verseiften Körner sich
verminderten, vermehrten sich die noch nicht in Verseifung be¬
griffenen, bis man beim Kontakt mit dem Knochen fortgesetzte, leicht
gewellte, sehr schöne Streifen hatte, in welchen man sogar die
sekundäre Streifung von Hensen oder Amici bestimmen kann. Es
ist ausserdem von Wichtigkeit an die Gegenwart einer pigmentierten
gelben Substanz zu erinnern, welche in den Muskeln und in der Nähe
der Haut karg ist, reichlicher in den Schnitten der unterliegenden
Muskeln, um in den tiefen Schnitten neben dem Knochen wieder sehr
karg zu werden und zu verschwinden, und welches wir als in „situ“
und „post mortem“ gebildet erklärten.
Die Sehnen waren ohne Endothelium und ohne Sternzellen,
aber im fibrösen und elastischen Teil des Gewebes normal.
Das Gehirn zeigte keine Reaktion gegen Sudan, man konnte
die histologische Struktur nicht erkennen; das Gehirn war sichtlich
nicht verseift, sondern in Fäulnis, und in der That entsprach das
makroskopische und das mikroskopische Aussehen der Beschreibung,
welche die Autoren von dem flüssigen Fäulnisstadium des Gehirns
machen (19).
Die Nerven waren noch erkennbar, die nervösen Fasern er¬
schienen cylindrisch, die Marksubstanz und die Nervenachse waren zu
einem körnigen, teils verseiften Detritus reduziert. Die Kerne der
Schwann’schen Hülle fehlten vollständig.
Das Herz. Die Lage des Herzmuskelnetzes war erkennbar;
auch hier waren die oberflächlichen Schnitte weniger gut erhalten als
die tieferen. Die oberflächlichen hatten fast ein Fettgewebeaussehen,
die Form eines Netzes mit, sowohl in Form als in Grösse, unregel¬
mässigen Maschen, in welchen sich zahlreiche Körnungen gruppierten.
Die intermedialen und die tiefen Abschnitten enthielten die Streifung,
aber während die Streifen ersterer meistens aus grösstenteils ver¬
seiften Körnern und in Längs- und Querserien gebildet erscheinen,
waren die papillären Muskeln fast ununterbrochen. Auch im Herzen,
wie in den Muskeln wurde die Gegenwart des gelben Pigmentes be¬
obachtet, reichlicher in den intermedialen als in den oberflächlichen
und tieferen Schichten.
Die Gefässe waren immer gut erhalten, sowohl die grossen
arteriellen Gefässe, in welchen die elastische, gewellte und an einigen
Stellen zerstückelte Tunika deutlich sichtbar war, wie auch die
parenchymatösen, und die Lage derselben in einigen Organen, wie
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Histologische Studien und bakteriologische Versuche über Adipocire. 259
z. B. in der Leber, halfen ausserordentlich bei der mikroskopisch¬
anatomischen Diagnose des Präparates.
In der Luftröhre wurde die Zerstörung der Epithelial- und
der Drüsenschicht beobachtet und im Gegensatz dazu das normale
Verhalten der Knorpelschicht. Die in der Luftröhre erhaltenen Teile
hatten keine Anzeichen der Verseifung.
Die Lungen hatten das elastische Gewebe beibehalten; im
Inneren der Alveolen sah man das verseifte Epithelium zu einer An¬
häufung von adipösen Körnungen reduziert.
Die Leber war auch erkennbar an der Gegenwart der triangu¬
lären Räume, welche wie ein Geflecht von Bindehautfasern auftraten,
in deren Zentrum man die Oeffnung der hepatischen Arterienver¬
zweigungen, der Pfortader und des Gallenkanals erkannte. Der Rest
des hepatischen Parenchyms war zu einem Netz mit vielen adipösen
Körnungen reduziert, welche den Rest des verseiften Epithels dar¬
stellten. Die Maschen dieses Netzes waren stark verlängert und
wie viele strahlenförmige Schnüre um ein kleines Gefäss gelagert,
welches an der Mündung der Zentralader erkennbar war.
Die Nieren waren besser erhalten im Markteile als im Rinden¬
teil. Der Rindenteil bestand aus teils adipösen, teils nicht adipösen
Körnungen, so gelegen, dass das Bild der gewundenen Kanälchen
hervortrat. Zwischen diesen zerstreut erkannte man die Malpighischen
Körperchen, als sphärische Körperchen, von einer grossen Anzahl mehr
oder weniger verseifter Körnerr gebildet und von einer Bindehaut¬
kapsel begrenzt.
In der Marksubstanz ist die Nierenzeichnung evidenter. Die
einzelnen Röhren haben eine nicht vollständig verkömte Wand, und
in ihrem Zentrum ist das Epithelium gruppiert, welches von der
basalen Membran abgelöst ist.
Im Magen und Darm, Organe, welche nach dem Herzen und
den Muskeln die am meisten charakteristische Adipocire haben, erkennt
man alle Schichten, von der Schleimhaut bis zur Muskelhaut. In
Korrespondenz der Magenschleimhaut sieht man die peptischen Drüsen
verseift, in der Magenschleimhaut die Zotten und auch die Dünndarm¬
drüsen. Es ist wirklich interessant, die anatomische Struktur der
Magen- und Darmwand so lange nach dem Tode so deutlich zu er¬
kennen in Organen, welche so leicht der Fäulnis anheimfallen, wie
kein anderes.
Die Hoden konnte man nicht in ihrer Struktur erkennen, sie
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erschienen als rote Massen, zuweilen röhrenförmig, aber im Komplex
hatte das Organ seine Struktur nicht beibehalten und bot keine
charakteristischen Zeichen der Verseifung.
II. lieber die Bakteriologie.
Die bakteriologischen Versuche, sowohl die kulturellen direkt am
Leichnam ausgeführten, als auch an Geweben, waren nicht positiv
hinsichtlich einer definierten bakteriologischen, charakteristischen Form
der Adipocire.
Wir können nur sagen, dass die Verseifung in Gegenwart
einer zahlreicher. Baktericnllora sich entwickelt hat, nicht unähnlich
derjenigen, welche man im Wasser und in der gewöhnlichen Fäulnis
findet. Die isolierten Mikroorganismen waren die fluorescentes,
(liquefaciens und non liquefaciens) oder zur Gruppe des baeillus
subtilis gehörenden Mikroben.
Es gelang uns nicht, Daten zu erhalten, um zu bestimmen, ob
die Gegenwart solcher Mikroben mehr oder weniger zum Fettwaehs-
prozess beiträgt.
III. Ueber den Verlauf der Verseifung.
Unserer Meinung nach ist die Entwicklung der Adipocire die folgende:
a) Gewöhnliche Fäulnis, welche einen mehr oder weniger vor¬
geschrittenen Grad, nicht nur im selben Leichnam, sondern
auch im selben Organ erreichen kann;
b) bei der allmählichen Entwicklung des Verseifungsprozesscs ist
der Fäulnisprozess bis zur vollständigen Hemmung vermindert.
IV. Ueber das Charakteristische der Adipocire.
Die Leichenverseifung wird charakterisiert:
a) Durch das Erscheinen einer neuen Substanz, welche die Felt-
reaktionen besitzt und welche in den Geweben den Raum
der von der Fäulnis zerstörten Substanz einnimmt;
b) Die Gewebeteile, welche beim Fäulnisprozess ein Netz haben,
nehmen einige früher, andere später die Reaktionen dieser
neuen Substanz an, und in der Tat haben wir alle Ueber-
gangsstufen des in Verseifung begriffenen Gewebes.
c) Der Prozess verbreitet sich von der Oberiläehe in die Tiefe.
d) Das am leichtesten verseifbare Gewebe ist das Epithelium,
das am schwersten zu verseifende Ist das Bindegewebe, die
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Histologische Stadien und b&kteriologisohe Versuche über Adipocire. 261
Knorpelhaut und das elastische Gewebe. Alle Gewebe lassen
sich sehr schwer färben.
V. Ueber die Genesis.
Höchst wahrscheinlich hat die verseifte Substanz ihren Ursprung,
ausser in den präexistierenden Fetten, auch in den Albuminoiden.
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vere. Lo sperimentale. No. 1. 1902.
2. Cavazza, Contributo alla dottrina della degenerazione grassa. Polidinico
sez. med. 1903.
3. Duclaux, Annales de l’institut Pasteur 1898. (Cit. da Cavazza.)
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8. Kratter, Ueber die Zeitfolge der Fettwachsbildung. Friedreichs Blatt. 1890.
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l’eau etc. Deutsch von Dr. E. Güntz. Leipzig 1832.
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16. Tamassia, Sulla putrefazione del fegato. Rev. sperim. freniatria. 1880.
17. Tamassia, Sulla putrefaz. dei muscoli e tendini. Rev. sperim. freniatria.
1875.
18. Tamassia, Sulla putrefaz. del polmone. Rev. sperim. freinatria. 1876.
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scienze affini del R. Manicomio di Torino. 1896.
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21. Voit, Zeitschr. f. Biol. 1869. (Cit. da Voltz.)
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262 Dr. A. Asoarellli,
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23. Voltz, Kritik der Theorien über Fettwachs in Leichen. Friedreichs Bl. 1886.
24. Zillner, Zur Kenntnis des Leichenwachses. Vierteljahrsschr. f. ger. Med.
1885.
Erklärung der Abbildungen auf Tafel I—IX.
Tafel I.
o
Figur 1. Reste eines in Adipocire verwandelten Leichnams (1. Fall).
Figur 2. Leichnam in Adipocire (2. Fall).
Figur 3. Leichnam mit unvollständiger Fettwachsumwandlung der äusseren Hüllen
(3. Fall).
Figur 4. Fuss der Leiche Figur 1.
Figur 5. Herz der Leiche Figur 2.
Figur 6. Haut des Abdomen der Leiche Figur 3, die charakteristischen Haut¬
kugeln der Adipocire deutlich aufweisend.
Tafel II.
Figur 1 a. Quetschpräparat (nach Zufügung von Glyzerin) von der äusseren Wand
einer Hautkugel. Mikrosk. Koristka, Obj. 2, Okul. 3, Vergrösserung
Diam. 67 (halbschematische Figur), a—b = Gewebsfasern verschie¬
dener Grösse, c—d = Fettsäurekristalle, e—f = Körperchen mit Kör¬
nungen und Fettsäurekristallen, g = biphosphorsaure Kalkkristalle.
Figur 2. Einbettungspräparat in Paraffin und Färbung mit van Giesonscher
und Weigerts Lösung. Mikrosk. Koristka, Obj. 2, Okul. 3, Vergrösse¬
rung Diam. 67, Fig. zu 1 / 4 reduziert. Zwei an der Hautfläche senktecht
geschnittene Hautkugeln. Man sieht die Bindegewebsbündel des Derma,
welche Gewölbe gebildet haben, in denen sich das adipöse Gewebe
verdichtet.
Tafel III.
Figur 1. Hautpräparat. Mikrotom-Gefrierschnitt. Färbung mit Sudan 111. Mikrosk.
Koristka, Obj. 2, Okul. 3, Vergrösserung Diam. 67. Man sieht das aus
Bindegewebsbündeln gebildete Derma nach allen Richtungen geschnitten.
Die tiefe Dermaschicht ist adhärent an dem oberflächlichen Bündel des
subkutanen Gewebes. Unter dem Bindegewebe viele adipöse Schollen,
welche anfangen, die Bindegewebsfasern nach oben zu drängen.
Figur 2. Gefrierpräparate. Färbung mit Sudan 111. Mikrosk. Koristka, Obj. 5,
Okul. 3, Vergrösserung 175. Subkutanes Gewebe. Das adipöse Gewebe
hat normales Aussehen. Viele Räume sind ihres Fettgehaltes entleert.
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Histologische Studien und bakteriologische Versuche über Adipocire. 263
Tafel IV.
Mikrosk. Koristka, Obj. imm. J / 35 , Okul. comp. 6, Vergrösserung Diam. 900.
— Präparate mit Paraffin-Einschliessung und Färbung mit Lösung
van Gieson, Muskel vom Oberschenkel des II. Falles.
Figur 1, 2, 3, 4, 5. Man beobachtet, dass die Muskelfaser immer deutlicher wird,
von dem Schnitt, welcher der Haut am nächsten ist (Fig. 1), bis zu
dem, welcher dem Hüftknochen am nächsten ist (Fig. 5). Man beobachte
auch die Verteilung des Pigmentes, reioblicber in den Schnitten mitt¬
lerer Tiefe (Fig. 2, 3), als in den oberflächlichen (Fig. 1) und in den
tiefen (Fig. 4, 5). Viele Bakterien verschiedener Arten.
Figur 6. Muskelschnittpräparat bei Gefrierung und Färbung mit Sudan III. Man
sieht hier auch dasselbe Pigment, wie in den Schnitten von Paraffin-
Einschliessung.
Figur 7. Herzschnitt entsprechend dem linken Ventrikel, Paraffineinschlies¬
sung, und Färbung mit Lösung van Gieson. Mikrosk. Koristka,
Obj. Immersion l j 1B , Okul. komp. 6, Vergrösserung Diam. 900. Das
Muskelnetz des Herzens ist erkennbar; man beobachte das reichliche
Pigment.
Tafel V.
Figur 1. Nervensobnitt. Mikrosk. Koristka, Obj. 5, Okul. 3, Vergrösserung Diam.
175. Man sieht die Schnitte durch die Schwannschen Hüllen, einige
leer, andere halbleer, noch andere mit einem körnigen Detritus ange¬
füllt, welches den Ueberrest der Nervenachse darstellt.
Figur 2. Luftröhre. Gefriersohnitt. Färbung mit Sudan III. Mikrosk. Koristka,
Obj. 3, Okul. 3, Vergröss. Diam. 85. Die Knorpelstruktur ist vollständig
erhalten.
Figur 3. Lunge und Pleura. Schnitt Paraffineinschliessung. Färbung mit Weigert.
Mikrosk. Koristka, Obj. 3, Okul. 3, Vergrösserung Diam. 85. Man er¬
kennt das elastische Gerüst des Lungengewebes.
Tafel VI.
Figur 1. Leber. Gefrierpräparat. Färbung mit Sudan III. Mikrosk. Koristka,
Obj. 3, Okul. 3, Vergrösserung Diam. 85. Auch hier ist die Struktur
erkennbar an der Lage der Blutgefässe und der Gallengefässe. Die peri¬
vasalen elastisohen Fasern sind gut erhalten.
Figur 2. Leber. Präparat Paraffineinschliessung. Mikrosk. Koristka, Obj. 3,
Okul. 3, Vergrösserung Diam. 85. Man erkennt die Struktur der hepa¬
tischen Drüsen an der Gegenwart der triangulären Räume.
Tafel VII.
Figur 1. Niere. Schnitt Paraffineinschliessung. Mikrosk. Koristka, Obj. 5,
Okul. 3, Vergrösserung Diam. 175. Färbung van Gieson. Man erkennt
das Schema des Nierenparenchyms an den rundlichen Bildungen, welche
die Malpighisehen Körper umgeben.
□ igitlzed by Google
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Dr. A. Ascarelli, Histologische Studien usw.
Figur 2. Niere. Gefrierschnitt. Färbung Hämalaun—Sudan III. Dieselbe Ver-
grösserung. Man erkennt die Körperchen in der Glomeruluszone. Die
elastischen perivasalen Fasern sind gut erhalten.
Figur 3. Niere. Gefrierschnitt. Färbung Sudan III. Dieselbe Vergrösserung.
Markteil. Man erkennt die Struktur der Nierenkanälchen. Das Epithel
ist gelöst und verkörnt und hat sich im Innern der Kanälchen ange¬
sammelt.
Tafel VIII.
Figur 1. Magen. Schnitt Paraffineinschliessung. Färbung van Gieson. Mikrosk.
Koristka, Obj. 5, Okul. 3, Vergrösserung 175 (Fig. reduziert zu y 4 ).
Man erkennt gut alle Schichten der Magenwand.
Figur 2. Magen. Gefrierschnitt. Färbung mit Sudan III. Vergrösserung Diam. 67
(Fig. reduziert auf J / 2 ). Diese Figur vervollständigt die vorhergehende.
Auch hier erkennt man die Schichten der Magenwand und die in Fig. 1
fehlenden Teile sind hier deutlicher.
Tafel IX.
Figur 1. Darm. Präparat Paraffineinschliessung. Färbung van Gieson. Mikrosk.
Koristka, Obj. 2, Okul. 2, Vergrösserung Diam. 52. ' Der Schnitt
entspricht einer Kerkringschen Klappe. Man erkennt die verschie¬
denen Hüllen der Darmwand, die Darmzotten und den Rest der Drüsen
an dor Zottenbasis.
Figur 2. Darm. Gefrierschnitt. Färbung mit Sudan III. Dieselbe Vergrösserung.
Die Figur vervollständigt das Bild der vorhergehenden.
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10 .
Aus der Unterrichtsanstalt für Staatsarzneikunde zu Berlin
(Direktor: Geh. Rat F. Strass mann).
Ueber die Entstehungsweise des epiduralen Blut¬
extravasates in verbrannten Leichen.
Von
Dr. St. von Horoszkiewicz, und Dr. Otto Leers,
Landgerichtsnrzt und Privntdozont in Krakau Vol.-Assistent der Unterrichtsaustalt.
In der 15. Hauptversammlung des Preussischen Medizinalbcamten-
vercins zu Berlin lenkte Strassmann zuerst die Aufmerksamkeit auf
eine bisher ungekannte Erscheinung bei der Verbrennung: Die Ent¬
stehung von Blutextravasaten zwischen Dura und Schädelknochen als
Folge der Verbrennung. Anschliessend an drei Fälle, von denen einer
ihm selbst zur gerichtsärztlichen Begutachtung vorlag und die Beant¬
wortung der Frage forderte, ob es sich um eine traumatische vitale
Blutung oder um den Effekt der Hitzewirkung gehandelt habe, stellte
Strassmann Versuche an menschlichen und tierischen Leichen an,
auf Grund deren er zu dem Resultat kam, „dass die Flammenhitze,
wie sie im allgemeinen eine Verdrängung Blutes aus den ihr ausgesetzten
Teilen in die Nachbarschaft zur Folge hat, so auch speziell unter Um¬
ständen einen Austritt von Blutflüssigkeit aus den verbrannten Schädel¬
knochen ins Schädelinnere bewirkt und dass dieser Blutaustritt um so
grösser ist, je frischer und also blutreicher die betr. Teile sind, am
grössten also im Leben oder unmittelbar nach dem Tode.“
Gleichzeitig zeigte Reuter *), dass die auf den toten Körper ein-
1) Vierteljabrsschrift f. ger. Med. 1898. Juliheft.
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Dr. von Horoszkiewicz und Dr. Leers,
wirkende Flammenhitze ganz allgemein eine besondere Verteilung des
Blutes in der Leiche bewirken könne, derart, dass das Blut aus den
von der Flamme besonders stark beeinflussten Körperteilen nach den
weniger erhitzten verdrängt wird. Strassmann konnte in diesen
Versuchen Reuters mit Recht ein Analogon zu seinen Beobach¬
tungen sehen.
Auch von Haberda 1 ) wurde die Strassmannsehe Erklärung
von der Entstehung der epiduralen Blutergüsse angenommen, als er
bald darauf einen gleichartigen Fall sah, in welchem nur insoweit
eine Abweichung vorlag, als gleichzeitig entsprechend dem rechts¬
seitigen Sitz des epiduralen Extravasates eine rechtsseitige Zerreissung
des vorderen Astes der Meningea media sich fand. Haberda beant¬
wortet die Frage, ob die Verletzung der Meningea durch ein Trauma
erzeugt sei und vital zu konsekutiver Blutung geführt habe, die dann
erst nachträglich durch die Flammenhitze entsprechende Veränderung
erlitten habe, dahin, dass zweifellos im vorliegenden Falle der Tod
in so kurzer Zeit eingetreten sei, dass die Annahme, der Bluterguss
sei durch das doch recht langsam erfolgende Austreten des Blutes
aus der Meningea unter die von ihm abzuhebende Dura, wo es sich
erst Raum schaffen müsse, erfolgt, ganz unwahrscheinlich sei; zumal
in den von Strassmann gemachten Beobachtungen eine Verletzung
dieser Arterien fehlte und dennoch ein Extravasat entstanden war.
Hab er da hält also die Gefässzerreissung für eine postmortale,
infolge der Hitzewirkung und Schrumpfung entstanden. Diese
Schrumpfung führe zur Ablösung der Dura vom Knochen
und schaffe dadurch offenbar Raum für das postmortal auf¬
tretende ßlutextravasat.
Diese letztere Erklärung Haberdas hat Reuter 2 ) neuerdings
wieder aufgenommen im Anschluss an einen von ihm beobachteten
Fall. In diesem fand sich die Dura stark gespannt, unverletzt, vom
Knochen im Bereiche des Extravasates völlig abgelöst und dem Gehirn
innig anliegend, die Sichelblutleiter leer und unverletzt. Er glaubt,
im Anschluss an Haberda, dass die Dura auch lediglich unter dem
Einfluss der Hitze schrumpfe, wodurch sie sich, da die starre knöcherne
Schädelkapsel nicht nachgebe, allmählich von der Tabula vitrea ab-
1) Friedr. Bl. f. ger. Med. 1900.
2) Verhandlungen d. 1. Tagung d. deutsch. Ges. f. ger. Med. Vierteljahrs*
schrift f. ger. Med. 1906.
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Ueber d. Entstehungsw. d. epiduralen Blutextravasates i. verbr. Leichen. 267
löse. Hierbei würden, ähnlich wie beim Ablösen der Dura bei einer
jeden Schädclscktion, viele kleine Venenstämmchen durchrissen, aus
denen sich dann das Blut in den bereits gebildeten Epiduralraum er-
giessen könne. Es sei also die Ablösung der Dura das Primäre und
die Bildung des Extravasates das Sekundäre.
Obwohl es für die praktische Bedeutung der von Strassmann
zuerst festgestellten Bildung von postmortalen epiduralen Blutextra¬
vasaten gleichgültig ist, ob die Ablösung der Dura oder die Bildung
des Extravasates das Primäre ist, haben wir dennoch nach dieser
Richtung hin Versuche angestellt, da uns schon aus theoretischen
Gründen die Annahme Reuters nicht stichhaltig erschien.
Allerdings ist nicht zu bezweifeln, dass unter dem Einflüsse
grosser Hitze Gewebe schrumpfen können und ihr Volumen verkleinern.
Das gilt auch von der Dura, die natürlich dabei, da sie unter nor¬
malen Verhältnissen mit der knöchernen Schädelkapsel nicht ver¬
wachsen ist, sich vom Knochen abhebt. Aber gilt dies für die Dura,
so muss es auch für die anderen im Schädelinnem vorhandenen Ge¬
webe in Anspruch genommen werden, vor allem für die Gefässe und
für das in denselben befindliche Blut. Ist die Einwirkung der Hitze
schon so intensiv, dass es zur selbsttätigen Zusammenziehung, Schrump¬
fung, Abhebung der Dura kommt, so kann nicht angenommen werden,
wie dies Reuter tut, dass die kleinen Venenstämmchen, die von der
Dura zum Knochen ziehen, noch intakt sind, dass sie überhaupt noch
flüssiges Blut enthalten, welches nach ihrer durch die Abhebung
der Dura erfolgten Zerreissung aus ihnen heraussickert und zur Bil¬
dung eines Hämatoms von der Grösse und Ausdehnung wie im Falle
Reuters führt. Vielmehr muss die durch den Schädelknochen bis
zur Dura vorgedrungene Hitzewirkung in dem Momente, in welchem
sie die Dura zur Schrumpfung und Abhebung bezw. Retraktion bringt,
auch auf die Gefässe der Dura schrumpfend und vertrocknend einge¬
wirkt, die kleine, in ihnen befindliche Blutsäule eingedickt, zur Ge¬
rinnung gebracht haben. Diese rein theoretische Erwägung, die wir
durch unsere Versuche völlig bestätigt fanden, macht schon die An¬
nahme der sekundären Entstehung des Hämatoms unmöglich.
Aber auch der oben schon erwähnte Fall Haberdas weist darauf
hin, dass eine solche Einwirkung auf die Gefässe tatsächlich statt¬
findet und sowohl dadurch, wie durch die gleichzeitig erfolgende Ver¬
änderung des Blutes in ihnen eine Blutung aus ihnen unmöglich wird.
In diesem fand sich eine Schrumpfung und Zerreissung des vorderen
Yierteljahrsschrift f. ger. Med. u. öff. San.-Wesen. 3. Folge. XXXII. 2. lg
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Dr. von Horoszkiewicz und Dr. Leers,
Astes der rechten Art. mening. raedia, und Haberda erklärte sie als
postmortal durch die Hitzeeinwirkung entstanden, indem er betont,
dass aus dem Gefässe nur bröckeliges Blut ausdrückbar war.
Zur Unterstützung seiner Ansicht gibt Reuter zunächst einen
Fall bekannt, von dem zwar nähere Angaben über die Obduktion
fehlten, der Befund des eröffneten Schädels aber genauer von ihm
beschrieben wird. Reuter hebt hervor, dass in diesem Falle die
Dura intakt, stark geschrumpft, vom ganzen Schädeldach und auch
teilweise von der Basis abgehoben war, und dass auch das Gehirn
geschrumpft gefunden wurde, während an der Aussenfläche der Dura
nur einige kleine Bröckelchen ziegelroten, krümeligen Blutes vorhanden
waren. Dieser Befund beweist uns zwar, dass Dura wie auch Gehirn
unter dem Einfluss der Hitze schliesslich schrumpfen können, er gibt
aber keineswegs Aufschluss darüber, ob die Ablösung der Dura primär
oder sekundär erfolgt ist. Auffallend ist jedenfalls, dass in diesem
Falle kein grösseres Blutextravasat gefunden wurde, obschon doch die
Verhältnisse infolge der umfangreichen Ablösung der Dura und folglich
der Zerreissung zahlreicher Venenstämmchen für die Entstehung eines
solchen nach Reuters Anschauungen hier sehr günstig sein mussten.
Doch da keine näheren Angaben über den Obduktionsbefund vorliegen,
können wir nicht w'eiter darauf eingehen.
Weiter führt Reuter ah, dass auch in dem von ihm beobachteten
Falle die Dura sich gewiss zuerst abgehoben habe und dass dies aus
der beigefügten Zeichnung zu ersehen sei. Obwohl aus einer Zeich¬
nung, die immer nur ein Momentbild darstellt, unmöglich Vorgänge,
die sich successive folgen und immerhin eine gewisse Zeit beanspruchen,
zu ersehen sein können, so scheint uns doch die Zeichnung, welche
Reuter gibt, seiner Erklärung für die Entstehung einer primären
Duraablösung vielmehr direkt zu widersprechen. Die Zeichnung zeigt,
der Beschreibung Reuters entsprechend, dass der in der grössten
Dicke 1 cm betragende Bluterguss vollständig und allenthalben den
Raum zwischen abgclöster Dura und Schädclknochen ausfüllt. Die
Dicke des Extravasates entspricht überall genau dem durch die Ab¬
hebung der Dura gelassenen Raum; es tamponiert ihn gleichsam aus.
Dies scheint uns viel eher zu beweisen, dass das von der Hitze aus
dem Knochen herausgedrängte Blut die Dura allenthalben vor sich
hergeschoben hat. Würde sich hingegen die Dura zunächst durch
Schrumpfung vom Knochen abgelöst haben und in das dadurch ent-
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lieber d. Entstehungsw. d. epiduralen Blulextravasates i. vcrbr. Leichen. 269
stehende Yacuum sekundär aus zerrissenen Gefässchen Blut hinein¬
gesickert sein, so hätte sich doch wahrscheinlich das Blut ungleich-
massig in dem Raume verteilt; es wäre, da es zunächst noch flüssig
sein musste, wenn es in solcher Menge aus den zerrissenen Gefäss¬
chen der Dura ausfliessen konnte, nach dem Gesetz der Schwere
abhängigeren Partien zugestrebt, während es stellenweise den Raum
wenig oder gar nicht ausfüllte. Die Dura war dabei offenbar nicht
geschrumpft; Reuter sagt, sie war stark gespannt und lag dem
Gehirn innig an. Dies spricht ebenfalls nicht für eine selbständige
primäre Ablösung der Dura. Gespannt und dem Gehirn anliegend
findet sie sich auch in den Fällen, in welchen durch vitale Blutung aus
der Art. meningea zweifellos die Abhebung sekundär zustande ge¬
kommen ist.
Wir haben die Frage, ob die Dura sich durch Schrumpfung zuerst
spontan vom Knochen ablöst und der Bluterguss sekundär aus den
dabei zerreissenden Gefässen erfolgt, oder ob vielmehr das Blut primär
aus den Knochengefässen ausgepresst wird und die Dura vom Knochen
abhebt, durch Versuche zu klären gesucht.
I. Versuch: Ein Kaninchen wird durch OefTnung der Halsgefässe entblutet
und das Schädeldach samt den Weichtoilen 10 Minuten der Bunsenilamme aus¬
gesetzt, bis der Knochen stark verkohlt und gesprungen ist. Das Schädeldaoh
wird flach abgesägt, das Gehirn vorsichtig aus der abgesägten Knochenschale ent¬
fernt. Die Dura zeigt sich hart und trocken, stark geschrumpft, abgehoben, unver¬
letzt; zwischen Dura und Knochen kein Bluterguss.
II. Versuch: Ein Hund wird durch Halsschnitt entblutet und das Schädel¬
dach mit Weichteilen 20 Minuten der Bunsenflammo ausgesetzt, bis der Knochen
rotglühend ist. Das Schädeldach wird flach abgesägt und das Gehirn entfernt.
Die Dura ist an der Verbrennungsstelle völlig trocken, stark geschrumpft und ab¬
gehoben. Auch das Gehirn ist völlig trocken und in beginnender Verkohlung.
Kein Blut zwischen Dura und Knochen.
III. Versuch: Das durch gewöhnlichen Obduktionsschädelschnitt entfernte
Schädeldach eines Kindes mit der Dura wird der Bunsenilamme an einer um¬
schriebenen Stelle ausgesetzt. Dabei lässt sich folgendes beobachten: Es dringt
sofort beim Ansetzen der Flamme schaumiges Blut aus der Diploe an der Säge¬
schnittfläche hervor. Gleichzeitig injizieren sich die Gefässe der Dura und es ent¬
stehen kleine Sugillationen in der Dura im Bereiche der erhitzten Stelle. Weiter¬
hin rötet sich die Dura intensiver, bräunt sich, wird trocken und hebt sich
schliesslich an der erhitzten Stelle plötzlich ab. Die Dura ist trocken, pergament¬
artig, unverletzt, ihre Gefässe mit trockenem Blut allenthalben ausgefüllt.
IV. Versuch: Derselbe Versuch in derselben Anordnung an dem Schädel¬
dach eines Erwachsenen. Sofort nach Einwirkung der Flamme tritt an der Schnilt-
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Dr. von Horoszkiewicz und Dr. Leers,
fläche aus der Diploe schaumig flüssiges Blut aus und die Kapillaren der Dura
injizieren sich an der erhitzten Stelle. Nachdem das Austreten von Blut an der
Schnittfläche beendet ist, folgt Bräunung, Trocknung und plötzliches Abspringen
der schrumpfenden Dura in toto an der erhitzten Stelle. Die Dura bleibt dabei
unverletzt, ist schwarzbraun, pergamentartig hart und trocken. Sie wird abprä¬
pariert und zeigt sich auch an ihrer Aussenseite braun, angekohlt, aber ganz in¬
takt. Die intakten Duragefässe enthalten Ausgüsse von trookenera Blut.
V. Versuch: Ein Hund, nicht entblutet, wird durch Chloroform getötet.
Das Schädeldach wird nach Ablösung der Weichteile 10 Minuten der Bunsenflamme
ausgesetzt, bis zur Verkohlung des Knochens und Auseinanderweichung der Nähte,
aus denen Blut hervordrängt. Das Schädeldach wird flach abgesägt, die Gehirn¬
masse, die feucht und erhitzt, vorsichtig entfernt. Es findet sich im Bereiche der
Erhitzung ein ausgiebiger Bluterguss mit Abhebung der glatten, glänzenden,
feuchten, nicht gespannten und nicht geschrumpften, etwas gebräunten, unver¬
sehrten Dura.
VI. Versuch: Ein Hund, nicht entblutet, wird durch Chloroform getötet.
Einwirkung der Bunsenflamme 12 Minuten, bis zur Verkohlung der Weichteile und
des Knochens. Die Innenfläche der Dura erweist sich überall intakt, glatt,
glänzend, feucht, die Gefässe der Dura erweitert, mit flüssigem Blut gefüllt. An
der erhitzten Stelle des Scheitels eine Y 2 cm hohe, 4 X 5 cm grosse Abhebung
der Dura, die nicht gespannt und geschrumpft ist. Genau der Grösse dieser Ab¬
hebung entspricht der epidurale Bluterguss, der blaurötlich durch die Dura durch¬
schimmert. Die Dura wird vorsichtig abpräpariert. Der Bluterguss ist flüssig bis
locker geronnen. Die Tabula interna ist völlig unversehrt, nur die externa ober¬
flächlich angekohlt.
VII. Versuch: Derselbe Versuch an einem durch Chloroform getöteten
Hund. Einwirkung der Bunsenflamme 12 Minuten. Die Weichtoile sind stark ver¬
kohlt, der Schädelknochen aussen angekohlt. Die Dura ist unversehrt, nicht ge¬
schrumpft, innen feucht, mattglänzend, in Grösse von 3 X 4 cm abgehoben. Genau
der Grösse dieser Abhebung entsprechend schimmert der Bluterguss blaugrau
durch die Dura hindurch. Derselbe besteht, wie durch Scherenschnitt in die Dura
erkannt wird, aus vorzugsweise flüssigem Blut. Gehirnmasse und weiche Hirn¬
häute sind, wie auch im vorigen Versuch, gänzlich intakt.
VIII. Versuch: Ein durch gewöhnlichen Obduktionsschnitt abgesägtes
Schädeldach ohne Dura wird an seiner Sägefläche mit Glaserkitt dicht verschlossen.
An einer umschriebenen Stelle der Aussenfläcbe wird es der Bunsenflamme aus¬
gesetzt und zwar so, dass die Flammenspitze 10 cm vom Knochen entfernt bleibt.
Unmittelbar nach dieser äusserst gelinden Erwärmung sieht man aus den Poren
des Knochens an der Innenfläche des Schädels Tropfen flüssigen Blutes in reich¬
licher Menge hervorquellen. Nach 1 Minute haben sich etwa 10—15 ccm flüssigen
Blutes angesammelt. Bei weiterer Einwirkung der Flamme kommt das austretende
Blut als reichliche Blasen werfende schäumende Flüssigkeit zutage.
Aus unseren Versuchen ergibt sieh zunächst, dass unter der Ein¬
wirkung der llitze tatsächlich eine Aenderung der Blutverteilung am
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Ueber d. Entstehungsw. d. epiduralen Blutextravasates i. verbr. Leichen. 271
Schädelknochen stattfindet und zwar in der Weise, dass das Blut von
der erhitzten Stelle wegdrängt und sich aus dem erhitzten Knochen
Ausweg sucht. Die dazu erforderliche Erwärmung des Knochens ist,
wie Versuch III, IV u.VIII beweisen, äusserst gering, jedenfalls so gering,
dass dadurch noch keine Schrumpfung und Retraktion der Dura
zustande kommen kann. Diese zum Austritt gezwungene Blutmenge
ist schon am abgesägten Leichenschädeldach so gross, dass sie zur
Bildung eines Extravasates, wie es in den bisher an unversehrten
verbrannten Leichen beobachteten Fällen gefunden wurde, völlig aus¬
reicht. Da es unter Blasen- und Schaumbildung plötzlich in grösserer
Menge und mit einer gewissen Gewalt aus dem Knochen an einer
umschriebenen Stelle hervordringt, hebt es hier und zunächst nur hier
an dieser Stelle die bis dahin noch völlig unversehrte Dura ab. Ver¬
such VI und VII zeigen, dass die Ablösung der Dura genau der Grösse
des Blutergusses entspricht und dass die Dura dabei sich in völlig
normalem Zustande befindet, unverletzt, überall glatt, glänzend, feucht
und vor allem nicht geschrumpft, nicht einmal übermässig stark ge¬
spannt ist.
Wirkt jedoch die Flammenhitze längere Zeit oder intensiver ein,
so dass der Schädelknochen stark angebrannt wird, verkohlt, der
Feuchtigkeitsgehalt des ausgetretenen Blutes zum Schwinden gebracht
wird, dadurch gleichsam die Isolierschicht zwischen Dura und Knochen
fortfällt, so ergreift die Hitze auch die Dura und bringt sie zur
Schrumpfung und Retraktion. Die Verhältnisse liegen natürlich für
eine Schrumpfung und Retraktion der Dura am günstigsten, wenn
wie in den Versuchen I—IV es überhaupt nicht zu einem Bluterguss
kommen kann, so dass die isolierende Blutschicht von vornherein
fortfällt und die Hitze unmittelbar von dem in Glut geratenden
Knochen auf die ihm anliegende Dura überspringt.
In dem Moment, wo es durch die Erhitzung zu einer Schrumpfung
der Dura kommt, so dass sie sich retrahiert, sind auch die Gefässe
und das in ihnen befindliche Blut so durch die Hitze verändert, dass
aus ihnen keine Blutung mehr erfolgen kann. Die Duragcfässe
sind nicht leer, sondern enthalten Ausgüsse von trockenem, koagu¬
liertem Blut.
Die Quelle des Blutextravasates sind also nicht die bei der
Schrumpfung und Retraktion der Dura zerreissenden Venenstämmchen,
sondern die Gefässe der Diploe, aus denen das Blut bei der Erwärmung
des Knochens wegdrängt.
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272 Dr. von Horoszkiewicz und Dr. Leers, Ueber die Entstehungsweise etc.
Haberda, 1 ) Zillner 2 ) und Reuter 3 ) selbst haben gezeigt, dass
es unter dem Einfluss der Hitze zur Blutverdrängung und weiterhin
durch Berstung von Kapillaren zur Entstehung von Blutextravasaten
kommen kann. Dieser Vorgang findet auch in den Diploegefässen
des Schädels statt und durch die Verdrängung des erhitzten Blutes
und die dadurch erzeugte Zerreissung der Diploegefässe wird das
Material für den epiduralen Bluterguss frei und drängt aus dem Knochen
hervorstürzend die Dura vor sich her.
1) 1. c.
2) Vierteljahrssrhr. f. ger. Med. 1882.
3) 1. c.
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11 .
Ueber einen Fall von epiduralem Bluterguss in
einer verbrannten Leiehe.
Von
Dr. H. Martini,
Gerichtsarzt in Breslau.
Anknüpfend an die im 2. Heft dieser Yierteljahrssehrift, Jahrg.
1906, von Reutter gemachte Mitteilung über ein „epidurales Blut¬
extravasat in einer verkohlten Leiche“, welches genannter Autor in
der ersten Tagung der Deutschen Gesellschaft für gerichtliche Medizin
zu Meran demonstriert hatte, gestatte ich mir in Folgendem über ein
ganz ähnliches Vorkommnis aus meiner jüngsten Praxis zu berichten.
Die Zahl der bisher bekannt gewordenen Fälle ist, wie aus der erst
kürzlich von Hofacker 1 ) gegebenen Zusammenstellung hervorgeht,
noch eine recht geringe, und die Veröffentlichung eines jeden gut be¬
obachteten derartigen Befundes erscheint deshalb allein schon in ka¬
suistischer Hinsicht gerechtfertigt.
Es handelte sich um eine etwa 60 Jahre alte, etwas geistesschwache Frau A.
in C., welche als verkohlte Leiche unter den Trümmern des von ihr bewohnten
Hauses hervorgezogen wurde. Durch die gerichtlichen Zeugenvernehmungon ist
mit Sicherheit festgcstellt worden, dass Frau A. Selbstmord durch Erhängen aus¬
geführt hat, nachdem kurz zuvor der Brand von ihr selbst angelegt worden war.
Die im Brandschutte noch mit den Resten eines um den Hals geschlungenen
verkohlten Strickes aufgefundene Leiche bot folgende uns hier interessierende
Befunde:
Stark verkohlte Leiche mit intensivem Brandgeruch. Wirbelsäule in ihrer
ganzen Ausdehnung versteift und sämmtliche Glieder in unbeweglicher Flexions¬
stellung. Die Oberhaut hat überall eine tiefschwarze Farbe bis auf einige braun¬
schwarze Stellen an der rechten Seite des Rumpfes; sie ist morsch, rissig und
lässt sich in dünnen Schichten abheben.
1) Vergl. Friedreiohs Blätter f. gerichtl. Medizin. 1904. S. 321.
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274
Dr. II. Martini,
Die weichen Bedeckungen des Kopfes, Gesichtes und Halses sind vollkommen
verbrannt, so dass der Leichnam nicht wieder zu erkennen ist. Die tiefere Mus¬
kulatur des Halses ist grau gefärbt und mürbe und hat etwa das Aussehen von ge¬
kochtem Kalbfleisch. Im allgemeinen ist die linke Körperseite stärker verbrannt
als die rechte, wo sich noch einzelne nur angesengte Hautinseln vorfinden. An
den Gliedmassen fehlen die äussersten Enden und die Röhrenknochen liegen
stellenweise bloss, z. T. sind sie mit verkohlten Fleischfetzen bedeckt.
Die Oberfläche des Schädeldaches bildet eine schwärzliche, trockene und
sich abschilfernde Masse; penetrierende Verletzungen sind am Knochen jedoch
nirgends vorhanden.
Die Schädelkapsel hat eine Dicke von 3—8 mm und ist auf der Innenfläche
an mehreren Stellen beider Seitenwände mit einer ziegelroten, weichen, etwas
fettigen Masse bedeckt, die das Aussehen von gekochtem Blut hat. Während diese
Masse auf der rechten Seite nur in einzelnen, 2—3 Markstückgrossen Bröckeln der
Dura aufliegt, bildet sie über dem linken Scheitellappen und einem Teile des
Schläfenluppens eine weit über handtellergrosse, 4—5 mm dicke zusammenhän¬
gende Schicht.
Die harte Hirnhaut ist unversehrt, stark gespannt und von schmutzig grauer
Farbe, im Längsblutleiler ebenfalls zahlreiche kleinere gekochte Blutpartikelchen
von weicher Konsistenz und ziegelroter Farbe.
Die weiche Hirnhaut ist nicht mehr zu erkennen, ihre Gefässe sind leer.
Die linke Grosshirnhälfte ist im Gebiete der Scheitellappen und des Schläfen¬
lappens entsprechend der oben beschriebenen Auflagerung abgeplattet, die rechte
Hirnhalbkugel zeigt normale Wölbung; die Gehimmasse ist überall sehr trocken,
von grauer Farbe und blutleer.
Erwähnen möchte ich noch, dass die linke Lunge lederartig
trocken, blutleer und derb war. während die rechte sich noch etwas
feucht und lufthaltig erwies.
Eine Untersuchung des gekochten Blutes im Schädelinncrn auf
CO hat leider nicht stattgefunden.
Ganz abgesehen davon, dass die Frage, ob eine solche Unter¬
suchung einen sicheren Rückschluss auf die vitale oder postmortale
Entstehung des Blutergusses zulässt, wie schon Reutter 1 ) hervorhebt,
noch keineswegs abgeschlossen ist, da bei längerer und intensiver
Rauch- und Flammencinwirkung auf die blossgelegte knöcherne
Schädeldecke die Möglichkeit eines nachträglichen Eindringens von CO
in das im Schädelinncrn direkt dem Knochen aufliegende Blut wohl
nicht ganz von der Hand gewiesen werden kann, so stand ira vor¬
liegenden Falle die postmortale Entstehung des Blutergusses ausser
allem Zweifel. Denn es ist. kaum denkbar, dass Frau A. mit der¬
artig umfangreichen Blutaustritten auf das Gehirn noch eine Reihe
1) Vergl. Vierteljahrsschr. f. ger. Med. 1906. S. 307/308.
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Ueber einen Fall von epiduralem Bluterguss in einer verbrannten Leiche. 275
wohlüberlegter und vorher angedrohter Handlungen, wie Brandstiftung,
Selbstmord usw. hätte ausführen können.
Auch die Annahme eines agonalen Blutaustrittes, etwa infolge
des Erhängens, erscheint in hohem Grade unwahrscheinlich, da ein
derartiger Befund meines Wissens kaum je beobachtet worden ist.
Es bleibt somit nur die Annahme einer postmortalen Entstehung
der Blutextravasate als die einzig wahrscheinliche übrig. Ob diese
Blutaustritte in unserem Falle aus dem Schädelknochen direkt durch
die Hitzewirkung zustande gekommen sind, eine Erklärung, welche zu¬
erst Strassmann 1 ) gegeben und durch mehrfache Experimente er¬
härtet hat, oder ob umgekehrt die Dura zuerst geschrumpft ist und
durch ihre Ablösung vom Kuochen Gelegenheit und Raum für die
Blutaustritte gegeben hat, muss wohl zunächst noch als eine offene
Frage angesehen werden. Mir scheint die Annahme viel Wahrschein¬
lichkeit Für sich zu haben, dass in unserem und ähnlichen Fällen
beide Vorgänge zur Erklärung heranzuziehen sind und sich streng ge¬
nommen garnicht von einander trennen lassen.
1) Ueber eine Erscheinung bei Verbrennung. Offizieller Bericht über die
XV. Hauptversammlung des preussischen Medizinalbeamtenvereins. 1898. Berlin,
bei Fischer.
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12 .
(Aus dem Institut Pasteur in Brüssel. Direktor Dr. J. Bordet).
Ueber die praktische Bedeutung der Alexinfixation
(Komplementablenkung) für die forensische Blut-
differenzierung.
Von
Dr. Ernst Ehrnrooth.
Professor der gerichtlichen Medizin in Helsingfors (Finland).
Seit Bordets Untersuchungen vom Jahre 1898 gilt als Tatsache,
dass die hämolytische Fähigkeit der Immun- und Normalsera von dem
Zusammenwirken zweier Faktoren abhängt. Der eine ist das im
Normalserum schon vorhandene Alexin (Büchner), oder Komplement,
wie es Ehrlich nennt, der andere ist nach der Bordetschen Termino¬
logie der Sensibilisator (Substance scnsibilisatrice), Immunkörper oder
Ambozeptor (Ehrlich), welcher sich im Serum eines immunisierten
Tieres bildet, der aber auch in Normalsera vorkommt, obwohl dort
weit weniger aktiv.
Nachdem Ehrlich und Morgenroth 1 ) die Fähigkeit roter Blut¬
körperchen, Ambozeptoren aufzunehmen, gezeigt hatten, erschienen
Untersuchungen von Bordet 2 ), wodurch festgestellt wurde, dass der
Sensibilisator spezifischer Immunsera Blutkörperchen und Mikroben
derart beeinflusste, dass die genannten Gebilde ein auffallendes Be¬
streben bekommen, Alexin zu verankern. Hämolyse bzw. Bakteriolyse
tritt daher in einem Gemisch von Sensibilisator, Blutkörperchen und
1) Ehrlioh und Morgenroth, Ueber Hämolysine, Berl. klin. Wochenschr.
1899, 1900, 1901.
2) Bordet, Les s^rums hömolytiques, leur antitoxines et les thöories des
serums cytolytiquos. Ann. de l’inst. Pasteur. 1900.
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Ueber die praktische Bedeutung der Alexinfixation usw.
277
Alexin mehr oder weniger schnell ein. Das Alexin wird hierdurch
der Mischung entzogen bzw. gebunden.
Ein Analogon zu dieser Tatsache wurde zwei Jahre später von
Gengou 1 ) für verschiedene Eiweisskörper nachgewiesen. Er zeigte
z. B., dass in einem Gemisch von Milch, Laktoserum (Immunserum
gegen Milch) und irgend einem Alcxin nicht nur ein Präzipitat ent¬
steht, sondern es wird dabei auch Alexin gebunden.
Auf dem in diesem Vorgang liegenden Prinzip gründet sich die
von Neisser und Sachs 2 ) zuerst für die forensische Blutdifferenzierung
vorgeschlagene Methode, die Bindung des Alcxins durch das Zusammen¬
wirken von Präzipitinogen (des Normalserums) und Präzipitin (des
entsprechenden Immunserums) an einem entsprechenden Indikator zu
demonstrieren. Rote Blutkörperchen bilden den Indikator bei dieser
sinnreichen Methode. Beim Vorhandensein von Ambozeptoren (Sensi¬
bilisatoren) verankern nämlich die Erythrozyten den einen von den
oben genannten Faktoren des hämolytischen Prozesses und verfallen
derart beeinflusst durch den Einfluss des Alexins der Hämolyse. Ist
das ^lexin aber anderweit gebunden, so bleibt die Hämolyse aus.
Untersuchungen von Morcschi 3 ) „Zur Lehre von den Anti-
komplementen u und den fast fabelhaft kleinen Mengen von Präzipitinogen
(0,00001 ccm), die bei Moreschi’s Versuchen genügten, um das
Gengou’sche Phänomen hervortreten zu lassen, boten die Anregung
zu einer Reihe schöner Nachprüfungen und Arbeiten, die von Neisser
und Sachs inauguriert wurden, um das genannte Phänomen zur
forensischen Blutdifferenzierung brauchbar zu machen.
Neisser und Sachs 4 ), Pfeiffer und Moreschi 6 ), Licfmann 6 )
1) Gengou, Sur les substances sensibilisatrices des serunis actifs contre les
substances albuminoides. Ann. de l’inst. Pasteur. 1902.
2) Neisser und Sachs, Ein Verfahren zum forensischen Nachweis der Her¬
kunft des Blutes. Berliner klin. Wochenschr. No. 44. 1905.
3) Moreschi, Zur Lehre von den Antikomplementen. Berl. klin. Wochen¬
schrift. No. 37. 1905.
4) Neisser und Sachs, L. c. und Die forensische ßlutdifferenzierung
durch antihämolytische Wirkung. Berliner klin. Wochenschr. No. 3. 1906.
5) Pfeiffer und Moreschi, Ueber scheinbare antikomplementäre und
Antiambozeptorwirkungen präzipitierender Sera. Berliner klin. Wochenschrift.
No. 2. 1906.
6) Liefmann, Ueber Komplementablenkung bei Präzipitationsvorgängen.
Berliner klin. Wochenschr. No. 15. 1906.
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278
Dr. E. Ehrnrooth,
und jüngst Fried berger 1 ) konnten tatsächlich berichten, dass minimale
Quantitäten eines Normalserum A bei Zusatz von dem diesem Serum A
entsprechenden Antiserum, Alexin und sensibilisierten Blutkörperchen
unter Beobachtung gewisser Mengenverhältnisse und unter näher be¬
schriebenen Kautelen, genügten die roten Blutkörperchen unbeeinflusst
zu lassen, wenigstens während einer Zeit, in welcher Hämolyse ein¬
trat, wenn das Norinalserum A durch ein Normalserum B, C usw.
substituiert wurde. Hämolyse trat auch ein, wenn das dem Normal¬
serum A entsprechende Antiserum ersetzt wurde durch ein heterologes
Antiserum.
Um das Gengou’sche Phänomen hervortreten zu lassen, ist also
notwendig, dass die für das Entstehen eines Präzipitates erforderlichen
Faktoren vorhanden sind. Hierbei ist es nicht erforderlich, dass ein
sichtbares Präzipitat entsteht, obwohl aus Gays 2 ) u. a. Untersuchungen
hervorzugehen scheint, dass je reichlicher das Präzipitat desto voll¬
ständiger die Bindung des Alexins erfolgt. Liefmann und Fried¬
berger haben gezeigt, dass selbst bei Zusatz erwärmten (1 Stunde
bei 67° C.) Präzipitins, die Alexinwirkung ausbleiben kann. Wjc be¬
kannt, verliert bei dieser Temperatur das Antiserum seine präzipi-
tierenden Eigenschaften.
Ueber die Art des Mechanismus der Alexinflxation bei Präzipi¬
tationsvorgängen sind die Ansichten geteilt. Es liegt nicht ira Rahmen
dieser Publikation, das pro und contra der verschiedenen Theorien
und Behauptungen abzuwägen und zu prüfen.
Das Phänomen, um welches es sich hier handelt, ist ein äusserst
empfindlicher und spezifischer Vorgang. So hat z. B. Friedberger
gezeigt, dass menschlicher Schweiss sogar in der Verdünnung von
Vioooo sich durch die Neisser-Sachs’sche Methode nach weisen lässt.
Mit Recht frägt sich Friedberger, ob eine derart gesteigerte
Empfindlichkeit der Probe für die Praxis überhaupt noch einen Vor¬
teil bietet, oder ob sie nicht vielmehr die Quelle schwerer Irrtümcr
bei der Deutung des Ausfalles der Reaktion bilden kann. Denn in
einer grossen Anzahl von Fällen wird es sicher der Fall sein, dass
auch kleine Mengen von Schweiss, von Schleim usw. den Blutflecken
1) Friedberger, Zur forensischen Eiweissdifferenzierung auf Grund der
hämolytischen Methode mittels Komplementablenkung. Deutsche med. Wochenschr.
No. 15. 1906.
2) Gay, La d^viation de l’alexine dans l’htSmolyse. Ann. de l’inst.
Pasteur. 1905.
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Ueber die praktische Bedeutung der Alexinfixation usw.
279
beigemischt sind, so z. B. den Blutflecken auf dem Hemde, auf dem
Taschentuch, ja selbst an einem Messer, wenn dieses etwa gelegent¬
lich, wie es Schlächter tun, zwischen den Zähnen gehalten wurde. In
solchen Fällen kann es leicht passieren, dass bei Anstellen der Probe
die Hämolyse ausbleibt, und doch kann es sich um Flecke handeln,
die nicht von Menschenblut stammen. Selbstverständlich ist es von
Bedeutung, dass die forensische Blutdifferenzierungsprobe empfindlich
ist, aber wenn diese Grenzen jene übersteigen, welche sich mit den
ßordetschen Präzipitinen erreichen lassen, so scheint mir dieser
Umstand aus den oben angeführten Gründen die Bedeutung der
Neisser-Sachs’schen Probe für die Praxis nicht zu vermehren, sondern
vielmehr zu verringern.
Wenn überhaupt Blutflecken vorhanden zu sein scheinen und so
verdächtig sind, dass es nötig wird, dieselben zum Gegenstand einer
Untersuchung zu machen, so gibt es — glaube ich — immer Material
genug für die Anwendung der Uhlenhuth-Wassermannschen
Methode. Wenn das Blut nur in so kleiner Menge vorhanden ist,
dass man es nicht sehen kann, so dürfte eben wohl kaum ein Ver¬
dacht auf Blutspuren entstehen können.
Ich bin indessen keineswegs der Ansicht, dass die Neisser-
Sachs’sche Methode für die gerichtliche Medizin ohne Bedeutung ist.
Es scheint mir nur, dass man ihre Bedeutung etwas überschätzt hat.
W r endet man nicht sehr hochwertige Sera an, so ist ihre Empfindlich¬
keit nicht so hoch, wie oben gesagt ist. Diese Tatsache wird auch
von Friedberger erwähnt, und er warnt mit Recht auch davor, die
Probe mit Seris anzustellen, deren Aktivität über Vioooo geht.
Es sind aber daneben rein technische Umstände, die mir fast
noch mehr die praktische Bedeutung der Methode zu verringern
scheinen. Sie ist sehr umständlich, denn sowohl das Alexin, das
Aktivserum und eventuell Sensibilisator und Indikator müssen in sehr
genau angepassten Mengen zugefügt werden.
Man hat schon von der Uhlenhuth-Wassermannschen Methode
gesagt, dass sie nur den Laboratorien gehört. Dieses trifft noch viel
mehr von der Neisser-Sachs’schen zu. Ja, ich möchte sogar sagen,
dass diese Probe nur denjenigen Laboratorien Vorbehalten ist, in denen
man reiche Erfahrungen in der Serodiagnostik hat.
Meine Kontrollproben stimmen ganz überein mit dem, was von
Neisser und Sachs und jüngst von Friedberger mitgeteilt ist.
Ich habe meine Versuche angestellt mit Immunseris für Menschen-,
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280
Dr. E. Ehrnrooth,
Pferde-, Schweine- und Rinderblut von verschiedener Aktivität. Mit
Pferde-, Schweine- und Rinderantiserum in getrockneter Substanz
habe ich ausserdem zusammen mit Herrn Tierarzt Fally Versuche
gemacht mit der Methode der Alexinbindung für die Fleischdiffe-
renzierung.
Es sei gleich erwähnt, dass es uns gelungen ist, die Methode
für solche Zwecke zu verwenden. Proben habe ich auch mit ein¬
getrocknetem Blute angestellt. Die Provenienz des Blutes habe ich
so wohl mit der Uhlenhuth-AVassermannschen, wie mit der von
Marx und mir angegebenen Methode, wie mit der Neisser-Sachs-
sehen bestimmt.
Eine Tabelle mag kurz meine Versuche illustrieren:
Menschen-
scrum (bei
55° C. V 2 Std.)
1 ccm
Kanin-
chen-
Alcxia
Immun¬
serum l )
1 ccm Ziegen-
blutkörper-
Aufschwem-
mung
Sensibili¬
sator 2 )
ccm
Resultat
Viooo
0,25
0,01
t d /
5 pCt.
0
Keine
1/
/lOOOO
0,25
0,01
°
1 co
5 pCt.
0
Hämolyse
V20000
0,05
0,02
1 ’S
10 pCt.
0,00015
T)
V 40000
0,25
0,01
V
5 pCt.
0
V
1 /
/S0000
0,25
0,01
■f a
I ®
5 pCt.
0
n
1 / 80000
0,05
0.02
\ o /
lOpCt.
0.00015 !
r
Vl 00000
0,25
0,01
> 3 plus<
/ « \
5 pCt.
0
n
Phys. NaCl-
0,25
0.01
T J
5 pCt.
i i
0
Hämolyse
Lüsg.
Viooo Pferde¬
0,25
0,01
i
5 pCt.
0
in 2 Std.
r»
serum (55°)
Vsoooo Pferde- 1
0,05
0,02
a
' o \
1
10 pCt.
0,00015
T)
serum (55°)
2 Stunden bei 37° C.
Analoge Resultate wie die oben angeführten, habe ich mit Pfcrdc-
und Rinderseris bezw. Antiseris bekommen. Ich habe in diesen Ver¬
suchen, wie auch in den mit Menschenserum Resultate bekommen, wo
in Folge der starken Verdünnungen ein Ausschlag mit den ßordet-
schen Präzipitinen nicht zu erhalten war. Mit einem Rinderimmun¬
serum, das ich Dr. A. Schulz verdanke, und dessen Aktivität kaum
1 :8000 in 1 / 2 Stunde entsprach, bekam ich positive Resultate in
1) Das Serum war mir freundlichst von Dr. Schulz bei der Unterrichts¬
anstalt für Staatsarzneikunde in Berlin überlassen. Seine Wertigkeit betrug
1:40000 in 1 / 2 Stunde.
2) Kaninchen-Antiziegenserum (55° C.).
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Ueber die praklische Bedeutung der Alexinfixation usw. 281
Verdünnungen von 1:50 000; stärkere Verdünnungen brauchte ich
dort nicht.
Wie aus der Tabelle hervorgeht, habe ich Versuche sowohl mit
vorher sensibilisierten Blutkörperchen angestellt, wie auch mit solchen,
die vorher nicht sensibilisiert waren. Die Versuche mit sensibilisierten
Erythrozyten entsprechen Experimenten, die Neisser und Sachs in
ihrer ersten Mitteilung über Ablenkung hämolytischer Komplemente
zum forensischen Nachweis der Herkunft des Blutes veröffentlichten,
und deren Richtigkeit auch Friedberger bestätigen konnte. Die
Experimente mit nicht vorher sensibilisierten Blutkörperchen wurden
zur Kontrolle des vereinfachten Verfahrens, welches Neisser und
Sachs 1 ) nunmehr vorgeschlagen haben, gemacht. Ein prinzipieller
Unterschied besteht in der Tat nicht zwischen den beiden Verfahren.
Denn in den Röhrchen, zu denen nicht sensibilisierte Blutkörperchen
zugesetzt wurden, war die Alexinmenge 5 Mal grösser als in den
Röhrchen mit 0,05 ccm Alexin, und diese Menge von 0,25 genügte,
wie zuerst festgestellt wurde, um 1 ccm 5proz. Blutkörperchen-Auf¬
schwemmung zu hämolysieren. Die frischen Normalsera enthalten
nämlich auch, wie oben schon hervorgehoben ist, die beiden Faktoren,
die erforderlich sind, um Hämolyse hervorzubringen, obwohl die Menge
des Sensibilisators (Ambozeptor) dort weit geringer ist als in einem
Immunserum. Werden die Blutkörperchen vorher sensibilisiert, so
sind sie weit weniger widerstandsfähig als Blutkörperchen, die mit
entsprechendem Imraunserum nicht in Kontakt gewesen sind. In den
Versuchen, in denen sensibilisierte Blutkörperchen zum Gebrauch
kamen, genügte schon die Dosis von 0,05 Alexin, um Hämolyse her¬
vorzubringen. Der Umstand, dass in Vorversuchen die Alexin¬
mengen stets zuerst festzustellen ist, die dieselbe Menge Blutkörper¬
chen-Aufschwemmung hämolysieren, die in den Versuchen gebraucht
wird, kompliziert die Neisser-Sachssche Methode beträchtlich.
Zwar soll nach der Behauptung von Neisser und Sachs die hämo¬
lytische Wirkung des Kaninchenserums gegenüber Hammelblut¬
körperchen (bezw. Ziegen blutkör perchen) „ziemlich konstant“ sein.
Die minimale komplett lösende Dosis für 1 ccm 5proz. Hammelblut¬
körper-Aufschwemmung wäre nach den genannten Autoren gewöhn¬
lich 0,25—0,15. Diese Angabe scheint nicht ganz richtig zu sein,
wenn man nicht dem Wort „ziemlich“ eine fast zu elastische Be-
1) Neisser und Sachs, L. c.
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282
Dr. E. Ehrnrooth,
deutung gibt. Es gibt Kaninchensera, für welche diese Konstanz durch¬
aus nicht zutrifft. Jedenfalls muss immer zuerst die minimale komplett
lösende Dosis in Vorversuchen bestimmt werden. Dieses betrifft sowohl
Versuche, in denen sensibilisierte wie nicht sensibilisierte Blutkörperchen
gebraucht werden.
Die Methode ist offenbar weniger kompliziert, wenn sie mit nicht
sensibilisierten Blutkörperchen angestellt wird. Man braucht ja in
diesem Falle Antiserum für die Tierart, deren Blutkörperchen als
Indikator verwendet werden, nicht zur Verfügung zu haben. Ne iss er
und Sachs haben für den forensischen ßlutnachweis auf diese Weise
am zweekmässigsten gefunden die Kombination von Kaninchenserum
als Alexin und Hammelblutkörperchen als Indikator. Benutzt man
aber sensibilisierte Blutkörperchen, so kann man irgend ein beliebiges
anderes Alexin verwenden, was bisweilen offenbar von Bedeutung
sein kann.
Die Blutkörperchen, die als Indikator in den Versuchen dienen,
müssen gut in physiologischer NaCl-Lösung (8 pM.) gewaschen sein,
denn sonst kann es, wenn Serum denselben noch anhaftet, leicht ge¬
schehen, dass ein Niederschlag beim Zusatz des Sensibilisators ent¬
steht. Dieser Niederschlag kann offenbar die Blutkörperchen derart
beeinflussen, dass sie nicht hämolysiert werden, obwohl Hämolyse
entstehen sollte. Dieselbe Wirkung konnte vielleicht auch eine eventuell
entstehende hctcrologe Trübung hervorbringen in der Mischung von
Menschenimmunserum und nicht vorher gewaschenen Blutkörperchen
in einer Aufschwemmung bei Versuchen mit nicht sensibilisierten
Erythrozyten.
Die gerichtliche Medizin hat zweifellos durch die Neisser-
Sachssche Methode einen wertvollen Gewinn erhalten. Nach meiner
Meinung verringern jedoch Schwierigkeiten technischer Art und die
Emständlichkcit, die an der Probe haftet, nicht unwesentlich ihre prak¬
tische Bedeutung. In gewisser Hinsicht scheint auch ihre ganz ausser¬
ordentliche Empfindlichkeit als verringernder Faktor ihren praktischen
Wert zu reduzieren, obwohl auch diese Empfindlichkeit und Spczifizität,
wenn z. B. nur geringwertige Immunsera zur Verfügung stehen,
von Bedeutung sein kann. Auf die Verdienstseite der Methode muss
der Emst and geschrieben werden, dass sie mit Seris und Untersuchungs¬
flüssigkeiten ausgeführt werden kann, die nicht dieselbe Klarheit haben
müssen, wie die Flüssigkeiten, die in der Methode mit den Bordet-
sehen Präzipitinen erforderlich sind. Zum Lobe der Methode muss
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Ueber die praktische Bedeutung der Alexinfixation usw.
283
ausserdem — wie schon früher von Neisser und Sachs erwähnt
ist — gesagt werden, dass diese Probe sich sehr gut dazu eignet, vor
Gericht demonstriert zu werden.
Aus der Praxis kann die Neisser-Sachssehe Methode die
Ühlenhuth-Wassermannsche, die den ersten Platz behalten wird,
nicht verdrängen.
Es ist mir eine angenehme Pflicht, den Herren Dr. J. Bordet und
0. Gengou meinen besten Dank auszusprechen für das grosse Ent¬
gegenkommen, das diese Herren mir bei der Ausführung dieser Arbeit
bewiesen haben.
Juni 1906.
Yierteljahrsschrift f. ger. Med. u. öff. Sau.-Wesen, 3. Folge. XXX1L 2.
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(x4us der Königlich sächsischen Heil- und Pflegeanstalt
Zschadrass.)
Kasuistischer Beitrag zur Frage über die straf¬
rechtliche Zurechnungsfähigkeit der Hysterischen.
Von
Oberarzt Dr. Hösel.
Auf der Jahresversammlung des Vereins der deutschen Irrenärzte
in Bonn und Halle bedauern Fürstner und Wollenberg in ihren
Referaten über die Zurechnungsfähigkeit Hysterischer den Mangel
einer erschöpfenden Kasuistik dieser Krankheitsgruppe gegenüber dem
Reichtum der forensischen Literatur der Epilepsie.
Soweit ich sehe, ist diese Kasuistik in den folgenden Jahren nicht
besonders bereichert worden.
Wir sind zwar seitens Binswangers, Reimanns, Räckes,
Nissls mit nicht unbedeutenden Monographien über Hysterie und
hysterische Psychosen beschenkt worden, welchen auch zahlreiche
Kasualien als Beweismittel eingereiht sind. Die Fälle betreffen aber
mehr die allgemein klinische Betrachtung der in Rede stehenden
Psycho-Neurosc und berühren die Frage nach der kriminellen Zu¬
rechnungsfähigkeit dieser Kranken mehr nebensächlich.
Ich glaube daher, dass folgender Fall von hysterischem Irresein
sowohl wegen seiner psychogenetischen Entwicklung und seines Ver¬
laufes als auch wegen seines kriminellen Charakters wert ist, ver¬
öffentlicht zu werden.
Ich lasse ihn daher in Form des von mir vor dem Kgl. Amts¬
gericht zu C. am 17. Oktober 1904 abgegebenen Gutachtens folgen:
bv Google
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UMIVERSITY OF IOWA
Kasuistischer Bcitr. z. Frage üb. d. strafrechtl. Zurechnungsfähig!«, usw. 285
A. Vorgeschichte.
Das Kinderfräulein Anna Martha K. ist geboren am 7. März 1879 in R.
