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Full text of "Vierteljahrsschrift Für Gerichtliche Medizin Und Öffentliches Sanitätswesen ( 3. F.) 32.1906"

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Yiertelj ahrsschrift 


für 


gerichtliche Medizin 


und 


öffentliches Sanitätswesen. 


Unter Mitwirkung der Königl. wissenschaftlichen Deputation 
für das Medizinalwesen im Ministerium der geistlichen, 
Unterrichts- und MedizinaL-Angelegenheiten 

heraasgegeben 


Prof. A. Schmidtmann, und Prof. F. Strassmann, 

Geh. Ober-Med.-Rat in Berlin. Geh. Med.-Rat in Berlin. 


Dritte Folge. XXXII. Band. 
Jahrgang 1906. 

Mit 9 Tafeln. 


BERLIN, 1906. 

VERLAG VON AUGUST HIRSCHWALD. 

NW. UNTER DEN LINDEN 68. 


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Inhalt. 

Seito 

Gerichtliche Medizin . 1—122. 219—335 

Zur Kasuistik der forensischen pathologischen Bewusstseinsstörungen. 

Von Oberarzt Dr. Mönkemöller in Hildesheim. 1 

Sind die Degenerationszeichen wirklich wertlos? Von Medizinalrat 

Dr. P. Näcke in Hubertusburg.45 

Gutachten über den Zusammenhang zwischen Gasvergiftung und Geistes¬ 
krankheit. Erstattet von Wilhelm Peterssen-Borstel in Plagwitz 

a. Bober.57 

Aus der pathologisch-anatom. Anstalt des Krankenhauses im Friedrichs¬ 
hain-Berlin (Prosektor: Prof. v. Hansemann): Ueber die Einwirkung 
konzentrierter Aetzgifte auf die Magenwand. Von Dr. Walbaum in 

Steglitz.63 

Aus dem Pharmakologischen Institute zu Halle a. S.: Zum Nachweis 
von Chloraten im Harn. Von Dr.Herm. Hildebrandt, Privatdozenten 

für Pharmakologie und gerichtliche Medizin.80 

Aus der Unterrichtsanstalt für Staatsarzneikunde zu Berlin (Direktor: 
Geheimrat Prof. Dr. Strassmann): Zur Permeabilität der Leichenhaut 
für Gifte. 1. Sublimat. Von Dr. P. Fraenckel, Assistenten der Anstalt 90 
Aus dem gerichtlich-medizinischen Institute der K. K. Jag. Univ. in 
Krakau: Experimentelle Beiträge zur Lohre vom Ertrinkungstod. Von 

Prof. Dr. L. Wachholz . 96 

Kürzere Mitteilungen, Besprechungen, Referate, Notizen.116 

Aus dem Institut für gerichtliche Medizin der Kgl. Universität zu Rom 
(Direktor: Prof. S. Ottolenghi): Histologische Studien und bakterio¬ 
logische Versuche über Adipocire. Von Dr. Attilio Ascarelli. (Hierzu 

Tafel I—IX.).219 

Aus der Unterrichtsanstalt für Staatsarzneikunde zu Berlin (Direktor: 

Geh. Rat F. Strassmann): Ueber die Entstehungsweise des epiduralen 
Blutextravasates in verbrannten Leichen. Von Dr. St. von Horosz- 
kiewicz, Landgerichtsarzt und Privatdozent in Krakau, und Dr. Otto 

Leers, Vol.-Assistent der Unterrichtsanstalt.265 

Ueber einen Fall von epiduralem Bluterguss in einer verbrannten 

Leiche. Von Dr. H. Martini, Gerichtsarzt in Breslau.273 

Aus dem Institut Pasteur in Brüssel (Direktor Dr. J. Bordet): Ueber 
die praktische Bedeutung der Alexinfixation (Komplementablenkung) 
für die forensische Blutdifferenzierung. Von Dr. Ernst Ehrnrooth, 
Professor der gerichtlichen Medizin in Helsingfors (Finnland) . . . 276 


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IV 


Inhalt. 


Seite 


13. Aas der Königlich sächsischen Heil- and Pflegeanstalt Zschadrass: 

Kasuistischer Beitrag zur Frage über die strafrechtliche Zurechnungs¬ 
fähigkeit der Hysterischen. Von Oberarzt Dr. Hösel.284 

14. Die Aufgaben einer Psychologie der Untersuchungshaft. Von Dr. Hugo 
Marx, Assistenten der Unterricbtsanstalt für Staatsarzneikunde und 

II. Arzt des Untersuchungsgefängnisses Moabit zu Berlin .... 309 


15. Besprechungen, Referate, Notizen.333 

II. Oeffentliches Sanitätswesen . 123—199. 336—443 


1. Phosphor Wasserstoffvergiftung duroh elektrolytisch gewonnenes Ferro- 

silicium. Von Dr. Bahr, Köuigl. Kreisarzt des Stadtkreises Duisburg 
und des Kreises Ruhrort und Dr. Lehnkering, Vorsteher des 
städtischen chemischen Laboratoriums in Duisburg.123 

2. Ueber die Aenderung der Arzneibuch-Vorschrift für Digitalisblätter. 

Von Dr. Focke in Düsseldorf.130 

3. Ueber die zum Schutze der Arbeiter in Gummi-, Phosphor-, Streich¬ 
holz-und Spiegelfabriken zu treffenden Einrichtungen und Vorkehrungen. 

Mit 3 Textfig. Von Dr. Franke, Arzt in Alberschweiler (Schluss) 143 

4. Das Giessfieber und seine Bekämpfung mit besonderer Berücksichtigumg 

der Verhältnisse in Württemberg. Von Dr. Julius Sigel in Stuttgart. 174 

5. Besprechungen, Referate, Notizen.188 

6. Aus der Königlichen Versuchs- und Prüfungsanstalt für Wasserversor¬ 
gung und Abwässerbeseitigung (Leiter: Geh. Ober-Med.-Rat Prof. Dr. 
Sohmidtmann): Ueber den Wert der Sandfiltration und neuerer Ver¬ 
fahren der Schnellfiltration zur Reinigung von Flusswasser bzw. Ober- 
tlächenwasser für die Zwecke der Wasserversorgung. Von Dr. med. 

R. Hilgermann, wissenschaftlichem Hilfsarbeiter der Anstalt . . 336 

7. Das Giessfieber und seine Bekämpfung mit besonderer Berücksichtigung 

der Verhältnisse in Württemberg. Von Dr. Julius Sigel in Stutt¬ 
gart (Schluss).384 

8. Untersuchungen über die Verunreinigung der Leine durch die Abwässer 

der Stadt Göttingen und ihre Selbstreinigung, ausgeführt im Sommer 
1904. Von Dr. Th. Fricke, Göttingen.413 

9. Besprechungen, Referate, Notizen.431 

III. Amtliche Mitteilungen . 200—218. 444—448 


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I. Gerichtliche Medizin. 


1 . 

Zur Kasuistik der forensischen pathologischen Be¬ 
wusstseinsstörungen. 

Von 

Oberarzt Dr. Mönkemöller in Hildesheim. 


Trotz der intensiven und langdauernden Beschäftigung der foren¬ 
sischen Psychiatrie mit den Geistesstörungen der Epileptiker trennt 
uns von dem alten von Humanität und Zweckmässigkeit mit gleichem 
Nachdruck diktierten Gebote, dass jeder eines Verbrechens beschuldigte 
Epileptiker auf seinen Geisteszustand gerichtsärztlich untersucht werden 
soll, noch eine weite Kluft. In dieser langen Zeit des liebevollsten 
Eingehens auf die Eigenart der Epilepsie ist die forensische Psychiatrie 
leider noch nicht zur völligen Einigung über manche der wichtigsten Punkte 
dieses bedeutungsvollen Kapitels durchgedrungen. Zwar dass bei den 
Dämmerzuständen nicht die völlige Aufhebung des Bewusstseins das 
Pathognomonische ist und dass demgemäss nicht die totale oder partielle 
Amnesie in erster Linie den absoluten Prüfstein für ihre Echtheit 
abgeben darf, sondern dass das traumhaft veränderte Bewusst¬ 
sein das Charakteristische für diese Zustände ist, dem hat man sich 
jetzt ja im allgemeinen angeschlossen, vor allem seit dem bekannten 
Vortrage Siemerlings 1 ). Und doch scheut man gelegentlich noch 
immer davor zurück, den epileptischen Charakter mancher derartiger 
Zustände anzuerkennen, wenn die Erinnerung gut erhalten ist. Als 
Schultze 2 ) über seine interessanten Fälle von autoraatisme ambulatoire 

1) Siemerling, Ueber die transitorischen Bewusstseinsstörungen der Epi¬ 
leptiker in forensischer Beziehung. Berl. klin. Wochenschr. 1895. No. 42. S. 908. 

2) Schultze, Beitrag zur Lehre von den pathologischen Bewusstseins¬ 
störungen. Allg. Zeitschr. f. Psych. 1898. Bd. 55. S. 748. 

Vierteljahrsschrift f. ger. Med. u. öff. 8an.-Wesen. 3. Folge. XXXII. 1. i 


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Dr. Mönkemöller, 


berichtete, hielt man ihm entgegen 1 ), dass das Fehlen erheblicher Be¬ 
wusstseinsstörungen und das Vorhandensein einer so guten Rück- 
erinnerung nicht sehr zugunsten der Diagnose Epilepsie sprächen. 
Besonders Fürstner 2 ) betonte, dass für den epileptischen Wander¬ 
trieb das Charakteristische die Amnesie sei. Bei einer ähnlichen Ge¬ 
legenheit 3 ) hielt Gottlob daran fest, dass die Erinnerung an die Vor¬ 
kommnisse während der Dämmerzustände vollkommen erlösche. 

Ebenso wenig herrscht bis jetzt darüber Uebereinstimmung, ob es 
zum Nachweise des epileptischen Charakters einer zweifelhaften Be¬ 
wusstseinsumnebelung genügt, wenn sich in dem Vorleben die Perio¬ 
dizität mancher krankhafter Erscheinungen feststellen lässt. Einer 
nicht geringeren Uneinigkeit erfreut sich die Abgrenzung so vieles dessen, 
was man als epileptische Antezedentien bezeichnen soll. 

Was Wunder, wenn in foro bei derartigen Differenzen über so 
wichtige Kriterien noch immer in zweifelhaften Fällen die Begutachtung 
zu verschiedenen Resultaten gelangen kann. Das Fehlen dieser Ueber¬ 
einstimmung in wissenschaftlicher Beziehung ist ja bei dem diffizilen 
Charakter des Gegenstandes verständlich, aber um so bedauerlicher, 
als die praktischen Schwierigkeiten in der forensischen Begutachtung 
schon mehr als genügen, um den Gerichtsarzt in Verlegenheit zu bringen. 

Man braucht nur an die enorme Vielgestaltigkeit der Psychose 
zu denken, an die meist vorhandene Unmöglichkeit, den objektiven 
Befund einwandsfrei festzustellen, an den Mangel an ausreichender 
Beobachtung im entscheidenden Augenblicke, an das meist nach aussen 
hin wenig auffallende Verhalten der Kranken, an das schnelle Vorbei¬ 
gleiten dieser Zustände. Wohl von keiner andern psychischen Krankheit 
gilt wie von ihr die alte Regel, dass kein Fall genau so ist wie der 
andere und das es bei der Begutachtung immer der ausgiebigsten Indi¬ 
vidualisierung bedarf. Wie bei keiner andern muss man in foro 
darauf gefasst sein, dass durch plötzliche Zwischenfälle und durch 
neue Zeugenaussagen dem Falle eine ganz andere Beleuchtung zuteil 
wird, wie in der Voruntersuchung. Dabei braucht man noch garnicht 
daran zu denken, dass auch die bewusste Simulation wohl in keiner 

1) Schultze, Ueber epileptische Aequivalente. Allg. Zeitschr. f. Psych. 
1900. Bd. 57. S. 145. 

2) Diskussion über den Vortrag von Schultze, Allg. Zeitschr. f. Psych. 
1898. Bd. 55. S. 806. 

3) Diskussion über die Vorträge von Schultze und Thomsen. Allg. 
Zeitschr. f. Psych. 1900. Bd. 57. S. 147. 


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Zur Kasuistik der forensischen pathologischen Bewusstseinsstörungen. 


3 


anderen Psychose derart berücksichtigt werden muss, wie bei diesen 
pathologischen Bewusstseinsstörungen, dass man einerseits objektiv 
sehr häufig nur sehr schwer die Grenzen der simulatorischen Betätigung 
ziehen kann, dass man aber andererseits sich auch gerade hierbei davor 
hüten soll, in übertriebener Weise Simulation zu wittern, wenn man 
nicht den Angeschuldigten bitteres Unrecht tun soll. 

Ob diese Bewusstseinsstörungen gegen früher zugenommen haben, 
wird sich wohl schwer feststellen lassen, dass ihnen in foro ein viel 
weiteres Feld eingeräumt wird, wie früher, ist sicher. Dafür hat nicht nur 
die bessere psychiatrische Ausbildung der Gerichtsärzte gesorgt, auch 
in die richterlichen Kreise ist die Kenntnis dieser Zustände weiter ein¬ 
gedrungen. Dass der Verteidigung diese wirksame Waffe, deren Führung 
keiner besonderen Kunst zu bedürfen scheint, nicht entgangen ist 
und dass manche Angeklagten, vor allem dann, wenn sie schon früher 
einmal einen reellen derartigen Zustand durchgemacht haben, sie ge¬ 
legentlich gerne als Rettungsanker benutzen Werden, liegt ja in der 
Natur der Sache. 

Unter den Neuaufnahmen der Heil- und Pflegeanstalt zu Osnabrück 
befanden sich in den letzten fünf Jahren 57 Kranke (36 Männer und 
21 Frauen), bei denen eine transitorische krankhafte Veränderung des 
Bewusstsein nach der Natur der Krankheit erwartet werden konnte. 
(Epileptiker, Hysterische, Alkoholisten, Traumatiker). ln der Regel 
konkurrieren ja bei vielen dieser Kranken mehrere ätiologische Faktoren. 
Bei diesen 57 Kranken liessen sich im ganzen 32 mal pathologische 
Bewusstseinsstörungen nachweisen (prae- und postepileptische Ver¬ 
wirrtheitszustände, Aequivalente, epileptoide Zustände, larvierte Epi¬ 
lepsie, Wanderzustände, hysterische Dämmer- und Verwirrtheitszustände, 
pathologische Rauschzustände). Da nach Wildermuth 1 ) das spezifisch 
epileptische Irresein mit Bewusstseinsveränderung ira Verhältnis zur 
Epilepsie nicht sehr häufig ist, erschienen diese Zahlen unverhältnis¬ 
mässig hoch. Erklären lässt sich diese Tatsache zunächst dadurch, 
dass die Epilepsie, — denn sie stellt ohne Frage das Hauptkontingent 
zu diesen pathologischen Bewusstseinsstörungen — wofern sie über¬ 
haupt zur Anstaltsbehandlung gelängt, meist in den pastoralen Epi¬ 
leptikeranstalten strandet. Hier findet man sich zunächst auch mit 
einer schweren epileptischen Degeneration ab und selbst die schwerste 


1) Wildermuth, Die epileptische Geistesstörung in bezug auf die Straf- 
rechtspfloge. Allg. Zeitschr. f. Psych. 1896. Bd. 52. S. 1095 

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Dr. Mönkemöller, 


Demenz und eine hochgradig gesteigerte Reizbarkeit vermögen meist 
nicht, den Kranken aus dem Banne der Fastoralmedizin zu lösen, wenn 
nicht die akuten Entladungen der Epilepsie die Umgebung des gefähr¬ 
lichen Kranken nötigen, ihn schweren Herzens der zünftigen Psychiatric 
zu überlassen. Auch der chronische Alkoholismus ohne akute Exazer¬ 
bation hat sich in unserer Gegend noch nicht die Rittersporen einer 
echten psychischen Erkrankung erkämpft, um in der Anstaltsstatistik 
die Zahlen für die auf alkoholistischer Basis erwachsenden Bewusstseins¬ 
störungen im richtigen Verhältnisse erscheinen zu lassen. Andererseits 
laufen gerade die pathologischen Rauschzustände — nicht nur im Auf¬ 
nahmebezirke der Osnabrücker Anstalt — in der Regel zweifellos ab, 
ohne vom Irrenarzte beobachtet und erkannt zu werden. Fast aus¬ 
nahmslos imponieren sie nur als schwere Betrunkenheit und über eine 
solche ist Jedermann Sachverständiger, und das Gros der Juristen räumt 
in letzter Linie dem Psychiater ein besseres Urteil über diese Sache 
ein, ganz abgesehen davon, dass für die Verantwortlichkeit, die einem 
schwer Betrunkenen zugemessen wird, die Grenzen meist recht weit 
gezogen werden. 

Auffälliger ist ja schon der geringe Prozentsatz, mit dem die 
weiblichen Kranken an diesen Zuständen sich beteiligen; es fallen hier¬ 
her nur 6. Es entspricht das übrigens u. a. den Zahlen Aschaffen- 
burgs 1 ), der seine periodischen Stimmungsanomalien unter Kranken 
bei 44 Männern und nur bei 6 Frauen fand. In gewisser Beziehung 
mag ja die Tatsache daran schuld sein, dass die ätiologischen Faktoren, 
die das Gewicht der bestehenden epileptischen Disposition nebenher 
noch verstärken und die Auslösung derartiger Zustände befördern, also 
vor allem Alkoholismus, Kopftrauma und geistige Ueberanstrengung, 
bei dem weiblichen Geschlechte viel weniger in Betracht kommen und 
dass dem weiblichen Gehirne bei der ganzen Lebensführung und Be¬ 
schäftigung weniger zugemutet wird, was es aus -dem Gleichgewichte 
bringen könnte. 

In diesen 27 Bewusstseinsstörungen ist es 21 mal zu einem Konflikte 
mit den Strafgesetzen gekommen oder es musste bei Zusammenstössen 
mit den bestehenden Gesetzen eine' solche Bewusstseinsstörung in den 
Kreis der Betrachtungen gezogen werden. Von den 6 weiblichen 
Kranken ist das keiner einzigen passiert, wie überhaupt in der Statistik 

1) Aschaffenburg, Ueber gewisse Formen der Epilepsie. Wander¬ 
versammlung der südwestdeutschen Neurologen und Irrenärzte. Arch. f. Psych. 
1895. XXVII. S. 955. 


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Zur Kasuistik der forensisohen pathologischen Bewusstseinsstörungen. 5 


der forensischen Dämmerzustände die männlichen Delinquenten un- 
verhältnissmässig im Vordertreffen stehen. Es ist dies ja auch bei 
der Stellung, die das Weib einnimmt, kaum anders zu erwarten. Meist 
bleibt die Frau zuhause, erst recht natürlich, wenn sie an Krämpfen 
leidet, und geht so der Gefahr, mit der Aussenwelt zu kollidieren, 
aus dem Wege. Das Familiengefühl deckt Insulte gegen Familien¬ 
angehörige, die ja noch hier am ehesten in Betracht kommen, mit 
dem Mantel der Liebe zu, und verantwortliche Posten, in denen die 
Frau im umflorten Bewusstsein gegen die Pflichten des Amtes ver- 
stossen kann, nimmt sie so gut wie gar nicht ein. Dazu hat sich der 
agent provocateur in solchen Zuständen, der Alkohol, bei ihnen noch 
nicht eine Stellung erobert, wie bei den Männern. 

Am instruktivsten bleiben hierbei die Fälle, in denen in diesen 
Zuständen merkwürdige Handlungen begangen werden, ohne dass eine 
direkte Gesetzesübertretung vorliegt, und bei denen nachher die Er¬ 
innerung vollkommen erloschen ist. Sie dienen uns als warnendes 
Menetekel, wenn man in zweifelhaften forensischen Fällen von einem 
allzugrossen Skeptizismus gequält wird. Gerade bei diesen Dämmer¬ 
zuständen ist es kein Wunder, wenn man manchmal unnötigerweise 
von gelinden Zweifeln an der Echtheit derartiger Amnesien erfasst 
wird. Verlangt ja auch Kirn 1 ) gerade hierfür eine strenge Kritik. 
Nur solche Anfälle, welche einem der heute ganz bestimmt festgcstellten 
klinischen Typen entsprechen und sich tatsächlich auf der Grundlage 
der epileptischen Neurose entwickelt haben, sollen hierher gerechnet 
werden. 

Von ganz besonderer Wichtigkeit sind diese nichtforensischen Be¬ 
wusstseinsstörungen natürlich dann, wenn derartige Kranke in späteren 
Dämmerzuständen mit dem Gesetze in Kollision geraten und die Be¬ 
gutachtung oder die richterlichen Gewalten in die Zurechnungsfähigkeit 
des Täters Zweifel zu setzen geneigt sind. Sehr häufig sind sie es 
allerdings gerade, die spätere Konflikte mit den Gesetzen nicht zu¬ 
stande kommen lassen, weil sie die Ueberführung der Kranken in eine 
geregelte Ucberwachung nach sich ziehen. 

Ein Kranker stand mittags, obgleich von seiner Umgebung absolut nichts 
Auffälliges an ihm bemerkt wurde, mitten in der Unterhaltung vom Tische auf und 
stürzte sich ohne das geringste Motiv in einen Teich. Totale Amnesie. Am Tage 
darauf wiederholt sich derselbe Vorgang mit minutiöser Genauigkeit und mit dem- 

1) Kirn, Die epileptischen Geisteszustände mit Bezug auf die Strafrechts¬ 
pflege. Allg. Zeitschr. f. Psych. 189G. Bd. 52. S. 1104. 

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Dr. Mönkemöller, 


selben Verluste der Erinnerung. Ein Alkobolist bestieg nach ganz minimalem Al- 
kobolgenusse den Rathausturm und versuchte, sich herunterzustürzen. Wiederum 
kein Motiv, wiederum nach einigen Stunden vollständiger Verlust der Erinnerung 
für den Vorgang. 

Bei derartigen Kranken kann man sich natürlich auch am ersten 
über die Intensität der Bewusstseinsstörung und die Stärke der vor¬ 
handenen Erinnerungen ein Urteil bilden, ohne eine Trübung des Er¬ 
gebnisses durch die Furcht des Kranken vor einer richterlichen Ahndung 
befürchten zu müssen. 

Sehr bemerkenswert in dieser Hinsicht ist der Bericht eines Epi¬ 
leptikers, der über alle seine Erlebnisse ein Tagebuch führte. 

E., 34 Jahre alt, ohne Beruf. Mutter Hysterika, Schwester dito, ein Bruder 
Idiot, zwei andere Brüder sehr begabt aber nervös und leicht aus der Contenance 
zu bringen. Seit dem 7. Lebensjahre schwere (meist nächtliche) Anfälle mit Ein¬ 
nässen, Kotentleerung, Zungenbiss, Kopfschmerzen, Schwindelanfällen. Sehr früh 
eintretende Verringerung der Intelligenz, Pat. kommt in der Schule nicht weit, 
bringt es trotz aller Anläufe zu keinem Berufe, bleibt in der Familie, ist voll¬ 
kommen unselbstständig. Reizbar, starker Hang zur Frömmelei. Im Anschlüsse an 
die Anfälle stundenlang verwirrt und enorm gehemmt, hat mehrere Male Sinnes¬ 
täuschungen. Ohne Anlehnung an einen Anfall ist er mehrere Male stundenlang 
fortgedämmert, wusste nie, weshalb er fortgewollt hatte. Summarische Erinnerung, 
sprach immer mit grossem Widerwillen von diesen Zuständen. 

Im Sommer 1904 in Ei. in Pension untergebracht, hatte strenge Weisung, 
sich nicht ohne Begleitung von Ei. zu entfernen, fügte sich diesen An¬ 
ordnungen für gewöhnlich willig. B., von dem später die Rede ist, liegt mehrere 
Kilometer von Ei. entfernt. E. hatte die Absicht demnächst dorthin zu 
fahren, weil ein Verwandter von ihm dort wohnte, wollte jedoch diese 
Fahrt in Begleitung machen: 

„Es war ein herrlicher Morgen, dass ich noch so früh erwacht war, einige 
Stücke vom Morgenkonzert zu hören. Ich eilte in den Kurpark, wo ich bei einer 
Tasse Kaffee bis zum Schluss des Konzerts sass. Nun gedachte ich einen 
kleinen Spaziergang zu machen und ging den Weg am kleinen Logierhaus 
hinauf. Da verschiedene Kurgäste ebenfalls dahergingen, beschloss ich zu 
folgen, denn ich wusste nicht, wohin der Weg führe. Es war die 
göttliche Führung. Nach merkwürdig kurzer Zeit bin ich in B. angelangt. 
Da fiel mir ein, dass ich dort einen Verwandten habe und frage mehrere Leute 
auf der Strasse. Da ich keine Auskunft erhalte, gehe ich in ein kleines Gasthaus, 
wo ioh ein Adressbuch zu finden hoffe. Ich geniesse noch eine Tasse Kaffee, er¬ 
halte aber kein Adressbuch. Ich bat nun die Kellner mir zu sagen, wo hier eine 
christliche Herberge sei. Sie schicken mich in eine andere Strasse; auf dem Markt¬ 
platz steht ein Polizist, der mir die Strasse recht zeigt und auch die Hausnummer 
nennt. Ich komme hin. Das Haus sieht mir gamicht recht christlioh aus und es 
steht auch nichts davon daran. Ich komme hinein in eine Gaststube, wo etwa 
4 Menschen sassen. Einer ein Invalide mit einer ganzen Reihe Ehrenzeiohen. Er 
war gerade daran einem anderen stilleren Mann einen Brief an den Fürst zu 


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Zar Kasuistik der forensischen pathologischen Bewusstseinsstörungen. 7 


diktieren. Er prahlte vom alten Kaiser Wilhelm und musste schon zu viel ge¬ 
trunken haben. Ein anderer, welcher bessere Reden führte, bot sich mir an mich 
zu führen. Auf dem Wege predigt er mir noch von vielen Bibelstellen und fragt 
auf der Strasse nach Pastoren. Er sagt mir noch, wie gern er in einen christlichen 
Verein, womöglich Temperenzler, treten möchte und bittet mich, ihm bei dem 
Pastor mit Fürsprache zu helfen. Wir kommen nun zu einem Pastor (Hofprediger) 
und ich bitte dort erst für meinen Begleiter. Derselbe selbst bittet aber den Pastor 
um 50 Pf., worüber ich schon fast sprachlos werde, da der Pastor ihm dieselben 
auch ohne weiteres gibt. Dann fragt er mich nach meinem Verlangen und ich 
bitte um Auskunft der Verwandten, kann aber vor Erstaunen nicht reden, 
so wird der Pastor ungeduldig, er behauptet ich sei ein völlig Betrunkener 
und er wirft mich zur Türe hinaus. Noch fast in Tränen schwimmend fragte 
ich, ob er so hart sein könnte. Auf der Strasse erwartet mich mein Begleiter und 
ichhabenunkeineLustmehr, ihmzu folgen. Wir kehren zur Herberge 
zurück, wo der Invalide und andere, alle bis auf einen betrunken noch sitzen. 
Sie führen Gotteslästerungen im Mund, wobei ich mich nicht fürchte, ihnen 
die Reden zu verbieten und siehe, sie sind ruhig. Jetzt bietet sich mir der 
nicht Betrunkene, der stets ruhig war, an, mich zum Telephon und zur Post zu 
begleiten, damit wir meinen Bruder in Binz über Hannover um Auskunft bitten. 
Erstaunt über solche Hülfe gehe ich mit. Wir finden, trotzdem es Mittag ist, die 
Post offen und telephonieren nach Hannover, wo wir Auskunft erhalten, 
dass Bruder und Mutter in Binz sind. Wir telegraphieren nun nach Binz und 
bitten um dringende Antwort, um Adresse der Verwandten; in einer Stunde sollen 
wir die Antwort holen. Alles auf der Post ist merkwürdig billig. Wir zwei kehren 
nun zur Herberge zurück, wo die Betrunkenen noch sitzen. Mein früherer Be¬ 
gleiter will mir, ohne zu fragen, ein Mittagessen geben, wofür ich aber natürlich 
völlig danke. — Nach einiger Zeit tritt ein Polizist, der, den ich am Morgen nach 
diesem Lokal gefragt hatte, in die Stube; er hat einiges mit den Betrunkenen, 
welche er zu kennen scheint. Dann bittet er mich, mitzugehen. Ich bitte ihn, 
noch auf die Post nach dem Telegramm fragen zu dürfen und er gestattes es. 
Er will mioh aber erst zu einem anderen Gasthaus führen, wo mich ein Herr 
sprechen will. In einem feinen Hotel, bisher batte ich heute noch nichts gegessen 
und der Polizist fragt mich um Essen; mir ist es recht, was gerade zum Tag da ist 
und ich erhalte vorzügliches Essen. Obwohl ich glücklicherweise ruhig und nicht 
ängstlich, sondern mich ruhig führen lasse, klar alles als Gottesfügung er¬ 
kenne, weiss ich nicht, ob ich das Essen bezahlt habe. Nach dem Essen 
sind zwei Herren da, welche mich sprechen wollen, einer glaube ich, ein ver¬ 
wandter Assessor. Ich weiss nicht mehr, was man mich fragt, aber nach 
Vollendung sagt der Polizeidiener, ich solle nun mit ihm gehen. Er führt mich 
zur Polizei, wo ich auf eine Zelle gebracht werde. Stets Gott vertraut, rege 
ich mioh nicht auf, sondern hoffe auf seine Erlösung. Ich fand ein Ge¬ 
sangbuch im Zimmer mit Liedern und Bibelstellen, welche mir Trost und Kraft 
gaben. Auf der Strasse geht wohl gerade ein höheres Begräbniss vor¬ 
bei, denn ich höre Choräle spielen, was mir natürlich noch mehr 
Trost gibt. Dann kommen Gefängniswärter herein, welche die Matratze mit 
einer anderen vertauschen. Obwohl mir dies den Gedanken eingab, ich werde die 
Nacht hier schlafen müssen oder gar Gedanken hatte, als sei mein Todes- 


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Dr. Mönkemöller, 


urteil gesprochen, bitte ich Gott im Gebet um Hülfe und erhalte wieder Trost. 
Es kommt der eine Herr (der Assessor von heute Mittag, also der Verwandte) 
herein und fragt so merkwürdig, ob ich noch Wünsche habe, etwa noch was 
zu essen, ob ich lesen wolle. Ich sagte indes erstaunt, ich habe nichts zu be¬ 
fehlen, was er fast nicht anhören will. Als er fort ist, bringt man mir noch Bücher. 
Bald kommt der Türschliesser und sagt Herr R. sei da um mich abzuholen und 
Herr R. tritt herein und sagt, er habe einen Wagen mitgebracht. Jetzt erhalte ich 
nach Liste alle Sachen wieder. Ich danke dem Polizeidiener, der es offenbar gut 
gemeint und mich von den Besoffenen befreite, und fahre mit Herrn R., da ich frei¬ 
gelassen bin, nach Ei. zurück. — Wohl manchmal hat mir über solche Erlebnisse, 
deren ich manche im Leben durchgomacht, das Herz brechen wollen, wenn ich 
dann bloss dachte, welche Schande es wäre und wer es alle erfahren würde; doch 
Gott gab mir stets seinen Trost. 

Sehr bezeichnend in dieser Schilderung ist zunächst der eigenartig 
mystische Ton, der durch das ganze Erlebnis geht. Er hat während 
der Zeit das Gefühl, dass dieser Zustand und sein ganzes Handeln 
sonderbar ist und erklärt ihn sich als Fügung Gottes. Dabei ahnt 
er hinter ganz harmlosen Erlebnissen einen bedeutungsvollen Hinter¬ 
grund. Möglicherweise spielt wohl bei Epileptikern, die wie unser 
Kranker zum Mystizismus neigen, diese Beeinflussung durch göttliche 
Fügung, die gelegentlich noch durch Sinnestäuschungen verstärkt werden 
mag, in ihren Wanderzuständen eine gewisse Rolle. 

In unserem Falle muss wohl eher berücksichtigt werden, dass bei 
ihm die Absicht, nach B. zu reisen, im normalen Gedankeninhalte 
enthalten war und dass diese Absicht in den Dämmerzustand hinein¬ 
genommen wurde, wenn ihre Ausführung sich auch ganz anders ge¬ 
staltete, als sie in normalen Zeiten gedacht war. Es ist eine Handlung 
im Sinne eines schon lange bestehenden Yorstellungskreises bei ver¬ 
änderter Bewusstseinslage, wie Moeli 1 ) sie bei Alkoholisten beschreibt. 

Am Ende des Anfalls fühlt E. sich traurig und gekränkt, gerade 
wie die Kranken Donaths 2 ). 

In forensischer Beziehung ist diese Schilderung zunächst deshalb 
von Bedeutung, weil sie die enonne Schädigung der Willensfreiheit sehr 
anschaulich vor Augen stellt, die sich des Kranken in diesem Zustande 
bemächtigt. Obwohl er noch so weit bei Bewusstsein ist, dass er eine 
ganze Reihe von Erinnerungen bilden kann, obwohl er eine Menge von 

1) Moeli, Ueber die vorübergehenden Zustände abnormen Bewusstseins in 
Folge von Alkoholvergiftung und über deren forensische Bedeutung. Allg. Zeit¬ 
schrift f. Psych. 1900. Bd. 57. S. 169. 

2) Donath, Der epileptische Wandertrieb (Poriomanie). Arch. f. Psych. 
1899. Bd. 32. S. 355. 


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komplizierten Handlungen vornimmt, obwohl er die Aussenwelt ziemlich 
richtig einschätzt, gerät er sklavisch unter fremde Einflüsse und wird 
der Spielball seiner Umgebung, mag sie ihm auch noch so herzlich 
zuwider sein. Obgleich er sich der Gesellschaft des Schnorrers, 
der seinen Zustand ausnutzt und der wahrscheinlich noch ganz andere 
Sachen mit ihm hätte aufstellen können, gerne entziehen möchte, ist 
er nicht imstande, sich von ihm loszureissen. Andererseits findet er 
zwischendurch wieder die Kraft, sobald sein religiöses Gemüt verletzt 
wird, diesem Milieu ordentlich die Meinung zu sagen. Später wird er 
wieder das willenlose Objekt des Willens seiner Umgebung, ohne jede 
Spur von Willenskraft lässt er alles über sich ergehen, was man mit 
ihm vornimmt. Die Trübung des Bewusstseins sowohl wie die auto¬ 
matische Art des Handeln entsprechen am besten den Zuständen des 
natürlichen oder hypnotischen Somnambulismus. Dabei entgeht der 
Umgebung nicht das Pathologische dieses Zustandes. Ob die minder¬ 
wertige Gesellschaft, in die er geraten war, es erkannt hatte, Hess 
sich nicht feststellen, der Pastor hielt ihn für schwer betrunken und 
benachrichtigte die Polizei; im Gefängnis (er würde nur in Schutzhaft 
genommen) benachrichtigte man sogleich telegraphisch die Angehörigen, 
dass er in eine gefährliche Geisteskrankheit verfallen sei. Es bestätigt 
das die Erfahrung Siemerlings 1 ), dass, wenn es gelingt, Erkundi¬ 
gungen einzuziehen, sich meist recht markante Angaben über das 
Sonderbare des Benehmens ergeben. Demgegenüber ist es ganz er¬ 
staunlich, in wie geringem Masse sein Gedächtnis für diesen Vorfall 
gelitten hat. Liest man seinen literarischen Erguss durch, so hat man 
das Gefühl, die lückenlose Schilderung der Vorgänge vor sich zu haben, 
zumal er in der peinlichsten Genauigkeit auch eine Fülle von belang¬ 
losen Einzelheiten erwähnt. Trotzdem lässt sich bei ihm nachweisen, 
dass sich in diese Kette von tadellosen Erinnerungen zweifellose am¬ 
nestische Defekte einschieben. So weiss er von der ganzen Tour von 
Ei. nach B. trotz angestrengten Nachdenkens auch nicht die geringste 
Einzelheit anzugeben. Und das ist gerade derjenige Teil des Erleb¬ 
nisses, indem die Poriomanie einsetzt und die z. B. beim Militär bei 
einer Desertion die Zeit repräsentiert hätte, in die die strafbare 
Handlung gefallen wäre. Weiterhin ist bei ihm die Erinnerung dafür 
nicht nachzuweisen, dass ihm auf der Polizei alle seine Sachen ab¬ 
genommen worden sind. Schliesslich ist er im Gefängnisse von einem 


1) Siemerling, 1. c. S. 911. 


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Arzte untersucht worden, hat bei der Untersuchung Engel im Zimmer 
herumschweben gesehen und sich selbst für Christus ausgegeben. Auch 
hier für absolute Amnesie. Wären in diesen Zeitraum kriminelle Hand¬ 
lungen hineingefallen, so würde man richterlicherseits der Echtheit dieses 
Erinnerungsausfalles bei dem sonst so gut erhaltenen Gedächtnisse sicher¬ 
lich ganz erhebliche Bedenken entgegengesetzt haben und so bleibt 
dieser Fall für die forensische Bedeutung der eingesprengten Erinne¬ 
rungsdefekte bei sonst fehlender Amnesie ein recht brauchbares Beispiel. 
Später kam übrigens der Kranke einmal in den Verdacht, mit Kindern 
unsittliche Handlungen begangen zu haben. Die Schilderung dieses 
Vorganges führte ohne weiteres zur Einstellung des Verfahrens, zu dem 
die schwere Demenz des Kranken nicht als ausreichend anerkannt wurde. 

Ziemlich häufig, aber forensisch belanglos, sind die schon erwähnten 
Familiendelikte, die gegen die Angehörigen und das persönliche Eigen¬ 
tum gerichtet sind, ohne das Einschreiten der Polizei und des Gerichts 
nach sich zu ziehen. Hierher gehört vor allem das Zerreissen der 
Kleider und das Zertrümmern der Möbel und anderer Wertgegenstände, 
das Einschlagen von Fensterscheiben (7 mal). Manchmal werden die 
gegen die nächste Umgebung gerichteten tätlichen Angriffe forensisch, 
auch wenn diese selbst auf die Ahndung des Deliktes verzichtet. 

Ein Kranker wickelte sich ohne ein Wort zu sagen einen Unterrock seiner 
Mutter um den Kopf, um dann eine heftige Attake auf sie zu machen. 

Auch wenn die weitere Umgebung unter der Betätigung der sinn¬ 
losen Triebe dieser Dämmerzustände zu leiden hat, ist oft die einzige 
Reaktion nicht das Einschreiten des Staatsanwaltes, sondern die Ueber- 
führung in die Irrenanstalt, weil eben das Sinnlose und Pathologische 
des Tuns so klar auf der Hand liegt und die Täter meist als Epi¬ 
leptiker bekannt sind. Besonders bei den protrahierten, Wochen und 
Monate dauernden Dämmerzuständen schliesst das Bestehen schwerer 
und charakteristischer Krankheitserscheinungen jeden Zweifel an einer 
schweren Psychose und der Zurechnungsfähigkeit des Täters auch für 
den unkundigen Beobachter aus 1 ). 

Ein solcher Kranker erregte dadurch öffentliches Aergemis, dass er wieder¬ 
holt im Hemde über die belebte Dorfstrasse herüberdämmerte; ein anderer drang 
am hellerlichten Tage mehrere Male in fremde Häuser durch das Fenster ein; ein 
dritter machte sich einer schweren Beamtenbeleidigung schuldig, indem er einen 
Schutzmann auf belebter Promenade umarmte und küsste. In allen 3 Fällen totale 
Amnesie. 


1) Korn, 1. c. 


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Verfallen die Dämmerzustände der Rechtsprechung, so wird die 
Beurteilung sehr häufig dadurch erleichtert, dass die Erkrankung eine 
derartige Verschlechterung des allgemeinen psychischen Zustandes im 
Gefolge gehabt hat, dass schon dadurch die Zurechnungsfähigkeit des 
Individuums ausgeschlossen ist oder zum mindesten doch zweifelhaft 
wird. Dass man in solchen Fällen sich über die Intensität der Auf¬ 
hebung des Bewusstseins nicht so viel Kopfschmerzen zu machen 
braucht und dass es nichts verschlägt, wenn einmal derartig Kranke 
die Tiefe dieser Bewusstseinsstörungen intensiver gestalten, als es der 
Wirklichkeit entspricht, ergibt sich von selbst. In solchen Fällen ist 
es für die praktische Begutachtung meistens ganz angebracht, den 
Schwerpunkt auf die Gesamterkrankung zu legen und die akute 
psychische Exazerbation nur als begünstigendes Moment zu verwerten. 
Sie wird dann um so eher durchdringen, als die Gerichte nun einmal 
diesen Zuständen meist mit einer gewissen Skepsis gegenüberstehen. 
In klinischer Beziehung verlieren diese Zustände unleugbar an Interesse. 

Von anseren Fällen gehört hierher zunächst ein schwer degenerierter Alkohol¬ 
epileptiker, der in L. aufgegriffen worden war, weil er ohne Gewerbeschein ge¬ 
handelt hatte. Bei dieser Gelegenheit setzte er sich gegen den Polizisten sehr 
energisch zur Wehr und stiess mehrere gröbliche Beleidigungen gegen ihn aus. 
Es liess sich bei ihm feststellen, dass eine retrograde Amnesie von 2 Tagen be¬ 
stand. Er leugnete das Delikt und wusste überhaupt nicht, wie er nach L. ge¬ 
kommen war. Seine Erinnerung reichte nach dem mit der Bahn in ca. 6 Stunden 
erreichbaren Bremen zurück. 

Ein zweiter Kranker setzte im alkoholischen Dämmerzustände seine eigene 
sehr schlecht versicherte Wohnung in Brand und benahm sich beim Löschen auf¬ 
fällig und sinnlos. Eine chronische Alkoholparanoia, die mit Sinnestäuschungen 
verbunden war, genügte, um ihm den Schutz des § 51 zu erwirken. 

Ein anderer schwer degenerierter Kranker fuhr verschiedene Male ohne Billet 
auf der Eisenbahn; wieder ein anderer setzte mit unverhältnismässiger Gewalt¬ 
tätigkeit einen Einbruchsdiebstahl in Szene, um ganz wertlose Gegenstände in 
seinen Besitz zu bringen; ein dementer Epileptiker batte vollkommene Amnesie 
für eine Erpressung, die er auf der Landstrasse begangen hatte. 

Ein klassisches Beispiel eines pathologischen Rauschzustandes bietet 
der nachfolgende Fall: 

Gr., Bahnarbeiter, erblich nicht belastet. Aergerte sich immer so leicht, dass 
er einen roten Kopf bekam. Litt manchmal an heftigen Stirnkopfschmerzen. Wenn 
er sich bückte, fleckte es ihm vor den Augen, sodass er auf hören musste zu arbeiten. 
Später fiel er mehrere male zu Boden, weil dieses Gefühl sich intensiv steigerte. 
Konnte nicht viel Alkohol vertragen; wenn er getrunken hatte, wusste er nachher 
nie genau, was passiert war. Aergerte man ihn in diesem Zustand, dann wusste 
er nicht, was er tat und ärgerte sich „über alle Welten u . Er fand sich dann in 


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Lokalitäten wieder, an denen er garnichts za suchen hatte. So erschien er einmal 
beim Pastor, ron dem er sonst gar nichts wissen wollte, ohne eine Ahnung za 
haben, was er dort wollte. Seine Frau musste ihm immer alles erzählen, was er 
getan hatte. Nach solchen Zuständen fühlte er sich sehr elend. Kopfschmerzen. 
Appetitlosigkeit. 

In den letzten Jahren periodisch anftretende Alkoholexzesse, die Resistenz* 
losigkeit steigert sich, Gr. gerät in Konflikt mit seiner Umgebung. Allmählig ent¬ 
wickelt sich bei ihm ein ausgeprägtes Wahnsystem mit alkoholistischer 
Färbung. 

Nach dem Genuss von Schnaps für 15 Pf., sehr erregt, lärmt herum, droht, 
schimpft. Beklagt sioh beim Stationsvorsteher über den Assistenten, der ihm nicht 
wohlwolle. Muss nach Hause geschickt werden, wehrt sich wütend, als er vom 
Bahnsteig mit Gewalt geschleppt werden muss. Schimpft masslos weiter, fragt auf 
der Strasse alle Leute, ob er besoffen sei. Geht auf die Post, lässt sich mit 
einem ihm sonst gänzlich unbekannten Arzte in einem entfernten Orte 
telephonisch verbinden und fragt ihn durch das Telephon, ob er (Pat.) be¬ 
soffen sei. Das gleiche tut er mit einem Apotheker, der gleichfalls in einem ent¬ 
fernten Orte wohnt. Bezahlt die Telophongebühr, geht dann zn einem Omnibus¬ 
besitzer, verlangt einen Omnibus, er wolle nach C. fahren, um sich von einem 
Arzte chemisch untersuchen zu lassen. Nachdem er sich noch einen 
ganzen Tag auf den nächsten Dörfern herumgetrieben und sehr viel Geld aus¬ 
gegeben hat, kehrt er, gegen seine sonstige Gewohnheit schmutzig und verwahrlost 
nach Ne. zurüok. 

Von dem Augenblicke an, wo er vom Bahnsteig geschickt wurde, 
bis zum Aufwachen in einem Wirtshause vollkommene Amnesie (2y 2 Tag). 

Dass schon die chronische Paranoia genügte, um die Freisprechung 
des Angeschuldigten herbeizuführen, erleichterte die Beurteilung in be¬ 
trächtlichem Masse. Die strafbare Handlung, die zur Begutachtung 
führte, fällt allerdings gerade in den Dämmerzustand, aber es war 
sehr fraglich, ob dieser allein von durchschlagender Kraft gewesen 
wäre, da die ganze Umgebung den Angeschuldigten nur für im geringen 
Masse betrunken gehalten hatte und von einer psychischen Störung 
durchaus nichts hatte wissen wollen. Obgleich die Menge Alkohol, 
die diesen Zustand nach sich zog, auffällig gering war, hätten ander¬ 
seits die barocken Handlungen, die er in diesem Zustande vornahm, 
an eine psychische Krankheit denken lassen müssen. Bemerkt sei 
noch, dass bei ihm eine epileptische Disposition sich nicht sicher nach- 
weisen liess. Die nervösen Störungen, die bei ihm bestanden, traten 
nicht periodisch auf, und ihre Abhängigkeit von dem Alkoholmissbrauche 
lag fast immer so nahe, dass man nicht auf die Epilepsie zurückzugreifen 
brauchte. Allerdings traten diese Alkoholexzesse selbst später in ziemlich 
regelmässiger Periodizität auf und so mag immerhin der Grundcha¬ 
rakter der ganzen Krankheit der epileptische gewesen sein. Der Fall 


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reiht sich unter die Fälle Moelis 1 ) ein, bei denen eine kurz vorher 
erst entstandene mit einem Affektausbruch verbundene Gedankenreihe 
(Notwendigkeit zu konstatieren, dass keine Betrunkenheit vorliege) 
auch im veränderten Bewusstsseinszustande gewissermassen aufrecht 
erhalten und in Handlungen umgesetzt wird. 

Die Schwierigkeiten in der Beurteilung mehren sich naturgemäss 
— wenigstens für den Augenblick —, wenn derartige Kranke in diesen 
Zuständen ins Wandern geraten und an dem Orte, an dem ihre epi¬ 
leptischen Antezedentien unbekannt sind, mit dem Gesetze in Konflikt 
geraten. Sind sie unauffällig in ihrem Wesen, dann wird die Frage 
nach ihrer Zurechnungsfähigkeit häufig schon deshalb gamicht gestellt 
werden, weil sie als Vagabunden und Vorbestrafte schon mit der Haft 
und dem Gefängnis innig vertraut sind und deshalb keinen Versuch 
machen, gegen die Bestrafung irgend welche Schritte zu tun. 

Sind die psychischen Krankheitssymptome sehr ausgeprägt und 
treten vor allem die körperlichen Begleiterscheinungen in den Vorder¬ 
grund, dann erheben sich gelegentlich differentialdiagnostische Schwierig¬ 
keiten, während in forensischer Beziehung die Entscheidung über die 
Zurechnungsfähigkeit natürlich sehr erleichtert wird. 

Schn., Schuhmacher, 45 Jahre alt. Wird in den städtischen Anlagen in 0. 
liegend aufgefunden, nachdem er Blätter und Aeste abgerissen und durch sein 
wunderliches Wesen einen Auflauf erregt hat. Man hält ihn für betrunken. Auf 
der Wache stellt sich heraus, dass er bei einem Sohuhmacher 1 Tag lang ge¬ 
arbeitet hat. Im Gefängnisse macht er ohne jeden Grund einen tätlichen Angriff 
auf den Gefangenenaufseher. Wegen Geisteskrankheit aus der Haft entlassen und 
dem Krankenhause überwiesen. Hier deprimiert, gibt lange Zeit gar keine Antwort, 
verweigert die Nahrung. Später sehr ängstlich, man laure auf seinen Tod, man 
möge ihm nur den Kopf abschlagen. Nachts werde er furchtbar gequält, man 
brenne ihm beständig seine Hände. Pupillen auffallend eng. Beim Sprechen 
beständiges Zucken der Gesichtsmuskulatur. 

Bei der Aufnahme in die Heil- und Pflegeanstalt starrer Gesichtsausdruck. 
Lebhafte Euphorie. Weitschweifige Redeweise, verliert häufig den Faden. 
Grosse Demenz. Geringer Affekt. Habe seit mehreren Jahren Anfälle, weiss 
aber nicht seit wie lange. Weiss, dass er beim Schuhmacher gearbeitet hat, dagegen 
nicht, wie er von diesem fortgekommen ist; für die Vorgänge in den Anlagen fehlt 
ihm vollkommen die Erinnerung. Bestreitet, im Gefängnisse gewesen zu sein. 
Weiss nicht, wie er in das Krankenhaus gekommen ist. Verwechselt sehr häufig 
Anstalt und Krankenhaus. 

Sehr spärliches Haupthaar und typisches Leukoderma. L. Lidspalte < R., 
ebenso L. Pupille <[ R. Starke Myosis. R./L. nur spurweise vorhanden, 


1) Moeli, 1. c. S. 184. 


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R./C. prompt. Der L. Mundwinkel hängt, Pat. spricht nur mit der R. Ge¬ 
sichtsseite. Die Zunge zittert, zeigt keine deutlichen Narben. Starker 
Tremor manuum. Leichte Ataxie der 0. E. Kniephänomene gesteigert. Bei 
tiefen Nadelstichen in den Unterschenkel sehr schwache Reaktion. Gang 
taumelnd. Sprache häufig hesitierend, beim Nachsprechen der Paradigmata 
stärkeres Kleben. 

Einige Tage später ist Pat. ganz frei. Es ergiebt sich eine ziemlich be¬ 
trächtliche Demenz. Wie auch durch die Nachforschungen sich feststellen lässt, 
leidet er seit seinem 14. Lebensjahre an Krämpfen, Kopfschmerzen und Sohwindel- 
anfällen. War schon mehrere male im postepileptischen Verwirrtheitszustände fort¬ 
gedämmert. Ueber die letzten Vorgänge weiss er noch immer keine Auskunft zu 
geben, habe nur einen Tag bei dem Schuhmacher gearbeitet. Alkoholgonuss in 
Abrede gestellt und nicht nachzuweisen, ebenso scheint kein Krampfanfall Vor¬ 
gelegen zu haben. Die Papillen sind jetzt noch etwas unter mittelweit, die Licht¬ 
reaktion erfolgt prompt. Die FazialisditTerenz ist noch ausgeprägt. Kniephänomene 
etwas lebhaft. Die Analgesie der Unterschenkel besteht nicht mehr, vielleicht 
ist noch eine geringe Herabsetzung der Schmerzempfindlichkeit vorhanden. Die 
Sprache ist schwerfällig, der Demenz des Kranken entsprechend, dagegen ist eine 
artikulatorische Spraohstörung auch beim Nachsprechen der Paradigmata 
nicht zu ermitteln. 

Ueber die Tatsache, dass Schn, psychisch krank war, bestanden 
von vornherein nicht die geringsten Zweifel. Ob aber nur eine epi¬ 
leptische Psychose vorhanden sei, darüber konnte man in den 
ersten Tagen bei dem Fehlen der Vorgeschichte durchaus verschiedener 
Ansicht sein, der Verdacht auf Paralyse spielte in die Differential¬ 
diagnose sehr energisch herein. Ganz abgesehen von den eventuellen 
Residuen einer Lues, der ausgeprägten Demenz und der unverkenn¬ 
baren Euphorie mussten die körperlichen Lähmungserscheinungen diesen 
Verdacht nahelegen. Bei alten Epileptikern, bei denen neben der 
schweren psychischen Schädigung sich ja sehr häufig nervöse Schädi¬ 
gungen (Pupillendifferenz, träge Pupillenreaktion, Facialisparesen, 
Sensibilitätsstörungen etc.) finden, wird man wohl noch öfters im 
ersten Augenblicke nicht imstande sein, zu einer abschliessenden 
Diagnose zu gelangen. In dem unsrigen musste die Veränderung 
der Sprache während des Dämmerzustandes diesem Verdachte neue 
Nahrung zuführen. 

Dass die Sprache während des Anfalles häufig verändert ist, ist 
ja bekannt, so berichtet Räcke 1 ) über einen Kranken, der nicht auf 
Anreden reagierte, kein Wort sprach und nur in stereotyper Weise 


1) Räcke, Das Verhalten der Sprache in epileptischen Verwirrtheits¬ 
zuständen. Münch, med. Wochenschr. 1904. No. 6. 


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Zar Kasuistik der forensischen pathologischen Bewusstseinsstörungen. 15 

seinen Namen nannte, kurzum den Eindruck eines Aphatikers machte. 
Nicht selten beobachtet man eine abgehackte oder skandierende 
Sprechweise, oder die "Worte werden in langsamer, gedehnter Weise 
ausgesprochen, während die Sprache klanglos und wenig betont ist, 
die artikulatorischen Störungen dagegen sind entschieden ziemlich 
selten. Siemerling 1 ) berichtet über einen Kranken, dessen Sprache 
in diesem Zustande lallend war. 

Auf die Dauer wird damit der Annahme Donaths 2 ), dass 
Verwechslungen mit Paralyse nicht Vorkommen werden, natürlich kein 
Abbruch getan. 

Aehnlich, • aber in forensischer Beziehung interessanter ist fol¬ 
gender Fall. 

Hö., 37Jahre alt, Maurer. Wird am 25. 3. 05 in J. beim Betteln aufgegriffen. 
In der Vernehmung verkennt er seine Umgebung. Aeussert mehrere male die Ab¬ 
sicht, in Russland eine Kirche zu bauen. Macht einen dementen Eindruck, ist ge¬ 
hemmt und unruhig. 

Am 26. 3. 05 Anstaltsaufnahme. Hier zunächst äusserst gleichgültig, 
euphorisch, nimmt von seiner Umgebung nicht die geringste Notiz, spricht viel 
Unverständliches vor sich hin. Gibt auf Fragen gar keine Antwort, ln seinen 
Steinbrüchen würden von seinen vielen Arbeitern Steine gebrochen. 
Er wolle in Russland zur höheren Ehre Gottes eineKirohe bauen, die 
100Meter hoch werden solle. Vernachlässigt sein Aeusseres, steht gerne am 
Fenster, macht wiegende Bewegungen, nickt mit dem Kopfe, zeigt nach aussen hin, 
dabei unaufhörlich vor sich hinmurmelnd. 

Weissliche oberflächliche Narben an verschiedenen Stellen des Körpers, 
Leistendrüsen härtlich geschwollen, Tibiakanten gekörnelt. Auf dem Kopfe zahl¬ 
reiche Narben. Lichtreaktion vorhanden, aber träge. Starkes Händezittern. 
Kniephänomene vielleicht etwas schwach, beim Durchstechen der 
Haut an den Unterschenkeln minimale Reaktion. Gang breitbeinig. 
Sprache etwas gepresst, zeitweise schleppend und schmierend. 

Mehrere Tage sehr dämmerig, taut dann auf, ist ziemlich dement, aber nicht 
entfernt in dem Masse, wie es bei seiner Aufnahme sohien. R./L. jetzt prompt, 
Spraohe ohne Störung. Keine Störung der Schmerzempfindung. 

Habe verschiedene Kopfverletzungen erlitten (Fall vom Gerüst, Schlag 
mit dem Hammer auf den Kopf). Seitdem Kopfschmerzen und Schwindel, habe 
mehrere male alle möglichen Sachen gemacht, für die er später keine Erinnerung 
gehabt habe. Gibt zu, vorbestraft zu sein. Jetzt sei er zuletzt in Paderborn ge¬ 
wesen, habe eine Strafe abgemacht, sei ins Krankenhaus gekommen, habe nachher 
noch mehrere Tage gearbeitet und sei dann auf die Wanderschaft nach Münster 
gegangen. Auf der Landstrasse höre seine Erinnerung auf. Weiss nicht, dass er 
in J. im Gefängnisse und vor dem Gerichte war, dass er von der Kirche gesprochen, 


1) Siemerling, 1. c. S. 911. 

2) Donath, 1. c. S. 353. 


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wie er in die Anstalt gekommen nnd dass er sich auf der Wachabteilung befunden 
hat. Seine Erinnerung fängt mit seinem Aufenthalte auf der Siechenstation an. 

Sein Strafregister weist zahlreiche Bestrafungen wegen Hausfriedensbruches, 
Widerstandes, Sachbeschädigung auf. In Paderborn hatte er im Gefängnisse einen 
ernstlichen Selbstmordversuch gemacht und unbestimmte Verfolgungsideen 
geäussert. Wurde wegen Delirium im Krankenhause behandelt. 

Gibt später spontan an, er habe sich vor einem Jahre in der Universitäts¬ 
klinik zu H. befunden. War dort tatsächlich 6 Wochen zur Beobachtung: 

Am 9. 3. 04 beim Betteln verhaftet, macht einen angetrunkenen Ein¬ 
druck. Wird bald apathisch, grunzt, bleibt hartnäckig im Bett liegen. Schreit und 
lärmt. Der Kreisarzt erklärt, sein Bewusstsein sei getrübt. Recherchen er¬ 
geben, dass er Trinker, Raufbold und äusserst gewalttätig ist. Hat zu Hause 
mehrere male die Möbel in brutaler Weise zertrümmert. Schmutzt ein, läuft nackt 
in der Zelle herum, nachdem er Kleider und Essen aus dem Fenster geworfen hat, 
macht den Eindruck, als halluziniere er. 

Auf dem Wege zur Anstalt ruhig und orientiert. In der Exploration geordnet. 
Für die Haft unvollständige Erinnerung, es sei ihm „so im Kopfe gewesen.“ 
Klagt über Kopfschmerzen. Beide Pupillen reagieren etwas träge, Würg¬ 
reflex herabgesetzt, Kniephänomene etwas erhöht. Macht in der Auto¬ 
anamnese dieselben Angaben über seine Traumata, die amnestischen Zustände 
kehrten alle Vierteljahre wieder. Erzählt alles richtig, nur für die Zeit seines 
Erregungszustandes hat er absolut die Erinnerung verloren, weiss nur noch un¬ 
deutlich, dass der Kreisarzt da war. 

Klagt mehrere male über Angst und Kopfschmerzen. Sitzt meist alleine 
für sich. 

Das Gutachten kam zu dem Schlüsse, dass sich nicht nachweisen lasse, dass 
er zur Zeit der Begehung der strafbaren Handlung geisteskrank gewesen sei, in 
der klinischen Krankengeschichte ist die Diagnose nicht ausgefüllt. 

Wieder musste bei dem Kranken im Dämmerzustände selbst, als 
die Autoanamnese versagt und noch keine weiteren Angaben aus seiner 
Vorgeschichte vorliegen, die Vermutungsdiagnose zunächst auf pro¬ 
gressive Paralyse gestellt werden. In diesem Falle gesellten sich zu 
den sonstigen gravierenden schon erwähnten Momenten noch die Grössen¬ 
ideen, um diese Annahme wahrscheinlich zu machen. Dass er wirklich 
krank war, darüber konnte man zur Zeit der Bewusstseinsstörung nicht 
verschiedener Meinung sein. Wäre er im Jahre vorher nicht nach, 
sondern während der Zeit des Dämmerzustandes selbst der klinischen 
Beobachtung verfallen, * so wäre die Begutachtung fraglos zu einem 
andern Ergebnisse gelangt. Lag doch auch damals für eine Simulation 
kaum ein genügender Grund vor. Das Delikt, das er sich im Dämmer¬ 
zustände hatte zuschulden kommen lassen, war so geringfügig, dass 
es Ho., der schon durch eine lange Reihe von Haftstrafen abgebrüht 
war, sich kaum der Mühe der Verstellung unterzogen haben würde, 


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Zur Kasuistik der forensischen pathologischen Bewusstseinsstörungen. 17 

wie er denn auch die Strafe selbst mit der grössten Seelenruhe auf 
sich nahm und vor Gericht nicht den geringsten Versuch machte, seine 
psychische Störung als mildernden Grund ins Feld zu führen. 

Vielleicht hätte man ihm in theoretischer Beziehung mehr gerecht 
werden können — in praktischer Beziehung zog er die kurze Gefängnis¬ 
strafe dem längeren Aufenthalte in der Irrenanstalt vor, — wenn auf 
das Verhalten der Pupillenreaktion ein grösseres Gewicht gelegt 
worden wäre, auch in H. wurde ausdrücklich konstatiert, dass die 
Lichtreaktion träge war. 

Da wir an der Lichtreaktion, wenn sic träge oder negativ ist, 
ein objektives Zeichen dafür haben, dass keine Simulation .vorliegt, 
so kann in solchen Fällen, wenn sie noch in dem krankhaften Zustande 
selbst zur Beobachtung gelangen, nicht dringend genug darauf hin¬ 
gewiesen werden, dass eine möglichst genaue und öfters wiederholte 
Prüfung der Pupillenreaktion vorgenommen werden muss. Es ist ja 
schon wiederholt 1 ) betont worden, dass die Lähmung der Pupillen 
einen Massstab für die Allgemeinintoxikation des Gehirns darstellt 
und uns Gewissheit über das Vorhandensein einer mehr oder weniger 
schweren Störung oder Trübung des Bewusstseins gibt. Besonders 
wichtig ist auch die Erfahrung, dass sie eine Probe für die Stadien 
abgibt, die unmittelbar auf den Alkoholgenuss folgen und gleichzeitig 
einen Anhalt für die Annahme einer allgemeinen grossen Vulnera¬ 
bilität des Nervensystems gewährt (Vogt). 

In die Anstalt gelangen sie ja allerdings selten früher als nach 
Ablauf des Zustandes, die Fälle, in denen sie wie unsere Kranke so 
bald im Anstaltshafen landen, sind entschieden nicht die Hegel. Im 
Polizei- oder Gerichtsgefängnisse, in dem sie ja meist zur Untersuchung 
kommen, wird diese Untersuchung aber leider noch sehr häufig ver¬ 
säumt und wenn sie vorgenommen wird, so fehlt den Aerzten, die 
mit dieser Aufgabe betraut werden, fast ausnahmslos die nötige Routine, 
um auch dem geringen Grade der Abschwächung der Reaktion die 
gebührende Aufmerksamkeit schenken zu können. 

Die Schwierigkeiten, die der Begutachtung selbst beim Vorhandensein 

1) Cramer, Ueber die forensische Bedeutung des normalen und patho¬ 
logischen Rausches. Offizieller Bericht der 1. Hauptversammlung der deutschen 
Medizinalbeamten. München 1902. — Vogt, Ueber die Wirkung des Alkohols auf 
die Veränderung der Pupillenreaktion. Berl. Klin. Wochenschr. 1905. Jahrg. 42. 
No. 12. S. 322. — Gudden, Ueber die Pupillenreaktion bei Rauschzuständen 
und ihre forensische Bedeutung. Neurolog. Zentralbl. 1900. S. 1096. 

Vierteljalirsschrift f. ger. Med. u. öff. San.-Wesen. 3. Folge. XXXII. 1 . 9 


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einer genauen Vorgeschichte erwachsen können, wenn es sich nur um 
psychische Epilepsie handelt, illustriert folgender Fall: 

Am 4. 3. 00 entfernte sich der Matrose K. vom Ortsurlaube in W\ Am 
nächsten Tage wurde er in E., das 62 km von W. entfernt liegt, verhaftet. Eine 
Eisenbahnverbindung bestand um die betreffende Zeit nicht mehr. Er kam am 
5. 3. in einer sehr beschmutzten Uniform zu den Matrosen einer Brigg, die in E. 
vor Anker lag, sprach mit ihnen über seine Familienverhältnisse und gab sofort 
an, er sei desertiert, weil er seine Mutter, die ihn enterbt habe, strafen wolle. 
Wenn man ihn verhaften sollte, würde er für verrückt erklärt werden. 
Man möge ihn nach Danzig bringen. Dort habe er adelige Verwandte und eine 
Schwester, die Schauspielerin sei. (Hat de facto gar keine Schwester.) In England 
habe er das Navigationsexamen gemacht. Nachdem er noch ein dickes Buch ge¬ 
zeigt hatte, aus dem er Aufzeichnungen vorlas, trennte er von seiner Mütze 
die Kokarde und das Mützenband und von seinemRocke die Patent¬ 
knöpfe ab, aufZureden heftete er aber sofort wieder alles an. Gegen Abend 
entfernte er sich wieder spontan, nachdem er erzählt hatte, man halte ihn in der 
Kompagnie für verrückt. Er erklärte dabei, er werde wiederkommen, obgleich man 
ihm gesagt hatte, er werde nicht mitgenommen werden. Die Matrosen hielten ihn 
für normal, „obwohl er viel verworrenes Zeug schwatzte.“ Er bummelte 
nun gemächlich am Hafen herum und wurde sofort verhaftet. Dom Polizei¬ 
sergeanten, der ihn festnahm, erzählte er, ein anderer Mann habe an seiner Stelle 
seinen Urlaubspass, auf Befragen gab er gleichgültig zu, er sei desertiert. 

Am 5. 3. erklärte er in der Vernehmung, er habe nicht fahnenflüchtig werden 
wollen, er müsse geistesgestört gewesen sein. Aufden Gerichtsherrn machte 
er einen merkwürdigen Eindruck. 

Am 13. 4. gab er an, er sei mit einem anderen Matrosen zusammengegangen, 
wie weit, könne er nicht sagen, auch nicht, wohin er alleine gegangen sei. Erst 
am anderen Tage sei er mittags in E. zum Bewusstsein gekommen und habe sich 
auf einer Brigg Essen geben lassen. Was er dort gesagt und getan habe, könne 
er nicht mehr genau sagen. Er müsse unbewusst gehandelt haben. Er habe öfters 
Zustände, in denen eine Gewalt ihn zwängo, einer momentanen Eingebung un¬ 
bedingt zu folgen, dann könne er nichts essen und trinken und müsse das tun, 
was ihm eingegeben werde. Dann solle er öfters unsinniges Zeug gesprochen 
und getan haben, seine Kameraden hätten ihn nachher darauf aufmerksam ge¬ 
macht, er selbst wisse nichts davon. Früher habe er sich durch einen Sturz auf 
dem Schiffe eine Verletzung des Rückens zugezogen, wobei ihm das Gefühl 
im Rücken verloren gegangen sei. Am 18. 4. bestritt er, von dem grössten 
Teile der Handlungen, die er auf der Brigg begangen hatte, Kenntniss zu haben. 

In der Stammrolle ist vermerkt: „Ist in seinem Wesen scheu und macht 
häufig den Eindruck eines geistig nicht normalen Menschen, dabei 
streitsüchtig.“ Sein Kapitänleutnant hatte nie geglaubt, dass K. sich im Voll¬ 
besitze seiner geistigen Kräfte befinde und machte darauf aufmerksam, dass er im 
Jahre vorher eine ähnliche Handlung begangen habe. Als er damals von K. nach 
W. kommandiert wurde und in 0. umsteigen musste, lief er vom Bahnhofe weg 
und machte einen sehr weiten Marsch durch die Heide, um sich schliesslich bei 
einem Gemeindevorsteher zu melden. Dieser hatte geglaubt, K. sei geistig nicht 


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Zar Kasuistik der forensisohen pathologischen Bewusstseinsstörungen. 19 


normal oder auffallend dumm. Der Kompagniechef gewann damals bei der 
Vernehmung den Eindruck, dass er geistig verwirrt gewesen sei. Auch früher 
hatte er die Ueberzeugung gewonnen, dass K. sich nicht im Vollbesitze seiner 
geistigen Kräfte befinde. Von einer Disziplinarstrafe wurde Abstand genommen 
und die Verhandlung nur aufgehoben, weil es nicht ausgeschlossen erschien, dass 
man später noch einmal Gebrauch davon maohen könne. 

Bei seinen Kameraden hiess er der verrückte K. Sein Wesen kam ihnen 
sehr sonderbar vor, es erschien ihnen häufig als nicht normal. Er war reiz» 
bar, von sich selbst überzeugt, wollte andere immer belehren, erzählte gelegentlich 
phantastische Geschichten und führte ein dickes Buch über seine Erlebnisse. Ein* 
mal kündigte er den Weihnaohtsfeiertag als seinen Todestag an, dann wolle er 
sich totschiessen; ein anderes mal sagte er: „morgen kommt der Kaiser, da 
will ich mich aufhängen und zu Petrus gehen.“ Bei einer anderen Ge¬ 
legenheit äusserte er, er wolle die Stube in Brand stecken und Petroleum darauf 
giessen, dass sähe so schön aus, wenn es brenne. H'äufig setzte er sich an 
den Tisch und stützte den Kopf in die Hand, dann war er einsilbig 
und wortkarg. Auf der Strasse führte er manchmal plötzlich ganz konfuse 
Reden, und gab so widersinnige Antworten, als ob er seine 5 Sinne nicht bei 
einander habe. So wollte er einmal seine Uhr abholen, obwohl er gar keine hatte. 
Eines Abends stellte er sämtliche Schemel in der Stube pyramidenförmig über¬ 
einander, wies den Kameraden die Türe und erklärte, jetzt wolle er die Stube zur 
Stelle melden. Als die Wache einmal abends mit der Laterne an sein Bett kam, 
üng er an mit Händen und Füssen in ungeheurer Geschwindigkeit um 
sich zu schlagen, dann lag er ganz ruhig im Bett und war trotz allen 
Rüttelns nicht zu erwecken, sein Gesicht war bleich. Am anderen 
Morgen wusste er von dem ganzen Vorfälle nichts. Solche Zustände sollte er 
öfters gehabt haben. Von seiner Mutter äusserte er, sie wolle ihn um sein Ver¬ 
mögen bringen, er werde sie erwürgen und ihr das Haus über dem Kopfe anstecken. 
Sämtliche Kameraden waren über die Desertion sehr erstaunt. 

Im Gutachten des Oberstabsarztes D. vom 5. 4. 00 war gesagt, es handele 
sich wahrscheinlich um einen epileptisohen Dämmerzustand, doch sei die 
Möglichkeit einer Verstellung nicht von der Hand zu weisen. Mit Rücksicht 
auf die Aussagen der Matrosen und die Behauptung des Angeklagten, dass er nur 
für einen Teil der Erlebnisse auf der Brigg die Erinnerung verloren habe, 
gelangte die militärärztliche Oberbegutaohtung zur Anschauung, dass Simulation 
vorliegen müsse, weil es ein derartiges Ineinandergreifen eines epi¬ 
leptischen Dämmerzustandes und einer psychisch freien Zeit nicht 
gebe. 

16. 5.-r 18. 6. Anstaltsbeobachtang. Einwandsfreie Angaben aus seinem 
Vorleben waren nicht zu erhalten, nur war er in seiner Jugend in einer 
Besserungsanstalt gewesen. — In körperlicher Beziehung ist nur eine in¬ 
differente Narbe über dem rechten Auge zu erwähnen. Für Hysterie lagen in 
körperlicher Beziehung keine Anzeichen vor. 

Habe als Kind mehrere male eingenässt. Sei öfters aus dem Schlafe auf¬ 
geschreckt, habe sich einmal vor das Bett bingestellt und gesagt: „ich bin es 
nicht.“ Sei als Kind mehrere male bewusstlos gewesen, habe später viel an 

2 * 


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Dr. Mönkemöller, 


Schwindelanfallen gelitten „dann soll ich starr sitzen oder hin- nnd hergeben 
und wenn einer kommt, dann muss er mich ein paar mal anreden und dann tu 
ich auch mitgehen. Manchmal wird mir unheimlich, dann ist mir so, als 
ob das Herz stillstehe, dann steigt die Angst nach dem Kopfe, dann 
wird mir schwarz ror den Augen, dann schwitzt mir auch, dann muss ich an 
etwas anderes denken.“ Heredität, Trauma, Lues, Potus, Krämpfe, Kopfschmerzen, 
Zungenbisse, Lähmungen, Kontrakturen, Sprach Verluste, Schrei-, Lach-, Wein¬ 
krämpfe, Rcsistenzlosigkeit gegen Hitze und Alkohol negiert. 

Ueber die beiden fraglichen Dämmerzustände gibt er prompt Auskunft, ohne 
zu überlegen und ohne jemals in den geringsten Widerspruch zu geraten. Wird 
bei den wiederholten Fragen sehr gereizt, sucht sich überhaupt nicht im geringsten 
das Wohlwollen des Arztes zu erschmeicheln. 

In 0. sei er im vergangenen Jahre vom Bahnhofe fortgegangen, weil er einen 
Aufenthalt hatte, habe in der Stadt gegessen und 2 Glas Bier und einen 
Kognak getrunken. Dann sei er in einem Parke eingeschlafen, habe zum Bahn¬ 
hof gewollt, diesen aber nicht mehr finden können. Eine alte Frau habe ihm den 
Weg gewiesen, er sei ihr gefolgt, was dann passiert sei, wisse er nicht. Seine 
Erinnerung fange damit an, dass er in einem Walde gewesen sei, viel Dreck an 
den Stiefeln gehabt und sich sehr müde gefühlt habe. In einem Gehöfte habe er 
sich orientiert und dann beim nächsten Gemeindevorsteher gemeldet. 

Am 5. 3. d. J. habe er nicht zu Mittag gegessen, weil er den ganzen Tag 
keinen Appetit gehabt habe. Er sei abends mit einem Kameraden gegangen, 
um Schiffsmodelle zu holen, sie hätten u. a. über Verlobungsringe gesprochen, 
er habe das dunkle Gefühl, als habe er sich angegriffen und nervös ge¬ 
fühlt. . . . Dann habe er in einem Kanäle gelegen und gefroren. Er habe sich 
besonnen, wo er den eigentlich sei und sehr bald gedacht „da bin ich wohl ein¬ 
mal wieder spazieren gegangen“. Nachdem er erfahren hatte, dass er in E. sei, 
sei er an den Hafen auf ein Sohiff gegangen, das nach Danzig bestimmt sei, da er 
Hunger verspürte und nur 30 Pf. bei sich gehabt habe. Er habe gehofft, Bekannte 
zu treffen, da er lange in Danzig gewesen sei. Es habe etwas geregnet, es könnten 
3—4 Matrosen gewesen sein, er glaube, 2 hätten Backenbärte gehabt. Die Aus¬ 
sagen der Matrosen bestreitet er zum grössten Teile, soviel er wisse, hätten sie 
sich nur von der Schifffahrt erzählt. Dass er von Desertion gesprochen haben 
solle, wisse er ebenfalls nicht, obgleich er viel darüber nachgedacht habe, auch 
nicht, dass er sich über seine „Verrücktheit“ ausgelassen haben solle. Weiss, was 
er auf dem Schiffe gegessen hat, erzählt auch das Zusammentreffen mit dem 
Schutzmann ganz genau. Die Aeusserung, dass ein anderer Matrose seinen Pass 
gehabt habe, sei dadurch entstanden, dass dieser aus E. gebürtig sei und dass er 
gehofft habe, jener könne ihm zu seiner Rückkehr nach W. behülflich sein. 
Halluzinationen stellt er in Abrede, er habe nur eine solche innerliche Angst ver¬ 
spürt und dann habe die Erinnerung aufgehört. 

Nach Angabe der Wache hört Pat. oft in der Unterhaltung auf zu sprechen, 
starrt vor sich hin, macht zuckende Bewegungen mit den Händen, um dann in 
dem unterbrochenen Satze fortzufahren, als wäre nichts passiert. Dabei wird er 
sehr blass. Meist guter Laune, führt gerne das grosse Wort, sitzt dann wieder 
verdrossen bei Seite, macht einen duseligen Eindruck, um sich plötzlich wieder 
an der Unterhaltung zu beteiligen. Im übrigen bietet er nicht den geringsten An- 


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Zur Kasuistik der forensischen pathologischen Bewusstseinsstörungen. 21 

haltspunkt für die Annahme einer Simulation. Er fallt durch sein gleichgültiges 
Wesen auf, dabei häufig unmotivierter Stimmungswechsel, Selbstgefälligkeit. 

Dass K. ein psychisch nicht normaler Mensch ist, bedarf nach 
Vorgeschichte und Tatbestand keines längeren Beweises und wurde 
auch von militärärztlicher Seite ohne weiteres anerkannt. Auch für 
den epileptischen Charakter der Psychose sprechen sehr gewichtige 
Symptome, die nächtlichen Anfälle, die Schwindelanfälle, die Absencen, 
der Dämmerzustand in 0. verbanden sich mit dem Gesamteindrucke, 
der Reizbarkeit, der Neigung zu unvermitteltem Stimmungswechsel, 
und der Unausgeglichenheit in dem ganzen Wesen zu einem derartigen 
Ganzen, dass auch von Seiten der zuerst begutachtenden Seite zunächst 
das Vorhandensein eines epileptischen Dämmerzustandes konzediert 
wurde. Sehr prägnant waren auch die periodisch auftretenden Anfälle 
von Verstimmung und Angst ohne Beeinträchtigung des Bewusstseins, 
auf deren Wert Aschaffenburg und Kräpelin ja wiederholt hin¬ 
gewiesen haben. Ob das heimwehartige Gefühl, das bei den Deser¬ 
tionen der Epileptiker diesen Verstimmungen entsprechend im Beginne 
des Fortwanderns auftritt, bestimmend mitgewirkt hat, liess sich nicht 
ermitteln. Manches in der Eigenart des Kranken wies darauf hin, dass 
man bei ihm an Hysterie denken konnte, aber ganz abgesehen davon, 
dass alle somatischen spezifischen Befunde und die sonstigen hysteri¬ 
schen Stigmata fehlten, war der Gesamteindruck des Kranken derart, 
dass man. nicht von der Diagnose der Epilepsie abzugehen brauchte. 

Was die militärärztliche Begutachtung stutzig machte und was 
in der Beurteilung den Fall schwieriger erscheinen lässt, sind die 
Aeusserungen des Kranken, dass er desertiert sei, und dass man ihn 
für verrückt erklären würde, wenn er verhaftet werden sollte. Militär- 
ärztlicherseits nahm man ausserdem noch daran Anstoss, dass in der 
letzten Zeit dieses krankhaften Zustandes gesunde und kranke Zeiten 
nebeneinander hergelaufen sein sollen. Die Tatsache, dass sehr häufig 
und besonders beim Abklingen dieser Zustände die Bewusstseinsstörung 
in der Intensität wechselt und dass dementsprechend auch die Er¬ 
innerung an das Durchlebte bald eine grössere Ausbeute gewährt, 
bald wieder ganz versagt, sollte ja zur Genüge bekannt sein; dass 
diese inselförmigen Erinnerungen noch immer in unnötiger Weise den 
Ausschlag nach der negativen Seite hin geben, beweist dieser Fall. 

Wie wir uns diesen Aeusserungen. g.egenü^ej'stel^ep; sollen, • lässt 
sich zur Zeit wohl um so weniger mit Bestimmtheit sagep, $1$ der 
genaue Tenor der Verhandlungen zwischen den Matrosen d.o t m 


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Dr. Mönkemöllcr, 


Kranken nicht mehr zu ermitteln ist. Und auf die Fragestellung 
kommt dabei natürlich sehr viel an. Dass die Rede auf die Deser¬ 
tion kam, ist bei der Situation eigentlich selbstverständlich und da 
der Kranke sehr zum Renommieren neigte, ist es gar nicht so fern¬ 
liegend, dass er damit geprahlt hat, ohne bei seinem Weggange von 
W. ernstlich an eine Desertion gedacht zu haben. Ebenso erscheint 
die Redensart vom Verrückterklären sicherlich nicht ganz so gravierend, 
wenn man erwägt, dass er ein Jahr vorher wegen einer ähnlichen 
Tat mit Rücksicht auf sein psychisches Verhalten nicht zur Verant¬ 
wortung gezogen worden war. 

Mag dem nun sein, wie es will, die Frage, ob er zurechnungsfähig 
war, wird dadurch verhältnismässig wenig berührt. Dass er wirklich 
in krankhaft umdüstertem Bewusstsein die 62 km weite Reise an¬ 
getreten hat, wurde von keiner Seite bezweifelt. Und dass die auf 
derartige Bewusstseinstrübungen folgende Zeit im allgemeinen nicht 
den Anforderungen einer völligen Zurechnungsfähigkeit genügen kann, 
ist bekannt und wird durch die Tatsache, dass er noch am Morgen 
darauf im Verhöre merkwürdig erschien, mehr als bekräftigt. Dabei 
kann von einem zielbewussten Handeln nicht die Rede sein. Die 
Naivität, mit der er dem ersten besten sofort unter die Nase bindet, 
dass er desertieren will, die Art und Weise, wie er sich den ganzen 
Tag auf dem Schiffe herumtreibt, obgleich er doch nicht die mindeste 
Zeit zu verlieren hatte, die Unkonsequenz, mit der er die Knöpfe 
und die Kokarde lostrennt und eben so willenlos wieder anheftet, als 
ihm das von den Matrosen, denen selbst sein verworrenes Geschwätze 
auffällt, empfohlen w'ird, die Langatmigkeit, mit der er aus seinem 
Buche den Matrosen seine Lebensgeschichte vorliest und mit faust¬ 
dicken Lügen ihr Vertrauen erschüttert, die Unvorsichtigkeit, mit 
der er in beschmutzter Uniform dem Polizisten in die Arme läuft, 
alles das muss die Ansicht, dass er zielbewusst handelte und im 
Vollbewusstsein seiner Geisteskräfte war, wankend machen. Wollte 
er simulieren, so wäre es zudem für ihn am einfachsten gewesen, 
wenn er überhaupt jede Erinnerung in Abrede gestellt hätte, da er 
über die Tragweite des Symptoms durchaus nicht im Unklaren war. 
Nachdem das Gutachten dahin abgegeben worden war, dass er mit 
grösster Wahrsclj ejnlickte.it zurZeit der Tat krank gewesen sei, 
würde 'gl" ’fp-ig.esj)rotjheny*: ; ‘* 

Durch die AxJt.tler Entstehung ausgezeichnet ist folgender Dämmer- 
zusiänd." : }: 


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Zur Kasuistik der forensischen pathologischen Bewusstseinsstörungen. 23 

Pu., Schlosser, 30 J., schwach veranlagt. 1897. Fall mit dem Kopf auf eine 
Wagenleiter. Seitdem Krämpfe mit Zungenbiss und Verletzungen. Wird reizbar, 
aufbrausend, unberechenbar. Häufig vorbestraft wegen Diebstahls, Körper* 
Verletzung, Bedrohung, Beleidigung, Widerstandes gegen die Staatsgewalt u. s. w. 
1900 wegen körperlicher Krankheit in das P. L. Hospital in 0. Hier täglich 
Krampfanfälle. Deshalb in die Irrenanstalt W. Hier Kopfschmerzen, Schwindel¬ 
anfälle, Krämpfe. Zeitweise still und zurückhaltend, misstrauisch, ver¬ 
mutet Gift im Essen. Wechselnde Stimmung. 

1904. Hausfriedensbruch. War angetrunken, hatte in einem Wirtshause 
andere Gäste geärgert und gedroht, alles kurz und klein zu schlagen. Wurde 
zweimal durch den Gendarm aus dem Orte hinaustransportiert. Nach Ansicht 
aller Zeugen war er „angetrunken, wusste aber genau, was er tat“. In 
der Voruntersuchug erklärte er, er sei angetrunken gewesen, von dem Haus¬ 
friedensbruch wollte er nichts wissen. Kommt zwischendurch wegen eines Magen¬ 
katarrhs in das Krankenhaus zu W. Am 11. 12. 04 fängt er plötzlich an, vor sich 
hin zu sprechen, greift andere Kranke und das Personal in rücksichtsloser Weise 
an, versucht zum Fenster hinauszuspringen. In der Isolierzelle enorm erregt, ent¬ 
wickelt eine brutale Gewalttätigkeit. Langsame Beruhigung. Hinterher leicht 
benommen und amnestisch. 

28. 12. 04 Aufnahme in Osnabrück. Buhig, geordnet, körperlich ohne Be¬ 
sonderheiten. Seit der Verletzung leide er häufig an Kopfschmerzen und fühle 
sich dumpf und benommen. Er werde jetzt sehr leicht betrunken. Er könne 
nicht mehr auf der Leiter und schmalen Bohlen wegen Neigung zum Schwindel 
arbeiten. Werde leicht gereizt, besonders wenn er betrunken sei, dann bringe ihn 
die geringste Kleinigkeit aus dem Häuschen. Nach oder vor den Krämpfen sei er 
öfters ganz durcheinander gewesen und habe Dummheiten gemacht. 

Im Krankenhause sei er zuerst ganz nett gewesen, dann habe ein anderer 
Kranker einmal Schnaps mitgebracht und er sei sehr bald ganz be¬ 
trunken geworden. Er habe viel gesprochen, und als jener ihn dazu auf- 
gefordert habe, habe er beschlossen, nach Hause zu gehen. Auf dem Wege dorthin 
sei ihm eine Krankenschwester begegnet und habe ihm gesagt, er solle in ein 
anderes Zimmer gebracht werden. Er habe sich gewehrt, habe eine Türe ein¬ 
getreten, da seien sofort einige Wärter auf ihn losgesprungen. Als er zu sich ge¬ 
kommen sei, habe er im „Keller“ gelegen, es sei ihm wüst im Kopfe gewesen, von 
da ab wisse er alles. Dass er aus dem Fenster springen wollte, wisse er nicht mehr. 

Bei dem Hausfriedensbrüche sei er etwas betrunken gewesen, wisse aber 
noch ungefähr, was er getan habe. Bei dieser Gelegenheit sei er wohl nicht krank 
gewesen. 

Im übrigen loidlich intelligent, schnelle Auffassung, genügender Ueberblick 
über die Sachlage. Ueber seine verschiedenen Bestrafungen spricht er sich in 
sehr legerer Weise aus. Seine Haftstrafen machen ihm keinen grossen Kummer. 

Dass ein Kranker im Krankenhause, in dem die Dämmerzustände 
doch gemeiniglich bei geeigneter Behandlung und strenger Abstinenz 
vom Schauplatze abzutreten verpflichtet sind, (ein Umstand, der bei 
Beobachtungskranken für die forense Begutachtung manchmal ein 


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Dr. Mönkemoller, 


direkter Nachteil ist), artefiziell von einem epileptischen Verwirrtheits¬ 
zustände bezw. pathologischen Rauschzustände befallen wird, ist ent¬ 
schieden eine Rarität. Diese ungewollte Begleiterscheinung der 
Küstenkrankenhaustherapie hatte aber für den Kranken das Gute, dass 
sein psychischer Zustand während des Hausfriedensbruches in einem 
anderen Lichte erschien. Dass seine Zurechnungsfähigkeit hierbei 
bedenklich in Frage gestellt wurde, war ja bei seinen epileptischen 
Antezedentien selbstverständlich, immerhin musste die Beurteilung 
schwanken, da aus seinem Vorleben für das Vorhandensein psychischer 
akuter Störungen nicht genügende Anhaltspunkte Vorlagen und der 
Gesamtstatus zur Unzurechnungsfähigkeit nicht ausreichte. Der 
künstliche Dämmerzustand, der wie ein klinisches Experiment die 
abnorm starke Reaktion des Angeklagten auf Alkohol ad oculos de¬ 
monstrierte, gestattete es, dem Gutachten eine viel bestimmtere 
Fassung zu geben. 

Dass die Dämmerzustände häufiger wie früher in den Kreis 
forensischer Erwägungen gezogen werden müssen, ist nicht in letzter 
Linie dadurch bedingt, dass mehr wie früher von seiten des Ange¬ 
klagten und der Verteidigung die Frage nach ihnen angeregt wird. 
Damit wird die uralte Taktik, dass der Delinquent von der ganzen 
Sache nichts wissen will, auf eine wissenschaftlichere Grundlage 
gestellt, und dieser Zustand erfüllt zudem in glücklicher Kombination 
die Kriterien der Bewusstlosigkeit und Geistesstörung des § 51. 
Ohne Zweifel wird man auch in vielen Fällen, in denen die Sache 
zweifelhaft erscheint, eher zu einem non liquet gelangen müssen wie 
bei anderen Psychosen und die Möglichkeit des Bestehens eines 
solchen Zustandes nicht von der Hand weisen können, selbst wenn 
man sich mit begründeten Gedanken von Simulation tragen muss. 
Meist sind es geistig nicht ganz intakte Individuen, die Veranlassung 
dazu geben, dass diese Frage angeschnitten wird. Der Alkoholgenuss 
ist mehr oder weniger zur Zeit der Begehung der Delikte im Spiele 
gewesen und wenn die Täter zur Zeit überhaupt beobachtet worden 
sind, ist diese Beobachtung keine sachgemässe und die epikritische 
Betrachtung dieser Zustände kann ohne die geringste Mühe in der 
ausgiebigsten Weise verdunkelt werden, vor allem, wenn sich die 
Täter der Tragweite des Symptoms bewusst sind. Das sind sie in 
der Regel aber mehr wie in früheren Zeiten. Man wird sich gele¬ 
gentlich mit einer Abwägung der mehr oder weniger grossen Wahr¬ 
scheinlichkeit begnügen müssen und dass diese Unsicherheit in der 


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Zur Kasuistik der forensischen pathologischen Bewusstseinsstörungen. 25 


psychiatrischen Beurteilung wenig dazu angetan ist, das Misstrauen, 
das nun einmal in richterlichen Kreisen gegen diese pathologische 
Aufhebung des Bewusstseins herrscht, zu mindern, wird man sich 
mit Wehmut sagen müssen, ohne dass abzusehen wäre, w r ie diesem 
Uebelstande gesteuert werden soll. 

Bei unserem Materiale war in einem Falle bei einem schwachsinnigen Epi¬ 
leptiker, der ein Notzuchtsattentat begangen hatte und dafür vollständige Am¬ 
nesie gehabt haben wollte, die Begutachtung zunächst zu einem positiven Re¬ 
sultate gekommen. Freisprechung. Anstaltsaufnahme. Nach einiger Zeit stellte 
sich bei einer genaueren Untersuchung heraus, dass er über die Einzelheiten der 
Tat orientiert war und diese auch zögernd einräumte. Zweimal hatte die Ver¬ 
teidigung bei Epileptikern (einmal in einem Notzuchtsversuche, ein anderes mal 
bei einom Diebstahl) auf die Möglichkeit eines solchen Zustandes bingewiesen, ohne 
dass ein solcher konzediert werden konnte. Bei einem dritten leicht degenerierten 
Menschen, der desertiert war, wurde diese Frage von militärärztlicher Seite er¬ 
hoben, ohne dass sie positiv beantwortet werden konnte. Ebenso erwiesen sich bei 
einem Zopfabschneider, der jahrelang unzählige Male dies Delikt verübt hatte, 
sonst aber psychisch leidlioh intakt war, die Anhaltspunkte für dies jeweilige Vor¬ 
handensein dieses Zustandes nicht als genügend. Zweimal wurde sie von der 
Verteidigung bei Alkoholisten ins Feld geführt, die einer in der hiesigen Ge¬ 
gend bei unbemittelten Familien ab und zu vorkommenden Sitte folgend, mit ihren 
Töchtern zusammen in einem Bette geschlafen und bei dieser Gelegenheit jahrelang 
mit ihnen unzüchtige Handlungen verübt bezw. den Beischlaf vollzogen batten. 
Bei beiden, bei denen in der ganzen Vorgesohichte keine Analoga für solche Be¬ 
wusstseinsstörungen aufzufinden waren, liess sich die Anuahme, dass es sich bei 
diesen Verstössen gegen das Gesetz gerade immer um einen Dämmerzustand ge¬ 
handelt hätte, nicht halten, wenn auch das sonstige psychische Verhalten zur 
Einschränkung der Zurechnungsfähigkeit mit herangezogen werden musste. 

Bemerkt sei nur, dass der eine Alkoholist nach der Inhaft¬ 
nahme im Untersuchungsgefängnis in eine akute halluzinatorische Para¬ 
noia verfiel, die mehrere Wochen dauerte. In der Voruntersuchung 
wie auch nach Ablauf der Krankheitsphase leugnete er mit aller¬ 
grösster Bestimmtheit, jemals mit seiner Tochter auch nur eine un¬ 
sittliche Handlung vorgenommen zu haben und behauptete immer im 
Gegenteil, er habe schon deshalb mit ihr immer zusammen schlafen 
können, weil er gar nicht sinnlich veranlagt und eine sexuell sehr 
frigide Natur sei. Nun offenbarten seine Sinnestäuschungen und Wahn¬ 
ideen in dieser Krankheit eine ganz intensive Beschäftigung mit ge¬ 
schlechtlichen Dingen. U. a. hörte er immer, wie • die Tochter, mit 
der er diese Handlungen verübt haben sollte, mit seinem Bruder Unzucht 
trieb, war sehr ungehalten darüber und verlangte von ihr stürmisch, 
dass sie zu ihm ins Bett kommen sollte. Da sich nun ja in den Wahn- 


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Dr. Mönkemöller, 


ideen und Sinnestäuschungen der wahre Gedankeninhalt wäederspiegelt, 
so lag es nicht so ganz ferne, daraus den Schluss zu ziehen, dass bei 
dieser Färbung des Wahnsystems von ihm solche Handlungen erwartet 
werden konnten. Und da das Beweisraaterial gegen ihn sehr kümmerlich 
war —tatsächlich wurde auch das Verfahren gegen ihn wegen mangelnden 
Beweises eingestellt —, so war die Verleitung gar nicht so fernliegend, 
diese klinische Erfahrung zur Stärkung des Beweises zu verwerten. 
Dieser Verlockung musste aber schon deshalb widerstanden werden, 
weil sie gar nicht ohne weiteres die Aufgabe psychiatrischer Begut¬ 
achtung darstellen darf und es sehr leicht zu Trugschlüssen kommen 
konnte, da nicht ausgeschlossen werden konnte, dass dieser Gedanken¬ 
inhalt durch die gegen ihn geführte Untersuchung künstlich in ihn 
hineingetragen worden war. 

Im übrigen boten diese Fälle nicht mehr als die Schwierigkeiten, 
die immer bestehen, wenn man das Vorhandensein einer psychischen 
Störung ausschliessen will oder nicht nachweisen kann, und die ja 
allerdings meistens grösser sind, als wenn man das Material für das 
positive Bestehen einer Krankheit beibringen will. 

Ein grösseres Interesse bieten folgende 3 Fälle. 

Am 7. 10. 00 wurde der Postassistent H. in P. verhaftet, nachdem ihm nach¬ 
gewiesen war, dass er im August 1900 amtliche Gelder unterschlagen hatte. Bei der 
Vernehmung auf dem Amtsgerichte 8/10 erklärte er, er habe sich in bedrängten 
Vermögensverhältnissen befunden. Im August habe er in 3 Fällen Postanweisungs¬ 
gelder an sich genommen, etwas über 300 M, die Postanweisungen habe er ab- 
gosandt, das Geld habe er für seine Familie verbraucht. Wenn er wieder in die 
Lage käme, eine solche Kasse zu verwalten, würde er nach seinem Gefühle gar- 
nicht anders handeln können, es sei ihm so gewesen, als habe ihn 
eine Krankheit ergriffen, die ihn dazu zwinge. Nachdem er in einer 
weiteren Vernehmung am 24. 10. 00 nochmals zugegeben hat, das Geld genommen 
und verbraucht und die eingegangenen Gelder nicht vorsefariftsmässig in das Post¬ 
anweisungsbuch eingetragen zu haben, erklärt er am 9. 11. vor dem Unter¬ 
suchungsrichter, er habe mit seinem Einkommen nicht auskommen können und 
3000M. Schulden gemacht. Infolgedessen sei er seit langer Zeit hochgradig ver- 
stim mt und aufgeregt und so sei ihm manches, was um ihn vorging, nicht 
mehr klar zum Bewusstsein gekommen. Am 24. 5. und 25. 5. 99 sei er 
ohne Entschuldigung vom Dienste fortgeblieben, sei planlos im Walde umhergeirrt 
und habe versucht, sich aufzuhängen. Als ihm das Gefühl gekommen sei, er 
dürfe seine Familie nicht verlassen, sei er nach Hause gegangen. Dies 
Verhalten sei die Folge seiner verzweifelten Lage gewesen. Der Post- 
meistdr habe auf seine Bitte keine Anzeige gemacht. Am 15. 9. habe er zuletzt 
Postdienst getan und abends habe er im Kriegerverein und auf der Bahn ein paar 
Glas Bier getrunken, sei aber keineswegs betrunken gewesen. 


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Zar Kasuistik der forensischen pathologischen Bewusstseinsstörungen. 27 

Ende September oder Anfang Oktober habe er sich in Linz am Rhein wieder* 
gefunden, in einem schlechten Anzuge, ohne Uhr, beim Weggange habe er 31 M. 
gehabt, die auch verschwunden seien. Er habe seiner Frau geschrieben, 
sie möge ihm Geld schicken, und diese habe ihn von Neuss abgeholt. Die Tat 
habe er zuerst nur deshalb zugegeben, weil man ihm die Postanweisungen mit 
seinen Vermerken vorgelegt habe; er müsse ohne Bewusstsein gehandelt 
haben, sonst hätte er doch die Anweisungen nicht abgeschickt und so seine 
Entdeckung begünstigt. Ausserdem würde er über die holländische Grenze ge¬ 
gangen sein. Abzahlungen habe er nicht gemacht, seiner Frau nichts gegeben, 
wo das Geld sei, wisse er nicht. 

Vom 17. 11.—18. 12. 00 Anstaltsbeobachtung. Ueber sein Verhalten am 
23. 8. und 27. 8. fehlen nähere Angaben, auffällig ist nur, dass aus seiner 
Schalterkasse plötzlich 20 M. Minus verschwanden, die er als Schalter¬ 
beamter verschuldet hatte und über die ihm der Postmeister einige Tage vorher 
ernstliche Vorhaltungen gemacht hatte. 

Am 15. 9. hat seine Frau gar nichts Auffallendes an ihm bemerkt. Nach 
Aussage des Postmeisters war er ruhig, normal, freundlich, dienstwillig wie immer 
und gab einem Dienstanfänger Unterweisung im Annahmedienste. Weder dieser, 
noch die übrigen im Dienste befindlichen Kollegen haben irgend etwas Auffälliges 
wahrgenommen. Seinen sonstigen Dienst verrichtete er tadellos, die Bücher waren 
in Ordnung, die fraglichen Postanweisungen versah er mit denselben Buch¬ 
nummern, unter denen er bereits andere gebucht hatte und legte sie in einem 
Momente in die Fächer des Briefabfertigungsschrankes, in dem die Auf¬ 
merksamkeit des Abfertigungsbeamten anderweit in Anspruch ge¬ 
nommen war. Die Postanweisungen und Quittungen waren ganz regelrecht aus¬ 
gefüllt, die Schrift wies absolut keine Abweichung von seiner sonstigen Schreib¬ 
weise auf. Am Abend machte er im Kriegerverein auf Jedermann den Eindruck 
eines normalen, nüchternen Mannes. 

H. selbst gab an, er habe in den letzten 14 Tagen vor der Tat nichts be¬ 
sonderes gemerkt. Er entsinne sich noch genau, wie er am 15. 10. Schalterdienst 
getan und Unterricht gegeben habe, es sei ihm nicht schwer gefallen, er wisse 
genau, dass kein Fehler vorgefallen sei. Er wisse auch, dass Postanweisungen ab¬ 
gegeben worden seien, viele könnten es nicht gewesen sein. Seine Tochter habe 
ihm Essen an den Schalter gebracht, er sei dann nach Hause und von da in den 
Kriegerverein gegangen. Hier habe ein Herr aus Hannover 70—80 Lichtbilder ge¬ 
zeigt. Er habe etwas gegessen und wenig getrunken. Nach der Feier sei er noch 
in der Bahnhofsrestauration gewesen, habe aber wenig getrunken; er habe nooh 
mit einigen Herren gesprochen, gesehen könne ihn sonst niemand haben. 

Anfang Oktober (das Datum weiss er nicht) sei er in einer Hütte im Walde 
erwacht. Er habe seine Taschen durchsucht und mehrere unfrankierte Postkarten 
vorgefunden, sowie einige Groschen, mit denen er sie frankiert habe, um an seine 
Frau zu schreiben. De facto hat er von Linz an seine Frau geschrieben: „Warum 
ich so feige geflohen bin, ist mir nicht klar, habe ich gesündigt, so will ich 
auch büssen“. Auf einer anderen Karte sprach er direkt von einem Verschulden, 
das er zu büssen habe und beklagte seinen Sohn. Dann sei er auf die 
Post gegangen und habe dort erfahren, dass er in Linz sei. Auf der Strasse habe 
er niemanden darnach fragen wollen, weil er sich wegen seines defekten Anzuges 


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geniert habe. Dann schildert er anschaulich und glaubwürdig seine Fusstour nach 
Neuss, wohin er von seiner Frau Geld unter seiner Regimentsnummer in 
einem gewöhnlichen Briefe bestellt hatte. Dort holte ihn seine Frau ab, 
er fuhr mit ihr nach Hause. Zur Post ging er nicht, weil er zu müde war, er 
schrieb nur einen Bericht, In der Nacht Verhaftung. 

In körperlicher Beziehnng findet sich nichts Besonderes. In seinen Aeusse- 
rungen zahlreiche Widersprüche. Ueberlegt immer lange, gerät ins Stottern, wird 
verlegen, rückt auf dem Stuhle hin und her, schwitzt bei den schwierigsten Stellen 
und schwatzt viel, weil er einen trockenen Mund hat. 

Keine Heredität. Trauma, Potus, Lues negiert. Krämpfe, Kopfschmerzen, 
Schwindelanfalle, Pavor nocturnus, Somnambulismus, Absencen, Ohnmächten in 
Abrede gestellt. Keine Reizbarkeit, kein unmotivierter Stimmungswechsel, ins* 
besondere keine periodischen Verstimmungen. Gegen Hitze und Alkohol tolerant. 
Lähmungen, Kontrakturen, Sprach Verluste, Schreib-, Lach-, Weinkrämpfe negiert. 
Kein Kopfdruck. Keine Phobien, keine Zwangsvorstellungen. Als Kind keine 
Enuresis nocturna, in der Ehe soll er einmal eingenässt haben. (Keine 
Spontanangabe!) Kam in der Schule sehr gut fort. Hier ebensowenig Konflikte 
wie später beim Militär, wo ihm die Subordination immer leicht fiel. Gute Karriere. 
Keine Bestrafung. Heiratete früh. 7 Kinder! 3000 M. Schulden! Seine Frau hat 
ihn nie für geisteskrank oder nervös gehalten. 

Bei der Schilderung des angeblichen Dämmerzustandes vom Jahre vorher 
überlegt er immer sehr lange, stottert. Geber die Einzelheiten bringt er an ver¬ 
schiedenen Tagen verschieden lautende Variationen vor, dabei stellt er in Ab¬ 
rede, ohne Bewusstsein gewesen zu sein. Dass er den Selbstmordversuch 
gemacht habe, wisse er ganz genau, schildert ihn allerdings in 3 verschiedenen 
Versionen. Er habe ihn nicht ausgeführt, weil er das Gefühl gehabt habe, er 
dürfe das seiner Frau nicht antun. Er habe absichtlich mit seiner Frau 
nicht darüber gesprochen, für Krankheit habe er diesen Zustand nicht 
gehalten und deshalb auoh keinen Arzt konsultiert. Auch dem Post¬ 
meister gegenüber sei es ihm peinlich gewesen, darüber zu sprechen. Dass er 
in den ersten Vernehmungen die Tat zugegeben hatte, erklärte er dadurch, dass 
er sioh auch damals in einem krankhaften Zustande befunden habe. Nach einigem 
Hin- und herfragen gab er diese Ansicht aber ohne weiteres auf, wie sich auch 
bei den genauen Erhebungen für diese Zeit absolut kein Anhaltspunkt dafür er¬ 
halten liess, dass er in irgend einer Weise psychisch verdächtig gewesen wäre. 

Die Begutachtung musste zu einem negativen Resultate gelangen. 
Bei dem Yorliegen eines isolierten Dämmerzustandes von solcher Dauer 
ist man sicherlich verpflichtet, einen strengen Masstab anzulegen. In 
diesem Falle aber bot die anamnestische Ausbeute sowohl wie der 
körperliche Befund und die klinische Beobachtung so auffallend geringe 
Handhaben, dass man gewiss mit grosser Sicherheit eine epileptische 
oder hysterische Diathese auszuschliessen berechtigt war. Denn „ohne 
alle epileptische Antezedentien gibt es keine epileptische Psychose“ x ). 

1) Siemerling, 1. c. S. 941. 


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Zur Kasuistik der forensischen pathologischen Bewusstseinsstörungen. 29 

Einzig und allein das einmalige Bettnässen, das dazu nicht einmal er¬ 
wiesen war, hätte dafür eine Stütze gegeben. Dass man aber in der 
Verwertung psychischer Einzelsymptome quoad Epilepsie vor¬ 
sichtig sein muss, ist eine ebenso alte wie berechtigte Regel. 

Dazu treten dann plötzlich die Dämmerzustände ohne äussere 
Veranlassung ein, ohne dass sie im Vorleben auch nur den bescheidensten 
Vorläufer aufzuweisen haben. Denn den Vorfall im Vorjahre als 
Präzedenzfall heranzuziehen, war um so misslicher, als er einen sehr 
unechten Eindruck machte. Die erste Angabe, die er dem Postmeister 
gemacht hatte, dass er aus Verzweiflung über seine trostlose Lage 
umhergeirrt sei und sich eventuell das Leben habe nehmen wollen, 
weil er sich nicht mehr habe durchfinden können, entspricht wohl sicher¬ 
lich mehr der Wirklichkeit und reicht dann aber auch fraglos in die 
physiologische Breite. Und nun stellen sich plötzlich 3 Anfälle ein, 
und umfassen .nur die Zeit, in der er die Unterschlagungen begeht, während 
er alle sonstigen dienstlichen Verpflichtungen in tadelloser Weise vor¬ 
nimmt und auch zu Hause gar nicht weiter auffällt. Dabei vermissen 
wir trotz einer genauen Erhebung der Anamnese das von Siemerling 
(1. c. S. 911) mit Recht als so charakteristisch bezeichnete mechanische 
Abspielen von rein gleichgiltigen, anscheinend geordneten Handlungen 
und sonderbaren Aeusserungen, die zur Situation in keinem rechten 
Zusammenhang stehen. Immer ereilen ihn diese Anfälle nur dann, 
während grössere Summen in seinen Händen bleiben, während er 
den äusseren Formalitäten ohne jeden Fehler genügt. Dabei hat er 
für die sonstigen Ereignisse eine ganz ganz gute Erinnerung, nur die 
Ueberwanderung des Geldes in seinen Besitz wird von der Amnesie 
dahingerafft. Zugegeben muss ja werden, dass sein Umherwandern, 
wenn es als Flucht aufgefasst werden muss, nicht allen Ansprüchen 
an ein zielbewusstes Entweichen genügt und dass er sie nicht zum 
Abschlüsse brachte. Aber dass ein solcher Flüchtling wie er, der im 
Grunde zweifellos keine Verbrechernatur ist, unter der Last der Gegen¬ 
vorstellung die Zielbewusstheit einbüsst und schliesslich der ungewissen 
Zukunft im Auslande die Strafe vorzieht, finden wir doch öfters; ob 
er rein mechanisch und automatisch herumgewandert ist, liess sich 
nicht ermitteln. Auffällig zum mindesten bleibt auch die Art und 
Weise, wie er sich aus diesem Dämmerzustände herausfindet, wie er 
sich zu orientieren bemüht, wie er das Geld unter einer Deckadresse 
zu erheben sucht; in hohem Masse verdächtig auch der Inhalt der 
Karten, die er aus Linz schreibt und in denen er seine Tat bereut, 


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Dr. Mönkemöller, 


von deren Vorhandensein er nichts wissen will. Dazu kommt noch sein 
Verhalten bei der Exploration, die Unfähigkeit, das Erlebte in klinisch 
echter Weise zu schildern, und die Tatsache, dass er zuerst behauptet, 
unter einem bestimmten Zwange gehandelt zu haben, während er später 
mit keinem Worte mehr davon spricht, geschweige denn sich mit einer 
glaubhaften Schilderung abzufinden vermag, ist wirklich nicht dazu 
angetan, um seine Glaubwürdigkeit zu mehren. Auch wenn man der 
alten Erfahrung Rechnung trägt, dass der Gedächtnisinhalt einige Zeit 
nach dem Anfalle sehr schwankend ist, dass zuerst eine gewisse Er¬ 
innerung vorhanden ist, die wieder verloren gehen kann — in der 
Zeit, in der er exploriert wurde, musste schon eine grössere Stabilität 
in dem Erinnerungsmaterial eingetreten sein und derartige Widersprüche, 
■wie er sie sich zuschulden kommen liess, können die Neigung, an der 
Echtheit dieser Amnesie zu zweifeln, kaum vermindern. 

Und selbst, wenn man sich von der Echtheit des 3 Wochen langen 
Dämmerzustandes hätte überzeugen können, für die Tat selbst konnte 
er als straffreimachendes Moment nicht in Betracht kommen. Milde Ver¬ 
urteilung bei Anrechnung der Untersuchungshaft. Dass er die Be¬ 
gutachtung nicht als ein zu grosses Unrecht empfand, geht vielleicht 
schon daraus hervor, dass er nach seiner Entlassung den Arzt bat, 
ihm zu einer Stellung, vielleicht als Wärter an einer Anstalt, zu ver¬ 
helfen. Weitere Dämmerzustände sind bei ihm nicht zur Beobachtung 
gelangt. 

Eine grosse Aehnlichkeit mit diesem Fall hat der folgende. 

Am 9. 2. 02 wurde der Postassistent Kr. aus E. unter Unterschlagung von 
25000 Mark flüchtig. Seiner Umgebung war er weder an dem betreffenden Tage 
noch an den vorhergehenden aufgefallen. Er hatte 3 Wertsendungen unterschlagen, 
einen Brief von 100, einen von 730 und ein Wertpaket von 24000 Mark. Zur Zeit 
der Unterschlagungen war der Schalterverkehr immer sehr schwach. Alle anderen 
um diese Zeit eingelieferten Postanweisungen, die sämtlich auf kleinere Beträge 
lauteten, hatte er richtig gebucht, die 3 Sendungen garnicht. In den Einlieferungs¬ 
büchern hatte er Quittung erteilt. Um 9 Uhr verliess er den Dienst und sagte seinen 
Vorgesetzten, er werde am anderen Tage (Sonntag) wiederkommen, da sein Abschluss 
nicht stimme. Seine Frau bemerkte abends an ihm nichts Besonderes. Am anderen 
Morgen ging er um 7 Uhr zur Post, nachdem er gesagt hatte, sie solle das Mittags¬ 
essen bereit halten und sein Zimmer heizen, da er nachmittags arbeiten wolle, 
abends wollten sie den Weihnachtsbaum anzünden. Auf der Post arbeitete er bis 
8 Uhr in unauffälliger Weise, seinem Naohfolger übergab er Schlüssel, Bücher und 
Kasse. Dann ging er zur Bahn und löste ein Billet nach Bremen, wo sein Schwieger¬ 
vater lebte, den er sonst gelegentlich besuoht hatte. Am 10. 2. Entdeckung, Ver¬ 
folgung, Benachrichtigung der Polizei in den in Frage kommenden Hafenorten. 


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Zur Kasuistik der forensischen pathologischen Bewusstseinsstörungen. 31 

Bei einem bekannten Schaffner erkundigte er sich in Leer (wo sich die Linien nach 
Bremen und Neuschanz kreuzen) nach dem Zuge nach Neuschanz (holländische 
Linie) und liess sich ein Coup£ 2. Klasse für sich allein geben. In Neuschanz 
zeigte er zuerst ein Billet E.—Bremen und erst dann die richtige Karte. Dort liess 
er sich eine Karte nach Groningen geben und dabei eine grössere Geldsumme 
wechseln, eine ähnlich grosse Summe im Wartesaal. In Groningen nahm er eine 
Karte nach Amsterdam. Hier entschwand er den Nachforschungen, nur liess sich 
später ermitteln, dass er mehrere Malo sein Logis gewechselt hatte. Die Polizei 
beobachtete daraufhin seineFrau, die nach mehreren Monaten plötzlich verschwand. 
Mit Hilfe vorausgeschickter Photographien wurde sie in N^w-York bei der Ankunft 
erkannt und beobachtet. Sie wechselte mehrere Male den Zug; als ihr Mann sie 
in San Francisko in Empfang nahm, wurde er verhaftet und ausgeliefert. 

In der ersten Vernehmung gab er an, er habe früher an nervösen Kopf¬ 
schmerzen gelitten, sodass er zuletzt in Bremen seinen Posten als Schutzmann 
nicht mehr habe ausfüllen können. In E. habe sich infolge der schlechten Be¬ 
handlung durch seine Vorgesetzten seine Nervosität erheblich gesteigert. Er habe 
sich nicht ärztlich behandeln lassen, weil das doch nichts nütze. Die Tat habe 
er begangen r habe aber keine Erinnerung für das Geschehene und ziehe es vor, 
sich darüber nicht zu äussern. Erst als er auf dem Dampfer einige Nächte 
Ruhe gefunden habe, sei er wieder zu sich gekommen. Er habe geahnt, woher 
das viele Geld stamme, habe es aber nicht gezählt. In Amerika habe er es in einem 
Unternehmen deponiert, das pleite gemacht habe. 

Vom 3. 11.—21. 11. Anstaltsbeobachtung. 

Nach seinen eigenen Angaben soll sein Vater getrunken und ein Bruder 
an Krämpfen gelitten haben. Kein Potus. Konnte sehr viel vertragen. Kein 
Trauma. Keine Lues. Enuresis nocturna, Somnambulismus, Pavor nocturnus 
negiert. Keine Kesistenzlosigkeit gegen Hitze. Keine Zwangsvorstellungen, Hallu¬ 
zinationen. Keine hysterischen Stigmata. Litt als Kind an Kopfschmerzen, des¬ 
gleichen seit mehreren Jahren, besonders wenn er viel lernen musste. Da¬ 
bei drehte sich alles um ihn, er fühlte sich sehr übel, es flimmerte 
ihm vor den Augen. Abends konnte er angeblich nicht einschlafen, 
hatte das Gefühl, als ob er im Wasser schwebe, hatte Angst, wurde häufig wach 
und konnte nicht wieder einschlafen. Will im Januar Schwierigkeiten beim Nach¬ 
denken gehabt haben, auch soll sein Gedächtnis schlecht gewesen sein. 
In der letzten Zeit dauernd verstimmt. Depressionen, die aber keinen periodi¬ 
schen Charakter tragen. Will schwer gelernt haben. Mit seinen Mitschülern ver¬ 
träglich. Handlungslehrling; weshalb er diesen Beruf aufgab, will er nicht sagen. 
1886—90 diente er, erhielt die Dienstauszeichnungsmedaille, ging als Sergeant 
ab. Zwischendurch mehrere Monate in Hamburg Zeitungskorrespondent. Die Schlaf¬ 
losigkeit steigerte sioh; er will Dr. Scholz in Bremen konsultiert haben. Sei gegen 
seine Untergebenen sehr scharf gewesen, weil er zu aufgeregt war. 1897—1901 
Gendarm, gute Behandlung, nichts Besonderes. 1897 Heirat, glückliche Ehe, sehr 
selten leichte häusliche Scenen. Seit 1901 bei der Post. Der Schalterdienst sei 
ihm nicht schwer gefallen, nur der Weihnachts- und Neujahrsverkehr habe 
ihn umgeworfen, zumal auch die Schlafpulver nicht mehr wirkten. Einen Arzt 
habe er jetzt nicht mehr um Rat gefragt, weil er wegen Krankheit herausgescbmissen 
worden wäre. Die Vorgesetzten seien nicht wohlwollend gegen ihn gewesen, weil 


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Dr. Mönkemöller, 


die Militäranwärter nioht beliebt seien. Den übrigen Postasssistenten sei der Um¬ 
gang mit ihm untersagt worden. Der Verkehr mit dem Publikum sei nicht schwer 
gewesen, keine Konflikte. 

Gibt erst nachher auf Befragen scheu und widerwillig zu, dass er vor 
der Militärzeit schon 2 Jahre in Amerika gewesen ist und zwei uneheliche Kinder 
zu alimentieren hat. 

Datum der Straftat will er nicht mehr wissen. Im Januar habe er den Dienst 
nicht ordentlich getan, da müsse er viele Böcke geschossen haben. Er habe die 
leichtesten Arbeiten nicht mehr verrichten können. (Ist de facto garnicht aufge¬ 
fallen.) Sonstige Einzelheiten aus diesem Monat könne er nicht angeben, es sei so 
gewesen, als ob ihm Jemand die Hand festgehalten habe, er sei von einer 
furchtbaren Angst erfüllt gewesen. Er habe darüber mit Keinem gesprochen, seine 
Frau sei zu oberflächlich, seine Kollegen hätten kein Verständnis für Nervosität. 
Das letzte, was er wisse, sei, dass er am 8. Januar in Berlin gewesen sei, weil er 
ohne Vorwissen seiner Behörde in den Kolonialbetrieb habe eintreten wollen, sonst 
ist er nicht im Stande, aus dem Januar auch nur das geringste Erlebnis anzugeben. 

Seine Erinnerung fangt auf dem Dampfer an, es sei Ende Februar gewesen, 
er war schon hinter England. „Da habe ich Schlaf gefunden .und bin so 
zum Bewusstsein gekommen.“ Er batte die Taschen voll Geld, es dämmerte 
ihm auf, wie er dazu gekommen sei, er habe mit keinem darüber gesprochen, weil 
doch keiner Verständnis dafür gehabt habe. Das Geld habe er nicht zurückschicken 
wollen, weil ihm ja doch keiner geglaubt haben würde. Dann wäre er ins Gefängnis 
gekommen, hätte seine Stellung verloren und wie ein Bettler dagestanden. 

Einen ähnlichen Zustand habe er früher nie durchgemacht. Seinen 
Lebenslauf zu schreiben, weigert er sich ganz energisch. Das Beobachten könne 
er nicht aushalton, er sei ganz konfus geworden, er wisse wohl, dass er sich nicht 
ganz so benommen habe, wie ein Kranker seiner Art das tun müsse; er habe schon 
dem Untersuchungsrichter gesagt, er wolle sich nicht ganz aussprechen, er wisse 
auch noch einiges, das wolle er aber nicht sagen, weil es ihn eventuell belasten 
könne, man glaube ihm ja dooh nicht. Dabei war ihm gegenüber in keiner Weise 
zum Ausdruck gelangt, dass man ihm nicht alles glaube. Als ein anderer Kranker 
zufällig „Oberspitzbube“ vor sich hinruft, wird er gewaltig erregt. Man wolle ihn 
hier zur Verzweiflung treiben. Gegen Abend wieder beruhigt. 

Dem Beobachter gegenüber übertrieben höflich, bei der Krankenvisite lauernd, 
achtet intensiv auf jedes Wort, bringt jedesmal seine Klagen, nervöse Beschwerden 
vor. Will immer schlecht geschlafen haben, ist dabei mehrere Male von der 
Wache fest schlafend und schnarchend angetroffen worden. Als ein 
anderer Kranker bei der Visite von einer Halluzination berichtet, erzählt K. am 
anderen Tage von einer ähnlichen Sinnestäuschung, obgleich er ruhig ge¬ 
schlafen und früher auch nie etwas Aehnliches erlebt haben will. Gibt zu, dass 
das wohl nur eine Einbildung gewesen sein könne. Dabei in der Unterhaltung un¬ 
sicher, stockend, sondierend, viele Widersprüche, ln seiner Wäsche versteckt wird 
eine grosse Feile gefunden. 

Nach dem Urteile seiner Bekannten galt er als ein Sonderling, als eine 
verschlossene Natur und sehr sinnlich veranlagt. Sein Haushalt war be¬ 
scheiden eingerichtet, als Gendarm sparte er. Keine Sohulden. Hielt sich ab¬ 
geschlossen von jedem Verkehr. Weib und Kind misshandelte er oft bei ge- 


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Zur Kasuistik der forensischen pathologischen Bewusstseinsstörungen. 33 


ringfügigen Anlässen in brntaler Weise, sonst lebte er mit seiner Familie in gutem 
Einvernehmen. Hatte immer grosse Sehnsucht nach dem Auslande. Im 
Postdienst fühlte er sich nicht wohl. Nach Aussage eines Kollegen, der immer 
geglaubt hatte, jenem fehle etwas, war er als Schutzmann nervös, widersprach 
ihm jemand, wenn er einschreiten sollte, dann zitterten seine Hände, die 
Lippen flogen und er blickte stier. Immer sehr wortkarg. Hing oft seinen 
eigenen Gedanken nach, wenn andere sich mit ihm unterhielten. Als Schutz¬ 
mann entlassen, weil er gesagt hatte, er betrachte diesen Posten als Durchgangs- 
Station. Dem Postmeister war er nie aufgefallen, er war stets ruhig und korrekt. 
Stets verschlossen. Nach Ansicht des Oberpostassistenten war er er nioht nervös, 
auf seine Leistungen übermässig stolz, verkehrte mit keinem Kollegen. Ge¬ 
legentlich einer Rektifikation so erregt, dass es aussah, als würde es zu 
Tätlichkeiten kommen. Hat nie über Nervosität geklagt. Direktor Scholz 
hat ihn de facto nicht behandelt, ein praktischer Arzt Dr. B. wegen Schlaf¬ 
losigkeit und nervösen Kopfschmerzen. Nur subjektive Angaben: „hochgradige 
Nervosität lag nicht vor“. Ausserdem wurde ermittelt, dass er sehr viel in 
medizinischen Büchern gelesen hatte. 

Bei der körperlichen Untersuchung liess sich keine Abweichung von der Norm 
feststellen, auffällig war nur, dass die Unterschenkel beim Beklopfen der Patellar- 
sehnen hoch in die Luft flogen, während sich bei einer mit den nötigen Kautelen 
wiederholten Untersuchung feststellen liess, dass die Kniephänomene vollkommen 
normal waren. 


Dass Kr. eine psychopathische Persönlichkeit war, unterlag von 
vornherein keinem Zweifel, ob aber die Abweichungen, die er von 
der Norm darbot, genügten, um ihn der Strafe zu entziehen, war eine 
andere Frage. Und noch fraglicher war es, ob man ihm den Dämmer¬ 
zustand glauben solle. Nimmt man die von ihm produzierte Amnesie 
als Massstab für die Dauer dieser Bewusstseinsstörung an, so haben 
wir es mit einem Dämmerzustände von rund zwei Monaten zu tun 
und setzen wir den Erinnerungsverlust für die Vorgänge im Januar 
auf die Rechnung einer retrograden Amnesie, so weist die Zeit der 
dauernden Bewusstseinsstörung noch immer die respektable Länge 
von mehreren Wochen auf. Dabei ist die Amnesie für die Zeit, auf 
die cs ankommt, total, — für die Wanderzustände dieser Zeit 
sicherlich nicht das Normale (vergl. Schultze, Donath u. a.). Und 
dieser schwere Bewusstseinsverlust setzt wieder bei einem Manne ein, 
der für einwandsfreie Epilepsie und Hysterie eine so gut wie freie 
Vergangenheit hat, es sei denn, dass man die Reizbarkeit auf Rechnung 
einer epileptischen Degeneration setzen will. Zur Not liessen noch 
die Zustände, die er als Schutzmann darbot, an Absencen denken, 
wenn sie auch nach der ganzen äusseren Schilderung sich viel 
zwangloser als Folge der Gereiztheit und als gesteigerte Ablenkbarkeit 

Vierte^jahrsselurift f. ger. Med. u. öff. San.-WeseD. 3. Folge. XXXII. 1. 3 


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Dr. Mönkemöller, 

deuten lassen. Will man nach Donath 1 ) in der epileptischen Porio- 
manie ein psychisches Aequivalent besonderer Art sehen, das sich 
von den gewöhnlichen dadurch unterscheidet, dass die Bewusstseins¬ 
störung entweder gänzlich fehlt oder infolge ihrer Geringfügigkeit in 
den Hintergrund tritt, so werden die Bedingungen für eine epileptische 
Grundlage kaum in hinreichender Weise erfüllt und wir sind 
gezwungen, uns um so intensiver an den „Dämmerzustand“ selbst zu 
halten. Jedenfalls fehlen aber ßewusstscinsverluste in der Vor¬ 
geschichte ganz und der exorbitante Dämmerzustand setzt ohne irgend 
welche Vorboten erst dann ein, als zur Zeit einer geringeren Beob¬ 
achtung von aussen her verhältnismässig grosse Summen in seinen 
Besitz gelangen. Wieder werden die geringfügigen Geldsummen, die 
in dieser Zeit eingehen, von den Krankhcitscntladungen nicht getroffen, 
wieder funktioniert der ganze formelle amtliche Apparat, soweit es 
nötig ist, um die Entdeckung im allerersten Augenblicke zu verhüten, 
tadellos, wieder bleibt der Kranke seiner Umgebung vollkommen 
unverdächtig und weicht in keiner Weise von seinem gewohnten 
Verhalten ab. Aus den Einzelumständen der Tat ist weder eine 
Trübung, noch eine Beschränkung der Ucberlegung ersichtlich und 
ebensowenig ist anderweitig eine Bewusstseinsveränderung festzustellen, 
weder vor noch nach der Tat (Moeli 1. c.). Die Art und Weise, wie 
er nach Amerika fortgedämmert, entspricht auch nicht gerade nach 
dem, was davon bekannt geworden ist, dem Benehmen, wie es in 
solchen Zuständen gebräuchlich ist. Auch wenn man der Erfahrung, 
dass in solchen Zuständen äusserst komplizierte Handlungen vor¬ 
genommen werden können, gerecht wird, muss man sagen, dass sein 
Verhalten auf der Eisenbahn und in Amsterdam, wo die Verfolger 
ihm dicht auf den Fersen waren und die bei solchen Gelegenheiten 
sehr gewitzigte Hafenpolizei auf ihn lauerte, alle Hochachtung verdient. 

Von einer automatischem Ausführung kann man wohl mit dem 
besten Willen nicht sprechen. Belastender für ihn sind meiner Ansicht 
nach seine eigenen Angaben. Dass er aus dem Monat Januar nur 
solche Tatsachen anzugeben weiss, die ihn entschuldigen und für 
seine psychische Erkrankung sprechen müssen, während aus dem 
Dunkel dieses Dämmerzustandes auch nicht das geringste sonstige 
harmlose Erlebnis hervorleuchtct, muss bei dem äusserlich gänzlich 
normalen Verhalten sicherlich befremden. Und selbst wenn man sich 


1) Donath, 1. c. S. 353. 


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Zur Kasuistik der forensisoben pathologischen Bewusstseinsstörungen. 35 

zu der Ansicht aufzuschwingen vermag, dass der wohltätige Mantel 
der Bewusstseinsumflorung sich während der Tat wirklich auf sein 
Gemüt gesenkt hätte und dass die Poriomanie, die ihn auf das Schiff 
führte, — echt gewesen sei, — seine Schilderung, die er von dem 
Erwachen aus dem Schlafe gibt, ist sicherlich nicht geeignet, unserem 
Glauben unbegrenzte Dimensionen zu verleihen. Trotz der Amnesie, 
die auf ihm lastet, weiss er, dass er mehrere Nächte geschlafen 
hat und dass erst die gefundene Ruhe ihn erwachen liess. Wäre er 
nun wirklich der pflichtgetreue Beamte gewesen, als den er sich immer 
hinzustellen beliebte, dann würde er zweifellos anders gehandelt haben, 
als er es tat. Dazu kommt noch die ganze Art seines Auftretens 
in der Anstalt, die angebliche äusserst verdächtige Unterbringungs- 
methodo des Geldes in Amerika, und seine Weigerung, sich durch 
eine schriftliche Rekapitulation seiner Aussagen in Widersprüche zu 
verwickeln. Alles das trägt wohl kaum dazu bei, uns für seine 
Glaubwürdigkeit zu erwärmen. Legt man noch die versteckte Feile 
in die WagschaJe, so wird diese kaum nach der Seite hin sinken, 
dass er von der durchschlagenden Kraft seiner psychischen Ent¬ 
lastungssymptome felsenfest überzeugt gewesen wäre. Gewiss steht 
ja die Tat im Gegensatz zu seinem sonstigen Tun und Lassen, aber 
von einer Motivlosigkeit der Tat kann nicht die Rede sein. Bei der 
geringen Lust, die er an seinem Berufe hatte, den Widerwärtigkeiten, 
die er angeblich von seiner Umgebung auszustehen hatte und der 
Sehnsucht, die ihn nach dem Auslände hinzog, hat seine Reise nach 
Amerika nichts Befremdendes an sich. 

An der Realität dieses Dämmerzustandes konnte man mit dem 
besten Willen nicht festhalten. In der Hauptverhandlung beschränkte 
er sich denn auch auf trotziges Leugnen und die sonst sehr tätige 
Verteidigung machte nicht den geringsten Versuch, diese ausgedehnte 
Umdämmerung auszunutzen. 

Anders steht es ja mit der Gesamtpersönlichkeit, vor allem 
konnte man ja bei manchen Krankheitsäusserungen an Paranoia 
denken. Der Kürze halber sei nur bemerkt, dass die Nachforschungen 
nach dieser Richtung hin ein negatives Resultat hatten. Eine grössere 
Beachtung verdient die bei ihm vorhandene Neurasthenie. Nach 
den Angaben des Angeklagten selbst, sowie seiner Umgebung und 
dem Ergebnisse der Anstaltsbeobachtung konnte ohne jede Frage 
eine derartige Form von Neurasthenie, die die Zurechnungsfähigkeit 
in Frage gestellt hätte, nicht angenommen werden. Den vor- 

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Dr. Mönkomöller, 


handenen psychischen Abweichungen wurde bei der Begutachtung 
genügend Rechnung getragen. 

Die bei dem letzten Angeklagten beobachteten Symptome von 
Neurasthenie nötigen noch zu einer kurzen Abschweifung. Verfolgt 
man die Inanspruchnahme des forensischen Psychiaters in der letzten 
Zeit, so findet man, dass bei Unterschlagungen im Amte und 
ähnlichen Delikten die Angeklagten verhältnismässig oft behaupten, 
sie wüssten nicht, wie sie dazu gekommen seien und dass sie es 
überhaupt getan hätten, so dass man sich also der Ventilation der 
Frage, ob sie nicht im Dämmerzustände gehandelt hätten, nicht ent¬ 
ziehen kann. 

Meist handelt es sich um junge, gerade im Beginne der Post- 
carriere stehende Beamte, die z. T. die anstrengende Subalternen¬ 
militärkarriere hinter sich haben, denen der Alkoholgenuss nicht 
ganz fremd geblieben und denen z. T. auch die luische Infektion nicht 
erspart worden ist. Wie so viele Männer aus diesen Kreisen haben 
sie relativ sehr früh geheiratet, durch eine mit ihren Einkünften im 
Widerspruch stehende grosse Kinderzahl ihre pekuniäre Lage ver¬ 
schlechtert und da sie gezwungen sind, eine Kaution zu stellen, treten 
die meisten von ihnen mit Schulden in die neue Karriere ein. Nun 
liegen sie einer Beschäftigung ob, die mit ihrer früheren in schnei- 
denstem Gegensätze steht. An Stelle der ausgiebigen Muskelübung 
in der frischen Luft sind sie gezwungen im dumpfen Schalterdienste 
der meist etwas einförmigen Beschäftigung sich zu widmen. In 
ihren dienstfreien Stunden müssen sie zur Erholung für das Examen 
mehr geistig arbeiten als ihnen in ihrer früheren Laufbahn zugemutet 
wurde. Vorläufig sind sie noch nicht fest angestellt, die Besoldung 
ist nicht allzu üppig, von ihren Zivilkollegen werden sie in der neuen 
Karriere nur mit wiederwillig geöffneten Armen aufgenommen und 
müssen sich ihre Stellung erst erkämpfen. 

Bei dieser Belastung des Nervensystems ist natürlich kein Wunder, 
dass es solchen Anforderungen oft seinen Tribut zahlen muss. Die 
Lage wird drückender, der Schlaf Nachts entsprechend schlechter und 
bei Tage quält die ungewohnt grosse Verantwortung um so mehr, 
als diese Beamten ja für die Gelder, die im Schalterdienste durch 
Rechenfehler und Unachtsamkeit minus gemacht werden, ersatzpflichtig 
gemacht werden. 

Auf der anderen Seite gehen die grössten Geldsummen im 
Schalterdienste durch ihre Finger, die Aufsicht fällt häufig für einige 


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Zar Kasuistik der forensischen pathologischen Bewusstseinsstörungen. 37 

Zeit fort und die Technin der Unterschlagung ist, für den Augenblick 
wenigstens, oft ein Kinderspiel. Was Wunder, dass, wenn in einem 
solchen Momente an die Psyche so konzentriert starke Anforderungen 
gestellt werden, die Gegenvorstellungen leicht zurückgedrängt werden, 
dass die erschlaffte Willenskraft ganz erlahmt und dass die Genug¬ 
tuung, wenigstens für die Sekunde der schweren Lage ein Ende 
machen zu können, den Sieg davon trägt. Gelangt ein solcher 
Defraudant aus irgend* welchen Gründen zur psychiatrischen Beob¬ 
achtung, dann ist diese nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet, 
auf diesen eigenartigen Zustand der Psyche, auf die ätiologischen 
Faktoren, die neurasthenische Grundlage und auch die intensive auf 
einen Augenblick zusammengedrängte starke Zumutung an die 
Willenskraft hinzuweisen und diesem eigenartigen, die Schuld mil¬ 
dernden psychischen Zustande gerecht zu werden. Dass damit die 
volle Zurechnungsfähigkeit im allgemeinen nicht in Frage gestellt 
wird, ist ja selbstverständlich, aber wenn noch andere Faktoren hierbei 
ihre Tätigkeit entfalten, ist es sehr leicht möglich, dass der Begut¬ 
achtung eine heikle Aufgabe auferlegt wird. Je nach der Stärke, 
die eine derartige Berufsneurasthenie erreicht hat, wird die Beur¬ 
teilung manchmal recht schwierig werden und bei den schwersten 
Graden der Nervenschwäche wird in einzelnen Fällen die Begutachtung 
mehr oder weniger durch den Standpunkt beeinflusst, den der 
Begutachter zu den neurasthenischen Dämmerzuständen ein¬ 
nimmt. 

Konnte man sich in den beiden letzten Fällen wohl kaum mit 
der Annahme befreunden, dass Epilepsie oder Hysterie das Eintreten 
eines solchen Zustandes ermöglicht hätten, so waren die nervösen 
Beschwerden in dem letzten Falle wenigstens genügend stark aus¬ 
geprägt, um einen solchen neurasthenischen Dämmerzustand nicht 
ohne weiteres von der Hand weisen zu können. Bekanntlich hat 
Krafft-Ebing 1 ) ganz besonders für das Vorhandensein derartiger 
Zustände plaidiert. Auf der Höhe einer Neurasthenia cerebralis 
beobachtete er als Kulminationspunkt eines zerebralen Erschöpfungs¬ 
zustandes, meist unter dem Einhergehen von äusserlichen Zeichen der 
Inanition und Erschöpfung, Bewusstseinstrübungen, die sich bis zur 

1) Krafft-Ebing, Ueber transitorisches Irresein auf neurasthenischer 
Grundlage. Irrenfreund. 1883. No. 8. — Wiener klin. Wochenschr. 1881. No. 51. 
— Arbeiten aus dem Gesamtgebiete u.s.w. 1897—1899. Lehrbuch der Psychiatrie. 
Stuttgart 1890. S. 524. — Lebrb. der Psychopathologie. Stuttgart. 1892. S. 268. 


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Dr. Mönkemöller, 

Bewusstlosigkeit steigern konnten und mit entsprechenden Erinnerungs¬ 
defekten verbunden waren. Als letzte Ursache ergaben sich meist 
schlaflose den letzten Rest von Spannkraft aufzehrende Nächte. Diese 
transitorischen Psychosen schwankten von Dämmer- bis zu Träum-, 
Stupor- und deliranten Zuständen, die vollkommen mit solchen auf epi¬ 
leptischer Grundlage entstandenen übereinstimmten. Während dieser 
Anfälle waren die Pupillen erweitert und reagierten träge, der Puls 
war klein, die Arterie drahtartig kontrahiert. Vor und nachher 
bestanden deutliche Zeichen schwerer Neurasthenie. Als veran¬ 
lassende Ursachen sah er kalorische Einflüsse, selbst mässigen 
Genuss von Spirituosen und Tabak, und Gemütsbewegungen. In 
forensischer Beziehung traten diese Attacken den epileptischen, 
alkoholistischen und hysterischen dadurch sehr nahe, dass er auch 
Zustände fand, in welchen stark gefühlsbetonte Vorstellungen der 
luziden Lebensstunden dominierend auftraten und in Folge einer 
allgemeinen Assoziationsstörung pathologische Handlungen auslösten. 

Die neurasthenischen Dämmerzustände fristen in der Literatur 
keine allzu ausgedehnte Existenz. 

Schüle machte bei Gelegenheit der Diskussion über die 
Schultzeschen Wandertriebsfälle darauf aufmerksam, dass sie den 
von Krafft-Ebing beschriebenen glichen und auch Moeli (1. c. S. 183) 
beobachtete bei Inanition und nach heftigen depressiven Affekten 
Schwächlicher vorübergehende Bewusstseinsstörungen mit Verwirrtheits¬ 
zuständen. 

Pätz 1 ) berichtete über einen derartigen Fall, bei dem ein Neura¬ 
stheniker in einem Dämmerzustände ohne Rücksicht auf seine amtlichen 
Pflichten, ohne für eine Vertretung zu sorgen oder seiner Frau davon 
Kenntnis zu geben, sich von Hause entfernte, plan- und ziellos herum¬ 
reiste und unregelmässig lebte, bis er schliesslich nach Eintritt geistiger 
Klarheit aus eigenem Antriebe wieder nach Hause zurückkehrte. 

Im allgemeinen ist ihre Existenzberechtigung durchaus nicht über 
alle Anfechtungen erhaben. In den meisten Lehrbüchern sind sie 
überhaupt mit keinem Worte erwähnt. Ziehen 2 ) hielt es für sehr 
zweifelhaft, ob wirklich ohne wesentliche unmittelbare Ursache 
ausschliesslich auf Grund der Neurasthenie nach Analogie der epi- 

1) Pätz, Diskussion über den Vortrag von E. Schnitze: Beitrag zur Lehre 
von den pathologischen Bewusstseinsstörungen. Allg. Zeitsohr. f. Psych. Bd. 53. 
1898. S. 808. 

2) Ziehen, Psychiatrie. 2. Aull. 1902. S. 281. 


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Zar Kasaistik der forensischen pathologischen Bewusstseinsstörungen. 39 

leptischen und hysterischen Dämmerzustände Vorkommen. Donath 1 ) 
sah das krankhafte Wandern bei Degenerierten, Schwachsinnigen, Blöd¬ 
sinnigen, Paralytikern, Alkoholisten und Hysterischen. Die Neura¬ 
stheniker erwähnt er mit keinem Worte. Löwenfeld 2 ) berichtet zwar 
von Zuständen von Betäubung und Verwirrtheit bei Neurasthenikern, 
in denen sie umhergehen, ohne zu wissen, was sie tun, in denen sic 
sich in einer wohlbekannten Gegend nicht zurechtfinden können und 
in ihrem Geschäfte nicht wissen, was sie tun sollen; aber er billigt 
ihnen nur eine Dauer von wenigen Minuten oder höchstens Stunden zu. 

Erkennt man die Existenz derartiger Zustände an, so tut man in 
forensischer Beziehung einen folgenschweren Schritt: Denn bei einer 
Menge von Vergehen und Verbrechen wird man, ähnlich wie in dem 
letzten Falle, in Folge der vorausgegangenen zahlreichen psychischen 
Traumata, der dauernden Seelenkämpfe, der schweren Verantwortung 
mehr oder weniger zahlreiche Symptome der Neurasthenie, Schlaf¬ 
losigkeit, innere Unruhe, Denkzwang, Unlust zum Arbeiten u. s. w. 
vorfinden, nur dass sie weit in das Physiologische hineinragen. Tritt 
dann noch zu dieser Grundlage das für die Dämmerzustände durch so 
viele Beispiele als charakteristisch bezeichnete Fortdämmern, das in 
solchen Fällen vom Staatsanwalte meist mit dem kürzeren Namen 
Flucht bezeichnet wird, so wird man leichter dazu kommen, eventuell 
in der Abwägung der Zurechnungsfähigkeit milder zu urteilen. Immer 
wird man jedenfalls verlangen müssen, dass nur die schwersten Grade 
der Nervosität zur Entschuldigung des Täters herangezogen werden 
dürfen. Solange aber die Existenz dieser längerdauernden Dämmer¬ 
zustände sich noch keiner allgemeinen Anerkennung erfreuen, wird 
man ihnen vor dem Forum noch mit grosser Vorsicht gegenübertreten 
müssen, wenn man nicht in falscher Sentimentalität der Theorie 
zu weitgehende Opfer bringen will. Dass nur die schwersten Grade 
der Neurasthenie herangezogen werden können, um die Bedin¬ 
gungen des § 51 zu erfüllen, ist nun ja im allgemeinen schon an¬ 
erkannt und man wird füglich verlangen können, dass, wenn schon 
die Bewusstseinsstörungen der Epileptiker und Hysterischen nie ohne 
die nötige Kritik angesehen werden, dies bei den „neurasthenischen 
Dämmerzuständen“ in doppeltem und dreifachem Masse geschieht. 

Auf einem anderen Gebiete lagen die Schwierigkeiten in folgendcmF alle: 


1) Donath, 1. c. S. 353. 

2) Löwenfeld, Pathol. und Therap. der Neurasthenie und Hysterie. 1894. 


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Dr. Mönkemöller, 


Re . . 34 Jahre alt, Bäckergeselle, kam 1901 in den Verdacht, mehrere 

male und zwar innerhalb eines Zeitraums von 14 Tagen Feuer angelegt zu haben. 
In dem ersten Falle brannte das väterliche Bäckergeschäft, das nicht besonders 
gut ging, aber nicht sehr hoch versichert war. Verdächtig wurde er dadurch, dass 
ein Mann, der auf einem den meisten Dorfbewohnern kaum bekannten Wege in 
der entsprechenden Zeit in sehr eiligem Laufe dorthin gestrebt war, mit ihm 
identifiziert wurde. Nachher soll er beim Löschen wenig geholfen, vielmehr in 
wahnsinniger Weise immer gerufen haben, „ach unser Boden, unser Mehl“. 

Der zweite Brand fand in einem benachbarten Hause statt, in dem der 
Gensdarm des Ortes schlief. Hier wurde Re. dadurch auffällig, dass er „wie 
wahnsinnig“ in das Zimmer hereinstürzte, in dem dieser lesend sass, und ihm den 
Brand meldete. 

Beim dritten Male nahm man ihm übel, dass er, obgleich er nicht Mitglied der 
Feuerwehr war, eine Trommel vom Boden holte und trommelte, „offenbar nur, 
um einen besonderen Eifer an den Tag zu legen und sich als möglichst unschuldig 
hinzustellen“. Bei den drei Brandtaten wurde er von verschiedenen Zeugen als 
angetrunken oder betrunken bezeichnet, allerdings liess sich nachweisen, dass 
er vorher mehrere Glas Bier getrunken hatte. Bei zwei Bränden entdeckte man, 
dass sie sorgfältig vorbereitet waren, man fand mehrere „Nester“ von 
Zeitungen, Holz und Torf. Der Verdacht fiel auf Re., weil die Zeitungsnummer, 
die man an der Brandstelle gefunden hatte, einzig und allein in seinem Vorräte 
fehlte, weil er sich bei den Nachforschungen danach auffällig benommen haben 
sollte und weil man ihn in der Nähe der Brandstätten gesehen haben wollte. 

Ohne dass er selbst irgendwie darauf hingewiesen hätte, kam in der Vor¬ 
untersuchung zu Tage, dass er Epileptiker war. Vom Militär war er wegen 
eines epileptischen Verwirrtheitszustandes entlassen worden, später hatte 
er zu Hause einen ähnlichen Erregtheitszustand durchgemacht, in dem er seine 
Eltern zu töten gedroht, alle Fensterscheiben zerschlagen hatte und gehalten 
werden musste. Später trat im Untersuchungsgefängnis ein gleicher Zustand auf. 

Re. wird als verlogener und moralisch heruntergekommener Mensch 
geschildert, der vor keiner Schandtat zurückscheute. Dem Trünke sei er sehr er¬ 
geben, er ärgere immer andere Leute, renommiere gern und sei sehr selbst- 
gefällig. 

Zunächst ausser Verfolgung gesetzt wegen der Möglichkeit eines krankhaften 
Geisteszustandes, später Wiederaufnahme des Verfahrens. Anstaltsbeobachtung. 

In der Anstaltgab er sich natürlich, sprach sich frei aus, war intelligent, 
nicht reizbar, über den Stand der Sache und über die Bedeutung der eventuellen 
Bewusstseinsverluste vollkommen orientirt. 

Krämpfe seit dem 16. Lebensjahre ohne Aura. Früher Schwindelanfälle, seit 
mehreren Jahren nicht mehr, ebenso Ohnmachtsanfälle, die früher bestanden und 
bei denen er um fiel. Kurze Dauer, Amnesie, seit 16 Jahren nicht mehr. Hitze 
und Alkohol werden gut vertragen, Enuresis nocturna, Somnambulismus, Pavor 
nocturnus negiert. Keine stereotypen Träume, keine Vorliebe für Flammen und 
Feuer, keine Halluzinationen. Absencen, epileptoide Zustände, Dämmerzustände, 
Wandertrieb, Zwangsvorstellungen und -handlungen, periodische Depressions¬ 
zustände, Neigung zu Stimmungsschwankungen werden strikte negiert, keine 
nächtlichen Anfälle, keine impulsiven Handlungen. Hysterische Stigmata fehlen 


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Zar Kasuistik der forensischen pathologischen Bewusstseinsstörungen. 41 

gänzlich, der Gesamteindruck spricht nicht für Hysterie, die körperliche Unter¬ 
suchung erweist keine Abweichungen von der Norm. 

Am Nachmittage des 1. Brandes fühlte er sich wohl, hatte guten Appetit, 
arbeitete noch nach dem Abendessen. Als er nachher einen Korb in den Stall 
bringen wollte, brannte es lichterloh. Erzählt ausführlich, was er alles gerettet hat. 
Fühlte sich subjektiv ganz wohl. 

Beim 2. Brande will er ebenfalls an sich kein krankhaftes Symptom wahr¬ 
genommen haben. Ging zu Bett, konnte aber nicht einschlafen, sah das Nachbar¬ 
haus von seinem Bette aus. Als dieses auffallend hell war, eilte er hin und weckte 
den Gendarm und die Nachbaren, später die Feuerwehr. Fühlte sich wohl und 
munter. 

Beim 3. Brande hatte er eine Geschäftstour gemacht und 6—7 Glas Bier ge¬ 
trunken. Schildert bis ins kleinste Detail die Ereignisse bis zum Abend. Schlief 
fest ein, wurde durch Trommeln und Blasen wach. Sprang sofort aus dem Bette, 
holte die alte Dorftrommel, die auf dem Boden seines elterlichen Hauses hing, 
trommelte und deponierte sie nachher beim Spritzenhause. Beteiligte sich, als ge¬ 
nügend Löschmannschaften da waren, beim Löschen, will sich wie immer gefühlt 
haben. Auch für die folgende Zeit tadellose Erinnerung. Stellt immer wieder in 
Abrede, sich zur Zeit der Brände in einer geistig abnormen Verfassung befunden 
zu haben, er entsinne sich wohl noch, dass er früher die beiden Anfälle gehabt 
habe, von ihnen selbst wisse er nichts mehr, es sei ihm alles nachher ge¬ 
sagt worden, er habe sich mehrere Stunden müde und zerschlagen ge¬ 
fühlt, davon sei jetzt aber auch nicht entfernt die Rede gewesen. Auch in der 
Hauptverhandlung machte er keinen Versuch, aus seiner psyohischen Krankheit 
Kapital zu schlagen. 

Daran, dass R. wirklich eine psychopathologische Persönlichkeit 
war, liess sich nach der ganzen Vorgeschichte nicht zweifeln. Obgleich 
der erste Anfall von militärärztlicher Seite als ein klassischer Fall 
von Delirium tremens bezeichnet wurde, muss man nach der Schilderung 
annehmen, dass es sich um einen epileptischen Verwirrtheitszustand 
gehandelt hat. Dem widersprach auch nicht der Gesamteindruck, den 
R. machte. Manches deutete allerdings auf eine hysterische Psychose 
hin, vor allem liess sich nicht verkennen, dass er sich stets sehr 
behaglich fühlte, wenn er sich im Mittelpunkte des Interesses sah 
und auch seine Neigung zum Renommieren und seine Selbstgefälligkeit 
fügten sich sehr gut in dies Bild ein. Aber sonst fehlten die Anhalts¬ 
punkte in körperlicher und psychischer Beziehung ganz, um an dieser 
Diagnose festhalten zu können. Für die forensische Beurteilung 
brauchte man sich ja wegen dieser differentialdiagnostischen Schwie¬ 
rigkeiten keine grossen Kopfschmerzen zu machen. Soviel stand 
jedenfalls fest, dass sein psychischer Gesamtstatus nicht ausreichte, 
um ihm die Verantwortlichkeit für sein Tun abzunehmen. 

Dass die geräuschvollen Verwirrtheitszustände, die früher bei 


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Dr. Mönkemöller, 


ihm beobachtet worden waren, zur Zeit der Tat nicht Vorgelegen 
haben konnten, liegt ja auf der Hand: hatte er die Taten wirklich 
in geistiger Störung begangen, so konnten nur die stillen und geräusch¬ 
losen Dämmerzustände in Frage kommen. Und wenn auch die Aehn- 
lichkeit oder Identität der Einzelanfälle sicher verstärkend für die 
Wahrscheinlichkeit des einzelnen Anfalles zu verwerten ist, beweist 
die Verschiedenartigkeit natürlich nicht das Geringste für das Gegen¬ 
teil. Dass die Möglichkeit für das Auftreten dieser unauffälligen 
Zustände vorlag, konnte bei dem Vorhandensein der epileptischen 
Diathcse und den nachgewiesenen akuten Entladungen gar nicht 
geleugnet werden. Ob man aber selbst nur die Wahrscheinlichkeit 
konzedieren dürfte, war in diesem Falle ausserordentlich schwer zu 
sagen. 

Merkwürdig war ja, dass, während früher bei ihm nicht der¬ 
artige Zustände beobachtet waren, und die psychischen Insulte so 
selten und in so auffallend grossen Zwischenräumen aufgetreten waren, 
sich nun plötzlich ohne jede äussere Veranlassung in Zeit von 
14 Tagen gleich drei solche Anfälle einstellten und dass er jedes¬ 
mal in solch einem Insult dieselbe Handlung beging. Dabei licss 
sich nicht sagen, dass diese sehr zweckmässig gewesen wären, aber 
ebensowenig konnte man von einer ausgesprochenen Motivlosigkeit 
reden. So schlecht war das Haus doch nicht versichert, dass die 
Erhebung der Versicherungssumme ein so ganz von der Hand zu 
weisendes Geschäft gewesen wäre und bei den allgemeinen Anfein¬ 
dungen, deren er sich zu erfreuen hatte, konnte man die Rachsucht 
bei seiner Gemütsart durchaus nicht ausser Rechnung setzen. Ob 
man sich dem Staatsanwalte oder dem Verteidiger anschliessen w'ollte, 
war in diesem Fall reine Geschmackssache. 

Dazu kam noch, dass in zwei Fällen der Brand ganz planmässig 
vorbereitet war, und wenn auch in den Dämmerzuständen alles 
möglich ist, ist es doch wohl meist das Gewöhnliche, dass der Kranke 
sich bei solchen Gelegenheiten alle Umständlichkeiten schenkt und 
ohne jede Rücksicht auf etwaige Entdeckung und Folgen handelt. 

Hauptsächlich wurde aber die Beurteilung dadurch erschwert, 
dass es gar nicht feststand, ob er die Taten überhaupt begangen 
hatte oder nicht. Denn dadurch wurden zunächst die eigenen An¬ 
gaben des Angeklagten über die Zeit der Handlungen so gut wie 
wertlos. Hatte er die Tat nicht begangen, dann erübrigten sich 
die Nachforschungen nach Amnesie von selbst. Hatte er sie im 


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Zar Kasuistik der forensischen pathologischen Bewusstseinsstörungen. 43 

Dämmerzustände begangen, so musste ja die eventuelle Amnesie ein 
negatives Resultat zeitigen und war er dabei geistig frei gewesen, so 
führte sein Leugnen zu demselben Resultat wie diese Amnesie. 

Und ebenso vieldeutig wurden die Angaben seiner Umgebung 
über sein Verhalten während oder unmittelbar nach der Tat. War 
er wirklich der Täter bezw. der Mann, den man an der Stelle der 
Tat hatte so eilig gehen sehen, so war es immerhin auffallend, dass 
er so rasch ging, denn ganz abgesehen davon, dass die Bewegungen 
und Handlungen im Dämmerzustände, in der Regel wenigstens, nicht 
mit allzu grosser Hast erfolgen, hatte er ja keinen Grund zu laufen, 
da er ja im Dämmerzustände weder vom bösen Gewissen, noch von 
der Angst vor Entdeckung gefoltert wurde. Nach der Tat erschien 
er ohne Zweifel in mancher Beziehung auffallend, aber gewiss auch 
nicht mehr, als es sich durch den vorher beobachteten Alkoholgenuss 
erklären liess. Diese Auffälligkeiten konnten ihre Erklärung darin 
finden, dass er sich in den Nachwehen des Dämmerzustandes befunden 
hatte, aber auch gerade so gut dadurch, dass er schuldig war und die 
Spuren seines Tuns verwischen wollte. War er gar nicht der Täter, 
so konnte er sich recht gut in begreiflicher Aufregung befunden haben, 
zumal auch alle seine Handlungen durch die Brille eines tiefen Hasses 
angesehen wurden. 

Bei der Unbestimmtheit aller dieser Neben um stände, die bei 
der forensischen Begutachtung ja so wie so alle einen recht zweifel¬ 
haften Wert haben und oft durch unvermutete Zeugenaussagen eine 
ganz andere Bedeutung gewinnen, musste das Gutachten sich darauf 
beschränken, die Möglichkeit solcher Zustände zuzugeben, gleichzeitig 
aber zu erklären, dass für die Wahrscheinlichkeit des Bestehens 
keine genügenden Anhaltspunkte Vorlagen. Weitere Dämmerzustände 
sind nicht beobachtet worden, ebensowenig sind in seiner näheren 
Umgebung weitere Brände beobachtet worden. 

Die Geschworenen erklärten ihn für nicht schuldig. In diesem 
Urteil kam wieder ein alter Mangel der jetzt bestehenden Process- 
ordnung zu Tage, der sich in allen solchen Fällen, bei denen weder 
die Täterschaft noch die psychische Krankheit des Angeklagten über 
allen Zweifel erhaben ist, bemerkbar macht. Nach der Formulierung 
der Fragen, wie sie an die Geschworenen gestellt werden, ist, falls 
ihr Votum auf „Nichtschuldig“ lautet, gar nicht zu ersehen, ob die 
Freisprechung erfolgt, weil sie glauben, er sei nicht der Täter oder 
weil sie ihn für den Täter, aber für geisteskrank und unzurechnungs- 


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44 Dr. Mönkemöller, Zar Kasuistik d. forens. pathol. Bewusstseinsstörangen. 

fähig halten. Denn da nach § 51 St. G. B. eine strafbare Handlung 
nicht vorhanden ist, wenn der Täter zur Zeit der Begehung der straf¬ 
baren Handlung sich in einem Zustande von Geistesstörung befunden 
hat, so lautet die Antwort in beiden Fällen gleich. Da der Staats¬ 
anwalt aber nicht wissen kann, ob der Angeklagte freigesprochen ist, 
weil man ihn für krank hielt, so fehlt eine genügende Handhabe, um 
die Ueberweisung an eine Irrenanstalt in die Wege leiten zu können. 
In vielen Fällen wird das ja für die Interessen des Angeklagten wie 
für die allgemeine Sicherheit ziemlich irrelevant sein, in manchen 
Fällen aber, vor allem wenn der Alkohol mit bei der Auslösung dieser 
Zustände im Spiele war, ist eine systematische Anstaltsbehandlung 
sicher zu empfehlen, und dem Gerechtigkeitsgefühl wird die obligate 
Klage erspart, dass solche Kranke nicht bestraft werden können, aber 
auch nicht in die Anstalt kommen. 

Die Frage nach der Anstaltsbedürftigkeit derartiger Kranken ist 
ja so wie so manchmal schwer zu lösen. Bei der schweren All¬ 
gemeindegeneration sind die interkurrenten Bewusstseinsstörungen 
nur verhältnismässig wenig ausschlaggebend, wenn sie es ja auch 
häufig sind, die den äusseren Anlass zur Anstaltsaufnahme geben. 
Hier erscheint der Aufenthalt in der geschlossenen Anstalt selbstver¬ 
ständlicher. Dem Betreffenden und seinen Verwandten kann die Not¬ 
wendigkeit des Aufenthaltes viel leichter vor Augen geführt werden. 
Treten aber die Anfälle nur sehr selten auf und liegen sie Jahre aus¬ 
einander, so erscheint es häufiger als eine unnütze Härte, den Be¬ 
treffenden die Freiheit zu entziehen, während anderseits die Unberechen¬ 
barkeit dieser Zustände und die stete Gefahr schwerer Konflikte mit 
den Strafgesetzen eine energische Berücksichtigung erheischen. Eine 
ausgesprochene Periodizität gibt ja gewisse Anhaltspunkte für die 
Lösung dieser Frage, bei unregelmässigem Turnus aber wird diese 
Frage nie glatt gelöst werden können. 

Am dankbarsten sind die Fälle in denen sich durch Beseitigung 
der auslösenden Momente: Alkohol, Ueberarbeitung u. s. w. in kurzer 
Zeit die Verwendung einer solchen Eventualität mit relativer Sicherheit 
erwarten lässt. 

Zum Schlüsse erfülle ich die angenehme Pflicht, meinem verehrten 
früheren Chef, Herrn Direktor Dr. Schneider, für die liebenswürdige 
Ueberlassung des Materials meinen verbindlichsten Dank auszusprechen. 


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2 . 


Sind die Degenerationszeichen wirklich wertlos? 

Von 

Medizinalrat Dr. P. Nücke in Hubertusburg. 


In dieser Zeitschrift (3. Folge, XXXI, 1) haben vor kurzem 
Dohrn und Scheele einen Aufsatz veröffentlicht 1 ), worin sie auf 
Grund eigener Untersuchung bewiesen zu haben glauben, „wie wenig 
die ganze Lehre von den Degenerationszeichen einer sachgemässen 
Nachprüfung standhält“. Da nun in Deutschland gewiss nur wenige sich 
mit den somatischen Entartungszeichen so in- und extensiv beschäftigt 
haben wie ich seit Jahren, so glaubte ich jenem vernichtenden Verdikte 
an dieser Stelle entgegentreten zu müssen. Dies um so lieber, als ich 
so Gelegenheit finde, auf manches näher einzugehen, was ich früher 
nicht berührt oder nur gestreift habe. 

Aus einer neueren Arbeit von mir 2 ) will ich zunächst nur die 
prägnantesten Stellen bez. der Definition von Entartung und Ent¬ 
artungszeichen vorausschicken, die Interessenten auf die Studie selbst 
verweisend. 

„Entartung... ist eine von der grossen Menge der Menschen stark ab¬ 
weichende Reaktion auf verschiedene äussere und innere Reize, welche das In¬ 
dividuum und die Umgebung stören, ja sogar schädigen kann. . . Unsere 
Definition ist also eine physio-psychologische und stützt sich nicht nur auf ein 
einzelnes Symptom, sondern auf eine Reihe solcher . . . Entartung an sich noch 
keine Krankheit (ist), sondern nur einen abnormen, oder besser gesagt, krankhaften 
Zustand bezeichnet, der allerdings sehr leicht zu wirklicher Krankheit führt. 
Immerhin bezeichnet es etwas Pathologisches, im Gegensätze zum bloss Ab¬ 
normen ... Entartet in echtem Sinne sind also .. . keine Kranken, wohl aber 


1) Beiträge zur Lehre von den Degenerationszeichen. 

2) In Monatsschr. f. Kriminalpsychologie etc. 1904. H. 1. Der Titel lautet: 
Ueber den Wert der sogen. Degenerationszeichen. 


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Dr. P. Näoke, 


Kanditaten der Krankheit... Die Entartung ist ferner angeboren — besser einge¬ 
boren- oder erworben, meist jedoch ersteres ... Es bedeutet also Entartung meist 
ein irgendwie mehr allgemein als lokal defektes ab oro invalides Zentralnerven¬ 
system, und somit müssen auch die Körperfunktionen mehr oder weniger leiden . . . 
Woran sollen wir die Entartung erkennen? An den Entartungs-, Degenerations¬ 
zeichen, Stigmen. Was sind diese aber? Hier gilt es sich reserviert auszudrücken. 
Am besten unterscheiden wir anatomische, physiologische, psychologische und so¬ 
ziale Entartungszeichen und wir rechnen hierzu alles, was die Variationsbreite der 
einzelnen Bildungen oder Eigenschaften entschieden überschreitet, oder, da uns die 
Grenzen der Variationsbreite leider noch unbekannt sind, was mindestens scheinbar 
seltenere Variationsphänomene sind, die zusammengenommen eben die Folgen oder 
Zeichen der Entartung darstellen ... es sind auf somatischer Seite anatomische Varie¬ 
täten, pathologische oder endlich atavistische Bildungen. Ueber die atavistischen zu 
urteilen steht .allein dem Anatomen und Zoologen zu . . . empfehle ich nur die 
A-, Hypo-, und Hyperplasien, ferner die Atavismen, die sicher meist Pseudo-Ata¬ 
vismen sind und von den pathologischen nur die angeborenen hierher zu rechnen, 
die früh erworbenen dagegen — durch Rhachitis, Skrofulöse etc. — am liebsten 
ausser acht zu lassen . . . Insgesamt stellen die Stigmen also angeborene (höchstens 
sehr früh entstandene) Bildungen verschiedener Genese und verschiedener Wertung 
dar, die das gemeinsam haben, dass sie die Funktion nicht oder kaum stören. 
Manche sind nur „ästhetische“ Fehler. . . Hauptsache ist, dass sie klinische 
Stigmen bedeuten und zwar in der Reihenfolge, dass die A-, Hypo- und Hyper¬ 
plasien die am wenigsten wichtigen darstellen ... die pathologischen schon 
wichtiger, am bedeutsamsten dagegen die Atavismen, resp. Pseudo-Atavismen sind. 

Diese Sätze dürften in der Hauptsache von allen, die in dieser 
Materie nur einigermassen kompetent erscheinen, unterschrieben werden. 
Aus obiger Darstellung erhellt also zunächst, dass vorsichtigerweise 
vielleicht lieber statt: Degenerationszeichen, seltenere Varie¬ 
täten zu sagen ist. Denn der Anatom kennt, wie einmal Sticda 
sagte, von seinem Standpunkte aus, nicht den Begriff des Entartungs¬ 
zeichens. Für uns soll cs auch nur ein klinischer Begriff sein und nur 
als solcher und als seltenere anatomische Variation soll im Folgenden 
daher der Ausdruck: Stigma etc. gelten. Wie sahen aber auch weiter, 
dass die somatischen Stigmata die am wenigsten wichtigen 
sind. Wenn sie trotzdem mit so grosser Vorliebe von Hunderten 
studiert wurden, so geschah cs, weil sie sich allein zu Massen¬ 
untersuchungen eignen. Bei den psychologischen und sozialen ist 
ist dies unmöglich, weil sie weniger augenfällig sind, vor allem aber 
meist eine längere Beobachtung der betreffenden Person verlangen. 
Sollen aber solche Massenuntersuchungen irgend welchen Wert bean¬ 
spruchen, so sind eine Reihe von Fehlerquellen zu vermeiden. Des¬ 
halb habe ich in meiner angezogenen Arbeit die Haupterfordernisse 
folgendermassen formuliert: 


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Sind die Degenecationszeichen wirklich wertlos? 


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„1. Grosses Material abnormer Menschen der verschiedensten Art, von den 
einfach Entarteten bis zu den Nerven— Geisteskranken und Verbrechern, 
eventuell auch Dirnen, unter denen viele Abnorme sind. Sehr wünschenswert ist 
es, alle zu untersuchen und so miteinander zu vergleichen. 2. Eine gleiche Zahl 
Normaler, oder besser gesagt sogenannter Normaler, da es weder physisch noch 
psychisch eine absolute Normalität gibt... 3. Sehr wichtig ist, dass alle unter¬ 
suchten Personen möglichst derselben Volksschicht, demselben Milieu entstammen .. 
4. Zur Vergleichung ist es erwünscht, dass man sich über die zu untersuchenden 
somatischen Stigmen einigt und besonders über den Grad, von dem ab das eine oder 
andere Gebilde als solches zu zählen ist, um allem Subjektivismus aus dem Wege 
zu gehen . . . sollte man nur die höheren Grade zählen und am besten durch 
Messung feststellen. So lange letzteres nicht geschieht — und es geschah bisher 
meist nicht — empfiehlt os sich weiter, dass zwei Untersucher zugleich das 
Material vornehmen und zwar möglichst schnell hintereinander, weil so der fatale 
Subjektivismus nach Möglichkeit eingedämmt wird.“ 

Als ein ferneres Desideratum, welches ich in verschiedenen anderen Arbeiten 
betonte, ist endlich noch anzuführen, dass möglichst nach einem bestimmten 
Schema gearbeitet werden sollte, um vergleichbare Statistiken zu 
gewinnen. Selbst bei Innehaltung eines schlechten Schemas sind immer nochmehr 
vergleichbare Werte zu erlangen als, wie es sonst geschieht, wenn jeder Unter¬ 
sucher nach seinem eigenen verfährt, bald viele, bald wenige Stigmata zählt, bald 
sie nur auf beschränktem Gebiete, bald am ganzen Körper berücksichtigt, bald 
alle leichten Grade, bald nur die schweren unter den Entartungszeichen etc. 

Sehen wir mm zu, wie Dohrn und Scheele diesen methodolo¬ 
gischen Forderungen nachgekommen sind. Als Untersuchungsmatcrial 
benutzten sie die Insassen von 4 Zuchthäusern, solche von einer 
Besserungsanstalt und endlich einer Hilfsschule. Das für die Klasse der 
„Entarteten“. Die Soldaten gaben dann die „Normalen“ ab. Die 
Verfasser haben selber empfunden, dass das Material, so gross es 
auch war, doch kein vollständig getreues Bild geben kann. Sicher gibt 
es bei obigen Insassen sehr viele Entartete, gewiss aber auch so 
manche Geisteskranke, Epileptiker, Schwachsinnige u. s. f., die wohl 
kaum dort abgesondert worden sind, folglich nicht eigentlich zu den 
Verbrechern gehören. Hier hätte zunächst eine reinliche Scheidung 
vorgenomracn werden sollen, wenigstens soweit dies möglich war. 
Bei den Verbrechern muss man aber weiter die Gewohnheits- von den 
Gelegenheits- und noch mehr von den Leidenschafts-Verbrechern trennen, 
da besonders letztere so gut wie ganz zu den „Normalen“ zu zählen 
sind. Also nur die Gewohnheitsverbrecher, nach Abzug der Geistes¬ 
kranken, Epileptischen u. s. f. wären zu untersuchen gewesen. Und 
dabei ist nicht zu vergessen, dass sogar die meisten Gewohnheitsver¬ 
brecher es vorwiegend nur durch das Milieu geworden sind, weniger 


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Dr. P. Näcke, 


also durch den endogenen Faktor. Für die Abnormen bietet aber die 
Irrenanstalt ein viel günstigeres Terrain zu Untersuchungen dar, weil 
hier eine Keihe verschieden schwerer Zustände sich befinden, die sich 
in der Menge, Wichtigkeit etc. der Entartungszeichen verschieden er¬ 
weisen müssen, und es auch tun. So bin ich selbst verfahren. Ausser¬ 
dem nahm ich irre Verbrechcrinnen vor, die allerdings fast ausnahmslos 
nur verbrecherische Irre waren. 

Dohm u. Scheele betonen selbst, dass die Soldaten, ihre „Nor¬ 
malen“, eine gewisse Elite des Volks darstellen. Das ist vollkommen 
richtig. Ich habe s. Z. Pflegerinnen und Pfleger in grösserer Zahl unter¬ 
sucht. Unter letzteren waren ziemlich viele, die nicht Soldaten gewesen 
waren. Sie näherten sich somit dem eigentlichen Volksdurchschnittc sicher 
mehr, als die Soldaten. Fast besser noch wäre esnachDiem, Leute 
in allgemeinen Hospitälern vorzunehmen, nach Ausschluss eigentlich 
Geisteskranker etc. Hier gibt es Entartete und Nichtentartete, wie 
beim Volke, von ersteren aber wahrscheinlich noch mehr, so dass der 
wirkliche Durchschnitt des Volkes besser erscheint. Versteht man aber 
unter „Normalen“ alles, was draussen in der Freiheit lebt, also was 
nicht in Gefängnissen, Irrenanstalten, Krankenhäusern, Bordellen zurück¬ 
gehalten wird, so sind viele Geisteskranke (oder solche, die es waren), 
Schwachsinnige, Epileptiker etc. darunter und das gäbe wieder falsche 
Zahlen. Das Idealste wäre z. B. alle männlichen Individuen von der 
Pubertät ab auf gröbere geistige Defekte einzeln zu prüfen und solche 
grob Abnorme dann von der anthropologischen Untersuchung auszu- 
schliessen. Wer vermöchte dies aber bei einer grösseren Menge aus¬ 
zuführen? Darum erscheint der von Diem eingeschlagene Weg noch 
als der beste. 

Soweit, was das Material anlangt. Jetzt zu den Entartungszeichen 
selbst. Um vergleichbare Werte zu gewinnen, hätten Dohrn u. Scheele 
nach einem bestimmten Schema arbeiten sollen, z. B., nach dem uneini¬ 
gen. Das ist leider nicht geschehen. Verfasser beschränken sich nur auf den 
Kopf und auch das bloss in unvollständiger Art und Weise sogar bezüglich 
des von ihnen am genauesten untersuchten Gebiets, des Mundorganes. Das 
Auge ist garnicht geprüft worden, vom Ohr nur die unwesentlichsten 
Dinge. Das zweitwichtigste Gebiet nach dem Kopfe, die Genitalien 1 ), 

1) Verff. behaupten, dass der Begriff des Klöppelpenis ein zu schwankender 
sei. Dies ist ein Irrtum. Es handelt sich hier stets um ein von hinten nach vorn 
zu verbreitertes Glied, mag nun der Schwellkörper dabei mitbeteiligt sein oder 
nicht. Stets ist es ein sehr wichtiges Stigma. Niemals sah ich es bei 


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Sind die Degenerationszeichen wirklich wertlos? 


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kamen garnieht in Betracht. Schon das zeigt die Unzulänglichkeit 
des Gebotenen. Ich gebe freilich zu, dass unter den gegebenen Um¬ 
ständen eine vollständige Untersuchung sehr erschwert war. Aber 
dann hätten eben die Schlüsse vorsichtiger sein sollen! Man bedenke 
ferner, wie viele schwere Abnormitäten der ganze übrige Körper haben 
kann, was gar nicht berücksichtigt wurde! 

Ein Fehler endlich — allerdings von dem die übrigen Autoren, 
darunter auch ich, gleichfalls nicht freizusprechen sind — besteht 
darin, dass Verff. bis auf einige Ausnahmen keine Messungen Vor¬ 
nahmen, denn das Augenmass trügt nur zu oft, wie ich es immer 
betonte und hier speziell gegen Verff. nochmals aussprechen muss, 
weshalb ich riet, unter solchen Umständen lieber zu zweit zu unter¬ 
suchen, um wenigstens gröbere Subjektivitäten auszuschliessen. Denn 
es kommt nicht nur auf die Natur, sondern auch auf den Grad des 
Stigmas an. Leichte Grade sind absolut wertlos. Man sollte nur 
stark ausgeprägte zählen. Was aber heisst: „mässig“, „stark“ 
etc., wenn man kein bestimmtes Mass untergelegt hat? Nur bei 
Messungen kann eine wirkliche Vergleichung stattfinden. 

Als einen besonderen Vorzug bezeichnen es die Verfasser, dass 
hier ein Arzt und zwei Zahnärzte das Mundorgan untersucht haben. 
Wiederholt habe ich in verschiedenen Arbeiten darauf aufmerksam 
gemacht, dass es für gewisse Untersuchung en sehr wünschenswert sei, 
Fachleute zur Kontrolle heranzuziehen. Es will z. B. ein Psychiater 
die Paralytiker auf Testierende Zeichen von Lues prüfen. Das ist eine 
so heikle Untersuchung, dass nur ein Syphilidolog einwandsfrei sie 
vornehmen kann. Oder, wenn ferner Auge, Ohr etc. bei geistigen 
oder sonstigen Erkrankungen funktionell in Betracht kommen, so gehört 
ein Fachmann dazu. Also: Wenn es gilt eine Funktion zu prüfen, 
muss stets ein Spezialist zugezogen werden. Bei gröberen 
äusseren anatomischen Dingen dagegen, wie z. B. den Ent¬ 
artungszeichen, erscheint dies meist überflüssig. Ob z. B., 
um bei dem Mundorgan zu bleiben, die Zähne gross, klein, schief, 
gerieft, kariös etc. sind, ob der Gaumen hoch, schmal etc. ausgefallen 
ist, sieht jeder Arzt, der nur wenige anatomische Kenntnisse und die 
nötige Uebung besitzt. Der Vergleich mit Normalen wird ihm sehr 


Normalen, sehr selten bei Geisteskranken, relatir häufiger aber, immerhin noch 
selten genug, bei Idioten. 

