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Full text of "Vierteljahrsschrift Für Gerichtliche Medizin Und Öffentliches Sanitätswesen ( 3. F.) 5.1893"

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gerichtliche Medicin 

und 

öffentliches Sanitätswesen. 


Unter Mitwirkung der Königl. wissenschaftlichen Deputation 
für das Medicinalwesen im Ministerium der geistlichen, 
Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten 

herausgegeben 


Dr. A. Wern ich, 

Regierungs- und Medicinal - Rath in Berlin. 


Dritte Folge. V. Band. 

Jahrgang 1893. 

Mit 2 Tafeln. 


BERLIN, 1893. 

VERLAG VON AUGUST HIRSCHWALD. 

NW. 68. UNTER DEN LINDEN. 


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Inhalt 




Seite 

QeriohtUohe Medioin .. 1—96. 221—335 


1. Superarbitrium der König], wissenschaftl. Deputation für das Medicinal- 

wesen, betreffend Körperverletzung mit tödtlichem Ausgange. (I. Re¬ 
ferent: v. Bergmann. II. Referent: Skrzeczka.) . 1 

2. Ueber die Wunden des Herzens. Von Dr. med. A. Elten .... 9 

3. Die Bedeutung der Thymushypertrophie bei forensischen Sectionen. 

Von Professor Dr. C. Seydel . 55 

4. Durchdringende Brustwunde, Querriss von 2 cm Länge in der vorderen 
Wand des aufsteigenden Theils der Aorta ausserhalb des Herzbeutels 
infolge einer Schussyerletzung. Von Kreisphysikus Dr. Bremme. . G2 

5. Aerztliches Gutachten betreffend den Geisteszustand des Alt-Staats- 

schreibers Dr. philos. Gottfried Keller von Zürich wegen zweifel¬ 
hafter Testirfähigkeit. Von Professor Dr. Wille in Basel. 67 

6. Tod durch Pental bei Gelegenheit einer Zahnoperation. Von Kreis¬ 
physikus Dr. Bremme . 80 

7. Bedeutung der Zeichen für wiederholte Geburt. Von Dr. Schilling 89 

8. Ein Fall von Sarggeburfc. Von Dr. Moritz. 95 


9. Mittheilungen aus dem Institute für gerichtliche Medicin des Herrn 
Hofrathes Prof. E. von Hofmann in Wien: 

I. Atypische Lage der Einschussöffnung beim Selbstmord durch 
Schuss in den Kopf. Von Dr. Albin Haberda, Assistenten 

am Institute.221 

II. Selbsterdrosselung eines Alkoholikers. Von Demselben . . . 229 

10. (Aus dem Institut für Staatsarzneikunde in Berlin): Ueber die Ur¬ 
sachen des Flüssigbleibens des Blutes bei der Erstickung und anderen 


Todesarten. Von Dr. Gabriel Corin aus Lüttich.234 

11. Die Verletzungen des Mastdarmes vom gerichtsärztlichen Standpunkt. 

Von Dr. Adolf Mantzel in Elberfeld.249 

12. Die Beurtheilung der perversen Sexualvergehen in foro. Von Prof. 

Dr. C. Seydel in Königsberg i. Pr.273 

13. Ueber Arsenikvergiftung in gerichtsärztlicher Beziehung. Von Stabs¬ 
arzt Dr. Schumburg in Berlin..283 


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Inhalt. 


Beit« 

14. Superarbitrium der K. wisseDschaftl. Deputation für das Medicinal- 

wesen, betreffend fahrlässige Tödtung bei der Entbindung. (I. Referent: 
Olshausen. II. Referent: Pi stör.).297 

15. Ein weiterer Pall von Simulation von Schwachsinn bei bestehender 

Geistesstörung. Von Dr. Clemens Neisser in Leubus.303 

16. Jugendliches Irresein, Hysterie. — Brandstiftung. — Freisprechung. 

Yon Dr. Krömcr zu Neustadt in Westpreussen.310 

17. Tod in Kohlenoxyd und Tod durch Kohlenoxyd. Yon Kreisphysikus 

Dr. Chlumsky in Wohlau.321 

II. OefTentllohee Sanitftsweeen. 97—205. 836—400 

1. Berliner Mortalitatsstatistik von acht Krankheiten. Von Dr. v. Foller. 

(Mit 2 Diagramm-Tafeln.). 97 

2. (Aus der medicinischen Universitätsklinik des Herrn Geheimrath Prof. 

Ebstein): Die Koblenoxydgasvergiftung und die zu deren Verhütung 
geeigneten sanitätspolizeilichen Maassregeln. Yon Dr. med. Ernst 
Becker.113. 336 

3. Zur Casuistik des Kampfes gegen den Geheimmittelunfug. Yon Geh.-Rath 

Dr. Albert Weiss (Schluss.).130 

4. Morbidität und Mortalität der Bergarbeiter, insbesondere im rheinischen 

Gebiet, und die zur Verminderung derselben erforderlichen Maass¬ 
regeln. Von Dr. Körfer.154 

5. (Aus dem ehern.-mikroskop. Laboratorium von Dr. Maximilian und Dr. 

Adolf Jolle 8 in Wien): Beitrag zur Entstehungsursache von Canal¬ 
explosionen. Kine gutachtliche Aeusserung vonDr.Maximilian Jo 11 es 179 

6. Der Kampf gegen die Cholera in Berlin. Von A. Wernich. (Fort¬ 
setzung aus dem Suppl.-Heft.).188 

7. Die Krankheiten der Arbeiter in Theer- und Paraffinfabriken in medi- 

cinisch-polizeilicher Hinsicht. Von Dr. Ho ff mann in Halle a. S.. . 358 

8. Superarbitrium der K. wissenschaftl. Deputation für das Medicinal- 
wesen über die im Odergebiet 1891 beobachtete „Schlammkrankheit* 1 . 


(I. Referent: Gerhardt. II. Referent: Rubner.).382 

9. Ein Todesfall durch Einathmen von Cloakengas. Von Dr. Ernst 
Hankel in Glauchau.388 

III. Kleinere Mittheilungen, Referate, Uteraturnotizen . . 206—215. 401—412 

IV. Amtliohe Verfügungen .216-220. 413—414 


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I. Gerichtliche Medicin. 


1 . 

Superarbitrium 

der K. wissenschaftl. Deputation für das Medicinalwesen, 

betreffend Kdrperrerletiug mit tödtlicheM Aasgaage. 

(L Referent: ▼. Bergmann.) 

(II. Referent: Skneeeka.) 


Ew. Excellenz erlauben wir uns das auf Ansuchen des König¬ 
lichen Amtsgerichts zu B. vom 31. Mai d. Js. durch hohe Br. m. 
Verfügung vom 10. Juni d. Js. in der Voruntersuchungssache gegen 
die verehelichte Arbeiter P. in S. wegen Körperverletzung mit tödt- 
lichem Ausgange von uns erforderte Obergutachten hiermit gehor- 
samst zu erstatten: 


Geschichtserzählung. 

Die unverehelichte Auguste P., welobe im September 1891 im Dienste 
eines Ehepaares P. in S. stand, theilte mit der Frau P. das Schlafzimmer und 
batte ihren 3 /, Jahre alten Sohn, den sie selbst stillte, bei sieb. Am Abende des 
4. September reichte sie ihrem Kinde, das nach Aussage zweier Zeugen, der Frau 
Th. und der Frau Z. (Fol. 45b und 46a), stets gesund und munter gewesen 
sein soll, die Brust. Nach dem Saugen schlief das Kind ein, wachte aber sohon 
nach drei Stunden wieder auf und schrie. Das Qesohrei veranlasste die Frau P., 
wie sie selbst eingestanden bat (Fol. 2 a und 3 a), dem Kinde mehrere Schläge 
auf den Hintern und auf die linke Kopfhälfte zu geben. Dieselben waren naoh 
Aussage der Mutter des Kindes so heftig, dass diese der Schlagenden in den 
Arm fiel und zwischen den Frauen nun es zu Thätliohkeiten kam (Fol. 3 a). 
Das Kind war hiernaoh etwa ! / 2 Stunde lang ruhig (Fol. 2 und 3), dann fing es an 
laut zu schreien, bis etwa gegen 3 Uhr Morgens, wo sich Zuckungen der Glieder 

Vierteljahre«: hr. f. gar. Med. Dritte Folge. V. 1. 1 


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Superarbitrium der Köuigl. wissenschaftlichen Deputation, 


und röchelndes Atbmen einstellten (Fol. 3 und 4), welche bis zum Tode um 
V 2 7 Uhr andauerten. 

Die Krämpfe und den Tod bezog die Mutter des Kindes auf die von ihrer 
Dienstherrin demselben applicirten Schläge, während diese annahm, dass dem 
Kinde fehlerhafte Milch von der Mutter dargereicht worden sei, denn dieselbe 
hätte am Tage unreifes Obst genossen. 

Nach einer Denunciation des Bräutigams der P., welcher sich als Vater 
des verstorbenen Kindes bezeichnete, bei dem Ortsgendarmen wurde die gericht¬ 
liche Obduction der Kindesleiche angeordnet (Fol. 1 und Fol. 8—14), welohe 
am 8. September 1891 von den beiden Kreismedicinalbeamten ausgeführt wurde. 

Aus dem Obductionsprotocoll heben wir hervor: 

1) Die Leiche des männlichen Kindes ist 63 cm lang; das Kind war etwa 
ein Jahr alt, besitzt ziemlioh gutes Fettpolster, mässig entwickelte Muskulatur 
und ist mittelkräftig gebaut. 

2) Die Hautfarbe ist im Gesichte, an den Vorderarmen, den unteren Extre¬ 
mitäten und dem Gefässe blassgelblich, dagegen an der Rückseite der Ober¬ 
schenkel blauroth, im Uebrigen grün. Ein Einschnitt in die blaurothen Stellen 
ergiebt kein freies Blut im Gewebe. 

4) Erheblicher Leiohengeruch. 

5) Der Kopf ist mit etwa 4 cm langen röthlichen, ziemlich dichten Haaren 
besetzt. Auf der linken Seite befindet sich 1 cm oberhalb der Schuppennaht eine 
5 cm lange und durchschnittlich l'/ 2 cm breite bräunlichrothe eingetrocknete 
Partie der Kopfhaut. Ein Einschnitt an dieser Stelle erweist einige punktförmige 
Blutaustritte in die Weichtheile und die Knochenhaut. Die grosse Fontanelle ist 
fast ganz geschlossen. Auf dem linken Stirnbeinhöcker sieht man eine gut Fünf¬ 
zigpfennigstück grosse bräunlichrothe Verfärbung der Haut, welche sich trocken 
anfühlt. Ein Einschnitt erweist hier einen Blutaustritt in die Weiohtheile von 
etwa Linsengrösse. 

9) Die Oeffnungen der Ohren sind frei von fremden Körpern. Am rechten 
Ohr ist der obere Rand geröthet und trocken. Eine gleiche Stelle findet sich 
dicht über dem Ohrläppchen an der Rückseite. Einschnitte in diese Stellen er¬ 
geben punktförmige Blutaustritte. 

10) Der Hals zeigt keine auffallende Beweglichkeit. Rechts sieht man vom 
Warzenfortsatz fast 4 cm horizontal nach hinten ziehend, in einer Breite von 
1 V 4 cm, die Haut pergamentartig und bräunlichroth. Beim Einsohneiden zeigt 
sich die Lederhaut blutig durchtränkt. Ausserdem findet sich eine ähnliohe Stelle 
ebenfalls rechts 1 cm oberhalb des Rabenschnabelfortsatzes beginnend und in 
einer Breite von ‘/ 2 cm etwa 1 */ 2 cm horizontal nach hinten verlaufend; auch 
hier bemerkt man punktförmige Blutaustritte. 

11) Ueber dem linken Brustbeinschlüsselbeingelenk sieht man eine etwa 
zehnpfenniggrosse Hautstelle von fleckig braunrother Farbe. Eine ähnliche Stelle 
findet sich V 2 cm nach rechts von dem rechten gleichnamigen Gelenk. Einschnitte 
ergeben das Unterhautbindegewebe blutig durchtränkt. 

12) Ueber dem Gelenkfortsatze des reehten Schulterblattes (Aoromion) ist 
die Haut in Zehnpfennigstückgrösse ebenfalls in der mehrfach beschriebenen 
Weise verändert. Auch hier ist das Gewebe blutig durchtränkt. 

19) Mittels eines regelrecht geführten Schnittes werden die weichen Schä- 


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betreffend Körperverletzung mit tödtlichem Ausgange. 


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delbedeobungen durohtrennt und nach vorn und hinten abgezogen. Dieselben 
sind im Allgemeinen blass, nur die hintere Partie ist etwas geröthet. 

20) Die Beinhaut des Sohädels ist im Allgemeinen blassgrauroth; ent¬ 
sprechend der Stirnbeinnaht erkennt man mehrere mittelgrosse bläulichrothe 
Blutgefässe. Eine Verletzung der Beinhaut ist nioht bemerkbar. Das Schädeldaoh 
ist kräftig gebaut, die Wand bis ( / 3 om diok, wovon gut die Hälfte auf die 
Sohwammsubstanz kommt. Die harte Hirnhaut ist überall glatt, glänzend und 
feucht, die Gefässe sind bis in die feineren Verzweigungen erkennbar. Der 
Längsblutleiter ist mit dunklem, flüssigem Blute stark gefüllt. 

23) Beim Durchsagen des Schädels entleerten sich etwa 30 ccm flüssigen 
Blutes. 

24) Die weiohe Hirnhaut ist überall zart und lässt die Windungen durch- 
soheinen. Die Gefässe derselben sind bis in die feineren Verzweigungen reich¬ 
lich mit Blut gefüllt. 

26) Auch die queren Blutleiter sind mit flüssigem Blut gefüllt. 

27) Die hinteren Hörner der Seitenhöhlen enthalten wässrige blutig ge¬ 
färbte Elüssigkeit, die Wände sind glatt und glänzend. Die Adergeflechte sind 
zart und stark geröthet. 

28) Die obere Gefässplatte ist ebenfalls sehr geröthet. 

29) Durchsohnitte durch die grossen Halbkugeln ergeben nur spärliche 
Blutpunkte, die graue Substanz ist durchweg, besonders aber nach hinten zu 
auffallend geröthet, namentlich erweisen sich hin und wieder die Umgebungen 
einzelner Windungen besonders roth gefärbt. 

30) Sehstreifen und Vierhügel sind von guter Consistenz, enthalten spär¬ 
liche Blutpunkte, die graue Substanz ist blass. 

31) Die dritte Hirnhöhle ist leer, die Adergeflechte sind geröthet. 

32) Kleinhirn, Hirnknoten und verlängertes Mark zeigen gute Consistenz, 
fast gar keine Blutpunkte in der weissen Substanz, während die graue blass 
erscheint. 

33) Am Sohädelgrunde zeigen sich die Knochen unverletzt. 

37) Der Brustkorb entspricht der Form der Hühnerbrust. Nachdem das 
Brustbein entfernt ist, sieht man in der Mitte die innere Brustdrüse von grau- 
rother Farbe; die Lungen sind beide etwas zurückgesunken und dunkelroth und 
hellroth gefleckt. 

44) Die linke Lunge ist überall lufthaltig. Der Ueberzug derselben ist 
glatt, auf dem Oberlappen sieht man in demselben zwei punktförmige Blutaus¬ 
tritte. Die Oberfläche ist dunkel und hellgrauroth, die Schnittfläche ist im Ober¬ 
lappen etwas heller, im Unterlappen etwas dunkler grauroth. 

45) Die rechte Lunge zeigt einige Blutpunkte auf dem Mittellappen, sonst 
ist dieselbe überall lufthaltig. 

46) Die unteren Verzweigungen der Luftröhre in beiden Lungen sind leer 
und besitzen eine blasse Schleimhaut. 

60) Im Mastdarm ist breiiger Koth, die Schleimhaut ist graugelb gefärbt 
und zeigt zahlreiche feine Gefässnetze. 

61) Der Zwölffingerdarm ist leer, die Schleimhaut ist blass. An der Pa¬ 
pille ist nichts Auffallendes, bei Druck auf die Gallenblase entleert sich aus der¬ 
selben flüssige, dunkelbraune Galle; die Falten sind niedrig. 

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Super&rbitrium der Königl. wissenschaftlichen Deputation, 


62) Der Magen ist von massiger Ausdehnung, er enthält einige Cubikcenti- 
meter graue Flüssigkeit, die Schleimhaut ist blass und lässt die Gefässe in den 
mittleren Zweigen erkennen. 

67) Im Dünndarm ist wenig dünne, gelbliche Flüssigkeit, die Schleimhaut 
ist bla98, die Einzeldrüsen und die Peyer’schen Haufen sind deutlich bemerkbar. 

68) Der Dickdarm enthält mehr breiigen gelben Koth, die Schleimhaut ist 
graugelb und zeigt vielfache feine Gefässzeichnungen und einzelne punktförmige, 
frische Blutungen und sehr zahlreiche bis hirsekorngrosse Follikel. 

Das vorläufige Gutachten der Obducenten nimmt an: 

1. Der Tod des Kindes ist durch Erstickung erfolgt, wie dies die Blut¬ 
flecke (Petechien) auf dem Lungenfell erweisen. 

2. Die Erstickung ist wahrscheinlich duroh einen der Krampfanfälle 
verursacht worden, für deren Annahme die Vorgefundene Ueber- 
füllung der Gefässe der Gehirnhäute und der Gehirnrinde einen 
Anhalt giebt. 

3. Zeichen dafür, dass die tödtliche Krankheit durch äussere Gewalt 
herbeigeführt ist, namentlich, dass sie mit den bei der äusseren Be¬ 
sichtigung Vorgefundenen Verletzungen in ursächlichem Zusammen¬ 
hänge steht, hat die Obduction nicht ergeben. 

Diese Behauptungen begründeten in ihrem Gutachten vom 8. Ok¬ 
tober 18.. die Obducenten ausführlich: 

„Dass Schläge auf den Kopf die tödtliche Krankheit verursacht 
hätten, sei eine sehr geringe Wahrscheinlichkeit. Wenn das Kind 
mehrfach in dieser Weise misshandelt worden sei, so sei nicht recht 
einzusehen, warum gerade an jenem Abende diese schweren Folgen 
eingetreten sein sollten, an welchem in Gegenwart der Mutter die 
Schläge auf den Kopf schwerlich mit so grosser Heftigkeit geführt 
worden wären, als in deren Abwesenheit dies geschehen sein möchte.... 
Uebrigens widerspräche eine solche Entstehungsweise dieser Krankheit 
der wissenschaftlichen Erfahrung.“ 

Vielmehr erklärten sie die Krämpfe als Reflexerscheinungen von 
der durch jenen Diätfehler der Mutter hervorgerufenen „catarrhali- 
schen Affection des Darmkanals“ bei dem Kinde. Dass eine der¬ 
artige Erkrankung bei demselben bestanden habe, schlossen sie aus 
der deutlichen Erkennbarkeit der Einzeldrüsen und Peyer’schen Plaques 
im Dünndarm, wie den im Dickdarm vielfach vorhandenen sichtbaren 
feinen Gefässzeichnungen und einzelnen punktförmigen Blutungen so¬ 
wie sehr zahlreichen hirsekorngrossen Follikeln daselbst. 

Ihr endgiltiges Gutachten fassten sie folgendermassen ab: 

I. Das Kind P. ist an Eklampsie gestorben, und zwar ist der 
. Tod in einem Krampfanfalle durch Erstickung erfolgt. 


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betreffend Körperverletzung mit tödtlichem Ausgange. 


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II. Die an Hals and Brust Vorgefundenen Verletzungen stehen 
in keinem ursächlichen Zusammenhänge mit der todtlichen 
Krankheit. 

III. Es ist unwahrscheinlich, dass die am Schädel des Kindes 
Vorgefundenen Verletzungen oder Schläge, auf den Kopf 
desselben mit der flachen Hand geführt, die Krankheit 
herbeigeführt haben. 

IV. Es ist in hohem Maasse wahrscheinlich, dass Reiz von der 
erkrankten Darmschleimhaut aus die Eklampsie verur¬ 
sacht hat. 

Bei der Superrevision dieses Gutachtens beanstandete das König¬ 
liche Medicinalcollegium der Provinz B. dieses Gutachten, indem es 
meinte, dass die geringen Darmveränderungen auf den Tod des Kin¬ 
des keinen Einfluss gehabt hätten, vielmehr es wahrscheinlich sei, 
dass die Schläge auf den Kopf die zum Tode führenden Krämpfe ver¬ 
ursacht hätten. 

In Folge dieser Beanstandung forderte die Staatsanwaltschaft 
beim Landgerichte zu L. unter dem 29. Februar 1892 ein Obergut¬ 
achten über die Todesursache ein. 

In diesem Obergutaohten antwortete das Königliche Medicinalcoilegiam: 

1) dass der Knabe P. in Folge Blutüberfüllung des Gehirns und seiner 
Häute und besonders der Grosshirnrinde gestorben sei; 

2) dass dieselbe, d. h. die Hirnhyperämie, hervorgerufen worden sei 
durch die Misshandlungen, welche das Kind am Abende vor seinem 
Tode erlitten; 

3) dass die sehr unwesentlichen Darmveränderungen mit dem Tode des 
Kindes in keinem ursächlichen Zusammenhänge stehen. 

Naohdem noch ein Sachverständiger in der Person des praktischen Arztes 
Dr. Sch. aus B., welcher die Kindesleiche als Leichenbeschauer gesehen hatte, 
verhört worden war und sich im Sinne des Gutachtens des Königlichen Medi- 
oinalcollegiums geäussert hatte, wandte sioh das Königliche Amtsgericht zu B. 
mittelst Schreibens vom 31. Mai an Ew. Excellenz, behufs Erwirkung eines 
Obergutachtens der Königlichen Wissensohaftlichen Deputation für das Medi- 
cinalwesen. 

ln dem gewünschten Obergutaohten sollten zwei Fragen beantwortet 
werden. 

1) Ob die dem Kinde P. versetzten Schläge im ursächlichen Zu¬ 
sammenhänge mit seinem Tode stehen. 

2) Ob sie die alleinige Todesursache bilden. 


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Superarbitrinm der Königl. wissenschaftlichen Deputation, 


Obergutachten. 

Wir halten mit grösster Wahrscheinlichkeit die Schläge, welche 
das Kind P. zwischen 9 und 11 Uhr Abends erlitten, für die einzige 
und ausreichende Ursache seines Todes. 

Zunächst weisen wir in Uebereinstimmung mit dem Königlichen 
Medicinalcollegium die Annahme der Obducenten, dass ein Darm- 
catarrh Ursache der tödtlichen Krämpfe gewesen, zurück. Als Beweis 
für das Vorhandensein eines solchen sahen die Obducenten wesentlich 
den Befund im Dickdarm (Punkt 68) an: 

„Der Dickdarm — heisst es daselbst — enthielt noch breiigen, 
gelben Koth. Die Schleimhaut ist graugelb und zeigt vielfach feine 
Gefasszeichnungen und einzelne punktförmige frische Blutungen und 
sehr zahlreiche grosse Follikel.“ Von diesem Befunde waren blos 
die „einzelnen punktförmigen Blutungen“ krankhaft, Gefässzeichnungen 
bei einem mit Koth erfüllten Darm einer Leiche sind eine ganz ge¬ 
wöhnliche Erscheinung und das Sichtbarsein der solitären Follikel ist 
noch kein Zeichen ihrer Schwellung, zumal am Darm eines Kindes. 
Einzelne Blutpunkte berechtigen indessen nicht zur Annahme eines 
Catarrhes, zumal eines Darmcatarrhes, der Krämpfe der Gliedmassen 
auslöst. Schon die Anwesenheit reichlichen breiigen gelben Kothes 
im Dickdarm lässt den sogenannten Darmcatarrh ausschHessen, da 
bei diesem schleimige oder wässrige Massen im Darm hätten ange¬ 
troffen werden müssen. Für den übrigen Darm wird geradezu die 
„Blässe“ der Schleimhaut, als Zeichen der Abwesenheit jeder Ent¬ 
zündungserscheinung hervorgehoben. 

Die Krämpfe an dem bis dabin gesunden Kinde müssen mithin 
eine andere Ursache gehabt haben. 

Diese ist man berechtigt in den Schlägen zu suchen, welche das 
Kind erlitten hat, zumal dieselben den Kopf und gerade die Seite 
desselben, welche krankhafte Störungen zeigte, trafen und mit einer 
grösseren Kraft applicirt worden sind, da sie die Dienerin veran- 
lassten, ihrer schlagenden Herrin in den Arm zu fallen und sich 
gegen sie thätlich zu wehren. 

Dass die Schläge energisch den kindlichen Kopf getroffen haben, 
geht hervor: 

1) aus der Wahrnehmung des Gensdarmen K., welcher am 
Tage nach dem Tode, dem 6. September, fand, dass an 


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betreffend Körperverletzung mit tödtlichem Ausgange. 


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der rechten Schläfe der Leiche drei grosse, blaue Flecken 
sich fanden und ein eben solcher auch auf der linken 
Seite lag (Fol. 1), 

2) aus den Angaben des die Leichenschau ausübenden Arztes 
Dr. Sch., welcher an den gleichen Stellen Spuren von 
im Leben stattgefundener Gewalteinwirkung entdeckte 
(Fol. 53 a), 

3) aus Punkt 5 und 9 des Obductionsprotokolls, welche die 
Anwesenheit von Blutaustritten im Unterhautbindegewebe 
an den bezeichneten Schädelseiten, namentlich der rechten, 
constatirte. 

Die Schläge können zu einer Gehirnerschütterung geführt haben, 
in Folge deren das Kind für eine halbe Stunde oder auch noch 
länger ruhig dalag. Der Verlauf einer solchen Gehirnerschütterung 
führt gewöhnlich nach einiger Zeit zum Blutandrange in’s Hirn (Hirn¬ 
hyperämie), welcher sich in Unruhe und Schreien, bei Kindern aber 
auch in Krämpfen äussern kann. 

Die Krämpfe haben den Tod zur Folge gehabt, das bezeugen 
nicht bloss der Verlauf, sondern auch das Aussehen der Lungen und 
die Blutaustritte unter den Brustfellüberzug derselben (Punkt 44 
und 45). 

Während der Krämpfe und durch dieselben sind, wie die Ob¬ 
ducenten und das Königliche Medicinalcollegium annehmen, diese Er¬ 
scheinungen des Erstickungstodes eingetreten. 

Der reichliche Blutgehalt in der grauen Substanz des Hirns 
und in den Gefässen der harten und weichen Hirnhaut ist ein ge¬ 
wöhnlicher Befund beim Tode durch Krämpfe und im gegebenen 
Falle wohl als Ursache derselben anzusehen. Mit Bestimmtheit 
würde diese Congestion als Folge der Schläge anzusehen sein, wenn 
neben derselben sich noch Austritte von Blut, punktförmige Blut¬ 
ergüsse im Hirn gefunden hätten. 

So wie diese unter den Stellen liegen, an welchen auch die 
Weichtheile des Schädels Blutaustritte und Ergüsse zeigten, sind 
sie sicherlich Folge der gleichen Gewalteinwirkung, welche die be¬ 
treffende Schädelstelle traf. Da sie im gegebenen Falle fehlen, 
schliessen wir mit grösster Wahrscheinlichkeit: 

1) dass die dem Knaben P. am Abende des 4. September 
versetzten Schläge gegen den Kopf Ursache seines am 
Morgen des 5. September eingetretenen Todes waren und 


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Super&rbitrium der König], wissenschaftlichen Deputation. 


2) da eine andere Todesursache an dem bei der Obdnction 
im Uebrigen gesund befundenen Kinde nicht aufgedeckt 
worden ist, sie mit grösster Wahrscheinlichkeit die allei¬ 
nige Todesursache bilden. 

Berlin, den 29. Juni 1892. 

(Folgen die Unterschriften.) 


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Heber die Wundem des Herzens. 

Bearbeitet von 
Dr. med. A. Elten, 

prnkt. Amt in Tostedt. 


Um einen Ueberblick über die Fortschritte za gewinnen, welche 
gegenüber der Aaifassang älterer Gelehrten bis heute über die Wan¬ 
den des Herzens gemacht worden sind, müssen wir zurückgreifen bis 
aaf das vorige Jahrhundert, in welchem die Ansicht vorherrschend 
war, dass jede Verletzung eines so lebenswichtigen Organes, wie das 
Herz es ist, unter allen Umständen den Tod, und zwar meistens den 
sofortigen Tod nach sich ziehen müsse. Man sah in dem Herzen, 
trotzdem die Entdeckungen eines Servet (1550), eines Harvey 
(1619), eines Malpighi den Weg zu einer klaren, naturwissenschaft¬ 
lichen Aulfassung von der Leistung und Bedeutung jenes Muskels ge¬ 
wiesen hatten, vorwiegend nicht das nach bestimmten Naturgesetzen 
arbeitende Organ, dessen Wunden also auch, wie die Wunden anderer 
Organe, den Gesetzen der Heilung unterworfen sein konnten, sondern 
man liess sich die nüchterne, wissenschaftliche Beobachtung uni phy¬ 
siologische Auffassung des kranken und gesunden Herzens vielfach 
trüben, ja direct verwirren durch die verschwommene Vorstellung, 
dass das Herz zugleich der Sitz aller denkbaren Lebenskräfte, ja der 
Seele selber sei, und dass die geringste Verletzung dieses so einzig 
dastehenden, herrlichen Organes gleichbedeutend sei mit der Vernich¬ 
tung des ganzen Organismus. Wie kann uns das auch Wunder nehmen 
in einer Zeit, in welcher man der exacten, naturwissenschaftlichen 
Forschung viel ferner stand als in unseren Tagen! 

Dass jene Lehren auf das Auftreten der damaligen Aerzte am 
Krankenbette, welche doch wie wir die Aufgabe hatten, zu heilen und 


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Dr. Elten, 


za bessern, nur von ungünstigem Einflüsse sein konnten, dürfte wohl 
keinem Zweifel unterliegen. Wohl lassen sich schon aus frühester 
Zeit, z. B. v. Hallerius 1562, Beobachtungen feststellen, welche 
die Heilung einer Herzwunde bestätigen, allein die Stimmen jener 
Forscher verhallten vorerst wie die des Predigers in der Wüste. Erst 
ganz allmälig brach sich eine andere Lehre Bahn und diese ging 
Hand in Hand mit der Verbesserung der naturwissenschaftlichen 
Beobachtungsmethode überhaupt. An die Namen Boerhave, Senak, 
Morgagni, Larey, Dupuytren knüpfen sich die Errungenschaften 
der neueren Zeit, aber vollkommen räumte erst Georg Fischer 1 ) 
mit den alten Ueberlieferungen auf, und ebenso widmete eine grosse 
Zahl anderer Forscher nach ihm der interessanten Frage Zeit und 
Mühe, so z. B. Rose, Hertel, Becker, Steiner. Es muss einem 
späteren Abschnitte Vorbehalten bleiben, im Einzelnen zu zeigen, in 
wiefern durch jene Männer unser Wissen gefördert wurde. Es genügt 
hier zu sagen, dass die Lehre von den Wunden des Herzens allmälig 
eine vollkommene Umgestaltung erlitt. Die Folgen des besseren Ver¬ 
ständnisses von der Bedeutung der Herzwunden traten besonders her¬ 
vor in einem zielbewussteren, therapeutischen Handeln am Kranken¬ 
bette, gestützt auf eine vorangegangene, bessere Diagnose. Der directe, 
operative Eingriff trat in seine Rechte; er lehrte uns, das verletzte 
Herz von comprimirenden Blutergüssen zu entlasten; er gab uns die 
Möglichkeit, auf directem Wege etwa in das Herz gedrungenen Fremd¬ 
körpern beizukommen. Es wies ferner uns die pathologisch-anato¬ 
mische Forschung die Wege, auf welchen wir die Heilung einer Herz¬ 
wunde am besten unterstützen konnten. Es lehrte uns endlich die 
grösste Errungenschaft der neuen Zeit, die Antiseptik, manche Gefahr 
vermeiden, an welcher man früher bei der Behandlung der Herz- 
wunden arglos vorübergegangen war. So sehen wir im Gegensätze zu 
früheren Jahrhunderten des Stillstandes jetzt eine immer ernstere Ge¬ 
schäftigkeit wie auf allen Gebieten so auch auf dem Forschungsfelde 
nach den Wanden des Herzens sich regen. Alles wandte sich ab von 
der blossen Empirie und dem Glauben an alte Ueberlieferungen und 
suchte in ernster Arbeit nach der Wahrheit, um dieselbe im Dienste 
der Wissenschaft und Humanität praktisch zu verwerthen. 

Es würde über die Grenzen unserer Arbeit hinausgehen, wollten 
wir einen ausführlicheren, geschichtlichen Ueberblick über die Ent- 


') Fischer, Die Wanden des Herzens and des Herzbeateis. Berlin 1863. 


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Ueber die Wanden des Herzens. 


11 


wicklang der Lehre von den Herzwanden geben. Man erkennt jedoch 
leicht, dass die Aufgabe eine dankbare und hochinteressante sein 
würde. 

Wir haben ans nan nach dem vorangegangenen Studium der ver¬ 
schiedensten Worke dazu entschlossen, eine weitere Eintheilung des 
uns vorliegenden, umfangreichen Stoffes in der Weise stattfinden zu 
lassen, dass wir einmal die Herz wunden betrachten nach der Art 
ihres Zustandekommens. Die pathologisch-anatomischen Beobachtungen 
ferner scheinen uns bei den verschiedenen Entstehungsweisen der Wun¬ 
den etwas Gesetzmässiges zu zeigen, obwohl ja mannigfache Ueber- 
gänge und Abweichungen beobachtet werden. Es wird sich eine 
Schusswunde pathologisch-anatomisch anders präsentiren als eine 
Nadelstich Verletzung; es wird ein Dolchstich in das Herz und eine 
Ruptur desselben in den meisten Fällen wohl von einander zu unter¬ 
scheiden sein. Wir werden daher im Anschluss an die Aetiologie der 
verschiedenen Herzwunden die pathologisch-anatomische Betrachtung 
für jede Wundart abgeschlossen nachfolgen lassen. In dem Wortlaute 
der uns gestellten Aufgabe liegt ferner die Aufforderung für uns aus¬ 
gesprochen, nicht etwa eine bestimmte Stellung, etwa die des Chi¬ 
rurgen oder des Gerichtsarztes, ihr gegenüber einzunehmen. Wir 
sollen dieselbe vielmehr vom Standpunkte der gesammten medici- 
nischen Wissenschaft aus behandeln. 

Wir unterscheiden 1 ): 

1) Verwundungen des Herzens durch Nadeln, 

2) Stich-Schnittwunden des Herzens, 

3) Schusswunden desselben, 

4) Quetschwunden und Rupturen. 

Auch sämmtliche Wunden des Herzbeutels ziehen wir mit in 
unsere Besprechung hinein. 

Verwundungen des Herzens und Herzbeutels durch Nadeln haben wir in 
der uns zur Verfügung stehenden Literatur 42 verschiedene Fälle auffinden 
können. Die Eigenartigkeit der Verletzung einerseits und die Rücksicht auf den 
zu begutachtenden fingirten Fall andererseits veranlassten uns, diesen Wunden 
eine besondere Stelle einzuräumen. Was zunächst das verwundende Werkzeug 
betrifft, so war es in 16 Fällen nicht genauer angegeben, welche Arten von 
Nadeln gebraucht waren. In 8 Fällen waren es Nähnadeln; in 7 Fällen lange 
grosse Nadeln; in weiteren 4 Fällen Stecknadeln; in je 3 Fällen Stopf- und 


Brentano, Zur Casuistik der Herzverletzungen. Dissertation. Berlin 
1890. S. 6. 


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Dr. Elten, 


Stricknadeln, and in einem Falle eine Haarnadel. Die Beobachtangen worden ge¬ 
macht an 23 erwachsenen männlichen and nar 6 erwachsenen weiblichen Personen; 
6 Kindern (2 Knaben, 4 Mädchen); 7 Personen von nicht näher bezeichnetem 
Alter and Geschlecht. Vertreten waren vorwiegend die mittleren Lebensalter 
von 23—45 Jahren, jedoch aach Kinder aad Jünglinge and junge Mädchen 
waren za finden. Das Verhältnis der Männer, Weiber und Kinder zu den ver¬ 
schiedenen Ursachen der Verwundungen gestaltet sich folgendermassen: 


Mord 

Selbst¬ 

mord 

Unvorsich¬ 

tigkeit 

Unbe¬ 

kannt 

Geschlecht 

2 

10 

4 

7 

Männer 

1 

3 

3 

— 

Weiber 

1 

— 

6 

— 

Kinder 


Von Personen anbekannten Alters oder Gesohleohtes starben 3 daroh 
Selbstmord; 2 acquirirten die Wände durch Unvorsichtigkeit und bei zweien wurde 
sie als zufälliger Befund entdeckt. Geistig gestört waren 5 Männer und 2 Frauen. 

Ausser den bei Fischer 1 ) und Brentano 2 ) notirten Beobachtungen, auf 
welchen Wegen die Nadeln in den Körper gelangen können, wollen wir noch auf 
2 Beobachtungen als Curiosa aufmerksam machen. Hahn 8 ) erlebte es, dass 
einem strickenden kleinen Mädchen im Scherze durch einen Schlag mit dem 
Pantoffel eine Stricknadel tief in die Brost getrieben wurde. Foy 4 ) beobachtete 
einen Knaben, welchem mit einer Pistole eine Stricknadel in die rechte Herz¬ 
kammer geschossen worden war. Die eintretenden Erscheinungen hatten in dem 
ersten Falle eine Herzwunde höchst wahrscheinlich gemacht, im letzteren Falle 
wurde sie durch den Seotionsbefund erwiesen. 

Von den oben erwähnten 42 Fällen von Nadelverletzangen des Herzens 
kamen 31 zur Seotion, was vollkommen genügen dürfte, uns ein Bild von den 
pathologisch-anatomischen Verhältnissen zu geben. Die Wunde in der äusseren 
Haut muss naturgemäss klein ausfallen. Sie ist in frischen Fällen theils deut¬ 
lich erkennbar, theils aber auoh unkennbar klein, oder, wenn bereits längere 
Zeit verflossen ist, schon vollkommen wieder vernarbt. Zuweilen befinden sich in 
der Umgebung der Wunde kleine Ecohymosen oder die Reste geringer Blutungen. 
Dass das in beständiger Bewegung und wechselnder Ausdehnung befindliche 
Herz eine wenn auch kleine Wunde länger als solche erkennen lässt, scheint 
wahrscheinlich; dennoch kam es vor, dass bei einer Section 3 Aerzte anfänglich 


*) Fisoher, Die Wunden des Herzens. Berlin 1868. S. 42. 

2 ) Brentano, Zar Casaistik der Herzverletzangen. Dissertation. Berlin 
1890. S. 6. 

s ) Hahn, Berliner klinische Woohenschrift. 1887. S. 329. 

4 ) Foy, The Dublin. Joarn. Bd. 85. S. 366. 


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Ueber die Wanden des Herzens. 


13 


eine Nadelstiohwunde weder in der Haut, noch im Herzen entdecken konnten. *) 
Die Weite des Stiohcanals ist natürlich nur eine ganz geringe im Vergleich za 
schneidenden Instramenten. Bei ganz feinen Nadeln findet wohl kaum mehr als 
ein Aaseinanderdrängen der Moskelfibrillen statt. Zuweilen bilden sich in der 
Nähe des Stichcanales in der Herzsabstanz kleine Eiterungen, welche das Auf- 
finden der kleinen Wanden erleichtern. Der moleculare Zerfall der den Stioh- 
canal umgebenden Gewebe kann sich vergrössern und zur Bildung förmlicher 
Röhren führen. Dieselben liefern einen locas minoris resistentiae and vermögen 
die Gefahr einer Herzraptar in bedrohlicher Weise za steigern. Mehrere Beobach¬ 
tungen von Simon 2 ) liefern dafür den Beweis. In den betreffenden Fällen waren 
daroh feine Nadelstiche — 1 oder mehrere Nadeln — Verschwärungen entstan¬ 
den, analog etwa einem daroh Eiterang dilatirten Stichoanal bei der Wandnaht. 
Diese erst secandären Erweiterungen können dann nicht mehr darob die feinen 
Nadeln — nach Simon 3 ) — tamponirt werden, es kann daher leicht za Bla¬ 
tangen kommen. Der microscopisobe Befand war naoh Simon 2 ) ein etwas un¬ 
erwarteter dabei. Er fand — keinen Eiter, dagegen eine körnige Veränderung 
der Muskelfasern and eine andeatliche, verschwommene Querstreifung derselben. 
Zaweilen findet man an den Stellen, an welchen die Nadel Herzbeutel and Herz 
darchstiess, kein vollkommen erkennbares, mit einer feinen Sonde passirbares 
Loch, sondern analog der Erscheinung auf der äusseren Haat nar Ecchjmosen 
von verschiedener Grösse and Zahl. 

Es kommen aber nicht nur immer kleine Wanden vor, sondern duroh Zer¬ 
faserung des Herzmuskels vermöge seiner Eigenbewegang an einer irgendwie 
fixirten Nadelspitze können ganz bedeutende Zerstörungen erzeugt werden. Die 
Literatur liefert auoh dafür mehrere Belege, von denen z. B. einer von Mache- 
naud 3 ) beobachtet wurde. Das Herz war dabei in einer Ausdehnung von 1 cm 
Breite und V 2 cm Länge vollkommen perforirt. Auch Residuen von Heilungen 
sind mehrfach beobaohtet worden. Diese bestehen entweder in feinen strich¬ 
förmigen oder sternförmigen Narben, oder wir finden aussen an Herzbeutel und 
Herz gar nichts, dafür aber in den Herzwandungen oder in den Höhlen oxydirte, 
inorustirte mit Fibrin bezogene Nadeln. Diese Nadeln konnten nur nach einer 
vorangegangenen Verwundung des Herzens dorthin gelangt sein. Wir möchten 
noch eines Falles von Wrigth 4 ) erwähnen. Ein öjähriger Knabe hatte sich eine 
Nähnadel in die Brust gestossen. Die Nadel bricht beim Versuohe sie herauszu¬ 
ziehen ab. Tod. Section zeigt die Nadel im 5. linken Rippenknorpel steckend, 
sie hat denselben durchbohrt und ragt nun stark fixirt 3 / 4 Zoll aus demselben 
hervor. Ruptur. V 2 Quadratzoll der Herzwandung war hierdurch so zerrissen 
worden, dass nur noch ein Netzwerk von einigen weichen Muskelfasern da war. 

Bezüglich der Tiefe, bis zu welcher die Nadeln eindrangen, finden wir Per- 


') Fischer, Die Wunden des Herzens. Berlin 1868. S. 230. Fall 1. 

2 ) Simon, Diese Vierteljahrssohrift. Bd. III. 1865. S. 287ff. 

3 ) Brentano, Zur Casuistik der Herzverletzuogen. Dissertation. Berlin 
1890. S. 8. 

4 ) Wrigth, Jahresbericht über die Fortschritte in der gesammten Medioin. 
1869. Bd. II. Abth. 1. 


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Dr. Elton, 


foration dea Herzbeutels allein 4 mal. Nicht perforirende Wanden der Herzwand 
selbst und Wunden, bei welchen die Nadeln in der Herzwand liegen geblieben 
waren, finden wir am rechten Ventrikel 6 mal, am linken 4 mal, am rechten Vor¬ 
hof 1 mal. Wirklioh perforirende Wunden am rechten Ventrikel 5 mal, am linken 
6mal, am rechten Vorhof und Herzohr 1 mal, am reohten und linken Ventrikel 
ebenfalls einmal; einmal war die Perforationsstelle unbekannt. Alle ungenauen 
Angaben sind dabei unberücksichtigt geblieben. 

Bemerkenswerth sind nooh einige Gomplioationen. So wurden bei einer 
Nadelsticbwunde 1 ) in das Pericard 3 gleichzeitige Verletzungen der Aorta 
V4 Zoll über den Klappen gefunden. In einem anderen Falle 3 ) wurden 2 Aeste 
der Art. coron. dextr. zerrissen und waren die Causa mortis. Endlich wurde bei 
dem operativen Entfernungsversuche einer Nadel aus dem Herzen 3 ) in der er- 
öffneten Pleurahöhle ein Jodoformgazetampon verloren, maohte aber ausser einem 
vorübergehenden Pyopneumothorax später keine Erscheinungen mehr. Blutergüsse 
in die Pericardialhöhle kamen häufig vor, ferner traten Pericarditis und Garditis 
auf, welche vielfach zur späteren Todesursache wurden. Auch Empyeme und 
eitrige Mediastinitis, ferner gleichzeitige Verletzungen der Lungen, der Bronchien, 
des Oesophagus, der benachbarten grossen Blutgefässe sind durch die Beobach¬ 
tung bestätigt. Eine ganz eigenthümliohe Gomplication beobachtete Laugier 4 ), 
nämlich Gangrän eines Beines durch Embolie, herrührend von einer Haarnadel im 
linken Ventrikel, von welcher vermuthlioh ein Fibrinfetzen vom Blutstrom mit 
fortgerissen war. 

Wir betreten nun unserer Disposition gemäss ein ausgedehnteres Gebiet, 
nämlich das der Stioh-Schnittwunden des Herzens. Darunter verstehen wir alle 
Wunden mit schneidenden und stechenden Werkzeugen, ausser mit Nadeln. Die 
Mannigfaltigkeit der verletzenden Werkzeuge, welche uns hier entgegentritt, ist 
erstaunlich, so dass es nioht überflüssig ist, zu zeigen, wie sich dieselbe auf die 
uns bekannt gewordenen 295 Fälle vertheilt. Wir finden da s ) Sohusteralen (4); 
Stiletts (3); Schabeisen (2); Feilen (2); eiserner Stift; Fischgräte; Zahnstocher; 
Holzsplitter; Dorn; scharfes Stück Glas; Bayonett (10); Stockdegen (2); Messer 
(102); Degen (33); Sohwert (7); Säbel (4); Dolch (11); Lanze (1); Siohel 
(1); bei 54 Fällen war es unbekannt, womit gestochen wurde, in weiteren 
48 Fällen waren überhaupt unbestimmte Angaben gemacht worden, in 2 Fällen 
erzeugten endlich Knochen und einmal Zähne die Verwundung. Es würde viel¬ 
leicht nicht so schwer sein, wollten wir auf alle diese Fälle in ausführlicher 
Weise, wie z. B. bei den wenigen Nadelstiohwunden, eingehen; wir haben uns 
aber entschlossen, den Umfang unserer Arbeit nicht zu sehr zu vergrössern, 
wollen uns daher mehr als bisher auf die Angaben anderer Autoren beziehen. 

Zunächst dürfte es nicht uninteressant sein, die Vertheilung auch dieser 
Fälle auf die verschiedenen Geschlechter zu prüfen und die Ursachen festzu- 


*) Fischer, Wunden des Herzens. S. 235. Fall 24. 

3 ) Fischer, Wunden des Herzens. S. 237. Fall 29. 

3 ) Stelzner, Berliner klinisohe Wochensohrift. 1887. S. 329. 

4 ) Fischer, Wunden des Herzens. S. 239. Fall 39. 

5 ) Fischer, Die Wunden des Herzens. Berlin 1868. S. 42. 


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Ueber die Wunden des Herzens. 


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stellen, welohe den betreffenden Tbatbeständen zu Grande gelegen haben. Bei 
Fischer und den übrigen Autoren haben wir leider eine derartige Zusammen¬ 
stellung nioht gefunden, überhaupt sind in sehr vielen Fällen Angaben darüber 
in der Gasuistik garniokt oder nur sehr unvollkommen gemaoht worden; wir 
haben jedenfalls nur ausführliche Angaben benutzt. 


Geschlecht 

Mord 

Selbst¬ 

mord 

Unvorsich¬ 

tigkeit 

Unbekannt, 
nicht an¬ 
gegeben 

Irrsinnig 

Männer . 

63 

30 

ii 

66 

5 

Weiber. 

9 

3 

— 

4 

1 

Kinder. 

2 

— 

2 

2 

— 

Unbestimmt . 

7 

5 

2 

87 

2 


Aus dieser Tabelle geht hervor, dass in ganz überwiegender Mehrzahl die 
Männer betheiligt sind, denn die verletzenden Werkzeuge sind fast durchweg 
solche, welche sich in Männerhänden zu befinden pflegen. Frauen werden nur 
16 in der Statistik aufgeführt, und von diesen erlitten 9 den Tod durch Mörder¬ 
hand, bei vieren war der Grand der Verletzung nicht bekannt, es bleiben also 
nur 3 Frauen übrig, welohe eine schneidende Waffe zum Selbstmorde benutzten; 
eine psychologisch gewiss nicht uninteressante Thatsache, wenn man bedenkt, 
dass bei den Nadelverletzungen des Herzens unter 6 Frauen ebenfalls 3 zum 
Selbstmorde schritten. Ob der Schluss gerechtfertigt erscheint, dass es im weib¬ 
lichen Charakter begründet liegt, nur ausnahmsweise zum Selbstmorde unter 
Blutvergiessen zu schreiten, sondern andere Todesarten vorzuziehen, lassen wir 
dahingestellt. — Es finden sich endlich auch 2 Fälle von Kindermord, und eben¬ 
falls zwei Todesfälle bei Kindern ans Unvorsichtigkeit. Geistig gestört waren 
5 Männer und eine Frau; von zwei geistig gestörten Individuen war das Ge¬ 
schlecht nicht angegeben. Beobachtet wurden 81 Morde; unter diesen sind her- 
vorzuheben 14 Todesfälle auf dem Schlachtfelde und auf Mensur: 38 Selbst¬ 
morde und 15 Verletzungen aus Unvorsichtigkeit. 

Naoh Fischer 1 ), welcher 260 Stich-Schnittwunden bearbeitete, treffen die¬ 


selben die einzelnen Herzabscbnitte wie folgt: 

Rechter Ventrikel 2 ) 85 -j- 8 = 93 

Linker Ventrikel . 59 -j- 17 = 76 

Beide Ventrikel 16 +' 2 = 18 
Rechter Vorhof . 11 —1 = 12 

Linker Vorhof. . 5 —j— 1 = 6 

Spitze . . . . 12 + 1 = 13 


*) Fischer, Die Wunden des Herzens. S. 37. 

2 ) Die in der zweiten Reihe befindlichen Zahlen zeigen die Verhältnisse der 
von uns selbst gesammelten Fälle. 

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Dr. Elten, 


Basis .... 1 —|— 1 = 2 

Septum .... 2 -f- 1 = 3 

Ganzes Herz... 2 =2 

Rechtes Herz 3 =3 

Linkes Herz... 1 =1 

Art. ooronar. . 1 -f- 1 = 2 

Unbestimmt . . 31 —5 = 36 

Herzbeutel . 31 -j— 1 = 32 


Es penetrirten *) im Ganzen von 295 Wanden 214. Dabei war der rechte 
Ventrikel bevorzugt, welcher 75mal penetrirte; es folgt der linke Ventrikel mit 
65mal, dann der Herzbeutel mit 18 penetrirenden Wanden. 20 Wanden pene¬ 
trirten nicht; unter 6 Beobachtungen war nicht vermerkt, ob die Wunden pene¬ 
trirten oder nicht. Endlich kamen 9 fremde Körper vor. 

Die pathologisch-anatomisohen Veränderungen bestehen zunächst in einer 
Continuitätstrennung der Haut, welche je nach der angewandten Waffe eine ver¬ 
schiedene Gestalt haben kann. Betraohten wir zuerst diejenigen Wunden, welche 
mit Messern oder messerähnlichen Werkzeugen gemacht sind. Dieselben 2 ) machen 
in den meistenFällen glatte, grade Wunden mit scharfen Rändern, deren Winkel 3 ) 
nach beiden Enden sich zuzuspitzen pflegen. Breite, doppelschneidige Waffen 
werden auoh längere Wunden erzeugen, es ist das aber durchaus nicht constant, 
sondern es kann auch die Elasticität der Haut dem andrängenden Messer nach¬ 
geben, und nach dem Herausziehen desselben ist die Hautwunde kleiner, als die 
Breite der Waffe beträgt. Andererseits kann aber die Wunde gerade beim Her¬ 
ausziehen des Messers nooh vergrössert werden, so dass sie nun breiter erscheint 
als das Messer selbst. Man sollte erwarten, dass einschneidige Messer mit breitem 
Rücken auch dem entsprechende Hautwunden erzeugten, d. h. mit einem spitzen 
und einem abgestumpften Ende versehene. Dieses trifft aber in der Praxis nioht 
zu, und v. Maschka 4 ) nennt das geradezu „ausnahmsweise Befunde“. 

Den breiten Messern und messerähnlichen Instrumenten und ihren Wunden 
stehen nun die mit schmalen, dreieckigen, runden, rhomboiden Waffen erzeugten 
Wunden gegenüber. Deren Form richtet sioh vielfaoh naoh den jeweiligen Span¬ 
nungsverhältnissen der Haut und ihrer Faserzüge 5 ). Nach Fischer 6 ) kann eine 
schmale, dreieckige Degenklinge theils längliche, theils sternförmige Wanden er¬ 
zeugen. Die gegen die Herzgegend gerichteten Stich-Schnittwunden erzeugen im 
Bereiohe der Thoraxwandungen verschiedene Complicationen. Es wurden Ver¬ 
letzungen der Rippen und des Brustbeines, ferner Durchschneidungen der Art. 
mammar. interna und der Art. intercostalis beobachtet. Auch die Lunge wurde 
mitgetroffen, ferner eine Reihe anderer Organe, je nachdem die Richtung war, 


*) Fischer, Die Wanden des Herzens. S. 38. 

2 ) Hofmann, Handbuch der gerichtlichen Medicin. 1881. S. 269. 

3 ) Gasper-Liman, Handbuch der gerichtlichen Medicin. 1889. Bd. II. 
S. 128. 

4 ) v. Maschka, Handbuch der gerichtlichen Medicin. 1881. 

s ) Hofmann, Lehrbuch der gerichtlichen Medicin. 1881. S. 277. 

*) Fischer, Wunden des Herzens. 1868. S. 65. 


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Ueber die Wanden des Herzens. 


17 


in welcher der Stich vordrang. Wir finden Verletzungen des Mediastinums, der 
Leber, des Zwerohfelles, des Magens, woraus sieb viele pathologische Erschei¬ 
nungen ergeben, welohe wir vorerst nur angedeutet haben wollen. 

Die Grösse und das Aussehen der Herzbeutelwunde richtet sich naoh der 
gebrauchten Waffe und naoh der Tiefe, bis zu welcher sie eindringt. Einer 
breiten Hautwunde kann eine kaum für eine Sonde durchgängige Herzbeutel¬ 
wunde entsprechen. Nach Fis oh er 1 ) sind diese Wanden ebenfalls soharfrandig, 
können klappenartig mit ihren Rändern schliessen und vielleicht so eine Blatung 
nach aussen hindern; zuweilen klaffen sie aber auoh. 

Die Wunden des Herzmuskels selbst können bestehen in solohen der äusseren 
Wandungen, der Papillarmuskeln, der Scheidewände und endlich auoh der 
Klappen. Auch hier wird es auf das Aussehen der Wunde von Einfluss sein, mit 
welcher Waffe sie zugefügt wurde, ob sie penetrirt oder nicht, ob sie endlich in 
den dicken Ventrikeln oder an den dünnen Vorhöfen sich befindet. Inwiefern 
eine Metserstiohwunde des Herzens sioh von einer z. B. mit Sohusterpfriem zuge¬ 
fügten unterscheidet, das, sollte man meinen, sei naoh dem Vorhergehenden klar 
und dennoch sind Zweifel darüber aufgetaucht. Das erklärt sioh aus dem com- 
plicirten Faserverlaufe am Herzmuskel, der verschiedenen Dicke der Wandungen 
und der verschiedenen Tiefe der Wunden. Da auf den quergestreiften Herzmuskel 
auch das Gesetz von der Elastioität des Muskels zutrifft, die verschiedenen Mus¬ 
kelzüge aber naoh verschiedenen Richtungen hin verlaufen, so ist es verständlich, 
dass bei glatten Sohnittwunden eine Verzerrung der Ränder und des Wundkanals 
eintritt, je nachdem die zerschnittenen, elastischen Muskellagen sich verhalten. 
Fischer 3 ) theilt mit, dass Herzwunden bald ganz, bald nur theilweise klaffen 
und sucht die Erklärung dafür in der verschiedenen Zusammenziehung des 
Herzmuskels. Sollte der Grund nioht eher in dem Zurüokgehen in verschie¬ 
dene Gleichgewichtslagen liegen, welohe die nach verschiedenen Richtungen ver¬ 
laufenden elastischen Muskelzüge nach der Trennung einnehmen? — 

Die Herzwunde kann entweder unverstopft, oder duroh mehr weniger orga- 
nisirte Gerinnsel oder Pfropfe geschlossen sein; auoh Fremdkörper stellten zu¬ 
weilen den Verschluss her. Entweder befindet sich nur eine Wunde am Herzen, 
welohe dasselbe nur einfaoh eröffnet, es kommen aber auch doppelte und drei¬ 
fache Durchbohrungen und* Eröffnungen bei Stichen durch das ganze Herz vor, 
so z. B. in dem berühmten Falle von Gaultier de Claubry 3 ), wo den Erz¬ 
bischof von Paris ein mit furchtbarer Gewalt geführter Stioh eines catalonischen 
Dolches traf. Auoh die Richtung der Wunde beeinflusst das pathologisch-anato¬ 
mische Bild. Die senkrecht auf die Herzgegend treffenden Waffen werden, wenn 
sie nicht abgleiten, das Herz auch senkreoht treffen. Solche Wunden klaffen 
dann leichter und bluten meist auch heftiger. Ganz schräg eindringende Waffen 
machen auch schräg durch den Herzmuskel verlaufende Wanden. Die progno¬ 
stische Bedeutung derselben werden wir später kennen lernen. 


f ) Georg Fischer, Die Wunden des Herzens. Berlin 1868. S. 57. 

2 ) Fisoher, Die Wunden des Herzens. S. 52. 

3 ) Fisoher, Die Wunden des Herzens. S. 364. Fall 177. 

Yierteijahrssclu. (. ger. Med. Dritte Folge. V. 1. 2 


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18 


Dr. Elten, 


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Die Blutang richtet sich danach, in welcher Breite, Tiefe and Richtang das 
Herz eröffnet ist. Bei grossen Wanden ist die Blatang natürlich heftig, voraus¬ 
gesetzt, dass der Weg dafür nicht aas anderen Gründen — z. B. rascher Ver¬ 
klebung, schrägem Verlauf der Wunde etc. — verlegt ist. Im Herzbeutel oder 
in den Pleuren findet man Blut von wenigen Grammen Gewioht an bis zu 
4 Vj Pfund 1 ). Aas der Farbe kann man die arterielle oder venöse QaeUe der 
Blatang vermathen. Die Gonsistenz der Blutergüsse ist theils flüssig, theils ge¬ 
ronnen; zuweilen zeigt sich schon nach kurzer Zeit Organisation an der Blut¬ 
masse 2 ). Nach der Grösse des stattgehabten Blutverlustes und der daduroh be¬ 
dingten Anämie riohtet sich das Aussehen des Herzens. Bei Blutverlusten ge¬ 
ringeren Grades wird es noch mit Blut gefüllt sein und auch die Musoulatur 
wird noch roth aussehen. Bei vollständiger Anämie ist das Herz leer, sohlaff, 
blass und zusammengefallen. 

Als weitere wichtige Befunde nennen wir die Narben von Stich-Schnitt¬ 
wunden am Herzen und Herzbeutel. Auf dieser Fähigkeit zu vernarben beruhen 
die beobachteten Heilungen. Der Vorgang hierbei ist analog der Heilung anderer 
Muskelwunden. Die erste provisorische Narbe besteht*) aus geronnenem Blute, 
aus geronnener Lymphe oder aus Fibrinmassen, welche sich später zu Bindege¬ 
webe organisiren und eine solide, fibröse Narbe bilden. Wer es wiederholt ge¬ 
sehen und gefühlt hat, wie fest in einerWeiohtheilwunde die Fibrinmassen sitzen, 
welche zum Zweok einer gründlichen Reinigung entfernt werden mussten, der 
wird nicht erstaunt sein, dass trotz des starken, im Herzen herrschenden Druckes 
Vereinigung der Wundränder durch solche festhaftenden Fibrinflocken zu Stande 
kommt. Die Vernarbung kann unterstützt werden, wenn man den Druok im 
Herzen künstlich womöglich bis auf das zulässige Minimum herabsetzt, oder falls 
er scbon so niedrig ist, jede Steigerung desselben zu verhindern traohtet. 

Wir bekommen die Narben in verschiedenen Entwicklungsstadien zu sehen. 
Im Anfang ist nur ein Blut- oder Fibrinpfropf vorhanden, später finden wir zart 
organisirtes Bindegewebe, oder zarte exsudative Ueberhäutung. Die entwickelte 
Narbe endlich ist fibrös und hat eine Strich-Stern-Punktform. Die Vernarbung 
des Herzbeutels wird unterstützt durch die Bildang eines Exsudates, welohes Ad¬ 
häsionen mit dem Epicard erzeugt. Einmal wurde durch die schnelle Bildung 
dieser Adhäsionen eine weitere Blutung in den Herzbeutel verhindert. Die Herz¬ 
beutelnarbe befindet sich der Herznarbe gegenüber, daher erleichtert die Ent¬ 
deckung der einen die der anderen wesentlich. Dieselben Complicationen, wie 
bei den Nadelwunden finden wir auch hier. Besonders ist die Entstehung einer 
Lungenwunde, eines Hämo- und Pneumothorax, von Empyemen und Pleuritiden 
erleichtert. 

Die Schusswunden nehmen heutzutage eine hervorragendere Stellung als 
früher ein, denn die massenhafte Herstellung aller Arten von Schusswaffen von 
dem rohgearbeitetem Terzerol an bis zur vollendetsten Schusswaffe, unserem klein- 


*) Fischer, Die Wunden des Herzens. S. 57. 

2 ) Brentano, Zur Gasuistik der Herzverletzungen. Dissertation. S. 13. 
Fall 14. 

*) Billroth und v. Winiwartev, Allgemeine Chirurgie. S. 65. 


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Ueber die Wanden des Herzens. 


19 


kalibrigen Repetirgewehr, hat es mit sioh gebracht-, dass solche Waffen in un¬ 
zähligen Exemplaren den Händen Berufener und Unberufener anvertraut sind. 
Von der grösseren Häufigkeit der Schusswanden im Allgemeinen machen auch 
die Schusswunden des Herzens heute keine Ausnahme mehr. Die Fälle, welche 
wir unserer Betrachtung zu Grande legen wollen, sind theils der älteren, theils 
der neueren Literatur entnommen, es sind im Ganzen deren 111. Die älteste 
mit Jahreszahl versehene Beobachtung unter den Fischer’schen Fällen 1 ) trägt 
die Jahreszahl 1712. Vor dieser Zeit scheinen demnach Beobachtungen über 
Herzschusswunden noch nicht veröffentlicht zu sein. Die Zahl der Schusswunden 
beträgt heute nach unserer Schätzung etwa 30—35 pCt. aller gewaltsamen Ver¬ 
letzungen. Bevor wir die pathologisch-anatomischen Verhältnisse dieser Wunden 
betraohten, wollen wir einige ätiologisohe und statistische Daten feststellen. Was 
zunächst dieProjectile anbetrifft, so waren 92mal Kugeln geladen; 13mal Schrot; 
1 Ladestock; 1 Stein; Wasser; 1 Holzpflock; Rehposten. Die folgende Zu¬ 
sammenstellung dürfte einige andere statistische Verhältnisse aufklären und keines 
besonderen Commentares bedürfen, höchstens des Hinweises darauf, dass auoh 
hier nur ganz bestimmte Angaben benutzt wurden, wodurch die Zahl der ungenau 
berichteten Fälle leider wieder eine sehr grosse geworden ist. 


Geschlecht 

Mord 

Selbst¬ 

mord 

Unvorsich¬ 

tigkeit 

Grand 
nicht an¬ 
gegeben 

Irrsinnig 

Männer . 

24 

18 

4 

17 

_ 

Weiber. 

2 

— 

1 

1 

i 

Kinder. 

— 

— 

8 

2 

— 

Alter und Geschlecht 






nicht genannt. 

" 

8 

1 

29 



In 18 Fällen wurde die Herzwunde auf dem Schlaohtfelde und im Duell 
erworben. Baur 2 ) verfügt über eine Anzahl von 117Sohusswunden des Herzens. 
Bei ihm 2 ) und Fisober 3 ) finden sich die interessanten Angaben, dass unter 
87,822 Verwundeten des nordamerikanischen Bürgerkrieges auf 7062 Schuss¬ 
wunden nur 4 Schusswunden des Herzens beobachtet wurden. Aus dem deutsoh- 
französisohen Kriege hat man naoh Baur 2 ) ebenfalls nur 4 Herzschusswunden 
der Mittheilung für werth gehalten. Wir können uns darüber nioht wundern, 
denn neben den aufreibenden Pflichten des Arztes im Felde bleibt wenig oder gar 
keine Zeit zu Sectionen. Dem pathologischen Anatomen im Frieden bietet sich 
die Gelegenheit selbstverständlich häufiger. 


*) Fischer, Die Wunden des Herzens. 

®) Baur, Ueber die Schussverletzungen des Herzens. Dissertation. Berlin 
1887. S. 6. 

3 ) Fischer, Die Wunden des Herzens. 1868. S. 33. 

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Nicht immer ist das Aussehen der Schusswunde ein so charakteristisches, 
dass sie nicht verkannt werden könnte. Schon die verschiedene Grösse der Pro- 
jectile bedingt Abweichungen, ferner ist für das Aussehen der Wunde von Be¬ 
lang, aus welcher Entfernung das Projectil kam, ob es Rund* oder Spitzkugel 
war, ob es senkrecht oder schräg auftraf. So viel Abweichungen von einem 
typischen Bilde der Schusswunden nun auch Vorkommen mögen, so ist es doch 
andererseits möglich, sich ein solohes allgemeines Bild aus den bekannten Beob¬ 
achtungen zusammenzustellen. Wir unterscheiden an einer Schusswunde Ein- 
gangsöffnung, Schusskanal und gegebenen Falles auch Ausgangsöffnung. Die 
Eingangsöffnung kann verschiedene Form haben. Sie ist nämlich entweder ein 
rundliches Loch, welohes der Grösse des Projectiles ungefähr entspricht, oder 
auch bedeutend grösser als das Projectil. Sie kann „wie mit einem Looheisen“ 
(Hofmann')) ausgeschlagen, aber auch sternförmig zerrissen sein. Sie kann 
ferner, und das ist namentlich bei Spitzkugelschüssen beobachtet, einer Stich- 
Schnittwunde täuschend ähnlich sein 2 ). Ein abweichendes Verhalten von den 
bisher beschriebenen Wunden werden die Schrotschusswunden zeigen, denn es 
handelt sich bei denselben um Geschosswirkungen kleinsten Kalibers, es sind 
daher auch die einzelnen Einschussöffnungen klein. Ist das Schrot vor Eintritt 
in den Körper nicht zerstreut, so kann die oompacte Masse der Sohroten ein ein¬ 
ziges grosses Loch machen. Wir erinnern uns genau einer Leiche im Göttinger 
anatomischen Institute, welche eine solche Schusswunde in derHerzgegend hatte. 
Die Wunde war so gross, dass man bequem den Daumen hätte hineinstecken 
können. Das Herz sah braun-schwarz und zerfetzt aus. Eine Menge Schroten 
sassen in einem Klumpen zusammengeballt in den Wirbelkörpern der Brustwirbel¬ 
säule, die anderen Schroten hatten die Musculatur zerrissen und bildeten mit 
Muskelfetzen, Knochengries einen förmlichen Brei. Ein weiteres Kennzeichen der 
Schusswunden ist die Verfärbung ihrer Ränder, sobald der Schuss aus genügen¬ 
der Nähe und womöglich gegen die nackte Brust abgefeuert war. Pulvers'chmutz 
und in die Haut versprengte Pulverkörner, ferner Spuren von Verbrennung oder 
Versengung sind vorhanden. Alle diese Symptome pflegen sich auf einen rund 
oder unregelmässig begrenzten Raum von verschiedener Grösse zu vertheilen; oft 
sind sie nur theilweise vorhanden, oder sie fehlen ganz. Die grössere Schuss¬ 
weite ist jedoch auf das bessere Aussehen der Schusswunden nicht immer von 
Einfluss, denn selbst bei Schüssen aus weiter Entfernung vermag sich ein 
schwärzlicher Hof um die Einschussöffnung zu bilden, weil die Kugel, ehe sie 
die Haut durohbohrt, dieselbe erst etwas vor sich herdrückt, wobei sie den ihr 
anhaftenden Pulver- und Bleischmutz auf der Haut absetzt und gleichsam blank¬ 
gewischt ihren Weg weiter zum Herzen verfolgt. Gelegentliche Ausnahmen von 
allen diesen Merkmalen kommen vor und können die schwersten Zweifel erzeugen, 
namentlich da, wo es sich um gerichtsärztliche Fragen handelt. Die Reaction 
auf Blei in dem eine Schusswunde umgebenden Hofe könnte in Frage kommen, 
wenn eine Kugel nicht gefunden wird. 

Der Sohusskanal wird sich ebenfalls verschieden verhalten nach Grösse, 


') Hofmann, Lehrbuch der gerichtlichen Medioin. 1881. S. 279. 
2 ) Hofmann, Lehrbuoh der gerichtlichen Medicin. 1881. S. 283. 


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Ueber die Wanden des Herzens. 


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Tiefe und Verlauf. Den dioken Kugeln, welche leicht ihre runde Form verlieren, 
da sie aus Blei und ohne Mantel sind, ist es eigentümlich, dass sie einen um 
so breiteren Sohusskanal erzeugen, je tiefer sie eindringen. Von den modernen, 
kleinkalibrigen, mit Stahlmantel versehenen Geschossen hoffen wir, dass sie einen 
überall gleich weiten Schusskanal ohne secundäre Zerstörungen erzeugen werden. 
Durch das Projectil mit fortgerissene Fremdkörper, z. B. Kleiderfetzen, Knochen¬ 
splitter, verändern ebenfalls die Gestalt des Schusskanals, namentlich beobachtet 
man danaoh septische Infectionen. Bezüglich der Ausgangsöffnung hält es 
Liman 1 ) für vollkommen festgestellt, dass dieselbe kleiner als die Einschuss¬ 
öffnung ist. Dem steht ein Fall von Brentano 3 ) entgegen, wo ausdrücklich er¬ 
wähnt wird, dass die Ausschusswunde 1 l / 2 mal grösser als die des Einschusses 
gewesen sei. Fischer 3 ) beobachtete in einem Falle 2 Ausschussöffnungen bei 
einer Einschussöffnung. Schüsse aus allernächster Nähe mit starker Pulverladung 
bringen oft colossale Zerstörungen hervor, z. B. Zerschmetterung von Brustbein 
und Rippen, Zermalmungen des ganzen Herzens. Letztere beruhen vielfaoh 
darauf, dass das eindringende Geschoss nach dem Princip der hydraulischen 
Presse eine förmliche Explosion des Herzens erzeugt. Vor den Lungen Verletzungen, 
welohe die Kugel auf ihrem verderblichen Wege erzeugen kann, haben wir die 
Verletzungen des Herzbeutels und des Herzens zu betrachten. Am häufigsten 
wird Herzbeutel und Herz zugleioh verletzt sein, weil die perforative Kraft der 
meisten Geschosse eine sehr bedeutende ist. Es sind aber auch Verletzungen des 
Herzens ohne gleichzeitige Herzbeutelwunde beobachtet worden 4 ) 5 ). Man hat 
sich den Vorgang so erklärt, dass der Herzbeutel von einor schwachen Kugel 
handschuhfingerförmig in das Herz eingetrieben wurde und nachher aus dem ge¬ 
bildeten Schusskanal wieder in seine gewöhnliche Lage zurückschlüpfte, ohne 
durch die Kugel durchbohrt zu werden. Nach Casper-Liman 6 ) kommen sogar 
Herzsohusswunden vor, ohne dass eine Trennung des Zusammenhanges der 
äusseren Haut vorliegt; solche Wunden stehen den Rupturen sehr nahe. — 

Die eigentlichen Herzschusswunden sind sohon dadurch unterschieden von 
den vorher besprochenen Wanden, dass eine stumpfe Gewalt sie erzeugt. Diese 
Verschiedenheit spricht sioh auch in den pathologisch-anatomischen Befanden an 
der Herzwunde selbst aus. Wir finden da meist rundliche Oeffnungen von ver¬ 
schiedener Grösse. Wenn es vorkommt, dass anstatt eines rundlichen Loches ein 
Riss in der Herzwand sitzt, so zeigt doch dieser Riss nicht die soharfen Ränder 
einer Stiohschnittwunde, sondern die Ränder sind zaokig, unregelmässig, in der 


*) Casper-Liman, Handbuch der geriohllichen Medicin. 1889. Bd. II. 
S. 244. 

3 ) Brentano, Zur Casuistik der Herzverletzungen. Dissertation. Berlin 
1890. Fall 38. 

3 ) Fischer, Die Wunden des Herzens. Berlin 1868. 

4 ) Fisoher, Die Wunden des Herzens. Fall 367, 303, 308, 346, 306, 323. 
s ) Brentano, Zur Casuistik der Herzverletzungen. Dissertation. Berlin 

1890. Fall 28. 

e ) Casper-Liman, Handbuoh der gericntiicheri Modern. .188ft.: Bd.iL 
S. 249. 


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Mitte zaweilen, entsprechend dem grössten Darohmesser der Engel, aaseinander¬ 
gedrängt. Das Herz kann nicht nnr einfach, sondern anch auch doppelt durch¬ 
schossen, das Septum kann oröffnet, ja sogar rechter and linker Ventrikel and 
Septam zugleich durchbohrt sein. Als fernere Zerstörungen durch die Kugel aaf 
ihrem Wege daroh das Herz nennen wir noch Zerreissungen der Papillarmuskeln 
and der Klappen. Eine Zusammenstellung der Häufigkeit der verschiedenen ver¬ 
letzten Herzabschnitte ergiebt folgende Resultate: 

Rechter Ventrikel 31; linker Ventrikel 29; beide Ventrikel 7; rechter Vor¬ 
hof 4; linker Vorhof 1; Spitze 1; Basis 1; Septum 1; ganzes Herz 8; rechtes 
Herz 2; linkes Herz 4; anbestimmt 11; Herzbeatei 11. Es penetrirten 97 Wun¬ 
den, es penetrirten nicht 11. Zur Heilung gelangten 12. Die Residuen dieser 
Heilungen werden als Narben erkannt und sind sowohl im Herzbeutel als aaoh 
am Herzen zu finden. Die Qrösse und Deutlichkeit der Narben richtet sioh nach 
der Grösse der vorangegangenen Verwundung. Bei geheilten Scbrotschusswunden 
wird man mehrere Narben finden; dieselben sind aber klein and schwer za er¬ 
kennen; die Narben der Kagelschüsse zeigen natürlich das entgegengesetzte Ver¬ 
halten. 

Es würde za Wiederholungen führen, wenn wir auch hier wieder alle mög¬ 
lichen Complicationen aufzählen wollten. Das bei den anderen Herzwunden dar¬ 
über Gesagte dürfte vielmehr auch auf die Schusswunden anwendbar sein. Nur 
eine für diese Wunden oharaoteristische, aber höchst bedenkliche Gomplication 
wollen wir noch besonders erwähnen, nämlioh das Hineinreissen septisch infioirtor 
Stoffe in die Wunde. Diese üben einen heftigen Entzündungsreiz aus und er¬ 
zeugen eitrige Pericarditis und Pleuritis. Embolien in periphere Organe durch 
Fremdkörper wären ebenfalls denkbar, z. B. könnten Reste eines Papierpfropfens 
durch den Blutstrom verschleppt werden. 

Kageln sind die häufigst gefundenen Fremdkörper im Herzen nächst den 
Nadeln. Sie liegen entweder in einer der Herzhöhlen, oder sie stecken in der 
Wandung'), wo sie sioh einkapseln. Auch aaf dem Herzbeutel 2 ) wurde eine 
Kugel frei liegend vorgefunden. In einem von Brentano 3 ) verwerteten Falle 
lag sie lose in der Pericardialhöhle. 

Es bleibt ans noch einiges über die Blutang bei Herzschusswunden za 
sagen übrig. Wir unterscheiden eine äussere und eine innere Blutang. Letztere 
tritt entweder als Blutung in die Pericardialhöhle oder in die Pleurahöhle oder in 
beide Höhlen zugleich auf; erstere strömt aus der Wunde oder den natürlichen 
Oeffnungen des Körpers. Bei der alleinigen Verwundung des Herzens wird die 
Section ein Hämopericard nachweisen, welches eine gewisse individuelle Grösse 
nicht überschreiten kann, ohne die Tamponade des Herzens nach Rose zu be¬ 
wirken. In eine Pleurahöhle oder womöglich in beide hinein kommt es dagegen 
zu colossalen Blutergüssen. Der Befand deckt sioh dabei mit demjenigen gefähr- 


') Baur, Ueber die Sohassverletzangen des Herzens. Dissertation. Berlin 
1887. S. 10. 

v 3 * :Bt<J.a1aiuJ, IZhf‘Cäsaiätik der Herz verletz ungen. Dissertation. Berlin 


1890...F>11 24.*;.•. 

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Ueber die Wanden des Herzens. 


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lioher Stiohsohnittwanden, bei welchen bis za 4’/ 2 Pfd. and mehr Blat gefunden 
wurden. Die Blatang nach aussen hat mehr Bedeutung für den Diagnostiker als 
für den Anatomen. Es wird dem Letzteren meistens die Aufgabe zufallen, eine 
nach aussen stattgehabte Blutung aus der Besudlung des Leiohnams mit Blut 
oder aus anderen zufälligen Befunden vorläufig festzusteilen. Ueber den vermuth- 
liohen Qrad solcher Blutungen nach aussen wird er sich erst äussern können, 
wenn der Sectionsbefundjvorliegt. Findet man den Körper in seinem Blute schwim¬ 
mend, so wird daraus sofort ein Urtheil über die Blutung gebildet werden kön¬ 
nen. Zam Schluss wollen wir noch gleichzeitige Verwundungen der Wirbelsäule 
als Gomplioation erwähnen. Die Folgeerscheinungen einer solchen sind sensible 
und motorische Störungen an den unteren Extremitäten, Lähmungen der Blase 
und des Mastdarmes, Decubitus ‘) etc. 

Bei den Quetschwunden und Rupturen des Herzens, zu deren Besprechung 
wir nunmehr kämen, handelt es sich fast immer um heftige directe oder indirecte 
Gewalten. Genüge Gewalten waren nur da ausreichend zur Ruptur, wo das Herz 
bereits in irgend einer Weise degenerirt war. Nach Casper-Liman 2 ) bersten 
gesunde Eingeweide spontan niemals; wir finden ferner bei Hofmann 3 ) eine 
Zusammenstellung der Leichtigkeit und Häufigkeit, mit welcher gewisse Organe 
rupturiren. Am leiohtesten rupturiren danach die parenchymatösen Organe Leber, 
Milz, Niere, Lungen; dann kommt das Herz und an letzter Stelle Magen, Ge¬ 
därme, Blase, Gehirn. Uns interessiren zunächst die Rupturen des Herzens, die¬ 
jenigen anderer Organe nur insofern, als sie als Complicationen bei Herzrupturen 
auftreten. ln der Literatur haben wir 87 Fälle von Herzruptur gefunden. Aetio- 
logisch wichtig sind dabei zunaohst die rupturirenden oder quetschenden Ge¬ 
walten, wobei uns eine noch grössere Mannigfaltigkeit entgegentritt als bei den 
Stiebschnittwunden. Der Fischer’sohen Aufzählung fügen wir noch die heute 
leider so häufigen Eisenbahnunglücke hinzu, ferner als Curiosität das Hinunter¬ 
würgen eines grossen Stüokes Fleisch 5 ), welches die Ruptur eines fettig degene- 
rirten Herzens verursacht hatte; endlich auch noch einige Rupturen duroh 
Schüsse, bei weloben nicht die Kugel, sondern die Entladung der Pulvergase und 
der damit verbundene starke Luttdruok die Herzruptur erzeugt hatte. 

Unter den 87 Fällen befanden sich 54 Männer, 6 Frauen und verbältniss- 
massig viel Kinder, nämlich 8 an der Zahl. In 19 Fällen war das Geschlecht un¬ 
bestimmt geblieben. Von Herzrupturen wurden vorwiegend Männer getroffen; 
das ist auch erklärlich, denn sie beschäftigen sioh mit schweren Lasten, bei Ma¬ 
schinen, bei Fuhrwerken aller Art, bei Bauten vorwiegend. Vom pathologisch- 
anatomischen Gesichtspunkte aus unterscheiden sioh die wenigen beobachteten 


*) Brentano, Zur Gasuistik der Herzverletzungen. Berlin 1890. Fatl 42 
und 59. 

3 ) Casper-Liman, Handbuoh der gerichtlichen Medicin. 1889. Bd. II. 
S. 132. 

3 ) Hofmann, Lehrbuoh der gerichtlichen Medioin. 1881. S. 265. 

4 ) Fisoher, Die Wanden des Herzens. 1868. S. 43. 

s ) Jahresbericht über die Leistungen und Fortschritte in der gesammten 
Medioin. Jahrgang XIX. Bd. 11. Abth. 1. S. 314. 


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Dr. Elten, 

Quetschwunden des Herzens von den eigentlichen Rupturen dadurch, dass hei 
ihnen ein stumpfes, quetschendes Werkzeug, Stein, Holzpfabl durch den Thorax 
in das Herz dringt und eine unregelmässige Wunde erzeugt, oder dass zwar keine 
wirkliche Quetschwunde erzeugt wird, aber doch ein quetschender Druck ohne 
Zusammenhangstrennung des Thorax und des Herzens letzterem eine schwere, 
mechanische Verletzung zufügt. 

Verunglückte mit einer echten, traumatischen Herzruptur pflegen äusserlioh 
gar keine Verletzung, noch nicht einmal blutunterlaufene oder abgeschabte 
Stellen in der Herzgegend zu zeigen. Ein sehr treffendes, einfaches Beispiel 
dafür, so dass wir es mittheilen wollen, findet sich bei Wald 1 ) aufgezeichnet. 
Einem Hafenarbeiter war ein 30 Ctr. sohwerer Stein gegen die Brust geprallt. 
Tod sofort. Keine Spur einer äusseren Verletzung, doch war die vierte linke 
Rippe 2 " vom Brustbein gebrochen. Der strotzend ausgedehnte Herzbeutel ent¬ 
hielt 1 Vj Pfd. halbgeronnenen Blutes. Herz völlig leer. An der Spitze fand sioh 
ein 3 / 4 " langer Einriss, der sohief naoh aufwärts in einem entsprechend langen Verlaufe 
bis in den linken Ventrikel drang. Lungen unversehrt; in der linken Brusthöhle 
einige Unzen Blut. — Es ist eine anerkannte Thatsache, dass die Rosistenz- 
fähigkeit der Haut den colossalon Gewalten gegenüber eine sehr grosse ist, Hof¬ 
mann 2 ) giebt dafür die erstaunlichsten Beispiele. — Nicht immer bleibt jedoch 
die Haut ganz unverletzt, sondern man findet zuweilen Sugilatiooen und Ab¬ 
schürfungen und andere Spuren äusserer Gewalt. Das Aussehen derselben hängt 
davon ab, ob die Circulation noch etwas dauerte, oder ob der Tod momentan ein¬ 
trat. Im letzteren Falle kann sich gar keine Schwellung oder Blutung in das 
Zellgewebe und die Muskeln entwickeln, und die abgeschabten Stellen sehen 
naohher vertrocknet und braun aus. 3 ) Während die Zeichen auf der äusseren 
Haut sehr gering sein können, findet man dagegen Rippen- und Rippenknorpel- 
fracturen aller Art, Fraoturen des Brustbeines oder beide Arten von Brüohen 
nebeneinander. Die Dislocation kann verschieden stark sein, besonders hervor¬ 
zuheben ist die Dislocation spitzer Rippenfragmente gegen Herzbeutel und Herz. 
Nach Hofmann 4 ) brechen die Rippen alter Leute mit Leichtigkeit, Kinderrippen 
sollen dagegen vermöge ihrer grösseren Elasticität den Druck sehr bedeutender 
Kräfte aushalten können. 

Die Wunde des Herzbeutels und des Herzens besteht in einem Riss. Was 
zunächst die Herzbeutel wunde anbetrifft, so ist dieselbe nach Fisoher 8 ) theils 
länglich, theils rundlich. In den von uns gesammelten Fällen fanden wir einmal 
ein Loch von 4 cm Länge, zweimal fanden wir den Herzbeutel unverletzt, ein¬ 
mal vollständig zerfetzt und einmal hatte er ein so grosses Loch, dass das von 
seinen Gefässen total abgerissene Herz hindurohschlüpfen konnte. Die Wunde 
des Herzens selbst verhält sich äusserlich verschieden, je naohdem sie penetrirt 
oder nioht, und ob ein vollkommen gesundes oder degenerirtes Herz von der Rup- 


*) Wald, Gerichtliche Medicin. Bd. 1.- 1858. S. 117. 

2 ) Hofmann, Lehrbuch der gerichtlichen Medioin. 1881. S. 269. 

3 ) Hofmann, Ibidem. S. 267. 

4 ) Hofmann, Ibidem. S. 430. 

8 ) Fisoher, Die Wunden des Herzens. Berlin 1868. S. 85. 


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Ueber die Wanden des Herzens. 


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tar getroffen wird. Aaf die Gestalt der Wände ist es ferner von Einfluss, ob die 
Raptor traamatisoh oder spontan entstanden ist, eine Frage, welche den Ge¬ 
richtsarzt interessiren dürfte. Nach Ohrt 1 ) unterscheiden sich die traumatisohen 
und spontanen Rupturen folgendermassen: 

traumatisch: 

1. Riss gross, glatt. 

2. Riss nicht mit Blut infiltrirt. 

3. In der Umgebung keine Myomalacie. 

spontan: 

1. Riss oft klein, zackig. 

2. Riss ausgedehnt mit Blut infiltrirt. 

3. In der Umgebung Verfettung. 

Sobwierig wird die Unterscheidung dann werden, wenn ein Trauma gerade 
eine myomalacische Stelle des Herzens zum Bersten gebracht hat; wir haben dann 
eine traumatische Ruptur im myomalaoischen Herzen. Georg Fischer 2 ) ist zu 
anderen Resultaten gelangt. Er hat die Ränder der traumatisohen Raptaren — 
und es sind ja nur solohe, welche er behandelt — «scharf gezackt, gefranzt, 
zerrissen, eoohymosirt, sternförmig“ gefunden und gefüllt mit schwarzem, coagu- 
lirtem Blute. Die neueren Beobachtungen bestätigen die Angaben jenes Forschers, 
zum Theil widersprechen sie ihnen aber auch, denn wir finden neben gezackten 
Rissen, neben Rissen mit aufgewühlten Rändern, neben trichterförmigen Rissen, 
am Grande mit einem feinen penetrirenden Looh in die linke Kammer, aaoh ganz 
glatte Risse, and zwar alle an nicht anderweitig erkranktem Herzen. Sehr grosse 
Verschiedenheiten finden auch statt in Bezug auf die Localisation der Ruptar. 
In der Regel ist nur ein Herzabschnitt, entweder ein Ventrikel oder ein Vorhof 
gerissen, auch isolirte Zerreissuogen des Septum kommen vor; selten trifft die 
Ruptur mehrere Abschnitte auf einmal. Ausgenommen sind die ganz colossalen 
Verletzungen des Herzens duroh Maschinengewalt, duroh fahrende Züge, duroh 
Auffallen schwerster Lasten etc., wobei das ganze Herz zerrissen and zertrüm¬ 
mert wurde, ja aas dem geplatzten Thorax heraassprang and mehrere Schritte 
weit fortflog. Gelegentlich sind aaoh Herzbeutelraptaren 3 ) ohne gleichzeitige 
Herzraptur und Herzrupturen ohne Herzbeatelruptar beobachtet worden, ein 
Vorgang, welcher lebhaft an gewisse Schassverletzungen des Herzens erinnert. 

Es liegt in der Natar dieser sohweren Herzverletzangen, dass dieselben sich 
gerne mit Zerreissangen anderer Organe compliciren. Neben colossalen Blut¬ 
ergüssen in das Pericard oder die Pleurahöhle finden Zerreissangen namentlich 
von Leber and Milz mit Abdominalblatung statt. 

Befunde, welche auf eine, duroh Section bestätigte Heilung einer vorange¬ 
gangenen Herzruptur sohliessen Hessen, konnten wir aas der uns zur Verfügung 
stehenden Literatur nur einen einzigen entdecken, nämlich bei Fischer 4 ), wo 


*) Ohrt, Diagnostik. Berlin 1884. S. 190. 

*) Fisoher, 1. o. S. 84. 

3 ) Fischer, Die Wunden des Herzens. S. 86. 

4 ) Fischer, Ibidem. Fall 443. 


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Dr. Elten, 


ein Sehnenfleck von der Grosse eines Franken auf der vorderen Herzfläche einer 
alten Rippenfractur genau gegenüberlag. Einen Beweis für die Möglichkeit der 
Verwechslung von Herzraptaren mit anderen Herzwanden giebt uns Casper- 
Liman 1 ). Er beschreibt eine Herzruptar, welche daroh einen Fall aas 40 Fuss 
Höhe entstanden war, und wo sich neben schweren Körperverletzungen eine Rup¬ 
tur des Herzens am Bulbus aortae pulmonalis von Erbsengrösse vorfand, welche 
einer Stichwunde täuschend ähnlich sah. Endlich will ich eine persönliche Er¬ 
innerung aus meiner Studienzeit in München nicht unerwähnt lassen, deren ich 
auch noch bei der Therapie der Herzwunden gedenken werde. Wir sahen in der 
v. Nussbaum’sohen Klinik einen Mann, welcher an schweren Herzbeängstigungen 
und Palpitationen litt und weloher behauptete, er haben einen heftigen Stoss 
von einer Wagendeichsel vor die Brust bekommen, und daher schrieben sich seine 
Beschwerden. Die Aufzeichnungen aus meinen klinischen Semestern lauten dar¬ 
über folgendermassen: 

„Fall 64. Patient seit langer Zeit völlig arbeitsunfähig, weil er durch den 
Stoss einer Deichsel in die Herzgegend getroffen ist. Dieser Stoss hat seinen 
Rippen eine solche Stellung gegeben, dass dieselben an ihrem Sternalansatze 
links buckelförmig hervorragen, dagegen über dem Herzen vollständig plattge- 
drückt sind und einen beständigen hochgradigen Druok auf das schlagende Herz 
ausüben. In die Aushöhlung am Thorax kann man etwa eine flache Faust ein- 
legen.“ Der Mann wurde durch eine Operation vollkommen wieder hergestellt. 
Diesen Fall können wir einreihen in die Zahl der Quetschwunden des Herzens. 

Aus den wechselvollen pathologisch-anatomischen Bildern, welche uns die 
verschiedenen Herzwunden liefern, können wir mit Recht den Schluss ziehen, 
dass auch die Symptome sehr mannigfaltige sein werden. Dass bei den Nadel¬ 
stichverletzungen des Herzens die sichtbaren, äusseren Symptome wegen der 
Dünne des verletzenden Instrumentes oft kaum erkennbar sind, ist vorher schon 
gesagt worden. Namentlich kann ein dickes Fettpolster nach Fischer 2 ) die 
Einstichöffnung vollständig verbergen. In einem Falle von Dupuytren 3 ) war selbst 
der Einstich einer starken langen Sattlernadel nicht entdeckt worden. Zuweilen 
fand man in der Gegend des Einstiches eine kleine resistente Stelle unter der 
♦ Haut, woduroh der Sitz der Nadel verrathen wurde. Man erkannte ferner die 
Verletzung an einem Stecknadelkopfe, weloher nicht mit unter der Haut ver¬ 
schwunden war; gerade in diesem Falle war die Zerreissung des Herzens durch 
die fixirte Nadel eine sehr bedeutende gewesen. 4 ) Ecchymosen an der Stiohstelle, 
kleine Blutungen aus derselben sind weitere bemerkenswerthe Symptome, ebenso 
die dem Herzschlage synchronen Schwingungen einer Nadel, welche natürlich 
nur dann auftreten, wenn die Nadel wirklich im Herzen steckt. Die Ausbeute an 
percutorischen und auscultatorischen Symptomen ist bei unseren 42 Fällen eine 


’) Casper-Liman, Handbuch der geriohtliohen Medioin. 1889. Bd. II. 
S. 134. 

2 ) Fischer, Die Wunden des Herzens. S. 64. 

3 ) Fischer, 1. c. S. 233. Fall 11. 

4 ) Brentano, Zur Casuistik der Herzverletzungen. Dissertation. Berlin 
1890. S. 8. 


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Ueber die Wanden des Herzens. 


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sehr geringe, and was wir finden, stammt aas neuerer Zeit. Hit Bemerkungen 
wie: „Herzschlag schlürfend“, „matter Ton in der Herzgegend“ oder: „Herz- 
sohlag schwach“, oder: „man erkannte Zeichen acuter Entzündnng des Herzens 
and seiner Häute“, lässt sich nicht viel anfangen. Die Angaben der neueren 
Forscher sind viel eingehender. Da finden wir bei Hahn l ) „ein lautes systolisches 
Geräusch an der Herzspitze“; bei Stelzner 2 ): „ein lautes pericardiales Reibe¬ 
geräusch an der Herzspitze“. Diese Symptome kann man verwerthen, und die 
Möglichkeit ist nicht von der Hand zu weisen, duroh einen charaoteristischen 
physicalisoh-diagnostischen Befund zu einer guten Diagnose zu gelangen. 
Wenn eine Nadelspitze am Herzen reibt, so bethätigt sich das durch ein Geräusch, 
ferner entstehen auch bei Anwesenheit von Nadeln als Fremdkörper Geräusohe, 
indem der Blutstrom zu abnormen Flüssigkeitsbewegungen gezwungen wird. 

Die von etwaigen inneren Blutungen abhängigen Symptome sind Ohnmäch¬ 
ten, kleiner Puls, Kälte der Haut, Blässe derselben, Schwindel, Erbrechen, 
Atbemnoth, welche sich bei der Tamponade des Herzens zu höchster, cyanotischer 
Dyspnoe steigern bann. Die nervösen Symptome Sohmerz, Angst, Verniohtungs- 
gefühl vollenden dann mehr oder weniger ausgesprochen das Bild, welches diese 
Verletzten bieten. 

Bei den Stichsohnittwunden macht man die Beobachtung, dass deren Sym¬ 
ptome fast immer heftiger und gefährlicher auftreten, als bei der vorhergehenden 
Gruppe von Verletzungen. Bei der Grösse der benutzten, meist scharfen Waffen 
erscheint das nioht auffällig, und wenn man weiter bedenkt, dass jene Waffen 
sich vorwiegend in Männerhänden befinden, welchen sehr häufig verbrecherische 
Energie erhöhte Kraft verleiht, so betrachten wir die schweren Verletzungen als 
etwas Selbstverständliches. In der Reihenfolge der Symptome wollen wir zuerst 
die Hautwunde in der Herzgegend betrachten. Dieselbe wird die im pathologisch¬ 
anatomischen Theile näher beschriebenen Eigentümlichkeiten nach Lage, Grösse, 
Gestalt, Verlauf, Tiefe besitzen; jedenfalls wird sie in der Mehrzahl der Fälle 
leicht al3 Wunde kenntlioh sein, was sie von den Nadelstiohen erheblioh unter¬ 
scheiden dürfte. Nach Sc'halle 3 ) können allerdings aus mittlerer Entfernung 
abgeschossene Spitzkugeln und schmale dreischneidige Stosswaffen ganz ähnliche 
Wunden liefern, ferner täuschen zuweilen eingedrungene Schrotkörner und Re- 
volverspitzkugelwunden die feinsten Stichwunden vor. Das Aussehen der Stich¬ 
wunde wird dem Alter nach ein verschiedenes sein. Frische Wauden klaffen 
etwas, Fettträubohen drängen sich aus denselben hervor, und frisoh ergossenes 
Blut hat die nioht geschwollene Umgebung besudelt; ältere Wunden zeigen da¬ 
gegen schon Spuren entzündlicher Reaction. Nach Becker 4 ) erscheint die 
Schnittwunde bei sofortigem Tode an Herzverblutung ganz blass, schlaff. Die 
Haut hat duroh die vollständige Blutleere ihren Turgor verloren, sieht wachsbleich 
aus; zu irgend welcher Reaction war dem Gewebe gar keine Zeit mehr ge¬ 
blieben. 


') Hahn, Berliner klinisohe Woohonschrift. 1887. S. 329. 

3 ) Stelzner, Berliner klinisohe Wochenschrift. 1887. S. 329. 

*) Schalle, Georg Fischer, Die Wunden des Herzens. S. 162. 

*) Becker, Deutsche Militärärztliohe Zeitschrift. 1885. Heft9. S. 408ff. 


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Dr. Elten, 


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Die Blatong nach aossen ist in der Regel eine ganz bedeatend heftige, na¬ 
mentlich dann, wenn der Sticbcanal senkreoht zur Axe das Herz durchsetzt and 
wenn die Thoraxwande and die Herzwande mit einander angehindert oorrespon- 
diren. Die Blatang kann aber auch nach aussen gering sein, ja fast ganz fehlen, 
wenn dem Blnte der Weg nach aassen verlegt ist. Als Grande hierfür kennen wir 
schrägen Verlauf der Wände, schnellen Verschloss derselben durch Gerinnsel, 
Unverletztsein des Herzbeutels, Verstopfung der Thoraxwande. Naoh Fischer 1 ) 
wirken aach die in der Wände nooh steckenden Instrumente nach Art eines Tam¬ 
pons and verhindern so die Blatang. Wer dächte da nicht unwillkührlich an den 
verwundeten Helden Epaminondas auf dem Sohlachtfelde von Chäronea. Als 
symptomatisch wichtig wäre noch die Art der Blutung zu erwähnen. Man be¬ 
kommt da entweder einen, wie eine Quelle fliessenden, gewaltigen Blutstrom zu 
sehen, in welchem beide Blutarten vermischt erscheinen, oder wir haben, weil 
die Wunde klein ist, einen feinen verschieden hoch aufspringenden Blutstrahl von 
arterieller oder venöser oder gemischter Beschaffenheit. Zuweilen fliesst aber 
auch'nur wenig Blut, dann pflegen die Erscheinungen einer inneren Blutung in 
den Vordergrund zu treten. Logischerweise müssen wir nnn die Begleitsymptome 
so starker Blutverluste betrachten. Obenan steht da die Ohnmacht. Unter 
69 Stiohschnittwunden trat dieselbe 20mal sofort ein. 3 ) Brentano 3 ) beobachtet 
unter 10 Fällen 6 mal sofortige Ohnmacht. In wieder anderen Fällen fehlte vor¬ 
erst jedes Symptom einer Ohnmacht. Die Patienten konnten nooh Wege von 15 
bis mehreren hundert Schritten machen, Treppen steigen, l 1 /» Meilen reisen, 
6 Tage hintereinander zum Verbände ins Spital kommen. 4 ) Daroh diese Beob¬ 
achtungen wird der forensisch wichtige Nachweis geliefert, dass Leute noch allerlei 
verrichten können, selbst wenn sie, wie die späteren Sectionen in jenen Fällen 
es erwiesen, eine oder mehrere penetrirende Schnittwunden im Herzen haben. 

Noch mehr gilt dieses naoh Hofmann 8 ) von Herzwunden, welche nioht 
penetriren. Unter den übrigen Symptomen der Herzschnittwunden wollen wir 
noch als sehr wichtig die der Percussion und Auscultation erwähnen, und wollen 
uns, um Wiederholungen zu vermeiden, künftig auf diese Stelle beziehen. Durch 
Vergrösserung der Herzdämpfang und Auftreten einer Dämpfung in den hinteren 
unteren Thoraxgebieten wird uns über das Bestehen eines Haemoperioard und 
eines Haemothorax Aufschluss gegeben. Das Auftreten eines tympanitisohen 
Schalles an Stelle der Herzdämpfung ist das entscheidende Symptom für Pneumo- 
perioard und Mitverletzung der Lungen, auch über Pneumothorax muss tympani- 
tischer Schall sich ergeben. Bei allen diesen Erscheinungen müssen natürlich 
differentialdiagnostisohe Erwägungen getroffen werden, damit nichts der Herz¬ 
wunde zur Last gelegt wird, was anderweitige Ursachen hat. Die Mitverletzung 
der Lunge erkennt man am Austritte von schaumigem Blut aus der Brustwunde 6 ), 


*) Fischer, Die Wunden des Herzens. S. 117. 

2 ) Fischer, Die Wunden des Herzens. S. 120. 

3 ) Brentano, Zur Casuistik der Herzverletzungen. 

4 ) Fisoher, Die Wunden des Herzens. S. 123. 

8 ) Hofmann, Lehrbuch der gerichtliohen Medicin. 1881. S. 433. 
e ) Brentano, Zur Casuistik der Herzverletz. Diss. Berlin 1890. S. 16. 


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Ueber die Wunden des Herzens. 


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auch wurde einmal ein eigenthümlioh gurgelndes Geräusch gehört, welches auf 
Loftein- nnd Anstritt an dem mit Blot gefüllten Herzbeutel gedeutet wurde. Die 
verschiedenen Medien, durch welohe die Herzgeräusohe durohdringen, werden 
modificirend auf den Klang derselben einzuwirken vermögen. Der erste, welcher 
überhaupt auf ein pathologisches Geräusch bei Herzwunden aufmerksam maohte, 
war Ferrus 1 ), er bezeichnete dasselbe als „wellenförmig knisternd“ und als 
w Feilengeräusch“. Heute ist die Zahl derartiger Geräusche bereits erheblich 
grösser. Nach Koenig 2 ) werden sie als sägend, blasend, zischend, pfeifend, me¬ 
tallisch, Geräusch des hydraulischen Rades etc. bezeichnet. Da wir aus der inne¬ 
ren Medicin wissen, dass pathologische Herzgeräusche überall da entstehen, wo 
der Blutstrom Unregelmässigkeiten im Bau des Herzens oder Fremdkörper an¬ 
trifft, und dass dadurch die einzelnen Bluttheilchen zu ganz abnormen Bewegun¬ 
gen gezwungen werden, so ist es erklärlich, das9 durch Verwundungen des Her¬ 
tens ganz plötzlich solche Geräusche entstehen. Es bleibt principiell für den Er¬ 
folg dasselbe, oh wir eine durch ulceröse Endocarditis zerstörte arterielle Klappe 
vor uns haben oder eine durch einen Dolchstoss zerschnittene ebensolche Klappe, 
denn in beiden Fällen wird ein diastolisches Geräusoh auftreten können. 

Auch von den Schusswunden kann man sagen, dass ihre Symptome sehr 
heftiger und stürmischer Art sind. Schon die äussere Wunde bestätigt meistens 
den Eindruck einer stattgehabten ungewöhnlichen Gewalteinwirkung. Sie ist bei 
Schüssen aus nächster Nähe verbrannt, mit Pulver beschmutzt, rund oder stern¬ 
förmig zerrissen und gähnt nicht selten in die Tiefe der Brust förmlich hinein. 
Das habe ich selbst in einem Falle gesehen und auoh bei Hof mann 3 ) findet 
sich solche Wunde beschrieben. Bei anderen Verletzten findet sich nur eine 
schmale Ritze, der charaoteristische Pulver- und Brandhof ist vorhanden, kann 
aber auch fehlen. Letzteres beobachtete Li man 4 ). Ein notorischer Selbstmörder 
hatte aus näohster Nähe beide Läufe eines Doppelterzerols gegen sioh abge¬ 
schossen, dennoch zeigte die Haut keine Spur einer Verbrennung oder Suggila- 
tion. Wenn aber Baur s ) sagt: „Die Wunde der Thoraxwand bietet weiter nichts 
Charaoteristisches, “ so trifft das unserer Meinung nach nicht ganz zu, denn über 
das Dasein einer Einsohusswunde kann in vielen Fällen gar kein Zweifel ob¬ 
walten. Die Blutung kann wie bei den Stiohsohnittwunden in Strömen sioh nach 
aussen ergiessen, es kann jedoch auoh äusserlich wenig Blut zu sehen sein, da¬ 
gegen sind die Zeichen einer inneren Blutung ausgesprochen vorhanden. In der 
Regel leitet sofortige Bewusstlosigkeit und damit verbundenes Niederstürzen die 
Scene ein, es kommt aber auch vor, dass der Getroffene noch mehrere Schritte 
läuft, mit lauter, klarer Stimme spricht und erst dann zu Boden sinkt. Im Bren- 
tano’schen Falle 32 stürzte die betreffende Person zwar sofort nieder, behielt 


*) Ferrus, Fischer, Die Wunden des Herzens. Fall 21. 

2 ) Koenig, Lehrbuch der speciellen Chirurgie. 1885. Bd. II. S. 43. 

3 ) Hofmann, Lehrbuch der gerichtlichen Medioin. 1881. S. 279. 

4 ) Cas per-Li in an, Handbuch der gerichtlichen Medicin. 1889. Bd. II. 
S. 254. 

8 ) Baur, Ueber die Schussverletzungen des Herzens. Dissertation. Berlin 
1887. S. 13. 


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Dr. Elton, 


aber das Bewusstsein, raffte sioh wieder anf nnd entfernte sich eine ganze 
Strecke und dabei fand man — eine Eröffnung der linken Kammer von 15 mm 
Länge und 8 mm Breite. Es blieb auch nach empfangenem üerzschuss aufrechte 
Stellung und Bewusstsein natürlich auch erhalten und der Verletzte kletterte 
nooh die Spitaltreppe hinauf. Die Klagen über Schmerzen sind meist unbedeu¬ 
tend. Der Herzmuskel ist überhaupt ein Organ mit wenig sensibler Innervation, 
nur die Spitze scheint empfindlicher. Die Klagen sind dementsprechend immer 
etwas unbestimmt; es wird über dumpfen, bohrenden, brennenden Schmerz in der 
Herzgegend oder in der ganzen Brust, zuweilen auch garnicht geklagt, dagegen 
peinigen den Kranken Angst und Athemnoth in verschiedenen Steigerungen. Da¬ 
neben sind die weiter oben bereits erwähnten Symptome der Verblutung regel¬ 
mässige, unlöschbarer Durst und Flüstersprache, närrischer Qesichtsansdruck 
mehr zufällige Befunde. 

Während nun bei frischen, bald zum Tode führenden Herzschusswunden 
die äussere Wunde, die Blutung, die Ohnmaoht und die damit eng verbundenen 
Allgemeinsymptome vorherrschen, haben wir bei älteren Wunden, bei welchen 
Entzündungen sich zu entwickeln Zeit batten, wieder complicirtere Krankheits¬ 
erscheinungen zu erwarten. Der ganzen Schaar der bei den Stichsohnittwnnden 
erwähnten Complicationen begegnen wir auch hier wieder, und der physicalisohen 
Diagnostik werden die verschiedensten Aufgaben gestellt. Pleuritis, Perioarditis, 
Endocarditis, Haemothorax, Pneumothorax, Haemopneumothorax, Haemopneumo- 
pericard, Empyem, die verschiedensten extra- und intracardialen Qeräusohe treten 
auf. Es würde zu weit führen, die Symptome aller dieser Erscheinungen 
hier wieder einzeln zu besprechen; dieselben sind ja genugsam bekannt, 
und das oben darüber Gesagte behält auch für die Herzschusswunden seine 
Geltung. 

Bei den Quetschwunden und Rupturen des Herzens kommt es ähnlich wie 
bei den Nadelverletzungen vor, dass eine äussere Wunde am Körper überhaupt 
nicht zu entdecken ist. Doch darf man sioh bei den Rupturen nicht nur die Herz¬ 
gegend allein ansehen, sondern man fahnde am ganzen Körper nach einer Con- 
tusion oder Wunde. Es ist von vornherein möglich, dass das Herz an einer ganz 
anderen Stelle als von der Herzgegend her durch Gegenstoss zerrissen oder abge¬ 
rissen ist. Bei ganzen oder theilweisen Zermalmungen des Körpers werden wir 
natürlich neben der Herzruptur auch äussere Wunden zu erwarten haben, in 
milderen Fällen finden wir.höohstens eine unbedeutende, bräunliche Abschürfung. 
Die übrigen Symptome, wenigstens diejenigen der sofort tödtenden Rupturen 
decken sich mit denjenigen anderer Herzwunden, welche ebenfalls einen sofortigen 
Tod bedingen; wir führen nur sofortige Bewusstlosigkeit, Niederstürzen, Cyanose, 
innere Blutung, vielleicht auch Bluterguss aus dem Hunde an. Ist die Ruptur 
sehr klein, so kann sich das Leben etwas länger erhalten, denn es werden sich 
die Anzeichen der Tamponade des Herzens ganz allmälig entwickeln. Diesen 
häufigsten Symptomen eines schnell eintretenden Todes stehen nun wieder Aus¬ 
nahmebeobachtungen gegenüber. So ging z. B.') ein Kranker mit einer Ruptur 
noch 100 Schritte, ein anderer fahr noch eine Stunde auf dem Wagen und ging 


•) Fischer, Die Wunden des Herzens. S. 123. 


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Ueber die Wanden des Herzens. 


31 


dann in das Spital. Die etwa auftretenden Schmerzen richten sioh mit nach an¬ 
deren, gleichzeitigen Verletzungen, Rippenbrächen, Contasionen etc. 

Dass die Diagnose der Wanden des Herzens eine sehr schwierige ist, wird 
von sämmtlichen Autoren anerkannt. Es gelingt zwar, für die einzelnen Arten 
von Verletzungen gewisse pathologisch-anatomische Eigentümlichkeiten und 
Krankheitsersoheinungen festzustellen, aber darin liegt auch nicht die Schwierig¬ 
keit begründet, sondern die liegt vielmehr in der praktischen Anwendung auf die 
Diagnose am lebenden Menschen. Die sich wiedersprechendsten Krankheitsbilder 
bei anscheinend den gleiohen Verletzungen, die heftigste Reaotion und sofortiger 
Tod nach einer scheinbar geringen Wunde, und andererseits bei offenbar schwe¬ 
ren Wunden anfänglich geringfügige Symptome und längeres Erhaltenbleiben 
des Lebens, Alles das ist geeignet, die Schwierigkeiten der Diagnose zu erhöhen. 
Die Diagnose der Nadelverletzungen des Herzens kann gestellt werden einmal 
durch äussere Symptome. Dahin gehört die Auffindung einer Einslicbsstelle oder 
sogar Finden der Nadel selbst im Bereiche der relativen Herzdämpfung, deren 
Grenzen wir uns nach Vierordt 1 ) gezogen denken. Eine auffallende Kleinheit 
jeder Wunde in der Herzgegend könnte a priori den Schluss auf eine stattgehabte 
Nadelverletzung rechtfertigen, doch muss im Allgemeinen der Naohweis dieser 
Verletzungen nach Weil 3 ) als äusserst schwierig betrachtet werden. Aus der 
äusseren Blutung lassen sich auch keine bestimmten Schlüsse ziehen. Dieselbe 
ist, wie wir wissen, sehr gering, ja kann sogar ganz fehlen. Diagnostisch wichtig 
sind dagegen die Zeichen einer inneren Verblutung bei einer vorhandenen kleinen 
Wunde in der Herzgegend. Sehr werthvoll für die Diagnose ist der Nachweis 
von Nadelschwingungen synchron mit dem Herzschlage, denn die Nadel muss im 
Herzfleisch steoken, mindestens aber das Herz stark berühren, wenn es ihr seine 
Eigenbewegungen mittheilen soll. Da eine Sondirung des Stichkanals zum Zweck 
des diagnostischen Nachweises einer penetrirenden Herzwunde zu verwerfen ist, 
so lassen wir sie unberücksichtigt. Gesetzt den Fall, es wäre durch die Anamnese 
oder den Augenschein eine Nadelverletzung naohgewiesen, es wäre uns aber 
nichts bekannt über die Tiefe, bis zu weloher die Nadel eindrang, und darüber, 
ob sie das Herz überhaupt getroffen hat, so haben wir in den Ergebnissen der 
Percussion und Auscultation ein weiteres diagnostisches Hülfsmittel. Ein den 
Herzbeutel ausdehnender Bluterguss muss in einer Vergrösserung der Herz¬ 
dämpfung zum Ausdruck gelangen. Sohabt die Nadel am Herzen, so kommt ein 
charakteristisches Reibegeräusoh zum Vorschein. Die praktische Erfahrung be¬ 
stätigt zu voll diese theoretischen Schlüsse. In dem von Hahn 3 ) mitgetheilten 
Falle war einem 11jährigen Mädchen eine dicke Stricknadel in die linke Brust 
gedrungen. Das Kind kam asphyktisch in das Krankenhaus, wo man in der Herz¬ 
gegend eine abgebrochene Nadel erkannte. Ein lautes systolisohes Geräusch war 
an der Herzspitze zu hören. Die Nadel wurde langsam extrahirt, und es waren 
deutliche Schwingungen derselben gleichzeitig mit dem Spitzenstoss erkannt. 
Nach gelungener Extraction war das systolische Geräusch sofort verschwunden. — 


') Vierordt, Peroussion und Auscultation. Tübingen 1884. S. 12. 

2 ) Weil, v.Maschka’s Handbuch der gerichtlichen Medioin. Bd. 1. S. 276. 

3 ) Hahn, Berliner klinische Wochensohrift. 1887. S. 329. 


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Dr. Elten, 


Selbstverständlich nehmen anch die Anzeichen einer Blutung nnd die nervösen 
Allgemeinsymptome bei der Diagnose dieser Grnppe von Verletzungen eine her¬ 
vorragende Stelle ein. 

Was nnn die Diagnose der Stich-Schnittwunden anbetrifft, so werden in der 
Regel wenigstens darüber keine erheblichen Zweifel bestehen, ob eine Stioh- 
Schnittwnnde vorliegt oder nicht. Verwechslungen wären denkbar mit Spitz- 
kagel- oder Schrotschüssen and Stichwanden mit feinen, dreikantigen oder rhom- 
boiden Klingen. Das Vorhandensein von Polverschwärznng and von Brandmalen, 
ferner die etwas gequetschte Eingangsöffnung und auch die näheren Umstände 
des Falles werden meistens die Diagnose ermöglichen. Schwieriger wird die 
Unterscheidung bei Schusswunden, welche daroh ein aus weiter Eotfernung kom¬ 
mendes kleines Spitzkugelprojectil erzeugt sind. Die näheren Umstände des 
Falles könnten auch hier die Diagnose klären, aber nach Hof mann *) ist es doch 
vorgekommen, dass anfänglich eine Revolversohusswande für eine Stichwunde 
gehalten und demgemäss begutachtet wurde. 

Ganz bedeutend schwierig gestaltet sich aber die Frage, ob überhaupt eine 
Wunde in der Herzgegend penetrirend oder nicht penetrirend ist, und ob eine 
reine Herzwunde vorliegt, oder eine die Lunge mitverletzende und die Pleurahöhle 
eröffnende, oder ob endlich nur eine Lungenwunde vorliegt. Die Diagnose einer 
penetrirenden Brustwunde beruht nach Koenig 2 ) auf dem Nachweise von Blut¬ 
erguss und Lufteintritt in die Pleurahöhle. Die Luft kann mit Geräusch aus der 
Wunde strömen, auch sich nebenbei noch in der Pleurahöhle ansammeln; ebenso 
verhält sich die Blutung, und es spricht ein Erguss sohaumigen Blutes aus der 
Wunde unbedingt für Penetration, da er beide Cardinalsymptome in sich ver¬ 
einigt. Neben diesen „mechanischen“ Symptomen verlangt Koenig 3 ) zur Dia¬ 
gnose auch den Nachweis „functioneller“ Störungen, z. B. Athemnoth, Ohn¬ 
macht, schwacher Puls, Lungen vorfall. Durch Alles das wäre aber erst die Frage 
entschieden, ob eine Wunde penetrirt oder nicht. Eine weitere Frage ist die, 
penetrirt sie in Herzbeutel oder Herz, penetrirt sie ausserdem noch in die Pleura¬ 
höhle oder die Lunge. Hier thürmen sich ganz ausserordentliche diagnostische 
Schwierigkeiten auf. 

Eine reine penetrirende Herzwunde ist nach Becker 3 ) nur an der Stelle zu 
diagnostioiren. wo der Herzbeutel mit der Brustwand verwachsen ist. Neben 
diesem Erforderniss werden aber auch die topographische Lage und Riobtung 
der Wunde, die muthmassliche Tiefe, bis zu welcher die Waffe eindrang, die Be¬ 
sichtigung der Waffe selbst, die Art der Blutung und das Fehlen jeglicher Lun¬ 
gen- und Pleurasymptome die Diagnose mitunter ermöglichen. Eine oombinirte 
Herzlungenwunde ist durch den Nachweis von Pneumoperioard der Diagnose zu¬ 
gänglich und wird duroh blutiges Sputum nnd Luftaustritt aus der Wunde noch 
wahrscheinlicher. Ein gewaltiges, diagnostisches Hülfsmittel würde in allen 
Fällen eine mit dem Herzschlage synchrone oder auch continuirlich strömende 
Blutung sein, namentlich dann, wenn complicirende Gefässverletzungen der 


') Hofmann, Lehrbuoh der gerichtlichen Medicin. S. 282. 

~) Koenig, Lehrbuoh der speoiellen Chirurgie. Bd. II. S. 26. 

3 ) Becker, Deutsche Militärärztliche Zeitschrift. Jahrgang XIV. Heft 9. 


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Ueber die Wanden des Herzens. 


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Langen, der Art. intercostales, der Mammar. interna der Thoracica longa ausge¬ 
schlossen werden können. DieSonde als diagnostisches Hülfsmittet za verwerthen, 
ist nach anseren heutigen Begriffen ein Kunstfehler. Manche Täuschungen kom¬ 
men bei der Diagnose vor. So glaubte man in dem Palle 218 bei Fischer 1 ) 
sicher, eine nicht penetrirende Wunde vor sich zu haben und fand nachher das 
ganze Herz von einem Radirmesser durchbohrt. Derartige Beobachtungen existiren 
mehrere, daher gelangt Fischer 2 ) zu demSchlusse, dass es kein einziges patho- 
gnomisches Symptom giebt, welches mit absoluter Sicherheit eine Herzwunde 
diagnosticiren lässt, erst eine Summe von Symptomen ermögliche das. Auf dem 
Standpunkt stehen auoh wir heute noch, jedoch geben wir zu, dass die Einzel¬ 
heiten der diagnostischen Bemühungen besser als früher ausgebildet sind, und 
darin ist gegen früher ein Fortschritt zu erblicken. 

Nadelstichwundeu und StichschnittwundeD in der Herzgegend als solche zu 
erkennen, ist uns in manchen Fällen möglich; das glauben wir im Vorhergehen¬ 
den gezeigt zu haben. Auoh bei den Schusswunden ist die Möglichkeit nicht 
ausgeschlossen, den Charakter der Verletzung zu erkennen. Wir werden nicht 
zögern, da eine Schusswunde zu diagnosticiren, wo wir die charakteristischen, 
pathologisch-anatomisohen Merkmale derselben finden. Die Schwierigkeiten in 
der Diagnose fangen erst da an, wo Abweichungen von der Norm vorhanden sind. 
Nach Weil 3 ) können mit grosser Durchschlagskraft senkrecht auftreffende kleine 
Spitzkugelprojectile ovale oder lineare Wunden erzeugen, ohne jedes weitere, 
charakteristische Zeichen an den Rändern. In solchen Fällen müsste es einst¬ 
weilen unentschieden bleiben, womit die Wunde zugefügt wurde, und es müsste, 
falls man die Diagnose an der Leiche stellen soll, das Resultat der Section ab¬ 
gewartet werden. Bei einem Kinde 4 ) wurde eine penetrirende Schusswunde ganz 
und gar geleugnet. Man diagnosticirte einen unerheblichen Streifschuss und 
glaubte als causa mortis einen Brechdurchfall erkannt zu haben. Bei der Section 
fand sich ein Spitzkugelschuss duroh das ganze Gehirn. So könnte man mit ge¬ 
ringer Mühe noch mehrere Beispiele anführen, welche die unerwarteten Schwierig¬ 
keiten der Diagnose illustriren. Es erscheint uns daher nicht genügend gerecht¬ 
fertigt, wenn Baur 5 ) diese anerkannten Schwierigkeiten mit der Bemerkung 
streift, dass es kaum schwer halten könne zu entscheiden, ob eine Verletzung 
eine Schusswunde sei oder nicht. Das verhält sich eben nicht so. 

Die nächstwichtige Frage würde die sein, ob wir eine penetrirende Wunde 
vor uns haben; ferner müsste es entschieden werden, ob die Penetration nur in 
den Brustfellraum oder auoh in Herzbeutel und Herz reicht. Da stehen wir vor 
denselben diagnostischen Schwierigkeiten, die wir bei den Stiohschnittwunden 
antrafen. Einige Punkte wollen wir zur Ergänzung unserer früheren Angaben 


•) Fischer, 1. o. S. 156. 

2 ) Fischer, 1. o. S. 160. 

3 ) Weil, v.Mascbka’s Handbuoh der gerichtlichen Medicin. Bd. I. S. 218. 

4 ) Casper-Limau, Handbuch der gerichtlichen Medicin. Bd. II. S. 246. 
s ) Baur, Ueber die Schuss Verletzungen des Herzens. Dissertation. Berlin 

1887. S. 15. 


\ icrteljfthraachr. f. ger. Med. Drille Folge. V. 1. 


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Dr. Elten, 


noch berühren, müssen aber im Uebrigen auf jene Angaben, um Wiederholungen 
zu vermeiden, verweisen. Die Diagnose könnte zunächst sicherer werden durch 
eine genaue Feststellung der topographischen Lage der Wunde, und es müsste 
dabei berücksichtigt werden, bei welcher Lage der Weichtheilwunde statistisch 
am häufigsten irgend ein Theil des Herzens mitverletzt ist. Diese Erwägungen 
geben aber keine absolute Sicherheit, sondern nur höhere Wahrscheinlichkeit für 
die Richtigkeit der Diagnose. Nach Fischer 1 ) kommen die meisten Herzwunden 
bei Sitz der Weichtheilwunde im 5. linken Intercostalraum vor, dann folgt der 
4., 6., 3., 2. Intercostalraum. Rechts zeigt der 4. Intercostalraum die meisten 
Herzwunden, es folgt dann der 3., 5., 2., 7. Intercostalraum. Aus dieser Unter¬ 
suchung Fischer’s geht hervor, dass Wunden im 5. und 4. Intercostalraum 
links und im 4. und 3. Intercostalraum rechts mit einem hohen Qrade von Wahr¬ 
scheinlichkeit ceteris paribus für Mitverletzung des Herzens sprechen. Dass wir 
auch die Blutung als diagnostisches Hülfsmittel zu verwerthen haben, ist selbst¬ 
verständlich. Diese kann nun so colossal und synchron mit dem Herzschläge 
nach aussen strömen, dass jeder Zweifel über die Mitverletzung des Herzens aus¬ 
geschlossen erscheint. Wie aber, wenn es unentschieden bleiben muss, ob ein 
Lungengefäss, eine Mammaria, eine Iotercostalis oder eine der grossen Körper¬ 
adern blutet? Wie oft wurde eine mässige Blutuog als nicht aus dem Herzen 
stammend angesprochen, und nachher ergaben siob die schwersten Verletzungen 
desselben, welche nur vorläufig durch abgebrochene Waffen, durch schrägen Ver¬ 
lauf, durch Blut- und Fibrinpfröpfe ganz oder theilweise verschlossen waren. 
Wir gelangen also wiederum zu dem Resultate, dass Blutungen zwar sehr brauch¬ 
bare, aber in den seltensten Fällen absolut siohere Hülfsmittel zur Diagnose sind. 
Sie können beim Zusammentreffen mehrerer Symptome zwar von entscheidender 
diagnostischer Bedeutung sein, andererseits aber auch nichts für die Diagnose 
leisten, wenn weitere Handhaben mangeln. Inwiefern gleichzeitige Verletzungen 
der Lunge die Diagnose erleichtern, ist ebenfalls bei den Stioh-Sohnittwunden 
des Näheren gezeigt. 

Der Diagnose der Herzrupturen und Quetschungen gebührt nur in den Fällen 
eine praktische Bedeutung, wo nioht sofortiger Tod eintritt. Wir stellen die Dia¬ 
gnose auf Herzruptur, wenn wir einschliesslich einer genauen Anamnese etwa 
folgenden Befund vor uns haben: Starke Gewalteinwirkung auf die Herzgegend 
oder die ganze Brust. Aeusserlich entweder keine Wunde oder einige wenige 
Suggillationen. Zeiohen von Fracturen der Rippen oder des Brustbeines, viel¬ 
leicht mit Dislocation der Fragmente. Allgemeine Zeichen einer inneren Blutung. 
Physikalisch-diagnostische Zeichen eines Blutergusses im Herzbeutel oder Brust- 
fellsaok. Daneben Ohnmacht, tiefster Collaps und nervöse Erscheinungen. Bei 
der Diagnose muss die Möglichkeit der isolirten Ruptur eines anderen Organes, 
z. B. Leber oder Lunge erwogen werden. Die Ruptur der letzteren wird wahr¬ 
scheinlich durch eine Haemoptoe. Bei Leber- und Milzruptur kann Bluterguss in 
die Abdominalhöhle und allgemeine Anämie die Diagnose erleichtern. Compli- 
oirte Rupturen verschiedener Organe gestatten im Einzelnen wohl nur eine Wahr¬ 
scheinlichkeitsdiagnose, während die allgemeine Diagnose, dass es sich um die 


*) Fischer, Die Wunden des Herzens. S. 107. 


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Ueber die Wunden des Herzens. 


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Ruptur eines oder mehrerer innerer Organe handelt, keinen allzugrossen Schwie¬ 
rigkeiten unterliegen dürfte. 

Die Prognose der Herzwunden muss bei den einzelnen Gruppen verschieden 
gestellt werden. Sie wird vor allen Dingen beherrscht durch die Grösse der 
Verletzung, durch die Blutung, durch die Frage, ob penetrirend oder nicht pene- 
trirend. Gewisse Abschnitte des Herzens geben eine bessere Prognose, so z. B. 
Septum, Spitze, Herzbeutel eine bessere als die Ventrikel, letztere wieder eine 
bessere als die Vorhöfe. Eine speoiellere Behandlung der verschiedenen Prognosen 
führt uns zuerst auf die Prognose der Nadelstiohverletzungen des Herzens. Die¬ 
selbe kann nioht als schleoht bezeichnet werden, denn von 42 Verletzten heilten 
18, darunter 6 naoh stattgehabter Operation. Die Verletzungen des rechten Ven¬ 
trikels scheinen ungünstiger zu verlaufen als die des linken, die der Ventrikel 
günstiger als die der Vorhöfe; am günstigsten die des Herzbeutels allein. Von 
ganz bedeutendem Einflüsse auf die Prognose ist es, ob die Wunde penetrirt oder 
nicht. Eine nicht penetrirende Wunde von einer dünnen Nadel hat eine günstige 
Prognose, das bestätigt auoh Steiner 1 ) in seiner Arbeit über Akupunotur des 
Herzens, welch letztere allerdings von Fischer 3 ) ganz und gar verworfen wird. 
Dass die Fälle, bei welchen die Nadel zwar nooh als Fremdkörper steoken ge¬ 
blieben ist, jedoch unbehindert den Eigenbewegungen des Herzens folgen kann, 
prognostisch viel günstiger zu beurtheilen sind, als diejenigen, bei welchen die 
Nadel festsitzt und die Bewegung des Herzens unausgesetzt stört, war schon 
oben näher ausgeführt. Ehe aber die Nadel eine ungefährliche Lage angenommen 
hat, kann sie auf dem Wege dorthin tödtliche Verletzungen erzeugen. Erst wenn 
sie endgültig zur Ruhe gekommen ist, tritt die prognostisch bessere Beurtheilung 
des Falles in seine Reohte. 

Die Akupunotur 1 ) des Herzens ist naoh Fisoher 2 ) sohon aus dem Grunde 
zu verwerfen, weil Verletzungen des reohten Vorhofes und des rechten Ventrikels 
mit „einer zum Theil sehr feinen Nadel" sofort tödtlich endeten. Ueber die Ent¬ 
wicklung der Akupunotur gelang es uns, einige Angaben zu sammeln. Sohon 
gegen Ende des 16. Jahrhunderts sind Experimental versuche damit von Sanc- 
torius gemacht worden; in neuerer Zeit von Jung und Hortwig. Alle drei 
Forscher experimentirten am Thierherzen und gelangten zu der Ansioht, dass 
durch Nadeln oder Nägel erzeugte Herzwunden bei Thieren heilen könnten. Naoh 
Fischer 2 ) punotirte Peyrou das Herz einer 18jährigen Frau wegen Rheuma¬ 
tismus (!); Antonio Corraro brachte die Akupunctur bei Scheintod in Vor¬ 
schlag (1829) und Searle endlioh machte 1831 den Versuch mit der Aku¬ 
punctur im aspbyktisohen Stadium der Cholera am Mensoben, hatte aber keine 
praktisch brauchbaren Ergebnisse. Eine sehr eingehende Studie finden wir über 
„ Electropunctur des Herzens als Wiederbelebungsmittel in der Chloroformnar¬ 
kose" ') im Langenbeck’sohen Archiv von Steiner. Die hauptsäohliohsten 
Ergebnisse derselben sind auszugsweise folgende. 

1) Stiche mit einer feinen Nadel in eine Herzkammerwand, welohe 


') Steiner, Ueber die Electropunctur des Herzens. Langenbeck’s Archiv. 
Bd. XU. Heft 111. Berlin 1871. 

2 ) Fisoher, 1. o. S. 196. 

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Dr. Elten, 

nicht perforiren, sind ungefährlich; aber auoh perforirende Stiche 
sind nichts gefährlicher, sobald die eingestoohene Nadel nioht fest- 
gehalten wird. 

2) geht aus Steiner’s Versuchen hervor, dass Herzwunden mitNadeln 
heilen können, um so leichter, je feiner die Nadel ist und mit um 
so grösserer Vorsioht sie ein* und ausgefübrt wird. 

Sehr interessant ist schliesslich auch die Bestätigung der Tbatsache, dass 
durch irgendwie festgehaltene Nadeln das Herz zerfasert und perforirt werden 
kann. Die Untersuchungen Steiner’s gipfeln in der Behauptung, dass es keine 
Stelle am ganzen Herzen gebe, an welcher die Sich Verletzung mit einer feinen 
Nadel sofort tödtlich zu werden pflegie, dass daher gegen eine mit Vorsicht aus- 
gefübrte Akupunciur nichts Erhebliches eingewandt werden könne. Wir können 
uns dieser Meinung nicht vollkommen anschliessen, sondern hallen, obgleich feine 
Stichwunden des Herzens gelogentlich ohne Reaction ertragen werden, die Aku- 
punctur für eine — nicht unbedenkliche — Operation, wir haben auch nicht 
gehört, dass ihr von den Chirurgen der Jetztzeit eine therapeutische Bedeutung 
beigemessen wird. 

Auch lür die Slicbsrhnittwunden ist es prognostisch bedeutungsvoll, ob die 
Wunde penetrirt oder nicht penetrirt. Nicht penetrirende Wunden halten die 
Blutung vorläufig hintan, wir sagen vorläufig, denn es kam vor, dass eine nicht 
ganz penetrirende Wunde durch den Druck des Ventrikelblutes zu einer pene- 
trirenden wurde. — Nach unserer Untersuchung heilten von 295 Fällen im 
Ganzen 47, das ist prooentual ganz erheblich weniger als bei den Nadelstich¬ 
wunden, wo von 42 Verletzten 18 heilten. Auch den Umstand, dass 62 Fälle 
sofort tödleten und 166 Fälle später, kann man prognostisch verwerthen, wenn 
man feststellt, welche Abschnitte des Herzens bei den sofort tödtenden und welche 
bei den später tödtenden Wunden getroffen waren. Unter den sofort tödtenden 
Wunden wurde 22mal der rechte und 18mal der linke Ventrikel getroffen. 8mal 
beide Ventrikel, das spricht für eine grössere Gefährlichkeit der Wunden des 
dünnwandigen rechten Ventrikels. Bei den später tödtenden Wunden finden wir 
in der Zeit von einer Stunde — 1 Tag nach der Verletzung den linken Ven¬ 
trikel vorherrschend, nämlich unter 57 Fällen 20mal den rechten und 26mal den 
linken Ventrikel. Je länger sich nun das Leben binzieht, finden wir häufiger den 
rechten als den linken Ventrikel verletzt, nämlich in der Zeit vom ersten Tage 
bis Ende der ersten Woche 21 mal den rechten Ventrikel und I9mal den linken 
Ventrikel, 3 mal beide Ventrikel. Bei Todesfällen in der zweiten Woche war 
12mal der rechte und 4mal der linke Ventrikel verletzt. In der dritten Woohe 
haben wir 2mal den rechten und lmal den linken; in der vierten Woohe 2mal 
den rechten und keinmal den linken Ventrikel getroffen gefunden. Danach neigt 
sich die bessere Prognose bei den später tödtenden Fällen nach dem rechten Ven¬ 
trikel hinüber. Bei den Heilungen, welche durch dieSeotion naohgewiesen werden 
konnten, befand sich 6mal der rechte Ventrikel, 3mal der linke Ventrikel, 2mal 
beide Ventrikel; auch das stellt den reohten Ventrikel prognostisch besser. Die 
symptomatischen Heilungen habe ich, weil der verletzte Herzabschnitt nicht 
sicher festgestellt werden konnte, ausser Acht gelassen. Die Stichscbnittwunden 
des Herzbeutels stellen sich prognostisch bedeutend besser, denn von 31 der- 


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Ueber die Wanden des Herzens. 


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artigen Wunden, aber welche Fischer 1 ) genaue Angaben fand, führte keine 
den sofortigen Tod herbei, 15 tödteten später and 13 gelangten zar Heilung. 
Von grosser prognostischer Bedeatang ist auch hier der schräge Verlauf der 
Wanden, ferner auch die Tiefe des Anfangscollapses. Derselbe ist besonders da 
von günstigster Wirknng, wo eine Herzwaude infolge des intracardialen Druckes 
nicht zur Verklebung kommen kann. Der tiefe Collaps setzt diesen Druck erheb¬ 
lich herab, die Wundränder können sich nähern und sogar vereinigen, ln ver¬ 
zweifelten Fällen hat der Arzt im Aderlass ein Mittel, den intracardialen Druck 
künstlich herabzusetzen. 

Von den 111 Schussverletzungen, welche wir unserer Arbeit zu Grunde ge¬ 
legt haben, gelangten 20 zur Heilung, was procentual wieder weniger als bei 
den Stich-Schnittwunden ist. wo von 295 Fällen 47 heilten. Danach scheint den 
Schusswunden die bisher schlechteste Prognose eigen zu sein. Der 20 festge¬ 
stellten Heilungen wegen kann jedoch die Prognose nicht als absolut schlecht 
gelten, ausgenommen sind natürlich die schweren Schussverletzungen mit Zer¬ 
trümmerung ganzer Herzabschnitte. mehrfacher Eröffnung seiner Höhlen, nament¬ 
lich der Vorhöfe. Bei solchen Verletzungen tritt der Tod ein, ehe man Zeit bat, 
sich die Prognose zu überlegen. Ueber die Verletzung der einzelnen Herzab¬ 
schnitte könnten aus den vorliegenden Sectionsergebnissen weitere prognostische 
Schlüsse gezogen werden, und das ist auch von mehreren Autoren in genügendem 
Maasse geschehen, auch von uns selbst an früherer Stelle. Es will uns aber be¬ 
danken, als ob ein grosser Unterschied in praxi besteht zwisohen der Prognose, 
welche der Arzt am Krankenbette des in das Herz geschossenen Patienten zu 
stellen vielleicht gezwungen wird, nnd zwischen der Prognose, welche auf Grund 
vorliegender Sectionsbefunde hinterher theoretisch construirt wird. Stellt man 
statistisch fest, dass bei so und so vielen Verletzungen der rechten oder linken 
Kammer so und so viel öfter bei der einen als bei der anderen ein schlimmer 
Ausgang die Regel ist, so ist man auf Grund der Section zu Rückschlüssen auf 
die Prognose ohne Zweifel berechtigt, da schafft eben die Section die Sicherheit 
des Urtbeils. Woher sollen wir aber diesen festen Grund und Boden bernehmen 
am Krankenbette, zumal wir uns aller Schwierigkeiten einer guten anatomischen 
Diagnose voll bewusst sein müssen! Wir werden höchst selten in die Lage kom¬ 
men, am Krankenbette vorherzusagen: „Dieser Fall ist prognostisch günstig zu 
beurtheilen, weil die Wunde nicht penetrirt, weil sie ausserdem schräg verläuft, 
weil sie nur die Herzspitze getroffen hat.“ Von dieser iroponirenden Sicherheit 
der Diagnose sind wir leider noch weit entfernt. Vom theoretischen Standpunkte 
aus ist es höchst interessant zu wissen, dass durch viele Sectionen und Sta¬ 
tistiken die grössere Gefährlichkeit der Vorhofswunden gegenüber den Kammer¬ 
wunden feststeht, was sollen wir aber damit anfangen bei einer Herzwunde, aus 
welcher es uns heftig entgegenblutet, ohne dass wir wissen, aus welchem Herz¬ 
abschnitte! Alle jene theoretischen Schlüsse stützen mich eben in der Praxis 
nioht genügend, denn meine Diagnose ist und bleibt unsicherer als die des patho¬ 
logischen Anatomeo. In dem Wechsel der Erscheinungen halten wir nur eines 
fest, nämlich dass wir bei einem sich vor unseren Augen Verblutenden über- 


‘) Fischer, I. o. S. 171. 


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Dr. Elten, 


hanpt keine Prognose za m&ohen genöthigt sind, da überholt der Tod die Pro¬ 
gnose, and dass wir, wenn sich das Leben aus irgend welchen Gründen länger 
hinzieht, dennooh eine unter allen Umständen ernste Prognose stellen and danaoh 
unser Handeln einriohten. Eine im Allgemeinen schlechtere Prognose rechtfer¬ 
tigen gleichzeitige Verletzungen der Lange and der grossen Gefässe, infectiöse 
Fremdkörper in der Wände, starke Blatangen, sohwere Entzündungen des Herz¬ 
beutels and des Herzens and anderer benachbarter Organe. Schliesslich sind wir 
noch berechtigt za sagen, dass in der Reihenfolge der Prognosen die Prognosen 
der Schasswanden an dritter Stelle stehen. 

Von unseren 87 Fällen von Quetschung and Raptur des Herzens starben 
sofort 32 der betreffenden Patienten. 22 starben später, bei 26 war die Zeit des 
Todes unbestimmt and in 7 Fällen trat — wovon nur einmal durch die Seotion 
bestätigt — Heilung ein. Von den 22 späteren Todesfällen sind 15 in den ersten 
24 Standen eingetreten. Wenn wir von den 26 Fällen, in welchen die Zeit des 
Todes anbestimmt blieb, ebenfalls in 15 Fällen einen Tod innerhalb der ersten 
24 Standen annehmen, werden wir einen nennenswerten Rechnangsfehler nicht 
begehen. Demnach hätten wir unter 87 Fällen mit hoher Wahrscheinlichkeit 
62 Todesfälle in den ersten 24 Standen and 18 in späterer Zeit. Die einzige 
Heilung, welche Fischer aas der Literatur constatiren zu können geglaubt hat, 
hält vor einer strengen Kritik auoh nioht Stand, denn es kann sich dabei auoh 
am einen anschaldigen Sehnenileck gehandelt haben. Die Prognose ist also eine 
ganz schlechte, and daran ändern die 6 symptomatisch festgestellten Heilungen, 
bei welchen nar in einem Falle eine wirkliche Raptar voraasgegangen zu sein 
schien, auch nicht das Geringste. Die Raptaren bieten daher von sämmtlichen 
Herzwanden die schlechteste Prognose dar. 

Neben gewissen Uebereinstimmaogen prägen sich auch grosse Verschieden¬ 
heiten im Verlaufe der Herzwanden aus. Zwischen rapid znm Tode führenden 
Fällen und jenen verhältnissmässig seltenen Fällen, welche erst nach Woohen 
and Monaten tödtlich enden, liegt eine lange Stufenleiter der Erscheinungen, ein 
Schwanken zwischen Tod and Leben. Eine Schaar von Gomplioationen beeinflusst 
den ferneren Verlauf und erzeugt Krankheitsbilder von geradezu verwirrender 
Mannigfaltigkeit. Im Einzelnen gestaltet sich nun der Verlauf der verschiedenen 
Herzwunden wie folgt. — 

Der Einfluss einer Nadelstichverletzung ist in vielen Fällen vorerst ein ge¬ 
ringer. Die Patienten collabiren nioht, gehen womöglioh noch in das Spital'). 
Andere wissen noch nioht einmal sicher, ob die Nadel sich überhaupt in ihrem 
Körper befindet 2 ). Wieder andere reagiren in heftigster Weise, stürzen sofort 
besinnungslos zu Boden und sterben. Mitunter treten erst nach mehreren Tagen 
bedrohliche Erscheinungen ein, nachdem eine Zeit relativen Wohlbefindens da¬ 
zwischen gelegen hat. In diesen Zwischenzeiten haben sich häufig die Herzkata¬ 
strophen vorbereitet. Das Herz wurde allmälig durch die Nadel zerfasert und es 
kam zur Ruptur. Wir haben den Eindruck gewonnen, dass der Verlauf ein um 
so protrahirterer war, wenn die Nadel auf ihrem Wege keine grösseren Gefässe 


*) Fischer, 1. c. Fall 24. 

2 ) Leaming. London med. Gaz. Januar 1844. 


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Ueber die Wanden des Hertens. 


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getrennt hatte and wenn es ihr möglioh war, den Eigenbewegnngen des Herzens 
za folgen. Letzteres konnte sie z. B. auch, wenn sie das ganze Herz durchbohrt 
hatte, dabei aber ausserhalb des Herzens, etwa in den Brustwandungen nicht 
weiter fixirt war. Sie konnte es ebenfalls, wenn sie in toto der Herzwand ein¬ 
verleibt oder in eine der Herzhöhlen eingewandert war. Dieses waren auch die 
regelmässigen Sectionsbefunde bei Leuten, welche an anderen Krankheiten gestorben 
waren, aber jahrelang Nadeln im Herzen mit sich herumgetragen hatten. Ungünstig 
wird der Verlauf der Nadelwunden natürlich durch Complicationen beeinflusst. 
Die Verhältnisse dabei sind schon früher erörtert worden und wir verweisen auf 
das Kapitel von der Prognose der Herzwunden. Septische Infeotion ist für den 
Verlauf natürlich anoh von verhängnisvoller Bedeutung. 

Die oben kurz erwähnten Uebereinstimmungen im Verlaufe prägen sich 
hauptsächlich bei den sohweren Herzwunden aus. Wirtreffen regelmässig wieder* 
kehrende Symptome eines stattgehabten schweren Insultes an, dahin gehören 
Ohnmächten, Blutungen, tiefste Gollapse. Ist der Tod nicht sofort eingetreten 
und die Besinnung noch erhalten, so drückt sich doch ein tiefes Leiden auf den 
Gesichtszügen aus, auch das Gemüth solcher Kranken leidet und Todesahnungen, 
ja die ausgesprochenste Gewissheit desTodes foltert die armen Patienten; schliess¬ 
lich gehen sie mit oder ohne Besinnung zu Grunde. Nicht immer tritt dieser Ver¬ 
lauf ein, sondern in manchen Fällen entwickeln sich zwar sofort die sohlimmen 
Anzeichen, aber der Kranke übersteht ihren ersten Ansturm, um erst später völlig 
zu erliegen. In wieder anderen Fällen treten die Anzeichen der schweren Ver¬ 
letzung erst nach verschieden langer Zeit ein, führen auch wohl, wenn keine 
schweren Complicationen dazutreten, zur Heilung, sobald der Verschluss der Herz¬ 
wunde Zeit behielt sich zu consolidiren. Nach den neueren Beobachtungen stellt 
sich nun der Verlauf der Stich-Schnittwunden im Speciellen wie folgt dar: 
Meistens stürzt der Getroffene bewusstlos zusammen. Diese Bewusstlosigkeit geht 
entweder sofort in den Tod über, oder sie dauert verschieden lange — in einem 
Falle von Brentano 1 ) 53 Stunden lang — und es tritt erst dann, ohne dass 
der Patient wieder zu sich gekommen war, der Exitus letalis ein. Ein Mann lief 
nach erhaltener Verletzung noch eine Strecke von 80 Metern und stürzte erst 
dann todt zusammen. Diesen Fällen stehen nun diejenigen gegenüber, wo die 
Patienten aus einer kürzer oder länger dauernden Ohnmacht sich erholen, um 
nach tage- oder woohenlangem Krankenlager sich zu bessern oder schliesslioh 
doch noch an irgend welchen Complicationen oder Folgezuständen zu sterben. 
Ganz typisch dafür ist der Fall Delma’s 2 ). Ein junger Mann bekommt einen 
Messerstich. Sofortige Bewusstlosigkeit unter Strömen von Blut. Diese Bewusst¬ 
losigkeit dauert etwa einen Tag, darauf Erholung und wachsende Kräftigung. 
In der ersten oder zweiten Woche Pleuritis mit hohem Fieber, welches am 
31. Tage gehoben war; darauf am 32. Tage plötzlicher Tod. Section. 2 Wun¬ 
den im Oberlappen der linken Lunge; Herz und Herzbeutel verwachsen; linker 
Ventrikel eröffnet; Wände mit frisch zerrissenen Rändern; Haemothorax. Es war 


*) Brentano, Zur Casuistik der Herzverletzungen. Dissertation. 1890. 
S. 13. 

a ) Brentano, Ibidem. S. 13. Fall 15. 


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Dr. Elten, 


also noch nach Wochen durch Wiederaufreissen der Wände der Tod fast momentan 
erfolgt. Ueberhanpt besteht für alle Reeonvalescenten an Herzwanden die grosse 
Gefahr, durch jede körperliche oder Gemütbserregung nooh in ganz später Zeit 
zu sterben. Bei Georg Fischer') finden sich sehr interessante Angaben 
darüber, ans welchen wir nur einige erwähnen wollen. Die Befriedigung eines 
körperlichen Bedürfnisses, eine Confrontation mit den Mördern, der Besuch der 
Braut, schnelles Aufrichten im Bette dürften genügen. 

Was den Verlauf der Schusswunden des Herzens anbetrifft, so hat derselbe 
viel Uebereinstimmung mit dem der Stich- und Stich-Schnittwunden. Dem an 
betreffender Stelle darüber Gesagten dürfte nur noch Einiges hinzuzufügen sein. 
Wenn der Tod nicht sofort eintritt, so ist das schon eine Unregelmässigkeit im 
Verlaufe, welche ihre bestimmten Gründe haben muss. Das Nächstliegende wäre 
es, eine nicht penetrirende Wunde anzunehmen. Jedooh auch bei penetrirenden 
Wunden können, wie wir wissen, schlimme Symptome vorerst ausbleiben, so in 
dem Falle 26 von Brentano 2 ), wo Jemand mit einer Kugel im linken Ventrikel 
eine 162 Meilen lange Reise nach New York machte und dort bei seiner Ankunft 
zu Balle gehen wollte. Eine andere Ursache für den späten Eintritt einer Kata¬ 
strophe ist darin gefunden, dass eine Wunde vorerst nicht völlig penetrirt, aber 
allmälig der unzerschnittene Rest des Muskels durch den Druck des Ventiikel- 
blutes zum Bersten gebracht wird. Auch des Falles 30 bei Brentano 3 ) sei 
hier noch gedacht, wo eine Blutung dadurch vermieden wurde, dass die Kugel 
ganz allmälig die Herzwand perforirte. Als sie in den Ventrikel gelangte, war 
die äussere Herzwunde am Ventrikel bereits geschlossen. Zur Todesursache 
wurde aber am 19. Tage ein gleichzeitiges Empyem und eine Pericarditis. Bil¬ 
dung von Muskel und Fibrinpfröpfen, ferner eine schnell zur Verklebung führende 
adhäsive Pericarditis hielten ebenfalls die tödtliche Blutung auf und wurden so 
für den Verlauf entscheidend. 

Aus der grossen Schaar der Complicationen, welche wir bei Fischer S. 154 
aufgezählt finden, und welche auch wir schon wiederholt erwähnt haben, wollen 
wir besonders die neu beobachteten Schussverletzungen der Wirbelsäule mit nach¬ 
folgenden motorischen und sensiblen Störungen, ferner Blasenlähmung und Tod 
an Harninfiltration hervorheben. Die Schusswunden der Herzspitze zeigen einen 
ganz günstigen Verlauf. Diese Wunden penetriren schwerer, Gefässe können 
so leicht nicht angeschossen werden, das erklärt sich ungezwungen aus den 
anatomischen Verhältnissen. An der Bildung der eigentlichen Herzspitze be- 
tbeiligt sich allein der linke dicke Ventrikel. Die Herzgefässe liegen auch 
nicht auf der Spitze, sondern dieselben halten sich in den Ventrikelfurchen. 
Dieselben sind von der Herzspitze, entsprechend dem Zurücktreten des rechten 
Ventrikels von der Bildung derselben entfernt gelagert, befinden sich also 
bei direct gegen die Spitze gerichteten Verletzungen in einer relativ ge¬ 
sicherten Lage. Die Herzspitze selbst geniesst Schutz durch die fünfte 
Rippe, da sie nur ganz wenig in den fünften Intercostalraum hineinragt. 

') Fischer, 1. c. S. 153. 

2 ) Brentano, Zur Casuistik der Herzverletzungen. S. 20. 

3 ) Brentano, Ibidem. Fall 30. S. 21. 


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Ueber die Wanden des Herzens. 


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Die Verwundungen der Herzspitze wurden vielfach erst duroh Gomplicationen 
tödtlicb. 

Der Verlauf der Quetschwunden und Rupturen stellt sich dem anderer, 
schwerster Herzverletzungen gleich dar. Im Allgemeinen kann man sagen, dass 
dieRapturen fast ausnahmslos den Tod bedingen, nur gepresste oder gequetschte 
Herzen können sich erholen. In einem von Martucci 1 ) mitgelbeilten Falle blieb 
das Leben bei einer doppelten Ruptur des Herzens 20 Standen lang bestehen. 
Die Ruptur war daduroh erzeugt, dass ein Arbeiter im Streite mit Wucht auf 
die Regio epigastrica eines anderen Arbeiters auffiel. 

Wir kommen nun zu dem sehr interessanten Kapitel des Ausganges der 
Herzwonden. Es wird zuweilen etwas in die nun folgenden Besprechungen bin- 
eingezogen werden müssen, welches passend an früherer Stelle gestanden 
batte, auch Wiederholungen werden des Zusammenhanges wegen unvermeid- 
lieh sein. 

Die ausserordentliche Verschiedenheit im Ausgange der Wunden des Herzens 
kann man bei allen Autoren bestätigt finden. Wo man der Kleinheit der Ver¬ 
letzung nach zu schliessen kaum schwere Symptome erwarten sollte, tritt blitz¬ 
schnell der Tod ein, andererseits konnte ein Mensoh mit doppelter Durchbohrung 
des linken Ventrikels durch Kugelschuss aus allernächster Nähe noch gehen und 
mit klarer Stimme sprechen. Wir wüssten kein Organ, welches so sich wider¬ 
sprechende Krankheitserscheinungen lieferte. Kaum meint man irgendwo eine 
Gesetzmässigkeit nachgewiesen zu haben, so kommt unser Schluss in Gefahr, 
durch eine vollkommen entgegengesetzte Beobachtung erschüttert zu werden. Es 
gelangt dadurch in die Bearbeitung der Wanden des Herzens leicht etwas Un¬ 
ruhiges, Unsystematisches. Es ist eben unmöglich, Alles in ein bestimmtesSystem 
zu zwängen. 

Prüfen wir die Nadelrerletzungen auf ihren Ausgang hin, so finden wir in 
unseren 42 Fällen im Ganzen 24 Todesfälle, welche unmittelbar auf die Nadel¬ 
verwundung selbst zurückzuführen sind. Bezüglich der Zeit, in welcher der Tod 
eintrat, finden wir 5 sofortige Todesfälle; 1 nach 1 Stunde; 1 nach 2 Standen; 
1 nach 10—12 Stunden; 1 nach 2 Tagen; 2 nach 58 Stunden; je 1 nach 
4 Tagen, nach 6 und nach 8 Tagen; ferner je 1 nach 10, nach 11, nach 
18 Tagen; 1 nach 1 Monat; 2 nach 3Wochen; je 1 nach 6 und nach 9Monaten. 
Nach anbestimmter Zeit endeten 2 tödtlicb. 12 Fälle kamen zwar zur Section, 
es wurden aber dabei geheilte Nadelverletzungen und fast ausnahmslos auch 
Nadeln als Fremdkörper im Herzen angetroffen. Als Todesursachen wurden 
andere Krankheiten festgestellt. 6 Fälle von wirklichen Heilungen, d. h. wo die 
Patienten dauernd am Leben blieben, vervollständigen dann unsere Zahl von 
42 Fällen. Es soll nun untersucht werden, in welchem Verhältnisse die kürzere 
oder längere Lebensdauer zu den durch die Nadel gesetzten Verletzungen steht, 
und ob sich ein bestimmtes Abhängigkeitsverbältniss entdecken lässt zwischen 
dieser Lebensdauer und der getroffenen Herzregion. Bei den sofortigen Todes¬ 
fällen handelte es sich um Wunden des rechten Ventrikels, des rechten Vorhofes; 


') Martucci, Jahresbericht über die Leistungen und Fortschritte in der 
gesammten Medicin. XXI. Jahrgang. 1886. Bd. U. Abth. 1. S. 66. 


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Dr. Elten, 


einmal war die Stelle niobt angegeben. In 3 Fällen penetrirten die Wanden, In 
1 Falle nicht, aber es war dabei ein grösseres Gefäss der Herzwand angestochen. 
Bei denjenigen Wanden, welche erst später, also etwa zwischen 1—24 Stunden 
tödteten, war viel häufiger der rechte als der linke Ventrikel and Vorbof getroffen 
und meist auch penetrirt. Bei den penetrirenden Verletzungen des rechten Vor¬ 
hofes und Ventrikels, welche nioht sogleich zum Tode führten, fanden sich Ge¬ 
rinnsel vor, welche das Loch verstopften, oder ein schräger Verlauf. 

Die nicht penetrirenden Wunden des rechten and linken Ventrikels und die 
nur den Herzbeutel perforirenden Wunden zeigen Neigung zur acuten und chro¬ 
nischen Entzündung des Herzens und seiner Anhänge, wodurch der spätere Tod 
berbeigeführt wird. Die Nadelverletzungen des linken Ventrikels zeichnen sioh 
durch einen im Allgemeinen weniger stürmischen Verlauf aus. In der Zeit vom 
Augenblick der Verletzung an bis zum 6. Tage war nur eine Perforation des 
linken Ventrikels allein neben 12 andersartigen da, und diese hatte am 2. Tage 
einen tödtlichen Ausgang, aber ohne Bluterguss in den Herzbeutel. Je länger 
sich das Leben erhält, um so weniger entscheidend stellt sich das Schioksal des 
Verwundeten dar. Nioht eine grosse Katastrophe vernichtet mit einem Schlage 
das Leben, sondern es führt schliesslich eine Summe von Schädlichkeiten den 
tödtlichen Ausgang herbei. Als solche nennen wir Blutungen in den Herzbeutel, 
Heizung des Peri-, Epi-, Myocards, eitrige Entzündungen des Stichkanals, all- 
malige Zerfaserung des Herzens mit Zerstörung der Ganglien. Alle diese Er¬ 
scheinungen können nebeneinander an ein und demselben Herzen bestehen. Das 
von Fischer 1 ) gefundene Gesetz, dass an Häufigkeit der Verletzung mit nach¬ 
folgendem sofortigen Tode „auf die Summe der einzelnen Wunden berechnet** 
das ganze Herz voransteht und dann der linke Vorhof kommt, scheint für die 
Nadelwunden des Herzens nicht zuzutrefTen. Bei später tödtenden Nadelstich Ver¬ 
letzungen nähert sich dagegen das Ergebniss unserer Untersuchung der bei 
Fischer 2 ) gegebenen grossen Statistik. — 

Zur Heilung gelangten im Ganzen 18 Fälle. Dieselben waren theils Resul¬ 
tate von Operationen, theils sind sie durch die Section constatirt, und der Rest 
nach Symptomen vermnthet. Han fand die Nadeln in verschiedener Lage (siehe 
oben!), einmal sogar in einer Cyste eingebettet. Es bleibt uns bei der Erörte¬ 
rung über den Ausgang der Nadelstichwunden nur noch die Frage zu beant¬ 
worten übrig, ob bei den Heilungen der günstige Ausgang vielleicht durch eine 
ganz bestimmte Lage der Nadel unterstützt sein konnte. Da können wir unbe¬ 
dingt mit ja antworten. Abgesehen von den operativen Entfernungen der Nadeln, 
bei welchen ja die Erscheinungen bald nachlassen mussten, wenn die Ursache 
gehoben war, fanden wir die Nadeln in allen übrigen Fällen so liegen, dass sie 
trotz der Bewegung des Herzens im Zustande der Ruhe verharren konnte. Keine 
Spitze derselben ragte naoh aussen hervor, sie lag entweder ganz in der Wand 
oder ganz in den Höhlen, oder theils in der Wand und in den Höhlen. Das sind 
Lagen, welche ihr die Eigenbewegungen des Herzens mitzumachen gestatten, 
ohne dass sie selbst Bewegungsimpulse zu bekommen braucht. Das Herz konnte 


*) Fischer, 1. c. S. 173. 
2 ) Fischer, 1. o. S. 179. 


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Ueber die Wanden des Herzens. 


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nicht zerkr&lzt and in seiner Rythmik beeinträchtigt werden. Als Todesursachen 
bei den zufälligen Nadelfanden erwähnen wir: 

1 mal Bersten eines Aneurysma. 

1 mal Pneumonie. 

1 mal Gangrän der unteren Extremitäten. 

1 Hinrichtung. 

1 mal Brustbeschwerden (?), Peritonitis. 

1 Erysipel mit Asphyxie (Glottisödem?). Verf. 

1 mal Herzentzündung. 

1 mal Bauchfellentzündung. 

1 mal Myodegen. cord. c. vitio cordis. 

3 mal Todesursache unbekannt. 

Der tödtliche Ausgang bei Herzwanden tritt nach Koenig 1 ) am häufigsten 
ein durch Bluterguss in den Herzbeutel, welcher das Herz am Weiterschlagen 
hindert und durch Blutungen nach aussen mit nachfolgender allgemeiner Anämie. 
Ferner durch Verschluss der Coronararterie und Zerstörung der Herzganglien. 

Von unseren 295 Fällen von Stich Schnittwunden endeten mit sofortigem 
Tode 62, später trat der Tod in 166 Fällen ein, in 20 Fällen war die Zeit des 
Todes nioht genau angegeben. Aus den vortrefflichen Zusammenstellungen 
Fischer’s 2 ) lässt sich erkennen, dass bei sofortigem Tode meistens Wanden des 
rechten oder linken Ventrikels da waren. In unsererSammlung war unter 6 Fällen 
3mal der reohte Ventrikel, lmal der linke, lmal der rechte und linke und lmal 
das reohte Herzohr getroffen. Unsere kleine Statistik bekräftigt also die Fisch er¬ 
sehen Angaben. Wir gehen wohl nicht fehl, wenn wir in der überwiegenden 
Mehrzahl der Fälle den starken Blutverlust und die Blutansammlungen im Peri- 
card als Todesursache ansprechen. Gelegentlich mögen dann noch andere Fac- 
toren milwirken. Ob Verlotzungen der verschiedenen Nervenplexus des Herzens 
den Tod verursachen können, ist uns nicht bekannt, jedoch ist es wahrscheinlich, 
denn die Plexus stehen mit den dominirenden Centren der HerzganglienzelleD 
durch Faserzüge in Verbindung. Vagusfasern setzen z. B. den Remak'schen und 
Bidder’schen Haufen mit einander in Beziehung. Denken wir uns diese Verbin¬ 
dung durch einen Dolchstich unterbrochen, so müssen Unregelmässigkeiten 
mindestens die Folge sein. — 

Eine fast dreifach so grosse Zahl von Stich-Schnittwunden tödten später 
als sofort. Die Zeit des erfolgten Todes vertheilt sioh auf 166 Fälle wie folgt. 

57 Fälle tödteten in 1 Stunde bis 1 Tage. Verletzt war 20mal der 
rechte Ventrikel und 28mal der linke Ventrikel. 

97 Fälle tödteten im Verlaufe der ersten und zweiten Woche. Ver¬ 
letzt waren dabei 33mal der rechte Ventrikel und 23mal der 
linke Ventrikel. 

13 Fälle tödteten von der dritten bis 36. Woche. Verletzt waren 
dabei 4mal der rechte Ventrikel und 4mal der linke Ven¬ 
trikel. 


1 ) Koenig, Lehrbuch der speciellen Chirurgie. 1885. Bd. II. S. 42. 

2 ) Fisoher, 1. c. S. 172ff. 


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Dr. Elten, 


In 19 Fällen waren unbestimmte Angaben gemacht. Verletzt war also im 
Ganzen 57 mal der rechte Ventrikel nnd 45 mal der linke Ventrikel, während der 
Rest anf die übrigen Herzabschnitte sich vertbeilt, z. B. auf den rechten und 
linken Vorhof und beide Ventrikel; zusammen 25 Fälle. Im Vergleiche zu den 
sofort tödtenden Verletzungen des rechten und linken Ventrikels muss es auf 
den ersten Blick befremden, dass trotz der gleichen Verletzungen der Tod 
später eintrat. Die Gründe dafür sind einmal in einem geringeren Grade der 
Blutung zu erblicken. Dieselbe kann bedingt sein durch die Grösse, Localisation 
und Verlauf der Wunde. Denken wir uns eine schmale, die Wand des linken 
Ventrikels ganz schief durchsetzende Wunde, so leuchtet es ein, dass, wenn sich 
das Herz bei jeder Systole um die in ihm selbst befindliche Blutmasse contrabirt, 
es einen solchen Druck auf den Wundkanal ausiibt, so dass wenig oder gar kein 
Blut systolisch austreten kann. Natürlich hält der auf diese Weise mögliche Ver¬ 
schluss nur bis zu einer gewissen Grenze Stand, welche erreicht ist, wenn die 
Wunde zu ausgedehnt oder nicht schräg genug ist. Man kann sich aber auch die 
comprimirende Wirkung in anderer Weise vorstellen, nämlich nach Art des puer¬ 
peralen Uterus, welcher im Zustande guter Contraction eine bedeutende Blutung 
zum Stillstand zu bringen vermag. Dabei findet nicht nur ein mechanisches Zu¬ 
sammendrücken der blutenden Steilen statt, sondern die Gefässwände selber ver¬ 
kleinern sich und die active Zusammenziehung der umgebenden Muskelelemente 
unterstützt den Verschluss der blutenden Löcher, so dass nichts mehr ausfliessen 
kann. Ein weiteres Hinderniss für die Blutung ist ein früher Verschluss der 
Wunde und eine Tamponade der Wunde durch steckengebliebene Theile von 
Waffen. Ein günstigerer Ausgang wird auch oft duroh einen tiefen Anfangs- 
collaps erzeugt, ferner auch dadurch, dass prognostisch günstig gestellte Herz¬ 
abschnitte getroffen und zugleich die Herzganglien unverletzt geblieben sind. 

Zur Heilung gelangten 47 Fälle. Wir erkennen daraus sofort die bedeutend 
schlechteren Verhältnisse im Vergleich zu den Nadelverletzungen, denn bei den¬ 
selben tritt 7 mal so häufig Heilung ein — 

Einen höchst interessanten Fall 1 ) von Verhinderung einer tödtlichen Blu¬ 
tung nach aussen möchte ich nicht unerwähnt lassen. — „Sticbschnitiwunde 
dicht neben dem linken Brustbeinrande; vordere Wand des rechten Ventrikels 
3 om lang glatt eröffnet; der Herzbeutel hat eine hinter dem Brustbeinrande 
liegende ebenso lange Oeffnung.“ M Durch den sich immer stärker mit Blot 
füllenden Herzbeutel wurde die Wundöffnung in demselben gegen das Brustbein 
angedrängt, und so comprimirt, dass nur wenig Blut ausfloss.“ Der Bericht¬ 
erstatter knüpft daran die Folgerung, dass der Tod nicht an Verblutung, sondern 
an Erstickung wegen Compression des Herzens erfolgt sei. Unserer Meinung nach 
mit vollem Rechte! — 

Was nun den Ausgang der Schusswunden anbetrifft, so finden wir auch da 
sofortigen oder späteren Tod, oder Heilung. Von unseren 111 Schusswunden 
tödteten 28 sofort, 46 später, 16 zu unbestimmter Zeit, die Hälfte dieser letzten 
16 wohl auch später. Es starben also annähernd noch einmal so viel später, als 
sofort. Diese Thatsache allein schon steht in directem Widerspruohe mit den 


‘) Diese Vierteljabrsschrift. Neue Folge. XLIV. Bd. 2. Heft. S. 308—311. 


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Ueber di« Wunden des Herzens. 


45 


früherenUeberlieferungen, noch mehr aber der Umstand, dass auch 20 Heilungen 
beobachtet wurden, von denen 12 durch dieSection und 8 durch Symptome fest- 
gestellt werden konnten. Strunz 1 ) ist der Ansicht, dass trotz der Ergebnisse 
der neueren Arbeiten über Herzwanden, dieselben doch für augenblicklich und 
absolut tödtlich gelten müssen. Den Heilungen (!) stände die ungeheure Mehr¬ 
zahl der Tödtungen gegenüber, welche mit Stillschweigen übergangen würden. 
Wir halten diese Ansicht für durchaus unzutreffend, denn unter 528 von uns be¬ 
nutzten Fällen kamen 92mal Heilungen vor, das sind 17,6pCt. aller Fälle. Darin 
liegt eben der Beweis, dass viele Herzwunden nicht augenblicklich und absolut 
tödtlich sind. Ob sich unsere Zusammenstellung nur auf s. g. interessante und 
daher veröffentlichte Fälle stützt, erscheint uns dabei unwesentlich. Unten¬ 
stehende Tabelle zeigt, wie sich der Ausgang der Schusswunden auf die ein¬ 
zelnen Herzabschnitte vertheilt. Bei sofortigem Tode sind der rechte und linke 
Ventrikel gleich häufig betheiligt. Dann folgt das ganze Hetz, dann linkes Herz, 
dann das rechte und linke Herz, schliesslioh das rechte Herz. Bei späterem Tode 
herrscht unter den Ventrikeln der linke vor — das Verhältnis ist 17:12 —, 
dann kommen Herzbeutel und Spitze. Das Septum war nur ein einziges Mal ver¬ 
letzt und hatte einen späteren Tod bedingt. 


Herzabschnitt 

Tod 

Heilung 

Todeszeit 

unbe¬ 

stimmt 

sofort 

später 

Section 

sympto¬ 

matisch 

Rechtes und linkes Herz .. 

2 

i 

! 

i — 

— 

Rechter Ventrikel. 

5 

12 

8 

— 

4 

Linker Ventrikel. 

5 

17 

i 

— 

4 

Rechter und linker Ventrikel 

2 

1 

— 

— 

2 

Rechter Vorhof. 

1 

1 

1 

— 

1 

Linker Vorhof. 

1 

— 

— 

— 

— 

Septum. 

— 

1 

— 

— 

— 

Spitze... 

— 

3 

— 

— 

— 

Ganzes Herz. 

4 

— 

— 

— 

3 

Linkes Hers. 

3 

1 

— 

— 

1 

Unbestimmt. 

4 

3 

1 

3 

1 

Herzbeutel. 

— 

5 

i 

4 

— 

Rechtes Herz. 

1 

1 

— 

1 

— 


28 

46 

12 

8 

16 


*) Strunz, Ueber penetrirende Brustwunden, soweit diese duroh Kriegs¬ 
waffen hervorgebracht sind. Dissertation. Berlin 1873. 


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46 


Dr. Elten, 


Bei den sofort tödtenden Herzschusswunden liegt meistens eine starke Bla¬ 
tang oder eine Art Herzexplosion vor. Im letzteren Falle ist die Herzzertrümme- 
rang an sich sofort tödtlich, im ersteren wirken die locale and allgemeine Anämie 
auf den tödtlichen Ausgang gemeinsam hin. Die allgemeine Anämie wirkt läh¬ 
mend auf das Gehirn, speciell auf die Medulla oblongata, wo das Gentrum der 
Herzbewegung sich befindet. Eine locale Anämie des Herzmuskels, z. B. infolge 
Durchschneidung der Kranzarterien, hebt die Function der automatischen Hers- 
ganglien auf, weil dieselben nicht mehr genügend mit Blot bespült werden. 
Stiche, Schnitte, Schüsse in die Kranzarterien sind daher als schwere Verletzungen 
zu betrachten, deren Folgen um so verhängnissvoller sich gestalten, je besser die 
Bedingungen für die Tamponade des Herzens gegeben sind. 

