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gerichtliche Medicin
und
öffentliches Sanitätswesen.
Unter Mitwirkung der Königl. wissenschaftlichen Deputation
für das Medicinalwesen im Ministerium der geistlichen,
Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten
herausgegeben
Dr. A. Wern ich,
Regierungs- und Medicinal - Rath in Berlin.
Dritte Folge. V. Band.
Jahrgang 1893.
Mit 2 Tafeln.
BERLIN, 1893.
VERLAG VON AUGUST HIRSCHWALD.
NW. 68. UNTER DEN LINDEN.
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Inhalt
Seite
QeriohtUohe Medioin .. 1—96. 221—335
1. Superarbitrium der König], wissenschaftl. Deputation für das Medicinal-
wesen, betreffend Körperverletzung mit tödtlichem Ausgange. (I. Re¬
ferent: v. Bergmann. II. Referent: Skrzeczka.) . 1
2. Ueber die Wunden des Herzens. Von Dr. med. A. Elten .... 9
3. Die Bedeutung der Thymushypertrophie bei forensischen Sectionen.
Von Professor Dr. C. Seydel . 55
4. Durchdringende Brustwunde, Querriss von 2 cm Länge in der vorderen
Wand des aufsteigenden Theils der Aorta ausserhalb des Herzbeutels
infolge einer Schussyerletzung. Von Kreisphysikus Dr. Bremme. . G2
5. Aerztliches Gutachten betreffend den Geisteszustand des Alt-Staats-
schreibers Dr. philos. Gottfried Keller von Zürich wegen zweifel¬
hafter Testirfähigkeit. Von Professor Dr. Wille in Basel. 67
6. Tod durch Pental bei Gelegenheit einer Zahnoperation. Von Kreis¬
physikus Dr. Bremme . 80
7. Bedeutung der Zeichen für wiederholte Geburt. Von Dr. Schilling 89
8. Ein Fall von Sarggeburfc. Von Dr. Moritz. 95
9. Mittheilungen aus dem Institute für gerichtliche Medicin des Herrn
Hofrathes Prof. E. von Hofmann in Wien:
I. Atypische Lage der Einschussöffnung beim Selbstmord durch
Schuss in den Kopf. Von Dr. Albin Haberda, Assistenten
am Institute.221
II. Selbsterdrosselung eines Alkoholikers. Von Demselben . . . 229
10. (Aus dem Institut für Staatsarzneikunde in Berlin): Ueber die Ur¬
sachen des Flüssigbleibens des Blutes bei der Erstickung und anderen
Todesarten. Von Dr. Gabriel Corin aus Lüttich.234
11. Die Verletzungen des Mastdarmes vom gerichtsärztlichen Standpunkt.
Von Dr. Adolf Mantzel in Elberfeld.249
12. Die Beurtheilung der perversen Sexualvergehen in foro. Von Prof.
Dr. C. Seydel in Königsberg i. Pr.273
13. Ueber Arsenikvergiftung in gerichtsärztlicher Beziehung. Von Stabs¬
arzt Dr. Schumburg in Berlin..283
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Inhalt.
Beit«
14. Superarbitrium der K. wisseDschaftl. Deputation für das Medicinal-
wesen, betreffend fahrlässige Tödtung bei der Entbindung. (I. Referent:
Olshausen. II. Referent: Pi stör.).297
15. Ein weiterer Pall von Simulation von Schwachsinn bei bestehender
Geistesstörung. Von Dr. Clemens Neisser in Leubus.303
16. Jugendliches Irresein, Hysterie. — Brandstiftung. — Freisprechung.
Yon Dr. Krömcr zu Neustadt in Westpreussen.310
17. Tod in Kohlenoxyd und Tod durch Kohlenoxyd. Yon Kreisphysikus
Dr. Chlumsky in Wohlau.321
II. OefTentllohee Sanitftsweeen. 97—205. 836—400
1. Berliner Mortalitatsstatistik von acht Krankheiten. Von Dr. v. Foller.
(Mit 2 Diagramm-Tafeln.). 97
2. (Aus der medicinischen Universitätsklinik des Herrn Geheimrath Prof.
Ebstein): Die Koblenoxydgasvergiftung und die zu deren Verhütung
geeigneten sanitätspolizeilichen Maassregeln. Yon Dr. med. Ernst
Becker.113. 336
3. Zur Casuistik des Kampfes gegen den Geheimmittelunfug. Yon Geh.-Rath
Dr. Albert Weiss (Schluss.).130
4. Morbidität und Mortalität der Bergarbeiter, insbesondere im rheinischen
Gebiet, und die zur Verminderung derselben erforderlichen Maass¬
regeln. Von Dr. Körfer.154
5. (Aus dem ehern.-mikroskop. Laboratorium von Dr. Maximilian und Dr.
Adolf Jolle 8 in Wien): Beitrag zur Entstehungsursache von Canal¬
explosionen. Kine gutachtliche Aeusserung vonDr.Maximilian Jo 11 es 179
6. Der Kampf gegen die Cholera in Berlin. Von A. Wernich. (Fort¬
setzung aus dem Suppl.-Heft.).188
7. Die Krankheiten der Arbeiter in Theer- und Paraffinfabriken in medi-
cinisch-polizeilicher Hinsicht. Von Dr. Ho ff mann in Halle a. S.. . 358
8. Superarbitrium der K. wissenschaftl. Deputation für das Medicinal-
wesen über die im Odergebiet 1891 beobachtete „Schlammkrankheit* 1 .
(I. Referent: Gerhardt. II. Referent: Rubner.).382
9. Ein Todesfall durch Einathmen von Cloakengas. Von Dr. Ernst
Hankel in Glauchau.388
III. Kleinere Mittheilungen, Referate, Uteraturnotizen . . 206—215. 401—412
IV. Amtliohe Verfügungen .216-220. 413—414
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I. Gerichtliche Medicin.
1 .
Superarbitrium
der K. wissenschaftl. Deputation für das Medicinalwesen,
betreffend Kdrperrerletiug mit tödtlicheM Aasgaage.
(L Referent: ▼. Bergmann.)
(II. Referent: Skneeeka.)
Ew. Excellenz erlauben wir uns das auf Ansuchen des König¬
lichen Amtsgerichts zu B. vom 31. Mai d. Js. durch hohe Br. m.
Verfügung vom 10. Juni d. Js. in der Voruntersuchungssache gegen
die verehelichte Arbeiter P. in S. wegen Körperverletzung mit tödt-
lichem Ausgange von uns erforderte Obergutachten hiermit gehor-
samst zu erstatten:
Geschichtserzählung.
Die unverehelichte Auguste P., welobe im September 1891 im Dienste
eines Ehepaares P. in S. stand, theilte mit der Frau P. das Schlafzimmer und
batte ihren 3 /, Jahre alten Sohn, den sie selbst stillte, bei sieb. Am Abende des
4. September reichte sie ihrem Kinde, das nach Aussage zweier Zeugen, der Frau
Th. und der Frau Z. (Fol. 45b und 46a), stets gesund und munter gewesen
sein soll, die Brust. Nach dem Saugen schlief das Kind ein, wachte aber sohon
nach drei Stunden wieder auf und schrie. Das Qesohrei veranlasste die Frau P.,
wie sie selbst eingestanden bat (Fol. 2 a und 3 a), dem Kinde mehrere Schläge
auf den Hintern und auf die linke Kopfhälfte zu geben. Dieselben waren naoh
Aussage der Mutter des Kindes so heftig, dass diese der Schlagenden in den
Arm fiel und zwischen den Frauen nun es zu Thätliohkeiten kam (Fol. 3 a).
Das Kind war hiernaoh etwa ! / 2 Stunde lang ruhig (Fol. 2 und 3), dann fing es an
laut zu schreien, bis etwa gegen 3 Uhr Morgens, wo sich Zuckungen der Glieder
Vierteljahre«: hr. f. gar. Med. Dritte Folge. V. 1. 1
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Superarbitrium der Köuigl. wissenschaftlichen Deputation,
und röchelndes Atbmen einstellten (Fol. 3 und 4), welche bis zum Tode um
V 2 7 Uhr andauerten.
Die Krämpfe und den Tod bezog die Mutter des Kindes auf die von ihrer
Dienstherrin demselben applicirten Schläge, während diese annahm, dass dem
Kinde fehlerhafte Milch von der Mutter dargereicht worden sei, denn dieselbe
hätte am Tage unreifes Obst genossen.
Nach einer Denunciation des Bräutigams der P., welcher sich als Vater
des verstorbenen Kindes bezeichnete, bei dem Ortsgendarmen wurde die gericht¬
liche Obduction der Kindesleiche angeordnet (Fol. 1 und Fol. 8—14), welohe
am 8. September 1891 von den beiden Kreismedicinalbeamten ausgeführt wurde.
Aus dem Obductionsprotocoll heben wir hervor:
1) Die Leiche des männlichen Kindes ist 63 cm lang; das Kind war etwa
ein Jahr alt, besitzt ziemlioh gutes Fettpolster, mässig entwickelte Muskulatur
und ist mittelkräftig gebaut.
2) Die Hautfarbe ist im Gesichte, an den Vorderarmen, den unteren Extre¬
mitäten und dem Gefässe blassgelblich, dagegen an der Rückseite der Ober¬
schenkel blauroth, im Uebrigen grün. Ein Einschnitt in die blaurothen Stellen
ergiebt kein freies Blut im Gewebe.
4) Erheblicher Leiohengeruch.
5) Der Kopf ist mit etwa 4 cm langen röthlichen, ziemlich dichten Haaren
besetzt. Auf der linken Seite befindet sich 1 cm oberhalb der Schuppennaht eine
5 cm lange und durchschnittlich l'/ 2 cm breite bräunlichrothe eingetrocknete
Partie der Kopfhaut. Ein Einschnitt an dieser Stelle erweist einige punktförmige
Blutaustritte in die Weichtheile und die Knochenhaut. Die grosse Fontanelle ist
fast ganz geschlossen. Auf dem linken Stirnbeinhöcker sieht man eine gut Fünf¬
zigpfennigstück grosse bräunlichrothe Verfärbung der Haut, welche sich trocken
anfühlt. Ein Einschnitt erweist hier einen Blutaustritt in die Weiohtheile von
etwa Linsengrösse.
9) Die Oeffnungen der Ohren sind frei von fremden Körpern. Am rechten
Ohr ist der obere Rand geröthet und trocken. Eine gleiche Stelle findet sich
dicht über dem Ohrläppchen an der Rückseite. Einschnitte in diese Stellen er¬
geben punktförmige Blutaustritte.
10) Der Hals zeigt keine auffallende Beweglichkeit. Rechts sieht man vom
Warzenfortsatz fast 4 cm horizontal nach hinten ziehend, in einer Breite von
1 V 4 cm, die Haut pergamentartig und bräunlichroth. Beim Einsohneiden zeigt
sich die Lederhaut blutig durchtränkt. Ausserdem findet sich eine ähnliohe Stelle
ebenfalls rechts 1 cm oberhalb des Rabenschnabelfortsatzes beginnend und in
einer Breite von ‘/ 2 cm etwa 1 */ 2 cm horizontal nach hinten verlaufend; auch
hier bemerkt man punktförmige Blutaustritte.
11) Ueber dem linken Brustbeinschlüsselbeingelenk sieht man eine etwa
zehnpfenniggrosse Hautstelle von fleckig braunrother Farbe. Eine ähnliche Stelle
findet sich V 2 cm nach rechts von dem rechten gleichnamigen Gelenk. Einschnitte
ergeben das Unterhautbindegewebe blutig durchtränkt.
12) Ueber dem Gelenkfortsatze des reehten Schulterblattes (Aoromion) ist
die Haut in Zehnpfennigstückgrösse ebenfalls in der mehrfach beschriebenen
Weise verändert. Auch hier ist das Gewebe blutig durchtränkt.
19) Mittels eines regelrecht geführten Schnittes werden die weichen Schä-
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betreffend Körperverletzung mit tödtlichem Ausgange.
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delbedeobungen durohtrennt und nach vorn und hinten abgezogen. Dieselben
sind im Allgemeinen blass, nur die hintere Partie ist etwas geröthet.
20) Die Beinhaut des Sohädels ist im Allgemeinen blassgrauroth; ent¬
sprechend der Stirnbeinnaht erkennt man mehrere mittelgrosse bläulichrothe
Blutgefässe. Eine Verletzung der Beinhaut ist nioht bemerkbar. Das Schädeldaoh
ist kräftig gebaut, die Wand bis ( / 3 om diok, wovon gut die Hälfte auf die
Sohwammsubstanz kommt. Die harte Hirnhaut ist überall glatt, glänzend und
feucht, die Gefässe sind bis in die feineren Verzweigungen erkennbar. Der
Längsblutleiter ist mit dunklem, flüssigem Blute stark gefüllt.
23) Beim Durchsagen des Schädels entleerten sich etwa 30 ccm flüssigen
Blutes.
24) Die weiohe Hirnhaut ist überall zart und lässt die Windungen durch-
soheinen. Die Gefässe derselben sind bis in die feineren Verzweigungen reich¬
lich mit Blut gefüllt.
26) Auch die queren Blutleiter sind mit flüssigem Blut gefüllt.
27) Die hinteren Hörner der Seitenhöhlen enthalten wässrige blutig ge¬
färbte Elüssigkeit, die Wände sind glatt und glänzend. Die Adergeflechte sind
zart und stark geröthet.
28) Die obere Gefässplatte ist ebenfalls sehr geröthet.
29) Durchsohnitte durch die grossen Halbkugeln ergeben nur spärliche
Blutpunkte, die graue Substanz ist durchweg, besonders aber nach hinten zu
auffallend geröthet, namentlich erweisen sich hin und wieder die Umgebungen
einzelner Windungen besonders roth gefärbt.
30) Sehstreifen und Vierhügel sind von guter Consistenz, enthalten spär¬
liche Blutpunkte, die graue Substanz ist blass.
31) Die dritte Hirnhöhle ist leer, die Adergeflechte sind geröthet.
32) Kleinhirn, Hirnknoten und verlängertes Mark zeigen gute Consistenz,
fast gar keine Blutpunkte in der weissen Substanz, während die graue blass
erscheint.
33) Am Sohädelgrunde zeigen sich die Knochen unverletzt.
37) Der Brustkorb entspricht der Form der Hühnerbrust. Nachdem das
Brustbein entfernt ist, sieht man in der Mitte die innere Brustdrüse von grau-
rother Farbe; die Lungen sind beide etwas zurückgesunken und dunkelroth und
hellroth gefleckt.
44) Die linke Lunge ist überall lufthaltig. Der Ueberzug derselben ist
glatt, auf dem Oberlappen sieht man in demselben zwei punktförmige Blutaus¬
tritte. Die Oberfläche ist dunkel und hellgrauroth, die Schnittfläche ist im Ober¬
lappen etwas heller, im Unterlappen etwas dunkler grauroth.
45) Die rechte Lunge zeigt einige Blutpunkte auf dem Mittellappen, sonst
ist dieselbe überall lufthaltig.
46) Die unteren Verzweigungen der Luftröhre in beiden Lungen sind leer
und besitzen eine blasse Schleimhaut.
60) Im Mastdarm ist breiiger Koth, die Schleimhaut ist graugelb gefärbt
und zeigt zahlreiche feine Gefässnetze.
61) Der Zwölffingerdarm ist leer, die Schleimhaut ist blass. An der Pa¬
pille ist nichts Auffallendes, bei Druck auf die Gallenblase entleert sich aus der¬
selben flüssige, dunkelbraune Galle; die Falten sind niedrig.
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Super&rbitrium der Königl. wissenschaftlichen Deputation,
62) Der Magen ist von massiger Ausdehnung, er enthält einige Cubikcenti-
meter graue Flüssigkeit, die Schleimhaut ist blass und lässt die Gefässe in den
mittleren Zweigen erkennen.
67) Im Dünndarm ist wenig dünne, gelbliche Flüssigkeit, die Schleimhaut
ist bla98, die Einzeldrüsen und die Peyer’schen Haufen sind deutlich bemerkbar.
68) Der Dickdarm enthält mehr breiigen gelben Koth, die Schleimhaut ist
graugelb und zeigt vielfache feine Gefässzeichnungen und einzelne punktförmige,
frische Blutungen und sehr zahlreiche bis hirsekorngrosse Follikel.
Das vorläufige Gutachten der Obducenten nimmt an:
1. Der Tod des Kindes ist durch Erstickung erfolgt, wie dies die Blut¬
flecke (Petechien) auf dem Lungenfell erweisen.
2. Die Erstickung ist wahrscheinlich duroh einen der Krampfanfälle
verursacht worden, für deren Annahme die Vorgefundene Ueber-
füllung der Gefässe der Gehirnhäute und der Gehirnrinde einen
Anhalt giebt.
3. Zeichen dafür, dass die tödtliche Krankheit durch äussere Gewalt
herbeigeführt ist, namentlich, dass sie mit den bei der äusseren Be¬
sichtigung Vorgefundenen Verletzungen in ursächlichem Zusammen¬
hänge steht, hat die Obduction nicht ergeben.
Diese Behauptungen begründeten in ihrem Gutachten vom 8. Ok¬
tober 18.. die Obducenten ausführlich:
„Dass Schläge auf den Kopf die tödtliche Krankheit verursacht
hätten, sei eine sehr geringe Wahrscheinlichkeit. Wenn das Kind
mehrfach in dieser Weise misshandelt worden sei, so sei nicht recht
einzusehen, warum gerade an jenem Abende diese schweren Folgen
eingetreten sein sollten, an welchem in Gegenwart der Mutter die
Schläge auf den Kopf schwerlich mit so grosser Heftigkeit geführt
worden wären, als in deren Abwesenheit dies geschehen sein möchte....
Uebrigens widerspräche eine solche Entstehungsweise dieser Krankheit
der wissenschaftlichen Erfahrung.“
Vielmehr erklärten sie die Krämpfe als Reflexerscheinungen von
der durch jenen Diätfehler der Mutter hervorgerufenen „catarrhali-
schen Affection des Darmkanals“ bei dem Kinde. Dass eine der¬
artige Erkrankung bei demselben bestanden habe, schlossen sie aus
der deutlichen Erkennbarkeit der Einzeldrüsen und Peyer’schen Plaques
im Dünndarm, wie den im Dickdarm vielfach vorhandenen sichtbaren
feinen Gefässzeichnungen und einzelnen punktförmigen Blutungen so¬
wie sehr zahlreichen hirsekorngrossen Follikeln daselbst.
Ihr endgiltiges Gutachten fassten sie folgendermassen ab:
I. Das Kind P. ist an Eklampsie gestorben, und zwar ist der
. Tod in einem Krampfanfalle durch Erstickung erfolgt.
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betreffend Körperverletzung mit tödtlichem Ausgange.
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II. Die an Hals and Brust Vorgefundenen Verletzungen stehen
in keinem ursächlichen Zusammenhänge mit der todtlichen
Krankheit.
III. Es ist unwahrscheinlich, dass die am Schädel des Kindes
Vorgefundenen Verletzungen oder Schläge, auf den Kopf
desselben mit der flachen Hand geführt, die Krankheit
herbeigeführt haben.
IV. Es ist in hohem Maasse wahrscheinlich, dass Reiz von der
erkrankten Darmschleimhaut aus die Eklampsie verur¬
sacht hat.
Bei der Superrevision dieses Gutachtens beanstandete das König¬
liche Medicinalcollegium der Provinz B. dieses Gutachten, indem es
meinte, dass die geringen Darmveränderungen auf den Tod des Kin¬
des keinen Einfluss gehabt hätten, vielmehr es wahrscheinlich sei,
dass die Schläge auf den Kopf die zum Tode führenden Krämpfe ver¬
ursacht hätten.
In Folge dieser Beanstandung forderte die Staatsanwaltschaft
beim Landgerichte zu L. unter dem 29. Februar 1892 ein Obergut¬
achten über die Todesursache ein.
In diesem Obergutaohten antwortete das Königliche Medicinalcoilegiam:
1) dass der Knabe P. in Folge Blutüberfüllung des Gehirns und seiner
Häute und besonders der Grosshirnrinde gestorben sei;
2) dass dieselbe, d. h. die Hirnhyperämie, hervorgerufen worden sei
durch die Misshandlungen, welche das Kind am Abende vor seinem
Tode erlitten;
3) dass die sehr unwesentlichen Darmveränderungen mit dem Tode des
Kindes in keinem ursächlichen Zusammenhänge stehen.
Naohdem noch ein Sachverständiger in der Person des praktischen Arztes
Dr. Sch. aus B., welcher die Kindesleiche als Leichenbeschauer gesehen hatte,
verhört worden war und sich im Sinne des Gutachtens des Königlichen Medi-
oinalcollegiums geäussert hatte, wandte sioh das Königliche Amtsgericht zu B.
mittelst Schreibens vom 31. Mai an Ew. Excellenz, behufs Erwirkung eines
Obergutachtens der Königlichen Wissensohaftlichen Deputation für das Medi-
cinalwesen.
ln dem gewünschten Obergutaohten sollten zwei Fragen beantwortet
werden.
1) Ob die dem Kinde P. versetzten Schläge im ursächlichen Zu¬
sammenhänge mit seinem Tode stehen.
2) Ob sie die alleinige Todesursache bilden.
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Superarbitrinm der Königl. wissenschaftlichen Deputation,
Obergutachten.
Wir halten mit grösster Wahrscheinlichkeit die Schläge, welche
das Kind P. zwischen 9 und 11 Uhr Abends erlitten, für die einzige
und ausreichende Ursache seines Todes.
Zunächst weisen wir in Uebereinstimmung mit dem Königlichen
Medicinalcollegium die Annahme der Obducenten, dass ein Darm-
catarrh Ursache der tödtlichen Krämpfe gewesen, zurück. Als Beweis
für das Vorhandensein eines solchen sahen die Obducenten wesentlich
den Befund im Dickdarm (Punkt 68) an:
„Der Dickdarm — heisst es daselbst — enthielt noch breiigen,
gelben Koth. Die Schleimhaut ist graugelb und zeigt vielfach feine
Gefasszeichnungen und einzelne punktförmige frische Blutungen und
sehr zahlreiche grosse Follikel.“ Von diesem Befunde waren blos
die „einzelnen punktförmigen Blutungen“ krankhaft, Gefässzeichnungen
bei einem mit Koth erfüllten Darm einer Leiche sind eine ganz ge¬
wöhnliche Erscheinung und das Sichtbarsein der solitären Follikel ist
noch kein Zeichen ihrer Schwellung, zumal am Darm eines Kindes.
Einzelne Blutpunkte berechtigen indessen nicht zur Annahme eines
Catarrhes, zumal eines Darmcatarrhes, der Krämpfe der Gliedmassen
auslöst. Schon die Anwesenheit reichlichen breiigen gelben Kothes
im Dickdarm lässt den sogenannten Darmcatarrh ausschHessen, da
bei diesem schleimige oder wässrige Massen im Darm hätten ange¬
troffen werden müssen. Für den übrigen Darm wird geradezu die
„Blässe“ der Schleimhaut, als Zeichen der Abwesenheit jeder Ent¬
zündungserscheinung hervorgehoben.
Die Krämpfe an dem bis dabin gesunden Kinde müssen mithin
eine andere Ursache gehabt haben.
Diese ist man berechtigt in den Schlägen zu suchen, welche das
Kind erlitten hat, zumal dieselben den Kopf und gerade die Seite
desselben, welche krankhafte Störungen zeigte, trafen und mit einer
grösseren Kraft applicirt worden sind, da sie die Dienerin veran-
lassten, ihrer schlagenden Herrin in den Arm zu fallen und sich
gegen sie thätlich zu wehren.
Dass die Schläge energisch den kindlichen Kopf getroffen haben,
geht hervor:
1) aus der Wahrnehmung des Gensdarmen K., welcher am
Tage nach dem Tode, dem 6. September, fand, dass an
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betreffend Körperverletzung mit tödtlichem Ausgange.
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der rechten Schläfe der Leiche drei grosse, blaue Flecken
sich fanden und ein eben solcher auch auf der linken
Seite lag (Fol. 1),
2) aus den Angaben des die Leichenschau ausübenden Arztes
Dr. Sch., welcher an den gleichen Stellen Spuren von
im Leben stattgefundener Gewalteinwirkung entdeckte
(Fol. 53 a),
3) aus Punkt 5 und 9 des Obductionsprotokolls, welche die
Anwesenheit von Blutaustritten im Unterhautbindegewebe
an den bezeichneten Schädelseiten, namentlich der rechten,
constatirte.
Die Schläge können zu einer Gehirnerschütterung geführt haben,
in Folge deren das Kind für eine halbe Stunde oder auch noch
länger ruhig dalag. Der Verlauf einer solchen Gehirnerschütterung
führt gewöhnlich nach einiger Zeit zum Blutandrange in’s Hirn (Hirn¬
hyperämie), welcher sich in Unruhe und Schreien, bei Kindern aber
auch in Krämpfen äussern kann.
Die Krämpfe haben den Tod zur Folge gehabt, das bezeugen
nicht bloss der Verlauf, sondern auch das Aussehen der Lungen und
die Blutaustritte unter den Brustfellüberzug derselben (Punkt 44
und 45).
Während der Krämpfe und durch dieselben sind, wie die Ob¬
ducenten und das Königliche Medicinalcollegium annehmen, diese Er¬
scheinungen des Erstickungstodes eingetreten.
Der reichliche Blutgehalt in der grauen Substanz des Hirns
und in den Gefässen der harten und weichen Hirnhaut ist ein ge¬
wöhnlicher Befund beim Tode durch Krämpfe und im gegebenen
Falle wohl als Ursache derselben anzusehen. Mit Bestimmtheit
würde diese Congestion als Folge der Schläge anzusehen sein, wenn
neben derselben sich noch Austritte von Blut, punktförmige Blut¬
ergüsse im Hirn gefunden hätten.
So wie diese unter den Stellen liegen, an welchen auch die
Weichtheile des Schädels Blutaustritte und Ergüsse zeigten, sind
sie sicherlich Folge der gleichen Gewalteinwirkung, welche die be¬
treffende Schädelstelle traf. Da sie im gegebenen Falle fehlen,
schliessen wir mit grösster Wahrscheinlichkeit:
1) dass die dem Knaben P. am Abende des 4. September
versetzten Schläge gegen den Kopf Ursache seines am
Morgen des 5. September eingetretenen Todes waren und
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Super&rbitrium der König], wissenschaftlichen Deputation.
2) da eine andere Todesursache an dem bei der Obdnction
im Uebrigen gesund befundenen Kinde nicht aufgedeckt
worden ist, sie mit grösster Wahrscheinlichkeit die allei¬
nige Todesursache bilden.
Berlin, den 29. Juni 1892.
(Folgen die Unterschriften.)
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Heber die Wundem des Herzens.
Bearbeitet von
Dr. med. A. Elten,
prnkt. Amt in Tostedt.
Um einen Ueberblick über die Fortschritte za gewinnen, welche
gegenüber der Aaifassang älterer Gelehrten bis heute über die Wan¬
den des Herzens gemacht worden sind, müssen wir zurückgreifen bis
aaf das vorige Jahrhundert, in welchem die Ansicht vorherrschend
war, dass jede Verletzung eines so lebenswichtigen Organes, wie das
Herz es ist, unter allen Umständen den Tod, und zwar meistens den
sofortigen Tod nach sich ziehen müsse. Man sah in dem Herzen,
trotzdem die Entdeckungen eines Servet (1550), eines Harvey
(1619), eines Malpighi den Weg zu einer klaren, naturwissenschaft¬
lichen Aulfassung von der Leistung und Bedeutung jenes Muskels ge¬
wiesen hatten, vorwiegend nicht das nach bestimmten Naturgesetzen
arbeitende Organ, dessen Wunden also auch, wie die Wunden anderer
Organe, den Gesetzen der Heilung unterworfen sein konnten, sondern
man liess sich die nüchterne, wissenschaftliche Beobachtung uni phy¬
siologische Auffassung des kranken und gesunden Herzens vielfach
trüben, ja direct verwirren durch die verschwommene Vorstellung,
dass das Herz zugleich der Sitz aller denkbaren Lebenskräfte, ja der
Seele selber sei, und dass die geringste Verletzung dieses so einzig
dastehenden, herrlichen Organes gleichbedeutend sei mit der Vernich¬
tung des ganzen Organismus. Wie kann uns das auch Wunder nehmen
in einer Zeit, in welcher man der exacten, naturwissenschaftlichen
Forschung viel ferner stand als in unseren Tagen!
Dass jene Lehren auf das Auftreten der damaligen Aerzte am
Krankenbette, welche doch wie wir die Aufgabe hatten, zu heilen und
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Dr. Elten,
za bessern, nur von ungünstigem Einflüsse sein konnten, dürfte wohl
keinem Zweifel unterliegen. Wohl lassen sich schon aus frühester
Zeit, z. B. v. Hallerius 1562, Beobachtungen feststellen, welche
die Heilung einer Herzwunde bestätigen, allein die Stimmen jener
Forscher verhallten vorerst wie die des Predigers in der Wüste. Erst
ganz allmälig brach sich eine andere Lehre Bahn und diese ging
Hand in Hand mit der Verbesserung der naturwissenschaftlichen
Beobachtungsmethode überhaupt. An die Namen Boerhave, Senak,
Morgagni, Larey, Dupuytren knüpfen sich die Errungenschaften
der neueren Zeit, aber vollkommen räumte erst Georg Fischer 1 )
mit den alten Ueberlieferungen auf, und ebenso widmete eine grosse
Zahl anderer Forscher nach ihm der interessanten Frage Zeit und
Mühe, so z. B. Rose, Hertel, Becker, Steiner. Es muss einem
späteren Abschnitte Vorbehalten bleiben, im Einzelnen zu zeigen, in
wiefern durch jene Männer unser Wissen gefördert wurde. Es genügt
hier zu sagen, dass die Lehre von den Wunden des Herzens allmälig
eine vollkommene Umgestaltung erlitt. Die Folgen des besseren Ver¬
ständnisses von der Bedeutung der Herzwunden traten besonders her¬
vor in einem zielbewussteren, therapeutischen Handeln am Kranken¬
bette, gestützt auf eine vorangegangene, bessere Diagnose. Der directe,
operative Eingriff trat in seine Rechte; er lehrte uns, das verletzte
Herz von comprimirenden Blutergüssen zu entlasten; er gab uns die
Möglichkeit, auf directem Wege etwa in das Herz gedrungenen Fremd¬
körpern beizukommen. Es wies ferner uns die pathologisch-anato¬
mische Forschung die Wege, auf welchen wir die Heilung einer Herz¬
wunde am besten unterstützen konnten. Es lehrte uns endlich die
grösste Errungenschaft der neuen Zeit, die Antiseptik, manche Gefahr
vermeiden, an welcher man früher bei der Behandlung der Herz-
wunden arglos vorübergegangen war. So sehen wir im Gegensätze zu
früheren Jahrhunderten des Stillstandes jetzt eine immer ernstere Ge¬
schäftigkeit wie auf allen Gebieten so auch auf dem Forschungsfelde
nach den Wanden des Herzens sich regen. Alles wandte sich ab von
der blossen Empirie und dem Glauben an alte Ueberlieferungen und
suchte in ernster Arbeit nach der Wahrheit, um dieselbe im Dienste
der Wissenschaft und Humanität praktisch zu verwerthen.