YiertoJjfthrMQhrift f. ger. Med. n. Off. San.-We*en. 3. Folge. XXXII. 1. j 


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Dr. P. Näcke, 

bald zeigen, was häufig, was selten ist. Ein Zahnarzt ist hier gänzlich 
unnötig! Anders freilich, wenn Spezial-Untersuchungen in Frage 
kommen, es sich z. B. darum handelt, die Zahl, Art der Höckerchen 
festzustellen 1 ) oder bei der Karies die genaue Ausdehnung derselben 
etc., hier ist ein Spezialist nicht zu umgehen, auch nicht,, wenn es 
sich bei Unterzahl der Zähne oder Lücken darum handelt zu wissen, 
ob früher hier nicht Zähne dagewesen sind oder nicht. Das aber 
sind alles nur seltene Fälle. Die eigentlichen Erkrankungen des 
Mundorgans wiederum kommen aber für die Stigmen nicht in Frage. 
Ich bezweifle auch stark, dass ein Zahnarzt eine Bildung an den 
Zähnen, dem Gaumen etc sicher als rhachitisch hinstellen kann oder 
nicht. Es erscheint viel natürlicher, dass dies dem praktischen Arzte 
zukommt und nicht jenem. Nur wo sonstige Zeichen der Rhachitis 
vorliegen wird man auch von rhachitischen Zähnen etc. sprechen 
dürfen. Diese Krankheit wird aber bei geringer Ausprägung leicht 
einmal übersehen und nur die mikroskopische Untersuchung der Knochen 
etc. kann dann Sicherheit verschaffen. Oder andererseits: manches 
wird fälschlicherweise für Rhachitis ausgegeben, was Osteomalacie, 
Skrofulöse etc. ist. 

Man hat sich gewöhnt, bei Ricfungen, Kleinheit, Knopfung, Aus¬ 
einanderstellung, Verstellungen, Abgeschliffensein der Zähne etc. von 
Rhachitis zu sprechen. Sicher ist dies auch oft richtig, wenn nämlich 
gleichzeitig am Körper weitere rhachitische Anzeichen vorliegen. Aber oft 
genug — in welchem Verhältnisse ist z. Z. unbekannt — ist letzteres 
nicht der Fall und wir können dann nur allgemein von Ernährungs¬ 
störungen reden, die schon intrauterin einsetzten — namentlich die 
dadurch entstandenen Querfurchen lassen sich zeitlich genau bezüglich 
des Eintretens bestimmen — oder erst später, ganz besonders durch 
die Infektionskrankheiten, wobei besonders die vorderen Zähne ins¬ 
gesamt oder nur teilweis in Betracht kommen. Freilich ist der 
Ausdruck „Ernährungsstörung“ etwas sehr vage, z. Z. noch nicht 
definierbar, ein reines Schlagwort. Wir können aber so entstandene 


1) Gerade die Untersuchung auf die Höcker der Zähne ist so gut wie nicht 
gemacht worden — in grösserem Masse wohl nur von Talbot — und als eventuell 
atavistische Gebilde sind sie wichtig. Meines Wissens ist ferner eine vergleichende 
Prüfung des Speichels nicht gemacht worden und das wäre nur die Sacho des 
physiologischen Chemikers. Gerade eine solche Prüfung verspricht vieles, da allem 
Anscheine nach bei Entarteten auch die Sekrete, darunter der Speichel, abnorm 
zusammengesetzt sind, qualitativ und quantitativ. 


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Sind die Degenerationszeichen wirklich wertlos? 


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Störungen, wenn sie intrauterin oder bald nach der Geburt auftraten, 
nicht gut von den Entartungszeichen ausschliessen. Ob es freilich 
wirklich eine fötale Rachitis gibt, ist noch strittig, nicht aber die 
später entstandene. Ob daher Ausbuchtungen am Schädel, Ver¬ 
längerungen etc. von fötaler Rhachitis stammen, weiss man nicht 
recht. Es kann spätere Rhachitis hier vorliegen, wobei diese Aus¬ 
buchtungen jedoch auch ohne Periostitis bestehen können, oder eine 
andere Ernährungsstörung, die bloss die Knochen etc. weich erhält, 
wodurch dann durch Lagerung, unpassende Kopfbedeckung u. s. w. 
Deformitäten entstehen. Allen solchen Verbildungen ist kaum ein Gewicht 
beizulegen, ebensowenig einer leichten Asymmetrie des Schädels und 
Gesichts, die normal ist.' Nur wo sie stark auftritt, ist sie be¬ 
achtenswert und lässt sich zum Teil zahlenmässig feststellen. Das¬ 
selbe bezieht sich auch auf die schiefe Nase, die gewiss meist 
nicht traumatischen Ursprungs ist. Alle solche starken Asymmetrien, 
resp. Ausbuchtungen, ebenso die höheren Grade von Skaphocephalie 
oder gar des „Turmschädels“ haben deswegen eine Bedeutung, weil 
in solchen Fällen Unregelmässigkeiten in der Gehirnentwickelung 
gewöhnlich das Primäre sind, mit oder ohne zutretende Rhachitis etc. 
Letztere könnte vielleicht aber auch einmal ein ursprünglich gesundes 
Gehirn bei langer Andauer ungünstig beeinflussen. Bekanntlich sind 
Krämpfe häufig bei englischer Krankheit, letztere hat sie dann ent¬ 
weder sekundär erzeugt, oder sie sind wahrscheinlich meist, wie 
die Rhachitis selbst, durch eine Ernährungsstörung des Gehirns ent¬ 
standen. Dies führt uns nun zur kurzen Besprechung gewisser Ein¬ 
zelheiten bezüglich der Stigmen, die ich in der Reihenfolge, wie Dohrn 
etc. sie erwähnen, vornehmen will. 

Alles soeben von der Asymmetrie Gesagte gilt vor allem bezüglich des 
Hydro- und Mikrocephalus, die freilich immer wichtigere Zeichen bleiben 
als jene. Auch hier gilt es zu messen, um nicht subjektiv zu sein 1 ). 
Bei der Hydrocephalie kommt es aber auch auf das Verhältnis zum 
Gesicht und zum übrigen Körper an. Der sogenannte „front 
bombö“ muss gewiss manchmal als Anfang der Hydrocephalie be¬ 
zeichnet werden. Die Schiefheit der Stirn ist zu messen und hat 
nur in den höheren Graden Bedeutung. Gespaltenes Zäpfchen ist 

1) Wie subjektiv hier oft vorgegangen wird, mag folgender Fall beweison. 
In den Akten einer Patientin fand ich sie einmal in einem Gutaohten als „hydro- 
oephal“, in einem anderen als „mikrocephal“ bezeichnet, während ich sie als 
„mesocephal ansah! 

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abnorm selten, auch bei Entarteten. Ich konnte die Uvula fast stets 
untersuchen. Anfänge der Spaltung in Form von Einkerbung werden 
leicht übersehen, sollten aber nicht als Spaltung mit aufgeführt werden. 
Viel wichtiger als die spitze Zunge ist die lange, die Dohrn etc. 
gar nicht erwähnen. Auch hier ist zu messen und zwar entweder die 
Länge der ganz ausgestreckten Zunge von den oberen Schneidezähnen 
ab, oder die Entfernung der Spitze vom unteren Rande des Unter¬ 
kiefers, wobei dann freilich auch die Höhe des letzteren zu bestimmen 
bleibt. Meist ist die lange Zunge auch zugleich spitz. Die breite 
Zunge kann dick oder dünn sein. Die Art des Gefurchtseins der 
Zunge muss näher beschrieben werden, auch sind die Papillen zu 
beachten. 

Da die Ohrmuschel ein rudimentäres Organ vorstellt, so variiert 
sie als solches ungemein stark. Darum haben alle oder die meisten 
Reliefverschiedenheiten keinerlei Wert als Stigmata und sind nur 
als anatomische Varietäten interessant. Also sind z. B. angewachsene 
Ohren, Abstehen derselben — beides lässt sich auch messen! — 
völlig belanglos, eher schon das sogen. Satyrohr. Bedeutung dagegen 
haben zu lange, zu kleine, verschieden hoch angeheftete oder ungleiche 
Ohren oder sogen. Trichterohren etc., Dinge, die Dohrn etc. überhaupt 
nicht berühren. 

Wenn man von Prognathie spricht, d. h. von der alveolären resp. 
subnasalen, so meint man nur die höheren Grade derselben, wo solche 
nicht etwa ethnisch bedingt sind, da ja leichte Pragnathie physiologisch 
ist. Auch hier ist Messung nötig. Wenn ich die Progenie in „halbe“ 
und „ganze“ oder „echte“ einteilte, so geschah es zunächst nur dem 
Augenscheine nach. Die Genese kann verschieden sein, trotzdem bleibt 
die Progenie stets zu beachten und wird sich gern mit allerlei anderen 
Degenerationszeichen verbinden. Bezüglich des Kinns haben Dohrn etc. 
nicht der von mir beschriebenen Form des „schiefliegenden“ Kinns 
gedacht, welche auch interessante Korrelationsstörungen an den Zähnen 
bedingt. Der sogen, „offene Biss“ ist mir ganz abnorm selten vor¬ 
gekommen. 

Bezüglich der sogen, rhachitischen Zähne habe ich schon oben ge¬ 
sprochen. Unter dem Diastema haben nur die scheinbar atavistischen 
Bildungen Wert. Das sind die Lücken (künstlich erzeugte sah ich 
selbst nie!) zwischen den oberen mittleren Schneidezähnen oder vor 
den oberen Eckzähnen, während solche Diastemen zwischen allen oder 
den meisten, gewöhnlich den Vorderzähnen,.ziemlich wertlos erscheinen 


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Sind die Degenerationszeichen wirklich wertlos? 


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und ja nicht mit den^mdern Diastemen zugleich zu zählen sind x )! Solche 
verbreiterte Lücken sieht man nämlich wohl ausnahmslos bei den 
kleinen, gerieften, rhachitischen Zähnen, mag dabei der Oberkiefer 
breit angelegt sein oder Dicht. Rhachitisch sind aber gewiss auch 
wenigstens teilweis die Verstellungen der Zähne, sowie die Verbiegungen 
und das Eckigwerden der Zahnbögen. Im ersten Falle finden sich 
alle sonstigen Charakteristika der sogen, rhachitischen Zähne und 
Knochen. Bei abnormer Weichheit der Alveolen kann dann durch un¬ 
regelmässigen Druck der oberen Zähne, oder durch Lippen-, Zungen¬ 
druck der junge Zahn verschoben werden oder die Zahnanlagen sind schon 
vielleicht von Anfang an falsch orientiert gewesen. Ein rhachitischer 
oder sonst wie weicher Zahn wird auch dem Drucke weniger wider¬ 
stehen. Die Ernährungsstörung — mag es nun Rhachitis sein oder 
nicht — wird aber ferner in zu dünner oder unregelmässig starker 
Schmelzauflage sich zeigen, die an sich schon leicht äusseren Agentien 
gegenüber nachgibt und Karies erzeugt oder schon ob ovo waren kleine 
Erosionen oder vielmehr Defekte gesetzt, die dann Ausgangspunkt der 
Zerstörung werden. Rhachitisch ist gewiss meist auch das Abschleifen 
der Kauflächen. Nie aber traf ich gesunde oder kranke Personen, 
die „gewohnheitsmässig“ im Schlafe kauten. Knirschen kommt gewiss 
zeit weis bei nervösen etc. Kindern vor, auch bei Geisteskranken, 
namentlich Idioten, aber selbst dann nur selten und wohl kaum die 
ganze Nacht hindurch. Dann wird gewöhnlich auch tagsüber geknirscht, 
besonders bei den Paralytikern. Wo nachts geknirscht wurde — immer 
viel seltener als am Tage — geschieht es meist im Wachen und nicht 
im Schlafe. Ich selbst sah ferner nie durch dies Knirschen ein Ab¬ 
schleifen der Kauflächen bewirkt. Dies kann umso weniger geschehen, 
als das Knirschen meist durch seitliche Bewegungen der Volarflächen 
der Zähne aufeinander geschieht, fast nie auf den Kauflächen selbst. 
Es müssten also mehr Abschliffe auf den Vorderseiten der untern 
Schneidezähne sichtbar sein. Aber das ist noch viel seltener der 
Fall als auf den Kauflächen, eben weil der Druck ein zu geringer 
und nicht kontinuierlicher ist. 

Bezüglich des Gaumens haben Dohrn und Scheele viel weniger 
Abnormitäten untersucht, als ich z. Z. angegeben hatte. Der hohe und 


1) Viel wertvoller als Stigma dagegen erscheinen die abnorm grossen und 
breiten mittleren Schneidezähne oben und hauerartige Eckzähne, beides Pseudo- 
Atavismen. 


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der breite Gaumen hängen namentlich mit der^Gesichtsbreite zu¬ 
sammen. Langes Gesicht geht mit hohem, breites mit breitem Gaumen 
Hand in Hand. Und so ist hoher Gaumen nur dann abnorm, wenn 
er sich beim Breitgesicht findet, und ein breiter Gaumen beim Schmal¬ 
gesicht. Bei hohem Gaumen habe ich übrigens, im Gegensätze zu 
Dohrn, fast nie Mundatmung angetroffen. 

Soweit diese kurzen Bemerkungen. Wir sehen jedenfalls, dass 
für uns Stigmata „klinische“ Zeichen sind, abgesehen von ihrer Ge¬ 
nese und Wertung. Gerade die wichtigsten unter ihnen, die sogen, 
„atavistischen“, die wie schon früher gesagt, meist Pseudo-Atavismen 
sind, haben Dohrn und Scheele fast nicht berührt. Wir sahen 
ferner, dass sie nur eine sehr ungenügende Zahl von Stigmen unter¬ 
suchten, bloss am Kopfe und hier nicht einmal die wichtigsten. Auch 
das Material war nicht einwandsfrei. Trotzdem verurteilen die Verf. 
schlankweg den Wert der Degenerationszeichen! 

Um nun auf ihrem eigensten Gebiete, der Untersuchung des Mund¬ 
organs, zu bleiben, hätten allein die Untersuchungen des berühmten 
Professors der Zahnheilkunde in Chicago, Tal bot, — von dem sie 
nur eine Arbeit zu kennen scheinen — sie eines Besseren belehren 
können. Sicher hat kein Mensch so unzählig viele Gaumen, Zähne und 
Kiefer untersucht wie jener und zwar bei normalem und abnormem 
Materiale, ferner nicht nur in Amerika, sondern auch in Europa und 
ausserhalb. Und alle seine Untersuchungen lassen immer bloss das 
eine erkennen, dass nämlich das gesamte Mundorgan bei Ent¬ 
arteten ganz bedeutend mehr sogen. Stigmen darbietet als 
bei Normalen. Diesem ungeheuren Materiale gegenüber wollen die 
Untersuchungen von Dohrn und Scheele nicht viel besagen, da es 
eben überall wirkliche oder scheinbar lokale Differenzen in der Zahl 
etc. der Entartungszeichen gibt. Und wer weiss, was Dohrn und 
Scheele gefunden haben würden, wenn sie den ganzen Körper unter¬ 
sucht hätten? Und selbst die äussere Besichtigung ist nicht alles, 
da ich bisweilen die sogen, „inneren“ Stigmen, d. h. solche an den 
inneren Hauptorganen, bez. der Zahl etc. nicht mit den äusseren 
parallel gehend fand, wie doch gewöhnlich. 

Wenn also bezüglich der Degenerationszeichen so ungeheuer viele 
Untersuchungen aus aller Herren Länder vorliegen, die trotz Mangel¬ 
haftigkeit und geringer Vergleichbarkeit immer nur im ganzen das Eine 
zeigen, dass serial d. h. im Durchschnitte, der Wert der Ent¬ 
artungszeichen feststeht, so werden auch die Untersuchungen von 


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Sind die Degenerationszeichen wirklich wertlos? 


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Dohrn und Scheele an diesem Satze nichts ändern. Es handelt 
sich überall um mehr oder weniger exakte Untersuchungen, 
die nicht bloss durch die Mode gezeitigt wurden. 

In meiner angezogenen Arbeit sagte ich: „Wir sahen also, dass 
im allgemeinen ein klinischer Zusammenhang zwischen Zahl, 
Wichtigkeit und Verbreitung der Stigmata und dem Zustande 
des Zentralnervensystems ganz entschieden besteht. Dabei 
verschlägt es wenig, dass in concreto die grösste Vorsicht 
bei Beurteilung eines solchen Zusammenhanges nötig ist» 
wenn nicht der ganze Mensch physio- und psychologisch 
untersucht werden konnte. Ein Normaler kann nämlich wohl ein¬ 
mal — immerhin sehr selten! — viele Entartungszeichen darbieten 
und andererseits ein wirklich Degenerierter wenige oder keine. .. In 
concreto, um es nochmals zusammenzufassen, besagen also die 
äusseren Stigmen nicht allzu viel. Sie sollen nur ein „Signal“ 
sein, eine Aufforderung, das betreffende Individuum näher 
zu untersuchen, daher sind die physiologisch-psychologi¬ 
schen Entartungszeichen entschieden viel wichtiger. Die 
Bedeutung jener steigt aber mit der Zahl, der Wichtigkeit 
und Ausbreitung am Körper, während ein einzelnes Stigma 
oder nur wenige unwichtige ohne Wert sind, sintemal es kaum 
einen „Normalen“ gibt, der nicht das eine oder andere darböte. Die 
Bedeutung der somatischen Entartungszeichen kann so weit gehen, 
dass sie zur Stütze einer unsicheren Diagnose in foro dienen... Man 
sieht jedenfalls, dass die Degenerationslehre nicht nur theo¬ 
retisches, sondern auch praktisches Interesse erweckt. Bei 
der Untersuchung in Bausch und Bogen galt aber ganz sicher 
der Satz vom Parallelismus zwischen Zahl, Wichtigkeit und 
Ausbreitung der Stigmen und einem ab ovo defekten Zentral¬ 
nervensystem.“ 

Klarer und vorsichtiger, glaube ich, kann man die Sache nicht 
darstellen. An der serialen Bedeutung der Degenerationszcichen ist 
also nicht zu zweifeln, ebenso wenig wie an der der anthropologischen 
Daten, die ja auch nur seriale Geltung haben. In concreto sind 
jene immer nur ein „Signal“. Wenn endlich auch die somatischen 
Stigmen viel weniger wertvoll sind als die physiologisch-psychischen, 
so sind sie doch nicht zu unterschätzen. Schon dass im allgemeinen 
mit der Schwere, Zahl und Ausbreitung derselben auch die Schwere 
der hereditären Belastung parallel geht, spricht für eine gewisse Be- 


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Dr. P. Näcke, Sind die Degenerationszeichen wirklich wertlos? 


Ziehung vom Stigma zum Zentralnervensystem. Namentlich Bittorf 1 ) 
hat dies auf scharfsinnige Weise zu erhärten gesucht, und sein Satz: 
„Degenerationszeichen und neuropathische Anlage werden also meist... 
in Parallele stehen“ deckt sich bestens mit dem eben Gesagten. Seine 
Arbeit erscheint überhaupt für die Genese und Bewertung der Degene¬ 
rationszeichen äusserst wichtig. 


1) Bittorf, Ueber die Beziehungen der ektodermalen Keimblattschwäche zur 
Entstehung der Tabes. Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk., 1905, S. 404. 


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3. 


Gutachten über den Zusammenhang zwischen Gas¬ 
vergiftung und Geisteskrankheit 

erstattet von 

Wilhelm Peterssen-Borstel in Plagwitz a. Bober. 


Von dem Vorstand der Sektion V der Knappschafts-Berufsgenossenschaft W. 
bin ich unterm 23. August er. ersucht worden, nach Einsichtnahme der Akten 
ein begründetes Gutachten darüber erstatten zu wollen, ob mit einiger Wahrschein¬ 
lichkeit anzunehmen sein wird, dass die Geisteskrankheit bei dem Hüttenarbeiter 
Ernst T. auf eine Gasvergiftung zurückzuführen ist. 

Zur Saohe ist der Hüttenarbeiter Ernst T. aus N. am 6. Mai 1905 wegen 
Geisteskrankheit in die meiner Leitung unterstellte Provinzial-Heil- und Pflege- 
Anstalt Plagwitz am Bober aufgenommen worden. T. ist am 17. Juli 1888 zu 
Nieder-D. Kreis N. ehelich geboren, evangelischer Religion, ledig und unbestraft. 
Erbliche Belastung besteht nach unseren Akten bei T. nicht; doch findet sich in 
dem Berichte der Königlichen Gewerbeinspektion R. vom 18. Juli 1905 die Angabe: 
„Von der Familie des p. T. konnte ich noch in Erfahrung bringen, dass die männ¬ 
lichen Verwandten des p. T. etwas beschränkt seien“ . , . Die geistige und 
körperliche Entwickelung des T. soll ohne Besonderheiten verlaufen sein. Nach 
Angabe der Mutter ist T. stets sehr empfindlich und peinlich gewesen. Etwa 
1900 hat T. 6 Wochen lang an Typhus krank gelegen. Nach dem ärztlichen Frage¬ 
bogen zum Aufnahmegesuch vom 29. April 1905 datiert der eigentliche Beginn 
der Erkrankung des T. vom 10. März 1905 ab, an welchem Tage durch Aus¬ 
strömen von Gas aus dem Gasofen, in dessen Nähe Patient arbeitete, gleichzeitig 
noch mehrere Arbeiter erkrankten. ' Während letztere in einigen Tagen von ihrer 
Vergiftung wieder hergestellt waren, wurde T. bewusstlos ins Elternhaus gebracht 
und von dem behandelnden Arzt dem Krankenhaus N. überwiesen. Er soll damals 
schon „wirres Zeug“ gesprochen haben. Den authentischen Hergang bei dem Unfall 
entnehme ich dem Untersuchungsbericht der Königlichen Gewerbeinspektion, R. den 
18. Juli 1905. Danach hat p. T. (in den schlesischen Nickelwerken zu F.) zu¬ 
sammen mit 2 Arbeitern an einer und derselben Stelle gearbeitet. Der eine Ar¬ 
beiter gibt an, dass p. T. gegen 9 Uhr früh (am 10. März 1905) über Kopfschmerzen 
und Uebelkeit geklagt habe, später gegen 11 Uhr habe es sich gezeigt, dass T. 
„ganz irre“ war; er wurde von seinem Bruder nach Hause geführt. Auch dem 


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58 


Wilhelm Peterssen-Borstel, 

Erzähler ist übel geworden; er musste brechen und am Nachmittag von der Arbeit 
wegbleiben, die er am andern Tage wieder aufgenommen hat. Einem anderen 
jugendlichen Arbeiter, der in demselben Raume beschäftigt wurde, ist ebenfalls an 
demselben Vormittage übel geworden. Ein weiterer Arbeiter sagt aus, er hätte zu¬ 
sammen mit einem Kollegen den Generator-Wärter G., der am gleichen Vormittage 
an dem in demselben Raume befindlichen Generator vor Uebelkeit hingefallen wäre, 
an die frische Luft getragen, worauf ihm wieder besser geworden sei. Der Generator 
sei oben offen gewesen, und sei dies öfters bei G. bemerkt worden. Aus allen 
diesen Umständen zieht der Königliche Gewerbe-Assessor den Schluss, dass beim 
Anheizen des Generators nicht mit der nötigen Vorsicht verfahren worden ist, dass 
Wassergase aus demselben gestiegen und dass diese Gase — insbesondere wohl 
das Kohlenoxydgas — die Vergiftungserscheinungen an den einzelnen Leuten 
hervorgerufen hat. Am 11. März — also am Tage nach dem Unfall — wurde der 
Knappschaftsarzt Dr. A. zu dem p. T. gerufen. Der Arzt fand den Pat. „schwer¬ 
krank, in Delirien liegend“ vor und veranlasste in diesem schweren Falle die so¬ 
fortige Ueberführung in das nächste Krankenhaus. 

Der Krankenhausarzt Dr. E. berichtet unterm 10. Juni 1905, dass T. damals 
besinnungslos war und fortwährend brach. Die Herztätigkeit war eine unregel¬ 
mässige. Die geschilderten Erscheinungen einerseits, die Aussagen der Mutter 
andererseits und der sich allmählich ausbildende krankhafte Geisteszustand des 
Patienten haben den Gutachter zu der Ansioht gebracht, dass p. T. an einer 
seelischen Störung leidet, hervorgerufen durch eine Gasvergiftung. Hinsichtlich 
des Geisteszustandes des T. ergiebt der in den diesseitigen Akten befindliche 
ärztliche Fragebogen, dass im Krankenhause beim T. Zustände von Somnolenz 
und völliger Apathie mit Erregungszuständen von kürzerer oder längerer Dauer 
gewechselt haben. Das Attest führt weiter aus: Anfangs betete T. viel, da er ein 
schlechtes Gewissen habe, sprach viel von Geldangelegenheiten, verhielt sich im 
allgemeinen ruhig. Mitunter zeigten sich tonische Muskelkrämpfe und Tremor. 
Der Kranke ass nur unregelmässig, namentlich nicht zur Zeit des somnolenten 
Zustandes, der mitunter drei Tage lang anhielt und in dem er dann wenig Aeusse- 
rungen von sich gab. Einige Male soll T. das Bett mit Urin verunreinigt haben. 
Allmählich bildete Pat. sich ein, allerhand Misshandlungen, Schimpfereien an sich 
erfahren zu haben und wurde dann zeitweise sehr erregt. Er schlug eine Schwester 
mit der Faust, trat eine andere vor den Leib, warf mit einem Wasserglase nach 
einem Kranken, schüttete wiederholt das Essen aus. Medizin weigerte T. sich 
stets zu nehmen, witterte auch in den Speisen leicht beigemengte bittere Arzneien. 
Der Arzt bezeichnet T. im Ganzen als eigensinnig, misstrauisch, launisch, hinter¬ 
listig. ln maniakalischer Erregung glaubte sich der Kranke stets — vom Arzt bis 
zu den Mitkranken — schlecht behandelt, er hätte Misshandlungen zu erdulden 
(Schädel eingeschlagen, Brust eingeklemmt, Puls abgebunden). Mitunter verlangte 
Pat. stürmisch unter Drohungen mit Zuchthaus nach seinen Sachen und schlug 
um sich. Er demolierte ein Holzgitter vor seinem Zimmer, warf das Klosett um, 
zerriss seine Leibwäsche, verliess nachts öfters das Bett. Der stellvertretende 
Krankenhausarzt kommt zu dem Resultat, dass es sich bei T. um eine mit Er¬ 
regungszuständen verbundene Erkrankung der Psyche handelt, deren Entstehen 
auf die Vergiftung mit Gas zurückgeführt wird. 

Am 6. Mai 1905 erfolgte die Aufnahme des T. in die hiesige Anstalt. Die 


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Gutachten üb. d. Zusammenhang zwischen Gasvergiftungu. Geisteskrankheit. 59 

Krankheitszeichen, die T. hier in der Anstalt geboten hat und noch bietet, ent¬ 
sprechen einem klinisch -wohlbekannten Bilde, das die Wissenschaft mit „Manie“ 
bezeichnet. Das Krankheitsbild hat bis vor kurzem in der Intensität keine grossen 
Schwankungen gezeigt; in den letzten Wochen macht sich ein Nachlassen des 
Krankheitsprozesses bemerklich. Beide der Manie zukommenden primären Haupt¬ 
symptome, sowohl eine heitere resp. zornige Verstimmung, als auch eine Beschleuni¬ 
gung des Vorstellungsablaufs sind im Falle T. in ausgeprägter typischer Weise zu 
konstatieren gewesen. Auch der krankhafte Bewegungsdrang als Teilerscheinung 
des beschleunigten Vorstellungsablaufes war deutlich vorhanden, ln seinerheiteren 
Erregung grimassiert, singt, trommelt, pfeift der Kranke, äussert viele und über¬ 
flüssige Wünsche, neigt zu Unfug und wird, wenn ihm dies verwehrt wird, gegen 
die Pfleger grob und ausfällig. So zupfte und neckte er in seiner Erregung andere 
Kranke. T. verlangte energisch aufzustehen und wurde grob, wenn ihm dies nicht 
gestattet wurde, bedrohte die Aerzte mit Gefängnis und Zuchthaus, wenn sie ihn 
nicht aufstehen lassen wollten. „Hier ist die Prügelei mode, ioh muss halb ver¬ 
hungern. Wir werden sehen, dass die Aerzte zeitlebens Zuchthaus kriegen.“ 

Wie wollen Sie das machen? „Ich klage eben, und da kriegt Ihr (!) halt 
Zuchthaus ! u Dass Essen nennt er einen Schweinefrass und meint im übrigen, er 
sei hierher nicht krank gekommen, „ich war gesund, bloss furchtbar abgemagert 
war ich“. Als Ursache seines Zustandes führt T. Gasvergiftung an. Das Gas sei 
aus dem Ofen in grossen Mengen ausgeströmt, ihm sei elend davon geworden, im 
Krankenhause habe er keinen Appetit gehabt, konnte schlecht schlingen, war 
schläfrig, hatte keinen Atem, vor den Augen drehten sich rötliche Räder. Wenn 
auch in den letzten Wochen die manische Erregung nachgelassen hat, so war doch 
das Krankheitsbild bei einer am 28. August er. von mir vorgenommenen Unter¬ 
suchung noch unverkennbar vorhanden. Der Pat. war krankhaft heiter und auf¬ 
geräumt, renommistisch und hatte keine Spur von Krankheitseinsicht. Auf meine 
Aeusserung, dass wir Aerzte ihn noch nicht für gesund hielten, meinte er: „Ja, 
das soll mich nicht kümmern. Da will ich nochmal untersucht werden. Jetzt 
kann ich jede Frage beantworten. Ich war in der Schule der beste Schreiber, der 
beste Rechner und alles.“ Im krassen Gegensatz zu dieser maniakalischen Auf¬ 
schneiderei stehen die beschränkten und dürftigen Schulkenntnisse des T. Zwar 
rechnet Pat. ganz gut, das ist aber auch alles. Luther lebte nach seiner Angabe 
1810. Der letzte Krieg gegen Frankreich war 1864 und 66. „Die Franzosen 
wollten das Elsass-Lothringen wieder haben.“ Die Oder geht bis in die Nordsee, 
„die muss in den ganzen Nordseekanal gehen, die gebt durch ganz Europa durch“. 
Als Regierungsbezirke von Schlesien nennt er Breslau, Neumarkt, Beuthen, Oppeln, 
Glatz u. s. w. Von dem Erlösungsbegriff hat er keine Vorstellung. Auf die Frage, 
warum Christus habe leiden müssen, meint der Kranke: „Unsere Sünden hat er 
vergossen“. Und weiter „Christus brauchte uns ja nicht, aber unsere Vorfahren 
musste er erlösen. Zu der Zeit muss das doch nicht gegangen sein“. „Dazumal 
war die Welt noch nicht so klug wie jetzt.“ Körperlich ist T. ein kleiner, grazil 
und schmächtig gebauter, wohlgenährter junger Mensch mit auffällig langen oberen 
Extremitäten. Die Scheitelbeine springen ziemlich stark vor. Die Schneidezähne 
des Oberkiefers sind auffallend gross und etwas vorstehend und verleihen im Ver¬ 
ein mit dem meist offen gehaltenen Mund dem Gesicht etwsa Dummes, Blödes. 
Innervationsstörungen sind nicht vorhanden. Die mittelweiten Pupillen reagieren 


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60 


Wilhelm Peterssen-Borstel, 


prompt auf Belichtung. Die Zunge wird sicher und gorade hervorgestreckt. An 
den inneren Organen des T. ist nichts krankhaftes nachzuweisen. Herztätigkeit 
72 in der Minute. Es besteht kein Bruch. Während der Untersuchung fallen 
einige male Gesichtszuckungen auf. Nahrungsaufnahme und Verdauung sind in 
Ordnung. 

Nach meinen Ausführungen ist es zweifellos, dass T. geisteskrank 
ist. Die Seelenstörung des Patienten hat sich bislang in Plagwitz 
unter dem Bilde der „Manie“ gezeigt; im Krankenhau.se zu N. scheinen 
Zustände von Somnolenz und Apathie mit maniakalischen Zustands¬ 
bildern gewechselt zu haben. Ist nun mit einiger Wahrscheinlichkeit 
anzunehmen, dass die Geisteskrankheit des Pat. T. durch eine Gas¬ 
vergiftung entstanden ist? 

Der Aeusserung des Vorstandes der Sektion V der Knappschafts- 
Berufsgenossenschaft W. in dem an mich unterm 23. August 1905 
gerichteten Ersuchen „Wenn eine solche Vergiftung überhaupt statt¬ 
gefunden hat, dann kann sie doch wohl nur ganz leicht gewesen sein“ 
(vgl. Blatt 9 und 17 unserer Akten, den Bericht der Werksverwaltung 
vom 28. Juli d. J. [Beilage zu den Anstaltsakten] und die aus der 
Zeichnung ersichtlichen Verhältnisse an der Arbeitsstelle) kann ich 
nicht beipflichten. Der Untersuchungsbericht der Königlichen Gew r erbe- 
Inspektion R., vom 18. Juli 1905 lässt nach meiner Auffassung doch 
keinerlei Zweifel darüber auf kommen, dass tatsächlich eine Gas¬ 
vergiftung — insbesondere wohl durch Kohlenoxyd, wie der Bericht 
betont, stattgefunden hat. Daran kann auch die Tatsache, dass B. 
von einem Gas- oder sonstigen Geruch nichts wahrgenommen hat, 
nicht das Geringste ändern. Das Kohlenoxyd ist eben ein färb- und 
geruchloses Gas und seine Gegenwart kann deshalb an dem in einem 
Raum wahrnehmbaren Geruch nicht erkannt werden. Wenn die Tat¬ 
sache anscheinend aufgefallen ist, dass T. intensivere Vergiftungs¬ 
erscheinungen zeigte als die anderen betroffenen Personen, so be¬ 
schränke ich mich darauf anzuführen, dass die Erfahrung lehrt, dass 
unter sonst anscheinend gleichen Bedingungen nicht alle dabei Betei¬ 
ligten dieselbe Intensität der Vergiftungserscheinungen zeigen und dass 
in dieser Hinsicht Zufall und individuelle Bedingungen eine Rolle 
spielen. So scheinen Kinder z. B. empfindlicher gegen Kohlenoxyd 
zu sein als Erwachsene, auch die Entfernung von der Giftquelle -— 
wenn beispielsweise von den in demselben Raume arbeitenden Per¬ 
sonen der Eine oder der Andere sich in der Nähe eines Fensters oder 
einer Tür befindet — ist unter Umständen sehr massgebend. (Hand- 


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Gutachten üb. d. Zusammenhang zwischen Gasvergiftung u. Geisteskrankheit. 61 


buch der gerichtlichen Medizin von Schmidtmann.) Zu prüfen, 
welcher oder welche Faktoren in dieser Hinsicht im Falle T. in Be¬ 
tracht kommen, gehört nicht in den Rahmen dieses Gutachtens. Je¬ 
denfalls muss ich der Ansicht des Vorstandes „dann kann sie (die 
Vergiftung) wohl nur ganz leicht gewesen sein“, widersprechen. 
Wenn der Knappschaftsarzt Dr. A. am Tage nach der Vergiftung den 
Patienten „schwerkrank in Dilirien liegend“ vorfindet und den schweren 
Fall sofort dem nächsten Krankenhaus überweist und wenn der 
Krankenhausarzt Dr. E. Besinnungslosigkeit, fortwährendes Erbrechen 
und unregelmässige Herztätigkeit konstatiert, so kann die Vergiftung 
gewiss keine ganz leichte gewesen sein. Ich nenne sie eine erhebliche. 
Wenn ferner in den Akten hervorgehoben wird, dass T. nicht um¬ 
gefallen ist, sondern von seinem Bruder noch nach Hause geführt 
wurde, so hat diese Tatsache für den Arzt nichts Befremdendes und 
spricht nicht gegen eine erhebliche Vergiftung. Nach meinen Aus¬ 
führungen bin ich demnach zu der Auffassung gelangt, dass T. am 
10. März 1905 durch Einatmen von Gasen — höchstwahrscheinlich 
von Kohlenoxyd — eine erhebliche Vergiftung erlitten hat. 

Als Tag des Beginns der Geistesstörung wird man bei T. den 
10. März 1905 annehmen müssen. Vorher soll T. geistig völlig gesund 
gewesen sein. Vielleicht ist der Kranke aber von jeher etwas be¬ 
schränkt gewesen, an welche Möglichkeit wenigstens die dürftigen 
Schulkenntnisse denken lassen. Im übrigen habe ich, abgesehen da¬ 
von, dass sich nirgends in den Akten die Behauptung oder auch nur 
eine Andeutung dafür findet, dass T. schon vor dem 10. März seelen¬ 
gestört gewesen sei, nochmals ausdrücklich bei der Familie schriftlich 
angefragt, ob vorher irgend welche Zeichen beim T. beobachtet worden 
seien, die auf eine Gemütskrankheit schliessen lassen könnten. Die 
Antwort lautete, T. sei vor dem 10. März 1905 immer frisch und 
gesund gewesen und habe vor der Zeit nichts von Geistesstörung ge¬ 
zeigt. „Er ist am 10. März früh noch gesund in die Arbeit gegangen.“ 

Da es sich nach Blatt 17 der Akten des Vorstandes der Sektion V 
der Knappschafts-Berufsgenossenschaft am 10. März 1905 Vormittags 
zeigte, dass T., nachdem er gegen 9 Uhr früh über Kopfschmerzen 
und Uebelkeit geklagt habe, gegen 11 Uhr „ganz irre“ war, so steht 
damit als Beginn der Psychose der 10. März 1905 fest. Im Kranken¬ 
hause zu N., wohin T. am nächsten Tage kam, wurde dann weiter 
das schon beschriebene Wechselbild zwischen Zuständen von Somnolenz 
und völliger Apathie einerseits und Erregungszuständen andererseits 


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62 Wilhelm Peterssen-Borstel, Gutachten über den Zusammen hang etc. 


beobachtet, in Plagwitz endlich bis jetzt ein rein maniakalisches Zu¬ 
standsbild. 

Dass Gasvergiftungen — und speziell Kohlenoxyd-Vergiftungen — 
Geisteskrankheiten im Gefolge haben können, ist eine wissenschaftlich 
sichergestellte Tatsache. Der durch Kohlenoxyd-Vergiftung bewusst¬ 
los Gewordene gerät — wenn er mit dem Leben davonkommt — 
manchmal, bevor er das Bewusstsein voll zurück erlangt, in maniakalische 
Erregungszustände, in denen er auch gewalttätige, strafbare Handlungen 
begehen kann. Solche Erregungszustände können sich nach einigen 
Tagen wiederholen. 

Im übrigen verliefen die bis jetzt nach Gasvergiftung beobachteten 
nervösen Störungen ungemein mannigfaltig, z. B. unter dem Bilde von 
schweren Nervenkrankheiten, oft auch unter dem Bilde akuter, manchmal 
mit unheilbarer Verblödung endender Geisteskrankheiten (Handbuch der 
gerichtlichen Medizin von Schmidtmann). Rekapitulieren wir nun¬ 
mehr den Fall T., so handelt es sich um einen 17 jährigen jungen 
Menschen, der bis zum 10. März 1905 geistig gesund gewesen ist und 
in dessen Vorleben sich bis dahin keine wesentlichen Geisteskrankheit 
vorbereitenden oder veranlassenden Momente auffinden lassen. Dieser 
Mensch erleidet am 10. März 1905 eine Gasvergiftung und verfällt 
nach resp. während der Vergiftung in eine Geisteskrankheit, die bis 
jetzt fortbesteht. 

Diese Tatsachen einerseits und die wissenschaftlich festste¬ 
hende Erfahrung andererseits, dass nach solchen Vergiftungen akute 
Geisteskrankheiten Vorkommen, zwingen mich zu der Annahme, die 
Ursache der Seelenstörung in der stattgehabten Vergiftung zu suchen. 

Ich gebe daher mein Gutachten dahin ab: 

Aus den angeführten Gründen erachte ich es für erwiesen, dass 
die Geisteskrankheit des p. T. eine Folge der Gasvergiftung ist, welche 
derselbe am 10. März 1905 erlitten hat. 


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4. 


(Aus der pathologisch-anatom. Anstalt des Krankenhauses im 
Friedrichshain-Berlin. Prosektor: Prof. v. Hansemann.) 

Heber die Einwirkung konzentrierter Aetzgifte auf 

die Magenwand. 

Von 

Dr. Walbaum in Steglitz. 


Die makroskopischen Befunde, die bei Einwirkung der ver¬ 
schiedenen Aetzgifte auf die Magenwand erhoben werden, finden sich 
in sämtlichen Hand- und Lehrbüchern der speziellen pathologischen 
Anatomie, der gerichtlichen Medizin, der Toxikologie, der inneren 
Medizin und in zahlreichen Einzelarbeiten beschrieben. Die Be¬ 
schreibungen stützen sich offenbar im ganzen mehr auf die bei ver¬ 
gifteten Menschen beobachteten Veränderungen als auf die Ergebnisse 
von Tierversuchen und weisen naturgemäss oftmals kleine Unterschiede 
auf, die sich aus der Konzentration und der Wirkungsdauer des Giftes, 
dem Einfluss etwa angewandter Gegenmittel und der Zeit, die seit 
dem Tode bis zur Sektion verflossen ist (Selbstverdauung, Fäulnis), 
hinreichend erklären lassen. Im ganzen aber herrscht eine befriedigende 
Uebereinstimmung, und in den meisten Fällen dürften die lehrbuch- 
massigen Darstellungen eine Diagnose mit grosser Wahrscheinlichkeit 
ermöglichen. 

Anders bei Betrachtung des mikroskopischen Verhaltens. Zu¬ 
nächst sind nur spärliche Untersuchungen am verätzten Magen vor¬ 
genommen worden und diese mit verschwindenden Ausnahmen am 
Magen von Menschen, die der Einverleibung eines Aetzgiftes zum 
Opfer gefallen waren. Hier aber sind Zufälligkeiten und sekundäre 
Veränderungen, wie sie schon oben angedeutet wurden, von weit 
grösserer Bedeutung, da sie sich im mikroskopischen Bilde gewiss 


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64 


Dr. Wal bau m, 


eher geltend machen und stärker vordrängen, als bei der Betrachtung 
mit blossem Auge. Demnach dürften wohl nur Tierexperimente, bei 
denen die Versuchsbedingungen gleichmässig zu gestalten und Zufällig¬ 
keiten auszuschalten sind, als Grundlage zu einer Vergleichung der 
mikroskopischen Befunde bei der Verätzung der Magenwand mit 
den verschiedenen Giften herangezogen werden. Das ist, soviel ich 
sehen kann, nur von Ebstein, Besser und Strassmann geschehen. 
Selbst grössere Hand- und Lehrbücher bringen über die Histologie des 
verätzten Magens so gut wie nichts. Und doch wäre es, ganz ab¬ 
gesehen von dem wissenschaftlichen Interesse, zweifellos von grösster 
Wichtigkeit, durch das Mikroskop die Art des Aetzgiftes feststellen zu 
können und so eine Diagnose zu ermöglichen oder die makroskopische 
Diagnose zu stützen. 

Ebstein 1 ) studierte den Einfluss des Alkohols auf den Magen, indem er 
Händen, die 3 Tage lang gehungert hatten, nichts weiter gab, als eine gewisse 
Menge von Kornbranntwein mit einem Alkoholgehalt von 20—30 pCt. Bei dieser 
Versuchsanordnnng konnte naturgemäss von einer intensivon, akuten Verätzung 
nicht dio Rede sein. Demgemäss traten denn auch nur die Zeichen einer stärkeren 
Reizung in die Erscheinung, namentlich im mikroskopischen Bilde. Im ganzen 
entsprachen die Veränderungen denen des Verdauungsaktes, hielten jedoch be¬ 
sonders lange an und machten dann dem Auftreten degenerativer Vorgänge Platz. 
Bemerkenswert erscheint mir ausserdem nur, dass die Belegzellen stets intakt ge¬ 
funden wurden. 

Recht eingehende Untersuchungen hat Lesser 2 ) angestellt, und zwar über 
die Einwirkung von Schwefel-, Salz-, Salpetersäure, Aetzalkalien, Sublimat und 
Carbolsäure. Nach ihm verhalten sich Schwefel- und Salzsäure vollständig 
gleich. Sie machen an sich weder direkt Schwarzfärbung noch Volumsvermehrung 
der Magenwand, sondern verwandeln zunächst nur das gesamte verätzte Gewebe 
durch Eiweissgerinnung in eine derbe, ausserordentlich brüchige Masse von inten¬ 
siv opak grau-weisslicher Farbe. Nur wo Extravasate auftreten, wird die Wand 
dicker. Durch Umwandlung des Hämoglobins in Hämatin tritt Braun- bis Schwarz- 
farbung auf, die sich rasch in grössere Tiefe ausdehnt. Das Hämatin wird aus 
den Blutkörperchen ausgelaugt und von den Geweben aufgenommen, sodass auch 
diese tief dunkelbraun oder schwarz erscheinen. Es handelt sich also nicht um 
einen Prozess wie bei der Verkohlung des Korkes durch aufgegossene Schwefel¬ 
säure. — Die Brüchigkeit des Gewebes geht soweit, dass selbst bei vorsichtigstem 
Auseinanderlegen der Magenwände Risse und Sprünge in der Mukosa und Ab¬ 
blätterungen derselben von der Submukosa entstehen. Abgesehen davon aber sind 


1) Ebstein, Wilhelm, über die Veränderungen, welche die Magenschleim¬ 

haut durch die Einverleibung von Alkohol und Phosphor in den Magen erleidet. 
Virch. Arch. Bd. 55. V" v 

2) Lesser, Adolf, die anatomischen VeräÄ^Wngen des Verdauungskanals 
durch Aetzgifte. Virch. Arch. Bd. 83. 




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Ueber die Einwirkung konzentrierter Aetzgifte auf die Magenwand. 65 

die Elemente der Magenwand auch mikroskopisch nach Form und Anordnung er¬ 
halten , nur sind sie starrer und stärker liohtbrechend als gewöhnlich und daher 
bei auffallendem Licht hellglänzend. Die Zellen sind fein granuliert oder homogen, 
die Kerne gut erhalten, mehr oder minder verdickt. An Stelle der feinen Faserung 
sieht man in dem ebenfalls getrübten Interstitium oft eine feine Körnelung. Die 
Gefässe sind auffallend häufig nur in der unteren Hälfte der Sohleimhaut stark 
und gleichmässig gefüllt, führen entweder wohlerhaltene und nur durch Um¬ 
wandlung des Blutfarbstoffes in Hämatin bräunlich aussehende Blutkörperchen 
oder lediglich Blutplasma im ganzen Querschnitt oder nur in der Randzone. 
— Sehr früh tritt in der starren Magenwand wahrscheinlich durch Lösung der 
die einzelnen Elemente mit einander verbindenden Massen fleckweise eine Er¬ 
weichung auf. Die erweichten Partien können dieselbe Opazität darbieten, wie 
die hart gebliebenen, sie können aber auch gallertig, transparent erscheinen, 
namentlich wenn Zeit genug vorhanden war, dass die in den Zellen enstandenen 
Fällungen sich wieder lösen konnten. Immer aber bleiben sämtliche Elemente 
der Magenwand der Form nach vollständig erhalten und nur in den gallertig aus¬ 
sehenden Teilen sind die Bindegewebsfasern fast ganz verschwunden. Von einer 
Auflösung der Gewebe durch die Säure kann also keine Rede sein. Dagegen 
kommt bei konzentrierten Lösungen schnell eine Abstossung der mortifizierten 
Gewebe zustande; an den Stellen der stärksten Einwirkung fehlt vielfach das 
Deckepithel oder die ganze Mukosa, ja es kann sogar die Submakosa verloren 
gehen und selbst in wenigen Minuten eine Perforation durch die ganze Wanddicke 
zustande kommen. 

Bei Vergiftung mit Salpetersäure finden sich im allgemeinen die gleichen 
Verhältnisse. Die Xantboproteinreaktion tritt nur bei stärkster Konzentration der 
Lösung auf; schwächere Lösungen machen lila oder schmutzig-graue bis grau- 
weisse Färbung. Die Brüchigkeit des Gewebes ist nicht so hochgradig, wie bei 
Salz- und Schwefelsäure, auch findet primär keine Abstossung der Gewebe, wohl 
aber eine frühzeitig einsetzende Selbstverdauung statt, sodass fast ebenso schnell 
ausgedehnte Substanzverluste entstehen können wie dort. Der Blutfarbstoff wird 
gebräunt und von den Geweben aufgenommen, sodass eine Differenzialdiagnose 
gegenüber der Vergiftung mit Salz- und Schwefelsäure auch makroskopisch manch¬ 
mal nicht möglich ist. 

Hier möchte ich einen Befund einschalten, den Ipsen 1 ) bei der 19 Stunden 
post mortem erfolgten Sektion einer 3 Stunden nach der Aufnahme von 125 ccm 
rauchender Salpetersäure gestorbenen Frau erheben konnte. Der Magen war stark 
kontrahiert, seine Wandung äusserst brüchig. Die bräunlich-gelbe Schleimhaut 
war in eine bröcklige Masse umgewandelt, die fast allenthalben von der Unterlage 
sich gelöst hatte und mit braunen Blutgerinnseln vermischt den einzigen Inhalt 
des Organs ausmachte. Die Muskelbündel lagen wie herauspräpariert offen zu 
Tage. Mikroskopisch fanden sich hier und da Rudimente von Drüsenschläuchen, 
mit geronnenen Massen ausgegossen, umfängliche Mengen von vielgestaltigen ver¬ 
kohlten roten Blutkörperchen und braunes körniges Pigment. Die Epithelzellen 
waren gequollen, ihr Protoplasma getrübt, von vermehrtem Glanz, körnig; es ver- 

1) Ipsen, Ein Fall von Salpetersäurevergiftung. Vierteljahrsschr. f. ger. 
Med. III. Folge, Bd. VI, 1893. . 

Vierteljahrsschrift f. ger. Med. u. öff. San.-Wesen. 3. Folge. XXXII. 1. 5 


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66 


Dr. Walbaum, 


deckte die Kerne, die von den Farbflüssigkeiten wenig oder garnicht berührt 
wurden, zum Teil vollständig. Die Zellmembran war manchmal durchsichtig und 
scharf begrenzt, manchmal verwaschen nnd undeutlich, sodass die Epithelzellen un¬ 
förmliche schollige Massen bildeten. Diese letztere Erscheinung wird auch von 
Lesser beschrieben, aber ausdrücklich als kadaverös bezeichnet. 

Ueber dieVergiftung mit konzentrierten Aetzalkalien besagt dieLessersche 
Arbeit folgendes: 

Die Lauge macht genau dieselben Prozesse wie die Schwefelsäure, d. h. in 
der Schleimhaut und in den tieferen Teilen unzweideutige Trübungen von mehr 
oder minder rein weisslicher Farbe gleichzeitig mit beträchtlicher Konsistenz¬ 
zunahme, wenn die Aetzung bis in die genügende Tiefe reicht. Auch mikroskopisch 
existieren keine Unterschiede; hier wie dort sind die einzelnen Elemente gut er¬ 
halten und in gleichem Sinne verändert. Ein Unterschied besteht in dem Fehlen 
der Brüchigkeit des Gewebes. Daher fehlen auch oberflächliche Substanzverluste. 
Ferner ist die Farbe eine andere, sowohl die korrodierten, wie die hämorrhagisch 
infiltrierten Abschnitte sind oft rötlich-braun, letztere durch Umwandlung des Farb¬ 
stoffes der im übrigen unveränderten Blutkörperchen, erstere durch Imbibition von 
dem stark blutige Beimengungen enthaltenden Mageninhalte. Bei grösserem Ueber- 
schuss an freiem Alkali entsteht eine abnorme Transparenz der Gewebe, die jede 
Spur der Aetzung und Infiltration verdeckt, indem die primär erzeugten Fällungen 
gelöst werden. Gleichzeitig wird der Blutfarbstoff ausgelaugt und in die Gewebe 
der ganzen Wand aufgenommen. So erscheint schliesslich der Magen als ein hell- 
rötliches, durchaus transparentes Gebilde, dessen Konsistenz an vielen Stellen 
subnormal ist, so dass selbst Perforationen entstehen können; die Erweichung geht 
aber nicht parallel mit der Aufhellung; glasartig aussehende Partien sind oft noch 
von aussergewöhnlicher Derbheit. 

Die Strukturverhältnisse treten fast immer mit derselben Schärfe zu Tage, 
wie am normalen Organ. Auch die Zellgrenzen sind in den getrübten Partien 
stets, in den transparenten häufig noch naohzuweisen. Die Zellkörper sind in den 
opaken Partien durch feine Granula wie bestäubt, durch weiteren Alkalizusatz 
verschwinden sie; der Kern ist durch die Granula mehr oder weniger verdeckt. 
In den transparenten Abschnitten ist das Protoplasma durchsichtig, homogen, 
lässt den etwas blass erscheinenden Kern oft nooh erkennen. Die roten Blut¬ 
körperchen sind in jedem Falle zerstört. 

Diesen Angaben gegenüber betont Strassmann 1 ) in Uebereinstimmung mit 
Hofmann 2 3 ), dass die Schorfe bei der Laugenvergiftung ursprünglich ein anderes 
Aussehen haben als bei der mit Säuren erzeugten, sie sind aufgequollen und trans¬ 
parent, weich, von seifenartigem Gefühl. Auch mikroskopisch sind die Zellen ge¬ 
quollen und durch Imbibition mit gelöstem Blutfarbstoff gelblich gefärbt. 

In einem späteren Aufsatz 8 ) bestätigt Lesser für die starken Laugen¬ 
lösungen diese von Strassmann aufgestellten Behauptungen, will aber bei ge¬ 
ringerer Stärke des Giftes trotzdem an seiner Ansicht festhalten. 

1) Verhandl. d. X. internat. Kongr. f. gerichtl. Med. 1890 und Lehrb. d. 
gerichtl. Med. 1893. 

2) Lehrb. d. ger. Med. 1895. 

3) Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Med. 1898. III. Folge. Band 16. 


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Ueber die Einwirkung konzentrierter Aetzgifte auf die Magenwand. 67 


Die konzentrierte Suhlimatlösung macht nach Lesser im wesentlichen 
die gleichen Veränderungen, wie die Säuren und Alkalien. Nur treten die irri- 
tativen Wirkungen, die bei Säuren und Alkalien um so stärker sind, je schwächer 
die Lösung war, gegenüber den ätzenden ganz in den Hintergrund. Es entsteht 
also ein fast rein weisser Aetzschörf, in dem Blutungen äusserst spärlich, plastische 
oder wässerige Ezsudationen kaum vorhanden sind. Ueber die Muscularis mucosae 
geht die Aetzung selbst bei stärkster Konzentration nioht hinaus. Defekte, sekun¬ 
däre Erweichung, Brüchigkeit kommen nicht vor, wohl aber starke Konsistenz¬ 
vermehrung. 

Die Carbolsäure macht genau die gleichen Veränderungen, wie das 
Sublimat. 

Von mir wurde experimentell geprüft die Einwirkung von 

1. Salzsäure, conc., 

2. Schwefelsäure, 50 pCt., 

3. Salpetersäure, conc., 

4. Liq.- Natr. caustici (=15 pCt. Na OH), 

5. Alkohol absolut., 

6. Sublimat, conc. (= 6 Y 2 pCt.), 

7. Ac. carbolic. liquefact., 

8. Lysol, conc. 

auf den Magen des Hundes in der Weise, dass dem durch Injektion 
von 0,04 Morphium betäubten Tier, nachdem es 24 Stunden gehungert 
hatte, mittels Magenschlauches das Gift eingeführt wurde. Die 
Menge schwankte je nach der Grösse der Tiere zwischen 150 und 
200 ccm. W T ährend der Eingiessung wurde eine Aethernarkose be¬ 
gonnen und bis zum Tode fortgesetzt. Wo dieser nicht sehr bald 
spontan eintrat, wurde er nach 10 Minuten durch reichliches Auf¬ 
giessen von Chloroform auf die Maske herbeigeführt. Die Sektion 
wurde sofort angeschlossen, der Magen herausgenommen, aufgeschnitten, 
abgespült, kleine Stückchen zur mikroskopischen Untersuchung, teils 
in Alkohol, teils in eine Mischung von Müllerscher Flüssigkeit und 
5 proz. Formalin zu gleichen Teilen gebracht, das Organ selbst in 
JCayserlingscher Flüssigkeit aufgehoben. 

1. Salzsäure (Acidum muriaticum purum). 

Der Magen ist total verätzt, in ein starres, enges Gebilde ver¬ 
wandelt, dessen Wand beim vorsichtigsten Auseinanderlegen einbricht. 
Die Innenfläche ist stark gewulstet, dunkelgraurötlich, die Wanddicke 
vermehrt, der Pylorus ist fest kontrahiert, doch hat sich auch ins 
Duodenum und den oberen Teil des Jejunums, die ätzende Flüssigkeit 
ergossen; hier ist die Schleimhaut hellgrau-weisslich, in scharfer 

5* 


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68 


Dr. Walbaum, 


Grenze von der des Magens sich abhebend. Die Peritonealseite ist 
glatt und glänzend, bläulich-grau, mit dunkelbrauner bis schwarzer 
Gefässzeichnung. 

Bei Beurteilung des mikroskopischen Bildes ist hier wie bei 
allen folgenden Versuchen zu berücksichtigen, dass auch bei Verätzung 
mit den stärksten Mitteln die Wirkung nie gleichmässig über die 
ganze Mageninnenfläche verteilt ist. In den Nischen und in der Tiefe 
der Falten finden sich geringere Veränderungen, als auf der Höhe. 
So können nebeneinander die verschiedensten Bilder Vorkommen. 

Die in Müller-Formol fixierten Präparate nehmen keinerlei 
Kernfarben an, weder wenn sie in Paraffin, noch wenn sie in Celloidin 
eingebettet sind. Bei tagelangem Liegen in Hämatoxvlinlösung werden 
sie ganz diffus blass-blau-grau, lassen sich aber nicht durch Einlegen 
in Salzsäure und Nachspülen mit Ammoniak differenzieren. 

Die in absolutem Alkohol fixierten Präparate nehmen auch nur 
sehr schwer das Hämatoxylin an, werden dann aber diffus dunkel-blau- 
grau und lassen erst bei Einwirkung von Salzsäure und Ammoniak 
Zellen und Kerne sichtbar werden. Trotzdem bleibt auch bei den 
besten Präparaten ein Schleier, dadurch bedingt, dass beim Auswaschen 
das Protoplasma nicht ganz den aufgenommenen Farbstoff abgegeben 
hat; darum lassen auch schwächere Vergrösserungen vielfach die 
Einzelheiten nicht mit der wünschenswerten Schärfe hervortreten. — 

In Lithioncarmin verhalten sich die Schnitte ganz ähnlich: sehr lange , 
Färbedauer, geringe Neigung zur Differenzierung. Die Protoplasma¬ 
farben dagegen nehmen sie leicht auf. Dabei bekommt das Gewebe 
mit Eosin keinen schönen roten, sondern mehr einen bräunlichen, 
kupferartigen Ton, und bei Nachfärbung mit dem van Giesonschen 
Farbengemisch treten anstatt des reinen Gelb grünliche Töne, anstatt 
des leuchtenden Rot ein blasses, ins graue spielendes Rot auf. 

Man ist überrascht, bei der schweren grobanatomischen Läsion 
der Magenwand ihre Komponenten mikroskopisch noch in leidlichem 
und sehr wohl erkennbarem Zustande anzutreffen. Es ist nicht nur 
jede Schicht als solche deutlich zu sehen und scharf, wie in normalem 
Zustande, gegen die benachbarten Schichten abzugrenzen, sondern 
jede einzelne Zelle, sogar die der obersten Decke, ist in ihrer äusseren 
Form unverändert. Nirgends ein Epitheldefekt; wo bei der Brüchigkeit 
des Gewebes Risse und Spalten entstanden sind, lassen sie sich sofort 
als Artefakte erkennen. 

Das in seiner Form tadellos erhaltene Magenepithel hat sehr 


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Ueber die Einwirkung konzentrierter Aetzgifte auf die Magenwand. 69 

scharfe Konturen, so dass die einzelnen Zellen deutlich gegen einander 
abgrenzbar sind. Die Kerne sind sämtlich bodenständig und nur 
selten als kugelige Gebilde zu erkennen; meist haben sie sich als 
dunkel-blau-grau gefärbte Schollen an der Zellbasis ausgebreitet. So 
entsteht am Grunde des zelligen Belages ein fast kontinuierlich aus¬ 
sehender schmaler Streifen, indem die auseinandergeflossenen Kerne 
sich seitlich berühren. Nur an wenigen, besonders geschützten Stellen, 
in der Tiefe von Nischen und Winkeln, sind die Kerne einzeln als 
kugelige, ovale oder stäbchenförmige Gebilde zu sehen. — Bei 
Immersionsvergrösserung und einiger Abblendung löst sich das dunkle 
Kernband vielfach noch in seine Bestandteile auf. Aber die Kerne 
sind nirgends scharf und deutlich zu erkennen, nirgends ihr Aufbau 
aus Kernmembran, Kerngerüst und Kernkörperchen zu sehen; vielmehr 
haben wir günstigenfalls einen dunklen Fleck vor uns, mehr oder 
weniger scharf umschrieben und gegen die Umgebung abgrenzbar. 

Die Zellen sind durchweg sehr hochzylindrisch, nach der freien 
Oberfläche zu fächerförmig etwas breiter werdend, sehr hell und durch¬ 
sichtig, als ob sie gänzlich leer wären, nur an der Basis befindet 
sich eine ganz schmale, etwas dunklere Schicht, die durch einen fein 
konturierten nach oben offenen Bogen gegen den übrigen Teil der 
Zelle abgesetzt ist. In dieser dünnen protoplasmatischen Schicht 
liegt der Kern. Am Grunde eines kleinen Rezessus findet sich auch 
gelegentlich eine Reihe von Deckepithelien, die nicht glasig klar aus- 
sehen, sondern in ihrem ganzen Körper mit feinen Protoplasmagranu¬ 
lationen ausgefüllt sind. Ihre Kerne sind grösser und stets stäbchen¬ 
förmig. — Leukozyten kommen zwischen den Epithelien nur ganz 
vereinzelt vor, ebenso in den tieferen Schichten der Schleimhaut. 

Die Bindegewebs- und glatten Muskelfasern der Tunica propria 
sind gut erhalten. Ihre Blutgefässe und Kapillaren sind sehr weit, 
strotzend mit Blut gefüllt. Das Blut ist in eine feiner oder gröber 
gekörnte gleichmässige Masse verwandelt, die einzelnen Blutkörperchen 
sind meist nicht mehr zu erkennen. Das Gefässendothel ist gut er- 
erhalten, mit deutlichen Kernen versehen, die sehr oft auch noch ein 
Kernkörperchen aufweisen. 

An den Drüsen, die von normalem Aussehen sind, lassen sich 
•Haupt- und Belegzellen überall gut unterscheiden. Die helleren Kerne 
der Hauptzellen weisen deutlich erkennbar Membran, Gerüst und 
Kernkörperchen auf, die dichteren Kerne der Belegzellen dagegen nicht. 
Von Schrumpfungs- oder Quellungsprozessen ist nichts zu merken. 


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Dr. Walbaum, 


Die stark gefüllten Kapillaren zwischen den Drüsen treten auffallend 
deutlich hervor, besonders auch durch den von der Umgebung stark 
abstechenden bräunlichen Farbenton. Das Bild gewinnt dadurch an 
Plastizität. 

An der Muscularis mucosae fehlen bemerkenswerte Veränderungen. 

Bei der Submukosa fällt am meisten auf die enorme Gefäss- 
erweiterung. Stellenweise liegen ganz gewaltige Hohlräume neben 
einander, wie bei einem Angiom. Die Gefässwand ist überall deutlich 
erkennbar, ihre Zellen sind von guter Beschaffenheit. Blutaustritte 
sind selten und klein, manchmal wohl durch die Präparation bedingt; 
in der Mukosa sind sicherlich keine zu finden. Die Erweiterung der 
Gefässe erstreckt sich mehr auf die Venen als auf die Arterien. Der 
Gefässinhalt ist, wie in der Schleimhaut, eine gleichmässige, gelbbraun 
gefärbte grob granulierte Masse. Die ebenfalls, aber nicht so stark 
dilatierten Lymphgefässe haben einen feinkörnigen oder homogenen, sehr 
blass sich färbenden Inhalt. — Das Bindegewebe ist grobfaserig, ge¬ 
quollen, starr, durchscheinend, sehr arm an Kernen. Leukozyten¬ 
anhäufungen fehlen. Feinere Elemente, wie Nervenfasern und -Zellen, 
sind nicht zu differenzieren. 

Die starke Gefässerweiterung setzt sich auch in die Muskularis 
fort. Im übrigen zeigt diese Schicht, abgesehen von besonders 
schlechter Färbbarkeit der Muskelfasern, die das Hämatoxylin intensiv 
festgehalten und eine weitergehende Differenzierung nicht zugelassen 
haben, nichts Auffallendes. Verhältnismässig gut erhalten sind viel¬ 
fach die Zellen und Fasern des Plexus Auerbachii, sowie die Endothelien 
der diese Gebilde begleitenden Lymphscheiden. 

Die am weitesten von der Stelle der Giftwirkung entfernte Schicht, 
die Serosa, zeigt auch die geringsten Veränderungen. Wohl sind auch 
hier noch die Gefässe stark erweitert und ihr Inhalt körnig geronnen, 
aber das sonst so empfindliche Epithel ist lückenlos vorhanden und 
in gutem Zustande. •• 

2. Schwefelsäure. (y 2 - konzentriert). 

Der Magen verhält sich in Bezug auf Grösse, Konsistenz und 
Brüchigkeit genau wie bei der Vergiftung mit Salzsäure. Die Schleim¬ 
haut ist stellenweise auf grössere Strecken von der Unterlage abgehoben. 
Die Farbe der Innenfläche ist dunkelgraubraun bis schwarz, manche 
Stellen sind intensiv kohlschwarz gefärbt. Von der Peritonealseite her 
sieht das Organ dunkler aus, als bei der Salzsäureverätzung, im übrigen 


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Ueber die Einwirkung konzentrierter Aetzgifte auf die Magenwand. 71 

besteht kein Unterschied. Der Pylorus ist festgeschlossen und hat nur 
sehr wenig von dem Gift durchgelassen, daher ist auch nur der oberste 
Teil des Duodenums mit grauweisslicher Farbe oberflächlich verätzt. 

Unter dem Mikroskop finden wir genau das gleiche Verhalten wie 
bei der Salzsäure Vergiftung. Die Gewebe mögen im ganzen eine 
Kleinigkeit besser erhalten sein, insbesondre ist stellenweise das Deck¬ 
epithel in ausgezeichneter Verfassung, allerdings dabei starr, glänzend 
und sehr blass gefärbt. Auch die Belegzellen der Drüsen sind in 
gutem Zustande, während die Hauptzellen und namentlich die ihnen 
entsprechenden Zellen der Pylorusdrüsen manchmal recht stark alteriert 
erscheinen, derart, dass auf grössere Strecken von ihnen weiter nichts 
übrig ist als ein feinkörniger oder fädiger Detritus von graubläulicher 
Farbe, in dem leidlich erhaltene oder mehr oder weniger verklumpte 
und verzerrte Kerne liegen. An anderen Stellen wiederum lassen die 
Hauptzellen deutlich ihre Conturen erkennen. Eigentümlicherweise 
geht die beschriebene Veränderung nicht parallel mit den Veränderungen 
an den benachbarten Geweben. Die Hauptzellen können zerstört sein, 
wo die Deckepithelien und Belegzellen am geringsten angegriffen er¬ 
scheinen und umgekehrt. 

Die Blutgefässe sind in allen Schichten ganz kolossal erweitert, 
noch stärker als bei der Salzsäureverätzung. Weniger als hier haben 
aber die roten Blutkörperchen gelitten, die vielfach noch ihre Form 
gut erkennen lassen. Auch die Erweiterung der Lymphgefässe ist 
eine wesentlich stärkere. Im übrigen sind keinerlei Unterschiede fest¬ 
zustellen. 


3. Salpetersäure (Ac. nitricum purum). 

Die Peritonealseite des eng kontrahierten Magens ist dunkelgrau¬ 
braun mit deutlicher, fast schwarzer Gefässzeichnung. Die Innenfläche 
verhält sich genau wie bei den anderen Säurevergiftungen; ihre Farbe 
ist dunkelgraubraun mit unregelmässig gestalteten diffus in die Um¬ 
gebung übergehenden schmutziggelben Flecken. Die Darmschleimhaut 
ist auf % m vom eng kontrahierten Pylorus an verätzt, brüchig, 
zitronengelb gefärbt. 

Von dem mikroskopischen Bilde eine Schilderung zu geben erscheint 
überflüssig, da es in keiner Weise von dem bei der Salz- und Schwefel¬ 
säureverätzung abweicht. Wie bei der letzteren sind die Hauptzellen 
und die ihnen analogen Zellen der Pylorusdrüsen stellenweise schwer 
verändert. 


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Dr. Walbaum, 


4. Natronlauge (Liq. Natr. caustici). 

Der Exitus erfolgt sofort nach dem Eingiessen des Giftes ohne 
jeden Todeskampf. — Der Magen ist nicht verkleinert, sieht von 
aussen dunkclbraunrot aus. Eine Gefässzeichnung ist nur sehr schwach 
ausgeprägt. Die Höhlung ist mit blutiger Flüssigkeit gefüllt, die 
Wand verdickt, weich und leicht zerreisslich, von dunkelburgunder¬ 
roter Farbe, nirgends transparent; die gewulstete, gallertig sich an¬ 
fühlende Schleimhaut von einer dicken, zähen Schleimlage bedeckt. 
Der fest verschlossene Pylorus hat nichts in den Darm 'durchgelassen- 

Die zur mikroskopischen Untersuchung bestimmten Stückchen, 
sowohl die in Alkohol, wie die in Müller-Formol fixierten, werden 
ungemein hart, sodass sie sich nicht schneiden lassen, und es geradezu 
einen Zufall bedeutet, wenn ein auch nur einigermassen brauchbarer 
Schnitt zustande kommt. Das gilt in gleicher Weise für Paraffin- 
wie für Celloidineinbettung. 

Die Färbbarkeit der Objekte durch Kern- und Protoplasmafarben 
ist normal. 

Ausserdem fallen gegenüber dem Verhalten der Magenwand bei 
den Säure Vergiftungen folgende Punkte am meisten auf: 

In allen Schichten ist die bindegewebige Zwischensubstanz 
(Tunica propria der Schleimhaut, Submukosa, Interstitium zwischen den 
Muskelschichten, Serosa) so vollständig homogenisiert, dass von der 
normalen Struktur nichts mehr zu erkennen und nur bei Immersions- 
vergrösserung und Abblendung hin und wieder eine Andeutung von 
Faserung zu finden ist. Die zugehörigen Kerne liegen ungleichmässig 
in der homogenen glasklaren Masse verteilt. Auch das Protoplasma 
beieinanderliegender Zellen ist vielfach zu einer hellen homogenen 
Masse zusammengeflossen, in der eine Abgrenzung der einzelnen 
Komponenten gegeneinander nicht mehr möglich ist. 

Die Blutgefässe sind eng kontrahiert, die Arterien enthalten 
durchweg gar kein Blut, die Venen nur wenig. Das Blut ist absolut 
homogen, hellgelbbraun, und enthält als einzige geformte Bestandteile 
die den weissen Blutzellen angehörigen Kerne, während von den Zell- 
leibem nichts mehr sichtbar ist. Der Blutfarbstoff ist eine kleine 
Strecke weit in die Umgebung der Gefässe diffundiert. Die Wand der 
Gefässe erscheint dick durch die Zusammenziehung; alle Kerne, auch 
die der Intima, sind schön erhalten, während eine Abgrenzung der 
Zelleiber mit ihrem bis zur Unsichtbarkeit aufgehellten Protoplasma 
meist nicht mehr gelingt, — Kapillaren sind in keiner Schicht der 


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Ueber die Einwirkung konzentrierter Aetzgifte auf die Magenwand. 73 

Magenwand nachzuweisen. Wenn auch aus der Analogie geschlossen 
werden muss, dass ihre Endothelkerne vorhanden sind, so gelingt es 
doch nicht, sie aus der grossen Menge gleichartiger Kerne herauszu- 
finden. Wohl aber sind die Kerne der Lymphgefässendothelien an 
vielen Stellen gut erkennbar. 

Das Deckepithel fehlt im allgemeinen, nur in den versteckten 
Winkeln [der Magengrübchen ist es erhalten. Wo die. Lauge voll 
zur Wirkung kommen konnte, ist es nebst dem Stützgewebe der 
Tunica propria zu Schleim verflüssigt und beim Reinigen abgespült 
worden. An einzelnen Stellen hat die Schleimschicht fester gehaftet 
und ist im Präparat als bläulichrot gefärbte streifige Masse sichtbar. 
Innerhalb dieser Masse liegen tief dunkelblau gefärbte schollige, lang¬ 
gezogene oder verästelte Kernreste mit unregelmässigen, wie ange¬ 
fressen aussehenden Rändern. Nach der Tiefe zu gehen die Schleim¬ 
auflagerungen in besser erhaltene Zellgruppen und schliesslich in schöne 
Durchschnitte von Magengrübchen und Drüsen über. 

Da, wo das Deckepithel noch leidlich erhalten ist, zeigt es 
folgende Eigentümlichkeiten: Die Zellgrenzen sind meist deutlich, nur 
die Oberfläche ist manchmal nicht geradlinig, sondern rauh und uneben. 
Der Zellinhalt zeigt keine scharfe Trennung in protoplasmatische und 
Schleimschicht, wenn auch der basale Teil der Zellen vielfach einen 
etwas dunkleren Farbenton angenommen hat. In diesem basalen Teil 
liegt der meist gut konservierte, kugelige oder ovale, seltener auch 
stäbchenförmige, grosse, vielleicht etwas gequollene Kern, der fast 
stets Membran, Gerüst und Kernkörperchen aufweist. Zuweilen sind 
die Kerne auch blass, aufgehellt, ohne deutliche Struktur, und am 
Rande wie angefressen, oder sie scheinen aus einer Reihe teilweise 
sich deckender Vakuolen zu bestehen, die von besonders dichter 
Substanz umgeben sind. — Die oberflächlichen Partien der Schleim¬ 
haut sind durch ausgelaugten Blutfarbstoff hellbraun gefärbt; neben 
dem diffusen Farbstoff findet sich gelegentlich auch körniges, braunes 
Pigment, besonders in dem nekrotischen aus verschleimtem Epithel 
bestehenden Material, von dem oben die Rede war. 

Die Drüsenschicht verhält sich überall gleich. Die hier be¬ 
sonders auffallende Homogenisierung des Interstitiums mit Muskelfasern 
und Kapillaren wurde schon hervorgehoben; die Kerne, die ihm an¬ 
gehört haben, sind an ihrer Form, Grösse und Lagerung zu erkennen. 
Die Drüsenzellen selbst sind schwer gegeneinander und gegen die 
Umgebung abzugrenzen, da auch ihr Protoplasma stark aufgehellt 


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Dr. Wal bäum, 


ist. Es finden sich zwar — bei Immersionsvergrösserung und inten¬ 
siver Abblendung gelegentlich sogar recht deutlich — zwischen Inter- 
stitium und Drüsenschlauch feine Spalträume, die zweifellos auf 
Schrumpfung durch das fixierende Agens zurückzuführen sind; an 
anderen Stellen lässt sich auch innerhalb der Drüsen eine Andeutung der 
Konturen gut aneinanderliegender Zellen, namentlich der Belegzellen, 
bemerken; meist aber finden wir eine mehr oder weniger homogene 
und helle Masse mit eingebetteten Kernen. Mehr oder weniger homogen, 
d.h. das Protoplasma der Belegzellen ist regelmässig auch nach der Homo¬ 
genisierung etwas dichter und dunkler gefärbt, als das der Hauptzellen. 
Diese haben auch in ihrem Kern weit mehr gelitten, als die offenbar • 
viel widerstandsfähigeren Belegzellen. Und zwar zeigen die Haupt¬ 
zellenkerne ungemein häufig eine grobschaumige Struktur, die sie aus 
einem Konglomerat von teilweise sich deckenden Vakuolen mit starker 
blaugefärbter Umrandung zusammengesetzt erscheinen lässt, oder sie 
sind zu unregelmässigen Gebilden auseinandergeflossen, die sich mit 
den phantastischen Figuren, wie sie beim Bleigiessen entstehen, ver¬ 
gleichen lassen. Aehnliche Wirkungen, wenn auch nicht in so starkem 
Masse, hat das Gift an den Kernen der Tunica propria hervorgebracht. 

Die Belegzellenkerne dagegen sind fast immer in guter Verfassung 
und weisen nur selten die beschriebene vakuoläre Veränderung in ge¬ 
ringerem Masse auf. 

Natürlich sind die oberflächlichen Schichten der Schleimhaut am 
meisten mitgenommen; nach der Tiefe zu nehmen die Wirkungen des 
Aetzmittels rasch an Ausdehnung und Intensität ab. Die Basis der 
Magendrüsen ist an manchen Stellen ausgezeichnet erhalten. 

Das Gleiche gilt für die Muscularis mucosae. Nur sind die 
längsgetroffenen Fasern fast garnicht, die quergetroffenen nicht so 
leicht wie normal von einander abzugrenzen. Die Kerne zeigen ver¬ 
einzelt eine schaumige Struktur. 

An der Submukosa ist, abgesehen von denjenigen Veränderungen, 
welche die ganze Wanddicke in gleicher Weise betreffen, nichts Be¬ 
sonderes zu bemerken. Elemente des Meissnerschen Plexus sind nicht 
aufzufinden. 

Die Muskularis ist von allen Schichten am besten erhalten. 
Die Fasern sind nicht so scharf von einander trennbar wie normal, 
etwas gequollen und miteinander verschmelzend. Die Kerne zeigen 
stellenweise stark vakuoläre Struktur, aber überall einen scharfen 
Kontur. Fasern und Zellen des Auerbachschen Plexus ohne Veränderung. 


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Ueber die Einwirkung konzentrierter Aetzgifte auf die Magenwand. 75 


Die Serosa hat stark gelitten. Das Epithel ist fast nirgends 
erhalten, das subseröse Bindegewebe ist verflüssigt, seine Kerne sind 
vakuolär und zerrissen. 


5. Absoluter Alkohol. 

Der Magen ist weit, schlaff und gefülllt. Von aussen bietet er 
nichts Besonderes, die Serosagefässe sind lebhaft injiziert. Die 
Schleimhaut ist tief dunkelrot, auf der Höhe der stark ausgeprägten 
Falten weisse kleinflockige Beläge, die ziemlich fest haften, sich aber 
ohne Substanzverlust abziehen lassen (geronnener Schleim?), Blutungen 
sind mit blossem Auge nirgends zu erkennen. Durch den weiten Pylorus 
ist der Alkohol ungefähr 8 / 4 m in den Dünndarm hineingeflossen 
und hat auch hier eine lebhaft rote Färbung der Schleimhaut bewirkt. 

Sämtliche Zellen sind ausgezeichnet erhalten und völlig normal. 
Im Deckepithel finden sich hin und wieder Mitosen. Der in den 
lebenden Magen eingeführte Alkohol bewirkt genau dasselbe, was der 
Anatom bezweckt, wenn er die zur Untersuchung bestimmten Objekte 
in absoluten Alkohol bringt, die Zellen werden getötet, aber in ihrer 
Form fixiert (Fixation im Leben). Die Blutgefässe, namentlich die 
Venen und Kapillaren der Submukosa und der angrenzenden Mukosa¬ 
schicht sind stark gefüllt. In den oberflächlicheren Schleimhautpartien 
sind die mässig erweiterten Kapillaren nicht so gut zu sehen, weil 
sich die roten Blutkörperchen fast ganz entfärbt und ihren Farbstoff 
an die Gewebe abgegeben haben. Die letzteren haben dadurch einen 
hellbraunroten Farbenton angenommen. In der Submukosa enthalten 
die Venen vielfach frische weisse oder gemischte Thromben. Hier sind 
auch die Lymphspalten enorm ausgedehnt und mit einem feinkörnig 
oder homogen geronnenen Inhalt versehen. Dem Deckepithel liegt 
stellenweise eine Schicht, bestehend aus geronnenem Schleim und ab- 
gestossenen Epithelien auf. In den unteren Schichten der Schleimhaut 
liegen reichlich Lymphknötchen und einzelne Lymphkörperchen, die 
bis an die Oberfläche dringen. Das Protoplasma der Hauptzellen ist 
hell und fast farblos; in den Belegzellen finden sich vereinzelte Va¬ 
kuolen. 

6. Konzentrierte Sublimatlösung. 

Der Magen ist äusserlich von normalen Aussehen, dickwandig und 
starr. Innen zeigt er eine fast schneeweisse Farbe. Die Schleimhaut 
ist wenig gefaltet, hart. Der Pylorus ist fest geschlossen, das Duo¬ 
denum ohne Veränderungen. 


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Dr. Walbaum, 


Sämtliche mikroskopische Präparate können als Paradigmen für 
eine gut erhaltene normale Magenwand gelten. Auch hier handelt es 
sich um eine Fixation des Gewebes im Leben. Zu bemerken ist nur 
folgendes: An der Oberfläche und in den obersten Schichten der Schleim¬ 
haut finden sich vereinzelte Sublimatniederschläge. Die kleinen Gefässe 
und Kapillaren sind stark gefüllt und erweitert; Blutaustritte jedoch sind 
nirgends zu sehen. Die Hauptzellen weisen vielfach eine ziemlich grobe 
grau-blaue Granulierung ihres Protoplasmas auf, die manchmal ein weit¬ 
maschiges intrazelluläres Netzwerk darstellt; die Belegzellen enthalten 
häufig eine oder mehrere kreisrunde Vakuolen. Die Muskelschichten sind 
stark kontrahiert, was in der Breite der Fasern und der vielfach kork¬ 
zieherartigen Form der Kerne einen anatomischen Ausdruck findet. 

7. Karbolsäure (Ac. carbolicum liquefactum). 

Aeusserlich ist dem Magen nichts Pathologisches anzusehen. Die 
Innenfläche ist fast schneeweiss, stark gefaltet. Die Schleimhaut ist 
hart, lederartig; die Submukosa auf dem Durchschnitt schleimig, graurot, 
von Blutungen durchsetzt, die Muskularis stark kontrahiert, sonst nicht 
verändert. Obwohl der Pförtner eng zusammengezogen ist, hat sich doch 
ziemlich viel von dem Gift in den Dünndarm ergossen, dessen Schleim¬ 
haut auf eine grössere Strecke hin mit weisser Farbe verätzt ist. 

Im mikroskopischen Bilde erscheint die Magenwand im ganzen 
gut erhalten, insbesondere in den tieferen Schichten. Nur das Deck¬ 
epithel hat streckenweise stark gelitten, ist sogar, wie bei der Laugen¬ 
vergiftung, auf grösseren Flächen schleimig zusammengeflossen und 
teilweise abgeschwemmt 1 ), so dass der Eingang in die Magengrübchen 
und dazwischen die Strebepfeiler der Tunica propria vielfach frei zu 
Tage liegen, teilweise ist es von seiner Unterlage ganz abgehoben. 
Die Tendenz der protoplasmatischen Zellbestandteile zu erweichen 
und zusammenzufliessen setzt sich häufig auch auf die Zellen der 
Magengrübchen fort. Wo das Epithel in gutem Zustande geblieben 
ist, weist es keine Besonderheiten auf. Die oberen Schichten der 
Mukosa sind durch ausgelaugten Blutfarbstoff in gelblichem Tone gefärbt 
und dunkler. — Die Drüsenschicht ist sehr niedrig, ihre Zellen.zeigen, 
abgesehen von häufigen grossen und kleinen Vakuolen in den Beleg¬ 
zellen, nichts Bemerkenswertes. Die Blut- und Lymphgefässe sind 
ziemlich stark erweitert, namentlich in der Submukosa. 

In den vorliegenden Präparaten fehlen Blutaustritte. Die Blut- 

1) Eine gute Abbildung s. Strassmann, Lehrb. d. gerichtl. Med. 


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Ueber die Einwirkung konzentrierter Aetzgifte auf die Magenwand. 77 

körperchen sind gut erhalten. In den Lymphgefässen findet sich 
feinkörnig geronnene Lymphe. 

8. Lysol (Liquor Kresoli saponatus). 

Der Magen ist ziemlich fest kontrahiert und ohne Besonderheiten 
von aussen. Seine Höhlung ist voll von lockerem rötlichem Schaum. 
Die stark gewulstete Schleimhaut ist im Fundusteil trüb-grau-rot, 
im Pylorusteil trüb-weisslich mit diffusen rosenroten Flecken. Die 
Oberfläche fühlt sich etwas schmierig, nicht starr an. Blutungen 
fehlen. Zwölffingerdarm ohne Veränderungen, was durch die einen voll¬ 
ständigen Abschluss bewirkende Kontraktion des Pylorus erklärt wird. 

Gegenüber den ausgesprochenen makroskopischen Veränderungen 
fällt im mikroskopischen Bilde der tadellose Zustand sämtlicher 
Schichten auf. Fast kann man die Präparate denen bei Sublimat¬ 
vergiftung als gleichwertig an die Seite stellen. Hin und wieder sind 
die Zellgrenzen etwas verschwommen, und es besteht eine Andeutung 
von Homogenisierung des Protoplasmas, besonders bei den Fundus¬ 
drüsen, im ganzen aber sind Zellen und Kerne überall klar und 
scharf. Die Belegzellen der Fundusdrüsen enthalten Vakuolen. Die 
Blutgefässe und Kapillaren sind eng; die in ihnen befindlichen roten 
Blutzellen sind meist gegen einander gut abzugrenzen, wenn auch oft 
von verzerrten Formen, stellenweise sind sie auch zu homogenen 
Massen verschmolzen. Die breiten Muskelfasern sind vielfach mit 
korkzieherartigen Kernen versehen, die nicht selten wie aus Farb- 
Kreisen zusammengesetzt erscheinen. 

•- 

Ueberblicken wir die mitgeteilten Befunde am verätzten Tiermagen 
bezüglich ihres Wertes in differenziell-diagnostischer Hinsicht, so ist 
leicht zu erkennen, dass es im allgemeinen gelingen muss, allein aus 
dem mikroskopischen Verhalten die Diagnose auf Verätzung mit einer 
starken Mineralsäure zu stellen. Die mangelhafte Färbbarkeit der Objekte 
bei tadellosem Erhaltensein fast sämtlicher Gewebselemente, das starre 
Aussehen des Epithels, die starke Erweiterung der Blut- und Lymphge- 
fässe dürfte charakteristisch genug dafür sein. Dagegenerscheintesabsolut 
unmöglich, die einzelnen Säuren von einander zu unterscheiden. 

Alkohol und Sublimat sind eigentlich nur dadurch von einander 
verschieden, dass beim ersteren die roten Blutkörperchen mit Eosin 
eine viel blässere Farbe annehmen, fast ungefärbt, leicht gelblich er¬ 
scheinen, während sie beim Sublimat das Rot in schöner Weise fest- 


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Ueber die Einwirkung konzentrierter Aetzgifte auf die Magenwand. 79 

halten. Analog verhalten sich die Präparate bei Nachfärbung mit 
van Giesonscher Lösung. Aber hierauf eine Differenzialdiagnose 
zu stützen, erscheint mir sehr gewagt. Auch die Sublimatniederschläge 
dürften nicht charakteristisch genug sein. 

Fast genau so gut wie beim Alkohl und Sublimat ist beim Lysol 
jede Gewebsschicht erhalten; die geringen Veränderungen am Drüsen¬ 
epithel und am Blut können kaum mit wünschenswerter Sicherheit 
eine Unterscheidung gestatten. 

Ebenso starke, aber ganz andersartige Veränderungen, wie die 
Säuren, machen die Aetzalkalien, deren Diagnose sich in der Mehrzahl 
der Fälle wohl auch aus dem mikroskopischen Bilde stellen lassen 
wird. Die gute Färbbarkeit der Schnitte, die Kontraktion der Blut¬ 
gefässe, das Verschwinden der roten Blutkörperchen, die Homogenisierung 
des gesamten Bindegewebes, die Verwischung der Zellgrenzen, die 
Aufhellung des Protoplasmas und die Verzerrung der Kerrie sind hier 
die wichtigsten Charakteristika. 

Recht schwer dürfte es fallen, aus dem mikroskopischen Bilde 
allein den Schluss auf eine Vergiftung mit Karbolsäure zu ziehen. 
Es finden sich bei ihr Erscheinungen, die an den Befund bei Läugen- 
vergiftung erinnern, neben durchaus gut erhaltenen oder kaum ver¬ 
änderten Stellen, wie beim Lysol; und wiederum im Gegensatz zu 
beiden Giften sind die Blut- und Lymphgefässe ziemlich stark erweitert. 
Die beifolgende Tabelle gestattet eine schnelle und ausreichende Ueber- 
sicht über die erhobenen Befunde. 

Im ganzen stimmen meine Befunde sehr wohl mit denen Lessers 
überein. Die geringfügigen Unterschiede ergeben sich daraus, dass 
ich mich zunächst darauf beschränkte, die akutesten, durch Verätzung 
mit konzentrierten Lösungen bedingten Veränderungen zu untersuchen, 
bevor noch irgend welche Wirkungen von anderer Seite zu Tage ge¬ 
treten sein konnten, während jener Untersucher den Verlauf der Vergiftung 
über längere Zeit hinaus verfolgte und dadurch gleichzeitig die Reaktion 
der Gewebe auf die Attacke beobachten konnte, vielfach auch die 
Gifte in schwächerer Lösung zur Anwendung brachte. Nur für die 
Laugenvergiftungen muss ich mich nach den erhobenen Befunden 
durchaus auf den von Strassmann eingenommenen Standpunkt stellen. 

Meinem hochverehrten früheren Chef und Lehrer Herrn Prof, 
v. Hansemann, spreche ich für die Anregung zu diesen Unter¬ 
suchungen und die liebenswürdige Zuweisung des Materials meinen 
ergebensten Dank aus. 


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5. 


Aus dem Pharmakologischen Institute zu Halle a. S. 

Zum Nachweis von Ohioraten im Harn. 

Von 

Dr. Herrn. Hildebrandt, 

Privatdozenten fUr Pharmakologie und gerichtliche Medizin. 


Im Jahre 1893 hat R. v. Maschka 1 ) das Ergebnis der Sektion 
eines Kindes mitgeteilt, bei der im Blute Met-Hämoglobin, in der 
Milz und den Nieren Veränderungen gefunden wurden, die den Ver¬ 
dacht einer Vergiftung mit Kali chloricum nahe legten; das Ergebnis 
der gerichtlich-chemischen Untersuchung fiel negativ aus. Es 
konnte fast mit Sicherheit festgestellt werden, dass dem Kinde kein 
Kali chloricum oder andere Met-Hämoglobin bildende Stoffe gereicht 
waren, so dass anzunehmen war, dass unter Umständen aus unbe¬ 
kannter Ursache im Blute sich Met-Hämoglobin bilden könne. Auch 
sonst ist bereits in der blutigen Bauch- und Brustflüssigkeit von 
Leichen, wenn sie 2 bis 3 Tage gelegen haben, Met-Hämoglobin ge¬ 
funden worden, sowie im blutigen Harn, wenn er lange in der Blase 
gestanden hat. Auch andere Blutgifte können Veranlassung zur Met- 
Hämoglobin-Bildung geben. Ein der Chloratvergiftung sehr ähnliches 
klinisches wie pathologisch-anatomisches Bild zeigt nach Bostroem 2 ) 
die Morchelvcrgiftung. 

Nach den Untersuchungen von Marchand 8 ) beginnen die Haupt¬ 
veränderungen des Blutes, wenn die grösste Menge des einverleibten 
Chlorates bereits ausgeschieden ist. Der negative Ausfall der 
chemischen Untersuchung spricht demnach nicht unter allen Um- 

1) Prager med. Wochenschr. No. 19. 1893. 

2) Sitzungsbericht d. physikal-med. Sozietät zu Erlangen. 1887. 

3) Virchows Archiv. Bd. 77. 


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Zum Nachweis von Chloraten im Ham. 


81 


ständen gegen eine stattgefundene Vergiftung mit chlorsaurem Kali. 
Von Interesse ist vielleicht der von A. Lacassagne 1 ) mitgeteilte 
Fall, wo bei einer nach 14 Tagen ausgegrabenen Leiche in den Nieren 
Spuren von Chlorat nachzuweisen waren. 

Der Umstand, dass das Chlorat verhältnismässig schnell zur 
Ausscheidung gelangt, kann auch beim Lebenden den chemischen 
Nachweis illusorisch machen, zumal in den schwer verlaufenden Fällen 
die Harnmenge gering zu sein pflegt. 

Durch die erwähnten Momente wird der Wert der chemischen 
Untersuchung auf Chlorate in keiner Weise beeinträchtigt; doch muss 
sie der Gerichtsarzt berücksichtigen, wenn er das Ergebnis der 
chemischen Untersuchung zu deuten hat. Von grösster Wichtigkeit 
ist sie natürlich, wenn noch Reste der Substanzen vorhanden sind, 
deren Genuss den Verdacht der Vergiftung veranlasste. 

Färbt man die Lösung eines chlorsauren Salzes mit etwas 
schwefelsaurer Indigolösung hellblau, fügt ein wenig verdünnte Schwefel¬ 
säure zu und tropft dann vorsichtig eine Auflösung von schweflig¬ 
saurem Natron hinzu, so verschwindet die Farbe des Indigo sogleich. 
Die schweflige Säure entzieht der Chlorsäure Sauerstoff und setzt 
Chlor oder eine niedrigere Oxydationsstufe desselben in Freiheit, 
welche den Indigo entfärben. Qualitativ lässt sich die Chlorsäure 
auch vermittelst Stärkekleister, Jodkali und starker Salzsäure nach- 
weisen. Zur quantitativen Bestimmung benutzt man die Eigenschaft 
der Chlorate, mit Silberlösung nicht wie die Chloride einen Nieder¬ 
schlag von Chlorsilber zu geben; ein solcher tritt erst nach ihrer 
Reduktion zu Chlorid auf. Wenig genau ist die Bestimmung des 
chlorsauren Kalis auf jodometrischem Wege, wobei man das Salz mit 
Salzsäure erwärmt und das entweichende Chlor in Jodkaliumlösung 
leitet. Zum Zwecke der Reduktion der Chlorate zu Chloriden sind 
verschiedene Methoden angegeben worden. Erst kürzlich wurde von 
Jan nasch und Jahn 2 ) die Reduktion durch Erhitzen des Chlorates 
mit konzentrierter Salpetersäure im geschlossenen Rohr bei 275° oder 
durch Einwirkung roter, rauchender Salpetersäure bei gewöhnlicher 
Temperatur zum Zwecke der gewichtsanalytischen Bestimmung herbei¬ 
geführt. Es ist klar, dass diese Verfahren zur Bestimmung der 
Chlorate im Harn nicht ohne weiteres Verwendung finden können. 


1) Arch. de l’anthropol. crim. et des Sciences pönales. 1887. Tome II. 

2) Bericht d. deutschen Gesellschaft. Bd. 38. S. 1576. 1905. 

Viertoljahrsaehrift 8 er * Med. u * öff* San.-Wesen. 3. Folge. XXXII. 1. g 


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82 


Dr. Herrn. Hildebrand, 


Rabuteau 1 ) hat zuerst das Chlorat im Harn quantitativ zu be¬ 
stimmen versucht. Er fällte die Chloride mittels Silberlösung, kochte 
das Filtrat mit Soda, um das überschüssige Silber zu entfernen und 
filtrierte nochmals. Das eingedampfte Filtrat wurde geglüht, um das 
Chlorat in Chlorid überzuführen. Diese Methode kann trotz ihrer 
Umständlichkeit als nicht genau gelten; sie rechnet auch die aus 
organischem Chlor stammenden Mengen als Chloratc an, was an sich 
nicht zulässig ist. Isambert 2 ) ging so vor, dass er den Harn mit 
basischem Bleiazetat versetzte, um die Chloride und organischen Be¬ 
standteile auszufällen. Im Filtrat wurde durch Schwefelwasserstoff 
das überschüssige Blei entfernt, der Rest der Chlorverbindungen durch 
Silber gefällt, schliesslich durch Einleiten von schwefliger Säure 
die Reduktion herbeigeführt und die Chloride als Chlorsilber be¬ 
stimmt. 

v. iJiering 3 ) benutzte zur Reduktion der Chlorate die von 
Fleissner angegebene Methode mittels Zinkstaub, fand aber, dass 
dabei ein Zusatz von verdünnter Schwefel- oder Essigsäure erforder¬ 
lich ist, wenn es sich um chlorsaure Salze im Harne handelt. Auch 
durch Erwärmen der mit Salpetersäure angesäuerten Flüssigkeit unter 
Zusatz von schwefliger Säure konnte er eine vollständige Reduktion 
herbeiführen. 

Unlängst hat M. Scholtz 4 )-Greifswald eine sehr einfache Me¬ 
thode zur Reduktion von Chloraten angegeben: „Säuert man eine sehr 
verdünnte wässrige Lösung von Kaliumchlorat mit Salpetersäure an 
und setzt etwas Natriumnitrit hinzu, so ist das Chlorat nach kurzer 
Zeit vollständig zu Chlorid reduziert, so dass das Chlor durch Silber¬ 
nitrat quantitativ gefällt wird. Da die Lösung freie Salpetersäure 
enthält, so kann das Chlor nach der Volhardschen Methode titriert 
werden.“ Die Reduktion der Chlorsäure verläuft nach der Gleichung: 

HC10 3 + 3 HN0 2 = HCl + 3 HN0 3 . 

Demnach vermag 1 g Natriumnitrit beinahe 0,6 g Kaliumchlorat zu 
reduzieren. Wenn 0,2 bis 0,3 g des Salzes in ca. 100 ccm Wasser 
gelöst und der Lösung 10 ccm Salpetersäure vom spez. Gew. 1,2 und 
10 ccm einer 10 proz. Natriumnitritlösung zugefügt wurden und 

1) Compt. rend. des s^ances et m£moires de la soci(*t<$ de biologie. 1868. 
Tome V. 

2) Gaz. m6d. de Paris. 1875. 

3) Das chlorsaure Kali. A. Hirschwald. Berlin 1885. 

4) Arch. f. Pharmacie. Bd. 243. H. 5. S. 353. 1905. 


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Zum Naohweis von Chloraten im Harn. 


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dann die Flüssigkeit 15 Minuten bei Zimmertemperatur gestanden hat, 
so kann, wie der Autor durch eine Anzahl von Analysen nachweist, 
sicher angenommen werden, dass nur noch Chloride in der Flüssigkeit 
sich befinden. Diese können nun am einfachstem auf titrimetrischem 
Wege, natürlich auch auf gewichtsanalytischem Wege quantitativ be¬ 
stimmt werden. 

Die leichte Ausführbarkeit dieser Methode veranlasste mich fest¬ 
zustellen, ob auch, wenn es sich um eine Lösung der Chlorate 
nicht in Wasser, sondern in Harn handelt, brauchbare Werte zu ge¬ 
winnen sind. Ich setzte 0,2 bis 0,3 g des chlorsauren Kali gelöst zu 
100 ccm frischen Harns und fügte dann in der oben angegebenen 
Weise die Reagentien hinzu. Nach 15 Minuten setzte ich soviel 
Vio Normal-Silbernitratlösung hinzu, bis kein Niederschlag mehr er¬ 
zeugt wurde und auch das Filtrat mit Silberlösung keine Trübung 
mehr gab. Da ein Molekül KC10 S ein Atom fällbares Chlor liefert 
und das Molekulargewicht des chlorsauren Kalis 122,45 beträgt, so 
entspricht 1 ccm der Silberlösung 0,012245 g KC10 3 . Zur vollstän- 
ständigen Fällung des aus 0,3 g zugesetztem Chlorat entstandenen 
Chlorids würden also nahezu 30 ccm der Silberlösung erforderlich 
sein. Da aber der Harn noch reichliche Mengen von Chloriden 
enthält, ist der Zusatz der Silberlösung noch erheblich reichlicher zu 
bemessen. Das schliesslich erhaltene klare Filtrat enthielt natürlich 
noch Silbernitrat in Lösung, gab auch auf weiteren Zusatz von Silber¬ 
lösung keine Trübung. Als ich nun noch weiter Nitritlösung 
hinzusetzte, trat noch erhebliche Ausscheidung ein. Ebenso 
ungenügend erwies sich für den Harn die Menge Nitrit, wenn ich zu¬ 
erst den mit Salpetersäure versetztenHammitSilberlösung vollständigaus- 
fällte und dann die für 0,3 chlorsaur enKalis mehr als genügende Menge 
von 1 g Nitrit zusetzte. Wenn nach 15 Minuten mit Silberlösung gefällt 
wurde, so zeigte das klare Filtrat wiederum auf neuerdings zu¬ 
gesetztes Nitrit reichliche Fällung. Mehrere normale Harne, d. h. 
Harne, die kein Chlorat enthielten, zeigten, wenn ich nach dem An¬ 
säuern mit Salpetersäure die Chloride vollständig ausfällte und dann 
filtrierte, keine Trübung, wenn ich nachträglich Lösungen von 
Nitrit und Salpetersäure zusetzte. Es geht hieraus hervor, dass im 
Harn ein Stoff enthalten ist, welcher die reduzierende Wirkung 
der salpetrigen Säure beeinträchtigt, indem er letztere entweder 
reduziert oder, was auch'nicht unmöglich wäre, oxydiert. 

Die oxydierende Kraft des Harnes hat zuerst Schoen- 

6 * 

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Dr. Herrn. Hildebrand, 


bein 1 ) durch einen überzeugenden Versuch illustriert. Setzt man zu frisch 
gelassenem Harn soviel Indigolösung, dass das Gemisch eine deut¬ 
lich grüne Färbung zeigt, so ruft Eisenvitriol eine Farben Ver¬ 
änderung hervor, die durch Zerstörung des Indigo bedingt ist. Das 
Eisenoxydulsalz dient bei seiner leichten Oxydierbarkeit nur als An¬ 
reger für den Austausch des aktiven Sauerstoffs. In einer Lösung 
mit destilliertem Wasser findet in der gleichen Zeit jene Veränderung 
nicht statt. Diese Fähigkeit des Harns ist später von C. Binz 2 3 ) 
und seinen Schülern noch in weiteren Beispielen festgestellt worden, 
jüngst noch durch einen Versuch von P. Schiirhoff 8 ), welcher zeigte, 
dass Ferrosulfat durch Harn zu Ferrisulfat oxydiert wird, das mit 
zugesetztem Rhodanammonium eine tiefrote Färbung gab. In be¬ 
sonderen Versuchen fand nun Schürhoff, dass der Urin, weicher 
einen Zusatz von ungefähr 0,5 pM. Natriumnitrat enthielt, mindestens 
eine doppelt so grosse oxydierende Wirkung ausübte, wie der normale 
Urin. Durch Kochen des Urins ging seine oxydierende Eigenschaft 
nicht verloren. Er nimmt daher an, dass die oxydierende Wirkung 
des Harnes durch die Nitrate der Nahrung bei gleichzeitiger 
Anwesenheit saurer Phosphate hervorgerufen wird; Natriumnitrat 
in neutraler Lösung hatte keinen Einfluss. Dagegen zeigten Versuche 
mit Natriumhydrosulfitlösung, dass die Nitrate in saurer Lösung leicht 
zur Oxydation geneigt sind. Freilich gelang ihm die Schönbeinsche 
Reaktion nicht, wenn er statt Urin eine wässrige Lösung von Nitrat 
bei Gegenwart von saurem Phosphat anwandte. 

Die von Schürhoff als günstig für die oxydierende Wirkung 
angesprochenen Momente sind nun in unserem Falle von vornherein 
gegeben. Beim Einwirken von Salpetersäure auf Natriumnitrit bildet 
sich Nitrat und bei der Oxydation der salpetrigen Säure durch Re¬ 
duktion des Chlorates bildet sich Salpetersäure, so dass die Reaktion 
stets sauer bleibt. Ferner kann die Menge Nitrat bei Verwendung 
von Harn eine grössere sein und sie wird sicher noch bedeutender, 
wenn man im mit Salpetersäure angesäuerten Harne die Chloride mit 
Silbernitrat ausfällt. Gerade in diesem Falle wären also die Be¬ 
dingungen günstig für eine oxydierende Wirkung des Harnes. Man 
könnte in der Tat das von mir festgestellte Vermögen des Harnes, 


1) Journ. f. prakt. Chemie. Bd. 92. S. 171. 1864. 

2) Arch. f. d. gesamte Physiol. Bd. 108. 1905. 

3) Arch. f. d. gesamte Physiol. Bd. 109. S. 93. 1905. 


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Zum Nachweis von Chlorateü im Harn. 


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die Reduktion von Chloraten zu beeinträchtigen, auf die Gegenwart 
von Nitraten in saurer Lösung zurückführen. 

Ich habe einige quantitative Bestimmungen in der Weise aus¬ 
geführt, dass ich in vier Proben die Einwirkung des Nitrits auf 
Chlorat untersuchte; zu den beiden ersten diente normaler Harn 
(Probe I frisch, Probe H nach einstündigem Kochen- und zwar in 
Mengen von je 100 ccm; Probe HI wurde angesetzt mit 100 ccm 
0,1 pCt. CINa-haltigem destillierten Wasser, Probe IV mit reinem 
destillierten Wasser. Zu allen Proben wurde nach dem Ansäuern 
mit Salpetersäure und nach Zusatz von je 0,25 g Kalichloricum 
Silbernitrat gesetzt, bei den Proben I bis III so lange, bis weiterer 
Zusatz auch im Filtrate keine Trübung mehr erzeugte. Nun wurde 
filtriert und in allen Proben je 10 ccm Salpetersäure vom spezifischen 
Gewicht 1,2 und 10 ccm einer lOproz. Natriumnitritlösung zugefügt; 
der Zusatz war absichtlich so gross gewählt, dass die in jeder Probe 
enthaltenen 0,25 g chlorsauren Kalis vollständig reduziert werden 
konnten. Endlich wurden zu jeder Probe noch je 30 ccm Silber¬ 
lösung gefügt, welche Menge zur Bestimmung von je 0,367 g Kalium- 
chlorat ausreichend ist. 

Nach 20 Minuten wmrden alle Proben filtriert und das klare 
Filtrat mit weiteren Mengen von je 10 ccm Salpetersäure und 10 ccm 
10 proz. Natriumnitritlösung versetzt. Die Proben I und H zeigten 
in wenigen Minuten einen deutlichen Niederschlag, Probe III einen 
nur geringfügigen, Probe IV blieb klar. 

In den Proben I und II hatte also die Gegenwart des Urins die 
Reduktion durch die salpetrige Säure erheblich eingeschränkt, in 
Probe HI in geringem Masse die Gegenwart des — aus dem CINa -j- 
AgN0 8 entstandenen — Nitrates in salpetersaurer Lösung, während 
bei Probe IV der Verlauf ein normaler war. 

Die Niederschläge wurden durch aschefreie Filter von der 
Flüssigkeit getrennt und das erhaltene Chlorsilber in bekannter Weise 
gewogen. 

Die Resultate waren: bei Probe I 0,0725 g AgCl = 0,062 C10 3 K 

* n II 0,0740 „ „ = 0,063 „ 

» * HI 0,0065 „ „ = 0,005 „ 

Diese Mengen würden direkt die Grösse der oxydierenden Wirkung 

des Harnes bzw. gewisser Bestandteile angeben. Auf die Menge des 
ursprünglich vorhandenen Chlorats berechnet ergibt sich 24,8 und 
25,2 pCt. in Probe I und II, 2 pCt. in Probe III. Kochen des 


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Dr. Herrn. Hildebrandt, 

Harnes verminderte demnach nicht die oxydierende Wirkung; Zusatz 
von Nitrat in saurer Lösung verhinderte die reduzierende Wirkung 
des Nitrits nur in geringem Grade. Etwas stärker war der hemmende 
Einfluss von Nitrat, wenn ich gleichzeitig etwas Orthophosphor- 
säure zu Beginn der Wechselwirkung von Chlorat und Nitrit zugab. 
Nach dem Abfiltrieren des ausgeschiedenen Chlorsilbers konnte ich 
durch weiteren Zusatz von Nitrit und Salpetersäure noch 0,063 g 
AgCl = 0,054 g C10 3 K nach weisen, eine Menge, welche auf den 
störenden Einfluss von Nitrat und Orthophosphorsäure zu beziehen 
wäre. Es steht nichts im Wege, in diesem Falle eine oxydierende 
Wirkung auf die salpetrige Säure anzunehmen. 

Komplizierter liegen indes die Verhältnisse in dem Falle, wo der 
Harn als solcher zur Wirkung kommt. Es unterliegt keinem Zweifel, 
dass der Harn Stoffe enthält, welche reduzierend auf salpetrige 
Säure einwirken können. Sicher ist ja, dass das salpetrigsaure 
Salz im lebenden Körper teilweise reduziert wird, denn sonst 
könnte es nicht als direktes Oxydationsmittel aufs Blut wirken und 
Methämoglobin erzeugen nach Art des chlorsauren Kalis. Durch die 
Reduktion könnten zunächst sauerstoffärmere N-Verbindungen ent¬ 
stehen, sodann Stickstoff selbst, und endlich Hydroxylamin' und Am¬ 
moniak. Auf die Uebereinstimmung der Nitritvergiftung mit der 
Ammoniakvergiftung in manchen Punkten haben besonders E.Harnack 1 ) 
und Zietzschmann 2 ) unlängst hingewiesen. Andererseits ist durch 
die Untersuchungen Rohm an ns 8 ) festgestellt, dass die salpetrige 
Säure des Nitrits fast vollständig im Körper verschwindet, was die 
genannten Autoren bestätigten. Nebenbei erfahren übrigens gewisse 
Mengen eine Oxydation zu Nitrat im lebenden Organismus. Nun 
ist kaum anzunehmen, dass die Nitrite dem Harne gegenüber sich 
genau ebenso verhalten müssten. Würden sie durch Harn oxydiert, 
so wäre ihr Nachweis im Harne eines mit Nitrit Vergifteten kaum 
möglich. Dagegen spricht manches dafür, dass Nitrite durch den 
Harn eine Reduktion erfahren können. Millon 4 ) hat gezeigt, dass 
Harnstoff in der Wärme auf Nitrit zerstörend einwirkt: 

C °\NH + N2 ° 3 = C ° 2 + 2 Ns + 2 H * 0 ' 

1) Archives internat. de pharmacodyn. Bd. 13. S. 185. 1904. 

2) Zietzschmann, Inaug.*Diss. Halle 1903. 

3) Zeitschr. f. pysiolog. Chemie. Bd. V. S. 233. 1S81. 

4) Annal. Chemie n. Pharm. 8. 6. 37. 


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Zum Nachweis von Chloraten im Harn. 


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Piccini 1 ) beobachtete, dass diese Reaktion beim Ansäuern mit 
Schwefelsäure schon in der Kälte vor sich geht. Nach den mole¬ 
kularen Verhältnissen können 0,6 g Harnstoff 1,38 g Natriumnitrit 
reduzieren. Mit Rücksicht hierauf habe ich eine Versuchsreihe an¬ 
gestellt, durch welche diese Verhältnisse aufgeklärt werden sollten: 

Probe I: 0,6 g Harnstoff -|- 0,25 g Kali chlor, -j- 1,38 g NOoNa-f- 
Salpetersäure in 100 ccm destilliertem Wasser, 

„ II: 0,25 g Kali chloricum -(- 1,38 g N0 2 Na -f- Salpetersäure 
in 100 ccm destilliertem Wasser, 

n III: 0,25 g Kali chloricum + 1,0 g N0 2 Na -J- verd. Schwefel¬ 
säure in 100 ccm destilliertem Wasser, 

„ IV: 30 ccm frischer Harn -f- 0,25 g Kali chloricum -j- 1,0 g 
N0 2 Na -|- verd. Schwefelsäure in 100 ccm destill. Wasser, 
„ V: 30 ccm frischer Harn -{- 1,0 g N0 2 Na -(- verd. Schwefel¬ 
säure in 100 ccm destilliertem Wasser. 

Bei den Proben I und II wurde nach 20 Minuten mit Silber¬ 
lösung gefällt, bis kein Niederschlag mehr eintrat; es zeigte sich 
dabei, dass während Probe II noch intensiv nach salpetriger Säure 
roch, Probe I nur wenig roch. Es wurde nun filtriert, das Filtrat 
gab mit Silberlösung keinen Niederschlag. Auf Zusatz von Nitrit fiel 
in Probe I ein erheblicher Niederschlag, der auf aschefreiem Filter 
gesammelt und zur gewichtsanalytischen Bestimmung verarbeitet wurde. 
Es ergaben sich 0,128 g AgCl = 0,106 g C10 3 K. Dies ist also die¬ 
jenige Menge Chlorsäure, welche nicht reduziert wurde; die Zugabe 
von Harnstoff hat demnach die Reaktion zwischen Chlorat und 
Nitrit durch teilweise Reduktion des letzteren gestört; hiernach 
ist der Harnstoff als einer der Faktoren im Harn zu betrachten, 
welche nicht durch Oxydation, sondern durch Reduktion des 
Nitrites störend wirken bei der Reaktion von Chlorat mit Nitrit. 

Frobe „V u wurde in der Absicht angestellt, zu ermitteln, ob 
frischer Harn zugesetztes Nitrit in nachweisbarer Menge oxydiert. 
Nachdem Harn und Nitrit 20 Min. in Mischung gestanden hatten, 
wurde mit Schwefelsäure angesäuert, nochmals 20 Min. gewartet und 
nun unter Zusatz von Essigsäure auf dem Wasserbade eingedampft; 
der Zusatz von Essigsäure wurde einige Male wiederholt. Die 
Essigsäure bewirkt, dass sich die salpetrige Säure verflüchtigt 2 ), 
während die Salpetersäure zurückbleibt. Die schliesslich nach diesem 

1) Annal. der Chemie. 19. S. 354. 1880. 

2) v. Miller u. Kiliani, Handb. d. analyt. Untersuchungen. 1891. S. 325. 

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Dr. Herrn. Hildebrandt, 

Verfahren erhaltene Lösung hat eine gelbliche Färbung und eignet 
sich zum Nachweis von Salpetersäure mittels der Jodkali-Stärke - 
kleister-Probe. Bleibt diese ungefärbt, so ist kein ISitrit vorhanden; 
tritt aber nach der Reduktion mit metallischem Zink Bläuung ein, 
so war Nitrat vorhanden, das durch Zink in Nitrit verwandelt wurde. 
Der Versuch ergab, dass weder Nitrit noch Nitrat nachweisbar war. 
Das zum Harn zugesetzte Nitrit wäre demnach nicht zu Nitrat oxydiert 
worden unter dem Einfluss des Harnes. Vielmehr würde hier eine 
Reduktion desNitrits analog der Wirkung des Harnstoffes anzunehmen sein. 

Probe „IV“ hatte einen Zusatz von Chlorat erhalten, um fest¬ 
zustellen, ob die Intensität der hemmenden Wirkung des Harnes so 
intensiv ist, dass das Nitrit- überhaupt nicht mehr das Chlorat zu 
reduzieren vermag. Fand diese Wechselwirkung trotz Gegenwart von 
Harn statt, so musste in der Probe nach dem eben besprochenen 
Verfahren Nitrat’ nachweisbar sein. Das Ergebnis war ein völlig 
negatives. Man müsste sich also vorstellen, dass bei gleichzeitiger 
Anwesenheit von Chlorat und einer nicht zu grossen Menge Nitrit 
letzteres so schnell durch den Harn verändert wird, dass der Sauer¬ 
stoffaustausch zwischen Chlorat und Nitrit überhaupt nicht stattfinden 
könne. Dieser Schluss hat sich als hinfällig erwiesen. Wie nämlich 
das Resultat von Probe III zeigt, sind zwar die bei der Wechselwirkung 
von Chlorat und Nitrit entstehenden Mengen Salpetersäure deutlich 
nachweisbar: Beim Zufügen von metallischem Zink zur Lösung in 
Gegenwart von Jodkali-haltigem Stärkekleister trat tief dunkelblaue 
Färbung ein. Als ich jedoch die Reaktion unter Zusatz eines Teiles 
der in Probe V erhaltenen Lösung austellte, war das Resultat eben¬ 
falls ein negatives. Der in der angegebenen Weise behandelte Ham 
enthält eben Stoffe, welche die Probe mit Stärkekleister nicht zustande 
kommen lassen. Es kann demnach nicht mit Sicherheit aus¬ 
geschlossen werden, dass der Harn die Eigenschaft hat, Nitrite 
•zu Nitraten zu oxydieren. Immerhin spricht die Tatsache, dass 
der Harnstoff auf Nitrite reduzierend wirkte, dafür, dass es sich bei 
dem störenden Einfluss des Harnes auf die Reaktion zwischen Chlorat 
und Nitrit im wesentlichen um einen Reduktionsvorgang handelt. 

In der Praxis würde sich also unter Berücksichtigung dieser 
Verhältnisse der Nachweis von Chloraten im Harne derart gestalten, 
dass man eine abgemessene Menge des verdächtigen Harnes nach dem 
Ansäuern mit Salpetersäure so lange mit Silberlösung versetzt, bis 
man ein klares Filtrat erhält, darauf setzt man die zur Reduktion 


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Zum Nachweis von Chloraten im Harn. 


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erforderlichen Reagentien 1 ) so wie Silberlösung so lange zu, bis kein 
Niederschlag mehr entsteht. Die auf einem aschenfreien Filter ge¬ 
sammelte Menge Chlorsilber wird in bekannter Weise gewichtsanalytisch 
bestimmt. Aus der grösseren oder geringeren Menge des nach der 
Reduktion erhaltenen Chlorsilber-Niederschlages wird man schon während 
der Operation einen Anhaltspunkt gewinnen können, ob grosse Mengen 
Chlorates vorhanden sind. 

Wollte man nach abgeschlossener Reduktion auf titrimetrischem 
Wege die Chloride bestimmen, so müsste man natürlich erst das 
mit dem Chlor in Verbindung getretene Silber fortschaffen, was immer¬ 
hin umständlich wäre; würde man das Verfahren der feuchten Ver¬ 
aschung wählen, so würden auch . diejenigen Chlormengen über¬ 
destillieren, welche dem organisch gebundenen Anteile entstammen. 
Ich habe festgestellt, dass das nach der Reduktion durch die Silber¬ 
fällung gewonnene Filtrat beim Erhitzen mit dem Säuregemische 
(Schwefelsäure und Salpetersäure) noch gewisse Mengen Chlorwasser¬ 
stoffsäure übergehen lässt, die nach einigen von mir angestellten Ver¬ 
suchen an mit Chloraten vergifteten Hunden beträchtlicher sind als beim 
normalen Tiere. Es soll damit jedoch nicht gesagt sein, dass in dieser 
Weise sichraitSicherheit alles organisch-gebundeneChlornachweisen lasse. 

Ich habe schon oben angegeben, dass normale Harne, wenn man 
sie nach dem Zusatze von Salpetersäure mit Silberlösung vollständig 
ausfällt, ein Filtrat geben, das auf Zusatz des Reduktionsmittels keine 
Fällung mit Silberlösung gibt, was beweist, dass sie keine ähnlich 
den Chloraten redüzierbare Verbindungen enthalten. Es war indes 
nicht unmöglich, dass unter Umständen solche Verbindungen auftreten 
könnten; E. Harnack und J. Gründler 2 ) haben die Beobachtung 
gemacht, dass nach Darreichung von Jodoform beim Menschen und 
Kaninchen bisweilen in nicht unbeträchtlicher Menge jodsaure Salze 
sich im Harn nachweisen Hessen, wobei anzunehmen ist, dass das 
Jodalkali eine Oxydation erlitten hat, während für gewöhnlich das 
in den Körper eingeführte jodsaure Salz eine Reduktion zu JodalkaH 
erfahren soll (Binz). Dies gab mir Veranlassung in einem Versuche 
am Hunde festzustellen, ob nach Darreichung des entsprechenden 
Chloroform etw r a im Harne Chlorate auftreten können. Nach sub¬ 
kutaner Injektion von 20 ccm Cloroform habe ich im Harne keine 
Spur Chlorat nachweisen können. 

1) Diese müssen natürlich chlorfrei sein! 

2) Berl. klin. Wochenschr. 1883. No. 47. 


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6 . 


Aus der Unterrichtsanstalt für Staatsarzneikunde zu Berlin. 
(Direktor: Geheimrat Prof. Dr. Strassmann.) 

Zur Permeabilität der Leichenhaut für Gifte. 

1. Sublimat. 

Von 

Dr. P. Fraenckel, Assistenten der Anstalt. 

Auf die Frage, ob und wieviel Sublimat aus Lösungen durch die 
Haut in eine Leiche einwandem kann, geben die gebräuchlichen Lehr¬ 
werke und, soviel sich feststellen liess, auch die Literatur keine 
Antwort. Das ist erklärlich, denn einerseits schliesst die Kenntnis 
der Durchgängigkeitverhältnisse der Haut für gelöste Stoffe schon 
ziemlich die Möglichkeit eines solchen Eindringens aus, andererseits 
dürften die Fälle, die die gestellte Frage nahelegen, im Ganzen selten 
sein. Die lebende unversehrte Haut hat ja bekanntlich ein sehr ge¬ 
ringes Resorptionsvermögen für wassergelöste Stoffe, die nicht unter 
einem gewissen Drucke auf sie gebracht werden, wie es bei der Ver¬ 
reibung, der Einstäubung mittels Sprayapparates, in gewissem Sinne 
auch bei der Kataphorese der Fall ist. Es ist nach heutigen Kennt¬ 
nissen nicht anzunehmen, dass aus dem Badewasser Stoffe ohne kerato- 
lvtische Eigenschaften überhaupt auf dem perkutanen Wege zur Re¬ 
sorption gelangen 1 ). 

Die Verhältnisse, die diese schwere Durchdringbarkeit der Haut 
amLebenden bewirken, sind die Beschaffenheit der Hornschicht, die fettige 
Auskleidung der Hautporen und vielleicht auch, wie I. Munk 2 ) erwähnt, 
der positive Druck, unter dem das Sekret der Drüsen abgeschieden 
und von innen nach aussen fortbewegt wird, und der dem Aufsteigen 

1) J. Glax, Balneotherapie, Stuttgart, F. Enke, 1906. 

2) J. Munk, Physiologie d. Menschen u. d. Säugetiere. 4. Aufl. 1897. S. 207. 


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Zar Permeabilität der Leichenbaut für Gifte. 


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der Flüssigkeit entgegenwirkt. Wenn dieses letzte Moment in der 
Leiche auch nicht in Betracht kommt, so genügen doch die beiden 
ersten, die unverändert auch nach dem Tode fortbestehen, um eine 
Wanderung eines im Wasser gelösten Giftes überhaupt durch die Haut 
recht unwahrscheinlich zu machen. Dazu kommt für das Sublimat 
im besonderen seine eiweisskoagulierende Wirkung, die sich durch die 
Härtung und Schrumpfung des toten Gewebes kund tut und eine neue 
Erschwerung für osmotische Vorgänge darstellt. Andererseits aber ist 
von vornherein nicht entscheidbar, ob eine längere Berührung einer 
ätzenden Lösung mit der Haut, wie sie an der Leiche möglich ist, nicht 
auch einen die Einwanderung begünstigenden Einfluss haben kann; ferner, 
ob die Erweichung der Haut durch Fäulnis in diesem Sinne wirkt. 

Würde durch solche Umstände die Haut durchgängig, so könnte 
allerdings an die Möglichkeit gedacht werden, dass bei der nachge¬ 
wiesenen leichten Diffundierbarkeit des Sublimats in den inneren Weich¬ 
teilen 1 ), Quecksilber in weiterer Verbreitung in der Leiche sich finden, 
und, wenn auch kaum den Verdacht einer Vergiftung, doch Zweifel 
an seiner Herkunft auslösen könnte. 

Die Gelegenheit zu solchem postmortalen Eindringen von Sublimat 
kann vor allem durch Desinfektion der Leiche gegeben werden, von 
Hoffmann-Kolisko 2 3 * ) weisen daraufhin, dass hierbei die Desinfizientien 
in die Schling- und Respirationswege und von da durch nachträgliche 
Imbibition tiefer hineingelangen können. Etwas Aehnliches machte 
der Angeklagte in dem Falle geltend, der den Anlass zu den nach¬ 
stehenden Untersuchungen gegeben hat und der vielleicht interessant 
genug ist, hier kurz erwähnt zu werden 8 ). 

Es handelt sich am einen Arzt in B., der des Gattenmordes angeklagt war, 
weil in der exhumierten Leiche seiner Fran grosse Meegen Sublimat aufgefunden 
wurden. Die Hauptmenge fand sioh im Magen, wenig in Darm, Leber und Nieren; 
nichts in Gehirn, Knochen und Muskeln. Dagegen wurde auch in den ober¬ 
flächlichen Hautschichten und in dem Leichenlaken Quecksilber konstatiert. Die 
Frau war monatelang an Symptomen eines Magengeschwürs mit Oedemen und 
Nephritis von 4 Aerzten behandelt worden, ohne dass Anzeichen einer Sublimat¬ 
vergiftung bemerkt wurden. Im Anschluss an einen Abort im 4. Monat wurde dann 
der Uterus mit Sublimat ausgespült, und hierdurch entwickelte sich eine Stomatitis. 


1) Strassmann, Zeitschr. f. Medizinalbeamte. 1893. — Haberda und 
Wachbolz, Ibidem. 

2) v. Hofmann-Kolisko, Lehrb. d. gerichtl. Med. S. 665. 1903. Anm. 

3) Die Kenntnis von diesem Falle verdanke ich einer von Herrn Geh.-Kat 

Strassmann mir gütigst überlassenen brieflichen Mitteilung. 


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92 


Dr. P. Fraenckel, 


12 Stunden vor dem Tode war die Frau jedooh ziemlich wohl, es bestanden 
weder Stomatitis, noch Enteritis, noch stärkere Magenschmerzen. Der Tod trat 
plötzlich unter dyspnoischen Erscheinungen ein. Die Obduktion ergab weder 
Stomatitis, noch Veränderungen der Darmschleimhaut, nur einige grössere Ek- 
chymosen in der Tiefe der Magenschleimhaut und ein oberflächliches Geschwür mit 
Verdickung der Ränder nnd des Grundes unterhalb der Kardia, in der die histo¬ 
logische Untersuchung Granulationsgebilde und sklerotische Geiasse erkennen liess. 
An den Nieren konnte infolge der Verwesung am Parenchym nichts mehr erkannt 
werden. Kalkinfarkte waren ebenfalls nicht vorhanden, wohl aber die Zeichen 
einer chronischen interstitiellen Nephritis. 

Die Sachverständigen waren teils für zweifellose superakute Sublimat¬ 
vergiftung, teils für ein non liquet. 

Wenn auch bei der skizzierten Sachlage in diesem Falle keine 
Zweifel möglich waren, dass eine Einwanderung aus dem Laken durch 
die Haut nicht allein an dem Befunde beteiligt sein konnte, so er¬ 
schien es immerhin von Interesse, da ähnliche Fragen doch hier oder 
dort auftauchen könnten, der Sache experimentell näher zu treten. 

Zu den Untersuchungen verwendete ich aus äusseren Gründen 
Kinderleichen und zwar von Neugeborenen. Um die Verhältnisse der 
Haut denen Erwachsenen ähnlich zu machen, wurde sie durch vor¬ 
sichtiges Abreiben mit Aether möglichst von den Vernixresten befreit. 
Dann legte ich die Leichen in ein mehrfach zusammengeschlagenes 
Laken, das mit 5 prom. Sublimatlösung aus Angererschen Pastillen 
stark durchtränkt war, und das der Haut des Rumpfes und der Glied¬ 
massen dicht auflag. Hierin blieben die Leichen verschieden lange Zeit, 
bis zu 8 Tagen liegen, während der die Verdunstung der Lösung durch 
Abschluss in einem Blechkasten oder durch nachträgliches Wieder- 
anfeuchten des Lakens verhindert wurde. Kleine Traumen wurden ge¬ 
setzt, um die schützende Kraft der verschiedenen Schichten zu prüfen. 

Die Haut wurde zunächst von der anhaftenden Sublimatlösung 
gereinigt, dann mit dem Unterhautbindegewebe in grossen Lappen 
abgelöst und darauf in kleine und kleinste Stückchen zerschnitten. 
Eine kleine Menge davon wurde bei 105° C getrocknet, von dem aus- 
geschmolzenen Fett befreit und zur vorläufigen Prüfung auf Quecksilber 
mit trockener Soda im Glühröhrchen erhitzt. Es sei gleich bemerkt, 
dass diese Probe wiederholt negativ ausfiel, obwohl die folgende 
Untersuchung nach Zerstörung der organischen Substanz Hg nachwies. 
Es erklärt sich dies daraus, dass sich ohne Aetherextraktion, die 
wegen der Löslichkeit des Sublimats im Aether nicht anwendbar war, 
das Fett nicht völlig entfernen lässt. Die von den entstehenden 


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Zur Permeabilität der Leichenhaut für Gifte. 


93 


Dämpfen mit hochgerissenen Fettröpfchen beschmieren und erhitzen 
dann die Wand des Glasrohres, und verhindern dadurch die Kristallisation 
des sublimierten Quecksilbers. Auch durch starke Verlängerung des 
Rohres ist es mir nicht immer gelungen, diesem Uebelstande zu be¬ 
gegnen. Aus diesem Grunde wurde auch bei negativer Vorprobe 
regelmässig die Isolierung des Quecksilbers versucht. 

Die Zerstörung der organischen Substanz geschah nach der gewöhnlichen 
Fresenius- und Baboschen Methode mit Kaliumchlorat und Salzsäure. Nach 
dem Verdampfen der überschüssigen Salzsäure, Ansäuern mit verdünnter Schwefel¬ 
säure und Erkaltenlassen wurde filtriert und das Filtrat in gewohnter Weise mit 
H 2 S gesättigt. Nach 24 Stunden wurde die stark nach H 2 S riechende Flüssigkeit 
vom Niederschlag getrennt, dieser zur Entfernung etwaigen aus dem Schwefeleisen 
herrührenden Arsens auf dem Filter mit einer heissen Mischung aus Ammoniak 
und gelbem Schwefelammonium behandelt, und darauf der bleibende Rest wieder¬ 
holt mit einigen Kubikzentimetern heisser Salpetersäure (33 Volumprozent) über¬ 
gossen. Der nun bleibende Rückstand wurde mit heisser, zu y 2 —y 3 verdünnter 
Salzsäure und etwas Kaliumchlorat behandelt, das Filtrat in einer kleinen Por¬ 
zellankapsel auf dem Wasserbade zur Trockene eingedampft, der Rückstand mit 
3ccm salzsäurehaltigem Wasser aufgonommen, abfiltriert und mit Zinnchlorürlösung 
und Kupferplatte auf Quecksilber untersucht. 

Auf diese Weise erhielt ich nachstehende Resultate: 

I. Frische Kindesleiche, 48 Stunden in dem Sublimatlaken auf¬ 
gehoben. Die Brust- und Bauchhaut war unversehrt gelassen, die 
Rückenhaut teils oberflächlich geschunden (des Epithels beraubt), teils 
bis in die Unterhaut durchschnitten worden. 

Von der unversehrten Haut werden zwei Lappen gebildet, die 
frisch 23,0 bezw. 18 g wiegen, der erstere wird so wie er ist, der 
zweite nach Abtragung der oberen Epithelschichten mit einem Rasier¬ 
messer verarbeitet. Aus dem ersten bildet sich ein mässiger, aber 
deutlicher schwarzer Niederschlag mit H 2 S und die Endreaktionen 
sind stark positiv; aus dem zweiten wird nur ein grauer, zum grössten 
Teil aus Schwefel bestehender Niederschlag erhalten, das letzte Filtrat 
gibt mit Zinnchlorürlösung eine Spur Trübung, auf dem Kupferblech 
hinterlässt es einen ganz schwachen grauen Fleck, der beim Reiben 
glänzend wird. — 

In der Rückenhaut, soweit sie die Einschnitte zeigte, — 23 g 
frisch —, fanden sich sehr grosse Mengen von Quecksilber; in der nur 
geschundenen, die durch einen ca. 10 cm breiten Streifen gesunder 
Haut von den Einschnitten getrennt war, — 40 g frisch — nur ge¬ 
ringe Spuren. 

II. Die 24 Stunden alte Leiche bleibt 8 Tage in dem sublimat- 


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Dr. P. Fraenckel, 

getränkten Laken. Sie ist am Ende dieser Zeit etwas faul, die Haut 
stellenweise blasig abgehoben. Aus der noch gut erhaltenen Rücken¬ 
haut wird ein 45 g schwerer Lappen zur Untersuchung verwendet. 
Er wird vollständig von den obersten Epithelschichten entblösst. So¬ 
wohl die Vorprobe wie die genaue qualitative Untersuchung fallen 

negativ aus. 

III. Die IV 2 Tage alte Leiche wird 4 X 24 Stunden im Sub¬ 

limattuche gelassen. Dann wie in I die Haut zum Teil des obersten 
Epithels entblösst, zum Teil einfach abgetrocknet und untersucht. 

Die Teile ohne Stratum corneum lassen wiederum weder in der 
Vorprobe, noch bei der Hauptuntersuchung eine sichere Quecksilber¬ 
reaktion auftreten. Dagegen geben die abgeschabten Epithelfetzchen 
bei der Erhitzung im Glühröhrchen die charakteristischen Queck¬ 

silbertröpfchen. — In der unversehrten Haut fiel die Vorprobe eben¬ 
falls negativ aus; die Hauptprobe ergab aber deutliche Reaktionen 
mit Zinnchlorür und Kupferplatte. 

IV. Die ca. 3 Tage alte Leiche blieb 4 X 24 Stunden im Sub¬ 
limattuche. Die ganze Rumpfhaut wird verarbeitet: Spärliche, aber 
deutliche Quecksilbermengen. Muskeln (Pectoralis und Latissimus): 
absolut negatives Resultat. 

V. Zum letzten Versuche wurde angesichts der stets so spärlichen 
Ausbeute das Laken statt mit 0,5 proz. mit 1 proz. Sublimatlösung 
getränkt. Das Resultat, nach 4 X 24 Stunden, war jedoch ähnlich 
den bisherigen: deutliche, aber nur mässig starke Hg-Reaktionen in 
den mit dem ganzen Epithel versehenen Hautstücken, schwache An¬ 
deutung einer Reaktion in den geschundenen. 

Nach diesem ziemlich gleichmässigen Ausfall der Versuche kann 
also von einem tieferen Eindringen des Sublimats durch die Haut 
keine Rede sein. In der abgetrockneten Haut scheint das Sublimat 
nur in den obersten Epithelschichten regelmässig nachweisbar zu sein; 
es liegt nahe, anzunehmen, dass es hauptsächlich in den Drüsen¬ 
ausführungsgängen abgelagert ist. Ein weiteres Vordringen war nicht 
zu beobachten. Das gelegentliche Vorkommen von Spuren Queck¬ 
silbers in dem Stratum mucosum dürfte zum Teil auch noch auf un¬ 
vollständiger Ablösung des Stratum corneum beruhen. Dass dann 
auch in den zunächst liegenden Muskeln kein Quecksilber nachweisbar 
sein würde, war nach diesem Befunde vorauszusehen, wurde aber der 
Vollständigkeit wegen dennoch durch Untersuchung festgcstellt. Sobald 
die das Eindringen des Sublimats verhindernde tiefe Epithelschicht 


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Zur Permeabilität der Leichenhaut für Gifte. 


95 


aber durchtrennt ist, findet, wie der erste Versuch zeigt, eine reich¬ 
liche Imbibition mit Sublimatlösung statt. 

Einer Uebertragung dieser Ergebnisse auf die Leichen Erwach¬ 
sener steht, meiner Meinung nach, nichts im Wege. 

Das Ergebnis der Untersuchung für die gerichtliche Medizin wäre 
demnach, dass die Einwanderung von Sublimat durch die unversehrte 
Haut der Leiche nicht in Betracht kommt, wenn bei sonst günstigen 
äusseren Umständen, wie langer Berührung der Leiche mit stark sub¬ 
limathaltigen Gegenständen, Quecksilber in den tieferen Schichten der 
Haut in irgendwie grösserer Menge nachgewiesen wird. Es ist dann 
eine andere Art des Eindringens — Injektion, Diffusion u. s. w. — 
mit höchster Wahrscheinlichkeit anzunehmen. Die von ausssen rein 
mechanische erfolgende Imbibition bleibt, wenigstens nach diesen Ver¬ 
suchen, auf die allerobersten Epithelschichten beschränkt. 


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I. 

Aus dem geriehtlich-medizinischen Institute der K. K. Jag. 

Univ. in Krakau. 

Experimentelle Beiträge zur Lehre vom 
Ertrinkungstod. 

Von 

Prof. Dr. L. Wachholz. 

In der mit Horoszkiewicz gemeinschaftlich verfassten Arbeit (1) 
hatten wir auf Grund von 53 auf verschiedene Weise ausgeführten 
Tierversuchen dargetan, dass der Schluss von Hofmanns, die Er- 
tränkungsflüssigkeit gelange in die Lungen der Ertrinkenden während 
der Terminalatembew r egungen dahin geändert werden muss, dass dieses 
Einatmen der Flüssigkeit zum grössten Teil bereits schon früher und 
zwar im Stadium der Dyspnoe, oder wie dies Brouardel zuerst genau 
bewies, im Stadium der tiefen Atmung stattfindet. Die Ergebnisse 
unserer Untersuchungen wurden jüngst durch Margulies in zwei 
Aufsätzen angefochten. 

In dem ersten Aufsatze (2), in welchem Margulies die Aussicht 
auf Wiederbelebung von Ertrinkenden bespricht, gelangt er zu diesem 
Schlüsse, diese Aussichten seien deswegen günstig, da man es für 
erwiesen betrachten muss, dass die Ertränkungsflüssigkeit erst mit 
den terminalen Atembewegungen in die Lungen eindringe. Hierbei 
erwähnt er die entgegengesetzte Meinung Brouardels, der wir uns 
auf Grund unserer experimentellen Erfahrung anschliessen mussten, 
und meint, die Ergebnisse unserer Versuche vermögen an der Be¬ 
hauptung v. Hofmanns nichts zu ändern, da eben unsere Versuche 
„nach dem Vorbild von Brouardel an tracheotomierten Tieren“ unter¬ 
nommen worden waren. Dadurch muss uns der Vorwurf nicht erspart 
bleiben, dass bei dieser unserer Versuchsanordnung der Schluck- 


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Experimentelle Beiträge zur Lebre vom Ertrinkungstod. 


97 


raechanisraus ausgeschaltet war, welcher „nach v. Hofmann doch 
gerade während des Stadiums der Dyspnoe eine bedeutende Rolle 
spielt, da er nach Verlauf dieser Phase keine oder nur wenig Er- 
tränkungsflüssigkeit in den Lungen, wohl aber bereits im Magen 
nachweisen konnte.“ Manche andere Einwände gegen unsere Aus¬ 
führungen behielt er sich vor, da er aus Mangel an verfügbarem Platz 
„das gefährliche Gebiet der Polemik hier nicht zu betreten“ wagte. 

Dies Gebiet betritt Margulies in seiner zweiten Abhandlung(3), 
wobei er wieder das Endziel seiner Ausführungen genau andeutet. 
Es handelt sich ihm nämlich um den theoretischen Nachweis, dass die 
Aussichten auf Wiederbelebung von Ertränkten sich günstig darstellen, 
und zwar desto günstiger, je später die Ertränkungsflüssigkeit in die 
Lungen einlaufe. Bei diesem Sachverhalt ist für Margulies die Be¬ 
hauptung v. Hof man ns die alleinig günstige. 

Nach einer sehr zutreffenden neu von Margulies vorgeschlagenen 
Einteilung der Ertrinkungssymptome in zwei Hauptphasen, die der 
Abwehr und jene der Wehrlosigkeit, meint er, dass je mehr und je 
früher eins der von ihm erwähnten Abwehrmittel in seiner Wirkung 
beeinträchtigt oder gänzlich aufgehoben wird, um so früher und in 
um so grösserer Menge die Flüssigkeit in die Lungen eindringen wird. 
Zu diesen Abwehrmitteln zählt Margulies in erster Reihe den 
Schluckmechanismus, der „seines Wissens,“ und zwar trotzdem er 
schon in seiner ersten Abhandlung in dieser Hinsicht die Ansicht 
v. Hofmanns geltend machte, bis jetzt unberücksichtigt blieb. Da 
durch das von Brouardel und nachher von uns eingeschlagene Ver¬ 
suchsverfahren die Abwehrmittel und besonders der Schluckmechanismus 
ausgeschaltet waren, so ist schon darin die genügende Erklärung ge¬ 
geben, warum unsere Versuchstiere in einem früheren Stadium d. i. 
in dem Stadium der Dyspnoe das Wasser in ihre Lungen einatmeten. 

Um sich nun davon zu überzeugen, welche von den divergierenden 
Behauptungen, die v. Hofmanns, oder jene Brouardels, meine 
und Horoszkiewicz’, die wahrheitsgemässe ist, führte er Versuche 
an 4 Kaninchen von gleichem Wurf in dieser Weise aus, dass er sie 
mit einem 2 kg schweren Gewicht an den Hinterläufen beschwerte, 
sodann sie in ein mit Wasser gefülltes Bassin versenkte. Drei dieser 
Kaninchen hat er nach mehreren terminalen Atembewegungen schnell 
aus dem Wasser gezogen, das vierte aber unmittelbar nach einer 
solchen Atembewegung. Zunächst hat er ihnen die Luftröhre bloss¬ 
gelegt und unterbunden, dann ihre Lungen herauspräpariert und das 

Vierteljahrssehrift f. ger. Med. n. öff. San.-Weseo. 3. Folge. XXXII. 1. q 


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Dr. L. Wachholz, 


Gewicht und Volumen letzterer genau ermittelt. Da das Gewicht 
dieser Lungen der Summe von normalem Lungengewicht und vom 
Gewicht des in dieselben eingedrungenen Wassers entspricht, so 
musste er zuvor das Gewicht des normalen Lungengewebes ermitteln, 
um darnach das Gewicht des in die Lungen eingelaufenen Wassers 
berechnen zu können. Er fand nun, dass auf 1 kg Körpergewicht 
bei Kaninchen 5,978 g Lungengewicht kommen. Zieht man nun von 
dem gefundenen Wert des Lungengewichts eines ertränkten Kaninchens 
das im Verhältnis zu seiner Körperschwere bestimmte Gewicht seines 
Lungengewebes ab, so erübrigt das Gewicht der darin enthaltenen 
Ertränkungsflüssigkeit. Die Ergebnisse seiner 4 Versuche stellten 
sich dar: 


No. des 
Versuchs 

Gewicht 

der 

Tiere in 

e 

Geschlecht 

Herausgez 

Mi¬ 

nuten 

iogen nach 

terminalen 

Atembe¬ 

wegungen 

Lungen¬ 
gewicht 
in g 

Gewicht 

des 

Wassers in 
denLungen 
in g 

Gewicht des 
Wassers in 
den Lungen 
pro kg Körper¬ 
gewicht 

i 

2047 

männlich 

31/4 

6 

41 

29 

14,5 

2 

2020 


3 Vs 

7 

43 

31 

15,5 

3 

2400 

weiblich 

3 

9 

46 

31,5 

13,1 

4 

2565 


2 

1 

24 

9 

3,6 


Diese Versuche legen nun, laut Margulies, ein beredtes Zeugnis 
darüber ab, dass die Ertränkungsflüssigkeit nur mit den terminalen 
Atembewegungen in die Lungen der Ertrinkenden hineingelangt. Um 
dem etwaigen Vorwurf vorzubeugen, diese Versuchstiere hätten noch 
früher d. i. im Stadium der Dyspnoe Wasser eingeatmet, das aber 
in den Lungen resorbiert worden war, bemühte er sich noch in vier 
weiteren Versuchen festzustellen, wieviel Wasser überhaupt in die 
Kaninchenlungen hineingelangt, wieviel davon in den Lungen zurück¬ 
bleibt und wieviel resorbiert wird. Diese an vier Kaninchen unter¬ 
nommenen Versuche musste er trotz seiner früher schon erwähnten 
Einwände, an zuvor tracheotomierten Tieren modo Brouardel aus¬ 
führen. Dabei wurden die Tiere, deren Trachealkanüle mit einem 
Wasserbehälter verbunden war, im Gegensatz zu unseren (laut 
Margulies) Versuchen in einem mit Wasser gefüllten Bassin ver¬ 
senkt, wobei ausserdem wieder im Gegensatz zu unserer Versuchs¬ 
anordnung das Wasserniveau im Bassin dem des Wasserbehälters 
gleich war. Diese Versuche lehrten ihn, dass die in den Lungen re¬ 
sorbierte Wassermenge 5—7,1 ccm für 1 kg Körpergewicht betrug. 


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Experimentelle Beiträge zur Lehre vom Ertrinkungstod. 


99 


Da aber die Tiere bei dieser Versuchsanordnung angesichts des aus¬ 
geschalteten Schluckmechanismus mehr Wasser in ihre Lungen ein- 
atmen mussten, als wenn sie in natürlicher Weise ertränkt worden 
wären, so muss bei natürlichem Ertränken die Menge des in die 
Lungen aufgenommenen Wassers noch geringer ausfallen und dieser 
Umstand bildet laut Margulies den letzten Beweis für die Richtig¬ 
keit der Behauptung v. Hofmanns, dass das Ertränkungswasser in 
die Lungen erst mit den terminalen Atembewegungen hineinbefördert, 
wird. So Margulies. 

Diese gegen unsere Versuche erhobenen Einwände erscheinen 
vollkommen gerechtfertigt, leider aber nur auf den ersten Blick, wenn 
man sich noch dazu unseren Untersuchungsgang nicht genau ver¬ 
gegenwärtigt. In den schon erwähnten Auseinandersetzungen Mar¬ 
gulies’ taucht in der Art eines Leitmotivs besonders ein gegen uns 
erhobener Einwand, welchen einst Strassmann mit vollstem Recht 
der Versuchsanordnung Brouardels entgegenbrachte. Dieser Ein¬ 
wand war uns wohl bekannt und deswegen wollten ich und Horosz- 
kiewicz uns experimentell von seiner praktischen Richtigkeit in 
unserer HI. Versuchsgruppe überzeugen. Unterdessen hören wir jetzt 
seitens Margulies denselben Vorwurf, indem er alle unsere Versuche, 
was ihre Ausführungsart anlangt, mit denen Brouardels identifiziert. 
Damit beweist aber Margulies, dass er entweder unsere Arbeit nur 
nach einem minder gelungenen Referate beurteilt, oder beim Verfassen 
seiner zwei erwähnten Mitteilungen den Inhalt unserer Arbeit zum 
grössten Teil schon vergessen hatte. 

Ich hatte mit Horoszkiewicz unsere Versuche, die in vier 
Reihen eingeleitet wurden, auf verschiedene Weise ausgeführt. Indem 
wir nun nachweisen wollten, welche von den divergierenden Ansichten, 
die von v. Hofmann oder jene von Brouardel zutreffend sei, hatten 
wir einen Teil unserer Versuche nach der Versuchsmethode v. Hof¬ 
manns, den anderen nach der Methode Brouardels unternommen. 
Unsere erste Versuchsreihe besteht aus 12 an Katzen und Hunden 
nach v. Hofmanns Vorgehen ausgeführten Versuchen, wodurch diese 
Tiere unter Wasser getaucht wurden und, da sie zuvor untrache- 
otomiert blieben, während des Ertränkens ihren Schluckmechanismus 
ungestört zur Geltung bringen konnten. Um, wie schon früher be¬ 
merkt, dem seitens Strassmanns gegen die Brouardelschen Ver¬ 
suche gemachten Einwand, gerecht zu werden, haben wir in der 
in. Versuchsreihe an einer Katze und an einem Kaninchen den Ver- 


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100 


Dr. L. Wach holz, 


such auf diese Weise ausgeführt, dass diesen Tieren, trotzdem sie nur 
aus dem kalibrierten Wasserbehälter Wasser atmen konnten, Dank 
der speziell für diesen Zweck angefertigten Maske der Schluck¬ 
mechanismus erhalten blieb. Endlich hatten wir eine Katze in unserer 
IV. Versuchsreihe auf die Weise ertränkt, dass wir sie in ein ge¬ 
räumiges Bassin mit Wasser warfen, in welchem sie eine zeitlang 
hin und her schwamm und Ende der 14. Minute erschöpft ertrank. 
Es war dies somit ein dem natürlichen Ertrinken gleichkommender 
Versuch. Diese hier hervorgehobenen 15 Versuche beweisen nun zur 
Genüge, dass die Gleichstellung unserer Versuche mit denen 
Brouardels seitens Margulies’ grundlos ist und der Wahrheit nicht 
entspricht. In Berücksichtigung dieses aus mangelnder Kenntnis 
unserer Arbeit hervorgehenden Einwandes wird erst die Befürchtung 
einer Polemik seitens Margulies’ verständlich. Uebrigens sei noch 
bemerkt, dass nur unsere II. und IV. (mit Ausnahme des ersten 
Versuchs) Versuchsreihe an tracheotomierten Tieren in der Brouardel- 
schen ähnlichen Weise ausgeführt worden war. 

Obwohl nun die bereits schon erwähnten 15 Versuche, bei denen 
den Tieren die Abwehrmittel, und zumal schon der Schluckmechanismus 
während des Ertrinkungsverlaufs zu Gebote standen, vollkommen die 
Behauptung rechtfertigen, das Wasser gelange in die Lungen der Er¬ 
trinkenden zum weit grössten Teil während der Dyspnoe, habe ich 
vor kurzem noch einige Versuche nach dem Vorbild von Margulies 
angcstellt. Bevor ich sie aber schildern werde, sehe ich mich ge¬ 
zwungen, noch einige andere Beweise für die Richtigkeit unserer 
Behauptung vorzuführen, die Margulies vollends entgangen zu sein 
scheinen. 

Die Behauptung, das Wasser gelange in die Lungen der Er¬ 
trinkenden schon in-einem frühen Stadium, nämlich dem der Dyspnoe, 
haben auf Grund ihrer Untersuchungen viele Forscher, wie Mayer, 
Eggert, Albert, Wistrand (der trotzdem die Aussicht auf Wieder¬ 
belebung für günstig hält), Krahmer, Doehne, Bert, Falk, weiter 
A. Paltauf (4), der bekannte Schüler und Mitarbeiter v. Hofmanns 
und Brückner (5) aufgestellt und gerechtfertigt. Bei all ihren Ver¬ 
suchen war der Schluckmechanismus der Tiere nicht ausgeschaltet. 
Massgebend ist der Ausspruch Paltaufs in seiner neunten Schluss¬ 
bemerkung: „Die Ertränkungsflüssigkeit dringt im zweiten (d. i. dys¬ 
pnoetischen) und dritten (terminale Atembewegungen) Stadium des 
Ertrinkungstodes in die Lungen ein; hierfür, sowie für die Menge 


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Experimentelle Beiträge zur Lehre vom Ertrinkungstod. 101 

der eingedrungenen Flüssigkeit sind verschiedene Momente mass¬ 
gebend.“ 

Brückner unternahm unter Strassmann seine Versuche an 
Kaninchen, die er nach dem Verfahren v. Hofmanns in Ferrocyan- 
kaliumlösung ertränken liess, wobei er einem Teil dieser Tiere die 
Luftröhre vor dem Eintritt der terminalen Atembewegungen zudrückte. 
Die Ergebnisse seiner Versuche führten ihn zum Schluss, „dass das 
Eindringen der Flüssigkeit bei Kaninchen im Stadium der Dyspnoe 
stattfindet,“ denn „dass die Inspiration der Ertränkungsflüssigkeit nicht 
von den terminalen Atembewegungen abhängig ist, scheint einmal aus 
den Fällen hervorzugehen, wo jene, ohne den Befund irgendwie zu 
verändern, ganz ausblieben, andererseits aber aus dem Wesen dieser 
letzten Bewegungen.“ Diese Bewegungen bilden seiner Ansicht nach 
einen Teil der kurzdauernden, über die ganze Körpermuskulatur ver¬ 
breiteten Zuckungen; sie sind nicht imstande das Einziehen von 
Flüssigkeit in die Lungen, oder höchstens nur „in ganz unbedeutender 
Menge“ zu bewirken, da sie „die Luftröhre zugleich mittels der Epi¬ 
glottis vcrschliessen“ und „da ferner durch das während der Dyspnoe 
eingeatmete Wasser der negative Druck in den Lungen auf ein Minimum 
herabgesetzt worden ist.“ 

Unsere erste nach dem Vorbild von Hofmanns ausgeführte 
Versuchsreihe bewies, dass trotz Zudrückens der entblössten Luftröhre 
vor dem Eintritt der terminalen Atembewegungen, die Lungen der 
Tiere (Katzen und Hunde) das tiefblaue mit Methylenblau gefärbte 
Wasser in ergiebiger Menge enthielten. Denselben Schluss, dass 
nämlich schon im Stadium der Dyspnoe das Wasser von ihnen aspiriert 
worden war, rechtfertigt das Ergebnis der ^/-Bestimmung im linken 
Herzblute. Während nämlich der (zu Lebzeiten entnommenes 
Karotisblut) und d«- (nach dem Tode dem linken Herz entnommenes 
Blut) Unterschied bei den mit Zudrücken der Trachea vor den letzten 
Atembewegungen ertränkten Tieren 0,23 ausmachte, belief er sich bei 
anderen ohne Zudrücken der Luftröhre ertränkten Tieren auf 0,21 
und 0,29, somit auf denselben Wert. Einige unserer Versuche der 
ersten Versuchsreihe, bei denen ein Teil der Tiere im warmen Wasser 
nach dem Prinzip von Hofmanns ertränkt wurde, bestätigten die 
Behauptung Seydels, dass bei Ertrinken im warmen Wasser mehr 
Wasser in die Lungen aspiriert wird, als bei Ertrinken in kaltem 
Wasser, indem nämlich der d x und ^"Unterschied bei den im 
warmen Wasser ertränkten Tieren 0,39, bei den im kalten Wasser 


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102 


Dr. L. Wachholz, 


ertränkten maximal 0,29 ausmachte. Die bedeutend höhere Blut¬ 
verdünnung bei den ersteren deutete auf Aspiration ergiebigerer Wasser¬ 
menge in die Lungen und dies zwar bei dem Tier, bei welchem kaum 
zwei mittelstarke terminale Atembewegungen wahrgenommen werden 
konnten. Die von Seydel angegebene, von von Hofmann bestätigte 
Deutung der Tatsache, dass warmes Wasser in grösserer Menge als 
kaltes während des Ertrinkens in die Lungen aspiriert wird, geht nun 
dahin, dass warmes Wasser einen viel geringeren Reiz für die Luft¬ 
wege bildet als kaltes Wasser, somit auch ersteres nicht so schnell 
und energisch zurückgestossen wird. Wenn nun die grössere Menge 
des warmen, aspirierten Wassers von seiner geringeren Reizfähigkeit 
der oberen Luftwege abhängt, so kann dieser Umstand sich nur so 
lange geltend machen, als noch die Reflexerregbarkeit der Luftwege 
erhalten ist. Da aber laut der allgemeinen somit auch seitens 
von Hofmanns (6) anerkannten Tatsache, die Reflexerregbarkeit der 
Luftwege im Stadium der terminalen Atembewegungen erloschen er¬ 
scheint, so könnte der erwähnte Einfluss des warmen Wassers auf 
die Menge der zu aspirierenden Flüssigkeit nicht zur Geltung gelangen, 
wenn der Satz, das Wasser gelange in die Lungen erst mit den ter¬ 
minalen Atembewegungen, richtig wäre. Somit beweisen diese mittels 
Ertränkens im warmen und im kalten Wasser, sowie jene mit voran¬ 
geschickter Chloroformnarkose ausgeführten Versuche unserer ersten 
Versuchsreihe, dass die Flüssigkeit schon im Stadium der Dyspnoe 
in die Lungen gelangt. 

Schon an dieser Stelle muss ich einen weiteren, von Margulies 
gegen uns erhobenen Einwand widerlegen, und zwar einen Einwand, 
der wieder die Unkenntnis unserer Arbeit seitens Margulies deutlich 
verrät. Margulies meint, wir hätten bei unseren Versuchen die 
Tiere nicht mit dem Körper ins Wasser versenkt, indessen waren 
unsere schon zuvor erwähnten 14 Versuche (12 der I. Reihe, 
2 der III. und 1 der IV. Reihe) mit vollständigem Versenken der 
Tiere im Wasser ausgeführt. Dieser Einwand könnte somit nur gegen 
den Rest unserer Versuche, d. i. gegen die II. und mit Ausnahme 
eines Versuchs gegen die IV. Versuchsreihe erhoben werden. Da 
wir in diesen ohne Versenken der Tiere im Wasser unternommenen 
Versuchen dieselben Verdünnungsgrade des linken Herzblutes mittels 
Kryoskopie feststellen konnten wie in den oben erwähnten 15 Ver¬ 
suchen, in denen die Tiere vollends im Wasser versenkt worden 
waren, so ist unser Schluss vollkommen gerechtfertigt, dass, trotz der 


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Experimentelle Beiträge zur Lehre vom Ertrinkungstod. 


103 


entgegengesetzten Meinung Margulies, das Nichtversenken der Tiere 
mit ihrem Körper im Wasser ohne Einfluss auf den Verdünnungsgrad 
des linken Herzblutes und folglich auch auf die Menge des aspirierten 
Wassers bleibt. Desgleichen ist auch ein weiterer Einwand Margulies 
belanglos, nämlich der, dass bei unseren an tracheotomierten Tieren 
ausgeführten Versuchen bei Beginn des Versuchs das Wasserniveau 
im graduierten Wasserbehälter 25—30 cm über dem Niveau der 
Luftröhre der Tiere lag. Wenn bei seinen Versuchen die Wasser¬ 
oberfläche in dem Behälter, aus welchem das Wasser in die Tracheal¬ 
kanüle des Tieres einfloss, sich in demselben Niveau befand, wie 
die Oberfläche des im Bassin, in welches das Tier versenkt wurde, 
befindlichen Wassers, so mussten diese gleichen Wasserstände sofort 
sich ändern, nachdem das Tier bei Beginn des Versuches zu atmen 
und Wasser zu aspirieren anfing, woraus ebenfalls, wie bei unserem 
Vorgehen, ein Fehler in dem endgiltigen Versuchsergebnis resultieren 
konnte. Wir haben bei unserem Vorgehen keinen Fehler in dem 
Schlussergebnis der an tracheotomierten Tieren ausgeführten Versuche 
bemerkt, denn diese Ergebnisse stimmten vollkommen mit denen 
überein, die wir bei den 15 an nicht tracheotomierten Tieren aus¬ 
geführten Versuchen, was die Blutverdünnung anbelangt, erhalten haben. 

Die in dem ersten Versuch unserer IV. Versuchsreihe festgestellte 
Blutverdünnung (A x —A 2 =0,21.) glich vollkommen jener, bei der I. H. 
und der sonstigen IV. Versuchsreihe im Durchschnitt nachgewiesenen 
Blutverdünnung. Indem nun dieser Versuch die natürlichste Ertrinkungs¬ 
art darstellte, weil er ja doch auf diese Art ausgeführt worden ist, dass 
das Tier (Katze) ungefesselt in ein geräumiges Bassin geworfen, darin 
frei schwimmen konnte und erst Ende der 14. Minute ertrank, dabei 
nur 2 schwache terminale Atembewegungen ausführte, so beweist der 
bei diesem Versuche erzielte, mit den bei allen anderen unserer Ver¬ 
suche festgestellte gleiche Verdünnungsgrad des linken Herzblutes ohne 
weiteres, dass die Ertränkungsflüssigkeit im Stadium der Dyspnoe in 
die Lungen gelangt. 

Endlich war in dieser Richtung das Ergebniss der HI. Versuchs¬ 
reihe vollkommen übereinstimmend mit den Ergebnissen anderer unserer 
Versuche, und konnten doch die für diese IH. Versuchsreihe gewählten 
Tiere (Katze und Kaninchen) wegen besonderer Vorrichtung (Maske) 
sowohl das in dem Behälter befindliche Wasser in die Lungen aspirieren, 
wie auch es in den Magen herunterschlucken. Dabei waren beide 
Tiere mit ihrem Körper im Wasser versenkt. 


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104 


Dr. L. Wach holz, 


Trotzdem auch aus diesem kritischen Resume unserer früheren 
Versuchsergebnisse, bei Wiederlegung der gegen uns seitens Margulies 
erhobenen Einwände, klar hervorgeht, dass das Wasser während der 
Dyspnoe in die Lungen der Ertrinkenden eindringt, unterliess ich nicht, 
neuerdings einige Versuche nach dem Vorbild Margulies auszuführen, 
um sich auch auf diese Weise zu überzeugen, welche von den in Rede 
stehenden Ansichten über den Zeitpunkt des Wassereindringens in die 
Lungen der Wahrheit entspricht. 

Ich unternahm Versuche an zwei Kaninchen desselben Wurfes, 
deren Gewicht ich zuvor genau bestimmt habe. Beide wurden in ein 
stark mit Methylenblau gefärbtem Wasser (A= —0,05) gefülltes Glas¬ 
bassin ungefesselt und ohne mit Gewichten beschwert zu werden geworfen, 
das Bassin sodann mit Glasdeckel zugedeckt. Auf diese Weise kam 
ich in diesen meinen Versuchen allen von Margulies gestellten Be¬ 
dingungen nach und zwar in noch höherem Grade als er selbst, da 
er seine Tiere mit Gewichten an den Hinterläufen vorerst beschwerte. 
Das erste Kaninchen wurde nach erfolgtem Tode, das zweite gegen 
Ende des Stadiums der Dyspnoe aus dem Wasser gezogen. Dem 
zweiten wurde sofort eine Schlinge über dem Hals zusammengezogen 
und jetzt ausserhalb des Wassers sein Tod abgewartet. Bei beiden 
Kaninchen habe ich Ai (Karotisblut bei Lebzeit entnommen) und Az 
(linkes Herzblut gleich nach dem Tode) ermittelt. Gleich nach erfolgtem 
Tode wurde dem Tiere die Luftröhre fest unterbunden, dann die Lunge 
herauspräpariert und ihr Gewicht bestimmt, sodann in der von Margulies 
angegebenen Weise das Gewicht des in den Lungen enthaltenen 
Wassers, sowie das Gewicht des pro 1 kg Körpergewichts in den 
Lungen nachzuweisenden Wassers ermittelt. Das Ergebnis dieser 
Versuche ist aus der Tabelle ersichtlich: 


o 

Gewicht 
der Tiere 

Geschlecht 

Herausgezt 

3 gen nach 

termin. 

Lungen¬ 

gewicht 

Gewicht 

des 

Wassers in 

ÖJ bC 

fl 3 

•o •“ &.S 

4 

4 

— ^2 


in g 


Minuten 

Atembe¬ 

wegungen 

in g 

denLungen 
in g 

'S 8 ~ 

.2 ^ o £ 

^ ^ CL, 



i 

3170 

männlich 

7 

24 

33,60 

14,64 

4,6 

— 0,59 

— 0,40 

0,19 

2 

2660 

weiblich 

2 */* 

— 

23,60 

7.7 

3,5 

-0,62 

— 0,51 

0,11 


Auf diese Weise war das Gewicht des in den Lungen des ersten 
Kaninchens pro 1 kg Körpergewicht nachgewiesenen Wassers von 
demselben Gewicht bei dem zweiten Kaninchen kaum um 1,1 g 


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Experimentelle Beiträge zur Lehre vom Ertrinkungstod. 


105 


höher, trotzdem das erste Kaninchen während der 24 bei ihm ge¬ 
zählten, teils starken, teils schwachen, terminalen Atembewegungen 
Wasser in die Lungen aspirieren konnte, während das zweite Ka¬ 
ninchen noch vor seinen terminalen Atembewegungen (13 an der Zahl) 
und zwar noch kurz vor Ende des dyspnoetischen Stadiums aus dem 
Wasser entfernt und seine Luftröhre resp. Hals mit einer Schlinge 
zugeschnürt wurde. Dies minimale Uebergewicht des pro 1 kg 
Körpergewicht in den Lungen des ersten Kaninchens nachgewiesenen 
Wassers wäre noch geringer ausgefallen, hätte ich das zweite Ka¬ 
ninchen nicht vor Ende des dyspnoetischen Stadiums, während es 
noch Wasser in die Lungen einziehen konnte, sondern erst im 
asphyktischen Stadium aus dem W r asser gezogen. Ich habe mich aber 
mit dem Herausholen des zweiten Kaninchens aus dem W’asser des¬ 
wegen beeilt, um für die von mir und Horoszkiewicz verfochtene 
Behauptung die ungünstigsten Bedingungen zu schaffen. Die von mir 
bei diesen zwei Versuchen ausgeführte Bestimmung des Ai und A 2 
erwies ebenfalls hinlänglich die Richtigkeit unserer Behauptung betreffs 
des Zeitpunktes, in welchem die Ertränkungsflüssigkeit in die Lungen 
aspiriert wird. Die bei der obigen Blutuntersuchung erhaltenen Unter¬ 
schiede zwischen Al und A 2 waren, trotzdem beide Kaninchen mit 
dem ganzen Körper ins Wasser getaucht wurden, ganz dieselben, wie 
jene bei den Tieren, welche ich mit Horoszkiewicz durch die 
Trachealkanüle ertränkte, ohne sie im Wasser zu versenken (vergl. 
z. B. IV. Reihe, Versuch No. 4, 7, 8, 9, 11, 12, 13). Wenn dem¬ 
nach Margulies die von uns nachgewiesenen, bedeutenden Blutver¬ 
dünnungsgrade von dem Nichtversenken unserer Versuchstiere ins 
Wasser ableitete, so beweisen die bereits besprochenen zwei meiner 
neuen Versuche (ähnlich denen der I., UI. Versuchsreihe und dem 
ersten Versuch der IV. Reihe meiner früheren mit Horoszkiewicz 
ausgeführten Untersuchungen), wie unbegründet dieser Einwand von 
Margulies erhoben wurde. 

Behufs genauester Klärung der Frage nach dem Zeitpunkt der 
erfolgenden Wasseraspiration in die Lungen unternahm ich noch weitere 
zwei Versuche. Da alle Forscher bis jetzt zu diesem Zweck den 
von v. Hofmann gewählten Weg einschlugen, d. h. ein Tier ungestört 
unter Wasser sterben liessen, einem anderen dagegen noch vor Ein¬ 
tritt der terminalen Atembewegungen die Luftröhre zudrückten, so 
habe ich in den zwei jetzt zu besprechenden Versuchen ein entgegen¬ 
gesetztes Verfahren angewendet. Ein Kaninchen männlichen Geschlechts 


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106 


Dr. L. Wachholz, 


von 2070 g Körpergewicht wurde in der früher besprochenen Weise 
ungefesselt im Bassin (dieselbe Methylenblaulösung) ertränkt. Ich 
notierte bei ihm 15 starke und 3 schwache terminale Atembewegungen, 
die letzte 4' 25" nach erfolgtem Versenken im Wasser. Sein Lungen¬ 
gewicht betrug nach dem Ertränken 23 g, somit betrug laut der 
Margu lies sehen Berechnung das Gewicht des in den Lungen ent¬ 
haltenen Wassers 10,68 g oder pro 1 kg Körpergewicht 5,1 g. Die 
Blutuntersuchung ergab: Ai (Blut aus der Arteria femoralis vordem 
Ertränken) = —0,60, A2 (linkes Herzblut) = —0,40; Ai—A2 
= 0 , 20 . 

Das zweite Kaninchen, ebenfalls männlichen Geschlechts,, von 
2160 g Körpergewicht, wurde mittels einer über den Hals gelegten 
Schlinge stranguliert. Im Augenblick, als bei dem Tier das asphykti- 
sche Stadium eintrat, entfernte ich die Halsschlinge und versenkte es 
in die übliche (dieselbe) Methylenblaulösung. Jetzt erfolgten bei ihm 
18 starke und 9 schwache terminale Atembewegungen. Die Dauer 
der Strangulationszeit belief sich auf 1' 35", die Dauer des Unter- 
wasserliegens auf 2' 20". Bei der gleich nach dem Tode ausgeführten 
Sektion, wobei zuerst die Trachea blossgelegt und genau unterbunden 
wurde, erwiesen sich die Lungen dieses Kaninchens im Gegensatz zu 
den Lungen der drei früheren Tiere nirgends blau gefärbt, ausserdem 
waren sie, ebenfalls im Gegensatz zu den früheren, dicht mit sub¬ 
pleuralen, frischen Ekchymosen besät. Das Lungengewicht dieses 
Kaninchens betrug nach dem Tode 31 g, somit betrug das Gewicht 
des darin befindlichen Wassers nach Margulies’ Ermittelungsmethode 
18 g oder pro 1 kg Körpergewicht 8,3 g. 

Dies Resultat der in die Lungen aspirierten Wassermenge, trotz¬ 
dem sich ihre Anwesenheit durch ihre Blaufärbung nicht verriet, 
stand im krassen Widerspruch zu dem Ergebnis der kryoskopischen 
Blutuntersuchung, denn Ai (Blut aus Arteria femoralis vor dem Er¬ 
tränken = — 0,61, Aa (linkes Herz) = — 0,55, Ai—A 2 = 0,06. 
In Berücksichtigung des Widerspruches zwischen dem Ergebnis der 
nach Margulies nachgewiesenen Wassermenge in diesem letzten und 
jenem Ergebnis in den drei früheren Versuchen, sowie in Berück¬ 
sichtigung der Widersprüche, die sich aus dem Vergleich der Blut¬ 
verdünnungsgrade bei diesem vierten und den drei ihm vorangeschickten 
Versuchen ergaben, sah ich mich gezwungen, die von Margulies 
angegebene Ermittelungsmethode des normalen Lungengewichts der 
Kaninchen nachzuprüfen, umsomehr als sie mir schon im Vornherein 


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Experimentelle Beiträge zur Lehre vom Ertrinkungstod. 10 7 

wenig genau und zutreffend schien. Zu diesem Ende wurde ein 
männliches, 1650 g schweres Kaninchen erdrosselt, alsdann seine 
Lunge herauspräpariert. Laut Margulies sollte das Gewicht dieser 
normalen Lunge 9,86 g betragen, indessen betrug es in der Wirk- 
14,65 g, d. i. um 4,79 g mehr, als Margulies ihm erlauben würde! 

Ich könnte schon hier abbrechen und die wahrhaftige Kette von 
Beweisen gegen die Ausführungen und die Behauptung Margulies’ 
schliessen. Wenn ich auf Grund all des Vorhergesagten und besonders 
auf Grund der übereinstimmenden Ergebnisse meiner so zahlreichen 
und in so verschiedener Weise ausgeführten Versuche meine frühere 
Behauptung, das Wasser gelange in die Lungen der Ertrinkenden vor¬ 
wiegend in dem Stadium der Dyspnoe und nicht während der ter¬ 
minalen Atembewegungen, als vielseitig bewiesen entgegen Margulies 
aufrechthalte, so kann ich doch nicht unterlassen, Margulies ausser 
der schon hervorgehobenen noch andere Ursachen für die von ihm 
begangenen Fehler hier namhaft zu machen. 

Die Hauptursache dieser Fehler Margulies’ liegt darin, dass er 
sich weder mit der bisherigen einschlägigen Literatur, noch mit unserer 
Arbeit, die er anfechtet, vorerst genau vertraut machte, und zweitens, 
dass er auf Grund von 8 Tierversuchen die streitige Frage lösen 
wollte. Und wenn irgend welche Frage nur auf Grund zahlreicher 
und verschiedenartig ausgeführter Versuche gelöst werden kann, so 
ist es eben die Frage nach dem Zeitpunkt des Wassereindringens in 
die Lungen Ertrinkender, da man doch der Meinung A. Paltaufs, 
„dass hierfür sowie für die Menge der eingedrungenen Flüssigkeit ver¬ 
schiedene Momente“ massgebend sind, vollkommen beipflichten muss. 
Diese verschiedenen Momente lassen sich aber an einer so geringen 
Anzahl von Versuchen, die noch auf ungenauer, ja sogar falscher Be¬ 
rechnung basieren, wie die Versuche Margulies’, unbedingt nicht 
studieren. 

Den von A. Paltauf erwähnten „verschiedenen Momenten“ 
suchten wir mit Horoszkiewicz näher zu treten und sie näher 
zu ergründen, diese unseren Bestrebungen und ihre Ergebnisse scheinen 
aber Margulies unbekannt geblieben zu sein. 

Die Ergebnisse der vier ersten Versuche Margulies’ ins Auge 
fassend, ersehen wir, dass die pro 1 kg Körpergewicht von ihm in 
seinen ersten drei Versuchen nachgewiesenen Wassermengen in den 
Lungen, die 14,5, 15,5 und 13,1 g ausmachten, in keinem Verhältnis 
zu der Zahl der ausgelösten terminalen Atembewegungen stehen. 


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Dr. L. Wachholz, 

Wenn das erste Tier bei 6 terminalen Atembewegungen in die Lungen 
14,4 g Wasser pro 1 kg, und das zweite bei sieben ebensolchen Atem¬ 
zügen 15,5 g Wasser aspirierten, so bildet dies beim zweiten Tier 
auf 1 g sich belaufende Mehrgewicht des eingeatmeten Wassers keinen 
Beweis dafür, dass zwischen der Zahl der terminalen Atemzüge und 
der Menge des aspirierten Wassers ein gerades Verhältnis besteht, 
denn es widerspricht einer solchen Annahme das Resultat des dritten 
Versuchs. In diesem dritten Versuch zählte Margulies 9 terminale 
Atemzüge, somit müsste bei Annahme eines geraden Verhältnisses 
die Menge des in den Lungen dieses dritten Kaninchens nachgewiesenen 
Wasser sich höher, wie bei den vorangehenden erweisen. Nehmen 
wir auf Grund des Unterschiedes zwischen den pro 1 kg bei den 
zwei ersten Versuchstieren gefundenen Werten für die aspirierte 
Wassermenge an, dass auf einen terminalen Atemzug 1 g Wasser pro 

1 kg Körpergewicht kommt, so müsste laut dieser Annahme das 
dritte Kaninchen, weil die Zahl der terminalen Atemzüge bei ihm um 

2 die des zweiten übertraf, um 2 g mehr Wasser pro 1 kg in seine 
Lungen eingezogen haben. Es müsste demnach 17,5 g Wasser pro 
1 kg aspiriert haben. Unterdessen hat es nach Margulies nur 
13,1 g aspiriert, somit um 4,4 g weniger Wasser, als dies laut obiger 
Annahme zu erwarten war, und um 1,4 g beziehungsweise um 2,4 g 
weniger Wasser, als das erste resp. zweite Kaninchen bei nur 6 resp. 
7 terminalen Atembewegungen. Hieraus folgt nun, dass die Menge 
des in die Lungen eindringenden Wassers von der Zahl der terminalen 
Atemzüge unabhängig ist. 

Wir hatten mit Horoszkiewicz bewiesen, dass die Menge des 
in die Lungen gelangenden Wassers ausser von der Wassertemperatur 
und etwaiger Narkose der Tiere vor dem Ertrinken, vorwiegend von 
der vitalen Lungenkapazität des Individuums abhängt. Wie bekannt, 
ist die vitale Lungenkapazität beim männlichen Geschlecht grösser 
als beim weiblichen, sie erhöht sich auch bei Zunahme des Körper¬ 
gewichts, doch wird sie bei Ueberschreitung desselben um 7 pCt. 
des normalen Mittels wieder beträchtlich geringer. Unsere früheren 
Versuche ergaben, übereinstimmend mit der obigen Erfahrung, dass 
unsere männlichen Versuchstiere mehr Wasser als die weiblichen ein¬ 
geatmet haben, und dass Tiere von besonders hohem Körpergewicht 
weniger Wasser in ihre Lungen einzogen als jene von mittelmässigem 
Gewicht. Dies ist z. B. besonders genau aus dem 14. und 15. Ver¬ 
such der IV. Gruppe ersichtlich, wo zwei Rüden, die unter sonst den 


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Experimentelle Beiträge zur Lehre vom Ertrinkungstod. 