Die Blutung beherrscht das Krankheitsbild und den Ausgang der meisten 
Herzwunden derartig, dass man, wenn bei Schusswunden der Tod nicht sogleioh 
eintritt, die Gründe für diese Erscheinung zunächst in der Verhinderung oder 
Abschwächung der Blutung suchen muss, oder dass man von vornherein an¬ 
nehmen kann, die Wunde penetrire überhaupt nicht. Es ist uns ja bekannt, 
welohe Umstände einen schnellen, provisorischen Verschluss von Herzwanden 
begünstigen. Werden diese Verschlüsse durch irgend welche Einwirkangen ge¬ 
sprengt, so kann es noch spät zu Blutungen mit tödtlichem Ausgange kommen. 
Für den Ausgang der Herzschusswunden ist es ferner von der grössten Bedea- 
tuDg, ob das Projectil septische Stoffe mit sich in die Wände gerissen hat. 
Frische Wunden aD anderen Körpertheilen können rücksichtslos sorgfältig mit 
antiseptisohen Flüssigkeiten bespült und gereinigt werden, das verbietet sich aber 
bei Herzwanden, wenn wir von der äusseren Wunde absehen, von selbst, denn 
wir würden anderenfalls die Gefahr einer Blutung erst recht heraufbesohwören. 
Wir sehen uns also in die unangenehme Lage versetzt, vorerst abzuwarten, ob 
septische Entzündungen eintreten, and erst wenn dieselben vorliegen, haben wir 
Indicationen zu operativem Einschreiten. 

Heilungen von Herzsohusswunden kamen 20 vor. Daran betheiligten sich 
8mal der rechte Ventrikel, lmal der linke Ventrikel, 5mal der Herzbeutel, lmal 
das rechte Herz, 4mal unbestimmte Herztheile and endlich einmal das rechte 
Herzohr *). Diese letzte Beobachtung ist insofern besonders interessant, als sie 
in directemWiderspruch steht mit der Fischer’schen 2 ) Behauptung, „Heilungen 
bei Verletzungen des rechten und linken Vorhofes sind nicht beobachtet“. Der 
betreffende Autor im Fall51 bei Brentano erklärt übrigens, dass es nicht aas- 
geschlossen sei, dass Macalae albidae fälschlich für eine Narbe angesehen wären. 
Den im pathologisch-anatomisohen Theile der Stich Schnittwanden gemachten 
Aeusserangen über den Vernarbangsvorgang von Herzwanden wollen wir nooh 
das Ergebniss der Untersuchungen von Bonome und Marinotti 3 ) anfügen, 
naoh welchen die Herznarbe nicht daroh Regeneration von Muskelgewebe, 
sondern vom intermasculären und subepicardialen Bindegewebe aus sich 
vollzieht. Zum Schlüsse sei nooh eine Beobachtung mitgetheilt von Dr. 


‘) Brentano, Zur Gasuistik der Herzverletzungen. Fall 51. 

2 ) Fisoher, 1. o. S. 190. 

3 ) Brentano, Zur Casaistik der Herzverletzangen. S. 34. 


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Ueber die Wanden des Herzens. 


47 


Schulte 1 ). «Die vordere Wand des linken Ventrikels war nahe an der Herz¬ 
spitze von einem Wandkanal von 5 cm Durchmesser durchbohrt, dessen an der 
Innenwand des Herzens gelegene Oeffnang von einem anverletzten breiten Papil- 
larmaskel verdeckt and erst nach dessen Entfernung sichtbar wurde. Das Pro- 
jectil war in der Herzbeutelwande stecken geblieben and hatte den Aastritt des 
Blates verhindert, daher war keine plötzliche Verblutung eingetreten. Der die 
innere Oeffnang des Wundkanals am Herzen überdeckende Papillarmaskel hatte 
nach Art einerVentilklappe den Austritt des Blates verhindert. Erst nach langer 
Zeit war so viel Blut in den Herzbeutel ausgetreten, dass das Herz tamponirt 
wurde.“ 

Der Ausgang der Quetschungen und Rupturen ist fast regelmässig der Tod. 
Dieser Ansicht ist auoh Hof mann 2 ), welcher nur kleinen oder nur partiellen 
Rupturen die Möglichkeit zugesteht, dass sie eine oder mehrere Stunden überlebt 
werden können. Quetschungen des Herzens neigen sehr zu Pericarditiden. 

Dass auf die Therapie der Herzwuuden die früher verbreiteten 
Ansichten über die Prognose nur von ungünstigstem Einflüsse sein 
mussten, haben wir bereits oben gesagt. Die Bestätigung dafür 
können wir bei den älteren Autoren vielfach finden. Dieselben 
hielten es für ein aussichtsloses Unternehmen, bei einem so hoff¬ 
nungslos schwer Verwundeten therapeutisch vorzugehen. «Da ist ja 
doch nichts mehr zu machen“, hiess es, und mit diesem Ausspruche 
war denn das Schicksal der armen Verwundeten oft genug besiegelt. 
Heute stehen wir glücklicherweise auf einem anderen Standpunkte. 
Wir können kaum das Verfahren der Aerzte aus früherer Zeit be¬ 
greifen, welche da mit den Achseln zuckten, wo ihnen ein Problem, 
des Schweisses der Edlen werth, so offenbar gestellt war. Der wissen¬ 
schaftliche Ernst der „alten Zeit“ kann in dieser Frage wenigstens 
nicht hoch gestanden haben. Heute bemächtigt sich die Wissenschaft 
mit Freuden der Beantwortung der schwersten durch die Natur ge¬ 
stellten Fragen. Mit Bienenfleiss wird gearbeitet und Worte wie: 
„Da ist doch nichts zu machen!“ haben keine Geltung mehr. 

Ehe wir auf die Therapie im Einzelnen eingehen, wollen wir 
einige allgemeine therapeutische Grundsätze entwickeln. Als obersten 
Grundsatz stellen wir den auf, dass jeder Verletzte mit einer Wunde 
in der Herzgegend, welche nach Sitz, Aussehen, Verlauf auch nur im 
Geringsten verdächtig ist, als ein Herzverletzter zu betrachten und 
dementsprechend zu behandeln ist. Da es vorkommt, dass anfangs 


*) Schulte, Diese Vierteljahrsschrift. XLIV. Bd. 2. Heft. S. 308—311. 
a ) Hofmann, Lehrbuoh der gerichtlichen Medioin. 1881. S. 431. 


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48 


Dr. Elten, 


alle heftigen Anzeichen fehlen, so muss etwaiger Widerstand des 
Patienten gegen eine solche Auffassung und ihre Consequenzen unter 
allen Umständen gebrochen werden. Ist eine äussere Blutung vor¬ 
handen, oder wird durch den Befund eine innere Blutung wahrschein¬ 
lich, so müssen wir diese Blutung auf alle Fälle zu stillen trachten, 
woher sie auch immer stammen möge. Kann die Quelle der Blutung 
nicht zugänglich gemacht werden, so ist es unsere Aufgabe, wenig¬ 
stens möglichst günstige äussere Bedingungen für das Stillen des 
Blutes zu schaffen. Dazu ist absolute körperliche und geistige 
Ruhe des Patienten nöthig! Diesem Gesetze muss sich, wenn 
nicht ganz bestimmte Indicationen zu ernsteren Eingriffen vorliegen, 
unser ganzes ärztliches Handeln unterordnen. Wir dürfen daher einen 
Herzverletzten nicht zeitraubenden, beunruhigenden Untersuchungen 
unterwerfen. Von jeder physikalischen Untersuchung aber Abstand 
zu nehmen, wie ßaur 1 ) es will, halten wir nicht für zweckmässig. 
Eine leichte, mit rücksichtsvoller Sicherheit ausgeführte Fingerper¬ 
cussion und auch Auscultotion kann bei völlig ruhiger Lage des 
Kranken vorgenommen werden, und vermag uns wichtige Anhalts¬ 
punkte für die Diagnose zu geben, welche wir ungern entbehren 
würden. Dass man den Kranken dabei nicht aufrichtet oder ihn sich 
gar selbst aufrichten lässt, dass man ihn nicht von einer auf die 
andere Seite wälzt, halten wir für selbstverständlich. Ist es uns ge¬ 
lungen, eine bestehende Blutung abzuschwächen oder zum Stillstand 
zu bringen, so können wir mit Recht hoffen, durch strengste Durch¬ 
führung zweckmässiger Vorschriften eine Heilung zu erzielen. Diese 
Heilung kommt, wie wir wissen, durch Verschluss der Wunde, sei es 
durch Verklebung, oder durch obturirende Pfropfe zu Stande. Wir 
müssen daher ferner alles von dem Patienten fernhalten, was ihn 
in eine erneute geistige oder körperliche Erregung versetzen könnte, 
denn es könnten dadurch die zarten Verschlüsse wieder zersprengt 
oder ausgestossen werden. Eingedenk des Satzes, dass das Schicksal 
eines Schwerverwundeten in die Hände des zuerst verbindenden Arztes 
gelegt ist, werden wir eine sorgfältige antiseptische Behandlung der 
Weichtheilwunde eintreten lassen. Da es uns verboten ist, eine Herz- 
wunde in ihrem ganzen Verlaufe der Einwirkung antiseptischer Flüssig¬ 
keiten auszusetzen, so werden wir um so grössere Sorgfalt der äusseren 

*) Baur, Deber die Sohu38Verletzungen des Herzens. Dissertation. Berlin 
1887. S. 23. 


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Ueber die Wanden des Herzens. 


49 


Wände and ihrer Umgebung widmen. Hat man den Kranken glück¬ 
lich über die ersten Tage hinweggebracht, so wird ferner der Arzt 
Gelegenheit haben, etwa auftretenden, entzündlichen Complicationen 
seine vollste Aufmerksamkeit zu widmen. Schliesslich wird es seine 
Aufgabe sein, nach Ueberwindung auch dieser Schwierigkeiten den 
Reconvalescenten zur völligen Genesung zu führen. 

Im Einzelnen gestalten sich die therapeutischen Aufgaben wie folgt. 

Wird der Arzt zu einem Verwundeten gerufen und hat er Ursache, die vor¬ 
liegende Verletzung für eine Herzwunde nur im Entferntesten zu halten, so muss 
an Ort und Stelle die Blutung gestillt werden. Liegt der Patient im Freien, so 
muss man sich sofort schlüssig darüber werden, ob man ihn da vorläufig belässt, 
oder ob man die Gefahren eines Transportes auf sich nehmen will. Bei einer 
Blutung naoh aussen müssen wir uns klar darüber sein, ob das Blut direct aus 
dem Herzen oder etwa aus Gefässen der Thoraxwand stammt. Die letzteren 
müssen in loco, oder wenn das nicht gelingt, in der Oontinuität unterbunden 
werden. Dieses kann unter Umständen eine sehr zeitraubende und schwierige 
Operation sein, und man wird sich zu derselben nur entschlossen, wenn es aus 
einer bekannten Arterie solchen Kalibers direct spritzt und man den Ort der 
Blutung sieht. Wenn aus der Tiefe der Wunde ein arterieller Blutfaden auf¬ 
quillt, ohne direct zu spritzen, so müssen wir ebenfalls die Quelle der Blutung 
sorgfältig zu erspähen suchen, und dieselbe womöglich auch durch Unterbindung 
in loco zu stillen versnoben. Ist die Unterbindung geglückt, und hat die Blutung 
merklich nachgelassen, so muss die äussere Wunde sorgfältig antiseptisch ge¬ 
reinigt und duroh die Naht vereinigt werden. Ein antiseptisoher Verband, wel¬ 
cher mit etwas straff angezogenen Bindentouren befestigt wird, vollendet dann 
den Versohluss und verhütet, dass sich die Athemzüge allzu sehr vertiefen. 
Gesetzt den Fall, wir fänden die Quelle der Blutung in der Thoraxwand nicht, 
oder es wäre von vornherein klar, dass es sich um eine Blutung direct aus dem 
Herzen handelt, so haben wir dennoch die Wunde sorgfältig duroh die antisep¬ 
tische Naht oder durch Compression mit Jodoformgaze zu verschliessen *), selbst 
auf die Gefahr hin, die äussere Blutung zu einer inneren zu machen. Letztere 
wird nur dann unmittelbar gefährlich, wenn es in die Pleurahöhlen ad infinitum 
weiterblutet, oder wenn sich eine Blutansammlung im Herzbeutel entwickelt, und 
zur Tamponade des Herzens führt. 

Eine Beobachtung ist gemaoht worden, dass Füllung des Herzbeutels mit 
Blut bis zu eiuem gewissen Grade für die Stillung einer Blutung günstig ist. 
Eine frisoh verklebte Wunde, z. B. der Ventrikel, kann nämlich daduroh vor 
dem Wiederaufreissen gesohützt bleiben, dass das Herzbeutelblut gerade eine 
solohe Spannung hat, dass es die Wunde comprimirt, ohne zugleioh für die 
Tamponade des Herzens genügend gespannt zu sein. Die Herztamponade 3 ) 


*) Koenig, Lehrbuoh der speoiellen Chirurgie. Bd. II. S. 43. 

3 ) Heusner, Deutsche medioinisohe Woohensohrift. 1882. Beitrag zur 
Casuistik der Herzverletzungen. No. 5. 

Vlerteljahmchr. f. ger. Med. Dritte Folge. V. 1 . 4 


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50 Dr. Elten, 

bleibt am ersten aas, wenn das übersohässig gespannte Blut dabei aas dem Herz¬ 
beutel anslaufen kann. 

Wenn es bei einer Blatang nach innen ans nioht gelingt, die Quelle der 
Blatang za finden, so werden wir, wenn wir nicht den kühnen Weg Eoenig’s 1 ) 
einschlagen wollen, nach welchem man sich daroh Rippenresection and Spaltung 
des Herzbeutels directen Zugang zur Blatang verschaffen soll, unser ganzes 
Augenmerk darauf richten, möglichst günstige, äussere Bedingungen für den 
Verwundeten herzasteilen. Dafür muss überhaupt vom ersten Aagenbliok an 
gesorgt werden. Der Kranke wird vorsichtig entkleidet, nooh besser wird er 
horizontal gelagert und man eröffnet oder zerschneidet ihm die Kleider über der 
Brust. Rach Stillang etwaiger geringer nässerer Blutungen, nach exaoter Wand¬ 
nabt und entsprechendem Verbände sorge man für vollständige Ruhe, kühle 
Temperatur, frische Luft; wenn möglich herrsche sogar Kälte im Krankenzimmer, 
Kälte wird auch in Gestalt mehrerer, nioht za schwerer Eisblasen aaf Kopf and 
Brust applicirt. Der Patient darf keine Bewegung machen, keinen Ton spreohen, 
wenn er bei Besinnung ist; er ist za absoluter Rahe verdammt. Angehörige mit 
ihren Fragen and Klagen sind ebenso verderblich in der Umgebung des Kranken, 
wie wenn eine Verstärkung der Blatang schon da wäre. Auf Familienrücksichten, 
Pietät etc. kommt in solchen Augenblicken garnichts an, vielmehr soll der Arzt 
das Terrain rücksichtslos säubern. Er bleibe, wo es die Verhältnisse gestatten, 
in den ersten Tagen und Woohen mit seinem Patienten und einem zuverlässigen 
Wärter allein. Mit Sicherheit and sich immer gleich bleibender Rahe in jeder 
Bewegung und Aeusserang walte der Arzt seines Amtes. Er halte sioh vor allen 
Dingen nicht mit Fragen auf, welche dem Kranken nur sohaden, sondern er 
handle. Dieses Auftreten wird aaf den Verletzten selbst, weloher sich vielleicht 
in starker psychischer Aufregung befindet, von der wohltbaendsten, beruhi¬ 
gendsten Wirkung sein. Damit ist schon unendlioh viel gewonnen, denn die 
eigene Selbstbeherrschung des Kranken tritt von nun an mit ein in den Kreis der 
therapeutischen Mittel. Kein Morphium, keine Digitalis und kein Eis stillt so 
sicher den erregten Herzschlag, als eintretende Ruhe des Gemütbes und das 
wohltbuende Bewusstsein, dass nun Hülfe nahe ist. Neben der Sorge für die 
Verletzung selbst und ihre nächsten Folgen ist auch dem ganzen übrigen Körper 
des Kranken die höchste Sorgfalt zu widmen. Die Entleerungen müssen glatt 
und ohne Pressen von Statten gehen, es muss daher bei eintretender Verstopfung 
medicamentös für guten Stuhlgang gesorgt werden, eventuell ist auoh in die Blase 
der Katheter einzufübren. Die Diät sei eine ganz leichte, reizlose; zuerst viel¬ 
leicht in Eis gekühlte Milch, Sodawasser, später leiohte Suppen, jedenfalls bleibe 
sie lange Zeit nur flüssig, denn es ist ja vorgekommen, dass ein starker Bissen 
von der Speiseröhre aus eine Herzruptur erzeugte. 

Natürlich gelten alle diese Vorschriften auoh für die Fälle von äusseren 
Blutungen, sie müssen da geradezu der gelungenen Blutstillung zu Hülfe kommen. 

Das Verhalten bei inneren und äusseren Blutungen, welche durch keine der 
vorher besprochenen Mittel zum Stillstand gebraoht werden können, gestaltet sich 
nun etwas anders. Gestützt auf die Beobachtung, dass ein tiefer und langer An- 


*) Koenig, Lehrbuoh der speoiellen Chirurgie. Bd. II. S. 43. 1885. 


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Ueber die Wunden des Herzens. 


51 


fangsoollaps auf den günstigen Verlauf der Herzwnnden von Einfluss war, wurde 
der therapeutische Grundsatz ausgesprochen, auf künstlichem Wege den Collaps 
zu erzeugen und zu vertiefen. Dadurch sollten die günstigsten Bedingungen für 
die Verklebung und Pfropfbildung in der Wunde geschaßt werden. Dieses führte 
zur Anwendung des Aderlasses bei Herzrerletzungen. Es gab eine Zeit, in wel¬ 
cher derselbe in blutversohwenderisoher Weise geübt wurde 1 ). In der Literatur 
finden wir Fälle, in welchen 4, 5, 7, lOmal, darunter 5mal an einem Tage zur 
Ader gelassen wurde. Heute gilt der Grundsatz 2 ), dass wenn nicht schon hoch¬ 
gradige Anämie vorhanden ist, ein kräftiger Aderlass gemaoht werden soll. Es 
könnten Zweifel darüber bestehen, wann wir an der „Grenze hochgradiger Anä¬ 
mie* angelangt sind. Wir verstehen die Vorschrift so, dass wir den Aderlass 
nicht machen, wenn der Kranke bereits im anämischen Collaps liegt und nur 
noch wenig blutet; dass wir ihn aber auch während des Collapses machen, 
wenn es trotz aller Mittel unaufhörlich und massenhaft weiter blutet. Wir per¬ 
sönlich würden uns dagegen nioht entschliessen können, den Aderlass bei einem 
Menschen zu machen, welohen wir bei unserer Ankunft bei Besinnung und nicht 
sehr anämisch finden, ohne dass wir nicht vorher alle übrigen Mittel zur Blut¬ 
stillung versucht hätten. Eine Contraindioation gegen den Aderlass erblicken wir 
in allgemeiner Körpersobwäohe, auch ein ganz jugendliches Alter würde ihn 
unserer Meinung nach oontraindioiren. 

Wir gelangen nun zu einem Symptome der Herzwunden, welches das thera¬ 
peutische, namentlich operative Handeln des Arztes energisoh herausfordert, näm- 
lioh zur Tamponade des Herzens durch Blutergüsse in den Herzbeutel. Die Er¬ 
scheinungen und die Meohanik derselben sind aus früheren Abschnitten bekannt, 
es bleibt uns hier nur noch die Therapie zu besprechen übrig. Dieselbe besteht 
in der Entfernung des Blutes aus dem Herzbeutel entweder durch die Punction, 
oder duroh vollständige Erößnung des Herzbeutels, womöglich mit nachfolgender 
Naht der Herzwunde. Zu letzterer entschliessen wir uns nur dann, wenn alle 
anderen Mittel zur Rettung fehlgeschlagen sind; jedenfalls ist nach dem heutigen 
Standpunkte der Chirurgie die Operation berechtigt und auch Koenig sagt, dass 
unter strengen antiseptischen Cautelen die Verletzung als eine sohwere nicht zu 
betrachten ist. Der nächste Erfolg der Entfernung desBlutes aus dem Herzbeutel 
ist der, dass die zuweilen colossale Erstickungsnoth der armen Verletzten gemil¬ 
dert wird. Allerdings ist es nicht ausgeschlossen, dass die Compression des Her¬ 
zens sioh von Neuem wieder herstellt, und dass nochmals operirt werden muss. 

Die Therapie der Complioationen richtet sich nach den in der übrigen 
Medicin dafür geltenden Grundsätzen. Dieselben dürfen wir als bekannt voraus¬ 
setzen. Bei starker Ausdehnung des Herzbeutels duroh eitrige oder seröse Er¬ 
güsse handelt es sich um die Entfernung dieser Flüssigkeiten. Namentlich wer¬ 
den wir duroh Compressionserscheinungen des Herzens dazu gezwungen. Der 
Eiter wird durch breite Iuoision mit nachfolgender Drainage entleert, das seröse 
Exsudat weicht auoh der einfachen Nadelparaoentese. Auch die Flüssigkeits¬ 
ergüsse in die Pleurahöhle unterliegen dieser Behandlung, wenn dieselben durch 


*) Fisoher, Ueber die Wunden des Herzens. S. 216. 

2 ) Koenig, Lehrbuoh der speoiellen Chirurgie. Bd. II. S. 43. 

4 * 


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52 


Dr. Elten, 


ihre Art and Menge gefährlich za werden droben. Empyeme sich selber za aber* 
lassen'). „wenn die Zufälle nicht drängen“, wie Fischer es noch will, halten 
wir nach unseren heutigen Begriffen, nach welchen wir mit der Operation nioht 
warten werden, bis das hektische Fieber einen grossen Theil der Kräfte des 
Kranken verzehrt hat, nicht für richtig. 

Die Entfernung von fremden Körpern aus dem Herzen muss man mit Rück¬ 
sicht darauf vornehmen, dass durch dieselbe eine tödtliche Blutung erzeugt wer¬ 
den kann. Am leichtesten entschliessen wir uns zur Entfernung von Radeln aus 
dem Herzen, von welcher Operation wir 6 Fälle mit günstigem Erfolge in der 
Literatur fanden, lu einem Falle 2 ) gelang, trotzdem ein Theil der 5. Rippe re- 
secirt und das Pericard eröffnet war, die Entfernung der Nadel nicht. Sie ver- 
sohwand vielmehr, nachdem sie mehrmals mit einer Zange gefasst worden war, 
auf Nimmerwiedersehen im rechten Ventrikel. Von grösseren Fremdkörpern wer¬ 
den im Herzen stecken gebliebene Waffen, Tuchfetzen. Knochensplitter extrahirt, 
sofern man ihnen von aussen gut beikommen kann. Im Wundkanal nach Fremd¬ 
körpern zu suohen ohne die Gewissheit ihres Vorhandenseins, ist wegen der Ge¬ 
fahr der Blutung zu verwerfen. 

Die Frage, ob bei Herzwanden innerlioh, sabcatan oder äusserlioh Exci- 
tantien gegeben werden sollen, ist dahin zu beantworten, dass es verkehrt ist, 
z. B. den Anfangscollaps durch Reizmittel zu verkürzen. Auch in späterer Zeit 
kann durch plötzliche Steigerung der Herzthätigkeit durch innere Reizmittel eine 
kaum vernarbte Herzwunde wieder aufgerissen werden, es muss daher in der Be¬ 
ziehung die grösste Vorsioht walten. Wir persönlich möchten uns ganz auf die 
milde Anwendung äusserer Reize beschränken. — 

Zum Schluss noch einige Worte über die vom Professor v. Nussbaum vor¬ 
genommene Operation in dem Seite 32 erwähnten Falle von Herzquetschung. 
Drei Rippen, eine grade über, eine unterhalb und eine oberhalb des Herzspitzen- 
stosses wurden künstlich in der Weise gebrochen, dass am oberen Rande jeder 
Rippe eine lange Incision gemacht wurde. Dann wurde mit den Fingern die 
Pleura hinter den Rippen abgelöst und dann die Rippe bis 2 mm über ihrem 
unteren Rande durch Osteotomie getrennt und dann gebrochen. Darauf wurden 
die Rippenenden unter Anwendung grosser Kraft naoh aussen gebogen und ge¬ 
zogen, so dass sie über dem Herzen nun eine dachförmige Kuppe bildeten. Da- 
daroh war das Herz sofort von dem Drnoke entlastet. 

Die Hauptergebnisse unserer Arbeit fassen wir in folgende 
11 Thesen zusammen: 

1. Entgegengesetzt der alten Auffassung von der unbedingten 
Tödtlichkeit aller Wunden des Herzens bestätigen auch die neuesten 
Forschungen die von Fischer 1868 aufgestellte Lehre, dass viele 
Herzwuuden heilen können. 


*) Fischer, 1. c. S. 226. 

2 ) Stelzner, Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie. 
Oongress XVI. S. 58—62. 


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Ueber die Wanden des Herzens. 


53 


2. Die einzelnen Herzwanden liefern charakteristische patho¬ 
logisch-anatomische Befände; namentlich gilt das von dem Aussehen 
der Thoraxwunde und der Herzwunde. Ausnahmen kommen viel¬ 
fach vor. 

3. Bei den verschiedenen Herzwanden beobachten wir gewisse, 
mit ziemlicher Regelmässigkeit auftretende Allgemeinsymptome. Unter 
diesen nehmen die Folgen der Blutung, die Ohnmacht und nervöse 
Symptome die erste Stelle ein. 

4. Die Diagnose und die Differentialdiagnose der Wunden des 
Herzens ist trotz der Vervollkommnung der heutigen Untersuchungs¬ 
methoden noch immer - als eine äusserst schwierige zu bezeichnen. 

5. Ein pathognomisches Symptom für die Verwundung des Her¬ 
zens existirt nicht. Erst eine Summe von Symptomen ermöglicht die 
Diagnose. 

6. Die Prognose der Herzwunden ist verschieden. Die beste 
Prognose liefern die Nadelstichverletzungen. Dann kommen die Stich- 
Schnitt- und Schusswunden. Die schlechteste Prognose ist bei den 
Quetschwunden und Rupturen. 

7. In der Praxis ist es rathsam, eine unter allen Umständen 
ernste Prognose bei jeder Herzwunde zu stellen. 

8. Der Verlauf und Ausgang der Wunden ist ein sehr ver¬ 
schiedener. Im Allgemeinen richtet sich derselbe nach dem Grade 
der Blutung, nach der Frage, ob penetrirend oder nicht penetrirend, 
nach der Localisation der Wunde am Herzen und nach der Schwere 
der etwaigen Complicationen. 

9. Die Therapie der Herzwunden hat sich gegen früher ganz 
bedeutend vervollkommnet. 

10. Die Hanpterfordernisse einer guten Therapie sind Stillung 
der Blutung, antiseptischer Verschluss und Verband der Thoraxwunde, 
Regelung der äusseren Verhältnisse des Kranken, operatives Ein¬ 
schreiten gegen eine Anzahl gefährlicher Complicationen. 

11. Jeder Patient mit einer Wunde in der Herzgegend ist als 
Herzverletzter zu betrachten und zu behandeln. 


Literatur. 

1) Georg Fischer, Ueber die Wunden des Herzens und des Herzbeutels 

Berlin 1868. 

2) Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie. Congress XVI. 

S. 58-62. 


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Dr. Elten. 


3) Brentano, Zar Casuistik der Herzverletzungen. Dissertation. Berlin 1890* 

4) Baur, Ueber die Schussverletzungen des Herzens. Dissertation. Berlin 1887. 

5) Vierteljabrsschrift für gerichtliche and öffentliche Medicin. Herausgeg«ben 

von Horn. Simon, 2 Fälle von Nadelverletzung des Herzens. Neue Folge. 
Bd. III. 1865. 

6) Dr. H. Wald, Gerichtliche Medicin. Bd. 1. 1858. 

7) Casper, Ludwig, Gerichtl. Leichenöffnungen. Erstes Hundert. Berlin 1853. 

8) Becker, Ueber penetrirende Brustwunden vom gerichtsärztlichen Standpunkte 

aus. Deutsche militärärztliche Zeitschrift. Jahrgang XIV. Heft 9. 

9) Schulte, Drei Fälle von Verletzung des Herzens, resp. des Bulbus aortae. 

Diese Vierteljahrsschrift. April 1886. 

10) v. Maschka, Gerichtsärztliche Mittheilungen. Diese Vierteljahrsschrift. 

April 1888. 

11) Steiner, Ueber die Blectropunctur des Herzens etc. Langenbeok’s Archiv. 

Bd. XH Heft III. 1871. 

12) Lachmann, Ein Fall von Ruptur des Herzens. Dissertation. Berlin 1876. 

13) Struntz, Ueber penetrirende Brustwanden, soweit diese durch Kriegswaffen 

hervorgebracht werden. Dissertation. Berlin 1873. 

14) Heussner, Beitrag zur Casuistik der Herzverletzungen. Deutsche medioinische 

Wochenschrift. 1882. No. 5. 

15) Sander, Selbstmord durch einen Stich in das Herz mittelst eines Stückes 

Glas. Diese Vierteljahrsschrift. Supplementband 1877. 

16) Jahresberichte über die Leistungen und Fortschritte der gesammten Medioin. 

a) Bericht für 1866. Bd. II. Abth. 1. 


b) 

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1867. 

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1888. 

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1. 


17) v. Maschka, Handbuch der gerichtlichen Medicin. Entstehung mechanischer 

Verletzungen. Von Dr. Carl Weil. 1881. 1. Bd 

18) Hofmann, Handbuch der gerichtlichen Medicin. 1881. 

19) Koenig, Lehrbuch der speciellen Chirurgie. Bd. II. 1885. 

20) Derselbe, Lehrbuch der allgemeinen Chirurgie. Abtheil. I. 1883. 

21) Casper-Liman, Handbuch der gerichtlichen Medicin. 1889. 

22) Billroth und v. Winiwarter, Allgemeine chirurgische Pathologie und 

Therapie. 1885. 

23) Vierordt, Percussion und Auscultation. Tübingen 1884. 

24) Ziegler, Handbuch der allgemeinen und speciellen pathologischen Anatomie. 

Jena 1885. 

25) Landois, Die Physiologie des Menschen. Wien 1881. 

26) Ohrt, Diagnostik. Berlin 1884. 


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Die ledeitug der Thymnshypertrephie bei forensischei 

Sectieaen. 

Von 

Dr. C. Seydel, 

Ausserordentl. Professor und Pol. Stedtphysikus su Königsberg i. Pr. 


Der Eioflass und die Bedeatang der Thymus, dieses fötalen 
Organes, das in der fortschreitenden Entwickelung der ersten Lebens¬ 
jahre eine bis jetzt wenig erklärte Rolle spielt, hat früher nament¬ 
lich die Kinderärzte vielfach beschäftigt. 

Erst nachdem Fried leben (»Die Physiologie der Thymusdrüse 
in Gesundheit und Krankheit vom Standpunkte experimenteller For¬ 
schung und klinischer Erfahrung“. Frankfurt a. M. 1858) den Ein¬ 
fluss der Thymus auf gefahrdrohende Erstickungsanfälle und plötzlich 
eintretende Todesfälle verneint hatte, wurde relativ weniger auf den 
ursächlichen Zusammenhang des genannten Organes mit Respirations¬ 
störungen resp. plötzlichen Todesfällen geachtet. Nach den Auf¬ 
fassungen der Physiologie trägt die Thymus, welche vesiculäres Ge¬ 
webe enthält, vermuthlich zur Lieferung farbloser Blutkörperchen 
wesentlich bei (Hermann, Physiologie. VIII. Aufl. S. 194); sie ent¬ 
steht durch Hineinziehen und Abschnürung des Entoderms von der 
3. und 4. Kiemenspalte und ist, ähnlich wie die Schilddrüse, eine 
abgeschlossene sackförmige Entodermeinstülpung (1. c. S. 622). 

Den auf sehr eingehende Arbeiten basirten Ansichten Fried- 
leben’s widersprach Clar-Graz („Beobachtungen über Thymusano¬ 
malien*. Jahrb. f. Kinderheilk. 1859. S. 106). 

Später haben Grawitz 1 , Nordtraann 2 und Scheele* plötz¬ 
liche Todesfälle in Folge von Thymushypertrophie berichtet, die sich 
bei anscheinend vorher ganz gesunden Individuen binnen wenigen 


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56 Dr. Seydel, 

Miauten einstellten und ausser der Thymushypertrophie ein negatives 
Sectionsresultat boten. 

Schwöre Respirationsstörungen, Asthma thymicum, Stimmritzen¬ 
krampf haben Giuseppe Somma 4 und Jacobi 5 durch Thymus¬ 
anomalien erklärt. Die sehr häufig tödtlich endenden Fälle von 
Laryngospasmus haben Soltmann-Breslau 6 und vor Allem Pott 7 
zusammengestellt und immer wieder auf die dabei beobachteten Ano¬ 
malien der Thymusdrüse aufmerksam gemacht. 

Dem letzteren Autor verdanken wir ausser einer übersichtlichen 
Zusammenstellung der einschlägigen Literatur eine so klare und ge¬ 
naue Beschreibung der plötzlichen Todesfälle bei Laryngospasmus, 
dass ich deren Wiedergabe um so mehr zweckmässig finde, weil da¬ 
durch bis jetzt wenig betonte Gesichtspunkte in’s richtige Licht ge¬ 
stellt werden. 

„Die Kinder litten meist nnr an leiohten Formen von Raohitis, waren im 
Uebrigen gesnnd and in leidlich gatem Ernährungszustände. Stimmritzenkrampf 
bestand bei allen Vieren schon wochenlang. Die Anfälle pflegten sich häufig im 
Laufe von 24 Stunden einzustellen. Der tödtliche Anfall trat bei allen 4 Kindern 
in dem Augenblicke ein, als ich den Mundspatel einführen wollte, um eine In- 
spection des Rachens vorzunehmen. Die Erscheinungen, unter denen der Tod er¬ 
folgte, waren stets die gleichen. Plötzlich biegen die Kinder den Kopf nach 
hinten zurück, machen eine lautlose nach Luft schnappende Inspirationsbewegung, 
verdrehen die Augen nach oben, die Pupillen erweitern sich. Das Gesicht, 
namentlich die Lippen werden blitzblau und schwellen an. Die Znnge zeigt sioh 
zwischen die Kiefer eingeklemmt, schwillt um das Doppelte im Dickendurch¬ 
messer an, ist ebenfalls stark cyanotisch, etwas nach oben umgerollt und fest an 
den harten Gaumen angepresst. Die Halsvenen, stark geschwellt und prall ge¬ 
füllt, treten als dicke Stränge deutlich hervor. Die Hände mit eingeschlagenen 
Daumen zur Faust geballt, die Nägel cyanotisch. Die unteren Extremitäten sind 
gestreckt, die grosse Zehe etwas abducirt und dorsal fleotirt. Die Wirbelsäule 
wird im Bogen stark nach hinten gekrümmt. Einige blitzartige Zuckungen der 
Gesichtsmuskeln und einige schnappende Inspirationsbewegungen erfolgen, aber 
kein Laut, kein zischendes Eindringen von Luft daroh die Stimmritze wird ge¬ 
hört. Auf einmal löst sioh der Krampf, das Gesicht verfärbt sich, wird aschgrau, 
die Cyanose lässt nach, die Zunge und die Lippen werden livide und naoh höch¬ 
stens 1 — 2 Minuten ist das Kind eine Leiche. 

Urin und Fäoes gingen jedesmal bei den ersten künstlichen Athembewe- 
gungen unwillkürlich ab. Die Herzthätigkeit hörte mit Eintritt des Anfalles so¬ 
fort auf." — Die Reflexerregbarkeit der Halsorgane und des Auges ist sofort 
erloschen, weder Husten- noch Würgbewegungen können durch Einführen des 
Fingers in den Rachen, auch nicht Lidschluss bei Gornealreiz hervorgebracht 
werden. 

Künstliche Athembewegungen, z. Th. nach eröffneter Trachea, Reizung der 


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Die Bedeutung der Thymushypertrophie bei forensischen Sectionen. 57 

Phrenioi mit starken Indnotionsströmen waren nicht im Stande, aaoh nar eine 
einzige spontane Athembewegnng wieder ansznlösen. 

Bei vier anderen Kindern trat der Tod zwar nicht im Beisein des Verfassers, 
aber nach Angabe der Angehörigen ganz in derselben Weise ein. 

Das in der Arbeit mitgetheilte Sectionsergebniss eines 16 Monate alten 
Knaben zeigte leiohte Veränderungen in Folge von Rachitis an den Knochen und 
Knorpeln. Herz überfüllt mit duokelkirsohrothem flüssigem Blut, ebenso in der 
harten Hirnhaut, während die Pia und die Gehirnsubstanz mässigen Blutgehalt 
zeigen. Thymus 14 V 2 g schwer, 6 */ 2 cm lang, 5 om breit. Durchschnitt blau- 
röthlich, deutlich körnig, auf der Sohnittfläohe trübe grauweissliche Flüssigkeit 
in mässiger Menge. Beide Lungen blassrotb, lufthaltig, hintere Lappen etwas 
dunkler, auf dem Pleuraüberzng einige dunkelrothe punktförmige Eoohymosen, 
einige subpleurale Empbysembläschen. Halsorgane bis auf eine Traohealwunde 
(Tracheotomie) unverändert. 

In Fall 2 und 3 wurde eine auffallend vergrösserte Thymus, welche mit 
ihrem rechten Lappen die zwei oberen Drittel des rechten Ventrikels bedeckt und 
zu beiden Seiten der Traobea bis zum Schildknorpel hinaufragt, sowie Schwel¬ 
lungen der Mesenterialdrüsen und Blutfülle sämmtlicher Organe festgestellt. 

Im Fall 4 überlagert die 8 om lange und 4 om breite, fast 2 om dicke 
Thymus 3 / s des rechten Vorhofes, die oberen Drüsenpartieen sind dunkler ge¬ 
färbt, blutig tingirt. Die Thymus ist mit dem Herzbeutel verwaobsen. Die 
Ränder des rechten Herzohres blutig tingirt. Alle Organe auffallend blutreioh. 
Mesenterialdrüsen z. Th. bis zu Bohnengrösse geschwellt, sehr blutreioh. 

In Fall 7 Feohterstellung der Arme, Zunge zwischen den Kiefern einge¬ 
klemmt. Thymus 7 cm lang, 5 cm breit, 2 1 /., diok, bedeokt das rechte Herz bis 
zur Spitze. Im Herzen flüssiges Blut, sämmtliohe Organe auffallend blutreioh. 
Fall 8 ähnlicher Befund. 

In den übrigen an Spasmus glottidis gestorbenen Kindern ergab die Seotion 
zwar auch Thymushyperplasie, doch gleichzeitig hochgradige Rachitis, lobuläre 
Pneumonie, Capillarbronchitis oder andere Complioationen. In einem Falle 
(No. 9) war ebenfalls Verwachsung der Thymus mit dem Herzbeutel und dieses 
mit dem Zwerchfelle. Friedeleben selbst giebt an, dass er unter 15 Fällen 
von Spasmus glottidis 7 mal eine auffallend vergrösserte Thymus gefunden und 
Cohnheim 8 sagt, „in den Fällen von echtem Asthma Millari, die ich zu obdu- 
oiren Gelegenheit gehabt, habe ich stets eine ausgesprochene Hyperplasie der 
Thymus gefunden, jüngst noch so eine bedeutende, dass dadurch eine Atelectase 
ausgedehnter Abschnitte der linken Lunge herbeigeführt wurde“. 

A. Paltauf 9 '), der bekanntlich den Einfluss der Thymus bei plötzlichen 
Todesfällen bestreitet, fand doch in derartigen Fällen, die er durch aoute Schwel¬ 
lung der Bronchialschleimhaut etc. zu erklären sucht und mit Capillarbronchitis 
in ursächlichem Zusammenhänge bringt, Hyperplasie der Thymus 3 ) und Schwel¬ 
lung sämmtlioher lymphatischer Apparate und zwar mit und ohne Raohitis. 


') P. giebt eine Formveränderung und Abplattung der kindliohen Trachea 
bei starker Supination des Kopfes ausdrüoklich zu. 

3 ) Oft bis zu weit grösseren Maassen, als sie von Pott angegeben werden. 


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Dr. Seydel, 


Ausser der Hyperplasie der Thymus glaubt Pott besonders die Verwai¬ 
sung dieses Organs mit dem Herzbeutel als wichtig bezeiohnen zu mässen l ). 

Wie hat man sich nun den Einfluss der Thymushyperplasie bei der Ent¬ 
stehung der plötzlichen Todesfälle zu denken? 

Eine einfache Gompression der Trachea ist zwar meohanisoh nicht ganz 
ausgeschlossen, naoh den verschiedenen Untersuchungen aber unwahrscheinlich; 
die Sehe eie’ sohen Untersuchungen haben gezeigt, dass ein Gewicht von fast 
1000 g dazu gehört, um die gesunde Trachea bis zum vollständigen Versohluss 
zu comprimiren. Dass das Traohealrohr aber, ähnlich wie bei Struma, irgendwie 
verändert, erweicht oder breitgedrüokt gefunden wäre, ist von keinem Beobachter 
erwähnt. 

Der Abstand zwisohen Wirbelsäule und hinterer Sternalwand variirt bei 
Kindern (übrigens am Skelett gemessen) zwisohen 2—3 cm a ). Die Thymus liegt 
gewöhnlich in zwei in der Mitte eine Brücke bildenden Lappen und hat einen 
leicht oompressibelen mit Flüssigkeit gefüllten Hoblranm. Die einfache me¬ 
chanische Compressionswirkung ist hiernach zum mindesten unwahrscheinlich. 
Ausserdem müsste doch bei einem an plötzlioher Luftentziehung gestorbenen 
Kinde die sofort selbst naoh vorgenommener Tracheotomie vorgenommene künst¬ 
liche Athmung oder die Reizung der Nn. phrenici irgend welchen Erfolg gezeigt 
haben; dies wird nach den exakten oben angeführten Beobachtungen von Pott 
verneint und müssen daher andere Ursachen des plötzlichen Todes angenommen 
werden. Ob die Theorie des genannten Autor, dass jeder Spasmus glottidis als 
eine Theilersoheinung resp. als eine rudimentäre Form der Eclampsie aufzufassen, 
ob es sioh um eine Erregung des psychomotorischen Krampfcentrums in der 
Grosshirnrinde handle, will ich hier dahin gestellt sein lassen. Mir will die 
blitzartig tödtende Form der Eclampsie selbst bei relativ jungen Kindern nioht 
recht einleuchten, obwohl ich zugebe, dass einzelne Symptome im oben ange¬ 
führten klinischen Bilde dafür sprechen. Der directe Druck der hyperplastischen 
Thymus auf die Trachea resp. auf die daneben liegenden lebenswichtigen Ner¬ 
ven (Nn. recurrentes und vagi) lässt sioh nur duroh ein plötzliches Anschwellen 
des Organs in dem gleichzeitig verengten oberen Brustraum erklären. Die Thy¬ 
mus als Gebilde von reticulärem Bau kann, ebenso wie die Milz und die Leber 
recht schnell ihren Blutgehalt ändern. 

Beim Zurückbeugen des Kopfes, wie es zum Einführen des Mundspatels 
nothwendig, wird der obere Brustraum verengt, die Thymus duroh Gompression 
der Halsvenen zur Anschwellung gebracht, die Trachea gezerrt und zusammen¬ 
gedrückt, und so entsteht die aoute Compression, die nach Nordtmann 1. c. 
selbst dem 20jährigen Rekruten beim Schwimmen verhängnissvoll wurde. Dass 
hierbei weniger Erstickung als Herzstillstand die Todesursache wird, muss naoh 
der Beschreibung Pott’s über die Erscheinungen des Todeseintrittes, wie er 
auch selbst den Eindruck gewonnen hat, als vollständig bewiesen angesehen 
werden. 


*) Besonders dann, wenn es sich um einen lähmenden Einfluss der ver- 
grösserten Thymus auf das Herz handelt. 

3 ) Nach Grawitz 2 cm. 


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Die Bedeutung der Thymushypertrophie bei forensisohen Seotionen. 59 

Die Befunde am rechten Herzen haben in den Pott’schen F&llen nament¬ 
lich für eine schwächere Herzkraft und leioht eintretende Lähmung gesprochen. 
Pott hält auoh eine plötzliche Gompression der Art. pulmonalis als Todesursache 
nioht für unwahrscheinlich. Jedenfalls kann man den Schlusssatz mit ihm für 
vollständig berechtigt halten: 

„Eine byperplastische Thymusdrüse beeinflusst die Respiration und Cirou* 
lation allmälig sowie plötzlich, sie kann sogar bei scheinbar plötzlioher Gesund¬ 
heit wenigstens indireot zur plötzlichen Todesursache werden.“ 

In der forensisohen Praxis ist, soweit mir bekannt, ein Fall von plötzliohem 
auf Thymushyperplasie zurückzuführendem Tode, wenn man den Nordtmann’s 
nioht dazu reohnet, bis jetzt nioht veröffentlicht worden. Einen in dieser Weise 
zu erklärenden erlebte ich vor wenigen Wochen unter eigenthömliohen Verhält¬ 
nissen. Es ging bei der hiesigen Staatsanwaltschaft die Anzeige ein, eine 
schwachsinnige Person, die übrigens schon einige Kinder mit Erfolg gewartet, 
hätte das ihr anvertraute '/ 2 J & hr alte Kind ihrer unverehelichten Sohwester 
erwürgt. 

Der am 17. Juli dieses Jahres ausgeführten Seotion entnehmen wir folgende 
Punkte: 

Die Leiche 62 om lang, zeigte regelmässigen Bau und reiches Fettpolster 
unter der Haut. Reiohliohe blassblaurothe Todtenfleoken auf dem Rüoken. An 
der Stirn vier rundliche 2 cm im Durchmesser haltende bläuliche Flecken, 
unter denen eine dünne Schicht geronnenen Blutes nachweisbar. Die Aogenbinde- 
haut blass, in Nase und Mund keine Fremdkörper, die Zungenspitze ebenso wie 
die Lippen blassbläulich, überragt den Kieferrand um 1 cm. Am Halse keine 
Verletzungen, auoh keine abnorme Beweglichkeit. Die Fingernägel etwas 
bläulich. 

Schädelhaut und Schädeldach unverletzt, der Knochen sowie die harte 
Hirnh&at nicht auffallend blutreioh, nur im Sin. longitud. etwa 5 g dunkeln 
flüssigen Blutes. Die Piagefässe ziemlich stark gefüllt, das Gehirn etwas er¬ 
weicht, ziemlich blutreich. 

In der Sinus der Dura baseos viel dunkles flüssiges Blut. Schädelbasis 
unverletzt. Höohster Zwerohfellstand an der fünften Rippe. Nach Entfernung 
des Brustbeins erscheint die auffallend grosse Thymus, die den Herzbeutel zum 
Theil bedeckt, sie ist 5 cm breit, 8 om lang, 3y 2 om an der dicksten Stelle. 
Das Gewebe ist gleiohmässig blassröthlioh mit weisslicher Flüssigkeit im Innern. 
Die Lungen auffallend gross (ballonirt), blauroth und hellroth marmorirt, auf 
Einschnitten reich an dunklem schaumigem Blute, subpleurale Ecohymosen wer¬ 
den nicht gefunden. In den Bronohialverzweigungen etwas röthlioher Sohaum, 
der sich aber bei Druck auf die Lungen nicht bis in die Trachea bringen lässt. 

Das Herz hatte stark gefüllte Goronargefässe, Blutgehalt links mässig, 
rechts stärker, der linke Ventrikel fest, der reohte schlaffer, die arteriellen 
Klappen schlussfähig. Der gesammte, vollständig flüssige Blutinhalt wird auf 
20 g geschätzt. In der Brusthöhle sammelten sich aus den grossen Gelassen 
nooh ca. 30 g dunkeln flüssigen Blutes. Die Sohleimhaut des Kehlkopfes, der 
Luftröhre und ihrer Verzweigungen war mit einem weissgrauen zähen Schleime 
bedeckt, die Sohleimhautgefässe injioirt. 


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Dr. Seydel, 


Milz, Nieren und Leber blntreiob, QekrSsdrfisen mässig geschwellt, von 
weissgraner Farbe anf dem Darohschnitte, 

Die Obdaoenten nahmen bei dem Kinde den Brstickangstod an and er¬ 
klärten, die Section hätte nichts ergeben, worans geschlossen werden könnte, 
dass diese Todesart gewaltsam herbeigeführt wäre. Die schwachsinnige Wärterin 
war von Zeagen weinend an dem Bettchen des todten Kindes getänden, wobei 
sie die Nase and das Gesicht des Kindes, welohe mit etwas röthlicbem Schaum 
beschmutzt waren, mit der Schürze abwischte and wiederholt behauptete, sie 
hätte dem Kind „nichts getban“. Den mit Zaoker gefüllten Saagpfropfeu hatte 
sie dem Kinde vorher aas dem Monde genommen and unter das Kopfkissen 
gelegt. 

Da die Pflegerin eine schwachsinnige auf der rechten Körperhälfte seit 
ihrer Kindheit paretische Person war, wurde von dem Strafverfahren abgesehen 
and die Entmündigung derselben seitens der Staatsanwaltschaft beantragt. 
Wäre es zar Strafverhandlung gekommen, so hätten die Sachverständgen sich in 
diesem Falle auf Grand der oben aasgefährten Thatsachen für die Möglichkeit 
eines plötzlichen Todes des betreffenden Kindes in Folge von Tbymashyperplasie 
aossprechen müssen. Das einzige Zageständniss, welches die schwachsinnige 
Pflegerin auf wiederholte eindringliche Vorstellungen machte, war, sie hätte dem 
Kinde an den Hals gefasst and den Kopf „ein wenig“ zarüokgebogen, es dabei 
aooh ein wenig am Halse gedrückt. 


Es muss daher die Möglichkeit zugegeben werden, dass es sich 
bei dem Zurückbiegen und Drücken am Oberhalse, was, wie schon 
gesagt, nicht die geringsten Spuren hinterlassen hatte, um eine acute 
Anschwellung der grossen Thymus und einen plötzlichen Tod ge¬ 
handelt habe. Bei den häufig vorkommenden Erstickungsfällen von 
Kindern im ersten Lebensjahre wird dieser Gesichtspunkt nicht un¬ 
berücksichtigt bleiben dürfen. 

Bei Kindern, die nachweislich an Laryngospasmus gelitten, wird 
ein plötzlicher Tod am leichtesten ohne fremdes Verschulden ange¬ 
nommen werden müssen. 

Aber auch bei anscheinend bis dahin gesunden Kindern wird 
die Möglichkeit des plötzlichen Todes, durch Thymushyperplasie ver¬ 
anlasst, stots dann angenommen werden müssen, wenn die Section 
nichts Positives für die Schuld eines Dritten ergiebt und die psycho¬ 
logische Aetiologie, abgesehen von der Fahrlässigkeit, für ein Ver¬ 
brechen fehlt. Der von Pott an den Schluss seiner Arbeit gesetzte 
Satz: „Die hyperplastische Thymusdrüse beeinflusst die Respiration 
und die Circulation allmälig, sowie plötzlich, sie kann sogar bei 
scheinbar völliger Gesundheit wenigstens indirect zur plötzlichen 
Todesursache werden*, — soll bei zweifelhaften Sectionsergebnissen und 


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Die Bedeutung der Thymushypertrophie bei forensisohen Sectionen. 61 

dem Fehlen eines verbrecherischen Motives dem Gerichtsarzte nicht 
unbekannt sein und stets, wo er hinpasst, berücksichtigt werden. 


Literatur. 

1) Grawitz: Ueber plötzliche Todesfälle im Säuglingsalter. Deutsche medicin. 

Wochenschrift. XIV. No. 22. 1888. 

2) Nordtmann: Ueber Beziehungen der Thymusdrüse etc. Schweizer Corresp.* 

Bl. 6. Refer. Virchow-Hirsch XXIV. 1889. I. Bd 

3) Scheele: Zur Casuistik etc. Zeitschrift für klinische Medicin. XVII. 1890. 

4) Giuseppe Somma: Sulla tracheostenosi etc. Arch. di pathol. inf. 1884. 

II. p 168 flf. 

5) Jacobs: Gontribution etc. Transact. of the Assoo. of Amerio. Physicians. 

Vol. III. p. 297 1888. 

6) Max Ga Im us: Zur Pathologie und Therapie des Laryngospasmus. Inaug.- 

Disuertation. Breslau 1889. 

7) Pott: Jahrbuch für Kinderheilkunde. Bd. XXXIV. 1. Heft. 1892. 

8) Gohnheim: Allgemeine Pathologie. Bi. II. S 169. 1880. 

9) A. Pal tauf: Ueber die Beziehungen der Thymus zum plötzlioben Tode. 

Wiener klin. Wochensohr. 1889, No. 46 und 1890, Ne. 9. 


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4. 


Durchdringende Brustwunde, (tierrigg tm 2 cm Länge in der 
vorderen Wand des nnfsteigenden Theils der Aorta aasserhalb 
des Herzbeutels infolge einer Schnssverletzung in der Schlacht 
bei Amiens am 27. November 187#. Genesung. — Dienst¬ 
fähigkeit erst beim Militär, dann im Civildienst. Tod am 
2. Juni 1892 infolge einer doppelseitigen Lnngeneatifindnng 

durch Herzlähmung. 

Mitgetheilt vom 

Kreisphysikus Dr. Bremme in Soest. 


In dieser Vierteljabrsschrift N. F. Band XXVII, Heft 1, Juli 1877 habe ich 
eine Beobachtung niedergelegt, welche mit der in der Ueberschrift erwähnten 
insofern Aehnlichkeit hat, als in beiden Fällen Qnerrisse in den die Herzkammer 
verlassenden grossen Schlagadern durch Streifschass erzeugt sind. 

Das eine Hai lag der Einriss in der Lnngenschlagader 1 cm oberhalb der 
halbmondförmigen Klappe, also nooh innerhalb des Herzbeateis. Das andere Mal 
war der Riss in dem aafsteigenden Stück der Aorta entstanden, welches aasser¬ 
halb des Herzbeutels sich befindet. Dadurch war im ersten Falle eine tödtliche 
Blutung in den Herzbeutel unvermeidlich und ein rascher Tod durch Zusammen¬ 
drücken des Herzens. Im zweiten Falle aber ist es nicht zur Verblutung ge¬ 
kommen, und hat der Verletzte noch etwa 22 Jahre lang mit dem ungeheilten 
Riss in der Aorta leben können. — 

Indem ich in Betreff des ersten Falles auf jenes oben genannte Heft der 
Vierteljahrsschrift verweise, werde ich vorerst dasObductionsprotokoll des zweiten 
folgen lassen: 

Protokoll über die am 4. Juni 1892 in Gegenwart des behandelnden 
Arztes Dr. D. ausgefübrte Obduction der Leiche des Landmessers N.N. 

zu Soest. 

Da der Herr N. N. seit der am 27. November 1870 in der Schlacht bei 
Amiens erhaltenen, die Brust durchdringenden Sohussverletzung an einem Herz- 


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Durchdringende Brustwunde etc. 


63 


leiden, welches sich langsam entwickelt und mehrere Male Lungenentzündungen 
im Gefolge gehabt hat, erkrankt gewesen ist, da ferner Nierenerkrankangen naoh 
Aassage des behandelnden Arztes aasgeschlossen sind, so warde die Obdaotion 
auf die Eingeweide der Brusthöhle, in deren Bereich die Einwirkung jener oben¬ 
genannten Sohassverletzang stattgehabt, beschränkt. 

A. Aenssere Besichtigung. 

1) Der Verwesungsgrad ist durch das Auslaufen von blutiggefärbter Jauche 
aus der Nase und durch die Bildung von Gasen im Unterhautbindegewebe und 
durch diejenige von dunkelgrünen Blasen auf den Seitentheilen der Brust und 
des Baaohes erkennbar. 

2) Daher ist der Leiohengeruch stark. 

3) Zwischen der 2. und 3. Rippe auf der linken Brustseite etwa 5 cm über 
der Brustwarze and in der Brustwarzenlinie ist eine fast kreisrunde Narbe sicht¬ 
bar von dem Durchmesser etwa von 1 J / 2 cm (ehemalige Einsohussstelle). 

4) Eine Narbe von gleicher Beschaffenheit und von fast gleioher Grösse 
befindet sich in der Höhe der vierten Rippe der rechten Brusthälfte und zwar 
ungefähr in gleioher Höhe der rechten Brustwarze in der Aohselhöhlenlinie (ehe¬ 
malige Ausschussstelle). 


B. Innere Besichtigung. 

5) Naoh Entfernung des Brustbeines werden beide Langenränder stark vor¬ 
liegend und den Herzbeutel theilweise bedeckend vorgefunden. 

6) Die Rippenfelle und Lungenfelle sind fest verwachsen, so dass also ein 
Brustfellraum auf keiner Seite besteht. 

7) Nach Oeffnung des mässig mit Fett bedeokten Herzbeutels entleeren sioh 
etwa 15g einer donkelroth gefärbten Flüssigkeit aus demselben; die innere Haut 
des Herzbeutels ist glatt und ohne Flecken. 

8) Das Herz hat eine Breite von 17 cm und eine Höhe von 15 cm. Die 
Kranzgefasse sind noch ziemlich gefüllt mit Blut. Die äussere Haut des Herzens 
ist glatt und ohne Flecken, aber ziemlich fettreich. Das Herz ist schlaff. 

9) In der Lage werden seine Höhlen geöffnet. Aus allen entleert sich 
dunkelrothes flüssiges Blut in mässiger Menge, aus der linken Herzkammer auoh 
noch eine Hand voll dunkelrothes ziemlioh lockeres Blutgerinnsel. Die reohte Vor¬ 
hofskammerklappe ist für zwei Finger durchgängig. Die linke für die sämmt- 
liohen fünf Finger. 

10) Auf der vorderen Fläche der aufsteigenden Aorta und dort, wo diese 
den Herzbeutel verlässt, wird eine etwa muskatnussgrosse rundliche Geschwulst 
siohtbar. Sie fühlt sich zwar hart an und ein wenig höckerig, lässt sich aber 
leicht eindrücken, und man bekommt dabei das Gefühl, dass sie hohl ist und 
unter den drückenden Fingern knattert. Das äussere fibröse Blatt des Herzbeutels 
geht über die Geschwulst hinweg und ist fest mit ihr verwachsen, während das 
seröse Blatt zum Herzen herabtritt, wie es gewöhnlich ist. 

Es wurde nun sowohl das Herz als auch der entsteigende Theil der Aorta 
und der Bogen bis tum Abgang der grossen Gefässstämme vorsichtig aas der 


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Dr. Bremme, 


Leiche genommen. Die Aorta wurde von hinten durch einen Längsschnitt 
geöffnet. 

Darauf erbliokt man unter der eben geschilderten Geschwulst einen quer 
verlaufenden Einriss in der Aorta von der Länge von 2 cm. Derselbe klafft etwa 
2 mm. (NB. Nach der Einwirkung von absolutem Alkohol, in welchen das Prä¬ 
parat gelegt wurde, beträgt das Klaffen '/ 2 om.) DieRänder der Risswunde sind 
uneben, nicht glatt. Ferner kann man auch wahrnehmen, dass die Geschwulst 
einen hohlen Raum in sich birgt, welcher vollständig leer ist. Die Wandung des 
Hohlraumes ist höokerig und zeigt gelbliohe Stellen abwechselnd mit graurotben. 
Der Durohmesser der Aorta oberhalb des Einrisses (zwischen Herz und Einriss) 
beträgt 2 cm, unterhalb aber 3 cm. — 

Die Untersuchung der inneren Herztheile lässt erkennen, dass die halb¬ 
mondförmigen Klappen sowohl der Aorta als der Lungensohlagader zart und ohne 
Flecken sind und eine schmutzig braunrothe Farbe darbieten. Die rechte Vor¬ 
hofskammerklappe ist normal, die linke ist erweitert. Jedoch finden sich nir¬ 
gends Flecken oder Trübungen. Die Stärke derWandung der linken Herzkammer 
beträgt 2 cm, die der rechten 1 cm. — Die Musculatur hat eine bräunliche Farbe. 

11) Die linke Lunge ist nur schwer ohne Verletzung aus den Verwachsungen 
der Felle zu befreien. Sie besitzt als Ueberzug eine feste Haut, die eine roth- 
braune Farbe hat und theilweise eingerissen ist. Die Lungensubstanz besonders 
im Bereiohe des oberen Lappens fühlt sich hart an und knistert weder beim 
Druck noch beim Einschneiden. Aus den Schnittflächen entleert sich wenig 
dunkelrothes Blut, beim Druck auf die Schnittflächen tritt aus einigen Stellen 
spärlicher blutiger Schaum hervor, aus anderen aber, die sioh durch Härte, runde 
Abgrenzung und braune Färbung hervorthun, entleert sioh nichts. — 

Der untere Lappen verhält sich ähnlich, wie der obere, nur entleert sioh 
reichlicher blutiger Schaum beim Druok auf die Schnittflächen, und die trockenen 
braunrothen Stellen sind spärlicher. — 

12) Die rechte Lunge ist derartig mit der Brustwand verwachsen, dass sie 
nur in einzelnen Stücken ans der Leiche entfernt werden kann. Diese fühlen 
sich hart an und haben eine dunkele, sohwärzlichrothe Farbe, knistern nicht 
beim Druok und auoh nicht beim Einschneiden. Aus den Schnittflächen entleert 
sich wenig Blut. 

Es war nicht möglich, den verheilten Sohusskanal in der Lunge auf¬ 
zufinden. 

13) Dagegen fühlt sioh die vierte Rippe ungefähr in ihrer Mitte rauh und 
höckerig an. Sie wird deshalb aus der Leiohe genommen. 

Naohdem sie von den anhaftenden Weiohtheilen befreit ist, wird in ihrer 
Mitte eine Erbreiterung an der Stelle naohgewiesen, wo die Rauhigkeit gefühlt 
wurde. Inmitten dieser Stelle befindet sioh ein Loch. Auch dieses Rippenstück 
wurde in Spiritus gelegt. 

Damit wurde die Obduotion geschlossen. 

Aus ihr geht hervor: 

1) dass der N. N. an den Folgen einer doppelseitigen Lungenentzündung 
durch Herzlähmung seinen Tod gefunden hat, 

2) dass nioht allein die bleibenden Folgen der Schussverletzung vom 
27. November 1870 naohgewiesen sind, sondern auoh 

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Darohdringende Brustwunde etc. 


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3) höchstwahrscheinlich durch diese Folgen der Keim zur tödtliohen 
Krankheit gelegt ist. 

Die Kngel eines französischen Infanteristen ist demnach in jener Sohlaoht 
dem das Geschütz bedienenden Artilleristen in die linke Brusthälfte zwischen der 
2. nnd 3. Rippe von links and von einem höher gelegenen Orte aas, als die 
Artillerie ihren Stand hatte, etwa 5 cm aber der Warze and in der Brastwarzen- 
linie eingedrungen. Ihr Flag hielt sich vorerst dicht an der inneren Brastwand 
and ging oberhalb der Langenschlagader nach rechts. 

Darauf streifte die Kagel die prall aafsteigende Aorta and drang, ohne die 
obere Hohlader za berühren, in die rechte Lange ein. Nachdem es diese daroh- 
eilt hatte, durchbohrte das Geschoss die 4. Rippe in der rechten Achsenhöhlen¬ 
linie and darauf die Brastwand and verlor im rechten Oberarm seine Kraft. Aas 
diesem ist die Kagel im Lazareth heraasgeschnitten and dann dem Verwundeten 
übergeben, weloher das unversehrte Gesohoss in Gold fassen liess and an der 
Uhr zom Andenken trag. 

Merkwürdig ist es, dass diese schwere Verletzung einen verhältnissmässig 
raschen Verlauf zur Genesang gemacht haben soll. Jedoch konnten mir aas 
dieser Zeit keine bestimmten Angaben gemacht werden; daher bemerke ich nar, 
dass nicht ein wissenschaftliches Interesse die Veranlassung zur Obdaction war, 
sondern dass die Wittwe des Verstorbenen, welcher seit seiner Verehelicbang ein 
qualvolles Leben infolge seiner Krankheit geführt, nachholen möchte, was dieser 
versäumt, am im Gnadenwege für sich and ihre vier anmündigen Kinder eine 
Beihülfe za erhalten. — 

Dazu konnte schliesslich die Oeffnaog der Leiohe nach der übereinstimmen¬ 
den Ansicht ihres Hausarztes and der meinigen wesentlich beitragen. — 

Ich halte mich nun für berechtigt, aus dem Ergebniss der Obdaotion die 
oben erwähnten Schlüsse zu ziehen. 

1. Als Todesursache hat sich zweifellos Herzlähmung infolge einer anfangs 
nach Aussage des behandelnden Arztes im unteren Lappen der rechten Longe 
and dann auch in der linken Lange and zwar vorzugsweise in ihrem oberen 
Lappen auftretenden Lungenentzündung ergeben. 

Das stark vergrösserte Herz, dessen Höhe 15 cm und dessen Breite 17 cm 
betrag, vermochte nicht so lange den Druck des Blotes auf der nöthigen Höhe za 
halten, bis die Lösung der entzündeten Langen vollendet war. Vor 5 Jahren 
soll das Herz noch die Kraft besessen haben, obwohl damals sohon der Kranke 
darch Langenentzündang an den Rand des Grabes gekommen war. Der Besaoh 
des Bades Nauheim soll eine leidliche Compensation gesohaffen haben. Aber am 
nochmals eine Entzündung dieser gewissermassen an dießrastwände angelötheten 
Langen bis zam günstigen Aasgang zu ertragen, dazu reichte die Kraft dieses 
Herzens nicht mehr aas. Es erlahmte schliesslich, wie die reiohliche Blutfällung 
des linken Herzens beweist. — 

2. Als bleibende Folgen der Sohassverletznng vom 27.November 1870 sind 
der Einriss in der vorderen Wand der aufsteigenden Aorta and das nassgrosse 
Aneurysma der genannten Arterie durch die Obdaction festgestellt. Das letztere 
war die Folge des ersteren and anmittelbar nach ihm entstanden. Es kann daher 

Vierte Ijettnachr. t. ger. Mod. Dritte Fol««. V. 1. 5 


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Dr. Br ein me. 


ein Aneurysma traumaticnm genannt, und weil es sioh weder innerhalb aller 
Arterienhänte gebildet hat, nooh aber anoh aller Hänte der Arterie entbehrt, mit 
der näheren Bezeichnang eines Aneurysma traumatioura spurium mixtum be¬ 
zeichnet werden. Seine Wand wird nämlich von der äusseren Arterienhaut ge¬ 
bildet und duroh den fibrösen Ueberzug des Herzbeutels so verstärkt, dass der 
Blutdruck des Herzens es nioht hat zum Platzen bringen können. Die Wand ist 
offenbar ausserdem duroh allmälige Einlagerung von Kalksalzen nooh wider¬ 
standsfähiger gemaoht. 

Auffallend ist die Beobachtung, dass der Hohlraum leer gefunden wurde. 
Trotz der Rauhigkeit der denselben auskleidenden äusseren Arterienhaut wurde 
also eine Blutgerinnung im Raume nioht erzeugt. Es musste somit der Inhalt 
des Raumes im Leben mit dem Inhalt der Aorta in stetiger Bewegung und in 
stetigem Austausohe gestanden haben, duroh welche beide die Gerinnung ver¬ 
hindert wurde. — 

Welohes waren nun aber die Folgen dieses seltenen Zustandes? 

Zuvor ist es zweckmässig, die Folgen des Lungensohusses zu erwähnen. 

Zweifelsohne entstand naoh derSchussverletzung eine reohtsseitige Lungen- 
und Lungenfellentzündung, die sioh auch gewiss schon 1870 auf die linke Seite 
ausgedehnt haben wird, da auoh ihr Brustfellraum geöffnet gewesen ist. Duroh 
die späteren Entzündungen ist dann die völlige Umpanzerung beider Lungen 
eingetreten. — 

Ferner zeigt das Obduotionsergebniss, dass ein Unterschied des Duroh¬ 
messers der Aorta oberhalb (zwischen Herz und Einriss) des Risses und des 
Durchmessers unterhalb des Risses und zwar in der Höhe eines Centimeters be¬ 
steht. Dieses auffallende Verhältniss kann nur als Folge des Einrisses betrachtet 
werden, da ein solohes so dicht neben einander sonst nur bei atheromatöeen Er¬ 
krankungen, welche hier fehlen, gefunden wird. 

Betrachtet man das Präparat genau, so erkennt man, dass die Erweiterung 
des Arterienrohres schon an der Stelle, wo der Einriss liegt, begonnen hat. So¬ 
mit wird sie wohl daduroh zu Stande gekommen sein, dass das Gefäss dem Blut¬ 
druck wegen des duroh den Einriss bewirkten Nachlasses der Elasticität nicht 
hinreichenden Widerstand entgegensetzen konnte und sich somit ausdehnen musste. 

Hierdurch entstand im Laufe der Jahre allmälig auch eine Rückwirkung auf 
das linke Herz, welohe infolge der aneurysmatisohen Ausbuchtung und der Er¬ 
weiterung des Arterienrohres sohliesslioh in der bei der Obduotion Vorgefundenen 
gewaltigen Vergrösserung des linken Herzens nebst der Undiohtheit der zwei¬ 
zipfeligen Klappe sioh kundgegeben hat, während die Veränderung der Lungen 
und ihrer Hüllen und die Undiohtheit der linken Vorhofskammerklappe in gleicher 
Weise das rechte Herz beeinflussen mussten. 


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5. 


Amtliches fiitaehtei betreffest dei Geistesiflstait des Alt- 
Stutsschreiben Dr. philos. Gottfried Keller tob Zürich wegei 
iweifelhafter Testirfthigkeit. 

Von 

Professor Dr. Wille in Basel. 


Der am 15. Jali 1890 im Alter von fast 71 Jahren verstorbene Dr. philos. 
6. K. von G., Alt-Staatssohreiber des Kantons Z., machte am 11. Januar 1890 
ein Testament, dem am 18. April 1890 noch ein Codizill beigefügt wurde. Das 
Testament war ein sogenanntes „öffentliohes“, veranlasst duroh momentanes kör¬ 
perliches Unwohlsein des Testators. „Da ich duroh körperliches Unwohlsein mo¬ 
mentan verhindert bin, die letzte Verordnung selbst niederzusohreiben, will ich 
sie in Form eines öffentlichen Testaments beurkunden lassen“ (v.Acten. Oeffent- 
liches Testament). 

Am 25. Juli protestirte der Verwandte des Testators, Herr Nationalrath 
Dr. med. Sch. von B., gegen die Vollstreckung des am 21. Juli eröffneten Testa¬ 
ments und erhielt duroh Beschluss der Appellationskammer des Tit. Obergeriohts 
des Kantons Z. vom 6. September Vollmacht, das Testament duroh Klagestellung 
vor dem Bezirksgericht Z. anzufeohten. 

Die Streitfrage lautete: 

„Ist nicht das Testament des am 15. Juli 1890 verstorbenen Dr. G. K. von 
G., wohnhaft gewesen im Th.-H., vom 11. Januar (18. April) 1890 geriohtlioh 
aufzuheben?“ 

Naohdem durch Urtheil des Bezirksgerichts Z. vom 1. November 1890 die 
Klage abgewiesen und der Kläger zu den Kosten und zur Entschädigung an den 
Beklagten verurtheilt worden war, ergriff Kläger am 8. December 1890 die 
Appellation an’s Obergerioht. Diese Appellation wurde vom Tit. Obergerioht als 
begründet erklärt und am 24. Januar 1891 von demselben beschlossen: 

„dass das Urtheil des Bezirksgerichts Z. vom 1. November 1890 auf¬ 
gehoben ist, dass die Acten an die erste Instanz zurüokgewiesen wer¬ 
den und der Kläger den anerhobenen Beweis zu erbringen habe, dass 
der Erblasser zurZeit der Errichtung des Testaments keinen bewussten 

5 » 


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Dr. Wille, 


Willen mehr gehabt habe, beziehungsweise des Vernunftgedankens be¬ 
raubt gewesen sei, — vorbehaltlich des Gegenbeweises des Beklagten.“ 

Die Entscheidung der gerichtlichen Frage wurde durch diesen Beschluss 
auf den Boden ärztlicher, speoiell psychiatrischer Thatsaohen und daraus ge 
zogener Urtheile verlegt und in Uebereinstimmung beider Parteien am 23. April 
1890 Professor L. W. von Basel zum ärztlichen Experten ernannt. 

Es wurde demselben in höchst anzuerkennen der Weise Gelegenheit gegeben, 
der Einvernahme der Zeugen anzuwobnen, naob seinen Bedürfnissen an dieselben 
Fragen zu richten und volle Einsicht in den Inhalt der gerichtlichen Aoten zu 
erlangen. — 

Ich glaube, gestützt auf einen Ausspruch des Herrn Dr. jur.Z. in Z., „dass 
im vorliegenden Falle beideTbeile zugeben müssen, dass es möglich ist, dass der 
Testator im betreffenden Momente testaraentsfähig, aber vorher und nachher dies 
nicht gewesen ist“ (v. Acten S. 28), mein Gutachten am richtigsten in derWeise 
abgeben und damit die mir gestellte Aufgabe am besten erfüllen zu können» 
wenn ich mich 

1) über den Geisteszustand Dr. G.K.’s innerhalb der letzten Jahre vor 
seinem Tode im Allgemeinen, und 

2) über seinen Geisteszustand zur Zeit des Testirens speoiell aus¬ 
spreche. 

Es ist diese getrennte Behandlung um so mehr gerechtfertigt, als nach ärzt¬ 
lichen Erfahrungen bei solchen civilrechtlichen Fragen aus einem im Allgemeinen 
vorhandenen normalen oder abnormalen Geisteszustand nicht immer eo ipso, ge- 
wissermassen als selbstverständlich, auf die Fähigkeit oder Unfähigkeit, eine 
civilrechtliche Handlung auszuführen, geschlossen werden darf. 

Die Erfahrung lehrt vielmehr einestheils, dass im Allgemeinen als geistes¬ 
gesund geltende Menschen, besonders unter gewissen Einflüssen (wie höheres Alter, 
Schwächezustände, körperliche Krankheiten, äussere Schädlichkeiten etc. etc.) vor¬ 
übergehend an Zuständen geistiger Verwirrtheit, Unklarheit oder des Deliriums 
leiden können, die momentan ihre Handlungsfähigkeit abschwächen, oder selbst 
aufheben. Anderenteils beobachtet man bei chronischen Geisteskranken soge¬ 
nannte lucide Intervalle, während deren die Handlungsfähigkeit teilweise oder 
völlig zurückgekehrt ist. 

All I. 

Dr. G. K., geboren den 19. Juli 1819, besass eine von Grund aus, geistig 
und körperlich, starke und gesunde Constitution. Es beweisen dies seine eigene 
Schilderung im „Grünen Heinrich“, die Thatsaohe, dass er nur einmal vorüber¬ 
gehend in seinem Leben, 20 Jahre alt, an einem von ihm leicht überstandenen 
Typhus erkrankt war, endlich dass er trotz der rauhen, nicht selten entbehrungs¬ 
reichen Jugendverbältnisse und einer nicht gerade nach den Grundsätzen der 
Massigkeit stets geregelten Lebensweise während seiner späteren Lebensperiode 
dennoch bis in sein hohes Alter gesund blieb. 

Eine vor etwa 10 Jahren durch einen Fall erlittene Kopfverletzung, ihrer 
Natur nach leicht, verlief rasch und ohne naohtheilige spätere Folgen. 

Erst drei Jahre vor seinem Tod, als G. K. 67 Jahre alt war, maohten sich 


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Aerztliohes Gutachten über zweifelhafte Testirfähigkeit. 


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bei ihm allmälig die Beschwerden und Sohwachezustände des Alters (Senium) 
geltend. Er hatte viel „über rheumatische Sohmerzen zu klagen, über Sohwäohe 
in den Beinen, über Müdigkeit, die ihn immer seltener und kürzer Bewegung 
maohen Hessen“. „Sein Gang wurde unbeholfener, sohlürfend, unsicherer“ 
(Krankengeschichte des Dr. C.). 

Ohne Zweifel, von verschiedenen Zeugen bestätigt, wirkte der im Herbst 
1888 (6. Ootober) erfolgte Tod seiner Sohwester R., mit der er 25Jahre 
seit dem Tode der Mutter zusammengelebt hatte, „die ihn in Allem und Jedem 
mit mütterlioher Treue besorgt hatte“, ungünstig auf den Zustand G. K.’s ein. 
Es wurden seitdem „eine starker zunehmende körperliche Schwäche, ein stärkeres 
Greisenthum und eine gewisse geistige Veränderung“ an ihm beobaohtet. „Er 
wurde deprimirt, hatte Todes- und Sterbens-Ahnungen und -Befürchtungen, 
äusserte in hypoohondrisoher Uebertreibung Krankheitsideen, zog sich mehr und 
mehr zurüok, wurde reizbarer, zum Jähzorn geneigt, misstrauisch, launisch, in 
manchen Beziehungen gleichgiltig und in seinen Ausdrücken und Benehmen der¬ 
ber und rücksichtsloser. Sein Ruhehedürfniss wurde grösser, seine Energie, sein 
Willensvermögen schwächer“. 

Eine weitere Zunahme seines Leidens erfuhr G. K. zur Zeit der Feier 
seines 70jährigen Geburtstages im Juli 1890. Wenn er auch duroh 
seine Entführung nach Selisberg durch wohlwollende Freunde den unmittelbar 
aufregenden Einflüssen des Festes entzogen wurde, so beschäftigte ihn diese An¬ 
gelegenheit innerlich deshalb nicht weniger; einmal weil die Art der Feier ihm 
unsympathisch, seiner bescheidenen Natur fremd und aufdringlioh war, sodann 
weil er sioh dooh dem Bewuusstsein der hohen Bedeutung seiner Persönlichkeit, 
die ihm seine Zeitgenossen übereinstimmend und neidlos zuerkannten und in Wort 
und That in lebhaftester nnd ehrendster Weise zum Ausdruck braohten, nicht 
ganz entziehen konnte. 

Naoh übereinstimmenden Zeugnissen hatte bei ihm der Selisberger Aufent¬ 
halt nichts anderes bewirkt, „als dass er etwas leiobter gehen konnte“. Es kam 
dies wohl daher, weil er dort oben auf ärztliche Anordnung etwas mehr Bewe¬ 
gung maohen musste, als er sie in Zürich zu machen in der letzten Zeit gewohnt 
war, was ihm aber nach eigener Aussage subjectiv nicht gut bekam. Dagegen 
sofaeinen sich in Selisberg „leiohtere vorübergehende geistige Störungen deliriöser 
Natur bei ihm eingesteUt zu bähen, war G. K. im Ganzen hinfälUger und 
hilfloser*. 

Seine Freunde konnten naoh vieler Mühe den im August naoh Zürich Zu- 
rüokgekehrten bewegen, Mitte September zu einer Kur naoh Baden zu gehen. 
Trotz den sich widersprechenden Zeugenaussagen, von denen die einen wie Pro¬ 
fessor S., Dr. H., Prof. G., C. B.-Z., Dr. St., Bibliothekar M., Gastwirth S. in 
geistiger Beziehung nichts Krankhaftes oder nur Auffallendes an Herrn G. K. 
während seines Badener Aufenthaltes beobaohtet haben wollen, kann es für einen 
Arzt auf Grund der in den Acten enthaltenen, von anderen Zeugen, wie den Brü¬ 
dern B„ Dr. O.B., J.B., Dr. F., Professor R., Professor B., übermittelten That- 
sachen keinem Zweifel unterliegen, dass der geistige und körperliche Zu¬ 
stand Q. K.’s in Baden sich wesentlich verschlimmert, seine Krank¬ 
heit Fortschritte gemacht hat. 

Die schon in Selisberg sioh vorübergehend zeigenden deliriösen Erscbei- 


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Dr. Wille, 


nangen wurden „häufiger, stärker and anhaltender“. Wenn sie anoh nur Nachts 
sich vorzugsweise in dieser Weise geltend machten, bewirkten sie dennoch solohen 
Einfluss auf das geistige Leben G. K.’s, dass sein Bewusstsein auch unter Tags 
häufig nicht ganz frei war, indem von den näohtlichenHallucinationen abhängige 
krankhafte Ideen, Wahnideen, den kranken Herrn mehr und weniger stark und 
anhaltend beeinflussten. Immerhin ist zu betonen, dass unter Tags es Q.K. mög¬ 
lich wurde, im Ganzen die krankhaften geistigen Vorgänge soweit zu beeinflussen, 
dass er sie controlliren, rectifioiren und vor Allem den Augen des Uneingeweihten 
und denjenigen gegenüber, die nioht beständig um ihn sich aufhielten, verbergen 
konnte. Dass aber der kranke Herr damals, besonders an Gehörs-, aber auch an 
anderen Hallucinationen, an Phantasmen, sowie an damit zusammenhängenden 
Delirien und Verfolgungswahnideen litt, ist zweifellos. Die direoten Aussagen der 
oben angegebenen Zeugen, wie das ganze Verhalten G. K.’s während seines Ba¬ 
dener Aufenthaltes, beweisen dies sicher. 

Nach übereinstimmenden Zeugenaussagen ging G. K. von Baden um die 
Mitte Deoember 1889 nioht nur nicht gebessert, sondern schlimmer fort, als er 
dorthin gekommen war. Ebenso übereinstimmend lauten aber die Zeugenaussagen 
dahin, dass allmälig, besonders in geistiger Beziehung, naoh der Rüokkehr G. 
K.’s naoh Zürich eine Besserung ein trat, indem er mehr und mehr von Halluoi- 
nationen und Wahnideen frei wurde, über seine geistigen Vorgänge wieder 
die Herrschaft gewann und damit sein Bewusstsein klar erhielt. Besonders für 
die Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr und nach Neujahr 1890 wird dies 
betont. Die Aussagen J. B.’s, von Lehrer K. in Uhwiesen, B. M. von Roben¬ 
hausen, Dr. H., Prof. G., Forstmeister M., Bildhauer R. K., G. B.-Z., Dr. A. St. 
beweisen dies sioher. 

Erst vom 14. Januar 1890 an maohte sich, in Folge seiner Erkran¬ 
kung an der Influenza, wieder eine erneute Versohlimmerung des Zustandes 
G. K.’s geltend, die vom Ende Januar an einen bedrohlichen Charakter annahm. 
Es war nioht mehr „die Müdigkeit des Alters*: es waren Erscheinungen eines 
zunehmenden oentralen Leidens, die auftraten. Störungen in den Funotionen des 
Hirns und Rückenmarks waren es, die nach dem Krankenbericht des Herrn Dr.C. 
zur Beobachtung kamen, der am 28. Deoember 1889 G. K. zum ersten Mal und 
anfangs nur in längeren Pausen, vom 14. Januar an aber regelmässig besuohte. 

Athem-, rechtsseitige motorische, Spraoh-, näohtliobe Schlaf-, Blasenstö¬ 
rungen traten zum Theil mehr bleibend, zum Theil nur in vorübergehenderWeise 
auf. G. K. hielt sich „für einen gebrochenen Mann, der für nichts mehr fähig 
wäre*. Die allgemeine körperliche Schwäche, Sohwer- und Hinfälligkeit wurden, 
wenn auch in wechselndem Verlaufe, grösser, indem der Kranke nur noch selten 
auf kurze Zeit das Bett verlassen konnte. Aber bis zum Mai traten immer auoh 
wieder bessere Zeiten in dieser Beziehung vorübergehend auf. Während der 
Kranke Naohts mehr unruhig und nioht selten aufgeregt war, wurde er unter 
Tags häufig schlummersüohtig. Seine geistigen Funotionen gingen langsamer, 
mühsamer, schwerfälliger von statten, die geistige Energie- und Willenslosigkeit 
wurden auffälliger. Aber immer wieder dazwischen machten sioh Zeiten freieren 
geistigen Befindens geltend, in denen „das frühere Gemüth, der frühere Humor, 
die frühere geistige Lebhaftigkeit, Frische und Klarheit G. K.’s zum Vorschein 
kamen.* Noch im März erhielt S.S. von Frankfurt den Eindruck bei Gelegenheit 


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Aerztliohes Gutachten aber zweifelhafte Testirfähigkeit. 


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eines Besaohs, dass es sieh bei G. K. ,am eine baldige völlige Wiederherstel¬ 
lung“ handele, während viele andere Zeugen za selchen Zeiten den „ früheren 
K.“ wieder za finden glaubten. 

Mitte Mai worden Symptome der Thrombose der rechten Vena oruralis and 
allmäliger stärkerer Verfall beobachtet. Die Näohte worden jetzt rahiger, der 
sohlammersächtige Zastand herrschte Tag wie Maoht vor, immer mehr spielten 
traumhafte Eiinnerungen und lebhafte phantastische Aeusserungen in das wache 
Geistesleben hinein, immer mehr herrschte ein geistiger Traum- und Dämme- 
rungszustand vor, der G. K. mehr in die Tage der Vergangenheit zurückfübrte, 
als in der Gegenwart sich zureohtfinden Hess, der mehr phantastischen als reellen 
Inhalt hatte, bis endlioh in allmäliger Absohwächung der 15. Juli dem armen 
Dulder die lange vorher geahnte, zuletzt sicher erwartete und ersehnte Erlösung 
braohte. Aber bis in die letzte Zeit vor dem Tode kamen stets nooh geistig 
freiere Stunden, in denen das frühere Geistesleben G. K.’s, wenn auoh in abge- 
sobwächter Weise, sich regte und zeigte, so dass viele Zeugen nooh bis Anfang 
Juli den Geisteszustand G. K.’s als frisch, klar, original wie früher, also als un¬ 
verändert sohildem konnten. 

Debereinstimmend geben sie an, dass G. K. während dieser Momente und 
Stunden die frühere geistige Frisohe und Klarheit bewies und insbesondere in 
Bezug auf sein Gedächtniss, sei es nun für längst vergangene, sei es für un¬ 
mittelbar vorhergegangene Vorgänge jeder Art, ungesohwächt war. Die directen 
Angaben der Zeugen R. K., J. R. aus Berlin, Prof. S., A. F., Bibliothekar M., 
C. S., W., der Diaconissin G. beweisen dies genügend sicher. 

Einige dieser Angaben sind geradezu charakteristisch für die Erhaltung des 
Gedächtnisses nach allen Riohtungen bei G. K., während Dr. H. das Gedächtniss 
für längst vergangene Vorkommnisse als vorzüglioh erhalten annahm, Dr. G. das 
für „unmittelbar Vorgefallenes“. 

Auoh der Umstand sprioht dafür, dass G. K. nooh bis in die spätesten 
Krankheitsstadien hinein sich mit literarischen Gedanken nicht nur an kleinere 
feuilletonistische Arbeiten, sondern selbst an grosse literarische Werke trug, zu 
deren Ausführung ihm nach dem erfahrenen Eindruck der Zeugen weniger die 
geistige als die körperliche Kraft mangelte. 

loh kann bei dieser Gelegenheit nioht unterlassen, auf das vielfaoh Wider¬ 
sprechende der Zeugenaussagen aufmerksam zu machen, wenn sie den geistigen 
Zustand G. K.’s zu sohildern versuchen. Es liegt dies vor Allem an den wechseln¬ 
den Zuständen, die das geistige Leben K.’s während der Krankheit darbot. Je 
naoh den einzelnen Tagen, den verschiedenen Tageszeiten, an denen die Besuche 
der Zeugen stattfanden; ja oft vielfach abhängig von zufälligen, äusseren und 
inneren, Momenten, die auf G. K. während eines einzelnen Besuches Einfluss 
hatten, mussten die Besucher davon abhängig einen anderen, einen wechselnden, 
Eindruck vom Kranken erhalten. Dem Zeugen Forstmeister M. entging dieser 
rasche, unerwartete Wechsel des Zustandes G. K.’s nioht, wie er sioh selbst bei 
einem Besuche geltend maohte. 

Sodann kommt dazu die grosse Schwierigkeit für den Laien, solohe ab¬ 
norme Geisteszustände riohtig zu beobachten und zu beurtheilen, das Riohtige 
und Wesentliche herauszufinden und vom Unwesentlichen und Zufälligen zu 
unterscheiden. Dass aber trotzdem so viel Uebereinstimmendes daraus sioh ge- 


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Dr. Wille, 


winnen lässt, spricht doch io überzeugender Weise dafür, dass eben eine grosse 
Anzahl Zeogeo bis in die letzte Lebenszeit G. K.’s Gelegenheit hatten, zeitweilig 
seinen Geisteszustand, wenn anoh nicht „in früherer Frische“, was wohl etwas 
euphemistisch ansgedrückt ist, aber dooh in solcher Weise klar and bewasst za 
beobachten, dass sie den Eindraok des Normalen, Gesunden, Unveränderten 
davon gewannen. 

Es ist zunächst jetzt die Frage zu beantworten, an welcher 
Krankheit G. K. die letzten 2—3 Jahre seines Lebens gelitten hat. 
Da die Herausgabe seines „Martin Salander“ in das Jahr 1886 fällt, 
müssen wir selbstverständlicher Weise bis zu dieser Zeit völlige 
geistige Integrität bei G. K. annehmen, wennschon der Inhalt dieses 
Werkes sich in wesentlichen Dingen von seinen früheren Werken 
unterscheidet. Der Einfluss des höheren Alters auf das Gehirn und 
davon abhängig auf die geistigen Thätigkeiten hat sich bei dem mehr 
als 65jährigen Herrn schon in gewisser Weise geltend gemacht. 

Auch das literarische Stillschweigen G. K.’s von dieser Zeit an, 
abgesehen von einigen späteren unbedeutenden gelegentlichen Ver¬ 
öffentlichungen, in Verbindung mit leichteren körperlichen Störungen, 
lässt auf diesen Einfluss schliessen. Es hatte sich nicht nur ein kör¬ 
perliches, sondern auch ein geistiges ßuhebedürfniss bei ihm geltend 
gemacht. „Er sollte nichts mehr schreiben als sein Testament. Es 
falle ihm schwer, er bekomme Kopfschmerzen davon“ (Zeuge A. F.). 

Der Beginn auffälliger centraler Störungen und damit der eigent¬ 
lichen Krankheit wird im Winter 1888 auf 1889 beobachtet, um sich 
von da an in wechselndem Verlauf bis zum Tod fortzusetzen. Es 
handelt sich dabei um eine Hirn-, respective Geistesstörung des Grei- 
senalters, für deren Ausbruch die erfahrene Gemüthserregung 
durch den Tod der Schwester den äusseren Anstoss gab, 
während die wesentliche Grundlage, also Ursache derselben 
gewebliche Veränderungen der Arterienwandungen bilden, 
die eine mangelhafte, unregelmässige Ernährung der Organe, denen 
sie das Blut, also das Ernährungsmaterial, znführen, und davon ab¬ 
hängig eine krankhafte Function derselben bedingen. Es sind Men¬ 
schen, die eine vorzugsweise sitzende Lebensweise führen, dabei reich¬ 
lich leben, viel Alkohol und Tabak consumiren, die zu dieser Gefäss- 
veränderung besonders beanlagt sind, also unter Bedingungen stehen, 
die bei G. K. zutreffen. Nach ihnen richtet sich wesentlich der Grad 
der krankhaften Gefässveränderung und der davon abhängigen functio- 
nellen eventuell anatomischen Störungen der Organe. 


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Aerztliches Gutachten über zweifelhafte Testirfähigkeit. 73 

Die dadurch bedingten centralen, nervösen und psychischen, Stö¬ 
rungen (und sie sind es, die hier vorzugsweise in Frage kommen) sind 
darnach verschiedenartig. 

Die Psychiatrie fasst sie je nach den Krankheitserschei- 
nun gen in folgende drei Gruppen zusammen: 

1. Fälle, bei denen nur allein das geistige Leben eine Störung 
zeigt in der Form hypochondrischer, melancholischer oder leichter 
maniakalischer Verstimmungen; sodann von aus Wahnideen, meistens 
Verfolgungs- und Bestehlungswahn allein, oder aus solchen Wahnvor¬ 
stellungen und Hallucinationen gemischte Störungen, also solche mit 
dem Charakter der Verrücktheit. 

2. Fälle, die von Anfang an mit Erscheinungen geistigen Ver¬ 
falls, anhaltender Bewusstseinsstörung und körperlicher Abschwächung 
auftreten, die vorzugsweise als intellectuelle Abschwächung, Vergess¬ 
lichkeit vorwaltend in Bezug auf jüngste Vorkommnisse, als unklares 
Denken, Mangel an Orientirungsfähigkeit in Bezug auf Zeit und Raum 
und damit zusammenhängende Urtheilsschwäche, als Schwer- und Un¬ 
besinnlichkeit sich geltend machen, wobei aber meistens auch Gemüth 
und Wille in gleichem Sinne der Abschwächung betheiligt sind. Un¬ 
aufhaltsam im weiteren Krankheitsverlauf, hie und da mit dazwischen 
liegenden vorübergehenden leichteren Besserungen, kommt es zu völ¬ 
ligem, geistigen Verfall mit körperlicher höcbstgradiger Schwäche bis 
Lähmung, die früher oder später tödtlich enden. 

Es sind dies die als „Dementia senilis“ speciell bezeichneten 
Fälle, die sich klinisch und anatomisch zunächst an die ärztlich als 
Paralysis progressiva, vulgo Hirnerweichung, bezeichnete Hirnkrank¬ 
heit anschliessen. 

3. Fälle, bei denen das geistige Leben nur leichtere Störungen, 
oft nur in vorübergehenden Krankheitsanfällen, entweder mit den Er¬ 
scheinungen der Fälle der 1. Gruppe oder mit denen zeitweiliger 
deliriöser Zustände, meist verbunden mit leichteren Bewusstseinsstö¬ 
rungen und mässigen geistigen Schwächeerscheinungen zeigt, bei denen 
aber vom Anfang der Krankheit an, oder erst im weiteren Krank¬ 
heitsverlaufe schwerere körperliche centrale Störungen auftreten, die 
nicht selten durch krampf- oder schlagartige Anfälle, oder durch 
schwere Störungen in anderen Organen frühzeitig den Tod herbei¬ 
führen, unter anderen Umständen aber auch durch längere Jahre sich 
hinziehen können. 

Die Untersuchung lehrt, dass es sich in anatomischer Be 


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74 


Dr. Wille, 


zielrang bei den Fällen der 1. Gruppe um einfache, leichtere, meist 
vorübergehende cerebrale Störungen, sogenannte nutritive oder functio¬ 
neile handelt. 

Bei der 2. Gruppe handelt es sich dagegen um eine schwere 
anatomische resp. organische Hirnkrankheit, deren anatomische Grund* 
läge der Zerfall des Hirngewebes in Form allgemeiner Hirnatrophie 
und davon abhängigem Hydrocephalus bildet. 

Bei der 3. Gruppe handelt es sich um diffuse allgemeine leich¬ 
tere, nutritive Störungen des Hirns, wie solche die Fälle der 1. Gruppe 
charakterisiren. 

Ihnen gesellen sich aber locale, organische Hirnstörungen, in 
Form vorübergehender oder bleibender Erweichungsheerde, seltener von 
localen Hirnblutungen bei. 

In Bezug auf die Handlungsfähigkeit in civilrechtiicher 
Beziehung, die hier allein in Betracht fällt, gehören die Fälle der 
1. und 3. Groppe unter die sogenannten zweifelhaften Fälle, bei denen 
demnach der Nachweis des Vorhandenseins oder des Mangels der Dis¬ 
positionsfähigkeit den Gegenstand einer den Einzelfall betreffenden 
ärztlichen Untersuchung bildet. 

Bei den Fällen der 2. Gruppe ist die Dispositionsfähigkeit in 
der Regel und im Allgemeinen nicht mehr fraglich oder zweifelhaft, 
sondern als von Anfang an als mangelnd zu betrachten. Dabei ist 
aber das Vorkommen von einzelnen Fällen nicht ausgeschlossen, denen 
gegenüber während einzelner günstigerer vorübergehender Verlaufs¬ 
stadien eine vorübergehende Handlungsfähigkeit, meist nur mit rela¬ 
tivem Charakter, für bestimmte bürgerliche Acte nicht ausgeschlossen 
ist, wie für Testiren, Zeugschaft leisten etc. etc. 

Ich durfte es nicht unterlassen, die allgemeinen Sätze von der 
Lehre der centralen Störungen des Greisenalters zur Wegleitung für 
die Nichtärzte anzuführen, um ihnen dadurch das nach den Gesetzen 
ihnen zukommende selbstständige Urtheil über den vorliegenden Fall 
zu ermöglichen, resp. zu erleichtern. 

Wenn ich diese allgemeinen Sätze auf den vorliegenden Fall in 
Anwendung bringe, so kann es keinem Zweifel unterliegen, dass der¬ 
selbe der 3. Gruppe der centralen Greisenkrankheiten zu¬ 
gerechnet werden muss. Es handelt sich bei ihm um einfache Reiz¬ 
erscheinungen im Gemüthsleben, die sich als wechselnde hypochon¬ 
drische oder melancholische Verstimmungen mit bald stärkeren, bald 


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Aerztliohes Gutachten über zweifelhafte Testirfahigkeit. 


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leichteren Hem mangsvorgängen im Gebiete des Mechanismus des 
Geistes, in der Form verlangsamter geistiger Operationen, des Den¬ 
kens and Wollens, charakterisiren. 

Vorübergehend am Schluss des Selisberger und während der 
Dauer des Badener Aufenthaltes und in den ersten Tagen nach der 
Rückkehr nach Zürich traten dazwischen, besonders nächtlicher Weile, 
mit einer gewissen Selbstständigkeit, deliriöse Erscheinungen bei G. K. 
auf. Es fanden dieselben in vorübergehenden, erregenden Einflüssen, 
durch gemüthliche Einwirkungen bei Gelegenheit des 70jährigen Ge¬ 
burtstages, durch die warmen Bäder Badens und endlich durch Alko¬ 
hol ihre Veranlassung, den der durch Alter und Krankheit Geschwächte 
zeitweilig in von früher her gewohnten Mengen zu sich nahm, ohne 
sie wie früher ertragen zu können. 

Diese deliriösen Erscheinungen bilden eine vorüber¬ 
gehende, gleichsam für sich abgeschlossene Episode, die 
mit Wegfall der temporären Reize wieder verschwand. 
Gegen Ende Januar 1890, nach Ablauf der Influenza, änderten sich 
die Krankheitserscheinungen insofern, als die gemüthlichen Verstim¬ 
mungen mehr zurücktraten, an Intensität und Dauer sich vermin¬ 
derten, an deren Stelle sowohl locale Hirnstörungen in der Form 
rechtseitiger Schwäche und von Sprachstörungen, als auch allgemeine 
diffuse Hirnstörungen, in der Form der Schlaftrunkenheit und traum¬ 
hafte Delirien, traten, die aber alle vorübergehenden Charakters waren, 
im weiteren Verlauf aber einen immer mehr vorherrschenden Cha¬ 
rakter, aber selbst bis zum Lebensschluss im Wechsel mit luciden 
Geisteszuständen, gewannen. 

Bei dem Mangel anhaltender hochgradiger geistiger, speciell 
intellectueller, Schwächeerscheinungen bis zum Mai 1890, ist man 
ärztlich nicht berechtigt, als anatomische Grundlage dieser Erschei¬ 
nungen höher gradige Hirnatrophie als Ausfluss des stattgefundenen 
Zerfalls zahlreicher und ausgedehnter centraler nervöser Elemente 
anzunehmen. 

Die in den Acten niedergelegte ärztliche Annahme „der Hirn¬ 
atrophie als Todesursache* ist weder klinisch beweisbar, noch 
weniger ist sie anatomisch durch die Section bewiesen worden. Sie 
ist einfach nach mündlicher Mitteilung des betreffenden Herrn Col- 
legen während der Zeugenvernehmung aus formellen Giünden zu 
Stande gekommen (v. Acten). 

Es sprechen die bis zum Lebensende immer wieder sich geltend 


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Dr. Wille, 


machenden, Standen dauernden laciden Interralle des Kranken viel¬ 
mehr dafür, dass es sich während der schiammersüchtigen Verlaufs¬ 
stadien vorwiegend, selbst noch nach dem Mai, am vorübergehende 
cerebrale Drackerscheinangen hydrocephalischer Natur handelte. 

Ich darf zur Erklärung der immer wieder sich geltend machen¬ 
den luciden Intervalle ausserdem auf den Umstand aufmerksam 
machen, dass G. K.’s reich und stark angelegte cerebrale resp. geistige 
Natur an sich schon geeignet war, krankhaften Einflüssen gegenüber 
grösseren Widerstand zu leisten und dadurch hervorgerufene Störungen 
immer wieder auszugleichen, als dies schwächeren geistigen Consti¬ 
tutionen möglich gewesen wäre. — 

Auf Grund dieser ärztlichen, auf den in den Acten enthaltenen 
Beweisangaben beruhenden Erwägungen muss ich die erste Frage nach 
dem Geisteszustand G. K.’s während der letzten Jahre dahin beant¬ 
worten, dass ich die civilrechtliche Handlungsfähigkeit, soweit sie 
durch den Krankheitszustand des Dr. G. K. während der letzten 
Lebensjahre bedingt ist, nur für die Zeit während des Badener Auf¬ 
enthaltes, von Mitte August bis Mitte December 1889, für eine nicht 
immer, sondern nur für kürzere Zeiträume, aufgehobene ansehen kann. 

Ich muss sie ferner für die deliriös schlummersüchtigen Stadien 
des späteren Krankheitsverlaufes als aufgehoben annehmen, während 
sie für die übrige Zeit der Krankheit, insofern der Kranke ausserhalb 
des schlummersüchtigen Zustandes sich befand, also während des Be¬ 
standes der luciden Intervalle, die von Weihnachten 1889 bis zum 
Ende April 1890 noch die vorherrschenden Erscheinungen im Geistes¬ 
zustand Dr. K.’s waren, für gegeben resp. erhalten angenommen wer¬ 
den müssen. 


Ad II. 

Wenn ich nun zur Beantwortung der II. Frage übergehe, wie 
der Geisteszustand Dr. G. K.’s zur Zeit des Testirens war, 
so kann ich auf Grund der Acten ohne allen und jeden Anstand 
mich nicht anders aussprechen, als dass G. K. zu dieser Zeit im Zu¬ 
stand eines freien geistigen Intervalls sich befand. Die eingehenden 
und übereinstimmenden Angaben der Herren Professor Sch., Dr. B., 
Notar K., Professor St. und der P. L., die ja durch ihre Beobach¬ 
tungen für die fragliche Zeit allein nur im Stande waren, über den 
fraglichen Geisteszustand Auskunft zu geben, lassen absolut keine 
andere Annahme zu, da diese Zeugen durch Bildung und Charakter, 


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Aerztliches Gutachten über zweifelhafte Testirfähigkeit. 


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wie durch Wissen nnd Erfahrung, als absolut glaubwürdige, als 
.klassische“ Zeugen dastehen. 

Alles, was wir durch sie über die Gedanken und Beden, das 
Benehmen und Handeln G. K.’s zu dieser Zeit erfahren, lassen keine 
andere Annahme zu. Es stehen ferner diese Angaben in Ueberein- 
stimmung mit denen der früher angeführten Zeugen über den Geistes¬ 
zustand G. K.’s während der Zeit von Weihnachten bis und nach dem 
Neujahr 1890. Es ist diese Annahme endlich um so gerechtfertigter, 
als durch die Erscheinungen und Verlaufsweise solcher krankhaften 
Zustände und speciell des uns beschäftigenden, dieselbe als eine im 
Allgemeinen in der Art und Weise des Verlaufs dieser Krankheits- 
processe liegende ist, die ja die Testirfähigkeit selbst noch in einem 
viel späteren Krankheitsstadium, wenn sie während eines luciden 
Intervalls in Anspruch genommen worden wäre, als erhalten an¬ 
nehmen lassen muss. 

Wenn der Kläger, Herr Nationalrath Sch., aus der Annahme, 
dass „G. K. der Meinung war, Dr. Sch. sei der einzige Verwandte, 
und er hätte überhaupt keine erbberechtigten Verwandten“, bei Dr. 
G. K. zur .Zeit der Testamentserrichtung die natürliche Willensfähig¬ 
keit als mangelnd beweisen will, so ist dieser Beweis nicht stich¬ 
haltig. Er ist es nicht, weil G. K. zu dieser Zeit nach den Acten 
auch von anderen noch vorhandenen Verwandten sprach, weil G. K. 
in der Verwendung und Verwerthung der gesetzlichen Bestimmungen 
über Testiren als Laie zu betrachten ist, der zwischen Erb- und 
P fl ich tthei 1-Berechti gten keinen scharfen Unterschied machte, und end¬ 
lich vor Allem, weil man aus dem Vorhandensein oder dem Mangel 
einer einzelnen geistigen Erscheinung nicht auf den gesammten Geistes¬ 
zustand eines Menschen schliessen kann und darf (vide Schreiben des 
Herrn Nationalrath Sch. vom 24. Juni 1891). 

Wenn demnach die intellectuelle Einsicht in die Natur 
und die Folgen der civilrechtlichen Handlung bei Dr. G. K. 
als eine sicher gestellte angenommen werden muss nach dem Acten- 
inhalt, so spricht der letztere in gleicher Weise bestimmt für die 
damals vorhandene Willensfreiheit. Es ergiebt sich aus dem¬ 
selben mit gleicher Sicherheit, dass die Absicht so zu testiren, wie 
er später in Wirklichkeit testirte, weder eine durch fremden Einfluss 
aufgedrungene, noch auch zur Zeit des Testirens erst durch Ueber- 
redung herbeigeführte ist. 

Die übereinstimmenden Angaben der Zeugen B. M. von Roben- 


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78 


Dr. Will», 


hausen, Frau Oberst M., Prof. Ad. F., P. L., Prof. St., Dr. H., Alb. 
F., Prof. G., Bibliothekar M., Forstmeister M., C. B.-Z., Prof. R., 
Lehrer J. M., Dr. A. St. lauten dahin, dass G. E. seit dem Tode 
der Schwester, ja gelegentlich schon vorher, solche Absichten äusserte, 
dass dieselben im Verlauf der Zeit eine immer bestimmtere Gestalt 
annahmen, um schliesslich in der im Testament vorliegenden Gestalt 
zur Ausführung gebracht zu werden. 

Ich halte es für höchst wahrscheinlich, dass gerade die ausser* 
gewöhnlichen Ehrungen, die Dr. G. E. bei Gelegenheit seines 70jih¬ 
rigen Geburtstages von Seiten der schweizerischen und zürcherischen 
Behörden, des ganzen Schweizervolkes, ja der ganzen deutschen 
Völkerfamilie erfahr, diese Gedanken und Absichten als Ausfluss 
natürlicher, dankbarer Gesinnung reiften. 

Wenigstens steht damit in Zusammenhang, dass diesfallsige 
Aeusserungen Dr. E.’s von dieser Zeit an häufiger wurden und eine 
bestimmtere Gestalt annahmen, um endlich zur Zeit des Testirens als 
Ergebniss ureigener Geistes- und Gemüthsarbeit in abgeschlossener 
Weise zum Vorschein zu kommen. Auch ich, der ich zwar G. E. 
nur aus seinen Werken und aus gelegentlichen Unterredungen mit 
Menschen, die in mehr und weniger häufige persönliche Berührung 
mit ihm gekommen waren, kannte, muss meiner Ueberzeugung Aus¬ 
druck geben, dass der ideale Inhalt des Testaments so vollständig 
dem Charakter, der geistigen Individualität Dr. E.’s, seinem auf das 
Gemeinnützige, Allgemeine und Humane gerichtete Streben entspricht, 
dass jede andere Fassung desselben unter den gegebenen Verhältnissen 
mein Befremden, weil für mich psychologisch unverständlich, erregt hätte. 

Mit Recht konnte daher 0. Br. G. E. nach seinem Testament 
„als zweiten Winkelried“ mit poetischer Freiheit bezeichnen. 

Nicht weniger psychologisch verständlich sind mir das Ueber- 
gehen von Verwandten und insbesondere das völlige, scharf absichtlich 
ausgedrückte Ignoriren des Elägers, Herrn Nationalrath Sch.’s im 
Testament (v. Acten S. 25. Replik von Herrn Dr. jur. Pf.). 

Wie sich während der letzten Jahrzehnte die geistige Natur G. 
E.’s allmälig umwandelte, ist aus seinen Werken, seinen sonstigen 
Schriftstücken und gelegentlichen Aeusserungen bekannt genug. Diese 
Art und Weise der geistigen Metamorphose musste ihn in Gegen¬ 
satz mit den kleinlichen und kleinen Interessen seiner Verwandten, 
insbesondere aber mit den Bestrebungen und der Art und Weise 
ihrer Aeusserung und Durchführung Seitens des Elägers, bringen. 


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Aerztliohea Qnt&ohten äbar zweifelhaft« Teatirf&higkeit. 


79 


G. K.’s durch und durch gerade, wahre, ideale und ausserge- 
wöhnlich starke geistige Natur musste gerade diesen Verhältnissen 
und Personen gegenüber die Stellung einnehmen, die sie thatsächlich 
einnahm. Es musste einerseits eine gewisse Gleichgiltigkeit gegen¬ 
über den Einen, von denen nur Die eine Ausnahme erfuhren, die 
ganz entsprechend der oft genug launen- und schrullenhaften Natur 
des Dichters »eine äussere K.’sche Familienähnlichkeit“ darboten, 
andererseits eine bestimmte Abneigung gegenüber dem Anderen, die 
bis zum Gefühl des völligen Nichtvorhandenseins allmälig anwachs, 
sich ausbilden. 

Zur psychologischen Rechtfertigung auch dieser Annahme dienen 
ferner die Aeusserungen der vorhin genannten Zeugen über das Ver¬ 
hältnis Dr. G. K.’s zu seinen Verwandten und speciell zu Herrn 
Nationalrath Dr. Sch. Es scheint mir, dass die in den Acten ent¬ 
haltenen gegentheiligen Zeugenaussagen ihnen gegenüber bedeutungs¬ 
los sind. 

Die psychologische Würdigung der geistigen Individualität Dr. 
K.’s wie die Zeugenaussagen ergeben demnach übereinstimmend das 
Vorhandensein der nöthigen Willensfreiheit zur Zeit des 
Testirens. 

Ich komme demnach zum Sohluss, indem ich die richterliche 
Fragestellung dahin beantworte, 

»dass der Erblasser zur Zeit der Errichtung des 
Testaments seinen bewussten Willen gehabt habe, 
beziehungsweise des Vernunftgebrauchs nicht be¬ 
raubt gewesen sei.“ 

Dies bezeugt nach Wissen und Gewissen 

Prof. L. Wille. 

Basel, den 25. August 1891. 


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6 . 

T«d darch Peatal bei Gelegenheit eiaer Zahaeperatiaa. 

Mitgetbeilt vom 

Kreisphysikus Dr. Ireane in Soest. 


Das Pental ist eine vom Professor v. Mering entdeckte Kohlen- 
wasserstoffverbindung von der Formel (OH 3 ) 2 CCH CH 3 . Das che¬ 
misch reine Präparat siedet bei 38 0 und hat ein specifisches Gewicht 
von 0,65, ist farblos und unlöslich im Wasser. Sein Geruch wird 
mit dem der Hoffmannstropfen verglichen. 

Der Professor der Zahnheilknnde Dr. Hollaender und der Pro¬ 
fessor der inneren Medicin Dr. Weber zu Halle haben das Mittel 
sehr oft angewandt und seine Verwendung bei Zahnoperationen und 
leichten chirurgischen Eingriffen empfohlen. Die betäubende Wirkung 
tritt nach dem Einathmen von 5—10 g innerhalb weniger Minuten 
ein und dauert etwa so lange, als zur Vollendung der betreffenden 
Operation nöthig ist. Das Excitationsstadium wird als kurz dauernd 
und mässig bezeichnet, nur bei Alkoholikern als heftig. Es scheint, 
dass bei der Anwendung dieses Betäubungsmittels dieselben Gegen¬ 
anzeichen vorhanden sind, wie bei der Anwendung der anderen An- 
aesthetica. — 

Mit Pental sind unzählige Versuche angestellt, und da unlieb¬ 
same Folgen seitens der Kliniker meines Wissens nicht beobachtet 
wurden, musste seine Anwendung auch in die Hand der Praktiker 
übergehen. 

Die Zahnärzte sowohl als die Zahnkranken waren hier sehr be¬ 
friedigt, bis am 23. April 1892 sich ein Todesfall ereignete. 

Am 24. April wurde die gerichtliche Obduction gemacht und 
hatte folgende Ergebnisse, welche ich des seltenen Falles wegen voll¬ 
ständig mittheile. 


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Tod durch Pental bei Gelegenheit einer Zahnoperation. 


81 


A. Aeussere Besichtigung. 

1) Die Leiohe gehört einem Knaben von etwa 14 Jahren an. Der Körper 
ist 1,46 m lang, im Allgemeinen nur massig gut genährt und wenig kräftig 
gebaut. 

2) Die Farbe des Körpers ist an dem vorderen Tbeile im Allgemeinen 
blass, jedoch werden ausgedehnte blaurothe Stellen an der äusseren Seite der 
beiden Oberschenkel und auf dem Rücken wahrgenommen; Einschnitte in diese 
letzteren ergeben, dass im Unterhautzellgewebe Blut nioht angesammelt ist, son¬ 
dern sioh solches aus den durohsohnittenen Gefässen entleert. Auch beim stark 
einwirkenden Druck auf die blaurothen Hautstellen schwindet die Färbung 
derselben. 

3) Auf den beiden Brusthälften ist die Oberhaut in derLängonausdehnung 
von etwa 20 cm und in der Breite von 30 om gelbbraun gefärbt; sie fühlt sioh 
an diesen Stellen trooken und lederhart an, auoh ist sie lederhart zu sohneiden. 
Auf den Schnittflächen zeigt sioh die Haut lederartig und entbehrt vollständig 
des unterliegenden Fettgewebes. 

Aus den Einschnitten dringt ein deutlicher Geruch nach Kampher hervor. 

4) Solche lederartige Hautstellen werden noch auf beiden Schienbeinen in 
der Länge von etwa 12—15 om und in einer Breite von 4 om vorgefunden. 

Einschnitte ergeben auch hier dieselben Verhältnisse, wie sie unter tio. 3 
geschildert sind. Auoh an der Innenseite des linken Kniegelenks ist eine solche 
Stelle wahrnehmbar im Durchmesser von 2 cm; desgleichen eine solche über den 
vorderen oberen Darmbeinspitzen im Durchmesser von je 4 cm; desgleichen auf 
beiden Oberarmen unterhalb der Schulterhöhe, desgleichen über beiden Ell¬ 
bogengelenken; Einschnitte in alle diese Stellen ergeben dieselben Verhältnisse 
wie zu 3. 

5) Der Kopf ist reiohlioh mit dunkelblonden Haaren bedeckt. 

6) Die Augenlider sind geschlossen, die Hornhäute durohsichtig, Regen¬ 
bogenhäute blaugrau, Pupillen sehr erweitert, aber gleioh weit, die Augäpfel 
prall. Beim Oeffnen der Augenlider gewahrt man eine quer über jeden Augapfel 
unterhalb der Hornhäute sich vom äusseren nach dem inneren Augenwinkel hin¬ 
ziehende 2 mm breite blassröthliche Färbung der Augenbindehäute. 

Die Färbung ist daduroh hervorgerufen, dass zahlreiche äusserst feine Ge- 
fasse dort in den Bindehäuten verlaufen; Einschnitte an diesen Stellen ergeben 
kein Blut im Gewebe. Die blassroth gefärbten Streifen liegen genau an den 
Stellen der Augäpfel, wo die beiden Augenlider Zusammentreffen. 

7) Die beiden Ohrmusoheln haben eine blaurothe Farbe, Einschnitte er¬ 
geben, dass sich aus den durohsohnittenen Gefässen mehrere Tropfen flüssigen 
sohwarzrothen Blutes entleeren. 

8) Die natürlichen Oeffnungen des Kopfes sind frei von fremden Körpern. 

9) Die Mundhöhle ist geschlossen. Die Schleimhaut der Lippen ist sehr 
blass; die Zahnreihen stehen auf einander, die Zähne sind gesund. In der rechten 
Hälfte des Unterkiefers fehlt der dritte Baokenzahn, im linken Oberkiefer fehlt 
gleichfaüs der dritte Baokenzahn. Zwisohen den sichtbaren Vorder- und Backen- 

Vlette|Jaiinsehr. f. ger. Med. Dritte Folge. V. 1. 6 


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82 


Dr. Breoime, 


zahnen liegt eine braanrothe Flüssigkeit von derselben Beschaffenheit, wie sie 
sich in den Zahnlücken befindet, aas welchen die zwei Backenzähne ent¬ 
fernt sind. 

10) Am Halse and im Naoken ist die Oberhaat anverletzt. 

11) Der Kopf ist nicht ungewöhnlich beweglich. 

12) Der After ist geschlossen. 

13) Die Todtenstarre ist io allen Gelenken vorzüglioh vorhanden. 

14) Die Mascalatar der Gliedmaassen ist ausserordentlich fest. 

15) Leicbengeruoh fehlt. 

16) Im Uebrigen ist keine Spar einer Verletzung vorhanden. 

B. Innere Besichtigung. 

I. Brust- und Bauchhöhle. 

17) Es wird ein Schnitt vom Kinn bis zur Schambeinfuge geführt und 
durch denselben zunächst die Bauchhöhle eröffnet. Die Organe der letzteren be¬ 
finden sich in regelmässiger Lage, die Därme drängen sich stark vor. 

18) Der quere Theil des Dickdarms sowohl, als die dünne Därme sind 
stark aufgetrieben. 

19) In der Bauohhöhle befinden sich ungefähr 150 g einer braunrothen 
Flüssigkeit ohne besonderen Geruch. 

20) Beim Oeffnen der Bauchhöhle ist allseitig ein deutlicher Geruch von 
Aether wahrgenommen. 

21) Da der Verdacht einer Vergiftung vorliegt, so wird zuerst die Bauoh¬ 
höhle weiter geöffnet. 

a) Bauchhöhle. 

22) Das Zwerohfell liegt auf der rechten Seite in der Höhe der vierten, 
auf der linken in der Höhe der fünften Rippe. 

23) Alsdann wird dicht über demMagenmunde der untereTheil der Speise¬ 
röhre doppelt unterbunden, sowie auch um den Zwölffingerdarm unterhalb der 
Einmündung des Gallenganges doppelte Ligaturen gelegt werden. Zwisohen 
diesen werden beide Organe durchschnitten. Hierauf wird der Magen mit dem 
Zwölffingerdarm im Zusammenhang herausgenommen. 

24) Nachdem der Magen in vorgeschriebener Weise geöffnet ist, entleert 
sich aus ihm eine schmutzig braune Flüssigkeit, welche keinen besonderen Ge¬ 
ruch darbietet. Weder in dieser Flüssigkeit, noch auch auf der Sohleimhaut des 
Magens befindet sich etwas Besonderes ausser einer kleinen Menge glasigen 
Schleimes. 

Die Magenschleimhaut selbst zeigt eine starke Faltenbildung und hat eine 
rothbraune Farbe. An keiner Stelle wird eine Verletzung nachgewiesen. 

25) Der Zwölffingerdarm hat denselben Inhalt, wie der Magen, seine 
Sohleimhaut hat eine rothbraune Farbe und ist unverletzt. 

26) Magen, Zwölffingerdarm und Inhalt derselben wird in ein besonderes, 
reines Glasgefäss gethan. 

27) Das grosse Netz ist sehr wenig entwickelt und vollständig fettlos und 
ohne besondere Gefässentwiokelung. 


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Tod daroh Pental bei Gelegenheit einer Zahnoperation. 


83 


28) Der obere Theil des Dünndarms hat denselben Inhalt wie der Hagen, 
seine Sohleimbaat ist braanrotb, die Qaerfalten sind gat gebildet. 

29) Es wird nooh ein Stück von diesem Darmtheil and seinem Inhalt in 
das oben beschriebene Glas za No. 26 gethan. 

30) Der untere Theil des Dünndarms hat eine rothbraane Schleimhaut and 
einen breiigen Inhalt von brauner Farbe, welcher einen besonderen Qeraoh nioht 
darbietet. Sowohl die einzelnen, als die gehäaft stehenden Drüsen dieses Darm- 
theils zeigen nichts Ungewöhnliches. 

31) Der Diokdarm enthält viel Gas mit deutlichem Geruch nach Schwefel¬ 
wasserstoff. 

Ausserdem befindet Hob in demselben breiiger gelbbrauner Koth, die 
Schleimhaut ist blassroth und unverletzt. 

32) Der Mastdarm ist leer, seine Schleimhaut blassroth. 

33) Die Milz ist 11 cm lang, 7 om breit und 3 l /j om dick, die Oberfläche 
ist stahlblau. Der Durchschnitt braun, das Balkengewebe gut ausgebildet, die 
Consistenz des Organs gut, der Blutgehalt nicht auffallend vermehrt. 

34) Die linke Niere ist 10 cm lang, b x / 2 cm breit, 3 cm dick. Die äussere 
Oberfläche ist glatt, die Kapsel gut abziehbar, die Farbe der Oberfläche braun- 
roth; beim Durchschnitt entleert sich auf die Oberfläche eine reichliche Menge 
schwarzrothen Blutes. Die Rindensubstanz hat eine graubraune Farbe, die Mark¬ 
substanz dagegen ist dunkelbläulich gefärbt. 

35) Die linke Nebenniere ist 4 om lang und 1 om breit, ihre Oberfläche ist 
braun, Marksubstanz gelblich, Zwischenschicht dunkelroth. 

36) Die rechte Niere ist von derselben Grösse und Beschaffenheit, wie die 
linke, ebenso die rechte Nebenniere. 

37) Die Harnblase ist vollständig leer, stark zusammengezogen, die Schleim¬ 
haut ist blass. 

38) Die Hoden zeigen niohts Bemerkenswerthes. 

39) Die Bauchspeicheldrüse ist sehr stark entwickelt, auf dem Darohschnitt 
blassroth. 

40) Die Leber ist 22 cm breit, 18 om hooh, 7 V 2 om diok. Die obere 
Fläche der Leber ist glatt, hat eine braunrothe Farbe. Naoh dem Darohsohneiden 
fiiesst dunkelkirschrotbes Blut ab, welches zum Theil aufgesammelt und in ein 
reines Glasgefäss gethan wird. Die Farbe des Durchschnittes ist dunkelbraun- 
roth. Die Leberläppchen sind deutlich siohtbar, aussen zeigt sich ein heller 
Ring, das Innere ist dnnkelbraunroth. 

41) Die Gallenblase enthält etwa 30 g Galle. Wenn diese Galle in ein 
reines weisses Poroellangefäss geschüttet ist, so hat sie in dünner Sohicht ein 
gelbliches Aussehen, in dicker ein dunkelkirsohrothes. 

Es wird Blut ebenfalls in ein reines Poroellangefäss gethan behufs Ver • 
gleiohung, dasselbe zeigt sowohl in dünner als dioker Sohicht das gleiche dunkel- 
kirschrothe Aussehen. 

Die Gallenblase selbst ist unversehrt. 

42) Die untere Hohlader ist ziemlich reichlich mit dunkelkirsohrothem Blut 
gefällt. Dieses Blut wird in dasselbe Gefäss gethan, in welohem bereits das Blut 
aus der Leber sub No. 40 sich befindet. Stückchen aber von Leber, Milz und 
Nieren werden in ein drittes reines Glasgefäss gethan. 

6 * 


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84 


Dr. Bremme, 


b) Brosthöhle. 

43) Naohdem das Brostbein vorsohriftsmässig entfernt ist, zeigt sieh die 
rechte Longe wenig, die linke mehr zoräokgesonken. 

44) In beiden Brustfellsäcken befinden sich etwa 20 oom einer blassrotheo 
Flüssigkeit ohne besonderen Gernoh. 

45) Die reohte Longe ist an ihrer hinteren and anteren Fläohe mit der 
Rippen wand and bezw. dem Zwerchfell sehr fest verwachsen. 

Die linke Longe ist vollständig frei. 

46) Im Herzbeotel befindet sich keine Spor von Flüssigkeit. 

47) Das Herz selbst übertrifft die Grösse der Faost des Knaben ond hat 
eine Länge von 10 om, eine Breite von 8 om. Die Kranzgefässe sind besonders 
an der hinteren Fläche stark mit Blot gefüllt. Die linke Herzhälfte ist got zu- 
sammengezogen and fühlt sich starr an, die rechte Herzhälfte ist sohlaff. 

Daraof wird das Herz in seiner Lage geöffnet; dabei findet sich, dass der 
rechte Vorhof sowohl, als die reohte Herzkammer blotleer sind, während in der 
linken Herzkammer noch etwa 15 g eines dankten theerartigen flüssigen Blotes 
gefonden werden. 

Die Vorhofskammerklappen sind für 2 Finger dorchgängig. Daraof wird 
das Herz aas der Leiche genommen. 

Es entleeren sich aas den Gefässen, welche in den rechten Vorhof münden, 
etwa 30 g eines theerartig dunklen flüssigen Blotes. 

Aas dem Gefässe, welohes in den linken Vorhof mündet, fliessen etwa 
20 g Blotes von derselben Beschaffenheit zurück. 

Die Wandong der linken Herzkammer hat eine Stärke von lV 4 om, die¬ 
jenige der rechten Kammer eine solche von 6 mm. — Der Durchmesser der Aorta 
sowohl, als der Lungenschlagader beträgt je l 1 /, cm. — Die halbmondförmigen 
Klappen sind durch Wasseraufguss dicht befunden. 

Das in dem Herzen und in den grossen Gefässen Vorgefundene Blot wird 
in dasjenige Glasgefäss gethan, in welchem sich bereits das Blot za No. 40 
befindet. 

48) Darauf werden Lungen, Kehlkopf, Zunge in ihrer Gesammtheit aus der 
Leiche genommen, nachdem sich vorher noch gezeigt hat, dass die grossen Blut¬ 
adern am Halse leer und die Nervenstämme anverletzt sind. 

49) Die linke Lunge ist auf der Oberfläche blaoroth marmorirt, an den 
Rändern fühlt sie sich knisternd an, in der Mitte fühlt man weniger Knistern 
und eine etwas stärkere Härte des Gewebes. Beim Durohschnitt des oberen Lap¬ 
pens der linken Lunge entsteht reichliches Knistern, and Druck aaf die Durch¬ 
schnittsflächen bewirkt eine starke Entleerung sohaumiger Flüssigkeit von hell- 
rother Beschaffenheit. Auch haben die Durchsohnittsfläohen ebenfalls ein hell- 
rothes Aussehen. 

Der Durchschnitt des unteren Lappens der linken Lunge hat ein donkel- 
rothes Aussehen, Druck aof die Schnittflächen entleert weniger reiohliohen Schaum 
von dunkelrother Beschaffenheit. 

50) Die reohte Lunge zeigt auf der Oberfläche besonders an ihrer unteren 
und an ihrer hinteren Fläohe als Folge ihrer Verwachsung mit der Umgebong 
reiohliohen häutigen Belag. 

In den beiden oberen Lappen wird alles so vorgefunden, wie es an dem 


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Tod daroh Pental bei Gelegenheit einer Zahnoperation. 


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oberen Lappen der linken Lange gesohildert ist, in dem unteren Lappen der 
rechten Lange hingegen so, wie es bei dem unteren Lappen der linken Lange 
beschrieben ist, aber in auffallender Weise maoht siob gleioh nach der Bildung 
der Durchschnitte der Umgebung allseits ein starker Geruch naoh Aether kund. 

Im Uebrigen ist in dem Gewebe der Lunge nichts Krankhaftes vorge¬ 
funden. 

51) Der Kehlkopf hat keinen Inhalt, ebensowenig die Luftröhre, die Schleim¬ 
haut beider hat ein hellrothes Aussehen, besonders stark ist dieses zwischen den 
Knorpelringen ausgeprägt; bei Druck auf die Langen entleert sich nooh etwas 
blatiger Schaum. 

52) Die Zange ist von einer starren Härte, äbnlioh wie die Muskulatur der 
Gliedmassen. 

53) Weder an den Mandeln, nooh an dem Zäpfohen ist etwas Auffallendes 
zu bemerken. 

54) Die Speiseröhre hat eine blasse unverletzte Sohleimbaut, ein Stückchen 
derselben wird in das Gefäss, in welchem sioh Magen nnd Mageninhalt befinden, 
gelegt; auch wird ein Stüok von jeder Lange in das Gefäss nnter No. 42 gethan. 

II. Kopfhöble. 

55) Die Kopfhaut wird durch einen quer von einem Ohr zam anderen lau¬ 
fenden Schnitt gespalten and naoh vorn and hinten zurückgeschlagen. Dabei 
zeigt sioh, dass im Gewebe weder vorn nooh hinten Blut vorhanden ist. 

56) Das abgesägte Schädeldaoh ist leicht, darohsichtig in der Gegend der 
ehemaligen grossen Fontanelle. Die Fingereindrüoke sind wenig vertieft, die Ge- 
fässfuroben aber deutlich. Es fällt ein bläuliches Aussehen der inneren Sobädel- 
fläohe auf. Die Sägefläche hat einen Durchschnitt von 3—5 mm, von denen 
etwa die Hälfte von der gefässreiohen Zwisohensubstanz in Ansprach ge- 
nommea wird. 

57) Die harte Hirnhaat ist auf der äusseren Fläche blass and zeigt eine 
geringe Entwicklung der Gefässe. 

Der grosse Längsblutleiter ist leer. 

Die innere Fläche der harten Hirnhaat ist gleichfalls blass. 

58) Die weiohe Hirnhaat zeigt eine auffallende geringe Gefässfüllung, sie 
ist feuoht, glatt und glänzend. Die Furohen sind wenig ausgeprägt. 

Auf der rechten Hälfte der weichen Haut sind reiohliche Paoohioni’sche 
Drusohen vorhanden. Die weiohe Haut lässt sich von der Hirnsubstanz leicht 
abtrennen. 

59) Darauf wird das Gehirn aus seiner Höhle genommen. 

Dabei zeigt sich keine Ansammlung von Blot in den Schädelgraben. 

60) In den beiden Unterhörnern der Seilenböhlen des Grosshims finden 
sioh etwa 4 g einer blassrothen Flüssigkeit, die übrigen Theile der beiden Höhlen 
sind leer, auch die dritte Höhle ist leer. 

61) Die Gefässplatte ist darohsichtig, and das Adergefleoht ist nur wenig 
mit Blut gefüllt. 

62) Seh- und Streifen-Hügel zeigen sich aaf dem Durohsohnitt auffallend 
blass und trocken, auch bei verschiedenen Durchschnitten der Hirnsubstanz zeigt 
sioh nur hier und da ein Blutpankt, die graae Substanz ist hellgrau. 


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Dr. Bramme, 


63) Die vierte Höhle ist leer, auch das Kleinhirn ist sehr blass, nar hie 
und da entleert sioh Blnt ans den durchschnittenen Qefässen. 

64) Die Brücke ist blass und fest, wie auch das verlängerte Mark. 

65) Die Querblutleiter an der Schädelgrandfläche sind sämmtlioh reichlich 
gefüllt mit dnnklem theerartigen Blute. 

66) Beim Abziehen der harten Hirnhaut zeigt sioh, dass die Knochen un¬ 
verletzt sind. Ein Stück Gehirn wird in das Gefäss unter No. 42 gelegt. 

Hierauf wurde die Obduction geschlossen und gaben die Obdu¬ 
centen ihr vorläufiges Gutachten dahin ab: 

1. Dass der Tod des Denatus durch Lungenödem erfolgt ist. 

2. Da die Ursache dieses Lungenödems durch die Obduction 

nicht aufgeklärt ist, so beantragen die Obducenten, indem 
sie die Glasgefässe mit den aus der Leiche entnommenen 
Theilen dem Herrn Untersuchungsrichter zur Verfügung 
stellen, die chemische Untersuchung jener Theile.- 

Die Aussagen des Zahnarztes vor Gericht lauten: 

„Heute kam der Patient zu mir, um sich 2 Backenzähne aus- 
ziehen zu lassen. Auf seinen Wunsch wandte ich zur Linderung der 
Schmerzen Pental an. Es wurden 4—5 g verbraucht, die Betäubung 
trat nach etwa einer Minute ein. Als die Zähne entfernt waren, 
spuckte der Patient nach Auffordern aus, dann fiel derselbe in Ohn¬ 
macht und starb. Ich schickte sofort zu mehreren Aerzten, welche 
die begonnenen Wiederbelebungsversuche fortsetzten, allein ohne Erfolg.“ 

Bei der Betäubung war die eingeübte Frau des Zahnarztes zu¬ 
gegen. 

Demnach ist der Zahnkranke eines plötzlichen Todes durch Herz¬ 
lähmung gestorben. 

Am Schlüsse des Obductionsprotokolls habe ich die am meisten 
in die Augen springende Erscheinung des Lungenödems als Todes¬ 
ursache angegeben, zumal aus der ßlutvertheilung in den beiden 
Herzhälften, bezw. in den ihnen das Blut zuführenden Gefassen mit 
Sicherheit der Tod weder durch Erstickung, noch durch Herzlähmung 
entstanden angenommen werden konnte (35 gegen 30 g). 

Da aber aus der Aussage des Zahnarztes hervorgeht, dass der 
Kranke am Ende der Betäubung in einem Ohnmachtsanfall, also 
durch Synkope, geendet hat, so stehe ich nicht an, jetzt den Schluss 
des Obductionsprotokolls dahin zu verändern, dass 

1. „Denatus dureh Herzlähmung seinen Tod gefunden hat.“ 

Zweifellos geht aus dem bedeutenden Lungenödem hervor, dass das linke 
Herz sohon gelähmt war, als das rechte nooh einen Augenblick in Thätigkeit sioh 


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Tod dnroh Pental bei Gelegenheit einer Zabnoperation. 87 

befand. Als das letztere znm Stillstand gelangte, bewirkten nooh die sohwaoh 
bestehende Athmnng, möglichcherweise auch die Wiederbelebangsversucbe, die 
sofort angestellt wurden, eine gewisse Blutfülle in den aum rechten Vorhof füh¬ 
renden Blutadern. Gegen die Annahme, dass Kohlensäureanhäufung im Blute 
den Tod durch Erstickung herbeigeführt habe, spricht die geringe Gabe des Pen- 
tals und die Angabe des Zahnarztes in Betreff der Art des Todeseintritts. 

Ferner: Der zweite Satz des vorläufigen Gutachtens musste lauten: 
2. Da die Ursache der Herzlähmung aus der Obduction nicht 
erhellt, so wird die chemische Untersuchung der zurück¬ 
gestellten Leichentheile beantragt. 

Dass diese Untersuchung zunächst auf Pental gerichtet sein musste, lag 
klar zu Tage. 

Sie geschah am 13. Mai. 

Demnach war das Ergebniss derselben natürlich ein negatives. 

Aus dem in einem den Acten beigegebenen Gläschen noch Vorgefundenen 
Reste an Pental ging hervor, dass während der Betäubung nur 6—7 g gebraucht 
waren. — 

Aus dem Obductionsprotokoll ist ersichtlich, dass die Leichenerscheinungen 
nach Vergiftung durch Pental denen nach Tod durch Chloroform, bezw. Chloral- 
hydrat ähnlich sind (s. J. Borntiäger, diese Vierteljahrsschrift, N. F., 1890, 
Bd. 53, H. 1,8. 19 u. 77). 

a) Die Fäulnisserscheinungen sind gering. 

b) Todtenstarre stark, sowohl an den Muskeln der Gliedmassen, als des 
U nterkiefers, als der Zunge und an dem Herzmuskel. 

c) Todtenfleoke umfangreich. 

d) Blassrother Streifen quer über die beiden Augäpfel, in der Augenbinde¬ 
baut derselben an den Stellen verlaufend, wo die Augenlider beim Schluss Zu¬ 
sammentreffen. (Einwirkung des verdunstenden Pentals.) 

e) Pupillen sehr weit. 

f) Blut dünnflüssig, dunkelkirsohroth bis schwarzroth. Gasblasen nirgends 
bemerkt. 

g) Herz: Dicke Herzkammer starr;, in der linken Kammer 1 Esslöffel 
flüssiges, schwarzrothes Blut, rechte Kammer leer. Daher die Annahme, dass 
die linke Kammer zuerst gelähmt war. 

h) Lungen stark ödematös. 

i) Organe des Unterleibes: Milz und Bauchspeicheldrüsen roässig blut¬ 
haltig, Leber und Nieren reichlich bluthaltig. 

k) Harnblase zusammengezogen, leer. 

l) Kopfhöhle: Im Ganzen blutarmes Gehirn, nur Blutfülle in den Querblut¬ 
leitern der Sohädelgrundfläche und im Schädelknochen selbst. (Bläuliches Aus¬ 
sehen der inneren Fläche des Schädeldaches.) 

m) Urin fehlt. 

n) Pentalgeruch naoh dem Oeffnen der Bauchhöhle und beim Durch¬ 
sohneiden der rechten Lunge. 

Aus der Obduotion geht ausserdem hervor, dass niobt allein am Herzen, 


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88 


Dr. Bremme. 


sondern auch an den Athmnngsorganen leichte Verändernngen vorhanden waren. 

Das Herz übertrifft die geballte Fanst des Knaben nnd bat eine Breite von 
8 cm and eine Länge von 10 om. Die Wandungen der linken Kammer haben 
einen Durchmesser von 1 f / 2 cm, die der rechten von 6 mm. Die halbmondför¬ 
migen Klappen sind dicht befanden, die Vorhofskammerklappen für zwei Finger 
durchgängig (47). Die rechte Lange ist an ihrer hinteren and unteren Fläohe 
mit der Rippenwand, bezw. mit dem Zwerchfell fest verwachsen (45). Di« rechte 
Lange zeigt aaf ihrer hinteren and unteren Fläche als Folge ihrer Verwachsung 
mit der Umgebung einen reichlichen häutigen Belag (50). 

Somit hat der Knabe vor längerer Zeit eine rechtsseitige 
Langen- and Rippenfellentzündung darohgemacht (höchstwahr¬ 
scheinlich auch zur Zeit der Operation an Herzklopfen gelitten), 
wofür auch der mä'ssige Ernährnngsstand spricht. 

Selbstverständlich war der Zahnarzt nicht im Stande, bei seinem 
Patienten weder das Verwachsensein der rechten Lunge mit der Um¬ 
gebung an dem abgeschwächten Athmen jener, bezw. an der gemin¬ 
derten Ausdehnungsfähigkeit der rechten Brusthälfte zu erkennen, noch 
auch das Herzklopfen richtig zu deuten, und die Vergrösserung des 
Herzens nachznweisen. Höchstens konnte er — wie öfters — an 
dem Zahnkranken eine gewisse Aufregung bemerken, welche bisher 
niemals von üblen Folgen beim Betäuben begleitet gewesen war. 

Da nun aus dem Zeugniss der Ehefrau hervorgeht, dass der 
Zahnarzt genau nach den Vorschriften der Kliniker bei der Betäu¬ 
bung und beim Eintreten des Unglücksfalls gehandelt hat, so kann 
eine Fahrlässigkeit nicht angenommen werden, zumal nach 
der Ministerial-Verfügung vom 29. November 1860 und derjenigen 
vom 4. December 1891 den approbirten Zahnärzten die Verordnung, 
mithin auch die Anwendung der Betäubungsmittel gestattet ist, — 
ohne ihnen die Verpflichtung aufzuerlegen, den Gesundheitszustand 
der zu betäubenden Personen vorher durch einen praktischen Arzt 
feststellen zu lassen. 


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7. 


Bedeitug der Zeichen fltar wiederhelte Gebart. 

Von 

Dr. §ehilling, 

KreUphysikus in Querfurt. 


Nicht selten wird dem Geriohtsarzte eine Frauensperson, welche auf Grand 
von Leategerede oder zufälligen Auffindens einer Kinderleiche im Verdachte steht, 
vor längerer oder kürzerer Zeit heimlioh geboren and das Kind vorsätzlich amge¬ 
bracht za haben, mit dem Aufträge zugeführt, darch eine sofortige Untersaohang 
festzastellen, ob die Betreffende anlängst geboren habe, ob das Kind reif ge¬ 
wesen and wie lange Zeit etwa seit der Niederkunft verstriohen sei, widrigenfalls, 
wenn der Verdaoht unbegründet erscheine, sofortige Entlassung der Inhaftirten 
verfügt werde. 

So sicher die bekannten Zeiohen sind, welohe die erste Gebart eines 
reifen oder naheza reifen Kindes, weniger einen einmaligen Abort oharakterisiren, 
so unsicher erweisen sich die einzelnen in den Lehrbüohern aufgeführten Zeiohen 
wiederholter Gebart vor strenger Kritik, sobald längere Zeit seit der fraglichen 
Gebart vergangen ist. Bisweilen bringt das Ensemble aller aafgefundenen Merk¬ 
male die vom Staatsanwalt aufgeworfene Frage zar positiven Entscheidung, 
häufiger muss sioh der Arzt mit der Wahrscheinlichkeit stattgehabter Gebart be- 
guägen oder za dem Aasspraohe, weloher den Richter am wenigsten befriedigt 
und die Untersuchung nicht immer fördert, verstehn, dass die ärztliohe Unter¬ 
suchung keinen sicheren Anhalt für eine derartige Annahme gewährt. 

Zweifellos artheilt der Arzt anbefangener und richtiger, wenn er von den 
Untersachnngsacten vorläufig keine Kenntniss nimmt, überhaupt nioht die Rolle 
eines Anklägers spielt and nar aas den am Körper gefundenen anatomischen 
Veränderungen einen Schloss zieht. 

Die Schwierigkeit, die Frage stattgehabter wiederholter Gebart positiv za 
bejahen, liegt darin, dass die so überaus charakteristischen Kennzeichen der 
ersten Schwangerschaft and Entbindung, namentlich die Milchsecretion, Striae 
und Ausdehnung der Bauohdeoken, Pigmentation der Warzen und Linea alba, 
Einrisse an den äusseren und inneren Genitalien, nicht wieder in gleichem Maasse 
bei derzweiten und dritten oder späteren Geburt auftreten, also theilweise fehlen oder 


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Dr. SohiHing, 


bereits zur Zeit der Exploration gesobwundeD sind. Mit Recht unterscheidet 
deshalb Liman bei der Diagnose der Oeburt dauernde und schwindende 
Kennzeichen. Kommen keine neuen Einrisse an den gedehnten Genitalien za 
Stande und sind die Zeichen allgemeiner Körpersohwäohe, die jede Geburt mit 
seltenen Ausnahmen in den ersten Wochen begleiten, bereits überwanden, so 
bleiben noch die grössere Targescenz and Milohsecretion der Mammae, neue 
Striae an den Baaohdecken and je nach der frühen oder späten Untersuchung, 
dem normalen oder anormalen Verlauf des Wochenbettes, Vergrösserung des 
Uterus und blutig-eitriger oder eitriger Aasfluss als diagnostisch verwerthbare 
Merkmale übrig. Auch unter der Zahl dieser wenigen Gharacteristiken fällt bis¬ 
weilen nooh das eine oder andere aus. Der Wochenfluss besteht unter gewöhn¬ 
lichen Verhältnissen nur so lange, als die Involution der Genitalien dauert und 
hat schon 4 Wochen post partum nur noch zweifelhafte Anhaltspunkte. Die neuen 
Gutiseinrisse in der Bauchhaut sind bei Mehrgebärenden selten reiohlich, fehlen 
meist und sind unter zahlreichen grauweiss glänzenden alten Narben schwer 
mit Sicherheit als solche zu constatiren, abgesehen davon, dass sie durch andere 
• Ursache als Schwangerschaft gelegentlich hervorgerufen sein können. 

Es bleibt demnach der Milchgehalt der Mammae als wichtigstes Griterium 
übrig. Milch lässt sich schwer mit andern Flüssigkeiten verwechseln und mikro¬ 
skopisch, makroskopisch und durch die Zunge bei grösseren Mengen sioher nach- 
weisen. Ein grösserer Gehalt bei einer Frau, die im Verdachte steht, unlängst 
geboren zu haben, erregt nach landläufigen Begriffen und der Erfahrung, dass 
die Brustdrüse mit der Entwickelung der Genitalien im Pubertätsalter auffallend 
an Umfang zunimmt und zuerst in der zweiten Hälfte der Schwangerschaft Milch 
produoirt, mit grösster Wahrscheinlichkeit den Verdacht, dass die Anschuldigung 
begründet sei. Der Verdacht behält seine Sicherheit für Frauen, die geboren haben, 
wenn die Secretion bei Müttern, die nicht stillen, etwa 10—12 Woohen dauert 
(Hoffmann). Wie steht es aber, wenn man nach 5 Monaten denselben Gehalt 
und kein Wässrigwerden (Liman) in dieser Zeit vorfindet? 

Zweifellos giebt es im Leben auch Frauen and Mädohen, welche permanent 
Milch prodaoiren, ohne überhaupt geboren zu haben, mag dieser Satz auch zu 
den Ausnahmen des Naturgesetzes gehören. Hat man es nun bei der gerichtlichen 
Untersuchung mit einem solchen Ausnahmefalle zu thun, für dessen Wahrheit 
es keinen andern Anhalt als längere Beobachtung und etwaige subjective An¬ 
gaben der Angesohuldigten giebt, so wüide man ungereohter Weise die Ange- 
sohuldigte belasten, wie folgende Beobachtung lehrt, wenn man allein aus dem 
Milohbefund das Ueberstandenhaben einer Geburt erschliessen wollte. 

Eine in der Mitte der Dreissiger stehende, schlank gebaute, mittelkräftige 
Frau, welche vor 10 Jahren ein reifes Kind unehelich geboren hat, verheirathet 
sich und pflegt vor wie nach unehelichen Umgang, während der Mann zum Mili- 
tärdienste eingezogen ist. Eines Tages wird sie in das Gefängniss eingeliefert, 
weil eine Kindesleiche in einer Kiste an ihren Wohnsitz per Post eingesandt 
wird, allerdings an die Adresse eines jungen Mannes, der unbetheiligt ist, aber 
als Weiberfeind gilt, und ihr Mann nnd andere Zeugen sie ehedem für schwanger 
gehalten und sie sich ihres Kindes entledigt glaubten. Während der Exploration 
erzählt sie, etwa vor 4 Wochen einen heftigen Blutsturz aus den Genitalien ge¬ 
habt zu haben, nachdem sie vorher mehrere Monate ihr Blut nioht gehabt habe; 


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Bedeutung der Zeichen für wiederholte Gebart. 


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indessen sei dies bei ihr nichts Ungewöhnliches, weil sie von jeher anregelmässig 
menstrnire, bald monatelang die Menses nioht habe, bald wochenlang an starkem 
Blatabgang leide. 

Die Untersuchung ergab eine massig genährte Frau mit starken Brösten 
and reichlichem Milchgehalt, starker Pigmentation des Warzenbofes, grosser 
Sohlaffheit der Bauchdecken, auf jeder Seite des Unterleibes zwei bräunlichrothe, 
andeutliche frische Striae, blutigeitrigen, an Lochien dem Geruch naoh erinnern¬ 
den Ausfluss und Vergrösserung des Uterus, indessen keine frischen Narben am 
Damme, in der Scheide und am äusseren Muttermunde. 

Der Befund an den Brüsten und dem Leibe, die Vergrösserung des Uterus 
und der Ausfluss erregten den Verdacht bis zur Gewissheit, dass die Person un¬ 
längst, wahrscheinlich ein reifes oder nahezu reifes Kind geboren haben müsse. 
Und doch erwies sich diese Annahme naoh längerer Beobachtung und wieder¬ 
holter Untersuchung als unsicher and schliesslich als falsch. 

Bei jeder gerichtlichen Vernehmung behauptete die Frau, dass sie stets 
Milch in ihren Brüstrn habe, öfter an Blutsturz gelitten, aber seit 10 Jahren 
nioht mehr geboren habe, ja überhaupt nach Aussage von Aerzten, die sie früher 
behandelten, nicht mehr gebären könne. Deshalb erging nach 6 Wochen ein er¬ 
neutes Ersuchen seitens des Amtsgerichtes an mich, die Beschuldigte noch ein¬ 
mal zu untersuchen und mich unter Berücksichtigung ihrer Angabe von neuem 
zu äussern. 

Wiederholt hatte ich als Gefangenenarzt Gelegenheit gefunden, die be¬ 
treffende Frau zu sehen und legte ich dabei das Hauptgewiobt auf den Miloh- 
befund in den Brüsten, welchen Liman als ein höchst werthrolles Criterium 
überstaodener Geburt bezeichnet, weil nur in höohst seltenen Ausnahmen un¬ 
zweifelhaft Milch ohne vorangegangenes Gebären bei Jungfern und 
Wittwen. die lange nicht geboren haben, vorkomme. Die spärlichen, 
undeutlichen Striae berücksichtigte ich weniger, da sie unsioher als solche zu 
bezeichnen waren und bisweilen am Abdomen durch krankhafte Ausdehnung 
erzeugt werden, obsohon es anwahrscheinlich war, dass die Frau ein schweres 
Unterleibsleiden vor Kurzem überstanden hatte. Es fand sich nun in der Zeit 
zwischen den Menses eine geringe Abnahme der Secretion und während der 
Menstruation selbst ein stärkeres Turgesoiren und stärkere Füllung der Brüste. 

Die Beobachtung, welohe fast 5 Monate umfasste und bei Ausschluss jeder 
Gelegenheit zu geschlechtlichem Umgang noch nachträglich eine 3—4 Wochen 
lange Blutung bei der Exploranda ermittelte, lehrte mioh, dass die Milchdrüsen 
der Angeklagten zweifellos peruAnent secernirten und dass nicht hlos bei Jung¬ 
fern und Wittwen, die lange nioht geboren haben, wie Liman berichtet, sondern 
auch bei verheiratheten Frauen, ohne dass sie geboren haben, eine dauernde 
Milcbsecretion vorkommt. 

Ueber diese Ausnahmefälle bietet die Literatur wenig oder gar keinen An¬ 
halt. Eulenburg’s Realen cyklopädie enthält keine Notiz darüber. Ploss er¬ 
zählt nichts von steter Thätigkeit der Mammae bei Frauen. Nur Villaret sagt: 
„Auch eine allerdings spärliche Milcbsecretion ausserhalb des Woohenbettes 
kommt bei gynäkologisch kranken and nervösen Frauen vor.“ Bei unserer An¬ 
geklagten fand sich in den 4—5 Monaten naoh der letzten Menorrhagie während 
der Haft beständig Miloh vor, deren Menge in den Pausen zwisohen den Menses 


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Dr. Schilling. 


etwas naohliess, aber kurz vor Wiedereintritt derselben unter grösserer Turges- 
oenz des Mammagewebes und während der langen letzten Blatang zanahm. Als 
Ursache der Dysmenorrhoe ergab sich eine Knioknog and Vergrösserang des 
Uterus. Da man vielfach die Mammae za den Geschlechtsorganen des Weibes 
reohnet and dadurch die Wechselbeziehung zwischen beiden andeutet, so bestand 
vielleicht in der sexuellen Reizung durch die Retroversio uteri ein Grund zu der 
permanenten Milchproduction, ohne dass man sagen kann wie, da es unzählige 
Frauen ohne Retroversio uteri giebt, denen jene Erscheinung fremd ist. — 

Meine später auf diesen Gegenstand gerichteten Beobachtungen bestätigten 
schliesslich, was ich jüngst bei Rheinstädter unter dem Kapitel Schwanger¬ 
schaft las: „Es lässt sioh ein milchiges Serum aus vielen jungfräulichen Brüsten 
ausdrücken; Sohwellung und Milobgehalt der Brüste tritt auoh bisweilen bei 
Niohtschwangern auf, wenn sie an Tumoren des Uterus oder der Ovarien leiden.* 


Literatur. 

1) Hoffman, Gerichtliche Medicin. II. 

2) Casper-Liman, Gerichtliche Medioin. VII I. 223. 

3) Villaret, Handwörterbuch der Medicin. 

4) Ploss, Das Weib in der Völkerkunde. 

5) Rheinstädter, Praktische Grundsätze der Gynäkologie. 


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8 . 

EU Fall Sarggebart 

Von 

Dr. Moritz, 

Kreisphysikus za 8chlochau in Wettpreussen. 


Der längere Aufsatz von Bleisoh aber einen Fall von Sarggebart im 
Band III dieser Vierteljahrsschrift (3. Folge, 1892) veranlasst miob, über einen 
ganz ähnlichen, vor Karzern von mir beobachteten Fall in Karze za berichten. 
Meiner kurzen Darstellung dos Saohverhalts brauche ioh ausführliche epikritisohe 
Bemerkungen nicht hinzazafügen, da die letzteren kaum etwas Anderes als eine 
Wiederholung der Bleisoh’sohen Ausführungen würden sein können. 

Aus dem von dem Herrn Untersuchungsrichter mir gütigst zur Verfügung 
gestellten Actenmaterial entnehme ioh Folgendes: 

Die Pächterfrau R., etwa 35 Jahre alt, bekam am Sonntag den 19. Juni 
Naohts gegen 12 Uhr Geburtswehen, nachdem sie Sonntag Abends noch ganz 
munter und gesund gewesen war. Um etwa 12 Uhr erschien die Pfuscherfrau K. 
und untersuchte die Kreissende, welche in vollen Geburtswehen auf dem Schoosse 
ihres Ehemannes sass, konnte das Kind aber nicht entwickeln. Die Kreissende 
wurde zu Bette gebracht, wo die K. wiederum vielfache Manipulationen bei der 
Kreissenden vornahm, den Kopf zu fühlen behauptete, sioh aber ausser Stande 
erklärte, das Kind zu entwickeln; um etwa 7 Uhr Morgens starb die R., ohne 
dass das Kind geboren war. Die Beerdigung fand drei Tage danach, am 
23. Juni, statt. In Folge einer Denunciation des Gendarmen vom 5. Juli wurde 
gegen die K. wegen Hebammenpfuscherei und ev. fahrlässiger Tödtung die Vor¬ 
untersuchung eröffnet, und im Verlauf derselben nach vielfachen Zeugenverneh¬ 
mungen endlioh, auf den 28. Juli, also 38 Tage naoh dem Tode, 35 Tage 
nach der Beerdigung, die Section der Leiche der R. anberaumt. DieSeotion 
ergab folgenden für die Beurtheilung des Falles wesentlichen Befand: 

A. Aeussere Besichtigung. 

1) Die Leiohe der etwa 35 Jahre alten Frau ist 157 cm lang, Fettpolster 
und Musoalatur gut entwickelt. 


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94 


Dr. Moritz, 


2) Die Haut ist im Allgemeinen schmutzig weissgrau, im Gesioht grüngrau 
nnd gedunsen, &nf dem Räoken verwaschen grüngrau, an Brust and Baach 
ebenso, an den Innenseiten der Oberschenkel sohmatzig graaroth. Am ganzen 
Körper ist die Oberhaut in Blasen von Erbsen- bis Hähnereigrösse abgehoben; 
die Blasen sind theils mit P&ulnissgas gefüllt, theils sind sie geplatzt, so dass 
die Oberhaut in Falten zasammengesanken ist. 

3) Verwesungsgerach stark, obere und untere Gliedmassen in allen Ge¬ 
lenken leicht beweglich. ... 

5) . . . Bindehäute schmutzig grüngrau, . . . Augäpfel völlig matsch und 
tief eingesunken. . . . 

6) . . . Lippen schwarzblau und feuoht. 

7) . . . Unterleib stark aufgetrieben. . . . 

8) Zwischen den mässig gespreitzten Obersohenkeln lag die 
Leiche eines männlichen Kindes von 2 s / 4 kg Gewicht, 49 cm Länge, 
und mit sämmtlichen Zeichen der völligen Reife. Dasselbe war 
an Achseln und Leisten mit käsiger Schmiere bedeckt, und völlig 
weiss beschimmelt. Das Kind lag mit dem Rüoken nach oben, der 
Kopf lag in der Kniegegend der Mutter und war nach vorn und links 
gebeugt; die Füsse lagen dicht bei den Geschlechtstheilen der 
Mutter. (Die vorstehende Schilderung betrifft die Lage, welche Mutter und 
Kind im Sarge hatten.) Von der Mitte des Bauches der Fruoht ging 
die 47 cm lange Nabelschnur aus, welche bleistiftdick, etwas platt, 
blauschwarz und weich beschaffen war. Am anderen Ende der 
Nabelschnur befand sich der Mutterkuchen als blausohwarze 
schmierige Masse von brüchiger weicher Beschaffenheit, fast 
kreisförmiger Gestalt und einem Durchmesser von 16 cm. Die 
Nachgeburt lag zum grössten Theil frei zwischen den mütter¬ 
lichen Sohenkeln, und hing mit einem Theil ihres Randes noch an 
der Gebärmutter fest. Die letztere war vollständig aus den Ge¬ 
schlechtstheilen hervorgestülpt und lag als fast mannskopf¬ 
grosser Körper, ihre Innenwandung vollständig nach aussen ge¬ 
kehrt, daroh Fäulnissgase aufgetrieben und prall gespannt, zwi¬ 
schen den Sohenkeln der Leiche. Mit ihr zugleich war die Scheide 
hervorgestülpt, so dass auch deren Schleimhaut nach aussen ge¬ 
wandt war. Die Schleimhaut der Gebärmutter und der Scheide war 
im Allgemeinen glatt und schmutzig röthlichgrau mit grünliohen 
Flecken; nur an der Ansatzstelle der Nachgeburt, vorn unten, war 
sie rauh und schwarzgrün. Die grossen Schamlippen waren mit 
ihrer Innenfläche stark nach aussen gewandt, zwisoben ihnen und 
der hervorgestülpten Gebärmutter ragten mit ihren vorderen plat¬ 
ten und schmutzig grüngrauen Rändern die kleinen Schamlippen 
hervor. ... 

B. Innere Besichtigung. 

1. Schädelhöhle. 

10) ... Beim Durchschneiden der harten Hirnhaut . . ., flieset das Gehirn 
als dÜDne, etwas fadenziehende, röthlicb graue, stark stinkende Masse aus. . . . 


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Original frnm 

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Gin Pali von Sarggebart. 


95 


II. Brast- and Baachhöhle. 

11) .... Bei Eröffnung der Baaohhöhle entweicht aas derselben viel 
äbelrieehendes Gas. Die vorliegenden Darmschlingen sind stark von Gas 
aufgetri eben. 

13) Die Gebärmutter liegt nicht in der Baaohhöhle. An der 
Stelle, welche dem inneren Muttermunde entspricht, stülpt sich 
der Baachfellüberzag nach den äasseren Geschlechtstheilen hin 
aas and bildet an der Aosstülpangsstelle eine qaerovale Oeffnung 
von 3cm Länge and 7 2 cm Breite. Am Rande dieser Oeffnang bildet 
der Baachfellüberzag einen Kranz feiner radiär gestellter Falten. 
Bei Druck auf die vor den äasseren Gesohleohtstheilen liegende 
aasgestülpte Gebärmutter tritt aas der eben beschriebenen Um- 
stülpangsöffnang reichlich übelrieohendes Gas, dabei sinkt die 
Gebärmutter zusammen und lässt sich schliesslich leioht in die 
Bauchhöhle zurückstülpen. . . . 

14) Zwerohfellstand beiderseits der 5. Rippe entsprechend. 

a) Brusthöhle. 

(Die Brustorgane zeigen aasser der stark vorgeschrittenen Verwesung nichts 
Bemerkenswertes.) 

b) Baachhöhle. 

(Vorgeschrittene Fäalniss, besonders an Milz, Nieren and Leber.) 

33) Die Wandung der Gebärmutter ist überall ziemlioh gleichmässig 6 mm 

dick, grauweiss and sehr brüchig, unverletzt. Die zarückgestülp te 

Gebärmatter misst in der Quere 13, in der Länge vom Grande bis 
zam inneren Mattermande 16 cm. . . . 

36) Magen von Gas ziemlich stark ausgedehnt, . . . 

40) Dünndarm von Gas stark aafgetrieben, . . . 

41) Diokdarm stark gashaltig,. . . 


Unser vorläufiges Gatachten lautete folgendermassen: 

1. Es handelt sich um dieLeiohe einer Kreissenden, die vor Vollendung 
der Entbindung starb. 

2. In Folge der vorgeschrittenen Fäalniss war die Todesursache, durch 
die Section allein, nicht mehr mit Sicherheit festzustellen. 

3. Ob es sich um Verblutung handelte, oder welches sonst die Todes¬ 
ursache war, und ob die Schuld eines Dritten an dem Tode vor¬ 
liegt, wird sich mit einiger Sicherheit erst nach Kenntnissnahme 
der Vorgänge während des Gebäractes, bis zum Tode, beurtheilen 
lassen. 

Auf Befragen erklären wir noch, dass die Austreibung des Kindes aus dem 
Leibe der mütterlichen Leiche erst im Sarge, durch Druok der Fäulnissgase, 
stattgefunden hat'). 


*) Die Section der Fruoht wurde von Seiten des Gerichts nicht angeordnet, 
und, deshalb von uns leider unterlassen. 


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96 


Dr. Moritz. 


Nach der eingehenden Bespreohnng, welohe erat vor Kurzem (diese Viertel¬ 
jahrsschrift 1892, Bd. III, S. 38 ff.) Bl eis oh den Sarggebarten gewidmet hat, 
habe ich über den vorbeschriebenen Fall nar wenig za sagen. Die Kreissende 
starb vor der Gebart des Kindes; vom Tode bis zar Beerdigung vergingen drei 
Tage; im Augenblick der Beerdigung selbst befand sich die Fruoht noch im 
Mutterleibe. Dass hier an „postmortale Wehen“ (Reimann) gedacht werden 
könnte, ist also absolut ausgeschlossen. Anderseits war eine so grosse Menge 
von Fiiulnissgasen im Abdomen der Leiche vorhanden, und deren Druok ein so 
grosser, dass dieser Druok zur Austreibung der normal gelagerten Frucht mehr 
als hinreichen musste. 

Wir hatten es also mit einem Falle von Sarggeburt zu thun, der zweifellos 
ausschliesslich auf die Wirkung der Fäulnissgase zurüokzuführen ist. 


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II. Oeffentliches Sanitätswesen. 


l. 

Berliner HerUlitätsttatistik toi acht Kraakheitca. 

Von 

Dr. ▼. Voller. 


Für die medicinische Statistik ist die wichtigste Eigenschaft einer 
Bevölkerung ihre Gesundheit. Dieselbe kann ziffernmässig nur in 
negativem Sinne dargestellt werden, d. h. in der relativen Häufigkeit 
der Krankheiten während eines gewissen Zeitabschnittes. Da aber 
diese sogenannte Morbiditätsstatistik aus vielen Gründen stets ein 
frommer Wunsch bleiben wird, so halte ich die Mortalitätsstatistik 
für einen sichereren Gradmesser der Gesundheit einer bestimmten 
Bevölkerung, sicherer hauptsächlich aus dem Grunde, weil die Con- 
statirung der Todesursache weit weniger Irrthümern unterworfen ist 
als diejenige der Krankheiten. Findet die Constatirung der Todes¬ 
ursache nur durch Aerzte statt, wie hier in Berlin, so wird dadurch 
ein Material zusammen getragen, wie es sicherer und zuverlässiger 
absolut nicht zu beschaffen ist und so spiegelt sich denn in den 
statistischen Berichten der Stadt Berlin der Gesundheitszustand der 
Bevölkerung möglichst naturgetreu in den Mortalitätstabellen wieder. 

Für den Sanitätsbeamten haben nicht alle Todesursachen gleiches 
Interesse, es stehen ihm im Vordergründe diejenigen, welche die Folge 
ansteckender Krankheiten sind, weil die ev. Verhütung dieser letzteren 
zu seinem eigentlichen Ressort gehört. So habe ich denn gerade auf 
diese Todesursachen mein Augenmerk gerichtet und bin ihnen von 
Monat zu Monat 10 Jahre lang gefolgt, indem ich die Aufzeichnungen 

VlertoJjahrMChr. f. ger. Med. Dritte Folge. V. 1. 7 


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UNIVERSUM OF IOWA 



98 


Dr. v. Foller, 


aus den Monats-Veröffentlichungen des Statistischen Amtes der Stadt 
Berlin machte. Ich habe die wichtigsten der contagiösen Krankheiten, 
7 an der Zahl, gewählt und ihnen nur noch den Brechdurchfall hin¬ 
zugefügt, weil dieser gerade hier in Berlin eine so bedeutende Rollo 
spielt, — und vielleicht entpuppt er sich auch noch einmal als con- 
tagiöse Erkrankung. Die Aufzeichnung umfasst das Decennium 1880 
bis 1890 und habe ich die absoluten Zahlen jedesmal auch auf Pro¬ 
centmille der Bevölkerung berechnet, wobei die monatlich fortge¬ 
schriebene Einwohnerzahl benutzt wurde. Die Angabe in Procent¬ 
millen halte ich namentlich aus dem Grunde für sehr praktisch, weil 
dadurch ein gemeinsamer gleichmässiger Maassstab gegeben und der 
Vergleich sowohl der einzelnen Krankheiten untereinander als auch 
der Jahres- und Monatsphasen ein und derselben Krankheit möglich 
ist. Ich lasse zunächst die allgemeine Jahresübersicht folgen, die der 
grösseren Klarheit wegen nur in Procentmillen gegeben ist. 

(Siehe die Tabelle auf der nächsten Seite.) 

Aus dieser Tabelle A. geht hervor, dass der Brechdurchfall weitaus prä- 
dominirt, ja dass er selbst in seinem schlechtesten Jahrgang 1888 noch mehr 
Berliner vernichtet bat als die Diphtherie io ihrem besten von 1883. Die Diph¬ 
therie, zu der ich die Todesfälle an Group, deren Zahl immer nur eine geringe 
gewesen ist, hinzugezählt habe, weil die Differentialdiagnose beider eine preeäre 
Sache ist, hat in den letzten 3 Jahren des qu. Decenniums abgenommen, ohne 
dass sich ein Grund dafür finden lässt. Dasselbe findet für den Scharlach in den 
letzten 4 Jahren statt. Ihm fast ebenbürtig erscheint der Keuchhusten, der vom 
Jahre 1884 an ihn sogar überflügelt; in allen Jahrgängen ziemlich gleichmässig 
arbeitend ruft er unsere Aufmerksamkeit wach, denn er tritt fast ebenso ver¬ 
nichtend wie der Scharlach auf und fordert daher die Sanitätspolizei zur Stellung¬ 
nahme heraus. Die Jahrgänge der Masern sind sehr verschieden und wechselnd; 
auf ihr Verhältnis zum Scharlach komme ioh weiter unten noch zurück. Der 
Abdominaltyphus war vom Jahre 1883 an im Niedergang begriffen; er hob sich 
vom Jahre 1887 an wieder, ohne jedoch hohe Werthe zu erreichen. Das Puer¬ 
peralfieber zeigt niedrige Ziffern, namentlich in den letzten 3 Jahren, und selbst 
wenn man sie doppelt so hoch nimmt, weil die weibliche Bevölkerung ungefähr 
die Hälfte der ganzen Volkszahl ausmacht, so erreichen die Zahlen nur eine 
mässige Höhe und dabei ist wohl noch zu vermuthen, dass bei der Diagnose viel 
Fälle mit untergelaufen sind, die zweifelhafter Natur waren. Trotzdem von der 
männlichen Bevölkerung Niemand an Wochenbettfieber sterben kann, halte ich 
die Procentberechnung auf die Total-Einwohnerzahl für die richtigste, denn 
erstens müsste man bei der Relation auf die nur weibliche Bevölkerung alle die¬ 
jenigen ausscbliessen, welche wie die Kinder und alle diejenigen, die überhaupt 
garnicht in die Lage gekommen sind zu gebären, die Krankheit ebenso wenig 
wie die Männer haben acquiren können, was von vornherein statistisch nicht zu 


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Original from 

UMIVERSITY OF IOWA 



Es starben in Berlin an 


Berliner Mortalitätsstatistik von acht Krankheiten 


99 


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UMIVERSITY OF IOWA 



100 


Dr. v. Folier, 


erairen ist and ev. die Mortalität der Entbundenen an dieser Krankheit ergeben 
würde — and zweitens will und muss der Statistiker wissen, welcher Bruohtheil 
einer bestimmten Bevölkerung an den verschiedenen Krankheiten gestorben ist, 
denn nur so erhält er eine einheitliche Uebersicht über die Macht der Todes¬ 
ursachen auf eine bestimmte Bevölkerung. Die Dysenterie ist in dem betreffenden 
Jahrzehnt kaum zu rechnen, sie ist nie zu einer Epidemie angewachsen und in 
den letzten 3 Jahren fast auf den Aussterbeetat gekommen. 

Nach diesem allgemeinen Jahresüberblick gehe ich auf die Vertheilung der 
Todesfälle der einzelnen Krankheiten auf die Monate über. Der Statistiker von 
Faoh verlangt zwar die tägliohen Schwankungen, um, namentlich graphisch, ein 
möglichst getreues Abbild zu bekommen, aber einmal sind dergleichen Dia¬ 
gramme sehr wenig übersichtlich und dann interessirt es auch den Medioiner 
nicht, wie viel an jedem Tage an jenen Krankheiten gestorben sind, sondern die 
Vertheiluog auf die verschiedenen Monate erscheint in ätiologischer Beziehung 
weit wichtiger, abgesehen davon, dass tägliche Aufzeichnungen der Todesfälle 
amtlich garnioht stattfinden. 