Es würde über die Grenzen unserer Arbeit hinausgehen, wollten
wir einen ausführlicheren, geschichtlichen Ueberblick über die Ent-
') Fischer, Die Wanden des Herzens and des Herzbeateis. Berlin 1863.
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Ueber die Wanden des Herzens.
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wicklang der Lehre von den Herzwanden geben. Man erkennt jedoch
leicht, dass die Aufgabe eine dankbare und hochinteressante sein
würde.
Wir haben ans nan nach dem vorangegangenen Studium der ver¬
schiedensten Worke dazu entschlossen, eine weitere Eintheilung des
uns vorliegenden, umfangreichen Stoffes in der Weise stattfinden zu
lassen, dass wir einmal die Herz wunden betrachten nach der Art
ihres Zustandekommens. Die pathologisch-anatomischen Beobachtungen
ferner scheinen uns bei den verschiedenen Entstehungsweisen der Wun¬
den etwas Gesetzmässiges zu zeigen, obwohl ja mannigfache Ueber-
gänge und Abweichungen beobachtet werden. Es wird sich eine
Schusswunde pathologisch-anatomisch anders präsentiren als eine
Nadelstich Verletzung; es wird ein Dolchstich in das Herz und eine
Ruptur desselben in den meisten Fällen wohl von einander zu unter¬
scheiden sein. Wir werden daher im Anschluss an die Aetiologie der
verschiedenen Herzwunden die pathologisch-anatomische Betrachtung
für jede Wundart abgeschlossen nachfolgen lassen. In dem Wortlaute
der uns gestellten Aufgabe liegt ferner die Aufforderung für uns aus¬
gesprochen, nicht etwa eine bestimmte Stellung, etwa die des Chi¬
rurgen oder des Gerichtsarztes, ihr gegenüber einzunehmen. Wir
sollen dieselbe vielmehr vom Standpunkte der gesammten medici-
nischen Wissenschaft aus behandeln.
Wir unterscheiden 1 ):
1) Verwundungen des Herzens durch Nadeln,
2) Stich-Schnittwunden des Herzens,
3) Schusswunden desselben,
4) Quetschwunden und Rupturen.
Auch sämmtliche Wunden des Herzbeutels ziehen wir mit in
unsere Besprechung hinein.
Verwundungen des Herzens und Herzbeutels durch Nadeln haben wir in
der uns zur Verfügung stehenden Literatur 42 verschiedene Fälle auffinden
können. Die Eigenartigkeit der Verletzung einerseits und die Rücksicht auf den
zu begutachtenden fingirten Fall andererseits veranlassten uns, diesen Wunden
eine besondere Stelle einzuräumen. Was zunächst das verwundende Werkzeug
betrifft, so war es in 16 Fällen nicht genauer angegeben, welche Arten von
Nadeln gebraucht waren. In 8 Fällen waren es Nähnadeln; in 7 Fällen lange
grosse Nadeln; in weiteren 4 Fällen Stecknadeln; in je 3 Fällen Stopf- und
Brentano, Zur Casuistik der Herzverletzungen. Dissertation. Berlin
1890. S. 6.
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12
Dr. Elten,
Stricknadeln, and in einem Falle eine Haarnadel. Die Beobachtangen worden ge¬
macht an 23 erwachsenen männlichen and nar 6 erwachsenen weiblichen Personen;
6 Kindern (2 Knaben, 4 Mädchen); 7 Personen von nicht näher bezeichnetem
Alter and Geschlecht. Vertreten waren vorwiegend die mittleren Lebensalter
von 23—45 Jahren, jedoch aach Kinder aad Jünglinge and junge Mädchen
waren za finden. Das Verhältnis der Männer, Weiber und Kinder zu den ver¬
schiedenen Ursachen der Verwundungen gestaltet sich folgendermassen:
Mord
Selbst¬
mord
Unvorsich¬
tigkeit
Unbe¬
kannt
Geschlecht
2
10
4
7
Männer
1
3
3
—
Weiber
1
—
6
—
Kinder
Von Personen anbekannten Alters oder Gesohleohtes starben 3 daroh
Selbstmord; 2 acquirirten die Wände durch Unvorsichtigkeit und bei zweien wurde
sie als zufälliger Befund entdeckt. Geistig gestört waren 5 Männer und 2 Frauen.
Ausser den bei Fischer 1 ) und Brentano 2 ) notirten Beobachtungen, auf
welchen Wegen die Nadeln in den Körper gelangen können, wollen wir noch auf
2 Beobachtungen als Curiosa aufmerksam machen. Hahn 8 ) erlebte es, dass
einem strickenden kleinen Mädchen im Scherze durch einen Schlag mit dem
Pantoffel eine Stricknadel tief in die Brost getrieben wurde. Foy 4 ) beobachtete
einen Knaben, welchem mit einer Pistole eine Stricknadel in die rechte Herz¬
kammer geschossen worden war. Die eintretenden Erscheinungen hatten in dem
ersten Falle eine Herzwunde höchst wahrscheinlich gemacht, im letzteren Falle
wurde sie durch den Seotionsbefund erwiesen.
Von den oben erwähnten 42 Fällen von Nadelverletzangen des Herzens
kamen 31 zur Seotion, was vollkommen genügen dürfte, uns ein Bild von den
pathologisch-anatomischen Verhältnissen zu geben. Die Wunde in der äusseren
Haut muss naturgemäss klein ausfallen. Sie ist in frischen Fällen theils deut¬
lich erkennbar, theils aber auoh unkennbar klein, oder, wenn bereits längere
Zeit verflossen ist, schon vollkommen wieder vernarbt. Zuweilen befinden sich in
der Umgebung der Wunde kleine Ecohymosen oder die Reste geringer Blutungen.
Dass das in beständiger Bewegung und wechselnder Ausdehnung befindliche
Herz eine wenn auch kleine Wunde länger als solche erkennen lässt, scheint
wahrscheinlich; dennoch kam es vor, dass bei einer Section 3 Aerzte anfänglich
*) Fisoher, Die Wunden des Herzens. Berlin 1868. S. 42.
2 ) Brentano, Zar Casaistik der Herzverletzangen. Dissertation. Berlin
1890. S. 6.
s ) Hahn, Berliner klinische Woohenschrift. 1887. S. 329.
4 ) Foy, The Dublin. Joarn. Bd. 85. S. 366.
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Ueber die Wanden des Herzens.
13
eine Nadelstiohwunde weder in der Haut, noch im Herzen entdecken konnten. *)
Die Weite des Stiohcanals ist natürlich nur eine ganz geringe im Vergleich za
schneidenden Instramenten. Bei ganz feinen Nadeln findet wohl kaum mehr als
ein Aaseinanderdrängen der Moskelfibrillen statt. Zuweilen bilden sich in der
Nähe des Stichcanales in der Herzsabstanz kleine Eiterungen, welche das Auf-
finden der kleinen Wanden erleichtern. Der moleculare Zerfall der den Stioh-
canal umgebenden Gewebe kann sich vergrössern und zur Bildung förmlicher
Röhren führen. Dieselben liefern einen locas minoris resistentiae and vermögen
die Gefahr einer Herzraptar in bedrohlicher Weise za steigern. Mehrere Beobach¬
tungen von Simon 2 ) liefern dafür den Beweis. In den betreffenden Fällen waren
daroh feine Nadelstiche — 1 oder mehrere Nadeln — Verschwärungen entstan¬
den, analog etwa einem daroh Eiterang dilatirten Stichoanal bei der Wandnaht.
Diese erst secandären Erweiterungen können dann nicht mehr darob die feinen
Nadeln — nach Simon 3 ) — tamponirt werden, es kann daher leicht za Bla¬
tangen kommen. Der microscopisobe Befand war naoh Simon 2 ) ein etwas un¬
erwarteter dabei. Er fand — keinen Eiter, dagegen eine körnige Veränderung
der Muskelfasern and eine andeatliche, verschwommene Querstreifung derselben.
Zaweilen findet man an den Stellen, an welchen die Nadel Herzbeutel and Herz
darchstiess, kein vollkommen erkennbares, mit einer feinen Sonde passirbares
Loch, sondern analog der Erscheinung auf der äusseren Haat nar Ecchjmosen
von verschiedener Grösse and Zahl.
Es kommen aber nicht nur immer kleine Wanden vor, sondern duroh Zer¬
faserung des Herzmuskels vermöge seiner Eigenbewegang an einer irgendwie
fixirten Nadelspitze können ganz bedeutende Zerstörungen erzeugt werden. Die
Literatur liefert auoh dafür mehrere Belege, von denen z. B. einer von Mache-
naud 3 ) beobachtet wurde. Das Herz war dabei in einer Ausdehnung von 1 cm
Breite und V 2 cm Länge vollkommen perforirt. Auch Residuen von Heilungen
sind mehrfach beobaohtet worden. Diese bestehen entweder in feinen strich¬
förmigen oder sternförmigen Narben, oder wir finden aussen an Herzbeutel und
Herz gar nichts, dafür aber in den Herzwandungen oder in den Höhlen oxydirte,
inorustirte mit Fibrin bezogene Nadeln. Diese Nadeln konnten nur nach einer
vorangegangenen Verwundung des Herzens dorthin gelangt sein. Wir möchten
noch eines Falles von Wrigth 4 ) erwähnen. Ein öjähriger Knabe hatte sich eine
Nähnadel in die Brust gestossen. Die Nadel bricht beim Versuohe sie herauszu¬
ziehen ab. Tod. Section zeigt die Nadel im 5. linken Rippenknorpel steckend,
sie hat denselben durchbohrt und ragt nun stark fixirt 3 / 4 Zoll aus demselben
hervor. Ruptur. V 2 Quadratzoll der Herzwandung war hierdurch so zerrissen
worden, dass nur noch ein Netzwerk von einigen weichen Muskelfasern da war.
Bezüglich der Tiefe, bis zu welcher die Nadeln eindrangen, finden wir Per-
') Fischer, Die Wunden des Herzens. Berlin 1868. S. 230. Fall 1.
2 ) Simon, Diese Vierteljahrssohrift. Bd. III. 1865. S. 287ff.
3 ) Brentano, Zur Casuistik der Herzverletzuogen. Dissertation. Berlin
1890. S. 8.
4 ) Wrigth, Jahresbericht über die Fortschritte in der gesammten Medioin.
1869. Bd. II. Abth. 1.
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14
Dr. Elton,
foration dea Herzbeutels allein 4 mal. Nicht perforirende Wanden der Herzwand
selbst und Wunden, bei welchen die Nadeln in der Herzwand liegen geblieben
waren, finden wir am rechten Ventrikel 6 mal, am linken 4 mal, am rechten Vor¬
hof 1 mal. Wirklioh perforirende Wunden am rechten Ventrikel 5 mal, am linken
6mal, am rechten Vorhof und Herzohr 1 mal, am reohten und linken Ventrikel
ebenfalls einmal; einmal war die Perforationsstelle unbekannt. Alle ungenauen
Angaben sind dabei unberücksichtigt geblieben.
Bemerkenswerth sind nooh einige Gomplioationen. So wurden bei einer
Nadelsticbwunde 1 ) in das Pericard 3 gleichzeitige Verletzungen der Aorta
V4 Zoll über den Klappen gefunden. In einem anderen Falle 3 ) wurden 2 Aeste
der Art. coron. dextr. zerrissen und waren die Causa mortis. Endlich wurde bei
dem operativen Entfernungsversuche einer Nadel aus dem Herzen 3 ) in der er-
öffneten Pleurahöhle ein Jodoformgazetampon verloren, maohte aber ausser einem
vorübergehenden Pyopneumothorax später keine Erscheinungen mehr. Blutergüsse
in die Pericardialhöhle kamen häufig vor, ferner traten Pericarditis und Garditis
auf, welche vielfach zur späteren Todesursache wurden. Auch Empyeme und
eitrige Mediastinitis, ferner gleichzeitige Verletzungen der Lungen, der Bronchien,
des Oesophagus, der benachbarten grossen Blutgefässe sind durch die Beobach¬
tung bestätigt. Eine ganz eigenthümliohe Gomplication beobachtete Laugier 4 ),
nämlich Gangrän eines Beines durch Embolie, herrührend von einer Haarnadel im
linken Ventrikel, von welcher vermuthlioh ein Fibrinfetzen vom Blutstrom mit
fortgerissen war.
Wir betreten nun unserer Disposition gemäss ein ausgedehnteres Gebiet,
nämlich das der Stioh-Schnittwunden des Herzens. Darunter verstehen wir alle
Wunden mit schneidenden und stechenden Werkzeugen, ausser mit Nadeln. Die
Mannigfaltigkeit der verletzenden Werkzeuge, welche uns hier entgegentritt, ist
erstaunlich, so dass es nioht überflüssig ist, zu zeigen, wie sich dieselbe auf die
uns bekannt gewordenen 295 Fälle vertheilt. Wir finden da s ) Sohusteralen (4);
Stiletts (3); Schabeisen (2); Feilen (2); eiserner Stift; Fischgräte; Zahnstocher;
Holzsplitter; Dorn; scharfes Stück Glas; Bayonett (10); Stockdegen (2); Messer
(102); Degen (33); Sohwert (7); Säbel (4); Dolch (11); Lanze (1); Siohel
(1); bei 54 Fällen war es unbekannt, womit gestochen wurde, in weiteren
48 Fällen waren überhaupt unbestimmte Angaben gemacht worden, in 2 Fällen
erzeugten endlich Knochen und einmal Zähne die Verwundung. Es würde viel¬
leicht nicht so schwer sein, wollten wir auf alle diese Fälle in ausführlicher
Weise, wie z. B. bei den wenigen Nadelstiohwunden, eingehen; wir haben uns
aber entschlossen, den Umfang unserer Arbeit nicht zu sehr zu vergrössern,
wollen uns daher mehr als bisher auf die Angaben anderer Autoren beziehen.
Zunächst dürfte es nicht uninteressant sein, die Vertheilung auch dieser
Fälle auf die verschiedenen Geschlechter zu prüfen und die Ursachen festzu-
*) Fischer, Wunden des Herzens. S. 235. Fall 24.
3 ) Fischer, Wunden des Herzens. S. 237. Fall 29.
3 ) Stelzner, Berliner klinisohe Wochensohrift. 1887. S. 329.
4 ) Fischer, Wunden des Herzens. S. 239. Fall 39.
5 ) Fischer, Die Wunden des Herzens. Berlin 1868. S. 42.
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Ueber die Wunden des Herzens.
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stellen, welohe den betreffenden Tbatbeständen zu Grande gelegen haben. Bei
Fischer und den übrigen Autoren haben wir leider eine derartige Zusammen¬
stellung nioht gefunden, überhaupt sind in sehr vielen Fällen Angaben darüber
in der Gasuistik garniokt oder nur sehr unvollkommen gemaoht worden; wir
haben jedenfalls nur ausführliche Angaben benutzt.
Geschlecht
Mord
Selbst¬
mord
Unvorsich¬
tigkeit
Unbekannt,
nicht an¬
gegeben
Irrsinnig
Männer .
63
30
ii
66
5
Weiber.
9
3
—
4
1
Kinder.
2
—
2
2
—
Unbestimmt .
7
5
2
87
2
Aus dieser Tabelle geht hervor, dass in ganz überwiegender Mehrzahl die
Männer betheiligt sind, denn die verletzenden Werkzeuge sind fast durchweg
solche, welche sich in Männerhänden zu befinden pflegen. Frauen werden nur
16 in der Statistik aufgeführt, und von diesen erlitten 9 den Tod durch Mörder¬
hand, bei vieren war der Grand der Verletzung nicht bekannt, es bleiben also
nur 3 Frauen übrig, welohe eine schneidende Waffe zum Selbstmorde benutzten;
eine psychologisch gewiss nicht uninteressante Thatsache, wenn man bedenkt,
dass bei den Nadelverletzungen des Herzens unter 6 Frauen ebenfalls 3 zum
Selbstmorde schritten. Ob der Schluss gerechtfertigt erscheint, dass es im weib¬
lichen Charakter begründet liegt, nur ausnahmsweise zum Selbstmorde unter
Blutvergiessen zu schreiten, sondern andere Todesarten vorzuziehen, lassen wir
dahingestellt. — Es finden sich endlich auch 2 Fälle von Kindermord, und eben¬
falls zwei Todesfälle bei Kindern ans Unvorsichtigkeit. Geistig gestört waren
5 Männer und eine Frau; von zwei geistig gestörten Individuen war das Ge¬
schlecht nicht angegeben. Beobachtet wurden 81 Morde; unter diesen sind her-
vorzuheben 14 Todesfälle auf dem Schlachtfelde und auf Mensur: 38 Selbst¬
morde und 15 Verletzungen aus Unvorsichtigkeit.
Naoh Fischer 1 ), welcher 260 Stich-Schnittwunden bearbeitete, treffen die¬
selben die einzelnen Herzabscbnitte wie folgt:
Rechter Ventrikel 2 ) 85 -j- 8 = 93
Linker Ventrikel . 59 -j- 17 = 76
Beide Ventrikel 16 +' 2 = 18
Rechter Vorhof . 11 —1 = 12
Linker Vorhof. . 5 —j— 1 = 6
Spitze . . . . 12 + 1 = 13
*) Fischer, Die Wunden des Herzens. S. 37.
2 ) Die in der zweiten Reihe befindlichen Zahlen zeigen die Verhältnisse der
von uns selbst gesammelten Fälle.
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16
Dr. Elten,
Basis .... 1 —|— 1 = 2
Septum .... 2 -f- 1 = 3
Ganzes Herz... 2 =2
Rechtes Herz 3 =3
Linkes Herz... 1 =1
Art. ooronar. . 1 -f- 1 = 2
Unbestimmt . . 31 —5 = 36
Herzbeutel . 31 -j— 1 = 32
Es penetrirten *) im Ganzen von 295 Wanden 214. Dabei war der rechte
Ventrikel bevorzugt, welcher 75mal penetrirte; es folgt der linke Ventrikel mit
65mal, dann der Herzbeutel mit 18 penetrirenden Wanden. 20 Wanden pene¬
trirten nicht; unter 6 Beobachtungen war nicht vermerkt, ob die Wunden pene¬
trirten oder nicht. Endlich kamen 9 fremde Körper vor.
Die pathologisch-anatomisohen Veränderungen bestehen zunächst in einer
Continuitätstrennung der Haut, welche je nach der angewandten Waffe eine ver¬
schiedene Gestalt haben kann. Betraohten wir zuerst diejenigen Wunden, welche
mit Messern oder messerähnlichen Werkzeugen gemacht sind. Dieselben 2 ) machen
in den meistenFällen glatte, grade Wunden mit scharfen Rändern, deren Winkel 3 )
nach beiden Enden sich zuzuspitzen pflegen. Breite, doppelschneidige Waffen
werden auoh längere Wunden erzeugen, es ist das aber durchaus nicht constant,
sondern es kann auch die Elasticität der Haut dem andrängenden Messer nach¬
geben, und nach dem Herausziehen desselben ist die Hautwunde kleiner, als die
Breite der Waffe beträgt. Andererseits kann aber die Wunde gerade beim Her¬
ausziehen des Messers nooh vergrössert werden, so dass sie nun breiter erscheint
als das Messer selbst. Man sollte erwarten, dass einschneidige Messer mit breitem
Rücken auch dem entsprechende Hautwunden erzeugten, d. h. mit einem spitzen
und einem abgestumpften Ende versehene. Dieses trifft aber in der Praxis nioht
zu, und v. Maschka 4 ) nennt das geradezu „ausnahmsweise Befunde“.
Den breiten Messern und messerähnlichen Instrumenten und ihren Wunden
stehen nun die mit schmalen, dreieckigen, runden, rhomboiden Waffen erzeugten
Wunden gegenüber. Deren Form richtet sioh vielfaoh naoh den jeweiligen Span¬
nungsverhältnissen der Haut und ihrer Faserzüge 5 ). Nach Fischer 6 ) kann eine
schmale, dreieckige Degenklinge theils längliche, theils sternförmige Wanden er¬
zeugen. Die gegen die Herzgegend gerichteten Stich-Schnittwunden erzeugen im
Bereiohe der Thoraxwandungen verschiedene Complicationen. Es wurden Ver¬
letzungen der Rippen und des Brustbeines, ferner Durchschneidungen der Art.
mammar. interna und der Art. intercostalis beobachtet. Auch die Lunge wurde
mitgetroffen, ferner eine Reihe anderer Organe, je nachdem die Richtung war,
*) Fischer, Die Wanden des Herzens. S. 38.
2 ) Hofmann, Handbuch der gerichtlichen Medicin. 1881. S. 269.
3 ) Gasper-Liman, Handbuch der gerichtlichen Medicin. 1889. Bd. II.
S. 128.
4 ) v. Maschka, Handbuch der gerichtlichen Medicin. 1881.
s ) Hofmann, Lehrbuch der gerichtlichen Medicin. 1881. S. 277.
*) Fischer, Wunden des Herzens. 1868. S. 65.
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Ueber die Wanden des Herzens.
17
in welcher der Stich vordrang. Wir finden Verletzungen des Mediastinums, der
Leber, des Zwerohfelles, des Magens, woraus sieb viele pathologische Erschei¬
nungen ergeben, welohe wir vorerst nur angedeutet haben wollen.
Die Grösse und das Aussehen der Herzbeutelwunde richtet sich naoh der
gebrauchten Waffe und naoh der Tiefe, bis zu welcher sie eindringt. Einer
breiten Hautwunde kann eine kaum für eine Sonde durchgängige Herzbeutel¬
wunde entsprechen. Nach Fis oh er 1 ) sind diese Wanden ebenfalls soharfrandig,
können klappenartig mit ihren Rändern schliessen und vielleicht so eine Blatung
nach aussen hindern; zuweilen klaffen sie aber auoh.
Die Wunden des Herzmuskels selbst können bestehen in solohen der äusseren
Wandungen, der Papillarmuskeln, der Scheidewände und endlich auoh der
Klappen. Auch hier wird es auf das Aussehen der Wunde von Einfluss sein, mit
welcher Waffe sie zugefügt wurde, ob sie penetrirt oder nicht, ob sie endlich in
den dicken Ventrikeln oder an den dünnen Vorhöfen sich befindet. Inwiefern
eine Metserstiohwunde des Herzens sioh von einer z. B. mit Sohusterpfriem zuge¬
fügten unterscheidet, das, sollte man meinen, sei naoh dem Vorhergehenden klar
und dennoch sind Zweifel darüber aufgetaucht. Das erklärt sioh aus dem com-
plicirten Faserverlaufe am Herzmuskel, der verschiedenen Dicke der Wandungen
und der verschiedenen Tiefe der Wunden. Da auf den quergestreiften Herzmuskel
auch das Gesetz von der Elastioität des Muskels zutrifft, die verschiedenen Mus¬
kelzüge aber naoh verschiedenen Richtungen hin verlaufen, so ist es verständlich,
dass bei glatten Sohnittwunden eine Verzerrung der Ränder und des Wundkanals
eintritt, je nachdem die zerschnittenen, elastischen Muskellagen sich verhalten.
Fischer 3 ) theilt mit, dass Herzwunden bald ganz, bald nur theilweise klaffen
und sucht die Erklärung dafür in der verschiedenen Zusammenziehung des
Herzmuskels. Sollte der Grund nioht eher in dem Zurüokgehen in verschie¬
dene Gleichgewichtslagen liegen, welohe die nach verschiedenen Richtungen ver¬
laufenden elastischen Muskelzüge nach der Trennung einnehmen? —
Die Herzwunde kann entweder unverstopft, oder duroh mehr weniger orga-
nisirte Gerinnsel oder Pfropfe geschlossen sein; auoh Fremdkörper stellten zu¬
weilen den Verschluss her. Entweder befindet sich nur eine Wunde am Herzen,
welohe dasselbe nur einfaoh eröffnet, es kommen aber auch doppelte und drei¬
fache Durchbohrungen und* Eröffnungen bei Stichen durch das ganze Herz vor,
so z. B. in dem berühmten Falle von Gaultier de Claubry 3 ), wo den Erz¬
bischof von Paris ein mit furchtbarer Gewalt geführter Stioh eines catalonischen
Dolches traf. Auoh die Richtung der Wunde beeinflusst das pathologisch-anato¬
mische Bild. Die senkrecht auf die Herzgegend treffenden Waffen werden, wenn
sie nicht abgleiten, das Herz auch senkreoht treffen. Solche Wunden klaffen
dann leichter und bluten meist auch heftiger. Ganz schräg eindringende Waffen
machen auch schräg durch den Herzmuskel verlaufende Wanden. Die progno¬
stische Bedeutung derselben werden wir später kennen lernen.
f ) Georg Fischer, Die Wunden des Herzens. Berlin 1868. S. 57.
2 ) Fisoher, Die Wunden des Herzens. S. 52.
3 ) Fisoher, Die Wunden des Herzens. S. 364. Fall 177.
Yierteijahrssclu. (. ger. Med. Dritte Folge. V. 1. 2
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Dr. Elten,
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Die Blutang richtet sich danach, in welcher Breite, Tiefe and Richtang das
Herz eröffnet ist. Bei grossen Wanden ist die Blatang natürlich heftig, voraus¬
gesetzt, dass der Weg dafür nicht aas anderen Gründen — z. B. rascher Ver¬
klebung, schrägem Verlauf der Wunde etc. — verlegt ist. Im Herzbeutel oder
in den Pleuren findet man Blut von wenigen Grammen Gewioht an bis zu
4 Vj Pfund 1 ). Aas der Farbe kann man die arterielle oder venöse QaeUe der
Blatang vermathen. Die Gonsistenz der Blutergüsse ist theils flüssig, theils ge¬
ronnen; zuweilen zeigt sich schon nach kurzer Zeit Organisation an der Blut¬
masse 2 ). Nach der Grösse des stattgehabten Blutverlustes und der daduroh be¬
dingten Anämie riohtet sich das Aussehen des Herzens. Bei Blutverlusten ge¬
ringeren Grades wird es noch mit Blut gefüllt sein und auch die Musoulatur
wird noch roth aussehen. Bei vollständiger Anämie ist das Herz leer, sohlaff,
blass und zusammengefallen.
Als weitere wichtige Befunde nennen wir die Narben von Stich-Schnitt¬
wunden am Herzen und Herzbeutel. Auf dieser Fähigkeit zu vernarben beruhen
die beobachteten Heilungen. Der Vorgang hierbei ist analog der Heilung anderer
Muskelwunden. Die erste provisorische Narbe besteht*) aus geronnenem Blute,
aus geronnener Lymphe oder aus Fibrinmassen, welche sich später zu Bindege¬
webe organisiren und eine solide, fibröse Narbe bilden. Wer es wiederholt ge¬
sehen und gefühlt hat, wie fest in einerWeiohtheilwunde die Fibrinmassen sitzen,
welche zum Zweok einer gründlichen Reinigung entfernt werden mussten, der
wird nicht erstaunt sein, dass trotz des starken, im Herzen herrschenden Druckes
Vereinigung der Wundränder durch solche festhaftenden Fibrinflocken zu Stande
kommt. Die Vernarbung kann unterstützt werden, wenn man den Druok im
Herzen künstlich womöglich bis auf das zulässige Minimum herabsetzt, oder falls
er scbon so niedrig ist, jede Steigerung desselben zu verhindern traohtet.
Wir bekommen die Narben in verschiedenen Entwicklungsstadien zu sehen.
Im Anfang ist nur ein Blut- oder Fibrinpfropf vorhanden, später finden wir zart
organisirtes Bindegewebe, oder zarte exsudative Ueberhäutung. Die entwickelte
Narbe endlich ist fibrös und hat eine Strich-Stern-Punktform. Die Vernarbung
des Herzbeutels wird unterstützt durch die Bildang eines Exsudates, welohes Ad¬
häsionen mit dem Epicard erzeugt. Einmal wurde durch die schnelle Bildung
dieser Adhäsionen eine weitere Blutung in den Herzbeutel verhindert. Die Herz¬
beutelnarbe befindet sich der Herznarbe gegenüber, daher erleichtert die Ent¬
deckung der einen die der anderen wesentlich. Dieselben Complicationen, wie
bei den Nadelwunden finden wir auch hier. Besonders ist die Entstehung einer
Lungenwunde, eines Hämo- und Pneumothorax, von Empyemen und Pleuritiden
erleichtert.
Die Schusswunden nehmen heutzutage eine hervorragendere Stellung als
früher ein, denn die massenhafte Herstellung aller Arten von Schusswaffen von
dem rohgearbeitetem Terzerol an bis zur vollendetsten Schusswaffe, unserem klein-
*) Fischer, Die Wunden des Herzens. S. 57.
2 ) Brentano, Zur Gasuistik der Herzverletzungen. Dissertation. S. 13.
Fall 14.
*) Billroth und v. Winiwartev, Allgemeine Chirurgie. S. 65.
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Ueber die Wanden des Herzens.
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kalibrigen Repetirgewehr, hat es mit sioh gebracht-, dass solche Waffen in un¬
zähligen Exemplaren den Händen Berufener und Unberufener anvertraut sind.
Von der grösseren Häufigkeit der Schusswanden im Allgemeinen machen auch
die Schusswunden des Herzens heute keine Ausnahme mehr. Die Fälle, welche
wir unserer Betrachtung zu Grande legen wollen, sind theils der älteren, theils
der neueren Literatur entnommen, es sind im Ganzen deren 111. Die älteste
mit Jahreszahl versehene Beobachtung unter den Fischer’schen Fällen 1 ) trägt
die Jahreszahl 1712. Vor dieser Zeit scheinen demnach Beobachtungen über
Herzschusswunden noch nicht veröffentlicht zu sein. Die Zahl der Schusswunden
beträgt heute nach unserer Schätzung etwa 30—35 pCt. aller gewaltsamen Ver¬
letzungen. Bevor wir die pathologisch-anatomischen Verhältnisse dieser Wunden
betraohten, wollen wir einige ätiologisohe und statistische Daten feststellen. Was
zunächst dieProjectile anbetrifft, so waren 92mal Kugeln geladen; 13mal Schrot;
1 Ladestock; 1 Stein; Wasser; 1 Holzpflock; Rehposten. Die folgende Zu¬
sammenstellung dürfte einige andere statistische Verhältnisse aufklären und keines
besonderen Commentares bedürfen, höchstens des Hinweises darauf, dass auoh
hier nur ganz bestimmte Angaben benutzt wurden, wodurch die Zahl der ungenau
berichteten Fälle leider wieder eine sehr grosse geworden ist.