109 


gleichen Bedingungen ertränkt worden sind, bei derselben Anzahl und 
Intensität der terminalen Atemzüge der erste von 4870 g Körper¬ 
gewicht 71 ccm Wasser pro 1 kg, der zweite von 11460 g Körper¬ 
gewicht nur 28 ccm Wasser pro 1 kg in ihre Lungen einatmeten. 
Der Einfluss des Geschlechts auf die Menge des aspirierten Wassers 
macht sich auch bei den vier ersten Versuchen Margulies’ geltend. 
Das Kaninchen in seinem dritten Versuch, welches bei 9 terminalen 
Atemzügen nur 13,1 g Wasser pro 1 kg aspirierte, war weiblichen 
Geschlechts, musste somit weniger Wasser als die zwei ersten männ¬ 
lichen Kaninchen (14,5 und 15,5 g) in die Lungen einziehen. Sein 
im vierten Versuch gleich nach dem ersten terminalen Atemzuge aus 
dem Wasser herausgenommenes Kaninchen war ebenfalls weiblich, 
zugleich übertraf es die zwei ersten Tiere an Körpergewicht um 
25 pCt., es konnte somit wegen geringerer Lungenkapazität bedeutend 
weniger Wasser als jene in seine Lungen aspirieren. Laut Berech¬ 
nung fand nun Margulies bei diesem vierten Versuchstier pro 1 kg 
nur 3,6 g Wasser in den Lungen, d. h. viermal weniger Wasser als 
bei seinem ersten Versuchstier. In unseren bereits kurz zuvor er¬ 
wähnten zwei früheren Versuchen (IV. Gruppe. Vers. 14 und 15) as¬ 
pirierte der schwerere Rüde 2y 2 mal weniger Wasser als der leichtere. 
Auf Grund dieses Vergleichs unserer zwei Versuche mit den Er¬ 
gebnissen der Marguliesschen Versuche wäre es als gerechtfertigt zu 
betrachten, wenn sein viertes Kaninchen, welches an Körpergewicht 
sein erstes weit übertraf, ebenfalls nur 2% mal weniger Wasser von 
dem ersten aspiriert hätte. Es bliebe noch zu rechtfertigen, warum 
es (sein viertes Versuchstier) viermal und nicht, wie oben schon er¬ 
wähnt, nur 2y 2 mal weniger Wasser in die Lungen aufnahm, als das 
erste Tier. Dies ist aber leicht möglich angesichts der Tatsache, 
dass unsere zwei hier in Vergleich gebrachten Versuche an Tieren 
desselben Geschlechts, dagegen der erste und vierte Versuch Mar¬ 
gulies’ am männlichen und am weiblichen Tier ausgeführt worden 
sind, somit das vierte Versuchstier Margulies’ auch als Weib¬ 
chen schon weniger Wasser aspirieren musste. Dass sein viertes 
Versuchstier wirklich geringere Lungenkapazität besass als das erste, 
gestattet schon der Vergleich ihrer von Margulies ermittelten Lungen¬ 
volume einen positiven Schluss zu ziehen. Sein viertes Tier besass 
bei 2565 g Körpergewicht ein Lungenvolumen von nur 37 ccm, wo¬ 
gegen sein erstes Versuchstier bei 2047 g Körpergewicht ein Lungen¬ 
volumen von 49 ccm ermitteln liess! 


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Dr. L. Wachholz, 


Aber noch ein und dazu gewichtiger Umstand, den Margulies 
leichtfertig übersah, fällt hier in die Wagschale und das ist die 
Atemphase, nach welcher seine verglichenen Versuchstiere im Wasser 
untergetaucht worden sind. Wir hatten mit Horoszkiewicz dargetan, 
dass Tiere, die nach dem Exspirium ertränkt werden, um 6 ccm mehr 
Wasser in ihre Lungen pro 1 kg Körpergewicht aufnehmen, als jene 
nach dem Inspirium ertränkten. Margulies konnte bei seiner ersten 
Versuchsanordnung die Atmungsphase des Tieres kurz vor dem Er¬ 
tränken der Tiere nicht ermitteln, liess sie überhaupt ausser Acht; 
nun ist wohl erlaubt, anzunehmen, dass sein viertes, nach dem ersten 
terminalen Atemzug aus dem Wasser entferntes Kaninchen, nach 
einer Inspiration unter Wasser gelangte, während sein erstes Kaninchen 
bevor es im Wasser versenkt worden ist, expiriert hatte. Auf diese 
Weise musste das vierte Kaninchen Margulies’ um 6 ccm weniger 
Wasser pro 1 kg Körpergewicht aspiriert gehabt haben. Angenommen, 
dass das Gewicht dieses Wassers dem des destillierten glich, so hat 
dieses Tier dadurch um 6 g weniger Wasser in seine Lungen auf¬ 
genommen. Umgekehrt angenommen, wäre dies vierte Kaninchen 
gleich dem ersten nach einer Exspiration ertränkt, so hätte es um 
6 g mehr Wasser pro 1 kg, d. i. statt nur 3,6 g wirklich 9,6 g Wasser, 
also kaum um 4 g weniger Wasser vom ersten Tier trotz Ausschal¬ 
tung seiner terminalen Aterabewegungen in die Lungen aufgenommen. 

Auf Grund obiger kritischer und experimenteller Beweise steht 
es nun fest, dass beim Ertrinken die Ertränkungsflüssigkeit vorwiegend 
im Stadium der Dyspnoe in die Lungen gelangt. 

II. 

In einer seiner letzten Abhandlungen behauptet Revenstorf (7), 
dass das Blut der linken Herzhälfte auch postmortal im Wege einer 
natürlichen Leichenerscheinung durch Wasser verdünnt werden kann, 
dass somit die Feststellung von Blutverdünnung im linken Herz noch 
nicht gestattet, ein Eindringen von Flüssigkeit in die Lungen noch 
während des Lebens, also überhaupt Tod durch Ertrinken anzunehmen. 
Diese Behauptung begründet er mit 8 an Menschenleichen auf diese 
Weise ausgeführten Versuchen, dass er den Leichen durch eine 
Trachealkanüle Leitungswasser in die Lungen eingegossen hatte. Bei 
drei Leichen fand er sodann das linke Herzblut verdünnt (A = — 0,40, 
— 0,39, — 0,45). Diese nun erwiesene postmortale Blutverdünnung 
beschränkt sich selbstverständlich nur auf das Blut der linken Herz- 


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Experimentelle Beiträge zur Lehre vom Ertrinkungstod. 


111 


hälfte, während bei Ertrunkenen auch das venöse Blut (der rechten 
Herzhälfte) eine Verdünnung erfährt, die aber Revenstorf leider nur 
selten trotz notorischen Ertrinkungstodes an Leichen feststellen konnte. 
Diese Unzulänglichkeit der Kryoskopie für Zwecke der Diagnostik des 
Ertrinkungstodes bewogen Revenstorf nach anderen diagnostischen 
Merkmalen zu forschen. 

Den Rat Reinsbergs befolgend, untersuchte er zahlreiche Lungen 
von Ertrunkenen auf ihren Planktongehalt (8), sowie auf die Verteilung 
desselben in dem Lungengewebe. Laut theoretischer Erwägung gelangt 
er zum Schluss, dass die gleichmässige Verteilung der Plankton¬ 
bestandteile (besonders der Diatomeen) über das gesamte Lungengewebe 
das sicherste Zeichen des vitalen Eindringens von Wasser in die 
Lungen also auch des Todes durch Ertrinken bildet, denn es verteilt 
sich das vom Ertrinkenden eingeatmete, planktonhaltige Wasser, dem 
Inspirationsluftstrom folgend, in der ganzen Lunge. Postmortal ein¬ 
dringendes Wasser verteilt sich in den Lungen nach Revenstorfs 
Meinung nach dem Gesetz der Schwere, wodurch das Wasser resp. 
seine Planktonbestandteile nur in gewissen Lungenpartien anzutreffen 
sein werden. 

Endlich empfahl noch Revenstorf (9) in dieser Richtung die Er¬ 
scheinung der Hämolyse ins Auge zu fassen. Wie bekannt, gelangt 
die Ertränkungsflüssigkeit in den Blutkreislauf d. i. bei Ertrinkenden 
erstens in das arterielle jund weiter in das venöse Blut. Ist diese 
Flüssigkeit anisotonisch, so erzeugt sie eine Konzentrationsdifferenz 
zwischen dem Blutplasma und dem Blutkörpercheninhalt, wodurch 
die Blutkörperchen aufgelöst werden. Diese von Revenstorf als 
Ertränkungshämolyse bezeichnete Lösung der Blutkörperchen ist, wie 
leicht verständlich, stets intensiver im Blut des linken als im Blut 
des rechten Herzens wahrnehmbar. Während der Fäulnis entsteht 
ebenfalls in jeder Leiche Hämolyse, welche eins „der frühesten, makro¬ 
skopisch sichtbaren Zeichen der eingetretenen Fäulnis“ darstellt. Der 
Verlauf der Leichenhämolyse ist aber ein anderer, wie der der Er¬ 
tränkungshämolyse. Die Fäulnishämolyse pflegt am intensivsten im 
Pfortaderblut, weniger intensiv im venösen Blut (des rechten Herzens), 
am wenigsten stark im arteriellen Blut (linkes Herz) zu sein. Dieser 
Unterschied zwischen der Ertränkungs- und Fäulnishämolyse erlaubt 
nun die gegebenen Falles erwiesene Ertränkungshämolyse als Beweis 
des durch Ertrinken erfolgten Todes zu betrachten, dabei ist sie „ein 
qualitatives Kennzeichen des Ertrinkungstodes, das die übrigen physi- 

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Dr. L. Wachholz, 


kalischen Methoden des Nachweises von Ertränkungsflüssigkeit im 
Blut an Schärfe übertrifft.“ Wird Hämolyse nur im Blut des linken 
Herzens und nicht zugleich, wenn auch weniger intensiv im Blut des 
rechten Herzens einer Wasserleiche nachgewiesen, so ist der Schluss 
gestattet, dass die Flüssigkeit erst postmortal in das Blut (des linken 
Herzens) gelangt ist, somit dass die Leiche als solche ins Wasser 
geriet. 

Da alle Forscher bisher, wir nicht ausgenommen, bei Tierleichen, 
die als solche ins Wasser gelegt wurden, im linken Herzblut mittels 
Kryoskopie keine Blutverdünnung feststellen konnten, so war der 
Erfolg der an erster Stelle erwähnten Versuche Revenstorfs wirklich 
unerwartet und er bewog mich deshalb die Angelegenheit näher zu 
studieren. 

Zu diesem Zweck wurde einigen Menschen!eichen (die Leiche 
eines Erhängten und Leichen neugeborener Kinder) und der Leiche 
eines mit Cyankalium vergifteten Hundes in aufrechter Stellung durch 
die eingeführte Trachealkanüle aus einem gewöhnlichen Irrigator Wasser 
eingegossen, nachher ihr linkes Herz eröffnet und das ihm entnommene 
Blut kryoskopisch untersucht. In vier dieser Versuche konnte ich 
allemal Blutverdünnung nachweisen. In einem Versuch habe ich 
schon bei eröffnetem Thorax und linkem Herz wiederholt Wasser ein¬ 
gegossen, wobei ich feststellen konnte, dass aus den Pulmonalvenen 
wiederum Blut und zwar immer mehr verdünntes Blut herausquoll. 
Das verdünnte Blut quoll desto reichlicher heraus, unter je grösserem 
Druck das Wasser durch die Trachealkanüle in die Lungen einlief. 
Dagegen konnte ich, wie seit Carrara alle Forscher, im Blut des 
linken Herzens von Leichen, die durch 24 Stunden in mit Methylen¬ 
blau gefärbtem Wasser untergetaucht lagen, niemals und sei es eine 
Spur von Verdünnung feststellen. Dass aber in diesen Versuchen 
das Wasser doch bis in die Lungen eingedrungen war, bewies die 
Blaufärbung der Lungen, das an ihnen festgestellte Bild des von uns 
beschriebenen Pseudooedema aquosum, endlich das Ergebnis der 
kryoskopischen Untersuchung des ausgepressten Lungensaftes, dessen 
A zwischen —0,09 und —0,13 schwankte. Der Lungensaft einer 
Kindesleiche, welcher mit Methylenblau gefärbtes Wasser durch die 
Trachealkanüle eingegossen wurde, ergab A = —0,08, während das 
eingegossene Wasser A = —0,05 hatte. 

Diese Versuche beweisen, dass auch das postmortal in die Lungen 
eindringende Wasser das Blut im linken Herz zu verdünnen vermag, 


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113 


aber nur dann, wenn cs direkt durch die eröffnete Trachea und unter 
Druck einläuft: anderenfalls, wenn die Leiche in natürlicher Weise 
unter Wasser gerät, trifft dies nicht zu. Da nun in der Praxis nur 
Fälle der zweiten x\rt Vorkommen können (d. h. Fälle, in denen 
Leichen ins Wasser geworfen werden), so muss die bei Wasserleichen 
festgestellte Verdünnung des Blutes im linken Herz nur als bei Leb¬ 
zeiten entstanden, somit als Beweis des Ertrinkungstodes gelten. Die 
Verdünnung des Blutes im linken Herz von Wasserleichen lässt sich 
aber, wie schon früher Revenstorf mit Recht hervorhob, nur selten, 
zumal in der wärmeren Jahreszeit nachweisen und dieser Umstand 
bildet die alleinige, leider ebensowohl praktisch wichtige Schattenseite 
dieser Feststellungsmethode des Ertrinkungstodes. 

Der kryoskopischen Untersuchung des Lungensaftes kann ich 
Revenstorf gegenüber keinen diagnostischen Wert beimessen, denn 
da die Flüssigkeit sowohl intra vitam wie postmortal in die Lungen 
eindringt, so muss der ausgepresste Lungensaft in beiden Fällen die 
nämlichen Resultate bei ausgeführter Untersuchung auf seine osmotischen 
Druckverhältnisse, seine elektrische Leitfähigkeit und Hämolyse liefern. 
Uebrigens hatten wir mit Horoszkiewicz schon auf die Belang¬ 
losigkeit dieser Untersuchungen der Lungenflüssigkeit hingewiesen. 

Was die von Revenstorf warm empfohlene Planktonmethode 
anbelangt, so hegen wir gegen dieselbe gewichtige Bedenken. Die 
Behauptung Revenstorfs, dass bei Ertrinken das mit Plankton ver¬ 
unreinigte Wasser, dem Inspirationsluftstrom folgend, sich über die 
gesamte Lunge verteilt, wäre nur insofern richtig, wenn die Lunge 
kurz zuvor luftleer sich erwiese. Aus den sehr zutreffenden theoretischen 
Erwägungen Margulies (10) geht hervor, dass die Lungen notorisch 
Ertrunkener in einzelnen Abschnitten trocken und mehr emphysematisch 
mit Luft gebläht erscheinen müssen. Die Ertränkungsversuche in 
gefärbter Flüssigkeit, welche A. Paltauf und ich mit Horoszkiewicz 
unternahmen,-erwiesen genügend, dass die Ertränkungsflüssigkeit sich 
nur mehr über gewisse Lungenabschnitte, nicht aber über das ganze 
Lungengewebe verteilt. Eher kann sich diese Flüssigkeit, wenn sie 
postmortal in die Lungen eindringt, über grössere Lungenpartien ver¬ 
teilen und zwar deswegen, weil postmortal die Lungen weniger Luft 
enthalten, -welche der eindringenden Flüssigkeit Widerstand leistet. 
Dies ist auch aus dem durch postmortales Eindringen von Wasser 
entstehenden Bild des Pseudooedcma aquosum gegenüber dem durch 

Vierteljahrssehrift f. ger. Med. u. öff. San.-Wcsen. 3. Folge. XXXII. 1. g 


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Dr. I.. Wachholz, 

intravitales Eindringen von Wasser erzeugten Emphyscma aquosum 
(Brouardcl) leicht verständlich und erklärlich. 

Die Erscheinung der Hämolyse im Blut des linken Herzens ist 
mir und Horoszkicwicz (11) bei unseren Untersuchungen nicht ent¬ 
gangen, nur haben wir ihr, wie dies mit Recht Revenstorf bemerkt, 
nicht die hohe diagnostische Bedeutung zugeschrieben, wie das 
Revenstorf tut. In den vier Versuchen, über die ich hier neu 
berichtet habe, konnte ich die Ertränkungshämolysc fcststellcn. Trotz¬ 
dem scheint die von Revenstorf angegebene hämolytische Methode 
nicht allzu sehr die kryoskopische zu übertrelTen. In den 21 Ertrin- 
kungsfällcn, die Revenstorf untersuchte, hatte er in 3 Fällen kryo¬ 
skopisch Blutverdünnung, und in 7 Fällen Ertränkungshämolysc nach¬ 
gewiesen; in 6 Fällen hat er die Hämolyse gänzlich vermisst, in den 
8 übrigen Fällen liess sie sich nur als Fäulnishämolyse auffassen. 
Aus diesem Grunde wird auch die Untersuchung auf Ertränkungs- 
hämolyse, ähnlich der auf Blutverdünnung, zumal wegen der bei 
Wasserleichen rasch fortschreitenden Fäulnis, nur in mehr vereinzelten 
Fällen es gestatten, die Diagnose des Ertrinkungstodes sicherzustellen. 
Uebrigens können die physikalischen Untersuchungsmethoden nicht 
so leicht Gemeingut der praktischen Gerichtsärzte worden, weswegen 
es weiterhin geboten erscheint, nach anatomischen Kennzeichen des 
Ertrinkungstodes zu suchen. In dieser Richtung ist von grösster 
Bedeutung der Lungenbefund, insofern das Bild des Brouardclschen 
„Emphysema aquosum“ für Ertrinkungstod, das Bild des von mir 
und Horoszkicwicz „Pseudooedema aquosum“ benannten Lungen¬ 
befundes für postmortales Ilineingcraten ins Wasser spricht. Der Wert 
und die Bedeutung des von Fagerlund seiner Zeit angegebenen 
Befundes (die Anwesenheit der Ertränkungsllüssigkeit im Dünndarm 
einer noch frischen Wasserleiche beweist nach Fagerlund, dass 
Ertrinkungstod vorliegt) sollte sowohl experimentell, wie auch in der 
Praxis noch nachgeprüft werden. 


Literatur. 

1 ) Experimentelle Studien zur Lehre vom Ertrinkungstod. Vicrteljahrsc-hr. f. 
gerichtl. Med. Bd. 28. 1904. Genaues Literaturverzeichnis. 

2) Ertrinkungsgefahr und Kettungswesen an der See. Beil. klin. Wochenschr. 
1905. No. 25. 

3) Zur Lehre vom Ertrinkungstode. Deutsches Archiv f. klin. Med. Bd. 86. 1905. 


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Experimentelle Beiträge zur Lehre vom Ertrinkungstod. 


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4) Ueber den Tod durch Ertrinken. S. 111—123. Wien-Leipzig 1888. 

5) lieber den Tod durch Ertrinken. Inaug.-Dissert. S. 21—23. Berlin. 

(5) Lehrb. d. gerichtl. Med. Wien-Berlin 1903. 

7) Der gerichts-ärztliche Nachweis des Todes durch Ertrinken. Aerztl. Sach- 
verständigen-Zeitung. 1905. No. 5 

8 ) Der Nachweis der aspirierten Ertränkungsllüssigkeit als Kriterium des 
Todes durch Ertrinken. Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. ßd. 27. 1904. 

9) Weiterer Beitrag zur gerichts-ärztlichen Diagnostik des Ertrinkungstodes. 
Münch, med. Wochenschr. No. 11/12. 1905. 

10) Die Caspersche Hyperaerie. Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. Bd. 26. 1903. 

11) (wie sub 1.) S. 270. 


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8 * 

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8 . 


Kürzere Mitteilungen, Besprechungen, 
Referate, Notizen. 


Eine Chloroformvergiftung vom Magen aus. 

Von 

Dr. med. Wollenweber, Stadtassistenzarzt in Düsseldorf. 


Die „grosse Seltenheit,, 1 ) der Vergiftungen mit Chloroform, bei denen das 
Gift vom Magen aus in den Blutkreislauf gelangt ist, veranlasst mich zur Ver¬ 
öffentlichung eines in meiner früheren Landpraxis beobachteten Falles. Ich 
schildere ihn mit allen Einzelheiten, da das Zustandekommen der Vergiftung durch 
Verwechselung neben dem klinischen Bilde Interesse haben dürfte. 

Es handelte sich um einen kräftigen Knaben von 3 1 /, Jahren. Seiner Mutter 
hatte ich zu Einreibungen das offizinelle Chloroformöl (Chloroform, Ol. Olivar. 
ana.) verordnet. Da der Knabe wegen Husten und Fieber nachts nicht geschlafen 
hatte, so wollte ihm die Grossmutter — eine rüstige Frau von 50 Jahren mit gutem 
Sehvermögen, aber von etwas hastigem, aufgeregtem Wesen, die übrigens ihr 
einziges Enkelkind abgöttisch liebt — morgens um 1 / 2 8 Uhr einen Löffel voll 
Fenchelhonig geben. Es war noch dämmerig, und man hatte gerade das Licht 
ausgelöscht. Die Grossmutter (verwechselte die nebeneinander stehenden 
Flaschen des Fenchelhonigs und des Chloroformöls und gab dem Knaben einen 
Esslöffel voll Chloroformöl. Das Kind schluckte das Oel glatt herunter, stiess dann 
einen Ekellaut aus und sagte: „Brüstchen tut weh“ - Die Grossmutter merkte 
darauf sofort die Verwechslung und lief eilends zu dem 5 Minuten entfernt 
wohnenden Arzt. Der Knabe, der vor dem Einnehmen vollständig wach geweson 
war, schlief bald ein, nachdem er noch einmal gesagt hatte: „Brüstchen tut weh“. 
Als die Grossmutter zurückkehrte, etwa 10 Minuten nach dem Einnehmen, lag das 
Kind in tiefem Schlafe, aus dem sie es nicht zu wecken vermochte. Ich traf den 
Knaben 1 / i Stunde später — also etwa l / 2 Stunde nach dem Einnehmen — in 
tiefem Schlafe. Er reagierte nicht auf Anrufen, Schütteln und starke Schmerzreize. 

1) A. J. Kunkel, Handb. d. Toxikologie. I. 437. 1899. — Für weitere 
Kasuistik wird hier noch auf das bekannte Werk von Taylor und auf Hofmanns 
Lehrb. d. gerichtl. Med. verwiesen. 


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Die Atmung war ruhig und leicht schnarchend, der Puls regelmässig, etwa 100, 
die Pupillen mittelweit bis eng, reagierten auf Lichteinfall. 

Um Erbrechen herbeizuführen, wurde zunächst ein Versuch mit dem in den 
Schlund eingeführten Finger gemacht. Es stellte sich aber weder Erbrechen, noch 
irgend eine andere Reaktion ein. Sofort wurde darauf die mitgebrachte Magen¬ 
pumpe angewandt. Als die Sonde in die Tiefe drang, trat Kieferklemme ein. Der 
Mund musste gewaltsam mit Löffel- und Gabelstiel geöffnet werden, und so gelang 
die Einführung der Sonde, doch liess die Grossmutter Gabelstiel und Sonde wieder 
aus dem Munde gleiten, während ich Wasser holte. Nach der erneuten Einführung 
der Sonde trat Erbrechen ein. Der zum Teil neben der Sonde emporgetriebene 
Mageninhalt führte Aspirations- und Erstiokungsgefahr herbei, sodass die Sonde 
wieder entfernt und Schlund und Mund gereinigt werden mussten. Erst nach der 
dritten Einführung der Magensonde konnte eine reichliche Magenauspülung statt¬ 
linden. Dabei wurde eine trübe ölige Flüssigkeit, die schwach nach Chloroform 
roch, entleert. Nach beendigter Magenausspülung schlief der Knabe zunächst 
ruhig weiter, reagierte auf Hautreize nach 10 Minuten durch Augenaufschlag und 
war nach 1 / 2 Stunde wieder soweit wach, dass er auf Fragen antwortete. 

Am Nachmittage erbrach der Knabe nochmals und hatte an den beiden 
folgenden Tagen Durchfall. Am Tage nach der Vergiftung bekam er eine Er¬ 
krankung der Atmungsorgane mit 39,3—39,7 T., die ich als lobuläre Pneumonie 
auffassen musste. Nach 6 Tagen trat Genesung ein. 

Das das Chloroformöl enthaltende Glas war sechseckig und trug ausser der 
gewöhnlichen Signatur den vorschriftsmässigen Vermerk: „Aeusserlich“ und „Vor¬ 
sicht“! Der zum Einnehmen benutzte Löffel enthielt der versehentlich gegebenen 
Füllung angeblich entsprechend gefüllt 14 g Chloroformöl, da das Oel mit 50pCt. 
Chloroform gemischt war, also 7 g Chloroform. Der grösste Teil dieser Chloroform¬ 
menge war zweifellos in den Blutkreislauf des Kindes übergegangen und hatte 
eine etwa einstündige Narkose hervorgerufen. 

Das Chloroform hat eine Maximaldosis von 0,5prodosi, 1,0 pro die, die 
jedoch wohl nur in Rücksicht auf seine toxische Wirkung auf die Magendarm¬ 
schleimhaut — Erzeugung von Gastroenteritis --- gegeben ist. Als innerliches 
Arzneimittel ist Chloroform oft genug angewandt worden und besonders von Stepp 
empfohlen worden („Ueber innerliche Anwendung des Chloroforms“. Münch, med. 
Wochenschr. 1889. No. 8.). Auch Salkowski verordnete Chloroform als Aqua 
chloroformiata 5,0: 1000 esslöffelweise gegen Typhus, Koliken u. s. w. Gegen 
Tänien bei Erwachsenen wurde es angewandt in der Zusammensetzung: Chloro¬ 
form 4,0, 01. Croton. gt. I, Glycerin 30,0 auf einmal zu nehmen. Alle diese Gaben 
sind gegen die hier bei einem Kinde versehentlich gegebene gering. Wie hoch 
bei interner Anwendung die Dosis letalis für Erwachsene und Kinder ist, bin ich 
nicht in der Lage anzngeben. Jedenfalls musste ich im vorliegenden Fall mit der 
Möglichkeit rechnen, dass die 7g Chloroform für das 3y 2 jährige Kind tödlich sein 
konnten. 

Nach dem ganzeu Verlauf der Vergiftung erscheint es mir allerdings nicht 
wahrscheinlich, dass sie den Tod bewirkt haben würden. So schnell auoh die 
schlaf bringende Chloroformwirkung eingesetzt hatte, so hatte sie doch selbst nach 
»/a Stunde nicht den gefahrdrohenden Zustand — weite reaktionslose Pupillen, 
kleiner Puls etc. — berbeigeführt, wie wir ihn bei allzutiefer Narkose vor der 


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Kürzere Mitteilungen, Besprechungen, Referate, Notizen. 


Asyphyxie sehen. Offenbar wurde das Chloroform in dem Masse, wie es auf¬ 
genommen wurde, auch wieder aus dem Körper beseitigt, sodass mit der mittel¬ 
tiefen Narkose eine Art Gleichgewichtszustand hergestellt war. Die am Nach¬ 
mittage und an den folgenden Tagen vorhandene Gastroenteritis möchte ich als 
eine reine Nachwirkung der Aufnahme des Chloroformöls ansehen. Ob die am 
Tage nach der Vergiftung einsetzende lobuläre Pneumonie eine Schluckpneumonie,, 
oder eine Folge des bereits vorher vorhandenen fieberhaften Bronchialkatarrhs 
war, dürfte sich schwer entscheiden lassen; zweifellos aber kommt die un¬ 
beabsichtigte Narkose mit als ätiologisches Moment in Betracht. 

Der Fall scheint mir neben dem Interesse, das er anderweitig beanspruchen 
dürfte, zu beweisen, dass der Arzt wohltut, unter Umständen aus Vorsicht bei der 
Verordnung derartiger differenter Mittel wie Ol. Chloroformii, Ol. Hyoscyami, Ol. 
Sinapis etc. die Giftsignatur auf dem Arzneiglase anbringen zu lassen. Das 
Giftzeichen macht auch auf das ungebildete Volk einen genügend starken Eindruck, 
um Verwechselungen wie die vorliegenden fast unmöglich werden zu lassen, 
während die Merkmale, die versehentliche innere Anwendung verhüten sollen, wie 
sechseckiges Glas und Signatur „Aeusserlich“ und „Vorsicht!“ leicht übersehen 
werden. Im Falle, dass die Vergiftung unglücklich verlaufen und das Kind ge¬ 
storben wäre, würde der Strafrichter sich zwar wohl nur mit der Fahrlässigkeit der 
Grossmutter beschäftigt haben, vom Standpunkt eines strengen ärztlichen Ver¬ 
antwortlichkeitsgefühls und auch vom Standpunkt des Laienpublikums aus würde 
aber zweifellos auch die Frage aufgeworfen worden sein: Warum haben Arzt und 
Apotheker das gefährliche Arzneimittel nicht besser als solches gekennzeichnet? 


Zu der von mir im Juliheft 1905 dieser Zeitschrift veröffentlichten Zusammen¬ 
stellung zufälliger Verletzungen der weiblichen äusseren Genitalien sendet mir 
Kollege Klunzinger aus Steyr, Ober-Oesterreich, als Beitrag folgenden von ihm 
beobachteten Fall, den ich mit seiner Zustimmung hier bekannt gebe: Ein zwei¬ 
jähriges Tischlerskind wurde von seiner Mutter im Kinderwagen einige Minuten 
allein gelassen. Bei ihrer Rückkehr fand sie es schreiend auf dem Boden liegend 
und aus den Genitalien blutend. Befund: Starke Blutung. Der Introitus vaginae 
samt Urethra und unverletztem gelappten Hymen ringförmig total vom Vorhof ab¬ 
gerissen, sodass eine 5—6 mm klaffende Wunde entstand. S zirkuläre Nähte, die 
aber bis auf eine durchschnitten. Gute Heilung durch Granulation in 4 Wochen. 
Ausser dem Kind hatte sich der dreijährige Bruder desselben in dem Zimmer be¬ 
funden. Wahrscheinlich war die Verletzung an dem vorstehenden Scharnier des 
zurückgeschlagenen Wagendaches oder durch Aufschlagen auf ein Rad entstanden. 

0. Leers-Berlin. 


Prof. Dr. Otto Busse, Das Obduktionsprotokoll. Dritte, vermehrte und 
veränderte Auflage. Berlin 1906. Verlag von Richard Schötz. Preis 4 M. 

Die vorliegende dritte Auflage ist den am 4. Januar 1905 erlassenen „Vor¬ 
schriften für das Verfahren der Gerichtsärzte bei den gerichtlichen Untersuchungen 
menschlicher Leichen“ entsprechend umgestaltet. In Anlehnung an diese Vor¬ 
schriften wird der Gang und die Technik der Obduktion geschildert und werden 
— ebenso wie in den früheren Auflagen — bei jedem einzelnen Organ in Gestalt 
von Fragen alle die Punkte hervorgehoben, welche der Obduzent beim Diktieren 


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des Protokolls zu beachten hat. Diese Fragen sind, soweit es möglich war, so ab¬ 
gefasst, dass ihre Bejahung schon die charakteristischen Merkmale für die normale 
Beschaffenheit des Organs einschliesst. Im Anschluss daran wird gleichzeitig 
kurz der Befund bei den wichtigsten pathologisch-anatomischen Veränderungen 
des betreffenden Organs beschrieben. Die in den vorhergehenden beiden Auflagen 
vorhanden gewesenen Fremdwörter sind, dem Bedürfnisse der beamteten Aerzte 
entsprechend, in den für die Protokollierung bestimmten Fragen ausgemerzt 
worden. Neu aufgenommen sind die Abschnitte über Untersuchung der Nasenhöhle 
und des Auges. Dem früheren Musterprotokolle des Phthisikers ist das Protokoll 
eines ertrunkenen Knaben und das eines neugeboronen Mädchens hinzugofügt. Bei 
dem letzteren vermisst man die bei gerichtlichen Sektionen notwendige Beschreibung 
der Trennungsfläche des Nabelschnurrestes sowie eine Angabe darüber, ob letzterer 
unterbunden war oder nicht. Eine entsprechende Bemerkung mit der Anweisung, 
dass ein vertrockneter Nabelschnurrest eventuell zum deutlichen Erkennen der 
Trennungsfläche in Wasser anfzuweichen ist, wäre wohl auch in dem Kapitel: 
„Obduktion der Neugeborenen“ erforderlich gewesen. Ebenso vermisst Referent 
in diesem Kapitel, resp. in dem über die Untersuchung des Auges, eine Schilderung 
der Präparation der Regenbogenhaut zur Untersuchung auf das Vorhandensein der 
Pupillarmembran. 

Zum Schluss sind die oben erwähnten neuen Vorschriften für die Leichen¬ 
untersuchungen der Gerichtsärzte abgedruckt. 

Als Anlage ist in Oktavformat ein kleines Buch beigegeben, das Schemata 
für Obduktionsprotokolle in Form von Stichwörtern enthält und allen denen, die 
seltener Gelegenheit haben, Sektionen auszuführen, zur Unterstützung des Ge¬ 
dächtnisses beim Diktieren des Protokolls ein willkommener Ratgeber sein wird. 

Das Studium des klar und übersichtlich geschriebenen Buches sei allen 
Studierenden und Aerzten, besonders aber den Medizinalbeamten zum Repetieren 
angelegentlichst empfohlen. Die Kandidaten zum Kreisarzt-Examen, unter denen 
das Buch sich schon in seinen früheren Auflagen einer allgemeinen Verbreitung er¬ 
freute, werden durch das Studium desselben sich leicht im Abfassen des Sektions¬ 
protokolls einüben und gleichzeitig ihre Kenntnisse von dem normalen und patho¬ 
logischen Verhalten der einzelnen Organe wieder auffrischen. Pflanz-Berlin. 

Georges Bogdan, Strangulation, suicide ä l’aide d’une courroie. 

Revue de mödecine legale. Dezember 1905. 

Prof. Bogdan-Jassy berichtet über einen neuen Fall von Selbsterdrosselung 
mittels eines Hosenriemens. Täter war ein 32jähriger Kutscher, der wegen 
häuslichen Kummers schon mehrfach Lebensüberdruss geäussert hatte. Er wurde 
tot in seinem Stall gefunden. Ein hinterlassener Brief bekundete aufs neue die 
Absicht des Selbstmordes. Er hatte den Riemen zunächst einmal von vorn nach 
hinten um den Hals gelegt, dann ihn beiderseits nach vorn und an der Brust 
herabgezogen, wobei er jedes Ende mehrfach um die betreffende Hand geschlungen 
hatte. Nach Entfernung des Strangwerkzeuges fand man eine zirkuläre Strang¬ 
marke am Halse in der Höhe des Kehlkopfes, blass,.etwa einen Finger tief. Von 
ihr ging auf der rechten Seite eine schwächere Marke nach unten hin ab. Innere 
Verletzungen fanden sich nicht. Etwas Randemphysem der Lungen und zahlreiche 
subpleurale Ekchymosen waren der einzige Befund. Str. 


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Kürzere Mitteilungen, Besprechungen, Referate, Notizen. 


G. Corin, Sur les procedös les plus pratiques dans l’examen des 
taches de sang. Ann. d. la soc. d. med. legale de Belgique. XVII. No. 1. 

Unter den zahlreichen Verfahren zum Blutnachweis sind es nach Corins 
reicher Erfahrung einige wenige, die wegen ihrer Sicherheit und Zweckmässigkeit 
den Vorzug vor allen anderen verdienen und von ihm nur noch angewendet werden. 
Als Vorprobe kommt für ihn nur die Wasserstoffsuperoxydprobe in Betracht, deren 
Vorzüge sind, dass sie unabhängig von der Farbe des Substrats ist, den Blutfleck 
für jede andere Untersuchung unversehrt erhält und rasch und einfach auszuführen 
ist. Der Einwand, dass das H 2 0 2 rote Körperchen zerstören könnte, ist ohne 
Belang, weil Flecke, in denen noch wohlerhaltene Erythrozyten sind, keiner Vor¬ 
prüfung bedürfen. Für alle weiteren chemischen Untersuchungen ist das Pyridin 
das überlegene Reagens. Es löst sehr leicht die Blutspuren, für die Bildung des 
Hämochromogenspektrums genügt es, die Lösung gegen die Luft abzuschliessen, 
da sich dann die Reduktion von selbst vollzieht; sollte ausnahmsweise das Spektrum 
nicht entstehen, so kann man das Pyridin durch Erhitzen verjagen, und selbst bei 
äusserst spärlichem Material durch vorsichtige Behandlung des Hämatinrück¬ 
standes mit Eisessig Häminkristalle darstellen. Durch seine Flüchtigkeit zeichnet 
sich das Pyridin eben vor allen Lösungsmitteln aus, die feste Teile beim Ver¬ 
dampfen hintcrlassen. Die Umwandlung des Hämochromogenspektrums in das 
des sauren Hämatoporphyrins gelingt auch aus Pyridinlösung leicht mit kon¬ 
zentrierter Schwefelsäure. In den Fällen, wo sich der Farbstoff des Substrats 
sowohl im Pyridin wie in der Schwefelsäure löst, sodass keines der beiden Spektra 
zu erhalten ist, und auch die Häminkristalle sich nicht bilden, führt Corin das 
saure Hämatoporphyrin in das alkalische über, nach einem von ihm modifizierten 
Dominicisehen Verfahren: Neutralisierung der sauren Lösung mit Ammoniak, 
Aufnahme des vorher gewaschenen Niederschlages ohne Trocknung mit warmem 
Pyridin; in wenigen Minuten, bisweilen noch früher, ist die Lösung konzentriert 
genug, um ein charakteristisches Spektrum zu liefern. 

Zur Darstellung von Blutkörperchen in alten Blutflecken bevorzugt Verf. die 
Virchowsche Natronlauge, er warnt aber aus noch so blutkörperchenähnlichen 
Gebilden, die hier entstehen, allein die Diagnose auf Blut zu stellen. Für die 
Erkennung der Blutart haben allein Wert die biologische Reaktion (Präzipitation) 
und die Marx-Ehrnroothscho Agglutinationsprobe, der Corin eine grosse Zu¬ 
kunft weissagt. P. Fraen ekel-Berlin. 

A. Lecha-Marzo (Valladolid), Un nuevo procedimiento para el dia- 
gnöstiko mödio-legal de las manchas de sangre. Revista de medicina 
y cirurgia präcticas. Marzo 1906. 

Das vom Verf. hier neu empfohlene Verfahren soll bessere und beständigere 
Hämochromogenkristalle geben als die Methoden von Donogany, de Dominicis 
und Cevidalli. Zu der Blutspur, die beliebig klein und beliebig alt sein darf, 
gibt er auf dem Objektträger etwas alkoholische Jodlösung, dann Pyridin und 
schliesslich Ammoniumsulfid; darauf bedeckt er lose mit dem Deckglas und die 
Kristallbildung beginnt sofort, im Verzögerungsfalle wird sie durch gelindes Er¬ 
wärmen beschleunigt. So erhält man nebeneinander Kristalle von Hämochromogen 
und von Jodhämatin. Die Reaktion gelingt an allen Blutarten in ganz ähnlicher 
Weise. Die nadelförmigen, teils isoliert, teils in Rosetten liegenden Kristalle sind 


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mehr oder weniger stark rot und geben das Hämochromogenspektrum. Die an- 
gewendete Jodlösung (4—lOpCt.) soll 2pCt. Jodkali enthalten. 

P. Fraenckel-Berlin. 


Kern, Ueber die Grenzen des gerichtsärztlichen Urteils in Fragen 
der Zurechnungsfähigkeit. Sonderabdruck aus der v. Leutbold-Gedenk- 
schrift. 11. Band. Hirschwald. Berlin 1906. 

Kern legt seinen Erörterungen die gegenwärtige Fassung des § 51 St.-G.-B. 
zu Grunde. Bekanntlich hat besonders M en dol immer wieder betont, dass der 
Arzt sich lediglich auf die Feststellung der Bewusstlosigkeit oder der krankhaften 
Störung der Geistestätigkeit beschränken solle, und dass der Relativsatz „durch 
welchen seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war“ nicht Gegenstand 
ärztlicher Erwägung sein könne, insofern als die freie Willensbestimmung kein 
medizinischer Begriff sei. Kern ist im Gegensatz hierzu der Ansicht, dass das 
Urteil des sachverständigen Arztes durchaus eine Beziehung gerade auf diesen 
Relativsatz, auf die freie Willensbestimmung, enthalten muss. Der Arzt darf sich 
durchaus des Begriffes der freien Willensbestimmung bedienen. Dabei kommt eben 
nur alles darauf an, was unter der freien Willensbestimmung zu verstehen sei. 
Um Kern bei den entsprechenden Ausführungen ganz folgen zu können, muss 
man sich des Inhaltes seiner Schrift: „Das Wesen des menschlichen Seelen- und 
Geisteslebens“ erinnern, die ich im Supplementheft 1906 dieser Vierteljahrsschrift 
besprochen habe. Darnach ist der Wille nichts anderes als ein „psychisch ge¬ 
fasster Ausdruck für die ihm völlig gleichnamige äussere Handlung“. Die 
Freiheit dos Willens wird zu einer Freiheit der Entschliessung. Der Sinn der 
freien Willensbestimmung kann nur dahin definiert werden, „dass er eine Willens¬ 
tätigkeit oder besser eine Handlungsweise umfasst, welche frei ist von krankhaften 
Störungen des dem geistig vollwertigen Menschen zukommenden, von ihm zu 
fordernden Verstellungsverlaufs und Urteilsvermögens“. Durch diese von Kern 
in Konsequenz eines intellektuellen Indeterminismus vollzogene Deutung des 
Relativsatzes des § 51 wird dem ärztlichen Sachverständigen in der Tat ein sicherer 
Boden geschaffen, auf dem er mit seinem Urteil über die freie Willensbestimmung 
feststeht, ohne irgendwie die Grenzen seiner Kompetenz überschritten zu haben. 
Auch Verantwortlichkeit und Zurechnungsfähigkeit sind in eben diesem Sinne Be¬ 
griffe, deren der Arzt sich ohne Furcht vor vermeintlichen Zuständigkeitsüber¬ 
schreitungen bedienen darf. 

Zu verurteilen ist die so oft beliebte Fassung des Gutachtens „Geisteskrank 
im Sinne des § 51“; diese Fassung bedeutet in Wirklichkeit eine Znständigkeits- 
überschreitung seitens des Arztes, denn der §51 beginnt mit dem Satze: „Eine 
strafbare Handlung ist nicht vorhanden“, und dieser Satz steht lediglich zur Be¬ 
urteilung des Richters. „Der Arzt soll vielmehr an der Hand des Inhalts jenes 
Paragraphen den Geisteszustand nur erläutern, die Art der etwaigen Geistesstörung 
zu jenem Inhalt in erläuternde Beziehung setzen, und ihren Grad an jenem Inhalt 
abmessen, diesos Abmessen aber gewissermassen vor den Augen des Richters vor¬ 
nehmen, anstatt diesem nur das subjektive und deshalb anfechtbare Ergebnis der 
Abmessung aufzudrängen. Macht der Arzt dabei von Worten wie: freie Willens¬ 
bestimmung, Verantwortlichkeit oder Zurechnungsfähigkeit Gebrauch, so ist das 
gewiss kein Unglück und noch weniger ein sog. Kunstfehler; denn der Richter 


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nimmt ja dann mit eigenem Urteil an der Abmessung teil und prüft entscheidend 
ihre Richtigkeit.“ Marx-Berlin. 


Notizen. 


Die Breslauer dermatologische Vereinigung bittet uns um Ver¬ 
öffentlichung des nachfolgenden Aufrufes: 

Ersuchen an die deutschen Aerzte. 

Die Breslauer dermatologische Vereinigung hat beschlossen, Schritte zu tun, 
um von den Unfallversicherungsgesellschaften bei 


Syphilisinfektion im Berufe 

für die Aerzte günstigere Entschädigungsbedingungen zu erlangen als bisher. 

Die zur Zeit gültigen Versicherungsbedingungen entsprechen gerade in der¬ 
artigen, gar nicht so seltenen Fällen den Interessen der Aerzte nicht. Es sind 
einzelnen Mitgliedern der Vereinigung Fälle zur Kenntnis gekommen, in welchen 
sehr berechtigt erscheinende Entschädigungsansprüche der Aerzte von den Ver¬ 
sicherungsgesellschaften zurückgewiesen wurden oder nur unter Schwierigkeiten 
geltend gemacht werden konnten. 

Bevor die Breslauer dermatologische Vereinigung mit Vorschlägen hervortritt, 
in welcher Weise die Versicherungsbedingungen abzuändern wären, richtet sie an 
die deutschen Aerzte dringend die Bitte, ihr diejenigen ihnen bekannten Fälle 
mitzuteilen, in welchen 

1. die Anerkennung von beruflicher Syphilisintektion als Unfall¬ 
ursache vor Abschluss der Unfallversicherung zurückgewiesen oder nur 
unter hohem Prämienzuschlage bewilligt wurde; 

2. eine Entschädigung für vorübergehenden Verlust der Arbeitskraft nach 
dem 400. Tage seit der Entstehung des Unfalles beanstandet wurde; 

3. die Anerkennung von voraussichtlich lebenslänglicher Ver¬ 
minderung der Arbeitskraft, d. h. von Invalidität auf Grund be¬ 
ruflicher Syphilisinfektion verweigert wurde resp. erst erstritten werden 
mussto. 

Die Vereinigung ersucht, die Mitteilung der einschlägigen Fälle — sowohl 
der erfolglos als auch der erfolgreich geltend gemachten Ansprüche — durch Zu¬ 
sendung des Briefwechsels mit den Gesellschaften und etwaiger Schiedsgerichts¬ 
verhandlungen zu ergänzen. 

Nur auf Grund genauer Kenntnisse über das Verhalten der Versicherungs¬ 
gesellschaften in den einzelnen Fällen und auf Grund eines reichhaltigen Materials 
wird es möglich sein, in dieser für die gesamte Aerzteschaft wichtigen An¬ 
gelegenheit eine Besserung zu erreichen. 

Die Vereinigung bittet, Zuschriften an den Unterzeichneten Dr. Chotzen zu 
senden, welcher die Bearbeitung dieser Frage übernommen hat. Für strengste 
Geheimhaltung der mitgeteilten persönlichen Angaben wird Gewähr geleistet. 

Breslauer dermatologische Vereinigung. 

Prof. Dr. Albert Neisser, Geh. Med.-Rat, Dr. Martin Chotzen, 

derzeitiger Vorsitzender. Breslau XVIII, Landsberger Strasse 1. 


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II. Oeffentliches Sanitätswesen. 


1 . 

PhosphorwasserstoffYergiftung durch elektrolytisch 
gewonnenes Ferrosilicium. 

Von 

Dr. Bahr, und Dr. Lelmkering, 

Kttnigl. Kreisarzt des Stadtkreises Duisburg Vorsteher des städtischen chemischen 

und des Kreises Kuhrort Laboratoriums in Duisburg. 

Der Schiffer Kühnle hatte auf seinem Schiffe Caroline am Donners¬ 
tag, dem 15. März 1906, im Mannheimer Hafen Ladung eingenommen, 
die in Papierballen und 750 Ztr. Ferrosilicium bestand. Um 10 Uhr 
abends war die Ladung an Bord, und am Freitag, morgens um 5 x / 2 Uhr, 
verliess Kühnle den Hafen, um nach seinem Bestimmungsort Duisburg 
zu fahren. Das Wetter war windig und regnerisch, die Kajüte musste 
geheizt werden. In der Nacht vom Freitag zum Sonnabend legte der 
Schiffer bei Oberlahnstein an, und setzte erst am Sonnabend früh 
seine Reise fort. Am Sonnabend Morgen trat bei zwei seiner Kinder, 
dem 2y 2 jährigen Adolf und dem 4 x / 2 Jahre alten Heinrich Erbrechen 
auf. Im Laufe des Tages wurden die Kinder wieder wohler, und als 
das Schiff um 5 Uhr nachmittags in Duisburg ankam, waren sie 
wieder ganz munter, so dass man davon Abstand nahm, einen Arzt 
zu befragen. 

Am Sonnabend früh war der Kanarienvogel, der in seinem Käfig 
an der Kajütenwand hing, tot von seiner Stange gefallen. 

Am Sonnabend um 10 Uhr abends wurden die beiden Kinder 
wieder unruhig, erbrachen und klagten über heftigen Durst. 

Am Sonntag wurde der Zustand des jüngeren Adolf bedenklich, 
es wurde ein Arzt gerufen, der das Kind benommen fand, und nach 


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Dr. Bahr und Dr. Lehnkering, 


seiner Angabe zunächst an Typhus dachte. Das Kind schlief fort¬ 
dauernd, und um 7 Uhr trat der Tod ein. Inzwischen hatte auch 
der ältere Knabe dieselben Erscheinungen gezeigt, wie sein jüngerer 
Bruder, und starb um 11 Uhr, bevor noch der Vater mit dem Arzte 
zum Hafen eilen konnte. 

Nach der Leichenschau schrieb der behandelnde Arzt in den 
Totenschein, dass die Kinder an „Genickstarre“ verstorben seien, und 
so kamen die Todesfälle zur Kenntnis des Kreisarztes. Das Schiff 
wurde isoliert, und das dritte, gesund gebliebene Kind dem Vincenz- 
hospital zur Beobachtung überwiesen. 

An Ort und Stelle fand sich Folgendes: 

Auf dem Schiffe waren zwei Wohnabteilungen für die Familie 
des Schiffers vorhanden. Die Kajüte auf Deck, über dem Laderaum, 
gegen diesen nur durch den Kajütsboden abgeschlossen, und sodann 
im Hinterschiff das sogenannte „Achteronder“, ein durch wasser- und 
luftdichte Schotten abgeteilter Raum. Unter der Kajüte und neben 
dem Aehteronder befanden sich im Laderaum ungefähr 750 Zentner 
elektrolytisch gewonnenes Ferrosilicium. Die verstorbenen zwei Kinder 
hatten sich andauernd in der geheizten Kajüte aufgehalten, das gesund 
gebliebene Kind mit einem 15 Jahre alten Mädchen aber im abge¬ 
schlossenen hinteren Schiffsraum. Der Ofen der Kajüte war in Ord¬ 
nung, und ohne Klappe. 

Von dem Ferrosilicium der Ladung entnahm ich Proben und 
übergab sie dem Leiter des städtischen chemischen Laboratoriums, 
Herrn Dr. Lehnkering, zur chemischen Untersuchung, nachdem ich 
ihm die näheren Angaben über Oertliehkeit und Ladung gemacht 
hatte. Der Königlichen Staatsanwaltschaft teilten wir mit, dass Schuld 
eines Dritten zwar nicht in Frage komme, dass aber eine Leichen¬ 
öffnung aus allgemeinem, öffentlichem Interesse dringend anzuraten 
sei. Die Obduktion des erst-verstorbenen Kindes wurde angeordnet, 
und am 22. März vom Kreisarzt vorgenommen. 

Aus dem Leichenbefund sei Folgendes angegeben: 

A. Aeussere Besichtigung. 

2. Die Farbe der Leiche ist im allgemeinen blass, am Rücken und den ab¬ 
hängigen Körperabschnitten frischrot, beim Einschneiden daselbst kein freies Blut 
im Gewebe. 

5. Im blassen Gesicht sind die Augenlider geschlossen; Bindehäute blass, 
Hornhäute stark getrübt, Regenbogenhäute bläulich, Sehlöcher rund, beiderseits 
gleich weit, 4 mm im Durchmesser. 


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Phosphorwasserstoffvergiftung durch elektrolyt. gewonnenes Ferrosilicium. 125 


6. Die natürlichen Oeffnungen dos Kopfes frei von fremden Körpern. Ohr¬ 
muscheln frischrot, beim Einschneiden daselbst kein freies Blut im Gewebe. 

7. Der frischrote Hals unverletzt und in den üblichen Grenzen beweglich. 

9. Bauch massig gewölbt, teils rosa, teils grünlich gefärbt, unverletzt. 

12. Rücken frischrot, an den gedrückten Stellen weiss. 

B. Innere Besichtigung. 

I. Brust- und Bauchhöhle, 
a) Brusthöhle. 

15. Die Lungen zurückgesunken, nähern sich mit ihren freien Rändern in 
der Nähe des Herzgrundes bis auf 3 x / 2 cm - Beide Brustfellsäcke leer, Brustfell 
glatt und gläuzend. 

16. Herzbeutel zart, blassrosa; an der Innenseite feucht, glatt und glänzend, 
blass. Er enthält 10 ccm einer klaron, rosa gefärbten Flüssigkeit. 

17. Das Herz hat feste Beschaffenheit, ist bläulichrot gefärbt, 5:5:2,5 cm 
gross, nicht mit Fett bewachsen, seine Kranzgefässe sind strotzend gefüllt. Von 
der bläulichroten Grundfarbe der Horzoberfläche heben sich 5 stecknadelkopfgrosse, 
dunkelrote Fleckchen ab. Beim Einschneiden daselbst freies Blut im Gewebe 
(Ekchymosen). Im rechten Vorhof und der rechten Kammer je 5 ccm dunkles, 
flüssiges Blut. In der linken Kammer nur einige Tropfen Blutes von gleicher Be¬ 
schaffenheit. Vorhofkammermündungen lassen die Kuppe des kleinen Fingers ein- 
dringen. Die arteriellen Klappen schliessen wasserdicht. Klappenapparate, Sehnon¬ 
fäden und Balkenmuskeln unverändert. Innenhaut des Herzens glatt und glänzend. 
Die Dicke der rötlichen Herzmuskulatur beträgt links 1 cm, rechts V 2 cm - Aus 
den durchschnittenen grossen Gefässen entleeren sich noch 10 ccm dunkles, 
flüssiges Blut. Dies Blut und das Blut aus dem Herzen werden in ein Gefäss A 
getan. 

18. Die linke Lunge hat eine bläulichrote, marmorierte Oberfläche; an drei 
Stellen stecknadelkopfgrosse, dunkelrote Fleckchen. Beim Einschneiden daselbst 
frisches Blut im Gewebe (Ekchymosen). Die Lunge fühlt sich überall lufthaltig 
an. Die aufgeschnittenen Luftröhren äste leer, ihre Schleimhaut rötlich. Auf dem 
Durchschnitt ist das Lungengewebe dunkelrot, bei Druck tritt wenig feinblasiger, 
weisser Schaum und dunkles Blut auf die Durchschnittsflächen. 

19. Die rechte Lunge verhält sich wie die linke, nur sind keine dunkelroten 
Fleckchen aufzufinden. 

20. Innere Brustdrüse 10 cm lang, 1—5 cm breit und 1 cm dick. An der 
Oberfläche blassrot, an drei Stellen stecknadelkopfgrosse, dunkelrote Fleckchen, 
beim Einschneiden Spuren freien Blutes daselbst im Gewebe (Ekchymosen). Auf 
den grauroten Durchschnitt der Brustdrüse tritt bei Druck weisse milchige Flüssigkeit. 

25. Kehldeckel, Eingang des Kehlkopfes und seine Innenseite frisch hell¬ 
rot, mit zahlreichen feinsten Gefässchen. Im Kehlkopf wenig feinblasiger Schaum. 

26. Oberer Teil der Luftröhre enthält gleichfalls wenig weissen Schaum, 
seine Schleimhaut blassrötlich. 

28. An den grossen Gefässen des Halses, die mit dunklem, flüssigem Blute 
mässig gefüllt sind, sowie an den Nerven und tiefen Muskeln des Halses keine 
Abweichungen. 


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Dr. Bahr und Dr. Lehnkering, 


b) Bauchhöhle. 

33. Linke Niere, mit zarter, leicht abziehbarer, wenig fettreicher Kapsel, hat 
bläulichrote Oberfläche mit zahlreichen stecknadelkopfgrossen dunkelroten Fleckchen. 
Beim Einschneiden daselbst Spuren freien Blutes im Gewebe (Ekchymosen). Im 
übrigen ist die Oberfläche glatt, gelappt. Durchschnitt bläulichrot, in der Mark¬ 
substanz dunkler als in der Rinde, blutreich. 

34. Rechte Nebenniere und Niere wie links, nur sind auf der rechten Niere 
weniger dunkelrote Fleckchen. Beide Nieren werden in ein Gefäss D getan. 

42. Die Leber hat gelblichrote, glatte Oberfläche und feste Beschaffenheit. 
Sie ist 15:8:4y 2 cm gross. Durchschnitt gelblichrot. Leberläppchen mit dunklem 
Zentrum und hellerer Peripherie deutlich erkennbar. 

45. Untere Hohlader und Bauchschlagadcr mit dunklem, flüssigem Blute bis 
zur halben Rundung gefüllt. 

II. Kopfhöhle. 

50. Harte Hirnhaut blass, weiss, glatt und glänzend auf Oberfläche und 
Innenseite; im Längsblutleiter einige Tropfen hellroten, flüssigen Blutes. 

52. Die weiche Hirnhaut ist in der Gegend der Hirnfurchen leicht getrübt 
und wässrig durchtränkt. Ihre Gefässe sind bis in die kleinsten Verzweigungen 
prall gefüllt. 

53. Gehirn weich, symmetrisch gebaut, Windungen rundlich, deutlich aus¬ 
geprägt. Auf grossen glatten Sohnitten zeigt die Rinde einen schwachroten 
Schimmer. Es treten zahlreiche abspülbare Blutpunkte hervor. 

59. Harte Hirnhaut am Schädelgrunde perlmutterglänzend, ihre Blutleiter 
mit dunklem, flüssigem Blut prall gefüllt. 

Das vorläufige Gutachten lautete: 

I. Die Obduktion hat eine bestimmte Todesursache nicht ergeben. 

II. Die an den inneren Organen Vorgefundenen kleinsten Blutaustretungen, 
Ekchymosen, könnten auf Erstickungstod binweisen. 

III. Spuren äusserer Gewalt wurden an der Leiche nicht vorgefunden. 

IV. Die der Leiche entnommenen Teilo werden vorschriftsmässig bezeichnet, 
dem Richter zum Zwecke einer eventuellen chemischen Untersuchung übergeben. 

Der Leichenbefund zeigt entschieden Aehnlichkeit mit dem bei 
Kohlenoxydgasvergiftung, nur waren Totenflecke, Gewebe und Blut 
nicht kirschrot, wie bei dieser; in der ganzen Leiche fand sich nur 
flüssiges Blut. 

Die Untersuchung der Leichenteile nahm der Leiter des städti¬ 
schen chemischen Laboratoriums, Herr Dr. Lehnkering, vor, sein Gut¬ 
achten lautete: 

„Die Untersuchung der Leichenteile des obduzierten Kindes hat 
chemisch'und spektralanalytisch nichts Positives ergeben, da wahr¬ 
scheinlich] bereits eine Umwandlung des eingeatmeten Phosphorgases 
in Phosphorsäure, welche stets im menschlichen Körper vorkommt, 
stattgefunden hatte. 


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PhosphorwasserstofTvergiftung durch elektrolyt. gewonnenes Ferrosilicium. 127 


Da aber aus der unter den in Betracht kommenden Aufenthalts¬ 
räumen befindlichen Ladung fortgesetzt Phosphorwasserstoff sich ent¬ 
wickelte, und dieses höchst giftige Gas von den verstorbenen Kindern 
eingeatmet werden musste, so dürfte die Todesursache mit grösster 
Sicherheit auf diesen Umstand zurückzuführen sein.“ 

Ferrosilicium ist an sich ein Material, von dem nicht zu ver¬ 
muten ist, dass es giftige Gase entwickelt. 

Die eingehende Untersuchung dieses elektrolytisch hcrgestellten 
Ferrosiliciums hat aber ergeben, dass cs geringe Mengen Phosphor¬ 
calcium enthielt, welches schon durch Einfluss feuchter Luft den 
äusserst giftigen, gasförmigen Phosphorwasserstoff entwickeln kann, 
welcher nach der einschlägigen Literatur schon bei einem Gehalt 
von 0,25 pCt. in der Atmungsluft für den Menschen tödlich sein soll. 1 ) 

Der Nachweis der Phosphorwasserstoffentwicklung wurde in fol¬ 
gender Weise geführt. 

Das Ferrosilicium befand sich in undichten Holzfässern, welche 
der Luft ungehinderten Zutritt gestatten. Nachdem der Deckel eines 
Fasses abgenommen war, machte sich bereits der charakteristische Geruch 
nach Phosphorwasserstoff bemerkbar. Die obere Schicht des Ferro¬ 
siliciums wurde entfernt, und in das Fass eine Porzellanschale gestellt, 
welche eine wässerige Lösung von Silbernitrat enthielt. Schon nach 
kurzer Zeit bildete sich ein schwarzbrauner Ueberzug auf der Flüssig¬ 
keit, welcher sich nach mehrmaligem Umrühren zu einem erheblichen 
Niederschlag verstärkte. Die Untersuchung im Laboratorium ergab, 
dass dieser Niederschlag aus Phosphorsilber bestand. 

In der entnommenen Probe des Ferrosiliciums wurde fcstgestcllt: 

Gehalt an Silicium 57,69 pCt., Gehalt an Gesamtphosphor 

O, 16 pCt. Das zerkleinerte Ferrosilicium wurde mit Wasser ange¬ 
feuchtet und das sich entwickelnde Gas durch einen Luftstrom in 
eine Lösung von Silbernitrat in Wasser getrieben. Vorher musste das 
Gas ein mit Aetzkali gefülltes Rohr passieren, um etwa auftretenden 
und zu Irrtümern führenden Schwefelwasserstoff zurückzuhalten. 
Ferner war bereits vorher festgestellt worden, dass das Gas in 
ammoniakalischer Kupfersulfatlösung keinen Niederschlag erzeugte, 
also kein Accthylen enthielt, welches ebenfalls einen dunklen Nieder- 

1) Eulenberg, Die Lehre von den giftigen Gasen. 1865. S. 424. — 
Dybkowski, Hoppe - Seylers med.-chem. Untersuchungen. 1866. S. 49. — 
Boehm, A. C. P. Ph. 15 (1882). S. 439. — Boltenstern - Schulz, A. C. 

P. Ph. 27 (1890). S. 314. 


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128 


Dr. Bahr und Dr. Lehnkering, 

schlag in der Silberlösung hätte erzeugen, und damit Phosphorwasser- 
stofif hätte vortäuschen können. 

Der Niederschlag konnte daher nur bestehen aus fein verteiltem 
metallischem Silber, aus Arsensilber und aus Phosphorsilber. 

Die Untersuchung ergab, dass der Niederschlag lediglich aus 
Phosphorsilber bestand. Aus seiner Menge berechneten sich 0,0227 g 
gasförmigen Phosphorwasserstoffs für ein 1 Kilo Ferrosilicium. Dem¬ 
nach würden die 750 Ztr. der Ladung 851 g Phosphorwasserstoff 
haben entwickeln können. 

Die Bildung des gasförmigen Phosphorwasserstoffs erfolgte aus 
Phosphorcalcium, welches seinerseits bei der Schmelzarbeit im elek¬ 
trischen Ofen entsteht aus dem Kalk- und Phosphorgehalt der Koks¬ 
asche, sowie dem Phosphor des Eisens. Es entwickelt sich bei der 
Berührung des Phosphorcalciums mit Wasser oder feuchter Luft zu¬ 
nächst flüssiger Phosphorwasserstoff, der sich durch den Einfluss des 
Eisens in festen und gasförmigen Phosphorwasserstoff umwandclt. Nur 
der letztere ist bekanntlich giftig. 

Die über dem erschöpften Ferrosilicium stehende Wasserschicht 
enthielt auf 1 kg Ferrosilicium berechnet 0,0476 g Aetzkalk gelöst, 
also erheblich mehr, als dem gefundenen gasförmigen Phosphorwasser¬ 
stoff entspricht, was auch zu erwarten stand, da vor der Untersuchung 
ja schon Phosphorwasserstoff entwichen war, und ausserdem für die 
beiden nicht bestimmten Phosphorwasserstoffarten Kalk in Rechnung 
zu stellen ist. 

Die örtlichen Verhältnisse und die Witterungsvcrhältnissc be¬ 
günstigten das Eindringen der sich aus dem Ferrosilicium entwickelnden 
giftigen Gase in den Wohn- und Schlafraum der Kinder. Denn die 
wohlgeheizte Kajüte sog durch den undichten Bretterfussboden die 
Gase wie ein Schröpfkopf an, zumal Fenster und Türen wegen des 
rauhen Wetters dicht geschlossen gehalten wurden. Als am Sonn¬ 
abend ,im Laufe des Tages die Tür zeitweise offen gestanden hafte, 
hatten sich die Kinder sofort wieder erholt. 

Das dritte Kind und seine jugendliche Pflegerin blieben gesund, 
weil sic durch ein luftdichtes Schott von der gefährlichen Ladung ge¬ 
trennt waren, ebenso der Vater, der fast immer draussen zu tun 
hatte. Die fortgesetzte Entwicklung des Phosphorwasserstoffes erklärt 
sieh einmal daraus, dass das Ferrosilicium beim Einladen feucht ge¬ 
worden war, und ferner daraus, dass während der ganzen Reise 
feuchtes, regnerisches Frühjahrswetter herrschte. Uebrigens hatte der 


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Phosphorwasserstoffvergiftung durch elektrolyt. gewonnenes Ferrosilicium. 129 


Schiffer Kühnle bereits am Freitag, dem 16. März 1906, morgens den 
eigenartigen Geruch des giftigen Phosphorgases in dem Schlafraum 
bemerkt, hatte aber nicht gewusst, woher er kam. 

Leider scheinen diese beiden Todesfälle in der Familie Kühnle 
nicht die einzigen durch Phosphorwasserstoff bewirkten zu sein, denn 
durch wiederholtes Nachforschen bei den Schiffern brachten wir noch 
Folgendes in Erfahrung: 

I. Der Schiffer Philipp Müssig aus Wimpfen hatte seine Frau und 
seine 15 jährige Schwägerin an Bord, er hatte an einem Sonnabend 
seine Ladung eingenommen, darunter Ferrosilicium. In der Nacht 
von Sonntag auf Montag erkrankten die beiden Frauen unter den¬ 
selben Erscheinungen, wie die Kinder Kühnle. Müssig brachte seine 
kranke Frau in das Krankenhaus zu Ludwigshafen, das junge Mädchen 
war schon vor der Ueberführung gestorben. Müssig erfuhr nun von 
dem Schiffer Franz Hamberger aus Haspenheim, dass dieser seinen 
Hund und seine Katze in einen Schiffsraum eingesperrt hatte, der 
Ferrosilicium enthielt, die Tiere sollten Mäuse aus dem Raum ver¬ 
tilgen. Als er am Morgen die Tiere herauslassen und füttern wollte, 
lagen sie tot unter der Luke. Müssig wiederholte nun sofort diesen 
Versuch, indem er abends seinen eigenen Hund in den Raum 
sperrte, am nächsten Morgen war das Tier tot. 

II. Der holländische Schiffer Sack, nähere Angaben waren bisher 
nicht zu erlangen, erkrankte samt seiner Frau auf der Reise von 
Mannheim nach Duisburg in der Gegend von Bonn. Beide schliefen 
in der Kajüte, unter der Ferrosilicium lagerte. Der Schiffer brachte 
die zuerst erkrankte Frau in die Bonner Klinik, wo sie starb, er selbst 
starb auf der Weiterreise nach Duisburg. 

IU. Soll der Schiffer Vollmer, der für die Firma Fendel in 
Mannheim fährt, sein 2 Jahre altes Töchterchen auf der Reise ver¬ 
loren haben, während er Ferrosilicium geladen hatte. Das Kind 
erkrankte plötzlich nachts und starb bereits am nächsten Morgen. 

Wenn nun auch die letztgenannten Fälle nicht absolut sicher 
sind, so genügt doch unseres Erachtens der von uns beschriebene 
Fall Kühnle, um die Forderung aufzustellen, dass für den Transport 
des elektrolytisch gewonnenen Ferrosiliciums besondere Kautelen ge¬ 
schaffen werden, damit weitere Unglücksfälle vermieden werden. 

Abgeschlossen: Duisburg, den 26. Mai 1906. 


Vierteljahrsschrift f. ger. Med. u. öff. San.-Wesen. 3. Folge. XXXII. 1. 


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2 . 


Uefoer die Aenderung der Arzneibuch-Vorschrift 

für Digitalisblätter. 

Von 

Dr. Focke in Düsseldorf. 


Die Vorbeugung derjenigen Intoxikationen, die gewöhnlich auf 
medizinalem Wege entstehen, gehört zu den Aufgaben des klinischen 
Unterrichts; das gilt auch für die Digitalis, weil das Auftreten der 
toxischen Kumulation durch die Dosierung vermieden werden kann. 1 ) 
Aber das ist natürlich nur möglich unter der Voraussetzung, dass die 
Apotheker in allen Fällen gleichmässig starke Präparate dispensieren; 
und hierfür zu sorgen, ist Aufgabe der Medizinalpolizei. 

Die so vielfach beklagte Ungleichmässigkeit in der Stärke unserer 
wichtigen Arzneidroge bedarf dringend der Abstellung. Das ist längst 
anerkannt (vergl. Berl. klin. Wochenschr. 1906. No. 20) und ebenso 
Ast bekannt, dass die Gleichmässigkeit der Wirkungsstärke auch im 
Grossen technisch erreicht werden kann, worauf ich (sub 2) noch 
zurückkomme. Es blieb bisher nur die eine Frage offen: Wie könnte 
diese Gleichmässigkeit in den Apotheken durch die betreffende Arznei¬ 
buch-Vorschrift gesetzlich eingeführt werden? Die Vorschritt müsste 
überhaupt mit den Ergebnissen der neueren Forschung bezüglich 
unserer Droge in Einklang stehen; und auf dieser Grundlage einen 
möglicherweise brauchbaren Wortlaut der Vorschrift anzugeben und 

zu begründen, ist der Zweck der folgenden Zeilen. 

* * 

* 

Die jetzige Arzneibuchvorschrift lautet: 

„Folia Digitalis — Fingerhutblätter. Die zu Beginn der Blütezeit 

1) Vgl. Medizin. Klinik. 1905. No. 31. 


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Ueber die Aendernng der Arzneibuch-Vorschrift für Digitalisblätter. 131 

gesammelten, getrockneten Laubblätter wildwachsender Pflanzen von Digitalis 
purpurea. Die Blätter sind höchstens 30 cm lang; ihre Spreite ist am Rande un¬ 
gleich gekerbt, länglich-eiförmig, sitzond oder in einen dreikantigen, geflügelten 
Blattstiel verschmälert. Die Seitennerven erster Ordnung geben unter einem spitzen 
Winkel vom Mittelnerven ab und bilden wie diejenigen zweiter und dritter Ord¬ 
nung auf der Unterseite des Blattes hervortretende Rippen, zwischen welchen ein 
nicht hervortretendes Nervennetz im durchscheinenden Lichte beobachtet werden 
kann. Die Spreite ist nur mit mehrzelligen (meist ein- bis vierzelligen), spitz zu¬ 
laufenden Haaren und mit kopiigen Drüsenhaaren besetzt. Oxalatkristalle fehlen 
im Blattgewebe. 

Fingerhutblätter schmecken widerlich bitter. 

In dem aus 1 Teile Fingerhutblätter mit 10 Teilen siedendem Wasser her¬ 
gestellten Auszuge soll nach dem Erkalten durch Zuträufeln von Gerbsäurelösung 
ein reichlicher Niederschlag entstehen, welcher von überschüssiger Gerbsäurelösung 
nur schwer wieder aufgelöst wird. 

Vorsichtig, nicht über 1 Jahr aufbewahren. 

Grösste Einzelgabe 0,2 g. 

Grösste Tagesgabe 1,0 g.“ 

Darin sind mehrere Stellen der Aenderung oder Ergänzung be¬ 
dürftig. 

1. Zuerst nenne ich die Bestimmung über die Zeit der Blätter¬ 
ernte; mit dieser Frage zugleich kann auch die nach dem eventuellen 
Ausschluss der einjährigen Pflanzen erörtert werden. 

Wenn man die Vorläufer des jetzigen Arzneibuchs ansieht, so 
findet man, dass die Pharmacopoea Borussica I von 1799, die die 
Herba Digitalis schon aufgenommen hatte, über obige Punkte noch 
gar nichts enthält. Dasselbe gilt von den Ausgaben II und III. 
Erst in der Editio IV von 1827 erscheint die auch von der Ed. V. 
übernommene Einschränkung „tempore primo florescentiae“, was genau 
denselben Sinn gibt wie die heutigen Worte „zu Beginn der Blütezeit“. 
Beide Fassungen bedeuten nur eine Zeitbestimmung, die ins Praktische 
übersetzt lautet „Ende Juni bis Anfangs Juli“. Damit ist nicht ge¬ 
sagt, dass die Blätter nur von blühenden (d. h. 2 jährigen) Pflanzen 
genommen werden dürften; auch die nichtblühenden (d. h. 1jährigen) 
Pflanzen sind zugelassen. Letzteres haben erst die Ausgaben VI von 
1846 und VII ausdrücklich verneint durch den Wortlaut „e plantibus 
florescentibus“, ebenso noch die Pharm. Germanica I durch „e planta 
florescente“. Erst nach 35 Jahren, d. h. vom Jahre 1882 ab, hat 
man die frühere Form wieder eingesetzt oder vielmehr noch erweitert; 
denn die Pharm. Germ. II und das Arzneibuch III sagen nur „floris 
aetate“ und „zur Blütezeit“. Wenn man nun während des ganzen 

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132 


Dr. Focke, 


Jahrhunderts, ausser von 1846—82, die einjährigen Pflanzen zuliess, 
so geschah es doch wohl auf Grund der klinischen Erfahrung. Deren 
Richtigkeit ist überdies jetzt durch die chemische und physiologische 
Prüfung bestätigt worden; denn obgleich die Blätter der einjährigen 
Pflanzen an Digitoxingehalt und physiologischer Wirksamkeit den 
zweijährigen zu Beginn der Blütezeit nachstehen, so werden sie ihnen 
im Verlauf der Blütezeit doch ebenbürtig und können gegen Ende 
dieser Zeit sie sogar übertreffen. Es liegt also weder ein Grund 
vor, die nichtblühenden Pflanzen auszuschliessen, noch die Ernte auf 
den Beginn der Blüte zu beschränken. Das ist von praktischer Be¬ 
deutung, weil etwa in drei Jahren einmal auf den Beginn der Blüte¬ 
zeit eine Regenperiode fällt und es dann ohnehin notwendig ist, das 
Sammeln auf eine trockenere Zeit zu verschieben. Man könnte ja 
fordern, dass die verschiedenwertigen (weil von verschiedenen Ent¬ 
wickelungsstadien, Orten und Zeiten stammenden) Blätterposten einer 
Erntezeit gemischt werden sollen; eine solche Forderung braucht aber 
nicht im Arzneibuch zu stehen, weil sie sich für die Arzneidrogen¬ 
firmen von selbst ergibt, wenn die unten folgende Vorschrift über den 
Wirkungswert aufgenommen wird. Da indessen doch eine gewisse 
Abgrenzung für die Zeit des Sammelns nötig ist, so müsste sie lauten 
„zwischen Ende Juni und Ende August“, weil nur in dieser Jahres¬ 
zeit die gemischten Blätter von (nicht ganz im Schatten) wild ge¬ 
wachsenen Pflanzen die volle Kraft besitzen. 

2. Alle in Betracht kommenden Massnahmen zur Konservierung 
der Blätter sind bisher zusammengedrängt in das eine Wort „getrocknet“! 
Ob das Trocknen kurz oder lang, bei höherer oder niederer Temperatur 
stattfindet, ob es sofort nach dem Einsammeln oder beliebig nachher 
und bis zu welchem Wassergehalt es geschieht, das ist alles freigestellt. 
Nach der bisherigen Praxis pflegt es allerdings möglichst anschliessend 
an das Sammeln auf luftigen Böden zu geschehen, aber je nach der 
Witterung oft viele Tage zu dauern; währenddessen treten leicht Zer¬ 
setzungen in den Blättern ein und auf alle Fälle behalten sie einen 
Wassergehalt von mindestens 4 pCt. Gewöhnlich sind 5—8 pCt., 
manchmal auch über 8 pCt. Wasser in diesen offizinellen „trocknen“ 
Blättern. Das schadet ihrem Aussehen nicht; im Gegenteil, sie haben 
dann, wenn nur das Hinzutreten von Schimmel verhindert wird, sogar 
ihr bestes Aussehen und verlieren beim Verschicken am wenigsten 
ihre ganze Form, die das Arzneibuch so genau beschreibt. Leider 
sind aber diese schönen Blätter hinsichtlich ihrer Wirkung meistens 


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Ueber die Aenderung der Arzneibuoh-Vorscbrift für Digitalisblätter. 133 


minderwertig. Vor einigen Jahren konnte ich auf Grund zahlreicher 
Frosch versuche zeigen (Archiv der Pharmazie. 1903. Heft 2 und 9), 
dass gerade die grösste Abschw'ächung des Wirkungswertes nach 
solcher ungenügenden Trocknung eintritt. Es kamen da Verluste von 
2 / 3 des Wertes in 3 Wochen und von s /4 des Wertes in 3 Monaten 
vor. Dadurch wird es erklärlich, dass der Wirkungsw'ert der Blätter 
w r ährend eines Jahres in den Apotheken bis auf y 6 des Anfangswertes 
herabsinken kann, wie es uns die klinische Kasuistik als ein ganz 
häufiges Vorkommnis gelehrt hat (vgl. Zeitschr. f. klin. Med. 46 Bd.) 

Aus meinen Versuchen musste ich schliessen, dass ein anfänglich 
scharfes Trocknen bis auf 1—1,5 pCt. Feuchtigkeit notwendig ist und 
ebenso ein luftdichter Verschluss nachher. Diese Folgerung, die von 
grossen Firmen schon mit bestem Erfolg als Grundsatz in die Praxis 
übertragen worden ist, habe ich in den letzten Jahren weiter kon¬ 
trolliert. Es hat sich dabei ergeben, dass es in der Tat bei der 
Konservierung die wichtigste Aufgabe ist, die Blätter möglichst rasch, 
bis zu einem Wassergehalt unter 1,5 pCt. zu trocknen. Ein Rest von 
etwa 1—1,5 pCt. ist so fest gebunden, dass er nicht mehr schädlich 
wirkt. — Wenn das hieraus hervorgehende Pulver mehrere Tage oder 
Wochen lang mit der Luft in Berührung kommt und darauf aufs 
neue einige Prozente an Feuchtigkeit aufnimmt, so verliert es dadurch 
verhältnismässig weit weniger an Wert als ein nur lufttrocken ge¬ 
wesenes , d. h. 5—8 pCt. Wasser haltendes Pulver. Ich erkläre mir 
dies dadurch, dass die an der Glukosidzersetzung schuldigen Enzyme, 
als kolloide Substanzen, wenn sie einmal ganz stark ausgetrocknet 
sind, sehr schw’er wieder sow'eit quellen, dass sie aufs neue schädlich 
wirken können. Immerhin muss man sagen: auch der luftdichte Ver¬ 
schluss des Pulvers ist zur Sicherung eines langen unveränderten 
Gleichbleibens des Wertes notwendig. 

Dass durch diese Massnahmen das Gleichbleiben wirklich für 
mindestens ein Jahr erreicht wird, habe ich schon früher (Ther. der 
Gegenw. 1904 Juni) hervorgehoben; es hat sich mir seitdem bei 
allen nachuntersuchten Proben bestätigt. Hier gebe ich die Befunde 
nur von den beiden Proben, die ich am längsten verfolgt habe, natürlich 
nur aus den zur quantitativen Digitalisprüfung an Fröschen geeigneten 
Monaten Juli bis September — vgl. Tab. I —. Beide Proben haben, wie 
man sieht, in 2 bezw. 3 Jahren ihren Wert unverändert behalten, da die 
kleinen Schwankungen innerhalb des etwa 10 pCt. betragenden Fehler¬ 
spielraumes liegen. Von der Probe 1 gab übrigens der letzte Rest, 


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134 


Dr. Focke, 

Tabelle 1. 


Probe 

Untersuchungsdatum 

"Wirkungswert 

V 

1. Bei Mettmann 1901 selbst ge- 

14. Aug. 1902 

4,40 

sammelt, im August 1902 scharf 

30. Juni 1903 

4,37 

nachgetrocknet, grob gepulvert 

6. Juli 1904 

4,20 

und luftdicht aufbewahrt. 

1. Juli 1905 

4,50 

2. Frisches „eingestelltes“ Blätter¬ 

Sommer 1903 

5,6 

pulver (Fol. Digit, titrata, Marke 

7. Juli 1904 

6,1 

C. u. L.j — Originalglas. 

30. Juni 1905 

5,5 


9. Sept. 1905 

5,4 


der wesentlich aus den feineren Teilen bestand, am 8. August 1905 
noch einen höheren Wert, nämlich 4,7: das ist nicht auffallend, weil 
ja beim Verbrauch eines jeden gut konservierten Teequantums immer 
die feineren Teile den Aufguss stärker wirkend machen. Bemerkens¬ 
wert ist, dass mehrere der nach einem Jahr nicht veränderten Proben 
und auch die nach 2 Jahren unverändert gebliebene Probe 2 dem 
Grossbetrieb (C. und L.) entstammten, womit bewiesen ist, dass die 
obigen Vorschriften sich eben auch im Grossen bewährt haben und 
zur allgemeinen Einführung reif sind. (Nb. Die Firma Caesar & Loretz 
in Halle geht, soweit ich orientiert bin, folgendermassen vor: die 
Blätter werden sofort nach dem Sammeln auf Trockenböden gut aus¬ 
gebreitet zu einem etwa 2tägigen Vortrocknen; hierauf kommen sie 
in grosse Trockenschränke auf übereinander befestigte zahlreiche 
Tafeln, wo ein Strom trockner Luft von 70—80° C mehrere Stunden 
lang über sie hinstreicht. Dann ist die scharfe Austrocknung schon 
erreicht. Es folgt das Mahlen und die vorläufige Aufbewahrung in 
meterhohen luftdichten Blechbüchsen, bis die Resultate der physio¬ 
logischen Prüfung bekannt sind. Auf Grund dieser Befunde geschieht 
dann die Mischung der verschiedenwertigen Posten zu dem gewünschten 
Mittelwert: worauf die Abfüllung in Gläser und deren sofortiges Ver¬ 
korken den Schluss bildet. In ähnlicher Weise ist schon vorher die 
Firma Dr. Siebert & Dr. Ziegenbein, Universitätsapotheke in Marburg 
vorgegangen und fährt auch heute noch damit fort). 

3. Werden die Blätter bis auf weniger als 1,5 pCt. Wasserge¬ 
halt getrocknet, so sind sie spröde wie Glas und zerfallen beim Ver¬ 
schicken, wenn man sie nicht einzeln zwischen Watte legen will, zu 
Krümeln. Daraus folgt für die Aufbewahrung als Form die des 
Pulvers als Notwendigkeit. Und da die grösste Form, in der die 
Blätter gebraucht werden (zu Extraktionszwecken), ohnehin das mittel- 


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Ueber die Aenderung der Arzneibuch-Vorschrift für Digitalisblätter. 135 

starke Pulver ist, so liegt gar kein Grund dazu vor, noch das Vor¬ 
handensein ganzer Blätter ausser den Herbariumexemplaren in den 
Apotheken zu verlangen, um so weniger als auch die pharmakognostische 
Identifizierung neuerdings schon wesentlich dem Mikroskop zugcfallen, 
war. Sie wären also vollständig zu ersetzen durch die „Folia Digi¬ 
talis pulverisata — Fingerhutblätterpulver.“ Dem entsprechend müsste 
dann der bisherige erste Teil ihrer Beschreibung fortfallen und es 
wären nur diejenigen Merkmale anzugeben, die das Pulver bei der 
Vergrösserung zeigt. Ob diese Merkmale auf Grund der sehr gründ¬ 
lichen mikroskopischen Vergleichungen, die Hartwig und Bohny 
angestellt haben (Apoth.-Ztg. 1906 No. 24—28), noch zu ergänzen 
wären, muss von botanisch-pharmakognostischer Seite entschieden 
werden. Was die Korngrösse des Pulvers betrifft, so glaubte ich vor 
drei Jahren, dass am zweckmässigsten das ganz feine Pulver sei, weil 
es die Wirkung am vollkommensten hergibt; allein man schreibt dem 
feinen Pflanzenpulver eine besonders grosse hygroskopische Neigung 
zu, und ausserdem ist bei ihm die mikroskopische Erkennung der 
charakteristischen Teile zu schwierig. Deswegen scheint ein mittel¬ 
feines (griesförmiges) Pulver als Norm in jeder Hinsicht am besten 
zu sein. 

Die hier vorgeführte Aufbewahrungsart wäre übrigens vielleicht 
auch noch für einzelne andere empfindliche Drogen zu empfehlen; 
jedenfalls ist sie keine unerhörte Neuerung. Schon um die Wende 
des 18. zum 19. Jahrhundert hatten englische Aerzte, wie Withering, 
Maclean, J. Mason Cox, aus ihrer Erfahrung eine derartige Be¬ 
handlung der Digitalisblätter als notwendig gefunden; ihre Ratschläge 
sind aber damals in Vergessenheit geraten. Nachdem sie nun auf 
der Basis der physiologischen Forschung wieder auferstanden sind, 
werden sie hoffentlich dauernd der Allgemeinheit dienen. 

4. Im Text folgt die Prüfung des 10 proz. Blätteraufgusses mit 
Gerbsäurelösung. Daran hat sich nun als wichtigster Abschnitt 
die Vorschrift der physiologischen Prüfung anzuschliessen. Zu der 
Ueberzeugung, dass sie unumgänglich ist, führen die Tatsachen, an 
die ich hier kurz .erinnere: Wenn ein ursprünglich nicht scharf ge¬ 
trocknetes Blätterpulver, das durch die ihm noch innewohnende oder 
später aufgenommene Feuchtigkeit einen grösseren Teil seines Wirkungs¬ 
wertes verloren hatte, nachträglich scharf getrocknet wird, so ist nun 
seine Minderwertigkeit weder durch die Sinne noch durch eine 
chemische Prüfung erkennbar. Es kann tadellos aussehen, kräftig 


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Dr. Focke, 


nach Digitalis riechen, den Durchschnittsgehalt an Digitoxin besitzen, 
und dennoch physiologisch minderwertig sein, wie meine gemeinsam 
mit Fromme (Halle) ausgeführten Versuche gezeigt haben. Die 
etwaige Minderwertigkeit kann also nur durch eine physiologische 
Prüfung erkannt werden; und wenn es erreicht werden soll, dass alle 
Apotheken immer ein möglichst gleich starkes Digitalisblätterpulver 
führen, so bleibt eben nichts anderes übrig, als die physiologische 
Prüfungsvorschrift. — Wie aus meinen Mitteilungen in der Deutschen 
Aerzte-Zeitung 1904 (Juni, Abschnitt IV.) hervorgeht, gelten diese 
Sätze in ähnlicher Weise auch für die Tinktur. Zur Bestätigung 
dessen kann der Befund von Ziegenbein (Apoth.-Ztg. 1903, S. 280) 
dienen; und bei Gelegenheit der British Pharm. Conference von 1904 
haben, anscheinend unabhängig davon, auch Barger und Shaw fest¬ 
gestellt, dass die physiologische Prüfung der einzige zuverlässige 
Weg zur Wertbestimmung der Tinktur ist. (Pharm. Ztg. 1904, S. 705.) 

Wenn somit die Ueberlegenheit der physiologischen Prüfung 
ausser Zweifel steht, so fragt es sich, welche Art ihrer Ausführung 
am zweckmässigsten ist? — Es stehen da 2 Methoden zur Wahl. Die 
eine, seit Jahrzehnten gebrauchte, wurde mit geringen Verschieden¬ 
heiten noch von Bührer (Basel 1900), A. Fränkel (Badenweiler 1902) 
und Ziegenbein (Marburg 1902—03) benutzt; es ist die Methode 
der minimalen Dosen. Bei ihr wird mit der betreffenden Lösung die 
Mindestzahl von Milligrammen (der Blätter) gesucht, durch deren In¬ 
jektion (als Infus) bei mehreren mittelgrossen Landfröschen überhaupt 
noch, d. h. zwischen 1—2 Stunden, ein systolischer Ventrikelstillstand 
eintritt; das gefundene Mindestgewicht des Medikaments wird dann 
auf 100 g Froschgewicht berechnet. Der Mittelwert ist „0,04 g : 100 g 
Froschgewicht“. Die andere, von mir ausgearbeitete Methode nimmt 
Kücksicht auf die Tatsache, dass der Ventrikelstillstand dann am besten 
in Beziehung zu der Dosis steht und auch am genauesten beobachtet 
werden kann, wenn man mittlere Dosen injiziert und damit den Ven¬ 
trikelzustand erzielt innerhalb eines kurzen und relativ nahe der In¬ 
jektion liegenden Zeitraumes, der somit als der physiologisch günstigste 
betrachtet werden muss. Ich hatte dafür vor zwei Jahren die Zeit 
von 7—20 Minuten angegeben, während ich heute 7—15 Minuten für 
noch besser halte. Es ergibt sich dann in natürlicher Weise der 
Wirkungswert aus den 3 Daten (Dosis, Zeit, Tiergewicht) nach einer 
einfachen Gleichung als ganze Zahl V. Der dem obigen gleichende 
Mittelwert ist „V = 5,0“. 


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Ueber die Aenderung der Arzneibuch-Vorschrift für Digitalisblätter. 137 

Selbstverständlich kann auch die ältere Methode ebenso exakte 
Werte liefern; aber ich möchte, ohne eingehende Vergleiche zu 
wiederholen, die wesentlichen Vorzüge der neueren Methode doch 
nennen, nämlich dass sie erstens kürzer dauert, was im Interesse der 
Tiere und des Untersuchers liegt, zweitens, dass sie weniger Tiere 
erfordert und drittens (statt reziproker Werte) gleich ganze Zahlen 
liefert, mit denen in vergleichenden Arbeiten viel besser zu 
hantieren ist. (Von den oben genannten, meines Wissens einzigen 
Firmen, die bis jetzt eingestellte Blätter liefern, hat die eine, Caesar 
und Loretz-Halle, von Anfang an nach dieser Methode prüfen lassen; 
und auch der Nachfolger der anderen Firma, Herr Apotheker Scholl- 
meyer-Marburg, wird, wie er mir auf Anfrage mitteilte, sich der¬ 
selben neben der früheren Methode künftig bedienen.) 

Obgleich das Resultat einer jeden physiologischen Prüfung nur 
richtig ist innerhalb eines gewissen Wertspielraumes, der durch die 
Individualität der Tiere und kleine Massdifferenzen bedingt wird, und 
obgleich es sogar vorkommt, dass neben mehreren einander sehr 
ähnlich reagierenden Tieren auf einmal eines mit ganz schwacher oder 
starker Reaktion ausfällt, so beträgt bei einem geübten Untersucher 
und bei einer sorgfältig ausgeführten Prüfung jener Spielraum nicht 
mehr als 10 pCt. des Wirkungswertes, was doch eine ziemliche Zu¬ 
verlässigkeit bedeutet. 

Mein Vorschlag für die physiologische Prüfung lautet nun folgender- 
massen: Wenn während des Juli, August oder September in einem 
kühlen Raume von dem 10 proz. Blätterauszuge mittelgrossen, einige 
Tage vorher gefangenen Landfröschen eine dem 50. Teil ihres Ge¬ 
wichts gleichende Menge in die Oberschenkellymphsäcke gespritzt 
wird, so soll die darauf bis zum Dauerstillstand der blossgelegten 
Herzkammer vergehende Zeit bei mindestens 4 Versuchen, von denen 
bei keinem jene Zeit unter 7 oder über 15 Minuten dauerte, durch¬ 
schnittlich zwischen 9 und 11 Minuten betragen! 

Dieser Satz enthält alles Wesenliche. Es wäre hier nicht ange¬ 
bracht, jede technische Einzelheit bis ins Kleinste darzulegen; in dieser 
Hinsicht darf wohl auf das Arch. d. Pharm. 1903 (Dez.) verwiesen 
werden. Nur wenige ergänzende Bemerkungen seien angefügt. 

Zuerst ein praktisches Beispiel: Ein auf dem Brettchen be¬ 
festigter Frosch wiege, nachdem das vorher notierte Gewicht des mit 
seinen Befestigungsmitteln ausgerüsteten Brettchens abgezogen ist, 
netto 30 g, wobei die Wägung bis auf 0,5 g abgerundet werden darf. 


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138 


Dr. Focke, 


Es wird ihm von der zu prüfenden Lösung 0,6 ccm injiziert, d. h. in 
jeden Oberschenkel davon die Hälfte. Der Ventrikel steht von der 
10. Minute an in Dauerkontraktion still. Dann hatte bei diesem 

30 

Tier die Lösung den Wirkungswert V =—— = 5,0. Dauerte es 

O,o * 10 

bis zum Stillstand 9 Minuten, so wäre der Einzelwert = 5,5; dauerte 
es 14 Minuten, so war der Wert = ca. 3,6. Dauerte die durch¬ 
schnittliche Zeit bei 4 Fröschen, deren Einzelzeiten zwischen 7 und 
15 Minuten lagen (immer das Verhältnis des Injektionsgewichts zum 
Froschgewicht =1:50 vorausgesetzt) genau 10 Minuten, so haben 
die Blätter gerade den Mittelwert 5,0; war die durchschnittliche Zeit 
kürzer als 9 Minuten, so sind die Blätter zu stark, was bei den im 
Handel befindlichen aber selten vorkommt; dauerte die Durchschnitts¬ 
zeit länger als 11 Minuten, so haben sie einen zu geringen Wert 
und sind zu beanstanden. 

Zweitens: das zu den Injektionen dienende Infus soll nicht nach 
der für das offizineile Infus bisher geltenden Vorschrift mit nur 5 Mi¬ 
nuten langer Extraktion bereitet werden; denn es wird dann in 
unregelmässiger Weise zu schwach, und zwar um etwa Ys schwächer 
als wenn es nach dem Aufgiessen 30 Minuten lang allmählich sich 
abkühlend auf dem Pulver zugedeckt geblieben war und dann erst 
abfiltriert wurde. Ein Extrahieren über 30 Minuten hinaus schien mir 
keine wesentliche Verstärkung mehr zu bringen. Es wäre also für 
den zur Prüfung bestimmten Aufguss eine Extraktionsdauer von 
30 Minuten vorzuschreiben. Die Gerbsäureprüfung wird hierdurch 
nicht verändert. Auch verlieren die Apothekerrevisoren durch 
diese Verlängerung keine Zeit, da ja die Digitalisprüfung von 
ihnen künftig überhaupt nicht mehr vorgenommen würde. (Nebenbei 
wäre auch beim offizinellen Digitalisinfus eine Verlängerung des 
Extrahierens auf mindestens 15 Minuten gewiss empfehlenswert; früher 
war dafür ja vielfach eine solche längere Dauer üblich.) 

Drittens ist auf die Beachtung der Lufttemperatur, in der die 
Frösche vor und während der Untersuchung gehalten werden, mehr 
Gewicht zu legen, als es früher nötig erschien. Der Aufbewahrungs¬ 
raum (Keller) darf nicht wärmer sein als 13 oder höchstens 14° C.; 
und wenn die Temperatur des Untersuchungsraumes sich 17° C. nähert, 
so sollen die Tiere erst kurz vor der Untersuchung dorthin gebracht 
w T erden. Keinesfalls aber darf es in der Höhe des Untersuchungstisches 
mehr als 17,5° C. sein; sonst werden die Reaktionen langsamer und 


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Ueber die Aenderung der Arzneibuch-Vorschrift für Digitalisblätter. 139 

die gefundenen Werte {zu niedrig. Die Untersuchungen müssen also 
ausgesetzt werden, solange die Temperatur die genannten Werte über¬ 
steigt. Ueber die Jahreszeit der Untersuchungen habe ich mich 
vor 2 Jahren geäussert. Auf Grund einer längeren Versuchsreihe (mit 
den oben in Tabelle I angeführten Mettmanner Blättern) war ich zu 
dem Satze gelangt, dass nur die Monate Juli bis September geeignet 
seien. Seitdem habe ich die vergleichenden Prüfungen mit dieser Probe 
bis zu ihrem Best fortgesetzt und gebe , hier in der Tabelle II, an¬ 
schliessend an eine Zusammenfassung der früheren Daten, die voll¬ 
ständigen Zahlen der weiteren Befunde. Wie man sieht, sind auch 
weiterhin die Werte in den andern Monaten wesentlich hinter dem 
richtigen Durchschnittswert dieser Probe 4,36 zurückgeblieben, und 
zwar in ganz unregelmässiger Weise; während im Juli beider Jahre 
das Resultat dem in den vorhergegangenen Sommern 1902 und 03 ge¬ 
fundenen wieder ganz entsprach. Was den Oktober betrifft, so hat 
sich mir (gegenüber dem Ausnahmefall von 1903) in den Jahren 1904 
und 1905, auch bei allen anderen Untersuchungen von Digitalis- und 
Strophanthus-Proben*, für diesen Monat ein so rasches Sinken der Frosch¬ 
reaktion ergeben, dass der Oktober als zur Prüfung durchaus ungeeignet 
betrachtet werden muss. Es können somit Befunde, die in anderen 
Monaten als im Juli, August oder September gewonnen wurden, 
nicht zu Vergleichungen dienen; das ist eine Tatsache, die bisher, 
selbst von sorgfältigen Beobachtern, noch zn wenig berücksichtigt 
worden ist 1 ). 

5. Im Arzneibuch folgt der Satz über die Aufbewahrung. Dar¬ 
über ist ja das nötigste schon unter 2 gesagt worden. Dass man die 
Dauer der Aufbewahrung mit gutem Gewissen auf zwei Jahre verlängern 
könnte, wird nach den bisher so günstigen Erfahrungen bezüglich der 
Haltbarkeit eines gut präparierten Pulvers kaum auf Widerspruch 
stossen. Es liegt doch kein Grund dazu vor, unangebrochene Gläser 
mit erst 1V* Jahre altem konserviertem Pulver zu vernichten, wenn 
man weiss, dass ihr Inhalt an Wirksamkeit nichts eingebüsst haben 
kann. 

6. Falls man es nicht vorzieht, nach dem Vorbilde <jer neuen 
Farmacopea Espafiola die Maximaldosen ganz aufzugeben, an deren 

1) Auch Ende Juni sind die Untersuchungen schon brauchbar; aber im all¬ 
gemeinen kommt diese Zeit nicht in Betracht, weil man dann wegen des Vege¬ 
tationsstandes det Felder frischgefangene Frösche in ausreichender Zahl nicht be¬ 
kommen kann. 


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140 


Dr. Focke, 


Tabelle II. 


Der Untersuchung 

Rana temporaria 

fcü § s 

'P O u. o 

^ P _ 
«« cö fl 








t- ^ o 

t>> -*-> Oi 
Ol C/i 






i 

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P 

Wirkungswert 

u- 

'ß5 

No. 

Tag 

Herkunft 

1 

o bß 

P 
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o 

in 

o 

O 1 

° -— ° iS 
> bfiÖ 








o 

= p 

= d 

= t 

= V 

V 

1902 

_ 

14.August. 






/ 

4,40. 

1903 

I bis 

21. April 

1 



• 



3,05—3,12— 


VII. 

bis 4. Juni. 







2,80-3,45— 

2,42—2,52— 


VIII 

bis 

30. Juni, 
Juli bis 

l Zusammen 18 Tage mit 82 Einzelunter- J 
/suchungen (gekürzt aus Bericht von 1903). j 

2,50. 

4,37-4,30— 

4,17—4,57— 


XIII. 

16. Sept. 

l 





i 

4,35-4,45. 


XIV u. 

1., 19-, 

\ 





( 

5,10—5,00— 


XVIII 

30. Okt., 







00 

o» 

1 

Oö 

OO 

© 


bis XX. 

20. Nov. 

/ 





\ 


1904 

3 

6. Juli. 

Jetzt bei ’ 

m. 

27 

0,6 

SV* 

5,3 





Mors ge- 

m. 

30 

0,65 

8V* 

5,4 

} 4,20. 




fangen 

in. 

27 

0,45 

19‘/2 

3,0 




(Send. 1). 

m. 

25 

0,5 

15»/- 

3,2 

J 


37 

5. Okt. 

Mitte Sept. 

ra. 

16 

0,4 

7 V* 

5,3 

\ 




bei Mett- 

in. 

18 Va 

0,4 

15 

3,0 

1 4,00. 




mann ge- 

m. 

22 V* 

0,6 

10V* 

3,5 




fangen 
(Send. 4). 

m. 

25 

0,6 

9V* 

4,4 

1 


41 

9. Okt. 

Ende Sept. 

m. 

21 

0,45 

14«/* 

3,2 





bei Mett- 

m. 

18 

0,4 

(26; 

— 

I 




mann ge- 

w. 

25 

0,5 

20 

2,5 

> 3,10. 




fangen 

m. 

18*/* 

0,55 

9 

3,7 




(Send. 5). 

m. 

34 

0,9 

12 

3,1 

J 


45 

29. Nov. 

dito. 

m. 

27 

1,0 

10 

2,7 






m. 

17 

0,6 

11 

2,5 

) 2,15. 





w. 

15 

0,7 

0,85 

io »/ 2 

2,0 





m. 

23 

20 

1,4 

1 

1905 

1 

24. Jan. 

Von der- 

m. 

27 

1,8 \ 

8V* 

1,6 





selben 

m. 

21 

1,251 

11 

1,5 

) 2,27. 




Sendung 5 

w. 

23 

1,4 / 

7 

2,3 




des Vor- 

w. 

21 

0,8 f 

7 

3,7 

) 




jahres. 



}*) 





2 

4. April. 

dito. 

m. 

20 

0,9 [ 

9 

2,5 

\ 




w. 

25 

1,0 \ 

10 

2,5 

2,33. 

J 





ra. 

20V 2 

1,0 1 

11V» 

1,8 





m. 

25V» 

1,0 ' 

10 

2,5 



4 • 

1. Juli. 

Jetzt bei 

■ w. 

25 

0,6 

(40) 

— 





Mettmann 

m. 

| 23 

0,65 

7 

5,0 

j 




gefangen. 

m. 

! 30 

0,7 

8»/o 

5,0 

4,50. 





m. 

| 27 V» 

0,65 

10 

4,2 





m. 

! 21V» 

0,6 

9 

4,0 

' 


*) Hier war das 20proz. Infus, also die Hälfte des angegebenen Volumens, 
injiziert worden. 


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Ueber die Aendernng der Arzneibuch-Vorschrift für Digitalisblätter. 141 


Stelle die durchschnittlichen therapeutischen Dosen treten könnten, 
so käme beim Digitalisblätterpulver eine Zweiteilung der Maximaldosen 
in Frage je nach Benutzung der Pulver- oder Infusform; denn nach 
der klinischen Erfahrung wirkt ungefähr 0,6 als Pulver genommen 
ebenso stark wie 1,0 im Infus. Aber obwohl ich selbst besonders 
auf diesen Unterschied hingewiesen habe, so glaube ich doch nicht, 
dass für eine solche Zweiteilung ein Bedürfnis vorliegt, weil in der 
Pulverform eine Einzeldosis von 0,1 und eine Tagesdosis von 0,5 doch 
selten überschritten wird. Es könnten daher gewiss die bisherigen 
Zahlen ohne Schaden beibehalten werden. Ebenso würde ich es nach 
Aufnahme der physiologischen Vorschrift nicht für notwendig halten, 
noch den Extrakt- oder Aschengehalt des Pulvers aufzunehmen, wie 
es die Pharm. Austriaca von 1906 getan hat. 

Aus allen diesen Darlegungen ergibt sich nun die nachfolgende 
Arzneibuchvorschrift, in der die Stellen, die anders als früher lauten, 
durch besonderen Druck bezeichnet sind: 

„Folia Digitalis pulverisata — FingerhutblätterpwZrer. Die 
von Ende Juni bis Ende August gesammelten Laubblätter wild¬ 
wachsender Pflanzen von Digitalis purpurea, in längstens 3 Tagen 
soweit getrocknet , dass der Wassergehalt weniger als 1,5 pCt. beträgt, 
und mittelfein gepulvert. Das mattgrüne Pulver zeigt bei Ver- 
grösserung die Blätterteile mit mehrzelligen (meist ein- bis vierzeiligen) 
spitz zulaufenden Haaren und kopfigen Drüsenhaaren; Oxalatkristalle 
fehlen. Es schmeckt widerlich bitter. 

In dem aus 1 TeilFingerhutblätter^mZw durch Aufgiessen siedenden 
Wassers und 30 Minuten dauerndes Stehenlassen hergestellten 10 Teile 
betragenden Auszuge soll nach dem Erkalten durch Zuträufeln von 
Gerbsäurelösung ein reichlicher Niederschlag entstehen, der von über¬ 
schüssiger Gerbsäurelösung nur schwer wieder aufgelöst wird. 

Wenn während des Juli, August oder September in einem kühlen 
Baume von diesem Auszuge mittelgrossen, einige Tage vorher ge¬ 
fangenen Landfröschen (Rana temporaria) eine dem 50. Teil ihres 
Gewichts gleichende Menge in die Oberschenkellymphsäcke eingespritzt 
wird, so soll die darauf bis zum Dauer Stillstand der blossgelegteti 
Herzkammer vergehende Zeit bei mindestens 4 Versuchen , von denen 
bei keinem jene Zeit unter 7 oder über 15 Minuten dauerte. durch¬ 
schnittlich zwischen 9 und 11 Minuten betragen. 


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142 Dr. Focke, Ueber die Aendening der Arzneibuch-Vorschrift etc. 

In luftdicht geschlossenen Gläsern vorsichtig nicht länger als 
2 Jahre aufzubewahren. 

Grösste Einzelgabe — 0,2 
Grösste Tagesgabe — l,0. u — 

Der Zwischenraum von 9—11 Minuten für den Zeitdurchschnitt 
gestattet mit einem Spielraum von 20 pCt. einen Blätterwert von 
4,5—5,5. Rechnet man' dazu den unvermeidlichen Fehlerspielraum 
von lOpCt., so ergibt sich ein Gesamtspielraum von etwa 30pCt. 
Diese Differenz liegt ja freilich an der Grenze dessen, was bei einem 
guten Arzneimittel noch als zulässig gelten kann; obwohl selbst mit 
dieser Differenz, die einem Blätterwert von 4,1—6,0 entspräche, der 
Gewinn gegenüber dem früheren Schwanken (von etwa 1,5—8,0!) 
noch sehr erheblich wäre. Da im übrigen aber die von den grossen 
Firmen stammenden Blätterpulver doch nur um 10 pCt., also von 
etwa 5,0—5,5 differieren, so käme jener ungünstige Fall doch wohl 
nur äusserst selten vor und das Resultat wäre jedenfalls eine sehr 
befriedigende Gleichmässigkeit. 

Dass die Einrichtung allen Beteiligten zum grossen Vorteil dienen 
würde, sowie dass die Prüfungen mit Zuhilfenahme der öffentlichen 
Untersuchungsanstalten und mit geringer Erhöhung des Taxpreises 
ohne irgendwelche verwaltungstechnische Schwierigkeiten oder Kosten 
durchgeführt werden könnten, habe ich bereits an anderer’ Stelle 
(Berl. klin. Wochenschr. No. 20) näher gezeigt. 

Obgleich ich selbst wohl weiss, dass etwas ganz Vollkommenes 
mit der vorgelegten Fassung noch nicht geschaffen ist, so bin ich 
doch überzeugt davon, dass ihre Einführung einen ausserordentlichen 
Fortschritt bedeuten würde. 


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3. 


Ueber die zum Schutze der Arbeiter in Gummi-, 
Phosphor-, Streichholz- und Spiegelfabriken zu 
treffenden Einrichtungen und Torkehrungen. 

Von 

Dr. Franke, Arzt in Alberschweiler. 

(Schluss.) 


Um mir einen Einblick in den Betrieb einer Zündholzfabrik zu 
verschaffen, konnte ich durch die Güte des Herrn Gewerbe- und 
Regierungsrats Rick in Metz eine derartige Fabrik in Lothringen 
besichtigen. In derselben waren einschliesslich des Besitzers 11 Per¬ 
sonen beschäftigt; unter diesen 7 junge Mädchen. Die „Fabrikgebäude“, 
wenn man die unansehnlichen Bauten so nennen kann, lagen um einen 
ziemlich geräumigen Hof. Zur rechten führte mich der erste Arbeiter, 
ein Verwandter des Direktors, zunächst in ein wohl noch nicht 3 m 
hohes, flach gedecktes, ca. 4 1 / 2 m langes, stallartiges Gebäude. Durch 
eine kleine Seitentür gelangte man in das Innere, welches im wesent¬ 
lichen 3 nebeneinander gelagerte „Backöfen“ enthielt. Dieselben 
wurden dargestellt durch 3 von Backsteinen umschlossene Hohlräume, 
ca. 70 cm hoch, 1,50 m lang und in der Mitte ca. 1 m breit. Das 
ganze wurde durch ein solides Mauerwerk umschlossen. Vor diesen 
Heizkörpern blieb noch Raum für einen genügend breiten Gang. Die 
Vorrichtung diente zum Trocknen des zu Streichhölzern zu verar¬ 
beitenden Holzes: Die 3 Backöfen wurden erst durch Holz sehr 
energisch erhitzt (wobei der Rauch durch ein Abzugsrohr entweichen 
konnte), darauf das zu trocknende Material hineingeworfen und die 
eiserne Tür vorn vorgelegt und deren Ritzen mit Ton verschmiert. 
Nach 2 Tagen etwa, wurde mir gesagt, sei das Holz trocken. Dies 
bestand seinerseits aus 6 Y 2 cm dicken, ca. 6 —7 cm im Radius messenden 
zylindrischen soliden Scheiben aus Birken und Pappelholz (wie mir 
gesagt wurde). 

Nach dem Trocknen wurden die Holzstücke in einem sehr 
kleinen und niedrigen Raum nebenan weiter verarbeitet. Durch einen 


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144 Dr. Franke, 

einfachen Apparat, der nach Art der bekannten Brotmaschinen gebaut 
war (Hebelmesser in einem Gestell) wurden die Holzblöcke in äusserst 
geschwinder Weise in schmale, 2 mm breite Scheiben zerlegt. Durch 
Wiederholung der Prozedur an den wieder zusammengelegten Scheiben, 
aber senkrecht zur ersten Schnittrichtung, waren die Streichhölzer 
sofort fertig und meist von durchaus korrekter Form. Eine Arbeiterin 
band vermittelst einer einfachen Vorrichtung (in einem Rahmen) je 
1000 Stück (wie man mir sagte) der fertigen Hölzchen in runde 
Bündel zusammen. Das war die Form, in welcher die weitere Ver¬ 
arbeitung zu Zündhölzern vor sich ging. 

Auf der entgegengesetzten linken Seite des Hofes befand sich 
zunächst ein Schuppen, welcher dem Besitzer zum Arbeitsplatz diente 
(Fabrikation von Hölzchen) und nebenbei als Aufbewahrungsraum des 
Holzmaterials etc. diente. Das eigentliche Fabrikgebäude nun bestand 
aus einem ca. 6 m hohen, 12 m langen und 3 m breiten flachgedeckten 
Haus, das nach dem Hof hin mit Fenstern ausgestattet war, während 
die Längsfront nach der Strasse hin nur eine glatte Mauer darstellte. 
Um zum Beginn der Verarbeitung der Hölzer zu gelangen, musste 
man durch das ganze Gebäude (vom Packraum beginnend) hindurch 
und gelangte am Ende desselben in einen ca. 2 m langen Raum; da 
derselbe wie alle Räume sehr hoch (ca. 5 m) und 3 m tief war, so 
kam auf jeden der beiden Arbeiter ungefähr 15 cbm Luftraum. Der 
Raum war mit einem ca. D/ 2 —2 qm grossen Fenster ausgestattet, das 
geöffnet werden konnte, aber jetzt wegen kalten Wetters geschlossen 
war. Ein primitiver Backsteinherd diente zum Erwärmen eines kleinen 
Kessels mit Schwefel. In die flüssige Masse tauchte der mich her¬ 
umführende erste Arbeiter mit grosser Geschwindigkeit die beschrie¬ 
benen Päckchen zusammengebundener Hölzchen bis zu einer Tiefe 
von reichlich 1 cm ein. Der flüssige Schwefel haftete sofort in ge¬ 
nügender Menge und nach wenigen Augenblicken des Trocknens wurde 
die geschwefelte Seite des Päckchens von einer Arbeiterin energisch 
auf eine glatte, dicke Glasplatte gestampft, sodass der überflüssige 
Schwefel abstaubte. Weder durch diesen Schwefelstaub noch durch das 
durch den flüssigen Schwefel entstehende Schwefeldioxyd schien eine 
nennenswerte Belästigung hervorgerufen zu werden. Dagegen war auch in 
diesem Raum ein merkbarer Phosphorgeruch zu spüren, der durch 
die (wie es mir scheint, überhaupt meist) geöffnete, kleine, ungenügend 
schliessende Tür vom Nachbarraum hereindrang. Dieser, kaum grösser 
als der vorige, wurde durch eine bis an die Decke reichende, ca. 5 cm 


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Ueber die znm Schutze der Arbeiter etc. 


145 


dicke, zum Teil aus Holz bestehende, weiss getünchte Wand, von dem 
zum Schwefel bestimmten getrennt. Ein gleiches Fenster wie im Nach¬ 
barraum konnte auch . hier zur Ventilation benutzt werden. An der 
Decke führte eine runde OefFnung von ca. 15 cm Weite zu einem 
über das Dach geführten Lüftungsrohr. Die gleiche Einrichtung be¬ 
stand übrigens auch im Schwefel- und Trockenraum. Dieser zweite 
Raum diente zum Bereiten der Zündmasse und zum Tunken der 
Hölzer. Auf einem kleinen Tisch neben der Tür wurde zunächst die 
Masse bis auf den Phosphor fertig bereitet. Sie sollte im wesent¬ 
lichen aus Leim, Wasser, Fuchsin und auch etwas Mennige bestehen. 
Der von Coignet pere et fils bezogene Phosphor wurde dagegen unter 




einem kaminförmigen Abzug in die Masse eingetragen, dessen Rohr 
ca. 3 / 4 m über das Dach hinausgeführt und hier derartig abgeschlossen 
war, dass anscheinend eine geringe saugende Wirkung stattfinden 
konnte. Zur Zeit stand unter der rechteckigen Oeffnungsfläche des 
Kamins (Grösse ca. 70 : 40 cm) ein kleiner ungefähr 35 cm im Durch¬ 
messer haltender Kessel, in welchem die rote „salbcnartige“ Masse 
sich befand; von deren Oberfläche stieg ein merklicher leichter Dampf 
auf, der nur teilweise in den 60 cm davon entfernten Abzug weg¬ 
geführt wurde. Es roch in dem Raume nach Phosphor. Vor dem 
Tunken der geschwefelten Päckchen glättete der damit beschäftigte 
Arbeiter mit einer Art Kelle die Oberfläche der Masse und tauchte 

Yierteljahrssebrift f. ger. Med. u. öff. San.-Wesen. 3. Folge. XXXII. 1. |Q 


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146 


Dr. Franke, 

dann die Kuppen 3 mal hintereinander ein; damit war das Zündholz 
fertig. Der Tunker sah sehr blass aus, äusserlich waren aber sonst 
Anzeichen einer Erkrankung nicht zu sehen. Eine Arbeiterin hatte 
die Aufgabe, einzelne durch die Tunkmasse verklebte Hölzer mit 
der Hancf etwas aus dem Bündel herauszustossen; sie legte darauf 
dieselben kurze Zeit auf einen in der Nähe des Abzuges befindlichen 
Tisch und brachte sie dann in den angrenzenden Trockenraum. Dieser 
entsprach bis auf den hier fehlenden Abzug ganz dem Tunkraum. 
An der fensterlosen Seite befand sich nahe dem Fussboden ein aus 
eisernen Stäben hergerichtetes, primitives, mit Blech belegtes Gerüst, 
auf welchem das endgiltige Trocknen der Hölzer stattfand. Es be¬ 
fanden sich hier, wie es scheint, meist nur eine kleine Zahl von Zünd¬ 
holzbündeln (etwa 1—2 Dutzend), während die übrigen schon in dem 
angrenzenden kleinen Saal zur weiteren Verarbeitung lagen. Dieser 
etwa 6 m lange Raum diente zum Verpacken der fertigen Hölzer, 
welche nach Lösung des die Zündhölzer zusammenhaltenden Bindfadens 
teils in gelb-graues Papier in grösserer oder geringerer Zahl einge¬ 
schlagen, teils in Kästchen von blauer Pappe verpackt wurden. Auf 
einige Schachteln wurden gedruckte Zettel mit der Aufschrift: „Allu- 
mettes du diable“ geklebt, eine jedenfalls nicht unpassende Bezeichnung. 
Auch in diesem Raume war der Geruch der Weissphosphorzündhölzer 
deutlich wahrnehmbar. Am Boden stehend befanden sich hier eine 
Reihe von Kisten, in welchen die fertige Ware untergebracht wurde. 

Die Heizung aller Räume geschah durch eiserne Oefen. Auf 
meine Frage, ob Erkrankungen beobachtet seien, wurde mir von dem 
ersten Arbeiter gesagt, das sei noch niemals vorgekommen und auch 
jetzt seien alle Arbeiter gesund. Erwähnt sei noch, dass sämtliche 
in dem Betriebe beschäftigte Personen vom Unternehmer gelieferte 
weissgraue Schürzen trugen. 

Entsprechen die Einrichtungen dieser Fabrik den Forderungen 
der Hygiene und sind genügend Vorkehrungen zur möglichsten Ver¬ 
meidung von Erkrankungen an Phosphornekrose getroffen? Die Fabrik 
steht unter dem Gesetz betr. Anfertigung und Verzollung von Zünd¬ 
hölzern vom 13. Mai 1884, dessen Inhalt übernommen und sehr erweitert 
worden ist durch die Ausführungsbestimmungen vom 8. Juli 1893. 

Legen "wir diesen sanitär notwendigen Masstab an, so müssen 
wir sagen, dass der Betrieb zwar in den meisten Punkten dem Buch¬ 
staben nach dem Gesetze genügt, aber nicht dem wahren Sinn. 
Durchgeführt ist erstlich die Trennung der einzelnen Fabrikräume. 


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Uebcr die zum Schutze der Arbeiter etc. 


147 


Aber die Trennung ist nicht genügend: Die Wände müssten dicker 
sein, damit nicht durch irgend welche Lücken Dämpfe von einem 
zum andern dringen können. Die Türen müssen luftdicht schliessen 
und während des Betriebes nicht geöffnet sein. Beides wurde besonders 
zwischen den Räumen zum Tunken und Schwefeln der Hölzer ver¬ 
misst. Sehr wünschenswert würde es überhaupt sein, wenn zwischen 
den einzelnen Räumen ein ausreichend breiter Gang eingeschaltet 
wäre, den auf beiden Seiten Türen abschliessen. Der für den ein¬ 
zelnen Arbeiter zur Verfügung stehende Luftraum in der Fabrik ent¬ 
spricht an sich den Vorschriften des Bundesrats, die 10 cbm als 
Minimalmass festlegen. Dasselbe erhält aber nur durch seine Be¬ 
ziehung zur Lufterneuerung in den Räumen seinen Wert. 

Allgemein gesprochen richtet sich der Ventilationsbedarf eines 
Fabrikraumes nach dem Grade der Verunreinigung, wie sie erstens 
durch den Aufenthalt der Arbeiter an sich — nach Pettenkofer 
noch jetzt durch das Mass der sich anhäufenden Kohlensäure ge¬ 
messen — gegeben ist, wie sie zweitens durch die Menge der staub- 
und gasförmigen Schädlichkeiten bestimmt ist. Morin fordert für 
Werkstätten mit besonderen Quellen der Luftverderbnis 100 cbm pro 
Kopf und Stunde (Rubner S. 205), Vallin(48) (S. 154) verlangt für 
die gefährlichen Räume der Phosphorzündholzfabriken 150 cbm zum 
mindesten, für den Tunkraum (trempage) das doppelte. 

In den von der französischen Kommission besuchten belgischen 
Fabriken kamen auf den Kopf des Arbeiters in der Stunde ungefähr 
90—I40cbm. Dieselben waren daneben in guter, zum Teil mustergiltiger 
Weise eingerichtet. Die Richtung der Absaugung der Phosphordämpfe 
geschah in den französischen Fabriken fast durchgängig nach unten. 
Die Verpackung der Ware wurde auf Tischen vorgenommen, deren 
eiserne Platten vielfach durchbrochen waren, und durch diese hindurch 
wirkte nach unten die Ventilation. Ganz abgesehen davon, dass diese 
Oeffnungen sich häufig verstopften, konnte auch sonst das Eindringen 
von schädlichen Dämpfen so keineswegs verhindert werden. Das Ab¬ 
saugen der Phosphorgase am Orte der Entstehung ist allerdings 
zweifellos das beste, was geschehen kann, aber der Luftstrom wird 
am richtigsten wagerecht von der Seite, auf der der Arbeiter sich 
befindet, auf die Phosphormasse bezw. auf die zu verpackenden oder 
auszulesenden Zündhölzer treffen, um die giftigen Dämpfe nach der 
entgegengesetzten Seite fortzuführen; ausserdem scheint eine „Hilfs¬ 
ventilation“ an der Decke der Fabrikräume nach dem, was Vallin 

10 * 


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Dr. Franke, 

(S. 155) über die belgischen Fabriken berichtet, zum mindesten sehr 
wünschenswert zu sein. Gehen wir zu der von mir besichtigten Fabrik 
zurück, so müssen wir zunächst feststellen, dass für dieselbe ein 
besonders hohes Ventilationsbedürfnis besteht. In grossen Fabriken 
geschieht das Bereiten der Zündmasse und das Betunken der Hölzer 
in besonderen Apparaten. Die ersteren sind überall luftdicht ge¬ 
schlossen und müssen gesetzlich so eingerichtet sein, dass ihre Füll¬ 
öffnung zugleich als Sicherheitsventil wirkt (§ 3 Abs. 2). Auch die 
Tunkapparate bezwecken neben Ersparung an Arbeiterkräften, wodurch 
allein schon die Gefahr der Vergiftung auf eine viel kleinere Zahl 
von Individuen beschränkt wird, die Verhinderung des Eindringens 
von Phosphordämpfen in die Fabrikräume. Die Apparate besorgen 
drittens das Eintauchen der in Rahmen am besten zu 1800—2000 
(Vallin S. 156) zusammengehaltenen Hölzchen in weit bessererWeise, 
als es gewöhnlich im Handbetrieb geschieht. Mussten doch in franzö¬ 
sischen Fabriken nicht selten 25—30 pCt. der mit der Hand getunkten 
Hölzer später als unbrauchbar ausgelesen werden, während dies ausser¬ 
ordentlich gefährliche Geschäft in den Fabriken Belgiens auf 1—2 pCt. 
der Zündhölzer beschränkt, war (Vallin S. 156). Eine der besten 
Apparate derart ist der von Higgins (cf. Albrecht [2], S. 904). Hier 
gelingt die Absaugung der giftigen Dämpfe am Orte der Entstehung¬ 
tatsächlich in sehr vollkommener Weise. 

Wie anders in der Lothringischen Zündholzfabrik! Fast scheint 
es, als hätten wir in ihr eine der alten von jener französischen 
Kommission besichtigten Fabriken vor uns, die nach den Vorschriften 
des Bundesrats vielleicht mit beträchtlichen Geldopfern vonseiten des 
Besitzers zu dem jetzigen weit besseren, aber noch durchaus nicht 
vollkommenen Zustande reformiert ist. Das Bereiten der Zündmasse 
geschah, wie wir gesehen haben, bis auf den Zusatz von Phosphor 
in einem offenen Gefäss; angenommen auch, die Eintragung des 

Phosphors unter dem Abzug würde stets in einem verdeckten Gefäss 

vorgenommen, so bleiben noch immer das Eintauchen der ge¬ 
schwefelten Hölzer mit der Hand ebenso das Hervorstossen der mit 

den Kuppen verklebten Zündhölzer aus dem Niveau der übrigen durch, 
die Arbeiterin, welche dabei notwendig das Gesicht auf etwa 40 cm 
der Ware nähern muss, so gefährliche Beschäftigungen, dass eine sehr 
energische Lüftung gerade dieses Raumes gefordert werden muss. 
Auch wenn die Fenster fortgesetzt geöffnet würden, genügten die vor¬ 
handenen Ventilationseinrichtungen durchaus nicht und dürfte auf 


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lieber die zum Schutze der Arbeiter etc. 


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eine künstliche Erneuerung der Luft keinesfalls verzichtet werden. 
Dieselbe müsste erstlich sehr energisch, wie oben auseinandergesetzt, 
an dem Tunkkessel in der Richtung vom Arbeiter weg einzusetzen 
haben und ferner müsste auch die Arbeiterin ihre Tätigkeit nur unter 
einem in gleicher Weise wirkenden Luftstrom vornehmen. Dazu 
würde ausserdem noch eine kräftige Ventilation des gesamten Raumes 
zu kommen haben. Ein Luftraum von 150 cbm pro Kopf und Stunde 
dürfte als Mindestmass für die Wirksamkeit der gesamten Ventilations¬ 
anlage unter den geschilderten Verhältnissen gefordert werden müssen. 
Das würde bei dem 30 cbm fassenden Raum für die beiden Arbeiter 
eine zehnmalige Erneuerung der gesamten Luftmenge in der Stunde 
ausmachen. Eine derartig starke Ventilation ist praktisch tatsächlich 
noch möglich. Denn nehmen wir an, dass die gesamte Luft an der 
Decke des 5 m hohen Raumes eintrete und am Boden denselben ver¬ 
lasse, so streicht die Luft mit einer Geschwindigkeit von 50 m in der 
Stunde oder 0,014 m in der Sekunde hindurch. Im Hinblick darauf, 
dass wir im Freien bei trockner Haut eine Luftbewegung erst wahr¬ 
nehmen, wenn sie mit grösserer Geschwindigkeit als 0,5 m pro »Se¬ 
kunde strömt, wird man nicht annehmen können, dass 0,014 m pro 
Sekunde für die Arbeiter Belästigungen mit sich bringen werden. 
Vallin (S. 154) behauptet sogar, dass lm und 1,50 m pro Se¬ 
kunde sich nicht unangenehm bemerkbar machen sollen. 1 ) 

1) Die vorstehenden Betrachtungen über die Lothringer Zündholzfabrik be¬ 
dürfen nach dem, was ich nachträglich nooh über dieselbe in Erfahrung bringe, 
einer gewissen Korrektur* Es bandelt sich hier um eine ganz kleine primitive An¬ 
lage, die sich in der Tat aus der Hausindustrie entwickelt hat und die nicht 
ständig betrieben wird. Die Fabrikation richtet sich nach den Bestellungen und 
war bei den amtlichen Revisionen häufig eingestellt bezw. eingeschränkt. Die 
Arbeiterinnen sind durchschnittlich nur 4—5 Monate jährlich mit mehr oder min¬ 
der langen Unterbrechungen in derselben beschäftigt. Noch bis vor 2 Jahren war 
mit der Zündholzfabrikation gleichzeitig ein grosser Gärtnereibetrieb verbunden, 
der infolge von neuen Bauten in der Nähe heute fast vollständig verschwunden 
ist. Die Arbeiterinnen wurden mehr im Garten als in der Fabrik beschäftigt. 
Die männlichen Arbeiter waren bis vor kurzer Zeit nur Familienangehörige, der 
Vater mit 3 Söhnen. Diesem Wechsel in der Beschäftigung der Arbeiter und 
Arbeiterinnen mag es wohl zuzuschreiben sein, dass Fälle von Phosphor¬ 
nekrose nie vorgekommen sind: Seit 1888, d. h. seitdem die Gewerbeaufsicht in 
Elsass-Lothringen besteht, sind keine derartigen Erkrankungen zu verzeichnen 
gewesen und auch aus früheren diesbezüglichen Erhebungen — vonseiten der 
Gesundheitsbehörden — hat sich ergeben, dass in diesem mehr gartenwirtschaft¬ 
lichen Betriebe keine Phosphorkrankheiten festgestellt worden sind, während in 


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Dr. Franke, 

Um die Gefährlichkeit der Phosphormasse selbst zu vermindern, 
sind hier noch 3 Punkte zu betonen. Es sollte nur kalte Phosphor¬ 
masse, die statt des Leims eine andere Bindemasse z. B. Gummi 
arabicum enthält, zur Anwendung kommen. Wird erwärmte Tunk¬ 
masse gebraucht, so dürfen nach der Vorschrift des ßundesrats nur 
Vorrichtungen benutzt werden, welche für diesen Zweck von der 
höheren Verwaltungsbehörde besonders genehmigt sind, d. h. die eine 
besonders vollkommene Absaugung der Phosphordämpfe an der Ent¬ 
stehungsstelle gewährleisten. Ferner wird die Tunkmasse um so ge¬ 
fährlicher sein, je mehr Phosphor sie enthält. Die von Vallin 
(S. 159) sehr gelobten „englischen“ Zündhölzer enthalten nach dessen 
Angabe 3 pCt. im Sommer, 5—6 pCt. Phosphor im Winter und in 
feuchter Zeit, ein Gehalt der als zweckentsprechend und genügend 
bezeichnet werden kann. In Frankreich war die Masse früher 6,5 
bis 10 proz. Endlich macht Roth (45) darauf aufmerksam, dass ein 
Zusatz von Terpentin zur Zündmasse zu erwägen ist, wenn dadurch 
die Entwicklung der Phosphordämpfe gehindert wird. Chemische 
Vorbeugungsmittel anderer Art, z. B. Verwendung von Kupfersalzen, 
Ozonisieren der Luft, welches den Phosphordampf oxydieren sollte, 
Einleiten von Wasserdampf in die Räume sind in der Praxis unbe¬ 
achtet geblieben. (Weyl [3], S. 780). Eine fundamentale Forderung 
für den Fabrikbetrieb wird eine peinlich durchgeführte Sauberkeit 
sein; tägliche Reinigung der Räume nicht während der Arbeitszeit, 
regelmässiger halbjährlicher Anstrich der Wände mit Kalkmilch, 
Lieferung von Arbeitskitteln und Sorge für reichliche Waschgelegcn- 
heit, Vorrichtung zum Mundspülen (z. B. mit einer Lösung von über¬ 
mangansaurem Kali), das werden die Pflichten der Fabrikanten sein, 


der gut eingerichteten, grösseren Fabrik in Saargemünd mit luftigen Räumen, 
Bade- und Wascheinrichtungen, Ventilatoren etc., in welcher 70 Arbeiter ständig 
beschäftigt werden, fast jedes Jahr mehrere Fälle von Phosphornekrose vorkamen. 
Wegen dieser günstigen Ergebnisse wurde gegenüber der kleinen in Rede stehen¬ 
den Fabrik von der Einrichtung weiterer kostspieliger Anlagen bis jetzt abgesehen. 
Hätten sich Uebelstände ergeben, so hätte man bessere Einrichtungen verlangen 
müssen; mit diesen etwaigen Forderungen stand jedoch die Existenz der Anlage 
in Frage. 

Interessieren dürfte noch die Tatsache, dass im Jahre 1892 in Lothringen 
noch 3 hausindustrielle Betriebe bestanden, die jedoch infolge der gesetzlich ver¬ 
langten Einrichtungen ihren Betrieb alsbald einstellten. Das ist zugleich ein Be¬ 
weis dafür, dass man von amtlicher Seite da energisch durchgegriiren hat, wo die 
Notwendigkeit cs erheischte. 


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Ueber die zum Schutze der Arbeiter etc. 


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Benutzung der vorhandenen Schutzmassregeln die der Arbeiter. Nur 
in grösseren Fabriken wird man besondere Anlagen für Wasch- und 
Badegelegenheit (die jetzt anscheinend mit Recht immer mehr in Auf¬ 
nahme kommenden „Brausebäder“) verlangen können. Sommerfeld 
(24), S. 76, macht mit gutem Grund auf den Leichtsinn aufmerksam, 
mit dem die Arbeiter aus bequemer Gleichgültigkeit verfahren. Das 
allgemeine ßekanntgeben der für die Arbeiter wichtigen Vorschriften 
durch Anschlag in der Fabrik ist daher eine sehr wichtige Be¬ 
stimmung (§ 15). 

Ueberblicken wir die staatlichen Massnahmen zur Vermeidung 
der Gefahren des Phosphors, so müssen wir sagen, dass sie abge¬ 
sehen von einem etwa noch zu verlangenden grösseren Luftkubus auf 
den Kopf des Arbeiters und der Verkürzung der Arbeitszeit eines 
wesentlichen weiteren Ausbaues kaum noch fähig sein dürften. Haben 
diese Vorschriften genügt, die Phosphomekrose zu beseitigen? In der 
Jenaer Klinik machten die Fälle von Phosphornekrose von 1857 bis 
1890 1,7 pCt. aller Operierten aus, von 1890 bis 1895 3,6 pCt.! Es 
ist ferner eine Tatsache, dass in Deutschland alljährlich im Durch¬ 
schnitt noch etwa 6 Fälle zur amtlichen Kenntnis kommen; in Wirk¬ 
lichkeit sind es zweifellos noch mehr. Man wird im Hinblick auf 
die erwähnte lothringische Fabrik einwenden, dass die mangelhafte 
Durchführung der gesetzlichen hygienischen Massnahmen Schuld an 
dem Misserfolg ist. Das ist aber nur zum Teil richtig. Es ist aller¬ 
dings trotz der Bemühungen der Meiningischen Regierung nicht ge¬ 
lungen, in Thüringen jene berüchtigte Hausindustrie zu unterdrücken, 
welche zur Degeneration ganzer Gegenden geführt hat. (56). Anderer¬ 
seits aber sind auch „in den bestgeleiteten Fabriken unzweifelhaft 
Fälle von Nekrose vorgekommen, in Fabriken, wo all die Sicherheits- 
massregeln ergriffen sind, die das Gesetz von 1884 vorschreibt. u 
(Reichstagsverhandlungen [49] S. 7534.) 

So bleibt noch ein Mittel: die Eliminierung des weissen Phosphors 
aus der Zündholzindustrie. Angesichts der Tatsache, dass dem 
weissen Phosphor in allen Kulturländern eine so allgemeine gewaltige 
industrielle Bedeutung zukommt, erscheint der Ausweg als ein geradezu 
heroisches Mittel. Man konnte den Entschluss nur fassen, wenn ge¬ 
eignete Ersatzmittel zu Gebote standen und die Staaten gemeinsam 
vergingen. Schon 1856 hatte Lundström in Jönkoping (Schweden) 
die Sicherheitszündhölzer erfunden. Sie enthalten statt des weissen 
Phosphors die rote Modifikation desselben, welche durch Erhitzung 


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Dr. Franke, 


des ersteren (bei Luftabschluss) auf 230—250° entsteht. Er leuchtet 
nicht, bleibt an der Luft unverändert, schmilzt selbst bei hohen 
Temperaturen nicht, ist unlöslich in Schwefelkohlenstoff und — was 
das wichtigste ist — er ist vollkommen ungiftig; nur ungenügend 
gereinigt kann er durch Beimengung von kleinsten Mengen des gelben 
Phosphors einen gewissen Grad von Giftigkeit erlangen. Es sei da¬ 
her schon jetzt erwähnt, dass er immer nur in wirklich reinem Zu¬ 
stande zur Verwendung kommen darf, sollen Vergiftungen sicher ver¬ 
mieden werden. Die Köpfchen der schwedischen Zündhölzer bestehen 
aus einem Gemenge von Schwefelantimon, Mennige, chlorsaurem Kali 
und gewöhnlich verschiedenen anderen Oxydationskörpern; der rote 
Phosphor ist getrennt von dem Zündholz in einer besonderen Masse 
enthalten, welche zu beiden Seiten der allbekannten Schachteln auf¬ 
gestrichen ist. Nur an diesen Reibflächen, die als wesentlichen Be¬ 
standteil gewöhnlich noch Schwefelantimon enthalten, entzündet sich 
das Streichholz. Daher der Name. Diese Industrie der „Schweden“ 
hatte von Anfang an die Tendenz zum Grossbetriebe, da zu deren 
Fabrikation Maschinen nicht entbehrt werden können. In neuester 
Zeit werden jedoch der zu ihrer Herstellung nötige Holzdraht und 
ebenso die Holzschachteln im grossen dargestellt und es ist so auch 
für einen kleineren Betrieb die Möglichkeit gegeben, Sicherheits¬ 
zündhölzer zu fabrizieren (Sprenger 49). Allerdings ist ihre Er¬ 
zeugung im Grossbetrieb am rentabelsten. Das Holz der „Schweden“ 
ist der besseren Brennbarkeit wegen mit Paraffin imprägniert; ausser 
dieser Fähigkeit sich damit leicht durchtränken zu lassen, bedarf es 
wegen der hohen Entzündungstemperatur der Masse ferner einer be¬ 
trächtlichen Festigkeit des Holzes. Beide Eigenschaften sind in dem 
Aspenholz vereinigt, das in Schweden reichlich zur Verfügung steht, 
in Deutschland aber nur ganz vereinzelt vorkommt. 

Das ist der Hauptgrund, weswegen die Sicherheitszündhölzer für 
die deutsche Industrie als Ersatzmittel nicht allgemein in Betracht 
kommen können. Die deutsche Regierung fand in der Sehwieningschen 
Masse eine Zusammensetzung, w r elche zwar nicht das „ideale Zündholz“ 
des belgischen Preisausschreibens [cf. Holzers Darstellung bei 
Bauer (51) S. 33], das wohl niemals existieren wird, darstellt, aber 
als ein durchaus befriedigender, wirklicher Ersatz des Weissphosphor- 
ziindholzes angesehen werden muss. Die Schwieningsche Mischung 
gehört zu denjenigen, welche roten Phosphor und oxydierende Körper 
wieder in einer Masse vereinigen. Die letzteren sind aber derart 


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lieber die zum Schutze der Arbeiter etc. 


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gewählt und ihre Wirksamkeit ist durch Zusatz indifferenter Bestand¬ 
teile so abgestuft, dass eine Explosionsgefahr mehr oder weniger ver¬ 
mieden wird. Die Hölzer zünden daher nicht nur an präparierten 
Flächen. Das Schwieningsche Patent (50) ersetzt einen wechselnden 
Teil des Kaliumchlorats durch Kalciumplumbat bis zu 30% je nach 
den Anforderungen an die Entzündbarkeit. Durch das langsame 
Abbrennen der Masse und die im Verhältnis zu den Sicherheitszünd¬ 
hölzern niedrige Entzündungstemperatur ist es bedingt, dass der Holz¬ 
draht, auch ohne, dass er paraffiniert worden ist, bei der Entflammung 
in Brand gerät. Ueberdies ist es gelungen, das deutsche Fichten- 
Tannen- und sogar Buchenholz (wenn auch etwas schwierig) zu 
paraffinieren [Bauer 51 XXXHI]. Für die Schwieningsche Masse 
wird allerdings wohl dem Schwefeln der Hölzer in der Praxis der 
Vorzug gegeben werden. Das Gemenge ist ferner dadurch besonders aus¬ 
gezeichnet, dass die dadurch hergestellten Streichhölzer dauerhaft sind 
auch gegen Feuchtigkeit, was mit Rücksicht auf die praktischen Ver¬ 
hältnisse von der grössten Wichtigkeit ist (z. B. für Förster, Fischer); 
für diese ist auch die Fähigkeit der Hölzer, sich an allen Flächen, 
sogar unter bestimmten Umständen an Kleidungsstücken zu entzünden, 
eine wertvolle Eigenschaft. Für uns ist hier besonders der Vorwurf 
der Explosionsgefahr, welcher gegen die Schwieningsche Masse er¬ 
hoben worden ist, von Bedeutung. Denn das würde allerdings für 
die Arbeiter eine neue grosse Gefahr mit sich bringen. Mit Recht 
wiese man da auf das Beispiel der „Sicherheitszündhölzer“ hin, welche 
trotz ihres harmlosen Namens in Göteberg eine Explosion veranlassten, 
dass 41 Arbeiterin die Luft flogen! [Popper (52)]. Die Schwieningsche 
Masse ist jedoch in der Tat nicht explosiv: Eine mit derartigen Zünd¬ 
hölzern gefüllte Kiste wurde aus dem oberen Stock der Fabrik 
Schwienings in Bettenhausen bei Kassel hinausgeworfen und 
explodierte nicht, ebenso konnte sich die vom Reichstag dorthin entsandte 
Kommission von der Ungefährlichkeit der Zündmasse nach dieser Richtung 
hin überzeugen. Natürlich wird man aber nicht vergessen dürfen, dass 
eine gewisse Feuergefährlichkeit als Zündstoff auch derSchwieningschen 
Masse anhaftet. Das ist aber in weit geringerem Masse der Fall als 
bei den Weissphosphorstreichhölzern, welche sich meist schon bei 80—100° 
entzünden. Konnten doch in manchen Jahren ein Drittel aller Brand¬ 
fälle in Deutschland auf diese zurückgeführt werden (Sprenger: Reichs¬ 
tagsverhandlungen (49) S. 8950). Man hat die höhere bei 160—180° 
gelegene Entzündungstemperatur der Schwiening-Ilölzer als einen 


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154 


Dr. Franke, 


Nachteil angesehen: Mag man auch die Muskelkraft, die der einzelne 
zum Entzünden derselben mehr aufwendet, als eine beklagenswerte 
Kraftvergeudung ansehen, so ist doch unzweifelhaft volkswirtschaftlich 
(Brände!) diese Eigenschaft als ein Vorteil zu betrachten: auch die 
Arbeiter in den Fabriken sind weniger gefährdet. 

Eine zweite Art von Ersatzmitteln für den weissen Phosphor sind 
ungiftige Phosphorverbindungen, und es sind hier die zur Zeit in Frank¬ 
reich eingeführten, welche als Hauptbestandteil das Phosphorpentasulfid 
enthalten, zu nennen. 

Es fragt sich nun: Enthalten die bisher erwähnten Ersatzmittel 
für den gelben Phosphor nicht etwa andere schädliche Bestandteile, 
welche den Nutzen mehr oder weniger aufheben? 

Die eben genannten Schwefelphosphorhölzer entwickeln beim 
Feuchtwerden leicht den ebenso giftigen wie übelriechenden Schwefel¬ 
wasserstoff. Es scheint dieser Nachteil allerdings in den französischen 
Fabriken keine grosse Rolle zu spielen. Von grösserem Gewicht ist 
die Tatsache, dass man bis vor kurzem den Schwefelphosphor nicht 
rein d. h. nicht ohne Beimengungen von weissem Phosphor darstellen 
konnte. 

Des roten Phosphors war schon Erwähnung getan. Während 
Vallin (48) über einen Fall von Phosphornekrose aus einer mit rotem 
Phosphor arbeitenden Fabrik leicht mit der Bemerkung hinweggeht, 
der Arbeiter sei wohl indirekt mit weissem Phosphor in Berührung 
gekommen (S. 152), führt Kuipers (34) 3 Fälle (No. 14, 15 u. 16) 
an, welche aus einer ausschliesslich mit rotem Phosphor arbeitenden 
Kasseler Fabrik stammten. Ich glaube nicht, dass die Frage danach 
schon spruchreif ist. Jedenfalls muss festgehalten werden, dass der 
reine rote Phosphor unbedingt ungiftig ist (siehe die Lehrbücher der 
Intoxikation und gerichtlichen Medizin), und dass er nur, wie auch 
Kuipers hervorhebt, durch die Beimengungen von kleinsten Mengen 
der weissen Modifikation giftige Eigenschaften erhalten kann. Es sei 
hier auch darauf besonders hingewiesen, dass man bei der Beurteilung 
von Phosphornekrosefällen in mit rotem Phosphor arbeitenden Fabriken 
immer daran wird denken müssen, dass auch Jahre nach dem Auf¬ 
geben der Beschäftigung mit weissem Phosphor die Nekrose als deren 
Folge auftreten kann. Das wird besonders für die ersten, aber auch 
noch späteren Jahre nach dem Inkrafttreten des Phosphorverbots für 
die Statistik zu beachten sein, da dann wohl sicher die meisten Ar¬ 
beiter aus den Fabriken für Weissphosphorzündhölzer in solche, die 


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Ueber die zum Schutze der Arbeiter etc. 


155 


roten verwenden, übergehen werden. Aus den von Hölzer [Bauer 
(51, S. 34 u. 35)] erwähnten Zusammensetzungen von weissphosphor¬ 
freien Zündmassen geht hervor, dass an schädlichen Substanzen bei 
denselben vor allem noch das doppeltchromsaure Kali, Bleisalze, 
Chlorkalium und höchstens wohl noch Kupfersalze in Betracht kommen. 
Blei und Chrom sind auch Bestandteile vieler Arten von Sicherheits¬ 
zündhölzern. Wodtke (53) berichtet, dass das doppeltchromsaure 
Kali in der Zündmasse derselben 3—6 pCt. ausmacht. Es gehen 
täglich 100—170 g Kalium bichromatum durch die Hände der Ar¬ 
beiterinnen, und in die Arbeitsräume gelangen Tag für Tag einige 
Kilo dieses Giftes in einer trockenen und daher verstäubungsfähigen 
Form. Die Erkrankungen bestehen vor allem in Entzündung und 
Geschwürsbildung am Septum der Nasenscheidewand mit folgender 
Perforation; Wodtke (53) fand z. B. in den ersten von ihm besuchten 
hinterpommerschen Fabriken unter 84 Arbeitern (darunter 74 Ein¬ 
schachtelfrauen!) bei 8 Durchlöcherungen der Nasenscheidewand, bei 
5 Geschwürsbildungen daselbst, bei 4 Narben als Reste solcher Ge¬ 
schwüre, 3 mal an der Nasenscheidewand, 1 mal im Rachen. Be¬ 
merkenswert ist der schmerzlose Verlauf. In Ostpreussen wurden 
bei Personen, die im Tunkraum und an der Füllmaschine beschäftigt 
waren, dieselben und ähnliche Veränderungen festgestellt. Roepkc 
(54) sah derartige; spezifische Schleimhautreizungen der oberen Luft¬ 
wege, vorzüglich der Nasenscheidewand, bis zur Geschwürsbildung 
übrigens auch bei Arbeitern einer AVeissphosphorzündholzfabrik in 
solchen Räumen, wo feiner Holzstaub und Schwefeldioxyd einwirkten. 
In den Lauenburger Fabriken, wo Kalium bichromatum verwendet 
wird, beobachtete man leichtere und schwerere ekzematöse Haut¬ 
erkrankungen [1896 und 1897: Jahresberichte der Preussischen Ge¬ 
werberäte. S. 218 bzw. S. 252: Wodtke (53)], welche nach hygienischen 
Massnahmen jetzt zu verschwinden scheinen. Es ist indessen sehr 
daran zu denken, dass dieselben auch durch unreines Paraffin ent¬ 
standen sein konnten, wofür man sich von amtlicher Seite entschied. 
Die Klagen einiger Personen über Kopfschmerzen und Hinfälligkeit 
lassen immerhin den Verdacht einer leichten Allgemeinintoxikation 
aufkommen, wenn man bedenkt, dass nach Kobert (29) 30 mg 
Kalium bichromatum hinreichen, um eine leichtere Vergiftung hervor¬ 
zurufen. Wodtke berichtet über einen derartigen Fall in der dritten 
Fabrik, wo nach langer Tätigkeit solche Wirkungen hervortraten, 
ßurghart weist auf die Allgemeinerscheinungen hin, auf Nieren-, 


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156 


Dr. Franke, 


Magen- und Darmkrankheiten und den Symptomenkomplex der „Chrom¬ 
kachexie“ [Burghart, Charitöann. 1898. XXIII. Jahrg.': Wodtke (53)]. 
Schliesslich soll nicht unerwähnt bleiben, dass nach Wodtkes An¬ 
gabe eine kleine Schachtel mit 70 Zündhölzern 35 mg doppeltchrom¬ 
saures Kali enthält und daher auch volkswirtschaftlich solche Sicher¬ 
heitszündhölzer die Auszeichnung „giftfrei“ nicht verdienen. Viel 
weniger als das Chrom scheint der Bleigehalt der Zündmasse Anlass 
zu Vergiftungen zu geben. Lüdemann (55), der selbst eine an 
allen Flächen zündende Masse mit bleisaurem Calcium konstruierte, 
glaubt, dass eine Bleigefahr nicht vorhanden sei, da die bis zu 60 pCt. 
Bleisuperoxyd enthaltenden „Vulkanhölzer“ nie zu Vergiftungen ge¬ 
führt haben. Das gibt uns aber nicht das Recht, diesen Bestandteil 
zu ignorieren, wohl aber werden wir mit Grund erwarten dürfen, 
dass Massregeln, welche für das Unschädlichmachen des chrorasauren 
Salzes als genügend erachtet werden können, auch zur Abwehr des 
Saturnismus ausreichen werden. Dasselbe gilt für die noch übrigen 
giftigen Bestandteile (Chlorkali, Kupfersalze usw.). 

Welcher Art müssen diese Einrichtungen und Vorkehrungen sein? 
Es ist vielleicht mit der Zeit möglich, statt des doppeltchromsauren 
Kalis das Barytsalz einzuführen; es wäre das die beste Lösung. 
Wodtke (53) führt als die Hauptgelegenheit, wo die Arbeiter dem 
Staub ausgesetzt sind, das Mahlen (Zerkleinern) des Chromsalzes und 
das Einschachteln der fertigen Zündhölzer an, aber auch beim Be¬ 
reiten der Tunkmasse und beim Tunken selbst sind Schädigungen 
möglich. Am besten wird das Chrorasalz schon in gemahlenem Zu¬ 
stande in die Fabrik gelangen; wo das nicht geschieht, wird die 
Zerkleinerung nur in dicht ummantelten Apparaten erlaubt werden 
dürfen. Die feuchte Verarbeitung des Materials ist sonst schon durch 
die Natur des Betriebes geboten und wird auch durch ■ die Feuer¬ 
gefährlichkeit erheischt. Man wird aber die strengen Vorschriften, 
wie sie der Bundesrat durch die „Bekanntmachung, betr. die Ein¬ 
richtung und den Betrieb von Anlagen zur Herstellung von Alkali¬ 
chromaten, vom 2. Februar 1897“ gegeben hat, nicht auf die Zünd¬ 
holzfabriken, in denen das Chromsalz verwendet wird, übertragen 
dürfen. Es wird dagegen zu fordern sein: für jeden Arbeiter ein 
genügender Luftraum von mindestens 10 cbm, kräftige natürliche 
Ventilation, in den Räumen zur Zerkleinerung des Chromsalzes und 
in den Packräumen in der Regel auch eine künstliche Ventilation, 
daneben peinliche Sauberkeit: Regelmässige gründliche Reinigung der 


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Ueber die zum Schutze der Arbeiter etc. 


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Fabrikräume, Lieferung von Arbeitsröcken, Vorrichtung zum Mund- 
und Nasenspülen, reichliche Gelegenheit zum Waschen ausserhalb der 
Arbeitsstätten, am besten Einrichtung von Douchen und Bädern, be¬ 
sondere Räume zum Essen, für die Pausen, zum Wechseln der Kleider, 
Belehrung der Arbeiter z. B. durch Aufhängen von Tafeln, regel¬ 
mässige ärztliche Aufsicht und Untersuchung (Führung eines Arbeits¬ 
buches). Als Werkstelle zur Herstellung von Zündhölzern fallen auch 
solche Fabriken unter das Kinderschutzgesetz (Verbot der Kinder¬ 
arbeit). Auch für die bleihaltigen Schwieninghölzer werden diese 
Vorschriften ausreichen und vielleicht noch im ganzen etwas milder 
gehandhabt werden können. Hinsichtlich der Feuergefährlichkeit sei 
auf den § 2 der Bekanntmachung vom 8. Juli 1893 (Weissphosphor- 
ziindhölzer) hingewiesen, welcher z. B. für die Schwieninghölzer um¬ 
somehr wird aufrecht erhalten werden müssen, als die jetzigen Be¬ 
triebe schon dem Paragraph nachgekommen sein müssen. Für die 
Sicherheitszündhölzer werden dagegen erheblich strengere Vorschriften 
Platz zu greifen haben, da sie Explosivstoffe sind. Die Anweisung 
der Minister für Handel und Gewerbe, des Innern, des Ministers der 
Medizinalangelegenheiten und des Ministers für Landwirtschaft, Do¬ 
mänen und Forsten zur Ausführung der Gewerbeordnung, vom 
9. August 1894 bemerkt zum § 17 der Gewerbeordnung: „Bei .... 

Anlagen.zur Bereitung von Zündstoffen aller Art sind genaue 

Angaben über die Bestimmung und Einrichtung der einzelnen Räume 
sowie über den Hergang der Fabrikation erforderlich. Auch ist für 
jeden einzelnen Raum das Maximum der darin zu verarbeitenden 
oder zu lagernden Stoffe anzugeben.“ 

Das sind die hauptsächlichsten Ersatzmittel der Weissphosphor¬ 
zündhölzer. Auch sie werden die Gesetzgebung nicht entbehren 
können, aber sie sind ein gewaltiger Fortschritt gegenüber dem 
Schreckgespenst der Phosphornekrose. 

Aber mit der Darbietung von Ersatzmitteln sind die Schwierig¬ 
keiten, die dem Phosphorverbot entgegenstehen, noch nicht alle aus 
dem Wege geräumt. Schon 1879 wurde es in Deutschland angeregt, 
aber mit Rücksicht auf den Zündholzexport sah man damals von der 
radikalen Massregel ab und begnügte sich mit dem Gesetz vom 
13. Mai 1884 und dessen Ausführungsbestimmungen vom Jahre 1893. 
Dadurch war Deutschland in das von Bauer ([51] S. XXIX) als 
zweite Phase bezeichnete Stadium des Kampfes gegen die Phosphor¬ 
nekrose eingetreten, während Russland sich noch jetzt in der ersten 


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Dr. Franke, 


Phase dieser Entwicklung befindet, welche Bauer von der Zeit an 
rechnet, wo die Industrie der Sicherheitsziindhölzer den Konkurrenz¬ 
kampf beginnt (1854). Aber auch in Russland sah man ein, dass 
der Grundsatz des laisser faire, laisser aller nicht ausreiche und 
suchte die Entwicklung dadurch zu beschleunigen, dass man die Weiss¬ 
phosphorhölzer stärker besteuerte als die Schweden — ohne durch¬ 
schlagenden Erfolg. In Frankreich war es in erster Linie Tardieu, 
welcher seit dem Jahre 1856 immer und immer wieder auf den roten 
Phosphor als Ersatzmittel des weissen hinwies (45). Der Staat ver¬ 
suchte es erst mit der Monopolisierung der Zündholzindustrie und 
genauen Durchführung hygienischer Massnahmen; da die Nekrose nicht 
verschwand, werden jetzt vom Staute nur Schwefelphosphorhölzer 
fabriziert. Verkauf und Einfuhr anderer Hölzer ist verboten. 

Auch in Deutschland ist man, wie oben geschildert, zu der Er¬ 
kenntnis gekommen, dass nur ein Verbot des weissen Phosphors die 
Arbeiter vor dessen Gefahren schützen könne. In Meiningen gelang 
es nicht die volksgefährliche Hausindustrie zu unterdrücken. Die 
Sachsen-Meiningische Staatsregierung war es daher, welche eine be¬ 
sondere Erhebung über die Wirkungen des Gesetzes vom Jahre 1884 
und dessen Ausführungsbestimmungen sowie über den Umfang und 
die Bedeutung der zurzeit noch bestehenden deutschen Weissphosphor¬ 
zündholzindustrie anregte (56). Das Resultat der Umfrage des Reich¬ 
kanzlers war die Einbringung des Gesetzentwurfs, der den weissen 
Phosphor beseitigen sollte. Während er in Dänemark schon seit 1874 
staatlich unterdrückt war, hatte man mittlerweile an dem Beispiele 
der Schweiz gesehen, dass das Verbot durchführbar sei. Auch hier 
hatte es schwere Kämpfe gekostet, bis dasselbe 1880 ausgesprochen 
wurde. Die Folgezeit schien den Gegnern Recht zu geben. Denn 
alsbald entstand im Lande eine weit ausgebreitete Geheimfabrikation 
und ein schwunghafter Schmuggel mit Weissphosphorzündhölzern und 
1882 kam das Gesetz wieder zu Fall! Indessen hat Lunge (57) die 
inneren Gründe des Ereignisses in der ungenügenden Strafbefugnis 
des Schweizer Bundesrates und den dadurch möglichen Machenschaften 
der geheimen Fabrikanten unwiderleglich aufgedeckt. 

Das wiederaufgelebte Gesetz bestimmt im Jahre 1898, Art. 4: 
„Fabrikation, Einfuhr, Ausfuhr und Verkauf von Zündhölzern mit 
gelbem Phosphor sind verboten.“ Der Bundesrat besitzt jetzt ge¬ 
nügend Machtbefugnis, um dem Gesetz Geltung zu verschaffen. Durch 
ein solches Verbot werden jedoch neben grossen Fabriken besonders 


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Uebfer die zum Schutze der Arbeiter etc. 


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die kleineren betroffen, da es ihnen an Mitteln fehlt, Neueinrichtungen 
in der Fabrik und Maschinen zu beschaffen, etwa um Sicherheits¬ 
zündhölzer zu fabrizieren. In der Tat sind in der Schweiz von 1895 
bis 1901 18 Betriebe eingegangen. Derartige Schädigungen der In¬ 
dustrie w r erden für ein Land, das einen starken Export hat, sehr 
empfindlich sein können. Aber auch für ein Reich, das nur einen 
massigen Export besitzt — und ein solches ist Deutschland — wird 
eine internationale Regelung der Phosphorfrage zum mindesten sehr 
wünschenswert sein. Hängt doch von der Blüte oder dem Nieder¬ 
gang einer bedeutenden Industrie nicht nur das Wohl einiger Fa¬ 
brikanten, sondern das Wohl vieler Tausende von Arbeitern ab. Wer 
würde es daher nicht als eine grossartige Tat empfinden, wie unter 
der Initiative Deutschlands im Jahre 1890 die erste internationale 
Arbeiterschutzkonferenz in Berlin zusammentrat und derselbe Kongress 
im Jahre 1897 in Brüssel das gänzliche Verbot des Bleies und 
Phosphors ins Auge fasste? Deutschland ist der erste grosse Staat,, 
der unter Wahrung der Interessen und der Freiheit der Zündholz¬ 
industrie den Plan in die Tat umsetzte: Der dem Reichstage unter 
dem 15. November 1902 von der Reichsregierung zugegangene Gesetz¬ 
entwurf (58) wurde am 22. April 1903 mit grosser Mehrheit vom 
Reichstage angenommen. Der § 1 Abs. 1 des Gesetzes bestimmt: 
Weisser und gelber Phosphor, darf zur Herstellung von Zündhölzern 
und anderen Zündwaren nicht verwendet werden. Zündwaren, die 
unter Verwendung von weissem oder gelbem Phosphor hergestellt 
sind, dürfen nicht gewerbsmässig feilgehalten, verkauft oder sonst in 
Verkehr gebracht werden. Durch die Fassung des Gesetzes ist die 
Konkurrenz des Auslandes ausgeschaltet. Während das schweizerische 
Gesetz nur eine Uebergangszeit von 18 Monaten freiliess, sieht das 
das deutsche Gesetz 3Vo Jahre vor (bis 31. Dezember 1907). Da¬ 
durch ist die Härte des Eingriffes des Gesetzes bedeutend gemindert 
und es dürften schon deshalb verhältnismässig wenige Existenzen 
merklich geschädigt werden. Trotzdem hörte man im Reichstage 
Stimmen, die Entschädigung durch den Staat verlangten. Mit vollstem 
Recht stellte der Staatsminister und Bevollmächtigte des Bundesrats 
demgegenüber den Grundsatz auf: „Es hat niemand das Recht, zum 
schwersten Schaden seiner Nebenraenschen an Leben und Gesundheit 
ein gewinnbringendes Gewerbe zu betreiben.“ (Reichstagsverhand¬ 
lungen [49] S. 8937.) Besonders muss man es dem Gesetzgeber 
Dank wissen, dass er auch dem Kleinbetriebe nach Möglichkeit ein 


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Dr. Franke, 


Mittel an dieHandgegeben hat, um ihn vor Schädigungen durch das Gesetz 
zu schützen. Das Reich hat von dem Erfinder das Schwieningsche 
Patent erworben, um es kostenlos jedem, der es verwenden will, zu 
überlassen. Die Schwieningschen Hölzer sind, wie wir sahen, ein 
durchaus befriedigender Ersatz für die Weissphosphorzündhölzer. Der 
Betrieb vermittelst der Schwieningschen Masse gestaltet sich min¬ 
destens so einfach wie der des mit dem giftigen Phosphor arbeitenden. 

So steht Deutschland jetzt am Ende des Kampfes gegen ein 
Gift, das nicht nur viele Arbeiter an Gesundheit und zum Teil auch 
Leben geschädigt hat, sondern durch seine allgemeine Verbreitung im 
Volke sich geradezu als gemeingefährlich erwiesen hat. Noch aber 
ist nicht jede Quelle verstopft. Die Bestimmungen des Gesetzes vom 
10. Mai 1903 finden auf Zündbänder, die zur Entzündung von Gruben¬ 
sicherheitslampen dienen, keine Anwendung. Grund zu dieser Aus¬ 
nahme ist die Tatsache, dass alle übrigen mit andern Zündmassen 
gefüllten Zündbänder mehr oder weniger explosiv sind, so dass bei 
Entzündung der Grubenlampe die Flamme herausschlagen und brenn¬ 
bare Gase zur Explosion bringen kann (59). Auch die Phosphorpillen 
sind noch nicht aus der Welt geschafft. Möchte es bald gelingen, 
auch die letzten Eingangspforten des weissen Phosphors in das Gebiet 
der Oeffentlichkeit zu verschliessen. Damit wäre auch eine Gefahr 
für die Arbeiter an sich ausgeschlossen. 

Spiegelbelegen. 

Der Merkurialismus ist die Gewerbekrankheit der Spiegelbeleg¬ 
anstalten. Kuss maul (60) unterscheidet drei Stadien der chronischen 
Quecksilbervergiftung. Die erste Stufe ist der Erethismus mercurialis, 
die zweite der Tremor, die dritte das Stadium terminale. Als Be¬ 
ginn der Intoxikation zeigen sich spezifische Entzündung der Mund¬ 
schleimhaut und des Zahnfleisches, die Geschwüre, Verlust der Zähne, 
ja Kiefernekrose zur Folge haben kann. Weiterhin gewinnt die Haut 
ein blasses und fahles Aussehen, der Panniculus adiposus schwindet, 
die Muskulatur atrophiert, fast ausnahmslos bestehen in allen schwereren 
Fällen Verdauungsstörungen (Verstopfung und Diarrhoe). Dieser 
Cachexia mercurialis gesellt sich eine hochgradige nervöse Reizbarkeit 
bei, welche den Kranken auf kleine Anlässe hin zu unbedachten Taten 
hinreissen kann (Erethismus mercurialis). Der Tremor besteht in 
einem anfallsweise auftretenden heftigen Zittern u. zw. stets klonischer, 
nie tetanischer Art. Nach Kussmaul soll auch Tuberkulose bei 


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Ueber die zum Schutze der Arbeiter etc. 


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Quecksilberarbeitem häufig sein. Unter anderen seltenen Erkrankungen 
sei noch eine von demselben Autor gesehene, neuerdings von Hirsch¬ 
feld (61) beobachtete eigentümliche Nagelkrankheit bei Spiegelbelegem 
erwähnt, die anscheinend als spezifisch anzusehen ist. In seltenen 
Fällen können die oben genannten schweren Erscheinungen unter 
Delirien oder Verblödung und gänzlichem Verfall des Körpers zum 
Tode führen. Aber auch die leichten Fälle brauchen wenigstens 
mehrere Wochen zur Genesung, schwerere Monate lang. Eine Ge¬ 
wöhnung an das Gift tritt nicht ein. Nach Hirt (31) sollten Frauen 
„öfter und schneller“ erkranken als Männer, doch gibt Wollner (62) 
den Prozentsatz zu ungunsten der Frauen nur um 1,6 höher an. 
Nach ihm scheinen dagegen die Männer intensiver zu erkranken: 
Besonders wichtig ist die Neigung der quecksilberkranken Frauen zu 
Abort und Frühgeburt, welche ebenfalls schon Hirt bekannt ist. 
Auch die Nachkommenschaft der kranken Frauen scheint vielfach 
schwächlich und elend zu sein (cf. Darstellung von Bluhm in 
Weyl [3], S. 91). Die Aufnahme des Quecksilbers geschieht als Dampf 
durch die Schleimhaut der Atmungs- oder Verdauungswege, nur aus¬ 
nahmsweise kann die verletzte äussere Haut in Betracht kommen; 
im Blut und in den Organen wirkt das Metall als Albuminat. Die 
Ausscheidung geschieht durch den Urin, die Galle, den Darm, den 
Speichel und den Schweiss [Roth (45)]. Interessant sind die Unter¬ 
suchungen Laqueurs (63) über die Form, in welcher das Queck¬ 
silber im Harn auftritt: Es scheint hauptsächlich in Verbindung mit 
den Säuren und sauren Salzen (Harnsäure, Hippursäure, sauren Phos¬ 
phaten etc.), daneben auch mit dem Kreatinin zur Ausscheidung zu 
kommen. Das aufgenommene Quecksilber kann lange im Körper 
zurückgehalten werden, um erst nach Jahren Erscheinungen zu machen. 
Gorup-Besanez (64) fand in der Leiche einer Frau, welche Spiegel¬ 
arbeiterin gewesen, aber bereits über ein Jahr vor ihrem Tode den 
Dienst verlassen hatte, noch deutliche Spuren von Quecksilber. Zur 
Erklärung der ersteren Tatsache nimmt man an, dass an irgend einer 
Stelle des Körpers das Metall lange Zeit deponiert werden kann, um 
erst dann in den Kreislauf zu gelangen. Am gefährlichsten und be¬ 
rüchtigtsten sind auch in dieser Industrie die „Heimbelegen“. Aber 
auch wenn nur eine Person eines Hausstandes in einer Spiegelbelege 
arbeitet, können durch mangelnde Vorsicht Bedingungen geschaffen 
werden, welche das gefährliche Gift in die Familie bringen. So er¬ 
zählt Wollner (62) eine Beobachtung, wo die Kinder des Arbeiters 

Vierteljahrsscbrift f. ger. Med. o. Off. San.-Wesen. 3. Folge. XXXII. 1. } ] 


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Dr. Franke, 


eher erkrankten als dieser selbst, weil er die Kleider nicht wechselte. 
Die Notwendigkeit peinlicher Sauberkeit im Betriebe kann auch eine 
Beobachtung Mörners (65) über das Verdampfen des Quecksilbers 
in Wohnräumen illustrieren: In einer Pflegeanstalt war mit Sublimat 
desinfiziert worden. Es stellten sich bei den Kindern schwere Darm¬ 
erscheinungen ein. Es wurde der Verdacht rege, dass zurück¬ 
gebliebenes Sublimat durch organische Substanzen oder durch Be¬ 
rührung der Lösung mit dem Kalk des Mörtels zu Quecksilber 
reduziert sein könnte, und die schlechten Stühle der Kinder vielleicht 
darauf zurückzuführen seien. Tatsächlich wurden in dem Urin der 
Kinder und ebenso in der Zimmerluft namhafte Mengen des Metalls nach¬ 
gewiesen, obwohl bereits Monate seit der Desinfektion vergangen waren! 

Das Belegen der Quecksilberspiegel geschieht in folgender Weise: 
Auf einer völlig glätten und geschliffenen Tischplatte aus Marmor, 
Schiefer oder Glas wird zunächst ein Stück Zinnfolie* das etwas 
grösser als das geblasene resp. gegossene Spiegelglas ist, ausgebreitet 
und auf ihr eine kleine Menge Quecksilber gleichraässig verteilt. Zu 
dieser Manipulation wurden früher zuweilen die Hände benutzt, was 
selbstredend grosse Gefahren mit sich bringt. Dann wird reichlich 
Quecksilber aufgegossen, die sich bildende trübe Haut rasch entfernt 
und die peinlich saubere, vollkommen trockene Glasscheibe allmählich 
vom Rande her auf das Metall geschoben; sie sinkt bis zur Amalgam¬ 
schicht und wird noch mit Gewichten beschwert, um überschüssiges 
Quecksilber herauszupressen. Hat die Belegung die genügende Festig¬ 
keit, so neigt man die Glasplatte allmählich immer mehr gegen den 
Horizont, damit das überflüssige Quecksilber ganz langsam abfliesst. 
Dieses Trocknen geschah früher zum Teil in Kästen neben den Beleg¬ 
tischen. Nach 2—4 Wochen ist das Amalgam gleichmässig fest an 
der Glasscheibe befestigt und der Spiegel fertig. Ein „Beleger“ ar¬ 
beitet mit je einer „Wischerin“ oder auch deren zwei. Die Aufgabe 
der letzteren ist das Trocknen und Reinigen der Glasplatten. Das¬ 
selbe kann zum Teil in Nebenräumen der eigentlichen Belegwerk¬ 
stätten geschehen, das letzte Fertigstellen der Gläser muss jedoch 
unmittelbar vor dem Belegen stattfinden. Bei feuchtem oder nebeligem 
Wetter oder bei intensivem Betriebe bediente man sich daher als 
Trockenmittel der Kohlenhäfen, die mit verglimmenden Holzkohlen, 
welche bekanntlich reichlich Kohlendioxyd entwickeln, beschickt waren. 
Ueber der Heizvorrichtung waren die Trockenlappen auf einem Gestell 
gelagert. Da an solchen Tagen auch die Fenster der Belegen oft 


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Ueber die zum Schutze der Arbeiter etc. 


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geschlossen wurden und also ausserdem der Quecksilberdampf nur 
sehr ungenügend oder fast gar nicht entweichen konnte, so springt die 
Schädlichkeit der kombinierten Giftwirkungen in die Augen [Mayer (66)]. 

Die Frage, ob dem Quecksilberdampf oder Quecksilberstaub bei 
dem Zustandekommen des chronischen Merkurialismus die Schuld 
allein oder beiden zugleich beizumessen ist, ist auf der einen Seite 
von Renk (67), auf der anderen von Hilger und Raumer (68) er¬ 
forscht worden. Sie kommen zu verschiedenen Resultaten. Renk 
folgert aus seinen exakten und sehr schönen Laboratoriumsversuchen, 
welche der Wirklichkeit möglichst nahe zu kommen suchten, dass 
die gewerbliche Quecksilbervergiftung hauptsächlich durch den Dampf 
des Metalls hervorgerufen wird, während der Metallstaub als solcher 
weniger schädlich ist und mehr indirekt durch Verdunstung eine Be¬ 
deutung erlangt. Er zieht daraus den Schluss, dass die Verdunstung 
des Quecksilbers in den Spiegelbeleganstalten mit allen möglichen 
Mitteln verhindert werden müsse. Da das aber infolge der Art des 
Betriebes nicht völlig durchführbar sei, so müsse als gleichwertige 
Ergänzung eine sehr ausgiebige Ventilation gefordert werden. Der 
Staub wird nach Renk hauptsächlich beim Reinigen erzeugt. 

Hilger und Raumer fanden durch genaue Versuche, die im 
Belegsaale der Fürth-Erlanger Aktienspiegelfabrik angestellt wurden, 
nicht, wie sich aus den Renk sehen Versuchen ergab, 2 mg Hg in 
Dampfform im Kubikmeter Luft, sondern nur 0,39 mg. Für den 
Beleger am Belegtische steigt die Zahl allerdings um zirka das Drei¬ 
fache. Es wird danäch die jährlich von einem Arbeiter eingeatraete 
Menge Quecksilberdampf auf 360 mg, bzw\ für einen Beleger auf 
etwas über l g berechnet, wenn man 8 Arbeitsstunden am Tage an¬ 
nimmt, in der Tat eine sehr geringe Menge. Weit grösser fanden 
Hilger und Raumer die Menge des staubförmig verschleuderten 
Quecksilbers in allen Teilen des Belegsaales (selbst direkt unter der 
Decke), z. B. in Mundhöhe bei den Belegtischen, pro Quadratmeter 
berechnet 0,099 g Hg. 

Die ersten Vorschriften für den Schutz der Arbeiter in Spiegel¬ 
belegen wurden 1877 von dem Polizeipräsidenten in Berlin erlassen 
(Weyl [3], S. 994). Aber noch lange währte es, bis in Deutschland 
«ine allgemeine gesetzliche Regelung des enorm gefährlichen Betriebes 
in Wirksamkeit trat. Das gilt besonders für Baiern, wo Fürth von 
Alters her das Zentrum der Spiegelfabrikation überhaupt bildet. 

Den Bemühungen der Aerzte ist es wesentlich zu danken, dass 

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vom Glasbeleger-Hilfsverein zu Fürth hier Vorschriften durchgeführt 
wurden, welche einen grossen Fortschritt bedeuten. Es sind kurz 
zusammengefasst die folgenden: 

1. Für jeden Arbeiter sind mindestens 40 cbm Luftraum zu 
fordern (oft kamen aber über 100 auf einen Arbeiter). 

2. Der Fussboden muss glatt, undurchdringlich und so her¬ 
gerichtet sein, dass sich das Quecksilber an einem Orte sammelt. 
Die Wände müssen glatt sein. 

3. Genügende Ventilation (Arbeiten bei offenen Fenstern). 

4. Das Quecksilber muss verschlossen aufbewahrt werden. 

Es werden ferner besondere Räume zum Peinigen des Körpers, 
zum Vertauschen der Kleider mit vom Arbeitgeber zu liefernden 
Arbeitskitteln gefordert, das Essen und Trinken in den gefährlichen 
Sälen wird verboten, sorgfältige Mundreinigung und Körperpflege zur 
Pflicht gemacht; der Arbeiter muss eine Bescheinigung über das ge¬ 
nommene Bad vorlegen. Für besonders wichtig hält Wollner (61a) 
nicht mit Unrecht die Vorschrift, dass jeder neu eintretende oder er¬ 
krankt gewesene Arbeiter nur mit ärztlicher Erlaubnis zugelassen 
wird. Es ist selbstverständlich, dass gerade schlecht genährte 
heruntergekommene Individuen leichter der Vergiftung zum Opfer 
fallen als kräftige; ebenso hat die Erfahrung nur allzu häufig gezeigt, 
dass ein merkurialkrank gewesener Arbeiter zur erneuten, oft schwereren 
Form der Hydrargyrose neigt. Ausserordentlich bedeutungsvoll ist 
endlich die Festsetzung einer maximalen Arbeitszeit von 8 Stunden 
und die Bestimmung einer vierwöchentlichen Unterbrechung der Arbeit, 
während welcher zwar nicht der ganze Lohn, aber eine Entschädigung 
gezahlt wird. Eine Ergänzung und wesentliche Erweiterung dieser 
Vorschriften brachte der „Erlass des königl. preussischen Ministeriums 
für Handel und Gewerbe vom 18. Mai 1889, betreffend Vorschriften 
über die Einrichtung und den Betrieb von Spiegclbeleganstalten“. 
Bayern übernahm die gleichen Bestimmungen, doch trat ein Teil der 
„finanziell tief eingreifenden“ Massnahmen hier erst vom Juli 1895 an 
in Kraft [Sommerfeld (24, S. 504)]. 