Morbilli. 

Die Acme der Todesfälle an Masern ist sowohl in die Sommermonate Mai, 
Juni, Juli als auch in die Wintermonate Deoember, Januar gefallen, in manchen 
Jahren tritt diese Acme 2 mal zu den obengenannten Zeiten ein, also sowohl im 
Sommer wie im Winter. Das Jahr 1883 war ganz ausnahmsweise durch eine 
sehr hohe Mortalität ausgezeichnet. 


Scarlatina 

Vergleicht man die Todesfälle an Scarlatina mit denen an Morbilli, so er- 
giebt die Tabelle, dass gestorben sind in Procentmillen 



an 

Scarlatina 

an Morbilli 

im Jahre 

1880 

78,7 

33,8 

n 

1881 

79,2 

17,8 

n 

1882 

51,3 

12,1 

y\ 

1883 

70,9 

97,0 

n 

1884 

31,7 

23,6 

W 

1885 

31,7 

31,7 

V 

1886 

20,2 

42,3 

V 

1887 

19,2 

16,0 

» 

1888 

13,9 

24,5 

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1889 

16,3 

13,4 


Demnach zeigt sich, dass die Todesfälle an Scarlatina seit dem Jahre 1884 
bedeutend abgenommen haben, während das Sterben in Folge von Masern zuge- 


') Versuchsweise habe ich die Tabelle des Scharlachs statt in rechtwinklige 
Coordinaten in Polar-Coordinaten gezeichnet, was den Vortheil gewährt, dass 
man die Uebergänge von einem Jahre zum anderen besser übersieht. 


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Original frnm 

UNIVERSUM OF IOWA 



Berliner Mortalitätsstatistik von acht Krankheiten. 


101 


Todesfälle an Morbilli und ihr Verhältnis zur Einwohnerzahl 

in Procentmillen. 



18 80 

188 1 

1882 

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188 6 

18 8 7 

18 8 8 

188 9 

Januar .. 

56 

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13,4 


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UNIVERSITÄT OF IOWA 




















102 


Dr. v. Foller, 


nommen hat derartig, dass in manchen Jahren Berlin aa Masern mehr Seelen 
verloren hat als an Scharlach. Während der letztere eine gefürchtete Krankheit 
ist, gelten die Masern als leichte Erkrankung, und so sehr dies auch richtig sein 
mag, wenn man die Todesfälle auf die Anzahl der Erkrankungen bezieht — 
ziffermässig ist dies unmöglich, erstens weil eine Anzeigepflicht für Masern gar- 
nicht existirt und zweitens weil, selbst wenn dies der Fall wäre, die Meldungen 
von Erkrankungen überhaupt ein zu unvollständiges Material geben — so ist dies 
vom hygienischen Standpunkt aus anders aufzufassen, denn es interessirt mehr, 
zu eruiren, wieviel Berlin jährlich durchschnittlich an Scharlach, wieviel an 
Masern verliert, als zu wissen, an Scharlach sterben von den Erkrankten soviel 
Procent und an Masern soviel. Diese letzteren Zahlen werden stets die Masern in 
rosigem Licht erscheinen lassen, während die oben angeführten die Frage nahe 
legen, ob es nicht angemessen erscheine, dem Sterben an Masern wennmöglich 
(durch Desinfection) Einhalt zu thun. — Die Acme des Sterbens an Scharlach 
fiel in dem betreffenden Decennium in den October und November. 


Diphtherie und Croup. 

Die Acme der Diphtherie-Sterblichkeit fällt, wie die Tabelle zeigt, in die 
Wintermonate October, November, December und Januar, im Sommer findet ein 
ganz bedeutendes Sinken statt. Das Jahr 1883 ist wie bei den Masern durch 
hohe Sterblichkeit ausgezeichnet gewesen. Nächst dem Brechdurchfall hat die 
Diphtherie die höchsten Procentsätze und nur vom Jahre 1887 incl. ab sinken 
die Procentmille unter 100. 

Abdominal-Typhus. 

Die Acme desselben fällt in den Augast, September und Ootober. Seit dem 
Jahre 1883 ist die Sterblichkeit unter 20Procentmille pro anno heruntergegangen 
und nur im Jahre 1889 ist sie wieder auf 22,3 gestiegen. Die Canalisation wird 
gern mit dem Typhus in Connex gebracht und ein günstiger Einfluss auf ihn 
präsumirt. Nach der Tabelle ist die Mortalität von 30,3 Procentmillen im Jahre 
1882 auf 18,3 im Jahre 1883 gesunken und hat sich um diese Zahl herum bis 
1889 incl. gehalten. Dieses plötzliche und fest bleibende Sinken lässt sich wohl 
nicht mit der allmälig immer fortschreitenden Canalisation direct in ätiologisohe 
Beziehung bringen, man müsste im Gegentheil erwarten, dass die Mortalität auch 
allmälig nur von Jahr zu Jahr gesunken wäre. Es kommt dazu, dass derTyphus 
ganz sporadisch über die ganze Stadt zerstreut in allen diesen Jahren aufgetreten 
ist und ein stärkeres Ergriffensein der nicht canalisirten Gegenden keineswegs in 
die Erscheinung getreten ist. 

Tussis convulsiva. 

Der Procentsatz der an dieser Krankheit Gestorbenen ist verhältnissmässig 
reoht bedeutend. Das Jahr 1884 weist den grössten Procentsatz mit 43,4 Pro¬ 
centmillen, das Jahr 1882 den niedrigsten mit 24,7 Procentmillen auf, im Durch¬ 
schnitt starben von 100000 Einwohnern pr. pr. 30 an und io Folge dieser 


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UNIVERSITÄT OF IOWA 



Berliner Mortalitätsstatistik von acht Krankheiten. 


103 


Todesfälle an Scarlatina' und ihr Verhältniss zur Einwohnerzahl 

in Procentmillen. 



1 s so 

18 8 1 

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18 8 3 

18 8 4 

Januar ... 

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4,4 

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März . 

38 

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2,7 

April. 

51 

n 

4,6 

74 

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6,5 

37 


3,1 

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Mai. 

77 


7,0 

74 

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Juni .... 

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VI 

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n 

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September 

101 

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November 

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8,7 

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84 

n 

6,9 

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December 

62 

n 

5,6 

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5,3 

71 

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6,0 

59 


4,1 

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Summa 

872 

— 

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31,7 



18 8 5 

188 6 

18 8 7 

188 8 

18 8 9 

Januar ... 

31 

— 

pCt.-M. 

2,4 

30 

— 

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2,3 

16 

_ 

pCt-M. 

1,2 

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pCt.-M. 

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22 

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pCt.-M. 

1,5 

Februar... 

26 

55 

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16 

n 

1,2 

16 

w 

1,2 

23 


1,5 

25 

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21 

n 

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w 

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April. 

22 

w 

1,7 

27 

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n 

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Mai. 

27 

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14 

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Juni . 

24 

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1,9 

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1,5 

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Juli . 

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23 

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1,6 

18 

7t 

1,2 

August ... 

38 

59 

3,0 

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1,1 

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tt 

1,4 

10 

51 

0,7 

21 

n 

1,4 

September 

69 

V 

5,4 

21 

ft 

1,6 

20 

71 

1,4 

17 

51 

1,2 

22 

51 

1,5 

October... 

44 

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ft 

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1,4 

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» 

2,3 

November 

47 

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2,4 

47 

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51 

1,2 

21 

51 

1,4 

December 

28 

ft 

2,1 

19 

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1,4 

21 

7t 

1,5 

17 

51 

1,2 

32 

51 

2,1 

Summa 

409 

= 

31,7 

271 

= 

20,2 

266 

= 

19,2 

201 

=r 

13,9 

244 

=r 

16,3 


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Original frnm 

UNIVERSITÄT OF IOWA 


















104 


Dr. v. Foller, 


Todesfälle an Diphtherie und Croup und ihr Verhältniss zur 
Einwohnerzahl in Procentmillen. 



1880 

18 8 1 

188 2 

18 8 3 

18 8 4 



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pCt.-M. 



pa-ii 



pCt.-M. 



pCt-M. 

Januar . .. 

122 

= 11,0 

157 

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13,8 

204 

— 

17,4 

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= 

16,7 

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= 

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Februar.. 

110 

* 9,9 

107 

99 

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n 

18,3 

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248 

99 

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März. 

91 

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141 

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237 

n 

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99 

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265 

9» 

21,3 

April .... 

107 

„ 9,7 

122 

99 

10,7 

166 

99 

14,1 

162 

95 

13,4 

250 

95 

20,1 

Mai. 

128 

. 11.6 

122 

9» 

10,7 

176 

w 

15,0 

182 

99 

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n 

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Juni .... 

108 

„ 9,8 

130 

n 

11,4 

159 

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13,5 

206 

r> 

17,0 

180 

99 

14,5 

Juli. 

95 

n 8,6 

131 

79 

11,5 

138 


11,7 

211 


17,4 

147 

w 

11,8 

August .. 

87 

. 7,9 

103 

n 

9,0 

109 

n 

9,3 

184 

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15,2 

161 

.. 

12,9 

September 

115 

„ 10,4 

155 

n 

13,6 

163 

r> 

13,9 

258 

95 

21,3 

152 

VI 

12,2 

Ootober .. 

154 

. 13,9 

181 

VI 

15,9 

161 

n 

13,7 

388 

91 

32,1 

233 

n 

18,7 

November 

147 

. 13,3 

210 

VI 

18,4 

209 

n 

17,8 

375 

n 

31,0 

281 

n 

22,6 

December 

158 

. 14,3 

219 

vi 

19,2 

197 

w 

16,8 

337 

95 

27,9 

284 

* 

18,8 

Summa 

1422 

= 128,6 

1778 

= 

156,1 

2134 

= 

181,7 

2932 

= 

242,3 

2640 

= 

212,1 



18 8 5 

188 6 

1 

1887 

1888 

18 8 9 




pCt.-M 


pCt.-M. 


pCL-M. 


pCt.-M. 


pCt.-if. 

Januar... 

217 

= 

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176 

= 

13,4 

161 

= 11,8 

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= 

6,0 

119 

= 8,1 

Februar.. 

184 

91 

14,5 

109 

n 

8,3 

143 

» 10,5 

108 

w 

7,6 

109 

. 7,4 

März. 

168 

9) 

13,2 

154 

w 

11,6 

117 

* 8,5 

102 

VI 

7,2 

98 

. 6,6 

April .... 

163 

n 

12,8 

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117 

. 8,5 

72 

99 

5,1 

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n 6,4 

Mai. 

160 

w 

12,5 

112 

w 

8,4 

95 

* 6,9 

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n 

5,9 

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* 5,0 

Juni .... 

150 

91 

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108 

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August .. 

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91 

* 6,1 

September 

153 

91 

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155 

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113 

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Ootober .. 

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91 

17,9 

210 

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121 

VI 

8,4 

119 

. 7,9 

November 

183 

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14,1 

199 

99 

14,7 

154 

. 10,9 

134 

9» 

9,2 

131 

n 8,6 

December 

173 

99 

13,1 

184 

9 » 

13,5 

140 

* 9,9 

124 

9 ) 

8,4 

183 

n 12,0 

Summa 

2007 

= 

156,3 

1688 

1 

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126,2 

1403 

= 99,2 

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1100 

= 

76,5 

1284 

= 85,8 


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Original from 

UMIVERSITY OF IOWA 













iphtherie und Croup. 



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Original frnm 

UMIVERSITY OF IOWA 













































106 


Dr. v. Foller, 


Todesfälle an Typhus abdominalis und ihr Verhältnis zur 
Einwohnerzahl in Procentmillen. 



18 80 

18 8 1 

1882 

18 8 3 

18 8 4 




pCt.-M. 



pCt.-M. 



pCt.-M. 



pCt.-M. 



pCt.-M. 

Januar .. . 

17 

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Februar. . 

20 


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1,3 

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0,8 

16 

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April .... 

13 

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11 

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1.0 

Mai . 

16 

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1,4 

18 


1,6 

17 

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1,4 

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1,0 

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1,0 

Juni .... 

24 

n 

2,2 

19 

* 

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23 

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2,0 

11 

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Juli . 

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August .. 

51 

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September 

71 

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6,4 

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October . . 

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2,5 

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1,7 

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2,2 

December 

70 

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2,1 

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14 


1,2 

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w 

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Summa 

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= 

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— 

30,3 

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18,3 

241 

= 

19,0 



18 8 5 

18 8 6 

18 87 

1888 

18 8 9 



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pCt.-M. 



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Januar ... 

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Februar. . 

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17 

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16 

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24 

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August . . 

38 

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20 

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1,7 

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1,6 

14 

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October .. 

23 

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26 

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16 

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1,3 

November 

17 

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40 

II 

2,6 

December 

13 

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11 

w 

0,8 

16 


1,1 

18 

- 1,2 

31 

w 

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Summa 

214 

= 16,7 

181 

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13,3 

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= 

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235 

= 16,4 

335 

= 

22,3 


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Original frnm 

UMIVERSITY OF IOWA 













Berliner Mortalitätsstatistik von acht Krankheiten. 


107 


Todesfälle an Tussis convulsiva und ihr Verhältniss zur Einwohnerzahl 

in Procentmillen. 



18 8 0 

. 188 1 

1882 

18 8 3 

18 84 

Januar .. 

35 

— 

pCt.-M. 

3,2 

25 

— 

pCt.-M. 

2,2 

24 

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pCt-M. 

2,0 

42 

pCt-M. 

= 3,5 

35 

— 

pCt.-M. 

2,8 

Februar.. 

32 

n 

2,9 

37 

P 

3,2 

24 

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31 

. 2,6 

26 

P 

2,1 

März. 

39 

n 

3,5 

47 

p 

4,1 

24 

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2,0 

41 

. 3,4 

41 

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3,3 

April .... 

31 

P 

2,8 

36 

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3,2 

30 

w 

2,5 

36 

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W 

3,1 

Mai. 

25 

P 

2,3 

44 

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2,0 

27 

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W 

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Jani .... 

22 

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2,8 

20 

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1,7 

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3,1 

Juli. 

25 

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3,7 

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p 

2,3 

28 

. 2,3 

61 

P 

4,9 

August .. 

22 

P 

2,0 

26 

p 

2,3 

19 

p 

1,6 

29 

. 2,4 

63 

P 

5,1 

September 

25 

p 

2,3 

29 

p 

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19 

p 

1,6 

29 

, 2,4 

58 

P 

4,7 

October .. 

23 

P 

2,1 

31 

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2,7 

26 


2,2 

12 

- 1,0 

47 

p 

3,8 

November 

36 

p 

3,2 

33 

p 

2,9 

28 

w 

2,4 

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39 

P 

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December 

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P 

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Summa 

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= 

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= 30,7 

539 

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43,4 



18 8 5 

188 6 

18 8 7 

1888 

1889 

Januar ... 

40 

_ 

pCt.-M 

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pCt-M. 

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pCt.-M. 

3,7 

Februar .. 

34 

P 

2,7 

34 

P 

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3,0 

37 

P 

2,7 

35 

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Mars . 

33 

P 

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2,8 

April .... 

34 

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Mai . 

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Juni .... 

32 

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Juli . 

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August .. 

24 

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September 

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33 

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52 

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2,0 

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34 

P 

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P 

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p 

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Summa 

384 

= 

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= 

38,5 

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= 

27,3 

443 

— 

30,4 


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Original frnm 

UNIVERSUM OF IOWA 




















108 


Dr. v. Foller, 


Krankheit. Die Acme fällt in den März and demnächst in die Wintermon&te 
December und Jannar und in die Sommermonate Mai und Juli, nur einmal und 
zwar im Jahre 1884 erreichte die Mortalität im August den absolut höchsten 
Stand in den zehn Beobaohtungsjahren. 

Febris puerperalis. 

Der Procentsatz ist im Ganzen nicht bedeutend. Die Acme fällt in die 
Wintermonate Januar, Februar, März, September, October und November, der 
Monat Mai zeigt die wenigsten Sterbefälle. 

Dysenterie. 

Eine starke Epidemie ist in diesem zehnjährigen Zeiträume nicht aufge¬ 
treten, in den letzten 4 Jahren ist die Mortalität in keinem Monat auf 2. Procent¬ 
mille gestiegen. Die Acme fällt in die Monate Juli, August und September. 

Brechdurchfall. 

Der Prooentsatz dieser Krankheit ist der höchste von den 8 hier erwähnten 
Krankheiten. Die Acme fällt in den Juli. 


Nach den Procentsätzen geordnet folgen von den höheren zu den niederen 
Sätzen herabsteigend die genannten Krankheiten in nachstehender Reihe: 

1) Brechdurchfall, 

2) Diphtherie und Croup, 

3) Scarlatina, 

4) Tussis convulsiva, 

5) Morbilli, 

6) Typhus, 

7) Febris puerperalis, 

8) Dysenterie. 

Mit Bezug auf das Auftreten der Sterbefälle an diesen Krankheiten in den 
verschiedenen Monaten bat sich ergeben, dass die Aome fällt: 
für Brechdurchfall in den Monat Juli, 

für Diphtherie und Croup in die Monate Januar, October, November 
und December, 

für Scarlatina in die Monate October und November, 
für Tussis convulsiva in die Monate Januar, März, Mai, Juli und 
December, 

für Morbilli in die Monate Januar, Mai, Juni, Juli und December, 
für Typhus in die Monate August, September und October, 
für Febris puerperalis in die Monate Januar, Februar, März, September, 
October und November, 

für Dysenterie in die Monate Juli, August und September. 


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Original frnm 

UNIVERSUM OF IOWA 



Berliner Mortalitätsstatistik von acht Krankheiten. 


10» 


Todesfälle an Febris puerperalis und ihr Verhältniss zur 
Einwohnerzahl in Procentmillen. 



18 8 0 

188 1 

1882 

1883 

18 84 

Januar... 

21 

— 

pCt.-M. 

1,9 

8 

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pCt.-M. 

0,7 

19 

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1,6 

9 

— 

pCt.-M. 

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14 

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pCt-M. 

1,1 

Februar.. 

16 

59 

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13 

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13 

99 

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55 

1,0 

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9 

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1,0 

April .... 

17 

55 

1,5 

13 

59 

1,1 

12 

59 

1,0 

13 

55 

1,1 

12 

II 

1,0 

Mai. 

8 

II 

0,7 

8 

55 

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12 

95 

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5 

95 

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Juni .... 

16 

19 

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11 

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11 

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55 

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13 

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August .. 

13 

99 

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13 

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1,1 

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10 

55 

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September 

17 

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1,5 

6 

55 

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19 

55 

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7 

55 

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6 

55 

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October .. 

14 

51 

1,3 

15 

95 

1,3 

25 

95 

2,1 

21 

99 

1,7 

11 

55 

0,9 

November 

17 

55 

1,5 

19 

55 

1,7 

19 

55 

1,6 

13 

95 

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14 

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December 

13 

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15 

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16 

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Summa 

173 

= 

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12,1 

160 

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13,5 

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122 

= 

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188 5 

1886 

18 87 

18 8 8 

1889 

Januar... 

16 

— 

pCt.-M. 

1,3 

18 

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12 

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pCt-M. 

0,9 

17 

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pCt.-M. 

1,2 

12 


pCt-M. 

0,8 

Februar.. 

10 

55 

0,8 

16 

55 

1,2 

9 

51 

0,7 

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II 

0,5 

21 

91 

1,4 

Mars. 

17 

51 

1,3 

18 

99 

1,4 

10 

II 

0,7 

16 

91 

1,1 

12 

59 

0,8 

April .... 

12 

55 

0,9 

15 

55 

1,1 

7 

VI 

0,5 

7 

VI 

0,5 

8 

H 

0,5 

Mai. 

9 

55 

0,7 

5 

55 

0,4 

14 

55 

1,0 

8 

VI 

0,6 

9 

95 

0,6 

Juni .... 

14 

55 

1,1 

11 

91 

0,8 

8 

99 

0,6 

10 

51 

0,7 

3 

51 

0,2 

Juli. 

14 

95 

M 

14 

95 

1,0 

9 

95 

0,6 

14 

95 

1,0 

4 

51 

0,3 

August .. 

9 

55 

0,7 

8 

51 

0,6 

13 

51 

0,9 

5 

55 

0,3 

11 

II 

0,7 

September 

7 

n 

0,5 

11 

55 

0,8 

11 

95 

0,8 

7 

n 

0,5 

10 

VI 

0,7 

Ootober .. 

12 

59 

0,9 

14 

•5 

1,0 

11 

55 

0,8 

9 

55 

0,6 

12 

55 

0,8 

November 

15 

95 

1,1 

16 

51 

1,2 

10 

II 

0,7 

17 

n 

1,2 

8 

55 

0,5 

December 

17 

55 

1,3 

12 

II 

0,9 

8 

V 

0,6 

11 

91 

0,6 

16 

55 

1,0 

Summa 

152 

= 

11,7 

158 

=5 

11,8 

122 

= 

8,8 

128 

= 

8,9 

1 

126 

1 

SS 

8,3 


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Original frnm 

UMIVERSITY OF IOWA 






















110 


Dr. v. Foller 


Todesfälle an Dysenterie und ihr Verhältniss zur Einwohnerzahl 

in Procentmillen. 



18 8 0 

18 8 1 

188 2 

18 8 3 

18 8 4 

Januar .. 

1 

_ 

pCt.-M. 

0,1 

1 

— 

pCt.-M. 

0,1 

1 

— 

pCt-M. 

0,1 

1 

_ 

pCt.-M. 

0,1 

3 

_ 

pCt.-M. 

0,2 

Februar .. 

1 

T» 

0,1 

0 

TT 

0,0 

1 

tt 

0,1 

3 

TT 

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TT 

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März . 

3 

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0,0 

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1 

TT 

0,1 

April .... 

4 

tt 

0,4 

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2 

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0,2 

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0,0 

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TT 

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Mai . 

2 

TT 

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0,1 

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0,0 

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TT 

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Juni . 

17 

TT 

1.5 

12 

w 

1,0 

11 

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TT 

0,5 

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TT 

0,2 

Juli . 

26 

TT 

2,3 

34 

tt 

3,0 

22 

TI 

1,9 

48 

TT 

4,0 

21 

TT 

1,7 

August... 

33 

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3,0 

65 

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3.4 

29 

TT 

2,4 

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September 

28 

n 

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1,1 

23 

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38 

TT 

3,1 

October .. 

11 

TT 

1,0 

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TT 

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November 

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December 

1 

n 

0,1 

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0,1 

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1 

TT 

0,1 

1 

TT 

0,1 

Summa 

129 

= 

11,7 

137 

= 

12,0 

127 

= 

10,8 

118 

= 

9,7 

152 

= 

12,3 



18 8 5 

188 6 

18 8 7 

188 8 

1889 

Januar . .. 

0 

_ 

pCt.-M. 

0,0 

1 

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pCt.-M. 

0,1 

1 

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pCt.-M. 

0,1 

4 

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pCt.-M. 

0,3 

1 

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pCt-U. 

0,1 

Februar .. 

0 

TT 

0,0 

2 

TT 

0,1 

0 

TT 

0,0 

0 

TT 

0,0 

0 

n 

0,0 

März . 

0 

TT 

0,0 

2 

TT 

0,1 

0 

TT 

0,0 

1 

TT 

0,1 

0 

TT 

0,0 

April .... 

0 

TT 

0,0 

1 

TT 

0,1 

2 

TT 

0,1 

0 

TT 

0,0 

0 

TT 

0,0 

Mai . 

4 

TT 

0,3 

1 

TT 

0,1 

1 

TT 

0,1 

0 

n 

0,0 

0 

TT 

0,0 

Juni .... 

3 

n 

0,2 

5 

TT 

0,4 

0 

TT 

0,0 

0 

TT 

0,0 

3 

TT 

0,2 

Juli . 

26 

TT 

2,0 

6 

TT 

0,4 

5 

TT 

0,4 

0 

TT 

0,0 

8 

TT 

0,5 

August .. 

35 

» 

2,7 

17 

TT 

1,3 

7 

TT 

0,5 

6 

TT 

0,4 

5 

TT 

0,3 

September 

10 

TT 

0,8 

20 

TT 

1.5 

7 

TT 

0,5 

6 

TT 

0.4 

1 

TT 

0,1 

October .. 

2 

TT 

0,1 

16 

TT 

1.2 

2 

TT 

0,1 

3 

TT 

0,2 

1 

TT 

0,1 

November 

l 

TT 

0,1 

1 

TT 

0,1 

0 

it 

0 0 

2 

TT 

0,1 

0 

TT 

0,0 

December 

2 

TT 

0,1 

0 

TT 

0,0 

0 

TT 

0,0 

0 

TT 

o.o 

1 

TT 

0,1 . 

Summa 

83 

= 

6,3 

72 

= 

5,4 

25 

= 

1,8 

22 

= 

1,5 

20 

= 

1.4 


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Original from 

UNIVERSITY OF fOWA 
















Berliner Mortalitätsstatistik von acht Krankheiten. 


111 


Todesfälle an Darm-, Magen- und Darm-Katarrh, Brechdurchfall und 
ihr Verhältnis zur Einwohnerzahl in Procentmillen. 



1 S 8 0 

18 8 1 

18 8 2 

18 8 3 

1 8 S 4 




pCt-M. 



pCt.-M. 



pCt-M. 



pCt.-M. 



pCt.-M. 

Januar... 

89 

= 

8,0 

69 

= 

«.° 

54 

= 

4,6 

87 

— 

7,2 

86 

= 

6,9 

Februar.. 

65 

ft 

5,9 

88 

w 

7.7 

71 

>1 

6,0 

80 

fl 

6,6 

85 

ft 

6,8 

März. 

103 

fl 

9,3 

100 

r> 

8,8 

134 

fl 

11,4 

118 

ft 

9,8 

106 

fl 

8,5 

April .... 

134 

n 

12,1 

106 

n 

9,3 

127 

ff 

10,S 

98 

r 

8,1 

126 

fl 

10,1 

Mai. 

300 

fl 

27,1 

185 

n 

16,2 

198 

tt 

16,9 

161 

w 

13,3 

252 

ft 

20.3 

Juni. 

1390 

ft 

125,6 

786 

TI 

68,9 

839 

ft 

71,4 

972 

fl 

80,4 

547 

fl 

44,0 

Juli. 

1814 

W 

164,0 

1998 

n 

175,3 

1323 

fl 

112,7 

2227 

ff 

184,2 

1698 

w 

136,6 

August .. 

821 

n 

74,2 

845 

ff 

74,1 

858 

w 

73,1 

628 

ft 

51,9 

1349 

ff 

108,0 

September 

794 

ft 

71,8 

257 

n 

22,5 

454 

fl 

38,7 

446 

n 

36,9 

708 

fl 

57,0 

October .. 

284 

» 

25,7 

128 

fl 

11,2 

281 

fl 

23,9 

203 

fl 

16,8 

267 

n 

21,4 

November 

90 

11 

8,1 

98 

rt 

8,6 

131 

n 

11,2 

89 

fl 

7,4 

94 

n 

7,6 

December 

80 

n 

7,2 

78 

fl 

6,8 

85 

fl 

7,2 

135 

ff 

11,2 

67 

ft 

5,3 

Summa 

5964 

= 

539,0 

4738 

= 

415,4 

4555 

= 

387,9 

5244 

= 

433,8 

5385 

= 

432,5 



188 5 

l 8 8*6 

18 87 

18 88 

18 8 9 




pCt.-M. 


pCt.-M. 



pCt.-M. 


pCt.-M. 



pCt.-M. 

Jana&r . .. 

90 

= 

7,1 

89 = 

6,8 

148 

== 

10,9 

147 

= 

10,4 

145 

= 

9,9 

Februar.. 

71 

n 

5,6 

88 . 

6,7 

158 

«l 

11,6 

139 

fi 

8,9 

236 

*1 

16,0 

Marz . 

105 

ft 

8,3 

89 „ 

6,7 

114 

i» 

8,3 

196 

ft 

13,8 

460 

♦» 

31,1 

April .... 

120 

ft 

9,4 

310 „ 

23,4 

147 

fl 

10,7 

176 

n 

12,4 

286 

fl 

19,3 

Mai. 

163 

ft 

12,7 

256 „ 

19,3 

171 

ft 

12,4 

175 

fi 

12,2 

346 

fl 

23,3 

Juni . 

845 

fl 

66,0 

862 „ 

64,6 

368 

fl 

26,6 

342 

w 

23,8 

2233 

»» 

149,6 

Juli . 

1799 

ft 

140,5 

1268 „ 

94,9 

1148 

w 

82,8 

723 

n 

50,3 

1296 

VI 

87,0 

August... 

688 

f) 

53.8 

1212 „ 

90,6 

1186 

N 

85,5 

779 

fl 

54,0 

579 

ff 

38,8 

September 

220 

ft 

17,2 

1360 „ 

101,5 

569 

fl 

41,0 

712 

ft 

49,4 

323 

ff 

21,6 

Octobcr .. 

142 

ft 

11,0 

328 „ 

24,4 

16S 

ft 

12,0 

274 

n 

18,9 

188 

n 

12,5 

Novemt er 

70 

fl 

5,4 

120 . 

8,8 

116 

n 

8 2 

147 

fi 

10,0 

136 

fl 

8,9 

December 

79 

91 

6,0 

91 „ 

6,7 

83 

fl 

5,9 

129 

» 

8,8 

155 

w 

10,8 

Summa 

4392 

= 

353,0 

6073 = 

454,4 

4376 

= 

315,9 

3939 

= 

272,9 

6383 

= 

428,8 


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112 


Dr. v. Foller. 


Könnte man nach dem Ergehniss dieser zehnjährigen Periode weiter 
schliessen, so würde man za erwarten haben 

im Janaar viel Todesfälle an Diphtherie und Croup, Tussis convulsiva, 
Morbilli, Febris puerperalis, 
im Februar desgleichen an Febris puerperalis, 
im März desgleichen an Tussis convulsiva, Febris puerperalis, 
im Mai desgleichen an Tussis convulsiva, Morbilli, 
im Juni desgleichen an Morbilli, 

im Juli desgleichen an Brechdurchfall, Tussis convulsiva, Morbilli, 
Dysenterie, 

im August desgleichen an Typhus und Dysenterie, 
im September desgleichen an Typhus, Febris puerperalis und Dys¬ 
enterie, 

im Ootober desgleichen an Diphtherie und Croup, Scarlatina, Typhus, 
und Febris puerperalis, 

im November desgleichen ao Diphtherie und Croup, Scarlatina und 
Febris puerperalis, 

im December desgleichen an Diphtherie und Croup, Tussis convulsiva 
und Morbilli. 

Der Monat April wäre demnach für die Gesundheit mit Bezug auf die in 
Rede stehenden Krankheiten der bestsituirte und nach ihm kämen Februar und 
Juni, während die ungünstigsten Januar, Juli, September, October, November 
und December wären und die Monate März, Mai und August in der Mitte lägen. 

Eine solche Schlussfolgerung ist jedoch in der Statistik nicht zu¬ 
lässig, wenigstens genügt ein Zeitraum von 10 Jahren nicht dazu. Im 
Laufe von mehreren Jahrzehnten kann sich andererseits in Berlin, der 
in hygienischer Beziehung so rastlos fortschreitenden Stadt, so Vieles 
in sanitärer Richtung verändern, dass der Verlauf der Krankheiten 
völlig modificirt wird und dadurch eine Beurtheilung in die Zukunft 
auch ihr Missliches hat. Ein dringendes Bedürfniss, vorher zu wissen, 
in welchen Monaten diese oder jene Krankheit die meisten Opfer ver¬ 
langt, würde auch erst dann eintreten, wenn wir ein sicheres Prophy- 
lacticum gegen dieselbe haben und dieses entweder in genügender 
Menge zur bestimmten Zeit parat gehalten werden muss, oder zu 
seiner Wirkung einer gewissen Frist bedarf, und daher rechtzeitig an¬ 
gewendet werden muss. 


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UNIVERSITÄT OF IOWA 



! lerteljahrssc/w /?e/< 














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Vierteljahi'ScJri' FgenMed. Dritte Folge. 


Ta fe l H 


Typhus abdominalis. 



_ 1880 

_ 188 / 

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.1882. _ 188 / /. _ 1886. 1888 

1883. _ 1885. _ 1887. 1889. 

^ Original from 

u n i v e r s 



















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2 . 

(Aus der medicinischen Universitätsklinik des Herrn 
Geheimrath Prof. Ebstein): 

Me KebleaexydgasTergiftiag u4 die n deren Verhütug 
geeigneten saaitätspalixeilichea Haagsregeln. 

Von 

Dr. med. Ernst Becker, 

ehern. Assistenzärzte. 


I. Einleitung. 

Von sämmtlichen Vergiftungen ist, wie man statistisch nach- 
weisen kann, diejenige durch Kohlenoxyd die bei Weitem häufigste. 
Beispielsweise kamen in den grösseren Krankenhäusern und in dom 
Institut iür Staatsarzneikunde in Berlin während der Jahre 1876 bis 
1878 im Ganzen 432 Vergiftungen und 282 Todesfälle zur Beob¬ 
achtung, worunter sich nicht weniger als 155 durch Kohlenoxyd 
finden, von welchen 118 tödtlich verliefen, was, auf die Gesammt- 
zahl von nicht tödtlichen und tödtlichen Fällen berechnet, einen Pro¬ 
centsatz von 36 bezw. 42 pCt. ergeben würde. Zwar hat die Zahl 
der in die Berliner Morgue eingelieferten Leichen in den Jahren 1876 
bis 1882 im Allgemeinen abgenommen (40, 36, 27, 32, 27, 8, 15), 
allein die Summe von diesen 185 Todesfällen auf die in diesen 
7 Jahren secirten 431 Leichen Vergifteter berechnet, ergiebt trotzdem 
fast 43 pCt. der Gesammtzahl. Die Höhe dieser Ziffern wird viel¬ 
leicht dadurch noch besser beleuchtet, dass nach derselben Zusammen¬ 
stellung auf Cyankali 17 pCt., auf Oxalsäure und oxalsaures Kali 
9 pCt., Alkohol 7 pCt., Schwefelsäure 5 pCt., Phosphor und Blau¬ 
säure etwa je 3 pCt. und auf Morphin, Arsenik und Strychnin nur 

Viertoljahmchr. f. gnr. Med. Dritte Folge. V. 1. 8 


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114 


Dr. Becker, 


je 2 pCt. kommen 1 ). Offenbar entzieht sich aber noch ein grosser 
Theil der tödtlichen Kohlenoxydvergiftungen der behördlichen Kennt- 
niss, da in nicht wenigen Fällen die äusseren Umstände die Todesart 
nicht verrathen. „Die Leichen werden todt im Bett, in einer Sopha- 
ecke sitzend, an der Erde liegend nach 24, 48 Stunden gefunden. 
Etwaiger Kohlendunstgeruch hat sich längst verzogen, der besichti¬ 
gende Arzt bescheinigt den beliebten „Schlagfluss“, und die Leiche 
wird beerdigt, wenn nicht die jetzt schon gewitzigten Polizeibeamten 
umsichtiger sind, als der Arzt“. Die Worte Liman’s 2 3 ) legen zu¬ 
sammen mit den angeführten statistischen Belegen die Nothwendig- 
keit eines genauen Studiums der Kohlenoxydvergiftung in überzeugen¬ 
der Weise dar. 


II. Eigenschaften des Kohlenoxydes. 

Das Kohlenoxyd (CO) ist ein färb- und geruchloses Gas von 
0,967 spec. Gewicht, das sehr schwer eondensirbar und in Wasser 
wenig löslich ist. Es verbrennt angezündet mit schwach leuchtender, 
bläulicher Flamme zu Kohlensäure (C0 2 ) und entzieht in der Hitze 
vielen sauerstoffhaltigen Körpern den Sauerstoff; es ist also ein kräf¬ 
tiges Reductionsmittel. Kohlenoxyd entsteht überall, wo Kohlenstoff 
bei ungenügendem Zutritt von Sauerstoff verbrennt, und ist ausser¬ 
dem ein Bestandteil des Leuchtgases. 

UI. Theorieen der Wirkling. 

Die Aufnahme dieses Giftes in den thierischen Organismus ge¬ 
schieht durch die Athmung: es diffundirt von der Lungenoberfläche 
aus in die Capillaren und gelangt somit direct in das Blut. Gross 
ist die Zahl der Forscher, zahlreich ihre Experimente, welche den 
Eintritt und die Ausscheidung, vornehmlich aber das Verhalten dieses 
Giftes im Körper klar zu legen bemüht waren. Und trotzdem ist 
durch sie eine Uebereinstimmung darüber, worin die Giftigkeit des 
Gases eigentlich beruhe, keineswegs erzielt worden. Während näm¬ 
lich die Einen (Friedberg*), Pokrowsky 4 ) u. A.) die Kohlen- 

1 ) Leas er, Atlas der gerichtlichen Medicin. Erste Abtheilung. S. 1, 41 
und 141. 

2 ) C&sper-Liman, II. Bd. S. 598. 

3 ) Friedberg, Die Vergiftung duroh Kohlendunst. Berlin 1866. 

4 ) Pokrowsky, Virohow’s Arohiv. 30. Bd. 1864. 


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Die Kohlenoxydgasvergiftung und deren Verhütung. 


115 


oxydvergiftung als eine durch Sauerstoffmangel erzeugte Erstickung 
auffassen, legen Andere (Klebs •)) das Hauptgewicht auf Störungen 
im Blutkreisläufe (Atonie der Gefässmuskeln), die unabhängig von 
der Sauerstoffverarmung als eine specifische Wirkung des Kohlen¬ 
oxydes zu betrachten seien, oder sie lassen das Gift nach Art eines 
Narcoticums auf das Centralnervensystem einwirken (Siebenhaar 
und Lehmann 2 ), Geppert 3 )). Die ersterwähnte Auffassung scheinen 
die meisten Forscher heutzutage zu theilen. (Wir werden darauf später 
zurückkommen.) Die blosse Erwähnung dieser Meinungsverschieden¬ 
heiten mag indessen genügen; in eine Discussion über dieselbe ein¬ 
zutreten, dürfte ausserhalb des Umfanges dieser Arbeit liegen. 


I?. Aetiologie der Kohlenoxydvergiftungen. 

Chemisch reines Kohlenoxyd wird nur äusserst selten Ver¬ 
anlassung zu Vergiftungen. In den meisten Fällen ist es mit 
anderen zum Theil ganz indifferenten, zum Theil gleichfalls schäd¬ 
lichen Gasen vermengt, so dass man streng genommen nicht von 
eigentlicher Kohlenoxydvergiftung sprechen kann. Doch hat einerseits 
eine vielfältige Erfahrung gezeigt, andererseits haben die klassischen 
Versuche von Biefel und Poleck direct bewiesen, dass die Gefähr¬ 
lichkeit solcher Gasgemenge unzweifelhaft auf der Anwesenheit des 
Kohlenoxydes beruht, während die beigemischten Gase in den vor¬ 
handenen Mengen an und für sich kaum sichtbare Störungen be¬ 
dingen. Man kann daher von ihnen bei der Beurtheilung der Ver¬ 
giftungswirkungen völlig absehen. 

Diejenigen Gasgemenge aber, welche hier in Frage kommen, sind: 

1) der Kohlendunst, 

2) das Leuchtgas, 

3) das Wassergas und verwandte Producte und 

4) die Minengase. 

1. Kohlendunst. 

Unter Kohlendnnst verstehen wir mit Biefel und Poleck 4 ) die durch 
unvollkommene Verbrennung von Kohlen veränderte Zusammen- 


! ) Klebs, Virohow’s Archiv. 32. Bd. 1865. 

3 ) Siebenhaar u. Lehmann, Die Kohlendunstvergiftung. Dresden 1858. 
*) Geppert, D. med. Wooh. 1892. S. 418. 

4 ) L. o. S. 238. 

8 * 


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116 


Dr. Becker, 


Setzung der atmosphärischen Luft eines abgeschlossenen Raumes. 
Da die chemisohen Analysen dieses Gasgemisches, welche zwar vielfaoh ausge¬ 
führt wurden, theils unvollständig, theils ungenau waren, so unternahmen es 
diese Forscher, die Versuche zu wiederholen. Die aus 8 Analysen berechnete 
mittlere Zusammensetzung des Kohlendunstes, deren Zahlen wenig vom Mittel 
abweichen, ergab in 100 Volumtheilen *): 

Kohlensäure .... 6,75 pCt. 

Kohlenoxyd. 0,34 pCt. 

Sauerstoff.13,19 pCt. 

Stiokstoff. 79,72 pCt. 

Das Kohlenoxyd fand sich in den 8 Analysen zu 0,16—0,18—0,19—0,26 
— 0,30—0,44—0,56 bis zu 0,62 pCt. im Kohlendunste vor. Vergleicht man 
diese Zahlen mit der normalen Zusammensetzung der atmosphärischen Luft: 

Kohlensäure .... 0,04 pCt. 

Sauerstoff. 20,95 pCt. 

Stickstoff.79,01 pCt. 

so ergiebt sich, dass im Kohlendunste bei fast unverändertem Stickstoff der Sauer¬ 
stoffgehalt wesentlich vermindert ist; für den Verlust sind fast gleiohe Prooente 
Kohlensäure eingetreten. Den Kohlenoxydgehalt des Kohlendunstes haben Biefel 
und Poleck wesentlich niedriger gefunden, als z. B. Eulenberg, dessen Ana¬ 
lyse in die meisten Handbücher (Casper-Liman, Maschka, Ziemssen u. A.) 
aufgenommen ist. Derselbe fing nämlich den Kohlendunst in der Weise auf, dass 
er über ein Becken mit glühenden Kohlen ein grosses thönernes Gefäss in Zucker¬ 
hutform so aufsetzte, dass der Zutritt der atmosphärischen Luft nur spärlich er¬ 
folgte. Er fand in dem aufgefangenen Gasgemenge 0,52—5,4 pCt., im Mittel 
2,54 pCt. Kohlenoxyd. Indessen entspricht doch die Versuchsanordnung nicht 
den thatsächlichen Verhältnissen bei der Kohlendunstvergiftung, wo sioh das 
Kohlenoxyd in mehr oder weniger ausgiebiger Weise mit der atmosphärischen 
Luft mischen kann, was bei Eulenberg’s Versuchen ausgeschlossen war; bei 
denselben handelt es sich vielmehr um ein sauerstofffreies Gemisch von Kohlen¬ 
oxyd, Kohlensäure und Stickstoff. Auch lassen die grossen Schwankungen des 
procentischen Gehaltes an Kohlenoxyd — das Maximum beträgt mehr, als das 
lOfache der Minimalmenge — die Analyse weniger werthvoll, als die von Biefel 
und Po leck erscheinen. Immerhin würden sich die Differenzen in der Zu¬ 
sammensetzung des Kohlendunstes bis zu einem gewissen Grade durch die wech¬ 
selnde Menge des bei der Verbrennung zutretenden Sauerstoffs erklären lassen; 
denn je weniger Luft zutreten kann, desto ungenügender wird die Verbrennung 
und desto grösser wird der Gehalt an Kohlenoxyd ausfallen und umgekehrt. 

Das todtbringende Gas im Kohlendunste ist das Kohlenoxyd; von den übri¬ 
gen Bestandtheilen könnte nur noch die Kohlensänre in Frage kommen. Indessen 
haben besonders Biefel und Poleok, welche die einzelnen Bestandtheile des 
Kohlendunstes gesondert auf ihre Versuchsthiere einwirken liessen, bewiesen, dass 
der Tod durch das Kohlenoxyd herbeigeführt wird, und der gleichzeitig be¬ 
stehende Sauerstoffmangel und die Kohlensäure Überladung nur unterstützend 

') L. c. S. 339. 

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Die KohlenoxydgasvergiftuDg und deren Verhütung. 


117 


dabei wirkt 1 ). Dem entspricht auch die Thatsache, dass Liman 2 ) in sämmt- 
liehen beobachteten Todesfällen Kohlenoxyd im Blute nachzuweisen vermochte, 
woraus er mit Recht den Schloss zieht, dass auch der Tod daroh dasselbe be¬ 
dingt war. 

Eulenberg 3 ), weloher den aus verschiedenen Brennmaterialien ent¬ 
wickelten Kohlendunst analysirte, kommt zu folgenden Ergebnissen: Im Holz¬ 
kohlendampfe finden sich Kohlenoxyd, Kohlensäure und Ammoniak (in geringen 
Mengen), im Steinkohlendampfe bisweilen geringe Mengen Schwefel Wasserstoff, 
schweflige Säure und gelegentlich auch Arsen; der Coaksdunst ist reich an 
Kohlensäure und schwefliger Säure, und bei unvollkommener Verbrennung ent¬ 
hält er sehr grosse Mengen Kohlenoxyd, sodass er als der gefährlichste 
Kohlendampf zu betrachten ist. Im Braunkohlendampfe finden sich Kohlen¬ 
oxyd, Ammoniak und schweflige Säure. In dem Dampfe des friesländischen 
Torfcoaks konnte Eulenberg ausser Kohlenoxyd eine grosse Menge Cyan 
nachweisen, das, wie er glaubt, vielleicht eine Art Gegengift zum Kohlenoxyd 
darstellt, da einmal erfahrungsgemäss in Holland fast nie Vergiftungen durch 
Torfooaksdämpfe Vorkommen sollen, und andererseits Eulenberg’s Versuchs¬ 
tiere die Einwirkung des Torfooaksdampfes besser, als alle anderen Dunstarten 
vertrugen. Die Thatsache hält Eulenberg jedenfalls für sicher, dass ceteris 
paribas der Dampf aus Torfcoaks der unschädlichste, der aus Coaks dagegen 
der gefährlichste Koblendunst ist. 

Es ist irrig, zu glauben, dass in einem Raume, in welchem Kohlendunst 
verbreitet ist, ein brenzlicher Geruch wahrgenommen werden müsse, und dadurch 
das gefährliche Gas erkannt werden könne. Vielmehr ist reiner Kohlendunst, 
ebenso wie Kohlenoxyd, geruchlos und daduroh besonders gefährlich. Indessen 
kann er, zumal im Anfänge der Entwickelung, daroh Beimengung von stark 
riechenden brenzlichen Produkten und Rauch einen brandigen, beklemmenden, 
die Schleimhaut der Athemwege stark reizenden Geruch annehmen. Letztere sind 
zwar häufige, aber nur zufällige Begleiter des Kuhlenoxydgases, keineswegs aber 
nothwendige. Ebenfalls können demselben gelegentlich Russ und feinste Kohle- 
theilchen beigemengt sein. Es ist leicht verständlich, dass die Kenntniss dieser 
Thatsache für den Geriohtsarzt von der grössten Bedeutung ist, da nicht selten 
Fälle Vorkommen, wo Leichen im Zimmer aufgefonden werden, und der Kohlen- 
dunst entweder frei von riechenden Produkten war, oder der Geruch sich längst 
wieder verzogen hatte, und trotzdem der Tod durch Kohlenoxyd herbeigeführt 
war. In zweifelhaften Fällen wird die Todesursache dann noch durch die 
Leiohenuntersuchung festgestellt werden können. 

Vergiftungen mit Kohlendunst kommen in der mannigfachsten Weise 
sowohl im häuslichen, wie industriellen Betriebe zu Stande. 

In ersterer Beziehung hat am häufigsten eine fehlerhafte Anlage oder eine 
unvorsichtige Handhabung der Heizvorrichtungen die schlimmsten Folgen 
gehabt. Aus ökonomischen Gründen ist es nämlich wünsohenswerth, dass man 


*) L. o. S. 356. 

2 ) L. o. S. 597. 

3 ) Eulenberg, Gewerbehygiene. S. 345. 


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den Verbrennuogsvorgang im Ofen za reguliren vermag, indem man einerseits 
durch Behinderung des Ueberganges der Heizgase und des Rauches nach dem 
Schornsteine den Luftzutritt zur Feuerung vermindert, und so die Verbrennung 
verlangsamt oder ganz unterbricht, andererseits aber nach Beendigung des Ver¬ 
brennungsvorganges die im Ofen aufgespeicherte Wärme davor schützt, dass sie 
durch die einströmende kältere Luft nach dem Schornsteine entführt wird. Diesen 
Zwecken entsprach in früherer Zeit ausschliesslich die Ofenklappe. Der su 
frühzeitige Verschluss derselben hat einen Austritt von Heizgasen und Rauch aus 
dem Ofen nach dem beheizten Raume zur Folge. Im Jahre 1876 sind in Berlin 
47 Todesfälle durch Kohlenoxydvergiftung vorgekommen, von welchen mit einiger 
Sicherheit zum mindesten 30 auf einen unvorsichtigen Gebrauch der Rauchrohr- 
klappen zurückgefübrt werden können •). 

Allein auch aus Oefen, welche ontweder gar keine Ofenklappen besitzen, 
oder wo dieselbe gar nicht abgesperrt wurde, kann Kohlenoxyd ausströmen, 
wenn die Rauchrohre durch Russ verlegt ist, oder wenn die Verbrennungsgase 
durch heftigen Wind in den Ofen zurüobgetrieben werden. Dabei mag die Heiz- 
thör selbst gut scbliessen. Jeder Ofen besitzt ausserdem in seinen Fugen un¬ 
dichte Stellen genug, durch welche die schädlichen Gase in den Wohnraum ge¬ 
langen können. 

Das Aastreten derselben soll nach Meidinger 3 ) auch bei den sogenannten 
Füllöfen erfolgen können, da man iu denselben, um einen möglichst hohen Heiz¬ 
effect zu erzielen, stets nur ein schwaches, langsam brennendes Feuer zu unter¬ 
halten pflegt. Da in Folge dessen die Verbrennungsprodukte nur mit wenig 
hoher Temperatur in den Schornstein ziehen, so wird die in demselben befind¬ 
liche Gesammtwärme nur wenig sich über die der äusseren Luft erheben, und 
folglich auch der „Zug“ im Kamine nur gering sein. Wenn nun bei Witterungs¬ 
wechsel die Wärme der Aussenluft rasch um viele Grade steigt, so soll die Tem¬ 
peratur im Ionern des Kamins von derjenigen der äusseren Luft übertroffen 
werden können. Bei allmäliger Abnahme des Zages und damit auoh der Stärke 
der Verbrennung im Ofen soll sich zuletzt ein niedergehender Zug bilden, der 
die Ofengase in den Wohnraum treibt. Durch Oeffnen von Thüren und Fenstern 
kann man am Tage die Gefahr der Kohlendunstvergiftung vermeiden, dagegen 
befinden sich Schlafende dem Fällofenbetriebe gegenüber völlig hilflos, da ihnen 
der Geruch der aasströmenden Ofengase nicht zum Bewusstsein kommt. 

Der über Nacht brennende Füllofen kann aber auch den Bewohnern anderer 
Stockwerke gefährlich werden, wenn gemeinsame Schornsteine die Verbrennungs¬ 
gase verschiedener Stockwerke aufnehmen und wegführen. Denn damit ist die 
Möglichkeit gegeben, dass der Rauch ans einem oberen Stookwerke in einem un¬ 
teren aastritt und umgekehrt. Wenn nun auch Meidinger*) zwei Fälle der 
Art erzählt und dabei auf die Gefahr des Füllöfen-Feuerns während der Naoht 
aufmerksam maoht, so scheint dieselbe doch nicht allzu erheblich zu sein. Denn 


*) Wolffhügel, „Heizung“ in Eulenberg’s Handbuch der öffentlichen 
Gesundh. Berlin 1881. Bd. II. S. 38. 

2 ) Meidinger, I. o. 

*) L. o. S. 325. 


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Die Kohlenoxydgasvergiftung and deren Verhütung. 


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sonst müssten sioh doch bei der grossen Verbreitung der Füllöfen in den letzten 
10 Jahren derartige Unglüoksfälle häufiger ereignet haben. Aach dürfte wohl eia 
niedergehender Zag in der Heizanlage in Folge eines nächtlichen Witterungs¬ 
wechsels schon deshalb za den grossen Seltenheiten gehören, weil in der Regel 
des Naohts die Aassenwärme noch niedriger, als am Tage ist. 

Besonders haben aber die neaerdings so beliebten, transportablen kleinen, 
sogen. Sparöfen ohne Abzugsrohr bereits mehrfach schwere Vergiftungen, selbst 
Todesfälle herbeigeführt. Hierher gehört aach der von Alwin Nieske in 
Dresden in den Handel gebrachte Carbon-N&tron-Ofen, der jetzt in 3 ver¬ 
schiedenen Constrnctionen für gut gelüftete Räume, Zimmerheizung und Bade¬ 
zimmer hergestellt wird, und dem der Fabrikant jetzt, wohl gewitzigt durch 
die mancherlei Unglücksfälle, ein Blechrohr zum Ableiten der Verbrennungsgase 
durch eine Oeffoung im Fensterrahmen beigiebt. Da sich indessen in dem Rauch¬ 
rohre eine Ofenklappe findet, so kann man auch diese Aenderung durchaus nicht 
als einen Fortschritt begrüssen. Petri*) konnte in der Zimmerluft bei dieser 
Heizungsart Kohlenoxyd naohweisen, seine Mäuse starben darin nach 2—3 Std.; 
Aug. Pfeiffer l 2 ) zeigte durch einen einfachen Versuch (indem er ein brennen¬ 
des Streichholz über den Ofen hielt, welches sofort verlöschte) das Aastreten der 
Verbrennungsgase selbst bei völlig geöffnetem Rauchrohre, und Wolpert wäre 
bei einem Versuche, sioh von der Unschädlichkeit des Ofens zu überzeugen, bei¬ 
nahe selbst ein Opfer des entströmenden Gases geworden. Auoh die Acadämie de 
mddecine in Paris hat auf Lanoeraux’ ausführlichen Berioht hin den Gebrauoh 
transportabler Oefen prinoipiell verworfen und vor der Verwendung gewarnt 3 ). 

Man hat ferner geglaubt, dass auoh eiserne Oefen, zumal die gusseisernen, 
sobald sie glühend geworden sind, selbst bei unverschlossenem Abzugsrohre das 
Kohlenoxyd entweichen lassen und dadurch die Gesundheit sobädigen. Den An¬ 
lass zu dieser Auffassung gab Dr. Garret in Chamböry, weloher im Jahre 1865 
in einem Briefe an die französische Aoademie die Mittheilung machte, dass er 
an 2600 Individuen in Savoyen eine eigenthümliche, dem Typhus ähnliche 
Krankheit beobachtete, als deren Ursache er das den eisernen Oefen entströmende 
Kohlenoxyd verdächtigte. Indessen ist Garret mit seinerAnsicht doch vereinzelt 
geblieben, um so mehr, da ihm nacbgewiesen wurde, dass die fragliche Epidemie 
im Juni aufgetreten war, also wohl schwerlich durch glühende Eisenöfen in An¬ 
betracht der Jahreszeit hatte erzeugt werden können. Trotzdem begegnete man 
nooh hie und da der Warnung vor glühenden eisernen Oefen als der Quelle von 
Kohlenoxyd (Fodor), bis im Jahre 1878 besonders durch Wolffhügel’s 4 ) 
Untersuchungen festgestellt wurde, dass bei tadellosem Zustande der Oefen keine 
Spur von Kohlenoxyd denselben entströmen kann, um so weniger, als hier ein 
kräftiges Saugen bezw. ein starker Zug stattfindet; ausserdem entwickeln sich 
bei einem ergiebigen Luftzuge kaum Spuren von Kohlenoxyd im Ofen. Nur dann 
kann dies Gas sioh bilden, wenn sich Staub auf den glühenden Eisenplatten ab- 


l ) Petri, Deutsche Medioinalzeitnng. 1888. S. 1078. 

*) Pfeiffer, Industrieblätter. 1888. S. 345. 

*) Sohmidt’s Jahrbücher. Bd. 222. S. 266. 1889. 

4 ) Zeitschrift für Biologie. XIV. Bd. S. 523. 


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lagert; indessen ist unter gewöhnlichen Verhältnissen die Menge desselben so 
gering, dass von einer schädlichen Einwirkung kaum die Rede sein kann. 
Wolffhügel 1 ) wies ferner nach, dass Beobachtungen von Kaiser und Votiert, 
welche bei Luftheizungen Kohlenoxyd in der Heizluft nachgewiesen haben wollten, 
nicht beweiskräftig sind, da in diesen Fällen der Betrieb naohweislioh ein an¬ 
reinlicher, oder die Caloriferen defect gewesen waren. Wir müssen daher das 
Austreten des Kohlenoxydes aus glühenden Eisenöfen bei ordnangsmässiger 
Handhabung derselben entschieden in Abrede stellen und können darin eine 
Quelle der Kohlendunstvergiftung nicht sehen. 

Nicht selten sind verborgene Brände von Balken unter dem Fussboden 
oder in den Wänden der Wohnungen Veranlassung zu Unglöoksfällen geworden, 
indem der Kohlendunst durch Thüren, Fussböden, ja sogar duroh die Mauern in 
die Nachbarräume eindrang und selbst tödtliche Vergiftungen zur Folge hatte, 
ohne dass sich in dem betreffenden Raume die Quelle des giftigen Gases naoh- 
weisen liess. Solche Fälle sind in forensisoher Beziehung von der grössten Be¬ 
deutung. 

Auoh die Verwendung von offenen Kohlenbecken führt zumal dann, 
wenn der Sauerstoffzutritt behindert ist, nicht selten mehr oder weniger sohwere 
Vergiftungen herbei. So erzählt Blumenstook 3 ) einen Fall, wo ein Arbeiter 
in einen tiefen Brunnenschacht zur Winterszeit hinabgestiegen war, um dort eine 
schadhaft gewordene Stelle auszubessern. Er hatte dabei das zum Erwärmen der 
Löthkolben dienende Kohlenbecken auf dem Grande des Brunnens aufgestellt und 
oberhalb desselben gearbeitet. Er wurde leblos heraufbefördert. Ebenso ereignen 
sich garnicht selten Vergiftungen, wenn bei geschlossenen Fenstern und Thüren 
die zum Bügeln der Wäsohe dienenden Eisen auf offenem Kohlenbecken heiss ge¬ 
halten werden. 

Abgesehen von diesen öconomischen Vergiftungen giebt es eine nioht unbe¬ 
trächtliche Anzahl von Gewerben und Fabricationszweigen, welche mit 
der Gefahr der Einathmung kohlenoxydhaltiger Gasgemenge verbunden sind. Hier 
sind in erster Linie die in Eisenhütten beschäftigten Arbeiter gefährdet. Die aus 
den Hochöfen entweichenden sogenannten „Gichtgase“ sind es, welohe neben 
Kohlenwasserstoffen und Stickstoff auoh bedeutende Mengen Kohlenoxyd ent¬ 
halten. Während man nun dieselben früher einfaoh entweiohen liess, leitet man 
sie jetzt allgemein in die Feuerung, um sie wegen ihres hohen Gehaltes an 
Kohlenoxyd als Heizmaterial zu verwenden. Unglüoksfälle können dabei ent¬ 
stehen durch das Entweichen der Gichtgase infolge von Rissen des Ofens oder 
Undichtweiden der Ableitungsrohre. Auch diejenigen Arbeiter, welohe den 
Sohacht von den sich daran absetzenden Russ und fremden Körpern zu reinigen 
haben, unterliegen der Gefahr der Kohlenoxyd Vergiftung. 

Die gleichen Gasgemenge treten bei der Bereitung des Goaks durch trookene 
Destillation der Steinkohle auf und können gelegentlich gefährlich werden. Einen 
sehr interessanten Fall derart erzählt Greift 3 ). Ein Arbeiter war in eine guss- 


‘) W. in Eulenberg’s Handbuch der öffentl. Gesundheitspfl. Bd.II. S.45. 

2 ) L. c. S. 533. 

3 ) Greiff, 1. o. Bd. 52. S. 359. 


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Die Kohlenoxydgasvergiftung und deren Verhütung. 


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eiserne Retorte von 4 cbm Inhalt duroh das Mannloch gekroohen, um dort mit 
einem Meissei die zusammengebackene und erkaltete Schlaokenmasse in Siüoke 
zu schlagen und dann herauszubefördern, und war dabei umgekommen. Die 
ohemisohe Untersuchung der Coaksmasse ergab einen Gehalt von 10,7 pCt. 
Kohlenoxyd. Offenbar waren duroh das Losschlagen Hohlräume in der Masse er¬ 
öffnet, die mit Gas angefüllt waren. Dies hatte aber wegen der ungenügenden 
Ventilation in der Retorte — dieselbe war innerhalb 14 Tage nach der letzten 
Operation vollständig abgekühlt, und draussen herrschte eine sehr drückende, 
schwüle Luft — nur sehr langsam entweichen können und dadurch bei seinem 
hohen Gehalte an Kohlenoxyd den Tod des Mannes herbeigeführt. 

Ferner ist bei der Ueberführung des Holzes in Holzkohle in den Meilern die 
Möglichkeit zu einer Vergiftung duroh Kohlenoxyd gegeben, aber thatsäohlicb 
nur bei -der allergrössten Unvorsichtigkeit der Köhler in sehr seltenen Fällen 
beobachtet, wenn sioh z. B. ein Arbeiter auf dem Meiler zum Schlafen nieder¬ 
gelegt hatte'). Auch in Ziegel- und Kalkbrennereien sind gelegentlich Arbeiter 
duroh den aus den Ofen entweichenden Kohlendunst vergiftet worden. 

Endlich ist das Kohlenoxyd ein wichtiger Bestandtheil der in Bergwerken 
vorkommenden sohlagenden Wetter und entwickelt sioh, wenn in unter¬ 
irdischen Räumen Feuersbrünste entstehen. Die Zusammensetzung eines von 
Poleck 3 ) untersuchten Gasgemisohes aus der „Vereinigten Glüokhilf-Grube“ zu 
Hermsdorf bei Waldenburg in Schlesien war folgende: 

Kohlenoxyd .... 1,87 pCt. 

Kohlensäure .... 41,49 pCt. 

Methan. 32,65 pCt. 

Aethan. 3,99 pCt. 

Stickstoff. 20,00 pCt. 

Die bei den in jener Streoke beschäftigten Arbeitern beobachteten Krankheits- 
ersoheinungen konnten indessen nicht aussohliesslioh dem Kohlenoxyd zur Last 
gelegt werden, sondern mussten gleichzeitig als duroh die beträchtliche Vermin¬ 
derung des Sauerstoffs und den hohen Gehalt an Kohlensäure bedingt angesehen 
werden. 


2. Leuchtgas. 

Das zweite wichtige kohlenoxydhaltige Gasgemenge ist das Leuohtgas. 
Dasselbe wird bekanntlich durch trockene Destillation der verschiedensten Brenn¬ 
materialien, meist der Steinkohle, gewonnen und, bevor es in dem Gasometer ge¬ 
sammelt wird, noch von einer Reihe unbrauohbarer Nebenproducte, zumal nicht 
brennbarer, gasförmiger Substanzen befreit. Diese Reinigung geschieht in der 
Weise, dass das Leuchtgas durch Berührung mit Coaks und Wasser gewaschen 
und zuletzt in den sogenannten „ Reinigungskästen“ der Einwirkung von mit 
wenig Wasser gelöschtem Kalke ausgesetzt wird. Dieser nimmt die grösste Masse 
der vorhandenen Mengen von Kohlensäure, Ammoniak, Cyan, Stickstoff und 
Sohwefelverbindungen auf und muss daher, sobald er unwirksam geworden ist, 


*) Eulenberg, Gewerbehygiene. S. 342. 
3 ) L. o. S. 6. 


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Dr. Becker, 


durch neuen ersetzt werden. Aus dem Reinigungsapparate gelangt das Gas in 
den Gasometer und dann mittelst Rohrleitungen in die Häuser der Abnehmer. 

Die Zusammensetzung des Leuchtgases ist je nach der Art der Bereitung 
eine ausserordentlich verschiedene. Der Gehalt an Kohlenoxyd sohwankt bei dem 
aus der Steinkohle dargestellten Gase zwischen 4—8 —10 pCt. und mehr 1 ), ist 
also jedenfalls wesentlich höher, als der des Kohlendunstes, den wir oben zu 
weniger als 1 pCt. angegeben haben. 

Von allen im Leuchtgase enthaltenen Gasea ist das Kohlenoxyd dasjenige, 
welches die Vergiftung hervorruft, wie besonders durch die sorgfältigen Unter¬ 
suchungen von Biefel und Poleck 3 ) bewiesen worden ist, so dass wir berech¬ 
tigt sind, die Leuchtgasvergiftung als einfache Kohlenoxyd Vergiftung anzusehen. 

Unglücksfälle durch ausströmendes Gas kommen entsprechend der grossen 
Verbreitung dieses Leuchtstoffes recht häufig vor. Schon in den Gasanstalten 
selbst sind durch unvorsichtige Handhabung der bei der Gasbereitung gebrauchten 
Apparate mehr oder weniger schwere Vergiftungen vorgefallen. So habe ich auf 
der Göttinger medicinisohen Klinik auf meiner Abtheilung lange Zeit einen 
Arbeiter behandelt, der an einem unter dem Bilde der multiplen Sclerose auf¬ 
tretenden Symptomencomplexe litt, der mit Sicherheit auf eine Leuohtsgasver- 
giftung zurückzuführen war, die der Kranke sich gelegentlich der von ihm vor¬ 
genommenen Entfernung der Reinigungskästen in einer Gasanstalt zugezogen 
hatte 3 ). 

Weit häufiger aber, als bei der Fabrication, giebt das Leuchtgas zu Ver¬ 
giftungen Anlass, während es die Leitungsröhren durchstreioht. Bald sind 
die Verbindungsstellen der einzelnen Rohre undicht geworden, bald finden sich 
in diesen selbst Risse, Löcher und Sprünge, welche bei der Erneuerung des 
Strassenpflasters, bei Canalbauten u. s. w. duroh die Spitzhaoke des Arbeiters 
unbeabsichtigt und unbemerkt erzeugt sind. 

Aber auoh ohne directe Beschädigung durch die Arbeiter kann ein Rohr- 
bruoh zu Stande kommen. Denn bei den mannigfachen Erdarbeiten werden die 
Gasröhren der Strassenleitungen oft ganz frei gelegt, und bei der ungleich- 
mässigen Beschaffenheit des Bodens dieser aufgelockert. In den zugeschütteten 
Baugruben setzt er sich ungleichmässig fest; es bilden sieb Hohlräume, in denen 
dann beim Strassen verkehr durch die Erschütterungen des Bodens, welche z. B. 
schwer beladene Lastwagen hervorzurufen vermögen, Gasröhrenbrüohe ent¬ 
stehen 4 ). Das der Lücke entströmende Gas entweicht zwar manchmal naoh oben 
und aussen; öfter aber, wenn der Erdboden gut gepflastert, undurchlässig, im 
Winter gefroren oder mit Schnee bedeckt ist, bahnt es sioh seitwärts duroh die 
Erdschiohten einen Weg und kann in die nächstgelegenen Häuser gelangen, 
welche dabei — und das ist zweifellos der allerwichtigste Faotor — vermöge 
ihrer Wärme wie ein geheizter Kamin auf die kalte Umgebung wirken. Diese 
zuerst von Pettenkofer aufgestellte Behauptung hat durch die Arbeiten seines 


*) Hirt, 1. c. S. 35. Das Göttinger Leuchtgas enthält lOpCt. Kohlenoxyd. 
a ) L. c. S. 357. 

3 ) Deutsohe medicinische Wochenschrift. 1889. No. 26—28. 

*) Biefel und Poleok, 1. o. S. 315. 


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Die Kohlenoxydgasvergiftung und deren Verhütung. 123 

Schülers Welitschkowsky eine experimentelle Bestätigung erfahren, welohe 
feststellen Hessen, dass 1 ) »im Winter unter dem Einflüsse der Temperaturdiffe¬ 
renz der äusseren Luft und der Keller- und Wohnungsluft ungeachtet der stär¬ 
keren Ventilation des Bodens zu dieser Jahreszeit, immer eine mehr oder minder 
starke Strömung der Bodenluft in der Richtung der geheizten Räume stattfindet.“ 
Da ausserdem die Nächte in der Regel wesentlich kälter als die Tage sind, und 
noch dazu Fenster und Thüren während der Nacht vielmehr geschlossen gehalten 
werden als am Tage, so erklärt sioh daraus sehr einfach, warum die Unglücks- 
Bille vorwiegend während der Nacht eintreten. Man hat beobachtet, dass selbst 
auf grosse Entfernung hin das Gas von der Bruchstelle aus in die Kellerwohnung 
eindrang. Derartige Unglücksfälle werden von Pettenkofer (Münohen), Biefel 
(Breslau), Jacobs (Köln) und Anderen berichtet. 

Diese Vergiftungen sind aber ausserdem noch deshalb so gefährlich, weil 
das Leuchtgas erstens seinen charakteristischen Geruch einbüsst, wenn es lange 
Strecken Erdboden durchströmt, und zweitens der Gehalt an Kohlenoxyd dadurch, 
dass die schweren Kohlenwasserstoffe und das Sumpfgas vom Boden absorbirt 
werden, relativ zunimmt. In dieser Beziehung sind besonders die Analysen von 
Biefel und Poleok 3 ) lehrreioh: 



Leuchtgas 

Durch die Erd¬ 
schicht ge¬ 
strömtes Gas 

Kohlensäure. 

3,06 

2,23 

Schwere Kohlenwasserstoffe ... 

4,66 

0,69 

Sumpfgas . 

31,24 

17,76 

Wasserstoff . 

49,44 

47,13 

Kohlenoxyd . 

10,52 

13,93 

Sauerstoff. 

0,00 

6,55 

Stickstoff . 

1,08 

11,71 


100,00 

100,00 


Einen derartigen Fall habe ich während meiner Assistentenzeit auf der 
Göttinger medioinischen Klinik beobachtet. Am 28. Januar 1889 wurde eine 
32jährige Kutachersfrau mit ihrem 4jährigen Sohne im bewusstlosen Zustande 
eingebracht und gab nach ihrem Erwachen an, dass sie sich am Abend vorher 
ganz gesund zu Bett gelegt habe und um Mitternacht durch das Jammern ihres 
Sohnes, welcher über Kopfsohmerzen geklagt und mehrfach erbrochen habe, ge¬ 
weckt sei. Sie sei anfgestanden, habe Licht angezündet, sei aber dann bewusst¬ 
los zusammengesunken und habe die Erinnerung von diesem Zeitpunkte an ver- 


*) L. c. S. 264. 
2 ) L. o. S. 313. 


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Dr. Becker, 


loren; das Feuer habe im Ofen nicht mehr gebrannt, und Gasleitung sei im Hause 
überhaupt nicht. Am Abend wurden Mutter und Kind auf ihren Wunsch voll¬ 
kommen wohl entlassen. Trotz des ausdrücklichen-Verbotes, dass Niemand in der 
Kammer schlafen dürfe, nächtigten ausser den beiden Personen noch die Eltern 
der Matter Nachts darauf in einem nach dem Hofe zu gelegenen Raume. Alle 
vier wurden von dem Morgens gegen 6 Uhr vom Nachtdienste zurückkehrenden 
Manne betäubt aufgefunden. Die Grosseltern lagen in tiefem Coma. Mutter und 
Kind waren nur somnolent, offenbar deshalb, weil sie einen Fensterflügel hinter 
den allerdings verschlossenen Holzladen hatten offen stehen lassen. Nach ge¬ 
höriger Lüftung erholten sich Alle wioder. Diesmal bemerkte man — was Tags 
vorher nicht möglich war — einen eigentümlichen Geruch im Hausflur, der 
aber nicht an Leuchtgas erinnerte. Als man indessen die zu den Kellerräumen 
führende Fallthür öffnete, entströmte denselben ein wenn auch schwacher, so 
doch deutlicher Gasgeruch, welcher Veranlassung zu einer Revision der Strassen- 
gasleitungen wurde und zur Entdeckung eines Rohrbruches führte. Einige Tage 
nach der Ausbesserung desselben konnte die Wohnung wieder bezogen werden. 

Nooh häufiger liegt die Ursache des Gasausströmens in den Wohnungen 
selbst. Bald sind die Gashähne nicht vollständig geschlossen, wohl gar die 
Flammen ausgeblasen worden, bald sind die Leitungen im Hause selbst schad¬ 
haft. Wolffhügel beriohtete auf dem VI. Hygiene-Congresse über einen Fall, 
den er in Berlin beobachtete. Dort war das Kugelgelenk eines Gaskronleuohters 
undicht geworden und hatte geringe Mengen Leuchtgas durch das Füllmaterial 
der Zwisohendeoke hindurch in das darüber liegende Zimmer ausströmen lassen, 
wodorch ebenfalls (wie bei den Rohrbrüohen im Erdboden) das Gas die vor der 
Vergiftung warnenden Riechstoffe verloren hatte. Derartige Fälle sind selbstver¬ 
ständlich von der allergrössten Wichtigkeit, da die fortwährende Einwirkung selbst 
kleiner Mengen Leuchtgas die schwersten Krankheitssymptome hervorrufen kann, 
die sofort versohwinden, sobald die Ursaohe beseitigt ist. Man hat den Gasver¬ 
lust in Hausleitungen auf etwa 3 pCt. berechnet. 

3. Wassergas. 

In der neuesten Zeit ist vielfach die allgemeine Einführung des Wasser¬ 
gases empfohlen, welches in Amerika bereits seit dem Jahre 1874 eine ausge¬ 
dehnte industrielle Verwerlhung gefunden hat. Dasselbe wird erzeugt, indem 
man überhitzten Wasserdampf ohne Luftbeimengung duroh glühenden Coaks 
und dergleichen leitet, wobei ein Gemenge von durchschnittlich folgender Zu¬ 
setzung ') entsteht: 


Leuchtende Bestandteile 

. 12,48 pCt. 

Sumpfgas. 

. 20,55 pCt. 

Wasserstoff. 

. 36,34 pCt. 

Kohlenoxyd . 

. 27 , 4 « pCt. 

Stickstoff. 

. 2.56 pCt. 

Sauerstoff. 

. 0,26 pCt. 

Kohlensäure. 

0,35 pCt. 


*) Sedgwick und Niohols, S. 5. 


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Die Kohlenoxydgasvergiftung und deren Verhütung. 


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Um seine Leuchtkraft zu erhöhen, wird es duroh schwere Kohlenwasser¬ 
stoffe oarburirt und hat dadurch bereits in über 150 Städten Amerikas seinen 
Einzug als Städtebeleuchtungsmittel gehalten. Als besondere Vorzüge 1 ) werden 
ihm nachgerühmt: 1. ein ruhiges, weisses, nicht russendes Lioht und 2. verhält- 
nissmässig geringe Herstellungskosten. Ein Blick auf die Zusammensetzung dieses 
Gases genügt, um zu erkennen, mit welchen enormen Gefahren der Verbrauoh 
desselben verbunden ist bei dem hohen Gehalt an Kohlenoxyd, welcher sogar bis 
zu 40pCt. steigt und somit den des Steinkohlengases um das 5—6 fache über¬ 
trifft. Dazu kommt seine absolute Geruchlosigkeit, welche eine allgemeine Be¬ 
nutzung duroh das grosse Publikum unbedingt ausssohliesst. Letzterem Miss¬ 
stand hat man dadurch zu begegnen versucht, dass man dem Gase durch Bei¬ 
mengung von Naphthol, Phenol, Petroleumrüokständen, Mercaptan, Asa foetida 
und anderen Stoffen einen penetranten Geruoh beimischte, der indessen wohl 
ebenso, wie beim Leuchtgas, verschwinden wird, wenn das Gas duroh den Boden 
geströmt ist. Und trotz dieser Imprägnirung mit Rieobstoffen hat das Wassergas 
ganz erheblioh mehr Opfer, als das Leuchtgas, in denjenigen Städten Amerikas 
gefordert, welohe dasselbe eiogeführt haben. So starben io New-York 2 ) in den 
Jahren 1880—1887 an KoblengasVergiftung 9, an Wassergasvergiftung aber 
177 Personen, in Baltimore starben an Wassergasvergiftung von 1883—1887 
45, in San Francisco allein 11, in Chicago von Ootober 1886 bis Ende 1887 
11 Personen. In dem einen Monat Januar 1888 traten in New-York ebenso viel 
Todesfälle durch Wassergas ein, wie in Boston durch Leuchtgas in 55 Jahren! 
Diese Zahlen sind beweisend genug, um die enorme Gefahr dieses Gases, welches 
begeisterte Anhänger bereits als „Heizstoff der Zukunft“ proklamirt hatten, greif¬ 
bar vor Augen zu führen. Sie haben bewirkt, dass im März 1888 ein von 
158 Aerzten des Staates Massachusetts Unterzeichneter Protest gegen die Ein¬ 
führung von Wassergas oder irgend eines über 10 pCt. Kohlenoxyd haltenden 
Gases erhoben wurde. 

In Europa ist bislang noch kein Gebrauoh von Wassergas als Beleuchtungs¬ 
mittel, wohl aber wegen seiner hohen Heizkraft als Heizstoff in verschiedenen 
Fabriken gemacht worden, eine Anwendungsweise, die man nicht verhindern 
kann, ohne dadurch der Entwicklung der Industrie eine hemmende Fessel anzu¬ 
legen. In der heimischen Industrie wird es gegenwärtig zum Sohweissen der 
Eisenbleche, zum Heizen von Schmiedefeuern (Essen a. R., Fürstenwalde, Hörde, 
Warstein in Obersohlesien), ferner zum Glasblasen (Gelnhausen bei Cassel), zum 
Schmelzen von Flüssen und Metallen und zum Glühen von Farbkörpern (Frank¬ 
furt a. M.), sowie zum Sengen der Seide und sonstiger Gespinnste und Gewebe 
(Elberfeld, Barmen) erfolgreich benutzt. 

Abweichend von dem Wassergase werden in der Sohweiz 8 ) sogen. Halb- 
wassergase (Misch-Generator-Wassergase u. a. m.) dadurch erzeugt, dass man 
in einen gewöhnlichen, mit natürlicher Zugluft oder Gebläse getriebenen Gene¬ 
rator Wasser oder Wasserdampf zutreten lässt. Der Wasserdampf wird von 


') Hartmann’s Referat auf dem VI. Hygienecongress. 
3 ) A protest etc. S. 24 ff. 

*) Lunge, 1. o. Heft 16. 


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Dr. Becker, 


der glühenden Kohle im Generator zersetzt, und diese Zersetznngsprodnkte 
mischen sich dem gewöhnlichen Generatorgase bei, sodass demnach die Halb¬ 
wassergase ans Generatorgasen und Wassergas bestehen. Eines dieser Halbwasser¬ 
gase ist das nach seinem Erfinder benannte Dowson- Gas, welches in einer Hut- 
fabrik za Bendlikon bei Zürich zum Erhitzen der eisernen Hutformen, in einigen 
Florettspinnereien zam Sengen der Seide, an mehreren Orten zum Betriebe von 
Gasmotoren etc. verwendet wird. In der genannten Hutfabrik sollen die Arbeiter 
häufiger über Kopfschmerz, Schwindel, Uebelkeit und Appetitlosigkeit geklagt 
haben. Versuche, welche Wyss und unter seiner Leitung Heinrich Schiller *) 
anstellten, haben ergeben, dass das Mischgas, wenn es aus schwefelhaltigem 
Anthracit oder Coaks hergestellt wurde, zwar einen entschiedenen, wenngleich 
sehr viel schwächeren Geruoh als das Leuohtgas besitzt, aber stets 22—25 pCt. 
Kohlenoxyd enthält. Während also dem eigentlichen Wassergase etwa die fünf¬ 
fache Giftigkeit des Leuchtgases zukommt, so ist dem Dowson-Gase immerhin 
noch eine dreifache zuzuschreiben. Wenngleioh nun zwar in Europa tödtliohe 
Vergiftungen durch Wassergas oder Halbwassergas zur öffentlichen Kenntniss 
bislang noch nicht gelangt sind, so ist es doch Pflicht des Hygienikers, auf die 
grossen Gefahren, welche eine allgemeine Einführung dieser Gasarten mit sich 
bringen würde, warnend aufmerksam zu machen. 

Das in West Pennsylvanien vorkommende und durch Bohrung gewonnene 
sogenannte Naturgas 2 ), welohes daselbst zu Heiz- und Beleuohtungszwecken 
seit 1883 verwendet wird, muss wegen seines sehr geringen Gehaltes (0,6 pCt.) 
an Kohlenoxyd in sanitärer Hinsicht wenigstens als ein ideales Material angesehen 
werden. Vergiftungen durch dasselbe sind mir nicht bekannt. 

4. Minengase. 

Endlich ist durch Poleok’s verdienstvolle Arbeit klar gestellt, dass in den 
Minengasen, wie sie sich beim Belagerangskriege in den Gallerieen nach 
Sprengung der Minen durch Pulverladungen bilden, das Kohlenoxyd dasjenige 
Gas ist, welches für die Entstehung der sogenannten „Minenbrankheit“ verant¬ 
wortlich zu machen ist. Eine ausführliche Darstellung dieser Verhältnisse dürfte 
wohl die Grenzen dieser Arbeit überschreiten. Der Hinweis auf den ätiologischen 
Zusammenhang mag genügen. 

Die Mehrzahl der Kohlenoxydvergiftungen verdankt ihre Ent¬ 
stehung unstreitig der Unvorsichtigkeit oder dem Zufalle; seltener 
wird das Gas, wenigstens in Deutschland zu Mord und Selbstmord 
(in 158 Beobachtungen Lesser’s 69mal) benutzt, während in Frank¬ 
reich diese Art des Selbstmordes sehr häufig ist. Es können in dem¬ 
selben Raume verschiedene Personen in verschiedenem Grade vergiftet 
sein, sodass schon gegen die Ueberlebenden der Verdacht einer ver- 

‘) Schiller, Experimentelle Untersuchungen über die Wirkung des Wasser¬ 
gases auf den thierisohen Organismus. Inaug.-Dissert. Leipzig 1888. 

2 ) Hart mann’s Referat. 


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Die Kohlenoxydgasvergiftang and deren Verhütung. 


127 


brecherischen Handlang entstanden ist. Von forensischer Bedeutung 
für die Schuldfrage ist dabei die grössere oder geringere Entfernung 
von der Entstehungsquelle, sowie von Thür und Fenster, die Richtung 
des Luftzuges, die Zeit der Einwirkung, das Alter, der Kräftezustand 
und individuelle Beanlagung. Selbstmörder pflegen häufig Thür- und 
Fensterritzen in der Absicht zu verkleben, einen möglichst luftdichten 
Verschluss des Zimmers dadurch herbeizuführen. 

?. Dosis toxica. 

Die zu einer tödtlichen Vergiftung erforderlichen Mengen von 
Kohlenoxyd lassen sich nicht leicht bestimmen. Nach Gruber’s 1 ) 
Experimenten genügen 0,4 pCt., um bei Thieren in ‘/ a —1 Stunde 
den Tod herbeizuführen. Auch in der Frage, ob eine dauernde Ein- 
athmung minimaler Mengen schädigend wirken kann, gehen die An¬ 
sichten aus einander. Während nämlich Fodor 3 ) diese Frage bejaht, 
sobald die Luft 0,5 pM. Kohlenoxyd enthält, erklären Vogel und 
Wolffhügel 3 ) kleinere Mengen Kohlenoxyd als 2,5 pM. entschieden 
für nicht schädlich. Letztere Ansicht unterstützen Gruber's Ver¬ 
suche. Er 4 ) selbst athmete an zwei auf einander folgenden Tagen je 
drei Stunden lang Luft mit 0,21 und 0,24 pM. Kohlenoxyd, ohne die 
geringste unangenehme Wirkung zu verspüren, und bewies durch diese 
und andere Versuche direct, dass die untere Grenze der Schädlichkeit 
des Gases für den Menschen bei einer Verdünnung von 0,5, sicherlich 
aber von 0,2 pM. liege 8 ), und dass die Schwere der Vergiftung durch¬ 
aus nicht der Zeitdauer der Einathmung, sondern lediglich der 
Concentration des Kohlenoxydes in der eingeathmeten Luft pro¬ 
portional ist. Ebenso wenig findet eine cumulative Wirkung statt. 
Neuerdings hat Dreser 6 ) mit Hülfe des von Hüfner eonstruirten 
Spectrophotometers die tödtliche Dosis für ein 2450 g schweres Ka¬ 
ninchen auf rund 0,0115 g Kohlenoxyd pro Kilogramm Thier fest¬ 
gestellt und daraus geschlossen, dass ein 70 kg schwerer Mensch 
demnach durch etwa 0,805 g Kohlenoxyd getödtet werden würde. 

*) Grober, 1. c. S. 158. 

a ) Fodor, 1. o. S. 388. 

s ) Wolffhügel, Zeitschrift für Biologie. XIV. S. 521. 

4 ) Grober, 1. c. S. 159. 

8 ) Gräber, 1. o. S. 160. 

*) Dreser, Archiv f. experimont. Pathologie and Pharmakologie. Bd. 29. 
S. 119. 1891. 


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128 


Dr. Becker, 


Des Weiteren geht ans seinen Versnehen hervor, dass selbst in 
den stärksten Graden der Vergiftung es nie zn einer vollständigen 
Verdrängung des Sauerstoffs aus dem Blute kommt, indem im un¬ 
günstigsten Falle immer noch % der ursprünglichen Sauerstoffmenge 
zurückbleibt. Endlich konnte sein Versuchsthier, welches er unter einer 
Glasglocke einer Kohlenoxydatmosphäre ausgesetzt hatte, aus der¬ 
selben entfernt, selbst dann noch wieder zum Leben gebracht werden, 
wenn nur noch 45,4 pCt. unverdorbenes Oxyhämoglobin in dem Blute 
zurückgeblieben war. Er weist dabei auf die Analogie mit dem Ver¬ 
blutungstode hin, bei welchem ebenfalls ein Verlust von 50 pCt. oder 
der Hälfte der gesammten Blutmenge tödtlich ist. 


VI. Symptomatologie. 

Die Wirkungen, welche das Kohlenoxyd auf den menschlichen 
Organismus ausübt, sind sehr verschiedene. Es giebt erstens eine 
acute Vergiftung, die je nach der Menge des eingeathmeten Gases 
entweder in Genesung oder Tod übergehen kann, zweitens eine 
chronische Form, welche man gelegentlich bei Fabrikarbeitern be¬ 
obachtet, die längere Zeit hindurch geringe Mengen Kohlendunst oder 
Leuchtgas einzuathmen gezwungen sind, und drittens ein grosses 
Heer von Nachkrankheiten, welche sich an eine acute, glücklich 
überstandene Kohlenoxydvergiftung anschliessen können. 

1. Acute Vergiftung. 

Die Symptome der acuten Vergiftung sind verschieden, je nachdem die 
Menge des eingeathmeten Kohlenoxydes gross oder gering ist. Im ersteren Falle 
kann der Tod oder wenigstens die Bewusstlosigkeit fast blitzartig eintreten, wie 
es z. B. bei dem oben (S. 122) erwähnten Arbeiter der Fall war. Nicht so stür¬ 
misch sind die Erscheinungen bei langsam eintretender Vergiftung. Die Wieder¬ 
belebten geben übereinstimmend an, dass sie zuerst ein Gefühl von dumpfem 
Kopfschmerz, Eingenommensein des Kopfes, Schwindel, Sausen vor den Ohren 
und Flimmern vor den Augen gespürt hätten; dazu gesellt sich bald Uebelkeit, 
Beklemmungsgefühl, grosse Angst, hochgradige Mattigkeit und oft auch Er¬ 
brechen. Dann tritt ein Zustand von Unklarheit und Benommenheit ein, in dem 
noch allerlei Bewegungen halb unbewusst ausgeführt werden können, bis die 
Kranken völlig bewusstlos zusammensinken und von diesem Momente ab jede Er¬ 
innerung an das Vorgefallene verlieren. Devergie 1 ) giebt in seinem Lehrbuohe 


') Citirt naoh Maschka, 1. c. S. 42. 


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Die Kohlenoxydgasvergiftung und deren Verhütung. 


1*29 


die sohriftlioben Aufzeichnungen eines Menschen wieder, weloher sioh mittelst 
Kohlendunst tödtete; dieselben lauten: „Ich setze auf den Tisch eine Lampe, 
eine Kerze, eine Uhr und beginne mit der Operation. Es ist 10 Uhr 15 Minuten. 
Ich zünde meinen Ofen an. Die Kohle brennt langsam. 10 Uhr 20 Min. Der 
Puls ist ruhig und schlägt nicht schneller, als gewöhnlich. 10 Uhr 30 Min. Ein 
dichter Rauch verbreitet sich allmählich in der Stube. Meine Kerze scheint dem 
Erlöschen nahe zu sein. Ein heftiger Kopfschmerz beginnt, meine Augen füllen 
sioh mit Thränen. loh empfinde ein allgemeines Unbehagen, der Puls ist be¬ 
schleunigt. 10 Uhr 40 Min. Die Kerze ist ausgelöscht, die Lampe brennt nooh. 
Meine Schläfen klopfen, als wenn die Adern platzen wollten. Ich leide schreck¬ 
lich im Magen. Der Puls hat 80 Schläge. 10 Uhr 50 Min. Ich ersticke. Fremd¬ 
artige Gedanken steigen in meinem Geiste auf, und ich kann kaum athmen. Ich 
bin närrisch. 11 Uhr. Ich kann fast nicht mehr schreiben. Mein Gesicht trübt 
sioh, die Lampe erlischt. Ich glaubte nicht, dass man so viel leiden müsste, um 
zu sterben. 1,1 Uhr 2Min. u — Hier finden sich einige unleserliche Schriftzeichen. 

Die meisten im Schlafe tödtlich Vergifteten pflegon ruhig in den Tod hin¬ 
über zu schlummern, andere werden von heftigen, tetanusartigen Krämpfen be¬ 
fallen, die schon durch leise Berührungen ausgelöst werden können. Die Pu¬ 
pillen sind dabei wechselnd weit, reagiren oft träge, und die Hauttemperatur ist 
während der Anfälle nicht selten sehr erheblich erhöht. Gelegentlich besteht eine 
mehr oder minder hochgradige Dyspnoe, selbst völlige Asphyxie. Der Puls, der 
anfangs voll und beschleunigt, wird, je mehr die Kraft abnimmt, immer elender, 
setzt oft aus und ist sohliesslioh garnicht mehr fühlbar, bis der Tod unter asphyc- 
tischen Convulsionen das Leben beschliesst. Auch Paresen und Paralysen der 
Extremitäten, sowie unwillkürlicher Abgang von Urin und Koth sind beobachtet. 
Vorübergehend kann Zucker und Eiweiss im Urin auftreten. Tagelang können 
die Vergifteten im tiefen Sopor daliegen, und ebensolange können auch die 
Krämpfe andauern. An Stelle der letzteren tritt dann gewöhnlich ein Stadium 
der hochgradigsten Erschöpfung, aus der sich die Kraoken nur langsam erholen. 
Seltener stellt sich ein Zustand von grosser Aufregung ein, sobald die Betäubten 
in die frische Luft gebracht werden, wofür Li man l ) einen höchst merkwürdigen 
Fall als Beleg anführt. Es handelte sich hier um einen 29jährigen Schiffseigen- 
thümer, der in einer Wirthschaft in einem Aof&lle von plötzlich ausgebrochener 
Geistesverwirrung in eine Art von Tobsucht verfiel, erklärte, er sei der Teufel, 
Streit mit dem Wirthe und den Gästen anfing, Stühle zerschlug und dem ihn 
verhaftenden Schutzmanne den heftigsten Widerstand entgegensetzte. Am an¬ 
deren Morgen nach einem tiefen Sohlaf war er vollkommen klar und hatte gar 
keine Erinnerung von der vergangenen Nacht. Als Ursache für diese Erregungs¬ 
zustände musste der nächtliche Aufenthalt in einer kleinen, geschlossenen und 
mit Kohlendunst angefüllten Kajüte angesehen werden. 

Verlauf und Dauer der acuten Vergiftung sind selbstverständlich in erster 
Linie von der Dauer und Intensität der Einwirkung des Giftes abhängig. Daher 
ist auch die Leuch tgasvergiftnng ceteris paribns für schwerer, als die Kohlen- 
dunstvergiftung anzusehen, da einmal der Procentgehalt an Kohlendunst ein 


') Casper-Liman, 1. c. I. Bd. S. 579. 

YiertfljiilinifU'hr. I. gor. Drin» Y. I. 


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UNiVERSlIY OF IOWA 



130 


Dr. Beoker, 


grösserer ist and zweitens die Quelle des Gases aus einer defeoten Leitung natür¬ 
lich unversiegbar ist, während die Entwickelung des Kohlenduostes mit dem Er¬ 
löschen des Feuers aufhört. 

2. Chronische Vergiftung. 

Ueber die chronische Kohlenoxydgasvergiftung liegen bislang nur 
wenige und unvollständige Beobachtungen vor. 

Hirt 1 ) führt folgende Symptome auf die längere Einwirkung von Kohlen¬ 
dunst zurück: Kopfschmerzen, Uebelkeit, verbunden mit oft sich wiederholenden 
Brechdurchfällen und Schwindel; während, wenn Leuohtgas das längere Zeit 
einwirkende schädliche Agens war, sich bei der Hälfte aller Erkrankten vor allem 
gestörte Verdanung vorfand, ausserdem belegte ZuDge, blassgraue Hautfärbung 
und allgemeine Abgeschlagenheit, sowie vereinzelt auftretende Krampfanfälle, 
Abnahme des Gedächtnisses und der Intelligenz. Wie oft diese chronische Ver¬ 
giftung Vorkommen mag, lässt sich bei der Unsicherheit der Symptome nicht fest¬ 
stellen. Hirt hält indessen im Allgemeinen den Gesundheitszustand der Gas¬ 
arbeiter für einen guten. Von anderen Autoren liegen keine Erfahrungen vor; 
betreffs der Würdigung der von Dr. Carret geschilderten chronischen epide¬ 
mischen Kohlenoxyd Vergiftung muss auf das oben (S. 119) Gesagte verwiesen 
werden. 

3. Naohkrankheiten. 

Ist aber der Kranke aus der nächsten Lebensgefahr gerettet, so hleibt er 
noch immer gefährdet durch die zahlreichen Nachkrankheiten, welche der 
Vergiftung folgen können. Dieselben spielen sich theils im nervösen Gebiete, 
theils ausserhalb desselben ab. Unter letzteren ist zunäohst ein häufiges Be¬ 
fallensein derAlbmungsorgane zu oonstatiren; so wurden wiederholtPneumonieen 
beobachtet (Liman, Oppolzer, Klebs), die wohl nicht zum geringen Theile 
durch Aspiration der im Sopor erbrochenen Speisetheile hervorgerufen sein 
dürften. Glycosurie findet sich wiederholt (Biefel und Poleck, S. 359, 
Litten u. A.) beschrieben, von Hautkrankheiten findet man Herpes, Pemphigus, 
Decuhitus und Gangrän erwähnt. Von Erkrankungen des nervösen Systems sind 
— abgesehen von den mehrfach constatirten Störungen des Allgemeingefühls, 
welche in allgemeiner Kraftlosigkeit und Ermüdung, Frösteln, Unsicherheit beim 
Stehen und Gehen, Gefühl von dumpfer Schwere im Kopfe, Flimmern vor den 
Augen und Ohrensausen bestehen — allgemeine Neurosen, Epilepsie, Idiotie, 
Amnesie, Landry’sehe Paralyse, Poliomyelitis, Encephalomalaoie, multiple Skle¬ 
rose und centrale und periphere Lähmungen beobachtet. Die verschiedenartig¬ 
sten Psychosen treten garnicht selten erst nach Monaten auf, eine Tbatsaohe, 
deren Kenntniss in forensischen Fällen und in UnfallsversicherungsangelegeDheiten 
für den begutachtenden Arzt im Interesse des Beschädigten von der allerein- 
sebneidendsten Bedeutung ist. So berichtet Briand 2 ) über eine Reihe von Yer- 


') Hirt, 1. c. S. 41. 

2 ) Briand, Ann. d’Hygien. publ. nach Scbmidt’s Jahrbüchern, Bd. 222, 
S. 267 citirt. 


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Die Kohlenoxydgasvergiftung and deren Verhälang. 


131 


giftaogserscbeinangen mit Kohlenoxydgas, nach welchen Amnesie aafgetreten 
war, die sich oftmals nooh auf die letzte Zeit vor der Vergiftung erstreckte, und 
macht dabei auf die forensisohe Bedeutung aufmerksam, dass, wenn z. B. eine 
Person in verbrecherischer Absioht damit betäubt würde, diese nachher ausser 
Stande sein könne, sich der begleitenden Umstände zu erinnern, damit den Ver¬ 
dacht eines Selbstmordversuches auf sich ziehen und dadurch zur Freisprechung 
des Angeklagten unbewusst beitragen würde. 

Von einer eingehenden Schilderung dieser mannigfachen Krankheitszustände 
glaube ioh um so eher Abstand nehmen zu dürfen, da ich eine umfassende Zu¬ 
sammenstellung derselben in der Deutschen medioinischen Wochenschrift, Jahr¬ 
gang 1889, No. 26—28, gegeben habe •). 

Der dort ausführlich mitgetheilte Fall von einer im Gefolge einer sohweren 
Leuohtgasvergiftung aufgelretenen Erkrankung, welche unter dem Bilde einer 
multiplen disseminirten Sklerose des Gentrainervensystems verlief, war damals 
noch ein Unicum in der Literatur, und es fehlte vor allem die Bestätigung der 
klinischen Diagnose durch die Autopsie. Inzwischen ist von Kramer 2 ) duroh 
die Mittheilung eines anatomischen Befundes bei einem Fall von Koblendunst- 
vergiftung die von mir seiner Zeit aufgestellte Behauptung, dass eine Vergiftung 
durch Kohlenoxyd eine disseminirte Sklerose des Hirns und Rückenmarks zu er¬ 
zeugen vermöge, bestätigt worden. 

Ich habe am 5. März d. J. Gelegenheit gehabt, meinen Kranken wieder zu 
sehen und einer klinischen Vorstellung desselben durch Herrn Geh.-Rath Ebstein 
beizuwohnen. Dabei ergab sich, dass — nach Ablauf von nunmehr 3 Jahren und 
fast 5 Monaten seit dem Unfälle — sämmtliche Krankheitserscheinungen ent¬ 
schieden stärker geworden sind: der Tremor, die scandirende Spraohe, das 
Zitterige der Sohriftzüge, die Unsicherheit des Gehens und der Drehschwindel. 
Das Körpergewicht hat um etwa 20 Pfd. abgenommen. Herr Strauss wird den 
Fall demnächst in seiner Dissertation beschreiben. 


*) Anmerkung bei der Correctur. Von den später erschienenen 
Arbeiten erwähne ioh besonders die von Schwerin. Berl. klin. Woch. 1891. 
No. 45. S. 1089. 

2 ) Kramer, Centralblatt für allgemeine Pathologie und pathologische 
Anatomie. 1891. No. 13. S. 545 ff. 

(Fortsetsung and Schluss folgt.) 


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S )* 


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UNIVERSITÄT OF IOWA 



3. 


Kar Casaistik des Ktapfei gegea dea Geheiaaittelaifig. 

(No. LXXl bis XC.) 

Von 

Dr. Albert Weis«» 

Geheimer Medicinalrath in Caasel. 

(8chluss.) 


Uebersicht der rechtskräftigen Verurtheilungen. 


No. 


Gegenstand. 


LXXI. 

LXXII. 

LXXIII. 

LXXIV. 

LXXV. 


I.XXV1. 


LXXVII. 


LXXVIII.- 


Anpreisung von 
Weissmann (Brochüre) 


* n . 

Stollwerck’s Brostbonbons . 

w n 

White’s Äugt nwasser. 
Bullrich’s Reinigungssalz. 
Thielen’s Haarspiritus. 
Mariazeller Magentropfen. 

Geheimmiltein . 

Bock’s Pectoral. 

Lieber’s Nerven-Elixir. 
Brandt’s Schweizerpillen. 
Oidtmann’s Purgaiiv. 

Neave’s Kindermehl. 

Dietze’s Zwiebelbonbons. 
Burk’s Arzneiwein. 

Schmidts Gehöröl-Brochüre. 
Otto’s Gehöröl-Brochüre. 
Retan’s Brochüre. 

Bisentz* Brochüre. 


Ange¬ 

klagter. 

Erkenntniss. 

Stn 

Geld. 

Mk. 

afe. 

Haft 

Tage. 

Redacteur. 

Schöffeng. B. 9. 8. 1890. 

15 

2 

Relacteur. 

Landg. E. 25. 10. 1890. 

15 

2 

Redacteur. 

Kamm erg. 8. 1. 1891. 

15 

2 

Konditor. 

Landg. D. 7. 11. 1890. 

3 

1 

Konditor. 

Kammerg. 12. 1. 1891. 

3 

1 

Buch¬ 




druckerei¬ 

Landg. D. 12. 11. 1890 

3 

1 

besitzer. 




Redacteur. 

Schöffeng. C. 6. 7. 1890. 

100 

10 

Redacteur. 

1 

1 

Schöffeng. E. 20. 3.1890 

1 

1 

I 

95 

19 


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Original from 

UNIVERSUM OF IOWA 












Zur Casuistik des Kampfes gegen den GeheimtuiUeiunfug. 


133 


No. 

1 

Gegenstand. 

1 

Ange¬ 

klagter. 

Erkenntniss. 

Stra 

Geld. 

Mk. 

ife. 

Haft. 

Tage. 


Anpreisung von 

1 




LXXIX. 

Geheimmitteln (in Unterhaltungs- 






bei läge) . 

Reiacteur. 

Landg. D. 21 3. 1891. 

3 

1 

LXXX. 

Brandt’s Schweizerpillcu (in Ka- 






lender)... 

Redacteur. 

Schöffeng. B. 21.3. 1891. 

15 

2 

LXXXI. 

Desgl , Marienbader Reductions-\ 


Schöffeng. E. 20. 3. 1890. 

50 

1 io 

LXXXII. 

pillen, Meyer’s Bleicbsucbtpillen.l 


Landg E. 20.9. 1890. 

t reisprechung 

LXXXUI. 

Bock’s Pectoral, Warneris Safe) 

Redacteur. 

Kammerg. 26. 1. 1891 

Zurückver- 

LXXXIV 

Cure, Radlaueris Hühneraugen-1 



Weisung. 


mittel, Radema* n’s Kindermehl./ 


Landg. D. 11.4. 1891 

50 

10 

LXXXV. 

Geheimmitteln (Unterhaltungsbei- 






läge) . 

Redacteur 

Landg. D. 21. 8. 1891. 

3 

1 

lxxxvi 

Weissmann (Brochüre). 

Redacteur 

Schöffeng. B 20. 6. 1891. 

10 

2 

LXiXVU. 

Mollet (Brochüre) . 

Redacteur. 

Landg. E. 18. 7. 1891. 

1 10 

2 

LXXXVIII 

Schweizerpillen (Danksagung). 

Redacteur. 

Schöffeng. D. 4. 9. 1891. 

6 

2 

LXXXIX. 

De 9 gl. (Bestellkarten) Extrabeilage 

Redacteur. 

Landg. E. 6. 6. 1891. 

10 

— 

xc. 

Dcsg 1 . 

| 

Redacteur. 

Kammerg. 8. 1. 1891. 




LXXI. Erkenntniss des Schöffengerichts zu B. vom 9. August 1890. 

Der Angeklagte, Redacteur N., ist der Uebertretung gegen die Regierungs- 
Polizeiverordnung vom 9. Mai 1888 schuldig und wird deshalb in eine Geldstrafe 
von fünfzehn Mark, an deren Stelle im Nichtzahlungsfalle eine Haftstrafe von 
zwei Tagen tritt und zur Tragung der Kosten verurtheilt. 

Angeklagter hatte in No. 159 der N. Zeitung eine Anzeige veröffentlicht, 
inhaltlich deren: tägliche Kopfwaschungen, durch welche entsprechende Sub¬ 
stanzen durch die Haut dem Nervensystem zugefübrt werden, empfohlen und zu¬ 
gleich dringliohst angerathen wird, eine Brochüre zu beziehen, welche das 
Verfahren des Näheren angebe, welches geeignet sei, krankhaften Nervenzustän- 
den, Gelenkschmerzen, Scbwächezuständen etc. etc. wirksam zu begegnen. 

In der Ankündigung ist eine Namhaftmachung der empfohlenen Substanzen 
und Stoffe nioht enthalten und liegt somit Uebertretung des § 1 b der Polizei¬ 
verordnung der Königlichen Regierung zu Düsseldorf vom 9. Mai 1888 vor. 

Beklagter ist geständig, dass neben der direclen Anpreisung seiner Sub¬ 
stanz, eines Stoffes, auf die Brochüre verwiesen wird. 

Die erkannte Strafe erschien angemessen. 

Kostenentsoheidung nach § 497 Str.-P.-O. 


LXXU. Erkenntniss des Landgori chts zu E. vom 25. October 1890. 

Die Berufung des Angeklagten gegen das Urtheil des Königlichen Schöffen¬ 
gerichts zu N. vom 9. August 1890 (No. LXXI; wird kostenfällig verworfen. 


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UMIVERSITY OF IOWA 











134 


Dr. Weiss. 


ln No. 159 der unter der verantwortlichen Redaction des Angeklagten er¬ 
scheinenden Zeitung ist eine Annonce zum Abdrnok gekommen, welche überschrie- 
ben: „Das grosse Heer der Nervenübel“ von einer angeblichen physiologi¬ 
schen Entdeckung berichtet, welche die nervöskranke Menschheit in hohem Grade 
interessiren soll. Es heisst darin: „Das von dem ehemaligen Militärarzt Roman 
Weiss mann zu Vieshofen erfundene und aus den Erfahrungen einer 50jäh- 
rigen Praxis geschöpfte Heilverfahren: durch täglich einmaliges Waschen 
entsprechende Substanzen direct durch die Haut dem Nervensystem 
zuzuführen, hat so sensationelle Erfolge zu verzeichnen, dass die von dem Gr¬ 
ünder dieser Heilmethode herausgegebene Brochüre: Ueber Nervenkrank¬ 
heiten und Schlagfluss (Hirnlähmung), Vorbeugung und Heilung in kurzer 
Zeit iD 21. Auflage erschienen ist etc. Es wird deshalb allen Denen, die an 
krankhaften Nervenzuständen etc. laboriren, dringliohst angerathen, sich in den 
Besitz der oben genannten Brochüre zu bringen, welche franco und kostenlos zu 
beziehen ist (folgen Adressen).“ 

Der erste Richter hat in dieser Veröffentlichung einen Verstoss gegen die 
Regierungs-Polizeiverordnung vom 9.Mai 1888 erblickt und deswegen den press¬ 
gesetzlich verantwortlichen Redacteur zu fünfzehn Mark Geldstrafe, event. zwei 
Tagen Haft verurtheilt. 

Die von Letzterem hiergegen rechtzeitig eingelegte Berufung kann keinen 
Erfolg haben. 

Stoffe und Zubereitungen jeder Art, deren Bestandtheile durch ihre Be¬ 
nennung oder Ankündigung nicht für Jedermann deutlich und zweifellos erkenn¬ 
bar sind, dürfen nach §1 der angegebenenPolizeiverordoung als Heilmittel gegen 
Krankheiten und Körperschäden von Menschen und Thieren weder öffentlich an¬ 
gekündigt noch angepriesen werden. 

Die obige Annonce enthält eine Zuwiderhandlung hiergegen, für welche eine 
Geldstrafe von 30 Mark oder verhältnissmässige Haft angedroht ist. 

Unrichtig ist es, wenn zur Begründung der Berufung angeführt wird, es 
werde in der Annonce eine Heilmethode (Manipulation) und eine Bro¬ 
ch üre empfohlen. Es werden darin vielmehr ebenso direct entsprechende Sub¬ 
stanzen angepriesen, welche durch täglich einmalige Kopfwaschung direct durch 
die Haut dem Nervensystem zugeführt, von sensationellem Erfolge gegen Nerven¬ 
leiden aller Art, also gegen Krankheiten und Körperschäden der Mensohen sein 
sollen. Die Anpreisung dieser zusammengesetzten Heilflüssigkeit, duroh deren 
Absatz der Inserent ein Geschäft zu machen gedenkt, ist der eigentliche Zweck 
der Veröffentlichung und nicht die Empfehlung der Methode oder der gratis und 
franco zu beziehenden Brochüre. 

Da die Bestandtheile der als Heilmittel gegen Nervenübel angepriesenen 
Substanzen nicht erkennbar gemacht sind, so hat der erste Riohter den in § 1 
cit. angegebenen Tbatbestand mit Recht für gegeben eraohtet. 

Die erkannte Strafe erscheint angemessen. 

Den Kostenpunkt regelt § 505 St.Pr.-O. 

LXX1II. Erkenntniss des KaMergeriehta vom 8. Jaaaar 1891. 

Der Strafsenat des Königlichen Kammergeriohts zu Berlin hat in der 
Sitzung vom 8. Januar 1891 für Recht erkannt: 


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UNIVERSUM OF IOWA 



Zur Casuistik de» Kampfes gegen den Geheimmittelunfug. 


135 


dass die Revision des Angeklagten gegen das Urtheil der ersten Straf¬ 
kammer des Königlichen Landgerichts zu E. vom 8./25. October 
1890 (No. LXX1I) zurückgewiesen und die Kosten des Rechtsmittels 
dem Angeklagten aufznerlegen. 

Die Revision des Angeklagten, welche Verletzung des § 1 der Polizeiver- 
Ordnung der Königlichen Regierung zu Düsseldorf vom 9. Mai 1888 durch un¬ 
richtige Anwendung rügt, scheitert an der thatsächlichen Feststellung des Be- 
rufnngsrichters. Ohne ersiohtlichen Rechtsirrthum hat dieser io der Annonce der 
N. Zeitung vom 11. Juli 1890, für deren Inhalt der Angeklagte als verantwort¬ 
licher Redacteur nach § 20 Absatz 2 des Reichsgesetzes als Thäter haftet, eine 
Anpreisung von Stoffen (Substanzen), deren Bestandteile nicht für Jedermann 
deutlich und zweifellos erkennbar gemacht sind, als Heilmittel gegen Nerven¬ 
krankheiten und Schlagfluss gefunden. 

Die gedachte Annonce verstösst deshalb anzweifelhaft gegen das Strafverbot 
des § 1 der Polizeiverordnung vom 9. Mai 1888. 

Die Revision des Angeklagten war daher, wie geschehen, als unbegründet 
znrückzu weisen. 

Dem Angeklagten waren gemäss § 505 der Strafprooess-Ordnung auch die 
Kosten des Rechtsmittels aufzuerlegen. 

LXXIV. Erkenntniss des Landgerichts D. vom 7. November 1890. 

In der Strafsache gegen 

1) den Conditor and Kaufmann A. za B., 

2) den Kaufmann 0. zu B. 

wegen Uebertretang des § 367 No. 3 des Strafgesetzbuches und der Polizeiver- 
Ordnung der Königlichen Regierung za Düsseldorf vom 9. Mai 1888 hat aaf die 
von der Königlichen Amtsanwaltschaft gegen das Urtheil des Königl. Schöffen¬ 
gerichts za B. vom 30. August 1890 eingelegte Berufung die II. Strafkammer 
des Königlichen Landgerichts za D. in der Sitzang vom 7. November 
1890 für Reoht erkannt: 

Das Urtheil des Königlichen Schöffengerichts zu B. vom 30. August 
1890 wird aufgehoben. Die Angeklagten A. und C., beide zu B., sind 
ein jeder der Uebertretang des § 367 No. 3 des St.-G.-B. in Idealcon- 
ourrenz mit Uebertretang der Regierangs-Polizeiverordnang vom 9. Mai 
1888 schuldig and wird daher jeder von ihnen za einer Geldstrafe von 
drei Mark, im Unvermögensfalle za einem Tage Haft verartheilt. 

Die Kosten werden den- beiden Angeklagten auferlegt. 

Gegen die Angeklagten ist unter der Beschuldigung, am 23. Juni 1890 in 
ihren Gesohäftslooalen zu B. Stollwerk’sche Brustbonbons zum Verkaufe 
feilgehalten za haben, unter Anführung des § 1 der Verordnung, betreffend den 
Verkehr mit Arzeneimitteln vom 4. Januar 1875 and des § la und b der Polizei- 
verordnung der Regierung za Düsseldorf vom 9. Mai 1888, das Hauptverfahren 
eröffnet worden. 

Das Königliobe Schöffengericht zu B. führt in dem Urtheile vom 30. August 
1890, in welchem auf Freisprechung erkannt, zunäohst zutreffend aas, dass die 
Heranziehung der Verordnung vom 4. Januar 1875 eine irrige ist and vielmehr 


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Dr. Weiss. 


der §367 No. 3 des St.-G.-B. iu Verbindung mit der Verordnung vom 27. Januar 
1890 (Reichsgesetzblatt S. 9) in Betracht kommt, es stellt sodann zwar that- 
sächlich fest, dass die Angeklagten am 23. Juni 1890 Arzneien, soweit der 
Handel mit denselben nicht freigegebon ist, ohne polizeiliche Genehmigung feil¬ 
gehalten bezw. verkauft haben, gelangt aber zur Freisprechung, indem es an¬ 
nimmt, dass die Stollwerk’schon Brustbonbons unter die bei No. 5 des Verzeich¬ 
nisses A der Verordnung vom 27. Januar 1890 aufgeführten Ausnahmen, näm¬ 
lich unter die mit Zucker eingekochten Fruchtsäfte fallen, deren Verkauf 
freigegeben ist, und dass der angegebene Thatbestand eine Uebertretung der 
Folizeiverordnung vom 9. Mai 1888 nicht enthalte. 

Die Königliche Staatsanwaltschaft bat gegen diese Entscheidung in der 
gesetzlichen Form und Frist das Rechtsmittel der Berufung eingelegt, da die 


Stollwerk’scben Brustbonbons nicht 
sondern als Pastillen im Sinne 


als mit Zucker eingekochte Frn^htsäfte, 
der No. 9 der Verordnung anzu¬ 


sehen seien und deshalb als Heilmittel nur in Apotheken feilgehalten werden 


dürften. 


In der Hauptverhandlung II. Instanz ist von der Vertheidigung Namens der 
Angeklagten, wie in der Vorinstanz zugegeben worden, am 23. Juni 1890 in 
ihren Geschäftslocalen in B. die bekannten „ S tollwerk'sehen Brustbon¬ 
bons“ feilgehalten zu haben und zwar in einer derartigen Umhüllung, wie sei¬ 
tens der Königlichen Staatsanwaltschaft ein Exemplar zu den Acten übergeben 
worden ist. 


Nach § 1 der mehrgedachten Verordnung vom 27. Januar 1890 (Reichs¬ 
gesetzblatt S. 9) dürfen die in dem Verzeichnisse A aufgeführten Zubereitungen, 
ohne Unterschied, ob sie heilkräftige Stoffe enthalten oder nicht, als Heilmittel 
nur in Apotheken feilgehalten oder verkauft werden. Dem Vorderrichter kann 
nicht darin beigetreten werden, dass die Stollwerk’schen Brustbonbons unter die 
bei No. 5 des Verzeichnisses A als Ausnahme aufgefübrten, mit Zuoker einge¬ 
kochten Fruchtsäfte fallen, vielmehr muss mit der Königlichen Staatsanwaltschaft 
im Gegensätze zu dor nicht näher begründeten Ansicht des vernommenen Gut¬ 
achters, welcher davon ausgeht, dass Stollwerk’sche Brustbonbons nicht unter 
die gedachte Verordnung fallen, angenommen werden, dass dieselben in ihrer be¬ 
kannten festen Erscheinungsform unter den Begriff der Pastillen (Plätzchen) 
im Sinne der No. 9 des Verzeichnisses A zu stellen sind, ohne dass sie zu 
den daselbst aufgeführten Ausnahmen gerechnet werden können. Die Verordnung 
will, indem sie das Wort „Pastillen“ durch den Zusatz: „auch Plätzchen und 
Zeltchen“ erläutert, offenbar auoh diejenigen Zubereitungen eingeschlossen 
wissen, welche in plätzchenartiger Form — und dazu gehören doch die Bon¬ 
bons — in Verkehr gebracht werden. Zubereitungen in dieser Form sollen nach 
der angezogenen Verordnung als „Heilmittel“ nur in Apotheken feilgehalten oder 
verkauft werden. Der Gerichtshof nimmt an, dass die StGÜwerk’schen Brust¬ 
bonbons hier in der That als Heilmittel feilgebalten worden sind und zwar wegen 
der auf der Umhüllung befindlichen Aufschriften, in welchen dieselben als wirk¬ 
same Heilmittel gegen Krankheiten angepriesen werden, ln einem auf der 
Rüokseite der Umhüllung befindlichen Atteste des Professors Dr. Har¬ 
le ss zu Bonn heisst es wörtlich: 


„Die Bestandtheile dieser angenehm schmeokenden und sich leioht im 


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Zur Casuistik des Kampfes gegen den Geheiinmittelunfug. 


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Munde lösenden Zeltchen sind durchaus gut und zweckmässig gewählt von Pflan¬ 
zen, deren reizmildernde, beruhigende, und nach Umständen krampfstillende, 
auflösende Wirksamkeit in catarrhalischen, nooh nicht veralteten Beschwerden 
und daherrührender Heiserkeit oder mehr trockenem Reiz- und Krampfschoupfen 
längst bekannt und häufig benutzt sind und zu denen jetzt noch der Zusatz eines 
in jenen Zuständen besonders nützlichen Pflanzenmittels hinzugekommen ist, 
durch welchen die Wirksamkeit dieser beliebten und empfehlungswerthen Cara- 
mellen nicht unbedeutend vermehrt wird. “ 

Auf der anderen Seite der Umhüllung sind sodann die Namen von 23 Apo¬ 
thekern aufgefübrt, welche die Brustbonbons angeblich geprüft und attestirt 
haben. Bei derartigen Aufschriften der Umhüllungen werden die Stollwerk’schen 
Brustbonbons nicht als einfache Genussmittel, sondern in erster Linie als Heil¬ 
mittel gegen Krankheiten und Körperschäden angepriesen. Auf die An¬ 
sicht, dass die Brustbonbons nur aus Zucker bestehen, kann es hierbei nioht an¬ 
kommen, weil, abgesehen davon, dass der Gutachter nach seiner eigenen Er¬ 
klärung eine Untersuchung nicht vorgenommen hat, auf den Umhüllungen, in 
welchen die Stollwerk’schen Brustbonbons feilgeboten werden und hier feilgeboten 
worden sind, behauptet wird, dass dieselben Zusätze verschiedener heil¬ 
bringender Pflanzen enthalten. 

Die Angeklagten haben hiernach durch das Feilhalten der Stollwerk’schen 
Brustbonbons gegen den § 367 No. 3 des St.-G.-B. in Verbindung mit der Ver¬ 
ordnung vom 27. Januar 1890 verstossen. Der Gerichtshof erblickt in dem 
obigen Thatbestande aber zugleich eine Uebertretung der Polizei Verordnung 
der Regierung zu Düsseldorf vom 9. Mai 1888 (Amtsblatt S. 219), naoh 
weloher gemäss § 1 b Stoffe und Zubereitungen jeder Art, deren Bestandtheile 
durch ihre Benennung oder Ankündigung nicht für Jedermann deutlich und zwei¬ 
fellos erkennbar gemacht sind (Geheimmittel), als Heilmittel gegen Krank¬ 
heiten und Körperschäden von Menschen und Thieren weder öffentlich angekün¬ 
digt, nooh angepriesen werden dürfen. In dem oben angeführten Attest des Dr. 
Harless auf der Umhüllung, welches hier als Anpreisung der Stollwerk’schen 
Brustbonbons verwerthet wird, findet sich der Hinweis auf die Pflanzenzusätze, 
ohne dass die Namen näher angegeben sind. Die öffentliche Anpreisung ist 
darin zu finden, dass die Brustbonbons mit den anpreisenden Umhüllungen in 
den offenen Läden der Angeklagten feilgehalten worden sind und an Jeder¬ 
mann ans dem Publikum verkauft werden. 

Hiernach geht die thatsächliche Feststellung dahin: 

„dass die Angeklagten am 23. Juni 1890 in ihren Gescbäftslocalen in 
B. Stollwerk’sche Brustbonbons, welohe als Zubereitungen (Pastil¬ 
len, Plätzchen) im Sinne der No. 9 des Verzeichnisses A 
zur Verordnung vom 27. Januar 1890 (Reiohsgesetzblatt S. 9) 
anzusehen sind, als Heilmittel feilgehalten haben, obwohl dieses naoh 
§ 1 der Verordnung nur in Apotheken statthaft ist“, 
und zugleich die Stollwerk’schen Brustbonbons, welche sich als Zubereitungen 
darstellen, deren Bestandtheile durch ihre Benennung oder Ankündigung nicht 
für Jedermann deutlich und zweifellos erkennbar gemaoht sind (Geheimmittel) 
als Heilmittel gegen Krankheiten und Körpersohäden von Menschen öffentlioh an¬ 
gepriesen haben. 


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Dr. Weiss. 


Die Angeklagten haben hiernach, wie bereits oben angedeatet, gegen 
§ 367 No. 3 des St.-G.-B., za dessen Ausführung die Verordnung vom 27. Ja¬ 
nuar 1890 erlassen, in Idealconcurrenz mit der Uebertretung der Polizeiver- 
ordnung der Königlichen Regierung zu Düsseldorf rom 9. Mai 1888 ver- 
stossen. 

In Anwendung des § 73 des St.-G.-B. ist demnach unter Berücksichtigung, 
dass es sich um eine erstmalige Bestrafung handelt, unter Aufhebung des I. Ur- 
theils auf eine Geldstrafe von drei Mark gegen jeden Angeklagten, im Unver- 
mögensfalle auf je einen Tag Haft erkannt worden. 

Die Kosten treffen den Angeklagten nach § 497 der St.-P.O. 

LXXV. Erkenntniss des KaHBergeriekto vom 12. Jaaaar 1891. 

Der Strafsenat des Königlichen Kammergerichts zu Berlin hat in der 
Sitzung vom 12. Januar 1891 für Recht erkannt, 

dass die Revision der Angeklagten gegen das Urtheil der zweiten 
Strafkammer des Königlichen Landgerichts zu D. vom 7. November 
1890 (No. LXXIV) zurückzuweisen und jedem der Angeklagten die 
Kosten seines Rechtsmittels aufzuerlegen. 

Die Revision der Angeklagten, welche die Rechtsgiltigkeit der vom Beru- 
fungsriohter für anwendbar erachteten Polizei Verordnung der Königlichen Re¬ 
gierung zu Düsseldorf vom 9. Mai 1888 bestreitet und Verletzung der §§367 3 , 
Strafgesetzbuchs in Verbindung mit der Kaiserlichen Verordnung vom 27. Ja¬ 
nuar 1890 durch unrichtige Anwendung rügt, kann für begründet nicht erachtet 
werden. Die thatsäcblichen Feststellungen des Berufungsrichters, welche in ihrer 
Begründung einen Rechtsirrthum nicht erkennen lassen, erfüllen denThatbestand 
einer Uebertretung des § 367 3 Strafgesetzbuchs und des § 1 lit. b der Polizei¬ 
verordnung vom 9. Mai 1888 in idealer Concurrenz. 

Der Anwendbarkeit dieser Strafgesetze stehen auch naoh der zutreffenden 
Ausführung des Berufungsrichters die Bestimmungen der Kaiserlichen Verord¬ 
nung vom 27. Januar 1890 nicht entgegen. 

Die aus den §§ 137, 140 des Gesetzes über die allgemeine Landesverwal¬ 
tung vom 30. Juli 1883 gegen die formelle Giltigkeit der Polizeiverord- 
nungvom 9.Mail888 hergeleiteten Einwendungen aber erscheinen verfehlt, weil das 
gedachte Gesetz nach § 104 der Kreisordnung für die Rheinprovinz erst mit dem 
1. Juli 1888 in Kraft getreten ist und die Polizeiverordnung vom 9. Mai 1888 
ihrer äusseren Form nach den bis dahin massgebend gewesenen Vorschriften des 
Ministers des Innern vom 6. Juni 1850 (Ministerialblatt für die innere Verwal¬ 
tung, Seite 176) völlig entspricht. 

Die Revision war daher als unbegründet zurückzuweisen. 

Die Kosten des erfolglos eingelegten Rechtsmittels waren gemäss § 505 
Strafprocessordnung den Angeklagten aufzuerlegen. 

LXXVI. Erkenntniss des Landgerichts D. vom 21. November 1890. 

Der Angeklagte, Buchdruckereibesitzer N. zu N., hat gegen das Urtheil des 
Schöffengerichts zu N., welches ihn wegen Zuwiderhandlung gegen die Polizei- 


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Zar Casuistik des Kampfes gegen den Geheimmittel aiifug. 


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Verordnung der Regierung zu Düsseldorf vom 9. Mai 1888 zu einer Geldstrafe 
von 3 Mark verurtheilt, in der gesetzlichen Form und Frist das Rechtsmittel der 
Berufung eingelegt. Dieselbe kann als begründet nicht erachtet werden. 

Die gedachte Polizeiverordnung, bezüglich deren von der Verteidigung mit 
Unrecht bezweifelter Rechtsgültigkeit auf Band VII, S. 228 der Entscheidungen 
des Kammergerichts erwiesen wird, bestimmt im t § 1: „Stoffe und Zuberei¬ 
tungen jeder Art, 

a) deren Feilhalten und Verkauf nicht Jedermann freigegeben ist, 

b) deren Bestandtheile daroh ihre Benennung oder Ankündigung nicht für 
Jedermann deutlich und zweifellos erkennbar gemacht sind (Geheim¬ 
mittel), — 

dürfen als Heilmittel gegen Krankheiten und Körpersohäden von Menschen und 
Thieren weder öffentlich angekündigt noch angepriesen werden.“ 

Der § 2 bedroht jede Zuwiderhandlung mit einer Geldstrafe bis zu 
30 Mark. 

Es kann zunächst nach dem Wortlaut und dem Zweck der Verordnung kei¬ 
nem Bedenken unterliegen, dass die Verbotsbestimmungen unter § 1 a und b 
alternativ zu behandeln sind, so dass die Zuwiderhandlung gegen jede der 
beiden Bestimmüngen strafbar ist. 

Nach dem Ergebnisse der mündlichen Verhandlung ist der Angeklagte Ver¬ 
leger der zu N. erscheinenden N.’er Zeitung und hat seiner eigenen Angabe naoh 
die vier incriminirten Inserate in der Ausgabe vom 27. März 1890, nämlich: 
Dr. White’s Augenwasser, Bullrich’s Reinigungssalz, Thielen’s 
Haarspiritus und Marienzeller Magentropfen vorher gelesen und ihre 
Aufnahme in die Zeitung gatgeheissen. Die in diesen Inseraten aufgeführten 
Zubereitungen werden, wie der Wortlaut der Inserate zweifellos ergiebt, als Heil¬ 
mittel gegen Krankheiten und Körperschäden von Menschen angekündigt, ohne 
dass ihre Bestandtheile irgend wie angegeben sind. Sie fallen deshalb unter die 
Verbotsbestimmung des § 1 b der gedachten Verordnung. — Der Einwand des 
Angeklagten, dass er in der Veröffentlichung nichts Strafbares habe finden 
können, kann, da namentlich bei Polizeiübertretungen der Reohts- 
irrthum ohne Einfluss ist, keine Berücksichtigung finden. 

Weiterhin ist auch sein Einwand, dass nach § 21 des Pressgesetzes vom 
7. Mai 1874 vor ihm der Redacteur haftbar sei und er durch Namensangabe 
seiner Auftraggeber straflos werde, unbegründet, da, wie bereits der Vorder¬ 
richter zutreffend hervorhebt, der Angeklagte auf Grund seines Geständnisses als 
Thäter im Sinne des § 20 des Pressgesetzes anzusehen ist, während der 
Schatz des § 21 ihm nur dann zur Seite stehen würde, wenn die Veröffentlichung 
ohne sein Wissen erfolgt wäre. 

Nach alledem war mit dem ersten Richter festzustellen, 

„dass der Angeklagte N. Stoffe und Zubereitungen, deren Bestandtheile 
durch ihre Benennung oder Ankündigung nicht für Jedermann deutlich 
und zweifellos erkennbar gemacht sind (Geheimmittel) als Heilmittel 
gegen Krankheiten und Körpersohäden von Menschen öffentlioh aoge- 
kündigt hat.“ 

Die hiernach vom Vorderricbter wegen Zuwiderhandlung gegen die Polizei¬ 
verordnung der Königlichen Regierang za Düsseldorf vom 9. Mai 1888 gegen 


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Dr. Weiss, 


den Angeklagten verhängte Geldstrafe von 3 Mark erscheint aas den von ihm an¬ 
gegebenen Gründen auch bezüglich ihrer Höhe begründet. 

Die Berufung des Angeklagten war deshalb zu verwerfen. 

Die Kosten trägt Angeklagter nach § 505 der St.-P.-O. 

LXXV1I. Erkenntniss des Schöffengerichts C. vom 6. Juli 1889. 

Der Angeklagte, Redacteur N. zu N., ist des Vergehens gegen das Gesetz 
vom 21.Germinal XI, 29. Pluviose XIII und vom 25. Prairial XIII in fünf Fällen 
schuldig und wird daher für jedenFall zu einer Geldstrafe von zwanzig Mark, 
zusammen von hundert Mark, an deren Stelle im Nichtbeitreibungsfalle für 
je 10 Mark ein Tag Gefängniss tritt und zu den Kosten des Verfahrens 
verurtheilt. 

Der Angeklagte gestand zu, dass die ihm vorgezeigten und in dem Straf¬ 
befehl vom 8. Juni, gegen welchen Angeklagter form- und fristgerecht Einspruch 
erhoben bat, näher angegebenen Anzeigen, in denen s. g. Geheimmittel an¬ 
gepriesen werden, aus der N.’er Zeitung herrühren und dass er selbst der ver- 
antwörtliche Redacteur dieser Zeitung sei. Angeklagter giebt zu, dass er 
zwar gewusst habe, dass sein Vorgänger in der näher bezeichneten Stellung 
ebenfalls wegen des hier fragliohen Vergehens mit dem Strafgesetz in Conflict 
gekommen sei, will nur Zweifel darüber gehabt haben, ob die Aufnahme der hier 
fraglichen Anzeigen strafbar sei oder nicht. Auf Grund dieser Sachlage war An¬ 
geklagter der ihm zur Last gelegten Vergehen gegen das Decret vom 2l.Germinal 
XI, 29. Pluviose XIII und 25. Prairial XIII für überführt zu erachten und für 
jede Zuwiderhandlung gegen die angezogenen Gesetzesbestimmungen angemessen, 
wie geschehen, zu bestrafen. 

Die Kostenentscheidung war nach § 497 Straf-Process-Ordnung zu treffen. 

LXXV1II. Erkenntniss des Schöffengerichts zu E. vom 20. März 1890. 

Der Angeklagte, Redacteur N. zu N., wird wegen Uebertretung der Regie¬ 
rungs-Polizeiverordnung vom 9. Mai 1888 und der Kaiserlichen Verordnung vom 
4. Januar 1875 in 19 Fällen zu einer Geldstrafe von je 5 Mark ev. einer 
Haftstrafe von je 1 Tag kostenfällig verurtheilt und zwar wegen wiederholter 
öffentlicher Anpreisung folgender Heilmittel, bezw. Brochüren in der von ihm 
redigirten Zeitung: 

Bock’s Peotoral, Husten stiller, 

Dr. Lieber’s Nerven-Kraftelixir, 

Brandt’s Schweizerpillen, 

Oidtmann’s Purgativ, 

Neave’s Kindermehl, 

0. Dietze’s Zwiebelbonbons, 

Burke’s Arznei- und Chinaweine, , 

Sohmidt’s Gehöröl, j 

Mittel gegen Trunksucht. , 

Prospeot von Franz Otto aus Berlin, in welchem Heilmittel! an¬ 
gepriesen wurden. } 

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Zur Casuistik des Kampfes gegen den Gebeimmittelunfug. 


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Broohüre: Die männlichen Schwäche zustande von Dr. Bie- 
senz, 

Broohüre: Dr. Retau’s SelbstbeWährung, and 
Broohäre: Die ünterleibsbröche and ihre Heilang. 


LXX1X. Erkenntniss des Landgerichts za D. vom 21. März 1891. 

Das (Jrtheil des Schöffengerichts za G. vom 22. Januar d.J. wird aafgehoben. 
Der Angeklagte wird wegen Uebertretang der Polizeiverordnung vom 9. Mai 1888 
za einer Geldstrafe von drei Mark, im Unvermögensfalle za einer Haft¬ 
strafe von einem Tage and in die Kosten des Verfahrens verartheilt. 

Durch das Urtheil vom 22. Januar d. J. ist der Angeklagte von der Be¬ 
schuldigung, 

in der Ende 1890 in Berlin erschienenen Unterhaltungs-Beilage No. 40 
zam „ Rheinländer“, betitelt „Der Zeitspiegel“ eine Reihe von Ge¬ 
heimmitteln angekändigt, bezw. angepriesen za haben, 

Uebertretang gegen die Regierangs Polizei-Verordnung vom 9. Mai 1888 (Amts¬ 
blatt S. 219), 

freigesprochen worden. Die rechtzeitig and in gehöriger Form ein¬ 
gelegte Berufung erscheint begründet. Dass in der fraglichen Unter¬ 
haltungs-Beilage (Blatt 3 der Acten) die in der Anklageschrift (Blatt 6 
der Acten) näher bezeichneten Stoffe and Zabereiinngen als Heilmittel 
gegen menschliche Krankheiten und Körperschäden angekündigt and 
angepriesen worden, ergiebt sioh ohne Weiteres aus dem Wortlaut der 
betreffenden Annoncen; diese Stoffe and Zubereitangen sind auch 
Geheimmittel, weil ihre Bestandtbeile nioht für Jedermann deutlich 
and zweifellos erkennbar gemacht sind. Es liegt also an sioh der 
Thatbestand der Uebertretang gegen die Regierangs Polizei-Verordnung 
vom 9. Mai 1888 vor. Es mass aber auch nach § 20, Abs. 2, des 
Pressgesetzes vom 7. Mai 1874 der Angeklagte als Thäter bestraft 
werden. 

Der Angeklagte ist, wie er zugesteht, verantwortlicher Redacteur der in B. 
erscheinenden periodischen Druckschrift „Der Rheinländer“. Als solcher ist er 
aach verantwortlich für den gesammtenInhalt der „Gratis-Sonntagsbeilage“ 
zu dieser Zeitung, betitelt „Der Zeitspiegel“, „illastrirte Unterhaltungsbeilage“, 
da diese Beilage einen integrirenden Bestandtheil der Zeitung „Der Rh.“ bildet. 
Von dieser Verantwortung wird er daduroh, dass unter der Beilage noch als be¬ 
sonderer verantwortlicher Redacteur, ein gewisser N. in Berlin benannt ist, um 
so weniger befreit, als in dem Vordruck des Haaptblattes er selbst als alleiniger 
Redacteur sowohl des Hauptblattes, als aach der Sonntags-Beilage bezeichnet ist. 
(Vergl. Rechtssprechung des Reichsgerichts in Strafsachen Bd. 5, S. 82; Ent¬ 
scheidungen Bd. 5, S. 814.) 

Unter den „besonderen Umständen “, durch welche die Annahme der 
Thäterschaft (beziehungsweise Mitthätersohaft) des Redaotears ausgeschlossen wird, 
versteht das Gesetz nur anssergewöhnliche, von dem Willen des Redaotears un¬ 
abhängige Umstände, welche ihn im Einzelfalle ohne eigeaes Verschulden ver¬ 
hindert haben, den betreffenden Artikel za lesen and zu prüfen (vergleiche 


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Dr, Weiss, 


Rechtsprechung des Reiohsgerichts Band 6, Seite 756; Band 1, Seite 65, 
Seite 673). 

Als ein solcher Umstand kann es nicht angesehen werden, dass der An¬ 
geklagte, wie er behauptet, die in Berlin hergestellte Beilage so rasch nach ihrer 
Ankanft in B. weiter versenden muss, dass es ihm nur möglich ist, die Illustra¬ 
tionen und zuweilen kleinere Aufsätze zu prüfen. Wenn er sie fertig von Berlin 
beziehen will, so mag er dafür Sorge tragen, dass ihm die Beilage oder ein 
Probeblatt derselben rechtzeitig zugeht. Noch weniger konnte der Angeklagte 
— wie der erste Richter annimmt — die nach dem Gesetze ihn gewöhnlich 
treffende Verantwortlichkeit durch Vertrag auf den Berliner Verleger des „Zeit¬ 
spiegels“ abwälzen. 

Mit Rücksicht auf die Umstände des Falles konnte auf eine gelinde Strafe 
erkannt werden. 

Ueber die Kosten ist nach § 497 der Strafprozessordnung entschieden. 

LXXX. Erkennniss des Schöffengerichts zu B. vom 21. März 1891. 

Es wurde das Urtheil mit Gründen dahin verkündet, 

der Angeschuldigte wird wegen Uebertretung der Regierungs-Polizei- 
Verordnung vom 9. Mai 1888 zu einer Geldstrafe von 15 Mark, im 
Nichtzahlungsfalle zu einer Haftstrafe von zwei Tagen und zu den 
Kosten des Verfahrens verurtheilt. 

Angeschuldigter ist Redacteur des „Haupt-Annoncen-Blattes“. Mit No. 48 
desselben vom 26. Februar 1891 ist ein Kalender zur Vertheilung gelangt, in 
dem „Brandt’s Schweizerpapillen“ angepriesen werden. Auf diesen 
„Prospect“ ist in der „Seufzerecke“ des Blattes aufmerksam gemachi. Hierdurch 
sind in dem Blatte selbst, welches durch die Beilage sich für diesen Tag er¬ 
weitert bat, diese Schweizerpillen angekündigt. Dieselben siud wegen ihrer 
Form „Pillen“ dem freien Verkehr entzogen und können nur in Apotheken feil¬ 
gehalten werden (Reichs-Verordnung vom 27. Januar 1890, VerzeichnissA.). 
Deshalb ist ihre Ankündigung nach der Regierungs-Polizei-Verordnung vom 
9. Mai. 1888 verboten und strafbar. Strafe bemessen im Hinblick auf die Vor¬ 
strafen des Angesohuldigten auf Grund derselben Verordnung. 

LXXXI. Erkenntniss des Sohöffengerchts zu E. vom 20. März 1890. 

In der Strafsache gegen den Redacteur Wilhelm E. wegen Anpreisung 
von Geheimmitteln hat das Königliche Schöffengericht zu E. in der 
Sitzung vom 20. März 1890 für Recht erkannt: 

Der Angeklagte, Redacteur N. zu E., wird wegen Uebertretung der 
Regieruogs-Polizei-Verordnung vom 9. Mai 1888 und der Kaiserlichen 
Verordnung vom 4. Januar 1875 in 10 Fällen zu je 5 Mark Geld¬ 
strafe,. zusammon also zu 50 Mark Geldstrafe ev. zu 10 Tagen 
Haft kostenfällig verurtheilt. 

Gegen den Angeklagten waren in 10 Fällen wegen Uebertretung gegen die 
Regierungs-Polizei-Verordnung vom 9. Mai 1888 (Anpreisung von Geheimmitteln) 
polizeiliche Strafverfügungen ergangen. 


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Zar C&saistik des Kampfes gegen den Qebeimmittelunfug. 


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Gegen s&mmtliohe Strafverfügungen bat der Angeklagte rechtzeitig auf 
richterliche Entscheidung angetragen. * 

Zunächst machte der Angeklagte geltend, dass er verantwortlicher Redactear 
für den politischen Theil des Blattes sei, nioht dagegen für den Inseratenteil. 
Die in Frage stehenden Inserate würden bezahlt, wie jedes andere Inserat und 
sei es gleichgültig, ob dieselben unmittelbar anter den politischen Theil gesetzt 
seien. Es bleibe immerhin ein bezahltes Inserat und hätten die Strafverfügungen 
demnach gegen den Redacteur J. H. B. gerichtet Merden müssen. — Der Ver¬ 
treter des Angeklagten führte zur Sache selbst aus, dass durch die Ankündigung 
von Rademann s Kindermehl eine Uebertretung gegen die Regierungs- 
Polizei-Verordnung vom 9. Mai 1888 nicht begangen worden sei, da dasselbe als 
Qenussmittel, nicht als Heilmittel angepriesen worden. Im Uebrigen gab der 
Vertreter des Angeklagten zu, dass eine Uebertretung gegen die angezogene Be¬ 
stimmung vorliege und stellte endlich noch die Behauptung auf, dass es sich in 
den vorliegenden Fällen um ein fortgesetztes Delict bandle, dass demnach die 
durch die Strafverfügungen festgesetzten Strafen viel zu hooh seien. 

Die Einrede des Angeklagten, nicht gegen ihn, sondern gegen den Redaoteur 
N. hätten die Strafverfügungen gerichtet werden müssen, ist unzutreffend. N. ist 
nur, wie es im Kopfe der Zeitung heisst, für den Inseratentheil verantwortlich; 
dieser ist durch einen breiten Strich, den sogenannten Redactionsstrich, 
von dem übrigen Inhalte der Zeitung getrennt und anf diese Weise gekenn¬ 
zeichnet. Die hier fraglichen Reclamen stehen über dem Redactionsstriche und 
ist deshalb mit Recht für diese der Chefredacteur zur Verantwortung gezogen 
worden. 

Die Behauptung, Rademann’s Kindermehl sei als Genussmittel, nicht 
als Heilmittel angepriesen, widerspricht dem Wortlaute de3 Inserates selbst. 
Rademann’s Kindermehl wird dort als Mittel gegen Durchfall bei kleinen 
Kindern, also als Heilmittel angepriesen. Ferner sind die Bestandtheile 
des Rademann’schen Kindermehls weder durch ihre Benennung, noch Ankündi¬ 
gung deutlich und zweifellos erkennbar gemacht. Von einem fortgesetzten Delict 
kann gar keine Rede sein; zunächst handelt es sich vorliegend um Uebertretungen, 
sodann stellt sich jede Handlung als eine in sich selbstständige und abgeschlos¬ 
sene, den vollen Tbatbestand eines Straffalles bildende dar, ohne dass ein ein¬ 
heitliches zusammenhängendes Thun des Angeklagten, ein von,Anfang an auf 
die Verübung sämmtlicher vorliegend incriminirter Fälle gerichteter Wille zu 
erkennen wäre. 

Das Königliche Schöffengericht hielt den Angeklagten hiernach in 10 Fällen 
der Uebertretung gegen die Regierungs-Polizei-Verordnung vom 9. Mai 1888 für 
überfahrt und verurtheilte denselben in jedem einzelnen Falle zu einer Geldstrafe 
von 5 Mark, zusammen demnaoh zu 50 Mark, event. 5 Tagen Haft (10 Mark 
ä 1 Tag Haft) und nach § 487 der Strafprozessordnung zur Tragung der Kosten 
des Verfahrens. 

LXXXII. Erkenntniss des Landgerichts zu E. vom 20. Septbr. 1890. 

In der Strafsaohe gegen den Redactear Wilhelm E., 36 Jahre alt, zu 
E., wegen Aopreisung von Geheimmitteln hat auf die von dem Angeklagten 


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gegen das Urtbeil des Königlioben Schöffengerichts zu E.vom 20. März 1890 
(No. LXXXI) eingelegte Berufung, die I. Strafkammer des Königlioben 
Landgerichts zu E. in der Sitzung vom 20. September 1890 für Recht 
erkannt: Unter Annahme der Berufung wird das Urtheil des Königlichen 
Schöffengerichts zu E. vom 20. März 1890 aufgehoben, der Angeklagte der 
Uebertretung der Regierungs-Polizei-Verordnung vom 9. Mai 1888 nicht sohul- 
dig erklärt und deshalb freigesprochen; die Kosten des Verfahrens fallen 
der Staatskasse zur Last. 

In der Zeit vom 28. März bis 9. September 1889 erschienen in dem redac- 
tionellen Theil der Nummern 14, 94, 98, 107, 111, 113, 120, 124, 138, 139, 
141, 142, 146, 150, 153, 157, 159, 180 und 247 der „Neuesten Nachrichten" 
Anpreisungen betreffend Richard Brandt’s Schweizerpilen, Dr. Sohmid- 
ler, Dr. Barnay’s Marienbader Reductionspillen, Dr. Bock’s Pecto- 
ral, Dr. Meyer’s Bleichsuchtpillen, Rademann’s Kindermohl, S. Rad- 
lauer’s Höhn eräugen m ittel und Warner’s Safe eure und zwar mit Aus¬ 
nahme der No. 94, welche zwei brachte, eine der vorgenannten Anzeigen. 

Wegen Aufnahme dieser Anzeigen ist der Angeklagte, welcher unbestritten 
Chef-Redacteur der in E. erscheinenden „Neuesten Nacbriohten“ ist, wäh¬ 
rend für den Inseratentheil als verantwortlich M. angegeben ist, zur straf¬ 
rechtlichen Verantwortung gezogen und durch das angegriffene Urtheil wegen 
Uebertretung der Polizei-Verordnung der Königlichen Regierung zu Düsseldorf 
vom 9. Mai 1888 und der Kaiserlichen Verordnung vom 4. Januar 1875 in 
10 Fällen schuldig erklärt und deshalb zu je 5 Mark, zusammen 50 Mark Geld¬ 
strafe ev. 10 Tage Haft, sowie zur Tragung der Kosten des Verfahrens verurtheilt 
worden. Abgesehen von der Strafsache C. 428/89, bei welcher 2 Strafbefehle 
vorliegen, sind nach dem Vorgänge der Polizeibehörde 10 strafbare Handlungen 
angenommen und zwar sind die Anzeigen in No. 84, 94, 98, 120, 124, 180 
und 247 als je 1 Fall behandelt, dagegen die Anzeigen in No. 107, 111, 113 
(C. 324/89) werden in No. 163, 157, 159 (C. 460 89 und zuletzt in No. 130, 
139, 141, 142, 146 (C. 428/89) als je 1 Fall zusammengefasst. 

Gegen dieses Urtheil hat der Angeklagte durch unterm 27. März 1890 ein¬ 
gegangenen Schriftsatz, also rechtzeitig, sowie auch formgerecht Berufung ein¬ 
gelegt. Er beantragt Freisprechung und zwar übereinstimmend mit seinen Aus¬ 
führungen in erster Instanz, weil nicht er — der Angeklagte —, sondern nur M. 
strafrechtlich belangt werden könnte. Es müsse bezüglich Rademann’s Kinder¬ 
mehl Freisprechung eintreten, während er im Uebrigen das Vorliegen der Ueber¬ 
tretung anerkennt. Die Königliche Staatsanwaltschaft beantragt Verwerfung der 
Berufung. 

Auf Grund der Beweisaufnahme ist das Gericht den Ausführungen des An¬ 
geklagten beigetreten. Unbestritten und festgestellt ist zunächst, dass die frag¬ 
lichen Anzeigen alle über dem sogenannten grossen Redactionsstrich stehen, wäh¬ 
rend sie andererseits von dem eigentlichen politischen localen Theil u. s. w. 
wiederum durch einen dem grossen Redactionsstrich ähnlichen, freilich nicht 
gleiohen Strich getrennt erscheinen. Aeusserlioh erwecken dieselben sonach, wie 
auoh der Sachverständige sagt, den Anschein, als ob sie von der Redaotion aus¬ 
gingen und stellen sie sich gleichsam als redaotionelle Anzeigen dar. 
Andererseits sind jedoch diese Anzeigen, wie aus vorgelegten Schriftstücken des 


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Zur Casuistik des Kampfes gegen den Geheimmittelunfug. 


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Angeklagten genügend festgestellt wurde, nioht aus eigenem Antriebe des Ange¬ 
klagten, sondern auf Veranlassung der Interessenten eingerüokt worden and 
stehen dieselben daher in dieser Beziehung den eigentlichen Inseraten gleich. 
Aach werden dieselben, wie gleichfalls durch die vorgelegten Bücher nachge¬ 
wiesen wurde, gleich den gewöhnlichen Anzeigen bezahlt, sogar bekanntermassen 
mit einer höheren Gebühr und erstreben sie dasselbe Ziel wie das einfache In¬ 
serat. Erwägt man nun weiter, dass dies Verhältniss jedem nur einigermassen 
erfahrenen Zeitungsleser bekannt ist, dass auch derartige Anzeigen ihrem ganzen 
Inhalte und der Fassung naoh mit dem vorstehenden politischen Theil u. s. w. in 
keiner Verbindung stehen und eine Täuschung sonach kaum möglich ist, dass 
sodann zuletzt, wenn auch bei den Zeitungen hierüber keine unbedingt feste 
Norm besteht, naoh den Erfahrungen des Sachverständigen derartige Anzeigen- 
Reklamen nicht durch die Hand der RedacHon, sondern der Expedition gehen, 
von letzterer allein bearbeitet werden und zur Kenntniss der ersteren vor dem 
Druck fast nie kommen, dass bei einigen Zeitungen auch mitunter wirkliche In¬ 
serate vor dem allgemeinen Strich kommen, so ist derSohluss unabweisbar, dass 
die fraglichen Reklamen als wirkliche Inserate anzusehen sind. 

Demnach konnte Untergebens nioht der heutige Angeklagte zur strafrecht¬ 
lichen Verantwortung gezogen werden und war derselbe, ohne dass auf die Sache 
selbst einzugehen gewesen wäre, freizusprechen. 

Den Kostenpunkt regelt § 497 Str.-Pr.-O. 

LXXXII. Erkenntniss des Kmaergeriehts vom 26. Januar 1891. 

Im Namen des Königs! 

In der Strafsache gegen den Redaoteur Wilhelm E. zu E. wegen Anpreisung 
von Heilmitteln hat auf die von der Königlichen Staatsanwaltschaft gegen das 
Urtheil der Strafkammer des Königlichen Landgerichts zu E. vom 20. September 
1890 eingelegte Revision der Strafsenat des Königlichen Kammergerichts 
zu Berlin in der Sitzung vom 26 Januar 1891 für Recht erkannt: 

dass auf die Revision der Königlichen Staatsanwaltschaft das Urtheil 
der I. Strafkammer des Königlichen Landgerichts zu E. vom 20. Sep¬ 
tember 1890 nebst der demselben zu Grunde liegenden Negativfest¬ 
stellung aufzuheben und die Saohe zur anderweiten Verhandlung 
und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, in 
die Berufungsinstanz zurück und zwar an das Königliche Landge¬ 
richt zu D. zu verweisen. 

Die Revision der Königlichen Staatsanwaltschaft, welche Verletzung der 
Polizeiverordnnng der Königlichen Regierung zu Düsseldorf vom 9. Mai 1888 in 
Verbindung mit dem § 21, Absatz 2 des Reicbspressgesetzes vom 7. Mai 1874, 
durch Nichtanwendung, sowie des § 7, Absatz 2 des Reichspressgesetzes durch 
unrichtige Anwendung rügt, muss für begründet erachtet werden. Der Be¬ 
rufungsrichter hat den Angeklagten von der Anschuldigung, in verschiedenen 
Nummern der unter seiner verantwortlichen Redaction erscheinenden periodischen 
Druckschrift „Neueste Nachrichten“ Anpreisungen von Heilmitteln veröffentlicht 
zu haben, ohne materielle Prüfung dieser Anschuldigung lediglich deshalb frci- 

Viert«(Jabnwohr. f. gcr. Med. Dritte Fol-c. V. 1 . 10 

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gesprochen, weil die incriminirten Reklamen, wenn sie sich anoh äasserlich als 
„redactionelle Anzeigen“ darstellten, doch ihrem Inhalte nach den „eigentlichen 
Inseraten" gleich za stellen seien, für den Iaseratentheil der gedaohten Druck¬ 
schrift aber, wie in der Ueberschrift derselben ausdrücklich angegeben, nicht der 
Angeklagte, sondern M. zu E. als verantwortlicher Redaotenr hafte. Diese Ent¬ 
scheidung beruht auf einer unrichtigen Auslegung des § 7, Absatz 2 des Reichs- 
Pressgesetzes. Nach ausdrücklicher Bestimmung dieses Paragraphen ist die Be¬ 
nennung mehrerer Personen als verantwortliche Redacteure nur dann zulässig, 
wenn aus Form und Inhalt der Benennung mit Bestimmtheit zu ersehen 
ist, für welchen Th eil der Druckschrift jede der genannten Personen die Re¬ 
daction besorgt. Die verschiedenen Theile der Druoksohrift, für welohe jeder der 
mehreren Redaoteure haften soll, müssen also nicht blos dem Inhalte, sondern 
auch der äusseren Form nach bestimmt angegeben und durch räumliche Trennung 
äusserlich erkennbar bezeichnet werden. Dieser Vorschrift entsprechend ist 
auch M. an der Spitze der „Neueste Nachriohten“ als verantwortlicher Redaoteur 
des Inseratenteils, nicht als Redacteur aller, auch in dem redactionellen Theil 
der Zeitung etwa aufgenommenen „Inserate" benannt. Es war demnach nur 
zu prüfen, ob die incriminirten „Anpreisungen“ sich ihrer äusseren Form und 
Stellung naoh im Inseraten theile der gedachten Zeitung befinden, nioht aber, 
ob dieselben, wenn auch formell in den vom Angeklagten zu vertretenden redao- 
tionellen Theil aufgenommen, ihrem Inhalte naoh eigentlichen Inseraten gleioh 
zu stellen seien. Das auf einer unrichtigen Gesetzesauslegung beruhende Be- 
rufungsurtheil musste demnach nebst der demselben zu Grande liegenden Nega¬ 
tivfeststellung aufgehoben und die Sache zur anderweiten Verhandlung und Ent¬ 
scheidung, auoh über die Kosten des Revisionsverfahrens, in die Berufungsinstanz 
zurück, und zwar, da dies nach Lage der Saohe angemessen ersohien, an ein 
anderes, nämlich an das Landgericht zu D. verwiesen werden. 

LXXXIV. Erkenntniss des Landgerichts zu D. vom 11. April 1891. 

In der Strafsache gegen den Redacteur W. E. zu E. wegen Anpreisens von 
Heilmitteln hat, auf die von dem Angeklagten gegen das Urtheil des Königlichen 
SchöffeDgeriohts zu E. vom 20. März 1890 eingelegte Berufung, die II. Straf¬ 
kammer des Königlichen Landgerichts zu D. in der Sitzung vom 
11. April 1891 für Recht erkannt: 

Da der Angeklagte in dem Termin zur Hauptverhandlung über die von ihm 
eingelegte Berufung ungeachtet der durch Urkunde des Gerichtsvollziehers N. 
vom 3. April und der Post vom 4. April 1891 nachgewiesenen Ladung weder 
selbst nooh durch einen zulässigen Vertreter erschienen, 

in Gemässheit der §§ 370, 505 der Strafprocessordnung wird die von 
dem Angeklagten gegen das Urtheil des Königlichen Schöffengerichts 
zu E. vom 20. März 1890 eingelegte Berufung verworfen und wird 
der Angeklagte verurtheilt, die Kosten der Berufung zu tragen. 

LXXXV. Erkenntniss des Landgerichts zu D. vom 21. März 1891. 

In der Strafsache gegen den Redacteur N. N. zu N. wegen Anpreisung 
von Geheimmitteln bat, auf die von der Königlichen Staatsanwaltschaft gegen 


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Zur C&saistik des Kampfes gegen den Geheimmittelanfug. 


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das Urtheil des Königliohen Sohöffengeriohts za N. vom 22. Januar 1891 einge¬ 
legte Beratung,' die II. Strafkammer des Königlichen Landgerichts zu 
D. in der Sitzung vom 21. März 1891 für Reoht erkannt: 

Das Urtheil des Schöffengerichts wird aufgehoben, der Angeklagte wird 
wegen Uebertretung der Polizeiverordnung vom 9. Mai 1888 zu einer 
Geldstrafe von 3 Mark, im Unvermögensfälle zu einer Haftstrafe von 
einem Tag und in die Kosten des Verfahrens verurtheilt. 

Durch das Urtheil vom 22. Januar ds. Js. ist der Angeklagte von der Be¬ 
schuldigung, 

in der Ende 1890 in B. erschienenen Unterhaltungsbeilage No. 40 
zum «Rheinländer", betitelt «Der Zeitspiegel", eine Reihe von 
Geheimmitteln angeköndigt, beziehungsweise angepriesen zu haben, 
Uebertretung gegen die Regierungs-Polizeiverordnung vom 9. Mai 1888, 
Amtsblatt S. 219, 

freigesprochen worden. Die rechtzeitig und in gehöriger Form eingelegte Be¬ 
rufung erscheint begründet. Dass in der fragliohen Unterhaltungsbeilage (Blatt3 
der Acten) die in der Anklageschrift (Blatt 6 der Aoten) näher bezeiohneten 
Stoffe und Zubereitungen als Heilmittel gegen menschliche Krankheiten und Kör- 
perschäden angekündigt und angepriesen worden, ergiebt sioh ohne Weiteres aus 
dem Wortlaut der betreffenden Annoncen; diese Stoffe und Zubereitungen sind 
auch Geheimmittel, weil ihre Bestandtheile nicht für Jedermann deutlich und 
zweifellos erkennbar gemacht sind. Es liegt also an sioh der Thatbestand der 
Uebertretung gegen die Regierungs-Polizeiverordnung vom 9. Mai 1888 vor. Es 
muss aber auch naoh § 20, Absatz 2 Prooessgesetzes vom 7. Mai 1874 der An¬ 
geklagte als Thäter bestraft werden. 

Der Angeklagte ist, wie er zugesteht, verantwortlicher Redaoteur der in B. 
erscheinenden periodischen Druckschrift «Der Rheinländer". Als solcher ist er 
auch verantwortlich für den gesammten Inhalt der «Gratis-Sonntagsbeilage" zu 
dieser Zeitung, betitelt „Der Zeitspiegel“, illustrirte Unterhaltungsbeilage, da 
diese Beilage einen integrirenden Bestandtheil der Zeitung „Der Rheinländer" 
bildet. Von dieser Verantwortlichkeit wird er dadurch, dass unter der Beilage 
noch als besonderer verantwortlicher Redacteur ein gewisser 0. K. in B. be¬ 
nannt ist, um so weniger befreit, als in dem Vordruck des Hauptblattes er 
selbst als alleiniger Redaoteur sowohl des Hauptblattes als auch der Sonntags¬ 
beilage bezeichnet ist. (Vergleiche Rechtsprechung des Reichsgerichts in Straf¬ 
sachen Bd. 5, S. 82; Entscheidungen Bd. -5, S. 314.) 

Unter den „besonderen Umständen", durch welche die Annahme der Thäter- 
Schaft (beziehungsweise Mitthäterschaft) des Redacteurs aasgeschlossen wird, 
versteht das Gesetz nur aussergewöhnliohe, von dem Willen des Redacteurs unab¬ 
hängige Umstände, welche ihn im Einzel falle ohne eigenes Verschulden verhindert 
haben, den betreffenden Artikel zu lesen und zu prüfen (vergl. Rechtsprechung 
des Reichsgerichts Bd. 6, S. 756; Bd. 1, S. 65, 673). Als ein solcher Umstand 
kann es nicht angesehen werden, dass der Angeklagte, wie er behauptet, die in 
B. hergestellte Beilage so rasoh nach ihrer Ankunft in N. weiter versenden 
muss, dass es ihm nur möglich ist, die Illustrationen und zuweilen kleinere Auf¬ 
sätze zu prüfen. Wenn er sie fertig von B. beziehen will, so mag er dafür 

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Dr. Weiss, 


Sorge tragen, dass ihm die Beilage oder ein Probeblatt derselben rechtzeitig zu¬ 
geht. Noch weniger konnte der Angeklagte — wie der erste Riohter annimmt — 
die nach dem Gesetze ihn persönlich treffende Verantwortlichkeit durch Vertrag 
auf den Verleger „des Zeitspiegels“ ab wälzen. 

Hit Rucksioht auf die Umstände des Falles konnte auf eine gelinde Strafe 
erkannt werden. Ueber die Kosten ist nach § 497 Strafprooessordnung ent¬ 
schieden. 

LXXXVI. Erkenntniss des Schöffengerichts zu B. vom 30. Juni 1891. 

ln der Strafsache gegen den Redacteur N. hier wurde das Urtheil mit 
Gründen dahin verkündet: 

Der Angeschuldigte wird wegen Geheimmittel-Ankündigung zu 
einer Geldstrafe von 10 Mark, im Niohtzahlungsfalle zu einer 
Haftstrafe von 2 Tagen und zu den Kosten des Verfahrens ver¬ 
urteilt. 

In No. 102 des „Stadt-Anzeigers“ zur B.-Zeitung vom 3. Mai 1891, im 
Anzeigenteile, dessen verantwortlicher Redacteur der Angesohuldigte ist, findet 
sich eine Ankündigung: „Das grosse Heer der Nervenübel“, in welcher in 
marktschreierischer Weise ein von Roman Weissmann erfundenes Heilverfahren 

empfohlen wird. Es heisst darin u. A.: „Das.Heilverfahren, durch 

täglich einmalige Kopfwaschung entspreohende Substanzen direot 
durch die Haut dem Nervensystem zuzuführen, hat so sensationelle 
Erfolge zu verzeichnen, dass die vom Erfinder .... herausgegebene Broohüre 

.in 22. Auflage erschienen ist“. Durch diese Anzeige ist nicht blos, wie 

Angesohuldigter behauptet, eine Brochüre, sondern auch ein Geheimmittel 
öffentlich angekündigt, nämlich „dem Nervensystem zuzuführende Substanzen“, 
welche nicht genannt sind, also als Geheimmittel auftreten. Gleichgültig ist, 
ob etwa in der Brochüre diese „Substanzen“ genannt und so des Charakters des 
Geheimmittels entkleidet werden, denn im Sinne der vom Angesohuldigten gegen¬ 
wärtig verletzten Regierungs-Polizei-Verordnung vom 9. Mai 1888 ist entschei¬ 
dend, dass in der Ankündigung die Bestandtheile der „Substanzen“ nicht für 
Jedermann deutlich und zweifellos erkennbar gemacht sind. 

Angemessene Strafe. 

LXXXVII. Erkenntniss des Landgerichts zu E. vom 18. Juli 1891. 

Unter Aufhebung des Urtheils des Königlichen Sohöffengeriohts zu E. vom 
12. März 1891 wird der Angeklagte, Redacteur N. zu N., 

wegen Uebertretung der Polizei-Verordnung vom 9. Mai 1888 in zwei 
Fällen zu je (5) fünf Mark, im Unvermögensfalle zu je (1) einem Tage 
Haft, sowie in die Kosten des Verfahrens beider Instanzen ver- 
urtheilt. 

Gegen das vorbezeichnete Erkenntniss, durch welches der Angeklagte von 
der Beschuldigung einer zweimaligen Uebertretnng der Polizei-Verordnung vom 
9. Mai 1888 freigesprocheu ist, hat die Königliche Staatsanwaltschaft frist- und 
formgerecht Berufung erhoben, welcher der Erfolg nicht zu versagen war. 


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Zar Casaistik des Kampfes gegen den Geheimmittelunfug. 


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Wie die erneute Beweisaufnahme dieser Instanz ergeben hat, ist von dem 
Vorderrichter zutreffend festgestellt, dass der Angeklagte in den Nummern 32 
und 35 der Zeitung „Neueste Nachrichten", deren verantwortlicher Redacteur 
er ist, folgende gleichlautende Anzeigen aufgenommen hat: „Zu beziehen durch 
jede Buchhandlung ist die preisgekrönte Schrift des Med.-Rath Dr. Möller über 
das gestörte Nerven- und Sexualsystem. Freizusendung unter Couvert 
für 1 Mark in Briefmarken von Eduard Bendt, Braunsohweig“, sowie, dass in 
dieser Schrift des Dr. Müller Geheimmittel — sog. Miraoulapräparate — an¬ 
gepriesen worden. Mit Unrecht verneint indess der erste Richter die Anwend¬ 
barkeit der vorbezeiohneten Polizei-Verordnung auf den somit festgestellten Sach¬ 
verhalt. Allerdings wird seiner Ausführung darin Niemand entgegentreten kön¬ 
nen, dass die Anpreisung einer Schrift nicht unmittelbar als eine Anpreisung 
von Stoffen und Zubereitungen, wie sie der § 1 jener Verordnung voraussetzt, 
anzusehen ist. Allein nach dem Zweck der Verordnung und der ihr dieserhalb 
gegebenen allgemeinen Fassung muss angenommen werden, dass das Verbot nicht 
nur die unmittelbaren, sondern auch die mittelbaren Anpreisungen von Geheim¬ 
mitteln treffen sollte und dass daher auch die öffentliche Empfehlung einer der¬ 
artige Geheimmittel anpreisenden Schrift durch die Zeitung unter das Verbot 
fallt, sofern nur der verantwortliche Redacteur der Zeitung von dem strafbaren 
Inhalt der Schrift Kenntniss hatte oder seine Unkenntniss hiervon durch eigene 
Fahrlässigkeit verschuldet hat — verg). Entscheidung des Kammergerichts 
Blatt 13 der Acten. Die letztbezeichnete Voraussetzung trifft aber Untergebens 
zu, da der Angeklagte wegen dergleichen Annonce bereits wiederholt unter An¬ 
klagegestelltist und deshalb, obsohon seine Anklagen mit Freisprechung 
geendet haben, als Redacteur Veranlassung nehmen musste, vor erneuten Aufnah¬ 
men der Annonce Kenntniss von dem Inhalte der Schrift zu nehmen, und zwar um 
so mehr, als schon der Inhalt der Annonce selbst bei ihm einen Verdacht in der 
gekennzeichneten Richtung erwecken musste. 

ln Erwägung hiernach, dass die in den beiden Anzeigen empfohlene 25. Auf¬ 
lage jener Schrift, wie eine Vergleichung der bei den Acten befindlichen 18. und 
24. — gleichlautenden — Auflage ergiebt und wio Angeklagter selbst nicht be¬ 
streitet, offenbar inhaltlich mit diesen beiden übereinstimmt, sowie in weiterer 
Erwägung, dass dieSchrift selbst Miraculo-Elixir und Miraculo-Balsam als 
Geheimmittel gegen Nerven- und Geschlechtsleiden lediglich mit dem Zusatz 
empfiehlt, dass dieselben aus japanischen Pflanzen - Extracten zusammengestellt 
seien, ohne diese näher zu bezeichnen, ist festgestellt, dass Angeklagter zu E. 
durch zwei selbstständige Handlangen Zubereitungen, deren Bestandtheile durch 
ihre Benennung oder Ankündigung nicht für Jedermann deutlich und zweifellos 
erkennbar gemacht sind, als Heilmittel gegen Krankheiten von Menschen öffentlich 
angekündigt hat. Uebertretung gegen § 2 der Verordnung vom 9. Mai 1888, 
§ 78 St.-G.-B., § 20 Pressgesetzes. 

Eine Geldstrafe von je 5 Mark für jede That erschien ausreichend. 

Den Kostenpunkt regeln §§ 497 ff. St -P.-O. 

LXXXVIII. Erkenntniss des Schöffengerichts zu D. vom 4. Sept. 1891. 

Der Angeklagte, Redacteur N. zu N., hat gegen die Strafbefehle vom 5. und 
12. August 1891, welche ihn wegen Anpreisen von Brandt’s Schweizer- 

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pillen in zwei Nummern des „Täglichen Anzeigers“ zu Geldstrafen yon je 
3 Mark verurtbeilten, rechtzeitig Einspruch erhoben, weil die Annoncen kein An¬ 
preisen enthielten, sondern einfaohe Danksagungen seien. — Der Einspruch 
ist aber zu verwerfen. Denn der wesentliche Zweck derartiger öffentlicher Dank¬ 
sagungen ist, andere Personen auf das Mittel aufmerksam zu machen und sie zur 
Anwendung, also auch zum Ankauf desselben zu veranlassen. Es ist daher die 
Uebertretung der Polizei-Verordnung vom 9. Mai 1888 und der Reichs-Verordnung 
vom 27. Januar 1891 gegeben. 

Die in den Strafbefehlen normirte Geldstrafe erschien angemessen. 

LXXXIX. Erkenntniss des Landgerichts zu E. vom 6. Juni 1891. 

Der Angeklagte, Kappenmacher S. zn D., wird unter theilweiser Aufhebung 
des Urtheils des Königlichen Schöffengerichts zu L. vom 10. März 1891 

wegen Uebertretung gegen die Polizei-Verordnung der Königlichen Re¬ 
gierung zu Düsseldorf vom 9. Mai 1888 zu einer Geldstrafe von 
10 Mark, im Nichtzahlungsfalle zu einer Haftstrafe von 2 Tagen, 
verurtheilt. 

Im Uebrigen wird die Berufung verworfen. Dem Angeklagten werden die 
Kosten des Verfahrens beider Instanzen zur Last gelegt. 

Gegen das Urtheil des Königl. Schöffengerichts zu L. vom 10. März 1891 
durch welches der Angeklagte der Uebertretungen der Polizei-Verordnung der 
Kgl. Regierung zu Düsseldorf vom 9. Mai 1888 und des § 367, No. 3 des Straf¬ 
gesetzbuchs frei gesprochen worden ist, hat die Kgl. Staatsanwaltschaft frist- und 
formgerecht Berufung eingelegt. 