Die Eltern desselben leben seit etwa dem Jahre 1883 voneinander getrennt.
Der Vater soll wiederholt bestraft, sein jetziger Aufenthalt unbekannt sein. Die
Mutter lebt in ärmlichen Verhältnissen in Fr. als Striokerin.
Die K. besuchte als Kind die erste Bürgerschule in R. In ihrem von dem
Direktorium dieser Schule ausgestellten Schulzeugnis erhielt sie im sittlichen Ver¬
halten die 3, in den Fortschritten die 2. „Ueber ihre Führung in der Schule
selbst war nichts zu erinnern. Tn bezug auf Klagen ausserhalb der Schule wusste
sie in Folge ihrer Kunst im Herausreden und in der Verstellung lange Zeit jeden
Verdacht von sich zu weisen, bis ihr Eigentumsvergehen nachgewiesen wurden,
wegen welcher sie in Untersuchung gekommen war.“
Sie hatte Kaufleuten Stoffe zu Gardinen, Schürzen usw. abgeschwindelt,
indem sie die Sachen auf Rechnung fremder Personen entnahm und wurde deshalb
am 13. März 1893 wegen Betrugs in 6 Fällen vom Kgl. Amtsgericht R. zu 15 Tagen
Gefängnis verurteilt.
Ihre Angaben bei der Ausführung der Betrügereien waren sehr sicher, ihr
Auftreten gewandt. Sie selbst galt „stadt- und gerichtskundig“ als ein äusserst
verlogenes Mädchen. Ihre Mutter bezeichnete sie als ungehorsam, widerspenstig,
lügenhaft. Ueber die Bctrugsfälle machte sie frei erlogene Angaben, wollte vom
eigenen Vater oder anderen Personen dazu gezwungen oder angestiftet, von ein
paar Kerlen angefallen und ausvisitiert worden sein.
Am 22. Dezember 1892 wurde die K. auf Beschluss des Stadtrates zu R. in
der Kinderbewahranstalt T. untergebracht. Wegen der verübten Betrügereien er¬
schien es zweifelhaft, ob sie Ostern 1893 konfirmiert werden sollte. Der Geistliche,
bei welchem sie Konfirmationsunterricht empfing, gab ihr das beste Zeugnis bezüg¬
lich ihres Wissens. ,,Es ist die beste Konfirmandin“, — testierte derselbe —, „denn
sie bleibt auf eine Frage nie die Antwort schuldig, und zwar sind ihre Ant¬
worten immer so treffend und durchdacht, dass man ihr gute geistige Fähigkeiten
nicht absprechen kann.“ Ihre Führung war, da sie stets beaufsichtigt war, eine
dementsprechend tadellose, nur war fast jedes Wort, das sie sprach, eine Lüge, so
dass der Geistliche, namentlich in letzter Zeit während ihres Aufenthaltes in T.,
wiederholt zu ihr sagte: „Dich frage ich nicht, denn ich will von Dir nicht be¬
logen sein.“
Am 30. März 1893 wurde sie konfirmiert aus der Anstalt T. entlassen.
Am 5. April 1893 trat sie ihre erste Gefängnisstrafe im Geriohtsgefängnis zu
R. an, verliess es am 23. April 1893.
Sodann übernahm sie bei Spinnereibesitzer R. in Fr. als Kindermädchen
Dienste.
Hier spielte sich ihr zweites aktenkundiges Verbrechen ab.
Am 11. September 1893 vermisste ihre Herrin einen Geldbetrag von 20 Mark,
eine Korallenkette von 50 Mark und später ein goldenes Armband und eine goldene
Brosche im Gesamtwerte von 125 Mark.
Frau R. hegte zunächst gegen die K. wegen ihrer Jugend und da sie durch
ihr gewandtes, einschmeichelndes Benehmen ihr Vertrauen erworben hatte, keinen
Verdacht, vielmehr hatte sie eine damals in ihrem Hause aufhältliche entfernte
19*
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UNIVERSUM OF IOWA
286
Dr. Hösel,
Verwandte für die Diebin gehalten und zwar weil die K. ihr mitgeteilt hatte, dass
sich diese, als das Fehlen des Geldes bemerkt worden war, angeblich verfärbt habe.
Die K. erzählte aber weiter, sie habe die P., das zweite Dienstmädchen der
R., eines Morgens am Schlosse des Vertikows beschäfiigt gesehen und diese
habe, von ihr überrascht, sich den Anschein gegeben, als reinige sie gedachtes
Möbelstück.
Frau R. liess darauf die Kommode der P* öffnen und in dieser fand sich ein
der K. gehöriges Hemd.
In Folge fortgesetzt eindringlicher Vorhalte seitens der K. und der lt. räumte
endlich die P. ein, die Diebin des Geldes und der Korallenkette zu sein.
Sie wurde darauf in Haft genommen.
Am Tage darauf wurden aber in den Aermeln einer der K. gehörigen Jacke
die vermisste Korallenkette und ein Portemonnaie mit etwa 9 Mark Inhalt entdeckt.
Der K. wurde Vorhalt gemacht. Diese leugnete aber, warf sich zu Boden,
weinte und beteuerte derart ihre Unschuld, dass Frau R. mit den Worten: „Dir
geschieht ja nichts. Ich sage doch nicht, dass Du es gewesen bist“, sie beruhigen
zu müssen glaubte.
Nun äusserte aber die K. nach kurzem weiter: „ihre Gedanken betrügen sie
nicht, es stecke noch etwas oben in der Holzkammer“; und richtig brachte der
5jährige Sohn der Frau R., der mit der K. in der Holzkammer gewesen war, aus
einem Sacke noch ein Plüschjacket und einen Schlafrock zum Vorschein, die bis
dahin noch garnicht vermisst waren. Endlich äusserte die K. zur Frau R., sie
solle doch auch einmal nach ihrem Armband sehen. Die P. habe zu ihr, der K.,
einmal gesagt, dass sie ein schönes Armband besitze, möglicherweise habe die P.
auch dieses gestohlen.
Hierauf wurde Armband und Brosche vermisst.
In ähnlicher, raffinierter Weise beging die K. auch die in den Akten ihr zur
Last gelegten Betrugsfälle, die sie unter dem Vorgeben, ein anderes Dienstmädchen
für Frau R. zu mieten, beging. Sie begründete auch diese mit ebenso frei aus der
Luft gegriffenen Erdichtungen, wie die Diebstähle, wobei sie ohne Rücksicht fremde
oder bekannte Personen verdächtigte und sie in ihr verbrecherisches Handeln ver¬
strickte. Auch legte sie dabei das gleiche theatralische Gebaren an den Tag, wie
oben, als die Korallenkette gefunden wurde.
Als dann der Verdacht auch hier sich wieder auf sie lenkte und die Be¬
trügereien herauszukommen drohten, kam sie wieder jammernd und weinend aus
ihrer Kammer zur Frau R., hat fortgesetzt gcwehklagt, ohne die Fragen ihrer
Herrin nach dem Grunde ihres Schmerzes zu beantworten, hat sich ganz untröst¬
lich gestellt, sich hingeworfen, das Gesicht verzerrt, so dass ihr die vollste Teil¬
nahme der Frau R. zuteil wurde und letztere sogar befürchtete, das Mädchen werde
von Krämpfen befallen werden.
Die K. hatte dabei einen Zettel in der Hand, inhalts dessen ihre Schwester
schrieb, dass ihre Mutter, die in Dresden zwecks Vornahme einer Operation sich
aufhalte, grosses Verlangen nach ihr habe und sie noch einmal sehen wolle, aber
sofort, ehe es zu spät sei.
Frau R. gab ihr Erlaubnis zum Besuch ihrer Mutter, Reisegeld und half ihr
auch noch beim Anziehen.
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Kasuistischer Beitr. z. Frage üb. d. strafrechtl. Zurechnungsfähigk. usw. 287
Die K. reiste alsdann ab. Als sie aber nach einigen Tagen wieder zurück¬
gekehrt war, und sich unterdes die Verdachtsgründe gegen sie immer mehrten,
veranlassto Frau R. ihre Festnahme.
Die P. wurde jetzt, nach 14 Tagen, aus der Haft entlassen. Sie erklärte,
dass sie die Diebstähle nur aus Angst zugestanden habe, weil die K. so in sie
gedrungen sei.
Auch in dem nun gegen die K. eingeleiteten Vorverfahren hat diese die
erdenklichsten Lügen frei erfunden, um die Schuld von sich abzuwälzen.
Die gestohlene Brosche wollte sie bald von ihrem Vater, bald von einem an¬
geblichen Bruder ihres Vaters erhalten haben, der sich in Dresden, wo sie nach¬
weislich gar nicht war, am Bahnhof empfangen, der sich als Schreiber obigen
Zettels bekannt haben sollte, der mit ihr nach Glauchau gefahren sei, mit ihr da¬
selbst übernachtet und versucht haben sollte, sie geschlechtlich zu missbrauchen,
und der endlich auch derjenige gewesen sein soll, der sie am 9. August bei Fr.
gleichfalls räuberisch überfallen haben sollte.
Alle diese Angaben stellten sich, zeugeneidlich erhärtet, als unwahr und
aus der Luft gegriffen heraus und durch Schriftvergleichung wurde auch festge¬
stellt, dass der oben erwähnte Zettel von der K. selbst geschrieben sei.
Nun glaubte aber die Mutter der K\, dass ihre Tochter durch den angeb¬
lichen Raubanfall und Schreck ganz geistesgestört sei. „Sie, die K., habe überall
keine Ruhe mehr gehabt und wenn sie sie gefragt habe, habe sie erklärt, sie habe
nichts genommen/ 4
Bl. 90 der Akten behauptete die K. selbst auch, Frau R. habe sie aus freien
Stücken nach R. geschickt, damit sie sich, weil sie von dem Raubanfall immer
Krämpfe gehabt habe, bei ihren Angehörigen erholen solle.
Bl. 90 gibt die Mutter der K. ferner an, dass ihre Tochter, wonn sie bei ihr
zu Besuch gewesen sei, sich immer krankhaft aufgeregt gezeigt habe.
Da infolge.dieser Angaben Zweifel auftauchten, ob die K. geistig normal sei,
wurde ein bezirksärztliches Gutachten eingeholt.
Dasselbe behandelt die Frage, ob man es bei der K. mit der unter dem
Namen der Moral insanity bekannten psychischen Degeneration zu tun habe, und
kam zu dem Ergebnis, dass man sich nach sorgfältiger Erwägung der Verhältnisse
dagegen aussprechen müsse.
Die K. wurde darauf verurteilt.
„Auf Grund der Beweisergebnisse und insbesondere in Erwägung, dass die
K. des Besitzes des grössten Teils der gestohlenen Sachen überführt erschien,
dass sie bei dem Versuche, sich zu rechtfertigen, sich in die gröblichsten, in sich
widerspruchsvollsten Lügen verstrickt hat, dass sie andere Personen des Dieb¬
stahls zu verdächtigen unternommen, dass sie noch nicht vermisste Sachen an
Orten, wo sie sie zu vermuten Anlass nicht haben konnte, aufgefunden hat, wurde
sie des Diebstahls und Betrugs für schuldig erachtet und zu 1 Jahr und 3 Monat
Gefängnis verurteilt/ 4
„Zu ihren Ungunsten kam ausser ihrer Vorbestrafung in Betracht: Die aus
ihrem Verhalten in gegenwärtiger Untersuchung erhellende Verstocktheit und Ver¬
dorbenheit ihres Charakters, der grobe Vertrauensbruch, den sie gegen ihre, ihr
wohlwollende Dienstherrschaft begangen hat, sowie der Umstand, dass sie eine
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288
Dr. Hösel,
Unschuldige in Verdacht und Untersuchungshaft gebracht hat. Als besonders ver¬
werflich erschien ihr Handeln insoweit sie sich nicht gescheut, zu betrügerischem
Zwecke den nahen Tod ihrer Mutter vorzuspiegeln. u
Ueber die Führung der K. im Untersuchungsgefängnis und ihren Charakter
findet sich in den betreffenden Akten die Bemerkung: „Die K. besitzt grosse Er¬
findungsgabe und Beharrlichkeit im Lügen, wobei sie ein erstaunlich glaubwür¬
diges Wesen an den Tag legt.“
Nachdem sie am Tag nach derVerurteilung dem Staatsanwalt ein Geständnis
abgelegt, wurde die K. am 12. Juni 1894 der Strafanstalt Gr. überantwortet. Da¬
selbst erlitt sie mehrere Bestrafungen wegen Ungehorsams, Kaupelei, unerlaubten
Sprechens, wiederholt verbotenen Lachens, ungebührlichen Betragens, galt als
lügenhaft und sittlich verwahrlost, eitel, fleissig, geschiokt, sehr eigensinnig,
eigenwillig, dickköpfig, vorlaut, zänkisch, dabei sehr empfindlich, mit leidlichen
Kenntnissen begabt, ohne jegliche Reue.
Am 11. September 1895 wurde sie zu ihrem in Y. wohnenden Vater entlassen.
Am 2. April 1896 wurde sie aber von neuem verhaftet. Sie hatte ihrer
Freundin G. eine Uhr mit Kette im W r erte von 50—00 Mk. gestohlen.
Auch hierbei versuchte sie in raffinierter Weise den Verdacht von sich auf
andere zu lenken, indem sie frei erfunden andere des Diebstahls beschuldigte, in
diesem Fall ein Kind.
Sie wurde „in Ansehung des beträchtlichen Wertes von Uhr und Kette, beim
Nichtvorhandensein irgend eines Notstandes als Motiv der Tat, in Ansehung der
beiden von ihr erlittenen Vorstrafen, des schweren Vertrauensbruches und nicht
zuletzt wegen ihrer Niedertracht, die sich in der gewissenlosen Verdächtigung
einer unschuldigen Person kundgab“, zu 10 Monaten Gefängnis verurteilt.
Am 26. Mai 1896 wurde sie zur Abbiissung der Strafe wiederum der Straf¬
anstalt Gr. zugoführt.
Während dieses zweiten Aufenthaltes daselbst wurde sie wegen ungebühr¬
lichen Verhaltens gegen Beamte bestraft, zeigte sich leichtfertig, lügenhaft, dick¬
köpfig, verleumderisch, klatschhaftig, geschickt zu jeder feineren Arbeit, lleissig,
jedoch nach Laune, wetterwendisch.
Am 16. März 1897 wurde sie entlassen. Wo sie in der Folge sich aufge¬
halten hat, ist nicht aktenkundig.
Erst im August 1898 erfährt man wieder von ihr.
Es erging nämlich am 24. August 1898 am Landgericht S. die Anzeige, dass
sich die K. von neuem des Betrugs schuldig gemacht habe.
Sie hatte sich in dem Geschäft der Witwe L. in X. als Verwandte der Fa¬
milie Ge., wo sie in Diensten stand, ausgegeben und für diese einen Reisekorb
bestellt, ohne Zahlung zu leisten. Den Korb, der der Familie Ge. zur Ansicht ge¬
schickt wurde, nahm die K. aber selbst in Empfang und reiste mit ihm ab.
4 Wochen nachher, am 23. September 1898, erging eine weitere Anzeige
gegen die K. seitens einer Witwe V. in M., wieder wegen Diebstahls. Da aus
dieser Anzeige über das Wesen und Verhalten der K., besonders über die Gabe,
frei zu erfinden, manches Bemerkenswerte hervorgeht, sei diese hier zum Teil
wörtlich angeführt:
„Am 1. September 1898 kam eine angebliche Kindererzieherin Jv. zu mir
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Kasuistischer ßeitr. z. Frage üb. d. strafrechtl. Zurechnungsfähig^ usw. 289
und bat mich um die Gewährung von Unterkunft bis 1. Oktober. Das Mädchen
machte einen äusserst intelligenten und sehr guten Eindruck und erzählte mir,
gewissermassen zur Begründung ihres Antrags, sie sei zur Zeit bei Frau Land¬
richter Z. als Kinderfräulein engagiert, gebe diese Stellung aber am selben Tage
auf. Per 1. Oktober sei sie bei Herrn Ingenieur N. engagiert. Diese Familie sei
aber im Bad und es würden ihr mit Rücksicht auf dieses Engagement, falls sie
für den einen Monat nach Hause reisen müsse, zu grosse Kosten entstehen. Sie
sei im Schneidern gut erfahren und von einer Kundin von mir, einer Offiziers¬
dame, deren Namen sie nicht angab, an mich gewiesen worden.
Das anständige Auftreten und der günstige Eindruck, den das Mädchen bei
mir hervorrief, veranlassten mich, dem Ersuchen stattzugeben. — In meinem
Glauben, dass ich es mit einem sehr gebildeten und anständigen Fräulein zu tun
habe, wurde ich auch dadurch bestärkt, dass die K. mir stets Aeusserungen
machte, die auf ein intimes und sehr freundschaftliches Verhältnis zwischen ihr
und Frau Landrichter Z. schliessen Hessen. Sie gab an, den Verkehr mit Frau
Landrichter stets zu unterhalten und ging auch jeden Tag von mir fort, um
irgend etwas bei Frau Landrichter zu besorgen. Ihre tägliche Unterhaltung drehte
sioh grösstenteils nur um Familie Z. und dabei immer hervorkehrend, in welchem
günstigen Verhältnis sie zu dieser Familie stehe. Solche Gesohichten hat sie mir
in reichlicher Menge aufgetragen und ich setzte auch gar keinen Zweifel in ihre
Angaben.
Nun habe ich während des Aufenthaltes der K. bei mir verschiedene Dieb¬
stähle entdeckt. — Mein Verdacht lenkt sich heute auf die K., nachdem dieselbe
am 22. Sept. 1898 plötzlich unter dem Vorgeben bei mir wegging, ihr Vater käme
hierher und sie werde in etwa 14 Tagen jedenfalls mit ihrem Grossonkel nach
Italien reisen.
Ich habe nun festgestellt, dass die K. mich in ganz raffinierter Weise be¬
logen hat. Der ganze angebliche Verkehr mit der Frau Landrichter Z. beruht auf
lauter aus der Luft gegriffenen Lügen.
Es wurde hierauf am 17. Novbr. 1898 gegen die K. Haftbefehl erlassen. Da
ihr Aufenthalt aber unbekannt war, konnte dieser erst am 17. Oktober 1900 voll¬
streckt werden, was in L. geschah, von wo sie am 22. Novbr. 1900 ins Gerichts-
gefängnis zu S. überführt wurde.
Am 27. Novbr. 1900 wurde sie des Betrugs und Diebstahls, beides in straf¬
schärfendem Rückfall schuldig befunden, und zu 1 Jahr Gefängnis verurteilt.
Aus den Untersuchungsakten geht als bemerkenswert noch hervor, dass die
K. folgende wiederum bezeichnende Angabe machte: „Weil ich mich ganz ver¬
lassen fühlte, kam ich gestern Abend zu dem Entschluss ins Wasser zu gehen,
wurde aber von Schiffern wieder herausgezogen“.
Damit im Zusammenhang stehend, findet sich Bl. 68 ein Brief von der Hand
der K., in welchem sie in affektierter Weise ihrer Herrin Vorhalt macht und von
ihrem Vater Abschied nimmt. Einige Sätze seien zur Charakterisierung hier an¬
geführt:
„Frau 0.! Eine zur vollen Verzweiflung gebrachte Mensohenseele schreibt
Ihnen diese Worte, wenn Ihnen diese Zeilen antreffen, ist mein Leib von dieser
Erde. Sie zerstörten mein Glück. Liebe Frau 0.! ich habe ihnen keinen Pfennig
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Dr. Hösel,
gestohlen-ich bin unschuldig, unschuldig gehe ich aus dieser Welt. Ich
habe Ihnen wohl belogen, aber lange nicht so als wie sie mir nachsagen, o ich bin
unschuldig. Ihr meine geliebten Eltern, ehrlich war ich doch, ich habe nichts ge¬
stohlen. 0, ich bin unschuldig, geliebte Mutter, guter Vater, herzige Schwester.
-Verzeiht Eurer armen unschuldigen Tochter-. Man glaubt mir
nicht, dass ich einen Vater habe, und so suche ich den Tod in den Wellen. Mein
herzensguter Vater, der Du sonst keine Kosten scheust und das Geld nicht an¬
siehst, o hole Deine arme Tochter in die Heimat zurück, bitte, lieber Vater, lass
Deine arme unschuldige Tochter in meiner Heimat bei der geliebten Mutter be¬
graben -.“
Ob die K. wirklich einen Selbstmordversuch gemacht hat, ist aus den Akten
nicht erweislich.
Am 22. Dezember 1900 wurde sie zum Strafantritt nach dem Gefängnis zu
S. gebracht.
Am 9. Januar 1901 erging aber bei der Staatsanwaltschaft 0. eine erneute
Anzeige gegen die K., dass diese einer Frau Direktor B., bei welcher sie während
eines vierwöchigen Aufenthaltes in W. in Diensten stand, eine Uhr nebst Kette
im Wert von 239 Mark gestohlen habe.
Am 27. Januar 1901 im Zellengefängnis S. deshalb vernommen, bestritt sie
den Diebstahl und behauptete, ihre Uhren von ihrem Vater erhalten zu haben.
Bei einer Durchsuchung der Sachen der K. am 18. März 1901 wurde die ge¬
stohlene Uhr mit Kette aber in ihrem Koffer gefunden.
Am 17. und 30. April 1901 legte sie Geständnisse ab und gab zu, die Uhr
der Frau B. aus einer Tasche entwendet zu haben.
Inzwischen wurden nun in der Strafanstalt S. zum ersten Mal Zeichen einer
geistigen Erkrankung festgestellt.
Am 24. März 1901 schon schrieb sie an ihre Mutter einen Brief, der durch
viele Unterstreichungen und durch seinen in dieser Beziehung bemerkenswerten
Inhalt auffällt und in welchem folgende Stelle vorkommt: „Denkst Du, ich bin
noch munter und frisch, solltest mich nur sehen, auch ich bin immer unpass und
werde vor Gedanken die Kopfschmerzen nicht los-. 0 bitte, lass mich nicht
verzweifeln, ich tue sonst was wenn mir mein Vater nicht hilft, mir kommen ganz
schreckliche Gedanken, Tag und Nacht habe ich keine Ruhe und wenn ich einmal
eine Stunde schlafe, dann quälen mich wüste Träume.“
Aus dem ärztlichen Fragebogen des Anstaltsarztes zu S. vom 17. Mai 1901
ergiebt sich nach dieser Richtung hin folgendes:
„Im März 1901 begann ihre Krankheit allmählich. Scheinbar liegt die Ur¬
sache in Gewissensbissen. Sie fing an, zu weinen und widerspenstig zu sein. Es
bestanden vollständige Schlaflosigkeit, Depression, Sinnestäuschungen. Die
Störung nahm zu. Die K. wurde immer unruhiger. Ihre Motilität war normal,
die Sinnestätigkeit sehr lebhaft. Kein Zittern, keine Lähmung. Leichtes Schwanken
bei geschlossenen Augen, erhöhte Sehnenrcfiexe, beide Pupillen erweitert, keine
Sehstörungen, keine Schwerhörigkeit, Zunge wird fest und gerade vorgestreckt.
Keine Sprachstörungen. Es besteht Selbstmordneigung. Es mussten ihr wiederholt
Handschellen angelegt werden.
Nach ihren eignen Angaben soll ihre Mutter nervenkrank und sehr auf-
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Kasuistischer Beitr. z. Frage üb. d. strafrechtl. Zurechnungsfähig^ usw. 291
geregter Natur sein. Sie selbst will früh laufen gelernt, Masern, Diphtherie und
Bleichsucht gehabt haben, sei sehr verwöhnt worden, eigensinnig, lebhaft, heftig
und frech gewesen. Habe gut gelernt, habe erst die höhere Töchterschule in
L., sodann in H. (ein Erziehungsinstitut für Mädchen höherer Stände) besucht,
wo sie zu streng gehalten worden sei. Sei vor der jetzigen Erkrankung nicht
geistig gestört gewesen.“
Infolgedessen wurde die K. am 24. Mai 1901 in die Provinzial-Irrenanstalt
zu B. überführt, am 14. Mai 1902 von Hysterie nur gebessert in die Universitäts¬
klinik zu L. versetzt und am 26. Juli 1902 von da wiederum nur gebessert zu
ihrer Mutter nach Fr. entlassen.
Auf eine Anfrage der Staatsanwaltschaft 0. an die Universitätsklinik zu L.
wurde jener folgende gutachtliche Aussprache übermittelt:
„Die pp. K. ist, soweit aus den Akten v. S u. B. bekannt, in eine ausge¬
sprochene Geistesstörung verfallen, erst zur Zeit ihres Aufenthaltes in S., April
oder Mai 1900.
Geisteskrank im eigentlichen Sinne des Wortes war sie vorher offenbar nicht.
Wohl aber dürfte sie schon zur Zeit der Ausführung der fraglichen strafbaren
Handlung, Juli oder August 1900, die vermutlich angeborenen oder früh erworbenen
geistigen Abnormitäten dargeboten haben, welcho wir hier beobachten konnten.
Die pp. K. leidot an einer hysterischen Charakterdegeneration, bei welcher ihre
freie Willensbestimmung sicherlich in erheblichem Grade beeinträchtigt gewesen
ist. Ausserdem scheint nach den Erfahrungen in S. der Strafvollzug in Form
einer Freiheitsstrafe geeignet, bei ihr eine ausgesprochene Geisteskrankheit hervor¬
zurufen.“
Das Verfahren wurde daraufhin von der Staatsanwaltschaft 0. vorläufig ein¬
gestellt.
Am 21. Januar 1904 erging jedoch an die Staatsanwaltschaft A. wiederum
eine Anzeige gegen die K. wegen Diebstahls.
Sie stand im Herbst 1903 bis Januar 1904 im Dienst eines Arztes in H. und
wird beschuldigt, während dieser Zeit eine goldene Brosche im Wert von 40 bis
50 Mark, einen Diamanten im Wert von 200 Mark, verschiedene Deckchen und
Geldbeträge gestohlen zu haben. Der Verdacht richtete sich gegen die K., weil
diese bei dem betreffenden Arzt über ihre persönlichen und Familienverhältnisse
viele, gänzlich falsche Angaben gemacht habe.
Unterdes war die K. Anfang des Jahres 1904 nach Fr. zu ihrer Mutter gereist.
Dort am 25. Februar 1904 vernommen bestritt sie, den Diebstahl begangen
zu haben.
Vernehmungen der Oberpflegerin E. und der Pflegerin F. in B. am 23. März
1904, wo die K. Anfang Januar noch zu Besuch gewesen ist, verstärkten aber den
Verdacht gegen sie.
Hierbei machte die Oberpflegerin E. die Bemerkung, dass die K. am Abend
ihres Besuchs in B. sehr verwahrlost ausgesehen habe und nach ihrer Meinung
geistig nicht normal sei.
Inzwischen war die K. von Fr. (dem Aufenthaltsort ihrer Mutter) wieder
abgereist, während der Reise aber in der Tat geistig erkrankt und im Kranken¬
hause zu Br. untergebracht worden.
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I)r. Hösel,
Aus dem Krankenjournal daselbst geht hervor, dass sie am 3. März auf der
Station Br. als geisteskrank aus dem Zuge geschickt und Abends durch die Sanitäts¬
wache im Krankenhause eingeliefert worden sei.
„Sie war nicht über Ort und Zeit orientiert, leicht erregbar. Man konnte
sich nicht in geordneter Weise mit ihr in Verbindung setzen. Auf Befragen gab
sie Antworten, die mit der Frage zumeist in keinem Zusammenhang standen. Sie
hörte Stimmen bestimmter Personen, die sie namhaft machte (Mutter, Aerzte der
Anstalt, in der sie war), auch sah sie dieselben Personen an der Decke oder in der
Ecke der ihr zugewiesenen Zelle. Sie weigerte sich, Anstaltswäsche anzuziehen,
war vollkommen gleichgültig gegen ihre Umgebung, ausgenommen den Arzt, den
sie als Scharfrichter ansprach. Im Bett verhielt sie sich ruhig, sprach nur vor
sich hin, schlief aber nicht. Sie verweigerte zeitweilig die Nahrung. Es stellten
sich mehrfach deutliche Zeichen von Katalepsie, auffälliger Maniriertheit und
Negativismus ein. Sie zeigte ein krankhaft albernes Benehmen, kam in starke Er¬
regung, schrie laut, weinte, schluchzte. Vorübergehend trat einige Zeit eine Besse¬
rung ein. Die Kranke wurde klarer, war orientiert. Sodann wurde der Zustand
wieder schlimmer. Sie sah wieder Gestalten, besonders Nachts, war erregt.“
Am 7. April 1904 wurde sie entlassen. Sie ging wieder nach Fr. zu ihrer
Mutter.
Hierher erging auch am 23. April 1904 seitens der Staatsanwaltschaft A.
Haftbefehl.
Am 29. April erklärte aber die Mutter der K. an Amtsstelle: „ihre Tochter
habe gegenwärtig wieder Anfälle von Geistesgestörtheit . . ., sie sei krank von H.
zurückgekommen und sei 8 Wochen in der Behandlung des hiesigen Arztes Dr. K.
gewesen. Sodann habe sie am Rhein eine neue Stelle antreten wollen, sei aber
unterwegs in Br. angehalten und wegen schwerer Nervenkrankheit 5 Wochen lang
im dortigen Krankenhaus untergebracht worden. Vor 3 Wochen sei sie wieder
zurückgekehrt und sei seit gestern, wo sie die Bestellung aufs Gericht erhalten
hat, wieder aufgeregt.“
Die K. selbst sodann zur Person und Sacho befragt, ist anscheinend nicht
im stände, die an sie gerichteten Fragen zu beantworten. Sie spricht unaufhörlich
in unzusammenhängender Rede und macht den Eindruck einer Geistesgestörten.“
Es wird deshalb von der Vollstreckung des Haftbefehls abgesehen.
Nachdem auch die unterdes eingeholten Gutachten der Herren DDr. U. in B.
und K. in Fr. zu einem positiven Urteil über den dargebotenen Geisteszustand der
K. aus Mangel an Beobachtungsgelegenhcit nicht kommen konnten, wurde hierauf
auf Antrag der Ferienkammer des Landgerichts A. vom 24. August 1904 die Be¬
obachtung der K. auf ihren Geisteszustand beschlossen, zu welchem Zweck sie
für die Dauer von G Wochen der hiesigen Heil- und Pflegeanstalt am 6. September
1904 zugeführt wurde.
B. Beobachtungs-Ergebnis.
Die pp. K. stammt aus einer mit Neigung zu Geistesstörung schwer be¬
lasteten Familie.
Als geisteskrank starb in der Heil- und Pflegeanstalt H. eine Schwester ihrer
Urgrussmutter, die au Verrücktheit gelitten hat, aus einer menschenscheuen, geistig
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Kasaistischer Beitr. z. Frage üb. d. strafrechtl. Zurechnungsfähig^, usw. 293
und körperlich „verhütteten“ und verarmten Familie stammt, deren Geschwister
auch geisteskrank und geistesschwach gewesen seien.
An allgemeiner fortschreitender Hirnlähmung starb ferner ein Bruder der
Mutter der K.
Geisteskrank sind noch ein zweiter Bruder der Mutter und dessen beide
Kinder, von welchen das eine epileptisch ist und das andere an Jugendirresein
leidet, und diedeshalb in den Landesanstalten II. undF. untergebracht gewesen sind.
Die Geburt der K. selbst war nach den glaubwürdigen Angaben ihrer Mutter
leicht und normal. Das Kind war normal entwickelt, wurde 4—5 Wochen gestillt,
machte in späteren Jahren Masern, Scharlach und Diphtherie durch, klagte in
ihrem 9. und 10. Jahre viel über Kopfschmerz und brach dabei öfter, ohne ersicht¬
lichen Grund. Sie hat nie eine schwerere Kopfverletzung erlitten und nie Krämpfe
gehabt. In der Schule hat sie leicht gelernt, benahm sich wie andere Kinder auch
und hat, solange sie bei der Mutter war, von dieser nie etwas genommen, obgleich
genügend Gelegenheit dazu vorhanden gewesen sei.
Die körperliche Untersuchung der K. ergab, dass sie kräftig und regelmässig
gebaut ist, gut entwickeltes Fettpolster, kräftige Muskulatur und grazilen Knochen¬
bau aufwies.
Ihre Hautbedeckungen sind rein, aber hochgradig blass, ebenso die
sichtbaren Schleimhäute und besonders zeigt das Gesicht eine ganz auffallende
Blässe. Die Haut zeigt beim Bestreichen kein Nachröten.
Der Eindruck, den die Erscheinung der K. als solche macht, ist ein kind¬
licher (Habitus infantilis) und sieht das Mädchen wio ein Kind von 15 bis
IG Jahren, nicht aber wie ein Mensch von 25 Jahren aus. Ihre Hände sind auf¬
fallend klein, ihre Gesichtszüge kindlich.
Kopf- und Gesichtsschädel zeigen nichts Abnormes. Das Haar ist schwarz,
lang, reich. Das Gesicht ist rund und voll, die Gesichts- und Kaumuskulatur wird
symmetrisch innerviert.
Die Augen stehen gerade, sind frei beweglich, etwas hervortretend (leichter
Exophthalmus), der Blick ist stechend. Die Pupillen sind mittel- und gleich¬
weit, reagieren prompt auf direkten Lichteinfall und bei Einstellung in Nähe
und Feme.
Zähne sind gesund und gut erhalten, Ohren ohne Degenerationszeichen.
Gesicht und Gehör sind ohne Besonderheiten. Die Untersuchung des Blickfeldes
ergiebt eine hochgradige und ganz auffallende konzentrische Gesichtsfeldein¬
schränkung, die bestehen bleibt bei mehrfachen Prüfungen.
Die Besichtigung der Mundrachenhöhlo löst sofort einen kräftigen Würg-
redex aus, der sich zu einigen Brechbewegungen selbst bei leiser Berührung und
bei jeder Untersuchung steigert. (Steigerung der Reflexerregbarkeit.)
Der Hals ist kurz und gedrungen, er zeigt eine deutliche, wenn auoh geringe
Anschwellung der Schilddrüse nach beiden Seiten. (Leichte Struma.)
Die rechte Lunge zeigt über der hinteren Spitze abgeschwächtes Atmen,
sonst ebenso wie Herz und Bauchorgane keine nachweisbaren krankhaften Ver¬
änderungen.
Die Bauchreflexe sind nicht auslösbar, ebensowenig besteht reaktive Druck¬
empfindlichkeit der Eierstöcke. (Ovarie.)
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Dagegen sind die Kniesehnen-Reflexe überaus leicht auslösbar und ge¬
steigert, auch ist die mechanische Muskelerregbarkeit beim Klopfen der
verschiedensten Muskeln auffallend erhöht.
Die aktive und passive Beweglichkeit der Extremitäten ist eine geordnete,
abgesehen von einer krankhaften Veränderung, von der weiter unten die Rede sein
wird. Doch zeigte sich anhaltend ein unwillkürliches Bebenmeist einseitig,
in der Augenbrauen- und Nasenlippenmuskulatur, das nicht auf mimische Mit¬
bewegungen zurückgeführt werden konnte, sondern deutlich die Zeichen des
Unwillkürlichen trug.
Es bestanden keine Krämpfe, keine Lähmungen, keine Kontrakturen, keine
veitstanzartigen oder sonstigen Bewegungsstörungen in Form der Zitter¬
bewegungen.
Die Untersuchung der Hautempfindung ergab folgendes Ergebnis:
Während die K. auf der linken Körperhälfte die Spitze oder Kuppe einer Steck¬
nadel zwar nicht ganz, aber annähernd sicher (Hypästhesie) unterschied und
lokalisierte, geschah dies auf der rechten Seite des Körpers (Ober-Vorderarm,
Brust, Ober-Unterschenkel) nicht (rechtsseitige Anästhesie). Während die
K. ferner auf der linken Seite des Körpers Nadelstiche deutlich und schmerzhaft
und gegebenenfalls mit einem Schmerzensruf und reaktiven Abwehrbewegungen
empfand, blieb sie bei den gleichen Versuchen an der rechten Seite unempfind¬
lich. Diese Unempfindlichkeit blieb auch bestehen als man ihr eine grosse Nadel
durch hocherhobene Hautfalten querdurch stach, sie blieb es auch, als der Ver¬
such zu verschiedenen Seiten wiederholt und bald am rechten Arm, bald am
rechten Bein gemacht wurde. Es bestand also ausgeprägte, halbseitigo Gefühls-
und Schmerzlosigkeit (Hemianästhesie und Hemianalgesie der rechten
Seite). Eine Simulation war ausgeschlossen. Die Versuche wurden mehrfach
und stets bei sorgfältigem Ausschluss des Gesichtssinnes gemacht. Bemerkenswert
bei den Versuchen war noch, dass die Stichkanäle nie bluteten.
Lagegefühl und Tastempfindung waren ohne sicher nachweisbaren krank¬
haften Befund.
Es bestand nie Fieber. Der Puls zeigte 72 Schläge in der Minute. Urin
war frei von Zucker und Eiweiss.
Auffallende Störungen zeigten sich weiterhin in Sprache, Ausdrucks¬
bewegungen und Gang.
Zeitweilig war die K. vollständig stumm. (Mutismus.) Diese Stummheit
erstreckte sich oft auf Tage, einmal fast auf eine ganze Woche. Sie gab dann auf
keine an sie gerichtete Frage eine Antwort, sprach auch von selbst nicht, ver¬
langte nichts, äusserte keine Wünsche durch sprachlichen Ausdruck, sondern ver¬
richtete alles vollständig automatenhaft.
An anderen Tagen sprach sie ganz klar, fliessend.
Wieder an anderen Tagen lispelte sie nur, sprach leise und unverständlich
vor sich hin.
Dann wieder schrie sie laut auf, brüllte oder sang.
Ihre Ausdrucksbewegungen unterlagen abgesehen von der Zeit, während
der sie schlief, einem fortwährendem Wechsel. Bald verzog sie die Stirn zu
dichten Runzeln, bald verzerrte sich das Gesicht zu abscheulichen Fratzen, bald
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Kasuistischer Beitr. z. Frage üb. d. strafrechtl. Zurechnungsfähigk. usw. 205
waren die Züge starr, maskenhaft, bald zeigte sioh eine lachende, bald eine ernste,
wilde Miene, bald nahm diese einen drohenden, bald einen unglücklichen Aus¬
druck an, bald war es Soelenschmerz, herzliche oder kindische Freude, Schaden¬
freude, die in den Zügen lag, aber alles immer im bunten Wechsel. Meist auch
verzerrte und verzog sie den Mund zu abscheulicher Breite oder spitzte ihn zu
hässlicher Rundung. (Karpfenschnauze.)
Gleich veränderlich wie ihr Mienenspiel war ihr Gang. Oft unterschied er
sich nicht vom gewöhnlichen. Oft war er soldatenmässig. Sie ging im Takt.
Oft blieb sie plötzlich stehen oder ging nur schrittweise, um dann kurz Halt zu
machen. Dann wieder rannte sie. Dann wieder war der Gang stampfend,
stossend, automatenhaft steif, dann wieder schleichend langsam. Nicht selten
unterbrach sie ihn ganz und blieb längere Zeit auf einem Flecke stehen.
Dabei zeigte sich stets eine auffallende Veränderung im Wesen und Vor¬
halten der K.
Blieb sie in bestimmten Stellungen stehen, nahm sie gewöhnlich eine
statueske Haltung ein. Alle Muskeln waren in mehr oder weniger starrer
Spannung, nahmen oft auch die Stellung längere Zeit ein, die man ihnen künst¬
lich gab. Dies Verhalten zeigte sich aber nur ganz vorübergehend.
Meist befand sie sich im Zustand zweckloser Unruhe. Ruhelos warf sie sich
im Bett hin und her. Immer spielte sie fahrig und hastig bald mit ihrem Haar,
bald mit einem abgerissenen Blatt oder aufgelesenen Steinchen, zerrte an ihrer
Kleidung, drehte sich, lief erregt auf und ab, stellte sich kerzengerade auf einen
Stuhl, oft im blossen Hemd, warf ängstlich und scheu den Kopf zur Seite oder
wand den Blick seitwärts. So machte ihr ganzes Wesen den Eindruck des Thea¬
tralischen, Affektierten, krankhaft Gemachten, Manirierten.
Dabei gestikulierte sie viel in der Luft, richtete den Blick ins Leere oder in
die Ferne, horchte und lauschte an die Wand, in die Ecke, zum Fenster hinaus,
lachte häufig, ohne jeden äusserlich erkennbaren Grund vor sich hin (Sinnes¬
täuschungen).
Nicht selten war sie in ihrem Wesen furchtbar kindisch und albern, brachte
z. B. einmal Beeren des Ligusterstrauches, die einen festen Steinkern haben, ass
sie und behauptete, Kirschen zu essen, fragte ein andermal, ob im Kuhstall auch
Affen wären und freute sich darüber wie ein kleines Kind. Bei schönen Tagen
verkroch sie sich mitten in die Strauchanlagen des Gartens oder stellte sich einen
Armstuhl mitten hinein und thronte auf demselben in gravitätischer Haltung.
Ihre Sprechweise hatte immer etwas Affektiertes, Geziertes. Bald sprach
sie mit Pathos, bald mit Emphase, bald energisch, bestimmt, bald wie ein kleines
Kind, bald in Sätzen, Aphorismen, Satzteilen, Einzelworten. So wiederholte sie
fast ständig, oft Tage und Wochen lang nur das Wort: „Nein“, sprach es gegen
die Wand, gegen die Seite, an die Decke, in die Luft. Oft wiederholte sie:
„Mütterchen, weine nicht“ und rief es 6—7mal und öfter vor sich hin, desgleichen
auch im bunten Wechsel die Worte: „Ich soll nicht hierbleiben! — Nein, Gott,
du bist ungerecht! — Klage nicht! — Weine nicht! — Ich seh dich, mein Mütter¬
lein!“ Diese Sätze immer mehrmals hintereinander wiederholend und Tonfall und
Tonstärke der Sprache wechselnd vom Schreien bis zum Lispeln.
Dass sie an Sinnestäuschungen litt, ergab ihr eben beschriebenes Be-
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Dr. Hösel,
nehmen, ihr horchendes, lauschendes Verhalten, ihr lauernder Blick ins Leere und
in die Ferne und ihre Selbstgespräche, die sie hielt mit lebhaftem Mienenspiel
und plötzlichem Wechsel der Blickrichtung, ferner ihr oftes, plötzliches, unmoti¬
viertes, ungekünsteltes, krankhaftes Lachen.
Ihre stereotype Antwort „Nein, Nein“, das feste, sichere, abwehrende Aus¬
sprechen liess meist auf Gehörstäuschungen schliessen. Ebenso Hess der oft im
Klageton geäusserte Mahnruf: „Mütterchen, weine nicht“, erkennen, dass sie
Weinen hörte. Oft schrie sie plötzlich zur Seite: „Nein, das geht nicht!“ „Sei
still!“ „Lass mich in Ruh!“ „Geh fort!“ „Ich kann nicht!“ oder „Ich kann doch
nicht!“ Sag mir, wohin!“ Ich mag dich nicht mehr!“
Oefter behauptete sie, draussen stünde ein alter Mann, man Hesse sie be¬
sonders nachts nicht in Ruh, immer schicke man ihr jemand, der sie auffordere,
sie sollte kommen, sie dürfe nicht schlafen, oder der ihr Dinge sage, die sie nicht
wiedergeben könne.
Besonders auffallend war dieses eben beschriebene Verhalten zur Zeit ihrer
Menstruation, wo sich der Zustand überhaupt im ganzen verschlimmerte.
Sie schliof dann auch ganze Näohte nicht und verweigerte die Nahrung, weil
Gift darin sei (Geruchs- oder Geschmackstäuschung).
Ihre Stimmung war stets eine überaus wechselnde und schwankte zwischen
ausgelassener Fröhlichkeit und ängstlich-trauriger Verstimmung pendelnd hin und
her. Der Wechsel war meist ein plötzlicher und unmotivierter, auch hielt die
heitere Stimmung nie lange an. War sie aber heiter, dann war die K. zugleich
furchtbar kindisch und albern, geziert, maniriert, Aufsehen erregend, effekt¬
haschend. War die Stimmungslage eine verstimmte, so war die K. meist auoh
ganz unzugänglich, abweisend, oder aber theatralisch- und affektiert-traurig.
Die Prüfung der Intelligenz und des Vorstellungslebens der K. war
insofern erschwert, als dieselbe lange Zeit ganz stumm war und sich infolge
dessen in einem auskunftslosen Zustande befand.
Sprach sie aber und war sie einer Prüfung zugängig, so stellte sich heraus,
dass ihr Vorstellungsinhalt nicht nur ein ihrer Bildung und Erziehung ent¬
sprechender war und dass sie nicht blos über die einfachsten Elementarkenntnisse
verfügte, sondern dass sie sich im Lauf der Jahre und nach der Schulzeit und
wohl auch infolge ihres Aufenthaltes in der Fremde manches neue Wissen ange¬
eignet hatte, so dass von einem Schwach- oder gar Blödsinn keine Rede sein
konnte. Es zeigte sich aber dabei zugleich Krankhaftes, zunächst das sogenannte
Ganser sehe Zeichen oder Symptom des sinnlosen Vorbeiredens.
So beantwortete sie die Fragen:
Wie viel ist 3mal 15? gar nicht, 3mal 3? mit „6“.
Wie viel Stück hat 1 Dutzend? mit „60“.
Und ein Schock? mit „60“.
Also ein Dutzend? mit „60“.
Wie viel gibt es Erdteile? mit „0 es gibt Frankreich, London, Deutschland,
Amerika.“
Sind das Erdteile? „Was ist es denn? Natürlich ist das die Erde. Auf den
Sternen wohnen auch Menschen.“
Wie heisst das 3. Gebot? „Ich komme nicht gleich darauf.“
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Kasuistischer Beitr. z. Frage üb. d. strafrechtl. Zurechnungsfähig^ usw. 297
Das 5.? „Du sollst nicht ehebrechen.“
Das 7.? „Du sollst nicht töten.“
Das 6.? (Nennt das 8.)
Wie heisst die Hauptstadt von Sachsen? „Dresden.“
An welchem Fluss liegt es? „Am Rhein.“
Jetzt sagen Sie mir, wie heisst das 5. Gebot? „Du sollst den Feiertag
heiligen.“
Und das 7.? „Du sollst nicht stehlen.“
Was heisst denn das? „Das Fortholen, was nicht sein ist.“
Währenddem sie diese Antworten gab, sprach sie immer in halluzinierender
Weise ein „Nein, nein“ dazwischen oder machte mit dem Kopf und Arm Abwehr¬
bewegungen in die Luft, oder zog abweisende ärgerliche Gesichter.
Ihr Bewusstsein war dabei nicht aufgehoben, aber entschieden verändert.
Sie stand wie traumverloren oder wie verklärt da und spielte automatisch mit einem
Stengel oder Baumblatt oder zupfte zerstreut, zerfahren an irgend einem erreich¬
baren Gegenstand herum. Eine Bewusstseinstrübung machte sich auch geltend zu
Zeiten, wenn sie stumm war. Sie war dabei wie geistesabwesend, reagierte auf
nichts, nahm nicht die geringste Notiz von den Geschehnissen ihrer Umgebung,
blickte starr in die Ferne oder ins Leere. Auch kräftiges Anreden brachte sie
nicht dazu, ihre Aufmerksamkeit dem Frager zuzuwenden. Sie war wie benommen,
befangen von ihrem Binnenleben, erdentrückt. Es war ein Dämmerzustand. Nie
war sie aber bewusstlos. An anderen Tagen war sie auch wieder ganz klar, er¬
kannte richtig, nahm richtig wahr und verarbeitete die Wahrnehmung auch zu
richtigem Urteil. Dieser Bewusstseinszustand war ein überaus wechselnder.
Auch die Prüfung ihres Erinnerungsvermögens ergab neben normalen
Resultaten veränderte. So behauptete sie. so oft man sie frug, sie sei in Fr. in
die Schule gegangen, sei 1877 geboren. Sie wusste, dass sie mit Gefängnis be¬
straft war, dass man sie eingesperrt hatte, erinnerte sich der Episoden aber weder
in ihrem Zusammenhang noch nach ihrem Umfang. Ihr Gedächtnis war lücken¬
haft und beschränkt. So wollte sie z. B. von ihrer Vorstrafe in R. nichts wissen
(„In meinem Kopfe ist so viel, da weiss ich nicht mehr alles“), desgleichen nicht
von ihrem zweimaligen Aufenthalt in der Strafanstalt Gr. („Wenn Sie es sagen,
wird es wohl so sein“). Dagegen erklärte sie sicher und bestimmt, dass ihr gar
nicht eingefallen sei, in die Saar zu gehen, um sich das Leben zu nehmen („Ich
hab mich höchstens gebadet. Ach wie köstlich!“!. Auch ihre begangenen Dieb¬
stähle stellte sie zum Teil in Abrede („man habe mit ihr gemacht, was man wollte“),
selbst die, die sie früher selbst zugegeben hatte; dass sie aber in der Provinzial¬
anstalt zu B., in der Irrenl^inik in L. im Krankenhaus Br. war, gab sie zu, kannte
auch die Namen der Aerzte und des Personals. Das Gedächtnis war also insel¬
förmig eingeengt und lückenhaft, funktionierte für bestimmte Episoden, für
andere nicht.
Ferner waren aber auch direkte Erinnerungsfälschungen oder Erinne¬
rungstäuschungen nachzuweisen.
So behauptete sie z. B., als sie den Direktor der hiesigen Anstalt das erste
Mal sah, mit voller Sicherheit, ihn zu kennen; weiterhin meinte sie, als sie einmal
zufällig auf dem Tisch einen gestickten Läufer erblickte, mit aller Bestimmtheit und
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Dr. Hösel,
Sicherheit, derselbe gehöre ihr, sie habe ihn angefertigt. Endlich bedrohte sie
einmal einen ganz fremden Herrn, der eine Angehörige besuchte, und erklärte: „er
sei derjenige Mann, welcher immer draussen stand.“
Eine weitere auffallende Erscheinung war ferner die Sucht der K., allerlei
erdichtete Erzählungen mitzuteilen (Pseudologia phantastica).
Für ihre Diebstähle hat sie stets eine fingierte Erklärung, die Uhren habe sie
von ihrem Vater geschenkt erhalten, sie besitze deren zwei. Wozu sie eine dritte
(gestohlene) brauche, verstände sie nicht. Ihre Eltern seien wohlhabende Leute,
besonders ihr Vater, der vom Gelde lebe und ihr im letzten halben Jahre allein
200 Mark für Garderobe geschenkt habe; auch ihre Mutter habe ihr immer viel
Geld gegeben.
In B. sei sie mit den Acrzten zu Fastnachtsvergnügen, ins Theater, ins
Kaffee gefahren, Geheimrat P. habe ihr die in ihren Ohren festgelöteten goldenen
Ohrringe geschenkt; festlöten habe er sie in die Ohren lassen, damit sie nie heraus¬
genommen werden könnten, weil das Unglück bedeute. Mit allen Aerzten und der
Oberpflegerin habe sie auf sehr vertrautem Fusse gestanden und diese seien alle
„sehr nett“ zu ihr gewesen, auch die Aerzte in L., nur die hiesigen nicht. Sie
selbst sei auch immer ein sehr nettes Mädchen gewesen; sie soi sehr fleissig inder
Schule und sehr gescheit gewesen, habe die höhere Schule in Fr. besucht, dort
habe die Frau des Kantors diesem einmal das ganze Gesiebt zerkratzt usw.
Sie geriet bei diesen Selbstberäucherungen und Erzählungen förmlich in
Exstase. Sie legte dabei eine auffallende Selbstgefälligkeit und Eitelkeit zur Schau,
fühlte sich sichtlich wohl dabei, möglichst stark aufzutragen, schön zu färben, zu
übertreiben, und tat dies fast bei jeder Gelegenheit, selbst solchen, wo sich das
Gespräch auf ganz harmlose und gleichgültige Dinge bezog.
Von der Wirklichkeit ihrer Fabeleien und Erdichtungen war sie vollständig
überzeugt. Sie verfügte über eine ganz auffallende Autosuggestibilität. Mit einer
Natürlichkeit und Glaubwürdigkeit brachte sie alle diese Phantastereien vor, dass
man nicht wusste, ob man sich über die grenzenlose Kritiklosigkeit, die sie dabei
an den Tag legte oder über die Selbstverständlichkeit wundern sollte, mit welcher
sie verlangte, dass man ihr alles das glauben sollte. Brachte man ihr Zweifel ent¬
gegen, so wurde sie erregt und erklärte ärgerlich und beleidigt: „Ich kann es doch
nur sagen, wie ich es weiss.“
Was krankhafte Willenshandlungen und Strebungen anbelangt, so
ist, abgesehen von dem oben geschilderten affektiert-theatralischen Wesen der K.
folgendes zu bemerken:
Mehrmals verweigerte sie die Nahrung, zerriss plötzlich ihr Taschentuch,
erklärte dabei auf den eingestickten Namen zeigend: „das sei eine Königskrone“.
Einmal warf sie nachts plötzlich den Einsatz eines Spuckbechers nach der Decke
und zertrümmerte die elektrische Deckenbeleuchtung, rief dabei erregt: „Nein,
nein“. — Ferner erweckte sie einmal den Anschein, dass sie Blut spucke. Endlich
hatte sie sich selbst einmal einen blauen Fleck an der Hand gedrückt und be¬
hauptet, cs sei nachts jemand bei ihr gewesen, der ihr das zugefügt habe.
Bei der Kürze der Beobachtungszeit und der beschränkten Handlungsmöglich-
keit konnte weiteres nicht festgestellt werden.
Zu einer geordneten Beschäftigung war sie nicht zu bewegen. Teils hinderten
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Kasuistischer Beitr. z. Frage üb. d. Strafrecht!. Zurcchnungsfiihigk. usw. 299
sie Sinnestäuschungen daran, teils Mangel an Willen. Nicht einmal zur Abfassung
eines Briefes oder ihres Lebenslaufes oder ähnlicher Aufgaben, die ihr gestellt
worden waren, konnte sie sich entschliessen. Einmal fing sie einen Brief jan ihre
Mutter an zu schreiben, schrieb aber nur die Ueberschrift und liess es dabei. Sie
selbst erklärte, sehr gut nähen und feine Handarbeiten anfertigen zu können.
Auch meinte sie, als man ihr den Diebstahl der Deckchen vorhielt: das sei ja
Unsinn, sie könne selbst so schöne Deckchen anfertigen, da brauche sie keine zu
stehlen. Die sie verschenkt habe, habe sie selbst angefertigt“. Eine Prüfung dieser
Behauptung, ebenso der, dass sie sehr gut zeichnen und Klavier spielen, sowie
vorzüglich radeln könne, konnte nicht vorgenommen werden, da sie stets ablehnte,
den Auftrag zu erfüllen oder infolge ihres Wesens und Verhaltens überhaupt nicht
aufgefordert werden konnte.
Einmal äusserte sie den Wunsch, nach Frankreich gehen zu wollen.
Auffallend ist noch die Art und Weise, wie sie sich zu kleiden beliebte.
Ihre mitgebrachte Garderobe war so reich und glänzend, in die Augen fallend,
dass sie mit ihrer Stellung als Kinderfräulein hochgradig kontrastierte. Sie besass
hochrote Stiefel, ein weisses Kleid von schwerem Rips, Leibwäsche mit vornehmer
und reicher Stickerei. Letztere trug sie, erstere wünschte sie bei schönem Wetter
selbst in der hiesigen Krankenumgebung anziehen zu dürfen und hätte es auch
getan, wenn sie gedurft hätte. So machte sie auch in ihrer Kleidung einen auf¬
fallend theatralischen Eindruck, erschien kokett und putzsüchtig.
In der Besorgung ihrer persönlichen Bedürfnisse war sie zwar
äusserst peinlich und sauber, andererseits aber auch rücksichtslos und ohne
Scham, und zeigte somit eine deutliche Herabsetzung des ästhetischen
Empfindens, freilich war dabei auch immer der Dämmerzustand nachweisbar.
So stellte sie sich z. B. während der Tage ihres Unwohlseins schamlos mit be¬
schmutzter Wäsche, barfuss und nur im Hemd auf einen Stuhl und sprach und
gestikulierte in die Luft oder stellte sich neben das Bett, und war nicht zu be¬
wegen, sich in dasselbe zu legen, weil sie behauptete, sie dürfe es nicht. Dabei
nahm sie auch keine Rücksicht auf zufällig eingetretene Aussenkälte, wenn das
Bett auf die Veranda gebracht war.
Ueber ihr moralisches und ethisches Gefühl und Empfinden lässt
sich folgendes sagen: Ueber ihren hiesigen Aufenthalt machte sie sich nicht die
geringsten Gedanken, zeigte nie Reue. War sie nicht gehemmt und verstimmt, so
trällerte und sang sie und war überaus guter Dinge. Selbst bei Besprechung der
von ihr begangenen und ihr zur Last gelegten Diebstähle sang und trällerte sie
und tänzelte vergnügt, als ob dies alles gar nichts zu bedeuten habe. Dass es
Unrecht ist zu stehlen, wusste sie, gab, wie oben bemerkt, sogar eine gute selbst
gefertigte Definition davon, dass sie es selbst aber getan, stellte sie stets in Ab¬
rede und behauptete, sie sei das Opfer der anderen, die mit ihr machten, was sie
wollten, oder sie sagte: „Ich werde doch nicht Leuten, die nett zu mir sind (z. B.
Frau Dr. W. in H.) Leid zufügen“.
War sie klar und unbefangen, so bekundete sie ein grosses Interesse für
Schönes und Gutes, bewunderte Zeichnungen, erklärte, als sie den Arzt ihre
Reden stenographieren sah, das wolle sie auch noch lernen, jammerte und be¬
dauerte ihre Mutter, die so viel Kummer habe, erklärte erregt und mit tiefer Ent-
Vierteljahrssohrift f. ger. Med. u. öff. San.-Wesen. 3. Folge. XXXJ1. 2. 9Q
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Dr. Hösel,
rüstung beim Vorhalt ihrer Diebstähle: „loh habe nie jemandem mit Willen etwas
zu Leide getan und wenn ich es getan, so habe ich es nie tun wollen. Da ist der
liebe Qott dran schuld, der hat mich zu ganz schrecklichen Sachen bestimmt“.
Von ihren früheren Herrschaften, z. B. Familie Dr. W. in H. sprach sie in
überaus günstiger Weise, gedachte gern und freudig deren Kinder, und wie gut
diese gewesen seien.
Am 17. Oktober 1904 wurde die K. ungeheilt von hier entlassen und von der
Polizeibehörde zu Fr. und ihrer Mutter hier abgeholt.
C. Gutachten.
Die in der hiesigen Landesanstalt gemachten Beobachtungen er¬
geben einwandsfrei und mit Sicherheit, dass die pp. K. zurzeit geistes¬
krank ist.
Die schwere erbliche Belastung, die allgemeine hochgradige Blut¬
armut, der kindliche Entwicklungszustand erweisen eine vorhandene
angeborene Degeneration.
Auf dem Boden dieser Degeneration entwickelten sich weiterhin
die objektiv nachweisbaren Zeichen einer sicher bestehenden Hysterie.
Die hochgradige, konzentrische Gesichtsfeldeinschränkung, die so¬
wohl in der Provinzialanstalt B., wie in der Irrenklinik L. und auch
hier nachweisbar w r ar, die krankhaft erhöhte Ileflexerregbarkeit bei
Berührung (Würgreflex, Kniesehnenreflex), die erhöhte mechanische
Muskelerregbarkeit, die motorische Unruhe der Gesamtmuskulatur, das
unwillkürliche Beben der Gesichtsmuskeln, besonders aber die als
zweifellos vorhanden nachgewiesene, halbseitige Lähmung der Sehmerz-
und Hautempfindung weisen unverkennbar auf das Bestehen einer
solchen hin, besonders wenn man die aufgezählten Krankheitszeichen
in ihrer Gesamtheit berücksichtigt und verwertet.
Neben diesen körperlichen Symptomen der Hysterie zeigen
sich aber auch solche psychischer Art.
Die tage- ja wochenlang beobachtete Stummheit hatte ganz den
Charakter des hysterischen Mutismus.
Das Theatralische, Manirierte in Gang, Haltung und Ausdruck,
das Affektierte, Kindisch-Alberne im Wesen und Verhalten der K.,
der plötzliche unmotivierte, zwecklose Wechsel in der Stimmung, die
bald ausgelassen heiter, bald eine schwer verstimmte war, zeigte
ausgesprochenen hysterischen Charakter an.
Als direkt psychopathische Symptome einer hysterischen Geistes¬
störung sind aber ferner anzusehen die vorhandenen Sinnestäuschungen,
die sich, was insbesondere Hysterischen pathognomonisch ist, meist
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Kasuistischer Beitr. z. Frage üb. d. strafrechtl. Zurechnungsfähigk. usw. 301
auf einzelne bestimmte Personen erstreckten und wenig Wechsel
zeigten, ferner das Symptom des sinnlosen Vorbeiredens, welches be¬
sonders oft bei Hysterischen, die in der Untersuchungshaft erkranken,
zu beobachten ist, endlich die Erscheinung des inselförmig eingeengten
und lückenhaften Erinnerungsvermögens, die Erinnerungsfälschungen
und Erinnerungstäuschungen sowie die oft beobachteten Veränderungen
im Verhalten des Bewusstseins der K., das bald eine Art konzentrischer
Einengung erfuhr, bald einen zweifellosen Dämmerzustand darbot.
Hierzu kommt die krankhafte Sucht der K. zum Lügen, zu
Uebertreibungen, Verdächtigungen, phantastischen Erdichtungen (Pseu¬
dologia phantastica). Die Art und Weise, wie sic diese Dichtungen
vorträgt, die Geschicklichkeit, mit welcher sie sic kombiniert und
erfindet, wobei sie sich nicht geniert, wenn es ihr gerade passt, das
Heiligste, z. B. den gar nicht erfolgten Tod ihrer Mutter, Details von
erdichteten Selbstmordversuchen etc. in der plastischsten Weise zu
verwerten, — die masslose Rücksichtslosigkeit, mit welcher sie
Personen in sie verwebt, glcichgiltig, ob sie diese schädigt oder nicht
— die ausgesuchte Freude und Lust, die sie beim Lügen empfindet
und merken lässt und — nicht zuletzt der Nachweis, dass diese
Eigenschaft bis in ihre Kinderjahre hinaufreicht und keiner pädago¬
gischen und disziplinären Beeinflussung zugänglich war, beweist,
dass dies eine krankhafte Eigentümlichkeit der K. ist, Ausfluss ihres
hysterischen Charakters, Symptom der bestehenden hysterischen Geistes¬
störung.
Endlich ist neben dem Zeichen des krankhaften Lügens noch zu
berücksichtigen die Fähigkeit der K. zur krankhaften Selbsteinrede
(Autosuggestibilität). Diese Autosuggestibilität ist bei ihr eine
so hochgradige, dass sie von der Wirklichkeit und dem objektiven
Bestehen ihrer Lügen und frei erfundenen Erzählungen vollständig
überzeugt war, ein Symptom, welches gerade Hysterischen überaus
eigen ist.
Sonach unterliegt cs wohl keinem Zweifel, dass die angeführten
und bei der K. objektiv nachgewiesenen Krankheitszeiehen in ihrer
Gesamtheit Attribute einer Geistesstörung und zwar einer hysterischen
Geistesstörung darstcllen.
Gegenüber der Diagnose der sogenannten Moral insanity ist das
Fehlen eines nachweisbaren angeborenen, intellektuellen Schwachsinns
geltend zu machen, wie dies bereits das Gutachten des Med.-Rats Dr. Fl.
ausführlich dartut.
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302
Dr. Hösel,
Gegen das Bestehen eines Jugendirresei 11s (Dementia praecox)
spricht der Mangel jeglichen Verblödungsprozesses bei langjährigem
Bestehen der Krankheit.
Auszuschliessen ist noch die Annahme einer bestehenden Simu¬
lation.
Auf den ersten Blick wird man sich bei Berücksichtigung des
Raffinements, das die Iv. beim Begehen ihrer verbrecherischen Hand¬
lungen an den Tag legte, der zielbewussten Verdächtigung anderer
unschuldiger Personen, der frei erfundenen, lügenhaften Angaben und
Ausreden der K. schwer entschlossen wollen, anzunehmen, dass sie
nicht simuliere.
Bei genauerer Beobachtung und bei Berücksichtigung der Tat¬
sache aber, dass dieses Verhalten gerade bei Hysterischen sehr oft
beobachtet und als Ausfluss der krankhaften Charakteranlage aufge¬
fasst wird, — muss man bei derartigen Individuen, wie dies auch
der Vorgutachtcr Dr. U. mit Recht betont, mit der Annahme einer
bestehenden Simulation recht vorsichtig sein.
Dass die K. trotz allen Bestehens einer hysterischen Geistes¬
störung das eine oder andere Vorkommnis simuliert oder simuliert
hat, hie und da stark übertreibt, soll deshalb nicht bestritten werden.
Gerade dieses Verhalten ist aber Hysterischen charakteristisch. Dies
erweisen die ärztlichen Erfahrungen und die Ergebnisse der forensischen
Literatur. Die Simulation bei Hysterischen ist darnach oft geradezu
ein Krankheitszeichen derselben.
Hierzu kommt im gegenwärtigen Fall, dass die Uebertreibungen
und das gekünstelte und gemachte Verhalten der K. oft so kindisch
und albern ist, dass der Zweck der Simulation gar nicht in Frage
kommen kann. Auch die Lust am Lügen, die Fertigkeit und Gewandt¬
heit, mit der die K. frei erfundene Geschichten (Ueberfälle durch ,
Räuber, Selbstmorderdichtungen, angebliche sexuelle Attacken, Ver¬
dächtigungen) preisgibt, und die die medizinische Wissenschaft als
sogenannte Pseudologia phantastica kennt, findet man gerade
sehr häufig bei Menschen mit angeborener degenerativer Anlage, ins¬
besondere bei Hysterischen.
Aber auch das sogenannte Gansersche Symptom des sinnlosen
Vorbeiredens, was häufig bei Laien den Verdacht einer bestehenden
Simulation geradezu herausfordert, manchmal in der Tat auch ist,
erweist sich im Zusammenhang mit all den anderen nachgewiesenen
hysterischen Symptomen bei der K. als ein Ausfluss der Krankheit.
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Kasuistischer Beitr. z. Frage üb. d. strafrechtl. Zurechnungsfähig!?, usw. 303
Anmerkung. Historische Notiz: Auf der Jahresversammlung des
Deutschen Vereins für Psychiatrie in Göttingen, 1904, hat Ganser darauf hinge¬
wiesen, dass das mit seinem Namen bezeichnete Symptom des Vorbeiredens in
der Tat zuerst von Moeli in durchaus zutreffender Weise skizziert worden sei und
dass es schon deshalb nicht berechtigt sei, das Vorbeireden als Gansersches
Symptom zu bezeichnen.
Ich möchte darauf aufmerksam machen, dass das genannte Symptom bereits
von Liman in unzweideutiger Form beschrieben worden ist und zwar in einem
Gutachten seiner Sammlung „Zweifelhafte Geisteszustände vor Gericht“, Berlin
1869, Verlag'von Hirschwald. Dort heisst es Bl. 168 in dem Gutachten No. 19
über den Geisteszustand der hysterischen Schwindlerin und Betrügerin Schneider-
Winkler folgendermassen:
„Sie wusste die Jahreszahl, die wir jetzt schreiben, nannte sich Auguste
Winkler, 46 Jahre alt, geboren den 25. März. Die Jahreszahl ihrer Geburt wusste
sie nicht anzugeben. Ihr erster Mann, Schneider, sei 9 Jahro tot. Wann er also
gestorben sei? „1820 a . Wie lange sie mit ihm verheiratet gewesen sei? „12Jahr.“
Wie viel Jahre sind denn 12 und 9 Jahre? „15 Jahre.“ Wenn das 15 Jahre sind,
wann haben Sie ihn also geheiratet? „1810.“ Ich bemerke, dass bei diesen Fragen
die Schneider sichtlich bemüht war, mir Auskunft zu geben. Sie war ruhig,
sprach anscheinend besonnen, liess mit der Antwort warten, als suche sie das
Resultat, und sagto mehremal dazwischen, sie habe ja nicht studiert. Wie viel
Kinder sie habe, „fünf, dreimal Zwillinge.“ Wie viel Kinder dreimal Zwillinge
wären? „Nun das sind sechs.“ Wie viel Kinder sie vom ersten Mann habe?