Die Vorschriften gliedern sich im wesentlichen in solche, welche 
das Entstehen des Quecksilberdampfes und Staubes zu verhindern 
bezw. die dadurch verunreinigte Luft fortschaffen und durch neue zu 
ersetzen bezwecken und solche, die durch Auslese der Arbeiter, Ueber- 
wachung von deren Gesundheitszustand und Kürzung der Arbeitszeit 
die noch bleibenden Gefahren der Vergiftung zu beseitigen streben. 


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Wir finden daher eine Trennung der einzelnen Betriebsräume 
angeordnet (Aufbewahrung der Quecksilbervorräte ausserhalb der Be¬ 
legen in geschlossenen Gefässen), Reservierung jedes Fabriksaales für 
den ihm allein zukommenden Zweck (der Belegen und der Trocken¬ 
räume, die mit Wohn- Schlaf- und Haushalteräumen nicht in nnmittel- 
barer Verbindung stehen dürfen). Hierher gehört auch das Verbot 
der Reinigung von Quecksilberabfällen und der quecksilberhaltigen 
Wischlappen und Anreibeballen in den Arbeitsräumen, während dasselbe 
in den Aufbewahrungsräumen erlaubt ist. Die Trennung des Metalls 
von anderen Beimengungen darf nur in gläsernen Scheidetrichtern, die 
Reinigung der Tücher und Anreibeballen mechanisch in geschlossenen 
Behältern vorgenommen werden. Ferner wird gefordert die Lage der 
Belegen zu ebener Erde, der Fenster der quecksilbergefährlichen 
Räume nach Norden (Gefahr der Verdampfung vou Hg durch Sonnen¬ 
bestrahlung!); alles überschüssige Quecksilber muss möglichst rasch 
gesammelt werden. Daher muss der Fussboden der Belegen und 
Trockenräume aus glattem Asphalt-Belag, ohne Fugen, Ritzen und 
Sprünge bestehen und so eingerichtet sein, dass alles auf den Boden 
gelangende Quecksilber durch Sammelrinnen nach Sammelbecken ge¬ 
leitet wird. Auf den Belegtischen muss das bei den einzelnen Phasen 
der Manipulation Überfliessende Metall über die im übrigen vollkommen 
glatten Tische in vorgesehene Rinnen und von da in Auffangebehälter 
gelangen, welche bis auf eine kleine Oeffnung zum Einlassen des 
Quecksilbers geschlossen sind. Es ist klar, dass die früher in der 
Nähe der Belegtische aufgestellten, zum Anwärmen der Wischtücher 
dienenden eisernen Kohlenöfen sehr zur Erzeugung von Quecksilber¬ 
dampf beitragen mussten. Es ist daher bestimmt, dass zu dem an¬ 
gegebenen Zweck nur solche W T ärmevorrichtungen benutzt werden 
dürfen, bei welchen ein Ausstrahlen der Wärme auf das geringste 
Mass herabgesetzt wird. Etwaige Abgase der Wärmevorrichtung müssen 
in einen besonderen Schlot abgeleitet werden. Aus dem gleichen 
Grund der Vermeidung von Metalldämpfen ist jede direkte Heizung 
der quecksilbergefährlichen Räume untersagt und durch Zuführung 
kalter bezw. — nie über 15° C — vorgewärmter Luft die Regulierung 
der Temperatur zu erzielen, welche niemals 25° C übersteigen darf. 
In diesem Falle muss der Betrieb an dem Tage geschlossen werden. 
Der Verhinderung von Staubentwicklung dient die Vorschrift gewissen¬ 
haftester Vorsicht, damit kein Metall verspritzt wird, und peinlichster 
Sauberkeit: Der Fussboden ist vor Beginn der Arbeit und vor Wieder- 


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Dr. Franke, 


beginn derselben nach vorangegangener Pause reichlich mit Wasser 
zu besprengen und täglich nach der Arbeit nach reichlicher Besprengung 
auszukehren. 

Der trotzdem unvermeidliche Dampf und Staub muss unschädlich 
gemacht werden. Zu dem Zwecke sind in dem Belegraume mindestens 
40 cbm Luftraum für jede beschäftigte Person, im Trockenraum 
mindestens 30 cbm vorgesehen. Da ein sehr niedriger Raum wegen 
der Schwere der Quecksilberdämpfe den Nutzen dieser Vorschrift zum 
Teil vereiteln könnte, so ist die Höhe der Räume auf wenigstens 
3,5 m festgesetzt. Wichtiger noch ist die angeordnete künstliche Ven¬ 
tilation (Lockfeuerung oder Motor), welche pro Kopf und Stunde 
60 cbm Luft zu- und abführen muss. Die Schwere der Quecksilber¬ 
dämpfe erfordert die Abführung der schädlichen Luft am Boden, 
Zuführung der frischen an der Decke der Beleg- und Trocken¬ 
räume. 

Zum weiteren Schutze der Arbeiter sind indessen noch Betriebs¬ 
regelungen und eine Auslese unter dem Arbeitspersonal notwendig. 
Die Arbeitszeit ist nach den preussischen und bayrischen Bestimmungen 
auf 8 Stunden im Winter, 6 im Sommer festgelegt. Die Vorschrift, 
dass nur körperlich genügend kräftige Arbeiter auf Grund des Zeug¬ 
nisses eines approbierten Arztes zum Betriebe zugelassen werden 
dürfen, schützt vor ungeeigneten Arbeitskräften. Der Gesundheitszustand 
der Arbeiter unterliegt ferner einer mindestens einmaligen Kontrolle 
in 2 Wochen durch einen vom Fabrikanten damit beauftragten Arzt. 
Die Beschäftigung von Kindern ist durch das Kinderschutzgesetz vom 
30. März 1903 untersagt. Für jugendliche Arbeiter und Arbeiterinnen 
gelten die Bestimmungen der §§ 135, 136 und 137 der Gewerbe¬ 
ordnung, soweit dieselben nicht durch die Festsetzung der maximalen 
Arbeitszeit in den Spiegelbelegen überholt sind. Der Wöchnerinnen¬ 
schutz erstreckt sich auf 4 resp. 6 Wochen; für Schwangere existieren 
spezielle Vorschriften leider nicht. 

Wollner polemisiert gegen einige der tatsächlich sehr energischen 
Vorschriften und wendet sich im besonderen (62 e) 

1. gegen die Bestimmungen über die Länge der Arbeitszeit im 
Winter (Maximum 8 Stunden) und im Sommer (Maximum 
6 Stunden). 

2. über die Lage der Belegen und der Fenster ausschliesslich 
nach Norden. 

3. gegen die Forderung der künstlichen Ventilation. 


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4. gegen die Verlegung der Belegen in die Parterreräume. 

Zweifellos liegen diesen Massnahmen die Versuche Renks zu 
Grunde. Indessen ist keineswegs bewiesen, dass die Vorschriften 
des Glasbeleger-Hilfsvereins genügt haben würden, um den Mer¬ 
kurialismus zu unterdrücken. Zwar sank die Zahl der durch Queck¬ 
silbervergiftung bedingten Krankheitstage von noch 13,52 im Jahre 
1875 auf 4,09 (1888), 3,74 (1889), 0,66 (1890) und kam 1891 
überhaupt kein Fall von Merkurialismus mehr zur Behandlung, aber 
Wollner hebt selbst mit Recht hervor, dass in der gleichen Zeit 
auch die Zahl der Quecksilberarbeiter in rapider Weise abnahm; von 
169 im Jahre 1885 auf 77 im Jahre 1890! Die Ursache lag in dem 
Verschwinden gerade der Spiegelbelegen, aus welchen die meisten 
quecksilberkranken Arbeiter stammten (lange Arbeitszeit, schlechte 
Bezahlung) und vor allem in dem Ersatz der Quecksilberspiegelfabrikation 
durch die von Silberspiegeln. Wenn die preussischen und bayrischen 
Vorschriften diesen Prozess noch beschleunigt haben, so kann man das 
nur mit lebhafter Freude begrüssen, denn der Silberspiegel ist haltbarer 
und dauerhafter als der Quecksilberspiegel und reflektiert das Licht 
vollständiger als der letztere. Es fehlt ihm allerdings das Dunkle 
und Tiefe des Quecksilberspiegels. Der Reflex ist leicht gelblich. 
Aber einem solchen Produkt der Technik gegenüber kann doch wohl 
die Frage aufgeworfen werden, ob die Quecksilberspiegelindustrie für 
die allgemeine Wohlfahrt unentbehrlich ist. 

Jedenfalls wird die Aufsicht und die Durchführung aller hygienisch 
notwendigen Massnahmen in den Fabriken um so leichter gelingen, 
je kleiner die Industrie ist. Denn die Quecksilberspiegel werden um 
so höher im Preise stehen, je weniger von ihnen auf den Markt- 
kommen. 

Das Prinzip der Silberspiegelfabrikation ist folgendes: Eine al¬ 
kalische Silbersalzlösung wird durch reduzierende Mittel unter Ab¬ 
scheidung von metallischem Silber zersetzt. Dieses schlägt sich als 
glänzender Spiegel auf der Glasfläche nieder. Wollner (69) glaubt, 
dass der dabei notwendige Aufenthalt der Arbeiter in einer Temperatur 
von 28—40° C. zu subakuten und chronischen Lungenaffektionen 
fuhren müsse, wodurch eine viel höhere Sterblichkeitsziffer sich er¬ 
geben werde. Sommerfeld (24) hält diese Anschauung jedoch 
keineswegs für gerechtfertigt, und man wird demselben darin Recht 
geben müssen, dass sich plötzliche Abkühlungen beim Verlassen eines 
heissen Raumes leichter vermeiden lassen werden, als Vergiftungen 


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Dr. Franke, 

beim Hantieren mit einem so gefährlichen Material, wie es gerade das 
Quecksilber darstellt. Wenn indessen wirklich derartige Krankheiten 
der Arbeiter in Zukunft beobachtet werden sollten, so muss darauf 
hingewiesen werden, dass neben der allmählichen Abkühlung des 
Körpers noch andere Schutzraassregeln getroffen werden müssten. 
Ueber die Art derselben sei hier nur allgemein soviel bemerkt: Liegt 
in der hohen Temperatur des Betriebes die Gefahr, so wird darauf 
gesehen werden müssen, dass dieselbe nach Möglichkeit niedrig ge¬ 
halten werde. Dem Luftkubus und der Ventilation wird eine so hohe Be¬ 
deutung wie in den bisher betrachteten Fällen nicht zukommen, wenn diese 
Faktoren auch keineswegs verachtet werden dürfen. Dagegen würden, 
die Massregeln neben der Auswahl der Arbeiter und der Regelung der 
Arbeitszeit eine besondere Wichtigkeit erlangen, welche die Erhaltung 
und Stärkung der Reaktionsfähigkeit der Haut auf Temperatur- (70 
u. 71) und Druckreize (72) zum Ziel haben. 

Der Kreisarzt und der Fabrikarzt. 

Um die für die Arbeiter in gefährlichen Fabriken notwendigen Ein¬ 
richtungen und Vorkehrungen zu bestimmen und zu überwachen, kommt 
im Deutschen Reich neben den Gewerbeaufsichtsbeamten dem Medizinal¬ 
beamten eine wichtige Aufgabe zu, welche durch die Paragraphen 18, 21, 
76, 91, 92 und 93 der Dienstanweisung für die Kreisärzte und die 
Anweisung zur Ausführung der Gewerbeordnung Tit. I, II, IV und V 
vom 9. August 1899 bestimmt ist. Dadurch sind dem Medizinalbeamten 
wichtige Befugnisse bei der Genehmigung und Beaufsichtigung von 
gewerblichen Betrieben übertragen. Besonders wichtig wird dessen 
Funktion, wenn so gesundheitsgefährliche Fabriken zu begutachten und 
zu überwachen sind, wie wir sie im Vorstehenden betrachtet haben. 
Aber das letztere, die Ueberwachung, kann nicht allein Aufgabe des 
Kreisarztes sein. Die regelmässige Kontrolle des Gesundheitszustandes 
der Arbeiter in Gummifabriken mindestens einmal monatlich, in den 
Weissphosphorzündholzfabriken mindestens einmal vierteljährlich, in 
den Spiegelbelegen mindestens einmal in 2 Wochen, ebenso die Aus¬ 
lese der tauglichen Arbeiter hat der Arbeitgeber einem dem Gewerbeauf- 
sichtsbcamten namhaft zu machenden approbierten Arzt zu übertragen. 
Demselben wird demgemäss aber noch eine andere sehr wichtige Rolle 
zufallen. Wir haben wiederholt gesehen, wie notwendig zur Beurteilung 
der Gefährlichkeit eines Betriebes und der Wirksamkeit von hygienischen 
Massnahmen eine zuverlässige Statistik wäre. Unter den hier be- 


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lieber die zum Schutze der Arbeiter etc. 


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handelten Fabriken ist die Statistik der Spiegelbelegen in Fürth die 
einzige, welche auf Vollständigkeit Anspruch machen kann und daher 
ein Bild der wirklichen Verhältnisse zeichnet. Trotz der Einführung 
der Kontrollkrankenbücher, durch welche dem Kreisarzt die Unterlagen 
zu statistischen Zusammenstellungen gegeben werden sollten, sind diese 
Verhältnisse noch kaum gebessert. Die Gründe liegen, wie Roth (45 u. 73) 
und Hölzer (51) (S. 14 u. 15) mit Recht hervorheben, in der grossen 
Abhängigkeit des Fabrikarztes gegenüber dem Fabrikanten. Nur ein 
möglichst unabhängiger Fabrikarzt wird wirklich seinen Posten aus¬ 
füllen können. Wodtke (53) (S. 331) betont, dass sich der Staat 
zum mindesten einen Einfluss auf die Anstellung, Honorierung und 
Dienstanweisung der Kassenärzte bei Fabrikkrankenkassen von ge¬ 
fährlichen Betrieben sichern solle. Mit diesem Vorschläge würde sich 
meines Erachtens auch das Bestreben in der heutigen Aerztewelt nach 
freier Arztwahl vereinigen lassen, wenn gleichzeitig — ähnlich wie 
in England — allgemeiner die Anzcigepflicht der gefährlichsten Ge¬ 
werbekrankheiten durchgeführt würde. Indessendürfteesmehrimlnteresse 
der Sache liegen, wenn ein Arzt mit der Ueberwachung des Gesundheits¬ 
zustandes (Führung des Kontrollbuches) der Arbeiter und deren Aus¬ 
wahl für die Fabrikarbeit betraut würde. Dagegen müsste auch hier 
gefordert werden, dass die Anstellung, Honorierung und Dienstanweisung 
dieses Fabrikarztes nicht ohne Genehmigung des Staates geschehen 
könne. Es dürfte auch der Erwägung wert sein, ob es nicht zweck¬ 
mässig wäre, dem Fabrikarzt die Qualität eines Beamten zu geben, 
der mit dem Kreisarzt zusammenarbeitet. Zu den Aufgaben des Fabrik¬ 
arztes, welcher Art auch seine Stellung sein mag, kommt endlich noch 
eine letzte, welche in ihrer Wichtigkeit nicht unterschätzt werden 
darf: Ihm kommt es zu, die Arbeiter immer wieder in die ihnen aus 
der Nichtbefolgung von Kleinigkeiten erwachsenden schweren Gefahren 
für Leben und Gesundheit und den Sinn der gesetzlichen Vorschriften 
z. B. Verbot des Essens in den giftigen Räumen, Verbot des Tragens 
langer Bärte für Quecksilberarbeiter nachdrücklich hinzuweisen. Er 
wird das zweckmässig hin und wieder im Zusammenhang durch kürzere 
Vorträge an die Arbeiter tun. Je mehr der Fabrikarzt in die einzelnen 
Zweige der Industrie hineingeschaut hat, sei es (am besten) durch 
Kenntnis der Praxis selbst oder etwa durch Besuch von Ausstellungen, 
wie es jetzt möglich ist (74), umsomehr wird er fähig sein, hier 
segensreich zu wirken. Denn es ist eine Tatsache, dass die meisten 
Arbeiter für derartige Belehrungen durchaus zugänglich, ja dankbar sind. 


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170 


I)r. Franke, 


Zweifellos gehört ein kluges und taktvolles Benehmen dazu, um 
eine Stellung in der Mitte zwischen zwei vielfach in scharfem politischen 
Gegensatz stehenden Parteien, Arbeitgebern und Arbeitnehmern, voll 
auszufüllen, auf der einen Seite als Berater und nicht als Polizeiorgan 
zu erscheinen, auf der anderen das Vertrauen nicht zu verlieren. Richtig 
aufgefasst wird die Stellung des Fabrikarztes der sozialen Bedeutsamkeit 
nicht entbehren. 

Neben Herrn Gewerberat Rick in Metz, welcher mir die Be¬ 
sichtigung der Zündholzfabrik ermöglichte, bin ich für die Beschaffung 
des literarischen Materials Herrn Gewerberat Giesecke und Herrn 
Physikus Dr. Pfeiffer in Hamburg zu Dank verpflichtet. 


Literaturbelege. 

1. a) Landmann, Kommentar zur Gewerbeordnung für das deutsche Reich. 
München 1903. — b) Neukamp, Die Gewerbeordnung für das deutsche 
Reich. Berlin 1903. 6. Aufl. 

2. Albrecht, Handbuch der praktischen Gewerbehygiene. Berlin 1896. 

3. Weyl, Handbuch der Hygiene. Bd. VIII: Gewerbehygiene. 1897. 

4. Referat nach den Resultaten einer Besichtigung. 

5. Lewin, Lehrbuch der Toxikologie. 1897. S. 202 und Virchows Archiv. 1888. 
S. 112. 

6. Kunkel, Handbuch der Toxikologie. 1899. 

7. Lassar, Virchows Archiv. Bd. 77. S. 157. 

8. Dämmer, Handbuch der Arbeiterwohlfahrt. 1. Bd. S. 824. 1902. 

9. Kaemerer u. Oppler, Ueber das Verhalten von Sicherheitslampen gegen 
explosive Gasgemische. Separatabdruck. Augsburg 1891 (Albrecht, Hand¬ 
buch der Gewerbehygiene). 

10. Eulenberg, Die Lehre von den schädlichen und giftigen Gasen. 1865. 

11. Sapelier, Etüde sur le sulfure de carbone. These de Paris. 1885. 

12. Delpech, Nouvelles rocherches sur l’intoxication spSoiale que döterminc lo 
sulfure de carbone. Paris 1860. 

13. Lehmann, Experimentelle Studien über den Einfluss technisch u. hygienisch 
wichtiger Gase und Dämpfe auf den Organismus. Arch. f. Hygiene. XX. 1894. 

14. Sprenger, Ueber Vergiftungen durch Schwefelkohlenstoff bei Arbeitern 
einiger Gummiwarenfabriken. Zeitschr. der Zentralstelle für Arbeiterwohlfahrts¬ 
einrichtungen. 1896. No. 18. 

15. Laudenheimer, Die Schwefelkohlenstoffvergiftung der Gummiarbeiter 
Leipzig 1899. 

16. Hampe, Ueber psychische Störungen infolge Schwefelkohlenstoffvergiftung. 
Dissert. Leipzig 1895. 

17. Delpech, Ann. d’hyg. publ. II. S6r. T. XIX. 1863. 

18. Stadelmann, Ueber Schwefelkohlenstoffvergiftung. Berliner Klinik. 1896. 
No. 98. 


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Ueber die zum Schutze der Arbeiter etc. 


171 


19. Köster. Zur Lehre der Schwefelkohlenstoffneuritis. Arch. f. Psych. XXXIII. 

1900. ' 

20. Marie, Sulfure de carbone et bystörie. Bull, et möm. de la soc. möd. des 
hdpit. de Paris. 1888. 

21. Maradon de Montyel, Ann. d’hyg. publ. 1885. Bd. 33. und ebenda 1901. 
Bd. 45. 

22. Roeseier, Die durch Arbeiter mit Schwefelkohlenstoff entstehenden Er¬ 
krankungen und die zu ihrer Verhütung geeigneten Massregeln. Vierteljahr¬ 
schrift f. gerichtl. Med. u. öffentl. Sanitätswesen. 3.Folg. XX. 2. S.293. 1900. 

23. Jahresberichte der Gewerbeaufsichtsbeamten: a) 1900. 111. S. 696. — b) 1900. 
I. S. 112. - c) 1902. 1. 1. S. 362. 

24. Sommerfeld, Handbuch der Gewerbekrankbeiten. Berlin 1898. 

25. Cazeneuve, L’industrie du phosphore et des allumettes. Ann. d’hyg. publ. 
3. Sörie 21. 1889. S. 289. 

26. Hager, Handbuch der pharmazeutischen Praxis. II. Bd. Berlin 1902. S. 593. 

27. Rubner, Lehrbuch der Hygiene. 7. Anfl. 1903. S. 788. 

28. Medicinisches Jahrbuch des K. K. österreichischen Staates. 51. Bd. 257. 

29. Kobert, Lehrbuch der Intoxikationen. Stuttgart 1899. 

30. v. Bibra u. Geist, Krankheiten der Arbeiter in den Phospborzündhölzchen- 
fabriken. Erlangen 1847. 

31. Hirt, Die Krankheiten der Arbeiter. UI. Teil: Die gewerbl. Vergiftungen. 
Leipzig 1875. 

32. Billroth, Chirurgische Erfahrungen, v. Langenbecks Archiv. Bd. X. 

33. Haeckol, Die Phosphornekrose, v. Langenbecks Archiv. Bd. 39. 

34. Kuipers, Ueber Phosphornekrose. Dissert. Jena 1895. 

35. Stockmann, On the cause of so called phosphorus nekrosis of the jaw in 
matohworkers. Brit. med. Journ. Jan. 7. 1899. p. 9. 

36. v. Stubenrauch, Experimentelle Untersuchungen über Phosphornekrose. 

• Arch. f. klin. Chirurgie. LIX. 1899. S. 144. 

37. v. Stubenrauoh, Die Lehre von der Phosphornekrose, v. Volkmanns 
Sammlung klin. Vorträge. 1901. 

38. Wegener, Der Einfluss des Phosphors auf den Organismus. Virchows Arch. 
Bd. 55. 1872. 

39. Kocher, Zur Kenntnis der Phosphomekrose. Biel 1894. 

40. Riedel, Phosphornekrose, v. Langenbecks Archiv. Bd.53. 1896. 

41. Magitot, Des accidents industriels du phosphore et en particulier du phos- 
phorisme. Bull, de Pacad. de möd. S£rie XXXIII. 1895. 

42. Arnaud, Recherches sur l’urologie du pbosphorisme chronique chez les 
ouvriers des manufactures d’allumettes chimiques. Ann. d’hyg. publ. 3. S6r. 
XXXV. 1%. 1896. 

43. Courtois-Suffit, Le phosphorisme professionel. Presse möd. VII. 1899. 

44. Jost, Zur Phosphornekrose. Beitr. zur klin. Chirurgie. XII. 1894. S. 181. 

45. Roth, Die gewerbliche Blei-, Phosphor-, Quecksilber-, Arsen- und Schwefel¬ 
kohlenstoffvergiftung. Berl. klin. Wochenschr. 1901. No. 20. 

46. Hirsch, Ueber die Verwendung von Phosphor in der Zündholzindustrie. 
Aerztl. Sachverständigenzeitung. 1901. No. 8. 

47. Hahn, Die fabrikmässige Herstellung von Phosphorpillen zur Vertilgung 


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172 


Dr. Franke, 

der Feldmäuse and ihre sanitäre Bedeutung. Zugleich als Beitrag zur Wirkung 
des Pbosphordampfes. Vierteljahrschrift für gerichtliche Medizin. 3. Folge. 
.XVII. 1899. 

48. "Vallin, Sur l’assainissement de la fabrication des allumettes. Bull, de l’acad. 
de mM. III. S<5rie. T. 37. 1897. S. 141 flf. 

49. Reichstagsverhandlungen, 29. Januar u. 22. April 1903 (246. u. 293. Sitzung). 

50. Patentschrift des deutschen Reiches. No. 86203. 

51. Bauer, Gesundheitsgefährliche Industrien. Jena 1903. 

52. Popper,. Lehrbuch der Arbeiterkrankheiten. Stuttgart 1882. (Weyl.) 

53. Wodtke, Ueber Gesundheitsschädigungen in Fabriken von Sicherheits¬ 
zündhölzern durch doppelchromsaures Kali. Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 
3. Folge. XVIII. 1899. S. 325. 

54. Roepke, Zeitschrift der Zentralstelle für Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen. 
1901. No. 1. 

55. Lüdemann, Giftfreie Zündhölzer. Zeitschr. d. Zentralstelle f. Arbeiter- 
Wohlfahrtseinrichtungen. 1900. No. 24. 

56. Aerztliche Sachverständigenzeitung. 1899. S. 440. 

57. Lunge, Das Verbot der Phosphorzündhölzchen in der Schweiz und seine 
Aufhebung. 

58. Veröffentlichungen des Kaiserlichen Gesundheitsamts. 1902. S. 1183. 

59. Glückauf, Berg- u. Hüttenmännische Wochenschr. 1898. No. 38. (Bauer.) 

60. Kussmaul, Untersuchungen über den konstitutionellen Merkurialismus. 
Würzburg 1861. 

61. Hirschfeld, Berl. klin. Wochenschr. 1901. No. 18. S. 489. 

62. Wollner, Münch, med. Wochenschr. a) 1888. S. 105. — b) 1890. S. 365. 
— c) 1891. S. 268. — d) 1892. S. 533. — e) Pentzold-Stintzing, Hand¬ 
buch der Therapie innerer Krankheiten. II. Bd. Abt. III. Jena 1897. 

63. Laqueur, Ueber Quecksilberbindung im Urin. Berl. klin. Wochenschr. 1903. 
No. 3. S. 51. 

64. Hofnanns Lehrbuch der gerichtl. Medizin. 7. Aufl. 1895. S. 643. 

65. Mörner. Einige Beobachtungen über das Verdampfen des Quecksilbers in den 
Wohnräumen. Zeitschr. f. Hygiene u. Infektionskrankheiten. XVIII. 1894. 
S. 251. 

66. Mayer, Die sanitären Zustände der Quecksilber-Spiegelbelegen. Friedreichs 
Blätter f. gerichtl. Med. 1884. XXV. S. 176flf u. 285fF. 

67. Renk, Untersuchungen über das Verstäuben und Verdampfen von Quecksilber 
etc. Arbeiten aus dem Kaiserl. Gesundheitsamt. Bd. V. 1889. 

68. Hilger u. Raumer, 1) Ueber den Quecksilbergehalt der Luft in Spiegelbeleg¬ 
anstalten. Bericht über, die X. Versammlung der freien Vereinigung bayerischer 
Vertreter der angewandten Chemie in Augsburg. 1891. 2) Ueber. den Queck¬ 
silbergehalt der Luft in Spiegelbeleganstalten. Forschungsberichte über 
Lebensmittel und ihre Beziehungen zur Hygiene. I. Jahrgang. München 1894. 

69. Wollner, Ueber die Fürther Industriezweige mit ihren Schattenseiten. Ver¬ 
handlungen der 65. Versammlung der Gesellschaft deutscher Naturforscher 
und Aerzte. Leipzig 1894. II. Teil. II. Hälfte. S. 421. (Sommerfeld.) 

70. Kn aut he, Bronchitis catarrhalis. Eulenburgs Realenzyklopädie. I. Aufl. 
Bd. II. S. 490—527 (Rosenthals Untersuchungen). 


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Ueber die zum Schutze der Arbeiter etc. 


173 


71. Chelmonski, Ueber Erkältung als Krankheitsursache. Deutsch. Arch. f. 
klin. Med. Bd. 59. H. 1 u. 2. 1897. 

72. Kosenbaoh, Die Bedeutung kleinerer Schwankungen des atmosphärischen 
Druckes für den menschlichen Organismus. Münchner med. Wochenschr. 
1902. No. 17. 

73. Roth, Die Mitwirkung des Kreisarztes auf dem Gebiet der Gewerbehygiene. 
Aerztl. Sachverständigenzeitung. 1902. No. 4 u. 5. 

74. Pannwitz, Bericht über die erste Versammlung der Tuberkulose-Aerzte. 
Berlin 1904. S. 81. 

75. Lesser, Ueber die Verteilung einiger Gifte im menschlichen Körper. Viertel- 
jahrschr. f. gerichtl. Med. u. öffentl. Sanitätswesen. III. Folge. Bd. 15. 1898. 


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4. 


Das Giessfieber und seine Bekämpfung 

mit besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse in Württemberg. 

Von 

Dr. Julias Sigel in Stuttgart. 


I. 

Die in der Industrie der Metalle beschäftigten Arbeiter sind wie 
allbekannt, mannigfachen Gefahren und Schädlichkeiten ausgesetzt. 
Diesen abzuhelfen ist eine sehr dankbare, aber ungemein schwierige 
Aufgabe der Hygiene. Schwierig deshalb, weil wir sehr häufig noch 
nicht imstande sind, bei vielen Berufskrankheiten Ursache und Wirkung 
genau zu beurteilen, ja weil wir bei nicht ganz wenigen Erkrankungen 
selbst bei einzelnen Symptomen noch im Unklaren sind, ob wir es 
mit einer spezifischen, d. h. in unmittelbarem Zusammenhang mit dem 
Beruf stehenden Schädigung des Organismus zu tun haben oder nicht. 
In ein solches Dunkel ist auch heute noch das in der Metallindustrie 
wohl bekannte Giessfieber(Messingfieber, Staubfieber, brass-foundersague, 
fievre des fondeurs) gehüllt. 

Zwar erwähnte schon Thakrah (1) im Jahre 1830 in seinem 
berühmten „Essay on the Effects of Arts, Trades and Professions, on 
Health and Longevity“ das Giessfieber, ohne aber eine genaue Kennt- 
niss desselben und seiner Entstehung zu haben. Er sagt nur, dass 
die brass-melters in Birmingham zu intermittierendem Fieber neigen, 
das als brass-ague von Zeit zu Zeit aufträte und den Befallenen je¬ 
weils in einen Zustand grosser Hinfälligkeit bringe. Als Präventiv¬ 
mittel seien Brechmittel empfohlen. Nicht nur in England, sondern 
auch in Frankreich kannte man diese Erkrankung schon lange. Denn 
schon im Jahre 1845 beschrieb Blandet(2) eine Erkrankung, die bei 
Kupfergicssern vorkomme. Am Abend des Giesstages oder auch erst 
am folgenden Tag bekommen nach Blandet die Giesser Beschwerden, 


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Das Giessfieber und seine Bekämpfung. 


175 


die in Mattigkeit, Muskelschmerzen, Bangigkeit, Kopfschmerzen und 
Erbrechen bestehen. Die Erscheinungen dauern mehrere Stunden und 
endigen mit febriler Reaktion und Schweissausbruch. Blandet führt 
die Erkrankung auf das in den meisten Kupferlegierungen enthaltene 
Zink zurück. Auch erwähnt Blandet einen Fall von Soyez (3), der 
17 Stunden lang beim Giessen einer Kupferlegierung, die 10 pCt. Zink 
enthielt, beschäftigt war. Wenige Stunden nach dem Giessen erkrankte 
Soyez an ausserordentlich grosser Schwäche, Muskelschmerzen in den 
Extremitäten, die sich in den Beinen zu Krämpfen steigerten. Es 
stellten sich dann Schüttelfrost, Erbrechen, kalte Haut, später Hitze, 
Delirien und Ohrensausen ein. In der folgenden Nacht Schweiss¬ 
ausbruch, am andern Morgen war die Krankheit vorüber. Das Ganze 
wurde für eine Zinkvergiftung gehalten. Ein Giesser, der mit Soyez 
gearbeitet hatte, bot dieselben Erscheinungen. Greenhow(4) erwähnt 
noch eine Arbeit von Bouschut (annales d’hygiene vol. XLVII. p. 26), 
in der er ausführt, ähnliche Erscheinungen, wie Blandet sie beschrieben, 
kommen bei Leuten vor, die Zinkoxyd zu Farben herstellen und bei 
Kupfergiessem, wenn viel Zink in die Legierung komme. Die erste 
ausführliche und gründliche Beschreibung der Krankheit verdanken wir 
Greenhow(5). Er hat das Giessfieber im Jahre 1858 bei einem 
Besuch der Fabriken von Birmingham, Wolverhampton, Cheffield und 
Leeds beobachtet und genauer studiert. Auf Grund seiner Untersuchungen 
kam er zu folgenden Schlüssen: 

1. Messinggiesser und zweifellos alle Arbeiter, die mit Zink¬ 
dämpfen zu tun haben, bekommen leicht eine Krankheit, die Aehn- 
lichkeit mit einem intermittierenden Fieber von unregelmässigem 
Typus hat. 

2. Die Symptome sind: Uebelkeit, Abgeschlagenheit, Glieder¬ 
schmerzen, Kopfweh, Schüttelfrost, gelegentlich Erbrechen, manchmal 
Fieber, regelmässig profuse Schweisse. 

3. Die Häufigkeit und Stärke der Anfälle wird beeinflusst von 
der Regelmässigkeit, mit der die Leute im Giessraum arbeiten; die¬ 
jenigen, welche dauernd dieser Beschäftigung obliegen, scheinen eine 
gewisse Toleranz zu bekommen, die indes nur temporär ist, da nach 
kurzer Abwesenheit selbst die an die Zinkdämpfe gewohnten Arbeiter 
oft wieder eine Attacke bekommen. 

4. Die Stärke und Häufigkeit der Attacken hängt hauptsächlich 
von der Menge der Zinkdämpfe ab, die in die Atmosphäre des Giess- 
rauras gelangt. Die Schmelzer bzw. Giesser werden ähi meisten be- 


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176 


Dr. Julius Sigel, 


troffen. Wenn viel Zink beim Gusse verwendet wird, ist die Gefahr 
Giessfieber zu bekommen eine grössere, als wenn wenig Zink ge¬ 
nommen wird. 

5. Alle Momente, welche eine rasche Verflüchtigung der Dampfe 
verhindern — schlechte Ventilation, ungünstige Witterung etc. — 
vergrössern die Neigung zum Giessfieber. 

6. Dem Ausbruch des Giessfiebers gehen häufig Prodromal¬ 
erscheinungen voraus, doch können geringfügige Ursachen, z. B. leichte 
Gesundheitsstörungen oder ein kaltes Bett beim Aufsuchen der Nacht¬ 
ruhe bei disponierten Leuten den Anfall auslösen. 

7. Arbeiter in Bronze- und Eisengiessereien sind vollkommen 
immun gegen das Giessfieber. 

Im Anschluss an diese Publikation Greenhows teilte Schnitzer 
(6, 7) folgenden interessanten Fall mit, den ich im Wortlaut wiedergebe, 
da Schnitzer als erster in Deutschland 1862 auf das Giessfieber 
aufmerksam gemacht hat. Sch. sagt: Einen Fall, wie Greentow ihn 
beschrieb, habe ich bei dem Gelbgiesser A. zu beobachten Gelegen¬ 
heit gehabt. Derselbe giesst nicht ununterbrochen, sondern in etwas 
längeren Zwischenräumen. 

In den letzten Monaten hat sich das Fieber regelmässig nach 
jedem längeren Guss eingestellt, während dieses bei kürzer dauernden 
nicht der Fall war. Die Werkstatt in welcher gegossen wird, ist 
zwar ziemlich geräumig, aber eine Ventilation oder anderweiter Abzug 
der Dämpfe, als durch den Schornstein findet nicht statt und so ist 
denn das Lokal während des Gusses ungemein stark mit Dämpfen 
gefüllt. Schon während der Arbeit oder nach Beendigung derselben 
tritt heftiger Kopfschmerz ein, sowie die Neigung zum Erbrechen, 
hierauf folgt Frost, der sich jedoch nicht zum Schüttelfrost steigert 
und nach diesem Hitze und starker Schweiss, der mehrere Stunden 
lang anhält. Am darauffolgenden Tage ist grosse Mattigkeit vor¬ 
handen. Die Zunge ist belegt. Der Appetit fehlt. Hiermit schliesst 
aber auch der Anfall, denn am nächsten Tage befindet sich A. wieder 
wohl und ein nachfolgender Fieberanfall, sei es am 2. oder 3. Tage 
ist bisher niemals eingetreten. Herr A. teilte mir mit, dass dieses 
Giessfieber, wie er es nannte, nichts Ungewöhnliches sei. — Ein¬ 
gehend wurde das Giessfieber in Deutschland von Hirt (8) studiert: 
Hirt hat das Giessfieber zweimal an sich selbst beobachtet, er be¬ 
schreibt es folgendermassen: Einige Stunden nach der Inhalation der 
Metalldämpfe empfindet man ein eigentümliches, unbehagliches Gefühl 


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Das Giessfieber and seine Bekämpfung. 


177 


im ganzen Körper, eine Abspannung und Schwäche, welche mit 
ziehenden Schmerzen im Rücken verbunden, zum Aufgeben der ge¬ 
wöhnlichen Beschäftigung zwingt, die Schmerzen in der Muskulatur 
erscheinen bald in den oberen, vorzugsweise in den unteren Extre¬ 
mitäten und können einen hohen Grad erreichen. Dabei ist der Puls 
noch ruhig, die Respiration nicht beschleunigt. Bald nachdem man 
das Bett aufgesucht hat, stellt sich ein allgemeiner Frostschauer ein, 
der sich gewöhnlich bis zum ausgesprochenen 15—20 Minuten 
dauernden Schüttelfrost steigert. Der Puls wird beschleunigt und 
kann innerhalb 1—2 Stunden die Höhe von 100—120 Schlägen in 
der Minute erreichen. Der Husten, der vorher unbedeutend, eigentlich 
nur ein Kratzen im Halse gewesen war, wird quälend und erzeugt 
ein wundes Gefühl in der Brust. Der Stirnkopfschmerz, welcher 
sich infolge der anstrengenden Hustenstösse dem Allem noch bei¬ 
gesellt, macht den Zustand zu einem fast unerträglichen. Indes der 
Höhepunkt der Krankheit ist bald (nach 3—6 Stunden) erreicht. Der 
Beginn des Stadium decremenf.i macht sich durch den Ausbruch eines 
reichlichen Schweisses bemerklich, die Erscheinungen lassen an Heftig¬ 
keit nach und fast immer verfällt der Kranke bald in einen tiefen 
Schlaf, aus welchem er erst nach mehreren Stunden erwacht; der 
Puls ist dann wieder normal, der Husten verschwunden und nur eine 
allgemeine Abgespanntheit mit leichtem Kopfweh verbunden, erinnert 
noch an die überstandene Krankheit. 

In ähnlicher Weise beschreibt auch Eulenberg (9) die Sym¬ 
ptome. Er hatte oft Gelegenheit, die Krankheit in einer grossen 
Gefangenanstalt zu beobachten. Die Anfälle treten nach E. meist 
gegen Abend oder nachmittags ein, wenn die Arbeiter sich den Tag 
über mit Giessen beschäftigt hatten. Druck in den Hypochondrien, 
Widerwillen gegen Essen, Uebelkeit oder auch Erbrechen bezeichnen 
den Anfang des Leidens. Seltener sind kolikartige Schmerzen und 
reissende Zahnschmerzen, häufiger tritt dagegen ein fixer Kopfschmerz 
in der Schläfengegend ein, zu welchem sich ein Gefühl von allge¬ 
meiner Zerschlagenheit mit Gliederschmerzen hinzugesellt. Das 
Frösteln zeigt sich zuerst unter der Form von Kompilationen zwischen 
den Schulterblättern mit leichtem Zittern, steigert sich aber immer 
mehr zu einem heftigen Frostanfall wie im Kältestadium der Inter- 
raittens. Der Frost kann 1, 2 selbst 3 Stunden lang anhalten, in 
der Regel dauert er aber 20—30 Minuten, hierauf folgt ein nicht 
stark ausgesprochenes Hitzestadium, welches alsbald in einen pro- 

Vierteljahrasehrift f. ger. Med. u. öff. San.-Weien. 3. Folge. XXXII. 1. 22 

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Dr. Julius Sigel, 


fuscn Schweiss übergeht, wobei sich der Körper sehr heiss anfühlt. 
Am anderen Morgen sind alle beunruhigenden Symptome ver¬ 
schwunden und der Kranke fühlt nur eine Mattigkeit, die ihn aber 
selten hindert, seine Arbeit wieder aufzunehmen; nicht immer zeigt 
sich ein anfangs trockner, kitzelnder Husten, welcher sich später mit 
einem Auswurf von zähem Schleim verbindet. Nicht unwesentliche 
Verschiedenheiten in der Symptomatologie finden wir bei Dr. 
R. Simon (10). Dieser Autor schreibt: Wenige Stunden nach der 
Arbeit wird der Giesser matt, er fühlt sich abgeschlagen und es friert 
ihn. Er wird blass, kommt in das Stadium des Kollapses, sein Gesicht 
ist mit kaltem Schweiss bedeckt^ er wird unruhig und ängstlich, er 
bekommt Kopfweh und Muskelschmerzen. Die Erscheinungen dauern, 
bis Erbrechen eintritt, entweder als Wirkung eines Brechmittels oder 
auch ohne ein solches. Es folgt Schlaf, andern Tags besteht oft 
grosse Hinfälligkeit. Im Gegensatz zu Greenhow und Hogben (11), 
der in den wesentlichsten Punkten mit Hirt übereinstimmt, findet 
Simon, dass das Hitzestadium fehlte, auch Schweisse nicht regel¬ 
mässig vorhanden sind. Es ist nach Simon keine Berechtigung vor¬ 
handen, von einem Wechselfieber (ague) zu sprechen, vielmehr handelt 
es sich um Symptome, wie sie auch sonst bei Metallvergiftungen vor¬ 
zukommen pflegen. 

Nach Czajkowski (12) setzt die Krankheit plötzlich ohne Vor¬ 
boten mit heftigen Kopf- und Muskelschmerzen und Brustbeengung 
ein. Nach 1—2 Stunden stellen sich heftige Schüttelfröste und 
darauf hohe Temperaturen (39°—40°) ein. — Es ist dies die einzige 
Temperaturangabe, die ich in der Literatur finden konnte. — Die 
Haut wird trocken und heiss, es kommen trockener Husten, sowie 
heftige Brustschmerzen hinzu. Nach einigen Stunden geht das Fieber 
unter starkem Schweissausbruch zurück. Manchmal tritt kurz darauf 
ein zweiter, schwächerer Fieberanfall auf mit denselben, aber 
schwächeren Symptomen. Dieser endigt, wie der erste, nach kurzer 
Zeit unter Schweissausbruch. 

Villaret (13) beschreibt die Symptome fast genau wie Hirt, 
ebenso berufen sich fast alle Autoren der neueren Zeit auf die Arbeiten 
Hirts. Rubner (14), Heinzerling (15) u. a. Flügge (16) spricht 
von eigentümlichen Vergiftungserscheinungen mit malariaähnlichen 
Symptomen, die als „Giessficber“ bei Giessern Vorkommen, die mit 
Messing zu tun haben. Die Entstehungsursache ist nach Flügge 
nicht sicher erkannt. Die neuesten Untersuchungen über diesen 


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Das Giessfieber und seine Bekämpfung. 


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Gegenstand ergaben als typisches, nie fehlendes Zeichen heftigen 
Schüttelfrost und Krisis mit Schweissausbruch; Hohmann (17). 

Nach der jüngsten Beschreibung durch Roth (18) befällt bald 
kurze Zeit nach Beginn des Gusses, bald gegen Ende der Schmelz¬ 
arbeit den Arbeiter das Gefühl der Mattigkeit, Abgeschlagenheit und 
Beklemmung auf der Brust, es treten Frostschauer hinzu, die zuweilen 
einige Stunden dauern; die Gesichtsfarbe wird fahl und bleich, die 
Haut bedeckt sich mit kaltem Schweiss, es treten Kopfschmerz, 
Brechneigung und Gliederschmerzen hinzu. Dem Frost folgt häufig 
ein Hitzestadium, das mit reichlicher Schweissbildung endet. Schon 
am folgenden Tage sind alle Beschwerden geschwunden, nachdem in 
der Regel spontanes Erbrechen erfolgt ist. 

Wir sehen auf Grund dieses in chronologischer Reihenfolge auf¬ 
geführten Literaturbelegs, dass das Giessfieber eine akute, im An¬ 
schluss an das Giessen von Metallen entstehende, malariaartige Er¬ 
krankung ist, deren Symptome jedoch von den einzelnen Autoren 
nicht ganz einheitlich beschrieben sind. 

Ehe wir zur Besprechung der Diagnose und Differentialdiagnose, 
sowie der Prognose der Erkrankung gehen, erscheint es mir not¬ 
wendig, folgende Fragen zu beantworten: 

1. In welchen Gewerben bzw. Giessereien kommt das Giess¬ 
fieber überhaupt vor? 

2. Wie gross ist die Disposition zu dieser Erkrankung, gibt es 
eine Immunität? 

3. Was ist die Ursache, das Wesen der Erkrankung? 

ad 1. Bei sämtlichen genannten Autoren, die sich mit der Frage 
des Vorkommens des Giessfiebers beschäftigten, finden wir angegeben, 
dass Giessfieber nur in Giessereien vorkommt, in denen Zink- und 
Kupferlegierungen gegossen werden, während in Eisen- und anderen 
Giessereien kein Giessfieber beobachtet wird. Wie im zweiten Teil 
der Arbeit ausgeführt werden wird, stimmt diese Erfahrung auch mit 
unseren Untersuchungen überein, es ist in erster Linie das Messing, 
bei dessen Guss das Giessfieber beobachtet ist (Messingfieber). Nur 
wenige Fälle sind bekannt, in denen in anderen Gewerben dem Giess¬ 
fieber ähnliche Erscheinungen gesehen wurden. Hohmann (17) er¬ 
wähnt in seiner Arbeit einen bei einem Eisenschmelzer vorgekommenen 
Fall, der folgende Symptome bot: Plötzlichen Stillstand der Tran¬ 
spiration, Gefühl eisiger Kälte, Zittern sämtlicher Glieder, nächtliche 
Erstickungsanfälle, endlich zum Schluss reichliche Schweissproduktion. 

12 * 

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Dr. Julius Sigel, 


Die Ursache soll nach Layet in der Erschöpfung und der Einwirkung 
der in den schmelzenden Metallen enthaltenen Gase und der dem 
Gusseisen entströmenden Kohlendämpfe zu suchen sein. . Dieser Fall 
steht völlig isoliert da, trotz genauester Nachforschung konnte ich in 
Eisengiessereien nie einen Fall von Giessfieber finden. Nach Plaseller 
(8) soll das Giessfieber auch bei Messinghämmerern Vorkommen, der 
deshalb dem Giessfieber den Namen „Staubfieber der Messinghämraerer“ 
gab, in der Annahme, dass die Erkrankung durch Inhalation des 
Messing- bzw. Zinkstaubes zustande komme. 

Einen dem Giessfieber ähnlichen Symptomenkomplex beschreibt 
Eulenberg (9) als Prototyp der Zinkoxyd Vergiftung: Ein Apotheker¬ 
lehrling hatte aus Unvorsichtigkeit bei der Bereitung von Zinkoxyd 
das ganze Laboratorium mit Zinkoxyddämpfen angefüllt, es traten an 
demselben Tage Beklemmung der Brust, Schwindel, Kopfschmerz, 
nach einer schlaflosen Nacht am anderen Morgen Husten, Erbrechen, 
Steifigkeit in allen Gliedern ein. Am dritten Tage zeigten sich 
starker Kupfergeschmack im Munde, Speichelfluss, Magendrücken und 
ein so starker Schwindel, dass Pat. nicht aufbleiben konnte. Nach 
starken Ausleerungen durch Laxantien wurden die Zufälle gelinder, 
es stellte sich dann Fieber ein, nach der darauffolgenden Transpiration 
war die Krankheit gänzlich gehoben. Auch Seifert (19) beschreibt 
in der Zinkhüttenindustrie vorkommende, dem Giessfieber analoge 
Zustände. S. schreibt: Die Einwirkung der Zinkdämpfe bei Zink¬ 
hüttenarbeitern ist eine geringe, da diese beim Entweichen in die 
kühleren Arbeitsräume zu Zinkoxyd sich verdichten. Deshalb ist es 
nicht zu verwundern, dass die bei den Gelbgiessern im sogen. Zink¬ 
fieber beschriebene, durch Zinkdämpfe veranlasste akute Zinkvergiftung 
— stechende Schmerzen, Frösteln, Schüttelfrost, schlagender Puls, 
quälender Husten mit dem Gefühl des Wundseins, Kopfschmerz, 
manchmal Krämpfe, schliesslich Schweiss —, die den einmal Be¬ 
fallenen bei jedem Guss wieder heimsucht, bei den Zinkhüttenleuten 
in dieser Weise nicht vorkommt. Ich, sagt S. weiter, wäre aber ge¬ 
neigt, einen ähnlichen Symptomenkomplex, der oft genug sich geltend 
macht, besonders dann, wenn die Schmelzer gezwungen sind, in dem 
unter dem Ofen befindlichen Kanal die durchgesickerten Schlacken zu 
zerkleinern und von dort zu entfernen, wo also heisse Temperatur 
und nicht genügende Zufuhr frischer Luft die schnelle Oxydation aus 
den Oefen durchdringender und sich aus der Schlacke entwickelnder 
Zinkdämpfe behindern, auf diese zu beziehen. Die Leute erkranken 


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Das Giessfieber und seine Bekämpfung. 


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nach einigen Stunden mit Erbrechen, das sie als erstes Symptom aus 
dem Schlaf weckt. Wundgefühl im Halse, Heiserkeit, trockener 
Husten, Kopfschmerzen, stechende Schmerzen an einzelnen Körper¬ 
stellen, Mattigkeit, schliesslich Durchfall folgen. Es fehlt aber bei 
diesem Symptomenkomplex der typische Schüttelfrost und der Schweiss¬ 
ausbruch. Ob wir es hier in der Tat mit einer Zinkvergiftung, wie 
Seiffert meint, zu tun haben, erscheint mir durchaus nicht bewiesen. 

ad 2. Die Mehrzahl der Gelbgiesser wird vom Giessfieber be¬ 
fallen. Nach Hirt (20), Roth u. a. sind es 75 pCt. aller Giesser. 
Nach Hirt tritt eine Gewöhnung niemals ein, wer das Giessfieber 
einmal gehabt, hat die erfreuliche Aussicht, es bei jedem Gusse 
wieder zu akquirieren. Nur sehr wenige Individuen sind von vorn¬ 
herein immun dagegen. Andere Autoren, Villaret, Greentow u. a. 
sagen, dass man allmählich immun gegen Giessfieber werde. Auch 
Simon (10) glaubt, dass wie bei den Opium- und Arsenikessem Ge¬ 
wöhnung möglich sei. Diese tritt aber nicht bei allen Arbeitern ein. 

ad 3. Ehe wir nun das Wesen der Krankheit besprechen, erscheint 
es angezeigt, einige Worte über die Darstellung des Messings einer¬ 
seits und den Vorgang des Giessens andererseits zu sagen. Das 
Messing wird teilweise in den Giessereien selbst erst hergestellt durch 
Legierung von Kupfer und Zink, teilweise wird zum Gusse Altmessing 
verwendet. Das Messing (21) ist eine Kupferlegierung, die 20—50 pCt. 
Zink enthält, meist ist das Verhältnis von Zink zu Kupfer, wie 30: 70 
oder 40 : 60. Reine Metalle werden selten in der Industrie verwendet, 
häufig kommen Verunreinigungen mit anderen Metallen vor. Solche 
fremden Substanzen sind Zinn, Blei, Eisen, Antimon, Arsen, Cadmium. 

Nach dem Bericht der Gewerbeaufsichtsbeamten in Württemberg 
vom Jahr 1903 sind in den in Württemberg gebräuchlichen Legierungen 
Mischungen von Zink und Kupfer im Verhältnis von 1: 2 üblich, die 
Legierungen enthalten noch Zinn, auch Blei, selten Kupferphosphor. 
Die Darstellung des Messings geschieht nach der älteren Methode 
mittelst Kupfers und Zinkoxvd enthaltender Substanzen oder mittelst 
Kupfers und metallischen Zinks. Es empfiehlt sich die Beschickungs¬ 
bestandteile gemeinschaftlich zu erhitzen und nicht das flüssige Zink 
zum flüssigen Kupfer zu giessen, weil dann die Nietalle sich weniger 
mischen und durch entstehende Explosionen die Masse teilweise aus 
den Tiegeln geschleudert wird. Es verbindet sich nämlich Kupfer 
und Zink mit grosser Heftigkeit, infolgedessen viel Zink verflüchtigt 
wird. Häufig wird aber in der Praxis das Zink dem geschmolzenen 


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Dr. Julius Sigel, 


Kupfer zugesetzt. Die Beschickung wird in abwechselnden Lagen bei 
einer Decke von Kohlenstaub in die Tiegel, die aus feuerfestem Ton 
oder Graphit bestehen, eingetragen. Als Schmelzöfen dienen meist 
Gefässöfcn für Glüh- und Flammenfeuerung, seltener eigentliche Flamm¬ 
öfen. Schon beim Schmelzen dringen oft weisse Dämpfe von Zink 
oder Galmei, wie die Arbeiter sagen, in den Arbeitsraum. Sehr stark 
aber ist die Entwicklung der Zinkdämpfe beim Füllen der Formen 
mit dem flüssigen Metall, bei welcher Prozedur sich ein dichter, 
weisser Rauch bildet. Der Guss beginnt meist sofort, wenn die 
glühenden, blauweissen Dämpfe des verbrannten bzw. ins Sieden 
kommenden Zinkes sich verflüchtigen. Es würde, wenn in diesem 
Momente nicht gegossen wird, die Legierung zinkärmer. Damit der 
Guss gut wird, darf kein Zug herrschen, es müssen daher Fenster 
und Türen geschlossen werden, weshalb auch bei guter Ventilation 
stets mehr oder weniger Dämpfe im Giessraum während des Giessens 
sich ansammeln. Die Giesser und Schmelzer sind nun folgenden 
Schädlichkeiten ausgesetzt: 

1. Häufig, nicht immer dem Staub, der bei der Herstellung der 
Gussformen entsteht, der aus feinem, tonhaltigem Sand besteht und 
eventuell auch dem Messingstaub, wenn, wie in kleinen Betrieben in 
ein und demselben Raum die Weiterverarbeitung des gegossenen 
Materials vor sich geht. 

2. Der beim Giessen entstehenden grossen Hitze und den in den 
Arbeitsraum einströmenden Feuerungsgasen. 

3. Den beim Giessen entstehenden Dämpfen. 

Auf welche dieser Schädlichkeiten ist das Giessfieber zurückzu¬ 
führen? Staubentwicklung, grosse Hitze entsteht auch bei anderen 
Gewerben, namentlich in den verschiedenen Giessereien, wo Zink- 
Kupferlegierungen gegossen werden, tritt Giessfieber auf, es können 
die ersten zwei genannten Schädlichkeiten nur als prädisponierend 
angesehen werden, wenn ihnen bei der Entstehung des Giessfiebers 
überhaupt eine Bedeutung zukommt. 

Die schon erwähnte von Plaseller aufgestellte Theorie, dass 
Inhalation von Messingstaub das Giessfieber hervorrufe, spielt, wie 
noch ausgeführt werden wird, in der Praxis nur eine äusserst unter¬ 
geordnete Rolle, wenn auch zuzugeben ist, dass die Inhalation von 
Sand- und Messingstaub nicht ganz unbedenklich für die Lungen ist. 
Doch werden durch diese andere Störungen, als Giessfieber bedingt. 

Viel wichtiger ist die dritte der genannten Schädlichkeiten, denn 


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Das Giessfieber und seine Bekämpfung. 


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es ist schon theoretisch wahrscheinlich, dass diese Dämpfe die Ursache 
des Giessfiebers sind. Welche Zusammensetzung haben nun diese 
Dämpfe bezw. die aus diesen in der Luft sich kondensierenden Staub¬ 
massen? Von Analysen fand ich nur die des chem. Laboratoriums der 
Königl. Zentralstelle für Gewerbe und Handel (22). Die Untersuchung 
des in der Giesserei umherliegenden (alten?) Flugstaubes ergab, dass 
derselbe etwas Eisen, Kupfer und Spuren von Zink enthielt. Es wäre 
nach dieser Untersuchung das Wahrscheinlichste, dass es sich beim 
Giessfieber um eine Kupfer- oder Zinkvergiftung handelte. Allein ge- 
gewichtige Stimmen führen diese Erkrankung auf andere Momente 
zurück. 

von Jacksch (23) sagt: Die Angaben, dass bei Zinkarbeitern 
Erkrankungen auftreten sollen, welche mit Fieber einhergehen, welches 
in seinem Typus mit jenem, das wir bei der Malaria sehen, identisch 
sein soll, bedürfen noch sehr der Bestätigung, v. Jacksch glaubt, 
dass Tracinski (24) das Richtige getroffen hat, wenn er als wirk¬ 
sames Agens in solchen Fällen das Blei ansieht, v. Jacksch hält 
es für wahrscheinlich, dass die Wirkung auch anderer Gifte, als vor 
allem des Arsens mitspielt, welches das sog. Zinkfieber oder Gelb- 
giesserfieber hervorruft. Kunkel (25) glaubt, dass die Noxe beim 
Giessen in den aus dem miteingetragenen Schmutz und Staub sich 
entwickelnden Gasen: Kohlenoxyd und brenzlichen Dämpfen zu suchen 
sei. Auch an Arsen, Cadmium, Blei, das immer im technischen 
Zink vorkommt, ist zu denken. Untersuchen wir zunächst, welche 
dieser bis heute noch nicht bewiesenen Hypothesen am meisten Wahr¬ 
scheinlichkeit für sich hat. 

a) Bekanntlich bestehen die giftigen Wirkungen des Kohlen¬ 
oxydes darin, dass es den Sauerstoff aus den roten Blutzellen ver¬ 
drängt und sich mit dem Hämoglobin zu Kohlenoxydhämoglobin ver¬ 
bindet, wodurch die Funktion des Blutes, Sauerstoff an die Gewebe 
abzugeben, aufgehoben wird. Die. Affinität des Kohlenoxydes zum 
Hämoglobin ist 200 mal grösser als die des Hämoglobins zum Sauer¬ 
stoff. Es nimmt daher das Blut sehr leicht Kohlenoxyd auf und es 
entsteht relativ leicht eine CO-Vergiftung. Da bei dem Giessprozess 
Kohlenoxyd sich bilden kann, so ist an eine derartige Vergiftung wohl 
zu denken. Kopfschmerz, Husten, Mattigkeit, Schwere im Kopf, 
Sinken der Pulsfrequenz, Dyspnoe, Zyanose, Koma, die typischen 
Erscheinungen der CO-Vergiftung (v. Jacksch) sind grösstenteils 
beim Giessfieber nicht vorhanden, andererseits ist bei der CO-In- 


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Dr. Julius Sigel, 


toxikation nie Schüttelfrost und Schweissausbruch, die fast regel¬ 
mässigen Begleiterscheinungen des Giessfiebers, nachzuweisen, wenn¬ 
gleich auch Temperatursteigerungen — allerdings selten — bei der 
CO-Vergiftung gesehen wurden. Es ist daher unwahrscheinlich, dass 
cs sich beim Giessfieber um eine CO-Vergiftung handelt. Blutunter¬ 
suchungen im Anfall sind in der Literatur nirgends erwähnt (s. u. bei 
exper. Untersuchungen). 

b) Auch die Möglichkeit einer akuten Bleivergiftung, der von den 
genannten Toxikologen die Entstehung des Giessfiebers zugeschrieben 
wird, können wir nicht von der Hand weisen. Allein die Erschei¬ 
nungen, welche eingcatmete Bleidämpfe hervorrufen, entsprechen nicht 
unsrem Krankheitsbild. In der Zinkhüttenindustrie, wo bekanntlich 
das metallische Zink durch Verhüttung aus der Zinkblende und Galmei 
gewonnen wird, entstehen bleihaltige Dämpfe (26), denen die Zink¬ 
hüttenarbeiter ausgesetzt sind. Allein die hierdurch entstehenden 
akuten und chronischen Bleivergiftungen, die Seiffert (19) ausführlich 
beschreibt: „Ernährungs- und Verdauungsstörungen, Schädigungen des 
Nervenend- und Muskelapparates, ßleikolik, Bleilähmung“ entsprechen 
ebenfalls nicht dem Krankheitsbild des Giessfiebers. Auch ist der 
Bleigehalt dieser Dämpfe ein viel höherer, als beim Giessen von 
Messing, wo meist bleifreies oder fast bleifreies Zink zum Guss ver¬ 
wendet wird. 

c) Von v. Jacksch, Chevallier u. a. wird die Ursache in einer 
Arsenikvergiftung gesucht. Bei der Arsenik Vergiftung stehen zunächst 
die lokalen Symptome im Vordergrund, Brennen, Kratzen, Druck 
im Halse und Magen; Uebelkcit, Erbrechen, Durchfälle, später Ohn¬ 
machtsanfälle, Kollaps kommen hinzu. Auch hier kein Schüttel¬ 
frost und Schweissausbrüche. Dass wir es beim Giessfieber mit 
einer Arsenvergiftung zu tun haben, ist schon aus dem Grunde 
wenig wahrscheinlich, als bei Zinkhüttenarbeitern, die den Arsen¬ 
dämpfen weit mehr ausgesetzt sind, auch nichts von Arsenvergiftung 
bekannt ist. 

d) Dasselbe können wir vom Cadmium sagen. Bei dieser 
Intoxikation finden wir Schwindel, Schwächegefühl, Verlangsamung 
der Respiration, Bewusstlosigkeit, Krämpfe, Symptome, die nicht im 
mindesten denen des Giessfiebers ähneln. 

e) Ebensowenig kommt unserer Ansicht nach eine Zinnvergiftung 
in Betracht, da der Symptomenkomplex eines solchen ein ganz andrer ist 


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Das Giessfieber und seine Bekämpfung. 


185 


und auch beim Rotguss, wo der Zinngehalt ein relativ hoher ist, fast nie 
Giessfieber vorkommt. 

So drängt sich uns mehr und mehr der Gedanke auf, dass wir 
es mit einer Kupfer- oder Zink Vergiftung zu tun haben. Schon 
Blaudet beschreibt dem Giessfieber analoge Erscheinungen in Frank¬ 
reich, glaubt aber die Intoxikation auf das in den Kupferlegierungen 
enthaltene Zink zurückführen zu sollen. Nach den Jahresberichten 
der Gewerbeaufsichtsbeamten in Württemberg 1903 ist das Giess¬ 
fieber auf das in den Zinkdämpfen mechanisch mitgerissene Kupfer 
zurückzuführen. Diesen Hypothesen möchte ich eine Arbeit von 
A. Houles und de Pietra Santa (27) gegenüberstellen: lm Dorfe 
Durfort des Departements Tarn lebt eine ausschliesslich industrielle 
Bevölkerung von der Bearbeitung des Kupfers durch Giessen, Hämmern, 
Feilen und Polieren. Manche Arbeiter arbeiten täglich 12 Stunden 
in einer Luft, die mit Staub von Kupferoxyd im Gemisch mit Eisen¬ 
oxyd oder von Kupfer allein erfüllt ist. An dieser Bevölkerung haben 
wir, so schreiben H. und de P. weiter, während einer Beobachtungs¬ 
zeit von 10 Jahren keine Berufskrankheit, kein einziges charakte¬ 
ristisches Krankheitszeichen, das auf das Einatmen der Metallteilchen 
zurückzuführen wäre, aufgefunden. Die Verfasser kommen auf Grund 
ihrer Studien zu dem Schluss: 

1. dass ein Mensch in einer mit Kupferstaub beladenen Atmos¬ 
phäre ohne wesentliche Beeinträchtigung seiner Gesundheit leben 
kann. 

2. Dass die Kupferkolik, welche die Schriftsteller des 18. Jahr¬ 
hunderts (Desbois de Rochefort, Combalusier) später auch 
Blau de t beschrieben, nicht existiert. 

Sommerfeld (28) hält das Giessfieber für eine Zinkvergiftung, 
da dasselbe nur in solchen Giessereien beobachtet wird, welche Zink¬ 
legierungen des Kupfers verwenden. Auch Roth hält dasselbe für 
eine Zinkintoxikation, während andere Autoren eine Mittelstellung ein¬ 
nehmen. Hirt (29) sagt, dass das Giessfieber am häufigsten be¬ 
obachtet wird, wenn neben Zink noch andere Dämpfe, z. B. von 
Kupfer inhaliert werden. Man kann sich nach Hirt also nicht 
ohne Grund versucht fühlen, bei der Entstehung der Krankheit nicht 
bloss an den möglichen Arsengehalt des Zinkes, sondern auch an die 
ev. Mitwirkung des Kupfers zu denken. Gerade der Umstand, dass 
die Zinkhüttenarbeiter, welche reine Zinkdämpfe ohne Beimischung 


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Dr. Julius Sigel, 


von Kupfer einatmen, von der Krankheit verschont bleiben, während 
die Zink- und Kupferdämpfe inhalierenden Arbeiter sie unendlich 
häufig akquirieren, kann diese Vermutung veranlassen, wenn man da¬ 
bei auch nicht vergessen darf, dass die in den kleinen Werkstätten 
der Giesser etc. fehlende Ventilation, die enorme Anhäufung der 
Dämpfe, welche oft beim Giessen so dicht werden, dass man nicht 
einen Schritt w’eit sehen kann, mit in Betracht zu ziehen ist. Aus 
alledem geht hervor, dass die Aetiologie der Krankheit noch nicht 
aufgeklärt ist, dass man aber wohl berechtigt ist, in ihr eine akute, 
durch Zink und Kupferdämpfe erzeugte Metallvergiftung zu vermuten. 
Auch Villaret (13) nimmt diese Mittelstellung ein. Er sagt: Da 
reine Zinkdämpfe kein Giessfieber erzeugen, so müssten die Kupfer¬ 
dämpfe die Causa nocens sein. Ob es möglich ist, dass bei dem 
Kontakt der beiden Körper im Schmelztiegel vielleicht besondere 
flüchtige, bisher nicht erkennbare Produkte entstehen, welche das 
Giessfieber erzeugen, ist eine nur durch das Fehlen jeder anderen 
Erklärung gestützte Vermutung. Während wir uns bisher lediglich 
auf hypothetischem Gebiet bewegt haben, war Hohmann (17) der 
erste, der auf dem Wege des Experimentes die Frage nach der Ursache 
des Giessfiebers zu lösen suchte. Hohmann machte zusammen mit 
Lehmann den interessanten Versuch, durch Zink- bezw\ Messing¬ 
dämpfe bei Tieren das Giessfieber hervorzurufen. Die Versuchs¬ 
anordnung war folgende: In einem Schrank, der durch Glaswände ab¬ 
geschlossen und durch ein mit brennender Flamme versehenes Abzugs¬ 
rohr ventiliert war, wurden in einem kleinen Muffelofen in einem 
Platintiegel Messing- und Zinkstücke geschmolzen. In dem Raum 
befanden sich in Drahtkäfigen die Versuchstiere, etwa ein x / 2 m weit 
von dem Tiegel entfernt. Die Versuchstiere, Katzen, Kaninchen, 
Hunde und Tauben wurden 1—2 Stunden den Dämpfen von Zink, 
Messing und von Messing- und Kupferphosphor ausgesetzt. Die Ver¬ 
hältnisse wurden möglichst denen beim Giessen angepasst. Die cin- 
getretenen Veränderungen, Atcmbeschleunigung, Durst w r aren w'ohl die 
Folge der Hitze, Schleimausfluss aus Nase und Maul Folge der 
chemischen Reizung der Schleimhaut durch den Zinkoxydstaub. Ein¬ 
mal wurde ein kolikartiger Anfall von einer Katze beobachtet, der 
möglicherweise als eine akute Vergiftung mit Zinkoxyd gedeutet 
werden konnte. Auch die Versuche Hohmanns Hessen, wie er selbst 
zugibt, die Ursache des Giessfiebers im Dunkeln. Neue, von Leh- 


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Das Giessfieber und seine Bekämpfung. 


187 


mann (17) in Aussicht gestellte Versuche sollen die Frage klären. 
L. beabsichtigt an einem Arbeiter, der sehr zum Giessfieber neigt, 
einen Versuch anzustellen, wobei in einem engen Raum eine grosse 
Menge chemisch reinen Zinks verbrannt wird. Erkrankt der Mann, 
so ist die Zinkhypothese bewiesen, und es wird weiter zu untersuchen 
sein, ob neben Zinkoxyd überhaupt Zinkdampf in der Luft vorhanden 
ist. Zinkdampf dürfte wohl durch ein Wattefilter oder besser Asbest¬ 
filter mindestens zum Teil hindurchgehen, während sich Zinkoxyd 
auf demselben niederschlägt. Bleibt der Mann gesund, so wären 
analoge Versuche unter Anwendung von Messing zu machen. 

(Schluss folgt.) 


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5. 


Besprechungen, Referate, Notizen. 


Dr. J. Kaup, K. K. Bezirksarzt im Handelsministerium und Privatdozent an der 
technischen Hochschule in Wien, Die Reinigung der gefährlichen Ab¬ 
wässer einer Zuckerfabrik auf biologischem Wege. Der chemische 
Teil in Gemeinschaft mit Fr. Adam, Assistent der K. K. allgemeinen Unter¬ 
suchungsanstalt für Lebensmittel in Wien. Separat-Abdruck aus der „Oesterr.- 
Ung. Zeitschr. f. Zuckerindustrie u. Landwirtschaft“. V. Heft. 1905. 

Verf. berichten über die Beobachtungen, die sie in der Kampagne 1903/04 
an der Abwasserreinigungsanlage der Rohzuckerfabrik in Leopoldsdorf (Marchfeld) 
bei Wien gemacht haben. 

Es handelt sich hier um eine Zuckerfabrik, die bei einer täglichen Rüben¬ 
verarbeitung von etwa 6000 Doppelzentnern, im ganzen etwa 77 Sekundenliter Ab¬ 
wasser erzeugt, wovon auf die Rübenwaschwässer etwa 50 Sekundenliter und auf 
Diffusions- und Schnitzelpressabwässer etwa 22 Sekundenliter entfallen. Die 
Reinigung beider Abwasserarten erfolgt getrennt. Die Rübenwaschwässer werden 
in fünf grossen Klärteichen von insgesamt 1600 qm Fläche bei 1,5 m Tiefe be¬ 
handelt; für die Reinigung der Diffusions-, und Schnitzelabwässer war ursprünglich 
das Pnoskowetzsche Verfahren in Aussicht genommen, doch musste hiervon in¬ 
folge ungünstiger Bodenverhältnisse abgesehen werden. Es wurde dann für diese 
Art Abwässer das biologische Verfahren eingeführt. 

Ueber die mit diesem Verfahren in der Kampagne 1902/03 erzielten Erfolge 
haben bereits Grassberger und Hamburg in der Zeitschrift „Hygienische Rund¬ 
schau“. No. 7. 1903 berichtet. Infolge zu groben Materials für die biologischen 
Körper und infolge des Umstandes, dass wegen ungenügender Einrichtungen die 
gröberen Bestandteile des Abwassers, fast ganz erhaltene Rübenschnitzel, nicht 
hinlänglich zurückgehalten werden konnten, hatten diese Versuche kein befriedigendes 
Resultat ergeben, und die Verf. waren damals zu dem Schluss gekommen, dass 
den Abwässern durch das biologische Verfahren die Fäulnisfähigkeit nicht ge¬ 
nommen worden war, dass jedoch aus den eben angeführten Gründen ein Urteil 
über die Verwendbarkeit des Verfahrens nicht gezogen werden konnte. 

Bei den Versuchen im Jahre 1903/04 war durch Einbringen eines grossen 
Pülpenfängers für eine genügende Zurückhaltung der gröberen Stoffe Sorge ge¬ 
tragen und die verschlammten biologischen Körper waren entsprechend gereinigt, 
bezw. mit frischer Schlacke beschickt worden. Die Anlage bestand nun aus 4 


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Besprechungen, Referate, Notizen. 


189 


primären Körpern mit Schlacke von 10—30 mm Korngrösse, 2 sekundären Körpern 
mit Schlacke von ebensolcher Korngrösse und 6 weiteren sekundären Körpern mit 
frischer Schlacke von höchstens 10 mm Korngrösse. Die 4 primären und die 2 
sekundären Körper mit gröberer Schlacke zeigten bei 144 cbm Rauminhalt für jeden 
einzelnen ein Aufnahmevermögen von rund 61 cbm Abwasser (etwa 42pCt.). Die 
übrigen 6 sekundären Körper von derselben Grösse besassen je ein Aufnahme* 
vermögen von rund 66 cbm (46pCt.). 

Die Einwirkungszeiten der Abwässer auf die Körper betrugen während der 
Dauer der Kampagne s / 4 Stunden für die primären und 2 ] / 2 Stunden für die sekun* 
dären Körper und wurden nur vorübergehend kurze Zeit zur Anstellung besonderer 
Beobachtungen abgeändert. 

Die Versuche haben gezeigt, dass die Schnitzelpress- und Diffusionswässer 
sich mit befriedigendem Erfolge in den biologischen Körpern reinigen lassen. Der 
ursprünglich in den Abwässern vorhandene Zuckergehalt (bis zu 1048 mg i. L.) 
war in dem gereinigten Abwasser kaum noch nachweisbar. Die Abnahme des 
Kaliumpermanganatverbrauches betrug anfänglich 69—70pCt. und steigerte sich 
nach Einarbeitung der Körper auf durchschnittlich 90pCt. Der Kohlenstoffgehalt, 
mit Ausnahme des in den flüchtigen Säuren enthaltenen Kohlenstoffes, war das 
eine Mal um 91pCt., bei einer späteren Untersuchung um 86,6pCt. herabgesetzt 
worden. Demgegenüber hatte in allen Fällen der Gehalt an flüchtigen Säuren 
stark zugenommen, wodurch der Beweis erbracht wurde, dass in den Körpern in 
rascher und intensiver Weise eine Vergärung des Zuckers unter Bildung flüchtiger 
organischer Säuren stattfand und dass gegenüber diesem Abbau der Kohlenhydrate 
die Veränderungen in den Eiweissstoffen in den Hintergrund traten. 

Auf diese in den Körpern sich abspielenden Prozesse, die bei der Veränderung, 
bezw. beim Abbau der organischen Stoffe die Hauptrolle spielen, haben die Verf. 
ihr besonderes Augenmerk gerichtet und eingehende Beobachtungen hierüber an¬ 
gestellt, die sie zu dem Schlüsse führten, dass bei den Zuckerfabrikabwässern bei 
dem bedeutenden Ueberwiegen der Kohlenhydrate über die Eiweissstoffe und bei 
der raschen und intensiven Art der Vergärung eine Eiweissfäulnis nach allen Er¬ 
fahrungen ausgeschlossen erscheint. 

Demgemäss müsste die Bildung von Schwefelwasserstoff, der sich sowohl in 
den Abläufen der primären, wie auch in noch stärkerem Grade in den Abläufen 
der sekundären Körper zeigte, mehr auf Reduktion der in den Abwässern reichlich 
vorhandenen Sulfate zu Sulfiden, bezw. Schwefelwasserstoff, als auf direkte Eiweiss- 
faulnis zurückgefübrt werden. 

Für diese Annahme spricht besonders die Abnahme der Sulfate vom Einlauf 
des Abwassers bis zum Ablauf des gereinigten Abwassers und ferner der Umstand, 
dass ausser der Bildung von Schwefelwasserstoff andere charakteristische Merk¬ 
zeichen einer Eiweissfäulnis nie vorgefunden wurden. 

Die Aufnahmefähigkeit der biologischen Körper hatte anfänglich durch das 
schlechte Funktionieren des Pülpenfängers erheblich gelitten, hielt sich aber später 
bis zum Ende der Kampagne nahezu unverändert. 

Bezüglich des Einflusses der gereinigten Zuckerfabrikabwässer, d. h. der bio¬ 
logisch gereinigten Schnitzelpress- und Diffusionswässer und der nur mechanisch 
behandelten Rüben wasch wässer auf den Vorfluter, den Russbach, der für ge- 


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Besprechungen, Referate, Notizen. 


wohnlich rund 700 Sekundenliter führt, bei Regengüssen aber häufig weit mehr 
Wasser führen kann, haben Verf. ebenfalls eingehende Beobachtungen angestellt 
und hieraus die Ueberzeugung gewonnen, dass die eigentliche Verschmutzung des 
Baohwassers mehr auf die Zuführung der nur mechanisch behandelten Waschwässer 
als auf die Einleitung der biologisch gereinigten Schnitzelpress- und Diffusions¬ 
wässer zurückgeführt werden müsse, und dass, wenn nur die letzteren allein in 
den Bach eingeleitet würden, sie denselben bei seiner ungefähr 30fachen Wasser¬ 
menge kaum wesentlich verunreinigt hätten. 

Während des normalen Funktionierens der Anlagen wurden abnorme Algen¬ 
vegetationen oder Pilzwucherungen im Bachlaufe unterhalb der Kläranlage nicht 
vorgefunden, während diese Uebelstände sich in der Kampagne 1902/03, als die 
biologische Anlage schlecht arbeitete, deutlich aufgetreten waren. 

Nach Ansicht der Verf. scheint lediglich der Zuckergehalt der Abwässer das 
Auftreten derartiger Vegetationen zu begünstigen, während bei vollständiger Ver¬ 
gärung des Zuckers diese unterbleibt. 

Ueber die Kosten der Reinigungsanlage, die eingehend besprochen wurden, 
äussern sich die Verf. dahin, dass sie zwar im vorliegenden Falle, durch un¬ 
günstige Verhältnisse bedingt, sehr hohe waren, dass sie aber unter normalen Ver¬ 
hältnissen erheblich reduziert werden könnten. Trotzdem käme die Anwendung 
dieses Verfahrens selbst unter den ungünstigsten Verhältnissen billiger als das 
für Zuekerfabrikabwässer, was die gefährlichen Bestandteile anbelangt, unwirksame 
Kalkmilchverfahren. 

Die Verf. neigen wie Rolands (Revue d’hygiene. November 1904) der An¬ 
sicht zu, „dass das biologische Verfahren gegenwärtig das einzige ist, welches 
zur Reinigung der Zuckerfabrikabwässer gute, praktische Resultate liefert. Die 
Einrichtungskosten kommen allein in Betracht, denn die Betriebskosten sind gleich 
Null und verschwinden vollkommen bei einem grossen Betriebe, der soviel Hunderte 
von Arbeitern täglich beschäftigt.“ 

(Nach Ansicht des Ref. sollten die Betriebskosten nicht zu gering eingeschätzt 
werden, da nach den bisherigen Erfahrungen nur eine ständige sachgemässe Ueber- 
wachung und sorgfältige Instandhaltung aller einzelnen Teile der biologischen 
Anlagon einen dauernd befriedigenden Reinigungseffekt verbürgen können. Es ist 
ferner eine bekannte Tatsache, dass auch bei grossen Betrieben trotz eines an¬ 
scheinenden Ueberflusses an Arbeitskräften gerade die Abwasserreinigungsanlagen 
häufig genug stiefmütterlich behandelt zu werden pflegen.) Pritzkow-Berlin. 

Reform und Ausbau der österreichischen Arbeiterversioherung: 

Wien 1906, Alfred Hölders Buchhandlung. 

Das arbeitsstatistische Amt im K. K. Handelsministerium gibt in dieser 
Schrift das offizielle Protokoll über die „Einvernahme ärztlicher Auskunfts¬ 
personen“, welche auf Anregung des vom ständigen Arbeiterbeirate eingesetzten 
Arbeiterversicherungsausschusses am 6., *7. und 8. November 1905 im arbeits¬ 
statistischen Amt in Wien stattgefunden hat unter dem Vorsitz des Sektionschefs 
Dr. Victor Mataja. Die Verhandlungen ergeben einen interessanten Ueberblick 
über die mancherlei Wünsche der Aerztesohaft in Bezug auf Reformen der Arbeiter- 


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Versicherungsgesetze Oesterreichs, die ja im wesentlichen den Deutschen nach¬ 
gebildet sind, und etwa 5 Jahre später in Wirksamkeit traten. 

Beklagt wurde in erster Linie auch dort, dass bei den Vorarbeiten für diese 
den Arzt so sehr angehenden Gesetze Aerzte gar nicht gehört wurden. Zu der 
jetzt mit etwa 12 Aerzten aus allen Teilen des Landes gepflogenen Diskussion über 
Reformen waren 17 Fragen gestellt, die Bezug nehmen auf das „Programm für die 
Reform und den Ausbau der Arbeiterversicherung vom Dezember 1904 u . Beschlüsse 
hat die Versammlung nicht gefasst; aus den Darlegungen der Delegierten ergaben 
sich etwa folgende Wünsche: 

Der Kreis der krankenversicherungspflichtigen Personen ist nach ärztlicher 
Anschauung vor allen Dingen auch auf die land- und forstwirtschaftlichen Arbeiter 
auszudehnen. Ellmann-Wien betont, dass je nach den wirtschaftlichen Ver¬ 
hältnissen des Ortes die Einkommensgrenze für Angestellte auf dem flachen Lande 
mit 2000 Kr., in den grösseren Städten mit 2400 Kr. festgelegt werden sollte. Für 
gewisse Kreise, wie z. B. Handelsangestellte und andere genüge die Versicherung 
auf Krankengeld, sie sollten also den Arzt selbst bezahlen, weil viele besser ge¬ 
stellte sich sonst neben dem Kassenarzt noch einen Privatarzt halten, ein Anlass 
zu vielen Schwierigkeiten. 

Die Angehörigenversicherung wird im Hinblick auf die Bekämpfung 
der Säuglingssterblichkeit und der Volksseuchen als dringend wünschenswert be¬ 
zeichnet, indes von einigen nur unter der Voraussetzung freier Arztwahl und an¬ 
gemessener Honorierung des Arztes. Die bedingte freie Arztwahl und die ge¬ 
setzliche Festlegung von Mindesthonoraren wird nach den Erfahrungen in Deutsch¬ 
land für durchführbar und auch mit den Interessen der Kassen vereinbar an¬ 
gesehen. Es seien Kollektivverträge zwischen Kassen- und Aerzteorganisation ab- 
zuschliessen, durch welche die Aerzte unabhängig von den Kassenvorständen zu 
machen seien. 

Zwang zur Krankenhausbehandlung wird für gewisse Fälle als erwünsoht 
bezeichnet; er soll vom ärztlichen Zeugnis abhängig gemacht werden. 

Ueber die Frage, ob die Krankenkassen besondere Einrichtungen für Rekon¬ 
valeszentenpflege treffen sollen, besteht keine Uebereinstimmung. 

Bezüglich der Unfallversicherung ist man einig, dass die Universitäten einige 
Lehrkanzeln für versicherungsrechtliche und soziale Medizin einrichten sollten, 
die Versicherungsanstalten (bei uns Berufsgenossenschaften) aber Auskunftsstellen 
und Museen für Schutzvorrichtungen. Merkwürdiger Weise sprachen sich einige 
Redner gegen die Uebernahme des Heilverfahrens bei Unfallverletzten aus; in 
Deutschland hat man damit sehr günstige Erfahrungen gemacht. 

In Bezug auf die Invalidenversicherung interessieren die Ausführungen des 
Prager Hygienikers Prof. Hueppe. Er warnt vor Luxusanstalten, wie sie in 
Deutschland errichtet sind, insbesondere in Beelitz. „Es hört sich auf den ver¬ 
schiedenen internationalen Kongressen wohl sehr schön an, dass das Deutsche 
Reich in dieser Beziehung an der Spitze aller Kulturnationen marschiert, alloin 
die Leistungen dieser Anstalten seien ausserordentlich bescheiden und von der 
früher erwarteten Heilung, insbesondere der Tuberkulose, sei man schon ganz ab¬ 
gekommen. u Hüppe wünscht Heimstätten statt Heilstätten. Ellmann betont 
dem gegenüber die Erziehung der Kranken in den Heilstätten zu einem hygienischen 


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Besprechungen, Referate, Notizen. 


Leben. Prof. Sternberg-Wien spricht sich auch für Kuren in Badeorten und 
klimatischen Kurorten aus. 

Er verlangt auch eine geschultere Bureaukratie für die Krankenkassen. Die 
Regierung müsse mehr für deren Ausbildung und wirtschaftliche Besserung sorgen. 

Das Protokoll lässt manches Streiflicht auf die deutschen Einrichtungen 
fallen, deren Vorzüge vielfach anerkannt werden; ihre Fehler kommen indes auch 
zur Sprache und gerade diese Erörterungen verdienen Beachtung. 

Stolper- Göttingen. 

Schreiber, Dr. med. K., Bericht über Versuche an einer Versuchsanlage 
derJewell-Filter-Compagnie. 

Während in Deutschland zur Reinigung des Trinkwassers für zentrale Wasser¬ 
versorgungen fast ausschliesslich die sogenannte englische, langsame Sandfiltration 
in Gebrauoh ist, hat in Amerika im letzten Jahrzehnt die Schnellfiltration eine 
grosse Verbreitung gewannen. Der Grund dafür ist wohl der, dass Wasser, welches 
durch Tonschlamm getrübt oder durch Huminsubstanzen gelblich gefärbt ist, wie 
das Flusswasser, auf welches viele amerikanische Städte für ihre Wasserversorgung 
angewiesen sind, sich durch langsame Sandfiltration ohne Chemikalien garnicht 
oder nur sehr unvollkommen reinigen lässt. Die günstigen Erfahrungen, welche 
mit der Schnellfiltration in Amerika gemacht worden sind, veranlassten die Kgl. 
Prüfungsanstalt für Wasserversorgung etc. in Berlin dazu, von einem Anerbieten 
der Jewell-Filter-Export-Compagnie, eine Versuchsanlage in der Nähe von Berlin 
zu errichten, und der Anstalt zu Versuchszwecken zur Verfügung zu stellen, Ge¬ 
brauch zu machen. Dieselbe wurde auf dem Gelände des Berliner Wasserwerkes 
am Müggelsee errichtet. Diese Lage hat den Vorteil, dass die Versuchsanlage 
neben einem für langsame Sandfiltration eingerichteten Wasserwerk arbeitete, und 
dass deshalb die erzielten Effekte der Methode direkt miteinander verglichen werden 
konnten. Von einer Beschreibung der recht komplizierten Versuchsanlage sei ab¬ 
gesehen. Erwähnt sei nur, dass die Jewellfilter, wie fast alle Schnellfilter auf dem 
Prinzip beruhen, dass das Wasser, nachdem es durch einen Zusatz von Chemikalien 
(schwefelsaure Tonerde) und Absitzenlassen vorgereinigt ist, mit sehr hoher 
Filtrationsgeschwindigkeit durch Sand filtriert wird. Die Waschung des Filters 
findet durch Verwendung von Rüokspülung, die mitunter mit Lüftung oder Rühr¬ 
vorrichtung verbunden ist, statt. Der Betrieb der Versuchsanlage begann am 
2. September 1904, musste jedoch mit Eintritt des Winters abgebrochen werden. 
Im April 1905 von neuem aufgenommen, dauerten die Versuche bis etwa Anfang 
Juli. In dieser relativ kurzen Zeit die Anlage unter allen in Betracht kommenden 
Verhältnissen zu prüfen, war unmöglich. Denn für die Bedingungen, von denen 
die Leistungsfähigkeit einer Schnellfilteranlage abhängig ist, kommt nicht nur, 
wie bei der langsamen Sandfiltration, die Beschaffenheit des Rohwassers in Be¬ 
tracht, sondern auch die Dauer der Sedimentation, ferner die Filtrationsge¬ 
schwindigkeit, die Menge des zugesetzten chemischen Fällungsmittels und die Art, 
in welcher dasselbe zugesetzt wird, ob es nur beim Eintritt des Rohwassers in die 
Sedimentationsbehälter oder auch beim Austritt aus denselben oder an beiden 
Stellen zugleich zugegeben wird. Daher hat sich der Verf. auf die Untersuchung 
einiger der ihm am wichtigsten scheinenden Punkte beschränkt. Auf die Schil- 


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derung der einzelnen, zum Teil sehr umfangreichen Versuche, welche mit allen 
Kautelen angestellt und mit grosser Genauigkeit durchgefiihrt wurden, sei hier 
nicht eingegangen. Es sollen hier nur die Resultate sowie der Vergleich mit der 
langsamen Sandliltration gebracht werden. 

Als ein sehr sicherer Indikator für die Leistungsfähigkeit eines Sandfilters 
hat sich im Laufe von mehreren Dezennien die Keimzahl herausgestellt. Wenn 
daher bei einem Rohwasser durch Schnellfilter dieselben Keimzahlen erzielt werden, 
wie sie sich bei einer gut funktionierenden langsamen Sandfiltration ergeben, so 
ist wohl der Schluss berechtigt, dass ein solches Schnellfilter auch hinsichtlich 
der Ausschaltung pathogener Bakterien und der Verhinderung von Epidemien 
dasselbe leisten wird. Die im Filtrat des Städtischen Wasserwerkes festgestellten 
Keimzahlen betrugen im Durchschnitt 21 pro ccm. Fast dieselbe Keimzahl (20—24) 
wurde bei der Schnellfiltration erreicht, wenn der Zusatz an schwefelsaurer Ton¬ 
erde 30—43 g pro cbm Wasser, und die Zeit des Sedimentierens ca. iy 2 Std. be¬ 
trug bei einer Filtrationsgeschwindigkeit von 4 m pro Std. Beachtet man die er¬ 
zielten Effekte, bezogen auf das jeweilige Rohwasser, und interpoliert den Zusatz 
des Fällungsmittels, so würde zu einem von 94,3 pCt., welche die langsame Sand- 
filtration bewirkte, ein Zusatz von 33,6 g schwefelsaure Tonerde pro cbm bei einer 
Sedimentationsdauer von ca. \ l j 2 Std. und 4 m Filtrationsgeschwindigkeit pro Std. 
genügen, um einen gleichgünstigen Effekt mit der Schnellfiltration zu erreichen. 
Eine wesentliche Beobachtung, welche bei den Versuchen gemacht werden konnte, 
war die, dass der Planktongehalt des Wassers unter Umständen eine bedeutende 
Beeinträchtigung der Betriebssicherheit hervorrufen kann. Einige nach dieser 
Richtung hin vorgenommene Versuche ergaben, das Planktonorganismen, wenn 
dieselben in grosser Menge auftreten, durch den Alaunzusatz nicht mehr in den 
Sedimentierbehältern zurückgebalten werden, sich auf der Filteroberfläche an¬ 
sammeln und dadurch sowohl die Filtration selbst, als auch die Reinigung des 
Filters in empfindlichster Weise zu stören vermögen. 

Es muss daher das zur Schnellfiltration zur Verwendung kommende Wasser 
in Bezug auf seinen Planktongehalt genau kontrolliert und ev. Vorrichtungen zur 
Entfernung solcher Organismen aus dem Wasser, Filtertücher, bevor es zu den 
Filtern gelangt, eingerichtet werden. Die chemische Zusammensetzung des Wassers 
erfährt durch die Behandlung nach der Schnellfiltermetbodc, ausser in Bezug auf 
Eisen, welches ausgefällt wird, nur insofern eine Beeinflussung, als die schwefel¬ 
sauren Salze eine geringe Zunahme aufweisen. In Bezug auf Trübungen des 
Wassers, z. B. durch Ton, sowie auf gelbliche Färbungen desselben, welche durch 
im Wasser gelöste Huminsubstanzen hervorgerufen werden, lehrten die Versuche, 
dass die Schnellfiltration unter Zusatz schwefelsaurer Tonerde die bisher übliche 
alte Filtermethode übertrifft. Betrachtet man die Reinigung von Trinkwasser durch 
Jewell-Filter vom hygienischen Standtpnnkte, so könnte man höchstens an dem 
durch den Zusatz von schwefelsaurer Tonerde in das Wasser gebrachten Aluminium 
Anstoss nehmen. Die Menge desselben ist aber äusserst gering und würde nach 
der Berechnung der Verf. bei einem Trinkwasserverbrauch von 1 L. pro Tag sich 
im Jahre auf 2y 2 g Aluminium betragen. Nun gelangt aber, wie die Unter¬ 
suchungen ergaben, bei ordnungsmässigem Betriebe kein Aluminium in das Rein¬ 
wasser. Im übrigen haben Umfragen bei 44 grossen amerikanischen Städten, 

Viertel; ah rssehri ft f. ger. Med. u. öff. San.-Wesen. 3. Folge. XXXII. I. jg 


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welche ihr Wasser durch Sclraellfiltration reinigen, ergeben, dass Gesundheits¬ 
schädigungen irgend welcher Art durch das Wasser nicht beobachtet worden sind. 
Im übrigen besitzt eine Schnellfilteranlage vom hygienischen Standpunkte aus 
einen ausserordentlichen Vorzug vor der langsamen Sandfiltration durch die An 
ihrer Filterwaschung. Dieselbe muss bei langsamen Sandfiltern stets durch Aus- 
und Einbringen des Filtermaterials mittelst Handbetriebes stattfinden und gibt 
immer zu Infektionsmöglichkeiten in Hülle und Fülle Anlass. In einer Schnell¬ 
filteranlage hingegen geht die Waschung des Filters vollkommen maschinell vor 
sich. Das Personal kommt mit seiner Kleidung und mit seinen Händen in gar 
keine Berührung mit dem Filter und dem Wasser. Auch die eventuell nötige Des¬ 
infektion der Schnellfilter ist, schon in Hinsicht auf die geringere Grösse der¬ 
selben, gegenüber den alten Sandfiltern mit verhältnismässig geringeren Kosten 
durchzuführen. 

Die Ergebnisse der Untersuchungen fasst der Verf. in folgende Sätze zu¬ 
sammen : 

1. Nach richtiger Anpassung der Betriebsbedingungen an die bestehenden 
Verhältnisse ist das Jewell-Filter hinsichtlich seiner Leistungsfähigkeit in bak¬ 
teriologischer Beziehung der langsamen Sandfiltration an die Seite zu stellen. 

2. In Bezug auf die Entfernung von Trübungen und Färbungen aus dem 
Wasser ist das Jewell-Filter den alten Systemen unbedingt überlegen. 

3. Das zur Anlage eines Wasserwerkes erforderliche Areal ist bei Erbauung 
einer Anlage nach dem System der Jewell-Filter-Export-Compagnie kleiner, als 
die zur Anlegung von Sandfiltern alten Systems erforderliche Fläche. 

4. Die Betriebsbedingungen und deren Anpassung an die jeweilige Be¬ 
schaffenheit des Rohwassers ist, besonders wenn hinsichtlich des Planktongehaltes 
bedeutende Schwankungen bestehen, mit gewissen Schwierigkeiten verknüpft. 

5. Ueber die Kosten des Schnellfilterverfahrens lässt sich auf Grund der bei 

einer kleinen Versuchsanlage gemachten Beobachtungen kein Urteil abgeben. Die 
in Amerika gemachten Erfahrungen lehren, dass die Anlage des Schnellfilterwerkes 
etwas billiger ist, während der Betrieb sich etwas teurer stellt, als bei einer An¬ 
lage mit gewöhnlichen Sandfiltern. Weldert-Berlin. 

Schreiber, Dr. med. K., Zur Beurteilung des Ozonverfahrens für die 
Sterilisation des Trinkwassers. 

Da die zur Sterilisation des Trinkwassers erbauten Ozonanlagen in ihrer Be¬ 
triebssicherheit des öfteren angezweifelt wurden, beauftragte die Kgl. Versuchs¬ 
und Prüfungsanstalt für Wasserversorgung etc. im Einvernehmen mit der Firma 
.Siemens und Halske den Verf. das Paderborner Wasserwerk speziell mit Rücksicht 
auf die Frage der Betriebssicherheit, sowie zur Erlangung von Gesichtspunkten 
für die Kontrolle von Ozonanlagen einer eingehenden Prüfung zu unterziehen. Die 
zu diesem Zwecke notwendigen experimentellen Untersuchungen fanden in der Zeit 
vom 12.—24. September 1904 statt. Auf die Versuche im einzelnen sei hier nicht 
eingegangen. Es sei nur erwähnt, dass als Beweis für den ordnungsmässigen Be¬ 
trieb folgende Feststellungen herangezogen wurden: 1. die Verminderung der im 
Rohwasser enthaltenen Keime auf ein Minimum, und 2. die Feststellung, dass in 
dem ozonisierten Wasser sofort nach Verlassen der Sterilisationstürmo ein Ueber- 


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schass von Ozon vorhanden ist. Im Bezug auf den letzten Punkt sei bemerkt, 
dass der Verf. auf Grund vorliegender Versuche und Erfahrungen zu dem Schlüsse 
kommt, dass der positive Ausfall der Ozonreaktion beweist, dass das Ozon auch 
auf die Bakterien seine Wirksamkeit ausgeübt hat. Hinsichtlich des Rohwassers 
sei angeführt, dass in demselben im Durchschnitte unter 150 Keime pro ccm ent¬ 
halten waren, welche Zahl jedoch bei starken Niederschlägen während der Versuchs¬ 
periode beträchtlich wuchs. Im Reinwasser waren im Durchschnitt 1,1 Keime 
pro ccm vorhanden, und die Anlage funktionierte auch an Tagen, wo das Roh¬ 
wasser offensichtlich eine Verschmutzung erfahren hatte, völlig zur Zufriedenheit. 
Zeigte so die direkte Keimzählung schon den guten und regelmässigen Effekt der 
Anlage, so konnte duroh den stets positiven Ausfall der Ozonreaktion der Beweis 
erbracht werden, dass zur Unschädlichmachung so hoher Verschmutzungen, wie die¬ 
jenigen, welche während der Beobachtungszeit auftraten, die in Anwendung 
kommenden Ozonmengen noch ausreichen. Der Verf. kommt auf Grund seiner 
Versuche zu dem Schlüsse, dass eine entsprechend konstruierte und in Bezug auf 
die Menge und die Zusammensetzung des Rohwassers richtig dimensionierte Ozon¬ 
anlage mit genügender Sicherheit die Sterilisation mit Wasser, welches zu Zwecken 
der Wasserversorgung Verwendung finden soll, zu leisten vermag. 

Für die Genehmigung und Beaufsichtigung von Ozonanlagen durch die Be¬ 
hörden stellt der Verf. folgende Gesichtspunkte auf. 

1. Die ungünstigste Beschaffenheit des zur Verwendung kommenden Wassers 
muss aufs genauste festgestellt werden, insbesondere mit Bezug auf den höchsten 
in demselben vorkommenden Gehalt an organischer Substanz. 

2. Hiernach sind die zur Sterilisation in gewöhnlichem Betriebe zur An¬ 
wendung kommenden Ozonmengen zu bemessen, sodass auch im ungünstigsten 
Falle, d. h. bei dem höchsten Gehalt an organischer Substanz, das zur Sterilisation 
des Wassers erforderliche Mass von Ozon noch überschritten wird. 

3. Die Prüfung einer Neuanlage hat durch die Festellung ihres Reinigungs¬ 
effektes nach der von Proskauer und Scbüder angewendeten Methode zu er¬ 
folgen. 

4. Die Einstellung der Sicherbeitsvorrichtungen für die Ozonkonzentration 
und die Luftmenge sind zu prüfen, und diese Apparate vor Eingriffen des Personals 
zu sichern. 

5. Die Kontrolle von Ozonanlagen wird sieb auf Prüfung des Innehaltens 

der unter 1, 2 und 4 genannten Punkte beschränken können. Als Indikator für 
die tadellose Funktion einer Anlage wird sich, nach Sammlung grösserer Er¬ 
fahrungen die Anstellung der Ozonreaktion mittelst Jodkalium im Reinwasser als 
ausreichend erweisen. Weldert-Berlin. 

Schreiber, Dr. med. K., Enteisenung bei Einzelbrunnen nach dem Ver¬ 
fahren der Firma Deseniss und Jakobi in Hamburg. 

Für die Enteisenung von Trink- und Wirtschaftswasser sind mehrere Ver¬ 
fahren ausgebildet, welche im Grossbetriebe mit genügender Sicherheit arbeiten. 
Auch an Bestrebungen eine Handpumpe mit Enteisenungsvorrichtung zu kon¬ 
struieren, hat es nicht gefehlt, und dieselben haben zu mehr oder weniger 

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Besprechungen, Referate, Notizen. 


brauchbaren Modellen, wie z. B. die Enteisenungspumpe der Gesellschaft Phönix, 
Dunbarsches Fass u. a. m., geführt. Die Einrichtungen werden jedoch den An¬ 
sprüchen der Praxis und Hygiene nicht gerecht. Vor einigen Jahren ist nun von 
Firma Deseniss und Jakobi in Hamburg-Bergfelde eine Enteisenungspumpe, die 
sogenannte Bastardpumpe konstruiert worden, bei welcher die Enteisenung in 
ähnlicherWeise bewirkt wird, wie es im Grossbetriebe bei dem Büttner-und 
Me versehen und ähnlichen Enteisenungsverfahren geschieht und welche den 
hygienischen und praktischen Anforderungen zu genügen schien. Bei der 
Wichtigkeit einer derartigen Neukonstruktion für Einzelbrunnen wurde von der 
Kgl. Versuchs- und Prüfungsanstalt für Wasserversorgung beschlossen, eine 
Prüfung der Pumpe in Bezug auf ihre hygienische und praktische Brauchbarkeit 
vorzunehmen, .und der Verf. mit der Anstellung der dazu nötigen Versuche be¬ 
auftragt. Die von der Firma für diesen Zweck gelieferte Versuchspumpe bestand 
im wesentlichen aus drei Teilen, der Bastardpumpe und dem Filter. Die Bastard¬ 
pumpe unterscheidet sich dadurch von einer gewöhnlichen Pumpe, dass auf dem 
jeder Pumpe eigentümlichen Zylinder mit Saug- und Druckklappe noch ein zweiter, 
als Luftpumpe dienend, aufgesetzt ist. Mit jedem Kolbenstoss wird daher ein Ge¬ 
menge von Luft und Wasser dem Filter, welches aus Sand bestehend in einen 
allseitig geschlossenen eisernen Zylinder eingebaut ist, zugeführt, durch dasselbe 
von oben nach unten durchgepresst und gelangt darauf zum Abflüsse. Durch 
einen Vierwegehahn kann der Weg des Luftwassergemisches so geändert werden, 
dass die Rückspülung des Filters in bequemer und, wie der Versuch zeigte, aus¬ 
reichender Weise möglich ist. 

Die vorstehend kurz beschriebene Pumpe wurde auf einen etwa 44 m tiefer* 
Rohrbrunnen aufgesetzt. Die Versuche erstreckten sich über eine Zeit von etwa 
3 Monaten. Das zur Verwendung kommende Rohwasser war, wie die Analyse 
zeigte, reich an Eisen, (5,5—7,5 mb F 2 0 3 i. L.) welches sich beim Stehen an der 
Luft nur langsam ausschied. Das aus der Pumpe austretende Reinwasser enthielt, 
wie dies aus den zahlreich ausgeführten Analysen hervorgeht, nur sehr wenig 
Eisen, welches sich auch bei langer Aufbewahrungszeit der Probe nicht mehr aus¬ 
schied, sodass das Wasser dauernd klar blieb. 

Die Untersuchungsergebnisse zeigen demnach, dass die Enteisenung des 
Wassers durch die Bastardpumpe eine so weitgehende war, dass das abfliessende 
lteinwasser allen Anforderungen, die man in dieser Richtung an ein gutes Trink- 
und Wirtschaftswasser zu stellen hat, vollkommen genügt. Den hygienischen An¬ 
forderungen entspricht die Bastardpumpe in jeder Weise, da das Wasser auf seinem 
Wege durch Pumpe und Filter in keiner Weise verunreinigt werden kann. Die 
einzige Möglichkeit einer Verunreinigung, die ev. in Frago kommen könnte, nämlich 
dadurch, dass Staub in das Luftaussaugeventil der Luftpumpe mit eingesaugt 
wird, lässt sich durch ein auf das Ventil aufgesetztes Luftfilter leicht vermeiden. 
Soweit demnach auf Grund einer dreimonatlichen Prüfung geurteilt werden darf, 
entspricht nach Ansicht des Verf. die Bastardpumpe allen Anforderungen, die 
hinsichtlich der Einfachheit der Konstruktion, der leichten Bedienung, der Ent¬ 
fernung des Eisens und des Schutzes gegen Verunreinigung an eine Handpumpe 
gestellt werden können. Weldert-Berlin. 


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Besprechungen, Referate, Notizen. 


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Rosenthal, Sanitätsrat Dr. O., Alkoholismus und Prostitution. Zwei 
Vorträge, gehalten in den wissenschaftlichen Kursen des Zentralrerbandes zur 
Bekämpfung des Alkoholismus im Jahre 1905. Verlag von A. Hirschwald, 
Berlin. 

Verf. fasst in anschaulicher Darstellung die mannigfachen Wechselbeziehungen 
•zwischen Alkoholismus und Prostitution zusammen. Der Alkohol führt als Kuppler 
der Prostitution die Opfer zu. Die Prostitution lässt ihre Opfer rettungslos dem 
Alkoholismus verfallen. Der Alkoholkonsum in den Bordellen ist für die Prosti¬ 
tuierte als auch für den Prostituierenden als Anregungs- und Betäubungsmittel 
von besonders schädlicher Wirkung. Er verleitet den Besucher die einfachsten 
Massnahmen der Prophylaxe ausser Acht zu lassen. Auch auf den an Geschlechts¬ 
leiden Erkrankten übt der Alkohol noch seine Wirkung aus. Lues und Gonorrhoe 
werden in ihrem Verlauf aufs Ungünstigste beeinflusst. 

So sind Alkoholismus und Prostitution aufs Innigste miteinander verbunden; 
einer ist der Helfershelfer des Anderen. Als dritter Bundesgenosse gesellen sich 
ihnen die Geschlechtskrankheiten zu. Wollen wir sie erfolgreich bekämpfen, so 
muss sich unser Angriff zunächst gegen den Alkoholismus richten. 

Dr. Dohrn-Cassel. 

Koljago, Oberstabsarzt, Dr. Cyrillus, Der Malzkaffee bei Truppen Ver¬ 
pflegung. Militär. Medizinal-Journal, St. Petersburg. 

Bemerkenswert sind Versuche, welche Verf. mit einer Anzahl russischer 
Soldaten anstellte, die er eine Zeit lang statt mit dem sonst gebräuchlichen Tee 
mit Malzkaffee ernährte. Die Gerste, woraus Malzkaffee bereitet wird, enthält in 
100 Teilen: Eiweisstoffe 12,96, Stärkemehl 66,43, Dextrin 10,0, Fett 2,76, Zell¬ 
stoff 4,75undAsche3,10. Der Malzkaffee ist also dem nur als Genussmittel dienen¬ 
den Tee gegenüber als billiges Nahrungsmittel vom diätetischen Standpunkte aus 
vorzuziehen. 

Verf. fand auch an den mit Malzkaffee Ernährten eine Gewichtszunahme, die 
er auf Rechnung des letzteren glaubt setzen zu können und nimmt auf Grund 
seiner Versuche an, dass derselbe „in hohem Grade die Eigenschaft besitzt, auf die 
Assimilation der Nährstoffe der von der Mannschaft gebrauchten Speisen überhaupt 
günstig einzuwirken“. Angesichts der Tatsache, dass der bei uns als Morgen¬ 
getränk meist getrunkene Kaffee oft Magenbeschwerden verursacht und nervöse 
verschlimmert, dürfte eine Nachprüfung obiger Versuche mit dem billigeren und 
nahrhafteren Malzkaffee durchaus angemessen sein. Dr. Lindemann. 

Fassbender, Prof. Dr. Martin, Die Ernährung des Menschen in ihrer 
Bedeutung für Wohlfahrt und Kultur. Berlin. Carl Heymanns Verlag. 

In der lesenswerten Schrift wird die Ernährungsfrage physiologisch, sowie 
in ihrer Beziehung zur Wohlfahrtspflege besprochen. Am Schluss beschreibt Verf. 
eingehend die volkswirtschaftlich und gesundheitlich empfehlenswerteste Art des 
Kochens und hebt besonders die Vorteile des „Selbstkochers“ im Haushalt hervor. 
Die Lektüre der allgemeinverständiich abgefassten Schrift sei bestens empfohlen. 

Dr. Lindemann. 


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Besprechungen, Referate, Notizen. 

Notizen. 

Von den ärztlichen Kongressen, welche in der zweiten Hälfte des Jahres 1906 
stattfinden, verdienen besonders hervorgehoben zu werden: 

I. Der am 11.—lö.September in Berlin unter dem Ehrenpräsidium Sr. Exz. des 
Herrn Ministers der Medizinal-Angelegenheiten, Staatsministers Dr. Studt tagende 

IV. internationale Kongress für Versicherungs-Medizin. 

Das wissenschaftliche Programm umfasst folgende Hauptgegenstände: 

A. Aus dem Gebiete der Lebensversicherung: 

1. Die frühzeitige Feststellung des Vorhandenseins einer Veranlagung zur 
Tuberkulose, insbesondere zur Lungentuberkulose. 

2. Die Fettleibigkeit in ihrer Bedeutung für die Versicherung. 

3. Der Einfluss der Syphilis auf die Lebensdauer. 

4. Die Impfklausel im Versioherungs-Vertrag. 

B. Aus dem Gebiete der Unfallversicherung: 

5. Die Beeinflussung innerer Leiden durch Unfälle im allgemeinen. 

6. Die akute Verschlimmerung von Geisteskrankheiten im Verlauf von Unfällen. 

7. Einfluss des Traumas bei latenten und offenbaren organischen Rückenmarks¬ 
und Gehirnkrankheiten. 

8. Die Kriterien der Verschlimmerung von funktionellen Neurosen durch Unfälle. 
Die Verhandlungen und Berichte des voraussichtlich im preussischen Abge¬ 
ordnetenhause tagenden Kongresses werden in deutscher, französischer und eng¬ 
lischer Sprache abgefasst. 

Anmeldungen, Anfragen und Mitteilungen sind zu richten an den General¬ 
sekretär des Deutschen Vereins für Versicherungs-Wissenschaft, Herrn Dr. Alfred 
Man es, Berlin W. 50, Spichernstr. 22. 

Im einzelnen wird das Programm sich wie folgt gestalten: 

Montag, d. 10. Septbr., 8y z Uhr abends: Empfang im Reichstag durch den 
Organisations-Ausschuss. 

Dienstag, d. 11. Septbr., 9y a Uhr: Feierliche Eröffnung des Kongresses im 
Abgeordnetenhaus. 11—1 Uhr: Arbeitssitzung; 1—2y a Uhr: Frühstück; 

27,—5 Uhr: II. Arbeitssitzung. 

Auf Allerhöchsten Befehl: Festvorstellung im Königlichen Opemhause. 
Mittwoch, d. 12. Septbr., 9 1 / 2 —1 Uhr: III. Arbeitssitzung; 1—2 1 /«, Uhr: Früh¬ 
stück; 2y 2 —5 Uhr: IV. Arbeitssitzung; 7y 2 Uhr: Empfang der Kongress¬ 
mitglieder durch die städtischen Behörden im Rathause. 

Donnerstag, d. 13. Septbr., 9 1 / 2 —l Uhr: V. Arbeitssitzung; 1— 2y 2 Uhr: 

Frühstück; 2 1 / 2 — b Uhr: VI. Arbeitssitzung. 

Freitag, d. 14. Septbr., 9 1 /,»—1 Uhr: VII. Arbeitssitzung; Uhr: Früh¬ 

stück; 2y«,—5 Uhr: VIII. Arbeitssitzung. 4 Uhr: Schluss des wissenschaft¬ 
lichen Teiles des Kongresses. 7 1 /, Uhr: Festessen in den Restaurations¬ 
räumen des Zoologischen Gartens. 

Sonnabend, d. 15. Septbr.: Ausflüge. 


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Besprechungen, Referate, Notizen. 


199 


II. Am 15. September d. J. findet in Stuttgart die 
V. Hauptversammlung des Deutsohen Medizinal-Beamten-Vereins 
statt, wofür mit Rücksicht auf die vom 16.—22. ebenfalls in Stuttgart tagende 
Naturforscher-Versammlung nur ein Tag in Aussicht genommen ist. 


Vorläufige Tagesordnung: 

1. Eröffnung der Versammlung. 

2. Geschäfts- und Kassenbericht. 

3. Die Medizinalvisitationen der Gemeinden, ihre Durchführung, Ziele und 
Erfolge auf Grund einer 30jährigen Erfahrung in Württemberg. Referent: 
Herr Ober-Med.-Rat Dr. Scheur len -Stuttgart. 

4. Mikroskopie in der gerichtlichen Medizin. Referent: Herr Prof. Dr. Kockel, 
Direktor des Instituts für gerichtliche Medizin in Leipzig. 

5. Die Beaufsichtigung des Verkehrs mit Arzneimitteln. Referent: Herr Reg.- 
u. Med.-Rat Dr. Springfeld in Arnsberg. 

6. Ueber Testierfahigkeit vom gerichtsärztlichen Standpunkt. Referent: Herr 
Dr. Marx, Assistent am Institut für Staatsarzneikonde in Berlin. 

7. Vorstandswahl. 


Minden, d. 1. Juni. 


Der Vorstand. 

des Deutschen Medizinal-Beamten-Vereins. 


Dr. Rapmund, 

Reg.- u. Geb. Med.-Rat in Minden. 


III. Am 13.—15. September 1906 findet zu Augsburg die 31. Versamm¬ 
lung des 

Deutschen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege 
statt, wofür folgende Tagesordnung festgesetzt worden ist: 

Mittwoch, d. 12. September: 

1. Die Bekämpfung der Tollwut. Referent: Prof. Dr. Frosch (Charlottenburg). 

2. Die Milchversorgung der Städte mit besonderer Berücksichtigung der Säuglings¬ 
ernährung. Referenten: Stadtbezirksarzt Dr. Poetter (Chemnitz), 

Beigeordneter Brugger (Köln). 


Donnerstag, d. 13. September: 

3. Walderholungsstätten und Genesungsheime. Ref.: Dr. R. Lennhoff (Berlin). 

4. Die Bekämpfung des Staubes im Hause und auf der Strasse. Referenten: 
Prof. Dr. Heim (Erlangen), Stadtbaumeister Nier (Dresden). 

Freitag, den 14. September: 

5. Welche Mindestforderungen sind an die Beschaffenheit der Wohnungen, insbe¬ 
sondere der Kleinwohnungen, zu stellen? Referent: Regierungsbaumeister a. D., 
Beigeordneter SohiHing (Trier). 

Samstag, d. 15. Septbr.: Gemeinsamer Ausflug nach Hohenschwangau. 
Anfragen sowie Anmeldungen zur Mitgliedschaft nimmt entgegen 

der ständige Sekretär: Dr. Pröbsting in Köln. 


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III. Amtliche Mitteilungen. 


Erlass des Ministers der Medizinal-Angelegenheiten (I. T.s Wever) an 
die Herren OberprSsidenten vom 19. Februar 1906, betr. Abändernng der 
Vorschrift in § 25 No. 2 der Dienstanweisung für die Kreisärzte Toni 

23. März 1901. 

Obwohl die Dienstanweisung für. die Kreisärzte vom 23. März 1901 klar er¬ 
kennen lässt, dass an zahlreichen Stellen nicht neue Vorschriften gegeben, sondern 
schon bestehende lediglich der Vollständigkeit wegen nachrichtlich wiedergegeben 
werden sollen (vgl. z. B. § 1 Abs. 1 u. 2 Satz 1 u. 2; § 2 Abs. 2; § 3, No. 1, 2, 3 
Satz 1; § 4 Abs. 3; § 7 Satz 1; § 8; § 24 Abs. 1 und Abs. 2 No. 1 u. 3), hat 
dennoch in einer höchstrichterlichen Entscheidung die Auffassung Geltung ge¬ 
funden, dass die Dienstanweisung die Rechte und Pflichten der Kreisärzte durch¬ 
weg selbständig begründe. Insbesondere ist daselbst im Widerspruch mit der 
Absicht, welche bei dem Erlass der Dienstanweisung obgewaltet hat, angenommen 
worden, dass der Vorschrift in § 25 unter No. 2 eine konstitutive, mit derogato- 
rischer Kraft selbst Gesetzen gegenüber ausgestattete Wirkung derart zukomme, 
dass hier für die Kreisärzte ein Gebührenanspruch selbst in solchen Fällen be¬ 
gründet worden sei, wo bis zum Erlass der Anweisung ein Gebührenanspruch 
nicht bestanden habe. 

Gegenüber einer solchen Auslegung halte ich es für angebracht, für die Zu¬ 
kunft jedem Missverständnis durch eine andörweito Fassung der fraglichen Vor¬ 
schrift vorzubeugen 

Im Einverständnis mit dem Herrn Finanzminister bestimme ich daher, dass 
an die Stelle der bisherigen No. 2 im § 25 der Dienstanweisung für die Kreisärzte 
vom 23. März 1901 folgende Vorschrift tritt: 

2. die ihm nach Massgabe des Gesetzes vom 9. März 1872 (G.S. S. 265) 
oder der dort aufrecht erhaltenen besonderen Vorschriften zustehenden 
Gebühren, (cfr. Min.-Blatt 1906, No. 6, S. 112.) 

Erlass des Ministers der Medizinal-Angelegenheiten (Exzellenz Stadt), 
des Ministers des Innern (I. V.: t. Bischoffshansen) and des Ministers 
für Handel und Gewerbe (I. A.s y. d. Hagen) an die Herren Ober¬ 
präsidenten Yom 22. Februar 1906, betreffend die Polizeiverordnung Ober 

den Handel mit Giften. 

Die im Reichs- und Staatsanzeiger zur Veröffentlichung gelangte Polizei¬ 
verordnung über den Handel mit Giften vom heutigen Tage ist alsbald durch die 
Amtsblätter bekannt zu machen. 


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Amtliche Mitteilungen. 


201 


In dem beifolgenden Exemplare der Polizeiverordnung sind die Aenderungen 
und Ergänzungen gegenüber der Polizeiverordnung vom 24. August 1895, welche 
sich aus der Bekanntmachung vom 16. Oktober 1901 ergeben, durch punktiertes 

(.) und insoweit sie durch den Bundesratsbeschluss vom 1. Februar 1906 

herbeigeführt sind, durch doppeltes Unterstreichen ( ■ ) kenntlich gemacht. 

Polizeiverordnung 

über 

den Handel mit Giften. 

Auf Grund des § 136 Abs. 3 des Gesetzes über die allgemeine Landes¬ 
verwaltung vom 30. Juli 1883 — G.S. S. 195ff. — wird unter Bezugnahme auf 
die Beschlüsse des Bundesrats vom 29. November 1894, 17. Mai 1901 und 
1. Februar 1906 die nachstehende Polizeiverordnung erlassen: 

§ 1. Der gewerbsmässige Handel mit Giften unterliegt den Bestimmungen 
der §§ 2 bis 18. 

Als Gifte im Sinne dieser Bestimmungen gelten die in Anlage I aufgeführten 
Drogen, chemischen Präparate und Zubereitungen. 

Aufbewahrung der Gifte. 

§ 2. Vorräte von Giften müssen übersichtlich geordnet, von anderen Waren 
getrennt, und dürfen weder über noch unmittelbar neben Nahrungs- oder Genuss¬ 
mitteln aufbewahrt werden. 

§ 3. Vorräte von Giften, mit Ausnahme der auf abgeschlossenen Giftböden 
verwahrten giftigen Pflanzen und Pflanzenteile (Wurzeln, Kräuter usw.), müssen 
sich in dichten, festen Gefässen befinden, welche mit festen gut schliessenden 
Deckeln oder Stöpseln versehon sind. 

In Schiebladen dürfen Farben, sowie die übrigen in den Abteilungen 2 u. 3 
der Anlage I aufgeführten festen, an der Luft nicht zcrfliessenden oder ver¬ 
dunstenden Stoffe aufbewahrt werden, sofern die Schiebladen mit Deckeln ver¬ 
sehen, von festen Füllungen umgeben und so beschaffen sind, dass ein Verschütten 
oder Verstäuben des Inhalts ausgeschlossen ist. 

Ausserhalb der Vorrätsgefässe darf Gift, unbeschadet der Ausnahme¬ 
bestimmung im Absatz 1, sich nicht befinden. 

§ 4. Die Vorrätsgefässe müssen mit der Aufschrift „Gift“, sowie mit der 
Angabe des Inhalts unter Anwendung der in der Anlage I enthaltenen Namen, 
ausser denen nur noch die Anbringung der ortsüblichen Namen in kleinerer Schrift 
gestattet ist, und zwar bei Giften der Abteilung I in weisser Schrift auf schwarzem 
Grunde, bei Giften der Abteilungen 2 und 3 in roter Schrift auf weissem Grunde, 
deutlich und dauerhaft bezeichnet sein. Vorrätsgefässe für Mineralsäuren, Laugen, 
Brom und Jod dürfen mittels Radier- oder Aetzverfahrens hergestellte Aufschriften 
auf weissem Grunde haben. 

Diese Bestimmung findet auf Vorrätsgefässe in solchen Räumen, welche 
lediglioh dem Grosshandel dienen, nioht Anwendung, sofern in anderer Weise für 
eine, Verwechselungen ausschliessende Kennzeichnung gesorgt ist. Werden jedoch 
aus derartigen Räumen auch die für eine Einzelverkaufsstätte des Geschäfts¬ 
inhabers bestimmten Vorräte entnommen, so müssen, abgesehen von der im Ge- 


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202 Amtliche Mitteilungen. 

schäfte sonst üblichen Kennzeichnung, die Gefässe nach Vorschrift des Absatzes 1 
bezeichnet sein. 

§ 5. Die in Abteilung 1 der Anlage I genannten Gifte müssen in einem be¬ 
sonderen, von allen Seiten durch feste Wände umschlossenen Raume (Giftkammer) 
aufbewahrt werden, in welchem andere Waren als Gifte sich nicht befinden. 
Dient als Giftkammer ein hölzerner Verschlag, so darf derselbe nur in einem vom 
Verkaufsräume getrennten Teile des Warenlagers angebracht sein. Die Giftkaromer 
muss für die darin vorzunebmenden Arbeiten ausreichend durch Tageslioht erhellt 
und auf der Aussenseite der Tür mit der deutlichen und dauerhaften Aufschrift 
„Gift“ versehen sein. 

Die Giftkammer darf nur dem Geschäftsinhaber und dessen Beauftragten zu¬ 
gänglich und muss ausser der Zeit des Gebrauchs verschlossen sein. 

§ 6. Innerhalb der Giftkammer müssen die Gifte der Abteilung 1 in einem 
verschlossenen Behältnisse (Giftsohrank) aufbewahrt werden. 

Der Giftschrank muss auf der Aussenseite der Tür mit der deutlichen und 
dauerhaften Aufschrift „Gift“ versehen sein. 

Bei dem Giftschranke muss sich ein Tisch oder eine Tischplatte zum Ab¬ 
wiegen der Gifte befinden. 

Grössere Vorräte von einzelnen Giften der Abteilung 1 dürfen ausserhalb 
des Giftschrankes aufbewahrt werden, sofern sie sich in verschlossenen Gefässen 
befinden. 

§ 7. Phosphor und mit solchem hergostellte Zubereitungen müssen ausser¬ 
halb des Giftschrankes, sei es innerhalb oder ausserhalb der Giftkammer, unter 
Verschluss an einem frostfreien Orte in einem feuerfesten Behältnisse, und zwar 
gelber (weisser) Phosphor unter Wasser aufbewahrt werden. Ausgenommen sind 
Phospborpillen; auf diese finden die Bestimmungen der §§ 5 und 6 Anwendung. 

Kalium und Natrium sind unter Verschluss, wasser- und feuersicher und 
mit einem sauerstoffreien Körper (Paraffinöl, Steinöl oder dergleichen) umgeben, 
aufzubewahren. 

§ 8. Zum ausschliesslichen Gebrauch für die Gifte der Abteilung 1 und zum 
ausschliesslichen Gebrauch für die Gifte der Abteilungen 2 und 3 sind besondere 
Geräte (Wagen, Mörser, .Löffel und dergleichen) zu verwenden, welche mit der 
deutlichen und dauerhaften Aufschrift „Gift“ in den, dem § 4 Absatz 1 ent¬ 
sprechenden Farben versehen sind. In jedem zur Aufbewahrung von giftigen 
Farben dienenden Behälter muss sich ein besonderer Löffel befinden. Die Geräte 
dürfen zu anderen Zweoken nicht gebraucht werden und sind mit Ausnahmo der 
Löffel für giftige Farben stets rein zu halten. Die Geräte für die im Giftschranke 
befindlichen Gifte sind in diesem aufzubewahren. Auf Gewichte finden diese Vor¬ 
schriften nicht Anwendung 

Der Verwendung besonderer Wagen bedarf es nicht, wenn grössere Mengen 
von Giften unmittelbar in den Vorrats- oder Abgabegefassen gewogen werden. 

§ 9. Hinsichtlich der Aufbewahrung von Giften in den Apotheken greifen 
nachfolgende Abweichungen von den Bestimmungen der §§ 4, 5 und 8 Platz: 

(zu § 4). Die Bestimmungen im § 4 gelten für Apotheken nur insoweit, als 
sie sich auf die Gefässe für Mineralsäuren, Laugen, Brom und Jod be¬ 
ziehen. Im übrigen bewendet es hinsichtlich der Bezeichnung der Ge¬ 
fässe bei den hierüber ergangenen besonderen Anordnungen. 


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Amtliche Mitteilungen. 


203 


(zu § 5). Die Giftkammer darf, falls sie in einem Vorratsraum eingerichtet 
wird, auch durch einen Lattenverschlag hergestellt werden. Kleinere 
Vorräte von Giften der Abteilung 1 dürfen in einem besonderen, ver¬ 
schlossenen und mit der deutlichen und dauerhaften Aufschrift „Gift“ 
oder „Venena“ oder „Tabula B“ versehenen Behältnisse im Verkaufs¬ 
räume oder in einem geeigneten Nebenraume aufbewahrt werden. Ist 
der Bedarf an Gift so gering, dass der gesamte Vorrat in dieser Weise 
verwahrt werden kann, so besteht eine Verpflichtung zur Einrichtung 
einer besonderen Giftkammer nicht. 

(zu § 8). Für die im vorstehenden Absatz bezeichneten kleineren Vorräte 
von Giften der Abteilung 1 sind besondere Geräte zu verwenden und in 
dem für diese bestimmten Behältnisse zu verwahren. Für die in den Ab¬ 
teilungen 2 u. 3 bezeiohneten Gifte, ausgenommen Morphin, dessen Ver¬ 
bindungen und Zubereitungen, sind besondere Geräte nicht erforderlich. 

Abgabe der Gifte. 

§ 10. Gifte dürfen nur von dem Geschäftsinhaber oder den von ihm hiermit 
Beauftragten abgegeben werden. 

§ 11. Ueber die Abgabe der Gifte der Abteilungen 1 und 2 sind in einem 
mit fortlaufenden Seitenzahlen versehenen, gemäss'Anlage II eingerichteten Gift- 
buohe die daselbst vorgesehenen Eintragungen zu bewirken. Die Eintragungen 
müssen sogleich nach Verabfolgung der Waren von dem Verabfolgenden selbst, 
und zwar immer in unmittelbarem Anschluss an die nächst vorhergehende Ein¬ 
tragung ausgeführt werden. Das Giftbuch ist zehn Jahre lang nach der letzten 
Eintragung aufzubewahren. 

Die vorstehenden Bestimmungen finden nicht Anwendung auf die Abgabe 
der Gifte, welche von Grosshändlern an Wiederverkäufer, an technische Gewerbe¬ 
treibende oder an staatliche Untersuchungs- oder Lehranstalten abgegeben werden, 
sofern über die Abgabe dergestalt Buch geführt wird, dass der Verbleib der Gifte 
nachgewiesen werden kann. 

§ 12. Gift darf nur an solche Personen abgegeben werden, welche als zu¬ 
verlässig bekannt sind und das Gift zu einem erlaubten gewerblichen, wirtschaft¬ 
lichen, wissenschaftlichen oder künstlerischen Zwecke benutzen wollen. Sofern 
der Abgebende von dem Vorhandensein dieser Voraussetzungen sichere Kenntnis 
nicht hat, darf er Gift nur gegen Erlaubnisschein abgeben. 

Die Erlaubnisscheine werden von der Ortspolizeibehörde nach Prüfung der 
Sachlage gemäss Anlage III ausgestellt. Dieselben werden in der Regel nur für 
eine bestimmte Menge, ausnahmsweise auch für den Bezug einzelner Gifte während 
eines, ein Jahr nicht übersteigenden Zeitraumes gegeben. Der Erlaubnisschein 
verliert mit dem Ablaufe des vierzehnten Tages nach dem Ausstellungstage seine 
Giltigkeit, sofern auf demselben etwas anderes nicht vermerkt ist. 

An Kinder unter 14 Jahren dürfen Gifte nicht ausgehändigt werden. 

§ 13. Die in Abteilung 1 u. 2 verzeichneten Gifte dürfen nur gegen schrift¬ 
liche Empfangsbescheinigung (Giftschein) des Erwerbers verabfolgt werden. Wird 
das Gift durch einen Beauftragten abgeholt, so hat der Abgebende (§ 10) auch 
von diesem sich den Empfang bescheinigen zu lassen. 

Die Bescheinigungen sind nach dem in Anlage IV vorgeschriebenen Muster 


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204 


Amtliohe Mitteilungen. 


auszustellen, mit den entsprechenden Nummern des Giftbuchs zu versehen und 
zehn Jahre lang aufzubewahren. 

Die Empfangsbestätigung desjenigen, welchem das Gift ausgehändigt wird, 
darf auch in einer Spalte des Giftbuches abgegeben werden. 

Im Falle des § 11 Absatz 2 ist die Ausstellung eines Giftscheines nicht 
erforderlich. 

§ 14. Gifte müssen in dichten, festen und gut versohlossenen Geiassen ab¬ 
gegeben werden; jedoch genügen für feste, an der Luft nicht zerfliessende oder ver¬ 
dunstende Gifte der Abteilungen 2 u. 3 dauerhafte Umhüllungen jeder Art, sofern 
durch dieselben ein Verschütten oder Verstäuben des Inhalts ausgeschlossen wird. 

Die Gefässe oder die an ihre Stelle tretenden Umhüllungen müssen mit der 
im § 4 Absatz 1 angegebenen Aufschrift und Inhaltsangabe sowie mit dem Namen 

des abgebenden Geschäftes versehen sein. Bei festen an der Luft nicht zer- 
fliessenden oder verdunstenden Giften der Abteilung 3 darf an Stelle des Wortes 
Gift die Aufschrift „Vorsicht“ verwendet werden. 

Bei der Abgabe an Wiederverkäufer, technische Gewerbetreibende und 
staatliche Untersuchungs- oder Lehranstalten genügt indessen jede andere, Ver¬ 
wechselungen ausscbliessende Aufschrift und Inhaltsangabe; auch brauchen die 

Gefässe oder die an ihre Stelle tretenden Umhüllungen nicht mit dem Namen dos 
abgebenden Geschäfts versehen zu sein. 

§ 15. Es ist verboten, Gifte in Trink- oder Kochgefässen oder in solchen 
Flaschen oder Krügen abzugeben, deren Form oder Bezeichnung die Gefahr einer 
Verwechselung des Inhalts mit Nahrungs- oder Genussmitteln herboizuführcn ge¬ 
eignet ist. 

§ 16. Auf die Abgabe von Giften als Heilmittel in den Apotheken finden 
die Vorschriften der §§ 11 bis 14 nicht Anwendung. 

Besondere Vorschriften über Farben. 

§ 17. Auf gebrauchsfertige Oel-, Harz- oder Lackfarben, soweit sie nicht 
Arsenfarben sind, finden die Vorschriften der §§ 2 bis 14 nicht Anwendung. Das 
Gleiche gilt für andere giftige Farben, welche in Form von Stiften, Pasten oder 
Steinen oder in geschlossenen Tuben zum unmittelbaren Gebrauch fertiggestellt 
sind, sofern auf jedem einzelnen Stück oder auf dessen Umhüllung entweder das 
Wort „Gift“ beziehungsweise „Vorsicht“ und der Name der Farbe oder eine das 
darin enthaltene Gift erkennbar machende Bezeichnung deutlich angebracht ist. 

Ungeziefermittel. 

§ 18. Bei der Abgabe der unter Verwendung von Gift hergestellten Mittel 
gegen schädliche Tiere (sogenannte Ungeziefermittel) ist jeder Packung eine Be¬ 
lehrung über die mit einem unvorsichtigen Gebrauche verknüpften Gefahren bei¬ 
zufügen. Der Wortlaut der Belehrung kann von der zuständigen Behörde vor¬ 
geschrieben werden. 

Arsenhaltiges Fliegenpapier darf nur mit einer Abkochung von Quassiaholz 
oder Lösung von Quassiaextrakt zubereitet in viereckigen Blättern von 12 : 12 cm, 
deren jedes nicht mehr als 0,01 g arsenige Säure enthält und auf beiden Seiten 


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Amtliche Mitteilangen. 


205 


mit drei Kreuzen, der Abbildung eines Totenkopfes und der Aufschrift „Gift“ in 
schwarzer Farbe deutlich und dauerhaft versehen ist, feilgehalten oder abgegeben 
werden. Die Abgabe darf nur in einem dichten Umschläge erfolgen, auf welchem 
in schwarzer Farbe deutlich und dauerhaft die Inschriften „Gift“ und „Arsen¬ 
haltiges Fliegenpapier“ und im Kleinhandel ausserdem der Name des abgebenden 
Geschäfts angebracht ist. 

Andere arsenhaltige Ungeziefermittel dürfen nur mit einer in Wasser leicht 
löslichen grünen Farbe vermischt feilgehalten oder abgegeben werden; sie dürfen 
nur gegen Erlaubnisschein (§ 12) verabfolgt werden. 

Strychninhaltige Ungeziefermittel dürfen nur in Form von vergiftetem Ge¬ 
treide, welches in tausend Gewichtsteilen höchstens fünf Gewichtsteile salpeter¬ 
saures Strychnin enthält und dauerhaft dunkelrot gefärbt ist, feilgehalten oder 
abgegeben werden. 

Vorstehende Beschränkungen können zeitweilig ausser Wirksamkeit gesetzt 
werden, \yenn und soweit es sich darum handelt, unter polizeilicher Aufsicht 
ausserordentliohe Massnahmen zur Vertilgung von schädlichen Tieren, z. B. 
Feldmäusen, zu treffen. 

Gewerbebetrieb der Kammerjäger. 

§ 19. Personen, welche gewerbsmässig schädliche Tiere vertilgen (Kammer¬ 
jäger) müssen ihre Vorräte von Giften und gifthaltigen Ungeziefermitteln unter 
Beachtung der Vorschriften in den §§ 2, 3, 4, 7 und, soweit sie die Vorräte nicht 
bei Ausübung ihres Gewerbes mit sich führen, in verschlossenen Räumen, welche 
nur ihnen und ihren Beauftragten zugänglich sind, aufbewahren. Sie dürfen die 
Gifte und die Mittel an andere nicht überlassen. 

§ 20. Diese Polizeiverordnung tritt am 1. März 1906 in Kraft, mit Ausnahme 
der Bestimmungen über den Verkehr mit arsenhaltiger und arsenfreier Salzsäure 
und Schwefelsäure, die erst am 1. Juli 1906 Geltung erlangen. Alle entgegen¬ 
stehenden Verordnungen, insbesondere die Polizeiverordnung vom 24. August 1895 
— Min.-Bl. f. d. inn. Verw. S. 265 — und die Bekanntmachung vom 16. Ok¬ 
tober 1901 — Min.-Bl. f. Med. pp. Angel. S. 263 — werden von dem gleichen 
Zeitpunkte ab aufgehoben. 

§ 21. Die für Apotheken über den Handel mit Giften bestehenden weiter¬ 
gehenden Vorschriften bleiben auch ferner in Kraft. 

§ 22. Zuwiderhandlungen gegen diese Polizeiverordnungen werden, soweit 
in den bestehenden Gesetzen nicht höhere Strafen vorgesehen sind, naoh § 367 
No. 5 des Strafgesetzbuches mit Geldstrafe bis zu Einhundertfünfzig Mark oder 
mit Haft bestraft. 

Berlin, den 22. Februar 1906. 

Der Minister der geistlichen, Unterrichts- Der Minister des Innern, 

und Medizinal-Angelegenheiten. In Vertretung. 

Studt. v. Bischoffshausen. 

Der Minister für Handel und Gewerbe. 

Im Aufträge, v. d. Hagen. 


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*206 


Amtliche Mitteilungen. 


Anlage I. 

Verzeichnis der Gifte. 
Abteilung 1. 


Akonitin, dessen Verbindungen und 
Zubereitungen, 

Arsen, dessen Verbindungen und Zu¬ 
bereitungen, auch Arsenfarben, 

Atropin, dessen Verbindungen und Zu¬ 
bereitungen, 

Brucin, dessen Verbindungen und Zu¬ 
bereitungen, 

Curare und dessen Präparate, 

Cyanwasserstoffsäure (Blausäure) 
Cyankalium, die sonstigen cyan¬ 
wasserstoffsauren Salze und deren 
Lösungen, mitAusnahme des Berliner 
Blau(Eisencyanör) u. des gelben Blut¬ 
laugensalzes (Kaliumeisencyanür). 

Daturin, dessen Verbindungen und Zu¬ 
bereitungen, 

Digitalin, dessen Verbindungen und 
Zubereitungen, 

Emitin, dessen Verbindungen und Zu¬ 
bereitungen, 

Erythrophlein, dessen Verbindungen 
und Zubereitungen, 

Fluorwasserstoffsäure (Flusssäure), 

Homatropin, dessen Verbindungen und 
Zubereitungen, 

Hyoscin(Duboisin), dessen Verbindungen 
und Zubereitungen, 

Hyoscyamin (Duboisin), dessen Ver¬ 
bindungen und Zubereitungen, 

Kantharidin, dessen Verbindungen und 
Zubereitungen, 

Kolchicin, dessen Verbindungen und 
Zubereitungen, 

Koniin, dessen Verbindungen und Zu¬ 
bereitungen, 

Nikotin, dessen Verbindungen und Zu¬ 
bereitungen, 

Nitroglycerinlösungen, 

Phosphor (auch roter, sofern er gelben 
Phosphor enthält) und die damit be¬ 
reiteten Mittel zum Vertilgen von 
Ungeziefer, 


Physostigmin, dessen Verbindungen und 
Zubereitungen, 

Pikrotoxin, 

Queoksilberpräparate,auchFarben ausser 
Quecksilberchlorid (Kalomel) und 
Schwefelquecksilber (Zinnober), 
Salzsäure, arsenhaltige,*) 

Schwefelsäure, arsenhaltige,*) 
Skopolamin, dessen Verbindungen und 
Zubereitungen, 

Strophanthin, 

Strychnin, dessen Verbindungen und 
Zubereitungen, mit Ausnahme von 
strychninhaltigem Getreide, 
Uransalze, lösliche, auch Uranfarben, 
Veratrin, dessen Verbindungen und 
Zubereitungen. 


*) Anmerk.: Salzsäure und Schwefel¬ 
säure gelten als arsenhaltig, wenn 1 ccm 
der Säure mit 3 ccm Zinnchlorürlösung 
versetzt, innerhalb 15 Minuten eine 
dunklere Färbung annimmt. 

Bei der Prüfung auf den Arsengehalt 
ist, sofern es sich um konzentrierte 
Schwefelsäure handelt, zunächst 1 ccm 
durch Eingiessen in 2 ccm Wasser zu 
verdünnen und 1 ccm von dem erkalteten 
Gemische zu verwenden. Zinnchlorür¬ 
lösung ist aus 5Gewichtsteilen kristalli¬ 
siertem Zinnchlorür, die mit 1 Gewichts¬ 
teile Salzsäure anzurühren und voll¬ 
ständig mit trockenem Chlorwasserstoffe 
zu sättigen sind, herzustellen, nach 
dem Absetzen durch Asbest zu filtrieren 
und in kleinen, mit Glasstopfen ver¬ 
schlossenen, möglichst angefüllten 
Flaschen aufzubewahren. 


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Amtliche Mitteilungen. 


207 


Abteilung 2. 


Acetanilid (Antifebrin), 

Adonis - kraut, 

Aethylenpräparate, 

Agaricin, 

Akonit-extrakt, -knollen, -kraut, -tinktur, 
Amylenhydrat, 

Amylnitrit, 

Apomorphin, 

Belladonna-blätter, -extrakt, -tinktur, 
wurzel, 

Bilsen • kraut, -samen, Bilsenkraut 
-extrakt, -tinktur, 

Bittermandelöl, blausäurehaltiges, 
Brechnuss (Krähenaugen), sowie die 
damit hergestellten Ungeziefermittel, 
Brechnuss-extrakt, -tinktur. 
Brechweinstein, 

Brom, 

Bromäthyl, 

Bromalhydrat. 

Bromoform, 

Butylchloralhydrat, 

Calabar - extrakt, -samen, -tinktur, 
Cardol, 

Chloräthyliden, zweifach, 
Chloralformamid, 

Chloralbydrat, 

Chloressigsäuren, 

Chloroform, 

Chromsäure, 

Cocain, dessen Verbindungen und Zu¬ 
bereitungen, 

Convallaraarin,dessenVerbindungenund 

Zubereitungen, 

Convallarin, dessen Verbindungen und 
Zubereitungen, 

Elaterin, dessen Verbindungen und Zu¬ 
bereitungen, 

Erythrophleum, 

Euphorbium, 

Fingerhut - blätter, -essig, -extrakt, 
-tinktur, 

Gelsemium-wurzel, -tinktur, 

Giftlattich - extrakt, -kraut, -saft (Laktu- 
karium), 

Giftsumach-blätter, -extrakt, -tinktur, 


Gottesgnaden-kraut, -extrakt, -tinktur, 
Gummigutti, dessen Lösungen und Zu¬ 
bereitungen, 

Hanf, indischer, -extrakt, -tinktur, 
Hydroxylamin, dessen Verbindungen 
und Zubereitungen, 

Jalapen-harz, -knollen, -tinktur, 

Kirsch lorbeeröl, 

Kodein, dessen Verbindungen und Zu¬ 
bereitungen, 

Kokkelskörner, 

Kotoin, 

Krotonöl, 

Morphin, dessen Verbindungen und Zu¬ 
bereitungen, 

Narcein, dessen Verbindungen und Zu¬ 
bereitungen, 

Narkotin, dessen Verbindungen und 
Zubereitungen, 

Nieswurz (Helleborus) grüne, -extrakt, 
-tinktur, -wurzel, 
„ „ schwarze,-extrakt, 

•tinktur, -wurzel, 
Nitrobenzol (Mirbanöl), 

Opium und dessen Zubereitungen mit 
Ausnahme von Opium-pflaster und 
-wasser, 

Oxalsäure (Kleesäure, sog. Zuckersäure), 
Paraldehyd, 

Pental, 

Pilokarpin, dessen Verbindungen und 
Zubereitungen, 

Sabadill-extrakt, -früchte, -tinktur, 
Sadebaum-spitzen, -extrakt, -öl, 
Sankt-Ignatius-samen, -tinktur, 
Santonin, 

Scammonia-Harz(Scammonium)-wurzel, 
Schierling (Konium) - kraut, -extrakt, 
-früchte, -tinktur, 

Senföl, ätherisches, 

Spanische Fliegen u. deren weingeistige 
und ätherische Zubereitungen, 
Stechapfel - blätter, -extrakt, -samen, 
-tinktur — ausgenommen z. Hauchen 
oder Räuchern —, 

Strophantus-extrakt, -samen, -tinktur, 


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208 


Amtliche Mitteilungen. 


Strychninhaltiges Getreide, Veratrum (weisse Nieswurz) - tinktur, 

Sulfonal und dessen Ableitungen, -Wurzel, 

Thallin, dessen Verbindungen und Zu- Wasserschierling-kraut, -extrakt, 
bereitungen, Zeitlosen - extrakt, -knollen, -samen, 

Urethan, -tinktur, -wein. 

Abteilung 3. 


Antimonchlorür, fest oder in Lösung, 
Baryumverbindungen ausser Schwer- 
spath (schwefelsaurem Baryum), 
Bittermandelwasser, 

Bleiessig, 

Bleizucker, 

Brechwurzel (Jpecacuanha) - extrakt, 
-tinktur, -wein, 

Farben, welche Antimon, Baryum, Blei, 
Chrom, Gummigutti, Kadmium, 
Kupfer, Pikrinsäure, Zink oder Zinn 
enthalten, mit Ausnahme vonSchwer- 
spath (schwelelsaurem Baryum), 
Chromoxyd, Kupfer, Zink, Zinn und 
deren Legierungen als Metallfarben, 
Schwefelkadmium, Schwefelzink, 
Schwefelzinn (als Musivgold), Zink¬ 
oxyd, Zinnoxyd, 

Goldsalze, 

Jod u. dessen Präparate, ausgenommen 
zuckerhaltiges Eisenjodür und Jod¬ 
schwefel, 

Jodoform, 

Kadmium und dessen Verbindungen, 
auch mit Brom oder Jod, 

Kalilauge, in 100 Gewichtsteilen mehr 
als 5 Gewichtsteile Kaliumhydroxyd 
enthaltend, 

Kalium, 

Kaliumbichromat (rotes, chromsaures 
Kalium, sogenanntes Chromkali). 
Kaliumbioxalat (Kleesalz), 
Kaliumchlorat (chlorsaures Kalium), 
Kaliumchromat (gelbes, chromsaures 
Kalium), 

Kaliumhydroxyd (Aetzkali), 
Karbolsäure, auch rohe, sowie ver¬ 
flüssigte und verdünnte, in 100 Ge¬ 
wichtsteilen mehr als 3 Gewichtsteile 
Karbolsäure enthaltend, 


Kirsch lorbeerwasser, • 

Koffein, dessen Verbindungen und Zu¬ 
bereitungen, 

Koloquinthen- extrakt, -tinktur, 

Kreosot, 

Kresole u. deren Zubereitungen (Kresol- 
seifenlösungen, Lysol, Lysosolveol 
usw.), sowie deren Lösungen, soweit 
sie in 100 Gewichtsteilen mehr als 
1 GewichlsteU der Kresolzubereitung 
enthalten, 

Kupferverbindungen, 

Lobelien-kraut, -tinktur, 

Meerzwiebel-extrakt, -tinktur, -wein, 
Mutterkorn - extrakt (Ergotin), 

Natrium, 

Natriumbichromat, 

Natriumhydroxyd (Aetznatron, Seifen¬ 
stein), 

Natronlauge, in 100 Gewichtsteilen 
mehr als 5 Gewichtsteile Natrium- 
Hydroxyd enthaltend, 
Paraphenilendiamin, dessen Salze, 
Lösungen und Zubereitungen, 
Phenazetin, 

Pikrinsäure und deren Verbindungen, 
Quecksilberchlorür (Kalomel), 
Salpetersäure (Scheidewasser), auch 
rauchende, 

Salzsäure, arsenfreie*), auch verdünnte, 
in 100 Gewichtsteilen mehr als 15 
Gewichtsteile wasserfreie Säure ent¬ 
haltend, 

Schwefelkohlenstoff, 


*) Anmeikung: Siehe Anmerkung zu 
Abteilung 1. 


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Amtliche Mitteilungen. 


209 


Schwefelsäure, arsenfreie*), auch ver- Silbersalze, mit Ausnahme von Chlor- 
diinnte, in 100 Gewichtsteilen mehr Silber, 
als 15 Gewiohtsteile Schwefelsäure- Stephans (Staphisa gria)-körner, 
monohydrat enthaltend, Zinksalze, mit Ausnahme von Zink- 

_ karbonat, 

*) Anmerkung: Siehe Anmerkung zu Zinnsalze. 

Abteilung f. 


Giftbnch. 


Anlage II. 


d 

Bezeichnung 


Des Giftes 

Zweck, zu welchem 


des Erlaubnisscheines 

Tag der 

das Gift vom 

2 

nach Behörde 
und Nummer. 

Abgabe. 

Name. j Menge. 

Erwerber benutzt 
werden soll. 


Des Erwerbers 
Name Wohnort 
sZd. (Wohnung). 


Des Abholenden 
Wohnort 

Stand. (Ahnung). 


Name des Eigenhändige 

Verab- Namensschrift 

folgenden, des Empfängers. 


(Name der ausstellenden 
Behörde.) 

No. 


Anlage m. 


Erlaubnisschein zum Erwerb von Gift. 

Der p. (Name, Stand).zu (Wohnort u. Wohnung) 

.die (Firma).wünscht (Menge) .... 

(Name des Gifts).zu erwerben, um damit. 

(Zweck, zu welchem das Gift benutzt werden soll). 

Gegen dieses Vorhaben ist diesseits nach stattgefundener Prü¬ 
fung nichts zu erinnern. 


.den . . ten.19 . . 

(Bezeichnung der ausstellenden Behörde.) 

(Namensunterschrift.) 

(Siegel.) 

Dieser Schein macht die Ausstellung einer Empfangsbescheinigung (Gift¬ 
schein) gemäss § 13 nicht entbehrlich. Er verliert mit dem Ablaufe des 14. Tages 
nach dem Ausstellungstage seine Giltigkeit, sofern etwas anderes oben nicht aus¬ 
drücklich vermerkt ist. 

Viertelj ahrsseh ri ft f. ger. Med. u. öff. San.-Wesen. 3. Folge. XXXII. I. 14 


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*210 


Amtliche Mitteilungen. 


Anlage IV. 

No. . . (des Giflbuchs). 

Oiftschein. 

Von (Firma des abgebenden Geschäfts).zu (Ort) 

.bekenne ich hierdurch .... (Menge). 

(Name des Gifts).zum Zwecke de.wohl 

verschlossen und bezeichnet erhalten zu haben. 

Der aus einem unvorsichtigen Gebrauche des Giftes entstehenden 
Gefahren wohl bewusst, werde ich dafür Sorge tragen, dass dasselbe 
nicht in unbefugte Hände gelangt und nur zu dem vorgedachten 
Zwecke verwendet wird. 

Das Gift soll durch.abgeholt werden. 

(Wohnort, Tag, Monat, Jahr (Name und Vorname, 

und Wohnung.) Stand oder Beruf des Erwerbers.) 

(Eigenhändig geschrieben.) 

(Zusatz, falls das Gift durch einen anderen abgeholt wird.) 

Das oben bezeichnete Gift habe ich im Aufträge des. 

(Namen des Erwerbers) in Empfang genommen und verspreche, das¬ 
selbe alsbald unversehrt an meinen Auftraggeber abzulieforn. 

(Ort, Tag, Monat, Jahr.) (Name und Vorname, 

Stand oder Beruf des Abholenden.) 
(Eigenhändig geschrieben.) 

(cfr. Min.-Blatt 1906. No. 6. S. 114-122.) 


Erlass des Ministers der geistlichen pp. Angelegenheiten (I. V.: Wever) 
nnd des Ministers des Innern (I. V.: von Bischoffs hausen.) an die 
Herren Regiemngspriisidenten (Polizeipräsidenten in Berlin) vom 2. April 
1906, betr. Direktiven für die Untersuchung der Bindehauterkrankungen 

bei Militärpflichtigen. 

Die Direktiven für die Untersuchung und Beurteilung augenkranker Militär¬ 
pflichtiger, welche von dem Herrn Kriegsminister im Jahre 1893 erlassen worden, 
sind von einer Kommission, an welcher ausser Ministerialkommissaren angesehene 
Vertreter der Augenheilkunde teilgenommen haben, einer Neubearbeitung unter¬ 
zogen worden. Der in diesen Beratungen festgestellte Entwurf hat des Herrn 
Kriegsministers und meine, desMinisters der geistlichen, Unterrichts-undMedizinal- 
Angelegenheiten, Genehmigung gefunden. Die neuen „Direktiven für die Unter¬ 
suchung und Beurteilung der Bindohauterkrankungen bei Militärpflichtigen“ werden 
von jetzt an für die Militärärzte bei der Musterung und Aushebung von Militär¬ 
pflichtigen massgebend sein. 

Wir bestimmen, dass diese Direktiven fortan auch für die Beurteilung und 
Bezeichnung der Kranken bei der Bekämpfung der Körnerkrankheit (Granulöse, 
Trachom) verbindlich sind und in allen Listen und Nachweisungen, welche die 
Granulöse betreffen, Berücksichtigung zu finden haben, 

Ew. Hochwohlgeboren lassen wir in den Anlagen .... Abdrücke der Di¬ 
rektiven mit dem Ersuchen ergebenst zugehen, je einen dem zuständigen Referenten 
bei der dortigen Regierung, den Landräten — in Stadtkreisen den Ortspolizei- 


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Nummer 


Amtliche Mitteilungen. 


211 


behörden —, Kreisärzten sowie den bei der Granulosebekämpfung beteiligten 
Aerzten auszuhändigen. 

Einen etwaigen Mehrbedarf wollen Sie bei mir, dem Minister der geistlichen, 
Unterrichts- und MedizinaUAngelegenheiten, erbitten. 

Direktiven für die Untersuchung und Beurteilung der Bindehauterkrankungcn 

bei Militärpflichtigen.*) 

Die Untersuchung der Augcnlidbindehäutc hat durch Umstülpen der Lider, in 
trachomverscuchten Gegenden stets auch der oberen, zu erfolgen. 



Abkürzungen 

I. Die Aushebung ist nicht zulässig 

für die 

bei: 

Eintragungen 


in die Listen 

allen Formen von fcstgestelltem Trachom (granulöser 

Augen - 

Bindehautentzündung, Körnerkrank hei t). 

Tr.*) 


Dabei ist die Bindehaut gerötet, geschwollen, gewulstet 
und von unebner Oberfläche; sie enthält trübe, rötlich graue 
Körner (Granula) besonders in den Ucbergangsfaltcn. Der 
obere Teil der Hornhaut ist häufig miterkrankt, getrübt, von 
baumfürmig verästelten Gelassen überzogen (Pannus): im 
späteren Verlauf kommt es zu strich- und fleckförmigen 
Narben von bläulich-weisscr Färbung in der Bindehaut, 
narbiger Schrumpfung der Lider und Einwärtsdrehung der Lid¬ 
ränder. 

2. schweren Bindehauterkrankungen (ohne Kennzeichen des Augcn- 
Trachoms) und deren Folgezuständen, wenn tiefergehende K. II. 

Gewebsveränderungen oder Gewebszerstörungen vorliegcn, gemäss 
der Ziffer 20 und 21 Anlage 1 D und E der Heerordnung. 

*) Anmerkung. 

In den Bezirken, in welchen eine systematische Bekämpfung 
des Trachoms unter staatlicher Beihilfe stattfindet, werden unter¬ 
schieden: 

I. Das der Behandlung noch bedürftige Trachom, bei 
welchem auseinander zu halten sind- 

a) leichte Fälle (eine oder beide Uebergangsfaltcn sind Augen¬ 
befallen). Tr. I. 

b) mittel schwere Fälle (die ganze Bindehaut der Lider Augen- 

— Uebergangsfalte und Bindehaut des Tarsus — ist be- Tr. m. 

fallen). 

c) schwere Fälle (die trachomatösc Erkrankung befindet Augen- 

sich im Stadium der sulzigen Entartung, der Geschwürs- Tr. s. 
und Narbenbildung. Die Körner sind in den Uebergangs- 

lalten zu Wülsten oder Strängen zusammengeflossen, die 
Oberfläche neigt zu gesehwürigem Zerfall und reichlicher 
Absonderung; in der oberen Hälfte der Hornhaut zeigen 
sich Epithelabschürfungen, Infiltrate, kleine Substanz¬ 
verluste oder Trübungen und Gefässentwieklung; die Binde¬ 
haut der Uebergangsfaltcn und der Tarsi ist mehr oder 
weniger von Narbenzügen durchsetzt oder verkürzt, der 
Tarsus geschrumpft und verbildet-, der Lidrand mit den 
Wimpern einwärts gerichtet). 

II. Das abgelaufene Trachom mit erheblichen Folgezuständen Augen- 

(vernarbtes Trachom). Tr. n. 

14* 

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Nummer 


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Amtliche Mitteilungen. 


Abkürzungen 

II. Die Aushebung ist zulässig für die 

l )C j : Eintragungen 

in die Listen 


1. traehomverdächtigcn Erkrankungen. Augen- 

Tr. v. 

2. FolIikelschwel 1 ung der Bindehaut ohne den Charakter Äugen¬ 

des Trachoms, sei es mit oder ohne Katarrh. F. 


Hierunter sind diejenigen Fälle zu verstehen, bei denen 
sieh im Bereiche vornehmlich der unteren Hebergangsfalten ober- 
iläehliehe, leicht durchschimmernde Erhabenheiten von Bläschen¬ 
form auf normaler oder nur wenig veränderter glatter Binde¬ 
haut betinden. 

3. akuten um! chronischen Bindehauterkrankungen nicht Augen- 
trachomatöscr Art ohne tiefergreifende Gewcbsverände- K. I. 

ruu gen. 

Zu berücksichtigen ist auch Anlage 1 C 20 der Heerordnung. 

(cfr. Min.-Blatt 1906, No. 8, S. 177—179.) 

Bekanntmachung des Ministers der geistlichen pp. Angelegenheiten (Studt) 
rom 13. März 1906, betr. Ergänzung der Gebühren-Ordnung für approbierte 
Aerzte nnd Zahnärzte vom 15. Mai 1896. 

Auf Grund des § 80 der Gewerbeordnung für das Deutsche Reich (Reichs- 
Gesetzblatt 1900 Seite 871 ff.) bestimme ich bezüglich der Gebührenordnung für 
approbierte Aerzte und Zahnärzte vom 15. Mai 1896 folgendes: 

1. Hinter den Ziffern 5 und 37 des Abschnittes IIA werden folgende 
Ziffern 5a und 37a eingefügt: 

5 a. Beratung eines Kranken durch den Fernsprecher 1—3 M. Findet die 
Beratungvon einer öffentlichen Fernsprechstelle aus statt,so stehtdemArzt 
neben derGebiihr für die Beratung eine Entschädigung für Zeitversäumnis 
zu, und zwar für jede angefangene Stunde in Höhe von 1,50—3 M. 
37a. Einspritzung von Heilmitteln direkt in eine Blutader (ausser dem Be¬ 
trage für die Mittel) 3—20 M. 

2. Die Vorschrift in Ziffer 10 erhält nachstehende Fassung: 

Für Besuche oder Beratungen in der Zeit zwischen 9 Uhr abends 
und 7 Uhr morgens das Zwei- bis Dreifache der Gebühr zu Nr. 1 — 4, 
Nr. 5 a, Nr. 7 und zu Nr. 20. 

Die Gebühr unter Nr. 2 ist jedoch nicht unter 3 M. zu bemessen, 
(cfr. Min.-Blatt 1906, No. 7, S. 162.) 

Erlass des Ministers der Medizinal-Angelegenheiten (I. V.: Weyer) an 
die Herren Regierungspräsidenten und den Herrn Polizeipräsidenten in 
Berlin vom 6. April 1906, betr. die Tätigkeit des Desinfektionsschulen 

im Jahre 1904. 

Aus den auf meinen Erlass vom 22. Juli 1904 — M. No. 12310 U. I — er¬ 
statteten Berichten habe ich mit Befriedigung ersehen, dass die Desinfektions¬ 
schulen auch im Jahre 1904 eine eifrige und erfolgreiche Tätigkeit entfaltet haben. 

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Amtliche Mitteilungen. 


213 


Wie aus der anliegenden Nachweisung hervorgeht, sind während des genannten 
Jahres in 41 Kursen insgesamt 402 Desinfektoren ausgebildet worden, von denen 
396 die Prüfung bestanden und das Zeugnis als staatlich geprüfter Desinfektor 
erhalten haben. Die Zahl der im Lande vorhandenen sachverständigen Personen, 
denen die Ausführung der Desinfektion übertragen werden kann, hat dadurch eine 
erfreuliche Zunahme erfahren. 

Die von mir gegebene Anregung, die Dauer der Kurse auf je 9 Wochentage 
zu verlängern, die Zahl der Teilnehmer an den einzelnen Kursen auf höchstens 10 
und das Höchstalter der zur Ausbildung zuzulassenden Personen auf 45 Jahre 
festzusetzen, hat fast allseitige Zustimmung erfahren. Ich bestimme daher, dass 
bei der Einrichtung der Kurse auch in Zukunft hiernach zu verfahren ist. 

Besonderer Wert ist darauf zu legen, dass die Kreisärzte bei der Auswahl 
der zur Ausbildung als Desinfektor zuzulassenden Personen noch mehr als bisher 
auf das Vorhandensein einer gewissen Vorbildung sehen, auf Grund deren die 
Ausbildung wirklich aussichtsvoll erscheint. 

Auch die weitere Anregung, die Desinfektoren von drei zu drei Jahren zu 
einer Nachprüfung durch den zuständigen Kreisarzt und von sechs zu sechs Jahren 
zu einem Wiederholungskursus bei der zuständigen Desinfektorenschule einzu¬ 
berufen, hat eine beifällige Aufnahme gefunden. Ich bestimme daher, dass die 
Desinfektoren nach Bestehen der Prüfung sich bei dem zuständigen Kreisarzt unter 
Vorlegung des Prüfungszeugnisses persönlich zu melden, und dass die Kreisärzte 
ein Verzeichnis der in ihrem Kreise angestellten, staatlich geprüften Desinfektoren 
anzulegen haben, in dem ausser dem Namen, Alter, Stand der Desinfektoren, der 
Ort und die Zeit ihrer Ausbildung als Desinfektor und das Prüfungsvutum, sowie 
der Ort ihrer Niederlassung einzutragen sind. Auf Grund dieses Verzeichnisses 
sind dann die Einberufungen zu Nachprüfungen beziehungsweise Wiederholungs¬ 
kursen an zuständiger Stelle in Anregung zu bringen. 

Der Gedanke, Gemeindeschwestern in grösserer Anzahl in der Desinfektion 
ausbilden zu lassen, hat nur in beschränktem Umfange Nachachtung gefunden. 
Ich ersuche, diesem Gegenstände noch grössere Aufmerksamkeit zuzuwenden. 
Wenn auch die Wohnungsdesinfektion und überhaupt die sogenannte Schluss¬ 
desinfektion in der Regel geprüften Desinfektoren vorzubehalten ist, so wird dio so 
überaus wichtige fortlaufende Desinfektion am Krankenbett in der Mehrzahl der 
Fälle den Angehörigen oder den berufsmässigen Pflegern der Kranken überlassen 
werden müssen. Diese Desinfektionen zu leiten und zu überwachen, ist eine wich¬ 
tige Aufgabe der Gemeindeschwestern, und deswegen muss ich auf eine gründ¬ 
liche Ausbildung möglichst vieler Krankenschwestern in der Desinfektion besonderen 
Wert legen. 

Nachdem inzwischen das Gesetz, betreffend die Bekämpfung übertragbarer 
Krankheiten, vom 28. August 1905, durch dessen Ausführungsbestimmungen das 
Desinfektionswesen neu und durchgreifend geregelt worden ist, Gesetzeskraft er¬ 
langt hat, wird erneut zu prüfen sein, ob in allen Kreisen beziehungsweise in 
allen grösseren Orten eine genügende Anzahl von geprüften Desinfektoren und ein 
hinreichender Bestand an Desinfektionseinrichtungen vorhanden ist. 

Es ist dahin zu wirken, dass staatlich geprüfte Desinfektoren in hinreichender 
Anzahl seitens der Kreise beziehungsweise Gemeinden mit festem Gehalt oder 


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Amtliche Mitteilungen. 


unter Garantierung einer bestimmten Mindcstoinnahme an Gebühren angestellt 
werden. 

Die noch in mehreren Bezirken durchgeführte Ausbildung der Desinfektoren 
durch die Kreisärzte kann ich als zweckmässig nicht anerkennen und ersuche, 
allgemein davon Abstand zu nehmen. Ein Bedürfnis dafür ist umsoweniger vor¬ 
handen, als zu den 14 Desinfektorenschulen, welche Ausgangs des Jahres 1903 
vorhanden gewesen sind, im Jahre 1904 drei weitere — in Gelsenkirchen, Koblenz 
und Trier — hinzugetreten sind, und die Begründung von zwei weiteren — in 
Düsseldorf und Beuiben O./'S. — in Aussicht genommen ist. Die Errichtung 
weiterer Desinfektorenschulen wird dann voraussichtlich nicht erforderlich, und 
damit diese wichtige Organisation vorläufig zum Abschluss gelangt sein. 

Einem Berichte über die weitere Entwicklung der Angelegenheit unter Vor¬ 
lage eines namentlichen Verzeichnisses der im Jahre 1905 ausgebildeten Desinfek¬ 
toren aus dem dortigen Bezirk will ich zum 1. Juli d. ,1s. ergebenst entgegon- 
sehen. (cfr. Min.-Blatt 190(5, No. 9, S. 192/193.) 


Vorschriften des Bnndesrats für die Beförderung von Leichen auf dein 

Seewege. 

Vom 18. Januar 1900, bekanntgegeben von der Kolonialabteilung des Auswärtigen 
Amts (I. V.: von König) am 9. April 190(5. 

Der Bundesrat hat in seiner Sitzung vom 18. Januar 190(5 für die Be¬ 
förderung von Leichen auf dem Seowege die nachfolgenden Vorschriften 
erlassen: 

Vorschriften für die Beförderung von Leichen anf dem Seewege. 

Beschlossen in der Sitzung des Bundesrats vom 18. Januar 1906. 

§ 1 . 

1. Für die Beförderung einer Leiche zwischen den Seehäfen des Deutschen 
Reichs und seiner Schutzgebiete und zwischen einem dieser Häfen und einem 
ausländischen Hafen ist ein nach anliegendem Muster ausgefertigter Leichenpass 
beizubringen, welchen der SchifTskapitän für die Dauer der Fahrt in Verwahrung 
nimmt. 

2. Die Ausstellung der Leichenpässo liegt im Deutschen Reiche den von 
den Landesbehörden, in den Schutzgebieten den vom Reichskanzler zu bezeichnen¬ 
den Stellen, im Auslande den dazu ermächtigten Gesandten und Konsuln des 
Reichs ob. Für Leichen von Personen, welche an Cholera, Fleckfieber, Pest oder 
Pocken verstorben sind, dürfen solche Pässe erst dann ausgestellt werden, wenn 
mindestens ein Jahr nach dem Tode verflossen ist. 

3. Dem Gesuch um Erteilung eines Leichenpasses sind in Urschrift oder 
beglaubigter Abschrift beizufügen: 

a. eine vorschriftsmässig ausgefertigte Sterbeurkunde, welche Namen, Stand, 
Alter und Todestag des Verstorbenen enthält; 

b. eine tunlichst auf Grund einer Aeusserung des Arztes, welcher den Ver¬ 
storbenen behandelt hat, ausgestellte Bescheinigung über die Todesursache. 
Kommt die Leiche aus einem Orte, an dem Cholera, Flecküeber, Pest oder Pocken 


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Amtliche Mitteilungen. 


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herrschen, so ist gleichzeitig zu bescheinigen, dass der Beförderung der Leiche 
gesundheitliche Bedenken nicht entgegenstellen; 

c eine Bescheinigung des bei der Einsargung zugegen gewesenen Sach¬ 
verständigen (§ 2 Abs. 1) darüber, dass die Einsargung vorschriftsraässig er¬ 
folgt ist. 

4. Bei Leichen von Angehörigen der Armee oder der Marine genügen die 
von der zuständigen Militärbehörde oder Dienststelle ausgefertigten Nachweise zu 
Abs. 3, a bis c. Im Auslande kann auf die zu b vorgesehene Bescheinigung ver¬ 
zichtet werden, wenn dem zur Ausstellung des Leichenpasses zuständigen Ge¬ 
sandten oder Konsul des Reichs die zu bescheinigenden Tatsachen bekannt sind. 

5. Bei Leichen aus solchen ausländischen Staaten, mit welchen eine Ver¬ 
einbarung wegen wechselseitiger Anerkennung der Leichenpässe abgeschlossen 
ist, genügt die Beibringung eines die Vereinbarung entsprechenden Leichenpasses. 

6. Bei der Beförderung von Leichen in das Ausland hat der Kapitän auch 
darauf zu sehen, dass die nach den Bestimmungen des Auslandes erforderlichen 
Nachweise beigebracht sind. Werden ausländische Häfen angelaufen, so hat der 
Kapitän auch die dort geltenden Bestimmungen zu beachten. 

§ 2 . 

1. Die Einsargung der Leiche hat in Gegenwart einer von der zuständigen 
Behörde des Sterbeorts und des seitherigen Bestattungsorts hierzu zu bestimmenden 
sachverständigen Person zu erfolgen. Diese Person wird bei Leichen von Ange¬ 
hörigen der Armee oder der Marine von der zuständigen Militärbehörde oder Dienst¬ 
stelle, im Ausland in Ermangelung einer für den Ort zuständigen Landesbehörde 
von dem Gesandten oder Konsul des Reichs bestimmt. 

2. Die Leiche muss in einem hinlänglich widerstandsfähigen, luftdicht zu 
verlötenden Metallsarg eingeschlossen und dieser von einem festgefugten Holzsarge 
dergestalt umgeben sein, dass jede Verschiebung des Melallsarges in der Um¬ 
hüllung verhindert wird. Der Holzsarg ist in einer Kiste derart zu verpacken, dass 
auch hier jede Verschiebung des Inhaltes ausgeschlossen ist. 

3. Falls die Leiche nicht vollständig einbalsamiert wird und es sicht nicht 
um eine Beförderung von kürzerer Dauer handelt, ist die Leiche durch Einspritzung 
einer konservierenden Flüssigkeit, z. B. von etwa 5 1 einer weingeistigen Lösung 
von Formaldehyd (lOproz.) oder Rokrcsol (5proz.) oder Sublimat (2proz.) oder 
Chlorzink (lOproz.), in eine oder mehrere leicht zugängliche Arterien usw. gegen 
Verwesung möglichst zu schützen; auch ist der Boden des inneren (Metall-) Sarges 
mit einer reichlichen Schicht Sägemehl, Torfmull oder mit anderen aufsaugenden 
Stoffen zu bedecken. 

4. Diese Bestimmungen finden sinngemässo Anwendung bei Leichen 
(Leichenresten), welche für die überseeische Beförderung wieder ausgegraben 
worden sind. 

§3. 

1. Sollen Leichen von Personen, welche während der Reise an Bord ge¬ 
storben sind, ausnahmsweise bis zum Bestimmungshafen mitgeführt werden, so 
ist tunlichst nach § 2 Abs. 2 und 3 zu verfahren. Dauert die Reise von der Todes¬ 
stunde bis zur Ankunft am Begräbnisorte weniger als drei Tage, so darf von der 
Einsargung abgesehen werden. 


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Amtliche Mitteilungen. 


2. Leichen von Personen, welche während der Reise an Cholera, Fleck¬ 
fieber, Pest oder Pocken verstorben sind, dürfen an Bord nicht weiter befördert 
werden. 

§4. 

Leichen sind an Bord von Schiffen tunlichst getrennt von Nahrungs- und 
Genussmitteln und derart aufzubewahren, dass eine Belästigung der Reisenden 
und der Besatzung vermieden wird. 

§5- 

Die vorstehenden Bestimmungen treten am 1. Juli 1906 in Kraft. 

Muster. 

Leichenpass 

(für Leicbenbeförderung auf dem Seewege). 

Die Ueberführung der nach Vorschrift eingesargten Leiche de . . am. 

19 ... zu.an (Todesursache). 

verstorbenen.jährigen (Vor- und Zuname, Stand des Verstorbenen, bei 

Kindern Stand der Eltern) von.nach. 

auf dem Seewege wird hierdurch genehmigt. 

.. den.19 . . . 

(Dienststempel.) (Unterschrift.) 

Diese Vorschriften werden mit dem Hinzufügen bekanntgegeben, dass die 
Ausstellung der Leichenpässe (§ 1 No. 1 der Vorschriften) in den Schutzgebieten 
Afrikas und der Südsee durch die von dem Gouverneur eines jeden Schutzgebietes 
zu bestimmenden Dienststellen erfolgt. Die Gouverneure haben auch die sonst er¬ 
forderlichen Bestimmungen zur Ausführung der Bundesratsvorschriften zu treffen. 

Die Vorschriften über die Beförderung von Leichen auf dem Seewege zwischen 
dem Schutzgebiete Deutsch-Südwestafrika und einem deutschen Hafen, vom 15. De¬ 
zember 1904 (Kol.-Bl. 1905 S. 37), treten am 1. Juli 1906 ausser Kraft, (cfr. Min.- 
Blatt 1906 No. 9 S. 205-207.) 


Erlass des Ministers der geistlichen pp. Angelegenheiten (I. A.: Förster) 
an die Herren Regierungspräsidenten (Polizeipräsident in Berlin) vom 
27. April 1906, betreffend die Besetzung von Bahnarztstellen. 

Unter Bezugnahme auf den Erlass vom 7. Juni 1884 übersende ich beifolgend 
ergebenst die Abschrift eines an die Königlichen Eisenbahndirektionen gerichteten, 
die Besetzung von Bahnarztstellen betreffenden Erlass des Herrn Ministers der 
öffentlichen Arbeiten vom 14. April d. Js, zur gefälligen Kenntnisnahme. 


Der Minister der öffentlichen Arbeiten. Berlin W., 66, den 14. April 1906. 

Nach den Erlassen vom 14. März 1884 und vom 3. Juli 1901 soll bei Be¬ 
setzung von Bahnarztstellen unter sonst gleichen Verhältnissen auf die am Orte 
ansässigen Medizinalbeamten an erster Stelle Rücksicht genommen werden. Bei 
Durchführung dieser Bestimmung hat sich in mehreren Fällen herausgestellt, dass 
die für die Uebertragung der bahnärztlichen Geschäfte hauptsächlich in Frage 
kommenden Kreisärzte durch ihre übrigen Dienstgeschäfte so stark in Anspruch 
genommen waren, dass die Ausübung der bahnärztlichen Tätigkeit für sie mit er- 


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Amtliohe Mitteilungen. 


217 


heblichen Schwierigkeiten verbunden war. Die Königlichen Eisenbahndirektionen 
werden deshalb angewiesen, in künftigen Fällen, sofern in dieser Beziehung 
Zweifel bestehen, den zuständigen Regierungspräsidenten um eine Auskunft zu er¬ 
suchen. Im übrigen setze ich voraus, dass als Bahnärzte nur solche Aerzte, ein¬ 
schliesslich der Kreisärzte, bestellt werden, von denen feststeht, dass sie den Ein¬ 
richtungen, welche die Staatseisenbahnverwaltung hinsichtlich der ärztlichen 
Versorgung ihres Personals getroffen hat, nicht unfreundlich gegenüberstehen. 

In Vertretung: Fleck. 

An die Königlichen Eisenbahndirektionen — je besonders. 

Erlass des Ministers für Medizinal-Angelegenheiten (I. V.: Förster) an den 
Herrn Regierungspräsidenten in Cassel vom 24. Januar 1906, betr. Tagegelder und 
Reisekosten bei Stellvertretung eines Kreisarztes. 

Danach ist für den Stellvertreter eines Kreisarztes sein ständiger dienstlicher 
Wohnort, bzw. bei einem mit der Stellvertretung beauftragten Privatärzte dessen 
gewöhnlicher Wohnort hinsichtlich der Berechnung von Tagegeldern und Reise¬ 
kosten als massgebend auzusehen. (cfr. Min.-Bl. für Med.- und med. Unterrichts- 
Angelegenheiten, 1906, No. 4, S. 81.) 