In thatsächlicher Beziehung ergab sich in der Hauptverhandlung zweiter 
Instanz, wie auch seitens des ersten'Riohters festgestellt war, zunäohst, dass der An¬ 
geklagte an die Adlerapotheke zu Frankfurt a.M. gerichtete Bestellkarten 
von Brandt’s Schweizerpillen vorräthig hielt, die er, naohdem sie von den Bestellern 
ausgefüllt waren, an die Adresse zur Post gab und dass er die Beträge für die 
bestellten Pillen mit 1 Mark für die Schachtel von den Bestellern in Empfang 
nahm und nach Abzug von 25 pCt. Provision monatlich der Adlerapotheke, dem 
Lieferanten der Pillen, einsandte. Das Schöffengericht hat zutreffend ausgeführt, 
dass in dieser Thätigkeit des Angeklagten eine Uebertretung gegen den § 367, 
No. 3 St. G. B., wie sie dem Angeklagten zur Last gelegt wird, nioht gefunden 
werden könne. Wenn die Schweizerpillen auch offenbar unter die nach dem Ver¬ 
zeichnisse und der Kaiserl. Verordnung vom 27. Januar 1890 den Verkauf in 
Apotheken vorbehaltenen Arzneien gehören, so hat der Angeklagte dieselben dooh 
nicht, wie die genannte Gesetzesbestimmung solche unter Strafe stellt, feil¬ 
gehalten, verkauft, oder sonst an Andere überlassen. Es ist als durch die Recht¬ 
sprechung festgestelltzu erachten, dass der Begriff des Feilhaltens ein Darbieten 
und Bereithalten eines Gegenstandes enthält, dass ferner zu den im civilrecht- 
lichen Sinne aufzufassenden Verkäufen die Uebernahme einer persönlichen Ver¬ 
pflichtung der Lieferung gehört und dass schliesslioh auoh bei dem Ueberlassen 
eine unmittelbare Beziehung des Thäters zu der Sache bezw. deren Besitz oder 
ein Recht darüber zu verfügen erforderlich ist. Der Angeklagte war aber nur 
Agent des Verkäufers der Sohweizerpillen und beschränkte sein Handeln darauf, 

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Zar Casaistik des Kampfes gegen den Gebeimmittelunfag. 


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dass er, wie ein Bote, gegen eine in Form von Provision erfolgende Bezahlung 
die Besorgung der Bestellkarten und des Kaufpreises zur Post ausführte. Hier¬ 
nach reohtfertigte sich die Freisprechung des Angeklagten von der Uebertretang 
gegen § 367, No. 3 des Strafgesetzbuchs und musste die Berufung, soweit sie 
diese angegriffen hat, als unbegründet verworfen werden. 

Der Angeklagte bat ferner zugegeben, dass er eine ihm von Br an dt zugesandte 
Druckschrift in Zeitungsform, „Extra-Beilage“ bezeichnet, im Januar 
1891 in vielen Exemplaren zu V. durch Abgabe an den Thüren der Häuser 
verbreitet hat. Die Schrift enthält, wie eine Einsichtnahme in ein in der Haupt- 
Verhandlung vorliegendes, von dem Angeklagten anerkanntes Exemplar ergab, 
Artikel, welche die Vorzüge der Brandt’schen Sohweizerpillen als Heil¬ 
mittel gegen Krankheiten der Menschen aufzählt, empfehlende Zeugnisse von 
Leidenden und lobende Aeusserungen „medicinischer Autoritäten“, schliesslich 
ein auch den Namen des Angeklagten aufführendes Verzeichniss von Personen 
in verschiedenen Städten, welche Bestellungsformulare vorräthig halten. Insoweit 
die Berufung in der Verbreitung dieser Zeitung eine Uebertretang gegen die 
Polizei-Verordnung der Kgl. Regierung zu Düsseldorf vom 9. Mai 1888 findet, 
musste dieselbe Erfolg haben. Diese Polizei-Verordnung verbietet in ihrem § 1 
Stoffe und Zubereitungen aller Art, gleichviel ob arzneilich wirksam oder nicht, 
a) deren Feilhalten und Verkauf nicht Jedermann freigegeben ist, b) deren Be- 
standtheile durch ihre Benennung oder Ankündigung nioht für Jedermann deutlioh 
und zweifellos erkennbar gemacht sind (Geheimmittel) als Heilmittel gegen 
Krankheiten und Körpersohäden von Menschen und Thieren öffentlich anzukün¬ 
digen und anzupreisen. 

Wenn die Vertheidigung die Gültigkeit dieser Verordnung aus dem 
Grunde angezweifelt hat, weil diePublioation derselben von der Kgl. Regierung, Ab- 
theilnng des Innern, erfolgt sei, so wird verkannt, dass der Erlass vor Geltung des 
in der Rheinprovinz am 1. Juli 1888 eingeführten LandesverwaltuDgsgesetzes 
vom 30. Juli 1883, auf Grund des Gesetzes vom 11. März 1850, § 11 durch die 
Bezirksregierung zu erfolgen hatte und dass von den den verschiedenen Ab¬ 
theilungen der Regierung obliegenden Geschäften das Polizeiverwaltungsrecht der 
Abtheilung des Innern zustand. 

Die von dem Angeklagten vorgenommene Verbreitung der „Extra-Beilage“ 
stellt eine nach dem § 1 verbotene öffentliche Ankündigung und Anpreisung dar. 
Dass die „Brandt’schen Schweizerpillen“ zu denjenigen Zubereitungen gehören, 
deren Feilheiten und Verkauf nicht Jedermann freigegeben ist, wurde schon 
vorher festgestellt. Sie sind aber auoh gleichzeitig in jener Druckschrift, welche 
ihre Bestandtheile in keiner Weise erkennbar macht, obige, als ein Geheimmittel 
im Sinne der No. b. angekündigt. Dadurch, dass die Schrift in V. in sehr viele 
Häuser gelangte, wurde ihr Inhalt, nämlich die darin geschehene Ankündigung und 
Anpreisung des Arzneimittels einer Anzahl von unbestimmt welchen und wie 
vielen Personen zugänglich und somit die Ankündigung und Anpreisuug zu einer 
öffentlichen. Der Angeklagte war nicht Werkzeug eines Dritten für diese 
Anpreisung, sondern S elbstthäter. Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass er 
den Inhalt der Sohrift, die ihm gerade zu dem Zweck gesandt war, um durch 
ihre Verbreitung die Besteller der Schweizerpillen aufmerksam zu machen, kannte 
und er hat das Blatt, da er durch die Bestellungen zugleich sein Verdienst fand, 


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Dr. Weiss. 


bewusst auch im eigenen Interesse beliebigen Dritten zugänglich gemacht. Er 
war nach § 2 der Verordnung zu bestrafen. Bei der Strafzumessung ist berück¬ 
sichtigt, dass erschwerende Umstände nicht Vorlagen. 

Die Kosten des Verfahrens fielen dem Angeklagten nach § 497 der Straf - 
processordnung zur Last. 

XC. Erkenntniss des KaaHergeriehts vom 8 . Icteber 1891. 

Die Revision des Angeklagten, Kappenmacher S. zu V. (gegen No. LXXXIX), 
erscheint unbegründet. Mit Unrecht bestreitet Revident die gesetzliche Gül¬ 
tigkeit der gegen ihn zur Anwendung gebrachten Polizei - Verordnung der 
König]. Regierung zu Düsseldorf, welche nicht vom 9. December, sondern vom 
9. Mai 1888 datirt und schon vor Einführung des Landesverwaltungsgesetzes vom 
80. Juli 1883 in der Rheioprovinz, nämlich durch das am 19. Mai 1888 aus¬ 
gegebene Stück 20 des Regierungs• Amtsblattes publioirt worden ist. In for¬ 
meller Beziehung entspricht die gedachte Polizei-Verordnung den Vorschriften 
des Ministerial-Erlasses vom 6. Juni 1850 (Ministerialblatt für die innere Verwal¬ 
tung S. 176). Ihre materielle Begründet findet sie in den §§6 Lit. f. und 11 
des Gesetzes über die Polizei-Verwaltung vom 11. März 1850. Mit Gesetzen 
oderVerordnungen einer höheren Instanz steht sie nicht in Wider¬ 
spruch. Insbesondere verstösst sie weder gegen den § 1 des Reiohs-Press- 
gesetzes, noch gegen §1 der Reichs-Gewerbeordnung. Denn nicht 
die Freiheit der Presse wird durch sie beschränkt, sondern nur dem Miss¬ 
brauche der Presse durch Veröffentlichungen strafbaren Inhalts tritt sie in 
Uebereinstimmung mit den in den §§ 20 und 21 des Reichsgesetzes enthaltenen 
Vorschriften entgegen. Auch den Grundsatz der Gewerbefreiheit lässt sie völlig 
unangetastet, daihre Bestimmungen den Gewerbetreibenden nicht bezüglich der Zu¬ 
lassung zum Gewerbebetriebe, sondern nur bezüglich der Ausübung desselben 
gewisse nach § 6 Lit. f. des Gesetzes über die Polizei-Verwaltung vom 11. März 
1850 zulässige Beschränkungen auferlegen. Auf den von dem Berufungsriohter 
ohne ersichtliohen Rechtsirrthum festgestellten Thatbestand aber sind die §§ 1 
und 2 der Polizei-Verordnung vom 9. Mai 1888 richtig angewendet worden. 

Die Revision war daher, wie geschehen, zurückzuweisen. 

Die Entscheidung über die Kosten des Rechtsmittels beruht auf § 505 der 
Strafprozessordnung. 


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Horbi4ität nd Mortalität 4er Bergarbeiter, iasbesea4ere ia 
rbeiaifchea Gebiet, aa4 die rar Veraua4eraag 4erselbea er- 

fer4erliehea Massregela. 

Von 

Dr. KOrfer in Aachen. 


Morbidität and Mortalität der arbeitenden Klasse der Bevölke¬ 
rung werden, abgesehen von socialen, klimatischen und meteorolo¬ 
gischen Verhältnissen, durch die Berufstätigkeit wesentlich beein¬ 
flusst. Bei Beurteilung des Einflusses, den letztere auf die Gesund¬ 
heit des Individuums ausübt, sind 3 Hauptfactoren zu berücksichtigen. 

1. Die Oertlichkeit, in welcher die Arbeit verrichtet wird. 

2. Das zu verarbeitende Material. 

3. Die Art der Beschäftigung an und für sich. 

Fragt man sich, wie diese durch den Beruf bedingten, die Ge¬ 
sundheit schädigenden Einflüsse beim Bergarbeiter zur Geltung kom¬ 
men, so wird es vor Allem notwendig sein, dass man sich ver¬ 
gegenwärtigt, welcher Natur dieselben speciell bei der Bergwerks¬ 
arbeit sind. 

Der Bergmann verrichtet seine Arbeit in einem Raume, zu dem 
das Tageslicht absolut keinen Zutritt hat, und in welchem, wenn 
nicht künstliche Ventilation hülfreich eingreift, die Luft stellenweise 
derart ist, dass ein längeres Verweilen in derselben nicht nur ge¬ 
sundheitsschädlich, sondern selbst lebensgefährlich ist. Während in 
allen oberirdischen Arbeitsstätten durch natürliche Ventilation, durch 
Fenster, Mauern und Thüren Zufuhr von frischer und Abfluss von 
verbrauchter Luft stattflndet, fällt diese natürliche Ventilation an der 
Arbeitsstätte des Bergmannes fast vollkommen weg. Und doch wäre 


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154 


Dt. Körfer, 


sie hier ganz besonders nothwendig, denn es wirken anf die den Berg¬ 
mann amgebende Luft ausser dem darch den Athmangsprocess be¬ 
dingten, verscblecbternden Einfluss noch eine Reibe anderer Factoren 
schädigend ein. Zunächst ist es der Verbrennungsprocess in der 
Lampe, welcher Sauerstoff absorbirt und Kohlensäure producirt, Ex¬ 
plosionen von Sprengstoffen, Verwesungs- und Oxydationsprocesse, die 
durch den Contact der Kohlenwand und der fein vertheilten Kohlen¬ 
partikelchen mit der atmosphärischen Luft entstehen, im Gestein sich 
entwickelnde schlechte Gase, tragen nicht unwesentlich dazu bei, die 
normale Zusammensetzung der Luft zu verändern. Nach Schondorff 
(citirt nach Schlockow, S. 94) soll an dem Gesammtverlust von 
Sauerstoff die Belegschaft nur mit etwa Vn, an der Vermehrung der 
Kohlensäure nur mit etwa V 9 betheiligt sein. Hiernach müssten 16 / t 7 
resp. % der Luftverschlechterung den übrigen oben erwähnten Fac¬ 
toren zuzuschreiben sein. Der Kohlensäuregehalt in den Kohlengruben 
stellt sich im Mittel nach Schlockow (S. 51) auf 1—2 pM., vor 
Ort auf 3 —4 pM. Unter Umständen kann sich der Kohlensäuregehalt 
auch noch bedeutend steigern und unter gleichzeitiger Entwickelung 
von Kohlenoxyd der Bergmann in hohe Lebensgefahr kommen. 
Der Bergmann nennt diese sich bei gesteigerter Kohlensäure und 
Kohlenoxydentwickelung bildenden Gasgemenge „ böse Wetter “ im 
Gegensatz zu den durch gesteigerte Kohlenwasserstoffentwickelung sich 
bildenden „schlagenden Wetter“. Als unconstante Beimengungen der 
Grubenluft finden sich stellenweise noch Schwefelwasserstoff und Am¬ 
moniak. 

Zu diesen gasförmigen Verunreinigungen der Grubenluft kommt 
ferner noch die Verunreinigung mit kleinsten Kohlen- nnd Gesteins¬ 
partikelchen, der hohe Wassergehalt der Luft, der erhöhte Luftdruck 
und die erhöhte Temperatur. 

Fassen wir alle diese Momente zusammen, so müssen wir 
sagen, dass der Bergmann in einer sauerstoffarmen, kohlensäure¬ 
reichen, gewöhnlich auch noch mit anderen gesundheitsschädlichen 
Gasen gemischten, staubreichen, mit Wasserdampf gesättigten, stel¬ 
lenweise auch noch ziemlich hoch temperirten und unter erhöhtem 
Druck stehenden Atmosphäre zu arbeiten gezwungen ist. In dieser 
Atmosphäre verrichtet der Bergarbeiter seine, an und für sich schwere, 
Arbeit häufig in den gezwungensten Körperstellungen, knieend, auf 
dem Rücken oder auf der Seite liegend, unter höchst mangelhafter 
Beleuchtung. An besonders ungünstigen Stellen wird er während der 


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Morbidität and Mortalität der Bergarbeiter. 


155 


Arbeit durch aus dem Gestein hervorquellendes Wasser beständig 
durchnässt. Greller Temperaturwechsel, dem er nicht nur beim An- 
und Ausfahren, sondern auch im Bergwerk selbst, beim tJebergang 
aus einem in den anderen Stollen, Passiren von Wetterthüren und 
Querschlägen ausgesetzt ist, wirken auch keineswegs günstig auf seine 
Gesundheit ein. 

Und zum Schluss kommen dann noch die mannigfachen Gelegen¬ 
heiten zu äusseren, eventuell tödtlichen Verletzungen, denen er in der 
Ausübung seines Berufes ausgesetzt ist. 

All diese schädigenden Momente üben auf den Gesundheitszustand 
des Bergarbeiters in mannigfacher Weise ihren Einfluss aus. 

Als Folge der Verunreinigung der Athmungsluft mit schädlichen 
Gasen treten Kohlensäure- und Kohlenoxyd-Vergiftungen in acuter 
und chronischer Form auf, welch letztere in allgemeinen Ernährungs¬ 
störungen zur Geltung kommt und auch für das Auftreten des Emphy¬ 
sems beim Bergarbeiter verantwortlich gemacht wird. Kohlenwasser¬ 
stoff (Grubengas) wird für den Bergmann hauptsächlich durch seine, 
bei einem gewissen Misehungsverhältniss mit atmosphärischer Luft 
eintretende, Explosionsfähigkeit gefährlich. 

Schwefelwasserstoff und Ammoniak sind sehr unconstante Ver¬ 
unreinigungen der Grubenluft. Ersteres giebt, in grösseren Mengen 
eingeathmet, zu den schwersten, häufig mit dem Tode endenden Er¬ 
nährungsstörungen Veranlassung (Schlockow, S. 67). 

Als Folgen der Staubbeimengung treten Catarrhe der Respirations¬ 
organe, Lungenentzündungen (Anthracosis) und Emphysem auf. Die 
Tuberculose ist unter den Bergarbeitern, im Verhältnis zu anderen, 
der Staubinhalation ausgesetzten Berufsklassen, sehr wenig verbreitet, 
so dass man dem Kohlenstaub selbst eine immunisirende Wirkung 
gegen Tuberculose zugeschrieben hat. 

Die mit Wasserdampf gesättigte hoch temperirte Luft wirkt stö¬ 
rend auf die Wärmeöconomie, und diese wiederum störend auf den 
Gesammtstoffwechsel ein. 

Das Arbeiten in gezwungenen Körperstellungen giebt Veran¬ 
lassung zu Wirbelsäuleverkrümmungen, Gelenkcontracturen, chroni¬ 
schen Entzündungen an gewissen Körperteilen und abnormer Blut- 
vertheilung. 

Der häufige, grelle Temperaturwecbsel und die stellenweise unver¬ 
meidliche Dnrchnässung des Körpers erzeugt chronischen Muskel- und 
Gelenkrheumatismus, Neuralgieen und Catarrhe der Respirationsorgane. 


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156 


Dr. Körfer, 


Alle diese Momente zusammen bedingen schliesslich eine früh¬ 
zeitigere Abnutzung der Körperkräite, frühzeitigere Berufsunfähigkeit 
und kürzere Lebensdauer. 

Darüber, ob das mangelnde Tageslicht einen schädigenden Ein¬ 
fluss auf den Gesundheitszustand des Bergarbeiters ausübt, liegen 
noch keine entscheidenden Beobachtungen vor. Jedenfalls ist aber die 
mangelhafte Beleuchtung der Arbeitsstätte für den Nystagmus und 
die Amblyopie verantwortlich zu machen. 

Infectionskrankheiten, namentlich Typhus und Wechselfieber, 
haben nach Schlockow (S. 149 und 151) mit der Berufsarbeit 
keinen ursächlichen Zusammenhang, und ist ihr Auftreten unter den 
Bergarbeitern an locale Verhältnisse geknüpft. 

Nachdem ich die auf alle Bergarbeiter mehr oder weniger einwirkenden 
Berufsschädlichkeiten und ihre Folgen für die Gesundheit vorausgesohiokt habe, 
gehe ich zu dem speoielleren Theile meines Thema’s, zur Schilderung der Mor- 
biditäts- und Mortalitätsverhältnisse der rheinischen Bergarbeiter über. Um mir 
ein Bild von diesen Verhältnissen zu verschaffen, habe ich die in der „Zeitschrift 
für Bergbau-, Hütten- und Salinenkunde“ veröffentlichten Knappsohaflsberichte 
des Oberbergamtsbezirks Bonn zum Gegenstände meiner Untersuchung gemacht 
und einerseits die Morbidität und Mortalität im Allgemeinen berüoksiohtigt, 
andererseits erstere nach den wichtigsten beim Bergarbeiterberufe in Frage 
kommenden Gesichtspunkten detaillirt. 

Bei der Detailirung der Morbiditätsverbältnisse habe ich eine Trennung in 
innere und äussere Krankheiten vorgenommen. 

Von den inneren Krankheiten habe ich die Erkrankungen der Athmungs- 
Organe, als die wichtigsten Berufskrankheiten, in Summa zusammengestellt, und 
unter diesen wiederum eine Trennung in Bronchialkatarrh, Emphysem, Lungen¬ 
entzündung und Tuberculose eintreten lassen. Von inneren Krankheiten habe 
ich ausserdem die Erkrankungen an Rheumatismus, Typhus und Wechselfieber, 
Blutarmuth und Wassersucht besonders berüoksiohtigt, letztere beide als Reprä¬ 
sentanten der allgemeinen Ernährungsstörung. Von den äusseren Krankheiten 
habe ioh die Verletzungen besonders hervorgehoben, welch letztere wiederum in 
der Mortalitätstabelle eine Speoifioirung erfahren. 

Bei der Mortalität habe ich, da nach dem mir zur Verfügung gestandenen 
Material keine Scheidung nach Todesursachen möglich war, nur eine Trennung 
in natürlichen Tod und Tod durch Verletzung vorgenommen, und in einer wei¬ 
teren Tabelle die Sterbliohkeit in verschiedenen Altersklassen berücksichtigt. 

Unter der grossen Reihe der dem Oberbergamtsbezirk Bonn angehörenden 
Knappschaftsvereine habe ioh mich auf den Saarbrücker K.-V.,‘ Worm K.-V., 
Esohweiler K.-V., Brühler K.-V., Deutzer K.-V. und Siegener K.-V. beschränkt. 
Bei dieser Auswahl sind für mich folgende Gesichtspunkte massgebend gewesen. 

1) haben die ausgewählten Knappschaftsvereine eine relativ grosse Mit¬ 
gliederzahl; 


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Morbidität and Mortalität der Bergarbeiter. 


157 


2) sind die Mitglieder dieser Knappsohaftsvereine sämmtlich im Bergbau 
beschäftigt, während die meisten anderen Knappsohaftsvereine Berg- 
und Hättenarbeiter zu Mitgliedern haben, und in den Knappschaftsbe¬ 
richten diese beiden Berufsarten nicht getrennt sind; 

3) sind im Saarbrücker K.-V., Worin K.-V. und Eschweiler K.-V. nur 
Steinkohlenbergarbeiter, im Brühler K.-V. nur Braunkohlen¬ 
bergarbeiter, im Deutzer K.-V. nur Erzbergarbeiter vertreten. Der 
Siegener K.-V. zählt allerdings auch Hüttenarbeiter zu seinen Mitglie¬ 
dern, es prävaliren jedoch die Bergarbeiter bedeutend, und zwar die 
Erzbergarbeiter. 

Zum Vergleich habe ich dann noch in zwei gesonderten Tabellen (Tabelle III 
und IV) sämmtliohe dem Oberbergamtsbezirk Bonn angehörende Knappsobaftsver- 
eine sowie sämmtliohe preussische Knappschaftsvereine berücksichtigt; diese Ta¬ 
bellen geben aber, weil keine Trennung zwisohen Berg- und Hüttenarbeitern 
möglich war, für Bergarbeiter nur ein approximatives Resultat. Eine Specifioi- 
rung der Morbiditätsverhältnisse enthalten diese Tabellen nicht. 

Tabelle II giebt die Durchschnittszahlen aus Tabelle I, III und IV auf 
1000 Mitglieder und pro Jahr berechnet. 

Was nun die Morbidität im Allgemeinen anbelangt, so weisen die drei von 
mir berücksichtigten Vertreter des Steinkohlenbergbaues sehr verschiedene 
Zahlen auf. 

auf 1000 Mitglieder pro Jahr 

Saarbrücken. ... 634 Erkrankungen 

Wormrevier .... 745 „ 

Eschweiler .... 1004 „ 

Daraus ergiebt sioh für Steinkohlenbergarbeiter eine mittlere Morbidität 
von 689 pM., wenn ich Eschweiler, welches sehr schleohte Morbiditäts- und 
Mortalitätsverhältnisse aufweist, vielleicht die schlechtesten von sämmtliohen 
preussischen Knappschaftsvereinen, nicht berücksichtige. Eschweiler mit einbe¬ 
griffen erhalte ich eine mittlere Morbidität von 794 pM. 

Nach Schlockow (S. 232) beträgt die mittlere Morbidität für Steinkohlen¬ 
bergarbeiter 670 pM., ausschliesslich des Oberschlesischen Knappschaftsvereins. 
Mit Berücksichtigung des Oberschlesischen Knappschaftsvereins erhält Schlockow 
(S. 232) eine mittlere Morbidität von 450 pM. 

Der Oberschlesische Knappschaftsverein scheint demnach, was Morbiditäts¬ 
verhältnisse anbelangt, den Antipoden vom Eschweiler K.-V. zu bilden. 

Die Braunkohlenbergarbeiter sind in meiner Tabelle nur durch einen Knapp¬ 
schaftsverein vertreten, und weisen eine Morbidität von 888 pM. auf, nach 
Schlockow (S. 232) beträgt die Morbidität für Braunkohlenbergarbeiter 
690 pM. 

Für Erzbergarbeiter erhalte ich eine mittlere Morbidität von 740 pM. Auoh 
hier ist zwisohen dem Deutzer und Siegener K.-V. eine grosse Differenz zu con- 
statiren, die auch in den Mortalitätsverbältnissen (natürlichen Todes gestorben), 
wenn auoh nicht in demselben Maasse, zur Geltung kommt. 

Für sämmtüche Knappschaftsvereine des Oberbergamtsbezirks Bonn erhalte 
ich eine Morbidität von 657 pM. und für sämmtliohe preussische Knappschaft*- 


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158 


Dr. Körfer, 


vereine 545 pH. Sohliesse ioh den Oberbergamtsbezirk Bonn ans, so erhalte ich 
für sämmtliohe preassisohe Knappscbaftsrereine excl. Bonn eine Morbidität von 
525 pM. Daraas gebt hervor, dass im Oberbergamtsbezirk Bonn die Morbidität 
eine grössere ist, als in den anderen Oberbergamtsbezirken zusammen. 

Für das Locomotivpersonal der deutschen Eisenbahnen ergiebt sioh nach 
Scblockow (S. 232) eine Morbidität von 1200 pM., für das übrige Fahrper¬ 
sonal 820 pM., für preussische Eisenhüttenarbeiter 1020 pM. 

Diesen Berufsklassen gegenüber stehen also die Bergarbeiter auch im rhei¬ 
nischen Gebiet, was Morbidität anbelangt, günstig da. 

Beim Vergleich der Anzahl der inneren Erkrankungen in den von mir be¬ 
rücksichtigten Knappschaftsvereinen ergeben sich sehr grosse Differenzen, so 
weist Esohweiler fast die doppelte Anzahl innerer Erkrankungen auf, wie Saar¬ 
brücken; dagegen ist das Verbältniss der Erkrankungen an äusseren Krank¬ 
heiten in den verschiedenen Knappsohaftsvereinen ein ziemlich constantes. 

In der Rubrik „Erkrankungen der Athmungsorgane“ nehmen die Braun¬ 
kohlenbergarbeiter die erste Stelle ein und weisen dementsprechend die meisten 
Bronchialcatarrhe auf. Zu demselben Resultate kommt auch Sohlockow 
(S. 133). 

Für Erkrankungen der Athmungsorgane beim Zugpersonal einiger rhei¬ 
nischer Eisenbahnen giebt Sohlockow (S. 138) die Durchschnittszahl 261 pM. 
Diese Zahl wird in meiner Tabelle nur von den Braunkohlenbergarbeitern er¬ 
reicht. Alle übrigen von mir aufgefübrten Knappschafts vereine bleiben unter 
dieser Zahl. 

Die Lungenentzündung ist bei den Erzbergwerkarbeitern am stärksten ver¬ 
treten, es folgen die Braunkoblenbergarbeiter und an dritter Stelle die Stein¬ 
kohlenbergarbeiter. Die Differenz ist jedooh nicht sehr bedeutend. 

Die von mir gewonnenen Zahlen über das Vorkommen des Emphysems lassen 
wegen ihrer grossen Verschiedenheit gar keinen Vergleich zu, und muss man sioh 
diese grosse Verschiedenheit aus der individuellen Ansohauung der einzelnen 
Knappschaftsärzte über die Diagnose „Emphysem“ erklären. 

Wenn ich die Zahlen für Tuberculose mit den Sohlooko w’schen Zahlen 
(S. 143) vergleiche, so kann ich auch nur die auffallend starke Verbreitung der¬ 
selben unter den Mitgliedern des Esohweiler Knappschaftsvereins constatiren. 
Wenn ich auoh allenthalben für die Verbreitung der Tuberculose etwas höhere 
Zahlen gewonnen habe, als Scblockow, mit Ausnahme von Eschweiler, und 
sioh in meiner Tabelle der Deutzer Knappschaftsverein dem Esohweiler ziemlich 
ebenbürtig zur Seite stellt, so bleibt trotzdem die starke Verbreitung der Tuber¬ 
culose unter den Mitgliedern des Eschweiler K.-V. im Vergleich zu den beiden 
anderen Vertretern des Steinkohlenbergbaues auffallend. Dementsprechend ist 
aber auch die Erkrankungsziffer an „Blutarmuth und Wassersucht“ eine auf¬ 
fallend hohe und ergiebt sioh auch für die Morbiditäts- und Mortalitätsverhält¬ 
nisse im Allgemeinen ein sehr schlechtes Resultat. Man muss daher in localen 
Verhältnissen den Grund hierfür suchen, und wäre es zunäohst die Mähe der 
Fabrikstädte Aachen und Burtscheid, die man dafür verantwortlich maohen 
könnte, insofern als die weibliche Nachkommenschaft der Bergarbeiter, welche in 
der Montanindustrie nicht beschäftigt wird, ihren Unterhalt in den Aachener und 
Burtsobeider Fabriken suoht. Aliabendlioh oder allwöchentlich kehren die Mäd- 


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Morbidität und Mortalität dor Bergarbeiter. 


159 


ohen in ihre Heimatgeroeinde zurück, und der junge Bergmann ist, wenn er die 
Ehe eingehen will, auf diese, durch die frühzeitige Fabrikarbeit in der Entwicke¬ 
lung gehemmten, möglicherweise auch schon den Keim der Tuberoulose in sich 
tragenden Individuen angewiesen. Dass aus solchen Ehen eine weniger wider¬ 
standsfähige Nachkommenschaft resultirt, ist leioht erklärlich. Demselben Uebel- 
stande sind die Mitglieder des Worm Knappschaftsvereins ausgesetzt, die Morbi- 
ditäts- und Mortalitätsverhältnisse sind in ihm allerdings bei Weitem nicht so 
schlecht, als im Eschweiler Knappschaftsverein, jedenfalls aber bedeutend 
schlechter, als im Saarbrücker Knappschafts verein, dessen Mitglieder diesem 
Uebelstande nicht ausgesetzt sind. 

Die schlechten Morbiditäts- und Mortalitätsverhältnisse im Esohweiler K.-V. 
sind, wahrscheinlich wenigstens, theilweise auoh daduroh bedingt, dass die Mit¬ 
glieder desselben in einer sehr alten Grube beschäftigt waren, die immer mehr 
ihrer Erschöpfung entgegenging und im Laufe dieses Jahres vollständig ausser 
Betrieb gesetzt worden ist. Durch den immer weiter fortschreitenden Abbau sind 
die Verhältnisse in der Grube immer complicirtere geworden und sind möglicher¬ 
weise auch die hygienischen Anforderungen auf immer grössere technische 
Schwierigkeiten gestossen. Eine woitere Erklärung für die schlechten Morbidi¬ 
täts- und Mortalitätsverhältnisse im Esohweiler K.-V. ergiebt sioh aus meiner 
Tabelle VII. Diese Tabelle ist auch aus den Jahrgängen 1874—1884 zusammen¬ 
gestellt und erstreckt sich auf die ständigen Mitglieder der einzelnen Knapp¬ 
schaftsvereine. Aus derselben ergiebt sich, dass im Esohweiler K.-V. 27,75 pCt. 
sämmtlioher ständiger Mitglieder das 45. Lebensjahr überschritten haben, im 
Saarbrücker K.-V. nur 7,56 pCt., im Worm K.-V. 19,34 pCt. Eschweiler be¬ 
schäftigt also vielmehr ältere Leute als wie die anderen Knappschaftsvereine und 
zwar nicht etwa deshalb, weil in den anderen Knappsohaftsvereineu die Arbeiter 
früher sterben, sondern weil sie in Eschweiler später invalidisirt werden. Es hat 
nämlich Saarbrücker K.-V. p. 1000 Mitglieder und Jahr — im Alter von 36 bis 
45 Jahren 15,32 Invalide, im Alter von 46—55 Jahren 128,11 Invalide. Worm 
K.-V. im Alter von 36—45 Jahren 13,64 Invalide, im Alter von 46—55 Jahren 
66,53 Invalide und Eschweiler K.-V. im Alter von 36—45 Jahren 6,96 Inva¬ 
lide, im Alter von 46—55 Jahren 31,61 Invalide. Die hier angegebenen Zahlen 
für Invalidität sind denselben Jahrgängen 1874—1884 entnommen, die auch 
der Mortalitätstabelle nach Altersklassen zu Grunde liegen. Ich habe sie nioht 
in die Tabelle aufgenommen, weil sie nioht direct zum Thema gehören. Da es 
zweifellos feststeht, dass mit zunehmendem Alter die Gefahr zu erkranken wächst, 
namentlich in einem so mannigfachen Schädlichkeiten ausgesetzten Berufe, wie 
dem Bergarbeiterberufe, so ist dem oben erwähnten Umstande eine nicht unwe¬ 
sentliche Bedeutung für die schlechten Morbiditäts- und auch Mortalitätsverhält¬ 
nisse im Eschweiler K.-V. zuzuschreiben. 

Wenn ich die einzelnen Knappschaftsvereine nach dem Prooentsatz der von 
ihnen beschäftigten, über 45 Jahre alten Mitglieder gruppire, so erhalte ich naoh 
Tabelle VII die Reihe: 

Saarbrücken . . . 7,56 pCt. 

Siegen. 9,64 pCt. 

Deutz. 14,90 pCt. 

Worm. 19,34 pCt. 


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IGO 


Dr. Körfer, 


Brühl. 26,18 pCt. 

Eschweiler .... 27,75 pCt. 

und gruppire ich nun die Knappschaftsvereine nach ihrer Morbidität in Tabelle II, 
so erhalte ich die Reihe: 


Saarbrücken . . . 

634 

Siegen. 

636 

Worm. 

745 

Deutz. 

844 

Brühl. 

888 

Eschweiler .... 

1004 


Wenn Worm und Deutz ihre Stellen tauschen, sind die beiden Reihen ganz 
identisch, der Einfluss des Alters ist also unverkennbar. 

Aus den von mir gegebenen Zahlen für Typhus und Wechselfieber bin ich 
nicht in der Lage Schlüsse zu ziehen, ob sie in Zusammenhang mit der Berufs¬ 
arbeit stehen, weil ich über die diesbezüglichen localen Verhältnisse nicht hin¬ 
reichend orientirt bin. Ich möchte jedoch bei dieser Gelegenheit nicht unerwähnt 
lassen, dass vor einigen Jahren (1885—1888) unter den Mitgliedern der Worm- 
knappschaft sich eine Reihe von Infectionen mit Ankylostomum duodenale ge¬ 
zeigt haben. Eingeschleppt wurde die Krankheit aus Belgien durch einen Ar¬ 
beiter, welcher eine Zeit lang in einer belgischen Grube gearbeitet hatte, auf 
welcher Erkrankungen an Ankylostomum vorgekommen waren. Die Krankheit 
hat keine weitere Verbreitung gefunden, da sehr bald geeignete Gegenmassregeln 
getroffen wurden. Es sind im Ganzen 39 Erkrankungen vorgekommen, die letzte 
datirt vom 5. Deoember 1888 (Organ der Knappschaftsberufsgenossenschaft für 
das Deutsche Reich. IV. Jahrgang, No. 4. Dr. Greven: „Eine Wurmkrankheit 
bei Bergleuten“). 

Um die von mir gewonnenen Zahlen mit denen von Hirt (Hirt u. Merkel, 
Handbuch der Hygiene und Gewerbekrankheiten) vergleichen zu können, gebe ich 
in der nun folgenden Tabelle (I) eine Berechnung meiner Zahlen auf 100 Er¬ 
krankungsfälle. 



Innere 

Krank¬ 

heiten 

Aeussere 

Krank¬ 

heiten 

Krankh. 
d Ath- 
mungs- 
organe 

1 

Tubercu-I 

lose 

Emphy¬ 

sem 

Lungen¬ 

entzün¬ 

dung 

Bronchial¬ 

katarrh 

Rheuma¬ 

tismus 


pCt. 

pCt. 

pCt. 

pCt. 

pCt. 

pCt. 

pCt. 

pCt. 

Steinkobienarbeiter . 

61,9 

38,1 

21,5 

1,1 

1 s 

1,6 

15,4 

16,5 

Erzarbeiter. 

65,3 

34,7 

22,6 

1,5 

0,8 

2,4 

15,3 

14,8 

Braunkohlenarbeiter 

72,5 

27,5 

37,7 

0,3 

— 

1,5 

31,3 

12,5 

Nach Hirt (S. 171) f. Oberschlesien 

22,8 

0,8 

0,9 

4,7 

16,4 

— 

f. Hörde 


23,0 

U 

— 

3,6 

18,3 

— 


Was speciell die Verbreitung der Phthise unter den der Einathmung von 
Kohlenstaub ausgesetzten Arbeitern anbelangt, so giebt Hirt für dieselbe die 
Zahl 1,3 pCt. sämmtlicher Erkrankungsfälle an; für Arbeiter, die der Inhalation 


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Morbidität and Mortalität der Bergarbeiter. 


161 


von anorganisohemStaub aasgesetzt sind 26pCt; der Inhalation von organischem 
Staub 17 pCt., keinem Staub 11 pCt. 

Um den Vergleich dieser Zahlen mit den meinigen vollständig zu machen, 
wäre es nothwendig, die den Hirt’schen Zahlen zu Grunde liegenden Zahlen für 
die Morbidität im Allgemeinen zu kennen. 

Die von mir gewonnenen Mortalitätszahlen ergeben als Durchschnitt auf 
1000 Mitglieder pro Jahr: 

bei den Steinkohlenbergarbeitern. 14,25 Todte 

(wenn ioh Eschweiler nicht mit in Rech¬ 
nung setze 10,82 Todte) 

bei den Braunkohlenbergarbeitern. 11,26 „ 


bei den Erzbergwerkarbeitern. 12,13 „ 

im Oberbergamtsbezirk Bonn. 10,23 „ 


in sämmtliohen preussisohen K.-V. 9,71 „ 

Nach Schlookow beträgt die Sterblichkeit p. 1000 Mitglieder und Jahr: 

bei den Steinkohlenbergarbeitern. 11,02 Todte 

bei den Braunkohlenbergarbeitern. 8,60 „ 

in sämmtliohen preussisohen K.-V. 10,78 „ 

Die Differenz zwisohen den für sämmtliche preussische Knappsohaftsvereine 
von mir und von Schlockow angegebenen Zahlen erklärt sich daraus, dass 
Schlockow’s Zahl die Jahrgänge 1869—1878 zu Grunde gelegt sind, der 
meinigen die Jahrgänge 1874—1888. Aus den Jahrgängen 1869—1875 erhält 
Schlockow eine Mortalität von 11,44. 

Die von 1875—1878 eingetretene Abnahme in der Sterblichkeit hat also 
bis 1888 weitere Fortschritte gemacht. Der grösseren Morbidität im Oberberg¬ 
amtsbezirk Bonn gegenüber sämmtliohen preussisohen Knappschaftsvereinen zu¬ 
sammen entspricht auoh eine grössere Mortalität. 

Wie aus Tabelle II ersichtlich, ist die Zahl der tödtliohen Verletzungen 
keine unbedeutende. 

In allen preussischen Knappschaftsvereinen fanden 29,2 pCt. sämmtlicher 
Gestorbenen durch Verletzung den Tod. Im Oberbergamtsbezirk Bonn 18,6 pCt. 

Diese Zahlen berechtigen noch nicht zu dem Sohlass, dass im Oberberg¬ 
amtsbezirk Bonn die Sterblichkeit durch Verletzungen eine geringere ist, wie in 
den preussisohen Knappschaftsvereinen zusammen, weil ja die Gesammtmorta- 
lität im rheinischen Gebiet eine grössere ist. 

Trotzdem entspricht dieser Schluss den thatsäohliohen Verhältnissen. Aus 
Tabelle 2 ist ersichtlioh, dass 

auf 1000 Mitglieder 

in Bonn.1,77 Todte durch Verletzung 

in sämmtliohen preuss. K.-V. 2,16 * „ „ 

kommen. 

Dasselbe Resultat ergiebt sich auch aus Tabelle 5. Tabelle 5 zeigt ferner, 
dass in Steinkohlenbergwerken die meisten tödtliohen Verletzungen Vorkommen, 
es folgen die Braunkohlenkergwerke und an dritter Stelle die Erzbergwerke. 

Vlcrtaljahntohr. f. ger. Med. Dritte Folge. V. 1. 11 


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162 . Dr. Körfer, 

Dasselbe Resultat ergiebt sioh auch aus Tabelle II: 

auf 1000 Mitglieder 

Steinkohlenbergwerke . . . 2,22 Todte durch Verletzung 

Braunkohlenbergwerke ... 1,16 „ „ „ 

Erzbergwerke. 1,09 „ „ 

Tabelle 5 zeigt aber ferner noch, dass beim preussischen Bergbau die 
Sterblichkeit durch Verletzungen im stetigen Steigen begriffen ist. 

1850 betrug sie 1,680 pM. Mitglieder 

1860 „ „ 1,910 pM. „ 

1866 „ „ 2,167 pM. „ 

1888 ,, ,, 2,500 pM. ,, 

Tabelle VII giebt ein Bild über die Vertheilang der Sterblichkeit auf die 
verschiedenen Altersklassen. 



Es sterben von 1000 Mitgliedern pro Jahr im 



Alter von Jahren 



16-25 

26-35 

86—45 

46-55 

über 56 

beim Steinkohlenbergbau... 

4,41 

5,74 

11,64 

23,74 

37,36 

beim Braunkohlenbergbau 

1,99 

3,89 

12,24 

13,28 

29,47 

leim Erzbergbau . 

7,93 

9,21 

15,18 

20,76 

50,30 

Naoh Schlockow (S. 184/85): 



beim Steinkohlenbergbau... 

6,93 

8,71 

12,46 

21,90 

34,14 

beim Braunkohlenbergbau 

4,89 

5,95 

8,51 

13,33 

29,16 


Hieraus kann man den Sohluss ziehen, dass die in Braunkohlenbergwerken 
beschäftigten Arbeiter das höohste Lebensalter erreichen, die im Erzbergbau be¬ 
schäftigten das niedrigste, zwischen beiden stehen die Steinkohlenbergarbeiter. 
Dieser Schluss wird auoh bestätigt durch das Verhältniss, in welchem die Anzahl 
der in den einzelnen Lebensaltern beschäftigten Mitglieder zu einander steht, 
wie dies aus Tabelle VII ersiohtlioh ist. Aus den diesbezüglichen Zahlen geht 
hervor, dass das 45. Lebensjahr überschritten haben 


im Braunkohlenbergbau . . . 

bO 

oo 

►ö 

O 

der Arbeiter 

im Steinkohlenbergbau . . . 

18,21 pCt. 


im Erzbergbau. 

12,27 pCt. 


Naoh Schlockow 

(S. 184/85): 


im Braunkohlenbergbau. . . 

20,03 pCt. 

>> >> 

im Steinkohlenbergbau . . . 

11,27 pCt. 

n 5) 

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Original fro-m 

UNivERsrrv of iowa 






Morbidität and Mortalität der Bergarbeiter. 


163 




Es starben von 1000 Mitgliedern pro Jahr 
im Alter von Jahren 



16—25 

1 26-35 

36—45 

46-55 

über 56 

1 . 

Im Oberbergamtsbezirk Bonn. 

4,66 

7,73 

12,99 

21,35 

39,58 

2. 

In sämmtlichen preussischen E.-V. 
18G8-1875 . 

8,09 

9,20 

13,52 

23,60 

41,74 

3. 

In sämmtlichen preussischen K.-V. 
1868—1878 . 

6,93 

8,66 

13,00 

22,13 

89,46 

4. 

In sämmtlichen preussisohen K.-V. 
1874—1884 . 

5,56 

7,60 

12,03 

19,55 

34,96 

5. 

Männliche Bevölkerung Preussens 

9,22 

10,27 

14,37 

22,90 

— 

6. 

Bergarbeiter in England. 

8,08 

9,84 

12,45 

20,47 

— 

7. 

Männliche Bevölkerung in England 

7,52 

9,74 

12,93 

18,48 

— 


1 und 4 aus Tabelle VII, 2 und 3 nach Schlookow, S. 188/89, 

5 nach Schlockow, S. 192, 6 nach Schlockow, S. 115. 

7 nach Enlenbnrg, Re&lencyclopädie der ges. Heilkunde. Bd. 13, 
S. 423. 


Aus diesen Zahlen geht einerseits die sohon vorher constatirte Thatsache 
hervor, dass im Oberbergamtsbezirk Bonn die Mortalitätsverhältnisse nngünstiger 
sind, als in sämmtlichen preussisohen Oberbergamtsbezirken zusammen, sie be¬ 
stätigen ferner auoh noch das sohon vorher erwähnte Resultat, dass in den Mor¬ 
talitätsverhältnissen der preussisohen Enappschaftsvereine ein ständiger Fort* 
schritt zur Besserung vorhanden ist. 

Vergleiche ich die Mortalität in den preussisohen Knappschaftsvereinen mit 
derjenigen der gesammten männlichen Bevölkerung Preussens, so ergiebt sich für 
die preussisohen Knappschaftsvereine ein etwas günstigeres Resultat. 

In England sind die Mortalitätsziffern für die gesammte männliche Bevölke¬ 
rung und für die Bergarbeiter ziemlich im Qleiohgewicht, erst nach dem 
45. Lebensjahre tritt eine grössere Sterblichkeit unter den Bergarbeitern auf. 

Der Vergleich zwisohen preussisohen Enappsohaftsvereinen und englischen 
Bergarbeitern No. 2 und 6 ergiebt für letztere etwas günstigere Mortalitäts¬ 
verhältnisse. 

Wie ich am Eingänge meiner Arbeit hervorgehoben habe, geben die von 
mir für den Oberbergamtsbezirk Bonn und für sämmtliohe preussisohe Knapp¬ 
schaft« vereine gewonnenen Zahlen nur ein annäherndes Resultat für Bergarbeiter, 
weil in den von mir benutzten Knappsohaftsberichten Berg- und Hüttenarbeiter 
nicht getrennt sind. Nach Schlockow herrschen aber unter den Hüttenarbeitern 
den Bergarbeitern gegenüber ungünstigere Verhältnisse, sowohl was Morbidität 
als was Mortalität anbelangt. 

Pro 1000 Mitglieder und Jahr ergiebt sioh naoh Schlockow (Seite 169) 
eine Mortalität 

11* 


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164 


Dr. Körfer, 


unter den Hüttenarbeitern .... von 14,45 resp. 13,44 
unter den Steinkohlenbergarbeitern von 11,82 resp. 11,02 

Die von mir gewonnenen Morbiditätsziffern bleiben, wenn ich Eschweiler 
nicht berücksichtige, für sämmtliche Bergarbeiterkategorien unter den Schlockow- 
schen Zahlen für Hüttenarbeiter. 

Pro 1000 Mitglieder und Jahr ergiebt sich nach Schlockow (Seite 232) 
eine Morbidität 

unter den Hüttenarbeitern. von 1020 

unter den Braunkohlenbergarbeitern 
(dienach meinen u. Schlockow’s 
Zahlen die höchste Morbidität auf* 
weisen). von 888 resp. 690' 

Demnach würden sich also im Oberbergamtsbezirk Bonn und in sämmt- 
lichen preussischen Knappschaftsvereinen für die Bergarbeiter die Verhältnisse 
noch günstiger gestalten, als es in meinen Zahlen zum Ansdrnok kommt. 

Ich glaube daher, die bis jetzt gewonnenen Resultate in folgende 
Hauptsätze zusammenfassen zu können: 

1) Die Morbidität im Allgemeinen weist bei den Steinkohlen¬ 
bergarbeitern die günstigsten Verhältnisse auf, es folgen die 
Erzbergarbeiter und an dritter Stelle die Braunkohlenberg¬ 
arbeiter, während 

2) in der Mortalität die Steinkohlenbergarbeiter am ungünstigsten 
gestellt sind, es beruht dieser scheinbare Widerspruch darauf, 
dass bei den Steinkohlenbergarbeitern die tödtlichen Ver¬ 
letzungen nicht unbedeutend häufiger sind. 

3) Die Morbidität wird wesentlich durch das Alter beeinflusst. 

4) Unter den Bergarbeitern im rheinischen Gebiet ist die Mor¬ 
bidität eine grössere als unter sämmtlichen preussischen 
Bergarbeitern zusammen. 

5) Ebenso ist die Mortalität unter den rheinischen Bergarbeitern 
eine grössere als unter sämmtlichen preussischen Bergarbeitern 
zusammen, obwohl^' 

6) die Todesfälle durch Verletzungen unter den rheinischen Berg¬ 
arbeitern seltener sind als unter sämmtlichen preussischen 
Bergarbeitern zusammen. 

7) In der Mortalität lässt sich von 1869—1888 ein stetiger 
Fortschritt zur Besserung constatiren, während 

8) die Zahl der tödtlichen Verletzungen im preussischen Berg¬ 
bau von 1850—1880 stetig im Steigen begriffen ist. 

9) Die Sterblichkeit unter den Bergarbeitern in Preussen zwischen 


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Morbidität and Mortalität der Bergarbeiter. 


165 


dem 16. and 55. Lebensjahr ist geringer als unter der gleich¬ 
altrigen männlichen Bevölkerung Freussens. 

10) Der Bergarbeiterberuf ist demnach, was Schädigung von Ge¬ 
sundheit und Leben anbelangt, der hygienisch günstiger ge¬ 
stellten Hälfte von ßerufsarten zuzuzählen, obwohl die Ge¬ 
fahren, die Gesundheit und Leben des Bergarbeiters bedrohen, 
nicht zu unterschätzen sind. 

Die mannigfachen, Gesundheit and Leben des Bergarbeiters bedrohenden 
Gefahren haben schon lange die Aufmerksamkeit des Staates auf sich gelenkt, 
und wir finden daher in Preussen schon seit langen Jahren diejenigen, das Wohl 
des Arbeiters bezweckenden Wohlfahrtseinrichtungen in der Montanindustrie ver¬ 
wirklicht, die erst in den letzten Jahren mehr oder weniger für die gesammte 
arbeitende Klasse der Bevölkerung Gesetzeskraft gewonnen haben. Hierzu ge¬ 
hören staatliche Beaufsichtigung der Betriebe durch die Bergrevierbeamten, 
Krankenkassen, Unfallversicherung, Invaliditätsversicherung. 

§ 135—139 der Gewerbeordnungs-Novelle verbieten die Beschäftigung von 
Arbeiterinnen und von Kindern unter 12 Jahren unter Tage. Kinder von 12 bis 
14 Jahren dürfen im Maximum nur 6 Stunden unter Tage beschäftigt werden. 
Für jugendliche Arbeiter von 14—16 Jahren ist eine 10 ständige Arbeitszeit 
als Maximum festgesetzt. Ausserdem ist für regelmässige Pausen vorgesorgt, und 
ein Termin für Anfang und Ende der Arbeit festgesetzt. Die Verwendung 
jugendlicher Arbeiter untersteht ferner noch einer besonderen polizeiliohen Mel¬ 
dung und Gontrolle. 

Ausser diesen theilweise auch für die gesammte arbeitende Klasse der Be¬ 
völkerung Geltung habenden polizeilichen Bestimmungen existirt noch eine Reihe 
speciell für den Bergbau geltender Vorschriften, die theilweise im allgemeinen 
Berggesetz und in besonderen Ministerialerlassen enthalten, theilweise von den 
einzelnen Oberbergämtern in besonderen Polizeiverordnungen niedergelegt sind, 
und entweder für den ganzen Bezirk Geltung haben oder für einzelne Betriebe 
besonders erlassen sind. Dieselben bezwecken zum grössten Theil die Verhütung 
von plötzlichen Unglücksfällen und sind mehr bergpolizeilicher als sanitätspoli- 
zeilioher Natur. Es gehören hierzu die Bestimmungen über Sicherung der Sohäohte 
und Bremsberge, über den Gebrauch der Sioherheitslampe, überVerwendung und 
Aufbewahrung von Sprengstoffen etc. Viel wichtiger als diese auf die Verhütung 
von plötzlichen Unglücksfällen hinzielenden Bestimmungen ist für die Sanitäts¬ 
polizei die Frage, wie können für den Bergarbeiter die erst aus dauerndem Ver¬ 
bleiben in seiner Berufsthätigkeit resultirenden Gesundheitsschädigungen mög¬ 
lichst vermindert werden. 

Wie ich schob hervorgehoben habe, ist der grösste Feind des Bergmanns 
die Beschaffenheit der Luft in den Bergwerken und wird daher auch vom sani¬ 
tätspolizeilichen Standpunkte aus vor Allem die Frage zu erörtern sein, welche 
Anforderungen sind an die Luft in den Bergwerken zu stellen, und an zweiter 
Stelle, wie kann den gestellten Anforderungen auf technischem Wege Genüge ge¬ 
schehen. Nach Pettenkofer muss man eine Luft mit 1 pM. Kohlensäuregehalt 


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166 


Dr. Körfer, 


in Räumen, die von vielen Menschen gleichzeitig benutzt werden, als verdorben 
bezeichnen, und es wird eine solohe Luft auch von jedem, der einen solchen 
Raum betritt, als verdorben empfanden. In Bergwerken ist der Gehalt der Laft 
an Kohlensäure ein bedeutend höherer, er stellt sich im Mittel vor Ort auf 3 bis 
4 pM., ohne dass vom Bergmann eine solche Luft unangenehm empfunden wird, 
selbst eine Luft von 10 pM. Kohlensäuregehalt kann nach Schlockow in Stein¬ 
kohlenbergwerken eingeathmet werden, ohne dass ausgesprochenes Uebelbefinden 
eintritt. Der auffallende Unterschied, weshalb in dem einem Falle ein viel ge¬ 
ringerer Gehalt an Kohlensäure unangenehm empfunden wird, in dem anderen 
ein viel höherer nicht, beruht darauf, dass, wie ich oben hervorgehoben habe, 
die Kohlensäure in den Bergwerken nur zum geringsten Theile von dem Ath- 
mungsprocess der Menschen und Thiere herrährt, und Vermehrung der Kohlen¬ 
säure und Verminderung des Sauerstoffs nioht gleichen Schritt halten. Der 
Kohlensäuregehalt ist daher auch nicht der allein massgebende Factor für die 
Beurtheilung der Grubenluft, es kommt ausserdem noch der Gehalt an den oben 
sohon erwähnten Verunreinigungen hinzu. Man hat auch von jeher das Bedürf¬ 
nis nach Ventilation der Bergwerke empfanden und gerade diesem Punkte die 
weitgehendste Aufmerksamkeit geschenkt. Während früher der Fahr- und För¬ 
derschacht gleichzeitig als einziger Wetterschaoht benutzt wurde, und man in 
diesem die natürliche Ventilation durch Anbringen von Wetteröfen, Wassertrom¬ 
meln etc. künstlich zu erhöhen suchte, ist man allmählich immer mehr dazu 
übergegangen, besondere Wetterschächte oder, wo die Verhältnisse es gestatten, 
Wetterstollen anzulegen, duroh welche die verbrauchten Wetter ihren Abzug 
finden, und zwar indem, je nach dem in dem betreffenden Bergwerk herrschen¬ 
den Ventilationsprinoip, die verbrauchten Wetter duroh auf mechanischem Wege 
in die einzelnen Stollen hineingepresste, unverdorbene Luft herausgedrückt wer¬ 
den, oder durch in oder über dem Wettersohacht angebrachte Ventilatoren 
(Wetterräder etc.) angesogen werden. Letzteres Princip, das Saccionsprincip, 
erfreut sich einer viel weiteren Verbreitung. Stellenweise finden sioh auch das 
Succions- und Pulsionsprincip combinirt in Anwendung, und letzteres wird dann 
benutzt, um besonders gefährdete Punkte in noch ausgiebigerer Weise mit guter 
Luft zu versorgen. 

Nach dem in neuerer Zeit herausgegebenen Hauptberioht der preussisohen 
Schlagwettercommission (S. 229) soll das Wetterquantum in Sohlagwettergruben 
pro Kopf der grössten unterirdischen Belegschaft in der Minute 2 cbm betragen, 
wobei ein Pferd = 4 Mann gerechnet wird. Um dies zu erreichen, sollen die 
Wetterschächte möglichst weit angelegt werden und die Hauptwetterwege einen 
Querschnitt von mindestens 3 qm erhalten, damit nicht bei geringerem Quer¬ 
schnitt die Wettergeschwindigkeit eine zu grosse wird, und dadnroh unange¬ 
nehmer Zug entsteht. Die Wettergesohwindigkeit soll im einziehenden Strome 
240 m, im ausziehenden 360 m pro Minute nioht überschreiten. Die Luft im 
ausziehenden Wetterstrome soll einen Gehalt an Kohlensäure -{- Grubengas von 
17a pCt. nicht übersteigen. Gesetzlich feststehende Normen für die Beschaffen¬ 
heit der Grubenluft existiren einstweilen nicht. 

Um den Bergarbeiter vor den Gesundheitsschädigungen, denen er 
durch häufigen Tcmperaturwechsel ausgesetzt ist, zu schützen, wird 


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UMIVERSITY OF IOWA 



Morbidität and Mortalität der Bergarbeiter. 


167 


wohl vor Allem eine passende Aaswahl der Kleidung das geeignetste 
Mittel sein. Man sollte den Bergarbeitern anempfehlen, wollene Unter¬ 
kleider oder wenigstens Hemden zu tragen. Da dieselben aber dem 
Arbeiter, weil zu warm, bei der Arbeit unbequem sind, so wäre viel¬ 
leicht der Versuch zu machen, die Arbeiter zu bewegen, vor Ort das 
wollene Hemd mit einem leichteren leinenen Arbeitshemd zu ver¬ 
tauschen, und sich erst wieder beim Verlassen der Arbeitsstätte mit 
dem wollenen Hemd zn bekleiden, und in diesem wieder den Weg 
zum Schacht und die Ausfahrt zu machen. Die Zechenverwaltungen 
hätten dafür zu sorgen, dass der Weg über Tage vom Schacht zu 
den Wasch- und Ankleideräumen gegen Zugwind geschützt eventuell 
im Winter erwärmt ist. 

Geeignete Wasch- und Ankleideräume sollten auf jeder Zeche 
vorhanden sein. Es würde sich vielleicht empfehlen, die stellenweise 
noch ziemlich primitiven Wascheinrichtungen dahin umzuändern, dass 
jeder Bergmann Gelegenheit hat, sich nach der Schicht seinen ganzen 
Körper vollständig zu reinigen. Am vollkommensten und wohlfeilsten 
würde diesem Bedürfnis Genüge geschehen, wenn eine hinreichende 
Anzahl von Warmwasserbrausen vorhanden wäre. 

In den Wasch- und Ankleideräumen wäre noch ganz besonders 
auf das Aufstellen von mit Wasser gefüllten Spucknäpfen zu sehen, 
und die Arbeiter anzuhalten, sich dieser bei der nach dem Waschen 
meist reichlicheren Expectoration zu bedienen. 

Um eine überflüssige Anstrengung der Körperkräfte zu vermeiden, 
sollte den Arbeitern Gelegenheit gegeben werden, sich zur An- und 
Ausfahrt der Seilfahrt zu bedienen, und sollte die Benutzung von 
Fahrten und Fahrkünsten gänzlich abgeschafft werden. 

Von grosser hygienischer Wichtigkeit, speciell auch für den Berg¬ 
arbeiter, ist die Wohnungs- und Wasserversorgungsfrage. 

Abgesehen von den im Allgemeinen an eine gesunde Wohnung 
zu stellenden Anforderungen, sollte beim Anlegen von Bergarbeiter¬ 
wohnungen darauf Rücksicht genommen werden, dass dieselben nicht 
in allzu grosser Nähe der Schächte liegen, denn einerseits ist in der 
Nähe der Schächte die Luft durch die ausziehenden Wetter und durch 
den unvermeidlichen Staub verschlechtert, andererseits ist der Berg¬ 
mann alsdann gezwungen, sich auf dem Heimwege nach gethaner 
Schicht einige Zeit in frischer Luft zu bewegen. Ebenso sollte ein 
allzuweit entfernt Wohnen vermieden werden, damit keine überflüssige 
Ausnutzung der Körperkräfte auf dem Wege von und zum Schacht 


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168 


Dr. Körfer, 


eintritt. Die Häuser sollten auch nicht in enge Dorfstrassen zu¬ 
sammengedrängt sein, sondern durch kleine Gärtchen von der Strasse 
und von einander getrennt sein, dadurch würde einerseits das Haus 
luftiger werden, andererseits der Arbeiter Gelegenheit haben, sich 
nach der Arbeit, indem er seinen Garten selbst bestellt, möglichst 
viel in frischer gesunder Luft aufzuhalten. 

Was die Wasserversorgung anbelangt, so hat dieselbe in Berg¬ 
werksbezirken häufig mit grossen Schwierigkeiten zu kämpfen, denn 
durch den Bergbau werden dem Grundwasser Abflusswege in die Tiefe 
eröffnet, und infolge dessen versiegen die Brunnen. Die Anlage eines 
diesen Verhältnissen entsprechenden Brunnens ist natürlich mit grossen 
Schwierigkeiten und Kosten verknüpft, und die Folge davon ist, dass 
die Anzahl der Brunnen eine sehr geringe ist, so dass die Bevölke¬ 
rung oft verhältnissmässig weite Wege machen muss, um sich gutes 
Wasser zu verschaffen. Die Folge davon ist, dass einerseits mit dem 
Wasser sehr sparsam umgegangen wird und andererseits schlechtes 
Wasser, Halden-, Gruben- oder Regenwasser benutzt wird. Es sollte 
daher darauf gesehen werden, dass allenthalben genügendes und leicht 
zu erreichendes Wasser vorhanden ist, und dies eventuell durch An¬ 
lage von Wasserleitungen ermöglicht werden. 


Literatur. 

Zeitschrift für Bergbau-, Hütten- und Salinenkunde. Bd. 23—37. 
Schlockow, Gesundheitspflege und medicinische Statistik beim preussischen 
Bergbau. 

Hirt und Merkel, Handbuch der Hygiene und Gewerbekrankheiten. 
Eulenburg, Realencyolopädie der gesammten Heilkunde. Bd. 2 und 13. 
Hasslacber, Hauptbericht der preussischen Schlagwettercommission. 


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Morbidität und Mortalität der Bergarbeiter. 


169 


Tabelle T. 



Summe der beschäftigten 
Mitglieder 

Summe der inneren 
Krankheiten 

Tuberculose 

Emphysem j 

bC 
P 

P 

T? 

P 

:p 

N 

-♦-» 

P 

<V 

g 

Cj 

bt 

P 

P 

* 

1 

Bronchialcatarrh 

C 

V 

•'P 

<3J £ 

-P rt 
J* t*. 
P »r 
ca £ 

^ ,a 

6 

II 

CA 

Rheumatismus 

Blutarmuth u. Wassersucht 

Wechselfieber 

Typhns 

Summe der äusseren 
Krankheiten 

Verletzungen 

Summe sämmtlicher 
Krankheiten 

Invalide 

durch Verletzung ^ 

natürlichen Todes ^ 

gestorben ® 1 

1874: 


















Saarbrücken 

-21800 

— 

— 


— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 


2607 

13757 

258 

40 

113 

Worin K. 

5532 

2312 

30 

150 

79 

fi64 

1623 

254 

21 

42 

30 

1350 

457 

3662 

36 

15 

Gl 

Ksch weiter K. 

1817 

1121 

29 

70 

12 

80 

24 2 

90 

83 

9 

5 

265 

255 

1386 

22 

4 

29 

Siegen K. 

4328 

1180 

24 

16 

72 

244 

444 

224 

12 

0 

32 

684 

56 

1864 

36 

5 

10 

Deutz K. 

2058 

947 

26 

16 

17 

165 

261 

134 

34 

5 

19 

432 

95 

1399 

12 

3 

15 

Brühl K. 

692 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

375 

3 

0 

7 

1875: 


















Saarbrücken 

•22317 

— 

— 

— 


— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

3023 

16407 

343 

54 

138 

Worm K. 

5513 

1078 

28 

187 

71 

788 

1078 

267 

24 

24 

63 

1440 

508 

4162 

71 

9 

75 

Bscbweiler K. 

1486 

268 

33 

70 

12 

92 

268 

110 

85 

13 

7 

254 

244 

1715 

31 

2 

43 

Siegen K. 

4522 

522 

22 

13 

125 

250 

522 

316 

2 

1 

39 

830 

97 

2350 

30 

6 

56 

Deutz K. 

2100 

299 

29 

21 

18 

197 

299 

149 

31 

4 

28 

514 

83 

1549 

16 

0 

23 

Brühl K. 

550 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 


381 

5 

1 

5 

1876: 


















Saarbrücken 

22859 

10477 

142 

154 

186 

2911 

3811 

2251 

48 

339 

88 

6447 

2910 

16924 

389 

36 

113 

Worm K. 

5132 

2378 

46 

125 

51 

492 

827 

246 

37 

28 

23 

1492 

617 

4162 

46 

15 

82 

Kschweiler K. 

1089 

928 

28 

81 

14 

77 

240 

60 

45 

11 

5 

150 

150 

1715 

53 

2 

18 

Siegen K. 

4634 

# 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

123 

2350 

51 

6 

36 

Deutz K. 

2229 

1286 

30 

25 

16 

276 

388 

181 

50 

8 

17 

616 

143 

1549 

24 

1 

33 

Brühl K. 

566 

295 

2 

— 

4 

114 

135 

58 

2 

0 

2 

131 

80 

426 

4 

0 

8 

1877: 


















Saarbrücken 

•22613 

10931 

149 

165 

207 

2903 

3858 

2259 

61 

238 

151 

6595 

3010 

17526 

349 

48 

133 

Worm K. 

4911 

2481 

21 

146 

33 

791 

1057 

297 

16 

29 

8 

1408 

550 

3889 

74 

8 

62 

Kschweiler K. 

1126 

937 

37 

63 

16 

74 

225 

55 

59 

8 

4 

220 

214 

1157 

32 

1 

28 

Siegen K . 

4716 

1895 

46 

27 

112 

453 

700 

330 

2 

1 

56 

1030 

117 

2925 

32 

6 

55 

Deutz K. 

2269 

1167 

29 

26 

24 

238 

363 

178 

37 

10 

14 

531 

121 

1698 

20 

2 

29 

Brühl K. 

498 

360 

0 

— 

9 

186 

202 

40 

2 

0 

0 

131 

51 

491 

6 

0 

11 

1878: 


















Saarbrücken 

21597 

9833 

239 

164 

213 

2492 

33S2 

2182 

65 

106 

134 

5865 

2642 

15698 

365 

39 

122 

Worm K. 

5072 

2423 

50 

122 

60 

737 

1008 

350 

23 

29 

14 

1491 

592 

3914 

58 

11 

73 

Kschweiler K 

1097 

970 

44 

70 

22 

89 

259 

50 

47 

6 

13 

230 

218 

1200 

19 

0 

33 

Siegen K . 

5255 

2059 

61 

19 

123 

461 

712 

312 

4 

8 

62 

1195 

112 

3254 

52 

6 

73 

Dentz K. 

2249 

1288 

57 

26 

21 

278 

411 

203 

39 

3 

17 

599 

237 

1887 

23 

5 

33 

Brühl K . 

444 

287 

1 

— 

5 

125 

138 

44 

3 

1 

8 

100 

17 

387 

8 

1 

9 


Digitized by Google 


Original frnm 

UMIVERSITY OF IOWA 




























170 


Dr. Körfer, 



Summe der beschäftigten 
Mitglieder 

Summe der inneren 
Krankheiten 

Tuberculose 

Emphysem 

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Summe der Krankheiten 
der Athmungsorgane 

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Krankheiten 

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Krankheiten 

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natürlichen Todes o- 

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187«: 


















Saarbrücken 

21990 

7939 

197 

132 

196 

1989 

2814 

145S 

52 

56 

194 

5290 

2439 

13229 

320 

53 

128 

Worm K. 

5301 

2461 

61 

141 

81 

794 

10961 

314 

24 

19 

10 

1743 

823 

4204 

82 

11 

74 

Eschweiler K. 

1123 

1011 

50 

75 

25 

85 

263 

54 

55 

4 

12 

164 

187 

1175 

15 

4 

44 

Siegen K. 

5451 

2315 

50 

13 

115 

576 

821 

383 

9 

3 

76 

1223 

184 

3538 

42 

4 

37 

Deutz K. 

2319 

1241 

68 

25 

18 

255 

400 

172 

45 

3 

24 

619 

189 

1860 

25 

3 

47 

Brühl K. 

447 

302 

2 

— 

6 

113 

134 

51 

2 

0 

1 

107 

59 

409 

2 

0 

3 

1880: 


















Saarbrücken 

23229 

7952 

261 

177 

220 

1620 

2512 

1565 

61 

36 

198 

5584 

2773 

13536 

259 

47 

142 

Wurm K. 

5398 

2678 

52 

113 

62 

724 

1025 

380 

37 

9 

16 

1484 

739 

4162 

66 

13 

89 

Eschweiler K. 

1084 

620 

41 

58 

10 

58 

192 

45 

25 

4 

14 

150 

147 

770 

13 

2 

35 

Siegen K. 

6102 

2556 

66 

10 

127 

615 

853 

402 

19 

5 

163 

1518 

189 

4074 

50 

10 

74 

Deutz K. 

2390 

1478 

66 

40 

21 

268 

444 

193 

58 

54 

23 

665 

194 

2143 

17 

2 

30 

Brühl K. 

439 

300 

2 

— 

4 

122 

136 

51 

0 

0 

0 

109 

62 

409 

9 

2 

5 

1881: 


















Saarbrücken 

23253 

7161 

173 

144 

193 

1574 

2401 

1549 

53 

37 

133 

5015 

2530 

12176 

269 

45 

123 

Worm K. 

5513 

2475 

40 

94 

63 

839 

1088 

331 

20 

22 

23 

1430 

703 

3905 

58 

13 

56 

Eschweiler K. 

1073 

654 

58 

35 

15 

52 

184 

56 

24 

2 

18 

159 

150 

813 

10 

1 

25 

Siegen K,. 

6266 

2760 

54 

12 

138 

682 

1031 

513 

2 

1 

45 

1605 

343 

4365 

48 

9 

87 

Deutz K. 

2353 

1473 

72 

33 

26 

315 

494 

210 

58 

5 

10 

573 

116 

2046 

24 

5 

27 

BrühlK. 

565 

328 

2 

— 

3 

130 

152 

48 

1 

0 

2 

152 

85 

480 

6 

0 

7 

1882: 


















Saarbrücken 

24249 

8028 

256 

178 

181 

1761 

2642 

1569 

37 

41 

149 

5370 

2685 

13398 

296 

41 

127 

Worm K. 

5721 

2601 

57 

144 

76 

747 

1200 

337 

29 

10 

11 

1447 

652 

4048 

92 

15 

92 

Eschweiler K. 

1217 

730 

68 

43 

14 

64 

210 

68 

28 

0 

22 

162 

199 

892 

14 

2 

24 

Siegen K. 

6845 

2969 

52 

18 

143 

750 

1018 

557 

4 

1 

64 

1736 

802 

4705 

57 

8 

85 

Deutz K. 

2350 

1619 

89 

46 

24 

299 

524 

255 

68 

2 

20 

706 

155 

2325 

24 

3 

38 

Brühl K. 

529 

399 

0 

— 

7 

162 

178 

60 

3 

1 

0 

145 

87 

544 

2 

1 

9 

188»: 


















Saarbrücken 

25657 

9331 

233 

181 

226 

1963 

2904 

2079 

62 

34 

156 

5798 

3175 

15129 

279 

48 

141 

Worm K. 

5809 

2693 

30 

117 

95 

728 

1012 

464 

22 

11 

20 

1680 

836 

4373 

68 

15 

70 

Eschweiler K. 

1082 

759 

55 

58 

29 

89 

248 

56 

20 

0 

19 

257 

245 

1016 

27 

4 

24 

Siegen K. 

7001 

2989 

60 

14 

137 

828 

1112 

567 

2 

1 

62 

1739 

890 

4728 

59 

11 

106 

Deutz K. 

2425 

1608 

84 

58 

22 

381 

600 

1 226 

68 

0 

6 

780 

138 

2388 

27 

2 

41 

Brühl K. 

573 

458 

1 

— 

17 

166 

199 

66 

4 

0 

0 

179 

113 

637 

5 

0 

14 


Digitized by Google 


Original from 

UMIVERSITY OF IOWA 























Morbidität und Mortalität der Bergarbeiter. 


171 



Summe der beschäftigten 
Mitglieder 

Summe der inneren 
Krankheiten 

Tuberculose 

Emphysem 

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Bronchialcatarrh 

Summe der Krankheiten 
der Athmungsorgane 

Rheumatismus 

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Wechselfieber 

Typhus 

Summe der äusseren 
Krankheiten 

Verletzungen 

Summe sämmtlicher 
Krankheiten 

Invalide 

durch Verletzung h 

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natürlichen Todes ^ 

gestorben © 

1884: 


















Saarbrücken 

27151 

_ 

162 

135 

248 

— 


_ 

_ 

_ 

_ 

_ 

3292 

16184 

239 

64 

158 

Worm K. 

5783 

— 

33 

70 

58 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

964 

4700 

84 

13 

32 

Eschweiler K. 

1181 

— 

6 

20 

24 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

277 

1467 

21 

2 

10 

Siegen K. 

6893 

— 

49 

23 

92 

— 

— 

— 

— 

— 

— 


800 

4989 

60 

10 

39 

Deutz K. 

2315 

— 

93 

51 

34 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

129 

2272 

24 

0 

19 

Brühl K. 

807 

— 

— 

— 

8 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

148 

872 

4 

0 

2 

1885: 


















Saarbrücken 

26379 

_ 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

_ 

— 

— 

— 

3218 

16755 

336 

258 

197 
















112 

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Eschweiler K. 

OULV) 

1226 

_ 

— 

— 

— 

— 

_ 

_ 

_ 

_ 

_ 

— 

OOS 

303 

1534 

36 

2 

15 

Siegen K. 

6880 

— 

— 


— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

18 

4833 

77 

5 

62 

Deutz K. 

2430 

— 



— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

97 

2491 

39 

1 

25 

Brühl K . 

893 

— 


— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

180 

977 

2 

0 

7 

1886: 


















Saarbrücken 

25776 


— 

— 

— 

— 

— 

_ 

_ 

_ 

— 

— 

2947 

15433 

397 

35 

166 

Worm K. 

5888 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 


— 

— 

909 

4696 

92 

14 

33 

Eschweiler K. 

1262 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 


— 

— 

208 

1675 

18 

1 

9 

Siegen K . 

6295 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

13 

5067 

103 

9 

67 

Deutz K . 

2408 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

76 

1991 

47 

3 

20 

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3 

9 

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1887: 

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Saarbrücken 

25460 

_ 

— 

— 

— 

— 

— 

_ 

_ 

— 

— 

— 

3159 

15265 

584 

48 

154 

Worm K . 

5672 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

850 

4314 

101 

19 

38 

Eschweiler K. 

1217 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

188 

1730 

20 

2 

13 

Siegen K. 

6059 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

819 

5077 

63 

10 

58 

Deutz K. 

2390 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

71 

1744 

36 

0 

13 

Brühl K . 

1088 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

153 

947 

4 

1 

6 

1888: 


















Saarbrücken 

26775 


— 

— 

— 

— 

— 

- 

_ 

— 

— 

— 

3365 

16239 

479 

92 

136 

Worm K . 

5869 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

944 

4264 

145 

14 

27 

Eschweiler K. 

1108 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

173 

1301 

22 

1 

4 

Siegen K . 

6485 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

1042 

5683 

95 

7 

62 

Deutz K . 

2300 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

205 

2487 

45 

2 

13 

Brühl K . 

1192 

l 


1 

— 

- 1 

— 

— 

— 


— 

— 

— 

178 

943 

10 

4 

8 


Digitized by Google 


Original frurn 

UNIVERSUM OF IOWA 


























































Berechnet aas Tabelle 1, III and IV. 


172 


Digitized by 


Dr. Körfer, 


in Saarbrücken K... 

in Worm K. 

in Eschweiler K. ... 

in Siegen K. 

in Deutz K. 

in Brohl K. 

im Oberbergamts¬ 
bezirk Bonn. 

in sämmtlichen 
preussischen Knapp¬ 
schaftsvereinen .... 


386 

4G8 

754 

401 

578 

672 

Innere Krankheiten 

6,4 

6,4 

25,0 

5,2 

20,0 

2,0 

Taberculose 

6,7 

25,0 

48,0 

2,9 

12,0 

Emphysem 

8,8 

12,0 

14,0 

21,0 

11,0 

13,0 

Lungenentzündung 

fcO M 

1 | «J h (O 05 CO CD 

1 1 -1 OO 05 H 05 W 

Bronchialcatarrh 

129 

201 

204 

144 

211 

329 

Krankheiten der Ath- 
mnngsorgane 

80 

60 

53 

71 

84 

103 

Rheumatismus 

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Blntarmuth und Wasser¬ 
sacht 

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Wechselfieber 

6,5 

4.1 

9.8 
11,8 

7.8 

3.2 

Typhus 

248 

277 

250 

229 

266 

216 

Aeussere Krankheiten 

121 

133 

173 

64 

59 

151 

103 

Verletzungen 

634 

745 

1004 

636 

844 

888 

657 

545 

Krankheiten in Snmma 

14,3 

14,3 

21,9 

9,7 

11,7 

7,1 

10,5 

11,47 

Invalide 

2.63 
2,40 

1.64 
1,27 
0,92 
1,16 

1,77 

2,16 

durch Verletzung h 

o 

5,79 

10,82 

19,46 

10,34 

11,74 

10,10 

8,46 

7,55 

p* 

natürlichen Todes 
gestorben a 


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Original from 

UNIVERSUM OF IOWA 


Auf 1000 Knappschaftsmitglieder kommen pro Jahr: 










Morbidität aod Mortalität der Bergarbeiter. 


173 


Tabelle III. 


Oberbergamtsbezirk Bonn. 


Jahreszahl 

Samme der 
beschäftigten 
Mitglieder 

Verletzte 

Kranke 
in Snmma 

Invalide 

T o i 

durch Ver¬ 
letzung 

d t e 

natürl. 
Todes ge¬ 
storben 

1874 

81585 

7200 

60035 

673 

■ 

710 

1875 

78850 

7971 

55076 

828 


751 

1876 

78808 

7893 

52526 

954 

■ 

654 

1877 

79929 

8116 

511S6 

782 

ui 

651 

1878 

80289 

8212 

52605 

814 

120 

671 

1879 

80935 

8748 

51383 

879 

138 

649 

1880 

88133 

8461 

52496 

710 

131 

764 

1881 

90406 

9220 

54769 

702 

137 

833 

1882 

93186 

9913 

58256 

775 

133 

811 

1883 

93813 

10983 

57687 

861 

143 

916 

1884 

93520 

10638 

62642 

870 

137 

817 

1885 

91700 

8839 

63878 

1091 

318 

841 

1886 

89770 

8588 

63349 

1291 

126 

774 

1887 

92738 

9455 

60036 

1302 

121 

735 

1858 

96947 

10739 

64005 

1260 

172 

789 


Tabelle IV. 


Sämmtliche preussische Knappsohaftsvereine. 


Jahreszahl 

Summe der 
beschäftigten 
Mitglieder 

Verletzte 

Kranke 
in Summa 

Invalide 

T o i 

durch Ver¬ 
letzung 

d t e 

natürl. 
Todes ge¬ 
storben 

1874 

265580 



2531 

578 

2334 

1875 

264372 

— 

— 

2874 

584 

2082 

1876 

263688 

— 

146743 

2852 

610 

1881 

1877 

252015 

— 

142862 

3062 

522 

1906 

1878 

252388 

— 

174318 

2987 

546 

1840 

1879 

253276 

— 

151253 

3170 

598 

1787 

1880 

267267 

— 

152316 

2413 

577 

2191 

1881 

281008 

— 

169000 

2674 

611 

2383 

1882 

294029 

— 

162891 

2749 

674 

2241 

1883 

308283 

— 

166699 

2891 

666 

2559 

1884 

319973 

— 

172345 

3243 

618 

2444 

1885 

331609 

— 

175582 

4293 

864 

2540 

1886 

326373 

— 

181918 

5190 

660 

2261 

1887 

331109 

— 

175191 

5794 

662 

2131 

1888 

342908 

— 

147269 

4378 

744 

2095 


Digitized by 


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Original frnm 

UMIVERSITY OF IOWA 
















174 




Dr. Körfer, 








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Original from 

UMIVERSITY OF IOWA 


Tabelle V. 

Tödtliohe Verletzungen im Oberbergamtsbezirk Bonn. 


Morbidität und Mortalität der Bergarbeiter. 


175 



In den Knapp¬ 
schaftsvereinen 


16-15 

Jahren 


26-35 

Jahren 


Jahren 


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Saarbrücken 


Kschweiler 


des Bezirks Bona 
von ganz Preussen 

Saarbrücken . 


Kschweiler 


des Bezirks Bonn 
von ganz Preussen 

Saarbrücken . 

Won 

Eschweiler 
Brüt 
Siege 
Deut 

des Bezirks Bonn 
von ganz Preussen 

Saarbrücken . 


Kschweiler 


des Bezirks Bonn 
von ganz Preussen 

Saarbrücken . 


Kschweiler 


des Bezirks Bonn 
von ganz Preussen 


25 151 6S01 42 3957 37 885 27 84 3 


48 

9 

40 

3 

32 

2 

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44 

16 

95 

3 

84 

82 

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194 

54 

19 

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4 

149 

2 

35 

2 

96 

8 

02 

5 

81 

89 

147 

208 

25 

15 

79 

4 

34 

0 

76 

0 

>74 

8 

96 

2 

103 

66 

136 

181 

142 

13 

58 

1 

20 

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36 

0 

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13 

84 

3 

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63 

72 

153 

115 

15 

25 

8 

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1 

31 

0 

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11 

61 

7 

66 

76 

58 

170 


4122 

35 

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9 

477 

5 

141 

0 

1006 

33 

434 

3 

14402 

180 

37509 

467 

4031 

41 

418 

10 

394 

7 

112 

2 

866 

15 

445 

3 

13650 

195 

36815 

421 

3957 

37 

489 

11 

318 

2 

105 

1 

980 

14 

437 

9 

13639 

177 

37749 

449 

3804 

41 

845 

9 

240 

2 

90 

0 

1226 

14 

456 

3 

14033 

178 

38005 

471 

3607 

41 

897 

11 

232 

6 

78 

0 

1368 

19 

448 

1 

14394 

181 

40078 

438 


03 66 18507i 133 13639 177 5526 140 1764 65 
36 181 54664 381 37749 449 15948 309 4389 154 


58 170 55642 1 4251400781 438 1164701 287 


1251 

18 

498 

10 

297 

8 

119 

4 

361 

11 

206 

4 

6426 

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27 

123 

5 

256 

5 

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300 

7 

210 

3 

5710 

136 

15827 

332 

885 

27 

154 

9 

209 

3 

84 

0 

306 

4 

203 

7 

5526 

140 

15948 

309 

714 

29 

463 

5 

205 

5 

71 

0 

335 

7 

282 

2 

5855 

127 

15967 

308 

625 

17 

448 

8 

192 

4 

73 

1 

372 

10 

230 

6 

5803 

105 

16470 

287 


173 

3 

173 

4 

128 

3 

60 

2 

76 

5 

80 

5 

959 

78 

363 

188 

123 

2 

115 

0 

103 

7 

53 

0 

53 

2 

89 

6 

834 

81 

405 

137 

84 

3 

132 

0 

70 

4 

49 

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60 

2 

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154 

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2 

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1 

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6 

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78 

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159 

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7 

185 

7 

72 

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2 

82 

7 

881 

83 

644 

148 


Difitized by 


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176 


Dr. Körfer, 


Im Alter von 


In den Knapp¬ 
schaftsvereinen 

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7231 

20 

6857 

40 

3782 

64 

587 

29 

43 

2 


Worm . 

799 

3 

894 

11 

940 

8 

460 

7 

202 

3 

j 

Kschweiler . 

127 

0 

187 

2 

223 

2 

128 

5 

85 

6 

/ 

Brühl . 

125 

0 

110 

0 

85 

1 

81 

0 

45 

0 

1 ^ 

1 [>. 

Siegen . 

1925 

9 

1870 

10 

1070 

12 

535 

7 

51 

3 

l °° 

Deutz . 

771 

2 

616 

5 

453 

7 

222 

3 

75 

9 

1 r " H 

des Bezirks Bonn ... 

17141 

62 

19189 

139 

14267 

209 

5999 

133 

1976 

87 

1 

von ganz Preussen... 

35888 

154 

57369 

410 

40161 

505 

16719 

317 

4695 

178 

• 

Saarbrücken . 

3991 

33 

7390 

46 

5575 

45 

1914 

21 

244 

12 


Worm . 

600 

4 

983 

5 

953 

13 

516 

9 

220 

8 


Kschweiler . 

103 

2 

191 

1 

218 

2 

138 

8 

81 

3 

L 

Brühl . 

116 

1 

113 

1 

86 

1 

73 

1 

48 

1 

u 

Siegen . 

2155 

22 

2093 

24 

1197 

26 

601 

12 

56 

0 

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Deutz . 

717 

4 

650 

6 

468 

3 

233 

5 

101 

0 

- 

des Bezirks Bonn ... 

15122 

102 

20422 

165 

17184 

209 

7858 

154 

2394 

83 


von ganz Preussen... 

34056 

197 

59090 

485 

43921 

529 

19148 

376 

5457 

159 

; 

Saarbrücken . 

4496 

29 

7694 

36 

5296 

36 

1626 

26 

163 

14 


Worm . 

655 

2 

1016 

2 

951 

8 

547 

7 

200 

4 

j 

Eschweiler . 

118 

0 

241 

0 

202 

3 

128 

5 

78 

4 

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Brühl . 

160 

0 

169 

0 

93 

1 

81 

0 

50 

1 

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Siegen . 

2214 

17 

2149 

16 

1229 

29 

617 

7 

57 

3 


Deutz . 

792 

21 

595 

14 

473 

24 

223 

13 

92 

4 

i 

l ^ 

deö Bezirks Bonn ... 

15925 

111 

21018 

164 

17308 

240 

7778 

159 

2398 

92 

j 

von ganz Preussen... 

35401 

224 

60336 

444 

44452 

582 

19227 

355 

5557 

194 

1 

Saarbrücken . 

4569 

20 

7742 

39 

5339 

44 

1647 

28 

176 

9 


Worm . 

680 

4 

1040 

8 

945 

11 

570 

9 

208 

10 

j 

Eschweiler . 

110 

2 

200 

1 

213 

2 

140 

0 

86 

3 

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Brübl . 

144 

0 

142 

1 

94 

1 

75 

1 

51 

4 

QO 

Siegen . 

2428 

11 

2209 

22 

1512 

19 

656 

13 

40 

6 

/ QO 

Deutz . 

849 

12 

561 

5 

436 

4 

227 

6 

93 

3. 

1 

des Bezirks Bonn ‘... 

16001 

95 

21329 

175 

17775 

206 

8075 

156 

2449 

96 

1 

von ganz 'Preussen... 

34525 

190 

61123 

465 

46338 

537 

20379 

380 

5730 

207 

' 

Saarbrücken. 

4450 

24 

7761 

41 

5592 

47 

1798 

38 

192 

3 

\ 

Worm. 

494 

2 

1090 

7 

951 

7 

655 

9 

277 

4 

) 

Eschweiler. 

112 

0 

204 

1 

212 

6 

142 

1 

90 

4 

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Brühl. 

179 

0 

149 

0 

96 

5 

76 

2 

56 

1 

00 

Siegen . 

2480 

27 

2260 

25 

1546 

22 

671 

9 

44 

5 

r 

Deutz. 

813 

5 

567 

5 

491 

4 

254 

3 

99 

1 

\ 

des Bezirks Bonn .. 

15904 

106 

21900 

163 

18274 

237 

8461 

176 

2601 

93 


von ganz Preussen.. 

34814 

197 

64943 

501 

47955 

570 

21078 

402 

5920 

212 

1 


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Original frnm 

UMIVERSITY OF IOWA 

































Morbidität und Mortalität der Bergarbeiter. 


177 


Tabelle VII. 

Im Alter von 


16 — 25 Jahren 


26 — 35 Jahren 


in den Knappschafts- 


vercmen 


waren in den 
Jahren 
1874-1884 
beschäftigt 


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Jahren 
1874—1884 
gestorben 


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Saarbrücken . 

Worm . 

Eschweiler . 

Bröbl . 

Siegen. 

Deutz . 

des Bezirks Bonn ... 
von ganz Prenssen... 


47921 

8435 

1807 

1507 

18840 

7680 

153033 

335636 


27,06 

26,05 

18,65 

29,50 

34,19 

36,80 

25,78 

21,67 


197 

35 

9 

3 

142 

64 

714 

1868 


4,11 

4,15 

4.98 

1.99 
7,54 
8,32 
4,66 
5,57 


waren in den 
Jahren 
1874—1884 
beschäftigt 

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sind in den 
Jahren 
1874—1884 
gestorben 

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70670 

39,91 

434 

6,14 

9366 

29,24 

61 

6,62 

2468 

25,43 

11 

4,47 

1284 

25,14 

5 

3,89 

18949 

34,39 

171 

9,02 

5539 

26,54 

52 

9,39 

197153 

33,21 

1525 

7,73 

573378 

37,02 

! 4355 

7,59 


Im Alter von 


in den Knappschafts¬ 


vereinen 


36 — 45 Jahren 


waren in den 
Jahren 
1874—1884 
beschäftigt 


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sind in den 
Jahren 
1874—1884 
gestorben 


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46 — 55 Jahren 


waren in den 
Jahren 
1874—1884 
beschäftigt 


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sind in den 
Jahren 
1874-1884 
gestorben 


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Saarbrücken. 45105 25,47 431 

Worm. 8211 25,37 97 

Eschweiler. 2729 28,17 37 

Brühl. 980 19,18 12 

Siegen. 12000 21,78 203 

Deutz . 4541 21,76 61 

des Bezirks Bonn . . 154926 26,09 2012 

von ganz Preussen. . 412983 26,66 4969 

ViertelJ»Ur»«clir. f. gor. Mod. Dritte Folge. V. 1. 


9,55 

11,81 

13,55 

12,24 

16,92 

13,43 

12,99 

12,03 


12091 

4464 

1835 

828 

4754 

2240 

67491 

177091 




6,82 

13,79 

18,94 

16,21 

8,63 

10,73 

11,37 

11,43 


. 360 
78 
44 
11 
87 
52 
1441 
3462 


29,77 

17,47 

23,98 

13.23 

18,30 

23,21 

21,35 

19,55 


12 


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Original from 

UNIVERSITÄT 0F IOWA 



















178 


Dr. Körfer, 


Digitized by 


Im Alter von 


in den Knappschafts- 


über 56 Jahren 


waren in den 
Jahren 
1874—1884 
beschäftigt 


vereinen 

überhaupt 

von 100 sämmt- 
licher Beschäf¬ 
tigter 

überhaupt 

von 1000 in der¬ 
selben Alters¬ 
klasse Beschäft. 

Saarbrücken. 

1303 

0,74 

68 

48,35 

Worm. 

1894 

5,55 

43 

22,70 

Eschweiler. 

853 

8,81 

35 

41,03 

Brühl. 

509 

9,97 

15 

29,47 

Siegen. 

555 

1,01 

29 

52,25 

Dentz . 

869 

4,17 

42 

48,34 

des Bezirks Bonn .. 

21121 

3,55 

836 

39.58 

von ganz Preussen.. 

49649 

3,22 

1736 

34,97 


sind in den 
Jahren 
1874—1884 
gestorben 


Gck igh 


Original frn-m 

UNiVERSUY OF IOWA 









(Aus dem chem.-mikroskop. Laboratorium von Dr. Maximilian 
und Dr. Adolf Jolles in Wien): 

Beitrag nr Eitstehaagsarsache toh Canalexplosionen. 

Eine gutachtliche Aeusserung 

von 

Dr. ■»xtmillAn Jolles in Wien. 

In der Naobt vom 21. anf den 22. Februar 1891 fand am 7 2 2 Uhr in 
Wien im Hanse Bnrggasse33 während der Räumung des Hauscanales beim Canal- 
sohacbt eine Explosion statt, wodurch zwei Canalarbeiter schwere Verletzungen 
erlitten. 

Durch die amtlichen Erhebungen wurde nun constatirt, dass am 22. Februar 
gegen Feierabend eine bei der im selben Hause etablirten Knopffabrik der Firma 
Winter u. Adler bedienstete Arbeiterin eine mehr als */ 4 m hohe Bleohkanne, in 
der sioh nach Angabe dieser Arbeiterin die Ueberreste von Benzin, das zum 
Putzen der Knöpfe verwendet wird, mit Wasser verdünnt befand, in den in der 
Nähe des Einganges im Hofe befindlichen Canalschacht gegossen hat. 

Von Herrn Dr. Adolf Baohrach, Hof- und Qerichtsadvocaten in Wien, 
als Vertreter obiger Firma, habe ioh als Sachverständiger den Auftrag erhalten, 
seine fachmännische Ansicht darüber zu äussern, 

1) ob die in der Naoht vom 21. zum 22. Februar 1. J. bei der Canal¬ 
räumung des Hauses Burggasse 33 stattgefundene Explosion auf das 
Ausgiessen von Benzinrückständen in denHausoanal seitens einer 
Bediensteten obiger Firma zurückzuführen sei, oder ob andere Um¬ 
stände die Veranlassung zu derselben abgegeben haben könnten; 

2) ob die Inhaber obiger Firma nach ihrer Beschäftigung oder überhaupt 
nach ihren besonderen Verhältnissen einzusehen vermochten, dass 
das Ausgiessen von so geringen Mengen der Benzinrückstände in den 
Canal für das Leben, die Gesundheit oder körperliche Sicherheit von 
Menschen eine Gefahr herbeizuführen im Stande gewesen sei (§ 335 
St.G.B.). 

12 * 

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Original frnm 

UMIVERSITY OF IOWA 



Einstieg. 


180 


Dr. Jolles, 


Auf Grund dieses Auftrages habe ich am 29. März 1. J. in Gemeinschaft 
mit Herrn Dr. Bachrach einen Localaugenschein des betreffenden Haus- 
canales vorgenommen und gleichzeitig Erhebungen über die näheren, den 
Explosionsverlauf begleitenden Umstände gepflogen, wobei Folgendes constatirt 
wurde. — 

Der Hausoanal, in welchem sämmtliche Abortschläuche einmönden, beginnt 
unterhalb der Kellerräume des linken Seitentractes, in der Gegend des dort be¬ 
findlichen Stiegenaufganges, geht geradewegs bis in die Mitte des Hofes, wo er, 
ein rechtwinkliges Knie bildend, in gerader Richtung fortläuft und schliesslich 
ca. 3—4 m vor dem Hauseingange unter einem grossen, stumpfen Winkel in 
den Strassencanal abbiegt. 



Eingussstelle. 

Explosionsstelle. 

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~ ■ M.13'70 


ki 

aej Schacht II 

Schacht III 

Schacht IV 

■ Schacht I 


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Derselbe besitzt 4 Schächte, zwei grössere, mit grossen Quadersteinen ver¬ 
schlossene, und zwar an seinem Beginne, den sogenannten Canaleinstiegschacht 
(Schaoht 1) und den vor seiner Abbiegung in den Strassenoanal angebrachten 
Ausstiegschaoht (Schacht IV), sowie zwei kleinere mit eisernen Gittern ver¬ 
schlossene Sohäohte, von denen sich der eine (Schacht II) im Hofe, in der Nähe 
ersten Kniebildungsstelle, der andere (Schaoht III) in der Nähe des Hofeinganges 
befindet. 

Schaoht I ist von Schacht II 6,7 m, 

„ II , , , III 9,4 „ 

„ III „ „ IV 13,7 „ und 

„ IV „ „ Strassencanal ca. 3—4 m entfernt. 

Ueber die näheren Umstände, welohe der Explosion vorangingen und sie 
begleitet haben, ist Nachstehendes zur Kenntniss gebracht worden. 

Am Samstag, den 21. Februar laufenden Jahres vor Feierabend, also 4 bis 
5 Uhr Nachmittags, wurden von einer Bediensteten der Knopffabrik Winter u. 
Adler, Namens Aloisia Knarror, durch das Gitter des Canalschachtes No. III ca. 
1V 2 Liter Benzinrüokstände, welche vorher mit 3—4 Litern Wasser verdünnt 
worden waren, in den Hauscanal hineingegossen. 

Diese Benzinrückstände entstammen dem Benzin, weloher in der Fabrik 
zum Entfetten der Metallknöpfe Verwendung findet, und bestehen aus mit Benzin 
durchsetzten Metallabfällen, Tuchfasern, Wiener Kalktheilen und Stearinöl. Da 
der Preis des Benzins ein ziemlich bedeutender ist, pflegt die Fabrik die ver¬ 
wendeten Benzinmengen wieder zu sammeln und den Haupttheil dieses Produotes 
dadurch wieder zu gewinnen, dass sie die specifisch schwerere demselben beige¬ 
mengten Metall- und andere Stofftheile, sioh in den verschlossenen Sammelge- 
fässen am Boden ablagern lässt, und dann die darüber befindliche Benzinsohiohte 
abgiesst. Die dabei zurückbleibendo, mit Benzin nur schwach durchtränkte, 


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4 

Original fram 

UNIVERSmr OF IOWA 


Hauptcanal. 



Gatachtl. Aeusserung über die Entstehungsursache einer Canalexplosion. 181 

innerhalb' 3—4 Wochen eine Quantität von ca. 1 — 1 ( / 2 Liter ergebende, zäh¬ 
flüssige Masse gelangt nach entsprechender Verdünnung mit 3—4 Litern Wasser 
zeitweise zmn Ausgusse und ist daher, abgesehen davon, dass ein grosser Theil 
der in ihr vorhandenen Benzinquantität sich dabei noch verflüchtigt, deren eigent¬ 
licher Gehalt an Benzin als gering zu veranschlagen. 

Nach Aussage des derzeitigen Hausmeisters des Hauses Burggasse 33, Na¬ 
mens Moritz Maiss, haben nun in der Nacht vom 21. auf den 22. Februar]. J. 
drei Canalräumer die Reinigung des Hauscanales vorgenommen, und zwar seien 
zwei derselben mit angezündeten, frei brennenden Kerzen duroh den Schacht I in 
den Canal hineingestiegen und haben die Reinigung nahezu bis zum Canal¬ 
schachte No. IV durchgeführt, während der dritte in Gemeinschaft mit dem Haus¬ 
meister vom Hofe aus sie als Zureicher darin unterstützte. — 

Da der im Hofe befindliche Arbeiter den Deckstein des Schachtes IV zu ent¬ 
fernen allein nicht im Stande war, so stieg der eine von den im Canale selbst 
beschäftigten Canalräumern, den Canalgang wieder zurückpassirend, durch den 
Schacht I wieder in den Hof hinauf und half an der Weghebung desselben. 
Darauf hin begab sich dieser mittels einer Leiter und unter Mitnahme einer frei 
brennenden Kerze in den erölfneten Schacht IV nnd arbeitete daselbst circa 
20 Minuten gemeinschaftlich mit dem inzwischen bis dahin vorgedrungenen 
anderen Canalräumer an der Fortschaffung des Unrathes. — 

Nachdem bereits ein grosser Theil des stark angehäuften Canalinhaltes, der 
dieOeffnung zum Hauptcanal fast vollständig verstopfte, fortgeräumt worden war, 
sei plötzlich unter leichter Detonation eine Explosion in der Richtung vomHaupt- 
oanale aus erfolgt, wobei die beiden Arbeiter schwere Verletzungen davontrugen. 

Des Weiteren habe ich in Erfahrung gebracht, dass die vorbezeich- 
neten Rückstände seit Jahren durch zeitweises Ausschütten in den mit dem 
Hauscanal in Verbindung stehenden Abort fortgeschafft worden seien, ohne dass 
der geringste Unfall sich hierbei jemals ereignet hätte. 

Ausserdem soll nach Angabe des Hausmeisters sowohl, wie des Hausbe¬ 
sitzers an der Uebergangsstelle des Hauscanals in denStrassencanal zu jener Zeit 
eine solohe, die Uebergangsstelle fast gänzlich verstopfende Unrathsfülle ange¬ 
häuft gewesen sein, wie sie sonst nicht vorzukommen pflegt. — 

Ferner soll sowohl während des Canalräumens, als auch während des 
darauffolgenden seitens des Wiener Stadtbauamtes am 23. Febrnar vorgenom¬ 
menen Localaugenscheines auffallenderweise ein Gasgeruch zu verspüren ge¬ 
wesen sein, „wie er in der Nähe älterer Rohrleitungen vorzukommen pflegt“. 

Thatsäohlich soll einige Tage nach der Explosion die Gasgesellsohaft Ver¬ 
anlassung genommen haben, die in der Nähe der Explosionsstelle befindlichen 
Gasröhren duroh neue zu ersetzen. — 

Auf Grund des persönlich vorgenommenen Localaugenscheines 
und des vorgekennzeichneten Thatbestandes, sowie insbesondere der 
den Explosionsvorgang begleitenden Umstände, wie endlich auf 
Grund der Beschaffenheit des in geringer Menge in der Fabrik 
Vorgefundenen Abfallstoffcs bin ich zu dem Schlüsse gelangt, dass 
es nicht nolhwendig sei, anzunehmen, dass die in der Nacht des 


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Original from 

UMIVERSITY OF IOWA 



182 


Dr. Jolles, 


21. Februar erfolgte Explosion durch das Hineinschütten des oben 
gekennzeichneten Benzinrückstandes verursacht sei und stütze diese 
meine Ansicht auf folgende Gründe: 

1. Bekanntlich hat das Benzin einen derartig specifischen Ge¬ 
ruch, dass derselbe schon beim Vorhandensein minimalster Mengen 
wahrgenommen werden muss. Nun wird aber weder von den Canal¬ 
räumern, noch von dem derzeitigen Hausbesorger Moritz Meiss, wel¬ 
cher nach obigen Ausführungen dem ganzen Canalreinigungsprocess 
beigewohnt hatte, etwas über die Beobachtung eines solches Geruches 
ausgesagt, sondern im Gegentheil, wollen Alle übereinstimmend einen 
Gasgeruch wahrgenommen haben, wie er in der Nähe alter Gasrohr¬ 
leitungen aufzutreten pflegt. 

2. Bei der bekannten Flüchtigkeit des Benzins ist es nicht 
gut anzunehmen, dass dasselbe, zumal in so geringer Quantität, sich 
nach Verlauf von 8—9 Stunden unverflüchtigt vorfinden sollte und 
überdies in der Winterszeit, wo bekanntlich ein viel schnellerer Gas¬ 
austausch zwischen der kalten Aussenluft und der warmen Canalluft 
vor sich gehen muss. — 

Zieht man noch die Canalstromgeschwindigkeit in Betracht, wo¬ 
nach die hineingegossenen Abfallstoffe, wenn nicht ganz, so doch zum 
grössten Theile weit weg von der Einwurfstelle in der Zwischenzeit 
fortgeschwemmt sein müssten, so erhellt aus allen diesen Momenten, 
dass während der Canalräumung im Hauptcanal überhaupt kein 
Benzin vorhanden sein konnte. — 

3. Gesetzt den Fall, dass noch geringe Mengen von Benzin im 
Canalgange zurückgeblieben wären — sei es, dass die oben beschrie¬ 
benen Abfallstoffe in Folge ihrer klebrigen Beschaffenheit an der 
rauhen Fläche des Canalbodens haften geblieben wären, sei es, dass 
in Folge der constatirten Verstopfung an der Uebergangsstelle des 
Hauscanales in den Strassencanal die Abfallstoffe nicht fortgeschwemmt 
werden konnten, — so müsste nothwendigerweise bei der leichten Ent¬ 
zündbarkeit des Benzins sofort nach Betreten des Schachtes durch 
die Arbeiter mit brennenden Kerzen unter heftiger Detonation eine 
Explosion erfolgt sein. 

Dies ist aber nicht der Fall gewesen; vielmehr sind nach den 
Ergebnissen des Thatbostandes die Arbeiter mit brennenden Kerzen 
nicht nur längere Zeit im ganzen Canalschlauche, also auch auf der 
13,7 m langen Strecke zwischen Schacht III und Schacht IV, welche 
die durch Canalschacht III eingegossenen Abfallstoffe unbedingt passirt 


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Gutaohtl. Aeusseruog über die Entstebungsursache einer Canalexplosion. 183 

haben mussten, ungefährdet thätig gewesen, sondern haben auch im 
Schacht IV durch 20 Minuten mit offen brennenden Lichtern schadlos 
gearbeitet. — 

4. Auf einen etwaigen Einwurf, dass die Benzinabfallstoffe zwar 
bis in die Einmündungsstelle des Hauscanales in den Strassencanal 
gelangt seien und sich daselbst abgelagert hätten, dass aber nach 
Beseitigung der an dieser Uebergangsstelle vorhanden gewesenen Ver¬ 
stopfung seitens der Arbeiter durch den plötzlich entstandenen Luft¬ 
zug die Benzingase aus dem Strassencanal in den Hauscanal hinein¬ 
gerissen und beim Zusammentreffen mit den brennenden Kerzen zur 
Explosion gelangt wären, ist nun Folgendes zu entgegnen: 

1. Dass, sobald einmal die Abfallstoffe aus dem engen Hausoanal bis zum 
weiten Strassencanal gelangt seien, dieselben auch unbedingt von der daselbst 
herrschenden starken Strömung erfasst und weithin hätten fortgespült wer¬ 
den müssen. 

2. Wären die Abfallstoffe auch durch einen besonderen Zufall an 
dieser Einmündungsstelle in den Strassencanal haften geblieben, so müssten 
bei der leiobten Diffundirbarkoit des Benzins längst seine durch Verflüchtigung 
entstandenen Dämpfe die verstopfenden Hassen durchdringend in den Hauscanal 
hineingelangt, beziehungsweise diffundirt und unmittelbar beim Betreten des 
Hauscanals mit brennenden Kerzen zur Entzündung gelangt sein. 

3. Da das Oanalrohr eine ziemlich grosse Lichtweite besitzt, und weitere 
Entleerungen in demselben nach dem Fabriksschlusse nicht anzunehmen sind, so 
ergiebt sich daraus, dass wenn eine Verstopfung an der Uebergangsstelle des 
Hauscanals in den Strassencanal thatsächlich vorhanden gewesen wäre, dieselbe 
unbedingt schon vor dem Ein würfe der Benzinrüokstände in den Schacht III vor¬ 
gebildet gewesen sein musste. — 

Hieraus würde nun zunächst folgen, dass ein Abfluss der ausgegossenen 
Rückstände unmöglich hätte stattfinden können und dass daher, nachdem beim 
unmittelbaren Eintritt mit den freibrennenden Kerzen in den Einstiegschacht 
und während des Arbeitens im Canalsohlauche selbst keine Entzündung erfolgt 
war, die den Canal etwa erfüllenden Benzindämpfe schon früher zum Aus¬ 
tausch mit der Luft gelangt sein musste. 

Aus den vorstehenden Erwägungen geht hervor, dass die vorerwähnte Ex¬ 
plosion nicht auf die Entzündung von Benzindämpfen zurüokgeführt 
werden könne. 

Bei der Forschung nach den anderweitigen Ursachen der Explosion sind 
nun folgende erklärende Möglichkeiten in Betracht zu ziehen. 

Wie aus dem Thatbestand zu entnehmen, ist sowohl vor der Explosion 
seitens der Canalräumer und des Hausbesorgers, als auch bei dem am nächst¬ 
folgenden Tage vorgenommenen Localaugenscheine seitens des Wiener Stadtbau¬ 
amtes ein auffallender Gasgeruch, wie er in der Nähe alter Rohrleitungen sich 
bemerkbar macht, an der betreffenden Explosionsstelle zu verspüren gewesen. 

Diese auffällige Thatsache liess es daher als möglich erscheinen, dass 


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184 


Dr. Jolles, 


Leuchtgas durch die Wände der alten Gasrohren, ohne dass dieselben gerade 
schadhaft zu sein brauchten, in geringer Menge diffundirt wäre, sich hinter 
der Verstopfungsstelle nach und nach in namhafter Quantität angesammelt hätte, 
nach Beseitigung des Hindernisses in den Schacht IV zurückgeströmt und an den 
brennenden Kerzen zur Entzündung gelangt wäre. 

Unterstützt wird diese in Betracht gezogene Möglichkeit durch die fernere 
auffallende Thatsache, dass die Gasgesellschaft gerade einige Tage nach der Ex¬ 
plosion zu einer Auswechslung der in der Nähe der Entzündungsstelle befind¬ 
lichen Gasröhren geschritten sei. — 

Nichtsdestoweniger sind die vorhandenen Indicien nicht ausreichend, um 
mit Bestimmtheit die Explosion als durch eine Leuchtgasentzündung hervorge¬ 
rufen zu erklären, zumal noch hierboi die weitere Möglichkeit nicht ausser Acht 
zu lassen ist, dass die durch die alten Gasrohrwände diffundirten geringen 
Louchtgasmengeu durch die im Canale herrschende Ventilation zum Abzug 
hätten gelangen müssen. — 

Eine grössere Wahrscheinlichkeit als vorstehendes Moment bietet 
die Annahme, dass die Explosion die Folge einer Entzündung von 
Grubengas (CH 4 ) sei, welches sich hinter der Verstopfungsstelle in 
grösseren Quantitäten angesammelt habe. 

Bekanntlich enthalten die Canalgase (nach Rosenthal: Vor¬ 
losungen über öffentliche und private Gesundheitspflege, 2. Auflage, 
S. 60, und Friedrich Renk: Die Canalgase, deren hygienische Be¬ 
deutung und technische Behandlung. München 1882. S. 11 u. ff.) 
unter anderen ZersetzuDgsproducten, wie Kohlensäure, Ammoniak, 
Schwefelwasserstoff etc. auch grössere Mengen brennbarer Kohlen¬ 
wasserstoffe und insbesondere einen hohen Gehalt an Grubengas 
(Mothan CH 4 ). 

Dieses Gas ist in den Canalgasen in einer um so grösseren 
Menge enthalten, je mehr Fäulnissproducte vorhanden sind und je 
weiter ihre Zersetzung vorgeschritten ist, was gewöhnlich an jenen 
mit Abfallstoffen erfüllten Oertlichkeiten der Fall zu sein pflegt, wo 
sie längere Zeit unbeseitigt liegen bleiben können, so z. B. in Schlamm¬ 
fängen, Canallücken und verstopften Canälen. — 

Das Methan ist jenes Gas, welches in den Bergwerken die so 
gefürchteten „schlagenden Wetter“ erzeugt, indem es sich nämlich 
unbemerkt in grösseren Quantitäten ansammelt und seiner leichten 
Entzündlichkeit wegen durch die leiseste Berührung mit frei brennen¬ 
den Lichtern zur Explosion gelangt. — 

Es ist daher anzunehmen, dass — nachdem durch die Ver¬ 
stopfung des Hauscanals ein regerer Austausch der Strassencanalgase 
mit der Aussenluft nicht habe stattfinden können, das Grubengas 


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Gutaohtl. Aeusserung über die Eutstehangsarsache einer Canalexplosion. 185 

sich in grösserer Menge an dieser Stelle nnd zwar an der dem 
Strassencanal zugekchrtcn Seite angesammelt und nach Wegschaffang 
des Unrathpfropfens anmittelbar beim Zusammentreffen mit den in 
den Händen der Arbeiter befindlichen frei brennenden Kerzen die Ex¬ 
plosion verursacht habe. — 

Diese Annahme gewinnt eine um so erhöhtere Wahrscheinlich¬ 
keit, als die Art und Weise des ganzen Explosionsverlaufcs eino 
ausserordentliche Aehnlichkeit mit den bei schlagenden Wettern zu 
Tage tretenden Erscheinungen aufwies, und man wird daher nicht fehl 
gehen, in der Entzündung des in den Canalgasen enthaltenen und 
sich in grösseren Mengen an der Verstopfungsstelle angesammelten 
Grubengases die alleinige Ursache der in Frage stehenden Ex¬ 
plosion zu erblicken. — 

Was nun die Frage anbelangt, ob die betreffenden Fabriksinhaber 
nach ihrer Beschäftigung oder überhaupt nach ihren besonderen Ver¬ 
hältnissen einzusehen vermochten, dass das Ausgiessen von Benzin- 
rückständen in den Canal für das Leben, die Gesundheit oder körper¬ 
liche Sicherheit von Menschen eine Gefahr herbeizuführen im Stande 
sei, so ist, ohne hierdurch selbstverständlich das Gebiet richterlicher 
Entscheidung berühren zu wollen, von fachmännischen Gesichts¬ 
punkten aus Folgendes in Betracht zu ziehen: 

Allerdings ist dem Benzin eine hohe Entzündbarkeit und damit 
gewissermassen auch eine Gefährlichkeit eigen. Doch 

1) in Rücksicht des Umstandes, dass die zum Ausguss gelangte 
Quantität von Benzinrückständen nur eine sehr geringe ist, 
und diese in Gemässheit der oben näher dargethanen Gründe 
nur einen sehr unbedeutenden Gehalt an Benzin selbst be¬ 
sitzen, — 

2) in Erwägung, dass eino solche geringe Quantität einer so 
flüchtigen Substanz wie Benzin, vertbeilt auf einen verhält- 
nissmässig so grossen Raum, wie den des Canales, schnell 
zur Verflüchtigung und bei der im Canale stattfindenden 
Ventilation rasch zur Fortschaffang gelangt, — 

3) in weiterer Erwägung, dass, nachdem gemäss § 21, 2 der 
Vorschriften über die Bestellung der Unternehmer sämmt- 
licher städtischer Unrathscanäle sowie sämmtlicher Haus¬ 
canäle, Ausgüsse, Wasserläufe und Senkgruben im Gemeinde¬ 
gebiete Wien in der Nähe von industriellen Unternehmungen, 
deren Abwässer schädliche Bestandtheile und eine grössere 


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186 


Dr. Jolles. 


Ansammlung schädlicher Gase enthalten könne — eine Lüf¬ 
tung des Canalschachtes durch einige Stunden vor der Räu¬ 
mung seitens der Canalräumer vorzunehmen sei, die Fabrik¬ 
inhaber in der begründeten Ansicht erhalten bleiben mussten, 
dass durch die Durchführung obiger Vorschrift jede Gefahr 
beseitigt werde, — 

4) in endlicher Erwägung, dass trotz jahrelangen Ausschüttens 
jener Benzinabfalle in den Abort bez. in den Canal niemals 
irgend ein Unfall sich ereignet hat — und andererseits trotz 
ausgedehnter industrieller Verwendung des Benzins in der 
ganzen Literatur, soweit sie den Unterzeichneten zu Gebote 
stand, kein einziger Fall einer ähnlichen Explosion von Ben¬ 
zingasen in einem Unrathscanale angeführt erscheint: 
aus all diesen Erwägungen glaube ich folgern zu müssen, dass unter 
den obwaltenden Umständen die obigen Fabrikinhaber zu glauben 
berechtigt waren, mit der Ausschüttung ihrer Benzinrückstände in 
den Hauscanal keine die Gesundheit von Menschen in irgend einer 
Weise gefährdende Handlung begangen zu haben. — 

Die Anklage gegen die Fabrikinhaber wegen fahrlässiger Tödtung 
(§ 335 des St.G.B.) wurde von der K. K. Staatsanwaltschaft zurück¬ 
gezogen. 


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6 . 


Der Kaapf gegea die Cholera in Berlin. 

Von 

Dr. A. Wernich, 

Ucgierungs- und Mcdicinnlrnth. 

(Fortsetzung aus dem Suppl.-Heft) 


Im Rahmen der durch den vorstehenden Anschlag (vgl. Bd. IV, 
Suppl.-Heft, Seite 168 bis 171) populär gemachten Pläne bewegten 
sich nun die Thätigkeitsäusserungen der verschiedenen Organe. Eifrige 
Gesundheitscomraissionen begannen die einzelnen Häuser auf ihre 
Sauberkeitseinrichtungen zu untersuchen und auf sofortige Beseitigung 
Vorgefundener Missstände hinzuwirken, wobei die Beihälfe der Polizei¬ 
reviere keineswegs immer, ja nicht einmal in der überwiegenden 
Mehrzahl der Fälle, nöthig war. Das Publikum bethätigte seine 
Hauptbeihülfe in Nahrungsmittel-Angelegenheiten. Zahllose Anzeigen 
über angeblich verdächtige Brunnen, über zweifelhafte Nahrungsmittel 
an den Verkaufsstätten, über ünsauberkeit bei der Verabreichung von 
Speisen gingen ein und wurden, wenn sie nicht geradezu kindisch 
und skurril waren, in allen Einzelheiten untersucht und erledigt. 

Den eigentlichen Polizeiorganen fielen neben dem Verfahren mit 
Kranken und Verdächtigen noch mannigfache Aufgaben zu. Die Hof¬ 
räume der Berliner Häuser wurden gewaschen und gescheuert, — 
nach Bedürfniss mit geruchlos machenden Stoffen behandelt; eine ent¬ 
sprechende Aufmerksamkeit wurde sämmtlichen Stallungen und Müll¬ 
aufbewahrungsstätten, — eine noch schärfere dem Hausirhandel mit 
alten Sachen, insbesondere den betreffenden (Trödler-) Läden selbst, 
gewidmet. Eine anschauliche, aus dem praktischen Bedürfniss der 
Executivpolizei direct hervorgegangene Skizze des Benöthigten' lassen 
nachstehende, Seitens des Königlichen Polizeipräsidiums gegebenen 


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Dr. Wernioh, 


„Hinweisungen für das Verhalten der Polizeireviere beim Ausbruch 
der Choleraepidemie“ deutlich' erkennen: 

1. Es sind Zweifel entstanden, ob etwa zur Erreichung einer 
möglichst schnellen Desinfection nur die leichten transportablen 
Effecten, wie Betten etc., nach der Desinfectionsanstalt geschafft und 
dort desinficirt werden sollen und die schwerer zu transportirenden 
Möbeln, sowie die Zimmer, Flure, Treppen und sonstigen Räume nur 
im Falle der Noth durch geprüfte Heildiener desinficirt werden dürfen; 
oder aber ob es den Letzteren auch gestattet ist, die erst erwähnten 
Sachen, wie Betten etc., gleich an Ort und Stelle in den resp. Woh¬ 
nungen zu desinficiren, bezw. ob die Reviervorstände auch die ge¬ 
prüften Heildiener dazu requiriren dürfen? 

In Bezug auf Auswahl der Gegenstände, die zu desinficiren sind, 
bleibt die Bestimmung völlig in den Händen der amtlichen Desinfec- 
toren, bezw. des Directoriums der Desinfectionsanstalt; über Zuziehung 
von Heildienern, die gegenwärtig noch ausgeschlossen ist, wird im 
Falle der Noth verfügt werden. 

2. Hauswirthe und unbetheiligte Staatsbürger dürfen unter Hin¬ 
weis auf die etwa vorhandene Noth und Gefahr zur Bergung und 
Hülfeleistunjg auf der Strasse plötzlich erkrankter und zum 
Weitergehen unfähiger Personen polizeilich aufgefordert werden. — 

Sobald sie erklären, dass für sie selbst erhebliche Gefahr vor¬ 
liege, ist ein weiterer Zwang ausgeschlossen. Bei Aerzten dagegen 
erfolgt formelle Requisition unter Hinweis auf/§ 360, 10 St.G.B. 

3. Die Desinfection des Hausflurs oder des Raumes, in 
dem ein solcher Kranker verweilt hat, erfolgt zunächst auf öffentliche 
Kosten. Kosten, welche den Revieren durch Desinfection oder Requi¬ 
sition ven Aerzten entstehen, dürfen bei dem Polizeipräsidium liqui- 
dirt werden. Ueber etwaige Vorschussgelder für die Reviere bleibt 
das Weitere zunächst Vorbehalten. 

4. Für ärztlich (jetzt nicht mehr blos amtsärztlich, da die 
Sache über die Constatirung der ersten Fälle hinaus ist) so benannte 
Fälle von „Cholera asiatica“ bleibt das städtische Krankenhaus Moabit 
vorläufig ausschliesslich zuständig; verdächtige Fälle dagegen 
dürfen auch jedem anderen städtischen Krankenhaus zugeführt werden. 

5. Transportmittel zur Fortschaffung Erkrankter sind genau in 
der bisherigen Weise weiter zu requiriren, also bei den drei bekannten 
Krankentransportgeschäften, welche in der Lage sind, den Requi¬ 
sitionen zu entsprechen. 


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Der Kampf gegen die Cholera in Berlin. 


189 


6. Grössere Kinder der an Cholera erkrankten oder verstorbenen 
Eltern sind event. nach dem Familienasyl, die kleineren in’s Waisen¬ 
haus zu schaffen. 

7. Ein plötzlich an der Cholera auf der Strasse Erkrankter darf 
auf seinen Wunsch und mittelst der vorgeschriebenen Transportmittel 
nach seiner Wohnung geschafft werden, ohne dass den Revieren die 
Prüfung obliegt, ob die Wohnung aus mehreren Zimmern besteht 
oder ob der Krauke isolirt werden kann. Die Beamten, welche von 
auf der Strasse an Cholera erkrankten Personen zu Hülfe gerufen 
werden, haben schleunigst einen Arzt zu requiriren (cfr. Passus 2) 
und darauf zu achten, dass der Erkrankte vor seinem event. Tode 
Namen und Wohnung nennt. Anonym gebliebene Leichen gehören in 
das Leichenschauhaus. 

8. Verunreinigungen der Strasse durch an Cholera erkrankte 
Personen sind nach der Instruction, welche die Reinigungscolonnen 
haben, zu behandeln. Hinsichtlich der Reinigung und Desinfection 
der öffentlichen Bedürfnissaustalten wird Bestimmung getroffen wer¬ 
den. Grobe Zuwiderhandlungen gegen die geschlossenen Verträge 
Seitens der Concessionare bedingen Anzeigen wie zu jeder sonsti¬ 
gen Zeit. 

9. Polizeilichen Requisitionen an die Todtengräber bezüglich An¬ 
nahme der Leichen wird ohne Zweifel genügt werden. Im Gegenfalle 
ist telegraphisch Anzeige zu machen und im Nothfalle die Aufnahme 
der qu. Leiche unter der Bezeichnung * unbestimmte Todesursache“ 
m Leichenschauhause zu erbitten. 

Diesen Hinweisungen wird die Mahnung hinzugefügt, dass die 
Reviere (der Sachlage entsprechend) nirgend Uebereifer gegen das 
Publikum oder die Hausbesitzer anwenden, keine kleinlichen Diffe¬ 
renzen herbeiführen und die besonnene Hülfeleistung als die 
erste der gegenwärtig zu beobachtenden Pflichten ansehen. Von An¬ 
fragen über nicht zweifelhafte Punkte ist kein übertriebener Gebrauch 
zu machen. — 

Ein grosser Theil der Sorge, stets Aerzte zur Verfügung zu 
haben, wurde der Sanitätsbehörde durch das populäre Institut der 
Sanitätswachen abgenommen und durch das Entgegenkommen, wel¬ 
ches die Stadt in der Completirung dieser Wachen durch Ueberwei- 
sung ausserordentlicher Mittel an dieselben bewies. Es wurde ein 
Tagesdienst mit beständig anwesenden Aerzten (in der Mehrzahl) 
organisirt, so dass auch gleichzeitig von mehreren Seiten eintreffenden 


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190 


Dr. Wernich, 


Requisitionen hätte genügt werden können. 21000 Mark wurden den 
einzelnen Wachen (zu Beträgen von 1000 bis 2500 Mark) überwiesen» 
um einen so ausgiebigen ärztlichen Dienst zu organisiren. Unter den 
während der Zeit der Choleragefahr erfolgten 1078 Inanspruchnahmen 
und Hülfeleistungen betrafen choleraverdächtige und brechruhrartige 
Krankheitsfälle jedoch nur 205. 

Direct vom Polizeipräsidium aus erfolgte die Anstellung von 
zwölf Civilärzten,. welche den ärztlichen Dienst an den Bahnhöfen 
(Lehrter, Schlesischer, Bahnhof Charlottenburg), — und von zwei 
Civilärzten, welche die Schiffer-Revisionen an der Plötzensee-Schleuse 
etc. übernahmen. Die Competenzen regelte mit gewünschter Ein¬ 
deutigkeit folgendes Vertrags-Formular. 

„Vertrag zwischen dem Königlichen Polizeipräsidium zu 
Berlin und Herrn prakt. Arzt Dr. X. . . . hier, betreffend 
ärztliche Hülfe bei Cholera. 

§ 1 . 

Herr Dr. X. . . . verpflichtet sich, auf dem Y.-Bahnhof täglich 
6 Stunden und zwar von x bis z Uhr anwesend zu sein, um 1) jede 
ihm während dieser Zeit vorgeführte Person auf ihren Gesundheits¬ 
zustand zu untersuchen und die für dieselbe nothwendigen Anord¬ 
nungen zu treffen, 2) mit Unterstützung der Organe der Bahnpolizei 
auch nicht direct vorgeführte Personen zu ermitteln, und an solchen 
die Anwesenheit oder Abwesenheit von Cholera-Erscheinungen fest¬ 
zustellen. 

§ 2 . 

Das Polizeipräsidium zahlt an Herrn Dr. X. . . . für lediglich 
während der Tagesstunden (von 8 Uhr Morgens bis 10 Uhr Abends) 
gethanen Pflichtdienst im obigen Sinne 12 Mark, für während der 
Nachtstunden (von 10 Uhr Abends bis 8 Uhr Morgens) fallende 
Wachen 20 Mark nach Ablauf dieses Uebereinkommens gegen Quittung. 

§ 3 . 

Der Tag des ersten Pflichtdienstes gilt als erster Diätentag, als 
folgende Diätentage gelten alle Tage (Mitternacht bis Mitternacht), 
in welche eine Wache gefallen ist; als letzter Diätentag gilt der Tag 
der Kündigung dieses Uebereinkommens, welche dem Polizeipräsidium 
jederzeit zustoht. 


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Der Kampf gegen die Cholera in Berlin. 


191 


§ 4 . 

Ueber alle zum Zweck der Ermittelung der Kranken wie für 
deren Wohl wünschenswerthe Einzelheiten wird sich Herr Dr. X. . . . 
mit dem Königlichen Bezirksphysikus Herrn etc. Dr. Z. . . . collegia- 
lisch benehmen und dauernd auf dem Laufenden erhalten. 

Berlin, den . . August 1892. 

Der Polizeipräsident. Dr. X. . . ., 

praktischer Arzt.“ — 


Es hat sich bei der Regelung dieser Vertragsverpflichtungen 
keinerlei Unklarheit oder Differenz ergeben. — 

Völlig gefasst waren die Städtischen wie die Aufsichtsbehörden 
auf Unzulänglichkeiten im Krankentransport- und Leichen- 
überführungs-Wesen, da ein allzu langer Zeitraum der Ruhe den 
Maassstab für eine aussergewöhnliche Inanspruchnahme derartiger 
Vorkehrungen fast verloren gehen macht. Einer der betreffenden 
Fuhrunternehmer wurde ausserdem (trotz der Androhung erheblicher 
Conventionaistrafen) darüber betroffen, dass er an seinen Verpflich¬ 
tungen — so an der Mitgabe eines zuverlässigen Krankenabholers 
ausser dem Kutscher, an der Güte der Wagenausrüstung, der Ge¬ 
schirre und Gespanne — zu kürzen versuchte, dass seine Wagen 
nicht mit gewünschter Schnelligkeit eintrafen, dass deren Desinfections- 
controle nicht völlig lückenlos war, dass für Choleraverdächtige nicht 
ganz eigene und für diesen Zweck nachweislich allein benutzte Ge¬ 
fährte in Gang gebracht wurden. Es ist selbstverständlich, dass jede 
einzelne dieser Erfahrungen für Verbesserungen in der Richtung, nach 
welcher sie hinwies, auch für die Zukunft benutzt wurde. So werden 
Mängel in der Ausrüstung der Choleratransportwagen (sei es hin¬ 
sichtlich der Begleiter, der Pferde, der Utensilien und Wagen) und 
jede Umgehung des für die letzteren vorgeschriebenen Desinfections- 
verfahrens durch verschärfte Conventionaistrafen künftig geahndet, 
das Signalwesen vervollkommnet, die Controlbücher doppelt geführt, 
Specialwagen unter besonderer Chiffre eingestellt werden. Allein bei 
all* diesen Verbesserungen wird für den Ernstfall einer wirklichen 
Epidemie der Apparat der contrahirenden Fuhrunternehmer niemals 
ausreichen, — und es wird vielmehr dann sofort diejenige Organi¬ 
sation in Anspruch zu nehmen sein und in Anspruch genommen 


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102 


Dr. Wernicb, 


werden, welche auch bereits dieses Mal in Reserve gelegt war: die 
Indienststellung eines grossen Wagenparks unter Beihülfe des Brand- 
directors und mit völlig militärdienstähnlicher Eintheilung und An¬ 
weisung. 

Grundstücke und Gebäulichkeiten für diese — so zu sagen — 
Felddienstorganisation mit den in Frage kommenden Gefährten waren 
in Aussicht genommen; der Abschluss der Verträge war soweit vor¬ 
bereitet, dass er innerhalb 24 Stunden hätte erfolgen können. Die 
Namen von Bedienungsmannschaften für diesen Zweck waren vor¬ 
gemerkt. — 

In ähnlicher Weise hatte sich die Verwaltung der Desinfections- 
anstalten gerüstet. Und als dem Publikum und der Presse in den 
Tagen der wirklichen Beunruhigung Nichts mehr prompt und schnell 
genug ging, war es möglich, durch Zuziehung der Reserve-Desinfec- 
tionsleute einen — vorläufig beschränkten — Nachtdienst in den 
Desinfectionsanstalten einzurichten. 


IV. 

Thats&chlicher Ablauf der wiederholten Cholerainvasionen innerhalb 

des Berliner Weichbildes. 

Ich schicke eine ganz kurze historische Uebersicht vorauf. 

Als die Cholera zum ersten Male Europa heimsuchte, im Jahre 
1831, drang sie auch bis Berlin vor. Seitdem hat sie in dieser Stadt 
nach officiellen Berichten folgende Sterbefälle verursacht: 1831 1423, 
1832 412, 1837 2338, 1848 1595, 1849 3552, 1850 711, 1852 
165, 1853 940, 1855 1385, 1866 5457, 1867 11, 1868 2, 1869 3, 
1870 1, 1871 49, 1872 2, 1873 716. Seit dem Jahre 1874 ist 
Berlin von der Cholera verschont geblieben. Die Zahl der Erkran¬ 
kungen betrug im Jahre 1866 8186, 1873 1074. In den Jahren 
1837 und 1849 kam eine Erkrankung auf 74 Einwohner, 1873 erst 
auf 497. Die Sterblichkeit belief sich in der Regel auf 62—67 pCt. 
der Erkrankungsfälle. — 

Der 23. August 1892 war der Tag des Eintreffens der ministe¬ 
riellen Benachrichtigung über den Choleraausbruch in Altona. Am 
28. August (an einem Sonntag) meldete der Fernsprecher aus dem 


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Der Kampf gegen die Cholera in Berlin. 


193 


Krankenhause Moabit Nachmittags gegen 4 ühr die Feststellung echter 
Kommabacillen in den Dejectionen der (unter No. 1 der nachfolgen¬ 
den Uebersicht aufgeführten) Tags zuvor aus Hamburg anscheinend 
noch gesund zugereisten Frau Fr. Am Montag, den 29. August Mor¬ 
gens 7 Uhr war die Berliner Bevölkerung durch grosse Anschläge an 
den Säulen von diesem Vorkommniss unterrichtet, was selbstverständ¬ 
lich — da der Anschlag zugleich die Vorsichtsmassregeln und An¬ 
weisungen für das Meldewesen enthielt — nur durch voraufgängige 
Herstellung des ganzen Satzes bis auf den Namen der noch fraglichen 
kranken Person möglich war. 

Das grössere Publicum fühlte sich durch die Unverhülltheit, Ent¬ 
schiedenheit und Schnelligkeit der Nachricht in unerwarteter Weise 
beruhigt. Aeltere Personen, die von früheren Choleraepidemieen 
wussten, hörte man beim Lesen des Plakats den Umstehenden die 
Versicherung geben: „Wenn das so ist, wird es diesmal überhaupt 
Nichts“ —: eine Aeusserung divinatorischen Instinkts, den die Cho¬ 
lerawissenschaft der Zukunft vielleicht dahin übersetzt, dass „wenn 
sich diese Einschleichseuche nicht eingeschlichen hat, ohne richtig 
benamst, ohne bemerkt zu sein, ihr die wesentlichste Kraft zur Aus¬ 
breitung abgeschnitten ist.“ Man dürfte mit diesem Axiom wohl eine 
Strecke weiter kommen als mit allen mystischen Aussprüchen über 
Feuchtigkeit im Erdboden, Grundwasserbewegung, Seuchendisposition 
der Orte etc., und man kann daneben auf die Herstellung einer ver¬ 
nünftigen Wasser- und Fäcalienwirthschaft, auf die Erfüllung der 
hygienischen Anforderungen gerade so gläubig und kräftig dringen 
wie ohne den obigen Grundsatz. Ich für meinen Theil gehe in den 
aus demselben zu ziehenden Folgerungen so weit, dass ich sage: 
„Tausend in ihrer Natur jedesmal erkannte (dann selbstverständlich 
auch demgemäss gewürdigte), in einen Platz eingeschleppte Cholera¬ 
fälle bilden für denselben keinen Ernstfall. Letzteren bildet demgegen¬ 
über, wenn nicht gar schon jeder einzelne Fall, so doch jede Mehr¬ 
heit nicht in ihrer Natur erkannter, und dann demgemäss auch 
nicht in ihrer grauenvollen Bedeutung gewürdigter Cholerafälle.“ 
Man wolle von gegnerischer Seite einen Ort oder eine Epidemie nam¬ 
haft machen, in welchem diese Erfahrungssätze nicht zugetroffen 
wären. 

Die sich an unserem Platz nun weiter herausbildende Ent¬ 
wicklung findet ihr Abbild in der Chronologie der hier beobach- 

Vierteljahrwchr. f. ger. Med. Dritte ^olge. V. 1. 13 


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194 




Dr. Wernich, 

teten 33 Fälle, welche von ärztlicher bereits Seite ausgezeichnet ge¬ 
schildert worden sind. Um jedoch an sie auch einige sanitäts- 


Zusammenstellung der in Berlin klargestellten 

Vom 29. August bis 23. Sep- 


ö 

Datum des 

ausgespro¬ 
chenen 
bezw. be- 

Vor- und Zuname 

des 

Erkrankten. 

c 

-*-> 

m 

Stand und An¬ 
gabe, ob der 
Erkrankte in 
eigener Woh¬ 
nung oder als 
Familienmitgl., 
Chambregar- 

Wohnung. 

(Wo zutreffend, 
Strasse und 
Haus-No.) 

Berliner 

Einwohner 

oder 

Ist 

HÖ 

a 

0 

rt 

k-J 

stätigten 

Verdachts. 

CD 

rQ 

a> 

Jahr 

nist, in Schlaf¬ 
stelle, Pension 
etc. wohnt 
und bei wem? 

nicht? 

Datum? 

l 

27./S. 

Frohnert. 

? 

Restaurateur¬ 

frau. 

Hamburg. 

Passant. 

27./8. 

2 

25./8. 

Karpen, Josef. 

34 

Reisender. 

Hamburg. 

Passant. 

25-/8. 

3 

30./8. 

Krumrey. 

— 

Arbeiter. 

Ohne. 

Obdachlos 

30./8. 

4 

1/9. 

Pettke, August. 

40 

Arbeiter. 

Stephanstr. 49 bei 
S. 

— 

3I./8. 

5 

3-/9. 

Kappel, Martin. 

20 

Kaufmann. 

Steinstr. 13/14 bei 
B. 

— 

3./9. 

6 

2./9. 

Ostheern. 

f,0 

Zugführer. 

Hamburg. 

Passant. 

2./9. 

7 

8./9. 

Koppen, Doro¬ 
thea. 

31 

Monteurfrau. 

Brandenburga. H. 

Passant. 

f 7-/9. 

8 

13./9. 

Lindemann. 

22 

Schiffer. 

Kahn am Holstei¬ 
ner Ufer. 

Passant. 

10./9. 

9 

15/9. 

Woytkowski. 

3 

Schifferkind. 

Kahn auf dar 
Spree vor Müh¬ 
lenstrasse 48. 

Passant. 

15./9. 

10 

17./9. 

Lange, Gustav. 

— 

Schuhmacher 

(Kellner?), 

Fischerstr. 25. 

Passant. 

16./9. 


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Original frnm 

UNIVERSUM OF IOWA 



Der Kampf gegen die Cholera in Berlin. 


195 


polizeiliche Bemerkungen auzuschliesseu, erlaube ich mir hier die 
Wiedergabe der 


Fälle von Erkrankungen an Cholera asiatica. 
tember 1892 (und folgende Wochen). 



Wo 

der 

Patient 


Nach dem 

Geschlecht. 

Total« 



erkrankt. 

Gr ist 







Summe. 


ge- 

Er- 

Ge- 

Ge- 




Bemerkungen. 


in der 

stör- 

krankt. , 

nesen. 

storben 





Kur 

ben. 

3 I 

o 

ja 

o 

3 1 
© 

3 

© 

ja 

© | 

ja 

© | 


a 

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© 

JD 


Wo? 

ist. 

Datum 

3 

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03 

© 

P 

© 

o 

© 

*4-> 

03 

© 

o 


Luisenstrasse 38, 
Hotel B. 

Moabit. 

30./8. 


— 

— 

— 

— 

i 

1 

— 

1 

Auf der Reise von 
Hamburg nach Kö¬ 
nigsberg. 

— 

Moabit. 

— 

— 

— 

i 


— 

— 

1 

1 

— 

— 

Am Nordhafen als 
Arbeiter beim 
Stein kahn. 

Moabit. 

31./8 

— 

— 



1 

— 

1 

— 

1 

— 

Am Nordhafen als 
Arbeiter beim 
Steinkahn. 

Moabit. 

2./9. 





1 


1 


1 

— 

— 

Moabit. 

10/9. 

— 

— 

— 

— 

1 

— 

l 

— 

1 

— 

Auf der Fahrt von 
Hamburg nach 
Berlin. 

Moabit. 

3./9. 

— 

— 


— 

l 

— 

l 

— 

1 

— 

Schulzendorfer- 
strasse 13 bei 

B. 

Moabit. 

8./9. 

”” 




— 

1 

l 


1 

Auf der Durchreise 
von Brandenburg 
nach der Elbe. 

Auf dem Kahn. 

Moabit. 

13./9. 

— 

— 

— 

— 

1 

— 

l 

— 

1 

In Zerpenschleuse'an- 
sässig. 

Auf dem Kahn. 

Moabit. 

— 

— 

— 

— 


— 

— 

l 

1 

— 

Wohnung in Posen. 

Herberge Fischer¬ 
strasse 26. 

Moabit. 

16./9. 

— 

— 

— 

— 

1 

— 

l 

— 

1 

— 


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Original fro-m 

UNIVERSUM OF IOWA 








196 


Dr. Wernich, 


© 

Datum des 
ausgespro¬ 
chenen 

bezw. be¬ 
stätigten 
Verdachts. 

Vor- und Zuname 

des 

a> 

Stand und An¬ 
gabe, ob der 
Erkrankte in 
eigener Woh¬ 
nung oder als 
Familienmitgb, 
Chambregar¬ 
nist, in Schlaf¬ 
stelle, Pension 
etc. wohnt 
und bei wem? 

Wohnung. 

(Wo zutreffend, 
Strasse und 
Haus-No.) 

Berliner 

Einwohner 

oder 

Ist 

© 

0 

£> 

0 

rt 

Erkrankten. 

cn 

3 

<D 

Jahr 

nicht? 

Datum? 

11 

17./9. 

Bohlken. 

— 

Krankenpfle¬ 

gerin. 

Hamburg. 

— 

16./9. 

12 

18./9. 

Berthelsen. 

40 

Musikdirector. 

Hamburg. 

Passant. 

15/9. 

13 

19./9. 

Pohl, Eduard, 

35 

Arbeiter. 

Pücklerstr. 8 bei 
M. 

— 

19./9. 

14 

20./9. 

Woytkowski. 

15 

SchifTerssohn. 

Posen; z. Z. Kahn 
vor Mühlen¬ 
strasse 48. 

Passant. 

19./9. 

15 

20./9. 

Karsten, Franz 
(Kersten). 

15 

Schifferssohn. 

Kahn am Monbi¬ 
jouplatz 6. 

Passant. 

20./9. 

16 

20./9. 

Baberski, Ida. 

45 

Hausirerin. 

Kleine Augusstr. 
bei ü. 

— 

20./9. 

17 

21./9. 

Gericke, Her¬ 
mann. 

21 

Bootsmann. 

Kahn an der 
Schleuse bei 
Plötzensee. 

Passant. 

20 /9. 

18 

21./9. 

Michaelis, Anna. 

34 

Schifferfrau. 

Kahn an der 
Schleuse bei 
Plötzensee. 

Passant. 

20./9. 

19 

21./9. 

Michaelis, Martha. 

5 

Schifferkind. 

Kahn an der 
Schleuse bei 
Plötzensee. 

Passant. 

20./9. 

20 

21./9. 

Dannenberg I, 
Friedrich. 

49 

Schiffseigner. 

Kahn an der un¬ 
teren Schleuse. 

Passant. 

20./9. 

21 

21./9. 

Dannenberg, 

Albert. 

16 

Schifferssohn. 

Kahn an der un¬ 
teren Schleuse. 

Passant. 

20./9. 

22 

21./9. 

Ortmann. 

3 

Schifferskind, 

Kahn an Monbi¬ 
jouplatz. 

Passant. 

21/9. 


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Original from 

UMIVERSITY OF IOWA 




Der Kampf gegen die Cholera in Berlin. 


197 


erkrankt. 

Wo 

der 

Patient 

Kr ist 

Nach dem 

Geschlecht. 

Total- 

Surame. 


ge- 

Er- 

Ge- 

Ge- 




Bemerkungen. 


in der 

stör- 

krankt. 

; nesen. 

storben 




Wo? 

Kur 

ist. 

ben. 

Datum. 

Männlich 

Weiblich 

Männlich. 

Weiblich. 

Männlich. 

Weiblich. 

Erkrankt. 

Genesen. 

Gestorben 


Wohnung. 

Moabit. 

— 


— 

— 

1 

— 

— 

i 

1 


Am 12.9. c. von Ham¬ 
burg gekommen. 

Aus Hamburg ge¬ 
kommen. 

Moabit. 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

i 

1 


— 

Köpnickerstr. 18, 
Velvetfabrik. 

Moabit. 

20./9. 

— 

— 

— 

— 

i 

— 

1 

_ 

i 

— 

Beobachtungssta¬ 
tion Moabit. 

Moabit. 




1 




i 

1 


In Folge Erkrankung 
seines Bruders am 
15. 9. c. zur Beob¬ 
achtung in Moabit 
u. daselbst nunmehr 
seine eigene Erkran- 
Kung zum Vorschein 
gekommen. 

Auf dem Kahn. 

Moabit. 

23-/9. 

— 

— 

— 

— 

1 

— 

1 

— 

1 

— 

Im Hausflur des¬ 
selben Hauses. 

Moabit 

— 


_ 

— 

— 

— 

— 

i 

1 

— 

— 

Auf dem Kahn. 

Moabit. 

22./9. 

— 

— 

— 

— 

1 

— 

i 

— 

i 

— 

Auf dem Kahn. 

Moabit. 

21./9. 

— 



— 

— 

1 

1 

— 

1 

— 

Auf dem Kahn. 

Moabit. 

20./9 


— 

— 

— 

— 

1 

1 

— 

1 

— 

Auf dem Kahn. 

Moabit. 

— 

1 — 

— 

i 

— 

— 

— 

1 

i 

— 

— 

Auf dem Kahn. 

Moabit. 

— 

— 

— 

i 

— 

— 

— 

1 

i 

— 

— 

Kr.-Haus Moabit. 

Moabit. 

22./9. 

— 

[ 

— 


— 

1 

1 


1 

— 


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Original from 

UMIVERSITY OF IOWA 







198 


Dr. Wernioh, 


© 

* 

Datum des 

ausgespro¬ 
chenen 
bezw. be- 

Vor- und Zuname 

des 

Erkrankten. 

i 

"3 

Stand und An¬ 
gabe, ob der 
Erkrankte in 
eigener Woh¬ 
nung oder als 
Familienmitgl., 
Chambregar¬ 
nist, in Schlaf¬ 
stelle, Pension 
etc. wohnt 
und bei wem? 

Wohnung. 

(Wo zutreffend, 
Strasse and 
Haus-No 

Berliner 

Einwohner 

oder 

Ist 

<15 

G 

«5 

0 

CG 

stätigten 

Verdachts. 

o- Lebern 

nicht? 

Datum ? 

23 

21./9. 

Michaelis, Julius. 

33 

Schiffer. 

Kahn au der 
Schleuse bei 
Plötzensee. 

Passant. 

20./9. 

24 

22./9. 

Ortmann, Emilie. 

30 

Schifferfrau. 

Kahn an Monbi¬ 
jou-Insel. 

Passant 

21./9. 

25 

23./9. 

Jarocki, Johann. 

34 

Schiffer. 

Kahn bei Plötzen¬ 
see. 

Passant. 

23./9. 

26 

23./9. 

Dannenberg II, 
Friedrich. 

20 

Schiffer. 

Kahn am Thier¬ 
gartenufer. 

Passant« 

20./9. 

27 

26-/9. 

Porsch. 

— 

Töpfer. 

Ohne. 

Obdachlos. 

25/9. 

28 

26-/9. 

Glabow, Gustav. 

18 

Schifferssohn. 

Kahn auf d. Spree 
vor dem Grund¬ 
stück Stralauer- 
thor 7. 

Passant. 

26., 9. 

29 

30./9. 

Meinckc, Carl. 

25 

Kutscher, 

Badewärter. 

Hamburg. 

Passant. 

29. 9. 

30 

30./9. 

Tasche, Auguste. 

35 

Schifferfrau. 

Köpenick. 

Passant. 

29./9. 

31 

2./10, 

Wichura, Julius. 

— 

Arbeiter. 

Seit 28.7. er. Wi 9 - 
nerstr. 31, jetzt 
ohne Wohnung. 

Obdachlos. 

1./10. 

32 

5./10. 

Winter, V 

j 40 

Corrigend. 

Arbeitshaus Rum¬ 
melsbarg. 

— 

8./10. 

33 

6/10. 

Schubert, V 

48 

1 

Corrigend. 

Arbeitshaus Rum¬ 
melsburg. 

— 

30./9. 


An merk : Die unter No. 80 aufgefuhrte Tasche ist auf nachträgl. Verfügung in 
gezählt ist. 


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Original from 

UMIVERSITY OF IOWA 





Der Kampf gegen die Cholera in Berlin. 


199 


erkrankt. 

Wo 

der 

Patient 

Er ist 

Nach dem 

Geschlecht. 

Total- 

Summe. 


ge- 

Er¬ 

krankt. 

| Ge- 

Ge- 




Bemerkungen. 


in der 

stör- 

| nesen. 

storben 




Wo? 

Kur 

ist. 

ben. 

, Datum. 

Männlich 

Weiblich 

Männlich. 

Weiblich. 

Männlich. 

Weiblich. 

Erkrankt. 

Genesen. 

Gestorben 


Kr.-Haus Moabit. 

Moabit. 

— 



1 

— 

— 

— 

i 

1 


— 

Kr.-Haus Moabit. 

Moabit. 

— 



— 

i 

— 

— 

1 

1 

— 

— 

Von Oderberg üb. 
Potsdam gekom¬ 
men, auf d. Kahn 
bei Plötzensee. 

Moabit. 

23.9 

— 



— 

i 

— 

1 

— 

1 

— 

Auf dem Kahn. 

Moabit 

— 

— 

— 

1 

— 

— 

— 

i 

1 


— 

In der Charit6. 

Charite 

— 

— 

— 

i 

— 

— 

— 

1 

i 


— 

Auf dem Kahn. 

Moabit. 




i 




i 



Von der Rauen’schen 
Ziegelei bei Fürsten¬ 
walde kommend. 

Von H. hier zuge¬ 
reist, in Moabit 
zur Beobachtung 
gebracht u. dort 
an Cholera er¬ 
krankt. 

Moabit. 




1 




i 

i 


Von Hamburg hier 
zugereist.- 

Auf Kahn am Salz- 
Ufer (Berliner 
Terrain). 

Char- 

lottenb. 

Ba¬ 

racken. 

30./9. 







i 


1 

Auf Verf. vom 8.10. c. 

hieraeits notirt. 
p.T. ist in Charlotten¬ 
burg verstorben. 

(Charite.) Am Gör- 
litzer Ufer, wo er 
in Arbeit stand. 

Cha¬ 

rite. 

— 

— 


1 

— 



i 

i 

— 

Angebl. b. Getreide¬ 
kahn, der v. Hamburg 
gekommen, besohäft. 

Arbeitshaus Rum¬ 
melsburg. 

Moabit 

5./10. 

— 


— 

— 

i 


i 

— 

1 

— 

Arbeitshaus Rum¬ 
melsburg. 

Moabit. 



~l 

1 

— 

— 

— 

i 

i 

— 

— 


den diesseitigen Listen gestrichen, weil vom Gesundheitsamte der Fall zu Cbarlott«nburg 


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Original frnm 

UMIVERSITY OF IOWA 



200 


Dr. Werniob, 


Theilt man unsere hiernach sich auf sechs Wochen belaufende 
Choleraperiode in drei gleich lange Zeiträume, so fallen auf die ersten 
14 Tage 7, auf die zweiten 17, auf die dritten 9 Erkrankungen — 
mit dazu gehörigen 6, bezw. 8, bezw. 5 Todesfällen. (Mit den sonst 
officiös veröffentlichten Zahlen kommt hier deswegen eine kleine Col¬ 
lision zum Ausdruck, weil eine Schifferfrau zwar als auf Berliner 
Territorium erkrankt aufgefiihrt werden muss, indess der localen Be¬ 
ziehungen wegen in die Charlottenburger Baracken überführt werden 
musste, wo sie auch starb). 

Die Anzahl der aus der Schiffsbevölkerung der Spree (soweit ihr 
Lauf in Berliner Gebiet fällt) hervorgegangenen Cholerakranken be¬ 
läuft sich auf 17; die Anzahl der Hamburger Zugereisten, welche auf 
dem Lehrter Bahnhof oder innerhalb Berlins als cholerakrank ver¬ 
sorgt worden, auf 8, — so dass ebenfalls 8 Cholerakranke bleiben, 
welche als Einwohner Berlins zu verzeichnen sind. Unter diesen sind 
4 obdachlose Arbeiter, welche theils nachgewiesenermassen, theils 
unwidersprochener Vermuthung nach sich mit Ladearbeiten am Nord¬ 
hafen (in der Nähe des Lehrter Aussen bahnhofes) oder mit Kahn- 
Entladungshülfe beschäftigt hatten; ferner 2 Arbeitshäuslinge, von 
denen der eine — aller Wahrscheinlichkeit nach im unmittelbaren 
Anschluss an eine ähnliche Arbeitsgelegenheit — am 27. August, 
der andere allerdings schon vor längerer Zeit in das Rummelsburgcr 
Arbeitshaus eingeliefert worden war. 

Der Fall eines jungen Kaufmanns Kappel wurde authentisch 
nicht aufgeklärt, da die Berührung mit einem Wäschestück eines aus 
Hamburg gekommenen gesund gebliebenen Reisenden zwar behauptet, 
aber nicht bewiesen wurde. Von einer Hausirerin J. B. (No. 16) 
hiess es: ihre Erkrankung wäre die Folge des Genusses von ver¬ 
dächtigem (unmittelbar geschöpftem) Spreewasser gewesen. — Kein 
Fall wurde ein Mittelpunkt für die Entstehung weiterer Fälle unter 
der Berliner Bevölkerung. 


V. 

Nutzen der Oeffentlichkeit. — Demobilisirung. Vorläufiger Abschluss. 

Die wahre Prophylaxe des Volkskörpers gegen das Einschleichen 
der Cholera ist die Oeffentlichkeit. Keiner Gunst des Bodens 


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Der Kampf gegen die Cholera in Berlin. 


201 


noch des Wetters, keiner hygienischen Einrichtung, keinor Vorsichts- 
massregel, die der Einzelne anwendet, ist zu trauen, wenn nicht der 
choleraverdächtige Mensch auf diesen Verdacht, dessen Ungrund oder 
Begründung, untersucht und von verantwortlichen Helfern der nach 
der einen oder anderen Seite sachgemässen Behandlung unterzogen 
wird. Daher ist die Abstellung alles Verborgenen die geweihte 
Waffe der Sanitätspolizei; — daher ist jedes Haltmachen vor einer 
Heimlichkeit schon ein Fehler und absolut unrathsam. 

Wie gross sind aber die Versuchungen im Getriebe des prak¬ 
tischen Lebens, die Kundgebungen des sich erst entwickelnden Krank- 
heitsprocesses, ja eines bereits recht bedenklich gewordenen Zustandes 
der Oeffentlichkeit vorzuenthalten. Keine andere Krankheit fordert 
durch die Geringfügigkeit ihrer wirklichen Anfangserscheinungen die 
Willenskraft energischer Naturen zum Widerstande gegen blosses Un¬ 
wohlsein so heraus; bei keiner anderen kommt das Zusammenbrechen, 
der anscheinend foudroyante Beginn, das überstürzte todtliche Ende 
in auch nur annähernd gleicher Häufigkeit vor. 

Ist es soweit gekommen, dann bricht die Oeffentlichkeit sich ge- 
wissermassen überströmend Bahn: schreckensvoll durchzittert das nicht 
mehr zu verheimlichende Ereigniss das Haus, durcheilt es die Strasse, 
schreit es aus den Doctorwagen und Apotheken, setzt es die elek¬ 
trischen Drähte in Tbätigkeit. Das allgemeine Volksbewusstsein, wie 
es sich in der Presse und im Publikum vielleicht 1892 zum ersten 
Mal mit solcher Wucht geltend gemacht hat, fordert aber eine frühere, 
eine anfängliche Oeffentlichkeit, — ja es ist bis zu dem Grade 
gereizt und erregt worden, dass es ein öffentliches Einschreiten vor 
allem Anfang einer Gelahr verlangte; dass Personen, Sachen, Plätze, 
Gerüche zur Anzeige gebracht wurden, die jeder thatsächlichen Be¬ 
ziehung zu einer Cholerabedrohung völlig fern standen. Hier galt es 
— besonders der Spitzfindigkeit, wie sie der Bevölkerung der Gross¬ 
städte eigen ist, gegenüber —, die Phantasiegebilde in reale oder 
wenigstens der Logik standhaltende Zusammenhänge umzuwandeln 
und die Oeffentlichkeit dort an die Stelle der Heimlichkeit zu setzen, 
wo die letztere nach den Fingerzeigen früherer epidemiologischer Er¬ 
fahrungen am unheilvollsten mit Folgen verknüpft war: auf dem 
Gebiet des Verkehrs. 

Man hat die grossen Erfolge der Flussschiffer-Beaufsichti¬ 
gung gerühmt, da eine Anzahl von weit über 100000 Personenbe¬ 
sichtigungen und entsprechend viele Fahrzeug-Revisionen und -Des- 


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Original fro-rn 

UNIVERSUM OF IOWA 



202 


Dr. Wernicb, 


infectionen (zu einem allerdings recht verspäteten Zeitpunkt und nach¬ 
dem in Berlin bereits 10 cholerakranke Schiffer durch die gewöhn¬ 
lichen Strompolizeiorgane ermittelt worden waren) von Reichs wegen 
angeordnet und ausgeführt wurde. Hier wird später zu unterscheiden 
sein zwischen den wahrhaft segensreichen und bedeutungsvollen Fol¬ 
gen, welche das Hineingreifen in die heimlichen Gewohnheiten 
des Schiffervolkes haben muss — und zwischen den Früchten der 
sonst angeordneten Massnahmen. Jeder Berliner Arzt, der 1873 auf 
Spree- und Canal-Stromgebiet Schiffer und Familien von Schiffern an 
Cholera behandelt hat, wird mir beipflichten in der Beurtheilung jener 
Schwierigkeiten, welche durch die eigenartige Lebensweise auf dem 
flottirenden Boden für die Meldung der Krankheits- und Todesfälle 
entstehen; für das Wiederaufflnden selbst der Fahrzeuge, sobald man 
einen Verdacht auf Cholera geäussert; für die Ermittlung der Art, 
wie man sich Wasser verschafft, vom Schiff aus seine Fäcalien ab¬ 
setzt; mit wem der Schiffer verkehrt, verhandelt, ja selbst mit wem 
er noch die Nacht vorher auf seinem Fahrzeug gelebt und geschlafen 
hat. Hier kann die Controle des Schiffsverkehrs Erhebliches leisten —*■ 
meiner Ansicht nach viel mehr als durch die blosse Annahme einer 
sogenannten „Verseuchung“ der Flusswässer und durch „Desinfec- 
tionen“, die keine sind. 

Die Heimlichkeit im Verkehrstreiben ist auch nach zwei anderen 
Richtungen hin die eigentliche Ursache früherer Choleraepidemieen 
gewesen; nämlich soweit sie in den Gasthöfen und auf der Eisen¬ 
bahn geduldet und begünstigt wurde. Ohne eine scharfe Meldeord¬ 
nung, die in Hötels und anderen Absteigequartieren mit Consequenz 
gehandhabt wird, lässt sich kein Ort gegen Cholera schützen. Bar¬ 
barisch mag man immerhin jenes Vorgehen heissen, welches Vorstände 
und Bevölkerungen kleiner Orte gegenüber unglücklichen Hamburger 
Reisenden zur Anwendung brachten, wenn sie ihnen ihr Weichbild 
verschlossen, sie in Spritzenhäusern, Schuppen oder anderen proviso¬ 
rischen Verliessen internirten. Kleinlich genug war auch die Angst, 
die nicht wenige Berliner Hauswirthe und Einwohner zu Denuncia- 
tionen gegen zurückgekehrte Hamburger trieb, ja zuweilen sogar Ein¬ 
lassverweigerungen zu Wege brachte. Aber weder barbarisch noch 
kleinlich nenne ich das Bestreben, die Herkömmlinge aus verseuchten 
Plätzen zu kennen, sie ohne alle Belästigung in ihrem Befinden 
einige Tage zu beobachten uqd ihnen im Falle der Erkrankung mit 
einer geeigneteren Unterkunft zu dienen. 


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Original fro-rn 

UNIVERSUM OF IOWA 



Der Kampf gegen die Cholera in Berlin. 


203 


Aach läuft es keinem Gesetz and keinem Gebot der Menschlich¬ 
keit zuwider, wenn der Eisenbahnverkehr der allergrössten Durch¬ 
sichtigkeit unterliegt. Er wird dadurch auch nach meiner Erfahrung 
nicht „pilzdicht“, aber er wird ungefährlicher gestaltet, als wenn er 
Heimlichkeiten birgt. Solche birgt er thatsächlich zunächst in den 
Schlafwagen: hier soll ja nicht gestört, nicht nachgesehen werden 
— hier unterliegt beschmutzte Wäsche etc. einzig der Disposition 
des für jede Begünstigung leicht zu gewinnenden Dieners; hier wehrt 
man sich am meisten, das benutzte kostspielige Material desinficiren 
oder öffentlich reinigen zu lassen. Während also im Verkehr in den 
gewöhnlichen Waggons (ja auf den Aborten) der Mitreisende, der 
Schaffner, der Zugführer dem verdächtig Erkrankten seine Aufmerk¬ 
samkeit schenkt, ist es für den Schlafwagenreisenden leicht, jeder 
Oeffentlichkeit zu entgehen. — Auf welche Weise ferner die ärzt¬ 
liche üeberwachung an den Bahnhöfen ihre segensreiche Wirkung zu 
äussern hatte, ist oben bereits Gegenstand der Erwähnung gewesen; 
sie wirkte als Beistand und Beruhigungsmittel des erkrankten Frem¬ 
den — hatte vornehmlich einen humanen Zweck und die Tendenz der 
Hilfsbereitschaft. Allein, wenn man daneben ihre Mitwirkung zu dem 
Zweck, den Eisenbahnverkehr zu Cholerazeiten durchsichtiger zu ge¬ 
stalten, verkleinern oder gar ableugnen möchte, so verdient eine der¬ 
artige missverständliche Auffassung die ernsteste Abwehr. Ohne die 
Ermittlung der 8 wirklich Cholerakranken, nach Moabit gebrachten — 
und ohne die Ueberweisung der über 300 Verdächtigen, welche den 
Desinfectionsanstaltcn zugeführt wurden, an diese, hätte man mit den 
entsprechenden einigen Hundert Choleraheerden rechnen müssen, die 
sämmtlich oder doch in gewisser Anzahl zur heimlichen Weiterent¬ 
wicklung hätten gelangen können. 

Heimliche Choleraheerde sahen hier aber jene ängstliche Ge- 
müther, die mehr der localistischen Theorie huldigten, nun in allen 
Gegenständen, von denen ein übler Geruch ausging, Abladestellen, 
Droschkenplätzen etc.; solche, die an unbegrenzte Contagion glaubten, 
in jedem an Hamburg auch nur erinnernden Handelsartikel. Das 
Thema von der Zulässigkeit oder Bedenklichkeit der letzteren hat 
nachher einen wesentlichen Antheil der von der Reichs-Choleracom¬ 
mission geleisteten Arbeit gebildet. Ein Verzeichniss der begutachteten 
Gegenstände wird ohne Zweifel als künftige Directive für die nächstbe- 
theiligten Behörden herausgegeben werden; hierorts verursachten einige 
Zweifel: Margarine, ungegerbte Felle, Eier und gewisse Fleischwaaren. — 


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204 


Dr. Wernich, 


Was dio Presse als das Mundstück der Oeffentlichkeit anlangt, 
so hat sie ihren Zweck und Beruf, der Beruhigung leicht erregbarer 
Gemüther zu diesen und dabei doch leitend und besonnen wirkliche 
Gefahren in’s Auge zu fassen — nur sehr theilweise erfüllt. Zwar 
sind mir in Berlin nicht jene leidigen Illustrationen, wie sie das 
Hamburger Elend in’s Masslose verzerrten, aufgestossen, auch nicht 
Schilderungen aus den Krankenhäusern, recht zur Abschreckung und 
zum Widerstande anreizend, begegnet, wie sie in Russland so böse 
Saat ausstreuten. Aber wenn man sich auf den hiesigen Redactionen 
stets recht gewissenhaft gefragt hätte: „Dienst Du wirklich mit dieser 
und jener Reporternotiz der Oeffentlichkeit, welche Du vertrittst, — 
dem Publikum, das Du belehren willst? 1 * — so wäre manche Spalte 
Papier unbedruckt geblieben. Meiner Ueberzeugung nach nimmt an 
der Pflicht, behauptete Zusammenhänge zu prüfen, bereits jeder Ge¬ 
bildete, mindestens jeder Schriftsteller Theil. Was aber an derartigen 
Behauptungen seinen Weg in die täglichen Blätter fand, war zum 
Theil offenkundig sinnlos — und grade das Sinnlose wurde am eifrig¬ 
sten colportirt, am häufigsten wiederholt und vom grossen Publikum 
natürlich am liebsten gelesen. 

Einen an sich nicht nur sachgemässen, sondern auch prakticablen 
und Nützliches verheissenden Weg beschritt das socialdemocratische 
Organ, der „Vorwärts“, als er daran ging, alles von einer „Arbeiter- 
Sanitätscommission“ an öffentlichen Missständen gesammelte Material 
zu veröffentlichen. Wo in Wohnhäusern und Fabriken eine zu geringe 
Anzahl öffentlicher Bequemlichkeitsanstalten sich vorfand; wo unzu¬ 
reichende Ventilation sich geltend machte; wo beim Verladen von 
Müll und sonstigem unreinem Material oder wo an gewissen Stellen 
der öffentlichen Wasserläufe ein Gestank entstand — widmeten die 
aufmerksamen Mitglieder jener Commission dem Gegenstände ihre 
Aufmerksamkeit und sicherten ihm eine Besprechung im „Vorwärts“. 
So wurden viele, der regelmässigen Controls leicht zu entziehende 
(übrigens weit mehr vorübergehende als bleibende) Unzuträglichkeiten 
öffentlich besprochen, dann sachgemäss untersucht und — wo erreich¬ 
bar — abgestellt. Uebertreibungen blieben nicht aus; sie erwiesen 
sich auch nicht blos auf die Lückenhaftigkeit der ätiologischen Zu¬ 
sammenhänge beschränkt; sie hafteten dem unverhüllten Agitations¬ 
zweck gar zu unzertrennlich an. Denn wo „agitirt“ wird, geht es 
nicht nur auf Kosten der Klarheit, sondern naturgemäss auch der 
Wahrheit. 


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Der Kampf gegen die Cholera in Berlin. 


205 


Schliesslich nahm der Cholerakampf, wie er sich in der Presse 
wiederspiegclte, ganz verzerrte Züge an: die Rubriken für „Cholera“ 
verschwanden, und die nämlichen Zeitungen, welchen noch vor wenigen 
Tagen das Bedrohlichste noch lange nicht bedrohlich genug gewesen 
war, machten dcmobil mit einer Hinterlassenschaft schnöder Scherze 
— sogenannter Cholerawitze. An den Ernst der Sache, an die 
Wiederkehr des Uebels im nächsten Frühjahr zu denken, wäre wür¬ 
diger gewesen. 

Mag man immerhin gern die Entschuldigung gelten lassen: es 
müsse doch einmal ein Aufathmen von dem ungeheuren Druck statt¬ 
finden, — so darf doch der Frage (auch von Seiten der Oeffentlich- 
keit und der Presse) nicht ganz aus dem Wege gegangen werden: 
Was soll in Zukunft geschehen? 

Dass die verschiedensten Zweige des Staatsdienstes und der Städti¬ 
schen Verwaltung, auch nachdem ihrerseits die einstweilige Demobil¬ 
machung in geräuschloser Weise bewirkt worden ist, mit der Wissen¬ 
schaft continuirlich weiter berathend Zusammenwirken müssen, ist 
selbstverständlich. Wer redlich forscht und sucht, wird auch durch 
allerlei Beirrungen nicht in ernsthafte Zweifel gerathen, wo er jene 
Wissenschaft finden soll. Die Stärkung aber des Gemeingefühls für 
das Ganze, — die Verschärfung der Einsicht, dass Jedermann für das 
Gemeinwesen einzutreten hat, sollte ferner nicht blosse Theorie der 
Socialisten sein. 

Vor Allem brauchen wir jedenfalls — genau so wie gegenüber 
bösen oder ländergierigen Nachbarn — einen förmlichen Cholera- 
Mobilmachungsplan, der die erdrückende Arbeit auf alle tragfähigen 
Schultern vcrtheilt und so eine systematische Organisation an die 
Stelle zuckender halbblinder, das Ziel nicht erreichender oder darüber 
hinaus schlagender Abwehrbewegungen setzt. 


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III. Kleinere Mittheilnngen, Referate, 
Literaturnotizen. 


a) Sammelwerke, Statistisches. 

Ans den zahlreichen facbwissenschaftlichen Darbietungen, welche das uns 
zugesandte „Medico-legal Journal“, Organ der gerichtlich-medicinischen 
Gesellschaft in New-York, in seinem IX. und X. Bande gebracht hat, heben wir 

— als auch für deutsche Leserkreise von luteresse — hervor die Originalab¬ 
handlungen von Ireland: *„Is criminal anthropology a soienoe?“, — von 
Wood: „The dangers of the new alienism“, — von Arthur McDonald: 
„Criminal Aristocracy or the Mafia*', — von Harold N. Moyer: „Medico-legal 
relations of abortiva“, — von John J. Reese: „Presumptions of death and of 
survivorship“; und ferner von Clark Bell: Mechanical restraint of the insane, 

— von Albert Bach: The medico-legal aspect of privileged Communications, 

— von W. Struthers: The seat of language and lingual diseases u. a. — 
Von dem Eifer und der Vielseitigkeit des Vereins legen seine Veröffentlichungen 
jedenfalls ein günstiges Zeugniss ab. 


Dr. R. Becker, Medicinalrath und Amtsphysikus in Gotha, Sammlung ge- 
richtsärztliober Gutachten. Aus 20jähriger Amtsführung mitgetheilt. 
Berlin. Karger, ohne Jahreszahl. 166 S. 

Es sind im Ganzen 23, in dem Zeitraum von 1873 bis jetzt (1892) von 
ihm verfasste Gutachten, welohe Vf. in dieser gedruckten Sammlung vereinigt 
hat. Sie geben ein Bild seiner individuellen forensisohenThatigkeit. Literarische 
Grundlagen sind besonders die gebräuchlichen Lehr- und Handbücher der ge¬ 
richtlichen Medioin und Psyohopathologie gewesen. Unter den einzelnen Fällen 
begrüsst unsere Vierteljahrsschrift zum Theil alte Bekannte (so Ho. I aus dem 
22., — No. III aus dem 27. Bande ihrer neuen Folge): es waren dies ganz 
besonders interessante, ihrer Zeit aotuelle Specimina. Dooh glauben wir auch 
die hier zum ersten Male veröffentlichten Fälle unseren Lesern als reoht be* 


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Kleinere Mittheilungen, Referate, Literaturnotizen. 


207 


lehrende und manche Seiten des Faches trefflich fördernde Erörterungen 
empfehlen zu sollen. 


Vr. Aog. tiärtacr, Professor der Hygiene etc. zu Jena. Leitfaden der Hygiene 
für Studirende und Aerzte. Berlin 1892. Verlag von S. Karger. 