„Vier“, und vom jetzigen? „Zwei, zwei tote, fünf am Leben, eine ist verheiratet,
die rechne ich nicht.“ Wo ist diese verheiratet? „In Magdeburg an Schiffskapitän
König.“-Wann haben Sie Ihre zweite Ehe geschlossen? „Am 1. Mai vor
5 Jahren.“ In welchem Jahre war das also? „1862 oder 1861.“ Wo sind Sie ge¬
traut? „In Warschau.“ Wie hiess Ihr Mann? „Karl Winkler, er wurde erschossen
am 21. September 1864.“ Nennen Sie mir Ihre fünf lebenden Kinder und den
Ort, wo sie sich befinden! „Eine ist 17 Jahr im Kindel Jesu in Warschau.“
Weiter! „Ein 9jähriger Junge in Salpastropole.“ Weiter! „Ein 7jähriger Knabe,
Karl, und ein 11 jähriger Knabe, Paul, beide iu Posen.“ Weiter! „Emilie, 13Jahr,
in Wradzlawek, seitwärts von Alexandrowo.“ Weiter! „Ein anderthalbjähriger
Knabe, mit dem ich hierher gekommen bin, jetzt in Magdeburg.“ Weiter! „Eine
Verheiratete in Magdeburg, die rechne ich nicht.“ Bei wem befindet sich das
jüngste anderthalbjährige Kind in Magdeburg? „Bei meiner Tochter, das Kind
war 10 Monat alt, als Winkler starb.“ Wie alt ist denn das Kind jetzt? „Na,
■wenn es 10 Monat alt war, als Winkler starb, ich bin jetzt 6 Monat hier, also
iy 2 Jahr, macht 18 Monat, auf 2 Monat wird es nicht ankommen.“ Wann ist das
Kind geboren? „April ist es 2 Jahr, dass es geboren ist. Sie werden es ja am
Taufschein sehen.“-
Seite 173 sagt Liman: „Unverkennbar ist bei der Explorata ein gewisser
Intelligenzmangel vorhanden, welcher sofort klar wird, sobald man sie nicht
faseln lässt, sondern sie zwingt, sich zu präzisieren, und namentlich ist sie un¬
fähig, Zahlenverhältnisse zu erfassen. Ich verweise hier nicht lediglich auf die
zahlreichen sich widersprechenden Angaben über ihre Personalien in den ver-
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UNIVERSUM OF IOWA
304
Dr. Hösel,
schiedenen Verhören, die ich oben zusammengestellt habe and welche allein meine
Behauptung nicht unterstützen könnten, weil hier noch zweifelhaft sein könnte,
wie viel böser Wille seitens der Explorata daeugekommen sei, absichtlich alles zu
verdunkeln. Indes bei den ihre Personalien betreffenden Angaben, welche sie mir
gegenüber gemacht hat, wird ein solcher Verdacht zurücktreten müssen, denn
wenn sie mir etwas einreden wollte, so würde sie, die, wie ich oben gezeigt,
nicht Verstandesschwächo simuliert, sondern im Gegenteil, sich rühmt, weit
pfiffiger zu sein als ich, mir doch wenigstens etwas Glaubliches einzureden be¬
müht sein. Statt dessen aber gibt sie an, 46 Jahre alt zu sein und im Jahre 1810
geheiratet zu haben, fünf Kinder zu haben, darunter dreimal Zwillinge. Unter
den Kindern, welche sie auf Erfordern mit ihrem Alter herzählt, befinden sich
aber nicht zwei, welche gleichaltrig sind, ihre Zahl beträgt ferner acht, während
sie nur sechs herzuzählen beabsichtigt.
Sehr charakteristisch ferner für meine Behauptung, dass sie angibt, ihren
zweiten Mann vor 5 Jahren, also 1862 „oder“ 1861 geheiratet zu haben, ferner,
dass sie behauptet, ihr anderthalbjähriges Kind sei jetzt vor zwei Jahren
geboren worden. Als ich versuchte, sie rechnen zu lassen und sie wirklich be¬
müht war, mir zu sagen, wann sie geheiratet haben müsse, wenn sie 12 Jahre mit
ihrem Mann gelebt und er jetzt 9 Jahre tot sei, nahm ihr Gesicht einen entschie¬
den stupiden Ausdruck an, ein weiterer Umstand, der mir die Ueberzeugung ver¬
schaffte, dass Explorata diese Verstandesschwäche nicht simuliert, sondern ein
wirklicher Intelligenzmangel hier besteht.“
Würde das eine oder andere von den zuletzt erwähnten Krank¬
heitszeichen bei der K. nur allein und vereinzelt nachzuweisen sein,
z. B. das Symptom des sinnlosen Yorbeiredens oder die inselförmige
Erinnerungsfähigkeit oder das krankhafte Lügen, so w 7 ürde es unzulässig
sein, eine vorhandene Simulation auszuschliessen. Aber gerade das
Zusammenfallen dieser Symptome untereinander und mit anderweiten
zweifellos und objektiv nachweisbar vorhandenen hysterischen Krank¬
heitszeichen und zwar schwerer Art zwingen dazu auch dieses an¬
scheinend simulationsverdächtige Benehmen der K. als krankhaft auf¬
zufassen und zu bezeichnen.
Berücksichtigt man also den oben erwähnten SymptomcnkompJcx
nicht in seinen einzelnen Zeichen, sondern bewertet man ihn als ein
Ganzes und Zusammengehöriges, so dürfte die Annahme einer be¬
stehenden Simulation als hinfällig bezeichnet werden müssen.
Die K. leidet also nach dem Ergebnis obiger Darlegungen zur¬
zeit an einer Geistesstörung und zwar an einer hysterischen.
Es fragt sich nun, bestand diese Geistesstörung auch schon
früher, insbesondere zurzeit der zuletzt begangenen strafbaren Hand¬
lung (Diebstahl im Fall des Dr. W. in 11.) im Herbst 1903, be¬
ziehentlich bis Januar 1904.
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Kasuistischer Beitr. 2. Krage üb. d. strafrechtl. ZurechnuDgsfahigk. usw. 305
Aus der Vorgeschichte geht zunächst hervor, dass die K. akten¬
kundig bis zu ihrem Aufenthalt in der Strafanstalt S. Zeichen einer
Geistesstörung nicht dargeboten haben soll.
Erst in dieser Strafanstalt und im Zusammenhang damit in der
Provinzialanstalt zu ß. brach eine geistige Störung bei ihr aus. Sie
begann nach dem glaubwürdigen Zeugnis des Gefängnisarztes Dr. S.
in S. im März 1904 allmählich, verlief unter mehr oder weniger
erheblichen Schwankungen zum Besseren und Schlimmeren während
des ganzen Aufenthaltes in B. bis 14. Mai 1902, an welchem Tage
sie nur „gebessert“ nach der Universitätsklinik zu L. transportiert
wurde, dauerte auch dort noch an. Am 26. Juli 1902 wurde sie
daselbst auch nur gebessert entlassen.
Ueber den geistigen Zustand der K. von dieser Zeit bis zu ihrer
Erkrankung am 3. März 1904 auf der Durchreise in Br. fanden sich
in den Akten keine Anhaltspunkte.
Sicher erweislich ist sie erst wieder vom 3. März bis 7. April 1904
geisteskrank gewesen, ferner vom 6. September 1904 ab bis zum
Tage ihrer Entlassung aus der hiesigen Anstalt, die im ungeheilten
Zustand erfolgte.
Zunächst möchte folgendes erwogen werden: Die K. ist, wie
erwähnt, erblich in hohem Grade mit Neigung zu Geistesstörung be¬
lastet, ihre kindliche Erscheinung, ihr früher Hang zu Diebstahl und
Betrug und das aus den Akten unverkennbar hervorgehende Vor¬
handensein der Sucht, Geschichten frei zu erfinden, wohlgemerkt
Eigenschaften, die die K. an sich nicht exkulpieren würden und auch
nicht exkulpiert haben, bestanden aber von frühester Jugend auf.
Die angeborene Degeneration bestand fort, bestand demnach auch zur
Zeit der ihr zur Last gelegten verschiedensten verbrecherischen Hand¬
lungen. Sie bestand auch zurzeit des Diebstahls im Falle des Dr.
W. in H.
Nun kommt hinzu, dass nach einer schriftlichen Auskunft vom
2. Oktober 1904 des Herrn Dr. W. in H. dieser zwar die K. nicht
für unzurechnungsfähig erklärt, aber doch bestätigt, dass ihm während
ihres Aufenthaltes im Herbst 1903 in seinem Hause ihr ungleich-
mässiges Benehmen öfter aufgefallen sei, dass sie bei ihren Unter¬
haltungen das Blaue vom Himmel runter log mit dem Erfolg, dass
sie selbst an ihre Schwindeleien zu glauben schien (Autosuggestibilität),
dass sie starren Blickes ins Leere, Horchen, scheues, schleichendes
Wesen (Sinnestäuschungen?) dargeboten habe.
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306
Dr. Hösel,
Dies ist doch auffallend und macht es sicher, dass mindestens
der angeborene Degenerationszustand, den man wissenschaftlich mit
dein Ausdruck „hysterischen Charakter“ bezeichnet, zurzeit ihres
Aufenthaltes bei Dr. W. in H. sich geltend gemacht hatte. Ja das
anscheinende Auftreten von Sinnestäuschungen weist sogar mit grosser
Wahrscheinlichkeit darauf hin, dass eine hysterische Geistesstörung
damals bereits Vorgelegen hat.
Diese Wahrscheinlichkeit wird um so grösser, wenn man erwägt,
dass der Verlauf der hysterischen Geistesstörungen gewöhnlich ein
solcher ist, dass die Krankheitszeichen einmal eine Zeit lang zurück¬
treten, gleichsam latent werden, um dann bei einer neuen Gelegenheit
meist affektiver Art von neuem wieder offenkundig zu werden, dass
sich Besserungen einstellen, die dem Laien und Nichtsachverständigen
als Heilungen imponieren und solche Kranke als Gesunde erscheinen
lassen.
Es ist ferner zu bedenken, dass die Krankheit bereits Anfang
März 1904, also kaum sechs Wochen nach dem Weggang der K. aus
dem W.’schen Diensten von neuem und in erhöhtem Masse sich kund¬
gab, den Sommer 1904 über nach den Angaben der Mutter der K.
weiter bestanden haben soll und sicher im September 1904 noch
wirksam in die Erscheinung trat.
Ergeben diese Erwägungen zwar auch nicht positive Beweise, so
machen sie es doch bei Berücksichtigung des ganzen Krankheils¬
verlaufes mindestens in hohem Grade wahrscheinlich, dass die K.
bereits im Herbst 1903, also zur Zeit der letzten inkriminierten Hand¬
lung gleichfalls geisteskrank gewesen ist, die Diebstähle z. B. im
krankhaften Dämmerzustand begangen haben kann.
Was nun die Forderungen des § 51 des Strafgesetzbuches an be¬
langt, so ergibt sieh, dass die K. sich zurzeit ihres Aufenthaltes in
der hiesigen Landesanstalt sich in einem Zustand krankhafter Störung
der Geistestätigkeit befand, durch welchen ihre freie Willensbestimmung
ausgeschlossen war.
Dies beweist nicht nur die Form, sondern besonders auch der
Grad der bestehenden hysterischen Geistesstörung und ihre ganze oben
geschilderte Erscheinungsweise.
Schwieriger ist die Frage nach dem Bestehen der Zu¬
rechnungsfähigkeit der K. zur Zeit der ihr zur Last gelegten
verbrecherischen Handlung zu beantworten.
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Kasuistischer Beitr. z. Frage üb. d. strafrechtl. Zurechnungsfähig^ usw. 307
Positiv lässt sich das Urteil nicht abgeben. Berücksichtigt man
aber, dass zurzeit ihres Aufenthaltes in der hiesigen Landesanstalt
sehr schwere Symptome einer Geistesstörung bestanden haben, dass
es ferner in hohem Grade wahrscheinlich ist, dass Erscheinungen
einer solchen auch im Herbst 1903 bestanden hatten, endlich, dass
die Fähigkeit schwer kranker Hysterischer normal zu überlegen,
überhaupt sehr zweifelhaft ist, besonders bei der immer vorhandenen
degenerativen Anlage und der grossen Autosuggestibiiität solcher
Kranker, so wird die Annahme, dass die freie Willensbestimmung der
K. auch zurzeit ihres letzten Diebstahls ausgeschlossen war, doch
sehr wahrscheinlich.
Diese Annahme widerspricht auch nicht dem Gutachten des Vor¬
gutachters Dr. U., der die K. nur vermindert zurechnungs¬
fähig erklärte, weil sich seit Entlassung der K. aus der Anstalt B.
deren Zustand so verändert hat, dass die Annahme einer bloss ver¬
minderten Zurechnungsfähigkeit nicht mehr ausreichen dürfte, mindestens
gegenwärtig nicht.
Man kann vielleicht betreffs des Bestehens einer nur ver¬
minderten Zurechnungsfähigkeit zurzeit des Begehcns der
inkriminierten Handlung verschiedener Meinung sein, ich persönlich
muss nach meiner Ueberzeugung aus der Schwere der gegen¬
wärtigen hysterischen Geistesstörung, wie sie hier bestanden
hat, den Schluss ziehen, dass mit grosser Wahrscheinlichkeit Unzu¬
rechnungsfähigkeit auch damals anzunehmen war.
Die Geistesstörung der K. ist eine solche, dass Schwankungen,
wie sie bisher beobachtet worden sind, auch in Zukunft ein-
troten werden. Es ist nicht ausgeschlossen, dass in kürzerer oder
längerer Zeit der Zustand sich bessert. Es wird bei der ange¬
borenen Anlage und dem ausgesprochen hysterischen Charakter,
wie er hier vorliegt, aber auch wieder Verschlimmerungen im
weiteren Verlauf aufweisen, ein Umstand, der das Leiden nach der
prognostischen Seite hin im Ganzen nur als minder besserungsfähig
erscheinen lässt.
Nach den gemachten Darlegungen gebe ich unter Berufung auf
den im allgemeinen geleisteten Sachverständigeneid auf Grund des
Aktenstudiums und der persönlich gemachten sechswöchigen Be¬
obachtung der K. mein Gutachten dahin ab:
1. Die pp. K. ist zurzeit geisteskrank.
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308
Br. Hösel, Kasuistischer Beitrag usw.
2. Sie befindet sich gegenwärtig in einem Zustand krankhafter
Störung der Geistestätigkeit, durch welchen ihre freie Willensbestimmung
sicher ausgeschlossen ist.
3. Es ist in hohem Grade wahrscheinlich, aber nicht mit Sicher¬
heit objektiv erweislich, dass die K. auch zur Zeit der Begehung ihrer
letzten Straftat geisteskrank war und sich daher in einem derartigen
Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befunden hat, durch
welchen ihre freie Willcnsbcstimmung auszuschliessen war.
Zsch., den 17. Oktober 1904. Unterschrift.
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14.
Die Aufgaben einer Psychologie der
Untersuchungshaft.
Von
Dr. Hngo Marx.
Assistenten der L'nterriclitsanstalt für Staatsarzneikunde und IT. Arzt des Untersuchungsgefängnisses
Moabit zu Berlin.
Einleitung.
Im März dieses Jahres spracli ich in der Freien gerichtsärztlichen
Vereinigung zu Berlin über die Psychologie der Untersuchungshaft.
Man wird aus dem, was ich damals vorgetragen habe, ohne weiteres
den Eindruck gewinnen, dass es mir weniger darauf ankam, eine ab¬
geschlossene Psychologie der Untersuchungshaft zu geben, als vielmehr
die mannigfaltigen Probleme dieses Kapitels der Kriminalpsychologie
mehr aufzuzeigen als zu erörtern. Ich hatte von vornherein auf eine
klärende und fördernde Diskussion gehofft, und ich habe mich, wie
inan später sehen wird, in dieser Hoffnung nicht getäuscht.
Ich beabsichtige nun im folgenden die Ausführungen, die für
einen kleinen Kreis geschrieben wurden, einem weiteren Zirkel von
fachmännisch interessierten Lesern vorzulegen. Dabei halte ich es
für angebracht, den vorzutragenden Stoff so zu teilen, dass ich zuerst
meinen Vortrag, den ich als Einleitung zu einer Psychologie der
Untersuchungshaft bezeichnete, annähernd in der ursprünglichen Form
wiedergebe. Im Anschluss daran werden die Ergebnisse der Diskussion
mitgeteilt, und zum Schlüsse fasse ich die Aufgaben für die weiteren
Untersuchungen auf dem Gebiete der Psychologie der Untersuchungs¬
haft noch einmal in der Form eines Schemas zusammen. Wenn ich bei
der Darstellung der Diskussion dieNamen der einzelnen Diskussionsredner
nicht für das anführe, was sie vorgebracht haben, so mögen die Kollegen
mir das verzeihen. Daran, dass ich die Diskussion gesondert wiedergebe,
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UNIVERSUM OF IOWA
310
Dr. H. Marx,
werden die Leser erkennen, was mein und was nicht mein ist. Es
kommt ja doch nur alles darauf an, für bedeutungsvolle zukünftige
Untersuchungen Wege und Ziele gemeinsam fcstzulegen. Noch eins
ist vorauszuschicken; dies nämlich, dass es unmöglich ist, eine Ein¬
führung in ein bestimmtes Gebiet der praktischen Psychologie zu
geben, ohne sich an ein bestimmtes Paradigma zu halten. Und so
habe ich für dieses Mal das Beispiel des zum erstenmale zum Rechts¬
brecher gewordenen Menschen gewählt, um an ihm Wesensmerkmale
der Psychologie der Untersuchungshaft darzustellen.
\
I.
M. H.! Als mich unser Herr Vorsitzender 1 ) aufforderte, über
die Psychologie der Untersuchungshaft vor Ihnen zu sprechen, da bin
ich mit Freuden, aber nicht ohne Bedenken, an diese Arbeit gegangen.
Wenn Sie die bekannten Grundrisse der Kriminalpsychologie dureh-
lesen, oder wenn Sie auch nur ihre Sachregister durchmustern, so
finden Sie das Wort „Untersuchungshaft“ nicht einmal überall im
Register aufgeführt. Nur Gross widmet in seiner Kriminalpsychologie
dem Einfluss der Haft einige kurze Ausführungen. Es musste sich
mir daher zunächst die Frage aufdrängen: Gibt es denn überhaupt so
etwas wie die Psychologie der Untersuchungshaft? Es ist ja zweifel¬
los, dass man über die Untersuchungshaft, wie es denn auch kürzlich
geschehen ist, mancherlei Kasuistisches Vorbringen kann, schwarze
Ausmalungen von Seelenzuständen bedauernswerter, mehr minder un¬
schuldig Inhaftierter, aber das ist wohl nicht gerade als wissenschaft¬
lich einzuschätzen und bringt uns nicht weiter. Jedenfalls ist mir
das Eine klar geworden, dass es eine wissenschaftlich wohl fundierte
Psychologie der Untersuchungshaft bis dato nicht gibt, und ich selbst
will gleich hier bekennen, dass auch ich Ihnen heute keine abge¬
schlossene Psychologie der Untersuchungshaft entwickeln kann. Was
ich Ihnen hier geben kann, das kann ja nicht die Summ.e aller meiner
Erfahrungen sein, es sind mehr die allgemeinen Eindrücke und ein
gewisser Erfahrungsniedcrschlag, den ich Ihnen mitteile. Und nach
dem wohlbegründeten Satz, dass eine dünne Lösung nur einen ge¬
ringen Niederschlag liefert, müssen Sic auch das beurteilen, was ich
Ihnen hier vortrage. Es konnte auch gar nicht meine Absicht sein,
Ihnen hier ein vollendetes Ganze entgegenzubringen, meine Aus-
1) Geheimrat Strassmann.
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Die Aufgaben oiner Psychologie der Untersuchungshaft.
311
führungcn müssen vielmehr lediglich als Programm zukünftiger
Arbeiten, als eine Aufzeigung von Problemen, angesehen werden,
welche auf dem Gebiet der Psychologie der Untersuchungshaft noch
zu lösen sind. Die Psychologie der Untersuchungshaft ist zweifellos
ein ganz integrierender Teil der Krirainalpsychologio. Unsere modernen
Krirainalpsychologen betonen, und wohl auch mit Hecht, am stärksten
die sozialen wie die individuellen psychologischen Motive des Verbrechens
In der Psychologie der Untersuchungshaft aber sehen wir als Gegen¬
stück die Wirkung des Verbrechens auf den der Aussenwelt ent¬
zogenen Verbrecher selbst uns in einer gewissen Reinheit entgegen¬
treten. Die Psychologie der Untersuchungshaft ist deshalb in
diesem Sinne geeignet, das Bild von der Seele des Verbrechers zu
ergänzen, es zeigt uns das, was man gemeinhin: „die Kehrseite der
Medaille“ nennt. Leider wird uns das Eindringen in die Psyche des
Untersuchungsgefangenen durch ein wesentliches Moment ausser¬
ordentlich erschwert. Der Untersuchungsgefangene sieht in jedem
Gefängnisbeamten, so auch im Arzt, seinen natürlichen Feind, im
Gedanken an seine Tat und ihre Verfolgung. Wie selten bekommen
wir auf die Frage nach dem Verbrechen des Inhaftierten eine freie
unumwundene Antwort. Wie oft heisst es: „es liegt ein Irrtum vor“,
oder „es handelt sich nur um eine Kleinigkeit, die ich gestohlen oder
unterschlagen haben soll“ u. s. f. Bei dieser Verkleinerung der
eigenen Schuld spielt neben dem Argwohn gegenüber dem Gefängnis¬
beamten natürlich auch wohl der lebhafte Wunsch mit, einen günstigen
Eindruck hervorzurufen, nicht als der sozial und sittlich Derangicric
zu erscheinen. Kurzum, nur wenige Untorsuchungsgefangene zeigen
uns ihr wahres Gesicht. Aber auch diese Tatsache ist kriminal-
psychologisch und für diese Untersuchungen interessant.
M. H.! Wenn wir unseren Gegenstand definieren wollen, so
haben wir uns zunächst mit dem zweifachen Sinne des Wortes:
„Psychologie“ zu befassen. Sie kennen die Psychologie einmal als
die moderne, exakte Naturwissenschaft, deren Aufgabe es ist, die
psychischen Vorgänge mit naturwissenschaftlichen Methoden zu er¬
forschen, und deren höchstes Ideal es sein muss, das ganze geistige
Geschehen durch eine einheitliche Formel begreiflich zu machen. Sie
w r ird daher ihr Augenmerk darauf richten, die seelischen Ereignisse
ihres individuellen Inhaltes nach Möglichkeit zu entkleiden und sie
unter gemeinsame Begriffe zu subsumieren. Etwas anders ist die¬
jenige Psychologie, die uns hier angeht. Für diese Psychologie, die
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Dr. H. Marx,
wir auch die Psychologie des praktischen Lebens nennen können, ist
unter Umständen gerade der Einzelfall, die Individualität im geistigen
Geschehen, das eigentlich Wertvolle. Aber auch diese Art der
Psychologie muss eine gewisse Summe von allgemeingültigen Er¬
fahrungen schaffen können, wenn anders sie Rang und Bedeutung
einer AVissenschaft gewinnen will. Wir werden uns aber demgemäss
nicht wundern dürfen, dass es eine absolut einheitliche Psychologie
der Untersuchungshaft nicht gibt und nicht geben kann. Die Psycho¬
logie der Untersuchungshaft kann ja nichts anders sein als die Be¬
antwortung der Frage: wie wirkt die Untersuchungshaft auf den Ablauf
der seelischen Vorgänge in den von ihr betroffenen Individuen ein? Und
diese Individuen sind recht verschiedenartig. Zweifellos wirkt eine
Reihe von Momenten, welche im Wesen der Untersuchungshaft be¬
gründet sind, auf alle Gefangenen in gleicher Weise ein. Auf andere
Einflüsse reagiert vielleicht ein grösserer Teil in gleicher Weise,
andere reagieren dagegen auf eben dieselben Einflüsse so absolut
anders, dass von einer einheitlichen Psychologie hier nicht die Rede
sein kann. Der wiederholt vorbestrafte Verbrecher bewertet seine
Tat und die Misslichkeiten der Untersuchungshaft natürlich anders,
als der zum ersten Mal Straffällige. Der geistig Minderwertige unter¬
liegt den Schwankungen seines Gemütszustandes eher und plötzlicher
als der seelisch Intakte und geistig Hochstehende. Wir werden uns
zunächst aber mit allen denjenigen Momenten bekannt zu machen
haben, von denen annähernd alle Untersuchungsgefangenen, besonders
aber die zum erstenmale Inhaftierten, in der gleichen Weise betroffen
werden. Und von diesen Einflüssen und ihren Folgen soll heute in
in der Hauptsache die Rede sein. Ich hoffe, Ihnen später einmal den
speziellen Teil zu dieser allgemeinen Einleitung nachliefern zu können.
Es ist natürlich da, wo man von der Psychologie der Untersuchungs¬
haft spricht, nicht nur der Psychologie, sondern auch der Psycho¬
pathologie der Untersuchungshaft zu gedenken. Auch das grosse
Kapitel der Geisteskrankheiten in der Untersuchungshaft müsste hier
erörtert werden, cs ist aber eine Teilung des Stoffes dahin verabredet
worden, dass später Herr Kollege Hoff mann über Geisteskrankheiten
in der Untersuchungshaft spricht, und dass ich mich, wenn ich mich
so ausdrücken darf, der normalen Psychologie der Untersuchungshaft
annehme.
Ihne besondere Methode hat diese Psychologie nicht; ihre Er¬
gebnisse stützen sich auf Beobachtung, man könnte sagen, auf die
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Die Aufgaben einer Psychologie der Untersuchungshaft. 313
Klinik der Untersuchungshaft und, gleich der Kriminalpsychologie, auf
Statistik, auf Zahlenreihen.
Zunächst muss ich Sie bitten, gewisse äussere Einrichtungen der
Untersuchungshaft kurz mit mir zu erörtern, Einrichtungen, deren
Erwähnung und Kenntnis Voraussetzung für die folgenden Aus¬
führungen sind. Ich erinnere Sie zuerst an den Gang einer Inhaftierung:
Eine Person ist dringend verdächtig, ein Verbrechen begangen zu
haben. Zwischen Tat und erster Vernehmung durch die Polizei
liegt schon ein gewisser Zeitraum, der für den Täter voller Aufregung
ist. Die Vernehmung verstärkt den Verdacht, der Verdächtige wird
festgehalten und in das Untersuchungsgefängnis eingeliefert. Hier ist
er Polizeigefangencr bis zu seiner ersten Vernehmung durch den
Richter, die innerhalb der ersten 24 Stunden nach seiner Einlieferung
in das Gefängniss erfolgen muss. In anderen, selteneren Fällen hat
sich der Verdächtige bis zu seiner richterlichen Vernehmung auf
freiem Fusse befunden und erst der Richter schickt ihn in die Haft.
Für denjenigen Untersuchungsgefangenen, der vor seiner, ersten Ver¬
nehmung durch den Richter eingeliefert ist, ist eben diese erste Ver¬
nehmung oft von ausserordentlicher Bedeutung. Sie muss den tiefsten
Eindruck auf den Inhaftierten machen, insofern, als sie seine Hoffnung
auf Befreiung aus der Haft, die er eventuell auf diese Vernehmung
setzßn könnte, vernichtet. Wie häufig hören wir von den Neuein¬
gelieferten, dass sie zuverlässig auf ihre Haftentlassung nach dieser
ersten Vernehmung rechnen. Alles Hoffen geht auf diese Stunde,
und die Vernichtung dieser Hoffnung bedeutet ein wesentliches Glied
in der Kette seelischer Einflüsse der Untersuchungshaft. Zugleich ist
nicht selten diese erste Vernehmung auf Tage, ja auf Wochen hinaus
das einzige bedeutungsvolle Ereignis in dem nun beginnenden monotonen
Gefängnisleben. Auf diese Vernehmung werden wir noch zurück¬
greifen müssen.
Schon dieses Moment gehört zu den wesentlichen Eigentümlich¬
keiten, welche die Untersuchungshaft von der Strafhaft bedeutsam
unterscheiden, und naturgemäss wird ja gerade das Kapitel der
Unterscheidungsmerkmale zwischen Straf- und Untersuchungs¬
haft eine Hauptrolle bei unseren Ausführungen spielen müssen.
Eine Reihe von Unterschieden gegen die Strafhaft ist zunächst
in weiteren äusseren Einrichtungen zu suchen, wie sie der Unter¬
suchungshaft eigentümlich sind. Vor allem kennt die Untersuchungs¬
haft im Prinzip nur die Isolierhaft. Nach Eröffnung des Neubaues hat
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Dr. If. Marx,
unser Berliner Untersuchungsgefängnis bei einer Bclcgungsfäiiigkcit
von 1483 Köpfen, abgesehen von den Lazarettkranken und von Ge-
meinschaftsräumen für eine Anzahl weiblicher Gefangener, nur wenig
mehr als für 130 Köpfe Gemeinschaftshaft. Jugendliche und nicht
Vorbestrafte werden immer isoliert gehalten. Unsere Zellen haben
22 bis 25 cbm Luftraum. Eine Verpflichtung zur Arbeit besteht
nicht; Bücher aus der Gefängnisbibliothek werden in der Regel in
einem Exemplar ausgegeben und einmal wöchentlich gewechselt. In¬
dessen kann der Untersuchungsgefangene sich mit Erlaubnis der
Richter Bücher und Zeitungen halten, ebenso wie er sich selbst
beköstigen kann. Im Uebrigcn ist die Anstaltskost für Gesunde
die sogenannte Ilauskost. Wenn auch in einzelnen Fällen der Arzt
eine reichhaltigere und mehr abwechselungsreichc Kost verordnen
kann, so ist doch die Grundkost des Untersuchungsgefangenen, der
sich nicht selbst beköstigen kann, die Hauskost.
Ich gebe Ihnen aus einem Aufsätze Hoffmanns über Gefängnis¬
hygiene (diese Vierteljahrsschrift, Aprilheft 1906) einige Notizen über
die Beköstigung unserer Untersuchungsgefangenen: „Seit dem Jahre
1887 ist in den Strafanstalten (Zuchthäusern) ein neuer Speiseetat
eingeführt, nach welchem es möglich ist, Käse, Hering usw. zu ver¬
ordnen. Auch für das Untersuchungsgefängnis ist ein neuer Kostetat
in Aussicht, und wir begriissen ihn mit Freude, denn unserer J(ost
tut ein gewisser Fettzusatz not. Unsere gesunden Gefangenen
erhalten täglich frühmorgens 1 / 2 Liter Kaffee, sodann 500 g Brot,
welches in 3 Raten verabreicht wird, mittags 5 / 4 Liter Mittagessen
und abends 1 Liter Abendessen. Es würde dies einem Gesamtgewichte
entsprechen von reichlich 3250 g. u „Die Mittagsmahlzeit enthält
3 mal in der Woche Fleisch, und zwar wird pro Kopf 70 g Rind¬
fleisch oder 60 g Schweinefleisch gerechnet.“ „Der Mangel an Fett
findet darin seinen Ausdruck, dass die Gefangenen oft um Lebertran
bitten. Im Jahre 1904 sind bei uns im Untersuchungsgefängnis 60 kg
Lebertran meist aus diesem Grunde verabreicht wmrden, eine Fett¬
zugabe. die nicht einmal etwa billiger ist als Talg oder Schmalz.“
„Alle Gefangenen ohne Ausnahme erhalten bei uns, wenn sie länger
als 13 Wochen inhaftiert sind, eine andere Kost, und zwar auf die
Dauer von 14 Tagen. Die Untersuchungsgefangenen bekommen erste
oder zweite Form, je nach Wunsch, d. h. die Hauskost, aber be¬
sonders gekocht, dazu 167 g Rindfleisch und 1 / 2 Liter Milch pro Tag.
Die Menge der Mittagsportion erniedrigt sich hier von l x / 4 Liter auf
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Die Aufgaben einer Psychologie der Untersuchungshaft.
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1 Liter. Erste und zweite Form unterscheiden sich dadurch, dass
bei der ersten Schwarzbrot, bei der zweiten Weissbrot (Semmeln)
verabfolgt wird und zwar 270 g. u
Abgesehen von dem Recht der Selbstbeköstigung steht es dem
Untersuchungsgefangenen frei, sich aus eigenen Mitteln Zubusse zur
Gefängniskost zu beschaffen, so dass schon aus diesem Grunde der
Speiseetat des Untersuchungsgefängnisses etwas knapper bemessen ist
als derjenige der Strafanstalten. Die Bewegung im Freien dauert
täglich eine halbe Stunde; der Tag beginnt für den Untersuchungs¬
gefangenen früh um 6 Uhr; und abends um 8 Uhr ist der Tag offiziell
für ihn zu Ende, sein Zellenlicht wird gelöscht und damit beginnt für
ihn die Nacht. Wenn ich noch hinzufüge, dass der Untersuchungs¬
gefangene Briefe nur auf dem Umwege über den Richter schreiben
und empfangen, und dass er nur mit dessen Erlaubnis Besuche, und
zwar in Gegenwart eines Aufsehers, empfangen darf, so habe ich
wohl an äusseren Einrichtungen alles erwähnt, was uns hier interes¬
sieren kann.
Wir kommen nunmehr zu demjenigen Moment, welches die Unter¬
suchungshaft am bedeutendsten von der Strafhaft unterscheidet, und
in diesem Moment beruht auch vielleicht das ganze Wesen der Psycho¬
logie der Untersuchungshaft, und dieses Moment ist in dem einen
Satz zusamraenzufassen, dass der Untersuchungsgefangene, mag er
schuldig sein oder nicht, in einem Gemütszustand voll der heftigsten
Schwankungen einsam eingesperrt wird. Der Strafgefangene, ich
spreche zunächst nur von solchen, die vor der Verurteilung in Unter¬
suchungshaft waren, kommt nach der Hauptverhandlung in den meisten
Fällen in ein ruhigeres seelisches Fahrwasser. Man erlebt es zwar öfters,
dass die Verurteilung, besonders zu einer unerwartet hohen Strafe, im
ersten Augenblick eine hochgradige seelische Erregung zur Folge hat.
Allmählich tritt aber eine Beruhigung ein, und die Kollegen, welche
die Strafgefängnissc kennen, werden mir, wenn sie einmal von den
geistig Minderwertigen absehen, die Allgemeingültigkeit dieses Satzes
bestätigen. Wir haben selbst in unserem Untersuchungsgefängnis
ständig zwischen 200 bis 300 Strafgefangene, die zum Teil mehr¬
jährige Strafen zu verbüssen haben, und da ist es wunderbar, zu sehen,
wie die Menschen, die als Untersuchungsgefangene oft recht lästige
Patienten, ja Querulanten waren, in der Strafhaft eine ruhige Gleich-
raässigkeit gewinnen und gute und willige Arbeiter werden.
Die Untersuchungshaft aber treibt die Gefangenen hin und her
Vierteljahrsschrift f. ger. Med. o. Off. San.-Wesen. 3. Folge. XXXII. 2. 21
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Dr. H. Marx,
zwischen Hoffnung und Furcht, das Bild der Tat wächst und wird
wieder kleiner, in der einen Minute sehen sie sich freigesprochen, in
der nächsten fürchten sie das höchste Strafmass, sie stehen vor etwas
noch Unwirklichem, vor einer ungewissen Zukunft, die sie befreien,
die sie aber auch vernichten kann. Dazu kommt auch bei geistig
gesunden und durchaus urteilsfähigen Untersuchungsgefangenen das
Gefühl, in ihrer Verteidigung behindert zu sein. Es sind nicht die
Querulanten allein, die jenes Gefühl erlittener Unbill immer wieder
beschleicht. Diese Empfindung hat vielleicht ihren tiefsten Grund in
dem Gang und Wesen unseres Strafprozesses, der den Verteidiger erst
nach Eröffnung des Hauptverfahrens in voller Wirksamkeit zulässt.
Wir müssen uns nunmehr zu dem Augenblick zurückbegeben, der
den Untersuchungsgefangenen von der Freiheit in das Gefängnis führt.
Aus der weiten Umgebung, in der er zu leben gewohnt war, kommt
er in die Zelle, in der niemand ist, als er allein. Wir sind unserer
Natur nach alle polypragmatisch und polyästhetisch. Von dem
Augenblick an, in dem wir morgens unser Bett verlassen, bis zu der
Abendstunde, in der wir das müde Haupt zur Ruhe legen, tun wir
unendlich viele Dinge, empfangen wir unermesslich viele Sinnesein¬
drücke. Wir tauschen Worte und Reden mit einer nicht geringen Anzahl
von Mitmenschen, und durch alle diese Handlungen und Wahrnehmungen
zieht sich als ein Stützwerk das, was wir die Tagesarbeit nennen,
jenes für den Tag vorausbestimmte planmässige Tun, um das sich
aber unzählige andere Dinge ankristallisieren, als das Beiwerk des
Tages. Wir haben in jedem Augenblick die Möglichkeit, Gedanken
auszusprechen, Fragen zu stellen, uns mitzutcilen, Mitteilungen und
Nachrichten zu empfangen, kurzum, uns mit der Umwelt in Verbin¬
dung zu setzen und zu erhalten. Die Einsperrung in der Zelle ver¬
wandelt diese unendliche Mannigfaltigkeit des Lebens in der Freiheit
mit einem Schlage in die eintönige Existenz des Isoliergefangenen, und
man könnte nunmehr ebensogut eine Psychologie der Einsamkeit
schreiben, wenn eben nicht diese Einsamkeit eine erzwungene, und
wenn sie nicht kompliziert wäre durch die Gedanken an ihre Ursache,
an die rechtsbrechende Tat und die ungewisse Aussicht auf den Aus¬
gang des Prozesses. Die Entfernung aus dem Tausenderlei des Lebens
in das Einerlei der Zelle ist vergleichbar, oder besser direkt zu be¬
zeichnen als eine konzentrische Einengung des gesamten Bewusstseins¬
inhaltes. Zuvörderst verschwindet die Vielgestaltigkeit der Sinnesein¬
drücke, die Zellenwand, der begrenzte Blick aus dem vergitterten
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Die Aufgaben einer Psychologie der Untersuchungshaft.
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Fenster tritt an die Stelle des bunten Kaleidoskops der weiten Um¬
welt; die Gehörswahrnehmungen sind unendlich vermindert, dazu eine
lange Nacht, Mangel an ausreichender Bewegung, träge Verdauung,
verminderter Schlaf.
Diese konzentrische Einengung ist vielleicht vergleichbar der Nacht,
deren Wirkung auf die Psyche keinem von uns unbekannt ist. Jeder
Gedanke wird tiefer und herrschender, jede Sorge nagender. In diesem
Zustand erhebt sich der Gedanke an die Tat und ihre Folgen und
überwächst und verdrängt die übrigen Gedanken und Gegenvorstel¬
lungen. Wenn der Satz zu Recht besteht, dass wirksame Gegenvor¬
stellungen durch nichts mehr begünstigt werden, als durch die Ver¬
arbeitung mannigfaltiger neuer Sinneseindrücke und durch den
nehmenden und gebenden Verkehr mit unseren Nächsten, so ist dem
Untersuchungsgefangenen plötzlich alles das genommen, was der
Bildung von Gegenvorstellungen zugute kommen könnte. So wird
psychologisch ein Gebilde entstehen, das man in Erinnerung an
Wernickes Terminologie einen „überwertigen Ideenkoraplex“ nennen
könnte, wenn natürlich auch Wernicke psychologisch und psychia¬
trisch etwas anderes unter seiner überwertigen Idee verstanden hat.
Wenn schon in der Freiheit der Gedanke an ein getanes grosses Un¬
recht ein unassimilierbares Moment im ganzen Bewusstseinsinhalt be¬
deutet, um wieviel grösser muss für das eingeengte Bewusstsein der
nicht aufgehende Rest sein, den Rückblick und Ausblick auf Tat und
Folgen für die Psyche bedeuten. Die Tat wird zunächst als Ursache
für die gegenwärtigen Uebel erscheinen, die den Untersuchungsge¬
fangenen befallen haben. Soll ich diese Uebel im einzelnen nennen,
so wird die Entfernung aus der Familie, aus der gewohnten Arbeit,
aus dem Behagen und den Bequemlichkeiten des Lebens drückend
empfunden. Wie weit diese einzelnen Momente auf dem Einzelnen
besonders schwer lasten, wie weit ferner z. B. die Unmöglichkeit des
Geschlechtsverkehrs, die Entwöhnung von der üblichen früher gewohn¬
ten Ernährungsweise, der Mangel an Bewegung schädigende Faktoren
bilden, muss späteren Untersuchungen überlassen bleiben. All das
auch nur andeutungsweise anzuführen, würde Stunden in Anspruch
nehmen.
Ungleich bedeutender muss in allen Fällen die Sorge um die
Existenz erscheinen. Die Plötzlichkeit der Verhaftung lässt den Ge¬
fangenen oft genug ein unbestelltes Haus zurücklassen. Er sieht seine
Stellung im bürgerlichen Leben, seine soziale Position erschüttert, alte
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Dr. H. Marx,
Beziehungen werden zerrissen, ja selbst die intimsten Beziehungen,
diejenigen zu Frau und Kind werden oder erscheinen wenigstens ge¬
lockert. Der Name des Gefangenen ist, dank dem famosen lokalen
Teil der Zeitungen, in aller Munde, der gute Name droht für immer
zu verschwinden.
Diese psychische Deroute wird wirksam unterstützt durch körper¬
liche Momente. Die Verlangsamung des Stoffwechsels, die veränderte
Art der Nahrung, Schlaflosigkeit fördern ein ganzes Heer von unan¬
genehmen Sensationen zu Tage, und jede einzelne von ihnen wird in
dieser konzentrischen Einengung des Bewusstseins doppelt stark emp¬
funden. Und so kommt es, dass wir in unserem Gefängnis mit der
Erkrankungsziffer an der Spitze aller Gefängnisse marschieren. Nach
der letzten Statistik betrug bei uns die Zahl der Erkrankungsfälle
pro Jahr nicht weniger als 10332. Die Klage über körperliche Leiden
wird ja zweifellos von einem grossen Teil der Untersuchungsgefangenen
stark übertrieben, aber auf der anderen Seite müssen wir uns klar
darüber werden, dass den Untersuchungsgefangenen jedes körperliche
Unbehagen weit über ein normales Durchschnittsraass hinaus zur Emp¬
findung kommt.
An der Spitze der Klagen, welche die Gefangenen dem Arzt Vor¬
bringen, steht in erster Reihe die über Schlaflosigkeit und allerlei
andere nervöse Beschwerden. Infolgedessen ist natürlich auch der
Gebrauch von Schlafmitteln und den üblichen Nervinis gar nicht zu
umgehen. Ein nicht geringer Teil der sich zum Arzt meldenden
Untersuchungsgefangenen äussert endlich die lebhafteste Begehrungs¬
vorstellung nach Verlegung in Gemeinschaftshaft. Weniger beteiligen
sich an diesem Verlangen die zum ersten Mal Inhaftierten und die
Intelligenten und seelisch Normalen. Dagegen stellen die geistig
Schwachen und Minderwertigen, und nach meinen Erfahrungen be¬
sonders auch die degenerierten Sittlichkeitsverbrecher ein grosses
Kontingent zu dieser Art von Vormeldungen. Ich muss es mir Vor¬
behalten, auf diese Verhältnisse noch einmal zurückzugreifen, da sic
in der Psychologie der Untersuchungshaft eine bemerkenswerte Rolle
spielen.
Die Summierung all der oben skizzierten Erscheinungen auf
körperlichem und seelischem Gebiet muss einerseits eine ausser¬
ordentliche Labilität des Seelenzustandes herbeiführen. Jedes Ereignis,
besonders die Sprechstunden, Briefe, Nachrichten von aussen, von
den Strafbehörden, erzeugen seelische Ausschläge, die weit über
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Die Aufgaben einer Psychologie der Untersuchungshaft. 319
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normales Mass hinausgehen. Eine intensive Reaktion in dieser Richtung
bewirken die Ablehnung von Entlassungsanträgen, das Ausbleiben der
Antwort auf einen an eine geliebte Person geschriebenen Brief u. a. m.
Andererseits kommt es zur ausgesprochenen Depression. Man führt
so häufig da, wo es sich um Gedanken an Unrechtes Tun handelt,
das Wort „Reue“ im Munde. Was bedeutet dies bequeme kurze
Wort in der Psychologie des Untersuchungsgefangenen? 1 ) Die be¬
gangene Tat, so müssen wir uns wiederholt vorstellen, bildet für den,
der nicht ein Gewohnheitsverbrecher ist, einen unassimilierbaren Faktor
im Bewusstsein. Sie hebt sich aus dem gesamten Inhalt seiner Psyche
heraus, und die Einsamkeit der Zelle verstärkt diese Sonderstellung
im Bewusstseinsinhalt noch. Die eigene Persönlichkeit, bzw. ihr Wert
wird an dieser Tat gemessen und zu ihr in Verbindung gesetzt, und
wenn wir nun von Reue sprechen, so können wir für den grösseren
Teil der Untersuchungsgefangenen darunter nichts anderes verstehen,
als dass der Inhaftierte Einsehen in das Rechtsbrecherische, Anti¬
soziale der Tat gewonnen hat und aus dieser Einsicht eine Ver¬
minderung des sozialen und individuellen Wertes der eigenen Persön¬
lichkeit ableitet. Dieses Gefühl des verminderten Eigenwertes muss
eins der allermächtigsten bei dem sein, der als Mensch von sozialem
Durchschnittswert zum ersten Mal zum Rechtsbrecher wird. Ganz
zweifellos ist das Räsonnement dieses Menschen in den seltensten
Fällen: „ich muss gebessert werden“; es heisst zumeist: „ich büsse, ich
zahle meine Schuld.“ Und meistens heisst es auch nicht: „ich will
büssen,“ sondern „ich muss büssen“. So manches Mal schon musste
ich konstatieren, dass da, wo der Gefangene bekannte: „ich w r ül
büssen“, eine nicht normale geistige Verfassung anzutreffen war.
Das Gefühl des Verlustes an Persönlichkeitswert, das natur-
turgemäss besonders auf die Zukunft gerichtet ist, kann in seinen
höheren Graden, die man kaum als krankhafte Reaktionen, eher
als Hyperreaktionen bezeichnen kann, zum Selbstmord führen.
In der Psychologie der Untersuchungshaft verdient der Selbst¬
mord ein ausführliches Kapitel. Ich habe eben kurz eins der
mächtigsten Motive zum Selbstmord zu skizzieren versucht. Zweifellos
rangiert auch der durch die Verhaftung gesetzte seelische Shock unter
den Ursachen des Selbstmordes mit an erster Stelle. Hier haben wir
dann natürlich kein ruhiges Räsonnement; konsequente Ueberlegung
1) Vergl. die entsprechenden Ausführungen in Teil II.
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Dr. H. Marx,
weicht einer sich überstürzenden Gedankenfolge. Das Gefühl voll¬
kommener sozialer Vernichtung scheint den Selbstmord gebieterisch zu
fordern. Hier erfolgt der Selbstmord fast als psychischer Reflex. In einer
weiteren Reihe von Fällen kommt der schon öfters erwähnten richter¬
lichen Vernehmung für den Selbstmord entscheidende Bedeutung zu. Die
Hoffnung auf die Haftentlassung ist zerst ört, der ersten Erregung folgt ein
mächtiger Rückschlag, die Aussicht auf eine längere Haft und Unter¬
suchung, treiben ihn dem Selbstmord entgegen. So weist denn auch
unsere Statistik, die ich Ihnen nachher vorführen werde, für diese ersten
Stunden und Tage nach der richterlichen Vernehmung einen Prozentsatz
von annähernd 33 pCt. aller bei uns vorgekommenen Selbstmorde auf.
In den späteren Tagen der Untersuchungshaft geben Ereignisse
mancherlei Art den Anstoss zum Selbstmord. Ich sage: den Anstoss
und nicht die Ursache, weil die Ursache, das eigentliche Motiv, tiefer
liegt, als diese oft ganz äusserlichen Umstände. Endlich erfolgt dann
noch eine gewisse Anzahl von Selbstmorden unmittelbar nach erfolgter
Verurteilung, vor allem dann, wenn das Urteil über das erwartete Straf¬
mass hinausgegangen ist. Immer aber bleibt das eigentliche Motiv die
Verminderung des Persönlichkeitswertes möge diese nun im Verlust der
sozialen Stellung, der Familie, der Freiheit und ihrer Güter, der Möglich¬
keit des Genusses bestehen. Sie werden mir mit Recht entgegenhalten,
dass eine solche Minderung des Persönlichkeitswertes im allgemeinen
auch bei freien Menschen das Selbstmordmotiv abgeben dürfte. . Wir
müssen aber nicht vergessen, dass dem Inhaftierten alle jene Möglich¬
keiten fehlen, welche dem Verzweifelten in der Freiheit W r ege zeigen,
auf denen er dem Untergang entgehen kann. Bei dem Inhaftierten
ist der Blick begrenzt, der Seelenzustand labiler, die Psyche empfind¬
licher; und die Gegenvorstellung darum machtloser und farbloser. Es
liegt mir nun ob, für das Kapitel des Selbstmordes einiges statistische
Material beizubringen.
In eingehender Weise hat schon Baer in der Gefängnishygiene
in VVeyls Handbuch der Hygiene den Nachweis für die Häufigkeit
der Selbstmorde in der Untersuchungshaft gegenüber der Strafhaft
zu bringen versucht. In der Zeit von 1881 bis 1891 hat Baer für
unser Untersuchungsgefängnis 41 vollendete Selbstmorde verzeichnet,
davon 39 bei 50 363 männlichen Gefangenen. In der um fünf Jahre
längeren Periode von 1878 bis 1892/93 kamen im Strafgefängnis
IMötzensee nur 10 Selbstmorde vor bei einer um 24 000 höheren
Gefangenenzahl. Ich selbst habe für die Jahre 1900 bis 1905 31 Selbst-
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morde im Untersuchungsgefängnis gefunden, bei insgesamt 63 871
Gefangenen, während Baers 10 Plötzenseer Selbstmorde sich auf
74 488 Gefangene beziehen, d. h. auf 1000 Untersuchungsgefangene
kommen 0,486, auf 1000 Strafgefangene kommen 0,134 Selbstmorde,
oder im Untersuchungsgefängnis kamen fast viermal so viel Selbst¬
morde vor als im Strafgefängnis. Nun ist aber hierbei ein Moment
nicht zu vergessen, das zweifellos auf die Selbstmordhäufigkeit'
einen gewissen Einfluss ausübt; wir haben Isolierhaft, in Plötzensee
herrscht Gemeinschaftshaft vor. Unter den 10 Selbstmorden in
Baers Statistik kamen in der Isolierhaft 0,708, in der Gemeinschafts¬
haft nur 0,055 pro mille Selbstmorde vor. Dass aber, abgesehen von
dem Moment der Isolierhaft, im ganzen die Zahl der Selbstmorde im
Untersuchungsgefängnis ungleich höher ist als im Strafgefängnis, be¬
weist die Statistik des Gefängnisses in Tegel. Tegel ist Straf¬
gefängnis und hat 1499 Isolierzellen und nur für 127 Gefangene Ge¬
meinschaftshaft. Dabei sind in den letzten fünf Jahren im Tegeler
Gefängnis unter- 61 352 Gefangenen nur 6 Selbstmorde vorgekommen.
Auf 1000 Gefangene berechnet gibt das ein Verhältnis von 0,1,
während wir im Untersuchungsgefängnis ein Verhältnis von 0,5 auf
1000 haben, oder fünfmal so viel. Und dieses Verhältnis muss zu
Recht bestehen bleiben, weil hier der Einfluss der Isolierhaft als
gleicher Faktor in beiden Rechnungen figuriert. Ferner glaube ich,
wird dieses Verhältnis noch dadurch in seiner Richtigkeit begründet,
dass von allen Selbstmorden, die bei uns vorgekommen sind, nicht
ein einziger auf unsere Strafgefangenen entfällt, die doch etwa 15 bis
20 pCt. unseres jeweiligen Bestandes ausmachen. In der freien Be¬
völkerung in Deutschland kommen etwa 0,2 pM. Selbstmorde vor,
während allerdings die Bevölkerung von Berlin ein Verhältnis von
etwas über 0,3pM. aufweist, immerhin bei weitem weniger als unser
Untersuchungsgefängnis.
Von unsern Selbstmorden kamen 11 in den 3 ersten Tagen
der Untersuchungshaft vor, 2 am 4. Tage und im ganzen 15, also
die Hälfte, in der ersten Woche. Von den Selbstmördern waren
29 Männer und 2 Frauen, 29 Erwachsene und 2 Jugendliche
unter 20 Jahren. Bezüglich der Art des Verbrechens habe ich keine
besondere Gesetzmässigkeit feststellen können, es sind alle Arten von
Verbrechen annähernd gleichmässig beteiligt. Sie wissen, dass nach
den Untersuchungen von v. Mayr, Morselli x ) und anderen die
1) Cit. nach Aschaffenburg, Das Verbrechen und seine Bekämpfung.
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Dr. H. Marx,
grösste Zahl der Selbstmorde in die Sommermonate Juni, Juli und
August fällt, und dass von diesen Monaten Juni und Juli etwa am
höchsten beteiligt sind. Unsere Zahl von Selbstmorden ist ja im
ganzen eigentlich viel zu klein, um auch für sie dieses Verhältnis zu
prüfen. Immerhin ist es aber interessant, dass im Monat Juni allein
7 Selbstmorde vorgekommen sind, also beinahe 1 / i aller Selbstmorde,
und dass in den Sommermonaten Juni, Juli, August und September
15, oder die Hälfte aller unserer Selbstmorde sich ereignet haben.
Die Art des Selbstmordes geschah vorwiegend durch Erhängen, ent¬
sprechend den äusseren Einrichtungen, welche in der Regel keine andere
Art des Selbstmordes gestatten oder sie wenigstens erheblich erschweren.
Ich komme auf diesen Umstand noch einmal zurück.
Das Kapitel der Selbstmordversuche ist in mancher Be¬
ziehung fast noch interessanter für die Kenntnis der Psychologie der
Untersuchungshaft, als das der vollendeten Selbstmorde. Neben den
31 vollendeten Selbstmorden haben wir 134 Selbstmordversuche zu
verzeichnen. Was die Ernsthaftigkeit der Versuche angeht, so wird
man bei ihrer Beurteilung auf drei Momente zu achten haben. Auf
die Mittel des Versuchs, auf seine Folgen und auf den Zeitpunkt
des Versuchs. Wenn jemand, wie es bei uns geschehen ist, in
törichter Weise versucht, sich mit seinem Löffel oder mit Brot¬
stücken zu ersticken, so können wir nur von einem Versuch mit
untauglichen Mitteln sprechen. (Derselbe Mann hatte 4 Tage zuvor
eine wenig geschickte Selbsterdrosselung versucht.) Anders werden
wir einen Selbstmordversuch beurteilen müssen, wenn wir bei Erhän-
gungsversuchen eine Strangmarke und tiefe Bewusstlosigkeit vorfinden,
oder wenn etwa am Vorderarm durch Schnitt alle Sehnen durchtrennt
wurden. Manche Gefangene entwickeln bei ihren Selbstmordversuchen
eine geradezu erstaunliche Energie. Der 24 Jahre alte Arbeiter H.
bringt sich eine tiefe Weichteilwunde über dem Handgelenk bei,
macht sofort nachher Anstalten, sich zu erhängen, wird dabei über¬
rascht, stürzt zur Tür hinaus und springt von der 3. Etage über das
Geländer etwa 15 m hinab in die Tiefe. Ein anderer bringt es trotz
Fesselung der Hände fertig, sich am oberen Türscharnier aufzuknüpfen.
Ueber die Folgen des Versuchs ist wenig zu sagen. Wenn je¬
mand ein Messer zur Verfügung hat und sich damit nur ein paar ober¬
flächliche Hautrisse beibringt, so werden wir ihm die ernsthafte Ab¬
sicht kaum glauben können.
Endlich ist über den Zeitpunkt des Selbstmordversuches einiges
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Die Aufgaben einer Psychologie der Untersuchungshaft.
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anzumerken. Es gibt Gefangene, die den Augenblick zu einem Selbst¬
mordversuch benutzen, wo sie mit Gewissheit erwarten dürfen, vom
Aufseher überrascht zu werden. Die Mittel des Versuchs entsprechen
hier seiner mangelnden Ernsthaftigkeit. Das sind eben Demonstra¬
tionsselbstmordversuche. In vielen Fällen werden diese Versuche in¬
szeniert, um besonders die Verlegung in die Gemeinschaftshaft zu
erzwingen; andere demonstrieren durch den Versuch, damit der Richter
Kenntnis bekommt und entweder von der Unschuld oder wenigstens
von der Reumiitigkeit des Angeschuldigten überzeugt, Milde übt und
etwa die Haftentlassung anordnet.
Man wird natürlich nicht jeden Versuch, der zu einer Zeit statt¬
findet, wo der Aufseher zu erwarten ist, ohne weiteres als nicht
ernsthaft bezeichnen dürfen. Mancher Gefangene, der eben erst ein¬
geliefert ist, weiss natürlich nicht, ob und wann der Aufseher kommt,
oder er denkt garnicht an diese Möglichkeit. Da werden eben die
beiden anderen Momente: des Mittels und des Erfolges uns den
richtigen Weg weisen.
Auf diese Weise schätze ich die Zahl der ernsthaften Selbst¬
mordversuche auf etwa 25 bis 30 pCt. aller bei uns vorgekommenen
Selbstmordversuche. Jedenfalls möchte ich hier konstatieren, dass
unter den erwähnten 31 vollendeten Selbstmorden 23 in der Nacht
ausgeführt wurden. In einem Falle war der Selbstmörder, der in
einer beleuchteten Zelle lag, so raffiniert vorgegangen, dass er den
Aufseher gebeten hatte, sich zum Schutze gegen das Licht sein Hand¬
tuch über das Gesicht decken zu dürfen. Damit rechnend, hatte er
aus Tüchern und Mütze einen Kopf auf dem Kopfkissen, durch Klei¬
dungsstücke einen Körper unter der Decke markiert, so dass der
Aufseher beim Blick in die Zelle glauben musste, der Mann läge im
Bett. Morgens früh fand man den Mann am Klosettrohr erhängt und
bereits starr. Ein weiterer günstiger Moment, ungestört Selbstmord
vorzunehmen, ist die Pause nach der Verabfolgung des Mittagessens
und des Sonntag nachmittags. In diese Zeit fallen 5 unserer Selbst¬
morde.
Allzu durchsichtig wird die Absicht zu demonstrieren, wenn, wie
ich das erlebt hatte, ein gebildeter Untersuchungsgefangener sich
einige abendliche Dosen eines Schlafmittels aufspart, dann den Auf¬
seher herbeiklingelt und ihm triumphierend sagt, diese Menge, die er
vorzeigt, würde wohl zum Selbstmord genügen. .
Im übrigen bin ich überzeugt, dass, wenn den Gefangenen die-
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Dr. H. Marx,
selben Tötungsmittel wie in der Freiheit zu Gebote ständen, wir eine
ungleich grössere Zahl von vollendeten Selbstmorden hätten. Ganz
besonders gefährlich wäre es, wenn die Gefangenen Gelegenheit
hätten, ungestört Gas ausströmen zu lassen; das ist ihnen natürlich
nicht möglich, ln der Zeit, in der das Gas in den Zellen brennt,
fällt natürlich jedes Ausblasen der Flamme durch die Verdunkelung
der Zelle auf, und nach 8 Uhr abends wird alles Zellengas für jeden
Gang einheitlich und an jeder Zelle noch besonders von aussen ab¬
gestellt.
Uebrigens muss man diese relativ mangelhaften Selbstmordmittel,
über die der Gefangene verfügt, mit in Rechnung stellen, wenn man
die Statistik des Selbstmords in der Untersuchungshaft mit derjenigen
in der Freiheit vergleicht. Es ist Sache des Naturells, wie man sich
am liebsten vom Leben zum Tode bringt. Mancher würde sich er-
schiessen oder vergiften, der nicht den Mut findet, sich zu erhängen,
oder mit dem Messer zu töten.
Zum Schlüsse meiner Ausführungen lassen Sic mich noch einen
Augenblick bei den Gründen verweilen, welche die Untersuchungs¬
gefangenen veranlassen, sich zum Arzt zu melden. Und zwar möchte
ich ein Motiv noch einmal aus allen anderen herausheben. Ich meine
den Wunsch mancher Gefangenen, aus der Isolierhaft in die Gemein¬
schaftshaft verlegt zu werden. Ich deutete schon einmal an, dass
der geistig Gesunde, erstmalig Inhaftierte, der über einen gewissen
Besitz an Bildung und sittlicher Kraft verfügt, die Isolierhaft vor¬
zieht und sie nur ungern gegen die Gemeinschaftshaft eintauscht, schon
aus dem Wunsche heraus, den Verkehr mit anderen Rechtsbrechern
zu meiden, und sich sozial wenigstens auf dem Status quo zu
erhalten.
Anders das ganze Heer der Gewohnheitsverbrecher, der geistig
Minderwertigen und vor allem der Epileptiker. Diese Klassen hassen
und fürchten die Einsamkeit der Isolierzelle. Der Wunsch zu lesen
ist gering oder er geht wenigstens nach einer anderen als der im
Gefängnis gebotenen Lektüre. Der Bildungsgrad ist entsprechend der
bekannten geringen Bildungsfähigkeit der Gewohnheitsverbrecher
äusserst dürftig. Der Epileptiker fürchtet das Alleinsein beim Anfall,
die Hiilflosigkeit und die Möglichkeit sich zu verletzen. Der Alkoho¬
liker hat gohäuftere Halluzinationen.
Und für diese ganze Reihe der Degenerierten kommt in vielen
Fällen noch eins hinzu, das ist die Furcht vor den eigenen Gedanken.
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Die Aufgaben einer Psychologie der Untersuchungshaft. 325
Diesen Gedanken entgeht keiner, der längere Zeit in der Isolierhaft bleibt.
Zum grossen Teil liegt ja der Segen der Isolierhaft in dem Lebendigwcrden
dieser Gedanken. In derFreiheit haben dieseGedankenreihen keinen Raum
in diesen dürftigen Köpfen. In der Zelle drängen sie sich doppelt
lebhaft auf. Vorstellungen über ein verfehltes Leben, ängstliche
Gedanken und trübe Aussichten in die Zukunft; ein Heer ungewohnter
Ideen, die so lebhaft auf den Isolierten einstürmen, die er als etwas
seinem Wesen Fremdes seiner Herr werden sieht, dass er fürchtet,
verrückt zu werden. Und in der Tat kommt es in dieser Folge recht
oft zu explosiven Ausbrüchen einer akuten Verwirrtheit mit tob¬
süchtigen Zuständen. Der Gefangene zerreisst seine Kleider, er
demoliert das Zelleninventar, er schreit, wird aggressiv. Oder aber
es kommt zu Verwirrtheitszuständen, die mit krankhaften Verände¬
rungen des Persönlichkeitsgefühls, mit Halluzinationen einhergehen.
Nach wenigen Tagen, oft schon nach Stunden gehen die Zustände in
Heilung über; in der Regel besteht mehr minder ausgedehnte Er¬
innerungslosigkeit. All diese Leute kommen nun zum Arzt mit der
Bitte, sie in Gemeinschaftshaft zu verlegen, vielfach mit Ausdrücken,
wie: ich werde verrückt, ich mache mir so Gedanken. Oder: ich
stehe für nichts ein, wenn was mit mir passiert. Häufig sind das
blosse Drohungen von Leuten, die sich in der Isolierhaft eben lang¬
weilen, und die den Arzt so zwingen wollen, sie zu verlegen und
ihnen die erwünschte Gesellschaft zu verschaffen; vielfach sind es
aber auch Leute, die von der Ahnung einer nahen psychischen Kata¬
strophe erfüllt, in der Verlegung in Gemeinschaftshaft die Rettung
erblicken. Ich möchte noch betonen, dass die geschilderten Verwirrt¬
heitszustände bei isolierten Untersuchungsgefangenen auch durch die
Arbeit durchaus nicht sicher zu verhindern sind. Eins kann man mit
Gewissheit sagen, dass in der Regel nur ein geistig Minderwertiger,
sei er nun Alkoholiker, Epileptiker oder einer der zahlreichen Degeneres
von derartigen Verwirrtheitszuständen befallen wird. Das gehört
aber schon in das Kapitel der sogenannten Gefängnispsychosen. —
Ich schliesse hier; obwohl ich weiss, dass noch Vieles zu sagen
wäre. Von den Wirkungen der Untersuchungshaft auf das Sexualleben,
von der Häufigkeit der Onanie, von dem unterschiedlichen Verhalten
von männlichen und weiblichen Untersuchungsgefangenen, habe ich
zum Beispiel heute nichts gesagt. Es wäre besonders noch anzu¬
merken, dass Untersuchungen über das unterschiedliche Verhalten der
Gefangenen je nach der Art des begangenen Verbrechens notwendig
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Dr. H. Marx,
sind. Ich habe manche andere Dinge vielleicht zu ausführlich be¬
sprochen, andere wiederum nur flüchtig angedeutet, andere nur oben¬
hin skizziert. Darum habe ich diesen Vortrag eben auch nur als eine
Einleitung angekündigt, als Einleitung und Anfang weiterer Unter¬
suchungen über die Psychologie der Untersuchungshaft.
Es wird ihnen klar geworden sein, dass ich bei meinen heutigen Aus¬
führungen im grossen und ganzen diejenigen im Auge hatte, die zum ersten
Male ernsthafter mit dem Strafgesetz in Konflikt gekommen und als
ganz oder relativ Unbescholtene in Untersuchungshaft genommen sind.
An diesen lässt sich, wie ich glaube, die normale Psychologie der
Untersuchungshaft am reinsten erkennen und demonstrieren. Ich habe
aber auch hier die Bestätigung des alten Satzes gefunden, dass die
Extreme sich berühren; so finden sich nämlich die schwersten De¬
pressionen einmal bei diesen rezenten Rechtsbrechern, dann aber
wieder bei den oft rückfällig gewordenen, die nun zum ersten Male
die Verhängung einer langjährigen Zuchthausstrafe befürchten müssen.
Jedenfalls glaube ich, dass die Psychologie der Untersuchungs¬
haft ein besonderes Kapitel in der Kriminalpsychologie verdient. Wie
die Psychologie des rezenten Rechtsbrechers, so zeigt noch in anderem
Sinne der rückfällige Verbrecher eine Fülle interessanter kriminal¬
psychologischer Momente, die nur durch die Untersuchungshaft zutage
treten.
M. II.! Ich bin am Ende meiner Ausführungen angelangt. Mehr
zu sagen, verbot der Rahmen eines Vortrages, alles zu sagen, der
Gegenstand selbst, den zu erschöpfen jahrelange Arbeit vieler not¬
wendig sein wird.
II.