Erlass des Ministers für Medizinal-Angelegenheiten (1. V.: Wever) an den 
Herrn Vorsitzenden der ärztlichen Prüfungskommission vom 30. Januar 1906, betr. 
den Nachweis öffentlicher Impfungstermine seitens der Medizinalpraktikanten. 

Die im §63, Absatz 1 der Prüfungsordnung für Aerzte vom 28. Mai 1091 
vorgeschriebene Beteiligung an mindestens zwei öffentlichen Impfungs- und eben- 
sovielen Wiederimpfungsterminen hat nach vollständig bestandener ärztlicher 
Prüfung zu erfolgen und ist auch dann nachzuweisen, wenn dem Kandidaten ein 
Teil des praktischen Jahres erlassen wird. 

Es wird vielfach angenommen, dieser Vorschrift sei genüge geleistet, wenn 
nachgewiesen werden kann, dass der Kandidat während der Studienzeit an einer 
entsprechenden Zahl von Impfungsterminen teilgenommen hat. Diese Annahme 
ist unzutreffend, (cfr. Min.-Bl. 1906, No. 4, S. 81.) 

Erlass des Ministers für Medizinal-Angelegenheiten (I. V.: Förster) an die 
Herren Regierungspräsidenten und den Herrn Polizeipräsidenten in Berlin vom 
2. Februar 1906, betr. die Meldekarten für übertragbare Krankheiten. 

Die durch das Reichsgesetz, betr. die Bekämpfung gemeingefährlicher Krank¬ 
heiten vom 30. Juni 1900 und das preussische Gesetz, betr. die Bekämpfung über¬ 
tragbarer Krankheiten vom 28. August 1905 nebst den ergangenen Ausführungs¬ 
bestimmungen vorgeschriebenen Meldekarten (Kartenbriefe) sind in der Hof- und 
Waisenhausbuchdruckerei in Cassel nach vorgescbriebenem Muster hergestellt und 
stellt sich ihr Bezug auf 8 M. pro Tausend bei dem Bezug von 5000 St., bei 
kleineren Mengen auf 10 M für das Tausend, (cfr. Min.-Bl. 1906, No. 4, S. 82.) 

Erlass des Ministers für Medizinal-Angelegenheiten (I. V.: Wever) an die 
Herren Regierungspräsidenten vom 14. Februar 1906, betr. die Besichtigung etc. 
aller den Provinzialschulkollegien unterstellten Lehranstalten durch die Kreisärzte. 

Die Vorschriften des Erlasses vom 15. März 1905 sind in vollem Umfange 
auf alle den Königl. Provinzialschulkollegien unterstellten Anstalten, insbesondere 


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Amtliche Mitteilungen. 


auch auf Lehrer- und Lehrerinnenseminare, auf die Präparandenanstalten, sowie 
auf die den Königl. Provinzialschulkollegien unterstellten höheren Mädchenschulen 
ausgedehnt. Die vorgeschriebenen Bestimmungen sind in diesem Erlasse nur noch 
auf die Besichtigung und die hygienische Untersuchung der Verhältnisse der 
höheren Lehranstalten (Gymnasien, Realgymnasien und dgl.) durch die Kreisärzte 
ausgedehnt, (cfr. Min.-Bl. 1906, No. 5, S. 97.) 

Erlass des Ministers für Medizinal-Angelegenheiten (I. V.: Förster) an die 
Herren Regierungspräsidenten in Berlin vom 13. Februar 1906, betr. die Abgabe 
von mit Holzgeist denaturiertem Spiritus hergestellten Heilmitteln. 

Mit denaturiertem Branntwein hergestellte Heilmittel sind, auch wenn sie nur 
zu äusserlichem Gebrauch bestimmt sind, als echt und zum Gebrauch geeignet 
nicht anzusehen. Sie dürfen daher ausserhalb der Apotheken, ebensowenig wie 
innerhalb derselben, abgegeben werden, (cfr. Min.-Bl. 1906, No. 5. S. 98.) 

Erlass des Ministers für Medizinal-Angelegenheiten (I. V.: Wover) an die 
königl. Regierungen und Provinzialschulkollegien der östlichen Provinzen der 
Monarchie vom 24. Januar 1906, betr. die Aufnahme lungenkranker Volksschul- 
lelirer und Seminaristen in die Dr. Brehmersche Heilanstalt in Görbersdorf. 

Durch diesen Erlass wurde festgestellt, dass von den 10 Plätzen in der 
B re hm ersehen Heilanstalt zum reduzierten Tagepreise von 4M pro Person 7 Stellen 
für lungenkranke Volksschullehrer und 3 für Seminaristen bestimmt sein sollten. 
Bewerbungen um diese Stellen sind an die Königl. Regierung, bezw. das Königl. 
Provinzialschulkollegium zu richten, (cfr. Min.-Bl. 1906, No. 5, S. 99.) 

Erlass des Ministers für Medizinal-Angelegenheiten (1. V.: Wever) und des 
Innern (I. V.: Bischoffshauscn) an die Herren Regierungspräsidenten und den 
Polizeipräsidenten in Berlin vom 26. März 1906, betr. Vorsichtsmassregeln gegen 
die russischen Saisonarbeiter. 

Zur Vermeidung der Choleragefahr und Choleraeinschleppung durch russisch¬ 
polnische Saisonarbeiter ist den Arbeitgebern zur Pflicht gemacht, dass sie jede 
unter solchen Arbeitern auftretende verdächtige Krankheit unverzüglich zur Anzeige 
bringen und die erkrankte Person, sofern sie derselben Wohnung zu gewähren 
haben, bis zum Eintreffen des beamteten Arztes in zweckmässiger Weise absondern, 
(cfr. Min.-Bl. 1906, No. 8, S. 181. 

Durch Erlass des Ministers für Medizinal-Angelegenheiten (I. V.: Dietrich) 
an die Herren Regierungspräsidenten vom 14. Mai 1906, betr. die Ausführung der 
bei den Stromüberwachungsstellen vorzunehmenden Desinfektion wird mitgeteilt, 
dass es nicht erforderlich ist, dass bei den Desinfektionen an den Stromüber¬ 
wachungsstellen stets staatlich geprüfte Desinfektoren zu verwenden sind, sondern 
dass in der Regel es genügt, nach den Erfahrungen an der Weichsel und Warthe, 
wenn zu diesen Vorrichtungen einfache Arbeiter (Bootsruderer und dgl.) heran¬ 
gezogen werden, (cfr. Min.-Bl. No. 11, 1906, S. 233.) 


Druck von L. Schumacher in Berlin N. 24. 


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I. Gerichtliche Medizin. 


9. 

Aus dem Institut für gerichtliche Medizin der Kgl. Universität 
zu Rom (Direktor: Prof. S. Ottolenghi). 

Histologische Studien und bakteriologische Versuche 

über Adipocire. 

Von 

Dr. Attilio Ascarelli. 

(Hierxu Tafel 1—IX.) 


I. Kapitel. 

Den Namen „Fettwachs“ oder „Verseifung“ haben die Verfasser 
einer eigentümlichen und charakteristischen Verwandlung gegeben, 
welche die Leichen der Menschen und der Tiere erleiden, wenn sie 
sich an feuchten Orten oder im Wasser befinden. Eine Hauptbedin¬ 
gung des Zustandekommens dieses Zustandes ist Mangel oder Karg¬ 
heit der Luft. Die Verseifung der Leichen ist seit langer Zeit bekannt, 
von ihr sprechen Chouret 1789, Güntz 1827, Orfila et Lerieur 
1832; nach dieser Zeit finden wir eine grosse Literatur, reich an 
Beobachtungen und Diskussionen. Das Phänomen ist nicht nur den 
Gelehrten bekannt, sondern auch dem Volke, und in der Tat wissen 
die Totengräber von einigen Stellen in grossen Friedhöfen, an welchen 
man bei Ausgrabungen sicher einen in Fettwachs verwandelten Leichnam 
findet. 

Das chemische, sowie das die Genesis betreffende und das biolo¬ 
gische Studium der Verseifung war für die Gelehrten von höchstem 
Interesse, aber trotz aller bisher ausgeführten Studien und Versuche 
(Lehmann [10], Kratter [7], Borri [1]) hat man bis heute nicht 
bestimmen können, welche spezielle biologische Tätigkeit fähig ist, 
den gewöhnlichen Fäulnisprozess zu hemmen und den Leichnam in 
Fettwachs zu verwandeln. 

Viertelj&hrssehrift f. ger. Med. a. Off. San.-Wesen. 3. Folge. XXXII. 2. 


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Dr. A. Ascarelli, 


Die Forscher haben sich bemüht, zwei Probleme, das Leichen¬ 
wachs bet reffend, zu lösen; das eine über die chemische Zusammen¬ 
setzung, das andere über die Genesis: d. h. ob eine wirkliche Um¬ 
wandlung der Albuminoiden in Fett möglich sei, oder ob man nicht 
lieber von einer Metamorphose in Fettwachs sprechen könnte, und 
zwar des blossen präformierten und präexistierenden Fettes der Leiche, 
an den gewöhnlichen Lagerorten desselben in einen chemisch gleichen 
Körper. 

Das erste Problem kann als völlig gelöst betrachtet werden, da 
die Mehrzahl darüber einig ist, dass das Fett wachs ein Gemisch von 
Fettsäuren (Palmitin-, Margarin-, Oleinsäure) und Seifen ist, welche 
genannte Säuren mit den Basen bilden (Kalk, Magnesia, Ammoniak, 
Soda oder Kalium). 

Was aber den zweiten Punkt anbetrifft, so ist man noch weit 
entfernt, eine Einigkeit erreicht zu haben. 

Hervorragende Autoren und Gelehrte sind auf dem einen wie 
auf dem anderen Felde vertreten. Ohne in das Studium der schwie¬ 
rigen und verwickelten Fragen einzudringen, welche bisher weder durch 
physiologische noch durch pathologische Studien gelöst sind, möchte 
ich hervorheben, dass man die Genesis des Fettwachses nicht auf die 
einzige Tatsache der Möglichkeit der Umwandlung der Albuminoiden 
in Fett beziehen, und wenn diese Möglichkeit zugelassen oder ausge¬ 
schlossen ist, das Problem der Genesis des Fettwachses als gelöst 
betrachten kann. Letzteres ist viel wichtiger als oben genanntes. 

Die in Fettwachs verwandelte Leiche, welche wir einige Monate 
nach dem Tode beobachteten, ist sehr lange, unter besonderen und 
noch nicht untersuchten Bedingungen, des Ortes und des Lichtes ge¬ 
wesen; die von uns untersuchten Gewebe bestehen aus Zellen, welche 
nicht mehr die biologische Tätigkeit der lebenden Elemente besitzen. 
Auf die Leiche haben die Mikroorganismen der Fäulnis gewirkt, und 
wir können nicht bestimmen, welchen Einfluss dieselben auf die Genesis 
des Prozesses gehabt haben. 

Das Fettwachs ist hinsichtlich seines Wesens und seiner Genesis 
in anderer Weise zu studieren, als die gewöhnlichen Probleme der 
Physiologie und Pathologie. 

Die Fragen, welche von den Verfassern bezüglich des Fettwachses 
wenig behandelt wurden und die, welche die Histologie der Gewebe 


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Histologische Studien und bakteriologische Versuche über Adipocire. 221 


betreffen, welche das Aussehen dieser neuen Substanz angenommen 
haben: 

In den vielen von mir studierten Arbeiten habe ich gefunden, 
dass nur Voit (21) und Borri (1) sich cinigermasscn mit dem bak¬ 
teriologischen Teil beschäftigt haben, sowie sie auch die Bildung des 
Fettwachses bei in Kalkwasscr gelegten Muskeln beobachtet haben, 
und Salkowski (13), welcher behauptet, dass die Fettwachsmassc 
bakteriologisch steril war, und Duc lau x (3) welcher sagt, dass sich 
kein Fettwachs entwickeln kann an einer von Mikroorganismen freien 
Stelle. 

Ebenso karg wie die bakteriologischen Arbeiten über Fettwachs, 
sind auch die histologischen, besonders die, welche die inneren Organe 
betreffen. 

Histologische Studien machte Slavik (14) 1901, welcher behauptet, 
dass man mikroskopisch den Rest einzelner Organe und Gewebe nacli- 
weisen kann; dann Borri (1) 1902, welcher die Muskeln noch er¬ 
kennbar fand; Hofmann (5) 1879 hingegen sagt nur, dass es unmög¬ 
lich sei, die Struktur der Organe mikroskopisch zu erkennen. Zillner 
(22) studierte an einer verstümmelten Leiche, welche im Januar 1883 
aus dem Don gezogen wurde. 

Mikroskopisch betrachtete der Verf. fast ausschliesslich frische Präparate. — 
Der Haut fehlte die Epidermis, nur die Netzschicht war ganz dünn, und die Haut 
bestand aus einem Gemisch von Fasern und Anhäufungen von Fettsäurokristallen; 
das Unterhautfett war erkenntlich an dem Gerüst der Bindegewebsfasern, deren 
Maschen ohne Fettsäurekristalle waren. In der Nähe der Gefässstämme beobaohtete 
Zillner eine pigmentartige Ablagerung, welche bei blossem Auge grau erschien, 
und mikroskopisch aus rhombischen Kristallen von 8—30 gebildet bestand. 

Das Muskelgewebe war nur in den Rücken- und Herzmuskeln erkennbar. 
Die inneren Gefässwände zerstört und das Lumen mit Fettsäuren und Pigmenten 
angefüllt. Die Darmwände aus gelblichen Fasern gebildet, ohne eine Spur Muskel¬ 
wand oder der Drüsen; das Parenchym zu einer körnigen, gelben Masse reduziert 
mit braunem Pigment. 

Man sieht wohl, dass die Beobachtungen Zillner’s mangelhaft 
und unvollkommen sind, und wenig Licht auf den histologischen 
Prozess der Adipocire werfen. — Etwas ausgedehnter ist die Arbeit 
von Kratter, welcher experimentelle Studien machte, aber er be¬ 
schränkte seine Versuche nur auf die Haut, Muskeln und Knochen. 

Auch er machte mikroskopische, meistens frische Präparate. Das Muskel¬ 
gewebe war unter dem Mikroskop durch eine Andeutung der charakteristischen 
Streifung erkennbar; die mikroskopischen Schnitte zeigten stets einen foinfaserigen 

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Dr. A. Ascarelli, 


Verlauf, und bei polarisiertem Licht geprüft gaben sie die bewussten charakte¬ 
ristischen Bilder. Mit Glycerin erschienen die Präparate wie aus vielen Schollen 
gebildet, zwischen welchen feine strahlige Kristalle waren, und hier und da waren 
die Schollen von Resten der Muskelfasern ersetzt, in welchen eine Streifung sichtbar 
war. Nachdem dünne Blättchen des Knochens gemacht waren, beobachtete Kratter 
zahlreiche Buchten mit adipösen Schollen und Kristallen unter normalem Knochen¬ 
gewebe, und er schliesst daraus, dass alle Hohlräume und Knochenröhrchen mit 
einer speziellen Form von Fettwachs angefüllt sind, welche noch die histologische 
Struktur des alten Gewebes erkennen lässt. 

Beim Studium der Adipocire der Haut beobachtete Kratter, dass dieselbe 
bis zum Chorion und subcutanen Gewebe reduziert ist. Das Chorion geht aus 
einer Faseranhäufung hervor, zwischen welcher man zahlreiche adipöse, meistens 
sphärische Schollen von strahliger Struktur sieht. 

Kratter beobachtete bei den Sektionen eine schwierige Färbung mit Karmin 
und Hämatoxylin. 

Die von dem deutschen Forscher gezogenen Schlussfolgerungen 
waren folgende: 

In allen untersuchten Geweben kann man nachweisen, dass die 
adipöse Substanz im allgemeinen an die Struktur des ursprünglichen Ge¬ 
webes erinnert. — Von besonderer Wichtigkeit für den Verf. ist der 
Befund von Muskelresten, und die zahlreichenüebergangsformen zwischen 
dem in Adipocire verwandelten Muskel und dem in Umwandlung be¬ 
griffenen, so dass die Frage des Ursprungs des Verseifungsprozesses 
seiner Meinung nach absolut durch das Mikroskop gelöst wird, und 
er bestätigt, dass seine Studien die Umwandlung der albuminoiden 
Substanzen in Fett deutlich bewiesen haben. 

Der Zweck dieser Arbeit ist nicht der von Kratter, d. h. 
durch das histologische Studium zur Genesis der Adipocire zu gelangen, 
sondern einen Beitrag zur Kenntnis der Gewebe der verwandelten 
Organe zu bringen, mit den zahlreichen Mitteln, welche die Mikro¬ 
chemie und besonders die histologische Technik im allgemeinen dem 
Forscher zu Gebote stellen, die viele Monate nach dem Tode von den 
Fasern und Zellen in einem gewissen Prozess, welcher keine Zerstörung 
der Materie, sondern eine spezielle und charakteristische Konservierung 
ist, erlittenen Veränderungen zu studieren; zu erforschen und zu be¬ 
stimmen, ob diese spezielle natürliche Veränderung der Leichen einer 
parasitischen, spezifischen, biologischen Tätigkeit zuzuschreiben ist, 
oder nicht. — Gerade dieser Teil fehlt im Studium der Adipocire; 
denn die bakteriologischen und die histologischen Arbeiten genügen 
nicht. — Die bakteriologischen, welche nicht neuzeitlich sind (sie 
stammen vom Jahre 1891), wurden ausschliesslich mit aerober 


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Histologische Studien und bakteriologische Versuche über Adipocire. 223 


Züchtung ausgeführt; bei den histologischen Studien wurde keines 
der zahlreichen technischen Mittel, mit denen sich die Histologie von 
1880—1885 so bereichert hat, die Zeit, aus welcher ungefähr die 
Arbeiten von Kratter und Zillner stammen, angewandt, und auch 
im Verhältnis der damaligen Studien wurde den histologischen Unter¬ 
suchungen nicht die Bedeutung gegeben, die sie verdienten. — In der 
Literatur fehlen sogar die kleinsten Andeutungen von Versuchen an 
den wichtigsten Organen, wie z. B. Darm, Magen, Niere usw. — 


Wir hatten Gelegenheit, drei Leichen in den verschiedenen Stadien 
der Verseifung zu untersuchen. 

Wir heben zuerst das makroskopische Aussehen hervor, welches 
die von uns studierten Leichen aufwiesen; sowohl bei der äusserlichen 
Untersuchung als bei der Autopsie werden wir die angewandten Me¬ 
thoden und die durch unsere histologischen und bakteriologischen 
Forschungen erhaltenen Resultate beschreiben. 

Indem wir diese Resultate zusammenfassen und analysieren, ver¬ 
suchen wir, die bakteriologische und die histologische Natur des 
Fettwachses genauer zu bestimmen. Wenn unsere Versuche einen 
Beitrag zur Genesis des Fettwachses brächten, wären wir doppelt 
erfreut, da wir auf diese Weise das uns gesetzte Ziel überschritten 
hätten. 

H. Kapitel. 

Makroskopische Untersuchung der 3 Fettwachsleichen. 

I. Fall. Vollständige Umwandlung in Fettwachs. 

Am 18. Oktober 1904 wurden in die Morgue des Institutes für gerichtliche 
Medizin Reste eines im Tiber gefundenen Leichnams gebracht. Diese Reste 
bestanden aus Teilen der Wirbelsäule, des Beckens, rechten Beins, rechtem Fuss 
(vom Bein getrennt), Knochen des linken Beines. — Von der Wirbelsäule waren 
nur die letzten Wirbel vorhanden, deren Wirbelknochen fast ganz von einander 
gelöst und nur im hinteren Segment vereinigt waren (Taf. I, Fig. 1). 

Nachdem die Leiche entblösst war, erschienen die Knochen an vielen Stellen 
ohne Weichteile. Was vom Schenkel und vom rechten Bein ganz geblieben, war 
hellgelb, an einigen Stellen weisslich gefärbt. Die äussere Oberfläche war marokko¬ 
lederartig, nachgiebig beim Druck, sehr zerbrechlich, fettig und stark sauer 
riechend. 

Der rechte Fuss, welcher vom Rest des Körpers abgelöst war, erschien als 
eine weisse, krümelige und fettige Wachsmasse (Taf. I, Fig. 4). Nach einem 


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Dr. A. Ascarelli, 

Schnitt durch die ganze Dicke, in Korrespondenz der III. Schicht des linken 
Schenkels, beobachteten wir, dass der Schnitt wie aus vielen Schichten gebildet 
aussah. Die erste, aus Haut und Unterbaut bestehende, fest untereinander ver¬ 
bundene, wie aus vielen dünnen übereinanderliegenden Schichten, wie die Blätter 
einer Zwiebel, alle zusammen steif wie Leder und von ca. 1 cm Durchmesser; 
die zweite Schicht durch die Muskeln gebildet, welche eine ins Graue gehende 
Farbe angenommen haben. 

Man erkannte die Muskeln makroskopisch an ihrer Faserstruktur, sie waren 
bei Berührung sehr fettig und in Wasser gelegt, hinterliessen sie sehr viele 
Fettröpfohen. Im Zentrum des Schnittes erschien der Knochen, dessen Mark¬ 
höhle mit einer weichen, fettigen, schwimmenden Substanz angefüllt war, welche 
beim Hineinstechen mit einer Nadel den Eindruck einer Buttermasse machte. 

Der Widerstand der Knochen war vermindert, aber nicht verschwunden und 
es gelang nicht, dieselben mit einem Messer zu durchschneiden (dasselbe beob¬ 
achtete Kratter bei Adipocireknochen). 

Bei den zur Identifizierung gemachten Studien konnten wir uns überzeugen, 
dass es sich um einen 15jährigen mageren Knaben handelte, dessen Leiche un¬ 
gefähr 1 Jahr unter Wasser gewesen war. 

II. Fall. Unvollständige Verwandlung in Fettwachs. 

Am 14. Dezember 1904 sahen einige Bootsleute eine Leiche an der Ober- 
lläche der Tiber schwimmen; sie wurde aus dem Wasser gezogen und zur Erken¬ 
nung in die Morgue gebracht. 

Die Leiche war vollständig von schmutziggelber Farbe; die Hautober- 
lläche, besonders an den Gliedern und am Thorax, hatte ein Aussehen wie Ma¬ 
rokkoleder. Die Haut war von der ganzen Körperoberfläche verschwunden, ebenso 
die Nägel. Die Leiche hatte einen sauren Geruch, wie verdorbener Käse. 

Das Gesicht war unkenntlich, wie aus Taf. I, Fig. 4 ersichtlich. 

Was die Besonderheiten betrifft, welche bei der Autopsie auftraten, wird der 
Leser auf die histologische Beschreibung der einzelnen Organe und Gewebe ver¬ 
wiesen, in welcher auch das makroskopische Aussehen angedeutet wird (Herz wie 
in Taf. I, Fig. 5). 

Wir heben aus der äusseren und inneren Untersuchung nur hervor, dass es 
sich um eine kleine, nicht fette männliche Leiche zwischen 20 bis 40 Jahren 
handelt. 

III. Fall (Taf. I, Fig. 3). Beginn und teilweise Verwandlung in 

Fettwachs. 

Am 15. Mai 1904 wurde aus dem Tiber die Leiche einer Frau gezogen und 
in die Morgue des Institutes für gerichtliche Medizin gebracht. 

Die Leiche zeigte bei der äusseren Betrachtung ein ganz ungleiches Aus¬ 
sehen aller Regionen; während das Gesicht aschgrau war, erschien die Haut mit 
kleinen Kugeln besetzt, welche durch leichte Einsenkungen von einander getrennt 
waren; die Thoraxoberlläche war glänzend, glatt und ohne jegliche kugelige Er¬ 
hebung, von grünlicher Farbe mit rotgelben Flecken. Auf dem Bauch hingegen, 


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Histologische Studien und bakteriologische Versuche über Adipocire. 225 

am rechten Bein hinten hatte die Haut das charakteristische Aussehen des Ma¬ 
rokkoleders (Fig. 6). Die Kugeln waren von verschiedener Grösse, von einem 
Hirsekorn bis zu einer kleinen Erbse und auf der Oberfläche wie zahlreiche Beulen 
hervortretend. 

Die Haut des linken Beines zeigte bei der genauen Abgrenzung des Stumpfes 
dasselbe Bild wie der Thorax. Von den oberen Gliedmassen war die linke dem 
rechten Beine gleich, die rechte der Haut der Bauchgegend. Bei Berührung war 
die Oberfläche der Haut überall fettig, aber während sie an den Stellen, an 
welchen sie ein marokkolederähnliches Aussehen hatte, hart und lederartig war 
und so gespannt, dass sie sich beim Beginn des Ablösens wie ein Stück Pappe 
hob, war sie an andern weich und schlaff und hinterliess die Spuren des Finger¬ 
druckes. Die Epidermis fehlte am ganzen Körper und von den Nägeln war keine 
Spur mehr vorhanden. Die Leiche hatte einen ekelerregenden Geruch, welcher an 
den Geruch von ranzigem Käse und an vorgeschrittene Leichenfäulnis erinnerte. 

Das Gesicht war unkenntlich, die Augenhöhlen fast leer, die weiohen Nasen- 
theile verschwunden, so dass man die entblössten Nasenknochen sah. Auch der 
obere Kiefer war teilweise entblösst. Die Leiche hatte deshalb äusserlich ganz 
verschiedenes Aussehen, je nach den verschiedenen Regionen; an einigen trat der 
gewöhnliche Verwesungston im grünen Fäulnisstadium und Emphysem auf 
(Thorax, linkes Bein), an anderen (Bauch, rechtes Bein, Schenkel), das Aussehen 
der Verwandlung in Fettwachs, noch in andoron das Stadium der Fäulnis und 
des Fettwachses (Gesicht, obere Gliedmassen). Die in Fettwachs verwandelten 
Teile entsprachen den entblössten oder wenig bekleideten Teilen, während die 
verwesten denen entsprachen, welche vom Schnürleib (Thorax) und von den 
Strümpfen und Schuhen (Bein und linker Fuss) eingeengt waren. An den Teilen, 
an welchen die Kleidung nicht ganz der Haut anliegend war, trat die Adipocire 
nur teilweise auf (obere Glieder). Bei der Autopsie wurdo in den inneren Organen 
nur der gewöhnliche Verwesungston, im Stadium von Emphysem und in dem der 
beginnenden Auflösung gefunden. 

III. Kapitel. 

Histologische Untersuchungen. 

a) Untersuehungsmethoden. 

Wir halteu es für nützlich, in einem Kapitel alle verschiedenen 
angewandten Untersuehungsmethoden zusammenzufassen, sowie die in 
allen Geweben angetroffenen technischen Schwierigkeiten. Hei der Be¬ 
schreibung der einzelnen Organe werden wir dann die besondere 
Technik, welche jedem einzelnen Organ eigen ist, hervorheben. 

Konservierung und Fixierung der Stücke. Die Leichenstücke 
wurden fixiert in: 

a) Formalinlösung (im Handel 5 pCt.), 

b) Alkohollösung (0,70 pCt.), 

c) Müllerscher Flüssigkeit, 

d) Flemming.scher Flüssigkeit. 


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226 


Dr. A. Ascarelli, 


Die in Formalin bewahrten Stücke wurden mit Gefriermikrotom geschnitten; 
ebenso worden Schnitte von kleinen Leichenstückchen ausgeführt und bis zum 
Augenblick der Sektion in destilliertem Wasser gehalten. 

Einbettung. Die Einbettungsmethode war die mit Paraffin und mit ge¬ 
wöhnlicher Technik ausgeführt. 

Gefrierschnitte. Nichts von Bedeutung wurde bei der Gefrierung des 
Stückes gefunden; der Schnitt wurde schwieriger, man hatte das Gefühl, Wachs 
zu durchschneiden; der Schnitt zerbröckelte mit grosser Leichtigkeit. 

Die Schnitte wurden mit Sudan III gefärbt, mit Hämalaun Meyer, mit 
Sudan und Hämalaun. Man traf auf grosse Färbungsschwierigkeiten bei jeder der 
genannten Substanzen. Sudan färbte erst nach 24 Stunden und nicht in Ver¬ 
hältnis zur Quantität des Fettes, aber sozusagen mit der Qualität, denn dieselbe 
Färbungsscbwierigkeit zeigte sowohl das subkutane Gewebe, als die Haut, der 
Muskel und das Herz, welches das Aussehen eines fettigen Stückes hatte, und 
dio Sehnen z. B., welche garnicht oder sehr wenig verseift waren. 

Die besten und auch die beweisendsten der mit Gefriermikrotom ausge¬ 
führten Präparate gelangen bei Vereinigung der beiden Färbungen von Sudan und 
Hämalaun, mit welcher Methode die fetten Teile sich sehr gut von den nicht ver¬ 
seiften unterschieden, und man sah alle Farbentöne, von dem Hochrot des Fettes, 
welches nicht die charakteristische Färbung des Sudan angenommen hatte, und 
dem der elastischen und Bindegewebssubstanz, welche durch die blaue Farbe des 
Hämalaun hervortrat. 

Wir haben jene Teile als saponifiziert erklärt, welche die chemische Re¬ 
aktion des Sudan positiv gegeben hatten, und als nicht verseift die andern; ent¬ 
sprechend der mehr oder weniger vorgeschrittenen Verseifung, der stärkeren oder 
geringeren Rotfärbung, welche dem Sudan III eigentümlich ist. 

Einbettungs präparate. 

Die verschiedensten Färbungsmethoden wurden angewandt: Hämalaun 
Meyer-Eosin und Erythrosin, Hämatoxylin-Eosin und Erythrosin, Karmin-Pikrin¬ 
säure, Safranin-Pikrinsäure, auch einfache Färbungen mit saurem Fuchsin, Gen- 
zian-Lila, Eisen-Hämatoxylin usw. 

Als spezielle Färbung benutzten wir Weigerts Lösung für die elastischen 
Fasern und die Lösung van Giesons für die Bindegewebsfasern. 

Bei allen Farbstoffen begegneten wir einer grossen Schwierigkeit in verschie¬ 
denen Graden, je naoh dem Farbstoff. Eine andere nennenswerte Tatsache ist 
folgende: Bei den doppelten Färbungen unterschied man nie die zwei Farben, 
sondern man erhielt eine gemischte unbestimmte Farbe, welche z. B. etwas vom 
Blau des Hämalauns und etwas vom Rot des Eosins hatte, hie und da mit Flecken 
gefällter Farbe, so dass zu unserem Zweck die einfachen Färbungen mit starken 
Farben angezeigter waren. — Am besten entsprachen das Fuchsin und das 
Hämalaun. Weigerts Lösung färbte nicht nur die elastischen Fasern, sondern 
den ganzen Schnitt, die elastischen Fasern nahmen das charakteristische Blau 
Weigerts an, das übrige eine bläuliche Färbung, welche an verschiedenen 
Stellen verschieden war. Nach alledem können wir sagen, dass die Färbungs¬ 
substanz und besonders die nukleären Farben, wie Karmin, Hämatoxylin usw., 


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Histologische Studien und bakteriologische Versuche über Adipocire. 227 


nicht als chemische Affinität auf das mit ihnen in Berührung gebrachte Gewebe 
wirkten, sondern mittelst Durchtränkung. 

Nicht alle Gewebe verhielten sich gleich, und während es bei einigen nicht 
gelang, sie mit gewöhnlichen Farben zu färben (Haut, Herz), färbten andere sich 
leichter (Muskeln in der nahen Knochenschicht, Sehnen, Nieren usw.), und die 
Schwierigkeit der Färbung stand in direktem Zusammenhang mit dem Versei¬ 
fungsgrad, so dass wir bei der Ausführung der Präparate sohon einen ziemlich 
richtigen Begriff von dem Fettwachsgrade der Gewebe hatten. 

Für das zentrale und peripherische Nervensystem haben wir ausser den ge¬ 
nannten Methoden auch die rapide Osmium-bichromische Durchtränkungsmethodo 
von Golgi benutzt. In dieser letzten sind wir keinen besonderen technischen 
Schwierigkeiten begegnet. 

Für die durch Fixierung in Flemmings und Müllers Flüssigkeit ge¬ 
härteten Präparate trat nichts von Bedeutung auf hinsichtlich der Fixierung und 
Einbettung, für die Färbung hingegen die gleichen sohon beschriebenen Schwie¬ 
rigkeiten. Die Schnitte der in Flemming fixierten Stücke konnte man ohne jede 
besondere Färbung untersuchen. 

Ausser den genannten Untersuchungsmethoden haben wir an den Muskeln 
und am Herzen die besonderen Eisenreaktionen ausgeführt, und zwar die Reaktion 
von Perls mit Ferrozyankalium und Chloräure, und die von Quincke mit 
Schwefel-Ammon. — Diese Reaktionen wurden angewandt, um die Gegenwart 
einer pigmentierten Substanz zu studieren und zu definieren, welche wir im 
gestreiften Muskelgewebe fanden. 

Es sei bemerkt, dass diese Reaktionen negativ ausfielen. 

Die zahlreichen angewandten Untersuchungsmethoden sowohl für die Fixierung, 
als auch für die Färbung der Stücke, Methoden, welche man als Kontrollmethoden 
unter einander betrachten kann, bestätigten unsere erlangten Resultate, über welche 
wir im folgenden Teile sprechen werden. 

b) Beschreibung der Präparate. 

Wir werden jetzt darüber sprechen, wie sich die Organe und 
Gewebe, welche mehr oder weniger vollständig verseift waren, bei 
unserer Untersuchung präsentierten. 

Zum Studium der inneren Organe hatten wir die Eingeweide zur 
Verfügung, welche bei der Autopsie des 2. Falles herausgenommen 
waren. Unter dem Mikroskop sahen wir in allen Organen interessante 
und vielfältige Eigenheiten, auch über den Grad und die Art der 
Verseifung, welche bei der äusseren Betrachtung nicht geschätzt 
werden konnten und die bis jetzt weder hervorgehoben noch studiert 
wurden. 

Haut. 

Wir erinnern daran, wie die Haut in allen Fällen, aber beson¬ 
ders im 2. und 3., das typische Aussehen des Marokkoleders hatte; 


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Dr. A. Ascarelli, 


sie war hart, steif und beim Berühren fettig und erinnert so an das vom 
Verf. beschriebene Charakteristische der Fett wachshaut. Wir haben 
das Hautgewebe aller drei Leichen studiert und bei diesem Studium 
hatten wir nicht allein den Zweck im Auge, die Histologie des Ilaut- 
fettwachses zu bestimmen, sondern auch zu erforschen, woraus die 
kugeligen Erhebungen, die der Haut das charakteristische Aussehen 
des Marokkoleders gaben, gebildet waren und was sie vorstelllcn, 
wofür noch kein Verf. eine genügende und genaue Erklärung ge¬ 
geben hat. 

Und da die Histologie des Hautfettwachscs und die Bildung und 
Ausbreitung dieser Auswüchse sehr intim untereinander verbunden 
sind, so halten wir es für logisch, die zwei Fragen in einem einzigen 
Kapitel zu vereinigen. 

Beim mikroskopischen Studium der Haut beobachteten wir, dass jeder dieser 
Auswüchse aus einer Fettanhäufung gebildet und von einer Schale, einer nicht 
adipösen, krümeligen, schmierigen Substanz bedeckt war, welche das Aussehen 
einer mazerierten Haut hatte. Das Vorhandensein dieser Schale, d. h. der Hülle 
dieser Auswüchse, konnte mit Leichtigkeit bewiesen werden, wenn man sie mit 
sehr spitzer Schere an der Basis abschnitt und dann eine dünne Sonde in den 
Schnitt einführte; so gelang es, die Beule zu entschoten und auf diese Weise eine 
dünne hemisphärische Schale, ähnlich der eines Hanfsamens, zu erhalten. So¬ 
wohl die Schale, als auch der Inhalt wurden in verschiedener Weise behandelt. 
— Wir sagten, dass der Inhalt wie reines Fett erschien und dafür erhielten wir 
den mikroskopischen und chemischen Beweis; mikroskopisch, weil der Gefrierungs- 
schnitt, mit Sudan III gefärbt, die perfekte Struktur des adipösen Gewebes zeigte, 
chemisch, woil diese Massen sich in den Fettlösungsmitteln lösten (Aether, Xylol, 
Chloroform). 

Wir richteten daher unsere besondere Aufmerksamkeit nur auf die Schale 
und machten viele Versuche, unter Anderem: 

I. Versuche an frischen Präparaten. 

a) Quetschung der Hülle zwischen zwei Glasplättchen; zu einigen Präpa¬ 
raten wurden einige Tropfen Glyzerin zugefügt, anderen Essigsäure, zu noch an¬ 
deren physiologische Kochsalzlösung. — Diese Präparate zeigten bei starker Ver- 
grösserung (am deutlichsten in denen mit Zufügung von Glyzerin), eine enorme 
Anhäufung von nadelförmigen Bildungen, bald in Büschel vereinigt, wie Eisen¬ 
feilspäne an der Spitze eines Magnetes, bald vereinzelt, immer wohl erkennbar als 
Fettsäurekristalle. — Ausser diesen nadelförmigen Bildungen beobachtete man, 
besonders in den Präparaten, welche eine leichte Quetschung erlitten hatten, eine 
reichliche Anzahl kleiner Kugeln, mit einem mehr lichtbrechenden Umriss als 
der Inhalt, von verschiedenen Dimensionen, von einem roten Blutkörperchen bis 
zu einer Eizelle; einige von einer stark lichtbrechenden Körnung angefüllt, einige 
vakuolisiert, andere nicht. Die Vakuolen hatten meistens deutliche Umrisse, bald 


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Histologische Stadien und bakteriologische Versuche über Adipocire. 229 

waren sie einzeln, bald mehrfach vertreten. £inige dieser Körperchen erschienen 
ganz mit Fettsäurekristallen angefüllt, in andern waren die Kristalle an der Peri¬ 
pherie angehäuft, ihrem Aussehen nach, einem Seeigel ähnlich. Im Präparat be¬ 
obachtete man noch Ranken- oder Büschelkristallbildungen von verschiedener 
Grösse, aber alle rankenförmig, welche das Aussehen von Magnesiumsulfat¬ 
kristallen oder von biphosphorsaurem Kalk hatten. 

Zwischen diesen beschriebenen Bildungen beobachtete man mehr oder we¬ 
niger unter einander gruppiert, aber auch vereinzelt, eine sehr reiche Anzahl 
Gewebsfasern verschiedener Grösse, bald mit deutlichem Rand, geradlinig, ganz 
hyalin, bald sehr feine und sehr kleine Körnung enthaltend. Die Grenze dieser 
Fasern zeigte oft eine unterbrochene Kontinuität (Taf. II, Fig. 1). 

b) Ausser diesen Versuchen machten wir Präparate durch Quetschung, Zer- 
reissung und mit verschiedenen Färbungen, legten die Hüllen in verschiedene 
fettlösende Mittel, indem wir diese bei Kälte und Wärme wirken Hessen und be¬ 
obachteten, dass sie sich nicht lösten. 

II. Hautpräparate, bei Gefrierung geschnitten und mit Sudan III 

gefärbt. 

Mit dieser Technik wurden sowohl Schnitte der ganzen Haut, als auch der 
blossen Beule ausgeführt. Bei ersteren beobachtete man einen Rinden- und einen 
Zentralteil. Der Zentralteil war ein mehr oder weniger grossmaschiges, mit Fett 
angefülltes Netz, an dem subkutanen Hautgewebe erkennbar, und zeigte keine be¬ 
merkenswerten Eigenschaften. 

Mit diesem Teil vereint war die Rindenhaut, welche aus einem dichten Ge¬ 
liecht sehr feiner Fasern bestand, die nach allen Richtungen ausliefen. Diese 
Fasern waren stark lichtbrechend und zwischen einer und der andern hatte das 
Sudan die Zwischensubstanz, welche man an einigen Stellen angehäuft sah, 
gelbrot gefärbt (Taf. III, Fig. 1). 

Nun wurde dieses enge Bündelnetz, welches unter einander verflochten war 
und hie und da Räume bildete, dio mit einer Substanz angefüllt waren, welche 
die rote Färbung des Sudan gut angenommen hatte und unter welcher sich adi¬ 
pöse Gewebe befanden, als Derma anerkannt, welches, wie bekannt, aus solcher 
Bildung besteht; die in Rot gefärbte Substanz, sowie der Rest der Dermadrüsen, 
welche die Verseifung erlitten hatten und teilweise auch die Lappen und Fett¬ 
läppchen, welche die kleinen Flächen der unteren Hautfläche ausfüllten. 

Als Schnitte in Korrespondenz der Hautkugeln, welche, wie schon mehr¬ 
mals bemerkt, die Adipocire charakterisieren, gemacht wurden, überzeugten w’ir 
uns durch die mikroskopische Untersuchung von dem Mechanismus der Bildung 
und der Substanz dieser Kugeln. 

Es wurden sowohl senkrechte, als auch tangentiale Schnitte an der Haut¬ 
oberfläche gemacht. Die am meisten beweisbaren waren die senkrechten Schnitte. 
Die Hautkugel zeigte sich aus einer äusseren Hülle gebildet, welche aus einem 
Geflecht von Bindehaut und elastischen Fasern bestand, die nach allen Rich¬ 
tungen verliefen und in welches sich das subkutane adipöse Gewebe hineindrängt. 
Die äussere Fläche der Hülle war an einigen Stellen mit sehr kleinen Erhebungen 
versehen und wurde als Ueberrest der Dermapapillen erklärt. Die Hülle setzte 


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sich nach unten fort, bildete allein den Zwischenraum zwischen einem und dem 
anderen Vorsprung, um sich dann zu erheben und die Hauthülle des nächsten 
Hügels zu bilden. — In dem Raum zwischen einem und dem andern Vorsprung 
beobachteten wir, dass die Dermaschicht spindelförmig war, das heisst dünner 
an den Enden als im Zentrum, als ob sie an beiden Enden ausgezogen wäre 
(Taf. II, Fig. 2). 

Um nun unseren Erklärungen eine Bedeutung zu geben, so sind wir über¬ 
zeugt, dass die Hautboulen der Adipocire aus dem Derma gebildet sind, welches 
nach oben gedrängt wurde, sich verbreiterte und gezwungen war, an einigen 
Stellen der Hautoberfläche einen Durchbruch zu gestatten für das subkutane adipöse 
Gewebe, welches, sich nach oben drängend, die elastischen und Bindegewebsfasern 
verfeinert und ausdehnt, die dem Druck mehr oder weniger widerstehen und 
je nach ihrem Widerstandsexponenten und ihrer Elastizität die charakteristischen 
Hervorragungen bilden. 

Adipöses subkutanes Gewebe und Aponenrose. 

Von diesem Gewebe haben wir Schnitte bei Gefrierung ausgeführt und 
Färbung mit Sudan III. Das Fett war normal vorhanden; bemerkenswert ist aber, 
dass auch in diesem Fall das Sudan sehr langsam reagierte. 

Unter der Fettschicht beobachtete man die aponeurotische Schicht wie ein 
enges, feinfaseriges, lichtbrechendes, farbloses Geflecht (Taf. III, Fig. 2). 

Knochen. 

Zur Untersuchung des Knochengewebes haben wir uns des Schenkelknochens 
und des Schienbeins der ersten Leiche bedient, welche das Aussehen einer voll¬ 
ständigen Verseifung hatten. — Makroskopisch erschien der Knochen ohne Knochen¬ 
haut, der Markkanal halb mit einer butterigen, weissen, krümeligen Substanz von 
nicht ganz normaler Konsistenz angefüllt. Mikroskopisch hingegen war nichts 
besonderes geboten. 

Wir fanden weder die Fettsäureanhäufungen in den Haversischen Kanälchen, 
noch die von normaler Knochensubstanz begrenzten Buohten von Kristallanhäu¬ 
fungen und von amorpher Substanz angefüllt, wie es Kratter beschrieben hat. 

Die untersuchte frische Marksubstanz erschien grösstenteils aus Fetttröpfchon 
gebildet, aus Fettsäureschollen, aus sphärischen und stachlichen Körperchen, ähn¬ 
lich den in der Hautadipocire untersuchten und beschriebenen. 

Sehnen. 

Nur einige Worte über die Sehnen. Zur Untersuchung derselben 
bedienten wir uns der Strecksehnen des Fusscs vom ersten und zweiten 
Leichnam. Das makroskopische Aussehen glich dem normalen, abge¬ 
sehen von einer gelblich-weisscn Farbe ohne den gewöhnlichen Glanz 
der Sehne und einem fettigen Gefühl, welches man bei der Berührung 
empfand. 


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Histologische Studien und bakteriologische Versuche über Adipocire. 231 

Mikroskopisch sind die einzigen, nioht mehr bemerkbaren Sehnenelemente, 
auch wenn die Präparate mit Silbersalzen durchtränkt werden, die Endothelien- 
schicht, welche die Sehno gewöhnlich an ihrer Oberfläche zeigt, und die Stern¬ 
zellen. — Der fibröse Teil des Gewebes und auch der elastische sind gut erhalten. 
Die bei Gefrierung ausgeführten und mit Sudan III behandelten Schnitte haben 
die Sudanfärbung nicht angenommen, sondern eine rosige, verblasste, gleichmässige 
Farbe. Wir können deshalb sagen, dass in der Sehne eine Hemmung des Fäulnis¬ 
prozesses stattgefunden hat (Tamassia beobachtete, dass am 75.Tage das Sehnen¬ 
gewebe ganz zerstört war), aber der Verseifungsprozess hat noch nicht begonnen. 

Muskeln. 

Makroskopisch waren die Muskeln im ersten Falle auf der ganzen 
Schicht von der Haut bis zum Knochen von einer einförmigen grauen 
Farbe; im zweiten Falle, in welchem die Adipocire weniger vorge¬ 
schritten war, war statt dessen die Muskelschicht in der Nähe der 
Haut von einförmiger, grauer Farbe, während die Schicht neben dem 
Knochen das Aussehen gewaschenen Fleisches hatte und die fibrilläre 
Struktur deutlicher war. 

Die histologischen Studien an den Muskeln wurden sowohl im ersten als im 
zweiten Falle ausgeführt und von beiden wurden Serienpräparate gemacht. Die 
Muskelmasse wurde der ganzen Dicke nach durchschnitten im mittleren Drittel 
des Schenkels, indem man einen Muskelzylinder entnahm, welcher das subkutane 
Gewebe als obere, den Knochen als untere Basis hatte. Dieser Muskelzylinder 
wurde in fünf Würfel von je y 2 cm Dicke geteilt, jeder einer Serie entsprechend, 
welche wir in der Folge beschreiben werden. — Aber während diese Serien¬ 
präparate im ersten Falle wenig verschieden von einander ausfielen, fand man 
hingegen im zweiten Falle mehr akzentuierte, von der Oberfläche naoh unten 
gehende Veränderungen. 

Was die Technik betrifft, muss bemerkt werden, dass die Schwierigkeiten 
der Färbung viel grösser in der Nähe der Haut waren, als in den Schnitten in der 
Nähe des Knochens. 

Um die Beschreibung abzukürzen, werden die Präparate illustriert werden 
und in zwei Kapitel zusammengefasst, d. h. Präparate in Einschliessung und 
frische Präparate. 


I. Einbettungspräparate. 

I. Serie: Gleich unter dem Fettgewebe (Taf. IV, Fig. 1). Der Muskel ist 
an der Anordnung der aneinanderliegenden Fasern erkennbar, zwischen welchen 
man Bindegewebsranken sieht. 

Bei Beobachtung jeder dieser Fasern mit Immersions-Objektiv sehen wir, wie 
jede Faser einen wenig unterbrochenen Umriss hat, welcher stärker gefärbt ist als 
der Inhalt, der sich fein punktiert zeigt. Die Punktierung ist nicht unregelmässig 
verteilt, sondern auf eine Weise, dass Streifen mit unterbrochenen Linien entstehen, 
sowohl Längs- als Querstreifen. — Die Querstreifung ist deutlicher als die Längs- 


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Dr. A. Asc-arelli, 


stroifun^. Die Andeutung der Streifung ist sichtbarer an den Rändern der Faser 
als im Zentrum. 

Bei den Schnitten mit Fixierung in Flemmings Flüssigkeit fanden wir 
ausser dem oben Gesagten sehr zahlreiche, durch Flemming tiefschwarz ge¬ 
färbte Punkte, welche keine besondere Anordnung haben, sondern über die ganze 
Faser zerstreut und von verschiedenen Dimensionen und sphäroider Form sind. 
Solche Punkte erkennt man als Fettschollen nach der charakteristischen Reaktion 
der Osraiumsäure. 

Serie II (Taf. IV, Fig. 2). Die Muskelstruktur ist deutlicher erkennbar, be¬ 
sonders die Querstreifung der einzelnen Fasern, und die Streifen erscheinen mit 
wenig unterbrochener Kontinuität. 

Bei diesem Präparat ist es wichtig, das Erscheinen eines aus kleinen runden 
Körperchen gebildeten Pigmentes von gelblicher Farbe und fast alle untereinander 
gleich, die Grösse eines Mikrokokkus wenig überragend, zu beobachten. Die pig¬ 
mentierten Stellen sind in ihrer Farbe durchaus nicht von der färbenden Lösung, 
welche auf den histologischen Schnitt gewirkt hat, verändert. Was die Verteilung 
anbelangt, so waren sie meistens zu Haufen an einigen Stellen der Faserperipherie 
und besonders da, wo man gewöhnlich die Kerne antrifft, gruppiert. Ausserhalb 
der Faser sieht man keine. Dies Pigment ist reichlicher und sichtbarer in den 
muskulären Fasern und verhältnismässig besser konserviert, während es in denen 
mit unsichtbarer oder kaum sichtbarer Streifung (wie in den Präparaten der 
I. Serie) nicht bemerkbar ist oder nur sehr geringe Spuren auftreten. 

Der Lage und dem Aussehen nach kann dies Pigment mit dem verglichen 
werden, welches man in der braunen pigmentären Atrophie des Herzens findet. 

Auch in den Schnitten nach Fixierung in Flemming ist das Pigment 
sichtbar, und es hat durchaus nicht die Osmiumsäure-Reaktion erlitten. 

Man erkennt hier die Fettschollen wie in den Präparaten der ersten Serie, 
aber kleiner und weniger zahlreich. 

III. Serie (Taf. IV, Fig. 3). Die Muskelstruktur wird immer deutlicher. 
Einige Fasern zeigen Querstreifung und auch eine Andeutung zur Längsstreifung; 
einige andere sind wie in viele übereinander liegende Scheiben verteilt und von 
einem dünnen, leeren Raum getrennt. — In einigen Disken erkennt man die 
Streifen, andere haben ein körniges Aussehen angenommen, und man kann die 
Körner wohl voneinander unterscheiden, ln derselben Faser ist oft in einem Teil 
die Diskenbildung evident, in einem anderen die Streifung. 

Das in den Präparaten der zweiten Serie beschriebene Pigment ist hier auch 
vertreten, und zwar reichlicher, so dass hier Fasern sind, welche, wie man sagen 
kann, einen pigmentierten Umriss haben. 

ln den Flemmingschen Präparaten sind die Fettschollen weniger. 

IV. Serie (Taf. IV, Fig. 4). Hier behält der Muskel seine Struktur bei. — 
Nur in wenigen Fasern sieht man die Querstreifung nicht deutlich, während man 
in vielen die Längsstreifung deutlich erkennt. Die Faser ist nicht zerstückelt, so 
dass man sie unter dem mikroskopischen Felde auf eine ziemlich weite Strecke 
verfolgen kann, und das Ende ist fast immer glatt geschnitten und nicht aus¬ 
gefasert, wie in den vorigen Schnitten. Auch in den Querschnitten des Muskels 
ist die Streifung deutlich erkennbar; die verschiedenen Fäserchen sind zuweilen 


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Histologische Studien und bakteriologische Versuche über Adipocire. 233 

zu Bündeln vereint, und in einigen Fasern ist eine Andeutung der sogenannten 
Cohn heim sehen Felderbildung. Hier ist das Pigment sehr vermindert, das wenige 
existierende bietet stets das gleiche Bild. 

V. Serie (Taf. IV, Fig. 5). In diesen Präparaten würde die Muskelfaser 
normal erscheinen, wenn die Aufmerksamkeit des Beobachters nicht durch die voll¬ 
ständige Abwesenheit der Kerne überrascht wäre. Die Struktur ist so deutlich, 
dass die Schnitte erscheinen, als wären sie ausgeführt, um die histologische Bil¬ 
dung des Muskels so evident als möglich zu machen. Die Querslreifen sind so 
erkennbar, dass sie wie von einander getrennt scheinen, und man sieht die Ab¬ 
wechslung von mehr oder minder leichtbrechenden Streifen, die einep mehr, dio 
anderen weniger intensiv. — Bei genauer Beobachtung sieht man, dass in einigen 
Fasern jeder Streifen wieder von Amicischen oder von Hensenschen Streifen 
durchsetzt ist. 

Hier und da findet man in den Schnitten Spuren des vorher genannten gelben 
Pigments. 

In den in Flemming fixierten Schnitten beobachteten wir auch die perfekte 
Konservierung der Streifen, nur die Fettschollen sind in diesen Präparaten sehr 
karg. Sie treten als sehr seltene, über die ganze Faser zerstreute Pünktchen auf, 
ohne eine besondere Anlage und besonderes Aussehen anzunehmen. 

Wenn wir die Ergebnisse der histologischen Untersuchung der 
muskulären Schnitte mittels Einbettung zusammenfassen, so haben wir: 

1. Färbungsschwierigkeit, welche sich von der Hautoberfläche 
nach dem Knochen zu mehr und mehr verringert. 

2. Histologische Struktur, welche immer deutlicher von der Ober¬ 
fläche nach der Tiefe wird. 

3. Vorhandensein einer pigmentierten Substanz, welche bei der 
II. Serie unserer Präparate beginnt, um sich in der II1. zu 
vermehren und sich dann wieder zu vermindern, bis nur 
Spuren im Schnitt in der Nähe des Knochens bleiben. 

4. Vorhandensein von Fettschollen, welche durch Flemmingsehc 
Flüssigkeit hervortreten und sich in Ausdehnung und Grösse 
von der Oberfläche zur Tiefe vermindern. 

Frische Präparate. 

Auch von diesen machten wir Serienschnitte, werden abor nicht den histo¬ 
logischen Befund jeder Serie angeben, sondern nur die Synthesis unserer Beob¬ 
achtungen. 

a) Präparate durch Zerreissung und Entfaserung. 

Wir beobachteten die Roste der Muskelfaser, die leicht erkennbar an einer 
deutlichen Streifung war, welche einige Fasern durchfurchten, besonders in der 


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Nähe der Ränder. Diese Streifang erschien deutlich aus vielen nahe bei einander 
liegenden Pünktchen gebildet, sowohl in Längs- als auch in Querserien. Mitten 
in diesen Faserresten, welche immer zahlreicher, evidenter und besser konserviert 
waren, beobachteten wir, indem die Schnitte von der Oberfläche zur Tiefe ge¬ 
macht wurden, gruppirte und regelmässig in an einander liegende Serien ange¬ 
ordnete Massen. In unseren Schnitten beobachteten wir jede Uebergangsstufe der 
muskulären deutlich gestreiften Faser bis zur vollständig homogenen Scholle. 
Ausserdem bemerkten wir, dass die verschiedenen Fasern sich durch Zerreissung 
sehr leicht von einander trennten. 

Ueber den ganzen Abschnitt verstreut, besonders in den mehr oberflächlichen 
Schnitten, war eine enorme Quantität von Fettsäuren, in Büschel geordnet oder 
vereinzelt, oder in stacheligen Anhäufungen vereinigt. 

Als wir warmes Xylol auf den Schnitt wirken Hessen, wurde beobachtet, 
dass die meisten homogenen beschriebenen Schollen und die Fettsäurekristalle 
sich lösten, und aus diesem Grunde erklärten wir jene parallel geordneten An¬ 
häufungen als adipöse Substanz. 

Die Uebergangsstufen von der wohlgebildeten Muskelfaser zur Fettscholle 
überzeugten uns von dem stufenweisen Uebergang von jener zu dieser. 

b) Gefrierschnitte und Färbung mit Sudan III. 

Das Sudan III hat dem Schnitt nicht soine charakteristische gleichmässige 
Färbung gegeben, sondern nur streckenweise. Während einige Fasern intensiv 
rot gefärbt sind, haben andere nur eine rosige Farbe angenommen und man sieht 
gleich, dass die Sudanfärbung evidenter und charakteristischer ist in den Präpa¬ 
raten der I. und II. Serie, als in denen in der Nähe des Knochens. — Und die 
deutliche Sudanfärbung ist im umgekehrten Verhältnis in Evidenz bei der musku¬ 
lären Streifung; während man in der Tat die Muskelstreifung nur mit einer ge¬ 
wissen Schwierigkeit an den intensiv rot gefärbten Stellen erkennt, erscheint sie 
in den rosigen Zonen noch ziemlich gut erhalten. 

Die Querstreifung ist wie immer deutlicher als die Längsstreifung und die 
verschiedenen Streifen erscheinen nicht von einander getrennt, sondern durch eine 
homogene Substanz verbunden. 

In diesen Präparaten finden wir immer, mit dem gleichen Aussehen und mit 
derselben quantitativen, genau beschriebenen Verteilung, in den Schnitten bei 
Einbettung in Paraffin die Gegenwart des gelblichen Pigmentes. Zwischen und 
auf den Fasern sind zahlreiche Fettsäurekristalle (Serie II, Taf. IV, Fig. 6). 

Nach unseren frischen Präparaten und aus dem, was wir in den Ein¬ 
bettungspräparaten gesehen haben, können wir schliessen: 

Eine allmähliche Umwandlung des Muskelgewebes mit allen 
Ucbergangspcrioden, von der erhaltenen Muskelfaser bis zu der in 
Adipocire verwandelten Masse, was aus dem verschiedenen histolo¬ 
gischen Aussehen der Faser und aus der Verschiedenheit der mikro¬ 
chemischen Reaktion auf Sudan hervorgeht. 


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Histologische Studien und bakteriologische Versuche über Adipocire. 235 


Herz. 

Das Herz wurde blossliegend in der Thoraxhöhle gefunden, dem 
makroskopischen Aussehen nach glich es einem Fettherzen und nur 
bei Durchschneidung desselben erschien der innerste Teil der Ven¬ 
trikelwände und die innere Oberfläche des Myokard bräunlich gefärbt. 
— Der Muskel war sehr fettig, im Wasser schwimmend und von 
sehr zerbrechlicher Konsistenz. 

Von dem Aussehen reinen Fettes, welches der äussere Teil 
zeigte, bis zu dem eben beschriebenen des inneren Teiles sah man in 
einem Querschnitt alle Uebergangsstufen. 

Mikroskopisch wurden ausgeführt: 

1. Schnitte von der rechten und linken Ventrikelwand. 

Die Wand der Herzkammer erscheint wie ein Netz aus Maschen von ver¬ 
schiedener Form und Grösse, deren kleine Balken mehr oder weniger dünn und 
aus zarten Faserbündeln gebildet sind, um welche sich grobe Körnungen von ver¬ 
schiedener Grösse gruppieren und in sehr verschiedener Quantität verdichten, je 
nach den verschiedenen Punkten des Präparates. Solche Körnungen, zu Haufen 
vereinigt, sieht man auch im Innern der Maschen, welche bald unversehrt, bald 
zerstückelt und an mehreren Stellen zerrissen erscheinen, so dass die von ihnen 
beschriebenen Räume freie Verbindung untereinander haben. 

In den Schnitten erkennt man die Blutgefässe, das grosse und leere Lumen 
und die aus elastischen Faserbündeln gebildete innere Wand, gewellt und spiral¬ 
förmig, welche sich nach und nach von innen nach aussen hin verdünnt. 

Nach dem mikroskopischen Verhalten sowohl, als nach dem histologischen 
Aussehen glaubten wir, dass in diesen entfetteten Präparaten die Herzwand zu 
einem Gerüst elastischer und Bindegewebsfasern reduziert wäre, auf dessen 
Maschen sich Körner anhäuften, welche den Rest des Gewebes darstellten. Und 
hiervon überzeugte uns auch die Untersuchung der Gefrierpräparate. 

Bei diesen sehen wir kein Netz mit grösstenteils leeren Maschen mehr, son¬ 
dern ein unregelmässiges Geflecht von Fasern, einige sehr fein, andere grösser; 
in einigen dieser letzteren kann man sogar eine Andeutung von Streifung er¬ 
kennen; inmitten dieser Fasern beobachten wir einen reichlichen körnigen Detritus, 
grösstenteils vom Sudan intensiv rot gefärbt. Ausserdem sind die feinen Fasern 
ungefärbt geblieben, während die grossen auf Sudan reagiert haben, d. h. sie 
haben die Verseifung erlitten. Aus dem Gesagten kann man schliessen, dass vom 
Herzen nur der Bindegewebsteil dem Fettwachsprozess widerstanden hat. 

2. Schnitte von der inneren Oberfläche der Ventrikelhöhle 

(Taf. IV, Fig. 7). 

Wenn man die Einbettungsschnitte nicht in Korrespondenz der Ventrikel¬ 
wand untersucht, sondern des Teils nahe der Höhle, so beobachtet man zahl- 

Vierteljahrsschrift f. ger. Med. u. öff. San.-Wesen. 3. Folge. XXXII. 2. iß 


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reiche Fasern, welche in ihrem Innern regelmässig verteilte Pünktchen haben, 
so dass sie im Komplex das Aussehen der Querstreifung haben, Fasern, 
welche kurz, fragmentiert und zerstückelt auftreten. In einigen derselben bemerkt 
man bei starker Vergrösserung auch das Erscheinen eines gelben Pigmentes, dem 
im Muskelgewebe beschriebenen gleich. 

Bis hier erkannte man durch histologische Beobachtung durchaus nicht die 
Struktur des Herzens, und wenn die Andeutung eines Muskelgewebes in diesen 
letzten Präparaten gefunden wurde, so geschah dies nicht in den erst beschrie¬ 
benen der Herzwand, in welchen der Schnitt das Aussehen eines Fettgewebes an¬ 
genommen hatte, von welchem es sich nur durch den Reichtum elastischer Fasern 
und durch die Blutgefässe unterschied. 

3. Schnitte der Papillarmuskeln des linkon Ventrikels. 

In solchen Schuitten, und zwar immer bei entfetteten Präparaten, finden wir 
Bündel grober Fasern, die sich unter einander verschiedenartig verflechten, einige 
schräg, andere längs, noch andere quer geschnitten. Von diesen Faserbündeln 
gehen andere Bündel aus, welche mit den Hauptbündeln anastomosieren. In vielen 
dieser Fasern erkennt man die Querstreifung, doch nicht in fortlaufenden Linien, 
sondern jeder Streifen erscheint als aus vielen nahe nebeneinander liegenden 
Pünktchen gebildet. Bei anderen Fasern sind diese Pünktchen so mit einander 
koordiniert, dass sie als Längsstreifung erscheinen. Im grössten Teil dieser das 
Muskelnetz, welches man deutlich als Herzmuskelnetz erkennt, bildenden Fasern 
sieht man in verschiedener Menge Anhäufungen von gelb pigmentierten Körnern, 
welche mit Vorliebe auf der Peripherie der Fasern und in den Muskeln liegen. 
Diese pigmentierten Schollen sind dem bei den Muskeln beschriebenen Pigment 
ganz gleich, sowohl im Aussehen als in Gleichmässigkeit und Grösse der ein¬ 
zelnen Körner, sowie in Form und Lage. 

4. Gefrierschnitte. 

In diesen mit Sudan gefärbten Präparaten ist nichts, was einer besonderen 
Beschreibung wert wäre, beobachtet worden. 

Das Pigment hat das nämliche Aussehen, das gestreifte Muskelnetz des 
Herzens hat an einigen Stellen eine rosige Färbuög angenommen, an anderen ist 
es intensiv tiefrot, ausgenommen in den elastischen und Bindebautfasern, welche 
lichtbrechend und farblos erscheinen. Auf dem Schnitt sind ausserdem zahlreiche 
Fettsäurekristalle. 

Die Schlussfolgerungen, welche wir aus dem histologischen Studium des 
Herzens ziehen können, sind denen, welche der Beschreibung des Muskelgewebes 
folgen, sehr ähnlich. Auch hier ist tatsächlich die histologische Struktur des 
Herzens deutlicher, je mehr wir von aussen nach innen vorschreiten. Ausserdem 
wird sowohl im Herzen, als auch in den Muskeln die Gegenwart eines Pigmentes 
beobachtet, in den Teilen, in welchen die Muskelfaser nicht ganz verseift ist, ein 
Pigment, welches in diroktem quantitativen Rapport steht zu der histologischen 
Evidenz der Muskelstreifung. — Deshalb haben wir beim Herzen, wie auch bei 
den Muskeln alle Uebergangsstufon von einer unvollständigen Verseifung des Ge¬ 
webes (zentraler Teil) bis zu einer vollständigen Adipocire (peripherischer Teil). 


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Histologische Studien und bakteriologische Versuche über Adipocire. 237 


Arterien nnd Venen. 

Die Gefässe, und besonders die arteriellen, hatten makroskopisch 
ihr röhrenartiges Aussehen behalten; wie alle anderen Gewebe waren 
sie fettig und klebrig und hatten grösstenteils ihren Spannungswider¬ 
stand vermindert. 

Wir haben Präparate aasgeführt von der Aorta, Lungenader, Karotis. 

Der Kürze halber fassen wir die an der Aorta und der Lungenader ausge¬ 
führten Studien zusammen. Man erkennt in den entfetteten Präparaten nur eine 
einzige, aus elastischen Fasern gebildete Schicht, welche Fasern einen geschlän¬ 
gelten Lauf angenommen haben. Die elastischen Elemente sind sehr entwickelt 
und haben zuweilen das Aussehen gefensterter Membranen. An der Peripherie 
der elastischen Schicht sicht man eine andere, aus elastischen und Bindehaut¬ 
fasern gebildete Schicht, in welcher aber die elastischen Elemente fragmentiert 
und zerstückelt sind. Ein kleiner Raum, welcher von wenig Detritusanhäufungen 
angefüllt ist, trennt die beiden Schichten. 

In don Präparaten bei Gefrierung und mit Sudan III gefärbt beobachtet man, 
dass der Schnitt nicht die charakteristische Färbung des Sudan angenommen, 
sondern ein unbestimmtes Rosa zur Grundfarbe hat, auf welcher vollständig licht¬ 
brechende und farblose Faserbündel hervortreten. Es ist nur zu bemerken, dass 
die Muskelwand, welche in den entfetteten Präparaten aus einem kargen Detritus 
besteht, in den Sudanpräparaten als ein Haufen stark rot gefärbter Fasern auftritt. 

In den histologischen Präparaten der Karotis beobachtet man, dass die Lage 
der arteriösen Hüllen deutlicher als bei der Aorta ist. 

Was die histologische Beschreibung der parenchymatösen Gefässchen betrifft, 
verweisen wir auf das über die verschiedenen Organe Gesagte. 

Wir wissen also, dass in Gofässen von grossem Kaliber, in welchen die 
elastischen Fasern vorherrschen, nur karge Spuren von Verseifung vorhanden sind 
und diese nur in der Muskelschicht. 

Hingegen zeigen die elastischen Fasern die verschiedenen Stufen der gewöhn¬ 
lichen Fäulnis von der Schlängelung bis zur Zerreissung. 


Gehirn. 

Das Gehirn war auf mehr als ein Drittel des normalen Volumens 
reduziert und erschien als eine rötliche, sehr weiche Masse, in 
welcher es sogar unmöglich war, die weisse von der grauen Substanz 
zu unterscheiden. 

Ausser den Färbungen und histologischen Präparaten, wie bei den übrigen 
Organen, haben wir mit dem Gehirn auch Präparate mit der Golgischen Methode 
ausgeführt. Die von uns erhaltenen Resultate waren aber sehr karg. — In allen 
Präparaten, mit welcher Teohnik sie auch ausgeführt waren, gelang es nie, irgend 
ein bildliches Element, noch eine Andeutung der Struktur und dem Aussehen der 
Rinden- oder Marksubstanz des Gehirns zu unterscheiden. 


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238 


Dr. A. Ascarelli, 


Man bemerkte nur ein Netz mit sowohl in Grösse als auch im Aussehen unter¬ 
einander sehr verschiedenen Maschen; auf diesen Maschen befinden sich dicht an¬ 
liegende Anhäufungen von körnigem Detritus von verschiedener Grösse und Form. 
— Dieser Detritus erfüllt bisweilen auch das Innere der Maschen. 

Gefässe werden nicht angetrotTen und auch die elastischen Fasern, welche 
immer in allen Präparaten aller untersuchten Organe beobachtet wurden, sind hier 
nicht erhalten. Die Gefrierschnitte mit Mikrotom ausgeführt und mit Sudan III 
gefärbt verhalten sich ebenso. 

Demnach hat das Gehirn keine Verseifung erlitten, sondern einen Fäulnis¬ 
prozess; in der Tat haben die Schnitte nicht die Farbe des Sudan III angenommen. 
Auch in den Präparaten mit Golgi beobachtete man keine von der Osmiumsäure 
schwarz gefärbten Punkte. 

Das Hirngewebe ist zu einem Netz reduziert, dessen Maschen sowohl in den 
entfetteten Präparaten als in den Gefrierpräparaten leer oder halbleer sind; 
also hat hier eine Zerstörung der Substanz stattgefunden und keine Verseifung. 
Das makroskopische sowie das histologische Aussehen, welches die Ilirnmasse bot, 
entspricht vollkommen der Beschreibung, welche die Verfasser vom Gehirn im auf¬ 
lösenden Fäulnisstadium machen. 


Nerven. 

Das peripherische Nervengewebe erschien makroskopisch nicht 
sehr verändert, man erkannte bei der Nervenscktion die Bündelstruktur 
sehr gut. 

Zur histologischen Untersuchung nahmen wir den linken Medianus 
der zweiten von uns studierten Leiche. 

a) Einbettungspräparate, 

Man erkennt die Struktur des Nerven ohne Schwierigkeit. Die Schnitte in 
den Quersektionen sind beweisender. Besonders gut erhalten scheint das Binde¬ 
gewebe des Nerven. Im Innern jedes Nervenbündels erscheinen die Quersektionen 
der Schwannschen Hülle sehr deutlich, einige grösser, andere kleiner, wie sie 
auch bei der normalen Histologie gefunden werden. Wir bemerken gleich, dass 
es in keiner Weise gelang, die Kerne der Schwannschen Hülle sichtbar zu 
machen. Einige derselben sind ganz leer, andere teilweise, und teilweise mit 
körnigem Detritus angefüllt, weniger intensiv gefärbt als das stützende Binde¬ 
gewebe und die Hülle; noch andere sind fast ganz angefüllt mit diesem amorphen 
Detritus. 

In einigen Schwannschen Hüllen glaubt man im Zentrum ein dunkleres 
Pünktchen zu sehen, welches fast den Querschnitt der Nervenachse vorstellt 
(Taf. V, Fig. 1). 

Sehr gut erhalten waren die Blutgefässe, nur die elastischen Fasern der¬ 
selben, die wie immer in allen von uns studierten Geweben und Organen auftraten, 
hatten einen geschlängelten Verlauf, und an einigen Stellen erschienen sie unter¬ 
brochen. 


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Histologische Studien und bakteriologische Versuche über Adipocire. 239 

Das Fett, welches gewöhnlich als schützendes Gewebe um jeden Nerv herum 
besteht, hat nichts Abnormes. 

b) Gefrierpräparate. 

Diese, wie gewöhnlich mit Sudan III gefärbt, sind nicht sehr beweisend. 
Man hat im Schnitt eine rosige Färbung, sowohl im Bindegewebsbündel, im 
peripheren und im lnterfaserbündcl, als auch in der Sch wann-Hülle. Nur die 
körnigen Bildungen, welche bei den Präparaten mit Einbettung weniger intensiv 
gefärbt erschienen, haben hier im Innern der Schwann-Hülle eine rötliche 
Färbung angenommen. 

Aber höchst interessant bei diesen Präparaten ist, dass die Sch wann sehen 
Hüllen, welche in den entfetteten Schnitten leer erscheinen, in denen mit Sudan 
mit einem körnigen Detritus angefüllt und intensiv rot gefärbt erscheinen. 

Luftröhre. 

Die Luftröhre, welche nach der makroskopischen Untersuchung nur die un¬ 
vollständigen, von einander getrennten Luftröhrenringe aufwies, erschien unter dem 
Mikroskop in ihrem knorpeligen Teil fast normal. Man erkennt in der Tat die 
Knorpelzellen zu Gruppen vereint, oder vereinzelt mit einem grossen glänzenden 
Kern in ihren Kapseln. 

Im Innern dieser Zellen sind (in den Gefrierungspräparaten und mit Sudan) 
stark rot gefärbte Körnungen. Hier und da erkennt man in der Grundsubstanz 
sehr dünne, farblose, lichtbrechende Fäserchen. — Unter und über der Knorpel¬ 
schicht ist das Bindegewebe, in welchem aber keine Spur mehr vom Epithelium 
sich findet. Die Knorpelschicht hat die Sudanfärbung nicht angenommen, und in 
den mit solcher Technik ausgeführten Präparaten sieht man die oben genannten 
Körnungen gut gefärbt, welche vielleicht die Fetttröpfchen vorstellen, die sich im 
normalen Zustand im Protoplasma der Knorpelzellen befinden. Anstatt dessen hat 
die gemeinschaftliche, protoplasmatische und Kernfärbung die Schnitte mit 
Einbettung in Paraffin ziemlich gut gefärbt (Taf. V, Fig. 2). Man kann deshalb 
schliessen, dass die Luftröhre keine Umwandlung in Fettwachs erlitten hat, oder 
wenigstens hat der Verseifungsprozess nicht angefangen, während eine Hemmung 
im gewöhnlichen Fäulnisprozess beobachtet wurde, welcher sich auf die Zerstörung 
der Epithelial- und Drüsenschicht beschränkt hat, wovon man einen überzeugen¬ 
den Beweis in dem normalen Zustand hat, welchen die histologische Struktur der 
Luftröhre bietet, die im Kontrast zum Grade der bei der Autopsie makroskopisch 
beobachteten Verwesung steht. 


Lungen. 

Die Lungen, welche zu kleinen, weichen, zusammengeschrumpften, 
fettigen Fetzen reduziert sind, mit der Thoraxwand Zusammenhängen 
und an einigen Stellen adhärent und mit dünnen, harten, gelben, ins 
Graue gehenden Scheiben bedeckt sind, welche die parietale Pleura 
vorstellen, lassen ihre feine histologische Struktur ziemlich gut er¬ 
kennen. 


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Dr. A. Ascarelli, 
a) Einbettungspräparate. 

Diese Präparate gehen aus einem grossen Netz hervor, mit bald engen, bald 
weiten, bald länglichen oder unregelmässig runden Maschen, welche bald ganz 
sind, oder an mehreren Stollen zerstückelt, und aus dünnen elastischen Fasern 
gebildet, meistens festoniert, mit geschlängeltem Lauf und an einigen Stellen 
nnterbrochen. Die Maschen dieses unregelmässigen Netzes, welches das alveolär© 
Gerüst vorstellt, sind meistens leer, nur einige enthalten einen feinkörnigen Detritus. 
In den Schnitten beobachtet man ausser diesem aus dem Lungengerüst gebildeten 
Netz, noch einige andere Elemente, welche die Diagnose der Lungenstruktur er¬ 
leichtern. Man sieht in der Tat die kleinsten Bronchien, erkennbar durch die 
fibröse Tunika, welche nur zu elastischen und Bindegewebfaserbündeln reduziert ist. 
(Tafel V, Fig. 3.) 


b) Gefrierpräparate. 

Auch in diesen, wie immer mit Sudan gefärbt, beobachtet man ebenfalls die 
Netzstruktur, dessen Maschen nur eine rosige Färbung angenommen haben, es ist 
aber von Wichtigkeit zu konstatieren, wie diese Maschen, bald aneinander liegend, 
bald freiliegend in ihrer Höhle, eine bedeutende Menge von körnigen Anhäufungen 
enthalten, die sowohl in Grösse, als in Form und Lage sehr verschieden von ein¬ 
ander und mehr oder weniger stark rot gefärbt sind, von welchen sich in den ent¬ 
fetteten Schnitten nur wenige und vereinzelte Körnchen fanden. 

Diese Körnungen glauben wir als Rest der Endothelialschichten erklären 
zu können, welche den Verseifungsprozess erlitten haben. 

ln allen Präparaten findet man anthrakotische Pigmentanhäufungen, er¬ 
kennbar an der schwarzen Färbung, an der groben und sehr unregelmässigen 
Körnung und an der besonders eigenartigen Verteilung in den peribronchialen 
und perivasalen Räumen. 

Deutlich erscheinen in allen Schnitten die Blutgefässe, deren Lumen von 
einigen elastischen, fcstonierten und kreisförmigen Fasern abgegrenzt wird, ausser¬ 
halb welcher ein mehr oder weniger grosser, von kleinen, wenig gefärbten Körnern 
angefüllter Raum ist. Zuweilen erkennt man auch die kleinen Venen der letzten 
Bronchialverzweigungen. 

Die Pleura 

bietet sowohl in den entfetteten Präparaten, als auch in den anderen nichts Be¬ 
sonderes. Man erkennt in derselben noch die tiefe Schicht, welche aus einer 
kleinen Schicht aneinander liegender elastischer und Bindegewebsfasern und aus 
einem leeren Kaum gebildet ist, in welchem zahlreiche, aus roten Pünktchen ge¬ 
bildete Schollen sichtbar sind (in den Präparaten mit Sudan), welche vielleicht 
den endothelialen liest der oberflächlichen Schicht darstellen. 

Hiernach zu schlossen, haben wir in den Lungen die Erhaltung des elasti¬ 
schen Gerüstes des Lungengewebes, welches den Verseifungsprozess nicht erlitten 
hat, und den epithelialen Rest, welcher verseift und zu fettigen Körneranhäufungen 
reduziert ist. 


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Histologische Studien und bakteriologische Versuche über Adipocire. 241 


Leber. 

Die Leber, von welcher auch das kleinste Zeichen der lobulären 
Struktur makroskopisch verschwunden war und welche als braune, 
einförmige, sehr erweichte Masse auftrat, liess in gewissem Masse 
die eigentliche histologische Struktur erkennen. 

a) Einbettungspräparate. 

Diese erscheinen wie ein Netz mit Maschen verschiedener Grösse und Form, 
in fortgesetzter oder unterbrochener Linie. Das Netz dieser Maschen zeigt ab und 
zu mehr oder weniger voluminöse Verdickungen, welche, bei starker Vergrösse- 
rung betrachtet, aus dicht aneinander liegenden körnigen Anhäufungen gebildet 
zu sein scheinen. 

Die Struktur der Leberdrüsen ist besonders erkennbar ari der Erhal¬ 
tung der triangulären Räume, welche sich dem Beobachter als ein Geflecht von 
Bindegewebsfasern darbieten, in dessen Mitte wir drei Oeffnungen erkennen, die 
wir als Mündung der hepatischen Arterienverzweigungen der Pfortader und des 
Gallenkanals erklären; ausserdem erkennt man an einigen Stellen eine andere 
kleine Oeffnung, sichtlich die Zentralader, von welcher in gestrahlter Verteilung 
dünne Fäserchen ausgehen, welche im ganzen Präparat das vorher besprochene 
Maschennetz bilden und in dessen Verlauf und dicht an den Maschen anliegend 
man körnige Anhäufungen sieht. Diese Eigentümlichkeiten sind deutlicher in den 
Schnitten, welche mit der van Giesonschen und mit Weigerts Lösung behan¬ 
delt sind, in welchen die elastischen Fasern der Gefässe sich blau färben, das 
Bindegewebsnetz rot und die körnigen Massen nur eino unbestimmte Farbe an¬ 
nehmen (Taf. VI, Fig. 1). 

Hiernach schliessen wir, dass die Fäserchen das zarte Bindegewebsstroma 
vorstellen, welches im Innern der Leberläppchen ist und die körnigen Anhäufungen 
den Rest der epithelialen Substanz der Leber. 

b) Gefrierpräparate. 

Wir beschreiben eine Stelle, an welcher man die Mündung der Zentralader 
des Läppchens sieht, von welchem, bei Schematisierung der Beobachtung, 
strahlenförmige Streifen ausgehen, die nicht glatt fortlaufen, sondern aus vielen 
einander genäherten Schollen gebildet sind, deren einige mehr, andere weniger die 
rote Färbung des Sudan III angenommen haben. 

Diese Anhäufungen erinnern an die Lago der Zellenstränge der Leber. Die 
Struktur der Drüse ist auch erkennbar an der Lage der Blut- und Gallengefässe 
in den triangulären Räumen. 

Das Gefrierpräparat vervollständigt das entfettete; in diesem beobachtet 
man ein leeres Bindegewebsnetz, in jenem hingegen den Inhalt des Netzes, der 
aus verseifter Substanz, d. h. solcher, die auf Sudan III reagiert hat, besteht 
(Taf. VI, Fig. 2). 

Aus den oben beschriebenen Beobachtungen kann man schliessen, dass auch 
die Leber keine vollständige Verseifung erlitten hat, denn auch hier hat sich das 


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242 


Dr. A. Ascarelli. 


Bindegewebsgeriist, sowie das elastische erhalten; und auch das Epithelium zeigt 
sich als noch nicht vollständig verseift, so dass auch in den vorher entfetteten 
Präparaten Reste sichtbar sind. 


Nieren. 

Diese erschienen makroskopisch wie zwei fleischige Massen, in 
welchen auch nicht das geringste an die Nierenstruktur erinnerte. 
Auch die allgemeine Xicrenform war nicht erhalten; nur die Topo¬ 
graphie des Organes bewog uns während der Autopsie, diese Massen 
für die Nieren zu halten. 

Von aussergewöhnlichem Interesse war die histologische Unter¬ 
suchung; wäre es möglich gewesen, aus den mikroskopischen Präpa¬ 
raten die Diagnose des Organs zu machen, wo es auf dem Obduk-, 
tionstisch nicht möglich war? 

Die Einbettungspräparate 

waren wie folgt: 

Eine enorme Anzahl kleiner, in doppelter Längsserie liegender Körner; 
zwischen beiden Serien war zuweilen ein leerer Raum und manchmal kleine kör¬ 
nige Anhäufungen. Der Raum zwischen diesen beiden Reihen Pünktchen ist im 
ganzen Präparat ungleich, bald breiter, bald enger. — Nach einer langen Beob¬ 
achtung erkennt man das Schema des Nierenparenchyms und die so gelagerten 
Körnungen als Ueberresl der Nierenkanälchen, welche von verschiedener Grösse 
sind, je nach den verschiedenen Zonen des Präparates. 

Wo die Körnungsserien einander mehr genähert sind, sieht man kleine ab¬ 
gerundete Körperchen, aus einer Anhäufung von unregelmässig liegenden und an 
Grösse verschiedenen Körnern gebildet, dio aussen von einer ziemlich dicken, aus 
Bindegowebc gebildeten kleinen Membran begrenzt sind (da sie die van Gieson- 
sche Farbe angenommen hat). Diese Körperchen, welche man nur in den Kanäl¬ 
chen mit feinerem Kaliber fand, vertreten die Malpighischen Körperchen, in 
welchen die grobon zentralen Körnungen uns den Ueberrest von dem Nierenknäuel 
der äusseren kleinen Membran, der Bowmannschen Kapsel, andeuten. Zwischen 
der Kapsel und den Körperchen ist ein leerer Raum, grösser, als er gewöhnlich 
im normalen Zustande auftritt, als ob das Körperchen nicht nur verkörnert, son¬ 
dern auch zusammengeschrumpft wäre (Taf. VII, Fig. 1). 

Die Marksubstanz ist besser erkennbar als die Rindensubstanz und sehr gut 
erhalten; der Beobachter hat davon einen evidenten Beweis, wenn er die Schnitte 
untereinander vergleicht; während die in Korrespondenz des Rindenteils ausge¬ 
führten, trotz des langen Verbleibens in der färbenden Substanz, nur eine sehr 
blasso Farbe angenommen haben, sind die andern hingegen in derselben Zeit viel 
stärker gefärbt worden. 

Und ausser der mikroskopischen Reaktion, welche in beiden Teilen, dem 
Rinden- und dem Markteil, verschieden auftritt, ist auch die histologische Struktur 
deutlicher, und besonders die Lage der Sammelkanälchen ist deutlicher, als die 
der geraden und gewundenen. 


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Histologische Studien und bakteriologische Versuche über Adipocire. 243 


Gefrierpräparate. 

In diesen mit Sudan III und Hämalaun gefärbten Schnitten erscheinen die 
Röhren wie viele in Serien liegende Körner, und zuweilen sind diese Körner von 
einer kleinen Membran begrenzt. Diese einzelnen Pünktchen erscheinen bald stark 
rot, bald rosa und bald leicht bläulich gefärbt. In der Glomeruluszone erkennt 
man die einzelnen Körperchen gut, die Kapsel ist bläulich gefärbt, während im 
Nierenknäuel die meisten Körner vom Sudan gelbrot gefärbt sind, ein kleiner Teil 
ist vom Hämalaun blau gefärbt. 

Im Präparat hat man alle Farbentöne, von rot zu rosa, zu blau (Taf. VII, 
Fig. 3). In dem Markteil, wie schon bei den Einschliessungsschnitten beschrieben, 
erscheint die Nierenzeichnung auch deutlicher: sehr interessant ist es, das Binde¬ 
hautskelett der Röhren zu erkennen, welche in den nur mit Sudan behandelten 
Sektionen farblos geblieben sind und mit Hämalaun eine bläuliche Farbe ange¬ 
nommen haben. 

Im Zentrum eines jeden Kanälchens sieht man Anhäufungen, welche meistens 
eiförmig sind und aus sehr kleinen, nebeneinander liegenden Körnchen bestehen, 
welche intensiv rot sind. Diese Massen repräsentieren dasNierenepithelium, welches, 
nachdem es sich in der ersten Fäulnisperiode von der Basalmembran abgelöst 
und im Lumen der Kanälchen angesammelt hat, bei der mikrochemischen Reaktion 
als verseift erscheint (Taf. III, Fig. 2). Die Blutgefässe der Niere sind gut er¬ 
kennbar, sowohl in den entfetteten als auch in den Gefrierungspräparaten. 

Betreffs der Nieren können wir also sagen, wenn wir die verschiedene Emp¬ 
fänglichkeit für Sudan III und für die anderen Farben, für das verschiedene Aus¬ 
sehen der Sektionen in Betracht ziehen, dass sie keine vollständige Verseifung 
erlitten haben, sondern in vorgeschrittener Adipocire begriffen sind. 

Magen. 

Der Magen bildete einen sackartigen Bruch im linken Hvpo- 
chondrium. Seine schwärzliche Wand war dünner als im normalen 
Zustand; durch die grosse Fettigkeit entschlüpfte er bei der Betastung, 
und seine innere Oberfläche liess nicht mehr die normalen Falten der 
Magenschleimhaut erkennen. 

Die histologischen Präparate des Magens, seien sie mit Einbettung in Pa¬ 
raffin oder bei Gefrierung ausgeführt, sind sehr beweisend. 

a) Einbettangspräparate. 

Nach Untersuchung einiger dieser Schnitte sind wir erstaunt, in denselben 
alle Schichten der Ventrikelwand zu erkennen. Wir sehen in der Tat die Schleim¬ 
haut, welche wie ein Netz mit mehr oder weniger grossen Maschen erscheint, die 
an einigen Stellen in ihrem Zusammenhang unterbrochen sind. Im Lumen dieses 
Netzes beobachtet man kleine körnige Anhäufungen, welche bei starker Vergrösse- 
rung als Ueberrest der gastrischen Drüsen erkannt werden, da sie zuweilen kreis¬ 
förmig oder etwas verlängert sind und in ihrem Zentrum einen kleinen leeren Raum 
enthalten, so dass sie im ganzen an den Querschnitt der peptischen Drüsen er- 


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244 Dr. A. Ascarelli, 

Innern, während das Netz das Skelett, das Gerüst des ganzen Drüsenapparates des 
Magenbodens vorstellt. 

Unter der Schleimhaut sieht man eine kleine Schicht dicht aufeinander 
liegender Längsfasern, welche durch Form und Lage an die „Muscularis mucosae“ 
erinnert und im Innern dieser einen breiten Raum, der an einigen Stellen von 
einem breitmaschigen Netz besetzt ist, in dessen Maschen sich mehr oder weniger 
dichte Anhäufungen befinden mit von der van Giesonschen Lösung gut gefärbten 
Fasern, während andere ganz leer sind, an die untere Schleimhautschicht er¬ 
innernd. 

An begrenzten Stellen bemerkt man auch das Gerüst eines Fettgewebes. 

Die Muskelwand endlich besteht aus eng aneinander gedrängten und in jeder 
Richtung zerschnittenen Fasern, welche bei starker Yergrösserung als aus vielen 
Fragmenten punktierter Fasern bestehend erscheinen, welche dicht aneinander 
liegen und in Längsserien angelegt sind (Taf. VIII, Fig. 1). 

b) Gefrierpräparate. 

Diese vervollständigen fast das vorige Bild. Die kleinen runden Schollen 
mit engem Lumen im Zentrum, welche wir als Drüsenüberrest am Niveau der 
Schleimhaut erklärt haben, sind hier noch deutlicher erkennbar und stark rot 
gefärbt vom Sudan III, während die Maschen des Netzes, in welchem diese An¬ 
häufungen enthalten sind, nicht auf die eigentliche Fettfarbe reagiert haben. 

Auch in der Unterschleimhaut sehen wir nicht nur das Gerüst kleiner Strecken 
Fettgewebes, sondern wir beobachten wirkliche Fettschollen, welche charakte¬ 
ristisch im Aussehen und Farbe sind. 

Die einzelnen Fasern der Muskelwand erscheinen als viele rote Pünktchen, 
mit vielen anderen rosa gefärbten oder farblosen untermischt. Die Punkte, welche 
in entfetteten Präparaten verschwunden waren, erschienen hier gefärbt (Taf. VIII, 

Fig. 2). 

Wenn wir uns die beiden Figuren übereinander liegend denken, so haben 
wir das vollständige Bild der Histologie der Magenwand: in den Präparaten mit 
Sudan das in Rot gefärbt, was in den Einbettungspräparaten nicht erscheint 
oder was man ungefärbt sieht und umgekehrt. 

Wir sind der Meinung, dass der Magen eine vorgeschrittene Fettwachs¬ 
umwandlung erlitten hat und dass wie gewöhnlich nur das elastische und Binde¬ 
hautgewebe der Verseifung widerstanden hat. 

Darm. 

Hei der Autopsie des zweiten Falles haben wir gesehen, dass die 
Darmmasse noch gut erkenntlich war und wie eine leere Röhre mit 
sehr dünnen Wänden auftrat, in welchen sogar die Schleimhaut eine 
Andeutung ihrer normalen Falten bewahrte. 

Auch bei der mikroskopischen Untersuchung sahen wir die histo¬ 
logische Darmstruktur in verhältnismässig besseren Verhältnissen als die 
der anderen Organe. 


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Histologische Studien und bakteriologische Versuche über Adipocire. 245 
a) Einbettungspräparate. 

Die besten sind auch hier, wie beim Magen, die mit Weigert oder 
ran Gieson behandelten. In diesen erkennt man das Gerüst der intestinalen 
Struktur sehr gut. In der Tat sehen wir die Schleimhaut mit ihren Darmzotten, 
deren jede aus einem sehr feinen Fasernetz hervorgeht, von einer dickeren Faser 
begrenzt, welche die Zotten umgibt, sich noch mehr verdickt und die basale Mem¬ 
bran der Schleimhaut bildet. An der Basis einer jeden Zotte finden wir ausserdem 
kugelige Anhäufungen mit einem kleinen leeren Raum im Zentrum, welche bis 
zur Grenze der unteren Schleimhaut gehen und ihrem Aussehen nach an die Dünn¬ 
darmdrüsen erinnern. 

Unter der mit Zotten belegten Schleimhaut erkennen wir die „Muscularis 
mucosae“, an einer Einhüllung von nicht sehr dicken Längsfasern und von welchen 
einige Fasern sich ins Innere der Zotten selbst fortsetzen; dann die untere Schleim¬ 
haut, durch einen weiten, grösstenteils leeren Raum dargestellt, in welchem man 
unregelmässige Anhäufungen sieht von mehr oder weniger untereinander zu¬ 
sammen gruppierten Fasern, deren einige sichtlich die van Giesonsche, andere 
die Weigertsche Färbung angenommen haben, endlich die Muskelwand, welche 
wie ein Geflecht dünner, aneinander liegender, buchtiger, gewundener, licht- 
brechender, fast farbloser Fasern erscheint (Taf. IX, Fig. 1). 

b) Gefrierpräparate. 

Das Netz, welches das Zottengerüst bildete, ist in diesen Präparaten unkennt¬ 
lich und die Zotte selbst geht aus einer Anhäufung mehr oder weniger grosser 
Körnungen hervor, welche an einigen Stellen oder Haufen intensiv rot gefärbt sind. 
Unter diesen Körnungen heben sich scharlachrote Gewebszellen stark ab. An der 
Basis einer jeden Zotte sehen wir wie auch bei den entfetteten Präparaten, aber 
viel evidenter, den Rest der Drüsen. 

Der Schleimhaut folgt eine kleine Schicht rötlicher, in Längsreihen nahe 
aneinander liegender Pünktchen mit einem kleinen, lichtbrechenden Raum zwischen 
dem einen und dem anderen Pünktchen: dann die untere Schleimhaut, deren 
Fasern nur eine unbestimmte, rosige Färbung angenommen haben; endlich die 
Muskelhaut, in welcher, wie bei der „Muscularis mucosae“ die Faser aus in Serien 
liegenden Pünktchen gebildet scheint (Taf. IX, Fig. 2). 

Auch im Darm und im Magen erkennt man die Blutgefässe, deren Lumen 
deutlich von gut erhaltenen elastischen Fasern abgegrenzt ist. 

Die verseifte Substanz hat die Stelle des epithelialen Gewebes und einen 
Teil der muskulären Fasern eingenommen. Wir sehen in der Tat im entfetteten 
Präparat das Gerüst der Zotte; in den Schnitten mit Sudan sind die Maschen des 
Gerüstes mit einer Substanz angefüllt, welche auf das mikrochemische Reagenz 
der Fette reagiert hat. Die zwei Bilder in den entfetteten Präparaten und die der 
Gefrierungspräparate vervollständigen sich gegenseitig, so dass sie dem Beobachter 
das histologische Bild der Darmwand geben. 

Hoden. 

Diese erscheinen bei der Untersuchung der Leiche gepresst, 
an Konsistenz härter als im normalen Zustande. Sie waren bloss- 


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246 


Dr. A. Ascarelli, 


gelegt, da der Hodensack grösstenteils fehlte, hatten aber ihre 
eiförmige Gestalt beibehalten. Wie alle andern Organe sind sie krü¬ 
melig und fettig. An der Schnittoberfläche war ihre Struktur un¬ 
kenntlich und sie schienen aus vielen dünnen, mehr oder weniger 
dicht aneinander anliegenden Blättchen gebildet. Von den Nebenhoden 
war keine Spur mehr vorhanden. 

a) Einbettungspräparate. 

In denselben erkennt man absolut nichts. Bindehaut- und elastische Fasern 
erscheinen geschlängelt und fragmentiert, und haben weder eine definitive Form, 
noch einen regelmässigen Verlauf. 

Man trifft auf keine Spur von epithelialen Elementen, auch nicht zu feinen 
Körnungen reduzierten; sogar die Blutgefässe, welche in allen Geweben mehr oder 
weniger enthalten, aber immer erkenntlich sind, behalten in diesen Organen nicht 
ihre anatomische Form. 

b) Gefrierschnitte, Färbung mit Sudan III. 

Auch in diesen Präparaten gelingt es nicht, das histologische Bild der 
Hoden zu unterscheiden, obgleich die Kanälchenstruktur des Organes an einigen 
Stellen erscheint. Man sieht röhrenartige Bildungen mit einem körnigen, intensiv 
roten Detritus angefüllt in einigen Zonen; in andern hat das Sudan III dem Ge¬ 
webe nur eine unbestimmte rosige Farbe gegeben, noch in andern erscheinen nur 
zerstückelte, fast ganz farblose Fasern. 

Fettkristalle treten in den Schnitten selten auf. 

Aus dem Gesagten schliessen wir, dass in den Hoden, besonders an einigen 
Teilen derselben, eine Verseifung stattgefunden hat und in der Tat sieht man dies 
in dem Präparat der intensiv rot gefärbten Zonen; aber der Verseifungsprozess 
hat in diesem Organ begonnen, als die Putrefaktion schon grösstenteils ihr zer¬ 
störendes Werk begonnen hatte, so dass der Prozess die anatomische Form des 
Gewebes nicht fixieren konnte, wie in den vorhergehenden untersuchten Organen. 

IV. Kapitel. 

Bakteriologische Versuche 1 ). 

Obgleich mehrere Verfasser behauptet haben, dass die z\dipocire 
auch in Räumen Vorkommen kann, in welchen bakterielles Leben 
nicht existiert [Voit (21, 22), Borri (1)], behaupten hingegen andere 
[z. ß. Duclan (3)], dass die Verseifung eines Leichnams unmöglich 
sei in einem bakterienfreien Raum. 


1) Die bakteriologischen Versuche wurden im hygienischen Institut der 
Universität zu Itom ausgeführt unter Leitung des Prof. De Blasi, Privatdozent 
für Bakteriologie. 


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Histologische Studien und bakteriologische Versuche über Adipocire. 247 


Auf Grund dieser Meinungsverschiedenheiten haben wir die bak¬ 
teriologische Frage berücksichtigt, und auch um unsere Forschungen 
über Fettwachs zu vervollständigen, suchten wir, wo es möglich war, 
die Mikroben aus der verseiften Masse zu isolieren. 


Kulturelle Versuche. 

Die Versuche wurden an aseptischem Material ausgefübrt vom ersten vor¬ 
kommenden Fall, in welchem die Verseifung vollständig und evident erschien. 
Die Proben wurden sowohl oberflächlich gemacht, d. h. indem die Platinöse unter 
die Haut geschoben wurde, als auch tief entsprechend der III. Schicht des 
linken Schenkels, in der Nähe der Hüfte, an der rechten Hinterbacke, die Platin¬ 
öse tief in die Muskelmasse stechend, und im Fussblatt, ungefähr l 1 /*, cm von der 
Oberfläche. 

Das in allen Regionen gesammelte Material wurde in Röhren mit sterilisierter 
Bouillon gelöst. Mit diesem Material wurden aerobe und anaerobe Kulturen 
angelegt und zwar: Agarplatten bei 37°, Gelatineplatten bei 22°. 

In anaeiober Kultur entwickelten sich: 

a) Kolonien von konzentrischer Struktur. 

b) Gleichförmige, kleine, runde, körnige, schmutzigweisse, mit deutlichen 
Umrissen versehene Kolonien. 

c) Runde, dünne, durchsichtige, gelatineschmelzende Kolonien. 

Aus diesen Kolonien machten wir: 

1. Gelatinestiche und erhielten von a und b ein weisses Bändchen mit 
Entwicklung an der Oberfläche, nicht verflüssigend; von c nach 24Stunden 
einen Anfang von Flüssigwerden, erst oberflächlich, dann in Zylinder¬ 
form. 

2. Von der Agarplatte: sie erschienen alle gleich, ziemlich dünn, schleierig, 
mit Wasser von etwas trüber Kondensation und leichtem Niederschlag. 
Deutliche Fluoreszenz. 

Aerob entwickelten sich: 

a) Transparente Kolonien mit stark gelapptem Rande, feinkörnig, kernlos. 

b) Kleine, runde, körnige, schmutzigweisse. mit deutlichem Rande ver¬ 
sehene Kolonien. 

Von den auf Platten entwickelten Kolonien machten wir Gelatinestiche und 
erhielten ein weisses Bändchen mit Entwicklung an der Oberfläche und leichter 
Fluoreszenz der Oberschicht. 

Nach mikroskopischer Untersuchung der Präparate, sowohl der Aeroben, als 
auch der Anaeroben, wurden Kulturen ausgeführt. Im hängenden Tropfenglas, 
mit einfacher Färbung und mit der Gramschen Methode beobachtete man abge¬ 
rundete Stäbohen, welche sehr beweglich waren. Schon diese wenigen Charaktere 
genügen zu beweisen, dass die isolierten Mikroben zu folgenden Bakterienarten 
gehören: I. Fluorescens non liquefaciens, II. Fluorescens lique- 
faciens. 


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248 


Dr. A. Ascarelli, 


Versuche an Geweben. 

An allen Geweben und an den inneren Organen wurden zu bakteriolo¬ 
gischen Zwecken Färbungen ausgeführt: 

a) mit der Methode Gram und Lithium-Karmin, 

b) doppelte Färbung von Weigert. 

Die Versuche wurden sowohl am I. als am II. Fettwachsfall gemacht. 

In allen Präparaten fand man Bakterienformen, welche aber viel zahlreicher 
in der Haut und in den Muskeln waren, als in äen inneren Organen. 

Bei den Muskeln waren die Schnitte in der Nähe der Haut bakteriologisch 
reicher als die tieferen. 

Von den inneren Organen enthielten das Herz und die Nieren die meisten 
Bakterien. Alle beobachteten Mikroorganismen können zwei Typen zugeschrieben 
werden: 

I. Zahlreiche Bazillenformen, welche der Gram sehen Methode wider¬ 
stehen, von 1,5—2 Mikromillimeter lang und 0,8 Mikromillimeter breit, 
mit abgerundeten Enden, einige gut gefärbt, andere vakuolisiert. Neben 
diesen Bazillenformen beobachtete man vereinzelte elliptische Sporen, 
in ihrer Membran gut gefärbt, im zentralen Teil ganz oder fast farblos, 
1,5—1,7 Mikromillimeter lang und ungefähr 0,8 Mikromillimeter breit. 

Diese Mikroorganismen können nach dem mikroskopischen Aussehen der 
Gruppe des Bacillus subtilis zugeschrieben werden. 

II. Bakterische Formen, 0,8—1—2 Mikromillimeter lang und 0,6—0,8 Mi¬ 
kromillimeter breit, einige abgerundet, andere elliptisch, noch andere 
verlängert, gleichmässig färbbar, ohne Widerstand gegen die Methode 
G ram. 

Diese Formen können dem mikroskopischen Aussehen nach zu den isolierten 
Fluorescentes gehören. 

Auch bei den Gefrierpräparaten, welche mit Sudan III gefärbt waren, 
wie in denen mit Paraffin-Einbettung, die mit den verschiedenen Farben der 
normalen Histologie gefärbt waren, wurden bakterische Formen gefunden, 
meistens nicht gefärbt (keine hatte das Sudan angenommen), welche den Cha¬ 
rakteren nach nicht von den beschriebenen Formen abwichen. 

Nach allen bakteriologischen Versuchen können wir schliesson: 

I. Man hat keine definierte charakteristische Bakterienform ge¬ 
funden. 

II. Die angetrolfenen Mikroorganismen gehören zur gewöhnlichen 
bakterischen Flora des Wassers und der Fäulnis. 

III. Die Verseifung ist bei Gegenwart der Bakterien zustande ge¬ 
kommen; wir haben alter keine Daten, um sagen zu können, 
dass diese Mikroorganismen den Fettwachsprozess deter¬ 
miniert, dazu beigetragen haben oder ihm hindernd in den 
Weg getreten seien. 


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Histologische Studien and bakteriologische Versuche über Adipocire. 249 


V. Kapitel. 

Verlauf der gewöhnlichen Fäulnis in Leichen, welche sich in 
Adipocire befinden nnd die Topographie derselben. 

In allen Organen und Geweben hat man Zeichen der gewöhn¬ 
lichen Putrefaktion gefunden, aber während in einigen die Fäulnis ihr 
zerstörendes Werk fortgesetzt hat, so dass es unmöglich ist, das 
Organ oder Gewebe zu erkennen, von welchem das Präparat ist, 
(z. B. Gehirn, Iloden), ist hingegen in andern die Fäulnis stehen ge¬ 
blieben; in einigen früher (Magen, Darm), in anderen später (Lungen, 
Nieren, Leber). Der Fäulnis ist dann der verseifende Prozess gefolgt, 
welcher bald stark vorgeschritten (Ilerz, Muskeln in der oberflächlichen 
Schicht), bald nur kaum angedeutet auftritt (Luftröhre). 

Dies verschiedene Verhalten der Organe steht in Beziehung weder 
zu ihrer anatomischen Bildung noch zu ihrer Topographie. Wir 
haben zwar gesehen, dass die Bindegewebe und die elastischen 
immer in viel besseren Verhältnissen erschienen sind als die anderen; 
aber die an Bindegeweben reicheren Organe waren nicht am besten 
erhalten. In der Tat, mit Ausnahme der Gefässe, der Luftröhre, der 
Sehnen, in welchen die Knorpel, das Bindegewebe und die elastischen 
Fasern vorwiegend sind, sehen wir z. B. die Lunge (welche auch ein 
sehr grosses elastisches Gerüst hat), viel weniger erhalten als die 
Gedärme und den Magen, in welchen die Menge solcher Gewebe 
karg ist. 

Und wie gesagt, hat auch die Topographie keine Wichtigkeit für 
den Prozess: Lunge und Herz, welche topographisch sehr nahe bei¬ 
einander liegen, haben ein sehr verschiedenes Verhalten gezeigt; da 
das Herz sowohl makroskopisch als auch histologisch als eins der 
am meisten verseiften Organe erscheint, ganz im Gegensatz zu der 
Lunge. 

VI. Kapitel. 

Vergleichende Histologie der gewöhnlichen Fäulnis und der Adipocire. 

Zuerst hat man, wie schon angedeutet, und wie auch die Ver¬ 
fasser beobachtet haben, (aber nur makroskopisch) eine der gewöhn¬ 
lichen Fäulnis ähnliche Phase. Wenn hier das, was uns über die 
Fäulnis bekannt ist, angewendet wird, besonders die klassischen 
Studien von Tamassia (15—16—17—18) Bossi (12), so sehen wir, 


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250 Dr. A. Ascarelli, 

dass alle von uns untersuchten Organe, ohne Ausnahme, die Fäulnis¬ 
phase erlitten haben. 

In der Haut verschwindet die Epidermis zuerst, und wir haben 
die ganze Hautfläche ohne Epidermis gefunden und nur von mehr 
oder weniger alteriertem Derma gebildet; in allen Geweben fragmentiert 
sich der Kern und verschwindet und nie haben wir Spuren von Kernen 
gefunden; die elastischen Fasern werden gewunden, dünn, reissen 
endlich und werden körnig; das zelluläre Protoplasma erleidet 
erst eine Vakuolisation, dann körnt es, was auch wir beobachtet 
haben. 

Und gerade bei diesem Stadium der mehr oder weniger vorge¬ 
schrittenen Körnung in den oft kaum angedeuteten Geweben (z. ß. 
in den Muskeln und noch mehr in den elastischen und Bindehaut¬ 
fasern) geschieht, es, dass die Fäulnis gehemmt wird. Wenn die 
Fäulnis tatsächlich erfolgte, so würde die Auflösung und danach das 
Verschwinden der Gewebe die Folge sein. In unseren Fällen ist es 
nicht so gewesen, wie wir beweisen können. Wir nehmen z. B. die 
muskuläre Faser. Tamassia (17) fand bei der Muskelfäulnis im 
Wasser, dass die Streifen sich erst nähern, dann sich untereinander 
anhäufen; unter ihnen sieht man gelbe Körner, scheibenförmig und 
durchsichtig, welche sich nicht mit den fettlösenden Mitteln verändern; 
während endlich diese Körner sich immer vermehren, verschwinden 
die Streifen, und am 40. Tage sind die einzigen, morphologisch 
deutlichen Elemente die elastischen Fasern und die Körnungen, welche 
die Ueberreste der kontraktilen Substanz repräsentieren, sind äusserst 
karg; endlich, am 77. Tage, ist alles zu einer amorphen Masse 
reduziert, in welcher nicht einmal mehr Fragmente der elastischen 
Fasern erkenntlich sind. Und auch wir fanden, nach einigen Notizen 
über ein histologisches Studium der Fäulnis, welches in unserem 
Institut gemacht wurde, dass 25 Tage nach dem Tode, bei an der 
Luft oder bei Temperatur von 14—20° verwesten Muskeln (Musculus 
([uadriceps cruris eines Meerschweinchens) auch nicht die geringste 
Spur der Streifung bleibt; das Muskelgewebe ist zu einer unförmigen 
Detritusanhäufung reduziert. In den von uns untersuchten Muskeln 
erkannte man stets, dass man es mit Muskeln zu tun hatte. Die 
Körnung der Fasern erreicht denselben Grad im ersten von uns be¬ 
schriebenen Fettwachsfall, in welchem die Leiche wenigstens ein Jahr 
im Wasser lag, wie auch im zweiten, ungefähr sechs Monate nach 
dem Tode. In den tiefen Muskelschichten, in welchen die Fäulnis 


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Histologische Studien und bakteriologische Versuche über Adipooire. 251 

sichtlich schnell gehemmt war, haben wir eine erstaunlich gute 
Erhaltung des Bindegewebes. 

Ein anderes, vielleicht noch mehr beweisendes Beispiel, haben 
wir im Magen und im Darm. Die Schleimhaut wird bei der gewöhn¬ 
lichen Fäulnis sehr schnell zerstört, die Zotten verschwinden und 
Magen und Darm haben in der Chronologie des Fäulnisprozesses eine 
der ersten Stellen. Wir hingegen haben in einer Leiche sechs Monate 
nach dem Tode, diese so leicht faulenden Organe besser erhalten ge¬ 
funden, als die, welche weniger empfindlich für Fäulnis sind, wir 
haben die Darmschleimhaut mit Zotten belegt erkannt und sind sogar 
Spuren von Magendrüsen begegnet. Auch in diesen Organen hat die 
Fäulnisphase nicht gefehlt, auf eine Verkörnung besonders des 
epithelialen Gewebes beschränkt, welches aber nicht seine ursprüngliche 
Form verloren hatte. Und wer könnte wohl an einen gewöhnlichen 
Fäulnisprozess denken, wenn in einer Niere, von welcher jede makro¬ 
skopische Struktur verschwunden war, sichere Ueberreste der 
Malpighischen Körperchen gefunden wurden? 


VII. Kapitel. 

Spezielle Noten über die Histologie des Fettwachses, im Vergleich 

zur Histologie der Fäulnis. 

a) Verkörnungen. 

Indem ich die Vergleiche zwischen gewöhnlicher Fäulnis und 
Fettwachs fortsetze, sei mir gestattet, eine sehr wichtige differentiale 
Tatsache hervorzuheben zwischen Verseifung und Fäulnis. 

Bei den sich in Fäulnis befindenden Geweben werden die Gewebe 
opak, die Kerne verschwinden, indem sie eine Leere hinterlassen, die 
Zellen nehmen ein körniges Aussehen an und zerbröckeln in opak¬ 
gelbe Fragmente, welche, wenn noch mehr zerkleinert, jenen amorphen 
Detritus geben, zu welchem sich alle anderen Gewebe in einer 
Zeitperiode von höchstens drei Monaten reduzieren. Man spricht 
also bei der Fäulnis von einem körnigen Detritus. Auch wir hoben 
in der Beschreibung unserer Präparate oft hervor, dass die Drüsen- 
und Epithelialgewebe mit Vorzug, aber auch die anderen ein wenig, 
zu einem körnigen Detritus reduziert waren. 

Aber die Körner der Fäulnis sind sehr verschieden von denen 
der Adipocire, sowohl chemisch als auch morphologisch. Jene bieten 

VierteJjahruehrift f. ger. Med. u. ftff. San.-Wesen. 3. Folge. XXXII. 3* j 7 


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nicht das Charakteristische der Fetttropfen. Es handelt sich, wie 
Tamassia (15) sagt, um einen Zerstörungsprozess, in welchem man 
keine wichtigen chemischen Veränderungen in den Geweben, welche 
im Verschwinden begriffen sind, erkennen kann. Dieser Detritus 
bietet den chemischen Reagentien Widerstand, löst sich nicht in 
Alkohol, Acther, Benzin, Xylol, auch nicht bei Wärme, reagiert nicht 
auf Sudan III; von besonderer Wichtigkeit ist, dass es sich aus amorphen 
Anhäufungen von Bakterien, Vibrionen, Ammonium, Magnesiaphosphat¬ 
kristallen, Kochsalz, Leucin usw. gebildet zeigt. 

Fast das Gegenteil dieser Charakteristik haben hingegen jene von 
uns in den Präparaten beschriebenen Körnungen, diese sind tatsäch¬ 
lich aus Fett gebildet, d. h. sie lösen sich in den Fettlösungs¬ 
mitteln, färben sich mit Sudan rot, oder schwarz mit Flemmings 
Flüssigkeit. 

Morphologisch bewahren sie oft die Form eines gewissen morpho¬ 
logischen Elementes, so in den Muskeln das der Streifung, in der 
Niere das der gewundenen Kanälchen, im Magen und Darm das der 
Drüsen. Man findet keine Krystalle (Kochsalz, Ammonium, Magnesia¬ 
phosphat, Leuzin usw.) mit ihnen gemischt, welche die einhiiilcnden 
Formen der organischen Substanz andeuten, aber Fettsäurekristalle, 
welche das Wesen des Fettes der Körnungen bestätigen. 

b) Pigmentierungen. 

Bei Beschreibung der Muskel- und Herzpräparate müssen wir 
die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Gegenwart eines gelben 
Pigments lenken, welches man in der gestreiften Muskelfaser findet. 
Wie ist die Gegenwart dieses Pigmentes zu erklären? 

Falk (4), welcher 1866 als erster von der Muskelfäulnis sprach, 
sagte, dass die Streifen sich nähern, sich zerstückeln und sich zuletzt 
in gelbe Körnungen verwandeln, welche nach und nach verschwinden; 
Tamassia (17) beobachtete dann, 1875, immer in den Muskeln 
gelbe Körnungen, die er als Fragmente der Bowmann’schen Disken 
erklärte, welche sich in der Fäulnis durch ein alkalisches Prinzip, 
Lösungsmittel der vermittelnden albuminoidcn Substanz, trennen und 
dann ein körniges Aussehen annehmen. 

Krattcr (1. c.) sprach in seinen experimentellen Studien über 
Fettwachs von keinem Pigment. Das von uns gefundene gelbe 
Pigment ist verschieden in seinem Charakter von dem von Falk und 
Tamassia. Obwohl das von uns studierte Pigment auch nicht aus 


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Histologische Studien und bakteriologische Versuche über Adipocire. 253 


Fettkörnungen gebildet ist, so unterscheidet es sich durch andere 
Charaktere von dem von Tamassia beschriebenen. 

Letzteres ist um so reichlicher, als die Struktur der Faser weniger 
sichtbar erscheint, die Störungen nehmen zu und die Streifen ver¬ 
schwinden, sagt Tamassia, und wenn jede Spur der Faser ver¬ 
schwunden ist, werden auch die Körnungen seltener und verlieren sich. 

Das von uns studierte gelbe Pigment existiert nicht (oder ist kaum 
angedeutet), wenn das Bindegewebe gut erhalten ist; es existiert nicht, 
oder ist kaum angedeutet in den Abschnitten der Muskeln, welche nahe 
der Haut liegen, da wo die Streifen aus vielen Pünktchen gebildet 
scheinen, welche grösstenteils verseift und regelmässig angeordnet 
sind; reichlicher ist es hingegen im Bindegewebe, in welchem die Streifung 
weder gut erhalten noch die Adipocire vollständig ist. Es erscheint 
im mittleren Stadium der Verseifung, und wie wir an Präparaten be¬ 
wiesen, hat man die Uebergangsstufen von dem Erscheinen des Pig¬ 
mentes bis zum Höhepunkt seiner Menge wie bis zum Verschwinden. 

Dieses Pigment scheint also eine Substanz zu sein, welche in 
direkter Beziehung zu der Verseifung der muskulären Faser steht, 
und zwar sowohl im Muskel als auch im Herzen. 

Es liegt ausserdem an den Rändern der Faser oder an den im 
normalen Zustand von Kernen eingenommenen Stellen. Dieser Lage 
wird in der Beschreibung von Tamassia nicht einmal Erwähnung 
getan. 

Und doch kann es nicht auf eine sehr verschiedene Art betrachtet 
werden, wie wir noch sehen werden. 

In der Pathologie sind zwei grosse Pigmentgruppen bekannt, die 
wahren, welche aus der Bildung und Lage der färbenden Substanzen 
in den Geweben sich im Organismus selbst gebildet haben, und die 
exogenen und falschen. Das von uns studierte Pigment gehört unbe¬ 
dingt zur Gruppe der wahren und endogenen Pigmente. Es ist den 
pathologischen Pigmentierungen des Herzens ähnlich, welche unter dem 
Namen: braune oder gelbe pigmentäre Atrophie auftreten. In dem 
von uns beschriebenen Pigment waren die Eisenreaktionen negativ, 
es trat in Körnern und nicht in Kristallen auf, und wenn es eine 
hämatische Abkunft hätte, könnte es nur Hämosiderin sein, welches 
das Eisen verloren hat, oder Hämofuchsin von Recklinghausen. 
Sowohl das eine als das andere hätte sich bei Lebzeiten bilden 
müssen, denn wir wissen nach den jetzigen Bedingungen der allge¬ 
meinen Pathologie, dass das Hämosiderin biologische Tätigkeit der 

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Gewebe zur Bildung braucht, obgleich man diese Intervention nicht zu 
erklären vermag. Das Hämofuchsin, welches vorwiegend in den glatten 
Muskelfasern gefunden wurde, aber auch im Herzen, besonders im 
vorgerückten Alter, findet man unter pathologischen Verhältnissen, 
in welchen man einer Vermehrung der hämolytischen Prozesse be¬ 
gegnet; und auch dieses stammt direkt vom Hämoglobin ab, durch 
eine spezifische Tätigkeit der Elemente bewirkt. Nun ist es aber 
sehr zweifelhaft, dass unser Pigment aus den Lebzeiten stamme, denn 
dann müsste man zugeben, dass in beiden Leichen, in welchen es 
gefunden wurde, jene krankhaften Zustände aufgetreten seien, welche 
eine starke Zerstörung der roten Blutkörperchen hervorbringen konnten, 
oder auch, dass in ihnen sowohl das Herz als auch alle gestreiften 
muskulären Gewebe einen atrophischen Prozess erlitten haben, was 
äusserst selten, um nicht zu sagen nie, bei jungen Individuen vor- 
koramt (wir erinnern daran, dass die von uns studierten Leichen 
die eine einem unter 20 Jahre alten Knaben angehörte, und die andere 
einem Manne unter 45 Jahren). 

Und auch die Lage dieses Pigments schliesst die Abkunft von 
einem pathologischen Prozesse aus. — Wie kann überhaupt eine 
krankhafte Ursache möglich sein, die sich mit Vorliebe in jenen Muskel¬ 
schnitten lokalisiert, die weder unter der Haut, noch nahe beim 
Knochen sind? 

In der allgemeinen Pathologie ist auch eine andere Gruppe von 
Pigmentierungen unter dem von Klebs eingeführten Namen bekannt, 
und zwar die albuminogene. — Es ist ein braunes oder schwärzliches 
Pigment, das sich unter normalen Verhältnissen findet, und nach 
einigen, teilweise von der färbenden Substanz des Blutes stammen 
soll, durch eine Elaboration, welche diese im Schosse der zellulären 
Elemente erleiden soll. 

Aber die Genesis solcher Pigmente ist für die meisten Verfasser 
ungewiss. 

Jedenfalls können wir das von uns studierte Pigment nicht zu 
dieser Gruppe rechnen, und zwar wegen seiner Lage, welche keine 
pathologische und vitale Abkunft zulässt, und weil es nicht braun ist, 
und seines Aussehens wegen, welches keiner der albuminogenen Pig¬ 
mentierungen entspricht: so z. B. der von Virchow beschriebene 
Ochronosis der Knorpel, der Sehnen usw. 

Unsere Schlussfolgerungen über dieses Pigment sind, dass cs in 
Beziehung steht zu der Umwandlung des gestreiften Gewebes in Adipo- 


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Histologische Studien und bakteriologische Versuche über Adipocire. 255 

cire, und dass es nicht von hämatischer Abkunft sein kann. Es muss 
sich „in situ“ gebildet haben in der muskulären Faser selbst, und 
„post mortem“. Aehnlich dem von Tamassia und Falk, welches die 
Zerstörung der Sarkoeleraente vorstellt, was die Zersetzung der mus¬ 
kulären Faser beweist, in welcher die Fäulnis gehemmt wurde. In 
der Tat ist den Fasern, in welchen die Zersetzung nicht stattgefunden 
hat, kein Pigment, weil es sich da nicht gebildet hat; in denen, in 
welchen Fäulniszersetzung gewesen ist, wo die Adipocire angefangen 
hat, ist das Pigment reichlich; in denen, welche eine Zerstörung der 
kontraktilen Substanz erlitten haben, aber die Adipocire sehr vorge¬ 
schritten ist, existiert kein Pigment, weil es schon zerstört ist. 

VIII. Kapitel. 

Genesis der Adipocire. 

Am Ende unserer Arbeit angelangt, können wir nicht umhin, 
unsere Anschauung über das grosse Problem der Genesis der Adipo¬ 
cire darzulegen. 

Stammt sie von einer Umwandlung der Albuminoiden, oder von 
einer Infiltration des präformierten Fettes? 

Dass die Albuminoiden sich in Fett umwandeln können, ist, ob¬ 
gleich experimentell nicht zur Genüge bewiesen, möglich. Aus den 
Albuminoiden bilden sich Kohlenhydrate, und aus diesen Fett. Diese 
Tatsachen beweisen, dass die Elemente der tierischen Gewebe nicht 
weniger Fähigkeit für ziemlich komplizierte synthetische Prozesse, als 
die vegetabilischen, besitzen. 

Das kann also bei der Adipocire Vorkommen, welche sich in 
Gegenwart der biologischen Tätigkeit der Mikroorganismen entwickelt. 
Unsere Studien gehen aus den, ich möchte fast sagen, suggestiven Tat¬ 
sachen hervor, welche diese albuminoide Genesis betreffen. Man 
hatte Adipocire in zwei Leichen von mageren Individuen; und dies 
wurde auch in den inneren Organen bewiesen, welche wenig oder gar 
kein Fett enthielten (Lungen und Leber); mikroskopisch konnte man 
bestätigen, dass die epithelialen und drüsenartigen Körnungen teil¬ 
weise Fett waren und teilweise nicht; und noch mehr, dass in der 
muskulären Faser die Streifung aus Fetttröpfchen und Fragmenten 
der Streifung bestand, so orientiert, dass sie uns das Bild der ganzen 
Streifung der Faser geben. Alle Uebergangsstufen zwischen einem 
Fetttröpfchen, welches den Raum eines morphologischen Elementes 


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eines gewissen Gewebes einnimmt, und alle mikrochemischen Eigen¬ 
schaften des Fettes zeigte, und Körnungen, in welchen diese Reak¬ 
tionen nicht vollständig waren, und andere mit gar keinen, sind be¬ 
wiesen worden. Ausserdem hat man gesehen, dass in der Niere z. B., 
welche von einem Fettlager umgeben ist, der nahe dem Fettlager 
liegende Rindenteil weniger verseift ist, als der Markteil; und da sich 
die mikroskopische anatomische Form des Organes und des Gewebes, 
auch in den stark verseiften Teilen konstant erhalten hat, so glauben 
wir, dass die Adipocire grösstenteils von einer Umwandlung der 
Albuminoiden herrühre. 

Wir können aber nicht verbergen, dass trotz dieser Anhäufung 
von Tatsachen, welche für eine albuminoide Genesis sprechen, nicht 
noch andere da seien, die uns in Erstaunen setzen, und zu Gunsten 
der anderen Thesis sprechen. Gewöhnlich waren die am meisten 
verseiften Organe die, welche Fett enthielten, oder sie waren topo¬ 
graphisch in fettreichen Gegenden; wie z. B. das Herz; und besonders 
an der Peripherie, in den Muskeln, in der Nähe des subkutanen Ge¬ 
webes, im Magen und Darm. Wenn wir nun zugeben, dass durch 
einen chemischen, nicht definierten Prozess, das Fett in den gewöhn¬ 
lichen Lagerorten des Organismus sich löst, und nach und nach, wenn 
die histologischen Elemente sich durch die Fäulnis entfernen und ver¬ 
lieren, dieses Fett ihre Stelle einnimmt, würden vielleicht dann nicht 
dieselben mikroskopischen Figuren auftreten, welche wir in unsern 
Präparaten beobachtet haben? 

In der Tat steht damit nicht das stärkere Verseiftsein des Mark¬ 
teils als des Rindenteils der Niere im Einklang; das makroskopische 
Aussehn des Fettes, das, wie bei der Autopsie magerer Leichen 
beobachtet, dichter und fester als das normale ist; aber solche Argu¬ 
mente genügen nicht, um die Hypothese zu stürzen. 

Nachdem wir alles erwogen und besprochen haben, das Für und 
Wider des grossen Problems, sind wir der Meinung, dass es nicht mit 
den mikroskopischen Studien der mehr oder minder verseiften Ge¬ 
webe gelöst werden kann, weil es unmöglich ist, anatomisch zu 
unterscheiden, ob das Fett den durch flüssige Fäulnis leer gelassenen 
Raum im Gewebe einnimmt, oder ob das Gewebe selbst eine Fett¬ 
umwandlung erlitten hat. 

Aber obgleich wir keinen sicheren unzweifelhaften Beweis haben, 
sind wir geneigt zu glauben, dass die Adipocire grösstenteils eine 
Umwandlung der Albuminoiden darstellt, vielleicht durch das Werk 


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Histologische Studien und bakteriologische Versuche über Adipocire. 257 

bis jetzt unbekannter Fermente, und damit ist die Verseifung der 
präcxistierenden Fette nicht ausgeschlossen. 

Schlussfolgerungen. 

I. Ueber Histologie. 

Aus der histologischen Beschreibung verschiedener Organe, welche 
wir aus den Figuren der Präparate erhielten, können wir sehliessen, 
dass die Veränderungen, welche in den verschiedenen verseiften Ge¬ 
weben auftreten, untereinander gleich sind. In den von uns in Adi¬ 
pocire beurteilten Organen war stets die anatomische Struktur zu er¬ 
kennen. Dieses rührte hauptsächlich von der Erhaltung des Binde¬ 
gewebes und des elastischen Gewebes her. Wir halten es für 
angezeigt, die Beobachtungen in Kürze zusammenzufassen. 

Die Haut wurde stets ohne Epidermis gefunden, und das Derma 
erkennbar durch das Geflecht der Bindegewebsfasern, die meistens 
parallel mit der Oberfläche verliefen; diese Fasern umschreiben Räume, 
in welchen sich eine verseifte Substanz angcsammelt hat, die gut den 
Fettreagentien widerstanden hatte, und die von uns als Drüsenüber¬ 
rest erklärt wurde, teils als Fettläppchen, welche die Areolen der 
tiefen Fläche des Derma anfüllen. Die in der Adipocire charakte¬ 
ristischen Hautkugeln sind aus einer äusseren vom Derma gebildeten 
Haut entstanden, welche vom unterliegenden Fett nach oben gedrängt 
wurde, sich erweiterte und gezwungen wurde, sich zu vielen anein¬ 
anderliegenden Kugeln zu erheben. 

Das subkutane Gewebe hatte keine tiefen Alterationen erlitten. 

Die Muskeln waren mehr oder weniger verändert, je nach dem 
man von der Oberfläche gegen die Tiefe ging, immer war in ihnen 
nicht nur die zusammenziehbare Substanz, sondern auch die Muskel¬ 
streifung erkennbar. In den mehr oberflächlichen Schnitten war die 
Faser zu einer cylinderartigen Bildung reduziert, die gut abgegrenzt 
vom Perimysium war, welches wenig Unterbrechungen zeigte; die 
Streifen waren zu vielen dicht aneinanderliegenden Pünktchen reduziert 
und in Längs- und Querserien gelegen. Der Raum zwischen einem 
Pünktchen und dem andern war nicht leer, sondern wie mit den 
Sudan IH Präparaten bewiesen, mit einer verseiften Substanz ange¬ 
füllt, so dass die Streifung von vielen nahe aneinanderliegenden teils 
verseiften, teils nicht verseiften Körnern gebildet erschien. Gegen 
die Achse fortschreitend wurde beobachtet, dass die Muskelstreifung 


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immer evidenter erschien, und während die verseiften Körner sich 
verminderten, vermehrten sich die noch nicht in Verseifung be¬ 
griffenen, bis man beim Kontakt mit dem Knochen fortgesetzte, leicht 
gewellte, sehr schöne Streifen hatte, in welchen man sogar die 
sekundäre Streifung von Hensen oder Amici bestimmen kann. Es 
ist ausserdem von Wichtigkeit an die Gegenwart einer pigmentierten 
gelben Substanz zu erinnern, welche in den Muskeln und in der Nähe 
der Haut karg ist, reichlicher in den Schnitten der unterliegenden 
Muskeln, um in den tiefen Schnitten neben dem Knochen wieder sehr 
karg zu werden und zu verschwinden, und welches wir als in „situ“ 
und „post mortem“ gebildet erklärten. 

Die Sehnen waren ohne Endothelium und ohne Sternzellen, 
aber im fibrösen und elastischen Teil des Gewebes normal. 

Das Gehirn zeigte keine Reaktion gegen Sudan, man konnte 
die histologische Struktur nicht erkennen; das Gehirn war sichtlich 
nicht verseift, sondern in Fäulnis, und in der That entsprach das 
makroskopische und das mikroskopische Aussehen der Beschreibung, 
welche die Autoren von dem flüssigen Fäulnisstadium des Gehirns 
machen (19). 

Die Nerven waren noch erkennbar, die nervösen Fasern er¬ 
schienen cylindrisch, die Marksubstanz und die Nervenachse waren zu 
einem körnigen, teils verseiften Detritus reduziert. Die Kerne der 
Schwann’schen Hülle fehlten vollständig. 

Das Herz. Die Lage des Herzmuskelnetzes war erkennbar; 
auch hier waren die oberflächlichen Schnitte weniger gut erhalten als 
die tieferen. Die oberflächlichen hatten fast ein Fettgewebeaussehen, 
die Form eines Netzes mit, sowohl in Form als in Grösse, unregel¬ 
mässigen Maschen, in welchen sich zahlreiche Körnungen gruppierten. 
Die intermedialen und die tiefen Abschnitten enthielten die Streifung, 
aber während die Streifen ersterer meistens aus grösstenteils ver¬ 
seiften Körnern und in Längs- und Querserien gebildet erscheinen, 
waren die papillären Muskeln fast ununterbrochen. Auch im Herzen, 
wie in den Muskeln wurde die Gegenwart des gelben Pigmentes be¬ 
obachtet, reichlicher in den intermedialen als in den oberflächlichen 
und tieferen Schichten. 

Die Gefässe waren immer gut erhalten, sowohl die grossen 
arteriellen Gefässe, in welchen die elastische, gewellte und an einigen 
Stellen zerstückelte Tunika deutlich sichtbar war, wie auch die 
parenchymatösen, und die Lage derselben in einigen Organen, wie 


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Histologische Studien und bakteriologische Versuche über Adipocire. 259 


z. B. in der Leber, halfen ausserordentlich bei der mikroskopisch¬ 
anatomischen Diagnose des Präparates. 

In der Luftröhre wurde die Zerstörung der Epithelial- und 
der Drüsenschicht beobachtet und im Gegensatz dazu das normale 
Verhalten der Knorpelschicht. Die in der Luftröhre erhaltenen Teile 
hatten keine Anzeichen der Verseifung. 

Die Lungen hatten das elastische Gewebe beibehalten; im 
Inneren der Alveolen sah man das verseifte Epithelium zu einer An¬ 
häufung von adipösen Körnungen reduziert. 

Die Leber war auch erkennbar an der Gegenwart der triangu¬ 
lären Räume, welche wie ein Geflecht von Bindehautfasern auftraten, 
in deren Zentrum man die Oeffnung der hepatischen Arterienver¬ 
zweigungen, der Pfortader und des Gallenkanals erkannte. Der Rest 
des hepatischen Parenchyms war zu einem Netz mit vielen adipösen 
Körnungen reduziert, welche den Rest des verseiften Epithels dar¬ 
stellten. Die Maschen dieses Netzes waren stark verlängert und 
wie viele strahlenförmige Schnüre um ein kleines Gefäss gelagert, 
welches an der Mündung der Zentralader erkennbar war. 

Die Nieren waren besser erhalten im Markteile als im Rinden¬ 
teil. Der Rindenteil bestand aus teils adipösen, teils nicht adipösen 
Körnungen, so gelegen, dass das Bild der gewundenen Kanälchen 
hervortrat. Zwischen diesen zerstreut erkannte man die Malpighischen 
Körperchen, als sphärische Körperchen, von einer grossen Anzahl mehr 
oder weniger verseifter Körnerr gebildet und von einer Bindehaut¬ 
kapsel begrenzt. 

In der Marksubstanz ist die Nierenzeichnung evidenter. Die 
einzelnen Röhren haben eine nicht vollständig verkömte Wand, und 
in ihrem Zentrum ist das Epithelium gruppiert, welches von der 
basalen Membran abgelöst ist. 

Im Magen und Darm, Organe, welche nach dem Herzen und 
den Muskeln die am meisten charakteristische Adipocire haben, erkennt 
man alle Schichten, von der Schleimhaut bis zur Muskelhaut. In 
Korrespondenz der Magenschleimhaut sieht man die peptischen Drüsen 
verseift, in der Magenschleimhaut die Zotten und auch die Dünndarm¬ 
drüsen. Es ist wirklich interessant, die anatomische Struktur der 
Magen- und Darmwand so lange nach dem Tode so deutlich zu er¬ 
kennen in Organen, welche so leicht der Fäulnis anheimfallen, wie 
kein anderes. 

Die Hoden konnte man nicht in ihrer Struktur erkennen, sie 


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Dr. A. Ascarelli, 


erschienen als rote Massen, zuweilen röhrenförmig, aber im Komplex 
hatte das Organ seine Struktur nicht beibehalten und bot keine 
charakteristischen Zeichen der Verseifung. 

II. lieber die Bakteriologie. 

Die bakteriologischen Versuche, sowohl die kulturellen direkt am 
Leichnam ausgeführten, als auch an Geweben, waren nicht positiv 
hinsichtlich einer definierten bakteriologischen, charakteristischen Form 
der Adipocire. 

Wir können nur sagen, dass die Verseifung in Gegenwart 
einer zahlreicher. Baktericnllora sich entwickelt hat, nicht unähnlich 
derjenigen, welche man im Wasser und in der gewöhnlichen Fäulnis 
findet. Die isolierten Mikroorganismen waren die fluorescentes, 
(liquefaciens und non liquefaciens) oder zur Gruppe des baeillus 
subtilis gehörenden Mikroben. 

Es gelang uns nicht, Daten zu erhalten, um zu bestimmen, ob 
die Gegenwart solcher Mikroben mehr oder weniger zum Fettwaehs- 
prozess beiträgt. 

III. Ueber den Verlauf der Verseifung. 

Unserer Meinung nach ist die Entwicklung der Adipocire die folgende: 

a) Gewöhnliche Fäulnis, welche einen mehr oder weniger vor¬ 
geschrittenen Grad, nicht nur im selben Leichnam, sondern 
auch im selben Organ erreichen kann; 

b) bei der allmählichen Entwicklung des Verseifungsprozesscs ist 
der Fäulnisprozess bis zur vollständigen Hemmung vermindert. 

IV. Ueber das Charakteristische der Adipocire. 

Die Leichenverseifung wird charakterisiert: 

a) Durch das Erscheinen einer neuen Substanz, welche die Felt- 
reaktionen besitzt und welche in den Geweben den Raum 
der von der Fäulnis zerstörten Substanz einnimmt; 

b) Die Gewebeteile, welche beim Fäulnisprozess ein Netz haben, 
nehmen einige früher, andere später die Reaktionen dieser 
neuen Substanz an, und in der Tat haben wir alle Ueber- 
gangsstufen des in Verseifung begriffenen Gewebes. 

c) Der Prozess verbreitet sich von der Oberiläehe in die Tiefe. 

d) Das am leichtesten verseifbare Gewebe ist das Epithelium, 
das am schwersten zu verseifende Ist das Bindegewebe, die 


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Histologische Stadien und b&kteriologisohe Versuche über Adipocire. 261 


Knorpelhaut und das elastische Gewebe. Alle Gewebe lassen 
sich sehr schwer färben. 

V. Ueber die Genesis. 

Höchst wahrscheinlich hat die verseifte Substanz ihren Ursprung, 
ausser in den präexistierenden Fetten, auch in den Albuminoiden. 


Literatur. 

1. Borri, Contrifiuto alla conoscenza del prozesso di saponifioazione dei cada- 
vere. Lo sperimentale. No. 1. 1902. 

2. Cavazza, Contributo alla dottrina della degenerazione grassa. Polidinico 
sez. med. 1903. 

3. Duclaux, Annales de l’institut Pasteur 1898. (Cit. da Cavazza.) 

4. Falk, Zur Histologie verwesender Organe. Centralbl. f. med. Wiss. 1866. 

5. Hofmann, Drei aus dem Wasser gezogene menschliche Skelette. Wiener 
med. Wochensohr. No. 5—7. 1879. 

6. Karlinski, Zur Kasuistik der Fettwachsbildung. Münchener med. Wochen¬ 
schrift. 1888. 

7. Kratter, Studien über Adipocire. Zeitschr. f. Biol. Bd. XVI. 1880. 

8. Kratter, Ueber die Zeitfolge der Fettwachsbildung. Friedreichs Blatt. 1890. 

9. Kratter, Artikel „Adipocire“. Realencyklopädie. Bd. I. 1894. 

10. Lehmann, H. B., Sitzung der Würzburger pbys.-med. Ges. 1888. 

11. Orfila et Lepeur, Trait6 des exhumations juridiques et considärations sur 
les changements physiques que les cadavres äprouvent en se pourissant dans 
l’eau etc. Deutsch von Dr. E. Güntz. Leipzig 1832. 

12. Rossi, Sülle modificazioni del tessuto elastico del polmone durante laputre- 
f&zione. Accademia dei fisiocritici di Siena. 1900. 

13. Salkowski. Zur Kenntnis der Fettwachsbildung. Festsohr. zum Virchow- 
Jubil. 1891.' 

14. Slavik, Adipocire-Referate des Congr. der röm. Aerzte und Naturforscher. 
Prag 1901. 

15. Tamassia, Sulla trasformaz. putrefattiva degli adip. Rev. sperim. freniatria. 
1883. 

16. Tamassia, Sulla putrefazione del fegato. Rev. sperim. freniatria. 1880. 

17. Tamassia, Sulla putrefaz. dei muscoli e tendini. Rev. sperim. freniatria. 
1875. 

18. Tamassia, Sulla putrefaz. del polmone. Rev. sperim. freinatria. 1876. 

19. Terelli, Sulla cronologia della morte nel nervop. Annali d. freniatria e 
scienze affini del R. Manicomio di Torino. 1896. 

20. Tbouret, Rapport sur les exhumations 1789. (Cit. da Kratter.) 

21. Voit, Zeitschr. f. Biol. 1869. (Cit. da Voltz.) 


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262 Dr. A. Asoarellli, 

22. Voit, Ueber die Ursachen der Fettablagerang im Tierkörper. Vortragi, ärztl. 
Verein. 1883. 

23. Voltz, Kritik der Theorien über Fettwachs in Leichen. Friedreichs Bl. 1886. 

24. Zillner, Zur Kenntnis des Leichenwachses. Vierteljahrsschr. f. ger. Med. 
1885. 


Erklärung der Abbildungen auf Tafel I—IX. 

Tafel I. 

o 

Figur 1. Reste eines in Adipocire verwandelten Leichnams (1. Fall). 

Figur 2. Leichnam in Adipocire (2. Fall). 

Figur 3. Leichnam mit unvollständiger Fettwachsumwandlung der äusseren Hüllen 
(3. Fall). 

Figur 4. Fuss der Leiche Figur 1. 

Figur 5. Herz der Leiche Figur 2. 

Figur 6. Haut des Abdomen der Leiche Figur 3, die charakteristischen Haut¬ 
kugeln der Adipocire deutlich aufweisend. 

Tafel II. 

Figur 1 a. Quetschpräparat (nach Zufügung von Glyzerin) von der äusseren Wand 
einer Hautkugel. Mikrosk. Koristka, Obj. 2, Okul. 3, Vergrösserung 
Diam. 67 (halbschematische Figur), a—b = Gewebsfasern verschie¬ 
dener Grösse, c—d = Fettsäurekristalle, e—f = Körperchen mit Kör¬ 
nungen und Fettsäurekristallen, g = biphosphorsaure Kalkkristalle. 

Figur 2. Einbettungspräparat in Paraffin und Färbung mit van Giesonscher 
und Weigerts Lösung. Mikrosk. Koristka, Obj. 2, Okul. 3, Vergrösse¬ 
rung Diam. 67, Fig. zu 1 / 4 reduziert. Zwei an der Hautfläche senktecht 
geschnittene Hautkugeln. Man sieht die Bindegewebsbündel des Derma, 
welche Gewölbe gebildet haben, in denen sich das adipöse Gewebe 
verdichtet. 

Tafel III. 

Figur 1. Hautpräparat. Mikrotom-Gefrierschnitt. Färbung mit Sudan 111. Mikrosk. 

Koristka, Obj. 2, Okul. 3, Vergrösserung Diam. 67. Man sieht das aus 
Bindegewebsbündeln gebildete Derma nach allen Richtungen geschnitten. 
Die tiefe Dermaschicht ist adhärent an dem oberflächlichen Bündel des 
subkutanen Gewebes. Unter dem Bindegewebe viele adipöse Schollen, 
welche anfangen, die Bindegewebsfasern nach oben zu drängen. 

Figur 2. Gefrierpräparate. Färbung mit Sudan 111. Mikrosk. Koristka, Obj. 5, 
Okul. 3, Vergrösserung 175. Subkutanes Gewebe. Das adipöse Gewebe 
hat normales Aussehen. Viele Räume sind ihres Fettgehaltes entleert. 


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Histologische Studien und bakteriologische Versuche über Adipocire. 263 

Tafel IV. 

Mikrosk. Koristka, Obj. imm. J / 35 , Okul. comp. 6, Vergrösserung Diam. 900. 

— Präparate mit Paraffin-Einschliessung und Färbung mit Lösung 
van Gieson, Muskel vom Oberschenkel des II. Falles. 

Figur 1, 2, 3, 4, 5. Man beobachtet, dass die Muskelfaser immer deutlicher wird, 
von dem Schnitt, welcher der Haut am nächsten ist (Fig. 1), bis zu 
dem, welcher dem Hüftknochen am nächsten ist (Fig. 5). Man beobachte 
auch die Verteilung des Pigmentes, reioblicber in den Schnitten mitt¬ 
lerer Tiefe (Fig. 2, 3), als in den oberflächlichen (Fig. 1) und in den 
tiefen (Fig. 4, 5). Viele Bakterien verschiedener Arten. 

Figur 6. Muskelschnittpräparat bei Gefrierung und Färbung mit Sudan III. Man 
sieht hier auch dasselbe Pigment, wie in den Schnitten von Paraffin- 
Einschliessung. 

Figur 7. Herzschnitt entsprechend dem linken Ventrikel, Paraffineinschlies¬ 
sung, und Färbung mit Lösung van Gieson. Mikrosk. Koristka, 
Obj. Immersion l j 1B , Okul. komp. 6, Vergrösserung Diam. 900. Das 
Muskelnetz des Herzens ist erkennbar; man beobachte das reichliche 
Pigment. 

Tafel V. 

Figur 1. Nervensobnitt. Mikrosk. Koristka, Obj. 5, Okul. 3, Vergrösserung Diam. 

175. Man sieht die Schnitte durch die Schwannschen Hüllen, einige 
leer, andere halbleer, noch andere mit einem körnigen Detritus ange¬ 
füllt, welches den Ueberrest der Nervenachse darstellt. 

Figur 2. Luftröhre. Gefriersohnitt. Färbung mit Sudan III. Mikrosk. Koristka, 
Obj. 3, Okul. 3, Vergröss. Diam. 85. Die Knorpelstruktur ist vollständig 
erhalten. 

Figur 3. Lunge und Pleura. Schnitt Paraffineinschliessung. Färbung mit Weigert. 

Mikrosk. Koristka, Obj. 3, Okul. 3, Vergrösserung Diam. 85. Man er¬ 
kennt das elastische Gerüst des Lungengewebes. 

Tafel VI. 

Figur 1. Leber. Gefrierpräparat. Färbung mit Sudan III. Mikrosk. Koristka, 
Obj. 3, Okul. 3, Vergrösserung Diam. 85. Auch hier ist die Struktur 
erkennbar an der Lage der Blutgefässe und der Gallengefässe. Die peri¬ 
vasalen elastisohen Fasern sind gut erhalten. 

Figur 2. Leber. Präparat Paraffineinschliessung. Mikrosk. Koristka, Obj. 3, 
Okul. 3, Vergrösserung Diam. 85. Man erkennt die Struktur der hepa¬ 
tischen Drüsen an der Gegenwart der triangulären Räume. 

Tafel VII. 

Figur 1. Niere. Schnitt Paraffineinschliessung. Mikrosk. Koristka, Obj. 5, 
Okul. 3, Vergrösserung Diam. 175. Färbung van Gieson. Man erkennt 
das Schema des Nierenparenchyms an den rundlichen Bildungen, welche 
die Malpighisehen Körper umgeben. 

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Dr. A. Ascarelli, Histologische Studien usw. 


Figur 2. Niere. Gefrierschnitt. Färbung Hämalaun—Sudan III. Dieselbe Ver- 
grösserung. Man erkennt die Körperchen in der Glomeruluszone. Die 
elastischen perivasalen Fasern sind gut erhalten. 

Figur 3. Niere. Gefrierschnitt. Färbung Sudan III. Dieselbe Vergrösserung. 

Markteil. Man erkennt die Struktur der Nierenkanälchen. Das Epithel 
ist gelöst und verkörnt und hat sich im Innern der Kanälchen ange¬ 
sammelt. 


Tafel VIII. 

Figur 1. Magen. Schnitt Paraffineinschliessung. Färbung van Gieson. Mikrosk. 

Koristka, Obj. 5, Okul. 3, Vergrösserung 175 (Fig. reduziert zu y 4 ). 
Man erkennt gut alle Schichten der Magenwand. 

Figur 2. Magen. Gefrierschnitt. Färbung mit Sudan III. Vergrösserung Diam. 67 
(Fig. reduziert auf J / 2 ). Diese Figur vervollständigt die vorhergehende. 
Auch hier erkennt man die Schichten der Magenwand und die in Fig. 1 
fehlenden Teile sind hier deutlicher. 

Tafel IX. 

Figur 1. Darm. Präparat Paraffineinschliessung. Färbung van Gieson. Mikrosk. 

Koristka, Obj. 2, Okul. 2, Vergrösserung Diam. 52. ' Der Schnitt 
entspricht einer Kerkringschen Klappe. Man erkennt die verschie¬ 
denen Hüllen der Darmwand, die Darmzotten und den Rest der Drüsen 
an dor Zottenbasis. 

Figur 2. Darm. Gefrierschnitt. Färbung mit Sudan III. Dieselbe Vergrösserung. 
Die Figur vervollständigt das Bild der vorhergehenden. 


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10 . 

Aus der Unterrichtsanstalt für Staatsarzneikunde zu Berlin 
(Direktor: Geh. Rat F. Strass mann). 

Ueber die Entstehungsweise des epiduralen Blut¬ 
extravasates in verbrannten Leichen. 

Von 

Dr. St. von Horoszkiewicz, und Dr. Otto Leers, 

Landgerichtsnrzt und Privntdozont in Krakau Vol.-Assistent der Unterrichtsaustalt. 


In der 15. Hauptversammlung des Preussischen Medizinalbcamten- 
vercins zu Berlin lenkte Strassmann zuerst die Aufmerksamkeit auf 
eine bisher ungekannte Erscheinung bei der Verbrennung: Die Ent¬ 
stehung von Blutextravasaten zwischen Dura und Schädelknochen als 
Folge der Verbrennung. Anschliessend an drei Fälle, von denen einer 
ihm selbst zur gerichtsärztlichen Begutachtung vorlag und die Beant¬ 
wortung der Frage forderte, ob es sich um eine traumatische vitale 
Blutung oder um den Effekt der Hitzewirkung gehandelt habe, stellte 
Strassmann Versuche an menschlichen und tierischen Leichen an, 
auf Grund deren er zu dem Resultat kam, „dass die Flammenhitze, 
wie sie im allgemeinen eine Verdrängung Blutes aus den ihr ausgesetzten 
Teilen in die Nachbarschaft zur Folge hat, so auch speziell unter Um¬ 
ständen einen Austritt von Blutflüssigkeit aus den verbrannten Schädel¬ 
knochen ins Schädelinnere bewirkt und dass dieser Blutaustritt um so 
grösser ist, je frischer und also blutreicher die betr. Teile sind, am 
grössten also im Leben oder unmittelbar nach dem Tode.“ 

Gleichzeitig zeigte Reuter *), dass die auf den toten Körper ein- 


1) Vierteljabrsschrift f. ger. Med. 1898. Juliheft. 


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Dr. von Horoszkiewicz und Dr. Leers, 


wirkende Flammenhitze ganz allgemein eine besondere Verteilung des 
Blutes in der Leiche bewirken könne, derart, dass das Blut aus den 
von der Flamme besonders stark beeinflussten Körperteilen nach den 
weniger erhitzten verdrängt wird. Strassmann konnte in diesen 
Versuchen Reuters mit Recht ein Analogon zu seinen Beobach¬ 
tungen sehen. 

Auch von Haberda 1 ) wurde die Strassmannsehe Erklärung 
von der Entstehung der epiduralen Blutergüsse angenommen, als er 
bald darauf einen gleichartigen Fall sah, in welchem nur insoweit 
eine Abweichung vorlag, als gleichzeitig entsprechend dem rechts¬ 
seitigen Sitz des epiduralen Extravasates eine rechtsseitige Zerreissung 
des vorderen Astes der Meningea media sich fand. Haberda beant¬ 
wortet die Frage, ob die Verletzung der Meningea durch ein Trauma 
erzeugt sei und vital zu konsekutiver Blutung geführt habe, die dann 
erst nachträglich durch die Flammenhitze entsprechende Veränderung 
erlitten habe, dahin, dass zweifellos im vorliegenden Falle der Tod 
in so kurzer Zeit eingetreten sei, dass die Annahme, der Bluterguss 
sei durch das doch recht langsam erfolgende Austreten des Blutes 
aus der Meningea unter die von ihm abzuhebende Dura, wo es sich 
erst Raum schaffen müsse, erfolgt, ganz unwahrscheinlich sei; zumal 
in den von Strassmann gemachten Beobachtungen eine Verletzung 
dieser Arterien fehlte und dennoch ein Extravasat entstanden war. 

Hab er da hält also die Gefässzerreissung für eine postmortale, 
infolge der Hitzewirkung und Schrumpfung entstanden. Diese 
Schrumpfung führe zur Ablösung der Dura vom Knochen 
und schaffe dadurch offenbar Raum für das postmortal auf¬ 
tretende ßlutextravasat. 

Diese letztere Erklärung Haberdas hat Reuter 2 ) neuerdings 
wieder aufgenommen im Anschluss an einen von ihm beobachteten 
Fall. In diesem fand sich die Dura stark gespannt, unverletzt, vom 
Knochen im Bereiche des Extravasates völlig abgelöst und dem Gehirn 
innig anliegend, die Sichelblutleiter leer und unverletzt. Er glaubt, 
im Anschluss an Haberda, dass die Dura auch lediglich unter dem 
Einfluss der Hitze schrumpfe, wodurch sie sich, da die starre knöcherne 
Schädelkapsel nicht nachgebe, allmählich von der Tabula vitrea ab- 


1) Friedr. Bl. f. ger. Med. 1900. 

2) Verhandlungen d. 1. Tagung d. deutsch. Ges. f. ger. Med. Vierteljahrs* 
schrift f. ger. Med. 1906. 


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Ueber d. Entstehungsw. d. epiduralen Blutextravasates i. verbr. Leichen. 267 


löse. Hierbei würden, ähnlich wie beim Ablösen der Dura bei einer 
jeden Schädclscktion, viele kleine Venenstämmchen durchrissen, aus 
denen sich dann das Blut in den bereits gebildeten Epiduralraum er- 
giessen könne. Es sei also die Ablösung der Dura das Primäre und 
die Bildung des Extravasates das Sekundäre. 

Obwohl es für die praktische Bedeutung der von Strassmann 
zuerst festgestellten Bildung von postmortalen epiduralen Blutextra¬ 
vasaten gleichgültig ist, ob die Ablösung der Dura oder die Bildung 
des Extravasates das Primäre ist, haben wir dennoch nach dieser 
Richtung hin Versuche angestellt, da uns schon aus theoretischen 
Gründen die Annahme Reuters nicht stichhaltig erschien. 

Allerdings ist nicht zu bezweifeln, dass unter dem Einflüsse 
grosser Hitze Gewebe schrumpfen können und ihr Volumen verkleinern. 
Das gilt auch von der Dura, die natürlich dabei, da sie unter nor¬ 
malen Verhältnissen mit der knöchernen Schädelkapsel nicht ver¬ 
wachsen ist, sich vom Knochen abhebt. Aber gilt dies für die Dura, 
so muss es auch für die anderen im Schädelinnem vorhandenen Ge¬ 
webe in Anspruch genommen werden, vor allem für die Gefässe und 
für das in denselben befindliche Blut. Ist die Einwirkung der Hitze 
schon so intensiv, dass es zur selbsttätigen Zusammenziehung, Schrump¬ 
fung, Abhebung der Dura kommt, so kann nicht angenommen werden, 
wie dies Reuter tut, dass die kleinen Venenstämmchen, die von der 
Dura zum Knochen ziehen, noch intakt sind, dass sie überhaupt noch 
flüssiges Blut enthalten, welches nach ihrer durch die Abhebung 
der Dura erfolgten Zerreissung aus ihnen heraussickert und zur Bil¬ 
dung eines Hämatoms von der Grösse und Ausdehnung wie im Falle 
Reuters führt. Vielmehr muss die durch den Schädelknochen bis 
zur Dura vorgedrungene Hitzewirkung in dem Momente, in welchem 
sie die Dura zur Schrumpfung und Abhebung bezw. Retraktion bringt, 
auch auf die Gefässe der Dura schrumpfend und vertrocknend einge¬ 
wirkt, die kleine, in ihnen befindliche Blutsäule eingedickt, zur Ge¬ 
rinnung gebracht haben. Diese rein theoretische Erwägung, die wir 
durch unsere Versuche völlig bestätigt fanden, macht schon die An¬ 
nahme der sekundären Entstehung des Hämatoms unmöglich. 

Aber auch der oben schon erwähnte Fall Haberdas weist darauf 
hin, dass eine solche Einwirkung auf die Gefässe tatsächlich statt¬ 
findet und sowohl dadurch, wie durch die gleichzeitig erfolgende Ver¬ 
änderung des Blutes in ihnen eine Blutung aus ihnen unmöglich wird. 
In diesem fand sich eine Schrumpfung und Zerreissung des vorderen 

Yierteljahrsschrift f. ger. Med. u. öff. San.-Wesen. 3. Folge. XXXII. 2. lg 


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Dr. von Horoszkiewicz und Dr. Leers, 

Astes der rechten Art. mening. raedia, und Haberda erklärte sie als 
postmortal durch die Hitzeeinwirkung entstanden, indem er betont, 
dass aus dem Gefässe nur bröckeliges Blut ausdrückbar war. 

Zur Unterstützung seiner Ansicht gibt Reuter zunächst einen 
Fall bekannt, von dem zwar nähere Angaben über die Obduktion 
fehlten, der Befund des eröffneten Schädels aber genauer von ihm 
beschrieben wird. Reuter hebt hervor, dass in diesem Falle die 
Dura intakt, stark geschrumpft, vom ganzen Schädeldach und auch 
teilweise von der Basis abgehoben war, und dass auch das Gehirn 
geschrumpft gefunden wurde, während an der Aussenfläche der Dura 
nur einige kleine Bröckelchen ziegelroten, krümeligen Blutes vorhanden 
waren. Dieser Befund beweist uns zwar, dass Dura wie auch Gehirn 
unter dem Einfluss der Hitze schliesslich schrumpfen können, er gibt 
aber keineswegs Aufschluss darüber, ob die Ablösung der Dura primär 
oder sekundär erfolgt ist. Auffallend ist jedenfalls, dass in diesem 
Falle kein grösseres Blutextravasat gefunden wurde, obschon doch die 
Verhältnisse infolge der umfangreichen Ablösung der Dura und folglich 
der Zerreissung zahlreicher Venenstämmchen für die Entstehung eines 
solchen nach Reuters Anschauungen hier sehr günstig sein mussten. 
Doch da keine näheren Angaben über den Obduktionsbefund vorliegen, 
können wir nicht w'eiter darauf eingehen. 

Weiter führt Reuter ah, dass auch in dem von ihm beobachteten 
Falle die Dura sich gewiss zuerst abgehoben habe und dass dies aus 
der beigefügten Zeichnung zu ersehen sei. Obwohl aus einer Zeich¬ 
nung, die immer nur ein Momentbild darstellt, unmöglich Vorgänge, 
die sich successive folgen und immerhin eine gewisse Zeit beanspruchen, 
zu ersehen sein können, so scheint uns doch die Zeichnung, welche 
Reuter gibt, seiner Erklärung für die Entstehung einer primären 
Duraablösung vielmehr direkt zu widersprechen. Die Zeichnung zeigt, 
der Beschreibung Reuters entsprechend, dass der in der grössten 
Dicke 1 cm betragende Bluterguss vollständig und allenthalben den 
Raum zwischen abgclöster Dura und Schädclknochen ausfüllt. Die 
Dicke des Extravasates entspricht überall genau dem durch die Ab¬ 
hebung der Dura gelassenen Raum; es tamponiert ihn gleichsam aus. 
Dies scheint uns viel eher zu beweisen, dass das von der Hitze aus 
dem Knochen herausgedrängte Blut die Dura allenthalben vor sich 
hergeschoben hat. Würde sich hingegen die Dura zunächst durch 
Schrumpfung vom Knochen abgelöst haben und in das dadurch ent- 


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lieber d. Entstehungsw. d. epiduralen Blulextravasates i. vcrbr. Leichen. 269 


stehende Yacuum sekundär aus zerrissenen Gefässchen Blut hinein¬ 
gesickert sein, so hätte sich doch wahrscheinlich das Blut ungleich- 
massig in dem Raume verteilt; es wäre, da es zunächst noch flüssig 
sein musste, wenn es in solcher Menge aus den zerrissenen Gefäss¬ 
chen der Dura ausfliessen konnte, nach dem Gesetz der Schwere 
abhängigeren Partien zugestrebt, während es stellenweise den Raum 
wenig oder gar nicht ausfüllte. Die Dura war dabei offenbar nicht 
geschrumpft; Reuter sagt, sie war stark gespannt und lag dem 
Gehirn innig an. Dies spricht ebenfalls nicht für eine selbständige 
primäre Ablösung der Dura. Gespannt und dem Gehirn anliegend 
findet sie sich auch in den Fällen, in welchen durch vitale Blutung aus 
der Art. meningea zweifellos die Abhebung sekundär zustande ge¬ 
kommen ist. 

Wir haben die Frage, ob die Dura sich durch Schrumpfung zuerst 
spontan vom Knochen ablöst und der Bluterguss sekundär aus den 
dabei zerreissenden Gefässen erfolgt, oder ob vielmehr das Blut primär 
aus den Knochengefässen ausgepresst wird und die Dura vom Knochen 
abhebt, durch Versuche zu klären gesucht. 

I. Versuch: Ein Kaninchen wird durch OefTnung der Halsgefässe entblutet 
und das Schädeldach samt den Weichtoilen 10 Minuten der Bunsenilamme aus¬ 
gesetzt, bis der Knochen stark verkohlt und gesprungen ist. Das Schädeldaoh 
wird flach abgesägt, das Gehirn vorsichtig aus der abgesägten Knochenschale ent¬ 
fernt. Die Dura zeigt sich hart und trocken, stark geschrumpft, abgehoben, unver¬ 
letzt; zwischen Dura und Knochen kein Bluterguss. 

II. Versuch: Ein Hund wird durch Halsschnitt entblutet und das Schädel¬ 
dach mit Weichteilen 20 Minuten der Bunsenflammo ausgesetzt, bis der Knochen 
rotglühend ist. Das Schädeldach wird flach abgesägt und das Gehirn entfernt. 
Die Dura ist an der Verbrennungsstelle völlig trocken, stark geschrumpft und ab¬ 
gehoben. Auch das Gehirn ist völlig trocken und in beginnender Verkohlung. 
Kein Blut zwischen Dura und Knochen. 

III. Versuch: Das durch gewöhnlichen Obduktionsschädelschnitt entfernte 
Schädeldach eines Kindes mit der Dura wird der Bunsenilamme an einer um¬ 
schriebenen Stelle ausgesetzt. Dabei lässt sich folgendes beobachten: Es dringt 
sofort beim Ansetzen der Flamme schaumiges Blut aus der Diploe an der Säge¬ 
schnittfläche hervor. Gleichzeitig injizieren sich die Gefässe der Dura und es ent¬ 
stehen kleine Sugillationen in der Dura im Bereiche der erhitzten Stelle. Weiter¬ 
hin rötet sich die Dura intensiver, bräunt sich, wird trocken und hebt sich 
schliesslich an der erhitzten Stelle plötzlich ab. Die Dura ist trocken, pergament¬ 
artig, unverletzt, ihre Gefässe mit trockenem Blut allenthalben ausgefüllt. 

IV. Versuch: Derselbe Versuch in derselben Anordnung an dem Schädel¬ 
dach eines Erwachsenen. Sofort nach Einwirkung der Flamme tritt an der Schnilt- 

18 * 


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Dr. von Horoszkiewicz und Dr. Leers, 

fläche aus der Diploe schaumig flüssiges Blut aus und die Kapillaren der Dura 
injizieren sich an der erhitzten Stelle. Nachdem das Austreten von Blut an der 
Schnittfläche beendet ist, folgt Bräunung, Trocknung und plötzliches Abspringen 
der schrumpfenden Dura in toto an der erhitzten Stelle. Die Dura bleibt dabei 
unverletzt, ist schwarzbraun, pergamentartig hart und trocken. Sie wird abprä¬ 
pariert und zeigt sich auch an ihrer Aussenseite braun, angekohlt, aber ganz in¬ 
takt. Die intakten Duragefässe enthalten Ausgüsse von trookenera Blut. 

V. Versuch: Ein Hund, nicht entblutet, wird durch Chloroform getötet. 
Das Schädeldach wird nach Ablösung der Weichteile 10 Minuten der Bunsenflamme 
ausgesetzt, bis zur Verkohlung des Knochens und Auseinanderweichung der Nähte, 
aus denen Blut hervordrängt. Das Schädeldach wird flach abgesägt, die Gehirn¬ 
masse, die feucht und erhitzt, vorsichtig entfernt. Es findet sich im Bereiche der 
Erhitzung ein ausgiebiger Bluterguss mit Abhebung der glatten, glänzenden, 
feuchten, nicht gespannten und nicht geschrumpften, etwas gebräunten, unver¬ 
sehrten Dura. 

VI. Versuch: Ein Hund, nicht entblutet, wird durch Chloroform getötet. 
Einwirkung der Bunsenflamme 12 Minuten, bis zur Verkohlung der Weichteile und 
des Knochens. Die Innenfläche der Dura erweist sich überall intakt, glatt, 
glänzend, feucht, die Gefässe der Dura erweitert, mit flüssigem Blut gefüllt. An 
der erhitzten Stelle des Scheitels eine Y 2 cm hohe, 4 X 5 cm grosse Abhebung 
der Dura, die nicht gespannt und geschrumpft ist. Genau der Grösse dieser Ab¬ 
hebung entspricht der epidurale Bluterguss, der blaurötlich durch die Dura durch¬ 
schimmert. Die Dura wird vorsichtig abpräpariert. Der Bluterguss ist flüssig bis 
locker geronnen. Die Tabula interna ist völlig unversehrt, nur die externa ober¬ 
flächlich angekohlt. 

VII. Versuch: Derselbe Versuch an einem durch Chloroform getöteten 
Hund. Einwirkung der Bunsenflamme 12 Minuten. Die Weichtoile sind stark ver¬ 
kohlt, der Schädelknochen aussen angekohlt. Die Dura ist unversehrt, nicht ge¬ 
schrumpft, innen feucht, mattglänzend, in Grösse von 3 X 4 cm abgehoben. Genau 
der Grösse dieser Abhebung entsprechend schimmert der Bluterguss blaugrau 
durch die Dura hindurch. Derselbe besteht, wie durch Scherenschnitt in die Dura 
erkannt wird, aus vorzugsweise flüssigem Blut. Gehirnmasse und weiche Hirn¬ 
häute sind, wie auch im vorigen Versuch, gänzlich intakt. 

VIII. Versuch: Ein durch gewöhnlichen Obduktionsschnitt abgesägtes 
Schädeldach ohne Dura wird an seiner Sägefläche mit Glaserkitt dicht verschlossen. 
An einer umschriebenen Stelle der Aussenfläcbe wird es der Bunsenflamme aus¬ 
gesetzt und zwar so, dass die Flammenspitze 10 cm vom Knochen entfernt bleibt. 
Unmittelbar nach dieser äusserst gelinden Erwärmung sieht man aus den Poren 
des Knochens an der Innenfläche des Schädels Tropfen flüssigen Blutes in reich¬ 
licher Menge hervorquellen. Nach 1 Minute haben sich etwa 10—15 ccm flüssigen 
Blutes angesammelt. Bei weiterer Einwirkung der Flamme kommt das austretende 
Blut als reichliche Blasen werfende schäumende Flüssigkeit zutage. 

Aus unseren Versuchen ergibt sieh zunächst, dass unter der Ein¬ 
wirkung der llitze tatsächlich eine Aenderung der Blutverteilung am 


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Ueber d. Entstehungsw. d. epiduralen Blutextravasates i. verbr. Leichen. 271 

Schädelknochen stattfindet und zwar in der Weise, dass das Blut von 
der erhitzten Stelle wegdrängt und sich aus dem erhitzten Knochen 
Ausweg sucht. Die dazu erforderliche Erwärmung des Knochens ist, 
wie Versuch III, IV u.VIII beweisen, äusserst gering, jedenfalls so gering, 
dass dadurch noch keine Schrumpfung und Retraktion der Dura 
zustande kommen kann. Diese zum Austritt gezwungene Blutmenge 
ist schon am abgesägten Leichenschädeldach so gross, dass sie zur 
Bildung eines Extravasates, wie es in den bisher an unversehrten 
verbrannten Leichen beobachteten Fällen gefunden wurde, völlig aus¬ 
reicht. Da es unter Blasen- und Schaumbildung plötzlich in grösserer 
Menge und mit einer gewissen Gewalt aus dem Knochen an einer 
umschriebenen Stelle hervordringt, hebt es hier und zunächst nur hier 
an dieser Stelle die bis dahin noch völlig unversehrte Dura ab. Ver¬ 
such VI und VII zeigen, dass die Ablösung der Dura genau der Grösse 
des Blutergusses entspricht und dass die Dura dabei sich in völlig 
normalem Zustande befindet, unverletzt, überall glatt, glänzend, feucht 
und vor allem nicht geschrumpft, nicht einmal übermässig stark ge¬ 
spannt ist. 

Wirkt jedoch die Flammenhitze längere Zeit oder intensiver ein, 
so dass der Schädelknochen stark angebrannt wird, verkohlt, der 
Feuchtigkeitsgehalt des ausgetretenen Blutes zum Schwinden gebracht 
wird, dadurch gleichsam die Isolierschicht zwischen Dura und Knochen 
fortfällt, so ergreift die Hitze auch die Dura und bringt sie zur 
Schrumpfung und Retraktion. Die Verhältnisse liegen natürlich für 
eine Schrumpfung und Retraktion der Dura am günstigsten, wenn 
wie in den Versuchen I—IV es überhaupt nicht zu einem Bluterguss 
kommen kann, so dass die isolierende Blutschicht von vornherein 
fortfällt und die Hitze unmittelbar von dem in Glut geratenden 
Knochen auf die ihm anliegende Dura überspringt. 

In dem Moment, wo es durch die Erhitzung zu einer Schrumpfung 
der Dura kommt, so dass sie sich retrahiert, sind auch die Gefässe 
und das in ihnen befindliche Blut so durch die Hitze verändert, dass 
aus ihnen keine Blutung mehr erfolgen kann. Die Duragcfässe 
sind nicht leer, sondern enthalten Ausgüsse von trockenem, koagu¬ 
liertem Blut. 

Die Quelle des Blutextravasates sind also nicht die bei der 
Schrumpfung und Retraktion der Dura zerreissenden Venenstämmchen, 
sondern die Gefässe der Diploe, aus denen das Blut bei der Erwärmung 
des Knochens wegdrängt. 


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272 Dr. von Horoszkiewicz und Dr. Leers, Ueber die Entstehungsweise etc. 


Haberda, 1 ) Zillner 2 ) und Reuter 3 ) selbst haben gezeigt, dass 
es unter dem Einfluss der Hitze zur Blutverdrängung und weiterhin 
durch Berstung von Kapillaren zur Entstehung von Blutextravasaten 
kommen kann. Dieser Vorgang findet auch in den Diploegefässen 
des Schädels statt und durch die Verdrängung des erhitzten Blutes 
und die dadurch erzeugte Zerreissung der Diploegefässe wird das 
Material für den epiduralen Bluterguss frei und drängt aus dem Knochen 
hervorstürzend die Dura vor sich her. 

1) 1. c. 

2) Vierteljahrssrhr. f. ger. Med. 1882. 

3) 1. c. 


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11 . 


Ueber einen Fall von epiduralem Bluterguss in 
einer verbrannten Leiehe. 

Von 

Dr. H. Martini, 

Gerichtsarzt in Breslau. 


Anknüpfend an die im 2. Heft dieser Yierteljahrssehrift, Jahrg. 
1906, von Reutter gemachte Mitteilung über ein „epidurales Blut¬ 
extravasat in einer verkohlten Leiche“, welches genannter Autor in 
der ersten Tagung der Deutschen Gesellschaft für gerichtliche Medizin 
zu Meran demonstriert hatte, gestatte ich mir in Folgendem über ein 
ganz ähnliches Vorkommnis aus meiner jüngsten Praxis zu berichten. 
Die Zahl der bisher bekannt gewordenen Fälle ist, wie aus der erst 
kürzlich von Hofacker 1 ) gegebenen Zusammenstellung hervorgeht, 
noch eine recht geringe, und die Veröffentlichung eines jeden gut be¬ 
obachteten derartigen Befundes erscheint deshalb allein schon in ka¬ 
suistischer Hinsicht gerechtfertigt. 

Es handelte sich um eine etwa 60 Jahre alte, etwas geistesschwache Frau A. 
in C., welche als verkohlte Leiche unter den Trümmern des von ihr bewohnten 
Hauses hervorgezogen wurde. Durch die gerichtlichen Zeugenvernehmungon ist 
mit Sicherheit festgcstellt worden, dass Frau A. Selbstmord durch Erhängen aus¬ 
geführt hat, nachdem kurz zuvor der Brand von ihr selbst angelegt worden war. 

Die im Brandschutte noch mit den Resten eines um den Hals geschlungenen 
verkohlten Strickes aufgefundene Leiche bot folgende uns hier interessierende 
Befunde: 

Stark verkohlte Leiche mit intensivem Brandgeruch. Wirbelsäule in ihrer 
ganzen Ausdehnung versteift und sämmtliche Glieder in unbeweglicher Flexions¬ 
stellung. Die Oberhaut hat überall eine tiefschwarze Farbe bis auf einige braun¬ 
schwarze Stellen an der rechten Seite des Rumpfes; sie ist morsch, rissig und 
lässt sich in dünnen Schichten abheben. 

1) Vergl. Friedreiohs Blätter f. gerichtl. Medizin. 1904. S. 321. 


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274 


Dr. II. Martini, 

Die weichen Bedeckungen des Kopfes, Gesichtes und Halses sind vollkommen 
verbrannt, so dass der Leichnam nicht wieder zu erkennen ist. Die tiefere Mus¬ 
kulatur des Halses ist grau gefärbt und mürbe und hat etwa das Aussehen von ge¬ 
kochtem Kalbfleisch. Im allgemeinen ist die linke Körperseite stärker verbrannt 
als die rechte, wo sich noch einzelne nur angesengte Hautinseln vorfinden. An 
den Gliedmassen fehlen die äussersten Enden und die Röhrenknochen liegen 
stellenweise bloss, z. T. sind sie mit verkohlten Fleischfetzen bedeckt. 

Die Oberfläche des Schädeldaches bildet eine schwärzliche, trockene und 
sich abschilfernde Masse; penetrierende Verletzungen sind am Knochen jedoch 
nirgends vorhanden. 

Die Schädelkapsel hat eine Dicke von 3—8 mm und ist auf der Innenfläche 
an mehreren Stellen beider Seitenwände mit einer ziegelroten, weichen, etwas 
fettigen Masse bedeckt, die das Aussehen von gekochtem Blut hat. Während diese 
Masse auf der rechten Seite nur in einzelnen, 2—3 Markstückgrossen Bröckeln der 
Dura aufliegt, bildet sie über dem linken Scheitellappen und einem Teile des 
Schläfenluppens eine weit über handtellergrosse, 4—5 mm dicke zusammenhän¬ 
gende Schicht. 

Die harte Hirnhaut ist unversehrt, stark gespannt und von schmutzig grauer 
Farbe, im Längsblutleiler ebenfalls zahlreiche kleinere gekochte Blutpartikelchen 
von weicher Konsistenz und ziegelroter Farbe. 

Die weiche Hirnhaut ist nicht mehr zu erkennen, ihre Gefässe sind leer. 
Die linke Grosshirnhälfte ist im Gebiete der Scheitellappen und des Schläfen¬ 
lappens entsprechend der oben beschriebenen Auflagerung abgeplattet, die rechte 
Hirnhalbkugel zeigt normale Wölbung; die Gehimmasse ist überall sehr trocken, 
von grauer Farbe und blutleer. 

Erwähnen möchte ich noch, dass die linke Lunge lederartig 
trocken, blutleer und derb war. während die rechte sich noch etwas 
feucht und lufthaltig erwies. 

Eine Untersuchung des gekochten Blutes im Schädelinncrn auf 
CO hat leider nicht stattgefunden. 

Ganz abgesehen davon, dass die Frage, ob eine solche Unter¬ 
suchung einen sicheren Rückschluss auf die vitale oder postmortale 
Entstehung des Blutergusses zulässt, wie schon Reutter 1 ) hervorhebt, 
noch keineswegs abgeschlossen ist, da bei längerer und intensiver 
Rauch- und Flammencinwirkung auf die blossgelegte knöcherne 
Schädeldecke die Möglichkeit eines nachträglichen Eindringens von CO 
in das im Schädelinncrn direkt dem Knochen aufliegende Blut wohl 
nicht ganz von der Hand gewiesen werden kann, so stand ira vor¬ 
liegenden Falle die postmortale Entstehung des Blutergusses ausser 
allem Zweifel. Denn es ist. kaum denkbar, dass Frau A. mit der¬ 
artig umfangreichen Blutaustritten auf das Gehirn noch eine Reihe 

1) Vergl. Vierteljahrsschr. f. ger. Med. 1906. S. 307/308. 