Verf. bezeichnet in der Vorrede sein Werk als einen ans seinen Vorlesungen 
entstandenen Leitfaden, welcher nur die Hauptpunkte aus dem Gebiete der Ge¬ 
sundheitslehre in ihren Grundzügen besprechen soll. Von diesem Gesichtspunkte 
aus verdient das Buch wegen seiner gedrängten und lichtvollen Darstellung alle 
Anerkennung und übertrifft in dieser Beziehung alle in dieser Richtung neuer¬ 
dings veröffentlichten Arbeiten. Für Studirende wird das Dargebotene eine 
werthvolle Gabe sein, welche an der Hand des Lehrers ihren Zweck vollkommen 
erreichen und als Führer auf dem grossen Forschungsgebiet der Hygiene 
dienen wird. 

Den Aerzten, welche auf diesem Gebiete schon bewandert sind, kann das 
Werk einen Ueberblick über die neuesten hygienischen Forschungen gewähren. 
Für solche Leser würde eine genauere Angabe der literarischen Quellen wün- 
schenswerth gewesen sein, um über manche Kapitel, welche ihr Interesse beson¬ 
ders in Anspruch nehmen, sich vollständiger belehren zu können. 

Die 206 Abbildungen tragen zur Erläuterung des Vorgetragenen wesentlich 
bei. Nur die Abbildung des Siemens’schen Verbrennungsofens für Leichen ist 
nicht deutlioh genug. Die Feuerbestattung befürwortet Verf. überhaupt nicht, 
weil die Hygiene als solche an der Feuerbestattung zur Zeit kein actives Inter¬ 
esse habe. Es können aber Zeiten und Umstände eintreten, wo der hygienische 
Werth der Leichenverbrennnng nicht hoch genug anzuschlagen ist. 

Das Kapitel über Infectionskrankheiten führt alles Wichtige vor. Nament¬ 
lich „Disposition“ und „Immunität“ sind nach den hierüber herrschenden An¬ 
sichten kritisch beleuchtet worden. 

Auch die Gewerbehygiene hat die möglichste Berücksichtigung gefunden. 
Unter den Schädigungen durch Einathmen von Gasen war indess das allerge¬ 
fährlichste Gas, der Arsen Wasserstoff, besonders hervorzuheben. Auch die Dämpfe 
der Untersalpetersäure bezw. der salpetrigen Säure sind in sanitärer Beziehung 
im höchsten Grade beachtnngswerth, da die Verwendung der Salpetersäure keine 
beschränkte ist, wie Verf. S. 228 vermeint. Die Darstellung der Explosivkörper, 
namentlich des rauchlosen Pulvers, erfordert gegenwärtig grosse Mengen dieser 
Säure. Dagegen haben die Schädigungen in den Spiegelbeleganstalten erheblich 
abgenommen, seitdem Argentum nitric. das Quecksilber vertritt. Freilich muss 
man nicht ausser Acht lassen, dass ein „Leitfaden“ nicht auf alle Einzelheiten 
eingehen kann, sondern sich nur mit den wichtigsten Factoren zu beschäftigen 
hat. Alle Ergänzungen sind ja für den mündliohen Vortrag Vorbehalten, während 
der praktische Arzt in concreten Fällen zur event. Begründung seines Urtheils 
die Hülfsmittel, welche ihm ausführliche Handbüoher darbieten, benutzen wird. 
Immerhin ist das Gärtner’sche Werk insofern werthvoll, als es den neuesten 
Standpunkt der bygienisohen Forschungen vertritt und dazu beiträgt, das Inter¬ 
esse für diese Wissenschaft anzuregen. Eulenberg-Bonn. 


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208 


Kleinere Mitteilungen. Referate, Literaturnotizen. 


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b) Geriehtsärztliches. 

Rudelf Yirehew, Die Sectionstechnik im Leicbenhause des Charitö-Kranken- 
hanses, mit besonderer Rücksicht auf geriGhtsärztliehe Praxis. Im An¬ 
bange: Das preussisebe Regulativ für das Verfahren der Gerichtsärzte 
bei den gerichtlichen Untersuchungen menschlicher Leichen vom 13. Febraar 
1875. Vierte Auflage, mit 4 Abbildungen im Text. Berlin, Hirschwald 
1893. 114 S. 

Das zuerst als „erweiterter Abdruck aus den Charitä-Annalen' 1 heraasge¬ 
gebene, für die gerichtsärztliche Praxis kaum entbehrliche Anleitungswerk hat 
in. der vorliegenden vierten Auflage seine Gestalt in mehrfacher Richtung ver¬ 
vollkommnet. Zunächst bieten sich die vier Abbildungen (das Herz und die Er¬ 
öffnung der Brusthöhle betreffend) so wie sie jetzt in den Text mit einbezogen 
sind, dem Studium bequemer dar. 

Vor dem Abdruck des „Regulativs 11 sind dann einige neue Bemerkungen 
eingeschaltet über die Eröffnung der Nebenhöhlen des Kopfes, veranlasst 
in erster Reihe durch die notwendige Rücksicht, welche auf die Pietätsan¬ 
schauungen zu nehmen ist. Es folgt eine Notiz über die Flüssigkeit des Capil- 
larbluts in der Leiohe, und endlich stellt V. noch diejenigen Veränderungen 
kurz zusammen, welche nur durch das Mikroskop bezw. dieLoupe erkennbar, 
aber für die Deutung des Leichenbefundes von hervorragender Wichtigkeit sind. 

Es werden diese Bereicherungen in Verbindung mit dem älteren Inhalt des 
bekannten Buches den Interessenten (auch in dem Gewände der neuen vornehmen 
äusseren Ausstattung, welche dasselbe erhalten hat) hoch willkommen sein. 


Fr*f. A. Paltaaf, Ueber das falsche Lymph-Extravasat. Prager med. 

Wochenschrift. 1892. No. 33. 

Verf. hatte bei den Leichen mancher Individuen, welche naoh sohwerer 
Verletzung innerhalb kürzester Zeit oder sofort gestorben waren, blutige Suffu- 
sionen oder seröse Durchtränkungen gefunden, welche mit den von Lesser be¬ 
schriebenen Lymphorrbagien übereinstimmten, mit den ächten Lymphextravasaten 
Gussenbauer’s aber Nichts gemein hatten. Lesser hielt seine Lymphorrhagien 
mit denen Gussenbauer’s für identisch. Einen Unterschied zwischen beiden 
beschreibt Verf., indem er betont, dass erstere aus einem von seröser Infiltration 
wie von einer Randschioht umgebenen Blutgerinnsel, letztere nur oder fast nur 
aus seröser, in einer traumatischen Höhle gelegenen Flüssigkeit bestehen. 

Den von Lesser beobachteten Befund fand P., wenn er eine Ganüle in die 
Carotis des Versuchstieres einband, an diese mittelst Sohlauohes eine zweite Ca- 
uüle anschloss und durch letztere in das Unterhautgewebe des Thieres Garotis¬ 
blut einführte. Zu derselben Zeit, zu welcher Blut, welches aus derselben Ganüle 
in eine Schale gelassen war, anfing, eine Trennung von Serum und Blutkuchen 
erkennen zu lassen, zeigten auch die künstlichen Extravasate schon einen fest¬ 
geronnenen Blutkuohen, in dessen Umgebung das Zellgewebe feuoht glänzend 


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Kleinere Mittheilungen, Referate, Literaturnotizen. 


209 


und gering ödematös durchtränkt erschien. Nach einer halben Stnnde and mehr 
erschien der Blutkachen dichter und trockener und von einer ein Centimeter oder 
breiteren Zone umgeben, welche von gelblioher, klarer, nicht gerounener Flüssig¬ 
keit durchsetzt war und sich scharf gegen den Blutkuchen abgrenzte. Die Flüssig¬ 
keit Hess sioh aus dem Gewebe völlig herausdrücken. 

Um völlig jede Möglichkeit eines Lympheergusses auszusohliessen, führte 
Verf. die Ganüle auch in das Unterhautgewebe mensohlioher Leichen. Das Er- 
gebniss war dasselbe. Dass die Ursache dieser Erscheinung nur der Gerinnungs¬ 
vorgang im Bluterguss war, erhellte aus Gontrolversuohen mit gerinnungsunfähig 
gemachtem Blute. Der serös-ödematöse Hof blieb aus, wenn gerinnungsunfahiges 
Blut dem leben den Thiere eingespritzt wurde. 

Die Leiohenversuohe beweisen die Möglichkeit des qu. Befundes unter Um¬ 
ständen, welche eine Lymphorragie völlig aussohliessen. 

Endlich deducirt Verf. aus Geschwindigkeit und Druck der Blut- und 
Lymphebewegung, dass ein grösseres Lymphextravasat wohl nach längerer Zeit, 
nicht aber in wenigenSecunden oder Minuten sich entwickeln kann, zumal wenn 
in Folge von Blutverlusten oder von Herzschwäohe der Seitendruck in Blut- und 
Lymphgefässen gesunken ist. 

Das Fehlen von ödematösen Durohtränkungen in der Umgebung einer Hä- 
morrhagie kann auf unvollkommener Gerinnung, ungleiohmässiger Vertheilung 
des Serams, aber auch auf bereits erfolgter Resorption des Serums beruhen. Es 
würde also ein solcher Mangel eines serösen Hofes beweisen, dass das Extravasat 
schon einige Zeit vor dem Tode entstanden sei. 

Die angeblichen Lymphorrhagien nach Verletzungen, welche kurze Zeit oder 
unmittelbar vor dem Tode zugefügt wurden, sind daher lediglich Gerinnungser- 
scheinungen, keine wirklichen Lymphorrhagieen. Andererseits dürfen derartige 
ödemalöse Durchfeuchtungen in der Umgebung des Extravasates nicht für vitale 
Reaotion, sondern eher gegen dieselbe geltend gemacht werden, da ihr Fehlen, 
weil eventuell durch Resorption bedingt, eine Fortdauer des Lebens naoh der 
Entstehung des Extravasates voraussetzt. Flatten-Wilhelmshaven. 

Ueber den Zwergwichs ii anatomischer and gerichtsäritlicher Beziehung nebst 
Bemerkungen aber verwandte Waehsthamsstörnngea des menschlichen Ske¬ 
lettes. Von Dr. A. Paltauf. Wien 1891 bei A. Holder. Mit 3 Tafeln. 

Die Seotion eines 49 Jahre alten Zwerges gab dem Verfasser Anlass zur 
ausgiebigen Untersuchung des Skelettes, welohe in anatomischer, anthropolo¬ 
gischer und forensisoher Hinsicht bemerkenswerthe Ergebnisse lieferte. Die 
gleich verdienstvolle wie gründliche Arbeit ergab naturgemäss eine Menge Details, 
für deren Wiedergabe es an dieser Stelle des Raumes ermangelt. Da sie den 
Gegenstand soweit als möglich ersohöpft, bildet sie eine wesentliche Grundlage 
für weitere einschlägige Untersuchungen und einen werthvollen Führer bei der 
forensischen Beurtheilung ähnlicher Skeletanomalieen. Auch die mikroskopischen 
Befunde der wesentlichen Skelettbeile wurden berücksichtigt. Die Arbeit sei 
daher dem Studium des Gerichtsarztes bestens empfohlen. 

Flatten-Wilhelmshaven. 


Vierteljahraeohr. f. ger, Med. Dritte Folge. V. 1. 14 


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Kleinere Mittheilungen, Referate, Literatornotizen. 


c) PsychtptthoUglscbes. 

Pref. Ir. R. vai Kraft-Ebing, Lehrbuch der geriohtliohen Psyohopatho- 
logie. Mit Berücksichtigung der Gesetzgebung von Oesterreich, Deutschland 
und Frankreich. Dritte umgearbeitete Auflage. Stuttgart, Ferdinand Enke, 
1892. XVI und 488 Seiten. 

Im obigen Lehrbuoh wurde die Eintheilung der beiden voraufgegangenen 
Auflagen: „Buch 1 Die Beziehungen zum Criminalreoht“, — „Buch II Die Be¬ 
ziehungen zum Civilreoht“ — ebenso wie die Capiteleintheilung der beiden 
Büoher, als vollauf im günstigen Sinne erprobt, beibehalten. So findet (ad I) 
das Princip der forensischen Psychologie — Willensfreiheit, dann die Zurechnung 
und Zurechnungsfähigkeit nebst den sie betreffenden rechtlichen Grundsätzen; 
die Stellung und Aufgabe des ärztliohen Technikers im Criminalforum; der ärzt¬ 
liche Nachweis geistiger Krankheit; die Simulation des Irreseins; das Alter der 
strafrechtlichen Unreife; die psychischen Entwicklungshemmungen, die Taub¬ 
stummheit ihre Würdigung. Kapitel IX dieses Buches „Geisteskrankheiten“ bildet 
den Mittelpunkt der Darstellung (124 Seiten). Dann folgen hier nooh (Kap. X) 
Nervenkrankheiten mit psychischer Störung (Anhang: Traumatische Neu¬ 
rose); — ferner die psychischen Entartungen; die Zustände krankhafter Be¬ 
wusstlosigkeit; alsdann die Verbreohen und Vergehen an Geisteskranken, — 
fälschliche Anschuldigungen von Seiten Geisteskranker, — Versetzung in Geistes¬ 
krankheit, — Haftfähigkeit mit Bezug auf die psyohisohe Gesundheit. Damit er¬ 
scheinen alle Beziehungen zum Criminalreoht erschöpft. 

Die Beziehungen zum Civilreoht finden sich in 8 Abschnitten: Dispositions¬ 
fähigkeit — Entmündigungsverfahren — Aufhebung der Curatel — Streitige 
Dispositionsfähigkeit Niohtentmündigter — Psyohopathisohe Zustände in Bezug 
auf Ehefähigkeit und Ehescheidung — Schadenersatzpflicht Geisteskranker — 
Zeugnissfähigkeit in psychopathischen Zuständen und Testirfähigkeit — duroh- 
gesprochen. 

Sehr glüoklioh erscheint in der Allgemeinen Disposition des Werkes die An¬ 
ordnung gewählt, alle Beziehungen zum Verwaltungs- und Polizeireoht in einem 
besonderen Anhänge unterzubringen, in welchem also der Lernende die Bestim¬ 
mungen über Aufnahme und Entlassung, die staatliche Beaufsichtigung der 
Irrenanstalten, die Concession zu deren Errichtung, Gemeingefährlichkeit und 
zwangsweise Internirung, staatliche Fürsorge und Beaufsichtigung extraner Irren 
— kurz: die Punkte des als „Irrengesetzgebung“ bezeiohneten Fachgebietes 
studiren kann. 

An 209 Beobachtungen des Praktikers Kraft-Ebing, einer vorzüglioh 
ausgewählten Casuistik, sind die Anschauungen des Forsohers, Klinikers und 
Lehrers verdeutlicht; literarische Quellen sind überall in derjenigen Vollständig¬ 
keit und Auswahl mitgetheilt, welohe nützt und anregt, ohne zu überlasten. 

Für die Freunde der früheren Auflagen des unentbehrlichen Buohes wird 
es von Interesse sein zu erfahren, dass die Absohnitte „Wahnsinn“, „Paranoia 
politioa“, „Morphinismus und Coo&inismus“, die „Neurasthenie“, die „Trauma¬ 
tische Neurose“ Neubearbeitungen darstellen, wie sie vordem noch nioht geliefert 


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Kleinere Mittheilungen, Referate, Literaturnotizen. 


211 


werden konnten. Auch die Menstruation in ihrem Einfluss auf das Geistesleben, 
der Eifersüchte wahn, das Irresein in Zwangsvorstellungen, die transitorischen 
Störungen des Geistes bei Gebärenden und Neuentbundenen sind als ganz neue 
Abschnitte zu bezeichnen. 


W. Waadt, Hypnotismus und Suggestion. Leipzig 1892. Engelmann. 
110 S. 

Zeitschrift für lypnstiiaias, Suggestionstherapie, Saggestioaslehre and rer* 
wandte psychologische Vorsehungen. Redigirt von Dr. J. Grossmann, 
Könitz, Westpr. Jahrgang I, Heft 2. Berlin 1892. Brieger. 

Obwohl, nach seinem eigenen Ausdruck, Wundt die Notbwendigkeit, den 
sogenannten Geheimwissenschaften näher zu treten, als eine „unerfreuliche 
Pflioht“ empfindet, hat er sich mit den im Titel genannten Theilgebieten der¬ 
selben vortrefflich auseinandergesetzt. Im Abschnitt I werden die Erscheinungen 
des Einschläferungszustandes in Beispielen, — in II die Physiologie und Psy¬ 
chologie der Hypnose und Suggestion, — in III die Suggestion als experimen¬ 
telle Methode besprochen. Abschnitt IV enthält die praktische Bedeutung des 
Hypnotismus. — Die Frage: „Inwieweit entspricht die Suggestion den Forde¬ 
rungen eines psyobologisohen Experiments?“ — bildet den Kern der Ausein¬ 
andersetzungen. Dass man die Suggestion eben so wenig wie etwa die willkür¬ 
liche Beeinflussung der Träume, die Erzeugung von Halluoinationen durch 
Haschich, Chloroform und Aehnliches den exacten Experimenten zurechnen kann, 
beweist W. in überzeugender und sachgemässer Deduction. 

Den Herren Einschäferern und Einflüsterungskünstlern sind derartige Unter¬ 
suchungen auf der einen Seite willkommen, auf der anderen unbequem. Das 
erstere, weil die Geheimwissensohaften durch die Theilnahme ernster Forscher 
allmälig auf einen anscheinend höheren Curs gehoben werden; das letztere, weil 
vor Solchen jener Nimbus, mit dem man dort den hohlen Kern des Oocultismus 
doch so gern umgeben sehen möchte, an allen Stellen brioht und reisst. Dieser 
Unbehaglichkeit bat denn auch ein Pro domo-Referat in dem Heft 2 der über- 
schriftlich genannten „Zeitschrift“ einen reichlioh bemessenen Ausdruok ver¬ 
liehen. — 

Da übrigens Herr Dr. Hans Sohmidkunz wiederholt auf unser objectives 
Referat im Januarheft dieser Vierteljahrsschrift 1892, S. 221, zurüokkommt und 
dessen Sohluss „Sapienti sat“ bemängelt, komme ich seinem Ansuchen um „Be¬ 
richtigung“ dieser Interjeotion gern entgegen und muss nun sagen: Sapientibus 
nullo modo nunquamve satis. Es wird weiter disontirt werden müssen — auoh 
über Einflüsterei, Träumerei, Gedankenlesen und sonstigen Zauber. Doch wäre 
Kürze hierbei des Themas Würze. Wern ich. 


14 * 


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Kleinere Mitteilungen, Referate, Literaturnotizen. 


RefMll L. Strack, Dr. theol. und Prof. e. o. der Theologie an der Universität 
Berlin, Der Blutaberglaube in der Menschheit, Blutmorde und 
Blutritus. Zugleiob eine Antwort auf die Herausforderung des Osservatore 
cattolioo. Vierte neubearbeitete Auflage. München 1892. 155 Seiten. 

Wir haben die Beziehungen, welche das Buch Straok’s zu einigen in der 
„ Wissenschaftlichen Deputation“ verhandelten Vorfällen hat, im II. Band, dritter 
Folge dieser Vierteljahresschrift, Seite 398, dargelegt. Eine in weite Kreise ge¬ 
tragene Polemik gegen dasselbe, Angriffe, die sioh keineswegs immer in den 
Grenzen wirklicher Loyalität bewegten, mussten den Verfasser anregen, in einer 
neuen Auflage eine Zurückweisung eintreten zu lassen. Aus 59 Seiten der ersten 
Auflage sind jetzt 155 geworden. Als neu hinzugekommene Abschnitte sind Ab¬ 
schnitt XI.—XIII. (Der Bfutaberglaube als Veranlassung von Verbrechen „Blut¬ 
morde“, — Der Aberglaube bei Wahnsinnigen. Verbrechen aus religiösem Wahn¬ 
sinn, Menschenopfer, Blutritus) und XVII.—XIX. (welche letzteren die Polemik 
hauptsächlich umfassen) zu bezezeichnen. Dem sogenannten Xantener Falle sind 
in der Vorrede mehrere Bemerkungen gewidmet. Wir wiederholen hier gern die 
Bitte des Verfassers, ihm Ergänzungen, Berichtigungen, besonders auch Selbst¬ 
erlebnisse, die in diesem oder im bestätigenden Sinne zu verwerthen wären, zu¬ 
gehen zu lassen. Auch eine an sich unbedeutende Notiz kann durch den Zusam¬ 
menhang, in den sie gebracht wird, Werth erhalten. 


d) NihriifontteMlygiae. 

ir. SehUmpp (an der thierärztliohen Hoohschule in München), Die Fleisch¬ 
beschau-Gesetzgebung in den sämmtliohen Bundesstaaten des 
Deutschen Reiches. Zum Gebrauche für Staats- und städtische Behörden, 
Polizoi- and thierärztliche Beamte und Thierärzte. Enke. Stuttgart 1892. 

Der Verf. wünscht sein umfangreiches — 494 Seiten enthaltendes — Werk 
in den Dienst der Aufgabe zu stellen, dereinst die jetzige Fleischbeschau-Gesetz¬ 
gebung besser auszubauen und zu entwickeln. Er ging von der Meinung aus, 
dass, wer sich sein Urtheil darüber zu bilden wünscht, ob und in welcher Weise 
die Deutsche Fleischbeschau-Gesetzgebung geändert werden soll oder muss, das 
Bedürfniss und die Verpflichtung hat, über die gegenwärtig in Kraft stehenden 
gesetzlichen Bestimmungen sich zu informiren. Viele Persönlichkeiten dürften 
es wohl kaum sein, denen eine ganz in’s Einzelne gehende Kenntniss dieser Be¬ 
stimmungen inne gewohnt hat. Als Basis für etwaige Reformarbeiten schien es 
sonach unumgänglich, die mehreren Tausende von Paragraphen in einer Samm¬ 
lung wie die vorige zu vereinigen: nur auf einer derart sicheren Basis lässt sich 
ein Vorwärtsschreiten zum Vollkommenen denken — sei es, dass man, wie bisher, 
den einzelnen Bundesstaaten überlässt, ihren berechtigten regionären Eigenarten 
weiter gerecht zu werden; — sei es, dass eine glelchmässige Ordnung dieser 
schwierigen Materie in absehbarer Zeit duroh ein Reichsgesetz erfolgen soll. 


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Kleinere Mittbeilungen, Referate, Literaturnotizen. 


213 


Für seine eigene Wissensgrundlage bat Sobl. nach einer nooh viel mehr ge¬ 
sicherten Stellung gestrebt und seine Aufgabe entsprechend höher aufgefasst. 
Er bat eine lüokenlose Sammlung der einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen 
aller europäischen Gulturstaaten druokfertig liegen. Möge ihm der erwartete Er¬ 
folg seines Werkes, soweit dieses bis jetzt an die Oeffentliohkeit gelangte, nicht 
ausbleiben und die Veranlassung werden, dass der noch rückständige Theil in 
ebenso vorzüglicher Ausstattung bald naohfolgen kann. 


Br. aed. Robert tstertag, Professor an der thierärztlichen Hochschule in Berlin, 

Handbuch der Fleischbeschau für Thierärzte, Aerzte und Richter. 

Mit 108 in den Text gedruckten Abbildungen. Enke. Stuttgart 1892. 568 S. 

Verf. bezeichnet selbst als Neuerung in seinem Werk die Durchführung der 
Diagnostik und der Differentialdiagnostik bei der Fleiscbsobau, den Versuch, die¬ 
selbe als angewandte pathologische Anatomie, Parasitologie und Bakteriologie zu 
behandeln. Dennooh galt ihm als unausweichliche Pflicht die strenge Rücksicht¬ 
nahme auf den Wortlaut der bestehenden Gesetze und die Vermeidung willkür¬ 
licher, in den Gesetzen nicht vorfindlioher Ausdrüoke. Von einer normalen Ana¬ 
tomie der Schlachtthiere und der einzelnen Organe dürfte das Handbuch, wie 0. 
näher rechtfertigt, nicht Umgang nehmen. Sie bildet den 5. Abschnitt desselben, 
welchem 1. Allgemeines über Fleischbeschau, — 2. Die reichsgesetzliohen Grund¬ 
lagen für die Regelung des Fleisohverkehrs, — 3. Schlaohtbare Hausthiere (Be¬ 
sichtigung derselben vor dem Schlachten, Schlachtmethode, Gang des gewerbs¬ 
mässigen Schlachtens) — und 4. Untersuchung der ausgeschlachteten Thiere — 
voraufgehen. Die unter 6. behandelten, „von der Norm abweichenden physiolo¬ 
gischen Verhältnisse, welche sanitätspolizeilicbes Interesse haben*, folgen un¬ 
mittelbar auf die normalen; dann 7. Allgemeine Schlachtthiere vom Standpunkt 
der Sanitätspolizei, — 8. Besonders erwähnenswerthe Organ-Krankheiten, — 
9. Blutanomalien, — 10. Vergiftungen, Medicamentwirkungen, Autointoxica- 
tionen, — 11. Thierische Parasiten (Invasions-), — 12. Pflanzliche Para¬ 
siten (Infections-Krankheiten), — 13. Nothschlachtungen und damit Zusammen¬ 
hängendes, — 14. Postmortable Veränderungen, — 15. Mehlzusatz zu Würsten, 
Färben und Aufblasen des Fleisches, — 16. Conservirung, — 17. Kochen, Dampf¬ 
sterilisation, unschädliche Beseitigung des Fleisches bilden den Sohluss. — Der 
reiche Inhalt, wie er schon aus dieser kurzen Inhaltsangabe erhellt, wird uusere 
Leser von der Nützlichkeit des Buchs für den Arzt und Gerichtsarzt überzeugen. 


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214 


Kleinere Mittheilungen, Referate, Literaturnotizen. 


e) BitUgisehe ud Hygienische Tagesfragei, 

ir. Ceutiitli liifmu, Handbuoh der Unfallversicherungen — mit 
Berücksichtigung der deutschen, österreichischen und schweize¬ 
rischen Unfallpraxis. Für Aerzte, Versicherungsbeamte und Juristen. 
Stuttgart. Enke. 1893. 256 S. 

Verf., Docent für Chirurgie an der Universität Zünoh, erkennt die medioi- 
nischen Speoialarbeiten auf dem von ihm neubearbeiten Gebiete voll an. Er er¬ 
wartet jedoch einen besonderen Vortheil für die Kreise, denen die Bearbeitung 
zu Gute kommen soll, von der vergleiohsweisen Betrachtung der Unfallpraxis, 
wie sie sich in den übersohriftlioh genannten drei mitteleuropäischen Staaten- 
complexen entwickelt hat. So wird denn die principielle Stellung, welche 
Deutschland, Oesterreich und die Schweiz zu den durch die Unfallgesetzgebung 
geschaffenen Anforderungen einnehmen, zur Fragestellung wesentlich mitbenutzt 
und in den zwei Theilen des Handbuchs der Durcharbeitung unterzogen: im 
ersten Theile bezüglich der allgemeinen Gesichtspunkte für die Untersuchung und 
Beurtheilung der Fälle, — im zweiten Theile mit besonderer Berücksichtigung 
des Heilverfahrens den Unfallverletzungen gegenüber und deren Folgen für die 
Erwerbsunfähigkeit. 

Von den Entschädigungsbestimmungen wünscht Verf., dass die hierzu den 
Grund abgebenden Entscheidungen der Versicherungsbehörden von diesen über¬ 
sichtlicher und vollständiger zugänglioh gemacht werden möchten, als bisher. 
Erst dann wird von den Aerzten eine solche Schätzung der Unfallfolgen bewirkt 
werden können, um eine Grundlage für das Maass der jeweiligen Entschädigung 
zu sohaffen, welches von vornherein zu beurtheilen, die Aerzte ja weder an der 
Hand ihrer Studien, noch nach ihrer Sondererfahrung befähigt sind. Dass K.’s 
Werk nach allen Seiten bereichernd und wegweisend wirken wird, ist bei seiner 
Vollständigkeit sicher zu erwarten. 


Br. Th. Wejrl, Studien zur Strassenbygiene mit besonderer Berück¬ 
sichtigung der Müll Verbrennung. Reisebericht, dem Magistrat der Stadt 
Berlin erstattet, mit dessen Genehmigung erweitert und veröffentlicht. Mit 
5 Abbildungen im Text und 11 Tafeln. G. Fischer. Jena 1993. 142 S. 

Der durch den Titel in ihren Hauptzügen dargelegten Entstehungsgeschichte 
der W.’schen Sohrift wäre ergänzend noch hinzuzufügen, dass die Studien für 
den X. (Londoner) internationalen Gongress und auch zeitlich im Zusammenhänge 
mit demselben angestellt worden sind. Der erste Abschnitt des Berichts enthält 
Beobachtungen, Erkundigungen und literarische Ermittelungen über Verkehr, 
Pflaster, Strassenreinigung, Bedürfnisanstalten und Beseitigung der städtischen 
Abfallstoffe in Brüssel, Paris und London, während im zweiten Absohnitt ein Bild 
von dem Stand der Verbrennung städtischer Abfallstoffe in England gegeben 
worden ist. 

Viele beispielgebende und verwerthbare Thatsaohen finden sich in beiden 
Abschnitten; dooh gebührt dem zweiten vornehmlich die Werthsohätzung einer 


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Kleinere Mittbeilungen, Referate, Literaturnotizen. 


215 


im besten Sinne agitatorischen Schrift, da Verf. hier jeden Pnnkt auf seinen 
wahren Werth zu prüfen bemüht ist, der vom Standpunkt unserer heimisohen 
Verhältnisse als fordernd oder widersachlich in den bezüglichen Discussionen 
vorgebracht zu werden pffegt. Die Abbildungen dienen vorwiegend der Verdeut¬ 
lichung der Mülltransport- und Müllrerniohtungs-Apparate. — Jedenfalls darf es 
als ein praktischer Erfolg der Studien und Berichterstattung W.’s betrachtet 
werden, dass die städtische Baudeputation vom Berliner Magistrat zur Herstel¬ 
lung von Versuohsbauten zur Müll-Destruction bereits mit Auftrag versehen 
worden ist. 


C. J. Ck. liMeratii (Baudirector) und L Rappel (Bauinspeotor), Das neue 
allgemeine Krankenhaus in Hamburg-Eppendorf. Nach amtliohen 
Quellen dargestellt. Mit 7 Kupfert. Wilh. Ernst. Berlin 1892. 16 S. Text. 

Die vorstehende elegant ausgestattete Monographie kann als eine Muster¬ 
vorlage für ähnliohe Beschreibungen gelten. Jede der zahlreichen Localitäten ist 
eingehend geschildert und nach Bedürfniss in Abbildungen veranschaulicht — 
nooh abgesehen von den Kupfertafeln. Diese letzteren bringen Uebersichtsdar- 
stellungen, Qrund- und Aufrisse, welche dem Sachkundigen keine Aufklärung 
sohuldig bleiben. Auf der 7. Tafel sind besonders die Details, betreffend die 
Bettstell- und Wascheinricbtuagen, wiedergegeben. 


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IV. Amtliche VerfQgungen. 


4. Cholera betreffend (die grundlegenden Anweisungen für die 
1992er Epidemie vom 28. Juli 1892 brachte bereits das Supplement- 
Heft zum IV. Bande). Es ergingen ferner: 

a) Rnnderl&ss, betreffend telegraphische Anzeigen über Cholera- 
Erkrankungs- und Todesfälle unterm 27. August; — 

b) Runderlass des Ministeriums des Innern, betreffend Massnahmen 
gegen die Cholera unterm 1. September; — (Anlage I: Liste 
der Cholerafälle und Muster für die Zählkarte, — II. Naoh- 
weisung über den Stand der Cholera, — III. Grundsätze für 
das Verhalten d. Eisenbahn-Pers., — IV. Desinfection, — 
V. Populäre Belehrung); — 

c) Runderlass des Ministeriums des Innern pp., betreffend behörd¬ 
liche Schutzmassregeln gegen Cholera vom 8. September; — 

d) Runderlass des Ministeriums der öffentlichen Arbeiten, betreffend 
Verhaltungsmassregeln für das Eisenbahn-Personal unterm 
1. September; — 

e) Runderlass des Ministeriums der Medioinal-Angelegenheiten, betr. 
bakteriolgisohe Untersuchungen der ersten Erkrankungen 
an Cholera; — Versendung von Untersuchungs-Objekten und 
Cbolerakulturen unterm 25. August; — 

f) Runderlass des Ministeriums der Medioinal-Angelegenheiten und des 
Innern, betreffend die nämlichen Gegenstände wie sub bV und 
sub e — vom 8. September; — 

g) Runderlass des Ministeriums der Medioinal-Angelegenheiten, betr. 
Inanspruchnahme der Königl. Sanitätsämter der General- 
Commmandos Seitens der Civilbehörden für bakteriologisoheUnter¬ 
suchungen vom 6. Septbr.; — 

h) Rundschreiben des Reichskanzlers, betreffend Reiobsoommissar für 
die Gesundheitspflege im Stromgebiete der Elb‘e vom 11. Sep¬ 
tember; — 


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Amtliche Verfügungen. 


217 


i) Randsohreiben des Reichskanzlers, betreffend Errichtung einer 
Cholera - Commission im Kaiserl. Gesundheitsamt vom 
11. September; — 

k) Randerlass des Ministeriums des Innern pp., betreffend sanitäts¬ 
polizeiliche Controlle der Post- and Eisenbahn-Beamten 
vom 5. September; — 

l) Randerlass des Ministeriums der Medicinal-Angelenheiten, be¬ 
treffend Aborte in den Eisenbahnzügen vom 3. September; — 

m) Gemeinsamer Randerlass der betheiligten Ministerien, betreffend 
freien Verkaaf von Desinfectionsmitteln auch Sonntags etc. 
vom 13. September; — 

n) Randerlass des Ministeriums der Medioinal-Angelegenheiten pp., 
betreffend Beschaffung lOprocent. Carbolsäure, vom 20. Sep¬ 
tember; — 

o) Randerlass des Ministeriums derMedicinal-Angelegeheiten, betreffend 
die Cholera - Erkrankungs- and Todes - Anzeigen, vom 
23. September; 

r p) Schreiben des Reichskanzlers, betreffend Desinfeotion der aas 
Hambarg kommenden WaarenSendungen, vom 3. Octbr.; — 

q) Gemeinsamer Randerlass der betheiligten Ministerien, betreffend 
Einfahr- und Durchfuhrverbot gegenüber der Nieder¬ 
lande, vom 4. October; — 

r) Randerlass des Ministeriums des Innern pp., betreffend Kosten 
für die Unterbringung cholerakranker Reisender, vom 
16. September; — 

s) Schatzmassregeln für die Schiffer gegen Cholera (Kaiserl. Ge- 
sandheitsamt) vom 6. October; — 

t) Randerlass des Ministeriums der Medioinal Angelegenheiten, be¬ 
treffend Berichterstattung über Cholera-Erkrankungen, 
vom 14. October; — 

u) Randerlass des Ministeriums des Innern pp., betreffend Post- and 
Packetsendungen von Hamburg, vom 11. October; — 

v) Runderlass des Ministeriums des Innern pp., betreffend Versendang 
spanischer Weintrauben in Fässern über Hambarg, vom 
15. October; — 

w) Runderlass des Ministeriums der öffentlichen Arbeiten, betreffend 
Massregeln gegen die Cholera zum Schutz der Arbeiter im staat¬ 
lichen Baubetriebe, vom 15. October. 

(Ausserdem 8—10 Erlasse, betreffend die Aufhebung der obigen extra- 
ordinären and Sonder-Massregeln.) 


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218 


Amtliche Verfügungen. 


B. Anderweite Verfügungen: 

Rinderlass des Ministers der i. s. w. Medicinal-Angelegenheiten vom 26. Sep¬ 
tember 1892 betr. Verkauf van Mineralwässern anf den Strassen n. s. w. 

Von beachtenswerter Seite ist darauf hingewiesen worden, dass die auf 
den Strassen u. s. w. feilgehaltenen Mineralwasser, wie Selterser-, Soda-Wasser 
u. a. m. an die Abnehmer stets eiskalt verabfolgt werden und dass der Genuss 
so kalten Wassers, welches schon in normalen Zeiten leicht ernste Verdauungs¬ 
störungen von längerer Dauer nach sich ziehe, beim Drohen der Cholera die Nei¬ 
gung zu ähnlichen Krankheiten befördere. 

Ew. Hochwohlgoboren ersuche ich ganz ergebenst, die Verkäufer von Mineral¬ 
wässern im Ausschenken gefälligst anzuweisen, dieses Getränk fernerhin, gleich¬ 
viel, ob Cholera droht oder nicht, und in einem der Trinkwasser-Temperatur 
entsprechenden Wärmegrade von etwa 10° C. abzugeben und das Publikum vor 
dem Genurr eiskalter Getränke überhaupt, insbesondere aber der Mineralwässer 
zu warnen; die bezüglichen Bekanntmachungen wollen Ew. Hoohwohlgeboren 
jährlich öfter gefälligst wiederholen. 

gez. Bosse. 

An sämmtliche Königl. Regierungspräsidenten. 


Erlass des ministen der u. s. w. Medieinal-Angeiegenheiten vom 
27. September 1892 betr. Beschaffung von Bieustexemplaren des neuen 
Hebammenlehrbuchs für die Kreisphysiker. 

Ew. Hochwohlgeboren erwidere ich auf den Bericht vom 14. September 
d. J., dass die Beschaffung von Dienstexemplaren des neuen Hebammenlehrbuchs 
für die Kreisphysiker aus Staatsmitteln Mangels geeigneter Fonds nicht zu 
ermöglichen ist. 

gez. I. A. Bartsoh. 

An den Königl. Regierungspräsidenten zu M. etc. 


Runderlass des Ministers der u. s w. Medici aal-Angelegenheiten 
vom 18. fetober 1892 betr. Prüfung des Physikatsgntaehten über Anlage von 
Begräbnissplätieu dureh den Regierings- nnd Medieinal-Rath. 

Nach dem durch die Verfügung vom 20. Januar d. J. — M. N. 9127 G I 
G II G III — die Gesichtspunkte bezeichnet worden, welche für die amtsärztliche 
Begutachtung von Grundstücken zu Neuanlagen oder Erweiterung von Begräb- 
nissplätzen massgebend sind, bestimme ich hierdurch, dass jedes Physikats-Gnt- 
achten über derartige Neuanlagen oder Erweiterungen von dem zuständigen Re¬ 
gierungs- und Medicinal Rath geprüft und mit einem Vermerk, dass dies geschehen, 


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Amtliche Verfügungen. 


219 


versehen werde. Im Falle das amtsärztliche Gutachten der Verfügung vom 
20. Januar d. J. nioht genügt, ist dasselbe zur Vervollständigung an den Gut¬ 
achter zurüchzugebeD. 

Bei den Anträgen auf Ertheilung meiner Genehmigung zu dergleichen 
Projekten ist der Regierungs- und Medicinal-Rath als Mit-Berichterstatter zu 
betheiligen. 

Ew. Hochwohlgeboren ersuche ich ergebenst, soweit hiernach dort bisher 
noch nicht verfahren sein sollte, demgemäss das Weitere gefälligst zu ver¬ 
anlassen. 

gez. I. A. Bartsch. 

An sämmtliche Königl. Regierungspräsidenten. 


Erlass des flinisters der i. s. w. nediciaal Angelegenheitea betr. Verbereitaag 
einer neuen ledicinal-Taxe von 19. November 1892. 

Es ist allgemein anerkannt, dass die Taxe für die Medicinal-Personen vom 
21. Juni 1815 den jetzigen Verhältnissen nicht mehr entspricht. Nachdem in 
neuerer Zeit auch mehrere Aerztekammern diese Angelegenheit erörtert haben 
und einzelne deshalb bei mir vorstellig geworden sind, habe ich den Erlass einer 
neuen Taxe auf Grund des § 80 der Reichsgewerbe-Ordnung als Norm für strei¬ 
tige Fälle beim Mangel einer Vereinbarung in Aussioht genommen. 

Hierbei ist es mir wünschenswert zunächst über die folgenden allgemeinen 
Fragen, welche für die Behandlung der Sache von besonderer Wichtigkeit sind, 
die Aerztekammer gutachtlich zu hören: 

I. Erscheint es zweckmässig, eine einheitliche ärztliche Taxe für die ganze 
Monarchie, oder besondere Taxen für die einzelnen Provinzen zu erlassen, 

eventuell unter Berücksichtigung der Verhältnisse des flachen Landes und 
der kleinen Städte einerseits und der grossen und grösseren Städte andererseits? 

II. Empfiehlt sich der Erlass einer Taxe, in welcher nur der Mindestbetrag 
der zu gewährenden Gebühren bestimmt wird, oder einer solchen, welohe einen 
Mindest- und einen Höchstbetrag feststellt? 

Im ersteren Falle wäre die wetiere Frage zu berücksichtigen, wann eine 
solche Taxe zur Anwendung zu bringen sein würde, ob z. B. auch dann, wenn 
die Zahlung der Gebühren aus Staats- oder Kommunalmitteln oder aus Gewerks- 
Krankenkassen etc. zu erfolgen hat. 

Im zweiten Falle würde es sich fragen, nach welchen allgemeinen Gesichts¬ 
punkten die Festsetzung einer ärztlichen Forderung innerhalb der durch die 
Taxe festgesetzten Grenzen zu erfolgen hätte. 

III. Nach welchen Gesichtspunkten wird die Frage zu behandeln sein, ob 
und in welchem Maasse dem Arzte, falls er beim Besuche eines Kranken einen 
längeren und zeitraubenderen Weg zurückzulegen hat, neben der Gebühr für die 
ärztliche Verrichtung Entschädigungen für die Fuhrkosten etc. und die Zeitver- 
säumniss zuzubilligen sind, und zwar: 

1. wenn der Besuch einem ausserhalb des Wohnortes des Arztes befind¬ 
lichen Kranken gemacht wird: 


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220 


Amtliche Verfügungen. 


2. wenn der Kranke sich am Wohnorte des Arztes befindet, letzterer aber 
entweder 

a) den Besuch von seiner Wohnung aus unternimmt and von dem¬ 
selben in seine Wohnung zurückkehrt, oder 

b) den Besuch im Verlaufe des täglichen Randganges bei seinen 
Kranken erledigt? 

Gw. Excellenz ersuche ich ganz ergebenst, der Aerztekammer der dortigen 
Provinz za einer gutachtlichen Aeasserung hierüber Gelegenheit za geben and 
naoh Eingang derselben gefälligst gutachtlich an mich zu beriohten. 

(gez.) Bosse. 

An sämmtliche Königl. Oberpräsidenten. 


■ ittheilnng. 

Es wird ergebenst mitgetheilt, dass in Folge des Erlasses des Königlioh 
Preussischen Herrn Ministers der geistlichen etc. Angelegenheiten vom 31. Aagast 
d. J. (Vierteljahr8scbiift, IV. Bd., Suppl.-Heft Seite 190) — betreffend die Ein¬ 
führung des handerttheiligen Thermometers — auf diesseitige Veranlassung die 
Buchdrackerel von P. Stankiewicz zu Berlin SW., Bernburgerstrasse No. 14, 
es übernommen hat, die dort erwähnten Umreohnungstafeln herzustellen und za 
nachstehenden Preisen — aassohl. Porto etc. — abzugeben. 


1. 

Kleine Tafeln auf Papier. 

1000 Stück zu 

10,00 Mk. 

2. 

»1 99 

„ gelbem Karton. 

1000 

•9 99 

15,00 „ 


99 99 

»9 99 99 . 

100 

99 9 9 

2,50 ,, 

3. 

9 9 99 

„ starkem weissen Karton, 

r 100 

99 99 

5,00 ,, 



lackirt mit Metallöse . 

l io 

99 99 

1,00 „ 

4. 

Grosse „ 

„ gelbem Karton. 

f 100 

l 10 

99 19 

9 9 99 

5,00 „ 
1.00 „ 

Hiernach wird ergebenst anheimgestellt, den 

dortseitigen Bedarf bei der 


genannten Buchdruokerei anmittelbar zu bestellen. 

Berlin, im October 1892. 

Physikalisch-Technische Reichsanstalt. 

Abtheilung II. 

(gez.) Loewenherz. 


Gedruckt bei Ti. Nrhiiinnclicr in Berlin. 


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I. Gerichtliche Medicin. 


1 . 

Mittheilungen aus dem Institute für gerichtliche Medicin des 
Herrn Hofrathes Prof. E. von Hofmann in Wien. 

I. 

Atypische Lage der Eiaschnssöffniing beim Selbstmord durch 

Schuss iu deu Kopf. 

Von 

Dr. Albin üaberda, 

Assistenten am Institute. 


Es ist eine bekannte Thatsache, dass beim Selbstmord durch 
Schuss in den Kopf die Eingangsöffnung zumeist an ganz bestimmten 
Stellen sitzt, und zwar sind es hauptsächlich die Schläfe, dann Stirne, 
Mund und Kinn, an welchen Stellen Selbstmörder die Schusswaffe 
anzulegen pflegen. Diese Thatsaehen sind uns so geläufig, dass wir 
bei sonst unverdächtigen Umständen und einem solchen Sitze 
der Einschussöffnung, wenn es sich gleichzeitig um einen Nahschuss 
handelt, zunächst an Selbstmord denken und in diesem Sinne auch 
unser Gutachten abgeben. 

Es ist jedoch nicht unwichtig zu wissen, dass Abweichungen von 
dieser Norm in dem Sinne Vorkommen, dass Selbstmörder zuweilen 
die Waffe an Stellen anlegen, die für den ersten Anblick so unge¬ 
wöhnlich erscheinen, dass man leicht in der Diagnose irre gehen 
kann, besonders wenn der Fall sonst nicht aufgeklärt ist und dem 
begutachtenden Arzte keine anamnestischen Daten hilfreich zur Seite 
stehen. 


Yierteljahrochr. f. ger. Med. Dritte Folge. V. 2. 


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222 


Dr. Haberda, 


Ich will mich hier nur auf Kopfschüsse beziehen und die dies¬ 
bezügliche Casuistik durch mehrere im Wiener medicinisch-forensischen 
Institute zur Beobachtung gekommene Fälle bereichern. 

Schon im Jahre 1884 hat vonMaschka 1 ) zwei Fälle von zwei¬ 
fellosem Selbstmord durch Schuss veröffentlicht, in deren einem die 
Einschussöffnung im linken Scheitelbein nahe dem Winkel zwischen 
dem hinteren Ende der Pfeilnaht und der Spitze des Hinterhaupt¬ 
beines sass, während im anderen eine einem Einschuss entsprechende 
Knochensplitterung im linken Scheitelbein entsprechend der Pfeilnaht 
und 15 mm über der Spitze der Lambdanaht sich vorfand. Nur im 
ersteren der beiden Fälle penetrirte der Schuss und wirkte tödtlich, 
während im anderen erst durch einen zweiten in die linke Brust ab¬ 
gegebenen Schuss der Tod herbeigeführt wurde. 

Ein von mir im Sommer 1891 beobachteter und secirter Fall gleicht fast 
völlig dem ersteren Maschka’s: 

Am 26. August v. J. wurde mir die Leiohe eines etwa 30 Jahre alten un¬ 
bekannten Mannes zur sanitätspolizeilichen Beschau vorgelegt. 

Die Untersuchung ergab: Körper 163 cm lang, kräftig gebaut, musoulös, 
todtenstarr. Aus den Nasenöffnungen und dem linken Ohre entleert sich Blot. 
Das rechte obere Augenlid stark geschwellt, weich, schwarzblau; ebenso die Haut 
am linken inneren Augenwinkel. Nach innen vom linken Stirnhöcker eine linsen¬ 
grosse, braunrothe und darunter eine kreuzergrosse, bläulich rotbe Hautvertrock¬ 
nung, welche beide beim Einschneiden weithin suffundirt sind. Beide Hand¬ 
rücken, besonders der linke, stark mit einer dünnen Schicht ge¬ 
ronnenen Blutes bedeokt; Pulverschwärzungen oder -einsprengungen an 
den Händen nicht vorhanden. Sonst war am Körper vorläufig keine weitere Ver¬ 
letzung auffindbar. Da ich aber an Schuss in den Kopf dachte, suchte ich diesen 
— auch die Muudhöhle — genau ab und da fand sich dann am Hinterkopfe 
unter dem Haarwirbel eine rundliche, für die Fingerkuppe passirbare Oeffnung 
mit intensiv geschwärzten Rändern, von der drei je 1 cm lange Strahlen stern¬ 
förmig nach oben, unten und rechts abgingen. Von dieser Wunde aus gelangte 
man in einen in den Schädel sich fortsetzenden fingerweiten Canal, aus dem sich 
Blut und geschwärzte Hirntrümmer entleerten. Die Haare in der Umgebung 
der Wunde waren nicht versengt. 

Aus diesen Befunden war es klar, dass es sich um einen aus 
unmittelbarster Nähe gegen das Hinterhaupt abgefeuerten Schuss 
handle. 

Die polizeilichen Erhebungen stellten den Selbstmord ausser 
Frage. Der Mann hatte sich des Abends in einem stark besuchten 


') Prager med. Wochenschrift. No. 17 des IX. Jahrg. 


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Atypische Lage d. Einschussöffnung b. Selbstmord durch Schuss in d. Kopf. 223 

Pratercafö, aut einem Stuhle sitzend, erschossen. Nachdem die De¬ 
tonation erfolgt war, sah man ihn vom Stuhle sinken und die als¬ 
bald erschienene polizeiliche Commission fand noch in der fest ge¬ 
schlossenen Rechten die Schusswaffe, eine doppelläufige Pistolo von 
9 mm Caliber. Die Durchsuchung seiner Kleider ergab unter Anderem 
eine Schachtel zur Pistole passender Patronen und eine Correspon- 
denzkarte, auf der er Nothlage als Grund des Selbstmordes angiebt. 

Die Section zeigte nun folgendes: 

Die Schädeldecken über der ganzen Convexität mit geronnenem Blute unter¬ 
laufen; ebensolche Blutaustritte auch unter dem Periost und unter den Schläfe¬ 
muskeln. Am Vereinigungspunkt der Pfeil- und Lambdanaht eine unregelmässig 
ruudliche, aussen scharfrandige und nach innen abgeschrägte, bis 12 mm weite, 
stark geschwärzte Oeffnung (siehe Figur l) 1 ), in deren Umkreis die Schädel¬ 
decken in thalergrossem Umfang von Pulver intensiv geschwärzt sind, doch so, 



Fig. 1 


dass die Einschussöffnung excentrisch, näher der oberen Circumferenz der rund¬ 
lichen Schwärzung liegt. Nach Ablösung des Periostes erweist sich das Schädel- 


l ) Die Zeichnungen verdanke ich meinem Freunde Dr. v. Friedländer. 

15* 


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224 


Dr. Haberda, 

dach fast vollständig abgesprengt und zwar beiläufig entsprechend jener Circum- 
ferenz, in der man es bei Sectionen aufzusägen pflegt. Der Sprung klafft am 
stärksten an der Stirne, ist daselbst über der Glabella fast horizontal und steigt 
dann fast symmetrisch nach beiden Seiten über den Arcus superciliares durch 
das Stirnbein nach hinten (siehe Figur2), dann durch den grossen Keilbeinflügel 
und die Schläfeschuppen. Links geht nun dieser Sprung in der Schläfeschuppe 
in eine im hinteren Antheil derselben gelegene, fast senkrechte Fissur über, 
welche auf die Schädelbasis sich fortsetzt, während ihr rechter Antheil durch die 
Schläfeschuppe hindurch in eineDiastase der rechten Lambdanaht und der Sutura 
occipitomastoidea übergeht (Figur 1). Nur links hinten besteht noch durch die 
unversehrte linke Lambdanaht ein fester Zusammenhang zwischen Schädeldach 
und -basis. 



Fig. 2. 


Unter der Knochenlücke zeigt die Dura einen schlitzförmigen Einriss mit 
stark geschwärzton Rändern, durch den man in einen fingerweiten, von stark 
geschwärzten Hirntrümmern erfüllten Schusscanal gelangt, der mit einer rinnen¬ 
förmigen Aufschlitzung der Innenseite des linken sowohl als besonders des 
rechten Hinterhauptslappens beginnt und in der Richtuog von links hinten nach 
rechts vorne und etwas nach unten unter den Ventrikeln durch das Gehirn ver¬ 
läuft und nach einer oberflächlichen Zertrümmerung des rechten Brückenrandes 


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AtypisoheLage d. Einschussöffnung b. Selbstmord durch Schuss in d.Kopf. 225 

hinter dem Chiasma nervorum opticorum endet. Hier liegt in einem 1 cm langen 
Sohlitz der basalen Dura vor dem Foramen jugulare dextrum die stark deformirte 
Spitzkugel mit 8 und 10 mm Durchmesser ihrer Basis. Nachdem die harte Hirn¬ 
haut von dem Schädelgrunde abgelöst war, sah man, dass die beschriebenen 
Sprünge sich sämmtlich auf die Basis fortsetzen und mit Brüchen der Orbital¬ 
dächer und des Keilbeinkörpers endigen. Das Ende des Schusscanales ist am 
Knochen durch eine Absprengung der Spitze der rechten Schläfebeinpyramide 
bezeichnet. Zwischen den Hirnhäuten überall ausgebreitete Hämorrhagien. 

Die weitere Section ergab ausser Ecchymosen an der Mundschleimhaut und 
am Herzen, einem kleinen Tbymusrest und geringgradigen Potatorenbefunden an 
Leber, Magen und Gekrösfett nichts Bemerkenswerthes. 

Am macerirten Sohädel sieht man, dass die Fracturen der Schädelbasis auf 
beide Oberkieferkörper sich fortsetzen. 

Die doppelläufige Pistole war eine fast neue Waffe. Beim Ver¬ 
gleich beider Läufe erweist sich der rechte intensiv geschwärzt, wäh¬ 
rend der linke ziemlich rein war, so dass man in ihm die Züge ohne 
Weiteres verfolgen kann. Auch das spricht dafür, dass der Mann 
mit der rechten Hand abfeuerte, während die linke die Waffe 
offenbar so fest an den Schädel andrückte, dass die ganze 
Ladung unmittelbar in die Schädolhöhle eindrang. Es er¬ 
klärt sich so der völlige Mangel von Versengung der Haare um den 
Einschuss herum, das Fehlen von Schwärzung und Pulvereinsprengung 
an den Händen, die jedoch beide — besonders die linke — mit ge¬ 
ronnenem Blute besudelt waren. Auch die starke Schwärzung des 
Schusscanales, die sich tief hinein erstreckte, ist so leicht begreiflich, 
ebenso wie die fast völlige Absprengung des Schädeldaches und die 
sonstigen reichlichen Fissuren durch den Druck der im Schädelraum 
zur Wirkung gelangten vollen Pulvergase ungezwungen sich erklärt. 

Wenn man dieselbe Waffe am eigenen Hinterkopf anzulegen ver¬ 
sucht, so sieht man, dass dies ganz leicht sei. Ein Selbstmord auf 
diese Weise ist also zwar ein seltenes Ereigniss; doch zeigt dieser 
Fall, dass wir selbst bei so absonderlichem Sitze der Einschuss¬ 
öffnung nicht ohne Weiteres auf das Einwirken einer zweiten Person 
denken dürfen. 

Unser Museum beherbergt noch weitere Präparate von atypischem 
Sitz der Einschussöffnung am Kopfe von Selbstmördern. 

So sitzt am Schädeldach eines 41jährigen Mannes, der sich im Angast 
1883 entleibte, der Einschass im vorderen oberen Winkel des rechten 
Scheitelbeines, 1 cm nach aussen von der Pfeilnabt and 3 mm hinter der 
rechten Kranznahthälfte. Die Oeffnang ist kreisrund, 17 mm weit, die Ränder 
aassen scharf, nach innen terrassenförmig abgesohrägt. Das Stirnbein ist durch 


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Dr. Haberda, 


einen dasselbe balbirenden und vollständig durchsetzenden Spruog gespalten. 
Das Projectil ist eine stark plattgedrückte Spitzkugel mit 8 und 10 mm Duroh¬ 
messer an der Basis. Die kurzen Angaben, die über diesen Fall im Museum - 
katalog eingetragen sind, erweisen ihn als Selbstmord. — 

In einem weiteren Falle von Selbstmord sehen wir die Einschussöffnung 
gerade am rechten Tuber parietale. Der Sobädel stammt von einem jungen 
Menschen, der seine Geliebte und dann sich erschoss. Am Schädel der ersteren 
liegt der Einschuss hinter und über dem rechten Warzeofortsatz, zeigt deutliche 
Abschrägung nach innen und ist mit Fissuren der Basis cranii combinirt. — 
Dass aber auch beim Selbstmofd der Einschuss in der Nähe des 
Warzenfortsatzes gefunden werden kann, beweist uns ein im Museum auf¬ 
bewahrtes, von einem Selbstmörder stammendes Koochenstück, wo eine 7—8 mm 
weite, nach innen abgeschrägte Schusswunde gerade hinter der Basis 
des rechten Warzenfortsatzes sitzt. — 

Neuerdings kam im Institute noch ein weiterer hierhergehöriger Fall zur 
Beobachtung: 

Ein junger Mann von etwa 18 Jahren erschoss sich in einem Hötel. Seine 
Kopfhaare sind stark mit Blut verunreinigt. Drei Queiflnger hinter der vorderen 
Haarwuchsgrenze und zwei Querfinger nach rechts von der Mittellinie des Kopfes 
siebt man zwischen den durch Blut verklebten Haaren eine unregelmässig rund¬ 
liche, zackig gerandete, 4 mm weite geschwärzte Oeffnung, in deren Umgebung 
die Haare deutlich versengt sind. Aus der Oeffnung entleert sich Blut. Die 
Seotion zeigte, dass die Schädeldecken an dieser Stelle mit Blut unterlaufen und 
stark geschwärzt waren. Im Stirnbein, l’/j Querfinger naoh rechts von 
dessen Mitte und 1 Querfinger vor der Kranznaht eine runde, fast 
kreuzergrosse Einschussöffnung. Das Projectil durchdrang Meningen und Hirn 
und lag an der Basis des letzteren innerhalb des Circulus arteriosus Willisii, ohne 
an der Schädelbasis den Knochen irgend zu verletzen. Es ist eine 7 mm breite 
Spitzkugel, deren Spitze gekrümmt und breit gedrückt ist. — 

Als Gegenstücke zu den erwähnten Präparaten weist die hiesige Sammlung 
mehrere Schädel auf, die von Mord fällen herrühren und an denen sich der Ein¬ 
schuss an ähnlich gelegenen Stellen findet, wie in den angeführten Selbstmorden. 
So finde ich unter anderen das Schädeldach eines von Anarchisten erschossenen 
Detectives, wo eine typische kreuzergrosse Einschussöffnung in der linken 
Kranznahthälfte, 2om nach links von dem vorderen Ende der Pfeil¬ 
naht sitzt, und von der ein klaffender Knochensprung naoh rechts hinten bis 
iu’s Hinterhauptbein abgeht. — 

Am Schädel eines ermordeten Mädchen sitzt der Einsohuss im linken 
Scheitelbein etwas vor und über dem Tuber parietale. 

Es beweisen also diese angeführten Fälle wohl zur Ge¬ 
nüge, dass bei einer Kopfschusswunde die Stelle des Ein¬ 
schusses allein kein Kriterium zwischen Mord und Selbst¬ 
mord abgiebt, und dass demnach in einem concreten Falle, wenn 
auch die Zeichen des Nahschusses z. B. durch Fäulniss verschwunden 
sind und nur die Knochen zur Begutachtung vorliegen, selbst bei 


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(I 



Atypische Lage d. Einschussöffnung b.Selbstmord durch Sohuss in d. Kopf. 227 

für Selbstmord ganz ungewöhnlichem Sitz der Verletzung, immer die 
Möglichkeit eines Selbstmordes zugegeben und mindestens ein unbe¬ 
stimmtes Gutachten abgegeben werden muss, es sei denn, dass die 
Umstände des Falles und sonstigen Erhebungen zu einer bestimmten 
anderen Deutung zwingen. Denn schliesslich giebt es am Kopfe spe- 
ciell keine Stelle, wo der Selbstmörder nicht, wenn auch nur mit 
etwas complicirter Handstellung, die Schusswaffe anlegen könnte. 
Maschka’s diesbezügliche Forderung kann demnach nur auf andere 
Körperregionen — besonders die Rückseite des Rumpfes — Bezug 
haben. Dass aber natürlich auch in einem ganz frischen Falle nur 
beim Zusammenhalt aller anatomischen Befunde (Nahschuss, Ver¬ 
halten der Hände, fehlende Zeichen der Gegenwehr u. s. w.) und ge¬ 
nauer Erwägung der Umsiände ein bestimmtes Gutachten auf Selbst¬ 
mord wird abgegeben werden können, ist klar und gilt ja Für alle 
Selbstmordarten. 

Schliesslich möchte ich noch die Beschreibung einer Schussver¬ 
letzung anfügen, die viel Interessantes bietet, und die mir Herr k. und 
k. Regimentsarzt Dr. E. Faulhaber, Chefarzt im Garnisonsspital 
No. 1 in Wien, gütigst zur Veröffentlichung überlassen hat, wofür ich 
ihm nochmals bestens danke. 

Zunächst die Geschichte des Falles: 

An einem bestimmten Tage ihres dritten Dienstjahres pflegen sich die Sol¬ 
daten in Wien so in ihre Betten zu legen, dass sie mit den Köpfen am Fussende 
ihrer Betten ruhen. Wenn demnach im Zimmer links und rechts Beltreihen 
stehen, sehen die Köpfe der Soldaten in’s Innere des Zimmers. So geschah es 
auch am 19.März 1891. Da erschoss sich um x / i \ Uhr Nachts der Oberkanonier 
Wilhelm Sch. mit seinem Dienstgewehr, einem Werndlgewehr mit 11 mm 
Kaliber, indem er es unter der linken Clavicula anselzte. Der Sohuss tödtete 
ihn sofort; dasProjectil verliess seinen Körper am Innenrand des linken Schulter¬ 
blattes, traf dann den gegenüberliegenden Unterkanonier Franz Cb. 
in den Kopf und verletzte schliesslich noch dessen Naohbar am 
Arm. Franz Ch. starb 6 Stunden nach der Verletzung. Beide Leichen wurden 
am 21. März von Herrn Regimentsarzt Dr. Faulhaber gerichtlich obducirt. 

Interessant ist die Schädelverletzung des Franz Ch. Am behaarten Kopf, 
auf der Scheitelhöhe, fand sich links neben der Mittellinie eine vierstrahlige Haut¬ 
wunde. Unter derselben im linken Scheitelbein ein 5 om langer und 2cm breiter 
Substanzverlust, der schräg von rechts hinten nach links vorn verläuft und dessen 
hinteres Ende 1,5 om nach links von der Pfeilnaht und 3,5cm hinter der Kranz¬ 
naht liegt, während sein vorderes Ende bis nabe an den linken Coronarnaht- 
scheohel heranreicht und sich dabei auf 3,5 cm nach links von der Pfeilnaht ent¬ 
fernt. Im Ganzen stellt die Verletzung ein Rechteck dar, dessen 
lange Seitenränder ebenso wie der kurze IIinterrand aussen soharf, 


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Dr. H&berda, 


unregelmässig gezackt und deutlich nach innen terrassenförmig 
abgeschrägt sind, während der an die Kranznaht grenzende Vorder¬ 
rand innen eher scharf ist und nach aussen sich etwas abschrägt. 
Die hintere Begrenzung des Defectes ist von einem haarfeinen Riss in der äusseren 
Glastafel fast vollständig umsäumt. 

Unter der Knochenverletzung fand sich die harte Hirnhaut zerrissen, das 
linke Stirn- und Schläfehirn zertrümmert, ebenso die linken Stammganglien. Alle 
diese Thoile stark mit Blut unterlaufen Die Basis cranii war unversehrt. Von 
dem Loch im Scheitelbein gehen fünf Fracturen des Schädeldaches 
strahlig aus: Die eine nach rechts; sie durchsetzt die Pfeilnaht und das rechte 
Scheitelbein und endet am rechten Tuber parietale. Zwei gehen von der linken 
Breitseite des Defectes aus und durchsetzen das linke Scheitelbein; sie sind dnrcb 
eine fast horizontale Fissur verbunden, so dass sich zwischen ihnen ein etwa 
dreieckiges Knochenstück völlig losgelöst befindet. Von der hinteren dieser 
beiden Fissuren geht ausserdem noch ein feinerSprung nach oben und rückwärts 
gegen das hintere Ende der Pfeilnaht. Auch der vierte und fünfte Hauptstrahl, 
die durch das Stirnbein gehen, sind durch eine schrägeQuerfissnr verbunden und 
schliessen so ein trapezförmiges Knochenstück zwischen sich ein, welches mit 
seiner linken unteren Ecke die Haut über der linken Augenbraue durchbrochen 
hatte. Die aus der grossen Knochenlücke ausgeschlagenen Stücke fanden sich — 
bleigrau verfärbt — in den zertrümmerten Hirnpartieen. 

Wir haben es hier also mit einem Schuss zu thun, welcher den Schädel 
nicht durchsetzte, sondern denselben nur tangential — in der Richtung von 
rechts hinten nach links vorn — traf und gleichsam rinnenförmig aufschlitzte. 
Zugleich sehen wir an der so entstandenen Knochenlücke neben einander die 
Merkmale des Ein- und Ausschusses, allerdings die Zeichen des letzteren nur an 
einer kleinen Stelle. 

Ich glaube, dass ein solcher Befund bei gleichzeitigem Fehlen 
des Projcctiles und dem Mangel einer typischen Ausschussöffnung die 
Diagnose einer Schussverletzung, speciell eines solchen Rinnenschusses, 
in einem weiteren ähnlichen Falle ermöglichen würde, wenn auch die 
Umstände nicht so klar lägen, wie in dem beschriebenen, wo das 
Projectil noch ein anderes Individuum traf und verwundete. Die un¬ 
regelmässige Zertrümmerung von Hirnpartieen, allenfalls eine bloss 
oberflächliche etwa im Bereiche der Schädelzertrüramerung gelegene 
Aufschlitzung der Hirnrinde könnte in einem solchen Falle noch 
weiter aufklärend wirken. 

Es ist übrigens nicht zu leugnen, dass auch durch eine stumpfe 
oder stumpfkantige Gewalt eine dieser Schussverletzung ähnliche 
Schädelzertrümmerung entstehen könnte und dass allenfalls bei voll¬ 
ständig unaufgeklärten Umständen des Falles bei einer solchen Wunde 
leicht ein Irrthum in der Diagnose des verletzenden Werkzeuges zu 
Stande kommen könnte. Hier hätte der Umstand, dass die Verletzung 


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Atypische Lage d.Einsohnssöffnung b. Selbstmord durch Schuss in d.Kopf. 229 

die Zeichen des Ein- und Ausschusses neben einander bot und die in 
das Gehirn deprimirten, aus der Knochenlücke stammenden Knochen¬ 
stückchen eine bleigraue Verfärbung aufwiesen, jedenfalls zur richtigen 
Deutung führen müssen. 

Hervorzuheben sind noch die ausgebreiteten Sprünge im Schädel¬ 
dach. Sie können hier wohl nach keiner der — übrigens noch nicht 
geklärten — Theorieen der Geschosswirkung erklärt werden, ausser 
auf mechanische Weise. Wir müssen uns vorstellen, dass das Pro- 
jectil wie ein stumpfes Werkzeug wirkte, welches den Schädel in der 
Richtung des Aufschlages coraprimirte und in der darauf senkrechten 
über die Elasticitätsgrenzen ausbog, so dass hier die Knochen ein- 
rissen und nach dem Angriffspunkt ausstrahlende Knochensprünge 
entstanden. Diese Erklärung giebt von Hofmann für das Zustande¬ 
kommen der Knochensprünge am Schädel bei Einwirkung stumpfer 
und ähnlicher Gewalten, und sie ist wohl für gewisse Fälle, besonders 
wenn sich isolirto, mit der Angriffsstelle der Gewalt nicht zusammen¬ 
hängende Fissuren finden, die einzig mögliche. 


II. 

Selbsterdrosseluog eines Alkoholikers. 

E. W., 34 Jahre alt, wurde am 1. August 1891 der psychia¬ 
trischen Klinik des allgemeinen Krankenhauses in Wien eingeliefert. 
Hier benahm er sich sehr unruhig und tobte besonders am Abend 
sehr heftig in der Isolirzelle. Indessen spielten seine Wärter am 
Gange vor der Zelle Karten und kümmerten sich um den Tobenden 
selbst dann nicht, als ihnen ein zwar reizbarer, aber urtheils- 
fähiger anderer Patient, der den E. W. durch das Guckloch beob¬ 
achtete, meldete, dass jener sich am Boden wälze und mit den 
Händen an seinem Halse hantire. Dies geschah gegen 9 Uhr 
Abends. Bald darauf wurde es in E. W.’s Zelle ruhig. Als nun um 
10 Uhr Nachts der diensthabende Assistent Dr. M. die Runde machte, 
fand er E. W. todt und ausgekleidet am Fussboden. Sein Gesicht 
war congestionirt, an den Bindehäuten kleine Ecchymosen, vor Mund 
und Nase Blut. Der Nacken war bereits rigid. Am Halse verlief 
eine deutliche, ganz frische, offenbar von einem breiten 


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Dr. Hab erd a. 


Umschnüruogsroittel herrühronde Strangfurche. Dr. M. be¬ 
kam sofort den Eindruck, dass es sich um Selbsterdrosselung handele 
und erfuhr nun auch die eingangs geschilderten Begebenheiten. Erst 
jetzt gaben die Wärter an, dass E. W. einen aus dem Rückentheil 
seines durch Urin ganz durchnässten Spitalshemdes gerissenen breiten 
Streifen um den Hals gehabt habe, doch sei derselbe nicht geknüpft, 
sondern mittelst einfacher Schlinge zugezogen und leicht abnehmbar 
gewesen. 

Am 4. August nahm ich die gerichtliche Obduction der Leiche 
des E. W. vor. Sie ergab im Wesentlichen: 

Kräftiges Individuum. Gesicht nur im Stirntheil und in den ab¬ 
hängigen Partieen bläulichroth, sonst eher blass. In der Stirnhaut, 
besonders links, ziemlich zahlreiche Ecchymosen. Beide Lider etwas 
gedunsen, von zahlreichen winzigen Blutaustritten durchsetzt, die 
Bindehäute stärker injicirt mit sehr zahlreichen flohstichförmigen 
Ecchymosen; überdies rechts ein linsengrosser Blutaustritt in der 
Conjunctiva bulbi am inneren Augenwinkel. In den Nasenöifnungen 
reichliches Blut angetrocknet. Lippen geschwollen, ihre Schleimhaut¬ 
fläche blauroth, von zahlreichen mohnkerngrossen Blutaustritten durch¬ 
setzt. Daselbst auch zwei horizontal gestellte, seichte, je 6 mm lange 
Schleimhautwunden. Auch am Uebergang in die äussere Haut ist die 
Schleimhaut stellenweise abgängig und entleert sich daselbst etwas 
Blut. 

Am Vorderhalse ist die Haut zwischen den Kopfnickern 
unterhalb der halben Halshöhe in’s Grauviolette verfärbt. 
Rechts rückwärts über dem M. cucullaris ein fingerbreiter, 
nicht vertiefter, blasser Streifen. 

Links vom Kehlkopf mehrere rundliche und oberhalb des rechten 
inneren Schlüsselbeinendes mehrere bis 7 mm lange streifenförmige, 
braunroth vertrocknete Hautabschürfungen. Eine weitere solche, 1 cm 
lange und 1 mm breite, senkrecht gestellte über dem rechten Sterno- 
claviculargelenke und eine 2,5 cm lange, 1 mm breite, rothe, von 
winzigen Blutaustritten durchsetzte, horizontale quer über dem rechten 
Kopfnicker. Auch links drei Querfinger über dem Schlüsselbein eine 
vertrocknete Hautabschürfung. Die Hinterseite beider Ellbogengelenke 
und eine kreuzergrosse Stelle am oberen Drittel des linken Vorder¬ 
armes bläulich verfärbt und beim Einschneiden in dünner Schicht mit 
geronnenem Blute unterlaufen. 

Die Schädeldecken blutreich mit zahlreichen bis halbkreuzer- 


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Selbsterdrosseltmg eines Alkoholikers. 


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grossen dünnen Blataustritten. Ueber beiden Scbeitelhöckern und über 
dem Stirnbein thalergrosse Blutaustritte unter der Beinhaut, unter 
denen der Schädelknochen unverletzt ist. 

Hirnhäute und Hirn blutreich, die ersteren am Scheitel verdickt 
und getrübt, ödematös. In den Blutleitern flüssiges Blut. 

Unter der Halshaut findet sich drei Querfinger unter 
dem rechten Unterkieferwinkel eine kreuzergrosse Unter¬ 
laufung mit geronnenem Blute. Eine ähnliche solche Suf- 
fusion, doch in dünnerer Schicht, unter der Scheide des 
rechten M. sternothyreoideus, sowie beiderseits in den Mm. 
cricothyreoideis. Die Seitentheile des Ringknorpels nach 
Entfernung der sie bedeckenden Musculatur bläulich durch¬ 
scheinend und unter dem Perichondrium beiderseits ein 
flacher, über linsengrosser Blutaustritt, unter dem sich 
links und rechts ein je 1 cm langer, zackiger, von aussen 
oben nach innen unten schräg verlaufender Sprung im Ring¬ 
knorpel findet. Je ein kleiner Blutaustritt auch im Liga¬ 
mentum hyothyreoideum beiderseits. 

Der Schildknorpel und seine Hörner, ebenso das Zungenbein und 
die Innenwand der grossen Halsgefässe unversehrt. 

Die Schleimhaut des Rachens dunkelviolett, spärlich ecchymosirt. 
In der Luftröhre etwas blutig gefärbter Schleim. Die Schilddrüse in 
beiden Lappen über hühnereigross, grobkörnig, blutreich. Lungen 
blutreich, Herz schlaff, ecchymosirt, flüssiges Blut enthaltend. 

Leber, Magenschleimhaut und Fettgewebe zeigten die gewöhn¬ 
lichen Befunde bei Alkoholikern. Nach Herausnahme der Eingeweide 
fand sich noch rechts im Zellgewebe über der Vorderseite 
der Halswirbelsäule ein kleiner flacher Blutaustritt. 

Der anatomische Befund stellte somit den Erstickungstod durch 
Strangulation ausser Frage. Wenn auch bei der Obduction eine deut¬ 
lich ausgeprägte Strangfurche nicht mehr zu sehen war, so war deren 
frühere Anwesenheit doch durch die verlässliche Beobachtung des 
Dr. M. sicher gestellt. Dass eine durch ein breites weiches Strangu¬ 
lationswerkzeug, wie es hier vorlag, erzeugte Strangfurche an der 
Leiche leicht und bald verschwindet, ist ja eine bekannte Thatsache. 
Uebrigens können Spuren derselben in dem grauvioletten Streifen am 
Vorderhalse und in dem blassen seitlichen vermuthet werden. Bei 
den Umständen, unter denen sich der Tod des E. W. ereignete, dem 
Befunde am Halse, den Erstickungskennzeichen, war also im Vereine 


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232 


Dr. Haberda, 


mit der bald nach dem Tode constatirten Strangfurche nicht zu zwei¬ 
feln, dass sich der Untersuchte mittelst besagten Hemdstreifens selbst 
erdrosselt habe und demnach auch ein dahin lautendes Gutachten ab¬ 
gegeben. 

Die Möglichkeit des Selbstmordes durch Erdrosseln ist ja schon 
längst zugegeben und die von von Hofmann') angeführten Gründe 
widerlegen schlagend die früher gegen diese Möglichkeit erhobenen 
Bedenken. Dass sich Verletzungen der Halsorgane gerade beim Er¬ 
drosseln häufig finden, erklärt sich — wie von Hofmann ausfuhrt — 
hauptsächlich daraus, dass hierbei das Strangulationswerkzeug zumeist 
auf den Keblkopt selbst zu liegen kommt und demnach nicht eine 
blosse Zerrung nach oben — wie beim Erhängen' — sondern eine 
directe Quetschung der Halsgebilde, namentlich des Larynx, statthat. 
So erklärt sich auch in unserem Falle die Suffusion unter der Haut, 
den Muskelscheiden, dem Perichondrium, sowie der Doppelbruch der 
vorderen Ringknorpelspange nur durch die mit dem Hemdstreifen er¬ 
zeugte kräftige horizontale Constriction des Halses. 

Langreuter 2 ) meint zwar, dass zahlreiche Selbsterdrosselungs¬ 
versuche deshalb nicht zum Ziele führen, weil das Strangulations¬ 
werkzeug zumeist auf den Kehlkopf zu liegen komme und so die 
Compression — wie er durch Leichenversuche zeigt — selbst bei 
starker Krattanwendung kaum zum vollständigen Abschluss der Luft¬ 
wege führe. Für breite und weiche Strangulationsmittel aber muss in 
Betracht kommen, dass sie wegen ihrer Breite ausser dem Larynx 
auch oberhalb und unterhalb desselben gelegene Theile comprimiren 
können, so dass dann natürlich der vollständige Luftabschluss viel 
leichter und rascher erfolgen kann. 

Diese Vermuthung möchte ich speciell für meinen Fall aus¬ 
sprechen, wo sich die Verletzungen nicht nur in verschiedenen 
Schichten, sondern auch in verschiedener Höhe fanden. 

Einigermassen auffällig war die Angabe der Wärter, dass der 
Hemdstreifen nicht geknüpft, sondern in einer einfachen Schlinge zu¬ 
gezogen gewesen sei. Selbst wenn man dieser Angabe Glauben 
schenkt, ist an der Erdrosselung nicht zu zweifeln, wie uns ein gleich 
damals angestellter Leichenversuch lehrte. Wir enthirnten und tra- 
cheotomirten eine Leiche, legten die Carotiden bloss und banden in 


*) Wiener medicinische Presse. 1879. No. 1, 2, 3, 4, 5 und 6. 
2 ) Diese Vierteljahrsschrift. N. F. Bd. 45. S. 295 u. ff. 


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Selbsterdrosselung eines Alkoholikers. 


233 


sie Canölen ein. Nun konnte man durch die Luftwege und die Hals- 
gefässe ganz leicht mittelst einer Spritze Wasser durchtreiben 1 ). 
Wenn man nun einen jenem Hemdstreifen analogen Leinwandstreifen 
um den Hals der Leiche legte und nach einfacher Schlingenbildung 
an den Enden kräftig anzog, vermochte man einen solchen Abschluss 
der Luftwege und Gefässe zu erzielen, dass nur mit der grössten — 
in Wirklichkeit nicht in Betracht kommenden — Kraft mittelst der 
Spritze Wasser durchzubringen war. Zugleich überzeugten wir uns, 
dass, wenn das Tuch nass« gemacht war, das kräftige Zuziehen der 
Schlinge zwar mehr Kraft erforderte, dafür aber die nicht geknotete 
Schlinge so fest sass, dass sie von selbst nicht aufging und auch nur 
schwer gelockert werden konnte. 

Der Obducirte war ein sehr kräftiges Individuum. Ueberdies ist 
ja bekannt, dass Geisteskranke bei der Ausführung des Selbstmordes 
grosse Kraft und Ausdauer bekunden, — und auch E. W. soll längere 
Zeit an seinem Halse herumgethan haben, wobei offenbar die be¬ 
schriebenen zahlreichen Hautkratzer am Halse entstanden sind. 


‘) Diesen Leichen versuoh macht von Hof mann alljährlich, am seinen Hörern 
den Qefäss- und Respirationsabschlass hei der Saspension zu demonstriren. 


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2 . 

(Aus dem Institut für Staatsarzneikunde in Berlin): 

Heber die Ursachen des FlAssigbleibens des Blutes bei der 
Erstieknig und anderes Ttdesarten. 

Von 

Dr. Ctftbrlel Co rin aus Lüttich. 

Es ist eine wohlbekannte Thatsache, dass das Blut bei den Er¬ 
stickten meistens flüssig oder halbflüssig erscheint. 

Plenk 1 ) und Müll-er 2 ) sind die Ersten, welche diese eigentümliche Be¬ 
schaffenheit als ein charakteristisches Zeichen des Erstickungstodes beschrieben 
haben. Schon vorher hatte Pyl 3 ) diesen Befand bei einem Erstickten gemacht: 
„Beyde ventriculi cordis waren mit Blut, welches nicht coagalirt war, angefällt.“ 
Seitdem ist diese Erscheinung von verschiedenen Autoren wiederholt be¬ 
stätigt geworden. 

Uebrigons sei schon bemerkt, dass in mehreren Fällen diese Beschaffenheit 
keine vollkommen flüssige ist. Wie Haekel 4 ) es noch neuerdings constatirt hat, 
sind häufig mehr oder weniger entwickelte, wenn aach weiohe, rothe Gerinnsel 
im Blute zu beobachten. 

Hofmann 3 ) hat darauf hiogewiesen, dass dieses Flüssigbleiben der Er¬ 
stickung nicht eigenthümlich ist. Vielmehr sei es bei den meisten acuten Todes¬ 
arten zu finden. 

Ob in der Tbat der Grund dieser Erscheinung in der Abwesenheit der dem 

1 ) Anfangsgründe der gerichtlichen Arzneywissensohaft. S.46. Wien 1802. 

2 ) Entwurf der gerichtlichen Arzneywissensohaft. S. 32. Frankfurt a. M. 
1802. 

3 ) Aufsatze, Sammel. S. 72. 

4 ) Ein Beitrag zum Erhängungs- und Erstiokungstode im engeren Sinne. 
Dissert. Dorpat 1891. 

B ) Lehrbuch der gerichtlichen Medicin. 5. Aufl. S. 508. 


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Ueber die Ursachen des Flüssigbleibens des Blutes bei der Erstickung. 235 

gewöhnlichen subacnten Tode vorangehenden Leukocytose za sehen ist, wie von 
Hofmann es annimmt, mag zunächst dahingestellt bleiben. 

Die bisherigen Theorien dor Blutgerinnung sind nun nicht im Stande diese 
Erscheinung befriedigend zu erklären. 

Wenn man mit Brücke annimmt, dass wirksame Lebenseigenschaften der 
Gefässwände, welche die Blutgerinnung verhindern, auch eine Zeit nach dem 
Tode fortbestehen, so sollten doch diese Eigenschaften schliesslich verloren gehen 
and die Blutgerinnung, wenn auch etwas später, eintreten. 

Wenn ein Ueberschuss Kohlensäure, nach Al. Schmidt, die fibrino- 
plastische Substanz niederzuschlagen und in dieser Weise einen der Hauptfac- 
toren der Gerinnung inactiv zu machen vermag, so hat Pflüger ja bewiesen, 
dass das Blut nicht wesentlich mehr C0 2 in der Asphyxie als in den anderen 
Todesarten enthält. 

Später hat Hammarsten bewiesen, dass diese fibrinoplastische Substanz 
zwar den Gerinnungsprocess befördert, aber für denselben nicht unentbehr¬ 
lich ist. 

Da wir ans in einer anderen noch nicht veröffentlichten Arbeit 
schon mit der flüssigen Beschaffenheit des Blutes bei Phosphorver- 
giftnng beschäftigt hatten, schien es uns interessant, dieselbe Er¬ 
scheinung bei den Erstickten zu studiren. 

Im hiesigen Institute hatten wir die günstigste Gelegenheit, viele 
Erstickte oder plötzlich Gestorbene zu sehen und Herr Privatdocent 
Dr. Strassmann hat uns in liebenswürdigster Weise sein Laboratorium 
und die Ergebnisse seiner eigenen Erfahrung zur Verfügung gestellt, 
wofür es uns erlaubt sei, hierselbst unseren besten Dank auszu¬ 
sprechen. 

Die hier obducirten Leiehen sind meistens drei oder noch mehr 
Tage alt. Wenn es sich um Erstickte oder plötzlich Gestorbene han¬ 
delt, findet man in den Herzhöhlen derselben entweder flüssiges Blut 
oder lockere, weiche, rothe Blutgerinnsel, welche in einer blutigen 
Flüssigkeit schwimmen. Aber selbst bei protrahirtera Verlaufe des 
Todeskampfes, wo man in den Herzhöhlen und in den grossen Ge¬ 
lassen feste, weisse. Gerinnsel findet, ist auch neben denselben mehr 
oder weniger rothes flüssiges Blut zu beobachten. 

Es fragt sich nun, ob dieses Blut die zur Gerinnung nothwen- 
digen Elemente enthält, und es war besonders interessant, die alte 
Schmidt’sche Theorie einer weiteren Prüfung zu unterwerfen. Für 
die Gerinnung kommen darnach besonders Fibrinogen und Paraglo¬ 
bulin in Betracht. Wenn sie in einer Flüssigkeit mit einer genügen¬ 
den Menge Salze in Berührung kommen, so tritt Coagulation ein. 

Das Blut, welches wir bei den Leichen gewinnen konnten, war 


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236 


Dr. Corin, 


niemals gerinnungsfähig. Nur einmal erfolgte die Gerinnung 2 Tage 
nach der Obduction. Wir machen auf diesen Umstand besonders auf¬ 
merksam, da von Hofmann') behauptet, dass „das aus den Gefässen, 
sowohl während des Lebens, als auch nach dem Tode gelassene Blut 
gerinnt (allerdings das erstere rascher und intensiver).“ Es ist uns 
wahrscheinlich, dass diese postmortale Gerinnung nur bei ganz frischen 
Leichen vorkommt; denn es ist in unseren älteren Fällen niemals 
(ein Mal ausgenommen) uns gelungen, selbst nach acht Tagen eine 
Gerinnung zu beobachten. 

Aus dieser Thatsache darf man aber nicht von vornherein 
schliessen, dass die qualitative Zusammensetzung des Blutes wesent¬ 
lich verändert ist. Das Fibrinogen z. B. ist zweifellos vorhanden. 
Allerdings ist der Beweis desselben etwas schwierig. Im Anfang ge¬ 
lang dieser Beweis uns nur, indem wir seine Fähigkeit bei 57° 0. zu 
gerinnen benutzten. Fredericq 2 ) hat ja schon gezeigt, dass, wenn 
man Blutplasma bei 57° erhitzt, ein besonderer Niederschlag ent¬ 
steht, nach dessen Entfernung das Plasma bei gewöhnlicher Tempe¬ 
ratur gerinnungsunfähig wird. 

Ein weiterer Beweis, den wir später liefern werden, ist die That¬ 
sache, dass man unter gewissen Umständen in einer solchen blutigen 
Flüssigkeit eine Gerinnung bei der normalen Zimmertemperatur er¬ 
zeugen kann. 

Aber auch in der von Fibrinogen befreiten Flüssigkeit kann man 
bei 65° eine weitere Gerinnung entstehen sehen. Diese Gerinnung 
betrifft das Paraglobulin, die fibrinoplastische Substanz, welche wir 
übrigens auch durch Sättigung durch Magnesiumsulphat niederschlagen 
konnten. 

Es sei beiläufig bemerkt, dass unsere Gerinnungsversuche sowohl 
als das Niederschlagen nicht in der blutigen Flüssigkeit, sondern in 
dem von derselben abgehobenen Plasma vollgezogen wurden. Wenn 
man das Blut einen Tag ruhen lässt, so sinken die Blutkörperchen 
zu Boden und die obere Schicht ist eine schöne, helle, kaum röth- 
liche Flüssigkeit, das wirkliche Plasma. Nach unseren Erfahrungen 
kann nur das Pferdeblutplasma rascher von Blutkörperchen abge¬ 
hoben werden. 


») L. c. S. 507. 

2 ) Recherches sur la Constitution du Plasma sanguin. Dissert. Inaug. 
Gand 1878. 


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Ueber die Ursaohen des Flüssigbleibens des Blutes bei der Erstiokung. 237 

Diese Thatsache ist insofern wichtig, als Halliburton 1 ) aach 
in den Blutkörperchen ein Globulin beschrieben hat, welches aller¬ 
dings nicht um 65°, sondern um 60° gerinnt, welches aber, wie das 
Plasmaparaglobulin, durch MgS0 4 niedergeschlagen werden kann. 

Diese Befunde waren sowohl bei langsamen als bei acuten Todes¬ 
processen zu constatiren; nur die Menge der gesammelten Flüssigkeit 
war bedeutend geringer in den ersten Fällen. 

Die Annahme ist also berechtigt, dass: 

„Bei sämmtlichen Leichen niemals eine vollständige Gerinnung 
des Blutes stattfindet; neben mehr oder weniger entwickelten Ge¬ 
rinnseln kann man immer flüssiges Blut, in welchem Fibrinogen und 
Paraglobulin vorhanden sind, beobachten. Dieses Blut ist bei spä¬ 
teren Obductionen, wie es z. B. die gerichtlichen zumeist sind, ge¬ 
rinnungsunfähig.“ 

Es lag jetzt die Frage vor, ob genügende Menge Fibrinogen und 
Paraglobulin, um eine Gerinnung zu ermöglichen, sich im flüssigen 
Blute finden. 

Diese Frage ist für das Fibrinogen gleichgültig, da selbst in zehnfach mit 
Wasser verdünntem Blute noch eine Coagnlation stattfindet. Ganz anderen Be¬ 
dingungen unterliegt aber das Paraglobulin, wenn wir nun einmal die alte 
Schmidt’sche Theorie annehmen; die Menge des für die Coagulation erforder¬ 
lichen Paraglobulins ist hiernach unbekannt. 

Wenn jedoch ein Theil des Paraglobulins wirklich duroh Kohlensäure 
niedergeschlagen wäre, und wenn die Gerinnung dadurch unmöglich geworden 
wäre, so müsste dieselbe bei einer Wiederauflösung dieser Substanz eintreten. 

Wenn wir aber auch das sämmtliche nicht filtrirte Blut von einem starken 
Luftzuge durchziehen Hessen, bis die dunkelrothe Farbe desselben eine hellrothe 
geworden war, wenn demgemäss die grösste Menge der Kohlensäure verschwunden 
war, entstand doch nie eine Gerinnung. 

Obwohl es doch sehr wahrscheinlich war, dass das Paraglobulin mit diesem 
Verfahren wieder aufgelöst war, suchten wir noch, nichtsdestoweniger, einen 
directeren Beweis, und zwar auf dem folgenden Wege: 

Nachdem wir im asphyctischen Plasma das sämmtliche Fibrinogen um 57 0 
coagulirt hatten, schlugen wir das Paraglobulin durch Magnesiumsulphat nieder. 
Der Niederschlag wurde mehrmals mit gesättigter Magnesiumsulphatlösung auf 
dem Filter gewaschen, dann in wenigem Wasser wieder gelöst, die so erhaltene 
opalescirende Flüssigkeit filtrirt, dann mit destillirtem Wasser so viel verdünnt, 
dass ein weisser Niederschlag entstand. DieserNiederschlag wurde auf ein Filter 
gebracht und noch vielfaob mit destillirtem Wasser gewaschen. 


*) The Journal of Physiology. IX. p. 229. 

Vierteljebrsschr. f. gor. Med. Dritte Folge. V. 2. 16 


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238 


Dr. Coriq, 


Das io dieser Waise erhaltene P&r&globulin wurde jetzt verschiedenen Proben 
asphyctisohen Blutes in verschiedenen Mengen hinzugesetzt. In keinem Falle 
entstand eine Gerinnung. 

Infolge dieses Befundes sind wir also berechtigt, „dem Paraglobulin oder 
vielmehr seiner Abwesenheit eine Rolle bei dem Flüssigbleiben des Blutes zu 
versagen*. 

Eine weitere Frage war, ob das Gerinnungsferment in diesem Blute vor¬ 
handen war. 

Durch das bekannte Sohmidt’soheVerfahren war es uns unmöglich, dieses 
Vorhandensein zu beweisen. Bekanntlich besteht diese Bereitung darin, das Blut 
duroh zehnfaches Volum starken Alkohols niederzuschlagen und nach langer Ruhe 
diesen Niederschlag durch Wasser zu extrahiren. Deshalb ist es indess nicht 
unsere Absicht zu behaupten, dass das Ferment wirklich im Erstickten- resp. 
Leichenblute fehlt oder vernichtet ist 1 ). 

Es giebt noch eine zweite Möglichkeit: nämlich dass man mit dem 
Schmidt’sohen Verfahren gleichzeitig nicht nur das Ferment, sondern auch 
gerinnungshemmende Bestandtheile extrabirt. Dieser Frage wollen wir im Inter¬ 
esse der Klarheit unserer Arbeit erst später näher treten. Indess mag schon hier 
erwähnt werden, dass die Anwesenheit einiger wenn auoh spärlicher Gerinnsel 
im Blute der meisten Erstickten wie anderer Leichen ein genügendes Zeiohen 
des Daseins von Ferment im Blute, mindestens in den ersten Zeiten nach 
dem Tode, ist und dass schon dieseThatsaohe dafür sprioht, dass das Ferment 
nioht fehlt und dass demgemäss seine Thätigkeit duroh einen anderen Umstand 
unterdrückt wird. 

Wie schon vorher gesagt, sind die im hiesigen Schauhause obduoirten 
Leichen meistens 4 bis 8 Tage alt und es fragte sich, ob das Blut bei weniger 
vorgeschrittenem Leiohenalter, wenn auoh flüssig, nioht die Fähigkeit spontan zu 
gerinnen bewahrt. 

Die früheren Angaben, dass das Blut aus den Gefässen auch nach dem 
Tode gerinne, haben wir auoh in einem Falle bestätigen können. Er betraf einen 
70jährigen Mann, der unter verdächtigen Umständen 3 Tage vorher plötzlioh ge¬ 
storben war. Die Obduotion ergab, dass es sioh in Wirklichkeit um eine Miliar- 
tuberculose handelte. Das gesammelte flüssige Blut war zwei Tage später theil- 
weise geronnen. In Folge dieser Verspätung konnte man zwei Theile in dem 
Gerinnsel beobachten: einen oberen, welcher ganz weiss war und offenbar in der 
oberen hellen Plasmaschicht erzeugt war, und einen unteren dunkelrothen, wel¬ 
cher in der Blutkörperchensohioht schwamm. Die nebenstehende Flüssigkeit ent¬ 
hielt übrigens Fibrinogen 2 ). 


') Al. Sohmidt hat bewiesen, dass das Fibrinferment nach einer Zeit im 
Blutserum sich zu vermindern beginnt. 

2 ) Seitdem hatten wir noch Gelegenheit zwei solche Fälle zu sehen: Der 
erste betraf ein Kind, welches 24 Stunden vorher an Rachendiphtherie zu 
Grunde gegangen war. Das aus den Herzkammern gelassene flüssige Blut gerann 
vollkommen naoh wenigen Minuten im Herzbeutel. Im zweiten Falle bandelte es 
sich um einen Mann, der drei Tage vorher überfahren gewesen und einige 


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lieber die Ursachen des Flüssigbleibens des Blotes bei der Erstiokung. 239 

Von vornherein aber war zu erwarten, dass wir siohere Anhaltspunkte für 
das Verständnis des Prooesses gewinnen worden, wenn wir Thierversuche ans- 
stellten. 

Bei einem 5 monatlichen Kaninchen, welohes wir erdrosselt hatten, fingen 
wir zn verschiedenen Zeiten geringe Blutproben in kleinen Glasröhrchen auf, 
welche wir gleich verlötheten, damit keine Verdunstung stattfinden könnte. 

A. Sofort naoh dem Tode aus der Vena jugularis sinistra aosgesaugte 
Blutprobe. Naoh 2 Minuten entsteht eine Gerinnung. Den folgen¬ 
den Tag sieht man deutlich in dem Röhrchen ein centrales retra- 
hirtes Gerinnsel mit umgebendem hellem Serum. 

B. 24 Stunden nach dem Tode aus der Vena jugularis deztra ausge¬ 
saugte Blutprobe. Neben dem flüssigen Blute enthielt die Ader 
auch ein lockeres Gerinnsel. Nach 10 Minuten tritt Gerinnung ein. 
24 Stunden später finden wir ebenfalls eine helle periphere Scbioht 
Serum. 

C. 48 Stunden nach dem Tode aus der Vena femoralis sinistra aspi- 
rirte Blutprobe. Nach 1 */j Stunden entsteht eine Gerinnung. Den 
folgenden Tag eine rothgefärbte Scbioht Flüssigkeit rings um das 
Gerinnsel. 

D. 96 Stunden nach dem Tode wird die Obduotion vollzogen. 

In sämmtlichen Gefässen sowie in den Herzkammern findet man rothe 
lookere Blutgerinnsel. Daneben ist eine rothe undurchsichtige Flüssigkeit vor¬ 
handen, welche wir in zwei Proben vertheilen. Die eine, der Ruhe überlassen, 
gerinnt selbst nach 4 Tagen nicht. Die andere wird im Wasserbade erhitzt und 
um 57° entsteht ein Coagulum. 

Auf Grund dieser Beobachtung können wir jetzt sicher schliessen, dass das 
Blut nicht in Folge der Erstickung gerinnungsunfähig geworden ist, sondern 
vielmehr dass eine Veränderung in demselben nach dem Tode stattgefunden hat. 

Diese Veränderung kann in dem vorliegenden Falle nicht vor dem dritten 
Tage eingetreten sein, sonst würde das Blut schon nach 48 Stunden im Röhrchen 
flüssig geblieben sein. 

Uebrigens sind wir nioht der Meinung, dass die Gerinnungsunfähigkeit 
immer so sehr verzögert sein mag. Mehrere uns bisher unbekannte Umstände 
können die Entstehung dieser Erscheinung beschleunigen. 

Zum Beispiele kann der folgende Versuch dienen. 

Einem 9monatlioheo Kaninchen werden ungefähr 15 com aus der Carotis 
sinistra gelassen. 1 Stunde später wird das Thierchen erdrosselt. Die gleioh 
nach dem Tode entzogene Blutprobe gerinnt ebenfalls nach 2 Minuten. 24 Stun¬ 
den später wird aber das Blut in den Herzkammern flüssig gefunden und gerinnt 
nur naoh drei Tagen. 


Stunden später gestorben war. Bei der Obduotion fand man eine hochgradige 
Leberzertrümmerung. Infolge dieser Zertrümmerung war die Bauchhöhle mit 
vollkommen flüssigem Blut überfüllt. Dieses Blut wurde gesammelt. Nur drei 
Tage später konnte man allerdings sehr spärliche und sehr kleine Gerinnsel in 
demselben beobachten. 

16* 


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240 


Dr. Corin, 


Nun, woher stammt diese mehr oder weniger spät eintretende 
Ungerinnbarkeit? 

Die Lösung dieser Frage erfordert eine kurze Darlegung der 
neuen Gerinnungstheorieen. Die altbekannte Schmidt’sche Theorie, 
welche das Wesen der Gerinnung als von drei Hauptfactoren, Fibri¬ 
nogen, Paraglobulin und Ferment, inclusive Salzen, abhängig be¬ 
trachtet, ist vielfach angegriffen und selbst von ihrem Verfasser 
modificirt worden. Wir selbst haben bewiesen, dass sie nicht im 
Stande ist, die hier vorliegenden Vorgänge zu erklären. 

Freund 1 ) behauptet, dass eine unlösliche Verbindung zwischen 
der in den Blutkörperchen enthaltenen Phosphorsänre und den im 
Plasma vorhandenen Calciumsalzen bei der Gerinnung entsteht and 
das Fibrin nur dieses Niederschlages vermöge unlöslich werden kann. 

Nun mag es sich fragen, ob gerade in dem asphyctischen resp. 
Leichenblute nicht ein Theil der Calciumsalze durch einen Ueber- 
schuss Kohlensäure gelöst bleiben kann. Sollte dies der Fall sein, 
so würde die Coagulation nach der Kohlensäurevertreibung eintreten 
müssen, was, wie schon gezeigt, nicht geschieht. Uebrigens würde 
nicht erklärt, warum gleich nach dem Tod entzogenes Blut gerin¬ 
nungsfähig ist. 

Gegen eine Anwendung der von Arthus und Pages 2 ) ent¬ 
worfenen Theorie, welche die Calciumsalze als unentbehrlich für die 
Gerinnung betrachtet, sprechen dieselben Gründe. 

Es ist nicht unsere Absicht, weder den Werth irgend einer dieser 
Auffassungen, noch die Thatsachen, auf welchen sie gegründet wurden, 
zu bestreiten. Jedenfalls können sie nicht das Flüssigbleiben des 
Leichenblutes erklären. 

Zuletzt haben wir noch die neue Theorie Al. Schmidt’s*) in 
Betracht zu ziehen. Nach dieser sieht Al. Schmidt auch noch 
immer das Fibrinferment als den activen Factor, nimmt doch aber 
an, dass mehrere Umstände seine Thätigkeit befördern bez. hemmen 
können. 

Im lebenden kreisenden Blute sind schon kleine Mengen Fibrin¬ 
ferment, besonders aber die unwirksame Vorstufe desselben (das so¬ 
genannte Prothrombin) enthalten. Wird das Blut aus der Ader ge- 


*) Wiener Jahrb. 1888. S. 259. 

2 ) Archives de Physiologie. 1890. p. 739. 
*) Zur Blutlebre. Leipzig 1892. 


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Ueber die Ursachen des Flössigbleibens des Blates bei der Erstiokang. 241 

lassen, so entsteht aus diesem Prothrombin eine bedeutende Menge 
Fibrinferment (Thrombin) und zwar durch den Einfluss gewisser Sub¬ 
stanzen, welche besonders in den farblosen Blutkörperchen vorhanden 
sind und welche die Vorstufe abzuspalten vermögen. Diese Substanzen 
sind aber nicht bloss in den Leukocyten enthalten; vielmehr bestehen 
sie in defi meisten Körpergeweben. 

Man kann dieselben leicht gewinnen, indem man diese Gewebe 
mehrmals mit starkem Alkohol extrahirt und den Alkohol auf dem 
Wasserbade verdunstet. Die wässerige Lösung des Rückstandes be¬ 
schleunigt die Gerinnung solcher Flüssigkeiten, welche vorher die un¬ 
wirksame Vorstufe des Fermentes enthielten (Magnesiumplasma z. B.), 
hat aber keinen Einfluss auf die Flüssigkeiten, in denen diese Vor¬ 
stufe abwesend ist (sogenannte proplastische Flüssigkeiten, z. B. Hy- 
droceleflüssigkeit). — 

Aber aus denselben Geweben nach der Alkoholbehandlung kann 
man mit Wasser eine Substanz extrahiren, welche die Gerinnung 
unterdrückt resp. verspätet. Diese Substanz bezeichnet Schmidt als 
Gytoglobin. Sie wird durch Alkohol aus ihren wässerigen Lösungen 
niedergeschlagen und kann dann in Wasser wieder gelöst werden; 
durch Siedehitze wird sie coagulirt; durch Essigsäure entsteht in ihren 
Lösungen ein Niederschlag, der weder im Wasser noch in einem 
Ueberschuss Essigsäure löslich ist. Dieser Niederschlag bildet das 
Präglobulin, welches auch die Gerinnung zu unterdrücken resp. zu 
verzögern im Stande ist. Aus der Leber lässt sich nun ein Gyto¬ 
globin gewinnen, welches diese letzte Eigenschaft, durch Essigsäure 
niedergeschlagen zu werden, nicht besitzt. Diese Thatsache würde für 
sich allein genügen zu beweisen, dass das Gytoglobin keinen reinen 
chemischen Körper darstellt. 

Bisher ist es Al. Schmidt niemals gelungen, Gytoglobin oder 
Präglobulin im kreisenden Blute zu finden. 

Das Flüssigbleiben des Blutes während des Lebens ist also nicht 
von einem die Gerinnung hemmenden Bestandteile desselben, sondern 
vielmehr von der fortwährenden Ausscheidung des in ihm kreisenden 
Fermentes abhängig. Wenn das Blut aus der Ader gelassen wird, 
so wird diese Ausscheidung unmöglich; vielmehr entstehen stets 
neue Mengen desselben durch die abspaltende Wirkung der in 
Alkohol löslichen Substanzen auf die unwirksame Vorstufe des Fer¬ 
mentes. 

Versuchen wir es nun, diese neue Theorie Al. Schmidt’s auf 


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242 Dr. Corin, 

die Verhältnisse an der Leiche anzawenden, so gelangen wir za fol¬ 
genden Ergebnissen: 

Mit dem Tode hört die Ausscheidung des Fermentes auf. 

Aber da das Blut hier in den Gefässen bleibt, so wird kein 
neues Ferment mehr erzeugt. Die Erzeugung neuer Mengen desselben 
wird nur möglich, wenn die Leukocyten durch eine Berührung mit 
fremden Körpern erregt sind und so ihre die unwirksame Vorstufe 
abspaltenden Substanzen absondern können. 

Gab es in dem lebenden Blute viel Ferment, so entsteht be¬ 
trächtliche Gerinnung. Diesem Fall wird man häufig bei den lang¬ 
samen Todesarten begegnen und wirklich hat Köhler 1 ) z. B. bei 
künstlich erzeugter Septicämie auch eine bedeutende Zunahme des 
vitalen Fermentes gefunden. 

Es lässt sich demnach nicht leugnen, dass die Leukocytose ge¬ 
rade in diesen langsamen Todesarten, wie von Hofmann es annimmt, 
eine wichtige Rolle spielt; denn, wie Schmidt es bewiesen hat, sind 
die Leukocyten die wahren Fermentquellen. 

Ist der Fermentgehalt sehr klein, wie es im gesunden Zustande 
der Fall ist, so können nur unbedeutende Gerinnsel nach dem Tode 
erzeugt werden. 

Auf diese Weise erklären sich sehr leicht die verschiedenen Be-? 
funde, welche man bei den Obductionen machen kann: Die Aus¬ 
dehnung der Gerinnsel ist von der vor dem Tode bestehenden Fer¬ 
mentmenge abhängig. 

Leider ist es uns bis jetzt unmöglich, den vitalen Fermentgehalt 
des menschlichen Blutes zu bestimmen. Jedenfalls kann man aus 
den Leichenbefunden schliessen, dass er im gesunden Zustande sehr 
klein ist, ja selbst vielleicht ganz fehlen kann. 

Aber eine Sache ist noch nicht klar gestellt: Wie kann das nach 
dem Tode aus den Gefässhöhlen gelassene Blut flüssig bleiben, wenn 
es auch Fibrinogen enthält. Wenn die Menge Ferment, um eine voll¬ 
kommene Coagulation zu erzeugen, nicht genügt, so giebt es doch im 
Blute die Vorstufe des Fermentes und die Substanzen, welche diese 
Vorstufe abspalten können. . 

Zuerst war zu beweisen, dass diese Vorstufe und diese abspaltenden Sub¬ 
stanzen wirklich im Leiobenblute bestehen. Ein direoter Beweis ist aber nicht 


') Ueber Thrombose und Transfusion u. s. w. Inaugural-Abhandlung. 
Dorpat 1877, 


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Deber die Ursachen des Flüssigbleibens des Blatos bei der Brstickang. 243 

za erwarten, da von den chemischen Eigenschaften dieser Vorstufe nur eine, 
namlioh die Fähigkeit Ferment za erzeugen, ans bekannt ist. 

20 ccm Blat eines Erhängten, der 6 Tage naoh dem Tode obdaoirt wurde, 
werden mit 200 ccm starken Alkohol (96°) gemischt und während dreier Tage 
häufig gesohüttelt, dann einige Standen in Rahe gelassen. Nach Abheben der 
hellen oberen Sohicht wird abermals so viel Alkohol hinzugesetzt, 3 Tage gesohüt- 
telt, dann abgehoben and nooh einmal dieses Verfahren wiederholt. 

Der gesammte Alkohol wurde nun auf dem Wasserbade eingedampft und 
der Rückstand mit wenigem Wasser tüchtig zerrieben und dann filtrirt. Die so 
erhaltene Lösung sollte nach den Sohmidt’sohen Ergebnissen Substanzen ent¬ 
halten, welche das Ferment von seiner unwirksamen Vorstufe abspalten. 

Wenn also das asphyctisohe resp. Leichenplasma wirklich diese Vorstufe 
enthielt, so sollte es auch nach Zusatz dieser Lösung gerinnen. Als wir non die 
gesammte Lösung mit 5 com aspbyctisohem Blutplasma gemischt hatten, war¬ 
teten wir 2 Tage erfolglos. Wir daohten uns, dass die damalige niedrige Tempe¬ 
ratur die Gerinnung oder die Abspaltung des Fermentes verhindern resp. ver¬ 
zögern könnte und setzten darum die gesammte Mischung auf das Wasserbad, wo 
wir 2Standen 36° leicht festhalten konnten. Nach dieser Zeit erfolgte eine voll¬ 
kommene Gerinnung. 

Wir machen jedooh darauf aufmerksam, dass wir, am mühsam dieses Re¬ 
sultat bei 5ocm Plasma za erlangen, mit dem alkoholischen Extracte von 20ccm 
Blutplasma za arbeiten gezwungen waren. 

Nichtsdestoweniger können wir im flüssigen Leichenblutplasma das Vor¬ 
handensein einerVorstufe des Fibrinferments and der der Abspaltang dieserVor- 
stufe nöthigen Substanzen annehmen 1 ); und wird jetzt za untersuchen sein, 
waram diese Abspaltang nicht stattfindet. 

Dass eine die Abspaltang hemmende Substanz daran schuld ist, ist kaum 
zu bezweifeln. Alex. Schmidt ist aber einem solohen Bestandtheil niemals im 
normalen Blute begegnet. Wenn wir sein schon oben beschriebenes Verfahren 
mit asphyotisohem resp. Leiohenblute wiederholen, so können wir deshalb un¬ 
möglich beträchtliche Mengen des in Frage stehenden Körpers erwarten. 

ln der That, wenn wir den Rückstand, welcher naoh der alkoholischen Ex- 
trahirung hinterblieb, mit wenigem Wasser behandelten, so gewannen wir eine 
Flüssigkeit, welche mit Alkohol einen Niederschlag gab. Dieser Niedersohlag 
war im Wasser wieder löslich. Mit dem Erhitzen entstand auch ein Niederschlag, 
der aber nioht mehr za lösen war. Mit Essigsäure konnten wir keine Coagulation 
erhalten. Nach diesem Befunde war also unser vermuthetes Cytoglobin dem von 
Alex. Sohmidt in der Leber gefundenen Cytoglobin analog. 

Leider konnten wir in unseren Versuchen nicht eine genügende Menge 
dieser Substanz gewinnen, um dieselbe einer vollkommenen Prüfung zu unter- 


') Es scheint darnach überflüssig zu beweisen, dass ein Zusatz normales 
Ferment das Leichenblut gerinnen zu lassen vermag. Wir haben dooh den Ver¬ 
such gemacht und zwar mit dem aus Rinderblutserum nach den Sohmidt’sohen 
Vorschriften präparirten Fermente. Die Gerinnung trat naoh mehreren Stunden 
(S'/j) ein. 


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244 


Dr. Co rin, 


werfen. Namentlich war es uns unmöglich, ihre Eechtspolarisationsdrehnng zu 
bestimmen. Dies wird die Aufgabe weiterer Versuche sein. 

Dass diese Substanz wirklich gerinnungshemmend wirkt, werden die fol¬ 
genden Beispiele beweisen. 

Der mit Alkohol gereinigte Niedersohlag, welohen wir aus 15 ccm flüssiges 
Blut erhalten haben, wird mit 5 com destillirtes Wasser gut zerrieben und filtrirt; 
2 ccm werden, um den Einfluss des Alkohols, der Essigsäure und der Siedehitze 
zu prüfen, angewandt. Zu den anderen 3 com werden 2 com aus der Carotis 
eines lebenden Kaninchens gelassenes Blut gegeben; 2 ocm desselben Blutes 
werden zu 3 ccm destillirtes Wasser gegeben; 5 Minuten später sind die beiden 
Proben geronnen. Doch bei der ersten ist das Gerinnsel bedeutend geringer und 
haftet namentlich nicht an den Rohrwänden. Wenn es uns also unmöglich ist, 
in diesem Palle eine Verspätung der Gerinnung zu beobachten, so giebt es doch 
eine Verminderung derselben, was wahrscheinlich von vorherein von einer un¬ 
vollkommenen Umwandlung des Fibrinogens abhängig war. ln der That, in der 
Flüssigkeit, welche neben dem Gerinnsel in dem ersten Rohre vorhanden war, 
konnten wir bei 57° ein Coagulum erhalten, während dies nioht in dem zweiten 
Rohre geschah. 

Uebrigens war es uns in einem Falle möglich, vollkommen die Gerinnung 
zu unterdrücken. Bei einem Kaninchen, welches wir erdrosselt hatten, erfolgte 
die Gerinnung des 24 Stunden nach dem Tode erhaltenen Blutes 3 Tage später, 
wenn das Blut rein war. Wenn wir aber dasselbe mit Cytoglobinlösung misohten, 
so war selbst nach 6 Tagen keine Gerinnung zu beobachten. 

Es scheint daram überflüssig zu untersuchen, ob das reine 
Leichenplasnaa auch die Coagnlation des lebenden Blutes zu unter¬ 
drücken vermag. In der That haben wir Kaninchenblut mit diesem 
Plasma gemischt und beobachtet, dass die Gerinnung erst nach 
4 Stunden eintrat. 

Die Schwierigkeit, positive Resultate mit Cytoglobin zu erlangen, 
erklärt sich, weil die Gewinnung des Cytoglobins vollkommen mit 
derjenigen des Fibrinfermentes sich deckt. Man extrahirt so immer 
gleichzeitig kleine Mengen des Fermentes, welche natürlich die Ge¬ 
rinnung befördern. 

Es erklärt sich auch aus dieser Thatsache, warum wir aus dem 
flüssigen Blute ein thätiges Ferment mit der üblichen Methode nicht 
extrahiren konnten. Mit diesem Verfahren extrahiren wir zugleich 
Ferment und gerinnungshemmende Substanz. Nur wenn unser Blut 
noch gerinnungsfähig ist, d. h. wenn die Wirksamkeit des Ferments 
grösser als die des Cytoglobins ist, kann das Vorhandensein des Fer¬ 
ments durch Gerinnung bewiesen werden. — 

Woher stammt nun diese gerinnungshemmende Substanz? Es ist 
von vornherein nicht wahrscheinlich, dass sie ihre Quelle im Blute 


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Ueber die Ursaohen des Flüssigbleibens des Blutes bei der Erstiokung. 245 


habe; sonst würde es sich nicht erklären, wie das aus den Gefäss- 
höhlen in den ersten Zeiten nach denn Tode aspirirte Blut gerinnbar 
sein kann, während es diese Eigenschaft verloren hat, wenn man es 
einige Tage später aus den Gefässhöhlen aussaugt. 

Es wäre möglich, dass Cytoglobin mit dem Tode der Leukocyten 
erzeugt werde. Das Cytoglobin, welches Alexander Schmidt 
aus den Lymphzellen extrahirt hat, wird aber durch Essigsäure 
niedergeschlagen, was nicht bei dem von uns gewonnenen der 
Fall ist. 

Schon hieraus darf man schliessen, dass die Gerinnungsunfähig- 
keit ihren Ursprung den Gefässwänden verdankt. 

Ein sicherer Beweis dieser Behauptung lässt sich bisher leider 
nicht liefern. Die Versuchstiere geben dafür zu geringe Mengen Blut 
und bei don uns zu Gebote stehenden Sectionen konnten wir nur 
selten noch gerinnungsfähiges Blut erhalten. Das dafür anzuwendende 
Verfahren wäre, verschiedene Blutproben zu verschiedenen Zeiten einer 
Leiche zu entnehmen und in demselben die Menge des Cytoglobins, 
bez. die Kraft der gerinnungshemmenden Wirkung zu bestimmen. 

Eine fernere Frage, welche sowohl vom theoretischen als vom 
praktischen Standpunkte aus von Wichtigkeit sein kann, ist, zu er¬ 
mitteln, ob die Gewebe, welche nach den Rauschenbach’schen') 
Versuchen in frischem Zustande immer Fibrinferment resp. ferment¬ 
abspaltende Bestandtheile enthalten, die Gerinnung des Leichenblutes 
befördern können. 

Das Verfahren besteht in einer Auspressung verschiedener Ge¬ 
webe, Zerrühren des gewonnenen Saftes mit Wasser, Filtriren des so 
erhaltenen Breies. Die dazu von uns benutzten Gewebe waren Leber, 
Milz, Thymus, Lymphdrüsen, Knochen, welche wir aus derselben 
Leiche wie das zu probirende Blut entnahmen. In keinem Falle er¬ 
zeugte der Zusatz dieser Flüssigkeiten Blutgerinnung. 

Dieser Befund lässt zweierlei Erklärungen zu. Entweder die ge¬ 
rinnungsfordernden Substanzen sind in den Geweben noch so wie im 
frischen Zustande vorhanden, aber ihre Wirkung wird durch die der 
im Blute befindlichen gerinnungshemmenden aufgehoben, oder aber 
auch es hat in den Geweben nach dem Tode eine Vermehrung der 
gerinnungswidrigen Substanzen stattgefunden. 


*) Ueber die Wechselwirkung zwischen Protoplasma und Blutplasma. 
Inaug.-Abh. Dorpat 1883. 


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246 


Dr. Corio, 


Jedenfalls dürfte diese Thatsache auch in praktisch-gerichtsärzt¬ 
licher Beziehnng ein besonderes Interesse beanspruchen. 

Schon lange hat vonHofmann') bewiesen, dass „auch bei Con- 
tusionen und überhaupt bei Verletzungen, bei welchen die Haut nicht 
durchtrennt wurde, somit das in das Gewebe ausgetretene Blut mit 
der äusseren Luft nicht in Contact kam, die postmortale Suffusion 
aus geronnenem Blute bestand, ein Umstand, der, weil die Versuche 
an erstickten Thieren geschahen, bei denen somit das Blut im Herzen 
und in den Gefässen flüssig blieb, beweist, dass erst in den Partieen, 
in welche das Blut ausgetreten war, die Bedingung (das Ferment) 
gesetzt wurde, welche nothwcndig ist, um aus den sogenannten Fibrin¬ 
generatoren Fibrin zu erzeugen. Doch muss bemerkt werden, dass 
wir bei unseren Versuchen immer nur locker geronnenes Blut in den 
postmortalen Suffusionen fanden, niemals aber so feste Gerinnsel, 
wie sie bei vital erzeugten Extravasaten, wenn auch nicht immer, so 
doch meistens beobachtet werden.“ 

Nach unseren Versuchen ist es erklärlich, dass die Leichenextra¬ 
vasate im Allgemeinen lockerer sind und schon aus einfachen theo¬ 
retischen Erwägungen kann man schliessen, dass diese Gerinnsel bei 
postmortalen Verletzungen, welche lange genug nach dem Tode er¬ 
zeugt worden sind, fehlen müssen. 

Wir haben auch directe Experimente zur Entscheidung dieser 
Frage angestellt. 

Bei einem erdrosselten Kaninchen erzengten wir verschiedene Verletzungen 
und zwar: 

A. Sofort nach dem Tode eine Fractur des Sohädels ohne Trennung 
der Haut. 

B. 24 Stunden nach dem Tode eine Fraotur des rechten Oberschenkels. 

G. 48 Stunden nach dem Tode eine Fractur des linken Obersohenkols. 

Naoh der Schädelfractur wurde eine Probe Blut aus der Vena jugularis 
sinistra, nach der Fractur des rechten Oberschenkels aus der Vena axillaris 
sinistra, nach der Fractur des linken Oberschenkels aus der Vena axillaris 
sinistra genommen. 

Nur die beiden ersten Proben zeigten eine Gerinnung. 

Nach jedem erfolgten Bruohe wurde das Thier so suspendirt, dass der ver¬ 
letzte Theil die niedrigste Stellung während 24 Stunden hatte. 

Bei der später vollzogenen Obduction zeigte sich, dass nur bei den beiden 
ersten Verletzungen die Knochenenden von geronnenem Blute umgeben wurden. 

Wir sind deshalb nicht der Meinung, dass 2 Tage naoh dem Tode die 

*) L. c. S. 370--371. 


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Ueber die Ursachen des Flüssigbleibens des Blates bei der Erstickung. 247 

Grenzen bilden, innerhalb weloher das in die Gewebe ausgetretene Blut gerinnen 
kann. Vielmehr glauben wir, dass unter gewissen Umständen schon naoh 24Stun- 
den oder auoh erst nach 72 Stunden nach dem Tode das ausgetretene Blut nicht 
mehr gerinnungsfähig ist. Es wird die Aufgabe weiterer Versuche sein, diese 
Grenzen und die hierbei unberücksichtigten näheren Umstände genauer festzu- 
stellen. 

Wenn wir nun eine kurze Zusammenfassung der vorliegenden 
Resultate unternehmen wollen, so ergiebt sich, dass bei der Leiche im 
Blute Gerinnung eintritt nur insofern, als in demselben schon wäh' 
rend des Lebens Ferment vorhanden war, und dass die Ausdehnung 
der bei der Obduction gefundenen Gerinnsel direct von der Menge des 
vitalen Fermentgehaltes abhängig 1 ] ist. 

Eine weitere Erzeugung dieses Fermentes nach dem Tode findet 
nicht mehr statt, wenn auch im Blute die unwirksame Vorstufe des¬ 
selben besteht. 

Die Gegenwart dieser Vorstufe ist aber die Ursache einer wei¬ 
teren Gerinnung, wenn das Blut früh aus den Gefässen gelassen wird, 
und zwar in Folge der abspaltenden Wirkung, welche gewisse Blut- 
bestandtheile auf diese Vorstufe ausüben. 

Später aber entsteht im Blute — und offenbar nicht aus dem Blute, 
sondern aus den Gefässwänden — ein Körper, welcher die Eigenschaft 
hat, die Gerinnung zu hemmen resp. die Thätigkeit der fermentab¬ 
spaltenden Substanzen zu unterdrücken. 

Dieser Körper ist höchstwahrscheinlich identisch mit dem von 
Al. Schmidt beschriebenen Cytoglobin und besonders dem in der 
Leber gefundenen Cytoglobin. 

Die Gefässwände spielen daher bei der Leiche eine doppelte 
Rolle dem Blute gegenüber: im Anfänge nämlich halten sie das Blut 
flüssig, d. h. verhindern sie eine Fermentproduction, indem sie keine 
Erregung auf die Leukocyten, die Erzeuger dieses Fermentes, ausüben. 

Später aber verhindern sie die Gerinnung auch durch eine Ab¬ 
sonderung gerinnungshemmender Substanz. 

Aus dem Gesagten folgt auch, dass es zwischen dem Blute der 
Erstickten resp. der plötzlich Gestorbenen und demjenigen der lang¬ 
sam Gestorbenen nur einen relativen Unterschied giebt. 

Dieser Unterschied ist durch don verschiedenen Fermentgehalt 
zu erklären. Aber in keinem Falle entsteht nach dem Tode in den 
Gefässhöhlen eine vollkommene Gerinnung, wie es in dem aus dem 
lebenden Körper gelassenen Blute geschieht. Immer bleibt neben dem 


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UMIVERSITY OF IOWA 



248 


Dr. Corin. 


Fibrin ein mohr oder weniger beträchtlicher Ueberschnss gelösten 
Fibrinogens. 

Dieses Fibrinogen ist während den ersten Zeiten nach dem Tode 
noch gerinnungsfähig, wird aber später ungerinnbar und zwar, nicht 
weil es selbst verändert wird, sondern weil die Fermenterzeugnng 
unmöglich wird. 

Es möge noch hier erwähnt werden, dass dieses Flüssigbleiben 
des Leichenblutes ganz verschieden von dem Flüssigwerden der Lei¬ 
chengerinnsel ist. Falk 1 ) hat ja bewiesen, dass dieses Flüssigwerden 
wesentlich in einer Umwandlung des Fibrins in Globulin durch Fäul- 
niss besteht. 

In praktisch gerichtsärztlicher Beziehung ergeben sich aus unseren 
Versuchen zweierlei Ergebnisse. Zunächst ein negatives: in Bestäti¬ 
gung früherer Angaben können auch wir der flüssigen Beschaffenheit 
des Blutes eine Bedeutung für die Diagnose des acuten Erstickungs¬ 
todes gegenüber anderen acuten Todesarten gesunder Personen nicht 
einräumen. 

In positiver Beziehung sprechen unsere Versuche dafür, dass ent¬ 
sprechend der alten Lehre der geronnenen Beschaffenheit des Blutes 
in Extravasaten eine gewisse Bedeutung für die vitale Natur der be¬ 
treffenden Verletzungen zukommt, insofern bei Verletzungen, die erst 
einige Zeit nach dem Tode erzeugt werden, eine Gerinnung des aus¬ 
getretenen Blutes nicht mehr stattfindet. 

Welches die Zeitgrenzen sind, bis zu denen auch an der Leiche 
eine Blutgerinnung eintritt, das wird durch weitere Versuche genauer 
zu bestimmen sein. 


*) Diese Vierteljahrsschrift. N. F. LII. S. 215. 


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Me Yerletnigei des Mastdames gerichtsärztlichea 

Standpunkt* 

Von 

Dr. Adolf Hantzel in Elberfeld. 


Verletzungen des Mastdarmes kommen dem Gerichtsarzte nicht 
gerade häufig vor. Was Casper-Liman (Handbuch der gerichtlichen 
Medicin, 8. Aufl., I. Bd., S. 346) anführen, um die Seltenheit der 
Verletzungen der Geschlechtsteile zu erklären: dass nämlich die Ge¬ 
nitalien sowohl durch ihre Lage am Körper, als auch, namentlich bei 
Weibern, durch die Bekleidung besonders geschützt seien, dass ferner 
Jeder wisse, wie ungemein reizbar und empfindlich diese Organe sind, 
und deshalb ein Angriff gegen sie schon immer eine ganz besondere 
Roheit voraussetze — dies Alles gilt auch für den benachbarten 
Mastdarm. 

Nach von Hofmann (Lehrbuch der gerichtl. Medicin, 5. Aufl., 
S. 270) handelt es sich um eine „Verletzung“ im engeren Sinne, 
„wenn Störungen des Zusammenhanges oder der Function gewisser 
Organe oder Organgewebe durch mechanische Mittel veranlasst wer¬ 
den“; und damit übereinstimmend definiren Casper-Liman (1. c., 
II. Bd., S. 214) die Verletzung im forensischen Sinne „als jede durch 
äussere Veranlassung bewirkte Veränderung im Bau oder in der Ver¬ 
richtung eines Körperteils“. Hiernach sind als Verletzungen des 
Mastdarmes anzusehen: Wunden, Zerreissungen, Verbrennungen, Ver¬ 
ätzungen sowie unter gewissen Umständen auch Lähmung des Schliess- 
muskels und Vorfall. 

Um eine Verletzung des Mastdarmes am Lebenden zu er¬ 
kennen, verfährt der Gerichtsarzt nach den Regeln der chirurgischen 


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250 


Dr. M&ntzel, 


Diagnostik. Vielfach wird überhaupt zuerst der Chirurg eine solche 
Läsion diagnosticiren, weil sie sofortige Behandlung erfordert. Der 
Gerichtsarzt wird also oft lediglich die Diagnose des behandelnden 
Collegen bestätigen, ja zuweilen, um dem Kranken unnöthige Schmer¬ 
zen zu ersparen, auf eingehende Untersuchung verzichten können. So 
berichtet Li man über die Besichtigung des päderastisch gemiss- 
brauchten Knaben Handtke (Casper-Liman, 1. c., I. Bd., S. 189): 
„Ob hier, event. wie weit auch der untere Theil des Mastdarmes ein¬ 
gerissen, haben wir unsererseits nicht festgestellt, weil, nachdem die 
behandelnden Aerzto mehrfache Untersuchungen schon vorgenommen, 
wir durch erneutes Eingehen mit dem Finger die Wunde nicht reizen 
und dem Kinde nicht Schmerzen bereiten wollten.“ Im Allgemeinen 
aber soll der Gerichtsarzt, wie namentlich Weil (Entstehung der 
mechanischen Verletzungen in Maschka’s Handbuch der gerichtlichen 
Medicin, I. Bd., S. 286) betont, sich nicht mit oberflächlicher Be¬ 
sichtigung der Analgegend begnügen, sondern womöglich den Mast¬ 
darm genau inspiciren. König (Lehrbuch der speciellen Chirurgie, 
5. Aufl., II. Bd., S. 408) räth, die Untersuchung so vorzunehmen, 
dass der Explorand sich mit dem Oberkörper über eine nicht za höhe 
Stuhllehne beugt. Für genauere Untersuchungen ist entweder die von 
Maschka (1. c., III. Bd., S. 96) für die Inspection der Genitalien 
angegebene „Steinschnittlage“ zu wählen, wobei der After in Rücken¬ 
lage des zu Untersuchenden frei über den Rand eines Tisches ragt, 
während die Oberschenkel gegen den Leib gebeugt und auseinander 
gezogen werden, oder der zu Untersuchende ist in die Seiten läge 
zu bringen, wobei der Arzt, um die Analgegend zu übersehen, die 
ihm zugewandten Glutaeen mit beiden Händen auseinander halten 
muss. 

Der Besichtigung des Afters folgt die Einführung des einge¬ 
fetteten Zeigefingers in den Mastdarm. Kommt man hierdurch nicht 
zum Ziel, so bemüht man sich, mit Hilfe eines Speculums die Mast¬ 
darmschleimhaut dem Auge zugänglich zu machen. König (1. c., 
S. 409) empfiehlt besonders den von Fergusson angegebenen Mast¬ 
darmspiegel, der von jedem Klempner je nach dem einzelnen Falle 
leicht herzustellen sei und ohne Narcose fast schmerzlos angewandt 
werden könne. Die Narcose und vollends die Einführung der ganzen 
Hand in das Rectum nach Simon kann überhaupt bei forensischen 
Mastdarmexplorationen wohl kaum jemals in Frage kommen. Auch 
zur Mastdarmsonde wird der Gerichtsarzt nur ganz ausnahmsweise 


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UNIVERSUM OF IOWA 



Die Verletzungen des Mastdarmes rom gerichtsärztlichen Standpunkt. 251 


greifen, weil die mit dieser Untersuchungsmethode erzielten Ergeb¬ 
nisse doch gewöhnlich unsicher sind. Bei Weibern darf man, falls 
eine Mastdarmverletzung vermuthet wird, nicht die gleichzeitige Ex¬ 
ploration der Scheide unterlassen. In manchen Fällen empfiehlt sich 
die von Störer (cit. nach König, 1. c., S. 409) geübte Methode, 
einen oder zwei Finger in die Vagina einzuführen und, indem man 
die Finger hakenförmig nach der Afteröfifnung hindrängt, durch den 
Anus die vordere Mastdarmwand herauszustülpen. Die Diagnose einer 
Recto-Vaginalfistel kann, wenn Koth durch die Scheide abgeht, oft 
ohne Weiteres gestellt werden. 

Die Untersuchung des Mastdarmes an der Leiche geschieht 
nach den §§13 und 21 des preussischen Regulativs für das Ver¬ 
fahren der Gerichtsärzte bei den gerichtlichen Untersuchungen mensch¬ 
licher Leichen. Orth beschreibt in seinem Compendium der patho¬ 
logisch-anatomischen Diagnostik. (5. Aufl., S. 354 u. 427) ausführlich 
die hierbei zu befolgende Sectionsmethode. In Betreff der Besichtigung 
des Afters einer Leiche ist hervorzuheben, dass, wie Liman (1. c., 
I. Bd., S. 196) in einem seiner Gutachten bemerkt, blosses Offen¬ 
stehen des Afters und Ausfliessen von Koth ein alltäglicher Befund 
bei Leichen und für die Diagnose einer Mastdarmverletzung ohne den 
geringsten Werth ist. — 

Als Nachbar der Geschlechtsorgane ist der Mastdarm bei 
sexuellen Acten manchen Läsionen ausgesetzt. Von Hofmann (1. 
c., S. 130) sah auf Albert’s Klinik eine grosse Vulvo-Rectalfistel, die 
beim Coitus durch Einreissen der Fossa navicularis unmittelbar an 
der hinteren Insertion des sehr festen und eine enge Oeffnung be¬ 
sitzenden, fast noch völlig erhaltenen Hymens entstanden war. Der 
Ehemann hatte Jahre lang den Beischlaf durch diese Fistel ausge¬ 
führt. Ueber einen ähnlichen Fall berichtet Sinaisky (Weekly Med. 
Rev. XXII. 5. 90, cit. nach Deutsche Medicinal-Zeit., 1891, S. 245): 
Eine neuvermählte Frau von 23 Jahren empfand beim ersten Coitus 
grosse Schmerzen und verlor so viel Blut, dass sie ohnmächtig wurde. 
Hinterher stellten sich Schmerzen beim Gehen und bei der Defäcation 
ein. Die Untersuchung ergab ein unverletztes, mässig verdicktes, 
halbmondförmiges Hymen. Von der hinteren Commissur ging ein Riss 
aus, der zwei bis drei Finger passiren liess und im Rectum oberhalb 
des Sphincter extern, endigte. Dieser Riss communicirte auch mit 
der Scheide, denn sie enthielt Darmgase und Fäcalmassen. Mit den 
Fingern oder anderen Fremdkörpern manipulirt zu haben, stellte das 


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252 


Dr. Mantzel, 


durchaus glaubwürdige Ehepaar entschieden in Abrede, so dass die 
Verletzung einzig und allein durch den heftigen und falsch dirigirten 
Stoss des Penis zu erklären ist. Sinaisky, dessen Arbeit ich mir 
im Original leider nicht verschaffen konnte, soll aus der Literatur 
noch 14 andere derartige Fälle zusammengestellt haben. 

Umgekehrt hat sich der Penis zuweilen in den Anus verirrt und 
von dort aus das Septum recto-vaginale durchbohrt, meist ebenfalls 
beim Coitus primae noctis. Price (Philadelph. med. and surg. Re¬ 
porter 21, 1886, — cit. nach Deutsche Medicinal-Zeitung, 1887, 
S. 240) fand bei einer jungen Frau von 22 Jahren einen Riss in der 
Recto-Vaginal wand, der zwei Finger passiren liess, während das 
Hymen vollkommen intact war. Die Frau, die vor ihrer Verheirathung 
ganz gesund gewesen war, hatte beim Coitus jedesmal so furchtbare 
Schmerzen, dass sie ohnmächtig wurde und hinterher viel Blut aus 
den Genitalien verlor. Auch trat bald Incontinentia alvi ein. Belajew 
(Medizinskoje Obosrenije 20, 1886 — cit. nach Deutsche Medicinal- 
Zeitung, 1887, S. 240) berichtet ebenfalls über eine von ihm operirte 
Recto-Vaginalfistel, die beim Coitus primae noctis entstanden war. 
Trotzdem bei dieser Verletzung der Penis in den Anus eindringt, 
handelt es sich doch um einen in natürlicher Lage vollzogenen Bei¬ 
schlaf, denn nur so vermag der nach vorn gerichtete, erigirte Penis 
von hinten her die Recto-Vaginalwand zu durchstossen, während beim 
eigentlichen a tergo vollzogenen päderastischen Acte, auch wenn 
Weiber ihn erdulden, die Spitze des Penis in die Kreuzbeinhöhlung 
eindringt und wohl kaum in die Vagina gelangen kann. 

Bei der Päderastie kommen dagegen andere Verletzungen des 
Mastdarmes vor, doch sind sie, wie Casper-Liman (l. c., I. Bd., 
S. 175) und Maschka (1. c., III. Bd., S. 183) übereinstimmend be¬ 
tonen, ziemlich selten und gehören nicht zu den gewöhnlichen Kenn¬ 
zeichen der Kynäden. Freilich steigert sich ein häufiges Symptom 
der habituellen passiven Päderastie, die Erschlaffung des Sphincter 
ani, bisweilen derartig, dass mehr oder weniger vollständige Lähmung 
des Schliessmuskels, verbunden mit Kothincontinenz eintritt; ja es 
kann sogar zum Mastdarmvorfall kommen. 

Bei einer von Tardieu (Etüde mödico-lögale sur les attentats 
aux moeurs, 7. 6dit., p. 56) untersuchten 18jährigen Frau, die seit 
fünf Monaten von ihrem Ehemann päderastisch gemissbraucht worden 
war, bildete der After ein rundliches, klaffendes Loch, so dass der 
Darminhalt nur unvollständig zurückgehalten werden konnte. In 


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Die Verletzungen des Hastdarmes vom gerichtsärztliohen Standpunkt. ‘253 

einem von Schwarze (diese Vierteljahrsschrift, Nene Folge, 39. Bd., 
S. 257) mitgetheilten Falle, wo zwei Mädchen im Alter von 8 und 
10 Jahren vom eigenen Vater längere Zeit hindurch päderastisch ge- 
missbraucht und dann durch Erstickung mittels eines Federbettes er¬ 
mordet waren, beobachteten die Obducenten bei der jüngeren Leiche 
eine auffällige Erweiterung und Erschlaffung der Mastdarmöffnung, 
die wie ein leeres Loch von mindestens 1 Zoll Durchmesser erschien, 
in welches der Daumen ohne jedes Hinderniss hineingeführt werden 
konnte, und bei der älteren Leiche in der spaltförmigen fast lV 2 Zoll 
langen Mastdarmöffnung einen fünfzig-Pfennig-Stück grossen Schleim¬ 
hautvorfall. 

Ponfick (Breslauer ärztliche Zeitschrift, 1884, S. 65) und sein 
Schüler Juliusburger (Beiträge zur Kenntniss von den Geschwüren 
und Stricturen des Mastdarmes, S. 117 ff.) haben die Vermuthung 
ausgesprochen, dass auch ein Theil der gewöhnlich als syphilitisch 
angesehenen Mastdarmgeschwüre und -Stricturen in Folge eines Trau¬ 
mas beim widernatürlichen Coitus zu Stande kommen dürfte. Sie 
beobachteten diese Ulcerationen vorwiegend bei prostituirten Weibern, 
unter denen ja Fälle von passiver Päderastie unzweifelhaft nicht allzu 
selten sind. Es handelt sich hier aber nur um eine Vermuthung. In 
keinem Falle ist bisher der Beweis gelungen, dass die Entstehung 
eines solchen Geschwüres, welches nach Ponfick „mit einer kegel¬ 
förmigen Zuspitzung ähnlich der Gestalt der Glans za endigen pflegt“, 
wirklich auf päderastischen Coitus zurückzuführen sei. Auch fehlen 
ähnliche Beobachtungen an männlichen Eynäden. 

Dagegen entstehen Mastdarmverletzungen zuweilen beim frischen, 
zum ersten Male ausgeübten päderastischen Acte, wenn Gewalt an¬ 
gewandt wird, oder wenn, namentlich bei widernatürlicher Nothzucht 
an Kindern, ein grosses Missverhältnis zwischen den beschädigten 
Theilen und dem Penis des Thäters vorhanden ist. 

Hierher gehören zunächst zwei merkwürdige Fälle von Sodomie, in denen 
männliche Individuen durch die in ihren Anus eingeführte Ruthe eines Thieres 
verletzt wurden. In dem einen dieser Fälle, welchen Tardieu selbst, der ihn er¬ 
zählt (1. o. S. 10), als kaum glaublich bezeichnet, wurde ein Bauer, der nach 
Verrichtung seiner Nothdurft mit noch offenen Beinkleidern den Kuhstall betrat, 
durch einen zweijährigen Stier von hinten her angegriffen und zu Boden ge- 
stossen, so dass er nach vorn auf seine Hände stürzte und mit entblösstem Ge- 
säss in eine der sogenannten „Knie-Ellenbogen-Lage“ ähnliche Position gerieth, 
worauf der Stier ihn mit den Vorderbeinen niederdrüokte, ihm seine Ruthe in 

VterUtyahrMchr. f. gor. Med. Dritte Folg«. V. 2. 17 


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254 


Dr. Mantzel, 


den Anas einbohrte and das Reotam perforirte. Der Verletzte starb nach 
8 Standen. — Ueber den zweiten Fall betichtete Broaardel der Pariser Gesell¬ 
schaft für gerichtliche Medicin am 8. August 1887 (citirt nach Deutsohe Medi- 
cinal-Zeitung, 1887, S. 759) nach den Mittheilungen eines ungenannten Arztes. 
Ein 18jähriger Diener liess sich gewohnheitsmässig von einem grossen Jagdhund 
per anum gebrauchen. Während eines solchen Aktes warde er ins Haus gerufen, 
und beim Versuche, sich schnell von dem Thiere loszumaohen, zerriss ihm die 
geschwollene Eichel des Hundepenis den Sphincter ani. 

Laoassagne (Verhandlungen des X. internationalen medioinischen Con- 
gresses, V. Bd., 17. Abtheilung, S.49) unterscheidet eine gewaltsame (brueque) 
and eine allmähliche (lente) „defloration anale*. Während sioh nach der 
letzteren nor ausnahmsweise Veränderungen am Anas vorfinden, zeigt nach der 
enteren die Mastdarmsohleimhant fast immer dreieokige Einrisse, deren Basis 
naoh innen gerichtet ist, wogegen die Seiten des Dreiecks naoh der Afteröffnung 
za oonvergiren. Dieselben Verletzungen entstanden, als eine kegelförmig zu- 
gespitzte Walze von 40 mm Durchmesser in den Anus einer Leiche und ein ähn¬ 
licher Gegenstand von 31 mm Durchmesser in den Anus eines Hundes gewaltsam 
eingeführt wurden. Die Einrisse hatten niemals die Richtung der Linea bulbo- 
ano-ooccygea, sondern fanden sich immer seitwärts von dieser Raphe. 

Um solche „defloration anale brueque “ handelte es sioh ohne Zweifel 
bei einer von Tardieu (1. o. p. 257) untersuchten 16 V 2 jährigen Frau, die seit 
den ersten Tagen ihrer Ehe päderastischen Attentaten des Gatten aasgesetzt war. 
Tardieu fand bei ihr nooh drei Monate naoh der Hochzeit mehrfache, unvoll¬ 
ständig vernarbte Einrisse des Sphinoter. Auoh Toulmouche (Ann. d’hyg., 
1876, Juillet — citirt nach Maschka l.o. III.Bd., S. 183) sah einen 16jährigen, 
päderastisch gemissbrauchten Barschen, dessen After eingerissen war. Rei- 
mann (Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medioin, Neue Folge, 22. Bd., S. 58) 
erzählt von einem 9jährigen Mädchen, das ein russischer Priester päderastisoh 
genothzüchtigt und dabei die Ränder des Anus an mehreren Stellen eingerissen 
hatte. Poelohen (Virchow’s Archiv, 127. Bd., S. 271) sah bei einem 15jährigen 
Mädohen, das angab, am Tage vorher von zwei Männern gemisshandelt zu sein, 
neben einem frischen Einriss in dem sonst intacten Hymen zwei frisohe Einrisse 
im After ungefähr 1 cm tief und 1 */ 2 cm weit hinaufgehend. Aus diesen Ein¬ 
rissen entwickelten sich Ulcerationen mit indurirtem Grunde, die jeder Therapie 
widerstanden und im Laufe mehrerer Jahre fast den ganzen Analring zerstört 
hatten. Einige Wochen nach der Verletzung traten auch Symptome allgemeiner 
Lues auf. 

Liman (1. c. I. Bd., S. 189) constatirte bei dem gemissbrauohten 5 Jahre 
alten Knaben Handtke ausser drei kleineren Verletzungen des Afters einen 
grossen, klaffenden, den ganzen Schliessmuskel durchtrennenden Riss, der wohl 
nicht daroh den Penis entstanden war, sondern durch gewaltsames Auseinander- 
reissen der Hinterbacken in der Crema ani, um auf diese Weise das Eindringen 
des männliohen Gliedes zu erleichtern. An der Leiche eines 3 Vs Jahre alten 
Knaben, den zwei Päderasten gemeinsam bearbeitet und dann ermordet hatten 
fand Tardieu (1. c. p. 273) neben anderen tödtliohen Verletzungen den Anult 
weit geöffnet und hooh ins Rectum hinein zerrissen. Diesem Verbreohen ähnes, 
in manoher Beziehung die unaufgeklärt gebliebene Ermordung des 16jährigen 


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Die Verletzungen des Mastdarmes vom gerichtsärztlichen Standpunkt. 255 

Corny in Berlin (Casper-Liman II. Bd., S. 820ff.), woran sich ebenfalls, wie 
das von Skrzeczka dictirte Obdactionsprotokoll betont, mindestens zwei Per¬ 
sonen betheiligt haben müssen. An dem aus der Panke gezogenen Leichnam 
fanden sich mehrere Wanden am Kopf nnd zahlreiche Hautabschürfungen. Beide 
Hoden waren aus dem Sorotum herausgerissen, und statt der Afteröffnung klaffte 
ein 2 1 / 2 Zoll langes Loch, welohes durch den zerrissenen Mastdarm, von dem 
überhaupt nur ein 6 Zoll langes Stück noch vorhanden war, mit der Bauchhöhle 
communicirte. Die Gedärme, das Netz und die Leber waren mehrfach zerrissen, 
die Milz nicht vorhanden. In der Bauchhöhle wurden Sand und mehrere kleine 
Baumzweige gefunden. Die Obducenten bezeichneten als Todesursache: Verblu¬ 
tung, nnd begutachteten, dass die Verletzungen am After und in der Bauohhöhle 
duroh Eintreiben eines harten, walzenförmigen Körpers von über 1 Fuss Länge 
und wenigstens 6 Zoll Dicke hervorgebracht seien. Liman’s Vermuthung, dass 
es sich hier um einen päderastischen Nothzuchtsaot gehandelt habe, gewinnt an 
Wahrscheinlichkeit durch das Vorhandensein anderer Fälle, in denen bei päde¬ 
rastischen Attentaten mehr oder minder voluminöse Fremdkörper die Stelle 
des Penis vertraten und unter Umständen das Rectum vorletzten. So berichtet 
Stromeyer (oitirt nach F. Esmarch, Die Krankheiten des Mastdarms und des 
Afters in Pitha-Billroth’s Handbuch der Chirurgie, UI. Bd., 2. Abth., 5. Lief., 
S. 58), dass ein paar junge Leute einem alten Paederasten, der ihnen nach¬ 
gestellt, einen grossen Holzpflock in den Mastdarm keilten, und v. Hofmann 
(1. c. S. 487) erzählt, dass dem Liebhaber einer Bäuerin von dem Gatten der¬ 
selben und mehreren anderen aufgelauert und dann mit Hilfe eines Steines ein 
Holzpflock in den After getrieben wurde, ohne dass jedoch nach Entfernung des 
Fremdkörpers schwere Erscheinungen auftraten. 


Aach za päderastischer Onanie werden Fremdkörper manch¬ 
mal benutzt. Schauenstein (cit. nach Maschka, III. Bd., S. 185) 
sah anf Dumreicher’s Klinik aas dem Mastdarm eines Mannes eine 
mehr als Vs Liter haltende Weinflasche hervorziehen, die er sich 
höchst wahrscheinlich in päderastischer Absicht za tief eingefahrt 
hatte. Einen ähnlichen Fall beschreibt J. Collins Warren (Boston 
med. and sarg. Joarn., CXXII, 23, 90 — cit. nach Deutsche Medi- 
cinal-Zeitung, 1891, S. 646): Ein 41jähriger Vagabund pflegte, um 
seine Geschlechtslust zu befriedigen, eine kegelförmige, 10 Zoll lange 
Einmacheflasche, die Basis nach unten gerichtet, im Rectum rhyth¬ 
misch hin und her zu schieben. Eines Tages entglitt sie seiner Hand 
und konnte erst, nachdem der Sphincter bis zum Steissbein durch¬ 
schnitten und dieses mit einer Zange nach hinten gezogen war, ex- 
trahirt werden. Nölaton (Elements de Pathologie Chirurg., p. 42 — 
cit. nach Esmarch, 1. c., S. 64) erzählt von einem Manne, dem bei 
einer Orgie ein grosses fiiergl&s in’s Rectum geschoben worden war. 
Das Glas zerbrach in Folge der Bemühungen, es herauszubefördern, 

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256 


Dr. Mantzel, 


and bei der Extraction der Stücke wurde der Mastdarm an mehreren 
Stellen beträchtlich zerrissen, so dass der Verletzte nach 8 Tagen an 
Phlegmone des Beckenbindegewebes zu Grunde ging. 

Zuweilen rühren die Vorgefundenen Läsionen auch von unzüch¬ 
tigen Fingermanipulationen her. Die Zerreissung des eigenen 
Mastdarmes mit den Fingern verübte, wie M. Coli ins (Med. Record 
XXXVII, 21, 1890 — citirt nach Deutsche Medicinal-Zeitung, 1891, 
S. 518) mittheilt, ein 16jähriger irrsinniger Epileptiker. Auch er 
starb an Phlegmone 3 Tage nach der Verletzung. — Ein 16jähriges 
Mädchen ermordete, wie Majer (Friedreich’s Blätter für gerichtliche 
Medicin, 33- Jahrg., S. 457) erzählt, aus Geilheit vier kleine Kinder 
— das jüngste davon war 19 Wochen alt —, indem sie mit ihrem 
Finger im Mastdarm der kleinen Geschöpfe herumbohrte und die 
Darmwandungen perforirte. Auf dieselbe Weise tödtete sie auch ein 
junges Schwein und ein Kalb. — Bei einem 5jährigen Mädchen, 
dessen Geschlechtstheile mit dem Finger bearbeitet waren, fand 
Li man (1. c., I. Bd., S. 348) einen completen Dammriss mit Mast¬ 
darmvorfall und Kothincontinenz. Einen vollständigen Dammriss bis 
in’s Rectum hinein beobachtete auch Maschka (1. c., III. Bd., S. 104 
und 158) an einem 13jährigen Mädchen, dem ein Soldat, um sich 
den Nothzuchtsact zu erleichtern, mit dem hakenförmig in die Scheide 
eingeführten Finger die Theile gewaltsam zerrissen hatte. Liman 
(1. c., I. Bd., S. 349) berichtet, dass ein junges Mädchen durch drei 
Knechte überfallen wurde, dass einer davon ihr mit dem Finger in 
die Geschlechtstheile griff und Sand und Steine hineinstopfte. Die 
Folge war vollständige Zerreissung des Dammes. Die Communication 
zwischen Scheide und Mastdarm erstreckte sich einen Zoll tief. Durch 
längere chirurgische Behandlung gelang es jedoch, den Damm wieder¬ 
herzustellen. — 

Fremdkörper der verschiedensten Art werden, wenn sie von 
oben, von unten oder von der Seite her in den Mastdarm eindringen, 
verhältnissmässig häufig die Ursache von Verletzungen. In der Lite¬ 
ratur findet man eine grosse Anzahl solcher Fälle beschrieben, doch 
bieten wenige derselben ein unmittelbares forensisches Interesse 
dar. Für den Gerichtsarzt sind ja diese Läsionen nur dann von 
Bedeutung, wenn der Verdacht besteht, dass das Eindringen des 
fremden Körpers einem Verbrechen oder einer Fahrlässigkeit zuzu¬ 
schreiben ist, oder dass der Thäter die Absicht hatte, sich selbst za 
verletzen. 


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Die Verletzungen des Mastdarmes vom gerichtsärztlichen Standpnnkt. 257 

Freilich gehen oft scharfe and spitze Gegenstände, die aas irgend einem 
Grande verschlaokt worden sind, durch den ganzen Darmoanal hindurch, ohne 
nennenswerten Schaden anzariohten. F. Esmaroh (1. o. S. 53 n. 54) erwähnt 
eine silberne Gabel, einen spitzigen Zirkel, eine mit künstlichen Zähnen and 
Klammern versehene Goldplatte, die sämmtlich ohne Nachtheil für die betreffen¬ 
den Kranken durch den After zum Vorschein kamen. Die Ausleerungen eines 
Melanoholikors (Bloch in Schmucker’s vermischten ohirarg. Schriften, I. Bd.. 
S. 374 — oitirt nach Esmarcb 1. c. S. 54) enthielten im Verlaufe von 8 Mo¬ 
naten: 157Stücke soharfen und eckigen Glases bis zu 2 Zoll Länge, 102messingene 
Stecknadeln, 150 verrostete eiserne Nägel, 3 grosse Haarnadeln, 15 Stücke Eisen 
von verschiedener Grösse, ein grosses Stück Blei, eine halbe messingene Schuh¬ 
schnalle und 3 Zelthaken. Der Patient, welcher wegen eines Schrotschusses, den 
er gegen seine Stirn abgefeuert hatte, in ärztliche Behandlung gekommen war, 
wurde körperlich vollständig gesund, blieb aber geisteskrank. 

Zuweilen indess setzen sich solche Fremdkörper oberhalb des Sphincter ani 
fest und durchbohren die Schleimhaut des Mastdarms. So schnitt Rothmund 
(citirt nach Esmarcb 1. c. S. 54) aus dem After eines Mannes ein 8 Y 2 Zoll 
langes, fingerdickes Eisenstück, das 3 Zoll über dem Anus durch die Mastdarm¬ 
wand gedrungen war. Der Patient hatte dasselbe vor 19 Tagen aus Lebens¬ 
überdruss verschluokt. Brodie (Esmarch I. c. S. 55) sah bei der Obduotion 
eines amerikanischen Matrosen, der gewerbsmässig Taschenmesser zu verschlingen 
pflegte, ausser mehreren halbverrosteten Messerklingen, die sich im Darmoanal 
befanden, ein breites Messer, welches quer im Mastdarm liegend die Wände des¬ 
selben auf beiden Seiten durchbohrt hatte. 

Bei den fremden Körpern, die von unten und von der Seite her in das 
Rectum gelangen, hängt die Grösse der Verletzung nicht nur ab von Umfang, 
Gestalt und sonstiger Beschaffenheit des eingedrungenen Gegenstandes, sondern 
auch von der Gewalt, welche das Eindringen bewirkte. Der Einführung von Holz¬ 
pflöcken, Flaschen und Gläsern bei päderastischen Acten ist im Anschluss an 
den Fall Corny schon gedacht worden. — Eine eigenthümlicbe Verletzung des 
Mastdarms beobachtete v. Fillenbaum (Der Militärarzt, Beibl. zur Wiener me- 
dicinischen Wochenschrift, 1878, No. 7 und 8 ) im Lemberger Garnisonspital bei 
galiziscben Rekruten, nämlich einen Mastdarmvorfall, den man künstlich erzeugt 
hatte, um die betreffenden Individuen vom Militärdienst zu befreien. Zu diesem 
Zweck wurde entweder ein Schwamm, der an eine Schnur gebunden war, 24 Stun¬ 
den im Mastdarm belassen und, nachdem er aufgequollen war, durch einen ge¬ 
waltsamen Zug (Fall naoh vorwärts) extrahirt, wobei die Mastdarmschleimhaut 
mit prolabirte, oder ein 6—8 cm langes, conisohes, an einem Ende bimförmig 
verdicktes, glattes Bleistück, das am dickeren Ende eine Oese hatte, wurde in 
den Mastdarm hineingescboben, worauf durch heftiges Drängen und gleichzeitiges 
starkes Ziehen an einer durch die Oese geführten Schnur die Mastdarmschleim¬ 
haut hervorgezogen ward. Mit einem Ruck, unterstützt durch eine leichte 
Drehung der Lendenwirbelsäule, konnte gewöhnlich der oft 6 —10 cm lange 
Vorfall wie duroh eine Feder hervorgeschnellt werden. Die Therapie war wenig 
befriedigend, weil die Kranken fortwährend den Bemühungen des Arztes ent¬ 
gegenarbeiteten. 


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Dr. Mantzel, 


Sehr schwere Verwundungen kommen zu Stande, wenn Menschen 
aus mehr oder minder beträchtlicher Höhe anf spitze Gegenstände 
fallen, und diese in den Mastdarm eindringen. Ein Knabe, welchen 
F. Esmarch’s Vater behandelte (Esmaich, 1. c., S. 43), war von 
einem Obstbaum herab auf einen Blumenstock gefallen. Da der Stock 
durch den After bis in die Bauchhöhle gedrungen war, so starb der 
Verletzte nach wenigen Stunden. Heath (Lancet 3. 12. 1887 — cit. 
nach Deutsche Medicinal-Zeitung, 1888, S. 233) berichtet über einen 
18jährigen Jüngling, dem beim Fall aus einer Höhe von ungefähr 
vier Fuss der Schaft eines Schmiedehammers so tief in den Anas ein¬ 
drang, dass ein kräftiger Arbeiter den Stiel nur mit Mühe heraus¬ 
ziehen konnte. Der Patient begab sich, da der Unfall ihm nur wenig 
Schmerzen verursachte, noch zu Fuss in das eine englische Meile ent¬ 
fernte Krankenhaus, ging aber am nächsten Morgen an Peritonitis zu 
Grunde. Bei der Section fand sich in der vorderen Mastdarm wand 
3 Zoll oberhalb des Afters ein dreieckiger Einriss. Die Bauchhöhle 
enthielt eine kleine Quantität harter Fäces und ausserdem ein 2 Zoll 
langes, l'/ 2 Zoll breites Stück vom Hemde des Verwundeten. Für 
den Gerichtsarzt ist bei diesem E'alle besonders bemerkenswerth, dass 
trotz einer so gewaltigen Verletzung des Abdomens keine Shoek-Er- 
scheinungen aufgetreten waren. Derartige Läsionen können jedoch, 
namentlich wenn die Peritonealhöhle nicht eröffnet wurde, auch einen 
günstigen Ausgang nehmen, wie folgender von Thoman (Wiener 
medicinische Presse, 1867, No. 39) publicirte Fall zeigt: Eine 26jäh- 
rige, im sechsten Monat schwangere Tagelöhnerin wurde, als sie über 
einen aus zugespitzten Holzpfählen bestehenden Gartenzaun hinweg¬ 
setzen wollte, um ihrer Verhaftung bei einem Rübendiebstahl zn ent¬ 
gehen, förmlich aufgespiesst und trug neben ausgedehnter Zerreissung 
des Dammes zwei grosse Scheiden-Mastdarmrisse davon. Dennoch war 
die Patientin nach acht Wochen vollständig geheilt, und — was be¬ 
sonders zu beachten ist — die Schwangerschaft, erlitt durch die 
schwere Verletzung nicht die geringste Störung. 

Wirkliche Stich- und Schnittwunden des Mastdarmes kom¬ 
men dem Gerichtsarzte selten zu Gesicht. Der Chirurg freilich ist 
öfter in der Lage, das Rectum absichtlich oder unabsichtlich verletzen 
zu müssen. Namentlich wird bisweilen bei Ausführung des Stein¬ 
schnittes vom Damme aus der Mastdarm ohne Absicht angeschnitten; 
doch passirt dieses Unglück nach Esmarch (1. c., S. 41) auch be¬ 
rühmten Operateuren, weshalb es kaum jemals Gegenstand der foren- 


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Di« Verletzungen des Mastdarmes vom gerichtsärztlioben Standpunkt 259 


sischen Beurtheilung sein dürfte. Ueber eine Mastdarmstichwunde, die 
der Verletzte bei einer Tanzbodenraoferei acquirirt hatte, berichtet 
Buhl in Henle’s und v. Pfeufer’s Zeitschrift für rationelle Medicin 
(III. Reihe, VII. Band, 1859, S. 82ff.): Die äussere Wundöffnung, 
wodurch sich Koth und Darmgase entleerten, befand sich dicht neben 
dem rechten Sitzknorren. Die Heilung war innerhalb sechs Wochen 
vollendet, jedoch verfiel der Verletzte in Siechthum und starb vier 
Jahre später an Lungen-, Nieren- und Blasentuberculose, worauf der 
Fall zur gerichtsärztlichen Begutachtung kam. lndess gelang es nicht, 
einen Zusammenhang zwischen der Todesursache und der Mastdarm¬ 
verletzung nachzuweisen. — Schnittwunden des Afters und des Mast¬ 
darmes werden auch beobachtet, wenn Porzellantöpfe, auf denen 
Kinder zur Verrichtung ihrer Nothdurft sitzen, unter diesen zerbrechen. 
Esmarch (1. c., S. 43) fand nach einem solchen Unglück den Sphincter 
ani fast ganz durchschnitten. Diese Fälle können forensisches Inter¬ 
esse gewinnen, wenn Fahrlässigkeit des Pflegepersonals in Frage 
kommt. 

Schusswunden des Mastdarmes unterliegen ebenfalls sehr selten 
der gerichtsärztlichen Beurtheilung. König (1. c., S. 424) unter¬ 
scheidet zwei Typen solcher Verletzungen: Bei dem ersten Typus, 
der fast immer mit Verletzung der Beckenknochen complicirt ist, 
wird der Mastdarm in querer Richtung durchbohrt. Bei dem zweiten 
geht der Schuss von vorne nach hinten, so dass ausser dem Mast¬ 
darm die Bauchdecken und leicht auch die Blase, das Bauchfell, die 
Symphyse und das Kreuzbein verletzt werden. Sommerbrodt be¬ 
merkt in seiner Arbeit „Ueber Schussverletzungen der Bauchorgane 
vom gerichtsärztlichen Standpunkte aus“ (Prager Vierteljahrsschrift 
für die praktische Heilkunde, 140. Band, 1878, S. 24), dass bei 
Schüssen in das Rectum die Gefahr hauptsächlich in den Nebenver- 
letzungen liege. In der That ruft namentlich die Eröffnung des 
Bauchfellsackes fast immer tödtliche Peritonitis hervor. Die Zer¬ 
schmetterung der Beckenknochen kann Knochenverjauchung und tödt- 
liche Pyämie (Esmarch, 1. c., S. 44), die gleichzeitige Verletzung 
der Blase den Eintritt von Koth in dieselbe, faulige Cystitis und 
Concrementbildung zur Folge haben (König, 1. c., S. 424). Am 
Mastdarm selbst sind nach Dem me (Allgem. Chirurgie der Schuss¬ 
wunden, 2. Auflage, S. 259) Zurückbleiben und Einbohrungen von 
Knochensplittern und Geschossen, Kothinfiltrationen, Abscesse und 
Verjauchungen des Zellgewebes, langwierige Fistelzustände, wieder- 


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Dr. Mantzel. 


holte, oft profuse Blutungen aus den Venae haemorrhoidales, Läh¬ 
mungen der Sphincteren und narbige Stricturen beobachtet worden. 
Dennoch kommt es in vielen, nach Brix (Ueber Schussverletzungen 
der Blase und des Mastdarmes, S. 23) sogar in den meisten Fällen, 
in denen das Peritoneum unverletzt geblieben ist, zu vollständiger 
Genesung. Schon Jobert (Memoire sur les plaies du canal intestinal, 
p. 14) berichtet über zwei Heilungen solcher Mastdarmschüsse, die 
gleichzeitig die Blase perforirt hatten, und die neuere kriegschirur¬ 
gische Literatur bietet in dieser Beziehung eine reichhaltige Casuistik. 

Als Beispiel einer tödtlichen Verbrennung des Mastdarmes er¬ 
wähnt von Hofmann (1. c., S. 488) die Ermordung des englischen 
Königs Eduard II. durch Einführen eines glühenden Eisens in das 
Rectum. Im Uebrigen entstehen Verbrennungen des Mastdarmes wohl 
kaum auf eine andere Weise, als wenn zu therapeutischen Zwecken, 
z. B. zur Heilung des Vorfalls und der Hämorrhoiden, das Glüheisen 
oder der Thermokauter auf die Schleimhaut applicirt werden. Aetz- 
mittel, wie der Höllenstein, die rauchende Salpetersäure u. dgl., sind 
ja für diesen Zweck ebenfalls im Gebrauch. 

Aber auch durch ätzende Flüssigkeiten, die Klystieren zu¬ 
gesetzt waren, sind Läsionen der Mastdarmschleimhaut vorgekommen. 
Orth (1. c., S. 430) bemerkt, dass man in solchen Fällen die Falten¬ 
höhen des Rectums entweder mit Substanzverlusten versehen, oder 
mit einer grauen, verschorft erscheinenden Schleimhaut bodeckt findet, 
deren Umgebung sehr stark geröthet und geschwollen ist. Die Be¬ 
grenzung einer derartigen Affection auf eine kleine Strecke und das 
Freisein der übrigen Theile des Darmes von solchen, den dysente¬ 
rischen sehr ähnlichen Veränderungen, müssten stets den Verdacht 
einer chemischen Ursache erregen. Orth nennt speciell den Essig, 
der ja häufig Klystierflüssigkeiten zugesetzt wird; doch habe ich ein 
Beispiel von Anätzung des Mastdarmes durch Essigsäure in der Lite¬ 
ratur nicht auffinden können. Dagegen hat Schuchardt (Vergif¬ 
tungen in Maschka’s Handbuch, II. Bd., S. 67) fünf Fälle von ab¬ 
sichtlicher oder zufälliger Schwefelsäurevergiftung per Clysma 
zusaramengestellt. Zwei davon sind durch Taylor (London Med. 
Gaz. 17, S. 623) veröffentlicht worden, ln einem dieser Fälle litt 
der Kranke an den heftigsten Schmerzen und starb im Verlaufe 
weniger Stunden. In dem dritten Falle, welchen Deutsch in der 
preussischen medicinischen Vereinszeitung, 1848, No. 13 mitgetheilt 
hat, handelte es sich um eine zufällige Schwefelsäure-Intoxication von 


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Die Verletzungen des Mastdarmes vom gerichtsärztlicben Standpunkt. 261 


Muttor und Kind durch eine Hebamme, die statt des Oels eine Quan¬ 
tität Schwefelsäure in die Klystierflüssigkeit gegossen hatte. Beide 
genasen binnen einer Woche. Die vierte und fünfte Beobachtung 
machte von Hofmann (1. c., S. 648), nämlich einer zufälligen Ver¬ 
giftung bei einem Kinde und einer möglicherweise beabsichtigten Ver¬ 
giftung bei einer gelähmten Officierswittwe. Nähere Angaben über 
den etwaigen Befund im Mastdarm fehlen in allen diesen Fällen, 
von Hofmann (1. c., S. 615) berührt ferner kurz den Selbstmord 
eines Mädchens durch ein Klysma mit Wanzengift (alkoholischer 
Sublimatlösung). Heinicke (Ueber Rectalstricturen, S. 8) be¬ 
richtet, ohne seine Quelle anzugeben, dass auch nach einem Klystier 
von zu heissera Wasser eine Mastd arm Verletzung mit nachfolgender 
Strictur beobachtet worden sei. Li man (1. c., II. Bd., S. 582ff.) 
erörtert ausführlich die Vergiftung einer an Dysenterie erkrankten 
Frau durch ein Carbolsäure zu 3 '/ 3 pCt. enthaltendes Klystier, doch 
erwähnt er nichts von einer Anätzung des Mastdarmes, die auch bei 
so geringer Concentration der Säure wohl kaum erfolgen konnte. 

Im Uebrigen kommen Läsionen des Mastdarmes durch kunst¬ 
widriges Heilverfahren nicht allzu selten vor. Insbesondere ist 
das Rectum durch fehlerhafte Application von . Klystieren 
häufiger verletzt oder ganz durchbohrt worden. Die Kenntniss dieser 
Thatsachen ist für den Gerichtsarzt von erheblicher Wichtigkeit. Hat 
doch, wie Wossidlo (diese Vierteljahrsschrift, N. F., V. Bd., S. 109) 
berichtet, vor nunmehr freilich bald dreissig Jahren ein Arzt als 
Defensional Sachverständiger vor Gericht erklärt, «dass eine Verwun¬ 
dung durch eine Klystierspritze überhaupt kaum erhört sei!“ 

Neuerdings bat A. Nordmann, gestützt auf 25 in der Baseler patholo¬ 
gischen Anstalt obducirte Fälle in seiner Inauguraldissertation (Ueber olysma- 
tisebe Läsionen des Mastdarms, 1887) diese Frage ebenso ausführlich wie gründ¬ 
lich erörtert. Derartige Verletzungen verdanken ihre Entstehung einerseits dem 
Umstande, dass die Klystierapparate nooh immer vielfach mit knöchernen oder 
metallenen Ansatzstücken versehen werden, die bei rohem Einschieben die Mast¬ 
darmwand beschädigen können, andererseits, wie v. Recklinghausen (Sitzungs¬ 
berichte der pbysikalisch-medicinischen Gesellschaft zu Würzborg. 1869, II., 
S. 11) betont hat, der Unkenntniss des Verlaufes des Rectums von Seiteu der 
«Klystier-Techniker“. Da nämlich der Mastdarm mit seiner vorderen Wand 2 
bis 3 cm über dem After eine nach vorne convexe Bucht bildet, während er ober¬ 
halb derselben in eine nach links und hinten gerichtete Krümmung übergeht, so 
kann die Spitze des Klystieransatzes, falls sie nach vorn, statt nach hinten und 
links gerichtet wird, sich in der eben erwähnten Bucht fangen und hier die Darm¬ 
wand verletzen. Diesen Verhältnissen entspricht, dass bei weitem die meisten 


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Dr. Mantzel, 


klysmatisoben Mastdarmläsionen ihren Sitz an der vorderen Wand haben. Köster 
(Deutsche medicinische Wochenschrift, 1877, Ko. 41) behauptet sogar, dass dies 
ausnahmslos zutreffe; doch fand Nord mann (1. c. S. 28) unter seinen 25 Fällen 
die Verletzung dreimal auch an der hinteren Wand. Dem entspricht weiter, dass 
die Entfernung der Läsionen vom Anus nach Nordmann’s Beobachtungen 2 
bis 7 cm, in der Mehrzahl aber nur 2—4 cm beträgt. 