Geschlecht
Mord
Selbst¬
mord
Unvorsich¬
tigkeit
Grand
nicht an¬
gegeben
Irrsinnig
Männer .
24
18
4
17
_
Weiber.
2
—
1
1
i
Kinder.
—
—
8
2
—
Alter und Geschlecht
nicht genannt.
"
8
1
29
In 18 Fällen wurde die Herzwunde auf dem Schlaohtfelde und im Duell
erworben. Baur 2 ) verfügt über eine Anzahl von 117Sohusswunden des Herzens.
Bei ihm 2 ) und Fisober 3 ) finden sich die interessanten Angaben, dass unter
87,822 Verwundeten des nordamerikanischen Bürgerkrieges auf 7062 Schuss¬
wunden nur 4 Schusswunden des Herzens beobachtet wurden. Aus dem deutsoh-
französisohen Kriege hat man naoh Baur 2 ) ebenfalls nur 4 Herzschusswunden
der Mittheilung für werth gehalten. Wir können uns darüber nioht wundern,
denn neben den aufreibenden Pflichten des Arztes im Felde bleibt wenig oder gar
keine Zeit zu Sectionen. Dem pathologischen Anatomen im Frieden bietet sich
die Gelegenheit selbstverständlich häufiger.
*) Fischer, Die Wunden des Herzens.
®) Baur, Ueber die Schussverletzungen des Herzens. Dissertation. Berlin
1887. S. 6.
3 ) Fischer, Die Wunden des Herzens. 1868. S. 33.
2*
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20
Dr. Elten,
Nicht immer ist das Aussehen der Schusswunde ein so charakteristisches,
dass sie nicht verkannt werden könnte. Schon die verschiedene Grösse der Pro-
jectile bedingt Abweichungen, ferner ist für das Aussehen der Wunde von Be¬
lang, aus welcher Entfernung das Projectil kam, ob es Rund* oder Spitzkugel
war, ob es senkrecht oder schräg auftraf. So viel Abweichungen von einem
typischen Bilde der Schusswunden nun auch Vorkommen mögen, so ist es doch
andererseits möglich, sich ein solohes allgemeines Bild aus den bekannten Beob¬
achtungen zusammenzustellen. Wir unterscheiden an einer Schusswunde Ein-
gangsöffnung, Schusskanal und gegebenen Falles auch Ausgangsöffnung. Die
Eingangsöffnung kann verschiedene Form haben. Sie ist nämlich entweder ein
rundliches Loch, welohes der Grösse des Projectiles ungefähr entspricht, oder
auch bedeutend grösser als das Projectil. Sie kann „wie mit einem Looheisen“
(Hofmann')) ausgeschlagen, aber auch sternförmig zerrissen sein. Sie kann
ferner, und das ist namentlich bei Spitzkugelschüssen beobachtet, einer Stich-
Schnittwunde täuschend ähnlich sein 2 ). Ein abweichendes Verhalten von den
bisher beschriebenen Wunden werden die Schrotschusswunden zeigen, denn es
handelt sich bei denselben um Geschosswirkungen kleinsten Kalibers, es sind
daher auch die einzelnen Einschussöffnungen klein. Ist das Schrot vor Eintritt
in den Körper nicht zerstreut, so kann die oompacte Masse der Sohroten ein ein¬
ziges grosses Loch machen. Wir erinnern uns genau einer Leiche im Göttinger
anatomischen Institute, welche eine solche Schusswunde in derHerzgegend hatte.
Die Wunde war so gross, dass man bequem den Daumen hätte hineinstecken
können. Das Herz sah braun-schwarz und zerfetzt aus. Eine Menge Schroten
sassen in einem Klumpen zusammengeballt in den Wirbelkörpern der Brustwirbel¬
säule, die anderen Schroten hatten die Musculatur zerrissen und bildeten mit
Muskelfetzen, Knochengries einen förmlichen Brei. Ein weiteres Kennzeichen der
Schusswunden ist die Verfärbung ihrer Ränder, sobald der Schuss aus genügen¬
der Nähe und womöglich gegen die nackte Brust abgefeuert war. Pulvers'chmutz
und in die Haut versprengte Pulverkörner, ferner Spuren von Verbrennung oder
Versengung sind vorhanden. Alle diese Symptome pflegen sich auf einen rund
oder unregelmässig begrenzten Raum von verschiedener Grösse zu vertheilen; oft
sind sie nur theilweise vorhanden, oder sie fehlen ganz. Die grössere Schuss¬
weite ist jedoch auf das bessere Aussehen der Schusswunden nicht immer von
Einfluss, denn selbst bei Schüssen aus weiter Entfernung vermag sich ein
schwärzlicher Hof um die Einschussöffnung zu bilden, weil die Kugel, ehe sie
die Haut durohbohrt, dieselbe erst etwas vor sich herdrückt, wobei sie den ihr
anhaftenden Pulver- und Bleischmutz auf der Haut absetzt und gleichsam blank¬
gewischt ihren Weg weiter zum Herzen verfolgt. Gelegentliche Ausnahmen von
allen diesen Merkmalen kommen vor und können die schwersten Zweifel erzeugen,
namentlich da, wo es sich um gerichtsärztliche Fragen handelt. Die Reaction
auf Blei in dem eine Schusswunde umgebenden Hofe könnte in Frage kommen,
wenn eine Kugel nicht gefunden wird.
Der Sohusskanal wird sich ebenfalls verschieden verhalten nach Grösse,
') Hofmann, Lehrbuch der gerichtlichen Medioin. 1881. S. 279.
2 ) Hofmann, Lehrbuoh der gerichtlichen Medicin. 1881. S. 283.
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Ueber die Wanden des Herzens.
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Tiefe und Verlauf. Den dioken Kugeln, welche leicht ihre runde Form verlieren,
da sie aus Blei und ohne Mantel sind, ist es eigentümlich, dass sie einen um
so breiteren Sohusskanal erzeugen, je tiefer sie eindringen. Von den modernen,
kleinkalibrigen, mit Stahlmantel versehenen Geschossen hoffen wir, dass sie einen
überall gleich weiten Schusskanal ohne secundäre Zerstörungen erzeugen werden.
Durch das Projectil mit fortgerissene Fremdkörper, z. B. Kleiderfetzen, Knochen¬
splitter, verändern ebenfalls die Gestalt des Schusskanals, namentlich beobachtet
man danaoh septische Infectionen. Bezüglich der Ausgangsöffnung hält es
Liman 1 ) für vollkommen festgestellt, dass dieselbe kleiner als die Einschuss¬
öffnung ist. Dem steht ein Fall von Brentano 3 ) entgegen, wo ausdrücklich er¬
wähnt wird, dass die Ausschusswunde 1 l / 2 mal grösser als die des Einschusses
gewesen sei. Fischer 3 ) beobachtete in einem Falle 2 Ausschussöffnungen bei
einer Einschussöffnung. Schüsse aus allernächster Nähe mit starker Pulverladung
bringen oft colossale Zerstörungen hervor, z. B. Zerschmetterung von Brustbein
und Rippen, Zermalmungen des ganzen Herzens. Letztere beruhen vielfaoh
darauf, dass das eindringende Geschoss nach dem Princip der hydraulischen
Presse eine förmliche Explosion des Herzens erzeugt. Vor den Lungen Verletzungen,
welohe die Kugel auf ihrem verderblichen Wege erzeugen kann, haben wir die
Verletzungen des Herzbeutels und des Herzens zu betrachten. Am häufigsten
wird Herzbeutel und Herz zugleioh verletzt sein, weil die perforative Kraft der
meisten Geschosse eine sehr bedeutende ist. Es sind aber auch Verletzungen des
Herzens ohne gleichzeitige Herzbeutelwunde beobachtet worden 4 ) 5 ). Man hat
sich den Vorgang so erklärt, dass der Herzbeutel von einor schwachen Kugel
handschuhfingerförmig in das Herz eingetrieben wurde und nachher aus dem ge¬
bildeten Schusskanal wieder in seine gewöhnliche Lage zurückschlüpfte, ohne
durch die Kugel durchbohrt zu werden. Nach Casper-Liman 6 ) kommen sogar
Herzsohusswunden vor, ohne dass eine Trennung des Zusammenhanges der
äusseren Haut vorliegt; solche Wunden stehen den Rupturen sehr nahe. —
Die eigentlichen Herzschusswunden sind sohon dadurch unterschieden von
den vorher besprochenen Wanden, dass eine stumpfe Gewalt sie erzeugt. Diese
Verschiedenheit spricht sioh auch in den pathologisch-anatomischen Befanden an
der Herzwunde selbst aus. Wir finden da meist rundliche Oeffnungen von ver¬
schiedener Grösse. Wenn es vorkommt, dass anstatt eines rundlichen Loches ein
Riss in der Herzwand sitzt, so zeigt doch dieser Riss nicht die soharfen Ränder
einer Stiohschnittwunde, sondern die Ränder sind zaokig, unregelmässig, in der
*) Casper-Liman, Handbuch der geriohllichen Medicin. 1889. Bd. II.
S. 244.
3 ) Brentano, Zur Casuistik der Herzverletzungen. Dissertation. Berlin
1890. Fall 38.
3 ) Fischer, Die Wunden des Herzens. Berlin 1868.
4 ) Fisoher, Die Wunden des Herzens. Fall 367, 303, 308, 346, 306, 323.
s ) Brentano, Zur Casuistik der Herzverletzungen. Dissertation. Berlin
1890. Fall 28.
e ) Casper-Liman, Handbuoh der gericntiicheri Modern. .188ft.: Bd.iL
S. 249.
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Mitte zaweilen, entsprechend dem grössten Darohmesser der Engel, aaseinander¬
gedrängt. Das Herz kann nicht nnr einfach, sondern anch auch doppelt durch¬
schossen, das Septum kann oröffnet, ja sogar rechter and linker Ventrikel and
Septam zugleich durchbohrt sein. Als fernere Zerstörungen durch die Kugel aaf
ihrem Wege daroh das Herz nennen wir noch Zerreissungen der Papillarmuskeln
and der Klappen. Eine Zusammenstellung der Häufigkeit der verschiedenen ver¬
letzten Herzabschnitte ergiebt folgende Resultate:
Rechter Ventrikel 31; linker Ventrikel 29; beide Ventrikel 7; rechter Vor¬
hof 4; linker Vorhof 1; Spitze 1; Basis 1; Septum 1; ganzes Herz 8; rechtes
Herz 2; linkes Herz 4; anbestimmt 11; Herzbeatei 11. Es penetrirten 97 Wun¬
den, es penetrirten nicht 11. Zur Heilung gelangten 12. Die Residuen dieser
Heilungen werden als Narben erkannt und sind sowohl im Herzbeutel als aaoh
am Herzen zu finden. Die Qrösse und Deutlichkeit der Narben richtet sioh nach
der Grösse der vorangegangenen Verwundung. Bei geheilten Scbrotschusswunden
wird man mehrere Narben finden; dieselben sind aber klein and schwer za er¬
kennen; die Narben der Kagelschüsse zeigen natürlich das entgegengesetzte Ver¬
halten.
Es würde za Wiederholungen führen, wenn wir auch hier wieder alle mög¬
lichen Complicationen aufzählen wollten. Das bei den anderen Herzwunden dar¬
über Gesagte dürfte vielmehr auch auf die Schusswunden anwendbar sein. Nur
eine für diese Wunden oharaoteristische, aber höchst bedenkliche Gomplication
wollen wir noch besonders erwähnen, nämlioh das Hineinreissen septisch infioirtor
Stoffe in die Wunde. Diese üben einen heftigen Entzündungsreiz aus und er¬
zeugen eitrige Pericarditis und Pleuritis. Embolien in periphere Organe durch
Fremdkörper wären ebenfalls denkbar, z. B. könnten Reste eines Papierpfropfens
durch den Blutstrom verschleppt werden.
Kageln sind die häufigst gefundenen Fremdkörper im Herzen nächst den
Nadeln. Sie liegen entweder in einer der Herzhöhlen, oder sie stecken in der
Wandung'), wo sie sioh einkapseln. Auch aaf dem Herzbeutel 2 ) wurde eine
Kugel frei liegend vorgefunden. In einem von Brentano 3 ) verwerteten Falle
lag sie lose in der Pericardialhöhle.
Es bleibt ans noch einiges über die Blutang bei Herzschusswunden za
sagen übrig. Wir unterscheiden eine äussere und eine innere Blutang. Letztere
tritt entweder als Blutung in die Pericardialhöhle oder in die Pleurahöhle oder in
beide Höhlen zugleich auf; erstere strömt aus der Wunde oder den natürlichen
Oeffnungen des Körpers. Bei der alleinigen Verwundung des Herzens wird die
Section ein Hämopericard nachweisen, welches eine gewisse individuelle Grösse
nicht überschreiten kann, ohne die Tamponade des Herzens nach Rose zu be¬
wirken. In eine Pleurahöhle oder womöglich in beide hinein kommt es dagegen
zu colossalen Blutergüssen. Der Befand deckt sioh dabei mit demjenigen gefähr-
') Baur, Ueber die Sohassverletzangen des Herzens. Dissertation. Berlin
1887. S. 10.
v 3 * :Bt<J.a1aiuJ, IZhf‘Cäsaiätik der Herz verletz ungen. Dissertation. Berlin
1890...F>11 24.*;.•.
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Ueber die Wanden des Herzens.
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lioher Stiohsohnittwanden, bei welchen bis za 4’/ 2 Pfd. and mehr Blat gefunden
wurden. Die Blatang nach aussen hat mehr Bedeutung für den Diagnostiker als
für den Anatomen. Es wird dem Letzteren meistens die Aufgabe zufallen, eine
nach aussen stattgehabte Blutung aus der Besudlung des Leiohnams mit Blut
oder aus anderen zufälligen Befunden vorläufig festzusteilen. Ueber den vermuth-
liohen Qrad solcher Blutungen nach aussen wird er sich erst äussern können,
wenn der Sectionsbefundjvorliegt. Findet man den Körper in seinem Blute schwim¬
mend, so wird daraus sofort ein Urtheil über die Blutung gebildet werden kön¬
nen. Zam Schluss wollen wir noch gleichzeitige Verwundungen der Wirbelsäule
als Gomplioation erwähnen. Die Folgeerscheinungen einer solchen sind sensible
und motorische Störungen an den unteren Extremitäten, Lähmungen der Blase
und des Mastdarmes, Decubitus ‘) etc.
Bei den Quetschwunden und Rupturen des Herzens, zu deren Besprechung
wir nunmehr kämen, handelt es sich fast immer um heftige directe oder indirecte
Gewalten. Genüge Gewalten waren nur da ausreichend zur Ruptur, wo das Herz
bereits in irgend einer Weise degenerirt war. Nach Casper-Liman 2 ) bersten
gesunde Eingeweide spontan niemals; wir finden ferner bei Hofmann 3 ) eine
Zusammenstellung der Leichtigkeit und Häufigkeit, mit welcher gewisse Organe
rupturiren. Am leiohtesten rupturiren danach die parenchymatösen Organe Leber,
Milz, Niere, Lungen; dann kommt das Herz und an letzter Stelle Magen, Ge¬
därme, Blase, Gehirn. Uns interessiren zunächst die Rupturen des Herzens, die¬
jenigen anderer Organe nur insofern, als sie als Complicationen bei Herzrupturen
auftreten. ln der Literatur haben wir 87 Fälle von Herzruptur gefunden. Aetio-
logisch wichtig sind dabei zunaohst die rupturirenden oder quetschenden Ge¬
walten, wobei uns eine noch grössere Mannigfaltigkeit entgegentritt als bei den
Stiebschnittwunden. Der Fischer’sohen Aufzählung fügen wir noch die heute
leider so häufigen Eisenbahnunglücke hinzu, ferner als Curiosität das Hinunter¬
würgen eines grossen Stüokes Fleisch 5 ), welches die Ruptur eines fettig degene-
rirten Herzens verursacht hatte; endlich auch noch einige Rupturen duroh
Schüsse, bei weloben nicht die Kugel, sondern die Entladung der Pulvergase und
der damit verbundene starke Luttdruok die Herzruptur erzeugt hatte.
Unter den 87 Fällen befanden sich 54 Männer, 6 Frauen und verbältniss-
massig viel Kinder, nämlich 8 an der Zahl. In 19 Fällen war das Geschlecht un¬
bestimmt geblieben. Von Herzrupturen wurden vorwiegend Männer getroffen;
das ist auch erklärlich, denn sie beschäftigen sioh mit schweren Lasten, bei Ma¬
schinen, bei Fuhrwerken aller Art, bei Bauten vorwiegend. Vom pathologisch-
anatomischen Gesichtspunkte aus unterscheiden sioh die wenigen beobachteten
*) Brentano, Zur Gasuistik der Herzverletzungen. Berlin 1890. Fatl 42
und 59.
3 ) Casper-Liman, Handbuoh der gerichtlichen Medicin. 1889. Bd. II.
S. 132.
3 ) Hofmann, Lehrbuoh der gerichtlichen Medioin. 1881. S. 265.
4 ) Fisoher, Die Wanden des Herzens. 1868. S. 43.
s ) Jahresbericht über die Leistungen und Fortschritte in der gesammten
Medioin. Jahrgang XIX. Bd. 11. Abth. 1. S. 314.
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Quetschwunden des Herzens von den eigentlichen Rupturen dadurch, dass hei
ihnen ein stumpfes, quetschendes Werkzeug, Stein, Holzpfabl durch den Thorax
in das Herz dringt und eine unregelmässige Wunde erzeugt, oder dass zwar keine
wirkliche Quetschwunde erzeugt wird, aber doch ein quetschender Druck ohne
Zusammenhangstrennung des Thorax und des Herzens letzterem eine schwere,
mechanische Verletzung zufügt.
Verunglückte mit einer echten, traumatischen Herzruptur pflegen äusserlioh
gar keine Verletzung, noch nicht einmal blutunterlaufene oder abgeschabte
Stellen in der Herzgegend zu zeigen. Ein sehr treffendes, einfaches Beispiel
dafür, so dass wir es mittheilen wollen, findet sich bei Wald 1 ) aufgezeichnet.
Einem Hafenarbeiter war ein 30 Ctr. sohwerer Stein gegen die Brust geprallt.
Tod sofort. Keine Spur einer äusseren Verletzung, doch war die vierte linke
Rippe 2 " vom Brustbein gebrochen. Der strotzend ausgedehnte Herzbeutel ent¬
hielt 1 Vj Pfd. halbgeronnenen Blutes. Herz völlig leer. An der Spitze fand sioh
ein 3 / 4 " langer Einriss, der sohief naoh aufwärts in einem entsprechend langen Verlaufe
bis in den linken Ventrikel drang. Lungen unversehrt; in der linken Brusthöhle
einige Unzen Blut. — Es ist eine anerkannte Thatsache, dass die Rosistenz-
fähigkeit der Haut den colossalon Gewalten gegenüber eine sehr grosse ist, Hof¬
mann 2 ) giebt dafür die erstaunlichsten Beispiele. — Nicht immer bleibt jedoch
die Haut ganz unverletzt, sondern man findet zuweilen Sugilatiooen und Ab¬
schürfungen und andere Spuren äusserer Gewalt. Das Aussehen derselben hängt
davon ab, ob die Circulation noch etwas dauerte, oder ob der Tod momentan ein¬
trat. Im letzteren Falle kann sich gar keine Schwellung oder Blutung in das
Zellgewebe und die Muskeln entwickeln, und die abgeschabten Stellen sehen
naohher vertrocknet und braun aus. 3 ) Während die Zeichen auf der äusseren
Haut sehr gering sein können, findet man dagegen Rippen- und Rippenknorpel-
fracturen aller Art, Fraoturen des Brustbeines oder beide Arten von Brüohen
nebeneinander. Die Dislocation kann verschieden stark sein, besonders hervor¬
zuheben ist die Dislocation spitzer Rippenfragmente gegen Herzbeutel und Herz.
Nach Hofmann 4 ) brechen die Rippen alter Leute mit Leichtigkeit, Kinderrippen
sollen dagegen vermöge ihrer grösseren Elasticität den Druck sehr bedeutender
Kräfte aushalten können.
Die Wunde des Herzbeutels und des Herzens besteht in einem Riss. Was
zunächst die Herzbeutel wunde anbetrifft, so ist dieselbe nach Fisoher 8 ) theils
länglich, theils rundlich. In den von uns gesammelten Fällen fanden wir einmal
ein Loch von 4 cm Länge, zweimal fanden wir den Herzbeutel unverletzt, ein¬
mal vollständig zerfetzt und einmal hatte er ein so grosses Loch, dass das von
seinen Gefässen total abgerissene Herz hindurohschlüpfen konnte. Die Wunde
des Herzens selbst verhält sich äusserlich verschieden, je naohdem sie penetrirt
oder nioht, und ob ein vollkommen gesundes oder degenerirtes Herz von der Rup-
*) Wald, Gerichtliche Medicin. Bd. 1.- 1858. S. 117.
2 ) Hofmann, Lehrbuch der gerichtlichen Medioin. 1881. S. 269.
3 ) Hofmann, Ibidem. S. 267.
4 ) Hofmann, Ibidem. S. 430.
8 ) Fisoher, Die Wunden des Herzens. Berlin 1868. S. 85.
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tar getroffen wird. Aaf die Gestalt der Wände ist es ferner von Einfluss, ob die
Raptor traamatisoh oder spontan entstanden ist, eine Frage, welche den Ge¬
richtsarzt interessiren dürfte. Nach Ohrt 1 ) unterscheiden sich die traumatisohen
und spontanen Rupturen folgendermassen:
traumatisch:
1. Riss gross, glatt.
2. Riss nicht mit Blut infiltrirt.
3. In der Umgebung keine Myomalacie.
spontan:
1. Riss oft klein, zackig.
2. Riss ausgedehnt mit Blut infiltrirt.
3. In der Umgebung Verfettung.
Sobwierig wird die Unterscheidung dann werden, wenn ein Trauma gerade
eine myomalacische Stelle des Herzens zum Bersten gebracht hat; wir haben dann
eine traumatische Ruptur im myomalaoischen Herzen. Georg Fischer 2 ) ist zu
anderen Resultaten gelangt. Er hat die Ränder der traumatisohen Raptaren —
und es sind ja nur solohe, welche er behandelt — «scharf gezackt, gefranzt,
zerrissen, eoohymosirt, sternförmig“ gefunden und gefüllt mit schwarzem, coagu-
lirtem Blute. Die neueren Beobachtungen bestätigen die Angaben jenes Forschers,
zum Theil widersprechen sie ihnen aber auch, denn wir finden neben gezackten
Rissen, neben Rissen mit aufgewühlten Rändern, neben trichterförmigen Rissen,
am Grande mit einem feinen penetrirenden Looh in die linke Kammer, aaoh ganz
glatte Risse, and zwar alle an nicht anderweitig erkranktem Herzen. Sehr grosse
Verschiedenheiten finden auch statt in Bezug auf die Localisation der Ruptar.
In der Regel ist nur ein Herzabschnitt, entweder ein Ventrikel oder ein Vorhof
gerissen, auch isolirte Zerreissuogen des Septum kommen vor; selten trifft die
Ruptur mehrere Abschnitte auf einmal. Ausgenommen sind die ganz colossalen
Verletzungen des Herzens duroh Maschinengewalt, duroh fahrende Züge, duroh
Auffallen schwerster Lasten etc., wobei das ganze Herz zerrissen and zertrüm¬
mert wurde, ja aas dem geplatzten Thorax heraassprang and mehrere Schritte
weit fortflog. Gelegentlich sind aaoh Herzbeutelraptaren 3 ) ohne gleichzeitige
Herzraptur und Herzrupturen ohne Herzbeatelruptar beobachtet worden, ein
Vorgang, welcher lebhaft an gewisse Schassverletzungen des Herzens erinnert.
Es liegt in der Natar dieser sohweren Herzverletzangen, dass dieselben sich
gerne mit Zerreissangen anderer Organe compliciren. Neben colossalen Blut¬
ergüssen in das Pericard oder die Pleurahöhle finden Zerreissangen namentlich
von Leber and Milz mit Abdominalblatung statt.
Befunde, welche auf eine, duroh Section bestätigte Heilung einer vorange¬
gangenen Herzruptur sohliessen Hessen, konnten wir aas der uns zur Verfügung
stehenden Literatur nur einen einzigen entdecken, nämlich bei Fischer 4 ), wo
*) Ohrt, Diagnostik. Berlin 1884. S. 190.
*) Fisoher, 1. o. S. 84.
3 ) Fischer, Die Wunden des Herzens. S. 86.
4 ) Fischer, Ibidem. Fall 443.
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ein Sehnenfleck von der Grosse eines Franken auf der vorderen Herzfläche einer
alten Rippenfractur genau gegenüberlag. Einen Beweis für die Möglichkeit der
Verwechslung von Herzraptaren mit anderen Herzwanden giebt uns Casper-
Liman 1 ). Er beschreibt eine Herzruptar, welche daroh einen Fall aas 40 Fuss
Höhe entstanden war, und wo sich neben schweren Körperverletzungen eine Rup¬
tur des Herzens am Bulbus aortae pulmonalis von Erbsengrösse vorfand, welche
einer Stichwunde täuschend ähnlich sah. Endlich will ich eine persönliche Er¬
innerung aus meiner Studienzeit in München nicht unerwähnt lassen, deren ich
auch noch bei der Therapie der Herzwunden gedenken werde. Wir sahen in der
v. Nussbaum’sohen Klinik einen Mann, welcher an schweren Herzbeängstigungen
und Palpitationen litt und weloher behauptete, er haben einen heftigen Stoss
von einer Wagendeichsel vor die Brust bekommen, und daher schrieben sich seine
Beschwerden. Die Aufzeichnungen aus meinen klinischen Semestern lauten dar¬
über folgendermassen:
„Fall 64. Patient seit langer Zeit völlig arbeitsunfähig, weil er durch den
Stoss einer Deichsel in die Herzgegend getroffen ist. Dieser Stoss hat seinen
Rippen eine solche Stellung gegeben, dass dieselben an ihrem Sternalansatze
links buckelförmig hervorragen, dagegen über dem Herzen vollständig plattge-
drückt sind und einen beständigen hochgradigen Druok auf das schlagende Herz
ausüben. In die Aushöhlung am Thorax kann man etwa eine flache Faust ein-
legen.“ Der Mann wurde durch eine Operation vollkommen wieder hergestellt.
Diesen Fall können wir einreihen in die Zahl der Quetschwunden des Herzens.
Aus den wechselvollen pathologisch-anatomischen Bildern, welche uns die
verschiedenen Herzwunden liefern, können wir mit Recht den Schluss ziehen,
dass auch die Symptome sehr mannigfaltige sein werden. Dass bei den Nadel¬
stichverletzungen des Herzens die sichtbaren, äusseren Symptome wegen der
Dünne des verletzenden Instrumentes oft kaum erkennbar sind, ist vorher schon
gesagt worden. Namentlich kann ein dickes Fettpolster nach Fischer 2 ) die
Einstichöffnung vollständig verbergen. In einem Falle von Dupuytren 3 ) war selbst
der Einstich einer starken langen Sattlernadel nicht entdeckt worden. Zuweilen
fand man in der Gegend des Einstiches eine kleine resistente Stelle unter der
♦ Haut, woduroh der Sitz der Nadel verrathen wurde. Man erkannte ferner die
Verletzung an einem Stecknadelkopfe, weloher nicht mit unter der Haut ver¬
schwunden war; gerade in diesem Falle war die Zerreissung des Herzens durch
die fixirte Nadel eine sehr bedeutende gewesen. 4 ) Ecchymosen an der Stiohstelle,
kleine Blutungen aus derselben sind weitere bemerkenswerthe Symptome, ebenso
die dem Herzschlage synchronen Schwingungen einer Nadel, welche natürlich
nur dann auftreten, wenn die Nadel wirklich im Herzen steckt. Die Ausbeute an
percutorischen und auscultatorischen Symptomen ist bei unseren 42 Fällen eine
’) Casper-Liman, Handbuch der geriohtliohen Medioin. 1889. Bd. II.
S. 134.
2 ) Fischer, Die Wunden des Herzens. S. 64.
3 ) Fischer, 1. c. S. 233. Fall 11.
4 ) Brentano, Zur Casuistik der Herzverletzungen. Dissertation. Berlin
1890. S. 8.
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Ueber die Wanden des Herzens.
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sehr geringe, and was wir finden, stammt aas neuerer Zeit. Hit Bemerkungen
wie: „Herzschlag schlürfend“, „matter Ton in der Herzgegend“ oder: „Herz-
sohlag schwach“, oder: „man erkannte Zeichen acuter Entzündnng des Herzens
and seiner Häute“, lässt sich nicht viel anfangen. Die Angaben der neueren
Forscher sind viel eingehender. Da finden wir bei Hahn l ) „ein lautes systolisches
Geräusch an der Herzspitze“; bei Stelzner 2 ): „ein lautes pericardiales Reibe¬
geräusch an der Herzspitze“. Diese Symptome kann man verwerthen, und die
Möglichkeit ist nicht von der Hand zu weisen, duroh einen charaoteristischen
physicalisoh-diagnostischen Befund zu einer guten Diagnose zu gelangen.
Wenn eine Nadelspitze am Herzen reibt, so bethätigt sich das durch ein Geräusch,
ferner entstehen auch bei Anwesenheit von Nadeln als Fremdkörper Geräusohe,
indem der Blutstrom zu abnormen Flüssigkeitsbewegungen gezwungen wird.
Die von etwaigen inneren Blutungen abhängigen Symptome sind Ohnmäch¬
ten, kleiner Puls, Kälte der Haut, Blässe derselben, Schwindel, Erbrechen,
Atbemnoth, welche sich bei der Tamponade des Herzens zu höchster, cyanotischer
Dyspnoe steigern bann. Die nervösen Symptome Sohmerz, Angst, Verniohtungs-
gefühl vollenden dann mehr oder weniger ausgesprochen das Bild, welches diese
Verletzten bieten.