Ich habe schon in der Einleitung angedeutet, dass die sich an
den Vortrag schliessende Diskussion ausserordentlich fruchtbringend
war. Das Arbeitsprogramm für die allgemeine Psychologie der
Untersuchungshaft wurde erweitert, die Aufgaben der speziellen
Psychologie erfuhren reichen Zuwachs.
Von hohem Interesse waren gewisse Ausführungen über eine
Reihe von körperlichen Momenten, die in der Natur der Untersuchungs¬
haft. begründet sind. Bekanntlich hat jeder Untersuchungsgefangene
das Recht, sich selbst zu beköstigen. Diese Klasse der wohl¬
habenderen Gefangenen beteiligt sich für gewöhnlich nicht an den im
Gefängnis eingeführten Arbeiten. Das Mass von Bewegung ist ausser-
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Die Aufgaben einer Psychologie der Untersuchungshaft.
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ordentlich dürftig. Im Verhältnis dazu ist die Kost relativ reichlich,
die Verdauung wird träge, und so kommt es zu einer Art von Ge¬
dunsenheit und Aufgeschwemmtheit, zur Anbildung eines schlaffen
Fettes. Solche Gefangene machen den Eindruck einer Schein-Ueber-
ernährung, für die ich den Ausdruck des paradoxen Marasmus vor¬
geschlagen habe.
Von anderer Seite wurde betont, wie enge Beziehungen unter
Umständen zwischen Kost und Selbstmord bestehen können, wie häufig
der Gefängnisarzt, mehr allerdings in der Straf- als Untersuchungs¬
haft, durch die Verbesserung der Kost, durch Gewährung einer Zu¬
lage eine gefährliche Depression zu beseitigen imstande sei. Die Zu¬
billigung eines Stückchens Fleisch zur täglichen Kost habe schon
manchen vom Selbstmord zurückgebracht.
Die Häufigkeit der Selbstmorde in der Untersuchungshaft gegen¬
über der Strafhaft wurde allseitig bestätigt, so, wie sie schon in dem
Verhältnis zwischen unserem Untersuchungsgefängnis und dem Straf¬
gefängnis in Tegel zum Ausdruck gekommen war. Es wurde bei
diesem Punkte übrigens darauf hingewiesen, dass allgemein in den
Strafanstalten die Zahl der Selbstmorde in der Abnahme, während
sie in der Freiheit in stetiger Zunahme begriffen sei. Jugendliche
neigen im Gefängnis ausserordentlich wenig zum Selbstmord, wie das
ja auch aus meinen Ausführungen schon hervorging; dagegen be¬
teiligen sie sich an den Demonstrations-Selbstmordversuchen in nicht
geringer Zahl.
Eine eingehende Würdigung fand die Bedeutung der ersten richter¬
lichen Vernehmung für die Psychologie' der Untersuchungshaft. Man
wird sich erinnern, welchen Wert ich dieser ersten Vernehmung bei¬
legte, wie sie die Hoffnung auf Haftentlassung zerstören und so un¬
mittelbar den Anstoss zum Selbstmord geben kann. Nun war es
interessant zu erfahren, welche andere Wirkung diese erste Ver¬
nehmung nicht allzu selten tut. Sie löst eine Art von Verwirrung in
den Verstandesoperationen aus. Der Gefangene bittet nach der ersten
Vernehmung um Schreiberlaubnis; dies und jenes hat er vergessen
anzuführen. Dabei wird die Art seiner Verteidigung hastig und un¬
geschickt; man merkt, wie die ruhige Ueberlegung vollkommen dahin
ist; und ein törichtes Schriftstück folgt dem anderen. Ein Analogon
findet diese Art von Verwirrtheit in jener Verwirrtheit, die mitunter
bei Angeklagten während der Hauptverhandlung stattzufinden scheint.
Nach der Ansicht des betreffenden, sehr erfahrenen Kollegen sind die
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Dr. H. Marx,
Acusseruiigen von Verurteilten, die nicht das Geringste von der
Hauptverliandlung anzugeben vermögen, die nicht wissen, ob und wie
hoch sie bestraft sind, unter Umständen als durchaus glaubwürdig zu
erachten. Und man wird diese Verwirrtheit mit nachfolgender totaler
oder partieller Amnesie gerade bei denjenigen Angeschuldigten an¬
treffen können, die in der Hauptverhandlung ganz unvermittelt gegen
den Staatsanwalt oder gegen das Gericht ausfallend oder tätlich
werden, die nachher von ihrem Benehmen nichts mehr wissen
oder sich nicht erinnern oder erklären können, wie sie dazu ge¬
kommen sind.
Im Zusammenhänge hiermit können Bemerkungen Platz finden,
die sich auf die Entwickelung querulatorischer Züge in der Unter¬
suchungshaft bezogen. Jenes Gefühl, in der Verteidigung beschränkt
zu sein; eine vermeintliche oder wirkliche Schroffheit des Unter¬
suchungsrichters, die Empfindung des Besitzlosen, der keinen be¬
währten Verteidiger annehmen kann; all das gebe die Grundlage ab für
die Ausbildung dieser querulatorischen Züge, die, wie noch besonders
hervorgehoben wurde, für die spätere Strafhaft von grosser Be¬
deutung seien.
Wie die Beziehungen zur Straftat und Strafbehörde, so müssen
naturgemäss auch die Beziehungen des Gefangenen zur Aussenwelt
von enormer Tragweite für das Seelenleben in der Haft sein. So
wies ich darauf hin, wie dem Gefangenen die Beziehungen zur Aussen-
welt verändert, wie die intimsten Beziehungen gelockert sind, oder
wenigstens so erscheinen. Und so muss jede von aussen kommende
Nachricht, die dem Gefangenen ein weiteres Minus anzeigt, auf das
schon so labile Gemüt einen erschütternden Einfluss ausüben. So
können besonders Nachrichten von der Untreue der Geliebten, die mit
einem anderen geht, unbeantwortete Briefe, auch hier wieder be¬
sonders die Liebesbriefe geradezu vernichtende Wirkung ausüben;
wie denn auch eine unserer weiblichen Gefangenen Selbstmord ver¬
übte, weil ein Brief an den Bräutigam unbeantwortet blieb.
Gingen die bisherigen Ausführungen mehr auf die allgemeine
Psychologie der Untersuchungshaft, so fehlte es ebensowenig an Be¬
merkungen und Vorschlägen für den speziellen Teil der Psychologie
der Untersuchungsgefangenen. Hier wurde vor allem auf die Not¬
wendigkeit hingewiesen, die seelische Verfassung der Gefangenen mit
besonderer Beziehung auf dm Art ihres Deliktes zu studieren, so die
besondere Psychologie des Sittlichkeitsverbrechers, das Verhalten des
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Die Aufgaben einer Psychologie der Untersuchungshaft.
321)
Mörders, des Brandstifters, des Diebes, des gewalttätigen Messer¬
helden u. s. f. In der Tat wird gerade diese Unterscheidung der Ge¬
fangenen und ihrer Psychologie nach der Besonderheit ihres Ver¬
brechens einen integrierenden Teil späterer Untersuchungen ausmachen
müssen. Wir werden bei künftigen Arbeiten noch erfahren, wie eng
mit diesem speziellen Teil die Frage von der Bedeutung der Isolier¬
haft für die Psychologie der Untersuchungshaft zusammenhängt.
Ebenso wichtig wird die Unterscheidung von jugendlichen und er¬
wachsenen Gefangenen sein; noch einschneidender aber der Unter¬
schied zwischen männlichen und weiblichen Untersuchungsgefangenen.
Im allgemeinen, das möchte ich hier schon bemerken, scheinen mir
die Frauen die Untersuchungshaft als solche leichter, die Isolierhaft
aber schwerer zu ertragen als Männer. Am schwersten von den weib¬
lichen Gefangenen ertragen wohl die Kindesmörderinnen die Unter¬
suchungshaft.
Eine sehr interessante Aeusserung wurde zur speziellen Psychologie
noch über die rückfälligen Verbrecher getan. Bei der grossen Zahl
der Vorstrafen wird naturgemäss unter Umständen einmal ein Verdacht
eine Verhaftung begründen, die dies eine Mal nicht den richtigen ge¬
troffen hat. In solchen Fällen findet eine ausserordentliche seelische
Reaktion statt. Der Rückfällige kann es nicht begreifen, dass er nun
dies eine Mal für die Unzahl seiner früheren Verbrechen mitzubüssen
hat; dass sein gegenwärtiges Missgeschick durchaus in seiner Persön¬
lichkeit begründet ist. Er queruliert bis zur Unerträglichkeit und
trägt das Querulieren in die Strafanstalt, in der er in früheren Fällen
ein arbeitswilliger geordneter Gefangener war, mit hinüber.
Es wurde von anderer Seite noch, entsprechend meiner Aus¬
führung, dass natürlich der vielfach Vorbestrafte die Untersuchungs¬
haft anders bewertet und empfindet als der Nichtvorbestrafte, betont,
dass bei einer ganzen Reihe von Untersuchungsgefangenen jegliche
Depression fehlt.
Endlich gab es eine Reihe bemerkenswerter Ausführungen, welche
an die Psychologie der Untersuchungshaft anknüpfend de lege ferenda
sich ergingen. Wenn es, wie schon gesagt wurde, eine Reihe von
Untersuchungsgefangenen gibt, die ohne jede Depression und gerne
eine längere Untersuchungshaft ertragen, weil sie wissen, dass dadurch
die Zeit ihrer Strafhaft unter Umständen sich verkürzt, so ist eben
auch andererseits scharf zu betonen, dass dem Gefangenen nach einer
längeren Untersuchungshaft die eigentliche Strafhaft in einem ganz
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Dr. H. Marx,
anderen Lichte erscheinen muss, als demjenigen, der aus der Freiheit
in das Strafgefängnis kommt. Mit anderen Worten: Die Bewertung
der Freiheitsstrafe erleidet eine Einbusse durch die Länge der Unter¬
suchungshaft; die eigentliche Freiheitsstrafe wird von dem lang der
Freiheit Beraubten und an diese Unfreiheit Gewöhnten nicht mehr als
das empfunden, als was sie nach der Meinung des Gesetzgebers emp¬
funden werden soll; der Zweck der Strafe kann nicht mehr voll und
ganz erfüllt werden.
Andererseits wird ja, und das lehrt besonders die Psychologie
des Untersuchungsgefangenen, der Zweck der Strafe dadurch so oft
illusorisch, dass die eigentliche Reue nur in dem Sinne vorhanden ist,
den ich in meinem Vortrage auseinandersetzte. Es wurde mir sehr
richtig entgegengehalten, dass Reue doch eigentlich das schmerzliche
Gefühl sei, jemandem Unrecht getan zu haben. Aber gerade dieses
Gefühl, das, wenn es wirklich vorhanden ist, die wohltätigste Macht
ausüben kann, fehlt eigentlich nach unseren Beobachtungen so gut
wie gänzlich, und da, wo es vorhanden zu sein scheint, wohnt es
mehr auf der Zunge als im Herzen. Dagegen ist Reue in dem im
Vortrage gedeuteten Sinne als das Gefühl verminderten Persönlich¬
keitswertes, wie gesagt, fast stets anzutreffen.
Ich glaube damit alles Wesentliche erschöpft zu haben, was die
Diskussion gebracht hat. Hier und da habe ich selbst noch ein und
das andere kritische Wort eingefügt an Stelle eines eigentlichen Schluss¬
wortes zur Diskussion. Mancher anderer in der Diskussion gemachten
Vorschläge de lege ferenda habe ich hier nicht gedacht, weil es in
der Hauptsache darauf ankam, das festzulegen, was sich auf die eigent¬
liche Psychologie der Untersuchungshaft bezog. Erst wenn dieses
umfangreiche Kapitel der Kriminalpsychologie seine eingehende und
abschliessende Beurteilung gefunden haben wird, so wird man daran
gehen können, nun darauf zu denken, wie etwaigen Schäden abzu¬
helfen ist.
III.
Wenn ich in diesem dritten und letzten Abschnitt schematisierend
ein Arbeitsprogramm aufstelle, so sollte sich dieses logischer Weise
als die Summe der Ergebnisse meines einleitenden Vortrages und der
Diskussion darstellen. Indessen ist im Vorträge eben nicht alles ange¬
deutet und in der Diskussion nicht alles zur Sprache gekommen, was
notwendig genannt und getan werden muss, um diese grosse Frage
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Die Aufgaben einer Psychologie der Untersuchungshaft.
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erschöpfend zu beantworten. Vielleicht wird aus diesen Gründen die
folgende Aufstellung in kurzen Schlagwörtern mehr fordern, als die
beiden vorhergehenden Abschnitte aufzeigen konnten.
Es versteht sich fast von selbst, dass ein tieferes Eindringen in
die Psychologie und besonders in die spezielle Psychologie der Unter¬
suchungshaft einmal die Kenntnis der Lehren der Kriminalpsychologie
voraussetzt; zum anderen wird eben gerade die spezielle Psychologie
der Untersuchungshaft, also die Beschäftigung mit der Haftpsychologie
der einzelnen Arten von Rechtsbrechern und deren Persönlichkeit eine
besondere kriminalpsychologische Untersuchung notwendig machen, und
für diese Untersuchungen wird man sich vielleicht mit Vorteil des
Schemas bedienen, das Sommer in seiner Kriminalpsychologic (1904,
S. 375 ff.) gibt.
Demnächst werden folgende Momente für unsere künftigen Unter¬
suchungen zu berücksichtigen sein:
A. Zur allgemeinen Psychologie der Untersuchungshaft.
I. Körperliche Momente:
Bewegung (die Bewegung im allgemeinen begreift auch Arbeiten
in sich), Verdauung, Schlaf.
Studium über GewichtsVerhältnisse.
Hämatologische Untersuchungen.
Prüfung der Aeusserungen des Zentralnervensystems (Reflexe u.a.).
Sexuelle Verhältnisse.
Körperliche Erkrankungen.
II. Die eigentlich seelischen Momente:
Die rechtsbrecherische Tat. Ihre Stellung im Bewusst¬
sein des Täters in der Einsamkeit der Haft. Einfluss
der Einsamkeit. Konzentrische Einengung des Bewusstseins.
Reue. Depression. Selbstmord. Selbstmordversuch. Schuldig
oder nicht schuldig?
Beziehungen zum Gericht; Vernehmungen, Verteidigung, Ge¬
ständnisse, Hauptverhandlung, Strafmass usf.
Beziehungen zu den Gefängnisbeamten (besonders die Be¬
ziehungen zum Arzt).
Beziehungen zur Aussenwelt.
B. Zur speziellen Psychologie der Untersuchungshaft.
I. Unterschiede des Alters:
Erwachsene, Jugendliche.
Yierteljahrsschrift f. ger. Med. u. öff. San.-Wesen. 3. Folge. XXXII. 2. 22
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332 Dr. H. Marx, Die Aufgaben einer Psychologie der Untersuchungshaft.
II. Unterschiede des Geschlechts.
III. Unterschiede der Persönlichkeit:
Soziale Stellung, Bildung, Vermögen usf.
IV. Unterschiede, die durch die verschiedene geistige
Wertigkeit im psychiatrischen Sinne begründet sind:
Die spezielle Psychopathologie der Isolierhaft.
V. Unterschiede, die durch die kriminelle Vergangenheit
bedingt sind:
Unvorbestrafte, Rückfällige.
VI. Unterschiede, durch die Art des Verbrechens bedingt:
Eigentumsverbrechen, Körperverletzungen, Sittlichkeitsverbrechen
usf.
Die im Schema innegehaltene Reihenfolge soll nichts für die Be¬
deutung der einzelnen Abschnitte bekunden; ebensowenig, wie ich mich
selbst für künftige Arbeiten an diese Reihenfolge für gebunden erachte.
Ich hoffe nur, wenigstens in der Aufzählung der Hauptpunkte, leidlich
vollständig gewesen zu sein.
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15.
Besprechungen, Referate, Notizen.
A. Schmidtmann, Handbuoh der gerichtlichen Medizin. Nennte Auf*
läge des Cas per-Li man’sohen Handbuches. Dritter Band. Berlin 1906. Ver¬
lag von A. Hirschwald.
Am Ende des Vorjahres habe ich über den I. Band des Sohmidtmann-
schen Handbuches der gerichtlichen Medizin referiert und die vorzügliche Arbeit
aller dort behandelten Abschnitte hervorheben können. Nun ist an Stelle des
II. Bandes, welcher den Tod durch Trauma (Prof. Puppe), den Tod durch ge¬
waltsame Erstickung (Prof. Ziemcke), den Kindesmord (Geh. Med.-Rat Prof.
Ungar) enthalten wird, zunächst der III. und letzte Band erschienen, dessen In¬
halt die gerichtliche Psychiatrie, bearbeitet von Geh. Med.-Rat Prof. Siemer¬
lin g, bildet.
Siemerling bespricht zunäohst die Lehre von der Dispositions- und Zu¬
rechnungsfähigkeit, die allgemeinen Grundsätze, das Verfahren im Zivilforum,
Entmündigung, das Verfahren im Kriminalforum, er wendet sich dann der spe¬
ziellen gerichtlichen Psychonosologie zu, deren einzelne Gebiete er gliedert in
Manie, Melancholie, periodische und zirkuläre Geistesstörungen, akute Paranoia,
chronische Paranoia, Querulantenwahnsinn, induziertes Irresein, progressive Pa¬
ralyse, Dementia senilis, traumatische Geistesstörungen, Geistesstörungen durch
Alkohol, Morphium, Kokain, geistige Schwächezustände, jugendliche Verblödungs¬
prozesse, hysterische Psychosen, epileptische Psyohosen, neurasthenische Geistes¬
störungen, perverser Sexualtrieb, Bewusstlosigkeit, Taubstummheit.
Alle Kapitel sind mit reichlicher Kasuistik versehen.
Dieser III. Band sohliesst sich vollauf ebenbürtig, in gleicher gediegener
Weise dem I. Bande an. Bei jedem Kapitel erkennt man den auf der Höhe seiner
Wissenschaft stehenden Fachmann, man erkennt, man fühlt, was besonders her¬
vorzuheben ist, aus der Behandlung des Stoffs bei jedem Kapitel, wie richtig S.
seine Aufgabe aufgefasst hat, ein Handbuch zu geben, welches den Gerichtsärzten
sicherer Leiter sein soll in der Beurteilung streitiger geistiger Krankheiten. Wohl¬
tuend wirkt dieses überall hervortretende Bemühen des Verfassers, den praktischen
Bedürfnissen der Gerichtsärzte Rechnung zu tragen — wenn das auch nie beson¬
ders hervorgehoben ist —, die vornehme Objektivität, die auf Grund umfang¬
reicher Fachkenntnis und umfangreicher praktischer Tätigkeit vor Gericht dahin
strebt, „dem Kranken zu geben, was des Kranken ist und der Rechtspflege, was
der Rechtspflege ist“. Be um er-Greifswald.
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334
Besprechungen, Referate, Notizen.
R. Robert, Lehrbuch der Intoxikationen. Zweite, durohweg neu bear¬
beitete Auflage. II. Bd. Spezieller Teil. 1. Hälfte 1904, 2. Hälfte 1906. 1250
Seiten. Ferdinand Encke, Stuttgart.
Die zweite, modernisierte Auflage des geschätzten Nachschlagewerks liegt
nunmehr vollendet vor. Man muss immer wieder von Neuem staunen, mit welcher
bemerkenswerten Belesenheit der Verfasser das grosse Gebiet za einem Werk zu¬
sammengefasst hat, das in seiner Vollständigkeit wohl unübertroffen dasteht. Für
den gerichtlichen Mediziner von ganz besonderem Wert scheint mir zu sein, dass
neben der Darlegung der Aetiologie, der Schilderung der Symptome und Therapie
der Vergiftungen immer die Sektionsergebnisse und Nachweismethoden, zum Teil
unter Wiedergabe von mikroskopischen Bildern, eingehend behandelt werden.
Es ist natürlich im Rahmen eines Referats unmöglich, Einzelheiten aus
einem so umfassenden Buche anzuführen. Ich möchte nur darauf hinweisen, dass
auch die tierischen und pflanzlichen Gifte sehr ausführlich besprochen sind. Be¬
züglich der Anwendung der schwefligsauren und borsauren Salze bei der Nah¬
rungsmittelkonservierung steht Verf. vollkommen auf dem Standpunkt des Reichs¬
gesundheitsamtes und hält das Verbot für durchaus notwendig. Man merkt
übrigens auch sonst vielfach, dass er eine recht weitgehende Kontrolle der event.
giftig wirkenden Substanzen wünscht und, wie es scheint, eine Zentralstelle ein¬
geführt sehen möchte, in der alle neuen Arzneimittel vor Freigabe in die Praxis
auf ihre gesundheitsschädigenden Eigenschaften geprüft werden sollten. In diesem
Sinne befürwortet er das Verbot des Handverkaufs zur Zeit freigegebener Stoffe,
so der Arsenwässer (Levico), der Kalichloricumpasta u. a. m., wohl etwas rigo¬
rose Forderungen.
Diese wenigen Stichproben zeigen, dass das Buch reich ist an aus klinischer
Beobachtung sich ergebenden Ratschlägen. Es ist für den wissenschaftlich arbei¬
tenden Mediziner, wie für den praktischen Arzt ein wertvoller Ratgeber.
Franz Müller-Berlin.
Otto Levis, Das internationale Entmündigungsrecht des Deutschen
Reiches. Leipzig, C. L. Hirschfeld. 1906. 314 S.
Verf. verdanken wir die vor einigen Jahren erschienene treffliche Mono¬
graphie „Die Entmündigung Geisteskranker“, wohl die eingehendste und um¬
fassendste juristische Darstellung der durch psychische Störungen veranlassten
Entmündigung, eine Arbeit, welche auch psychiatrischen Wünschen erfreulicher¬
weise in weitestgehendem Masse gerecht wird.
Im vorliegenden Werke bescheert uns Verf. eine ausführliche Darstellung
des internationalen Entmündigungsrechts. Nach seinen eigenen Ausführungen im
Vorwort erörtert er, nach welchem Rechte bei einer Entmündigung (oder Wieder¬
aufhebung der Entmündigung) die Voraussetzungen und Wirkungen zu beurteilen
sind, von welchem Staat oine Entmündigung ausgesprochen werden muss, um in
Deutschland wirksam zu sein, und welche Prozess Vorschriften für den deutschen
Entmündigungsrichter gelten, falls sich im Verfahren Zweifel internationalrecht-
licber Natur erheben.
Wie sich schon daraus ergibt, ist diese Arbeit von fast ausschliesslich ju¬
ristischem Interesse und daher verbietet sich nach dem Charakter dieser Zeit¬
schrift eine eingehendere Besprechung an dieser Stelle.
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Besprechungen, Referate, Notizen.
335
Immerhin möge auf einige auch den Arzt interessierenden und durchaus
zutreffenden Ausführungen hingewiesen sein, wie die prinzipiell falsche Verquickung
der Frage der Entmündigung mit polizeilichen Interessen (S. 105), die event. Zu¬
lassung der Oeffentlichkeit des Verfahrens (S. 210), die Verpflichtung des zu Ent¬
mündigenden, die Vornahme des Wahrnehmungsbeweises zu dulden (S. 266), das
Zeugnis verweigerungsrecht des Arztes (S. 286). Ernst Schultze.
Notizen.
Der am 23. Juli d. J. erfolgte Tod von Paul Brouardel, Professor der
gerichtlichen Medizin (und Hygiene) zu Paris hat auch im Kreise seiner deutschen
Fachgenossen tiefschmerzliches Bedauern erweckt. Die führende Stellung, die der
Verstorbene seit Jahren in der gerichtsärztlichen, ja man kann wohl sagen in der
ganzen medizinischen Welt Frankreichs einnahm, war wohlverdient. Brouardel
hat unsere Kenntnisse durch wertvolle originelle Untersuchungen — es sei nur an
seine Forschungen über den Ertrinkungstod erinnert — bereichert; er hat für den
praktischen Unterricht in der gerichtlichen Medizin in Frankreich die bisher
fehlende Organisation geschaffen. Seine Bearbeitungen der einzelnen Spezial¬
abschnitte unseres Gebietes, von denen in den letzten 12 Jahren fast alljährlich
ein Teil erschienen ist, haben durch die Fülle der in ihnen niedergelegten eigenen
Beobachtungen und durch die unerreichte Kunst der Darstellung dauernden Wert.
Auch von ihm wird das Diohterwort gelten: „Ist der Leib zu Staub zerfallen, lebt
der grosse Name noch.“
S. Vastarini-Cresi, Vorstand der mikroskopischen Abteilung am anato¬
mischen Institut in Neapel, macht darauf aufmerksam, dass der Befund von Sper¬
matozoon nicht nur in der Harnröhre, sondern auch in der Harnblase von Leichen
ein fast regelmässiges Vorkommen bei den verschiedensten natürlichen Todesarten
darstellt. (II Tommasi. Bd. 1. No. 13.)
Aus der Feder C. Moelis ist im Verlage von Carl Marhold, Halle a. S., ein
Heftchen erschienen, das die in Preussen gültigen Bestimmungen über die Ent¬
lassung aus den Anstalten für Geisteskranke zum Gegenstand hat. Die interpre¬
tierende Schrift enthält zugleich vergleichende Studien über die entsprechenden
Bestimmungen anderer deutscher Bundesstaaten und einzelner Fremdstaaten.
In dem gleichen Verlage erschien eine Studie von Nolda-St. Moritz über
die Indikationen der Hoohgebirgskuren für Nervenkranke.
Im Verlage von L. Schwann-Düsseldorf hat Amtsgerichtsrat Kurtz eine Zu¬
sammenstellung der Bestimmungen über die Untersuchungen von Körperverletzun¬
gen, insbesondere der tödlichen, erscheinen lassen.
Die diesjährigen Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für gerichtliche
Medizin, die gleichzeitig mit der Naturforscherversammlung in Stuttgart tagte,
werden unsere Leser voraussichtlich im Januarheft 1907 finden.
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n. Oeffentliches Sanitätswesen.
6 .
(Aus der Königlichen Versuchs- und Prüfungsanstalt für
Wasserversorgung und Abwässerbeseitigung. Leiter: Geheimer
Ober-Medizinalrat Professor Dr. Schmidtmann.)
Ueber den Wert der Sandflltration und neuerer Ver¬
fahren der Schnellfiltration zur Reinigung von Fluss¬
wasser bzw. OberfUCchenwasser für die Zwecke der
Wasserversorgung.
Von
Dr. raed. R. Hilgermann,
wissenschaftlichem Hilfsarbeiter der Königlichen Versuchs- und Priifungsanstah für Wasserversorgung
und Abwasserbeseitigung.
Die Einführung zentraler Filtrationsanlagen — in grossem Mass-
stabe zum ersten Male im Jahre 1839 durch James Simpson in
Londen — bedeutete einen mächtigen Fortschritt in der Lösung der
Städteassanierungsfrage. Hatte doch das gewaltige Anwachsen der
Städte, die Entwickelung der Industrie und die Hebung des Schiffs¬
verkehrs den Reinheitsgrad der Flüsse immermehr verschlechtert und
trostlose Wasserversorgungsverhältnisse geschaffen. Nach dem Heimat¬
lande der ersten grossen Anlage wurde die Filtration des Wassers
durch Sandschichten als die „englische Sandfiltration“, und da die
Filterausbeute eine nur geringe war, auch als die „langsame Sand¬
filtration“ bezeichnet.
Der Technik eröffnete sich mit der Ausführung grosser Filter¬
werke ein dankbares Arbeitsfeld, als es galt, dem noch unerkannten
Filtrationsvorgang seine Geheimnisse abzulauschen und Regeln aufzu¬
stellen, die einen sicheren Betrieb der Filterwerke gewährleisteten.
Beobachtete man doch im Verfolg der Sandfiltertätigkeit, dass der
Filtrationsprozess viel komplizierter und schwieriger, als man ursprüng-
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Ueber den Wert der Sandfiltration osw.
337
lieh geglaubt hatte, und dass der Filtrationseffekt nicht gleichmässig,
sondern mancherlei Zufällen unterworfen sei. Als Massstab für die
Leistungsfähigkeit eines Filters galt der durch die Filtration erreichte
Grad der Klärung. Zur Feststellung letzterer bediente man sich be¬
sonderer Klarheitsmesser, mit deren Hilfe man selbst leichte Trübungen
bestimmen konnte. Erschien zwar, gemäss der damaligen Anschau¬
ungen diese Form der Kontrolle in Verbindung mit der chemischen
Analyse als ausreichend, um Schwankungen im Betriebe zu erkennen,
so traten doch bald berechtigte Zweifel zu der Zuverlässigkeit dieses
Systems auf, seitdem man durch gut beobachtete Epidemieen erkannt
hatte, dass letztere auf den Genuss von Oberflächenwasser zurück¬
zuführen seien.
Dem Genie eines Robert Koch war es Vorbehalten, durch die
Begründung der bakteriologischen Forschung diese Frage endgültig zu
lösen. Durch die Bestimmung des Keimgehaltes vor und nach der
Filtration konnten die für den Betrieb der Sandfilter aufgestellten
Grundsätze geprüft und eventuelle Schwächen der Anlage aufgefunden
werden. Die Ansicht, dass der Hauptzweck der Filtration in der
Klärung des Wassers, in der Reinigung von den groben suspendierten
Bestandteilen bestehe, ergänzte und modifizierte die Bakteriologie da¬
hin, dass die erste Aufgabe der Filtration die Zurückhaltung etwaiger
im Rohwasser vorhandener pathogener Keime sei. Damit war der
Filtration ihre Arbeitstätigkeit vorgeschrieben. Neben der Klärung
des Wassers muss sie die pathogenen Keime zurückhalten, d. h. ein
jederzeit hygienisch einwandfreies Gebrauchswasser liefern.
War somit das Hauptprinzip des Filtrationsprozesses durch die
Bakteriologie festgelegt, so galt es weiterhin, mit ihrer Hilfe die
Brauchbarkeit der Sandfilter zu ergründen. Von dieser Erwägung
ausgehend, machten C. Fränkel und Piefke 1 ) auf Anregung Kochs
im Jahre 1890 eine Reihe diesbezüglicher Versuche, deren Ergebnisse
sie dahin zusammenfassten: „Dass die Sandfilter nicht imstande sind,
eine vollständige Sicherheit für ausreichende Säuberung des Trink¬
wassers von schädlichen infektiösen Stoffen zu geben.“
Letztere Versuche konnte späterhin Kabrhel 2 ) auf Grund ähnlicher
Versuche voll und ganz bestätigen.
Die Veröffentlichung der Befunde Fränkels und Piefkes ent-
1) Frankel and Piefke, Zeitschr. f. Hygiene 1890. Bd. 8. S. 1.
2) Kabrhel, Archiv f. Hygiene 1895. Bd. 22. S. 323.
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Dr. R. Hilgermann,
fachte in Ingenieurkreisen einen Sturm der Entrüstung, in Laienkreisen
Bestürzung, das Gefühl der Unsicherheit und des Misstrauens zu den
Leistungen der Sandfiltration. Was die Technik durch Jahrzehnte
hindurch als unumstössliche Tatsache vertreten hatte, was die Be¬
völkerung als einzigen Schutz gegen Infektionsgefahr auf dem Wege
der Wasserversorgung ansah, sollte auf einmal trügerisch und falsch
sein. In der ersten Aufregung wurde hierbei das Hauptsächlichste
verkannt, dass obige Untersucher durchaus nicht die Sandfiltration für
wertlos erklärten, sondern nur auf ihre Schwächen aufmerksam machen
und vor allzu grosser Sorglosigkeit warnen wollten. Aus diesem
Grunde präzisierte auch Fränkel 1 ) auf der 16. Versammlung des
Vereins für öffentliche Gesundheitspflege in Braunschweig im Jahre
1891, auf welcher diese Thesen zur Diskussion kamen, seine An¬
schauungen über den Wert der Sandfiltration noch einmal genau da¬
hin: ,,Wo man Oberflächenwasser benutzen muss, ist der Sandfilter
zur Zeit das beste Reinigungsmittel, vielleicht finden wir noch einmal
etwas besseres, ich glaube es aber nicht.“
Wie wichtig die sorgfältige Filtration des Flusswassers ist, be¬
weisen zur Genüge die Epidemieen zu Hamburg, Altona, Nietleben,
Olten, Königsberg i. Pr., Ostritz, Zerpenschleusse, Halle a. S., Lüne¬
burg, Löbtau, Pforzheim, Belgard und Gelsenkirchen.
In Folgendem wird daher zu erörtern sein, welchen Schutz die
Sandfiltration uns gegen derartige Epidemieen zu bieten vermag,
welche Faktoren für den Filtrationserfolg massgebend sind und welche
Fehler einen, wenn auch geringen Durchgang pathogener Keime er¬
möglichen.
Glaubte man ursprünglich, dass die sorgfältige Aufschichtung der
Steinlager und des Sandes, sowie die dadurch bedingte Dichtigkeit
der Sandschichten das Wesentliche für die Zurückhaltung der Schwebe¬
stoffe des Rohwassers sei, so zeigte sich im Verlauf der Beobachtungen,
dass der Sand erst in zweiter Linie an dem Filtrationsprozess be¬
teiligt ist. Der Effekt der Filtration wird vielmehr durch die Bildung
einer zarten Filterhaut bedingt, die durch die Ablagerung der suspen¬
dierten Bestandteile des Rohwassers auf der Sandoberfläche hergestellt
wird. Von Bedeutung hierbei ist, wie Piefke 2 ) angibt, dass die
1) Fränkel, Vierteljahrsschr. f. öfTentl. Ges.-Pflege Bd. 23. S. 38.
2) Piefke, Mitteilungen über natürliche und künstliche Sandfiltrationen.
Berlin 1881.
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Ueber den Wert der Sandfiltration usw.
339
fraglichen Bestandteile grösstenteils organische Körper sind, die von
Natur mehr oder weniger schleimige Oberflächen haben, im Wasser
aufquellen und deshalb einen sehr dichten Ueberzug zu schaffen ver¬
mögen. Die feineren Schwebestoffe werden freilich im Anfang der
Filtration in die Poren des Sandes eindringen, in tiefere Partien ge¬
langen und eventuell durchgespült werden. Ein grosser Teil von ihnen
bleibt jedoch bereits in den obersten Schichten an den Sandkörnchen
haften, sei es infolge von Kapillarattraktion oder bei der schleimigen
Beschaffenheit dieser feinen Schwebestoffe als eine Art Verklebung
mit den Sandkörnchen. Durch diese Verstopfung in Verbindung mit
der Verengerung der Poren infolge Haftenbleibens der Schwebestoffe
an den Sandkörnchen wird eine Verschleimung der obersten Sand¬
schichten herbeigeführt, was einerseits eine immerdichtere Bildung der
Schmutzdecke zur Folge hat, andererseits eine Beteiligung der obersten
Sandschichten an der Filtration bedingt. Etwaige, durch die
Schmutzdecke durchgetretene kleinste Lebewesen werden hier zurück¬
gehalten.
Feiner Sand erleichtert die Bildung der Schmutzdecke, während
dieselbe bei gröberem Material wegen der Grösse der zu überspannen¬
den Lücken schwerer zu Stande kommt. Mit der Fernhaltung der
Schwebestoffe durch die fertiggestellte Schmutzdecke ist jedoch der
Filtrationsvorgang nicht abgeschlossen. Bedenkt man die Mannig¬
faltigkeit der im Rohwasser verteilten Schwebestoffe, die nunmehr in
der Schmutzdecke dicht zusammengedrängt sind, so wird man be¬
greifen, dass bald ein reges biologisches Leben in ihr sich entfaltet.
Zum Verständnis hiervon müssen wir von der Ueberlegung ausgehen,
dass die Schwebestoffe des Wassers, abgesehen von mineralischem
Detritus, sowohl aus passivem pflanzlichen als auch aktivem tierischen
Plankton bestehen.
Durch den Assimiliationsprozess der Algen wird Sauerstoff frei,
der durch Vermittelung von Organismen oxydierend wirkt, die ihrer¬
seits wieder zu ihrem Aufbau organische Substanz brauchen. Weiter
ist anzunehmen, dass kleine Lebewesen — hauptsächlich empfindliche
Bakterien — in der Schmutzdecke keine geeigneten Existenzbeding¬
ungen finden und zu Grunde gehen oder von den grösseren vernichtet,
aufgefressen werden, die ihrerseits wieder kleinen Tieren zur Nahrung
dienen; diese vermögen Kohlensäure nicht zu assimilieren und atmen
den in organischer Form aufgenommenen Kohlenstoff in Form von
Kohlensäure aus. Stickstoffhaltige organische Körper werden durch
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Dr. R. Hilgerm&nn,
gewisse Bakterien in Ammoniak, salpetrige und Salpetersäure über¬
geführt, also mineralisiert. Bei Sauerstoffmangel kann die Salpeter¬
säure auch durch bestimmte Bakterien — Bacillus denitrificans 1 in
Symbiose mit einem Bakterium — oder bei Sauerstoffabwesenheit durch
Bacillus denitrificans II zu Stickstoff reduziert werden, der entweicht.
Auf diese Weise wird die organische Substanz im Wasser vermindert
und dasselbe gereinigt 1 ).
Die Filterhaut ist infolgedessen nicht nur passiv durch die Zurück¬
haltung der suspendierten Bestandteile an dem Reinigungsvorgang be¬
teiligt, sondern auch aktiv, indem die in ihr verbliebenen Schwebe¬
stoffe durch Zersetzungsvorgänge verändert und zum Teil in Gase
übergeführt werden.
Ein so kunstvoll zusammengesetztes Gewebe wie die Filterhaut,
das aus Tausenden kleinster Bausteine hergestellt ist, wird natur-
gemäss durch die geringste Erschütterung in seinem Zusammenhalt
leicht zerstört werden.
Die Momente, welche eine Verletzung herbeiführen, sind teils in
dem ureigensten Wesen des Filters begründet, teils durch äussere
Einflüsse bedingt. Da die Sandfilter keine Maschinen sind, die fertig
dem Betrieb übergeben werden, sondern erst im Verlauf ihrer Tätig¬
keit die sichere Arbeitsleistung durch Bildung der Schmutzdecke er¬
langen, so werden folgerichtig die Perioden bis zur Fertigstellung der
Decke solche minderer Arbeitsleistung sein, auch wird durch stete
Aufeinanderlagerung der Schwebestoffe die Filterdecke bis zur Undurch¬
lässigkeit verdichtet. Erhöhter Filterdruck kann zwar unter solchen
Umständen mehr Wasser liefern, doch nur auf Kosten der Reinheit
des Filtrats 2 ). Wird das Wasser gezwungen, mit Gewalt sich Wege
zu schaffen, so wird durch die entstandenen Risse und Löcher die
schützende Hülle zerstört und unfiltriertem Wasser der Durchtritt er¬
möglicht. Anfang und Ende einer jeden Filterperiode sind also vom
Gebrauch auszuschliessen, soll ein gleichmässig hygienisch reines Wasser
geliefert werden.
Noch gefährlicher für den sicheren Filtrationsvorgang sind Neu¬
auffüllungen mit Sand, die durch das wiederholte Entfernen der
Schmutzdecke von Zeit zu Zeit notwendig werden. Denn wir haben
1) Wollny, Die Zersetzung der organischen Stoffe and die Humusbildungen
1897. S. 30. — Lafar, Handbuch der technischen Mykologie 1904. III. Bd. S. 185.
2) Piefke, Berlin. 1881.
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Ueber den Wert der Sandfiltration asw.
341
dann keine biologischen Filter, sondern nur Sandaufschichtungen vor
uns, durch welche das Wasser ohne erheblichen Widerstand durch¬
sickert. Sorgfältiges Einarbeitenlassen neu aufgeschichteter Filter, regel¬
mässige Filtrationsgeschwindigkeit und mässiger Filterdruck während
des Betriebes mildern zwar diese gefährlichen Perioden, sie auszu¬
schalten ist bisher der Technik nicht gelungen. Jedes einzelne Wasser¬
werk wird sich, wie Koch 1 ) meint, mit Hülfe der bakteriologischen
Untersuchung seine eigenen Regeln konstruieren müssen, insbesondere
zu ermitteln haben, wieviel Zeit erforderlich ist, um aus dem betref¬
fenden Rohwasser eine gut filtrierende Schlammschicht zu bilden, und
wieviel Wasser nach dem Reinigen wegen zu grossen Keimgehaltes
unbenutzt bleiben muss.
Man wird zugeben, dass selbst bei genauestem Studium des Roh¬
wassers und seiner deckenbildenden Eigenschaften der Termin für
eine Benutzung des Filtrats zu zeitig gewählt sein kann, so dass bei
einem zufälligen Gehalt des Rohwassers an pathogenen Keimen eine
Infektionsmöglichkeit gegeben ist, denn bis das bakteriologische Re¬
sultat dem Betriebsleiter die Güte des Filtrats bestätigt, wird dieser
oft nicht warten können.
Meinungsverschiedenheiten der Techniker auf diesem Gebiet, viel¬
leicht öfters bedingt durch das Bestreben, die Ergiebigkeit der Filter
möglichst lange zu erhalten, werden nicht geeignet sein, die Filtration
zu verbessern. Ich erinnere an die Versuche, die F. Rutter bei
einem englischen Werke mit einer künstlichen Störung der Schlamm¬
decke gemacht hat und von denen er berichtet, dass eine Aenderung
des Filtrats hinsichtlich seiner bisherigen guten Eigenschaften nicht
eingetreten sei, dagegen eine Verlängerung der Betriebsdauer um drei
bis vier Wochen. Aehnlich sind die Versuche Bertschingers be¬
treffend erhöhter Filtrationsgeschwindigkeit, die allerdings bei einem
sehr guten Rohwasser gemacht worden sind.
Abweichend bezüglich der Ansicht konstanter Erhaltung der
Schmutzdecke spricht sich M. Füller 2 ) auf Grund von Versuchen in
Lawrence aus. Die Wirksamkeit der Filter soll sich in den zwischen
den einzelnen Reinigungen liegenden Zeiträumen nur wenig verändert
haben. Er fand durch Untersuchungen, welche er bei 42 Reinigungen
1) Koch, Zeitschr. f. Hygiene. 1893. 14. Bd. S. 250.
2) Ref. über Füllers Experimente. Gesundheitsingenieur. 1899. No. 10.
S. 157.
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Dr. R. Hilgermann,
je 3 Tage vor und 3 Tage nach denselben anstellte, eine Reduktion
des Bakteriengehaltes um 99,68 bzw. 99,89 pCt.
Trotz dieser abweichenden Ansichten muss man gemäss der Er¬
fahrungsgrundsätze mit den oben angegebenen Schwächen der Sand¬
filtration — „Anfang und Ende einer jeden Filterperiode, Neuauf¬
füllung mit Sand“ — stetig rechnen. Die biologische Tätigkeit
innerhalb der Schmutzdecke ferner, so segensreich sie für die Vor¬
reinigung des Wassers ist, bedingt andererseits zahlreiche Misstände,
durch welche die Filterhaut geschädigt wird. Die Gefährlichkeit des
pflanzlichen Planktons für den geordneten Filtrationsbetrieb beschreibt
bereits Piefke im Jahre 1881. Die Algen führen infolge ihres massen¬
haften Auftretens zur Zeit der Wasserblüte zu einer schnellen Ver¬
stopfung der Filter oder verunreinigen, in Fäulnis übergehend, das
Wasser. Auch beobachtete Piefke das Aufsteigen zahlreicher Gas¬
blasen, die er auf die in dem Filter sich zersetzenden Algen zurück¬
führte. Diese Gasblasen bleiben in den Geflechten hängen, reissen
ganze Massen derselben los und treiben sie in die Höhe. An der
Stelle einer derartigen Verletzung entsteht ein kleiner, offener Trichter,
in den sich sofort Schmutzteile hineinziehen. Stark bewachsene Filter,
meint daher Kemna, müssen unter strenger Kontrolle gehalten und
bei Aufwerfen ihrer Schmutzdecke sofort in verlangsamende Tätigkeit
gesetzt werden, bis die entblössten Stellen wieder dicht sind. Der
massenhafte Auftritt irgendwelcher Vegetation, führt Kemna weiterhin
aus, hat als natürliche Folge die Vermehrung jener Tiere, welche von
den erwähnten Pflanzen sich ernähren. In den Einnahmebassins und
Filtern können sie zu einer wahren Plage w r erden, da die abgestorbenen
Individuen sich auf dem Sande ansammcln und dem durchsickernden
Wasser faulende Beschaffenheit verleihen. Auch andere Tiere können
gelegentlich lästig werden, so z.B. die Stichlinge, welche die Schmutzdecke
zerstören, um ihre Nester zu bauen. In einem derartigen Falle stieg die
Keimzahl des Filtrats sofort von 30 auf 292. Haben wir es bei der¬
artigen Vorkommnissen meist mit abnormen Verhältnissen zu tun, so
kann doch auch bei normalem Betrieb der Filter tierisches Plankton
in die tiefen Sandschichten gelangen, was stets eine Gefährdung des
Filtrats bedeutet. So fanden Kolkwitz und Thiesing auf Grund
genauester Untersuchungen über die Leistungen der Sandfiltration
im Zurückhalten von Plankton, dass tatsächlich verschiedene Orga¬
nismen, welche grösser als Bakterien sind, in den Sand der Filter
ein- und dessen Poren durchdringen — freilich in geringer Menge und
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Ueber den Wert der Sandfiltration usw.
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in langsamem Tempo. — Aehnliche Beobachtungen machte Hugo
de Vries bei den Rotterdammer Wasserwerken. Ausser diesen bio¬
logischen Vorgängen sind klimatische Einflüsse von weittragender Be¬
deutung für den sicheren Verlauf der Filtration. Frost und Hoch¬
wasser z. B. haben des öfteren den Filtrationserfolg zu nichte gemacht.
Trotz dieser scheinbaren Mängel und Schwächen der langsamen
Sandfiltration darf man auf Grund der mit ihr gemachten Beobach¬
tungen und Erfahrungen behaupten, dass ihr Wert für die Reinigung
von Oberflächenwasser als unbestreitbar anzusehen ist. Man muss
anerkennen, dass die langsame Sandfiltration — vorausgesetzt sach-
gemässe und gewissenhafte Leitung — viel zur Assanierung der Städte
und damit zu deren wirtschaftlichen Hebung beigetragen hat. Städte
oder Gemeinden, die auf Oberflächenwasser angewiesen waren, lassen
nach Einführung einer geordneten Sandfiltration einen bedeutenden
Rückgang der hauptsächlich durch das Wasser übertragbaren Erkran¬
kungsformen — der „Cholera“ und des „Typhus“ — erkennen.
Die in der Literatur angegebenen schlechten Leistungen, welche
den Wert der Sandfiltration in Frage stellen könnten, lassen sich
bei genauer Betrachtung auf Nachlässigkeiten im Betriebe oder auf
falsche Anlage zurückführen und können daher dem System nicht zur
Last gelegt werden. Andererseits zeigen sie aber zugleich die er¬
freuliche Tatsache, dass nach Neuregelung des Filterbetriebes sich
sofort eine bedeutende Besserung des Gesundheitszustandes der Be¬
völkerung bemerkbar machte.
In welcher Weise der Filtrationsbetrieb des öfteren gehandhabt
wurde, zeigen uns folgende einschlägige Literaturangaben. Ohne jede
Beachtung der für den geordneten Betrieb der Sandfiltration uner¬
lässlichen Bedingungen war man z. B. in Nietleben nur bestrebt, den
erforderlichen Wasserkonsum zu decken. Die Bildung der Schmutz¬
decke wurde nicht abgewartet, sondern man liess das Wasser einfach
durch die Sandschichten hindurchlaufen.
1871 wies Semon auf die ungünstigen hygienischen Verhältnisse
Königsbergs hin und erklärte dessen Wasserversorgung für höchst
mangelhaft. Dieselben Klagen wiederholen sich fortgesetzt in den
90 er Jahren, blieben aber trotz des Ausbruches von Epidemien ohne Be¬
achtung. Die mit Sand befüllten Filterbassins, schreibt Seidel, wurden
aus pekuniären Rücksichten leider nicht frostfrei angelegt und konnten
in den Monaten Februar und März, weil sie mit einer dicken Eisschicht
belegt waren, nicht gereinigt werden. Infolge plötzlich eintretender
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Dr. R. Hilgermann,
Schmelze enorm starker Schneemassen kam aus der sehr kultivierten
Umgebung des Ursprungs der Wasserleitung eine Menge Wasser von
gedüngten Ackerflächen, die unter dem Schnee festgefroren waren, in
die Zuflüsse der Wasserleitung. Da im Sommer und Herbst 1887
mehrfache lokale Epidemien von Typhus im Samland, dem Sammel¬
gebiete der Wasserleitung stattgefunden hatten, war es sehr wahr¬
scheinlich, dass die Dejektionen dieser Kranken, wie dies auf dem
Lande ja vielfach Sitte, auf die Dungstellen gebracht und so schliesslich
auf den Acker gefahren wurden. Das Eindringen von Typhuskeimen
in die nicht mehr ausreichenden Filterbassins muss daher als die ver¬
nehmlichste Ursache der Typhussepidemie angesehen werden.
1891 schildert Laser diese traurigen Zustände, indem er sagt:
„Im wesentlichen funktionierte die Filtrationsanlage während der Be¬
triebszeit gut, doch trat im Schmutzwasser sowohl als im Filtrat ein
rapides Ansteigen der Bakterienzahl jedesmal ein, wenn es stark ge¬
regnet hatte oder Tauwetter sich einstellte; es waren dann im filtrierten
Wasser bis 6720 Keime.“ Verantwortlich hierfür macht Laser den
schlechten Sand und die forzierte Ausnützung der Filter (Drucksteige¬
rungen bis zu 700 mm). Im Jahre 1893 musste selbiger Bericht¬
erstatter Aehnliches feststellen. Wiederum wurde in einer solchen
Weise der Filterbetrieb gehandhabt, dass absolut kein Nutzen der
Filtration zu erwarten war. Entweder wurde die Sedimentierzeit
verkürzt, oder der Druck gesteigert oder die Filtriergeschwindigkeit
erhöht. Die Folge war ein Ansteigen der Keime bis 16000 im
Kubikzentimeter. Erst dem energischen Einschreiten der zuständigen
Behörden gelang es, geordnete Wasserversorgungsverhältnisse zu
schaffen. In dem „Sanitätswesen des preussischen Staates der Jahre
1895, 96 und 97“ lesen wir, dass in Königsberg in Preussen während
des ganzen Jahres 1896 der Typhus herrschte. Es stellte sich heraus,
dass zeitweise zum Leitungswasser unfiltriertes Wasser hinzugenommen
war. Dem Magistrat wurde die inzwischen in Vergessenheit geratene
Verpflichtung in Erinnerung gebracht, in solchen durch unabwendbare
Verhältnisse gebotenen Fällen das Publikum durch öffentliche Bekannt¬
machungen davon zu berihchrichtigen. Zugleich erging an ihn die
Aufforderung, das Leitungswasser fortan nicht viermal monatlich,
sondern täglich bakteriologisch untersuchen zu lassen und das Ergebnis
alsbald dem Polizeipräsidium mitzuteilen. Die Beschaffenheit des
Wassers war von da an durchaus befriedigend.
Gleich verfehlte Anlagen zeigen die Berichte über Lessen und
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Ueber den Wert der Sandfiltration usw.
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Gnesen. Die Sandfilter der Stadt Lessen waren derart angelegt, dass
das Wasser — es wurde Seewasser benützt — nicht von oben, son¬
dern seitlich in die Filter trat und daher naturgemäss nur diejenige
Schicht passierte, welche seinem Durchtritt den geringsten Widerstand
entgegensetzte. Von einer wirklichen Reinigung des Wassers konnte
keine Rede sein, so dass auf den Genuss desselben von dem Kreis-
physikus eine typhusartige Epidemie zurückgeführt wurde. Das
Leitungswasser von Gnesen liess im Juni 1889 erkennen, dass unfil-
triertes Wasser des Winiarysees in die Leitungsröhren eingelassen
worden war. Die bakteriologische Untersuchung ergab 800—1000 Bak¬
terien im Kubikzentimeter. Es wurde an die Besitzerin des Wasser¬
werkes (Aktiengesellschaft) die Forderung gestellt, eine ordnungs-
mässige Filteranlage wie bei den Stralauer Werken anzulegen. Die
bisherige Filtrationsschicht hatte nur 20 cm Dicke. Die hiernach er¬
folgte Neuanlage der Filter hatte einen ausgezeichneten Erfolg, insofern
eine dem See entnommene Probe 2900 Bakterien im Kubikzentimeter
enthielt, während in 1 ccm Leitungswasser nur 48 gezählt wurden. Tn
späterer Zeit gab die schlechte Beschaffenheit der Filter infolge mangel¬
hafter Aufsicht seitens der Gesellschaft noch mehr Veranlassung zu
Klagen, deren Berechtigung durch Untersuchungen festgestellt worden
ist. Trotz dieser schlechten Funktionen ist die Wasserleitung im all¬
gemeinen für die Gesundheitsverhältnisse günstig gewesen, wie die
herabgegangene Mortalitätsziffer beweist.
Weitere Beiträge zu dieser Art der Sandfiltration geben Wolff-
berg und Schulze-Freyer bei Beschreibung der Choleraepidemien
zu Tilsit und Stettin. In beiden Fällen haben Mängel des Filtrations¬
betriebes ein Durchtreten pathogener Keime herbeigeführt. Fiel zwar
beim Tilsiter Fall die Untersuchung des Filtersandes und damit der
direkte Nachweis der Verseuchung des Filters negativ aus, so Hessen
sich bei der Choleraepidemie in Stettin 1893 auf dem Filter der
Wasserleitung Vibrionen nachweisen.
Auch hier zeigte der hohe Keimgehalt — 771 Keime pro ccm
und die zu grosse Filtrationsgeschwindigkeit — das Nichtbeachten
der Grundsätze für eine geregelte Filtration. Nachdem die Ge¬
schwindigkeit auf das richtige Mass herabgesetzt worden war, trat
ein Nachlassen bzw. Aufhören der Erkrankungen in der durch die
Leitung versorgten Stadt ein.
Da die Stadt Liegnitz bereits 1888 unter einer Infektion des
städtischen Leitungswassers zu leiden gehabt hatte, wurden die Filter
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Dr. R. Hilgermann,
erheblich erweitert, jedoch ohne nennenswerten Erfolg. Die Anlage
der Filter war von vornherein eine verfehlte, indem zu den obersten
Schichten Kies verwandt worden war, so dass Unreinigkeiten bis 10 cm
und tiefer eindrangen.
Derartige Unzulänglichkeiten des Filtrationsbetriebes und daraus
resultierende Epidemien mögen früher des öfteren unbeanstandet ge¬
blieben sein. Die Fortschritte der Hygiene und die damit innig ver¬
knüpfte Tätigkeit der Medizinalbeamten Hessen durch genaues Be¬
obachten der Ausbreitung der Infektionskrankheiten in den einzelnen
Bezirken häufig die Unzulänglichkeit der Wasserversorgung als Ursache
erkennen. Verfolgen wir die Angaben des „Gesundheitswesens des
preussischen Staates“ in den letzten Jahren, so finden wir hierfür
eine ganze Reihe von Beispielen. 1902 w r ird unter dem Kapitel
„Wasserversorgung“ gesagt, dass die Filtrieranlage der Stadt Bricg
sich als unzureichend erwiesen habe und eine Vergrösserung der
Filterfläche um mehr als das Doppelte erforderte. Die Feststellung
der Keimzahl hatte 1500 Keime im Kubikzentimeter ergeben. Die
Gesundheitsverhältnisse der Bevölkerung waren dementsprechend
schlechte. So wurden im Kreise Brieg 64 Typhuserkrankungen in
elf Ortschaften beobachtet, wovon 29 auf die Stadt Brieg entfielen,
welche über das ganze Stadtgebiet verteilt waren. Auch im Jahre
1903 wurden wiederum 37 Typhuserkrankungen gemeldet. Die
Ursache hierfür ist seitens des Kreisarztes auf den Genuss des durch
zu kleine Filter mangelhaft gereinigten Oderwassers zurückgeführt
worden. Tilsit, das durch die Epidemie von 1893 zur Anlage gut
arbeitender Filter hätte veranlasst werden sollen, wies gemäss dem
Berichte des „Gesundheitswesens des preussischen Staates“ im Jahre
1901 noch keine Verbesserung auf. Wiederum musste das Memel¬
wasser wegen mangelhafter Filteranlagen für nicht einwandsfrei erklärt
werden. Auch die bereits ei wähnte Stadt Lessen war noch auf dem¬
selben Standpunkte stehen geblieben. Schlecht arbeitende Filter
hatten ferner die Städte Breslau und Wandsbeck. Bei ersterer Stadt
— jetzt GrundwasserVersorgung — wurde die zulässige Zahl von
100 Keimen im Kubikzentimeter um das sechsfache überschritten.
Bei der anderen mussten die Filterwerke wegen zu kleiner Rein¬
wasserbassins und dadurch bedingter zu grosser Filtriergeschwindigkeit
beanstandet werden. Schlechte Rohw r asserverhältnisse verhinderten
die Stadt Magdeburg einwandfreies Wasser zu liefern. Im Winter
1902/03 trat eine Wasscrkalamität infolge niedrigen Elbwasserstandes
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Ueber den Wert der Sandfiltration usw.
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ein. Das Rohwasser enthielt bis 92 000 Keime pro ccm, die Filtrate
zwischen 300 und 920 Keime. Ausserdem war das Elbwasser noch
durch die Kaliindustrieabwässer und die Abflüsse des Mansfelder Berg¬
werkes verunreinigt.
Wie ganz anders dagegen bei ordnungsgemässem Filterbetriebe!
Als 1885 Percy Francland die bakteriologische Untersuchungs¬
methode von Koch auf die Wasserversorgung Londons an wandte,
wies er eine Reduktion des Bakteriengehaltes durch die Sandfiltration
um 99,2 pCt. nach. 1891 zeigte Hugo de Vries an dem Beispiel
des zweiten Rotterdamer Wasserwerkes, das ein völlig einwandfreies Pro¬
dukt lieferte, die Möglichkeit, das Wasser durch Filtration so zu reinigen,
dass es keinen Nährboden für Crenothrix abgebe, obwohl letztere im
Wasser der Maas vorhanden war. Ueber die Sandfilter St. Peter-
burgs finden wir die Angabe, dass seit dem 17 2 jährigen Bestehen
der Anlage eine wesentliche Verminderung der Sterblichkeit an
Abdominaltyphus und Magen- und Darmkrankheiten in den mit
filtriertem Wasser versorgten Stadtteilen festgestellt worden ist. Aus
Amerika wird über grössere Versuchsreihen M. Füllers 1 ) berichtet,
die ein sehr günstiges Urteil über den Wert der Sandfiltration zu¬
lassen. Die Stadt Lawrence, deren Wasserwerke ihren Bedarf früher
dem durch die Abwässer der Stadt Lowell verunreinigten Marrimac-
fluss entnahmen, hatte andauernd unter Typhus zu leiden gehabt.
Nach der Einrichtung einer grossen Sandfilteranlage machte sich deren
Einfluss auf den Gesundheitszustand der Bevölkerung sofort günstig
bemerkbar, indem sich die Typhuserkrankungen in den nächsten
Monaten um mehr als die Hälfte reduzierten, um allmählich ganz zu
verschwinden. In einem weiteren Artikel über selbige Versuche sagt
M. Füller, dass der Filterprozess eine Abnahme der Bakterienzahl
um 99,97 pCt. zur Folge hatte, und dass drei der im Flusswasser
vorwiegend enthaltenen Bakterien — insonderheit das B. coli commune
— im Filtrat nicht wieder gefunden worden sind. Seine Beobachtungen
fasst M. Füller in nachfolgender Kritik zusammen: „Gemäss den
gegenwärtigen Erfahrungen bezüglich der Beseitigung pathogener
Bakterien aus Trinkwasser lässt sich behaupten, dass ausser den in
gewissen Städten Europas gemachten Erfahrungen auch die in
Lawrence während eines Zeitraumes von mehr als fünf Jahren durch
11 000 Beobachtungen gewonnenen Resultate den Beweis liefern, dass
1) Iben, Wasserversorgung des Städte Ges. Ing. 1894. 17. Bd. S. 62.
YierUlj&hrsHOhrift f. ger. Med. o. öff. San .-Wesen. 3. Folge. XXXII. 2. 23
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Dr. R. Hilgermann,
cs vollkommen möglich ist, Filter zu bauen, welche Wasser auf wohl¬
feilem Wege reinigen und mehr als 99 pCt. der im Rohwasser ent¬
haltenen Bakterien zu beseitigen vermögen.“
In gleichem Sinne schreibt Bujwid‘) über die Sandfiltrations¬
anlage zu Warschau, dass die durch W. Lindley angelegten Filter
gut funktionieren, und dass das Weichselwasser, welches vor der
Filtration oft 1000 bis 50 000 Keime pro Kubikzentimeter enthalte,
nach der Filtration gewöhnlich nur 20—40 Keime aufweise. Beider
letzten Choleraepidemie habe sich in Warschau, obwohl in den an
beiden Weichselufem gelegenen Dörfern und Städten hie und da
Ausbrüche vorgekommen waren, kein einziger Herd gebildet. Typhus¬
erkrankungen seien in derselben Zeit so stark zurückgegangen, dass
nur sehr seltene Fälle verzeichnet zu werden brauchten. Nach den
Angaben des „Sanitätswesens des preussischen Staates“ trat in Stral¬
sund eine wesentliche Abnahme des Typhus ein, nachdem 1894 das
städtische Wasserwerk eröffnet und von Jahr zu Jahr mehr Häuser
an dasselbe angeschlossen worden sind. 1895 kamen noch 94 Er¬
krankungen, 1896 50 und 1897 nur noch 11 Fälle vor. Mit be¬
sonderer Berücksichtigung der Militärbevölkerung berichtet auch
Haselberg 1 2 ) bei Besprechung obiger Anlage, dass der Typhus durch
gesundheitliche Massregeln, vor allem infolge einer cinwandsfreien
Wasserversorgung innerhalb von nur 3 —4 Jahren aus der Zivil- und
Militärbevölkerung Stralsunds fast ganz verschwunden sei. Gerade
dadurch, dass der Erfolg einer neuangelegten Wasserleitung ganz
isoliert zur Beobachtung kam, sagt Haselberg, erhält die erfreuliche
Tatsache eine erhöhte, prinzipielle Bedeutung. Bei keiner Stadt dürfte
der Einfluss einer neuen Wasserleitung so glänzende Zahlen zu Tage
gefördert haben wie hier. Gleich gute Ergebnisse erwähnt Kober 3 )
in einer vergleichenden Statistik der Sterblichkeitsfälle an Typhus in
amerikanischen Städten vor und nach der Filtration ihres Gebrauchs¬
wassers. Einen gleich guten Erfolg weist der Gesundheitsbericht
von Albanv auf. Nach Kober trat eine Sterblichkeitsreduktion um
78,5 pCt. ein.
1) Bujwid, Ueber verschied. Arten der Wasserfiltration. Cenlralbl. f.
Bakteriologie 1894. Bd. 16. S. 118.
2) Haselberg, Die Abnahme der Typhuserkrankung in Stralsund. Dtsch.
militärärztl. Ztschr. 1900. 29. Bd. S. 153.
3) Kober, The Pollution of Streans and the Purification of Public Water
Supplies. The Journal of the American Medical Association 1901. 36. Bd. S. 1162.
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lieber den Wert der Sandfiltration usw.
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lieber die Gesundheitsverhältnisse Hamburgs in bezug auf Typhus-
und Choleraerkrankungen lesen wir bei Reineke 1 ), dass mit der
Einführung der Filtration eine plötzliche starke Abnahme der Ge¬
samtsterblichkeitsziffer statthatte, und dass diese dauernd erheblich
niedriger blieb, als sie je zuvor gewesen war. Von 30—40% 0 ging
sie bis 17 herunter. Für Typhus sank sie von 12,93 auf 0,33. In
gleicher Weise ist in Berlin die Typhussterblichkeit, auf 10 000 Ein¬
wohner berechnet, auf 0,7 herabgegangen. Gerade bei Hamburg und
Berlin kommt diese Verbesserung insofern in unverkennbarem Masse
zum Ausdruck, als die Sterblichkeitszahlen dieser Städte durch den
starken internationalen Verkehr ungünstig beeinflusst werden.
Dass gut eingearbeitete Filter auch grösseren Schwankungen des
Rohwassers gegenüber gleichmässig arbeiten, beweisen die Angaben
Kurths 2 ) im Jahre 1895 über Bremen: „Die plötzliche Steigerung
der Keimzahl des Rohwassers bis auf das Zehn- und Zwanzigfache
bedingte zunächst keine Zunahme im Filtrat, sofern die Filter sich
in der Mitte oder nahe dem Ende ihrer Arbeitszeit befanden, dagegen
trat sofort ungewöhnliche Zunahme ein, wenn erst wenige Tage nach
der Reinigung verstrichen waren.“ „Als die Keimzahl des Roh¬
wassers schnell von 5000 auf 30 000 Keime stieg, zeigten alle frisch
gereinigten Filter einen Gehalt von 500 bis 1200 Keimen, dagegen
die schon längere Zeit angelassenen nur 90 bzw. 100. Trotz Vor¬
handenseins des höchsten erreichten Wasserstandes überstieg die
Keimzahl der Filter ausnahmsweise 100, ja bewegte sich bei einigen
auf der Höhe von 20—50 Keimen.
Lässt sich zwar an der Hand der oben angeführten Beispiele
und vergleichenden Statistiken folgern, dass die Reinigung des Ober¬
flächenwassers durch die Sandfiltration den Gesundheitszustand der
mit filtriertem Wasser versorgten Gemeinden hervorragend verbessert
hat, so kann doch dann erst der Wert dieser Filtrationsmethode für
erwiesen gelten, wenn sie sich fähig gezeigt hat, in Fällen wirklicher
Gefahr selbst das verseuchteste Wasser in hygienisch einwandfreies
Gebrauchswasser urazuwandeln. In der Tat hat die Sandfiltration
diese Probe auf das glänzendste im Jahre 1892 bestanden. Als in
diesem Jahre die Choleraepidemie in Hamburg wütete, welch letztere
1) Reineke, Gesundheitsverhältn. Hamburgs im 19. Jabrh. Hamburg 1901.
2) Kurth, Die Tätigkeit der Filteranlage des Wasserwerks zu Bremen von
Juni 1893 bis August 1894, mit besonderer Berücksichtigung der Hochwasserzeilen.
Arbeiten ans dem Kaiserl. Gesundheitsamt. 1894. 11. Bd. S. 427.
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Dr. K. Hilgermann,
Stadt bis dahin unfiltricrtcs Elbwasscr als Trink- und Wirtschafts¬
wasser benutzte, blieb die Nachbarstadt Altona, die dasselbe Roh-
wasscr Sandfilter passieren liess, von der Seuche verschont. Die Be¬
deutung dieser Leistung wird erst dann völlig verständlich, wenn man
den Grad der Verseuchung des Elbwassers, das Altona zur Verfügung
stand, in Betracht zieht. Bekamen doch die Filter Altonas erst das
durch sämtliche Zuflüsse Hamburgs verseuchte Elbwasser zur Ver¬
arbeitung. Erklärt man selbst die wenigen Erkrankungsfälle in Altona
mit der von Frankel und Piefke nachgewiesenen Durchgangs¬
möglichkeit pathogener Keime, so ist doch einwandfrei zuzugeben,
dass die Sandfiltration in Altona 1892 sich glänzend bewährt hat.
„Für die Filtration im Grossen, sagt Behring, ist das Sand¬
filler das einzig bewährte, durch dasselbe gelingt es, klares Trink¬
wasser zu gewinnen, dessen Bakterienzahl im Kubikzentimeter die
zulässige Grenze nicht übersteigt, auch wenn das unfiltrierte Wasser
hohen Keimgehalt (bis 100 000) aufweist“.