Orth (1. c. S. 431) meint, dass besonders alle längs verlaufenden, 
mitten in sonst normaler Schleimhaut gelegenen Wunden und Geschwüre einem 
Clysma ihre Entstehung verdanken. Auch Wossidlo (l.c. S. 106) beobachtete eine 
2Zoll laoge und nur ’ / 3 Zoll breite Perforation. Unter Nordmann’s Fällen befand 
sich aber nur einer, worüber im Sectionsprotocoll ausdrücklich bemerkt wird, dass 
die Vorgefundenen nekrotischen Stellen der Schleimhaut länglich seien (S. 23). 
Im allgemeinen batten die von Nord mann untersuchten Perforationen, Nekrosen 
und Geschwüre eine rundliche Form (S. 27). Köster (1. c.). der ebenfalls be¬ 
tont, dass die Ulcera clysmatica gewöhnlich rund seien, erwähnt dabei, dass sie 
häufig trichterförmig von unten und innen, nach oben und aussen in die Mast¬ 
darmwand eindringen. Nordmann fand aber nur io einem Falle diese Trichter¬ 
form. Niokel (Virchow’s Archiv, 127. Bd., S. 294 u. 295), der die Sammlung 
des Greifswalder pathologischen Instituts nach Klystierverletzungen durchmustert 
hat und zwei Fälle nicht perforirender klysmatischer Mastdarmgeschwüre aus¬ 
führlich beschreibt, hebt hervor, dass die klysmatischen Geschwüre sich duroh 
wallartig überbängende, beim Aufgiessen von Wasser flottirende Ränder aus¬ 
zeichnen. Die Breite und Höhe der Veränderungen sohwankt nach Nord mann 
(S. 27) zwisohen 1 und 5 cm; die Tiefe ist sehr verschieden: von leichten Ver¬ 
letzungen, die lediglich die Mucosa betreffen, bis zur vollständigen Perforation 
kommen sämmtliche Tiefengrade vor. An den total durchbohrten Stellen zeigt 
sich entweder ein umfängliches Loch oder eine Fistelöffnung; in der Nähe können 
sich Nekrosen oder Geschwürsbildungen befinden, welohe in zwei Fällen Nord¬ 
mann’s die Perforationsöffnung ringförmig umgaben (S. 29). Solche multiplen 
Verletzungen sind wohl auf wiederholte Klystier-Applioation zurüokzuführen. 

Die oberflächlichen Geschwüre entstehen naoh Nord mann, der bei seinen 
genau untersuchten Präparaten stets eine merkliche Infiltration der Geschwürs¬ 
basis vorfand, infolge von Schleimbautquetscbung durch den Spritzenansatz und 
späterer Abstossung eines Schorfes (S. 32). Köster (1. o.) dagegen spricht von 
directer Durchstossung der Schleimhaut und fand dementsprechend wenig oder 
gar keine entzündliche Wucherung der Ränder. Für die Entstehung grösserer 
Geschwüre kommt auch die submucöse Phlegmone in Betracht (Nordmann, 
S. 31), welche trotz fehlender Perforation sich entwickeln kann. Das Absterben 
geschieht nach Nordmann’s Beobachtungen meist in Form der feuchten Gan¬ 
grän, doch fanden sioh auch nekrobiotische Umwandlungen der Gewebe in Form 
hyaliner und diphtheroider Bildungen, in einem Falle sogar Verkalkungen. — 
Das männliche Gesohlecht war bei Nord mau n’s Fällen viel stärker betbeiligt, 
als das weibliche: 17 Männer gegen 8 Weiber (S. 27). .Nordmann vermuthet, 
dass füi Frauen im Allgemeinen ungefährlichere Instrumente (Irrigator mit 
Gummiansatz), als für Männer im Gebrauch seien. 

Für die Diagnose der klysmatisoben Mastdarmverletzung kommt namentlich 
der Sitz der Affection und die Entfernung vom Anus in Betracht. Im Uebrigen 


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Die Verletzungen des Mastdarmes vom geriohtsärztlichen Standpunkt. 263 


sind die oben angeführten Kennzeichen doch za weßig charakteristisch, am allein 
aas dem objectiven Befand den klysmatisohen Ursprung einer Mastdarmläsion an¬ 
zweifelhaft za diagnostioiren, zumal ja die verschiedenen Beobachter sich in 
mancher Beziehung widersprechen. In den meisten Fällen dürfte deshalb, wie 
auch Nord mann (S. 37) hervorbebt, nur die Anamnese volle Sicherheit ge¬ 
währen. — Die nicht perforirenden Ulcera clysmatica gehen wohl meist in Hei¬ 
lung über, ohne dass es za Complicationen kommt, doch ist die Entwicklung 
einer paraprootalen Phlegmone nicht ganz ausgeschlossen; auch können diese 
Geschwüre in einzelnen Fällen chronisch werden und in ein atouisches Stadium 
gelangen. Köster (1. o.) macht darauf aufmerksam, dass sie unter Umständen 
auch die Ursaohe einer Mastdarmfistel werden können. Ging das Ulcas beträcht¬ 
lich in die Tiefe oder in die Breite, so kann sich eine Strictur herausbilden. 
Todesfälle, die mit Sicherheit aaf eine klysmatisobe Verletzung zarückzuführen 
sind, bat man, so weit mir die Literatur bekannt geworden ist, nur nach voll¬ 
ständiger Perforation beobachtet. Die letztere führt wohl fast immer zar Para¬ 
prootitis oder Periprootitis, namentlich, wenn naoh der Durchbohrung des Mast¬ 
darms die oft reizende und bacterienhaltige Klystierflüssigkeit in das Beoken- 
Bindegewebe deponirt worden ist. Die paraprootale Phlegmone kann durch 
Sepsis und Pyaemie zum Tode führen oder sich mit tödtlicher Peritonitis combi- 
niren. Im anderen Falle bleibt fast ohne Ausnahme eine Strictur zurück, bei 
Frauen zuweilen eine Recto-Vaginalfistel. Immerhin kommt eine beträchtliche 
Anzahl der Verletzten mit dem Leben davon. 

Velpeau allerdings (Nouveaux Elements de mödecine operatoire, Tom. I., 
p. 278 — citirt nach Esmarch 1. c. S. 41) sah von 8 Fällen 6 tödtlich en¬ 
digen, während in einem Falle eine bedeutende Functionsstörung für das ganze 
Leben zurüokblieb und nur in einem naoh langen Leiden schliesslich Heilung 
eintrat. Auoh Cbomel (Bulletin de thärapeutique, 1835, Tom. IX. p. 139 — 
citirt nach Esmarch 1. c. S.42) beobaohtete zwei Todesfälle, den einen 7 Tage, 
den anderen schon 4 Tage nach der Perforation. Bei der Section des letzteren, 
wo eine abnorme Krümmung des Mastdarms 3 cm oberhalb des Afters die Ver¬ 
letzung veranlasst hatte, fand sich neben brandiger Entzündung des extraperi¬ 
tonealen Bindegewebes eine ausgebreitete eitrige Peritonitis. Ashton (Die 
Krankheiten, Verletzungen und Missbildungen des Rectum und Anus, 3. Aufl., 
deutsch von Uterhart, S. 155) beschreibt ein im Museum des St. Bartholomäus- 
Hospitals befindliches Präparat von einem Manne, der infolge von Perforation des 
Rectums durch die metallene Spitze eioer Klystierspritze und von gleichzeitiger 
Injection eines Quantums Haferschleim in die Bauchhöhle an Peritonitis zu Grunde 
ging, — und ferner ein Präparat von einem Kinde weiblichen Gesohlechts, dem 
10 Monate vor seinem Tode der Ansatz einer Klystierspritze durob die Recto- 
Vaginalwand gestossen war, und das schliesslich infolge von ausgedehnter nar¬ 
biger Strictur an Kothverhaltung starb. Dieser letzte Fall ist vielleicht identisch 
mit dem von Curling (Diseases of the Rectum. Annotä et traduit par 
Dr. H. Bergeron — citirt naoh Juliusburger 1. c. S. 6) angeführten, wo bei 
einem 5jährigen Kinde nach einer Klystierspritzen-Perforation der Mastdarm- 
Scbeidenwand das Lumen des Darmoanals ca. 1 Zoll vom After entfernt bis auf 
3 mm narbig verengert gefunden wurde. 

Paulioki (Memorab., XIV. 3. 9. 1868 — oitirt nach Schmidt’s Jahr- 


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büchern, 145. Bd., S. 183) erzählt einen Fall, wo nach einer klysmatisohen 
Mastdarmperforation tödtlicbe phlegmonöse Entzündung des Perineums mit nach¬ 
folgender Gangrän des Scrotums nnd der Umgebung eintrat. Das Reotam war 
vollständig in eine jauchige Masse verwandelt, so dass die Perforationsstelle 
nicht mehr nacbgewiesen werden konnte Haschek (Oesterreichische Zeitschrift 
für praktische Heilkunde, XV., 33 — 36, 1869 — citirt nach Schmidt’s Jahr¬ 
büchern 1. c.) berichtet, dass bei einer 42jährigen Magd, die durch vier hinter¬ 
einander gesetzte Klystiere ohne Zweifel mehrfach verletzt worden war, nach 
einigen Tagen sich ein fast spannenlanges, abgestorbenes Stück des Darmrohres 
entleerte. Der Tod trat hier erst nach fünf Monaten ein. Bei der Obduction 
fand sich ausgedehnte jauchige Periproctitis und Peritonitis Hnd ausserdem eine 
Gommunication zwischen Mastdarm und Scheide. Wossidlo (1. c. S. 104 ff.) 
theilt mit, dass einer 31jährigen Frau acht Tage nach ihrer normalen Entbin¬ 
dung beim Setzen eines Klystiers von der Hebamme die Reoto-Vaginalwand 
durohstossen wurde, worauf die Kranke acht Tage später an septischer Endo¬ 
metritis und Peritonitis zu Grunde ging. Eine solche Klystierverletzung bei einer 
Wöohnerin beobachtete auch Wyss (Correspondenz-Blatt für Schweizer Aerzte, 
1881, No. 5), doch trat hier nach Ablauf einer heftigen Paraproctitis, während 
welcher dreimal darmartige Gewebsstücke abgingen, schliesslich Heilung ein, 
wenn auch unter Bildung einer Strictur. Eine durch Klystierapplication bei einer 
Wöchnerin entstandene Mastdarm-Scheidenfistel halte auch Breisky (Die Krank¬ 
heiten der Vagina in Billroth-Lücke’s Handbuch der Frauenkrankheiten, 2. Aufl., 
ni. Bd., S. 759) zu sehen Gelegenheit. 

Dieffenbach (Archives genörales de möd., 1828, T. XVI, p. 287 — 
citirt nach Esmarch 1. c. S.42) beobachtete bei einem Knaben, dem ausnahms¬ 
weise die hintere Rectum wand durch das Klystier perforirt worden war, voll¬ 
ständige Genesung, nachdem am sechsten Tage ein Stück des Mastdarms sich 
brandig abgestossen batte. Passavant (Deutsche Klinik 1862, No. 51 und 
1863, No. 1) beschreibt ausführlich fünf derartige Fälle. Nur einer davon, der 
einen an Prostata-Hypertrophie und Blasenblutung leidenden 83jährigen Greis 
betraf, endigte tödtlich 14 Tage nach der Verletzung. In den übrigen Fällen 
trat naoh Monate langen Leiden schliesslich Heilung ein, wenngleich vorher bei 
einem jungen Manne eine durch die Verletzung entstandene oomplete Mastdarm¬ 
fistel und bei einer 53 jährigen Frau eine Mastdarmscbeidenfistel, die sich infolge 
der Perforation gebildet hatte, operirt werden mussten. Esmaroh (1. o. S. 41) 
sah vier solcher Perforationen, die sämmtlich beträchtliche Substanzverluste, 
aber doch nicht den Tod zur Folge hatten. Von Hofmann (1. c. S 488) beob¬ 
achtete ebenfalls eine Perforation, die zur Heilung gelangte. Auch unter Nord- 
mann’s Fällen befinden sich nur zwei, bei denen mit Sicherheit der Tod als 
eine Folge der Verletzung anzaseben ist. In dem einen Falle handelte es sioh 
um einen 22jährigen Metzger, der 3 Wochen vor seinem Tode durch mehrere 
Glysmata verletzt wordon war. in dem andern um einen 69jährigen Pfründner, 
der am 6. und 11. Januar 1882 je ein Klystier bekommen hatte und am 29. Januar 
starb. Bei beiden fand sich ausgedehnte Phlegmone des Beokenbindegewebes. 

Schliesslich sei noch erwähnt, dass nach Bökai (Die Krank¬ 
heiten des Mastdarmes und des Afters in Gerhardts Handbuch der 


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Die Verletzungen des Mastdarmes vom gerichtsärztlichen Standpunkt. 265 

Kinderkrankheiten. VI. Bd., 2. Abtheil., S. 661) durch häufige und 
übermässige Anwendung von Klystieren wie von Suppositorien nament¬ 
lich bei Kindern das Zustandekommen des Mastdarm Vorfalles be¬ 
günstigt wird. — 

Auch durch unvorsichtige Einführung von Bougies bei der 
Stricturenbehandlung kann das Rectum verletzt und perforirt werden. 
Curling (Die Krankheiten des Mastdarmes, deutsch von de Neuf- 
ville, S. 97ff.), der betont, dass schon mit einer elastischen Mast¬ 
darmsonde Perforationen vorgekoramen seien, sah in der Sammlung 
des Guy’s Hospitals einen vollständig gesunden Darm, den ein Wund¬ 
arzt in der Meinung, eine Strictur vor sich zu haben, 14 Zoll ober¬ 
halb des Afters mit einer Kerze durchbohrt hatte, so dass der Tod 
des Verletzten in Folge von Peritonitis eintrat. Derselbe Autor er¬ 
zählt, dass ein an Mastdarmstrictur leidender Mann, dem es über¬ 
lassen ward, sich selbst zu bougiren, sein eigenes Rectum doppelt 
perforirte, worauf Darmschlingen in das Mastdarmlumen eindrangen. 
Er starb bereits am nächsten Tage. Englisch (Eulenburg’s Real- 
encyklopädie, 2. Aufl., XII. Bd., S. 600) macht darauf aufmerksam, 
dass besonders in denjenigen Fällen, wo schon Verschwärungen des 
Mastdarmes bestehen, die Durchbohrung der Wand beim leisesten 
Druck erfolgen kann. 

Bei der Einführung der ganzen Hand in das Rectum, also 
der Simon’schen Untersuchungsmethode, sind ebenfalls, wie Weil 
(1. c., S. 286) bemerkt, Zerreissungen des Mastdarmes vorgekommon; 
und König (1. c., S. 581) erzählt, dass selbst in Folge zu starken 
Aufblasens eines eingelegten Colpeurynters Platzen des Mastdarmes 
beobachtet worden sei. 

Ashton (1. c, S. 156) sah einen Mann, dem beim Kathete¬ 
rismus die Spitze des Instrumentes durch die Urethra unmittelbar 
vor der Prostata bis in’s Rectum gestossen war, ohne dass dem Ver¬ 
letzten ein bleibender Nachtheil daraus erwuchs. 

Lüders (Deutsche Klinik, 1858, No. 10) beschreibt ausführlich 
einen merkwürdigen Fall von Perforation des Mastdarmes durch ein 
gewaltsam und fehlerhaft applicirtes Scheidenpessar. Eine 50jäh- 
rige Dame liess ihr Hausarzt, weil sie über Unterleibsbeschwerden 
klagte, durch eine Hebamme untersuchen, die sogleich einen Pro¬ 
lapsus uteri diagnosticirte und deshalb, wiederum auf Anordnung des 
Arztes, der Kranken ein Pessarium einführen musste. Bei dieser Pro- 
cedur, die der Patientin furchtbare Schmerzen verursachte, wurde das 


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hintere Scheidengewölbe eingerissen, und das Pessar durch den Riss 
in’s Septum recto-vaginale hineingeschoben. Hier blieb es sitzen und 
konnte, weil der Scheidenriss vernarbte, später in der Vagina nicht 
mehr aufgefunden werden. Erst nach zwei Jahren gelang es, das 
Pessar, welches mittlerweile die Mastdarmwand durchbohrt hatte, per 
anum zu entfernen, worauf die Kranke vollständig genas. 

Bei Geburten lässt sieh eine Verletzung des Mastdarms nicht immer ver¬ 
meiden, wenn der Kindskopf aussergewöhnlich gross oder die mötterliohen Weich- 
theile aussergewöhnlich eng und zerreisslich sind und die Entbindung zu schnell 
von statten geht. Entweder handelt es sich dann um einen Riss allein im Reoto- 
Vaginalseptum ohne Betheilignng des Perineums, was sehr selten ist, oder um 
einen sogenannten completen Dammriss, der hoch ins Rectum hinaufreiohen 
kann. Aber auch durch rohes Operiren werden Verletzungen dieser Art zuweilen 
verursacht. Gleichzeitige Zerreissung der Gebärmutter und des Mastdarms sah 
Graves (Philad. med. and surg. Reporter, XXI., 12. September 18, 1869 — 
citirt nach Sohmidt’s Jahrbüchern, 146. Bd., S. 55) bei einer 33jährigen Frau, 
die im vierten Monat ihrer Schwangerschaft durch Einführen einer Stricknadel 
in den Uterus sioh die Frucht abzutreiben versuchte. Der wegen Eintritts heftiger 
Kreuzschmerzen und hohen Fiebers herbeigerufene Arzt bemühte sioh, den Foetus 
mit einer Polypenzange zu entfernen und zerriss dabei Collum uteri und Rectum, 
so dass Faecalmaterie und einige Ascariden aus dem Muttermunde hervorkamen. 
Rach längerer Krankheit erfolgte spontane Schliessung des Risses. Die Frau 
wurde später ohne Kunsthilfe noch von zwei Kindern entbunden. (Relata refero; 
ich muss aber gestehen, dass mir die anatomischen Verhältnisse der Verwundung 
in diesem Falle nicht ganz klar sind.) 

Für das Zustandekommen eines completen Dammrisses wird der Geburts¬ 
helfer, wenn er auoh manchmal nicht ohne jede Schuld sein mag, doch straf¬ 
rechtlich nie zur Verantwortung gezogen werden können, denn, wie Hecker 
(citirt nach Schröder, Lehrbuch der Geburtshülfe, 8. Auflage, S. 697) mit 
Recht bemerkt hat, trifft man zuweilen „Dämme, die wie Zunder reissen*, 
und bei denen alle Vorsicht und Sorgfalt vergeblich ist. Dagegen ist naoh dem 
heutigen Stande unserer Kunst und Wissenschaft der Arzt verpflichtet, einen 
completen Dammriss sofort durch die Naht zu vereinigen. Leidliche Spontan¬ 
heilungen kommen äusserst selten und nur unter ganz besonders günstigen Um¬ 
ständen vor (vergleiche Hohl, Lehrbuch der Geburtshülfe, 2. Aufl., S. 632), 
während man durch kunstgerechte Naht heutzutage doch glücklicherweise in den 
meisten Fällen primäre Heilung erzielt und damit die Wöchnerin vor Incontinentia 
alvi bewahrt, deren Beseitigung später nur mit viel grösseren Schwierigkeiten 
und mit viel zweifelhafterem Erfolge angestrebt werden kann. Der Geburtshelfer 
also, der die Naht unterlässt, desgleichen die Hebamme, die es verabsäumt, so¬ 
fort einen Arzt herbeizuholen, setzen fahrlässiger Weise die Aufmerksamkeit aus 
den Augen, zu welcher sie vermöge ihres Berufes besonders verpflichtet sind 
(§ 230 D. Straf-G.) und könnten mit demselben Recht bestraft werden, wie ein 
Arzt, der eine leicht erkennbare Luxation zu reponiren unterlässt. 


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Die Verletzungen des Mastd&rmes vom geriohtsärztliohen Standpunkt. 267 

Im Vorstehenden sind mit möglichster Vollständigkeit alle Arten 
der Mastdarm7erletzung erörtert worden, die unter Umständen der ge¬ 
richtsärztlichen Beurtheilung unterliegen können. Aber der Gerichts¬ 
arzt muss auch wissen, dass lediglich gewaltsames Hervordrängen 
harter Eothmassen aus dem After mehr oder minder beträchtliche 
Zerreissungen des Mastdarmes zu bewirken vermag. Auf diese Weise 
sind nicht nur Einrisse in den Anus entstanden, sondern auch be¬ 
deutende transversale Einrisse in das Rectum oberhalb des Sphincter 
internus. Mehrere derartige Verletzungen beschreibt Ashton (1. c., 
S. 152 und 153). In einigen Fällen, wo die Darmwand schon vorher 
krankhaft verändert war, ist es sogar allein durch gewöhnliches 
Drängen beim Stuhlgang, ferner beim Heben einer schweren Last, ja 
selbst ohne jede nachweisbare Veranlassung zur Zerreissung des Rec- 
tums und zum Vorfall von Dünndarmschlingen aus dem After ge¬ 
kommen (Esmarch, 1. c., S. 46). — 

Manche Verletzungen des Mastdarmes, namentlich solche der Pars 
analis, haben für den Gerichtsarzt eine vorwiegend diagnostische 
Bedeutung, insofern sie die Spuren einer strafbaren Handlung dar¬ 
stellen. Hierher gehören: die Lähmung des Sphincter durch päde- 
rastische Acte — und leichte Einrisse des Alters, wie sie zuweilen 
nach unzüchtigen Handlungen verschiedener Art, besonders bei Kin¬ 
dern beobachtet werden. In den allermeisten Fällen aber kommen 
hauptsächlich die Folgen in Betracht, die eine Mastdarm Verletzung 
für Leben oder Gesundheit des Beschädigten nach sich zieht. 

Bei schweren Läsionen des Rectums, zumal wenn auch die Bauch¬ 
höhle eröffnet worden ist, kann der Tod lediglich durch Shock ver¬ 
ursacht werden; doch lehrt der von Heath mitgetheilte, oben be¬ 
schriebene Fall, dass auch nach gewaltigen Verletzungen des Ab¬ 
domens der Shock hier und da ganz ausbleibt. Zweitens kommt als 
Todesursache die Verblutung in Betracht, die durch den grossen 
Reichthum der Mastdarm Wandungen an Gefässen, namentlich an Venen, 
besonders erleichtert wird. Wenn die Mastdarmvenen varicös erweitert 
sind, wächst diese Gefahr erheblich. Den Verblutungstod erlitt, wie 
oben erwähnt wurde, der auf räthselhafte Weise ermordete Knabe 
Corny. Ferner kann im Anschluss an eine Verletzung Thrombose 
und Entzündung der Mastdarmvenen zu Stande kommen (Es¬ 
march, 1. c., S. 47), die sich meist rasch nach oben gegen die Pfort¬ 
ader hin verbreitet und oft eine tödtliche Pyämie zur Folge hat. 
Pyämisches und septisches Fieber kann auch dadurch entstehen, 


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268 


Dr. Mantzel, 


dass durch eine Mastdarmwunde Gas in das periproctale Bindegewebe 
gelangt und ein fortschreitendes Emphysem erzeugt. Ein solches 
Emphysem führt noch sicherer zum Tode, wenn das Gas nicht aus 
dem Darme stammt, sondern von brandiger Zersetzung in dem ver¬ 
jauchenden Bindegewebe selbst herrührt. Die gewöhnlichste Folge 
einer tieferen Mastdarmverlctzung ist jedoch die paraproctale 
Phlegmone, deren Zustandekommen dadurch begünstigt wird, dass 
die im Rectum vorhandenen Fäcalmassen in die Wunde und von da 
in’s Beckenbindegewebe eindringen, wo sie die sogenannte Kothinfil- 
tration hervorrufen. Auch nach Einspritzungen von Klystierflüssigkeit 
in’s paraproctale Gewebe entwickelt sich, wie oben erörtert worden 
ist, diese Phlegmone. Sie führt häufig zu umfangreichen Verjauchungen 
und brandigen Zerstörungen und vermag das Leben zu vernichten 
durch Sepsis oder Pyämie oder durch das Hinzutreten einer Peri¬ 
tonitis. Letztere kommt primär zu Stande, wenn der Mastdarm 
durch die Perforationsstelle mit der Bauchhöhle communicirt. 

Diese Folgen einer Mastdarmverletzung bedingen oft ein längeres 
Krankenlager. In dem von Haschek veröffentlichten Falle einer 
Klystierverletzung trat der Tod erst nach fünf Monaten ein. Dem 
Gerichtsarzte wird es deshalb erst dann möglich sein, ein abschliessen¬ 
des Urtheil über den Grad der Verletzung zu fällen, wenn keine Ent¬ 
zündungserscheinungen mehr vorhanden sind. Aber auch in diesem 
Stadium ist die Gefahr für das Leben des Verletzten keineswegs be¬ 
seitigt. Fast immer bleiben nach Perforationen und ausgedehnteren 
Zerreissungen des Mastdarmes, namentlich wenn sie durch eine Phleg¬ 
mone complicirt werden, narbige Verengerungen zurück, die 
schliesslich durch Kothverhaltung oder Marasmus zum Tode führen 
können. In dem von Ashton beschriebenen Falle, wovon ein Prä¬ 
parat im St. Bartholomäus-Hospital aufbewahrt wird, starb das durch 
ein Klysma verwundete Kind in Folge von Kothverhaltung 10 Monate 
nach der Verletzung. Da indess gewöhnlich Jahre vergehen, bis es 
in Folge einer Strictur des Rectums zum letalen Ende kommt, so 
wird der Gerichtsarzt wohl nur äusserst selten in der Lage sein, eine 
Mastdarmläsion, die zur Verengerung geführt hat, als tödtliche Ver¬ 
letzung bezeichnen zu müssen. 

Jede Strictur des Mastdarmes aber bedingt Verfall in Sicch- 
thum im Sinne des Superarbitriums der preussischen wissenschaft¬ 
lichen Deputation für das Medicinalwesen vom 7. Mai 1877. Dort 
heisst es: „Zunächst liegt im Worte Siechthum der Begriff eines lang 


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Die Verletzungen des Mastdarmes vom gerichtsärztlichen Standpunkt. 269 


andauernden (chronischen) Krankheitszustandes, der den Menschen in 
gewissem Grade schwer benachtheiligt, die Arbeits- und Erwerbsfähig- 
keit resp. Leistungsfähigkeit in erheblicher Weise beeinträchtigt. Un¬ 
heilbarkeit liegt nicht unbedingt im Worte Siechthum (da man auch 
von Genesung aus langem Siechthum spricht), aber es lässt sich .bei 
diesen schweren chronischen Krankheitszuständen auch nicht Vorher¬ 
sagen, ob sie jemals beseitigt werden können, und in welcher Frist 
dies möglicherweise geschehen könnte“ (vergl. Maisch, diese Viertel¬ 
jahrsschrift, 3. Folge, III. Band, S. 105). — Dies Alles trifft ohne 
Zweifel auf die Mastdarmstrictur vollständig zu. Sie ist ein eminent 
chronischer Krankheitszustand, der den Patienten fortwährend quält, 
seine Energie lähmt und seine Leistungsfähigkeit verringert; und wenn 
es auch gelingt, die Beschwerden durch fortgesetzte ärztliche Behand¬ 
lung zu lindern, ja in allerdings seltenen Fällen Heilung zu erzielen, 
so bleibt doch immer die Möglichkeit einer abermaligen Verschlimme¬ 
rung bestehen. 

Um Siechthum handelt es sich ferner, wenn in Folge completer 
Zerreissung des Afterschliessmuskels Koth und Darmgase un¬ 
freiwillig abgehen. Zwar bietet dieser Zustand für eine vollkommene 
Heilung weit grössere Chancen, als die Strictur, aber die Heilung ist 
nur möglich durch eine Operation, und „eine Operation kann“, wie 
Maisch (1. c., S. 108) mit Recht bemerkt, „doch nur mit Einwilli¬ 
gung des Verletzten gemacht werden; man kann Niemand zwingen, 
sich den Chancen einer Operation zu unterwerfen, denn auch leichte 
Operationen haben ihre Opfer gefordert, und das Chloroform ist schon 
Manchem gefährlich geworden. Also darauf, ob vielleicht durch eine 
in einiger Zeit vorzunehmende Operation Heilung eintreten kann, und 
ob der Verletzte seine Einwilligung dazu giebt, auf solche Eventuali¬ 
täten brauchen wir uns nicht einzulassen.“ Dementsprechend gab 
auch Lim an (1. c., I. Bd., S. 348) in einem Falle, wo es sich um 
completen Dammriss bei einem fünfjährigen Mädchen handelte, sein 
Gutachten dahin ab, dass die Verletzung im Sinne des § 224 St.-G. 
eine schwere sei, weil das Kind seinen Koth nicht halten könne und 
dadurch in Siechthum verfallen sei. 

Etwas anderes ist es mit der Beurtheilung des Mastdarmvor¬ 
falles, der ebenfalls, wenn auch selten, im Gefolge einer Verletzung 
des Rectums beobachtet wird. Der durch Prolapsus recti verursachte 
Krankheitszustand kann nur unter der Bedingung als Siechthum be- 

Vierteljahraoehr. f. gar. Med. Dritte Folge. V. 2. 


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270 


Dr. Maotzel, 


zeichnet werden, dass der Vorfall entweder nach jeder Reposition so¬ 
gleich wieder zam Vorschein kommt, oder überhaupt nicht zurück- 
zubringen ist, so dass dauernde Kothincontinenz besteht. Auch eine 
Mastdarm-Scheidenfistel bedingt Siechthum nur dann, wenn 
selbst fester Koth unwillkürlich durch die Scheide abgeht. Kleinere 
Rectovaginalüsteln belästigen wenig und haben grosse Neigung zu 
heilen. Endlich kann es sich bei der forensischen Beurtheilung der 
Folgen einer Mastdarmrerletzung auch um die Bedeutung der ge¬ 
wöhnlichen Mastdarmfistel handeln. Ihre Existenz wird aber nur 
ganz ausnahmsweise, wenn sehr grosse Beschwerden bestehen und 
Besserung nicht wahrscheinlich ist, als Verfall in Siechthum be¬ 
zeichnet werden können. 

Ist nach einer Mastdarmrerletzung keiner der genannten Folge¬ 
zustände eingetreten oder zu befürchten, so muss die Verletzung als 
eine leichte angesehen werden. 


Literatur. 

1) A. Job er t (de Lamballe), Mömoire sur lps plaies du oaual intestinal. 

Paris 1826. 

2) T. B. Curling, Die Krankheiten des Mastdarmes. Deutsch von W. C. de 

Neufville. Erlangen 1858. 

8) A. F. Hohl, Lehrbuch der Geburtshülfe. 2. Aufl. Leipzig 1862. 

4) T. J. Ashton, Die Krankheiten, Verletzungen und Missbildungen des Rectum 
und Anus. 8. Aufl. Deutsch von C. Uterhärt. Würzburg 1868. 

6) H. Demme, Allgemeine Chirurgie der Schusswunden. 2 Aufl. Würzburg 1868. 

6) F. Eamaroh, Die Krankheiten des Mastdarmes und des Afters in Pitha-Bill- 

roth’s Handbuch der allgemeinen und speciellen Chirurgie. 8. Bd., 2. Abtb., 
6. Lieferung. Erlangen 1872. 

7) A. Tardieu, Etüde m6dico- 16gale sur les attentats aux moeurs. 7. Id. 

Paris 1878 

8) J. Bökai, Die Krankheiten des Mastdarmes und des Afters in Gerhardts 

Handbuch der Kinderkrankheiten. 6. Bd., 2. Abtbeil. Tübingen 1880. 

9) J. Maschka, Handbuch der gerichtlichen Medicin. Tübingen 1881/82. 

10) K Schröder, Lehrbuch der Geburtshülfe. 8. Aufl Bonn 1884. 

11) A. Breisky, Die Krankheiten der Vagina in Billroth-Lüoke’s Handbach der 

Frauenkrankheiten. 2. Aufl., 8 Bd. Stuttgart 1886 

12) Eulenburg’s Real-Encyklopädie der gesammten Heilkunde. 2. Aufl., 12. Bd. 

Wien 1887. (,, Mastdarm“, bearbeitet von Englisch.) 

18) J. Orth, Compendium der pathologisch-anatomischen Diagnostik, 4. Aufl. 
Berlin 1888. 

14) Fr. König, Lehrbuch der speciellen Chirurgie. 5. Aufl., 2. Bd. Berlin 1889. 
16) Casper-Liman, Handbuch der gerichtlichen Medicin. 8. Aufl. Berlin 1889. 
16) E. v. Hof mann, Lehrbuch der geriohtliohen Medicin. 6. Aufl. Wien 1691. 


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Die Verletzungen des Mastdarmes vom geriohtsärztlichen Standpunkt. 271 

17) Verhandlungen des X. internationalen medioinischen Gongresses. 6. Band, 

XVII Abtheil. Berlin 1891. 

18) X. Heinioke, Ueber Rectalstrioturen Inaug.-Dissert. Berlin 1882. 

19) 0. Juliusburger, Beiträge zur Kenntniss von den Geschwüren und Stric- 

turen des Mastdarmes. Inaug.-Dissert Breslau 1884. 

20) J. Brix, Ueber Sohussrerletzungen der Blase und des Mastdarmes. Inaug.- 

Dissert. Berlin 1886. 

21) A. Nord mann, Ueber klysmatische Läsionen des Mastdarmes. Inaug.-Dissert. 

Basel 1887. 

22) Deutsche Klinik, 1858, No. 10 (0. F. Luders, Merkwürdiger Fall von Ein¬ 

gewachsensein eines Pessariums im Douglas’schen Raume und Entfernung 
desselben durch das Rectum). 

28) Deutsche Klinik, 1862, No. 51 und 1863, No. 1 (G. Passavant, Gefährliche 
Verwundungen durch das Setzen eines Klystiers). 

24) Henle’s und v. Pfeufer’s Zeitschrift für rationelle Medioin. 8. Reihe, 7. Band, 
1859 (Buhl, Stichwunde in den Mastdarm). 

26) Diese Vierteljahrsschrift, Neue Folge, 5. Bd., 1866 (Wossidlo, Einige Worte 
über die Stellung der Aerzte vor Gericht als Defensional-Sachverständige). 

26) Diese Vierteljahrsscbrift, N. F., 22. Bd., 1875 (Reimann, Ein Fall von ge¬ 

waltsamer, unnatürlicher Nothzucht). 

27) Diese Vierteljahrsschrift, N. F., 89. Bd., 1888 (Sohwarze, Untersuchung 

wegen widernatürlicher Unzucht u s w.). 

28) Diese Vierteljahrsschrift, 8. Folge, 8. Bd., 1892 (Maisoh, Ueber die gerichts¬ 

ärztliche Diagnose des Siechthums und der Lähmung). 

29) Wiener medicinische Presse, 1867, No. 89 (E. Thoman, Ein Fall spontanen 

Verschlusses zweier durch Trauma veranlassten mit dem Mastdarme com- 
municirenden Riss- und Quetschwunden der Vagina bei einem sechs Monate 
schwangeren Weibe). 

80) Sitzungsberichte der physikalisch - medioinischen Gesellschaft zu Würzburg, 

1869 , n, S. 11. 

81) Deutsche medicinische Wochensohrift, 1877, No. 41 (Köster, Ulcera clys- 

matioa). 

32) Prager Vierteljahrsschrift für die praktische Heilkunde, 140. Band, 1878 
(M. Sommerbrodt, Ueber Schussverletzungen der Bauchorgane vom ge¬ 
riohtsärztlichen Standpunkte aus). 

88) Der Militärarzt, Beiblatt zur Wiener medicinischen Wochenschrift, 1878, No. 7 

und 8 (v. Fillenbaum, Ueber das häufige Vorkommen des Mastdarmvor¬ 
falles bei den galizischen Rekruten). 

84) Correspondenzblatt für Schweizer Aerzte, 1881, No. 5 

85) Friedreich’s Blätter für gerichtl. Vedicin u. Sanitätspolizei, 1882 (C. Majer, 

Statistik der Strafrechtspflege in Bayern nebst Beiträgen zur geriohtsärzt¬ 
lichen Casuistik für das Jahr 1880). 

86) Sohmidt’s Jahrbücher der gesammten Medicin, 145. Bd., 1870 (Referate über 

a) Paulicki, Fall von jauchiger Zerstörung des Rectum und der um¬ 
liegenden Gewebe in Folge von Perforation durch eine Klystier¬ 
spritze; 

b) Hasohek, Perforation des Mastdarmes beim Geben eines Klystiers). 

87) Schmidt’s Jahrbücher der gesammten Medicin, 146. Bd., 1870 (Referat über 

J B. Graves, Abortus mit Zerreissung des Uterus und Rectum). 

38) Breslauer ärztliche Zeitschrift. 1884, S. 65. 

89) Deutsohe Medicinalzeitung, 1887, No. 21 (Referate über 

a) N. Belajew, Operativ-gynäkologische Casuistik der Vesico-Vaginal¬ 
und Reoto-Vaginal-Fisteln; 

b) Price, Mastdarmscheidenfistel durch Coitus). 

40) Deutsche Medicinalzeitung, 1887, No. 67 (Referat über Brouardel, Päde¬ 

rastie des Hundes am Menschen). 

41) Deutsche Medicinalzeitung, 1888, No. 19 (Referat über Heath, Ruptur des 

Mastdarmes etc.). 

18* 


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42) Deutsche Medicinalzeitung. 1891, No. 21 (Referat über Sinaisky, Dammriss 
mit Bildung einer Mastdarm-Scheidenfistel nach dem ersten Coitus). 

48) Deutsche Medicinalzeitung, 1891, No. 44 (Referat über M. Co 11 ins. Zer- 
reissung des Rectums und Perineums bei einem irrsinnigen Epileptiker). 

44) Deutsche Medicinalzeitung, 1891, No. 56 (Referat über J. Co 11 ins Warren, 

Eine Einmacheflasche im Rectum). 

45) Virchow’s Archiv für pathologische Anatomie etc, 127. Bd , 2. Heft, 1892 

(R. Poelchen, Ueber die Aetiologie der stricturirenden Mastdarmge¬ 
schwüre. — P. Nickel, Ueber die sogenannten syphilitischen Mastdarm¬ 
geschwüre). 


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4. 

Die Beurtheilug der perrersei Sexaalvergehei ia fero. 

Von 

Dr. CL Seydelf 

Ausserordentl. Professor und Pol. 8Udtphj8ikus su Königsberg i. Pr. 


Die interessanten Bücher von Erafft-Gbing and Moll lassen 
eine geradezu erschreckende Aasbreitung der perversen Sexualempfin- 
dong und -Vergehen in dieser Richtung in den heutigen Culturvölkern 
erkennen, von denen sich Uneingeweihte bis dahin eine Vorstellung 
wohl kaum gemacht haben. Im Vergleich zu den von competenten 
Beurtheilern (namentlich Moll für Berlin) festgestellten perverse be- 
anlagten Individuen kommen selbst in grösseren Städten Delicte in 
dieser Beziehung relativ selten zur Aburtheilung in foro. Fast mehr 
gelegentlich wurden bei Diebstahlsprocessen beim sogen. Fetischismus, 
bei Untersuchung in einer Mordsache hier in Königsberg perverse 
Sexualvergehen zur Kenntniss der Gerichte gebracht. 

Die schweren Geisteserkrankungen sind im Uebrigen dabei nicht 
sehr viel betheiligt. Moeli citirt in seinem Werke „Ueber irre Ver¬ 
brecher“ im Ganzen 25 Fälle von Vergehen gegen die Sittlichkeit, 
hauptsächlich von Geistesschwachen, Alkoholikern und Epileptikern 
begangen. 

Was will diese kleine Zahl der von Moeli unter Gruppe V zu¬ 
sammengefassten irren Verbrecher gegen die enormen Zahlen von Moll 
sagen, welche er ans gewiss auf Grund wohl verbürgter Angaben und 
einer reichen Erfahrung mittheilt. Es ist hiernach der Schluss wohl 
berechtigt, dass es sich bei den Individuen mit perverser Sexual- 
empfindung entweder um Menschen handelt, die im Uebrigen gesund, 
vor verbrecherischen Excessen vorsichtig sich zu wahren verstehen, 


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274 


Dr. Seydel, 


oder dass ihre Vergehen von ihren Complicen gebilligt und dem Arme 
der strafenden Gerechtigkeit entzogen werden. 

Mit welch unglaublicher Schlauheit und Kühnheit solche Ver¬ 
brechen allerdings oft Jahre lang unentdeckt verübt werden können, 
beweist uns die Geschichte des Marquis de Sade, nach welchem 
Krafft-Ebing den Sadismus benamset hat, und in der neuesten Zeit 
die Lustmorde des Jack the Ripper, der vielleicht in der Person des 
John Deeming in Australien von der Nemesis ereilt ist. 

Nach den Erfahrungen Krafft-Ehing’s sind dabei perverse be- 
anlagte Individuen in Bezug auf die Befriedigung ihrer Gelöste einem 
viel grösseren Triebe, gewissermassen einem Zwange unterworfen, der 
bei normal beanlagten Menschen in Bezug auf geschlechtliche Be¬ 
gierden meist nur unter abnormen Verhältnissen, z. B. im Alkohol¬ 
rausche, beobachtet wird. Krafft-Ebing führt eine Reihe von Fällen 
an, aus denen hervorgeht, dass sich die Verirrungen der perversen 
Sexualität durch einen psychischen Zwang, der sich in Benommenheit 
des Kopfes, dumpfem Drucke im Kopfe, somatischem Unbehagen bis 
zur Erfüllung der Libido kundgaben und den betreffenden Individuen 
vor dem Excesse fast die normale Ueberlegung raubten. 

Die schwereren Psychosen, die zu unsittlichen Ausschreitungen 
führen, pflegen sich der Oeffentlichkeit gewöhnlich nicht lange zu ent¬ 
ziehen. Sie wenden sich, wie auch die Erfahrung von Moeli zeigt, 
relativ häufig gegen Kinder, werden auf offener Strasse mit einer un¬ 
glaublichen Schamlosigkeit ausgeführt und kommen daher gewöhnlich 
bald zu strafrechtlicher Verfolgung. 

Anders steht die Sache bei päderastischen Attentaten, die oft 
Jahre lang mit einer Schlauheit und ängstlicher Vermeidung von 
Entdeckung betrieben werden, dass nur gewisse, wie es scheint, nicht 
ganz unbetheiligte Kreise darum wissen. Kommt ein solcher Fall zur 
richterlichen Aburtheilung, so zeigt sich oft, dass vox populi über 
das betreffende Individuum lange vor dem competenten Richter sein, 
allerdings geheim gehaltenes, Votum abgegeben hat. 

Man wird die perversen Sexualvergehen am besten in 2 Gruppen 
eintheilen, je nachdem sie in Abweichungen und Verirrungen des nor¬ 
malen Geschlechtstriebes dem weiblichen Geschlechte gegenüber oder 
in päderastischen oder gar sodomitischen Excessen bestehen 1 ). 


*) In Bezog auf die gesetzgeberische Beurtheilung dieser Materie finden 
wir hochinteressante Mittheilungen in einem Aufsätze eines Anonymus mit einer 


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Die Beurtheilang der perversen Sexaalvergehen in foro. 


275 


Die Verirrungen der ersten Gruppe, die eine so interessante 
Illustration in den erwähnten Werken von Krafft-Ebing und Moll 
finden, beschäftigen den Strafrichter wohl sehr selten. Sie spielen 
sich, abgesehen von wirklich Geisteskranken, in der Sphäre der Pro¬ 
stitution ab und werden von bestimmten Individuen dieser Eiasse 
bereitwillig unterstützt. Die Mitwisserinnen solcher Verirrungen sind, 
wie es scheint, im Ganzen verschwiegen, wenn auch die Bücher beider 
erwähnten Autoren eine Fülle von Beispielen in dieser Beziehung 
aufweisen. 

Der von Krafft-Ebing mit dem Namen Masochismus (naoh Saoher- 
Masoch’s Roman Venns im Pelz) belegte perverse Sexualtrieb scheint sioh, wie 
dieser Autor anführt, relativ am häufigsten zu finden, mir selbst wurden ein paar 
Originalbriefe eingehändigt, welche diese eigenthümliohe Verirrung recht charak- 
terisiren. Sie lauten.an den bezeichnenden Stellen: 

Meine geliebte T.! Grausame Herrin und gestrenge Gebieterin I — Ob ich 
punkt 9 kommen werde weiss ich nicht, sollte ich später kommen, so wirst Du 
am besten wissen, wie man einen ungehorsamen Hund bestraft. Ich glaube Du 
wirst ohne dies in fürchterliche Wuth gerathen, wenn ich Dir bekenne, dass ioh 
den Knebel selbst abgemacht und die Strafarbeit nicht ausgeführt habe. Den 
Knebel (um den der Penis geschnürt war) hast Du so schlecht angemacht, dass 


Zusatzbemerkung von Krafft-Ebing in Band XII, Heft 1 der Zeitschrift für 
gesammte Strafrechtswissenschaft von List-Lilienthal etc. Eigenthümlich ist 
die Stellung der verschiedenen Culturstaaten zu diesem Strafdelict: Italien und 
Frankreich lassen dasselbe mit gewissen Einschränkungen straffrei, d. h. wenn 
das öffentliche Schamgefühl nicht verletzt, eine Gewalt gegen Personen über 
14 Jahren oder das Delict gegen Personen unter 14 Jahren nioht ausgeübt ist. 
Deutschland und Ungarn stellen nur die widernatürliche Unzucht unter Männern 
unter Strafe, Oesterreich auch den Amor lesbicus. Amerika jede widernatürliche 
önzuobt zwischen Mann und Mann, Frau und Frau, Mann und Frau, Mensch und 
Thier, Mensch und Leichnam. Zum Begriff der widernatürlichen Unzucht wird 
ein Eindringen in die Geschlechtstheile vorausgesetzt. 

Am strengsten bestraft England jede widernatürliche Unzucht, die Päde¬ 
rastie sogar mit dem Tode. 

Krafft-Ebing in einem Nachworte zu diesem anonymen Aufsatze plädirt 
für directe Abschaffung des § 175 des deutschen St.-G.-B., weil die hier vorge¬ 
sehenen Deliote in der Regel einer krankhaften seelischen Veranlagung ent¬ 
springen. Die meisten der sogen. Urninge ständen unter einem geradezu phy¬ 
sischen Zwange; der nicht einer blossen Perversität, sondern einer krankhaften 
Perversion entspränge. Der § 175 wäre zu unbestimmt gehalten und gebe dem 
subjectiven Ermessen des Richters einen zu grossen Spielraum. Der §175 wirke 
nur selten abschreckend, bessernd niemals, denn krankhafte Naturerscheinungen 
werden nicht durch Strafen beseitigt. Der §175 leiste der falschen Denunciation 
und der Erpressung und der Chan tage Vorschub. 


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276 


Dr. Seydel, 


•r von selbst abging and nar am Dioh etwas za fahlen, habe ich dies wieder 
selbst befestigt, obgleich dies nicht den richtigen Reiz ausübt. — Da musst mir 
wenn ich eintrete einen Brief geben, durch den ich weiss was mir bevorsteht* 
wenn ich nioht blindlings Deinen darin ausgesprochenen allerstrengsten Befehlen 
gehorohe. Wenn Dein Hand heate von Dir fortgeht mass er kein Glied rühren 
können and mehr todt als lebendig sein. Sinne Dir nur eine grausame Marter 
für Deinen Hand aas, aber ioh glaube es wird wieder Nichts sein. Wenn Da 
mich mit dem bewussten Schriftstück ängstigen and zugleich erfreuen willst, so 
stecke es mir in ein Taschentuch etc. Dein Hand.“ 

Das zweite Schreiben ist ähnlich, ein Passus darin lautet: „Die Hauptsache 
ist, dass der Hintere (nach den von ihm erbetenen Flagellationen) so dick an- 
schwellen muss und eine einzige grosse Wunde sein muss, dass man kaum die 
Hose herüberbekommt und dann vier Wochen lang nicht sitzen kann.“ 

Dieser Masochist der schlimmsten Sorte soll nach Aussage der betreffenden 
Prostituirten ein stattlicher hübscher Mann in mittleren Jahren gewesen sein, der 
von ihr sich vor dem Coitus die Oberarme mit langen Nadeln durchstechen, sioh 
energisoh peitschen liess und sich fast jedes Mal bis zur Steroophagie binreissen 
Hess. Wenn der betreffende Mann auoh nioht fein gebildet, so war er es dooh 
nach seinen Briefen jedenfalls viel mehr als die betreffende Prostituirte, der 
gegenüber er sich in jeder Weise erniedrigte und die er in Qualen für sich immer 
erfinderischer machen woUte. 

Dass dieser schlimmsten Form des Masochismus unendlich viel 
schwächere Nuancen bis zum annähernd normalen Empfinden zur 
Seite stehen, ist eine von den besagten Autoren vielfach hervorge¬ 
hobene Erfahrung. Es scheint in dieser Hinsicht ebenso wie bei 
anderen Neuropathieen die Heredität nicht ohne Einfluss zu sein; ich 
kenne von einer Familie Vater und Sohn, die, wie ich erfahren, 
eigentümlich masochistische Gewohnheiten im Kreise der Prosti¬ 
tuirten entwickelten, dabei beide verheiratet und Familienväter sind. 

Leichte masochistische Anwandlungen scheinen überhaupt, wie 
Krafft-Ebing hervorhebt, sehr häufig zu sein und ist Flagellation 
nicht allein bei entnervten älteren, sondern auch bei jüngeren neuro- 
pathisch beanlagten Männern ein bei Prostituirten nicht selten be¬ 
gehrtes Reizmittel. 

Die perverse Sexualempfindung in der activen und passiven Päde¬ 
rastie füllt seit den bekannten Urningschriften des Assessor M. eine 
ganze Reihe von Büchern, doch scheint sie, wenn auch in unserem 
Klima gerade nicht ohne Beispiel und namentlich in den grossen 
Städten, wie Moll nach weist, gewissermassen in Centren vereinigt, 
doch nicht so allgemein geworden zu sein, wie in den Ländern am 
Mittelmeer. Die Griechen scheinen seit dem klassischen AUerthume 
das grösste Contingent dieser Sexaalverirrung zu zeigen, wenigstens 


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Die Beartheilung der perversen Sexnaivergehen in foro. 


277 


gelten sie in den Mittelmeerhäfen (Marseille, Genua etc.) für beson¬ 
ders stark belastet. 

In meiner Praxis habe ich ein gewaltsames päderastiscbes Attentat 
gegen einen Bäckergesellen durch zwei hier beschäftigte griechische 
Arbeiter beobachtet. 

In foro werden päderastische Perversitäten sehr viel leichter Ob¬ 
jecte richterlicher Aburtheilung als Perversitäten gegen das weibliche 
Geschlecht, da nach § 175 des St.-G.-B. hierbei nur accidenteile 
Vergehen strafbar sind. Wenn auch in der Mehrzahl dieser Fälle, 
ebenso wie bei den Geschlechtsverirrungen gegen Weiber, eine ange¬ 
borene Anlage anzunehmen ist und sich, wie Krafft-Ebing in sei¬ 
nem Werke so anschaulich ausfährt, in den Träumen und Phantasieen 
der Pubertätsperiode zeigt, so treten doch zweifellos Fälle hervor, 
die im späteren Alter erworben und dann oft recht krass und unbe¬ 
greiflich sich darstellen. 

Meiner in dieser Beziehung allerdings nioht sehr reichhaltigen Erfahrung 
nach sind solche im späteren Geschlechtsleben auftretende Perversitäten nicht 
selten Anzeichen und Vorläufer sohwerer Psychosen. Es ist eine in der Psychiatrie 
bekannte Thatsache, dass weibliche Irre im Beginn fast aller Psychosen, die mit 
Erregungszuständen in die Erscheinung treten, einen mehr oder weniger aus¬ 
gesprochenen nymphomanischen Zug darbieten. Jeder Arzt, der z. B. eine auf¬ 
geregte psychotische Kranke nach der Irrenanstalt begleitet, muss auf Zärtlich¬ 
keiten seitens der Patientin gefasst sein. Oft verbirgt sich diese erotische Fär¬ 
bung unter allerlei nicht immer feinen Neckereien, Ohrfeigen, Püffe u. s. w. 
können applioirt werden und doch brioht gelegentlich eine unmotivirte Zärtlich¬ 
keit hervor, namentlich wenn man genöthigt ist, die Kranke gewaltsam anzu¬ 
fassen oder sie zu tragen. 

Als ein Aequivalent dafür möohte ioh die Geschlechtsperversitäten ansehen, 
die oft als ungeahnte Vorläufer vor schweren Psyohosen bis dahin in keiner 
Weise durch das Vorleben angedeutet bei Männern, unabhängig und zeitlich ge¬ 
trennt von der Pubertätsentwicklung Vorkommen. — 

Ein seiner Zeit hier peinliches Aufsehen erregender sehr trauriger Fall 
findet hierdurch seine Erklärung. Ein aus den gebildeten Kreisen stammender 
Beamter, der duroh sein liebenswürdiges und bescheidenes Wesen in seiner 
Studienzeit und später allgemein beliebt und geachtet war, verlobte und ver- 
heirathete sich als junger Beamter mit einer in jeder Beziehung passenden Dame. 
Nach der Geburt des ersten Kindes zeigte der Mann eigenthümlioh aufgeregtes 
Wesen, versuchte als Officier päderastisobe Attentate mit Soldaten etc. Er wurde 
angeklagt, zu einer grösseren Freiheitsstrafe und Cassation von, allen seinen amt¬ 
lichen Stellungen verurtheilt. Im Gefängniss entwickelte sioh bei ihm para¬ 
lytischer Blödsinn, dem er vor längerer Zeit erlegen ist. 

Ein junger Beamter, seit längerer Zeit neuropathisoh und naohweislioher 
Morphinist, maohte hier einigen Soldaten in der plumpsten, unerklärlichsten Weise 


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Dr. Soydel, 


päderastische Anerbietungen, er wurde verhaftet, zeigte aioh anfangs vollständig 
verworren, später fast amnestisch mit tiefer geistiger Depression. Einer Nerven* 
anstalt zugeföhrt nnd daselbst einer Entziehnngscur für Morphium unterworfen, 
hat er sich später nicht allein seinem Amte, das bisher stark vernachlässigt 
worden war, mit vollständigem Eifer gewidmet, sondern auch in jeder Beziehung 
ein moralisch tadelfreies Leben geführt, so dass er seine Carriöre fortsetzen kann. 

Dass in diesem Falle Morphinismus als Aequivalent für Geistesstörung an¬ 
zunehmen, dürfte wohl zweifellos sein. 

Von Exhibitionismus theilt Uoeli in seinem Werke einen Fall 
auf zweifellos epileptischer Basis beruhend mit und einen vollständig 
analogen Hotzen in der Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medicin, 
Bd. VII. 

Namentlich interessant ist die Motivirung in dem H.’schen Gutachten, das 
sich über einen vielfach bestraften und in Irrenanstalten untergebrachten Kauf¬ 
mann ausspricht. Derselbe hatte die wiederholten schamlosesten Exhibitionen, 
verbunden mit dipsomanischen Anfällen ausgefübrt, aber auch ohne Alkohol- 
excesse kamen derartige Excesse vor, bei deren Herannahen der Untersuchte an- 
giebt „er werde manchmal von Schwindel, Unruhe und Angst befallen, dann er¬ 
greife ihn gewaltsam der Trieb sich vor Mädchen zu entblössen und wenn er es 
gethan erlange er Erleichterung und Befreiung des Athmens*. Nach dem Anfalle 
habe er vollständige Amnesie und werde nur durch die behördliche Untersuchung 
von der Wahrheit seines Deliotes überzeugt. H. plädirt unter dem Einflüsse 
Lombroso’s für volle Geistesunfreiheit des Betreffenden. Ein Fall von Exhi¬ 
bitionismus wurde hier beim Schöffengericht im vorigen Jahre abgeurtheilt. Der 
verheirathete Kellner M. entblösste wiederholt am Fenster eines Restaurants 
stehend vor den vorbeigehenden Scbulmädohen seine Genitalien, that dasselbe 
auch vor einigen Damen, indem er sich besonders beim Eingang in das Haus an 
ihnen vorbeidrängte oder sie anrief und dann seine entblössten Genitalien prä- 
sentirte. Er wurde nicht auf Geisteskrankheit untersucht, führte dieselbe auch 
nicht als Entschuldigung an und verbüsste seine 20tägige Strafe wegen Erregung 
öffentlichen Aergernisses. 

Die in der Literatur nicht allzu häufigen Beispiele von Exhibi¬ 
tionismus scheinen sich zum grössten Theile auf psychisch abnorme 
Persönlichkeiten zu beziehen. Jedenfalls gehört der von Liman in 
der Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medicin, Neue Folge, Bd. 38, 
mitgetheilte Fall dahin und wird als hypochondrische Geistesstörung 
nach Westphal bezeichnet, obgleich Manches dafür spricht, dass es 
sich um ein epileptisches Aequivalent handelt. Der Betreffende war 
in seiner Jugend Onanist, hatte später Scheu vor Frauenzimmern, die 
er behauptet nie berührt zu haben. Vor den hauptsächlich im Thier¬ 
garten an frequenten Stellen sich abspielenden Scenen giebt der Be¬ 
treffende an, lebhafte Hitze im Kopfe empfunden zu haben, dann habe 


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Die Benrtheilang der perversen Sexual vergehen in foro. 


279 


sich eine Art Bewusstlosigkeit eingestellt * während der er mit ent- 
blössten Genitalien umherlief, danach scheint Amnesie eingetreten zu 
sein. Westphal’s Erklärung für derartige Zustände lautet: „Indem 
die Aufmerksamkeit von körperlichen Empfindungen und Vorgängen 
in abnormer Weise in Anspruch genommen wird, verfallen die Be¬ 
treffenden auf sonderbare Mittel zur Bekämpfung dieser Vorstellungen 
und Empfindungen.“ 

Der zweite ebendaselbst von Li man beschriebene Fall von Ex¬ 
hibitionismus ist zweifellos auf epileptischer Basis, die von Fach¬ 
männern anerkannt zu psychiatrischer Behandlung geführt hatte. 

Bei Frauen ist die Literatur über perverse Sexualempfindung 
viel ärmer. Ob beim weiblichen Geschlecht, namentlich in besseren 
den nervösen Affectionen mehr ausgesetzten Ständen, die Discretion 
aus Scham mehr verhüllend wirkt, oder ob Erziehung und geringere 
Libido im Ganzen wirksamer sind, lässt sich nicht bestimmt sagen. 
Ganz frei ist das weibliche Geschlecht von der Psychopathia sexualis 
jedenfalls nicht. Abgesehen von der nymphomanischen Erregung fast 
aller acut Maniakalischen, finden wir auch bei angeborener Imbe- 
cillität die zügelloseste Libido, ein Beispiel davon verdanke ich der 
freundlichen Mittheilung des Herrn Director Sommer-Allenberg. 

Es handelte sioh am eine unehelioh geborene Halbidiotin, deren Matter 
blödsinnig war; schon in früher Jagend ging sie za ihren Pflegegenossinnen ins 
Bett and belästigte dieselben daroh Betasten der Genitalien etc. Von ihrem 
16. Jahre war sie zügellos dem männlichen Umgänge ergeben, mit 18 Jahren 
gebar sie einen Knaben, den sie, als er 1 i / 2 Jahre alt, masturbatorisoh miss¬ 
brauchte. Von ihrer ersten Entbindung zeigte sie anfallsweise zügellose Nympho¬ 
manie, lief Männern, besonders halberwachsenen Jungen and zerlumpten Bettlern 
stundenweit in den Wald nach, setzte mehrere blödsinnige Kinder in die Welt, 
trieb mit einem grossen Hofhunde Sodomie and wurde naoh langem Warten ihrer 
Heimathgemeinde in die Irrenpflegeanstalt aafgenommen, wo sie naoh einigen 
Jahren starb. 

Halbidiotinnen sind überhaupt im geschlechtsreifen Alter oft 
zügelloser sexueller Ausschweifung ergeben. 

Auch für den von Krafft-Ebing beim weiblichen Geschlecht 
vermissten Masochismus haben wir ein Beispiel in der Patientin 
Dieffenbach’s, die sich wiederholt den Arm absichtlich luxirte, um 
bei der damals natürlich ohne Narkose ausgeführten Reduction die 
wollüstigsten Empfindungen zu haben. Auch Fetischismus wird nicht 
allzu selten bei Frauen beobachtet. Beispiele von homosexualer Per¬ 
versität scheinen bei dem weiblichen Geschlecht geradezu häufig zu 


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Dr. Seydel, 


sein and selbst bei Prostituirten kommen derartige Beispiele vor, die 
dadurch ihrem Gewerbe darch Belästigung ihrer Genossinnen und ab¬ 
lehnende Kühle gegen das männliche Geschlecht entfremdet werden. 
Die Beispiele Krafft-Ebing’s und Moll’s der sogenannten „schwulen 
Weiber“ sind ja auch recht zahlreich. 

Sodomie ist in den Lehrbüchern der gerichtlichen Medicin von 
Hofmann, Liman etc. nicht ohne Beispiel, wird aber entschieden 
sehr viel häufiger bei geisteskranken Personen, die an psychopathischer 
sexueller Erregung leiden, beobachtet. 

Präcisiren wir non den Standpunkt, den der Gerichtsarzt den 
Aeusserungen der speciellen Perversität gegenüber einzunehmen hat; 
dass solche AeusseruDgen im Interesse der öffentlichen Sittlichkeit 
durch Strafe verfolgt und zurück gedrängt werden müssen, ist ausser 
allem Zweifel. Es ist nur die Frage, wann wir wirkliche geistige 
Verirrung, wann geistige Erkrankung und die sexuelle Perversität ge¬ 
wisseren assen als Symptom derselben anzusehen haben. 1 ) 

Stellt sich bei einem jugendlichen, im Uebrigen im Nerven¬ 
system nicht abnormen Individuum, bei dem hereditäre Belastung 
nachweisbar, sexuelle Perversität ein, so wird dagegen wohl, so lange 
keine Oollision mit dem Strafgesetz erfolgt und eine gewisse Beherr¬ 
schung und Wahrung des öffentlichen Anstandes beobachtet wird, 
Nichts zu thun sein; es sind dies eben Fälle nervöser Verschroben¬ 
heit, die leider mit dem Fortschreiten der nervös überreizten Cultur- 
roenschen immer häufiger zu werden scheinen. Es wäre durchaus 
falsch, alle diese Individuen, die nach allen übrigen Seiten sich normal 
zeigen, als Geisteskranke anzusehen. Kommen durch derartige Indi¬ 
viduen Ueberschreitungen des Strafgesetzes vor, so wird man den¬ 
selben Maassstab wie an geistig Gesunde anzulegen haben. Zu be¬ 
rücksichtigen wäre allerdings die erfahrongsmässig schwache Resistenz 
solcher Individuen gegen alle körperlichen und geistigen Anstrengungen 
und Reize, namentlich die sehr schwache Toleranz gegen Alcoholica; 
die meisten Excesse kommen nach durchschwärmten Nächten, nach 
übermässiger Aufregung und Anstrengung des Nervensystems vor. 

*) Dass die oben in der Anmerkung angeführte Ansicht von Krafft- 
Ebing nicht ganz den Beifall der Criminalisten finden dürfte, ist wohl anzu¬ 
nehmen. Delicte mit jugendlichen Personen unter 14 Jahren werden stets strenge 
Benrtheilnng erfahren müssen. Dass sehr häufig die Art und Weise der Delicte 
beinahe zwingend anf eine krankhafte Basis hinweisen, wird jedem vorartheils¬ 
freien Beurtheiier bei einzelnen Fallen entgegentreten. 


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Die BeortheilaDg der perversen Sexaalvergeben in foro. 


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Ob hierdurch eine verminderte Zurechnungsfähigkeit, welche vom 
Reichsgericht unter Umständen angenommen wird, eintreten kann, 
wird dem Urtheil des Sachverständigen und der Judicatur anheim¬ 
gegeben werden müssen. Anders stellt sich die Sache bei hereditär 
schwer belasteten für gewöhnlich normal empfindenden und handeln¬ 
den Individuen, bei denen periodisch unbegreifliche, schamlose Excesse 
beobachtet werden. In erster Linie sind hier wohl die Exhibitio¬ 
nisten zu betrachten, die der Mehrzahl nach als psychisch abnorm, 
namentlich als epileptisch-psychopathisch erkannt worden sind, wie 
die oben kurz angeführten Beispiele zeigen; die einzelnen Excesse 
characterisiren sich nicht selten als epileptische Aequivalente, nament¬ 
lich durch die deutlich angegebenen Vorboten, Aura, die Kopflosig¬ 
keit des Handelns und die nicht als Simulation aufzufassende Amne¬ 
sie. Dieselben dürften als Geisteskranke zu beurtheilen sein. Eine 
dritte Gruppe, die allerdings, wie es scheint, im Verhältniss zu den 
beiden vorangeführten klein zu sein scheint, wird direct Geisteskranke 
umfassen, die sexuelle Excesse im Anfangsstadium einer sich ent¬ 
wickelnden Geisteskrankheit zeigen. Bei diesen wird neben sexuellen 
Excessen, die bis dahin nicht vorgekommen sind, sehr bald eine durch¬ 
greifende Veränderung der Psyche gefunden werden können. Ebenso 
wie bei weiblichen Individuen im Beginn der Psychopathie erotische Er¬ 
regungen, die ihrem Charakter sonst fremd sind, sich einstellen, 
ebenso zeigt sich bei Männern eine bis dahin nie beobachtete Scham¬ 
losigkeit und Excesse, die mit ihrem sonstigen Gebühren unvereinbar 
sind. Der von mir eben angeführte Fall, der sich durch eine geraume 
Zeit — in 4 Jahren — hinzog, gehört meines Erachtens zweifellos 
dahin, wenn auch die mir von competenter Seite zugestellte genaue 
Anamnese eine gewisse Verschrobenheit schon in früher Jugend er¬ 
kennen lässt. Alkoholische und überhaupt toxische Psychopathien 
scheinen besonders leicht zu sexuellen Perversitäten in ihrem Anfangs¬ 
stadium Anlass zu geben. Weit entfernt, diese Perversitäten, die im 
Geheimen unter Umständen schon längere Zeit bestanden haben, als 
besonders geeignet für eine milde Beurtheilung ansehen zu wollen, 
möchte ich doch den Collegen, die mit der sachverständigen Be¬ 
urtheilung eines solchen Falles betraut werden, eine grosse Vorsicht 
und unter Umständen die Beobachtung in einer Irrenanstalt empfehlen. 
Die Beobachtung im Gefängniss unter deprimirenden geistigen und 
körperlichen Verhältnissen ruft bei wirklich Geisteskranken oft eine 
so veränderte geistige Haltung hervor, das Bewusstsein in der Familie 


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Dr. Seydttl. 


beobachtet and überwacht za werden macht derartige Kranke, am die 
es sich de facto doch handelt so störrisch und anzagänglich, ja ge¬ 
radezu renitent, dass ein sicheres Urtheil allein durch Beobachtung 
in einer geschlossenen Anstalt mit vollständig sachverständiger Ueber- 
wachung und Beobachtung gewonnen werden kann. Dass übereilte 
und allzu sehr auf Simulation gerichtete (Jrtheile in dieser Beziehung 
viel Unheil anrichten können, beweist die alltägliche Praxis der Irren¬ 
anstalten. Und wenn das Strafverfahren den humanen Grundsatz in 
dubiis pro reo in freier Praxis aufrechterhält, so haben die ärztlichen 
Sachverständigen als Organe der Rechtspflege dieselbe Pflicht. 

Mit derartigen Grundsätzen werden wir die Lombroso’schen 
Ideen nicht zu sehr adoptiren, dem humanen Grundgedanken derselben 
aber volle Rechnung tragen. 


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5. 


Ueber Anezikvergiftug in gerichtsärztlicher Beziehnng. 

Von 

Dr. Sehnnburf, 

Stabsarzt beim raed.-chir. Friedrich-Wilhelms-Institut zu Berlin. 


Von allen Giften, die im Laufe der Jahrhunderte den Gerichts¬ 
arzt beschäftigten, hat keines andauernd solches Interesse erweckt 
als das Arsen, hat aber wohl auch keines absichtlich oder unab¬ 
sichtlich so viele Menschen unter die Erde gebracht. 

Diese letztere Behauptung wird allerdings nach Jahrhunderten 
an Richtigkeit einbüssen, denn die Statistiken schon aus verschiedenen 
Jahrzehnten unseres Jahrhunderts zeigen, dass die Vergiftungen mit 
Arsen an Häufigkeit bedeutend abnehmen. 

Während nämlich noch in Frankreich aus den Jahren 1825—49, 
im Durchschnitt genommen, von 100 Vergiftungen 71,02 mit Arsen 
bewerkstelligt wurden, berechnet Tardieu 1 ) als Durchschnitt der 
Jahre 1851—62 nur noch 37,6 pCt. Arsen Vergiftungen; während 
Taylor 2 ) aus den Jahren 1837 und 1838 in England von 100 Ver¬ 
giftungen 34,2 auf Arsen zurückführt, findon wir aus den Jahren 
1663—67 3 ) sogar nur noch 5,1 pCt. Auch in Deutschland wird 
Arsen in den letzten Jahrzehnten nur noch selten zu Vergiftungen 
benutzt, so sind nach Lesser 1 ), der die Vergiftungen in der Stadt 
Berlin von den Jahren 1876 bis 1878 vergleicht, nur 2,7 pCt. aller 
Vergiftungen auf Arsen zu beziehen, in den grossen Krankenhäusern 
Berlins sind in denselben Jahren nur 2 pCt. Arsenvergiftungen beob- 


*) Die Vergiftungen, übersetzt von Th eile und Ludwig. 1868. S. 68. 

3 ) On poisons. Deutsch von Seydeler. 1863. 1. S. 428. 
s ) Brit. med. Journal. 1899. No. 446. 

4 ) Virohow’s Archiv für pathologische Anatomie. Bd. 83. S. 196. 


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284 


Dr. Schumbarg, 


achtet und das Institut für Staatsarzneikunde in Berlin berechnet für 
dieselbe Zeit einen Procentsatz von 3,4 l ). 

Diese Abnahme der Arsen Vergiftungen findet ihre Begründung 
einmal darin, dass die Fortschritte der Chemie besonders in den 
Alkaloiden den Giftmischern bequemer zu handhabende und oft 
schneller betäubende Präparate geliefert haben, wie dies die zahl¬ 
reichen Opium- und Morphium-Intoxicationen in England und Amerika 
beweisen, dass ferner die Gesetzgebung den Handel und Verkehr mit 
Arsen wesentlich gegen früher eingeschränkt hat, dass schliesslich 
auch der Giftmörder aus den verschiedenen weltbekannten und noch 
täglich in den Zeitungen discutirten Arsenvergiftungsprocessen jetzt 
weiss, dass Arsen noch nach vielen Jahren in der Leiche nach¬ 
gewiesen werden kann und dass er deshalb nie sicher vor Ent¬ 
deckung ist. 

Die Arsenpräparate, die zu Vergiftungen Anlass geben, sind fast 
stets dieselben: Arsen gediegen als Fliegenstein ist ja an sich nicht 
giftig, doch oxydirt er sich sehr leicht an der Luft oder im Orga¬ 
nismus und enthält im Handel meist beträchtliche Mengen arseniger 
Säure. Seine stahlgrauen oder schwarzen Flitter in den Contenta, 
sein knoblauchartiger Geruch beim Verbrennen sind den Gerichts¬ 
ärzten wohlbekannt. 

Das am häufigsten verwandte und älteste Präparat aber ist der 
weisse Arsenik, die arsenige Säure und ihre leicht löslichen Salze, 
besonders das Kalium arsenicosum, in Wasser gelöst als Solutio ar- 
senicalis Fowleri. Schon Charles le Mauvais (1384) kannte ihre 
eclatante Wirkung. Die Arsensäure wird seltener verwendet und 
nach Saikowski 9 ) ist, vorausgesetzt dass sie nicht mit arseniger 
Säure verunreinigt ist, ihre Wirkung auf die Organe auch nicht so 
heftig wie die der arsenigen Säure. 

Die Schwefelverbindungen des Arsens, Realgar und Auripigment, 
sind im Handel auch oft mit arseniger Säure (bis 30 pCt.!) verun¬ 
reinigt und geben daher als Farben oft Anlass zu Intoxicationen, 
ebenso wie das arsenigsaure Kupfer (Scheelsches Grün) und das 
Schweinfurter Grün (arsenig- und essigsaures Kupfer). — Nur wenige 


‘) Maschka, Gerichtliche Medioin. 1882. Bd. II. S. 28 und 29. 

9 ) Virohow’s Archiv. Bd. 34. S. 76. „Ueber die Fettmetamorphose der 
Organe n&oh innerlichem Gebrauch von Arsenik. “ 


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Ueber Arsenikvergiftung in geriohtsärztlicher Beziehung. 


285 


Menschen (Chemiker, Lnftschiffer u. s. w.) verfallen zuweilen dem 
äusserst giftigen Arsenwasserstoff. 

Die übrigen Arsenverbindungen haben für den Gerichtsarzt nur 
untergeordnete Bedeutung: Es genügt, wenn er weiss, dass in England 
eine Salzsäure officinell ist, die Arsen enthält, dass in Frankreich 
eine Solutio Pearsonii arsenigsaures Natron, eine Solutio Biettii 
arsenigsäures Ammonium enthält, dass Arsen mit den organischen 
Alkoholradicalen die verschiedenen, sich meist durch intensiven Ge¬ 
ruch auszeichnenden Kakodylverbindungen eingeht. 

Die nächste für den Gerichtsarzt wichtige Frage bei den Arsen¬ 
vergiftungen ist die nach den 

Gelegenheits Ursachen 

derselben, von welchen der erste Theil meiner Arbeit handeln soll. 

1. Giftmord. 

Wegen seiner Geruchlosigkeit, seines wenigstens in kleinen Dosen kaum 
wahrnehmbaren Geschmaoks, wegen der eine acute Krankheit ausserordentlich 
leicht vortäuschenden Vergiftungssymptome hat der weisse Arsenik sioh bei 
Giftmischern einer besonderen Vorliebe zu erfreuen gehabt. Allerdings soll, wie 
Li man 1 ) von Selbstmördern in Erfahrung gebracht hat, die arsenige Säure in 
grösseren Dosen einen herben, salzigen Geschmack haben, doch wird dieser in 
Speisen and Getränken vollständig verdeckt, wenn anoh durch sie die Löslichkeit 
des Arseniks erschwert wird. 

Ausführliche Angaben, unter Heranziehung von Einzelfallen, in Bezug auf 
den Geschmack der arsenigen Säure macht Taylor 2 ), wonach bald ein wie 
Pfeffer brennender, scharf heissender (aorid), bald gewöhnlicher und derber 
(coarse and smartish) nach sauren Aepfeln, bald ein rauher und salziger Ge- 
sohmaok wenigstens für grosse Dosen angegeben wird. 

Ueber die Häufigkeit der Giftmorde mit Arsen finden wir bei Husemann*) 
angeführt, dass in Frankreich von 461 Giftmordprocessen der Jahre 1851 —1858 
200 Mal Arsen benutzt wurde, während die gleiche Berechnung für Preussen für 
das nächstfolgende Jahrzehnt (1857 bis 1867) nur den siebenten Theil davon 
ergab. 

Noch instructiver ist die Statistik von Tardieu, die Masohka 4 ) anführt: 
Nach ihm wurden in Frankreich 


*) Praktisches Handbuch der gerichtlichen Medicin von Casper-Liman. 
II. Bd. 71. 

2 ) On poisons. 1863. Bd. II. S. 185. 

3 ) Handbuch der Toxicologie. 1867. S. 59. 

4 ) Handbuch der gerichtlichen Medioin. 1882. II. Bd. S. 237. 

Vierteljalirsschr. f. ger. Med. Dritte Folge. V. 9. ]Q 


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286 


Dr. Schumbarg, 


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' im Jahre 1851 35 Oiftmordprocesse 

„ „ 1855 42 „ 

„ „ 1860 3 

„ „ 1862 3 

verhandelt. 

Also anoh hieraas geht klar hervor, dass die Giftmorde mit Arsen, wie 
schon oben angedeatet, im Abnehmen begriffen sind. Masohka 1 ) macht für 
diese Abnahme der Arsenikmorde die in den letzten Jahrzehnten aafblühende 
Phosphorindustrie verantwortlich und in England die Gesetzesbestimmung, dass 
weisser Arsenik in Mengen unter 10 Pfund nicht verkauft werden darf, wenn ihm 
nicht Vie des Gewichts Russ oder V 32 Indigo beigemengt ist. Für die erwähnte 
Abnahme dor Arsenvergiftungen gegenüber den Phosphorvergiftungen giebt 
A. Tardieu 3 ) folgende Zahlen: Es kamen vor in den Jahren 

1851—56 174 Arsen-, 67 Phosphorvergiftungen, 

1856-62 68 „ 103 

Für die Dosis toxica der arsenigen Säure wird von allen Autoren fast die* 
selbe Grösse angegeben, nämlich 0,025, ebenso für die Dosis lethalis, soweit 
man von einer solchen sprechen kann, 0,1—0,2 g. Welche Umstände diese 
Dosis erhöhen oder verringern können, werden wir weiter unten sehen. Im 
Uebrigen behauptet A. Taylor 3 ), dass „wir die Maximaldose, in der das Gift 
tödtet, durohaus nicht kennen“, dass dagegen 4 ) die kleinste bisher erwähnte 
tödtliohe Dose in einem von Dr. Castle in Leeds mitgetheilten Fall 2 gran be¬ 
trug. Auf weiteren an dieser selben Stelle angeführten Thatsachen fassend, kann 
nach Taylor der Gerichtsarzt behaupten, dass unter günstigen Umständen 2 bis 
3 gran arseniger Säure hinreicben, um den Tod berbeizuführen; beträgt die Dose 
weniger, so erholt sich der Betroffone gewöhnlich wieder. Auf der anderen Seite 
aber darf dem Qerichtsarzt nicht unbekannt sein, dass selbst von Nichtarsenik¬ 
essern grosse Dosen — Taylor 5 ) erzählt von 1 */ # Unzen und zwei Esslöffeln — 
unbeschadet genommen sind, allerdings wohl bei vollem Magen und unter nach¬ 
folgender Entleerung per os et anum. Indess bilden dooh solohe Fälle nur Aus¬ 
nahmen von der Regel. 

Die gewöhnlichste Art, wie der Giftmörder seinem Opfer das Gift beibringt, 
ist naturgemäss die per os in Speisen, gewöhnlioh in Suppen oder Getränken 
(Warmbier, Thee, Kaffee, Schnaps). 

Seltenere Applioationsweisen sind naoh Maschka 6 ) die per rectum und 
per vaginam. Fodörö 7 ) beschreibt einen Fall, wo eine Magd ihrer Herrin Arsen 


*) Ebendaselbst. S. 237. 

3 ) Die Vergiftungen. Deutsch von Theile und Ludwig. S. 86. 

3 ) Guy’s hosp. reports. Bd. XII. 

4 ) On poisons. 1863. Bd. II. S. 226. 

8 ) On poisons. 1863. Bd. II. S. 230. 

6 ) Handbuch der gerichtlichen Medioin. 1882. Bd. II. S. 238. 

7 ) Medicine lögale. Bd. IV. S. 226. 


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Ueber Arsenikvergiftung in geriohtsärztlioher Beziehung. 


287 


mehrmals im Klysma mit tödtlichem Ausgang beibrachte, Ansiaulx 1 ) einen 
solchen, in dem ein Mann seine Frau duroh Arsen tödtete, das er ihr während des 
Beischlafs in die Soheide gebraoht hatte. Diesem Fall schliesst sioh der von 
Mangor 2 ) an, der 1786 bei Kopenhagen vorkam: Bin Landwirth vergiftete 
seine zwei Frauen nach einander dadurch, dass er ihnen nach dem Beischlaf auf 
dem Finger ein Pulver von Mehl und Arsenik in die Scheide einführte. Einen 
weiteren Fall der Art beschreibt Brisken 3 ), in dem eine Frau, wahrscheinlich 
um Abortus hervorzurufen, sich selbst Arsen in die Scheide steckte und in Folge 
dessen starb. 

Die Präparate, welche die Giftmörder benutzen, sind meist arsenige Säure 
in Substanz, die sie den Speisen beimengen, die sich darin aber nur zum Theil 
löst. A. Taylor 4 ) hat die Löslichkeit der arsenigen Säure genau untersucht und 
Folgendes festgestellt: 


Kaltes Wasser löst. 

V1000 

warmes Wasser. 

/ 400? 

nach einstündigem Kochen . 

1/ 

/ 24> 

Thee und Bier. 

1/ 

/iooo> 

Kaffee und Branntwein . . 

/soo* 


Die glasige arsenige Säure löst sioh im Uebrigen leichter als die porcellan- 
artige. Ueberhanpt können nach Taylor Flüssigkeiten, welche zäh und schlei¬ 
mig sind, das Gift fast in jeder Menge suspendirt enthalten, aber man darf in 
diesen Fällen nicht von Lösung sprechen. In einem Fall bei Taylor 5 ) war man 
geneigt, Selbstmord anzunehmen, weil man kein Vehikel kannte, in dem 88 gran 
Arsenik unwissentlich beigebracbt werden konnten. Nach Taylor ist es nicht 
zweifelhaft, dass „diese und selbst noch eine viel grössere Dose gepulverten Ar¬ 
seniks sich in Flüssigkeiten wie Haferschleim oder Chocolade im Geheimen bei- 
bringen lässt“. Zuweilen wird die arsenige Säure vor dem Zusatz oder dem Ge¬ 
nuss, womöglich durch Kochen, gelöst (Fall Knothe, Fall Bolle). Auch als 
Rattengift mit Leberwurst auf Brod gestrichen 6 ) oder als Scheel’sches oder 
Schweinfurter Grün grünen Gemüsen, wie Spinat etc., zugesetzt, wurde Arsen 
gegeben; der Auszug von Fliegenpapier, der in einem von Sonnenschein 7 ) 
angeführten Fall 0,15 arsenigsaures Natron im Bogen enthielt, selbst der an sich 
ungiftige Fliegenstein (Fall Dombrowski) diente zur Vergiftung. Wird Arsen mit 
anderen Giften zusammen gereicht (die sogenannten complexen Vergiftungen), so 
wird die toxische Wirkung des Arsens noch erhöht; Beispiele von Vergiftungen 
mit Arsen und Strychnin erzählen Abegg und Kasper, von Arsen und Subli¬ 
mat Julia de Fontenelle, von arseniger Säure und Opium Taylor 8 ). 

*) Henke’s Zeitschrift für Staatsarzneikunde. Bd. II. S. 187. 

2 ) Acta societ. reg. Hafniens. III. S. 178. 

s ) Diese Vierteljahrsschrift. Bd. 25. S. 110. 

4 ) On poisons. Bd. II. S. 188. (Deutsch von Seideler.) 

6 ) Die Gifte, übersetzt von Seideler. 1863. Bd. I. S. 362. 

6 ) Handbuch der gerichtl. Chemie von Sonnensohein. 1869. S. 121. 

7 ) Ebendaselbst. S. 121. 

9 ) Husemann, Handbuch der Toxicologie. S. 67. 

19 * 


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Dr. Schumburg, 


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Die Triebfedern, die dem Giftmörder im Allgemeinen den Giftbeoher in 
die Hand drängen, finden natürlich auch bei den Arsenmorden Geltung; jedoch 
soheint gerade beim Arsenik der erste glöcklioh vollbrachte Mord die Lust za 
weiteren erweckt zu haben, so dass Husemann 1 ) eine Giftmordmonomanie an¬ 
zunehmen geneigt ist bei den Fällen berüchtigter Giftmisoherinnen, wie der 
Gesohe Gottfried, Geheimräthin Ursinus, der Zwanziger. 

2. Selbstmord. 

Die Leichtigkeit, mit der man namentlich früher Arsen bekommen konnte, 
hat häufig gerade zu diesem Gift den Selbstmörder greifen lassen, der gewiss 
Blausäure, Opium oder ein anderes Alkaloid vorgezogen hätte, wenn er gewusst 
hätte, dass Arsen meist nur mit grossen Schmerzen und bei völlig erhaltenem 
Bewusstsein, wenn auch sicher tödtet. 

Die Selbstmörder der neueren Zeit sind aufgeklärter, und es ist begreiflich, 
wenn Briöre de Boismoud berechnet, dass von 158 Selbstvergifteten nur 6 
Arsenik wählten, und wenn nach von Hofmann in Wien unter 63 Selbstmorden 
mit Gift im Jahre 1874 nur 2 mit Arsen sich befanden 2 ). 

Die Formen, in denen die Selbstmörder das Arsen benutzen, sind am häu¬ 
figsten das Rattengift oder der weisse Arsenik in Substanz, seltener in Lösung. 
Doch sind auch Fälle bekannt, wo selbst arsenhaltige Farben zum Selbstmord 
benutzt wurden; so beschreibt Masohka 3 ) einen Fall, in dem sich ein junges 
Mädchen mit einem tüchtigen Esslöffel voll Schweinfurter Grün vergiftete. Ein 
ähnlicher findet sich bei Huber 4 ). 

Häufig wird dem Gerichtsarzt von dem Richter die Frage gestellt, ob es 
möglich sei zu entscheiden, ob Mord oder Selbstmord vorliegt. 

Beim Arsen ist diese Frage ausserordentlich sohwer zu beantworten. Die 
Anhaltspunkte, die dem Gerichtsarzt sich zur Entscheidung der Frage bieten, 
sind einmal der Umstand, dass Selbstmörder schlecht schmeckende oder stark 
ätzende Gifte meiden, ein Kriterium, welches bei dem fast geruch- und ge¬ 
schmacklosen Arsenik wegfällt, zweitens die Erfahrung, dass die Giftmenge, die 
der Selbstmörder nimmt, im Allgemeinen eine weit grössere ist wie die des Mör¬ 
ders. Da nun die ziemlich schnelle Ausscheidung des Arsens per os et anum 
wie durch die Secrete den Schluss auf die ursprünglich gegebene Dosis kaum 
mehr oder nur noch annähernd gestattet, muss die Entscheidung der Frage, ob 
Mord ob Selbstmord, mehr aus den den einzelnen Fall begleitenden Umständen 
gefolgert werden. 

Indess macht Liman in einem in seinem Handbuch 3 ) angeführten Gut- 


') Ebendaselbst. S. 60. 

2 ) von Hofmann, Handbuch der gerichtlichen Medioin. S. 664. 

3 ) Maschka, Handbuoh der gerichtlichen Medioin. 1882. Bd. II. S.263. 

4 ) Zeitschrift für klinisohe Medicin. 1888. S. 444. 

3 ) Praktisches Handbuoh der gerichtlichen Medioin. 1871. 11. Bd. S. 460. 


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Ueber Arsenikvergiftung in gerichtsärztlicher Beziehung. 


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achten ans der mnthmasslichen Menge and dem Präparat allein die Annahme 
eines Selbstmordes „wahrscheinlich*. 

3. Vergiftung durch Verwechselung von Genussmitteln, 
Unachtsamkeit, Fahrlässigkeit, Unkenntniss. 

Diese Gelegenheitsursache zu Arsenvergiftungen schliesst sich insofern den 
oben abgehandelten an, als auch sie im Allgemeinen eine schnell zum Tode 
führende Intoxication, eine acute Arsenvergiftung zur Folge hat. 

Vor Allen ist es auoh hier wieder die arsenige Säure in Substanz, die in 
Folge ihrer Aehnliohkeit mit anderen weissen Pulvern, besonders Zuoker, Salz, 
Stärke, Mehl, wiederholt Anlass zu schweren Vergiftungen gab. So gelangte bei 
der Würzburger Brodvergiftung l ) der sogenannte „englische“ Arsenik, der sehr 
feinkörnig ist, aus Versehen in den Teig. 

Trotz dieser gefährlichen Aehnlichkeit ist der Gebrauch des Arseniks im 
Haushalt auch unvermengt noch verbreitet, besonders aber in Mischungen mit 
Mehl, Zucker und Stärke, sei es zur Vertilgung von Ungeziefer im Hause oder 
von Parasiten bei Thieren, ja sogar bei Menschen. 

Hierher sind auch die Fälle zu rechnen, wo vergiftete Ratten in Brunnen 
fielen und dem Wasser das Gift mittheilten, oder wo Vergiftungen eintraten durch 
Genuss von Fleisch und Milch von Thieren, die mit Arsen behandelt waren oder 
durch Verwechselung reinen Getreides mit solchem, das, wie es besonders in 
Frankreich üblich ist, zum Schutz gegen Brandpilze oder zur Abhaltung der 
Mäuse mit arseniger Säure imprägnirt war (ohaulage des blöa), wie verschiedene 
Massen Vergiftungen durch Brod beweisen 2 ). Uebrigens ist die Behauptung von 
Andouard, dass er Arsen in der Kornähre gefunden habe, wenn das Saat¬ 
korn' vorher mit einer Lösung von arseniger Säure behandelt gewesen sei, durch 
Girardin widerlegt, der in mehr als 4 Pfund solchen Kornes kein Arsen nach- 
weisen konnte. 

Aber Tauben und Hühner auf dem Felde fressen diese vergifteten Körner 
der Saat und können so wieder für Menschen gefährlich werden. 

Auoh Eulen borg*) weist darauf hin, dass in der Nähe von Arsenfabriken 
der zuweilen in der Umgebung sich ausbreitende Arsenstaub auf Pflanzen, be¬ 
sonders Kartoffeln und andere Feldfrüchte, wie auf Geflügel derart schädlich ein¬ 
wirkt, dass sie zu Grunde gehen können. 

Der Gerichtsarzt muss ferner wissen, dass auch zur Abtödtung der Milben 
im Käse Arsenlösungen zuweilen gebräuchlich sind, dass beim Brodbaoken häufig 
englisohe Kunsthefe, die mit der in England officinellen Arsensalzsäure darge¬ 
stellt wird, Verwendung findet, dass das zum Heizen des Backofens gebrauchte 
Holz zuweilen mit Arsenfarben bemalt ist oder von Tonnen stammt, in denen 
Arsen verpaokt war, dass das beim Brodbaoken verwendete Alaun bisweilen 
arsenhaltig befanden warde; ferner dass im Wein Arsen enthalten sein kann 


*) Dr. Seisser im bayrischen ärztlichen Intelligenzblatt. 1869. No. 6. 
a ) Leroy des Barres. Virohow u. Hirsch, Jahresber. 1880. I. 560. 

9 ) Handbuch der Gewerbehygiene von Dr. H. Eulen lerg. 76. 


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Dr. Sohumburg, 


darob Ausspülen der Weinflaschen mit Schrot, welches fast immer das Qift ent¬ 
hält, oder durch Aasschwefeln der Fässer mit arsenhaltigem Schwefel. 

Aach zam Reinigen von Kesseln wird arsenigsaares Natron benutzt and so 
za Vergiftungen Anlass gegeben, wie der bei Taylor 1 ) beschriebene Fall zeigt, 
in dem 340 Schulkinder in London aaf diese Weise stark vergiftete Milch ge¬ 
nossen hatten. 

Aach finden aas Fahrlässigkeit in Drogaerieen, selbst Apotheken Verwechs¬ 
lungen des Arseniks mit unschädlichen Salzen, Mittelsalzen, Weinsäure, Crernor 
tartari noch recht oft statt. — Einen instructiven Fall fahrlässiger Vergiftung 
beschreibt Sonnenschein 2 ): Ein Wirth schenkte einem Gast eine Flasohe an¬ 
geblich mit Likör. Ein Sohluck führte den Tod des Gastes herbei. Im Magen 
wurden 1,35 gran arseniger Säure nacbgewiesen. Die Flasche enthielt Fliegengift. 

Ein zweiter Fall findet sich in Virchow’s Jahrbüchern 3 ) von Morley be¬ 
schrieben, bei dem 15 Personen an einem arsenikhaltigen Pudding erkrankten. 

4. Vergiftung bei Ausübung eines Gewerbes. 

In diesem Abschnitt betraohten wir die Gelegenheitsursaohen besonders zu 
chronischen Arsenvergiftungen. 

Bei dem gewaltigen Aufschwung der Metallindustrie in den letzten Jahr¬ 
zehnten ist es begreiflich, dass sowohl bei Darstellung des Arsens und seiner 
Präparate, wie auoh bei der Bearbeitung in den verschiedensten Gewerben eine 
grosse Anzahl von Arbeitern den Dämpfen des leioht flüchtigen und selbst in 
Staubform in kleinsten Dosen giftigen Metalloids ausgesetzt ist. Albert Ferrä 
hat in einer Tb&se pour le dootorat 4 ) eine grosse Zahl von Vergiftungsfällen 
dieser Art zusammengestellt. 

Die Sanitätspolizei waoht über die Ausführung und Erfüllung der vorge¬ 
schriebenen Sicherheitsmassregeln 3 ), der Gerichtsarzt dagegen kommt oft in die 
Lage, ein Gutachten abgeben zu müssen bei Vergiftungen, die ihre Ursache 
haben in einer sehr fahrlässigen Handhabung dieser Sicherheitsmassnahmen oder 
bei Anklagen wegen Beschädigung und Benachtheiligung durch Arsenikwerke, 
unter deren Staub und Dämpfen nioht nur Feldfrüohte, sondern auoh das Vieh 
und der Mensch leidet. 

Schon der Bergmann, der die arsenhaltigen Erze „pocht*, „ausklaubt* 
oder „fördert*, ist der Gefahr der Einathmung des arsenhaltigen Staubes aus¬ 
gesetzt, besonders bei den Erzen, die im Herbst gefördert, den Winter über ver¬ 
wittern und erst im Frühjahr verarbeitet werden. Die Hüttenarbeiter, die die 
Erze „aufbereiten*, sie in die Retorten füllen, in denen das Arsen in Dampf- 
form übergeführt und dann in die Giftkammern geleitet wird, sind sowohl beim 


*) Die Gifte. Deutsch von Seideler. 1863. II. S. 227. 

2 ) Handbuch der gerichtlichen Chemie. 1869. S. 118. 

®) 1873. I. S. 362. 

4 ) Arsenicisme professionel et arsönicisme domestique. Bordeaux 1882. 

B ) Verfügung des Ministers für Handel vom 10. Juni 1865, betreffend die 
Bereitung von Anilinfarben. 


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Ueber Arsenikvergiftung in geriohtsärztlicher Beziehung. 


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Füllen, beim Reinigen and Ausräumen der Retorten wie der Kammern in der 
grossen Gefahr, entweder den Staab des Arsens einzaathmen oder sogar den aas 
Undichten der Apparate entweiohenden Arsendampf, der sich an der Loft bald 
sa arseniger Säure oxydirt. 

Selbst der so äasserst gefährliche Arsen Wasserstoff bildet sich in Silber¬ 
hätten aas dem benutzten, meist arsenhaltigen Zink, er findet sioh auoh in Eisen¬ 
werkstätten, in denen Eisenblech verbleit oder verzinnt wird. Aehnlioh bildet 
sioh beim „Beizen" des Hessings flüchtiges Arsenohlorid, das eingeathmet durch 
Umsetzung in arsenige Säure giftig wirkt. 

Bier muss man auch der Opfer gedenken, die das Experimentiren mit 
Arsen Wasserstoff gefordert hat, unter ihnen der Entdecker des Gases, Professor 
Gehlen in München und Professor Brittan in Dublin, der Arsenwasserstoff für 
reinen Wasserstoff gehalten und nur wenige Athemzüge gethan hatte. 

Ferrö 1 * ) beschreibt weiter einen Fall, wo Händler mit rothen Gummibal¬ 
lons, die mit Wasserstoff gefällt werden, an Arsenwasserstoffvergiftung erkrankten 
in Folge unreiner Reagentien bei der Wasserstoffdarstellung. Dieselbe Beobach¬ 
tung maohte Wächter 3 ), eine ähnliche Frost 3 ), in welchem Falle 3 Arbeiter 
das Leben einbüssten. Interessant ist auch die Beobachtung von C. Bisohof 4 ), 
dass Schimmelpilze ans metallischem Arsen Arsenwasserstoff entstehen lassen 
können. 

Auoh bei der Königlichen Luftschifferabtheilung in Berlin sind, in Folge 
unreiner Reagentien znrWasserstoffentwiokelung, mehrere Fälle von Arsenwasser¬ 
stoffvergiftung vorgekommen, von denen zwei im Jahre 1888 im Garnisonlaza- 
reth II. Berlin tödtlich verliefen. 

Wenn nun auch nach Taylor 5 ) die Arbeiter daroh Verstopfen der Nase 
und Zuhalten des Mundes sich gegen die Einathmung des Arsenstaubes und 
-Dampfes zu sohützen suchen, so werden sie dooh äusserlich von allerlei Leiden 
heimgesucht, besonders an Theilen der Hant, wo sich Oeffnungen und Ein- 
senkungen befinden, Sorotum, Kinngrube, Nasen-, Mundwinkel, Furchen der 
Stirn etc. 

Obgleich deshalb manche Arbeiter nicht lange in den Arsenikwerken von 
Cornwall und. South Wales arbeiten können, so erfreuen sich doch die meisten 
80—30Jahre lang ungetrübter Gesundheit. Auch meint Hirt 6 ), dass der Gesund¬ 
heitszustand in Arsenwerken im Allgemeinen ein guter sei. Er führt besonders 
die Beobachtungen an den Arbeitern von Reichenstein in Schlesien an und hat 
zum Beweis den durchschnittlichen Sterblichkeitsprocentsatz und das durch¬ 
schnittliche Lebensalter beim Tode berechnet: Durchschnittlich starben von 
90 Arbeitern jährlich 1—2, das durchschnittliche Lebensalter stellte sich auf 
47,0 Jahre. 


l ) Ferrd, Arsdnioisme professionel. Bordeaux 1882. 

3 ) Diese Vierteljahrsschrift. N. F. Bd. 28. 

8 ) Diese Vierteljahrsschrift. Bd. 15. 

4 ) Diese Vierteljahrsschrift. N. F. Bd. 37. 

5 ) Die Gifte. Deutsch von Seideler. 1863. Bd. II. S. 306. 

a ) Hirt, Die Krankheiten der Arbeiter. Leipzig 1875. Bd. III. S. 160. 


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Dr. Schambarg, 


Die technische Verwendung der arsenigen Säure ist eine ganz bedeutende: 
Bei der Qlasfabrikation ist sie als billigstes Reduotionsmittel gebräuchlich, auch 
zum Entfärben der Gläser; in der Indigoindustrie reduoirt sie das Indigoblau zu 
Indigoweiss; in der Anilinfarbenfabrikation reducirt sie das Nitrobenzol, aus den 
Rückständen wird sie als arsensaures und theils als arsenigsaures Calcium wieder¬ 
gewonnen. 

Eine gefährliche Rolle spielt die arsenige Säure beim Ausstopfen von Thier¬ 
bälgen 1 ), in die sie meist in Form einer Seife (Böeoeur’sche Seife) eingerieben 
wird, aus denen sie aber, als berüchtigter Staub der Naturaliencabinete, auoh 
wieder austreten kann. 

Auch der Maler und Droguist, der sich mit der Herstellung arsenhaltiger, 
besonders grüner und gelber Farben befasst, der Tuohdrucker und Färber, der 
Kleiderstoffe mit grünen Mustern bedruckt und oft womöglich als Beize statt der 
Weinsäure Arsensäure benutzt, die Wäsoherin, die die Wäsche mit Smalte 2 ) 
bläut, der Fabrikant grüner Drahtgeflechte, die Arbeiterinnen in Fabriken künst¬ 
licher Blumen, in Tapeten- und Papierfabriken, der Tapezier, der die Tapeten 
anklebt, die Näherin, welche arsenhaltige Kleider anfertigt: Alle sind mehr oder 
weniger der giftigen Einwirkung der arsenigen Säure ausgesetzt. 

Neu und interessant ist ferner eine Beobachtung, die sich in der Medical 
news von 1889 findet, dass die beim Schatzamt in Washington angestellten 
Geldzäblerinuen durch das arsenhaltige Papier der Kassenscheine sowohl an 
localen Geschwüren wie allgemeinen Intoxicationsersoheinungen häufig erkranken. 

Auch die beiden Sulfide des Arsens, das Realgar und das Auripigment, 
entfalten schon bei ihrer Darstellung ihre giftige Wirkung auf den Hüttenarbeiter, 
später in den Gewerben auf den Maler. Tapeten- und Kattundrucker, denSchrot- 
giesser, den Arbeiter in Schellackfabriken*), wenn auoh die Sulfide von allen 
Arsenverbindungen als am wenigsten giftig gelten. 

Die durch Ausübung eines Gewerbes hervorgerufene Arsenvergiftung zeigt 
in den allermeisten Fällen, wie schon angedeutet wurde, dieSymptome der chro¬ 
nischen Vergiftung, selten die der acuten. Bezüglich der letzteren findet 
Hirt 4 ), dass von 10 Fällen 9 als Gastroduodenaloatarrhe, einer unter dem Bilde 
einer acuten Gehirnaffeotion verläuft. 

5. Vergiftung duroh Verfälschung von Lebensbedürfnissen. 

Die Anzahl von Vergiftungen, die unter diese Kategorie gehören, ist eine 
ausserordentlich grosse und gerade diese Arsenvergiftungen sind es, die, während 


*) The Lancet. 1890. S. 119. Barton: Two oases of arsenic. peripher, 
neuritis. 

2 ) Ueber die giftige Wirkung der blauen Stärke. Von Dr. Rosenthal za 
Ohlau. Diese Vierteljahrsschrift. Bd. 4. 

*) Taylor, Die Gifte. 1863. Bd. II. S. 215. 

*) Die Krankheiten der Arbeiter. 1875. Bd. III. S. 68. 


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Ueber Arsenikvergiftung in gerichtsärztlicher Beziehung. 


*293 


die Arsengiftmorde allmälig seltener werden, häufiger in der Neuzeit vor das 
Forum kommen. 

Leider hat das Gesetz den § 2 und 3 der Kaiserlichen Verordnung vom 
1. Mai 1882 auf Grund des §5 des Nahrungs- und Genussmittelgesetzes — welche 
Paragraphen die Verpackung von Lebensbedürfnissen in arsenhaltigen Materialien 
verbieten — in Rücksicht darauf nicht in Kraft treten lassen, dass sonst viele In¬ 
dustriezweige, wie Färbereien und Papierfabriken, schwer geschädigt werden 
würden. In Folge dessen stellt genannte Verfügung nur die Verwendung giftiger 
Farben zur Färbung von Lebensmitteln wie von Tapeten und Kleidern ab. Allein 
trotz dieses Verbotes werden Arsenfarben und andere Arsenpräparate noch reich¬ 
lich verwendet, wie aus den vielen deshalb angestrengten Processen hervorgeht. 

So färben oft Gonditoren, Metzger und Wursthändler Esswaaren und Würste, 
um ihnen ein besseres Ansehen besonders auf der Schnittfläche zu geben, mit 
Fuchsin') oder Cochenille, die meist nach dem Arsensäureverfahren hergestellt 
und deshalb arsenhaltig ist; es verdanken immer noch grüne oder rothe Ta¬ 
peten 2 ), Spielsachen und Hausgeräthe (Lamponscbirme, Fliegenspinde 3 ), Lösch- 
papier 4 )) ihre schöne Farbe den verschiedenartigsten, so zahlreichen weil wohl¬ 
feilen gelben 5 ) besonders aber grünen Arsenfarben (Schweinfurter-, Soheel’sches, 
Smaragd-, Braunschweiger-, Mineral-, Wienergrün etc.). So sagte ein Fabrikant 
zu Taylor 5 ), die Nachfrage nach diesen „hübschen“ Farben sei so bedeu¬ 
tend, dass sich der durchschnittliche Arsenikverbrauch wöchentlich bei ihm auf 
ungefähr zwei Tonnen belaufe. 

Ferner führte die wissenschaftliche Deputation für das Medicinalwesen zu 
Berlin in einem Gutachten „Ueber Arsenikfarben und deren Verwendung“ 6 ) aus, 
dass „es wenig Häuser giebt (im Jahre 1859), in denen nicht wenigstens die 
Wände eines Zimmers mit grünen, arsenikhaltigen Tapeten versehen oder mit 
grünen, arsenikhaltigen Farben angestrichen sind.“ Nun, Dank den Schlussfolge¬ 
rungen, welche die wissenschaftliche Deputation aus diesen Missständen zog, ist 
das jetzt anders geworden! 

Sehr reich ist auch die Zusammenstellung von Taylor 7 ) an Vergiftungs¬ 
fällen, welche hervorgerufen sind beim Bewohnen von Zimmern mit arsenhaltigen 
Tapeten oder Farben. 

Von Kleiderstoffen sind besonders die englischen und elsässischen Fabrikate 
immer noch zuweilen mit Mustern von Arsenfarben bedruckt. Auch als Fixir- 
mittel benutzt man hierbei statt des kostspieligen Eiweiss eine Mischung von 
essigsaurem Aluminium, Glycerin und arseniger Säure. Selbst in einem Futter- 


0 Unter 6 von Prof. Ludwig untersuchten Fuohsinsorten fand sioh nur 
eine arsenfrei. 

4 ) von Hofmann, Handbuch der gerichtlichen Medioin. S. 672. 

2 ) Otto, Ausmittelung der Gifte. 1884. S. 137. 

3 ) Sonnenschein, Gerichtliche Chemie. 1869. S. 153. 

4 ) Taylor, Die Gifte. 1863. Bd. II. S. 324. 

5 ) Taylor, Die Gifte. 1863. Bd. II. S. 331. 

6 ) Diese Vierteljahrssohrift. Bd. 16. S. 9. 

7 ) Die Gifte. Deutsch von Seideler. Bd. 11 S. 319. 


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Dr. Sohumburg, 


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Stoffe von schwarzer Farbe, der vermuthlioh auf gleiche Weise gebeizt wnrde, 
hat Seil 1 ) reichliche Mengen von Arsen gefunden. Auch Weinessig enthält ihn 
nach Taylor 2 ) zuweilen, wenn er durch Destillation essigsauren Natrons mit 
arsenikhaltiger Schwefelsäure, dargestellt wird. 

In Siegelmarken, zu deren Herstellung Scheel’sohes Grün benutzt war, fand 
M. Yvon 8 ) etwa 0,006 arseniger Säure. 

Hierher sind noch die Vergiftungen zu rechnen, die nach von Hasselt 4 ) 
von verbrennenden Stearinkerzen herrührten, denen arsenige Säure zugesetzt war, 
um sie härter und leuchtender zu maohen. Diese sogenannten Bougies de l’dtoile 
werden jetzt kaum mehr Vorkommen. 

Schliesslioh soll auch die vielfaoh in der Technik verwendete Bronoe arsen¬ 
haltig sein: N. J. Berlin 5 ) hat nun durch Untersuchung der verschiedensten 
Metalllegirungen festgestellt, dass Arsen im Messing wohl nicht in hinreichender 
Menge vorhanden ist, um Schaden verursachen zu können. Gefährlicher seien 
Zinkgefässe, besonders wenn sie für Miloh verwendet würden: Milch löse das 
Zink auf und das Arsen werde frei. 


6. Vergiftung durch unvorsichtigen und übermässigen Gebrauoh 

von Arzneien. 

Die Arsenpräparate werden sowohl innerlich wie äusserlicb in der Medioin 
verwendet, ln Deutschland wird innerlich wohl nur die Solut. Fowleri, höchstens 
nooh Acidum arsenioosum in Substanz gegeben, in Frankreich noch die Solutio 
Pearsonii oder Biettii (Natron- und Ammoniumsalz), seltener der Liq. Donavani 
(Jodarsen) und das arsenigsaure Bromkali. 

Vergiftung durch äusserliohe Anwendung 6 ) kommen vor durch den unvor¬ 
sichtigen Gebrauch verschiedener Pasten als Aetzmittel, wie Pulvis Cosmi, Hell- 
mund’sche Salbe, des Dupuytren'scben Arsenpulvers, wovon Böhm, Henning, 
Möan, Bayard, Ferme, Roux, Gooper, Küchler, Taylor 7 ) und Andere 
Beispiele erzählen, ferner durch Anwendung von Seifen (Bdcoeur’s Seife). Po¬ 
maden (cröme parisienne), Schönheitsmitteln, Pudern und Salben gegen Unge¬ 
ziefer — besonders ist in England bei Hirten und Schäfern eine Mischung von 
Arsenik, sohwarzer Seife und Theerwasser bekannt —, durch Anwendung der 
Gigarettes arsenicales von Boudin und Tronsseau. 

Ferner liegen auoh Fälle von Vergiftungen vor duroh das sogenannte Rusma, 
ein besonders im Orient beliebtes Depilatorium, welches in einem Gemenge 
anderer Stoffe auoh Arsentrisulfid enthält, ferner duroh Anwendung von Arsen- 


*) Otto, Ausmittelung der Gifte. 83. 

2 ) Die Gifte. 1863. Bd. II. S. 286. 

8 ) Diese Vierteljahrssohrift. N. F. Bd. 40. S. 401. 

4 ) Husemann, Handbuch der Toxioologie. 1867. S. 817. 
s ) Schmidt’s Jahrbücher. Bd. 192. S. 130. 

6 ) Handbuch der Tolioologie von Husemann. 1867. S. 819. 

7 ) Die Gifte. Deutsch von Seideler. 1863. Bd. II. S. 210. 


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Ueber Arsenikvergiftung in gericbtsärztlicher Beziehung. 


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Präparaten als Aboitivmittel. als welche sie hier und da vom Volke angesehen 
and angewendet werden'). 

Wenn nan auch medicinale Arsenvergiftungen dadurch zu Stande kommen 
können, dass dem Apotheker eine Verwechselung, dem Arzt ein Schreibfehler 
unterläuft, so ist doch der häufigste Fall der, dass entweder die illegaliter vom 
Apotheker reiterirte Uedicin lange Zeit hindurch fortgenommen wird, oder dass 
Quacksalber gefährliche Ordinationen treffen. 

Von der ersten Art ist dem Verfasser selbst ein Fall in der Privat¬ 
praxis vorgekommen: Ein älterer Mann, Elsässer, der vor einigen Jahren von 
einem inzwischen versetzten Collegen Solutio Fowleri verschrieben bekommen 
hatte, brauchte P /2 Jahr lang seine Tropfen weiter. Heftige, stark juckende 
Eczeme fast über den ganzen Körper veranlassten ihn sogar, immer einen 
Tropfen von Zeit zn Zeit der Dosis znzulegen. Das Anssetzen der Tropfen 
bei geeigneter Hautpflege Hessen das Eozem bald verschwinden, und der 
„deutsohe Arzt“ stand seitdem in hohem Ansehen bei den elsässisohen Ein¬ 
wohnern. 

Ob die oft von Quacksalbern auf die Haut gebrachten Aetzpasten, die all¬ 
mählich dieHant zerstören und dann resorbirt werden können, auch durch die un¬ 
verletzte Haut Arsen an das Blnt abgeben, ist eine noch ungelöste Frage, die 
Kaposi und mit ihm Rossbach 3 ) verneinen, die dagegen Masohka 8 ) min¬ 
destens als noch zweifelhaft bezeichnet. 

Letzterer referirt 8 ) einige instructive Beispiele, die den Gerichtsarzt inso¬ 
fern interessiren, als bei einigen wegen fahrlässiger Tödtung durch äussere An¬ 
wendung von Arsenpräparaten Anklage erhoben wurde: 

1. Ein Mann brauohte gegen Scabies Waschungen mit einem Wasser, in 
dem Arsen gekocht war; Blasenbildung, Gastroenteritis, Tod am 5. Tage. 

2. Zwei kleine Kinder wurden gegen Wundsein mit Veilchenpulver be¬ 
streut, das ans Versehen 38 pCt. Arsen enthielt; beide starben. 

3. Einer Frau mit chronischer Mastitis, welche für Krebs gehalten 
wurde, applioirte ein Quacksalber eine Arseniksalbe, nachdem er vorher ein 
Blasenpflaster gelegt hatte. Tod nach wenigen Tagen unter den Erscheinungen 
einer schweren Arsen Vergiftung. 

Soviel über die gelegentlichen Ursachen der Arsenvergiftung, die 
der Gerichtsarzt nothwendig alle gegenwärtig haben muss, um auf 
die unter Umstanden recht versteckte Ursache einer Arsenvergiftung 
aufmerksam zu werden. Die Möglichkeit einer Intoxication durch 
Arsen nun zur unumstösslichen Gewissheit zu erheben, ist die vor- 


') Diese Vierteljahrsschrift. N. F. Bd. 43. S. 353. „Vortäuschung einer 
Arsenikvergiftung“ von Prof. Ludwig und Mauthner. 

3 ) Nothnagel-Rossbach, Arzneimittellehre. 1880. S. 212. 

8 ) Handbuch der geriohtliohen Medicin von Maschka. 1882. II. Bd. 
S. 238. 


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Dr. Schomburg. 


nehmste Aufgabe des Gerichtsarztes und die unsrige soll jetzt sein, 
festzustellen, welche Hiilfsmittel der jetzige Stand der medicinischen 
Wissenschaft demselben bietet, um die Diagnose einer stattgehabten 
Arsen Vergiftung sicher zu stellen. 

Der Wege, auf denen schon die ältere gerichtliche Medicin den 
Nachweis einer Vergiftung zu führen suchte, sind im Wesentlichen 
vier. Dieselben sind von unseren überaus sorgsam beobachtenden 
älteren Gerichtsärzten, Husemann, Casper, Taylor, Orfila, 
Tardieu, von Hofmann, Liman, derartig uns Jüngeren geebnet, 
dass wir dieselben zuversichtlich betreten können und nur, mit Hülfe 
der Neuerungen der Wissenschaft, hier und da ein abgenutztes Stern¬ 
chen im Wege beseitigen, eine kleine Lücke dort auszufüllen brauchen. 

Diese vier Arten des gerichtlich-medicinischen Nachweises der 
Vergiftung will auch ich meiner Bearbeitung zu Grunde legen, nämlich 

1) die Krankheitserscheinungen im Leben, 

2) den Sectionsbefund, 

3) den physikalischen und chemischen Nachweis, 

4) die besonderen Indicien des Falles. 

(FortcetsvDg und Schlusa folgt.) 


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Superarbitrium 

der K. Wissenschaft!. Deputation für das Medicinalwesen, 

betreffend fahrlässige Tödtaag bei der Eatbiadaag. 

(I. Referent: Olahftuaen.) 

(II. Referent: Piator.) 


Ew. Excellenz haben durch Rescript M. 18147 vom 23. November 
d. Js. von der gehorsamst Unterzeichneten Deputation ein Obergut¬ 
achten erfordert in Sachen der Voruntersuchung gegen den praktischen 
Arzt Dr. H. zu K. wegen fahrlässiger Tödtung, welches wir unter 
Rücksendung der Acten in Folgendem erstatten: 

Geschiohtserzählung. 

In der Nacht vom 17. zum 18. Juni d. J. rief der Miillermeister G. F. in 
Gr. die 76jährige Hebamme W. N.-zur Entbindung seiner Frau, welohe zuvor 
schon viermal und ohne Kunsthülfe geboren hatte. Die Hebamme, noch vor 
Mitternacht in der Wohnung des F. angelangt, fand die Ehefrau desselben in 
heftigen Wehen und das Kind in Steisslage sich zur Geburt stellend. Nach ganz 
kurzer Frist wurde die untere Hälfte des Rumpfes geboren, welcher unter ge¬ 
ringer Naohhfilfe seitens der Hebamme auch die obere Hälfte des Rumpfes mit 
den Armen folgte. Um den Kopf zu entwickeln, will die Hebamme zwei oder drei 
Mal kräftig mit den hakenförmig über die Schultern gelegten Fingern gezogen 
haben (Bl. 19 and 39 v.). Während dessen hielt eine Nachbarin, Frau Sch., das 
Kind an den Füssen und will, nach Aufforderung durch die Hebamme daran auoh 
gezogen haben, jedoch nur ein einziges Mal und ohne grosse Kr&ftanstrengung 
(Bl. 42). Als die Bemühungen der Hebamme erfolglos blieben, verlangte sie 
ärztliche Hülfe, und der F. holte nun den Dr. H. aus K. Dieser Letztere war 
noch nicht im Bett, weil er in seinem Hause Gäste gehabt hatte. Dr. H. ging 
sofort mit dem F. und traf in dessen Wohnung zwischen 2 und 3 Uhr Nachts ein. 

Während der bis zur Ankunft des Beklagten verfliessenden zwei Stunden 
hat die Kreissende, naoh Aussage der Hebamme, ruhig im Bett gelegen, eine 


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Snperarbitriam der Königl. wissenschaftlichen Deputation. 


Tasse Kaffee getrunken, nicht über heftige Schmerzen geklagt, auch nicht ge¬ 
blutet, noch Ohnmachtsanwandlungen oder sonstige Symptome innerer Blutung 
gezeigt (Bl. 38t., Bl. 39). 

Der Beschuldigte untersuchte nach seiner Ankunft die Kreissende — ob 
auch äusserlich, ist aus den Acten nicht deutlich ersichtlich; dooh giebt die Heb* 
amme an, der Beschuldigte habe die Frau F., ehe er an die Operation ging, auf 
den Leib gefasst (Bl 93), während der Ehemann dies leugnet (Bl. 94 v.), ebenso 
Frau Sch. (Bl. 95). Er legte sie sodann auf einen Tisch und versuchte die Zange 
anzulegen. Beim ersten Versuch gelang ihm der Schluss der Zange nicht; bei 
den weiteren Versuchen scheint dies gelungen zu sein; doch blieb es beim Ver¬ 
such der Zangenentbindung. Der kindliche Schädel folgte nicht. Der Beklagte 
giebt an, die Zange nicht öfter als dreimal angelegt zu haben (Bl. 25 v. und 
Bl. 53 v. und BI. 99 v.), während die Zeugen sämmtlich bekunden, dies sei min¬ 
destens 10mal geschehen (Frau N. Bl. I9v. und Bl. 23 und 93, Frau Scb. 
Bl. 42, F. Bl. 94t.). Doch fügte die Zeugin Frau Sch. hinzu, der Beschuldigte 
habe die Zange nicht zum Schluss gebraoht. Die Entbindungsversuche sollen 
nach Aussage der Zeugin U. 2 Stunden ohne jede Unterbrechung gedauert haben 
(Bl. 40t.). Dasselbe bekundet Frau N. (Bl. 19 t.). 

Die Kreissende verlor bei den Zangenversuchen nicht unerheblich Blut, wie 
Frau N. (Bl. 20) und Frau Sch. (Bl. 42) übereinstimmend bekunden. 

Hach den vergeblichen Versuchen, mit der Zange zum Ziel zu kommen, 
schnitt der Beschuldigte den Rumpf vom Kopf ab. Er selbst giebt an, schon bei 
seiner Ankunft die Wirbelsäule des Kindes durchgerissen und den Kopf mit dem 
Rumpf nur durch drei Finger breite Weichtheile verbunden gefunden zu haben. 
Nach der erfolgten Abtrennung des Rumpfes brachte der Beschuldigte seinen 
Arm bis zum Ellenbogen in die Geburtstheile der Frau, konnte jedoch auch auf 
diese Weise den Kopf nicht hervorholen. Er erklärte jetzt ohne Assistenz und 
Ghloroformnarcose,. welche bisher nicht zur Anwendung gekommen war, Frau F. 
nicht entbinden zu können und ordnete an, dass zum Dr. P. in U. geschickt 
werden solle. Er verliess dann um 5 Uhr Morgens die Kreissende und gab an, er 
werde am Vormittag um 11 Uhr wieder kommen. 

Der unterdessen herbeigerufene Dr. P. traf bereits um 10 Uhr Vormittags 
bei Frau F. ein. Als um 7 2 12 Uhr Mittags Dr. H. noch nicht wieder erschienen 
war, wurde er telegraphisch gerufen und traf alsbald ein. 

Dr. P. will bei seinem Eintreffen die Kreissende in einem bedrohlichen 
Zustande, mit 130 Pulsschlägen über starke Leibschmerzen klagend gefunden 
haben. 

Er hat deshalb nicht gewagt sie innerlich zu untersuchen. — Doch konnte 
er durch äussere Untersuchung feststellen, dass der rechts in der Lebergegend 
befindliche Kopf des Kindes einen ungewöhnlich grossen Umfang hatte, und dass 
die Kopfknooben mindestens 2 Finger breit aus einander standen, woraus auf 
starken Wasserkopf zu schliessen war (Bl. 5 und 91). Er will diese Diagnose 
auch dem Dr. H. mitgetheilt haben. 

Diesen Aussagen des Dr. P. stehen diejenigen des Beklagten direct ent¬ 
gegen. Derselbe behauptet (Bl. 99v.): „Als ioh Frau F. verliess (nämliob 5Uhr 
Morgens), war sie zwar erschöpft, aber völlig bei Bewusstsein und verlor kein 
Blut“ und (Bl. 100): „als ich am nächsten Vormittag wieder an das Bett der 


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betreffend fahrlässige Tödlung bei der Entbindung. 


299 


Frau F. trat, fand ioh sie durchaus nicht in dem von Dr. P. beschriebenen, 
elenden Zustande. Ich habe ihren Puls gefühlt und nicht mehr als 80 Sohl&ge 
p. M. gezählt, auch das Thermometer in die Achselhöhle gelegt und normale 
Körperwärme festgestellt. Es ist unwahr, dass mir Dr. P. gesagte hätte, es läge 
ein Wasserkopf vor. Er meinte nur, als ioh in das Zimmer trat, es sei ein sehr 
grosser Kopf vorhanden. * 

Mit dieser letzteren Aussage stimmt diejenige der Zeugin U. überein, welche 
sagt (Bl. 41): „Davon, dass das Kind einen Wasserkopf hätte, hat Dr. P. über¬ 
haupt Niohts gesagt.“ Und später: „Dr. P. hat überhaupt von Wasserkopf auch 
nachher nicht gesprochen; vielmehr hat der Beschuldigte, nachdem er meine 
Tochter untersuoht hatte, nachher erklärt, es müsse ein starker Wasserkopf 
da sein.“ 

Zum Zweoke der Entbindung wurde nun duroh Dr. P. die Kreissende oblo- 
roformirt. Alsdann versuchte der Beklagte zunächst nochmals vergeblich die 
Zange, dann ebenso vergeblich den Haken und untersuchte dann nochmals durch 
Eingehen mit der Hand. Jetzt kam er auf die richtige Diagnose und perforirte 
den vorhandenen Wasserkopf. 

Es flössen nach Angabe des Dr. P. und der Frau N. etwa 2 Liter Wasser 
aus; nach Angabe des Beschuldigten nur etwa Va Liter. Den zusammengefal¬ 
lenen Kopf, dessen Umfang sich später, bei der Obduction, noch auf 55 cm her¬ 
ausstellte, konnte der Beklagte jetzt mittelst einer „Stiftzange“ und des ge¬ 
krümmten Fingers herausbefördern. 

Während dieser im Ganzen 40 Minuten dauernden Entbindungsmanöver 
verlor die Kreissende viel Blut. Sie hatte einen sehr kleinen Puls bekommen und, 
wie Frau N. angiebt, „den Athem verloren“. Gegen 3 Uhr Nachmittags ent¬ 
fernten sich die Aerzte; die Hebamme erst 9 Uhr Abends. Die Wöobnerin war 
in dieser Zeit sehr schwach, verlangte immerfort zu trinken, brach aber das 
Genossene wieder aus. Der Tod erfolgte etwa 10 Stunden nach der Ent¬ 
bindung. 

Am 16. Juli, genau 4 Wochen naoh der stattgehabten Entbindung, wurde 
die Leiche der Frau F. exhumirt und durch den Kreisphysikus Dr. Sch. und den 
praktischen Arzt Dr. E. seoirt. * 

Für die Ermittelung der Todesursache kommen nur wenige Nummern des 

Seotionsprotocolls in Betraoht, nämlich No. 29.Nachdem der Kehlkopf 

aufgeschnitten ist, findet sich in demselben in der Mitte eine Zahnwurzel von der 
Länge eines halben Centimeters, welche asservirt wird. (NB.: Sie befindet sioh 
bei den Acten.) Die Kehlkopfsohleimhaut, wie die des oberen Theils der Luft¬ 
röhre ist sohmutzigroth verfärbt, zeigt keine Gefässentwiokelung und auch keinen 
weiteren Inhalt. 

No. 46. Bei äusserer Besichtigung der Geschlechtsorgane (nämlioh von der 
Bauchhöhle aus) fällt schon in’s Auge ein auf der rechten Seite der Gebär¬ 
mutter verlaufender Längsriss. Bei Aufsohneiden der Scheide ergiebt sioh, dass 
dieser Riss sich an der rechten Vorderseite der Scheide bis in die Mitte derselben 
erstreckt. 

No. 48. Der oben erwähnte Riss hat eine Länge von 18 om. Davon ent¬ 
fallen auf die Scheide 4 cm, auf den Halstheil der Gebärmutter 10 om, der Rest 
auf den Gebärmutterkörper. Die Randung des ganzen Risses ist unregelmässig, 


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Superarbitrium der Königl. wissenschaftlichen Deputation, 


an einzelnen Stellen, besonders am Körper, glatt, am Hals- und Soheidentheil 
mehr uneben. Die Randungen des Risses sind nioht blutig infiltrirt; das Bauch¬ 
fell an dieser Stelle ist fetzig abgerissen. — 

Die Obducenten geben ihr Gutachten nach Schluss der Seotion dahin ab: 
1) Denata ist in Folge einer umfangreiohen Zerreissung der Gebärmutter und der 
Scheide gostorben. 2) Die Zerreissung ist eine gewaltsame gewesen. 3) Ob 
diese Zerreissung durch die Schuld eines Dritten herbeigeführt ist, lässt sich 
durch die Ergebnisse der Section allein nioht feststellen, sondern erst naoh 
sorgfältiger Ermittelung des Geburtsverlaufs und der Manipulationen der Ge¬ 
burtshelfer. 

Auf die Frage des Richters, ob der constatirte Gebärmutterriss etwa spon¬ 
tan, durch eine Wehe, verursacht sein könne, erklärt der Kreisphysikus Dr. Sch.: 
„ich halte diese Möglichkeit nicht für ausgeschlossen*. Dagegen Dr. E.: Auch 
ich glaube, dass hochgradige Wehen bei schweren Geburtshindernissen einen Ge¬ 
bärmutterriss hervorrufen können; kaum aber meines Eraohtens einen Riss von 
derartiger Ausdehnung, wie sie der heute von uns Vorgefundene hat. 

Ein schriftliches, motivirtes Gutachten der Obducenten, auf welches die¬ 
selben als erforderlich hingewiesen hatten, findet sioh zu unserem Bedauern in 
den Acten nicht und scheint auch dem Königlichen Medioinaloollegium nicht Vor¬ 
gelegen zu haben. 

Unter dem 15. September d.J. erstattete das Königliohe Medioinalcollegiom 
zu B. ein Gutachten, welches seine Schlüsse nicht unter bestimmten Nummern 
kurz zusammen fasst. Die Hauptresultate sind aber folgende: Frau F. ist an den 
Folgen des Gebärmutterrisses gestorben. Spontan konnte bei dem geschilderten 
Geburtsverlauf eine Ruptur nicht entstehen. Vor Allem ist die Anlegung der 
Zange als Grund der Verletzung zu beschuldigen. Die Anlegung der Zange beim 
Wasserkopf ist ein Kunstfehler. Das Verkennen des Wasserkopfes trotz längerer 
Operation war ein Kunstfebler; denn die Diagnose ist so leicht, dass wenn der 
Arzt überhaupt daran denkt, er auch die Diagnose stellen kann und muss. Die 
falsche Diagnose hatte eine falsche Behandlung, die falsche Behandlung die Ver¬ 
letzung und den Tod der Frau zur Folge. Ob in dem Handeln des Beschuldigten 
eine FahrlässigkeK in dem Sinne des § 222 des Strafgesetzbuchs liegt, ist eine 
juristische Frage, welche das Medicinaloollegium dem Richter zu beantworten 
überlässt. 

Das Medioinalcollegiom sohliesst sein Gutachten damit, dass es als wün¬ 
schenswert!) bezeichnet, noch über eine Anzahl bestimmt bezeiohneter Punkte 
nähere Aufklärung zu erhalten. 

Nachdem die erforderten Reoheroben durch nochmalige Vernehmung der 
Zeugen angestellt worden und das Medicinaloollegium von den Resultaten Kennt- 
niss genommen, kommt dasselbe in seinem zweiten Gutachten vom 10. November 
zu folgenden formulirten Schlusssätzen: 

1. Die Ursache des Todes der Frau F. war ein Riss in der Gebärmutter. 

2. Das Entbindungsverfahren des Dr. H. war der Grund des Gebär¬ 
mutterrisses. 

3. Das Entbindungsverfahren war falsch. 

4. Die Wahl des falschen Verfahrens war die Folge der falschen Dia¬ 
gnose d. h. des Niobterkennens des Wasserkopfes. 


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betreffend fahrlässige Tödtung bei der Entbindung. 


301 


5. Bei Anwendung der Aufmerksamkeit und Faohkenntniss, za der 
Dr. H. vermöge seines Berufes verpflichtet war, musste er spätestens 
nach der festgestellten Erfolglosigkeit seines Entbindungsversuches 
die richtige Diagnose stellen. 

Unter dem 16. November erbittet nunmehr das Königliohe Amtsgericht zu 
Q. ein Obergutachten der Wissenschaftlichen Deputation darüber, 

„ob der Angeschaldigte bei der Behandlung der Frau F. schuld¬ 
hafter Weise einen Kunstfehler begangen hat, und ob der Tod der 
Frau F. auf diesen Kunstfehler zurückzuführen ist.“ 


Gutachten. 

Wir haben zunächst die Todesursache festzustellen: 

Als solche kann nur der Gebärmutterriss in Frage kommen. 
Der Befund des bei den Acten befindlichen Zahnes im Kehlkopf 
kann zur Erklärung des Todes nicht herangezogen werden, da von 
Erstickungserscheinungen Nichts beobachtet worden ist, während die 
Krankheitserscheinungen durchaus mit den Symptomen einer Gebär- 
mutterzerreissun g ü berei nstimmen. 

Die zweite zu beantwortende Frage ist die nach der Entstehungs¬ 
weise und Entstehungszeit der Zerreissung. Bezüglich der Zeit ist 
nicht anzunehmen, dass die Zerreissung vor den zweiten Entbindungs¬ 
versuchen, welche Dr. H. am Vormittag, in Gegenwart des Dr. P. 
vornahm, zu Stande gekommen ist; denn, wie die Hebamme N. be¬ 
zeugt, ist in der Zwischenzeit zwischen den operativen Eingriffen in 
der Nacht und am anderen Mittag keine Blutung gewesen. Auch hat 
die Kreissende nicht die Zeichen innerer Blutung gehabt und auch 
nicht über erhebliche Loibschmerzen geklagt. 

Erst bei den Entbindungsversuchen am anderen Mittag hat Frau 
F. übermässig stark geblutet und wurde nach vollendeter Entbindung 
bnwusstlos. 

Es ist hiernach wohl nicht zu bezweifeln, dass die Ruptur bei 
den Entbindungsversuchen eintrat, welche der Beklagte am 18. Mit¬ 
tags unternahm; aber ob dies während und durch die Zangenversuche 
geschah, oder vielleicht dann, als der Beschuldigte zum Zweck der 
genaueren Untersuchung die ganze Hand in die Geburtstheile ein¬ 
führte, ist nicht mit völliger Sicherheit zu entscheiden. Das Erstere 
ist das Wahrscheinlichere. 

Der nicht zu entschuldigende Fehler des Beklagten lag, wie 
schon das Königliche Medicinalcollegium ausgeführt hat, in dem Ver- 

Vierteljabretchr. f. ger. Ued. Dritte Folge. V. 9. 20 


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302 


Superarbitrium der König!, wissenschaftlichen Deputation. 


kennen der Diagnose. Ist auch der Wasserkopf, zumal wenn der 
Rumpf des Kindes zuerst geboren wird, nicht immer sofort zu er¬ 
kennen, so muss doch bei jedem erheblichen Wasserkopf, wie er hier 
vorlag, die Diagnose sich durch die äussere Untersuchung stellen 
lassen. Darin lag der Kunstfehler des Beklagten, dass er diese ver¬ 
säumte (Bl. 91v.). Zumal nach den vergeblichen Zangenversuchen 
war eine genauere Untersuchung doppelt geboten und hätte ohne 
Zweilel zur richtigen Diagnose und damit auch zur richtigen Behand¬ 
lung geführt, wie sie der Beklagte zuletzt ausführte, als es zu spät war. 

Zur milderen Beurtheilung des diagnostischen Irrthums muss je¬ 
doch hervorgehoben werden, dass Wasserköpfe unter der Geburt zu 
den selteneren Ereignissen gehören. Wie dem Beklagten früher kein 
einziger derartiger Fall vorgekommen war, so erlebt mancher be¬ 
schäftigte Geburtshelfer im Laufe seines ganzen Lebens keinen ein¬ 
zigen derartigen Fall. Es wird dadurch eher begreiflich, wenngleich 
nicht entschuldbar, dass der Beklagte garnicht auf den Gedanken 
eines solchen Geburtshindernisses kam. 

Alle übrigen Punkte, welche aus den Acten hervorgehen, sind 
für die Beurtheilung der Schuld des Beklagten gleichgültig und be¬ 
dürfen deshalb der Erörterung nicht weiter. 

Es kann keine Frage sein, dass Denata, wenn rechtzeitig d. h. 
in der Nacht oder wahrscheinlich auch noch am Mittag des 18. Juni 
die richtige Behandlung eingeschlagen worden wäre, ihr Leben nicht 
eingebüsst hätte. Lediglich dem Verkennen des Geburtshindernisses 
seitens des, wie mit Blindheit geschlagenen, Beklagten führte zu der 
kunstwidrigen Behandlung und dem tödtlichen Ausgang. 

Wir geben unser schliessliches Gutachten dahin ab: 

1. Frau F. ist in Folge des Gebärmutterrisses gestorben. 

2. Der Riss war die Folge des kunstwidrigen Entbindungsver¬ 
fahrens, welches der Beklagte einschlug. 

3. Lediglich das Nichterkennen des Wasserkopfes führte zu der 
kunstwidrigen Behandlung. 

4. Bei gehöriger Aufmerksamkeit, zu welcher der Beklagte in 
Folge seines Berufes verpflichtet war, und bei ruhiger Ueber- 
legung hätte er rechtzeitig die richtige Diagnose stellen können. 

Berlin, den 7. December 1892. 

(Folgen die Unterschriften.) 


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7. 

Eia weiterer Fall toi Siwilatioi toi Schwächste bei 
besteheider Geistesstftriig* ‘) 

Motivirtes Gutachten 

von 

Dr. Cleaeiu Keiner, 

(Jberar/.t an der Provlmial-Irrenanstalt zu Leubus. 


Den nachfolgenden Fall halte ioh ans zwei Gründen der Mittheilang für 
werth. Einmal scheint es in weiteren ärztliohen Kreisen und wohl auoh manchen 
Gerichts- and Gefängnissärzten noch immer nicht hinlänglich bekannt zu sein, 
dass zweifellos geisteskranke Individuen garnicht so selten psychische Krank¬ 
heitserscheinungen simuliren und dass somit die Alternative: Geistes¬ 
kranker oder Simulant? keineswegs immer eine richtige Frage¬ 
stellung bildet. Sodann aber ist von mir in diesem Falle zur Erkennung des 
Geisteszustandes meines Wissens zum ersten Male ein Hülfsmittel ver¬ 
wertet worden, dessen Anwendung durch Sachverständige sich öfters empfehlen 
dürfte, nämlich die Berücksichtigung der verschiedenartigen Reactions- 
weise gesunder und kranker Gehirne auf Opiate. 

Ueber den betreffenden Fall habe ioh seiner Zeit im Aufträge meines ver¬ 
ehrten Chefs, des Herrn Sanitätsrath Dr. Alter, ein motivirtes Gutachten aus¬ 
gearbeitet und mit seiner gütigen Erlaubniss gebe ioh dasselbe hier — mit 
einigen Kürzungen — dem Wortlaute nach wieder. 

Leubus, den 19. October 1889. 

Gemäss Ersuchens des Königlichen Herrn Ersten Staatsanwalts zu Gl. vom 
22. Juli d. J. gebe ich über den Geisteszustand des Goldarbeitergehülfen PaulR. 
aus 0. das nachstehende ausführlich motivirte ärztliohe Gutachten ab. 

Explorat, der Goldarbeitergehülfe Paul R., unehelich geboren am %ß. Fe¬ 
bruar 1867 zu 0., wurde am 26. Januar d. J. in Gl. in Untersuchungshaft ge- 

') Vergl. diese Vierteljahrsschrift Bd. 49, S. 64 und Bd. 62, S. 291. 

20 * 

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304 


Dr. Neisser, 


nommen, weil er dringend verdächtig erschien, zu wiederholten Halen seinem 
Principal, dem Goldarbeiter Ed. M. zu GL, Gold entwendet und zur Anfertigung 
von Ringen benutzt zu haben, welche er dann auf eigene Hand verkaufte. Am 
22. Mai d. J. wurde die Untersuchungshaft über den R. aufgehoben, da die Fort¬ 
führung derselben einer angeblich plötzlich aufgetretenen Gehirnkrankheit wegen 
nach ärztlichem Gutachten als bedenklich erschien. Er wurde an letztgedaohtem 
Tage in das städtische Krankenhaus zu Gl. aufgenommen. Ueber den Beginn 
der Krankheit wird berichtet, dass R. im Gefängniss plötzlich in der Zelle, welche 
er mit anderen Gefangenen gemeinschaftlich bewohnte, bewusstlos umgefallen 
sei; er habe nicht sprechen können und die Gesichtsmusculatur sei von krampf¬ 
haften Zuckungen ergriffen worden. Er wurde im Tragbette in das Lazareth ge¬ 
schafft und soll daselbst noch einige Tage in bewusstlosem Zustande verblieben 
sein, während deren ihm nur mit Muhe etwas flüssige Nahrung eingeflösst werden 
konnte. Danach sei seine freiwillige Beweglichkeit sowie die Sprache und die 
Neigung Speisen zu sich zu nehmen wiedergekehrt; indess sei er auoh nach¬ 
her sehr still, „dumpf brütend u geblieben und habe auf Fragen nur dürftige 
und zumeist confuse Antworten gegeben. Er behauptete, er heisse nicht „R. u , 
sondern „H. . . 1“, erzählte von dem Verluste seines grossen Reichthums, den er 
als Kaufmann erlitten habe, faselte von dem Verluste eines Buches und war 
weder zu einer zusammenhängenden Aussprache noch zu einer geordneten Be¬ 
schäftigung zu bewegen. Zeitweise sei er sehr furchtsam erschienen, äusserte-. 
„dort kommen sie! sehen Sie nur, sie holen miohl“ und ein paar Male habe er 
auch in der Nacht „getobt“. 

Am 13. Juni d. J. (so. 1889) wurde R. als Geisteskranker in die hiesige 
Provinzial-Irrenanstalt übergeführt, in welcher er sich zur Zeit noch befindet. 
Bei seiner Aufnahme war das Sensorium des Exploraten soweit frei, dass er 
Fragen, die an ihn gerichtet wurden, verstehen und beantworten konnte, wenn 
auch der Inhalt seiner Antworten mehrfach unriohtig war. Dieselben erfolgten 
sehr langsam und energielos und seine Art zu sprechen zeugte in Uebereinstim- 
mung mit seinem schlaffen Gesichtsausdruck und seiner schlechten Körperhaltung 
von hochgradiger Abgespanntheit. Aus der Seitens des Arztes mit dem Explo¬ 
raten bei seiner Aufnahme gepflogenen Unterredung führe ich Folgendes wört¬ 
lich an: 

(Wie heissen Sie?) „Paul H-1“ (falsch). 

(Wie alt sind Sie?) „28 Jahre“ (falsch). 

(Wann sind Sie geboren?) „28 Jahre“. 

(loh frage, in welchem Jahre Sie ge¬ 
boren sind?) „1860“ (falsch). 

(An welchem Datum?) „im März“ (falsch). 

(Woher kommen Sie heute?) „aus C.“ (falsch). 

(Was haben Sie dort gemacht?) „ich bin zu Besuch dagewesen“. 

Etwa 2—3 Stunden naoh seiner Aufnahme wurde Explorat, weloher in¬ 
zwischen gebadet und in’s Bett gelegt worden war, von demselben Arzte von 
Neuem untersucht. Er erklärte auf Befragen, dass er denselben nicht kenne und 
noch nie gesehen habe; hier befinde er sich seit ungefähr zwei MonatenI Ferner 
erzählte er, dass er in Breslau das Gymnasium besucht habe. Auf die Frage, 
welohes Gymnasium? erwiederte er: „nu das Gymnasium!“ Er sei bis zur Unter- 


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Simulation von Schwachsinn bei bestehender Geistesstörung. 305 

Tertia gekommen. Aufgefordert, die Namen der einzelnen Klassen zu nennen, 
vermag er dieselben nicht in der richtigen Reihenfolge anzugeben. Er habe 
lateinisch gelernt, aber Alles wieder vergessen. Griechischen Sprachunterricht 
habe er nicht gehabt, wohl aber französischen; indess auch davon wisse er nichts 
mehr. Die Antworten erfolgten auch bei dieser Unterhaltung sehr langsam und 
stockend; von selbst sagte er kein Wort. 

Die körperliche Untersuchung ergiebt, dass Explorat ein kleiner ver¬ 
wachsener Mann ist. Die Rückenwirbelsäule ist stark nach rechts verkrümmt, 
die Lendenwirbelsäule entsprechend nach links; die grösste seitliche Abweichung 
der ersteren von der Medianlinie beträgt 3'/, cm; die der letzteren ca. 2'/ 2 cm. 
Der Kopf ist auffallend gross aber normal configurirt; nur die Hinterbaupt- 
schuppe springt in plötzlicher und zu starker Krümmung vor. Die Gesichtshaut 
und die sichtbaren Schleimhäute sind blass, das Fettpolster ist reichlich. Die 
Musculatur schlaff. Im Gesicht und an den Extremitäten treten Lähmungserschei¬ 
nungen nicht hervor. Die Pupillen sind erweitert, aber beiderseits in gleichem 
Maasse und von guter Reaction auf Lichteinfall. Die Zunge wird langsam aber 
gerade und ohne Zittern herausgestreckt. Die Hautreflexe sind lebhaft, der Fuss- 
sohlenreflex deutlich gesteigert. Die Kniephänomene lassen sich nicht hervor- 
rufen, da Explorat die Spannung der Musculatur nicht zu überwinden vermag. 
Die Athmung ist ein wenig beschleunigt: 22 Respirationen pro Minute. Die 
Auscultation der Lunge und des Herzens lässt Abnormitäten nicht erkennen. 

In den ersten Wochen seines Hierseins kohnte Explorat in Gemeinschaft 
ruhiger Kranker belassen werden. Er wälzte sich zwar viel im Bett umher 
(— dauernde Bettruhe wurde aus therapeutischen Rücksichten angeordnet —), 
hielt auoh ab und zu leise Selbstgespräche, lief auch mitunter im Hemde an das 
Fenster, aber im Grossen und Ganzen verhielt er sich nioht störend und liess 
sich durch Ermahnungen der Aerzte und des Wartepersonals ohne Widerstreben 
beeinflussen. Gegen Ende Juli jedoch trat eine vermehrte Unruhe bei dem Ex- 
ploraten hervor, so dass er in eine andere Abtheilung dislocirt werden musste, 
in welcher er auch gegenwärtig noch sich befindet. Seine wirren Selbstgespräche 
wurden lauter, manchmal stiess er wie von Sohreck erfasst laute Schreie aus, 
sprang aus dem Bett heraus, warf die Zudecke weit von sich und liess sich in 
solchen Erregungszuständen erst durch die Application von Bädern oder durch 
Morphiumeinspritzungen einigermassen beruhigen. Stundenlang liegt Explorat 
in eigentümlichen Stellungen im Bett, indem er die Beine senkrecht an der 
Wand in die Höhe streckt oder dieselben zu anderen Zeiten in den Kniegelenken 
stark flectirt gegen den Leib hinaufzieht, dabei unausgesetzt mit den flachen 
Händen taktmässig auf die Oberschenkel klopfend. Der Blick ist zumeist starr 
in’s Leere gerichtet und die Lippen bewegen sich in leisem Selbstgespräch. Wird 
er in den Garten geführt, so geht er, um die anderen Kranken unbekümmert, 
mit gebücktem Kopfe in schnellem Schritte umher, fast andauernd leise vor sich 
hinsprechend. Seine spontanen Aeusserungen sind in der Regel unverständlich 
gewesen; nur ab und zu konnte man Sätze vernehmen, wolche er auch auf Be¬ 
fragen in sich ziemlich gleich bleibender Weise äusserte, dass er hier in Japan 
und dass der angrenzende Wald der Urwald sei, ferner dass er fortgesetzt „von den 
Frauen“ verfolgt werde und dass „die Frauen“ ihn umbringen wollen. Aehnliche 
Bemerkungen finden sioh auch zu wiederholten Malen in seinen Briefen, welche er 


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306 


Dr. Neisser, 


hier geschrieben hat and die im Uebrigen grösstentheils unleserlich and za- 


Am 14. Aagast d. J. führte ich mit dem Exploraten, weloher sioh gerade 
im Garten befand, das folgende Gespräch: 


(Wo sind wir hier?) 

(Was ist das für ein Haus?) 

(Sind Sie aach krank?) 

(Warum sind Sie denn hier?) 

(Warum und von wem?) 

(Durch welche Lügen?) 

(Wie lange sind Sie hier?) 

(In welchem Monat leben wir?) 

(Was sind Sie?) 

(Wo wurden Sie krank?) 

(Sie sind doch in’s Gefängniss gebracht 
worden? weshalb?) 

(Was haben Sie denn unterschlagen?) 
(Kennen Sie mich?) 

(Wo sind wir hier?) 

(Wo liegt Leubus?) 

(Früher sagten Sie, Sie wären in Japan? 
Ist das so?) 

(Sprechen denn die Leute in Japan 
deutsch?) 


»in Leubus“. 

„ein Krankenhaus“. 

„nein“. 

„verbannt bin ich“. 

„durch Lügen“. 

„durch Sohlingen und . .“ 

„seit anderthalb Jahren“. (!) 

„im Mai“. 

„Goldarbeiter“, 
keine Antwort. 

„wegen Unterschlagung“. 

„es sollte Gold gewesen sein“, 
„nein“. 

„Leubus“. 

„Schlesien“. 

„ja, ich sehe doch den Urwald“, 
„es wird verschieden gesprochen“. 


Schliesslich sei noch Einiges aus einer Unterredung hier mitgetheilt, welche 
am 25. August d. J. mit dem Exploraten geführt wurde: 


(Wie alt sind Sie?) 

(Wann geboren?) 

(Was haben wir jetzt für ein Jahr?) 
(Was für eineTageszeit ist denn jetzt?) 
(Was für eine Tageszeit?) 

(Jahreszeit?) 

(Was für ein Ort ist hier?) 

(Was ist das hier für ein Zimmer?) 
(Woher sind Sie gekommen?) 

(Wer hat Sie hierher verbannt?) 
(Weshalb?) 

(Kennen Sie mich?) 

(Wieviel ist 5 X 10?) 

(Wieviel ist 2X4?) 

(Soll von 100 um je 1 rückwärts zählen:) 


„26 Jahre“. 

„am 23. Februar 1860“. 

„1881“. 

„Mittwoch“. 

„Naohmittag“ (es war Vormittags 
'/ 2 10 Uhr!). 

„Frühling“. 

„Frankfurt“. 

„hier sind lauter Verbannte“. 

„ans Breslau“. 

„das Gericht“. 

„ich soll einen Mord begangen haben 
oder so was“. 

„ja aus der grossen Mühle der Buch¬ 
halter“. 

„5X10, 5X10 ist 60, 5X10 ist 15“. 

„2X4 ist 6, 2X4 ist 9, 2 X 4 
ist 6“. 

„100, 1, 98, 97, 94, 92, 90, 91, 93, 
94, 96, 99, 100“. 


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Simulation von Sobwachsinn bei bestehender Geistesstörung. 


307 


(Wiederholung derselben Aufgabe:) »100, 98, 97, 96, 94, 91, 80“. 
(Wann war der Krieg gegen Frank¬ 
reich?) »1880 und 81“. 


In dieser Weise erfolgten in jeder Unterredung mit dem Exploraten neben 
sehr vereinzelten richtigen Angaben eine Fülle von ganz verkehrten Antworten, 
und zwar, wie hervorgehoben werden muss, bei sehr einfachen Dingen, welche 
keineswegs ausserhalb des Bereiches der Kenntnisse und Fähigkeiten des R. 
liegen. Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass die Mehrzahl aller Antworten 
des Exploraten oder doch wenigstens sehr viele von demselben absichtlich 
falsch und mit dem Bewusstsein, etwas Verkehrtes zu produoiren, 
gegeben wurden. Namentlich deutlich geht dies aus seiner Art und Weise zu 
rechnen, aus den Angaben über seine Personalien, über die Jahreszeit, über sein 
Lebensalter u. dergl. mehr hervor. Es liegt hier ein plumper Versuch vor, sich 
für einen geistesschwachen und irrenMensohen hinzustellen, und wie die meisten 
ungeschickten Simulanten geistiger Störung verräth R. seine Absicht daduroh, 
dass er zu viel Verkehrtes und Unsinniges zu Tage fördert. Wenn wirklich eine 
geistige Störung eine so hochgradige Schädigung des intellectuellen Besitzstandes 
herbeigeführt haben würde, dass die einfachsten Personal fragen nicht mehr cor- 
rect beantwortet, die leichtesten Rechnenexempel nicht mehr richtig gelöst worden 
könnten, so würde dieser Verfall sich in dem Gesammtbilde der Person ganz 
anders ausgeprägt zeigen, und es würden vor allen Dingen nicht fast stets Ant¬ 
worten gegeben werden, welohe zwar falsch sind, aber doch deutlioh erkennen 
lassen, dass die Pointe und der Sinn der Frage richtig verstanden und verarbeitet 
worden ist. Gerade die Art von Antworten, wie sie Explorat giebt und als deren 
Prototyp ioh diejenige herausheben möchte, wonach der letzte Krieg „1880 und 
81“ stattgefunden habe, ist absolut charakteristisch für eine absichtliche Fäl¬ 
schung, für eine dreiste Simulation! 

Wenn nun berechtigterweise weiter gefragt wird, ob das Gesa'mmtverhallen 
des Exploraten durch diese Annahme der Simulation erklärt werden könne, so 
muss ich dies entschieden verneinen. Bei einem Menschen, welcher in Anklage- 
zustand sich befindet und mit grosser Wahrscheinlichkeit eine schwere Bestra¬ 
fung zu gewärtigen hat, könnte es ja plausibel erscheinen, wenn er als ein letztes 
Mittel, um sich zu exculpiren, die Simulation geistiger Störung wählen würde. 
In Wirklichkeit lehrt indess die Erfahrung, dass geistesgesunde Personen nur in 
sehr seltenen Fällen zu einem derartigen Versuche ihre Zuflucht nehmen und 
dass sie dann in der Regel nach sehr kurzer Zeit an der Schwierigkeit der Durch¬ 
führung ihrer Rolle scheitern, zumal die Wenigsten in der Lage sind, über hin¬ 
längliche Beobachtungen zu verfügen, um naturwahre Bilder liefern zu können. 
Dass Simulanten ihrVerbalten in gleichmässigerWeise durch Monate hindurch — 
Explorat befindet sich jetzt bereits 4 Monate in unserer Anstalt — fortzusetzen 
die Kraft finden, dürfte kaum Vorkommen. 

Aber nicht nur derartige allgemeine Erwägungen sind es, auf welche ich 
mein Urtheil, dass Explorat sich in wirklich geisteskrankem Zustande befindet, 
stütze, sondern die Betrachtung seines Verhaltens bietet hierfür ausreichende 
positive Anhaltspunkte. 


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308 


Dr. Neisser, 


Explorat ist der Herrschaft lebhafter Sinnestäuschungen unterworfen. — 
Wenn für diese Annahme nur die oft wiederholten Angaben des R. selbst in’s 
Feld geführt werden könnten, wie dass er Soldaten mit Flinten auf sich zu¬ 
kommen sehe oder lange Züge von Frauen, welche sich hin und her bewegten 
oder dass er seinen Hamen rufen und Drohungen ausstossen höre u. dergl. mehr, 
so wäre die Möglichkeit einer Täuschung nicht ausgeschlossen. Aber auch wenn 
Explorat selbst niemals eine diesbezügliche Aeusserung hätte laut werden lassen, 
so würde, wie ich bestimmt behaupten möchte, trotzdem jeder Irrenarzt von selbst, 
aus der Beobachtung seines Verhaltens heraus, das Bestehen intensiver Halluci- 
nationen diagnosticirt haben. Er machte stets den Eindruck eines psyohisch prä- 
occupirten, den wirklichen Vorgängen gänzlich entrüokten Mensohen; Anreden, 
Berührungen etc. scheinen ihn in der Regel aus einem Traumleben aufzuwecken, 
und oft gelingt es garnicht, seine Aufmerksamkeit auch nur vorübergehend zu 
fesseln. Nicht selten springt er, ohne jeden erkennbaren äusseren Anlass, ans 
dem Bett auf, läuft zum Fenster, sieht sich scheu und furchtsam nach allen 
Richtungen um, bleibt im Hemde mitten im Zimmer stehen und ist nur sohwer 
zu bewegen sich wieder hinzulegen. Zu anderen Zeiten verhüllt er sich durch 
Stunden den Kopf fest mit der Decke, wie es Gehörshalluoinanten zu thun pflegen, 
wenn sie ihren krankhaften Wahrnehmungen ungestört nachhängen wollen. Manch¬ 
mal blickt er durch lange Zeit starr mit angespanntestem Gesichtsausdruck auf 
einen Punkt an der Wand oder der Decke, und wenn er in einem solchen Zu¬ 
stande sich befindet, bleibt jeder Versuch ihn zu beeinflussen und die Aufmerk¬ 
samkeit abzulenken, z. B. durch Darreichung von Speisen etc., erfolglos. Wesent¬ 
lich ist ferner, hervorzuheben, dass sein Verhalten ein in keinerWeise anderes ist 
in Gegenwart oder in Abwesenheit der Aerzte. Auch in der Nacht, sofern er 
nicht zu schlafen vermochte, bot er ein ganz ebenmässiges Zustandsbild dar. 
Ferner muss betont werden, dass eine vorzügliche Uebereinstimmung seines Ge- 
sammtverhaltens, seines physiognomischen Ausdrucks, seiner Haltung, Sprech¬ 
weise und Bewegungsart mit dem kundgegebenen Inhalt seiner subjectiven 
Sinneswahrnehmungen vorhanden ist. Immer fast pflogt sich im Verein mit 
schreckhaften Hallucinationen eine mehr weniger hochgradige Hemmung in der 
psychomotorischen Sphäre auszubilden, und so zeigt anch der Explorat eine äusserst 
verlangsamte und mangelhafte Reaction auf psychische Reize, eine verringerte 
mimische Beweglichkeit, leise, zögernde, stockende Sprechweise und eine erheb¬ 
liche Herabsetzung der Initiative; er muss zum Waschen, zum Essen, zur Be¬ 
nützung des Abortes und überhaupt zu'jeder Verrichtung von aussen einen An¬ 
trieb erhalten. 

Von ganz besonderem Werthe für die Beurtheilung des 
Geisteszustandes des Exploraten ist ferner der Umstand, dass 
derselbe einer medicamentösen Einwirkung unterzogen wurde, 
welohe sehr geeignet ist zwischen einem gesunden und einem kran¬ 
ken Nervensysteme unterscheiden zu lassen. Explorat erhielt nämlich 
hier durch längere Zeit in täglich gesteigerter Dosis innerlich Opiumtinctur, bis 
er schliesslich die Höhe von 75 Tropfen pro Tag erreichte, ohne dass die ge¬ 
ringste Aenderung in seinem Zustande zu Tage trat. Es ist nioht anzunehmen, 
dass ein gesundes Gehirn von derartiger eingreifender Medication in seinen 
Verrichtungen ganz unbeeinflusst hätte bleiben können, während es eine Er- 


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Simulation von Schwachsinn bei bestehender Geistesstörung. 309 

fahrnngsthatsache ist, dass mit krankhaften psychischen Aufregungszuständen 
behaftete Individuen eine ausserordentliche Resistenzfähigkeit gegen Opiate be¬ 
sitzen. 

Endlich weise ich darauf hin, dass nach dem Bericht des Königl. Kreis- 
physikus Dr. C. in Gl. die Krankheit plötzlich unter Erscheinungen von Convul- 
sionen und Bewusstlosigkeit ausbrach, welch letztere durch mehrere Tage ange¬ 
halten haben soll. Die mir über jene Zeit zur Verfügung stehenden Angaben sind 
so ungenaue und dürftige, dass ich ein Urtheil über den damaligen Zustand des 
Exploraten nicht abgeben möchte; nur soviel scheint ersichtlich, dass eine Simu¬ 
lation Seitens des Letzteren damals kaum denkbar war, zumal ausdrücklich an¬ 
gegeben ist, dass selbst die Beibringung flüssiger Nahrung mit grossen Schwierig¬ 
keiten verknüpft war. 

Nach alledem unterliegt es für mich keinem Zweifel, dass Explorat an einer 
mit lebhaften Sinnestäuschungen einhergehenden Geistesstörung leidet, und ich 
gebe mein Gutachtnn dahin ab, dass R. sich mindestens seit Anfang Juni d. J. 
in einem Zustande krankhafter Störung seiner Geistesthätigkeit befindet, durch 
welchen seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen ist. 

Ueber die Aussichten auf Besserung des Zustandes bin ich zur Zeit noch 
nicht in der Lage ein definitives Urtheil aussprechen zu können; indess sind die¬ 
selben als günstige nicht zu bezeichnen '). 

Endlich bemerke ich, dass die in den Gerichtsacten niedergelegten münd¬ 
lichen und schriftlichen Auslassungen des Exploraten einen Fingerzeig für da¬ 
mals bereits bestehende Geistesstörung bei demselben nicht gewähren und dass 
auch die Art der Ausführung seiner Delicte, sowie dieselbe durch die Zeugen¬ 
aussagen bekundet wird, keinen Anhaltspunkt für eine solche Annahme darbietet. 


*) Neuestens hat R., welcher am 16. Mai 1890 ungeheilt von hier ent¬ 
lassen wurde, ein Gesuch hierher gerichtet, aus welchem sich ergiebt, dass eine 
erhebliche Besserung der Krankheit, wenn nicht Genesung inzwischen doch ein¬ 
getreten ist. 


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8 . 


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Jugendliches Irreseia, Hysterie. — Braadstiftuug. — 

Freisprechung. 

Von 

Dr. Hrftner, 

Direclur der Froviimal-Irrenanstalt zu Neustadt in Wcstpreusse». 


In der Untersuchungssache wider die unverehelichte Martha G. 
aus B. wegen Brandstiftung, durch Beschluss des Untersuchungsrichters 
beim Königlichen Amtsgericht in Neustadt vom 16. April er. zum 
Sachverständigen ernannt, erstatte ich im Nachstehenden das von mir 
erforderte Gutachten über den Geisteszustand der Angeklagten. 

Geschichtserzählung. 

Am 7. März er. hatte das l6jäbrige Dienstmädchen Martha G. gegen 
8 1 /, Uhr Vormittags glimmende Torfstöcken vom Kuchenheerde entnommen, die¬ 
selben auf den Boden des Hauses ihrer Dienstherrschaft, des Besitzers C., ge¬ 
tragen und nahe an das Strohdach auf einen Balken gelegt. Durch Dazwischen- 
kunft der Tochter ihrer Dienstherrschaft M. C. wurde der Ausbruch eines Feuers 
verhütet. 

Dem Gendarm, der sie unmittelbar nach der That vernahm, gab sie an, sie 
habe keine bestimmte Absioht bei der Brandlegung gehabt, es sei ihr mit einem 
Male so in den Kopf gekommen. Dem Amtsvorsteher sagte sie, sie habe in 
letzter Zeit sehr häufig starke Kopfschmerzen und habe deshalb am Tage vor 
der That und an diesem Tage selbst mehrere Löffel Petroleum genommen, dar¬ 
nach wurde ihr noch schlechter, ihr vergingen öfters die Sinne. Sie gab an, sie 
habe garnicht gedacht, dass durch die Kohlen Feuer entstehen könne: „ich 
dachte mir, das wird so liegen und wenn ich brauchen werde, werde ich mir 
holen“. 

Sie wisse nicht, wie sie dazu gekommen sei. Dem Amtsvorsteher machte 
sie bei dieser Vernehmung den Eindruck einer Geisteskranken. — DieseAnnabme 
findet durch die weiteren Vernehmungen ihre Begründung. 


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Jugendliches Irresein, Hysterie. 


311 


So sagt die Dienstherrin von der Angeklagten aus: „Sie habe über sie and 
ihre Leistungen sonst keine Klagen zu führen, sie benehme sioh aber oft sonder¬ 
bar und lache oftmals ohne jede Ursaohe. Der Vater der Angeklagten fügt dem 
hinzu, dass dieses Lachen oft stundenlang dauere, er nenDt es einen „Schwach- 
sinnsanfall“. 

Die Angeklagte selbst giebt an, dass sie als ganz junges Mädchen einmal 
sohwer krank gewesen sei. — So lange sie zuröckdenken könne, habe sie an 
Lachanfällen gelitten, welche später mit Weinanfällen gewechselt hätten, ohne 
dass sie weder für das Lachen, noch für das Weinen einen Grund gehabt habe. 
— Ihre Mutter bezeugt, dass die Angeklagte im 10. Jahre 8 Woohen krank lag, 
es sei das Nervenfieber gewesen. Seit dieser Zeit datirt das Lachen. Sie stand 
dann gewöhnlich vor dem Spiegel, fuhr sich mit den Händen in den Haaren 
herum, schlug ohne jeden Grund auf ihre Geschwister los; dieser Zustand hat 
sich bis in die jüngste Zeit hinein häufig wiederholt. — Die Angeklagte selbst 
giebt an, von den zuletzt angeführten Nebenumständen niohts zu wissen. 

Der Pfarrer, bei dem die p. G. Religionsunterricht hatte, sagt über sie aus, 
dass sie nur mittelmässig begabt und nicht besonders geweckt gewesen sei. 

Der Lehrer schildert sie als eine wenig geweckte, flatterhafte Person, die 
sich nur geringe Kenntnisse erworben habe. Auoh er führt an, dass sie schon in 
der Schule ohne Veranlassung häufig in ein lang anhaltendes Lachen ausge- 
broohen sei. — Ihrer eigenen Angabe nach war sie während ihrer Schulzeit meist 
für sieb, allein und zurückgezogen von den übrigen Kindern, weil sie von ihnen 
gehänselt wurde, wenn sie etwas nicht wusste. — Auch später lebte sie für sich 
allein; sie hat niemals Gesellschaft gesucht und hat ihr heimathliches Dorf that- 
sächlich noch niemals verlassen, während ihre Altersgenossen bei Processionen 
in N., bei Märkten der Umgegend nicht fehlten. 

Der frühere Dienstherr der p. G., Herr F., sagt von ihr aus, dass sie zwar 
fleissig und dienstwillig sei, aber nur im Dienst zu gebrauchen sei, wenn man 
sie gut behandele. Schelte man sie, so werde sie „wie verdreht“. Einmal lief 
sie aus dem Dienst, als sie gescholten worden war und kam erst wieder, als ihr 
Vater sie zurückbrachte. Auch hier heisst es, dass Martha bisweilen ohne irgend 
welche Veranlassung aus vollem Halse lache und nicht aufbören könne. Sie selbst 
giebt an, dass sie bei F. einmal in der Nacht sehr krank geworden sei, das 
Nebenmädchen habe zu ihr gesagt, sie sei wie todt und bewusstlos gewesen. 

Ueber die That selbst ezistirt nur eine einzige Zeugin, die 14jährige Tochter 
ihrer Dienstherrschaft. Diese erzählt, sie habe am Morgen der That gehört, dass 
die Angeklagte öfters nach dem Boden hinauf steige und dort oben herumrumore, 
Dieses laute Klopfen, Poltern und Rumoren bewog sie, der Angeklagten nachzu¬ 
gehen und nachzusehen, was sie da maohe. 

Sie fand die Angeklagte am Boden kauern und sah, wie sie zusammen¬ 
schrak. Sie bemerkte vor ihr glühende Torfkohlen am Fussboden. Auf Befragen 
äusserte sie: „Jesus Maria und Josef, ich weiss nicht wie mir das in den Kopf 
gekommen ist. “ — Sie leugnete, noch an einer anderen Stelle Kohlen hingelegt 
zu haben, gab es aber bald darauf zu und ging mit der Zeugin wieder hinauf 
und zeigte ihr an einer zweiten Stelle 3—4 kleine Torfkohlenstücken. 

Die Angeklagte selbst schildert den Vorgang der Brandlegung derart, dass 
sie einige glimmende Torfstücken an einer Stelle auf dem Bodenraum nieder- 


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312 


Dr. Krömer, 


gelegt habe. Als sie wieder unten in der Köche war, kam ihr der Gedanke, dass 
daraus doch etwas Schlimmes entstehen könne. Sie lief deshalb wieder auf den 
Boden hinauf, ergriff einige Kohlenstücken, um sie wieder herunter auf denHeerd 
zu tragen. Im Begriff, dieses zu thun, kam die Wirthstochter. Aus Schreck und 
Furcht kauerte sio nieder, um die Kohlenstöcken nicht sehen zu lassen und dabei 
fielen sie herab. Das waren die Stücken, welche an der zweiten Stelle gefunden 
worden sind. 

Die Angeklagte leugnete bei allen Vernehmungen und Fragen, die Absioht 
gehabt zu haben, das Haus in Brand stecken zu wollen. — Sie wusste keinen 
Grund dafür und gab wiederholt an, sie habe es wie bewusstlos gethan, sie wisse 
selbst nicht wie und warum. 

lieber die Familie G. wurde fernerhin festgestellt, dass der Vater der An¬ 
geklagten ein aufgeregter, wilder Mensch von auffallend erregtem und exaltirtem 
Wesen sei; von einem anderen Zeugen wird er ein beschränkter Mann genannt, 
der viel unvernünftige Reden führe und auffallend mehr schwarze als audere 
Leute. — Die Angeklagte führt an, dass der Vater sie und die Geschwister öfters 
unbarmherzig geschlagen habe, sie wisse garnicht weshalb. 

Von der Mutter wird nur erwähnt, dass sie viel über Kopf- und Brust¬ 
schmerz klage. Von der ältesten Schwester der p. G. steht fest, dass sie nach 
langer schwerer Krankheit geisteskrank geworden ist. Sie zeigte sich als Kind 
bereits durchaus unbegabt. Sie wurde im Unterricht nur so mitgeschleppt und 
nur eingesegnet, weil sie das nölhige Alter hatte. Sie ist zeitweilig stupide, ver¬ 
rückt und geistesabwesend; sie hat, wie die Angeklagte, gleichfalls Lachanfälle 
nur in viel ausgeprägterem Maasse, als diese, mitunter war sie tobsüchtig. Die 
zweite Schwester ist nach einer Gehirnentzündung gänzlich taub geworden. Von 
ihrem Geisteszustände gilt dasselbe; sie ist gleichfalls zeitweise geistesabwesend, 
kann dann keinWort reden und hat mitunter getobt, so dass man sie hat binden 
wollen. 

Von den beiden jüngeren Schwestern, sowie von den Brüdern der Ange¬ 
klagten gilt dasselbe, was von dem ebengenannten älteren in Bezug auf ihre Be¬ 
schränktheit und geringe Bildungsfähigkeit gesagt worden ist und so wie diese 
war die Angeklagte selbst, sie machte in der Schule ganz denselben Eindruck. 

Auf Grund dieses actenmässigen Materials, sowie des persönlichen Ein¬ 
drucks, den die Angeklagte machte, nahm der Herr Untersuchungsrichter Veran¬ 
lassung, den Geisteszustand der p. G. von sachverständiger Seite untersuchen 
zu lassen. Das Resultat dieser Untersuchung, welches in drei Vorbesucben bei 
der p. G. am 18. und 26. April und 2. Mai im hiesigen Amtsgerichtsgefängniss 
zum Theil in Gegenwart des Untersuchungsrichters festgeslellt worden ist, ist 
folgendes: 

Körperlicher Befund. 

Die Angeklagte ist eine kleine Person von blassem Aussehen, scrophulösem 
Habitus, schwachem Knochenbau, schlaffer dünner Musculatur. Im Laufe des 
Gesprächs zeigt ihr Gesicht stark ausgeprägte hektische Röthung. 

Ihr Kopf ist brachycephal gebaut, ungewöhnlich kurz, im Allgemeinen 
klein. — Die Käse zeigt einen verdickten Knorpelansatz, ist beständig mit 


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Jugendliches Irresein, Hysterie. 


313 


dickem grünen Secret angefüllt, welches übel riecht und an die Stinknase 
(Coryza) erinnert, die bei scrophulösen Personen and bei Knoohenkranken beob¬ 
achtet wird. Die Nasenschleimhaut ist stark geschwellt, aafgelockert and blutet 
leicht. Die Nase ist permanent so verstopft, dass dadurch die Sprache den be¬ 
kannten näselnden Ton erhält. 

Nach Angabe der Angeklagten besteht diese Nasenaffection schon so lange 
als sie denken kann. 

Die Rachenschleimhaat ist gleichfalls geröthet und mit chronischen kleinen 
Wucherungen (Granulationen) bedeckt, secernirt etwas stärker (foetor ex ore), 
subjectiv wird fortgesetztes Brennen and Jacken auf derselben geklagt. Die 
Zunge ist stark belegt, trocken, es besteht Appetitlosigkeit. 