Bei den Stichsohnittwunden macht man die Beobachtung, dass deren Sym¬
ptome fast immer heftiger und gefährlicher auftreten, als bei der vorhergehenden
Gruppe von Verletzungen. Bei der Grösse der benutzten, meist scharfen Waffen
erscheint das nioht auffällig, und wenn man weiter bedenkt, dass jene Waffen
sich vorwiegend in Männerhänden befinden, welchen sehr häufig verbrecherische
Energie erhöhte Kraft verleiht, so betrachten wir die schweren Verletzungen als
etwas Selbstverständliches. In der Reihenfolge der Symptome wollen wir zuerst
die Hautwunde in der Herzgegend betrachten. Dieselbe wird die im pathologisch¬
anatomischen Theile näher beschriebenen Eigentümlichkeiten nach Lage, Grösse,
Gestalt, Verlauf, Tiefe besitzen; jedenfalls wird sie in der Mehrzahl der Fälle
leicht al3 Wunde kenntlioh sein, was sie von den Nadelstiohen erheblioh unter¬
scheiden dürfte. Nach Sc'halle 3 ) können allerdings aus mittlerer Entfernung
abgeschossene Spitzkugeln und schmale dreischneidige Stosswaffen ganz ähnliche
Wunden liefern, ferner täuschen zuweilen eingedrungene Schrotkörner und Re-
volverspitzkugelwunden die feinsten Stichwunden vor. Das Aussehen der Stich¬
wunde wird dem Alter nach ein verschiedenes sein. Frische Wauden klaffen
etwas, Fettträubohen drängen sich aus denselben hervor, und frisoh ergossenes
Blut hat die nioht geschwollene Umgebung besudelt; ältere Wunden zeigen da¬
gegen schon Spuren entzündlicher Reaction. Nach Becker 4 ) erscheint die
Schnittwunde bei sofortigem Tode an Herzverblutung ganz blass, schlaff. Die
Haut hat duroh die vollständige Blutleere ihren Turgor verloren, sieht wachsbleich
aus; zu irgend welcher Reaction war dem Gewebe gar keine Zeit mehr ge¬
blieben.
') Hahn, Berliner klinisohe Woohonschrift. 1887. S. 329.
3 ) Stelzner, Berliner klinisohe Wochenschrift. 1887. S. 329.
*) Schalle, Georg Fischer, Die Wunden des Herzens. S. 162.
*) Becker, Deutsche Militärärztliohe Zeitschrift. 1885. Heft9. S. 408ff.
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Die Blatong nach aossen ist in der Regel eine ganz bedeatend heftige, na¬
mentlich dann, wenn der Sticbcanal senkreoht zur Axe das Herz durchsetzt and
wenn die Thoraxwande and die Herzwande mit einander angehindert oorrespon-
diren. Die Blatang kann aber auch nach aussen gering sein, ja fast ganz fehlen,
wenn dem Blnte der Weg nach aassen verlegt ist. Als Grande hierfür kennen wir
schrägen Verlauf der Wände, schnellen Verschloss derselben durch Gerinnsel,
Unverletztsein des Herzbeutels, Verstopfung der Thoraxwande. Naoh Fischer 1 )
wirken aach die in der Wände nooh steckenden Instrumente nach Art eines Tam¬
pons and verhindern so die Blatang. Wer dächte da nicht unwillkührlich an den
verwundeten Helden Epaminondas auf dem Sohlachtfelde von Chäronea. Als
symptomatisch wichtig wäre noch die Art der Blutung zu erwähnen. Man be¬
kommt da entweder einen, wie eine Quelle fliessenden, gewaltigen Blutstrom zu
sehen, in welchem beide Blutarten vermischt erscheinen, oder wir haben, weil
die Wunde klein ist, einen feinen verschieden hoch aufspringenden Blutstrahl von
arterieller oder venöser oder gemischter Beschaffenheit. Zuweilen fliesst aber
auch'nur wenig Blut, dann pflegen die Erscheinungen einer inneren Blutung in
den Vordergrund zu treten. Logischerweise müssen wir nnn die Begleitsymptome
so starker Blutverluste betrachten. Obenan steht da die Ohnmacht. Unter
69 Stiohschnittwunden trat dieselbe 20mal sofort ein. 3 ) Brentano 3 ) beobachtet
unter 10 Fällen 6 mal sofortige Ohnmacht. In wieder anderen Fällen fehlte vor¬
erst jedes Symptom einer Ohnmacht. Die Patienten konnten nooh Wege von 15
bis mehreren hundert Schritten machen, Treppen steigen, l 1 /» Meilen reisen,
6 Tage hintereinander zum Verbände ins Spital kommen. 4 ) Daroh diese Beob¬
achtungen wird der forensisch wichtige Nachweis geliefert, dass Leute noch allerlei
verrichten können, selbst wenn sie, wie die späteren Sectionen in jenen Fällen
es erwiesen, eine oder mehrere penetrirende Schnittwunden im Herzen haben.
Noch mehr gilt dieses naoh Hofmann 8 ) von Herzwunden, welche nioht
penetriren. Unter den übrigen Symptomen der Herzschnittwunden wollen wir
noch als sehr wichtig die der Percussion und Auscultation erwähnen, und wollen
uns, um Wiederholungen zu vermeiden, künftig auf diese Stelle beziehen. Durch
Vergrösserung der Herzdämpfang und Auftreten einer Dämpfung in den hinteren
unteren Thoraxgebieten wird uns über das Bestehen eines Haemoperioard und
eines Haemothorax Aufschluss gegeben. Das Auftreten eines tympanitisohen
Schalles an Stelle der Herzdämpfung ist das entscheidende Symptom für Pneumo-
perioard und Mitverletzung der Lungen, auch über Pneumothorax muss tympani-
tischer Schall sich ergeben. Bei allen diesen Erscheinungen müssen natürlich
differentialdiagnostisohe Erwägungen getroffen werden, damit nichts der Herz¬
wunde zur Last gelegt wird, was anderweitige Ursachen hat. Die Mitverletzung
der Lunge erkennt man am Austritte von schaumigem Blut aus der Brustwunde 6 ),
*) Fischer, Die Wunden des Herzens. S. 117.
2 ) Fischer, Die Wunden des Herzens. S. 120.
3 ) Brentano, Zur Casuistik der Herzverletzungen.
4 ) Fisoher, Die Wunden des Herzens. S. 123.
8 ) Hofmann, Lehrbuch der gerichtliohen Medicin. 1881. S. 433.
e ) Brentano, Zur Casuistik der Herzverletz. Diss. Berlin 1890. S. 16.
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Ueber die Wunden des Herzens.
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auch wurde einmal ein eigenthümlioh gurgelndes Geräusch gehört, welches auf
Loftein- nnd Anstritt an dem mit Blot gefüllten Herzbeutel gedeutet wurde. Die
verschiedenen Medien, durch welohe die Herzgeräusohe durohdringen, werden
modificirend auf den Klang derselben einzuwirken vermögen. Der erste, welcher
überhaupt auf ein pathologisches Geräusch bei Herzwunden aufmerksam maohte,
war Ferrus 1 ), er bezeichnete dasselbe als „wellenförmig knisternd“ und als
w Feilengeräusch“. Heute ist die Zahl derartiger Geräusche bereits erheblich
grösser. Nach Koenig 2 ) werden sie als sägend, blasend, zischend, pfeifend, me¬
tallisch, Geräusch des hydraulischen Rades etc. bezeichnet. Da wir aus der inne¬
ren Medicin wissen, dass pathologische Herzgeräusche überall da entstehen, wo
der Blutstrom Unregelmässigkeiten im Bau des Herzens oder Fremdkörper an¬
trifft, und dass dadurch die einzelnen Bluttheilchen zu ganz abnormen Bewegun¬
gen gezwungen werden, so ist es erklärlich, das9 durch Verwundungen des Her¬
tens ganz plötzlich solche Geräusche entstehen. Es bleibt principiell für den Er¬
folg dasselbe, oh wir eine durch ulceröse Endocarditis zerstörte arterielle Klappe
vor uns haben oder eine durch einen Dolchstoss zerschnittene ebensolche Klappe,
denn in beiden Fällen wird ein diastolisches Geräusoh auftreten können.
Auch von den Schusswunden kann man sagen, dass ihre Symptome sehr
heftiger und stürmischer Art sind. Schon die äussere Wunde bestätigt meistens
den Eindruck einer stattgehabten ungewöhnlichen Gewalteinwirkung. Sie ist bei
Schüssen aus nächster Nähe verbrannt, mit Pulver beschmutzt, rund oder stern¬
förmig zerrissen und gähnt nicht selten in die Tiefe der Brust förmlich hinein.
Das habe ich selbst in einem Falle gesehen und auoh bei Hof mann 3 ) findet
sich solche Wunde beschrieben. Bei anderen Verletzten findet sich nur eine
schmale Ritze, der charaoteristische Pulver- und Brandhof ist vorhanden, kann
aber auch fehlen. Letzteres beobachtete Li man 4 ). Ein notorischer Selbstmörder
hatte aus näohster Nähe beide Läufe eines Doppelterzerols gegen sioh abge¬
schossen, dennoch zeigte die Haut keine Spur einer Verbrennung oder Suggila-
tion. Wenn aber Baur s ) sagt: „Die Wunde der Thoraxwand bietet weiter nichts
Charaoteristisches, “ so trifft das unserer Meinung nach nicht ganz zu, denn über
das Dasein einer Einsohusswunde kann in vielen Fällen gar kein Zweifel ob¬
walten. Die Blutung kann wie bei den Stiohsohnittwunden in Strömen sioh nach
aussen ergiessen, es kann jedoch auoh äusserlich wenig Blut zu sehen sein, da¬
gegen sind die Zeichen einer inneren Blutung ausgesprochen vorhanden. In der
Regel leitet sofortige Bewusstlosigkeit und damit verbundenes Niederstürzen die
Scene ein, es kommt aber auch vor, dass der Getroffene noch mehrere Schritte
läuft, mit lauter, klarer Stimme spricht und erst dann zu Boden sinkt. Im Bren-
tano’schen Falle 32 stürzte die betreffende Person zwar sofort nieder, behielt
*) Ferrus, Fischer, Die Wunden des Herzens. Fall 21.
2 ) Koenig, Lehrbuch der speciellen Chirurgie. 1885. Bd. II. S. 43.
3 ) Hofmann, Lehrbuch der gerichtlichen Medioin. 1881. S. 279.
4 ) Cas per-Li in an, Handbuch der gerichtlichen Medicin. 1889. Bd. II.
S. 254.
8 ) Baur, Ueber die Schussverletzungen des Herzens. Dissertation. Berlin
1887. S. 13.
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Dr. Elton,
aber das Bewusstsein, raffte sioh wieder anf nnd entfernte sich eine ganze
Strecke und dabei fand man — eine Eröffnung der linken Kammer von 15 mm
Länge und 8 mm Breite. Es blieb auch nach empfangenem üerzschuss aufrechte
Stellung und Bewusstsein natürlich auch erhalten und der Verletzte kletterte
nooh die Spitaltreppe hinauf. Die Klagen über Schmerzen sind meist unbedeu¬
tend. Der Herzmuskel ist überhaupt ein Organ mit wenig sensibler Innervation,
nur die Spitze scheint empfindlicher. Die Klagen sind dementsprechend immer
etwas unbestimmt; es wird über dumpfen, bohrenden, brennenden Schmerz in der
Herzgegend oder in der ganzen Brust, zuweilen auch garnicht geklagt, dagegen
peinigen den Kranken Angst und Athemnoth in verschiedenen Steigerungen. Da¬
neben sind die weiter oben bereits erwähnten Symptome der Verblutung regel¬
mässige, unlöschbarer Durst und Flüstersprache, närrischer Qesichtsansdruck
mehr zufällige Befunde.
Während nun bei frischen, bald zum Tode führenden Herzschusswunden
die äussere Wunde, die Blutung, die Ohnmaoht und die damit eng verbundenen
Allgemeinsymptome vorherrschen, haben wir bei älteren Wunden, bei welchen
Entzündungen sich zu entwickeln Zeit batten, wieder complicirtere Krankheits¬
erscheinungen zu erwarten. Der ganzen Schaar der bei den Stichsohnittwnnden
erwähnten Complicationen begegnen wir auch hier wieder, und der physicalisohen
Diagnostik werden die verschiedensten Aufgaben gestellt. Pleuritis, Perioarditis,
Endocarditis, Haemothorax, Pneumothorax, Haemopneumothorax, Haemopneumo-
pericard, Empyem, die verschiedensten extra- und intracardialen Qeräusohe treten
auf. Es würde zu weit führen, die Symptome aller dieser Erscheinungen
hier wieder einzeln zu besprechen; dieselben sind ja genugsam bekannt,
und das oben darüber Gesagte behält auch für die Herzschusswunden seine
Geltung.
Bei den Quetschwunden und Rupturen des Herzens kommt es ähnlich wie
bei den Nadelverletzungen vor, dass eine äussere Wunde am Körper überhaupt
nicht zu entdecken ist. Doch darf man sioh bei den Rupturen nicht nur die Herz¬
gegend allein ansehen, sondern man fahnde am ganzen Körper nach einer Con-
tusion oder Wunde. Es ist von vornherein möglich, dass das Herz an einer ganz
anderen Stelle als von der Herzgegend her durch Gegenstoss zerrissen oder abge¬
rissen ist. Bei ganzen oder theilweisen Zermalmungen des Körpers werden wir
natürlich neben der Herzruptur auch äussere Wunden zu erwarten haben, in
milderen Fällen finden wir.höohstens eine unbedeutende, bräunliche Abschürfung.
Die übrigen Symptome, wenigstens diejenigen der sofort tödtenden Rupturen
decken sich mit denjenigen anderer Herzwunden, welche ebenfalls einen sofortigen
Tod bedingen; wir führen nur sofortige Bewusstlosigkeit, Niederstürzen, Cyanose,
innere Blutung, vielleicht auch Bluterguss aus dem Hunde an. Ist die Ruptur
sehr klein, so kann sich das Leben etwas länger erhalten, denn es werden sich
die Anzeichen der Tamponade des Herzens ganz allmälig entwickeln. Diesen
häufigsten Symptomen eines schnell eintretenden Todes stehen nun wieder Aus¬
nahmebeobachtungen gegenüber. So ging z. B.') ein Kranker mit einer Ruptur
noch 100 Schritte, ein anderer fahr noch eine Stunde auf dem Wagen und ging
•) Fischer, Die Wunden des Herzens. S. 123.
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Ueber die Wanden des Herzens.
31
dann in das Spital. Die etwa auftretenden Schmerzen richten sioh mit nach an¬
deren, gleichzeitigen Verletzungen, Rippenbrächen, Contasionen etc.
Dass die Diagnose der Wanden des Herzens eine sehr schwierige ist, wird
von sämmtlichen Autoren anerkannt. Es gelingt zwar, für die einzelnen Arten
von Verletzungen gewisse pathologisch-anatomische Eigentümlichkeiten und
Krankheitsersoheinungen festzustellen, aber darin liegt auch nicht die Schwierig¬
keit begründet, sondern die liegt vielmehr in der praktischen Anwendung auf die
Diagnose am lebenden Menschen. Die sich wiedersprechendsten Krankheitsbilder
bei anscheinend den gleiohen Verletzungen, die heftigste Reaotion und sofortiger
Tod nach einer scheinbar geringen Wunde, und andererseits bei offenbar schwe¬
ren Wunden anfänglich geringfügige Symptome und längeres Erhaltenbleiben
des Lebens, Alles das ist geeignet, die Schwierigkeiten der Diagnose zu erhöhen.
Die Diagnose der Nadelverletzungen des Herzens kann gestellt werden einmal
durch äussere Symptome. Dahin gehört die Auffindung einer Einslicbsstelle oder
sogar Finden der Nadel selbst im Bereiche der relativen Herzdämpfung, deren
Grenzen wir uns nach Vierordt 1 ) gezogen denken. Eine auffallende Kleinheit
jeder Wunde in der Herzgegend könnte a priori den Schluss auf eine stattgehabte
Nadelverletzung rechtfertigen, doch muss im Allgemeinen der Naohweis dieser
Verletzungen nach Weil 3 ) als äusserst schwierig betrachtet werden. Aus der
äusseren Blutung lassen sich auch keine bestimmten Schlüsse ziehen. Dieselbe
ist, wie wir wissen, sehr gering, ja kann sogar ganz fehlen. Diagnostisch wichtig
sind dagegen die Zeichen einer inneren Verblutung bei einer vorhandenen kleinen
Wunde in der Herzgegend. Sehr werthvoll für die Diagnose ist der Nachweis
von Nadelschwingungen synchron mit dem Herzschlage, denn die Nadel muss im
Herzfleisch steoken, mindestens aber das Herz stark berühren, wenn es ihr seine
Eigenbewegungen mittheilen soll. Da eine Sondirung des Stichkanals zum Zweck
des diagnostischen Nachweises einer penetrirenden Herzwunde zu verwerfen ist,
so lassen wir sie unberücksichtigt. Gesetzt den Fall, es wäre durch die Anamnese
oder den Augenschein eine Nadelverletzung naohgewiesen, es wäre uns aber
nichts bekannt über die Tiefe, bis zu weloher die Nadel eindrang, und darüber,
ob sie das Herz überhaupt getroffen hat, so haben wir in den Ergebnissen der
Percussion und Auscultation ein weiteres diagnostisches Hülfsmittel. Ein den
Herzbeutel ausdehnender Bluterguss muss in einer Vergrösserung der Herz¬
dämpfung zum Ausdruck gelangen. Sohabt die Nadel am Herzen, so kommt ein
charakteristisches Reibegeräusoh zum Vorschein. Die praktische Erfahrung be¬
stätigt zu voll diese theoretischen Schlüsse. In dem von Hahn 3 ) mitgetheilten
Falle war einem 11jährigen Mädchen eine dicke Stricknadel in die linke Brust
gedrungen. Das Kind kam asphyktisch in das Krankenhaus, wo man in der Herz¬
gegend eine abgebrochene Nadel erkannte. Ein lautes systolisohes Geräusch war
an der Herzspitze zu hören. Die Nadel wurde langsam extrahirt, und es waren
deutliche Schwingungen derselben gleichzeitig mit dem Spitzenstoss erkannt.
Nach gelungener Extraction war das systolische Geräusch sofort verschwunden. —
') Vierordt, Peroussion und Auscultation. Tübingen 1884. S. 12.
2 ) Weil, v.Maschka’s Handbuch der gerichtlichen Medioin. Bd. 1. S. 276.
3 ) Hahn, Berliner klinische Wochensohrift. 1887. S. 329.
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Dr. Elten,
Selbstverständlich nehmen anch die Anzeichen einer Blutung nnd die nervösen
Allgemeinsymptome bei der Diagnose dieser Grnppe von Verletzungen eine her¬
vorragende Stelle ein.
Was nnn die Diagnose der Stich-Schnittwunden anbetrifft, so werden in der
Regel wenigstens darüber keine erheblichen Zweifel bestehen, ob eine Stioh-
Schnittwnnde vorliegt oder nicht. Verwechslungen wären denkbar mit Spitz-
kagel- oder Schrotschüssen and Stichwanden mit feinen, dreikantigen oder rhom-
boiden Klingen. Das Vorhandensein von Polverschwärznng and von Brandmalen,
ferner die etwas gequetschte Eingangsöffnung und auch die näheren Umstände
des Falles werden meistens die Diagnose ermöglichen. Schwieriger wird die
Unterscheidung bei Schusswunden, welche daroh ein aus weiter Eotfernung kom¬
mendes kleines Spitzkugelprojectil erzeugt sind. Die näheren Umstände des
Falles könnten auch hier die Diagnose klären, aber nach Hof mann *) ist es doch
vorgekommen, dass anfänglich eine Revolversohusswande für eine Stichwunde
gehalten und demgemäss begutachtet wurde.
Ganz bedeutend schwierig gestaltet sich aber die Frage, ob überhaupt eine
Wunde in der Herzgegend penetrirend oder nicht penetrirend ist, und ob eine
reine Herzwunde vorliegt, oder eine die Lunge mitverletzende und die Pleurahöhle
eröffnende, oder ob endlich nur eine Lungenwunde vorliegt. Die Diagnose einer
penetrirenden Brustwunde beruht nach Koenig 2 ) auf dem Nachweise von Blut¬
erguss und Lufteintritt in die Pleurahöhle. Die Luft kann mit Geräusch aus der
Wunde strömen, auch sich nebenbei noch in der Pleurahöhle ansammeln; ebenso
verhält sich die Blutung, und es spricht ein Erguss sohaumigen Blutes aus der
Wunde unbedingt für Penetration, da er beide Cardinalsymptome in sich ver¬
einigt. Neben diesen „mechanischen“ Symptomen verlangt Koenig 3 ) zur Dia¬
gnose auch den Nachweis „functioneller“ Störungen, z. B. Athemnoth, Ohn¬
macht, schwacher Puls, Lungen vorfall. Durch Alles das wäre aber erst die Frage
entschieden, ob eine Wunde penetrirt oder nicht. Eine weitere Frage ist die,
penetrirt sie in Herzbeutel oder Herz, penetrirt sie ausserdem noch in die Pleura¬
höhle oder die Lunge. Hier thürmen sich ganz ausserordentliche diagnostische
Schwierigkeiten auf.
Eine reine penetrirende Herzwunde ist nach Becker 3 ) nur an der Stelle zu
diagnostioiren. wo der Herzbeutel mit der Brustwand verwachsen ist. Neben
diesem Erforderniss werden aber auch die topographische Lage und Riobtung
der Wunde, die muthmassliche Tiefe, bis zu welcher die Waffe eindrang, die Be¬
sichtigung der Waffe selbst, die Art der Blutung und das Fehlen jeglicher Lun¬
gen- und Pleurasymptome die Diagnose mitunter ermöglichen. Eine oombinirte
Herzlungenwunde ist durch den Nachweis von Pneumoperioard der Diagnose zu¬
gänglich und wird duroh blutiges Sputum nnd Luftaustritt aus der Wunde noch
wahrscheinlicher. Ein gewaltiges, diagnostisches Hülfsmittel würde in allen
Fällen eine mit dem Herzschlage synchrone oder auch continuirlich strömende
Blutung sein, namentlich dann, wenn complicirende Gefässverletzungen der
') Hofmann, Lehrbuoh der gerichtlichen Medicin. S. 282.
~) Koenig, Lehrbuoh der speoiellen Chirurgie. Bd. II. S. 26.
3 ) Becker, Deutsche Militärärztliche Zeitschrift. Jahrgang XIV. Heft 9.
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Ueber die Wanden des Herzens.
33
Langen, der Art. intercostales, der Mammar. interna der Thoracica longa ausge¬
schlossen werden können. DieSonde als diagnostisches Hülfsmittet za verwerthen,
ist nach anseren heutigen Begriffen ein Kunstfehler. Manche Täuschungen kom¬
men bei der Diagnose vor. So glaubte man in dem Palle 218 bei Fischer 1 )
sicher, eine nicht penetrirende Wunde vor sich zu haben und fand nachher das
ganze Herz von einem Radirmesser durchbohrt. Derartige Beobachtungen existiren
mehrere, daher gelangt Fischer 2 ) zu demSchlusse, dass es kein einziges patho-
gnomisches Symptom giebt, welches mit absoluter Sicherheit eine Herzwunde
diagnosticiren lässt, erst eine Summe von Symptomen ermögliche das. Auf dem
Standpunkt stehen auoh wir heute noch, jedoch geben wir zu, dass die Einzel¬
heiten der diagnostischen Bemühungen besser als früher ausgebildet sind, und
darin ist gegen früher ein Fortschritt zu erblicken.
Nadelstichwundeu und StichschnittwundeD in der Herzgegend als solche zu
erkennen, ist uns in manchen Fällen möglich; das glauben wir im Vorhergehen¬
den gezeigt zu haben. Auoh bei den Schusswunden ist die Möglichkeit nicht
ausgeschlossen, den Charakter der Verletzung zu erkennen. Wir werden nicht
zögern, da eine Schusswunde zu diagnosticiren, wo wir die charakteristischen,
pathologisch-anatomisohen Merkmale derselben finden. Die Schwierigkeiten in
der Diagnose fangen erst da an, wo Abweichungen von der Norm vorhanden sind.
Nach Weil 3 ) können mit grosser Durchschlagskraft senkrecht auftreffende kleine
Spitzkugelprojectile ovale oder lineare Wunden erzeugen, ohne jedes weitere,
charakteristische Zeichen an den Rändern. In solchen Fällen müsste es einst¬
weilen unentschieden bleiben, womit die Wunde zugefügt wurde, und es müsste,
falls man die Diagnose an der Leiche stellen soll, das Resultat der Section ab¬
gewartet werden. Bei einem Kinde 4 ) wurde eine penetrirende Schusswunde ganz
und gar geleugnet. Man diagnosticirte einen unerheblichen Streifschuss und
glaubte als causa mortis einen Brechdurchfall erkannt zu haben. Bei der Section
fand sich ein Spitzkugelschuss duroh das ganze Gehirn. So könnte man mit ge¬
ringer Mühe noch mehrere Beispiele anführen, welche die unerwarteten Schwierig¬
keiten der Diagnose illustriren. Es erscheint uns daher nicht genügend gerecht¬
fertigt, wenn Baur 5 ) diese anerkannten Schwierigkeiten mit der Bemerkung
streift, dass es kaum schwer halten könne zu entscheiden, ob eine Verletzung
eine Schusswunde sei oder nicht. Das verhält sich eben nicht so.
Die nächstwichtige Frage würde die sein, ob wir eine penetrirende Wunde
vor uns haben; ferner müsste es entschieden werden, ob die Penetration nur in
den Brustfellraum oder auoh in Herzbeutel und Herz reicht. Da stehen wir vor
denselben diagnostischen Schwierigkeiten, die wir bei den Stiohschnittwunden
antrafen. Einige Punkte wollen wir zur Ergänzung unserer früheren Angaben
•) Fischer, 1. o. S. 156.
2 ) Fischer, 1. o. S. 160.
3 ) Weil, v.Mascbka’s Handbuoh der gerichtlichen Medicin. Bd. I. S. 218.
4 ) Casper-Limau, Handbuch der gerichtlichen Medicin. Bd. II. S. 246.
s ) Baur, Ueber die Schuss Verletzungen des Herzens. Dissertation. Berlin
1887. S. 15.
\ icrteljfthraachr. f. ger. Med. Drille Folge. V. 1.
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Dr. Elten,
noch berühren, müssen aber im Uebrigen auf jene Angaben, um Wiederholungen
zu vermeiden, verweisen. Die Diagnose könnte zunächst sicherer werden durch
eine genaue Feststellung der topographischen Lage der Wunde, und es müsste
dabei berücksichtigt werden, bei welcher Lage der Weichtheilwunde statistisch
am häufigsten irgend ein Theil des Herzens mitverletzt ist. Diese Erwägungen
geben aber keine absolute Sicherheit, sondern nur höhere Wahrscheinlichkeit für
die Richtigkeit der Diagnose. Nach Fischer 1 ) kommen die meisten Herzwunden
bei Sitz der Weichtheilwunde im 5. linken Intercostalraum vor, dann folgt der
4., 6., 3., 2. Intercostalraum. Rechts zeigt der 4. Intercostalraum die meisten
Herzwunden, es folgt dann der 3., 5., 2., 7. Intercostalraum. Aus dieser Unter¬
suchung Fischer’s geht hervor, dass Wunden im 5. und 4. Intercostalraum
links und im 4. und 3. Intercostalraum rechts mit einem hohen Qrade von Wahr¬
scheinlichkeit ceteris paribus für Mitverletzung des Herzens sprechen. Dass wir
auch die Blutung als diagnostisches Hülfsmittel zu verwerthen haben, ist selbst¬
verständlich. Diese kann nun so colossal und synchron mit dem Herzschläge
nach aussen strömen, dass jeder Zweifel über die Mitverletzung des Herzens aus¬
geschlossen erscheint. Wie aber, wenn es unentschieden bleiben muss, ob ein
Lungengefäss, eine Mammaria, eine Iotercostalis oder eine der grossen Körper¬
adern blutet? Wie oft wurde eine mässige Blutuog als nicht aus dem Herzen
stammend angesprochen, und nachher ergaben siob die schwersten Verletzungen
desselben, welche nur vorläufig durch abgebrochene Waffen, durch schrägen Ver¬
lauf, durch Blut- und Fibrinpfröpfe ganz oder theilweise verschlossen waren.
Wir gelangen also wiederum zu dem Resultate, dass Blutungen zwar sehr brauch¬
bare, aber in den seltensten Fällen absolut siohere Hülfsmittel zur Diagnose sind.
Sie können beim Zusammentreffen mehrerer Symptome zwar von entscheidender
diagnostischer Bedeutung sein, andererseits aber auch nichts für die Diagnose
leisten, wenn weitere Handhaben mangeln. Inwiefern gleichzeitige Verletzungen
der Lunge die Diagnose erleichtern, ist ebenfalls bei den Stioh-Sohnittwunden
des Näheren gezeigt.
Der Diagnose der Herzrupturen und Quetschungen gebührt nur in den Fällen
eine praktische Bedeutung, wo nioht sofortiger Tod eintritt. Wir stellen die Dia¬
gnose auf Herzruptur, wenn wir einschliesslich einer genauen Anamnese etwa
folgenden Befund vor uns haben: Starke Gewalteinwirkung auf die Herzgegend
oder die ganze Brust. Aeusserlich entweder keine Wunde oder einige wenige
Suggillationen. Zeiohen von Fracturen der Rippen oder des Brustbeines, viel¬
leicht mit Dislocation der Fragmente. Allgemeine Zeichen einer inneren Blutung.
Physikalisch-diagnostische Zeichen eines Blutergusses im Herzbeutel oder Brust-
fellsaok. Daneben Ohnmacht, tiefster Collaps und nervöse Erscheinungen. Bei
der Diagnose muss die Möglichkeit der isolirten Ruptur eines anderen Organes,
z. B. Leber oder Lunge erwogen werden. Die Ruptur der letzteren wird wahr¬
scheinlich durch eine Haemoptoe. Bei Leber- und Milzruptur kann Bluterguss in
die Abdominalhöhle und allgemeine Anämie die Diagnose erleichtern. Compli-
oirte Rupturen verschiedener Organe gestatten im Einzelnen wohl nur eine Wahr¬
scheinlichkeitsdiagnose, während die allgemeine Diagnose, dass es sich um die
*) Fischer, Die Wunden des Herzens. S. 107.
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Ueber die Wunden des Herzens.
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Ruptur eines oder mehrerer innerer Organe handelt, keinen allzugrossen Schwie¬
rigkeiten unterliegen dürfte.
Die Prognose der Herzwunden muss bei den einzelnen Gruppen verschieden
gestellt werden. Sie wird vor allen Dingen beherrscht durch die Grösse der
Verletzung, durch die Blutung, durch die Frage, ob penetrirend oder nicht pene-
trirend. Gewisse Abschnitte des Herzens geben eine bessere Prognose, so z. B.