Der Begründer der Doppelfiltration, Götze, spricht sich über
die Technik der Sandfiltration wie folgt aus: „Bei richtiger Anlage
und zuverlässiger Leitung, Dinge, die man grösseren Gemeinwesen
zur Vorbedingung machen kann, sind die Sandfilterwerke für die Fil¬
tration von Oberflächenwasser allen Anforderungen an eine gesunde
Wasserversorgung mindestens ebenso gewachsen, wie viele Grund¬
wasserversorgungen. Wo Gegenteiliges bekannt geworden ist, ist jenen
Vorbedingungen auch nicht entfernt genügt gewesen, waren grobe
Fehler nachzuweisen, die sich leicht vermeiden lassen und die der
Sache nicht zur Last gelegt werden dürfen.“
Um letztere nach Möglichkeit auszuschalten und einen gere¬
gelten Filtrationsbetrieb zu erhalten, entstanden die bereits im
Jahre 1893/94 vorbereiteten „Grundsätze für die Reinigung von
Oberfläehenwasscr durch die Sandfiltration“. Sie wurden durch
Rundschreiben des Reichskanzlers vom 13. Januar 1899 zur Kenntnis
der Bundesregierungen gebracht. Damit diese vom Staat im
Interesse der Konsumenten gestellten Forderungen mit grösster
Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit erfüllt werden, erscheint eine
ständige und genaue Kontrolle von grösster Wichtigkeit. Nicht bloss
der bakteriologische Befund wird ausschlaggebend sein, sondern vor
allem die Prüfung der Anlage und ihres Betriebes. Die Gesundheits¬
behörde wird immer mehr darauf dringen müssen, dass die Werke
nicht Privateigentum einzelner sind, sondern Kommunalbesitz werden,
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Ueber den Wert der Sandfiltration usw.
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und dass die Leiter in keiner Weise finanziell beteiligt, sondern selbst¬
ständige Beamte sind. Sehr richtig führt Schrakamp x ) aus, dass
der Kreisarzt bei Flusswasserversorgungen die grösste Aufmerksam¬
keit den Filterwerken zuzuwenden hat, da letztere, wenn sie gut ein¬
gerichtet sind und mit der peinlichsten Sorgfalt überwacht werden,
eine, wenn auch nicht absolute, so doch immerhin ziemlich weit¬
gehende Garantie für die Unschädlichkeit des Reinwassers gewähren.
In dem Erlass des Ministers für etc. Medizinalangelegcnheiten
vom 24. August 1899 sind die Befugnisse der Medizinalbeamten in
Bezug auf Wasserwerksanlagen genauer geregelt und festgelegt worden.
Selbstverständlich wird diese Mitarbeit der Kreisärzte keine Yor-
gesetztentätigkeit sein dürfen, sondern vermöge ihrer hygienischen
Schulung werden sie dem Betriebsleiter in Fragen der Hygiene be¬
ratend zur Seite stehen und ihn auf etwaige diesbezügliche Mängel
aufmerksam machen müssen. Durch ein verständiges Zusammen¬
arbeiten der Techniker und Hygieniker werden wir das allmählich
erreichen, was Schraidtmann -) im Jahre 1900 aussprach: „Wir
haben allen Grund, von ärztlicher Seite gerade in der gegenwärtigen
Zeit immer aufs neue darauf hinzuweisen, dass eine gute Wasser¬
versorgung und geordnete Beseitigung der Schmutzstolfe die unerläss¬
liche Voraussetzung für eine günstige gesundheitliche, kulturelle und
wirtschaftliche Entwicklung volkreicher Gemeinden ist.“
Den fortgesetzten Bemühungen der Hygiene und der Technik ist
es in der Tat gelungen, mancherlei Verbesserungen einzuführen, die
den Filtern ihre Arbeit erleichtern und damit eine weitgehende Sicher¬
heit des Betriebes gewährleisten.
Während man früher das am bequemsten erreichbare, dement¬
sprechend aber verschmutzeste Flusswasser benutzte, sucht man jetzt
von vornherein den Sandfiltern ein möglichst reines Rohwasser zuzu¬
führen. Stets wird der Hygieniker von der Benutzung eines Wassers
abraten, das verunreinigende Zuflüsse von städtischen Abwässern,
menschlichen Wohnungen und gedüngten Feldern oder Wiesen aus¬
gesetzt ist, und ebenso wird mit grösster Sorgfalt die Entnahmestelle
und Anlage der Pumpstation ausgewählt werden müssen (Grahn).
Einen weitgehenden Schutz in dieser Hinsicht bieten die natür¬
lichen Seen und vor allem die Anlagen von Stauweihern. Die Ver-
1) Schrakamp, Vierteljahrsschr. f. ger. Med. Bd. XXVIII. S. 131.
2) Schmidtmann, Vierteljahrsschr. f. ger. Med. 1900. Bd. XIX. S. 296.
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Dr. R. Hilgermann,
sorgung aus Seen, die als natürliche Klärbecken dienen, darf natür¬
lich nur insoweit als unverdächtig angesehen werden, wenn die Seen
frei von Schiffsverkehr und ihre Ufer unbewohnt sind 1 )- Auch die
Grösse wird in Betracht zu ziehen sein, da grosse Becken ein aus¬
giebiges Niedersinken der Schwebestoffe bewirken, während umge¬
kehrt bei zu kleinen Seen eine Stagnation eintreten kann. Dass das
Wasser aus Seen, auf denen ein lebhafter Schiffsverkehr herrscht,
nicht ungefährlich ist, beweist die Mitteilung des Sanitätswesens des
preussischen Staates von 1903, dass auf den Genuss unfiltrierten
Müggelseewassers einige Erkrankungen zurückgeführt werden mussten.
Gleich günstig wie Klärbecken wirken künstliche Stauweiher, da sich
die Schwebestoffe, welche das Flusswasser mitführt, in der Sperre
absetzen und garnicht auf die Filter gelangen. Es wird sogar der
dauernde Schutz vor Verunreinigungen hier viel leichter und sicherer
durchzuführen sein, als bei natürlichen Seen. Wenn über den Be¬
trieb des Wasserwerkes der Stadt Remscheid 2 ) berichtet wird, dass
trotz der anhaltend trockenen Witterung und des kaum nennenswerten
Wasserzuflusses in das Becken des Stauweihers während eines halben
Jahres das aufgestaute Wasser bis zum Eintritt der Hochflut allen
hygienischen Anforderungen entsprochen hat, so ist damit der Beweis
geliefert, dass derartige Anlagen dauernd ein gutes Rohwasser garan¬
tieren. Für diejenigen Gemeinden aber, die mit schlechtem Roh¬
wasser zu rechnen haben, wie Hamburg, Altona, Königsberg und
Warschau, dürfte die Doppelfiltration, wie sie zuerst von Götze 3 )
eingeführt wurde, eine bedeutende Vervollkommnung des Filter¬
betriebes sein. Die Perioden minderer Arbeitsleistung, sagt Götze,
müssen für das Gesamtergebnis unschädlich gemacht werden, und die
einzige Art und Weise, das zu erreichen, ist die Nachfiltration in
verschlammten Filtern durch Ueberführung des Vorfiltrats in ein
Nachfilter mittelst natürlichen Gefälles. Wenn Götze angibt, dass
bei 28 000 Keimen im Rohwasser eine Reduktion auf 780 Keime im
Vorfilter und sodann im Nachfilter eine solche bis auf 31 Keime
neben völliger Klärung stattfand, so ist diese Leistung eine hervor-
1) Kolkwitz, Die Beurteilung der Talsperrenwässer vom biologischen
Standpunkt. München 1905.
2) Die Wasserverhältnisse im Eschbachtal und der Betrieb des Wasser¬
werkes der Stadt Remscheid im Jahre 1904. Schillings Journ. 1905. 48. Bd.
3) Götze, Doppelte Sandfiltration für zentrale Wasserversorgung. Arch. f.
Hygiene. 1899. Bd. 35. S. 227.
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Ueber den Wert der Sandfiltration usw.
353
ragende zu nennen. Es gelingt also, auch bei schlechtestem Roh¬
wasser und ungünstigen klimatischen Verhältnissen durch die Doppel¬
filtration ein völlig genügendes und ein wandsfrei es Filtrat zu erzielen.
Gleich lobend sprechen sich Gärtner 1 ) und Halbertsma 2 ) aus.
Auf Grund eingehender Versuche kommt Kabrhel 3 ) zu dem Urteil,
dass sich der bei der doppelten Filtration erzielte Filtrationseffekt
den Grenzen der absoluten Vollkommenheit nähert, dass jedenfalls
eine sehr gleichmässige Wirkung zu erreichen ist, und dass die aus
gewissen technischen Schwierigkeiten hervorgehenden Störungen, die
bei der grössten Aufmerksamkeit nicht ganz zu vermeiden sind, ver¬
schwinden würden.
Ein nicht zu unterschätzender Nachteil haftet allerdings der
Götzeschen Doppelfiltration an. Bei allen Sandfiltern wird mit pein¬
lichster Genauigkeit darauf geachtet, dass die Zuflussstränge von Roh-
und Reinwasser von einander getrennt verlaufen. Bei der Götze¬
schen Doppelfiltration werden jedoch je nach Bedarf die Röhren für
Rein- und Rohwasser benützt. Dem entsprechend könnte einmal eine
nachträgliche Infektion des Reinwassers stattfinden. Doch lassen sich
wohl bei gutem Willen, Aufmerksamkeit und beim Studium der ört¬
lichen Verhältnisse mancherlei derartige Schäden vermeiden. Aehn-
liche Anlagen zur Unterstützung der Filter zeigen z. B. die Wasser¬
werke der Städte Stralsund 4 5 ) und Petersburg 6 ).
Da sich bei dem Stralsunder Werke das angewandte Seewasser
in den Leitungen trübte und auch bei stürmischem Wetter so auf¬
gewühlt wurde, dass die Filter sich schnell verstopften, erbaute die
Stadt ein Rieselwerk mit Holzhorden und als Sammelbecken einen
Vorfilter, der später noch mit einer 25 cm hohen Schicht feinen
Sandes bedeckt wurde. Seit dieser Einrichtung vollzog sich der
Filterbetrieb ohne Störung. In Petersburg findet, da die Neva' viel
gelöste organische Substanzen, eine ungenügende Menge freien Sauer-
1) Gärtner, Amerikanische Versuche über Sandfiltration. Schillings Journ.
1900. No. 3. S. 42.
2) Halbertsma, Die Resultate der doppelten Filtration zu Schiedam.
Schillings Journ. 1896. No. 29. S. 467.
3) Kabrhel, Eine Vervollkommnung des Filtrationseffektes bei der Zentral¬
filtration. Hyg. Rundsohau. 1897. 7. Bd. S. 481.
4) Zur Wasserversorgung von Stralsund. Ges.-Ing. 1905. No. 1. S. 6.
5) Iben, Neue Sandfilteranlage zu St. Petersburg. Ges.-Ing. 1893. No. 21.
S. 692.
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Dr. R. Hilgermann,
Stoffes usw. enthält, in der sogenannten Siebabteilung vor der Fil¬
trierung ein Lüftungsprozess statt. Die günstige Wirkung dieser
Siebanlage beruht im wesentlichen auf dem heftigen Anprall des
Wassers gegen ein gelochtes Messingnetz. Die Zerstäubung bewirkt
alsdann das Entweichen der im Wasser gelösten Gase, andererseits
nimmt das in dünnen Strahlen herabfallende Wasser Sauerstoff aus
der Luft auf. Daher ist im Siebgebäude stets ein starker Geruch
nach Schwefelwasserstoff wahrzunehmen, während in den Filteranlagen
eine solche Luftverunreinigung nie beobachtet wurde. Daneben be¬
sorgt die Siebanlage noch die mechanische Vorreinigung des Wassers
von gröberen Bestandteilen und verhindert so eine zu schnelle Ver¬
unreinigung der Filter.
Ist im Vorhergehenden die Hauptaufgabe der Sandfiltration, die
Zurückhaltung pathogener Keime, erörtert worden, so fragt es sich
weiter, ob die Sandfiltration auch geeignet ist, das Oberflächenwasser
in ein Genussmittel umzuwandeln, d. h. diejenigen Schädlichkeiten
aus ihm zu entfernen, die seinen Gebrauch ekelerregend und unter
Umständen ebenfalls gesundheitsschädlich machen können. Gemäss
den Angaben Wolffhügels 0, Piefkes 2 ) und Proskauers 3 ) wird
eine weitgehende Klärung erreicht. Stark getrübte Wässer mit in¬
tensiv modrigem und dumpfigem Geruch und Geschmack waren nach
der Filtration klar, nur schwach gelblich gefärbt, färb- und geruchlos.
In vereinzelten Fällen zeigten sich allerdings geringe Bodensätze.
Durch die Filtration wird nach der chemischen Analyse der Abdampf¬
rückstand — Chloride und Kalk — gegenüber den nicht filtrierten
Wässern nur wenig geändert. Dagegen findet regelmässig eine Ab¬
nahme des Glühverlustes, der Oxydierbarkeit und des Ammoniak¬
gehaltes statt, woraus zu ersehen ist, dass die Filter organische Ver¬
unreinigungen zurückhalten und so das Wasser in gesundheitlicher
Beziehung günstig beeinflussen. Nur geringe Verbesserung wurde
dagegen erzielt, wenn das Rohwasser durch Gasfabrikabwässer
verunreinigt war. Wie ein Betriebsbericht der Filteranlagen zu
1) Wolffhügel, Beschaffenheit des Berliner Leitungswassers in der Zeit
von Juli 1884 bis April 1885. Arbeiten aus dem Kais. Gesundheitsamt. 1886.
Bd. 1. S. 1.
2) Plagge-Proskauer, Bericht über die Untersuchung des Berliner Lei¬
tungswassers. Zeitsohr. f. Hygiene. 1887. Bd. 2. S. 401.
3) Proskauer, Ueber die Beschaffenheit des Berliner Leitungswassers in
der Zeit von April 1886 bis März 1889. Zeitschr. f. Hyg. 1890. Bd. 9. S. 103.
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Ueber den Wert der Sandfiltration usw.
355
Albany 1 ) besagt, war es nicht möglich, den Gasgeruch durch die
Filtration völlig zu entfernen. Durch geeignete Wahl der Rohwasser¬
entnahmestelle liessen sich derartige Missstände leicht beseitigen, auch
könnte durch Doppeltiltration eine weitere Klärung und Reinigung
erreicht werden.
Sorgfältigen Fitrationsbetrieb vorausgesetzt, sind bei der euro¬
päischen oder langsamen Sandfiltration die Landflächen zur Anlage
der erforderlichen Filter und deren Betriebskosten erhebliche. Zu
diesen Kosten steht die Ergiebigkeit in keinem Verhältnis. Eine Ver-
grösserung der Filtrationsgeschwindigkeit und dadurch erhöhte Arbeits¬
leistung ist jedoch mit den Erfahrungen über den sicheren Betrieb
eines Werkes unvereinbar. Die Schwierigkeiten sind, wie bereits aus¬
geführt, durch die leichte Verletzlichkeit der zarten Filterhaut bedingt.
Dazu kommt, dass das Dcckenbildungsvermögen des Rohwassers ver¬
schieden ist. Dasjenige Filter ist zwar am schnellsten eingearbeitet,
dessen Rohwasser zur Bildung der Schmutzdecke die geeignetsten
Ablagerungsmaterialien besitzt, andererseits ist aber damit die Gefahr
einer frühzeitigen Verschlammung und kurzer Filterperiode gegeben.
Derartige Betriebshindernisse mussten schon frühzeitig der Technik
den Gedanken nahe legen, ob es nicht möglich sei, durch Herstellung
künstlicher Schmutzdecken obigen Uebelständen abzuhelfen. Von
diesen Erwägungen ausgehend, begründeten amerikanische Techniker
das System der Schnellfilter, deren Grundprinzip bei fast allen in
dem Zusatz chemischer Fällungsmittel beruht. Durch Vereinigung
der verschiedenen Gesellschaften, welche sich mit der Herstellung von
Schnellfiltern beschäftigten, entstand die New-York-Filter-Company,
deren Filtrationsprinzipien wir in folgendem darlegen wollen. Als
chemisches Fällungsmittel findet hier die sctrwefelsaure Tonerde Ver¬
wendung. Durch die im Wasser gelösten Salze der Erdalkalimetalle
wird aus Aluminiumsulfat Aluminiumhydroxyd ausgefällt, unter Bildung
von Calciumsulfat bzw. Magnesiumsulfat und freier Kohlensäure. Die
Reaktion verläuft in der Hauptsache nach folgender Gleichung:
A1 2 (S0 4 ) s + 3 CaH 2 (C0 3 ) 2 = 2 Al(OH 3 ) + 3 CaS0 4 + 6 C0 2 .
Für die Filtration kommt allein das Aluminiumhydroxyd in Be¬
tracht, welches zwei Aufgaben zu erfüllen hat. Einmal dient es als
Fällungsraittel im Klärbassin, andererseits zur Bildung der Filterhaut.
Die im Wasser unlöslichen, gallertartigen Flocken von Tonerdehydrat
1) Schillings Journal. 1900. No. 30. S. 561.
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Dr. R. Hilgermann,
reissen die Schwebestoffe des Wassers auf den Boden des Klärbassins.
Die im Wasser schwebend verbliebenen Flocken gehen mit dem so
vorgeklärten Rohwasser in das Filterbassin über und bilden die Filter¬
haut, die sogenannte Schmutzdecke. Durch die entstandenen Erd¬
alkalisulfate wird lediglich die permanente Härte des Wassers erhöht.
Da durch die zugesetzten Chemikalien ein grosser Teil der im Roh¬
wasser suspendierten Bestandteile schon vor der eigentlichen Filtration
niedergerissen, ausserdem eine feste Filterdecke schnell hergestellt
wird, ist eine ausserordentlich grosse Filtrationsgeschwindigkeit mög¬
lich. Letztere ist, wie schon der Name „Schnellfilter“ besagt, der
wesentlichste Unterschied gegenüber der langsamen Sandfiltration.
Mit den zur Zeit üblichen Systemen der Schnellfilter kann mit einer
Geschwindigkeit gearbeitet werden, welche die Leistungen unserer
Filter 60—70 mal übertrifft. 1 ) Infolgedessen ist auch die Flächen¬
ausdehnung der Schnellfilter eine geringe. Im Gegensatz zu den
grossen gemauerten europäischen Filtern sehen wir hier kleine eiserne
Zylinder. In ihrem Aufbau geben sie in verkleinertem Masstabe das
Prinzip unserer Filter wieder. Während diese aber aus sorgfältig über
einander geschichteten, an Grösse verschiedenen Steinlagen bestehen, die
dem Filtrationsmaterial — dem Sand bzw. der Schmutzdecke — als
Stütze dienen, enthalten jene eine nur verhältnismässig dünne Schicht, auf
welcher die Tonerdehydratflocken die Schmutzdeckenbildung hervor-
rufen. Die grosse Filtrationsgeschwindigkeit macht infolge schneller
Verstopfung eine öftere Entfernung der Filterhaut erforderlich, meist
schon nach 11—12 ständigem Betrieb. Diese Reinigung geschieht in
völligem Gegensatz zu den bei der europäischen Sandfiltration ge¬
bräuchlichen Regeln. Mühsam und sorgfältig wird bei den euro¬
päischen Filtern die oberste Schlammschicht abgehoben und jede Ver¬
letzung der tieferen Schichten vermieden, bei den Schnellfiltern hin¬
gegen wird der gesamte Sand im Filter selbst gewaschen durch die
Umkehrung des Stromes mit besonderen Rührvorrichtungen und
filtriertem Wasser. Vom hygienischen Standpunkt ist diese Art des
Waschens eine ideale zu nennen, da niemals Menschenhände mit dem
Filtrationsmaterial in Berührung kommen. Wer jemals eine der
komplizierten und unappetitlichen Reinigungen unserer Filter gesehen
hat, dem wird der amerikanische Waschprozess hervorragend erscheinen.
1) Gerhard, Ueber amerikanische Schnellfilter. Ges.-Ing. 1900. No. 13.
S. 205.
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Ueber den Wert der Sandfiltration nsw.
357
Zusammengefasst haben wir also folgende Unterscheidungsmerkmale
der amerikanischen Schnellfilter gegenüber der europäischen Sand¬
filtration:
1. Künstliche Deckenbildung durch Zusatz chemischer Fälluugs-
mittel.
2. Erhöhte Filtrationsgeschwindigkeit.
3. Geringste Flächenausdehnung.
4. Die Art der Sandwäsche.
Es fragt sich nun, ob diese Vorzüge bzw. Gegensätze der
Schnellfilter dieselben befähigen, in gleichem Masse wie unsere Filter¬
methode ein jederzeit hygienisch einwandfreies Wasser zu liefern.
Bei der Beurteilung dieser Frage werden zwei wichtige Punkte zu
berücksichtigen sein: der bakteriologische Reinigungseffekt und der
Verbleib der zugesetzten Chemikalien.
Ausserdem ist die wirtschaftliche Seite einer vergleichenden Be¬
trachtung zu unterziehen.
Was die Anwendung der schwefelsauren Tonerde als Fällungs¬
mittel betrifft, so ist ihr Gebrauch zur Reinigung des Rohwassers
nicht neuen Datums. Schon Delbrueck 1 ) berichtete im Jahre 1853
in dem Artikel „Die Filtration des Wassers im Grossen“ über den
Versuch eines gewissen Darcet zur Läuterung des Seinewassers
mittels Alaun. Historischen Interesses halber sei diese Schilderung
vollständig wiedergegeben: „Herr Darcet bedient sich derselben, wie
er sagt, in Egypten zu seiner grossen Befriedigung. Die Methode,
die er angibt, um das Nilwasser zu reinigen, ist folgende:
„Mit 0,5 g Alaun auf das Liter trüben Wassers erreichte ich
nach Verlauf einer Stunde eine vollständige Klärung desselben, und
das Wasser wurde vollkommen hell; 0,25 g brachten dieselbe
Wirkung hervor, aber erst nach Verlauf einer etwas längeren Zeit.
Die Anwendung des Alauns konnte uns in bezug auf die Gesundheit
ganz unbesorgt lassen, denn 1 / i oder 1 / 2 g Alaun auf das Liter sind
so kleine Mengen, dass sich ihr Einfluss als Null betrachten liess.
Ueberdies wirkte der Alaun bei dieser Läuterungsmethode nur da¬
durch, dass er sich zersetzte. Der vorhandene Ueberschuss von
Säure wurde von dem kohlensauren oder doppelkohlensauren Kalk,
der in dem Wasser enthalten ist, gesättigt, und nur mit Ueberschuss
1) Delbrueck, Die Filtration des Wassors im Grossen. Allgemeine Bau¬
zeitung. 1853. 18. Bd. S. 103.
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Dr. R. Hilgermann,
von Schwefelsäure oder Tonerde präzipitiert sich der Alaun und führt
auf mechanischem Wege die erdigen Teilchen mit sich. * Bei diesem
Verfahren ist es vorzuziehen, den Alaun in grossen Stücken anzu¬
wenden und zwar auf folgende Weise: Man nimmt ein grosses Stück
kristallisierten Alauns, bindet ihn an das Ende eines Fadens und
zieht ihn im Wasser hin und her, indem man ihn nur wenig unter¬
taucht, und nur bis zum Erscheinen voluminöser Flocken darin lässt;
dann zieht man den Alaun zurück, damit von diesem Salz nicht
mehr als passend ist, angewendet w r ird. Will man den Alaun pulver-
förmig anwenden, um ihn leichter richtig dosieren zu können, so
muss man ihn sehr fein pulverisieren, die erforderliche Dose abwägen
und damit die Oberfläche des Wassers bestreuen, indem man nach
der Anwendung des Salzes vermeidet, das Wasser heftig zu bewegen.
Man kann auch die anzuwendende Dose Alaun in einem kleinen
Volumen Wasser auf lösen und diese Alaunlösung über das trübe
Wasser giessen, welches man läutern will. Bewegt man leicht die
Oberfläche des Wassers mit der Mischung und lässt es dann ruhig
stehen, so klärt es sich schnell und nimmt selbst eine bedeutende
Helligkeit an. Der Niederschlag, der durch den Alaun entsteht,
wächst an Gewicht weit über die angegebene Grenze im Verhältnis
zur Menge des angewandten Salzes. Die angewandten Dosen Alaun
von V 4 bis V2 S au f das Eiter Wasser, könnten ohne Gefahr ver¬
mehrt werden. Zu diesen Erfahrungen wurde in Egypten Alaun mit
Kali base angewendet, ich glaube aber, dass Alaun mit Ammoniakbase
die nämlichen Resultate ergeben würde.“
Piefke 1 ), der die Wichtigkeit der künstlichen Deckenbildung
längst erkannt hatte, spricht sich 1881 folgendermassen aus: „Die
Versuche behufs Bildung künstlicher Schlammdecke mussten die Auf¬
merksamkeit auf die grosse Klasse der Kolloidsubstanzen lenken, von
denen sich bei näherem Studium besonders das Tonerdehydrat als ein
den weitgehendsten Forderungen genügendes Filtermaterial erweist“
und 1887 sagt er: 2 ) „Das Alaun bildet unter Austausch mit gewissen
Bestandteilen des Wassers gallertartige Niederschläge, welche die
suspendierten Körper und zum Teil auch die gelösten organischen
Stoffe einhüllen und zu Boden ziehen.“
1) Piefke, Mitteilungen über natürliche und künstliche Sandfiltration.
Berlin 1881.
2) Piefke, Die Prinzipien der Reinwassergewinnung vermittels Filtration.
Schillings Journal. 1887. 30. Bd. S. 596.
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Ueber den Wert der Sandfiltration usw.
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Von europäischen Technikern sind die amerikanischen Schnell¬
filter erst seit einigen Jahren genauerer Beobachtung unterzogen
worden. Die von ihnen zu Alexandrien und Triest gemachten Er¬
fahrungen über den Wert der Schnellfilter lauten günstig. Der ameri¬
kanische Filter, sagt Lakomme 1 ) in der Revue d’Hygiene, bietet
bei dem gegenwärtigen Stand der Wissenschaft alle wünschenswerten
Garantien. Er hat ausserordentliche Erfolge sowohl in bakterio¬
logischer Hinsicht als in bezug auf die Reinigung des Wassers.
Bitter 2 ) hält sogar die mit dem Jewell-Filter erlangten bakterio¬
logischen Resultate für weit besser als die der englischen Filter. Nur
das in den ersten 30 Minuten nach Inbetriebsetzung des Filters ge¬
wonnene Wasser sei vom Gebrauch auszuschliessen. Gleich günstig
spricht sich Gottschlich 8 ) aus, da der Gehalt des Filtrats an
Bakterien niemals die Zahl 100, 19 mal nur die Zahl 50 über¬
schritten habe.
Bei derartig glänzenden Resultaten muss es befremdend erscheinen,
wenn Bitter kurz nach dieser Schilderung folgendes sagt: „Sollte
das Mahmoudiehwasser während einer Epidemie für infiziert gelten, so
müssten bei den Jewellfiltern wie bei den englischen Sandfiltern be¬
sondere Vorsichtsmassregeln getroffen werden. Es wäre ratsam, das
zuerst gewonnene Wasser eine Stunde lang wegfliessen zu lassen,
womit der Jewellfilter seine Zuverlässigkeit 1:10 000, erlangt hätte.
Dies würde jede Gefahr beseitigen, besonders da man annimmt, dass
selbst im Falle einer grossen Infektion die wirkliche Zahl der Krank¬
heitskeime im Mahmoudiehwasser sehr klein sein würde.“
Also nur unter letzterem Vorbehalt, in der stillen Hoffnung,
dass es nie zu einer grösseren Infektion kommen werde, wäre der
Filter im stände, ein hygienisch einwandfreies Wasser zu liefern.
Bedenkt man, dass diejenige Periode, in welcher das Filtrat den An¬
forderungen der Hygiene nicht entspricht, bei den europäischen Sand¬
filtern sich erst im Laufe mehrerer Tage, ja Wochen wiederholt,
zudem durch Doppelfiltration ausgeschaltet werden kann, bei den
amerikanischen Schnellfiltern täglich zweimal eintritt, so müssen be¬
gründete Zweifel auftauchen, ob die bei diesem System erreichte Fil¬
trationsgeschwindigkeit mit den Forderungen der Hygiene parallel
1) Lakomme, L’Epuration des eaux par les filtres ä sable dits am&ricains.
Revue d’Hygiene. 1905. 27. T. p. 43.
2) Bitter, Report on the Efficiency of the „Jewell“-Filter.
3) Gottschlich, Rapport de l’Inspecteur sanitaire sur le „Jewell‘‘-Filter.
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Dr. R. Hilgertnann,
geht. Ehe wir jedoch diese Frage entscheiden, sollen die Literatur-
Angaben der amerikanischen Fachleute besprochen werden. Gerade
die Meinung amerikanischer Hygieniker und Ingenieure, die genügend
Gelegenheit hatten, die Schnellfilter an Ort und Stelle durch Jahr¬
zehnt« zu studieren, dürfte in solchem Falle massgebend sein. Ihre
Meinung über den Wert der Schnellfilter ist, um das vorweg zu
nehmen, keine besonders günstige.
Auf Grund von Versuchen und Erfahrungen zu Pittsburg kommt
Hazen *) zu dem Schluss, dass das filtrierte Wasser der Schnellfilter,
wenn genügend chemisches Fällungsmittel angewandt worden ist,
2—3 mal so viel Bakterien als das der europäischen Sandfilter ent¬
hält. Infolgedessen sei die Möglichkeit der Uebertragung von Krank¬
heitskeimen bei den amerikanischen Schnellfiltern eine 2—3 mal
grössere. Er empfiehlt für die Stadt Pittsburg europäische Sandfilter
und keine Schnellfilter, da das Flusswasser bei Pittsburg in Zukunft
nicht schlammiger, wohl aber noch mehr organisch verunreinigt
werden kann. Hazen erscheint es sehr zweifelhaft, ob eine so
grosse Bakterienzurückhaltung wie 99 pCt. mit irgend einer Menge
schwefelsaurer Tonerde gesichert werden könne, da die Resultate des
öfteren unregelmässig gewesen seien. Auch Füller hält vom bakte¬
riologischen Standpunkt aus die europäische Filtermethode für besser.
Die Resultate bei den amerikanischen Schnellfiltern, sagt Im-
beaux 1 2 3 * ), sind bezüglich der Klarheit recht gute, bezüglich des Keim¬
gehaltes stehen sie hinter denen unserer Sandfilter zurück. Das gleiche
lesen wir in der zusammenfassenden Arbeit Grahns: „Statistik ame¬
rikanischer Wasserwerke“. „Trotzdem den Schnellfiltern eine grosse
Reduktion des Bakteriengehaltes nachgesagt wird, haben wissenschaft¬
liche Beobachtungen ihre Wirksamkeit bislang nicht in gleichem
Masse erwiesen, wie das für die gewöhnliche Sandfiltration der
Fall ist.“
Nach einem 1897 gehaltenen Vortrage Westons 8 ) über Schnell¬
filter soll zwar nach den günstigsten in Europa gewonnenen Er¬
fahrungen bezüglich der Ausscheidung von Wasserbakterien die
1) Gerhardt, Ueber amerikanische Schnelifilter. Ges.-Ing. 1900. No. 13.
S. 205.
2) Imbeaux, L’alimentation en eauet l’assainissement des rilles a l’exposi-
tion universelle de 1900. Ref. Hyg. Rundschau. 1902. S. 537.
3) Sandfiltration und sogenannte mechanische Filtration. Schillings Journ.
1897. No. 52. S. 854.
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langsame Sandfiltration um \ l / 2 pCt. besser arbeiten als die ameri¬
kanische Schnellfiltration, welcher Vorteil indes durch die geringeren
Kosten letzterer wieder aufgehoben würde. Die Auffassung Westons,
nach den Kosten eine hygienisch so wichtige Frage zu entscheiden,
dürfte vielfach auf Widerstand stossen. Der Referent dieses Vortrages
lässt es sehr fraglich erscheinen, ob die amerikanischen Fachgenossen
den Ausführungen Westons über die Vorteilo der mechanischen Filtra¬
tion gegenüber der Sandfiltration in allen Teilen beipflichten werden,
da nach den Berichten amerikanischer Fachzeitungen neuerdings in
zahlreichen Fällen, in denen es sich um die Wasserversorgung selbst
grösserer Städte handelte, auch dem System der langsamen Sand¬
filtration besondere Aufmerksamkeit gewidmet worden ist.
In dem „Journal of the American medical association“ wird in
einer Arbeit von Kober 1 ) ausgeführt, dass in denjenigen Städten, in
denen die mechanischen Filter eingeführt wurden, ein Rückgang der
Sterblichkeitsziffer an Typhus kaum zu verzeichnen war. Die Abnahme
belief sich im ganzen nur auf 26 pCt. gegen 78,5 pCt. bei der euro¬
päischen Sandfiltration.
In einem Bericht des Gesundheitsamtes von Lowell an das
Wasserarat von Lawrence 2 ) konstatiert ersteres, dass kein von ihm
geprüfter amerikanischer Filter die Bakterien genügend beseitige, um-
denselben zur Annahme empfehlen zu können. Auf Grund dieses
Gutachtens legte die Stadt Lawrence ein grosses Sandfilterbett an,
worauf ein deutlicher Rückgang der Typhussterblichkeit eintrat.
Der bereits oben von Hazen 3 ) angeführte Wechsel in den Re¬
sultaten wurde auch in einer öffentlichen Besprechung der Jewell-
Filter bestätigt. So wurden im Monat März bedeutend mehr Bak¬
terien im Filtrat nachgewiesen, als im Monat Mai, von 298 Keimen
passierten 65 Keime den Filter. Dies soll der im Monat März fünf¬
mal grössere Gehalt des Rohwassers verschuldet haben.
Aeusserst wertvolle Aufschlüsse gibt uns ein weiterer Vortrag
von Allen Hazen 4 ) — erschienen im Journ. of the Franklin-Institute
1) Kober, The pollution of streams and the purification of public water
supplies. The journal of the American medical Assoo. 1901. Bd. 36. S. 1162.
2) The Lawrence water filters. Engineering record. 1893. 1894. S. 154.
3) Test of a mechanical filter, East Providence, R. I. Engineering record.
1899. 2. Bd. S. 96.
4) Hazen, The clarification of river water. Journal of the Franklin-Insti-,
tute. 1899. S. 177.
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Dr. R. Hilgermann,
— und die sich daran anschliessende Diskussion. Die Menge der
schwefelsauren Tonerde, sagt Hazen, die zur Klärung des am we¬
nigsten trüben Wassers nötig ist, genügt nicht, um auch nur eine
massig gute bakteriologische Wirksamkeit zu erzielen. Um eine ziem¬
lich vollständige Entfernung der Bakterien mit mechanischen Filtern
zu sichern, ist eine verhältnismässig grosse Quantität von schwefel¬
saurer Tonerde nötig. In der nun folgenden Diskussion bringt Prof.
F. Lynwood Garrison Ausführungen, die uns sowohl auf die zweite
Frage, „der Verbleib der zugesetzten Chemikalien“, hinweisen, als
auch wichtige Daten für den verschiedenen Wert der Schnellfilter und
unsere Sandfilter in bakteriologischer und wirtschaftlicher Beziehung
geben. „In dem Gebrauch der chemischen Fällungsmittel“, führt
Lynwood Garrison aus, liege die Hauptschwierigkeit. Es sei zu
erörtern, ob nicht das Heilmittel schlimmer als die Krankheit sei, da
die in Frage kommenden Bakterien durch die wahrscheinlich ebenso
verderbliche schwefelsaure Tonerde ersetzt würden. Es sei festgestellt,
dass gewisse Krankheiten direkt von dem fortgesetzten Gebrauch mit
schwefelsaurer Tonerde gereinigten Trinkwassers hergeleitet werden
können, z. B. Störungen in der Verdauung. Seien schon gastrische
Störungen vorhanden, so habe der fortgesetzte Gebrauch derartigen
Wassers ernste Folgen. Ebenso bekannt sei es, dass solches Wasser
für einige industrielle Zwecke, für Bäder und Wäsche, ungeeignet sei.
Die Neutralisation der im Wasser vorhandenen schwefelsauren Ton¬
erde könne natürlich durch Zusatz von Kalk und anderen Alkalien
bewirkt werden. Dieses Verfahren sei aber zum mindesten schwierig,
da die chemische Zusammensetzung des Wassers seiten dieselbe
bleibe und der Verbrauch von schwefelsaurer Tonerde von Tag zu
Tag wechsele, da er sich nach der Quantität der suspendierten Stoffe
und dem verschiedenen Bakteriengehalt richten müsse. Daher Hessen
sich ernste Bedenken bei der Anwendung solcher komplizierter Me¬
thoden bei den Wasserversorgungen unserer grossen Städte machen.
Die einfachste Filtrationsmethode, selbst zu Anfang die langsamste
und kostspieligste, werde sich zweifellos am Ende als die wirksamste
und billigste erweisen.“
Wir sehen, dass die Hauptschwierigkeit der amerikanischen
Schnellfilter in der genauen Anpassung des chemischen Fällungsmittels
an den jeweiligen Gehalt des Rohwassers an suspendierten Bestand¬
teilen besieht. Da durch die schwefelsaure Tonerde nicht nur die
Fällung der suspendierten Bestandteile im Klärbassin, sondern auch
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die Deckenbildung bewirkt werden soll, wird naturgemäss jede
Schwankung des Rohwassers ira Gehalt an Schwebestoffen auf die
Deckenbildung von Bedeutung sein. Tritt z. B. bei Hochwasser oder
in der Zeit der Algen eine plötzliche Vermehrung der Schwebestoffe
ein, so wird das Aluminiumoxydhydrat schon im Klärbassin als Nieder¬
schlagsmittel verbraucht, und muss infolgedessen die Deckenbildung
mangelhaft bleiben. Werden derartige Schwankungen rechtzeitig er¬
kannt, so wird ein erhöhter Zusatz schwefelsaurer Tonerde diesem
Uebelstand abhelfen. Zweifelhaft dürfte es aber sein, ob diese Ver¬
änderungen überhaupt früh genug beobachtet werden können; selbst
dann aber wird immerhin einige Zeit vergehen, bis der angemessene
Zusatz des Fällungsmittels gefunden ist. Da zweitens die Bildung
des Tonerdehydrats von dem Gehalt des Wassers an Erdalkalien ab¬
hängig ist, so wird bei erhöhtem Zusatz von schwefelsaurer Tonerde
die Gefahr bestehen, dass letztere, worauf auch Hazen in obigem
hingewiesen hat, bei ungenügender Menge von Erdalkalien im Wasser
in Lösung verbleibt. Dass ein derartiges Wasser kein hygienisch
einwandsfreies ist, wird ohne weiteres verständlich sein. In diesem
Falle nützt auch der erhöhte Zusatz von schwefelsaurer Tonerde nichts,
da eben gar kein Aluminiumhydroxyd gebildet werden kann. Der
eventuell vorhergehende Zusatz von Kalk oder Soda macht das Ver¬
fahren kompliziert und teuer, auch erscheint es zweifelhaft, ob stets
die richtige Menge des Zusatzmittels gefunden wird, da z. B. bei Hoch¬
wasser der Gehalt des Rohwassers an Schwebestoffen fortwährend
wechselt. So sagt z. B. Hazen *), „dass die Ueberschwemmungs-
wässer grössere Mengen Kalk brauchen, als die normalen Fluten, da
sie weniger Kalciumkarbonat enthalten. Der Grund dafür ist be¬
greiflich, da das Ueberschwemmungswasser sich meist aus Regen-
wasser zusammensetzt, welches über die Erdoberfläche gelaufen ist,
ohne mit dem Boden in sehr nahe Berührung gekommen zu sein und
folglich ohne viel Kalk aufgelöst zu haben. Es mag Vorkommen, dass
so ernste Unannehmlichkeiten entstehen, sogar mit Wasser, welches
gewöhnlich in dieser Hinsicht keine Schwierigkeiten bietet.“
Aus dieser Darlegung erkennen wir, was für Gefahren der Zusatz
eines chemischen Fällungsmittels in sich birgt. Bei normalem Fluss¬
wasser mit geringem Bakteriengehalt mag eine leidliche, ja sogar
1) Hazen, The clarification of river waters. Journal of the Franklin-Insti¬
tute. 1899.
Vierteljahrsschrift f. ger. Med. u. öff. San.-Wesen. 3. Folge. XXXII. 2.
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Dr. R. Hilgerniann,
gute Reinigung erzielt werden, bei plötzlicher Aenderung des Bakterien¬
gehaltes hingegen ergeben sich folgende, kurz noch einmal zu präzi¬
sierende Misstände:
1. Bei hohem Gehalt an Schwebestoffen und genügend Erdalkalien
im Wasser, um Aluminiumhydroxyd zu bilden, vergeht sicherlich
längere Zeit, bis die richtige Zusatzmenge schwefelsaurer Tonerde ge¬
funden ist.
2. Bei zu wenig Erdalkalien bleibt die schwefelsaure Tonerde
unverändert in Lösung, folglich wird auch keine genügende Klärung
und Deckenbildung erzielt, so dass die Bakterien ungehindert ins
Filtrat übertreten.
3. Zusatz von Kalk oder Soda führt die Bildung von Aluminium¬
hydroxyd herbei, doch auch hier macht sich wiederum die Frage geltend,
wieviel schwefelsaure Tonerde erstens und zweitens wieviel Kalk zu¬
zusetzen ist.
Haben wir bei der Besprechung der langsamen Sandfiltration ge¬
sehen, dass fast alle Misstände durch ungenügende Beaufsichtigung
und Nachlässigkeit im Betriebe hervorgerufen worden sind, so kann
man sich vorstellen, welche Zustände ein derartig kompliziertes und
von dem Gutdünken des Leiters abhängiges Verfahren zeitigen würde.
Schon 1853 sagt hierzu Delbrück 1 ): „Was aber gegen dieses Ver¬
fahren einen noch ernsthafteren Einwurf abgibt, ist, dass es die
chemische Klarheit des Flusswassers beeinträchtigt, da es dieses mit
einem Salze schwängert, welches cs früher nicht enthielt, und dass,
wenn man auch annimmt, dass dieses Salz in gewissen Verhältnissen
gänzlich unwirksam ist, die Konsumenten befürchten können, in 100,
200, in 1000 Tagen, wenn man will, möchten doch einmal diese Ver¬
hältnisse überschritten werden, denn dazu bedarf es nur der Unacht¬
samkeit oder des Irrtums eines Arbeiters.“
Selbst bei aufmerksamstem Betriebe ergeben sich Schwierigkeiten,
wie eine Beschreibung der Filteranlage für Vanderbilt 2 ) beweist:
„Die Schwierigkeit im Betriebe solcher Filterapparate mit chemischer
Fällung zeigte sich auch hier deutlich, nämlich je nach den wechseln¬
den Bestandteilen der Schwebestoffe die richtige Menge schwefelsaurer
1) Delbrück: Die Filtration des Wassers im Grossen. Allgemeine Bau-
zeitung. 1853. Bd. 18. S. 103.
2) Gerhardt: Ueber amerikanische Schnellfilter. Ges.-Ing. 1900. No. 13.
S. 205.
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Ueber den Wert der Sandtiltration usw.
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Tonerde zuzusetzen“. Auch Gärtner*) gibt in einem Referat der
Fullerschcn Arbeit an, dass während 5 Tage des Betriebes genügend
Erdalkalien nicht vorhanden waren.
Haben oben die Angaben von Lynwood Garrison schon
gezeigt, dass das mit schwefelsaurer Tonerde versetzte Wasser für
mancherlei Industriezwecke unbrauchbar ist, so darf nicht unerwähnt
bleiben, dass auf alle Fälle eine Zunahme der permanenten Härte
eintritt. Letztere dürfte in zahlreichen Industriezweigen uner¬
wünscht sein.
Nach den Ausführungen Westons werden diese Fehler der ame¬
rikanischen Schnellfilter durch ihre bedeutend billigeren Herstellungs¬
kosten wettgemacht. In Wirklichkeit ergeben sich jedoch weniger
günstige Verhältnisse. Zunächst ist zu bedenken, dass die europäischen
Sandfilter infolge ihrer massiven Bauart kaum jemals einer Erneuerung
bedürfen, während die amerikanischen Schnellfilter bei ihrer kompli¬
zierten Zusammensetzung, dem maschinellen Betriebe und der Eisen¬
konstruktion des öfteren Reparaturen notwendig machen. Es werden
infolgedessen die Betriebsunkosten unverhältnismässig hohe sein.
Schon Gill 1 2 ) sagt 1882: „Die Filter nach dem amerikanischen System,
in geheizten Gebäuden aufgestellt, sind wie Maschinen zu betrachten,
und als solche mit einer Betriebsdauer von nicht mehr als 10 bis
15 Jahren zu veranschlagen.“ In den Kostenberechnungen sind stets
nur die Herstellungskosten einander gegenübergestellt, wobei natürlich
die Schnellfilter bei ihren kleinen Dimensionen und der geringen Land¬
flächen, die sie beanspruchen, viel billiger als die europäischen Sand¬
filter angeboten werden können. Bedacht, resp. gesagt ist dabei niemals,
dass der ständige Verbrauch von schwefelsaurer Tonerde eine ganz
bedeutende Mehrausgabe erfordert. Kosten doch 100 kg Aluminium¬
sulfat 7,50—11 Mark. Ebenso sind die gewiss häufig notwendigen
Reparaturen nicht in Betracht gezogen worden. Allzu gross ist bei
Verwendung offener europäischer Sandfilter der Preisunterschied über¬
haupt nicht. Für 60 eiserne Filter gibt Gerhardt den Preis von
245172 Dollars und für unbedeckte Sandfilterbassins gleicher Kapa¬
zität 291220 Dollars an. Bei überdeckten steigt allerdings der Preis
bis auf 525000 Dollars. Sicherlich wird dieser Unterschied durch
1) Gärtner: Amerikanische Versuche
Journal. 1900. No. 3. S. 42.
2) Schillings Journal. 1882. S. 19.
über Sandfiltration. Schillings-
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Dr. R. HiI(rermann,
3 66
Betriebsunkosten ausgeglichen. Auch Piefke x ) warnt vor Verkennung
letzterer: „Selbst wenn das minimale Verhältnis von 1 : 30000 inne¬
gehalten wird, sind für je 1000 cbm Wasser 33,3 kg Aluminiurasulfat
in Anwendung zu bringen, was (einen Preis von 20 Mark pro 100 kg
vorausgesetzt) eine Mehrausgabe von 6,66 Mark bedeutet.“ Desgleichen
sagen zusammenfassend Pfeiffer-Proskauer 1 2 3 ): „EinWerk für Schnell¬
filtration verlangt sehr viel weniger Raum als eines für langsame Sand¬
filtration; die Anlagekosten sind geringer. Wegen des Verbrauches von
Fällungsmitteln sind die Betriebskosten höher, auch die Amortisation
muss höher gerechnet werden. Stellt man Betriebskosten, Amortisation
und Verzinsung des Anlagekapitals, also alles, was jährlich für solche
Werke aufzubringen ist, gegenüber, so stehen beide gleich. Ein peku¬
niärer Vorteil kann also aus der Wahl des einen oder anderen Systems
nicht erwartet werden.“ Zu erwähnen wären noch die Kosten, die
die Sandwäsche mit filtriertem W T asser verursacht. So sagt z. B.
Maignen s ), „dass dieses Waschwasser eine sehr beträchtliche Aus¬
gabe bedeute, und nach den Angaben Füllers müssten noch Filter
aufgestellt werden, um das zum Waschen des Sandes notwendige
Wasser zu klären.“ Dafür fällt allerdings der bei der langsamen
Sandfiltration ziemlich erhebliche Arbeitslohn für das Reinigen des
Sandes weg.
Einen nicht zu unterschätzenden Vorteil bieten die amerikanischen
Schnellfiltcr dadurch, dass sie eine völlige Klärung selbst des ver¬
schmutztesten Wassers zu leisten im stände sind. Grosse Schlamm¬
massen oder feine Tonbestandteile werden durch die Schnellfiltration
entfernt und eine grosse Klarheit des Wassers erzielt. Für Industrie¬
zwecke, bei denen weniger eine bakteriologische Reinigung als Klärung
erforderlich ist, wird diese Methode sicherlich gute Dienste leisten.
Diesen Vorteil hebt auch der russische Reisebericht S im ins 4 ) hervor,
indem er das Wasser als kristallklar bezeichnet.
Ehe ich mir ein abschliessendes Urteil über den Wert der Schnell¬
filtration erlaube, möchte ich eine Reihe von Beobachtungen wieder-
1) Piefke: Die Prinzipien der Reinwassergewinnung vermittels Filtration.
Schillings Journal. 1887. 30. Bd. S. 596.
2) Pfeiffer-Proskauer, Enzyklopädie der Hygiene. 1905.
3) Hazen: The Clarification of River Waters. Journal of the Franklin-
Institute. 1899. S. 177.
4) Russischer Reisebericht über mechanische Filter von N. Simin. Referat
im Ges.-Ing. 1900. No. 8. S. 130.
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geben, die ich als Hülfsarbeiter der königlichen Versuchs- und Prüfungs¬
anstalt für Wasserversorgung und Abwässerbeseitigung an einer Ver¬
suchsanlage der Jewell-Filter-Comp. machen durfte. Mit diesen Unter¬
suchungen wurde ich von Herrn Geh. Obermedizinalrat Professor
Dr. Schmidtmann beauftragt, welcher als Leiter der königlichen
Versuchs- und Prüfungsanstalt die wissenschaftliche Untersuchung
auch auf dieses Gebiet der Wasserversorgung lenkte, um die Güte der
amerikanischen Schnellfiltration zu ergründen und ihren Wert für
deutsche Verhältnisse zu prüfen.
Der in Friedrichshagen aufgestellte Probefilter bestand:
1. aus einem Behälter zur Aufnahme der schwefelsauren
Tonerde,
2. aus zwei Klärbassins und
3. aus dem eigentlichen Schnellfilter.
In den Klärbassins — Holzbottiche von 6,8 cbm Inhalt — wurde
das Rohwasser mit dem chemischen Fällungsmittel — 2 proz. Lösung
von schwefelsaurer Tonerde — vermischt und der Sedimentation über¬
lassen. Durch Zwischenwände waren diese Bassins in vier mit ein¬
ander kommunizierende Kammern behufs inniger Vermischung des
Rohwassers mit dem Fällungsmittel geteilt. Während der Versuchs¬
zeit war nur ein Bottich im Gebrauch und zwar der dem Schnell¬
filter nächstgelegene. Der zweite sollte nur bei hohem Gehalt des
Wassers an Schwebestoffen — wor allem Algen — zwecks Vorklärung
in Betrieb gesetzt werden. Jedes Wasserteilchen hielt sich in den
Klärbassins 1 Stunde 10 Minuten auf, d. h. die Sedimentationszcit
währte 70 Minuten. Hiernach trat das Rohwasser mit dem Rest der
Tonerde-Hydratflocken in den eigentlichen Schnellfilter über. Derselbe
bestand aus zwei eisernen Zylindern, von denen der innere einen
Tiefen-Durchmesser von 1,42 m hatte und von dem äusseren höheren
.um ca. 12 cm überragt wurde. Ihre Verbindung stellte einen unten
geschlossenen ringförmigen Raum dar. Das Rohwasser trat in den
äusseren Zylinder von unten ein und überflutete von diesem aus das
Filterbett. Dadurch "war ein gleichmässiger Zufluss gesichert und eine
Erschütterung der Schmutzdecke ausgeschlossen. Der Boden des
inneren Zylinders bestand aus einer siebartig durchbrochenen Metall¬
scheibe, auf der das Filtermaterial — feingesiebter Sand — ruhte.
Die Höhe desselben betrug 1,29 m und war 13 cm vom Rande des
Zylinders entfernt. Die Metallscheibe war äusserst engmaschig her¬
gestellt — mit sogenannten Siebköpfen versehen — so dass ein Durch-
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fallen der Sandkörnchen unmöglich war. Der Zufluss des Rohwassers
wurde durch einen Schwimmer reguliert. Zum Durchlaufen der Sand¬
schicht brauchte das Wasser ca. 15 Minuten und trat durch die er¬
wähnte Metallscheibe durch eine Röhre in einen Regulierapparat, den
„Weston-Kontroller“ über. Letzterer kontrolliert • und reguliert den
Ausfluss und die Filtrationsgeschwindigkeit. Die jedesmalige Druck¬
höhe zeigt eine Kontrolluhr an. Die Arbeitszeit dieses Versuchsfilters
war auf 10 Stunden bemessen. Man nahm an, dass nach Ablauf
dieser Zeit die Schmutzdecke die Höhe ihrer Leistungsfähigkeit er¬
langt hatte.
Das Waschen bestand in einer Durchspülung der gesamten
Sandraenge, indem das Waschwasser am Boden des Filters eintrat.
Die Schmutzdecke wurde durchbrochen und der Sand durch eine
Rührvorrichtung durchmischt und ausgewaschen. Beim Beginn des
Waschens wurde das Roh Wassereintritts- und das Reinwasseraustritts¬
rohr geschlossen, das über dem Filterbett noch befindliche Wasser
durch ein besonderes Rohr (A) abgelassen, so dass der ringförmige
Raum zwischen beiden Zylindern vollkommen leer war und das Sand¬
bett trocken zu Tage trat. Nunmehr wurde das Rohr für den
Zufluss des Waschwassers geöffnet — filtriertes Wasser der Städ¬
tischen Wasserwerke —, das für diesen Zweck zur Verfügung gestellt
worden war. Das Waschen wurde so lange fortgesetzt, bis das Wasch¬
wasser klar und die Filterschicht deutlich sichtbar war. Das über¬
schüssige Waschwasser floss über den Rand des inneren Zylinders
durch den ringförmigen Raum und das Rohr A ab. Bei Schluss des
Waschprozesses wurde wiederum das Waschwasserzufluss- und das
Waschwasserabflussrohr geschlossen. Die Waschdauer betrug ca. 10
bis 40 Minuten.
Da hauptsächlich die bakteriologische Leistungsfähigkeit des
Jewellfilters untersucht werden sollte, wurde auf die Reduktion der
Keimzahl durch den Filter das Hauptgewicht gelegt. Die Bestimmungen
geschahen an Ort und Stelle. Ausser den täglichen Untersuchungen,
die sich sowohl auf die Feststellung der Keimzahl vor und nach der
Waschperiode als auch auf etwaige Schwankungen im Verlaufe des
Tages erstreckten, wurden künstliche Anreicherungen des Rohwassers
mit Bakterienaufschwemmungen herbeigeführt. Auf diese Weise war
es möglich, Rohwasser von verschiedenster Qualität dem Filter zur
Verarbeitung zu übergeben. Gleichzeitig wurde täglich das Filtrat
der städtischen Wasserwerke — langsame Sandfiltration — unter-
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Ueber den Wert der Sandfiltration usw.
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sucht, so dass sich vergleichende Schlüsse auf die Leistungsfähigkeit
beider Systeme ziehen lassen. Bevor ich zur Darlegung der bakterio¬
logischen Ergebnisse übergehe, will ich erst die Filtrationsergiebigkeit
und die Art der Zugabe des chemischen Fällungsmittels auseinander¬
setzen, da von diesen beiden Faktoren der bakteriologische Nutzeffekt
abhängig ist.
Was die Menge des täglich filtrierten Wassers anbetrifft, so wurden
vom 11. April bis 1. Mai 1905 täglich 147 cbm filtriert, vom 1. Mai
bis 26. Juni 112 cbm pro Tag. Dieses Ergebnis übertrifft die Ergiebig¬
keit der städtischen Wasserwerke — 2,4 cbm pro die — um das
50—70fache. Der Zusatz der schwefelsauren Tonerde variierte
entsprechend dem Gehalt des Rohwassers an Schwebestoffen zwischen
26—43 g pro cbm. Weiterhin wurde bei den Versuchen die Be¬
hauptung bestätigt, dass die Wirkung des chemischen Fällungsmittels
eine doppelte ist:
1. Sedimentation.
2. Deckenbildung.
Bei der Beschreibung der Anlage war gesagt worden, dass jeder
Sedimentationsbottich in vier Kammern geteilt war. Sollte haupt¬
sächlich eine Sedimentationswirkung erzielt werden, so musste in die
erste Kammer — beim Eintritt des Rohwassers in den Sedimentations¬
bottich — die schwefelsaure Tonerdelösung zugesetzt werden, behufs
guter Deckenbildung hingegen in die vierte Kammer — beim Austritt
auf den Filter. — Aus diesen beiden Anwendungsformen konnten
dann kombinierte Verfahren gebildet werden, um einmal günstigste
Sedimentation, andererseits beste Deckenbildung zu erreichen. Bei
dem Versuchsfilter wurden angewandt: Der Zusatz in die erste
Kammer allein, in die erste und vierte Kammer, niemals aber in die
vierte Kammer allein. Auch wurde bei dem Zusatz in die erste und
vierte Kammer in erstere die Hauptmenge der Lösung — ungefähr
2 / 3 — gebracht, nachdem das umgekehrte oder gleiche Verhältnis
weniger günstige Resultate ergeben hatte. Die Hauptwirkung des
Fällungsmittels beruht also in einer Sedimentation. Voraussetzung
dabei ist, dass zur Deckenbildung noch genügend Tonerdehydratflocken
im Rohwasser schwebend verblieben sind. Der während der Ver¬
suchsdauer des öfteren vorgenommene Wechsel in der Art der Zugabe
des Eällungsmittels beweist, dass hierfür noch keine Erfahrungsgrund¬
sätze bestehen, sondern dass je nach dem Gehalt an Schwebestoffen
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Dr. R. Hilgermann,
wie die Menge, so auch der Ort und die Stelle des Zusatzes des
Fällungsmittels stets von neuem ausprobiert werden muss.
Inwieweit die Menge des angewandten Fällungsmittels und die
verschiedenartige Anwendung desselben die Hauptaufgabe eines jeden
Filters — ein stetig hygienisch einwandfreies Wasser zu liefern —
lösen half, zeigen uns die Versuchsergebnisse bei verschiedener
Qualität des Rohwassers.
Bis zum 17. Juni wurde die schwefelsaure Tonerde in Kammer 1
und 4 zugegeben, d. h. es wurde sowohl Sedimentation als Decken¬
bildung in Betracht gezogen, wobei allerdings auf erstere das Haupt¬
gewicht gelegt wurde. In dieser Periode entsprachen die bakterio¬
logischen Untersuchungsergebnisse völlig den Vorschriften des Kaiser¬
lichen Gesundheitsamtes, indem sie durchschnittlich die Zahl 50 nicht
überstiegen. Das gutartige Rohwasser des Müggelsees unterliegt
keinen Schwankungen und enthält höchstens 600 Keime pro ccm.
Jedoch zeigte sich bei verschiedener Filtrationsergiebigkeit
ein Unterschied sowohl untereinander als auch gegenüber den
Ergebnissen der langsamen Sandfiltration bei den Städtischen Werken.
War die Durchschnittszahl bei 147 cbm pro die 32 Keime und die
der Städtischen Werke zu derselben Zeit 18 Keime, das Verhältnis
also wie 2:1, so sank die Keimzahl bei einer Leistung von 112 cbm
auf 19 Keime, während sie bei der langsamen Sandfiltration etwas
höher, nämlich 23 Keime, war. Eine übermässig hohe Filtrations¬
geschwindigkeit würde also schlechtere Resultate ergeben.
Wesentlich anders gestalteten sich die Ergebnisse, als der Ver-
suehsfilter Rohwasser mit reichlichem Bakteriengehalt — hervorgerufen
durch Anreicherungsversuche — zur Verarbeitung bekam. Hierbei trat
die bereits oben angedeutete Unsicherheit in der Menge und der Art
des Zusatzes des Fällungsmittels deutlich zu Tage. Es ergab sich,
dass bei plötzlichem Wechsel des Rohwassers im Gehalt, an suspen¬
dierten Bestandteilen erst durch längere Versuche die erforderliche
Menge des Fällungsmittels ausprobiert werden musste, um günstige
Resultate zu erhalten.
Als am 10. Juni der erste Anreicherungsversuch — 24 000
Keime pro ccm — gemacht wurde, ergab der Keimgehalt des
Filtrats eine Steigerung auf 124 Keime. Bei einem zweiten Ver¬
such am 13. Juni mit bedeutend weniger Bakterien — nur 4500
Keime pro ccm — stieg die Zahl der Keime im Filtrat- bis
620 pro ccm. Ein solches Resultat würde im Betriebe
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Ueber den Wert der Sandfiltration usw.
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eines Wasserwerkes sofort zu einer Beanstandung führen. Ange¬
nommen, eine vorübergehende Betriebsstörung hätte das schlechte
Resultat verursacht, so mussten weitere Versuche ungleich günstiger
ausfallen, d. h. in den Grenzen, die das Kaiserliche Gesundheitsamt
vorschreibt. Statt dessen traten bei einem dritten Versuch am 16. Juni
dieselben fatalen Erscheinungen auf, nämlich 225 Keime pro ccm
des Filtrats bei 12 000 Keimen des Rohwassers.
Auf Grund dieser schlechten Resultate wurde der Zusatz der
schwefelsauren Tonerde geändert und zwar in der Weise, dass in
erster Linie die Sedimentation in Betracht gezogen wurde, d. h. die
gesamte Menge des Fällungsmittels wurde in die Kammer 1 gegeben,
also beim Eintritt des Rohwassers in den Sedimentationsbottich. So¬
fort sank bei weiteren Anreicherungsversuchen am 18. und 19. Juni
der Keimgehalt von 15—29000 Keimen des Rohwassers auf 55 und
64 Keime pro ccm des Filtrats. Auf die Dauer behaupteten sich
jedoch diese günstigen Resultate nicht. Am 22. und 23. Juni stieg
bei einem Roh Wassergehalt von 12 000 und 36 000 Keimen pro ccm
der Gehalt des Filtrats an Bakterien wiederum bis auf 132 und
288 Keime pro ccm.
Dass dem alleinigen Zusatz des Fällungsmittels in- die erste
Kammer die Schuld an den schlechten Ergebnissen nicht beizumessen
war, bewiesen uns die soeben angeführten günstigen Resultate vom
18. und 19. Juni. Vielmehr muss man annehmen, dass bei dem
allmählich immer mehr steigenden Gehalt des Rohwassers an Schwebe¬
stoffen das Fällungsmittel zur Sedimentation völlig verbraucht worden
war, so dass genügend Tonerdehydratflocken zur Deckenbildung über¬
haupt nicht mehr vorhanden waren, was natürlich den Bakterien den
Uebertritt in das Filtrat erleichterte. Der Zusatz von schwefelsaurer
Tonerde hätte also weiter erhöht werden müssen. Damit ergab sich
aber gleichzeitig die schwierige Frage, wieviel musste die Erhöhung
betragen, zweitens waren genügend Erdalkalikarbonate vorhanden, um
die Bildung von Alurainiumhydroxyd zu ermöglichen? Bei solchen
kritischen Situationen zeigt sich, ein wie grosses Wagnis es ist, die
Reinigung eines Wassers von chemischen Fällungsmitteln abhängig
zu machen. Bis überhaupt festgestellt war, dass die Menge des
Fällungsmittels unzureichend sei, waren mindestens zwei Tage ver¬
gangen, worauf eine weitere Frist mit unsicheren, ja schlechten
Resultaten gefolgt wäre, da doch erst die Erhöhung der Menge des
Fällungsmittels ausprobiert werden musste. Etwaiger Wechsel oder
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Dr. R. Hilgermann,
weiteres Ansteigen der Schwebestoffe musste fortgesetzt neue Schwierig¬
keiten bieten. Ueberträgt man einen derartigen Fall in die Wirklich¬
keit, so kann man sich eine Vorstellung machen, was für Folgen eine
solche Filtration zur Zeit einer Epidemie haben würde.
Diese Beobachtungen führen zu folgenden Schlüssen:
1. Bei Rohwasser mit geringem Keimgehalt liefert der ameri¬
kanische Schnellfilter gute Resultate.
2. Der Effekt des ganzen Filtrationsverfahrens liegt in der
Sedimentation.
3. Der jeweilige Zusatz der schwefelsauren Tonerde ist von der
Menge der im Rohwasser suspendierten Bestandteile abhängig.
4. Bei schlechtem Rohwasser versagt der Schnellfilter, falls nicht
sofort mit der Zunahme des Rohwassers an Schwebestoffen die Menge
des Fällungsmittels entsprechend erhöht werden kann.
5. Grundsätze für eine derartige Regulierung gibt es nicht,
sondern die Erhöhung muss durch Versuche festgestellt werden.
Bezüglich des Wertes der Anreicherungsversuche mit dem
Bacillus prodigiosus scheint mir dieser Bacillus als Indikator der
Bakteriendichtigkeit eines Filters nicht geeignet. Während nämlich
bei den Anreicherungsversuchen mit Wasserbakterien zahlreiche
Bakterien den Filter passierten, zeigten die Versuche mit dem Bacillus
prodigiosus ein glänzendes Resultat, indem fast gar keine oder
höchstens sehr wenige Bakterien durchgetreten waren. Da die Ver¬
suche stets unter denselben Bedingungen gemacht wurden, lag die
Vermutung nahe, dass die guten Ergebnisse nicht in einer hervor¬
ragenden Zurückhaltungsfähigkeit des Filters begründet sein konnten,
sondern dass der Bacillus prodigiosus während seines Aufenthaltes
im Roh wasser morphologische Veränderungen erlitten hatte oder ver¬
nichtet worden war. Durch spätere Versuche mit dem Bacillus
prodigiosus ist es mir gelungen, nachzuweisen, dass derselbe in der
Tat schon nach kurzer Zeit — 30 Minuten — in bakterienhaltigem
Wasser sein Farbstoffbildungsvermögen einbüsst. 1 )
Vergleichen wir dieses Ergebnis mit den Verhältnissen des Klär¬
bassins, so handelt es sich hier wie dort um einen längeren Aufenthalt
des Bacillus prodigiosus in bakterienhaltigem Rohwasser, nur mit dem
grossen Unterschied, dass bei den Laboratoriumsversuchen eine ziem-
1) Hilgermann: Ueber die Verwendung des Bacillus prodigiosus als Indi¬
kator bei Wasseruntersuchungen. Archiv f. Hygiene. Bd. 59. Heft 2. S. 152.
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(Jeber den Wert der Sandfiltration usw.
373
lieh reichhaltige Prodigiosusmenge in demselben Rohwasser längere
Zeit verbleibt, während in den Klärbassins die tropfenweise dem Roh¬
wasser zugesetzte Bakterienmenge stets mit frischem Rohwasser in
Berührung tritt, mithin erheblich ungünstigere Verhältnisse vorfindet.
Der Aufenthalt in den Klärbassins dauerte 70 Minuten. Rechnet man
hierzu noch die Zeit, in welcher sich die Bakterien oberhalb der
Schmutzdecke aufhalten, und die Durchgangsdauer durch den Sand¬
filter — ca. 20 Minuten — so ist es leicht verständlich, dass eine
nur so geringe Anzahl Prodigiosuskeime im Filtrat nachweisbar war.
Anscheinend glänzende Resultate dürften daher fälschlich durch die
grosse Empfindlichkeit des Bacillus prodigiosus bedingt sein. Diesen
Ergebnissen kann mit scheinbarem Rechte entgegengehalten werden,
dass auch Fränkel und Piefke seinerzeit auf Grund ihrer Versuche
mit farbstoffbildenden Bakterien ein Urteil über den Wert der lang¬
samen Sandfiltration abgaben. Fränkel und Piefke benutzten
jedoch nicht nur farbstoffbildende Bakterien, sondern vor allem auch
Typhusbazillen und Cholera Vibrionen, womit sie den Verhältnissen der
Wirklichkeit nahe kamen; andererseits gaben sie auf Grund der dabei
gefundenen Resultate nur an, dass ein Sandfilter nicht keimdicht sei.