Die Ohrläppchen sind bei der Angeklagten nur andeutungsweise vorhanden, 
sie sind von der Backe nicht abgesetzt, sondern mit ihr verwaohsen, ein Vor¬ 
kommnis, dass bei degenerirten Personen nicht selten ist und zum Beweise dieser 
Degeneration angeführt wird. 

An den inneren, sowie an den Sinnesorganen sind krankhafte Erscheinungen 
nicht nachzuweisen. 

Nur am Herzen hört man leise blasende Geräusche, welche auf Blutleere 
zurückzuführen sind (Nonnensausen). Der Puls ist klein, leicht wegdrückbar und 
machte bei allen Untersuchungen mehr als 100 Schläge. 

Exploratin ist nooh nicht gesohlechtsreif, hat keine Brüste, ist unentwickelt 
und bat die Periode noch nicht gehabt. 

Störungen der Sensibilität sind nicht vorhanden, der Motilität zunächst 
gleichfalls nicht; es fallt jedoch auf, dass während der vorgenommenen längeren 
Unterredungen sich ein leises Zittern der oberen Extremitäten, stärker der Hände 
und Finger bemerkbar macht, das von Auflaufen der Haut (Gänsehaut, Horripi- 
lationen) begleitet ist und von überaus leichter nervöser Erregbarkeit der p. G. 
Kunde giebt. — Dieses anfallsweise für halbe und ganze Minuten auftretende 
Zittern habe sie vor circa */ 4 Jahr bei ihrer letzten Dienstherrschaft nach einem 
heftigen Sohreck bekommen. Sie sei mitten in der Nacht durch heftiges Pochen 
und Schreien an der Thür aus tiefem Schlaf plötzlich aufgeschreckt worden und 
seit dieser Zeit sei sie schreckhafter, fahre leicht zusammen, zittere sie öfters. 

Als subjective Klagen werden geäussert Kopfweh, Schmerzen und Pochen 
in den Schläfengegenden. Im Kopfe drehe es mitunter heftig herum, so dass sie 
Schwindel bekomme. Mit diesen Erscheinungen sei meistens Herzklopfen ver¬ 
bunden, doch trete letzteres häufig auoh ohne Kopfweh auf. Wenn es im Kopfe 
wirbelt, komme Brammen und Summen im Ohre dazu. Der Kopfschmerz ist ab¬ 
wechselnd in der Stirn oder in der Scheitelhöhe fest localisirt, dazu habe sie 
häufig Angstempfindungen, welohe sie ganz richtig in die Praecordien verlegt. 
Im Halse habe sie häufig die Empfindung, als ob ein fester Gegenstand darin 
auf- und absteige, der sie am Schlacken hindere, öfters sei es, als ob weiches 
seidenes Papier darüber gedeckt sei, oder darin steoke; streiche sie mit dem 
Finger darüber, so bringe sie diese unangenehmen, täglich 2—3 Mal auftretenden 
Erscheinungen zum Schwinden. Dieses Gefühl habe sie veranlasst, einmal eine 
Perle ihres Rosenkranzes zu verschlucken; es ist eine perverse Neigung, dass sie 
mehrere Male Petroleum geschluckt hat und gehört in dasselbe Gebiet der ange¬ 
führten Sensationen. 


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314 


Dr. Krömer, 


Psychischer Befund. 

Was nun zunächst das Wissen und den Intelligenzzustand der 
Angeklagten betrifft, so ist derselbe von einem sehr engen Horizont 
begrenzt. 

Die p. G. kennt nicht die laufende Jahreszahl, nicht das Datum; 
sie weiss nicht, wieviel Monate es giebt, wieviel das Jahr Wochen 
oder Tage hat. Sie weiss, dass ein Monat 30 Tage hat, kann aber 
trotz der ihr gegebenen Zahlen die Zahl der Tage im Jahre nicht 
ausrechnen. — In Zahlenvcrhältnisson weiss sie sich nicht zu be¬ 
helfen, sie kann nur die allerleichtesten Zahlen addiren und sub- 
trahiren, das Multipliciren und Dividiren, selbst der Zahlen unter 10 
versteht sie nicht. — Die ihr aufgegebenen unlösbaren Exempel waren: 
2 X 12, 10—2, 6X4, 10:2, 12 : 2. Sie weiss nicht mehr, an wel¬ 
chem Tage sie das Feuer angelegt hat, weiss nicht, wie lange sie 
sich im Gefängniss befindet, wie lange sie gedient hat. Sie machte 
darüber nur ganz unbestimmte Angaben, nicht einmal dio Jahres¬ 
zahlen ihrer Dienstzeit oder die Zahl ihrer Dienstmonate ist ihr be¬ 
kannt. — Selbst als ihr beim ersten Besuche die nöthigen Daten 
angegeben waren, sie auch über andere Gegenstände unterrichtet 
worden war, vermag sie doch vom gesammten Inhalt des ersten Ge¬ 
spräches beim zweiten Besuch nicht das geringste mehr anzugeben; 
sie meint: „das hab’ ich alles vergessen“. 

Auch in anderen naheliegenden Dingen zeigt die Angeklagte die 
denkbar grössten Lücken, sie weiss nur auf Suggestivfragen anzu¬ 
geben, dass die hiesige Provinz „Westpreussen“ heisst; zu welchem 
König- oder Kaiserreich diese Provinz gehört, weiss sie nicht, ebenso¬ 
wenig, wie sie anzugeben vermag, von welchem Reiche Berlin die 
Hauptstadt ist. Den Hamen des Kaisers kennt sie, aber nicht den 
des Kronprinzen und der Kaiserin. Sie weiss nicht, von welchem Er¬ 
eigniss ab die christliche Zeitrechnung beginnt, weiss nicht, wer 
Christus ist, kennt keine Gebote und hat keine Ahnung von Religion. 
Als Curiosum führe ich an, dass sie als einzige Sünde, die sie be¬ 
gangen, dem Geistlichen gebeichtet hat, sie habe einmal „Teufel“ zu 
den Hühnern gesagt, die ihrem Rufe nicht folgten. 

Ihre Indolenz geht soweit, dass sie gegenwärtig nicht einmal den 
Namen ihres Gefängniswärters kennt, bei dem sie täglich arbeitet, 
auch den Namen des Richters und des Unterzeichneten behält sie 
nicht, auch nachdem ihr dieselben wiederholt gesagt worden sind und 


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315 


die za behalten, sie doch einiges Interesse haben müsste. Auf dieser 
schwachsinnigen Grundlage haben sich aber nun weitere Krankheits¬ 
erscheinungen aufgebaut, die durch die Untersuchungshaft eine Stei¬ 
gerung erfahren zu haben scheinen. 

Sie giebt ganz von selbst und ohne bezügliche Frage an, als sie 
nach Ohrgeräuschen gefragt wird, sie höre, wenn sie allein sei, die 
Stimme ihrer Eltern und Geschwister, sie hört deutlich die Worte 
des Aulsehers, des Untersuchungsrichters und von Personen, mit denen 
sie in letzter Zeit zu thun gehabt hat. Sie spricht selbst mit diesen 
Personen und in der Vertiefung dieser Gespräche komme es ihr so 
vor, als ob dieselben leibhaftig da seien, sie seien so dicht bei ihr, 
dass sie sie athmen höre. Gleichwohl weiss sie, dass es in Wirklich¬ 
keit nicht der Fall ist. — Sie habe diese Erscheinungen nur im 
Finstern Abends und bei Nacht, wenn sie aufwecke, während sie im 
Schlaf selbst keine Träume habe. Im Schlafe komme es ihr so vor, 
als ob das Bett tief in die Erde hinein versinke, oder mit ihr im 
Zimmer umherfliege. Sie schrecke bei solchen Gelegenheiten auf und 
erwache. — Diese Stimmen hört sie bloss heimlich flüstern, sie reden 
niemals laut, so dass sie auch meist garnicht verstehe, was sie sprechen. 
Es sei ihr so, als ob man schlecht von ihr rede; deutlich höre sie 
sich bisweilen schimpfen; manchmal höre sie auch einzelne lächer¬ 
liche Worte. 

Ein weiteres System knüpft sich an diese Sinnestäuschungen 
bisher nicht. 


Gutachten. 

Fassen wir den wesentlichen Inhalt aus dem Voranstehenden 
zusammen, so sehen wir in der Angeklagten p. G. eine Person vor 
uns, die aus einer Familie stammt, welche in einer ganz ungewöhn¬ 
lichen Weise zu Geistesstörung disponirt ist. Wir hören, dass der 
Vater ein trunksüchtiger, aufgeregter Mensch, dass die Mutter nervös 
und kränklich, dass ein Theil der Kinder evident geisteskrank, der 
andere in seiner geistigen Entwickelung derart zurückgeblieben ist, 
dass es Jedermann auffällt. 

Die Angeklagte hat diese Prädestination zu psychischer Ent¬ 
artung schon frühzeitig gezeigt; sie war in der Schulzeit wenig bil¬ 
dungsfähig und fiel bereits als Mädchen durch mancherlei Eigentüm¬ 
lichkeiten auf. 


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Dr. Krömer, 


Es ist nicht unerheblich za erwähnen, dass sie sich von ihren 
Schulgenossinnen zurückzog, weil sie von ihnen gehänselt wurde, ein 
Loos, dem Geistesschwache und geistig Unbeholfene fast überall heim¬ 
zufallen pflegen und welches zur Charakterisirung eben dieser Unbe- 
holfenheit und Schwäche dient. 

Schon als Schulkind verfiel sie plötzlich und ohne jeden äusseren 
Anlass in ein anhaltendes und nicht zu bändigendes Lachen, das ge¬ 
radezu anfallsweise auftrat, Anfälle, welche der älteren geisteskranken 
Schwester in noch ausgeprägterem Maasse anhaften, als der Ange¬ 
klagten selbst. 

Es wird erwähnt, dass dieselben im 10. Lebensjahre auftraten 
und zwar nach einer schweren Krankheit, welche als Nerven- oder 
Hirnfieber charakterisirt wird. 

Dieses Lachen ist sämmtlichen Zeugen, die vernommen worden 
sind, als etwas Absonderliches, Krankhaftes aufgefallen, während ihnen 
für die übrigen psychischen krankhaften Erscheinungen das Verständ- 
niss abging, was den gewöhnlichen und einfachen Leuten nicht sonder¬ 
lich übel genommen werden kann. Immerhin giebt der Dienstherr F. 
zu, dass die p. G. ein eigenthümliches Menschenkind sei, das in ganz 
besonderer Weise behandelt und angegriffen sein wolle. 

Es habe Zeiten gegeben, in denen mit ihr durchaus Nichts anzu¬ 
fangen gewesen sei, insbesondere habe sie kein hartes Wort vertragen. 
Derartige Lachanfälle sind erfahrungsgemäss nichts Ungewöhnliches 
bei hysterischen Personen, zumal solchen, welche sich in der Zeit 
ihrer Entwickelung befinden. — Wir haben oben gehört, dass die 
16jährige Angeklagte in körperlicher Beziehung zurückgeblieben, fast 
noch ganz unentwickelt und noch nicht menstruirt ist, dass sich 
fernerhin die Zeichen der Scrophulose und evidenter Blutarmuth bei 
ihr finden (Coryza), welche ihr körperliches Wachsthum beeinträch¬ 
tigen. Derartige körperliche Schwäche und geringe Entwickelung ist 
häufig die Grundlage nervöser hysterischer Störungen. 

Ausser diesen Lachanfällen sind als Zeichen von Hysterie auf¬ 
zufassen die Empfindung, als ob der Hals verschlossen wäre, als ob 
ein fester Gegenstand darin auf- und abstiege (Globus hystericus), 
ferner das Gefühl auf dem Scheitel des Kopfes, der stechende Kopf¬ 
schmerz an genau begrenzter unveränderter Stelle (Clivus hystericus). 
— Die weiteren subjectiven Beschwerden der Angeklagten, das „Herz¬ 
klopfen, die Beängstigung, das Ohrensausen", sind zwar nicht für 
Hysterische allein charakteristisch, diese Gefühle und Empfindungen, 


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Jugendliches Irresein, Hysterie. 


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die die Angeklagte übrigens durchaus richtig schildert und durchaus 
richtig localisirt, sind vielmehr fast allen Geisteskranken, zumal in 
der Entwickelung und in den Anfangsstadien der Krankheit eigen, 
bleiben aber auch im ferneren Verlauf bei einzelnen Kranken mit¬ 
unter anhaltend bestehen. 

Hierher gehört auch die Empfindung, als ob sie mit ihrem Bett 
in einen Abgrund hineinfahre oder in der Luft schwebe, eine Er¬ 
scheinung, die als Schwindelerscheinung auf Blutleere im Kopfe zu- 
rückzuführen ist. Es ist ein Gewicht darauf zu legen, dass die An¬ 
geklagte, wie bereits gesagt, diese Empfindungen richtig schildert und 
an die richtige Stelle verlegt. 

Eine so dumme und einfältige Person, wie sie ist, würde nicht 
im Stande sein, derartige Angaben zu machen, wenn sie sie nicht 
wirklich empfände, oder sie würde dieselben nicht so specialisiren 
und immer nur über die angegebenen Punkte klagen. Es muss des¬ 
halb jeder Verdacht an Simulation abgewiesen werden. 

Diese Erwägungen gelten auch von den weiteren Krankheits¬ 
erscheinungen, den Sinnestäuschungen, die oben des Näheren geschil¬ 
dert sind. — Es ist wichtig und spricht für die Wahrheitsliebe der 
Angeklagten, dass sie aus diesen Sinnestäuschungen kein grosses 
Kapital schlägt, und dass sie ausdrücklich das Imaginäre derselben 
hervorhebt, dass sie ihnen objectiv gegenübersteht. 

In der Weise, wie die p. G. die Sinnestäuschungen schildert, das 
Entstehen und die Art und Weise derselben, der Umstand, dass sie 
anführt, sie höre die Stimmen meist nur leise flüstern, so dass sie 
für gewöhnlieh überhaupt Worte nicht verstehe, spricht für die unge¬ 
schminkte und gewissenhafte Darstellung derselben. 

In solcher Weise beginnen die Sinnestäuschungen erfahrungs- 
gemäss, so wird der Vorgang von allen Hallucinanten geschildert, 
die sich über diese krankhaften Empfindungen noch Rechenschaft zu 
geben vermögen. 

Eine so beschränkte Person, wie die p. G., kann so treffende 
Krankheitsschilderungen nicht erfinden und erheucheln. 

Wenn sie sich krank stellen wollte, so würde sie auch mehr 
auf die psychischen Erscheinungen Werth legen und würde von ihren 
körperlichen Symptomen nicht reden. Beide zusammen aber geben 
ein richtiges vorschriftsmässiges Krankheitsbild. 

Ich erachte demnach die p. G. für geisteskrank und ihre Hand- 

Vierteijahrachr. f. ger. Med. Dritte Folge. V. 2. 21 


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Dr. Krömer, 


lang, den von ihr aasgeführten Brandstiftangsversach, als Ausfluss 
ihrer Krankheit, als unüberlegtes absicht- und sinnlos Walten per¬ 
verser Triebe, die in ihr wohnen. Hätte sie die Brandstiftang mit 
Absicht und aus Vorsatz begangen, so würden die Nebenumstände, 
von denen in der historischen Darstellung die Rede war, ganz andere 
sein müssen. Ganz abgesehen davon, dass die Angeklagte mit ihrer 
Dienstherrschaft in bestem Einvernehmen stand, keinerlei Klage über 
sie zu führen, sich im Gegentheil kurz vor der That lobend über 
dieselbe ausgesprochen hatte, dass somit jeder Grund und jedes ver¬ 
nünftige Motiv zu der That fehlt. — Ich stelle mir eine Brandstif¬ 
terin und ihr Vorgehen anders vor. 

Sie begeht die That am hellen Vormittag, als ihre Dienstherr¬ 
schaft wach und im Hause ist. — Sie geht nicht heimlich an die 
Stelle, an welcher sie den Brand legen will, sie läuft vielmehr oft 
hin und her und auf den Boden poltert und lärmt sie so, dass die 
Tochter des Hauses dadurch aufmerksam wird und sehen geht, was 
die Angeklagte denn eigentlich auf dem Boden so herumlärme. 

Dass sie erschrickt, als diese auf den Boden kommt, ist nichts 
Auffälliges, das thuen Geisteskranke von grosser Verwirrtheit, wenn 
sie bei einer Unrechten That ertappt werden, auch; um wieviel mehr 
wird es die p. G. gethan haben, die ja ausdrücklich anführt, es sei 
ihr mittlerweile in der Küche zum Bewusstsein gekommen, dass aus 
ihrer unüberlegten und sinnlosen Handlung Unheil entstehen könne, 
weshalb sie bereits wieder hinaufgegangen war, um die glimmenden 
Kohlen zu entfernen. 

Brandstifter pflegen übrigens nicht erst glühende Kohlen auf die 
Böden zu tragen, sie haben es mit Streichhölzchen bequemer und 
weniger auffällig; sie zünden ausserdem die brennbaren Gegenstände 
wirklich an und legen die Zündmasse nicht nur in mehr oder weniger 
grosse Entfernung von dem Gegenstand nieder, welchen sie anzünden 
wollen. 

Hingegen ist es Geisteskranken eigen, mit dem Feuer zu spielen 
und es bald hier, bald dahin zu tragen, wofür man in Anstalten Ge¬ 
legenheit zu Beobachtungen hat. — In den Krankheitsberichten der 
praktischen Aerzte wird es öfters erwähnt, dass Kranke Feuer, bren¬ 
nende Gegenstände in die Schürze nehmen und damit umherlaufen, 
ohne sich darüber bewusst und klar zu werden, dass sie sich 
selbst nicht nur, sondern auch der Umgebung dadurch schaden 
können. 


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Jugendliches Irresein, Hysterie. 


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Gesunde Brandstifter suchen sich für gewöhnlich nicht die 
hellen Vormittage dazu aus, sondern betreiben ihr Werk in der 
Nacht. 

Darnach ist die p. G. eine durch körperliche Krankheiten ge¬ 
schwächte und dadurch, sowie durch eine ungewöhnlich starke Fami¬ 
liendisposition zn Nerven- und Geisteskrankheit neigende Person, die 
die Zeichen der letzteren in einer überaus geringen Intelligenz und 
psychischer Schwäche, in hysterischen Sensationen, perversen Gefühlen 
und Neigungen und in Sinnestäuschungen an den Tag legt. 

Ich gebe mein Gutachten somit dahin ab: ^ 

Die Angeklagte befand sich zur Zeit der That in einem 
Zustand krankhafter Störung ihrer Geistesthätigkeit, durch 
welche ihre freie Willensbestimmung ausgeschlossen war. 

Die Daten dieses Gutachtens habe ich den Voruntersuchungs¬ 
acten, sowie eigener Wahrnehmung entnommen und richtig wieder¬ 
gegeben. 

Die Richtigkeit desselben versichere ich auf den ein für allemal 
geleisteten Sachverständigeneid. 


Infolge des vorstehenden Gutachtens wurde die Angeklagte ausser 
Verfolgung gesetzt und der Polizeibehörde behufs Unterbringung in 
die Irrenanstalt übergeben. Der Kreisphysikus, der das zur Aufnahme 
nöthige ärztliche Zeugniss ausstellen sollte, erachtete die p. G. nicht 
für so geisteskrank, dass ihre Aufnahme in die Irrenanstalt erforder¬ 
lich erscheine. Es sei an ihr kaum eine Abweichung von der Norm 
in ihrem geistigen Verhalten vorhanden. 

Auch in zwei folgenden Untersuchungen der Kranken war es ihm 
nicht möglich, die Ueberzeugung zu gewinnen, dass sie derartig krank 
sei, um ihre Ueberführung in die Irrenanstalt zu rechtfertigen, er 
könne weder in geistiger, noch in körperlicher Beziehung etwas Krank¬ 
haftes an ihr finden. 

Die p. G. wurde darauf trotz dieser Zeugnisse des Kreisphysikus 
der Irrenanstalt überwiesen, welche sie seitdem nicht wieder ver¬ 
lassen hat. 


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Das Krankheitsbild hat sich im Laufe der verflossenen vier 
Jahre etwas geändert. Die hysterischen Erscheinungen sind mit 
Eintritt der Geschlechtsreife und zufolge besserer Ernährang fast 
gunz geschwunden, dafür aber haben sich die Sinnestäuschungen ver¬ 
mehrt. Sie tragen vorzugsweise den Charakter der Verfolgung. — 
Reizbarkeit und Launenhaftigkeit sind gesteigert; ihre Intelligenz und 
ihr Wissen hat sich hingegen gebessert und vermehrt. 


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9. 

T«d ii Kfhleacijd ud Ttd durch Kihlemyd. 

Von 

Dr. Chlunaky, 

Kreisphysik na in Wohlau. 


In der Vornntersuohang9saohe gegen den Manrer J. B. ans D. wegen Körper¬ 
verletzung mit tödtlichem Erfolge (J. 6/90) verfehlen wir nicht, dem Königlichen 
Amtsgericht das erforderte motivirte Gutachten aber die Todesarsache der Kinder 
Paaline and Johanna R. im Nachstehenden, anter Rückgabe der Acten, ergebenst 
za erstatten. 

In der im Maurer J. B.’sohen Hause belogenen Wohnung der Arbeiter 
R.’schen Eheleute za D. hatte es nach übereinstimmenden Angaben der über¬ 
lebenden Familienmitglieder seit etwa 6 Wochen mehr oder weniger stark ge¬ 
raucht, so dass man wiederholt vom Feueranmaohen hatte Abstand nehmen oder 
das eben angezündete wieder auslöschen müssen; aber auch dann, wenn nar in 
der genau unter der R.’schen im Erdgeschoss gelegenen Wohnung des B. gefeuert 
wurde, drang, insbesondere bei Wind, gelegentlich Rauch und Qualm in die 
R.’sche Stabe hinein. 

Hiervon hatten zwar, nach ihren Angaben, der Arbeiter Angust R. selbst 
and dessen 13jähriger Sohn Augnst niemals irgendwelche Uebelkeiten verspürt, 
dagegen hat nach Angabe des letzteren dessen 12jährige Schwester Pauline 
öfters über solohe geklagt; nach wesentlich übereinstimmenden mehrfachen 
Actendepositionen hat die letztere am 9. Februar er. intensivere Krankheitser- 
scheinnngen dargeboten, darin bestehend, dass sie mit den Worten „mir ist so 
schlecht“ plötzlich in der elterlichen Wohnung zur Erde fiel, hezw. dass sie 
„einen Ohnmachtsanfall hatte“, von dem sie naoh Angabe des Vater9, ohne dass 
sie aus dem Zimmer in’s Freie gebracht worden wäre, sich schnell, nach Angabe 
der Matter erst dann erholte, nachdem von jener die beiden Fensterflügel ge¬ 
öffnet worden waren. 

Bezüglich dieses 9. Februar and des nächstfolgenden Tages, an welchem 
die beiden Kinder gestorben sind, geht aas den Acten, wesentlich nach Angaben 
der miterkrankt gewesenen Matter, der Fraa Arbeiter R., speoiell noch Folgendes 
hervor. 


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322 


Dr. Chlumsky, 


Besonders stark habe es in der Stabe am 9. Februar geraaoht, an welchem, 
wie am folgenden Tage, mit Kohlen gefeuert wurde, während sonst nur Holz ge¬ 
brannt worden war. Während die Tochter Pauline hiervon den oben erwähnten 
Ohnmachtsanfall hatte, habe auch Frau R. selbst sioh unwohl gefühlt, indem 
sie Kopfsohmerzen und Athemnoth bekam und der Rauch ihr Kratzen im Halse 
verursachte. Sie habe in Folge dessen das Feuer gelöscht und an diesem Tage 
garnioht mehr geheizt. 

Als am 10. Februar früh wiederum mit Kohlen Feuer angemacht worden 
war, habe es wieder stark geraucht und Frau R. habe sioh sohon frühzeitig an 
diesem Tage sehr schwach und müde gefühlt, während ihre Toohter Pauline, als 
sie früh zur Schule ging, sich ebenfalls sehr schwaoh fühlte und über Kopf- and 
Halsschmerzen geklagt hat, wie auch von ihrem Bruder bestätigt wird. 

Um 10 Uhr kam Pauline R. in der Frühstückspause aus der Schule naoh 
Haus, da aber die Mutter selbst sich sehr schwach fühlte und ihr jüngstes Kind 
JohannaR. ebenfalls sehr unruhig war und fortwährend schrie, so kehrte Pauline 
niobt mehr zur Schule zurück, sondern blieb zu der Schwester und der Matter 
Pflege zu Hause. 

Letztere legte sich wegen zunehmender Mattigkeit gegen 11 Uhr — nach¬ 
dem sie noch vorher, angeblich um Störungen des jüngsten, schlafenden Kindes 
(Johanna) durch ein fremdes Kind zu vermeiden, die Thür verriegelt hatte — 
zu Bett. 

Der Ofen rauohte unterdessen in der heftigsten Weise weiter und stiess zu¬ 
weilen ganze Ballen von Ranch aus, Frau R. habe zwar öfter die Fenster ge¬ 
öffnet, musste sie aber der heftigen Kälte wegen wieder schliessen. 

Sie habe sich immer schlechter gefühlt, das Kratzen im Halse wurde immer 
heftiger and die Athemnoth wachs immer mehr, schliesslich habe sie die Besin¬ 
nung verloren, die sie erst im Krankenhause wiedererlangt hat. Erinnerlich sei 
ihr nur noch, dass, als sie vor Schmerzen laut stöhnte, ihre Tochter Pauline sioh 
ebenfalls auf’s Bett legte und laut zu schreien anfing. 

Bald nach 12 Uhr wurde auf Ersuchen des aus der Schule zurückkehrenden 
August R., der nach der verschlossenen Thür eine Abwesenheit der Mutter und 
ein Kranksein der Schwester vermuthete, der Thürverschluss durch den Maurer 
B. gewaltsam gesprengt, und es fanden die Eintretenden nunmehr, dass Pauline 
R. vollständig bewusstlos mit dem Gesicht auf dem Bette lag und beim Versuch, 
sie aufzuheben, bereits todt erschien, während Frau R., wie jene vollständig an¬ 
gekleidet, laut röchelnd, stöhnend und nach Athem ringend, in ihrem Bette lag. 
Das jüngste Kind Johanna R. lag still in ihrem Bett und war mit einem Tuche 
über’s Gesicht bedeckt, nach dessen Aufheben das Kind die Augen offen hatte 
und ganz munter zu sein schien; in der Stube fanden sioh starke Verunreini¬ 
gungen, von Erbrochenem und Stuhlentleerung herrührend, vor. 

Das Kind Johanna R. wurde sofort in eine andere Stube gebraoht, und die 
Mutter habe, nachdem Thür und Fenster aufgerissen worden waren, sich sicht- 
lioh erholt. 

Der danach gegen 2 Uhr Nachmittags benachrichtigte und alsbald an Ort 
und Stelle erschienene Polizeiverwalter fand mehrere Frauen mit Wiederbele¬ 
bungsversuchen an der vollkommen bewusstlosen Frau R. beschäftigt and auf 
einem zweiten Bette die Pauline R. bereits verstorben vor. 


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Tod in Kohlenoxyd and Tod duroh Kohlenoxyd. 


323 


Während nan Fr&a R., in’s Krankenhaus übergeführt, dort sioh mehr and 
mehr erholte, so dass sie am 13. Februar bereits wohl vernehmungsfähig war, 
and das kleine Kind offenbar in der anderen Stabe, in die es gebracht worden 
war, verblieb — wenigstens ist von einer Zarüokführang desselben in die elter¬ 
liche Wohnung nirgends etwas erwähnt —, ist das letztere in der Naoht vom 
10. zam 11. Februar ebenfalls verstorben, ohne dass über die speoielle Zeit des 
Todeseintritts oder etwa noch wahrgenommenen Krankheitsersoheinangen aas 
den Acten sich Näheres ergiebt. 

Die hiernach angeordneten Obdactionen der beiden Kinder Paaline and 
Johanna R. wurden von ans am 12. and 13. Februar er. in D. ausgeführt and 
haben dieselben an für die Beartbeilang wesentlichen Momenten Folgendes 
ergeben. 


a) Seotion der Paaline R. (12. Febraar 1890). 

1) Die Leiohe des dem Anschein naoh etwa 12 Jahre alten Mädchens ist 
132 cm lang. 

2) Dieselbe ist von mittelkräftigem Körperbau and, wie Einschnitte zeigen, 
von leidlichem Ernährungszustände. 

5) Die allgemeine Hautfarbe ist an der vorderen Fläche des Rumpfes and 
im Gesicht hellgrauweiss, am Unterbaach beiderseits leicht grünlich, in den 
Seitengegenden des Rampfes and an der ganzen Rückseite des Rampfes and der 
Extremitäten in grosser Ausdehnung, am Rüoken mehr continuirlich, an den Ex¬ 
tremitäten mehr fleckig, verwaschen hellroth mit einem unverkennbaren Stich der 
Verfärbung in’s Rosafarbene. Die Verfärbungen erleiden daroh Fingerdrack nir¬ 
gends eine Veränderung, bei Einschnitten tritt überall hellrothes flüssiges Blut 
aus durchschnittenen Gefässen ziemlich reichlich hervor and es zeigt sich im 
Uebrigen das Gewebe überall gleichmässig, zam Theil mit sehr deatliohem Stioh 
in’s Hellrosarothe, röthlich durohtränkt, wobei stellenweise auch eine besonders 
hellrosaröthliche, wie laohsartige Färbung der Musoulatar auffällt and wahrge¬ 
nommen wird. pp. 

6) pp. Vor Mond and Nase befindet sich rein weisslicher Schaum, pp. 

13) An den Gliedmassen, oberen wie unteren, ist aasser einer bläulichen, 

ebenfalls einigermassen in’s Rosafarbene spielenden Verfärbung der Nägel and 
Fingerspitzen nichts Auffallendes za bemerken. 

16) Die äussere Oberfläche der stark gespannten harten Hirnhaut ist von 
hellblauröthlioher Farbe und im ganzen Umfange von flüssigem hellrothem Blute 
wie bethaut, ihre grossen Gefässe sind mässig gefüllt. 

17) Im Längsblutleiter befinden sich 15 oom vollkommen flüssigen hell- 
rothen Blutes. 

18) Die innere Oberfläche der harten Hirnhaut ist von hellblauröthlicher 
mit einem Stioh in’s Rosarothe spielender Farbe, die äussere Oberfläohe der 
weioben Hirnhaut ist mässig feucht und glänzend, das Gewebe derselben voll¬ 
kommen durobsichtig und zart, ihre grösseren Gefässe zwischen den Hirn¬ 
windungen überall ziemlich stark, namentlich nach hinten hin bis zur Run¬ 
dung mit flüssigem verschiebbarem Blute gefüllt und auch deren feinere und 
Verzweigungen auf den Hirnwindungen selbst überall deutlioh hellroth feinste 


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324 Dr. Cblumsky, 

mit auoh hier grösstentheils noch yersohiebbarem flüssigem Blote aasge¬ 
spritzt. 

19) Am Schädelgrande finden sich etwa 1 & com hellrothen flüssigen 
Blates als Inhalt vor, die Querblutleiter enthalten ebenfalls hellrothes flüssi¬ 
ges Blat. 

22) Die Seitenkammern enthalten je einige Tropfen blassröthlioh wässriger 
Flüssigkeit, die Gehirnhalbkugeln sind auf dem Darohschnitt stark glänzend and 
feacht, die weisse Substanz mit darch den Wasserstrahl abspülbaren and danach 
wiederkehrenden Blatpunkten ausserordentlich reichlich durchsetzt und fast 
•inen Stich in’s Rosafarbene bietend, beide Substanzen von guter Consistenz. 

23) Die Adergeflechte und die obere Gefässplatte sind von hellbraunrother, 
fast hocbrother Farbe, ihre Gefässe stark mit flüssigem! in den grösseren eben¬ 
falls verschiebbarem Blute gefüllt. Im 3. Ventrikel finden sich ebenfalls einige 
Tropfen blassrötblich wässriger Flüssigkeit. 

24) Seh- und Streifenhügel, die Vierhügel, der Wurm, das Kleinhirn, die 
Brücke und das verlängerte Mark, auf Durohsohnitten ebenfalls überall blutreich, 
zeigen keine krankhafte Veränderung. 

27) pp. wobei (sc. Eröffnung der Bauchhöhle) die feuchte und auffallend 
hellroth gefärbte, fast rosaroth erscheinende Musoulatur leidlich entwickelt 
sich zeigt. 

28) pp. An den vorliegenden pp. Dünndarmsohlingen pp. ist zum Theil 
die Beimischung eines rosafarbenen Tones unverkennbar, pp. 

29) pp. Die Lungen sind mässig retrahirt und die vorliegenden Theile der¬ 
selben erscheinen von graublauröthlicher marmorirter Farbe. 

30) Im rechten Brustfellsack finden sich 10, im linken 8 ccm einer blass- 
röthlichen, blutigwässrigen Flüssigkeit. 

31) pp. Die grossen Gefässe ausserhalb des Herzbeutels sind dem An¬ 
scheine nach leidlich gefüllt. 

32) Der Herzbeutel, mässig fettreich, ist von graurosarother Farbe und 
zeigt überall deutliche Ausspritzung der feinsten Gefässchen, die grösseren sind 
mit verschiebbarem Blute deutlich gefüllt, pp. 

33) Das Herz pp. ist an der vorderen Fläche etwas zusammengefallen, in 
der rechten Hälfte schlaff, in der linken dagegen prall anzufühlen, im Ganzen 
von blassbraunrother, ebenfalls einen Stich in’s Rosafarbene zeigender pp. Farbe. 
Die Kranzgefässe des Herzens sind vorn und hinten stark, zum Theil bis zur 
Rundung mit flüssigem verschiebbarem Blute gefüllt. 

34) Beim Aufschneiden des Herzens finden sich in der linken Vorkammer 

und Kammer 10 ccm, in der rechten Kammer und Vorkammer 6 ccm hellrothen 
flüssigen Blutes, pp. \ 

35) Nach der Herausnahme des Herzens, wobei sich aus de# grossen Ge- 

fässen noch etwa 20 ccm Blut entleeren, pp. ( 

36) Die linke Lunge pp. ist voluminös und pp. von gräwblauröthlicher 
Farbe pp. Auf dem Durchschnitt ist das Gewebe in beiden Lappen von hell¬ 
braunrother, fast hocbrother Farbe und lässt bei Druck überall eine blutigsohau- 
mige Flüssigkeit in reichlicher Menge hervortreten pp. Die Luftröhrenäste ent¬ 
halten blutigen weissröthlichen Schaum in reichlicher Menge, der bei Druok auf 
die LuDgentheile in ihnen besonders emporsteigt, ihre Schleimhaut ist von gleich- 


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Tod in Kohlenoxyd und Tod durch Kohlenoxyd. 


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massig verwaschen hellrotber Farbe. In den Lnngenarterien findet sich hell- 
rothes flüssiges Blot in ziemlicher Menge vor. pp. 

37) Die rechte Lange pp. erscheint ebenfalls voluminös, von graublauröth- 
licher Farbe pp. Auf dem Durchschnitt ist auch hier das Gewebe überall von 
hellbraunrother, fast hochrother Farbe und lässt bei Druck blutigsohaumige 
Flüssigkeit in reichlicher Menge hervortreten. Die Luftröhrenäste sind auch hier 
mit blutigweisslichem Schaum reichlich gefällt, ihre Schleimhaut ist durchgängig 
von verwaschen hellrotber Farbe, die Lungenarterien enthalten ebenfalls flüssiges 
Blut pp. 

39) In den grossen Gefässen des Halses findet sich etwas flüssiges Blut pp. 

40) pp. Der Kehlkopf enthält in seiner ganzen Ausdehnung eine Lage 
weisslichen resp. weissröthlichen feinblasigen Sohaumes, seineSohleimhaut, durch¬ 
weg von hochrother Farbe, zeigt eine dichte Ausspritzung der feinsten Gefäss- 
chen; dicht oberhalb der Stimmbänder an der Rückseite des Kehldeckels findet 
sich ein im Ganzen rundliches, etwa 4—5-mm im Durchmesser haltendes flaches 
Partikelchen einer gelbbräunliohen, bei der Berührung zerfliessenden, weichen 
Substanz, welches der Schleimhaut lose aufliegt, und das offenbar als aus dem 
Magen herstammend anznsehen ist, und unterhalb derStimmbänder findet sioh ein 
etwas kleineres, im Uebrigen genau ebenso beschaffenes der Schleimhaut lose 
aufliegendes Partikelchen vor. 

43) Die absteigende Brustschlagader ist mit flüssigem Blute mässig gefüllt. 

59) Die grossen Gefässe der Bauchhöhle enthalten Spuren flüssigen Blutes. 

b) Seotion der Johanna R. (13. Februar 1890). 

1) Die Leiche des dem Anschein naoh etwa 3 /< Jahre alten Kindes ist 
61 cm lang. 

2) Dieselbe ist von sehr schwächlichem Körperbau und äusserst dürftigem 
(atrophischem) Ernährungszustände, so dass insbesondere an den Gliedmassen, 
namentlich den oberen, die Haut fast nur die Knochen und zwar in schlotternder 
Weise zu bedecken scheint und auch am Rumpfe jede einzelne Rippe äusserlich 
sichtbar deutlich durch die Haut hervortritt. 

5) Die allgemeine Hautfarbe ist am Kopfe und der Vorderseite des Rumpfes 
schmutziggrauweiss, am ganzen Bauche blassgrünlich, an der ganzen Rüokseite 
des Rumpfes und zum Theil aueh der Extremitäten in kleineren und grösseren 
Flecken verwasohen schmutzigblauroth; diese Verfärbungen erleiden durohFinger- 
druck keinerlei Veränderung, bei Einschnitten tritt Blut in allerfeinsten Tröpf¬ 
chen aus durchschnittenen Gefässchen nur in minimalen Sparen hervor und er¬ 
scheint im Uebrigen das Gewebe gleiohmässig, jedooh überhaupt nur in sehr ge¬ 
ringem Grade blaurötblich durchtränkt, pp. 

7) Beim Umwenden der Leiche fliesst aus Mund und Nase etwas graulioh- 
trübe, viscide, wässrige Flüssigkeit heraus. 

8) An beiden Nasenöffnungen liegt schwärzlicher Schmutz lose auf. pp. 
Die Zunge liegt, nicht geschwollen, auf dem Unterkiefer auf, oder denselben noch 
eine Spur nach vorn überragend. 

17) Die harte Hirnhaut pp. ist von graublauröthlicher Farbe, ihre grossen 
Gefässe mit zum Theil verschiebbarem Blute mässig gefüllt. 


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Dr. Chlumsky, 


18) Der Längsblutleiter enthalt nnr nicht messbare Sparen etwas dick* 
flüssigen dunklen Blotes. 

19) Die weiohe Hirnhaut an der Gehirnoberfläohe ist vollkommen zart and 
durchsichtig, stark glänzend uod feucht, die grösseren Gefässe derselben zwischen 
den Hirnwindungen, namentlich naoh hinten hin, mit flüssigem verschiebbarem 
Blute ziemlich angefüllt und als bläuliche Stränge hervortretend, and auch deren 
feinere und feinste Verzweigungen auf den Hirnwindungen selbst mit zum Theil 
auch hier noch verschiebbarem Blute überall deutlich hochroth ausgespritzt. 

20) pp. Die Querblutleiter sind mit danklem flüssigem Blute massig gefüllt. 

23) Die Seitenkammern enthalten je etwa 1—2Tropfen wässriger Flüssig¬ 
keit, die Gehirnhalbkugeln sind stark durchfeuchtet und glänzend, die weisse 
Substanz mit durch den Wasserstrahl abspülbaren und danaoh wenigstens zum 
Theil wiederkehrenden feinen Blutpunkten reichlich durchsetzt, pp. 

24) Die Adergeflechte und die obere Gefässplatte sind von hellbraunrother 
bis hochrother Farbe, ihre Gefässe deutlioh bis stark gefüllt, pp. 

25) Seh- und Streifenhügel, Vierhügel, Wurm, Kleinhirn, Brücke und 
verlängertes Mark auf Durchschnitten überall ziemlich blutreich, pp. 

28) pp. wobei (die Eröffnung der Bauohhöhle) sich zeigt, dass das Unter¬ 
hautfettgewebe fast gänzlich fehlt und nur in minimalsten Spuren von blassgelb- 
weisslicher Farbe hier und da angedeutet ist, und dass die Musoulatur, von fast 
nur graubraunröthlicher Farbe und mässig feucht, ebenfalls nur in dürftigster 
Weise entwickelt ist. 

29) pp. Das Netz ist fast fettlos, pp. seine grossen Gefässe pp. fast voll¬ 
kommen leer. pp. 

31) Sämmtliohe Rippen des Brustkorbes sind am Uebergange zwischen 
dem knöchernen und dem knorpeligen Theile stumpfwinklig bis fast rechtwinklig 
abgeknickt und diese Stelle bei jeder einzelnen Rippe durch eine Verdiokung 
markirt (rhachitischer Rosenkranz). 

32) pp. Die LuDgen sind nur mässig, insbesondere die rechte fast garnioht 
retrahirt pp. Die vorliegenden Lungenränder sind von blassgrauröthliohem, 
schwach marmorirtem Aussehen. 

33) Der linke Brustfellsack ist vollkommen leer, im rechten, wo die Lunge 
fast in ganzer Ausdehnung duroh zarte, weissröthliche leicht trennbare Verkle¬ 
bungen an die Brustwand angewachsen ist, finden sich etwa 2 com einer blutig- 
wässrigen Flüssigkeit vor. 

36) Das Herz, etwas grösser als die atrophische Faust der Leiohe, ist an 
der Basis 4 cm breit und etwa ebenso lang pp. Die Kranzgefässe desselben 
sind überall stark, meist bis zur Rundung mit flüssigem verschiebbarem Blute 
gefüllt und auch die feineren Verzweigungen derselben überall deutlich mit meist 
ebenfalls verschiebbarem Blute hell- und blauroth ausgespritzt. An der linken 
Seitenwand des linken Ventrikels findet sich ein punktförmiger und ein etwa 
halblinsengrosser d. i. gegen 2 mm im Durchmesser haltender, scharfumsohrie- 
bener, hellrother Fleck, weiohe durch Einschnitte als sehr oberflächlich gelegene 
minimale Blutunterlaufungen festgestellt werden. Die Farbe des Herzens ist im 
Allgemeinen hellbraunroth, dasselbe fühlt sich in der linken Hälfte ausserordent¬ 
lich prall an, bietet aber auoh in der rechten Hälfte eine mindestens gute bis 
schwach pralle Resistenz. 


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Tod in Kohlenoxyd and Tod dnroh Kohlenoxyd. 


327 


37) Bei der Eröffnung de9 Herzens finden sioh in der linken Kammer nnd 
Vorkammer 5 ccm dunkelkirsohrothes flüssiges Blut, in der rechten Kammer and 
Vorkammer etwa 2 oom ebensolchen Blate9 pp. 

38) pp. wobei (sc. Herausnahme des Herzens) sioh ans den grossen Ge- 
fässen noch 3 ccm dnnkelkirschrothen Blutes entleeren pp. Nach dem Auf- 
sohneiden des Herzens findet sich in der linken Herzkammer noch ein flächen¬ 
förmiges Speckhautgerinnsel von etwa 1 ccm Volumen, desgleichen finden sioh 
in der rechten Herzkammer minimale Spuren ebensolchen Speckhautgerinnsels 
und im rechten Vorhof ein ebensolches von beiläufig gleichfalls 1 ccm Volumen 
vor. pp. 

39) Die linke Lunge ist voluminös und im unteren Lappen respective in 
den rückwärtigen Partieen von mehr dunkelblaurother Farbe. Dieselbe ist von 
unebener Oberfläche, fühlt sich überall elastisch an und knistert beim Berühren. 
Auf dem Durchschnitt ist das Gewebe von im oberen Lappen hellbraunrother, im 
unteren Lappen mehr dunkelbraunröther Farbe und lässt auf Druck blutigschau- 
mige Flüssigkeit in mässiger Menge, im unteren Lappen etwas reichlicher und 
mit stärkerer Blutbeimischung, hervortreten. DieLuftröhrenä9te enthalten blutig- 
röthlichen Schaum in mässiger Menge, der bei Druck auf die Lungentheile in 
ihnen emporsteigt, ihre Schleimhaut ist von verwaschen blauröthlieber Färbung. 
Die Lungenarterien enthalten minimale Spuren flüssigen Blutes, pp. 

40) Die rechte Lunge ist mit Ausnahme des vorderen Randes entsprechend 
den oben beschriebenen Verklebungen im ganzen Umfange mit sohmutzigbraun- 
röthliohen häutigen Anflügen besetzt und im Ganzen von dunkelblaurother Farbe. 
Sie erscheint im Ganzen weniger voluminös als die linke, fühlt sich weniger 
elastisch an und knistert nioht so deutlich beim Berühren. Auf dem Durchschnitt 
ist das Gewebe im oberen Lappen überall lufthaltig von hellbraunrother Farbe 
und lässt auf Druck blutigschaumige Flüssigkeit in spärlicher Menge hervor¬ 
treten, im mittleren und unteren Lappen ist das Gewebe auf dem Durohsohnitt 
von stärkerer, derberer, wie fleischiger Consistenz und lässt auf Druck mehr nur 
blutigwässrige Flüssigkeit mit geringeren Sparen von Luftbeimisohung hervor¬ 
treten; auch zeigt sich das Gewebe in den rückwärtigen Theilen der Lunge viel¬ 
fach auf Durchschnitten mit kleineren unter hirsekorngrossen weissgelblichen 
Knötchen durchsetzt, von denen bei näherem Zusehen jedes einzelne eine feine 
Oeffnung erkennen lässt, aus der sich bei Druck entweder blutige Flüssigkeit 
oder auch hier und da gelbgrünlioher Schleim hervordrüoken lässt. Luftröhren¬ 
äste, Lungenarterien etc. zeigen hier da9 nämliohe Verhalten wie links. 

41) Das Rippenfell von graublauröthlicherFarbe zeigt sich reohter9eits mit 
hellrosaröthlichen häutigen Anflügen besetzt, pp. 

42) In den grossen Gefässen des Halses finden sich Spuren flüssigen 
Blutes, pp. 

43) pp. Der Kehlkopf ist leer, die Schleimhaut, stark feucht, im Ganzen 
von grauweissröthlioher Farbe, lässt stellenweise geringe Ausspritzung aller- 
feinster Gefässchen erkennen. 

46) Die absteigende Brustschlagader ist nur mit Sparen dunklen flüssigen 
Blutes in sehr geringer Menge gefüllt. 

50) pp. Die linke Niere, mit sehr spärlich entwickelter Fettkapsel, ist6om 
lang, 3 cm breit und 1 VjCm dick, im Ganzen von unregelmässiger, jedooh etwas 


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Dr. Chlumsky, 


in die Länge gezogener Gestalt, noch eine gewisse Lappungsandentang zeigend» 
von blassbraanröthlicher Farbe. Die Kapsel ist zart, leicht abziehbar, die Nieren¬ 
oberfläche glatt und nur massige Füllung der feinsten Gefässchen erkennen 
lassend. Auf dem Durchsohnitt ist die Rindensubstanz nur 2—3 mm breit, beide 
Substanzen entschieden blass und gleichmässig von fast nur graubraunröthlioher 
Farbe. Im Nierenbecken findet sich ein im Ganzen etwa blassgrüngelbliches, 
ovalrundliches, hartes, steiniges Gonorement von 4 mm Länge und ungefähr je 
2 mm Breite und Höhe. pp. 

51) Die rechte Niere zeigt pp. in allen Stüoken äusserlioh wie innerlich 
genau das nämliohe Verhalten wie die linke Niere. Und auch hier findet sioh 
ein steiniges Concrement von der nämlichen blassgrüngelbliohen Farbe, welches, 
aus einem dickeren, beiläufig cylindrischen Tbeile und einem dünneren recht¬ 
winklig darangesetzten Haken bestehend, genau in seinem Aussehen an das eines 
Gehörknöchelchens, speciell des Hammers und Ambosses erinnert, und welches 
örtlich so angetroffen wird, dass der diokere Theil desselben vorangehend sich 
bereits im Harnleiter befindet, während duroh den Haken das Ganze noch im 
Nierenbeoken festgehalten wird. pp. 

54) Im Mastdarm findet sich ein Kothinhalt nioht und nur Spuren grau- 
weisslichen Schleimes vor, seine Schleimhaut ist vollkommen blass. 

55) Der Zwölffingerdarm enthält mässigeMengen eines sehr blassgelbliohen 
Schleimes, seine Sohleimhaut ist blass, pp. 

56) pp. Die Gallenblase ist ausgedehnt, wie durchscheinend und enthält 
nach dem Aufschneiden 7 ccm einer sehr dünnflüssigen, bernsteinfarbenen, voll¬ 
kommen klaren, wie öligen Galle; die Schleimhaut der Gallenblase ist stark 
durchfeuchtet, glänzend und sehr glatt, von blassgrauröthlicher Farbe und lässt 
keine Spur der gewöhnlichen gitterartigen Anordnung erkennen. 

59) Das Gekröse ist wenig fetthaltig pp. die Gekrösdrüsen bis über Bohnen¬ 
grösse d. i. bis za 1 cm und darüber vergrössert. 

60) Im Dünndarm findet sich blassgraulioher, stellenweise mehr wässriger 
mitFlocken untermischter Schleim in massiger Menge, seine Sohleimhaut ist voll¬ 
kommen blass, die solitären Drüsohen sind als ganz feine unter Hirsekorn-grosse 
opake Körnchen zu erkennen. 

61) Im Dickdarm findet sich der nämliche Schleim wie im Dünndarm als 
Inhalt vor, die Schleimhaut ist überall blass, auch hier sind die solitären Dräs¬ 
chen als hirsekorngrosse opake Körnchen, noch deutlicher als im Dünndarm, 
erkennbar. 

62) Die grossen Blutgefässe der Bauchhöhle enthalten Spuren dunklen 
flüssigen Blutes. 


Auf Grund dieser Obductioneu haben wir unser vorläufiges Gutachten dahin 
abgegeben, 

1) hinsichtlioh beider Kinder, dass dieselben unter mehrfachen Erschei¬ 
nungen der Erstickung an Lungenödem gestorben sind, und 

2) a) hinsiohtlich der Pauline R., 

dass diese Erstiokung höohst wahrscheinlich durch die Einwir¬ 
kung von Kohlenoxydgas bedingt worden ist; 


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Tod in Kohlenoxyd and Tod daich Kohlenoxyd. 


329 


b) hinsiohtlioh der Johanna R., 

dass diese Erstioknng möglicherweise durch die Einwirkung von 
Kohlenoxydgas bedingt worden ist, bezw. dass einer solchen An¬ 
nahme der Obductionsbefand nicht widerspricht. 

Ein definitives Gutachten über die Todesart der beiden Kinder behielten 
wir ans bis nach Bekanntgabe des Ergebnisses der spektroskopischen Unter¬ 
suchung der von beiden Leichen entnommenen und zur gerichtlichen Asservation 
übergebenen Blutproben vor. 

Die durch den chemischen Sachverständigen Dr.S. zu B. ausgeführte spek¬ 
troskopisch-chemische Untersuchung dieser Blutproben führte nach dem Bericht 
desselben zu folgendem Resultat. 

Das Blut der Johanna R. zeigte einen rothvioletten Farbenton, wie er bei 
normalem Blut zu beobachten ist, das Blut der PaulineR. dagegen eine, nament¬ 
lich nach der Verdünnung mit Wasser recht deutliche kirsohrothe Farbe, wie sie 
für kohlenoxydhaltiges Blut ziemlich charakteristisch ist. 

In entsprechender Verdünnung in planparallelen Gläschen vor den Spalt 
eines Spectralapparates gebraoht, zeigten zunächst beide Blutproben je 2 Ab¬ 
sorptionsstreifen im Spectrum. 

Nachdem dann aber zu beiden Proben des verdünnten Blutes je einige 
Tropfen einer Sohwefelammoniumlösung hinzugefügt worden waren, wurde bei 
dem wieder vor dem Spectralapparat gebrachten Blute der Johanna R. nunmehr 
ein einziger, breiterer Absorptionsstreifen im Spectrum sichtbar, indem die beiden 
ursprünglichen sich zu einem einzigen Bande vereinigt hatten; bei dem Blute 
der Pauline R. dagegen blieben auch nach Hinzufügung van Schwefelammonium 
die beiden ursprünglichen Absorptionsstreifen persistent, eine Vereinigung der¬ 
selben zu einem einzigen Bande erfolgte niobt. 

Durch dieses Verhalten der beiden Blutproben vor dem Spectralapparat war 
mit Sicherheit dargethan, dass das Blot der Johanna R. nicht kohlenoxydhämo¬ 
globinhaltig, somit frei von Kohlenoxyd war, und dass der Blutfarbstoff im Blute 
der Pauline R. aus Kohlenoxydhämoglobin bestand, das Blut somit Kohlenoxyd 
enthielt. 

Bezüglich beider Blutproben wurde dieser spektroskopische Befand überdies 
noch durch eine chemisohe Reaction bestätigt, welche darauf beruht, dass der 
Farbstoff des normalen Blutes durch Natronlauge leicht zersetzt wird, während 
derjenige eines kohlenoxydhaltigen Blutes ziemlioh resistent und unveränderlich 
bleibt: naoh Zusatz von einigen Tropfen lOproc. Natronlauge trat bei dem Blute 
der Johanna R. alsbald eine Veränderung des rothen Farbentons in einen 
sohmutziggrünliohen ein, während bei dem Blute der Pauline R. nach analogen 
Versuchen eine Veränderung der kirsohrothen Farbe keineswegs wahrzuneh¬ 
men war. 

Das Gesammtresultat der Untersuchung war somit — worin wir uns voll¬ 
kommen ansohliessen — dahin zusammenzufassen, dass das Blut der Johanna R. 
kohlenoxydfrei war und dass das Blut der Pauline R. Kohlenoxyd enthielt. 

Wenn wir unser vorläufiges Gutachten bezüglich der Todesursache der 
beiden Kinder gleiohlautend dahin abgegeben hatten, dass dieselben unter mehr¬ 
fachen Erscheinungen der Erstickung an Lungenödem gestorben sind, und wenn 
wir in Bezug auf die besondere Veranlassung der Erstickang uns dahin ausge- 


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Dr. Chlumsky, 


sprochen hatten, dass dieselbe bei der Paniine R. höchst wahrscheinlich and bei 
der Johanna R. möglicherweise durch die Einwirkung von Kohlenoxydgas bedingt 
worden sei, so können wir nach der nunmehr erlangten Kenntniss des Resultates 
der spektroskopisch-chemisohen Untersuchung des Blutes beider Leichen, und 
nachdem uns die vor dem Tode der beiden Kinder stattgehabten Vorgänge näher 
bekannt geworden sind, unser vorläufiges Gutachten wesentlich, insbesondere be¬ 
züglich der Erstickung als Todesursache beider Kinder vollständig, aufrecht er¬ 
halten und sind in der Lage uns in Betreff der besonderen Veranlassung dieser 
Erstiokung nunmehr mit Bestimmtheit dahin auszusprechen, dass diese Er- 
stiokung bei beiden Kindern durch die Einwirkung von Kohlenoxydgas zu Stande 
gekommen ist. 

Dieses unser definitives Gutachten begründen wir, zunächst hinsichtlich der 
Pauline R., wie folgt. 

Es gebt bereits aus den actenmässigen Depositionen der Mitglieder der 
R.’sohen Familie und der sonst vernommenen Zeugen hervor, dass die Pauline R. 
in der letzten Zeit vor ihrem Tode in der elterlichen Wohnung wiederholt den 
Einwirkungen von Rauch und Qualm ausgesetzt gewesen ist, und dass sie für 
derartige Einwirkungen ganz charakteristische Krankheitserscheinungen leichterer 
und schwererer Art mehrfach dargeboten hat. 

Sie hat in jener Zeit öfters überUebligkeiten geklagt, ist am 9. Februar er., 
an welchem Tage es besonders stark rauchte, in der Stube sogar plötzlich mit 
den Worten „mir wird so schlecht“ ohnmächtig zusammengesunken, und fühlte 
sich, als sie am 10. Februar früh zur Schule ging, sehr schwaoh und hat über 
Kopf- und Halsschmerzen geklagt. 

Wenn sie nun an jenem nämliohen Tage, an welchem es offenbar in der 
Stube stärker als jemals zuvor geraucht hat, um 10 Uhr aus der Schule zurück¬ 
gekehrt zur Pflege der inzwischen in analoger Weise schwer erkrankten Mutter 
zu Haus verblieben ist und — nachdem sie höchst wahrscheinlich noch Erbrechen 
und Stuhlentleerung gehabt hatte — kurz nach 12 Uhr Mittags in ihrem Bette 
todt aufgefunden worden ist, so bedarf es keiner weiteren Auseinandersetzungen 
darüber, dass schon die bei der Pauline R. vordem hervorgetretenen Kraokheits- 
erscheinungen und die äusseren Umstände des Falles in der denkbar positivsten 
Weise für die Annahme eines Todes durch Erstickung zu sprechen geeignet sind. 

Aber auch ganz abgesehen von diesen ungewöhnlich conclusiven Krank- 
heitserscheiuungen und äusseren Umständen des Falles hat die Obduction selbst 
eine Reihe von Befunden ergeben, wie sie für den Tod durch Erstickung charak¬ 
teristisch und an sich beweisend sind. 

Es fand sich zunäohst eine allgemeine ungewöhnliche Flüssigkeit des Blutes 
vor, und bezüglich der Blutvertheilung bestand eine wohlmarkirte Blutüberfül¬ 
lung der inneren Brustorgane, und eine analoge solche lag in den Organen der 
Schädelhöhle vor. 

Das Blut ersohien vollkommen flüssig in dem Längsblutleiter (17) und in 
den Querblutleitern des Hirns (19), ebenso in allen Abtheilungen des Herzens 
(34) und den grossen Gofässen der Brusthöhle (35), in den Lungenarterien (36, 
37) und in den grossen Gefässen am Halse (39), und bot die nämliche Be¬ 
schaffenheit in der absteigenden Brustschlagader (43) und den grossen Gefässen 
der Bauchhöhle (59) dar. 


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Tod in Kohlenoxyd and Tod durch Kohlenoxyd. 


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Blatäberfällt waren zanäohst die Langen and das Herz: sohon der Herz¬ 
beutel zeigte überall eine deutliche Ausspritzung der feinsten Gefässchen, and 
die grösseren waren dentlioh gefüllt (32), am Herzen selbst waren die Kranz- 
gefässe stark znm Theil bis zur Rundung gefüllt (33), im linken Herzen finden 
sich 10, im reohten 6 ccm Blut (34) and bei Herausnahme des Herzens ent¬ 
leerten sich ans den grossen Gefässen, die bereits änsserlioh leidlich gefüllt er¬ 
schienen waren (31), noch 20 ccm Blut (35). Beide Langen waren voluminös, 
von granblanröthlicher and aaf dem Durcbsohnitt von hellbraanrother, fast hoch- 
rother Farbe, and bei Draok trat überall eine blntigschanmige Flüssigkeit in 
reichlicher Menge hervor (36, 37), in den Lnngenarterien fand sich Blut in 
ziemlicher Menge vor (36). 

Bezüglich der Organe der Schädelhöhle erschien die äussere Oberfläche der 
stark gespannten harten Hirnhaut, bei mässiger Füllung ihrer grossen Gefässe, 
im ganzen Umfange mit flüssigem Blute wie bethaut (16), im Längsblutleiter 
fanden sich 15 ocm Blut (17) und ebensoviel als Inhalt am Schädelgrunde vor 
(19); die grösseren Gefässe der weichen Hirnhant waren überall ziemlioh stark, 
namentlich nach hinten bis zur Rundung, blutgefüllt, and aach die feineren and 
feinsten Verzweigungen derselben überall deutlich ausgespritzt (18); die weisse 
Substanz der Hirnhalbkugeln war mit durch den Wasserstrahl abspülbaren and 
danaoh wiederkehrenden Blutpankten ausserordentlich reichlioh durchsetzt (22), 
die Gefässe der hellbraunrothen, fast hochrothen oberen Gefässplatte und der 
Adergefleohte stark blutgefüllt (23) and auch an den übrigen Theilen des Ge¬ 
hirns war aaf Durchschnitten überall ein gewisser Blutreichthum erkennbar (24). 

Ferner fand sioh eine starke Gefässfüllung der Schleimhaut des Kehlkopfes 
and der Luftröhre vor, and dieser ganze Canal war mehr oder weniger aasgefüllt 
mit Schaum. 

Es enthielt nach dem Seotionsprotokoll der Kehlkopf in seiner ganzen Aus¬ 
dehnung eine Lage weisslichen respeotive weissröthlichen feinblasigen Schaums, 
seine Schleimhaut, durchweg von hoohrother Farbe, zeigte eine dichte Aus¬ 
spritzung der feinsten Gefässchen (40), die Luftröhrenäste enthielten blutigen, 
weissröthlichen Schaum in reichlicher Menge, der bei Druck auf dieLungentheile 
in ihnen besonders emporstieg, ihre Sohleimhaut war von gleichmässig verwaschen 
hellrother Farbe (36, 37). 

Auch vor Mund und Nase befand sich weisslicherSchaum (6), und im Kehl¬ 
kopf finden sich 2 kleine Partikel einer gelbbräunlicben, ■ weichen, offenbar aas 
dem Magen stammenden und vom Erbrochenen herrührenden Substanz (40). 

Alle diese Befunde zusammengenommen — ungewöhnliche Flüssigkeit des 
Blutes in allen Organen, Blutüberfüllung des Herzens und der Langen and reich¬ 
licher Aastritt von blatigschaumiger Flüssigkeit aas allen Theilen der letzteren, 
Blutüberfüllung des Gehirns und seiner Häute, starke Injection der Kehlkopfs¬ 
und Luftröhrenschleimhant und Anfüllung von Kehlkopf and Luftröhre mit Schaam, 
sowie der Befund von Mageninhalt im Kehlkopf selbst — beweisen, dass derTod 
der Pauline R. durch Erstiokung, mit Lungenödem als terminaler Erscheinung, 
herbeigeführt worden ist. 

Wenn aber hinsichtlich der Beschaffenheit des Blutes dieSection acsser der 
ungewöhnlichen Flüssigkeit zngleioh eine eigenthümliohe Färbung desselben aller¬ 
orten nachgewiesen hat, — so zwar, dass das Blat als solches nirgends eine 


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dankte Farbe angenommen hatte, sondern überall and ausnahmslos hellroth er¬ 
schien, dass sohon bei der äasseren Besichtigung an den hellrothenTodtenflecken 
ein Stich in’s Rosafarbene unverkennbar war, und bei Einschnitten das Gewebe 
zum Theil mit einem sehr deutlichen Stich in’s Hellrosarothe durchtränkt er¬ 
schien (ö), dabei auch eine besonders hellrosäröthliche, wie lachsartige Färbung 
der Musculatur wahrgenommen wurde (5, 27) und auch an den bläulichen Fin¬ 
gerspitzen eine einigermassen in’s Rosafarbene spielende Verfärbung aufgefallen 
war (13), und dass auch hinsichtlich der inneren Organe insbesondere an der 
inneren Oberfläche der harten Hirnhaut (18) und am Gehirn selbst (22), am 
Herzbeutel (32) und am Herzen (33) sowie an den Darmschlingen (28) der 
nämliohe rosafarbene Ton wahrgenommen worden ist — so konnte schon naoh 
der Section selbst, wie es in unserem vorläufigen Gutachten zum Ausdruck ge¬ 
langt ist, mit hoher Wahrscheinlichkeit angenommen werden, dass die Erstickung 
duroh Einwirkung von Kohlenoxydgas bedingt worden war. 

Denn das Kohlenoxydgas entfaltet naoh der Einathmung seine verderbliche 
Wirkung dadurch, dass es mit dem Hämoglobin, dem rothen Farbstoff der rothen 
Blutkörperchen, eine schwerlösliohe Verbindung eingeht, welche die Blutzellen 
der Fähigkeit zur Aufnahme von Sauerstoff in den Lungen und zur Aufnahme von 
Kohlensäure in den Geweben beraubt, sie für die Athmung untauglich macht, 
und dass das so veränderte (vergiftete) Blut dann eine intensive Affection des 
Gehirns hervorbringt und speoiell eine lähmende Wirkung auf die Athmungs- 
centren ausübt, so dass der Tod durch innere Erstickung die Folge davon ist. 

Mit dem Auftreten dieser schwerlösliohen, als Kohlenoxydhämoglobin zu 
bezeichnenden Verbindung nimmt aber das Blut eine intensiv hellrothe bis car- 
moisinrothe Färbung an, welohe eben den von ihm durchströmten Organen und 
Gewebstheilen das frische, hellrothe, rosafarbene Aussehen verleiht. 

Es erübrigte somit nur noch den Nachweis zu führen, dass in derThat das 
Blut der Pauline R. Kohlenoxyd enthielt, und nachdem dieser Nachweis durch 
die spektroskopisoh-chemische Untersuchung, wie oben ausgeführt, mit aller Be¬ 
stimmtheit erbracht worden ist, kann es nach alledem nioht dem mindesten 
Zweifel unterliegen, dass in der That die Erstickung der Pauline R. duroh Ein¬ 
athmung von Kohlenoxydgas zu Stande gekommen ist. — 

Was sodann den Tod der Johanna R. anbetrifft, so wurden bei der Ob- 
duotion der Leiche derselben ebenfalls Befunde erhoben, die zusammengenommen 
für den Tod duroh Erstickung vollkommen und ausreichend charakteristisch sind. 

Auch hier fand sich eine Blutanhäufung in den inneren Brustorganen, spe- 
ciell in Herz und Lungen und eine analoge Blutüberfüllung der Organe der 
Schädelhöhle vor. 

Denn die Kranzgefässe des Herzens waren überall stark, meist bis zur 
Rundung gefüllt and auoh die feineren Verzweigungen derselben überall deut¬ 
lich ausgespritzt (36), im linken Herzen fanden sich 5 com flüssigen Blutes und 
ein Speokhautgerinnsel von 1 ccm Volumen, im rechten Herzen etwa 2 com 
flüssigen Blutes und ein Gerinnsel von 1 ccm Volumen vor (37, 38), und aus 
den grossen Gefässen entleerten sich bei Herausnahme des Herzens noch 3 com 
Blutes (38). 

Die Langen waren im Ganzen von dunkelblaurother, auf dem Durchschnitt 
von hell- bis dunkelbraunrother Farbe und Hessen bei Druok blutigsohaumige 


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Tod in Kohlenoxyd and Tod daroh Kohlenoxyd. 


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Flüssigkeit in massiger Menge wenigstens im grössten Theile ihrer Abschnitte 
hervortreten (39 and 40). 

In der Schädelhöhle waren an der granblaaröthlichen harten Hirnhaut die 
grösseren Qefässe massig gefüllt (17), an der weichen Hirnhaut erschienen die 
grösseren Gefässe ziemlich blatgefüllt and aaob deren feinere and feinste Ver¬ 
zweigungen überall deutlich aasgespritzt (19), die Qaerblatleiter waren massig, 
(20), die hellbraunrotben bis hochrothen Adergeflechte deatlioh bis stark gefüllt, 
(24), and die weisse Substanz der Hirnhalbkugeln erschien mit durch den Wasser¬ 
strahl abspülbaren and danaoh wenigstens znm Theil wiederkehrenden Blut- 
pankten reichlioh durchsetzt (23). 

Aaoh hier fand sich eine Injection der Kehlkopfs- and der Laftröhren- 
schleimhaat and Sohaumanhäafung in der Luftröhre vor: es liess die Kehlkopf- 
schleimhaat, stark feucht and im Ganzen von graaweissröthlioher Farbe, stellen¬ 
weise geringe Ausspritzung allerfeinster Gefässchen erkennen (43), in den Luft- 
röhrenästen war die Schleimhaut von verwaschen blauröthlioher Farbe, und die¬ 
selben enthielten blauröthlichen Sohaum in massiger Menge, der bei Druck auf 
die Lungentheile in ihnen emporstieg (39, 40), und beim Umwenden der 
Leiche floss auoh aus Mund und Nase etwas graulichtrübe visoide Flüssigkeit 
aus (7). 

Nicht aber fand sich hier die im vorigen Falle so auffallende hellrothe Farbe 
des Blutes, welohes auch nicht so ganz ausnahmslos wie dort von flüssiger Be¬ 
schaffenheit war, sondern hier und da auoh mehr oder weniger geronnen erschien 
(18, 38); und dementsprechend wurde auch nirgends das frisohe bellrosafarbene 
Aussehen der von ihm durchströmten Organe und Gewebe constatirt. 

Dagegen wurden ausser den im vorigen Falle erhobenen positiven Befunden 
hier nooh 2 kleine, soharfumschriebene hellrothe Blutunterlaufungen — Eochy- 
mosen — an der linken Seitenwand des Herzens (36) und eine geringe Vorlage¬ 
rung der Zunge (8) festgestellt: Erscheinungen, die beide in Verbindung mit 
anderen und zum Theil auch für sich ebenfalls charakteristisch für den Er¬ 
stickungstod sind, auf welchen eventuell auch der Befund von schwärzlichem, 
den Nasenöffnungen lose aufliegendem Schmatz (8) hinzuweisen geeignet ist. 

Zwar ist die Hyperämie der Brustorgane im vorliegenden Falle an sich 
keine besonders ausgeprägte, namentlich in den Lungen, gewesen, und auoh im 
Herzen war das absolute Quantum des Vorgefundenen Blutes nicht irgend erheb¬ 
lich gross. 

Es ist aber nach Inhalt des ganzen Obductionsprotokolls das Kind ein elen¬ 
des und sieches gewesen, welches insbesondere in hohem Grade abgemagert (2, 
28, 29, 60) war, und bei dem die Seotion eine Reihe von ausgesprochenen 
Krankheiten, wie Rhachitis (31), rechtsseitige Brustfellentzündung (33, 40), 
eine partielle ohronisch entzündliche Affection des Lungengewebes (40), Nieren¬ 
steinbildung (50, 51), Oedem der Gallenblase (56) und chronischen Darmkatarrh 
(54, 55, 60, 61, 62) — und in deren Gefolge eine hochgradige allgemeine Blut¬ 
leere (5 und 4) nachgewiesen hat, so dass mit Rücksioht auf diese allgemeine 
Blutleere der Befund an den Organen derBrusthöhle immerhin respective zweifel¬ 
los als relative Blutüberfüllung zu bezeichnen war. 

Dagegen war die Blutüberfüllung in der Sohädelhöhle auch in diesem Falle 

Vierteljahr!«ehr. t ger. Med. Dritte Folge. V. 2. 22 


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Dr. Chlumsky, 


wohl markirt and erschien hier, wie im vorigen Falle, deutlicher ausgesprochen, 
als es sonst bei der Erstickung im engeren Sinne des Wortes, durch Absperrung 
der Luftzufuhr von Aussen, in vielen Fällen gefunden wird. 

Dies erklärt sich daraus, dass eben, wie oben hervorgehoben wurde, das 
duroh Kohlenoxyd vergiftete Blut eine intensive Affection des Gehirns hervor¬ 
bringt, welche, durch Lähmung der Gefässnerven und der Gefässmuskeln sich 
äussernd, eine Erweiterung der Gefässe zur Folge hat. Diese Gefässerweiterung 
ist dann, ebenso wie im vorigen, so auch im Falle der Johanna R. insbesondere 
in der reichlichen Durchsetzung der weissen Gehirnsubstanz mit Blutpunkten 
zum Ausdruck gelangt. 

Denn es ist auch bei der Johanna R. der Erstickungstod unzweifelhaft durch 
Einathmung von Kohlenoxydgas erfolgt. Die Johanna R. ist nach Inhalt der 
Acten in der elterlichen Wohnung den nämlichen Einwirkungen von Rauch und 
Qualm, insbesondere auch an den Tagen des 9. und 10. Februar or. und zwar 
noch länger als ihre Schwester Pauline ausgesetzt gewesen, da eine Unter¬ 
brechung des Aufenthaltes in dem in Rede stehenden Zimmer, wie bei Pauline 
durch den Schulbesuch am 10. früh, bei ihr nioht stattgefunden hat. Es kann 
also zunächst nioht zweifelhaft sein, dass auch die Johanna R. an dem in Rede 
stehenden Tage in jenem Raume Kohlenoxydgas eingeathmet bat. 

Wenn sie aber nioht direct, in dem Kohlenoxydgas enthaltenden Raume selbst 
ihren Tod gefunden hat, sondern erst mehrere Stunden danach, nachdem sie in 
ein anderes Zimmer übergeführt worden war, in der darauffolgenden Nacht ge¬ 
storben ist, so steht solches einerseits im Einklang mit der wissenschaftlichen 
Erfahrung, dass nicht selten nach Kohlenoxydgaseinathmung der Tod erst einige 
Zeit, nachdem das Individuum bereits aus der Kohlenoxydatmosphäre befreit war, 
eintritt, und dass er dann, indem das aufgenommene Kohlenoxyd im Blute zu 
Kohlensäure oxydirt wird, durch secundäre Kohlensäurevergiftung erfolgt. 

Und andererseits liegen in den speciellen Verhältnissen und äusseren Um¬ 
ständen unseres Falles bestimmte Momente vor, die einen solchen Hergang der 
Dinge ganz besonders wahrscheinlich machen und vollkommen erklären. 

Die Johanna R. war, wie oben ausgefübrt, ein durch eine Reihe von ver¬ 
schiedenen Krankheiten in der Ernährung äusserst herabgekommenes, sohwäch- 
liches Kind, bei welchem die Athmung an sich um so weniger mit der normalen 
Energie erfolgen konnte, als ihre quantitative Ausgiebigkeit duroh das fast totale 
Angewachsensein der rechten Lunge an die Brustwand (durch Brustfellentzün¬ 
dung 33, 40) direct beschrankt und behindert war. 

Sie wurde, als man an dem in Rede stehenden Tage die R.’sohe Wohnung 
betrat, vorgefunden mit einem Tuche über’s Gesicht bedeckt, welcher Umstand 
bei diesem Kinde auch seinerseits die Athmungsgrösse herabzusetzen und zu ver¬ 
mindern sehr wohl geeignet war. 

Es kann daher kaum zweifelhaft sein, dass das Kind in dem Kohlenoxyd 
enthaltenden Raume infolge der aus inneren und äusseren Ursachen verminderten 
Ausgiebigkeit der Athmung nur relativ geringe Mengen von Kohlenoxyd aufge¬ 
nommen hat, wodurch es auch allein erklärlich wird, dass zur Zeit, als ihre 
ältere Schwester Pauline bereits verstorben und die Mutter schwer erkrankt und 
besinnungslos war, an der Johanna R. wenigstens auffallende Krankheitssymptome 
nioht wahrgenommen worden sind. 


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Tod in Kohlenoxyd und Tod duroh Kohlenoxyd. 


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N&ohdem dann aber das Kind ans der Kohlenoxydatmosphäre entfernt and 
in ein anderes Zimmer fibergeföhrt worden war, reiohte nunmehr, trotz der rela¬ 
tiv kleinen Menge des aofgenommenen Kohlenoxyds, die geringe Energie der 
Lebensvorgänge des Kindes überhaupt nicht mehr aas, das Kohlenoxyd aas dem 
Organismus za eliminiren; dasselbe wurde vielmehr im Blate za Kohlensäure oxy- 
dirt, deren das Kind auch nicht mehr Herr za werden vermochte, und es erfolgte 
duroh secandäre Kohlensäurevergiftung der Tod. 

Die stattgehabte Oxydation des aufgenommenen Kohlenoxyds zu Kohlensäure 
maoht es denn auch erklärlich, dass in dem Blute der JohannaR. bei der spektro¬ 
skopisch-ohemischen Untersuchung Kohlenoxyd nioht mehr aufgefunden worden ist. 

Nach den voransgegangenen Aaseinandersetzangen resamiren wir 
unser definitives Gatachten dahin, 

1) dass die beiden Kinder Paaline and Johanna R. an Erstickung 
gestorben sind; 

2) dass diese Erstickung bei beiden Kindern durch die Einath- 
mung von Kohlenoxydgas za Stande gekommen ist, so zwar, 
dass die Paaline R. direct and anmittelbar in der Kohlen¬ 
oxydatmosphäre gestorben ist, dass dagegen der Tod der 
Johanna R. erst einige Zeit nach deren Entfernung aas der 
Kohlenoxydatmosphäre durch secandäre Kohlensäarevergiftang 
herbeigeführt worden ist. 

Aaf die specielle Veranlassung des Auftretens von Kohlenoxyd 
in der R.’schen Wohnung brauchen und haben wir, da uns irgend¬ 
welche bezügliche Fragen nicht vorgelegt worden sind, nicht näher 
einzagehen, glauben aber gegenüber der in den Acten enthaltenen 
gegentheiligen Deposition des Bausachverständigen darauf hinweisen 
zu sollen, dass es unseres Erachtens allerdings möglich ist, dass auch 
bei der festgestellten Beschaffenheit der Feuerungsanlagen in der 
Wohnung der R.’schen Eheleute sich Kohlenoxyd gebildet habe, ohne 
dass eine Veränderung oder Verstopfung der Feuerungsanlagen vorge¬ 
nommen worden ist, und zwar um so mehr möglich, als in jedem, 
bei jeder beliebigen Beschaffenheit der Feuerungsanlagen, aus irgend¬ 
welcher Veranlassung auftretenden Rauche Kohlenoxydgas enthalten ist. 


22* 


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II. Oeffentliches Sanitätswesen. 


1. 

(Aus der medicinischen Universitätsklinik des Herrn 
Geheimrath Prof. Ebstein): 

Die Kohlenoiydgamrgiftuig nid die la derea Yerhitaag 
geeignete! siaitätspoliieiliehea Maassregel!. 

Von 

Dr. med. Ernst Becker, 

ehern. Assistenzärzte. 

(Schluss.) 


YII. Pathologische Anatomie. 

Die Leichenerscheinungen, welche man bei der Kohlenoxydgas- 
vergiftung vorfindet, können unter Umständen so ausgeprägt sein, 
dass die richtige Diagnose oft auf den ersten Blick gestellt werden 
kann, in anderen Fällen können sie völlig negativ sein. An dem 
Aeusseren der Leichen fällt die hellrothe Farbe der Todtenflecken 
auf, welche durch das mit Kohlenoxyd imprägnirte Blut bedingt ist. 
Dieselben sitzen allerdings vorzugsweise an der Vorderfläche des 
Rumpfes, aber auch an der Rückenfläche, welche ausserdem die ge¬ 
wöhnlichen, mehr blaurothen hypostatischen Flecken aufweist. Diese 
Flecken 1 ) halten sich sehr lange und sind noch an Leichen deutlich 
gesehen worden, deren Haut bereits durch die Verwesung grün ge¬ 
färbt war. Gelegentlich ist die hellrosenrothe Färbung im Gesicht, 
zumal auf den Wangen, so frappirend und der lebensfrischen Farbe 
so täuschend ähnlich, dass Laien sich absolut nicht von dem einge- 


l ) Lesser, Atlas. Tafel XVII. Fig. 3. 


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Die Kohlenoxydgasvergiftung and deren Verhütang. 


337 


tretenen Tode überzeugen lassen wollten nnd Schwierigkeiten bei der 
Obduction bezw. Einsargung der Leiche machten. Nur die Blansäure ‘) 
macht bisweilen ähnliche hellrothe Leichenflecke. Die gleiche rosen- 
rothe Färbung findet sich auch an den inneren Organen, den Muskeln, 
Schleimhäuten und serösen Häuten. Die Blutgefässe sind bis in die 
feinsten Verästelungen auffallend weit, geschlängelt und enthalten 
reichlich flüssiges, meist hellrothes Blut. In Milz, Nieren und Leber 
findet man, wenn der Tod erst nach einigen Tagen eingetreten ist, 
beginnende parenchymatöse Degenerationen, in den Muskeln Verlust 
der Querstreifung und fettige Entartung. Das Gehirn ist meist infolge 
arterieller Hyperämie 3 ), zumal in der Rindensubstanz schön rosa ge¬ 
färbt, während die weisse Substanz niemals ähnliche rosa Töne auf¬ 
weist, und enthält nicht selten Capillarblutungen und Erweichungs¬ 
heerde 8 ). Die auf Pleura, Pericard und Peritoneum gefundenen Ek- 
chymosen sind nicht selten infolge fettiger Degeneration der Gefäss- 
wände, vielfach aber durch die bei den asphyktischen Krämpfen 
herrschende allgemeine Stauung des Blutes entstanden. In den Respi¬ 
rationsorganen sieht man Hyperämie der Schleimhaut, sowie Entzün¬ 
dungen mannigfacher Art (acute eitrige Bronchitis, fibrinöse Pneu¬ 
monie, Aspirationspneumonie), die aber für die Kohlenoxydvergiftung 
als solche nicht charakteristisch sind. Grauer oder schwarzer Belag 
an Lippen und Nasenflügeln, welcher bei Kohlenoxydvergiftungen vor¬ 
kommt, gehört natürlich nicht dem Gase, sondern dem gleichzeitig 
vorhandenen Rauche an und kann daher zur Differentialdiagnose zwi¬ 
schen Leuchtgas- und Kohlendunstvergiftung verwerthet werden. 

Der Fäulniss verfallen die Leichen offenbar relativ schnell; in¬ 
dessen pflegt sich die hellrothe Farbe der Brust- und Bauchmusku¬ 
latur länger, als die des Blutes zu erhalten, so dass es wahrschein¬ 
lich ist, dass die Muskelsubstanz selbst durch die Einwirkung des 
Kohlenoxydes eine qualitativ allerdings mit der des Blutes überein¬ 
stimmende Farben Veränderung erleide 4 ). Neuerdings wird diese An¬ 
nahme durch die von Falk 5 ) angestellten Thierversuche bestätigt, 
welche darthun, dass thatsächlich das Kohlenoxyd viel länger in den 
Muskeln als im Blute haftet. Diese Imprägnirung der Muskeln mit 


! ) Casper-Liman, 1. c. S. 492. 

2 ) und 3 ) Lesser, Atlas. Tafel XVII. Fig. 6 und 7. 

4 ) Lesser, 1. o. S. 143. 

5 ) Falk, Diese Vierteljahrsschrift. Ootober 1891. S. 260 ff. 


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338 


Dr. Beokor, 


Kohlenoxyd dürfte allein schon im Stande sein, die erwähnten schweren 
Functionsstörnngen zu bedingen. 

Wenn man nun bedenkt, dass ein Theil der Leichenerscheinungen 
für die Vergiftung durch Kohlenoxyd nicht charakteristisch, ein ande¬ 
rer nicht regelmässig vorhanden ist, so würde es um die Feststellung 
des Thatbestandes in manchen Fällen schwach bestellt sein, wenn 
wir nicht in der Lage wären, das Kohlenoxyd im Blute direct nach¬ 
zuweisen. 


VIII. Das Kohlenoxydblat. 

1. Aussehen desselben. 

Wie bereits (S. 336) erwähnt, giebt es einige äussere, leicht erkennbare 
Zeiohen, welobe in denjenigen Fällen, wo das Blut viel Kohlenoxyd enthält, so zu 
sagen mit dem Oase gesättigt ist, mit einer an Gewissheit grenzenden Wahr¬ 
scheinlichkeit die Todesursache festzustellen ermöglichen. Sobald das Kohlen¬ 
oxyd durch die Lungenoapillaren in’s Blut eingetreten ist, verdrängt es dort, wie 
zuerst von Lothar Meyer 1859 naobgewiesen wurde, ein gleiches Volumen 
Sauerstoff aus seiner Verbindung mit dem Hämoglobin und geht mit letzterem 
eine Verbindung zu Kohlenoxydhämoglobin ein. Dieses ist zur Erhaltung 
des notwendigen Qasweohsels vollständig untauglioh und stellt ausserdem eine 
festere und beständigere Verbindung als das Oxyhämoglobin dar: Die Restitutio 
ad integrum der Blutkörperchen während des Lebens, sowie die Zersetzung der¬ 
selben nach dem Tode ist daher keine ganz leiohte, nooh sohnell sioh voll¬ 
ziehende. 

Das Kohlenoxydhämoglobin ist ausgezeichnet durch eine hellrothe Farbe, 
welche sioh der ganzen Blutmasse bei der Vergiftung mittheilt, sodass daduroh 
der Unterschied zwischen arteriellem und venösem Blute mehr und mehr ver¬ 
wischt wird. In dicken Schichten erscheint das Kohlenoxydblut kirsohroth, in dünnen 
dagegen mehr weniger hellroth, Zinnober- oder ziegelroth. Diese Färbung kann 
aber durch verschiedene Vorgänge mehr oder weniger modifioirt oder ganz zum 
Verschwinden gebracht werden. Einmal durch die Fäulniss, welohe der Blutfarbe 
etwas Verwaschenes, Schmutziges mittheilt; dann aber auch duroh die Gegen¬ 
wart von Kohlensäure im Blute. Da, wie wir bei der Schilderung der Symptome 
(S. 129) auseinander gesetzt haben, der Tod nioht selten unter dem Bilde 
schwerer Asphyxie eintritt, z. B. wenn erbrochene Massen in grosser Menge aspi- 
rirt werden, so findet man dann auoh in diesen Fällen bei der Section die aus¬ 
gesprochenen Zeichen der Kohlensäureüberladung des Blutes, welches daduroh 
die bekannte dunkel- bis schwarzrothe Farbe annimmt. Das Gleiche tritt ein, 
wenn der Kohlendunst, dem das Individuum zum Opfer fiel, sehr reich an Kohlen¬ 
säure war. Wir sehen daraus, dass unter einer Reihe von Bedingungen der Tod 
duroh Kohlenoxyd hervorgerufen sein kann, ohne dass das äussere Aussehen des 
Leiohenblutes diese Todesart verräth. Mikroskopisch lässt sioh eine Veränderung 
an den Blutkörperchen niemals naohweisen. 


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Die Koblenoxydgasvergiftung and deren Verhütung. 


339 


2. Naohweis des Kohlenoxydes im Blate. 

Es ist daher von der grössten Wiohtigkeit, dass man darch eine Reihe ab¬ 
solut sicherer Methoden den Kohlenoxydgehalt des Blutes nachweisen kann. 
Dies ist auf zweierlei Weisen möglich: entweder man weist das Kohlenoxyd im 
Blute selbst direct nach oder man entfernt es aus dem Blute, und prüft 
es darauf auf seine verschiedenen Reaotionen gegenüber chemischen Agentien. 

Die Methoden der ersten Gruppe sind im Allgemeinen leichter ausführbar, 
als die der zweiten, und verlangen nicht, wie diese, grössere Apparate und tech¬ 
nisch-chemische Kenntnisse. Sie beruhen alle auf dem veränderten Verhalten des 
Kohlenoxydhämoglobins gegenüber dem Oxyhämoglobin des gesunden Blutes und 
verlangen demnach stets zum Vergleiche den Controllversuoh mit letzterem. Man 
kann nun entweder: 

a) das Kohlenoxydhämoglobin selbst nachweisen mit Hilfe der Hoppe- 
Seyler*sehen spektroskopischen Probe oder 

b) man wandelt duroh chemisohe Agentien das Hämoglobin in Häma¬ 
tin, Methämatin oder Sohwefelmethämoglobin um oder erzeugt gewisse 
Niederschläge im Blute; durch alle diese Vorgänge werden Farbenreao- 
tionen erzeugt, die je nach dem Vorhandensein oder Fehlen voq Kohlenoxyd im 
Blute verschieden ausfallen. 

Die nun folgende Besprechung der einzelnen Methoden kann sioh nioht auf 
alle mit der gleichen Ausführlichkeit erstrecken, sondern nur die zumal für den 
Gerichtsarzt wichtigen einer eingehenden Würdigung unterziehen. 

A. Hoppe-Seyler's spektroskopisohe Probe. 

Naobdem Hoppe-Seyler sohon im Jahre 1862 das Speotrum des im nor¬ 
malen Blute vorhandenen Oxyhämoglobin beschrieben hatte, zeigte er im 
Jahre 1864 das Spectrum des Kohlenoxydhämoglobins und im folgenden 
Jahre dessen Verhalten gegenüber reducirenden Substanzen. 

Verdünnt man nämliob kohlenoxydhaltiges Blut mit Wasser auf das aoht- 
bis zehnfache, oder auch noch stärker ’), füllt diese Lösung in ein Glaskästohen 
mit parallelen Wänden oder in ein gewöhnliches Reagenzgläschen und bringt 
dasselbe zwischen Flamme und Prisma eines Spectralapparates 2 ), so zeigt das 
Spectrum im Gelb und Grün zwischen den Frauenbofer’schen Linien D und E, 
bei D einen sohmalen und bei E einen breiteren dunkelen Absorptionsstreifen, die 
sogenannten Absorptionsstreifen des Kohlenoxydhämoglobins 3 ), die 


*) Ist die Lösung zu ooncentrirt, so vermag man sie nicht zu durch¬ 
leuchten. 

3 ) In gerichtsärztlichen Untersuchungen leistet das kleine Browning’sche 
Tasohenspectroskop ausgezeichnete Dienste, während man in Laboratorien meistens 
mit dem Kirchhoff-Bunsen’schen oder dem Vogel’schenApparate zu arbeiten 
pflegt. Auch das Hering’sche „Spectroskop ohne Linsen“ (Prager medicinisebe 
Woohenschr. 1886. 11) wird gelobt. 

3 ) Lesser, Atlas. Tafel XVIH. Fig. 11. No. 3. 


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340 


Dr. Beoker, 


denjenigen des Oxyhämoglobins im normalen Blute zwar sehr ähnlioh sind, aber 
sich dooh von ihnen unterscheiden lassen. Nämlich zunächst liegen die Kohlen¬ 
oxydstreifen nicht genau an derselben Stelle, wo sich die Oxystreifen finden, son¬ 
dern sind etwas nach der stärker gebrochenen — also der violetten — Seite des 
Speotrums versohoben; diese Verschiebung betrifft besonders den bei D gelegenen, 
schmaleren Streifen, welcher näher an den bei E liegenden herangerüokt ist. Der 
Zwischenraum zwischen beiden ist dadurch geringer geworden und erscheint anoh 
nicht so scharf begrenzt, wie beim Oxyhämoglobinspectrnm. Diese nur für ein 
geübteres Auge bemerkbaren Unterschiede würden es Manohem sehr schwer 
machen, in zweifelhaften Fällen mit absoluter Sicherheit die Gegenwart des Giftes 
nachzuweisen, wenn man nicht durch Zusatz reducirender Substanzen 
einen sinnfälligen Unterschied in beiden Speotren zu erzeugen vermöchte. Wäh¬ 
rend nämlich dann das Kohlenoxydblut keine Aenderung seiner Ab¬ 
sorptionsstreifen zeigt, tritt beim normalen Blute, dadurch dass das Oxyhämo¬ 
globin reducirt wird, statt der vorher sichtbaren zwei Absorptionsstreifen ein 
einziger auf, der etwa in der Mitte zwischen beiden verschwundenen liegt, erheb¬ 
lich breiter als diese, aber weniger dunkel und weniger scharf oontourirt er¬ 
scheint. Es lässt sich dadurch das Spectrum des Kohlenoxydblutes sehr leioht 
von dem des normalen unterscheiden. 

Als Reductionsmittel kann man ausser dem ursprünglich von Hoppe- 
Seyler empfohlenen Schwefelammonium oder Scbwefelnatrium eine frisch be¬ 
reitete Lösung von Ferroammoniumtartrat benutzen, die fast augenblicklich 
wirkt. Die Bereitung des Reagens ist die denkbar einfachste. Von einer bereit 
gehaltenen Mischung von Weinsäure und Ferrum sulfuricum ana füllt man die 
untere Kuppe eines weiten Reagenzglases an, giesst dieses halb voll destillirtes 
Wasser und setzt schliesslich einige Gubikcentimeter Ammoniak hinzu. Man 
braucht bei Anwendung dieses Reductionsmittels, das man sich schon bei der 
Autopsie leioht herstellen kann, nicht, wie bei den langsam wirkenden, längere 
Zeit zn warten, um durch das Ausbleiben der Reduction mit Sicherheit auf die 
Gegenwart von Kohlenoxyd schliessen zu können. Jedenfalls ist es aber bei An¬ 
stellung der Versuche unerlässlich, durch Vergleich mit normalem Blute sich von 
der Güte der Reductionsfiüssigkeit zu überzeugen. 

Steht nur eine sehr verdünnte Lösung des Kohlenoxydblutes zur Verfügung, 
so dass im Spectralapparate die Absorptionsstreifen kaum zn sehen sind, so kann 
man dieselben sehr leicht zur Anschauung bringen, wenn man die zu durch¬ 
leuchtende Schicht verbreitert; dies geschieht am einfachsten, indem man die 
Lösung in eine der bekannten mit 2 planparallelen Wänden versehenen Eau de 
Gologneflaschen füllt, ein Verfahren, das wegen seiner grossen Einfachheit gegen¬ 
über den mancherlei complicirten und trotzdem nicht immer sicheren, zu diesem 
Zwecke angegebenen chemischen Methoden den Vorzug verdienen dürfte. 

Nun wird man aber in allen Fällen,' wo im Blute nur wenig Kohlenoxyd, 
aber viel Sauerstoff vorhanden ist, bei Zusatz reducirender Substanzen nicht das 
reine Spectrum des Kohlenoxydhämoglobins bekommen, sondern daneben das des 
reduoirten Oxyhämoglobins, d. h. es tritt zwischen den beiden Absorptionsstreifen 
des Kohlenoxydhämoglobins eine Verdunkelung des Zwischenraumes auf 1 ), die 


*) Lesser, Atlas. Tafel XVIII. Fig. 11. No. 4. 


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Die Koblenoxydgasvergiftung and deren Verhütung. 


341 


nm so intensiver aasfällt, je mehr Sauerstoff (Oxyhämoglobin) im Blnte vorhan¬ 
den ist. Indessen ist die Kohlenoxydvergiftung ebenso wohl bewiesen, wenn 
keine vollkommene, als wenn gar keine Redaction eintritt; das Niohtver- 
schwinden der beiden Absorptionsstreifen des Kohlenoxydhämoglobins ist also 
Ausschlag gebend. 

Unter zwei Umständen können sich aber leicht anbemerkt Fehlerquellen 
bei dieser Probe einschleichen. Einmal verschwindet bei Zutritt des atmosphä¬ 
rischen Sauerstoffes im Laufe der Zeit das Kohlenoxyd aus dem Blute und lässt 
sich dann spectroskopisoh nicht mehr nachweisen. Man thut daher in foren¬ 
sischen Fällen gut, Jäderholm’s ! ) Rath zu befolgen und das fragliche Blut, 
wenn man die Untersuchung nicht bald nach dem Tode vornehmen kann, in voll¬ 
ständig angefällten und wohlverschlossenen Flasohen aufzubewahren. Auf diese 
Weise verwahrtes Blut hielt sich bei Zimmertemperatur zwei Jahre völlig unver¬ 
ändert und zeigte in zugesohmolzenen Glasröhren selbst nooh nach 10 Jahren 
keine Veränderung. Dagegen hat Eulenberg’s 2 ) Angabe, dass an freier Luft 
angetrooknetesBlut noch nach Monaten seine spectralen Eigenschaften beibehalte, 
von anderer Seite bislang keine Bestätigung erfahren. 

Zweitens aber kann man, wenn das Blut sohon sehr faul und missfarbig 
ist, das Speotrum des Kohlenoxydhämoglobins mit demjenigen des reduoirten 
Hämatins verwechseln, das bei der Zersetzung des Blutes entsteht. Indessen 
ist der erste Absorptionsstreifen dunkler, liegt mehr naoh dem violetten Ende des 
Speotrums hin, und beide Streifen treten nach Zusatz reduoirender Substanzen 
deutlicher hervor. In sehr zweckmässiger Weise kann man nun ebenfalls auf 
Jäderholm’s Empfehlung hin die Fäulniss des Blutes verhindern, wenn man 
auf 1 Volum Blut mindestens 1 Volum einer kaltgesättigten Boraxlösung zusetzt. 
Eine solche Mischung eignet sich noch nach Jahren zum speotroskopisohen 
Nachweise. 

Als Curiosum — einen praktischen Werth wird es wohl kaum jemals 
haben — sei erwähnt, dass carminsaures Ammoniak fast genau die gleichen Ab¬ 
sorptionsstreifen wie das Kohlenoxydbiut liefert, die auch selbstverständlich duroh 
Schwefelammonium nicht reduoirt werden. Sie liegen nur etwas mehr nach dem 
violetten Ende des Spectrum zu. Bei Zusatz einer dünnen Säure fällt dagegen 
sofort das Carmin als rothes Pulver aus, während in der Blutlösung das Speotrum 
des sauren Hämatins entsteht. Hierdurch würde man auch diese eventuell beab¬ 
sichtigte Täuschung erkennen können. 

Unter zwei Voraussetzungen kann aber das Kohlenoxyd im Blute nicht 
mehr nachweisbar sein, nämlich 1) wenn der Mensoh aus der Kohlenoxyd-Atmo- 
sphäre in die freie Luft gebracht, dort nooh einige Zeit geathmet hat und dann erst 
gestorben ist und 2) wenn die Kohlenoxydquelle* in dem Raume vor Eintritt des 
Todes versiegt ist, s<r dass durch die letzten Athemzüge bereits wieder reine Luft 
eingeathmet wurde. Unter diesen Bedingungen pflegt das Kohlenoxyd aus dem 
Blute naoh einiger Zeit wieder zu entweiohen. Umgekehrt gelingt der Naohweis 
des Kohlenoxydes im Blute von Leiohen, die in undurchlässigem Moor- oder Mer- 


*) L. c. S. 50. 

2 ) Berliner Klinische Woohensohrift. 1866. S. 233. 


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342 


Dr. Becker, 


gelboden gleichsam hermetisch abgeschlossen lagen, nicht selten noch nach 
Woohen mit ausreichender Sicherheit. 

Der untere Grenzwerth der mit dieser Methode bestimmbaren Kohlenoxyd¬ 
menge liegt sehr niedrig. 

„Es lassen sich nämlich 2,5—4,0 pM. Kohlenoxyd in einer Luft noch eben 
durch die charakteristischen Streifen nachweisen, wenn 100 ocm Luft mit 3 ocm 
sehr verdünnter Blutlösung in einem mit Gummikappe verschlossenen Glaskölb- 
ohen in innige Berührung gebracht werden; bei einem noch niedrigeren Gehalte 
ist keine Veränderung des Blutes mehr wahrzunehmen u *). 

Da aber in Fällen von acuter Kohlenoxydvergiftung wohl selten weniger als 
2,5 pM. des giftigen Gases eingeathmet werden, so wird auch diese Methode 
meistens den sicheren Nachweis liefern. Bei grösseren Verdünnungen ist aller¬ 
dings eine der empfindlicheren chemischen Proben zu empfehlen. 

B. Farbenreaotionen. 

Gehen wir nunmehr zu den verschiedenen durch Zusatz von Chemikalien 
eintretenden Farbenreactionen des Kohlenoxydblutes über, so ist zuerst 
die älteste derselben, die von Hoppe-Seyler im Jahre 1858 gefundene 

Natronprobe 

zu erwähnen. Man führt dieselbe in der Weise aus, dass man 1 Theil defibri- 
nirtes Blut mit 2 Theilen Natronlauge von 1,3 speo. Gewicht (dem Liquor natrii 
oaustici der deutschen Ph&rmacopoe) in einem Reagenzrohre schüttelt und dann 
die Farbenunterschiede zwischen dem normalen und dem kohlenoxydhaltigen 
Blute vergleicht. Im letzteren tritt eine schöne dunkelrothe, im ersteren eine 
ohoooladenbraune Farbe ein, die in dünnen Schichten in’s Grüne oder Braun¬ 
grüne spielt. Naoh Jäderholm’s 2 ) sorgfältigen Untersuchungen wird bei dieser 
Probe durch die Einwirkung der Natronlauge im normalen Blute das Oxy¬ 
hämoglobin in Oxyhämatin übergefübrt, welohes in conoentrirter Natronlauge 
unlöslich ist und daher sofort als grüner bezw. grünbrauner Niederschlag aus¬ 
fällt. Im Kohlenoxydblute fällt die Lauge Kohlenoxydhämatin als un¬ 
löslichen, dunkelzinnoberrothen Niederschlag. Derselbe Forscher*) hat auch die 
von Hoppe-Seyler ursprünglich gegebene Vorschrift, man solle das Gemisch 
auf Porzellan ausstreichen, aufgegeben, weil dabei durch den Sauerstoff der Luft 
ein Theil des Kohlenoxydhämatins in Oxyhämatin übergeführt wird, und daher 
empfohlen, die Probe im Reagenzglase anzustellen. Alle übrigen Modifloationen 
können nicht als Verbesserungen angesehen werden. 

Die Natronprobe hat eine ungemein praktische Bedeutung, weil sie leicht 
von jedem Arzte ausgeführt werden kann, gar keine ohemisoh-teohnisohen Kennt¬ 
nisse oder besondere Apparate voraussetzt, und die Farbenuntersohiede sehr auf¬ 
fällige sind; die offioinelle Natronlauge kann sofort aus der nächsten Apotheke 
bezogen werden, und die Probe selbst ist in kürzester Zeit vollendet. Allerdings 


*) Flügge, 1. c. S. 152. 

2 ) L. o. S. 83. 

3 ) L. c. S. 84. 


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Di« Kohlenoiydg&svergiftung und deren Verbot an g. 


343 


muss zagegeben werden, dass sie nicht selten im Stiche lässt, wo der speotrosko- 
pische Nachweis unschwer za fahren ist. 

Eine weitere Groppe von Reactionen theilten Weyl and An rep 1 ) im Jahre 
1880 mit, welche darauf beruhen, dass das Hämoglobin des normalen Blotes daroh 
die Einwirkung oxydirender Substanzen, wie Jodjodkalium (J 0,05 pCt., KJ 1 pCt.), 
Kali chlorioum (5pCt.) and Chamäleonlösang (0,025pCt.) oder reducirender Sub¬ 
stanzen, wie Brenzkatechin (1 pCt.), Hydrochinon (1 pCt.) und Pyrogallollösung 
(0,5pCt) in Methämoglobin übergeführt and dadurch gelblich oder gelblioh- 
grün gefärbt wird, während das Kohlenoxydblat anverändert roth bleibt. 

Durch verschiedene Sohwefelverbindungen vermag man im sauerstoff¬ 
haltigen Blute Sohwefelmethämoglobin zu erzeugen, welohes demselben 
eine sohmutzig grüne Farbe verleiht, während auch hier wieder das Kohlen¬ 
oxydblat seine hellrothe Farbe unverändert beibehält. Hierher gehört 
das von Salkowski empfohlene Schwefelwasserstoffwasser; Fodor 2 ) benutzt 
Ammonsalfid and Kaniyosi Katayama 8 ) fand, dass naoh Zusatz von orange¬ 
farbenem Schwefelammon and Essigsäure im Kohlenoxydblate eine schön bell- 
rothe Farbe erzeugt wird, während das normale Blut grünlich-grau oder röthlioh 
grüngrau erscheint. 

Neuerdings hat Konkel 4 ) mehrere Fällangsreaotionen für Kohlen¬ 
oxydhämoglobin and Oxyhämoglobin angegeben, welche so typische Farbenunter- 
sohiede zeigen, dass man durch Vergleichung derselben die sichere Diagnose der 
Kohlenoxyd Vergiftung stellen kann. Man benutzt dazaBlat, das mit der lOfaohen 
Menge Wasser verdünnt ist. Bei sämmtlichen Reaotionen sind die in der ge¬ 
wöhnlichen Blutlösung erzeugten Präoipitate sofort oder nach einiger Zeit braan 
gefärbt, während die Kohlenoxydniedersohläge mehr einen blaarothen Ton aaf- 
weisen. Für die werthvollsten and darohaus brauchbarsten hält Kunkel (S.88) 
folgende: 

1) Tannin, 3 pCt. wässrige Lösung, ist die beste Probe, welohe sich 
wochenlang nnverändert hält, 

2) Phosphormolybdänsäure, 

3) und 4) Zinkchlorid and Sublimat in 1—2proc. Lösungen; die Reactionen 
dauern viele Tage an, 

5) Platinchlorid (1:60), rasch vergänglich. 

Kunkal vermochte mit Hülfe dieser Reaotionen nooh 20 pCt. Kohlenoxyd¬ 
hämoglobin in einer Blutlösung naohzuweisen, während ihn die Spectralprobe 
schon bei weniger als 30 pCt. im Stiche liess (S. 89). 

Endlioh hat Rubner B ) gefunden, dass bei Zusatz von der 4—5 fachen 
Menge Bleiessig zum Kohlenoxydblate and nachfolgendem kräftigen Schütteln 


‘) L. c. S. 227. 
a ) L. c. S. 392. 

8 ) L. o. S. 57. 

4 ) L. o. S. 86 ff. 

5 ) Rubner, Archiv für Hygiene. X. 3. S. 397. 1890. 


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344 


Dr. Beoker, 


der Mischang das Kohlenoxydblat sohön roth bleibt, während normales Blot einen 
bräunliohen Farbenton annimmt. Nach einigem Znwarten sollen die Farbendiffe» 
renzen noch deutlicher werden nnd selbst bei Mischungen von Kohlenoxydblat 
mit normalem noch bei einem Verhältnisse von 1:8 bis 9 gnt erkennbar sein. 

Die Besprechung dieser chemischen Reactionen des Kohlenoxydblntes kann 
durchaus nicht Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Fast täglich werden neue 
Methoden angegeben, die mehr oder weniger zuverlässig, aber auch fast durch¬ 
weg complicirter sind. Da eine genaue Kritisirung derselben die Grenzen dieser 
Arbeit bei Weitem überschreiten würde, so konnten hier nur die allgemeinen Ge¬ 
sichtspunkte angedeutet werden. Ein Fehler aber haftet sämmtliohen Farben- 
reactionen an, nämlich der, dass die Deutung geringer Differenzen zu sehr dem 
subjectiven Ermessen überlassen bleibt, und überdies das Gelingen von der Rein¬ 
heit der Reagentien abhängig ist. 

C. Fodor’s Methode. 

Abgesehen von diesen Methoden, welche im Blute selbst das Kohlenoxyd 
nachzuweisen vermögen, giebt es solche, mit deren Hülfe man das Gas zuerst 
aus dem Blute entfernt und dann erst Reactionen mit ihm anstellt (vergl. S. 339). 
Es mag genügen, an dieser Stelle den Hauptrepräsentanten dieser Gruppe von 
Reactionen, nämlioh die von Fodor 1 ) geübte Methode in ihren Grundzügen zu 
erwähnen, da die übrigen bei Weitem nicht die gleiche Empfindlichkeit besitzen. 
Man pumpt zunächst nach Zuntz’s 2 ) Vorgang unter Erwärmen das Kohlenoxyd 
aus dem Blute aus und leitet es in eine neutrale Lösung von Palladiumchlorür, 
die auf lOOccm Wasser ca. 0,2mg PdCl 2 enthält. Dann wird durch das Kohlen¬ 
oxyd metallisches Palladium in Form kleiner, glänzender, sohwarzer Plättchen 
abgespalten, welche auf der Flüssigkeit schwimmen. Auch kann man Filtrir- 
papier mit der PdCl 2 -Lösung tränken, trooknen und in Streifen sohneiden; beim 
Gebrauche hängt man einen angefeuchteten Streifen in dem Gefässe auf, in wel¬ 
ches man das Kohlenoxyd leitet. Nach kurzer Zeit überzieht sich dasselbe mit 
einem zarten, schwarzen Häutchen von Palladium. Mit Hülfe dieser Methode ver¬ 
mag man im Blute das Kohlenoxyd dann noch nachzuweisen, wenn die einge- 
athmete Luft es nur in einer Verdünnung von V20000 enthält. Da indessen 
PdCl 2 auch durch Ammoniak, Schwefelwasserstoff, sowie gewisse Kohlenwasser¬ 
stoffe unter Bildung eines schwarzen Niederschlages zersetzt wird, so bedarf man 
verschiedener hier nicht näher zu erörternder Correoturen, um ein einwandfreies 
Resultat zu erzielen. Trotzdem wird diese Methode heutzutage wohl allgemein 
für die empfindlichste gehalten 3 ). 

Wenn wir nun zum Schlüsse nooh mit wenigen Worten in eine Kritik über 
die Brauchbarkeit der verschiedenen Methoden eintreten, so muss man im Allge- 


‘) L. c. S. 396. 

2 ) Eulenberg, Gewerbehygiene. S. 350. 

3 ) Sitzungsberichte der physiologisch medioinischen Gesellschaft Würzburg. 
1888. S. 92. 


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Die Kohlenoxydgasvergiftung und deren Verhütung. 


345 


meinen die Jäderholm’sche Ansioht*) wohl für die richtige ansehen: Als die 
einfachste nnd nnr leicht zugängliche Hülfsmittel erfordernde, allerdings nicht 
immer hinreichend genaue Probe kann die mit der offioinellen Natronlauge zum 
allgemeinen Gebrauohe empfohlen werden. Dooh ist in forensisohen Fällen eine 
Gontrole derselben durch die Spectraluntersuohung gleichzeitig öder später unter 
den vorgeschriebenen Cautelen unter jeder Bedingung vorzunehmen. In 
schwer zu entscheidenden Fällen kann man nooh verschiedene der anderen, als 
besonders empfindlich gerühmten Blutproben ausführen, da sich aus der Mehr¬ 
zahl der nicht ganz deutlichen Reactionen in ihrer Gesammtheit dennoch ein 
ziemlioh sicherer Schluss über die Gegenwart oder das Fehlen des Kohlenoxydes 
im Blute ziehen lässt. Der Hauptvorzug der spectroskopischen Methode beruht 
darin, dass sie exact ausgeführt, zu Irrthümern überhaupt keinen Anlass geben 
kann, die bei den leider nioht immer ganz deutlichen Farbenreaotionen nioht aus¬ 
geschlossen sind. Leider besitzt sie aber nicht den gleiohen Grad der Empfind¬ 
lichkeit wie diese. Die Fodor’sohe Methode wird man wegen ihrer schweren 
Ausführbarkeit zweckmässig wohl auf diejenigen Fälle beschränken, in denen 
man die Gegenwart von Spuren Kohlenoxyd im Blute mit absoluter Sicherheit 
aussohliessen will. 


IX. Diagnose. 

Die Diagnose der Kohlenoxyd Vergiftung kann aus den Krank¬ 
heitserscheinungen, dem Leichenbefunde, dem chemischen Nachweise 
des Giftes und aus den das Sterben begleitenden Umständen gestellt 
werden. 

1. Was die Krankheitsersoheinungen betrifft, so sind dieselben in 
der Regel für den Gerichtsarzt von nar untergeordneter Bedeutung. In vielen 
Fällen fehlen sie gaoz, wenn der Vergiftete, was ja häufig genug vorkommt, 
Morgens todt im Zimmer aufgefunden wird. In anderen Fällen bieten sie nichts 
Besonderes und geben nicht selten Anlass zu Verwechselungen mit anderen 
Krankheitszuständen, wie in der oben erwähnten Epidemie des Dr. Carret, die 
offenbar eine Typhusepidemie war. Verwechseln kann man die Kohlenoxydver¬ 
giftung z. B. auch mit der aouten Alkoholintoxication, da sich bei beiden Verlust 
des Bewusstseins und der Sinnesthätigkeit, sowie langsame stertoröse Athmung 
und kaum fühlbarer Puls finden kann. Allein meist schützt der Geruch der 
Athemluft nach den genossenen Getränken vor Irrthümern. Eine Verwechselung 
mit Blausäure-, Cyankalium- oder Bittermandelölvergiftung, zu der die hell- 
rothen Todtenflecke Veranlassung geben können, wird durch den Geruoh nach 
bitteren Mandeln, sowie durch das spectroskopische Verhalten des Blutes, wel¬ 
ches bei letzterer Intoxication unverändert ist, leicht vermieden. 

Was die chronische Vergiftung, sowie die Nachkrankheiten der 
acuten anlangt, so können dieselben wegen der Unbestimmtheit der Symptome 


*) L. o. S. 100. 


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346 Dr. Becker, 

wohl nur dann mit Sioherheit diagnosticirt werden, wenn die Materia peooans 
bekannt ist. 

2. Viel wichtiger ist für den Gerichtsarzt die Leicheneröffnung, bei 
der es sich besonders am die Beschaffenheit and Vertheilang des Blates handelt. 
Die hellrothe Farbe, die flüssige Beschaffenheit desselben, die hellrothen Todten- 
flecken, der Blatreichtham der inneren Organe, zumal des Gehirns and der 
Lange, sind, wenn auch keineswegs pathognomonisohe, so doch wichtige Zeichen, 
welche dem Obdaoenten den Verdacht einer Kohlenoxyd Vergiftung nahe legen 
müssen. 

3. Der sichere Beweis derselben kann erst daroh den ehernisohen 
Nachweis des Kohlenoxydhämoglobins im Blute erbracht werden, bei dem man 
sich der oben geschilderten Methoden za bedienen hat. Dieselben müssen aber 
sobald wie möglioh nach dem Tode vorgenommen werden, da das Kohlenoxyd 
allmälig aas dem Blate wieder verschwindet, and alsdann der Beweis des Ver- 
giftangstodes überhaupt nicht mehr erbracht werden kann. 

Das Gas verschwindet (wie S. 341 gesagt) aas dem Blate einmal, wenn¬ 
gleich wahrscheinlich erst spät, sobald ein hoher Grad vonFäulniss an der Leiche 
eingetreten ist; zweitens aber dann, wenn der Verstorbene aas der Koblenoxyd- 
atmosphäre entfernt and nach einiger Zeit in der frischen Laft gestorben ist. 
Das Kohlenoxyd wird dann' durch den mit der Athmang neu aufgenommenen 
Sauerstoff allmälig wieder verdrängt und vielleicht aach wohl in Kohlensäure 
übergeführt 1 ); neuerdings wird dies indessen von Gaglio 3 ) auf Grund seiner 
unter Schmiedeberg’s Leitung aasgeführten Experimente entschieden in Ab¬ 
rede gestellt. Dabei ist folgende Thatsacbe von der allergrössten Wichtigkeit 
Wenn der Nachweis des Kohlenoxydhämoglobins im Herzblute nicht mehr ge¬ 
lingt, so soll man niemals unterlassen, das Blot der Hirnsinus genaa za unter¬ 
suchen. In vielen Fällen wird dann die Probe positiv ausfallen, offenbar deshalb, 
weil der Sauerstoff der Luft zu der ringsum abgeschlossenen Schädelkapsel nar 
langsam Zutritt erlangt. In zweifelhaften Fällen kann man oft durch die Blut- 
Untersuchung von Thieren, welche in demselben Raume starben, ohne vorher 
noch lebend an die Luft gebracht zu sein, das Gift noch nachweisen, während 
es aus dem Mensohenblute bereits wieder geschwunden ist. 

4. Endlich sind, wie überhaupt bei der Mehrzahl der plötzlichen Todes¬ 
fälle, die äusseren Umstände, unter denen der Tod eiütrat, für die gerichts¬ 
ärztliche Diagnose von Werth. Dahin gehört der eigenthümliche Geruch naoh 
Kohlendunst oder Leuchtgas, der indessen, wie wir oben auseinander gesetzt 
haben, auch fehlen kann, eine vorsohlossene Ofenklappe, ein im Erlöschen be¬ 
griffenes Feuer im offenen Kohlenbecken, das Offenstehen des Gashahnes, ver¬ 
kohlte oder noch glimmende Balken in der Wand des Hauses, geplatzte Gas¬ 
rohre u. s. w., schriftliche Aufzeichnungen von Selbstmördern über ihre Absicht. 
Indessen können alle diese Momente nur unterstützend wirken bei der Diagnosen- 
stellung, das Hauptgewicht ist stets auf den chemischen Nachweis des Kohlen¬ 
oxydhämoglobins zu legen. 


*) L. o. S. 358. 
a ) L. o. S. 243. 


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Die Kohlenoxydgasvergiftung and deren Verfaätnng. 


347 


Hiernach muss man die Diagnose der Kohlenoxydvergiftang mit Casper 1 ) 
dahin formaliren: 

„Wenn in einem Falle von fraglioher Kohlenoiydvergiftung das verdünnte 
Blut durch Reductionsmittel nicht redacirt wird, so kann man das Vorhandensein 
einer Kohlenoxyd Vergiftung ausspreohen.“ 

„Wenn in einem Falle von fraglicher Kohlenoxydvergiftang, in welchem die 
äusseren Umstände eine solche Vergiftung wahrscheinlich maohen, die Leichen¬ 
befunde einer solchen nicht widersprechen, der Zusatz von Schwefelammonium 
zu der verdünnten Blutlösung aber eine Reduction hervorbringt, so muss man 
erklären, dass die erhobenen Befunde eine Kohlendunstvergiftung zwar nicht 
erweisen, aber auch nicht ausschliessen, dass vielmehr eine solobe möglich, 
respective wahrscheinlich sei. Nach Lage des Falles kann man sich noch be¬ 
stimmter erklären. “ 


X. Prognose. 


Die Prognose ist in allen, anch den leichtesten Fällen ernst, 
besonders ungünstig aber dann zu stellen, wenn der Kranke längere 
Zeit hindurch das Bewusstsein verloren und viel Kohlenoxyd einge- 
athmet hatte. Indessen tritt bisweilen auch bei Vergiftungen schwer¬ 
sten Grades Genesung ein. Bezüglich der Dauer der Nachkrankheiten 
lässt sich gewöhnlich keine bestimmte Voraussage machen. 

XI. Therapie. 

Je frühzeitiger die Behandlung eingeleitet wird, desto mehr 
Aussicht auf Erfolg bietet sie. Der erste Act derselben muss selbst¬ 
verständlich die Entfernung des Vergifteten aus der gefährlichen 
Atmosphäre sein, wodurch in den leichteren Fällen schon die Gefahr 
beseitigt wird, weil durch Einathmung frischer Luft in dem Rest 
normalen, noch nicht mit Kohlenoxyd imprägnirten Blutes ein mög¬ 
lichst lebhafter Gaswechsel angeregt wird. Ist der Kranke bewusst¬ 
los, und die Athmung behindert oder ganz aufgehoben, so muss die 
künstliche Athmung eingeleitet und eventuell stundenlang energisch 
fortgesetzt werden. Daneben empfiehlt es sich, Reizmittel aller Art 
anzuwenden. Wenn trotz dieser Maassnahmen die bedrohlichen Sym¬ 
ptome nicht abnehmen, so käme als letztes Mittel die Transfusion in 
Frage, ein Verfahren, das mehrfach eine lebensrettende Wirkung hatte, 


‘) L. o. S. 603. 


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348 Dr. Becker, 

obgleich der Werth der Transfusion von anderer Seite 1 ) wieder sehr 
in Frage gezogen wird. 

Soweit ich die Literatur übersehe, sind indessen die Acten wie 
über den Werth der Transfusion im Allgemeinen, so besonders auch 
darüber noch nicht geschlossen, ob man natürlich nur bei den schwe¬ 
ren und schwersten Fällen der Kohlenoxydvergiftung die Transfusion 
frischen, defibrinirten, menschlichen Blutes machen soll. Wäre die 
Frage nach dem Werthe der Transfusion bejahend zu beantworten, 
so würde sie bei der Kohlenoxydvergiftung besonders deshalb zu be¬ 
fürworten sein, weil man vor der Einspritzung des neuen eine Ent¬ 
fernung des durch Kohlenoxyd untauglich gewordenen Blutes durch 
einen ausgiebigen Aderlass vornehmen könnte. Kühne’s 2 ) Thierver¬ 
suche scheinen dafür zu sprechen. 

Praktisch wichtig ist, dass man an einer sterbenden oder ge¬ 
storbenen Gravida unter allen Umständen den Kaiserschnitt ausführen 
muss, da in der Regel der Fötus vom Kohlenoxyd wenig beein¬ 
trächtigt wird und eventuell den Tod der Mutter eine Zeit lang über¬ 
lebt. Nur in den Fällen, wo sehr grosse Mengen des Giftes in kurzer 
Zeit eingeathmet sind, wenn also die rothen Blutkörperchen der 
Mutter das in das Blut aufgenommene Gift nicht vollständig zu binden 
vermochten, wo also auch das Blutserum mit Kohlenoxyd geladen 
war, hat man sowohl beim Menschen 3 ) als in Thierversuchen 4 ) 
Kohlenoxyd im Blute des Fötus nachzuweisen vermocht. 

Die Behandlung der Nachkrankheiten richtet sich nach den all¬ 
gemeinen Grundsätzen der Therapie. 

Es erhellt, dass die Behandlung im Wesentlichen nur eine sym¬ 
ptomatische ist; die Erfolge, welche sie erzielt, werden um so grösser 
sein, je leichter die Vergiftung war; in den schwersten Fällen ist sie 
so gut wie machtlos. Daraus ergiebt sich die zwingende Nothwendig- 
keit, durch sorgfältige Prophylaxe, durch geeignete sanitätspolizei¬ 
liche Maassnahmen die Kohlenoxydvergiftung nach Möglichkeit zu 
verhüten. 


! ) Vergl. die Discussion über Leyden's Vortrag im Verein für innere 
Medicin am 19. November 1888. 

2 ) Kühne, Centralblatt für die medicinisohen Wissenschaften. 1864. 
S. 134. 

*) Lesser, 1. c. S. 143. 

4 ) Dreser, 1. c. 


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Die Kohlenoxydgasvergiftung und deren Verhütung. 


349 


XII. Sanitätspolixeiliche Maassregeln zur Verhütung der 
Kohlenoxydvergiftung. 

Bei der grossen Verbreitung des Kohlenoxydes, als eines wich¬ 
tigen Bestandtheiles des Kohlendunstes, Leucht- und Wassergases, 
sowie der Minengase, bei dem so häufigen Vorkommen schwerer, nicht 
selten tödtlicher Vergiftungen sowohl im häuslichen, wie industriellen 
Betriebe und bei der leider oft völligen Fruchtlosigkeit unserer thera¬ 
peutischen Bestrebungen erscheint es zunächst durchaus erforderlich, 
durch Belehrung des Publikums über die Giftigkeit des Gases 
und die Gefahren, welche mit seiner Verwendung verknüpft sind, 
durch Wort und Schrift segensreich zu wirken. Wie wenig indessen 
man bislang die Unwissenheit und den Leichtsinn der Bevölkerung 
wirksam zu bekämpfen vermocht hat, beweisen die fast täglich be¬ 
richteten, durch mangelhafte Heizanlagen oder fehlerhafte Handhabung 
derselben hervorgerufenen Unfälle. Um so wünschenswerther erscheint 
es daher, dass in den Schulen, zumal in Bürger- und Volksschulen, 
durch Belehrung der Jugend ein Verständuiss für diese in volkswirt¬ 
schaftlicher Beziehung so wichtigen Fragen geweckt wird. Aber auch 
hier sind wir noch in den ersten Anfängen. 

Etwas günstiger gestalten sich die Verhältnisse dort, wo es sich 
um Fabrikbetrieb handelt, wo vor Allem der Arbeitgeber auf¬ 
merksam gemacht werden kann auf das, was er seinen Arbeitern 
schuldig ist, was ihm und seinem Geschäfte direct und indirect för¬ 
derlich ist. In industriellen, mechanischen und technischen Schulen 
kann durch Ausbildung tüchtiger Techniker, in Gewerbe- und Arbeiter¬ 
bildungsvereinen, wie sie in fast allen grösseren Städten Deutsch¬ 
lands bestehen, durch Belehrung und Aufklärung sowohl der Arbeit¬ 
geber, wie der Arbeitenden, endlich durch die Errichtung von Ge¬ 
werbemuseen, welche in Modellen und dergl. den Industriebetrieb dem 
Volke vor Augen führen, viel in dieser Richtung angestrebt und auch 
erreicht werden. Hand in Hand damit müsste gehen, dass in Fabrik¬ 
localen gedruckte Anweisungen und Belehrungen über die Gefahren 
des Betriebes und die Maassregeln zur Verhütung derselben ange¬ 
schlagen würden. Vor allen Dingen aber können durch die staat¬ 
liche Beaufsichtigung der Fabriken, wie sie bei uns besonders seit 
dem Inslebentreten der Gewerbeordnungsnovelle vom 17. Juli 1878 

Yierteljahrsschr. f. ger. Med. Dritte Folge. V. 2. 23 


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350 


Dr. Becker, 

durch die Anstellung von Fabrikinspectoren, in Preussen mit dem 
Titel Gewerberäthe, gehandhabt wird, die Gefahren der verschiedenen 
Fabricationszweige wirksam eingeschränkt werden. 

Wenden wir uns jetzt im Besonderen zu den Maassregeln, 
durch welche man die Kohlendunstvergiftung zu bekämpfen ver¬ 
mag, so ist in erster Linie als erfreulicher Fortschritt das Verbot 
der Ofenklappon zu verzeichnen, wie es z. B. in der polizeilichen 
Verordnung für Berlin vom 29. November 1879, für das Königreich 
Bayern durch die Bauordnung vom 30. August 1877. im Herzogthum 
Anhalt durch die Polizeiverordnung vom 16. Januar 1888 ausge¬ 
sprochen ist. Die Ofenklappen werden jetzt fast überall durch Zug- 
regulirvorrichtungen ersetzt, welche es gestatten, nach Bedarf den 
Querschnitt der luftzuführenden Wege gross oder klein zu machen. 
Bei richtiger Handhabung derselben ist ein Ausströmen der Heizgase 
in das Zimmer unmöglich. 

Den unter gewissen Bedingungen sich einstellenden „niedergehen¬ 
den Zug“ (S. 118 und 119) in den Füllöfen, kann man leicht da¬ 
durch beseitigen, dass man, sobald bei steigender Lufttemperatur ein 
Nachlassen des Feuers sich einstellt, dasselbe durch Vorgrösserung 
der Zugöffnungen unterhalb des Feuers verstärkt. Da nun aber beim 
Vorhandensein von mehreren Stockwerken gemeinsamen Kaminen 
Ofengase auch aus dem nicht geheizten Ofen in den Wohnraum aus¬ 
treten können (S. 118), so empfiehlt es sich, während der Nacht 
Thüren und Zugregulirvorrichtungen an den Oefen geschlossen zu 
halten unter der Voraussetzung, dass kein Feuer unterhalten wird. 
Im Uebrigen besteht selbst im Falle des Ausströmens von Heizgasen 
eine Gefahr nicht, wenn in dem Schlafzimmer selbst oder in dem 
benachbarten Wohnraume ein Fenster über Nacht wenig geöffnet 
bleibt 1 ). 

Selbstverständlich verlangen alle Heizapparate, Oefen sowohl wie 
Centralheizungen, ein wachsames Auge für ihre Reinhaltung und 
zwar nicht allein hinsichtlich der von Zeit zu Zeit nöthigen Entfer¬ 
nung von Russablagerungen in den Zügen, Rauchrohren und Schorn¬ 
steinen, sondern auch bezüglich der Niederschläge von Staub und 
Schmutz auf den Heizflächen, weil durch das Erhitzen derselben ein 
brenzlicher Geruch im Zimmer entsteht. So können z. B. bei unvor¬ 
sichtiger Beschickung der Meidingeröfen Kohlen zwischen die der Ver- 


') Meidinger, 1. c. S. 329. 


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Die Kohlenoxydg&svergiftung and deren Verhütung. 


351 


mehruDg der Heizfläche dienenden vertikalen, eisernen Rippen fallen, 
durch deren langsame Verbrennung sich sehr lästige Heizgase zu ent¬ 
wickeln pflegen. 

Auch müssen die im Laufe der Zeit stets undicht werdenden 
zahlreichen Fugen, zumal an Kachelöfen und vor Allem die Verbin¬ 
dung des Rauchrohres mit dem Kamine, deren häufig schadhafte Ver¬ 
kittung durch einen darüber gelegten Messingring der Beobachtung 
entzogen wird, von Zeit zu Zeit ausgebessert werden. Kurz es muss 
in Anlage und Betrieb einer jeden Heizvorrichtung stets die nöthige 
Sorgfalt und Vorsicht aufgeboten werden. 

Den Gefahren, welche die Verwendung von Carbon-Natron¬ 
öfen in sich birgt, ist infolge des Circularerlasses des Königlich 
preussischen Ministeriums des Innern vom 2. October 1888 bereits 
gebührend in den Bekanntmachungen des Königl. Polizeipräsidenten 
von Berlin vom 19. October 1888, der Königl. Regierungspräsidenten 
von Oppeln und Breslau vom 23. October 1888 und von Erfurt vom 
30. October 1888 Rechnung getragen und öffentlich vor der Verwen¬ 
dung derselben zur Beheizung von geschlossenen Räumen, welche zum 
dauernden Aufenthalte für Menschen dienen, insbesondere von Schlaf¬ 
zimmern, gewarnt worden. 

Ebenso können Kohlendunstvergiftungen durch offene Kohlen¬ 
becken leicht vermieden werden, wenn dieselben nicht in geschlossenen 
Räumen verwendet werden; verborgene Balkenbrände in den Wän¬ 
den der Wohnungen müssen durch geeignete baupolizeiliche Maass- 
nahmen verhütet werden. So schroibt die Baupolizeiordnung für den 
Stadtkreis Berlin vom 15. Januar 1887 vor, dass unter Feuerherden 
die Fussböden und Decken aus durchweg unverbrennlichem Materiale 
bestehen müssen, und dass der Rauch durch feuerfeste Rohre in die 
Schornsteine geleitet werden muss, welche, falls sie nicht ummantelt 
sind, vom freien Holzwerk 100, vom verputzten wenigstens 50 cm 
entfernt sein müssen. 

Die in den verschiedensten industriellen Betrieben, vor Allem 
beim Hochofenprocesse, entstehenden kohlenoxydhaltigen Gasgemische 
werden zweckmässig unter geeigneten Sicherheitsraaassregeln in be¬ 
sonderen Ableitungsrohren unter den Rost der Feuerung geleitet, wo 
sie als Brennmaterial eine passende Verwendung finden. 

„Das einzige wirksame Mittel gegen schlagende Wetter 
und die durch sie veranlassten Explosionen ist“ — nach 
Mittheilung der Gruben - Verwaltung in Waldenburg in Schle- 

28 * 

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352 


Dr. Becker, 

sien 1 ) — „nur eine gute Ventilation, durch welche die aus den 
Spalten der Kohle sich entwickelnden Gase von dem Luftstrome be¬ 
ständig fortgeführt werden.“ In welcher Weise dies erreicht werden 
kann, ist eine rein technische Frage, deren Erörterung nicht in den 
Rahmen dieser Arbeit gehört. 

Gehen wir nunmehr zu den Maassregeln über, welche eine Ver¬ 
giftung durch Leuchtgas zu verhüten geeignet sind, so wäre es ge¬ 
wiss das Wünschenswertheste, wenn man den Kohlenoxydgehalt des¬ 
selben verringern könnte. Da diese Aufgabe indessen bislang von 
der Technik noch nicht gelöst ist, so muss man die Gefahren auf 
andere Weise zu beseitigen suchen. Es muss deshalb zunächst die 
Darstellung in den Gasanstalten durch entsprechende Vorschriften 
möglichst gefahrlos gestaltet werden. Wichtiger ist indessen die Pro¬ 
phylaxe des Rohrbruches. Die Leitung des Gases erfolgt in 
schmiedeeisernen Röhren, die dort, wo sie an einander gefügt sind, 
möglichst fest und dicht verstopft sein müssen; die Vereinigung darf 
nur mittelst Muffen, nie durch Flanschen hergestellt sein, weil durch 
Temperaturwechsel ein Ausdehnen und Zusammenziehen des Metalls 
stattfindet und dadurch undichte Stellen entstehen. Wo die Rohre 
in Sand gelegt werden müssen, ist ein Einbetten derselben in Thon 
oder Lehm 2 ) sehr wünschenswerth, wodurch eine etwaige Verbreitung 
des entströmenden Gases in weitere Umgebung wenigstens etwas ver¬ 
mindert werden kann. Das wirksamste Mittel zur Verhütung der 
Gasrohrbrüche, das aber wohl stets auf die grössten Schwierigkeiten 
in der Durchführung stossen wird, würde wohl eine grossmöglichste 
Einschränkung der fast unaufhörlichen Erdarbeiten sein, welche das 
Legen von ausgedehnten Gas- und Wasserleitungs- und Canalisations- 
netzen in den grösseren Städten erforderlich macht. Jedenfalls ist es 
aber eine berechtigte Forderung der öffentlichen Gesundheitspflege, 
dass dieselben unter allen technischen Vorsichtsmaassregeln ausge¬ 
führt werden müssen. 

Durch alle diese Vorkehrungen wird man zwar den Bruch der 
Gasleitungsröhren nicht völlig verhüten, aber sicherlich erheblich ein¬ 
schränken können. Ist derselbe trotzdem erfolgt, so kann er durch 
sinnreich construirte Apparate leicht erkannt werden. Dr. Böhm*) 

') Poleck, 1. o. S. 1. 

2 ) Eulenberg, Gewerbebygiene. S. 601. 

3 ) Coglievina, 1. c. S. 395. 


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Die Kohlenoxydgasvergiftung and deren Verhütung. 


353 


in Wien hat wohl zuerst an eine systematische Ueberwachung des 
ganzen unterirdischen Gasrohrnetzes gedacht, als er den Vorschlag 
machte, das Gasrohr in seiner ganzen Ausdehnung in ein zweites 
Rohr zu legen, welch’ letzteres an bestimmten Stellen nach aufwärts 
gerichtete Rohrstutzen erhalten sollte. Diese Idee dürfte wohl wegen 
der enormen Dimensionen der nöthigen Rohrleitungen und Umhül¬ 
lungsrohre praktisch nicht ausführbar sein, ganz abgesehen davon, 
dass das Aussenrohr gerade so gut platzen und dadurch die ganze 
Anlage illusorisch machen kann. 

Sehr sinnreich ist der von Baurath C. Schmidt 1 ) in Breslau 
construirte Undichtigkeitsprüfer für Strassengasleitungen in Ver¬ 
bindung mit Erd Ventilation. Derselbe besteht aus einem eisernen, 
cylindrischen, unten trichterartig erweiterten, offenen Rohre mit schlitz¬ 
artigen Seitenöffnungen, welches senkrecht in den Erdboden eingesetzt 
wird. Das obere Ende dieses Rohres mündet in einen dicht unter der 
Erdoberfläche befindlichen Behälter, dessen Deckel durch einen Bügel¬ 
schraubenverschluss luftdicht verschlossen werden kann. Sobald nun 
in der Nähe dieses Apparates ein Rohrbruch stattgefunden hat, so 
dringt das Gas durch die Seitenschlitze in den Undichtigkeitsprüfer 
und kann in dessen Behälter durch den Geruch, durch Anzünden oder 
Palladiumchlorürpapier nachgewiesen werden. Aus diesem Behälter 
wird das Gas durch ein horizontal unter dem Boden verlaufendes 
Seitenrohr zur nächsten Strassenlaterne geleitet und dort wie in einem 
Schornsteine in höhere Luftschichten abgeführt. Coglievina 2 ) schlägt 
statt dessen vor, das Ableitungsrohr bis zur Frontmauei des nächsten 
Gebäudes zu leiten und dort in einer unter Verschluss befindlichen 
Nische in einem mit Palladiumchlorürpapier beschickten Behälter 
münden zu lassen. Die Stadtbehörde kann dann den patrouillirenden 
Schutzmann oder den Hausbesitzer anhalten, mehrmals täglich die 
Farbe des Reagenspapieres zu eontrolliren. Ob bereits praktische Er¬ 
fahrungen über diese Apparate vorliegen, habe ich aus der mir zu¬ 
gängigen Literatur nicht ersehen können; auch ist mir keine Stadt 
bekannt, in der dieselben ausgedehnte Verwendung gefunden hätten. 
Meist veranlasst der 10 pCt., selbst 20 pCt. betragende Gasverlust oder 
der dem Strassenpflaster entströmende Gasgeruch die Gasanstalten zur 


») L. c. S. 13. 

2 ; L. o. S. 402. 


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354 Dr. Beoker, 

zeitweisen Revision der Leitangen, ohne dass eine dauernde Gontrolle 
derselben stattfindet. 

Wird also ein Rohrbruch vermuthet, so muss unverzüglich das 
Strassenpflaster aufgegraben und nach der undichten Stelle gesucht 
werden. Ist sie gefunden, was unter Umständen länger als 24 Stun¬ 
den dauern kann, so wird das schadhafte Rohr durch ein neues er¬ 
setzt. Dass ein einfaches Dichten des Sprunges nicht ausreicht, be¬ 
weist ein von Pettenkofer l ) erzählter Fall, wo zwei Menschen da¬ 
durch ihren Tod fanden, dass auch nach dem Verstopfen des ge¬ 
brochenen Gasrohres das in der Grundluft des Strassenkörpers noch 
vorhandene Leuchtgas in die geheizte Wohnung aspirirt wurde. Gs 
empfiehlt daher Pettenkofer 2 ), gestützt auf Erfahrung und Experi¬ 
ment, noch ehe man an das Aufgraben und das Suchen nach der 
undichten Stelle geht, in den nächstgelegenen Häusern die Fenster in 
Kellern und Erdgeschoss Wohnungen ganz oder theilweise zu öffnen 
und offen zu halten, bis der Leck wieder gedichtet oder wenigstens 
die grössere Menge des ausgeströmten Leuchtgases wieder aus dem 
Boden verschwunden ist. Nur wo die Häuser bis zur Kellertiefe durch 
einen nach oben offenen Luftschacht vom Strassenkörper getrennt 
sind, kann diese Vorsichtsmaassregel überflüssig sein. Dies ist ein 
höchst einfaches Mittel, das, rechtzeitig angewandt, viel Unglück ver¬ 
hüten kann. 

Dem Ausströmen des Leuchtgases in den Wohnungen selbst kann 
man dadurch zweckmässig begegnen, dass man den Bewohnern eine 
sorgfältige Ueberwachung der Hähne, Leitungsrohre «md des Gas¬ 
messers zur Pflicht macht; auch ist es angerathen, dass in Privat¬ 
wohnungen, wo gemeiniglich eine Gasbeleuchtung über Nacht nicht 
erforderlich ist, der Haupthahn Abends abgestellt wird. 

Bezüglich des Wassergases und Dowsongases sind specielle 
sanitätspolizeiliche Vorschriften bislang noch nicht erfolgt. Der hohe 
Kohlenoxyd geh alt desselben lässt Hartmann’s Warnung auf dem 
VI. Hygienecongress als durchaus berechtigt erscheinen: er hält es näm¬ 
lich zur Beleuchtung bewohnter Räume für unzulässig und gestattet es 
in der Industrie zu Heiz- und Feuerungsanlagen nur unter Anwendung 
besonderer Vorsichtsmaasregeln. Im gleichen Sinne spricht sich Lunge 3 ) 


') L. o. S. 20. 

2 ) L. c. S. 21. 

3 ) L. c. Heft 16. 


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Die Kohlehoxydgasvergiftung and deren Verhütung. 


355 


aus. Auch von Seiten des Bundesrathes der schweizerischen Eidge¬ 
nossenschaft (13. Juli 1888) sowie in Preussen von Seiten der Herren 
Minister der geistlichen pp. Angelegenheiten und für Handel und Ge¬ 
werbe (25. Mai 1889) sind bereits die nöthigon Schritte gethan, um 
Maassnahmen zum Schutz gegen die gesundheitsschädlichen Wirkungen 
des Wasser- und Halbwassergases zu ergreifen. Die in dieser Hin¬ 
sicht gemachten Vorschläge beziehen sich besonders auf strenge Con- 
trolle industrieller Anlagen, event. Herabminderung des Kohlenoxyd¬ 
gehaltes durch Wasserdampf, Anbringung von Gascontrolleuren oder 
ähnlicher Vorrichtungen, welche das etwaige Entweichen des Wasser¬ 
gases in bewohnte Räume augenscheinlich machen sollen, Beimischung 
stark riechender Körper zum Wassergase etc. Eine allgemeine Rege¬ 
lung der Erzeugung und Verwendung des Wassergases für das deutsche 
Reich ist meines Wissens bislang aber noch nicht erfolgt. 

Zur Verhütung der Minenkrankheit hat man zahlreiche Schutz¬ 
mittel vorgeschlagen. Zumal hat man andere Sprengmittel empfohlen 
mit Rücksicht darauf, dass ein kohleärmeres Pulver auch weniger 
Kohlenoxyd liefert; statt des Pulvers hat man auch Nitroglycerin 
oder ein Gemenge von Schiessbaumwolle mit chlorsaurem Kali 
empfohlen. Das sicherste Mittel bleibt indessen immer eine schleu¬ 
nige Entfernung der Gase aus den Minen durch grosse, mittelst 
Wasser- oder Dampfkraft getriebene Ventilatoren. 


Literatur. 

1) Alberti, Deutsche Zeitschrift für Chirurgie. 20. Bd. S. 476. 1884. 

2) A protest against the use of watorgas or gas contaiDing more tban ten per 

cent of carbonic oxide in Massachusetts. Boston 1888. 

3) Becker, Ueber Nachbrankheitcn der Kohlenoxydvergiftung etc. Deutsche 

med. Wochenschrift. 1889. No. 26—28. 

4) Biefel und Poleck, Ueber Kohlendunst und Leuchtgasvergiftung. Zeit¬ 

schrift für Biologie. XVI. Bd. S. 279. 1880. 

5) Blumenstock, Kohlenoxydvergiftung in Eulenburg’s Realencyclopiidic der 

gesammten Heilkunde. Wien 1881. VII. Bd. S. 533. 

6) Böhm, Intoxication durch Kohlenoxyd in Ziemssen’s Handbuch der spe- 

oiellen Pathologie und Therapie. Leipzig 1876. XV. Bd. S. 157. 

7) Casper-Liman, Handbuch der gerichtlichen Medicin. 7 Aufl. Berlin 1882. 

8) Coglievina, Ueber Undichtheiten im Strassengasrobrnetze und die Mittel zu 

deren Abhülfe. Gesundheits-Ingenieur. 1887. S. 394. 

9) Cramer, Anatomischer Befund im Gehirn bei einer Kohlenoxydvergiftung. 

Centralblatt für allgemeine Pathologie und pathologische Anatomie. 1891. 
No. 13. S. 545. 

10) Eulenborg, Handbach der Gewerbehygiene. Berlin 1876. 


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356 


Dr. Beoker, 


11) Eulenberg, Handbuch des öffentlichen Gesundheitswesens. Berlin 1881. 

12) Derselbe, Ueber die Diagnose der Kohlenoxidvergiftung. Berliner klinische 

Wochenschrift. III. Bd. S. 231. 1866. 

13) Dreser, Zur Toxicologie des Kohlenoxyds. Archiv für experimentelle Patho¬ 

logie und Pharmacologie. XXIX. Bd. S. 119. 1891. 

14) Falk, Zur Casuistik der Kohlenoxydvergiftungen. Diese Vierteljahrsschrift. 

October 1891. S. 260 ff. 

15) Flügge, Lehrbuch der hygienischen Untersuchungsmethoden. Leipzig 1881. 

S. 150. 

16) Derselbe, Grundriss der Hygiene. Leipzig 1889. 

17) Fodor, Das Kohlenoxyd in seinen Beziehungen zur Gesundheit. Deutsche 

Vierteljahrsschrift für öffentliche Gesundheitspflege. XII. Bd. S. 377. 1880. 

18) Friedberg, Die Vergiftung durch Kohlendunst. Berlin 1866. 

19) Gaglio, Ueber die Unveränderlichkeit des Kohlenoxyds und der Oxalsäure 

im thierischen Organismus. Archiv für experimentelle Pathologie u. Phar¬ 
macologie. XXII. Bd. S. 243. 1887. 

20) Geppert, Kohlenoxydvergiftung und Erstickung. Deutsche med. Woebensohr. 

1892. S. 418. 

21) Greiff, Ueber Kohlenoxydvergiftung bei Theerdestillation. Diese Vierteljahrs¬ 

schrift. Bd. 52. S. 359. 1890. 

22) Gr über, Ueber den Nachweis und die Giftigkeit des Kohlenoxyds und sein 

Vorkommen in Wohnräumen. Archiv für Hygiene. I. Bd. S. 146. 1883. 

23) Hartmann’s Referat auf dem VI. internationalen Gongress für Hygiene. 

Wien 1887. 

24) Hirt, Kohlenoxydvergiftung in Pettenkofer’s und Ziemssen’s Handbuch 

der Hygiene und Gewerbekrankheiten. Leipzig 1882. III. Aufl. II. TheiL 

4. Abth. S. 34. 

25) Hoppe-Seyler, Ueber die optischen und chemischen Eigenschaften des Blut¬ 

farbstoffes. Centralblatt f. d. medicinischen Wissenschaften. 1864. No. 52. 

5. 817. 

26) Hünefeld, Die Blutprobe vor Gericht. Leipzig 1875. 

27) Itzigsohn, Virchow’s Archiv. 14. Bd. S. 190. 1858. 

28) Jäderholm, Die gerichtlich-medioinische Diagnose der Kohlenoxydvergiftung. 

Berlin 1876. 

29) Klebs, Virchow’s Archiv. 32. Bd. 1865. 

30) Kühne, Verfahren bei Kohlenoxydvergiftung. Centralblatt für die medici¬ 

nischen Wissenschaften. Jahrg. 1864. S. 134. 

31) Kuniyosi Katayama, Ueber eine neue Blutprobe bei Kohlenoxydvergiftung. 

Virchow’s Archiv. Bd. 114. S. 57. 1888. 

32) Kunkel, Ueber Kohlenoxydvergiftung und Nachweis. Sitzungsbericht der 

physik. med. Gesellschaft. Würzburg 1888. 

33) Lesser, Atlas der gerichtlichen Medicin. Erste Abtheilung. 

34) Leudet, Arch. gönir. de m6deo. VI. sörie, tome 5, p. 516. Paris 1865. 

35) Litten, Deutsche med. Wochenschrift. 1889. No. 5. S. 83. 

36) Lunge, Ueber die bei der Verwendung des Wassergases zu industriellen 

Zwecken erforderlichen Vorsichtsmaassregeln. Separat-Abdruok aus der Zeit¬ 
schrift für angewandte Chemie. Jahrgang 1888 Heft 16. 

37) Derselbe, Ueber die mit der Anwendung des Wassergases verbundenen Ge¬ 

fahren. Ebenda 1888. Heft 23. 

38) Maschka, Prager medic. Wochenschrift. 1880. V. Bd. No. 5—6. 

39) Meidinger, Gefahren des Füllofen-Feuerns über Nacht. Gesundheits-Inge¬ 

nieur. 1888. S. 320. 

40) Pettenkofer, Ueber Vergiftung mit Leuchtgas -Nord und Süd“. Januar 

1884. 

41) Petri, Deutsche Medicinalzeitung. 1888. S. 1078. 

42) Pfeiffer, Industrieblätter. 1888. S. 345. 

43) Poelchen, Virchow’s Archiv. Bi. 112. S. 26. 1888. 

44) Derselbe, Berliner klinische Wochenschrift. 1882. S. 397. 


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Die Kohlenoxydgasvergiftung and deren Verhütung. 


357 


45) Pokrow9ky, Virchow’s Archiv. 30. Bd. 1864. 

46) Poleok, Ueber die Zusammensetzung von Grubengasen, schlagenden Wet¬ 

tern etc. Separat-Abdruck aus dem 60. Jahresberichte der schlesischen Ge¬ 
sellschaft für vaterländische Cultur in Breslau. 1883. 

47) Rübner, Eine Reaction des Kohlenoxydblutes. Archiv für Hygiene. X. Bd. 

S. 397. 1890. 

48) Schiller, Experimentelle Untersuchungen über die Wirkung des Wassergases 

auf den thierischen Organismus. Leipzig 1888. 

49) Schmidt, Undichtigkeitsprüfer für Strassengasleitungen. Breslau 1886. 

50) Schwerin, Ueber nervöse Nachkrankheiten der Kohlendunstvergiftuog. Berl. 

klin. Wochenschrift. 1891. S. 1089. 

51) Sedgwick and Nichols, A study of the relative poisonous effects of coal- 

and watergas. Departm. of health. Juli 1885. 

52) Seidel, Vergiftung mit Kohlenoxyd in Maschka’s Handbuch der gericht¬ 

lichen Medicin. Tübingen 1882. II. Bd. S. 338. 

53) Siebenhaar und Lehmann, Die Kohleudunstvergiftung. Dresden 1858. 

54) Simon, Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten. I. Bd. S. 263. 

55) Soyka, „Gase“ in Eulenburg’s Realencyclopädie. V. Bd. S. 501. 

56) Welitschkowsky, Experimentelle Untersuchungen über die Verbreitung 

des Leuchtgases und Kohlenoxyds im Erdboden. Archiv für Hygiene. I. Bd. 
S. 210. 

57) Weyl und Anrep, Ueber Kohlenoxydhämoglobin. Archiv für Physiologie 

von Du Bois Reymond. 1880. S. 227. 

58) Wolffhügel, Kohlenoxyd und gusseiserne Oefen. Zeitschrift für Biologie. 

XIV. Bd. S. 506. 1878. 


Anmerkung bei der Correctur. Da die Arbeit bereits im April 1892 
der Redaction zugeschiokt wurde, so konnten die später erschienenen Arbeiten 
bei der Drucklegung aus äusseren Gründen nicht berücksichtigt werden. 


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Die Knikheitei der Arbeiter ia Theer- aad Parafftafabrikea 
ia aiediciaiseh-paliseilicher Hiasicht. 

Von 

Dr. med. Hoffmnnn, 

Kreiswundarzt in Halle a. S. 


Um beurtheilen zu können, von welchen Krankheiten die Ar¬ 
beiter in Theer- und Paratfinfabriken am leichtesten befallen 
werden und welchen Unfällon sie am ehesten ausgesetzt sind, und 
um zu wissen, in wie weit sich durch Aufstellen gewisser Vorschriften 
und Befolgen derselben diese Uebel ganz oder theilweise vermeiden 
lassen, ist es nöthig, zuerst den Betrieb in genannten Fabriken kennen 
zu lernen. 

Der Hauptsitz dieses Industriezweiges in Deutschland ist die 
Provinz Sachsen oder noch genauer der Regierungsbezirk Merseburg. 
Hauptsächlich die Umgegend dreier Städte dieses Regierungsbezirks 
hat für die Theer- und Paraffingewinnung Bedeutung: es sind dies 
Halle an der Saale, Weissenfels und Zeitz. 

Bei der nun folgenden Schilderung der Theer- und Paraffinfabri¬ 
kation folge ich theils der Arbeit von L. Grotowsky 1 ), theils 
meinen Beobachtungen, die ich bei Besuchen solcher Fabriken ge¬ 
sammelt habe. 

Ich habe die Schweelereien und Mineralölfabriken in der näheren 
und weiteren Umgebung von Halle und Weissenfels besichtigt, und 

*) Grotowsky: Der derzeitige Stand der Paraffin- und Mineraiölgewin- 
nung in der Provinz Sachsen. Zeitschrift für das Berg-, Hütten- und S t alinen- 
wesen im preussischen Staate, herausgegeben im Ministerium für Handel,Ge¬ 
werbe und öffentliche Arbeiten. 1876. S. 351—401. \ 


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Die Kraukheiten der Arbeiter in Theer- and Paraffinfabriken. 


359 


ist mir überall nicht nur der Besuch gern gestattet, sondern auch 
jede wünschenswerthe Auskunft bereitwilligst ertheilt worden, wodurch 
ich mich zu aufrichtigem Danke verpflichtet fühle. 

Das Rohmaterial, welches zur Gewinnung des Theeres dient, ist 
die Braunkohle und zwar zeichnet sich die zur Theerfabrikation am 
besten geeignete Kohle durch eine hellere, braungelbe, mitunter sogar 
hellgelbe Farbe aus. Bemerkt sei nebenbei, dass allerdings nicht 
immer die hellere Kohle die paraffinreiche ist. 

Diese Kohle nun wird im grubenfeuchten Zustande dem soge¬ 
nannten Schweelprocess, einer trockenen Destillation, unterworfen. 


Wir haben augenblicklich zwei Methoden, nach welchen geschweelt wird. 

Die ältere, nar noch in schon länger bestehenden Fabriken befindliche Ein¬ 
richtung, ist das Schweelen mit liegenden Retorten, in neueren oder u'mgebauten 
Fabriken wird nur noch mit stehenden Retorten geschweelt. 

Zunächst das Schweelen mit liegenden Retorten: 

Diese Retorten sind vielleicht 2 bis 3 m lange, ungefähr 30 cm hohe und 
circa 60—70 cm breite, im Querschnitte elliptische gusseiserne Röhren und sind 
so eingemauert, dass immer zwei und zwei eine gemeinsame Feuerung haben, 
und zwar werden die Retorten von den Feuerzögen umgeben. 

In diese Retorten wird nun die zum Schweelen bestimmte Kohle mittels 
breiter Schau fei' gebraoht; die Kohle muss den Boden der Retorte mit einer gleich- 
massigen, vielleicht 10 cm hohen Sohioht bedecken. 

Die vordere Oeffnung der Retorte wird durch einen eisernen Deckel oder 
durch eine eiserne Thür geschlossen. 

Sobald die Retorte die nöthige Hitze erlangt hat, entwickeln sioh aus der 
eingescblossenen Schweelkohle Gase, welohe durch ein an der hinteren Seite der 
Retorte und nicht zu nahe am Boden derselben angebrachtes Abzugsrohr ent¬ 
weichen. Die Abzugscanäle münden in ein gemeinsames Sammelrohr, hier ver¬ 
dichten sioh bereits einigo der Gase, die anderen gehen weiter durch ein System 
von vielen liegenden und stehenden Köhren (liegende und stehende Gondensation), 
welche sich ausserhalb der Gebäude befinden. Dadurch, dass die Gase durch 
diese grosse Zahl von Röhren streichen müssen, werden sie immer mehr abge- 
kühit, und es erfolgen immer mehr Niederschläge. Die uncondensirbaren Gase 
verlassen die Gondensationsapparate und gehen durch das letzte Rohr der Con- 
densation, welches höher ist als die vorhergehenden, frei in die Atmosphäre. 

Die vorhin erwähnten Niederschläge werden entweder als Theerwasser 
durch die am Boden der Gondensation befindlichen Hähne abgelassen oder wer¬ 
den als Theer, welcher specifisch leichter ist als Wasser, in ein Sammelbassin 
geleitet. 

Ist nun in einer liegenden Retorte der Schweelprocess beendet, was viel¬ 
leicht 6—8 Stunden in Anspruch nimmt, so wird der Rückstand der Schweel¬ 
kohle, der sogenannte Koks, aus der Retorte entfernt. Dies geschieht mit eisernen 
Krücken, nachdem vorher der Abzugscanal für die Gase durch eine Sperrvor- 
richtung geschlossen ist. Würde diese Sperrvorrichtung nicht geschlossen, so 


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360 


Dr. Hoffmann, 

könnte leicht die atmosphärische Loft, welche iD die geöffnete Retorte Zutritt hat, 
durch diese hindurch gehen in das Sammelrohr und dort mit den daselbst vor¬ 
handenen Gasen ein explosives Gomenge bilden und so eine Explosion verur¬ 
sachen, die natürlich für das ganze Gebäude höohst gefahrbringend werden 
könnte. 

Das Herausbefördern des Koks aus den Retorten ist eine sehr mühselige 
und auch gefährliche Arbeit: der Koks ist glühend, und beim Hinzutritt der atmo¬ 
sphärischen Luft schlägt oft eine Flammensäule empor. 

Der Koks wird dann in zum Theil mit Wasser gefüllte, ausgemauerte Gruben 
gefahren und dort „gelöscht“. Auf diese Löschgruben werden wir später noch 
näher eingehen. 

Weit einfacher im Betriebe, wenn auoh vielleicht schwerer zu beschreiben, 
ist das Schweelen mit stehenden Retorten, den sogenannten Cylindern, welches 
jetzt fast allgemein üblich ist, nur in zwei Schweelereien habe ioh noch liegende 
Retorten gefunden. 

Wir haben hier stehende Cylinder aus Gusseisen oder auoh aus Chamotte- 
steinen von vielleicht 5 m Höhe. Der Durchmesser der Cylinder wird durchweg 
noch nach dem alten Maass, nach Fuss, angegeben, und man schweelt haupt¬ 
sächlich in vier- und in fünffüssigen Cylindern d. h. also in Cylindern von vier 
und von fünf Fuss Durchmesser. 

In dem Innern der Cylinder befinden sich Ringe, deren Zahl Grotowsky l ) 
auf 30 für jeden einzelnen Cylinder angiebt. Jeder dieser Ringe bat eine unge¬ 
fähre Höhe von 12 oder 15 cm. Die Ringe sind glockenförmig, d. h. ihr oberer 
Durchmesser ist kleiner als der mittlere, und dieser wieder kleiner als der untere; 
deshalb werden sie auch Glocken genannt. Diese Glocken liegen nun dachförmig 
oder jalousieartig über einander und werden im Mittelpunkte von einer duroh 
alle Glocken hindurch gehenden, eisernen Stange getragen. Da der Mittelpunkt 
jeder Glocke im Mittelpunkte des stehenden Cylinders liegt, und da weiter der 
grösste Durchmesser jeder Glooke um vielleicht 20 bis 24 cm hinter dem Duroh¬ 
messer des Cylinders zurüokbleibt, so entsteht rings um die Glocken ein freier 
Raum, der also zwischen den Glocken und der Cylinderwandung sich befindet, 
der Schweelraum. Im Inneren der Glocken ist ein zweiter Raum, der oben durch 
den Glockenhut, welcher die Glocken bedeokt, abgeschlossen ist. Der Cylinder 
endet unten in einen Conus, an diesen Conus schliesst sich nach unten ein cylin- 
drischer Kasten, der vom Conus durch einen Schieber getrennt ist. Ein zweiter 
Schieber schliesst diesen Kasten naoh unten ab, so dass also der Kasten sich 
zwischen zwei Schiebern befindet. 

Die Cylinder sind ebenfalls eingemauert, nur ein Theil des Conus und der 
ganze Kasten sind frei und zugänglich. Der unterste Schieber ist vielleicht kaum 
ein Meter vom Erdboden entfernt. 

Mehrere Cylinder befinden sioh in einem Hause, und zwar ist die Einrich¬ 
tung so: Die Cylinder sind annähernd in der Mitte des Hauses eingemauert. Auf 
der einen Seite der Mauer ist der Raum für die Feuerung. Die Feuerzüge um¬ 
geben den Cylinder von allen Seiten und steigen an ihm in die Höhe. Auf der 


') Grotowsky, 1. c. S. 364. 


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Die Krankheiten der Arbeiter in Theer- und Paraffinfabriken. 


3G1 


anderen Seite der Mauer ist der Zugang za dem anteren Ende des Cylinders, 
dem oben erwähnten Kasten. Aaf dieser Seite befinden sich aach, am das vor* 
weg za nehmen, die Abzugsrohre für die Gase. 

Das obere Ende des Cylinders steht in gleicher Höhe mit der Decke, welche 
das Haus in zwei Etagen theilt. Die obere Etage heisst der Scbweelboden. 

Soll nun ein solcher Cylinder in Betrieb gesetzt werden, so wird, nachdem 
beide Schieber geschlossen sind, der Conus mit Koks gefüllt, ebenso die unterste 
Partie des Sohweelraums. In den mittleren Theil des Schweelraums wird ein 
Gemisch von Koks und Kohle zu gleichen Theilen und in den obersten Abschnitt 
Kohle gebracht. 

Das Füllen des Schweelraums geschieht einfach durch Hineinschütten der 
betreffenden Massen vom Scbweelboden aus. Da die Glocken dachförmig über¬ 
einander liegen und nach oben durch den Glockenhut abgeschlossen sind, so 
kann natürlich keine Kohle in das Innere der Glocken gelangen. Das obere Ende 
des Cylinders wird mit einem Kohlenhaufen bedeckt. Auch hier beginnt die Ver¬ 
gasung, so bald die Cylinder die nöthige Bitze haben. 

Um ein Bild von der Wärme im Innern der Cylinder zu erhalten, sei hier 
bemerkt, dass die aus dem Cylinder abziehenden Gase dicht am Cylinder ge¬ 
messen eine Temperatur von + 180° bis 250° C. zeigen, wie ich z. B. in der 
Scbweelerei Nietleben zu sehen Gelegenheit hatte. 

Wir können im Cylinder drei Zonen unterscheiden: im oberen Drittel findet 
fast nur Wasserentziehung statt, im mittleren Drittel wird der Schweelprocess 
eingeleitet und im unteren Drittel vollendet; deshalb muss auch beim Beginn 
des Betriebes das untere Drittel des Cylinders mit Koks gefüllt werden. 

Die Gase ziehen zwischen den einzelnen Glocken hindurch in den Innen¬ 
raum der Glocken. Von hier werden sie durch zwei Abzugsrohre weitergeführt, 
das eine Abzugsrohr verlässt dicht über dem Conus den Cylinder, während das 
zweite höher oder ganz am oberen Ende angebracht ist. Die Gase gehen nun in 
das Sammelrohr, von da durch die Condensation, und verdichten sich zu Theer 
und Wasser oder, verlassen den Condensationsapparat als uncondensirbare Gase, 
ganz ebenso wie beim Schweelen mit liegenden Retorten. Der Austritt der Gase 
aus dem Sammelrohre wird dadurch erleichtert, dass ein zwischen Sammelrohr 
und Condensation eingeschalteter Exhaustor die Gase aus dem Sammelrohre an¬ 
saugt und sie in die Condensation drückt. 

Der Rückstand der Schweelkohle befindet sich in dem untersten Theile des 
Cylinders und sinkt allmälig in den Conus. Dann wird der Schieber, welcher 
den Conus von dem cylindrischen Kasten trennt, aufgezogen, und der Koks fällt 
in den Kasten; doch muss jedesmal, ehe der Schieber gezogen wird, durch eine 
Sperrvorrichtung (Drosselklappe) das untere Abzugsrohr vom Sammelrohr abge¬ 
schlossen werden, um auch hier den Eintritt der atmosphärischen Luft in das 
Sammelrohr und die Condensation zu verhindern. 

Jetzt wird der obere Schieber wieder geschlossen, ein Karren oder Kübel 
unter den cylindrisohen Kasten gestellt, dann der untere Sobieber geöffnet, und 
der Koks fällt in das untergeschobene Gefäss. 

Mit dem Koks wird jetzt nun ebenso verfahren, wie wir oben sahen. Bei 
diesem Ablassen des Koks aus den Cylindern ist darauf zu sehen, dass nie beide 
Schieber zugleich geöffnet sind, weil dann der glühende Inhalt des Cylinders her- 


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3G2 


Dr. Hoffmann, 


ausstärzen würde, und weil aach durch Hinzutritt der atmosphärischen Luft eine 
Explosion entstehen könnte. 

Der Arbeiter auf dem Schweelboden hat darauf za achten, dass das obere 
Ende des Cylinders stets mit einem Hänfen Kohle, die nöthigen Falls vorher zer¬ 
kleinert worden ist, bedeckt ist, und dass diese Kohle, sobald Koks abgelassen 
wird, gleichmässig in den Cylinder hineinsinkt. Tritt dieses Letztere nicht ein, 
so muss der Arbeiter mit einer langen eisernen Stange nachhelfen, damit sich 
die Kohle an der Aussenseite der Glocken nicht fest ansetzt und so zu Bildung 
von hohlen Räumen Anlass giebt. welche ihrerseits wieder den Schweelprocess 
aufhalten und dann auch zu einer Explosion des Cylinders führen können. 

In gewissen Zeiträumen müssen die Cylinder auch gereinigt werden. Es 
setzt sich natürlich doch mit der Zeit von dem Rückstände der Schweelkohlen 
etwas an den Glooken fest und versperrt so den Gasen den Weg in das Innere 
der Glocken. Die Glocken müssen dann einzeln herausgonommen und gereinigt 
werden: eine Arbeit, die nicht ohne Gefahr ist, weil durch das Hineinsteigen der 
Arbeiter in den nooh heissen Cylinder Verbrennungen entstehen können. Auch 
ist hierbei Explosion zu fürchten. 

Die Häufigkeit des Reinigens richtet sich nach der Beschaffenheit der Kohle, 
im Duicbschnitt geschieht die Reinigung halbjährig. 

Welcher Sehweelerei, ob der mit stehenden oder der mit liegen¬ 
den Retorten vom medicinisch-polizeilichen Standpunke der Vorzug 
zu geben ist, werden wir später sehen. 

Der so gewonnene Theer wird nun zunächst von dem Wasser, 
welches er ja immer noch enthält, befreit. Dies geschieht in der so¬ 
genannten Schmelze. Der Theer befindet sich in den Schmelzgefässen, 
die auf Gestellen einige Meter über dem Erdboden stehen; durch diese 
Schmelzgefässe geht ein sich schlangenförrnig windendes Rohr, iu 
welches Dampf geleitet wird. Dieser Dampf erwärmt den Theer; 
bei einer Temperatur von 50 ° C. trennt sich das im Theer ent¬ 
haltene Wasser von demselben und setzt sich als specifisch schwerer 
zu Boden und kann dann aus der Schmelze abgelassen werden. 

Der wasserfreie Theer wird nun mit Schwefelsäure behandelt, er 
wird „gesäuert“, dies geschieht in der sogenannten „Mischerei“ und 
wird deshalb vorgenommen, um die „Brandharze“, Körper, die un¬ 
angenehm auf Farbe und Geruch der Endproducte ein wirken, zu ent¬ 
fernen. Der Theer befindet sich in grossen Gefässen, in welche 
Schwefelsäure geleitet wird, dann wird mittels einer Luftpumpe ein 
Luftstrom in die Massen hineingeblasen. 

Hierbei entwickeln sich Gase, hauptsächlich schweflige Säure, in 
Menge. 

Der Theer wird nun weiter mit Natron behandelt und kommt 


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Die Krankheiten der Arbeiter in Theer- und Paraffinfabriken. 


363 


dann zur Destillation. Nicht immer ist der Gang der Aufarbeitung 
das Theers derselbe, doch sind diese Modificationen für uns gleich¬ 
gültig. 

Die Destillation wird in den sogenannten „Blasen“ aasgeführt; es sind 
dies grosse, eiserne, topfartige Gelasse, die mit fest aufgesohraubtem Deckel ver¬ 
sehen der Feuerung ausgesetzt werden. Die Dämpfe, wolche aus dem Theer auf¬ 
steigen, werden duroh ein schlangenförmig gebogenes Bleirobr, welches ans der 
Blase beraustritt, abgeleitet, das Rohr geht durch ein Küblfass, wo die Gase ver- 
dioktet werden, nnd so treten die Gase aus dem Ende des Schlangenrohres als 
flüssige Producte aas. Zwischen denselben befinden sich allerdings immer noch 
Gase, ancondensirbare, welche aber durch eine Vorrichtung nach der atmosphä¬ 
rischen Laft abgeführt werden. Diese Vorrichtung besteht darin, dass das Ende 
des oben erwähnten Schlangenrohres U-förmig gebogen ist. Vom oberen Ende 
des absteigenden Schenkels dieses U-förmigen Rohres geht ein Rohr senkrecht 
nach oben durch das Dach des Gebäudes in’s Freie; diesen Weg sollen die nicht 
condensirten Gase nehmen, da der Ausgang aus dem Schlangenrohr durch die 
stets in dem U förmigen Rohre befindliche Flüssigkeit den Gasen versperrt ist. 
Ob aber in jedem Falle die Gase den vorgeschriebenen Weg einschlagen, ist eine 
andere Frage, die wir später beantworten werden. Was die Kühlflüssigkeit, 
Wasser, anlangt, so sei noch bemerkt, dass dieselbe immer eine dem duroh- 
passirenden Destillat entsprechende Temperatur haben muss, damit innerhalb 
des Bleirohrs keine Gerinnung, also Verstopfung, stattfinden kann, die eine Ex¬ 
plosion der Blase im Gefolge haben würde. 

Ausser dieser freien Destillation habe ich in zwei Fabriken, Kupferhammer 
bei Oberröblingen und Webau bei Weissenfels, die Vacuumdestillation gesehen, 
die von Dr. Krey, Director zu Wobau, in die Paraffinindustrie eingefuhrt worden 
ist. Hierbei werden von einem Vacuum die condensirten und die nicht conden¬ 
sirten Gase angesogen, die nicht condensirbaren Gase werden dann durch Rohre 
weiter geführt, um entweder in’s Freie zu gelangen oder als Gas verbrannt zu 
werden. 

Damit ununterbrochen gearbeitet werden kann, befinden sich vor jeder Blase 
zwei Vacuumräume, welche alternirend gebraucht werden. 

Nach einer mündlichen Angabe des Dr. Rosen thal') entweichen beim 
Beginn der Theerdestillation zuerst beissende Gase, hauptsächlich schweflige 
Säure, dann organische Schwefelverbindungen und leichte Kohlenwasserstoffe, 
dann Rohöl, Rohparaffin, daneben aber immer Gase, welche theilweise von Ueber- 
hitzung der Blase herrühren. 

Nennen wir die drei Hauptproducte mit anderen Namen und 
zwar in der Reihenfolge, wie sie überdestilliren, so haben wir Pho¬ 
togen (Benzin), Solaröl und Rohparaffin.' Jedes Product wird natür¬ 
lich gesondert aufgefangen beziehungsweise in besondere Gefässe ge- 


') Dr. Rosenthal: Mündliche Mittheilungen. 


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364 


Dr. Hoffm&nn, 


leitet. Die Grenze zwischen Oel and Paraffinenasse bestimmt der 
Arbeiter dadurch, dass er einige Tropfen des Destillates auf einem 
Stück Gis oder einem durch auftropfenden Aether gekühlten Uhrglase 
auffängt; bleibt dieser Tropfen flüssig, so ist das Product noch Oel, 
erstarrt er, so ist es Paraffinmasse. 