Septum, Spitze, Herzbeutel eine bessere als die Ventrikel, letztere wieder eine
bessere als die Vorhöfe. Eine speoiellere Behandlung der verschiedenen Prognosen
führt uns zuerst auf die Prognose der Nadelstiohverletzungen des Herzens. Die¬
selbe kann nioht als schleoht bezeichnet werden, denn von 42 Verletzten heilten
18, darunter 6 naoh stattgehabter Operation. Die Verletzungen des rechten Ven¬
trikels scheinen ungünstiger zu verlaufen als die des linken, die der Ventrikel
günstiger als die der Vorhöfe; am günstigsten die des Herzbeutels allein. Von
ganz bedeutendem Einflüsse auf die Prognose ist es, ob die Wunde penetrirt oder
nicht. Eine nicht penetrirende Wunde von einer dünnen Nadel hat eine günstige
Prognose, das bestätigt auoh Steiner 1 ) in seiner Arbeit über Akupunotur des
Herzens, welch letztere allerdings von Fischer 3 ) ganz und gar verworfen wird.
Dass die Fälle, bei welchen die Nadel zwar nooh als Fremdkörper steoken ge¬
blieben ist, jedoch unbehindert den Eigenbewegungen des Herzens folgen kann,
prognostisch viel günstiger zu beurtheilen sind, als diejenigen, bei welchen die
Nadel festsitzt und die Bewegung des Herzens unausgesetzt stört, war schon
oben näher ausgeführt. Ehe aber die Nadel eine ungefährliche Lage angenommen
hat, kann sie auf dem Wege dorthin tödtliche Verletzungen erzeugen. Erst wenn
sie endgültig zur Ruhe gekommen ist, tritt die prognostisch bessere Beurtheilung
des Falles in seine Reohte.
Die Akupunotur 1 ) des Herzens ist naoh Fisoher 2 ) sohon aus dem Grunde
zu verwerfen, weil Verletzungen des reohten Vorhofes und des rechten Ventrikels
mit „einer zum Theil sehr feinen Nadel" sofort tödtlich endeten. Ueber die Ent¬
wicklung der Akupunotur gelang es uns, einige Angaben zu sammeln. Sohon
gegen Ende des 16. Jahrhunderts sind Experimental versuche damit von Sanc-
torius gemacht worden; in neuerer Zeit von Jung und Hortwig. Alle drei
Forscher experimentirten am Thierherzen und gelangten zu der Ansioht, dass
durch Nadeln oder Nägel erzeugte Herzwunden bei Thieren heilen könnten. Naoh
Fischer 2 ) punotirte Peyrou das Herz einer 18jährigen Frau wegen Rheuma¬
tismus (!); Antonio Corraro brachte die Akupunctur bei Scheintod in Vor¬
schlag (1829) und Searle endlioh machte 1831 den Versuch mit der Aku¬
punctur im aspbyktisohen Stadium der Cholera am Mensoben, hatte aber keine
praktisch brauchbaren Ergebnisse. Eine sehr eingehende Studie finden wir über
„ Electropunctur des Herzens als Wiederbelebungsmittel in der Chloroformnar¬
kose" ') im Langenbeck’sohen Archiv von Steiner. Die hauptsäohliohsten
Ergebnisse derselben sind auszugsweise folgende.
1) Stiche mit einer feinen Nadel in eine Herzkammerwand, welohe
') Steiner, Ueber die Electropunctur des Herzens. Langenbeck’s Archiv.
Bd. XU. Heft 111. Berlin 1871.
2 ) Fisoher, 1. o. S. 196.
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Üri .nal fro-m
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Dr. Elten,
nicht perforiren, sind ungefährlich; aber auoh perforirende Stiche
sind nichts gefährlicher, sobald die eingestoohene Nadel nioht fest-
gehalten wird.
2) geht aus Steiner’s Versuchen hervor, dass Herzwunden mitNadeln
heilen können, um so leichter, je feiner die Nadel ist und mit um
so grösserer Vorsioht sie ein* und ausgefübrt wird.
Sehr interessant ist schliesslich auch die Bestätigung der Tbatsache, dass
durch irgendwie festgehaltene Nadeln das Herz zerfasert und perforirt werden
kann. Die Untersuchungen Steiner’s gipfeln in der Behauptung, dass es keine
Stelle am ganzen Herzen gebe, an welcher die Sich Verletzung mit einer feinen
Nadel sofort tödtlich zu werden pflegie, dass daher gegen eine mit Vorsicht aus-
gefübrte Akupunciur nichts Erhebliches eingewandt werden könne. Wir können
uns dieser Meinung nicht vollkommen anschliessen, sondern hallen, obgleich feine
Stichwunden des Herzens gelogentlich ohne Reaction ertragen werden, die Aku-
punctur für eine — nicht unbedenkliche — Operation, wir haben auch nicht
gehört, dass ihr von den Chirurgen der Jetztzeit eine therapeutische Bedeutung
beigemessen wird.
Auch lür die Slicbsrhnittwunden ist es prognostisch bedeutungsvoll, ob die
Wunde penetrirt oder nicht penetrirt. Nicht penetrirende Wunden halten die
Blutung vorläufig hintan, wir sagen vorläufig, denn es kam vor, dass eine nicht
ganz penetrirende Wunde durch den Druck des Ventrikelblutes zu einer pene-
trirenden wurde. — Nach unserer Untersuchung heilten von 295 Fällen im
Ganzen 47, das ist prooentual ganz erheblich weniger als bei den Nadelstich¬
wunden, wo von 42 Verletzten 18 heilten. Auch den Umstand, dass 62 Fälle
sofort tödleten und 166 Fälle später, kann man prognostisch verwerthen, wenn
man feststellt, welche Abschnitte des Herzens bei den sofort tödtenden und welche
bei den später tödtenden Wunden getroffen waren. Unter den sofort tödtenden
Wunden wurde 22mal der rechte und 18mal der linke Ventrikel getroffen. 8mal
beide Ventrikel, das spricht für eine grössere Gefährlichkeit der Wunden des
dünnwandigen rechten Ventrikels. Bei den später tödtenden Wunden finden wir
in der Zeit von einer Stunde — 1 Tag nach der Verletzung den linken Ven¬
trikel vorherrschend, nämlich unter 57 Fällen 20mal den rechten und 26mal den
linken Ventrikel. Je länger sich nun das Leben binzieht, finden wir häufiger den
rechten als den linken Ventrikel verletzt, nämlich in der Zeit vom ersten Tage
bis Ende der ersten Woche 21 mal den rechten Ventrikel und I9mal den linken
Ventrikel, 3 mal beide Ventrikel. Bei Todesfällen in der zweiten Woche war
12mal der rechte und 4mal der linke Ventrikel verletzt. In der dritten Woohe
haben wir 2mal den rechten und lmal den linken; in der vierten Woohe 2mal
den rechten und keinmal den linken Ventrikel getroffen gefunden. Danach neigt
sich die bessere Prognose bei den später tödtenden Fällen nach dem rechten Ven¬
trikel hinüber. Bei den Heilungen, welche durch dieSeotion naohgewiesen werden
konnten, befand sich 6mal der rechte Ventrikel, 3mal der linke Ventrikel, 2mal
beide Ventrikel; auch das stellt den reohten Ventrikel prognostisch besser. Die
symptomatischen Heilungen habe ich, weil der verletzte Herzabschnitt nicht
sicher festgestellt werden konnte, ausser Acht gelassen. Die Stichscbnittwunden
des Herzbeutels stellen sich prognostisch bedeutend besser, denn von 31 der-
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Ueber die Wanden des Herzens.
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artigen Wunden, aber welche Fischer 1 ) genaue Angaben fand, führte keine
den sofortigen Tod herbei, 15 tödteten später and 13 gelangten zar Heilung.
Von grosser prognostischer Bedeatang ist auch hier der schräge Verlauf der
Wanden, ferner auch die Tiefe des Anfangscollapses. Derselbe ist besonders da
von günstigster Wirknng, wo eine Herzwaude infolge des intracardialen Druckes
nicht zur Verklebung kommen kann. Der tiefe Collaps setzt diesen Druck erheb¬
lich herab, die Wundränder können sich nähern und sogar vereinigen, ln ver¬
zweifelten Fällen hat der Arzt im Aderlass ein Mittel, den intracardialen Druck
künstlich herabzusetzen.
Von den 111 Schussverletzungen, welche wir unserer Arbeit zu Grunde ge¬
legt haben, gelangten 20 zur Heilung, was procentual wieder weniger als bei
den Stich-Schnittwunden ist. wo von 295 Fällen 47 heilten. Danach scheint den
Schusswunden die bisher schlechteste Prognose eigen zu sein. Der 20 festge¬
stellten Heilungen wegen kann jedoch die Prognose nicht als absolut schlecht
gelten, ausgenommen sind natürlich die schweren Schussverletzungen mit Zer¬
trümmerung ganzer Herzabschnitte. mehrfacher Eröffnung seiner Höhlen, nament¬
lich der Vorhöfe. Bei solchen Verletzungen tritt der Tod ein, ehe man Zeit bat,
sich die Prognose zu überlegen. Ueber die Verletzung der einzelnen Herzab¬
schnitte könnten aus den vorliegenden Sectionsergebnissen weitere prognostische
Schlüsse gezogen werden, und das ist auch von mehreren Autoren in genügendem
Maasse geschehen, auch von uns selbst an früherer Stelle. Es will uns aber be¬
danken, als ob ein grosser Unterschied in praxi besteht zwisohen der Prognose,
welche der Arzt am Krankenbette des in das Herz geschossenen Patienten zu
stellen vielleicht gezwungen wird, nnd zwischen der Prognose, welche auf Grund
vorliegender Sectionsbefunde hinterher theoretisch construirt wird. Stellt man
statistisch fest, dass bei so und so vielen Verletzungen der rechten oder linken
Kammer so und so viel öfter bei der einen als bei der anderen ein schlimmer
Ausgang die Regel ist, so ist man auf Grund der Section zu Rückschlüssen auf
die Prognose ohne Zweifel berechtigt, da schafft eben die Section die Sicherheit
des Urtbeils. Woher sollen wir aber diesen festen Grund und Boden bernehmen
am Krankenbette, zumal wir uns aller Schwierigkeiten einer guten anatomischen
Diagnose voll bewusst sein müssen! Wir werden höchst selten in die Lage kom¬
men, am Krankenbette vorherzusagen: „Dieser Fall ist prognostisch günstig zu
beurtheilen, weil die Wunde nicht penetrirt, weil sie ausserdem schräg verläuft,
weil sie nur die Herzspitze getroffen hat.“ Von dieser iroponirenden Sicherheit
der Diagnose sind wir leider noch weit entfernt. Vom theoretischen Standpunkte
aus ist es höchst interessant zu wissen, dass durch viele Sectionen und Sta¬
tistiken die grössere Gefährlichkeit der Vorhofswunden gegenüber den Kammer¬
wunden feststeht, was sollen wir aber damit anfangen bei einer Herzwunde, aus
welcher es uns heftig entgegenblutet, ohne dass wir wissen, aus welchem Herz¬
abschnitte! Alle jene theoretischen Schlüsse stützen mich eben in der Praxis
nioht genügend, denn meine Diagnose ist und bleibt unsicherer als die des patho¬
logischen Anatomeo. In dem Wechsel der Erscheinungen halten wir nur eines
fest, nämlich dass wir bei einem sich vor unseren Augen Verblutenden über-
‘) Fischer, I. o. S. 171.
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Dr. Elten,
hanpt keine Prognose za m&ohen genöthigt sind, da überholt der Tod die Pro¬
gnose, and dass wir, wenn sich das Leben aus irgend welchen Gründen länger
hinzieht, dennooh eine unter allen Umständen ernste Prognose stellen and danaoh
unser Handeln einriohten. Eine im Allgemeinen schlechtere Prognose rechtfer¬
tigen gleichzeitige Verletzungen der Lange and der grossen Gefässe, infectiöse
Fremdkörper in der Wände, starke Blatangen, sohwere Entzündungen des Herz¬
beutels and des Herzens and anderer benachbarter Organe. Schliesslich sind wir
noch berechtigt za sagen, dass in der Reihenfolge der Prognosen die Prognosen
der Schasswanden an dritter Stelle stehen.
Von unseren 87 Fällen von Quetschung and Raptur des Herzens starben
sofort 32 der betreffenden Patienten. 22 starben später, bei 26 war die Zeit des
Todes unbestimmt and in 7 Fällen trat — wovon nur einmal durch die Seotion
bestätigt — Heilung ein. Von den 22 späteren Todesfällen sind 15 in den ersten
24 Standen eingetreten. Wenn wir von den 26 Fällen, in welchen die Zeit des
Todes anbestimmt blieb, ebenfalls in 15 Fällen einen Tod innerhalb der ersten
24 Standen annehmen, werden wir einen nennenswerten Rechnangsfehler nicht
begehen. Demnach hätten wir unter 87 Fällen mit hoher Wahrscheinlichkeit
62 Todesfälle in den ersten 24 Standen and 18 in späterer Zeit. Die einzige
Heilung, welche Fischer aas der Literatur constatiren zu können geglaubt hat,
hält vor einer strengen Kritik auoh nioht Stand, denn es kann sich dabei auoh
am einen anschaldigen Sehnenileck gehandelt haben. Die Prognose ist also eine
ganz schlechte, and daran ändern die 6 symptomatisch festgestellten Heilungen,
bei welchen nar in einem Falle eine wirkliche Raptar voraasgegangen zu sein
schien, auch nicht das Geringste. Die Raptaren bieten daher von sämmtlichen
Herzwanden die schlechteste Prognose dar.
Neben gewissen Uebereinstimmaogen prägen sich auch grosse Verschieden¬
heiten im Verlaufe der Herzwanden aus. Zwischen rapid znm Tode führenden
Fällen und jenen verhältnissmässig seltenen Fällen, welche erst nach Woohen
and Monaten tödtlich enden, liegt eine lange Stufenleiter der Erscheinungen, ein
Schwanken zwischen Tod and Leben. Eine Schaar von Gomplioationen beeinflusst
den ferneren Verlauf und erzeugt Krankheitsbilder von geradezu verwirrender
Mannigfaltigkeit. Im Einzelnen gestaltet sich nun der Verlauf der verschiedenen
Herzwunden wie folgt. —
Der Einfluss einer Nadelstichverletzung ist in vielen Fällen vorerst ein ge¬
ringer. Die Patienten collabiren nioht, gehen womöglioh noch in das Spital').
Andere wissen noch nioht einmal sicher, ob die Nadel sich überhaupt in ihrem
Körper befindet 2 ). Wieder andere reagiren in heftigster Weise, stürzen sofort
besinnungslos zu Boden und sterben. Mitunter treten erst nach mehreren Tagen
bedrohliche Erscheinungen ein, nachdem eine Zeit relativen Wohlbefindens da¬
zwischen gelegen hat. In diesen Zwischenzeiten haben sich häufig die Herzkata¬
strophen vorbereitet. Das Herz wurde allmälig durch die Nadel zerfasert und es
kam zur Ruptur. Wir haben den Eindruck gewonnen, dass der Verlauf ein um
so protrahirterer war, wenn die Nadel auf ihrem Wege keine grösseren Gefässe
*) Fischer, 1. c. Fall 24.
2 ) Leaming. London med. Gaz. Januar 1844.
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Ueber die Wanden des Hertens.
39
getrennt hatte and wenn es ihr möglioh war, den Eigenbewegnngen des Herzens
za folgen. Letzteres konnte sie z. B. auch, wenn sie das ganze Herz durchbohrt
hatte, dabei aber ausserhalb des Herzens, etwa in den Brustwandungen nicht
weiter fixirt war. Sie konnte es ebenfalls, wenn sie in toto der Herzwand ein¬
verleibt oder in eine der Herzhöhlen eingewandert war. Dieses waren auch die
regelmässigen Sectionsbefunde bei Leuten, welche an anderen Krankheiten gestorben
waren, aber jahrelang Nadeln im Herzen mit sich herumgetragen hatten. Ungünstig
wird der Verlauf der Nadelwunden natürlich durch Complicationen beeinflusst.
Die Verhältnisse dabei sind schon früher erörtert worden und wir verweisen auf
das Kapitel von der Prognose der Herzwunden. Septische Infeotion ist für den
Verlauf natürlich anoh von verhängnisvoller Bedeutung.
Die oben kurz erwähnten Uebereinstimmungen im Verlaufe prägen sich
hauptsächlich bei den sohweren Herzwunden aus. Wirtreffen regelmässig wieder*
kehrende Symptome eines stattgehabten schweren Insultes an, dahin gehören
Ohnmächten, Blutungen, tiefste Gollapse. Ist der Tod nicht sofort eingetreten
und die Besinnung noch erhalten, so drückt sich doch ein tiefes Leiden auf den
Gesichtszügen aus, auch das Gemüth solcher Kranken leidet und Todesahnungen,
ja die ausgesprochenste Gewissheit desTodes foltert die armen Patienten; schliess¬
lich gehen sie mit oder ohne Besinnung zu Grunde. Nicht immer tritt dieser Ver¬
lauf ein, sondern in manchen Fällen entwickeln sich zwar sofort die sohlimmen
Anzeichen, aber der Kranke übersteht ihren ersten Ansturm, um erst später völlig
zu erliegen. In wieder anderen Fällen treten die Anzeichen der schweren Ver¬
letzung erst nach verschieden langer Zeit ein, führen auch wohl, wenn keine
schweren Complicationen dazutreten, zur Heilung, sobald der Verschluss der Herz¬
wunde Zeit behielt sich zu consolidiren. Nach den neueren Beobachtungen stellt
sich nun der Verlauf der Stich-Schnittwunden im Speciellen wie folgt dar:
Meistens stürzt der Getroffene bewusstlos zusammen. Diese Bewusstlosigkeit geht
entweder sofort in den Tod über, oder sie dauert verschieden lange — in einem
Falle von Brentano 1 ) 53 Stunden lang — und es tritt erst dann, ohne dass
der Patient wieder zu sich gekommen war, der Exitus letalis ein. Ein Mann lief
nach erhaltener Verletzung noch eine Strecke von 80 Metern und stürzte erst
dann todt zusammen. Diesen Fällen stehen nun diejenigen gegenüber, wo die
Patienten aus einer kürzer oder länger dauernden Ohnmacht sich erholen, um
nach tage- oder woohenlangem Krankenlager sich zu bessern oder schliesslioh
doch noch an irgend welchen Complicationen oder Folgezuständen zu sterben.
Ganz typisch dafür ist der Fall Delma’s 2 ). Ein junger Mann bekommt einen
Messerstich. Sofortige Bewusstlosigkeit unter Strömen von Blut. Diese Bewusst¬
losigkeit dauert etwa einen Tag, darauf Erholung und wachsende Kräftigung.
In der ersten oder zweiten Woche Pleuritis mit hohem Fieber, welches am
31. Tage gehoben war; darauf am 32. Tage plötzlicher Tod. Section. 2 Wun¬
den im Oberlappen der linken Lunge; Herz und Herzbeutel verwachsen; linker
Ventrikel eröffnet; Wände mit frisch zerrissenen Rändern; Haemothorax. Es war
*) Brentano, Zur Casuistik der Herzverletzungen. Dissertation. 1890.
S. 13.
a ) Brentano, Ibidem. S. 13. Fall 15.
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40
Dr. Elten,
also noch nach Wochen durch Wiederaufreissen der Wände der Tod fast momentan
erfolgt. Ueberhanpt besteht für alle Reeonvalescenten an Herzwanden die grosse
Gefahr, durch jede körperliche oder Gemütbserregung nooh in ganz später Zeit
zu sterben. Bei Georg Fischer') finden sich sehr interessante Angaben
darüber, ans welchen wir nur einige erwähnen wollen. Die Befriedigung eines
körperlichen Bedürfnisses, eine Confrontation mit den Mördern, der Besuch der
Braut, schnelles Aufrichten im Bette dürften genügen.
Was den Verlauf der Schusswunden des Herzens anbetrifft, so hat derselbe
viel Uebereinstimmung mit dem der Stich- und Stich-Schnittwunden. Dem an
betreffender Stelle darüber Gesagten dürfte nur noch Einiges hinzuzufügen sein.
Wenn der Tod nicht sofort eintritt, so ist das schon eine Unregelmässigkeit im
Verlaufe, welche ihre bestimmten Gründe haben muss. Das Nächstliegende wäre
es, eine nicht penetrirende Wunde anzunehmen. Jedooh auch bei penetrirenden
Wunden können, wie wir wissen, schlimme Symptome vorerst ausbleiben, so in
dem Falle 26 von Brentano 2 ), wo Jemand mit einer Kugel im linken Ventrikel
eine 162 Meilen lange Reise nach New York machte und dort bei seiner Ankunft
zu Balle gehen wollte. Eine andere Ursache für den späten Eintritt einer Kata¬
strophe ist darin gefunden, dass eine Wunde vorerst nicht völlig penetrirt, aber
allmälig der unzerschnittene Rest des Muskels durch den Druck des Ventiikel-
blutes zum Bersten gebracht wird. Auch des Falles 30 bei Brentano 3 ) sei
hier noch gedacht, wo eine Blutung dadurch vermieden wurde, dass die Kugel
ganz allmälig die Herzwand perforirte. Als sie in den Ventrikel gelangte, war
die äussere Herzwunde am Ventrikel bereits geschlossen. Zur Todesursache
wurde aber am 19. Tage ein gleichzeitiges Empyem und eine Pericarditis. Bil¬
dung von Muskel und Fibrinpfröpfen, ferner eine schnell zur Verklebung führende
adhäsive Pericarditis hielten ebenfalls die tödtliche Blutung auf und wurden so
für den Verlauf entscheidend.
Aus der grossen Schaar der Complicationen, welche wir bei Fischer S. 154
aufgezählt finden, und welche auch wir schon wiederholt erwähnt haben, wollen
wir besonders die neu beobachteten Schussverletzungen der Wirbelsäule mit nach¬
folgenden motorischen und sensiblen Störungen, ferner Blasenlähmung und Tod
an Harninfiltration hervorheben. Die Schusswunden der Herzspitze zeigen einen
ganz günstigen Verlauf. Diese Wunden penetriren schwerer, Gefässe können
so leicht nicht angeschossen werden, das erklärt sich ungezwungen aus den
anatomischen Verhältnissen. An der Bildung der eigentlichen Herzspitze be-
tbeiligt sich allein der linke dicke Ventrikel. Die Herzgefässe liegen auch
nicht auf der Spitze, sondern dieselben halten sich in den Ventrikelfurchen.
Dieselben sind von der Herzspitze, entsprechend dem Zurücktreten des rechten
Ventrikels von der Bildung derselben entfernt gelagert, befinden sich also
bei direct gegen die Spitze gerichteten Verletzungen in einer relativ ge¬
sicherten Lage. Die Herzspitze selbst geniesst Schutz durch die fünfte
Rippe, da sie nur ganz wenig in den fünften Intercostalraum hineinragt.
') Fischer, 1. c. S. 153.
2 ) Brentano, Zur Casuistik der Herzverletzungen. S. 20.
3 ) Brentano, Ibidem. Fall 30. S. 21.
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Ueber die Wanden des Herzens.
41
Die Verwundungen der Herzspitze wurden vielfach erst duroh Gomplicationen
tödtlicb.
Der Verlauf der Quetschwunden und Rupturen stellt sich dem anderer,
schwerster Herzverletzungen gleich dar. Im Allgemeinen kann man sagen, dass
dieRapturen fast ausnahmslos den Tod bedingen, nur gepresste oder gequetschte
Herzen können sich erholen. In einem von Martucci 1 ) mitgelbeilten Falle blieb
das Leben bei einer doppelten Ruptur des Herzens 20 Standen lang bestehen.
Die Ruptur war daduroh erzeugt, dass ein Arbeiter im Streite mit Wucht auf
die Regio epigastrica eines anderen Arbeiters auffiel.
Wir kommen nun zu dem sehr interessanten Kapitel des Ausganges der
Herzwonden. Es wird zuweilen etwas in die nun folgenden Besprechungen bin-
eingezogen werden müssen, welches passend an früherer Stelle gestanden
batte, auch Wiederholungen werden des Zusammenhanges wegen unvermeid-
lieh sein.
Die ausserordentliche Verschiedenheit im Ausgange der Wunden des Herzens
kann man bei allen Autoren bestätigt finden. Wo man der Kleinheit der Ver¬
letzung nach zu schliessen kaum schwere Symptome erwarten sollte, tritt blitz¬
schnell der Tod ein, andererseits konnte ein Mensoh mit doppelter Durchbohrung
des linken Ventrikels durch Kugelschuss aus allernächster Nähe noch gehen und
mit klarer Stimme sprechen. Wir wüssten kein Organ, welches so sich wider¬
sprechende Krankheitserscheinungen lieferte. Kaum meint man irgendwo eine
Gesetzmässigkeit nachgewiesen zu haben, so kommt unser Schluss in Gefahr,
durch eine vollkommen entgegengesetzte Beobachtung erschüttert zu werden. Es
gelangt dadurch in die Bearbeitung der Wanden des Herzens leicht etwas Un¬
ruhiges, Unsystematisches. Es ist eben unmöglich, Alles in ein bestimmtesSystem
zu zwängen.
Prüfen wir die Nadelrerletzungen auf ihren Ausgang hin, so finden wir in
unseren 42 Fällen im Ganzen 24 Todesfälle, welche unmittelbar auf die Nadel¬
verwundung selbst zurückzuführen sind. Bezüglich der Zeit, in welcher der Tod
eintrat, finden wir 5 sofortige Todesfälle; 1 nach 1 Stunde; 1 nach 2 Standen;
1 nach 10—12 Stunden; 1 nach 2 Tagen; 2 nach 58 Stunden; je 1 nach
4 Tagen, nach 6 und nach 8 Tagen; ferner je 1 nach 10, nach 11, nach
18 Tagen; 1 nach 1 Monat; 2 nach 3Wochen; je 1 nach 6 und nach 9Monaten.
Nach anbestimmter Zeit endeten 2 tödtlicb. 12 Fälle kamen zwar zur Section,
es wurden aber dabei geheilte Nadelverletzungen und fast ausnahmslos auch
Nadeln als Fremdkörper im Herzen angetroffen. Als Todesursachen wurden
andere Krankheiten festgestellt. 6 Fälle von wirklichen Heilungen, d. h. wo die
Patienten dauernd am Leben blieben, vervollständigen dann unsere Zahl von
42 Fällen. Es soll nun untersucht werden, in welchem Verhältnisse die kürzere
oder längere Lebensdauer zu den durch die Nadel gesetzten Verletzungen steht,
und ob sich ein bestimmtes Abhängigkeitsverbältniss entdecken lässt zwischen
dieser Lebensdauer und der getroffenen Herzregion. Bei den sofortigen Todes¬
fällen handelte es sich um Wunden des rechten Ventrikels, des rechten Vorhofes;
') Martucci, Jahresbericht über die Leistungen und Fortschritte in der
gesammten Medicin. XXI. Jahrgang. 1886. Bd. U. Abth. 1. S. 66.
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42
Dr. Elten,
einmal war die Stelle niobt angegeben. In 3 Fällen penetrirten die Wanden, In
1 Falle nicht, aber es war dabei ein grösseres Gefäss der Herzwand angestochen.
Bei denjenigen Wanden, welche erst später, also etwa zwischen 1—24 Stunden
tödteten, war viel häufiger der rechte als der linke Ventrikel and Vorbof getroffen
und meist auch penetrirt. Bei den penetrirenden Verletzungen des rechten Vor¬
hofes und Ventrikels, welche nioht sogleich zum Tode führten, fanden sich Ge¬
rinnsel vor, welche das Loch verstopften, oder ein schräger Verlauf.
Die nicht penetrirenden Wunden des rechten and linken Ventrikels und die
nur den Herzbeutel perforirenden Wunden zeigen Neigung zur acuten und chro¬
nischen Entzündung des Herzens und seiner Anhänge, wodurch der spätere Tod
berbeigeführt wird. Die Nadelverletzungen des linken Ventrikels zeichnen sioh
durch einen im Allgemeinen weniger stürmischen Verlauf aus. In der Zeit vom
Augenblick der Verletzung an bis zum 6. Tage war nur eine Perforation des
linken Ventrikels allein neben 12 andersartigen da, und diese hatte am 2. Tage
einen tödtlichen Ausgang, aber ohne Bluterguss in den Herzbeutel. Je länger
sich das Leben erhält, um so weniger entscheidend stellt sich das Schioksal des
Verwundeten dar. Nioht eine grosse Katastrophe vernichtet mit einem Schlage
das Leben, sondern es führt schliesslich eine Summe von Schädlichkeiten den
tödtlichen Ausgang herbei. Als solche nennen wir Blutungen in den Herzbeutel,
Heizung des Peri-, Epi-, Myocards, eitrige Entzündungen des Stichkanals, all-
malige Zerfaserung des Herzens mit Zerstörung der Ganglien. Alle diese Er¬
scheinungen können nebeneinander an ein und demselben Herzen bestehen. Das
von Fischer 1 ) gefundene Gesetz, dass an Häufigkeit der Verletzung mit nach¬
folgendem sofortigen Tode „auf die Summe der einzelnen Wunden berechnet**
das ganze Herz voransteht und dann der linke Vorhof kommt, scheint für die
Nadelwunden des Herzens nicht zuzutrefTen. Bei später tödtenden Nadelstich Ver¬
letzungen nähert sich dagegen das Ergebniss unserer Untersuchung der bei
Fischer 2 ) gegebenen grossen Statistik. —
Zur Heilung gelangten im Ganzen 18 Fälle. Dieselben waren theils Resul¬
tate von Operationen, theils sind sie durch die Section constatirt, und der Rest
nach Symptomen vermnthet. Han fand die Nadeln in verschiedener Lage (siehe
oben!), einmal sogar in einer Cyste eingebettet. Es bleibt uns bei der Erörte¬
rung über den Ausgang der Nadelstichwunden nur noch die Frage zu beant¬
worten übrig, ob bei den Heilungen der günstige Ausgang vielleicht durch eine
ganz bestimmte Lage der Nadel unterstützt sein konnte. Da können wir unbe¬
dingt mit ja antworten. Abgesehen von den operativen Entfernungen der Nadeln,
bei welchen ja die Erscheinungen bald nachlassen mussten, wenn die Ursache
gehoben war, fanden wir die Nadeln in allen übrigen Fällen so liegen, dass sie
trotz der Bewegung des Herzens im Zustande der Ruhe verharren konnte. Keine
Spitze derselben ragte naoh aussen hervor, sie lag entweder ganz in der Wand
oder ganz in den Höhlen, oder theils in der Wand und in den Höhlen. Das sind
Lagen, welche ihr die Eigenbewegungen des Herzens mitzumachen gestatten,
ohne dass sie selbst Bewegungsimpulse zu bekommen braucht. Das Herz konnte
*) Fischer, 1. c. S. 173.