Zum Beweise dieses letzteren genügte der Farbstoffbildner allenfalls,
da ja nicht alle Bakterien zu Grunde gehen bzw. ihre Farbstoff¬
bildungsfähigkeit verlieren.
Demgemäss möchte ich behaupten, dass zur Bestimmung des
Wertes eines Filters nur Anreicherungsversuche mit Wasserbakterien
in Betracht kommen dürfen, da man sich so durch die Bestimmung
der Keimzunahrae im Filtrat ein Urteil erlauben kann.
Betrachtet man unter diesen soeben erörterten Gesichtspunkten
die Resultate der oben angeführten Anreicherungsversuche, so muss
man sagen, dass der amerikanische Schnellfilter nicht so bakterien¬
dicht ist wie gut geleitete europäische Sandfilter, ja dass er sogar
weit über die Grenzen des Erlaubten hinausgeht, mit anderen Worten,
nicht gleichmässig ein hygienisch einwandfreies Filtrat zu liefern ver¬
mag und zwar deswegen nicht, weil sein Erfolg von einem chemischen
Fällungsmittel abhängig ist. Der bei oberflächlicher Beurteilung als
Vorteil erscheinende Faktor, jederzeit leicht eine genügende Schmutz¬
decke bilden zu können, erweist sich bei genauerer Betrachtung als
durchaus nicht ungefährlich. Da man nicht die jedesmalige Menge
der Schwebestoffe des Rohwassers berechnen kann, lässt sich auch
nicht die Zusatzmenge des Fällungsmittels bestimmen, infolgedessen
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Dr. R. Hilgermann,
ist jeden Augenblick bei einem plötzlichen Anwachsen der suspen¬
dierten Bestandteile im llolnvasser die Gefahr eines vorzeitigen Ver¬
brauches des Fällungsmittels gegeben, so dass zur genügenden Deeken¬
bildung kein Material mehr vorhanden ist. Damit ist aber auch die Durch¬
gangsmöglichkeit zahlreicher Keime des Rohwassers und bei zufälliger
Anwesenheit pathogener Keime eine Infektionsgefahr vorhanden. Ist
hingegen bei dem langsamen Sandfilter die Schmutzdecke einmal ge¬
bildet, so haben wir auch weitgehendste Garantie für die Güte des
Filtrats. Vergleichen wir die Erfolge europäischer Filteranlagen mit
dem Versuchsfilter zu Friedrichshagen, so fällt das Ergebnis zu
Ungunsten des letzteren aus. Wenn z. B. Kurth über die Filter¬
anlage zu Bremen berichtet, dass die Keimzahl des Rohwassers schnell
von 5000 auf 30 000 Keime stieg und das Filtrat der Filter mit gut
gebildeter Schmutzdecke nur 90 bzw. 100 Keime pro ccm
aufwies, ferner Dunbar eine Reduktion von 132 000 Keime auf 122
angibt, so muss man zugeben, dass gegenüber den oben angeführten
Ergebnissen der Anreiehcrungsversuche der europäische Sandfilter un¬
vergleichbar Besseres leistet.
Nicht unerwähnt darf fernerhin bleiben, dass die Anwendung
chemischer Fällungsmittel zur Reinigung des Wassers stets nur als
ein Notbehelf anzusehen ist. Bringen wir doch in ein vielleicht
chemisch wenig verunreinigtes Wasser fremde, durchaus nicht indifferente
Stoffe hinein. Nehmen wir selbst an, dass stets genügend Karbonate
zur Zersetzung der Schwefelsäuren Tonerde vorhanden sind, so wird
doch sicherlich ein wenn auch nur winziger Teil derselben stets in
Lösung verbleiben.
Auf Grund der voraufgegangenen Erörterungen möchte ich folgern,
dass wir bei der Frage der Filtration von Oberflächenwasser in Zu¬
kunft stets mit folgenden zwei Ueberlegungen zu rechnen haben
werden. Wollen wir eine mechanische Reinigung, d. h. die Fern¬
haltung sämtlicher im Rohwasser befindlichen Bakterien bewirken, so
werden wir die langsame Sandfiltration anw’enden, da sie nach den
mit ihr gemachten Erfahrungen als ein einwandfreies Filtrationssystem
angesehen werden kann. Enthält das zu filtrierende Wasser Farb¬
stoffe oder tonige Trübungen, so wird man irgend einer chemischen
Klärung den Vorzug gelten. Diese braucht aber durchaus nicht
immer mit der amerikanischen Schncllfiltration verbunden zu sein,
sondern kann auch vor die langsame Sandfiltration eingeschaltet
werden. Welche Filtrationsmethode nachher gewühlt wird, wird sich
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lieber den Wert der Sandfillration usvv.
375
nach den örtlichen Verhältnissen richten. Ist genügend Platz zur
Anlage langsamer Sandfilter vorhanden, so wird man letztere wählen,
da sie nach Obigem viel sicherer arbeiten und stets ein hygienisch
einwandfreies Gebrauchswasser zu liefern vermögen. Fehlen dagegen
einmal die erforderlichen Landflächen, so können Schnellfilter in Be¬
tracht kommen, deren Leitung jedoch einem wissenschaftlich ge¬
schulten Mann anvertraut werden muss, der jederzeit sämtliche ein¬
schlägige Möglichkeiten übersehen und beherrschen kann.
Alphabetisches Literaturverzeichnis.
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1900. No. 32. S. 589.
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Schillings Journ. 1893. Bd. 36. No. 4. S. 66.
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städtischen Wasserwerkes in Zürich. Vierteljahrsschr. d. naturf. Gesellsch.
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städtischen Wasserwerks in Zürich. Schillings Journ. 1891. Bd.34. S.684.
10) Derselbe, Untersuchungen über die Wirkung dev Sandfilter des städti¬
schen Wasserwerks in Zürich. Ebendas. 1889. Bd. 32. S. 1126.
11) Betrieb mechanischer Filter zur East Providence. Ebendas. 1902. No. 13.
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Ref. darüber Hyg. Rundschau. 1896. S. 1157.
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20) Das Wasserwerk der Stadt Braunschweig. Schillings Journ. 1870. S. 263.
21) Das neue Wasserwerk zu Amsterdam. Zentralbl. d. Bauverwaltung. 1888.
Bd. 8. S. 149.
22) Das Gesundheitswesen des preuss. Staates im Jahre 1901, 1902, 1903.
23) Das Sanitätswesen des preuss. Staates während der Jahre 1895/96 u. 1897.
24) Die Cholera in Spanien mit Bezug auf Wasserversorgung. Sanit. engeneer.
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S. 576.
26) Die Chattanoga - Filteranlage (Jewell-Filter). Schillings Journ. 1893.
Bd. 36. S. 501.
27) Die hygien. Ueberwachung der Wasserläufe. Ebendas. 1902. No. 43. S. 807.
28) Die Gesundheitsverhältnisse Hamburgs im 19. Jahrhundert. 1901.
29) Die Wasserverhältnisse im Eschbachtal und der Betrieb des Wasserwerkes
der Stadt Remscheidt im Jahre 1904. Schillings Journ. 1905. Bd. 48.
30) Die Biologie der Sandfilter. Ges.-Ing. 1899. No. 20. S. 325.
31) Die Grundsätze für die Reinigung der Oberflächenwasser durch Sandfiltra¬
tion zu Zeiten der Choleragefahr. Veröffentl. des Kais. Gesundheitsamtes.
Ref. im Ges.-Ing. 1899. No. 7. 'S. 109.
32) Delbrück, Die Filtration des Wassers im Grossen. Allg. Bauztg. 1853.
Bd. 18. S. 103.
33) De l’usage des eauxderiviörepourlesdistributions del’eau par W. H. Lind-
ley, Paris 1889. Ref. in der Wochenschr. des österr. Ingenieur- und
Architekten-Vereins. Bd. 15. S. 43. 1890.
34) Draeer, Das Pregelwasser oberhalb, innerhalb und unterhalb Königsbergs
in bakteriologischer und chemischer Beziehung, sowie hinsichtlich seiner
Brauchbarkeit als Leitungswasser, nebst einigen Bemerkungen über die
Selbstreinigung der Flüsse und über die Einleitung von Abwässern in
Flussläufe. Zeitschr. f. Hyg. 1895. Bd. 20. S. 323.
35) Duecker, Die Sandfiltrationsanlage in Hamburg. Zeitschr. des Vereins
deutscher Ingenieure. 1893. Bd. 37. S. 450.
36) Dunbar, Zum derzeitigen Stande der Wasserversorgungsverhältnisse im
Hamburgischen Staatsgebiete. Deutsche Vierteljahrssch. f. öffentl. Gesund¬
heitspflege. 1905. Bd. 37. S. 537.
37) v. Esmarch, Hygienisches Taschenbuch. 1898.
38) Fischer, Gegenwärtiger Stand für städtische Wasserversorgung durch
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40) Flügge, Handbuch der Hygiene.
41) Derselbe, Die Verbreitungsweise und Verhütung der Cholera auf Grund
der neueren epidemiologischen Erfahrungen und experimentellen Erfor¬
schungen. Zeitsohr. f. Hyg. 1893. Bd. 14. S. 122.
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Ueber den Wert der Sandfiltration usw.
377
42) Fortschritte in der Sandfiltration. Ref. über Füllers Experimente. Ges.-
Ing. 1899. No. 10. S. 157.
43) Frankel, Filteranlagen für städtische Wasserwerke. Vierteljahrsschr. f.
öffentl. Gesundheitspflege. 1891. Bd. 23. S. 38.
44) Derselbe, Wasserfiltration und Rieselwirtschaft. Hyg. Rundschau. 1896.
Bd. 1. S. 1.
45) Derselbe, Zur Frage der Wasserversorgung. Deutsche med. Wochen¬
schrift. 1892. Bd. XVIII. No. 41. S. 922.
46) Fränkel-Piefke, Versuche über die Leistungen der Sandfiltration. Zeit¬
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47) Dieselben, Filteranlagen für städtische Wasserleitungen. Referat in der
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Schillings Journ. 1887. Bd. XXX. S. 122.
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No. 3. S. 42.
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58) Graubner, Das Wasserwerk der Stadt Tilsit. Zentralbl. f. allg. Gesund¬
heitspflege. 1891. Bd. X. S. 151.
59) Grahn, Die Typhusepidemie in Gelsenkirchen, deren Entstehung, Verlauf
und Ursaohe. Schillings Journ. 1904. No. 4. S. 67.
60) Derselbe, Staatliche Einrichtungen für Bau und Kontrolle zentraler
Wasserwerksanlagen in Preussen. Ebendas. No. 43. S. 799.
61) Derselbe, Zur Geschichte der hygienischen Beurteilung des Wassers bis
Ende 1902. Ebendas. 1904. No. 44. S. 973.
62) Derselbe, Die Gerichtsverhandlungen über die Gelsenkirchener Typhus¬
epidemie im Jahre 1901. Ebendas. 1905. No. 22. S. 447.
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No. 27. S. 511.
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versorgungen. Ebendas. 1895. No. 6. S. 83.
65) Grahn, Deutschlands Wasserversorgung und der deutsche Verein von
Gas- und Wasserfachmännern. Ebendas. 1896. No. 37. S. 591.
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378
Dr. H. IIiIgerman n,
66) Derselbe, Statistik amerikanischer Wasserwerke. Ebendas. 1897. No. 38.
S. 613.
67) Derselbe, Die städtische Wasserversorgung im deutschen Reiche, sowie
in einigen Nachbarländern. München und Berlin 1902.
68) Derselbe, Die Art der Wasserversorgung der Städte des deutschen
Reiches. Deutsche Vierteljahrsschr. für öffentl. Gesundheitspflege. 1884.
Bd. 16. S. 439.
69) Derselbe, Berechtigte Ansprüche an städtische Wasserversorgungen.
Schillings Journ. 1876. Bd. 19. S. 510.
70) Derselbe, Zur Statistik der Wasserversorgung Deutschlands, Deutsch-
Oesterreichs und der Schweiz. Ebendas. 1876. Bd. 19. S. 518.
71) Derselbe, Grundsätze für die Reinigung von Oberflächonwasser durch
Sandfiltration zur Zeit der Choleragefahr. Ebend. 1894. Bd. 37. S. 185.
72) Derselbe, Die Art der Wasserversorgung der Städte des deutschen
Reiches mit mehr als 5000 Einwohnern. Ebendas. 1884. Bd. 27. S. 693.
73) Derselbe, Die städtische Wasserversorgung.
74) Grundsätze zur Reinigung von Oberflächenwasser durch Sandfiltration.
Schillings Journ. 1899. No. 20. S. 331.
75) Günther-Niemann, Bericht über die Untersuchung des Berliner Lei¬
tungswassers in der Zeit vom November 1891 bis März 1894. Archiv f.
Hyg. 1894. Bd. 21. S. 63.
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Schillings Journ. 1896. No. 29. S. 467.
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Ebendas. Bd. 35. S. 332.
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Deutsche militärärztl. Zeitsohr. Bd. 29. S. 153.
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81) Derselbe, The clarification of river-waters. Journal of the Franclin in-
stitute. 1899. p. 177.
82) Heim, Lehrbuch der Hygiene. 1903.
83) Hesse, Die Typhusepidemie in Löbtau im Jahre 1899. Zeitschr. f. Hyg.
1899. Bd. 32. S. 344.
84) Hilgermann, Ueber die Verwendung des Bac. prodigiosus als Indikator
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Schillings J. 1887. Bd. 30. S. 321.
87) Derselbe, Ueber die Beurteilung zentraler Wasserversorgungsanlagen vom
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90) Derselbe, Wasserversorgung der Städte. Ebendas. 1894. 17. Bd. S. 94.
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Lieber den Wert der Sandfiltration usw.
379
91) Iben, Wasserversorgung und Reinigung der Städte. Sandfilter der Wanna¬
kometwasserwerke zu Nantucket. Ebendas. 1894. Bd. 17. S. 214.
92) Derselbe, Sandfiltration in amerikan. Städten. Ebendas. 1894. Bd. 17.
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93) Derselbe, Neue Filteranlagen zu St. Petersburg. Ebendas. 1893. No. 21.
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107) Kümmel, Die TypbuSepidemie in Altona 1891 und das filtrierte Fluss¬
wasser. Deutsche Vierteljahrsschr. f. öffentl. Gesundheitspflege. 1892.
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108) Derselbe, Versuche und Beobachtungen über die Wirkungen von Sand¬
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109) Derselbe, Einige die Filtration des Wassers betreffende Fragen. Schillings
J. 1893. Bd. 36. S. 612.
110) Kurth, Die Tätigkeit der Filteranlagen des Wasserwerks zu Bremen vom
Juni 1893 bis August 1894 mit besonderer Berücksichtigung der Hoch¬
wasserzeiten. Arb. aus dem Kaiserl. Gesundheitsamt. 1895. Bd. 11.
S. 427.
111) Lacomme, L’öpuration des eaux par les filtres iv sable dit americains.
Revue d’Hygiene. 1905. T. 27. p. 43.
Vierteljahrsschrift f. ger. Med. u öff. San.-Wesen. 3. Folge. XXXII. 2 . 9 c
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380
Dr. R. Hilgermann,
112) Laser, Bericht über die bakteriologischen Untersuchungen des Königs¬
berger Wasserleitungswassers in der Zeit vom Dezember 1890 bis Dezember
1891. Zentralbl. f. allg. Gesundheitspfl. Bd. 11. No. 4 und 5.
113; Derselbe, Bericht über die Resultate der bakteriolog. Untersuchung des
Wassers der Königsberger städt. Leitung im Jahre 1893. Zentralbl. f. allg.
Gesundheitspfl. 1894. 13. Bd. S. 401.
114) Derselbe, Bericht über die bakteriolog. Untersuchung des Königsberger
Wasserleitungswassers in der Zeit vom Dezember 1890 bis Dezember 1891.
Vierteljahrsschr. f. öffentl. Gesundheitspflege. 1892. 11. Band.
115) Lafar, Handb. d. techn. Mykologie. 1894. 3. Bd. S. 185.
116) Leeds, Ueber Wasserreinigung durch Filtration. Chem. Ztg. Repet. XVI.
S. 58.
117) Lehmann, Die Methoden der prakt. Hygiene. 1901.
118) Lueger, Die Wasserversorgung der Städte. 1890. S. 419.
119) Derselbe, Ueber die Klärung von trübem Flusswasser. Schillings J. 1885.
28. Bd. S. 441.
120) Lummert, Ueber die Wasserversorgung der Stadt Waldenburg. Schillings .1.
1905. No. 10. S. 196.
121) Mager, Reinigungsbetrieb der offenen Sandfilter des Hamburger Wasser¬
werkes zu Frostzeiten. Schillings J. 1897.
122) Meyer, Das Wasserwerk der freien und Hansastadt Hamburg unter be¬
sonderer Berücksichtigung der in den Jahren 1891 bis 1893 ausgeführten
Filtrationsanlage. Hamburg 1894.
123) Derselbe, Die neuen Filteranlagen für die Wasserversorgung Hamburgs.
1893. 36. Bd. No. 1. S. 1.
124) Derselbe, Regulierung der Abflusswege aus den Filtern. Zentralbl. f.
allg. Gesundheitspfl. 1894. 13. Bd. S. 81.
125) Derselbe, Das Wasserwerk der Stadt Hamburg. 1894.
126) Meyer, F. Andreas, Das Wasserwerk der freien und Hansastadt Hamburg
unter besonderer Berücksichtigung der in den Jahren 1891 bis 1893 aus¬
geführten Filtrationsanlage. Hamburg 1894. Ref. Deutsche Vierteljahrsschr.
f. öffentl. Gesundheitspfl. 1894. 26. Bd. S. 593.
127) Migula, Trinkwasser und Typhus. Schillings J. 1889. 32. Bd. S. 336.
128) Mitteilungen über Betriebsvorgänge bei offenen Sandfiltern und deren
Reinigung. Schillings J. 1902. No. 5. S. 80.
129) Neue städtische Schnellfiltration in Triest. Ges.-Ing. 1903. No. 43. S. 555.
130) Nussbaum, Leitfaden der Hygiene. 1902.
131) Oesten, Was ist Filtriergeschwindigkoit? Ges.-Ing. 1893. 17. Bd. S. 505.
132) Ohlshausen, Die Wasserversorgung grosser Städte, insbesondere Tal¬
sperren. Fortschr. der öffentl. Gesundheitspfl. 1895. S. 169.
133) Pannwitz, Die Filtration von Oborflächenwasser in den deutschen Wasser¬
werken während der Jahre 1894 bis 1896. Arbeiten aus dem Kaiserl. Ge¬
sundheitsamt. 1898. Bd. 14.
134) Pfeiffer, Typhusepidemien und Trinkwasser. Klinisches Jahrb. 1900.
7. Bd. S. 159.
135) Pfeiffer-Proskauer, Enzyklopädie der Hygiene. 1905.
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Ueber den Wert der Sandfiltration usw.
381
136) Philipp, Die Cholera-Epidemie zu Zerpenschleusse im Herbst 1893.
Zeitschr. f. Medizinalbeamte. 1894. 7. Bd. S. 77.
137) Piefke, Ueber die Betriebsfübrung von Sandfiltern auf Grundlage der zur
Zeit gültigen sanitätspolizeilichen Vorschriften. Zeitschr. f. Hyg. 1894.
16. Bd. S. 151.
138) Derselbe, Aphorismen über Wasserversorgung vom hygienisch-technisohen
Standpunkt aus bearbeitet. Zeitsch. f. Hyg. 1889. 7. Bd. S. 115.
139) Derselbe, Neuere Ermittelungen über die Sandfiltration. Ref. in der
Hygien. Rundschau 1891. S. 976.
140) Derselbe, Mitteilungen über natürliche und künstliche Sandfiltration.
Berlin 1881.
141) Derselbe, Die Prinzipien der Reinwassergewinnung vermittels Filtration.
Schillings Journ. 1887. 30. Bd. S. 5%.
142) Derselbe, Neue Ermittelungen über die Sandfiltration. Ebendas. 1891.
34. Bd. S. 207.
143) Derselbe, Ueber Wasserfiltration. Ebendas. 1889. 32. Bd. S. 1093.
144) Plagge-Proskauer, Bericht über die Untersuchung des Berliner Leitungs¬
wassers. Zeitschr. f. Hygiene. 1887. Bd. 2. S. 401.
145) Plange, Die Infektionskrankheiten. 1894.
146) Proskauer, Ueber die Beschaffenheit des Berliner Leitungswassers in der
Zeit von April 1889 bis Oktober 1891, nebst einem Beitrag zur Frage der
Bleiaufnahme durch Quellwasser. Zeitschr. f. Hyg. 1893. 14. Bd. S. 250.
147) Derselbe, Ueber die Beschaffenheit des Berliner Leitungswassers in der
Zeit von April 1886 bis März 1889.
148) Derselbe, Ueber die Beschaffenheit des Berliner Leitungswassers in der
Zeit von April 1886 bis März 1889. Ref. in der Hygien. Rundschau. 1891.
S. 93.
149) Reineke, Ueber die Beschaffenheit des Berliner Leitungswassers in der Zeit
von April 1886 bis März 1889. Ref. in der Hygien. Rundschau. 1891. S. 93.
150) Derselbe, Der Typhus in Hamburg, mit besonderer Berücksichtigung der
Epidemien von 1885 bis 1888.
151) Derselbe, Zur Epidemiologie des Typhus in Hamburg und Altona. Viertel-
jahrsschr. f. offentl. Gesundheitspfl. 1896. 28. Bd. S. 409.
152) Derselbe, Die Cholera in Hamburg und ihre Beziehung zum Wasser. 1894.
153) Derselbe, Gesundheitsverhältnisse Hamburgs im 19. Jahrhundert. Ham¬
burg 1901.
154) Reinsch, Die Bakteriologie im Dienste der Sandfiltrationstechnik. Gesund¬
heitsingenieur. 1895. No. 4. S. 64.
155) Derselbe, Die Bakteriologie im Dienste der Sandfiltrationstechnik. Zentralbl.
f. Bakt. 1894. Bd. 16. S. 881.
156) Renk, Ueber die Ziele der künstlichen Wasserfiltration. Gesundheitsing.
1886. No. 2. S. 54.
157) Rochard, Epuration des eaux destinees aux usages domestiques. Ref.:
Hygien. Rundschau. 1893. S. 146.
158) Röphling, Einige Bemerkungen über Grundwasser und Oberflächenwasser.
Schillings Journ. 1897. No. 9. S. 139.
25*
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382
Dr. R. Hilgermann,
159) Rubner, Lehrbuch der Hygiene. 1903.
160) Russische Reiseberichte über mechanische Filter von N. Simin. Ref. im
Gesundheitsingenieur. 1900. No. 8. S. 130.
161) Samuelsohn, UeberWasserfiltration. Schillings J. 1876. Bd. 19. S. 147.
162) Sanitätswesen des preussischen Staates. 1892, 93 u. 94.
163) Sanitätswesen des preussischen Staates. 1898—1900.
164) Sandfiltration und sog. mechanische Filtration. Schillings Joum. 1897.
No. 52. S. 854.
165) Schaar, Kalender für das Gas- und Wasserfach.
166) Sch um bürg, Die Methoden zur Gewinnung keimfreien Trinkwassers durch
chemische Zusätze. Veröffentlichung aus dem Gebiete des Militär-Sanitäts¬
wesens. 1900. Bd. 15. S. 129 ff.
167) Schmidtmann, Rückblick auf den Stand der Städte-Assanierung im ver¬
flossenen Jahre, insbesondere der Abwässerreinigung und Ausblick in die
voraussichtliche Weiterentwicklung. Vierteljahrsschr. f. ger. Med. 1900.
Bd. 19. S. 296.
168) Schrakamp, Nach welchen Grundsätzen hat die staatliche Ueberwachung
der zentralen Wasserversorgungen seitens der Medizinalbeamten stattzu¬
finden? Ebendas. 1904. Bd. 28- S. 131.
169) Schröder, Die Betriebssandwäschen der Hamburger Filteranlagen. Zeit¬
schrift d. Vereins deutscher Ing. 1895. Bd. 39. S. 834.
170) Derselbe, Das Hamburger Wasserwerk und die Entwicklung seiner Ma-
sohinenanlagen. Schillings Joum. 1903. Bd. 96. S. 169.
171) Schube-Freyer, Die Cholera-Epidemie in Stettin im Kreis Randow im
Herbst 1898. Zeitschr. f. Medizinalbeamte. 1893. S. 521.
172) Semon, Die Verbreitung der Cholera von 1871. Vierteljahrsschr. f. öffentl.
Gesundheitspfl. 1872. Bd. 4. S. 169.
173) Seydel, Die Typhusepidemie in Königsberg in Preussen im Jahre 1888.
Vierteljahrsschr. f. ger. Med. 1891. 3. Folge. Bd. I.
174) Springfeld, Die Typhusepidemien im Regierungsbezirk Arnsberg und ihre
Beziehung zu Stromversorgungen und Wasserversorgungsanlagen. Klin.
Jabrb. 1903. Bd. 10.
175) Test of a Mechanical Filter, East Providence. Engineering Record. 1899.
Bd. 2. p. 96.
176) The Lawrence Water Filter. The Engineering Record. 1893/94. p. 154.
177) Thiem, Anlage und Betriebsergebnisse deutscher Wasserwerke. Schillings
Journ. 1884. Bd. 27. S. 411.
178) Tils, Bakteriologische Untersuchungen der Freiburger Leitungswässer.
Zeitschr. f. Hygiene. 1890. Bd. 9. S. 282.
179) Typhus und Wasser. Vierteljahrsschr. f. ölfentl. Gesundheitspfl. 1896.
Bd. 28. S. 290.
180) Ueber die Betriebsführung von Sandfiltern. Schillings Journ. 1894. Bd. 37.
S. 276.
181) Ueber Wasserfiltration. Ebendas. 1893. Bd. 36. S. 555.
182) Ueber Filteranlagen zur Wasserversorgung mit besonderem Bezug auf Berlin.
Deutsche Bauzeitung. 1881. Bd. 15. S. 567.
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Ueber den Wert der Sandfiltration usw.
383
183) Ueber Filtration von Flusswasser. Deutsche Bauztg. 1890. Bd. 24. S. 567.
184) Uffelmann, 10. Jahresbericht über die Fortschritte und Leistungen auf
dem Gebiete der Hygiene. Deutsche Vierteljahrsschr. f. öffentl. Gesund¬
heitspflege. 1893. Bd. 25. S. 45.
185) Veitmeyer, Vorarbeiten zu einer zukünftigen Wasserversorgung der Stadt
Berlin. 1871.
186) Veröffentlichungen des Kaiserl. Gesundheitsamtes. 1894. No. 8. S. 114,
431, 635.
187) Veröffentlichungen des Kaiserl. Gesundheitsamtes. 1892. No. 40. S. 767
und 855.
188) Veröffentlichungen des Kaiserl. Gesundheitsamtes. 1893. No. 28. S. 487.
189) Veröffentlichungen des Kaiserl. Gesundheitsamtes. 1899. S. 107.
190) Vries, Hugo de, Rotterdamer Wasserleitung. Ref.: Vierteljahrsschr. für
öffentl. Gesundheitspfl. 1891. Bd. 23.
191) Walichs, Eine Typhusepidemie in Altona Anfang des Jahres 1891.
Deutsche med. Wochenschr. 1891. Bd. 17. S. 811.
192) Walter-Pfeffer, Wasserwerk für die Stadt Liegnitz. Deutsche Bauztg.
1880. Bd. 14. S. 399.
193) Wasserreinigungen in Amerika. Schillings Journ. 1894. Bd. 37. S. 91.
194) Wasserversorgungen mit dem amerikanischen Jowell-Filter. Gesundbeitsing.
1903. No. 26. S. 376.
195) Wasserversorgung von Alexandrien. Ebendas. 1903. No. 29. 8. 480.
196) Weyl, Handbuch der Hygiene. 1896.
197) Wolfberg, Die Cholera in Tilsit 1893. Zentralbl. f. allgemeine Gesund¬
heitspfl. 1894. Bd. 13. S. 1.
198) Wolffhügel, Beschaffenheit des Berliner Leitungswassers in der Zeit vom
Juli 1884 bis April 1885. Arbeiten a. d. Kaiserl. Gesundheitsamt. 1886.
Bd. 1. S. 1.
.199) Derselbe, Ueber die hygienische Beurteilung der Beschaffenheit des Trink-
und Nutzwassers. Vierteljahrsschr. f. öffentl. Gesundheitspfl. 1883. Bd. 15.
S. 552.
200) Derselbe, Wasserversorgung. 1882.
201) Wollny, Die Zersetzung der organischen Stoffe und die Humusbildungen.
1897. S. 30.
202) Zur Wasserversorgung von Stralsund. Gesundheitsing. 1905. No. 1. S. 6.
203) Zur Wasserfrage von Zürich. Schillings Journ. 1886. Bd. 29. S. 80.
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7.
Das Giessfieber und seine Bekämpfung
mit besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse in Württemberg.
Von
Dr. Julius Sigel in Stuttgart.
(Schluss.)
Diagnose.
Die Diagnose stützt sich:
1. auf den plötzlichen Beginn der Erkrankung.
2. auf den Verlauf der Erkrankung,
3. auf die Kenntnis der Beschäftigung des Patienten,
4. auf die charakteristischen Symptome:
Mattigkeit, Abgeschlagenheit, Appetitlosigkeit, Husten,
Beengung auf der Brust, Gliederschmerzen, Kopfweh und ev.
Brechneigung, Frostschauer, die sich zum Schüttelfrost steigern
können, profuser Schweissausbruch.
Die kleinen Modifikationen mögen von dem grösseren oder kleineren
Gehalt an Zink in der Legierung und von der Beimischung anderer
metallischer Dämpfe herrühren, namentlich ist an die event. Bei¬
mengung von Arsenikdämpfen zu denken (Eulenberg). Differential¬
diagnostisch käme Malaria in Frage; ein diesbezüglicher Irrtum dürfte
sich aber unter Berücksichtigung der übrigen Umstände bald auf¬
klären.
Prognose.
Nach Hirt ist die Prognose unter allen Umständen günstig, die
völlige Genesung erfolgt, wenn nicht ungünstige Komplikationen vor¬
liegen, zweifellos innerhalb 24—48 Stunden. Auch die übrigen Autoren
halten das Giessfieber für eine durchaus harmlose Erkrankung, was
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Das Giessfieber und seine Bekämpfung. 385
sehon daraus erhellt, dass wegen des Giessfiebers nur selten ein Arzt
konsultiert wird.
Ist nun aber nicht die Möglichkeit vorhanden, dass sich im An¬
schluss an die mehr oder weniger häufigen akuten Vergiftungen in
der Kupfer- und Zinkindustrie chronische schwerwiegende Störungen
cinstellcn ?
In der mir zu Gebote stehenden Literatur finden sich nur wenige
Beispiele, die darauf hindeuten, die mir aber doch so wichtig erscheinen,
um genauer darauf einzugehen. Popoff (30) beschreibt einen Fall
von chronischer Vergiftung mit Zinkoxyddämpfen bei einem Arbeiter
in einer Bronzegiesserei. Derselbe war 12 Jahre lang, täglich einer
dichten Atmosphäre von Zinkoxvddämpfen ausgesetzt. Obgleich er sich
Mund- und Nasenöffnung mit einem nassen, eigens dazu angepassten
Schwamm verdeckte, bemerkte er dennoch jedesmal, sobald er nach
Hause kam, an den Lippen, an den Rändern der Nasenöffnungen einen
weissen Anflug von Zinkoxyd und verspürte einen starken metallischen
Geschmack im Munde. Solange das Wetter warm war, wenn man die
Türen offen halten konnte, beschränkte sich alles darauf. Wahrend
der kalten Witterung aber, wo eine solche Ventilation nicht mehr
möglich war, war auch das Resultat seines Verweilens in der Werk¬
statt ein anderes. Bei seiner Rückkehr nach Hause befielen den
Patienten in solchen Fällen heftige, peinigende Kopfschmerzen,
starkes Frostgefühl, Krämpfe in den Extremitäten, besonders in
den Wadenmuskeln, starke Uebelkeit, Erbrechen und nicht selten
starke Durchfälle, so dass er den ganzen Symptomenkomplex (der viel
Aehnlichkeit mit dem Giessfieber hatte, Verf.) mit der Cholera ver¬
glich. An diesen Anfällen litt nicht er allein, sondern auch viele
andere Arbeiter, die in derselben Abteilung der Fabrik beschäftigt
waren. Bei einigen traten nach seinen Worten (unter Erscheinungen
nervöser Art) die Symptome der Respirationsorgane in den Vorder¬
grund, es stellten sich bei ihnen Husten, kurzer Atem, Blutspeien ein,
Anfälle, die, wie Pat. angibt, viele seiner Verwandten und Bekannten
frühzeitig unter die Erde gebracht haben. Derartige Störungen konnten
natürlich nicht ohne Folgen bleiben, zumal die Einwirkung der Zink¬
dämpfe fortdauerte. Es stellten sich Magen- und Darmstörungen,
Lähmungen der sensiblen und motorischen Sphäre ein. Während der
Krankenbeobachtung konnte Zink noch iy 2 Monate nach dem Ver¬
lassen der Fabrik im Urin nachgewiesen werden, was wohl am deut¬
lichsten für eine Zinkvergiftung verwertet werden konnte.
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386
Dr. Julius Sigel,
Sehlockow (31) beschreibt als Wirkung chronischer Zinkver¬
giftung ein eigenartiges Rückenmarksleiden. Als Prodomalsymptome
seien fast immer Darmkatarrhe, Emphysem, Bronchitis chronica,
dunkler Saum am Zahnfleisch (Pb?) vorhanden. Zuerst treten nach
Sehlockow Ameisenlaufen, Reizerscheinungen auf sensiblem Ge¬
biet, später Sensibilitätslähmungen auf. Die Sehnenreflexe sind ge¬
steigert, das Rombergsche Phänomen vorhanden. Sehlockow hat
diese Erkrankung bei ca. 50 Zinkhüttenarbeitern gesehen. Ob es sich
hier tatsächlich um eine chronische Zinkvergiftung handelt, oder wie
Pracinski, Kunkel u. a. glauben, um eine Bleivergiftung, lasse ich
unentschieden. Immerhin glaube ich, dass diese Fälle so wichtig sind,
dass sie nicht einfach für toxikologisch-diagnostische Irrtümer erklärt
werden dürfen, wie Kunkel meint.
Therapie.
Die Therapie ist nach Hirt einfach exspektativ, es wird von
fast allen Autoren heisse Milch im Anfall empfohlen. Auch Jodkalium,
Jodnatrium, Opiumpräparate sollen nach Czajkowski in einzelnen
Fällen wirksam sein. Doch ein spezifisches Mittel gibt es bis heute
nicht. Ueber die Bedeutung der Ventilation und der verschiedenen
Mittel zur Bekämpfung des Giessfiebers soll erst im dritten Teil der
Arbeit ausführlich gesprochen werden.
II.
Um die Verhältnisse in Württemberg zu studieren, standen mir
zwei Wege zur Verfügung:
1. die Berichte der Gewerbeinspektion,
2. meine eigenen Untersuchungen.
In Württemberg wurde von der Gewerbeinspektion erst in jüngster
Zeit auf das Giessfieber geachtet. So entnehme ich den Jahres¬
berichten der Gewerbeaufsichtsbeamten vom Jahre 1902 folgende
Ausführungen:
„In neuerer Zeit will in Giessereien, besonders in Metallgiesse-
reien, das Vorkommnis einer noch nicht aufgeklärten Krankheit, des
Giessfiebers, beobachtet worden sein und wurden wir durch ein ge¬
drucktes Formular des Direktors des hygienischen Instituts in Würz¬
burg, Prof. Dr. K. B. Lehmann, aufgefordert, zur Klärung dieser
Krankheit unsere Beobachtungen mitzuteilen. Von verschiedenen Me-
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Das Giessfieber und seine Bekämpfung.
387
tallgiessereien, wo wir gelegentlich Umfrage hielten, wurde uns in
einer einzigen vom Betriebsleiter mitgeteilt, dass er bei einem Arbeiter
beobachtet habe, dass er ab und zu nach dem Giessen Fieber be¬
komme, das nach 1—2 Tagen ohne ärztliche Behandlung wieder ver¬
schwunden sei. Den Grund könne er sich nicht erklären. Im Jahre
1903 wurden in Württemberg eingehende Erhebungen über die Ur¬
sachen des Giessfiebers in den Gelbgiessereien angestellt. Die Ge¬
werbeinspektion schreibt: Bekanntlich sind diese Ursachen noch nicht
völlig aufgeklärt. Dass dieses Fieber nicht auf die beim Giessen
sich entwickelnden Zinkdämpfe allein zurückzuführen ist, geht daraus
hervor, dass dasselbe in reinen Zinkhütten überhaupt nur sehr selten
vorkommt. Die Krankheitserscheinung äussert sich darin, dass sich
5—6 Stunden nach dem Giessen, also beim Zubettgehen, Husten,
Kopfweh, Uebelsein, Schüttelfrost mit darauf folgendem heftigen Durst
einstellen. Diese Erscheinungen dauern 6—15 Stunden. Der Patient
kommt in Schweiss und dann tritt in kurzer Zeit Besserung ein,
allein einzelne Arbeiter leiden nachher noch an allgemeiner Mattig¬
keit und an Kopfschmerzen. Eine andauernde Schädigung der Organe
scheint durch das Giessfieber nicht bewirkt zu werden. Manche Ar¬
beiter sind von Haus aus dagegen widerstandsfähig, bei anderen ver¬
lieren sich die Erscheinungen erst nach längerer Zeit. Die ein¬
gehenden Untersuchungen über die Ursachen des Giessfiebers und
seinen Zusammenhang mit der Beschaffenheit des Schmelzgutes, der
Höhe der Arbeitsräume und dem Vorhandensein natürlicher bzw.
künstlicher Ventilation hat für die 7 im III. Bezirk in Betracht
kommenden Gelbgiessereien folgendes ergeben: In allen Gelbgiessereien
ist das Mischungsverhältnis zwischen Zink und Kupfer wie 1 : 2,
dabei enthalten die Legierungen noch Zinn, auch Blei und selten und
in geringen Mengen Kupferphosphor. Die Untersuchung des Flug-
staubes im chemischen Laboratorium der Kgl. Zentralstelle ergab,
dass derselbe etwas Kupfer und Spuren von Zink enthält und dass
beides sich aus den beim Giessen entstehenden Dämpfen nieder¬
schlägt. Vermutlich ist das Giessfieber auf das in den Zinkdämpfen
mechanisch mitgerissene Kupfer zurückzuführen. Die grösseren
Giessereien von 8 bzw. 10—12 m Höhe, darunter eine mit künst¬
licher Absaugung der Dämpfe, zeigten nur wenige Erkrankungsfälle,
mehr dagegen die Giessereien mit nur 4—5 m Höhe und gewöhn¬
licher Lüftung durch Fenster und Oberlichter. Am schlimmsten sind
die Verhältnisse in einer nur 2,4 m hohen kleinen Gelbgiesserei, in
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388
Dr. Julius Sigel,
welcher die Arbeiter fast nach jedem Giesstage das Fieber bekommen.
Aus allem ergibt sich, dass die Art der Lüftung und die Grösse des
Arbeitsraumes für die Häufigkeit und Stärke der Krankheitserschei¬
nungen von Bedeutung sind. So lange die sich entwickelnden Dämpfe
vom Arbeiter eingeatmet werden, tritt auch Giessfieber auf. Respi¬
ratoren oder Freiluftatmer sind hier, wo eine grosse Bewegungs¬
freiheit der Arbeiter erforderlich ist, nicht zu verwenden. Das
Schwergewicht der Beseitigung der Fiebererscheinungen ist auf die
richtige Ventilation zu legen. Die Firma Wieland u. Co. in Ulm ist
seit Jahren bestrebt, hier das Beste herauszufinden, sie hat für diesen
Zweck keine Kosten gescheut. In letzter Zeit sind von ihr in einem
ihrer Werke neue Versuche gemacht worden, die sich bis jetzt gut
bewährt haben. Diese Ventilationsanlagen sind von Schreider in
Feuerbach.
Um nun selbst einen Einblick in die diesbezüglichen Verhältnisse
zu bekommen, besuchte ich fast sämtliche Gelbgiessereien Stuttgarts
und schickte an alle mir bekannten Metallgiessereien Württembergs,
in denen nachweislich viel Kupfer- und Zinklegierungen hergestellt
werden, ein Rundschreiben mit folgenden Fragen, ähnlich wie dies
auch von Lehmann und Hohmann gemacht worden war.
1. Kommt Giessfieber überhaupt vor, früher und heute?
2. Wie äussert sich die Erkrankung, wie ist der Verlauf, sind Tem¬
peraturbestimmungen betr. Höhe des Fiebers gemacht worden,
bleiben länger dauernde Störungen zurück?
3. Worauf ist die Erkrankung zurückzuführen?
4. Wieviel Prozent der Arbeiter erkranken an Giessfieber, früher
und heute?
5. Tritt Gewöhnung ein, oder tritt die Erkrankung häufig, d. h.
nach jedem Gusse ein, gibt es eine Immunität gegen das Giess¬
fieber?
6. Kommt Giessfieber nur bei Gelbgiessern, oder auch sonst in der
Metallindustrie vor?
7. Ist die Art der Legierung von Einfluss auf die Entstehung des
Giessfiebers?
8. Hat das Wetter oder die Jahreszeit einen Einfluss?
3. Ist die Höhe und Grösse des Giessraumes, die Ventilation des¬
selben von Bedeutung?
10. Welche Momente beeinflussen sonst noch die Entstehung des
Giessfiebers? Frage des Alkohols.
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Das Giessfieber und seine Bekämpfung.
389
11. Haben Vorsichtsmassregeln einen Wert?
12. Was wird bzw. wurde bisher gegen das Criessfieber gemacht?
ad 1. Kommt Giessfieber überhaupt vor?
In etwa 25 Giessereien, von denen ich mündlich oder schrift¬
lich Antwort erhielt, kommt Giessfieber vor, mit Ausnahme einer ganz
kleinen Giesserei in Stuttgart und der Giesserei in Kochendorf; in
ersterer wird nur wenig gegossen; in Kochendorf bestehen angeblich
sehr gute Ventilationseinrichtungen, auch wird dort offenbar mehr
Rotguss (Cu —)— P —J— Sn), als Gelbguss hergestellt.
ad 2. Wie äussert sich die Erkrankung, wie ist der Verlauf, sind
Temperaturmessungen gemacht worden, bleiben länger dauernde
Störungen zurück?
Das Krankheitsbild wird von den einzelnen Meistern, Giessern
und Schmelzern — es sind deren gegen 100, die ich explorierte —
ziemlich ähnlich beschrieben. Es ist vielleicht gestattet, einzelne
Aeusserungen im Original wiederzugeben.
Wenn, wie meistens, vormittags gegossen wird, erkranken die
Arbeiter nachmittags spät oder erst abends. Anfangs besteht oft
süsslicher Geschmack im Mund, selten Metallgeschmack, dazu gesellt
sich Kratzen im Hals, Reizhusten, selten in den Anfangsstadien auch
Erbrechen. Neben nunmehr auftretender fiebriger Müdigkeit, Abge-
schlagenheit stellen sich Muskelschmerzen und Frieren ein, daneben
besteht meist Appetitlosigkeit. Das Frieren wird allmählich stärker
und steigert sich in vielen Fällen — namentlich bei Neulingen, z. B.
Lehrlingen, Taglöhnern etc. — zum Schüttelfrost. Gleichzeitig tritt
mehr oder weniger starkes Angstgefühl, Luftmangel, Asthma auf.
Die Herztätigkeit ist erregt. Nach einigen Stunden beschliesst ein
heftiger Schweissausbruch den Anfall. In der zweiten Hälfte der
Nacht tritt meist Schlaf ein; am andern Morgen ist oft noch Kopf¬
weh und Abgeschlagenheit vorhanden, häufig auch völlige Genesung
eingetreten. Die einzelnen Symptome werden in der Intensität sehr
verschieden beschrieben. Die ersten Erscheinungen, das Kratzen im
Halse wird von den einen vernachlässigt, andere wieder sagen, es sei
heftig und äusserst unangenehm, oft so stark, wie ein junger Schmelzer
mir sagte, dass er das Gefühl habe, als sei sein Hals eine halbe
Stunde mit der Wurzelbürste (!) behandelt worden; daneben bestehe
oft ein eklig-süsser Geschmack im Mund. Letztere Erscheinung wird
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Dr. Julius Sigel,
durchaus nicht regelmässig gefunden. Auch die folgende Müdigkeit
und Mattigkeit wird verschieden geschildert, die einen führen dieselbe
lediglich auf die Hitze und auf die grosse Anstrengung zurück, andere
sehen in derselben einen typischen Vorboten des Giessfiebers. Fast
allgemein wird die grosse Appetitlosigkeit hervorgehoben und der
plötzliche Beginn des Frierens. Die Leute verlassen abends schein¬
bar gesund die Werkstatt oder den Giessraum; oft schon auf dem
Heimweg oder bei ausserhalb des Arbeitsortes wohnenden Leuten in
der Eisenbahn beginnt das Frieren. Wenn die Arbeiter nach Hause
kommen, so suchen sie meist sofort, ohne etwas zu essen, das Bett
auf. Mit mehr oder weniger grosser Wahrscheinlichkeit tritt neben
dem jetzt einsetzenden Engigkeitsgefühl auf der Brust, dem Asthma
noch der gefürchtete Schüttelfrost auf. Was zunächst das Gefühl
von Luftmangel betrifft, so wird derselbe in verschiedener Weise ge¬
schildert. Bei den einen, namentlich bei älteren Giessern kommt es
nur zu leichten Beklemmungserscheinungen, selten tritt ein mehrere
Stunden dauernder typischer Asthmaanfall auf. Anfangs haben die
Patienten oft das Gefühl, es gehe zu Ende. Das gleichzeitig vorhandene
Herzklopfen macht sich dem einen mehr, dem andern weniger be-
merklich. Pulsfrequenzen sind jedenfalls nichts Ungewöhnliches.
Noch charakteristischer als die eben genannten Symptome sind für das
GiessGeber das Frieren und der Schüttelfrost. Bei älteren Giessern
bleibt es häuüg beim „abortiven“ Frieren, oft steigert sich dieses aber
zum Schüttelfrost, der von wenigen Minuten bis zu mehreren Stunden
dauern kann. Wenn dann, wie meist, heftiger Schweiss ausbricht,
lassen die Erscheinungen nach. „4—5 Hemden, die ausgewunden
werden können, müssen in einer Nacht gewechselt werden.“ Allein
einstimmig wird ein derartiger Schweissausbruch herbeigesehnt, da
dieser meist das Ende des Anfalles bedeutet. Nach dem jetzt ein¬
tretenden Schlaf wachen die meisten am anderen Morgen gesund
wieder auf, andere dagegen fallen ebenfalls in tiefen Schlaf, werden
aber von unruhigen Träumen gequält. In einem nicht ganz kleinen
Prozentsatz der Fälle Gndet sich anderen Morgens Abgeschlagenheit
und Kopfweh, namentlich in den Fällen, in denen es nicht zu
starkem Schweissausbruch kommt. Doch im Laufe des Tages ver¬
lieren sich auch diese Beschwerden meistens. Nur in sehr ver¬
einzelten Fällen ziehen sich diese krankhaften Symptome zwei und
drei Tage hin. Temperaturbestimmungen im Anfall sind bis¬
her nirgends vorgenommen worden.
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Das Giessfieber und seine Bekämpfung.
391
Dauernde Störungen sind selten, allein bei manchen Leuten, die
sich an das Giessfieber nicht gewöhnen können, treten dauernd allge¬
meine Mattigkeit, fahles, schlechtes Aussehen ein. Die Leute sehen
aus „als ob sie die Schwindsucht hätten“, magern ab, haben Ver¬
dauungsstörungen mancher Art (Gastritis, Diarrhoeen) und sehr häufig
chronische Rachen- und Bronchialkatarrhe. Die Sterblichkeit der
Giesser ist jedoch keine höhere, als die der übrigen Metallarbeiter.
ad 3. Worauf ist die Erkrankung zurückzuführen?
Zu dieser Frage lauten die Antworten aus der Praxis ziemlich
gleich. Die einen fassen sich allgemein und sagen: Auf die beim
Giessen von Messing entstehenden weissen Dämpfe, die anderen sagen,
auf Zink oder Galmei. Auf die Frage, welche Zusammensetzung die
weissen Dämpfe haben, lautet die prompte Antwort, es handelt sich
um Zink oder Galmei. Auch wenn auf die im technischen Zink und
Messing enthaltenen Verunreinigungen und auf die dadurch bestehende
Intoxikationsmöglichkeit hingewiesen wird, so begegnet man in der
Praxis ungläubigem Lächeln, da nur die Zinkdämpfe die Noxe dar¬
stellen sollen. Nur in dem Punkt sind sich die Praktiker nicht
einig, ob die Vergiftung durch Resorption von den Luftwegen oder
vom Magendarmkanal aus erfolge. Während die einen glauben, es
genüge die Inhalation der Dämpfe, um Giessfieber hervorzurufen,
vertreten andere den Standpunkt, es müssen die Dämpfe rein oder
mit Speichel vermengt „verschluckt“ werden. Wahrscheinlich spielen
in der Praxis beide Wege eine Rolle.
ad 4. Wieviel Prozent der Arbeiter erkranken an Giessfieher, früher
und heute?
Die Ansichten gehen in dieser Frage noch sehr auseinander. Es
lässt sich dieselbe auch nicht mit Bestimmtheit beantworten, da jede
statistische Zusammenstellung fehlt, auch durchaus nicht alle Fälle
bekannt werden. Soviel steht fest, dass früher die Krankheit weit
häufiger war und viel schwerer als heute auftrat. Der Grund ist in
verschiedenen Umständen zu suchen:
a) ist die Technik des Giessens heute eine weit vollkommenere,
als früher.
b) sind die Räumlichkeiten, in denen gegossen wird, meist
grösser als früher.
c') sind die allgemeinen hygienischen Einrichtungen, Ventilation,
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Dr. Julius Sigel,
Dunstabsaugungsvorrichtungen für den Rauch weit bessere,
als früher.
d) ist bei den (im Vergleich zu früheren Zeiten) meist grösseren
Fabrikanlagen weit eher die Möglichkeit vorhanden, Leute,
die eine ausgesprochene Idiosynkrasie gegen die Metalldämpfe
haben, auch anderweitig in der Metallindustrie zu beschäftigen,
wie es vielfach auch geschieht.
ad 5. Tritt Gewöhnung ein oder tritt die Erkrankung häufig d. h.
nach jedem Gusse ein? Gibt es eine Immunität gegen das
Giessfieber?
In der Mehrzahl der Fälle (ca. 70 pCt.) gewöhnen sich nach
Angabe der Praktiker die Leute an das Giessfieber, d. h. sie werden
unempfindlich gegen die Metalldämpfe. In etwa 30 pCt. der Fälle
erkranken die Leute aber regelmässig (wenigstens an den Tagen, an
denen viel gegossen wird) mehr oder weniger heftig, in einzelnen
Fällen sogar regelmässig so stark, dass der Giessfieberanfall in seiner
typischen Form mit allen Komplikationen an jedem Giesstage auftritt.
In diesen, allerdings seltenen Fällen müssen dann die Giesser den
Beruf wechseln, oder muss ihnen, wie oben angedeutet, eine andere
Beschäftigung (als Polierer, Hämmerer, Former etc.) zugewiesen werden.
Die Gewöhnung tritt oft erst spät ein, manche Giesser haben das
Giessfieber 100 mal und öfter gehabt und verlieren es im späteren
Alter bei Anwendung von kleinen Vorsichtsmassregeln oder auch ohne
solche (Giesserei in Vaihingen a. E.). Die Gewöhnung tritt leichter
ein, wenn möglichst regelmässig gegossen wird und keine allzulangen
Pausen gemacht werden.
Eine absolute Immunität kommt wohl vor, ist aber jedenfalls
sehr selten, worauf diese zurückzuführen, darüber fehlen zunächst die
Anhaltspunkte.
ad fi. Kommt Giessfieber nur bei Gelbgiessern vor oder auch sonst
in der Metallindustrie?
Ausnahmslos wurde die Frage so beantwortet, dass Giessfieber
sowohl bei Gelbgiessern vorkoramt, als auch bei Giessern, welche
mit anderen Kupfer-Zinklegierungen zu tun haben (Durama, Tombak,
Weissmetall, Neusilber etc.) Beim Giessen von reinem Zink
soll das Giessfieber heftig auftreten, aber nur wenn das
Zink stark überhitzt wird (Giesser von Pelargus, Voltz und
Schrott in Stuttgart, Giesser Beck aus Ebingen).
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Das Giessfieber und seine Bekämpfung.
393
Auf diesen Punkt komme ich später noch ausführlich zu
sprechen. Bei Kupfergiessern trete Giessfieber überhaupt nicht auf,
bei Rotgiessem und Bronzegiessern nur äusserst selten. In einem
einzigen Fall konnte ich eine abortive Form des Giessfiebers (Frieren,
Asthma) bei einem Messingpolierer finden, der beim Giessen von
Messing regelmässig stark an Giessfieber erkrankte. In der Blei-
und Eisenbranche sowie in allen anderen Giessereien ist das Giess¬
lieber eine völlig unbekannte Krankheit.
ad 7. Ist die Art der Legierung von Einfluss auf die Entstehung des
Giessfiebers?
Diese Frage wurde allgemein bejaht, und zwar in dem Sinne,
dass je mehr Zink in der Legierung sei, um so grösser die Gefahr
sei, das Giessfieber zu bekommen. Andere Zusätze, Kupferphosphor
usw., seien ohne Belang. Nur eine einzige Angabe ging dahin, dass
auch bei Kupfer-Zinnlegierungen giessfieberartige Erscheinungen zu
beobachten seien, besonders wenn etwa 1 pCt. Phosphorzinn der Le¬
gierung zugesetzt werde. Alle auf diesen Punkt hin angestellten
Untersuchungen ergaben ein negatives Resultat. Die Frage, ob das
Alter der Legierung (Altmessing) einen Einfluss habe, d. h. ob beim
Giessen von Altmessing häufiger Giessfieber entstehe, als bei Verar¬
beitung von neuem, reinem Metall (sog. Blockzink und Kupfer) wurde
von der Mehrzahl der Praktiker so beantwortet, dass Giessfieber
häufiger sei, wenn altes Metall unbekannter Herkunft gegossen werde.
Das Giessen von alten Messingspähnen wird daher von zu Giessfieber
disponierten Leuten sehr gefürchtet. Einige wenige Männer der Praxis
meinten dagegen, es komme lediglich auf den Zinkgehalt an. Die
Legierungen, die wenig Zink enthalten, verursachen am seltensten
Giessfieber, ob das Messing alt oder neu sei. Auf die Verunreinigungen
der Metalle mit Blei, Zinn, Cadmium, Arsen usw. wird, wie schon
erwähnt, betr. des Giessfiebers in der Praxis wenig Wert gelegt.
ad 8. Hat das Wetter oder die Jahreszeit einen Einfluss?
Es wird allgemein angegeben, dass bei trübem, nebligem, kaltem
Wetter häufiger Giessfieber vorkomme, als bei schönem, warmem
Wetter. Der Grund soll darin zu suchen sein, dass bei natürlicher
und bei künstlicher Ventilation die Zinkoxyddämpfe bei schlechtem
AA'etter schwerer entweichen. Einzelne meinen, an kalten Tagen sei
die Disposition eine grössere, als an warmen. Die Erscheinungen des
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Dr. Julius Sigel,
Giessliebers, vor allem das Frieren, machen sich weit mehr an kalten
als an warmen Tagen bemerklich. Die Mehrzahl sagt also, dass im
Sommer die Erkrankung seltener sei, als im Winter. Wenige Stimmen
gehen dahin, dass das Wetter fast gar keinen Einfluss habe. Mir
scheint die Wahrheit in der Mitte zu liegen; ich glaube, dass alle die
Momente der Witterung, ob Sommer oder Winter, die eine ausgiebige
Ventilation der Giessräume verhindern, für das Giessfieber prädispo¬
nierend wirken.
ad 9. Hat die Höhe und Grösse des Giessraumes, die Ventilation
einen Einfluss? Welcher Art ist letztere?
Die Höhe des Giessraumes und die Grösse desselben sind von
hervorragender Bedeutung; es ist statistisch nachzuweisen, dass in den
kleinen Giessereien Giessfieber häufiger ist, als in grossen, luftigen
Räumen. Aber auch in letzteren kommt dasselbe trotz vorzüglicher
natürlicher Ventilation noch vor, und zwar um so mehr, je langsamer
die Reinigung der Luft von den Metalldämpfen vor sich geht. Die
einfache Ventilation genügt meist nicht, cs müssen die Dämpfe durch
besondere Vorrichtungen abgesaugt werden. Leber diese Frage soll
ausführlicher im 3. Teil der Arbeit gesprochen werden.
ad 10. Welche Momente beeinflussen sonst noch die Entstehung des
Giessfiebers? Bedeutung des Alkohols.
Ein Hauptwert wird allerseits auf eine gute Gesamtkonstitution
gelegt. Leute, welche einen Locus minoris resistentiae haben, sei es,
dass es sich um Störungen des Respirations- und Zirkulationsapparates
oder des Verdauungsapparates handelt, erkranken angeblich leichter
als ganz gesunde Leute, gewöhnen sich auch nicht so leicht an die
Schädlichkeit des Giessfiebers. Namentlich Leute mit schwachen
Lungen, die Neigung zu Bronchitis, Asthma usw. haben, sind dem
Giessfieber in seinen schweren Formen in hohem Grade ausgesetzt.
Daher wird auch in manchen Fabriken beim Einstellen der Arbeiter
auf die Konstitution, speziell die der Lungen gesehen. Die Frage, ob
das Alter einen wesentlichen Einfluss hat, wird dahin beantwortet,
dass alte, wenig widerstandsfähige Leute häufig erkranken, sofern sie
eiten nicht mehr ganz gesund sind, andererseits aber erkranken auch
gesunde, junge, noch nicht vollkommen ausgewachsene Leute häufiger.
Die Technik des einzelnen beim Giessen ist. wie schon angedeutet,
von grossem Einfluss. Leute, die sehr gesehieklich sind, die eine
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Das Giessfieber und seine Bekämpfang.
395
gute Atemführung haben bzw. eine solche lernen, erkranken seltener;
überhaupt alle Momente, die gestatten, den aufsteigenden Dämpfen
auszuweichen, sind von günstigem Einfluss. Speziell auf die Atem¬
führung wird von einzelnen Seiten grosser Wert gelegt, da angeblich
eine Hauptgefahr in der grossen Atemanstrengung beim Herausheben
der Tiegel aus dem Ofen und beim Giessen liege.
Es ist nach den Erfahrungen mehrerer Praktiker infolge der An¬
strengung unvermeidlich, grosse Mengen Dämpfe einzuatmen. Dies
kann dadurch z. T. vermieden werden, dass die Tiegel mit dem ganzen
Ofen auf maschinellem Wege gedreht werden. Jedoch haben diese
maschinellen Vorrichtungen so grosse technische Unannehmlichkeiten
zur Folge, dass manche Giessereien, die den Maschinenbetrieb ange¬
legt hatten, denselben wieder abgeschafft haben und zum alten System
zurückgekehrt sind. In einer kleinen Giesserei, in welcher der Meister
ebenfalls der Anstrengung des Heraushebens des Tiegels einen Teil
der Schuld am Giessfieber zumisst, sah ich noch die Entleerung des
Tiegels mit dem Schöpflöffel. Nach dem Urteil erfahrener Giesser
soll dadurch der Guss ungünstig beeinflusst werden. Einen nicht zu
unterschätzenden Einfluss hat auch die Menge des zu giessenden
Metalls. An Tagen, an denen sehr viel gegossen wird (meist
werden 2—6—8 Tiegel pro die ä 50—100 kg Metall gegossen) ist
die Erkrankung häufiger, namentlich wenn, wie dies dann meist
der Fall ist, gleichzeitig grosse Anstrengungen mit der Arbeit ver¬
bunden sind. In den meisten Giessereien ist nur zweimal in der
Woche Giesstag.
Wichtig ist die Frage des Alkoholgenusses.
Branntwein und andere starke Alkoholsorten werden bei uns
relativ selten genossen. Meist wird Bier, Most, selten Wein getrunken.
Alkoholgenuss ist nach dem Urteil der Mehrzahl beim Giessen unzweck¬
mässig. Am meisten wird vor Bier gewarnt. Die W'ürttembergische
Metallwarenfabrik spricht sich wie folgt aus: Mässiger Genuss
alkoholischer Getränke ist nach unserer Beobachtung von keinem
schädlichen Einfluss; das Giessfieber befällt auch Personen, welche
keinerlei alkoholischen Getränke zu sich nehmen. Genuss von
Milch und Kaffee, wie er beispielsweise an die Feuerarbeiter verab¬
reicht wird, empfiehlt sich besonders für die in Giessereien tätigen
Arbeiter. Einzelne Arbeitgeber sehen dagegen im Alkoholgenuss eine
solche Schädlichkeit, dass sie denselben in jeder Form in ihrer Fabrik
verbieten.
Vierteljahrsschrift f. ger. Med. u. öflf. San.-Wesen. 3. Folge. XXXII. 2.
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Dr. Julius Sigel,
Leute, die sich sehr reinlich halten, sehr solid leben, nach der
Arbeit sich stets ganz frisch anziehen, sollen weniger leicht erkranken,
als solche, die es mit den genannten Punkten weniger genau nehmen.
ad 11. Haben Vorsichtsmassregeln, Schwämme, Respiratorien etc.
einen Wert?
Diese Frage wurde verschieden beantwortet. Die einen sind voll
Enthusiasmus über ihre Schwämme etc., glauben, seit sie dieselben
benutzen, seien die Schrecken des Giessliebers für immer verschwun¬
den, während andere denselben jeden Wert absprechen. Im allge¬
meinen werden diese Vorsichtsmassregeln nicht gerne eingehalten, es
ist den Leuten unbequem, Schwämme etc. zu tragen, weshalb auch
die Benutzung eine geringe ist. Unzweifelhaft ist ein gewisser Wert
nicht zu verkennen, namentlich, wenn dieselben erst abgelegt werden,
wenn die Luft nach dem Gusse wieder rein ist; auch das Aufsuchen
frischer Luft nach dem Giessen soll empfehlenswert sein.
ad 12. Was wird bzw. wurde bisher gegen das Gicssfieber gemacht?
Diese Frage gehört eigentlich erst im 3. Teil der Arbeit be¬
sprochen, allein, um das Krankheitsbild, wie es in Württemberg vor¬
kommt, vollständig zu geben, bespreche ich die Frage hier.
Ein spezifisches Heilmittel gibt es bis heute nicht; die Zahl der
angewandten Mittel ist, wie bei allen ähnlichen Fällen, eine ungemein
grosse. Am häufigsten wird Milch vor und direkt nach dem Gusse
empfohlen. Die einen glauben, dass durch das Eiweiss der Milch
unlösliche und daher unschädliche Metallalbuminate gebildet werden,
während andere heisse Milch lediglich als symptomatisches Mittel
gegen den nach dem Giessen sich einstellenden Reizhusten trinken.
Ferner werden empfohlen heisse Getränke, Tee, Glühwein, um
möglichst frühzeitigen Schweissausbruch herbeizuführen.
Von den von Czajkowski empfohlenen Jodpräparaten wurde in
Württemberg bisher kein Gebrauch gemacht. Kleine Dosen konzen¬
trierten Alkohols (Kognak) direkt nach dem Gusse soll bei einzelnen
günstig wirken (?). Die Erfahrung, dass starke Raucher selten an
Giessfieber erkranken, veranlasste einzelne Giesser, während des
Gusses sich eine Zigarre anzustecken, angeblich mit gutem Erfolg.
Auch erzählte mir ein erfahrener Meister, der nicht mehr regelmässig
krank wurde, wenn er an einem „strengen Giesstage“ die ersten
Symptome des Giessfiebers bemerke, so trinke er mehrere Tassen
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Das Giessfieber und seine Bekämpfung.
397
Bärentraubenblättertee mit dem Erfolg, dass sich das Giessfieber wohl
in leichter Form einstelle, aber während er früher am andern Tage
Kopfweh und trüben, dunklen, ganz graubraunen Urin gehabt habe,
sei er jetzt nach Genuss des Tees am andern Tage immer frisch und
munter, habe nie Kopfweh und entleere reichlichen klaren Urin. „Die
ganze Krankheit gehe mit dem Urin weg. u
Experimentelle Untersuchungen.
Wenn wir die gesamte Literatur und die Angaben aus der
Praxis über die Frage des Giessfiebers, wie sie hier niedergelegt
sind, überblicken, so herrscht in vielen Punkten noch grosse Unklar¬
heit und Uneinigkeit. Es ist die Symptomatologie noch nicht mit
genügender Schärfe präzisiert, es ist von sämtlichen Autoren (mit
Ausnahme von Czajkowski) vermieden, sich über den Verlauf des
Fiebers zu äussern. Ja, es erscheint mir die Frage, die zunächst zu
untersuchen ist, wohl berechtigt, ob es sich denn beim Giessfieber
wirklich um eine fieberhafte, raalariaartige Erkrankung handelt, um
so mehr, als in der ganzen Toxikologie, wenigstens so weit mir be¬
kannt ist, keine einzige analoge Erscheinung sich findet, ferner, wenn
eine solche Fieberattacke vorkommt, welchen Typus die Fieber¬
kurve hat.
Weiterhin ist zu untersuchen, was das eigentliche Wesen des
Giessfiebers ist, durch welche Ursache bzw. Ursachen dasselbe her¬
vorgerufen wird. Auch in dieser Frage befinden wir uns zunächst
noch auf einem durchaus hypothetischen Gebiet.
Um zu einem Resultat über das Wesen des Giessfiebers zu
kommen, schien mir die Aufgabe dankenswert, einen Menschen, der
vor dem Guss genau beobachtet und untersucht ist, während und
nach dem Gusse zu untersuchen und zu sehen, ob im Blut oder im
Urin irgendwelche Veränderungen gefunden werden können, die auf
eine Vergiftung schliessen lassen würden. Da auch in der Sympto¬
matologie einige Punkte noch nicht ganz klar liegen, so erschien es
mir wünschenswert, zu diesen Versuchen ein solches Versuchsobjekt
zu wählen, das als absoluter Neuling als einwandsfrei zu bezeichnen
ist. Denn wenn auch bei manchen alten Giessern, die jahrelang schon
im Metallbetriebe gearbeitet haben und den verschiedensten Metall¬
intoxikationen ausgesetzt waren, die Erscheinungen des Giessfiebers
möglicherweise noch zu studieren wären, so könnten die Resultate
einer Blut- und Urinuntersuchung doch mit Recht angezweifelt werden.