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Ueber einen Fall von epiduralem Bluterguss in einer verbrannten Leiche. 275 

wohlüberlegter und vorher angedrohter Handlungen, wie Brandstiftung, 
Selbstmord usw. hätte ausführen können. 

Auch die Annahme eines agonalen Blutaustrittes, etwa infolge 
des Erhängens, erscheint in hohem Grade unwahrscheinlich, da ein 
derartiger Befund meines Wissens kaum je beobachtet worden ist. 

Es bleibt somit nur die Annahme einer postmortalen Entstehung 
der Blutextravasate als die einzig wahrscheinliche übrig. Ob diese 
Blutaustritte in unserem Falle aus dem Schädelknochen direkt durch 
die Hitzewirkung zustande gekommen sind, eine Erklärung, welche zu¬ 
erst Strassmann 1 ) gegeben und durch mehrfache Experimente er¬ 
härtet hat, oder ob umgekehrt die Dura zuerst geschrumpft ist und 
durch ihre Ablösung vom Kuochen Gelegenheit und Raum für die 
Blutaustritte gegeben hat, muss wohl zunächst noch als eine offene 
Frage angesehen werden. Mir scheint die Annahme viel Wahrschein¬ 
lichkeit Für sich zu haben, dass in unserem und ähnlichen Fällen 
beide Vorgänge zur Erklärung heranzuziehen sind und sich streng ge¬ 
nommen garnicht von einander trennen lassen. 

1) Ueber eine Erscheinung bei Verbrennung. Offizieller Bericht über die 
XV. Hauptversammlung des preussischen Medizinalbeamtenvereins. 1898. Berlin, 
bei Fischer. 


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12 . 


(Aus dem Institut Pasteur in Brüssel. Direktor Dr. J. Bordet). 

Ueber die praktische Bedeutung der Alexinfixation 
(Komplementablenkung) für die forensische Blut- 

differenzierung. 

Von 

Dr. Ernst Ehrnrooth. 

Professor der gerichtlichen Medizin in Helsingfors (Finland). 


Seit Bordets Untersuchungen vom Jahre 1898 gilt als Tatsache, 
dass die hämolytische Fähigkeit der Immun- und Normalsera von dem 
Zusammenwirken zweier Faktoren abhängt. Der eine ist das im 
Normalserum schon vorhandene Alexin (Büchner), oder Komplement, 
wie es Ehrlich nennt, der andere ist nach der Bordetschen Termino¬ 
logie der Sensibilisator (Substance scnsibilisatrice), Immunkörper oder 
Ambozeptor (Ehrlich), welcher sich im Serum eines immunisierten 
Tieres bildet, der aber auch in Normalsera vorkommt, obwohl dort 
weit weniger aktiv. 

Nachdem Ehrlich und Morgenroth 1 ) die Fähigkeit roter Blut¬ 
körperchen, Ambozeptoren aufzunehmen, gezeigt hatten, erschienen 
Untersuchungen von Bordet 2 ), wodurch festgestellt wurde, dass der 
Sensibilisator spezifischer Immunsera Blutkörperchen und Mikroben 
derart beeinflusste, dass die genannten Gebilde ein auffallendes Be¬ 
streben bekommen, Alexin zu verankern. Hämolyse bzw. Bakteriolyse 
tritt daher in einem Gemisch von Sensibilisator, Blutkörperchen und 


1) Ehrlioh und Morgenroth, Ueber Hämolysine, Berl. klin. Wochenschr. 
1899, 1900, 1901. 

2) Bordet, Les s^rums hömolytiques, leur antitoxines et les thöories des 
serums cytolytiquos. Ann. de l’inst. Pasteur. 1900. 


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Ueber die praktische Bedeutung der Alexinfixation usw. 


277 


Alexin mehr oder weniger schnell ein. Das Alexin wird hierdurch 
der Mischung entzogen bzw. gebunden. 

Ein Analogon zu dieser Tatsache wurde zwei Jahre später von 
Gengou 1 ) für verschiedene Eiweisskörper nachgewiesen. Er zeigte 
z. B., dass in einem Gemisch von Milch, Laktoserum (Immunserum 
gegen Milch) und irgend einem Alcxin nicht nur ein Präzipitat ent¬ 
steht, sondern es wird dabei auch Alexin gebunden. 

Auf dem in diesem Vorgang liegenden Prinzip gründet sich die 
von Neisser und Sachs 2 ) zuerst für die forensische Blutdifferenzierung 
vorgeschlagene Methode, die Bindung des Alcxins durch das Zusammen¬ 
wirken von Präzipitinogen (des Normalserums) und Präzipitin (des 
entsprechenden Immunserums) an einem entsprechenden Indikator zu 
demonstrieren. Rote Blutkörperchen bilden den Indikator bei dieser 
sinnreichen Methode. Beim Vorhandensein von Ambozeptoren (Sensi¬ 
bilisatoren) verankern nämlich die Erythrozyten den einen von den 
oben genannten Faktoren des hämolytischen Prozesses und verfallen 
derart beeinflusst durch den Einfluss des Alexins der Hämolyse. Ist 
das ^lexin aber anderweit gebunden, so bleibt die Hämolyse aus. 

Untersuchungen von Morcschi 3 ) „Zur Lehre von den Anti- 
komplementen u und den fast fabelhaft kleinen Mengen von Präzipitinogen 
(0,00001 ccm), die bei Moreschi’s Versuchen genügten, um das 
Gengou’sche Phänomen hervortreten zu lassen, boten die Anregung 
zu einer Reihe schöner Nachprüfungen und Arbeiten, die von Neisser 
und Sachs inauguriert wurden, um das genannte Phänomen zur 
forensischen Blutdifferenzierung brauchbar zu machen. 

Neisser und Sachs 4 ), Pfeiffer und Moreschi 6 ), Licfmann 6 ) 

1) Gengou, Sur les substances sensibilisatrices des serunis actifs contre les 
substances albuminoides. Ann. de l’inst. Pasteur. 1902. 

2) Neisser und Sachs, Ein Verfahren zum forensischen Nachweis der Her¬ 
kunft des Blutes. Berliner klin. Wochenschr. No. 44. 1905. 

3) Moreschi, Zur Lehre von den Antikomplementen. Berl. klin. Wochen¬ 
schrift. No. 37. 1905. 

4) Neisser und Sachs, L. c. und Die forensische ßlutdifferenzierung 
durch antihämolytische Wirkung. Berliner klin. Wochenschr. No. 3. 1906. 

5) Pfeiffer und Moreschi, Ueber scheinbare antikomplementäre und 
Antiambozeptorwirkungen präzipitierender Sera. Berliner klin. Wochenschrift. 
No. 2. 1906. 

6) Liefmann, Ueber Komplementablenkung bei Präzipitationsvorgängen. 
Berliner klin. Wochenschr. No. 15. 1906. 


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278 


Dr. E. Ehrnrooth, 


und jüngst Fried berger 1 ) konnten tatsächlich berichten, dass minimale 
Quantitäten eines Normalserum A bei Zusatz von dem diesem Serum A 
entsprechenden Antiserum, Alexin und sensibilisierten Blutkörperchen 
unter Beobachtung gewisser Mengenverhältnisse und unter näher be¬ 
schriebenen Kautelen, genügten die roten Blutkörperchen unbeeinflusst 
zu lassen, wenigstens während einer Zeit, in welcher Hämolyse ein¬ 
trat, wenn das Norinalserum A durch ein Normalserum B, C usw. 
substituiert wurde. Hämolyse trat auch ein, wenn das dem Normal¬ 
serum A entsprechende Antiserum ersetzt wurde durch ein heterologes 
Antiserum. 

Um das Gengou’sche Phänomen hervortreten zu lassen, ist also 
notwendig, dass die für das Entstehen eines Präzipitates erforderlichen 
Faktoren vorhanden sind. Hierbei ist es nicht erforderlich, dass ein 
sichtbares Präzipitat entsteht, obwohl aus Gays 2 ) u. a. Untersuchungen 
hervorzugehen scheint, dass je reichlicher das Präzipitat desto voll¬ 
ständiger die Bindung des Alexins erfolgt. Liefmann und Fried¬ 
berger haben gezeigt, dass selbst bei Zusatz erwärmten (1 Stunde 
bei 67° C.) Präzipitins, die Alexinwirkung ausbleiben kann. Wjc be¬ 
kannt, verliert bei dieser Temperatur das Antiserum seine präzipi- 
tierenden Eigenschaften. 

Ueber die Art des Mechanismus der Alexinflxation bei Präzipi¬ 
tationsvorgängen sind die Ansichten geteilt. Es liegt nicht ira Rahmen 
dieser Publikation, das pro und contra der verschiedenen Theorien 
und Behauptungen abzuwägen und zu prüfen. 

Das Phänomen, um welches es sich hier handelt, ist ein äusserst 
empfindlicher und spezifischer Vorgang. So hat z. B. Friedberger 
gezeigt, dass menschlicher Schweiss sogar in der Verdünnung von 
Vioooo sich durch die Neisser-Sachs’sche Methode nach weisen lässt. 

Mit Recht frägt sich Friedberger, ob eine derart gesteigerte 
Empfindlichkeit der Probe für die Praxis überhaupt noch einen Vor¬ 
teil bietet, oder ob sie nicht vielmehr die Quelle schwerer Irrtümcr 
bei der Deutung des Ausfalles der Reaktion bilden kann. Denn in 
einer grossen Anzahl von Fällen wird es sicher der Fall sein, dass 
auch kleine Mengen von Schweiss, von Schleim usw. den Blutflecken 

1) Friedberger, Zur forensischen Eiweissdifferenzierung auf Grund der 
hämolytischen Methode mittels Komplementablenkung. Deutsche med. Wochenschr. 
No. 15. 1906. 

2) Gay, La d^viation de l’alexine dans l’htSmolyse. Ann. de l’inst. 
Pasteur. 1905. 


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Ueber die praktische Bedeutung der Alexinfixation usw. 


279 


beigemischt sind, so z. B. den Blutflecken auf dem Hemde, auf dem 
Taschentuch, ja selbst an einem Messer, wenn dieses etwa gelegent¬ 
lich, wie es Schlächter tun, zwischen den Zähnen gehalten wurde. In 
solchen Fällen kann es leicht passieren, dass bei Anstellen der Probe 
die Hämolyse ausbleibt, und doch kann es sich um Flecke handeln, 
die nicht von Menschenblut stammen. Selbstverständlich ist es von 
Bedeutung, dass die forensische Blutdifferenzierungsprobe empfindlich 
ist, aber wenn diese Grenzen jene übersteigen, welche sich mit den 
ßordetschen Präzipitinen erreichen lassen, so scheint mir dieser 
Umstand aus den oben angeführten Gründen die Bedeutung der 
Neisser-Sachs’schen Probe für die Praxis nicht zu vermehren, sondern 
vielmehr zu verringern. 

Wenn überhaupt Blutflecken vorhanden zu sein scheinen und so 
verdächtig sind, dass es nötig wird, dieselben zum Gegenstand einer 
Untersuchung zu machen, so gibt es — glaube ich — immer Material 
genug für die Anwendung der Uhlenhuth-Wassermannschen 
Methode. Wenn das Blut nur in so kleiner Menge vorhanden ist, 
dass man es nicht sehen kann, so dürfte eben wohl kaum ein Ver¬ 
dacht auf Blutspuren entstehen können. 

Ich bin indessen keineswegs der Ansicht, dass die Neisser- 
Sachs’sche Methode für die gerichtliche Medizin ohne Bedeutung ist. 
Es scheint mir nur, dass man ihre Bedeutung etwas überschätzt hat. 
W r endet man nicht sehr hochwertige Sera an, so ist ihre Empfindlich¬ 
keit nicht so hoch, wie oben gesagt ist. Diese Tatsache wird auch 
von Friedberger erwähnt, und er warnt mit Recht auch davor, die 
Probe mit Seris anzustellen, deren Aktivität über Vioooo geht. 

Es sind aber daneben rein technische Umstände, die mir fast 
noch mehr die praktische Bedeutung der Methode zu verringern 
scheinen. Sie ist sehr umständlich, denn sowohl das Alexin, das 
Aktivserum und eventuell Sensibilisator und Indikator müssen in sehr 
genau angepassten Mengen zugefügt werden. 

Man hat schon von der Uhlenhuth-Wassermannschen Methode 
gesagt, dass sie nur den Laboratorien gehört. Dieses trifft noch viel 
mehr von der Neisser-Sachs’schen zu. Ja, ich möchte sogar sagen, 
dass diese Probe nur denjenigen Laboratorien Vorbehalten ist, in denen 
man reiche Erfahrungen in der Serodiagnostik hat. 

Meine Kontrollproben stimmen ganz überein mit dem, was von 
Neisser und Sachs und jüngst von Friedberger mitgeteilt ist. 
Ich habe meine Versuche angestellt mit Immunseris für Menschen-, 


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280 


Dr. E. Ehrnrooth, 


Pferde-, Schweine- und Rinderblut von verschiedener Aktivität. Mit 
Pferde-, Schweine- und Rinderantiserum in getrockneter Substanz 
habe ich ausserdem zusammen mit Herrn Tierarzt Fally Versuche 
gemacht mit der Methode der Alexinbindung für die Fleischdiffe- 
renzierung. 

Es sei gleich erwähnt, dass es uns gelungen ist, die Methode 
für solche Zwecke zu verwenden. Proben habe ich auch mit ein¬ 
getrocknetem Blute angestellt. Die Provenienz des Blutes habe ich 
so wohl mit der Uhlenhuth-AVassermannschen, wie mit der von 
Marx und mir angegebenen Methode, wie mit der Neisser-Sachs- 
sehen bestimmt. 

Eine Tabelle mag kurz meine Versuche illustrieren: 


Menschen- 
scrum (bei 
55° C. V 2 Std.) 
1 ccm 

Kanin- 

chen- 

Alcxia 

Immun¬ 
serum l ) 


1 ccm Ziegen- 
blutkörper- 
Aufschwem- 
mung 

Sensibili¬ 
sator 2 ) 

ccm 

Resultat 

Viooo 

0,25 

0,01 

t d / 

5 pCt. 

0 

Keine 

1/ 

/lOOOO 

0,25 

0,01 

° 

1 co 

5 pCt. 

0 

Hämolyse 

V20000 

0,05 

0,02 

1 ’S 

10 pCt. 

0,00015 

T) 

V 40000 

0,25 

0,01 

V 

5 pCt. 

0 

V 

1 / 

/S0000 

0,25 

0,01 

■f a 

I ® 

5 pCt. 

0 

n 

1 / 80000 

0,05 

0.02 

\ o / 

lOpCt. 

0.00015 ! 

r 

Vl 00000 

0,25 

0,01 

> 3 plus< 

/ « \ 

5 pCt. 

0 

n 

Phys. NaCl- 

0,25 

0.01 

T J 

5 pCt. 

i i 

0 

Hämolyse 

Lüsg. 

Viooo Pferde¬ 

0,25 

0,01 

i 

5 pCt. 

0 

in 2 Std. 

r» 

serum (55°) 
Vsoooo Pferde- 1 

0,05 

0,02 

a 

' o \ 

1 

10 pCt. 

0,00015 

T) 

serum (55°) 








2 Stunden bei 37° C. 


Analoge Resultate wie die oben angeführten, habe ich mit Pfcrdc- 
und Rinderseris bezw. Antiseris bekommen. Ich habe in diesen Ver¬ 
suchen, wie auch in den mit Menschenserum Resultate bekommen, wo 
in Folge der starken Verdünnungen ein Ausschlag mit den ßordet- 
schen Präzipitinen nicht zu erhalten war. Mit einem Rinderimmun¬ 
serum, das ich Dr. A. Schulz verdanke, und dessen Aktivität kaum 
1 :8000 in 1 / 2 Stunde entsprach, bekam ich positive Resultate in 

1) Das Serum war mir freundlichst von Dr. Schulz bei der Unterrichts¬ 
anstalt für Staatsarzneikunde in Berlin überlassen. Seine Wertigkeit betrug 
1:40000 in 1 / 2 Stunde. 

2) Kaninchen-Antiziegenserum (55° C.). 


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Ueber die praklische Bedeutung der Alexinfixation usw. 281 

Verdünnungen von 1:50 000; stärkere Verdünnungen brauchte ich 
dort nicht. 

Wie aus der Tabelle hervorgeht, habe ich Versuche sowohl mit 
vorher sensibilisierten Blutkörperchen angestellt, wie auch mit solchen, 
die vorher nicht sensibilisiert waren. Die Versuche mit sensibilisierten 
Erythrozyten entsprechen Experimenten, die Neisser und Sachs in 
ihrer ersten Mitteilung über Ablenkung hämolytischer Komplemente 
zum forensischen Nachweis der Herkunft des Blutes veröffentlichten, 
und deren Richtigkeit auch Friedberger bestätigen konnte. Die 
Experimente mit nicht vorher sensibilisierten Blutkörperchen wurden 
zur Kontrolle des vereinfachten Verfahrens, welches Neisser und 
Sachs 1 ) nunmehr vorgeschlagen haben, gemacht. Ein prinzipieller 
Unterschied besteht in der Tat nicht zwischen den beiden Verfahren. 
Denn in den Röhrchen, zu denen nicht sensibilisierte Blutkörperchen 
zugesetzt wurden, war die Alexinmenge 5 Mal grösser als in den 
Röhrchen mit 0,05 ccm Alexin, und diese Menge von 0,25 genügte, 
wie zuerst festgestellt wurde, um 1 ccm 5proz. Blutkörperchen-Auf¬ 
schwemmung zu hämolysieren. Die frischen Normalsera enthalten 
nämlich auch, wie oben schon hervorgehoben ist, die beiden Faktoren, 
die erforderlich sind, um Hämolyse hervorzubringen, obwohl die Menge 
des Sensibilisators (Ambozeptor) dort weit geringer ist als in einem 
Immunserum. Werden die Blutkörperchen vorher sensibilisiert, so 
sind sie weit weniger widerstandsfähig als Blutkörperchen, die mit 
entsprechendem Imraunserum nicht in Kontakt gewesen sind. In den 
Versuchen, in denen sensibilisierte Blutkörperchen zum Gebrauch 
kamen, genügte schon die Dosis von 0,05 Alexin, um Hämolyse her¬ 
vorzubringen. Der Umstand, dass in Vorversuchen die Alexin¬ 
mengen stets zuerst festzustellen ist, die dieselbe Menge Blutkörper¬ 
chen-Aufschwemmung hämolysieren, die in den Versuchen gebraucht 
wird, kompliziert die Neisser-Sachssche Methode beträchtlich. 
Zwar soll nach der Behauptung von Neisser und Sachs die hämo¬ 
lytische Wirkung des Kaninchenserums gegenüber Hammelblut¬ 
körperchen (bezw. Ziegen blutkör perchen) „ziemlich konstant“ sein. 
Die minimale komplett lösende Dosis für 1 ccm 5proz. Hammelblut¬ 
körper-Aufschwemmung wäre nach den genannten Autoren gewöhn¬ 
lich 0,25—0,15. Diese Angabe scheint nicht ganz richtig zu sein, 
wenn man nicht dem Wort „ziemlich“ eine fast zu elastische Be- 


1) Neisser und Sachs, L. c. 


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Dr. E. Ehrnrooth, 


deutung gibt. Es gibt Kaninchensera, für welche diese Konstanz durch¬ 
aus nicht zutrifft. Jedenfalls muss immer zuerst die minimale komplett 
lösende Dosis in Vorversuchen bestimmt werden. Dieses betrifft sowohl 
Versuche, in denen sensibilisierte wie nicht sensibilisierte Blutkörperchen 
gebraucht werden. 

Die Methode ist offenbar weniger kompliziert, wenn sie mit nicht 
sensibilisierten Blutkörperchen angestellt wird. Man braucht ja in 
diesem Falle Antiserum für die Tierart, deren Blutkörperchen als 
Indikator verwendet werden, nicht zur Verfügung zu haben. Ne iss er 
und Sachs haben für den forensischen ßlutnachweis auf diese Weise 
am zweekmässigsten gefunden die Kombination von Kaninchenserum 
als Alexin und Hammelblutkörperchen als Indikator. Benutzt man 
aber sensibilisierte Blutkörperchen, so kann man irgend ein beliebiges 
anderes Alexin verwenden, was bisweilen offenbar von Bedeutung 
sein kann. 

Die Blutkörperchen, die als Indikator in den Versuchen dienen, 
müssen gut in physiologischer NaCl-Lösung (8 pM.) gewaschen sein, 
denn sonst kann es, wenn Serum denselben noch anhaftet, leicht ge¬ 
schehen, dass ein Niederschlag beim Zusatz des Sensibilisators ent¬ 
steht. Dieser Niederschlag kann offenbar die Blutkörperchen derart 
beeinflussen, dass sie nicht hämolysiert werden, obwohl Hämolyse 
entstehen sollte. Dieselbe Wirkung konnte vielleicht auch eine eventuell 
entstehende hctcrologe Trübung hervorbringen in der Mischung von 
Menschenimmunserum und nicht vorher gewaschenen Blutkörperchen 
in einer Aufschwemmung bei Versuchen mit nicht sensibilisierten 
Erythrozyten. 

Die gerichtliche Medizin hat zweifellos durch die Neisser- 
Sachssche Methode einen wertvollen Gewinn erhalten. Nach meiner 
Meinung verringern jedoch Schwierigkeiten technischer Art und die 
Emständlichkcit, die an der Probe haftet, nicht unwesentlich ihre prak¬ 
tische Bedeutung. In gewisser Hinsicht scheint auch ihre ganz ausser¬ 
ordentliche Empfindlichkeit als verringernder Faktor ihren praktischen 
Wert zu reduzieren, obwohl auch diese Empfindlichkeit und Spczifizität, 
wenn z. B. nur geringwertige Immunsera zur Verfügung stehen, 
von Bedeutung sein kann. Auf die Verdienstseite der Methode muss 
der Emst and geschrieben werden, dass sie mit Seris und Untersuchungs¬ 
flüssigkeiten ausgeführt werden kann, die nicht dieselbe Klarheit haben 
müssen, wie die Flüssigkeiten, die in der Methode mit den Bordet- 
sehen Präzipitinen erforderlich sind. Zum Lobe der Methode muss 


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Ueber die praktische Bedeutung der Alexinfixation usw. 


283 


ausserdem — wie schon früher von Neisser und Sachs erwähnt 
ist — gesagt werden, dass diese Probe sich sehr gut dazu eignet, vor 
Gericht demonstriert zu werden. 

Aus der Praxis kann die Neisser-Sachssehe Methode die 
Ühlenhuth-Wassermannsche, die den ersten Platz behalten wird, 
nicht verdrängen. 

Es ist mir eine angenehme Pflicht, den Herren Dr. J. Bordet und 
0. Gengou meinen besten Dank auszusprechen für das grosse Ent¬ 
gegenkommen, das diese Herren mir bei der Ausführung dieser Arbeit 
bewiesen haben. 

Juni 1906. 


Yierteljahrsschrift f. ger. Med. u. öff. Sau.-Wesen, 3. Folge. XXX1L 2. 


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(x4us der Königlich sächsischen Heil- und Pflegeanstalt 

Zschadrass.) 

Kasuistischer Beitrag zur Frage über die straf¬ 
rechtliche Zurechnungsfähigkeit der Hysterischen. 

Von 

Oberarzt Dr. Hösel. 


Auf der Jahresversammlung des Vereins der deutschen Irrenärzte 
in Bonn und Halle bedauern Fürstner und Wollenberg in ihren 
Referaten über die Zurechnungsfähigkeit Hysterischer den Mangel 
einer erschöpfenden Kasuistik dieser Krankheitsgruppe gegenüber dem 
Reichtum der forensischen Literatur der Epilepsie. 

Soweit ich sehe, ist diese Kasuistik in den folgenden Jahren nicht 
besonders bereichert worden. 

Wir sind zwar seitens Binswangers, Reimanns, Räckes, 
Nissls mit nicht unbedeutenden Monographien über Hysterie und 
hysterische Psychosen beschenkt worden, welchen auch zahlreiche 
Kasualien als Beweismittel eingereiht sind. Die Fälle betreffen aber 
mehr die allgemein klinische Betrachtung der in Rede stehenden 
Psycho-Neurosc und berühren die Frage nach der kriminellen Zu¬ 
rechnungsfähigkeit dieser Kranken mehr nebensächlich. 

Ich glaube daher, dass folgender Fall von hysterischem Irresein 
sowohl wegen seiner psychogenetischen Entwicklung und seines Ver¬ 
laufes als auch wegen seines kriminellen Charakters wert ist, ver¬ 
öffentlicht zu werden. 

Ich lasse ihn daher in Form des von mir vor dem Kgl. Amts¬ 
gericht zu C. am 17. Oktober 1904 abgegebenen Gutachtens folgen: 


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Kasuistischer Bcitr. z. Frage üb. d. strafrechtl. Zurechnungsfähig!«, usw. 285 


A. Vorgeschichte. 

Das Kinderfräulein Anna Martha K. ist geboren am 7. März 1879 in R. 

Die Eltern desselben leben seit etwa dem Jahre 1883 voneinander getrennt. 
Der Vater soll wiederholt bestraft, sein jetziger Aufenthalt unbekannt sein. Die 
Mutter lebt in ärmlichen Verhältnissen in Fr. als Striokerin. 

Die K. besuchte als Kind die erste Bürgerschule in R. In ihrem von dem 
Direktorium dieser Schule ausgestellten Schulzeugnis erhielt sie im sittlichen Ver¬ 
halten die 3, in den Fortschritten die 2. „Ueber ihre Führung in der Schule 
selbst war nichts zu erinnern. Tn bezug auf Klagen ausserhalb der Schule wusste 
sie in Folge ihrer Kunst im Herausreden und in der Verstellung lange Zeit jeden 
Verdacht von sich zu weisen, bis ihr Eigentumsvergehen nachgewiesen wurden, 
wegen welcher sie in Untersuchung gekommen war.“ 

Sie hatte Kaufleuten Stoffe zu Gardinen, Schürzen usw. abgeschwindelt, 
indem sie die Sachen auf Rechnung fremder Personen entnahm und wurde deshalb 
am 13. März 1893 wegen Betrugs in 6 Fällen vom Kgl. Amtsgericht R. zu 15 Tagen 
Gefängnis verurteilt. 

Ihre Angaben bei der Ausführung der Betrügereien waren sehr sicher, ihr 
Auftreten gewandt. Sie selbst galt „stadt- und gerichtskundig“ als ein äusserst 
verlogenes Mädchen. Ihre Mutter bezeichnete sie als ungehorsam, widerspenstig, 
lügenhaft. Ueber die Bctrugsfälle machte sie frei erlogene Angaben, wollte vom 
eigenen Vater oder anderen Personen dazu gezwungen oder angestiftet, von ein 
paar Kerlen angefallen und ausvisitiert worden sein. 

Am 22. Dezember 1892 wurde die K. auf Beschluss des Stadtrates zu R. in 
der Kinderbewahranstalt T. untergebracht. Wegen der verübten Betrügereien er¬ 
schien es zweifelhaft, ob sie Ostern 1893 konfirmiert werden sollte. Der Geistliche, 
bei welchem sie Konfirmationsunterricht empfing, gab ihr das beste Zeugnis bezüg¬ 
lich ihres Wissens. ,,Es ist die beste Konfirmandin“, — testierte derselbe —, „denn 
sie bleibt auf eine Frage nie die Antwort schuldig, und zwar sind ihre Ant¬ 
worten immer so treffend und durchdacht, dass man ihr gute geistige Fähigkeiten 
nicht absprechen kann.“ Ihre Führung war, da sie stets beaufsichtigt war, eine 
dementsprechend tadellose, nur war fast jedes Wort, das sie sprach, eine Lüge, so 
dass der Geistliche, namentlich in letzter Zeit während ihres Aufenthaltes in T., 
wiederholt zu ihr sagte: „Dich frage ich nicht, denn ich will von Dir nicht be¬ 
logen sein.“ 

Am 30. März 1893 wurde sie konfirmiert aus der Anstalt T. entlassen. 

Am 5. April 1893 trat sie ihre erste Gefängnisstrafe im Geriohtsgefängnis zu 
R. an, verliess es am 23. April 1893. 

Sodann übernahm sie bei Spinnereibesitzer R. in Fr. als Kindermädchen 
Dienste. 

Hier spielte sich ihr zweites aktenkundiges Verbrechen ab. 

Am 11. September 1893 vermisste ihre Herrin einen Geldbetrag von 20 Mark, 
eine Korallenkette von 50 Mark und später ein goldenes Armband und eine goldene 
Brosche im Gesamtwerte von 125 Mark. 

Frau R. hegte zunächst gegen die K. wegen ihrer Jugend und da sie durch 
ihr gewandtes, einschmeichelndes Benehmen ihr Vertrauen erworben hatte, keinen 
Verdacht, vielmehr hatte sie eine damals in ihrem Hause aufhältliche entfernte 

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Dr. Hösel, 


Verwandte für die Diebin gehalten und zwar weil die K. ihr mitgeteilt hatte, dass 
sich diese, als das Fehlen des Geldes bemerkt worden war, angeblich verfärbt habe. 

Die K. erzählte aber weiter, sie habe die P., das zweite Dienstmädchen der 
R., eines Morgens am Schlosse des Vertikows beschäfiigt gesehen und diese 
habe, von ihr überrascht, sich den Anschein gegeben, als reinige sie gedachtes 
Möbelstück. 

Frau R. liess darauf die Kommode der P* öffnen und in dieser fand sich ein 
der K. gehöriges Hemd. 

In Folge fortgesetzt eindringlicher Vorhalte seitens der K. und der lt. räumte 
endlich die P. ein, die Diebin des Geldes und der Korallenkette zu sein. 

Sie wurde darauf in Haft genommen. 

Am Tage darauf wurden aber in den Aermeln einer der K. gehörigen Jacke 
die vermisste Korallenkette und ein Portemonnaie mit etwa 9 Mark Inhalt entdeckt. 

Der K. wurde Vorhalt gemacht. Diese leugnete aber, warf sich zu Boden, 
weinte und beteuerte derart ihre Unschuld, dass Frau R. mit den Worten: „Dir 
geschieht ja nichts. Ich sage doch nicht, dass Du es gewesen bist“, sie beruhigen 
zu müssen glaubte. 

Nun äusserte aber die K. nach kurzem weiter: „ihre Gedanken betrügen sie 
nicht, es stecke noch etwas oben in der Holzkammer“; und richtig brachte der 
5jährige Sohn der Frau R., der mit der K. in der Holzkammer gewesen war, aus 
einem Sacke noch ein Plüschjacket und einen Schlafrock zum Vorschein, die bis 
dahin noch garnicht vermisst waren. Endlich äusserte die K. zur Frau R., sie 
solle doch auch einmal nach ihrem Armband sehen. Die P. habe zu ihr, der K., 
einmal gesagt, dass sie ein schönes Armband besitze, möglicherweise habe die P. 
auch dieses gestohlen. 

Hierauf wurde Armband und Brosche vermisst. 

In ähnlicher, raffinierter Weise beging die K. auch die in den Akten ihr zur 
Last gelegten Betrugsfälle, die sie unter dem Vorgeben, ein anderes Dienstmädchen 
für Frau R. zu mieten, beging. Sie begründete auch diese mit ebenso frei aus der 
Luft gegriffenen Erdichtungen, wie die Diebstähle, wobei sie ohne Rücksicht fremde 
oder bekannte Personen verdächtigte und sie in ihr verbrecherisches Handeln ver¬ 
strickte. Auch legte sie dabei das gleiche theatralische Gebaren an den Tag, wie 
oben, als die Korallenkette gefunden wurde. 

Als dann der Verdacht auch hier sich wieder auf sie lenkte und die Be¬ 
trügereien herauszukommen drohten, kam sie wieder jammernd und weinend aus 
ihrer Kammer zur Frau R., hat fortgesetzt gcwehklagt, ohne die Fragen ihrer 
Herrin nach dem Grunde ihres Schmerzes zu beantworten, hat sich ganz untröst¬ 
lich gestellt, sich hingeworfen, das Gesicht verzerrt, so dass ihr die vollste Teil¬ 
nahme der Frau R. zuteil wurde und letztere sogar befürchtete, das Mädchen werde 
von Krämpfen befallen werden. 

Die K. hatte dabei einen Zettel in der Hand, inhalts dessen ihre Schwester 
schrieb, dass ihre Mutter, die in Dresden zwecks Vornahme einer Operation sich 
aufhalte, grosses Verlangen nach ihr habe und sie noch einmal sehen wolle, aber 
sofort, ehe es zu spät sei. 

Frau R. gab ihr Erlaubnis zum Besuch ihrer Mutter, Reisegeld und half ihr 
auch noch beim Anziehen. 


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Kasuistischer Beitr. z. Frage üb. d. strafrechtl. Zurechnungsfähigk. usw. 287 


Die K. reiste alsdann ab. Als sie aber nach einigen Tagen wieder zurück¬ 
gekehrt war, und sich unterdes die Verdachtsgründe gegen sie immer mehrten, 
veranlassto Frau R. ihre Festnahme. 

Die P. wurde jetzt, nach 14 Tagen, aus der Haft entlassen. Sie erklärte, 
dass sie die Diebstähle nur aus Angst zugestanden habe, weil die K. so in sie 
gedrungen sei. 

Auch in dem nun gegen die K. eingeleiteten Vorverfahren hat diese die 
erdenklichsten Lügen frei erfunden, um die Schuld von sich abzuwälzen. 

Die gestohlene Brosche wollte sie bald von ihrem Vater, bald von einem an¬ 
geblichen Bruder ihres Vaters erhalten haben, der sich in Dresden, wo sie nach¬ 
weislich gar nicht war, am Bahnhof empfangen, der sich als Schreiber obigen 
Zettels bekannt haben sollte, der mit ihr nach Glauchau gefahren sei, mit ihr da¬ 
selbst übernachtet und versucht haben sollte, sie geschlechtlich zu missbrauchen, 
und der endlich auch derjenige gewesen sein soll, der sie am 9. August bei Fr. 
gleichfalls räuberisch überfallen haben sollte. 

Alle diese Angaben stellten sich, zeugeneidlich erhärtet, als unwahr und 
aus der Luft gegriffen heraus und durch Schriftvergleichung wurde auch festge¬ 
stellt, dass der oben erwähnte Zettel von der K. selbst geschrieben sei. 

Nun glaubte aber die Mutter der K\, dass ihre Tochter durch den angeb¬ 
lichen Raubanfall und Schreck ganz geistesgestört sei. „Sie, die K., habe überall 
keine Ruhe mehr gehabt und wenn sie sie gefragt habe, habe sie erklärt, sie habe 
nichts genommen/ 4 

Bl. 90 der Akten behauptete die K. selbst auch, Frau R. habe sie aus freien 
Stücken nach R. geschickt, damit sie sich, weil sie von dem Raubanfall immer 
Krämpfe gehabt habe, bei ihren Angehörigen erholen solle. 

Bl. 90 gibt die Mutter der K. ferner an, dass ihre Tochter, wonn sie bei ihr 
zu Besuch gewesen sei, sich immer krankhaft aufgeregt gezeigt habe. 

Da infolge.dieser Angaben Zweifel auftauchten, ob die K. geistig normal sei, 
wurde ein bezirksärztliches Gutachten eingeholt. 

Dasselbe behandelt die Frage, ob man es bei der K. mit der unter dem 
Namen der Moral insanity bekannten psychischen Degeneration zu tun habe, und 
kam zu dem Ergebnis, dass man sich nach sorgfältiger Erwägung der Verhältnisse 
dagegen aussprechen müsse. 

Die K. wurde darauf verurteilt. 

„Auf Grund der Beweisergebnisse und insbesondere in Erwägung, dass die 
K. des Besitzes des grössten Teils der gestohlenen Sachen überführt erschien, 
dass sie bei dem Versuche, sich zu rechtfertigen, sich in die gröblichsten, in sich 
widerspruchsvollsten Lügen verstrickt hat, dass sie andere Personen des Dieb¬ 
stahls zu verdächtigen unternommen, dass sie noch nicht vermisste Sachen an 
Orten, wo sie sie zu vermuten Anlass nicht haben konnte, aufgefunden hat, wurde 
sie des Diebstahls und Betrugs für schuldig erachtet und zu 1 Jahr und 3 Monat 
Gefängnis verurteilt/ 4 

„Zu ihren Ungunsten kam ausser ihrer Vorbestrafung in Betracht: Die aus 
ihrem Verhalten in gegenwärtiger Untersuchung erhellende Verstocktheit und Ver¬ 
dorbenheit ihres Charakters, der grobe Vertrauensbruch, den sie gegen ihre, ihr 
wohlwollende Dienstherrschaft begangen hat, sowie der Umstand, dass sie eine 


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Dr. Hösel, 


Unschuldige in Verdacht und Untersuchungshaft gebracht hat. Als besonders ver¬ 
werflich erschien ihr Handeln insoweit sie sich nicht gescheut, zu betrügerischem 
Zwecke den nahen Tod ihrer Mutter vorzuspiegeln. u 

Ueber die Führung der K. im Untersuchungsgefängnis und ihren Charakter 
findet sich in den betreffenden Akten die Bemerkung: „Die K. besitzt grosse Er¬ 
findungsgabe und Beharrlichkeit im Lügen, wobei sie ein erstaunlich glaubwür¬ 
diges Wesen an den Tag legt.“ 

Nachdem sie am Tag nach derVerurteilung dem Staatsanwalt ein Geständnis 
abgelegt, wurde die K. am 12. Juni 1894 der Strafanstalt Gr. überantwortet. Da¬ 
selbst erlitt sie mehrere Bestrafungen wegen Ungehorsams, Kaupelei, unerlaubten 
Sprechens, wiederholt verbotenen Lachens, ungebührlichen Betragens, galt als 
lügenhaft und sittlich verwahrlost, eitel, fleissig, geschiokt, sehr eigensinnig, 
eigenwillig, dickköpfig, vorlaut, zänkisch, dabei sehr empfindlich, mit leidlichen 
Kenntnissen begabt, ohne jegliche Reue. 

Am 11. September 1895 wurde sie zu ihrem in Y. wohnenden Vater entlassen. 

Am 2. April 1896 wurde sie aber von neuem verhaftet. Sie hatte ihrer 
Freundin G. eine Uhr mit Kette im W r erte von 50—00 Mk. gestohlen. 

Auch hierbei versuchte sie in raffinierter Weise den Verdacht von sich auf 
andere zu lenken, indem sie frei erfunden andere des Diebstahls beschuldigte, in 
diesem Fall ein Kind. 

Sie wurde „in Ansehung des beträchtlichen Wertes von Uhr und Kette, beim 
Nichtvorhandensein irgend eines Notstandes als Motiv der Tat, in Ansehung der 
beiden von ihr erlittenen Vorstrafen, des schweren Vertrauensbruches und nicht 
zuletzt wegen ihrer Niedertracht, die sich in der gewissenlosen Verdächtigung 
einer unschuldigen Person kundgab“, zu 10 Monaten Gefängnis verurteilt. 

Am 26. Mai 1896 wurde sie zur Abbiissung der Strafe wiederum der Straf¬ 
anstalt Gr. zugoführt. 

Während dieses zweiten Aufenthaltes daselbst wurde sie wegen ungebühr¬ 
lichen Verhaltens gegen Beamte bestraft, zeigte sich leichtfertig, lügenhaft, dick¬ 
köpfig, verleumderisch, klatschhaftig, geschickt zu jeder feineren Arbeit, lleissig, 
jedoch nach Laune, wetterwendisch. 

Am 16. März 1897 wurde sie entlassen. Wo sie in der Folge sich aufge¬ 
halten hat, ist nicht aktenkundig. 

Erst im August 1898 erfährt man wieder von ihr. 

Es erging nämlich am 24. August 1898 am Landgericht S. die Anzeige, dass 
sich die K. von neuem des Betrugs schuldig gemacht habe. 

Sie hatte sich in dem Geschäft der Witwe L. in X. als Verwandte der Fa¬ 
milie Ge., wo sie in Diensten stand, ausgegeben und für diese einen Reisekorb 
bestellt, ohne Zahlung zu leisten. Den Korb, der der Familie Ge. zur Ansicht ge¬ 
schickt wurde, nahm die K. aber selbst in Empfang und reiste mit ihm ab. 

4 Wochen nachher, am 23. September 1898, erging eine weitere Anzeige 
gegen die K. seitens einer Witwe V. in M., wieder wegen Diebstahls. Da aus 
dieser Anzeige über das Wesen und Verhalten der K., besonders über die Gabe, 
frei zu erfinden, manches Bemerkenswerte hervorgeht, sei diese hier zum Teil 
wörtlich angeführt: 

„Am 1. September 1898 kam eine angebliche Kindererzieherin Jv. zu mir 


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Kasuistischer ßeitr. z. Frage üb. d. strafrechtl. Zurechnungsfähig^ usw. 289 

und bat mich um die Gewährung von Unterkunft bis 1. Oktober. Das Mädchen 
machte einen äusserst intelligenten und sehr guten Eindruck und erzählte mir, 
gewissermassen zur Begründung ihres Antrags, sie sei zur Zeit bei Frau Land¬ 
richter Z. als Kinderfräulein engagiert, gebe diese Stellung aber am selben Tage 
auf. Per 1. Oktober sei sie bei Herrn Ingenieur N. engagiert. Diese Familie sei 
aber im Bad und es würden ihr mit Rücksicht auf dieses Engagement, falls sie 
für den einen Monat nach Hause reisen müsse, zu grosse Kosten entstehen. Sie 
sei im Schneidern gut erfahren und von einer Kundin von mir, einer Offiziers¬ 
dame, deren Namen sie nicht angab, an mich gewiesen worden. 

Das anständige Auftreten und der günstige Eindruck, den das Mädchen bei 
mir hervorrief, veranlassten mich, dem Ersuchen stattzugeben. — In meinem 
Glauben, dass ich es mit einem sehr gebildeten und anständigen Fräulein zu tun 
habe, wurde ich auch dadurch bestärkt, dass die K. mir stets Aeusserungen 
machte, die auf ein intimes und sehr freundschaftliches Verhältnis zwischen ihr 
und Frau Landrichter Z. schliessen Hessen. Sie gab an, den Verkehr mit Frau 
Landrichter stets zu unterhalten und ging auch jeden Tag von mir fort, um 
irgend etwas bei Frau Landrichter zu besorgen. Ihre tägliche Unterhaltung drehte 
sioh grösstenteils nur um Familie Z. und dabei immer hervorkehrend, in welchem 
günstigen Verhältnis sie zu dieser Familie stehe. Solche Gesohichten hat sie mir 
in reichlicher Menge aufgetragen und ich setzte auch gar keinen Zweifel in ihre 
Angaben. 

Nun habe ich während des Aufenthaltes der K. bei mir verschiedene Dieb¬ 
stähle entdeckt. — Mein Verdacht lenkt sich heute auf die K., nachdem dieselbe 
am 22. Sept. 1898 plötzlich unter dem Vorgeben bei mir wegging, ihr Vater käme 
hierher und sie werde in etwa 14 Tagen jedenfalls mit ihrem Grossonkel nach 
Italien reisen. 

Ich habe nun festgestellt, dass die K. mich in ganz raffinierter Weise be¬ 
logen hat. Der ganze angebliche Verkehr mit der Frau Landrichter Z. beruht auf 
lauter aus der Luft gegriffenen Lügen. 

Es wurde hierauf am 17. Novbr. 1898 gegen die K. Haftbefehl erlassen. Da 
ihr Aufenthalt aber unbekannt war, konnte dieser erst am 17. Oktober 1900 voll¬ 
streckt werden, was in L. geschah, von wo sie am 22. Novbr. 1900 ins Gerichts- 
gefängnis zu S. überführt wurde. 

Am 27. Novbr. 1900 wurde sie des Betrugs und Diebstahls, beides in straf¬ 
schärfendem Rückfall schuldig befunden, und zu 1 Jahr Gefängnis verurteilt. 

Aus den Untersuchungsakten geht als bemerkenswert noch hervor, dass die 
K. folgende wiederum bezeichnende Angabe machte: „Weil ich mich ganz ver¬ 
lassen fühlte, kam ich gestern Abend zu dem Entschluss ins Wasser zu gehen, 
wurde aber von Schiffern wieder herausgezogen“. 

Damit im Zusammenhang stehend, findet sich Bl. 68 ein Brief von der Hand 
der K., in welchem sie in affektierter Weise ihrer Herrin Vorhalt macht und von 
ihrem Vater Abschied nimmt. Einige Sätze seien zur Charakterisierung hier an¬ 
geführt: 

„Frau 0.! Eine zur vollen Verzweiflung gebrachte Mensohenseele schreibt 
Ihnen diese Worte, wenn Ihnen diese Zeilen antreffen, ist mein Leib von dieser 
Erde. Sie zerstörten mein Glück. Liebe Frau 0.! ich habe ihnen keinen Pfennig 


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Dr. Hösel, 


gestohlen-ich bin unschuldig, unschuldig gehe ich aus dieser Welt. Ich 

habe Ihnen wohl belogen, aber lange nicht so als wie sie mir nachsagen, o ich bin 
unschuldig. Ihr meine geliebten Eltern, ehrlich war ich doch, ich habe nichts ge¬ 
stohlen. 0, ich bin unschuldig, geliebte Mutter, guter Vater, herzige Schwester. 

-Verzeiht Eurer armen unschuldigen Tochter-. Man glaubt mir 

nicht, dass ich einen Vater habe, und so suche ich den Tod in den Wellen. Mein 
herzensguter Vater, der Du sonst keine Kosten scheust und das Geld nicht an¬ 
siehst, o hole Deine arme Tochter in die Heimat zurück, bitte, lieber Vater, lass 
Deine arme unschuldige Tochter in meiner Heimat bei der geliebten Mutter be¬ 
graben -.“ 

Ob die K. wirklich einen Selbstmordversuch gemacht hat, ist aus den Akten 
nicht erweislich. 

Am 22. Dezember 1900 wurde sie zum Strafantritt nach dem Gefängnis zu 
S. gebracht. 

Am 9. Januar 1901 erging aber bei der Staatsanwaltschaft 0. eine erneute 
Anzeige gegen die K., dass diese einer Frau Direktor B., bei welcher sie während 
eines vierwöchigen Aufenthaltes in W. in Diensten stand, eine Uhr nebst Kette 
im Wert von 239 Mark gestohlen habe. 

Am 27. Januar 1901 im Zellengefängnis S. deshalb vernommen, bestritt sie 
den Diebstahl und behauptete, ihre Uhren von ihrem Vater erhalten zu haben. 

Bei einer Durchsuchung der Sachen der K. am 18. März 1901 wurde die ge¬ 
stohlene Uhr mit Kette aber in ihrem Koffer gefunden. 

Am 17. und 30. April 1901 legte sie Geständnisse ab und gab zu, die Uhr 
der Frau B. aus einer Tasche entwendet zu haben. 

Inzwischen wurden nun in der Strafanstalt S. zum ersten Mal Zeichen einer 
geistigen Erkrankung festgestellt. 

Am 24. März 1901 schon schrieb sie an ihre Mutter einen Brief, der durch 
viele Unterstreichungen und durch seinen in dieser Beziehung bemerkenswerten 
Inhalt auffällt und in welchem folgende Stelle vorkommt: „Denkst Du, ich bin 
noch munter und frisch, solltest mich nur sehen, auch ich bin immer unpass und 

werde vor Gedanken die Kopfschmerzen nicht los-. 0 bitte, lass mich nicht 

verzweifeln, ich tue sonst was wenn mir mein Vater nicht hilft, mir kommen ganz 
schreckliche Gedanken, Tag und Nacht habe ich keine Ruhe und wenn ich einmal 
eine Stunde schlafe, dann quälen mich wüste Träume.“ 

Aus dem ärztlichen Fragebogen des Anstaltsarztes zu S. vom 17. Mai 1901 
ergiebt sich nach dieser Richtung hin folgendes: 

„Im März 1901 begann ihre Krankheit allmählich. Scheinbar liegt die Ur¬ 
sache in Gewissensbissen. Sie fing an, zu weinen und widerspenstig zu sein. Es 
bestanden vollständige Schlaflosigkeit, Depression, Sinnestäuschungen. Die 
Störung nahm zu. Die K. wurde immer unruhiger. Ihre Motilität war normal, 
die Sinnestätigkeit sehr lebhaft. Kein Zittern, keine Lähmung. Leichtes Schwanken 
bei geschlossenen Augen, erhöhte Sehnenrcfiexe, beide Pupillen erweitert, keine 
Sehstörungen, keine Schwerhörigkeit, Zunge wird fest und gerade vorgestreckt. 
Keine Sprachstörungen. Es besteht Selbstmordneigung. Es mussten ihr wiederholt 
Handschellen angelegt werden. 

Nach ihren eignen Angaben soll ihre Mutter nervenkrank und sehr auf- 


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Kasuistischer Beitr. z. Frage üb. d. strafrechtl. Zurechnungsfähig^ usw. 291 


geregter Natur sein. Sie selbst will früh laufen gelernt, Masern, Diphtherie und 
Bleichsucht gehabt haben, sei sehr verwöhnt worden, eigensinnig, lebhaft, heftig 
und frech gewesen. Habe gut gelernt, habe erst die höhere Töchterschule in 
L., sodann in H. (ein Erziehungsinstitut für Mädchen höherer Stände) besucht, 
wo sie zu streng gehalten worden sei. Sei vor der jetzigen Erkrankung nicht 
geistig gestört gewesen.“ 

Infolgedessen wurde die K. am 24. Mai 1901 in die Provinzial-Irrenanstalt 
zu B. überführt, am 14. Mai 1902 von Hysterie nur gebessert in die Universitäts¬ 
klinik zu L. versetzt und am 26. Juli 1902 von da wiederum nur gebessert zu 
ihrer Mutter nach Fr. entlassen. 

Auf eine Anfrage der Staatsanwaltschaft 0. an die Universitätsklinik zu L. 
wurde jener folgende gutachtliche Aussprache übermittelt: 

„Die pp. K. ist, soweit aus den Akten v. S u. B. bekannt, in eine ausge¬ 
sprochene Geistesstörung verfallen, erst zur Zeit ihres Aufenthaltes in S., April 
oder Mai 1900. 

Geisteskrank im eigentlichen Sinne des Wortes war sie vorher offenbar nicht. 
Wohl aber dürfte sie schon zur Zeit der Ausführung der fraglichen strafbaren 
Handlung, Juli oder August 1900, die vermutlich angeborenen oder früh erworbenen 
geistigen Abnormitäten dargeboten haben, welcho wir hier beobachten konnten. 
Die pp. K. leidot an einer hysterischen Charakterdegeneration, bei welcher ihre 
freie Willensbestimmung sicherlich in erheblichem Grade beeinträchtigt gewesen 
ist. Ausserdem scheint nach den Erfahrungen in S. der Strafvollzug in Form 
einer Freiheitsstrafe geeignet, bei ihr eine ausgesprochene Geisteskrankheit hervor¬ 
zurufen.“ 

Das Verfahren wurde daraufhin von der Staatsanwaltschaft 0. vorläufig ein¬ 
gestellt. 

Am 21. Januar 1904 erging jedoch an die Staatsanwaltschaft A. wiederum 
eine Anzeige gegen die K. wegen Diebstahls. 

Sie stand im Herbst 1903 bis Januar 1904 im Dienst eines Arztes in H. und 
wird beschuldigt, während dieser Zeit eine goldene Brosche im Wert von 40 bis 
50 Mark, einen Diamanten im Wert von 200 Mark, verschiedene Deckchen und 
Geldbeträge gestohlen zu haben. Der Verdacht richtete sich gegen die K., weil 
diese bei dem betreffenden Arzt über ihre persönlichen und Familienverhältnisse 
viele, gänzlich falsche Angaben gemacht habe. 

Unterdes war die K. Anfang des Jahres 1904 nach Fr. zu ihrer Mutter gereist. 

Dort am 25. Februar 1904 vernommen bestritt sie, den Diebstahl begangen 
zu haben. 

Vernehmungen der Oberpflegerin E. und der Pflegerin F. in B. am 23. März 
1904, wo die K. Anfang Januar noch zu Besuch gewesen ist, verstärkten aber den 
Verdacht gegen sie. 

Hierbei machte die Oberpflegerin E. die Bemerkung, dass die K. am Abend 
ihres Besuchs in B. sehr verwahrlost ausgesehen habe und nach ihrer Meinung 
geistig nicht normal sei. 

Inzwischen war die K. von Fr. (dem Aufenthaltsort ihrer Mutter) wieder 
abgereist, während der Reise aber in der Tat geistig erkrankt und im Kranken¬ 
hause zu Br. untergebracht worden. 


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I)r. Hösel, 

Aus dem Krankenjournal daselbst geht hervor, dass sie am 3. März auf der 
Station Br. als geisteskrank aus dem Zuge geschickt und Abends durch die Sanitäts¬ 
wache im Krankenhause eingeliefert worden sei. 

„Sie war nicht über Ort und Zeit orientiert, leicht erregbar. Man konnte 
sich nicht in geordneter Weise mit ihr in Verbindung setzen. Auf Befragen gab 
sie Antworten, die mit der Frage zumeist in keinem Zusammenhang standen. Sie 
hörte Stimmen bestimmter Personen, die sie namhaft machte (Mutter, Aerzte der 
Anstalt, in der sie war), auch sah sie dieselben Personen an der Decke oder in der 
Ecke der ihr zugewiesenen Zelle. Sie weigerte sich, Anstaltswäsche anzuziehen, 
war vollkommen gleichgültig gegen ihre Umgebung, ausgenommen den Arzt, den 
sie als Scharfrichter ansprach. Im Bett verhielt sie sich ruhig, sprach nur vor 
sich hin, schlief aber nicht. Sie verweigerte zeitweilig die Nahrung. Es stellten 
sich mehrfach deutliche Zeichen von Katalepsie, auffälliger Maniriertheit und 
Negativismus ein. Sie zeigte ein krankhaft albernes Benehmen, kam in starke Er¬ 
regung, schrie laut, weinte, schluchzte. Vorübergehend trat einige Zeit eine Besse¬ 
rung ein. Die Kranke wurde klarer, war orientiert. Sodann wurde der Zustand 
wieder schlimmer. Sie sah wieder Gestalten, besonders Nachts, war erregt.“ 

Am 7. April 1904 wurde sie entlassen. Sie ging wieder nach Fr. zu ihrer 
Mutter. 

Hierher erging auch am 23. April 1904 seitens der Staatsanwaltschaft A. 
Haftbefehl. 

Am 29. April erklärte aber die Mutter der K. an Amtsstelle: „ihre Tochter 
habe gegenwärtig wieder Anfälle von Geistesgestörtheit . . ., sie sei krank von H. 
zurückgekommen und sei 8 Wochen in der Behandlung des hiesigen Arztes Dr. K. 
gewesen. Sodann habe sie am Rhein eine neue Stelle antreten wollen, sei aber 
unterwegs in Br. angehalten und wegen schwerer Nervenkrankheit 5 Wochen lang 
im dortigen Krankenhaus untergebracht worden. Vor 3 Wochen sei sie wieder 
zurückgekehrt und sei seit gestern, wo sie die Bestellung aufs Gericht erhalten 
hat, wieder aufgeregt.“ 

Die K. selbst sodann zur Person und Sacho befragt, ist anscheinend nicht 
im stände, die an sie gerichteten Fragen zu beantworten. Sie spricht unaufhörlich 
in unzusammenhängender Rede und macht den Eindruck einer Geistesgestörten.“ 

Es wird deshalb von der Vollstreckung des Haftbefehls abgesehen. 

Nachdem auch die unterdes eingeholten Gutachten der Herren DDr. U. in B. 
und K. in Fr. zu einem positiven Urteil über den dargebotenen Geisteszustand der 
K. aus Mangel an Beobachtungsgelegenhcit nicht kommen konnten, wurde hierauf 
auf Antrag der Ferienkammer des Landgerichts A. vom 24. August 1904 die Be¬ 
obachtung der K. auf ihren Geisteszustand beschlossen, zu welchem Zweck sie 
für die Dauer von G Wochen der hiesigen Heil- und Pflegeanstalt am 6. September 
1904 zugeführt wurde. 


B. Beobachtungs-Ergebnis. 

Die pp. K. stammt aus einer mit Neigung zu Geistesstörung schwer be¬ 
lasteten Familie. 

Als geisteskrank starb in der Heil- und Pflegeanstalt H. eine Schwester ihrer 
Urgrussmutter, die au Verrücktheit gelitten hat, aus einer menschenscheuen, geistig 


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Kasaistischer Beitr. z. Frage üb. d. strafrechtl. Zurechnungsfähig^, usw. 293 

und körperlich „verhütteten“ und verarmten Familie stammt, deren Geschwister 
auch geisteskrank und geistesschwach gewesen seien. 

An allgemeiner fortschreitender Hirnlähmung starb ferner ein Bruder der 
Mutter der K. 

Geisteskrank sind noch ein zweiter Bruder der Mutter und dessen beide 
Kinder, von welchen das eine epileptisch ist und das andere an Jugendirresein 
leidet, und diedeshalb in den Landesanstalten II. undF. untergebracht gewesen sind. 

Die Geburt der K. selbst war nach den glaubwürdigen Angaben ihrer Mutter 
leicht und normal. Das Kind war normal entwickelt, wurde 4—5 Wochen gestillt, 
machte in späteren Jahren Masern, Scharlach und Diphtherie durch, klagte in 
ihrem 9. und 10. Jahre viel über Kopfschmerz und brach dabei öfter, ohne ersicht¬ 
lichen Grund. Sie hat nie eine schwerere Kopfverletzung erlitten und nie Krämpfe 
gehabt. In der Schule hat sie leicht gelernt, benahm sich wie andere Kinder auch 
und hat, solange sie bei der Mutter war, von dieser nie etwas genommen, obgleich 
genügend Gelegenheit dazu vorhanden gewesen sei. 

Die körperliche Untersuchung der K. ergab, dass sie kräftig und regelmässig 
gebaut ist, gut entwickeltes Fettpolster, kräftige Muskulatur und grazilen Knochen¬ 
bau aufwies. 

Ihre Hautbedeckungen sind rein, aber hochgradig blass, ebenso die 
sichtbaren Schleimhäute und besonders zeigt das Gesicht eine ganz auffallende 
Blässe. Die Haut zeigt beim Bestreichen kein Nachröten. 

Der Eindruck, den die Erscheinung der K. als solche macht, ist ein kind¬ 
licher (Habitus infantilis) und sieht das Mädchen wio ein Kind von 15 bis 
IG Jahren, nicht aber wie ein Mensch von 25 Jahren aus. Ihre Hände sind auf¬ 
fallend klein, ihre Gesichtszüge kindlich. 

Kopf- und Gesichtsschädel zeigen nichts Abnormes. Das Haar ist schwarz, 
lang, reich. Das Gesicht ist rund und voll, die Gesichts- und Kaumuskulatur wird 
symmetrisch innerviert. 

Die Augen stehen gerade, sind frei beweglich, etwas hervortretend (leichter 
Exophthalmus), der Blick ist stechend. Die Pupillen sind mittel- und gleich¬ 
weit, reagieren prompt auf direkten Lichteinfall und bei Einstellung in Nähe 
und Feme. 

Zähne sind gesund und gut erhalten, Ohren ohne Degenerationszeichen. 
Gesicht und Gehör sind ohne Besonderheiten. Die Untersuchung des Blickfeldes 
ergiebt eine hochgradige und ganz auffallende konzentrische Gesichtsfeldein¬ 
schränkung, die bestehen bleibt bei mehrfachen Prüfungen. 

Die Besichtigung der Mundrachenhöhlo löst sofort einen kräftigen Würg- 
redex aus, der sich zu einigen Brechbewegungen selbst bei leiser Berührung und 
bei jeder Untersuchung steigert. (Steigerung der Reflexerregbarkeit.) 

Der Hals ist kurz und gedrungen, er zeigt eine deutliche, wenn auoh geringe 
Anschwellung der Schilddrüse nach beiden Seiten. (Leichte Struma.) 

Die rechte Lunge zeigt über der hinteren Spitze abgeschwächtes Atmen, 
sonst ebenso wie Herz und Bauchorgane keine nachweisbaren krankhaften Ver¬ 
änderungen. 

Die Bauchreflexe sind nicht auslösbar, ebensowenig besteht reaktive Druck¬ 
empfindlichkeit der Eierstöcke. (Ovarie.) 


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Dr. Hösel, 


Dagegen sind die Kniesehnen-Reflexe überaus leicht auslösbar und ge¬ 
steigert, auch ist die mechanische Muskelerregbarkeit beim Klopfen der 
verschiedensten Muskeln auffallend erhöht. 

Die aktive und passive Beweglichkeit der Extremitäten ist eine geordnete, 
abgesehen von einer krankhaften Veränderung, von der weiter unten die Rede sein 
wird. Doch zeigte sich anhaltend ein unwillkürliches Bebenmeist einseitig, 
in der Augenbrauen- und Nasenlippenmuskulatur, das nicht auf mimische Mit¬ 
bewegungen zurückgeführt werden konnte, sondern deutlich die Zeichen des 
Unwillkürlichen trug. 

Es bestanden keine Krämpfe, keine Lähmungen, keine Kontrakturen, keine 
veitstanzartigen oder sonstigen Bewegungsstörungen in Form der Zitter¬ 
bewegungen. 

Die Untersuchung der Hautempfindung ergab folgendes Ergebnis: 
Während die K. auf der linken Körperhälfte die Spitze oder Kuppe einer Steck¬ 
nadel zwar nicht ganz, aber annähernd sicher (Hypästhesie) unterschied und 
lokalisierte, geschah dies auf der rechten Seite des Körpers (Ober-Vorderarm, 
Brust, Ober-Unterschenkel) nicht (rechtsseitige Anästhesie). Während die 
K. ferner auf der linken Seite des Körpers Nadelstiche deutlich und schmerzhaft 
und gegebenenfalls mit einem Schmerzensruf und reaktiven Abwehrbewegungen 
empfand, blieb sie bei den gleichen Versuchen an der rechten Seite unempfind¬ 
lich. Diese Unempfindlichkeit blieb auch bestehen als man ihr eine grosse Nadel 
durch hocherhobene Hautfalten querdurch stach, sie blieb es auch, als der Ver¬ 
such zu verschiedenen Seiten wiederholt und bald am rechten Arm, bald am 
rechten Bein gemacht wurde. Es bestand also ausgeprägte, halbseitigo Gefühls- 
und Schmerzlosigkeit (Hemianästhesie und Hemianalgesie der rechten 
Seite). Eine Simulation war ausgeschlossen. Die Versuche wurden mehrfach 
und stets bei sorgfältigem Ausschluss des Gesichtssinnes gemacht. Bemerkenswert 
bei den Versuchen war noch, dass die Stichkanäle nie bluteten. 

Lagegefühl und Tastempfindung waren ohne sicher nachweisbaren krank¬ 
haften Befund. 

Es bestand nie Fieber. Der Puls zeigte 72 Schläge in der Minute. Urin 
war frei von Zucker und Eiweiss. 

Auffallende Störungen zeigten sich weiterhin in Sprache, Ausdrucks¬ 
bewegungen und Gang. 

Zeitweilig war die K. vollständig stumm. (Mutismus.) Diese Stummheit 
erstreckte sich oft auf Tage, einmal fast auf eine ganze Woche. Sie gab dann auf 
keine an sie gerichtete Frage eine Antwort, sprach auch von selbst nicht, ver¬ 
langte nichts, äusserte keine Wünsche durch sprachlichen Ausdruck, sondern ver¬ 
richtete alles vollständig automatenhaft. 

An anderen Tagen sprach sie ganz klar, fliessend. 

Wieder an anderen Tagen lispelte sie nur, sprach leise und unverständlich 
vor sich hin. 

Dann wieder schrie sie laut auf, brüllte oder sang. 

Ihre Ausdrucksbewegungen unterlagen abgesehen von der Zeit, während 
der sie schlief, einem fortwährendem Wechsel. Bald verzog sie die Stirn zu 
dichten Runzeln, bald verzerrte sich das Gesicht zu abscheulichen Fratzen, bald 


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Kasuistischer Beitr. z. Frage üb. d. strafrechtl. Zurechnungsfähigk. usw. 205 

waren die Züge starr, maskenhaft, bald zeigte sioh eine lachende, bald eine ernste, 
wilde Miene, bald nahm diese einen drohenden, bald einen unglücklichen Aus¬ 
druck an, bald war es Soelenschmerz, herzliche oder kindische Freude, Schaden¬ 
freude, die in den Zügen lag, aber alles immer im bunten Wechsel. Meist auch 
verzerrte und verzog sie den Mund zu abscheulicher Breite oder spitzte ihn zu 
hässlicher Rundung. (Karpfenschnauze.) 

Gleich veränderlich wie ihr Mienenspiel war ihr Gang. Oft unterschied er 
sich nicht vom gewöhnlichen. Oft war er soldatenmässig. Sie ging im Takt. 
Oft blieb sie plötzlich stehen oder ging nur schrittweise, um dann kurz Halt zu 
machen. Dann wieder rannte sie. Dann wieder war der Gang stampfend, 
stossend, automatenhaft steif, dann wieder schleichend langsam. Nicht selten 
unterbrach sie ihn ganz und blieb längere Zeit auf einem Flecke stehen. 

Dabei zeigte sich stets eine auffallende Veränderung im Wesen und Vor¬ 
halten der K. 

Blieb sie in bestimmten Stellungen stehen, nahm sie gewöhnlich eine 
statueske Haltung ein. Alle Muskeln waren in mehr oder weniger starrer 
Spannung, nahmen oft auch die Stellung längere Zeit ein, die man ihnen künst¬ 
lich gab. Dies Verhalten zeigte sich aber nur ganz vorübergehend. 

Meist befand sie sich im Zustand zweckloser Unruhe. Ruhelos warf sie sich 
im Bett hin und her. Immer spielte sie fahrig und hastig bald mit ihrem Haar, 
bald mit einem abgerissenen Blatt oder aufgelesenen Steinchen, zerrte an ihrer 
Kleidung, drehte sich, lief erregt auf und ab, stellte sich kerzengerade auf einen 
Stuhl, oft im blossen Hemd, warf ängstlich und scheu den Kopf zur Seite oder 
wand den Blick seitwärts. So machte ihr ganzes Wesen den Eindruck des Thea¬ 
tralischen, Affektierten, krankhaft Gemachten, Manirierten. 

Dabei gestikulierte sie viel in der Luft, richtete den Blick ins Leere oder in 
die Ferne, horchte und lauschte an die Wand, in die Ecke, zum Fenster hinaus, 
lachte häufig, ohne jeden äusserlich erkennbaren Grund vor sich hin (Sinnes¬ 
täuschungen). 

Nicht selten war sie in ihrem Wesen furchtbar kindisch und albern, brachte 
z. B. einmal Beeren des Ligusterstrauches, die einen festen Steinkern haben, ass 
sie und behauptete, Kirschen zu essen, fragte ein andermal, ob im Kuhstall auch 
Affen wären und freute sich darüber wie ein kleines Kind. Bei schönen Tagen 
verkroch sie sich mitten in die Strauchanlagen des Gartens oder stellte sich einen 
Armstuhl mitten hinein und thronte auf demselben in gravitätischer Haltung. 

Ihre Sprechweise hatte immer etwas Affektiertes, Geziertes. Bald sprach 
sie mit Pathos, bald mit Emphase, bald energisch, bestimmt, bald wie ein kleines 
Kind, bald in Sätzen, Aphorismen, Satzteilen, Einzelworten. So wiederholte sie 
fast ständig, oft Tage und Wochen lang nur das Wort: „Nein“, sprach es gegen 
die Wand, gegen die Seite, an die Decke, in die Luft. Oft wiederholte sie: 
„Mütterchen, weine nicht“ und rief es 6—7mal und öfter vor sich hin, desgleichen 
auch im bunten Wechsel die Worte: „Ich soll nicht hierbleiben! — Nein, Gott, 
du bist ungerecht! — Klage nicht! — Weine nicht! — Ich seh dich, mein Mütter¬ 
lein!“ Diese Sätze immer mehrmals hintereinander wiederholend und Tonfall und 
Tonstärke der Sprache wechselnd vom Schreien bis zum Lispeln. 

Dass sie an Sinnestäuschungen litt, ergab ihr eben beschriebenes Be- 


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Dr. Hösel, 


nehmen, ihr horchendes, lauschendes Verhalten, ihr lauernder Blick ins Leere und 
in die Ferne und ihre Selbstgespräche, die sie hielt mit lebhaftem Mienenspiel 
und plötzlichem Wechsel der Blickrichtung, ferner ihr oftes, plötzliches, unmoti¬ 
viertes, ungekünsteltes, krankhaftes Lachen. 

Ihre stereotype Antwort „Nein, Nein“, das feste, sichere, abwehrende Aus¬ 
sprechen liess meist auf Gehörstäuschungen schliessen. Ebenso Hess der oft im 
Klageton geäusserte Mahnruf: „Mütterchen, weine nicht“, erkennen, dass sie 
Weinen hörte. Oft schrie sie plötzlich zur Seite: „Nein, das geht nicht!“ „Sei 
still!“ „Lass mich in Ruh!“ „Geh fort!“ „Ich kann nicht!“ oder „Ich kann doch 
nicht!“ Sag mir, wohin!“ Ich mag dich nicht mehr!“ 

Oefter behauptete sie, draussen stünde ein alter Mann, man Hesse sie be¬ 
sonders nachts nicht in Ruh, immer schicke man ihr jemand, der sie auffordere, 
sie sollte kommen, sie dürfe nicht schlafen, oder der ihr Dinge sage, die sie nicht 
wiedergeben könne. 

Besonders auffallend war dieses eben beschriebene Verhalten zur Zeit ihrer 
Menstruation, wo sich der Zustand überhaupt im ganzen verschlimmerte. 

Sie schliof dann auch ganze Näohte nicht und verweigerte die Nahrung, weil 
Gift darin sei (Geruchs- oder Geschmackstäuschung). 

Ihre Stimmung war stets eine überaus wechselnde und schwankte zwischen 
ausgelassener Fröhlichkeit und ängstlich-trauriger Verstimmung pendelnd hin und 
her. Der Wechsel war meist ein plötzlicher und unmotivierter, auch hielt die 
heitere Stimmung nie lange an. War sie aber heiter, dann war die K. zugleich 
furchtbar kindisch und albern, geziert, maniriert, Aufsehen erregend, effekt¬ 
haschend. War die Stimmungslage eine verstimmte, so war die K. meist auoh 
ganz unzugänglich, abweisend, oder aber theatralisch- und affektiert-traurig. 

Die Prüfung der Intelligenz und des Vorstellungslebens der K. war 
insofern erschwert, als dieselbe lange Zeit ganz stumm war und sich infolge 
dessen in einem auskunftslosen Zustande befand. 

Sprach sie aber und war sie einer Prüfung zugängig, so stellte sich heraus, 
dass ihr Vorstellungsinhalt nicht nur ein ihrer Bildung und Erziehung ent¬ 
sprechender war und dass sie nicht blos über die einfachsten Elementarkenntnisse 
verfügte, sondern dass sie sich im Lauf der Jahre und nach der Schulzeit und 
wohl auch infolge ihres Aufenthaltes in der Fremde manches neue Wissen ange¬ 
eignet hatte, so dass von einem Schwach- oder gar Blödsinn keine Rede sein 
konnte. Es zeigte sich aber dabei zugleich Krankhaftes, zunächst das sogenannte 
Ganser sehe Zeichen oder Symptom des sinnlosen Vorbeiredens. 

So beantwortete sie die Fragen: 

Wie viel ist 3mal 15? gar nicht, 3mal 3? mit „6“. 

Wie viel Stück hat 1 Dutzend? mit „60“. 

Und ein Schock? mit „60“. 

Also ein Dutzend? mit „60“. 

Wie viel gibt es Erdteile? mit „0 es gibt Frankreich, London, Deutschland, 
Amerika.“ 

Sind das Erdteile? „Was ist es denn? Natürlich ist das die Erde. Auf den 
Sternen wohnen auch Menschen.“ 

Wie heisst das 3. Gebot? „Ich komme nicht gleich darauf.“ 


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Kasuistischer Beitr. z. Frage üb. d. strafrechtl. Zurechnungsfähig^ usw. 297 

Das 5.? „Du sollst nicht ehebrechen.“ 

Das 7.? „Du sollst nicht töten.“ 

Das 6.? (Nennt das 8.) 

Wie heisst die Hauptstadt von Sachsen? „Dresden.“ 

An welchem Fluss liegt es? „Am Rhein.“ 

Jetzt sagen Sie mir, wie heisst das 5. Gebot? „Du sollst den Feiertag 
heiligen.“ 

Und das 7.? „Du sollst nicht stehlen.“ 

Was heisst denn das? „Das Fortholen, was nicht sein ist.“ 

Währenddem sie diese Antworten gab, sprach sie immer in halluzinierender 
Weise ein „Nein, nein“ dazwischen oder machte mit dem Kopf und Arm Abwehr¬ 
bewegungen in die Luft, oder zog abweisende ärgerliche Gesichter. 

Ihr Bewusstsein war dabei nicht aufgehoben, aber entschieden verändert. 
Sie stand wie traumverloren oder wie verklärt da und spielte automatisch mit einem 
Stengel oder Baumblatt oder zupfte zerstreut, zerfahren an irgend einem erreich¬ 
baren Gegenstand herum. Eine Bewusstseinstrübung machte sich auch geltend zu 
Zeiten, wenn sie stumm war. Sie war dabei wie geistesabwesend, reagierte auf 
nichts, nahm nicht die geringste Notiz von den Geschehnissen ihrer Umgebung, 
blickte starr in die Ferne oder ins Leere. Auch kräftiges Anreden brachte sie 
nicht dazu, ihre Aufmerksamkeit dem Frager zuzuwenden. Sie war wie benommen, 
befangen von ihrem Binnenleben, erdentrückt. Es war ein Dämmerzustand. Nie 
war sie aber bewusstlos. An anderen Tagen war sie auch wieder ganz klar, er¬ 
kannte richtig, nahm richtig wahr und verarbeitete die Wahrnehmung auch zu 
richtigem Urteil. Dieser Bewusstseinszustand war ein überaus wechselnder. 

Auch die Prüfung ihres Erinnerungsvermögens ergab neben normalen 
Resultaten veränderte. So behauptete sie. so oft man sie frug, sie sei in Fr. in 
die Schule gegangen, sei 1877 geboren. Sie wusste, dass sie mit Gefängnis be¬ 
straft war, dass man sie eingesperrt hatte, erinnerte sich der Episoden aber weder 
in ihrem Zusammenhang noch nach ihrem Umfang. Ihr Gedächtnis war lücken¬ 
haft und beschränkt. So wollte sie z. B. von ihrer Vorstrafe in R. nichts wissen 
(„In meinem Kopfe ist so viel, da weiss ich nicht mehr alles“), desgleichen nicht 
von ihrem zweimaligen Aufenthalt in der Strafanstalt Gr. („Wenn Sie es sagen, 
wird es wohl so sein“). Dagegen erklärte sie sicher und bestimmt, dass ihr gar 
nicht eingefallen sei, in die Saar zu gehen, um sich das Leben zu nehmen („Ich 
hab mich höchstens gebadet. Ach wie köstlich!“!. Auch ihre begangenen Dieb¬ 
stähle stellte sie zum Teil in Abrede („man habe mit ihr gemacht, was man wollte“), 
selbst die, die sie früher selbst zugegeben hatte; dass sie aber in der Provinzial¬ 
anstalt zu B., in der Irrenl^inik in L. im Krankenhaus Br. war, gab sie zu, kannte 
auch die Namen der Aerzte und des Personals. Das Gedächtnis war also insel¬ 
förmig eingeengt und lückenhaft, funktionierte für bestimmte Episoden, für 
andere nicht. 

Ferner waren aber auch direkte Erinnerungsfälschungen oder Erinne¬ 
rungstäuschungen nachzuweisen. 

So behauptete sie z. B., als sie den Direktor der hiesigen Anstalt das erste 
Mal sah, mit voller Sicherheit, ihn zu kennen; weiterhin meinte sie, als sie einmal 
zufällig auf dem Tisch einen gestickten Läufer erblickte, mit aller Bestimmtheit und 


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Dr. Hösel, 


Sicherheit, derselbe gehöre ihr, sie habe ihn angefertigt. Endlich bedrohte sie 
einmal einen ganz fremden Herrn, der eine Angehörige besuchte, und erklärte: „er 
sei derjenige Mann, welcher immer draussen stand.“ 

Eine weitere auffallende Erscheinung war ferner die Sucht der K., allerlei 
erdichtete Erzählungen mitzuteilen (Pseudologia phantastica). 

Für ihre Diebstähle hat sie stets eine fingierte Erklärung, die Uhren habe sie 
von ihrem Vater geschenkt erhalten, sie besitze deren zwei. Wozu sie eine dritte 
(gestohlene) brauche, verstände sie nicht. Ihre Eltern seien wohlhabende Leute, 
besonders ihr Vater, der vom Gelde lebe und ihr im letzten halben Jahre allein 
200 Mark für Garderobe geschenkt habe; auch ihre Mutter habe ihr immer viel 
Geld gegeben. 

In B. sei sie mit den Acrzten zu Fastnachtsvergnügen, ins Theater, ins 
Kaffee gefahren, Geheimrat P. habe ihr die in ihren Ohren festgelöteten goldenen 
Ohrringe geschenkt; festlöten habe er sie in die Ohren lassen, damit sie nie heraus¬ 
genommen werden könnten, weil das Unglück bedeute. Mit allen Aerzten und der 
Oberpflegerin habe sie auf sehr vertrautem Fusse gestanden und diese seien alle 
„sehr nett“ zu ihr gewesen, auch die Aerzte in L., nur die hiesigen nicht. Sie 
selbst sei auch immer ein sehr nettes Mädchen gewesen; sie soi sehr fleissig inder 
Schule und sehr gescheit gewesen, habe die höhere Schule in Fr. besucht, dort 
habe die Frau des Kantors diesem einmal das ganze Gesiebt zerkratzt usw. 

Sie geriet bei diesen Selbstberäucherungen und Erzählungen förmlich in 
Exstase. Sie legte dabei eine auffallende Selbstgefälligkeit und Eitelkeit zur Schau, 
fühlte sich sichtlich wohl dabei, möglichst stark aufzutragen, schön zu färben, zu 
übertreiben, und tat dies fast bei jeder Gelegenheit, selbst solchen, wo sich das 
Gespräch auf ganz harmlose und gleichgültige Dinge bezog. 

Von der Wirklichkeit ihrer Fabeleien und Erdichtungen war sie vollständig 
überzeugt. Sie verfügte über eine ganz auffallende Autosuggestibilität. Mit einer 
Natürlichkeit und Glaubwürdigkeit brachte sie alle diese Phantastereien vor, dass 
man nicht wusste, ob man sich über die grenzenlose Kritiklosigkeit, die sie dabei 
an den Tag legte oder über die Selbstverständlichkeit wundern sollte, mit welcher 
sie verlangte, dass man ihr alles das glauben sollte. Brachte man ihr Zweifel ent¬ 
gegen, so wurde sie erregt und erklärte ärgerlich und beleidigt: „Ich kann es doch 
nur sagen, wie ich es weiss.“ 

Was krankhafte Willenshandlungen und Strebungen anbelangt, so 
ist, abgesehen von dem oben geschilderten affektiert-theatralischen Wesen der K. 
folgendes zu bemerken: 

Mehrmals verweigerte sie die Nahrung, zerriss plötzlich ihr Taschentuch, 
erklärte dabei auf den eingestickten Namen zeigend: „das sei eine Königskrone“. 
Einmal warf sie nachts plötzlich den Einsatz eines Spuckbechers nach der Decke 
und zertrümmerte die elektrische Deckenbeleuchtung, rief dabei erregt: „Nein, 
nein“. — Ferner erweckte sie einmal den Anschein, dass sie Blut spucke. Endlich 
hatte sie sich selbst einmal einen blauen Fleck an der Hand gedrückt und be¬ 
hauptet, cs sei nachts jemand bei ihr gewesen, der ihr das zugefügt habe. 

Bei der Kürze der Beobachtungszeit und der beschränkten Handlungsmöglich- 
keit konnte weiteres nicht festgestellt werden. 

Zu einer geordneten Beschäftigung war sie nicht zu bewegen. Teils hinderten 


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Kasuistischer Beitr. z. Frage üb. d. Strafrecht!. Zurcchnungsfiihigk. usw. 299 


sie Sinnestäuschungen daran, teils Mangel an Willen. Nicht einmal zur Abfassung 
eines Briefes oder ihres Lebenslaufes oder ähnlicher Aufgaben, die ihr gestellt 
worden waren, konnte sie sich entschliessen. Einmal fing sie einen Brief jan ihre 
Mutter an zu schreiben, schrieb aber nur die Ueberschrift und liess es dabei. Sie 
selbst erklärte, sehr gut nähen und feine Handarbeiten anfertigen zu können. 
Auch meinte sie, als man ihr den Diebstahl der Deckchen vorhielt: das sei ja 
Unsinn, sie könne selbst so schöne Deckchen anfertigen, da brauche sie keine zu 
stehlen. Die sie verschenkt habe, habe sie selbst angefertigt“. Eine Prüfung dieser 
Behauptung, ebenso der, dass sie sehr gut zeichnen und Klavier spielen, sowie 
vorzüglich radeln könne, konnte nicht vorgenommen werden, da sie stets ablehnte, 
den Auftrag zu erfüllen oder infolge ihres Wesens und Verhaltens überhaupt nicht 
aufgefordert werden konnte. 

Einmal äusserte sie den Wunsch, nach Frankreich gehen zu wollen. 

Auffallend ist noch die Art und Weise, wie sie sich zu kleiden beliebte. 
Ihre mitgebrachte Garderobe war so reich und glänzend, in die Augen fallend, 
dass sie mit ihrer Stellung als Kinderfräulein hochgradig kontrastierte. Sie besass 
hochrote Stiefel, ein weisses Kleid von schwerem Rips, Leibwäsche mit vornehmer 
und reicher Stickerei. Letztere trug sie, erstere wünschte sie bei schönem Wetter 
selbst in der hiesigen Krankenumgebung anziehen zu dürfen und hätte es auch 
getan, wenn sie gedurft hätte. So machte sie auch in ihrer Kleidung einen auf¬ 
fallend theatralischen Eindruck, erschien kokett und putzsüchtig. 

In der Besorgung ihrer persönlichen Bedürfnisse war sie zwar 
äusserst peinlich und sauber, andererseits aber auch rücksichtslos und ohne 
Scham, und zeigte somit eine deutliche Herabsetzung des ästhetischen 
Empfindens, freilich war dabei auch immer der Dämmerzustand nachweisbar. 
So stellte sie sich z. B. während der Tage ihres Unwohlseins schamlos mit be¬ 
schmutzter Wäsche, barfuss und nur im Hemd auf einen Stuhl und sprach und 
gestikulierte in die Luft oder stellte sich neben das Bett, und war nicht zu be¬ 
wegen, sich in dasselbe zu legen, weil sie behauptete, sie dürfe es nicht. Dabei 
nahm sie auch keine Rücksicht auf zufällig eingetretene Aussenkälte, wenn das 
Bett auf die Veranda gebracht war. 

Ueber ihr moralisches und ethisches Gefühl und Empfinden lässt 
sich folgendes sagen: Ueber ihren hiesigen Aufenthalt machte sie sich nicht die 
geringsten Gedanken, zeigte nie Reue. War sie nicht gehemmt und verstimmt, so 
trällerte und sang sie und war überaus guter Dinge. Selbst bei Besprechung der 
von ihr begangenen und ihr zur Last gelegten Diebstähle sang und trällerte sie 
und tänzelte vergnügt, als ob dies alles gar nichts zu bedeuten habe. Dass es 
Unrecht ist zu stehlen, wusste sie, gab, wie oben bemerkt, sogar eine gute selbst 
gefertigte Definition davon, dass sie es selbst aber getan, stellte sie stets in Ab¬ 
rede und behauptete, sie sei das Opfer der anderen, die mit ihr machten, was sie 
wollten, oder sie sagte: „Ich werde doch nicht Leuten, die nett zu mir sind (z. B. 
Frau Dr. W. in H.) Leid zufügen“. 

War sie klar und unbefangen, so bekundete sie ein grosses Interesse für 
Schönes und Gutes, bewunderte Zeichnungen, erklärte, als sie den Arzt ihre 
Reden stenographieren sah, das wolle sie auch noch lernen, jammerte und be¬ 
dauerte ihre Mutter, die so viel Kummer habe, erklärte erregt und mit tiefer Ent- 

Vierteljahrssohrift f. ger. Med. u. öff. San.-Wesen. 3. Folge. XXXJ1. 2. 9Q 


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Dr. Hösel, 


rüstung beim Vorhalt ihrer Diebstähle: „loh habe nie jemandem mit Willen etwas 
zu Leide getan und wenn ich es getan, so habe ich es nie tun wollen. Da ist der 
liebe Qott dran schuld, der hat mich zu ganz schrecklichen Sachen bestimmt“. 

Von ihren früheren Herrschaften, z. B. Familie Dr. W. in H. sprach sie in 
überaus günstiger Weise, gedachte gern und freudig deren Kinder, und wie gut 
diese gewesen seien. 

Am 17. Oktober 1904 wurde die K. ungeheilt von hier entlassen und von der 
Polizeibehörde zu Fr. und ihrer Mutter hier abgeholt. 

C. Gutachten. 

Die in der hiesigen Landesanstalt gemachten Beobachtungen er¬ 
geben einwandsfrei und mit Sicherheit, dass die pp. K. zurzeit geistes¬ 
krank ist. 

Die schwere erbliche Belastung, die allgemeine hochgradige Blut¬ 
armut, der kindliche Entwicklungszustand erweisen eine vorhandene 
angeborene Degeneration. 

Auf dem Boden dieser Degeneration entwickelten sich weiterhin 
die objektiv nachweisbaren Zeichen einer sicher bestehenden Hysterie. 

Die hochgradige, konzentrische Gesichtsfeldeinschränkung, die so¬ 
wohl in der Provinzialanstalt B., wie in der Irrenklinik L. und auch 
hier nachweisbar w r ar, die krankhaft erhöhte Ileflexerregbarkeit bei 
Berührung (Würgreflex, Kniesehnenreflex), die erhöhte mechanische 
Muskelerregbarkeit, die motorische Unruhe der Gesamtmuskulatur, das 
unwillkürliche Beben der Gesichtsmuskeln, besonders aber die als 
zweifellos vorhanden nachgewiesene, halbseitige Lähmung der Sehmerz- 
und Hautempfindung weisen unverkennbar auf das Bestehen einer 
solchen hin, besonders wenn man die aufgezählten Krankheitszeichen 
in ihrer Gesamtheit berücksichtigt und verwertet. 

Neben diesen körperlichen Symptomen der Hysterie zeigen 
sich aber auch solche psychischer Art. 

Die tage- ja wochenlang beobachtete Stummheit hatte ganz den 
Charakter des hysterischen Mutismus. 

Das Theatralische, Manirierte in Gang, Haltung und Ausdruck, 
das Affektierte, Kindisch-Alberne im Wesen und Verhalten der K., 
der plötzliche unmotivierte, zwecklose Wechsel in der Stimmung, die 
bald ausgelassen heiter, bald eine schwer verstimmte war, zeigte 
ausgesprochenen hysterischen Charakter an. 

Als direkt psychopathische Symptome einer hysterischen Geistes¬ 
störung sind aber ferner anzusehen die vorhandenen Sinnestäuschungen, 
die sich, was insbesondere Hysterischen pathognomonisch ist, meist 


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Kasuistischer Beitr. z. Frage üb. d. strafrechtl. Zurechnungsfähigk. usw. 301 


auf einzelne bestimmte Personen erstreckten und wenig Wechsel 
zeigten, ferner das Symptom des sinnlosen Vorbeiredens, welches be¬ 
sonders oft bei Hysterischen, die in der Untersuchungshaft erkranken, 
zu beobachten ist, endlich die Erscheinung des inselförmig eingeengten 
und lückenhaften Erinnerungsvermögens, die Erinnerungsfälschungen 
und Erinnerungstäuschungen sowie die oft beobachteten Veränderungen 
im Verhalten des Bewusstseins der K., das bald eine Art konzentrischer 
Einengung erfuhr, bald einen zweifellosen Dämmerzustand darbot. 

Hierzu kommt die krankhafte Sucht der K. zum Lügen, zu 
Uebertreibungen, Verdächtigungen, phantastischen Erdichtungen (Pseu¬ 
dologia phantastica). Die Art und Weise, wie sic diese Dichtungen 
vorträgt, die Geschicklichkeit, mit welcher sie sic kombiniert und 
erfindet, wobei sie sich nicht geniert, wenn es ihr gerade passt, das 
Heiligste, z. B. den gar nicht erfolgten Tod ihrer Mutter, Details von 
erdichteten Selbstmordversuchen etc. in der plastischsten Weise zu 
verwerten, — die masslose Rücksichtslosigkeit, mit welcher sie 
Personen in sie verwebt, glcichgiltig, ob sie diese schädigt oder nicht 
— die ausgesuchte Freude und Lust, die sie beim Lügen empfindet 
und merken lässt und — nicht zuletzt der Nachweis, dass diese 
Eigenschaft bis in ihre Kinderjahre hinaufreicht und keiner pädago¬ 
gischen und disziplinären Beeinflussung zugänglich war, beweist, 
dass dies eine krankhafte Eigentümlichkeit der K. ist, Ausfluss ihres 
hysterischen Charakters, Symptom der bestehenden hysterischen Geistes¬ 
störung. 

Endlich ist neben dem Zeichen des krankhaften Lügens noch zu 
berücksichtigen die Fähigkeit der K. zur krankhaften Selbsteinrede 
(Autosuggestibilität). Diese Autosuggestibilität ist bei ihr eine 
so hochgradige, dass sie von der Wirklichkeit und dem objektiven 
Bestehen ihrer Lügen und frei erfundenen Erzählungen vollständig 
überzeugt war, ein Symptom, welches gerade Hysterischen überaus 
eigen ist. 

Sonach unterliegt cs wohl keinem Zweifel, dass die angeführten 
und bei der K. objektiv nachgewiesenen Krankheitszeiehen in ihrer 
Gesamtheit Attribute einer Geistesstörung und zwar einer hysterischen 
Geistesstörung darstcllen. 

Gegenüber der Diagnose der sogenannten Moral insanity ist das 
Fehlen eines nachweisbaren angeborenen, intellektuellen Schwachsinns 
geltend zu machen, wie dies bereits das Gutachten des Med.-Rats Dr. Fl. 
ausführlich dartut. 

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302 


Dr. Hösel, 


Gegen das Bestehen eines Jugendirresei 11s (Dementia praecox) 
spricht der Mangel jeglichen Verblödungsprozesses bei langjährigem 
Bestehen der Krankheit. 

Auszuschliessen ist noch die Annahme einer bestehenden Simu¬ 
lation. 

Auf den ersten Blick wird man sich bei Berücksichtigung des 
Raffinements, das die Iv. beim Begehen ihrer verbrecherischen Hand¬ 
lungen an den Tag legte, der zielbewussten Verdächtigung anderer 
unschuldiger Personen, der frei erfundenen, lügenhaften Angaben und 
Ausreden der K. schwer entschlossen wollen, anzunehmen, dass sie 
nicht simuliere. 

Bei genauerer Beobachtung und bei Berücksichtigung der Tat¬ 
sache aber, dass dieses Verhalten gerade bei Hysterischen sehr oft 
beobachtet und als Ausfluss der krankhaften Charakteranlage aufge¬ 
fasst wird, — muss man bei derartigen Individuen, wie dies auch 
der Vorgutachtcr Dr. U. mit Recht betont, mit der Annahme einer 
bestehenden Simulation recht vorsichtig sein. 

Dass die K. trotz allen Bestehens einer hysterischen Geistes¬ 
störung das eine oder andere Vorkommnis simuliert oder simuliert 
hat, hie und da stark übertreibt, soll deshalb nicht bestritten werden. 
Gerade dieses Verhalten ist aber Hysterischen charakteristisch. Dies 
erweisen die ärztlichen Erfahrungen und die Ergebnisse der forensischen 
Literatur. Die Simulation bei Hysterischen ist darnach oft geradezu 
ein Krankheitszeichen derselben. 

Hierzu kommt im gegenwärtigen Fall, dass die Uebertreibungen 
und das gekünstelte und gemachte Verhalten der K. oft so kindisch 
und albern ist, dass der Zweck der Simulation gar nicht in Frage 
kommen kann. Auch die Lust am Lügen, die Fertigkeit und Gewandt¬ 
heit, mit der die K. frei erfundene Geschichten (Ueberfälle durch , 
Räuber, Selbstmorderdichtungen, angebliche sexuelle Attacken, Ver¬ 
dächtigungen) preisgibt, und die die medizinische Wissenschaft als 
sogenannte Pseudologia phantastica kennt, findet man gerade 
sehr häufig bei Menschen mit angeborener degenerativer Anlage, ins¬ 
besondere bei Hysterischen. 

Aber auch das sogenannte Gansersche Symptom des sinnlosen 
Vorbeiredens, was häufig bei Laien den Verdacht einer bestehenden 
Simulation geradezu herausfordert, manchmal in der Tat auch ist, 
erweist sich im Zusammenhang mit all den anderen nachgewiesenen 
hysterischen Symptomen bei der K. als ein Ausfluss der Krankheit. 


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Kasuistischer Beitr. z. Frage üb. d. strafrechtl. Zurechnungsfähig!?, usw. 303 

Anmerkung. Historische Notiz: Auf der Jahresversammlung des 
Deutschen Vereins für Psychiatrie in Göttingen, 1904, hat Ganser darauf hinge¬ 
wiesen, dass das mit seinem Namen bezeichnete Symptom des Vorbeiredens in 
der Tat zuerst von Moeli in durchaus zutreffender Weise skizziert worden sei und 
dass es schon deshalb nicht berechtigt sei, das Vorbeireden als Gansersches 
Symptom zu bezeichnen. 

Ich möchte darauf aufmerksam machen, dass das genannte Symptom bereits 
von Liman in unzweideutiger Form beschrieben worden ist und zwar in einem 
Gutachten seiner Sammlung „Zweifelhafte Geisteszustände vor Gericht“, Berlin 
1869, Verlag'von Hirschwald. Dort heisst es Bl. 168 in dem Gutachten No. 19 
über den Geisteszustand der hysterischen Schwindlerin und Betrügerin Schneider- 
Winkler folgendermassen: 

„Sie wusste die Jahreszahl, die wir jetzt schreiben, nannte sich Auguste 
Winkler, 46 Jahre alt, geboren den 25. März. Die Jahreszahl ihrer Geburt wusste 
sie nicht anzugeben. Ihr erster Mann, Schneider, sei 9 Jahro tot. Wann er also 
gestorben sei? „1820 a . Wie lange sie mit ihm verheiratet gewesen sei? „12Jahr.“ 
Wie viel Jahre sind denn 12 und 9 Jahre? „15 Jahre.“ Wenn das 15 Jahre sind, 
wann haben Sie ihn also geheiratet? „1810.“ Ich bemerke, dass bei diesen Fragen 
die Schneider sichtlich bemüht war, mir Auskunft zu geben. Sie war ruhig, 
sprach anscheinend besonnen, liess mit der Antwort warten, als suche sie das 
Resultat, und sagto mehremal dazwischen, sie habe ja nicht studiert. Wie viel 
Kinder sie habe, „fünf, dreimal Zwillinge.“ Wie viel Kinder dreimal Zwillinge 
wären? „Nun das sind sechs.“ Wie viel Kinder sie vom ersten Mann habe? 
„Vier“, und vom jetzigen? „Zwei, zwei tote, fünf am Leben, eine ist verheiratet, 
die rechne ich nicht.“ Wo ist diese verheiratet? „In Magdeburg an Schiffskapitän 

König.“-Wann haben Sie Ihre zweite Ehe geschlossen? „Am 1. Mai vor 

5 Jahren.“ In welchem Jahre war das also? „1862 oder 1861.“ Wo sind Sie ge¬ 
traut? „In Warschau.“ Wie hiess Ihr Mann? „Karl Winkler, er wurde erschossen 
am 21. September 1864.“ Nennen Sie mir Ihre fünf lebenden Kinder und den 
Ort, wo sie sich befinden! „Eine ist 17 Jahr im Kindel Jesu in Warschau.“ 
Weiter! „Ein 9jähriger Junge in Salpastropole.“ Weiter! „Ein 7jähriger Knabe, 
Karl, und ein 11 jähriger Knabe, Paul, beide iu Posen.“ Weiter! „Emilie, 13Jahr, 
in Wradzlawek, seitwärts von Alexandrowo.“ Weiter! „Ein anderthalbjähriger 
Knabe, mit dem ich hierher gekommen bin, jetzt in Magdeburg.“ Weiter! „Eine 
Verheiratete in Magdeburg, die rechne ich nicht.“ Bei wem befindet sich das 
jüngste anderthalbjährige Kind in Magdeburg? „Bei meiner Tochter, das Kind 
war 10 Monat alt, als Winkler starb.“ Wie alt ist denn das Kind jetzt? „Na, 
■wenn es 10 Monat alt war, als Winkler starb, ich bin jetzt 6 Monat hier, also 
iy 2 Jahr, macht 18 Monat, auf 2 Monat wird es nicht ankommen.“ Wann ist das 
Kind geboren? „April ist es 2 Jahr, dass es geboren ist. Sie werden es ja am 
Taufschein sehen.“- 

Seite 173 sagt Liman: „Unverkennbar ist bei der Explorata ein gewisser 
Intelligenzmangel vorhanden, welcher sofort klar wird, sobald man sie nicht 
faseln lässt, sondern sie zwingt, sich zu präzisieren, und namentlich ist sie un¬ 
fähig, Zahlenverhältnisse zu erfassen. Ich verweise hier nicht lediglich auf die 
zahlreichen sich widersprechenden Angaben über ihre Personalien in den ver- 


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304 


Dr. Hösel, 


schiedenen Verhören, die ich oben zusammengestellt habe and welche allein meine 
Behauptung nicht unterstützen könnten, weil hier noch zweifelhaft sein könnte, 
wie viel böser Wille seitens der Explorata daeugekommen sei, absichtlich alles zu 
verdunkeln. Indes bei den ihre Personalien betreffenden Angaben, welche sie mir 
gegenüber gemacht hat, wird ein solcher Verdacht zurücktreten müssen, denn 
wenn sie mir etwas einreden wollte, so würde sie, die, wie ich oben gezeigt, 
nicht Verstandesschwächo simuliert, sondern im Gegenteil, sich rühmt, weit 
pfiffiger zu sein als ich, mir doch wenigstens etwas Glaubliches einzureden be¬ 
müht sein. Statt dessen aber gibt sie an, 46 Jahre alt zu sein und im Jahre 1810 
geheiratet zu haben, fünf Kinder zu haben, darunter dreimal Zwillinge. Unter 
den Kindern, welche sie auf Erfordern mit ihrem Alter herzählt, befinden sich 
aber nicht zwei, welche gleichaltrig sind, ihre Zahl beträgt ferner acht, während 
sie nur sechs herzuzählen beabsichtigt. 

Sehr charakteristisch ferner für meine Behauptung, dass sie angibt, ihren 
zweiten Mann vor 5 Jahren, also 1862 „oder“ 1861 geheiratet zu haben, ferner, 
dass sie behauptet, ihr anderthalbjähriges Kind sei jetzt vor zwei Jahren 
geboren worden. Als ich versuchte, sie rechnen zu lassen und sie wirklich be¬ 
müht war, mir zu sagen, wann sie geheiratet haben müsse, wenn sie 12 Jahre mit 
ihrem Mann gelebt und er jetzt 9 Jahre tot sei, nahm ihr Gesicht einen entschie¬ 
den stupiden Ausdruck an, ein weiterer Umstand, der mir die Ueberzeugung ver¬ 
schaffte, dass Explorata diese Verstandesschwäche nicht simuliert, sondern ein 
wirklicher Intelligenzmangel hier besteht.“ 

Würde das eine oder andere von den zuletzt erwähnten Krank¬ 
heitszeichen bei der K. nur allein und vereinzelt nachzuweisen sein, 
z. B. das Symptom des sinnlosen Yorbeiredens oder die inselförmige 
Erinnerungsfähigkeit oder das krankhafte Lügen, so w 7 ürde es unzulässig 
sein, eine vorhandene Simulation auszuschliessen. Aber gerade das 
Zusammenfallen dieser Symptome untereinander und mit anderweiten 
zweifellos und objektiv nachweisbar vorhandenen hysterischen Krank¬ 
heitszeichen und zwar schwerer Art zwingen dazu auch dieses an¬ 
scheinend simulationsverdächtige Benehmen der K. als krankhaft auf¬ 
zufassen und zu bezeichnen. 

Berücksichtigt man also den oben erwähnten SymptomcnkompJcx 
nicht in seinen einzelnen Zeichen, sondern bewertet man ihn als ein 
Ganzes und Zusammengehöriges, so dürfte die Annahme einer be¬ 
stehenden Simulation als hinfällig bezeichnet werden müssen. 

Die K. leidet also nach dem Ergebnis obiger Darlegungen zur¬ 
zeit an einer Geistesstörung und zwar an einer hysterischen. 

Es fragt sich nun, bestand diese Geistesstörung auch schon 
früher, insbesondere zurzeit der zuletzt begangenen strafbaren Hand¬ 
lung (Diebstahl im Fall des Dr. W. in 11.) im Herbst 1903, be¬ 
ziehentlich bis Januar 1904. 


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Kasuistischer Beitr. 2. Krage üb. d. strafrechtl. ZurechnuDgsfahigk. usw. 305 

Aus der Vorgeschichte geht zunächst hervor, dass die K. akten¬ 
kundig bis zu ihrem Aufenthalt in der Strafanstalt S. Zeichen einer 
Geistesstörung nicht dargeboten haben soll. 

Erst in dieser Strafanstalt und im Zusammenhang damit in der 
Provinzialanstalt zu ß. brach eine geistige Störung bei ihr aus. Sie 
begann nach dem glaubwürdigen Zeugnis des Gefängnisarztes Dr. S. 
in S. im März 1904 allmählich, verlief unter mehr oder weniger 
erheblichen Schwankungen zum Besseren und Schlimmeren während 
des ganzen Aufenthaltes in B. bis 14. Mai 1902, an welchem Tage 
sie nur „gebessert“ nach der Universitätsklinik zu L. transportiert 
wurde, dauerte auch dort noch an. Am 26. Juli 1902 wurde sie 
daselbst auch nur gebessert entlassen. 

Ueber den geistigen Zustand der K. von dieser Zeit bis zu ihrer 
Erkrankung am 3. März 1904 auf der Durchreise in Br. fanden sich 
in den Akten keine Anhaltspunkte. 

Sicher erweislich ist sie erst wieder vom 3. März bis 7. April 1904 
geisteskrank gewesen, ferner vom 6. September 1904 ab bis zum 
Tage ihrer Entlassung aus der hiesigen Anstalt, die im ungeheilten 
Zustand erfolgte. 

Zunächst möchte folgendes erwogen werden: Die K. ist, wie 
erwähnt, erblich in hohem Grade mit Neigung zu Geistesstörung be¬ 
lastet, ihre kindliche Erscheinung, ihr früher Hang zu Diebstahl und 
Betrug und das aus den Akten unverkennbar hervorgehende Vor¬ 
handensein der Sucht, Geschichten frei zu erfinden, wohlgemerkt 
Eigenschaften, die die K. an sich nicht exkulpieren würden und auch 
nicht exkulpiert haben, bestanden aber von frühester Jugend auf. 
Die angeborene Degeneration bestand fort, bestand demnach auch zur 
Zeit der ihr zur Last gelegten verschiedensten verbrecherischen Hand¬ 
lungen. Sie bestand auch zurzeit des Diebstahls im Falle des Dr. 
W. in H. 

Nun kommt hinzu, dass nach einer schriftlichen Auskunft vom 
2. Oktober 1904 des Herrn Dr. W. in H. dieser zwar die K. nicht 
für unzurechnungsfähig erklärt, aber doch bestätigt, dass ihm während 
ihres Aufenthaltes im Herbst 1903 in seinem Hause ihr ungleich- 
mässiges Benehmen öfter aufgefallen sei, dass sie bei ihren Unter¬ 
haltungen das Blaue vom Himmel runter log mit dem Erfolg, dass 
sie selbst an ihre Schwindeleien zu glauben schien (Autosuggestibilität), 
dass sie starren Blickes ins Leere, Horchen, scheues, schleichendes 
Wesen (Sinnestäuschungen?) dargeboten habe. 


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Dr. Hösel, 

Dies ist doch auffallend und macht es sicher, dass mindestens 
der angeborene Degenerationszustand, den man wissenschaftlich mit 
dein Ausdruck „hysterischen Charakter“ bezeichnet, zurzeit ihres 
Aufenthaltes bei Dr. W. in H. sich geltend gemacht hatte. Ja das 
anscheinende Auftreten von Sinnestäuschungen weist sogar mit grosser 
Wahrscheinlichkeit darauf hin, dass eine hysterische Geistesstörung 
damals bereits Vorgelegen hat. 

Diese Wahrscheinlichkeit wird um so grösser, wenn man erwägt, 
dass der Verlauf der hysterischen Geistesstörungen gewöhnlich ein 
solcher ist, dass die Krankheitszeichen einmal eine Zeit lang zurück¬ 
treten, gleichsam latent werden, um dann bei einer neuen Gelegenheit 
meist affektiver Art von neuem wieder offenkundig zu werden, dass 
sich Besserungen einstellen, die dem Laien und Nichtsachverständigen 
als Heilungen imponieren und solche Kranke als Gesunde erscheinen 
lassen. 

Es ist ferner zu bedenken, dass die Krankheit bereits Anfang 
März 1904, also kaum sechs Wochen nach dem Weggang der K. aus 
dem W.’schen Diensten von neuem und in erhöhtem Masse sich kund¬ 
gab, den Sommer 1904 über nach den Angaben der Mutter der K. 
weiter bestanden haben soll und sicher im September 1904 noch 
wirksam in die Erscheinung trat. 

Ergeben diese Erwägungen zwar auch nicht positive Beweise, so 
machen sie es doch bei Berücksichtigung des ganzen Krankheils¬ 
verlaufes mindestens in hohem Grade wahrscheinlich, dass die K. 
bereits im Herbst 1903, also zur Zeit der letzten inkriminierten Hand¬ 
lung gleichfalls geisteskrank gewesen ist, die Diebstähle z. B. im 
krankhaften Dämmerzustand begangen haben kann. 

Was nun die Forderungen des § 51 des Strafgesetzbuches an be¬ 
langt, so ergibt sieh, dass die K. sich zurzeit ihres Aufenthaltes in 
der hiesigen Landesanstalt sich in einem Zustand krankhafter Störung 
der Geistestätigkeit befand, durch welchen ihre freie Willensbestimmung 
ausgeschlossen war. 

Dies beweist nicht nur die Form, sondern besonders auch der 
Grad der bestehenden hysterischen Geistesstörung und ihre ganze oben 
geschilderte Erscheinungsweise. 

Schwieriger ist die Frage nach dem Bestehen der Zu¬ 
rechnungsfähigkeit der K. zur Zeit der ihr zur Last gelegten 
verbrecherischen Handlung zu beantworten. 


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Kasuistischer Beitr. z. Frage üb. d. strafrechtl. Zurechnungsfähig^ usw. 307 


Positiv lässt sich das Urteil nicht abgeben. Berücksichtigt man 
aber, dass zurzeit ihres Aufenthaltes in der hiesigen Landesanstalt 
sehr schwere Symptome einer Geistesstörung bestanden haben, dass 
es ferner in hohem Grade wahrscheinlich ist, dass Erscheinungen 
einer solchen auch im Herbst 1903 bestanden hatten, endlich, dass 
die Fähigkeit schwer kranker Hysterischer normal zu überlegen, 
überhaupt sehr zweifelhaft ist, besonders bei der immer vorhandenen 
degenerativen Anlage und der grossen Autosuggestibiiität solcher 
Kranker, so wird die Annahme, dass die freie Willensbestimmung der 
K. auch zurzeit ihres letzten Diebstahls ausgeschlossen war, doch 
sehr wahrscheinlich. 

Diese Annahme widerspricht auch nicht dem Gutachten des Vor¬ 
gutachters Dr. U., der die K. nur vermindert zurechnungs¬ 
fähig erklärte, weil sich seit Entlassung der K. aus der Anstalt B. 
deren Zustand so verändert hat, dass die Annahme einer bloss ver¬ 
minderten Zurechnungsfähigkeit nicht mehr ausreichen dürfte, mindestens 
gegenwärtig nicht. 

Man kann vielleicht betreffs des Bestehens einer nur ver¬ 
minderten Zurechnungsfähigkeit zurzeit des Begehcns der 
inkriminierten Handlung verschiedener Meinung sein, ich persönlich 
muss nach meiner Ueberzeugung aus der Schwere der gegen¬ 
wärtigen hysterischen Geistesstörung, wie sie hier bestanden 
hat, den Schluss ziehen, dass mit grosser Wahrscheinlichkeit Unzu¬ 
rechnungsfähigkeit auch damals anzunehmen war. 

Die Geistesstörung der K. ist eine solche, dass Schwankungen, 
wie sie bisher beobachtet worden sind, auch in Zukunft ein- 
troten werden. Es ist nicht ausgeschlossen, dass in kürzerer oder 
längerer Zeit der Zustand sich bessert. Es wird bei der ange¬ 
borenen Anlage und dem ausgesprochen hysterischen Charakter, 
wie er hier vorliegt, aber auch wieder Verschlimmerungen im 
weiteren Verlauf aufweisen, ein Umstand, der das Leiden nach der 
prognostischen Seite hin im Ganzen nur als minder besserungsfähig 
erscheinen lässt. 

Nach den gemachten Darlegungen gebe ich unter Berufung auf 
den im allgemeinen geleisteten Sachverständigeneid auf Grund des 
Aktenstudiums und der persönlich gemachten sechswöchigen Be¬ 
obachtung der K. mein Gutachten dahin ab: 

1. Die pp. K. ist zurzeit geisteskrank. 


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Br. Hösel, Kasuistischer Beitrag usw. 


2. Sie befindet sich gegenwärtig in einem Zustand krankhafter 
Störung der Geistestätigkeit, durch welchen ihre freie Willensbestimmung 
sicher ausgeschlossen ist. 

3. Es ist in hohem Grade wahrscheinlich, aber nicht mit Sicher¬ 
heit objektiv erweislich, dass die K. auch zur Zeit der Begehung ihrer 
letzten Straftat geisteskrank war und sich daher in einem derartigen 
Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befunden hat, durch 
welchen ihre freie Willcnsbcstimmung auszuschliessen war. 

Zsch., den 17. Oktober 1904. Unterschrift. 


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14. 

Die Aufgaben einer Psychologie der 
Untersuchungshaft. 

Von 

Dr. Hngo Marx. 

Assistenten der L'nterriclitsanstalt für Staatsarzneikunde und IT. Arzt des Untersuchungsgefängnisses 

Moabit zu Berlin. 


Einleitung. 

Im März dieses Jahres spracli ich in der Freien gerichtsärztlichen 
Vereinigung zu Berlin über die Psychologie der Untersuchungshaft. 
Man wird aus dem, was ich damals vorgetragen habe, ohne weiteres 
den Eindruck gewinnen, dass es mir weniger darauf ankam, eine ab¬ 
geschlossene Psychologie der Untersuchungshaft zu geben, als vielmehr 
die mannigfaltigen Probleme dieses Kapitels der Kriminalpsychologie 
mehr aufzuzeigen als zu erörtern. Ich hatte von vornherein auf eine 
klärende und fördernde Diskussion gehofft, und ich habe mich, wie 
inan später sehen wird, in dieser Hoffnung nicht getäuscht. 

Ich beabsichtige nun im folgenden die Ausführungen, die für 
einen kleinen Kreis geschrieben wurden, einem weiteren Zirkel von 
fachmännisch interessierten Lesern vorzulegen. Dabei halte ich es 
für angebracht, den vorzutragenden Stoff so zu teilen, dass ich zuerst 
meinen Vortrag, den ich als Einleitung zu einer Psychologie der 
Untersuchungshaft bezeichnete, annähernd in der ursprünglichen Form 
wiedergebe. Im Anschluss daran werden die Ergebnisse der Diskussion 
mitgeteilt, und zum Schlüsse fasse ich die Aufgaben für die weiteren 
Untersuchungen auf dem Gebiete der Psychologie der Untersuchungs¬ 
haft noch einmal in der Form eines Schemas zusammen. Wenn ich bei 
der Darstellung der Diskussion dieNamen der einzelnen Diskussionsredner 
nicht für das anführe, was sie vorgebracht haben, so mögen die Kollegen 
mir das verzeihen. Daran, dass ich die Diskussion gesondert wiedergebe, 


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Dr. H. Marx, 


werden die Leser erkennen, was mein und was nicht mein ist. Es 
kommt ja doch nur alles darauf an, für bedeutungsvolle zukünftige 
Untersuchungen Wege und Ziele gemeinsam fcstzulegen. Noch eins 
ist vorauszuschicken; dies nämlich, dass es unmöglich ist, eine Ein¬ 
führung in ein bestimmtes Gebiet der praktischen Psychologie zu 
geben, ohne sich an ein bestimmtes Paradigma zu halten. Und so 
habe ich für dieses Mal das Beispiel des zum erstenmale zum Rechts¬ 
brecher gewordenen Menschen gewählt, um an ihm Wesensmerkmale 
der Psychologie der Untersuchungshaft darzustellen. 

\ 

I. 

M. H.! Als mich unser Herr Vorsitzender 1 ) aufforderte, über 
die Psychologie der Untersuchungshaft vor Ihnen zu sprechen, da bin 
ich mit Freuden, aber nicht ohne Bedenken, an diese Arbeit gegangen. 
Wenn Sie die bekannten Grundrisse der Kriminalpsychologie dureh- 
lesen, oder wenn Sie auch nur ihre Sachregister durchmustern, so 
finden Sie das Wort „Untersuchungshaft“ nicht einmal überall im 
Register aufgeführt. Nur Gross widmet in seiner Kriminalpsychologie 
dem Einfluss der Haft einige kurze Ausführungen. Es musste sich 
mir daher zunächst die Frage aufdrängen: Gibt es denn überhaupt so 
etwas wie die Psychologie der Untersuchungshaft? Es ist ja zweifel¬ 
los, dass man über die Untersuchungshaft, wie es denn auch kürzlich 
geschehen ist, mancherlei Kasuistisches Vorbringen kann, schwarze 
Ausmalungen von Seelenzuständen bedauernswerter, mehr minder un¬ 
schuldig Inhaftierter, aber das ist wohl nicht gerade als wissenschaft¬ 
lich einzuschätzen und bringt uns nicht weiter. Jedenfalls ist mir 
das Eine klar geworden, dass es eine wissenschaftlich wohl fundierte 
Psychologie der Untersuchungshaft bis dato nicht gibt, und ich selbst 
will gleich hier bekennen, dass auch ich Ihnen heute keine abge¬ 
schlossene Psychologie der Untersuchungshaft entwickeln kann. Was 
ich Ihnen hier geben kann, das kann ja nicht die Summ.e aller meiner 
Erfahrungen sein, es sind mehr die allgemeinen Eindrücke und ein 
gewisser Erfahrungsniedcrschlag, den ich Ihnen mitteile. Und nach 
dem wohlbegründeten Satz, dass eine dünne Lösung nur einen ge¬ 
ringen Niederschlag liefert, müssen Sic auch das beurteilen, was ich 
Ihnen hier vortrage. Es konnte auch gar nicht meine Absicht sein, 
Ihnen hier ein vollendetes Ganze entgegenzubringen, meine Aus- 


1) Geheimrat Strassmann. 


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Die Aufgaben oiner Psychologie der Untersuchungshaft. 


311 


führungcn müssen vielmehr lediglich als Programm zukünftiger 
Arbeiten, als eine Aufzeigung von Problemen, angesehen werden, 
welche auf dem Gebiet der Psychologie der Untersuchungshaft noch 
zu lösen sind. Die Psychologie der Untersuchungshaft ist zweifellos 
ein ganz integrierender Teil der Krirainalpsychologio. Unsere modernen 
Krirainalpsychologen betonen, und wohl auch mit Hecht, am stärksten 
die sozialen wie die individuellen psychologischen Motive des Verbrechens 
In der Psychologie der Untersuchungshaft aber sehen wir als Gegen¬ 
stück die Wirkung des Verbrechens auf den der Aussenwelt ent¬ 
zogenen Verbrecher selbst uns in einer gewissen Reinheit entgegen¬ 
treten. Die Psychologie der Untersuchungshaft ist deshalb in 
diesem Sinne geeignet, das Bild von der Seele des Verbrechers zu 
ergänzen, es zeigt uns das, was man gemeinhin: „die Kehrseite der 
Medaille“ nennt. Leider wird uns das Eindringen in die Psyche des 
Untersuchungsgefangenen durch ein wesentliches Moment ausser¬ 
ordentlich erschwert. Der Untersuchungsgefangene sieht in jedem 
Gefängnisbeamten, so auch im Arzt, seinen natürlichen Feind, im 
Gedanken an seine Tat und ihre Verfolgung. Wie selten bekommen 
wir auf die Frage nach dem Verbrechen des Inhaftierten eine freie 
unumwundene Antwort. Wie oft heisst es: „es liegt ein Irrtum vor“, 
oder „es handelt sich nur um eine Kleinigkeit, die ich gestohlen oder 
unterschlagen haben soll“ u. s. f. Bei dieser Verkleinerung der 
eigenen Schuld spielt neben dem Argwohn gegenüber dem Gefängnis¬ 
beamten natürlich auch wohl der lebhafte Wunsch mit, einen günstigen 
Eindruck hervorzurufen, nicht als der sozial und sittlich Derangicric 
zu erscheinen. Kurzum, nur wenige Untorsuchungsgefangene zeigen 
uns ihr wahres Gesicht. Aber auch diese Tatsache ist kriminal- 
psychologisch und für diese Untersuchungen interessant. 

M. H.! Wenn wir unseren Gegenstand definieren wollen, so 
haben wir uns zunächst mit dem zweifachen Sinne des Wortes: 
„Psychologie“ zu befassen. Sie kennen die Psychologie einmal als 
die moderne, exakte Naturwissenschaft, deren Aufgabe es ist, die 
psychischen Vorgänge mit naturwissenschaftlichen Methoden zu er¬ 
forschen, und deren höchstes Ideal es sein muss, das ganze geistige 
Geschehen durch eine einheitliche Formel begreiflich zu machen. Sie 
w r ird daher ihr Augenmerk darauf richten, die seelischen Ereignisse 
ihres individuellen Inhaltes nach Möglichkeit zu entkleiden und sie 
unter gemeinsame Begriffe zu subsumieren. Etwas anders ist die¬ 
jenige Psychologie, die uns hier angeht. Für diese Psychologie, die 


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312 


Dr. H. Marx, 


wir auch die Psychologie des praktischen Lebens nennen können, ist 
unter Umständen gerade der Einzelfall, die Individualität im geistigen 
Geschehen, das eigentlich Wertvolle. Aber auch diese Art der 
Psychologie muss eine gewisse Summe von allgemeingültigen Er¬ 
fahrungen schaffen können, wenn anders sie Rang und Bedeutung 
einer AVissenschaft gewinnen will. Wir werden uns aber demgemäss 
nicht wundern dürfen, dass es eine absolut einheitliche Psychologie 
der Untersuchungshaft nicht gibt und nicht geben kann. Die Psycho¬ 
logie der Untersuchungshaft kann ja nichts anders sein als die Be¬ 
antwortung der Frage: wie wirkt die Untersuchungshaft auf den Ablauf 
der seelischen Vorgänge in den von ihr betroffenen Individuen ein? Und 
diese Individuen sind recht verschiedenartig. Zweifellos wirkt eine 
Reihe von Momenten, welche im Wesen der Untersuchungshaft be¬ 
gründet sind, auf alle Gefangenen in gleicher Weise ein. Auf andere 
Einflüsse reagiert vielleicht ein grösserer Teil in gleicher Weise, 
andere reagieren dagegen auf eben dieselben Einflüsse so absolut 
anders, dass von einer einheitlichen Psychologie hier nicht die Rede 
sein kann. Der wiederholt vorbestrafte Verbrecher bewertet seine 
Tat und die Misslichkeiten der Untersuchungshaft natürlich anders, 
als der zum ersten Mal Straffällige. Der geistig Minderwertige unter¬ 
liegt den Schwankungen seines Gemütszustandes eher und plötzlicher 
als der seelisch Intakte und geistig Hochstehende. Wir werden uns 
zunächst aber mit allen denjenigen Momenten bekannt zu machen 
haben, von denen annähernd alle Untersuchungsgefangenen, besonders 
aber die zum erstenmale Inhaftierten, in der gleichen Weise betroffen 
werden. Und von diesen Einflüssen und ihren Folgen soll heute in 
in der Hauptsache die Rede sein. Ich hoffe, Ihnen später einmal den 
speziellen Teil zu dieser allgemeinen Einleitung nachliefern zu können. 
Es ist natürlich da, wo man von der Psychologie der Untersuchungs¬ 
haft spricht, nicht nur der Psychologie, sondern auch der Psycho¬ 
pathologie der Untersuchungshaft zu gedenken. Auch das grosse 
Kapitel der Geisteskrankheiten in der Untersuchungshaft müsste hier 
erörtert werden, cs ist aber eine Teilung des Stoffes dahin verabredet 
worden, dass später Herr Kollege Hoff mann über Geisteskrankheiten 
in der Untersuchungshaft spricht, und dass ich mich, wenn ich mich 
so ausdrücken darf, der normalen Psychologie der Untersuchungshaft 
annehme. 

Ihne besondere Methode hat diese Psychologie nicht; ihre Er¬ 
gebnisse stützen sich auf Beobachtung, man könnte sagen, auf die 


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Die Aufgaben einer Psychologie der Untersuchungshaft. 313 

Klinik der Untersuchungshaft und, gleich der Kriminalpsychologie, auf 
Statistik, auf Zahlenreihen. 

Zunächst muss ich Sie bitten, gewisse äussere Einrichtungen der 
Untersuchungshaft kurz mit mir zu erörtern, Einrichtungen, deren 
Erwähnung und Kenntnis Voraussetzung für die folgenden Aus¬ 
führungen sind. Ich erinnere Sie zuerst an den Gang einer Inhaftierung: 
Eine Person ist dringend verdächtig, ein Verbrechen begangen zu 
haben. Zwischen Tat und erster Vernehmung durch die Polizei 
liegt schon ein gewisser Zeitraum, der für den Täter voller Aufregung 
ist. Die Vernehmung verstärkt den Verdacht, der Verdächtige wird 
festgehalten und in das Untersuchungsgefängnis eingeliefert. Hier ist 
er Polizeigefangencr bis zu seiner ersten Vernehmung durch den 
Richter, die innerhalb der ersten 24 Stunden nach seiner Einlieferung 
in das Gefängniss erfolgen muss. In anderen, selteneren Fällen hat 
sich der Verdächtige bis zu seiner richterlichen Vernehmung auf 
freiem Fusse befunden und erst der Richter schickt ihn in die Haft. 
Für denjenigen Untersuchungsgefangenen, der vor seiner, ersten Ver¬ 
nehmung durch den Richter eingeliefert ist, ist eben diese erste Ver¬ 
nehmung oft von ausserordentlicher Bedeutung. Sie muss den tiefsten 
Eindruck auf den Inhaftierten machen, insofern, als sie seine Hoffnung 
auf Befreiung aus der Haft, die er eventuell auf diese Vernehmung 
setzßn könnte, vernichtet. Wie häufig hören wir von den Neuein¬ 
gelieferten, dass sie zuverlässig auf ihre Haftentlassung nach dieser 
ersten Vernehmung rechnen. Alles Hoffen geht auf diese Stunde, 
und die Vernichtung dieser Hoffnung bedeutet ein wesentliches Glied 
in der Kette seelischer Einflüsse der Untersuchungshaft. Zugleich ist 
nicht selten diese erste Vernehmung auf Tage, ja auf Wochen hinaus 
das einzige bedeutungsvolle Ereignis in dem nun beginnenden monotonen 
Gefängnisleben. Auf diese Vernehmung werden wir noch zurück¬ 
greifen müssen. 

Schon dieses Moment gehört zu den wesentlichen Eigentümlich¬ 
keiten, welche die Untersuchungshaft von der Strafhaft bedeutsam 
unterscheiden, und naturgemäss wird ja gerade das Kapitel der 
Unterscheidungsmerkmale zwischen Straf- und Untersuchungs¬ 
haft eine Hauptrolle bei unseren Ausführungen spielen müssen. 

Eine Reihe von Unterschieden gegen die Strafhaft ist zunächst 
in weiteren äusseren Einrichtungen zu suchen, wie sie der Unter¬ 
suchungshaft eigentümlich sind. Vor allem kennt die Untersuchungs¬ 
haft im Prinzip nur die Isolierhaft. Nach Eröffnung des Neubaues hat 


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Dr. If. Marx, 

unser Berliner Untersuchungsgefängnis bei einer Bclcgungsfäiiigkcit 
von 1483 Köpfen, abgesehen von den Lazarettkranken und von Ge- 
meinschaftsräumen für eine Anzahl weiblicher Gefangener, nur wenig 
mehr als für 130 Köpfe Gemeinschaftshaft. Jugendliche und nicht 
Vorbestrafte werden immer isoliert gehalten. Unsere Zellen haben 
22 bis 25 cbm Luftraum. Eine Verpflichtung zur Arbeit besteht 
nicht; Bücher aus der Gefängnisbibliothek werden in der Regel in 
einem Exemplar ausgegeben und einmal wöchentlich gewechselt. In¬ 
dessen kann der Untersuchungsgefangene sich mit Erlaubnis der 
Richter Bücher und Zeitungen halten, ebenso wie er sich selbst 
beköstigen kann. Im Uebrigcn ist die Anstaltskost für Gesunde 
die sogenannte Ilauskost. Wenn auch in einzelnen Fällen der Arzt 
eine reichhaltigere und mehr abwechselungsreichc Kost verordnen 
kann, so ist doch die Grundkost des Untersuchungsgefangenen, der 
sich nicht selbst beköstigen kann, die Hauskost. 

Ich gebe Ihnen aus einem Aufsätze Hoffmanns über Gefängnis¬ 
hygiene (diese Vierteljahrsschrift, Aprilheft 1906) einige Notizen über 
die Beköstigung unserer Untersuchungsgefangenen: „Seit dem Jahre 
1887 ist in den Strafanstalten (Zuchthäusern) ein neuer Speiseetat 
eingeführt, nach welchem es möglich ist, Käse, Hering usw. zu ver¬ 
ordnen. Auch für das Untersuchungsgefängnis ist ein neuer Kostetat 
in Aussicht, und wir begriissen ihn mit Freude, denn unserer J(ost 
tut ein gewisser Fettzusatz not. Unsere gesunden Gefangenen 
erhalten täglich frühmorgens 1 / 2 Liter Kaffee, sodann 500 g Brot, 
welches in 3 Raten verabreicht wird, mittags 5 / 4 Liter Mittagessen 
und abends 1 Liter Abendessen. Es würde dies einem Gesamtgewichte 
entsprechen von reichlich 3250 g. u „Die Mittagsmahlzeit enthält 
3 mal in der Woche Fleisch, und zwar wird pro Kopf 70 g Rind¬ 
fleisch oder 60 g Schweinefleisch gerechnet.“ „Der Mangel an Fett 
findet darin seinen Ausdruck, dass die Gefangenen oft um Lebertran 
bitten. Im Jahre 1904 sind bei uns im Untersuchungsgefängnis 60 kg 
Lebertran meist aus diesem Grunde verabreicht wmrden, eine Fett¬ 
zugabe. die nicht einmal etwa billiger ist als Talg oder Schmalz.“ 
„Alle Gefangenen ohne Ausnahme erhalten bei uns, wenn sie länger 
als 13 Wochen inhaftiert sind, eine andere Kost, und zwar auf die 
Dauer von 14 Tagen. Die Untersuchungsgefangenen bekommen erste 
oder zweite Form, je nach Wunsch, d. h. die Hauskost, aber be¬ 
sonders gekocht, dazu 167 g Rindfleisch und 1 / 2 Liter Milch pro Tag. 
Die Menge der Mittagsportion erniedrigt sich hier von l x / 4 Liter auf 


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Die Aufgaben einer Psychologie der Untersuchungshaft. 


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1 Liter. Erste und zweite Form unterscheiden sich dadurch, dass 
bei der ersten Schwarzbrot, bei der zweiten Weissbrot (Semmeln) 
verabfolgt wird und zwar 270 g. u 

Abgesehen von dem Recht der Selbstbeköstigung steht es dem 
Untersuchungsgefangenen frei, sich aus eigenen Mitteln Zubusse zur 
Gefängniskost zu beschaffen, so dass schon aus diesem Grunde der 
Speiseetat des Untersuchungsgefängnisses etwas knapper bemessen ist 
als derjenige der Strafanstalten. Die Bewegung im Freien dauert 
täglich eine halbe Stunde; der Tag beginnt für den Untersuchungs¬ 
gefangenen früh um 6 Uhr; und abends um 8 Uhr ist der Tag offiziell 
für ihn zu Ende, sein Zellenlicht wird gelöscht und damit beginnt für 
ihn die Nacht. Wenn ich noch hinzufüge, dass der Untersuchungs¬ 
gefangene Briefe nur auf dem Umwege über den Richter schreiben 
und empfangen, und dass er nur mit dessen Erlaubnis Besuche, und 
zwar in Gegenwart eines Aufsehers, empfangen darf, so habe ich 
wohl an äusseren Einrichtungen alles erwähnt, was uns hier interes¬ 
sieren kann. 

Wir kommen nunmehr zu demjenigen Moment, welches die Unter¬ 
suchungshaft am bedeutendsten von der Strafhaft unterscheidet, und 
in diesem Moment beruht auch vielleicht das ganze Wesen der Psycho¬ 
logie der Untersuchungshaft, und dieses Moment ist in dem einen 
Satz zusamraenzufassen, dass der Untersuchungsgefangene, mag er 
schuldig sein oder nicht, in einem Gemütszustand voll der heftigsten 
Schwankungen einsam eingesperrt wird. Der Strafgefangene, ich 
spreche zunächst nur von solchen, die vor der Verurteilung in Unter¬ 
suchungshaft waren, kommt nach der Hauptverhandlung in den meisten 
Fällen in ein ruhigeres seelisches Fahrwasser. Man erlebt es zwar öfters, 
dass die Verurteilung, besonders zu einer unerwartet hohen Strafe, im 
ersten Augenblick eine hochgradige seelische Erregung zur Folge hat. 
Allmählich tritt aber eine Beruhigung ein, und die Kollegen, welche 
die Strafgefängnissc kennen, werden mir, wenn sie einmal von den 
geistig Minderwertigen absehen, die Allgemeingültigkeit dieses Satzes 
bestätigen. Wir haben selbst in unserem Untersuchungsgefängnis 
ständig zwischen 200 bis 300 Strafgefangene, die zum Teil mehr¬ 
jährige Strafen zu verbüssen haben, und da ist es wunderbar, zu sehen, 
wie die Menschen, die als Untersuchungsgefangene oft recht lästige 
Patienten, ja Querulanten waren, in der Strafhaft eine ruhige Gleich- 
raässigkeit gewinnen und gute und willige Arbeiter werden. 

Die Untersuchungshaft aber treibt die Gefangenen hin und her 

Vierteljahrsschrift f. ger. Med. o. Off. San.-Wesen. 3. Folge. XXXII. 2. 21 


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Dr. H. Marx, 

zwischen Hoffnung und Furcht, das Bild der Tat wächst und wird 
wieder kleiner, in der einen Minute sehen sie sich freigesprochen, in 
der nächsten fürchten sie das höchste Strafmass, sie stehen vor etwas 
noch Unwirklichem, vor einer ungewissen Zukunft, die sie befreien, 
die sie aber auch vernichten kann. Dazu kommt auch bei geistig 
gesunden und durchaus urteilsfähigen Untersuchungsgefangenen das 
Gefühl, in ihrer Verteidigung behindert zu sein. Es sind nicht die 
Querulanten allein, die jenes Gefühl erlittener Unbill immer wieder 
beschleicht. Diese Empfindung hat vielleicht ihren tiefsten Grund in 
dem Gang und Wesen unseres Strafprozesses, der den Verteidiger erst 
nach Eröffnung des Hauptverfahrens in voller Wirksamkeit zulässt. 

Wir müssen uns nunmehr zu dem Augenblick zurückbegeben, der 
den Untersuchungsgefangenen von der Freiheit in das Gefängnis führt. 
Aus der weiten Umgebung, in der er zu leben gewohnt war, kommt 
er in die Zelle, in der niemand ist, als er allein. Wir sind unserer 
Natur nach alle polypragmatisch und polyästhetisch. Von dem 
Augenblick an, in dem wir morgens unser Bett verlassen, bis zu der 
Abendstunde, in der wir das müde Haupt zur Ruhe legen, tun wir 
unendlich viele Dinge, empfangen wir unermesslich viele Sinnesein¬ 
drücke. Wir tauschen Worte und Reden mit einer nicht geringen Anzahl 
von Mitmenschen, und durch alle diese Handlungen und Wahrnehmungen 
zieht sich als ein Stützwerk das, was wir die Tagesarbeit nennen, 
jenes für den Tag vorausbestimmte planmässige Tun, um das sich 
aber unzählige andere Dinge ankristallisieren, als das Beiwerk des 
Tages. Wir haben in jedem Augenblick die Möglichkeit, Gedanken 
auszusprechen, Fragen zu stellen, uns mitzutcilen, Mitteilungen und 
Nachrichten zu empfangen, kurzum, uns mit der Umwelt in Verbin¬ 
dung zu setzen und zu erhalten. Die Einsperrung in der Zelle ver¬ 
wandelt diese unendliche Mannigfaltigkeit des Lebens in der Freiheit 
mit einem Schlage in die eintönige Existenz des Isoliergefangenen, und 
man könnte nunmehr ebensogut eine Psychologie der Einsamkeit 
schreiben, wenn eben nicht diese Einsamkeit eine erzwungene, und 
wenn sie nicht kompliziert wäre durch die Gedanken an ihre Ursache, 
an die rechtsbrechende Tat und die ungewisse Aussicht auf den Aus¬ 
gang des Prozesses. Die Entfernung aus dem Tausenderlei des Lebens 
in das Einerlei der Zelle ist vergleichbar, oder besser direkt zu be¬ 
zeichnen als eine konzentrische Einengung des gesamten Bewusstseins¬ 
inhaltes. Zuvörderst verschwindet die Vielgestaltigkeit der Sinnesein¬ 
drücke, die Zellenwand, der begrenzte Blick aus dem vergitterten 


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Die Aufgaben einer Psychologie der Untersuchungshaft. 


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Fenster tritt an die Stelle des bunten Kaleidoskops der weiten Um¬ 
welt; die Gehörswahrnehmungen sind unendlich vermindert, dazu eine 
lange Nacht, Mangel an ausreichender Bewegung, träge Verdauung, 
verminderter Schlaf. 

Diese konzentrische Einengung ist vielleicht vergleichbar der Nacht, 
deren Wirkung auf die Psyche keinem von uns unbekannt ist. Jeder 
Gedanke wird tiefer und herrschender, jede Sorge nagender. In diesem 
Zustand erhebt sich der Gedanke an die Tat und ihre Folgen und 
überwächst und verdrängt die übrigen Gedanken und Gegenvorstel¬ 
lungen. Wenn der Satz zu Recht besteht, dass wirksame Gegenvor¬ 
stellungen durch nichts mehr begünstigt werden, als durch die Ver¬ 
arbeitung mannigfaltiger neuer Sinneseindrücke und durch den 
nehmenden und gebenden Verkehr mit unseren Nächsten, so ist dem 
Untersuchungsgefangenen plötzlich alles das genommen, was der 
Bildung von Gegenvorstellungen zugute kommen könnte. So wird 
psychologisch ein Gebilde entstehen, das man in Erinnerung an 
Wernickes Terminologie einen „überwertigen Ideenkoraplex“ nennen 
könnte, wenn natürlich auch Wernicke psychologisch und psychia¬ 
trisch etwas anderes unter seiner überwertigen Idee verstanden hat. 
Wenn schon in der Freiheit der Gedanke an ein getanes grosses Un¬ 
recht ein unassimilierbares Moment im ganzen Bewusstseinsinhalt be¬ 
deutet, um wieviel grösser muss für das eingeengte Bewusstsein der 
nicht aufgehende Rest sein, den Rückblick und Ausblick auf Tat und 
Folgen für die Psyche bedeuten. Die Tat wird zunächst als Ursache 
für die gegenwärtigen Uebel erscheinen, die den Untersuchungsge¬ 
fangenen befallen haben. Soll ich diese Uebel im einzelnen nennen, 
so wird die Entfernung aus der Familie, aus der gewohnten Arbeit, 
aus dem Behagen und den Bequemlichkeiten des Lebens drückend 
empfunden. Wie weit diese einzelnen Momente auf dem Einzelnen 
besonders schwer lasten, wie weit ferner z. B. die Unmöglichkeit des 
Geschlechtsverkehrs, die Entwöhnung von der üblichen früher gewohn¬ 
ten Ernährungsweise, der Mangel an Bewegung schädigende Faktoren 
bilden, muss späteren Untersuchungen überlassen bleiben. All das 
auch nur andeutungsweise anzuführen, würde Stunden in Anspruch 
nehmen. 

Ungleich bedeutender muss in allen Fällen die Sorge um die 
Existenz erscheinen. Die Plötzlichkeit der Verhaftung lässt den Ge¬ 
fangenen oft genug ein unbestelltes Haus zurücklassen. Er sieht seine 
Stellung im bürgerlichen Leben, seine soziale Position erschüttert, alte 

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Dr. H. Marx, 


Beziehungen werden zerrissen, ja selbst die intimsten Beziehungen, 
diejenigen zu Frau und Kind werden oder erscheinen wenigstens ge¬ 
lockert. Der Name des Gefangenen ist, dank dem famosen lokalen 
Teil der Zeitungen, in aller Munde, der gute Name droht für immer 
zu verschwinden. 

Diese psychische Deroute wird wirksam unterstützt durch körper¬ 
liche Momente. Die Verlangsamung des Stoffwechsels, die veränderte 
Art der Nahrung, Schlaflosigkeit fördern ein ganzes Heer von unan¬ 
genehmen Sensationen zu Tage, und jede einzelne von ihnen wird in 
dieser konzentrischen Einengung des Bewusstseins doppelt stark emp¬ 
funden. Und so kommt es, dass wir in unserem Gefängnis mit der 
Erkrankungsziffer an der Spitze aller Gefängnisse marschieren. Nach 
der letzten Statistik betrug bei uns die Zahl der Erkrankungsfälle 
pro Jahr nicht weniger als 10332. Die Klage über körperliche Leiden 
wird ja zweifellos von einem grossen Teil der Untersuchungsgefangenen 
stark übertrieben, aber auf der anderen Seite müssen wir uns klar 
darüber werden, dass den Untersuchungsgefangenen jedes körperliche 
Unbehagen weit über ein normales Durchschnittsraass hinaus zur Emp¬ 
findung kommt. 

An der Spitze der Klagen, welche die Gefangenen dem Arzt Vor¬ 
bringen, steht in erster Reihe die über Schlaflosigkeit und allerlei 
andere nervöse Beschwerden. Infolgedessen ist natürlich auch der 
Gebrauch von Schlafmitteln und den üblichen Nervinis gar nicht zu 
umgehen. Ein nicht geringer Teil der sich zum Arzt meldenden 
Untersuchungsgefangenen äussert endlich die lebhafteste Begehrungs¬ 
vorstellung nach Verlegung in Gemeinschaftshaft. Weniger beteiligen 
sich an diesem Verlangen die zum ersten Mal Inhaftierten und die 
Intelligenten und seelisch Normalen. Dagegen stellen die geistig 
Schwachen und Minderwertigen, und nach meinen Erfahrungen be¬ 
sonders auch die degenerierten Sittlichkeitsverbrecher ein grosses 
Kontingent zu dieser Art von Vormeldungen. Ich muss es mir Vor¬ 
behalten, auf diese Verhältnisse noch einmal zurückzugreifen, da sic 
in der Psychologie der Untersuchungshaft eine bemerkenswerte Rolle 
spielen. 

Die Summierung all der oben skizzierten Erscheinungen auf 
körperlichem und seelischem Gebiet muss einerseits eine ausser¬ 
ordentliche Labilität des Seelenzustandes herbeiführen. Jedes Ereignis, 
besonders die Sprechstunden, Briefe, Nachrichten von aussen, von 
den Strafbehörden, erzeugen seelische Ausschläge, die weit über 


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Die Aufgaben einer Psychologie der Untersuchungshaft. 319 

% 

normales Mass hinausgehen. Eine intensive Reaktion in dieser Richtung 
bewirken die Ablehnung von Entlassungsanträgen, das Ausbleiben der 
Antwort auf einen an eine geliebte Person geschriebenen Brief u. a. m. 
Andererseits kommt es zur ausgesprochenen Depression. Man führt 
so häufig da, wo es sich um Gedanken an Unrechtes Tun handelt, 
das Wort „Reue“ im Munde. Was bedeutet dies bequeme kurze 
Wort in der Psychologie des Untersuchungsgefangenen? 1 ) Die be¬ 
gangene Tat, so müssen wir uns wiederholt vorstellen, bildet für den, 
der nicht ein Gewohnheitsverbrecher ist, einen unassimilierbaren Faktor 
im Bewusstsein. Sie hebt sich aus dem gesamten Inhalt seiner Psyche 
heraus, und die Einsamkeit der Zelle verstärkt diese Sonderstellung 
im Bewusstseinsinhalt noch. Die eigene Persönlichkeit, bzw. ihr Wert 
wird an dieser Tat gemessen und zu ihr in Verbindung gesetzt, und 
wenn wir nun von Reue sprechen, so können wir für den grösseren 
Teil der Untersuchungsgefangenen darunter nichts anderes verstehen, 
als dass der Inhaftierte Einsehen in das Rechtsbrecherische, Anti¬ 
soziale der Tat gewonnen hat und aus dieser Einsicht eine Ver¬ 
minderung des sozialen und individuellen Wertes der eigenen Persön¬ 
lichkeit ableitet. Dieses Gefühl des verminderten Eigenwertes muss 
eins der allermächtigsten bei dem sein, der als Mensch von sozialem 
Durchschnittswert zum ersten Mal zum Rechtsbrecher wird. Ganz 
zweifellos ist das Räsonnement dieses Menschen in den seltensten 
Fällen: „ich muss gebessert werden“; es heisst zumeist: „ich büsse, ich 
zahle meine Schuld.“ Und meistens heisst es auch nicht: „ich will 
büssen,“ sondern „ich muss büssen“. So manches Mal schon musste 
ich konstatieren, dass da, wo der Gefangene bekannte: „ich w r ül 
büssen“, eine nicht normale geistige Verfassung anzutreffen war. 

Das Gefühl des Verlustes an Persönlichkeitswert, das natur- 
turgemäss besonders auf die Zukunft gerichtet ist, kann in seinen 
höheren Graden, die man kaum als krankhafte Reaktionen, eher 
als Hyperreaktionen bezeichnen kann, zum Selbstmord führen. 

In der Psychologie der Untersuchungshaft verdient der Selbst¬ 
mord ein ausführliches Kapitel. Ich habe eben kurz eins der 
mächtigsten Motive zum Selbstmord zu skizzieren versucht. Zweifellos 
rangiert auch der durch die Verhaftung gesetzte seelische Shock unter 
den Ursachen des Selbstmordes mit an erster Stelle. Hier haben wir 
dann natürlich kein ruhiges Räsonnement; konsequente Ueberlegung 

1) Vergl. die entsprechenden Ausführungen in Teil II. 


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Dr. H. Marx, 


weicht einer sich überstürzenden Gedankenfolge. Das Gefühl voll¬ 
kommener sozialer Vernichtung scheint den Selbstmord gebieterisch zu 
fordern. Hier erfolgt der Selbstmord fast als psychischer Reflex. In einer 
weiteren Reihe von Fällen kommt der schon öfters erwähnten richter¬ 
lichen Vernehmung für den Selbstmord entscheidende Bedeutung zu. Die 
Hoffnung auf die Haftentlassung ist zerst ört, der ersten Erregung folgt ein 
mächtiger Rückschlag, die Aussicht auf eine längere Haft und Unter¬ 
suchung, treiben ihn dem Selbstmord entgegen. So weist denn auch 
unsere Statistik, die ich Ihnen nachher vorführen werde, für diese ersten 
Stunden und Tage nach der richterlichen Vernehmung einen Prozentsatz 
von annähernd 33 pCt. aller bei uns vorgekommenen Selbstmorde auf. 

In den späteren Tagen der Untersuchungshaft geben Ereignisse 
mancherlei Art den Anstoss zum Selbstmord. Ich sage: den Anstoss 
und nicht die Ursache, weil die Ursache, das eigentliche Motiv, tiefer 
liegt, als diese oft ganz äusserlichen Umstände. Endlich erfolgt dann 
noch eine gewisse Anzahl von Selbstmorden unmittelbar nach erfolgter 
Verurteilung, vor allem dann, wenn das Urteil über das erwartete Straf¬ 
mass hinausgegangen ist. Immer aber bleibt das eigentliche Motiv die 
Verminderung des Persönlichkeitswertes möge diese nun im Verlust der 
sozialen Stellung, der Familie, der Freiheit und ihrer Güter, der Möglich¬ 
keit des Genusses bestehen. Sie werden mir mit Recht entgegenhalten, 
dass eine solche Minderung des Persönlichkeitswertes im allgemeinen 
auch bei freien Menschen das Selbstmordmotiv abgeben dürfte. . Wir 
müssen aber nicht vergessen, dass dem Inhaftierten alle jene Möglich¬ 
keiten fehlen, welche dem Verzweifelten in der Freiheit W r ege zeigen, 
auf denen er dem Untergang entgehen kann. Bei dem Inhaftierten 
ist der Blick begrenzt, der Seelenzustand labiler, die Psyche empfind¬ 
licher; und die Gegenvorstellung darum machtloser und farbloser. Es 
liegt mir nun ob, für das Kapitel des Selbstmordes einiges statistische 
Material beizubringen. 

In eingehender Weise hat schon Baer in der Gefängnishygiene 
in VVeyls Handbuch der Hygiene den Nachweis für die Häufigkeit 
der Selbstmorde in der Untersuchungshaft gegenüber der Strafhaft 
zu bringen versucht. In der Zeit von 1881 bis 1891 hat Baer für 
unser Untersuchungsgefängnis 41 vollendete Selbstmorde verzeichnet, 
davon 39 bei 50 363 männlichen Gefangenen. In der um fünf Jahre 
längeren Periode von 1878 bis 1892/93 kamen im Strafgefängnis 
IMötzensee nur 10 Selbstmorde vor bei einer um 24 000 höheren 
Gefangenenzahl. Ich selbst habe für die Jahre 1900 bis 1905 31 Selbst- 


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Die Aufgaben einer Psychologie der Untersuchungshaft. 


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morde im Untersuchungsgefängnis gefunden, bei insgesamt 63 871 
Gefangenen, während Baers 10 Plötzenseer Selbstmorde sich auf 
74 488 Gefangene beziehen, d. h. auf 1000 Untersuchungsgefangene 
kommen 0,486, auf 1000 Strafgefangene kommen 0,134 Selbstmorde, 
oder im Untersuchungsgefängnis kamen fast viermal so viel Selbst¬ 
morde vor als im Strafgefängnis. Nun ist aber hierbei ein Moment 
nicht zu vergessen, das zweifellos auf die Selbstmordhäufigkeit' 
einen gewissen Einfluss ausübt; wir haben Isolierhaft, in Plötzensee 
herrscht Gemeinschaftshaft vor. Unter den 10 Selbstmorden in 
Baers Statistik kamen in der Isolierhaft 0,708, in der Gemeinschafts¬ 
haft nur 0,055 pro mille Selbstmorde vor. Dass aber, abgesehen von 
dem Moment der Isolierhaft, im ganzen die Zahl der Selbstmorde im 
Untersuchungsgefängnis ungleich höher ist als im Strafgefängnis, be¬ 
weist die Statistik des Gefängnisses in Tegel. Tegel ist Straf¬ 
gefängnis und hat 1499 Isolierzellen und nur für 127 Gefangene Ge¬ 
meinschaftshaft. Dabei sind in den letzten fünf Jahren im Tegeler 
Gefängnis unter- 61 352 Gefangenen nur 6 Selbstmorde vorgekommen. 
Auf 1000 Gefangene berechnet gibt das ein Verhältnis von 0,1, 
während wir im Untersuchungsgefängnis ein Verhältnis von 0,5 auf 
1000 haben, oder fünfmal so viel. Und dieses Verhältnis muss zu 
Recht bestehen bleiben, weil hier der Einfluss der Isolierhaft als 
gleicher Faktor in beiden Rechnungen figuriert. Ferner glaube ich, 
wird dieses Verhältnis noch dadurch in seiner Richtigkeit begründet, 
dass von allen Selbstmorden, die bei uns vorgekommen sind, nicht 
ein einziger auf unsere Strafgefangenen entfällt, die doch etwa 15 bis 
20 pCt. unseres jeweiligen Bestandes ausmachen. In der freien Be¬ 
völkerung in Deutschland kommen etwa 0,2 pM. Selbstmorde vor, 
während allerdings die Bevölkerung von Berlin ein Verhältnis von 
etwas über 0,3pM. aufweist, immerhin bei weitem weniger als unser 
Untersuchungsgefängnis. 

Von unsern Selbstmorden kamen 11 in den 3 ersten Tagen 
der Untersuchungshaft vor, 2 am 4. Tage und im ganzen 15, also 
die Hälfte, in der ersten Woche. Von den Selbstmördern waren 
29 Männer und 2 Frauen, 29 Erwachsene und 2 Jugendliche 
unter 20 Jahren. Bezüglich der Art des Verbrechens habe ich keine 
besondere Gesetzmässigkeit feststellen können, es sind alle Arten von 
Verbrechen annähernd gleichmässig beteiligt. Sie wissen, dass nach 
den Untersuchungen von v. Mayr, Morselli x ) und anderen die 

1) Cit. nach Aschaffenburg, Das Verbrechen und seine Bekämpfung. 


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Dr. H. Marx, 

grösste Zahl der Selbstmorde in die Sommermonate Juni, Juli und 
August fällt, und dass von diesen Monaten Juni und Juli etwa am 
höchsten beteiligt sind. Unsere Zahl von Selbstmorden ist ja im 
ganzen eigentlich viel zu klein, um auch für sie dieses Verhältnis zu 
prüfen. Immerhin ist es aber interessant, dass im Monat Juni allein 
7 Selbstmorde vorgekommen sind, also beinahe 1 / i aller Selbstmorde, 
und dass in den Sommermonaten Juni, Juli, August und September 
15, oder die Hälfte aller unserer Selbstmorde sich ereignet haben. 
Die Art des Selbstmordes geschah vorwiegend durch Erhängen, ent¬ 
sprechend den äusseren Einrichtungen, welche in der Regel keine andere 
Art des Selbstmordes gestatten oder sie wenigstens erheblich erschweren. 
Ich komme auf diesen Umstand noch einmal zurück. 

Das Kapitel der Selbstmordversuche ist in mancher Be¬ 
ziehung fast noch interessanter für die Kenntnis der Psychologie der 
Untersuchungshaft, als das der vollendeten Selbstmorde. Neben den 
31 vollendeten Selbstmorden haben wir 134 Selbstmordversuche zu 
verzeichnen. Was die Ernsthaftigkeit der Versuche angeht, so wird 
man bei ihrer Beurteilung auf drei Momente zu achten haben. Auf 
die Mittel des Versuchs, auf seine Folgen und auf den Zeitpunkt 
des Versuchs. Wenn jemand, wie es bei uns geschehen ist, in 
törichter Weise versucht, sich mit seinem Löffel oder mit Brot¬ 
stücken zu ersticken, so können wir nur von einem Versuch mit 
untauglichen Mitteln sprechen. (Derselbe Mann hatte 4 Tage zuvor 
eine wenig geschickte Selbsterdrosselung versucht.) Anders werden 
wir einen Selbstmordversuch beurteilen müssen, wenn wir bei Erhän- 
gungsversuchen eine Strangmarke und tiefe Bewusstlosigkeit vorfinden, 
oder wenn etwa am Vorderarm durch Schnitt alle Sehnen durchtrennt 
wurden. Manche Gefangene entwickeln bei ihren Selbstmordversuchen 
eine geradezu erstaunliche Energie. Der 24 Jahre alte Arbeiter H. 
bringt sich eine tiefe Weichteilwunde über dem Handgelenk bei, 
macht sofort nachher Anstalten, sich zu erhängen, wird dabei über¬ 
rascht, stürzt zur Tür hinaus und springt von der 3. Etage über das 
Geländer etwa 15 m hinab in die Tiefe. Ein anderer bringt es trotz 
Fesselung der Hände fertig, sich am oberen Türscharnier aufzuknüpfen. 

Ueber die Folgen des Versuchs ist wenig zu sagen. Wenn je¬ 
mand ein Messer zur Verfügung hat und sich damit nur ein paar ober¬ 
flächliche Hautrisse beibringt, so werden wir ihm die ernsthafte Ab¬ 
sicht kaum glauben können. 

Endlich ist über den Zeitpunkt des Selbstmordversuches einiges 


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Die Aufgaben einer Psychologie der Untersuchungshaft. 


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anzumerken. Es gibt Gefangene, die den Augenblick zu einem Selbst¬ 
mordversuch benutzen, wo sie mit Gewissheit erwarten dürfen, vom 
Aufseher überrascht zu werden. Die Mittel des Versuchs entsprechen 
hier seiner mangelnden Ernsthaftigkeit. Das sind eben Demonstra¬ 
tionsselbstmordversuche. In vielen Fällen werden diese Versuche in¬ 
szeniert, um besonders die Verlegung in die Gemeinschaftshaft zu 
erzwingen; andere demonstrieren durch den Versuch, damit der Richter 
Kenntnis bekommt und entweder von der Unschuld oder wenigstens 
von der Reumiitigkeit des Angeschuldigten überzeugt, Milde übt und 
etwa die Haftentlassung anordnet. 

Man wird natürlich nicht jeden Versuch, der zu einer Zeit statt¬ 
findet, wo der Aufseher zu erwarten ist, ohne weiteres als nicht 
ernsthaft bezeichnen dürfen. Mancher Gefangene, der eben erst ein¬ 
geliefert ist, weiss natürlich nicht, ob und wann der Aufseher kommt, 
oder er denkt garnicht an diese Möglichkeit. Da werden eben die 
beiden anderen Momente: des Mittels und des Erfolges uns den 
richtigen Weg weisen. 

Auf diese Weise schätze ich die Zahl der ernsthaften Selbst¬ 
mordversuche auf etwa 25 bis 30 pCt. aller bei uns vorgekommenen 
Selbstmordversuche. Jedenfalls möchte ich hier konstatieren, dass 
unter den erwähnten 31 vollendeten Selbstmorden 23 in der Nacht 
ausgeführt wurden. In einem Falle war der Selbstmörder, der in 
einer beleuchteten Zelle lag, so raffiniert vorgegangen, dass er den 
Aufseher gebeten hatte, sich zum Schutze gegen das Licht sein Hand¬ 
tuch über das Gesicht decken zu dürfen. Damit rechnend, hatte er 
aus Tüchern und Mütze einen Kopf auf dem Kopfkissen, durch Klei¬ 
dungsstücke einen Körper unter der Decke markiert, so dass der 
Aufseher beim Blick in die Zelle glauben musste, der Mann läge im 
Bett. Morgens früh fand man den Mann am Klosettrohr erhängt und 
bereits starr. Ein weiterer günstiger Moment, ungestört Selbstmord 
vorzunehmen, ist die Pause nach der Verabfolgung des Mittagessens 
und des Sonntag nachmittags. In diese Zeit fallen 5 unserer Selbst¬ 
morde. 

Allzu durchsichtig wird die Absicht zu demonstrieren, wenn, wie 
ich das erlebt hatte, ein gebildeter Untersuchungsgefangener sich 
einige abendliche Dosen eines Schlafmittels aufspart, dann den Auf¬ 
seher herbeiklingelt und ihm triumphierend sagt, diese Menge, die er 
vorzeigt, würde wohl zum Selbstmord genügen. . 

Im übrigen bin ich überzeugt, dass, wenn den Gefangenen die- 

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Dr. H. Marx, 


selben Tötungsmittel wie in der Freiheit zu Gebote ständen, wir eine 
ungleich grössere Zahl von vollendeten Selbstmorden hätten. Ganz 
besonders gefährlich wäre es, wenn die Gefangenen Gelegenheit 
hätten, ungestört Gas ausströmen zu lassen; das ist ihnen natürlich 
nicht möglich, ln der Zeit, in der das Gas in den Zellen brennt, 
fällt natürlich jedes Ausblasen der Flamme durch die Verdunkelung 
der Zelle auf, und nach 8 Uhr abends wird alles Zellengas für jeden 
Gang einheitlich und an jeder Zelle noch besonders von aussen ab¬ 
gestellt. 

Uebrigens muss man diese relativ mangelhaften Selbstmordmittel, 
über die der Gefangene verfügt, mit in Rechnung stellen, wenn man 
die Statistik des Selbstmords in der Untersuchungshaft mit derjenigen 
in der Freiheit vergleicht. Es ist Sache des Naturells, wie man sich 
am liebsten vom Leben zum Tode bringt. Mancher würde sich er- 
schiessen oder vergiften, der nicht den Mut findet, sich zu erhängen, 
oder mit dem Messer zu töten. 

Zum Schlüsse meiner Ausführungen lassen Sic mich noch einen 
Augenblick bei den Gründen verweilen, welche die Untersuchungs¬ 
gefangenen veranlassen, sich zum Arzt zu melden. Und zwar möchte 
ich ein Motiv noch einmal aus allen anderen herausheben. Ich meine 
den Wunsch mancher Gefangenen, aus der Isolierhaft in die Gemein¬ 
schaftshaft verlegt zu werden. Ich deutete schon einmal an, dass 
der geistig Gesunde, erstmalig Inhaftierte, der über einen gewissen 
Besitz an Bildung und sittlicher Kraft verfügt, die Isolierhaft vor¬ 
zieht und sie nur ungern gegen die Gemeinschaftshaft eintauscht, schon 
aus dem Wunsche heraus, den Verkehr mit anderen Rechtsbrechern 
zu meiden, und sich sozial wenigstens auf dem Status quo zu 
erhalten. 

Anders das ganze Heer der Gewohnheitsverbrecher, der geistig 
Minderwertigen und vor allem der Epileptiker. Diese Klassen hassen 
und fürchten die Einsamkeit der Isolierzelle. Der Wunsch zu lesen 
ist gering oder er geht wenigstens nach einer anderen als der im 
Gefängnis gebotenen Lektüre. Der Bildungsgrad ist entsprechend der 
bekannten geringen Bildungsfähigkeit der Gewohnheitsverbrecher 
äusserst dürftig. Der Epileptiker fürchtet das Alleinsein beim Anfall, 
die Hiilflosigkeit und die Möglichkeit sich zu verletzen. Der Alkoho¬ 
liker hat gohäuftere Halluzinationen. 

Und für diese ganze Reihe der Degenerierten kommt in vielen 
Fällen noch eins hinzu, das ist die Furcht vor den eigenen Gedanken. 


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Die Aufgaben einer Psychologie der Untersuchungshaft. 325 

Diesen Gedanken entgeht keiner, der längere Zeit in der Isolierhaft bleibt. 
Zum grossen Teil liegt ja der Segen der Isolierhaft in dem Lebendigwcrden 
dieser Gedanken. In derFreiheit haben dieseGedankenreihen keinen Raum 
in diesen dürftigen Köpfen. In der Zelle drängen sie sich doppelt 
lebhaft auf. Vorstellungen über ein verfehltes Leben, ängstliche 
Gedanken und trübe Aussichten in die Zukunft; ein Heer ungewohnter 
Ideen, die so lebhaft auf den Isolierten einstürmen, die er als etwas 
seinem Wesen Fremdes seiner Herr werden sieht, dass er fürchtet, 
verrückt zu werden. Und in der Tat kommt es in dieser Folge recht 
oft zu explosiven Ausbrüchen einer akuten Verwirrtheit mit tob¬ 
süchtigen Zuständen. Der Gefangene zerreisst seine Kleider, er 
demoliert das Zelleninventar, er schreit, wird aggressiv. Oder aber 
es kommt zu Verwirrtheitszuständen, die mit krankhaften Verände¬ 
rungen des Persönlichkeitsgefühls, mit Halluzinationen einhergehen. 
Nach wenigen Tagen, oft schon nach Stunden gehen die Zustände in 
Heilung über; in der Regel besteht mehr minder ausgedehnte Er¬ 
innerungslosigkeit. All diese Leute kommen nun zum Arzt mit der 
Bitte, sie in Gemeinschaftshaft zu verlegen, vielfach mit Ausdrücken, 
wie: ich werde verrückt, ich mache mir so Gedanken. Oder: ich 
stehe für nichts ein, wenn was mit mir passiert. Häufig sind das 
blosse Drohungen von Leuten, die sich in der Isolierhaft eben lang¬ 
weilen, und die den Arzt so zwingen wollen, sie zu verlegen und 
ihnen die erwünschte Gesellschaft zu verschaffen; vielfach sind es 
aber auch Leute, die von der Ahnung einer nahen psychischen Kata¬ 
strophe erfüllt, in der Verlegung in Gemeinschaftshaft die Rettung 
erblicken. Ich möchte noch betonen, dass die geschilderten Verwirrt¬ 
heitszustände bei isolierten Untersuchungsgefangenen auch durch die 
Arbeit durchaus nicht sicher zu verhindern sind. Eins kann man mit 
Gewissheit sagen, dass in der Regel nur ein geistig Minderwertiger, 
sei er nun Alkoholiker, Epileptiker oder einer der zahlreichen Degeneres 
von derartigen Verwirrtheitszuständen befallen wird. Das gehört 
aber schon in das Kapitel der sogenannten Gefängnispsychosen. — 
Ich schliesse hier; obwohl ich weiss, dass noch Vieles zu sagen 
wäre. Von den Wirkungen der Untersuchungshaft auf das Sexualleben, 
von der Häufigkeit der Onanie, von dem unterschiedlichen Verhalten 
von männlichen und weiblichen Untersuchungsgefangenen, habe ich 
zum Beispiel heute nichts gesagt. Es wäre besonders noch anzu¬ 
merken, dass Untersuchungen über das unterschiedliche Verhalten der 
Gefangenen je nach der Art des begangenen Verbrechens notwendig 


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Dr. H. Marx, 


sind. Ich habe manche andere Dinge vielleicht zu ausführlich be¬ 
sprochen, andere wiederum nur flüchtig angedeutet, andere nur oben¬ 
hin skizziert. Darum habe ich diesen Vortrag eben auch nur als eine 
Einleitung angekündigt, als Einleitung und Anfang weiterer Unter¬ 
suchungen über die Psychologie der Untersuchungshaft. 

Es wird ihnen klar geworden sein, dass ich bei meinen heutigen Aus¬ 
führungen im grossen und ganzen diejenigen im Auge hatte, die zum ersten 
Male ernsthafter mit dem Strafgesetz in Konflikt gekommen und als 
ganz oder relativ Unbescholtene in Untersuchungshaft genommen sind. 
An diesen lässt sich, wie ich glaube, die normale Psychologie der 
Untersuchungshaft am reinsten erkennen und demonstrieren. Ich habe 
aber auch hier die Bestätigung des alten Satzes gefunden, dass die 
Extreme sich berühren; so finden sich nämlich die schwersten De¬ 
pressionen einmal bei diesen rezenten Rechtsbrechern, dann aber 
wieder bei den oft rückfällig gewordenen, die nun zum ersten Male 
die Verhängung einer langjährigen Zuchthausstrafe befürchten müssen. 

Jedenfalls glaube ich, dass die Psychologie der Untersuchungs¬ 
haft ein besonderes Kapitel in der Kriminalpsychologie verdient. Wie 
die Psychologie des rezenten Rechtsbrechers, so zeigt noch in anderem 
Sinne der rückfällige Verbrecher eine Fülle interessanter kriminal¬ 
psychologischer Momente, die nur durch die Untersuchungshaft zutage 
treten. 

M. II.! Ich bin am Ende meiner Ausführungen angelangt. Mehr 
zu sagen, verbot der Rahmen eines Vortrages, alles zu sagen, der 
Gegenstand selbst, den zu erschöpfen jahrelange Arbeit vieler not¬ 
wendig sein wird. 

II. 

Ich habe schon in der Einleitung angedeutet, dass die sich an 
den Vortrag schliessende Diskussion ausserordentlich fruchtbringend 
war. Das Arbeitsprogramm für die allgemeine Psychologie der 
Untersuchungshaft wurde erweitert, die Aufgaben der speziellen 
Psychologie erfuhren reichen Zuwachs. 

Von hohem Interesse waren gewisse Ausführungen über eine 
Reihe von körperlichen Momenten, die in der Natur der Untersuchungs¬ 
haft. begründet sind. Bekanntlich hat jeder Untersuchungsgefangene 
das Recht, sich selbst zu beköstigen. Diese Klasse der wohl¬ 
habenderen Gefangenen beteiligt sich für gewöhnlich nicht an den im 
Gefängnis eingeführten Arbeiten. Das Mass von Bewegung ist ausser- 


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Die Aufgaben einer Psychologie der Untersuchungshaft. 


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ordentlich dürftig. Im Verhältnis dazu ist die Kost relativ reichlich, 
die Verdauung wird träge, und so kommt es zu einer Art von Ge¬ 
dunsenheit und Aufgeschwemmtheit, zur Anbildung eines schlaffen 
Fettes. Solche Gefangene machen den Eindruck einer Schein-Ueber- 
ernährung, für die ich den Ausdruck des paradoxen Marasmus vor¬ 
geschlagen habe. 

Von anderer Seite wurde betont, wie enge Beziehungen unter 
Umständen zwischen Kost und Selbstmord bestehen können, wie häufig 
der Gefängnisarzt, mehr allerdings in der Straf- als Untersuchungs¬ 
haft, durch die Verbesserung der Kost, durch Gewährung einer Zu¬ 
lage eine gefährliche Depression zu beseitigen imstande sei. Die Zu¬ 
billigung eines Stückchens Fleisch zur täglichen Kost habe schon 
manchen vom Selbstmord zurückgebracht. 

Die Häufigkeit der Selbstmorde in der Untersuchungshaft gegen¬ 
über der Strafhaft wurde allseitig bestätigt, so, wie sie schon in dem 
Verhältnis zwischen unserem Untersuchungsgefängnis und dem Straf¬ 
gefängnis in Tegel zum Ausdruck gekommen war. Es wurde bei 
diesem Punkte übrigens darauf hingewiesen, dass allgemein in den 
Strafanstalten die Zahl der Selbstmorde in der Abnahme, während 
sie in der Freiheit in stetiger Zunahme begriffen sei. Jugendliche 
neigen im Gefängnis ausserordentlich wenig zum Selbstmord, wie das 
ja auch aus meinen Ausführungen schon hervorging; dagegen be¬ 
teiligen sie sich an den Demonstrations-Selbstmordversuchen in nicht 
geringer Zahl. 

Eine eingehende Würdigung fand die Bedeutung der ersten richter¬ 
lichen Vernehmung für die Psychologie' der Untersuchungshaft. Man 
wird sich erinnern, welchen Wert ich dieser ersten Vernehmung bei¬ 
legte, wie sie die Hoffnung auf Haftentlassung zerstören und so un¬ 
mittelbar den Anstoss zum Selbstmord geben kann. Nun war es 
interessant zu erfahren, welche andere Wirkung diese erste Ver¬ 
nehmung nicht allzu selten tut. Sie löst eine Art von Verwirrung in 
den Verstandesoperationen aus. Der Gefangene bittet nach der ersten 
Vernehmung um Schreiberlaubnis; dies und jenes hat er vergessen 
anzuführen. Dabei wird die Art seiner Verteidigung hastig und un¬ 
geschickt; man merkt, wie die ruhige Ueberlegung vollkommen dahin 
ist; und ein törichtes Schriftstück folgt dem anderen. Ein Analogon 
findet diese Art von Verwirrtheit in jener Verwirrtheit, die mitunter 
bei Angeklagten während der Hauptverhandlung stattzufinden scheint. 
Nach der Ansicht des betreffenden, sehr erfahrenen Kollegen sind die 


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Acusseruiigen von Verurteilten, die nicht das Geringste von der 
Hauptverliandlung anzugeben vermögen, die nicht wissen, ob und wie 
hoch sie bestraft sind, unter Umständen als durchaus glaubwürdig zu 
erachten. Und man wird diese Verwirrtheit mit nachfolgender totaler 
oder partieller Amnesie gerade bei denjenigen Angeschuldigten an¬ 
treffen können, die in der Hauptverhandlung ganz unvermittelt gegen 
den Staatsanwalt oder gegen das Gericht ausfallend oder tätlich 
werden, die nachher von ihrem Benehmen nichts mehr wissen 
oder sich nicht erinnern oder erklären können, wie sie dazu ge¬ 
kommen sind. 

Im Zusammenhänge hiermit können Bemerkungen Platz finden, 
die sich auf die Entwickelung querulatorischer Züge in der Unter¬ 
suchungshaft bezogen. Jenes Gefühl, in der Verteidigung beschränkt 
zu sein; eine vermeintliche oder wirkliche Schroffheit des Unter¬ 
suchungsrichters, die Empfindung des Besitzlosen, der keinen be¬ 
währten Verteidiger annehmen kann; all das gebe die Grundlage ab für 
die Ausbildung dieser querulatorischen Züge, die, wie noch besonders 
hervorgehoben wurde, für die spätere Strafhaft von grosser Be¬ 
deutung seien. 

Wie die Beziehungen zur Straftat und Strafbehörde, so müssen 
naturgemäss auch die Beziehungen des Gefangenen zur Aussenwelt 
von enormer Tragweite für das Seelenleben in der Haft sein. So 
wies ich darauf hin, wie dem Gefangenen die Beziehungen zur Aussen- 
welt verändert, wie die intimsten Beziehungen gelockert sind, oder 
wenigstens so erscheinen. Und so muss jede von aussen kommende 
Nachricht, die dem Gefangenen ein weiteres Minus anzeigt, auf das 
schon so labile Gemüt einen erschütternden Einfluss ausüben. So 
können besonders Nachrichten von der Untreue der Geliebten, die mit 
einem anderen geht, unbeantwortete Briefe, auch hier wieder be¬ 
sonders die Liebesbriefe geradezu vernichtende Wirkung ausüben; 
wie denn auch eine unserer weiblichen Gefangenen Selbstmord ver¬ 
übte, weil ein Brief an den Bräutigam unbeantwortet blieb. 

Gingen die bisherigen Ausführungen mehr auf die allgemeine 
Psychologie der Untersuchungshaft, so fehlte es ebensowenig an Be¬ 
merkungen und Vorschlägen für den speziellen Teil der Psychologie 
der Untersuchungsgefangenen. Hier wurde vor allem auf die Not¬ 
wendigkeit hingewiesen, die seelische Verfassung der Gefangenen mit 
besonderer Beziehung auf dm Art ihres Deliktes zu studieren, so die 
besondere Psychologie des Sittlichkeitsverbrechers, das Verhalten des 


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Die Aufgaben einer Psychologie der Untersuchungshaft. 


321) 


Mörders, des Brandstifters, des Diebes, des gewalttätigen Messer¬ 
helden u. s. f. In der Tat wird gerade diese Unterscheidung der Ge¬ 
fangenen und ihrer Psychologie nach der Besonderheit ihres Ver¬ 
brechens einen integrierenden Teil späterer Untersuchungen ausmachen 
müssen. Wir werden bei künftigen Arbeiten noch erfahren, wie eng 
mit diesem speziellen Teil die Frage von der Bedeutung der Isolier¬ 
haft für die Psychologie der Untersuchungshaft zusammenhängt. 

Ebenso wichtig wird die Unterscheidung von jugendlichen und er¬ 
wachsenen Gefangenen sein; noch einschneidender aber der Unter¬ 
schied zwischen männlichen und weiblichen Untersuchungsgefangenen. 
Im allgemeinen, das möchte ich hier schon bemerken, scheinen mir 
die Frauen die Untersuchungshaft als solche leichter, die Isolierhaft 
aber schwerer zu ertragen als Männer. Am schwersten von den weib¬ 
lichen Gefangenen ertragen wohl die Kindesmörderinnen die Unter¬ 
suchungshaft. 

Eine sehr interessante Aeusserung wurde zur speziellen Psychologie 
noch über die rückfälligen Verbrecher getan. Bei der grossen Zahl 
der Vorstrafen wird naturgemäss unter Umständen einmal ein Verdacht 
eine Verhaftung begründen, die dies eine Mal nicht den richtigen ge¬ 
troffen hat. In solchen Fällen findet eine ausserordentliche seelische 
Reaktion statt. Der Rückfällige kann es nicht begreifen, dass er nun 
dies eine Mal für die Unzahl seiner früheren Verbrechen mitzubüssen 
hat; dass sein gegenwärtiges Missgeschick durchaus in seiner Persön¬ 
lichkeit begründet ist. Er queruliert bis zur Unerträglichkeit und 
trägt das Querulieren in die Strafanstalt, in der er in früheren Fällen 
ein arbeitswilliger geordneter Gefangener war, mit hinüber. 

Es wurde von anderer Seite noch, entsprechend meiner Aus¬ 
führung, dass natürlich der vielfach Vorbestrafte die Untersuchungs¬ 
haft anders bewertet und empfindet als der Nichtvorbestrafte, betont, 
dass bei einer ganzen Reihe von Untersuchungsgefangenen jegliche 
Depression fehlt. 

Endlich gab es eine Reihe bemerkenswerter Ausführungen, welche 
an die Psychologie der Untersuchungshaft anknüpfend de lege ferenda 
sich ergingen. Wenn es, wie schon gesagt wurde, eine Reihe von 
Untersuchungsgefangenen gibt, die ohne jede Depression und gerne 
eine längere Untersuchungshaft ertragen, weil sie wissen, dass dadurch 
die Zeit ihrer Strafhaft unter Umständen sich verkürzt, so ist eben 
auch andererseits scharf zu betonen, dass dem Gefangenen nach einer 
längeren Untersuchungshaft die eigentliche Strafhaft in einem ganz 


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Dr. H. Marx, 


anderen Lichte erscheinen muss, als demjenigen, der aus der Freiheit 
in das Strafgefängnis kommt. Mit anderen Worten: Die Bewertung 
der Freiheitsstrafe erleidet eine Einbusse durch die Länge der Unter¬ 
suchungshaft; die eigentliche Freiheitsstrafe wird von dem lang der 
Freiheit Beraubten und an diese Unfreiheit Gewöhnten nicht mehr als 
das empfunden, als was sie nach der Meinung des Gesetzgebers emp¬ 
funden werden soll; der Zweck der Strafe kann nicht mehr voll und 
ganz erfüllt werden. 