2 ) Fischer, 1. o. S. 179.
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Ueber die Wanden des Herzens.
43
nicht zerkr&lzt and in seiner Rythmik beeinträchtigt werden. Als Todesursachen
bei den zufälligen Nadelfanden erwähnen wir:
1 mal Bersten eines Aneurysma.
1 mal Pneumonie.
1 mal Gangrän der unteren Extremitäten.
1 Hinrichtung.
1 mal Brustbeschwerden (?), Peritonitis.
1 Erysipel mit Asphyxie (Glottisödem?). Verf.
1 mal Herzentzündung.
1 mal Bauchfellentzündung.
1 mal Myodegen. cord. c. vitio cordis.
3 mal Todesursache unbekannt.
Der tödtliche Ausgang bei Herzwanden tritt nach Koenig 1 ) am häufigsten
ein durch Bluterguss in den Herzbeutel, welcher das Herz am Weiterschlagen
hindert und durch Blutungen nach aussen mit nachfolgender allgemeiner Anämie.
Ferner durch Verschluss der Coronararterie und Zerstörung der Herzganglien.
Von unseren 295 Fällen von Stich Schnittwunden endeten mit sofortigem
Tode 62, später trat der Tod in 166 Fällen ein, in 20 Fällen war die Zeit des
Todes nioht genau angegeben. Aus den vortrefflichen Zusammenstellungen
Fischer’s 2 ) lässt sich erkennen, dass bei sofortigem Tode meistens Wanden des
rechten oder linken Ventrikels da waren. In unsererSammlung war unter 6 Fällen
3mal der reohte Ventrikel, lmal der linke, lmal der rechte und linke und lmal
das reohte Herzohr getroffen. Unsere kleine Statistik bekräftigt also die Fisch er¬
sehen Angaben. Wir gehen wohl nicht fehl, wenn wir in der überwiegenden
Mehrzahl der Fälle den starken Blutverlust und die Blutansammlungen im Peri-
card als Todesursache ansprechen. Gelegentlich mögen dann noch andere Fac-
toren milwirken. Ob Verlotzungen der verschiedenen Nervenplexus des Herzens
den Tod verursachen können, ist uns nicht bekannt, jedoch ist es wahrscheinlich,
denn die Plexus stehen mit den dominirenden Centren der HerzganglienzelleD
durch Faserzüge in Verbindung. Vagusfasern setzen z. B. den Remak'schen und
Bidder’schen Haufen mit einander in Beziehung. Denken wir uns diese Verbin¬
dung durch einen Dolchstich unterbrochen, so müssen Unregelmässigkeiten
mindestens die Folge sein. —
Eine fast dreifach so grosse Zahl von Stich-Schnittwunden tödten später
als sofort. Die Zeit des erfolgten Todes vertheilt sioh auf 166 Fälle wie folgt.
57 Fälle tödteten in 1 Stunde bis 1 Tage. Verletzt war 20mal der
rechte Ventrikel und 28mal der linke Ventrikel.
97 Fälle tödteten im Verlaufe der ersten und zweiten Woche. Ver¬
letzt waren dabei 33mal der rechte Ventrikel und 23mal der
linke Ventrikel.
13 Fälle tödteten von der dritten bis 36. Woche. Verletzt waren
dabei 4mal der rechte Ventrikel und 4mal der linke Ven¬
trikel.
1 ) Koenig, Lehrbuch der speciellen Chirurgie. 1885. Bd. II. S. 42.
2 ) Fisoher, 1. c. S. 172ff.
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Dr. Elten,
In 19 Fällen waren unbestimmte Angaben gemacht. Verletzt war also im
Ganzen 57 mal der rechte Ventrikel nnd 45 mal der linke Ventrikel, während der
Rest anf die übrigen Herzabschnitte sich vertbeilt, z. B. auf den rechten und
linken Vorhof und beide Ventrikel; zusammen 25 Fälle. Im Vergleiche zu den
sofort tödtenden Verletzungen des rechten und linken Ventrikels muss es auf
den ersten Blick befremden, dass trotz der gleichen Verletzungen der Tod
später eintrat. Die Gründe dafür sind einmal in einem geringeren Grade der
Blutung zu erblicken. Dieselbe kann bedingt sein durch die Grösse, Localisation
und Verlauf der Wunde. Denken wir uns eine schmale, die Wand des linken
Ventrikels ganz schief durchsetzende Wunde, so leuchtet es ein, dass, wenn sich
das Herz bei jeder Systole um die in ihm selbst befindliche Blutmasse contrabirt,
es einen solchen Druck auf den Wundkanal ausiibt, so dass wenig oder gar kein
Blut systolisch austreten kann. Natürlich hält der auf diese Weise mögliche Ver¬
schluss nur bis zu einer gewissen Grenze Stand, welche erreicht ist, wenn die
Wunde zu ausgedehnt oder nicht schräg genug ist. Man kann sich aber auch die
comprimirende Wirkung in anderer Weise vorstellen, nämlich nach Art des puer¬
peralen Uterus, welcher im Zustande guter Contraction eine bedeutende Blutung
zum Stillstand zu bringen vermag. Dabei findet nicht nur ein mechanisches Zu¬
sammendrücken der blutenden Steilen statt, sondern die Gefässwände selber ver¬
kleinern sich und die active Zusammenziehung der umgebenden Muskelelemente
unterstützt den Verschluss der blutenden Löcher, so dass nichts mehr ausfliessen
kann. Ein weiteres Hinderniss für die Blutung ist ein früher Verschluss der
Wunde und eine Tamponade der Wunde durch steckengebliebene Theile von
Waffen. Ein günstigerer Ausgang wird auch oft duroh einen tiefen Anfangs-
collaps erzeugt, ferner auch dadurch, dass prognostisch günstig gestellte Herz¬
abschnitte getroffen und zugleich die Herzganglien unverletzt geblieben sind.
Zur Heilung gelangten 47 Fälle. Wir erkennen daraus sofort die bedeutend
schlechteren Verhältnisse im Vergleich zu den Nadelverletzungen, denn bei den¬
selben tritt 7 mal so häufig Heilung ein —
Einen höchst interessanten Fall 1 ) von Verhinderung einer tödtlichen Blu¬
tung nach aussen möchte ich nicht unerwähnt lassen. — „Sticbschnitiwunde
dicht neben dem linken Brustbeinrande; vordere Wand des rechten Ventrikels
3 om lang glatt eröffnet; der Herzbeutel hat eine hinter dem Brustbeinrande
liegende ebenso lange Oeffnung.“ M Durch den sich immer stärker mit Blot
füllenden Herzbeutel wurde die Wundöffnung in demselben gegen das Brustbein
angedrängt, und so comprimirt, dass nur wenig Blut ausfloss.“ Der Bericht¬
erstatter knüpft daran die Folgerung, dass der Tod nicht an Verblutung, sondern
an Erstickung wegen Compression des Herzens erfolgt sei. Unserer Meinung nach
mit vollem Rechte! —
Was nun den Ausgang der Schusswunden anbetrifft, so finden wir auch da
sofortigen oder späteren Tod, oder Heilung. Von unseren 111 Schusswunden
tödteten 28 sofort, 46 später, 16 zu unbestimmter Zeit, die Hälfte dieser letzten
16 wohl auch später. Es starben also annähernd noch einmal so viel später, als
sofort. Diese Thatsache allein schon steht in directem Widerspruohe mit den
‘) Diese Vierteljabrsschrift. Neue Folge. XLIV. Bd. 2. Heft. S. 308—311.
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Ueber di« Wunden des Herzens.
45
früherenUeberlieferungen, noch mehr aber der Umstand, dass auch 20 Heilungen
beobachtet wurden, von denen 12 durch dieSection und 8 durch Symptome fest-
gestellt werden konnten. Strunz 1 ) ist der Ansicht, dass trotz der Ergebnisse
der neueren Arbeiten über Herzwanden, dieselben doch für augenblicklich und
absolut tödtlich gelten müssen. Den Heilungen (!) stände die ungeheure Mehr¬
zahl der Tödtungen gegenüber, welche mit Stillschweigen übergangen würden.
Wir halten diese Ansicht für durchaus unzutreffend, denn unter 528 von uns be¬
nutzten Fällen kamen 92mal Heilungen vor, das sind 17,6pCt. aller Fälle. Darin
liegt eben der Beweis, dass viele Herzwunden nicht augenblicklich und absolut
tödtlich sind. Ob sich unsere Zusammenstellung nur auf s. g. interessante und
daher veröffentlichte Fälle stützt, erscheint uns dabei unwesentlich. Unten¬
stehende Tabelle zeigt, wie sich der Ausgang der Schusswunden auf die ein¬
zelnen Herzabschnitte vertheilt. Bei sofortigem Tode sind der rechte und linke
Ventrikel gleich häufig betheiligt. Dann folgt das ganze Hetz, dann linkes Herz,
dann das rechte und linke Herz, schliesslioh das rechte Herz. Bei späterem Tode
herrscht unter den Ventrikeln der linke vor — das Verhältnis ist 17:12 —,
dann kommen Herzbeutel und Spitze. Das Septum war nur ein einziges Mal ver¬
letzt und hatte einen späteren Tod bedingt.
Herzabschnitt
Tod
Heilung
Todeszeit
unbe¬
stimmt
sofort
später
Section
sympto¬
matisch
Rechtes und linkes Herz ..
2
i
!
i —
—
Rechter Ventrikel.
5
12
8
—
4
Linker Ventrikel.
5
17
i
—
4
Rechter und linker Ventrikel
2
1
—
—
2
Rechter Vorhof.
1
1
1
—
1
Linker Vorhof.
1
—
—
—
—
Septum.
—
1
—
—
—
Spitze...
—
3
—
—
—
Ganzes Herz.
4
—
—
—
3
Linkes Hers.
3
1
—
—
1
Unbestimmt.
4
3
1
3
1
Herzbeutel.
—
5
i
4
—
Rechtes Herz.
1
1
—
1
—
28
46
12
8
16
*) Strunz, Ueber penetrirende Brustwunden, soweit diese duroh Kriegs¬
waffen hervorgebracht sind. Dissertation. Berlin 1873.
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UMIVERSITY OF IOWA
46
Dr. Elten,
Bei den sofort tödtenden Herzschusswunden liegt meistens eine starke Bla¬
tang oder eine Art Herzexplosion vor. Im letzteren Falle ist die Herzzertrümme-
rang an sich sofort tödtlich, im ersteren wirken die locale and allgemeine Anämie
auf den tödtlichen Ausgang gemeinsam hin. Die allgemeine Anämie wirkt läh¬
mend auf das Gehirn, speciell auf die Medulla oblongata, wo das Gentrum der
Herzbewegung sich befindet. Eine locale Anämie des Herzmuskels, z. B. infolge
Durchschneidung der Kranzarterien, hebt die Function der automatischen Hers-
ganglien auf, weil dieselben nicht mehr genügend mit Blot bespült werden.
Stiche, Schnitte, Schüsse in die Kranzarterien sind daher als schwere Verletzungen
zu betrachten, deren Folgen um so verhängnissvoller sich gestalten, je besser die
Bedingungen für die Tamponade des Herzens gegeben sind.
Die Blutung beherrscht das Krankheitsbild und den Ausgang der meisten
Herzwunden derartig, dass man, wenn bei Schusswunden der Tod nicht sogleioh
eintritt, die Gründe für diese Erscheinung zunächst in der Verhinderung oder
Abschwächung der Blutung suchen muss, oder dass man von vornherein an¬
nehmen kann, die Wunde penetrire überhaupt nicht. Es ist uns ja bekannt,
welohe Umstände einen schnellen, provisorischen Verschluss von Herzwanden
begünstigen. Werden diese Verschlüsse durch irgend welche Einwirkangen ge¬
sprengt, so kann es noch spät zu Blutungen mit tödtlichem Ausgange kommen.
Für den Ausgang der Herzschusswunden ist es ferner von der grössten Bedea-
tuDg, ob das Projectil septische Stoffe mit sich in die Wände gerissen hat.
Frische Wunden aD anderen Körpertheilen können rücksichtslos sorgfältig mit
antiseptisohen Flüssigkeiten bespült und gereinigt werden, das verbietet sich aber
bei Herzwanden, wenn wir von der äusseren Wunde absehen, von selbst, denn
wir würden anderenfalls die Gefahr einer Blutung erst recht heraufbesohwören.
Wir sehen uns also in die unangenehme Lage versetzt, vorerst abzuwarten, ob
septische Entzündungen eintreten, and erst wenn dieselben vorliegen, haben wir
Indicationen zu operativem Einschreiten.
Heilungen von Herzsohusswunden kamen 20 vor. Daran betheiligten sich
8mal der rechte Ventrikel, lmal der linke Ventrikel, 5mal der Herzbeutel, lmal
das rechte Herz, 4mal unbestimmte Herztheile and endlich einmal das rechte
Herzohr *). Diese letzte Beobachtung ist insofern besonders interessant, als sie
in directemWiderspruch steht mit der Fischer’schen 2 ) Behauptung, „Heilungen
bei Verletzungen des rechten und linken Vorhofes sind nicht beobachtet“. Der
betreffende Autor im Fall51 bei Brentano erklärt übrigens, dass es nicht aas-
geschlossen sei, dass Macalae albidae fälschlich für eine Narbe angesehen wären.
Den im pathologisch-anatomisohen Theile der Stich Schnittwanden gemachten
Aeusserangen über den Vernarbangsvorgang von Herzwanden wollen wir nooh
das Ergebniss der Untersuchungen von Bonome und Marinotti 3 ) anfügen,
naoh welchen die Herznarbe nicht daroh Regeneration von Muskelgewebe,
sondern vom intermasculären und subepicardialen Bindegewebe aus sich
vollzieht. Zum Schlüsse sei nooh eine Beobachtung mitgetheilt von Dr.
‘) Brentano, Zur Gasuistik der Herzverletzungen. Fall 51.
2 ) Fisoher, 1. o. S. 190.
3 ) Brentano, Zur Casaistik der Herzverletzangen. S. 34.
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Original frnm
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Ueber die Wanden des Herzens.
47
Schulte 1 ). «Die vordere Wand des linken Ventrikels war nahe an der Herz¬
spitze von einem Wandkanal von 5 cm Durchmesser durchbohrt, dessen an der
Innenwand des Herzens gelegene Oeffnang von einem anverletzten breiten Papil-
larmaskel verdeckt and erst nach dessen Entfernung sichtbar wurde. Das Pro-
jectil war in der Herzbeutelwande stecken geblieben and hatte den Aastritt des
Blates verhindert, daher war keine plötzliche Verblutung eingetreten. Der die
innere Oeffnang des Wundkanals am Herzen überdeckende Papillarmaskel hatte
nach Art einerVentilklappe den Austritt des Blates verhindert. Erst nach langer
Zeit war so viel Blut in den Herzbeutel ausgetreten, dass das Herz tamponirt
wurde.“
Der Ausgang der Quetschungen und Rupturen ist fast regelmässig der Tod.
Dieser Ansicht ist auoh Hof mann 2 ), welcher nur kleinen oder nur partiellen
Rupturen die Möglichkeit zugesteht, dass sie eine oder mehrere Stunden überlebt
werden können. Quetschungen des Herzens neigen sehr zu Pericarditiden.
Dass auf die Therapie der Herzwuuden die früher verbreiteten
Ansichten über die Prognose nur von ungünstigstem Einflüsse sein
mussten, haben wir bereits oben gesagt. Die Bestätigung dafür
können wir bei den älteren Autoren vielfach finden. Dieselben
hielten es für ein aussichtsloses Unternehmen, bei einem so hoff¬
nungslos schwer Verwundeten therapeutisch vorzugehen. «Da ist ja
doch nichts mehr zu machen“, hiess es, und mit diesem Ausspruche
war denn das Schicksal der armen Verwundeten oft genug besiegelt.
Heute stehen wir glücklicherweise auf einem anderen Standpunkte.
Wir können kaum das Verfahren der Aerzte aus früherer Zeit be¬
greifen, welche da mit den Achseln zuckten, wo ihnen ein Problem,
des Schweisses der Edlen werth, so offenbar gestellt war. Der wissen¬
schaftliche Ernst der „alten Zeit“ kann in dieser Frage wenigstens
nicht hoch gestanden haben. Heute bemächtigt sich die Wissenschaft
mit Freuden der Beantwortung der schwersten durch die Natur ge¬
stellten Fragen. Mit Bienenfleiss wird gearbeitet und Worte wie:
„Da ist doch nichts zu machen!“ haben keine Geltung mehr.
Ehe wir auf die Therapie im Einzelnen eingehen, wollen wir
einige allgemeine therapeutische Grundsätze entwickeln. Als obersten
Grundsatz stellen wir den auf, dass jeder Verletzte mit einer Wunde
in der Herzgegend, welche nach Sitz, Aussehen, Verlauf auch nur im
Geringsten verdächtig ist, als ein Herzverletzter zu betrachten und
dementsprechend zu behandeln ist. Da es vorkommt, dass anfangs
*) Schulte, Diese Vierteljahrsschrift. XLIV. Bd. 2. Heft. S. 308—311.
a ) Hofmann, Lehrbuoh der gerichtlichen Medioin. 1881. S. 431.
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48
Dr. Elten,
alle heftigen Anzeichen fehlen, so muss etwaiger Widerstand des
Patienten gegen eine solche Auffassung und ihre Consequenzen unter
allen Umständen gebrochen werden. Ist eine äussere Blutung vor¬
handen, oder wird durch den Befund eine innere Blutung wahrschein¬
lich, so müssen wir diese Blutung auf alle Fälle zu stillen trachten,
woher sie auch immer stammen möge. Kann die Quelle der Blutung
nicht zugänglich gemacht werden, so ist es unsere Aufgabe, wenig¬
stens möglichst günstige äussere Bedingungen für das Stillen des
Blutes zu schaffen. Dazu ist absolute körperliche und geistige
Ruhe des Patienten nöthig! Diesem Gesetze muss sich, wenn
nicht ganz bestimmte Indicationen zu ernsteren Eingriffen vorliegen,
unser ganzes ärztliches Handeln unterordnen. Wir dürfen daher einen
Herzverletzten nicht zeitraubenden, beunruhigenden Untersuchungen
unterwerfen. Von jeder physikalischen Untersuchung aber Abstand
zu nehmen, wie ßaur 1 ) es will, halten wir nicht für zweckmässig.
Eine leichte, mit rücksichtsvoller Sicherheit ausgeführte Fingerper¬
cussion und auch Auscultotion kann bei völlig ruhiger Lage des
Kranken vorgenommen werden, und vermag uns wichtige Anhalts¬
punkte für die Diagnose zu geben, welche wir ungern entbehren
würden. Dass man den Kranken dabei nicht aufrichtet oder ihn sich
gar selbst aufrichten lässt, dass man ihn nicht von einer auf die
andere Seite wälzt, halten wir für selbstverständlich. Ist es uns ge¬
lungen, eine bestehende Blutung abzuschwächen oder zum Stillstand
zu bringen, so können wir mit Recht hoffen, durch strengste Durch¬
führung zweckmässiger Vorschriften eine Heilung zu erzielen. Diese
Heilung kommt, wie wir wissen, durch Verschluss der Wunde, sei es
durch Verklebung, oder durch obturirende Pfropfe zu Stande. Wir
müssen daher ferner alles von dem Patienten fernhalten, was ihn
in eine erneute geistige oder körperliche Erregung versetzen könnte,
denn es könnten dadurch die zarten Verschlüsse wieder zersprengt
oder ausgestossen werden. Eingedenk des Satzes, dass das Schicksal
eines Schwerverwundeten in die Hände des zuerst verbindenden Arztes
gelegt ist, werden wir eine sorgfältige antiseptische Behandlung der
Weichtheilwunde eintreten lassen. Da es uns verboten ist, eine Herz-
wunde in ihrem ganzen Verlaufe der Einwirkung antiseptischer Flüssig¬
keiten auszusetzen, so werden wir um so grössere Sorgfalt der äusseren
*) Baur, Deber die Sohu38Verletzungen des Herzens. Dissertation. Berlin
1887. S. 23.
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Ueber die Wanden des Herzens.
49
Wände and ihrer Umgebung widmen. Hat man den Kranken glück¬
lich über die ersten Tage hinweggebracht, so wird ferner der Arzt
Gelegenheit haben, etwa auftretenden, entzündlichen Complicationen
seine vollste Aufmerksamkeit zu widmen. Schliesslich wird es seine
Aufgabe sein, nach Ueberwindung auch dieser Schwierigkeiten den
Reconvalescenten zur völligen Genesung zu führen.
Im Einzelnen gestalten sich die therapeutischen Aufgaben wie folgt.
Wird der Arzt zu einem Verwundeten gerufen und hat er Ursache, die vor¬
liegende Verletzung für eine Herzwunde nur im Entferntesten zu halten, so muss
an Ort und Stelle die Blutung gestillt werden. Liegt der Patient im Freien, so
muss man sich sofort schlüssig darüber werden, ob man ihn da vorläufig belässt,
oder ob man die Gefahren eines Transportes auf sich nehmen will. Bei einer
Blutung naoh aussen müssen wir uns klar darüber sein, ob das Blut direct aus
dem Herzen oder etwa aus Gefässen der Thoraxwand stammt. Die letzteren
müssen in loco, oder wenn das nicht gelingt, in der Oontinuität unterbunden
werden. Dieses kann unter Umständen eine sehr zeitraubende und schwierige
Operation sein, und man wird sich zu derselben nur entschlossen, wenn es aus
einer bekannten Arterie solchen Kalibers direct spritzt und man den Ort der
Blutung sieht. Wenn aus der Tiefe der Wunde ein arterieller Blutfaden auf¬
quillt, ohne direct zu spritzen, so müssen wir ebenfalls die Quelle der Blutung
sorgfältig zu erspähen suchen, und dieselbe womöglich auch durch Unterbindung
in loco zu stillen versnoben. Ist die Unterbindung geglückt, und hat die Blutung
merklich nachgelassen, so muss die äussere Wunde sorgfältig antiseptisch ge¬
reinigt und duroh die Naht vereinigt werden. Ein antiseptisoher Verband, wel¬
cher mit etwas straff angezogenen Bindentouren befestigt wird, vollendet dann
den Versohluss und verhütet, dass sich die Athemzüge allzu sehr vertiefen.
Gesetzt den Fall, wir fänden die Quelle der Blutung in der Thoraxwand nicht,
oder es wäre von vornherein klar, dass es sich um eine Blutung direct aus dem
Herzen handelt, so haben wir dennoch die Wunde sorgfältig duroh die antisep¬
tische Naht oder durch Compression mit Jodoformgaze zu verschliessen *), selbst
auf die Gefahr hin, die äussere Blutung zu einer inneren zu machen. Letztere
wird nur dann unmittelbar gefährlich, wenn es in die Pleurahöhlen ad infinitum
weiterblutet, oder wenn sich eine Blutansammlung im Herzbeutel entwickelt, und
zur Tamponade des Herzens führt.
Eine Beobachtung ist gemaoht worden, dass Füllung des Herzbeutels mit
Blut bis zu eiuem gewissen Grade für die Stillung einer Blutung günstig ist.
Eine frisoh verklebte Wunde, z. B. der Ventrikel, kann nämlich daduroh vor
dem Wiederaufreissen gesohützt bleiben, dass das Herzbeutelblut gerade eine
solohe Spannung hat, dass es die Wunde comprimirt, ohne zugleioh für die
Tamponade des Herzens genügend gespannt zu sein. Die Herztamponade 3 )
*) Koenig, Lehrbuoh der speoiellen Chirurgie. Bd. II. S. 43.
3 ) Heusner, Deutsche medioinisohe Woohensohrift. 1882. Beitrag zur
Casuistik der Herzverletzungen. No. 5.
Vlerteljahmchr. f. ger. Med. Dritte Folge. V. 1 . 4
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50 Dr. Elten,
bleibt am ersten aas, wenn das übersohässig gespannte Blut dabei aas dem Herz¬
beutel anslaufen kann.
Wenn es bei einer Blatang nach innen ans nioht gelingt, die Quelle der
Blatang za finden, so werden wir, wenn wir nicht den kühnen Weg Eoenig’s 1 )
einschlagen wollen, nach welchem man sich daroh Rippenresection and Spaltung
des Herzbeutels directen Zugang zur Blatang verschaffen soll, unser ganzes
Augenmerk darauf richten, möglichst günstige, äussere Bedingungen für den
Verwundeten herzasteilen. Dafür muss überhaupt vom ersten Aagenbliok an
gesorgt werden. Der Kranke wird vorsichtig entkleidet, nooh besser wird er
horizontal gelagert und man eröffnet oder zerschneidet ihm die Kleider über der
Brust. Rach Stillang etwaiger geringer nässerer Blutungen, nach exaoter Wand¬
nabt und entsprechendem Verbände sorge man für vollständige Ruhe, kühle
Temperatur, frische Luft; wenn möglich herrsche sogar Kälte im Krankenzimmer,
Kälte wird auch in Gestalt mehrerer, nioht za schwerer Eisblasen aaf Kopf and
Brust applicirt. Der Patient darf keine Bewegung machen, keinen Ton spreohen,
wenn er bei Besinnung ist; er ist za absoluter Rahe verdammt. Angehörige mit
ihren Fragen and Klagen sind ebenso verderblich in der Umgebung des Kranken,
wie wenn eine Verstärkung der Blatang schon da wäre. Auf Familienrücksichten,
Pietät etc. kommt in solchen Augenblicken garnichts an, vielmehr soll der Arzt
das Terrain rücksichtslos säubern. Er bleibe, wo es die Verhältnisse gestatten,
in den ersten Tagen und Woohen mit seinem Patienten und einem zuverlässigen
Wärter allein. Mit Sicherheit and sich immer gleich bleibender Rahe in jeder
Bewegung und Aeusserang walte der Arzt seines Amtes. Er halte sioh vor allen
Dingen nicht mit Fragen auf, welche dem Kranken nur sohaden, sondern er
handle. Dieses Auftreten wird aaf den Verletzten selbst, weloher sich vielleicht
in starker psychischer Aufregung befindet, von der wohltbaendsten, beruhi¬
gendsten Wirkung sein. Damit ist schon unendlioh viel gewonnen, denn die
eigene Selbstbeherrschung des Kranken tritt von nun an mit ein in den Kreis der
therapeutischen Mittel. Kein Morphium, keine Digitalis und kein Eis stillt so
sicher den erregten Herzschlag, als eintretende Ruhe des Gemütbes und das
wohltbuende Bewusstsein, dass nun Hülfe nahe ist. Neben der Sorge für die
Verletzung selbst und ihre nächsten Folgen ist auch dem ganzen übrigen Körper
des Kranken die höchste Sorgfalt zu widmen. Die Entleerungen müssen glatt
und ohne Pressen von Statten gehen, es muss daher bei eintretender Verstopfung
medicamentös für guten Stuhlgang gesorgt werden, eventuell ist auoh in die Blase
der Katheter einzufübren. Die Diät sei eine ganz leichte, reizlose; zuerst viel¬
leicht in Eis gekühlte Milch, Sodawasser, später leiohte Suppen, jedenfalls bleibe
sie lange Zeit nur flüssig, denn es ist ja vorgekommen, dass ein starker Bissen
von der Speiseröhre aus eine Herzruptur erzeugte.
Natürlich gelten alle diese Vorschriften auoh für die Fälle von äusseren
Blutungen, sie müssen da geradezu der gelungenen Blutstillung zu Hülfe kommen.
Das Verhalten bei inneren und äusseren Blutungen, welche durch keine der
vorher besprochenen Mittel zum Stillstand gebraoht werden können, gestaltet sich
nun etwas anders. Gestützt auf die Beobachtung, dass ein tiefer und langer An-
*) Koenig, Lehrbuoh der speoiellen Chirurgie. Bd. II. S. 43. 1885.
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Ueber die Wunden des Herzens.
51
fangsoollaps auf den günstigen Verlauf der Herzwnnden von Einfluss war, wurde
der therapeutische Grundsatz ausgesprochen, auf künstlichem Wege den Collaps
zu erzeugen und zu vertiefen. Dadurch sollten die günstigsten Bedingungen für
die Verklebung und Pfropfbildung in der Wunde geschaßt werden. Dieses führte
zur Anwendung des Aderlasses bei Herzrerletzungen. Es gab eine Zeit, in wel¬
cher derselbe in blutversohwenderisoher Weise geübt wurde 1 ). In der Literatur
finden wir Fälle, in welchen 4, 5, 7, lOmal, darunter 5mal an einem Tage zur
Ader gelassen wurde. Heute gilt der Grundsatz 2 ), dass wenn nicht schon hoch¬
gradige Anämie vorhanden ist, ein kräftiger Aderlass gemaoht werden soll. Es
könnten Zweifel darüber bestehen, wann wir an der „Grenze hochgradiger Anä¬
mie* angelangt sind. Wir verstehen die Vorschrift so, dass wir den Aderlass
nicht machen, wenn der Kranke bereits im anämischen Collaps liegt und nur
noch wenig blutet; dass wir ihn aber auch während des Collapses machen,
wenn es trotz aller Mittel unaufhörlich und massenhaft weiter blutet. Wir per¬
sönlich würden uns dagegen nioht entschliessen können, den Aderlass bei einem
Menschen zu machen, welohen wir bei unserer Ankunft bei Besinnung und nicht
sehr anämisch finden, ohne dass wir nicht vorher alle übrigen Mittel zur Blut¬
stillung versucht hätten. Eine Contraindioation gegen den Aderlass erblicken wir
in allgemeiner Körpersobwäohe, auch ein ganz jugendliches Alter würde ihn
unserer Meinung nach oontraindioiren.
Wir gelangen nun zu einem Symptome der Herzwunden, welches das thera¬
peutische, namentlich operative Handeln des Arztes energisoh herausfordert, näm-
lioh zur Tamponade des Herzens durch Blutergüsse in den Herzbeutel. Die Er¬
scheinungen und die Meohanik derselben sind aus früheren Abschnitten bekannt,
es bleibt uns hier nur noch die Therapie zu besprechen übrig. Dieselbe besteht
in der Entfernung des Blutes aus dem Herzbeutel entweder durch die Punction,
oder duroh vollständige Erößnung des Herzbeutels, womöglich mit nachfolgender
Naht der Herzwunde. Zu letzterer entschliessen wir uns nur dann, wenn alle
anderen Mittel zur Rettung fehlgeschlagen sind; jedenfalls ist nach dem heutigen
Standpunkte der Chirurgie die Operation berechtigt und auch Koenig sagt, dass
unter strengen antiseptischen Cautelen die Verletzung als eine sohwere nicht zu
betrachten ist. Der nächste Erfolg der Entfernung desBlutes aus dem Herzbeutel
ist der, dass die zuweilen colossale Erstickungsnoth der armen Verletzten gemil¬
dert wird. Allerdings ist es nicht ausgeschlossen, dass die Compression des Her¬
zens sioh von Neuem wieder herstellt, und dass nochmals operirt werden muss.