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Dr. Julias Sigel,
Als ein solches geeignetes Versuchsobjekt wählte ich mich selbst. Ana¬
mnestisch hebe ich hervor, dass ich, von Infektionskrankheiten in der Kindheit
und einigen Hospitalanginen abgesehen, stets vollkommen gesund war und es
auch heute bin. Die Untersuchung des Blntes und Urins ergab in jeder Hinsicht
normale Verhältnisse. Es war weder durch die chemische Analyse, noch durch
die mikroskopische Untersuchung irgend etwas Pathologisches zu finden. Ich
setzte mich am 19. April 1905, vormittags 9y 2 Uhr, in einer bekannten Stutt¬
garter Giesserei den Dämpfen von 2 Messingtiegeln aus. Der Guss dauerte zirka
10 Minuten. Das Messing war aus reinem Blockzink und Kupfer in der Giesserei
hergestellt worden. Am selben Tage setzte ich mich in einer 2. Giesserei nach¬
mittags 1 Uhr (von 10—1 Uhr hatte ich keinerlei Abnormität an mir bemerkt)
ebenfalls den Dämpfen von 2 Messingtiegeln beim Gusse aus. Ich hebe hervor,
dass ich mich stets neben den den Dämpfen am meisten exponierten Arbeiter
stellte, um mich möglichst den natürlichen Verhältnissen anzupassen. (Im Ver¬
such fehlte bei mir allerdings die starke körperliche Anstrengung.) Nachdem ich
mich jeweils noch etwa eine halbe Stunde in der Giesserei aufgehalten hatte, um
noch lange die sich nur schwer verflüchtigenden Dämpfe zu inhalieren, ging ich
meiner gewohnten Tätigkeit nach. Die ersten Symptome, die sich schon kurze
Zeit nach dem 2. Gusse einstellten, waren Kratzen und Brennen im Hals, was
wohl als lokale Wirkung aufzufassen und daher nichts Ungewöhnliches war,
gleichzeitig stellte sich ein unangenehmer Reizhusten und ein eigentümliches,
nicht sehr starkes Stechen auf der Zunge ein. Ein spezifischer Metallgeschmack
im Munde war nicht zu konstatieren. Nach etwa 3 Stunden stellten sich grosse
Müdigkeit und Abgeschlagenheit. sowie rheumatischo Schmerzen in den Schultern
ein. Ausserdem bestand deutliche Beengung auf der Brust. Gegen Abend, etwa
um 7 Uhr, trat leichtes Frösteln auf, das sich nach einer Stunde derartig stei¬
gerte, dass ich mich zu Bett legte. Brechneigung und Verdauungsstörungen zeigten
sich nicht. Die peripheren Teile fühlten sich extrem kalt an. Die Temperatur
betrag in der Achselhöhle 35,9°. Kaum war ich im Bett, so überfiel mich ein
lebhafter Schüttelfrost mit Zähneklappern. Der Puls wurde klein, sehr beschleu¬
nigt, 120—130 in der Minute, die Atmung frequent, die Luft sehr knapp. Die
Temperatur erreichte als Maximum 37,2° in der Achselhöhle. Dazu gesellten sich
krampfartige Schmerzen in den Waden. Allmählich, nach etwa 1 J / 2 Stunden, war
der Zustand vorüber, nachdem ein mässig starker Schweissausbruch erfolgt war.
Es trat grosse Mattigkeit ein. Die Temperatur bliob 37,2°. Der Puls ging auf
90 Schläge in der Minute zurück. Ich verfiel nun in einen sehr unruhigen Schlaf
und wurde — was bei mir sonst äusserst selten ist — von lebhaften Träumen
beunruhigt. Am andern Morgen war ich, von Kopfschmerzen abgesehen, ganz
gesund. Temperatur 36,6°, Puls 84.
Die Untersuchung des während des Anfalls und nach demselben
entnommenen Blutes hatte vollkommen normale Verhältnisse ergeben.
Sowohl im frischen Präparat, wie in dem mit Triacid gefärbten waren
keinerlei Abnormitäten nachzuweisen. Auch die spektroskopische
Untersuchung ergab einen der Norm entsprechenden Befund. Kein
Kohlenoxydhämoglobin! Im etwas konzentrierten, aber klaren
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Das Giessfieber und seine Bekämpfung.
399
Urin, der sauere Reaktion zeigte, war weder Eiweiss noch Zucker
nachzuweisen. Das spezifische Gewicht betrug 1012, die Menge in
24 Stunden 1100 ccm.
Um nachzuweisen, ob irgend ein Metall in den Urin über¬
gegangen war, wurde derselbe zur Zerstörung der organischen Sub¬
stanzen mit Kaliumchlorat und Salzsäure versetzt und zur Sirup¬
konsistenz eingedampft. Nach starker Verdünnung mit destilliertem
Wasser, um den HCl-Gehalt zu vermindern, wurde in die salzsaure
Lösung unter Erwärmen frischer, gasförmiger, gut gewaschener
Schwefelwasserstoff eingeleitet. Etwa vorhandenes Kupfer oder Blei
hätte einen schwarzen, Zinn einen braunen, Arsen einen gelben, An¬
timon einen orangefarbenen Niederschlag geben müssen. Es entstand
aber nur eine leichte Trübung (S?). Der Urin wurde sodann filtriert
und das Filtrat mit so viel Natriumacetat versetzt, als erforderlich
war, um alle freie HCl zu binden. Der nunmehr ausgeschiedene ge¬
ringe weisse Niederschlag von Schwefelzink (?) wurde auf einem
kleinen Filter gesammelt, mit warmem Wasser gewaschen, dann in
verdünnter Salzsäure gelöst und aus der filtrierten Lösung nochmals
das Zink durch Schwefelwasserstoff und Natriumacetat als Schwefel¬
zink ausgefällt. Es entstand eine deutliche Opaleszenz der Lösung,
Es wurde also im Urin, falls diese Methode von Schmidt (32) als
einwandsfrei zu bezeichnen ist, Zink in allerdings nur minimalen
Spuren nachgewiesen. Kletzinsky (33) gibt an, dass Zink in allen
in Wasser, Säuren und Alkalien leicht löslichen Verbindungen rasch
ins Blut und durch dasselbe ebenso schnell in den Urin übergeht,
seine Ausscheidung ist ununterbrochen und bald beendet. Eine chro¬
nische, über die Intoxikationsfrist weit hinausreichende Toxikose, die
von einer hartnäckigen Retention des in die Konstitution der Organe
eingehenden Metallgiftes abhängt, scheint dem Zink nicht zu gebühren.
Das geglühte Zinkoxyd, das Nihilum album oder die Lana philoso-
phica gelangt jedoch als unlöslich weder ins Blut noch in den Urin.
In welcher Form Zink im Urin ausgeschieden wird, darüber spricht
sich Kletzinsky nicht aus. Die Dämpfe, die nun beim Giessen
entstehen, bestehen nach meinen Untersuchungen vorwiegend aus Zink
bzw. Zinkoxyd. Eisen und Kupfer konnte ich im Gegensatz zu der
Analyse der Kgl. Zentralstelle im Flugstaub nicht nachweisen. Ob,
wie von dieser Seite angenommen wird, viel Kupfer mit den Zink¬
dämpfen beim Giessen mitgerissen wird, möchte ich auf Grund meiner
Untersuchungen anzweifeln. Das das Zinkoxyd aber unlöslich und
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400
Dr. Julius Sigel,
von den Lungen wohl nicht resorbierbar ist, so würde mein Befund
„Zink im Urin“ von vornherein unwahrscheinlich erscheinen, wenn
nicht zwei Tatsachen doch für die Richtigkeit meiner Untersuchung
sprechen würden, nämlich:
1. der Umstand, dass auch nach der Probe von Kletzinsky
der Befund ein — allerdings schwach — positiver war. Nach KL
ging ich folgendermassen vor: Die organische Substanz wurde durch
chlorsaures Kali und Salzsäure zerstört. Die erhaltene salzsaure Lö¬
sung wurde mit Schwefelammonium im Ueberschuss versetzt und die
erhaltene grünliche, alle Erdphosphate, das event. Schwefeleisen und
das Schwefelzink einbegreifende Fällung auf analytischem Filter
gesammelt und mit heissem, schwefelammoniumhaltigem Wasser ge¬
waschen. Die gewaschene Fällung wurde noch feucht vom Filter
herab in verdünnter, erwärmter Salzsäure gelöst und die salzsaure
Lösung mit Ammoniakflüssigkeit übersättigt und erwärmt. Die ent¬
standene Trübung wurde abfiltriert und das abermalige ammoniakalische
Filtrat mit Schwefelammonium versetzt, wobei ebenfalls eine geringe,
aber deutliche Trübung durch Schwefelzink eintrat. Eine weitere
Probe des ammoniakalischen Filtrats wurde im Wasserbad verdunstet
und der weisse Rückstand mit Kobaltsolution auf freier Flamme mässig
geglüht, wobei die bekannte Reaktion von Rinnmanns Grün auftrat.
Zwei Tage nach dem Guss war der Urin zinkfrei. Sämtliche Appa¬
rate, welche zu diesen Untersuchungen nötig waren, wurden mir von
meinem Bruder, Apotheker Dr. Sigel, in liebenswürdiger Weise zur
Verfügung gestellt.
2. Weiter möchte ich den viel zu wenig berücksichtigten Um¬
stand hervorheben, dass neben dem beim Giessen sich bildenden Zink¬
oxyd bei der hohen, im Messingguss oft herrschenden Temperatur
von ca. 1000 °, bei der das Zink frei destilliert, wohl noch metallische
Zinkdämpfe entstehen, die bei der Kondensation in der Luft den sog.
Zinkstaub bilden. Es ist dies ein äusserst feines, metallisches Pulver,
das neben metallischem Zink Spuren von Zinkoxyd enthält. Der
Zinkstaub, der auch im Zinkhütten betrieb bei der Zinkdestillation
entsteht, findet sich beim Hüttenprozess in den Vorlagen bzw. den
Flugstaub-Kondensationsvorrichtungen der Destillieröfen und belästigt
daher die Zinkhüttenarbeiter nicht.
Um den Beweis zu erbringen, dass der Zinkstaub die causa
nocens ist, wären noch Tierexperimente zu machen, und zwar müssten
sowohl per os Mengen von 0,1—1,0 g Zinkstaub gegeben werden, um
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Das Giessfieber und seine Bekämpfung.
401
die Resorption vom Darm aus zu studieren, weit richtiger aber würde
es sein, die Resorption von den Lungen aus zu prüfen, und zwar
müsste zu diesem Zwecke ein Tier tracheotomiert werden und diesem
in die Trachea eine geringe Menge chemisch reinen Zinkstaubes ein¬
gespritzt werden, Versuche, wie sie nur in einem tierphysiologischen
Institut durchzuführen sind. Aber auch das Resultat dieser Unter¬
suchungen könnte angezweifelt werden, da Metalle oder Metallverbin¬
dungen in statu nascendi häufig eine ganz andere, meist intensivere
Wirkung entfalten, als reine Metalle.
Immerhin wäre es sehr verführend, aus diesen Untersuchungen
den Schluss zu ziehen: Das Giessfieber mit seinen malariaartigen
Symptomen ist gar kein Fieber, sondern eine Metall Vergiftung, und
zwar eine akute Zinkvergiftung; allein, um diesen Beweis in un-
umstösslicher Weise zu erbringen, waren noch mehr Versuche nötig.
Ich setzte mich daher noch ein zweites und drittes Mal in verschie¬
denen Giessereien den Messingdämpfen beim Giessen aus, allein, ausser
abendlichem Frösteln und Frieren und geringen Beklemmungserschei¬
nungen auf der Brust traten keine typischen Symptome mehr auf. Es
war offenbar eine gewisse Immunität (?) eingetreten. Obgleich mir
von mehreren Giessereibesitzern versichert wurde, dass sie mir alle
ev. Giessfieberkranken zur Behandlung überweisen würden, so bekam
ich doch sehr wenig Untersuchungs- bzw. Versuchsmaterial, und zwar
aus dem Grunde, weil in Stuttgarts Giessereien wegen der meist guten
Ventilation das Giessfieber nur noch in leichten Formen auftritt und
weil in kleinen Giessereien die alte Giessregel, beim Guss die Fenster
zu schliessen, aus Furcht vor dem Giessfieber, nicht eingehalten wird,
weshalb auch dort nur höchst selten schweres Giessfieber zu beob¬
achten ist.
Der zweite Fall, den ich zu meinen Versuchen benützen konnte, war ein
58jähriger Vorarbeiter einer Cannstatter Giesserei, der früher stets gesund, seit
tj Jahren ausschliesslich als Giesser verwendet wird. Derselbe bekommt fast an
jedem Giesstage — zweimal in der Woche — trotz grosser und leidlich gut venti¬
lierter Räumlichkeiten das Giessfieber, häufig sogar sehr heftig. Die Symptome
sind nach seiner Angabe folgende: Gegen Abend und oft schon nachmittags, wenn
morgens gegossen wird, stellt sich Beengung auf der Brust ein. „Das Einatmen
fallt dem Fat. schwer.“ Ausserdem treten Magenbeschwerden, Appetitlosigkeit,
Würgreiz auf, ferner süsser, unangenehmer Geschmack im Munde. Abends meist
vor dem Zubettgehen Frieren, das sich zum Schüttelfrost steigert, der meist l / 2 ,
höchstens 1 Stunde, nie länger, dauert. Wenn dann Pat. mit mehreren Decken
gut zugedeckt wird, bricht nach 1 bis 2 Stunden ein heftiger Schweiss aus, der
dem Pat. angenehm ist, da er das Ende der Krankheit bedeutet. Von 11 oder
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12 Uhr an kann Pat. gut schlafen, wenngleich die hochgradige Schweissabsonde-
rung noch länger fortdauert.
Id dieser typischen Form hat Pat. das Giessfieber am 26. und 29. April 1905
durchgemacht. Die halbstündlich in der Achselhöhle gemessene Temperatur betrug
am 26. April abends: 8y 2 Uhr 36,6 °; 9 Uhr 36,7 °, Frieren, Puls 90; 9y 2 Uhr
36,7 °, Schüttelfrost; 10 Uhr 37 IO 1 /,* Uhr 37 <>, Schweiss; 11 Uhr Schlaf. —
Am 27. April morgens 5 Uhr: 36.6 — Am 29. April abends: 9 Uhr 36,5 °,
Frieren; 9 1 / 2 Uhr 36,7 °; 10y 2 Uhr 37 °, Schweiss. — Am 30. April morgens
6 Uhr 36,5 °.
Der Urin, der am 26. April von abends 8 Uhr bis morgens 6 Uhr gesammelt
wurde, betrug 350 ccm. (An Giesstagen lässt Pat. nie mehr als 1 / 2 —V* Liter Urin
in 24 Stunden.) Er war von rotbraun-schmutziger Farbe, hatte ein spezifisches
Gewicht von 1022, reagierte sauer, war frei von Zucker, enthielt aber ®/ 4 pM. Al-
bumen nach Esbach. Im Sediment waren mikroskopisch viel Harnsäure, kein
Sanguis, ganz vereinzelte Leukozyten und hyaline Zylinder. Sodann wurden nach
den beiden genannten Methoden Spuren von Zink am 26. April naohgewiesen.
Am 27. und 28. April war der Nachturin klar, hatte ein spez. Gewicht von
1011, enthielt kein Albumen, keine Zylinder, im mikroskopischen Präparat reichlich
Harnsäure. Zink konnte auch nicht in den minimalsten Quantitäten nachgewiesen
werden, ebenso kein Blei und kein Kupfer. Am 29. April war das Giessfieber
weniger heftig als 3 Tage zuvor, doch bestand Frieren, leichter Schüttelfrost und
starker Schweissausbruch, aber, wie obige Tabelle zeigt, war keine Temperatur¬
steigerung vorhanden. Der Urin war spärlich, in 12 Stunden ca. 250 ccm, schmutzig
trüb, enthielt harnsaurc Salze, etwa y 4 pM. Albumen, keine Zylinder, kein Sac-
charura. Das spez. Gewicht betrug 1028. Zink konnte nicht nach der Probe von
Kletzinsky nachgewiesen werden.
Am nächsten Giesstago, 3. Mai 1905, war kein Giessfieber vorhanden, im
klaren Urin, der sauer reagierte, kein Albumen, kein Zink. Spez. Gewicht 1017.
Eine Schweissuntersuchung war bei der ambulanten Beobachtung nicht möglich.
Am 6. Mai hatte Pat. das Giessfieber so stark wie selten. Er hatte im Laufe eines
Tages 7 Messingtiegel ä 80 kg geschmolzen und gegossen. Von 4 Uhr nachmittags
ab — bis zu dieser Zeit dauerte der Guss — wurde er sehr elend und matt, bekam
lebhaften Reizhusten und wurde so heiser, dass er kein Wort mehr sprechen konnte.
Der Appetit fehlte vollständig. Um 8 Uhr stellte sich starkes Frieren ein. Tempe¬
ratur 37 °. Das Frösteln steigerte sich um 9 Uhr zu einem sehr heftigen Schüttel¬
frost (Temp. 37,8 °), der etwa bis 10 Uhr dauerte. Temp. 38,8 °. Um 11 Uhr
stellte sich starker Schweiss ein. Kurz darauf folgte Schlaf. In der Nacht vom
6. bis 7. Mai hatte Pat. keinen Urin gelassen (in 12 Stunden). Die im Laufe der
nächsten 20 Stunden gesammelte Menge Urin betrug 900 ccm.
Mikroskopisch: Sohr vereinzelte Leukozyten und hyaline Zylinder. Al¬
bumen +, Saccharum 0, Reaktion sauer, spez. Gew. 1012, Zink-Spuren. — Am
7. Mai w’ar Pat. wieder völlig hergestellt, ohne Kopfschmerzen. Am 8. Mai war
der Urin frei von Albumen, ebenso von Zink.
Am 10. Mai 1905 hatte Pat. wieder heftiges Giessfieber mit den bekannten Er¬
scheinungen. Temperatur: abends 8 Uhr 38°, Frieren; 9 Uhr 38,8°; 10 Uhr
39,2°, Schüttelfrost; II Uhr 39°, Schweiss. Am andern Morgen 6 Uhr 37,2°.
— Am 13. Mai 1905 ebenfalls heftiges Giessfieber. Temperatur: abends 8 Uhr
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Das Giessfieber und seine Bekämpfung.
403
38,1 °; 9 Uhr 39 °, Schüttelfrost; 10 Uhr 39,2°; 11 Uhr 38 °, Schweiss. Am andern
Morgen 6 Uhr 37,1 °, Schweiss. — Urin: Menge in 12 Stunden 450 com. Reaktion
saoer. Mikroskopisch ohne Besonderheit. Albumen-Spuren. Saccbarum 0. Zink in
deutlicher Reaktion.
Am 17. Mai 1905 Giesstag. Frieren, Frösteln, kein Fieber, höchste Tempe¬
ratur 37 °. — Am 20. Mai 1905 Frieren, Temp. 36,5 °. Pat. glaubt, die günstige
Wirkung auf das ihm in den letzten Tagen von mir verordnete Natr. bicarb. —
stündlich eine Messerspitze während des Giessens — zuschreiben zu sollen (?).
Am 27. Mai 1905 war wieder typisches Giessfieber vorhanden mit folgenden
Temperaturen: Abends 8 Uhr 36,5 °, Frieren; 9 Uhr 38 °, Schüttelfrost; 10 Uhr
38,5 °, Schweiss. Am andern Morgen 36,5 °. Urinmenge in 12 Stunden 480 ccm.
Albumen x / 2 pM. nach Esbach. Zink 0.
Was können wir aus diesem Fall für Schlüsse ziehen?
Da auch bei diesem Patienten nach dem Giessen mehrfach,
wenn auch nicht regelmässig, deutliche Spuren Zink im Drin nach¬
gewiesen werden konnten, so erscheint mir der Beweis mit genügender
Schärfe erbracht zu sein, dass wir es beim Giessfieber mit einer
akuten Zinkvergiftung zu tun haben. Die malariaartigen, bei diesem
Patienten deutlich ausgesprochenen Symptome können, wie wir weiter
ersehen, von hohem Fieber begleitet sein, doch gehört dieses Fieber
durchaus nicht zum typischen Krankheitsbild, da die charakteristischen
Symptome, Frieren, Schüttelfrost, Schweissausbruch auch ohne jede
Temperatursteigerung auftreten können. Warum in einem Fall Fieber
auftritt, im andern nicht, möchte ich mit voller Sicherheit nicht ent¬
scheiden, wahrscheinlich spielt die Menge der inhalierten Zinkdämpfe
eine Rolle.
Dass das Fieber nicht durch die Veränderungen der inneren
Organe (z. B. der Nieren) allein bedingt wird, geht schon daraus her¬
vor, dass an Tagen, wo relativ viel Albumen im Urin ausgeschieden
wurde, kein Fieber vorhanden war, während an Tagen mit hohem
Fieber nur geringe Mengen Albumen bei etwa gleicher Hamsekretion
nachzuweisen waren. Doch lässt sich kein konstantes Verhältnis
zwischen Fieber und Albuminurie bzw. Zinkausscheidung konstruieren.
Das Zink ist als causa nocens der Albuminurie anzusehen. Dies
geht mit Sicherheit daraus hervor, dass an Tagen, w’o nicht gegossen
wurde, keine Albuminurie auftrat. Es ist sogar wegen der vor¬
handenen Zylindrurie eine direkte Schädigung des Nierengewebes an¬
zunehmen. Wenn die Erscheinungen zurzeit noch als vorübergehende
anzusehen sind, so kann doch der dauernde regelmässige Reiz mit
einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu einer chronischen Nierenentzündung
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Dr. Julius Sigel,
führen. Es ist ja wohl verfehlt, aus einem einzelnen Fall allgemeine
Schlüsse zu ziehen, doch ist bei weiteren Untersuchungen über das
Giesslieber auf diesen Punkt ein besonderes Augenmerk zu richten.
In einem dritten Fall, den ich in Vaihingen a. E. zu beobachten
Gelegenheit hatte, traten nach dem Giessen unter Erscheinungen des
Giessliebers meist nur Temperatursteigerungen von y 2 —1 Grad auf.
Bei diesem Patienten, der jahrelang unter den heftigsten Giessfieber-
erscheinungcn zu leiden hatte, treten zurzeit ohne nachweisbare
Ursache nur noch leichte Symptome, wie Frieren und Appetitlosig¬
keit auf.
Aus unseren experimentellen Untersuchungen geht mit voller
Sicherheit hervor, dass das Giessfieber als Ausdruck einer akuten
Zink Vergiftung aufzufassen ist. Die Zinkhypothese wird ferner
durch die Tatsache bewiesen, dass in mehreren schon oben erwähnten
Giessereien nach Giessen von Zink, das stark überhitzt und in
Dampfform übergegangen war, heftige Anfälle von Giessfieber
beobachtet wurden. Die Schwere der Anfälle, die Höhe des Fiebers
hängt von verschiedenen Umständen ab, einmal spielen die individuelle
Disposition eine Rolle, sodann die Menge der inhalierten Dämpfe, die
Reinheit des gegossenen bzw. zu giessenden Materials, sowie die
später noch zu besprechenden hygienischen Einrichtungen. So harm¬
los, wie von manchen Seiten behauptet wird, ist die Erkrankung der
Giesser nicht, indem Störungen mannigfacher Art beobachtet werden:
Pharyngitis, Bronchitis, Gastritis, Nephritis etc.
In welcher Form bzw. in welcher Verbindung das Zink in den
Organismus eindringt, kann, ehe der Beweis durch Tierexperimente
erbracht ist, mit voller Sicherheit zurzeit nicht gesagt werden. Doch
erscheint es mir wahrscheinlich, dass es als metallisches Zink in
Form des Zinkstaubes in den Organismus kommt und zwar in statu
nascendi.
111. Die Bekämpfung des Giessfiebers.
1. Die medikamentöse Behandlung.
Im ersten und zweiten Teil dieser Arbeit haben wir die Ursachen
des Giessliebers und alle die Entstehung desselben begünstigenden
Momente zusammengestellt und haben nunmehr die Aufgabe, die
Faktoren, die den Ausbruch des Giessliebers mit seinen schädlichen
Folgen verhindern bzw. die Leiden der ausgebrochenen Krankheit zu
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Das Giessfieber und seine Bekämpfung.
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vermindern im Stande sind, hervorzuheben. Was zunächst den
letzteren Punkt anbelangt, so habe ich schon im zweiten Teil gesagt,
dass wir ein spezifisches Mittel bis heute nicht haben. Nur Milch¬
genuss vor und nach dem Giessen scheint von Wert zu sein. Nachdem
wir festgestellt hatten, dass das Giessfieber durch eine akute Zinkver¬
giftung hervorgerufen wird, war der Gedanke naheliegend, das durch
die Lungen und ev. durch den Magendarmkanal aufgenommene Zink
in unlösliche Verbindungen überzuführen, umsomehr, als wahrschein¬
lich die gute Wirkung der Milch darauf beruht, dass das in den
Organismus eingeführte Zink in das unlösliche Zinkalbuminat über¬
geführt wird. Die gerbsauren, kohlen- und phosphorsauren Ver¬
bindungen des Zinks sind ebenfalls unlöslich und so empfahl ich
mehreren Giessern doppelkohlensaures Natron als Antidot zu nehmen.
Ich verordnete am Giesstage von morgens ab stündlich eine Messer¬
spitze voll zu nehmen. Meine an einzelnen Giessern gesammelten
Erfahrungen sind nun derartige, dass in einigen Fällen eine leichte
Besserung bzw. Minderung der krankhaften Erscheinungen erzielt
w r urde. Ich erkläre mir die günstige Wirkung so, dass der Teil des
Zinks, der sonst vom Darm aus resorbiert wurde, durch das Natr.
bicarb. unschädlich gemacht wird, während auf den grösseren Teil,
der von den Lungen aus aufgenommen wird, das Natr. bic. keinen
wesentlichen Einfluss auszuüben vermag. Ein spezifisches Mittel ist
also auch das Natr. bic. nicht.
Von der Anwendung der antipyretischen Mittel, Antipyrin, Chinin,
Phenacetin habe ich keinen Erfolg gesehen.
Von internen Mitteln verdienen also Milch und Natr. bic. eine
gewisse Beachtung.
2. Die hygienischen Massnahmen.
Weit wichtiger erscheint es mir, die Massregeln zu besprechen,
die den Ausbruch des Giessfiebers verhindern sollen, mit anderen
Worten die Prophylaxe. Wir haben gesehen, dass die akute Zink¬
vergiftung durchaus nicht so unbedenklich ist, wie vielfach von Aerzten
und Praktikern angenommen wird. Da eine Immunität, wenigstens
eine angeborene, nur sehr selten ist und da bei hygienisch nicht ganz
einwandfreien Verhältnissen das Giessfieber sogar häufig ist, so haben
wir allen Grund, die Massregeln zur Bekämpfung der Krankheit recht
streng durchzuführen. Was haben wir zu tun?
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Dr. Julius Sigel,
Im zweiten Teil wurde ausführlich besprochen, dass für die Ent¬
stehung des Giessfiebers bzw. für die Schwere und Häufigkeit der
Attacken mehrere Momente in Betracht kommen, die auszuschalten
in unserer Macht liegt, während wir mit anderen das Giessfieber be¬
günstigenden Faktoren als mit Imponderabilien zu rechnen haben.
Von grosser Bedeutung ist schon die Ueberwachung des technischen
Giessercibetriebes im allgemeinen, wobei namentlich auf die Be¬
schaffenheit der Oefen und die Zusammensetzung des Schmelzgutes
zu achten ist. Wir haben weiter schon die Tatsache konstatiert, dass
Exzesse jeder Art, Alkoholabusus, Gesundheitsstörungen verschiedener
Art zum Giessfieber disponieren, dass die Hygiene des Körpers von
grosser Bedeutung ist, ferner, dass die Grösse und Höhe 'des Giess¬
raumes und die Ventilation eine hervorragende Rolle spielen.
Um eine wirksame Bekämpfung der Krankheit durchführen zu
können, sind wir, ehe wir nicht spezifische Mittel gegen das Giess¬
fieber kennen, auf drei Wege angewiesen. Wir müssen überwachen:
1. Die Technik des Giessens, speziell Oefen und Schmelzgut.
2. Den persönlichen Schutz der Arbeiter.
3. Die Giessräume und ihre Ventilationseinrichtungen.
ad. 1. Die Einrichtungen der Schmelzöfen in den Giessereien
sind, wenigstens soweit die zahlreichen von mir besuchten Giessereien
in Betracht kommen, im Grossen und Ganzen so gut, dass die ent¬
strömenden Verbrennungsgasc und die beim Schmelzen entstehende
grosse Hitze nachgewiesenermassen keine oder nur unbedeutende
Schädigungen der Arbeiter bedingen. Doch ist überall darauf zu
achten, dass die Schmelzöfen mit wirksamen Abzugsvorrichtungen für
die entweichenden Gase versehen sind. Einen Punkt möchte ich
noch besonders hervorheben, nämlich die Tatsache, dass beim Ein¬
schmelzen von Altmessing, von Spähnen unbekannter Herkunft weit
mehr Giessfieber beobachtet wird, als wenn reine Metalle gegossen
werden. Selbstverständlich können die ungeheuren Mengen von Alt¬
messing nicht als wertlos weggeworfen werden, vielmehr müssen wir
Mittel und Wege finden, die Giftigkeit der hier beim Giessen ent¬
stehenden Dämpfe zu vermindern. Ob mit dem folgenden Vorschlag
von Eulenberg (18) viel erreicht wird, kann ich nicht entscheiden.
Techniker bezweifeln es. E. empfiehlt nämlich beim Einschmelzen
von alten Metallegierungen, deren Komposition unbekannt ist, durch
Zusatz von leicht schmelzenden Silikaten, Fluoriden und Boraten eine
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Das Giessfieber und seine Bekämpfung.
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leichtflüssige Schlacke zu erzeugen, um die metallischen Dämpfe
möglichst aufzunehmen. Die abfallenden Schlacken können nach E.
sehr gut bei der Glasfabrikation verwendet werden und eine Ent¬
schädigung für diesen Zusatz liefern, man würde also durch diese
sanitäre Massregel auch dem kaufmännischen Interesse nicht in nach¬
teiliger Weise zu nahe treten.
ad. 2. Was den persönlichen Schutz der Arbeiter betrifft, so
müssen wir vor allem darauf hinwirken, dass die beim Giessen unver¬
meidliche Gasbildung in möglichst wenige Räumlichkeiten dringt und
dass nur die unbedingt notwendige Zahl von Arbeitern beim Giessen
beschäftigt wird bzw. sich während des Giessens im Giessraum aufhält.
Weiterhin sollen nur ganz gesunde, widerstandsfähige und unter
ärztlicher Kontrolle (Gewerbearzt) stehende Personen zum Giessen
herangezogen werden. Jugendliche oder weibliche Personen sind aus
den oben erwähnten Gründen nicht zu diesem Dienst zuzulassen. Es
ist darauf hinzuwirken, dass die Giesser und Schmelzer während
ihrer Beschäftigung keinen oder nur sehr wenig Alkohol zu sich
nehmen, sondern, dass ihnen, wie in der Geisslinger Metallwaren¬
fabrik, Milch und Kaffee gereicht wird. Es soll ferner den Arbeitern
reichlich Gelegenheit zum Umkleiden und Waschen gegeben werden;
in diesen Räumen, die sauber und heizbar sein müssen, sollen reich¬
lich Wasser, Seife und Handtücher vorhanden sein. An dieser Stelle
müssen auch noch einige Worte über die Schwämme und Respiratoren
gesagt werden. Die Schwämme, die meist mit Wasser oder ver¬
dünntem Essig getränkt sind, bieten einen oft ganz guten, allerdings
nicht vollkommenen Schutz; auch die übrigen Respiratoren, die meist
ungerne getragen werden, gewähren keine vollkommene Sicherheit.
Mit Masken, nach Art der Taucherkopfmasken zu arbeiten, wie
Rambousek (34) vorschlägt, lässt sich in der Praxis, wie er selbst
zugibt, aus naheliegenden Gründen nicht durchführen. Solche
Schwämme bzw. geeignete Respiratoren müssen jedenfalls in allen
Giessereien in genügender Zahl vorhanden sein und auf deren Be¬
nutzung durch die Arbeiter von Seiten des Arbeitgebers gedrungen
werden. Was die übrige Hygiene die Person des Arbeiters betreffend
aulangt, so kann nicht auf dem Weg des Gesetzes, sondern lediglich
dem der allgemeinen Belehrung vorgegangen werden. Die Arbeiter
können zu ihrem eigenen Schutz viel tun, wenn sie, wie es in der
Praxis noch viel zu wenig geschieht, den Dämpfen mehr aus dem
Weg gehen und selbst jede unnötige Rauchbildung zu verhindern
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Dr. Julius Sigel,
suchen. Eine gute Atemführung ist vorteilhaft, weiter ist es nützlich,
nach dem Guss die Tiegel zu bedecken, damit nicht noch mehr Zink¬
dämpfe in den Arbeitsraum dringen. Es muss in dieser Hinsicht
belehrend vorgegangen werden; auf die strenge Einhaltung von zu
gebenden Arbeitsordnungen ist von massgebender Seite zu sehen.
ad 3. Wichtiger noch, als die in den beiden ersten Abschnitten
aufgeführten Momente ist die Frage des Giessraumes selbst und seiner
Ventilation, was schon aus folgenden Daten hervorgeht, die ich den
Akten der Gewerbeinspektion, die mir von der Kgl. Zentralstelle für
Gewerbe und Handel in Württemberg zur Verfügung gestellt wurden,
entnehme und die sich mit meinen eigenen Beobachtungen decken.
a) In den Anlagen mit hohen, luftigen und gut ventilierten Giess¬
räumen (wo die Grundfläche des Giessraumes 100—200 qm und die
Höhe 8—12 m beträgt), kommt zwar das Giessfieber noch ab und
zu vor, jedoch selten und in den leichtesten Graden.
b) In den Anlagen mit genügend grossen und genügend ventilierten
Giessräumen (wo die Grundfläche des Giessraumes 40—100 qm und
die Höhe 4—8 m beträgt) bekommen die Arbeiter das Giessfieber
nicht regelmässig, jedoch die meisten erkranken mehrmals.
c) In den kleinen und mangelhaft ventilierten Giessräumen
(Grundfläche 6—20 qm, Höhe 2—4 m) erkranken die Arbeiter, bei
denen nicht eine baldige Gewöhnung eintritt, fast nach jedem Gusse.
Wir müssen also unser Augenmerk richten auf die allgemeine
Beschaffenheit, auf die Grösse, die Höhe und Geräumigkeit der
Giessereien, auf die Ventilation derselben, auf alle Momente, die eine
reichliche Gas- und Staubansammlung begünstigen. Aehnlich, wie in
der Zinkhüttenindustrie, sind folgende Forderungen aufzustellen:
Die Räume, in denen Zinklegierungen hergcstellt, und gegossen
werden, müssen geräumig, hoch und so eingerichtet sein, dass in
ihnen ein ausreichender Luftwechsel stattfindet. Sie müssen mit einem
ebenen und festen Fussboden versehen sein, der eine leichte Be¬
seitigung des Staubes auf feuchtem Wege gestattet. Die Wände
müssen, um eine Staubansammlung zu vermeiden, mit einem Oel-
farbenanstrich versehen bzw. abwaschbar sein. Staub, Gase, Dämpfe,
die in den Giessraum dringen, müssen, wie schon erwähnt, durch
wirksame Einrichtungen möglichst nahe der Austrittstelle abgefangen
und zum Giessraum hinausgeführt werden. Im Giessraum selbst soll
während des Giessens keine andere Arbeit geleistet werden. In
grossen Giessereien ist die Konzentration der Dämpfe meist nicht
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Das Giessfieber und seine Bekämpfung.
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mehr so stark, um heftiges Giessfieber zu erzeugen, auch wenn nur
natürliche Ventilation vorhanden ist. In den meisten Giessereien ge¬
nügt aber einfache Ventilation nicht, vielmehr müssen zur Verhütung
des Giessfiebers künstliche Ventilationsanlagen gemacht werden. Um
die Dämpfe vom Giesstiegel direkt abzusaugen, ist, wie Roth in
seinem Kompendium schreibt, neuerdings ein Apparat von W. Lyn es
in Birmingham konstruiert worden. Die Einrichtung hat den
praktischen Vorteil, dass eine Menge von Zinkoxyd, die sonst als
Dampf verloren geht, in dem Absaugerohr kondensiert und gesammelt
wird.
In der Messinggiesserei des Feuerwerkslaboratoriums in Spandau
sind zur Beseitigung der Zinkdämpfe Absaugleitungen mit innen ein¬
gebauten elektrisch betriebenen Ventilatoren angebracht. Die Leitungen
können teleskopartig auseinander und zusammengeschoben werden, sie
sind ausserdem drehbar und je nach Bedarf nach allen Punkten ver¬
schiebbar. Sie dienen einerseits als A bsaugetrichter an jeder Stelle
des Giessraumes und sie können andererseits, wenn sie nicht im Ge¬
brauch sind, soweit zur Seite gerückt werden, dass sie andere Arbeiten
nicht behindern. (Roth). In der Giesserei von Andrä-Stuttgart hat
sich ein hoher Luftschacht, der direkt über dem Schmelzofen ange¬
bracht ist, sehr gut bewährt, während den grossen Werken von
Wieland in Ulm eine Lüftungseinrichtung von Schreider-Feuerbach
gute Dienste getan hat. Die genaue Beschreibung derselben findet
sich in den Jahresberichten der Gewerbeaufsichtsbeamten in Württem¬
berg 1903, S. 126. Ich habe mit dem Ingenieur Herrn Georg Schreider
in Feuerbach wegen geeigneter Ventilationsanlagen gesprochen. Der¬
selbe hält auch in alten Giessereien noch die Anbringung von
Ventilationseinrichtungen, die einen 40—50 maligen Luftwechsel in
der Stunde gestatten, ohne dass Zug entsteht, für technisch durch¬
führbar und zwar angeblich ohne zu grosse Kosten. Es werden nach
dem System Schreider, das sich streng den jeweiligen Anlagen an¬
passt, die entstehenden Dämpfe direkt abgeleitet, teilweise so, dass
die Berührung der Arbeiter mit den Dämpfen eine minimale ist bzw.
diese ganz aufgehoben wird.
Wenn wir nun gefunden haben, dass das Hauptmittel zur Be¬
kämpfung des Giessfiebers die hygienischen Einrichtungen und Mass-
regeln sind und unter diesen wieder die Grösse und Ventilation der
Giessräume die Hauptrolle spielen, so glauben wir die Forderung aus¬
sprechen zu dürfen, dass bei allen Neuanlagen von Giessereien die
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staatliche Konzession nur gegeben werden soll, wenn die Grösse des
Giessraumes und die Ventilation derselben allen Anforderungen der
Hygiene nach den oben ausgeführten Bedingungen entsprechen, dass
weiter in allen kleineren und kleinen Giessereien eine Revision der
Ventilationsanlagen vorgenoraraen wird. Die Häufigkeit des Giess¬
fiebers und die Häufigkeit der einzelnen Anfälle in den kleinen
Giessereien steht meist in umgekehrt proportionalem Verhältnis zur
Güte und Leistungsfähigkeit der Ventilationseinrichtungen. In diesem
Punkt kann noch viel Vollkommeneres geleistet werden, von der
Regierung, wenn sie in gesetzgeberischer Weise vorgeht, vom Arbeit¬
geber, wenn er die notwendigen Ventilationsanlagen so vollkommen
als möglich nach den neuesten Errungenschaften der Technik ein-
richtet, schliesslich vom Arbeiter selbst, wenn er sich streng an die
ihm zu gebenden Vorschriften hält.
Resume.
1. Das Giessfieber ist als der Ausdruck einer akuten Zink Ver¬
giftung aufzufassen.
2. Die Symptome, die meist erst mehrere Stunden nach dem
Giessen auftreten, sind: Kratzen im Hals, Husten und Hustenreiz,
süsser oder Metallgcschmack im Mund, Müdigkeit, Abgeschlagenheit,
Muskelschmerzen und Krämpfe, Appetitlosigkeit, Würgreiz, in seltenen
Fällen Erbrechen, Asthma, Beklemmung auf der Brust, Frieren, das
sich oft zum Schüttelfrost steigert, Herzklopfen, profuser Schweiss¬
ausbruch in kritischer Weise.
Das Fieber, das meist nur w r enige Stunden anhält, bewegt sich
meist in mässigen Grenzen (38—39°), doch können die typischen
Symptome auch ohne jegliche Temperatursteigerung auftreten. Be¬
sonders charakteristisch ist die Luftbeengung, das Frieren, der Schüttel¬
frost und der extrem starke Schweissausbruch.
Die Krankheit dauert 5—20 Stunden, selten länger.
3. Das Giessficber kommt fast nur in Messinggiessereien, sowie
in Giessereien, in denen Zink rein oder mit entsprechenden Legierungen
zusammengegossen wird, vor. Beim Giessen bzw. Schmelzen von
reinem Zink kommt Giessfieber nur vor, wenn das Zink stark über¬
hitzt bzw. zum Dampfen gebracht wird. Arbeiter in Eisengiessereien,
Rorgiesser usw. erkranken nicht.
4. Eine angeborene Immunität gegen das Giessfieber ist, wenn
überhaupt eine solche vorkommt, sehr selten.
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Das Giessfieber und seine Bekämpfung.
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5. Eine Gewöhnung, ein Unempfindlichwerden tritt bei ca. 70 bis
75 pCt. der Arbeiter ein, weitere 20—25 pCt. erkranken mehr oder
weniger regelmässig, aber meist nicht sehr stark; nur in seltenen
Fällen treten die Anfälle dauernd so heftig auf, dass ein Wechsel des
Berufes nötig ist.
6. Die Art der Legierung ist von grossem Einfluss; je zinkhaltiger
die Legierung ist, um so grösser ist die Neigung zum Giessfieber.
Giessen von Messing unbekannter Komposition gilt als gefährlich.
7. Bei schlechtem und kaltem Wetter, ebenso im Winter ist
Giessfieber häufiger, als im Sommer und an schönen Tagen.
8. Ungünstig wirken Exzesse in Venere et in Baccho, ausserdem
sind schwächliche und jugendliche Individuen mehr zum Giessfieber
geneigt, als ganz gesunde und kräftige Personen.
9. In grossen Giessereien mit guter Ventilation ist Giessfieber
seltener, als in kleinen schlecht ventilierten Räumen. Vorsichts-
massregeln, Schwämme, Respiratoren usw. haben einen bedingten
Wert, werden aber im allgemeinen wenig und nicht sehr gerne an¬
gewendet.
10. Der einzelne Anfall ist an und für sich ungefährlich, jedoch
ist die Summation der Reize für den Organismus nicht ganz unbe¬
denklich (chronische Lungen- und Verdauungsstörungen, Nicren-
krankheiten!).
11. Eine spezifische medikamentöse Behandlung gibt es bis heute
nicht; Natr. bicarb. und Milch wirken in einzelnen Fällen günstig.
12. Um eine wirksame Bekämpfung durchzuführen, ist:
a) die Uebcrwachung des technischen Gicssbetricbs durch die
Gewerbeinspektion, die von einem Arzt unterstützt sein muss, nötig;
b) der persönliche Schutz der in Giessereien beschäftigten Arbeiter
eventuell auf legislatorischem Weg in der oben angedeuteten Weise zu
kontrollieren;
c) sind die allgemein hygienischen Einrichtungen der Giessereien,
speziell ihre Vcntilationsanlagcn zu überwachen.
Literatur.
1) Thakrah sb. Grcenhow, Brass-founders ague. Medio.-chirurg. Transact.
1862. p. 178.
2) Blandet, Annales d’hygieno et de m6d. 16g. Vol. XXXIII. p. 462.
3) Annales d’hygieno et de med. 16g. Vol XXXIV. p. 222.
Vierteljahrs8clirift f. ger. Med. u. San.-Weseo. 3. Folge. XXXII. 2. 27
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412
Dr. Julius Sigel, Das Giessfieber und seine Bekämpfung.
4) Greenhow, Med. chir. Transact. 1862. p. 180.
5) Derselbe, The medic. Times and Gazette. 1862. p. 227.
6) Schnitzer, Preussische mediz. Zeitung. 1862. S. 198.
7) Derselbe, Pharmaz. Zentralhalle. 1862. No. 55. S. 457.
8) Hirt, Krankheiten der Arbeiter. 1871. Bd. I. 1. Abteilg. S. 168.
9) Eulenberg, Gewerbehygiene. 1876. S. 720.
10) Simon, Remarks on brass workers’ diseases. The British medical Journal.
1887. p. 887.
11) Hogben, Birmingham med. Review 1887. Ref. in Vierteljahrsschr. für ger.
Med. 1888. S. 366.
12) Czajkowski, Josef, Berufskrankheiten, Zinkvergiftung. Gaz. lek. 21. 22. 24.
Ref. in Virch. Hirsch Jahresb. 1893. Bd. I. S. 575.
13) Villaret, Gesundheitsschädl. Einflüsse beim Gewerbebetriebe in Albrechts
Handbuch der Gewerbehyg. 18%. S. 114.
14) Rubner, Lehrbuch der Hyg. 1903. S. 739.
15) Heinzerling, Handbuch der Hyg. Bd. 8. S. 755.
16) Plügge, Grundriss der Hyg. 1897. S. 482.
17) Hohmann, G., Studie über das Giessfieber. Würzburg 1903. S. 26. Diss.
18) Roth, Kompend. der Gewerbekrankheiten. 1904. S. 37.
19) Seiffert, Die Erkrankungen der Zinkhüttenarbeiter. Vierteljahrsschr. für
öffentl. Gesundheitspfl. 1897. S. 424.
20) Nothnagel, Spez. Path. u. Ther. Bd. 1. S. 121. (Gewerbl. Verg.)
21) Muspratts Chemie. S. 2010.
22) Jahresber. der Gewerbeaufsichtsbeamten in Württemberg. 1903. S. 122 (und
Akten der Gewerbeinspektion).
23) v. Jaksch, Vergiftungen. 1897. S. 184.
24) Tracinski, Deutsche Vierteljahrsschr. für öffentl. Gesundheitspfl. 20. 58.
1888.
25) Kunkel, Spez. Toxik. I. 1899. S. 168.
26) Arbeiten aus dem Kaiserl. Gesundheitsamt. 1900. S. 443. Wutzdorff, Die
im Zinkhüttenbetrieb beobachteten Gesundheitsstörungen.
27) A. Houles und de Pietra Santa, Die Wirkung des Kupfers auf den
Organismus. Berg- u. Hüttenm. Zeitung. 1884. S. 129.
28) Sommerfeld, Handbuoh der Gewerbekrankheiten. 189S.
29) Hirt, Krankheiten der Arbeiter. S. 165/66.
30) Pop off, Berliner klin. Wochenschrift. 1873. S. 49.
31) Schlockow, Deutsche med. Wochenschr. 1879. No. 17 u. 18.
32) Schmidt, Lehrbuch der pharm. Chemie. 1893. S. 707.
33) Kletzinsky, Wiener med. Wochenschrift. 1858. S. 22.
34) Kambousek, Zeitschrift für Gewerbehygiene. 1902. S. 149.
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8 .
Untersuchungen über die Verunreinigung der Leine
durch die Abwässer der Stadt Güttingen und ihre
Selbstreinigung, ausgeführt im Sommer 1904.
Von
Dr. Th. Frieke, Göttingen.
Bei ihrem Eintritt in das Göttinger Stadtgebiet hat die Leine
einen etwa 100 km langen Weg zurückgelegt. Neben organischen
Bestandteilen hat sie bedeutende Mengen anorganischer Substanzen,
im besonderen Kalk aufgenommen. Grössere Industriezentren mit
ihren zum Teil schädlichen Abwässern hat sie dagegen nicht passiert.
Etwa 1500 m oberhalb Göttingens (Entnahmestelle I der Tabellen)
teilt sich die Leine: während die sogenannte Freileine über ein Wehr
fällt und hier der Universitätsbadeanstalt das Wasser liefert, späterhin
die eigentliche Stadt westwärts umkreisend, durchschneidet der Kanal
mit im Ganzen geringem Gefälle die Strassen der inneren Stadt und
wird mit und ohne Erlaubnis in mannigfaltigster Weise verschmutzt.
Wenngleich einige Gerbereien, Färbereien, eine Seifensiederei, ein
Schlachthaus, Gasanstalt, zwei Bierbrauereien usw. ihre Abwässer dem
Kanal (zum geringsten Teil auch der Freileine) zukommen lassen, so
wird man doch wohl in der Annahme nicht fehlgehen, dass die Haupt¬
schuld an der Verunreinigung den Haushaltungen zuzuschreiben ist
— und zwar umsomehr, als seit einer Reihe von Jahren die Zahl der
Spülklosetts erheblich gestiegen ist. Im November 1904 waren nach
Angabe des städtischen Bauamts mit Spülklosetts versehen 445 Grund¬
stücke; auf diesen wohnen nach Berechnung des Verfassers 6000
Menschen, welche (nach Rubner) täglich in Harn und Kot 372 kg
organischer Trockensubstanz liefern werden.
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Dr. Th. Fricke,
Nachdem beide Flussarme, sowohl die Freileine wie der Kanal
etwa 1 km durch unbewohntes Gelände geflossen sind, mischt sich
unterhalb der Maschmühle das grauschwarze Wasser des Kanals mit
dem ziemlich klaren Wasser der Freileine; da sie unter rascher
Strömung aufeinander treffen, ist ihre Mischung nach kürzester Zeit
vollendet, mindestens aber bei der Levinschen Eisenbahnbrücke
(No. II der Tab.), die etwa 60 m unterhalb des Zusammenflusses
die Leine überschreitet. Wieder 60 m weiter mündet von rechts her
das Hauptsiel (No. III der Tab.). Dieses hat soeben die Kläranlage
passiert, in der in sehr vollkommener Weise alle Bestandteile über
5 mm Grösse zurückgehalten werden. Da nur diejenigen Häuser¬
gruppen direkt in den Kanal oder die Freileine entwässern, die an
das Hauptsiel aus lokalen Gründen nicht angeschlossen werden
konnten, bringt das Hauptsiel bei weitem die Hauptmenge der
städtischen Abwässer (nach Ermittelung des Stadtbauamts im Jahre
1901 in 24 Stunden 1600 cbm, in einer Sekunde 110 Liter; pro
Kopf und Tag 54 Liter). Unterhalb des Sieles erreicht nun die Ver¬
unreinigung der Leine ihren höchsten Grad. Das Wasser ist schmutzig¬
grau, und die Uferböschung überzogen von einer grauen Schmutz¬
schicht. Aber dieses unerfreuliche Bild macht schon nach kürzester
Zeit einem freundlicheren Platz; schon dort, wo — 300 m ab¬
wärts — die Leine das Lutter-Bächlein (No. VI), das nur wenige
Sekundcnlitcr klaren Wassers liefert, aufnimmt, ist das Ufer wieder
grün von Algen und Gräsern, und das Wasser erheblich weniger
trübe. Die Besserung macht dann langsame Fortschritte, wird aber
— an Alltagen wenigstens — häufig wieder arg beeinträchtigt durch
den Einfluss der Grone (No. IX), die die Abwässer des Dorfes Grone,
einer Saline und besonders der recht bedeutenden Levinschen Tuch¬
fabrik bringt: sie vermag die Leine mehrere Kilometer mit ihrer spezi¬
fischen Farbe zu färben. An Feiertagen ist die Grone dagegen klar; sie
wird selbst in diesem überaus trockenen Sommer mindestens 100 Sc-
kundenliter geliefert haben. Liess das Leinebett bis hierher das sorg¬
fältig korrigierende Eingreifen des Städtischen Bauamtes erkennen, so
nimmt sie von jetzt ab ein zwar landschaftlich schöneres, aber gleich¬
zeitig unregelmässiges Aussehen an. Die Ufer der sich mehrfach win¬
denden Leine sind streckenweise von alten Weiden bewachsen, die ihre
Zweige bis in das Wasser hängen lassen, und hier und da bilden sich
Inseln von Treibholz usw. Gegen Bovenden hin wird der • Lauf
wieder gerade und die Ufer kahl. Ohne Aufnahme von Zuflüssen wird
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Untersuchungen über die Verunreinigung der Leine usw.
415
Bovendens Hauptbrücke nach dem Dorfe Lenglem (No. XI), dann die
nach Parensen führende Holzbrücke (No. XII) passiert.
Etwa 8 km unterhalb des Hauptsiels mündet die Harste und
bald darauf die Espolde auf der linken Seite, auf der rechten die
Weende: in diese entwässert nicht nur das gleichnamige Dorf, sondern
auch Bovenden und Angerstein, woraus sich erklärt, dass die Leine
von der Lutter bis zur Weende keinen einzigen nennenswerten Zufluss
von rechts her empfängt.
Nach Aufnahme einiger anderer Bäche geringerer Bedeutung
erreicht die Leine endlich die Northeim mit Höckelheim verbindende
Brücke: an diesem Punkte (No. XVI der Tab.) sind die letzten
Proben für bakteriologische Untersuchungen entnommen; er liegt etwa
20 km unterhalb der Sielmündung.
Das Gefälle der Leine unterliegt selbstverständlich den grössten
Schwankungen; sie entspringt bei Leinefclde in einer Höhe von etwas
über 300 Metern; bei der Göttinger Universitätsbadeanstalt (I) liegt
sie 148 m über dem Meeresspiegel, fällt bis zur Wiedervereinigung ihrer
Arme (No. II) um 4 m und bis zur Holzbrücke Bovenden-Parensen
um weitere 10 m; bei der Brücke Northeim-Höckelheim ist sie bei
einer Höhe von 114 m angelangt, ist also auf der in vorliegender
Arbeit berücksichtigten Strecke (No. I bis No. XVI), deren Länge
etwa 25 km beträgt, um 34 m, d. h. um 1,36 pro km gefallen. Darf
man also das Gefälle nicht als stark bezeichnen, und wird es sogar
stellenweise sehr gering (z. B. bei No. I und VHI), so erreicht es an
den Stellen, an denen seine Stärke erwünscht bzw. notwendig ist,
höhere Grade; dass die Vereinigung von Freileine und Kanal sich
unter beiderseitiger starker Strömung vollzieht, wurde bereits erwähnt.
Besonders wichtig ist, dass die Strömungsgeschwindigkeit der
Leine da, wo sie die Sielwässer empfängt, nach Ermittelung städtischer-
seits je nach dem Wasserstande schwankt zwischen 1,053 m und
1,818 m in der Sekunde, während für die Strömung im Siel als ge¬
ringster Wert 0,629 und als höchster 0,705 angegeben wird; es ver¬
hielt sich also die Geschwindigkeit wie 1: 1,6 im ungünstigsten, wie
1 : 2,8 im günstigsten Falle. Das Massenverhältnis zwischen Abwasser
und Vorfluter war 1 : 50,4 und stieg einmal sogar auf 1:173.
Versuchs anordnung.
Es war beabsichtigt, den Zustand der Leine oberhalb der Stadt
(No. I) bakteriologisch und — soweit die Zeit das zuiiess — auch
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Dr. Th. Fricke,
chemisch festzustellen; sodann die im Stadtgebiete erfolgenden Ver¬
unreinigungen in qualitativer und quantitativer Hinsicht zu prüfen; end¬
lich den höchsten Grad der tatsächlich eingetretenen Verschmutzung
des Flusslaufes und seine etwa erfolgende Selbstreinigung nachzu¬
weisen. Zu diesem Zwecke wurden in den Monaten Juli, August und
September d. J. Proben entnommen und zwar je ein Liter für die
chemischen Untersuchungen.
Für die bakteriologischen Proben wurden an den ausgewählten
Stellen je drei bzw. vier Paare von Proben in sterilen Reagenzröhrchen
entnommen, nämlich links und rechts, oben und — wo angängig —
auch in der Tiefe (etwa 25 cm über dem Grunde): in letzterem Falle
mit Abschlagsröhrchen dort, wo eine Brücke ihre Benutzung ermög¬
lichte; war keine solche vorhanden, so wurde ein mit Watte in ge¬
wöhnlicher Weise verschlossenes steriles Reagenzröhrchen an einer
langen Stange in der Flussmitte vorsichtig bis auf den Grund geführt;
mit Hilfe eines Fadens, der durch einen Angelhaken an dem Watte¬
bausch befestigt war, wurde dann das Röhrchen geöffnet; nachdem
es sich gefüllt hatte und heraufgezogen war, wurde es mit einem
andern bereit gehaltenen sterilen Wattebausch geschlossen. Dass
dieses Verfahren, nach dem am 4. September die Proben „Mitte
unten“ bei No. IV, V, VII u. VIII entnommen wurden, bei der nötigen
Vorsicht brauchbare Resultate liefert, scheinen mir die ermittelten
Zahlen zu beweisen. Die Proberöhrchen wurden sofort in Eis ge¬
bracht und noch selbigen Tages 1—5 Stunden nach der Entnahme
verarbeitet. Die angewandten Verdünnungen schwankten zwischen
1:10 (Lutter) und 0,3:600 (bzw. 1:2000) (Siel); von der Ver¬
dünnung wurde y 2 ccm (beim Siel 0,1—0,3) in eine Petrischale ge¬
bracht und dann Gelatine darüber gegossen.
In den überaus heissen Tagen des Juli und August mussten die
Schalen zunächst auf Eis gestellt werdon, da sie sonst zu langsam
oder überhaupt nicht erstarrten. Unter sorgfältigster Beobachtung
blieben sie dann so lange stehen, bis die auftretende Verflüssigung
die Keimzählung zu beeinträchtigen drohte; dann wurden entsprechend
der Reihenfolge und der Zeitdifferenz bei der Aussaat die Schalen
Formoldämpfen ausgesetzt und die Kolonien entweder sofort oder
nach Aufbewahrung im Eisschranke oder doch an kühlem Platze ge¬
zählt. Bei den Versuchen im Juli und August dauerte so die gewährte
Inkubationszeit zwei, im September genau vier Tage. Stets habe ich die
angelegten Kulturen unter möglichst gleichen Bedingungen auf bewahrt.
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Untersuchungen über die Verunreinigung der Leine usw.
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Zur Bestimmung des Rückstandes würden 200 ccm Wasser in
einer Platinschale eingedunstet, im Toluolapparatc bei etwa 106° C.
getrocknet und nach genau einstündigem Abkühlcn im Exsikkator ge¬
wogen. Der Gesaratrcst der Probe, etwa 800 ccm, wurde nun nach
kräftigem Schütteln durch ein getrocknetes und gewogenes Filter ge¬
schickt zur Ermittelung der Schwebestoffe. Es folgte die Bestimmung
des Kalipermanganatverbrauches. Das Chlor endlich wurde durch
Titrieren mit Höllensteinlösung ermittelt, von der 1 ccm einem Milli¬
gramm Chlor entspricht. Andere chemische Substanzen zu bestimmen
war mir leider nicht möglich. Die freundliche Erlaubnis des Herrn
Professor von Esmarch, das Gutachten zu benutzen, welches Herr
Professor Wolffhügel 1895 zur Empfehlung von Spülklosetts er¬
stattet hat, ermöglicht es, diese Lücke auszufüllen; die damals auf¬
gestellten Tabellen finden sich in der Anlage wieder.
Ergeben nun die angestcllten Untersuchungen ein Bild, das die
Selbstreinigung der Leine beweist? Ohne Zweifel! Schon ein Blick
auf den Fluss selbst ergibt das. Dass der Leinekanal auf seinem
Wege durch die Stadt eine grau-schwarze Farbe angenommen hat,
dass das Wasser des wiedervereinigten Flusses durch die Einnlündung
des Hauptsieles noch beträchtlich mehr verunreinigt wird, so dass
sogar die Ufer von einer dicken Schmutzschicht überzogen werden,
die in ihrem Bereiche kein Gras und dergl. duldet, wurde bereits er¬
wähnt; bei der Lutter (VI) schon, besonders aber beim Eselsstiege
(X) ist — wenn die Grone mit ihren Färberei-Abwässern nicht hin¬
dernd eingreift — eine sehr deutliche Besserung bemerkbar. Bei der
Bovcnder Hauptbrückc (No. XI) ist die Leine ein äusscrlich reiner
Fluss, und oberhalb der Harste (No. XII) wetteifert ihr über festen
Kiesboden dahinströmendes Wasser mit dem einer Quelle an absoluter
Klarheit.
Dem entspricht der experimentelle Befund: Nach Tabelle VIII
verschwinden zuerst wieder die Schwebestoffe; sic haben bereits am
Esclsstiegc (No. X) einen Wert erreicht, der niedriger ist als der
oberhalb der Stadt; Salpetersäure (Tab. IX) und Salpetrige Säure
(Tab. X) erreichen die Anfangsreinheit beim Eselsstieg; geringer, aber
durchaus deutlich, ist das Schwinden des Ammoniak (Tab. XI). Un¬
vollkommen ist — wenigstens nach den vorliegenden Beobachtungen
— das Verschwinden der Schwefelsäure (Tab. XII) und des Chlors
(Tab. V); vermutlich würde eine Untersuchung des Leinewassers ober¬
halb der Harste günstigere Resultate gegeben haben. Nach dem Aus-
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Dr. Th. Fricke,
sehen der unmittelbar oberhalb der Weende einmündenden Bäche, der
Harste und der Espolde, ist anzunehmen, dass diese die Leine in
ziemlich erheblichem Masse verunreinigen; diese Lücke in den Unter¬
suchungen auszufüllen behalte ich mir für spätere Zeit vor. Günstigere
Resultate — im Sinne der Selbstreinigung — liefert die Feststellung
der Oxydierbarkeit (Tab. VII): der Permanganatverbrauch sank von
12,0 bei No. IV (d. h. 25 m unterhalb des Sieles) auf 8,0 bei No. XI
(Hauptbrücke Bovenden); also in 4 km Flusslauf um ein Drittel und
blieb nur 1,2 mg über dem oberhalb gefundenen Werte. Der Trocken¬
rückstand endlich ging von 613 mg (bei No. IV) nach 8 km Flusslauf
ganz stetig auf 560 mg und damit den Anfangswert (558 mg) zurück.
Die Härte ist in vorliegender Untersuchungsreihe deswegen un¬
berücksichtigt gelassen, weil die Leine an sich einen solch hohen
Grad derselben aufweist, dass die Verunreinigung der Stadt nicht
wesentlich in Betracht kommt.
So gross die Bedeutung der Selbstreinigung von chemischen Ver¬
unreinigungen für die Industrie, eventuell auch die Landwirtschaft, ist,
so beansprucht doch vom hygienischen Standpunkte aus die grösste
Berücksichtigung das Verhalten der Bakterien, und es gewährt eine
grosse Beruhigung zu sehen, wie schnell die Zahl derselben zurück¬
geht. Dieses zeigen sowohl die Einzeltabellen, wie besonders die
Uebersichtstabelle. Bei den ersten zeigen sich allerdings in der
Zahlenreihe bei IV, V, Vn einige Unebenheiten; so übertrifft in der
Untersuchung vom 31. Juli die Keimzahl bei VII die bei No. V; am
14. August ergab die Zählung bei V mehr Keime als bei IV; am
4. September endlich übertrafen No. V und VI No. IV an Keim¬
reichtum. Diese Differenzen darf man jedoch wohl als im Bereich
der Fehlergrenze liegend erachten. Will man aber, hiervon absehend,
nach einer Erklärung suchen, so kann man heranziehen, dass IV und
V nur etwa 250 m, V und VII nur etwa 50 m auseinander liegen,
dass ferner die Lutter zu unbedeutend ist, um irgend wie aus¬
schlaggebend zu sein, und dass endlich an dieser Stelle mehrfach
starke Wirbel entstehen, die in ihrem Bereiche mehr oder weniger
ihre eignen Verhältnisse schaffen werden. Dass das Resultat, d. h.
die schnelle Selbstreinigung auf bakteriologischem Gebiete eine unum-
stössliche Tatsache ist, geht daraus hervor, dass jede einzelne in der
Generaltabeile aufgeführte Untersuchungsreihe, sofern sie dem Leine-
laufe weit genug folgte, mit voller Deutlichkeit dasselbe Resultat gibt.
Der Rückgang der Keimzahl auf die Zahl, wie sie oborhalb der Stadt
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31. Juli 1904. Tabelle
Untersuchungen über die Verunreinigung der Leine usw.
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14. August 1904. Tabelle II.
September 1904. Tabelle III.
Untersuchungen über die Verunreinigung der Leine usw. 421
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Gck igle
Original frnm
UMIVERSITY OF IOWA
[ ) Die Ziffern geben die Zahl der Keime im Kubikzentimeter Wasser an.
Aus dem Gutachten des Herrn Professor
Eigene Untersuchungen. Wolffhügel, betr. Zulassung von Spülklosetts,
erstattet 1885.
422
Dr. Th. Fricke,
zirka fin
Entfernung vom Siel 4000 m ^ 0,0 m
oberh.
Probe-
Entnahme
III. Siel.
Keimzahl
280 m 300 m 325 m
1904
I. 31. 7. 5700 5933 6 400000 250554
II. 14. 8. 3270 4960 2 517500 126400
III. 31. 8. — — — —
(Vor¬
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14. 3.
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—
IV.
6. 5.
3100
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460800
—
16220
—
V.
21. 5.
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113792
—
13308
—
VI.
6. 6.
—
—
—
—
—
—
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536000
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27. 9.
2300
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264000
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—
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24300
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—
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—
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112417 ] 2510 126300
156545 ! 4720 83800
100400 2950 100475
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Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Untersuchungen über die Verunreinigung der Leine usw.
423
(in Kubikzentimeter). Tabelle IV.
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1300 m
1530 m
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—
4524
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Original frnm
UMIVERSITY OF IOWA
424
Dr. Th. Fricke,
Eigene Untersuchungen.
Nach Einführung der Spül¬
klosetts.
Aus dom Gutachten Professor Wolff-
hügels (Untersuchungen von Prof.
F. Fischer und Dr. Kalb). Vor Ein¬
führung der Spülklosetts.
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Untersuchungen über die Verunreinigung der Leine usw. 425
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Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
426
Dr. Th. Fricke,
Kigeno Untersuchungen.
Nach Kinführung der
Spül-Klosetts.
Aus dom Gutachten Professor Wolff-
hügols (Untersuchungen von Professor
P. Fischer und Dr. Kalb). Vor Ein¬
führung der Spül-Klosetts.
Entfernung vom
Siel in Metern
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Untersuchungen über die Verunreinigung der Leine usw. 427
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UMIVERSITY OF IOWA
428
Dr. Th. Fricke,
Aus Professor Wo 1 f f h ü g e 18 G utachten.
(Untersuchungen von Prof. F. Fischer
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UMIVERSITY OF IOWA
Untersuchungen über die Verunreinigung der Leine usw,
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beobachtet wurde, ist um so bemerkenswerter, als naturgemäss die
Probe oberhalb der Stadt am Vormittage (meine eigene gegen 7y 2 Uhr),
die weiter stromabwärts entnommene an Tagesstunden entnommen
werden, an denen nicht nur die Luft, sondern auch das Wasser be¬
trächtlich wärmer ist; so betrug die Wassertemperatur am 31. Juli d. J.:
bei No. I (vorm, Uhr).13° C.
n „ II ( „ 11 „ ).17° C.
„ „ XI (nachm. 2 2 ° „ ) 19° C.
„ „ XVI Northeim-IIöckelhcim (abends ö^Uhr) 19° C.
und am 14. August:
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430 Dr. Th. Fricke, Untersuchungen über die Verunreinigung der Leine usw.
bei No. I (vorm. 7% Uhr).14° C.
„ „ n ( „ ii „ ).i5" c.
„ „ Vffl ( „ 11«» „ ).. . 15,5» C.
„ „ XI (nachm. I 80 „ ).15° C.
„ Northeim-Höckelheim (nachm. 6 Uhr) . . . 17° C.
Am 4. September stieg die Wassertemperatur nur um 1°: von
14,5° C auf 15,5° C.
Auf Grund der angeführten Beobachtungen komme ich zu dem
Schluss: Die Leine gewinnt den früheren Grad der Reinheit wieder
in Hinsicht auf Schwebestoffe, Salpetersäure und salpetrige Säure
1,5 km unterhalb des Sieles; betr. Trockenrückstandes 4—8,75 km,
betr. Ammoniak 8,75 km und betr. Bakterien 20 km unterhalb
desselben.