Andererseits wird ja, und das lehrt besonders die Psychologie 
des Untersuchungsgefangenen, der Zweck der Strafe dadurch so oft 
illusorisch, dass die eigentliche Reue nur in dem Sinne vorhanden ist, 
den ich in meinem Vortrage auseinandersetzte. Es wurde mir sehr 
richtig entgegengehalten, dass Reue doch eigentlich das schmerzliche 
Gefühl sei, jemandem Unrecht getan zu haben. Aber gerade dieses 
Gefühl, das, wenn es wirklich vorhanden ist, die wohltätigste Macht 
ausüben kann, fehlt eigentlich nach unseren Beobachtungen so gut 
wie gänzlich, und da, wo es vorhanden zu sein scheint, wohnt es 
mehr auf der Zunge als im Herzen. Dagegen ist Reue in dem im 
Vortrage gedeuteten Sinne als das Gefühl verminderten Persönlich¬ 
keitswertes, wie gesagt, fast stets anzutreffen. 

Ich glaube damit alles Wesentliche erschöpft zu haben, was die 
Diskussion gebracht hat. Hier und da habe ich selbst noch ein und 
das andere kritische Wort eingefügt an Stelle eines eigentlichen Schluss¬ 
wortes zur Diskussion. Mancher anderer in der Diskussion gemachten 
Vorschläge de lege ferenda habe ich hier nicht gedacht, weil es in 
der Hauptsache darauf ankam, das festzulegen, was sich auf die eigent¬ 
liche Psychologie der Untersuchungshaft bezog. Erst wenn dieses 
umfangreiche Kapitel der Kriminalpsychologie seine eingehende und 
abschliessende Beurteilung gefunden haben wird, so wird man daran 
gehen können, nun darauf zu denken, wie etwaigen Schäden abzu¬ 
helfen ist. 

III. 

Wenn ich in diesem dritten und letzten Abschnitt schematisierend 
ein Arbeitsprogramm aufstelle, so sollte sich dieses logischer Weise 
als die Summe der Ergebnisse meines einleitenden Vortrages und der 
Diskussion darstellen. Indessen ist im Vorträge eben nicht alles ange¬ 
deutet und in der Diskussion nicht alles zur Sprache gekommen, was 
notwendig genannt und getan werden muss, um diese grosse Frage 


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Die Aufgaben einer Psychologie der Untersuchungshaft. 


331 


erschöpfend zu beantworten. Vielleicht wird aus diesen Gründen die 
folgende Aufstellung in kurzen Schlagwörtern mehr fordern, als die 
beiden vorhergehenden Abschnitte aufzeigen konnten. 

Es versteht sich fast von selbst, dass ein tieferes Eindringen in 
die Psychologie und besonders in die spezielle Psychologie der Unter¬ 
suchungshaft einmal die Kenntnis der Lehren der Kriminalpsychologie 
voraussetzt; zum anderen wird eben gerade die spezielle Psychologie 
der Untersuchungshaft, also die Beschäftigung mit der Haftpsychologie 
der einzelnen Arten von Rechtsbrechern und deren Persönlichkeit eine 
besondere kriminalpsychologische Untersuchung notwendig machen, und 
für diese Untersuchungen wird man sich vielleicht mit Vorteil des 
Schemas bedienen, das Sommer in seiner Kriminalpsychologic (1904, 
S. 375 ff.) gibt. 

Demnächst werden folgende Momente für unsere künftigen Unter¬ 
suchungen zu berücksichtigen sein: 

A. Zur allgemeinen Psychologie der Untersuchungshaft. 

I. Körperliche Momente: 

Bewegung (die Bewegung im allgemeinen begreift auch Arbeiten 
in sich), Verdauung, Schlaf. 

Studium über GewichtsVerhältnisse. 

Hämatologische Untersuchungen. 

Prüfung der Aeusserungen des Zentralnervensystems (Reflexe u.a.). 

Sexuelle Verhältnisse. 

Körperliche Erkrankungen. 

II. Die eigentlich seelischen Momente: 

Die rechtsbrecherische Tat. Ihre Stellung im Bewusst¬ 
sein des Täters in der Einsamkeit der Haft. Einfluss 
der Einsamkeit. Konzentrische Einengung des Bewusstseins. 
Reue. Depression. Selbstmord. Selbstmordversuch. Schuldig 
oder nicht schuldig? 

Beziehungen zum Gericht; Vernehmungen, Verteidigung, Ge¬ 
ständnisse, Hauptverhandlung, Strafmass usf. 

Beziehungen zu den Gefängnisbeamten (besonders die Be¬ 
ziehungen zum Arzt). 

Beziehungen zur Aussenwelt. 

B. Zur speziellen Psychologie der Untersuchungshaft. 

I. Unterschiede des Alters: 

Erwachsene, Jugendliche. 

Yierteljahrsschrift f. ger. Med. u. öff. San.-Wesen. 3. Folge. XXXII. 2. 22 


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332 Dr. H. Marx, Die Aufgaben einer Psychologie der Untersuchungshaft. 


II. Unterschiede des Geschlechts. 

III. Unterschiede der Persönlichkeit: 

Soziale Stellung, Bildung, Vermögen usf. 

IV. Unterschiede, die durch die verschiedene geistige 
Wertigkeit im psychiatrischen Sinne begründet sind: 
Die spezielle Psychopathologie der Isolierhaft. 

V. Unterschiede, die durch die kriminelle Vergangenheit 
bedingt sind: 

Unvorbestrafte, Rückfällige. 

VI. Unterschiede, durch die Art des Verbrechens bedingt: 
Eigentumsverbrechen, Körperverletzungen, Sittlichkeitsverbrechen 
usf. 

Die im Schema innegehaltene Reihenfolge soll nichts für die Be¬ 
deutung der einzelnen Abschnitte bekunden; ebensowenig, wie ich mich 
selbst für künftige Arbeiten an diese Reihenfolge für gebunden erachte. 
Ich hoffe nur, wenigstens in der Aufzählung der Hauptpunkte, leidlich 
vollständig gewesen zu sein. 


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15. 


Besprechungen, Referate, Notizen. 


A. Schmidtmann, Handbuoh der gerichtlichen Medizin. Nennte Auf* 
läge des Cas per-Li man’sohen Handbuches. Dritter Band. Berlin 1906. Ver¬ 
lag von A. Hirschwald. 

Am Ende des Vorjahres habe ich über den I. Band des Sohmidtmann- 
schen Handbuches der gerichtlichen Medizin referiert und die vorzügliche Arbeit 
aller dort behandelten Abschnitte hervorheben können. Nun ist an Stelle des 
II. Bandes, welcher den Tod durch Trauma (Prof. Puppe), den Tod durch ge¬ 
waltsame Erstickung (Prof. Ziemcke), den Kindesmord (Geh. Med.-Rat Prof. 
Ungar) enthalten wird, zunächst der III. und letzte Band erschienen, dessen In¬ 
halt die gerichtliche Psychiatrie, bearbeitet von Geh. Med.-Rat Prof. Siemer¬ 
lin g, bildet. 

Siemerling bespricht zunäohst die Lehre von der Dispositions- und Zu¬ 
rechnungsfähigkeit, die allgemeinen Grundsätze, das Verfahren im Zivilforum, 
Entmündigung, das Verfahren im Kriminalforum, er wendet sich dann der spe¬ 
ziellen gerichtlichen Psychonosologie zu, deren einzelne Gebiete er gliedert in 
Manie, Melancholie, periodische und zirkuläre Geistesstörungen, akute Paranoia, 
chronische Paranoia, Querulantenwahnsinn, induziertes Irresein, progressive Pa¬ 
ralyse, Dementia senilis, traumatische Geistesstörungen, Geistesstörungen durch 
Alkohol, Morphium, Kokain, geistige Schwächezustände, jugendliche Verblödungs¬ 
prozesse, hysterische Psychosen, epileptische Psyohosen, neurasthenische Geistes¬ 
störungen, perverser Sexualtrieb, Bewusstlosigkeit, Taubstummheit. 

Alle Kapitel sind mit reichlicher Kasuistik versehen. 

Dieser III. Band sohliesst sich vollauf ebenbürtig, in gleicher gediegener 
Weise dem I. Bande an. Bei jedem Kapitel erkennt man den auf der Höhe seiner 
Wissenschaft stehenden Fachmann, man erkennt, man fühlt, was besonders her¬ 
vorzuheben ist, aus der Behandlung des Stoffs bei jedem Kapitel, wie richtig S. 
seine Aufgabe aufgefasst hat, ein Handbuch zu geben, welches den Gerichtsärzten 
sicherer Leiter sein soll in der Beurteilung streitiger geistiger Krankheiten. Wohl¬ 
tuend wirkt dieses überall hervortretende Bemühen des Verfassers, den praktischen 
Bedürfnissen der Gerichtsärzte Rechnung zu tragen — wenn das auch nie beson¬ 
ders hervorgehoben ist —, die vornehme Objektivität, die auf Grund umfang¬ 
reicher Fachkenntnis und umfangreicher praktischer Tätigkeit vor Gericht dahin 
strebt, „dem Kranken zu geben, was des Kranken ist und der Rechtspflege, was 
der Rechtspflege ist“. Be um er-Greifswald. 

22 * 


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334 


Besprechungen, Referate, Notizen. 


R. Robert, Lehrbuch der Intoxikationen. Zweite, durohweg neu bear¬ 
beitete Auflage. II. Bd. Spezieller Teil. 1. Hälfte 1904, 2. Hälfte 1906. 1250 
Seiten. Ferdinand Encke, Stuttgart. 

Die zweite, modernisierte Auflage des geschätzten Nachschlagewerks liegt 
nunmehr vollendet vor. Man muss immer wieder von Neuem staunen, mit welcher 
bemerkenswerten Belesenheit der Verfasser das grosse Gebiet za einem Werk zu¬ 
sammengefasst hat, das in seiner Vollständigkeit wohl unübertroffen dasteht. Für 
den gerichtlichen Mediziner von ganz besonderem Wert scheint mir zu sein, dass 
neben der Darlegung der Aetiologie, der Schilderung der Symptome und Therapie 
der Vergiftungen immer die Sektionsergebnisse und Nachweismethoden, zum Teil 
unter Wiedergabe von mikroskopischen Bildern, eingehend behandelt werden. 

Es ist natürlich im Rahmen eines Referats unmöglich, Einzelheiten aus 
einem so umfassenden Buche anzuführen. Ich möchte nur darauf hinweisen, dass 
auch die tierischen und pflanzlichen Gifte sehr ausführlich besprochen sind. Be¬ 
züglich der Anwendung der schwefligsauren und borsauren Salze bei der Nah¬ 
rungsmittelkonservierung steht Verf. vollkommen auf dem Standpunkt des Reichs¬ 
gesundheitsamtes und hält das Verbot für durchaus notwendig. Man merkt 
übrigens auch sonst vielfach, dass er eine recht weitgehende Kontrolle der event. 
giftig wirkenden Substanzen wünscht und, wie es scheint, eine Zentralstelle ein¬ 
geführt sehen möchte, in der alle neuen Arzneimittel vor Freigabe in die Praxis 
auf ihre gesundheitsschädigenden Eigenschaften geprüft werden sollten. In diesem 
Sinne befürwortet er das Verbot des Handverkaufs zur Zeit freigegebener Stoffe, 
so der Arsenwässer (Levico), der Kalichloricumpasta u. a. m., wohl etwas rigo¬ 
rose Forderungen. 

Diese wenigen Stichproben zeigen, dass das Buch reich ist an aus klinischer 
Beobachtung sich ergebenden Ratschlägen. Es ist für den wissenschaftlich arbei¬ 
tenden Mediziner, wie für den praktischen Arzt ein wertvoller Ratgeber. 

Franz Müller-Berlin. 

Otto Levis, Das internationale Entmündigungsrecht des Deutschen 
Reiches. Leipzig, C. L. Hirschfeld. 1906. 314 S. 

Verf. verdanken wir die vor einigen Jahren erschienene treffliche Mono¬ 
graphie „Die Entmündigung Geisteskranker“, wohl die eingehendste und um¬ 
fassendste juristische Darstellung der durch psychische Störungen veranlassten 
Entmündigung, eine Arbeit, welche auch psychiatrischen Wünschen erfreulicher¬ 
weise in weitestgehendem Masse gerecht wird. 

Im vorliegenden Werke bescheert uns Verf. eine ausführliche Darstellung 
des internationalen Entmündigungsrechts. Nach seinen eigenen Ausführungen im 
Vorwort erörtert er, nach welchem Rechte bei einer Entmündigung (oder Wieder¬ 
aufhebung der Entmündigung) die Voraussetzungen und Wirkungen zu beurteilen 
sind, von welchem Staat oine Entmündigung ausgesprochen werden muss, um in 
Deutschland wirksam zu sein, und welche Prozess Vorschriften für den deutschen 
Entmündigungsrichter gelten, falls sich im Verfahren Zweifel internationalrecht- 
licber Natur erheben. 

Wie sich schon daraus ergibt, ist diese Arbeit von fast ausschliesslich ju¬ 
ristischem Interesse und daher verbietet sich nach dem Charakter dieser Zeit¬ 
schrift eine eingehendere Besprechung an dieser Stelle. 


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Besprechungen, Referate, Notizen. 


335 


Immerhin möge auf einige auch den Arzt interessierenden und durchaus 
zutreffenden Ausführungen hingewiesen sein, wie die prinzipiell falsche Verquickung 
der Frage der Entmündigung mit polizeilichen Interessen (S. 105), die event. Zu¬ 
lassung der Oeffentlichkeit des Verfahrens (S. 210), die Verpflichtung des zu Ent¬ 
mündigenden, die Vornahme des Wahrnehmungsbeweises zu dulden (S. 266), das 
Zeugnis verweigerungsrecht des Arztes (S. 286). Ernst Schultze. 


Notizen. 

Der am 23. Juli d. J. erfolgte Tod von Paul Brouardel, Professor der 
gerichtlichen Medizin (und Hygiene) zu Paris hat auch im Kreise seiner deutschen 
Fachgenossen tiefschmerzliches Bedauern erweckt. Die führende Stellung, die der 
Verstorbene seit Jahren in der gerichtsärztlichen, ja man kann wohl sagen in der 
ganzen medizinischen Welt Frankreichs einnahm, war wohlverdient. Brouardel 
hat unsere Kenntnisse durch wertvolle originelle Untersuchungen — es sei nur an 
seine Forschungen über den Ertrinkungstod erinnert — bereichert; er hat für den 
praktischen Unterricht in der gerichtlichen Medizin in Frankreich die bisher 
fehlende Organisation geschaffen. Seine Bearbeitungen der einzelnen Spezial¬ 
abschnitte unseres Gebietes, von denen in den letzten 12 Jahren fast alljährlich 
ein Teil erschienen ist, haben durch die Fülle der in ihnen niedergelegten eigenen 
Beobachtungen und durch die unerreichte Kunst der Darstellung dauernden Wert. 
Auch von ihm wird das Diohterwort gelten: „Ist der Leib zu Staub zerfallen, lebt 
der grosse Name noch.“ 

S. Vastarini-Cresi, Vorstand der mikroskopischen Abteilung am anato¬ 
mischen Institut in Neapel, macht darauf aufmerksam, dass der Befund von Sper¬ 
matozoon nicht nur in der Harnröhre, sondern auch in der Harnblase von Leichen 
ein fast regelmässiges Vorkommen bei den verschiedensten natürlichen Todesarten 
darstellt. (II Tommasi. Bd. 1. No. 13.) 

Aus der Feder C. Moelis ist im Verlage von Carl Marhold, Halle a. S., ein 
Heftchen erschienen, das die in Preussen gültigen Bestimmungen über die Ent¬ 
lassung aus den Anstalten für Geisteskranke zum Gegenstand hat. Die interpre¬ 
tierende Schrift enthält zugleich vergleichende Studien über die entsprechenden 
Bestimmungen anderer deutscher Bundesstaaten und einzelner Fremdstaaten. 

In dem gleichen Verlage erschien eine Studie von Nolda-St. Moritz über 
die Indikationen der Hoohgebirgskuren für Nervenkranke. 

Im Verlage von L. Schwann-Düsseldorf hat Amtsgerichtsrat Kurtz eine Zu¬ 
sammenstellung der Bestimmungen über die Untersuchungen von Körperverletzun¬ 
gen, insbesondere der tödlichen, erscheinen lassen. 

Die diesjährigen Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für gerichtliche 
Medizin, die gleichzeitig mit der Naturforscherversammlung in Stuttgart tagte, 
werden unsere Leser voraussichtlich im Januarheft 1907 finden. 


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n. Oeffentliches Sanitätswesen. 


6 . 

(Aus der Königlichen Versuchs- und Prüfungsanstalt für 
Wasserversorgung und Abwässerbeseitigung. Leiter: Geheimer 
Ober-Medizinalrat Professor Dr. Schmidtmann.) 

Ueber den Wert der Sandflltration und neuerer Ver¬ 
fahren der Schnellfiltration zur Reinigung von Fluss¬ 
wasser bzw. OberfUCchenwasser für die Zwecke der 

Wasserversorgung. 

Von 

Dr. raed. R. Hilgermann, 

wissenschaftlichem Hilfsarbeiter der Königlichen Versuchs- und Priifungsanstah für Wasserversorgung 

und Abwasserbeseitigung. 


Die Einführung zentraler Filtrationsanlagen — in grossem Mass- 
stabe zum ersten Male im Jahre 1839 durch James Simpson in 
Londen — bedeutete einen mächtigen Fortschritt in der Lösung der 
Städteassanierungsfrage. Hatte doch das gewaltige Anwachsen der 
Städte, die Entwickelung der Industrie und die Hebung des Schiffs¬ 
verkehrs den Reinheitsgrad der Flüsse immermehr verschlechtert und 
trostlose Wasserversorgungsverhältnisse geschaffen. Nach dem Heimat¬ 
lande der ersten grossen Anlage wurde die Filtration des Wassers 
durch Sandschichten als die „englische Sandfiltration“, und da die 
Filterausbeute eine nur geringe war, auch als die „langsame Sand¬ 
filtration“ bezeichnet. 

Der Technik eröffnete sich mit der Ausführung grosser Filter¬ 
werke ein dankbares Arbeitsfeld, als es galt, dem noch unerkannten 
Filtrationsvorgang seine Geheimnisse abzulauschen und Regeln aufzu¬ 
stellen, die einen sicheren Betrieb der Filterwerke gewährleisteten. 
Beobachtete man doch im Verfolg der Sandfiltertätigkeit, dass der 
Filtrationsprozess viel komplizierter und schwieriger, als man ursprüng- 


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Ueber den Wert der Sandfiltration osw. 


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lieh geglaubt hatte, und dass der Filtrationseffekt nicht gleichmässig, 
sondern mancherlei Zufällen unterworfen sei. Als Massstab für die 
Leistungsfähigkeit eines Filters galt der durch die Filtration erreichte 
Grad der Klärung. Zur Feststellung letzterer bediente man sich be¬ 
sonderer Klarheitsmesser, mit deren Hilfe man selbst leichte Trübungen 
bestimmen konnte. Erschien zwar, gemäss der damaligen Anschau¬ 
ungen diese Form der Kontrolle in Verbindung mit der chemischen 
Analyse als ausreichend, um Schwankungen im Betriebe zu erkennen, 
so traten doch bald berechtigte Zweifel zu der Zuverlässigkeit dieses 
Systems auf, seitdem man durch gut beobachtete Epidemieen erkannt 
hatte, dass letztere auf den Genuss von Oberflächenwasser zurück¬ 
zuführen seien. 

Dem Genie eines Robert Koch war es Vorbehalten, durch die 
Begründung der bakteriologischen Forschung diese Frage endgültig zu 
lösen. Durch die Bestimmung des Keimgehaltes vor und nach der 
Filtration konnten die für den Betrieb der Sandfilter aufgestellten 
Grundsätze geprüft und eventuelle Schwächen der Anlage aufgefunden 
werden. Die Ansicht, dass der Hauptzweck der Filtration in der 
Klärung des Wassers, in der Reinigung von den groben suspendierten 
Bestandteilen bestehe, ergänzte und modifizierte die Bakteriologie da¬ 
hin, dass die erste Aufgabe der Filtration die Zurückhaltung etwaiger 
im Rohwasser vorhandener pathogener Keime sei. Damit war der 
Filtration ihre Arbeitstätigkeit vorgeschrieben. Neben der Klärung 
des Wassers muss sie die pathogenen Keime zurückhalten, d. h. ein 
jederzeit hygienisch einwandfreies Gebrauchswasser liefern. 

War somit das Hauptprinzip des Filtrationsprozesses durch die 
Bakteriologie festgelegt, so galt es weiterhin, mit ihrer Hilfe die 
Brauchbarkeit der Sandfilter zu ergründen. Von dieser Erwägung 
ausgehend, machten C. Fränkel und Piefke 1 ) auf Anregung Kochs 
im Jahre 1890 eine Reihe diesbezüglicher Versuche, deren Ergebnisse 
sie dahin zusammenfassten: „Dass die Sandfilter nicht imstande sind, 
eine vollständige Sicherheit für ausreichende Säuberung des Trink¬ 
wassers von schädlichen infektiösen Stoffen zu geben.“ 

Letztere Versuche konnte späterhin Kabrhel 2 ) auf Grund ähnlicher 
Versuche voll und ganz bestätigen. 

Die Veröffentlichung der Befunde Fränkels und Piefkes ent- 


1) Frankel and Piefke, Zeitschr. f. Hygiene 1890. Bd. 8. S. 1. 

2) Kabrhel, Archiv f. Hygiene 1895. Bd. 22. S. 323. 


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Dr. R. Hilgermann, 


fachte in Ingenieurkreisen einen Sturm der Entrüstung, in Laienkreisen 
Bestürzung, das Gefühl der Unsicherheit und des Misstrauens zu den 
Leistungen der Sandfiltration. Was die Technik durch Jahrzehnte 
hindurch als unumstössliche Tatsache vertreten hatte, was die Be¬ 
völkerung als einzigen Schutz gegen Infektionsgefahr auf dem Wege 
der Wasserversorgung ansah, sollte auf einmal trügerisch und falsch 
sein. In der ersten Aufregung wurde hierbei das Hauptsächlichste 
verkannt, dass obige Untersucher durchaus nicht die Sandfiltration für 
wertlos erklärten, sondern nur auf ihre Schwächen aufmerksam machen 
und vor allzu grosser Sorglosigkeit warnen wollten. Aus diesem 
Grunde präzisierte auch Fränkel 1 ) auf der 16. Versammlung des 
Vereins für öffentliche Gesundheitspflege in Braunschweig im Jahre 
1891, auf welcher diese Thesen zur Diskussion kamen, seine An¬ 
schauungen über den Wert der Sandfiltration noch einmal genau da¬ 
hin: ,,Wo man Oberflächenwasser benutzen muss, ist der Sandfilter 
zur Zeit das beste Reinigungsmittel, vielleicht finden wir noch einmal 
etwas besseres, ich glaube es aber nicht.“ 

Wie wichtig die sorgfältige Filtration des Flusswassers ist, be¬ 
weisen zur Genüge die Epidemieen zu Hamburg, Altona, Nietleben, 
Olten, Königsberg i. Pr., Ostritz, Zerpenschleusse, Halle a. S., Lüne¬ 
burg, Löbtau, Pforzheim, Belgard und Gelsenkirchen. 

In Folgendem wird daher zu erörtern sein, welchen Schutz die 
Sandfiltration uns gegen derartige Epidemieen zu bieten vermag, 
welche Faktoren für den Filtrationserfolg massgebend sind und welche 
Fehler einen, wenn auch geringen Durchgang pathogener Keime er¬ 
möglichen. 

Glaubte man ursprünglich, dass die sorgfältige Aufschichtung der 
Steinlager und des Sandes, sowie die dadurch bedingte Dichtigkeit 
der Sandschichten das Wesentliche für die Zurückhaltung der Schwebe¬ 
stoffe des Rohwassers sei, so zeigte sich im Verlauf der Beobachtungen, 
dass der Sand erst in zweiter Linie an dem Filtrationsprozess be¬ 
teiligt ist. Der Effekt der Filtration wird vielmehr durch die Bildung 
einer zarten Filterhaut bedingt, die durch die Ablagerung der suspen¬ 
dierten Bestandteile des Rohwassers auf der Sandoberfläche hergestellt 
wird. Von Bedeutung hierbei ist, wie Piefke 2 ) angibt, dass die 


1) Fränkel, Vierteljahrsschr. f. öfTentl. Ges.-Pflege Bd. 23. S. 38. 

2) Piefke, Mitteilungen über natürliche und künstliche Sandfiltrationen. 
Berlin 1881. 


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Ueber den Wert der Sandfiltration usw. 


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fraglichen Bestandteile grösstenteils organische Körper sind, die von 
Natur mehr oder weniger schleimige Oberflächen haben, im Wasser 
aufquellen und deshalb einen sehr dichten Ueberzug zu schaffen ver¬ 
mögen. Die feineren Schwebestoffe werden freilich im Anfang der 
Filtration in die Poren des Sandes eindringen, in tiefere Partien ge¬ 
langen und eventuell durchgespült werden. Ein grosser Teil von ihnen 
bleibt jedoch bereits in den obersten Schichten an den Sandkörnchen 
haften, sei es infolge von Kapillarattraktion oder bei der schleimigen 
Beschaffenheit dieser feinen Schwebestoffe als eine Art Verklebung 
mit den Sandkörnchen. Durch diese Verstopfung in Verbindung mit 
der Verengerung der Poren infolge Haftenbleibens der Schwebestoffe 
an den Sandkörnchen wird eine Verschleimung der obersten Sand¬ 
schichten herbeigeführt, was einerseits eine immerdichtere Bildung der 
Schmutzdecke zur Folge hat, andererseits eine Beteiligung der obersten 
Sandschichten an der Filtration bedingt. Etwaige, durch die 
Schmutzdecke durchgetretene kleinste Lebewesen werden hier zurück¬ 
gehalten. 

Feiner Sand erleichtert die Bildung der Schmutzdecke, während 
dieselbe bei gröberem Material wegen der Grösse der zu überspannen¬ 
den Lücken schwerer zu Stande kommt. Mit der Fernhaltung der 
Schwebestoffe durch die fertiggestellte Schmutzdecke ist jedoch der 
Filtrationsvorgang nicht abgeschlossen. Bedenkt man die Mannig¬ 
faltigkeit der im Rohwasser verteilten Schwebestoffe, die nunmehr in 
der Schmutzdecke dicht zusammengedrängt sind, so wird man be¬ 
greifen, dass bald ein reges biologisches Leben in ihr sich entfaltet. 
Zum Verständnis hiervon müssen wir von der Ueberlegung ausgehen, 
dass die Schwebestoffe des Wassers, abgesehen von mineralischem 
Detritus, sowohl aus passivem pflanzlichen als auch aktivem tierischen 
Plankton bestehen. 

Durch den Assimiliationsprozess der Algen wird Sauerstoff frei, 
der durch Vermittelung von Organismen oxydierend wirkt, die ihrer¬ 
seits wieder zu ihrem Aufbau organische Substanz brauchen. Weiter 
ist anzunehmen, dass kleine Lebewesen — hauptsächlich empfindliche 
Bakterien — in der Schmutzdecke keine geeigneten Existenzbeding¬ 
ungen finden und zu Grunde gehen oder von den grösseren vernichtet, 
aufgefressen werden, die ihrerseits wieder kleinen Tieren zur Nahrung 
dienen; diese vermögen Kohlensäure nicht zu assimilieren und atmen 
den in organischer Form aufgenommenen Kohlenstoff in Form von 
Kohlensäure aus. Stickstoffhaltige organische Körper werden durch 


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Dr. R. Hilgerm&nn, 


gewisse Bakterien in Ammoniak, salpetrige und Salpetersäure über¬ 
geführt, also mineralisiert. Bei Sauerstoffmangel kann die Salpeter¬ 
säure auch durch bestimmte Bakterien — Bacillus denitrificans 1 in 
Symbiose mit einem Bakterium — oder bei Sauerstoffabwesenheit durch 
Bacillus denitrificans II zu Stickstoff reduziert werden, der entweicht. 
Auf diese Weise wird die organische Substanz im Wasser vermindert 
und dasselbe gereinigt 1 ). 

Die Filterhaut ist infolgedessen nicht nur passiv durch die Zurück¬ 
haltung der suspendierten Bestandteile an dem Reinigungsvorgang be¬ 
teiligt, sondern auch aktiv, indem die in ihr verbliebenen Schwebe¬ 
stoffe durch Zersetzungsvorgänge verändert und zum Teil in Gase 
übergeführt werden. 

Ein so kunstvoll zusammengesetztes Gewebe wie die Filterhaut, 
das aus Tausenden kleinster Bausteine hergestellt ist, wird natur- 
gemäss durch die geringste Erschütterung in seinem Zusammenhalt 
leicht zerstört werden. 

Die Momente, welche eine Verletzung herbeiführen, sind teils in 
dem ureigensten Wesen des Filters begründet, teils durch äussere 
Einflüsse bedingt. Da die Sandfilter keine Maschinen sind, die fertig 
dem Betrieb übergeben werden, sondern erst im Verlauf ihrer Tätig¬ 
keit die sichere Arbeitsleistung durch Bildung der Schmutzdecke er¬ 
langen, so werden folgerichtig die Perioden bis zur Fertigstellung der 
Decke solche minderer Arbeitsleistung sein, auch wird durch stete 
Aufeinanderlagerung der Schwebestoffe die Filterdecke bis zur Undurch¬ 
lässigkeit verdichtet. Erhöhter Filterdruck kann zwar unter solchen 
Umständen mehr Wasser liefern, doch nur auf Kosten der Reinheit 
des Filtrats 2 ). Wird das Wasser gezwungen, mit Gewalt sich Wege 
zu schaffen, so wird durch die entstandenen Risse und Löcher die 
schützende Hülle zerstört und unfiltriertem Wasser der Durchtritt er¬ 
möglicht. Anfang und Ende einer jeden Filterperiode sind also vom 
Gebrauch auszuschliessen, soll ein gleichmässig hygienisch reines Wasser 
geliefert werden. 

Noch gefährlicher für den sicheren Filtrationsvorgang sind Neu¬ 
auffüllungen mit Sand, die durch das wiederholte Entfernen der 
Schmutzdecke von Zeit zu Zeit notwendig werden. Denn wir haben 


1) Wollny, Die Zersetzung der organischen Stoffe and die Humusbildungen 
1897. S. 30. — Lafar, Handbuch der technischen Mykologie 1904. III. Bd. S. 185. 

2) Piefke, Berlin. 1881. 


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Ueber den Wert der Sandfiltration asw. 


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dann keine biologischen Filter, sondern nur Sandaufschichtungen vor 
uns, durch welche das Wasser ohne erheblichen Widerstand durch¬ 
sickert. Sorgfältiges Einarbeitenlassen neu aufgeschichteter Filter, regel¬ 
mässige Filtrationsgeschwindigkeit und mässiger Filterdruck während 
des Betriebes mildern zwar diese gefährlichen Perioden, sie auszu¬ 
schalten ist bisher der Technik nicht gelungen. Jedes einzelne Wasser¬ 
werk wird sich, wie Koch 1 ) meint, mit Hülfe der bakteriologischen 
Untersuchung seine eigenen Regeln konstruieren müssen, insbesondere 
zu ermitteln haben, wieviel Zeit erforderlich ist, um aus dem betref¬ 
fenden Rohwasser eine gut filtrierende Schlammschicht zu bilden, und 
wieviel Wasser nach dem Reinigen wegen zu grossen Keimgehaltes 
unbenutzt bleiben muss. 

Man wird zugeben, dass selbst bei genauestem Studium des Roh¬ 
wassers und seiner deckenbildenden Eigenschaften der Termin für 
eine Benutzung des Filtrats zu zeitig gewählt sein kann, so dass bei 
einem zufälligen Gehalt des Rohwassers an pathogenen Keimen eine 
Infektionsmöglichkeit gegeben ist, denn bis das bakteriologische Re¬ 
sultat dem Betriebsleiter die Güte des Filtrats bestätigt, wird dieser 
oft nicht warten können. 

Meinungsverschiedenheiten der Techniker auf diesem Gebiet, viel¬ 
leicht öfters bedingt durch das Bestreben, die Ergiebigkeit der Filter 
möglichst lange zu erhalten, werden nicht geeignet sein, die Filtration 
zu verbessern. Ich erinnere an die Versuche, die F. Rutter bei 
einem englischen Werke mit einer künstlichen Störung der Schlamm¬ 
decke gemacht hat und von denen er berichtet, dass eine Aenderung 
des Filtrats hinsichtlich seiner bisherigen guten Eigenschaften nicht 
eingetreten sei, dagegen eine Verlängerung der Betriebsdauer um drei 
bis vier Wochen. Aehnlich sind die Versuche Bertschingers be¬ 
treffend erhöhter Filtrationsgeschwindigkeit, die allerdings bei einem 
sehr guten Rohwasser gemacht worden sind. 

Abweichend bezüglich der Ansicht konstanter Erhaltung der 
Schmutzdecke spricht sich M. Füller 2 ) auf Grund von Versuchen in 
Lawrence aus. Die Wirksamkeit der Filter soll sich in den zwischen 
den einzelnen Reinigungen liegenden Zeiträumen nur wenig verändert 
haben. Er fand durch Untersuchungen, welche er bei 42 Reinigungen 


1) Koch, Zeitschr. f. Hygiene. 1893. 14. Bd. S. 250. 

2) Ref. über Füllers Experimente. Gesundheitsingenieur. 1899. No. 10. 
S. 157. 


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Dr. R. Hilgermann, 


je 3 Tage vor und 3 Tage nach denselben anstellte, eine Reduktion 
des Bakteriengehaltes um 99,68 bzw. 99,89 pCt. 

Trotz dieser abweichenden Ansichten muss man gemäss der Er¬ 
fahrungsgrundsätze mit den oben angegebenen Schwächen der Sand¬ 
filtration — „Anfang und Ende einer jeden Filterperiode, Neuauf¬ 
füllung mit Sand“ — stetig rechnen. Die biologische Tätigkeit 
innerhalb der Schmutzdecke ferner, so segensreich sie für die Vor¬ 
reinigung des Wassers ist, bedingt andererseits zahlreiche Misstände, 
durch welche die Filterhaut geschädigt wird. Die Gefährlichkeit des 
pflanzlichen Planktons für den geordneten Filtrationsbetrieb beschreibt 
bereits Piefke im Jahre 1881. Die Algen führen infolge ihres massen¬ 
haften Auftretens zur Zeit der Wasserblüte zu einer schnellen Ver¬ 
stopfung der Filter oder verunreinigen, in Fäulnis übergehend, das 
Wasser. Auch beobachtete Piefke das Aufsteigen zahlreicher Gas¬ 
blasen, die er auf die in dem Filter sich zersetzenden Algen zurück¬ 
führte. Diese Gasblasen bleiben in den Geflechten hängen, reissen 
ganze Massen derselben los und treiben sie in die Höhe. An der 
Stelle einer derartigen Verletzung entsteht ein kleiner, offener Trichter, 
in den sich sofort Schmutzteile hineinziehen. Stark bewachsene Filter, 
meint daher Kemna, müssen unter strenger Kontrolle gehalten und 
bei Aufwerfen ihrer Schmutzdecke sofort in verlangsamende Tätigkeit 
gesetzt werden, bis die entblössten Stellen wieder dicht sind. Der 
massenhafte Auftritt irgendwelcher Vegetation, führt Kemna weiterhin 
aus, hat als natürliche Folge die Vermehrung jener Tiere, welche von 
den erwähnten Pflanzen sich ernähren. In den Einnahmebassins und 
Filtern können sie zu einer wahren Plage w r erden, da die abgestorbenen 
Individuen sich auf dem Sande ansammcln und dem durchsickernden 
Wasser faulende Beschaffenheit verleihen. Auch andere Tiere können 
gelegentlich lästig werden, so z.B. die Stichlinge, welche die Schmutzdecke 
zerstören, um ihre Nester zu bauen. In einem derartigen Falle stieg die 
Keimzahl des Filtrats sofort von 30 auf 292. Haben wir es bei der¬ 
artigen Vorkommnissen meist mit abnormen Verhältnissen zu tun, so 
kann doch auch bei normalem Betrieb der Filter tierisches Plankton 
in die tiefen Sandschichten gelangen, was stets eine Gefährdung des 
Filtrats bedeutet. So fanden Kolkwitz und Thiesing auf Grund 
genauester Untersuchungen über die Leistungen der Sandfiltration 
im Zurückhalten von Plankton, dass tatsächlich verschiedene Orga¬ 
nismen, welche grösser als Bakterien sind, in den Sand der Filter 
ein- und dessen Poren durchdringen — freilich in geringer Menge und 


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Ueber den Wert der Sandfiltration usw. 


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in langsamem Tempo. — Aehnliche Beobachtungen machte Hugo 
de Vries bei den Rotterdammer Wasserwerken. Ausser diesen bio¬ 
logischen Vorgängen sind klimatische Einflüsse von weittragender Be¬ 
deutung für den sicheren Verlauf der Filtration. Frost und Hoch¬ 
wasser z. B. haben des öfteren den Filtrationserfolg zu nichte gemacht. 

Trotz dieser scheinbaren Mängel und Schwächen der langsamen 
Sandfiltration darf man auf Grund der mit ihr gemachten Beobach¬ 
tungen und Erfahrungen behaupten, dass ihr Wert für die Reinigung 
von Oberflächenwasser als unbestreitbar anzusehen ist. Man muss 
anerkennen, dass die langsame Sandfiltration — vorausgesetzt sach- 
gemässe und gewissenhafte Leitung — viel zur Assanierung der Städte 
und damit zu deren wirtschaftlichen Hebung beigetragen hat. Städte 
oder Gemeinden, die auf Oberflächenwasser angewiesen waren, lassen 
nach Einführung einer geordneten Sandfiltration einen bedeutenden 
Rückgang der hauptsächlich durch das Wasser übertragbaren Erkran¬ 
kungsformen — der „Cholera“ und des „Typhus“ — erkennen. 

Die in der Literatur angegebenen schlechten Leistungen, welche 
den Wert der Sandfiltration in Frage stellen könnten, lassen sich 
bei genauer Betrachtung auf Nachlässigkeiten im Betriebe oder auf 
falsche Anlage zurückführen und können daher dem System nicht zur 
Last gelegt werden. Andererseits zeigen sie aber zugleich die er¬ 
freuliche Tatsache, dass nach Neuregelung des Filterbetriebes sich 
sofort eine bedeutende Besserung des Gesundheitszustandes der Be¬ 
völkerung bemerkbar machte. 

In welcher Weise der Filtrationsbetrieb des öfteren gehandhabt 
wurde, zeigen uns folgende einschlägige Literaturangaben. Ohne jede 
Beachtung der für den geordneten Betrieb der Sandfiltration uner¬ 
lässlichen Bedingungen war man z. B. in Nietleben nur bestrebt, den 
erforderlichen Wasserkonsum zu decken. Die Bildung der Schmutz¬ 
decke wurde nicht abgewartet, sondern man liess das Wasser einfach 
durch die Sandschichten hindurchlaufen. 

1871 wies Semon auf die ungünstigen hygienischen Verhältnisse 
Königsbergs hin und erklärte dessen Wasserversorgung für höchst 
mangelhaft. Dieselben Klagen wiederholen sich fortgesetzt in den 
90 er Jahren, blieben aber trotz des Ausbruches von Epidemien ohne Be¬ 
achtung. Die mit Sand befüllten Filterbassins, schreibt Seidel, wurden 
aus pekuniären Rücksichten leider nicht frostfrei angelegt und konnten 
in den Monaten Februar und März, weil sie mit einer dicken Eisschicht 
belegt waren, nicht gereinigt werden. Infolge plötzlich eintretender 


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Schmelze enorm starker Schneemassen kam aus der sehr kultivierten 
Umgebung des Ursprungs der Wasserleitung eine Menge Wasser von 
gedüngten Ackerflächen, die unter dem Schnee festgefroren waren, in 
die Zuflüsse der Wasserleitung. Da im Sommer und Herbst 1887 
mehrfache lokale Epidemien von Typhus im Samland, dem Sammel¬ 
gebiete der Wasserleitung stattgefunden hatten, war es sehr wahr¬ 
scheinlich, dass die Dejektionen dieser Kranken, wie dies auf dem 
Lande ja vielfach Sitte, auf die Dungstellen gebracht und so schliesslich 
auf den Acker gefahren wurden. Das Eindringen von Typhuskeimen 
in die nicht mehr ausreichenden Filterbassins muss daher als die ver¬ 
nehmlichste Ursache der Typhussepidemie angesehen werden. 

1891 schildert Laser diese traurigen Zustände, indem er sagt: 
„Im wesentlichen funktionierte die Filtrationsanlage während der Be¬ 
triebszeit gut, doch trat im Schmutzwasser sowohl als im Filtrat ein 
rapides Ansteigen der Bakterienzahl jedesmal ein, wenn es stark ge¬ 
regnet hatte oder Tauwetter sich einstellte; es waren dann im filtrierten 
Wasser bis 6720 Keime.“ Verantwortlich hierfür macht Laser den 
schlechten Sand und die forzierte Ausnützung der Filter (Drucksteige¬ 
rungen bis zu 700 mm). Im Jahre 1893 musste selbiger Bericht¬ 
erstatter Aehnliches feststellen. Wiederum wurde in einer solchen 
Weise der Filterbetrieb gehandhabt, dass absolut kein Nutzen der 
Filtration zu erwarten war. Entweder wurde die Sedimentierzeit 
verkürzt, oder der Druck gesteigert oder die Filtriergeschwindigkeit 
erhöht. Die Folge war ein Ansteigen der Keime bis 16000 im 
Kubikzentimeter. Erst dem energischen Einschreiten der zuständigen 
Behörden gelang es, geordnete Wasserversorgungsverhältnisse zu 
schaffen. In dem „Sanitätswesen des preussischen Staates der Jahre 
1895, 96 und 97“ lesen wir, dass in Königsberg in Preussen während 
des ganzen Jahres 1896 der Typhus herrschte. Es stellte sich heraus, 
dass zeitweise zum Leitungswasser unfiltriertes Wasser hinzugenommen 
war. Dem Magistrat wurde die inzwischen in Vergessenheit geratene 
Verpflichtung in Erinnerung gebracht, in solchen durch unabwendbare 
Verhältnisse gebotenen Fällen das Publikum durch öffentliche Bekannt¬ 
machungen davon zu berihchrichtigen. Zugleich erging an ihn die 
Aufforderung, das Leitungswasser fortan nicht viermal monatlich, 
sondern täglich bakteriologisch untersuchen zu lassen und das Ergebnis 
alsbald dem Polizeipräsidium mitzuteilen. Die Beschaffenheit des 
Wassers war von da an durchaus befriedigend. 

Gleich verfehlte Anlagen zeigen die Berichte über Lessen und 


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Ueber den Wert der Sandfiltration usw. 


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Gnesen. Die Sandfilter der Stadt Lessen waren derart angelegt, dass 
das Wasser — es wurde Seewasser benützt — nicht von oben, son¬ 
dern seitlich in die Filter trat und daher naturgemäss nur diejenige 
Schicht passierte, welche seinem Durchtritt den geringsten Widerstand 
entgegensetzte. Von einer wirklichen Reinigung des Wassers konnte 
keine Rede sein, so dass auf den Genuss desselben von dem Kreis- 
physikus eine typhusartige Epidemie zurückgeführt wurde. Das 
Leitungswasser von Gnesen liess im Juni 1889 erkennen, dass unfil- 
triertes Wasser des Winiarysees in die Leitungsröhren eingelassen 
worden war. Die bakteriologische Untersuchung ergab 800—1000 Bak¬ 
terien im Kubikzentimeter. Es wurde an die Besitzerin des Wasser¬ 
werkes (Aktiengesellschaft) die Forderung gestellt, eine ordnungs- 
mässige Filteranlage wie bei den Stralauer Werken anzulegen. Die 
bisherige Filtrationsschicht hatte nur 20 cm Dicke. Die hiernach er¬ 
folgte Neuanlage der Filter hatte einen ausgezeichneten Erfolg, insofern 
eine dem See entnommene Probe 2900 Bakterien im Kubikzentimeter 
enthielt, während in 1 ccm Leitungswasser nur 48 gezählt wurden. Tn 
späterer Zeit gab die schlechte Beschaffenheit der Filter infolge mangel¬ 
hafter Aufsicht seitens der Gesellschaft noch mehr Veranlassung zu 
Klagen, deren Berechtigung durch Untersuchungen festgestellt worden 
ist. Trotz dieser schlechten Funktionen ist die Wasserleitung im all¬ 
gemeinen für die Gesundheitsverhältnisse günstig gewesen, wie die 
herabgegangene Mortalitätsziffer beweist. 

Weitere Beiträge zu dieser Art der Sandfiltration geben Wolff- 
berg und Schulze-Freyer bei Beschreibung der Choleraepidemien 
zu Tilsit und Stettin. In beiden Fällen haben Mängel des Filtrations¬ 
betriebes ein Durchtreten pathogener Keime herbeigeführt. Fiel zwar 
beim Tilsiter Fall die Untersuchung des Filtersandes und damit der 
direkte Nachweis der Verseuchung des Filters negativ aus, so Hessen 
sich bei der Choleraepidemie in Stettin 1893 auf dem Filter der 
Wasserleitung Vibrionen nachweisen. 

Auch hier zeigte der hohe Keimgehalt — 771 Keime pro ccm 
und die zu grosse Filtrationsgeschwindigkeit — das Nichtbeachten 
der Grundsätze für eine geregelte Filtration. Nachdem die Ge¬ 
schwindigkeit auf das richtige Mass herabgesetzt worden war, trat 
ein Nachlassen bzw. Aufhören der Erkrankungen in der durch die 
Leitung versorgten Stadt ein. 

Da die Stadt Liegnitz bereits 1888 unter einer Infektion des 
städtischen Leitungswassers zu leiden gehabt hatte, wurden die Filter 


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Dr. R. Hilgermann, 


erheblich erweitert, jedoch ohne nennenswerten Erfolg. Die Anlage 
der Filter war von vornherein eine verfehlte, indem zu den obersten 
Schichten Kies verwandt worden war, so dass Unreinigkeiten bis 10 cm 
und tiefer eindrangen. 

Derartige Unzulänglichkeiten des Filtrationsbetriebes und daraus 
resultierende Epidemien mögen früher des öfteren unbeanstandet ge¬ 
blieben sein. Die Fortschritte der Hygiene und die damit innig ver¬ 
knüpfte Tätigkeit der Medizinalbeamten Hessen durch genaues Be¬ 
obachten der Ausbreitung der Infektionskrankheiten in den einzelnen 
Bezirken häufig die Unzulänglichkeit der Wasserversorgung als Ursache 
erkennen. Verfolgen wir die Angaben des „Gesundheitswesens des 
preussischen Staates“ in den letzten Jahren, so finden wir hierfür 
eine ganze Reihe von Beispielen. 1902 w r ird unter dem Kapitel 
„Wasserversorgung“ gesagt, dass die Filtrieranlage der Stadt Bricg 
sich als unzureichend erwiesen habe und eine Vergrösserung der 
Filterfläche um mehr als das Doppelte erforderte. Die Feststellung 
der Keimzahl hatte 1500 Keime im Kubikzentimeter ergeben. Die 
Gesundheitsverhältnisse der Bevölkerung waren dementsprechend 
schlechte. So wurden im Kreise Brieg 64 Typhuserkrankungen in 
elf Ortschaften beobachtet, wovon 29 auf die Stadt Brieg entfielen, 
welche über das ganze Stadtgebiet verteilt waren. Auch im Jahre 
1903 wurden wiederum 37 Typhuserkrankungen gemeldet. Die 
Ursache hierfür ist seitens des Kreisarztes auf den Genuss des durch 
zu kleine Filter mangelhaft gereinigten Oderwassers zurückgeführt 
worden. Tilsit, das durch die Epidemie von 1893 zur Anlage gut 
arbeitender Filter hätte veranlasst werden sollen, wies gemäss dem 
Berichte des „Gesundheitswesens des preussischen Staates“ im Jahre 
1901 noch keine Verbesserung auf. Wiederum musste das Memel¬ 
wasser wegen mangelhafter Filteranlagen für nicht einwandsfrei erklärt 
werden. Auch die bereits ei wähnte Stadt Lessen war noch auf dem¬ 
selben Standpunkte stehen geblieben. Schlecht arbeitende Filter 
hatten ferner die Städte Breslau und Wandsbeck. Bei ersterer Stadt 
— jetzt GrundwasserVersorgung — wurde die zulässige Zahl von 
100 Keimen im Kubikzentimeter um das sechsfache überschritten. 
Bei der anderen mussten die Filterwerke wegen zu kleiner Rein¬ 
wasserbassins und dadurch bedingter zu grosser Filtriergeschwindigkeit 
beanstandet werden. Schlechte Rohw r asserverhältnisse verhinderten 
die Stadt Magdeburg einwandfreies Wasser zu liefern. Im Winter 
1902/03 trat eine Wasscrkalamität infolge niedrigen Elbwasserstandes 


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Ueber den Wert der Sandfiltration usw. 


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ein. Das Rohwasser enthielt bis 92 000 Keime pro ccm, die Filtrate 
zwischen 300 und 920 Keime. Ausserdem war das Elbwasser noch 
durch die Kaliindustrieabwässer und die Abflüsse des Mansfelder Berg¬ 
werkes verunreinigt. 

Wie ganz anders dagegen bei ordnungsgemässem Filterbetriebe! 
Als 1885 Percy Francland die bakteriologische Untersuchungs¬ 
methode von Koch auf die Wasserversorgung Londons an wandte, 
wies er eine Reduktion des Bakteriengehaltes durch die Sandfiltration 
um 99,2 pCt. nach. 1891 zeigte Hugo de Vries an dem Beispiel 
des zweiten Rotterdamer Wasserwerkes, das ein völlig einwandfreies Pro¬ 
dukt lieferte, die Möglichkeit, das Wasser durch Filtration so zu reinigen, 
dass es keinen Nährboden für Crenothrix abgebe, obwohl letztere im 
Wasser der Maas vorhanden war. Ueber die Sandfilter St. Peter- 
burgs finden wir die Angabe, dass seit dem 17 2 jährigen Bestehen 
der Anlage eine wesentliche Verminderung der Sterblichkeit an 
Abdominaltyphus und Magen- und Darmkrankheiten in den mit 
filtriertem Wasser versorgten Stadtteilen festgestellt worden ist. Aus 
Amerika wird über grössere Versuchsreihen M. Füllers 1 ) berichtet, 
die ein sehr günstiges Urteil über den Wert der Sandfiltration zu¬ 
lassen. Die Stadt Lawrence, deren Wasserwerke ihren Bedarf früher 
dem durch die Abwässer der Stadt Lowell verunreinigten Marrimac- 
fluss entnahmen, hatte andauernd unter Typhus zu leiden gehabt. 
Nach der Einrichtung einer grossen Sandfilteranlage machte sich deren 
Einfluss auf den Gesundheitszustand der Bevölkerung sofort günstig 
bemerkbar, indem sich die Typhuserkrankungen in den nächsten 
Monaten um mehr als die Hälfte reduzierten, um allmählich ganz zu 
verschwinden. In einem weiteren Artikel über selbige Versuche sagt 
M. Füller, dass der Filterprozess eine Abnahme der Bakterienzahl 
um 99,97 pCt. zur Folge hatte, und dass drei der im Flusswasser 
vorwiegend enthaltenen Bakterien — insonderheit das B. coli commune 
— im Filtrat nicht wieder gefunden worden sind. Seine Beobachtungen 
fasst M. Füller in nachfolgender Kritik zusammen: „Gemäss den 
gegenwärtigen Erfahrungen bezüglich der Beseitigung pathogener 
Bakterien aus Trinkwasser lässt sich behaupten, dass ausser den in 
gewissen Städten Europas gemachten Erfahrungen auch die in 
Lawrence während eines Zeitraumes von mehr als fünf Jahren durch 
11 000 Beobachtungen gewonnenen Resultate den Beweis liefern, dass 


1) Iben, Wasserversorgung des Städte Ges. Ing. 1894. 17. Bd. S. 62. 

YierUlj&hrsHOhrift f. ger. Med. o. öff. San .-Wesen. 3. Folge. XXXII. 2. 23 


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Dr. R. Hilgermann, 


cs vollkommen möglich ist, Filter zu bauen, welche Wasser auf wohl¬ 
feilem Wege reinigen und mehr als 99 pCt. der im Rohwasser ent¬ 
haltenen Bakterien zu beseitigen vermögen.“ 

In gleichem Sinne schreibt Bujwid‘) über die Sandfiltrations¬ 
anlage zu Warschau, dass die durch W. Lindley angelegten Filter 
gut funktionieren, und dass das Weichselwasser, welches vor der 
Filtration oft 1000 bis 50 000 Keime pro Kubikzentimeter enthalte, 
nach der Filtration gewöhnlich nur 20—40 Keime aufweise. Beider 
letzten Choleraepidemie habe sich in Warschau, obwohl in den an 
beiden Weichselufem gelegenen Dörfern und Städten hie und da 
Ausbrüche vorgekommen waren, kein einziger Herd gebildet. Typhus¬ 
erkrankungen seien in derselben Zeit so stark zurückgegangen, dass 
nur sehr seltene Fälle verzeichnet zu werden brauchten. Nach den 
Angaben des „Sanitätswesens des preussischen Staates“ trat in Stral¬ 
sund eine wesentliche Abnahme des Typhus ein, nachdem 1894 das 
städtische Wasserwerk eröffnet und von Jahr zu Jahr mehr Häuser 
an dasselbe angeschlossen worden sind. 1895 kamen noch 94 Er¬ 
krankungen, 1896 50 und 1897 nur noch 11 Fälle vor. Mit be¬ 
sonderer Berücksichtigung der Militärbevölkerung berichtet auch 
Haselberg 1 2 ) bei Besprechung obiger Anlage, dass der Typhus durch 
gesundheitliche Massregeln, vor allem infolge einer cinwandsfreien 
Wasserversorgung innerhalb von nur 3 —4 Jahren aus der Zivil- und 
Militärbevölkerung Stralsunds fast ganz verschwunden sei. Gerade 
dadurch, dass der Erfolg einer neuangelegten Wasserleitung ganz 
isoliert zur Beobachtung kam, sagt Haselberg, erhält die erfreuliche 
Tatsache eine erhöhte, prinzipielle Bedeutung. Bei keiner Stadt dürfte 
der Einfluss einer neuen Wasserleitung so glänzende Zahlen zu Tage 
gefördert haben wie hier. Gleich gute Ergebnisse erwähnt Kober 3 ) 
in einer vergleichenden Statistik der Sterblichkeitsfälle an Typhus in 
amerikanischen Städten vor und nach der Filtration ihres Gebrauchs¬ 
wassers. Einen gleich guten Erfolg weist der Gesundheitsbericht 
von Albanv auf. Nach Kober trat eine Sterblichkeitsreduktion um 
78,5 pCt. ein. 

1) Bujwid, Ueber verschied. Arten der Wasserfiltration. Cenlralbl. f. 
Bakteriologie 1894. Bd. 16. S. 118. 

2) Haselberg, Die Abnahme der Typhuserkrankung in Stralsund. Dtsch. 
militärärztl. Ztschr. 1900. 29. Bd. S. 153. 

3) Kober, The Pollution of Streans and the Purification of Public Water 
Supplies. The Journal of the American Medical Association 1901. 36. Bd. S. 1162. 


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lieber den Wert der Sandfiltration usw. 


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lieber die Gesundheitsverhältnisse Hamburgs in bezug auf Typhus- 
und Choleraerkrankungen lesen wir bei Reineke 1 ), dass mit der 
Einführung der Filtration eine plötzliche starke Abnahme der Ge¬ 
samtsterblichkeitsziffer statthatte, und dass diese dauernd erheblich 
niedriger blieb, als sie je zuvor gewesen war. Von 30—40% 0 ging 
sie bis 17 herunter. Für Typhus sank sie von 12,93 auf 0,33. In 
gleicher Weise ist in Berlin die Typhussterblichkeit, auf 10 000 Ein¬ 
wohner berechnet, auf 0,7 herabgegangen. Gerade bei Hamburg und 
Berlin kommt diese Verbesserung insofern in unverkennbarem Masse 
zum Ausdruck, als die Sterblichkeitszahlen dieser Städte durch den 
starken internationalen Verkehr ungünstig beeinflusst werden. 

Dass gut eingearbeitete Filter auch grösseren Schwankungen des 
Rohwassers gegenüber gleichmässig arbeiten, beweisen die Angaben 
Kurths 2 ) im Jahre 1895 über Bremen: „Die plötzliche Steigerung 
der Keimzahl des Rohwassers bis auf das Zehn- und Zwanzigfache 
bedingte zunächst keine Zunahme im Filtrat, sofern die Filter sich 
in der Mitte oder nahe dem Ende ihrer Arbeitszeit befanden, dagegen 
trat sofort ungewöhnliche Zunahme ein, wenn erst wenige Tage nach 
der Reinigung verstrichen waren.“ „Als die Keimzahl des Roh¬ 
wassers schnell von 5000 auf 30 000 Keime stieg, zeigten alle frisch 
gereinigten Filter einen Gehalt von 500 bis 1200 Keimen, dagegen 
die schon längere Zeit angelassenen nur 90 bzw. 100. Trotz Vor¬ 
handenseins des höchsten erreichten Wasserstandes überstieg die 
Keimzahl der Filter ausnahmsweise 100, ja bewegte sich bei einigen 
auf der Höhe von 20—50 Keimen. 

Lässt sich zwar an der Hand der oben angeführten Beispiele 
und vergleichenden Statistiken folgern, dass die Reinigung des Ober¬ 
flächenwassers durch die Sandfiltration den Gesundheitszustand der 
mit filtriertem Wasser versorgten Gemeinden hervorragend verbessert 
hat, so kann doch dann erst der Wert dieser Filtrationsmethode für 
erwiesen gelten, wenn sie sich fähig gezeigt hat, in Fällen wirklicher 
Gefahr selbst das verseuchteste Wasser in hygienisch einwandfreies 
Gebrauchswasser urazuwandeln. In der Tat hat die Sandfiltration 
diese Probe auf das glänzendste im Jahre 1892 bestanden. Als in 
diesem Jahre die Choleraepidemie in Hamburg wütete, welch letztere 

1) Reineke, Gesundheitsverhältn. Hamburgs im 19. Jabrh. Hamburg 1901. 

2) Kurth, Die Tätigkeit der Filteranlage des Wasserwerks zu Bremen von 
Juni 1893 bis August 1894, mit besonderer Berücksichtigung der Hochwasserzeilen. 
Arbeiten ans dem Kaiserl. Gesundheitsamt. 1894. 11. Bd. S. 427. 

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Stadt bis dahin unfiltricrtcs Elbwasscr als Trink- und Wirtschafts¬ 
wasser benutzte, blieb die Nachbarstadt Altona, die dasselbe Roh- 
wasscr Sandfilter passieren liess, von der Seuche verschont. Die Be¬ 
deutung dieser Leistung wird erst dann völlig verständlich, wenn man 
den Grad der Verseuchung des Elbwassers, das Altona zur Verfügung 
stand, in Betracht zieht. Bekamen doch die Filter Altonas erst das 
durch sämtliche Zuflüsse Hamburgs verseuchte Elbwasser zur Ver¬ 
arbeitung. Erklärt man selbst die wenigen Erkrankungsfälle in Altona 
mit der von Frankel und Piefke nachgewiesenen Durchgangs¬ 
möglichkeit pathogener Keime, so ist doch einwandfrei zuzugeben, 
dass die Sandfiltration in Altona 1892 sich glänzend bewährt hat. 

„Für die Filtration im Grossen, sagt Behring, ist das Sand¬ 
filler das einzig bewährte, durch dasselbe gelingt es, klares Trink¬ 
wasser zu gewinnen, dessen Bakterienzahl im Kubikzentimeter die 
zulässige Grenze nicht übersteigt, auch wenn das unfiltrierte Wasser 
hohen Keimgehalt (bis 100 000) aufweist“. 

Der Begründer der Doppelfiltration, Götze, spricht sich über 
die Technik der Sandfiltration wie folgt aus: „Bei richtiger Anlage 
und zuverlässiger Leitung, Dinge, die man grösseren Gemeinwesen 
zur Vorbedingung machen kann, sind die Sandfilterwerke für die Fil¬ 
tration von Oberflächenwasser allen Anforderungen an eine gesunde 
Wasserversorgung mindestens ebenso gewachsen, wie viele Grund¬ 
wasserversorgungen. Wo Gegenteiliges bekannt geworden ist, ist jenen 
Vorbedingungen auch nicht entfernt genügt gewesen, waren grobe 
Fehler nachzuweisen, die sich leicht vermeiden lassen und die der 
Sache nicht zur Last gelegt werden dürfen.“ 

Um letztere nach Möglichkeit auszuschalten und einen gere¬ 
gelten Filtrationsbetrieb zu erhalten, entstanden die bereits im 
Jahre 1893/94 vorbereiteten „Grundsätze für die Reinigung von 
Oberfläehenwasscr durch die Sandfiltration“. Sie wurden durch 
Rundschreiben des Reichskanzlers vom 13. Januar 1899 zur Kenntnis 
der Bundesregierungen gebracht. Damit diese vom Staat im 
Interesse der Konsumenten gestellten Forderungen mit grösster 
Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit erfüllt werden, erscheint eine 
ständige und genaue Kontrolle von grösster Wichtigkeit. Nicht bloss 
der bakteriologische Befund wird ausschlaggebend sein, sondern vor 
allem die Prüfung der Anlage und ihres Betriebes. Die Gesundheits¬ 
behörde wird immer mehr darauf dringen müssen, dass die Werke 
nicht Privateigentum einzelner sind, sondern Kommunalbesitz werden, 


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Ueber den Wert der Sandfiltration usw. 


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und dass die Leiter in keiner Weise finanziell beteiligt, sondern selbst¬ 
ständige Beamte sind. Sehr richtig führt Schrakamp x ) aus, dass 
der Kreisarzt bei Flusswasserversorgungen die grösste Aufmerksam¬ 
keit den Filterwerken zuzuwenden hat, da letztere, wenn sie gut ein¬ 
gerichtet sind und mit der peinlichsten Sorgfalt überwacht werden, 
eine, wenn auch nicht absolute, so doch immerhin ziemlich weit¬ 
gehende Garantie für die Unschädlichkeit des Reinwassers gewähren. 

In dem Erlass des Ministers für etc. Medizinalangelegcnheiten 
vom 24. August 1899 sind die Befugnisse der Medizinalbeamten in 
Bezug auf Wasserwerksanlagen genauer geregelt und festgelegt worden. 

Selbstverständlich wird diese Mitarbeit der Kreisärzte keine Yor- 
gesetztentätigkeit sein dürfen, sondern vermöge ihrer hygienischen 
Schulung werden sie dem Betriebsleiter in Fragen der Hygiene be¬ 
ratend zur Seite stehen und ihn auf etwaige diesbezügliche Mängel 
aufmerksam machen müssen. Durch ein verständiges Zusammen¬ 
arbeiten der Techniker und Hygieniker werden wir das allmählich 
erreichen, was Schraidtmann -) im Jahre 1900 aussprach: „Wir 
haben allen Grund, von ärztlicher Seite gerade in der gegenwärtigen 
Zeit immer aufs neue darauf hinzuweisen, dass eine gute Wasser¬ 
versorgung und geordnete Beseitigung der Schmutzstolfe die unerläss¬ 
liche Voraussetzung für eine günstige gesundheitliche, kulturelle und 
wirtschaftliche Entwicklung volkreicher Gemeinden ist.“ 

Den fortgesetzten Bemühungen der Hygiene und der Technik ist 
es in der Tat gelungen, mancherlei Verbesserungen einzuführen, die 
den Filtern ihre Arbeit erleichtern und damit eine weitgehende Sicher¬ 
heit des Betriebes gewährleisten. 

Während man früher das am bequemsten erreichbare, dement¬ 
sprechend aber verschmutzeste Flusswasser benutzte, sucht man jetzt 
von vornherein den Sandfiltern ein möglichst reines Rohwasser zuzu¬ 
führen. Stets wird der Hygieniker von der Benutzung eines Wassers 
abraten, das verunreinigende Zuflüsse von städtischen Abwässern, 
menschlichen Wohnungen und gedüngten Feldern oder Wiesen aus¬ 
gesetzt ist, und ebenso wird mit grösster Sorgfalt die Entnahmestelle 
und Anlage der Pumpstation ausgewählt werden müssen (Grahn). 

Einen weitgehenden Schutz in dieser Hinsicht bieten die natür¬ 
lichen Seen und vor allem die Anlagen von Stauweihern. Die Ver- 


1) Schrakamp, Vierteljahrsschr. f. ger. Med. Bd. XXVIII. S. 131. 

2) Schmidtmann, Vierteljahrsschr. f. ger. Med. 1900. Bd. XIX. S. 296. 


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sorgung aus Seen, die als natürliche Klärbecken dienen, darf natür¬ 
lich nur insoweit als unverdächtig angesehen werden, wenn die Seen 
frei von Schiffsverkehr und ihre Ufer unbewohnt sind 1 )- Auch die 
Grösse wird in Betracht zu ziehen sein, da grosse Becken ein aus¬ 
giebiges Niedersinken der Schwebestoffe bewirken, während umge¬ 
kehrt bei zu kleinen Seen eine Stagnation eintreten kann. Dass das 
Wasser aus Seen, auf denen ein lebhafter Schiffsverkehr herrscht, 
nicht ungefährlich ist, beweist die Mitteilung des Sanitätswesens des 
preussischen Staates von 1903, dass auf den Genuss unfiltrierten 
Müggelseewassers einige Erkrankungen zurückgeführt werden mussten. 
Gleich günstig wie Klärbecken wirken künstliche Stauweiher, da sich 
die Schwebestoffe, welche das Flusswasser mitführt, in der Sperre 
absetzen und garnicht auf die Filter gelangen. Es wird sogar der 
dauernde Schutz vor Verunreinigungen hier viel leichter und sicherer 
durchzuführen sein, als bei natürlichen Seen. Wenn über den Be¬ 
trieb des Wasserwerkes der Stadt Remscheid 2 ) berichtet wird, dass 
trotz der anhaltend trockenen Witterung und des kaum nennenswerten 
Wasserzuflusses in das Becken des Stauweihers während eines halben 
Jahres das aufgestaute Wasser bis zum Eintritt der Hochflut allen 
hygienischen Anforderungen entsprochen hat, so ist damit der Beweis 
geliefert, dass derartige Anlagen dauernd ein gutes Rohwasser garan¬ 
tieren. Für diejenigen Gemeinden aber, die mit schlechtem Roh¬ 
wasser zu rechnen haben, wie Hamburg, Altona, Königsberg und 
Warschau, dürfte die Doppelfiltration, wie sie zuerst von Götze 3 ) 
eingeführt wurde, eine bedeutende Vervollkommnung des Filter¬ 
betriebes sein. Die Perioden minderer Arbeitsleistung, sagt Götze, 
müssen für das Gesamtergebnis unschädlich gemacht werden, und die 
einzige Art und Weise, das zu erreichen, ist die Nachfiltration in 
verschlammten Filtern durch Ueberführung des Vorfiltrats in ein 
Nachfilter mittelst natürlichen Gefälles. Wenn Götze angibt, dass 
bei 28 000 Keimen im Rohwasser eine Reduktion auf 780 Keime im 
Vorfilter und sodann im Nachfilter eine solche bis auf 31 Keime 
neben völliger Klärung stattfand, so ist diese Leistung eine hervor- 

1) Kolkwitz, Die Beurteilung der Talsperrenwässer vom biologischen 
Standpunkt. München 1905. 

2) Die Wasserverhältnisse im Eschbachtal und der Betrieb des Wasser¬ 
werkes der Stadt Remscheid im Jahre 1904. Schillings Journ. 1905. 48. Bd. 

3) Götze, Doppelte Sandfiltration für zentrale Wasserversorgung. Arch. f. 
Hygiene. 1899. Bd. 35. S. 227. 


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Ueber den Wert der Sandfiltration usw. 


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ragende zu nennen. Es gelingt also, auch bei schlechtestem Roh¬ 
wasser und ungünstigen klimatischen Verhältnissen durch die Doppel¬ 
filtration ein völlig genügendes und ein wandsfrei es Filtrat zu erzielen. 
Gleich lobend sprechen sich Gärtner 1 ) und Halbertsma 2 ) aus. 
Auf Grund eingehender Versuche kommt Kabrhel 3 ) zu dem Urteil, 
dass sich der bei der doppelten Filtration erzielte Filtrationseffekt 
den Grenzen der absoluten Vollkommenheit nähert, dass jedenfalls 
eine sehr gleichmässige Wirkung zu erreichen ist, und dass die aus 
gewissen technischen Schwierigkeiten hervorgehenden Störungen, die 
bei der grössten Aufmerksamkeit nicht ganz zu vermeiden sind, ver¬ 
schwinden würden. 

Ein nicht zu unterschätzender Nachteil haftet allerdings der 
Götzeschen Doppelfiltration an. Bei allen Sandfiltern wird mit pein¬ 
lichster Genauigkeit darauf geachtet, dass die Zuflussstränge von Roh- 
und Reinwasser von einander getrennt verlaufen. Bei der Götze¬ 
schen Doppelfiltration werden jedoch je nach Bedarf die Röhren für 
Rein- und Rohwasser benützt. Dem entsprechend könnte einmal eine 
nachträgliche Infektion des Reinwassers stattfinden. Doch lassen sich 
wohl bei gutem Willen, Aufmerksamkeit und beim Studium der ört¬ 
lichen Verhältnisse mancherlei derartige Schäden vermeiden. Aehn- 
liche Anlagen zur Unterstützung der Filter zeigen z. B. die Wasser¬ 
werke der Städte Stralsund 4 5 ) und Petersburg 6 ). 

Da sich bei dem Stralsunder Werke das angewandte Seewasser 
in den Leitungen trübte und auch bei stürmischem Wetter so auf¬ 
gewühlt wurde, dass die Filter sich schnell verstopften, erbaute die 
Stadt ein Rieselwerk mit Holzhorden und als Sammelbecken einen 
Vorfilter, der später noch mit einer 25 cm hohen Schicht feinen 
Sandes bedeckt wurde. Seit dieser Einrichtung vollzog sich der 
Filterbetrieb ohne Störung. In Petersburg findet, da die Neva' viel 
gelöste organische Substanzen, eine ungenügende Menge freien Sauer- 

1) Gärtner, Amerikanische Versuche über Sandfiltration. Schillings Journ. 
1900. No. 3. S. 42. 

2) Halbertsma, Die Resultate der doppelten Filtration zu Schiedam. 
Schillings Journ. 1896. No. 29. S. 467. 

3) Kabrhel, Eine Vervollkommnung des Filtrationseffektes bei der Zentral¬ 
filtration. Hyg. Rundsohau. 1897. 7. Bd. S. 481. 

4) Zur Wasserversorgung von Stralsund. Ges.-Ing. 1905. No. 1. S. 6. 

5) Iben, Neue Sandfilteranlage zu St. Petersburg. Ges.-Ing. 1893. No. 21. 

S. 692. 


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Dr. R. Hilgermann, 


Stoffes usw. enthält, in der sogenannten Siebabteilung vor der Fil¬ 
trierung ein Lüftungsprozess statt. Die günstige Wirkung dieser 
Siebanlage beruht im wesentlichen auf dem heftigen Anprall des 
Wassers gegen ein gelochtes Messingnetz. Die Zerstäubung bewirkt 
alsdann das Entweichen der im Wasser gelösten Gase, andererseits 
nimmt das in dünnen Strahlen herabfallende Wasser Sauerstoff aus 
der Luft auf. Daher ist im Siebgebäude stets ein starker Geruch 
nach Schwefelwasserstoff wahrzunehmen, während in den Filteranlagen 
eine solche Luftverunreinigung nie beobachtet wurde. Daneben be¬ 
sorgt die Siebanlage noch die mechanische Vorreinigung des Wassers 
von gröberen Bestandteilen und verhindert so eine zu schnelle Ver¬ 
unreinigung der Filter. 

Ist im Vorhergehenden die Hauptaufgabe der Sandfiltration, die 
Zurückhaltung pathogener Keime, erörtert worden, so fragt es sich 
weiter, ob die Sandfiltration auch geeignet ist, das Oberflächenwasser 
in ein Genussmittel umzuwandeln, d. h. diejenigen Schädlichkeiten 
aus ihm zu entfernen, die seinen Gebrauch ekelerregend und unter 
Umständen ebenfalls gesundheitsschädlich machen können. Gemäss 
den Angaben Wolffhügels 0, Piefkes 2 ) und Proskauers 3 ) wird 
eine weitgehende Klärung erreicht. Stark getrübte Wässer mit in¬ 
tensiv modrigem und dumpfigem Geruch und Geschmack waren nach 
der Filtration klar, nur schwach gelblich gefärbt, färb- und geruchlos. 
In vereinzelten Fällen zeigten sich allerdings geringe Bodensätze. 
Durch die Filtration wird nach der chemischen Analyse der Abdampf¬ 
rückstand — Chloride und Kalk — gegenüber den nicht filtrierten 
Wässern nur wenig geändert. Dagegen findet regelmässig eine Ab¬ 
nahme des Glühverlustes, der Oxydierbarkeit und des Ammoniak¬ 
gehaltes statt, woraus zu ersehen ist, dass die Filter organische Ver¬ 
unreinigungen zurückhalten und so das Wasser in gesundheitlicher 
Beziehung günstig beeinflussen. Nur geringe Verbesserung wurde 
dagegen erzielt, wenn das Rohwasser durch Gasfabrikabwässer 
verunreinigt war. Wie ein Betriebsbericht der Filteranlagen zu 

1) Wolffhügel, Beschaffenheit des Berliner Leitungswassers in der Zeit 
von Juli 1884 bis April 1885. Arbeiten aus dem Kais. Gesundheitsamt. 1886. 
Bd. 1. S. 1. 

2) Plagge-Proskauer, Bericht über die Untersuchung des Berliner Lei¬ 
tungswassers. Zeitsohr. f. Hygiene. 1887. Bd. 2. S. 401. 

3) Proskauer, Ueber die Beschaffenheit des Berliner Leitungswassers in 
der Zeit von April 1886 bis März 1889. Zeitschr. f. Hyg. 1890. Bd. 9. S. 103. 

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Ueber den Wert der Sandfiltration usw. 


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Albany 1 ) besagt, war es nicht möglich, den Gasgeruch durch die 
Filtration völlig zu entfernen. Durch geeignete Wahl der Rohwasser¬ 
entnahmestelle liessen sich derartige Missstände leicht beseitigen, auch 
könnte durch Doppeltiltration eine weitere Klärung und Reinigung 
erreicht werden. 

Sorgfältigen Fitrationsbetrieb vorausgesetzt, sind bei der euro¬ 
päischen oder langsamen Sandfiltration die Landflächen zur Anlage 
der erforderlichen Filter und deren Betriebskosten erhebliche. Zu 
diesen Kosten steht die Ergiebigkeit in keinem Verhältnis. Eine Ver- 
grösserung der Filtrationsgeschwindigkeit und dadurch erhöhte Arbeits¬ 
leistung ist jedoch mit den Erfahrungen über den sicheren Betrieb 
eines Werkes unvereinbar. Die Schwierigkeiten sind, wie bereits aus¬ 
geführt, durch die leichte Verletzlichkeit der zarten Filterhaut bedingt. 
Dazu kommt, dass das Dcckenbildungsvermögen des Rohwassers ver¬ 
schieden ist. Dasjenige Filter ist zwar am schnellsten eingearbeitet, 
dessen Rohwasser zur Bildung der Schmutzdecke die geeignetsten 
Ablagerungsmaterialien besitzt, andererseits ist aber damit die Gefahr 
einer frühzeitigen Verschlammung und kurzer Filterperiode gegeben. 
Derartige Betriebshindernisse mussten schon frühzeitig der Technik 
den Gedanken nahe legen, ob es nicht möglich sei, durch Herstellung 
künstlicher Schmutzdecken obigen Uebelständen abzuhelfen. Von 
diesen Erwägungen ausgehend, begründeten amerikanische Techniker 
das System der Schnellfilter, deren Grundprinzip bei fast allen in 
dem Zusatz chemischer Fällungsmittel beruht. Durch Vereinigung 
der verschiedenen Gesellschaften, welche sich mit der Herstellung von 
Schnellfiltern beschäftigten, entstand die New-York-Filter-Company, 
deren Filtrationsprinzipien wir in folgendem darlegen wollen. Als 
chemisches Fällungsmittel findet hier die sctrwefelsaure Tonerde Ver¬ 
wendung. Durch die im Wasser gelösten Salze der Erdalkalimetalle 
wird aus Aluminiumsulfat Aluminiumhydroxyd ausgefällt, unter Bildung 
von Calciumsulfat bzw. Magnesiumsulfat und freier Kohlensäure. Die 
Reaktion verläuft in der Hauptsache nach folgender Gleichung: 
A1 2 (S0 4 ) s + 3 CaH 2 (C0 3 ) 2 = 2 Al(OH 3 ) + 3 CaS0 4 + 6 C0 2 . 

Für die Filtration kommt allein das Aluminiumhydroxyd in Be¬ 
tracht, welches zwei Aufgaben zu erfüllen hat. Einmal dient es als 
Fällungsraittel im Klärbassin, andererseits zur Bildung der Filterhaut. 
Die im Wasser unlöslichen, gallertartigen Flocken von Tonerdehydrat 

1) Schillings Journal. 1900. No. 30. S. 561. 


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reissen die Schwebestoffe des Wassers auf den Boden des Klärbassins. 
Die im Wasser schwebend verbliebenen Flocken gehen mit dem so 
vorgeklärten Rohwasser in das Filterbassin über und bilden die Filter¬ 
haut, die sogenannte Schmutzdecke. Durch die entstandenen Erd¬ 
alkalisulfate wird lediglich die permanente Härte des Wassers erhöht. 
Da durch die zugesetzten Chemikalien ein grosser Teil der im Roh¬ 
wasser suspendierten Bestandteile schon vor der eigentlichen Filtration 
niedergerissen, ausserdem eine feste Filterdecke schnell hergestellt 
wird, ist eine ausserordentlich grosse Filtrationsgeschwindigkeit mög¬ 
lich. Letztere ist, wie schon der Name „Schnellfilter“ besagt, der 
wesentlichste Unterschied gegenüber der langsamen Sandfiltration. 
Mit den zur Zeit üblichen Systemen der Schnellfilter kann mit einer 
Geschwindigkeit gearbeitet werden, welche die Leistungen unserer 
Filter 60—70 mal übertrifft. 1 ) Infolgedessen ist auch die Flächen¬ 
ausdehnung der Schnellfilter eine geringe. Im Gegensatz zu den 
grossen gemauerten europäischen Filtern sehen wir hier kleine eiserne 
Zylinder. In ihrem Aufbau geben sie in verkleinertem Masstabe das 
Prinzip unserer Filter wieder. Während diese aber aus sorgfältig über 
einander geschichteten, an Grösse verschiedenen Steinlagen bestehen, die 
dem Filtrationsmaterial — dem Sand bzw. der Schmutzdecke — als 
Stütze dienen, enthalten jene eine nur verhältnismässig dünne Schicht, auf 
welcher die Tonerdehydratflocken die Schmutzdeckenbildung hervor- 
rufen. Die grosse Filtrationsgeschwindigkeit macht infolge schneller 
Verstopfung eine öftere Entfernung der Filterhaut erforderlich, meist 
schon nach 11—12 ständigem Betrieb. Diese Reinigung geschieht in 
völligem Gegensatz zu den bei der europäischen Sandfiltration ge¬ 
bräuchlichen Regeln. Mühsam und sorgfältig wird bei den euro¬ 
päischen Filtern die oberste Schlammschicht abgehoben und jede Ver¬ 
letzung der tieferen Schichten vermieden, bei den Schnellfiltern hin¬ 
gegen wird der gesamte Sand im Filter selbst gewaschen durch die 
Umkehrung des Stromes mit besonderen Rührvorrichtungen und 
filtriertem Wasser. Vom hygienischen Standpunkt ist diese Art des 
Waschens eine ideale zu nennen, da niemals Menschenhände mit dem 
Filtrationsmaterial in Berührung kommen. Wer jemals eine der 
komplizierten und unappetitlichen Reinigungen unserer Filter gesehen 
hat, dem wird der amerikanische Waschprozess hervorragend erscheinen. 


1) Gerhard, Ueber amerikanische Schnellfilter. Ges.-Ing. 1900. No. 13. 
S. 205. 


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Ueber den Wert der Sandfiltration nsw. 


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Zusammengefasst haben wir also folgende Unterscheidungsmerkmale 
der amerikanischen Schnellfilter gegenüber der europäischen Sand¬ 
filtration: 

1. Künstliche Deckenbildung durch Zusatz chemischer Fälluugs- 
mittel. 

2. Erhöhte Filtrationsgeschwindigkeit. 

3. Geringste Flächenausdehnung. 

4. Die Art der Sandwäsche. 

Es fragt sich nun, ob diese Vorzüge bzw. Gegensätze der 
Schnellfilter dieselben befähigen, in gleichem Masse wie unsere Filter¬ 
methode ein jederzeit hygienisch einwandfreies Wasser zu liefern. 
Bei der Beurteilung dieser Frage werden zwei wichtige Punkte zu 
berücksichtigen sein: der bakteriologische Reinigungseffekt und der 
Verbleib der zugesetzten Chemikalien. 

Ausserdem ist die wirtschaftliche Seite einer vergleichenden Be¬ 
trachtung zu unterziehen. 

Was die Anwendung der schwefelsauren Tonerde als Fällungs¬ 
mittel betrifft, so ist ihr Gebrauch zur Reinigung des Rohwassers 
nicht neuen Datums. Schon Delbrueck 1 ) berichtete im Jahre 1853 
in dem Artikel „Die Filtration des Wassers im Grossen“ über den 
Versuch eines gewissen Darcet zur Läuterung des Seinewassers 
mittels Alaun. Historischen Interesses halber sei diese Schilderung 
vollständig wiedergegeben: „Herr Darcet bedient sich derselben, wie 
er sagt, in Egypten zu seiner grossen Befriedigung. Die Methode, 
die er angibt, um das Nilwasser zu reinigen, ist folgende: 

„Mit 0,5 g Alaun auf das Liter trüben Wassers erreichte ich 
nach Verlauf einer Stunde eine vollständige Klärung desselben, und 
das Wasser wurde vollkommen hell; 0,25 g brachten dieselbe 
Wirkung hervor, aber erst nach Verlauf einer etwas längeren Zeit. 
Die Anwendung des Alauns konnte uns in bezug auf die Gesundheit 
ganz unbesorgt lassen, denn 1 / i oder 1 / 2 g Alaun auf das Liter sind 
so kleine Mengen, dass sich ihr Einfluss als Null betrachten liess. 
Ueberdies wirkte der Alaun bei dieser Läuterungsmethode nur da¬ 
durch, dass er sich zersetzte. Der vorhandene Ueberschuss von 
Säure wurde von dem kohlensauren oder doppelkohlensauren Kalk, 
der in dem Wasser enthalten ist, gesättigt, und nur mit Ueberschuss 


1) Delbrueck, Die Filtration des Wassors im Grossen. Allgemeine Bau¬ 
zeitung. 1853. 18. Bd. S. 103. 


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von Schwefelsäure oder Tonerde präzipitiert sich der Alaun und führt 
auf mechanischem Wege die erdigen Teilchen mit sich. * Bei diesem 
Verfahren ist es vorzuziehen, den Alaun in grossen Stücken anzu¬ 
wenden und zwar auf folgende Weise: Man nimmt ein grosses Stück 
kristallisierten Alauns, bindet ihn an das Ende eines Fadens und 
zieht ihn im Wasser hin und her, indem man ihn nur wenig unter¬ 
taucht, und nur bis zum Erscheinen voluminöser Flocken darin lässt; 
dann zieht man den Alaun zurück, damit von diesem Salz nicht 
mehr als passend ist, angewendet w r ird. Will man den Alaun pulver- 
förmig anwenden, um ihn leichter richtig dosieren zu können, so 
muss man ihn sehr fein pulverisieren, die erforderliche Dose abwägen 
und damit die Oberfläche des Wassers bestreuen, indem man nach 
der Anwendung des Salzes vermeidet, das Wasser heftig zu bewegen. 
Man kann auch die anzuwendende Dose Alaun in einem kleinen 
Volumen Wasser auf lösen und diese Alaunlösung über das trübe 
Wasser giessen, welches man läutern will. Bewegt man leicht die 
Oberfläche des Wassers mit der Mischung und lässt es dann ruhig 
stehen, so klärt es sich schnell und nimmt selbst eine bedeutende 
Helligkeit an. Der Niederschlag, der durch den Alaun entsteht, 
wächst an Gewicht weit über die angegebene Grenze im Verhältnis 
zur Menge des angewandten Salzes. Die angewandten Dosen Alaun 
von V 4 bis V2 S au f das Eiter Wasser, könnten ohne Gefahr ver¬ 
mehrt werden. Zu diesen Erfahrungen wurde in Egypten Alaun mit 
Kali base angewendet, ich glaube aber, dass Alaun mit Ammoniakbase 
die nämlichen Resultate ergeben würde.“ 

Piefke 1 ), der die Wichtigkeit der künstlichen Deckenbildung 
längst erkannt hatte, spricht sich 1881 folgendermassen aus: „Die 
Versuche behufs Bildung künstlicher Schlammdecke mussten die Auf¬ 
merksamkeit auf die grosse Klasse der Kolloidsubstanzen lenken, von 
denen sich bei näherem Studium besonders das Tonerdehydrat als ein 
den weitgehendsten Forderungen genügendes Filtermaterial erweist“ 
und 1887 sagt er: 2 ) „Das Alaun bildet unter Austausch mit gewissen 
Bestandteilen des Wassers gallertartige Niederschläge, welche die 
suspendierten Körper und zum Teil auch die gelösten organischen 
Stoffe einhüllen und zu Boden ziehen.“ 

1) Piefke, Mitteilungen über natürliche und künstliche Sandfiltration. 
Berlin 1881. 

2) Piefke, Die Prinzipien der Reinwassergewinnung vermittels Filtration. 
Schillings Journal. 1887. 30. Bd. S. 596. 


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Ueber den Wert der Sandfiltration usw. 


359 


Von europäischen Technikern sind die amerikanischen Schnell¬ 
filter erst seit einigen Jahren genauerer Beobachtung unterzogen 
worden. Die von ihnen zu Alexandrien und Triest gemachten Er¬ 
fahrungen über den Wert der Schnellfilter lauten günstig. Der ameri¬ 
kanische Filter, sagt Lakomme 1 ) in der Revue d’Hygiene, bietet 
bei dem gegenwärtigen Stand der Wissenschaft alle wünschenswerten 
Garantien. Er hat ausserordentliche Erfolge sowohl in bakterio¬ 
logischer Hinsicht als in bezug auf die Reinigung des Wassers. 
Bitter 2 ) hält sogar die mit dem Jewell-Filter erlangten bakterio¬ 
logischen Resultate für weit besser als die der englischen Filter. Nur 
das in den ersten 30 Minuten nach Inbetriebsetzung des Filters ge¬ 
wonnene Wasser sei vom Gebrauch auszuschliessen. Gleich günstig 
spricht sich Gottschlich 8 ) aus, da der Gehalt des Filtrats an 
Bakterien niemals die Zahl 100, 19 mal nur die Zahl 50 über¬ 
schritten habe. 

Bei derartig glänzenden Resultaten muss es befremdend erscheinen, 
wenn Bitter kurz nach dieser Schilderung folgendes sagt: „Sollte 
das Mahmoudiehwasser während einer Epidemie für infiziert gelten, so 
müssten bei den Jewellfiltern wie bei den englischen Sandfiltern be¬ 
sondere Vorsichtsmassregeln getroffen werden. Es wäre ratsam, das 
zuerst gewonnene Wasser eine Stunde lang wegfliessen zu lassen, 
womit der Jewellfilter seine Zuverlässigkeit 1:10 000, erlangt hätte. 
Dies würde jede Gefahr beseitigen, besonders da man annimmt, dass 
selbst im Falle einer grossen Infektion die wirkliche Zahl der Krank¬ 
heitskeime im Mahmoudiehwasser sehr klein sein würde.“ 

Also nur unter letzterem Vorbehalt, in der stillen Hoffnung, 
dass es nie zu einer grösseren Infektion kommen werde, wäre der 
Filter im stände, ein hygienisch einwandfreies Wasser zu liefern. 
Bedenkt man, dass diejenige Periode, in welcher das Filtrat den An¬ 
forderungen der Hygiene nicht entspricht, bei den europäischen Sand¬ 
filtern sich erst im Laufe mehrerer Tage, ja Wochen wiederholt, 
zudem durch Doppelfiltration ausgeschaltet werden kann, bei den 
amerikanischen Schnellfiltern täglich zweimal eintritt, so müssen be¬ 
gründete Zweifel auftauchen, ob die bei diesem System erreichte Fil¬ 
trationsgeschwindigkeit mit den Forderungen der Hygiene parallel 

1) Lakomme, L’Epuration des eaux par les filtres ä sable dits am&ricains. 
Revue d’Hygiene. 1905. 27. T. p. 43. 

2) Bitter, Report on the Efficiency of the „Jewell“-Filter. 

3) Gottschlich, Rapport de l’Inspecteur sanitaire sur le „Jewell‘‘-Filter. 


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Dr. R. Hilgertnann, 


geht. Ehe wir jedoch diese Frage entscheiden, sollen die Literatur- 
Angaben der amerikanischen Fachleute besprochen werden. Gerade 
die Meinung amerikanischer Hygieniker und Ingenieure, die genügend 
Gelegenheit hatten, die Schnellfilter an Ort und Stelle durch Jahr¬ 
zehnt« zu studieren, dürfte in solchem Falle massgebend sein. Ihre 
Meinung über den Wert der Schnellfilter ist, um das vorweg zu 
nehmen, keine besonders günstige. 

Auf Grund von Versuchen und Erfahrungen zu Pittsburg kommt 
Hazen *) zu dem Schluss, dass das filtrierte Wasser der Schnellfilter, 
wenn genügend chemisches Fällungsmittel angewandt worden ist, 
2—3 mal so viel Bakterien als das der europäischen Sandfilter ent¬ 
hält. Infolgedessen sei die Möglichkeit der Uebertragung von Krank¬ 
heitskeimen bei den amerikanischen Schnellfiltern eine 2—3 mal 
grössere. Er empfiehlt für die Stadt Pittsburg europäische Sandfilter 
und keine Schnellfilter, da das Flusswasser bei Pittsburg in Zukunft 
nicht schlammiger, wohl aber noch mehr organisch verunreinigt 
werden kann. Hazen erscheint es sehr zweifelhaft, ob eine so 
grosse Bakterienzurückhaltung wie 99 pCt. mit irgend einer Menge 
schwefelsaurer Tonerde gesichert werden könne, da die Resultate des 
öfteren unregelmässig gewesen seien. Auch Füller hält vom bakte¬ 
riologischen Standpunkt aus die europäische Filtermethode für besser. 

Die Resultate bei den amerikanischen Schnellfiltern, sagt Im- 
beaux 1 2 3 * ), sind bezüglich der Klarheit recht gute, bezüglich des Keim¬ 
gehaltes stehen sie hinter denen unserer Sandfilter zurück. Das gleiche 
lesen wir in der zusammenfassenden Arbeit Grahns: „Statistik ame¬ 
rikanischer Wasserwerke“. „Trotzdem den Schnellfiltern eine grosse 
Reduktion des Bakteriengehaltes nachgesagt wird, haben wissenschaft¬ 
liche Beobachtungen ihre Wirksamkeit bislang nicht in gleichem 
Masse erwiesen, wie das für die gewöhnliche Sandfiltration der 
Fall ist.“ 

Nach einem 1897 gehaltenen Vortrage Westons 8 ) über Schnell¬ 
filter soll zwar nach den günstigsten in Europa gewonnenen Er¬ 
fahrungen bezüglich der Ausscheidung von Wasserbakterien die 

1) Gerhardt, Ueber amerikanische Schnelifilter. Ges.-Ing. 1900. No. 13. 
S. 205. 

2) Imbeaux, L’alimentation en eauet l’assainissement des rilles a l’exposi- 
tion universelle de 1900. Ref. Hyg. Rundschau. 1902. S. 537. 

3) Sandfiltration und sogenannte mechanische Filtration. Schillings Journ. 

1897. No. 52. S. 854. 


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Ueber den Wert der Sandfiltration usw. 


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langsame Sandfiltration um \ l / 2 pCt. besser arbeiten als die ameri¬ 
kanische Schnellfiltration, welcher Vorteil indes durch die geringeren 
Kosten letzterer wieder aufgehoben würde. Die Auffassung Westons, 
nach den Kosten eine hygienisch so wichtige Frage zu entscheiden, 
dürfte vielfach auf Widerstand stossen. Der Referent dieses Vortrages 
lässt es sehr fraglich erscheinen, ob die amerikanischen Fachgenossen 
den Ausführungen Westons über die Vorteilo der mechanischen Filtra¬ 
tion gegenüber der Sandfiltration in allen Teilen beipflichten werden, 
da nach den Berichten amerikanischer Fachzeitungen neuerdings in 
zahlreichen Fällen, in denen es sich um die Wasserversorgung selbst 
grösserer Städte handelte, auch dem System der langsamen Sand¬ 
filtration besondere Aufmerksamkeit gewidmet worden ist. 

In dem „Journal of the American medical association“ wird in 
einer Arbeit von Kober 1 ) ausgeführt, dass in denjenigen Städten, in 
denen die mechanischen Filter eingeführt wurden, ein Rückgang der 
Sterblichkeitsziffer an Typhus kaum zu verzeichnen war. Die Abnahme 
belief sich im ganzen nur auf 26 pCt. gegen 78,5 pCt. bei der euro¬ 
päischen Sandfiltration. 

In einem Bericht des Gesundheitsamtes von Lowell an das 
Wasserarat von Lawrence 2 ) konstatiert ersteres, dass kein von ihm 
geprüfter amerikanischer Filter die Bakterien genügend beseitige, um- 
denselben zur Annahme empfehlen zu können. Auf Grund dieses 
Gutachtens legte die Stadt Lawrence ein grosses Sandfilterbett an, 
worauf ein deutlicher Rückgang der Typhussterblichkeit eintrat. 

Der bereits oben von Hazen 3 ) angeführte Wechsel in den Re¬ 
sultaten wurde auch in einer öffentlichen Besprechung der Jewell- 
Filter bestätigt. So wurden im Monat März bedeutend mehr Bak¬ 
terien im Filtrat nachgewiesen, als im Monat Mai, von 298 Keimen 
passierten 65 Keime den Filter. Dies soll der im Monat März fünf¬ 
mal grössere Gehalt des Rohwassers verschuldet haben. 

Aeusserst wertvolle Aufschlüsse gibt uns ein weiterer Vortrag 
von Allen Hazen 4 ) — erschienen im Journ. of the Franklin-Institute 


1) Kober, The pollution of streams and the purification of public water 
supplies. The journal of the American medical Assoo. 1901. Bd. 36. S. 1162. 

2) The Lawrence water filters. Engineering record. 1893. 1894. S. 154. 

3) Test of a mechanical filter, East Providence, R. I. Engineering record. 
1899. 2. Bd. S. 96. 

4) Hazen, The clarification of river water. Journal of the Franklin-Insti-, 
tute. 1899. S. 177. 


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Dr. R. Hilgermann, 


— und die sich daran anschliessende Diskussion. Die Menge der 
schwefelsauren Tonerde, sagt Hazen, die zur Klärung des am we¬ 
nigsten trüben Wassers nötig ist, genügt nicht, um auch nur eine 
massig gute bakteriologische Wirksamkeit zu erzielen. Um eine ziem¬ 
lich vollständige Entfernung der Bakterien mit mechanischen Filtern 
zu sichern, ist eine verhältnismässig grosse Quantität von schwefel¬ 
saurer Tonerde nötig. In der nun folgenden Diskussion bringt Prof. 
F. Lynwood Garrison Ausführungen, die uns sowohl auf die zweite 
Frage, „der Verbleib der zugesetzten Chemikalien“, hinweisen, als 
auch wichtige Daten für den verschiedenen Wert der Schnellfilter und 
unsere Sandfilter in bakteriologischer und wirtschaftlicher Beziehung 
geben. „In dem Gebrauch der chemischen Fällungsmittel“, führt 
Lynwood Garrison aus, liege die Hauptschwierigkeit. Es sei zu 
erörtern, ob nicht das Heilmittel schlimmer als die Krankheit sei, da 
die in Frage kommenden Bakterien durch die wahrscheinlich ebenso 
verderbliche schwefelsaure Tonerde ersetzt würden. Es sei festgestellt, 
dass gewisse Krankheiten direkt von dem fortgesetzten Gebrauch mit 
schwefelsaurer Tonerde gereinigten Trinkwassers hergeleitet werden 
können, z. B. Störungen in der Verdauung. Seien schon gastrische 
Störungen vorhanden, so habe der fortgesetzte Gebrauch derartigen 
Wassers ernste Folgen. Ebenso bekannt sei es, dass solches Wasser 
für einige industrielle Zwecke, für Bäder und Wäsche, ungeeignet sei. 
Die Neutralisation der im Wasser vorhandenen schwefelsauren Ton¬ 
erde könne natürlich durch Zusatz von Kalk und anderen Alkalien 
bewirkt werden. Dieses Verfahren sei aber zum mindesten schwierig, 
da die chemische Zusammensetzung des Wassers seiten dieselbe 
bleibe und der Verbrauch von schwefelsaurer Tonerde von Tag zu 
Tag wechsele, da er sich nach der Quantität der suspendierten Stoffe 
und dem verschiedenen Bakteriengehalt richten müsse. Daher Hessen 
sich ernste Bedenken bei der Anwendung solcher komplizierter Me¬ 
thoden bei den Wasserversorgungen unserer grossen Städte machen. 
Die einfachste Filtrationsmethode, selbst zu Anfang die langsamste 
und kostspieligste, werde sich zweifellos am Ende als die wirksamste 
und billigste erweisen.“ 

Wir sehen, dass die Hauptschwierigkeit der amerikanischen 
Schnellfilter in der genauen Anpassung des chemischen Fällungsmittels 
an den jeweiligen Gehalt des Rohwassers an suspendierten Bestand¬ 
teilen besieht. Da durch die schwefelsaure Tonerde nicht nur die 
Fällung der suspendierten Bestandteile im Klärbassin, sondern auch 


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Ueber eien Wert der Sandfiltration usw. 


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die Deckenbildung bewirkt werden soll, wird naturgemäss jede 
Schwankung des Rohwassers ira Gehalt an Schwebestoffen auf die 
Deckenbildung von Bedeutung sein. Tritt z. B. bei Hochwasser oder 
in der Zeit der Algen eine plötzliche Vermehrung der Schwebestoffe 
ein, so wird das Aluminiumoxydhydrat schon im Klärbassin als Nieder¬ 
schlagsmittel verbraucht, und muss infolgedessen die Deckenbildung 
mangelhaft bleiben. Werden derartige Schwankungen rechtzeitig er¬ 
kannt, so wird ein erhöhter Zusatz schwefelsaurer Tonerde diesem 
Uebelstand abhelfen. Zweifelhaft dürfte es aber sein, ob diese Ver¬ 
änderungen überhaupt früh genug beobachtet werden können; selbst 
dann aber wird immerhin einige Zeit vergehen, bis der angemessene 
Zusatz des Fällungsmittels gefunden ist. Da zweitens die Bildung 
des Tonerdehydrats von dem Gehalt des Wassers an Erdalkalien ab¬ 
hängig ist, so wird bei erhöhtem Zusatz von schwefelsaurer Tonerde 
die Gefahr bestehen, dass letztere, worauf auch Hazen in obigem 
hingewiesen hat, bei ungenügender Menge von Erdalkalien im Wasser 
in Lösung verbleibt. Dass ein derartiges Wasser kein hygienisch 
einwandsfreies ist, wird ohne weiteres verständlich sein. In diesem 
Falle nützt auch der erhöhte Zusatz von schwefelsaurer Tonerde nichts, 
da eben gar kein Aluminiumhydroxyd gebildet werden kann. Der 
eventuell vorhergehende Zusatz von Kalk oder Soda macht das Ver¬ 
fahren kompliziert und teuer, auch erscheint es zweifelhaft, ob stets 
die richtige Menge des Zusatzmittels gefunden wird, da z. B. bei Hoch¬ 
wasser der Gehalt des Rohwassers an Schwebestoffen fortwährend 
wechselt. So sagt z. B. Hazen *), „dass die Ueberschwemmungs- 
wässer grössere Mengen Kalk brauchen, als die normalen Fluten, da 
sie weniger Kalciumkarbonat enthalten. Der Grund dafür ist be¬ 
greiflich, da das Ueberschwemmungswasser sich meist aus Regen- 
wasser zusammensetzt, welches über die Erdoberfläche gelaufen ist, 
ohne mit dem Boden in sehr nahe Berührung gekommen zu sein und 
folglich ohne viel Kalk aufgelöst zu haben. Es mag Vorkommen, dass 
so ernste Unannehmlichkeiten entstehen, sogar mit Wasser, welches 
gewöhnlich in dieser Hinsicht keine Schwierigkeiten bietet.“ 

Aus dieser Darlegung erkennen wir, was für Gefahren der Zusatz 
eines chemischen Fällungsmittels in sich birgt. Bei normalem Fluss¬ 
wasser mit geringem Bakteriengehalt mag eine leidliche, ja sogar 


1) Hazen, The clarification of river waters. Journal of the Franklin-Insti¬ 
tute. 1899. 

Vierteljahrsschrift f. ger. Med. u. öff. San.-Wesen. 3. Folge. XXXII. 2. 


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gute Reinigung erzielt werden, bei plötzlicher Aenderung des Bakterien¬ 
gehaltes hingegen ergeben sich folgende, kurz noch einmal zu präzi¬ 
sierende Misstände: 

1. Bei hohem Gehalt an Schwebestoffen und genügend Erdalkalien 
im Wasser, um Aluminiumhydroxyd zu bilden, vergeht sicherlich 
längere Zeit, bis die richtige Zusatzmenge schwefelsaurer Tonerde ge¬ 
funden ist. 

2. Bei zu wenig Erdalkalien bleibt die schwefelsaure Tonerde 
unverändert in Lösung, folglich wird auch keine genügende Klärung 
und Deckenbildung erzielt, so dass die Bakterien ungehindert ins 
Filtrat übertreten. 

3. Zusatz von Kalk oder Soda führt die Bildung von Aluminium¬ 
hydroxyd herbei, doch auch hier macht sich wiederum die Frage geltend, 
wieviel schwefelsaure Tonerde erstens und zweitens wieviel Kalk zu¬ 
zusetzen ist. 

Haben wir bei der Besprechung der langsamen Sandfiltration ge¬ 
sehen, dass fast alle Misstände durch ungenügende Beaufsichtigung 
und Nachlässigkeit im Betriebe hervorgerufen worden sind, so kann 
man sich vorstellen, welche Zustände ein derartig kompliziertes und 
von dem Gutdünken des Leiters abhängiges Verfahren zeitigen würde. 
Schon 1853 sagt hierzu Delbrück 1 ): „Was aber gegen dieses Ver¬ 
fahren einen noch ernsthafteren Einwurf abgibt, ist, dass es die 
chemische Klarheit des Flusswassers beeinträchtigt, da es dieses mit 
einem Salze schwängert, welches cs früher nicht enthielt, und dass, 
wenn man auch annimmt, dass dieses Salz in gewissen Verhältnissen 
gänzlich unwirksam ist, die Konsumenten befürchten können, in 100, 
200, in 1000 Tagen, wenn man will, möchten doch einmal diese Ver¬ 
hältnisse überschritten werden, denn dazu bedarf es nur der Unacht¬ 
samkeit oder des Irrtums eines Arbeiters.“ 

Selbst bei aufmerksamstem Betriebe ergeben sich Schwierigkeiten, 
wie eine Beschreibung der Filteranlage für Vanderbilt 2 ) beweist: 
„Die Schwierigkeit im Betriebe solcher Filterapparate mit chemischer 
Fällung zeigte sich auch hier deutlich, nämlich je nach den wechseln¬ 
den Bestandteilen der Schwebestoffe die richtige Menge schwefelsaurer 


1) Delbrück: Die Filtration des Wassers im Grossen. Allgemeine Bau- 
zeitung. 1853. Bd. 18. S. 103. 

2) Gerhardt: Ueber amerikanische Schnellfilter. Ges.-Ing. 1900. No. 13. 
S. 205. 


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Ueber den Wert der Sandtiltration usw. 


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Tonerde zuzusetzen“. Auch Gärtner*) gibt in einem Referat der 
Fullerschcn Arbeit an, dass während 5 Tage des Betriebes genügend 
Erdalkalien nicht vorhanden waren. 

Haben oben die Angaben von Lynwood Garrison schon 
gezeigt, dass das mit schwefelsaurer Tonerde versetzte Wasser für 
mancherlei Industriezwecke unbrauchbar ist, so darf nicht unerwähnt 
bleiben, dass auf alle Fälle eine Zunahme der permanenten Härte 
eintritt. Letztere dürfte in zahlreichen Industriezweigen uner¬ 
wünscht sein. 

Nach den Ausführungen Westons werden diese Fehler der ame¬ 
rikanischen Schnellfilter durch ihre bedeutend billigeren Herstellungs¬ 
kosten wettgemacht. In Wirklichkeit ergeben sich jedoch weniger 
günstige Verhältnisse. Zunächst ist zu bedenken, dass die europäischen 
Sandfilter infolge ihrer massiven Bauart kaum jemals einer Erneuerung 
bedürfen, während die amerikanischen Schnellfilter bei ihrer kompli¬ 
zierten Zusammensetzung, dem maschinellen Betriebe und der Eisen¬ 
konstruktion des öfteren Reparaturen notwendig machen. Es werden 
infolgedessen die Betriebsunkosten unverhältnismässig hohe sein. 
Schon Gill 1 2 ) sagt 1882: „Die Filter nach dem amerikanischen System, 
in geheizten Gebäuden aufgestellt, sind wie Maschinen zu betrachten, 
und als solche mit einer Betriebsdauer von nicht mehr als 10 bis 
15 Jahren zu veranschlagen.“ In den Kostenberechnungen sind stets 
nur die Herstellungskosten einander gegenübergestellt, wobei natürlich 
die Schnellfilter bei ihren kleinen Dimensionen und der geringen Land¬ 
flächen, die sie beanspruchen, viel billiger als die europäischen Sand¬ 
filter angeboten werden können. Bedacht, resp. gesagt ist dabei niemals, 
dass der ständige Verbrauch von schwefelsaurer Tonerde eine ganz 
bedeutende Mehrausgabe erfordert. Kosten doch 100 kg Aluminium¬ 
sulfat 7,50—11 Mark. Ebenso sind die gewiss häufig notwendigen 
Reparaturen nicht in Betracht gezogen worden. Allzu gross ist bei 
Verwendung offener europäischer Sandfilter der Preisunterschied über¬ 
haupt nicht. Für 60 eiserne Filter gibt Gerhardt den Preis von 
245172 Dollars und für unbedeckte Sandfilterbassins gleicher Kapa¬ 
zität 291220 Dollars an. Bei überdeckten steigt allerdings der Preis 
bis auf 525000 Dollars. Sicherlich wird dieser Unterschied durch 


1) Gärtner: Amerikanische Versuche 
Journal. 1900. No. 3. S. 42. 

2) Schillings Journal. 1882. S. 19. 


über Sandfiltration. Schillings- 


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Betriebsunkosten ausgeglichen. Auch Piefke x ) warnt vor Verkennung 
letzterer: „Selbst wenn das minimale Verhältnis von 1 : 30000 inne¬ 
gehalten wird, sind für je 1000 cbm Wasser 33,3 kg Aluminiurasulfat 
in Anwendung zu bringen, was (einen Preis von 20 Mark pro 100 kg 
vorausgesetzt) eine Mehrausgabe von 6,66 Mark bedeutet.“ Desgleichen 
sagen zusammenfassend Pfeiffer-Proskauer 1 2 3 ): „EinWerk für Schnell¬ 
filtration verlangt sehr viel weniger Raum als eines für langsame Sand¬ 
filtration; die Anlagekosten sind geringer. Wegen des Verbrauches von 
Fällungsmitteln sind die Betriebskosten höher, auch die Amortisation 
muss höher gerechnet werden. Stellt man Betriebskosten, Amortisation 
und Verzinsung des Anlagekapitals, also alles, was jährlich für solche 
Werke aufzubringen ist, gegenüber, so stehen beide gleich. Ein peku¬ 
niärer Vorteil kann also aus der Wahl des einen oder anderen Systems 
nicht erwartet werden.“ Zu erwähnen wären noch die Kosten, die 
die Sandwäsche mit filtriertem W T asser verursacht. So sagt z. B. 
Maignen s ), „dass dieses Waschwasser eine sehr beträchtliche Aus¬ 
gabe bedeute, und nach den Angaben Füllers müssten noch Filter 
aufgestellt werden, um das zum Waschen des Sandes notwendige 
Wasser zu klären.“ Dafür fällt allerdings der bei der langsamen 
Sandfiltration ziemlich erhebliche Arbeitslohn für das Reinigen des 
Sandes weg. 

Einen nicht zu unterschätzenden Vorteil bieten die amerikanischen 
Schnellfiltcr dadurch, dass sie eine völlige Klärung selbst des ver¬ 
schmutztesten Wassers zu leisten im stände sind. Grosse Schlamm¬ 
massen oder feine Tonbestandteile werden durch die Schnellfiltration 
entfernt und eine grosse Klarheit des Wassers erzielt. Für Industrie¬ 
zwecke, bei denen weniger eine bakteriologische Reinigung als Klärung 
erforderlich ist, wird diese Methode sicherlich gute Dienste leisten. 
Diesen Vorteil hebt auch der russische Reisebericht S im ins 4 ) hervor, 
indem er das Wasser als kristallklar bezeichnet. 

Ehe ich mir ein abschliessendes Urteil über den Wert der Schnell¬ 
filtration erlaube, möchte ich eine Reihe von Beobachtungen wieder- 


1) Piefke: Die Prinzipien der Reinwassergewinnung vermittels Filtration. 
Schillings Journal. 1887. 30. Bd. S. 596. 

2) Pfeiffer-Proskauer, Enzyklopädie der Hygiene. 1905. 

3) Hazen: The Clarification of River Waters. Journal of the Franklin- 
Institute. 1899. S. 177. 

4) Russischer Reisebericht über mechanische Filter von N. Simin. Referat 
im Ges.-Ing. 1900. No. 8. S. 130. 


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Ueber den Wert der Sandfiltration usw. 


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geben, die ich als Hülfsarbeiter der königlichen Versuchs- und Prüfungs¬ 
anstalt für Wasserversorgung und Abwässerbeseitigung an einer Ver¬ 
suchsanlage der Jewell-Filter-Comp. machen durfte. Mit diesen Unter¬ 
suchungen wurde ich von Herrn Geh. Obermedizinalrat Professor 
Dr. Schmidtmann beauftragt, welcher als Leiter der königlichen 
Versuchs- und Prüfungsanstalt die wissenschaftliche Untersuchung 
auch auf dieses Gebiet der Wasserversorgung lenkte, um die Güte der 
amerikanischen Schnellfiltration zu ergründen und ihren Wert für 
deutsche Verhältnisse zu prüfen. 

Der in Friedrichshagen aufgestellte Probefilter bestand: 

1. aus einem Behälter zur Aufnahme der schwefelsauren 
Tonerde, 

2. aus zwei Klärbassins und 

3. aus dem eigentlichen Schnellfilter. 

In den Klärbassins — Holzbottiche von 6,8 cbm Inhalt — wurde 
das Rohwasser mit dem chemischen Fällungsmittel — 2 proz. Lösung 
von schwefelsaurer Tonerde — vermischt und der Sedimentation über¬ 
lassen. Durch Zwischenwände waren diese Bassins in vier mit ein¬ 
ander kommunizierende Kammern behufs inniger Vermischung des 
Rohwassers mit dem Fällungsmittel geteilt. Während der Versuchs¬ 
zeit war nur ein Bottich im Gebrauch und zwar der dem Schnell¬ 
filter nächstgelegene. Der zweite sollte nur bei hohem Gehalt des 
Wassers an Schwebestoffen — wor allem Algen — zwecks Vorklärung 
in Betrieb gesetzt werden. Jedes Wasserteilchen hielt sich in den 
Klärbassins 1 Stunde 10 Minuten auf, d. h. die Sedimentationszcit 
währte 70 Minuten. Hiernach trat das Rohwasser mit dem Rest der 
Tonerde-Hydratflocken in den eigentlichen Schnellfilter über. Derselbe 
bestand aus zwei eisernen Zylindern, von denen der innere einen 
Tiefen-Durchmesser von 1,42 m hatte und von dem äusseren höheren 
.um ca. 12 cm überragt wurde. Ihre Verbindung stellte einen unten 
geschlossenen ringförmigen Raum dar. Das Rohwasser trat in den 
äusseren Zylinder von unten ein und überflutete von diesem aus das 
Filterbett. Dadurch "war ein gleichmässiger Zufluss gesichert und eine 
Erschütterung der Schmutzdecke ausgeschlossen. Der Boden des 
inneren Zylinders bestand aus einer siebartig durchbrochenen Metall¬ 
scheibe, auf der das Filtermaterial — feingesiebter Sand — ruhte. 
Die Höhe desselben betrug 1,29 m und war 13 cm vom Rande des 
Zylinders entfernt. Die Metallscheibe war äusserst engmaschig her¬ 
gestellt — mit sogenannten Siebköpfen versehen — so dass ein Durch- 


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fallen der Sandkörnchen unmöglich war. Der Zufluss des Rohwassers 
wurde durch einen Schwimmer reguliert. Zum Durchlaufen der Sand¬ 
schicht brauchte das Wasser ca. 15 Minuten und trat durch die er¬ 
wähnte Metallscheibe durch eine Röhre in einen Regulierapparat, den 
„Weston-Kontroller“ über. Letzterer kontrolliert • und reguliert den 
Ausfluss und die Filtrationsgeschwindigkeit. Die jedesmalige Druck¬ 
höhe zeigt eine Kontrolluhr an. Die Arbeitszeit dieses Versuchsfilters 
war auf 10 Stunden bemessen. Man nahm an, dass nach Ablauf 
dieser Zeit die Schmutzdecke die Höhe ihrer Leistungsfähigkeit er¬ 
langt hatte. 

Das Waschen bestand in einer Durchspülung der gesamten 
Sandraenge, indem das Waschwasser am Boden des Filters eintrat. 
Die Schmutzdecke wurde durchbrochen und der Sand durch eine 
Rührvorrichtung durchmischt und ausgewaschen. Beim Beginn des 
Waschens wurde das Roh Wassereintritts- und das Reinwasseraustritts¬ 
rohr geschlossen, das über dem Filterbett noch befindliche Wasser 
durch ein besonderes Rohr (A) abgelassen, so dass der ringförmige 
Raum zwischen beiden Zylindern vollkommen leer war und das Sand¬ 
bett trocken zu Tage trat. Nunmehr wurde das Rohr für den 
Zufluss des Waschwassers geöffnet — filtriertes Wasser der Städ¬ 
tischen Wasserwerke —, das für diesen Zweck zur Verfügung gestellt 
worden war. Das Waschen wurde so lange fortgesetzt, bis das Wasch¬ 
wasser klar und die Filterschicht deutlich sichtbar war. Das über¬ 
schüssige Waschwasser floss über den Rand des inneren Zylinders 
durch den ringförmigen Raum und das Rohr A ab. Bei Schluss des 
Waschprozesses wurde wiederum das Waschwasserzufluss- und das 
Waschwasserabflussrohr geschlossen. Die Waschdauer betrug ca. 10 
bis 40 Minuten. 

Da hauptsächlich die bakteriologische Leistungsfähigkeit des 
Jewellfilters untersucht werden sollte, wurde auf die Reduktion der 
Keimzahl durch den Filter das Hauptgewicht gelegt. Die Bestimmungen 
geschahen an Ort und Stelle. Ausser den täglichen Untersuchungen, 
die sich sowohl auf die Feststellung der Keimzahl vor und nach der 
Waschperiode als auch auf etwaige Schwankungen im Verlaufe des 
Tages erstreckten, wurden künstliche Anreicherungen des Rohwassers 
mit Bakterienaufschwemmungen herbeigeführt. Auf diese Weise war 
es möglich, Rohwasser von verschiedenster Qualität dem Filter zur 
Verarbeitung zu übergeben. Gleichzeitig wurde täglich das Filtrat 
der städtischen Wasserwerke — langsame Sandfiltration — unter- 


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Ueber den Wert der Sandfiltration usw. 


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sucht, so dass sich vergleichende Schlüsse auf die Leistungsfähigkeit 
beider Systeme ziehen lassen. Bevor ich zur Darlegung der bakterio¬ 
logischen Ergebnisse übergehe, will ich erst die Filtrationsergiebigkeit 
und die Art der Zugabe des chemischen Fällungsmittels auseinander¬ 
setzen, da von diesen beiden Faktoren der bakteriologische Nutzeffekt 
abhängig ist. 

Was die Menge des täglich filtrierten Wassers anbetrifft, so wurden 
vom 11. April bis 1. Mai 1905 täglich 147 cbm filtriert, vom 1. Mai 
bis 26. Juni 112 cbm pro Tag. Dieses Ergebnis übertrifft die Ergiebig¬ 
keit der städtischen Wasserwerke — 2,4 cbm pro die — um das 
50—70fache. Der Zusatz der schwefelsauren Tonerde variierte 
entsprechend dem Gehalt des Rohwassers an Schwebestoffen zwischen 
26—43 g pro cbm. Weiterhin wurde bei den Versuchen die Be¬ 
hauptung bestätigt, dass die Wirkung des chemischen Fällungsmittels 
eine doppelte ist: 

1. Sedimentation. 

2. Deckenbildung. 

Bei der Beschreibung der Anlage war gesagt worden, dass jeder 
Sedimentationsbottich in vier Kammern geteilt war. Sollte haupt¬ 
sächlich eine Sedimentationswirkung erzielt werden, so musste in die 
erste Kammer — beim Eintritt des Rohwassers in den Sedimentations¬ 
bottich — die schwefelsaure Tonerdelösung zugesetzt werden, behufs 
guter Deckenbildung hingegen in die vierte Kammer — beim Austritt 
auf den Filter. — Aus diesen beiden Anwendungsformen konnten 
dann kombinierte Verfahren gebildet werden, um einmal günstigste 
Sedimentation, andererseits beste Deckenbildung zu erreichen. Bei 
dem Versuchsfilter wurden angewandt: Der Zusatz in die erste 
Kammer allein, in die erste und vierte Kammer, niemals aber in die 
vierte Kammer allein. Auch wurde bei dem Zusatz in die erste und 
vierte Kammer in erstere die Hauptmenge der Lösung — ungefähr 
2 / 3 — gebracht, nachdem das umgekehrte oder gleiche Verhältnis 
weniger günstige Resultate ergeben hatte. Die Hauptwirkung des 
Fällungsmittels beruht also in einer Sedimentation. Voraussetzung 
dabei ist, dass zur Deckenbildung noch genügend Tonerdehydratflocken 
im Rohwasser schwebend verblieben sind. Der während der Ver¬ 
suchsdauer des öfteren vorgenommene Wechsel in der Art der Zugabe 
des Eällungsmittels beweist, dass hierfür noch keine Erfahrungsgrund¬ 
sätze bestehen, sondern dass je nach dem Gehalt an Schwebestoffen 


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Dr. R. Hilgermann, 


wie die Menge, so auch der Ort und die Stelle des Zusatzes des 
Fällungsmittels stets von neuem ausprobiert werden muss. 

Inwieweit die Menge des angewandten Fällungsmittels und die 
verschiedenartige Anwendung desselben die Hauptaufgabe eines jeden 
Filters — ein stetig hygienisch einwandfreies Wasser zu liefern — 
lösen half, zeigen uns die Versuchsergebnisse bei verschiedener 
Qualität des Rohwassers. 

Bis zum 17. Juni wurde die schwefelsaure Tonerde in Kammer 1 
und 4 zugegeben, d. h. es wurde sowohl Sedimentation als Decken¬ 
bildung in Betracht gezogen, wobei allerdings auf erstere das Haupt¬ 
gewicht gelegt wurde. In dieser Periode entsprachen die bakterio¬ 
logischen Untersuchungsergebnisse völlig den Vorschriften des Kaiser¬ 
lichen Gesundheitsamtes, indem sie durchschnittlich die Zahl 50 nicht 
überstiegen. Das gutartige Rohwasser des Müggelsees unterliegt 
keinen Schwankungen und enthält höchstens 600 Keime pro ccm. 
Jedoch zeigte sich bei verschiedener Filtrationsergiebigkeit 
ein Unterschied sowohl untereinander als auch gegenüber den 
Ergebnissen der langsamen Sandfiltration bei den Städtischen Werken. 
War die Durchschnittszahl bei 147 cbm pro die 32 Keime und die 
der Städtischen Werke zu derselben Zeit 18 Keime, das Verhältnis 
also wie 2:1, so sank die Keimzahl bei einer Leistung von 112 cbm 
auf 19 Keime, während sie bei der langsamen Sandfiltration etwas 
höher, nämlich 23 Keime, war. Eine übermässig hohe Filtrations¬ 
geschwindigkeit würde also schlechtere Resultate ergeben. 

Wesentlich anders gestalteten sich die Ergebnisse, als der Ver- 
suehsfilter Rohwasser mit reichlichem Bakteriengehalt — hervorgerufen 
durch Anreicherungsversuche — zur Verarbeitung bekam. Hierbei trat 
die bereits oben angedeutete Unsicherheit in der Menge und der Art 
des Zusatzes des Fällungsmittels deutlich zu Tage. Es ergab sich, 
dass bei plötzlichem Wechsel des Rohwassers im Gehalt, an suspen¬ 
dierten Bestandteilen erst durch längere Versuche die erforderliche 
Menge des Fällungsmittels ausprobiert werden musste, um günstige 
Resultate zu erhalten. 

Als am 10. Juni der erste Anreicherungsversuch — 24 000 
Keime pro ccm — gemacht wurde, ergab der Keimgehalt des 

Filtrats eine Steigerung auf 124 Keime. Bei einem zweiten Ver¬ 
such am 13. Juni mit bedeutend weniger Bakterien — nur 4500 
Keime pro ccm — stieg die Zahl der Keime im Filtrat- bis 

620 pro ccm. Ein solches Resultat würde im Betriebe 


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Ueber den Wert der Sandfiltration usw. 


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eines Wasserwerkes sofort zu einer Beanstandung führen. Ange¬ 
nommen, eine vorübergehende Betriebsstörung hätte das schlechte 
Resultat verursacht, so mussten weitere Versuche ungleich günstiger 
ausfallen, d. h. in den Grenzen, die das Kaiserliche Gesundheitsamt 
vorschreibt. Statt dessen traten bei einem dritten Versuch am 16. Juni 
dieselben fatalen Erscheinungen auf, nämlich 225 Keime pro ccm 
des Filtrats bei 12 000 Keimen des Rohwassers. 

Auf Grund dieser schlechten Resultate wurde der Zusatz der 
schwefelsauren Tonerde geändert und zwar in der Weise, dass in 
erster Linie die Sedimentation in Betracht gezogen wurde, d. h. die 
gesamte Menge des Fällungsmittels wurde in die Kammer 1 gegeben, 
also beim Eintritt des Rohwassers in den Sedimentationsbottich. So¬ 
fort sank bei weiteren Anreicherungsversuchen am 18. und 19. Juni 
der Keimgehalt von 15—29000 Keimen des Rohwassers auf 55 und 
64 Keime pro ccm des Filtrats. Auf die Dauer behaupteten sich 
jedoch diese günstigen Resultate nicht. Am 22. und 23. Juni stieg 
bei einem Roh Wassergehalt von 12 000 und 36 000 Keimen pro ccm 
der Gehalt des Filtrats an Bakterien wiederum bis auf 132 und 
288 Keime pro ccm. 

Dass dem alleinigen Zusatz des Fällungsmittels in- die erste 
Kammer die Schuld an den schlechten Ergebnissen nicht beizumessen 
war, bewiesen uns die soeben angeführten günstigen Resultate vom 
18. und 19. Juni. Vielmehr muss man annehmen, dass bei dem 
allmählich immer mehr steigenden Gehalt des Rohwassers an Schwebe¬ 
stoffen das Fällungsmittel zur Sedimentation völlig verbraucht worden 
war, so dass genügend Tonerdehydratflocken zur Deckenbildung über¬ 
haupt nicht mehr vorhanden waren, was natürlich den Bakterien den 
Uebertritt in das Filtrat erleichterte. Der Zusatz von schwefelsaurer 
Tonerde hätte also weiter erhöht werden müssen. Damit ergab sich 
aber gleichzeitig die schwierige Frage, wieviel musste die Erhöhung 
betragen, zweitens waren genügend Erdalkalikarbonate vorhanden, um 
die Bildung von Alurainiumhydroxyd zu ermöglichen? Bei solchen 
kritischen Situationen zeigt sich, ein wie grosses Wagnis es ist, die 
Reinigung eines Wassers von chemischen Fällungsmitteln abhängig 
zu machen. Bis überhaupt festgestellt war, dass die Menge des 
Fällungsmittels unzureichend sei, waren mindestens zwei Tage ver¬ 
gangen, worauf eine weitere Frist mit unsicheren, ja schlechten 
Resultaten gefolgt wäre, da doch erst die Erhöhung der Menge des 
Fällungsmittels ausprobiert werden musste. Etwaiger Wechsel oder 


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Dr. R. Hilgermann, 


weiteres Ansteigen der Schwebestoffe musste fortgesetzt neue Schwierig¬ 
keiten bieten. Ueberträgt man einen derartigen Fall in die Wirklich¬ 
keit, so kann man sich eine Vorstellung machen, was für Folgen eine 
solche Filtration zur Zeit einer Epidemie haben würde. 

Diese Beobachtungen führen zu folgenden Schlüssen: 

1. Bei Rohwasser mit geringem Keimgehalt liefert der ameri¬ 
kanische Schnellfilter gute Resultate. 

2. Der Effekt des ganzen Filtrationsverfahrens liegt in der 
Sedimentation. 

3. Der jeweilige Zusatz der schwefelsauren Tonerde ist von der 
Menge der im Rohwasser suspendierten Bestandteile abhängig. 

4. Bei schlechtem Rohwasser versagt der Schnellfilter, falls nicht 
sofort mit der Zunahme des Rohwassers an Schwebestoffen die Menge 
des Fällungsmittels entsprechend erhöht werden kann. 

5. Grundsätze für eine derartige Regulierung gibt es nicht, 
sondern die Erhöhung muss durch Versuche festgestellt werden. 

Bezüglich des Wertes der Anreicherungsversuche mit dem 
Bacillus prodigiosus scheint mir dieser Bacillus als Indikator der 
Bakteriendichtigkeit eines Filters nicht geeignet. Während nämlich 
bei den Anreicherungsversuchen mit Wasserbakterien zahlreiche 
Bakterien den Filter passierten, zeigten die Versuche mit dem Bacillus 
prodigiosus ein glänzendes Resultat, indem fast gar keine oder 
höchstens sehr wenige Bakterien durchgetreten waren. Da die Ver¬ 
suche stets unter denselben Bedingungen gemacht wurden, lag die 
Vermutung nahe, dass die guten Ergebnisse nicht in einer hervor¬ 
ragenden Zurückhaltungsfähigkeit des Filters begründet sein konnten, 
sondern dass der Bacillus prodigiosus während seines Aufenthaltes 
im Roh wasser morphologische Veränderungen erlitten hatte oder ver¬ 
nichtet worden war. Durch spätere Versuche mit dem Bacillus 
prodigiosus ist es mir gelungen, nachzuweisen, dass derselbe in der 
Tat schon nach kurzer Zeit — 30 Minuten — in bakterienhaltigem 
Wasser sein Farbstoffbildungsvermögen einbüsst. 1 ) 

Vergleichen wir dieses Ergebnis mit den Verhältnissen des Klär¬ 
bassins, so handelt es sich hier wie dort um einen längeren Aufenthalt 
des Bacillus prodigiosus in bakterienhaltigem Rohwasser, nur mit dem 
grossen Unterschied, dass bei den Laboratoriumsversuchen eine ziem- 

1) Hilgermann: Ueber die Verwendung des Bacillus prodigiosus als Indi¬ 
kator bei Wasseruntersuchungen. Archiv f. Hygiene. Bd. 59. Heft 2. S. 152. 


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(Jeber den Wert der Sandfiltration usw. 


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lieh reichhaltige Prodigiosusmenge in demselben Rohwasser längere 
Zeit verbleibt, während in den Klärbassins die tropfenweise dem Roh¬ 
wasser zugesetzte Bakterienmenge stets mit frischem Rohwasser in 
Berührung tritt, mithin erheblich ungünstigere Verhältnisse vorfindet. 
Der Aufenthalt in den Klärbassins dauerte 70 Minuten. Rechnet man 
hierzu noch die Zeit, in welcher sich die Bakterien oberhalb der 
Schmutzdecke aufhalten, und die Durchgangsdauer durch den Sand¬ 
filter — ca. 20 Minuten — so ist es leicht verständlich, dass eine 
nur so geringe Anzahl Prodigiosuskeime im Filtrat nachweisbar war. 
Anscheinend glänzende Resultate dürften daher fälschlich durch die 
grosse Empfindlichkeit des Bacillus prodigiosus bedingt sein. Diesen 
Ergebnissen kann mit scheinbarem Rechte entgegengehalten werden, 
dass auch Fränkel und Piefke seinerzeit auf Grund ihrer Versuche 
mit farbstoffbildenden Bakterien ein Urteil über den Wert der lang¬ 
samen Sandfiltration abgaben. Fränkel und Piefke benutzten 
jedoch nicht nur farbstoffbildende Bakterien, sondern vor allem auch 
Typhusbazillen und Cholera Vibrionen, womit sie den Verhältnissen der 
Wirklichkeit nahe kamen; andererseits gaben sie auf Grund der dabei 
gefundenen Resultate nur an, dass ein Sandfilter nicht keimdicht sei. 
Zum Beweise dieses letzteren genügte der Farbstoffbildner allenfalls, 
da ja nicht alle Bakterien zu Grunde gehen bzw. ihre Farbstoff¬ 
bildungsfähigkeit verlieren. 

Demgemäss möchte ich behaupten, dass zur Bestimmung des 
Wertes eines Filters nur Anreicherungsversuche mit Wasserbakterien 
in Betracht kommen dürfen, da man sich so durch die Bestimmung 
der Keimzunahrae im Filtrat ein Urteil erlauben kann. 

Betrachtet man unter diesen soeben erörterten Gesichtspunkten 
die Resultate der oben angeführten Anreicherungsversuche, so muss 
man sagen, dass der amerikanische Schnellfilter nicht so bakterien¬ 
dicht ist wie gut geleitete europäische Sandfilter, ja dass er sogar 
weit über die Grenzen des Erlaubten hinausgeht, mit anderen Worten, 
nicht gleichmässig ein hygienisch einwandfreies Filtrat zu liefern ver¬ 
mag und zwar deswegen nicht, weil sein Erfolg von einem chemischen 
Fällungsmittel abhängig ist. Der bei oberflächlicher Beurteilung als 
Vorteil erscheinende Faktor, jederzeit leicht eine genügende Schmutz¬ 
decke bilden zu können, erweist sich bei genauerer Betrachtung als 
durchaus nicht ungefährlich. Da man nicht die jedesmalige Menge 
der Schwebestoffe des Rohwassers berechnen kann, lässt sich auch 
nicht die Zusatzmenge des Fällungsmittels bestimmen, infolgedessen 


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Dr. R. Hilgermann, 


ist jeden Augenblick bei einem plötzlichen Anwachsen der suspen¬ 
dierten Bestandteile im llolnvasser die Gefahr eines vorzeitigen Ver¬ 
brauches des Fällungsmittels gegeben, so dass zur genügenden Deeken¬ 
bildung kein Material mehr vorhanden ist. Damit ist aber auch die Durch¬ 
gangsmöglichkeit zahlreicher Keime des Rohwassers und bei zufälliger 
Anwesenheit pathogener Keime eine Infektionsgefahr vorhanden. Ist 
hingegen bei dem langsamen Sandfilter die Schmutzdecke einmal ge¬ 
bildet, so haben wir auch weitgehendste Garantie für die Güte des 
Filtrats. Vergleichen wir die Erfolge europäischer Filteranlagen mit 
dem Versuchsfilter zu Friedrichshagen, so fällt das Ergebnis zu 
Ungunsten des letzteren aus. Wenn z. B. Kurth über die Filter¬ 
anlage zu Bremen berichtet, dass die Keimzahl des Rohwassers schnell 
von 5000 auf 30 000 Keime stieg und das Filtrat der Filter mit gut 
gebildeter Schmutzdecke nur 90 bzw. 100 Keime pro ccm 
aufwies, ferner Dunbar eine Reduktion von 132 000 Keime auf 122 
angibt, so muss man zugeben, dass gegenüber den oben angeführten 
Ergebnissen der Anreiehcrungsversuche der europäische Sandfilter un¬ 
vergleichbar Besseres leistet. 

Nicht unerwähnt darf fernerhin bleiben, dass die Anwendung 
chemischer Fällungsmittel zur Reinigung des Wassers stets nur als 
ein Notbehelf anzusehen ist. Bringen wir doch in ein vielleicht 
chemisch wenig verunreinigtes Wasser fremde, durchaus nicht indifferente 
Stoffe hinein. Nehmen wir selbst an, dass stets genügend Karbonate 
zur Zersetzung der Schwefelsäuren Tonerde vorhanden sind, so wird 
doch sicherlich ein wenn auch nur winziger Teil derselben stets in 
Lösung verbleiben. 

Auf Grund der voraufgegangenen Erörterungen möchte ich folgern, 
dass wir bei der Frage der Filtration von Oberflächenwasser in Zu¬ 
kunft stets mit folgenden zwei Ueberlegungen zu rechnen haben 
werden. Wollen wir eine mechanische Reinigung, d. h. die Fern¬ 
haltung sämtlicher im Rohwasser befindlichen Bakterien bewirken, so 
werden wir die langsame Sandfiltration anw’enden, da sie nach den 
mit ihr gemachten Erfahrungen als ein einwandfreies Filtrationssystem 
angesehen werden kann. Enthält das zu filtrierende Wasser Farb¬ 
stoffe oder tonige Trübungen, so wird man irgend einer chemischen 
Klärung den Vorzug gelten. Diese braucht aber durchaus nicht 
immer mit der amerikanischen Schncllfiltration verbunden zu sein, 
sondern kann auch vor die langsame Sandfiltration eingeschaltet 
werden. Welche Filtrationsmethode nachher gewühlt wird, wird sich 


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lieber den Wert der Sandfillration usvv. 


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nach den örtlichen Verhältnissen richten. Ist genügend Platz zur 
Anlage langsamer Sandfilter vorhanden, so wird man letztere wählen, 
da sie nach Obigem viel sicherer arbeiten und stets ein hygienisch 
einwandfreies Gebrauchswasser zu liefern vermögen. Fehlen dagegen 
einmal die erforderlichen Landflächen, so können Schnellfilter in Be¬ 
tracht kommen, deren Leitung jedoch einem wissenschaftlich ge¬ 
schulten Mann anvertraut werden muss, der jederzeit sämtliche ein¬ 
schlägige Möglichkeiten übersehen und beherrschen kann. 


Alphabetisches Literaturverzeichnis. 

1) Altuchow, Die neuen Filteranlagen der Petersburger Wasserleitung. Ref. 
Hyg. Rundschau. 1893. S. 745. 

2) Anklam, Die Wasserwerke der Stadt Berlin am Tegeler See. Annalen f. 
Gewerbe- u. Bauwesen. 1886. Bd. 19. S. 1. 

3) Arx, Die Typhusepidemie in Olten von 1879—1888. Korrespondenzbl. f. 
Schweizer Aerzte. 1890. Bd. 20. 

4) Bailey, The resnet on public health from changing the water supply at 
Albany, N. J., from infected water to a filtered water. Albany medical 
annals. 1901. Bd. 22. S. 439. 

5) Beer, Die Arbeiten der Kommission deutscher und ausländischer Filtra¬ 
tionstechniker und Erfahrungen über Sandfiltratienen. Schillings Journ. 
1900. No. 32. S. 589. 

6) Behring, Die Bekämpfung der Infektionskrankheiten. 1894. 

7) Bemerkungen zu den Erfahrungssätzen über den Betrieb von Sandfiltern. 
Schillings Journ. 1893. Bd. 36. No. 4. S. 66. 

8) Bertschinger, Untersuchungen über die Wirkung der Sandfilter des 
städtischen Wasserwerkes in Zürich. Vierteljahrsschr. d. naturf. Gesellsch. 
in Zürich. 1889. S. 121. 

9) Derselbe, Weitere Beobachtungen über die Wirkung der Sandfilter des 
städtischen Wasserwerks in Zürich. Schillings Journ. 1891. Bd.34. S.684. 

10) Derselbe, Untersuchungen über die Wirkung dev Sandfilter des städti¬ 
schen Wasserwerks in Zürich. Ebendas. 1889. Bd. 32. S. 1126. 

11) Betrieb mechanischer Filter zur East Providence. Ebendas. 1902. No. 13. 
S. 233. 

12) Betrieb der Filteranlagen zu Albany. Ebendas. 1900. No. 30. S. 561. 

13) Bitter, Report on the efficiency of the „Jewell“-Filter. 

14) Blücher, Das Wasser. 1900. 

15) Borchert, Vorschaltfilter aus Filtertuch. Schillings Journ. 1904. No. 10. 
S. 197. 

16) Bujwid, Ueber verschiedene Arten der Wasserfiltration. Zentralbl. für 
Bakteriol. 1894. Bd. 16. S. 118. 

17) Chabal, Filtration par le sable. Revue d’hyg. 1902. Bd. 24. p. 540. 


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376 


Dr. R. Hilgermann, 


18) Cramer, Ueber die Beschaffenheit des Heidelberger Trinkwassers. Ver- 
handl. d. naturhistor.-med. Vereins zu Heidelberg. N. F. Bd. 5. Heft 4. 
Ref. darüber Hyg. Rundschau. 1896. S. 1157. 

19) Darapsky, Die Grundwasserfrage in Hamburg. Gesundheit. 1901. 

20) Das Wasserwerk der Stadt Braunschweig. Schillings Journ. 1870. S. 263. 

21) Das neue Wasserwerk zu Amsterdam. Zentralbl. d. Bauverwaltung. 1888. 
Bd. 8. S. 149. 

22) Das Gesundheitswesen des preuss. Staates im Jahre 1901, 1902, 1903. 

23) Das Sanitätswesen des preuss. Staates während der Jahre 1895/96 u. 1897. 

24) Die Cholera in Spanien mit Bezug auf Wasserversorgung. Sanit. engeneer. 
1885. S. 399. 

25) Die Typhusepidemie in Ostritz. Zeitschr. f. Medizinalbeamte. 1897. Bd. 10. 
S. 576. 

26) Die Chattanoga - Filteranlage (Jewell-Filter). Schillings Journ. 1893. 
Bd. 36. S. 501. 

27) Die hygien. Ueberwachung der Wasserläufe. Ebendas. 1902. No. 43. S. 807. 

28) Die Gesundheitsverhältnisse Hamburgs im 19. Jahrhundert. 1901. 

29) Die Wasserverhältnisse im Eschbachtal und der Betrieb des Wasserwerkes 
der Stadt Remscheidt im Jahre 1904. Schillings Journ. 1905. Bd. 48. 

30) Die Biologie der Sandfilter. Ges.-Ing. 1899. No. 20. S. 325. 

31) Die Grundsätze für die Reinigung der Oberflächenwasser durch Sandfiltra¬ 
tion zu Zeiten der Choleragefahr. Veröffentl. des Kais. Gesundheitsamtes. 
Ref. im Ges.-Ing. 1899. No. 7. 'S. 109. 

32) Delbrück, Die Filtration des Wassers im Grossen. Allg. Bauztg. 1853. 
Bd. 18. S. 103. 

33) De l’usage des eauxderiviörepourlesdistributions del’eau par W. H. Lind- 
ley, Paris 1889. Ref. in der Wochenschr. des österr. Ingenieur- und 
Architekten-Vereins. Bd. 15. S. 43. 1890. 

34) Draeer, Das Pregelwasser oberhalb, innerhalb und unterhalb Königsbergs 
in bakteriologischer und chemischer Beziehung, sowie hinsichtlich seiner 
Brauchbarkeit als Leitungswasser, nebst einigen Bemerkungen über die 
Selbstreinigung der Flüsse und über die Einleitung von Abwässern in 
Flussläufe. Zeitschr. f. Hyg. 1895. Bd. 20. S. 323. 

35) Duecker, Die Sandfiltrationsanlage in Hamburg. Zeitschr. des Vereins 
deutscher Ingenieure. 1893. Bd. 37. S. 450. 

36) Dunbar, Zum derzeitigen Stande der Wasserversorgungsverhältnisse im 
Hamburgischen Staatsgebiete. Deutsche Vierteljahrssch. f. öffentl. Gesund¬ 
heitspflege. 1905. Bd. 37. S. 537. 

37) v. Esmarch, Hygienisches Taschenbuch. 1898. 

38) Fischer, Gegenwärtiger Stand für städtische Wasserversorgung durch 
Sandfiltration. Schillings Journ. 1894. Bd. 37. S. 721. 

39) Derselbe, Das Wasser. 1902. 

40) Flügge, Handbuch der Hygiene. 

41) Derselbe, Die Verbreitungsweise und Verhütung der Cholera auf Grund 
der neueren epidemiologischen Erfahrungen und experimentellen Erfor¬ 
schungen. Zeitsohr. f. Hyg. 1893. Bd. 14. S. 122. 


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Ueber den Wert der Sandfiltration usw. 


377 


42) Fortschritte in der Sandfiltration. Ref. über Füllers Experimente. Ges.- 
Ing. 1899. No. 10. S. 157. 

43) Frankel, Filteranlagen für städtische Wasserwerke. Vierteljahrsschr. f. 
öffentl. Gesundheitspflege. 1891. Bd. 23. S. 38. 

44) Derselbe, Wasserfiltration und Rieselwirtschaft. Hyg. Rundschau. 1896. 
Bd. 1. S. 1. 

45) Derselbe, Zur Frage der Wasserversorgung. Deutsche med. Wochen¬ 
schrift. 1892. Bd. XVIII. No. 41. S. 922. 

46) Fränkel-Piefke, Versuche über die Leistungen der Sandfiltration. Zeit¬ 
schrift f. Hygiene. 1890. Bd. VIII. S. 1. 

47) Dieselben, Filteranlagen für städtische Wasserleitungen. Referat in der 
hygienischen Rundschau. 1891. S. 416. 

48) Frank, Wasserversorgung, Reinigung und Entwässerung der Städte und 
Wohnungen. Ges.-Ing. 1886. No. 1. S. 33 u. S. 302. 

49) Frankland, Die Filtration des Wassers für die Versorgung von Städten. 
Schillings Journ. 1887. Bd. XXX. S. 122. 

50) Gaffky, Die Cholera in Hamburg. Arbeiten aus dem Kais. Gesundheits¬ 
amte. 1896. Bd. X. 

51) Gaertner, Zur Hygiene der Wasserversorgung. Schillings Journ. 1904. 
No. 34. S. 757. 

52) Derselbe, Amerikanische Versuche über Sandfiltration. Ebendas. 1900. 
No. 3. S. 42. 

53) Derselbe, Hygiene des Trinkwassers. Ebendas. 1894. Bd. 37. S. 448. 

54) Gerhardt, Ueber amerikanische Schnellfilter. Ges.-Ing. 1900. No. 13. 
S. 205. 

55) Gottschlich, Rapport de Pinspectour sanitaire sur le „Jewell-Filter w . 

56) Götze, Doppelte Sandfiltration für zentrale Wasserversorgung. Archiv f. 
Hygiene. 1899. Bd. 35. S. 227. 

57) Guirand, Les eaux potables de la ville de Toulouse au point de vue 
bactöriologique et sanitaire. Revue d’hygiene. 1894. p. 934. 

58) Graubner, Das Wasserwerk der Stadt Tilsit. Zentralbl. f. allg. Gesund¬ 
heitspflege. 1891. Bd. X. S. 151. 

59) Grahn, Die Typhusepidemie in Gelsenkirchen, deren Entstehung, Verlauf 
und Ursaohe. Schillings Journ. 1904. No. 4. S. 67. 

60) Derselbe, Staatliche Einrichtungen für Bau und Kontrolle zentraler 
Wasserwerksanlagen in Preussen. Ebendas. No. 43. S. 799. 

61) Derselbe, Zur Geschichte der hygienischen Beurteilung des Wassers bis 
Ende 1902. Ebendas. 1904. No. 44. S. 973. 

62) Derselbe, Die Gerichtsverhandlungen über die Gelsenkirchener Typhus¬ 
epidemie im Jahre 1901. Ebendas. 1905. No. 22. S. 447. 

63) Derselbe, Filteranlagen für städtische Wasserleitungen. Ebendas. 1890. 
No. 27. S. 511. 

64) Derselbe, Gegenwärtiger Stand der Sandfiltration für städtische Wasser¬ 
versorgungen. Ebendas. 1895. No. 6. S. 83. 

65) Grahn, Deutschlands Wasserversorgung und der deutsche Verein von 
Gas- und Wasserfachmännern. Ebendas. 1896. No. 37. S. 591. 


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Dr. H. IIiIgerman n, 


66) Derselbe, Statistik amerikanischer Wasserwerke. Ebendas. 1897. No. 38. 
S. 613. 

67) Derselbe, Die städtische Wasserversorgung im deutschen Reiche, sowie 
in einigen Nachbarländern. München und Berlin 1902. 

68) Derselbe, Die Art der Wasserversorgung der Städte des deutschen 
Reiches. Deutsche Vierteljahrsschr. für öffentl. Gesundheitspflege. 1884. 
Bd. 16. S. 439. 

69) Derselbe, Berechtigte Ansprüche an städtische Wasserversorgungen. 
Schillings Journ. 1876. Bd. 19. S. 510. 

70) Derselbe, Zur Statistik der Wasserversorgung Deutschlands, Deutsch- 
Oesterreichs und der Schweiz. Ebendas. 1876. Bd. 19. S. 518. 

71) Derselbe, Grundsätze für die Reinigung von Oberflächonwasser durch 
Sandfiltration zur Zeit der Choleragefahr. Ebend. 1894. Bd. 37. S. 185. 

72) Derselbe, Die Art der Wasserversorgung der Städte des deutschen 
Reiches mit mehr als 5000 Einwohnern. Ebendas. 1884. Bd. 27. S. 693. 

73) Derselbe, Die städtische Wasserversorgung. 

74) Grundsätze zur Reinigung von Oberflächenwasser durch Sandfiltration. 
Schillings Journ. 1899. No. 20. S. 331. 

75) Günther-Niemann, Bericht über die Untersuchung des Berliner Lei¬ 
tungswassers in der Zeit vom November 1891 bis März 1894. Archiv f. 
Hyg. 1894. Bd. 21. S. 63. 

76) Hagen, The filtration of public water supplies. Referat Zentralbl. f. 
Bakteriol. 1895. Bd. 18. S. 401. 

77) Halbertsma, Die Resultate der doppelten Filtration zu Schidam. 
Schillings Journ. 1896. No. 29. S. 467. 

78) Hansen. Ueber Wasserreinigung durch Sandfiltration und andere Mittel. 
Ebendas. Bd. 35. S. 332. 

79) v. Haselberg, Die Abnahme der Typhuserkrankungen in Stralsund. 
Deutsche militärärztl. Zeitsohr. Bd. 29. S. 153. 

80) Hazen, The filtration of public water-supplies. 1901. 

81) Derselbe, The clarification of river-waters. Journal of the Franclin in- 
stitute. 1899. p. 177. 

82) Heim, Lehrbuch der Hygiene. 1903. 

83) Hesse, Die Typhusepidemie in Löbtau im Jahre 1899. Zeitschr. f. Hyg. 
1899. Bd. 32. S. 344. 

84) Hilgermann, Ueber die Verwendung des Bac. prodigiosus als Indikator 
bei Wasseruntersuchungen. Archiv f. Hygiene. Bd. 59. Heft 2. S. 152. 

85) Hueppe, Handbuch der Hygiene. 1899. 

86) Derselbe, Die hygien. Beurteilung des Trinkwassers vom biol. Standpunkt. 
Schillings J. 1887. Bd. 30. S. 321. 

87) Derselbe, Ueber die Beurteilung zentraler Wasserversorgungsanlagen vom 
hygien. und bakteriol. Standpunkt. Schillings .1. Bd. 31. S. 315. 188S. 

88) Iben, Wasserbakteriol. und Sandfiltration. Ges.-Ing. 1894. No. 6. S. 74. 

89) Derselbe, Wasserversorgung der Städte. Ebendas. 1894. 17. Bd. S. 62. 

90) Derselbe, Wasserversorgung der Städte. Ebendas. 1894. 17. Bd. S. 94. 


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Lieber den Wert der Sandfiltration usw. 


379 


91) Iben, Wasserversorgung und Reinigung der Städte. Sandfilter der Wanna¬ 
kometwasserwerke zu Nantucket. Ebendas. 1894. Bd. 17. S. 214. 

92) Derselbe, Sandfiltration in amerikan. Städten. Ebendas. 1894. Bd. 17. 
S. 314. 

93) Derselbe, Neue Filteranlagen zu St. Petersburg. Ebendas. 1893. No. 21. 
S. 692. 

94) Derselbe, Wasserfiltration. Ebendas. 1892. No. 17. S. 577. 

95) Imbeaux, L’alimentation en eau et l’assainissement des villes ä l’exposi- 
tion universelle de 1900. Paris 1901. 1902. Ref. Hyg. Rundschau 1902. 
S. 537. 

96) Kabrhel, Experimentelle Studien über die Sandfiltration. Arch. f. Hygiene 
1895. Bd. 22. S. 323. 

97) Derselbe, Eine Vervollkommnung des Filtrationseffektes bei den Zentral¬ 
filtrationen. Hyg. Rundschau 1897. 7. Bd. S. 481. 

98) Kemmna-Antwerpen, Zur Biologie der Sandfiltration. Ref. im Berichte d. 
Deutschen pharmaz. Gesellsch. 1902. Bd. 12. S. 310. 

99) Kirchner, Hyg. und Seuchenbekämpfung. 1904. 

100) Klärmittel bei der Sandfiltration für Trinkwasser. Ges.-Ing. 1899. No. 19. 
S. 311. 

101) Kober, The pollution of streams and the purification of public water- 
supplies. The journal of the American Medical Association. 1901. Vol. 36. 

p. 1162. 

102) Kooh, Wasserfiltration und Cholera. Zeitsohr. f. Hyg. 1893. Bd. 14. S. 392. 

103) Kolkwitz-Thiesing, Chem. biol. Untersuchungen über die Verwendung 
der Rieselwiesen zur Reinigung des Talsperrenwassers für Genusszwecke. 
Mitteil. d. Königl. Prüfungs-Anst. f. Wasservers. und Abwässerbeseitigung 
1904. Heft 5. 

104) Krone, Die Bedeutung der Verseuchung unserer öffentl. Gewässer und der 
hierdurch bewirkten Verbreitung des Typhus und Milzbrandes. Viertel- 
jahrsschr. f. gerichtl. Med. 1904. Bd. 28. S. 107. 

105) Kroehnke, Die Reinigung des Wassers f. häusl. und gewerbl. Zwecke. 

106) Kruse, Kritische und experimentelle Beiträge zur hygienischen Beurteilung 
des Wassers. Zeitschr. f. Hygiene. 1894. Bd. 17. S. 1. 

107) Kümmel, Die TypbuSepidemie in Altona 1891 und das filtrierte Fluss¬ 
wasser. Deutsche Vierteljahrsschr. f. öffentl. Gesundheitspflege. 1892. 
Bd. 24. S. 385. 

108) Derselbe, Versuche und Beobachtungen über die Wirkungen von Sand¬ 
filtern. Schillings J. 1893. Bd. 36. S. 161. 

109) Derselbe, Einige die Filtration des Wassers betreffende Fragen. Schillings 
J. 1893. Bd. 36. S. 612. 

110) Kurth, Die Tätigkeit der Filteranlagen des Wasserwerks zu Bremen vom 
Juni 1893 bis August 1894 mit besonderer Berücksichtigung der Hoch¬ 
wasserzeiten. Arb. aus dem Kaiserl. Gesundheitsamt. 1895. Bd. 11. 
S. 427. 

111) Lacomme, L’öpuration des eaux par les filtres iv sable dit americains. 
Revue d’Hygiene. 1905. T. 27. p. 43. 

Vierteljahrsschrift f. ger. Med. u öff. San.-Wesen. 3. Folge. XXXII. 2 . 9 c 


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380 


Dr. R. Hilgermann, 


112) Laser, Bericht über die bakteriologischen Untersuchungen des Königs¬ 
berger Wasserleitungswassers in der Zeit vom Dezember 1890 bis Dezember 
1891. Zentralbl. f. allg. Gesundheitspfl. Bd. 11. No. 4 und 5. 

113; Derselbe, Bericht über die Resultate der bakteriolog. Untersuchung des 
Wassers der Königsberger städt. Leitung im Jahre 1893. Zentralbl. f. allg. 
Gesundheitspfl. 1894. 13. Bd. S. 401. 

114) Derselbe, Bericht über die bakteriolog. Untersuchung des Königsberger 
Wasserleitungswassers in der Zeit vom Dezember 1890 bis Dezember 1891. 
Vierteljahrsschr. f. öffentl. Gesundheitspflege. 1892. 11. Band. 

115) Lafar, Handb. d. techn. Mykologie. 1894. 3. Bd. S. 185. 

116) Leeds, Ueber Wasserreinigung durch Filtration. Chem. Ztg. Repet. XVI. 
S. 58. 

117) Lehmann, Die Methoden der prakt. Hygiene. 1901. 

118) Lueger, Die Wasserversorgung der Städte. 1890. S. 419. 

119) Derselbe, Ueber die Klärung von trübem Flusswasser. Schillings J. 1885. 
28. Bd. S. 441. 

120) Lummert, Ueber die Wasserversorgung der Stadt Waldenburg. Schillings .1. 
1905. No. 10. S. 196. 

121) Mager, Reinigungsbetrieb der offenen Sandfilter des Hamburger Wasser¬ 
werkes zu Frostzeiten. Schillings J. 1897. 

122) Meyer, Das Wasserwerk der freien und Hansastadt Hamburg unter be¬ 
sonderer Berücksichtigung der in den Jahren 1891 bis 1893 ausgeführten 
Filtrationsanlage. Hamburg 1894. 

123) Derselbe, Die neuen Filteranlagen für die Wasserversorgung Hamburgs. 
1893. 36. Bd. No. 1. S. 1. 

124) Derselbe, Regulierung der Abflusswege aus den Filtern. Zentralbl. f. 
allg. Gesundheitspfl. 1894. 13. Bd. S. 81. 

125) Derselbe, Das Wasserwerk der Stadt Hamburg. 1894. 

126) Meyer, F. Andreas, Das Wasserwerk der freien und Hansastadt Hamburg 
unter besonderer Berücksichtigung der in den Jahren 1891 bis 1893 aus¬ 
geführten Filtrationsanlage. Hamburg 1894. Ref. Deutsche Vierteljahrsschr. 
f. öffentl. Gesundheitspfl. 1894. 26. Bd. S. 593. 

127) Migula, Trinkwasser und Typhus. Schillings J. 1889. 32. Bd. S. 336. 

128) Mitteilungen über Betriebsvorgänge bei offenen Sandfiltern und deren 
Reinigung. Schillings J. 1902. No. 5. S. 80. 

129) Neue städtische Schnellfiltration in Triest. Ges.-Ing. 1903. No. 43. S. 555. 

130) Nussbaum, Leitfaden der Hygiene. 1902. 

131) Oesten, Was ist Filtriergeschwindigkoit? Ges.-Ing. 1893. 17. Bd. S. 505. 

132) Ohlshausen, Die Wasserversorgung grosser Städte, insbesondere Tal¬ 
sperren. Fortschr. der öffentl. Gesundheitspfl. 1895. S. 169. 

133) Pannwitz, Die Filtration von Oborflächenwasser in den deutschen Wasser¬ 
werken während der Jahre 1894 bis 1896. Arbeiten aus dem Kaiserl. Ge¬ 
sundheitsamt. 1898. Bd. 14. 

134) Pfeiffer, Typhusepidemien und Trinkwasser. Klinisches Jahrb. 1900. 
7. Bd. S. 159. 

135) Pfeiffer-Proskauer, Enzyklopädie der Hygiene. 1905. 


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Ueber den Wert der Sandfiltration usw. 


381 


136) Philipp, Die Cholera-Epidemie zu Zerpenschleusse im Herbst 1893. 
Zeitschr. f. Medizinalbeamte. 1894. 7. Bd. S. 77. 

137) Piefke, Ueber die Betriebsfübrung von Sandfiltern auf Grundlage der zur 
Zeit gültigen sanitätspolizeilichen Vorschriften. Zeitschr. f. Hyg. 1894. 
16. Bd. S. 151. 

138) Derselbe, Aphorismen über Wasserversorgung vom hygienisch-technisohen 
Standpunkt aus bearbeitet. Zeitsch. f. Hyg. 1889. 7. Bd. S. 115. 

139) Derselbe, Neuere Ermittelungen über die Sandfiltration. Ref. in der 
Hygien. Rundschau 1891. S. 976. 

140) Derselbe, Mitteilungen über natürliche und künstliche Sandfiltration. 
Berlin 1881. 

141) Derselbe, Die Prinzipien der Reinwassergewinnung vermittels Filtration. 
Schillings Journ. 1887. 30. Bd. S. 5%. 

142) Derselbe, Neue Ermittelungen über die Sandfiltration. Ebendas. 1891. 
34. Bd. S. 207. 

143) Derselbe, Ueber Wasserfiltration. Ebendas. 1889. 32. Bd. S. 1093. 

144) Plagge-Proskauer, Bericht über die Untersuchung des Berliner Leitungs¬ 
wassers. Zeitschr. f. Hygiene. 1887. Bd. 2. S. 401. 

145) Plange, Die Infektionskrankheiten. 1894. 

146) Proskauer, Ueber die Beschaffenheit des Berliner Leitungswassers in der 
Zeit von April 1889 bis Oktober 1891, nebst einem Beitrag zur Frage der 
Bleiaufnahme durch Quellwasser. Zeitschr. f. Hyg. 1893. 14. Bd. S. 250. 

147) Derselbe, Ueber die Beschaffenheit des Berliner Leitungswassers in der 
Zeit von April 1886 bis März 1889. 

148) Derselbe, Ueber die Beschaffenheit des Berliner Leitungswassers in der 
Zeit von April 1886 bis März 1889. Ref. in der Hygien. Rundschau. 1891. 
S. 93. 

149) Reineke, Ueber die Beschaffenheit des Berliner Leitungswassers in der Zeit 
von April 1886 bis März 1889. Ref. in der Hygien. Rundschau. 1891. S. 93. 

150) Derselbe, Der Typhus in Hamburg, mit besonderer Berücksichtigung der 
Epidemien von 1885 bis 1888. 

151) Derselbe, Zur Epidemiologie des Typhus in Hamburg und Altona. Viertel- 
jahrsschr. f. offentl. Gesundheitspfl. 1896. 28. Bd. S. 409. 

152) Derselbe, Die Cholera in Hamburg und ihre Beziehung zum Wasser. 1894. 

153) Derselbe, Gesundheitsverhältnisse Hamburgs im 19. Jahrhundert. Ham¬ 
burg 1901. 

154) Reinsch, Die Bakteriologie im Dienste der Sandfiltrationstechnik. Gesund¬ 
heitsingenieur. 1895. No. 4. S. 64. 

155) Derselbe, Die Bakteriologie im Dienste der Sandfiltrationstechnik. Zentralbl. 
f. Bakt. 1894. Bd. 16. S. 881. 

156) Renk, Ueber die Ziele der künstlichen Wasserfiltration. Gesundheitsing. 
1886. No. 2. S. 54. 

157) Rochard, Epuration des eaux destinees aux usages domestiques. Ref.: 
Hygien. Rundschau. 1893. S. 146. 

158) Röphling, Einige Bemerkungen über Grundwasser und Oberflächenwasser. 
Schillings Journ. 1897. No. 9. S. 139. 

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382 


Dr. R. Hilgermann, 


159) Rubner, Lehrbuch der Hygiene. 1903. 

160) Russische Reiseberichte über mechanische Filter von N. Simin. Ref. im 
Gesundheitsingenieur. 1900. No. 8. S. 130. 

161) Samuelsohn, UeberWasserfiltration. Schillings J. 1876. Bd. 19. S. 147. 

162) Sanitätswesen des preussischen Staates. 1892, 93 u. 94. 

163) Sanitätswesen des preussischen Staates. 1898—1900. 

164) Sandfiltration und sog. mechanische Filtration. Schillings Joum. 1897. 
No. 52. S. 854. 

165) Schaar, Kalender für das Gas- und Wasserfach. 

166) Sch um bürg, Die Methoden zur Gewinnung keimfreien Trinkwassers durch 
chemische Zusätze. Veröffentlichung aus dem Gebiete des Militär-Sanitäts¬ 
wesens. 1900. Bd. 15. S. 129 ff. 

167) Schmidtmann, Rückblick auf den Stand der Städte-Assanierung im ver¬ 
flossenen Jahre, insbesondere der Abwässerreinigung und Ausblick in die 
voraussichtliche Weiterentwicklung. Vierteljahrsschr. f. ger. Med. 1900. 
Bd. 19. S. 296. 

168) Schrakamp, Nach welchen Grundsätzen hat die staatliche Ueberwachung 
der zentralen Wasserversorgungen seitens der Medizinalbeamten stattzu¬ 
finden? Ebendas. 1904. Bd. 28- S. 131. 

169) Schröder, Die Betriebssandwäschen der Hamburger Filteranlagen. Zeit¬ 
schrift d. Vereins deutscher Ing. 1895. Bd. 39. S. 834. 

170) Derselbe, Das Hamburger Wasserwerk und die Entwicklung seiner Ma- 
sohinenanlagen. Schillings Joum. 1903. Bd. 96. S. 169. 

171) Schube-Freyer, Die Cholera-Epidemie in Stettin im Kreis Randow im 
Herbst 1898. Zeitschr. f. Medizinalbeamte. 1893. S. 521. 

172) Semon, Die Verbreitung der Cholera von 1871. Vierteljahrsschr. f. öffentl. 
Gesundheitspfl. 1872. Bd. 4. S. 169. 

173) Seydel, Die Typhusepidemie in Königsberg in Preussen im Jahre 1888. 
Vierteljahrsschr. f. ger. Med. 1891. 3. Folge. Bd. I. 

174) Springfeld, Die Typhusepidemien im Regierungsbezirk Arnsberg und ihre 
Beziehung zu Stromversorgungen und Wasserversorgungsanlagen. Klin. 
Jabrb. 1903. Bd. 10. 

175) Test of a Mechanical Filter, East Providence. Engineering Record. 1899. 
Bd. 2. p. 96. 

176) The Lawrence Water Filter. The Engineering Record. 1893/94. p. 154. 

177) Thiem, Anlage und Betriebsergebnisse deutscher Wasserwerke. Schillings 
Journ. 1884. Bd. 27. S. 411. 

178) Tils, Bakteriologische Untersuchungen der Freiburger Leitungswässer. 
Zeitschr. f. Hygiene. 1890. Bd. 9. S. 282. 

179) Typhus und Wasser. Vierteljahrsschr. f. ölfentl. Gesundheitspfl. 1896. 
Bd. 28. S. 290. 

180) Ueber die Betriebsführung von Sandfiltern. Schillings Journ. 1894. Bd. 37. 
S. 276. 

181) Ueber Wasserfiltration. Ebendas. 1893. Bd. 36. S. 555. 

182) Ueber Filteranlagen zur Wasserversorgung mit besonderem Bezug auf Berlin. 
Deutsche Bauzeitung. 1881. Bd. 15. S. 567. 


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Ueber den Wert der Sandfiltration usw. 


383 


183) Ueber Filtration von Flusswasser. Deutsche Bauztg. 1890. Bd. 24. S. 567. 

184) Uffelmann, 10. Jahresbericht über die Fortschritte und Leistungen auf 
dem Gebiete der Hygiene. Deutsche Vierteljahrsschr. f. öffentl. Gesund¬ 
heitspflege. 1893. Bd. 25. S. 45. 

185) Veitmeyer, Vorarbeiten zu einer zukünftigen Wasserversorgung der Stadt 
Berlin. 1871. 

186) Veröffentlichungen des Kaiserl. Gesundheitsamtes. 1894. No. 8. S. 114, 
431, 635. 

187) Veröffentlichungen des Kaiserl. Gesundheitsamtes. 1892. No. 40. S. 767 
und 855. 

188) Veröffentlichungen des Kaiserl. Gesundheitsamtes. 1893. No. 28. S. 487. 

189) Veröffentlichungen des Kaiserl. Gesundheitsamtes. 1899. S. 107. 

190) Vries, Hugo de, Rotterdamer Wasserleitung. Ref.: Vierteljahrsschr. für 
öffentl. Gesundheitspfl. 1891. Bd. 23. 

191) Walichs, Eine Typhusepidemie in Altona Anfang des Jahres 1891. 
Deutsche med. Wochenschr. 1891. Bd. 17. S. 811. 

192) Walter-Pfeffer, Wasserwerk für die Stadt Liegnitz. Deutsche Bauztg. 
1880. Bd. 14. S. 399. 

193) Wasserreinigungen in Amerika. Schillings Journ. 1894. Bd. 37. S. 91. 

194) Wasserversorgungen mit dem amerikanischen Jowell-Filter. Gesundbeitsing. 
1903. No. 26. S. 376. 

195) Wasserversorgung von Alexandrien. Ebendas. 1903. No. 29. 8. 480. 

196) Weyl, Handbuch der Hygiene. 1896. 

197) Wolfberg, Die Cholera in Tilsit 1893. Zentralbl. f. allgemeine Gesund¬ 
heitspfl. 1894. Bd. 13. S. 1. 

198) Wolffhügel, Beschaffenheit des Berliner Leitungswassers in der Zeit vom 
Juli 1884 bis April 1885. Arbeiten a. d. Kaiserl. Gesundheitsamt. 1886. 
Bd. 1. S. 1. 

.199) Derselbe, Ueber die hygienische Beurteilung der Beschaffenheit des Trink- 
und Nutzwassers. Vierteljahrsschr. f. öffentl. Gesundheitspfl. 1883. Bd. 15. 
S. 552. 

200) Derselbe, Wasserversorgung. 1882. 

201) Wollny, Die Zersetzung der organischen Stoffe und die Humusbildungen. 
1897. S. 30. 

202) Zur Wasserversorgung von Stralsund. Gesundheitsing. 1905. No. 1. S. 6. 

203) Zur Wasserfrage von Zürich. Schillings Journ. 1886. Bd. 29. S. 80. 


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7. 


Das Giessfieber und seine Bekämpfung 

mit besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse in Württemberg. 

Von 

Dr. Julius Sigel in Stuttgart. 

(Schluss.) 


Diagnose. 

Die Diagnose stützt sich: 

1. auf den plötzlichen Beginn der Erkrankung. 

2. auf den Verlauf der Erkrankung, 

3. auf die Kenntnis der Beschäftigung des Patienten, 

4. auf die charakteristischen Symptome: 

Mattigkeit, Abgeschlagenheit, Appetitlosigkeit, Husten, 
Beengung auf der Brust, Gliederschmerzen, Kopfweh und ev. 
Brechneigung, Frostschauer, die sich zum Schüttelfrost steigern 
können, profuser Schweissausbruch. 

Die kleinen Modifikationen mögen von dem grösseren oder kleineren 
Gehalt an Zink in der Legierung und von der Beimischung anderer 
metallischer Dämpfe herrühren, namentlich ist an die event. Bei¬ 
mengung von Arsenikdämpfen zu denken (Eulenberg). Differential¬ 
diagnostisch käme Malaria in Frage; ein diesbezüglicher Irrtum dürfte 
sich aber unter Berücksichtigung der übrigen Umstände bald auf¬ 
klären. 

Prognose. 

Nach Hirt ist die Prognose unter allen Umständen günstig, die 
völlige Genesung erfolgt, wenn nicht ungünstige Komplikationen vor¬ 
liegen, zweifellos innerhalb 24—48 Stunden. Auch die übrigen Autoren 
halten das Giessfieber für eine durchaus harmlose Erkrankung, was 


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Das Giessfieber und seine Bekämpfung. 385 

sehon daraus erhellt, dass wegen des Giessfiebers nur selten ein Arzt 
konsultiert wird. 

Ist nun aber nicht die Möglichkeit vorhanden, dass sich im An¬ 
schluss an die mehr oder weniger häufigen akuten Vergiftungen in 
der Kupfer- und Zinkindustrie chronische schwerwiegende Störungen 
cinstellcn ? 

In der mir zu Gebote stehenden Literatur finden sich nur wenige 
Beispiele, die darauf hindeuten, die mir aber doch so wichtig erscheinen, 
um genauer darauf einzugehen. Popoff (30) beschreibt einen Fall 
von chronischer Vergiftung mit Zinkoxyddämpfen bei einem Arbeiter 
in einer Bronzegiesserei. Derselbe war 12 Jahre lang, täglich einer 
dichten Atmosphäre von Zinkoxvddämpfen ausgesetzt. Obgleich er sich 
Mund- und Nasenöffnung mit einem nassen, eigens dazu angepassten 
Schwamm verdeckte, bemerkte er dennoch jedesmal, sobald er nach 
Hause kam, an den Lippen, an den Rändern der Nasenöffnungen einen 
weissen Anflug von Zinkoxyd und verspürte einen starken metallischen 
Geschmack im Munde. Solange das Wetter warm war, wenn man die 
Türen offen halten konnte, beschränkte sich alles darauf. Wahrend 
der kalten Witterung aber, wo eine solche Ventilation nicht mehr 
möglich war, war auch das Resultat seines Verweilens in der Werk¬ 
statt ein anderes. Bei seiner Rückkehr nach Hause befielen den 
Patienten in solchen Fällen heftige, peinigende Kopfschmerzen, 
starkes Frostgefühl, Krämpfe in den Extremitäten, besonders in 
den Wadenmuskeln, starke Uebelkeit, Erbrechen und nicht selten 
starke Durchfälle, so dass er den ganzen Symptomenkomplex (der viel 
Aehnlichkeit mit dem Giessfieber hatte, Verf.) mit der Cholera ver¬ 
glich. An diesen Anfällen litt nicht er allein, sondern auch viele 
andere Arbeiter, die in derselben Abteilung der Fabrik beschäftigt 
waren. Bei einigen traten nach seinen Worten (unter Erscheinungen 
nervöser Art) die Symptome der Respirationsorgane in den Vorder¬ 
grund, es stellten sich bei ihnen Husten, kurzer Atem, Blutspeien ein, 
Anfälle, die, wie Pat. angibt, viele seiner Verwandten und Bekannten 
frühzeitig unter die Erde gebracht haben. Derartige Störungen konnten 
natürlich nicht ohne Folgen bleiben, zumal die Einwirkung der Zink¬ 
dämpfe fortdauerte. Es stellten sich Magen- und Darmstörungen, 
Lähmungen der sensiblen und motorischen Sphäre ein. Während der 
Krankenbeobachtung konnte Zink noch iy 2 Monate nach dem Ver¬ 
lassen der Fabrik im Urin nachgewiesen werden, was wohl am deut¬ 
lichsten für eine Zinkvergiftung verwertet werden konnte. 


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386 


Dr. Julius Sigel, 


Sehlockow (31) beschreibt als Wirkung chronischer Zinkver¬ 
giftung ein eigenartiges Rückenmarksleiden. Als Prodomalsymptome 
seien fast immer Darmkatarrhe, Emphysem, Bronchitis chronica, 
dunkler Saum am Zahnfleisch (Pb?) vorhanden. Zuerst treten nach 
Sehlockow Ameisenlaufen, Reizerscheinungen auf sensiblem Ge¬ 
biet, später Sensibilitätslähmungen auf. Die Sehnenreflexe sind ge¬ 
steigert, das Rombergsche Phänomen vorhanden. Sehlockow hat 
diese Erkrankung bei ca. 50 Zinkhüttenarbeitern gesehen. Ob es sich 
hier tatsächlich um eine chronische Zinkvergiftung handelt, oder wie 
Pracinski, Kunkel u. a. glauben, um eine Bleivergiftung, lasse ich 
unentschieden. Immerhin glaube ich, dass diese Fälle so wichtig sind, 
dass sie nicht einfach für toxikologisch-diagnostische Irrtümer erklärt 
werden dürfen, wie Kunkel meint. 

Therapie. 

Die Therapie ist nach Hirt einfach exspektativ, es wird von 
fast allen Autoren heisse Milch im Anfall empfohlen. Auch Jodkalium, 
Jodnatrium, Opiumpräparate sollen nach Czajkowski in einzelnen 
Fällen wirksam sein. Doch ein spezifisches Mittel gibt es bis heute 
nicht. Ueber die Bedeutung der Ventilation und der verschiedenen 
Mittel zur Bekämpfung des Giessfiebers soll erst im dritten Teil der 
Arbeit ausführlich gesprochen werden. 


II. 

Um die Verhältnisse in Württemberg zu studieren, standen mir 
zwei Wege zur Verfügung: 

1. die Berichte der Gewerbeinspektion, 

2. meine eigenen Untersuchungen. 

In Württemberg wurde von der Gewerbeinspektion erst in jüngster 
Zeit auf das Giessfieber geachtet. So entnehme ich den Jahres¬ 
berichten der Gewerbeaufsichtsbeamten vom Jahre 1902 folgende 
Ausführungen: 

„In neuerer Zeit will in Giessereien, besonders in Metallgiesse- 
reien, das Vorkommnis einer noch nicht aufgeklärten Krankheit, des 
Giessfiebers, beobachtet worden sein und wurden wir durch ein ge¬ 
drucktes Formular des Direktors des hygienischen Instituts in Würz¬ 
burg, Prof. Dr. K. B. Lehmann, aufgefordert, zur Klärung dieser 
Krankheit unsere Beobachtungen mitzuteilen. Von verschiedenen Me- 


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Das Giessfieber und seine Bekämpfung. 