Die Therapie der Complioationen richtet sich nach den in der übrigen
Medicin dafür geltenden Grundsätzen. Dieselben dürfen wir als bekannt voraus¬
setzen. Bei starker Ausdehnung des Herzbeutels duroh eitrige oder seröse Er¬
güsse handelt es sich um die Entfernung dieser Flüssigkeiten. Namentlich wer¬
den wir duroh Compressionserscheinungen des Herzens dazu gezwungen. Der
Eiter wird durch breite Iuoision mit nachfolgender Drainage entleert, das seröse
Exsudat weicht auoh der einfachen Nadelparaoentese. Auch die Flüssigkeits¬
ergüsse in die Pleurahöhle unterliegen dieser Behandlung, wenn dieselben durch
*) Fisoher, Ueber die Wunden des Herzens. S. 216.
2 ) Koenig, Lehrbuoh der speoiellen Chirurgie. Bd. II. S. 43.
4 *
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UMIVERSITY OF IOWA
52
Dr. Elten,
ihre Art and Menge gefährlich za werden droben. Empyeme sich selber za aber*
lassen'). „wenn die Zufälle nicht drängen“, wie Fischer es noch will, halten
wir nach unseren heutigen Begriffen, nach welchen wir mit der Operation nioht
warten werden, bis das hektische Fieber einen grossen Theil der Kräfte des
Kranken verzehrt hat, nicht für richtig.
Die Entfernung von fremden Körpern aus dem Herzen muss man mit Rück¬
sicht darauf vornehmen, dass durch dieselbe eine tödtliche Blutung erzeugt wer¬
den kann. Am leichtesten entschliessen wir uns zur Entfernung von Radeln aus
dem Herzen, von welcher Operation wir 6 Fälle mit günstigem Erfolge in der
Literatur fanden, lu einem Falle 2 ) gelang, trotzdem ein Theil der 5. Rippe re-
secirt und das Pericard eröffnet war, die Entfernung der Nadel nicht. Sie ver-
sohwand vielmehr, nachdem sie mehrmals mit einer Zange gefasst worden war,
auf Nimmerwiedersehen im rechten Ventrikel. Von grösseren Fremdkörpern wer¬
den im Herzen stecken gebliebene Waffen, Tuchfetzen. Knochensplitter extrahirt,
sofern man ihnen von aussen gut beikommen kann. Im Wundkanal nach Fremd¬
körpern zu suohen ohne die Gewissheit ihres Vorhandenseins, ist wegen der Ge¬
fahr der Blutung zu verwerfen.
Die Frage, ob bei Herzwanden innerlioh, sabcatan oder äusserlioh Exci-
tantien gegeben werden sollen, ist dahin zu beantworten, dass es verkehrt ist,
z. B. den Anfangscollaps durch Reizmittel zu verkürzen. Auch in späterer Zeit
kann durch plötzliche Steigerung der Herzthätigkeit durch innere Reizmittel eine
kaum vernarbte Herzwunde wieder aufgerissen werden, es muss daher in der Be¬
ziehung die grösste Vorsioht walten. Wir persönlich möchten uns ganz auf die
milde Anwendung äusserer Reize beschränken. —
Zum Schluss noch einige Worte über die vom Professor v. Nussbaum vor¬
genommene Operation in dem Seite 32 erwähnten Falle von Herzquetschung.
Drei Rippen, eine grade über, eine unterhalb und eine oberhalb des Herzspitzen-
stosses wurden künstlich in der Weise gebrochen, dass am oberen Rande jeder
Rippe eine lange Incision gemacht wurde. Dann wurde mit den Fingern die
Pleura hinter den Rippen abgelöst und dann die Rippe bis 2 mm über ihrem
unteren Rande durch Osteotomie getrennt und dann gebrochen. Darauf wurden
die Rippenenden unter Anwendung grosser Kraft naoh aussen gebogen und ge¬
zogen, so dass sie über dem Herzen nun eine dachförmige Kuppe bildeten. Da-
daroh war das Herz sofort von dem Drnoke entlastet.
Die Hauptergebnisse unserer Arbeit fassen wir in folgende
11 Thesen zusammen:
1. Entgegengesetzt der alten Auffassung von der unbedingten
Tödtlichkeit aller Wunden des Herzens bestätigen auch die neuesten
Forschungen die von Fischer 1868 aufgestellte Lehre, dass viele
Herzwuuden heilen können.
*) Fischer, 1. c. S. 226.
2 ) Stelzner, Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie.
Oongress XVI. S. 58—62.
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Ueber die Wanden des Herzens.
53
2. Die einzelnen Herzwanden liefern charakteristische patho¬
logisch-anatomische Befände; namentlich gilt das von dem Aussehen
der Thoraxwunde und der Herzwunde. Ausnahmen kommen viel¬
fach vor.
3. Bei den verschiedenen Herzwanden beobachten wir gewisse,
mit ziemlicher Regelmässigkeit auftretende Allgemeinsymptome. Unter
diesen nehmen die Folgen der Blutung, die Ohnmacht und nervöse
Symptome die erste Stelle ein.
4. Die Diagnose und die Differentialdiagnose der Wunden des
Herzens ist trotz der Vervollkommnung der heutigen Untersuchungs¬
methoden noch immer - als eine äusserst schwierige zu bezeichnen.
5. Ein pathognomisches Symptom für die Verwundung des Her¬
zens existirt nicht. Erst eine Summe von Symptomen ermöglicht die
Diagnose.
6. Die Prognose der Herzwunden ist verschieden. Die beste
Prognose liefern die Nadelstichverletzungen. Dann kommen die Stich-
Schnitt- und Schusswunden. Die schlechteste Prognose ist bei den
Quetschwunden und Rupturen.
7. In der Praxis ist es rathsam, eine unter allen Umständen
ernste Prognose bei jeder Herzwunde zu stellen.
8. Der Verlauf und Ausgang der Wunden ist ein sehr ver¬
schiedener. Im Allgemeinen richtet sich derselbe nach dem Grade
der Blutung, nach der Frage, ob penetrirend oder nicht penetrirend,
nach der Localisation der Wunde am Herzen und nach der Schwere
der etwaigen Complicationen.
9. Die Therapie der Herzwunden hat sich gegen früher ganz
bedeutend vervollkommnet.
10. Die Hanpterfordernisse einer guten Therapie sind Stillung
der Blutung, antiseptischer Verschluss und Verband der Thoraxwunde,
Regelung der äusseren Verhältnisse des Kranken, operatives Ein¬
schreiten gegen eine Anzahl gefährlicher Complicationen.
11. Jeder Patient mit einer Wunde in der Herzgegend ist als
Herzverletzter zu betrachten und zu behandeln.
Literatur.
1) Georg Fischer, Ueber die Wunden des Herzens und des Herzbeutels
Berlin 1868.
2) Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie. Congress XVI.
S. 58-62.
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54
Dr. Elten.
3) Brentano, Zar Casuistik der Herzverletzungen. Dissertation. Berlin 1890*
4) Baur, Ueber die Schussverletzungen des Herzens. Dissertation. Berlin 1887.
5) Vierteljabrsschrift für gerichtliche and öffentliche Medicin. Herausgeg«ben
von Horn. Simon, 2 Fälle von Nadelverletzung des Herzens. Neue Folge.
Bd. III. 1865.
6) Dr. H. Wald, Gerichtliche Medicin. Bd. 1. 1858.
7) Casper, Ludwig, Gerichtl. Leichenöffnungen. Erstes Hundert. Berlin 1853.
8) Becker, Ueber penetrirende Brustwunden vom gerichtsärztlichen Standpunkte
aus. Deutsche militärärztliche Zeitschrift. Jahrgang XIV. Heft 9.
9) Schulte, Drei Fälle von Verletzung des Herzens, resp. des Bulbus aortae.
Diese Vierteljahrsschrift. April 1886.
10) v. Maschka, Gerichtsärztliche Mittheilungen. Diese Vierteljahrsschrift.
April 1888.
11) Steiner, Ueber die Blectropunctur des Herzens etc. Langenbeok’s Archiv.
Bd. XH Heft III. 1871.
12) Lachmann, Ein Fall von Ruptur des Herzens. Dissertation. Berlin 1876.
13) Struntz, Ueber penetrirende Brustwanden, soweit diese durch Kriegswaffen
hervorgebracht werden. Dissertation. Berlin 1873.
14) Heussner, Beitrag zur Casuistik der Herzverletzungen. Deutsche medioinische
Wochenschrift. 1882. No. 5.
15) Sander, Selbstmord durch einen Stich in das Herz mittelst eines Stückes
Glas. Diese Vierteljahrsschrift. Supplementband 1877.
16) Jahresberichte über die Leistungen und Fortschritte der gesammten Medioin.
a) Bericht für 1866. Bd. II. Abth. 1.
b)
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1867.
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1887.
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g)
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1888.
TT
u.
TT
1.
17) v. Maschka, Handbuch der gerichtlichen Medicin. Entstehung mechanischer
Verletzungen. Von Dr. Carl Weil. 1881. 1. Bd
18) Hofmann, Handbuch der gerichtlichen Medicin. 1881.
19) Koenig, Lehrbuch der speciellen Chirurgie. Bd. II. 1885.
20) Derselbe, Lehrbuch der allgemeinen Chirurgie. Abtheil. I. 1883.
21) Casper-Liman, Handbuch der gerichtlichen Medicin. 1889.
22) Billroth und v. Winiwarter, Allgemeine chirurgische Pathologie und
Therapie. 1885.
23) Vierordt, Percussion und Auscultation. Tübingen 1884.
24) Ziegler, Handbuch der allgemeinen und speciellen pathologischen Anatomie.
Jena 1885.
25) Landois, Die Physiologie des Menschen. Wien 1881.
26) Ohrt, Diagnostik. Berlin 1884.
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Die ledeitug der Thymnshypertrephie bei forensischei
Sectieaen.
Von
Dr. C. Seydel,
Ausserordentl. Professor und Pol. Stedtphysikus su Königsberg i. Pr.
Der Eioflass und die Bedeatang der Thymus, dieses fötalen
Organes, das in der fortschreitenden Entwickelung der ersten Lebens¬
jahre eine bis jetzt wenig erklärte Rolle spielt, hat früher nament¬
lich die Kinderärzte vielfach beschäftigt.
Erst nachdem Fried leben (»Die Physiologie der Thymusdrüse
in Gesundheit und Krankheit vom Standpunkte experimenteller For¬
schung und klinischer Erfahrung“. Frankfurt a. M. 1858) den Ein¬
fluss der Thymus auf gefahrdrohende Erstickungsanfälle und plötzlich
eintretende Todesfälle verneint hatte, wurde relativ weniger auf den
ursächlichen Zusammenhang des genannten Organes mit Respirations¬
störungen resp. plötzlichen Todesfällen geachtet. Nach den Auf¬
fassungen der Physiologie trägt die Thymus, welche vesiculäres Ge¬
webe enthält, vermuthlich zur Lieferung farbloser Blutkörperchen
wesentlich bei (Hermann, Physiologie. VIII. Aufl. S. 194); sie ent¬
steht durch Hineinziehen und Abschnürung des Entoderms von der
3. und 4. Kiemenspalte und ist, ähnlich wie die Schilddrüse, eine
abgeschlossene sackförmige Entodermeinstülpung (1. c. S. 622).
Den auf sehr eingehende Arbeiten basirten Ansichten Fried-
leben’s widersprach Clar-Graz („Beobachtungen über Thymusano¬
malien*. Jahrb. f. Kinderheilk. 1859. S. 106).
Später haben Grawitz 1 , Nordtraann 2 und Scheele* plötz¬
liche Todesfälle in Folge von Thymushypertrophie berichtet, die sich
bei anscheinend vorher ganz gesunden Individuen binnen wenigen
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56 Dr. Seydel,
Miauten einstellten und ausser der Thymushypertrophie ein negatives
Sectionsresultat boten.
Schwöre Respirationsstörungen, Asthma thymicum, Stimmritzen¬
krampf haben Giuseppe Somma 4 und Jacobi 5 durch Thymus¬
anomalien erklärt. Die sehr häufig tödtlich endenden Fälle von
Laryngospasmus haben Soltmann-Breslau 6 und vor Allem Pott 7
zusammengestellt und immer wieder auf die dabei beobachteten Ano¬
malien der Thymusdrüse aufmerksam gemacht.
Dem letzteren Autor verdanken wir ausser einer übersichtlichen
Zusammenstellung der einschlägigen Literatur eine so klare und ge¬
naue Beschreibung der plötzlichen Todesfälle bei Laryngospasmus,
dass ich deren Wiedergabe um so mehr zweckmässig finde, weil da¬
durch bis jetzt wenig betonte Gesichtspunkte in’s richtige Licht ge¬
stellt werden.
„Die Kinder litten meist nnr an leiohten Formen von Raohitis, waren im
Uebrigen gesnnd and in leidlich gatem Ernährungszustände. Stimmritzenkrampf
bestand bei allen Vieren schon wochenlang. Die Anfälle pflegten sich häufig im
Laufe von 24 Stunden einzustellen. Der tödtliche Anfall trat bei allen 4 Kindern
in dem Augenblicke ein, als ich den Mundspatel einführen wollte, um eine In-
spection des Rachens vorzunehmen. Die Erscheinungen, unter denen der Tod er¬
folgte, waren stets die gleichen. Plötzlich biegen die Kinder den Kopf nach
hinten zurück, machen eine lautlose nach Luft schnappende Inspirationsbewegung,
verdrehen die Augen nach oben, die Pupillen erweitern sich. Das Gesicht,
namentlich die Lippen werden blitzblau und schwellen an. Die Znnge zeigt sioh
zwischen die Kiefer eingeklemmt, schwillt um das Doppelte im Dickendurch¬
messer an, ist ebenfalls stark cyanotisch, etwas nach oben umgerollt und fest an
den harten Gaumen angepresst. Die Halsvenen, stark geschwellt und prall ge¬
füllt, treten als dicke Stränge deutlich hervor. Die Hände mit eingeschlagenen
Daumen zur Faust geballt, die Nägel cyanotisch. Die unteren Extremitäten sind
gestreckt, die grosse Zehe etwas abducirt und dorsal fleotirt. Die Wirbelsäule
wird im Bogen stark nach hinten gekrümmt. Einige blitzartige Zuckungen der
Gesichtsmuskeln und einige schnappende Inspirationsbewegungen erfolgen, aber
kein Laut, kein zischendes Eindringen von Luft daroh die Stimmritze wird ge¬
hört. Auf einmal löst sioh der Krampf, das Gesicht verfärbt sich, wird aschgrau,
die Cyanose lässt nach, die Zunge und die Lippen werden livide und naoh höch¬
stens 1 — 2 Minuten ist das Kind eine Leiche.
Urin und Fäoes gingen jedesmal bei den ersten künstlichen Athembewe-
gungen unwillkürlich ab. Die Herzthätigkeit hörte mit Eintritt des Anfalles so¬
fort auf." — Die Reflexerregbarkeit der Halsorgane und des Auges ist sofort
erloschen, weder Husten- noch Würgbewegungen können durch Einführen des
Fingers in den Rachen, auch nicht Lidschluss bei Gornealreiz hervorgebracht
werden.
Künstliche Athembewegungen, z. Th. nach eröffneter Trachea, Reizung der
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Die Bedeutung der Thymushypertrophie bei forensischen Sectionen. 57
Phrenioi mit starken Indnotionsströmen waren nicht im Stande, aaoh nar eine
einzige spontane Athembewegnng wieder ansznlösen.
Bei vier anderen Kindern trat der Tod zwar nicht im Beisein des Verfassers,
aber nach Angabe der Angehörigen ganz in derselben Weise ein.
Das in der Arbeit mitgetheilte Sectionsergebniss eines 16 Monate alten
Knaben zeigte leiohte Veränderungen in Folge von Rachitis an den Knochen und
Knorpeln. Herz überfüllt mit duokelkirsohrothem flüssigem Blut, ebenso in der
harten Hirnhaut, während die Pia und die Gehirnsubstanz mässigen Blutgehalt
zeigen. Thymus 14 V 2 g schwer, 6 */ 2 cm lang, 5 om breit. Durchschnitt blau-
röthlich, deutlich körnig, auf der Sohnittfläohe trübe grauweissliche Flüssigkeit
in mässiger Menge. Beide Lungen blassrotb, lufthaltig, hintere Lappen etwas
dunkler, auf dem Pleuraüberzng einige dunkelrothe punktförmige Eoohymosen,
einige subpleurale Empbysembläschen. Halsorgane bis auf eine Traohealwunde
(Tracheotomie) unverändert.
In Fall 2 und 3 wurde eine auffallend vergrösserte Thymus, welche mit
ihrem rechten Lappen die zwei oberen Drittel des rechten Ventrikels bedeckt und
zu beiden Seiten der Traobea bis zum Schildknorpel hinaufragt, sowie Schwel¬
lungen der Mesenterialdrüsen und Blutfülle sämmtlicher Organe festgestellt.
Im Fall 4 überlagert die 8 om lange und 4 om breite, fast 2 om dicke
Thymus 3 / s des rechten Vorhofes, die oberen Drüsenpartieen sind dunkler ge¬
färbt, blutig tingirt. Die Thymus ist mit dem Herzbeutel verwaobsen. Die
Ränder des rechten Herzohres blutig tingirt. Alle Organe auffallend blutreioh.
Mesenterialdrüsen z. Th. bis zu Bohnengrösse geschwellt, sehr blutreioh.
In Fall 7 Feohterstellung der Arme, Zunge zwischen den Kiefern einge¬
klemmt. Thymus 7 cm lang, 5 cm breit, 2 1 /., diok, bedeokt das rechte Herz bis
zur Spitze. Im Herzen flüssiges Blut, sämmtliohe Organe auffallend blutreioh.
Fall 8 ähnlicher Befund.
In den übrigen an Spasmus glottidis gestorbenen Kindern ergab die Seotion
zwar auch Thymushyperplasie, doch gleichzeitig hochgradige Rachitis, lobuläre
Pneumonie, Capillarbronchitis oder andere Complioationen. In einem Falle
(No. 9) war ebenfalls Verwachsung der Thymus mit dem Herzbeutel und dieses
mit dem Zwerchfelle. Friedeleben selbst giebt an, dass er unter 15 Fällen
von Spasmus glottidis 7 mal eine auffallend vergrösserte Thymus gefunden und
Cohnheim 8 sagt, „in den Fällen von echtem Asthma Millari, die ich zu obdu-
oiren Gelegenheit gehabt, habe ich stets eine ausgesprochene Hyperplasie der
Thymus gefunden, jüngst noch so eine bedeutende, dass dadurch eine Atelectase
ausgedehnter Abschnitte der linken Lunge herbeigeführt wurde“.
A. Paltauf 9 '), der bekanntlich den Einfluss der Thymus bei plötzlichen
Todesfällen bestreitet, fand doch in derartigen Fällen, die er durch aoute Schwel¬
lung der Bronchialschleimhaut etc. zu erklären sucht und mit Capillarbronchitis
in ursächlichem Zusammenhänge bringt, Hyperplasie der Thymus 3 ) und Schwel¬
lung sämmtlioher lymphatischer Apparate und zwar mit und ohne Raohitis.
') P. giebt eine Formveränderung und Abplattung der kindliohen Trachea
bei starker Supination des Kopfes ausdrüoklich zu.
3 ) Oft bis zu weit grösseren Maassen, als sie von Pott angegeben werden.
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58
Dr. Seydel,
Ausser der Hyperplasie der Thymus glaubt Pott besonders die Verwai¬
sung dieses Organs mit dem Herzbeutel als wichtig bezeiohnen zu mässen l ).
Wie hat man sich nun den Einfluss der Thymushyperplasie bei der Ent¬
stehung der plötzlichen Todesfälle zu denken?
Eine einfache Gompression der Trachea ist zwar meohanisoh nicht ganz
ausgeschlossen, naoh den verschiedenen Untersuchungen aber unwahrscheinlich;
die Sehe eie’ sohen Untersuchungen haben gezeigt, dass ein Gewicht von fast
1000 g dazu gehört, um die gesunde Trachea bis zum vollständigen Versohluss
zu comprimiren. Dass das Traohealrohr aber, ähnlich wie bei Struma, irgendwie
verändert, erweicht oder breitgedrüokt gefunden wäre, ist von keinem Beobachter
erwähnt.
Der Abstand zwisohen Wirbelsäule und hinterer Sternalwand variirt bei
Kindern (übrigens am Skelett gemessen) zwisohen 2—3 cm a ). Die Thymus liegt
gewöhnlich in zwei in der Mitte eine Brücke bildenden Lappen und hat einen
leicht oompressibelen mit Flüssigkeit gefüllten Hoblranm. Die einfache me¬
chanische Compressionswirkung ist hiernach zum mindesten unwahrscheinlich.
Ausserdem müsste doch bei einem an plötzlioher Luftentziehung gestorbenen
Kinde die sofort selbst naoh vorgenommener Tracheotomie vorgenommene künst¬
liche Athmung oder die Reizung der Nn. phrenici irgend welchen Erfolg gezeigt
haben; dies wird nach den exakten oben angeführten Beobachtungen von Pott
verneint und müssen daher andere Ursachen des plötzlichen Todes angenommen
werden. Ob die Theorie des genannten Autor, dass jeder Spasmus glottidis als
eine Theilersoheinung resp. als eine rudimentäre Form der Eclampsie aufzufassen,
ob es sioh um eine Erregung des psychomotorischen Krampfcentrums in der
Grosshirnrinde handle, will ich hier dahin gestellt sein lassen. Mir will die
blitzartig tödtende Form der Eclampsie selbst bei relativ jungen Kindern nioht
recht einleuchten, obwohl ich zugebe, dass einzelne Symptome im oben ange¬
führten klinischen Bilde dafür sprechen. Der directe Druck der hyperplastischen
Thymus auf die Trachea resp. auf die daneben liegenden lebenswichtigen Ner¬
ven (Nn. recurrentes und vagi) lässt sioh nur duroh ein plötzliches Anschwellen
des Organs in dem gleichzeitig verengten oberen Brustraum erklären. Die Thy¬
mus als Gebilde von reticulärem Bau kann, ebenso wie die Milz und die Leber
recht schnell ihren Blutgehalt ändern.
Beim Zurückbeugen des Kopfes, wie es zum Einführen des Mundspatels
nothwendig, wird der obere Brustraum verengt, die Thymus duroh Gompression
der Halsvenen zur Anschwellung gebracht, die Trachea gezerrt und zusammen¬
gedrückt, und so entsteht die aoute Compression, die nach Nordtmann 1. c.
selbst dem 20jährigen Rekruten beim Schwimmen verhängnissvoll wurde. Dass
hierbei weniger Erstickung als Herzstillstand die Todesursache wird, muss naoh
der Beschreibung Pott’s über die Erscheinungen des Todeseintrittes, wie er
auch selbst den Eindruck gewonnen hat, als vollständig bewiesen angesehen
werden.
*) Besonders dann, wenn es sich um einen lähmenden Einfluss der ver-
grösserten Thymus auf das Herz handelt.
3 ) Nach Grawitz 2 cm.
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Die Bedeutung der Thymushypertrophie bei forensisohen Seotionen. 59
Die Befunde am rechten Herzen haben in den Pott’schen F&llen nament¬
lich für eine schwächere Herzkraft und leioht eintretende Lähmung gesprochen.
Pott hält auoh eine plötzliche Gompression der Art. pulmonalis als Todesursache
nioht für unwahrscheinlich. Jedenfalls kann man den Schlusssatz mit ihm für
vollständig berechtigt halten:
„Eine byperplastische Thymusdrüse beeinflusst die Respiration und Cirou*
lation allmälig sowie plötzlich, sie kann sogar bei scheinbar plötzlioher Gesund¬
heit wenigstens indireot zur plötzlichen Todesursache werden.“
In der forensisohen Praxis ist, soweit mir bekannt, ein Fall von plötzliohem
auf Thymushyperplasie zurückzuführendem Tode, wenn man den Nordtmann’s
nioht dazu reohnet, bis jetzt nioht veröffentlicht worden. Einen in dieser Weise
zu erklärenden erlebte ich vor wenigen Wochen unter eigenthömliohen Verhält¬
nissen. Es ging bei der hiesigen Staatsanwaltschaft die Anzeige ein, eine
schwachsinnige Person, die übrigens schon einige Kinder mit Erfolg gewartet,
hätte das ihr anvertraute '/ 2 J & hr alte Kind ihrer unverehelichten Sohwester
erwürgt.
Der am 17. Juli dieses Jahres ausgeführten Seotion entnehmen wir folgende
Punkte:
Die Leiche 62 om lang, zeigte regelmässigen Bau und reiches Fettpolster
unter der Haut. Reiohliohe blassblaurothe Todtenfleoken auf dem Rüoken. An
der Stirn vier rundliche 2 cm im Durchmesser haltende bläuliche Flecken,
unter denen eine dünne Schicht geronnenen Blutes nachweisbar. Die Aogenbinde-
haut blass, in Nase und Mund keine Fremdkörper, die Zungenspitze ebenso wie
die Lippen blassbläulich, überragt den Kieferrand um 1 cm. Am Halse keine
Verletzungen, auoh keine abnorme Beweglichkeit. Die Fingernägel etwas
bläulich.
Schädelhaut und Schädeldach unverletzt, der Knochen sowie die harte
Hirnh&at nicht auffallend blutreioh, nur im Sin. longitud. etwa 5 g dunkeln
flüssigen Blutes. Die Piagefässe ziemlich stark gefüllt, das Gehirn etwas er¬
weicht, ziemlich blutreich.
In der Sinus der Dura baseos viel dunkles flüssiges Blut. Schädelbasis
unverletzt. Höohster Zwerohfellstand an der fünften Rippe. Nach Entfernung
des Brustbeins erscheint die auffallend grosse Thymus, die den Herzbeutel zum
Theil bedeckt, sie ist 5 cm breit, 8 om lang, 3y 2 om an der dicksten Stelle.
Das Gewebe ist gleiohmässig blassröthlioh mit weisslicher Flüssigkeit im Innern.
Die Lungen auffallend gross (ballonirt), blauroth und hellroth marmorirt, auf
Einschnitten reich an dunklem schaumigem Blute, subpleurale Ecohymosen wer¬
den nicht gefunden. In den Bronohialverzweigungen etwas röthlioher Sohaum,
der sich aber bei Druck auf die Lungen nicht bis in die Trachea bringen lässt.
Das Herz hatte stark gefüllte Goronargefässe, Blutgehalt links mässig,
rechts stärker, der linke Ventrikel fest, der reohte schlaffer, die arteriellen
Klappen schlussfähig. Der gesammte, vollständig flüssige Blutinhalt wird auf
20 g geschätzt. In der Brusthöhle sammelten sich aus den grossen Gelassen
nooh ca. 30 g dunkeln flüssigen Blutes. Die Sohleimhaut des Kehlkopfes, der
Luftröhre und ihrer Verzweigungen war mit einem weissgrauen zähen Schleime
bedeckt, die Sohleimhautgefässe injioirt.
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Dr. Seydel,
Milz, Nieren und Leber blntreiob, QekrSsdrfisen mässig geschwellt, von
weissgraner Farbe anf dem Darohschnitte,
Die Obdaoenten nahmen bei dem Kinde den Brstickangstod an and er¬
klärten, die Section hätte nichts ergeben, worans geschlossen werden könnte,
dass diese Todesart gewaltsam herbeigeführt wäre. Die schwachsinnige Wärterin
war von Zeagen weinend an dem Bettchen des todten Kindes getänden, wobei
sie die Nase and das Gesicht des Kindes, welohe mit etwas röthlicbem Schaum
beschmutzt waren, mit der Schürze abwischte and wiederholt behauptete, sie
hätte dem Kind „nichts getban“. Den mit Zaoker gefüllten Saagpfropfeu hatte
sie dem Kinde vorher aas dem Monde genommen and unter das Kopfkissen
gelegt.
Da die Pflegerin eine schwachsinnige auf der rechten Körperhälfte seit
ihrer Kindheit paretische Person war, wurde von dem Strafverfahren abgesehen
and die Entmündigung derselben seitens der Staatsanwaltschaft beantragt.
Wäre es zar Strafverhandlung gekommen, so hätten die Sachverständgen sich in
diesem Falle auf Grand der oben aasgefährten Thatsachen für die Möglichkeit
eines plötzlichen Todes des betreffenden Kindes in Folge von Tbymashyperplasie
aossprechen müssen. Das einzige Zageständniss, welches die schwachsinnige
Pflegerin auf wiederholte eindringliche Vorstellungen machte, war, sie hätte dem
Kinde an den Hals gefasst and den Kopf „ein wenig“ zarüokgebogen, es dabei
aooh ein wenig am Halse gedrückt.
Es muss daher die Möglichkeit zugegeben werden, dass es sich
bei dem Zurückbiegen und Drücken am Oberhalse, was, wie schon
gesagt, nicht die geringsten Spuren hinterlassen hatte, um eine acute
Anschwellung der grossen Thymus und einen plötzlichen Tod ge¬
handelt habe. Bei den häufig vorkommenden Erstickungsfällen von
Kindern im ersten Lebensjahre wird dieser Gesichtspunkt nicht un¬
berücksichtigt bleiben dürfen.
Bei Kindern, die nachweislich an Laryngospasmus gelitten, wird
ein plötzlicher Tod am leichtesten ohne fremdes Verschulden ange¬
nommen werden müssen.
Aber auch bei anscheinend bis dahin gesunden Kindern wird
die Möglichkeit des plötzlichen Todes, durch Thymushyperplasie ver¬
anlasst, stots dann angenommen werden müssen, wenn die Section
nichts Positives für die Schuld eines Dritten ergiebt und die psycho¬
logische Aetiologie, abgesehen von der Fahrlässigkeit, für ein Ver¬
brechen fehlt. Der von Pott an den Schluss seiner Arbeit gesetzte
Satz: „Die hyperplastische Thymusdrüse beeinflusst die Respiration
und die Circulation allmälig, sowie plötzlich, sie kann sogar bei
scheinbar völliger Gesundheit wenigstens indirect zur plötzlichen
Todesursache werden*, — soll bei zweifelhaften Sectionsergebnissen und
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/
Die Bedeutung der Thymushypertrophie bei forensisohen Sectionen. 61
dem Fehlen eines verbrecherischen Motives dem Gerichtsarzte nicht
unbekannt sein und stets, wo er hinpasst, berücksichtigt werden.