Diese Paraffinmasso, welche uns hier hauptsächlich interessirt, 
wird nun in grössere oder kleinere Blechgefässe gebracht und durch 
Abkühlung zur Krystallisation gezwungen. Die Krystalle sind gelb¬ 
liche, glänzende, Fischschuppen ähnliche Blättchen. Aus diesen Blech- 
gefässen werden dann die Krystalle herausgenommen und zu einem 
Brei verarbeitet. 

Das Herausnehmen der Krystalle aus den Krystallisationshülsen 
ist eine bis jetzt nur durch Menschenhand auszuführende Arbeit, die 
durchaus nicht sauber genannt werden kann; wir werden ihr noch 
weitere Beachtung schenken müssen. Bis jetzt existirt aber keine 
Maschine, welche hier die menschlichen Kräfte ersetzen könnte. Das 
dann folgende breiartige Zerkleinern des Rohparaffins ist wieder 
Maschinenarbeit. 

Das zerkleinerte Paraffin kommt nun in die Filterpresse, um 
dort von dem ihm anhaftenden Oele getrennt zu werden. Diese Tren¬ 
nung geschieht aber hier nicht vollständig, deshalb werden die Pa- 
raffinkrystalle in Presstücher gepackt und in stehenden hydraulischen, 
angewärmten Pressen einem hohen Drucke ausgesetzt; die Press¬ 
kuchen werden dann mit einem leichten Mineralöl, in der Regel Ben¬ 
zin, geschmolzen; diese geschmolzene Masse wird auf Wasser, welches 
sich in Bassins aus Cement befindet, gegossen, nach ihrem Erstarren 
in Tafeln geschnitten, und diese Tafeln werden wieder in liegenden 
hydraulischen Pressen einem starken Drucke unterworfen, dann wird 
die Masse wieder mit Benzin geschmolzen und nach ihrem Erkalten 
wieder gepresst. Dieses Pressen wird um so öfter wiederholt, je reiner 
man das Paratfin haben will. 

Das abgepresste Oel wird nochmals verarbeitet, um alles Paraffin 
daraus zu gewinnen. Dieses Paraffin ist dann allerdings etwas roinder- 
werthig und ist auch weicher, das heisst: es hat einen niedrigeren 
Schmelzpunkt. — 

Von dem Benzingehalt und -Geruch wird das Paraffin durch 
Schmelzen und Abblasen mit Dampf befreit, dann wird es, um ihm 
eine klare, weisse Farbe zu geben, mit Thierkohle behandelt und 
nun durch Papier filtrirt. Zuletzt wird es in Formen gegossen, nach 


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Die Krankheiten der Arbeiter in Theer- und Paraffinfabriken. 


365 


dem Erstarren ans den Formen genommen and ist nun zum Verkauf 
fertig, wenn es nicht gleich an Ort und Stelle weiter zu Kerzen ver¬ 
arbeitet wird. 

Das Oel, welches nach wiederholter Bearbeitung kein Paraffin 
mehr abgiebt, kommt als Paraffinöl in den Handel und findet als 
Schmieröl und als Gasöl seine Verwendung. 

Das gebrauchte Benzin ist auch nicht ohne Weiteres auf das 
Verlustconto zu setzen. Die abgeblasenen Benzindämpfe nämlich wer¬ 
den in Köhlvorlagen wieder verdichtet, und geben so wieder brauch¬ 
bares Benzin. 

Die Kerzenfabrikation absorbirt den grössten Theil des Paraffins, 
„denn Paraffin ist,“ wie Grotowsky 1 ) angiebt, „hinsichtlich seiner 
Zusammensetzung das vorzüglichste Kerzenmaterial, welches es giebt.“ 
Auf die Kerzengiesserei näher einzugehen ist nicht geboten, da dies 
uns über den Bahmen des Themas hinausführen würde. 

Ausser zu Kerzen wird Paraffin noch verwandt nach Gro¬ 
towsky 2 ) als Appretur für Wäsche und Webstoffe, in Laboratorien 
als Verschluss für Säuren und Aetzlauge; als Bäder, wenn es sich 
um constante hohe Temperaturen handelt. Die weichen Sorten werden 
gebraucht als Zusatzraittel für Wachs, Stearin, ferner zum Tränken 
von Papier, von schwedischen Streichhölzern, von Schiffsseilen, von 
Mauerwerk, von Leinewand zu wasserdichten Planen und mit elasti¬ 
schem Gummi zusammengeschmolzen zur Anfertigung wasserdichter 
Kleiderstoffe. 

Weiter findet das Paraffin Verwendung in Zuckerfabriken, Glas¬ 
bläsereien, bei der Telegraphie u. s. w. u. s. w. 

Soweit vom Betriebe in Theer- und Paraffinfabriken. 
Es ist nun die Frage zu beantworten, welchen Krankheiten und Un¬ 
fällen sind in derartigen Fabriken beschäftigte Arbeiter am meisten 
ausgesetzt, und wie können diese Schädlichkeiten für Gesundheit und 
Leben eventuell vermieden werden. 

Im Allgemeinen sei voraus bemerkt, dass die specifisoben Erkrankungen 
der Theer- und Paraffinarbeiter bei Weitem seltener geworden sind, als sie früher 
waren. 

Man hat gelernt den Anforderungen der Hygiene Rechnung zu tragen und 
hat dafür den Vortheil, nicht mehr so viele Erkrankungen unter den Arbeitern 


’) und 2 ) Grotowsky, 1. c. S. 393. 

VlertelJahrMohr. f. ger. Med. Dritte Folge. V. 2. 24 


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366 


Dr. Hoffmann, 


zu sehen wie früher. Die mir mündlich and schriftlich gewordenen Mittheilangen 
der Herren Collegen, welche Theer- and Paraffinarbeiter in Behandlung haben, 
sprechen sich ganz übereinstimmend dahin aas, dass specifisohe Erkrankungen 
genannter Arbeiter nicht häufig auftreten. Herr College Dr. Baetge za Laach- 
stedt sagt in einem Briefe: Ich habe seit 1879 Gelegenheit, Leate, die in Theer- 
schweelereien and Paraffinfabriken arbeiten, za behandeln and za beobachten, 
specifische Erkrankungen sind wenig yorgekommen. 

Herr Dr. Sohliephacke, Director der Paraffinfabrik Wald&a bei Zeitz, 
schreibt mir, dass darch die verbesserten Einrichtungen in den Fabriken, welche 
der Laaf der Zeiten mit sich gebracht hätte, specifische Erkrankungen „fast aas¬ 
gestorben“ seien. Die Krankheiten, welche in genannten Fabriken Vorkommen, 
sind, wie Grotowsky 1 ) sagt, nicht solche, an deren Folgen die Arbeiter sterben 
oder doch ein sieches, hinfälliges Leben führen, and dieser Aasspraoh hat nicht 
viel Aasnahmen aafzaweisen. 

Es wird vielleicht am Uebersichtlichsten sein, wenn wir der Verarbeitung 
der Kohle za Theer and des Theers za Paraffin folgend bei den einzelnen Pankten 
die betreffenden Krankheiten hervorheben and näher beleuchten. 

Beim Heizen der Retorten in den Schweelereien müssen die Feaerleate alle 
Unbilden ertragen wie in anderen Fabriken. Sie werden von Staub, Rauch, Hitze 
belästigt, sie sind leicht Erkältungen and deren Folgen, wohin vor Allem der 
Muskelrheumatismas gehört, aasgesetzt. Es ist hier hauptsächlich nöthig, dass 
die Gänge, in denen sich der Raum zur Feuerung befindet, möglichst breit sind, 
damit die Einwirkung der Hitze nicht so stark empfunden wird; weiter ist für 
genügende Ventilation zu sorgen; das Abfahren der Asche darf nicht von den¬ 
selben Arbeitern ausgeführt werden, welche das Feuern besorgen, weil letztere 
zuerst der Hitze aasgesetzt sind and dann beim Hinaasfahren der Asohe einen 
za jähen Temperatarwechsel erleiden würden, wenigstens im Winter, ausserdem 
aber würde doch dann auch die Feuerung zeitweise ohne Bedienung sein. Doch 
sei dies Alles nur beiläufig bemerkt, da es allen Fabriken, in denen gefeuert 
wird, gemeinsam ist. Auch Verbrennungen, die bei der Feuerung Vorkommen, 
interessiren uns hier nicht. 

Wir wollen ans im Folgenden nur mit den in Theer- und Paraffinfabriken 
speciell vorkommenden Erkrankungen beschäftigen. 

In dem Manascript des Dr. C. Sohröder 2 ) lese ich, dass specifisohe Er¬ 
krankungen in Theerschweelereien nicht vorkämen, hauptsächlich auch die soge¬ 
nannte Theerkrätze nicht, weil die Arbeiter wohl mit Kohle und Koks in Be¬ 
rührung kämen, aber nicht mit dem Theer. 

Ich kann dem Dr. Sohröder hierin nicht beistimmen. Ich bin der Ansioht, 
dass specifische Erkrankungen in den Theerschweelereien wohl Vorkommen,. dass 
auch die sogenannte Theerkrätze in genannten Fabriken auftritt, allerdings nur 
in höohst vereinzelten Fällen. 


*) Grotowsky, 1. c. S. 400. 

2 ) Sohröder, Die sanitätspolizeilichen Massnahmen zum Schutze der Ar¬ 
beiter in Paraffin- and Theerfabriken, mit Berücksichtigung der Krankheiten 
welchen diese Arbeiter besonders aasgesetzt sind. Manasoript. 1884. 


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Die Krankheiten der Arbeiter in Theer- und Paraffinfabriken. 367 


Ferner ist ja dnrcbans nicht gesagt, dass nur der Theer als solcher speci- 
fisohe Krankheiten hervorrufen kann, sondern dieselben können aach veranlasst 
werden durch Gase, die bei dem Schweelprocess entstehen. 

Und das geschieht auch. Ebenso wie der Geruchssinn von den in der Luft 
befindlichen Gasen, unter denen wohl hauptsächlich Sohwefelammonium zu nennen 
ist, belästigt wird, so wird auch die Augenbindehaut angegriffen. 

ln mehreren Schweelereien ist mir gesagt worden, dass „ Augenentzündung“ 
nicht allzu selten vorkäme. Sicher spricht bei der Häufigkeit oder Seltenheit 
dieser Erkrankung auch mit die Beschaffenheit der Sohweelkoble, ihr Gehalt an 
Schwefel u. s. w. 

In den Schweelereien Zscherben und Nietleben wurden am häufigsten die 
Arbeiter auf dem Schweelboden von Aogenbindehautentzündung befallen. Dort, 
wie noch in mehreren anderen Schweelereien sah man ganz deutlich aus dem den 
„Cylinder“ bedeckenden Koblenhaufen Gase aufsteigen. 

Dass diese Gase nioht nur Wasserdämpfe, nioht indifferenter Natur sind, 
geht wohl aus folgender Beobachtung hervor: ln Nietleben, wo in der Schwee- 
lerei ungefähr 15 Arbeiter täglich beschäftigt werden, ist in circa 2 1 /: Jahren 
fünfmal Gonjunotivitis beobachtet worden. Und zwar viermal bei Arbeitern auf 
dem Schweelboden, „als die Cylinder auf dem Sohweelboden stark dampften und 
die Lukenlöcher geschlossen waren“ l ). Die Krankheit hatte von diesen 4 Fällen 
dreimal eine zeitweise Arbeitsunfähigkeit (5,7 und 12 Arbeitstage) zur Folge, 
im vierten Falle bekam der Betreffende andere Arbeit und wurde nur einige Tage 
ambulatorisch behandelt. Der fünfte Fall, wo die Conjunctivitis eine 22 tägige 
Erwerbsunfähigkeit bedingte, betraf einen Arbeiter, der das Kobslöschen zu be¬ 
sorgen hatte, und gehört somit nicht hierher. Auch in anderen Sohweelereien 
sind Augenbindehautentzündungen vorgekommen. In den Schweelereien, die zur 
Mineralölfabrik Gerstewitz gehören und welche täglich oiroa 75 Arbeiter beschäf¬ 
tigen, kamen seit 1. Januar 1885 zweimal Augenbindehantentzündungen vor, die 
auf eine Einwirkung der specifischen Gase zurückzuführen waren. Die Arbeits¬ 
unfähigkeit betrug einmal 4, das andere Mal 21 Tage. Auoh von der Schweelerei 
Kaninchenberg bei Langenbogen erzählt mir der Betriebsführer, dass dann und 
wann Arbeiter von Augenentzündung befallen würden und zwar am leichtesten 
Arbeiter auf dem Schweelboden und meist nur dann, wenn die Cylinder stark 
dampften. Ich seihst spürte, als ich an einem Tage mehrere Schweelereien be¬ 
sucht und mich mit den Gasen mehr als vielleicht nöthig war beschäftigt hatte, 
am Abend ein Drücken und Thränen der Augen. Duroh eine einmalige Einpin¬ 
selung einer Höllensteinlösung (0,03:20,0) beseitigte ich diesen Beizzustand. 

Auch briefliche Mittheilungen der Herren Collegen Dr. Baetge-Lauchstedt, 
Dr. Thomas-Schraplau und Dr. Frey-Teutschenthal bestätigen mir das Vor¬ 
kommen von Augenbindehautentzündungen in Schweelereien, die genannten 
Herren sind auch der Ansicht, dass diese Entzündungen der Einwirkung von 
Gasen ihre Entstehung verdanken. 

Welches Gas hier hauptsächlich wirkt, ist nioht mit Bestimmtheit Zusagen; 


*) Schriftliche Mittheilungen des Bergwerksdirectors Ziervogel zu 

Halle. 


24 * 


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Dr. Hoffmann, 


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sicher ist, dass wir die geschwefelten Kohlenwasserstoffe für diesen schädlichen 
Einfluss verantwortlich za machen haben. Doch sollen nach Dr. Rosenthal 1 ) 
auch basische Körper — besonders die der Pyridinreihe — die Augen reizen. 

Klinisch werden diese Augenbindehautentzündungen zu zählen sein zu den 
einfachen, oatarrbalischen Conjunctiviten oder mitunter auch zu der Conjuncti¬ 
vitis follicularis. Bedenklich sind diese Entzündungen nie gewesen. Die Therapie 
ist die gleiche, wie bei einer Conjunotivitis catarrhalis. Wichtiger aber noch als 
die Therapie ist für uns die Frage: „Wie können diese Augenbindehantentzün- 
düngen verhütet werden?“ Kann man Vorschriften oder Verordnungen erlassen, 
deren Befolgung vor solchen Erkrankungen schützt? 

Wir finden einen Fingerzeig zur Beantwortung dieser Frage in der vorhin 
wörtlich angeführten Mittheilung von der Schweelerei Nietleben. Die Entzündung 
trat auf als „die Cylinder auf dem Schweelboden stark dampften, und die Luken¬ 
löcher geschlossen waren“. 

Also Ventilation. Es ist vor Allem dafür zu sorgen, dass auf dem Boden 
sich etwa ansammelnde Gase abziehen können, und dass der frischen Luft der 
Zugang zu dem Schweelboden nicht verwehrt oder wenigstens nicht erschwert wird. 

Als bester Ventilationsapparat für solche Räume empfehlen sich die soge¬ 
nannten Dachreiter mit verschliessbaren beziehungsweise zu öffnenden Klappen. 

Ein weiteres Erforderniss ist das, dass die Cylinder genügend mit Kohle 
bedeckt sind, dadurch wird den Gasen der Weg nach dem Sohweelboden verlegt, 
oder richtiger, sie finden auf diesem Wege mehr Hindernisse, als auf dem Wege 
nach dem Inneren der Glocken. 

Andererseits darf der die Cylinder nach oben absohliessende Kohlenhaufen 
auch nicht zu gross sein, damit der Arbeiter auf dem Sohweelboden sehen kann, 
ob jedesmal die Kohle gleichmässig nachsinkt, wenn unten der Schieber ge¬ 
zogen wird. 

Noch ein drittes Moment ist zu beachten. Wir haben oben gehört, dass die 
Gase aus dem Cylinder duroh einen Exhaustor gesaugt werden: arbeitet nun 
dieser Exbaustor zu schwach, so kann der Fall eintreten, dass die Gase naoh 
dem Schweelboden entweichen. 

An einem Manometer kann die Kraft, mit der der Exhaustor arbeitet, abge¬ 
lesen und somit auch regulirt werden, so dass also die scbädliohen Gase nicht 
nach dem Schweelboden ziehen. 

Da man in neuerer Zeit diesen Punkten genügend Rechnung trägt, so treten 
diese Augenbindehautentzündungen auch verhältnissmässig sehr selten auf und 
werden meist, wie sobon erwähnt, bedingt durch die Beschaffenheit der Sohweel- 
kohle. 

Verfolgen wir den Betrieb in der Sohweelerei weiter, so stossen wir noch 
einmal anf Gase, welche schädlich wirken können. 

Die Gase, welche durch die ganze Condensation gegangen sind, ohne zu 
Flüssigkeiten verdiohtet zu werden, verlassen als permanente Gase die Conden¬ 
sation. Die Länge der Condensation thut viel zur Beschaffenheit der letzten 
Gase. Je länger die Condensation ist, um so mehr Gase werden verdiohtet, 


f ) Mündliche Mittheilung des Fabrikdirigenten Dr. Rosenthal. 


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Die Krankheiten der Arbeiter in Tbeer- und Paraffinfabriken. 


369 


und um so weniger Oase treten in ihrer gasförmigen Gestalt in die Atmo¬ 
sphäre. 

Diese permanenten Gase bestehen hanptsäohlioh aus Stiokstoff, Kohlen¬ 
säure, Kohlenoxyd, Wasserstoff, Sumpfgas, Aethan, Aetbylen, Schwefelwasser¬ 
stoff u. s. w. *) 

Sie sind sehr feuergefährlich, aber auch gesundheitsschädlich. 

Einen Todesfall kann ich anführen, den diese Gase indireot verschuldet 
haben. 

Im Jahre 1883 wollte auf einer Sohweelerei bei Teutschenthal ein Aufseher 
nachsehen, ob die Röhren der Condensation überall dioht seien, damitGase nicht 
an ungehöriger Stelle entweichen könnten. Zu diesem Zwecke musste er natür¬ 
lich auoh die durch Deokel verschlossenen oberen Enden der vielleicht 10 m 
hohen Condensationsröbren nachsehen. Er fand eine undichte Stelle, aus welcher 
Gase austraten, durch Einathmen dieser Gase stürzte er betäubt zusammen. 
Duroh den Sturz brach das schmale, vielleicht auch bereits etwas morsche Brett, 
auf dem der Aufseher stand, und so fiel derselbe aus einer Höhe von ungefähr 
10 m herab und erlitt den Tod in Folge eines complioirten Sohädelbruohes 3 ). 

Dies ist der einzige mir bekannt gewordene Fall, wo die Gase der Conden¬ 
sation eine schädliche Wirkung geäussert haben. 

Auch hier muss die Sanitätspolizei Anordnungen treffen, wodurch es un¬ 
möglich wird, dass diese Gase ihren verderbenbringenden Einfluss ausüben 
können. 

Zunächst ist es erforderlich, dass das obere Ende der stehenden Conden¬ 
sation mit einer Gallerie, welche eine Brustlehne haben muss, umgeben ist. Die 
Festigkeit dieser Gallerie muss von Zeit zu Zeit geprüft werden. 

Wäre dies in dem oben erwähnten Falle geschehen, so wäre es wahrschein¬ 
lich gelungen, den duroh die Gase betäubten Aufseher wieder in’s Leben zurück¬ 
zurufen. 

Dann weiter muss das Endrohr der Condensation, durch welches die per¬ 
manenten, feuergefährlichen und gesundheitsschädlichen Gase entweichen, die 
umliegenden Gebäude um ein Bedeutendes überragen, damit eben kein Unglück 
entstehen, und Niemand durch diese Gase belästigt werden kann. 

In neuester Zeit ist 'versuoht worden, diese permanenten Gase zu ver 
brennen, doch sind die Versuche, soviel ich weiss, noch nioht zum Abschluss 
gekommen. Wenn natürlich diese Verbrennung vollkommen und gefahrlos gelänge, 
so wäre das der sicherste Weg, diese Gase zu vernichten. 

Noch an einem dritten Orte sind die Arbeiter der Einwirkung von Gasen 
ansgesetzt, nämlich an der Schmelze. 

loh hätte wohl richtiger sagen müssen „ waren“ die Arbeiter ausgesetzt. 
Denn hier, ebenso wie an der eben geschilderten Condensation kommen duroh 
Gase veranlasste Erkrankungen kaum noch vor. In der Schmelze wird, wie be¬ 
kannt, der Theer erwärmt und so vom Wasser befreit. Bei dieser Erwärmung 
findet auch eine geringe Gasentwiokelung statt. Es entweichen hier permanente 


’) Bergrath Hecker, Halle a. S.: Mündliohe Mittheilung. 
2 ) Mittheilung des Dr. Frey- Teutsohenthal. 


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Dr. Hoffmann, 


Gase und Dämpfe leioht flüchtiger Substanzen. Diese Gase verursachten früher, 
wo die Scbmelzgefässe noch zu ebener Erde standen, häufig Augenbindehautent¬ 
zündungen. Jetzt sind diese Gefässe einige Meter über dem Erdboden angebracht, 
und so kommen Arbeiter mit den Gasen kaum noch in Berührung. 

Die Feuergefährlicbkeit dieser Gase ist nicht so hoch anzunehmen, weil die 
Entwickelung derselben bei verhältnissmässig niedriger Temperatur stattfindet, 
und die hinzutretende Luft schnell eine starke Verdünnung bedingt. 

Wir kommen jetzt zu einerweiteren, für dieTheerschweelereien specifischen 
Krankheit, der sogenannten Theer- oder Paraffinkrätze. 

Es ist dies eine Hautkrankheit mit Akne ähnlichen Knötchen, welohe die 
Arbeiter, speciell eine bestimmte Gruppe von Arbeitern, in solchen Fabriken be¬ 
fällt, und welche ihre Ursache hat in der Einwirkung des Theers beziehungs¬ 
weise des Paraffins oder eines gewissen Bestandteils des Theers oder Paraffins 
auf die menschliche Körperoberfläche. Da in der Mehrzahl der Fälle die Er¬ 
krankten über lästiges Jucken klagen, und dieses Jucken in der Wärme zunimmt, 
so hat der Volksmund diese Krankheit mit dem Namen „Krätze“ belegt, und 
sprioht von einer Theer- oder Paraffinkrätze,* die eben nur in Theer- und Paraffin¬ 
fabriken vorkommt. Mit Soabies hat unsere Krankheit nur den deutschen Namen 
gemein. 

Wir wollen hier auf die Theerkrätze nicht näher eingehen, wir finden sie in 
der Paraffinfabrik unter dem Namen „Paraffinkrätze“ wieder, und da sie dort 
stets, wenn auoh gegen frühere Zeiten unendlioh viel seltener, vorkommt, so wer¬ 
den wir sie dort näher kennen lernen. 

loh gehe auoh hier deshalb schnell über diese Krankheit hinweg, weil ich 
nur einen einzigen Fall von Theerkrätze, der in Theersohweelereien vorgekommen 
ist, anführen kann und dieser Fall ist nioht einmal in ärztlioher Behandlung 
gewesen. 

Dass die Theerkrätze in den Theerfabriken so ungemein selten auftritt, ist 
nach meiner Ansicht durch die Verhältnisse bedingt. Dr. Sohröder 1 ) sagt, die 
Arbeiter in den Sohweelereien kommen wohl viel mit Kohle und Koks in Be¬ 
rührung, nicht aber mit Theer. Wenn dies der Fall ist, dann kann allerdings 
die Theerkrätze nicht auftreten, denn dieselbe wird nur durch den Theer oder 
richtiger duroh irgend welohe, nachher zu erwähnende Stoffe, die im Theer ent¬ 
halten sind, erzeugt. 

Aber dies „nicht mit Theer in Berührung kommen“ stimmt nur für die 
Fabriken, wo Schweelerei und Paraffinfabrik neben einander stehen. Dort wird 
der in der Schweelerei gewonnene Theer in die „Sohmelze* gepumpt, and von da 
wird er wieder durch Pumpwerk oder dergleichen in Röhren nach der Destillation, 
der Paraffinfabrik, gesohafft. Hier hat natürlich der Arbeiter mit dem Theer 
Nichts zu thun. 

Aber wo die Sohweelerei sich allein befindet, wo der Theer also als End- 
product versandt beziehungsweise verkauft wird, da liegt die Saohe anders. Da 
wird der in der „Schmelze“ wasserfrei gemachte Theer auf Fässer gefüllt und so 
verladen. 


*) Schröder: Manuscript, 1. c. 


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Die Krankheiten der Arbeiter in Theer- und Par&ffinfabrikeo. 371 


Hier kommen die Arbeiter, die das Füllen des Theers und das Verschliessen 
der Fässer zu besorgen haben, ständig mit Theer in Berührung. Hier kann also 
der Theer seine Wirkung auf die mensohliche Haut ausüben. 

In einer solchen Sohweelerei ist auch der betreffende Krankheitsfall vorge¬ 
kommen. 

Nach einer mündlichen Mittheilung des Betriebsführers der Sohweelerei 
„Kaninohenberg“ bei Langenbogen wurde dort zu Anfang des Jahres 1887 ein 
Mann beim Füllen des Theers beschäftigt, der einige Tage naohdem er diese 
Arbeit übernommen hatte, an beiden Händen einen „Ausschlag“ bekam. Der 
Ausschlag nahm zu, trotz öfterer vom Betriebsführer angeordneter Waschungen, 
so dass der Betreffende die Arbeit niederlegen musste, er erhielt andere Arbeit 
und gesundete binnen kurzer Zoit. 

Als einige Zeit später durch irgend einen Zufall der Arbeiter wieder zum 
Abfüllen des Theers commandirt wurde, stellte sich nach wenigen Tagen der 
Aussohlag wieder ein, nach dem Wechsel der Arbeit verschwand auch der 
Aussohlag. 

Ich glaube, dass es wohl ziemlich sicher ist, dass wir es in diesem Falle 
mit der Theerkrätze zu thun haben. Sie befällt eben solche Arbeiter, deren Hände 
mit Theer in häufige Berührung kommen; dooh gehört wohl immer eine indivi¬ 
duelle Disposition dazu. Wir werden auch hierauf bei der Paraffinfabrikation zu 
spreohen kommen. Auf die Möglichkeit des Vorkommens der Theerkrätze in 
Theerschweelereien weist auoh von Volkmann 1 ) hin. Ebenso gehört hierher 
auch die Beobachtung von Volkmann’s, welche wir auf Seite 384 unter 2 an¬ 
führen werden. 

Auch über das, was in medicinisch-polizeilioher Hinsicht gegen die Theer¬ 
krätze gethan werden kann, werde ioh mioh nachher äussern. 

Zu den specifischen Erkrankungen inTheerfabriken gehört auch bei gewisser 
individueller Disposition der Magenoatarrh. 

Dem Herrn Collegen Dr. Frey zu Teutschenthal verdanke ich die Mitthei¬ 
lung zweier hierhin gehöriger Fälle. 

Ein in der Sohweelerei beschäftigter Arbeiter klagte fortwährend über Uebel- 
keit und Erbrechen. Jede Therapie erwies sioh als erfolglos. Nachdem der Be¬ 
treffende die Schweelereiarbeit aufgegeben hatte, hat sich sein Zustand spontan 
gebessert, und ist eine Klage bis jetzt nioht wieder erfolgt. 

Der zweite Fall betrifft einen in einer Sohweelerei angestellten Böttcher. 
Sobald derselbe glühende Reifen, oder richtiger Reifen, die eben glühend ge¬ 
wesen waren, um Theertonnen legen musste, bekam er heftiges Erbrechen, das 
tagelang anhielt. Der Mann, der sonst gesund war, wurde aus der Schweelerei 
entlassen; er betreibt das Böttcherhandwerk weiter und hat nie wieder über Er¬ 
brechen zu klagen gehabt. 

Dr. Frey macht für dieses Erbrechen den Einfluss der in Menge geschluckten 
Oase auf die Magenschleimhaut verantwortlich. 

Ob mit Recht — will ich nicht entscheiden. 


*) Volkmann: Beiträge zur Chirurgie. 1875. Ueber Theer-, Paraffin- 
und Russkrebs (Sohornsteinfegerkrebs). S. 371. Anmerkung. 


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Dr. Hoffm&nn, 


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In medicinisch-polizeilicher Hinsicht hat allerdings diese Erkrankung wenig 
oder kein Interesse, da Verordnungen u. s. w. zur Verhütung solcher Krankheits¬ 
fälle nicht wohl getroffen werden können. Das Einzige, an was man denken 
könnte, wäre die Sorge für den Hinzutritt genügender Menge frischer Luft in die 
betreffenden Arbeitsräume, worauf schon oben hingewiesen ist. In dem erwähnten 
zweiten Falle wird aber sicher dieser Anforderung genugsam entsprochen worden 
sein, denn die Böttcherarbeiten werden in den Fabriken fast immer unter freiem 
Himmel oder in einem weiten Schuppen ausgeführt. 

Ehe ich das Kapitel über die Erkrankungen in Theerfabriken abbreche, 
möchte ich noch einen Brief erwähnen, den ich von einem älteren Betriebs¬ 
beamten *) erhalten habe, weloher im Jahre 1861 Betriebsführer einer Schwee- 
lerei gewesen ist. 

Dieser Brief entwirft ein interessantes Bild von den damaligen Zuständen 
in einer Sohweelerei. 

Es heisst in dem Briefe: 

„Das Wegsaugen der Cylindergase war sohwach, und so dampften die Cy- 
linder stark. Die Condensation war nicht lang, das Ausgangsrohr höchstens 4 m 
hoch. Die Theerschmeizen waren fast zur Hälfte in der Erde, und das Theer- 
füllen und Versenden geschah nur in kleinen Fässern. 

Bei dieser Anlage hatten wir damals viel mit Krankheiten zu thun: Furcht¬ 
bare Augenentzündungen bekam fast durchweg jeder Arbeiter, welcher das 
Schmelzen des Theers zu besorgen hatte. Mindestens vier Wochen musste er 
diese Arbeit meiden, und nahm er sie wieder auf, so stellte sich auch die Ent¬ 
zündung bald wieder ein. Nicht viel besser war es auf dem Schweelboden. 

Theerkrätze hatten fast alle Schweelereiarbeiter durchzumaohen, besonders 
aber diejenigen, die alle Tage Theer in Eimern nach der Schmelze zu tragen 
hatten.* 

Welcher Unterschied zwischen damals und jetzt! 

Zum Sohluss will ich nicht unerwähnt lassen, dass Erkrankungen der Ath- 
mungsorgane sehr selten, jedenfalls durchaus nicht häufiger, als bei irgend 
einem anderen Industriezweige sind. Es wird mir dies von den verschiedensten 
Seiten bestätigt, auch vom Gollegen Dr. Frey-Teutschenthal, welcher aber die 
Beobachtung gemacht haben will, dass Lungenentzündungen bei Leuten, welche 
längere Zeit in Schweelereien gearbeitet hätten, einen schwierigeren Verlauf 
nähmen und leicht in Lungengangrän übergingen. 

Dr. Frey hat zwei derartige Fälle gesehen; Weiteres ist mir nicht bekannt 
geworden. 

Im Folgenden sollen die Unfälle, die speciell in den Theer¬ 
fabriken Vorkommen können, besprochen werden. 

Auf dem Schweelboden kann so leicht kein Unglück geschehen, es müsste 
denn eine Explosion stattfinden. 

Allerdings ist ein Fall bekannt, wo ein Arbeiter mit den Füssen in einen 
jm Betriebe befindlichen Cylinder gerieth und leichte Brandwunden davon trug: 


') Briefliche Mittheilungen des Berginspectors Schmeisser. 


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Die Krankheiten der Arbeiter in Theer- und Paraffinfabriken. 


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Ein grösseres Kohlenstück, welches aus Versehen mit in den Schweelraum 
gekommen war, hatte sich festgesetzt und hatte so eine Zeitlang das Naohfallen 
der übrigen Kohle verhindert; plötzlich löste sioh dieses Stüok und daduroh 
stürzte eine grössere Partie Kohle nach, in deren Nähe der betreffende Arbeiter 
gestanden hatte 1 ). 

DieserUnfall hätte vermieden werden können, wenn der betreffende Arbeiter 
darauf geachtet hätte, wie es ja seine Pflicht ist, ob die Kohle stets gleichmässig 
naohrutschte. 

Ausserdem gefährdete der Arbeiter durch seine Unachtsamkeit das ganze 
Fabriksgebäude, da duroh die Bildung von Hohlräumen im Sohweelraume, wie 
sie eben durch das Nichtnaohfallen der Kohle hervorgerufen werden, Explosionen 
entstehen können, wie sohon oben ausgeführt wurde. 

Hiergegen kann nur genaue Instruction der Arbeiter und Aufseher schützen. 

Da wir uns jetzt einmal auf dem Schweelbodeo befinden, so sei hier gleioh 
noch Folgendes erwähnt. 

Beim Reinigen und beim Bau eines Cylinders muss streng darauf gesehen 
werden, dass die leeren Cylinder mit einer Schranke umgeben sind, da es schon 
öfters passirt ist, dass Arbeiter in'die leeren Cylinder gestürzt sind. 

Ferner ist beim Reinigen darauf zu achten, dass die Cylinder vorher duroh 
Schliessen der Drosselklappe von der Condensation abgesperrt werden, dass 
weiter die Cylinder nicht zu heiss gereinigt werden, sondern dass sie sich vorher 
genügend abkühlen konnten. Dann ist Vorsicht beim Herausnehmen der Glocken 
anzuwenden. Oft hängen die Glocken duroh die Koksmassen, die sich an ihnen 
festgesetzt haben, so fest zusammen, dass sie nur mit Mühe herausgebracht wer¬ 
den können. 

Meist steigt dann ein Arbeiter in den Cylinder hinein, um die Glocken los 
zu bekommen. Dabei zieht er sioh leicht in dem verhältnissmässig nooh immer 
heissen Cylinder Brandwunden zu, oder es entsteht, — wie es auch schon oft 
vorgekommen ist — durch den Zutritt der atmosphärischen Luft in den Cylinder, 
in dem nooh immer Gase vorhanden sind, eine Explosion, welohe den Arbeitern 
und dem Gebäude Gefahr bringt. 

Damit nun die Arbeiter nioht in den Cylinder hinein zu steigen brauchen, 
ist ein einfacher Apparat construirt worden, mit dem die einzelnen Glooken her¬ 
ausgehoben werden können a ). 

Tritt jetzt nooh eine Explosion ein, so werden die Arbeiter nicht von ihr 
betroffen, da sie sich nioht in dem Cylinder befinden, und auch für das Gebäude 
verläuft dieselbe meist gefahrlos, wenn die Drosselklappe geschlossen ist. Das 
Schliessen der Drosselklappe ist überhaupt bei jeder Explosion vorzunehmen, und 
sind Aufseher und Arbeiter dahin zu instruiren. Auf richtige Instruction der 
Arbeiter und Aufseher ist nicht blos an diesem Orte, sondern für den ganzen Be¬ 
trieb grosses Gewicht zu legen. 

In der Theer- und Paraffinfabrik Kopsen bekommt jeder Aufseher gedruckte 


*) Briefliche Mittbeilung des Dr. Frey. 

a ) Amtliche Mittheilungen aus den Jahresberichten der mit der Beaufsichti¬ 
gung der Fabriken betrauten Beamten. 1882. S. 128. 


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Dr. Hoffmann, 


Instraction äber seine Thätigkeit. Nooh zweckmässiger soheint mir der Usos in 
Gerstewitz zq sein. Dort ist in jedem Arbeitsraume auf einem grossen, weissen 
Bleohschilde kurz und bändig angegeben, was geschehen muss und was verboten 
ist. Es empfiehlt sich auch jedesmal, wie Eulenberg 1 ) beziehungsweise Gro- 
towsky betont, vor dem Reinigen eines Cylinders eine Sioherheitslampe in den¬ 
selben zu senken: Durch Verlöschen oder Funken am Gitter maoht sie auf vor¬ 
handene gefährliche Gase aufmerksam. 

Wir kommen jetzt zum Ablassen und Löschen des Koks. 

Beim Ablassen des Koks hat der Arbeiter abwechselnd die zwei oben be¬ 
schriebenen Schieber zu handhaben. Zieht er diese beiden Schieber gleichzeitig, 
oder zieht er den einen, wenn der andere nicht geschlossen ist, so stürzt der 
glühende Inhalt aus dem Cylinder heraus: Der Mann verbrennt sich und das ge¬ 
fürchtete Gespenst einer Explosion steht wieder vor uns, weil die atmosphärische 
Luft frei und ungehindert von unten in den Cylinder eintreten kann. 

Um nun, wie Eulenberg 3 ) schreibt, „nioht von dem guten Willen and 
der Intelligenz des Arbeiters abhängig zu sein“, hat Director Grotowsky in 
Kopsen einen Hebel construirt, der nur einen Schieber zu öffnen gestattet. So¬ 
bald der eine Schieber geöffnet ist, ist der andere durch den Hebel geschlossen 
und kann erst dann geöffnet werden, wenn der erste wieder gesohlossen ist. 
Diese oder eine ähnliche Einrichtung, welche denselben Zweck verfolgt, findet 
man jetzt wohl auf allen Sohweelereien. 

Noch ist zu beaohten, dass stets vor dem Ziehen des oberen Schiebers die 
Drosselklappe gesohlossen wird, damit die Verbindung des Cylinders mit derCon- 
densation aufgehoben wird. Es wäre ja möglich, dass nach dem Oeffnen des 
oberen Schiebers Luft durch den Exhaustor in den Cylinder gesaugt würde, dass 
die Luft mit den im Cylinder vorhandenen Gasen ein explosibles Gemenge bilden 
würde, und die nun stattfindende Explosion würde sioh, wenn oben die Drossel¬ 
klappe nicht gesohlossen wäre, in die Condensation fortsetzen und so ungeheures 
Unglüok anrichten können 3 ). 

Auch hier müssen richtige und strenge Instructionen gegeben werden. 

Die Gänge, in denen das Ablassen des Koks gesohiebt, liegen, wie aus dem 
oben Gesagten hervorgeht, tief und sind meist nicht gerade durch gute Beleuch¬ 
tung und gute Ventilation ausgezeichnet. 

Deshalb hat Neubert 4 ) vorgesohlagen, die Decken beziehungsweise Fuss- 
böden zum Theil aus eisernem Gitterwerk herzustellen, eine Einrichtung, die ich 
in Nietleben gesehen habe und als praktisch rühmen hörte. 

Der abgelassene Koks wird rvun auf Karren in ausgemauerte und zum 
Theil mit Wasser gefüllte Gruben gebracht. Beim Hineinstürzen des Koks in 
diese Gruben soblögt fast immer eine Feuersäule empor, hoi der kleinsten Zug¬ 
luft läuft der Arbeiter Gefahr von dieser Flamme versengt zu werden. Anderer- 


*) Eulenberg, Handbuch des öffentlichen Gesundheitswesens. 2. Bd. 
S. 567. 1882. 

2 ) Ebenda. S. 560. 

•) Ebenda. S. 566. 

4 ) Berichte der Fabrikinspeotoren, 1. c. 1884. S. 98. 


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Die Krankheiten der Arbeiter in Theer- und Paraffinfabriken. 375 


seits hat sich auch der Fall nioht allzu selten ereignet, dass Arbeiter und Karren 
in die mit glühendem oder doch wenigstens heissem Schlamme angefüllte Grube 
gefallen sind. 

Director Grotowsky hat die Kokslöoher mit 12 cm hohen Eisenbahn¬ 
schienen umgeben, damit der Arbeiter den Karren nicht bineinfahren kann. 
Dann hat er einen Galgen errichtet, an dem eine Rolle befestigt ist. Ueber diese 
Rolle läuft eine Kette. An das eine Ende dieser Kette wird der mit einer Kipp¬ 
vorrichtung versehene Wagen gehängt, und am anderen Ende zieht der 3 m von 
dem Koksloch entfernt stehende Arbeiter und entleert so den Wagen 1 ). 

loh habe diese Einrichtung in Kopsen selbst gesehen; wenn sie von dem 
Arbeiter benutzt wird, wie die Instiuotion haben will, so kann den Arbeiter 
selbstverständlich beim Kokslöschen kein Unglück treffen. 

Wenn man indess öfters mit Arbeitern zu thun hat, so weiss man, dass die¬ 
selben Alles, was nur irgendwie complicirt ist oder zu sein scheint, vermeiden. 
So glaube ich auch, dass in diesem Falle die Arbeiter ihren Wagen an das Koks¬ 
loch heranfahren und denselben dann oft ohne Benutzung jenes Apparates ein¬ 
fach mit der Hand Umstürzen. Natürlich wird dies nur hinter dem Rücken der 
Aufseher geschehen. 

Uan kann nur solchen Vorrichtungen unbedingtes Vertrauen entgegen¬ 
bringen, deren Gebrauch sich absolut nicht umgehen lässt. 

Aus diesem Grunde glaube ich der Einrichtung in Gerstewitz, nooh mehr 
aber der in Waldau, Lob spenden zu müssen. 

In Gerstewitz sind die im Gebrauch befindlichen Löschgruben zum Tbeil 
(vielleicht l / 4 ihrer Breite) mit einem eisernen Roste bedeckt, so dass ein Hinein¬ 
fahren in die Grube nicht möglioh ist; der Arbeiter kann auch von der eventuell 
emporschlagenden Flamme nicht getroffen werden, weil er den Karren auf dem 
Roste weit genug vorschieben kann. Sodann sind die Gruben mit doppelten Bar¬ 
rieren umgeben, so dass der Arbeiter selbst im Falle eines Ausgleitens stets einen 
Halt findet. 

Ueber die Einrichtung in Waldau sohreibt mir Herr Dr. Sohliephacke, 
Director der dortigen Fabrik: Die Kokslöschgruben sind so eingerichtet, dass 
oben auf der Rampe an der vorderen Seite der Gruben senkrechte Blechwände 
stehen, welche unten einen nur wenige Zoll hohen Ausschnitt, fast so lang als 
die Grube breit ist, haben. Der Arbeiter schüttet die Karren Koks auf das Pla¬ 
num der Rampe bei diesem Schlitze aus; hierbei schlägt natürlich keine Flamme 
empor, weil kein grosser Luftzug entsteht, dann schiebt der Arbeiter den Koks 
mit einem an einem langen Stiele sitzenden Eisenbleche duroh den Ausschnitt, 
so dass der Koks nur allmälig die Fuge hinab in die Koksgrube rinnt. DieBleoh- 
wand sohützt den dahinter stehenden Arbeiter gegen die Funken. 

Ich glaube, dass diese Einrichtung als sehr praktisch zu empfehlen ist. 

Hier beim Kokslösohen muss die Sanitätspolizei ihre wohlbereohtigten For¬ 
derungen stellen: sie muss verlangen, dass duroh Vorrichtungen der Arbeiter 
vor Verbrennungen, die hier nioht allzu selten sind, geschützt wird. Und dieser 
Schutz kann wirksam durchgeführt werden, wenn die Arbeiter selbst, wollen. 


l ) Eulenberg: Gesundheitswesen, 1. o. S. 560. 


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Dr. Hoffmann, 


Uebertretungen der erhaltenen Instructionen rächen sich hier oft an denen, 
die leichtsinnig gefehlt haben. Beim Löschen des Koks kann anoh dadurch, dass 
kleine Partikelchen vom Winde in’s Auge des Arbeiters getrieben werden, Augen¬ 
bindehautentzündung entstehen. Es empfiehlt sich deswegen, die Löscbgruben 
von allen Seiten zugängig zu machen, damit das Löschen des Koks stets in der 
herrschenden Windrichtung geschehen kann. Qegen die eventuell in’s Auge drin¬ 
genden Fremdkörper kann sich der Arbeiter nur wirksam schützen, wenn er — 
bei starkem Winde wenigstens — eine Schutzbrille trägt. 

Die Bestimmung Schutzbrillen zu tragen ist aber wohl auch nur ein Gebot, 
das gegeben ist, um — übertreten zu werden. Wir kommen naohher noohm&l 
darauf zurüok. 

Wir haben in der vorhergehenden Schilderang der Unfälle, welche 
sich beim Betriebe in einer Theerfabrik ereignen können, angenommen, 
dass das Schweelen in stehenden Retorten geschieht und müssen des¬ 
halb jetzt noch das Schweelen in liegenden Retorten und seine even¬ 
tuellen Folgen betrachten. 

Hier ist die Arbeit viel mühsamer und auch gefährlicher: Der 
Boden der liegenden Retorten wird mit einer Schicht Kohle gleich-' 
mässig bedeckt; ist nach 6 bis 8 Stunden der Schweelprocess be¬ 
endet, so muss der eiserne Deckel von der glühenden Retorte ent¬ 
fernt werden. Dann wird der glühende Koks mittels einer langen 
Krücke aus der Retorte herausgezogen, dann wird die glühende Re¬ 
torte von Neuem mit Kohle „beschickt“, und endlich wird der heisse 
Deckel wieder befestigt. Dass bei diesen Manipulationen selbst den 
vorsichtigen Arbeiter leicht Verbrennungen treffen können, liegt auf 
der Hand. Ebenso klar ist es, dass die Luft in einem solchen Raume 
voll von Staub und Gasen sein muss. 

Herr Director Grotowsky zu Kopsen sagte mir auch, dass 
wegen der enormen Hitze, die die Arbeiter in solchen Schweelereien 
ertragen müssen, es sehr schwer sei, vorzüglich im Sommer, Leute 
zu diesem Geschäfte zu bekommen. 

Und wir werden das auch verstehen, wenn wir das vergleichen, 
was hier ein Arbeiter leisten muss, mit dem, was vom Arbeiter in 
Schweelereien mit stehenden Retorten gefordert wird. 

Vom sanitäts-polizeilichen Standpunkte müssen wir wegen der 
Gefahren, die das Schweelen in liegenden Retorten mit sich bringt, 
uns für das Schweelen in stehenden Cylindern entscheiden. 

Und in diesem Falle wird diese Entscheidung auch von den 
Industriellen gern angenommen, denn die Schweelerei in stehenden 
Retorten hat auch für den Fabrikanten der Vortheile genug. Dieses 


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Die Krankheiten der Arbeiter in Theer- and Paraffinfabriken. 377 


näher aaszuführen gehört nicht hierher and verweise ich auf Gro- 
trowsky’s 1 ) öfters citirte Arbeit. 

Die Theerbassins will ich noch erwähnen. In den Sammelröhren 
and in den Bassins befinden sich oft über dem Theer noch brennbare 
Gase, und deshalb ist beim Oeffnen dieser Behälter Vorsicht, vor 
Allem Vorsicht mit Licht, za empfehlen, damit nicht eine entstehende 
Explosion den betreffenden Arbeiter unglücklich macht. 

Auch hier kann nur, wie schon öfters betont, gute Instruction 
und genaues Befolgen der Vorschriften schützen. 

Der folgende Abschnitt wird uns mit den in Paraffinfabriken 
auftretenden specifischen Krankheiten bekannt machen. 

Zwei Krankheiten sind es, die ans hier entgegentreten: nämlioh Augen - 
bindehaatentzüodang and Paraffinkrätze, oder wenn wir vom Betriebe 
aasgehen, so sind es drei Punkte, welche unsere Aufmerksamkeit fesseln: der in 
die Paraffinfabrik gebrachte and dort behandelte Theer, dann das flüssige De¬ 
stillat und seine Beimengungen und endlioh das Paraffin. 

Zunächst also noohmal der Theer. Derselbe wird, wie schon aasgeführt, 
zunächst in der sogenannten Mischerei mit Schwefelsäure gemisoht. Die Schä¬ 
den, welche die Sohwefelsäure als solche anriohtet, interessiren uns nicht hier, 
sondern werden ihre Erwähnung finden bei den Unfällen in den Paraffin fabriken. 
Dagegen müssen wir unser Augenmerk richten auf die sich hier bildenden Gase, 
unter denen wieder die „geschwefelten Kohlenwasserstoffe“ für uns die grösste 
Bedeutung haben, da sie Augenentzündungen hervorzurufen im Stande sind. 
Diese Bindehautentzündungen haben niemals einen bösartigen oder dooh nur 
einen ernsten Charakter gehabt, sie sind schnell einer Therapie, bestehend in 
kalten Aufschlägen, gewichen. 

Eine schädliche Wirkung der hier entstehenden sohwefligen Säure habe ich 
nioht feststellen können. Wenn auob das Einathmen der schwefligen Säure zu¬ 
nächst einen Hustenreiz abgiebt, so sind doch wirkliche Krankheiten der Ath- 
mungsorgane unter den Arbeitern in der Misoherei nioht mehr zu verzeichnen, 
als irgendwo anders. Ja der Dirigent einer Paraffinfabrik, Dr. Schäfer zu Halle, 
will, wie er mir sagte, die Erfahrung gemacht haben, dass „kurzathmige, asth¬ 
matische Leute“ besonders gern in der Mischerei arbeiteten. loh kann über 
diesen Punkt nioht urtheilen; die hierüber brieflich von mir befragten Herren 
Collegen hatten auch nichts dabin Gehöriges beobachtet. 

Eine weitere zu beaohtende Eigenschaft der in der Mischerei auftretenden 
Gase ist die, dass sie in sohlecht ventilirten Mischereien leicht Kopfweh erzeugen, 
und in concentrirtem Zustande eingeatbmet (z.B. wenn man sich über die offenen 
Mischgefässe beugen würde) sogar betäubend wirken können. 

Zur Verhütung der in der Misoherei auftretenden Erkrankungen muss die 


l ) Grotowsky, 1. c. S. 367—370. 


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378 


Dr. Hoffmann, 


Sanitätspolizei fordern: gnte Ableitung der sich bildenden sohädlichen Oase und 
genügende Ventilation des ganzen Gebäudes. 

In fast allen Fabriken, die ich gesehen habe, fand ich die Mischgefässe mit 
einem hölzernen Deokel geschlossen, an einer Stelle war dieser Deckel durchbohrt 
und von hier führte ein Rohr durch das Dach des Gebäudes in die atmosphä¬ 
rische Luft. Auf diesem Wege sollen die betreffenden Gase entweichen. Man 
kann nicht leugnen, dass diese Vorrichtung gegen früher, wo die Mischgefässe 
unbedeckt waren, einen grossen Fortschritt bedeutet, aber andererseits wird auch 
Niemand behaupten wollen, dass dieser immerhin mangelhafte Versohluss, der 
wo möglich geöffnet werden muss, um die Schwefelsäure in den Behälter giessen 
zu können, ideal genannt werden könne. Hier muss die Teohnik Verbesserungen 
treffen, um den Anforderungen der Hygiene zu genügen. Und sie hat es bereits 
gethan. 

Ich hatte Gelegenheit die neue Mischerei in Webau zu sehen, welohe auf 
Veranlassung des Dr. Krey, Director zu Webau, gebaut worden ist. 

Hier finden wir in einem grossen, hellen, zweistöckigen Gebäude in zwei 
parallelen Reihen die Mischgefässe stehen. In dem unteren Stookwerk sehen wir 
nur die untere Hälfte der auf eisernen Säulen ruhenden, eiförmigen Mischgefässe. 
Im zweiten Stook können wir die andere Hälfte derselben betrachten; von dieser 
oberen Hälfte führen Röhren die verderblichen Gase in’s Freie. 

Das Hauptprinoip dieser Misoherei ist das, dass die aus Eisenblech gefer¬ 
tigten, innen mit Bleiplatten ausgekleideten Gefässe vollkommen geschlossen 
sind, dass also Gase nur auf dem für sie bestimmten Wege entweichen können. 
Theer und Schwefelsäure werden in die Gefässe hineingepumpt und dann durch 
Rohre wieder abgelassen, so dass kein Arbeiter mit diesen Stoffen in Berührung 
kommt. Wir haben hier eine Mischerei, die wohl alle Mängel ausschliesst. 

Diese Einrichtung wäre wohl der Nachahmung wertb, wenn nicht die unge¬ 
heuren Kosten davon abschreoken würden. 

Und da erwähnenswerthe Nachtheile für die Gesundheit der Arbeiter in 
den bisherigen Mischereien nicht festgestellt sind, da ferner die vorgekommenen 
Unfälle bei einiger Vorsioht sich hätten vermeiden lassen, so wird man dem 
Fabrikanten wohl diese enormen Kosten, die eine Anlage wie die oben geschil¬ 
derte verursacht, nicht zumuthen können. 

Noch ein zweites Mal haben wir es mit einer Augenbindehautentzündung zu 
thun und zwar bei der Destillation, wo die Krankheit unter dem Namen «Gas¬ 
blindheit“ bekannt ist. 

Aus dem im Destillationsgefässe befindlichen Theere entweichen beim Be¬ 
ginne der Destillation beissende Gase, die dem Arbeiter, der sich häufig über 
das Ausflussrohr beugt, um den Anfang der Destillation bestimmen zu können, 
sehr lästig fallen, auch während der Destillation treten immer noch Gase auf, 
die nicht ohne Einfluss auf den menschlichen Organismus sind. 

Ich habe schon oben die Vorrichtung beschrieben, die jetzt in den meisten 
Fabriken angebracht ist, um die Gase abzuleiten. 

Aber die Gase verschmähen oft den ihnen angewiesenen Weg. Zu Beginn 
der Destillation, wo der durch das Destillat in der U-förmigen Röhre gebildete 
Abschluss nooh nioht vorhanden, oder noch nicht vollkommen ist, oder wenn die 
Blase etwas stärker erhitzt wird, die Gase also unter einem höheren Drucke 


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Die Krankheiten der Arbeiter in Theer- and Paraffinfabriken. 379 


stehen, werden dieselben aas dem Abflussrohr heraasgedrängt and können nan 
doch ihre schädlichen Einwirkungen auf die Gesundheit der Arbeiter geltend 
machen, die eben darin bestehen, dass die Arbeiter aagenleidend werden. 

Die Arbeiter empfinden einen drückenden Schmerz im Aage, der sie zwingt 
das Auge öfters zu schliessen, es tritt endlich ein krampfartiger Zustand der 
Lider auf, so dass das Auge nicht mehr geöffnet oder wenigstens nioht offen ge¬ 
halten werden kann. Der Arbeiter muss seine Beschäftigung für den Tag im 
Stich lassen. Aber meist auch nur für den Tag: Aufenthalt in reiner Luft, kalte 
Oompressen auf die Augen gelegt, und das Uebel ist bald beseitigt. 

Sehr selten nimmt die Entzündung einen ernsteren Charakter an, meist 
liegt dann aber die Schuld an dem Arbeiter selbst, der die Krankheit Tage lang 
vernachlässigt hat. 

Io gewissem Sinne spielt hier aber auch wohl eine individuelle Disposition 
eine Rolle, denn wie wäre es sonst zu erklären, dass ein und derselbe Arbeiter 
öfters von dieser Augenentzündung befallen ist, während ein anderer Arbeiter, 
der ganz die gleiche Beschäftigung hat, wie der erste, niemals erkrankt, eine 
Beobachtung, die mehrfach gemacht worden ist und mir auch brieflich von Dr; 
Sohliephake bestätigt wird. 

Ausser den Arbeitern in der Destillation ergreift diese Krankheit auch mit¬ 
unter die Arbeiter, welche in dem Keller die heissen, flüssigen Paralfinmassen in 
die Krystallisationshülsen ablassen. 

Schwer ist zu entscheiden, welche Gase die Entzündung hervorrufen. 

Eulenberg 1 ) macht dafür geschwefelte Kohlenwasserstoffe, Schwefel¬ 
ammon, Schwefelwasserstoff, Kohlensäure u. s. w. verantwortlich. Schröder 3 ) 
dagegen hält die Carbolsäure für das schädliobe Agens, welches diese Augenent- 
zündung herbeiführt und stützt sich hierbei auf Folgendes: In seiner Gewerbe¬ 
hygiene spricht Eulenberg 8 ) von der Einwirkung der Dämpfe der Carholsäure 
auf den thierischen Organismus und hebt hierbei auch die durch Carbolsäure 
hervorgerufene Entzündung der Conjunotiva und Cornea hervor. Weiter giebt 
Schröder 4 ) als Belag für seine Aussage an, dass die Wirkung dieser Gase ähn¬ 
lich sei der, welche der Tabakrauch auf die Augen habe; und Ludwig 5 ) habe 
naohgewiesen, dass auch imTabakrauoh Carbolsäure enthalten sei. Also sei wohl 
auch im Tabakrauche das Wirksame die Carbolsäure. 

Naoh meiner Ansicht ist es die Carbolsäure allein nicht, die diese Ent¬ 
zündungen verursacht, da deren Dämpfe sich wohl nur in äusserst geringer 
Menge in der Luft des Destillationsraumes finden möchten. 

Aus demselben Grunde ist auch Ammoniak und Schwefelwasserstoff auszu¬ 
scheiden. — Die Wirkung der Kohlensäure auf die Augen ist nioht ganz sicher. 


*) Eulenberg, Handbuoh des öffentlichen Gesundheitswesens. 2. Band. 
S. 562. 

3 ) Schröder, Manuscript, 1. c. 

3 ) Eulenberg, Handbuch der Gewerbehygiene. 1876. S. 610. 

4 ) Sohröder, Manuscript, 1. c. 

8 ) Archiv für klinisohe Chirurgie. 1887. Bd. 20. XIV. Ludwig, Ueber 
einige Bestandtheile des Tabakrauohes. S. 364. 


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Dr. Hoffmann, 


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leb glaube, dass auoh hier die geschwefelten Kohlenwasserstoffe bezw. andere 
SchwefelverbinduDgen die Hauptrolle spielen. Ob nooh andere Körper mitwirken, 
ist wohl wahrscheinliob, aber noob nicht bewiesen. 

Es ist überhaapt für die Tbeer- nnd Paraffinfabrikation höchst charakte¬ 
ristisch, dass überall da, wo Gasentwicklung stattfindet, auch Augenbindehaut¬ 
entzündung auftritt. 

Sollte nicht überall die Ursaohe die gleiche sein ? 

Jetzt haben ja, wie schon öfters hervorgehoben, diese Erkrankungen keine 
grosse Wichtigkeit mehr, da sie nur selten und dann auch wohl nie bösartig 
sind. Auch unsere zuletzt besprochene Augenbindehautentzündung, die bei der 
Destillation auftritt, ist nur noch sporadisch zu finden, seitdem durch die oben 
geschilderte Vorrichtung die schädlichen Gase abgeleitet werden. Wir haben 
oben auch die Bedingungen erfahren, wann trotz der Ableitung die Augenbinde¬ 
hautentzündung sich zeigen kann; dabei ist aber zu erwähnen vergessen, dass 
auoh die Beschaffenheit des Theers, also zuerst die der Kohle, bei der Häufigkeit 
oder Seltenheit der Augenentzündung mitspricht. 

Es muss nun Aufgabe der Paraffinindustrie sein, auch nooh diese wenigen 
Bedingungen, welche das Heraustieten der Gase aus dem Ausflussrohre ge¬ 
statten, zu beseitigen. Und auch diese Aufgabe ist als gelöst zu betrachten. 

Ehe ich aber der Lösung dieser Frage einige Worte widme, möchte ich 
hervorheben, was vorher zur Verhütung von Augenentzündungen gethan wor¬ 
den ist. 

Früher traten die Gase aus dem Ausflussrohre frei heraus, und der Arbeiter 
konnte sich nur durch das Tragen einer Schutzbrille *) vor der Gefahr einer 
Augenbindehautentzündung decken. Die Bestimmungen, Sohutzbrillen zu tragen, 
sind aber wohl oft nicht befolgt worden. 

Denn das Tragen dieser Brillen für längere Zeit ist doch reoht unbequem, 
auoh die lästige Wärme, die unter der Brille sich entwickelt, ist nicht zu unter¬ 
schätzen, und endlioh ist zu erwähnen das Blindwerden, Anlaufen der Brillen 
bei einem Temperaturunterschiede zwischen der Aussenluft und der Laft im 
Destillationsraume, wenn der Arbeiter, was nioht zu vermeiden ist, von dem 
einem Orte zum anderen gehen muss. Ausserdem kommt nooh als Hauptfactor 
die grosse Gleichgültigkeit der Arbeiter hinzu, welche fast alle solohe Vorschriften 
illusorisch macht. 

Deshalb war die Einführung der U-förmigen Röhre und des anfsteigenden 
Rohres, duroh welches die Gase entweichen sollen und ja auoh zum sehr grossen 
Theile entweichen, entschieden von hoher Bedeutung. 

Dadurch worden die Krankheitsfälle auf ein Minimum beschränkt und die 
Sanitätspolizei hätte nur noch fordern können, auch wo möglich diese wenigen 
Augenentzündungen zu verhüten. 

Und dieser Forderung ist entsprochen worden oder wird entsprochen durch 
die von Herrn Dr. Krey zu Webau veranlasste Einführung der Vacuumdestil- 
lation, bei der sich das Verlangen der Sanitätspolizei mit dem Vortheile des 
Fabrikanten deckt. Bei der Vacuumdestillation können absolut keine Gase in den 


') Beriohte der Fabrikinspectoren. 1882. S. 130. 


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Die Krankheiten der Arbeiter in Theer- and Paraffinfabriken. 381 

Destillationsraam gelangen, sondern sie werden weiter geleitet, and dienen theils 
als Lenohtgas, theils bleiben sie unbenutzt. Neubert 1 ) sagt über die Vacuum- 
destillation: „Von den technischen Vorzügen und der grösseren Feuersicherheit 
dieser Vaouumdestillation abgesehen, sind den die Apparate bedienenden Arbei¬ 
tern Vortheile in sanitärer Beziehung aus ihr erwachsen: Die besonders zu Be¬ 
ginn der Destillation auftretenden belästigenden Oase, welche die Destillations- 
häuser erfüllten und namentlich Augenentzündungen veranlassten, werden jetzt 
abgesogen.“ 


') Aus dem schriftlichen, nicht gedruckten Berichte des mit der Beauf¬ 
sichtigung der Fabriken betrauten Qewerberathes Neubert zu Merseburg vom 
Jahre 1885. 


(Schluss folgt.) 


Vierteljahre gehr. f. gor. Med. Dritte Folge. V. 2. 


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3. 


Superarbitrium 

der K. Wissenschaft! Deputation für das Medicinalwesen 

Aber die im Odergebiet 1891 beobachtete „Scblammkrankheit“. 

(I. Referent: Gerhardt«) 

(II. Referent: Hühner.) 


Ew. Excellenz haben der gehorsamst Unterzeichneten wissen¬ 
schaftlichen Deputation die erbetenen ausführlicheren Quellen, welche 
über die Einzelheiten der vorigjährigen eigenartigen, * Schlammkrank- 
heit“ genannten Volksseuche in Schlesien Aufschlüsse gewähren, zur 
Kenntnissnahme und gutachtlichen Aeusserung zugewiesen. Wir ver¬ 
fehlen nicht unter Rückleitung der Acten ein kurzes Bild jener 
Krankheit zu entwerfen: 

Die Erkrankung fand ihre Verbreitung längs der Oder in den Orten und 
der Umgegend von Ratibor, Kosel, Oppeln, Ohlau und Glogau, längs der Neisse 
in Ottmachau, Neisse und Grottkau (Kroplitz) zwischen Neisse und Oder in Neu¬ 
stadt, Obergloglau. Falkenberg und Proskau. Mit Ausnahme von den weiter 
nördlich gelegenen Kreisen Ohlau und Glogau gehören alle diese Orte einem 
Dreieoke an, das in dem südlichsten Theile Schlesiens von Oder und Neisse ge¬ 
bildet wird. Nur zwei Heerde liegen weiter von diesem Dreiecke ab, westlich 
Goldberg im Thale der Katzbaoh, östlioh Lublinitz. 

Schon 1882 soll eine derartige Erkrankung in Grottkau während der Som¬ 
mermonate beobachtet worden sein von Dr. Kornfeld. 

Im Jahre 1891 kam der erste sichergestellte Fall am 12. Juni in Neisse 
beim Militär vor. Sonst wird der Anfang der Epidemie angegeben in Gnadenfeld 
und Grottkau Anfang Juli, Polnisch-Wette Mitte Juli, Neustadt O./S., Kreis 
Kosel, Glogau (und wohl auoh Ohlau) im Juli, Falkenberg 1. August, Patschkau 
9. September, Goldberg Anfang August. 

Die Epidemie war beendet: in Neisse unter dem Militär am 18. August 
1891, in Oppeln bis auf Ottmachau am 6. September, in Kosel am 26. August 


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Superarbitrium üb. die im Odergebiet 1891 beobachtete „Sohlammkrankheit“. 383 


(im Erlöschen). Dagegen kamen nach einem Berichte des Herrn Regierungs¬ 
präsidenten von Bitter noch November 1891 bis Januar 1892 vereinzelte 
Fälle im Kreise Qrottkan vor. 

Die Zahl der Erkrankungen wird im Kreise Neustadt nnd Oppeln, ferner in 
Knttlan auf l / 5 der Bevölkerung gesohätzt. In Kotzemenschei erkrankten von 
200 Einwohnern 85, im Ohlaner Krankenhaus wurden 270 Kranke derart ver¬ 
pflegt, im Krankenhause in Grottkau 50. Von der Garnison in Kosel erkrankten 
nur 32 Mann. 

1. Fieber. Der Beginn der Erkrankung erfolgte in allen Fällen plötzlich, 
zumeist mit Schüttelfrost oder wiederholtem Frösteln. Bei 33Kranken vom Militär 
in Kosel wird nur 4mal Frost oder Frösteln nicht als Anfangserscheinung ange¬ 
geben. Ebenso gleichmässig werden im Beginne heftige Kopf* und namentlich 
Hinterhaupt-, Kreuz- und Gliederschmerzen angegeben. Vereinzelt tritt auch bei 
kräftigen Leuten Ohnmacht anf, auoh Schwindel, ebenso manchmal Erbrechen. 
Einige sind im Stande, noch 1—2 Tage sioh auf den Beinen zu halten, die 
Meisten wirft die Krankheit sofort auf das Bett. 

Die Körperwärme steigt sehr rasoh mit dem Krankheitsbeginn auf 39 bis 
40 bis 41. Letzere Zahl wird von 5 Berichterstattern erwähnt, von ebensovielen 
40 und darüber, von einem (Neumann in Kosel) 41,8. — Ueber den weiteren 
Verlauf der Fieberhitze giebt der militärische Berichterstatter in Kosel die ge¬ 
nauesten Aufschlüsse. Die Körperwärme blieb in den ersten Tagen gleichmässig 
hooh, um etwa zur Zeit des Ansbruches des Hautaussohlages naoh und nach zu 
sinken. 

Die Entfieberung war am 4. bis 13. Tage beendet, im Mittel am 8. Tage. 
Die Zeit der anfänglichen hohen Wärmegrade umfasste 4—5 Tage. Davon hatte 
in der Regel der erste Tag höhere Grade aufzuweisen als die folgenden. Das 
Sinken der Körperwärme umfasste 3—4 Tage. Am Schlüsse der Entfieberung, 
naoh eintägigem fieberlosem Verhalten trat häufig nochmals ein Steigen der Kör¬ 
perwärme um 1° ein (auoh von Dr. Lichtwitz beobachtet). Der Puls zeigte 
mässige, eher für die hohen Wärmegrade geringe Beschleunigung (90—114), 
sank nach der Entfieberung auf niedere Zahlen (44—60). Die Athmung war 
mässig, und nur im Verhältnisse zur Körperwärme gesteigert an Zahl der Züge. 
Das Vorkommen von fieberhaftem Bläsohenaussohlag an den Lippen (Herpes 
labialis) wird hie und da erwähnt (Dr. Kornfeld in Grottkau). 

Milzvergrösserung wurde bei den Militärkranken in Kosel nur vereinzelt 
(zweimal) wabrgenommen, sonst wird sie bald regelmässig vorgefunden, bald 
häufig vermisst. 

Hie und da wurde auch Sohwellung der Leber gefunden, bei den erkrankten 
Civilisten und Soldaten vielfache Schwellung der Lymphdrüsen. Delirien, sohwere 
Entkräftung wurde öfter beobachtet. 

Die Entfieberung vollzog sich bei Einigen unter reichlichem Sohweissaus- 
bruohe; bei Anderen, namentlich den Soldaten, wurde dies seltener gefunden. 

2. Der Hautaussohlag kam am 2. bis 6. Tage, im Mittel am 3. bis 
5. Tage zum Vorscheine, dauerte 2—8 Tage, im Mittel 4—5 Tage. Er begann 
in der Schlüsselbeingegend und verbreitete sich auf den übrigen Körper mit 
Ausnahme des Gesichts. Nur Stirne und behaarte Köpfe waren in einer Minder¬ 
es* 


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384 Saperarbitrium der Königl. wissenschaftlichen Depntation 

zahl von Fällen mitbetroffen. Er bestand in rothen masernähnlichen, oft leicht 
erhabenen, und mit Sohwellang des Follikels einhergehenden Fleoken. Mancher¬ 
lei Abweichungen kamen da vor. Der Ausschlag war mehr eine gleichmässige 
Rothe, bestand nur an vereinzelten Stellen. Er fehlte unter 32 Fällen beim Mili¬ 
tär 4 mal. 

In einzelnen Gegenden scheint das Fehlen des Ausschlages die Regel, sein 
Auftreten die Ausnahme gewesen zu sein. So berichtet Dr. Gotzmann in 
Gnadenfeld: nur in 2 Fällen = 3 pCt. Exanthem; Dr. Kornfeld in Grottkau: 
Hautausschlag nur vereinzelt; Dr. Grüttner in Grottkau sah kein Exanthem, 
einmal Herpes cervicalis; Dr. Deichmann in Grottkau unter 5 Fällen nur 2mal 
Exanthem; Dr. Leja in Krappitz: zahlreiche Fälle ohne Exanthem; Dr. Rot her 
in Falkenberg: unter 16 Fällen Imal Exanthem; Dr. Simon in Bielau: zahl¬ 
reiche Fälle, nie Exanthem. 

Unter 13 kranken Soldaten hatten 6 gleichzeitig Entfieberung und Ab¬ 
blassen des Hautausschlages, bei 4 überdauerte der Hautausschlag die Entfiebe¬ 
rung, dreimal dauerte das Fieber länger als der Hautaussohlag. Zweimal nur 
unter 32 Fällen trat nach 2 Wochen Abschilfung der Haut ein; von Anderen 
wurde sie garnicht getroffen. 

Zumeist wird starke Blutanfüllung der Bindehaut des Auges getroffen, die 
Kachenorgane sind gewöhnlich geröthet, ohne zu schmerzen, die Zunge zeigt 
jedoch nur dem Fieber entsprechendes Aussehen. Vereinzelt wurden flüohtige 
Röthen und Schwellungen der Gesichtshaut gesehen. — 

3. Innere Organe. Die Athmungsschleimhaut geht mit verschwindend 
seltenen Ausnahmen frei aus. Der Unterleib ist bald mässig, bald stärker ge¬ 
wölbt, die Blinddarmgegend zeigt öfter Gurren, ohne schmerzhaft za sein. 
Schmerzen in der Gegend des Magens und der Rippenbogen kommen vor. Der 
Stuhl war bald angebalten, bald diarrhöisch. Eiweissharnen wird im Verhält- 
niss zu der Fieberhöhe selten erwähnt. 

Sehr vereinzelt sind kurze Rückfälle beobachtet worden. Die Sterblichkeit 
war so gut wie Rull. Die Krankheit war meist in 2 Wochen gänzlich vorüber, 
stellenweise schon nach wenigen Tagen, andermal erst nach 3—4 Wochen. An 
Raohkrankheiten sind erwähnt: einmal Gelbsuoht, vereinzelt Nierenwassersucht. 

Verbreitungsweise und Ursachen der geschilderten Volkskrankheit 
sind dunkel. Die Erkrankten sind grösstentheils Bewohner der Fluss¬ 
gebiete der Oder und Neisse. Alle Berichte stimmen darin überein, 
dass vorwiegend Leute im arbeitsfähigen Alter betroffen würden, 
Leute aus dem Arbeitsstande, Feld- und Wiesenarbeiter, die in 
sumpfigen oder überschwemmten Gegenden im Freien gearbeitet 
hatten. Meist überwiegen die Männer, im Krankenhause in Grottkau 
die Weiber (11/2 : 1). Dies soll dort der Fall gewesen sein, wo die 
Frauen vorwiegend die Feldarbeit verrichten. Von allen Seiten wird 
das seltene Betroflfenwerden der Kinder hervorgehoben. Doch waren 
in Krappitz bei Oppeln 5 Kinder von 3—7 Jahren erkrankt. Von 

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über die im Odergebiet 1891 beobachtete „Schlammkrankheit“. 385 


den Kranken selbst und den Aerzten wurde vielfach als Grund der 
Erkrankung Trinken von Wasser aus Gräben beschuldigt. Doch 
spricht sich Dr. Ponitz in Kosel ausdrücklich gegen diese Annahme 
aus und glaubt, dass Wohnung und Ernährung wichtiger seien. Auch 
Dr. Kornfeld in Grottkau sagt, dass Wasser aus Gräben nur von 
einzelnen der Erkrankten 'getrunken worden sei. Dagegen hebt 
Dr. Grüttner in Grottkau hervor, dass sein erster Fall ein Mann 
war, der in Ertrinkungsgefahr viel Neissewasser geschluckt haben 
mochte. 

Die allseitige Würdigung der ursächlichen Verhältnisse, welche 
der Bericht der Garnison Kosel liefert, fällt hier besonders in’s Ge¬ 
wicht. Die Erkrankten waren 2 Gefreite und 31 Gemeine, kein 
Officier, Freiwilliger, Hoboist wurde betroffen, 25 Mann der Kranken 
waren im ersten Dienstjahre. 22 davon waren Schwimmschüler» 
1 Schwimmlehrer. Am 8. August wurde der Schwimmunterricht ein¬ 
gestellt, nun erkrankten erst am 17. und 18. August wieder 4 Mann, 
von denen bei 3 das Schwimmen nicht Ursache sein konnte. Die 
Erkrankten stammten aus 7 verschieden Kasernen. Das Gelände, auf 
welchem die Truppenübungen stattfanden, war zum Theil über¬ 
schwemmt und verschlammt gewesen. 

Hier scheint die Berührung mit dem Oderwasser beim Schwim¬ 
men von Einfluss gewesen zu sein, aber sie war gewiss nicht die 

alleinige Ursache. Was die Frage von der Uebertragbarkeit dieses 

Leidens betrifft, so wird sie fast allgemein verneint. Die spärlichen 
Erkrankungen in verschiedenen Kasernen, das Verschontbleiben der 
Vorgesetzten, das Verschontbleiben der Familienangehörigen der Ar¬ 
beiter spricht laut dagegen. Dennoch dürfen zwei Thatsachen, welche 
zu Gunsten einer solchen Uebertragbarkeit sprechen könnten, nicht 
unerwähnt bleiben. Uebertragung fand in dem überfüllten Hospital 
in Ohlau auf einen Typhusreconvalescenten statt. 

Zweitens berichtet Dr. Max Bleisch in Kosel. dass er selbst 
bis zum 1. August öfters solche Kranke behandelt habe, sodann bis 

9. August in einer seuchefreien Gegend in Strehlen auf Urlaub ge¬ 

wesen und nun nach einer Körperanstrenguug selbst erkrankt sei. 
Alles zusammengefasst spricht die geographische Verbreitung, wie die 
allgemeine Meinung in den Seuchegebieten dafür, dass Flusswasser, 
Sumpfwasser und Ueberschwemmungsgebiet wesentlich bei der Ent¬ 
stehung dieser Krankheit mitwirken; jedoch zeigen manche Erfah¬ 
rungen (Lublinitz), dass diese Einflüsse nicht die einzigen wirksamen 


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386 Saperarbitriom der König], wissensohaftliohen Deputation 

seien. Es scheint, dass schlechte Wohnung and Nahrang und Ueber- 
anstrengung für die Seache empfänglich machen. Die eigentliche Ur¬ 
sache derselben konnte bis jetzt nicht aafgefunden werden; aufge- 
stellte Vermathangen darüber entbehren bis jetzt genügender Be¬ 
gründung. 

Die vorliegende Erkrankung ist eine eigenartige, von den be¬ 
kannteren, bei uns vorkommenden, häufigeren Yolksseuchen ver¬ 
schiedene. 

Sie bat den Fieberbeginn wie eine Lungenentzündung und den 
Entfieberungsgang wie Darmtyphus, wobei das häufig nach eintägiger 
Entfieberung auftretende, eintägige Nachfieber noch eine Besonderheit 
bildet. Sie hat einen inconstanten Hautausschlag, der masernähnlich 
ist, aber das Gesicht frei lässt und gewöhnlich nicht abschuppt. Sie 
betrifft kein inneres Organ mit erheblicher Häufigkeit mit, nurRöthe 
des Rachens, Schmerzhaftigkeit der Magen- und Rippenbogengegend, 
Schwellung der Milz und Lymphdrüsen kommen wenigstens häufig 
vor. Sie steht in keinem Ausschliessungsverhältnisse zu Darmtyphus, 
der vorher (Fall in Ohlau) wachsen und zugleich (Bericht des Mili¬ 
tärarztes in Kosel) denselben Menschen betreffen kann. — 

Einige Aehnlichkeit hat sie mit der im Oriente vorkommenden, 
auch in Südeuropa beobachteten, Dengue genannten Yolksseuche. 

Yom Fleckfieber, mit dem sie viel Aehnlichkeit hat, unterscheidet 
sie sich durch Kürze des Yerlaufes, langsame Entfieberung, geringe 
oder fehlende Ansteckungsfähigkeit. 

Die vorgenommenen Blutuntersuchungen haben keine Aufschlüsse 
über die Natur der Krankheit geliefert. Sie hat somit mit Recurrens 
und Malaria nichts zu schaffen. — 

Die vom Oberstabsarzt Dr. Globig in der Militärärztlichen Zeit¬ 
schrift 1891 veröffentlichten Beobachtungen haben allerdings mit den 
Thatsachen der schlesischen Epidemie grosse Aehnlichkeit. Da jene 
85 Erkrankungen von Matrosenartilleristen sämmtlich vom Schwimm¬ 
unterrichte abhängig waren, wie in sehr überzeugender Weise nach¬ 
gewiesen wird, könnten die Erfahrungen Globig’s für die Ent¬ 
stehungsursache der schlesischen Erkrankung sehr werthvoll sein. 

Indess bestehen folgende Unterschiede: 

Bei der Epidemie in Lehe ging zumeist ein- bis mehrtägiges 
Unwohlsein voraus. Der Beginn erfolgte nicht so plötzlich. Das 
Fieber fiel rascher ab, öfter auf subnormale Grade. Rückfälle mit 
starken Beschwerden traten in l / z der Fälle ein. Der Abfall war 


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über die im Odergebiet 1891 beobachtete „Schlammkrankheit". 387 


steiler. Nur in 7 Fällen trat Hautansschlag ein. Auch sonst fanden 
sich manche kleinere Unterschiede. Man wird deshalb die Aehnlich- 
keit beider Erkrankungen hervorheben, doch noch keine Gleichartig¬ 
keit derselben annehmen dürfen. Bakteriologische Untersuchung hatte 
bei der Krankheit in Lehe gleichfalls kein bestimmtes Ergebniss. 

Sollte die Krankheit in Schlesien nochmals zum Vorscheine 
kommen, so möchten wir vorschlagen: 

1) dass von den behandelnden Aerzten Anzeige und möglichst 
genaue Berichterstattung verlangt werde. Namentlich von 
den Herren Hospitalärzten dürften auch (wenigstens einige 
beispielsweise) Krankengeschichten und Temperaturcurven zu 
erwarten sein; 

2) dass von etwaigen Todesfällen, wie deren z. B. in Ohlau 
einer vorkam, wo die Zustimmung der Angehörigen zu er¬ 
langen ist, vollständige Leichenuntersuchung nach dem Regu¬ 
lativ für gerichtliche Obductionen mit mikroskopischer Unter¬ 
suchung der wichtigeren Organe vorgenommen werde; 

3) dass ein mit Bakteriologie vollständig vertrauter Arzt für 
Erforschung des Thatbestandes in die betreffende Gegend ent¬ 
sendet werde. 

4) Vorbeugungsmassregeln lassen sich aus dem Wenigen, was 
über Ursachen und Verbreitungsweise der Seuche bekannt ist, 
kaum begründen. Höchstens könnte in Gegenden, wo die 
Seuche aufträte, gewarnt werden: 

vor dem Trinken von Fluss-, Graben- und Schlammwasser, 
vor dem Essen mit von Schlamm beschmutzten Fingern, 
vor dem Arbeiten im Wasser. 

Auch könnten die Gutsbesitzer aufmerksam gemacht werden, 
dass sie nach Kräften auf Reinlichkeit in den Wohn- und Schlaf¬ 
stätten, gute Ernährung und Vermeidung von Ueberanstrengung bei 
ihren Arbeitern hinwirken möchten. 

Berlin, den 9. November 1892. 

(Folgen die Unterschriften.) 


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4. 


Eia Todesfall durch Eiiathuea tob Cloakcngas. 

Von 

Dr. Kirnst Hankel, 

Bezirksarst za Glauchau. 


Die ans den Cloaken, Abort- und Düngergraben aasströmende 
bez. dort vorhandene Laft ist ein Gemenge von Ammoniak, Stick¬ 
stoff, Sauerstoff, Kohlensäure und insbesondere Schwefelwasserstoffgas. 
Die Analysen derselben sollen bis 8 pCt. Schwefelwasserstoff ergeben 
haben. Gaultier de Claubry hat stets weniger, aber doch in 
einem Falle Sauerstoff 13,79, Stickstoff 81,21, Kohlensäure 2,01, 
Schwefelwasserstoff 2,99 gefunden. Selbstverständlich schwankt die 
Zusammensetzung der in der Grube vorhandenen bez. ausströmenden 
Luft nach dem Inhalte der Grube. Namentlich findet sich in den 
Fäces, welche Reste von eiweissreicher Nahrung enthalten, sehr viel 
Schwefelwasserstoff, auch das Latrinenwasser soll nach Thönard unter 
Umständen ein Dritttheil seines Volumens Schwefelwasserstoff gelöst 
enthalten. Die Giftigkeit des ausströmenden Gases wird durch den 
Gehalt an Schwefelwasserstoff bedingt. 

Schwefelwasserstoff findet sich frei in der Natur in den Schwe¬ 
felquellen, entwickelt sich bei einzelnen Gewerben, insbesondere beim 
Erhitzen der, aus Eisenfeilspänen, Schwefel und Salmiak bestehenden, 
Verkittung der Dampfkessel, manchmal auch zufällig z. B. beim 
Färben der Weinbowlen mit ultramarinhaltigem Zucker (Eulenberg). 

In den Abortgruben und Kanälen hat das Schwefelwasserstoffgas 
oft zu Vergiftungen, die theilweise tödtlich geendet haben, geführt. 

Die meisten Vergiftungsfalle führt Gaultier de Claubry auf. Gr er¬ 
zählt, dass 12 Arbeiter, welche in einen Kanal hineingegangen waren, der Reihe 


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Ein Todesfall darob Einathmen von Cloakengas. 


389 


nach einen Sohrei aasstiessen, bewasstlos and dann asphyktisch wurden. Es ge* 
lang sie heraaszasohaffen, aoht waren nioht za sohwer affioirt, vier massten dem 
Krankenhaase übergeben werden. Einer der letzteren starb, die übrigen drei 
kamen naoh mehreren Standen wieder za sich and konnten nach 6 Tagen ent¬ 
lassen werden. Nur der Qestorbene hatte Krämpfe gehabt, die übrigen gaben 
an, dass sie keinen Schmerz gefühlt hätten, dass der Schrei nur daroh den 
Schreck hervorgerufen sei, dann habe sie ein Schlaf mit der Empfindung des 
Wohlbefindens, dem za widerstehen anmöglich war, überfallen. 

In der folgenden Naoht hatten die sämmtlichen, schwer and leioht, Er¬ 
krankten theilweise angenehme, theilweise ermüdende and anangenehme Träume. 

Hai 16 erzählt, dass in einer Abortgrube drei Arbeiter daroh Cloakengas 
verunglückten, zwei blieben todt, einer konnte noch gerettet werden. 

Chevallier erwähnt eine ähnliohe Vergiftung, wobei zwei Arbeiter am 
das Leben kamen, zwei andere zwar bewusstlos worden, aber nooh gerettet 
werden konnten. 

Blumenstock berichtet, dass einmal zwei, ein anderes Mal ein Arbeiter 
ebenso verunglückten. Sein vierter Fall betrifft einen Menschen, der in den Ab¬ 
ort gefallen war. 

Thierling führt einmal drei, ein anderes Mal zwei Personen an, die bei 
Ausräamang zweier verschiedener Abortgraben verunglückten. Einer konnte nioht 
wieder zam Leben gebracht werden. 

Caspar erzählt von zehn Männern, die in einer Gerberei einen zam Mace- 
riren der Häute bestimmten, in die Erde gesenkten Kasten angebohrt hatten. Es 
drang eine Menge Wasser, welches 13 Volumen Schwefelwasserstoff absorbirt 
enthielt, in die Grabe. Ein Arbeiter wollte das Wasser ausscböpfen, fiel aber 
dabei plötzlich todt am. Die übrigen eilten ihm za Hülfe, and so verunglückten 
sechs tödtlich, während vier nach längerem oder kürzerem Kranksein wieder 
genasen. 

Ganz ausserordentlich zahlreich sind die drohenden Asphyxien, über die 
Gaaltier de Claubry berichtet. Von zehn Arbeitern, die sämmtlioh nicht 
länger als 6 Monate beim Kanalreinigen beschäftigt waren, and im Kranken¬ 
haase Aufnahme gefunden hatten, erwähnt er vier wirkliche and zwanzig dro¬ 
hende Asphyxien, letztere bei dem einen Arbeiter viermal. 

Er erzählt weiter, wie in dem Hospital für Syphilitisohe, in dem sioh die 
Aborte in einem allerdings jammervollen Zustande befanden, eine Reihe von 
Kranken, die in einem bestimmten Bette gegenüber der Thüre an der Seite, wo 
die Cloakengrube sich befand, gelegen hatten, jedesmal naoh acht Tagen in 
einer bestimmten eigentümlichen Weise mit Fieber und Speichelfluss erkrankten. 
Aach sonst erkrankten die Syphilitischen durch Cloakengas sehr häufig und 
schwer, und bekamen bei erneuter Einwirkung dieses Gases sehr leicht Rückfälle. 

Wie leioht aber daroh die Abortsgase die Mensohen erkranken, beweist die 
Beobachtung von Finkeinbar g. Bei einer Rüokstauung des Cloakeninhaltes nach 
dem Arresthause entstand eine völlige Ueberscbwemmung des Souterrains der 
Männerabtheilang, so dass die Cloakenmasse mehrere Fuss booh darin stand. 
In demselben Souterrain, dessen Sohle 4 Fass anter dem Niveau des Hofes lag, 
and nicht weit von den Räamen, welohe überschwemmt worden waren, wurde 
eiae Anzahl von Sträflingen am Tage mit Bdrstenmaohen beschäftigt. Hier er- 


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390 


Dr. Hankel, 


krankten 13 Sträflinge so schwer, dass sie in’s Krankenhaus gebracht werden 
mussten, während noch mehrere andere leichter erkrankt waren. Die meisten Er¬ 
krankungen fanden am Tage nach der Entleerung der Grube, wobei ein pesti- 
lenzialischer Geruch entstand, statt. Diese offenbar kleine Menge von Cloaken¬ 
gas hatte ausgereioht, zahlreiche Erkrankungen, z. Th. ziemlich schwerer Art, 
herrorzurufen. 

Christison erzählt einen Fall, wo 22 Knaben erkrankt und 2 gestorben 
sein sollen, naohdem der Inhalt einer sehr übelriechenden Sammelgrube über 
den Garten, der dicht am Spielplätze der Kinder gelegen war, ausgegossen war, 
und Siegfried berichtet, dass nach der Räumung einer Abortsgrube alle vier 
Kinder im Hause, drei davon tödtlioh, an Erbreohen und Durchfall erkrankten. 

•Da sich bei Fleisohnahrung im unteren Theile des Diokdarmes Schwefel¬ 
wasserstoff entwickelt, ja auoh beim Fehlen der Säure im Magen bereits dort 
Schwefelwasserstoff entstehen kann, so kommen Selbstinfeotiönen von aufge¬ 
nommenem Schwefelwasserstoff vor, die von Senator, Betz, Emminghaus 
beschrieben worden sind. 

Ja es hat den Anschein, als ob die duroh längere Stuhl Verstopfung hervor¬ 
gerufenen Beschwerden, insbesondere der Kopfschmerz, ebenfalls duroh leichte 
Seltstinfection mit dem im Darme entwickelten Sohwefelwasserstoffgas hervor¬ 
gerufen würden. 

Symptomatologie. Leichtere Vergiftungen mit Gloakengas sind bei den 
Pariser Kanalfegern etwas sehr Gewöhnliches. Sie unterscheiden zwei Arten von 
Vergiftung. La mitte — Dunst — nennen sie die starke Reizung der Rasen¬ 
schleimhaut mit Abnahme der Seoretion derselben, heftige Schmerzen in der 
Tiefe der Augenhöhlen bis an die Stirnhöhle strahlend, Schwellung und Entzün¬ 
dung der Conjunctiva, Photophobie, selbst vollständige Verdunkelung des Seh¬ 
vermögens, die Tage lang anhalten kann, aber ohne Folgen vorübergeht. Man 
nahm früher an, dass diese Erscheinungen duroh Ammoniak bedingt seien. Leh¬ 
mann hat aber gezeigt, dass durch Einwirkung kleiner Dosen (0,04—1 pM.) 
reinen Schwefelwasserstoffgases diese Reizerscheinungen auftreten. Sie dürften 
also auch auf Vergiftung mit letztgedachtem Gase zu beziehen sein bez. viel¬ 
leicht auch auf eine Verbindung beider Gase. 

Die andere Art der Vergiftung, die durch lediglich Schwefelwasserstoff be¬ 
dingt ist, nennen sie le plomb — Blei — wahrscheinlich von dem Gefühl der 
Schwere im Kopf und den Gliedern, oder Fronton. 

Die Schwefelwasservergiftung ist vielfach an Thieren studirt worden. Pohl 
spritzte denselben Schwefelnatrium in die Venen und fand, dass dasselbe den 
Tod schon in sehr kleinen Mengen bewirkt, und zwar bei Warmblütern duroh 
seinen lähmenden Einfluss auf die Centren des verlängerten Marks, bei Kalt¬ 
blütern namentlich durch Gefährdung der Herzaction. Regelmässig wurde beob¬ 
achtet: Narcose, centrale motorische Lähmung, Verlangsamung des Herzschlages, 
allmälige Abschwächung der Energie des Herzmuskels bis zum diastolischen 
Stillstand, fibrilläre Muskelzuckungen. Häufig Schreien und stossweises Athmeu. 

Lehmann’ prüfte hauptsächlich die Wirkung kleiner Dosen (0,04—1 pM.) 
von Schwefelwasserstoffgas bei Katzen und Kaninchen. Hierbei zeigten sich 
Reizerscheinungen (Speiohel-, Nasen-, Thränenabsonderungen) und Zeiohen einer 
narcotischen Wirkung auf das Nervensystem. Diese äusserten sich in Mattigkeit, 


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Ein Todesfall daroh Einathmen von Cloakengas. 


391 


lähmongsartiger Schwäche, Reflexlosigkeit; endlich trat unter Sopor and Jacta- 
tionen Athemlähmang ein, welohe nar bei Kaninchen yon ausgesprochenen 
Krämpfen begleitet war. Trat der Tod erst nach mehreren Standen ein, so fand 
sich regelmässig Lungenödem. Bei zwei Personen, die sich den Untersuchungen 
unterwarfen, zeigten sich nach Einathmung von 0 S 5 pM. Schwefelwasserstoffgas 
heftige Kopfschmerzen, Sohläfrigkeit, Mattigkeit, vereinzelt Schweisse, Durch¬ 
fälle, Tenesmus der Harnblase, und regelmässig starke Reizersoheinungen von 
Seiten der Augen-, Nasen- und Luftröhrensohleimhnut. 

Auffällig war das mitunter beobachtete Auftreten schwerer Störungen erst 
einige Zeit nach dem Verlassen des Gasraumes, sowie die Beobachtung, dass bei 
öfteren Versuchen eine Steigerung der Empfindlichkeit eintrat. 

Lehmann glaubt, dass 0,7—0,8 pM. bei einem Aufenthalt von mehreren 
Stunden lebensgefährlich sind und 1,0 —1,2 pM. rasoh das tödtliche Ende her¬ 
beiführen. 

Kaufmann und Rosenthal stellten fest, dass auoh bei leichten Vergif¬ 
tungen eine Verlangsamung des Herzschlages und vorübergehender Stillstand ein¬ 
trat, wurden jedoch vorher die Nervi vagi zerschnitten, so trat bei kleinen Dosen 
gar keine Veränderung des Herzschlages ein. Grosse Dosen hatten aber auch 
dann einen Stillstand des Herzens zur Folge. 

Eulenberg sowie Biefel und Poleck Hessen Thieren Luft mitSohwefel- 
wasserstoffgas ‘Ao pCt. bis 1 pCt. einathmen. Sie beobachteten grosse Unruhe, 
beschleunigte, mühsame, oft sehr oberflächliche, oft krampfhafte Respiration, 
intermittirende Athemzüge, oder auch inspiratorisohe Dyspnoe, schwankenden 
Gang und Aufsperren des Schnabels. DieThiere stürzten hin, hatten sehr heftige 
Convulsionen, zum Theil tetanischer Art. Urin und Stuhlgang ging unwillkürlich 
ab. Der ganze Körper verfiel, es trat Coma, Asphyxie und endlich der Tod ein. 

Die Erholung der Thiere war stets, auch naoh nioht zu langer Einathmung, 
eine sehr langsame. Die Respiration blieb noch lange erschwert und aus¬ 
setzend. 

Hasselt unterscheidet zwei Arten. Die apoplectische Form, wobei die 
Thiere plötzlich zusammensinken and bei aufgehobenem Bewusstsein zu Grunde 
gehen, und die tetanische Form, wobei die Vergifteten stundenlang bewusstlos 
daliegen, und das Koma endlich in den Tod übergeht. Während des Komas 
treten häufig Krampfanfälle, meist tetanischer Art, auf. 

Bei den Menschen dürfte zu unterscheiden sein die leichte, mittel¬ 
schwere, schwere und chronische Form. 

Die leichteste Form äussert sich häufig nur durch das Gefühl 
eines schweren Druckes auf den Kopf und die Brust. Diese Vergif¬ 
tung ist, wie bereits bemerkt, den Arbeitern selbst sehr wohl be¬ 
kannt. Bei etwas schweren Fällen kommt Erbrechen, Kolikschmerzen, 
Entleerung stark nach Schwefelwasserstoff riechender Gase, auch durch 
Aufstossen, hinzu. Der Puls wird klein, das Athmen beschleunigt 
und erschwert, es treten Schwindel, grosse Mattigkeit und Muskel¬ 
schwäche auf. 


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392 


Dr. Hankei, 


In mittelschweren Fällen zeigt sich die Haut kühl, mit 
kaltem Schweisse bedeckt. Es treten Ekel, Magenschmerzen, Gelenk¬ 
schmerzen, ein eigenthümlich znsammenschnürendes Gefühl im Schlund, 
Delirien und Muskelzuckungen, Ohnmächten, Schreien, Singen und 
Schwatzen auf. Das Letztere ist den Arbeitern so bekannt, dass sie 
es chanter le plomb nennen. 

Sodann folgt Bewusstlosigkeit und Convulsionen, namentlich teta- 
nischer Art. Die Pupillen sind meist erweitert, die Lippen und das 
Gesicht blau und cyanotisch. 

Bei den schwersten Fällen tritt sofortiger Tod ein. Der 
Arbeiter steigt in die Grube hinab, und sinkt dort plötzlich, wie von 
einer Kugel getroffen, todt oder wenigstens bewusstlos zusammen. 
Ein anderer öfter beobachteter Verlauf ist folgender: Der Arbeiter 
stösst einen gellenden Schrei aus, bekommt heftige Krämpfe mit Er¬ 
brechen, Abgang von Koth und Urin, es zeigt sich Schaum vor dem 
Munde und der Kranke stirbt, oder bleibt doch wenigstens lange be¬ 
wusstlos. 

Leichte Fälle heilen meist rasch und ohne weitere Störung, aber 
schon bei mittelschweren Vergiftungen bleiben schwere und lang¬ 
dauernde Störungen zurück. Das Gesicht ist gedunsen, bläulich-roth 
mit cyanotischer Färbung der Lippen, Ohren und Nägel, die Respi¬ 
ration bleibt oft lange schnarchend, unregelmässig und oberflächlich, 
der Puls klein und schnell. Das Bewusstsein ist noch tagelang ge¬ 
trübt, die Kranken antworten schwer und langsam, und es dauert 
zuweilen Stunden, selbst 3—4 Tage, bis die Kranken zu sich kommen. 
Mitunter treten Tobsuchtsanfälle ein, die sich oft wochenlang wieder¬ 
holen. Es findet sich häufig Zittern, Zähneklappen, Erbrechen und 
regelmässig eine starke Mattigkeit, so dass die Kranken oft 6 Tage 
im Krankenhause bleiben müssen. 

Auch sind öfter Nachkrankheiten, die einem Typhus oder einer 
Cerebrospinalmeningitis ähnelten, aber nur zuweilen Temperatursteige¬ 
rungen bis 39,0°, selten noch höhere Temperaturen, zeigten, beob¬ 
achtet worden. Endlich kommen sonstige schwere Nervenstörungen und 
wirkliche Meningiten, Encephaliten, Myeliten und Pneumonien (meist 
Schluckpneumonien) vor. 

Selbst bei Reconvalescenten treten neue schwere Störungen ein. 
Eulenberg erzählt von einem Manne, der, nachdem er bereits so 
weit wieder hergestellt war, dass er in den Garten gehen konnte, 


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Ein Todesfall darob Einathmen von Cloakeogas. 


393 


daselbst plötzlich, wie die Section ergab, durch einen Riss in der 
vierten Hirnhöhle todt zusammensank. 

Bei Unglücksfällen ist der Verunglückte sofort an die frische 
Luft zu bringen, mit kaltem Wasser zu begiessen und die künstliche 
Respiration, die sehr lange fortzusetzen ist, einzuleiten. Mit dieser 
Behandlung wird man, auch in recht schweren Fällen, meist noch 
gute Erfolge erzielen. 

Die Anwendung der Bluttransfusion bez. die Einspritzung von 
physiologischer Kochsalzlösung ist vorgeschlagen, aber wohl noch 
nicht angewendet worden. 

Die chronische Form ist bei Arbeitern in einer chemischen 
Fabrik, wo sie schwefelwasserstoffhaltiges Wasser getrunken hatten 
und bei Bergleuten in den Kohlengruben zu Auzain beobachtet. 

Es zeigte sich starke Anämie, drückendes Gefühl im Magen, 
Magenschmerzen und Kolik, der Puls war theils beschleunigt, theils 
verlangsamt. Die Kräfte verfielen, später hörten die Leibschmerzen 
auf, die Haut wurde gelb, profuse Schweisse traten ein. Der Leib 
trieb sich auf, und es traten eitrige Stuhlentleerungen auf. 

Bei den Bergleuten endete häufig ein plötzlicher Tod dieses 
Leiden. Bei den Arbeitern der chemischen Fabrik entstanden Fu¬ 
runkel oder ähnliche Leiden am Hals, im Gesicht und an den 
Händen. 

Der reichliche Genuss von Milch soll das beste Mittel gegen die 
chronische Vergiftung sein. — 

Bei der Seltenheit gut beobachteter Fälle glaubt Verf., dass es 
von Werth sei, einen von ihm selbst beobachteten und secirten Fall 
hier genauer zu beschreiben: 

R., ein 26jähriger, gesunder, nüchterner Gasschlosser, war am 18. Janaar 
in eine Villa geschickt worden, am die Wasserclosets im-Erdgeschoss aufzuthauen. 
Er machte dort ein Kohlenfeuer an, and hob den Deckel eines von dem Closet- 
raam nach der Grabe führenden 10 cm weiten Rohres, in dem die Abflussrohre 
des Glosets einmünden, ab. Das Rohr wird sonst nie geöffnet, and nach Aussage 
seines Meisters ist es anoh heim Anfthaaen der Glosets nicht nöthig, dass das¬ 
selbe geöffnet wird. Es muss aber angenommen werden, dass sich R. über and 
in dem Rohre za schaffen gemacht and so das Aafsteigen der Cloakengase ans 
der Grabe befördert hat. Die Grabe sollte zwar, wie vorgesohrieben, ordentlich 
desinficirt sein, da das überlaufende Wasser nach gehöriger Klärung den Schleusen 
zugeführt wird, dooh war die Desinfeotion bei der andauernden strengen Kälte 
nicht besorgt worden. 


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Dr. Hantel, 


Um 3 V 2 Uhr hatte noch Jemand mit R. gesprochen, ohne dass R. geklagt 
hätte, oder sonst etwas Auffälliges an ihm bemerkt worden wäre. Um 5 Uhr 
wollte der Kutscher des Hauses nach R. sehen und fand ihn mit herunterge- 
zogenen Hosen todt, so in der Nähe des gedaohten offenen Rohres liegen, dass 
die aufsteigenden Gase gerade sein Gesicht treffen mussten. Der Raum war um 
5 Uhr so stark mit penetranter, erstickender Luft gefüllt, dass es dem Kutscher, 
trotzdem er die Thüre offen gelassen hatte, drehend und schwindlig wurde. Noch 
nach einer Stunde, und nachdem die Leiche herausgeschafft nnd die Thüre 
wiederholt geöffnet worden war, fand man in dem Glosetraum so schlechte Luft, 
dass Verf., als er nur kurze Zeit darin verweilte, Benommenheit und Aufstossen, 
wenn auch ohne Brechreiz, bekam. 

Die nach dem Heraussohaffen der Leiohe angestellten Wiederbelebungsver¬ 
suche erwiesen sich, trotzdem sie lange fortgesetzt wurden, erfolglos. Das Brett 
des Closets, welches abgerückt war, war mit frischem Kothe verunreinigt, und 
die Kleider des R waren mit Erbrochenem beschmutzt. 

Hieraus lässt sich folgende Krankengeschichte feststellen: 

Um 372 Uhr war R. noch ganz gesund. Er bekam später Uebelkeit und 
Erbrecheq, musste zu Stuhle gehen, hatte auch die Hosen bereits 
heruntergezogen, war aber nicht mehr bis auf das Closet gekom¬ 
men, sondern vorher ohnmächtig geworden, so dass der Stuhlgang 
unwillkürlich abging. Bei der Ohnmacht ist er gefallen und in 
eine so unglückliche Lage gekommen, dass die aus dem Rohre auf¬ 
steigenden Gase gerade in sein Gesicht bez. seinen Mund und Nase 
kommen und so duroh fortgesetzte Einwirkung seinen Tod hervor- 
rufen mussten. Das Gesicht war nach dem Tode nicht verzerrt, und es liegt 
daher kein Grund vor, anzunehmen, dass R. Krämpfe gehabt hat. 

Sectionsresultate. 

Auf Veranlassung der Berufsgenossensohaft wurde am 20. Januar früh 
8 Uhr die Section der Leiche vorgenommen, die dadurch so interessant und 
wichtig war, dass die Leiche in starker Kälte gelegen hatte, mässig gefroren 
war und absolut keine Spur von Fäulniss zeigte. 

Der Sectionsbefund war folgender: 

A. Aeussere Besichtigung. 

1) Die Leiche des 159 cm grossen, kräftigen, gut genährten Mannes zeigt 
gut entwickeltes Fettpolster und kräftige Musculatur. 

2) Die Hautfärbung ist blass. Die Lippen sind blass. Blaue oder gelbe 
Färbung ist nirgend vorhanden. Am Rücken finden sich wenige Todtenfleoke. 
Fäulniss ist absolut nicht vorhanden. 

3) Der Kopf ist mit 3 cm langen braunen Haaren dicht bedeckt, zeigt nir¬ 
gend eine Spur von Verletzungen. 

4) Die Augen sind offen, die Augäpfel weioh, die Pupillen normal. 

5) Die äusseren Körperöffnungen sind frei von fremden Körpern. 

6) Die Lippen sind fest geschlossen. Die Zunge liegt hinter den Zähnen. 


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Ein Todesfall durch Einathmen von Cloakengas. 


395 


7) Es ist ziemlich starke Todtenstarre vorhanden. 

8 ) Am Halse ist niohts Abnormes za bemerken. 

9) An der gat gewölbten and sonst normalen Brost finden sioh links zehn 
noch nicht ganz pfenniggrosse vertrocknete Haatstellen. Dieselben röhren daher, 
dass bei den Wiederbelebungsversuchen Siegellack aafgeträafelt worden ist. 

10) Der Leib ist durchaus normal, nicht aufgetrieben, nicht grün. 

11) Der Rüoken ist normal. Die Gegend des Afters in sehr grosser Aus¬ 
dehnung mit Koth beschmutzt. 

12) Die Geschlechtstheile und Glieder sind normal. 

B. Innere Besichtigung. 

I. Kopfhöhle. 

13) Die Weiohtheile des Kopfes werden regelrecht zurückgelegt. Es finden 
sich am Schädel keine Verletzungen oder Blutunterlaufungen. 

14) Die Bdinhaut des Schädels ist blassröthlich, leicht abziehbar, ohne 
Verletzungen, sie hat einige wenige mit Blut gefüllte Gefässe. 

15) Der Schädel wird regelrecht durchsägt, hierbei fliesst 5 com Blut aus. 

16) Die harte Hirnhaut ist glatt, dünn durchscheinend, die Gefässe sind 
ziemlich stark angefüllt. Der Längsblutleiter ist mit dunklem flüssigem Blute, 
besonders in den hinteren Theilen, gefüllt. Die innere Fläche ist glatt. 

17) Die weiche Hirnhaut ist zart und durchsichtig, vom Gehirn leicht ab¬ 
ziehbar, die Gefässe bis zu den kleinen Aesten stark mit Blut gefüllt. 

18) Naoh Herausnahme des Gehirns zeigt sioh im Schädelgrunde weder 
Flüssigkeit, nooh sonstiger Inhalt. 

19) Die queren Blutleiter sind stark mit dunklem, flüssigen Blute gefüllt. 

20) Das grosse Gehirn ist symmetrisch gebaut, die Windungen sind nor¬ 
mal, die Substanz fest, nur mässig mit Blut gefüllt. Die graue Substanz, die 
eine im Wesentlichen normale, wenn auch etwas intensive Farbe hat, setzt sich 
von der weissen scharf ab. 

21) Die Seiten Ventrikel sind fast leer, nicht ausgedehnt. Ihre Wände fest, 
röthlicb. Die Adergeflecbte zart, durchsichtig. 

22) Seh- und Streifenhügel sind fest, feucht, glänzend. 

23) Der 3. Ventrikel ist normal, die Vierhügel sind leioht röthlicb, fest. 

24) Das Kleinhirn ist fest, feucht, glänzend und ebenso wie der Hirn¬ 
knoten, das verlängerte Mark ohne Abnormität, nur mässig blutreich. 

25) Die Sobädelgrundfläche ist unverletzt. 

II. Brust- und Bauchhöhle. 

26) Bei regelrechter Eröffnung der Brust und Bauchhöhle zeigt sioh die 
Musculatur hellroth und sehr kräftig entwickelt. 

27) Die Bauchhöhle ist frei von Flüssigkeiten, die Lage der Organe ist 
normal. 

28) Das Zwerchfell steht beiderseits am oberen Rande der 5. Rippe. 

a) Brusthöhle. 

29) Beide Brustfellsäcke sind völlig leer. Die Lungen sind zusammenge- 


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396 


Dr. Hankel, 


fallen. Die Brustfelle glatt, bellröthlich, ihre Gefasse etwas gefüllt und nur links 
unten, aber leicht trennbar, verwachsen. 

30) Der Mittelfellraum ist normal, die grossen Gefasse sind etwas zu¬ 
sammengefallen, bellröthlich. 

31) Der Herzbeutel ist blassgelb, nicht auffällig blutreioh, beim Eröffnen 
findet sich fast keine Flüssigkeit in demselben. Er ist hell, durchscheinend, glatt. 

32) Das Herz ist 11 cm breit, 12,5 cm lang. Die linke Kammer ist straff 
zusammengezogen, die rechte schlaff. Sämmtliche Kammern und Yorhöfe sind 
stark mit dunkelblaurothem, flüssigem Blutegefüllt. Die Kranzadern sind massig 
stark mit Blut erfüllt. Geronnenes Blut findet sich nirgend. 

33) Der Kehlkopf von vorn eingeschnitten, zeigt nur eine geringe Menge 
glasig blasigen Schleimes. 

34) Nunmehr werden sämmtliohe Brust- und Halsorgane im Zusammen¬ 
hänge herausgenommen, und dabei festgestellt, dass die Jugularvenen von dun¬ 
klem, nicht geronnenen Blute ziemlich stark gefüllt sind. Beim Durchsohneiden 
der unteren Hohlvene entleert sich viel Blut. 

35) Die Zunge und die Rachentheile sind völlig normal. 

36) Die Speiseröhre ist leer und ihre Schleimhaut durch Blutanfüllung der 
Gefasse schwach röthlich gefärbt. 

37) 'Der Kehlkopf enthält, wie erwähnt, etwas blasigen Schleim, seine Ge¬ 
fasse sind ziemlich stark bluterfüllt, und die baumförmigen Verzweigungen sind 
deutlich siohthar. 

38) Ebenso sind die Gefasse der Schleimhaut der grösseren Bronchien stark 
bluterfüllt. In denselben findet sich ein wenig glasiger Schleim. 

39) Die Lungen sind in den oberen Lappen hellroth, in den unteren tief 
dunkelblauroth gefärbt, ihr Gewebe knistert beim Fingerdruok überall. 

40) Beim Einsohneiden zeigen sioh die oberen Lappen hellgrauröthlich ge¬ 
färbt, und aus der Schnittfläche quillt blasige, helle Flüssigkeit. 

41) Die unteren Lappen sind tief dunkelblauroth gefärbt, und die aus den¬ 
selben austretende blasige Flüssigkeit hat eine blaurothe Farbe. 

42) Die kleineren Bronchien haben eine durch Gefässinjeotion geröthete 
Sohleimhaut, in derselben findet sich etwas glasig-blasiger Sohleim. 

43) Einige Bronchialdrüsen sind erbsengross, sohwarz, fest. 

44) Das Herzfleisoh der linken Kammer ist hellbraunroth fest, das der 
reohten Kammer etwas weniger fest. Die Klappen und die Innenfläohe des Her¬ 
zens sind vollkommen normal, die Klappen schliessen sämmtlich. 

45) Die Vorhöfe und grossen Gefasse sind normal, die Arterien fast leer, 
die Venen stark mit flüssigem dunkelblaurothem Blute gefüllt. 

b) Bauchhöhle. 

46) Das Netz ist normal, die Gefasse darin ziemlioh stark mit Blut gefüllt. 

47) Die Milz ist 12 cm lang, 8 cm breit, 4,5 cm dick. Die Kapsel normal, 
das Gewebe ziemlich stark blutreich, ein wenig dunkler als normal. Die Mal- 
pighi’sohen Körperchen sind deutlich siohtbar. 

48) Beide Nieren sind in eine hufeisenförmige Niere vereinigt, die zum 
grössten Theil auf der rechten Seite liegt, so dass nur ein kleiner Theil, der auf 
der Wirbelsäule aufliegt, nach links geht, und zwar reicht die Niere nicht über 


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Ein Todesfall durch Eioathmen von Cloakengas. 


397 


die Wirbel nach links. Die Hufeisenniere hat zwei deutlich getrennte Becken, 
Harnleiter und ihre Gefässe sind ebenfalls getrennt, doch ist zwischen beiden 
Nieren eine Einziehung nioht bemerkbar. Ihre Kapsel ist leicht abziehbar, ihr 
Gewebe stark bluthaltig. Die Länge beträgt 15 cm, die Breite 8 cm. 

49) Die Nebennieren sind normal. 

50) Die Harnblase ist fest zusammengezogen, fast leer. 

51) Der Mastdarm enthält ziemlich viel braunen Koth, seine Schleimhaut 
ist röthlioh gefärbt. 

52) Der Zwölffingerdarm enthält gelblich braune Flüssigkeit, seine Schleim¬ 
haut ist rosaroth (durch Blutanfüllung der Gefässe). Bei Druck auf die Gallen¬ 
blase entleert sich dunkelbraune flüssige Galle in den Zwölffingerdarm. 

53) Der Magen ist mässig ausgedehnt, äusserlich schwach röthlich. Er ist 
vollständig mit braungelber Flüssigkeit, in der sich sehr zahlreiche, runde, 
kuglige, etwa 0,5—0,6 cm grosse, weisse Stücke (offenbar schleoht gekauter 
Käse) befinden, angefüllt. Seine Sohleimhaut ist schwach röthlich. Die Gefässe 
sind deutlich sichtbar. 

54) Die Leber ist 22 cm lang, 16 cm breit, braunroth, äusserlich glatt, 
prall, auf dem Durchschnitte ist sie ebenso gefärbt, fest, sehr blutreich. Beim 
Durchschneiden fliesst sehr viel Blut aus. 

55) Die Gallenblase ist mit branngelber Galle vollständig gefüllt. 

56) Die Bauchspeicheldrüse ist normal. 

57) Das Gekröse ist normal. 

58) Im Dünndarm, der äusserlich glatt und schwach rosenroth gefärbt ist, 
findet sich oben ein dünner, weiter unten ein festerer, fäculent riechender, gelb¬ 
lich grauer Brei. Ganz unten ist derselbe ziemlich fest. Die Sohleimhaut ist 
rosenroth, die Gefässe sind deutlich sichtbar. Die Querfalten sind schwaoh ge- 
röthet. Die Peyer’schen Drüsen nioht geschwollen. 

59) Der Diokdarm ist mässig ausgedehnt, sohwach rosenroth gefärbt, er 
enthält reichlichen, braunen, dicken Koth. Die Schleimhaut ist schwach rosen¬ 
roth gefärbt, sonst normal. 

60) Die Gefässe des Leibes sind normal, die Blutadern stark mit Blut 
gefüllt. 

61) Geruch nach Cloakengas oder Schwefelwasserstoff war während der 
ganzen Section nioht zu bemerken. 


Der Befund der Section ist selbstverständlich fast durohaus ein negativer. 
Ausser französischen Autoren haben Thierling, Casper, Blumenstok 
Sectionen veröffentlicht. Immerhin ist die Anzahl derselben nicht bedeutend. 
Die vorliegende Section, die den Resultaten bei Thierexperimenten genau ent¬ 
spricht, war dadurch besonders interessant, dass die Leiche bei sehr strenger 
Kälte bereits zwei Stunden nach dem Tode in die Leichenhalle geschafft worden, 
und hier nicht unbedeutend gefroren war. Die Leiche machte den Eindruck 
einer vollständig frisohen, und es war auch nicht die geringste Spur von Fäul- 
niss zu bemerken. Die Fäulnisserscheinungen, die namentlich von Blumen¬ 
stok und Casper hervorgehoben, von Guörand und Eulenberg geleugnet 

Viert« Ijahrachr. f. ger. Med. Dritte Folge. V. 2. 26 


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UNIVERSUM OF IOWA 



398 Dr. Hankel, 

werden, konnten im vorliegenden Falle der Natnr der Sache naoh absolut nicht 
bemerkt werden. 

Der Eintritt auffällig rascher Fäulniss wird bei Vergiftung durch Oase 
ziemlich häufig erwähnt, z. B. bei den durch Chloroformeinathmung bedingten 
Todesfällen, und es kann nicht auffallen, dass es auoh bei Cloakengasrergiftung 
erwähnt wird. 

Die Leiohenstarre wird als sehr ausgeprägt geschildert. Im vorliegenden 
Falle war sie ziemlich stark vorhanden. Ahch auf ihr Vorhandensein wird ein 
grosser Werth nicht zu legen sein. 

Das Gesicht soll blassgelb, oder bei vorhandener Fäulniss grünlioh sein. 
Auch im vorliegenden Falle war die blasse Färbung des Gesichtes und der 
Lippen auffällig. 

Die auffälligste Veränderung zeigte im vorliegenden Falle das Blut, wel¬ 
ches nirgend geronnen, sondern überall flüssig war. Seine Farbe war tief dun- 
kelblanroth. Dieselbe Erscheinung wird von allen Autoren erwähnt, nur wird 
die Farbe häufig noch dunkler bis tief tintenschwarz beschrieben. 

Es kommt diese dunkle Färbung und Flüssigkeit des Blutes bei raschen 
und plötzlichen Todesfällen ganz gewöhnlich vor, und Verf. hat sie insbesondere 
bei Chloroform und Carbolsäuretodesfällen beobachtet. Die gedachten Eigen¬ 
schaften beweisen nioht einmal den Erstickungstod, sondern höchstens einen 
reschen, plötzlichen Tod. Durch diese Veränderung des Blutes soll auch die 
Farbe der Organe verändert werden, eine Angabe, die dem Befunde vorstehender 
Section nur so weit entspricht, als die Organe, ausschliesslich des nur etwas 
blutreichen Gehirns ausserordentlich stark blutreich waren, und daduroh theils 
dunkler, theils rötber erschienen. 

Ein schwarzes Aussehen der Lungen, wie es beschrieben wird, fand sich 
nicht. Die Lungen waren sogar in den oberen Lappen hellgrauröthlich, in den 
unteren tief dunkelblauroth gefärbt, sowohl auf der Oberfläohe als auch auf der 
Schnittfläche. Die Milz und Leber waren kaum etwas dunkler als normal ge¬ 
färbt. Ebenso die Nieren, welche den zufälligen Befund einer Hufeisenniere er¬ 
geben. Dagegen war der ausserordentliohe Blutreichthum der gedachten Organe 
bemerkenswerth. 

Eulenberg nennt die Lungen schmutzig hellroth, die Leber braun, und 
ebenso wie die Milz mit reichlichem frischen Blute gefüllt. 

Der Darm, die Bronchien, der Kehlkopf zeigten dieGefässe sehr stark blut¬ 
erfüllt und das Gewebe daher vielfach rosenroth gefärbt. Da diese Färbung sioh 
auf allen Schleimhäuten findet, so kann der Umstand, dass sie auch im Kehl¬ 
kopfe bemerkt wurde, nicht so verwerthet werden, dass man daraus die Er¬ 
stickung oder eine Reizung der Bronohien folgern könnte. 

Auch des glasig blasigen Schleimes im Kehlkopf, der sich bei vorliegender 
Section fand, gedenkt Eulenberg. 

Das Herz war im vorliegenden Falle überall stark mit Blut gefüllt. Die 
linke Kammer war straff zusammen gezogen, die rechte sohlaff. 

Seydel sagt: Das Herz sei besonders in der rechten Hälfte meist stark mit 
Blut gefüllt, während Blumenstok angiebt, das Herz sei zusammengefallen 
und leer. Dagegen giebt Eulenberg auf Grund von Thierversuohen an, dass 
das ganze Herz mit Blut gefüllt ist. 


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Gin Todesfall duroh Einatbmen von Cloakengas. 


399 


Das Gehirn war in jeder Weise normal, seine Farbe normal und nur die 
harte Hirnhaut and der Sinas waren stärker, die eigentliche Hirnsabstanz war 
nur massig mit Blot gefüllt. Die graue Substanz setzte sich gegen die weisse 
scharf ab. Ihre Farbe war also deutlich grau. 

Dieselben Befände wie hier, nur etwas stärkere Hyperämie der Hirnhäute, 
sind bei Thierversuchen beobachtet. Seydel erwähnt die Verfärbung des Ge¬ 
hirns in beiden Substanzen, besonders der Rinde, dasselbe wird als schmutzig- 
grau, graugrün, wie bei vorgeschrittener Verwesung beschrieben. Diese Farbe 
soll nach Seydel zu einer Zeit, wo von Fäulniss des Organs keine Rede sein 
könnte, Vorkommen und durch die Farbe des Blutes bedingt seiu. 

Blnmenstok hat die graugrüne Färbung auch gefunden, bezieht sie 
aber, wohl mit Recht, lediglich auf die Fäulniss, die überhaupt ganz auffällig 
rasohe Veränderungen im Körper hervorzurufen scheint. 

Es scheint undenkbar, dass der Tod bei diesen Vergiftungen 
durch Erstickung eintritt, denn die Thiere starben in einer Luft, die 
Schwefelwasserstoffgas, aber noch für das Athmen ausreichende Menge 
von Sauerstoff bez. atmosphärischer Luft enthielt (auch enthält das 
Blut der so vergifteten Thiere immer noch freien Sauerstoff) und 
starben an Einspritzung von Schwefelnatrium; sondern es ist anzu¬ 
nehmen, dass der Tod durch einen deletären Einfluss auf die Inner¬ 
vationsorgane des Herzens herbeigeführt wird, und die Wirkung des 
Cloakengases bez. des Schwefelwasserstoffes dürfte der des Chloro¬ 
forms in gewisser Weise ähnlich sein. Der Schwefelwasserstoff ent¬ 
zieht dem Hämoglobin den locker gebundenen Sauerstoff. 

Im Spectrum zeigt das Blut die Absorptionsstreifen des sauer¬ 
stofffreien Hämoglobins. Als Zeichen weiterer Zersetzung tritt dann 
ein Absorptionsstreifen im Roth auf (Schwefelmethämoglobin). Diese 
Verhältnisse finden sich sowohl beim Einathmen von Schwefelwasser¬ 
stoff als auch nach dem Einspritzen von Natrium sulphantimoniat. 
Sie sind nur bei Thieren beobachtet, und von Hofmann glaubt, dass 
nur ein sehr hoher Gehalt von Schwefelwasserstoff im Blute, wie er 
bei den gewöhnlichen Vergiftungen niemals Vorkommen kann, dieses 
Spectrum erzeugt. Für die gerichtliche Beurtheilung eines Falles 
würden diese Absorptionsstreifen daher kaum zu verwerthen sein. 

Im Gutachten wurde auf die Flüssigkeit und die dunkle Farbe 
des Blutes, sowie die Blutüberfüllung aller Organe (mit Ausnahme 
des Gehirns), namentlich aber auch des Kehlkopfes und der Bronchien 
hingewiesen, — und angegeben, dass hierdurch nachgewiesen sei, dass 
der Tod plötzlich eingetreten wäre. 

Im Uebrigen konnte man nur hervorheben, dass R. gesund zur 

26 * 

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400 


Dr. Hankel. 


Arbeit gegangen, um 3 l / 2 Uhr noch ganz gesund gewesen war, und 
um 5 Uhr in der Nähe des Rohres, welches so viel Cloakengas aus¬ 
strömen liess, dass der ganze Abort von einer penetranten, Schwindel 
erregenden, erstickenden Luft erfüllt war, todt gefunden wurde. Da 
eine andere Todesursache nicht aufzufinden war, so musste die Ein- 
athmung von Cloakengas als Ursache des Todes angesehen werden. 


Literatur. 

Blumenstok, Diese Vierteljahrsschrift. N. F. XVIIf. 295. 

Finkelnburg, Ebenda. N. F. XX. 801. 

Maschka, Handbuch. II. Bd. Vergiftungen (Seidel). 865. 

Eulenburg, Schädliche und giftige Gase. S. 293. 

Chevallier, Asphyxie double par le vidange d’une fosse d’aisance. Annal. 

d’hyg. 1876. II. S6r. XLIII. p. 480. 

Gaultier de Claubry, Annal d’hyg. et de m6d. 16g. II. 82. 

Casse, Presse m6d. XXX. 689 

Biefel und Poleck, Zeitschrift für Biologie. XVI. 8. S. 279. 

Pohl, Archiv für experimentelle Pathologie u. Pharmacologie. XXII. S. 1. 
Garnier, Annal. d’Hyg. publ. XV. p 619. 

Thierling, Ueber Vergiftung durch Cloakengas. Inaug.-Diss. Breslau 1879. 
Eossatz, Ueber Intoxication mit Senkgrabengas. Inaug.-Diss. Berlin 1872. 
Caspar, Handbuch der gerichtlichen Medicin II. S. 598. 

Kaufmann und Eosenthal, Archiv für Anatomie und Physiologie. 1865. 
S. 659. 

Hoppe-Seyler, Med-ehern. Untersuchungen. Heft 1. S. 161. 1866. 

Falok, Lehre von den giftigen und schädlichen Gasen. Braunschweig 1865. 
S. 260. 

Demarquay, Aoad. de Science. 1865. Avril. 

Claude Bernard. Le$ons aur les effets de substanoes toxiques et m6dica- 
menteuses p 57. 

Senator, Berliner klinische Wochenschrift. 1872. S. 254. 

Emminghaus-, Memorabilien. XIV. Lief 1. Mai 1869. 

Betz, Jahresberichte von Virchow und Hirsch. 1868. I. S. 802. 

Hasemann, Handbuch der Toxicologie Berlin 1862. S. 748. 

Clemens, Henle’s Zeitschrift für rat. Medicin. 1849. S. 216. 

Lebmann, Archiv für Hygiene XIV. Heft II. 

Eulenberg’s Gewerbehygiene. S. 142, 285, 825. 

Eulenberg, Oeffentliches Gesundheitswesen. I. S. 116, 692. II. S. 884, 772. 
Christison, Robert, A Treatise on poisons. Deutsch. Weimar 1881. p. 826. 
(Citat aus Maschka.) 

Eulenburg’s Realencyolopädie. XV111. S. 109. 

Geigel, Hirt, Merkel, Handbuch der öffentl. Gesundheitspflege II. Aufl. 
S. 469. 

Eulenberg, Diese Vierteljahrssohrift. N. F. XXV. S. 209. 

Siegfried, Diese Vierteljahrssohrift. N. F. XXL S. 888. 


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III Kleinere Mittheilungen, Referate, 
Literaturnotizen. 


a) Samelwerke, Statistisches. 

Tabellen mm Gebrauche bei mikreskepiseben Arbeiten. Von Wilhelm 
Behrens in Göttingen. Zweite, neu bearbeitete Auflage. Braunsobweig, 
Harald Brubn, 1892. 

Die Tabellen dieses Werkes sind einer neuen Bearbeitung unterworfen 
worden; sie liefern ein unentbehrliches Hülfsmaterial für genauere Unter¬ 
suchungen. Wir begnügen uns damit, den Inhalt der verschiedenen Tabellen auf¬ 
zuführen, um darnach ihren Werth beurtheilen zu können. Das Werk beginnt 
mit der Vergleichung der gebräuchlichsten Medioinalgewichte mit 
dem Gramm. Hierauf folgt die Vergleichung des englischen und ameri¬ 
kanischen Flüssigkeitsmaasses mit dem Cubikcentimeter, ferner die 
Tropfentabelle, dieVergleichung der früher gebräuchlichen Maass¬ 
einheiten mit dem Millimeter, die Vergleichung des englischen Zol¬ 
les mit dem Millimeter. 

Den Formeln zur Umrechnung der Thermometergrade von Celsius, Rdaumur 
und Fahrenheit sohliessen sich ausser anderen Tabellen an: die Lösliohkeitsver- 
hältnisse einiger thierischer Oele, Harze und Balsame, das Verhalten der ge¬ 
bräuchlichsten organischen Farbstoffe und der Breohungsindex 
einiger Stoffe. Hinsichtlich der Mikroskopie sind hervorzuheben: Die Fixi- 
rungs- und Härtungsmittel, Beobacbtungs- undConservirungsmittel, Aufhellungs¬ 
mittel, Versohlusslacke, Einbettungsmittel, Aufklebemittel, Maoerationsmittel, Im¬ 
prägnationsmittel, Carmin-, Hämatoxylin-, Brasilin-, Anilin- und combinirte 
Tinotionsmittel, die wichtigsten Bakterienfärbungen, die Culturflüssigkeiten und 
Mährsubstrate, mikrochemische Reagentien im Allgemeinen, sowie botanische und 
mineralogische mikroskopische Reactionen. 

Es liegt auf-der Hand, dass die Tabellen nicht nur bei botanisohen, son¬ 
dern auch bei histologischen, bakteriologischen und mineralogischen Arbeiten ein 
mühsames Machschlagen und Aufsuchen des Materiels unnöthig machen, und so¬ 
fort die gewünschte Auskunft ertheilen. Eulenberg-Bonn. 


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402 


Kleinere Mittheilungen. Referate, Literaturnotizen. 


Günther, R., Drei und zwanzigster Jahresbericht des Landesmedi- 
cinalcollegiums über das Medicinalwesen im Königreich Sachsen 
auf das Jahr 1891. Leipzig. 

Die Sterblichkeit des Jahres 1891 betrug im ganzen Königreich Sachsen, 
wie Günther’s Bericht ausführt, 25,33 pM., eine Ziffer, welche einen nicht un¬ 
wesentlichen Rückgang — über 3 pM. — seit den jüngsten 15 Jahren aus¬ 
drückt. Die Säuglingssterblichkeit, nach dem Material aus 10 Jahren berechnet, 
hat ihr Maximum (41,2 pM.) im August, ihr Minimum (21,3 pM.) im Januar 
und November. — Von je 10 000 Bewohnern starben an 


im Jahre 

Masern 

Scharlach 

Bräune- 

Krank¬ 

heiten 

Keuch¬ 

husten 

Typhus 

Krebs 

Schwind¬ 

sucht 

L 881 

i,i 

4,0 

9,6 

8,0 

3,2 

7,0 

28,8 

1882 

1,7 

8,7 

19.8 

8,4 

2,5 

7,0 

28,6 

1883 

3.4 

7,0 

1 17,7 

1,8 

2,8 

7,1 

24,6 

1884 

4,6 

4,2 

25,2 

2,8 

2,6 

7,1 

25,2 

1885 

1,7 

8,2 

21,4 

8,8 

1,9 

7.4 

25,0 

1886 

2.9 

8,2 

20,1 

2,2 

2,1 

7,2 

24,8 

1887 

4,0 

2,2 

14,7 

2,0 

1,6 

7,5 

22,7 

1888 

2,4 

2,2 

11,7 

2,5 

2,4 

7,6 

23 1 

1889 

1,1 

2,1 

10,8 

8,0 

1,6 

7,6 

23 8 

1890 

8,3 

3,1 

10,1 

3,5 

1,2 

8,0 

24,1 

1891 

1,7 

5,1 

9,1 

1,8 

0,9 

8,0 

21,6 


Was speciell das Jahr 1891 anlangt, soweit seine Sterblichkeit auf die 
Schuld der Infectionskrankheiten zurückzuführen war, so bedingten gegenüber 
allen Todesursachen insgesammt, die Masern 1 pCt., — Scharlachfieber 
2 pCt., — Diphtherie 13 pCt., — Keuchhusten 1 pCt., — Unterleibs¬ 
typhus 7a pCt., — Krebs reichlich 3 pCt., — Lungenschwindsucht 
8,5 pCt. An Pocken wurden 1891 37 Erkrankungen festgestellt (23 an Unge- 
impften), die sich auf 10 Ortschaften vertheilten. 


Kämmerer, E., Bericht des Wiener Stadtphysikates über seine Amts- 
thätigkeit und die Gesundheitsverhältnisse der Stadt Wien in 
den Jahren 1887—1890. Wien. 

Ein ziemlich anschauliches Bild von den im obigen Bericht Kammerer’s 
geschilderten Wiener Krankheitsverhältnissen geben die 3 auf Infectionskrank¬ 
heiten sich beziehenden Tabellen. 

(Siehe die Tabelle auf der nächsten Seite.) 

Eine ganz besondere Berücksichtigung hat das schulpflichtige Alter bei der 
Theilnahme an der Infections-Morbidität und -Mortalität erfahren. Jeder ein¬ 
zelnen Infectionskrankbeit sind längere — auch auf die Ursaohen sich er¬ 
streckende — Erörterungen gewidmet. 


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Kleinere Mittheilungen, Referate, Literaturnolizen. 


403 


Von der Gesamrotzahl der gemeldeten Erkrankungen entfielen in Pro- 
oenten auf 


das 

Jahr 

Blattern 

Scharlach 

Diphtherie 

1 

Pf 

>> 

o 

© 

00 

0 

,0 

Pf 

iS 

© 

E 

Masern 

0 

$ 

00 

0 

fP 

Xi 

o 

0 

© 

W 

0 

© 

© 

© 

V 

> 

© 

00 

£ 

l 

fi 

s 

Pf © 

Vf 

© a? 

P ep 
Po 

Ophthalmia 

contag. 

Dysenterie 

1887 

2,0 

22,9 

5,9 

1,6 

0,03 

48,9 

4.4 

9,0 

4.0 1 

0,7 

05 

0,1 

1888 

16 

20 0 

7,2 

8,4 ! 0,1 

41,0 

7,6 

110 

5,6 i 

1,1 

1,1 

0,3 

1889 

0,5 

9.7 

62 

2,4 

0,0 

52 7 

10 8 

11,3 

4,6 

14 

0,7 

0,2 

1890 

1,5 

8 4 

8.0 

1,5 

’ 

54,0 

84 

10,5 

5,0 

1,2 

1,0 

0,2 


Die absoluten Ziffern der an Infeotionskrankbeiten V erstorbenen stellten 

sich wie folgt: 


1887 

68 

866 

205 

68 

0 450 

78 0 

64 

87 ! — 

1888 

55 

212 

289 

79 

0 217 

98 0 

55 

87 — 

1889 

12 

127 

222 

79 

1 385 

9L 0 

58 

76 — 

1890 

46 

81 

891 

58 

0 415 

1 

78 j 1 

! 

49 

7« | - 


Dies ergiebt in Prooenten berechnet an Todesfällen aus den entsprechenden 

Ursachen: 


1887 

46 

26,7 

14,9 

4,6 

0 

82,8 

6,8 

0 

47 

6,8 

1888 

5,3 

20,4 

280 

7,6 

0 

20,9 

9,0 

0 

5,3 

84 

1889 

1,2 

12,6 

22,0 

7,8 

0.1 

882 

9,0 

0 

5.7 

7,5 

1890 

8,8 

6,8 

82,9 

4,4 

0 

84,7 

6,5 

0,1 

4,! 

6,3 


Bildet dieser statistische Abschnitt für sich gewissennassen den Kernpunkt 
des Berichts, so finden sich als praktisch wichtig die Fortschritte hier ange¬ 
schlossen, welche die Prophylaxis hinsichtlich der übrigen Infectionskrankbeiten 
aufzuweisen hat. Es findet sich hier die Desinfection (seit dem 16. August 1887 
besteht eine hierauf bezügliche eingehende Anweisung) besonders besprochen; 
demnächst Fragebogen betreffend nähere Umstände bei Typhusfällen; ferner In¬ 
structionen über die Anmeldung contagiöser Augenentzündungen. Das Kranken¬ 
transport wesen, soweit die Benutzung öffentlicher Fuhrwerke durch Ansteckungs¬ 
kranke in Frage kommt, hat auch in Wien Schwierigkeiten (wie überall). — 
Erweitert wurden die prophylaktischen Massnahmen in Bezug auf die Militär- 
gestellungspflichtigen, — in Bezug auf die Wäsche von in entgeltlicher Pflege 
gestandenen an einer Infectionskrankheit gestorbenen Findlingen, — in Bezug 
auf die Hintanhaltung von Einschleppungen der Infectionskrankbeiten in die 
städtischen Waisenhäuser, auch in die Spitäler. — Für das Verhalten der Lehrer 
und Schüler in Lehr- und Erziehungsanstalten, soweit die Verhütung und Weiter¬ 
verbreitung übertragbarer Krankheiten durch sie in Frage kommen könnte, ist 
unterm 6. Juni 1888 eine sehr erweiterte Verordnung ergangen. Zwei Schluss¬ 
abschnitte geben Rechenschaft von der Durchführung derTodtenbeschau während 
der Beriohtszeit. 

Viel Interessantes enthalten aber auch die hygienischen und sanitätspolizei- 
liohen Kapitel, in denen die sanitätswidrigen Wohnungen und Gewerbe, die 


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404 


Kleinere Mittbeilungen, Referate, Literaturnotizen. 


Nahrungsmittelcontrole, das Leiohenwesen, der Verkehr mit Giften (S. 1—128); 
demnächst die speoiell medioinalpolizeilichen Anfgaben — einschliesslioh des 
Rettungswesens, der Kranken- und verschiedener Fürsorge-Anstalten ihre Dar¬ 
stellung gefunden haben (S. 129—360). 


b) Geriehtsärztliches. 

Prof. §r. Jolins Kratter, Die Aufgaben der geriohtliohen Medicin in 
Lehre und Forsohung. Vortrag gehalten am 22.0ctober 1892 aus Anlass 
der Eröffnung seiner Vorlesungen in Graz. Wien, Holder 1892. 16 S. 

Unser hochgeschätzter Mitarbeiter hat das Ereigniss seiner Versetzung von 
Insbruck nach Graz zum wohlberechtigten Anlass gewählt, sich in programma¬ 
tischer Weise über seine Auffassung des forensischen Unterrichtes und der ge- 
riohtlich-medioinischen Lehrmethode zu verbreiten. Dass diese Auffassung eine 
sehr ernste und hohe ist, werden alle Freunde der Disoiplin gern anerkennen. 
Wir hoffen mit dem Verf., dass die hochaasgebildeten naturwissenschaftlichen 
Methoden der Physiologie und Pathologie, der Chemie und Bakteriologie, zur Er¬ 
forschung der noch so zahlreichen ungelösten Probleme der gerichtlichen Medicin 
verwerthet, dieser noch eine reiche Ernte bringen werden — dass gerade auf 
diese Weise sie ihre etwas gesohmälerte Stellung und Bedeutung als academisohe 
Disciplin in der Höhe wieder erlangen wird, zu welcher ihr für die menschliche 
Gesellschaft so unverkennbarer Werth sie berechtigt. 


Prof. Korber, Sohultze’sche Schwingungen — Tod des Kindes. Vor¬ 
trag gehalten auf dem IV. Livländischen Aerztetag. Sep.-Abdruck aus der 
St. Petersburger med. Wochensohrift. 1891/51. 

Eine anregende Darstellung des Themas von der event. Gefährlichkeit der 
überschriftlich genannten Methode besonders im Punkt der Leberzerreissung. 
Zahlreiche Sectionen dürften hier Aufklärung schaffen und die Beantwortung der 
Frage anbahnen, ob diese Wiederbelebungsmethode nicht den Aerzten vorzu¬ 
behalten sei? 


Messner, Ueber Sterilisation der Geschosse durch Erhitzung beim 
Schuss. Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie. 1892. 
Diese für die forensische Beurtheilung wie für die Praxis gleich wichtige 
Frage suchte Messner zu beantworten, indem er bei einer Entfernung von 250m 
auf sterilisirte Blechbüchsen schoss, welche mit steriler Gelatine gefüllt waren, 
nachdem er zuvor mit demselben Gewehr rasch hintereinander etwa 20 Sohüsse 


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Kleinere Mittheilungen, Referate, Literaturnotizen. 405 

abgegeben hatte. Die Projeotile benutzte er theils ohne Vorbehandlung, theila 
naoh Infeotion mit Prodigiosus, Stapbylocooous pyogenes und mit Bacillus des 
grünen Eiters. In letzteren Fällen war der Schussoanal in der Gelatine stets, 
im ersteren Falle garnicht — odor höchstens mit Schimmelpilzen infioirt. 

Waren die Büchsen mit Flanell überzogen, welohen er mit Reinoulturen der 
qu. Bakterien bestrichen hatte, so fand sioh, was für die Bedeutung der in den 
Schusscanal mit hineingerissenen Kleiderfetzen von Wichtigkeit ist, der Schuss* 
canal ebenfalls inücirt. Flatten-Wilhelmshaven. 


f.Luger, Ueber einen Fall von rasch tödtlicher Phosphorvergiftung 
mit eigenthümlichem Befunde im Magen und Oesophagus. Prager 
medicinisohe Wochenschrift. 1892. No. 39. (Aus dem deutschen gerichtlich- 
medicinisohen Institute zu Prag.) 

Bei einem 9 Stunden naoh dem Genüsse von Phosphor gestorbenen 71 Jahre 
altenManne fand sioh die geschwellte, düster geröthete und ekchymosirteSchleim* 
haut des Magens und des unteren Drittels der Speiseröhre mit feinen weissen, 
mit dem Messer abstreifbaren Körnchen besetzt, welche an den Befund der Ver¬ 
giftung mit arseniger Säure erinnerten. Mikroskopisch stellten sie glänzende 
durchscheinende Schollen dar. Dieselben bestanden aus Kalkooncrementen und 
lagen nicht auf, sondern in der obersten Sohicht der Schleimhaut. Der sonstige 
Befund der Schleimhaut (Verdickung der kleinsten Gefässe, Bindegewebsver¬ 
mehrung und Pigmentirung in Mucosa und Submucosa), insbesondere der Speise¬ 
röhre, welche nach Entkalkung der Körnchen verdicktes Plattenepithel an deren 
Stelle erkennen Hess, sprach für eine chemische Veränderung, welche mit der 
Intoxication in keinem Zusammenhänge stand. Flatten-Wilhelmshaven. 


c) Psychapatholagie; Nerveapathalagie. 

1. Piper (Erziehungs-Inspector der Städtischen Idioten-Anstalt in Dalldorf), 
Schriftproben von schwachsinnigen resp. idiotischen Kindern. 
Berlin, Kornfeld 1893. 8 S. Text, Tafeln und Figuren. 

Durch die auf 64 Tafeln in musterhafter Ausführung wiedergegebenen 
Schriftproben schwachsinniger beziehungsweise idiotisoher Kinder liefert P. den 
Beweis, dass Spiegelschrift am häufigsten da gefunden wird, wo centrale 
Mängel und Störungen bestehen; dass aber andererseits nioht immer, wo centrale 
Störungen vorhanden, Spiegelschrift geschrieben werden muss. 


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406 


Kleiner« Mittheilungen, Referate, Literäturnotizen. 


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Dr. Eigen Rehlseh, Der Selbstmord. Eine kritische Stndie. Nebst einem 
Vorworte von Prof. Dr. Mendel. Berlin, Kornfeld 1893. 167 S. 

Seinen anregenden Essay über «jene Krankheit des Menschengeschlechts, 
die wir den Selbstmord nennen“, überblickt R. in 5 Hauptabschnitten, in denen 
neben (I) den allgemeinen Ursachen des Selbstmordes zunächst (II) dessen Ver¬ 
breitung durch Vererbung und geistige Infection (III), dann seine Ausbreitung 
in Europa und demnächst (IV) die Verbreitung naoh Geschlecht und Civilstand, 
Alter und Beruf, Jahreszeiten, Religion — auch die Motive, die Arten und 
Weisen und noch einige andere nähere Umstände des Selbstmordes besprochen 
werden. Was Verf. unter (V) „Therapie des Selbstmordes“ versteht, empfehlen 
wir allen Interessenten zum Nachlesen. 


Udtnt (Genf), L’obsession du meurtre. Separat-Abdruck aus Betz’ Irren¬ 
freund. 1892. No. 5—6. 

Klagnu (Asyle de St. Anne), L’obsession oriminelle morbide. Ebenda. 
No. 3—4. 

In La dam e’s Abhandlung findet sich Gasuistik zusammengestellt, die im 
Wesentlichen Zwangsvorstellungen, die zum Morde treiben, anbetrifft. Er dis- 
cutirt dabei besonders den Werth des hereditären Moments und betont als her¬ 
vorragend wichtig die Erfahrung, dass bei hereditär Belasteten sich die Zwangs¬ 
vorstellung, morden zu müssen, oft ganz isolirt vorfinde. 

Magnan geht in der Anerkennung der Monomanieen älteren Sinnes noch 
weiter und wünsoht ausser den auf Mord, Diebstahl und Feueranlegen bezüg¬ 
lichen Zwangsvorstellungen auch noch die das Geschlechtsleben angehenden 
(Eroto- und Nymphomanie, conträre Sexualempfindungen, Bestialismus) als 
vierte Gruppe besonders unterschieden zu sehen. 


Dr. A. Schmiti, Die Entmündigung Trunksüchtiger vom medicinischen 
Standpunkte. Bonn, Hanstein 1892. 16 S. 

In dem Referat, mit dessen Erstattung Schmitz für die 9. Jahresver¬ 
sammlung des Deutsohen Vereins gegen den Missbrauch geistiger Getränke be¬ 
traut war, gelangt er unter geeigneten Begründungen dazu, folgende Vorschläge 
zu vertreten: Die Trunksuoht ist eine Krankheit; — Trunksüchtige sind behufs 
Heilung freiwillig oder zwangsweise in staatlich beaufsichtigte Trinkerheilan¬ 
stalten aufzunehmen; — unheilbare Truoksüohtige sind unter Zuziehung eines 
oder zweier ärztlicher Sachverständigen zu entmündigen; — den Antrag auf 
Entmündigung wegen Trunksuoht können stellen: der Ehegatte, die Eltern, die 
Kinder, die Geschwister, der Staatsanwalt. 


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Kleinere Mittheilungen, Referate, Literaturnotizen. 


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lUlf WiehMMB, Der Werth der Symptome der sogenannten trauma¬ 
tischen Neurose und Anleitung zur Beurtheilung der Simulation 
von Nervenkrankheiten. Für Krankenkassenärzte und Medioinalbeamte. 
Braunschweig 1892. 103 S. 

W. gelangt auf einem neuen Wege, nämlich indem er die angebliche Sym- 
ptomatologie der traumatischen Neurose alphabetisch (mit „Alkoholismus“ an¬ 
hebend und mit „Zwangsvorstellungen“ schliessend) Revue passiren lässt, zu 
der Auffassung, dass kein einziges ihrer Symptome für dieselbe charakteristisch 
ist, dass so gut wie alle sich (mitjErfolg) simuliren lassen, und dass jedes dieser 
Symptome gelegentlich simulirt wird. Daraus leitet er für das auf dem Titel 
der Schrift namhaft gemachte ärztliche Publikum den Rath her, bei der Unter¬ 
suchung fraglioher Kranker „garnicht an traumatische Neurose zu denken, son¬ 
dern vielmehr den betreffenden Fall stets in die allbekannten, präciseren und 
von allen Aerzten auoh anerkannten übrigen Krankheitsbilder einzureihen zu ver¬ 
suchen.“ 


d) T«iic«ltgie ud Nahraigsrnttel-Hygieie; BUltgische 

Tagesfragei* 

Professor Br. Ralalf Kober t, Lehrbuoh der Intoxicationen. Stuttgart, 
Enke 1893. 816 Seiten; 63 Abbildungen im Text. 

Kobert’s Buch hat neben seinem für unseren Leserkreis bestehenden nooh 
insofern ein bedeutendes allgemeines Interesse für grössere ärztliche Kreise, als 
es ein ganz vorzüglicher Repräsentant aus der „Sammlung medicinischer Lehr¬ 
bücher für Studirende und Aerzte“ ist, welohe unter dem Titel „Bibliothek des 
Arztes“ in dem alt- und bestrenommirten Enke’sohen Verlage erscheint. 

Um allen Anforderungen zu genügen, welohe in unserer Zeit von Seiten 
der Kliniker und Klinicisten, der Therapeutiker und der Sachverständigen in foro 
an ein Handbuch der Vergiftungen gestellt werden, müsste, nach dem eigenen 
Ausdruck des Autors, ein Universalgenie ein mehrbändiges Werk sohreiben. Soll 
demgegenüber gleichzeitig der Lehr- und Lernzweok berücksichtigt, und ein ge¬ 
gebener Raum nioht überschritten werden, so war ein eingeschränkter Stand¬ 
punkt zu wählen und trotz aller im Thema liegender Verlockungen festzuhalten. 
Diesen festen Punkt gewährte der Kobert'sohen Lösung der Aufgabe die Phar- 
macologie — und da alle Erörterungen und Darlegungen des Buches auf viel¬ 
seitiger praktischer und theoretischerJCigenerfahrung beruhen, ist dieser gewählte 
Standpunkt als ein sehr zufriedenstellender zu bezeichnen. 

Im Allgemeinen Theil behandelt die Erste Abtheilung das Allgemeine, die 
Zweite den Naohweis der Intoxicationen. Der Speoielle Theil umfasst: Stoffe, 
welohe schwere anatomische Veränderungen der Organe veranlassen; — dem¬ 
nächst die Blutgifte; — dann die Gifte, welohe, ohne sohwere anatomische Ver¬ 
änderungen veranlasst zu haben, tödten können; ein „Anhang“ bringt (als 


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Kleinere Mittheiluugen, Referate, Literaturnotizen. 


VI. Abtbeilung) die „Giftigen Stoffweohselproduote“: ohne Zweifel eine ebenso 
übersichtliche wie zum Studium anregende Eintheilung. 

So ersetzt K.'s Buch das noch immer auf allen Universitäten mangelnde 
Studium der Toxicologie in unerwartet glücklioher Weise und wird sioh als Lehr- 
und Handbuch bald allen Interessenten als unentbehrlich erweisen. 


Br. Willi. Schlaapp (an der thierärztl. Hochschule zu Münohen), Die Fleisch ¬ 
beschau-Gesetzge bang in den sämmtliohen Bundesstaaten des 
Deutschen Reiches zum Gebrauche für Staats- und städtisohe Behörden, 
Polizei- und thierärztliche Beamte und Thierärzte. Stuttgart, Ferd. Enke. 
1892. 4. 494 S. 

Angeregt durch die Verhandlungen des Deutschen Veterinärrathes im März 
1891 zu Nürnberg hat sioh Verf. der ebenso mühevollen wie dankenswerthen 
Aufgabe unterzogen, die deutsche Landesgesetzgebung über die Fleischbeschau 
zusammenzustellen. Hierbei wurden für jeden der in alphabetischer Reihenfolge 
angeordneten 24Bundesstaaten alle Gesetze, alle von den Staatsministerien 
ergangenen Verfügungen, Erlasse, Bekanntmachungen etc., sowi.e alle duroh die 
Regierungen (Kreisregierungen in Bayern, Regierungspräsidenten bez. Bezirks¬ 
regierungen in Preussen) erlassenen Verordnungen ihrem Wortlaute naoh aufge¬ 
nommen, in einzelnen Fällen auch mit kurzen Anmerkungen versehen. Da¬ 
gegen wurden, um das Werk nicht zu sehr ansohwellen zu lassen und mit Rück¬ 
sicht auf ihre geringere Tragweite die von Seiten der unteren Verwaltungsbe¬ 
hörden (Kreisverwaltung und Landräthe in Preussen, Bezirksämter in Bayern, 
Baden und einigen anderen Bundesstaaten, Oberämtern in Württemberg, Amts¬ 
hauptmannschaften in Sachsen), sowie von Ortspolizeiverwaltungen im Allge¬ 
meinen ferngehalten. Eine Ausnahme bilden nur einzelne principiell besonders 
wichtige, z. B. für die Reichshauptstadt erlassene Bestimmungen. 

Verf. beabsichtigt, dem vorliegenden Werke je naoh seinem buohhändle- 
rischen Erfolge ein zweites folgen zu lassen, das die deutsche Reichsgesetzgebung 
wie die Gesetzgebung der übrigen wichtigen europäischen Staaten berücksichtigt. 
Das Erscheinen dieses neuen Buches würde nur mit grösster Freude zu begrüssen 
sein. — Anderenfalls würde für eine zweite Auflage des vorliegenden Buches 
die Aufnahme der deutschen Reiohsgesetze unerlässlich sein. 

Die Anschaffung des Werkes sei allen im Titel genannten Behörden und 
Personen auf das Wärmste empfohlen. R. Wehmer (Berlin). 


Br. Arthw Loes, Schmarotzerthum in d er T hier weit. Leipzig, Richard 
Freese. 1892. 180 S. 

Die flotte Darstellung, in welche L. seinen umfangreichen Gegenstand ge¬ 
bracht hat, wird der Form, welche für denselben vorgesehen war (es ist das 
10. Heft der „Zoologischen Vorträge, herausgegeben von Professor William 
Marshall“, in welchem das Sohmarotzerthum der Thierwelt abgehandelt ist), 
vorzüglioh gereoht. Die von jeder Systematisirung befreite Unmittelbarkeit, in 


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Kleinere Mitibeilungen, Referate, Literaturnotizen. 


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weloher sieb Beobachtung und Theorie geben, regt immer von Neuem zum 
Weiterstudium an. Für weitere Leserkreise, die an den Zusammenhängen des 
Parasitismus Theil nehmen, wäre allerdings die Hinzufügung einer Uebersicht 
nach irgendwelchen Eintbeilungsgründen von Nutzen gewesen; Nichtfachmänner, 
wie die Aerzte in dieser Materie es sind, werden sich mit Vortheil Belehrung 
holen, aber schwer im Loos’schen Werke etwas Bestimmtes aufsuchen oder nach- 
sohlagen können. 


A. Jehne (Professor an der Königl. Thierärztlichen Hochschule in Dresden), Der 
Trichinenschauer. Leitfaden für den Unterricht in derTrichinensohau und 
für die mit der Controie und Nachprüfung der Trichinensohauer beauftragten 
Veterinär- und Medicinalbeamten. Vierte durebgesehene und verbesserte 
Auflage. Mit 115 Textabbildungen und einem Anhang: Gesetzliche Bestim¬ 
mungen über Trichinenschau. Berlin, Parey. 1893. 150 Seiten. 

So schwierig die Vereinigung der verschiedenen Zwecke erscheinen konnte, 
welche Johne in seinem „Triohinenschauer“ anstrebte, wenn er ihn zu einer 
Grundlage für den Unterricht und die Prüfungen der empirisohen Trichinen¬ 
schauer und gleichzeitig zu einem verlässlichen Rathgeber für die mit der Con¬ 
troie und den Nachprüfungen befassten Beamten bestimmte, — so glücklich 
wurden durch das besondere Geschick des Verf.’s diese Aufgaben bereits in der 
ersten Auflage des Werkchens gelöst. Der Beifall des betheiligten Publikums 
drückt sich in der Wiederholung der Auflagen deutlioh genug aus. Der werth¬ 
volle Anhang (Gesetz-Sammlung) ist duroh unablässige sorgfältige Naobträge auf 
der Höhe seiner Bestimmung erhalten worden, ein zuverlässiger Rathgeber für 
die Veterinär- und Medioinalbeamten zu sein. 


Lferseh (Kottbus), Die linke Hand. Eine physiologische und medicinisch- 
praktische Abhandlung für Aerzte, Pädagogen, Berufsgenossenschaften und 
Versicherungsanstalten. Berlin, Schötz. 1893. 48 S. 

Neben der Zweckbestimmung der Schrift, wie derTitel sie klarlegt, werden 
die Inhaltsangaben über die 8 einzelnen Absohnitte den Leser über ihren Ge¬ 
dankengang orientiren: 1) Die Hand des Menschen, — 2) Gehirn, Auge und 
Hand, — 3) Rechtshändigkeit und Linkshändigkeit, — 4) Die linke Hand, — 
5 ) Rückwirkungen der Rechtshändigkeit (hierunter a: Die Rüokgratsverkrüm- 
mung; b: Erkrankungen und Fehler der Augen; o: Innere Leiden), — 6) Die 
linke Hand bei Unfällen, — 7) Simulation der Linkshändigkeit, — 8) Uebung 
der linken Hand. 

Unter eingehender Begründung und in einer so lehrreichen Weise, dass die 
Lectüre der Schrift für jeden Leser etwas Neues und Brauchbares zur Folge 
haben dürfte, wirkt Verf. darauf hin, den Werth der Zweihändigkeit (Ambidex- 
terität der Alten) und des Strebens, auch die Linke sohön, behende, richtig, un- 
sohmerzhaft und leicht in Gebrauch zu nehmen, duroh geeignete praktische Bei¬ 
spiele zu illustriren. 


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Kleinere Mitteilungen, Referate, Literaturnotizen. 


e) lafcctfeiskraakheitoM nd ierea Verhfttiig. 

Entwurf eines Gesetzes betreffend die Bekämpfung gemeingefähr¬ 
licher Krankheiten — nebst der amtlichen Begründung. Berlin, Springer. 
1893. 56 S. 

In der handliohen und sich durch Correctheit auszeiohnenden Ausgabe des 
obigen Gesetzentwurfs, wie sie Seitens des Springer’sohen Verlages veran¬ 
staltet worden ist, nimmt die Reihe der 46 Paragraphen die Seiten 1 —13, die 
„amtliche Begründung“ die Seiten 14—56 ein. Der Ausführlichkeit der Be¬ 
gründung gegenüber erscheint es angemessen, die meritorisohe Besprechung des 
Inhaltes an die Disoussionen im Reiohstage erent. anzuknüpfen, — dies um so 
mehr, als die politische Presse bereits die Aufgabe übernommen hat, allerlei Be¬ 
denklichkeiten den gesetzgebenden Factoren zu unterbreiten. 

(Auoh der rührige Berliner Verlag von Franz Vahlen hat uns eine cor- 
reote zierliche Ausgabe des „Entwurfs“ zugehen lassen.) 


Professor I. Quincke, Die Strafbarkeit der Uebertragung anstecken¬ 
der Krankheiten. Sep.-Abdr. aus d. ärztl. Vereinbl. 1893/249. 

Nach §232 St.-G.-B. können die duroh Fahrlässigkeit verursachten Körper¬ 
verletzungen nur auf Antrag verfolgt werden. Hierin erblickt Qu. einen Mangel 
und würde letzteren für beseitigt halten, wenn eingefügt würde: „Ohne Antrag 
des Geschädigten kann auch die fahrlässige Uebertragung einer ansteckenden 
Krankheit verfolgt werden, wenn der Thäter von dem Vorhandensein der Krank¬ 
heit oder der Gefahr der Uebertragung Kenntniss hatte.“ 


Br. A. Blaseh ko, Die Verbreitung der Syphilis in Berlin. Unter Be¬ 
nutzung amtlichen Materials bearbeitet. Berlin, Karger. 1892. 

Der Zweck dieses Vortrags beruht in der Betonung der Bedeutung, welohe 
Krankenkassen für die Prophylaxe der Geschlechtskrankheiten haben. Es han¬ 
delt sioh also um eine Angelegenheit, die nioht oft genug auf die Tagesordnung 
gebracht werden kann. Auf Grund des ihm zu Gebote stehenden statistischen 
Materials glaubt Verf. nachgewiesen zu haben, dass sich in einer 25jährigen 
Periode von 1860—1886 eine zweifellose Abnahme der venerisohen Krankheiten 
herausgestellt habe. 

Er stützt sich hauptsächlich auf die noch am besten geführten Listen der 
Polizeiärzte, obgleioh in denselben stets nur von venerischen Krankheiten iro 
Allgemeinen die Rede ist, ohne dass eine Scheidung der 5 verschiedenen Krank¬ 
heitsgruppen gemacht wird. Von wesentlichem Einflüsse auf die Erkrankungs¬ 
ziffer sei die Häufigkeit, sowie die Gründlichkeit der Untersuchung. 

Dass auch in der Gesammtbevölkerung während der letzten 3 Deoennien 
die venerischen Krankheiten sioh vermindert haben, sucht Verf. aus den Listen, 
welche die Erkrankungen der Mannsohaften der Berliner Garnison, sowie der Mit- 


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Kleinere Miltheilungeu, Referate, Literaturnotizen. 


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glieder des Qewerkskrankenvereins betreffen, nachzaweisen, obgleich aaoh dieses 
Material kein exaotes war. Im Anhänge sind die bezüglichen Tabellen mit* 
getheilt. 

Bei der Erforschung der Gründe, ans welchen sioh die Abnahme der vene¬ 
rischen Krankheiten erklären lasse, betont Verf. zunächst nochmals die sanitäre 
Controle der Prostituirten, die Eliminirung der Erkrankten und deren Behandlung 
in der Charitd. Trotzdem sei dieser Einfluss nicht zu überschätzen, zumal nur 
ein Bruchtheil der Prostituirten der Controle unterworfen sei. Betrachte man die 
Prostitnirten weniger in ihrer Eigenschaft als Geberinnen, vielmehr als Em¬ 
pfängerinnen der Syphilis und berücksichtige man, dass sie heute weniger häufig 
als früher erkranken, so sei eben das Medium, in dem sie sioh bewegen, ein ge¬ 
sunderes geworden. Die Ursachen hiervon seien in der Entwicklung des gewerk- 
liohen Krankenkassenwesens zu suchen, namentlich wenn bei der ärztliohen Be¬ 
handlung jede Beschränkung zu Uogunsten der Geschlechtskranken aufhöre. 

Einen Rückschritt in dieser Erkrankung bedeute das Krankenkassengesetz 
von 1883, dessen §§ 6 und 26 bekanntlich die Entziehung des Kranken¬ 
geldes bei Krankheiten, die durch geschlechtliche Ausschweifung erzeugt sind, 
gestatten. k 

Die grössten Krankenkassen Berlins haben bereits keinen Gobrauoh von 
dieser Bestimmung gemacht, während die Mehrzahl der Kassen sie noch bei- 
bebalten haben. Verf. geht von der Ansicht aus, dass die Krankenkassen keine 
moralischen, sondern hygienischen Institute sind, und gesellt sich zu den Kassen¬ 
ärzten, die schon in den 50er und 60er Jahren die fragliche Beschränkung be¬ 
kämpft haben. Der Geschlechtskranke müsse in jedem Öffentlichen Krankenhause 
Aufnahme und überall eine humane Behandlung finden, weil sonst der Ver¬ 
schleppung, Verheimlichung und Weiterverbreitung der Krankheit nur Vorsohub 
geleistet werde. 

Zwangsbordelle werden mit Reoht für die unglüokliohste Lösung der Prosti¬ 
tutionsfrage gehalten. Als ein Fortschritt in dieser Riohtuog würde einestheils 
der Fortfall aller Beschränkungen, welche der Behandlung Gesohleohtskranker 
in und ausserhalb der Krankenhäuser im Wege ständen, andererseits die Vervoll¬ 
kommnung der bestehenden sanitären Untersuchungen der Prostituirten zu be¬ 
zeichnen sein. In Uebereinstiinmung mit dem Sypbilidologen Ne iss er wird 
schliesslich die Umgestaltung des polizeilichen Charakters der Untersuchung 
in eine rein ärztliche, die Verlegung derselben in die Krankenhäuser und 
ihre Umwandlung in eine Art poliklinisoher Sprechstunde, verbunden mit 
ambulatorischer Behandlung, empfohlen. Allerdings würde in diesem 
Falle die Zahl der Untersuchungen sich verdoppeln und verdreifachen, auoh die 
Zahl der untersuchenden Aerzte sich vervielfachen. Immerhin dürfte diese An¬ 
regung zu neuen Versuchen auf einem der schwierigsten Gebiete nicht wieder 
spurlos vorübergehen, sondern das Interesse aller bei der Lösung der Prosti¬ 
tutionsfrage betheiligten Faohgenossen dauernd fesseln, da nur mit Sorgfalt ge¬ 
prüfte Erfahrungen über den Werth des in Rede stehenden Untersuchungs¬ 
verfahrens Entscheidung treffen können. Eulen borg-Bonn. 


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Kleinere Mitteilungen, Referate, Literatnrnotizen. 


Wie der Königl. preussische Minister der etc. Medicinalangelegenheiten im 
Randsohreiben vom 29. November d. J. den Königl. Oberpräsidenten mittheilt, 
hat er „aas den Berichten über die im Vorjahre gegen die Verbreitung der 
Tuberkulose durchgeführten Maassregeln mit Befriedigung ersehen, dass durch 
Ausbreitung von Belehrungen über die Uebertragungsweise der Tuber¬ 
kulose, durch Aufstellung von Wasser enthaltenden Speibeoken an geeigneten 
Orten, sowie durch Anschaffung von Dampfdesinfektionsapparaten seitens 
der Gemeinden und Anstalten erfreulich viel auf diesem Gebiete geschehen ist. 
Wenn die getroffenen Maassregeln dauernd zur Ausführung gelangen, so wird im 
nächsten Jahre hoffentlich aber ebenso günstige Erfolge zu berichten sein“. 


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IV. Amtliehe Verfügungen. 


Randerlass 18. Jnli 1892, betr. Befngaiss der Plreeteren der Proviasial- 
Irrenanstalten iar Aasstelling ran Leiehenpässea. 


Im Anschluss an die Rundverfügungen vom 6. April. 23. September und 
29. December 1888, vom 14. October 1889 und 7. Februar 1890 bestimmen wir 
hierdurch, dass auch die ärztlichen Directoren der Provinzial-Irrenheil- und Ver¬ 
pflegungsanstalten berechtigt sein sollen, bei Leichenpässen die erforderliche Be¬ 
scheinigung über die Todesursache und darüber, dass gesundheitliche Bedenken 
gegen die Beförderung der Leiche nicht vorliegen, auszustellen.*) 

Ew. Excellenz überlassen wir hiernach ganz ergebenst das Erforderliche 
gefälligst zu verfügen. 


Der Minister des Innern: 
gez. Herrfurtb. 


Der Minister der pp. Medicinal- 
angelegenheiten: 
gez. i. A. Löwenberg. 


An sämmtliche Königl. Oberpräsidenten. 


Erlass der minister des Innern aad der a. s. w. medielaal-Aagelegeaheitea vom 
19 . Peeember 1892, betr. Stelling der Krankenanstalten des Jabanniter-irdens. 
den staatlichen Behörden gegenüber. 

Ew. Hochwohlgeboren erwidern wir auf den gefälligen Bericht vom 24. Oc¬ 
tober d. J. — 2529 I. P. K. — ergebenst, dass zwar dem Staate auch den 
Krankenanstalten des Johanniterordens gegenüber ein Aufsichtsrecht unzweifel¬ 
haft zusteht, dass aber durch die dem Ordern Allerhöchst gewährleistete Immediat- 
stellung die Aufsichtsbehörden gehindert sind, dieses Recht anders als auf Grund 
einer Allerhöchsten Entschliessung auszuüben. 


*) Selbstverständlich erstreckt sich die hier ertheilteBefugniss (in analoger 
Weise wie bei den Chefärzten der Militärlazarethe und den Directoren der Uni¬ 
versitätsklinik,) nur auf die Leichen soloher Personen, die in den Provinzial-Irren¬ 
anstalten n. s. w. gestorben sind. 

ViertetyahrsBchr. f. ger. Med. Dritte Folge. V. 2. 27 


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Amtliche Verfügungen. 


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Eine solohe zu erwirken, wird aber nur dann erforderlioh sein, wenn be¬ 
sondere Vorgänge bekannt werden, welche eine Revision nothwendig oder 
wünschenswert!) erscheinen lassen. 

Erforderlichen Falls sehen wir gefälligem Berichte ergebenst entgegen. 

An den Königl. Regierungspräsidenten zu M. 


Ruderlau rem II. febraar 1893, betr. telegraphische Aameldaag der 
Erkraakugei ud Todesfälle aa Chelera. 

Ew. Hochwohlgeboren ersuche ich unter Bezugnahme auf den Erlass vom 
27. August v. J. — H Nr. 8114 — ergebenst, die Telegramme über etwa ver¬ 
kommende Erkrankungen und Todesfälle an Cholera von jetzt an gefälligst 
doppelt und zwar gleichlautend, das eine als Staatstelegramm an die Geheime 
Medicinalregistratur meines Ministeriums, das andere als Reichsdienstsache an 
das Bureau des Kaiserlichen Gesundheitsamts hierselbst aufzugeben, sowie die 
Landräthe und die Ortspolizeibehörden wegen der von ihnen zu erstattenden Mel¬ 
dungen über erste Fälle in den einzelnen Ortschaften hiernach mit entsprechen¬ 
der Weisung zu versehen. 

Der Minister der pp. Medioinalangelegenheiten: 

(gez.) Bosse. 

An sämmtlicbe Königl. Regierungspräsidenten. 


Bekuataaehug des Köaigl. Peliieipräsideatea !■ Berlin rem 13. Februar 1893, 
betr. Beielehnaag der Tedesarsaehen anf den Tadteascheiaea. 

Die Herren Aerzte Berlins bedienen sich bei Angabe der tödtlich gewor¬ 
denen Krankheit der Verstorbenen auf den Todtenscheinen in neuerer Zeit häufig 
ausschliesslich nichtdeutscher Ausdrücke. Dies Verfahren führt zu Unzuträglioh- 
keiten, weil die Todtenscheine vorzugsweise zum Zweck der polizeilichen Con- 
trole eingeführt sind und diesem Zweck nur dann entsprechen können, wenn die 
Todesursache mit einem auch für den Nichtarzt verständlichen Namen be¬ 
zeichnet ist. 

loh ersuche daher die Herren Aerzte bei Ausfüllung der Todtenscheine sich 
thunlichst deutscher Krankheitsnamen zu bedienen. 

Im Hinblick auf die vielfach in der Presse wie im Publikum dadurch ver¬ 
ursachte Beängstigung wird noch das ergebenste Ersuchen an die Herren 
Aerzte beigefügt, den Ausdruck „Cholera nostras“ gänzlich zu meiden und bei 
jedem amtlichen Verkehr durch die ohnehin viel zutreffendere Bezeichnung 
„Einheimischer Brechdurchfall“ zu ersetzen. 

Die Anweisungen über das Verfahren mit Fällen „Asiatischer Brechruhr“ 
(Cholera asiatioa), deren Meldung etc., bleiben hierdurch selbstverständlich un¬ 
berührt. 


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(v(*drtickt hoi L. Srhmmirhcr in Brrlin. 


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