387 


tallgiessereien, wo wir gelegentlich Umfrage hielten, wurde uns in 
einer einzigen vom Betriebsleiter mitgeteilt, dass er bei einem Arbeiter 
beobachtet habe, dass er ab und zu nach dem Giessen Fieber be¬ 
komme, das nach 1—2 Tagen ohne ärztliche Behandlung wieder ver¬ 
schwunden sei. Den Grund könne er sich nicht erklären. Im Jahre 
1903 wurden in Württemberg eingehende Erhebungen über die Ur¬ 
sachen des Giessfiebers in den Gelbgiessereien angestellt. Die Ge¬ 
werbeinspektion schreibt: Bekanntlich sind diese Ursachen noch nicht 
völlig aufgeklärt. Dass dieses Fieber nicht auf die beim Giessen 
sich entwickelnden Zinkdämpfe allein zurückzuführen ist, geht daraus 
hervor, dass dasselbe in reinen Zinkhütten überhaupt nur sehr selten 
vorkommt. Die Krankheitserscheinung äussert sich darin, dass sich 
5—6 Stunden nach dem Giessen, also beim Zubettgehen, Husten, 
Kopfweh, Uebelsein, Schüttelfrost mit darauf folgendem heftigen Durst 
einstellen. Diese Erscheinungen dauern 6—15 Stunden. Der Patient 
kommt in Schweiss und dann tritt in kurzer Zeit Besserung ein, 
allein einzelne Arbeiter leiden nachher noch an allgemeiner Mattig¬ 
keit und an Kopfschmerzen. Eine andauernde Schädigung der Organe 
scheint durch das Giessfieber nicht bewirkt zu werden. Manche Ar¬ 
beiter sind von Haus aus dagegen widerstandsfähig, bei anderen ver¬ 
lieren sich die Erscheinungen erst nach längerer Zeit. Die ein¬ 
gehenden Untersuchungen über die Ursachen des Giessfiebers und 
seinen Zusammenhang mit der Beschaffenheit des Schmelzgutes, der 
Höhe der Arbeitsräume und dem Vorhandensein natürlicher bzw. 
künstlicher Ventilation hat für die 7 im III. Bezirk in Betracht 
kommenden Gelbgiessereien folgendes ergeben: In allen Gelbgiessereien 
ist das Mischungsverhältnis zwischen Zink und Kupfer wie 1 : 2, 
dabei enthalten die Legierungen noch Zinn, auch Blei und selten und 
in geringen Mengen Kupferphosphor. Die Untersuchung des Flug- 
staubes im chemischen Laboratorium der Kgl. Zentralstelle ergab, 
dass derselbe etwas Kupfer und Spuren von Zink enthält und dass 
beides sich aus den beim Giessen entstehenden Dämpfen nieder¬ 
schlägt. Vermutlich ist das Giessfieber auf das in den Zinkdämpfen 
mechanisch mitgerissene Kupfer zurückzuführen. Die grösseren 
Giessereien von 8 bzw. 10—12 m Höhe, darunter eine mit künst¬ 
licher Absaugung der Dämpfe, zeigten nur wenige Erkrankungsfälle, 
mehr dagegen die Giessereien mit nur 4—5 m Höhe und gewöhn¬ 
licher Lüftung durch Fenster und Oberlichter. Am schlimmsten sind 
die Verhältnisse in einer nur 2,4 m hohen kleinen Gelbgiesserei, in 


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welcher die Arbeiter fast nach jedem Giesstage das Fieber bekommen. 
Aus allem ergibt sich, dass die Art der Lüftung und die Grösse des 
Arbeitsraumes für die Häufigkeit und Stärke der Krankheitserschei¬ 
nungen von Bedeutung sind. So lange die sich entwickelnden Dämpfe 
vom Arbeiter eingeatmet werden, tritt auch Giessfieber auf. Respi¬ 
ratoren oder Freiluftatmer sind hier, wo eine grosse Bewegungs¬ 
freiheit der Arbeiter erforderlich ist, nicht zu verwenden. Das 
Schwergewicht der Beseitigung der Fiebererscheinungen ist auf die 
richtige Ventilation zu legen. Die Firma Wieland u. Co. in Ulm ist 
seit Jahren bestrebt, hier das Beste herauszufinden, sie hat für diesen 
Zweck keine Kosten gescheut. In letzter Zeit sind von ihr in einem 
ihrer Werke neue Versuche gemacht worden, die sich bis jetzt gut 
bewährt haben. Diese Ventilationsanlagen sind von Schreider in 
Feuerbach. 

Um nun selbst einen Einblick in die diesbezüglichen Verhältnisse 
zu bekommen, besuchte ich fast sämtliche Gelbgiessereien Stuttgarts 
und schickte an alle mir bekannten Metallgiessereien Württembergs, 
in denen nachweislich viel Kupfer- und Zinklegierungen hergestellt 
werden, ein Rundschreiben mit folgenden Fragen, ähnlich wie dies 
auch von Lehmann und Hohmann gemacht worden war. 

1. Kommt Giessfieber überhaupt vor, früher und heute? 

2. Wie äussert sich die Erkrankung, wie ist der Verlauf, sind Tem¬ 
peraturbestimmungen betr. Höhe des Fiebers gemacht worden, 
bleiben länger dauernde Störungen zurück? 

3. Worauf ist die Erkrankung zurückzuführen? 

4. Wieviel Prozent der Arbeiter erkranken an Giessfieber, früher 
und heute? 

5. Tritt Gewöhnung ein, oder tritt die Erkrankung häufig, d. h. 
nach jedem Gusse ein, gibt es eine Immunität gegen das Giess¬ 
fieber? 

6. Kommt Giessfieber nur bei Gelbgiessern, oder auch sonst in der 
Metallindustrie vor? 

7. Ist die Art der Legierung von Einfluss auf die Entstehung des 
Giessfiebers? 

8. Hat das Wetter oder die Jahreszeit einen Einfluss? 

3. Ist die Höhe und Grösse des Giessraumes, die Ventilation des¬ 
selben von Bedeutung? 

10. Welche Momente beeinflussen sonst noch die Entstehung des 
Giessfiebers? Frage des Alkohols. 


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Das Giessfieber und seine Bekämpfung. 


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11. Haben Vorsichtsmassregeln einen Wert? 

12. Was wird bzw. wurde bisher gegen das Criessfieber gemacht? 

ad 1. Kommt Giessfieber überhaupt vor? 

In etwa 25 Giessereien, von denen ich mündlich oder schrift¬ 
lich Antwort erhielt, kommt Giessfieber vor, mit Ausnahme einer ganz 
kleinen Giesserei in Stuttgart und der Giesserei in Kochendorf; in 
ersterer wird nur wenig gegossen; in Kochendorf bestehen angeblich 
sehr gute Ventilationseinrichtungen, auch wird dort offenbar mehr 
Rotguss (Cu —)— P —J— Sn), als Gelbguss hergestellt. 

ad 2. Wie äussert sich die Erkrankung, wie ist der Verlauf, sind 

Temperaturmessungen gemacht worden, bleiben länger dauernde 

Störungen zurück? 

Das Krankheitsbild wird von den einzelnen Meistern, Giessern 
und Schmelzern — es sind deren gegen 100, die ich explorierte — 
ziemlich ähnlich beschrieben. Es ist vielleicht gestattet, einzelne 
Aeusserungen im Original wiederzugeben. 

Wenn, wie meistens, vormittags gegossen wird, erkranken die 
Arbeiter nachmittags spät oder erst abends. Anfangs besteht oft 
süsslicher Geschmack im Mund, selten Metallgeschmack, dazu gesellt 
sich Kratzen im Hals, Reizhusten, selten in den Anfangsstadien auch 
Erbrechen. Neben nunmehr auftretender fiebriger Müdigkeit, Abge- 
schlagenheit stellen sich Muskelschmerzen und Frieren ein, daneben 
besteht meist Appetitlosigkeit. Das Frieren wird allmählich stärker 
und steigert sich in vielen Fällen — namentlich bei Neulingen, z. B. 
Lehrlingen, Taglöhnern etc. — zum Schüttelfrost. Gleichzeitig tritt 
mehr oder weniger starkes Angstgefühl, Luftmangel, Asthma auf. 
Die Herztätigkeit ist erregt. Nach einigen Stunden beschliesst ein 
heftiger Schweissausbruch den Anfall. In der zweiten Hälfte der 
Nacht tritt meist Schlaf ein; am andern Morgen ist oft noch Kopf¬ 
weh und Abgeschlagenheit vorhanden, häufig auch völlige Genesung 
eingetreten. Die einzelnen Symptome werden in der Intensität sehr 
verschieden beschrieben. Die ersten Erscheinungen, das Kratzen im 
Halse wird von den einen vernachlässigt, andere wieder sagen, es sei 
heftig und äusserst unangenehm, oft so stark, wie ein junger Schmelzer 
mir sagte, dass er das Gefühl habe, als sei sein Hals eine halbe 
Stunde mit der Wurzelbürste (!) behandelt worden; daneben bestehe 
oft ein eklig-süsser Geschmack im Mund. Letztere Erscheinung wird 


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durchaus nicht regelmässig gefunden. Auch die folgende Müdigkeit 
und Mattigkeit wird verschieden geschildert, die einen führen dieselbe 
lediglich auf die Hitze und auf die grosse Anstrengung zurück, andere 
sehen in derselben einen typischen Vorboten des Giessfiebers. Fast 
allgemein wird die grosse Appetitlosigkeit hervorgehoben und der 
plötzliche Beginn des Frierens. Die Leute verlassen abends schein¬ 
bar gesund die Werkstatt oder den Giessraum; oft schon auf dem 
Heimweg oder bei ausserhalb des Arbeitsortes wohnenden Leuten in 
der Eisenbahn beginnt das Frieren. Wenn die Arbeiter nach Hause 
kommen, so suchen sie meist sofort, ohne etwas zu essen, das Bett 
auf. Mit mehr oder weniger grosser Wahrscheinlichkeit tritt neben 
dem jetzt einsetzenden Engigkeitsgefühl auf der Brust, dem Asthma 
noch der gefürchtete Schüttelfrost auf. Was zunächst das Gefühl 
von Luftmangel betrifft, so wird derselbe in verschiedener Weise ge¬ 
schildert. Bei den einen, namentlich bei älteren Giessern kommt es 
nur zu leichten Beklemmungserscheinungen, selten tritt ein mehrere 
Stunden dauernder typischer Asthmaanfall auf. Anfangs haben die 
Patienten oft das Gefühl, es gehe zu Ende. Das gleichzeitig vorhandene 
Herzklopfen macht sich dem einen mehr, dem andern weniger be- 
merklich. Pulsfrequenzen sind jedenfalls nichts Ungewöhnliches. 
Noch charakteristischer als die eben genannten Symptome sind für das 
GiessGeber das Frieren und der Schüttelfrost. Bei älteren Giessern 
bleibt es häuüg beim „abortiven“ Frieren, oft steigert sich dieses aber 
zum Schüttelfrost, der von wenigen Minuten bis zu mehreren Stunden 
dauern kann. Wenn dann, wie meist, heftiger Schweiss ausbricht, 
lassen die Erscheinungen nach. „4—5 Hemden, die ausgewunden 
werden können, müssen in einer Nacht gewechselt werden.“ Allein 
einstimmig wird ein derartiger Schweissausbruch herbeigesehnt, da 
dieser meist das Ende des Anfalles bedeutet. Nach dem jetzt ein¬ 
tretenden Schlaf wachen die meisten am anderen Morgen gesund 
wieder auf, andere dagegen fallen ebenfalls in tiefen Schlaf, werden 
aber von unruhigen Träumen gequält. In einem nicht ganz kleinen 
Prozentsatz der Fälle Gndet sich anderen Morgens Abgeschlagenheit 
und Kopfweh, namentlich in den Fällen, in denen es nicht zu 
starkem Schweissausbruch kommt. Doch im Laufe des Tages ver¬ 
lieren sich auch diese Beschwerden meistens. Nur in sehr ver¬ 
einzelten Fällen ziehen sich diese krankhaften Symptome zwei und 
drei Tage hin. Temperaturbestimmungen im Anfall sind bis¬ 
her nirgends vorgenommen worden. 


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Das Giessfieber und seine Bekämpfung. 


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Dauernde Störungen sind selten, allein bei manchen Leuten, die 
sich an das Giessfieber nicht gewöhnen können, treten dauernd allge¬ 
meine Mattigkeit, fahles, schlechtes Aussehen ein. Die Leute sehen 
aus „als ob sie die Schwindsucht hätten“, magern ab, haben Ver¬ 
dauungsstörungen mancher Art (Gastritis, Diarrhoeen) und sehr häufig 
chronische Rachen- und Bronchialkatarrhe. Die Sterblichkeit der 
Giesser ist jedoch keine höhere, als die der übrigen Metallarbeiter. 

ad 3. Worauf ist die Erkrankung zurückzuführen? 

Zu dieser Frage lauten die Antworten aus der Praxis ziemlich 
gleich. Die einen fassen sich allgemein und sagen: Auf die beim 
Giessen von Messing entstehenden weissen Dämpfe, die anderen sagen, 
auf Zink oder Galmei. Auf die Frage, welche Zusammensetzung die 
weissen Dämpfe haben, lautet die prompte Antwort, es handelt sich 
um Zink oder Galmei. Auch wenn auf die im technischen Zink und 
Messing enthaltenen Verunreinigungen und auf die dadurch bestehende 
Intoxikationsmöglichkeit hingewiesen wird, so begegnet man in der 
Praxis ungläubigem Lächeln, da nur die Zinkdämpfe die Noxe dar¬ 
stellen sollen. Nur in dem Punkt sind sich die Praktiker nicht 
einig, ob die Vergiftung durch Resorption von den Luftwegen oder 
vom Magendarmkanal aus erfolge. Während die einen glauben, es 
genüge die Inhalation der Dämpfe, um Giessfieber hervorzurufen, 
vertreten andere den Standpunkt, es müssen die Dämpfe rein oder 
mit Speichel vermengt „verschluckt“ werden. Wahrscheinlich spielen 
in der Praxis beide Wege eine Rolle. 

ad 4. Wieviel Prozent der Arbeiter erkranken an Giessfieher, früher 

und heute? 

Die Ansichten gehen in dieser Frage noch sehr auseinander. Es 
lässt sich dieselbe auch nicht mit Bestimmtheit beantworten, da jede 
statistische Zusammenstellung fehlt, auch durchaus nicht alle Fälle 
bekannt werden. Soviel steht fest, dass früher die Krankheit weit 
häufiger war und viel schwerer als heute auftrat. Der Grund ist in 
verschiedenen Umständen zu suchen: 

a) ist die Technik des Giessens heute eine weit vollkommenere, 
als früher. 

b) sind die Räumlichkeiten, in denen gegossen wird, meist 
grösser als früher. 

c') sind die allgemeinen hygienischen Einrichtungen, Ventilation, 


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Dr. Julius Sigel, 


Dunstabsaugungsvorrichtungen für den Rauch weit bessere, 
als früher. 

d) ist bei den (im Vergleich zu früheren Zeiten) meist grösseren 
Fabrikanlagen weit eher die Möglichkeit vorhanden, Leute, 
die eine ausgesprochene Idiosynkrasie gegen die Metalldämpfe 
haben, auch anderweitig in der Metallindustrie zu beschäftigen, 
wie es vielfach auch geschieht. 

ad 5. Tritt Gewöhnung ein oder tritt die Erkrankung häufig d. h. 
nach jedem Gusse ein? Gibt es eine Immunität gegen das 
Giessfieber? 

In der Mehrzahl der Fälle (ca. 70 pCt.) gewöhnen sich nach 
Angabe der Praktiker die Leute an das Giessfieber, d. h. sie werden 
unempfindlich gegen die Metalldämpfe. In etwa 30 pCt. der Fälle 
erkranken die Leute aber regelmässig (wenigstens an den Tagen, an 
denen viel gegossen wird) mehr oder weniger heftig, in einzelnen 
Fällen sogar regelmässig so stark, dass der Giessfieberanfall in seiner 
typischen Form mit allen Komplikationen an jedem Giesstage auftritt. 
In diesen, allerdings seltenen Fällen müssen dann die Giesser den 
Beruf wechseln, oder muss ihnen, wie oben angedeutet, eine andere 
Beschäftigung (als Polierer, Hämmerer, Former etc.) zugewiesen werden. 
Die Gewöhnung tritt oft erst spät ein, manche Giesser haben das 
Giessfieber 100 mal und öfter gehabt und verlieren es im späteren 
Alter bei Anwendung von kleinen Vorsichtsmassregeln oder auch ohne 
solche (Giesserei in Vaihingen a. E.). Die Gewöhnung tritt leichter 
ein, wenn möglichst regelmässig gegossen wird und keine allzulangen 
Pausen gemacht werden. 

Eine absolute Immunität kommt wohl vor, ist aber jedenfalls 
sehr selten, worauf diese zurückzuführen, darüber fehlen zunächst die 
Anhaltspunkte. 

ad fi. Kommt Giessfieber nur bei Gelbgiessern vor oder auch sonst 
in der Metallindustrie? 

Ausnahmslos wurde die Frage so beantwortet, dass Giessfieber 
sowohl bei Gelbgiessern vorkoramt, als auch bei Giessern, welche 
mit anderen Kupfer-Zinklegierungen zu tun haben (Durama, Tombak, 
Weissmetall, Neusilber etc.) Beim Giessen von reinem Zink 
soll das Giessfieber heftig auftreten, aber nur wenn das 
Zink stark überhitzt wird (Giesser von Pelargus, Voltz und 
Schrott in Stuttgart, Giesser Beck aus Ebingen). 


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Das Giessfieber und seine Bekämpfung. 


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Auf diesen Punkt komme ich später noch ausführlich zu 
sprechen. Bei Kupfergiessern trete Giessfieber überhaupt nicht auf, 
bei Rotgiessem und Bronzegiessern nur äusserst selten. In einem 
einzigen Fall konnte ich eine abortive Form des Giessfiebers (Frieren, 
Asthma) bei einem Messingpolierer finden, der beim Giessen von 
Messing regelmässig stark an Giessfieber erkrankte. In der Blei- 
und Eisenbranche sowie in allen anderen Giessereien ist das Giess¬ 
lieber eine völlig unbekannte Krankheit. 

ad 7. Ist die Art der Legierung von Einfluss auf die Entstehung des 

Giessfiebers? 

Diese Frage wurde allgemein bejaht, und zwar in dem Sinne, 
dass je mehr Zink in der Legierung sei, um so grösser die Gefahr 
sei, das Giessfieber zu bekommen. Andere Zusätze, Kupferphosphor 
usw., seien ohne Belang. Nur eine einzige Angabe ging dahin, dass 
auch bei Kupfer-Zinnlegierungen giessfieberartige Erscheinungen zu 
beobachten seien, besonders wenn etwa 1 pCt. Phosphorzinn der Le¬ 
gierung zugesetzt werde. Alle auf diesen Punkt hin angestellten 
Untersuchungen ergaben ein negatives Resultat. Die Frage, ob das 
Alter der Legierung (Altmessing) einen Einfluss habe, d. h. ob beim 
Giessen von Altmessing häufiger Giessfieber entstehe, als bei Verar¬ 
beitung von neuem, reinem Metall (sog. Blockzink und Kupfer) wurde 
von der Mehrzahl der Praktiker so beantwortet, dass Giessfieber 
häufiger sei, wenn altes Metall unbekannter Herkunft gegossen werde. 
Das Giessen von alten Messingspähnen wird daher von zu Giessfieber 
disponierten Leuten sehr gefürchtet. Einige wenige Männer der Praxis 
meinten dagegen, es komme lediglich auf den Zinkgehalt an. Die 
Legierungen, die wenig Zink enthalten, verursachen am seltensten 
Giessfieber, ob das Messing alt oder neu sei. Auf die Verunreinigungen 
der Metalle mit Blei, Zinn, Cadmium, Arsen usw. wird, wie schon 
erwähnt, betr. des Giessfiebers in der Praxis wenig Wert gelegt. 

ad 8. Hat das Wetter oder die Jahreszeit einen Einfluss? 

Es wird allgemein angegeben, dass bei trübem, nebligem, kaltem 
Wetter häufiger Giessfieber vorkomme, als bei schönem, warmem 
Wetter. Der Grund soll darin zu suchen sein, dass bei natürlicher 
und bei künstlicher Ventilation die Zinkoxyddämpfe bei schlechtem 
AA'etter schwerer entweichen. Einzelne meinen, an kalten Tagen sei 
die Disposition eine grössere, als an warmen. Die Erscheinungen des 


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Dr. Julius Sigel, 


Giessliebers, vor allem das Frieren, machen sich weit mehr an kalten 
als an warmen Tagen bemerklich. Die Mehrzahl sagt also, dass im 
Sommer die Erkrankung seltener sei, als im Winter. Wenige Stimmen 
gehen dahin, dass das Wetter fast gar keinen Einfluss habe. Mir 
scheint die Wahrheit in der Mitte zu liegen; ich glaube, dass alle die 
Momente der Witterung, ob Sommer oder Winter, die eine ausgiebige 
Ventilation der Giessräume verhindern, für das Giessfieber prädispo¬ 
nierend wirken. 

ad 9. Hat die Höhe und Grösse des Giessraumes, die Ventilation 

einen Einfluss? Welcher Art ist letztere? 

Die Höhe des Giessraumes und die Grösse desselben sind von 
hervorragender Bedeutung; es ist statistisch nachzuweisen, dass in den 
kleinen Giessereien Giessfieber häufiger ist, als in grossen, luftigen 
Räumen. Aber auch in letzteren kommt dasselbe trotz vorzüglicher 
natürlicher Ventilation noch vor, und zwar um so mehr, je langsamer 
die Reinigung der Luft von den Metalldämpfen vor sich geht. Die 
einfache Ventilation genügt meist nicht, cs müssen die Dämpfe durch 
besondere Vorrichtungen abgesaugt werden. Leber diese Frage soll 
ausführlicher im 3. Teil der Arbeit gesprochen werden. 

ad 10. Welche Momente beeinflussen sonst noch die Entstehung des 

Giessfiebers? Bedeutung des Alkohols. 

Ein Hauptwert wird allerseits auf eine gute Gesamtkonstitution 
gelegt. Leute, welche einen Locus minoris resistentiae haben, sei es, 
dass es sich um Störungen des Respirations- und Zirkulationsapparates 
oder des Verdauungsapparates handelt, erkranken angeblich leichter 
als ganz gesunde Leute, gewöhnen sich auch nicht so leicht an die 
Schädlichkeit des Giessfiebers. Namentlich Leute mit schwachen 
Lungen, die Neigung zu Bronchitis, Asthma usw. haben, sind dem 
Giessfieber in seinen schweren Formen in hohem Grade ausgesetzt. 
Daher wird auch in manchen Fabriken beim Einstellen der Arbeiter 
auf die Konstitution, speziell die der Lungen gesehen. Die Frage, ob 
das Alter einen wesentlichen Einfluss hat, wird dahin beantwortet, 
dass alte, wenig widerstandsfähige Leute häufig erkranken, sofern sie 
eiten nicht mehr ganz gesund sind, andererseits aber erkranken auch 
gesunde, junge, noch nicht vollkommen ausgewachsene Leute häufiger. 
Die Technik des einzelnen beim Giessen ist. wie schon angedeutet, 
von grossem Einfluss. Leute, die sehr gesehieklich sind, die eine 


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Das Giessfieber und seine Bekämpfang. 


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gute Atemführung haben bzw. eine solche lernen, erkranken seltener; 
überhaupt alle Momente, die gestatten, den aufsteigenden Dämpfen 
auszuweichen, sind von günstigem Einfluss. Speziell auf die Atem¬ 
führung wird von einzelnen Seiten grosser Wert gelegt, da angeblich 
eine Hauptgefahr in der grossen Atemanstrengung beim Herausheben 
der Tiegel aus dem Ofen und beim Giessen liege. 

Es ist nach den Erfahrungen mehrerer Praktiker infolge der An¬ 
strengung unvermeidlich, grosse Mengen Dämpfe einzuatmen. Dies 
kann dadurch z. T. vermieden werden, dass die Tiegel mit dem ganzen 
Ofen auf maschinellem Wege gedreht werden. Jedoch haben diese 
maschinellen Vorrichtungen so grosse technische Unannehmlichkeiten 
zur Folge, dass manche Giessereien, die den Maschinenbetrieb ange¬ 
legt hatten, denselben wieder abgeschafft haben und zum alten System 
zurückgekehrt sind. In einer kleinen Giesserei, in welcher der Meister 
ebenfalls der Anstrengung des Heraushebens des Tiegels einen Teil 
der Schuld am Giessfieber zumisst, sah ich noch die Entleerung des 
Tiegels mit dem Schöpflöffel. Nach dem Urteil erfahrener Giesser 
soll dadurch der Guss ungünstig beeinflusst werden. Einen nicht zu 
unterschätzenden Einfluss hat auch die Menge des zu giessenden 
Metalls. An Tagen, an denen sehr viel gegossen wird (meist 
werden 2—6—8 Tiegel pro die ä 50—100 kg Metall gegossen) ist 
die Erkrankung häufiger, namentlich wenn, wie dies dann meist 
der Fall ist, gleichzeitig grosse Anstrengungen mit der Arbeit ver¬ 
bunden sind. In den meisten Giessereien ist nur zweimal in der 
Woche Giesstag. 

Wichtig ist die Frage des Alkoholgenusses. 

Branntwein und andere starke Alkoholsorten werden bei uns 
relativ selten genossen. Meist wird Bier, Most, selten Wein getrunken. 
Alkoholgenuss ist nach dem Urteil der Mehrzahl beim Giessen unzweck¬ 
mässig. Am meisten wird vor Bier gewarnt. Die W'ürttembergische 
Metallwarenfabrik spricht sich wie folgt aus: Mässiger Genuss 
alkoholischer Getränke ist nach unserer Beobachtung von keinem 
schädlichen Einfluss; das Giessfieber befällt auch Personen, welche 
keinerlei alkoholischen Getränke zu sich nehmen. Genuss von 
Milch und Kaffee, wie er beispielsweise an die Feuerarbeiter verab¬ 
reicht wird, empfiehlt sich besonders für die in Giessereien tätigen 
Arbeiter. Einzelne Arbeitgeber sehen dagegen im Alkoholgenuss eine 
solche Schädlichkeit, dass sie denselben in jeder Form in ihrer Fabrik 
verbieten. 

Vierteljahrsschrift f. ger. Med. u. öflf. San.-Wesen. 3. Folge. XXXII. 2. 


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Dr. Julius Sigel, 


Leute, die sich sehr reinlich halten, sehr solid leben, nach der 
Arbeit sich stets ganz frisch anziehen, sollen weniger leicht erkranken, 
als solche, die es mit den genannten Punkten weniger genau nehmen. 

ad 11. Haben Vorsichtsmassregeln, Schwämme, Respiratorien etc. 
einen Wert? 

Diese Frage wurde verschieden beantwortet. Die einen sind voll 
Enthusiasmus über ihre Schwämme etc., glauben, seit sie dieselben 
benutzen, seien die Schrecken des Giessliebers für immer verschwun¬ 
den, während andere denselben jeden Wert absprechen. Im allge¬ 
meinen werden diese Vorsichtsmassregeln nicht gerne eingehalten, es 
ist den Leuten unbequem, Schwämme etc. zu tragen, weshalb auch 
die Benutzung eine geringe ist. Unzweifelhaft ist ein gewisser Wert 
nicht zu verkennen, namentlich, wenn dieselben erst abgelegt werden, 
wenn die Luft nach dem Gusse wieder rein ist; auch das Aufsuchen 
frischer Luft nach dem Giessen soll empfehlenswert sein. 

ad 12. Was wird bzw. wurde bisher gegen das Gicssfieber gemacht? 

Diese Frage gehört eigentlich erst im 3. Teil der Arbeit be¬ 
sprochen, allein, um das Krankheitsbild, wie es in Württemberg vor¬ 
kommt, vollständig zu geben, bespreche ich die Frage hier. 

Ein spezifisches Heilmittel gibt es bis heute nicht; die Zahl der 
angewandten Mittel ist, wie bei allen ähnlichen Fällen, eine ungemein 
grosse. Am häufigsten wird Milch vor und direkt nach dem Gusse 
empfohlen. Die einen glauben, dass durch das Eiweiss der Milch 
unlösliche und daher unschädliche Metallalbuminate gebildet werden, 
während andere heisse Milch lediglich als symptomatisches Mittel 
gegen den nach dem Giessen sich einstellenden Reizhusten trinken. 

Ferner werden empfohlen heisse Getränke, Tee, Glühwein, um 
möglichst frühzeitigen Schweissausbruch herbeizuführen. 

Von den von Czajkowski empfohlenen Jodpräparaten wurde in 
Württemberg bisher kein Gebrauch gemacht. Kleine Dosen konzen¬ 
trierten Alkohols (Kognak) direkt nach dem Gusse soll bei einzelnen 
günstig wirken (?). Die Erfahrung, dass starke Raucher selten an 
Giessfieber erkranken, veranlasste einzelne Giesser, während des 
Gusses sich eine Zigarre anzustecken, angeblich mit gutem Erfolg. 
Auch erzählte mir ein erfahrener Meister, der nicht mehr regelmässig 
krank wurde, wenn er an einem „strengen Giesstage“ die ersten 
Symptome des Giessfiebers bemerke, so trinke er mehrere Tassen 


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Das Giessfieber und seine Bekämpfung. 


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Bärentraubenblättertee mit dem Erfolg, dass sich das Giessfieber wohl 
in leichter Form einstelle, aber während er früher am andern Tage 
Kopfweh und trüben, dunklen, ganz graubraunen Urin gehabt habe, 
sei er jetzt nach Genuss des Tees am andern Tage immer frisch und 
munter, habe nie Kopfweh und entleere reichlichen klaren Urin. „Die 
ganze Krankheit gehe mit dem Urin weg. u 

Experimentelle Untersuchungen. 

Wenn wir die gesamte Literatur und die Angaben aus der 
Praxis über die Frage des Giessfiebers, wie sie hier niedergelegt 
sind, überblicken, so herrscht in vielen Punkten noch grosse Unklar¬ 
heit und Uneinigkeit. Es ist die Symptomatologie noch nicht mit 
genügender Schärfe präzisiert, es ist von sämtlichen Autoren (mit 
Ausnahme von Czajkowski) vermieden, sich über den Verlauf des 
Fiebers zu äussern. Ja, es erscheint mir die Frage, die zunächst zu 
untersuchen ist, wohl berechtigt, ob es sich denn beim Giessfieber 
wirklich um eine fieberhafte, raalariaartige Erkrankung handelt, um 
so mehr, als in der ganzen Toxikologie, wenigstens so weit mir be¬ 
kannt ist, keine einzige analoge Erscheinung sich findet, ferner, wenn 
eine solche Fieberattacke vorkommt, welchen Typus die Fieber¬ 
kurve hat. 

Weiterhin ist zu untersuchen, was das eigentliche Wesen des 
Giessfiebers ist, durch welche Ursache bzw. Ursachen dasselbe her¬ 
vorgerufen wird. Auch in dieser Frage befinden wir uns zunächst 
noch auf einem durchaus hypothetischen Gebiet. 

Um zu einem Resultat über das Wesen des Giessfiebers zu 
kommen, schien mir die Aufgabe dankenswert, einen Menschen, der 
vor dem Guss genau beobachtet und untersucht ist, während und 
nach dem Gusse zu untersuchen und zu sehen, ob im Blut oder im 
Urin irgendwelche Veränderungen gefunden werden können, die auf 
eine Vergiftung schliessen lassen würden. Da auch in der Sympto¬ 
matologie einige Punkte noch nicht ganz klar liegen, so erschien es 
mir wünschenswert, zu diesen Versuchen ein solches Versuchsobjekt 
zu wählen, das als absoluter Neuling als einwandsfrei zu bezeichnen 
ist. Denn wenn auch bei manchen alten Giessern, die jahrelang schon 
im Metallbetriebe gearbeitet haben und den verschiedensten Metall¬ 
intoxikationen ausgesetzt waren, die Erscheinungen des Giessfiebers 
möglicherweise noch zu studieren wären, so könnten die Resultate 
einer Blut- und Urinuntersuchung doch mit Recht angezweifelt werden. 

26 * 


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Dr. Julias Sigel, 


Als ein solches geeignetes Versuchsobjekt wählte ich mich selbst. Ana¬ 
mnestisch hebe ich hervor, dass ich, von Infektionskrankheiten in der Kindheit 
und einigen Hospitalanginen abgesehen, stets vollkommen gesund war und es 
auch heute bin. Die Untersuchung des Blntes und Urins ergab in jeder Hinsicht 
normale Verhältnisse. Es war weder durch die chemische Analyse, noch durch 
die mikroskopische Untersuchung irgend etwas Pathologisches zu finden. Ich 
setzte mich am 19. April 1905, vormittags 9y 2 Uhr, in einer bekannten Stutt¬ 
garter Giesserei den Dämpfen von 2 Messingtiegeln aus. Der Guss dauerte zirka 
10 Minuten. Das Messing war aus reinem Blockzink und Kupfer in der Giesserei 
hergestellt worden. Am selben Tage setzte ich mich in einer 2. Giesserei nach¬ 
mittags 1 Uhr (von 10—1 Uhr hatte ich keinerlei Abnormität an mir bemerkt) 
ebenfalls den Dämpfen von 2 Messingtiegeln beim Gusse aus. Ich hebe hervor, 
dass ich mich stets neben den den Dämpfen am meisten exponierten Arbeiter 
stellte, um mich möglichst den natürlichen Verhältnissen anzupassen. (Im Ver¬ 
such fehlte bei mir allerdings die starke körperliche Anstrengung.) Nachdem ich 
mich jeweils noch etwa eine halbe Stunde in der Giesserei aufgehalten hatte, um 
noch lange die sich nur schwer verflüchtigenden Dämpfe zu inhalieren, ging ich 
meiner gewohnten Tätigkeit nach. Die ersten Symptome, die sich schon kurze 
Zeit nach dem 2. Gusse einstellten, waren Kratzen und Brennen im Hals, was 
wohl als lokale Wirkung aufzufassen und daher nichts Ungewöhnliches war, 
gleichzeitig stellte sich ein unangenehmer Reizhusten und ein eigentümliches, 
nicht sehr starkes Stechen auf der Zunge ein. Ein spezifischer Metallgeschmack 
im Munde war nicht zu konstatieren. Nach etwa 3 Stunden stellten sich grosse 
Müdigkeit und Abgeschlagenheit. sowie rheumatischo Schmerzen in den Schultern 
ein. Ausserdem bestand deutliche Beengung auf der Brust. Gegen Abend, etwa 
um 7 Uhr, trat leichtes Frösteln auf, das sich nach einer Stunde derartig stei¬ 
gerte, dass ich mich zu Bett legte. Brechneigung und Verdauungsstörungen zeigten 
sich nicht. Die peripheren Teile fühlten sich extrem kalt an. Die Temperatur 
betrag in der Achselhöhle 35,9°. Kaum war ich im Bett, so überfiel mich ein 
lebhafter Schüttelfrost mit Zähneklappern. Der Puls wurde klein, sehr beschleu¬ 
nigt, 120—130 in der Minute, die Atmung frequent, die Luft sehr knapp. Die 
Temperatur erreichte als Maximum 37,2° in der Achselhöhle. Dazu gesellten sich 
krampfartige Schmerzen in den Waden. Allmählich, nach etwa 1 J / 2 Stunden, war 
der Zustand vorüber, nachdem ein mässig starker Schweissausbruch erfolgt war. 
Es trat grosse Mattigkeit ein. Die Temperatur bliob 37,2°. Der Puls ging auf 
90 Schläge in der Minute zurück. Ich verfiel nun in einen sehr unruhigen Schlaf 
und wurde — was bei mir sonst äusserst selten ist — von lebhaften Träumen 
beunruhigt. Am andern Morgen war ich, von Kopfschmerzen abgesehen, ganz 
gesund. Temperatur 36,6°, Puls 84. 

Die Untersuchung des während des Anfalls und nach demselben 
entnommenen Blutes hatte vollkommen normale Verhältnisse ergeben. 
Sowohl im frischen Präparat, wie in dem mit Triacid gefärbten waren 
keinerlei Abnormitäten nachzuweisen. Auch die spektroskopische 
Untersuchung ergab einen der Norm entsprechenden Befund. Kein 
Kohlenoxydhämoglobin! Im etwas konzentrierten, aber klaren 


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Das Giessfieber und seine Bekämpfung. 


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Urin, der sauere Reaktion zeigte, war weder Eiweiss noch Zucker 
nachzuweisen. Das spezifische Gewicht betrug 1012, die Menge in 
24 Stunden 1100 ccm. 

Um nachzuweisen, ob irgend ein Metall in den Urin über¬ 
gegangen war, wurde derselbe zur Zerstörung der organischen Sub¬ 
stanzen mit Kaliumchlorat und Salzsäure versetzt und zur Sirup¬ 
konsistenz eingedampft. Nach starker Verdünnung mit destilliertem 
Wasser, um den HCl-Gehalt zu vermindern, wurde in die salzsaure 
Lösung unter Erwärmen frischer, gasförmiger, gut gewaschener 
Schwefelwasserstoff eingeleitet. Etwa vorhandenes Kupfer oder Blei 
hätte einen schwarzen, Zinn einen braunen, Arsen einen gelben, An¬ 
timon einen orangefarbenen Niederschlag geben müssen. Es entstand 
aber nur eine leichte Trübung (S?). Der Urin wurde sodann filtriert 
und das Filtrat mit so viel Natriumacetat versetzt, als erforderlich 
war, um alle freie HCl zu binden. Der nunmehr ausgeschiedene ge¬ 
ringe weisse Niederschlag von Schwefelzink (?) wurde auf einem 
kleinen Filter gesammelt, mit warmem Wasser gewaschen, dann in 
verdünnter Salzsäure gelöst und aus der filtrierten Lösung nochmals 
das Zink durch Schwefelwasserstoff und Natriumacetat als Schwefel¬ 
zink ausgefällt. Es entstand eine deutliche Opaleszenz der Lösung, 
Es wurde also im Urin, falls diese Methode von Schmidt (32) als 
einwandsfrei zu bezeichnen ist, Zink in allerdings nur minimalen 
Spuren nachgewiesen. Kletzinsky (33) gibt an, dass Zink in allen 
in Wasser, Säuren und Alkalien leicht löslichen Verbindungen rasch 
ins Blut und durch dasselbe ebenso schnell in den Urin übergeht, 
seine Ausscheidung ist ununterbrochen und bald beendet. Eine chro¬ 
nische, über die Intoxikationsfrist weit hinausreichende Toxikose, die 
von einer hartnäckigen Retention des in die Konstitution der Organe 
eingehenden Metallgiftes abhängt, scheint dem Zink nicht zu gebühren. 
Das geglühte Zinkoxyd, das Nihilum album oder die Lana philoso- 
phica gelangt jedoch als unlöslich weder ins Blut noch in den Urin. 
In welcher Form Zink im Urin ausgeschieden wird, darüber spricht 
sich Kletzinsky nicht aus. Die Dämpfe, die nun beim Giessen 
entstehen, bestehen nach meinen Untersuchungen vorwiegend aus Zink 
bzw. Zinkoxyd. Eisen und Kupfer konnte ich im Gegensatz zu der 
Analyse der Kgl. Zentralstelle im Flugstaub nicht nachweisen. Ob, 
wie von dieser Seite angenommen wird, viel Kupfer mit den Zink¬ 
dämpfen beim Giessen mitgerissen wird, möchte ich auf Grund meiner 
Untersuchungen anzweifeln. Das das Zinkoxyd aber unlöslich und 


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400 


Dr. Julius Sigel, 


von den Lungen wohl nicht resorbierbar ist, so würde mein Befund 
„Zink im Urin“ von vornherein unwahrscheinlich erscheinen, wenn 
nicht zwei Tatsachen doch für die Richtigkeit meiner Untersuchung 
sprechen würden, nämlich: 

1. der Umstand, dass auch nach der Probe von Kletzinsky 
der Befund ein — allerdings schwach — positiver war. Nach KL 
ging ich folgendermassen vor: Die organische Substanz wurde durch 
chlorsaures Kali und Salzsäure zerstört. Die erhaltene salzsaure Lö¬ 
sung wurde mit Schwefelammonium im Ueberschuss versetzt und die 
erhaltene grünliche, alle Erdphosphate, das event. Schwefeleisen und 
das Schwefelzink einbegreifende Fällung auf analytischem Filter 
gesammelt und mit heissem, schwefelammoniumhaltigem Wasser ge¬ 
waschen. Die gewaschene Fällung wurde noch feucht vom Filter 
herab in verdünnter, erwärmter Salzsäure gelöst und die salzsaure 
Lösung mit Ammoniakflüssigkeit übersättigt und erwärmt. Die ent¬ 
standene Trübung wurde abfiltriert und das abermalige ammoniakalische 
Filtrat mit Schwefelammonium versetzt, wobei ebenfalls eine geringe, 
aber deutliche Trübung durch Schwefelzink eintrat. Eine weitere 
Probe des ammoniakalischen Filtrats wurde im Wasserbad verdunstet 
und der weisse Rückstand mit Kobaltsolution auf freier Flamme mässig 
geglüht, wobei die bekannte Reaktion von Rinnmanns Grün auftrat. 
Zwei Tage nach dem Guss war der Urin zinkfrei. Sämtliche Appa¬ 
rate, welche zu diesen Untersuchungen nötig waren, wurden mir von 
meinem Bruder, Apotheker Dr. Sigel, in liebenswürdiger Weise zur 
Verfügung gestellt. 

2. Weiter möchte ich den viel zu wenig berücksichtigten Um¬ 
stand hervorheben, dass neben dem beim Giessen sich bildenden Zink¬ 
oxyd bei der hohen, im Messingguss oft herrschenden Temperatur 
von ca. 1000 °, bei der das Zink frei destilliert, wohl noch metallische 
Zinkdämpfe entstehen, die bei der Kondensation in der Luft den sog. 
Zinkstaub bilden. Es ist dies ein äusserst feines, metallisches Pulver, 
das neben metallischem Zink Spuren von Zinkoxyd enthält. Der 
Zinkstaub, der auch im Zinkhütten betrieb bei der Zinkdestillation 
entsteht, findet sich beim Hüttenprozess in den Vorlagen bzw. den 
Flugstaub-Kondensationsvorrichtungen der Destillieröfen und belästigt 
daher die Zinkhüttenarbeiter nicht. 

Um den Beweis zu erbringen, dass der Zinkstaub die causa 
nocens ist, wären noch Tierexperimente zu machen, und zwar müssten 
sowohl per os Mengen von 0,1—1,0 g Zinkstaub gegeben werden, um 


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Das Giessfieber und seine Bekämpfung. 


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die Resorption vom Darm aus zu studieren, weit richtiger aber würde 
es sein, die Resorption von den Lungen aus zu prüfen, und zwar 
müsste zu diesem Zwecke ein Tier tracheotomiert werden und diesem 
in die Trachea eine geringe Menge chemisch reinen Zinkstaubes ein¬ 
gespritzt werden, Versuche, wie sie nur in einem tierphysiologischen 
Institut durchzuführen sind. Aber auch das Resultat dieser Unter¬ 
suchungen könnte angezweifelt werden, da Metalle oder Metallverbin¬ 
dungen in statu nascendi häufig eine ganz andere, meist intensivere 
Wirkung entfalten, als reine Metalle. 

Immerhin wäre es sehr verführend, aus diesen Untersuchungen 
den Schluss zu ziehen: Das Giessfieber mit seinen malariaartigen 
Symptomen ist gar kein Fieber, sondern eine Metall Vergiftung, und 
zwar eine akute Zinkvergiftung; allein, um diesen Beweis in un- 
umstösslicher Weise zu erbringen, waren noch mehr Versuche nötig. 
Ich setzte mich daher noch ein zweites und drittes Mal in verschie¬ 
denen Giessereien den Messingdämpfen beim Giessen aus, allein, ausser 
abendlichem Frösteln und Frieren und geringen Beklemmungserschei¬ 
nungen auf der Brust traten keine typischen Symptome mehr auf. Es 
war offenbar eine gewisse Immunität (?) eingetreten. Obgleich mir 
von mehreren Giessereibesitzern versichert wurde, dass sie mir alle 
ev. Giessfieberkranken zur Behandlung überweisen würden, so bekam 
ich doch sehr wenig Untersuchungs- bzw. Versuchsmaterial, und zwar 
aus dem Grunde, weil in Stuttgarts Giessereien wegen der meist guten 
Ventilation das Giessfieber nur noch in leichten Formen auftritt und 
weil in kleinen Giessereien die alte Giessregel, beim Guss die Fenster 
zu schliessen, aus Furcht vor dem Giessfieber, nicht eingehalten wird, 
weshalb auch dort nur höchst selten schweres Giessfieber zu beob¬ 
achten ist. 

Der zweite Fall, den ich zu meinen Versuchen benützen konnte, war ein 
58jähriger Vorarbeiter einer Cannstatter Giesserei, der früher stets gesund, seit 
tj Jahren ausschliesslich als Giesser verwendet wird. Derselbe bekommt fast an 
jedem Giesstage — zweimal in der Woche — trotz grosser und leidlich gut venti¬ 
lierter Räumlichkeiten das Giessfieber, häufig sogar sehr heftig. Die Symptome 
sind nach seiner Angabe folgende: Gegen Abend und oft schon nachmittags, wenn 
morgens gegossen wird, stellt sich Beengung auf der Brust ein. „Das Einatmen 
fallt dem Fat. schwer.“ Ausserdem treten Magenbeschwerden, Appetitlosigkeit, 
Würgreiz auf, ferner süsser, unangenehmer Geschmack im Munde. Abends meist 
vor dem Zubettgehen Frieren, das sich zum Schüttelfrost steigert, der meist l / 2 , 
höchstens 1 Stunde, nie länger, dauert. Wenn dann Pat. mit mehreren Decken 
gut zugedeckt wird, bricht nach 1 bis 2 Stunden ein heftiger Schweiss aus, der 
dem Pat. angenehm ist, da er das Ende der Krankheit bedeutet. Von 11 oder 


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402 Dr. Julius Sigel, 

12 Uhr an kann Pat. gut schlafen, wenngleich die hochgradige Schweissabsonde- 
rung noch länger fortdauert. 

Id dieser typischen Form hat Pat. das Giessfieber am 26. und 29. April 1905 
durchgemacht. Die halbstündlich in der Achselhöhle gemessene Temperatur betrug 
am 26. April abends: 8y 2 Uhr 36,6 °; 9 Uhr 36,7 °, Frieren, Puls 90; 9y 2 Uhr 
36,7 °, Schüttelfrost; 10 Uhr 37 IO 1 /,* Uhr 37 <>, Schweiss; 11 Uhr Schlaf. — 

Am 27. April morgens 5 Uhr: 36.6 — Am 29. April abends: 9 Uhr 36,5 °, 

Frieren; 9 1 / 2 Uhr 36,7 °; 10y 2 Uhr 37 °, Schweiss. — Am 30. April morgens 
6 Uhr 36,5 °. 

Der Urin, der am 26. April von abends 8 Uhr bis morgens 6 Uhr gesammelt 
wurde, betrug 350 ccm. (An Giesstagen lässt Pat. nie mehr als 1 / 2 —V* Liter Urin 
in 24 Stunden.) Er war von rotbraun-schmutziger Farbe, hatte ein spezifisches 
Gewicht von 1022, reagierte sauer, war frei von Zucker, enthielt aber ®/ 4 pM. Al- 
bumen nach Esbach. Im Sediment waren mikroskopisch viel Harnsäure, kein 
Sanguis, ganz vereinzelte Leukozyten und hyaline Zylinder. Sodann wurden nach 
den beiden genannten Methoden Spuren von Zink am 26. April naohgewiesen. 

Am 27. und 28. April war der Nachturin klar, hatte ein spez. Gewicht von 
1011, enthielt kein Albumen, keine Zylinder, im mikroskopischen Präparat reichlich 
Harnsäure. Zink konnte auch nicht in den minimalsten Quantitäten nachgewiesen 
werden, ebenso kein Blei und kein Kupfer. Am 29. April war das Giessfieber 
weniger heftig als 3 Tage zuvor, doch bestand Frieren, leichter Schüttelfrost und 
starker Schweissausbruch, aber, wie obige Tabelle zeigt, war keine Temperatur¬ 
steigerung vorhanden. Der Urin war spärlich, in 12 Stunden ca. 250 ccm, schmutzig 
trüb, enthielt harnsaurc Salze, etwa y 4 pM. Albumen, keine Zylinder, kein Sac- 
charura. Das spez. Gewicht betrug 1028. Zink konnte nicht nach der Probe von 
Kletzinsky nachgewiesen werden. 

Am nächsten Giesstago, 3. Mai 1905, war kein Giessfieber vorhanden, im 
klaren Urin, der sauer reagierte, kein Albumen, kein Zink. Spez. Gewicht 1017. 
Eine Schweissuntersuchung war bei der ambulanten Beobachtung nicht möglich. 
Am 6. Mai hatte Pat. das Giessfieber so stark wie selten. Er hatte im Laufe eines 
Tages 7 Messingtiegel ä 80 kg geschmolzen und gegossen. Von 4 Uhr nachmittags 
ab — bis zu dieser Zeit dauerte der Guss — wurde er sehr elend und matt, bekam 
lebhaften Reizhusten und wurde so heiser, dass er kein Wort mehr sprechen konnte. 
Der Appetit fehlte vollständig. Um 8 Uhr stellte sich starkes Frieren ein. Tempe¬ 
ratur 37 °. Das Frösteln steigerte sich um 9 Uhr zu einem sehr heftigen Schüttel¬ 
frost (Temp. 37,8 °), der etwa bis 10 Uhr dauerte. Temp. 38,8 °. Um 11 Uhr 
stellte sich starker Schweiss ein. Kurz darauf folgte Schlaf. In der Nacht vom 

6. bis 7. Mai hatte Pat. keinen Urin gelassen (in 12 Stunden). Die im Laufe der 
nächsten 20 Stunden gesammelte Menge Urin betrug 900 ccm. 

Mikroskopisch: Sohr vereinzelte Leukozyten und hyaline Zylinder. Al¬ 
bumen +, Saccharum 0, Reaktion sauer, spez. Gew. 1012, Zink-Spuren. — Am 

7. Mai w’ar Pat. wieder völlig hergestellt, ohne Kopfschmerzen. Am 8. Mai war 
der Urin frei von Albumen, ebenso von Zink. 

Am 10. Mai 1905 hatte Pat. wieder heftiges Giessfieber mit den bekannten Er¬ 
scheinungen. Temperatur: abends 8 Uhr 38°, Frieren; 9 Uhr 38,8°; 10 Uhr 
39,2°, Schüttelfrost; II Uhr 39°, Schweiss. Am andern Morgen 6 Uhr 37,2°. 
— Am 13. Mai 1905 ebenfalls heftiges Giessfieber. Temperatur: abends 8 Uhr 


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Das Giessfieber und seine Bekämpfung. 


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38,1 °; 9 Uhr 39 °, Schüttelfrost; 10 Uhr 39,2°; 11 Uhr 38 °, Schweiss. Am andern 
Morgen 6 Uhr 37,1 °, Schweiss. — Urin: Menge in 12 Stunden 450 com. Reaktion 
saoer. Mikroskopisch ohne Besonderheit. Albumen-Spuren. Saccbarum 0. Zink in 
deutlicher Reaktion. 

Am 17. Mai 1905 Giesstag. Frieren, Frösteln, kein Fieber, höchste Tempe¬ 
ratur 37 °. — Am 20. Mai 1905 Frieren, Temp. 36,5 °. Pat. glaubt, die günstige 
Wirkung auf das ihm in den letzten Tagen von mir verordnete Natr. bicarb. — 
stündlich eine Messerspitze während des Giessens — zuschreiben zu sollen (?). 

Am 27. Mai 1905 war wieder typisches Giessfieber vorhanden mit folgenden 
Temperaturen: Abends 8 Uhr 36,5 °, Frieren; 9 Uhr 38 °, Schüttelfrost; 10 Uhr 
38,5 °, Schweiss. Am andern Morgen 36,5 °. Urinmenge in 12 Stunden 480 ccm. 
Albumen x / 2 pM. nach Esbach. Zink 0. 

Was können wir aus diesem Fall für Schlüsse ziehen? 

Da auch bei diesem Patienten nach dem Giessen mehrfach, 
wenn auch nicht regelmässig, deutliche Spuren Zink im Drin nach¬ 
gewiesen werden konnten, so erscheint mir der Beweis mit genügender 
Schärfe erbracht zu sein, dass wir es beim Giessfieber mit einer 
akuten Zinkvergiftung zu tun haben. Die malariaartigen, bei diesem 
Patienten deutlich ausgesprochenen Symptome können, wie wir weiter 
ersehen, von hohem Fieber begleitet sein, doch gehört dieses Fieber 
durchaus nicht zum typischen Krankheitsbild, da die charakteristischen 
Symptome, Frieren, Schüttelfrost, Schweissausbruch auch ohne jede 
Temperatursteigerung auftreten können. Warum in einem Fall Fieber 
auftritt, im andern nicht, möchte ich mit voller Sicherheit nicht ent¬ 
scheiden, wahrscheinlich spielt die Menge der inhalierten Zinkdämpfe 
eine Rolle. 

Dass das Fieber nicht durch die Veränderungen der inneren 
Organe (z. B. der Nieren) allein bedingt wird, geht schon daraus her¬ 
vor, dass an Tagen, wo relativ viel Albumen im Urin ausgeschieden 
wurde, kein Fieber vorhanden war, während an Tagen mit hohem 
Fieber nur geringe Mengen Albumen bei etwa gleicher Hamsekretion 
nachzuweisen waren. Doch lässt sich kein konstantes Verhältnis 
zwischen Fieber und Albuminurie bzw. Zinkausscheidung konstruieren. 
Das Zink ist als causa nocens der Albuminurie anzusehen. Dies 
geht mit Sicherheit daraus hervor, dass an Tagen, w’o nicht gegossen 
wurde, keine Albuminurie auftrat. Es ist sogar wegen der vor¬ 
handenen Zylindrurie eine direkte Schädigung des Nierengewebes an¬ 
zunehmen. Wenn die Erscheinungen zurzeit noch als vorübergehende 
anzusehen sind, so kann doch der dauernde regelmässige Reiz mit 
einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu einer chronischen Nierenentzündung 


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Dr. Julius Sigel, 


führen. Es ist ja wohl verfehlt, aus einem einzelnen Fall allgemeine 
Schlüsse zu ziehen, doch ist bei weiteren Untersuchungen über das 
Giesslieber auf diesen Punkt ein besonderes Augenmerk zu richten. 

In einem dritten Fall, den ich in Vaihingen a. E. zu beobachten 
Gelegenheit hatte, traten nach dem Giessen unter Erscheinungen des 
Giessliebers meist nur Temperatursteigerungen von y 2 —1 Grad auf. 
Bei diesem Patienten, der jahrelang unter den heftigsten Giessfieber- 
erscheinungcn zu leiden hatte, treten zurzeit ohne nachweisbare 
Ursache nur noch leichte Symptome, wie Frieren und Appetitlosig¬ 
keit auf. 

Aus unseren experimentellen Untersuchungen geht mit voller 
Sicherheit hervor, dass das Giessfieber als Ausdruck einer akuten 
Zink Vergiftung aufzufassen ist. Die Zinkhypothese wird ferner 
durch die Tatsache bewiesen, dass in mehreren schon oben erwähnten 
Giessereien nach Giessen von Zink, das stark überhitzt und in 
Dampfform übergegangen war, heftige Anfälle von Giessfieber 
beobachtet wurden. Die Schwere der Anfälle, die Höhe des Fiebers 
hängt von verschiedenen Umständen ab, einmal spielen die individuelle 
Disposition eine Rolle, sodann die Menge der inhalierten Dämpfe, die 
Reinheit des gegossenen bzw. zu giessenden Materials, sowie die 
später noch zu besprechenden hygienischen Einrichtungen. So harm¬ 
los, wie von manchen Seiten behauptet wird, ist die Erkrankung der 
Giesser nicht, indem Störungen mannigfacher Art beobachtet werden: 
Pharyngitis, Bronchitis, Gastritis, Nephritis etc. 

In welcher Form bzw. in welcher Verbindung das Zink in den 
Organismus eindringt, kann, ehe der Beweis durch Tierexperimente 
erbracht ist, mit voller Sicherheit zurzeit nicht gesagt werden. Doch 
erscheint es mir wahrscheinlich, dass es als metallisches Zink in 
Form des Zinkstaubes in den Organismus kommt und zwar in statu 
nascendi. 


111. Die Bekämpfung des Giessfiebers. 

1. Die medikamentöse Behandlung. 

Im ersten und zweiten Teil dieser Arbeit haben wir die Ursachen 
des Giessliebers und alle die Entstehung desselben begünstigenden 
Momente zusammengestellt und haben nunmehr die Aufgabe, die 
Faktoren, die den Ausbruch des Giessliebers mit seinen schädlichen 
Folgen verhindern bzw. die Leiden der ausgebrochenen Krankheit zu 


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Das Giessfieber und seine Bekämpfung. 


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vermindern im Stande sind, hervorzuheben. Was zunächst den 
letzteren Punkt anbelangt, so habe ich schon im zweiten Teil gesagt, 
dass wir ein spezifisches Mittel bis heute nicht haben. Nur Milch¬ 
genuss vor und nach dem Giessen scheint von Wert zu sein. Nachdem 
wir festgestellt hatten, dass das Giessfieber durch eine akute Zinkver¬ 
giftung hervorgerufen wird, war der Gedanke naheliegend, das durch 
die Lungen und ev. durch den Magendarmkanal aufgenommene Zink 
in unlösliche Verbindungen überzuführen, umsomehr, als wahrschein¬ 
lich die gute Wirkung der Milch darauf beruht, dass das in den 
Organismus eingeführte Zink in das unlösliche Zinkalbuminat über¬ 
geführt wird. Die gerbsauren, kohlen- und phosphorsauren Ver¬ 
bindungen des Zinks sind ebenfalls unlöslich und so empfahl ich 
mehreren Giessern doppelkohlensaures Natron als Antidot zu nehmen. 
Ich verordnete am Giesstage von morgens ab stündlich eine Messer¬ 
spitze voll zu nehmen. Meine an einzelnen Giessern gesammelten 
Erfahrungen sind nun derartige, dass in einigen Fällen eine leichte 
Besserung bzw. Minderung der krankhaften Erscheinungen erzielt 
w r urde. Ich erkläre mir die günstige Wirkung so, dass der Teil des 
Zinks, der sonst vom Darm aus resorbiert wurde, durch das Natr. 
bicarb. unschädlich gemacht wird, während auf den grösseren Teil, 
der von den Lungen aus aufgenommen wird, das Natr. bic. keinen 
wesentlichen Einfluss auszuüben vermag. Ein spezifisches Mittel ist 
also auch das Natr. bic. nicht. 

Von der Anwendung der antipyretischen Mittel, Antipyrin, Chinin, 
Phenacetin habe ich keinen Erfolg gesehen. 

Von internen Mitteln verdienen also Milch und Natr. bic. eine 
gewisse Beachtung. 

2. Die hygienischen Massnahmen. 

Weit wichtiger erscheint es mir, die Massregeln zu besprechen, 
die den Ausbruch des Giessfiebers verhindern sollen, mit anderen 
Worten die Prophylaxe. Wir haben gesehen, dass die akute Zink¬ 
vergiftung durchaus nicht so unbedenklich ist, wie vielfach von Aerzten 
und Praktikern angenommen wird. Da eine Immunität, wenigstens 
eine angeborene, nur sehr selten ist und da bei hygienisch nicht ganz 
einwandfreien Verhältnissen das Giessfieber sogar häufig ist, so haben 
wir allen Grund, die Massregeln zur Bekämpfung der Krankheit recht 
streng durchzuführen. Was haben wir zu tun? 


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Dr. Julius Sigel, 


Im zweiten Teil wurde ausführlich besprochen, dass für die Ent¬ 
stehung des Giessfiebers bzw. für die Schwere und Häufigkeit der 
Attacken mehrere Momente in Betracht kommen, die auszuschalten 
in unserer Macht liegt, während wir mit anderen das Giessfieber be¬ 
günstigenden Faktoren als mit Imponderabilien zu rechnen haben. 
Von grosser Bedeutung ist schon die Ueberwachung des technischen 
Giessercibetriebes im allgemeinen, wobei namentlich auf die Be¬ 
schaffenheit der Oefen und die Zusammensetzung des Schmelzgutes 
zu achten ist. Wir haben weiter schon die Tatsache konstatiert, dass 
Exzesse jeder Art, Alkoholabusus, Gesundheitsstörungen verschiedener 
Art zum Giessfieber disponieren, dass die Hygiene des Körpers von 
grosser Bedeutung ist, ferner, dass die Grösse und Höhe 'des Giess¬ 
raumes und die Ventilation eine hervorragende Rolle spielen. 

Um eine wirksame Bekämpfung der Krankheit durchführen zu 
können, sind wir, ehe wir nicht spezifische Mittel gegen das Giess¬ 
fieber kennen, auf drei Wege angewiesen. Wir müssen überwachen: 

1. Die Technik des Giessens, speziell Oefen und Schmelzgut. 

2. Den persönlichen Schutz der Arbeiter. 

3. Die Giessräume und ihre Ventilationseinrichtungen. 

ad. 1. Die Einrichtungen der Schmelzöfen in den Giessereien 
sind, wenigstens soweit die zahlreichen von mir besuchten Giessereien 
in Betracht kommen, im Grossen und Ganzen so gut, dass die ent¬ 
strömenden Verbrennungsgasc und die beim Schmelzen entstehende 
grosse Hitze nachgewiesenermassen keine oder nur unbedeutende 
Schädigungen der Arbeiter bedingen. Doch ist überall darauf zu 
achten, dass die Schmelzöfen mit wirksamen Abzugsvorrichtungen für 
die entweichenden Gase versehen sind. Einen Punkt möchte ich 
noch besonders hervorheben, nämlich die Tatsache, dass beim Ein¬ 
schmelzen von Altmessing, von Spähnen unbekannter Herkunft weit 
mehr Giessfieber beobachtet wird, als wenn reine Metalle gegossen 
werden. Selbstverständlich können die ungeheuren Mengen von Alt¬ 
messing nicht als wertlos weggeworfen werden, vielmehr müssen wir 
Mittel und Wege finden, die Giftigkeit der hier beim Giessen ent¬ 
stehenden Dämpfe zu vermindern. Ob mit dem folgenden Vorschlag 
von Eulenberg (18) viel erreicht wird, kann ich nicht entscheiden. 
Techniker bezweifeln es. E. empfiehlt nämlich beim Einschmelzen 
von alten Metallegierungen, deren Komposition unbekannt ist, durch 
Zusatz von leicht schmelzenden Silikaten, Fluoriden und Boraten eine 


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Das Giessfieber und seine Bekämpfung. 


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leichtflüssige Schlacke zu erzeugen, um die metallischen Dämpfe 
möglichst aufzunehmen. Die abfallenden Schlacken können nach E. 
sehr gut bei der Glasfabrikation verwendet werden und eine Ent¬ 
schädigung für diesen Zusatz liefern, man würde also durch diese 
sanitäre Massregel auch dem kaufmännischen Interesse nicht in nach¬ 
teiliger Weise zu nahe treten. 

ad. 2. Was den persönlichen Schutz der Arbeiter betrifft, so 
müssen wir vor allem darauf hinwirken, dass die beim Giessen unver¬ 
meidliche Gasbildung in möglichst wenige Räumlichkeiten dringt und 
dass nur die unbedingt notwendige Zahl von Arbeitern beim Giessen 
beschäftigt wird bzw. sich während des Giessens im Giessraum aufhält. 

Weiterhin sollen nur ganz gesunde, widerstandsfähige und unter 
ärztlicher Kontrolle (Gewerbearzt) stehende Personen zum Giessen 
herangezogen werden. Jugendliche oder weibliche Personen sind aus 
den oben erwähnten Gründen nicht zu diesem Dienst zuzulassen. Es 
ist darauf hinzuwirken, dass die Giesser und Schmelzer während 
ihrer Beschäftigung keinen oder nur sehr wenig Alkohol zu sich 
nehmen, sondern, dass ihnen, wie in der Geisslinger Metallwaren¬ 
fabrik, Milch und Kaffee gereicht wird. Es soll ferner den Arbeitern 
reichlich Gelegenheit zum Umkleiden und Waschen gegeben werden; 
in diesen Räumen, die sauber und heizbar sein müssen, sollen reich¬ 
lich Wasser, Seife und Handtücher vorhanden sein. An dieser Stelle 
müssen auch noch einige Worte über die Schwämme und Respiratoren 
gesagt werden. Die Schwämme, die meist mit Wasser oder ver¬ 
dünntem Essig getränkt sind, bieten einen oft ganz guten, allerdings 
nicht vollkommenen Schutz; auch die übrigen Respiratoren, die meist 
ungerne getragen werden, gewähren keine vollkommene Sicherheit. 
Mit Masken, nach Art der Taucherkopfmasken zu arbeiten, wie 
Rambousek (34) vorschlägt, lässt sich in der Praxis, wie er selbst 
zugibt, aus naheliegenden Gründen nicht durchführen. Solche 
Schwämme bzw. geeignete Respiratoren müssen jedenfalls in allen 
Giessereien in genügender Zahl vorhanden sein und auf deren Be¬ 
nutzung durch die Arbeiter von Seiten des Arbeitgebers gedrungen 
werden. Was die übrige Hygiene die Person des Arbeiters betreffend 
aulangt, so kann nicht auf dem Weg des Gesetzes, sondern lediglich 
dem der allgemeinen Belehrung vorgegangen werden. Die Arbeiter 
können zu ihrem eigenen Schutz viel tun, wenn sie, wie es in der 
Praxis noch viel zu wenig geschieht, den Dämpfen mehr aus dem 
Weg gehen und selbst jede unnötige Rauchbildung zu verhindern 


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Dr. Julius Sigel, 


suchen. Eine gute Atemführung ist vorteilhaft, weiter ist es nützlich, 
nach dem Guss die Tiegel zu bedecken, damit nicht noch mehr Zink¬ 
dämpfe in den Arbeitsraum dringen. Es muss in dieser Hinsicht 
belehrend vorgegangen werden; auf die strenge Einhaltung von zu 
gebenden Arbeitsordnungen ist von massgebender Seite zu sehen. 

ad 3. Wichtiger noch, als die in den beiden ersten Abschnitten 
aufgeführten Momente ist die Frage des Giessraumes selbst und seiner 
Ventilation, was schon aus folgenden Daten hervorgeht, die ich den 
Akten der Gewerbeinspektion, die mir von der Kgl. Zentralstelle für 
Gewerbe und Handel in Württemberg zur Verfügung gestellt wurden, 
entnehme und die sich mit meinen eigenen Beobachtungen decken. 

a) In den Anlagen mit hohen, luftigen und gut ventilierten Giess¬ 
räumen (wo die Grundfläche des Giessraumes 100—200 qm und die 
Höhe 8—12 m beträgt), kommt zwar das Giessfieber noch ab und 
zu vor, jedoch selten und in den leichtesten Graden. 

b) In den Anlagen mit genügend grossen und genügend ventilierten 
Giessräumen (wo die Grundfläche des Giessraumes 40—100 qm und 
die Höhe 4—8 m beträgt) bekommen die Arbeiter das Giessfieber 
nicht regelmässig, jedoch die meisten erkranken mehrmals. 

c) In den kleinen und mangelhaft ventilierten Giessräumen 
(Grundfläche 6—20 qm, Höhe 2—4 m) erkranken die Arbeiter, bei 
denen nicht eine baldige Gewöhnung eintritt, fast nach jedem Gusse. 

Wir müssen also unser Augenmerk richten auf die allgemeine 
Beschaffenheit, auf die Grösse, die Höhe und Geräumigkeit der 
Giessereien, auf die Ventilation derselben, auf alle Momente, die eine 
reichliche Gas- und Staubansammlung begünstigen. Aehnlich, wie in 
der Zinkhüttenindustrie, sind folgende Forderungen aufzustellen: 

Die Räume, in denen Zinklegierungen hergcstellt, und gegossen 
werden, müssen geräumig, hoch und so eingerichtet sein, dass in 
ihnen ein ausreichender Luftwechsel stattfindet. Sie müssen mit einem 
ebenen und festen Fussboden versehen sein, der eine leichte Be¬ 
seitigung des Staubes auf feuchtem Wege gestattet. Die Wände 
müssen, um eine Staubansammlung zu vermeiden, mit einem Oel- 
farbenanstrich versehen bzw. abwaschbar sein. Staub, Gase, Dämpfe, 
die in den Giessraum dringen, müssen, wie schon erwähnt, durch 
wirksame Einrichtungen möglichst nahe der Austrittstelle abgefangen 
und zum Giessraum hinausgeführt werden. Im Giessraum selbst soll 
während des Giessens keine andere Arbeit geleistet werden. In 
grossen Giessereien ist die Konzentration der Dämpfe meist nicht 


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Das Giessfieber und seine Bekämpfung. 


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mehr so stark, um heftiges Giessfieber zu erzeugen, auch wenn nur 
natürliche Ventilation vorhanden ist. In den meisten Giessereien ge¬ 
nügt aber einfache Ventilation nicht, vielmehr müssen zur Verhütung 
des Giessfiebers künstliche Ventilationsanlagen gemacht werden. Um 
die Dämpfe vom Giesstiegel direkt abzusaugen, ist, wie Roth in 
seinem Kompendium schreibt, neuerdings ein Apparat von W. Lyn es 
in Birmingham konstruiert worden. Die Einrichtung hat den 
praktischen Vorteil, dass eine Menge von Zinkoxyd, die sonst als 
Dampf verloren geht, in dem Absaugerohr kondensiert und gesammelt 
wird. 

In der Messinggiesserei des Feuerwerkslaboratoriums in Spandau 
sind zur Beseitigung der Zinkdämpfe Absaugleitungen mit innen ein¬ 
gebauten elektrisch betriebenen Ventilatoren angebracht. Die Leitungen 
können teleskopartig auseinander und zusammengeschoben werden, sie 
sind ausserdem drehbar und je nach Bedarf nach allen Punkten ver¬ 
schiebbar. Sie dienen einerseits als A bsaugetrichter an jeder Stelle 
des Giessraumes und sie können andererseits, wenn sie nicht im Ge¬ 
brauch sind, soweit zur Seite gerückt werden, dass sie andere Arbeiten 
nicht behindern. (Roth). In der Giesserei von Andrä-Stuttgart hat 
sich ein hoher Luftschacht, der direkt über dem Schmelzofen ange¬ 
bracht ist, sehr gut bewährt, während den grossen Werken von 
Wieland in Ulm eine Lüftungseinrichtung von Schreider-Feuerbach 
gute Dienste getan hat. Die genaue Beschreibung derselben findet 
sich in den Jahresberichten der Gewerbeaufsichtsbeamten in Württem¬ 
berg 1903, S. 126. Ich habe mit dem Ingenieur Herrn Georg Schreider 
in Feuerbach wegen geeigneter Ventilationsanlagen gesprochen. Der¬ 
selbe hält auch in alten Giessereien noch die Anbringung von 
Ventilationseinrichtungen, die einen 40—50 maligen Luftwechsel in 
der Stunde gestatten, ohne dass Zug entsteht, für technisch durch¬ 
führbar und zwar angeblich ohne zu grosse Kosten. Es werden nach 
dem System Schreider, das sich streng den jeweiligen Anlagen an¬ 
passt, die entstehenden Dämpfe direkt abgeleitet, teilweise so, dass 
die Berührung der Arbeiter mit den Dämpfen eine minimale ist bzw. 
diese ganz aufgehoben wird. 

Wenn wir nun gefunden haben, dass das Hauptmittel zur Be¬ 
kämpfung des Giessfiebers die hygienischen Einrichtungen und Mass- 
regeln sind und unter diesen wieder die Grösse und Ventilation der 
Giessräume die Hauptrolle spielen, so glauben wir die Forderung aus¬ 
sprechen zu dürfen, dass bei allen Neuanlagen von Giessereien die 


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Dr. Julius Sigel, 


staatliche Konzession nur gegeben werden soll, wenn die Grösse des 
Giessraumes und die Ventilation derselben allen Anforderungen der 
Hygiene nach den oben ausgeführten Bedingungen entsprechen, dass 
weiter in allen kleineren und kleinen Giessereien eine Revision der 
Ventilationsanlagen vorgenoraraen wird. Die Häufigkeit des Giess¬ 
fiebers und die Häufigkeit der einzelnen Anfälle in den kleinen 
Giessereien steht meist in umgekehrt proportionalem Verhältnis zur 
Güte und Leistungsfähigkeit der Ventilationseinrichtungen. In diesem 
Punkt kann noch viel Vollkommeneres geleistet werden, von der 
Regierung, wenn sie in gesetzgeberischer Weise vorgeht, vom Arbeit¬ 
geber, wenn er die notwendigen Ventilationsanlagen so vollkommen 
als möglich nach den neuesten Errungenschaften der Technik ein- 
richtet, schliesslich vom Arbeiter selbst, wenn er sich streng an die 
ihm zu gebenden Vorschriften hält. 

Resume. 

1. Das Giessfieber ist als der Ausdruck einer akuten Zink Ver¬ 
giftung aufzufassen. 

2. Die Symptome, die meist erst mehrere Stunden nach dem 
Giessen auftreten, sind: Kratzen im Hals, Husten und Hustenreiz, 
süsser oder Metallgcschmack im Mund, Müdigkeit, Abgeschlagenheit, 
Muskelschmerzen und Krämpfe, Appetitlosigkeit, Würgreiz, in seltenen 
Fällen Erbrechen, Asthma, Beklemmung auf der Brust, Frieren, das 
sich oft zum Schüttelfrost steigert, Herzklopfen, profuser Schweiss¬ 
ausbruch in kritischer Weise. 

Das Fieber, das meist nur w r enige Stunden anhält, bewegt sich 
meist in mässigen Grenzen (38—39°), doch können die typischen 
Symptome auch ohne jegliche Temperatursteigerung auftreten. Be¬ 
sonders charakteristisch ist die Luftbeengung, das Frieren, der Schüttel¬ 
frost und der extrem starke Schweissausbruch. 

Die Krankheit dauert 5—20 Stunden, selten länger. 

3. Das Giessficber kommt fast nur in Messinggiessereien, sowie 
in Giessereien, in denen Zink rein oder mit entsprechenden Legierungen 
zusammengegossen wird, vor. Beim Giessen bzw. Schmelzen von 
reinem Zink kommt Giessfieber nur vor, wenn das Zink stark über¬ 
hitzt bzw. zum Dampfen gebracht wird. Arbeiter in Eisengiessereien, 
Rorgiesser usw. erkranken nicht. 

4. Eine angeborene Immunität gegen das Giessfieber ist, wenn 
überhaupt eine solche vorkommt, sehr selten. 


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Das Giessfieber und seine Bekämpfung. 


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5. Eine Gewöhnung, ein Unempfindlichwerden tritt bei ca. 70 bis 
75 pCt. der Arbeiter ein, weitere 20—25 pCt. erkranken mehr oder 
weniger regelmässig, aber meist nicht sehr stark; nur in seltenen 
Fällen treten die Anfälle dauernd so heftig auf, dass ein Wechsel des 
Berufes nötig ist. 

6. Die Art der Legierung ist von grossem Einfluss; je zinkhaltiger 
die Legierung ist, um so grösser ist die Neigung zum Giessfieber. 
Giessen von Messing unbekannter Komposition gilt als gefährlich. 

7. Bei schlechtem und kaltem Wetter, ebenso im Winter ist 
Giessfieber häufiger, als im Sommer und an schönen Tagen. 

8. Ungünstig wirken Exzesse in Venere et in Baccho, ausserdem 
sind schwächliche und jugendliche Individuen mehr zum Giessfieber 
geneigt, als ganz gesunde und kräftige Personen. 

9. In grossen Giessereien mit guter Ventilation ist Giessfieber 
seltener, als in kleinen schlecht ventilierten Räumen. Vorsichts- 
massregeln, Schwämme, Respiratoren usw. haben einen bedingten 
Wert, werden aber im allgemeinen wenig und nicht sehr gerne an¬ 
gewendet. 

10. Der einzelne Anfall ist an und für sich ungefährlich, jedoch 
ist die Summation der Reize für den Organismus nicht ganz unbe¬ 
denklich (chronische Lungen- und Verdauungsstörungen, Nicren- 
krankheiten!). 

11. Eine spezifische medikamentöse Behandlung gibt es bis heute 
nicht; Natr. bicarb. und Milch wirken in einzelnen Fällen günstig. 

12. Um eine wirksame Bekämpfung durchzuführen, ist: 

a) die Uebcrwachung des technischen Gicssbetricbs durch die 
Gewerbeinspektion, die von einem Arzt unterstützt sein muss, nötig; 

b) der persönliche Schutz der in Giessereien beschäftigten Arbeiter 
eventuell auf legislatorischem Weg in der oben angedeuteten Weise zu 
kontrollieren; 

c) sind die allgemein hygienischen Einrichtungen der Giessereien, 
speziell ihre Vcntilationsanlagcn zu überwachen. 


Literatur. 

1) Thakrah sb. Grcenhow, Brass-founders ague. Medio.-chirurg. Transact. 
1862. p. 178. 

2) Blandet, Annales d’hygieno et de m6d. 16g. Vol. XXXIII. p. 462. 

3) Annales d’hygieno et de med. 16g. Vol XXXIV. p. 222. 

Vierteljahrs8clirift f. ger. Med. u. San.-Weseo. 3. Folge. XXXII. 2. 27 


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412 


Dr. Julius Sigel, Das Giessfieber und seine Bekämpfung. 


4) Greenhow, Med. chir. Transact. 1862. p. 180. 

5) Derselbe, The medic. Times and Gazette. 1862. p. 227. 

6) Schnitzer, Preussische mediz. Zeitung. 1862. S. 198. 

7) Derselbe, Pharmaz. Zentralhalle. 1862. No. 55. S. 457. 

8) Hirt, Krankheiten der Arbeiter. 1871. Bd. I. 1. Abteilg. S. 168. 

9) Eulenberg, Gewerbehygiene. 1876. S. 720. 

10) Simon, Remarks on brass workers’ diseases. The British medical Journal. 

1887. p. 887. 

11) Hogben, Birmingham med. Review 1887. Ref. in Vierteljahrsschr. für ger. 
Med. 1888. S. 366. 

12) Czajkowski, Josef, Berufskrankheiten, Zinkvergiftung. Gaz. lek. 21. 22. 24. 
Ref. in Virch. Hirsch Jahresb. 1893. Bd. I. S. 575. 

13) Villaret, Gesundheitsschädl. Einflüsse beim Gewerbebetriebe in Albrechts 
Handbuch der Gewerbehyg. 18%. S. 114. 

14) Rubner, Lehrbuch der Hyg. 1903. S. 739. 

15) Heinzerling, Handbuch der Hyg. Bd. 8. S. 755. 

16) Plügge, Grundriss der Hyg. 1897. S. 482. 

17) Hohmann, G., Studie über das Giessfieber. Würzburg 1903. S. 26. Diss. 

18) Roth, Kompend. der Gewerbekrankheiten. 1904. S. 37. 

19) Seiffert, Die Erkrankungen der Zinkhüttenarbeiter. Vierteljahrsschr. für 
öffentl. Gesundheitspfl. 1897. S. 424. 

20) Nothnagel, Spez. Path. u. Ther. Bd. 1. S. 121. (Gewerbl. Verg.) 

21) Muspratts Chemie. S. 2010. 

22) Jahresber. der Gewerbeaufsichtsbeamten in Württemberg. 1903. S. 122 (und 
Akten der Gewerbeinspektion). 

23) v. Jaksch, Vergiftungen. 1897. S. 184. 

24) Tracinski, Deutsche Vierteljahrsschr. für öffentl. Gesundheitspfl. 20. 58. 

1888. 

25) Kunkel, Spez. Toxik. I. 1899. S. 168. 

26) Arbeiten aus dem Kaiserl. Gesundheitsamt. 1900. S. 443. Wutzdorff, Die 
im Zinkhüttenbetrieb beobachteten Gesundheitsstörungen. 

27) A. Houles und de Pietra Santa, Die Wirkung des Kupfers auf den 
Organismus. Berg- u. Hüttenm. Zeitung. 1884. S. 129. 

28) Sommerfeld, Handbuoh der Gewerbekrankheiten. 189S. 

29) Hirt, Krankheiten der Arbeiter. S. 165/66. 

30) Pop off, Berliner klin. Wochenschrift. 1873. S. 49. 

31) Schlockow, Deutsche med. Wochenschr. 1879. No. 17 u. 18. 

32) Schmidt, Lehrbuch der pharm. Chemie. 1893. S. 707. 

33) Kletzinsky, Wiener med. Wochenschrift. 1858. S. 22. 

34) Kambousek, Zeitschrift für Gewerbehygiene. 1902. S. 149. 


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8 . 


Untersuchungen über die Verunreinigung der Leine 
durch die Abwässer der Stadt Güttingen und ihre 
Selbstreinigung, ausgeführt im Sommer 1904. 

Von 

Dr. Th. Frieke, Göttingen. 


Bei ihrem Eintritt in das Göttinger Stadtgebiet hat die Leine 
einen etwa 100 km langen Weg zurückgelegt. Neben organischen 
Bestandteilen hat sie bedeutende Mengen anorganischer Substanzen, 
im besonderen Kalk aufgenommen. Grössere Industriezentren mit 
ihren zum Teil schädlichen Abwässern hat sie dagegen nicht passiert. 
Etwa 1500 m oberhalb Göttingens (Entnahmestelle I der Tabellen) 
teilt sich die Leine: während die sogenannte Freileine über ein Wehr 
fällt und hier der Universitätsbadeanstalt das Wasser liefert, späterhin 
die eigentliche Stadt westwärts umkreisend, durchschneidet der Kanal 
mit im Ganzen geringem Gefälle die Strassen der inneren Stadt und 
wird mit und ohne Erlaubnis in mannigfaltigster Weise verschmutzt. 
Wenngleich einige Gerbereien, Färbereien, eine Seifensiederei, ein 
Schlachthaus, Gasanstalt, zwei Bierbrauereien usw. ihre Abwässer dem 
Kanal (zum geringsten Teil auch der Freileine) zukommen lassen, so 
wird man doch wohl in der Annahme nicht fehlgehen, dass die Haupt¬ 
schuld an der Verunreinigung den Haushaltungen zuzuschreiben ist 
— und zwar umsomehr, als seit einer Reihe von Jahren die Zahl der 
Spülklosetts erheblich gestiegen ist. Im November 1904 waren nach 
Angabe des städtischen Bauamts mit Spülklosetts versehen 445 Grund¬ 
stücke; auf diesen wohnen nach Berechnung des Verfassers 6000 
Menschen, welche (nach Rubner) täglich in Harn und Kot 372 kg 
organischer Trockensubstanz liefern werden. 

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Dr. Th. Fricke, 


Nachdem beide Flussarme, sowohl die Freileine wie der Kanal 
etwa 1 km durch unbewohntes Gelände geflossen sind, mischt sich 
unterhalb der Maschmühle das grauschwarze Wasser des Kanals mit 
dem ziemlich klaren Wasser der Freileine; da sie unter rascher 
Strömung aufeinander treffen, ist ihre Mischung nach kürzester Zeit 
vollendet, mindestens aber bei der Levinschen Eisenbahnbrücke 
(No. II der Tab.), die etwa 60 m unterhalb des Zusammenflusses 
die Leine überschreitet. Wieder 60 m weiter mündet von rechts her 
das Hauptsiel (No. III der Tab.). Dieses hat soeben die Kläranlage 
passiert, in der in sehr vollkommener Weise alle Bestandteile über 
5 mm Grösse zurückgehalten werden. Da nur diejenigen Häuser¬ 
gruppen direkt in den Kanal oder die Freileine entwässern, die an 
das Hauptsiel aus lokalen Gründen nicht angeschlossen werden 
konnten, bringt das Hauptsiel bei weitem die Hauptmenge der 
städtischen Abwässer (nach Ermittelung des Stadtbauamts im Jahre 
1901 in 24 Stunden 1600 cbm, in einer Sekunde 110 Liter; pro 
Kopf und Tag 54 Liter). Unterhalb des Sieles erreicht nun die Ver¬ 
unreinigung der Leine ihren höchsten Grad. Das Wasser ist schmutzig¬ 
grau, und die Uferböschung überzogen von einer grauen Schmutz¬ 
schicht. Aber dieses unerfreuliche Bild macht schon nach kürzester 
Zeit einem freundlicheren Platz; schon dort, wo — 300 m ab¬ 
wärts — die Leine das Lutter-Bächlein (No. VI), das nur wenige 
Sekundcnlitcr klaren Wassers liefert, aufnimmt, ist das Ufer wieder 
grün von Algen und Gräsern, und das Wasser erheblich weniger 
trübe. Die Besserung macht dann langsame Fortschritte, wird aber 
— an Alltagen wenigstens — häufig wieder arg beeinträchtigt durch 
den Einfluss der Grone (No. IX), die die Abwässer des Dorfes Grone, 
einer Saline und besonders der recht bedeutenden Levinschen Tuch¬ 
fabrik bringt: sie vermag die Leine mehrere Kilometer mit ihrer spezi¬ 
fischen Farbe zu färben. An Feiertagen ist die Grone dagegen klar; sie 
wird selbst in diesem überaus trockenen Sommer mindestens 100 Sc- 
kundenliter geliefert haben. Liess das Leinebett bis hierher das sorg¬ 
fältig korrigierende Eingreifen des Städtischen Bauamtes erkennen, so 
nimmt sie von jetzt ab ein zwar landschaftlich schöneres, aber gleich¬ 
zeitig unregelmässiges Aussehen an. Die Ufer der sich mehrfach win¬ 
denden Leine sind streckenweise von alten Weiden bewachsen, die ihre 
Zweige bis in das Wasser hängen lassen, und hier und da bilden sich 
Inseln von Treibholz usw. Gegen Bovenden hin wird der • Lauf 
wieder gerade und die Ufer kahl. Ohne Aufnahme von Zuflüssen wird 


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Untersuchungen über die Verunreinigung der Leine usw. 


415 


Bovendens Hauptbrücke nach dem Dorfe Lenglem (No. XI), dann die 
nach Parensen führende Holzbrücke (No. XII) passiert. 

Etwa 8 km unterhalb des Hauptsiels mündet die Harste und 
bald darauf die Espolde auf der linken Seite, auf der rechten die 
Weende: in diese entwässert nicht nur das gleichnamige Dorf, sondern 
auch Bovenden und Angerstein, woraus sich erklärt, dass die Leine 
von der Lutter bis zur Weende keinen einzigen nennenswerten Zufluss 
von rechts her empfängt. 

Nach Aufnahme einiger anderer Bäche geringerer Bedeutung 
erreicht die Leine endlich die Northeim mit Höckelheim verbindende 
Brücke: an diesem Punkte (No. XVI der Tab.) sind die letzten 
Proben für bakteriologische Untersuchungen entnommen; er liegt etwa 
20 km unterhalb der Sielmündung. 

Das Gefälle der Leine unterliegt selbstverständlich den grössten 
Schwankungen; sie entspringt bei Leinefclde in einer Höhe von etwas 
über 300 Metern; bei der Göttinger Universitätsbadeanstalt (I) liegt 
sie 148 m über dem Meeresspiegel, fällt bis zur Wiedervereinigung ihrer 
Arme (No. II) um 4 m und bis zur Holzbrücke Bovenden-Parensen 
um weitere 10 m; bei der Brücke Northeim-Höckelheim ist sie bei 
einer Höhe von 114 m angelangt, ist also auf der in vorliegender 
Arbeit berücksichtigten Strecke (No. I bis No. XVI), deren Länge 
etwa 25 km beträgt, um 34 m, d. h. um 1,36 pro km gefallen. Darf 
man also das Gefälle nicht als stark bezeichnen, und wird es sogar 
stellenweise sehr gering (z. B. bei No. I und VHI), so erreicht es an 
den Stellen, an denen seine Stärke erwünscht bzw. notwendig ist, 
höhere Grade; dass die Vereinigung von Freileine und Kanal sich 
unter beiderseitiger starker Strömung vollzieht, wurde bereits erwähnt. 

Besonders wichtig ist, dass die Strömungsgeschwindigkeit der 
Leine da, wo sie die Sielwässer empfängt, nach Ermittelung städtischer- 
seits je nach dem Wasserstande schwankt zwischen 1,053 m und 
1,818 m in der Sekunde, während für die Strömung im Siel als ge¬ 
ringster Wert 0,629 und als höchster 0,705 angegeben wird; es ver¬ 
hielt sich also die Geschwindigkeit wie 1: 1,6 im ungünstigsten, wie 
1 : 2,8 im günstigsten Falle. Das Massenverhältnis zwischen Abwasser 
und Vorfluter war 1 : 50,4 und stieg einmal sogar auf 1:173. 

Versuchs anordnung. 

Es war beabsichtigt, den Zustand der Leine oberhalb der Stadt 
(No. I) bakteriologisch und — soweit die Zeit das zuiiess — auch 


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416 


Dr. Th. Fricke, 


chemisch festzustellen; sodann die im Stadtgebiete erfolgenden Ver¬ 
unreinigungen in qualitativer und quantitativer Hinsicht zu prüfen; end¬ 
lich den höchsten Grad der tatsächlich eingetretenen Verschmutzung 
des Flusslaufes und seine etwa erfolgende Selbstreinigung nachzu¬ 
weisen. Zu diesem Zwecke wurden in den Monaten Juli, August und 
September d. J. Proben entnommen und zwar je ein Liter für die 
chemischen Untersuchungen. 

Für die bakteriologischen Proben wurden an den ausgewählten 
Stellen je drei bzw. vier Paare von Proben in sterilen Reagenzröhrchen 
entnommen, nämlich links und rechts, oben und — wo angängig — 
auch in der Tiefe (etwa 25 cm über dem Grunde): in letzterem Falle 
mit Abschlagsröhrchen dort, wo eine Brücke ihre Benutzung ermög¬ 
lichte; war keine solche vorhanden, so wurde ein mit Watte in ge¬ 
wöhnlicher Weise verschlossenes steriles Reagenzröhrchen an einer 
langen Stange in der Flussmitte vorsichtig bis auf den Grund geführt; 
mit Hilfe eines Fadens, der durch einen Angelhaken an dem Watte¬ 
bausch befestigt war, wurde dann das Röhrchen geöffnet; nachdem 
es sich gefüllt hatte und heraufgezogen war, wurde es mit einem 
andern bereit gehaltenen sterilen Wattebausch geschlossen. Dass 
dieses Verfahren, nach dem am 4. September die Proben „Mitte 
unten“ bei No. IV, V, VII u. VIII entnommen wurden, bei der nötigen 
Vorsicht brauchbare Resultate liefert, scheinen mir die ermittelten 
Zahlen zu beweisen. Die Proberöhrchen wurden sofort in Eis ge¬ 
bracht und noch selbigen Tages 1—5 Stunden nach der Entnahme 
verarbeitet. Die angewandten Verdünnungen schwankten zwischen 
1:10 (Lutter) und 0,3:600 (bzw. 1:2000) (Siel); von der Ver¬ 
dünnung wurde y 2 ccm (beim Siel 0,1—0,3) in eine Petrischale ge¬ 
bracht und dann Gelatine darüber gegossen. 

In den überaus heissen Tagen des Juli und August mussten die 
Schalen zunächst auf Eis gestellt werdon, da sie sonst zu langsam 
oder überhaupt nicht erstarrten. Unter sorgfältigster Beobachtung 
blieben sie dann so lange stehen, bis die auftretende Verflüssigung 
die Keimzählung zu beeinträchtigen drohte; dann wurden entsprechend 
der Reihenfolge und der Zeitdifferenz bei der Aussaat die Schalen 
Formoldämpfen ausgesetzt und die Kolonien entweder sofort oder 
nach Aufbewahrung im Eisschranke oder doch an kühlem Platze ge¬ 
zählt. Bei den Versuchen im Juli und August dauerte so die gewährte 
Inkubationszeit zwei, im September genau vier Tage. Stets habe ich die 
angelegten Kulturen unter möglichst gleichen Bedingungen auf bewahrt. 

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Untersuchungen über die Verunreinigung der Leine usw. 


417 


Zur Bestimmung des Rückstandes würden 200 ccm Wasser in 
einer Platinschale eingedunstet, im Toluolapparatc bei etwa 106° C. 
getrocknet und nach genau einstündigem Abkühlcn im Exsikkator ge¬ 
wogen. Der Gesaratrcst der Probe, etwa 800 ccm, wurde nun nach 
kräftigem Schütteln durch ein getrocknetes und gewogenes Filter ge¬ 
schickt zur Ermittelung der Schwebestoffe. Es folgte die Bestimmung 
des Kalipermanganatverbrauches. Das Chlor endlich wurde durch 
Titrieren mit Höllensteinlösung ermittelt, von der 1 ccm einem Milli¬ 
gramm Chlor entspricht. Andere chemische Substanzen zu bestimmen 
war mir leider nicht möglich. Die freundliche Erlaubnis des Herrn 
Professor von Esmarch, das Gutachten zu benutzen, welches Herr 
Professor Wolffhügel 1895 zur Empfehlung von Spülklosetts er¬ 
stattet hat, ermöglicht es, diese Lücke auszufüllen; die damals auf¬ 
gestellten Tabellen finden sich in der Anlage wieder. 

Ergeben nun die angestcllten Untersuchungen ein Bild, das die 
Selbstreinigung der Leine beweist? Ohne Zweifel! Schon ein Blick 
auf den Fluss selbst ergibt das. Dass der Leinekanal auf seinem 
Wege durch die Stadt eine grau-schwarze Farbe angenommen hat, 
dass das Wasser des wiedervereinigten Flusses durch die Einnlündung 
des Hauptsieles noch beträchtlich mehr verunreinigt wird, so dass 
sogar die Ufer von einer dicken Schmutzschicht überzogen werden, 
die in ihrem Bereiche kein Gras und dergl. duldet, wurde bereits er¬ 
wähnt; bei der Lutter (VI) schon, besonders aber beim Eselsstiege 
(X) ist — wenn die Grone mit ihren Färberei-Abwässern nicht hin¬ 
dernd eingreift — eine sehr deutliche Besserung bemerkbar. Bei der 
Bovcnder Hauptbrückc (No. XI) ist die Leine ein äusscrlich reiner 
Fluss, und oberhalb der Harste (No. XII) wetteifert ihr über festen 
Kiesboden dahinströmendes Wasser mit dem einer Quelle an absoluter 
Klarheit. 

Dem entspricht der experimentelle Befund: Nach Tabelle VIII 
verschwinden zuerst wieder die Schwebestoffe; sic haben bereits am 
Esclsstiegc (No. X) einen Wert erreicht, der niedriger ist als der 
oberhalb der Stadt; Salpetersäure (Tab. IX) und Salpetrige Säure 
(Tab. X) erreichen die Anfangsreinheit beim Eselsstieg; geringer, aber 
durchaus deutlich, ist das Schwinden des Ammoniak (Tab. XI). Un¬ 
vollkommen ist — wenigstens nach den vorliegenden Beobachtungen 
— das Verschwinden der Schwefelsäure (Tab. XII) und des Chlors 
(Tab. V); vermutlich würde eine Untersuchung des Leinewassers ober¬ 
halb der Harste günstigere Resultate gegeben haben. Nach dem Aus- 


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Dr. Th. Fricke, 


sehen der unmittelbar oberhalb der Weende einmündenden Bäche, der 
Harste und der Espolde, ist anzunehmen, dass diese die Leine in 
ziemlich erheblichem Masse verunreinigen; diese Lücke in den Unter¬ 
suchungen auszufüllen behalte ich mir für spätere Zeit vor. Günstigere 
Resultate — im Sinne der Selbstreinigung — liefert die Feststellung 
der Oxydierbarkeit (Tab. VII): der Permanganatverbrauch sank von 
12,0 bei No. IV (d. h. 25 m unterhalb des Sieles) auf 8,0 bei No. XI 
(Hauptbrücke Bovenden); also in 4 km Flusslauf um ein Drittel und 
blieb nur 1,2 mg über dem oberhalb gefundenen Werte. Der Trocken¬ 
rückstand endlich ging von 613 mg (bei No. IV) nach 8 km Flusslauf 
ganz stetig auf 560 mg und damit den Anfangswert (558 mg) zurück. 

Die Härte ist in vorliegender Untersuchungsreihe deswegen un¬ 
berücksichtigt gelassen, weil die Leine an sich einen solch hohen 

Grad derselben aufweist, dass die Verunreinigung der Stadt nicht 
wesentlich in Betracht kommt. 

So gross die Bedeutung der Selbstreinigung von chemischen Ver¬ 
unreinigungen für die Industrie, eventuell auch die Landwirtschaft, ist, 
so beansprucht doch vom hygienischen Standpunkte aus die grösste 
Berücksichtigung das Verhalten der Bakterien, und es gewährt eine 
grosse Beruhigung zu sehen, wie schnell die Zahl derselben zurück¬ 
geht. Dieses zeigen sowohl die Einzeltabellen, wie besonders die 
Uebersichtstabelle. Bei den ersten zeigen sich allerdings in der 

Zahlenreihe bei IV, V, Vn einige Unebenheiten; so übertrifft in der 
Untersuchung vom 31. Juli die Keimzahl bei VII die bei No. V; am 
14. August ergab die Zählung bei V mehr Keime als bei IV; am 
4. September endlich übertrafen No. V und VI No. IV an Keim¬ 
reichtum. Diese Differenzen darf man jedoch wohl als im Bereich 
der Fehlergrenze liegend erachten. Will man aber, hiervon absehend, 
nach einer Erklärung suchen, so kann man heranziehen, dass IV und 
V nur etwa 250 m, V und VII nur etwa 50 m auseinander liegen, 
dass ferner die Lutter zu unbedeutend ist, um irgend wie aus¬ 
schlaggebend zu sein, und dass endlich an dieser Stelle mehrfach 
starke Wirbel entstehen, die in ihrem Bereiche mehr oder weniger 

ihre eignen Verhältnisse schaffen werden. Dass das Resultat, d. h. 

die schnelle Selbstreinigung auf bakteriologischem Gebiete eine unum- 
stössliche Tatsache ist, geht daraus hervor, dass jede einzelne in der 
Generaltabeile aufgeführte Untersuchungsreihe, sofern sie dem Leine- 
laufe weit genug folgte, mit voller Deutlichkeit dasselbe Resultat gibt. 
Der Rückgang der Keimzahl auf die Zahl, wie sie oborhalb der Stadt 


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31. Juli 1904. Tabelle 


Untersuchungen über die Verunreinigung der Leine usw. 


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l ) Die Ziffern geben die Zahl der Keime im Kubikzentimeter Wasser an. 


420 


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Dr. Th. Fricke, 


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32,500 


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95,200 
00 | 56, 
66,900 

1 402, 
402,400 

00 1 222, 
206.500 


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Original frn-m 

UNiVERSUY OF IOWA 


14. August 1904. Tabelle II. 



September 1904. Tabelle III. 


Untersuchungen über die Verunreinigung der Leine usw. 421 



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Gck igle 


Original frnm 

UMIVERSITY OF IOWA 


[ ) Die Ziffern geben die Zahl der Keime im Kubikzentimeter Wasser an. 




Aus dem Gutachten des Herrn Professor 
Eigene Untersuchungen. Wolffhügel, betr. Zulassung von Spülklosetts, 

erstattet 1885. 


422 


Dr. Th. Fricke, 


zirka fin 

Entfernung vom Siel 4000 m ^ 0,0 m 

oberh. 


Probe- 

Entnahme 


III. Siel. 


Keimzahl 


280 m 300 m 325 m 


1904 

I. 31. 7. 5700 5933 6 400000 250554 

II. 14. 8. 3270 4960 2 517500 126400 

III. 31. 8. — — — — 

(Vor¬ 

probe) 

IV. 4. 9. 6135 8400 4 520000 91000 


VI. 

Lutter 


I. 

1894 

8. 12. 

30550 

42090 

430180 


70380 


II. 

1895 

13. 2. 

1350 

910 

4125 


1500 


III. 

14. 3. 

1890 

2000 

9800 

— 

2170 

— 

IV. 

6. 5. 

3100 

4590 

460800 

— 

16220 

— 

V. 

21. 5. 

8136 

9688 

113792 

— 

13308 

— 

VI. 

6. 6. 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

VII. 

22. 7. . 

11600 

4400 

536000 

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34900 

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VIII. 

27. 9. 

2300 

1900 

264000 

— 

40300 

— 

IX. 

1 

15. 11. 

24300 

22100 

388000 

— 

30700 

— 


Mittel 

10366 

10390 

275837 

— 

26185 

— 



112417 ] 2510 126300 
156545 ! 4720 83800 


100400 2950 100475 


Mittel 5035 6431 14479166 155985 123121 3393 103525 


Digitized by Gougle 


Original frnm 

UNIVERSUM OF IOWA 









Untersuchungen über die Verunreinigung der Leine usw. 


423 


(in Kubikzentimeter). Tabelle IV. 



1265 m 

1300 m 

1530 m 

4000 m 

5500 m 

7750 m 

8750 m 

zirka 

20000 

m 


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Pathogene Keime 

wurden bei keiner 

Probe gefunden. 











1 Wasserproben ge- 











( froren eingeliefert; 











| bei Zimmertempe- 


— 

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1375 

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— 

— 

— 

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— 

— 

14690 

15500 

— 

— 

— 

— 

— 



— 

— 

13280 

13310 

— 

— 

11624 

12400 

— 

* 


— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

Untersuchung durch 











vorzeitige Verflüssi¬ 











gung verunglückt. 


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16300 

14000 

_ 

_ 

5200 

4600 

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1 Kulturen bei der 


— 

— 

41800 

3900 


— 

1100 

1000 

— 

> Entnahmestello an- 


— 

— 

29800 

30300 

— 

— 

24000 

18300 

— 

\ gelegt. 


— 

— 

17011 

11486 

— 

— 

10480 

9075 

— 



91900 

6900 

59775 

27953 





4873 



70400 

5800 

64625 

30285 

— 

— 

— 

— 

4175 



— 

— 

— 

31333 

— 

7050 

— 

— 

— 

i 


84425 

13500 

75170 

16467 

10375 

6440 

— 

— 

— 



82242 

8733 

66523 

26510 

10375 

6745 

— 


4524 



Digitized by 


Gck igle 


Original frnm 

UMIVERSITY OF IOWA 








424 


Dr. Th. Fricke, 


Eigene Untersuchungen. 
Nach Einführung der Spül¬ 
klosetts. 

Aus dom Gutachten Professor Wolff- 
hügels (Untersuchungen von Prof. 
F. Fischer und Dr. Kalb). Vor Ein¬ 
führung der Spülklosetts. 


Mittel 

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Mittel 

HH ^5 ^ HH 1 

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31. 7. 

14. 8. 

4. 9. 

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Trockeu-Riiekstand (mg im Liter). Tabelle VI 


Untersuchungen über die Verunreinigung der Leine usw. 425 



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Original frnm 

UNIVERSUM OF IOWA 



426 


Dr. Th. Fricke, 


Kigeno Untersuchungen. 
Nach Kinführung der 
Spül-Klosetts. 

Aus dom Gutachten Professor Wolff- 
hügols (Untersuchungen von Professor 
P. Fischer und Dr. Kalb). Vor Ein¬ 
führung der Spül-Klosetts. 


Entfernung vom 
Siel in Metern 

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Oxydierbarkeit (mg K Mn 0 4 im Liter). Tabelle VII 





Schwebestoffe (mg im Liter). Tabelle VIII. 


Untersuchungen über die Verunreinigung der Leine usw. 427 


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▼ierteljalirsschrift f. ger. Med. u. öff. San.-Wesen. 3. Folge. XXXII. 2. 


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UMIVERSITY OF IOWA 



















428 


Dr. Th. Fricke, 


Aus Professor Wo 1 f f h ü g e 18 G utachten. 
(Untersuchungen von Prof. F. Fischer 
und Dr. Kalb.) Vor Einführung der 
Spül-Klosetts. 


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Aus dem Gutachten Professor Wolff- 
hügols (Untersuchungen von Professor 
F. Fischer und Dr. Kalh). Vor Ein¬ 
führung der Spül-Klosetts. 


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Untersuchungen über die Verunreinigung der Leine usw, 


429 


Schwefelsäure (mg im Liter). Tabelle XII. 


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beobachtet wurde, ist um so bemerkenswerter, als naturgemäss die 
Probe oberhalb der Stadt am Vormittage (meine eigene gegen 7y 2 Uhr), 
die weiter stromabwärts entnommene an Tagesstunden entnommen 
werden, an denen nicht nur die Luft, sondern auch das Wasser be¬ 
trächtlich wärmer ist; so betrug die Wassertemperatur am 31. Juli d. J.: 

bei No. I (vorm, Uhr).13° C. 

n „ II ( „ 11 „ ).17° C. 

„ „ XI (nachm. 2 2 ° „ ) 19° C. 

„ „ XVI Northeim-IIöckelhcim (abends ö^Uhr) 19° C. 

und am 14. August: 

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430 Dr. Th. Fricke, Untersuchungen über die Verunreinigung der Leine usw. 


bei No. I (vorm. 7% Uhr).14° C. 

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„ „ XI (nachm. I 80 „ ).15° C. 


„ Northeim-Höckelheim (nachm. 6 Uhr) . . . 17° C. 

Am 4. September stieg die Wassertemperatur nur um 1°: von 
14,5° C auf 15,5° C. 

Auf Grund der angeführten Beobachtungen komme ich zu dem 
Schluss: Die Leine gewinnt den früheren Grad der Reinheit wieder 
in Hinsicht auf Schwebestoffe, Salpetersäure und salpetrige Säure 
1,5 km unterhalb des Sieles; betr. Trockenrückstandes 4—8,75 km, 
betr. Ammoniak 8,75 km und betr. Bakterien 20 km unterhalb 
desselben. 

In bezug auf Oxydierbarkeit, Schwefelsäure und Chlor wird in 
dem berücksichtigten Gebiete der alte Grad der Reinheit nicht ganz 
wiedercrlangt; indes war auch in diesen Punkten eine Besserung 
deutlich erkennbar. 

Wie bereits erwähnt, hat Herr Professor Wolffhügel im Jahre 
1895 im Aufträge der Stadt Göttingen die Leine daraufhin untersucht, 
ob sie im Stande sein würde, die städtischen Abgangswässer auch 
nach Einführung von Spülklosetts aufzunehmen. Wolffhügel vertrat 
damals den Standpunkt, die Spülklosetts seien nicht nur im höchsten 
Grade wünschenswert für die Stadt Göttingen, sondern sie seien auch 
für die stromabwärts liegenden Ortschaften unbedenklich. Da nun 
die nächsten Dörfer Weende und Bovenden überhaupt nicht auf Leine¬ 
wasser angewiesen sind, darf man auf Grund der in diesem Jahre 
angestellten Beobachtungen sagen: die von Professor Wolffhügel 
1895 in seinem Gutachten aufgestellten Thesen haben ihre volle 
Bestätigung gefunden, die Selbstreinigungskraft der Leine genügt der 
ihr gestellten Aufgabe vollständig. 

Auch an dieser Stelle möchte Verfasser dem Direktor des Hygie¬ 
nischen Instituts der Universität Göttingen, Herrn Prof. E. v. Esmarch, 
für sein überaus freundliches Entgegenkommen seinen herzlichen Dank 
aussprechen. 


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9. 


Besprechungen, Referate, Notizen. 


Sanitätsbericht Uber die Kaiserlich Deutsche Marine für den Zeitraum 
vom 1. Oktober 1903 bis 30. September 1904. Bearbeitet in der Medi¬ 
zinal-Abtheil ung des Reichs-Marine-Amts. Berlin 1906, Ernst Sieg¬ 
fried Mittler und Sohn. 

Die Kopfstärke, welche den Berechnungen zu Grunde liegt, betrug 
37780 Mann. Der Krankenzugang stellte sich auf 18040 Mann = 477,5 pM., 
um 73,6 pM. weniger als im Jahr vorher, und erreichte damit die niedrigste bisher 
vorgekommene Zahl. Der Zugang im Deutschen Heer und in der englischen Marine 
war in den letzten Jahren höher als in der Deutschen Marine. Am meisten be¬ 
troffen waren die Besatzungstruppen von Kiautschou (839,1 pM.), am wenigsten 
die Schiffe in den heimischen Gewässern (347,7 pM.). Die durchschnittliche 
Behandlungsdauer (22,8 Tage) war etwas länger als im Jahre vorher und be¬ 
trächtlich länger als in der englischen Marine (15,9Tage); der tägliohe Kranken¬ 
bestand (28,6pM.) dagegen geringer. WegenDienstunbrauchbarkeit wurden 
bei der Einstellung 943 Mann (26,4 pM.) und in der späteren Zeit 231 Mann 
(6,5 pM.) entlassen, wegen Halbinvalidität 92 (2,6 pM.) und wegen Ganz¬ 
invalidität 531 Mann (14,9 pM.). Unter den Leiden, welche Dienstunbrauch¬ 
barkeit und Invalidität bedingten, stehen die Herzkrankheiten in erster Linie. Es 
starben 104 Marineangehörige (2,7 pM.) und zwar an Krankheiten 57 (1,5pM.), 
durch Selbstmord 17 (0,4 pM.) und durch Unglücksfälle 30(0,8pM.); 
ausserdem fielen von dem Marine-Expeditionskorps in Südwest¬ 
afrika 44 vor dem Feinde, 2 starben nachträglich infolge von Verwundungen im 
Gefecht, 35 starben durch Krankheit und 1 durch Unglücksfall. Unter den Todes¬ 
fällen durch Verunglückung stand Ertrinken (19mal) obenan. 

Von wichtigeren im Berichtsjahr ausgeführten sanitären Massregeln ist in 
Kiautäcbou die Eröffnung des Mecklenburghauses in Lauschan als Er¬ 
holungsstation zu erwähnen und die Einrichtung einer kleinen Tollwut¬ 
station, welche der bakteriologischen Untersuchungsstelle angegliedert wurde. 
Ausserdem wurde das Faberkrankenhaus durch eine Leprabaraoke vergrössert und 
ein Prostituiertenkrankenhaus eingerichtet. 

Von den 13495 ausgeführten Impfungen hatten 665,3 pM. Erfolg. Bei den 
einzelnen Krankheitsgruppen ist überall bis auf die Krankheiten des Nerven¬ 
systems eine Abnahme eingetreten. Wie früher sind auch im Berichtsjahr die 
Gruppen I. Allgemeine Erkrankungen und VII. Venerische Krankheiten durch be¬ 
sonders grosse Ausdehnung auf den Schiffen im Ausland hervorgetreten. 

Aus dom der Besprechung der wichtigsten Krankheitsarten und 
Krankheitsfälle gewidmeten Abschnitt ist zu entnehmen, dass an Land 5 und 


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432 


Besprechungen, Referate, Notizen. 


Bord 4 Scharlachfälle rorkamen und von den letzteren 1 mit Tod endete. 

— Gelbfieber wurde mit 2 günstig endenden Erkrankungen auf „Vineta“ in 
Südamerika beobachtet. — Die Zahl der Unterleibstyphen betrug 28, wovon 
7 bei Marineteilen an Land (hierunter 3 inKiautschou) und 21 an Bord sich zeigten; 
4 davon endeten tödlich. — Bei Malaria ist eine wesentliche Abnahme einge¬ 
treten: nur 12 Fälle sind bei Marineteilen am Lande (hiervon 5 in Kiautschou), 
152 an Bord vorgekommen. Dies hing zum Teil damit zusammen, dass die ost¬ 
afrikanische Station gar nicht besetzt war, in Westafrika aber wurde die Abnahme 
der Malaria der richtig und lange genug durchgeführten Chininprophylaxe (je 1 g 
am 7. und 8. Tage) verdankt. Da ein sicherer Musquitoschutz an Bord oft nicht 
durchzuführen ist, so wurden die Kranken, um weitere Mückeninfektionen zu ver¬ 
meiden, wo möglich ausgeschifft. Vorübergehende Belästigungen durch den vor¬ 
beugenden Chiningebrauch sind vorgekommen, aber dauernde Schädigungen der 
Gesundheit hierdurch sind nicht bekannt geworden. Ein Todesfall an Malaria er¬ 
eignete sich in Westindien. — Grippe brachte 307 Fälle (8,1 pM.) in Zugang 
und zwar 34 an Land (14 hiervon in Kiautschou), die übrigen an Bord und 180 
davon in Ostasien. — Von Tuberkulose in ihren verschiedenen Formen kamen 
C7 Fälle (1,8 pM.) in Zugang und zwar an Bord im Ausland 11 (1,6 pM.), auf 
den Schiffen in der Heimat 21 (1,5 pM.), bei den Marineteilen an Land 35 (2,1 pM). 
Es befanden sich hierunter 40 Erkrankungen der ersten Luftwege und der Lungen. 

— An Ruhr erkrankten 182 Mann (4,8 pM.) ohne Todesfall und zwar grösstenteils 
in Ostasien, wo 98 Fälle an Land in Kiautschou und 72 an Bord zugingen. Sie 
wird jetzt mit den dort stark verbreiteten Dickdarmkatarihen als zusammengehörig 
betrachtet. — Unter 278 (7,4 pM.) Fällen von akutem Gelenkrheumatismus, 
wovon 106 an Land, 172 an Bord anftraten, kam kein Todesfall vor. — Bei Al¬ 
koholvergiftung handelte es sich mit einer Ausnahme nur um chronische Fälle, 
von denen einer mit Herzverfettung und Schrumpfleber zum Tode führte. — Unter 
den anderen Vergiftungen waren 3 bei Heizern bemerkenswert, welche y«,Stunde 
im Bunker mit Kohlen zu arbeiten gehabt hatten, die stark mit Petroleum ge¬ 
tränkt waren; sie wurden bewusstlos mit trägen Pupillen und starkem Atemgeruch 
nach Petroleum aufgefunden, aber an frischer Luft und durch Bäder in 2 Stunden 
wiederhergestellt. Eine Vergiftung durch Genuss der Manzanillafrucht hatte 
heftige Störungen im Bereich des Verdauungskanals und Rötung und Blasenbil¬ 
dung in Mund und Rachen zur Folge, die erst in 6 Tagen gehoben waren. — 
Hitzschlag ereignete sich in 31 Fällen (0,8 pM.), wovon 26 an Bord im Aus¬ 
land zur Beobachtung kamen und keiner mit Tod endote. Sonnenstich hatte 
auf heimischen Schiffen zweimal Hirnhautentzündung mit günstigem Verlauf zur 
Folge. — Ein in Westindien vorgekommener Fall von Medinawurm in einer 
Achselhöhle wurde chirurgisch behandelt. 

Unter den Krankheiten des Nervensystems ist die Neurasthenie in 
stetiger Zunahme begriffen. Sie verursachte 105 (2,8 pM.) Erkrankungen, grössten¬ 
teils bei Offizieren, Deckoffizieren und älteren Unteroffizieren, von denen 10 zur 
Dienstunbrauchbarkeit, 29 zu Invalidität führten. 

Von akuten Lungenentzündungen gingen 93 (2,5pM.), von Brustfell¬ 
entzündungen 111 (2,9 pM.) zu, an Land und an Bord ziemlich gleich häufig; 
von jenen endeten 4, von diesen 5 mit Tod. 


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Die venerischen Krankheiten zeigen eine langsame Abnahme. Sie ver¬ 
ursachten im Berichtsjahr einen Zugang von 2523 (66,8 pM.) Fällen, waren an 
Bord im Ausland am häufigsten und beanspruchten fast y 3 aller Behandlungs¬ 
tage, verursachten also den grössten Dienstausfall. An dem Wert der Prophylaxe 
wird neuerdings gezweifelt. Bemerkenswert ist ein Fall von Syphilis, bei welchem 
die Infektion durch Tätowieren erfolgt war. 

Unter den Zellgewebsentzündungen sind 19 hervorzuheben, welche auf 
Stosch während der Heimreise von Westindien gleichzeitig auftraten und fort¬ 
schreitenden brandigen Zerfall mit schliesslich sehr grossen Weichteilverlusten 
bewirkten; 6 der Erkrankten wurden im Ausland, 12 bei der Heimkehr Landlaza¬ 
retten übergeben. Der Erreger dieser schweren Krankheitserscheinungen wurde 
nicht ermittelt. 

Im Marinelazarett zu Yokohama wurden 89 Personen mit 2481 Ver¬ 
pflegungstagen behandelt. Davon gehörten 34 zur Deutschen Marine oder zum 
Deutschen Landheer (Ostasiatische Besatzungsbrigade), 3 waren Militärpersonen 
anderer Mächte, 37 Angehörige des Deutschen Reichs, die übrigen Angehörige 
fremder Nationen. Globig (Berlin). 

Ueber Schutzvorrichtungen gegen Einatmen von Krankheitserre¬ 
gern. Von Professor E. von Esmarch. Göttingen. Hygienische Rundschau. 
1905. No. 22. 

Indem der Verfasser mit verschiedenen der gebräuchlichen Schutz¬ 
einrichtungen vor Mund und Nase 5 Minuten lang in einer zahlreiche Pro- 
digiosuskeime enthaltenden Luft atmete und dann bestimmte, wie viel Keime davon 
in die Nase, den Mund, den Speichel eingedrungen waren, stellte er fest, dass 
Schwämme, Respiratoren, Schutzhauben u.dgl. keinen Schutz gegen 
Infektion durch die Atemluft gewähren, ja die Gefahr derselben stei¬ 
gern, weil sie Atmungshindernisse sind, die zu besonders kräftigen Atemzügen 
veranlassen. Wenn er dagegen ein Taschentuch oder ein genügend grosses 
Stück V erb and watte fest gegen Mund und Nase drückte oder die Nasen¬ 
löcher einfettete und mit kirschkerngrossen Ballen von Verbandwatte ver¬ 
schloss, so wurden die Keime von Mund und Nase fern gehalten. Man hat auf 
diese Weise einen viel wirksameren Schutz als an den bisher gebräuchlichen 
Schutzvorrichtungen. Globig (Berlin). 

Der Federkraftventilator. Von Professor E. von Esmarch. Göttingen. 
Sonderabdruck aus dem „Gesundheits-Ingenieur“. 1906. No. 10. 

Der Verfasser hat die Leistung von Federkraftventilatoren, deren vier 
Metallflügel von leichtem Metall durch Spannung einer Feder angetrieben werden 
können, untersucht, indem er den kurzen Kanal durch eine etwa 1 / 2 m lange 
Pappröhre verlängerte und Anemometer darin aufstellte. Er fand, dass durch einen 
grösseren Apparat dieser Art 5,8 cbm Luft in der Minute und 240 cbm in etwa 
45 Minuten — so lange ging der Ventilator nach einmaligem Aufziehen der 
Feder — gefördert wurden, durch einen kleineren sogenannten Tischventilator in 
der gleichen Zeit etwa 41 cbm. Die Wirkung von durch Elektrizität oder 
Wasserdruck getriebenen Ventilatoren wurde hierdurch zwar nicht er- 


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Besprechungen, Referate, Notizen. 


reicht, aber wo derartige Kraft nicht zur Verfügung steht, ist der Feder¬ 
kraftventilator am Platz. Er hat ausserdem noch den Vorzug, dass er ge¬ 
räuschlos oder fast geräuschlos läuft. Gl obig (Berlin). 

21. Jahresbericht über die Fortschritte und Leistungen auf dem Ge¬ 
biete der Hygiene. Jahrgang 1903. Herausgegeben von Dr. A. Pfeiffer. 
Supplement zur „Deutschen Vierteljahrsschrift für öffentliche Ge¬ 
sundheitspflege“. Band XXXVI. Braunsohweig. Druck und Verlag von 
Friedr. Vieweg und Sohn. 1905. 8. X und 673 Ss. Preis: geheftet 13 M. 

Unter den Mitarbeitern am Jahresbericht sind einige Veränderungen ein¬ 
getreten, aber Einteilung und Ordnun g des reichhaltigen Stoffes sind die 
alten und langebewährten geblieben. Das Gesamtergebnis, welches der Her¬ 
ausgeber zieht, lautet dahin, dass die öffentliche Gesundheitspflege im 
Fortschreiten begriffen ist und dass die Behörden sich bemüht haben, die 
Errungenschaften wissenschaftlicher Forschung in praktischer An¬ 
wendung zu verwerten. Damit wird in Zusammenhang gebracht, dass ein 
weiterer nicht unbedeutender Rückgang der Sterblichkeit eingetreten ist — 
von 20,6 pM. im Jahre 1901 auf 19,4 pM. im Jahre 1902 für das ganze Deutsche 
Reich —. Ein Anteil hieran wird den neuerdings kräftiger hervortretenden Be¬ 
mühungen zur Bekämpfung der Säuglingsterblichkeit beigemessen und 
weiterer wichtiger Erfolg auf diesem Gebiet von der Zukunft erwartet. 

Bei den Infektioskrankheiten sind grössere Epidemien in Deutsch¬ 
land nicht vorgekommen. Fortschritte in der Erforschung derAetio- 
logie sind namentlich beim Unterleibstyphus (Verbesserung der Verfahren 
zum Nachweis der Typhusbazillen), bei der Malaria (Bedeutung der Anopheles- 
Mücken und der Pest (Bedeutung der Ratten) zu verzeichnen gewesen und der 
Bekämpfung dieser Krankheiten zu Gute gekommen. Dem Diphtherieheilserum 
wird nicht bloss der fortgesetzte Rückgang der Sterblichkeit an Diphtherie, 
sondern auch die merkliche Einschränkung der Häufigkeit der Erkran¬ 
kungen zugeschrieben, weil durch die schnellere Genesung die Bildung von In¬ 
fektionsherden erschwert oder gehindert wird. 

Die Fürsorge für die Kranken ist vielfach gefördert und namentlich für 
die Tuberkulösen ist Manches gewonnen worden, nur auf dem Gebiet der 
Irrenpflege entspricht die Vermehrung der Betten nicht dem Anwachsen der 
Zahl der aufhahmebedürftigen Kranken. 

Bemerkenswerte Fortschritte sind auf den Gebieten der Schulgesundheits- 
pflege, in der Gewerbehygiene und in Wohnungsverbesserung gemacht 
worden; grosse Erfolge hat die Technik des Beleuchtungswesens durch die 
Verbesserung des elektrischen und des Gaslichtes gehabt. 

Für die zentrale Versorgung der Gemeinwesen mit gutem Trink¬ 
wasser und für die unschädliche Beseitigung der Abfallstoffe als be¬ 
sonders wichtig wird die Einrichtung der Königlichen Prüfungsanstalt für 
Wasserversorgung und Abwässerbeseitigung in Berlin bezeichnet und 
als verdienstvoll und erfolgreich ihr Bestreben begrüsst, durch wissenschaftliche 
Arbeit Grundlagen für die praktische Betätigung zu gewinnen und zu sichern. 

G lobig (Berlin). 


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Die Trypanosomen in ihrer Bedeutung für die mensohliche und tie¬ 
rische Pathologie. Von Marine-Oberstabsarzt Professor Dr. E. Martini. 
Abdruck aus der Zeitschrift für ärztliche Fortbildung. 2. Jahrgang. 1905. 
No. 20. Verlag von Gustav Fischer in Jena. 27 Ss. 

Die durch Trypanosomen verursachten Krankheiten sind eigentlich Tropen¬ 
krankheiten, neuerdings mehren sich aber wie in anderen europäischen Ländern, 
so auch in Deutschland die Fälle, dass dieso Parasiten im Blut mit in die Heimat 
zurückgebracht werden. Der Verfasser unterscheidet folgende Trypanosomen¬ 
krankheiten : 

Surra bei Pferden und Rindern in Indien und auf den malaischen 
Inseln, 

Dourine, eine Bescbälkrankheit der Pferde in den Mittelmeerländern, 
Nagana oder Tsetse bei Pferden und Rindern in Afrika, 

Mal de Caderas bei Pferden in Südamerika, 

Galsiekte bei Rindern in Afrika. 

Tsetsekrankheit bei Mensohen mit dem letzten stets tödlichen Ab¬ 
schnitt der Schlafkrankheit. Ohne Krankheitserscheinungen zumachen, kommen 
Trypanosomen bei Ratten, Fischen, Amphibien usw. vor. 

Dann wird kurz die Gestalt, der Bau, die Färbbarkeit, die Vermeh¬ 
rung durch Teilung und das klinische Bild besprochen, welches sich aus 
Blutarmut, Milzschwellung, unregelmässigem Fieber, Benommenheit und Läh¬ 
mungserscheinungen zusammensetzt. Dourine wird bei der Begattung un¬ 
mittelbar übertragen, Nagana und Menschentrypanosomen durch den Stich 
von Fliegen, jene von Glossina morsitans, diese von Glossina palpalis. 
Auch Galsiekte wird durch Fliegen übertragen und bei den übrigen Formen der 
Krankheiten ist die gleiche Verbreitung wahrscheinlich. Als Heilmittel scheinen 
Trypanrot, Malachitgrün und arsenige Säure einigen Erfolg zu versprechen. Die 
Bekämpfung durch Schutzimpfungen ist möglich, das Blut der geimpften 
Tiere beherbergt aber lange Zeit Trypanosomen, die bei Weiterübertra- 
gungen virulent werden können, und auf diese Weise wird der Verbreitung 
der Krankheit Vorschub geleistet. Deshalb bleibt nichts übrig, als alle Pa¬ 
rasitenträger unter den Tieren, namentlich auch das Grosswild zu ver¬ 
nichten. 

Wer sich schnell über den jetzigen Stand unserer Kenntnisso von den Try¬ 
panosomen unterrichten will, dem kann die kurze und klare Darstellung des Ver¬ 
fassers angelegentlich empfohlen werden. Globig (Berlin). 

Dr. Schneider, Kreisarzt, ständiger Hilfsarbeiter bei der Königl. Regierung 
zu Breslau, Die übertragbare Genickstarre im Regierungsbezirk 
Breslau im Jahre 1905 und ihre Bekämpfung. Klinisches Jahrbuch. 
1906. 15. Band. S. 89. 

Der Verfasser gibt uns eine anschauliche Schilderung des Ganges der Epi¬ 
demie im Breslauer Bezirk unter Beifügung von 3 erläuternden Karten. Einge¬ 
schleppt wurde die Seuche höchstwahrscheinlich von Oberschlesien her, sie hatte 
ihren hauptsächlichen Verbreitungsbezirk längs der Hauptverkehrsstrasse des Re¬ 
gierungsbezirks. Es kamen — von Anfang Januar bis Ende August — 136 Fälle 
zur Beobachtung, von denen 60,29 pCt. tödlich endeten. Die bei weitem grösste 


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Besprechungen, Referate, Notizen. 


Zahl der Erkrankungen (45 und 44) fiel in den April und Mai. Die Kinder bis zu 
6 Jahren machten 53,6 pCt. der Erkrankten aus und entstammten zum grössten 
Teil, wie auch die übrigen Erkrankten, den weniger bemittelten Bevölkerungs¬ 
kreisen. Bei den vom Hygienischen Institut der Universität Breslau bakteriologisch 
untersuchten 91 Fällen wurde in 80,2 pCt. der Meningococcus Weichselbaum 
nacbgewiesen, sodass dieser mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit als der Erreger der 
Epidemie angesprochen werden kann. Zum Schluss werden die behördlichen Ver¬ 
ordnungen zur Bekämpfung der Krankheit abgedruckt. Doebert (Berlin). 

Prof. Dr. Flügge, Geh. Med.-Rat, Die im Hygienischen Institut der 
Königl. Universität Breslau während der Genickstarre-Epidemie 
im Jahre 1905 ausgeführten Untersuchungen. Klinisches Jahrbuch. 
1906. 15. Band. S. 143. 

Von Mitte Februar bis Ende August gingen 232 Sendungen ein, die von 
193 Personen stammten, davon gehörten 178 dem Regierungsbezirk Breslau, 15 
dem Regierungsbezirk Liegnitz an. Von 144 Proben von Punktionsfiüssigkeit 
waren 44 inbezug auf Meningokokken positiv, 14 der negativen Proben wiesen 
Pneumokokken in Reinkultur auf, von 42 Proben von Leichenmaterial waren 23 
inbezug auf Meningokokken positiv, von 44 Proben von Nasen- und Rachen§chleim 
4. ln einer Reihe von Fällen konnte die Diagnose allein auf das mikroskopische 
Präparat hin gestellt werden. Waren die Kokken von charakteristischer Semmel¬ 
form, intrazellulär gelagert und sicher gramnegativ, so galt der Nachweis als 
gelungon, auch wenn die Kultivierung misslang. Bei der Untersuchung von Nasen- 
und Rachenschleim jedoch ist wegen der Menge der begleitenden ähnlichen Bak¬ 
terien neben dem Originalpräparat unbedingt die Kultur nötig. Als Nährboden 
bewährte sich am besten Ascites-Agar (1 Teil Ascitesflüssigkeit auf 3 Teile neu¬ 
tralen Agars), in zweiter Linie Löfflerscher Serumagar. Deutliche Agglutinations¬ 
wirkung erhielt F. mit (von Priv.-Doz. Jochmann hergestelltem) Pferdeserum. 
Weiterimpfung der gewonnenen Kulturen auf künstlichen Nährböden ist sehr 
schwierig. Die gewöhnlichen Desinfizientien erwiesen sich gegen Meningokokken 
schon in kurzer Zeit durchaus wirksam, an Deckgläser angetrocknete junge Kulturen 
gingen bei Tageslicht schon in 10 Stunden zugrunde, die Formaldehyd-Desinfektion 
erwies sich in der üblichen Anwendungsweise als vollkommen ausreichend zur 
Vernichtung. Zum Schluss erörtert F. genauer die Mängel in der Beweiskette für 
die ätiologische Rolle der Meningokokken und die Gründe für die Annahme einer 
solchen und kommt zu dem Ergebnis, dass „nur noch geringe Zweifel“ darüber 
bestehen könnten, dass die Meningokokken als die Erreger der übertragbaren 
Genickstarre anzusehen sind. Zur weiteren Klärung der Frage, zur Feststellung 
der Verbreitungswege, der Gefährlichkeit der Kokkenträger sind neben verbesserten 
bakteriologischen Methoden genauere epidemiologische Beobachtungen nötig, wofür 
u. a. eine stärkere Mithilfe der Kreisärzte durch Entnahme von Nasen-Rachon- 
schleim und Blut gewünscht wird. Doebert (Berlin). 

Prof. Dr. Kolle und Prof. Dr. Wassermann, Untersuchungen über Me¬ 
ningokokken. (Aus dem Institut für Infektionskrankheiten in Berlin.) Klini¬ 
sches Jahrbuch. 1906. 15. Band. S. 297. 

Die Verfasser traten der Frage der Spezifizität der Meuingokokken zunächst 


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von dem Gesichtspunkt aus näher, ob solche etwa auch bei gesunden und an 
anderen Krankheiten als an Meningitis leidenden Personen zu treffen seien. Die 
114 daraufhin Untersuchten waren teils gesunde Angehörige des Instituts, teils 
Patienten einer Poliklinik und verschiedener Kranken-Abteilungen. Nur zwei¬ 
mal wurden echte Meningokokken nachgewiesen, und davon betraf der eine ein 
Kind, das mit ausgesprochenen Krankheitssymptomen (Nackenstarre) einem 
Krankenhause überwiesen war, der andere einen Mann, dessen Kind mit meningi- 
tischen Zeichen krank lag. Diese Untersuchungsreihe spricht also ausserordent¬ 
lich zu Gunsten der spezifischen Rolle der Meningokokken, sie soll noch erweitert 
werden. Sodann wurden die morphologischen und biologischen Eigenschaften 
von 44 echten, frisch gezüchteten, meist aus Schlesien bezogenen Meningokokken- 
Stämmen untersucht. Die Semmelform und intrazelluläre Lagerung ist 
typisch, doch traten auf künstlichen Nährböden daneben auch sehr bald Degene¬ 
rationsformen auf. Die vollständige und rasche Entfärbung nach Gram wird 
als eines der sichersten Kennzeichen der echten Stämme bezeichnet, die Verfasser 
verlangen aber strenge Beachtung ihrer genau wiedergegebenen Färbe-Vorschriften. 
Als bester Nährboden bewährte sich auch ihnen (Vergl. das vorhergehende 
Referat) Ascites-Agar (1 Teil Ascites-Flüssigkeit auf 2 Teile gut alkalisohen 
Agars). Ihm zunächst steht das Löfflersehe Serum. Sie konnten jedoch mit 
einiger Vorsicht die Kulturen auch den einfacheren Nährböden allmählich an¬ 
passen. Gegen die Einwirkung niederer Temperaturen und des Tageslichtes sind 
die Kokken sehr empfindlich. Die Tior-Pathogenität schwankt, für Meer¬ 
schweinchen liegen die Grenzen der Dosis letalis zwischen y 2 und 3 Oesen. 
Durch Vorbehandlung von Pferden mit abgetöteten, später lebenden Kulturen 
gelang es, ein hochwertiges agglutinierendes Serum darzustellen. Die einzelnen 
Stämme schwanken auch in ihrer Agglutinabilität sehr. Während das Pferde¬ 
serum gegen den homologen Stamm sehr bald einen Titre von 1 : 1500 erreichte, 
agglutinierte es andere echte Stämme z. T. nur bei 1 : 500 und 1 : 200, doch gab 
die Kontrolle mit normalem Pferdeserum im höchsten Falle eine Beeinflussung 
echter Stämme bei der Verdünnung 1 : 20, Meningokokken-ähnliche Stämme da¬ 
gegen wurden durch normales Serum manchmal bis 1 : 200 beeinflusst. Es gibt 
also auch für den Meningococcus Weichsel bäum eine spezifische Serum- 
Reaktion, die die Identifizierung zweifelhafter Stämme sehr erleichtern wird. (Man 
vergleiche dazu Jochmann, Deutsche med. Wocbenschr. 1906. No. 20.) Zuletzt 
folgen einige Bemerkungen über die Auffressbarkeit von Meningokokken durch 
Leukozyten, über die, ebenso wie über die Gewinnung eines Immun-Serums, Ver¬ 
suche noch im Gange sind. Doebert (Berlin), 

Prof. C. Flügge, Einige tatsächliche Feststellungen zur Breslauer 
Wasserkalamität. Sond.-Abdr. No. 16 des Breslauer Gemeindeblatts vom 
22. April 1906. 

Am 29. März d. J. trat in Breslau ganz plötzlich eine auffällige Veränderung 
des Grundwassers in den beiden Sammelbrunnen der Wasserleitung auf. Das 
Wasser, welches bis dahin alkalisch reagierte, geringe Mengen von schwefelsauren 
Verbindungen und Kalk, etwa 8—12 Milligramm Eisen und einen Teil des Kalkes 
in Form von Bikarbonat enthielt, reagierte plötzlich sauer, die Schwefelsäure und 
der Kalk waren auf das Dreifache gesteigert, Bikarbonat von Kalk war nicht mehr 


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Besprechungen, Referate, Notizen. 


vorhanden, dagegen grosse Mengen — bis zu 140 Milligramm im Liter — Eisen 
und etwa 30 Milligramm Mangansulfat. Dazu trat noch ein unangenehmer, 
modriger Geruch, der zusammen mit dem den Riesler unverändert passierenden 
Mangansulfat das Leitungswasser widerlich und kaum geniessbar machte. 

Die Veränderung des Wassers fiel zusammen mit der Ausuferung der Oder 
in das Fassungsgelände der Brunnen. Alle bisherigen Ueberschwemmungen 
hatten keine besonderen Folgeerscheinungen gehabt. Ein disponierendes Moment 
konnte wohl dieses Mal darin liegen, dass in beiden vorhergehenden, äusserst 
dürren Jahren der Grundwasserspiegel ausserordentlich tief gesunken war. 

Verf. wendet sich gegen den Vorwurf, der seitens der Bürgerschaft gegen 
ihn erhoben wird, dass er den Mangangehalt verheimlicht habe und vor den üblen 
Folgen des Mangans im Wirtschaftsbetrieb zu spät gewarnt habe, indem er be¬ 
sonders darauf hinweist, dass die Veränderung des Wassers ganz plötzlich eintrat 
und dass er darnach in den Zeitungen zur Vorsicht bei der Verwendung des 
Wassers gemahnt habe. 

Das Mangansulfat hat naoh älteren Autoren giftige Eigenschaften, nach 
neueren Tierversuchen hat Mangan in steigenden Dosen keine giftige Wirkung. 
Therapeutisch sind Mangan verbin düngen als Peptonat oder Eisenmanganpeptonat 
und Eisenmangansaccharat in den letzten Jahren ohne jede Schädigung verwandt 
worden. In Breslau sind keine gesundheitsschädlichen Folgen durch den Mangan¬ 
gehalt des Wassers hervorgerufen worden. Experimente an Menschen, die täglich 
grosse Mengen des sterilisierten und mit 100 Miligramm pro Liter reinen Mangan- 
sulfats versetzten Leitungswassers tranken, ergaben auch keine schädliche 
Wirkung. 

Eine bestimmte Erklärung für die Ursache der plötzlichen Wasserveränderung 
hat sich bisher nicht finden lassen. Kurpjuweit (Berlin). 

Paul, Ohlmüller, Heise und Auerbach, Untersuchungen über die 
Beschaffenheit des zur Versorgung der Haupt- und Residenzstadt 
Dessau benutzten Wassers, insbesondere über dessen Bleilösungs¬ 
fähigkeit. Arbeiten aus dem Kaiserlichen Gesundheitsamte, XXIII. Band, 
2. Heft. Berlin 1906. S. 333—388. 

In ihrer Einleitung bringen Verff. einen geschichtlichen Ueberblick über die 
Entstehung des Dessauer Wasserwerkes. Das jetzt zur Zentralversorgung der 
Stadt dienende Wasser ist Quell- und Grundwasser, welches vom Kiebitzheger 
(Quellwasser), einem am rechten Muldeufer befindlichen Gelände und vom Rot¬ 
kehlchenheger — Exerzierplatz — (Grundwasser), einem am linken Muldeufer ge¬ 
legenen Terrain stammt. Nur das stark eisenhaltige Exorzierplatzwasser wird nach 
dem Oestenschen System enteisent. Beide Wässer enthalten freie Kohlensäure absor¬ 
biert, und zwar das Kiebitzheger Wasser ca. 20 mg und das Exerzierplatzwasser 
ca. 40 mg in 1 Liter, wodurch sie bleilösende Eigenschaften besitzen. Bekannt¬ 
lich erkrankten im Jahre 1886 in Dessau 92 Personen an Bleivergiftung, die durch 
den Genuss des Wassers verursacht war. (Vcrgl. Wasserversorgung und Bleiver¬ 
giftung. Gutachten über die zu Dessau im Jahre 1886 vorgekommenen Vergiftungs- 
füllc. Berichterstattor: Regierungsrat Dr. Gustav Wolffhügel. Arbeiten aus 
dem Kaiserlichen Gesundheitsamte. Bd. II. S. 484.) Durch die Bindung der freien 
Kohlensäure des Wassers mittels genau berechneten Chemikalienzusatzes nach 


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Besprechungen, Referate, Notizen. 


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Heyers Vorschlag (Dr. Carl Heyer, Ursache und Beseitigung des Bleiangriffs 
durch Leitungswasser, Dessau 1888. Verlagsbuchhandlung von Paul Baumann, 
S. 10—12) sind seit jenem Jahre Bleivergiftungsfalle durch Leitungswasser nicht 
mehr bekannt geworden. Beide Wässer sind auoh ziemlich weich, das Kiebitz¬ 
heger Wasser weist im Mittel eine Härte von 4,5 und das Exerzierplatzwasser im 
Mittel eine Härte von 3,5 in deutschen Graden auf. 

Auf Grund eingehender experimenteller Untersuchungen an den Dessauer 
Wässern gelangen die Verff. zu folgenden Ergebnissen: 

„1. Das Bleilösungsvermögen der Rohwässer wird durch Aufnahme von 
Sauerstoff bei der Berührung mit atmosphärischer Luft erhöht. 

2. Bei gleichzeitiger Anwesenheit von Sauerstoff und freier Kohlensäure, also 
in dem enteisenten ,Reinwasser 4 nimmt das Bleilösungsvermögen mit sinkendem 
Gehalt an freier Kohlensäure ab. u 

„Durch die chemische Bindung der freien Kohlensäure mittels Chemikalien¬ 
zusatzes kann die Bleilösungsfähigkeit der Wässer weiter herabgesetzt werden, als 
duroh die aussohliessliche Entfernung derselben mittels Durchlüftung. 

Nach Bindung der freien Kohlensäure wurde von dem enteisenten Wasser 
vom Exerzierplatz (Reinwasser) unter den gegebenen Versuchsbedingungen etwa 
0,3 mg Blei in 1 Liter gelöst. 

Die freie Kohlensäure in denjenigen Mengon, wie sie bei der praktischen 
Ausführung des Verfahrens unter den in Dessau gegebenen Betviebsverhältnissen 
Zurückbleiben, übte bereits einen bemerkenswerten Einfluss auf die Bleilösungs¬ 
fähigkeit des ,korrigierten* Leitungswassers aus.“ 

Das Kaiserl. Gesundheitsamt fasst sein Urteil über die Wasserversorgung 
der Stadt Dessau in folgende Schlusssätze zusammen: (auszugsweise) 

„1. Der gegenwärtige Betrieb der Enteisenungsanlage des Wasserwerkes ver¬ 
mag das Eisen aus dem Wasser nicht in zureichendem Masse zu entfernen; die 
zuweilen auftretende Opaleszenz des Leitungswassers deutet auf eine nachträgliche 
Ausscheidung von Eisenverbindungen hin. 

2. Es sollten Vorkehrungen getroffen werden, um den Zutritt von Schmieröl 
aus den Wasserförderungsmaschinen zum Wasser zu verhindern. 

4. Durch die chemische Bindung der freien Kohlensäure des Wassers wild 
seine bleilösende Eigenschaft vermindert. Der Chemikalienzusatz ist nach der 
Menge der jeweilig vorhandenen freien Kohlensäure zu bemessen. Daher ist zur 
Sicherung eines guten und dauernden Erfolges dieses Verfahrens eine ständige 
chemische Ueberwachung des Wasserwerksbetriebes durch einen auf diesem Gebiete 
erfahrenen Sachverständigen notwendig. 

5. Bei der sachgemässen Anwendung des Chemikalienzusatzes zur Verminde¬ 
rung der bleilösenden Eigenschaft des Wassers sind nachteilige Einflüsse auf die 
Gesundheit der Bewohner nicht zu befürchten, vorausgesetzt dass die Chemikalien 
von tadelloser Beschaffenheit sind. 

6. Die Vorschrift des Magistrats der Stadt Dessau, Wasser, welches längere 
Zeit in den bleiernen Hausanschlussleitungen gestanden hat, zu Genusszwecken 
nicht zu benutzen, sollte auch fernerhin aufrecht erhalten werden.“ 

ln einem Anhänge teilen die Verff. noch ihre ausführlichen Versuche über 


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440 Besprechungen, Referate, Notizen. 

die Bleilösungsfähigkoil von verschiedenen Wässern mit, aus denen folgendes er¬ 
sichtlich ist: 

1. Destilliertes Wassers löst bei Luftzutritt Blei leicht in grosser Menge über 
120 mg Pb in 1 Liter. 

2. Die freie Kohlensäure eines Wassers vermehrt die Löslichkeit des Bleis, 
während gebundene Kohlensäure (Hydrokarbonat bzw. Bikarbonat) sie verringert. 

3. Sulfate haben keine die Bleilösungsfähigkeit hemmende Wirkung. 

Die Versuche werden noch weiter fortgesetzt. Klut (Berlin). 

Kühn, B., Ueber den Nachweis und die Bestimmung kleinster Mengen 
Blei im Wasser. Arbeiten aus dem Kaiserlichen Gesundheitsamte. XXIII. Bd. 
2. Heft. S. 3S9 bis 420. Berlin 1906. 

Kühn teilt zuerst mit, dass über die Grenze der Schädlichkeit von Blei 
bislang unantastbare Zahlenwerte nicht vorliegen, und dass die Ansichten der 
Hygieniker hierüber noch weit auseinander gehen. In dem Dessauer Leitungs¬ 
wasser betrug der durchschnittliche Bleigehalt von 48 Wasserprobon 4,143 mg 
Blei im Liter Wasser, der die bekannten Vergiftungsfälle im Jahre 1886 dortselbst 
zur Folge hatte (G. Wolffhügel, Wasserversorgung und Bleivergiftung. Gut¬ 
achten über die zu Dessau im Jahre 1886 vorgekommenen Vergiftungsfälle. 
Arbeiten aus dem Kaiserl. Gesundheitsamte. II. 484—542. [1887.]) Verf. bringt 
darauf einen Gesamtüberblick über dio verschiedenen Verfahren zum Nachweise 
und zur quantitativen Bestimmung von Blei im Wasser. Auf Grund umfangreicher 
Versuche und unter Berücksichtigung aller in der chemischen Literatur bekannt 
gewordenen Verfahren der Bleibestimmung empfiehlt Verf. folgende Methode: 

Das im Wasser vorhandene Blei wird in essigsaurer Lösung als Schwefelblei 
gefällt. Das kolloidal ausgefallene Blei wird auf einem Asbestfilter gesammelt und 
durch Wasserstoffsuperoxyd und Salpetersäure in Bleisulfat verwandelt. Letzteres 
wird nach Oxydation mittels Brom in Bleisuperoxyd übergeführt und nach der 
bekannten Methode von W. Diehl (Dinglers polyt. Journal. Bd. 246. 1882. 

S. 196) und G. Topf (Zeitschr. f. analyt. Chemie. Bd. 26. 1887. S. 137 u. 277) 
jodometrisch bestimmt. Klut (Berlin). 

Verwaltungsbericht der Landes-Versicherungsanstalt Berlin für das 
Rechnungsjahr 1904. 4. 236 Seiten. 

Nachdem im Berichtsjahr das neue Verwaltungsgebäude Berlin S.0.16, Am 
Köllnischen Park 8, bezogen ist, das einen Raum von 300 Quadratruten bedeckt, 
(deren Ankauf 1 020 000 Mark gekostet hat), und das an Baukosten mehr als 
1 600000 Mark erfordert hat, ist so recht ersichtlich geworden, welche enorme 
Geschäftstätigkeit die Landes-Versicherungsanstalt Berlin auszuüben hat. Das 
Anwachsen der Geschäfte der Anstalt hat es notwendig gemacht, die Mitglieder 
des Vorstandes, dessen Vorsitzender Dr. jur. Freund ist, auf 4 zu vermehren. 
Diesen beamteten Mitgliedern stehen zur Seite als gewählte Vertreter der Arbeit¬ 
geber und der Versicherten jo 2 Mitglieder und je 2 Ersatzmänner; ihre Wahlzeit 
dauert fünf Jahre. Neben dem Vorstand besteht der Ausschuss der Versicherungs¬ 
anstalt aus je 10 Vertretern der Arbeitgeber und der Versicherten mit je 3 Ersatz¬ 
männern. Das Bureaupersonal ist von 15 Bureaubeamten, 1 Unterbeamten 
und 4 Kontrollbeamten im Jahre 1891 auf 130 Bureaubeamte, 12 Unter- 
beamte und 19 Kontrollbeamte im Jahre 1904 gestiegen. Nicht mitgezählt 


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Besprechungen, Referate, Notizen. 


441 


ist dabei das Personal, das für die Heilstätten Beelitz, für das Invalidenhaus und 
die Heilstätte in Lichtenberg angenommen ist. 

Am Ende der Berichtszeit waren 16 Vertrauensärzte bestellt, und zwar 
5 für innere Krankheiten, 3 für Frauenleiden, je 2 für Chirurgie, Augen- und 
Nervenkrankheiten und je 1 für Nasen-, Hals- und Ohrenleiden und für Harn-, 
Blasen-, Nieren- und Geschlechtskrankheiten. Die Zahl der von den die Behand¬ 
lung führenden Aerzten erstatteten Gutachten belief sich auf 4589. Es ist von 
Interesse zu erwähnen, dass nach einem Abkommen mit der Berliner Aerztekammer 
5 Mark für ein Gutachten gezahlt wird, wenn es auf einem mit der Aerztekammer 
vereinbarten Formular ausgestellt wird. 

Für den Bezirk der Versicherungsanstalt Berlin besteht ein „Schieds¬ 
gericht für Arbeiterversicherung Stadtkreis Berlin“, dessen Vorsitzender Ober¬ 
regierungsrat von Gostkowski ist; die Zahl der Beisitzer beträgt je 67 aus der 
Klasse der Arbeitgeber und der Versicherten. Als ärztliche Sachverständige, 
welche nach § 8 des angeführten Gesetzes zu den Sitzungen nach Bedarf zuzu¬ 
ziehen sind, waren 8 Aerzte gewählt, darunter 3 Medizinalbeamte (Kreisärzte). 

Die Steigerung der Geschäfte wird ersichtlich, wenn man sich ver¬ 
gegenwärtigt, dass nach dem Tagebuch 1891 die Zahl der eingegangenen Schrift¬ 
stücke 12304, die der Ausgänge 12086 betragen hat, während im Jahre 1904 die 
Eingänge auf 217544 = 728 täglich, die Ausgänge auf 281906 = 940 täglich 
berechnet sind. An dieser Steigerung waren hauptsächlich die Anträge auf 
Uebernahme der Krankenfürsorge beteiligt. 

Aus der Rentenabteilung wird zunächst über den Erlass des Ministers für 
Handel und Gewerbe vom 15. November 1904 berichtet, welcher eine Beschleunigung 
des Rentenverfahrens herbeiführen wird. Die ärztliche Tätigkeit findet durch 
folgenden Ausspruch Anerkennung: „Auch in dem vergangenen Verwaltungsjahr 
sind wir in anerkennenswerter Weise durch den grössten Teil der Herren Aerzte 
unterstützt worden, die bemüht waren, sich immer mehr in die nicht leichte 
Tätigkeit eines Gutachters in Invalidenrentensachen hineinzuleben“. 

1859 Ansprüche auf Altersrente wurden 1891 als neu erhoben, im Jahre 
1904 belief sich diese Zahl auf 333, dazu noch 25 aus dem Vorjahre. Seit 1891 
sind 5710 Altersrenten bewilligt, davon entfielen v. H. 77 auf Männer und 23 auf 
Frauen. Erwähnung verdient, dass nach Eintritt der Rente im Jahro 1891 von 
1186 männlichen Rentnern 996 = 83,1 v.H., von 479 weiblichen 353 = 73,7 v.H. 
bis 1904 gestorben sind. Für die späteren Jahre fallt natürlich dieser Prozentsatz. 
Am Schluss des Berichtsjahres belief sich die Zahl der laufenden Altersrenten auf 
1929 für Männer, auf 601 für Frauen. Im Jahre 1904 trat die Beteiligung der 
Frauen an der Altersrente bedeutend zurück; von 100 Renten entfielen 88 auf 
Männer und nur 12 auf Frauen, während das Verhältnis für die Jahre 1891 bis 
1895 auf 72 und 28 berechnet war. 

Invalidenrenten wurden bis 1904 insgesamt für 33129 Personen, darunter 
23015 Männer, bewilligt, 1904 allein belief sich diese Zahl auf 5870, darunter 
3724 Männer. Berechnungen naoh dem Alter der Invalidenrentner lassen erkennen, 
dass im höheren Alter die Frauen in steigender Anzahl beteiligt sind. Je mehr 
die Kenntnis des Gesetzes in diese Kreise dringt, auf um so grösseren Zuwachs 
von Rentnerinnen ist zu rechnen, so dass mit Recht hervorgehoben wird, dass 


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Besprechungen, Referate, Notizen. 


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das Invalidenversicherungsgesetz Ansätze für eine Witwen Versorgung heraus¬ 
bildet. Offenbai- tritt immer mehr die Altersrente hinter die Invalidenrente zurück. 

Die Bedeutung der Rentenzahlung geht aus dom Betrage hervor, der 
1904 von der Anstalt in der Höhe von 3856378,94 Mark gezahlt ist. Da das 
Reich für jede Rente jährlich 50 Mark Zuschuss und für jede infolge militärischer 
Dienstleistung angerechnete Beitragswoche einen Rentenanteil von 18 Pfennig zu 
zahlen hat, so war das Reich mit 1209071,55 Mark belastet. 

Seit 1900, dem Jahre des Inkrafttretens des neuen Invalidenversicherungs¬ 
gesetzes, ist bemerkenswert die Zunahme der Ablehnungen der Invaliden¬ 
renten. Von 100 erledigten Rentenansprüchen entfielen in Berlin in den ersten 
3 Jahren 7 auf Ablehnungen, 1903 bereits 8 und 1904 sogar 11, während im 
Deutschen Reiche die Ablehnungen noch mehr zugenommen haben, sie sind von 
11 im Jahre 1900 in zunehmender Weise bis auf 18 im Jahre 1904 gestiegen. 
Ueberhaupt ist im Deutschen Reiche zum ersten Male die Zahl der Renten um 
rund 12000 = 7,5 v. H. gefallen, da 1903 noch 160380, 1904 dagegen nur 
148426 Festsetzungsbescheide ergangen sind; in Berlin betrugen diese Zahlen 
5832 und 5778, so dass die Abnahme nur 54 = 0,9 v. H. Renten betragen hat. 
Als Ursachen der Ablehnung von 692 Renten sind in Berlin festgestellt: 

1. Erwerbsfähigkeit lag noch vor für 272 = 39 v. H., 2. Anwartschaft war 
erloschen für 217 = 31 v. H., 3. Nichterfüllung der Wartezeit für 156 = 
23 v. H., 4. Unfall für 36 = 5 v. H. und 5. sonstige Gründe für 11 = 2 v. H. 
Ablehnungen. Die Gründe für die Ablehnungen sind nicht in den amtlichen 
Nachrichten des Reichs-Versicherungsamts, auch nicht in den Verwaltungsbe¬ 
richten einzelner Landesversicherungsanstalten ersichtlich gemacht, was in dem 
vorliegenden Beriohte mit Recht beklagt wird. 

Der Invalidisierungsfaktor für Berlin ist in früheren Jahren beträchtlich 
hinter dem des ganzen Deutschen Reichs zurückgeblieben, hat aber 1904 den all¬ 
gemeinen Durchschnitt erreicht, da auf 100 Versicherte im Deutschen Reiche wie 
in Berlin 1,25 neue Invalidenrenten entfallen. Unter den Hauptursachen der 
Invalidität überwiegt wie bisher die Lungenschwindsucht, aber es ist ein be¬ 
merkenswerter ständiger Rückgang vorhanden. Auf 1000 männliche Rentner sind 
die Anteile der an dieser Krankheit Leidenden von 281 bis auf 216, und auf 1000 
weibliche von 153 bis auf 119 zurückgegangen. 

Mit diesem Erfolge erscheinen die grossen Aufwendungen der Anstalt fin¬ 
den Kampf gegen die Tuberkulose bei der Berliner Arbeiterbevölkerung gerecht¬ 
fertigt. Ueber die Leistungen der Anstalt auf diesem Gebiete enthält der Bericht 
eingehende Mitteilungen, deren Studium besonders zu empfehlen ist. Allerdings 
würde eine Verwertung der Angaben über die Behandlungsergebnisse der Kranken 
sich leichter ausführen lassen, wenn die Landesversicherungsanstalt in der 
Nomenklatur der Krankheiten und ihrer Gruppierung sich dem durch Erlass 
des Medizinalministers vom 22. April 1904 oingeführten Verzeichnisse der Krank¬ 
heiten enger anschliessen wollte. 

Auch für die Bezeichnung und Gruppierung der Berufsarten, die in den 
Tabellen des Berichts zur Verwendung kommen, dürfte ein Anschluss an die be¬ 
züglichen Aufstellungen der Reichs- und Landesstatistik wünschenswert erscheinen. 

Guttstadt. 


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Besprechungen, Referate, Notizen. 


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Livius Fürst, Die intestinale Tuberkulose-Infektion mit besonderer 
Berücksichtigung des Kindesalters. Stuttgart 1905, Verlag von Ferdi¬ 
nand Enke. 319 S. 

In der reichhaltigen, fleissigen Arbeit gibt F. einen guten Ueberblick über 
den gegenwärtigen Stand der durch Robert Kochs Mitteilung auf dem Londoner 
Tuberkulose-Kongress am 23. Juli 1901 wieder aktuell gewordenen Fragen der 
Möglichkeit der intestinalen Tuberkulose-Infektion durch den Genuss Perlsucht¬ 
bazillenhaltiger Milch und der Identität menschlicher und boviner Tuberkulose. 
Die Hauptergebnisse seiner Studien hat F. in 23 Schlusssätzen zusammengefasst. 
Ein genaues Literatur-, Autoren- und Sachregister vervollständigen das über¬ 
sichtlich angeordneto Werk, welohes zur Orientierung über die behandelten Fragen 
empfohlen werden kann. Dr. Kutzky (Charlottenburg). 


Vierteljahrsschrift f.ger. Med. u öff. San.-Woseo. 3. Folge. XXXII. 2. 


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III. Amtliche Mitteilungen. 


Allgemeine Verfügung des Jnstizmlnisters (Dr. Beseler) vom 21. April 
1906y betreffend die Ladung der Kreisärzte und der Kreistierärzte als 

Zeugen oder Sachverständige. 

Allgemeine Verfügung vom 17. Mai 1883 (Just.-Minist.-Bl. S. 155). 

Allgemeine Verfügung vom 13. März 1884 (Just.-Minist.-Bl. S. 54). 

Die in der Allgemeinen Verfügung vom 17. Mai 1883 den Gerichtsschreibern 
und Sekretären erteilte Weisung, der Vorgesetzten Behörde eines Beamten von 
dessen Ladung als Sachverständiger oder Zeuge Mitteilung zu machen, tritt für 
alle diejenigen Fälle ausser Kraft, in welchen ein Kreisarzt oder ein Kreistierarzt 
vor ein Gericht geladen wifd, das für den kreisärztlichen oder kreistierärztlichen 
Amtsbezirk zuständig ist. Ein Bezirk, in dem der Kreisarzt oder der Kreistierarzt 
die entsprechenden Geschäfte vertretungsweise wahrnimmt, steht dem eigenen 
Amtsbezirke des Beamten gleich, (cfr. Min.-Blatt 1906, No. 12, S. 248.) 


Erlass des Ministers der geistlichen pp. Angelegenheiten (I. A.: Förster) 
an den Regierungspräsidenten in N. vom 14. Juni 1906, betreffend Aus¬ 
legung einiger Bestimmungen des Gesetzes über übertragbare Krankheiten. 

Auf den Bericht vom 6. April dieses Jahres —. 

Nach der vorgelegten Niederschrift über die Verhandlungen in der Ver¬ 
sammlung der Medizinalbeamten des dortigen Bezirkes vom 18. Dezember vorigen 
Jahres ist bei der Besprechung des Landessouchengesetzes und seiner Ausführungs¬ 
bestimmungen vereinbart worden, dass auf dem Anzeigeformular der Zusatz zu 
machen sei: „Bei Wohnungswechsel von tuberkulösen Kranken kann auf Antrag 
des behandelnden Arztes eine Wohnungsdesinfektion durch den Kreisarzt veran¬ 
lasst werden“. 

Ich mache darauf aufmorksam, dass für einen derartigen Hinweis das Gesetz 
und die Ausführungsbestimmungen keine Grundlage bieten. Nur im Anschluss 
an Anzeigen über Todesfälle an Tuberkulose kann nach § 8, Ziffer 5 in Verbindung 
mit § 1, Absatz 3 des Gesetzes vom 28. August 1905 eine Desinfektion polizeilich 
angeordnet werden. 

Ferner hat nach der Niederschrift der Vorsitzende der Versammlung auf eine 
Anfrage empfohlen, Typhusträger als krank im Sinne des § 8, Ziffer 10 des Ge¬ 
setzes vom 28. August 1905 anzusohen. Diese Auslegung ist mit den Aus- 


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Amtliche Mitteilungen. 445 

führungsbestimmungen — vergl. Absatz 5—5 der Vorschriften zu § 8 des Ge¬ 
setzes — nicht vereinbar. 

Ew. Hochwohlgeboren ersuche ich ergebenst, das hiernach etwa Erforderliche 
gefälligst zu veranlassen, (cfr Min.-Blatt 1906, No. 13, S. 268.) 


Erlass des Ministers der geistlichen pp. Angelegenheiten (I. A.: Förster) 
und des Ministers für Landwirtschaft, Domänen und Forsten (I. A.: 
Küster) an die Regierungspräsidenten (Polizeipräsidenten, in Berlin) vom 
29. Mai 1906, betreffend Ermittelungen über die Uebertragbarkeit der 
Rindertuberkulose auf den Menschen durch den Genuss von Milch euter- 

tuberkuloser Kühe. 

Die wenigen infolge des Erlasses vom 5. Januar v. Js. zur Kenntnis des 
Kaiserlichen Gesundheitsamts gebrachten Fälle des fortgesetzten Genusses von 
Milch eutertuberkulosekranker Kühe durch Menschen haben nicht ausgereicht, um 
über die Frage der Uebertragbarkeit der Rindertuberkulose auf den Menschen zu 
einem sicheren Ergebnisse zu gelangen. Dem Kaiserlichen Gesundheitsamt er¬ 
scheint es von Wert, auch von solchen Fällen Kenntnis zu erhalten, in denen die 
Personen, welche die ungekochte Milch einer eutertnberkulosen Kuh längere Zeit 
genossen haben, bei der Untersuchung als vollkommen gesund befunden worden 
sind, während bisher eine Mitteilung nur vorgesehen war, wenn bei einer der 
untersuchten Personen Tuberkulose festgestellt werden konnte. 

Euere pp. wollen hiernach die mit den Ermittelungen betrauten beamteten 
Aorzte und Tierärzte mit Anweisung dahin versehen, dass das Ergebnis der 
Untersuchungen auch dann dom Kaiserlichen Gesundheitsamte vorzulegen ist, 
wenn die in Betracht kommenden Personen nicht an Tuberkulose erkrankt sind. 
Bei dieser Gelegenheit sind die betreffenden Beamten erneut auf die Wichtigkeit 
der Angelegenheit und auf die Notwendigkeit einer Beteiligung der nichtbeamteten 
Aerzte und Tierärzte bei Sammlung des Materials aufmerksam zu machen, (cfr. 
Min.-Blatt 1906, No. 15, S. 313. 


Erlass des Ministers der geistlichen pp. Angelegenheiten (I. V.: Wovor) 
und des Ministers des Innern (I. V.: v. Bischoffshansen) an die Ober« 
Präsidenten und Reglernngspräsidenten vom 19. Juli 1906, betreffend Er« 
mittelangen über den Ansbrnch übertragbarer Krankheiten and Anord¬ 
nungen von Schutzmassregeln. 

Nach den §§ 6, 8 und 11 des Reichsgesetzes, betreffend die Bekämpfung 
gemeingefährlicher Krankheiten, vom 30. Juni 1900 in Verbindung mit den §§ 6, 
8 und 12 des Landesgesetzes, betreffend die Bekämpfung übertragbarer Krank¬ 
heiten, vom 28. August 1905 liegt die Anordnung von Ermittelungen über den 
Ausbruch einer übertragbaren Krankheit und die Anordnung der Schutzmassregeln 
der Ortspolizeibehörde ob mit der Massgabe, dass der Landrat befugt ist, die 
Amtsverrichtungen der Ortspolizeibehörden für den einzelnen Fall einer übertrag¬ 
baren Krankheit zu übernehmen. Eine Ausnahme besteht nur für Militär-, Marine-, 
Eisenbahn-, Post- und Telegraphenbehörden (§§ 39 und 40 des Reichsgesetzes). 

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Amtliche Mitteilungen. 


Hiernach ist die Ortspolizeibehörde bezw. der Landrat zur Ermittelung und Be¬ 
kämpfung übertragbarer Krankheiten auch in Provinzialanstalten zuständig. 

Die Ortspolizeibehörde hat in den Fällen des § 6 des Reichsgesetzes und in 
denjenigen des § 6 Abs. 1 des Landesgesetzes den zuständigen Kreisarzt zu be¬ 
nachrichtigen, und dieser ist zur Vornahme der Ermittelungen nicht nur berechtigt 
sondern auch verpflichtet. Nach §§ 7 des Reichsgesetzes und 6 des Landesgesetzes 
muss — abgesehen von gewissen, hier nicht interessierenden Fällen — dem Kreis¬ 
arzt der Zutritt zum Kranken und die Vornahme der erforderlichen Untersuchungen 
gestattet werden. 

Hiernach kann die Auffassung des Landesdirektors, dass für die auf Grund 
der genannten beiden Gesetze ergehenden Massnahmen in Provinzialanstalten der 
Oberpräsident auf Grund des Allerhöchsten Erlasses vom 12, Mai 1897 zuständig, 
und der Kreisarzt nur auf dessen ausdrücklichen Auftrag zur Ausübung seiner 
aus jenen Gesetzen sich ergebenden Obliegenheiten in Provinzialanstalten be¬ 
rechtigt sei, nicht als zutreffend erachtet werden. Abgesehen davon, dass im 
Widerspruchsfalle dieser Erlass als lex prior jenen Gesetzen gegenüber nicht in 
Betracht kommen könnte, betrifft er auch ein anderes Gebiet staatlicher Tätigkeit. 
Bei Handhabung der genannten Gesetze handelt es sich nicht um Ausübung eines 
gesundheitspolizeilichen Aufsichtsrechts, wie es der Allerhöchste Erlass vom 
12. Mai 1897 im Auge hat, sondern um Exekutivbefugnisse der Polizei, 
wie sie ihr gegen alle Personen gleichmässig zustehen, ohne Rücksicht darauf, ob 
sie ihrer besonderen Aufsicht unterworfen sind oder nicht. 

Wir bemerken, dass auch die parlamentarischen Verhandlungen über das 
preussische Seuchengesetz jeden Zweifel an der Richtigkeit der vorstehenden Auf¬ 
fassung ausschliessen und ein in der Kommission des Abgeordnetenhauses ge¬ 
stellter Antrag, die auf dem Gebiete der Seuchenbekämpfung den Polizeibehörden 
überwiesenen Obliegenheiten bei den Provinzialanstalten den Oberpräsidenten bei¬ 
zulegen, ausdrücklich abgelehnt worden ist (vergl. Kommiss. Bericht, Drucksache 
No. 207 des Hauses der Abgeordneten. I. Session 1904 S. 9, 21, 22). 

Eine Aenderung an dem bestehenden Reohtszustande, dem Anträge des 
Landesdirektors entsprechend, daduroh herbeizuführen, dass den Aerzten der Pro¬ 
vinzialanstalten die Obliegenheiten der beamteten Aerzte innerhalb der Anstalt 
auf Grund des § 13 Abs. 2 des Landesgesetzes übertragen würden, muss ich, der 
mitunterzeichnete Minister der Medizinal-Angelegenheiten, bei aller sonstiger An¬ 
erkennung der Qualifikation der Anstaltsärzte der Provinzial Verwaltungen doch 
Bedenken tragen. Die Befugnisse der Anstaltsärzte bosohränken sich auf das 
Anstaltsgebiet und dessen Insassen. Die im Falle eines Seuchenausbruches vor¬ 
zunehmenden Ermittelungen und zu treffenden Schutzmassregeln werden aber 
hierüber in der Regel weit hinausgehen müssen und sich in nicht seltenen Fällen 
sogar über mehrere Ortschaften erstrecken. Dem Takt der Anstalts- und der 
Kreisärzte vertrauen wir, dass sie bei der Bekämpfung übertragbarer Krankheiten 
auch in Provinzialanstalten persönliche Reibungen zu vermeiden wissen und 
durch geeignetes Zusammenarbeiten den Seuchenschutz um so wirksamer gestalten 
werden, (cfr. Min.-Blatt 1906, No. 15, S. 313.) 


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Amtliche Mitteilungen. 


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Erlass des Ministers der geistlichen pp. Angelegenheiten(I.V.: Wever) an die 
Regierungspräsidenten, den Polizeipräsidenten in Berlin und den Landesdirektor 
in Arolsen vom 18. Juli 1906, betreffend staatliche Anerkennung von Kranken¬ 
anstalten als Krankenpflegeschulen. 

Auf den gefälligen Bericht vom 28. Juni d. Js. erwidere ich ergebenst, dass 
nur solche Krankenanstalten als Krankenpflegeschulen im Sinne des § 5 Abs. 1 
Ziffer 6 des Entwurfes von Vorschriften über die staatliche Prüfung von Kranken¬ 
pflegepersonen für die Zwecke der Ausbildung und Prüfung staatlich anerkannt 
werden können, in denen eine einheitliche ärztliche Leitung nioht nur für die Be¬ 
handlung der Kranken und den Krankenhausbetrieb, sondern auch für den 
theoretischen und praktischen Unterricht in der Krankenpflege vorhanden ist. 
Dieser Unterricht hat wenigstens zu entsprechen dem auf Seite 9 des genannten 
Entwurfs abgedruckten Plane für die Ausbildung in der Krankenpflege. 

Ew. Hochwohlgeboren ersuche ich, nunmehr zur Erledigung des Erlasses 
vom 8. Juni d. Js. gefälligst das Erforderliche unverzüglich zu veranlassen. 


Erlass des Ministers für Medizinal-Angelegenheiten (I. A.: Förster) an die 
Regierungspräsidenten und den Polizeipräsidenten in Berlin vom 15. Juni 1906, 
betreffend Schülerselbstmorde. 

Die 'Zählkarten über Schülerselbstmorde sind vor Einreichung an das König¬ 
liche Statistische Landesamt von den Kreisärzten den zuständigen Schulbehörden 
zur Bestätigung der Angaben vorzulegen, (cfr. Min.-Blatt 1906, No. 13, S. 264.) 


Erlass des Ministers für Medizinal-Angelegenheiten (I. A.: Schmidtmann) 
an die Regierungspräsidenten und an den Landesdirektor in Arolsen vom 
21. Juni 1906. 

Das von der Medizinal-Abteilung bearbeitete Werk: „Das Gesundheitswesen 
des Preussischen Staates im Jahre 1904“ wird für die Regierungs- und Medizinal¬ 
räte übersandt. Der Preis des Werkes beträgt für Königliche Behörden und 
Medizinalbeamte bei direkter Bestellung in dem Verlage (Richard Schötz, Berlin 
S.W.48, Wilhelmstrasse 10) 7 M. (cfr. Min.-Blatt 1906, No. 14, S. 290.) 


In der Zeit vom 8. bis 13. Oktober 1906 wird in den Räumern des hygie¬ 
nischen Instituts der Universität Göttingen ein schulhygienischer Ferien¬ 
kursus für Lehrer höherer Lehranstalten abgehalten, (cfr. Min.-Blatt 1906, 
No. 14, S. 291.) 


Erlass des Ministers für Medizinal-Angelegenheiten (I. V.: Wever) und 
des Ministers des Innern (I. V.: v. Bischoffshausen) an die Oberpräsidenten 
vom 30. Juli 1906, betreffend Erhebungen über Krüppelkinder. 

Der Deutsche Zentralverein für Jugendfürsorge beabsichtigt, durch Er¬ 
hebungen über die Zahl der Krüppelkinder eine zuverlässige Unterlage für den 
Ausbau der praktischen Krüppelfürsorge zu gewinnen, deren Erweiterung und 
Neugestaltung mit Hilfe der orthopädischen Chirurgie und durch besondere Art 
des Unterrichts in geeigneten Krüppelanstalten angestrebt wird. Diese Erhebungen 
sollen mit Unterstützung der Ortspolizeibehörden angestellt werden. 


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Amtliche Mitteilungen. 


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Der genannte Verein wird die erforderlichen Zählkarten usw. den Regierungs¬ 
präsidenten übersenden. Die durch die Ortspolizeibehörden mit Hilfe der Gemeinde¬ 
vorsteher und Lehrer am 10. Oktober d. J. ausgefüllten Zählkarten sind von den 
Kreisärzten zu prüfen und sodann durch den Landrat (Oberbürgermeister) an die 
Regierungspräsidenten usw. einzureiohen. (cfr. Min.-Blatt 1906, No. 15, S. 309.) 


Erlass des Ministers für Medizinal-Angelegenheiten (I. A.: Schmidtmann) 
an die Oberpräsidenten,' Regierungspräsidenten und den Polizeipräsidenten in 
Berlin vom 2. August 1906, betreffend Bissverletzungen von Menschen 
durch tolle oder der Tollwut verdächtige Tiere in Preussen im 
Jahre 1905. 

Im Jahre 1905 wurden in Proussen insgesammt 368 (262 = 71,2 °/ 0 männ¬ 
liche und 106 = 28,8 °/ 0 weibliche) Personen durch tolle oder der Tollwut ver¬ 
dächtige Tiere gebissen oder verletzt. 

Die Verletzungen wurden durch 224 Tiere, nämlich 211 Hunde, 7 Katzen, 
4 Rinder und 2 Pferde herbeigeführt. 

Die 211 Hunde verletzten je 1 bis 9, im Ganzen 346 Menschen; die 7 Katzen 
bissen je 1 bis 3, im Ganzen 12 Menschen; die 4 Rinder verletzten je 1 bis 3, im 
Ganzen 8, und die beiden Pferde je 1 Menschen. 

Von 119 Tieren wurden das Gehirn und das verlängerte Mark in dem Institut 
für Infektionskrankheiten in Berlin untersucht. Bei 104 Tieren wurde hier Toll¬ 
wut festgestellt, in 15 Fällen konnte Tollwut nicht bestätigt werden. 67 Tiere 
wurden auf Grund der Krankheitserscheinungen bezw. der Obduktionsergebnisse 
als tollwutverdächtig erklärt, 11 erschienen gesund und 27 entzogen sich der 
Untersuchung durch die Flucht. 

Die 368 Verletzungen wurden in 11 Provinzen beobachtet, und zwar in 
Sohlesien 94, Rheinprovinz 76, Westpreussen 37, Westfalen 33, Hessen-Nassau 28, 
Posen 24, Ostpreussen 22, Pommern 20, Sachsen 16, Hannover 12 und Branden¬ 
burg 6. 

Der Zeit nach kommen die meisten Verletzungen auf die Monate März und 
April (48 und 46), die wenigsten auf den Dezember (16). 

Von den 368 Verletzten begaben sich 323 = 87,8 °/ 0 zur Vornahme der 
Schutzimpfung nach Pasteur in das Institut für Infektionskrankheiten in Berlin. 
Von den 45 Personen, die sich nicht impfen Hessen, wurden 22 in ihrem Aufent¬ 
haltsorte ärztlich behandelt. 

11 der Verletzten erkrankten an Tollwut und starben in wenigen Tagen. 
Von diesen 11 hatten sich 4 nach der Verletzung in ärztliche Behandlung begeben, 

4 nicht, 3 hatten sich der Schutzimpfung unterzogen. Obwohl in diesen 3 Fällen 
die Schutzimpfung versagte, ist dennoch der Erfolg des Impfverfahrens auch in 
diesem Jahre als ausserordentlich günstig zu bezeichnen. Es starben von den 

323 Geimpften.3 = 0,93 %, 

45 nicht Geimpften . . 8 = 17,8 °/ 0 . 

Von den 323 geimpften Personen waren 176 durch die 104 Tiere verletzt 
worden, deren Erkrankung an Tollwut durch Tierversuche festgestellt war. Von 
diesen 176 Geimpften starben 2 = 1,14 °/ 0 . (cfr. Min.-Blatt 1906, No. 15, S. 314.) 

Druck von L. Schumacher in Berlin N. 24. 


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Vierleljahrsschr. f. gerichll. Med 














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I 


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Vierteljahrsschr. f. gcrichtl. Med. 


Tak. III. 




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Clichts 'Ja. - K-nra 


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Vierfeljahrsschr. f. gerichtl. Med 






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Cliches Liebman & 


Roma 






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Vlerleljahrsschr. f. gerlchtl. ne d 


Taf. VIII 



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Clii'hfa Liebman & C. ^ 


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UNIVERSUM OF IOWA 






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Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Med 


Tak. IX. 



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Clich^s Lief' 






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