In bezug auf Oxydierbarkeit, Schwefelsäure und Chlor wird in
dem berücksichtigten Gebiete der alte Grad der Reinheit nicht ganz
wiedercrlangt; indes war auch in diesen Punkten eine Besserung
deutlich erkennbar.
Wie bereits erwähnt, hat Herr Professor Wolffhügel im Jahre
1895 im Aufträge der Stadt Göttingen die Leine daraufhin untersucht,
ob sie im Stande sein würde, die städtischen Abgangswässer auch
nach Einführung von Spülklosetts aufzunehmen. Wolffhügel vertrat
damals den Standpunkt, die Spülklosetts seien nicht nur im höchsten
Grade wünschenswert für die Stadt Göttingen, sondern sie seien auch
für die stromabwärts liegenden Ortschaften unbedenklich. Da nun
die nächsten Dörfer Weende und Bovenden überhaupt nicht auf Leine¬
wasser angewiesen sind, darf man auf Grund der in diesem Jahre
angestellten Beobachtungen sagen: die von Professor Wolffhügel
1895 in seinem Gutachten aufgestellten Thesen haben ihre volle
Bestätigung gefunden, die Selbstreinigungskraft der Leine genügt der
ihr gestellten Aufgabe vollständig.
Auch an dieser Stelle möchte Verfasser dem Direktor des Hygie¬
nischen Instituts der Universität Göttingen, Herrn Prof. E. v. Esmarch,
für sein überaus freundliches Entgegenkommen seinen herzlichen Dank
aussprechen.
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9.
Besprechungen, Referate, Notizen.
Sanitätsbericht Uber die Kaiserlich Deutsche Marine für den Zeitraum
vom 1. Oktober 1903 bis 30. September 1904. Bearbeitet in der Medi¬
zinal-Abtheil ung des Reichs-Marine-Amts. Berlin 1906, Ernst Sieg¬
fried Mittler und Sohn.
Die Kopfstärke, welche den Berechnungen zu Grunde liegt, betrug
37780 Mann. Der Krankenzugang stellte sich auf 18040 Mann = 477,5 pM.,
um 73,6 pM. weniger als im Jahr vorher, und erreichte damit die niedrigste bisher
vorgekommene Zahl. Der Zugang im Deutschen Heer und in der englischen Marine
war in den letzten Jahren höher als in der Deutschen Marine. Am meisten be¬
troffen waren die Besatzungstruppen von Kiautschou (839,1 pM.), am wenigsten
die Schiffe in den heimischen Gewässern (347,7 pM.). Die durchschnittliche
Behandlungsdauer (22,8 Tage) war etwas länger als im Jahre vorher und be¬
trächtlich länger als in der englischen Marine (15,9Tage); der tägliohe Kranken¬
bestand (28,6pM.) dagegen geringer. WegenDienstunbrauchbarkeit wurden
bei der Einstellung 943 Mann (26,4 pM.) und in der späteren Zeit 231 Mann
(6,5 pM.) entlassen, wegen Halbinvalidität 92 (2,6 pM.) und wegen Ganz¬
invalidität 531 Mann (14,9 pM.). Unter den Leiden, welche Dienstunbrauch¬
barkeit und Invalidität bedingten, stehen die Herzkrankheiten in erster Linie. Es
starben 104 Marineangehörige (2,7 pM.) und zwar an Krankheiten 57 (1,5pM.),
durch Selbstmord 17 (0,4 pM.) und durch Unglücksfälle 30(0,8pM.);
ausserdem fielen von dem Marine-Expeditionskorps in Südwest¬
afrika 44 vor dem Feinde, 2 starben nachträglich infolge von Verwundungen im
Gefecht, 35 starben durch Krankheit und 1 durch Unglücksfall. Unter den Todes¬
fällen durch Verunglückung stand Ertrinken (19mal) obenan.
Von wichtigeren im Berichtsjahr ausgeführten sanitären Massregeln ist in
Kiautäcbou die Eröffnung des Mecklenburghauses in Lauschan als Er¬
holungsstation zu erwähnen und die Einrichtung einer kleinen Tollwut¬
station, welche der bakteriologischen Untersuchungsstelle angegliedert wurde.
Ausserdem wurde das Faberkrankenhaus durch eine Leprabaraoke vergrössert und
ein Prostituiertenkrankenhaus eingerichtet.
Von den 13495 ausgeführten Impfungen hatten 665,3 pM. Erfolg. Bei den
einzelnen Krankheitsgruppen ist überall bis auf die Krankheiten des Nerven¬
systems eine Abnahme eingetreten. Wie früher sind auch im Berichtsjahr die
Gruppen I. Allgemeine Erkrankungen und VII. Venerische Krankheiten durch be¬
sonders grosse Ausdehnung auf den Schiffen im Ausland hervorgetreten.
Aus dom der Besprechung der wichtigsten Krankheitsarten und
Krankheitsfälle gewidmeten Abschnitt ist zu entnehmen, dass an Land 5 und
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432
Besprechungen, Referate, Notizen.
Bord 4 Scharlachfälle rorkamen und von den letzteren 1 mit Tod endete.
— Gelbfieber wurde mit 2 günstig endenden Erkrankungen auf „Vineta“ in
Südamerika beobachtet. — Die Zahl der Unterleibstyphen betrug 28, wovon
7 bei Marineteilen an Land (hierunter 3 inKiautschou) und 21 an Bord sich zeigten;
4 davon endeten tödlich. — Bei Malaria ist eine wesentliche Abnahme einge¬
treten: nur 12 Fälle sind bei Marineteilen am Lande (hiervon 5 in Kiautschou),
152 an Bord vorgekommen. Dies hing zum Teil damit zusammen, dass die ost¬
afrikanische Station gar nicht besetzt war, in Westafrika aber wurde die Abnahme
der Malaria der richtig und lange genug durchgeführten Chininprophylaxe (je 1 g
am 7. und 8. Tage) verdankt. Da ein sicherer Musquitoschutz an Bord oft nicht
durchzuführen ist, so wurden die Kranken, um weitere Mückeninfektionen zu ver¬
meiden, wo möglich ausgeschifft. Vorübergehende Belästigungen durch den vor¬
beugenden Chiningebrauch sind vorgekommen, aber dauernde Schädigungen der
Gesundheit hierdurch sind nicht bekannt geworden. Ein Todesfall an Malaria er¬
eignete sich in Westindien. — Grippe brachte 307 Fälle (8,1 pM.) in Zugang
und zwar 34 an Land (14 hiervon in Kiautschou), die übrigen an Bord und 180
davon in Ostasien. — Von Tuberkulose in ihren verschiedenen Formen kamen
C7 Fälle (1,8 pM.) in Zugang und zwar an Bord im Ausland 11 (1,6 pM.), auf
den Schiffen in der Heimat 21 (1,5 pM.), bei den Marineteilen an Land 35 (2,1 pM).
Es befanden sich hierunter 40 Erkrankungen der ersten Luftwege und der Lungen.
— An Ruhr erkrankten 182 Mann (4,8 pM.) ohne Todesfall und zwar grösstenteils
in Ostasien, wo 98 Fälle an Land in Kiautschou und 72 an Bord zugingen. Sie
wird jetzt mit den dort stark verbreiteten Dickdarmkatarihen als zusammengehörig
betrachtet. — Unter 278 (7,4 pM.) Fällen von akutem Gelenkrheumatismus,
wovon 106 an Land, 172 an Bord anftraten, kam kein Todesfall vor. — Bei Al¬
koholvergiftung handelte es sich mit einer Ausnahme nur um chronische Fälle,
von denen einer mit Herzverfettung und Schrumpfleber zum Tode führte. — Unter
den anderen Vergiftungen waren 3 bei Heizern bemerkenswert, welche y«,Stunde
im Bunker mit Kohlen zu arbeiten gehabt hatten, die stark mit Petroleum ge¬
tränkt waren; sie wurden bewusstlos mit trägen Pupillen und starkem Atemgeruch
nach Petroleum aufgefunden, aber an frischer Luft und durch Bäder in 2 Stunden
wiederhergestellt. Eine Vergiftung durch Genuss der Manzanillafrucht hatte
heftige Störungen im Bereich des Verdauungskanals und Rötung und Blasenbil¬
dung in Mund und Rachen zur Folge, die erst in 6 Tagen gehoben waren. —
Hitzschlag ereignete sich in 31 Fällen (0,8 pM.), wovon 26 an Bord im Aus¬
land zur Beobachtung kamen und keiner mit Tod endote. Sonnenstich hatte
auf heimischen Schiffen zweimal Hirnhautentzündung mit günstigem Verlauf zur
Folge. — Ein in Westindien vorgekommener Fall von Medinawurm in einer
Achselhöhle wurde chirurgisch behandelt.
Unter den Krankheiten des Nervensystems ist die Neurasthenie in
stetiger Zunahme begriffen. Sie verursachte 105 (2,8 pM.) Erkrankungen, grössten¬
teils bei Offizieren, Deckoffizieren und älteren Unteroffizieren, von denen 10 zur
Dienstunbrauchbarkeit, 29 zu Invalidität führten.
Von akuten Lungenentzündungen gingen 93 (2,5pM.), von Brustfell¬
entzündungen 111 (2,9 pM.) zu, an Land und an Bord ziemlich gleich häufig;
von jenen endeten 4, von diesen 5 mit Tod.
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Besprechungen, Referate, Notizen.
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Die venerischen Krankheiten zeigen eine langsame Abnahme. Sie ver¬
ursachten im Berichtsjahr einen Zugang von 2523 (66,8 pM.) Fällen, waren an
Bord im Ausland am häufigsten und beanspruchten fast y 3 aller Behandlungs¬
tage, verursachten also den grössten Dienstausfall. An dem Wert der Prophylaxe
wird neuerdings gezweifelt. Bemerkenswert ist ein Fall von Syphilis, bei welchem
die Infektion durch Tätowieren erfolgt war.
Unter den Zellgewebsentzündungen sind 19 hervorzuheben, welche auf
Stosch während der Heimreise von Westindien gleichzeitig auftraten und fort¬
schreitenden brandigen Zerfall mit schliesslich sehr grossen Weichteilverlusten
bewirkten; 6 der Erkrankten wurden im Ausland, 12 bei der Heimkehr Landlaza¬
retten übergeben. Der Erreger dieser schweren Krankheitserscheinungen wurde
nicht ermittelt.
Im Marinelazarett zu Yokohama wurden 89 Personen mit 2481 Ver¬
pflegungstagen behandelt. Davon gehörten 34 zur Deutschen Marine oder zum
Deutschen Landheer (Ostasiatische Besatzungsbrigade), 3 waren Militärpersonen
anderer Mächte, 37 Angehörige des Deutschen Reichs, die übrigen Angehörige
fremder Nationen. Globig (Berlin).
Ueber Schutzvorrichtungen gegen Einatmen von Krankheitserre¬
gern. Von Professor E. von Esmarch. Göttingen. Hygienische Rundschau.
1905. No. 22.
Indem der Verfasser mit verschiedenen der gebräuchlichen Schutz¬
einrichtungen vor Mund und Nase 5 Minuten lang in einer zahlreiche Pro-
digiosuskeime enthaltenden Luft atmete und dann bestimmte, wie viel Keime davon
in die Nase, den Mund, den Speichel eingedrungen waren, stellte er fest, dass
Schwämme, Respiratoren, Schutzhauben u.dgl. keinen Schutz gegen
Infektion durch die Atemluft gewähren, ja die Gefahr derselben stei¬
gern, weil sie Atmungshindernisse sind, die zu besonders kräftigen Atemzügen
veranlassen. Wenn er dagegen ein Taschentuch oder ein genügend grosses
Stück V erb and watte fest gegen Mund und Nase drückte oder die Nasen¬
löcher einfettete und mit kirschkerngrossen Ballen von Verbandwatte ver¬
schloss, so wurden die Keime von Mund und Nase fern gehalten. Man hat auf
diese Weise einen viel wirksameren Schutz als an den bisher gebräuchlichen
Schutzvorrichtungen. Globig (Berlin).
Der Federkraftventilator. Von Professor E. von Esmarch. Göttingen.
Sonderabdruck aus dem „Gesundheits-Ingenieur“. 1906. No. 10.
Der Verfasser hat die Leistung von Federkraftventilatoren, deren vier
Metallflügel von leichtem Metall durch Spannung einer Feder angetrieben werden
können, untersucht, indem er den kurzen Kanal durch eine etwa 1 / 2 m lange
Pappröhre verlängerte und Anemometer darin aufstellte. Er fand, dass durch einen
grösseren Apparat dieser Art 5,8 cbm Luft in der Minute und 240 cbm in etwa
45 Minuten — so lange ging der Ventilator nach einmaligem Aufziehen der
Feder — gefördert wurden, durch einen kleineren sogenannten Tischventilator in
der gleichen Zeit etwa 41 cbm. Die Wirkung von durch Elektrizität oder
Wasserdruck getriebenen Ventilatoren wurde hierdurch zwar nicht er-
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Besprechungen, Referate, Notizen.
reicht, aber wo derartige Kraft nicht zur Verfügung steht, ist der Feder¬
kraftventilator am Platz. Er hat ausserdem noch den Vorzug, dass er ge¬
räuschlos oder fast geräuschlos läuft. Gl obig (Berlin).
21. Jahresbericht über die Fortschritte und Leistungen auf dem Ge¬
biete der Hygiene. Jahrgang 1903. Herausgegeben von Dr. A. Pfeiffer.
Supplement zur „Deutschen Vierteljahrsschrift für öffentliche Ge¬
sundheitspflege“. Band XXXVI. Braunsohweig. Druck und Verlag von
Friedr. Vieweg und Sohn. 1905. 8. X und 673 Ss. Preis: geheftet 13 M.
Unter den Mitarbeitern am Jahresbericht sind einige Veränderungen ein¬
getreten, aber Einteilung und Ordnun g des reichhaltigen Stoffes sind die
alten und langebewährten geblieben. Das Gesamtergebnis, welches der Her¬
ausgeber zieht, lautet dahin, dass die öffentliche Gesundheitspflege im
Fortschreiten begriffen ist und dass die Behörden sich bemüht haben, die
Errungenschaften wissenschaftlicher Forschung in praktischer An¬
wendung zu verwerten. Damit wird in Zusammenhang gebracht, dass ein
weiterer nicht unbedeutender Rückgang der Sterblichkeit eingetreten ist —
von 20,6 pM. im Jahre 1901 auf 19,4 pM. im Jahre 1902 für das ganze Deutsche
Reich —. Ein Anteil hieran wird den neuerdings kräftiger hervortretenden Be¬
mühungen zur Bekämpfung der Säuglingsterblichkeit beigemessen und
weiterer wichtiger Erfolg auf diesem Gebiet von der Zukunft erwartet.
Bei den Infektioskrankheiten sind grössere Epidemien in Deutsch¬
land nicht vorgekommen. Fortschritte in der Erforschung derAetio-
logie sind namentlich beim Unterleibstyphus (Verbesserung der Verfahren
zum Nachweis der Typhusbazillen), bei der Malaria (Bedeutung der Anopheles-
Mücken und der Pest (Bedeutung der Ratten) zu verzeichnen gewesen und der
Bekämpfung dieser Krankheiten zu Gute gekommen. Dem Diphtherieheilserum
wird nicht bloss der fortgesetzte Rückgang der Sterblichkeit an Diphtherie,
sondern auch die merkliche Einschränkung der Häufigkeit der Erkran¬
kungen zugeschrieben, weil durch die schnellere Genesung die Bildung von In¬
fektionsherden erschwert oder gehindert wird.
Die Fürsorge für die Kranken ist vielfach gefördert und namentlich für
die Tuberkulösen ist Manches gewonnen worden, nur auf dem Gebiet der
Irrenpflege entspricht die Vermehrung der Betten nicht dem Anwachsen der
Zahl der aufhahmebedürftigen Kranken.
Bemerkenswerte Fortschritte sind auf den Gebieten der Schulgesundheits-
pflege, in der Gewerbehygiene und in Wohnungsverbesserung gemacht
worden; grosse Erfolge hat die Technik des Beleuchtungswesens durch die
Verbesserung des elektrischen und des Gaslichtes gehabt.
Für die zentrale Versorgung der Gemeinwesen mit gutem Trink¬
wasser und für die unschädliche Beseitigung der Abfallstoffe als be¬
sonders wichtig wird die Einrichtung der Königlichen Prüfungsanstalt für
Wasserversorgung und Abwässerbeseitigung in Berlin bezeichnet und
als verdienstvoll und erfolgreich ihr Bestreben begrüsst, durch wissenschaftliche
Arbeit Grundlagen für die praktische Betätigung zu gewinnen und zu sichern.
G lobig (Berlin).
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Besprechungen, Referate, Notizen.
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Die Trypanosomen in ihrer Bedeutung für die mensohliche und tie¬
rische Pathologie. Von Marine-Oberstabsarzt Professor Dr. E. Martini.
Abdruck aus der Zeitschrift für ärztliche Fortbildung. 2. Jahrgang. 1905.
No. 20. Verlag von Gustav Fischer in Jena. 27 Ss.
Die durch Trypanosomen verursachten Krankheiten sind eigentlich Tropen¬
krankheiten, neuerdings mehren sich aber wie in anderen europäischen Ländern,
so auch in Deutschland die Fälle, dass dieso Parasiten im Blut mit in die Heimat
zurückgebracht werden. Der Verfasser unterscheidet folgende Trypanosomen¬
krankheiten :
Surra bei Pferden und Rindern in Indien und auf den malaischen
Inseln,
Dourine, eine Bescbälkrankheit der Pferde in den Mittelmeerländern,
Nagana oder Tsetse bei Pferden und Rindern in Afrika,
Mal de Caderas bei Pferden in Südamerika,
Galsiekte bei Rindern in Afrika.
Tsetsekrankheit bei Mensohen mit dem letzten stets tödlichen Ab¬
schnitt der Schlafkrankheit. Ohne Krankheitserscheinungen zumachen, kommen
Trypanosomen bei Ratten, Fischen, Amphibien usw. vor.
Dann wird kurz die Gestalt, der Bau, die Färbbarkeit, die Vermeh¬
rung durch Teilung und das klinische Bild besprochen, welches sich aus
Blutarmut, Milzschwellung, unregelmässigem Fieber, Benommenheit und Läh¬
mungserscheinungen zusammensetzt. Dourine wird bei der Begattung un¬
mittelbar übertragen, Nagana und Menschentrypanosomen durch den Stich
von Fliegen, jene von Glossina morsitans, diese von Glossina palpalis.
Auch Galsiekte wird durch Fliegen übertragen und bei den übrigen Formen der
Krankheiten ist die gleiche Verbreitung wahrscheinlich. Als Heilmittel scheinen
Trypanrot, Malachitgrün und arsenige Säure einigen Erfolg zu versprechen. Die
Bekämpfung durch Schutzimpfungen ist möglich, das Blut der geimpften
Tiere beherbergt aber lange Zeit Trypanosomen, die bei Weiterübertra-
gungen virulent werden können, und auf diese Weise wird der Verbreitung
der Krankheit Vorschub geleistet. Deshalb bleibt nichts übrig, als alle Pa¬
rasitenträger unter den Tieren, namentlich auch das Grosswild zu ver¬
nichten.
Wer sich schnell über den jetzigen Stand unserer Kenntnisso von den Try¬
panosomen unterrichten will, dem kann die kurze und klare Darstellung des Ver¬
fassers angelegentlich empfohlen werden. Globig (Berlin).
Dr. Schneider, Kreisarzt, ständiger Hilfsarbeiter bei der Königl. Regierung
zu Breslau, Die übertragbare Genickstarre im Regierungsbezirk
Breslau im Jahre 1905 und ihre Bekämpfung. Klinisches Jahrbuch.
1906. 15. Band. S. 89.
Der Verfasser gibt uns eine anschauliche Schilderung des Ganges der Epi¬
demie im Breslauer Bezirk unter Beifügung von 3 erläuternden Karten. Einge¬
schleppt wurde die Seuche höchstwahrscheinlich von Oberschlesien her, sie hatte
ihren hauptsächlichen Verbreitungsbezirk längs der Hauptverkehrsstrasse des Re¬
gierungsbezirks. Es kamen — von Anfang Januar bis Ende August — 136 Fälle
zur Beobachtung, von denen 60,29 pCt. tödlich endeten. Die bei weitem grösste
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Besprechungen, Referate, Notizen.
Zahl der Erkrankungen (45 und 44) fiel in den April und Mai. Die Kinder bis zu
6 Jahren machten 53,6 pCt. der Erkrankten aus und entstammten zum grössten
Teil, wie auch die übrigen Erkrankten, den weniger bemittelten Bevölkerungs¬
kreisen. Bei den vom Hygienischen Institut der Universität Breslau bakteriologisch
untersuchten 91 Fällen wurde in 80,2 pCt. der Meningococcus Weichselbaum
nacbgewiesen, sodass dieser mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit als der Erreger der
Epidemie angesprochen werden kann. Zum Schluss werden die behördlichen Ver¬
ordnungen zur Bekämpfung der Krankheit abgedruckt. Doebert (Berlin).
Prof. Dr. Flügge, Geh. Med.-Rat, Die im Hygienischen Institut der
Königl. Universität Breslau während der Genickstarre-Epidemie
im Jahre 1905 ausgeführten Untersuchungen. Klinisches Jahrbuch.
1906. 15. Band. S. 143.
Von Mitte Februar bis Ende August gingen 232 Sendungen ein, die von
193 Personen stammten, davon gehörten 178 dem Regierungsbezirk Breslau, 15
dem Regierungsbezirk Liegnitz an. Von 144 Proben von Punktionsfiüssigkeit
waren 44 inbezug auf Meningokokken positiv, 14 der negativen Proben wiesen
Pneumokokken in Reinkultur auf, von 42 Proben von Leichenmaterial waren 23
inbezug auf Meningokokken positiv, von 44 Proben von Nasen- und Rachen§chleim
4. ln einer Reihe von Fällen konnte die Diagnose allein auf das mikroskopische
Präparat hin gestellt werden. Waren die Kokken von charakteristischer Semmel¬
form, intrazellulär gelagert und sicher gramnegativ, so galt der Nachweis als
gelungon, auch wenn die Kultivierung misslang. Bei der Untersuchung von Nasen-
und Rachenschleim jedoch ist wegen der Menge der begleitenden ähnlichen Bak¬
terien neben dem Originalpräparat unbedingt die Kultur nötig. Als Nährboden
bewährte sich am besten Ascites-Agar (1 Teil Ascitesflüssigkeit auf 3 Teile neu¬
tralen Agars), in zweiter Linie Löfflerscher Serumagar. Deutliche Agglutinations¬
wirkung erhielt F. mit (von Priv.-Doz. Jochmann hergestelltem) Pferdeserum.
Weiterimpfung der gewonnenen Kulturen auf künstlichen Nährböden ist sehr
schwierig. Die gewöhnlichen Desinfizientien erwiesen sich gegen Meningokokken
schon in kurzer Zeit durchaus wirksam, an Deckgläser angetrocknete junge Kulturen
gingen bei Tageslicht schon in 10 Stunden zugrunde, die Formaldehyd-Desinfektion
erwies sich in der üblichen Anwendungsweise als vollkommen ausreichend zur
Vernichtung. Zum Schluss erörtert F. genauer die Mängel in der Beweiskette für
die ätiologische Rolle der Meningokokken und die Gründe für die Annahme einer
solchen und kommt zu dem Ergebnis, dass „nur noch geringe Zweifel“ darüber
bestehen könnten, dass die Meningokokken als die Erreger der übertragbaren
Genickstarre anzusehen sind. Zur weiteren Klärung der Frage, zur Feststellung
der Verbreitungswege, der Gefährlichkeit der Kokkenträger sind neben verbesserten
bakteriologischen Methoden genauere epidemiologische Beobachtungen nötig, wofür
u. a. eine stärkere Mithilfe der Kreisärzte durch Entnahme von Nasen-Rachon-
schleim und Blut gewünscht wird. Doebert (Berlin).
Prof. Dr. Kolle und Prof. Dr. Wassermann, Untersuchungen über Me¬
ningokokken. (Aus dem Institut für Infektionskrankheiten in Berlin.) Klini¬
sches Jahrbuch. 1906. 15. Band. S. 297.
Die Verfasser traten der Frage der Spezifizität der Meuingokokken zunächst
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Besprechungen, Referate, Notizen.
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von dem Gesichtspunkt aus näher, ob solche etwa auch bei gesunden und an
anderen Krankheiten als an Meningitis leidenden Personen zu treffen seien. Die
114 daraufhin Untersuchten waren teils gesunde Angehörige des Instituts, teils
Patienten einer Poliklinik und verschiedener Kranken-Abteilungen. Nur zwei¬
mal wurden echte Meningokokken nachgewiesen, und davon betraf der eine ein
Kind, das mit ausgesprochenen Krankheitssymptomen (Nackenstarre) einem
Krankenhause überwiesen war, der andere einen Mann, dessen Kind mit meningi-
tischen Zeichen krank lag. Diese Untersuchungsreihe spricht also ausserordent¬
lich zu Gunsten der spezifischen Rolle der Meningokokken, sie soll noch erweitert
werden. Sodann wurden die morphologischen und biologischen Eigenschaften
von 44 echten, frisch gezüchteten, meist aus Schlesien bezogenen Meningokokken-
Stämmen untersucht. Die Semmelform und intrazelluläre Lagerung ist
typisch, doch traten auf künstlichen Nährböden daneben auch sehr bald Degene¬
rationsformen auf. Die vollständige und rasche Entfärbung nach Gram wird
als eines der sichersten Kennzeichen der echten Stämme bezeichnet, die Verfasser
verlangen aber strenge Beachtung ihrer genau wiedergegebenen Färbe-Vorschriften.
Als bester Nährboden bewährte sich auch ihnen (Vergl. das vorhergehende
Referat) Ascites-Agar (1 Teil Ascites-Flüssigkeit auf 2 Teile gut alkalisohen
Agars). Ihm zunächst steht das Löfflersehe Serum. Sie konnten jedoch mit
einiger Vorsicht die Kulturen auch den einfacheren Nährböden allmählich an¬
passen. Gegen die Einwirkung niederer Temperaturen und des Tageslichtes sind
die Kokken sehr empfindlich. Die Tior-Pathogenität schwankt, für Meer¬
schweinchen liegen die Grenzen der Dosis letalis zwischen y 2 und 3 Oesen.
Durch Vorbehandlung von Pferden mit abgetöteten, später lebenden Kulturen
gelang es, ein hochwertiges agglutinierendes Serum darzustellen. Die einzelnen
Stämme schwanken auch in ihrer Agglutinabilität sehr. Während das Pferde¬
serum gegen den homologen Stamm sehr bald einen Titre von 1 : 1500 erreichte,
agglutinierte es andere echte Stämme z. T. nur bei 1 : 500 und 1 : 200, doch gab
die Kontrolle mit normalem Pferdeserum im höchsten Falle eine Beeinflussung
echter Stämme bei der Verdünnung 1 : 20, Meningokokken-ähnliche Stämme da¬
gegen wurden durch normales Serum manchmal bis 1 : 200 beeinflusst. Es gibt
also auch für den Meningococcus Weichsel bäum eine spezifische Serum-
Reaktion, die die Identifizierung zweifelhafter Stämme sehr erleichtern wird. (Man
vergleiche dazu Jochmann, Deutsche med. Wocbenschr. 1906. No. 20.) Zuletzt
folgen einige Bemerkungen über die Auffressbarkeit von Meningokokken durch
Leukozyten, über die, ebenso wie über die Gewinnung eines Immun-Serums, Ver¬
suche noch im Gange sind. Doebert (Berlin),
Prof. C. Flügge, Einige tatsächliche Feststellungen zur Breslauer
Wasserkalamität. Sond.-Abdr. No. 16 des Breslauer Gemeindeblatts vom
22. April 1906.
Am 29. März d. J. trat in Breslau ganz plötzlich eine auffällige Veränderung
des Grundwassers in den beiden Sammelbrunnen der Wasserleitung auf. Das
Wasser, welches bis dahin alkalisch reagierte, geringe Mengen von schwefelsauren
Verbindungen und Kalk, etwa 8—12 Milligramm Eisen und einen Teil des Kalkes
in Form von Bikarbonat enthielt, reagierte plötzlich sauer, die Schwefelsäure und
der Kalk waren auf das Dreifache gesteigert, Bikarbonat von Kalk war nicht mehr
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Besprechungen, Referate, Notizen.
vorhanden, dagegen grosse Mengen — bis zu 140 Milligramm im Liter — Eisen
und etwa 30 Milligramm Mangansulfat. Dazu trat noch ein unangenehmer,
modriger Geruch, der zusammen mit dem den Riesler unverändert passierenden
Mangansulfat das Leitungswasser widerlich und kaum geniessbar machte.
Die Veränderung des Wassers fiel zusammen mit der Ausuferung der Oder
in das Fassungsgelände der Brunnen. Alle bisherigen Ueberschwemmungen
hatten keine besonderen Folgeerscheinungen gehabt. Ein disponierendes Moment
konnte wohl dieses Mal darin liegen, dass in beiden vorhergehenden, äusserst
dürren Jahren der Grundwasserspiegel ausserordentlich tief gesunken war.
Verf. wendet sich gegen den Vorwurf, der seitens der Bürgerschaft gegen
ihn erhoben wird, dass er den Mangangehalt verheimlicht habe und vor den üblen
Folgen des Mangans im Wirtschaftsbetrieb zu spät gewarnt habe, indem er be¬
sonders darauf hinweist, dass die Veränderung des Wassers ganz plötzlich eintrat
und dass er darnach in den Zeitungen zur Vorsicht bei der Verwendung des
Wassers gemahnt habe.
Das Mangansulfat hat naoh älteren Autoren giftige Eigenschaften, nach
neueren Tierversuchen hat Mangan in steigenden Dosen keine giftige Wirkung.
Therapeutisch sind Mangan verbin düngen als Peptonat oder Eisenmanganpeptonat
und Eisenmangansaccharat in den letzten Jahren ohne jede Schädigung verwandt
worden. In Breslau sind keine gesundheitsschädlichen Folgen durch den Mangan¬
gehalt des Wassers hervorgerufen worden. Experimente an Menschen, die täglich
grosse Mengen des sterilisierten und mit 100 Miligramm pro Liter reinen Mangan-
sulfats versetzten Leitungswassers tranken, ergaben auch keine schädliche
Wirkung.
Eine bestimmte Erklärung für die Ursache der plötzlichen Wasserveränderung
hat sich bisher nicht finden lassen. Kurpjuweit (Berlin).
Paul, Ohlmüller, Heise und Auerbach, Untersuchungen über die
Beschaffenheit des zur Versorgung der Haupt- und Residenzstadt
Dessau benutzten Wassers, insbesondere über dessen Bleilösungs¬
fähigkeit. Arbeiten aus dem Kaiserlichen Gesundheitsamte, XXIII. Band,
2. Heft. Berlin 1906. S. 333—388.
In ihrer Einleitung bringen Verff. einen geschichtlichen Ueberblick über die
Entstehung des Dessauer Wasserwerkes. Das jetzt zur Zentralversorgung der
Stadt dienende Wasser ist Quell- und Grundwasser, welches vom Kiebitzheger
(Quellwasser), einem am rechten Muldeufer befindlichen Gelände und vom Rot¬
kehlchenheger — Exerzierplatz — (Grundwasser), einem am linken Muldeufer ge¬
legenen Terrain stammt. Nur das stark eisenhaltige Exorzierplatzwasser wird nach
dem Oestenschen System enteisent. Beide Wässer enthalten freie Kohlensäure absor¬
biert, und zwar das Kiebitzheger Wasser ca. 20 mg und das Exerzierplatzwasser
ca. 40 mg in 1 Liter, wodurch sie bleilösende Eigenschaften besitzen. Bekannt¬
lich erkrankten im Jahre 1886 in Dessau 92 Personen an Bleivergiftung, die durch
den Genuss des Wassers verursacht war. (Vcrgl. Wasserversorgung und Bleiver¬
giftung. Gutachten über die zu Dessau im Jahre 1886 vorgekommenen Vergiftungs-
füllc. Berichterstattor: Regierungsrat Dr. Gustav Wolffhügel. Arbeiten aus
dem Kaiserlichen Gesundheitsamte. Bd. II. S. 484.) Durch die Bindung der freien
Kohlensäure des Wassers mittels genau berechneten Chemikalienzusatzes nach
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Besprechungen, Referate, Notizen.
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Heyers Vorschlag (Dr. Carl Heyer, Ursache und Beseitigung des Bleiangriffs
durch Leitungswasser, Dessau 1888. Verlagsbuchhandlung von Paul Baumann,
S. 10—12) sind seit jenem Jahre Bleivergiftungsfalle durch Leitungswasser nicht
mehr bekannt geworden. Beide Wässer sind auoh ziemlich weich, das Kiebitz¬
heger Wasser weist im Mittel eine Härte von 4,5 und das Exerzierplatzwasser im
Mittel eine Härte von 3,5 in deutschen Graden auf.
Auf Grund eingehender experimenteller Untersuchungen an den Dessauer
Wässern gelangen die Verff. zu folgenden Ergebnissen:
„1. Das Bleilösungsvermögen der Rohwässer wird durch Aufnahme von
Sauerstoff bei der Berührung mit atmosphärischer Luft erhöht.
2. Bei gleichzeitiger Anwesenheit von Sauerstoff und freier Kohlensäure, also
in dem enteisenten ,Reinwasser 4 nimmt das Bleilösungsvermögen mit sinkendem
Gehalt an freier Kohlensäure ab. u
„Durch die chemische Bindung der freien Kohlensäure mittels Chemikalien¬
zusatzes kann die Bleilösungsfähigkeit der Wässer weiter herabgesetzt werden, als
duroh die aussohliessliche Entfernung derselben mittels Durchlüftung.
Nach Bindung der freien Kohlensäure wurde von dem enteisenten Wasser
vom Exerzierplatz (Reinwasser) unter den gegebenen Versuchsbedingungen etwa
0,3 mg Blei in 1 Liter gelöst.
Die freie Kohlensäure in denjenigen Mengon, wie sie bei der praktischen
Ausführung des Verfahrens unter den in Dessau gegebenen Betviebsverhältnissen
Zurückbleiben, übte bereits einen bemerkenswerten Einfluss auf die Bleilösungs¬
fähigkeit des ,korrigierten* Leitungswassers aus.“
Das Kaiserl. Gesundheitsamt fasst sein Urteil über die Wasserversorgung
der Stadt Dessau in folgende Schlusssätze zusammen: (auszugsweise)
„1. Der gegenwärtige Betrieb der Enteisenungsanlage des Wasserwerkes ver¬
mag das Eisen aus dem Wasser nicht in zureichendem Masse zu entfernen; die
zuweilen auftretende Opaleszenz des Leitungswassers deutet auf eine nachträgliche
Ausscheidung von Eisenverbindungen hin.
2. Es sollten Vorkehrungen getroffen werden, um den Zutritt von Schmieröl
aus den Wasserförderungsmaschinen zum Wasser zu verhindern.
4. Durch die chemische Bindung der freien Kohlensäure des Wassers wild
seine bleilösende Eigenschaft vermindert. Der Chemikalienzusatz ist nach der
Menge der jeweilig vorhandenen freien Kohlensäure zu bemessen. Daher ist zur
Sicherung eines guten und dauernden Erfolges dieses Verfahrens eine ständige
chemische Ueberwachung des Wasserwerksbetriebes durch einen auf diesem Gebiete
erfahrenen Sachverständigen notwendig.
5. Bei der sachgemässen Anwendung des Chemikalienzusatzes zur Verminde¬
rung der bleilösenden Eigenschaft des Wassers sind nachteilige Einflüsse auf die
Gesundheit der Bewohner nicht zu befürchten, vorausgesetzt dass die Chemikalien
von tadelloser Beschaffenheit sind.
6. Die Vorschrift des Magistrats der Stadt Dessau, Wasser, welches längere
Zeit in den bleiernen Hausanschlussleitungen gestanden hat, zu Genusszwecken
nicht zu benutzen, sollte auch fernerhin aufrecht erhalten werden.“
ln einem Anhänge teilen die Verff. noch ihre ausführlichen Versuche über
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440 Besprechungen, Referate, Notizen.
die Bleilösungsfähigkoil von verschiedenen Wässern mit, aus denen folgendes er¬
sichtlich ist:
1. Destilliertes Wassers löst bei Luftzutritt Blei leicht in grosser Menge über
120 mg Pb in 1 Liter.
2. Die freie Kohlensäure eines Wassers vermehrt die Löslichkeit des Bleis,
während gebundene Kohlensäure (Hydrokarbonat bzw. Bikarbonat) sie verringert.
3. Sulfate haben keine die Bleilösungsfähigkeit hemmende Wirkung.
Die Versuche werden noch weiter fortgesetzt. Klut (Berlin).
Kühn, B., Ueber den Nachweis und die Bestimmung kleinster Mengen
Blei im Wasser. Arbeiten aus dem Kaiserlichen Gesundheitsamte. XXIII. Bd.
2. Heft. S. 3S9 bis 420. Berlin 1906.
Kühn teilt zuerst mit, dass über die Grenze der Schädlichkeit von Blei
bislang unantastbare Zahlenwerte nicht vorliegen, und dass die Ansichten der
Hygieniker hierüber noch weit auseinander gehen. In dem Dessauer Leitungs¬
wasser betrug der durchschnittliche Bleigehalt von 48 Wasserprobon 4,143 mg
Blei im Liter Wasser, der die bekannten Vergiftungsfälle im Jahre 1886 dortselbst
zur Folge hatte (G. Wolffhügel, Wasserversorgung und Bleivergiftung. Gut¬
achten über die zu Dessau im Jahre 1886 vorgekommenen Vergiftungsfälle.
Arbeiten aus dem Kaiserl. Gesundheitsamte. II. 484—542. [1887.]) Verf. bringt
darauf einen Gesamtüberblick über dio verschiedenen Verfahren zum Nachweise
und zur quantitativen Bestimmung von Blei im Wasser. Auf Grund umfangreicher
Versuche und unter Berücksichtigung aller in der chemischen Literatur bekannt
gewordenen Verfahren der Bleibestimmung empfiehlt Verf. folgende Methode:
Das im Wasser vorhandene Blei wird in essigsaurer Lösung als Schwefelblei
gefällt. Das kolloidal ausgefallene Blei wird auf einem Asbestfilter gesammelt und
durch Wasserstoffsuperoxyd und Salpetersäure in Bleisulfat verwandelt. Letzteres
wird nach Oxydation mittels Brom in Bleisuperoxyd übergeführt und nach der
bekannten Methode von W. Diehl (Dinglers polyt. Journal. Bd. 246. 1882.
S. 196) und G. Topf (Zeitschr. f. analyt. Chemie. Bd. 26. 1887. S. 137 u. 277)
jodometrisch bestimmt. Klut (Berlin).
Verwaltungsbericht der Landes-Versicherungsanstalt Berlin für das
Rechnungsjahr 1904. 4. 236 Seiten.
Nachdem im Berichtsjahr das neue Verwaltungsgebäude Berlin S.0.16, Am
Köllnischen Park 8, bezogen ist, das einen Raum von 300 Quadratruten bedeckt,
(deren Ankauf 1 020 000 Mark gekostet hat), und das an Baukosten mehr als
1 600000 Mark erfordert hat, ist so recht ersichtlich geworden, welche enorme
Geschäftstätigkeit die Landes-Versicherungsanstalt Berlin auszuüben hat. Das
Anwachsen der Geschäfte der Anstalt hat es notwendig gemacht, die Mitglieder
des Vorstandes, dessen Vorsitzender Dr. jur. Freund ist, auf 4 zu vermehren.
Diesen beamteten Mitgliedern stehen zur Seite als gewählte Vertreter der Arbeit¬
geber und der Versicherten jo 2 Mitglieder und je 2 Ersatzmänner; ihre Wahlzeit
dauert fünf Jahre. Neben dem Vorstand besteht der Ausschuss der Versicherungs¬
anstalt aus je 10 Vertretern der Arbeitgeber und der Versicherten mit je 3 Ersatz¬
männern. Das Bureaupersonal ist von 15 Bureaubeamten, 1 Unterbeamten
und 4 Kontrollbeamten im Jahre 1891 auf 130 Bureaubeamte, 12 Unter-
beamte und 19 Kontrollbeamte im Jahre 1904 gestiegen. Nicht mitgezählt
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Besprechungen, Referate, Notizen.
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ist dabei das Personal, das für die Heilstätten Beelitz, für das Invalidenhaus und
die Heilstätte in Lichtenberg angenommen ist.
Am Ende der Berichtszeit waren 16 Vertrauensärzte bestellt, und zwar
5 für innere Krankheiten, 3 für Frauenleiden, je 2 für Chirurgie, Augen- und
Nervenkrankheiten und je 1 für Nasen-, Hals- und Ohrenleiden und für Harn-,
Blasen-, Nieren- und Geschlechtskrankheiten. Die Zahl der von den die Behand¬
lung führenden Aerzten erstatteten Gutachten belief sich auf 4589. Es ist von
Interesse zu erwähnen, dass nach einem Abkommen mit der Berliner Aerztekammer
5 Mark für ein Gutachten gezahlt wird, wenn es auf einem mit der Aerztekammer
vereinbarten Formular ausgestellt wird.
Für den Bezirk der Versicherungsanstalt Berlin besteht ein „Schieds¬
gericht für Arbeiterversicherung Stadtkreis Berlin“, dessen Vorsitzender Ober¬
regierungsrat von Gostkowski ist; die Zahl der Beisitzer beträgt je 67 aus der
Klasse der Arbeitgeber und der Versicherten. Als ärztliche Sachverständige,
welche nach § 8 des angeführten Gesetzes zu den Sitzungen nach Bedarf zuzu¬
ziehen sind, waren 8 Aerzte gewählt, darunter 3 Medizinalbeamte (Kreisärzte).
Die Steigerung der Geschäfte wird ersichtlich, wenn man sich ver¬
gegenwärtigt, dass nach dem Tagebuch 1891 die Zahl der eingegangenen Schrift¬
stücke 12304, die der Ausgänge 12086 betragen hat, während im Jahre 1904 die
Eingänge auf 217544 = 728 täglich, die Ausgänge auf 281906 = 940 täglich
berechnet sind. An dieser Steigerung waren hauptsächlich die Anträge auf
Uebernahme der Krankenfürsorge beteiligt.
Aus der Rentenabteilung wird zunächst über den Erlass des Ministers für
Handel und Gewerbe vom 15. November 1904 berichtet, welcher eine Beschleunigung
des Rentenverfahrens herbeiführen wird. Die ärztliche Tätigkeit findet durch
folgenden Ausspruch Anerkennung: „Auch in dem vergangenen Verwaltungsjahr
sind wir in anerkennenswerter Weise durch den grössten Teil der Herren Aerzte
unterstützt worden, die bemüht waren, sich immer mehr in die nicht leichte
Tätigkeit eines Gutachters in Invalidenrentensachen hineinzuleben“.
1859 Ansprüche auf Altersrente wurden 1891 als neu erhoben, im Jahre
1904 belief sich diese Zahl auf 333, dazu noch 25 aus dem Vorjahre. Seit 1891
sind 5710 Altersrenten bewilligt, davon entfielen v. H. 77 auf Männer und 23 auf
Frauen. Erwähnung verdient, dass nach Eintritt der Rente im Jahro 1891 von
1186 männlichen Rentnern 996 = 83,1 v.H., von 479 weiblichen 353 = 73,7 v.H.
bis 1904 gestorben sind. Für die späteren Jahre fallt natürlich dieser Prozentsatz.
Am Schluss des Berichtsjahres belief sich die Zahl der laufenden Altersrenten auf
1929 für Männer, auf 601 für Frauen. Im Jahre 1904 trat die Beteiligung der
Frauen an der Altersrente bedeutend zurück; von 100 Renten entfielen 88 auf
Männer und nur 12 auf Frauen, während das Verhältnis für die Jahre 1891 bis
1895 auf 72 und 28 berechnet war.
Invalidenrenten wurden bis 1904 insgesamt für 33129 Personen, darunter
23015 Männer, bewilligt, 1904 allein belief sich diese Zahl auf 5870, darunter
3724 Männer. Berechnungen naoh dem Alter der Invalidenrentner lassen erkennen,
dass im höheren Alter die Frauen in steigender Anzahl beteiligt sind. Je mehr
die Kenntnis des Gesetzes in diese Kreise dringt, auf um so grösseren Zuwachs
von Rentnerinnen ist zu rechnen, so dass mit Recht hervorgehoben wird, dass
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Besprechungen, Referate, Notizen.
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das Invalidenversicherungsgesetz Ansätze für eine Witwen Versorgung heraus¬
bildet. Offenbai- tritt immer mehr die Altersrente hinter die Invalidenrente zurück.
Die Bedeutung der Rentenzahlung geht aus dom Betrage hervor, der
1904 von der Anstalt in der Höhe von 3856378,94 Mark gezahlt ist. Da das
Reich für jede Rente jährlich 50 Mark Zuschuss und für jede infolge militärischer
Dienstleistung angerechnete Beitragswoche einen Rentenanteil von 18 Pfennig zu
zahlen hat, so war das Reich mit 1209071,55 Mark belastet.
Seit 1900, dem Jahre des Inkrafttretens des neuen Invalidenversicherungs¬
gesetzes, ist bemerkenswert die Zunahme der Ablehnungen der Invaliden¬
renten. Von 100 erledigten Rentenansprüchen entfielen in Berlin in den ersten
3 Jahren 7 auf Ablehnungen, 1903 bereits 8 und 1904 sogar 11, während im
Deutschen Reiche die Ablehnungen noch mehr zugenommen haben, sie sind von
11 im Jahre 1900 in zunehmender Weise bis auf 18 im Jahre 1904 gestiegen.
Ueberhaupt ist im Deutschen Reiche zum ersten Male die Zahl der Renten um
rund 12000 = 7,5 v. H. gefallen, da 1903 noch 160380, 1904 dagegen nur
148426 Festsetzungsbescheide ergangen sind; in Berlin betrugen diese Zahlen
5832 und 5778, so dass die Abnahme nur 54 = 0,9 v. H. Renten betragen hat.
Als Ursachen der Ablehnung von 692 Renten sind in Berlin festgestellt:
1. Erwerbsfähigkeit lag noch vor für 272 = 39 v. H., 2. Anwartschaft war
erloschen für 217 = 31 v. H., 3. Nichterfüllung der Wartezeit für 156 =
23 v. H., 4. Unfall für 36 = 5 v. H. und 5. sonstige Gründe für 11 = 2 v. H.
Ablehnungen. Die Gründe für die Ablehnungen sind nicht in den amtlichen
Nachrichten des Reichs-Versicherungsamts, auch nicht in den Verwaltungsbe¬
richten einzelner Landesversicherungsanstalten ersichtlich gemacht, was in dem
vorliegenden Beriohte mit Recht beklagt wird.
Der Invalidisierungsfaktor für Berlin ist in früheren Jahren beträchtlich
hinter dem des ganzen Deutschen Reichs zurückgeblieben, hat aber 1904 den all¬
gemeinen Durchschnitt erreicht, da auf 100 Versicherte im Deutschen Reiche wie
in Berlin 1,25 neue Invalidenrenten entfallen. Unter den Hauptursachen der
Invalidität überwiegt wie bisher die Lungenschwindsucht, aber es ist ein be¬
merkenswerter ständiger Rückgang vorhanden. Auf 1000 männliche Rentner sind
die Anteile der an dieser Krankheit Leidenden von 281 bis auf 216, und auf 1000
weibliche von 153 bis auf 119 zurückgegangen.
Mit diesem Erfolge erscheinen die grossen Aufwendungen der Anstalt fin¬
den Kampf gegen die Tuberkulose bei der Berliner Arbeiterbevölkerung gerecht¬
fertigt. Ueber die Leistungen der Anstalt auf diesem Gebiete enthält der Bericht
eingehende Mitteilungen, deren Studium besonders zu empfehlen ist. Allerdings
würde eine Verwertung der Angaben über die Behandlungsergebnisse der Kranken
sich leichter ausführen lassen, wenn die Landesversicherungsanstalt in der
Nomenklatur der Krankheiten und ihrer Gruppierung sich dem durch Erlass
des Medizinalministers vom 22. April 1904 oingeführten Verzeichnisse der Krank¬
heiten enger anschliessen wollte.
Auch für die Bezeichnung und Gruppierung der Berufsarten, die in den
Tabellen des Berichts zur Verwendung kommen, dürfte ein Anschluss an die be¬
züglichen Aufstellungen der Reichs- und Landesstatistik wünschenswert erscheinen.
Guttstadt.
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Besprechungen, Referate, Notizen.
443
Livius Fürst, Die intestinale Tuberkulose-Infektion mit besonderer
Berücksichtigung des Kindesalters. Stuttgart 1905, Verlag von Ferdi¬
nand Enke. 319 S.
In der reichhaltigen, fleissigen Arbeit gibt F. einen guten Ueberblick über
den gegenwärtigen Stand der durch Robert Kochs Mitteilung auf dem Londoner
Tuberkulose-Kongress am 23. Juli 1901 wieder aktuell gewordenen Fragen der
Möglichkeit der intestinalen Tuberkulose-Infektion durch den Genuss Perlsucht¬
bazillenhaltiger Milch und der Identität menschlicher und boviner Tuberkulose.
Die Hauptergebnisse seiner Studien hat F. in 23 Schlusssätzen zusammengefasst.
Ein genaues Literatur-, Autoren- und Sachregister vervollständigen das über¬
sichtlich angeordneto Werk, welohes zur Orientierung über die behandelten Fragen
empfohlen werden kann. Dr. Kutzky (Charlottenburg).
Vierteljahrsschrift f.ger. Med. u öff. San.-Woseo. 3. Folge. XXXII. 2.
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III. Amtliche Mitteilungen.
Allgemeine Verfügung des Jnstizmlnisters (Dr. Beseler) vom 21. April
1906y betreffend die Ladung der Kreisärzte und der Kreistierärzte als
Zeugen oder Sachverständige.
Allgemeine Verfügung vom 17. Mai 1883 (Just.-Minist.-Bl. S. 155).
Allgemeine Verfügung vom 13. März 1884 (Just.-Minist.-Bl. S. 54).
Die in der Allgemeinen Verfügung vom 17. Mai 1883 den Gerichtsschreibern
und Sekretären erteilte Weisung, der Vorgesetzten Behörde eines Beamten von
dessen Ladung als Sachverständiger oder Zeuge Mitteilung zu machen, tritt für
alle diejenigen Fälle ausser Kraft, in welchen ein Kreisarzt oder ein Kreistierarzt
vor ein Gericht geladen wifd, das für den kreisärztlichen oder kreistierärztlichen
Amtsbezirk zuständig ist. Ein Bezirk, in dem der Kreisarzt oder der Kreistierarzt
die entsprechenden Geschäfte vertretungsweise wahrnimmt, steht dem eigenen
Amtsbezirke des Beamten gleich, (cfr. Min.-Blatt 1906, No. 12, S. 248.)
Erlass des Ministers der geistlichen pp. Angelegenheiten (I. A.: Förster)
an den Regierungspräsidenten in N. vom 14. Juni 1906, betreffend Aus¬
legung einiger Bestimmungen des Gesetzes über übertragbare Krankheiten.
Auf den Bericht vom 6. April dieses Jahres —.
Nach der vorgelegten Niederschrift über die Verhandlungen in der Ver¬
sammlung der Medizinalbeamten des dortigen Bezirkes vom 18. Dezember vorigen
Jahres ist bei der Besprechung des Landessouchengesetzes und seiner Ausführungs¬
bestimmungen vereinbart worden, dass auf dem Anzeigeformular der Zusatz zu
machen sei: „Bei Wohnungswechsel von tuberkulösen Kranken kann auf Antrag
des behandelnden Arztes eine Wohnungsdesinfektion durch den Kreisarzt veran¬
lasst werden“.
Ich mache darauf aufmorksam, dass für einen derartigen Hinweis das Gesetz
und die Ausführungsbestimmungen keine Grundlage bieten. Nur im Anschluss
an Anzeigen über Todesfälle an Tuberkulose kann nach § 8, Ziffer 5 in Verbindung
mit § 1, Absatz 3 des Gesetzes vom 28. August 1905 eine Desinfektion polizeilich
angeordnet werden.
Ferner hat nach der Niederschrift der Vorsitzende der Versammlung auf eine
Anfrage empfohlen, Typhusträger als krank im Sinne des § 8, Ziffer 10 des Ge¬
setzes vom 28. August 1905 anzusohen. Diese Auslegung ist mit den Aus-
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Amtliche Mitteilungen. 445
führungsbestimmungen — vergl. Absatz 5—5 der Vorschriften zu § 8 des Ge¬
setzes — nicht vereinbar.
Ew. Hochwohlgeboren ersuche ich ergebenst, das hiernach etwa Erforderliche
gefälligst zu veranlassen, (cfr Min.-Blatt 1906, No. 13, S. 268.)
Erlass des Ministers der geistlichen pp. Angelegenheiten (I. A.: Förster)
und des Ministers für Landwirtschaft, Domänen und Forsten (I. A.:
Küster) an die Regierungspräsidenten (Polizeipräsidenten, in Berlin) vom
29. Mai 1906, betreffend Ermittelungen über die Uebertragbarkeit der
Rindertuberkulose auf den Menschen durch den Genuss von Milch euter-
tuberkuloser Kühe.
Die wenigen infolge des Erlasses vom 5. Januar v. Js. zur Kenntnis des
Kaiserlichen Gesundheitsamts gebrachten Fälle des fortgesetzten Genusses von
Milch eutertuberkulosekranker Kühe durch Menschen haben nicht ausgereicht, um
über die Frage der Uebertragbarkeit der Rindertuberkulose auf den Menschen zu
einem sicheren Ergebnisse zu gelangen. Dem Kaiserlichen Gesundheitsamt er¬
scheint es von Wert, auch von solchen Fällen Kenntnis zu erhalten, in denen die
Personen, welche die ungekochte Milch einer eutertnberkulosen Kuh längere Zeit
genossen haben, bei der Untersuchung als vollkommen gesund befunden worden
sind, während bisher eine Mitteilung nur vorgesehen war, wenn bei einer der
untersuchten Personen Tuberkulose festgestellt werden konnte.
Euere pp. wollen hiernach die mit den Ermittelungen betrauten beamteten
Aorzte und Tierärzte mit Anweisung dahin versehen, dass das Ergebnis der
Untersuchungen auch dann dom Kaiserlichen Gesundheitsamte vorzulegen ist,
wenn die in Betracht kommenden Personen nicht an Tuberkulose erkrankt sind.
Bei dieser Gelegenheit sind die betreffenden Beamten erneut auf die Wichtigkeit
der Angelegenheit und auf die Notwendigkeit einer Beteiligung der nichtbeamteten
Aerzte und Tierärzte bei Sammlung des Materials aufmerksam zu machen, (cfr.
Min.-Blatt 1906, No. 15, S. 313.
Erlass des Ministers der geistlichen pp. Angelegenheiten (I. V.: Wovor)
und des Ministers des Innern (I. V.: v. Bischoffshansen) an die Ober«
Präsidenten und Reglernngspräsidenten vom 19. Juli 1906, betreffend Er«
mittelangen über den Ansbrnch übertragbarer Krankheiten and Anord¬
nungen von Schutzmassregeln.
Nach den §§ 6, 8 und 11 des Reichsgesetzes, betreffend die Bekämpfung
gemeingefährlicher Krankheiten, vom 30. Juni 1900 in Verbindung mit den §§ 6,
8 und 12 des Landesgesetzes, betreffend die Bekämpfung übertragbarer Krank¬
heiten, vom 28. August 1905 liegt die Anordnung von Ermittelungen über den
Ausbruch einer übertragbaren Krankheit und die Anordnung der Schutzmassregeln
der Ortspolizeibehörde ob mit der Massgabe, dass der Landrat befugt ist, die
Amtsverrichtungen der Ortspolizeibehörden für den einzelnen Fall einer übertrag¬
baren Krankheit zu übernehmen. Eine Ausnahme besteht nur für Militär-, Marine-,
Eisenbahn-, Post- und Telegraphenbehörden (§§ 39 und 40 des Reichsgesetzes).
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446
Amtliche Mitteilungen.
Hiernach ist die Ortspolizeibehörde bezw. der Landrat zur Ermittelung und Be¬
kämpfung übertragbarer Krankheiten auch in Provinzialanstalten zuständig.
Die Ortspolizeibehörde hat in den Fällen des § 6 des Reichsgesetzes und in
denjenigen des § 6 Abs. 1 des Landesgesetzes den zuständigen Kreisarzt zu be¬
nachrichtigen, und dieser ist zur Vornahme der Ermittelungen nicht nur berechtigt
sondern auch verpflichtet. Nach §§ 7 des Reichsgesetzes und 6 des Landesgesetzes
muss — abgesehen von gewissen, hier nicht interessierenden Fällen — dem Kreis¬
arzt der Zutritt zum Kranken und die Vornahme der erforderlichen Untersuchungen
gestattet werden.
Hiernach kann die Auffassung des Landesdirektors, dass für die auf Grund
der genannten beiden Gesetze ergehenden Massnahmen in Provinzialanstalten der
Oberpräsident auf Grund des Allerhöchsten Erlasses vom 12, Mai 1897 zuständig,
und der Kreisarzt nur auf dessen ausdrücklichen Auftrag zur Ausübung seiner
aus jenen Gesetzen sich ergebenden Obliegenheiten in Provinzialanstalten be¬
rechtigt sei, nicht als zutreffend erachtet werden. Abgesehen davon, dass im
Widerspruchsfalle dieser Erlass als lex prior jenen Gesetzen gegenüber nicht in
Betracht kommen könnte, betrifft er auch ein anderes Gebiet staatlicher Tätigkeit.
Bei Handhabung der genannten Gesetze handelt es sich nicht um Ausübung eines
gesundheitspolizeilichen Aufsichtsrechts, wie es der Allerhöchste Erlass vom
12. Mai 1897 im Auge hat, sondern um Exekutivbefugnisse der Polizei,
wie sie ihr gegen alle Personen gleichmässig zustehen, ohne Rücksicht darauf, ob
sie ihrer besonderen Aufsicht unterworfen sind oder nicht.
Wir bemerken, dass auch die parlamentarischen Verhandlungen über das
preussische Seuchengesetz jeden Zweifel an der Richtigkeit der vorstehenden Auf¬
fassung ausschliessen und ein in der Kommission des Abgeordnetenhauses ge¬
stellter Antrag, die auf dem Gebiete der Seuchenbekämpfung den Polizeibehörden
überwiesenen Obliegenheiten bei den Provinzialanstalten den Oberpräsidenten bei¬
zulegen, ausdrücklich abgelehnt worden ist (vergl. Kommiss. Bericht, Drucksache
No. 207 des Hauses der Abgeordneten. I. Session 1904 S. 9, 21, 22).
Eine Aenderung an dem bestehenden Reohtszustande, dem Anträge des
Landesdirektors entsprechend, daduroh herbeizuführen, dass den Aerzten der Pro¬
vinzialanstalten die Obliegenheiten der beamteten Aerzte innerhalb der Anstalt
auf Grund des § 13 Abs. 2 des Landesgesetzes übertragen würden, muss ich, der
mitunterzeichnete Minister der Medizinal-Angelegenheiten, bei aller sonstiger An¬
erkennung der Qualifikation der Anstaltsärzte der Provinzial Verwaltungen doch
Bedenken tragen. Die Befugnisse der Anstaltsärzte bosohränken sich auf das
Anstaltsgebiet und dessen Insassen. Die im Falle eines Seuchenausbruches vor¬
zunehmenden Ermittelungen und zu treffenden Schutzmassregeln werden aber
hierüber in der Regel weit hinausgehen müssen und sich in nicht seltenen Fällen
sogar über mehrere Ortschaften erstrecken. Dem Takt der Anstalts- und der
Kreisärzte vertrauen wir, dass sie bei der Bekämpfung übertragbarer Krankheiten
auch in Provinzialanstalten persönliche Reibungen zu vermeiden wissen und
durch geeignetes Zusammenarbeiten den Seuchenschutz um so wirksamer gestalten
werden, (cfr. Min.-Blatt 1906, No. 15, S. 313.)
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Amtliche Mitteilungen.
447
Erlass des Ministers der geistlichen pp. Angelegenheiten(I.V.: Wever) an die
Regierungspräsidenten, den Polizeipräsidenten in Berlin und den Landesdirektor
in Arolsen vom 18. Juli 1906, betreffend staatliche Anerkennung von Kranken¬
anstalten als Krankenpflegeschulen.
Auf den gefälligen Bericht vom 28. Juni d. Js. erwidere ich ergebenst, dass
nur solche Krankenanstalten als Krankenpflegeschulen im Sinne des § 5 Abs. 1
Ziffer 6 des Entwurfes von Vorschriften über die staatliche Prüfung von Kranken¬
pflegepersonen für die Zwecke der Ausbildung und Prüfung staatlich anerkannt
werden können, in denen eine einheitliche ärztliche Leitung nioht nur für die Be¬
handlung der Kranken und den Krankenhausbetrieb, sondern auch für den
theoretischen und praktischen Unterricht in der Krankenpflege vorhanden ist.
Dieser Unterricht hat wenigstens zu entsprechen dem auf Seite 9 des genannten
Entwurfs abgedruckten Plane für die Ausbildung in der Krankenpflege.
Ew. Hochwohlgeboren ersuche ich, nunmehr zur Erledigung des Erlasses
vom 8. Juni d. Js. gefälligst das Erforderliche unverzüglich zu veranlassen.
Erlass des Ministers für Medizinal-Angelegenheiten (I. A.: Förster) an die
Regierungspräsidenten und den Polizeipräsidenten in Berlin vom 15. Juni 1906,
betreffend Schülerselbstmorde.
Die 'Zählkarten über Schülerselbstmorde sind vor Einreichung an das König¬
liche Statistische Landesamt von den Kreisärzten den zuständigen Schulbehörden
zur Bestätigung der Angaben vorzulegen, (cfr. Min.-Blatt 1906, No. 13, S. 264.)
Erlass des Ministers für Medizinal-Angelegenheiten (I. A.: Schmidtmann)
an die Regierungspräsidenten und an den Landesdirektor in Arolsen vom
21. Juni 1906.
Das von der Medizinal-Abteilung bearbeitete Werk: „Das Gesundheitswesen
des Preussischen Staates im Jahre 1904“ wird für die Regierungs- und Medizinal¬
räte übersandt. Der Preis des Werkes beträgt für Königliche Behörden und
Medizinalbeamte bei direkter Bestellung in dem Verlage (Richard Schötz, Berlin
S.W.48, Wilhelmstrasse 10) 7 M. (cfr. Min.-Blatt 1906, No. 14, S. 290.)
In der Zeit vom 8. bis 13. Oktober 1906 wird in den Räumern des hygie¬
nischen Instituts der Universität Göttingen ein schulhygienischer Ferien¬
kursus für Lehrer höherer Lehranstalten abgehalten, (cfr. Min.-Blatt 1906,
No. 14, S. 291.)
Erlass des Ministers für Medizinal-Angelegenheiten (I. V.: Wever) und
des Ministers des Innern (I. V.: v. Bischoffshausen) an die Oberpräsidenten
vom 30. Juli 1906, betreffend Erhebungen über Krüppelkinder.
Der Deutsche Zentralverein für Jugendfürsorge beabsichtigt, durch Er¬
hebungen über die Zahl der Krüppelkinder eine zuverlässige Unterlage für den
Ausbau der praktischen Krüppelfürsorge zu gewinnen, deren Erweiterung und
Neugestaltung mit Hilfe der orthopädischen Chirurgie und durch besondere Art
des Unterrichts in geeigneten Krüppelanstalten angestrebt wird. Diese Erhebungen
sollen mit Unterstützung der Ortspolizeibehörden angestellt werden.
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Amtliche Mitteilungen.
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Der genannte Verein wird die erforderlichen Zählkarten usw. den Regierungs¬
präsidenten übersenden. Die durch die Ortspolizeibehörden mit Hilfe der Gemeinde¬
vorsteher und Lehrer am 10. Oktober d. J. ausgefüllten Zählkarten sind von den
Kreisärzten zu prüfen und sodann durch den Landrat (Oberbürgermeister) an die
Regierungspräsidenten usw. einzureiohen. (cfr. Min.-Blatt 1906, No. 15, S. 309.)
Erlass des Ministers für Medizinal-Angelegenheiten (I. A.: Schmidtmann)
an die Oberpräsidenten,' Regierungspräsidenten und den Polizeipräsidenten in
Berlin vom 2. August 1906, betreffend Bissverletzungen von Menschen
durch tolle oder der Tollwut verdächtige Tiere in Preussen im
Jahre 1905.
Im Jahre 1905 wurden in Proussen insgesammt 368 (262 = 71,2 °/ 0 männ¬
liche und 106 = 28,8 °/ 0 weibliche) Personen durch tolle oder der Tollwut ver¬
dächtige Tiere gebissen oder verletzt.
Die Verletzungen wurden durch 224 Tiere, nämlich 211 Hunde, 7 Katzen,
4 Rinder und 2 Pferde herbeigeführt.
Die 211 Hunde verletzten je 1 bis 9, im Ganzen 346 Menschen; die 7 Katzen
bissen je 1 bis 3, im Ganzen 12 Menschen; die 4 Rinder verletzten je 1 bis 3, im
Ganzen 8, und die beiden Pferde je 1 Menschen.
Von 119 Tieren wurden das Gehirn und das verlängerte Mark in dem Institut
für Infektionskrankheiten in Berlin untersucht. Bei 104 Tieren wurde hier Toll¬
wut festgestellt, in 15 Fällen konnte Tollwut nicht bestätigt werden. 67 Tiere
wurden auf Grund der Krankheitserscheinungen bezw. der Obduktionsergebnisse
als tollwutverdächtig erklärt, 11 erschienen gesund und 27 entzogen sich der
Untersuchung durch die Flucht.
Die 368 Verletzungen wurden in 11 Provinzen beobachtet, und zwar in
Sohlesien 94, Rheinprovinz 76, Westpreussen 37, Westfalen 33, Hessen-Nassau 28,
Posen 24, Ostpreussen 22, Pommern 20, Sachsen 16, Hannover 12 und Branden¬
burg 6.
Der Zeit nach kommen die meisten Verletzungen auf die Monate März und
April (48 und 46), die wenigsten auf den Dezember (16).
Von den 368 Verletzten begaben sich 323 = 87,8 °/ 0 zur Vornahme der
Schutzimpfung nach Pasteur in das Institut für Infektionskrankheiten in Berlin.
Von den 45 Personen, die sich nicht impfen Hessen, wurden 22 in ihrem Aufent¬
haltsorte ärztlich behandelt.
11 der Verletzten erkrankten an Tollwut und starben in wenigen Tagen.
Von diesen 11 hatten sich 4 nach der Verletzung in ärztliche Behandlung begeben,
4 nicht, 3 hatten sich der Schutzimpfung unterzogen. Obwohl in diesen 3 Fällen
die Schutzimpfung versagte, ist dennoch der Erfolg des Impfverfahrens auch in
diesem Jahre als ausserordentlich günstig zu bezeichnen. Es starben von den
323 Geimpften.3 = 0,93 %,
45 nicht Geimpften . . 8 = 17,8 °/ 0 .
Von den 323 geimpften Personen waren 176 durch die 104 Tiere verletzt
worden, deren Erkrankung an Tollwut durch Tierversuche festgestellt war. Von
diesen 176 Geimpften starben 2 = 1,14 °/ 0 . (cfr. Min.-Blatt 1906, No. 15, S. 314.)
Druck von L. Schumacher in Berlin N. 24.
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