Literatur.
1) Grawitz: Ueber plötzliche Todesfälle im Säuglingsalter. Deutsche medicin.
Wochenschrift. XIV. No. 22. 1888.
2) Nordtmann: Ueber Beziehungen der Thymusdrüse etc. Schweizer Corresp.*
Bl. 6. Refer. Virchow-Hirsch XXIV. 1889. I. Bd
3) Scheele: Zur Casuistik etc. Zeitschrift für klinische Medicin. XVII. 1890.
4) Giuseppe Somma: Sulla tracheostenosi etc. Arch. di pathol. inf. 1884.
II. p 168 flf.
5) Jacobs: Gontribution etc. Transact. of the Assoo. of Amerio. Physicians.
Vol. III. p. 297 1888.
6) Max Ga Im us: Zur Pathologie und Therapie des Laryngospasmus. Inaug.-
Disuertation. Breslau 1889.
7) Pott: Jahrbuch für Kinderheilkunde. Bd. XXXIV. 1. Heft. 1892.
8) Gohnheim: Allgemeine Pathologie. Bi. II. S 169. 1880.
9) A. Pal tauf: Ueber die Beziehungen der Thymus zum plötzlioben Tode.
Wiener klin. Wochensohr. 1889, No. 46 und 1890, Ne. 9.
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4.
Durchdringende Brustwunde, (tierrigg tm 2 cm Länge in der
vorderen Wand des nnfsteigenden Theils der Aorta aasserhalb
des Herzbeutels infolge einer Schnssverletzung in der Schlacht
bei Amiens am 27. November 187#. Genesung. — Dienst¬
fähigkeit erst beim Militär, dann im Civildienst. Tod am
2. Juni 1892 infolge einer doppelseitigen Lnngeneatifindnng
durch Herzlähmung.
Mitgetheilt vom
Kreisphysikus Dr. Bremme in Soest.
In dieser Vierteljabrsschrift N. F. Band XXVII, Heft 1, Juli 1877 habe ich
eine Beobachtung niedergelegt, welche mit der in der Ueberschrift erwähnten
insofern Aehnlichkeit hat, als in beiden Fällen Qnerrisse in den die Herzkammer
verlassenden grossen Schlagadern durch Streifschass erzeugt sind.
Das eine Hai lag der Einriss in der Lnngenschlagader 1 cm oberhalb der
halbmondförmigen Klappe, also nooh innerhalb des Herzbeateis. Das andere Mal
war der Riss in dem aafsteigenden Stück der Aorta entstanden, welches aasser¬
halb des Herzbeutels sich befindet. Dadurch war im ersten Falle eine tödtliche
Blutung in den Herzbeutel unvermeidlich und ein rascher Tod durch Zusammen¬
drücken des Herzens. Im zweiten Falle aber ist es nicht zur Verblutung ge¬
kommen, und hat der Verletzte noch etwa 22 Jahre lang mit dem ungeheilten
Riss in der Aorta leben können. —
Indem ich in Betreff des ersten Falles auf jenes oben genannte Heft der
Vierteljahrsschrift verweise, werde ich vorerst dasObductionsprotokoll des zweiten
folgen lassen:
Protokoll über die am 4. Juni 1892 in Gegenwart des behandelnden
Arztes Dr. D. ausgefübrte Obduction der Leiche des Landmessers N.N.
zu Soest.
Da der Herr N. N. seit der am 27. November 1870 in der Schlacht bei
Amiens erhaltenen, die Brust durchdringenden Sohussverletzung an einem Herz-
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Durchdringende Brustwunde etc.
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leiden, welches sich langsam entwickelt und mehrere Male Lungenentzündungen
im Gefolge gehabt hat, erkrankt gewesen ist, da ferner Nierenerkrankangen naoh
Aassage des behandelnden Arztes aasgeschlossen sind, so warde die Obdaotion
auf die Eingeweide der Brusthöhle, in deren Bereich die Einwirkung jener oben¬
genannten Sohassverletzang stattgehabt, beschränkt.
A. Aenssere Besichtigung.
1) Der Verwesungsgrad ist durch das Auslaufen von blutiggefärbter Jauche
aus der Nase und durch die Bildung von Gasen im Unterhautbindegewebe und
durch diejenige von dunkelgrünen Blasen auf den Seitentheilen der Brust und
des Baaohes erkennbar.
2) Daher ist der Leiohengeruch stark.
3) Zwischen der 2. und 3. Rippe auf der linken Brustseite etwa 5 cm über
der Brustwarze and in der Brustwarzenlinie ist eine fast kreisrunde Narbe sicht¬
bar von dem Durchmesser etwa von 1 J / 2 cm (ehemalige Einsohussstelle).
4) Eine Narbe von gleicher Beschaffenheit und von fast gleioher Grösse
befindet sich in der Höhe der vierten Rippe der rechten Brusthälfte und zwar
ungefähr in gleioher Höhe der rechten Brustwarze in der Aohselhöhlenlinie (ehe¬
malige Ausschussstelle).
B. Innere Besichtigung.
5) Naoh Entfernung des Brustbeines werden beide Langenränder stark vor¬
liegend und den Herzbeutel theilweise bedeckend vorgefunden.
6) Die Rippenfelle und Lungenfelle sind fest verwachsen, so dass also ein
Brustfellraum auf keiner Seite besteht.
7) Nach Oeffnung des mässig mit Fett bedeokten Herzbeutels entleeren sioh
etwa 15g einer donkelroth gefärbten Flüssigkeit aus demselben; die innere Haut
des Herzbeutels ist glatt und ohne Flecken.
8) Das Herz hat eine Breite von 17 cm und eine Höhe von 15 cm. Die
Kranzgefasse sind noch ziemlich gefüllt mit Blut. Die äussere Haut des Herzens
ist glatt und ohne Flecken, aber ziemlich fettreich. Das Herz ist schlaff.
9) In der Lage werden seine Höhlen geöffnet. Aus allen entleert sich
dunkelrothes flüssiges Blut in mässiger Menge, aus der linken Herzkammer auoh
noch eine Hand voll dunkelrothes ziemlioh lockeres Blutgerinnsel. Die reohte Vor¬
hofskammerklappe ist für zwei Finger durchgängig. Die linke für die sämmt-
liohen fünf Finger.
10) Auf der vorderen Fläche der aufsteigenden Aorta und dort, wo diese
den Herzbeutel verlässt, wird eine etwa muskatnussgrosse rundliche Geschwulst
siohtbar. Sie fühlt sich zwar hart an und ein wenig höckerig, lässt sich aber
leicht eindrücken, und man bekommt dabei das Gefühl, dass sie hohl ist und
unter den drückenden Fingern knattert. Das äussere fibröse Blatt des Herzbeutels
geht über die Geschwulst hinweg und ist fest mit ihr verwachsen, während das
seröse Blatt zum Herzen herabtritt, wie es gewöhnlich ist.
Es wurde nun sowohl das Herz als auch der entsteigende Theil der Aorta
und der Bogen bis tum Abgang der grossen Gefässstämme vorsichtig aas der
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Dr. Bremme,
Leiche genommen. Die Aorta wurde von hinten durch einen Längsschnitt
geöffnet.
Darauf erbliokt man unter der eben geschilderten Geschwulst einen quer
verlaufenden Einriss in der Aorta von der Länge von 2 cm. Derselbe klafft etwa
2 mm. (NB. Nach der Einwirkung von absolutem Alkohol, in welchen das Prä¬
parat gelegt wurde, beträgt das Klaffen '/ 2 om.) DieRänder der Risswunde sind
uneben, nicht glatt. Ferner kann man auch wahrnehmen, dass die Geschwulst
einen hohlen Raum in sich birgt, welcher vollständig leer ist. Die Wandung des
Hohlraumes ist höokerig und zeigt gelbliohe Stellen abwechselnd mit graurotben.
Der Durohmesser der Aorta oberhalb des Einrisses (zwischen Herz und Einriss)
beträgt 2 cm, unterhalb aber 3 cm. —
Die Untersuchung der inneren Herztheile lässt erkennen, dass die halb¬
mondförmigen Klappen sowohl der Aorta als der Lungensohlagader zart und ohne
Flecken sind und eine schmutzig braunrothe Farbe darbieten. Die rechte Vor¬
hofskammerklappe ist normal, die linke ist erweitert. Jedoch finden sich nir¬
gends Flecken oder Trübungen. Die Stärke derWandung der linken Herzkammer
beträgt 2 cm, die der rechten 1 cm. — Die Musculatur hat eine bräunliche Farbe.
11) Die linke Lunge ist nur schwer ohne Verletzung aus den Verwachsungen
der Felle zu befreien. Sie besitzt als Ueberzug eine feste Haut, die eine roth-
braune Farbe hat und theilweise eingerissen ist. Die Lungensubstanz besonders
im Bereiohe des oberen Lappens fühlt sich hart an und knistert weder beim
Druck noch beim Einschneiden. Aus den Schnittflächen entleert sich wenig
dunkelrothes Blut, beim Druck auf die Schnittflächen tritt aus einigen Stellen
spärlicher blutiger Schaum hervor, aus anderen aber, die sioh durch Härte, runde
Abgrenzung und braune Färbung hervorthun, entleert sioh nichts. —
Der untere Lappen verhält sich ähnlich, wie der obere, nur entleert sioh
reichlicher blutiger Schaum beim Druok auf die Schnittflächen, und die trockenen
braunrothen Stellen sind spärlicher. —
12) Die rechte Lunge ist derartig mit der Brustwand verwachsen, dass sie
nur in einzelnen Stücken ans der Leiche entfernt werden kann. Diese fühlen
sich hart an und haben eine dunkele, sohwärzlichrothe Farbe, knistern nicht
beim Druok und auoh nicht beim Einschneiden. Aus den Schnittflächen entleert
sich wenig Blut.
Es war nicht möglich, den verheilten Sohusskanal in der Lunge auf¬
zufinden.
13) Dagegen fühlt sioh die vierte Rippe ungefähr in ihrer Mitte rauh und
höckerig an. Sie wird deshalb aus der Leiohe genommen.
Naohdem sie von den anhaftenden Weiohtheilen befreit ist, wird in ihrer
Mitte eine Erbreiterung an der Stelle naohgewiesen, wo die Rauhigkeit gefühlt
wurde. Inmitten dieser Stelle befindet sioh ein Loch. Auch dieses Rippenstück
wurde in Spiritus gelegt.
Damit wurde die Obduotion geschlossen.
Aus ihr geht hervor:
1) dass der N. N. an den Folgen einer doppelseitigen Lungenentzündung
durch Herzlähmung seinen Tod gefunden hat,
2) dass nioht allein die bleibenden Folgen der Schussverletzung vom
27. November 1870 naohgewiesen sind, sondern auoh
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Darohdringende Brustwunde etc.
65
3) höchstwahrscheinlich durch diese Folgen der Keim zur tödtliohen
Krankheit gelegt ist.
Die Kngel eines französischen Infanteristen ist demnach in jener Sohlaoht
dem das Geschütz bedienenden Artilleristen in die linke Brusthälfte zwischen der
2. nnd 3. Rippe von links and von einem höher gelegenen Orte aas, als die
Artillerie ihren Stand hatte, etwa 5 cm aber der Warze and in der Brastwarzen-
linie eingedrungen. Ihr Flag hielt sich vorerst dicht an der inneren Brastwand
and ging oberhalb der Langenschlagader nach rechts.
Darauf streifte die Kagel die prall aafsteigende Aorta and drang, ohne die
obere Hohlader za berühren, in die rechte Lange ein. Nachdem es diese daroh-
eilt hatte, durchbohrte das Geschoss die 4. Rippe in der rechten Achsenhöhlen¬
linie and darauf die Brastwand and verlor im rechten Oberarm seine Kraft. Aas
diesem ist die Kagel im Lazareth heraasgeschnitten and dann dem Verwundeten
übergeben, weloher das unversehrte Gesohoss in Gold fassen liess and an der
Uhr zom Andenken trag.
Merkwürdig ist es, dass diese schwere Verletzung einen verhältnissmässig
raschen Verlauf zur Genesang gemacht haben soll. Jedoch konnten mir aas
dieser Zeit keine bestimmten Angaben gemacht werden; daher bemerke ich nar,
dass nicht ein wissenschaftliches Interesse die Veranlassung zur Obdaction war,
sondern dass die Wittwe des Verstorbenen, welcher seit seiner Verehelicbang ein
qualvolles Leben infolge seiner Krankheit geführt, nachholen möchte, was dieser
versäumt, am im Gnadenwege für sich and ihre vier anmündigen Kinder eine
Beihülfe za erhalten. —
Dazu konnte schliesslich die Oeffnaog der Leiohe nach der übereinstimmen¬
den Ansicht ihres Hausarztes and der meinigen wesentlich beitragen. —
Ich halte mich nun für berechtigt, aus dem Ergebniss der Obdaotion die
oben erwähnten Schlüsse zu ziehen.
1. Als Todesursache hat sich zweifellos Herzlähmung infolge einer anfangs
nach Aussage des behandelnden Arztes im unteren Lappen der rechten Longe
and dann auch in der linken Lange and zwar vorzugsweise in ihrem oberen
Lappen auftretenden Lungenentzündung ergeben.
Das stark vergrösserte Herz, dessen Höhe 15 cm und dessen Breite 17 cm
betrag, vermochte nicht so lange den Druck des Blotes auf der nöthigen Höhe za
halten, bis die Lösung der entzündeten Langen vollendet war. Vor 5 Jahren
soll das Herz noch die Kraft besessen haben, obwohl damals sohon der Kranke
darch Langenentzündang an den Rand des Grabes gekommen war. Der Besaoh
des Bades Nauheim soll eine leidliche Compensation gesohaffen haben. Aber am
nochmals eine Entzündung dieser gewissermassen an dießrastwände angelötheten
Langen bis zam günstigen Aasgang zu ertragen, dazu reichte die Kraft dieses
Herzens nicht mehr aas. Es erlahmte schliesslich, wie die reiohliche Blutfällung
des linken Herzens beweist. —
2. Als bleibende Folgen der Sohassverletznng vom 27.November 1870 sind
der Einriss in der vorderen Wand der aufsteigenden Aorta and das nassgrosse
Aneurysma der genannten Arterie durch die Obdaction festgestellt. Das letztere
war die Folge des ersteren and anmittelbar nach ihm entstanden. Es kann daher
Vierte Ijettnachr. t. ger. Mod. Dritte Fol««. V. 1. 5
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Dr. Br ein me.
ein Aneurysma traumaticnm genannt, und weil es sioh weder innerhalb aller
Arterienhänte gebildet hat, nooh aber anoh aller Hänte der Arterie entbehrt, mit
der näheren Bezeichnang eines Aneurysma traumatioura spurium mixtum be¬
zeichnet werden. Seine Wand wird nämlich von der äusseren Arterienhaut ge¬
bildet und duroh den fibrösen Ueberzug des Herzbeutels so verstärkt, dass der
Blutdruck des Herzens es nioht hat zum Platzen bringen können. Die Wand ist
offenbar ausserdem duroh allmälige Einlagerung von Kalksalzen nooh wider¬
standsfähiger gemaoht.
Auffallend ist die Beobachtung, dass der Hohlraum leer gefunden wurde.
Trotz der Rauhigkeit der denselben auskleidenden äusseren Arterienhaut wurde
also eine Blutgerinnung im Raume nioht erzeugt. Es musste somit der Inhalt
des Raumes im Leben mit dem Inhalt der Aorta in stetiger Bewegung und in
stetigem Austausohe gestanden haben, duroh welche beide die Gerinnung ver¬
hindert wurde. —
Welohes waren nun aber die Folgen dieses seltenen Zustandes?
Zuvor ist es zweckmässig, die Folgen des Lungensohusses zu erwähnen.
Zweifelsohne entstand naoh derSchussverletzung eine reohtsseitige Lungen-
und Lungenfellentzündung, die sioh auch gewiss schon 1870 auf die linke Seite
ausgedehnt haben wird, da auoh ihr Brustfellraum geöffnet gewesen ist. Duroh
die späteren Entzündungen ist dann die völlige Umpanzerung beider Lungen
eingetreten. —
Ferner zeigt das Obduotionsergebniss, dass ein Unterschied des Duroh¬
messers der Aorta oberhalb (zwischen Herz und Einriss) des Risses und des
Durchmessers unterhalb des Risses und zwar in der Höhe eines Centimeters be¬
steht. Dieses auffallende Verhältniss kann nur als Folge des Einrisses betrachtet
werden, da ein solohes so dicht neben einander sonst nur bei atheromatöeen Er¬
krankungen, welche hier fehlen, gefunden wird.
Betrachtet man das Präparat genau, so erkennt man, dass die Erweiterung
des Arterienrohres schon an der Stelle, wo der Einriss liegt, begonnen hat. So¬
mit wird sie wohl daduroh zu Stande gekommen sein, dass das Gefäss dem Blut¬
druck wegen des duroh den Einriss bewirkten Nachlasses der Elasticität nicht
hinreichenden Widerstand entgegensetzen konnte und sich somit ausdehnen musste.
Hierdurch entstand im Laufe der Jahre allmälig auch eine Rückwirkung auf
das linke Herz, welohe infolge der aneurysmatisohen Ausbuchtung und der Er¬
weiterung des Arterienrohres sohliesslioh in der bei der Obduotion Vorgefundenen
gewaltigen Vergrösserung des linken Herzens nebst der Undiohtheit der zwei¬
zipfeligen Klappe sioh kundgegeben hat, während die Veränderung der Lungen
und ihrer Hüllen und die Undiohtheit der linken Vorhofskammerklappe in gleicher
Weise das rechte Herz beeinflussen mussten.
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5.
Amtliches fiitaehtei betreffest dei Geistesiflstait des Alt-
Stutsschreiben Dr. philos. Gottfried Keller tob Zürich wegei
iweifelhafter Testirfthigkeit.
Von
Professor Dr. Wille in Basel.
Der am 15. Jali 1890 im Alter von fast 71 Jahren verstorbene Dr. philos.
6. K. von G., Alt-Staatssohreiber des Kantons Z., machte am 11. Januar 1890
ein Testament, dem am 18. April 1890 noch ein Codizill beigefügt wurde. Das
Testament war ein sogenanntes „öffentliohes“, veranlasst duroh momentanes kör¬
perliches Unwohlsein des Testators. „Da ich duroh körperliches Unwohlsein mo¬
mentan verhindert bin, die letzte Verordnung selbst niederzusohreiben, will ich
sie in Form eines öffentlichen Testaments beurkunden lassen“ (v.Acten. Oeffent-
liches Testament).
Am 25. Juli protestirte der Verwandte des Testators, Herr Nationalrath
Dr. med. Sch. von B., gegen die Vollstreckung des am 21. Juli eröffneten Testa¬
ments und erhielt duroh Beschluss der Appellationskammer des Tit. Obergeriohts
des Kantons Z. vom 6. September Vollmacht, das Testament duroh Klagestellung
vor dem Bezirksgericht Z. anzufeohten.
Die Streitfrage lautete:
„Ist nicht das Testament des am 15. Juli 1890 verstorbenen Dr. G. K. von
G., wohnhaft gewesen im Th.-H., vom 11. Januar (18. April) 1890 geriohtlioh
aufzuheben?“
Naohdem durch Urtheil des Bezirksgerichts Z. vom 1. November 1890 die
Klage abgewiesen und der Kläger zu den Kosten und zur Entschädigung an den
Beklagten verurtheilt worden war, ergriff Kläger am 8. December 1890 die
Appellation an’s Obergerioht. Diese Appellation wurde vom Tit. Obergerioht als
begründet erklärt und am 24. Januar 1891 von demselben beschlossen:
„dass das Urtheil des Bezirksgerichts Z. vom 1. November 1890 auf¬
gehoben ist, dass die Acten an die erste Instanz zurüokgewiesen wer¬
den und der Kläger den anerhobenen Beweis zu erbringen habe, dass
der Erblasser zurZeit der Errichtung des Testaments keinen bewussten
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Dr. Wille,
Willen mehr gehabt habe, beziehungsweise des Vernunftgedankens be¬
raubt gewesen sei, — vorbehaltlich des Gegenbeweises des Beklagten.“
Die Entscheidung der gerichtlichen Frage wurde durch diesen Beschluss
auf den Boden ärztlicher, speoiell psychiatrischer Thatsaohen und daraus ge
zogener Urtheile verlegt und in Uebereinstimmung beider Parteien am 23. April
1890 Professor L. W. von Basel zum ärztlichen Experten ernannt.
Es wurde demselben in höchst anzuerkennen der Weise Gelegenheit gegeben,
der Einvernahme der Zeugen anzuwobnen, naob seinen Bedürfnissen an dieselben
Fragen zu richten und volle Einsicht in den Inhalt der gerichtlichen Aoten zu
erlangen. —
Ich glaube, gestützt auf einen Ausspruch des Herrn Dr. jur.Z. in Z., „dass
im vorliegenden Falle beideTbeile zugeben müssen, dass es möglich ist, dass der
Testator im betreffenden Momente testaraentsfähig, aber vorher und nachher dies
nicht gewesen ist“ (v. Acten S. 28), mein Gutachten am richtigsten in derWeise
abgeben und damit die mir gestellte Aufgabe am besten erfüllen zu können»
wenn ich mich
1) über den Geisteszustand Dr. G.K.’s innerhalb der letzten Jahre vor
seinem Tode im Allgemeinen, und
2) über seinen Geisteszustand zur Zeit des Testirens speoiell aus¬
spreche.
Es ist diese getrennte Behandlung um so mehr gerechtfertigt, als nach ärzt¬
lichen Erfahrungen bei solchen civilrechtlichen Fragen aus einem im Allgemeinen
vorhandenen normalen oder abnormalen Geisteszustand nicht immer eo ipso, ge-
wissermassen als selbstverständlich, auf die Fähigkeit oder Unfähigkeit, eine
civilrechtliche Handlung auszuführen, geschlossen werden darf.
Die Erfahrung lehrt vielmehr einestheils, dass im Allgemeinen als geistes¬
gesund geltende Menschen, besonders unter gewissen Einflüssen (wie höheres Alter,
Schwächezustände, körperliche Krankheiten, äussere Schädlichkeiten etc. etc.) vor¬
übergehend an Zuständen geistiger Verwirrtheit, Unklarheit oder des Deliriums
leiden können, die momentan ihre Handlungsfähigkeit abschwächen, oder selbst
aufheben. Anderenteils beobachtet man bei chronischen Geisteskranken soge¬
nannte lucide Intervalle, während deren die Handlungsfähigkeit teilweise oder
völlig zurückgekehrt ist.
All I.
Dr. G. K., geboren den 19. Juli 1819, besass eine von Grund aus, geistig
und körperlich, starke und gesunde Constitution. Es beweisen dies seine eigene
Schilderung im „Grünen Heinrich“, die Thatsaohe, dass er nur einmal vorüber¬
gehend in seinem Leben, 20 Jahre alt, an einem von ihm leicht überstandenen
Typhus erkrankt war, endlich dass er trotz der rauhen, nicht selten entbehrungs¬
reichen Jugendverbältnisse und einer nicht gerade nach den Grundsätzen der
Massigkeit stets geregelten Lebensweise während seiner späteren Lebensperiode
dennoch bis in sein hohes Alter gesund blieb.
Eine vor etwa 10 Jahren durch einen Fall erlittene Kopfverletzung, ihrer
Natur nach leicht, verlief rasch und ohne naohtheilige spätere Folgen.
Erst drei Jahre vor seinem Tod, als G. K. 67 Jahre alt war, maohten sich
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Aerztliohes Gutachten über zweifelhafte Testirfähigkeit.
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bei ihm allmälig die Beschwerden und Sohwachezustände des Alters (Senium)
geltend. Er hatte viel „über rheumatische Sohmerzen zu klagen, über Sohwäohe
in den Beinen, über Müdigkeit, die ihn immer seltener und kürzer Bewegung
maohen Hessen“. „Sein Gang wurde unbeholfener, sohlürfend, unsicherer“
(Krankengeschichte des Dr. C.).
Ohne Zweifel, von verschiedenen Zeugen bestätigt, wirkte der im Herbst
1888 (6. Ootober) erfolgte Tod seiner Sohwester R., mit der er 25Jahre
seit dem Tode der Mutter zusammengelebt hatte, „die ihn in Allem und Jedem
mit mütterlioher Treue besorgt hatte“, ungünstig auf den Zustand G. K.’s ein.
Es wurden seitdem „eine starker zunehmende körperliche Schwäche, ein stärkeres
Greisenthum und eine gewisse geistige Veränderung“ an ihm beobaohtet. „Er
wurde deprimirt, hatte Todes- und Sterbens-Ahnungen und -Befürchtungen,
äusserte in hypoohondrisoher Uebertreibung Krankheitsideen, zog sich mehr und
mehr zurüok, wurde reizbarer, zum Jähzorn geneigt, misstrauisch, launisch, in
manchen Beziehungen gleichgiltig und in seinen Ausdrücken und Benehmen der¬
ber und rücksichtsloser. Sein Ruhehedürfniss wurde grösser, seine Energie, sein
Willensvermögen schwächer“.
Eine weitere Zunahme seines Leidens erfuhr G. K. zur Zeit der Feier
seines 70jährigen Geburtstages im Juli 1890. Wenn er auch duroh
seine Entführung nach Selisberg durch wohlwollende Freunde den unmittelbar
aufregenden Einflüssen des Festes entzogen wurde, so beschäftigte ihn diese An¬
gelegenheit innerlich deshalb nicht weniger; einmal weil die Art der Feier ihm
unsympathisch, seiner bescheidenen Natur fremd und aufdringlioh war, sodann
weil er sioh dooh dem Bewuusstsein der hohen Bedeutung seiner Persönlichkeit,
die ihm seine Zeitgenossen übereinstimmend und neidlos zuerkannten und in Wort
und That in lebhaftester nnd ehrendster Weise zum Ausdruck braohten, nicht
ganz entziehen konnte.
Naoh übereinstimmenden Zeugnissen hatte bei ihm der Selisberger Aufent¬
halt nichts anderes bewirkt, „als dass er etwas leiobter gehen konnte“. Es kam
dies wohl daher, weil er dort oben auf ärztliche Anordnung etwas mehr Bewe¬
gung maohen musste, als er sie in Zürich zu machen in der letzten Zeit gewohnt
war, was ihm aber nach eigener Aussage subjectiv nicht gut bekam. Dagegen
sofaeinen sich in Selisberg „leiohtere vorübergehende geistige Störungen deliriöser
Natur bei ihm eingesteUt zu bähen, war G. K. im Ganzen hinfälUger und
hilfloser*.
Seine Freunde konnten naoh vieler Mühe den im August naoh Zürich Zu-
rüokgekehrten bewegen, Mitte September zu einer Kur naoh Baden zu gehen.
Trotz den sich widersprechenden Zeugenaussagen, von denen die einen wie Pro¬
fessor S., Dr. H., Prof. G., C. B.-Z., Dr. St., Bibliothekar M., Gastwirth S. in
geistiger Beziehung nichts Krankhaftes oder nur Auffallendes an Herrn G. K.
während seines Badener Aufenthaltes beobaohtet haben wollen, kann es für einen
Arzt auf Grund der in den Acten enthaltenen, von anderen Zeugen, wie den Brü¬
dern B„ Dr. O.B., J.B., Dr. F., Professor R., Professor B., übermittelten That-
sachen keinem Zweifel unterliegen, dass der geistige und körperliche Zu¬
stand Q. K.’s in Baden sich wesentlich verschlimmert, seine Krank¬
heit Fortschritte gemacht hat.
Die schon in Selisberg sioh vorübergehend zeigenden deliriösen Erscbei-
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70
Dr. Wille,
nangen wurden „häufiger, stärker and anhaltender“. Wenn sie anoh nur Nachts
sich vorzugsweise in dieser Weise geltend machten, bewirkten sie dennoch solohen
Einfluss auf das geistige Leben G. K.’s, dass sein Bewusstsein auch unter Tags
häufig nicht ganz frei war, indem von den näohtlichenHallucinationen abhängige
krankhafte Ideen, Wahnideen, den kranken Herrn mehr und weniger stark und
anhaltend beeinflussten. Immerhin ist zu betonen, dass unter Tags es Q.K. mög¬
lich wurde, im Ganzen die krankhaften geistigen Vorgänge soweit zu beeinflussen,
dass er sie controlliren, rectifioiren und vor Allem den Augen des Uneingeweihten
und denjenigen gegenüber, die nioht beständig um ihn sich aufhielten, verbergen
konnte. Dass aber der kranke Herr damals, besonders an Gehörs-, aber auch an
anderen Hallucinationen, an Phantasmen, sowie an damit zusammenhängenden
Delirien und Verfolgungswahnideen litt, ist zweifellos. Die direoten Aussagen der
oben angegebenen Zeugen, wie das ganze Verhalten G. K.’s während seines Ba¬
dener Aufenthaltes, beweisen dies sicher.
Nach übereinstimmenden Zeugenaussagen ging G. K. von Baden um die
Mitte Deoember 1889 nioht nur nicht gebessert, sondern schlimmer fort, als er
dorthin gekommen war. Ebenso übereinstimmend lauten aber die Zeugenaussagen
dahin, dass allmälig, besonders in geistiger Beziehung, naoh der Rüokkehr G.
K.’s naoh Zürich eine Besserung ein trat, indem er mehr und mehr von Halluoi-
nationen und Wahnideen frei wurde, über seine geistigen Vorgänge wieder
die Herrschaft gewann und damit sein Bewusstsein klar erhielt. Besonders für
die Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr und nach Neujahr 1890 wird dies
betont. Die Aussagen J. B.’s, von Lehrer K. in Uhwiesen, B. M. von Roben¬
hausen, Dr. H., Prof. G., Forstmeister M., Bildhauer R. K., G. B.-Z., Dr. A. St.
beweisen dies sioher.
Erst vom 14. Januar 1890 an maohte sich, in Folge seiner Erkran¬
kung an der Influenza, wieder eine erneute Versohlimmerung des Zustandes
G. K.’s geltend, die vom Ende Januar an einen bedrohlichen Charakter annahm.
Es war nioht mehr „die Müdigkeit des Alters*: es waren Erscheinungen eines
zunehmenden oentralen Leidens, die auftraten. Störungen in den Funotionen des
Hirns und Rückenmarks waren es, die nach dem Krankenbericht des Herrn Dr.C.
zur Beobachtung kamen, der am 28. Deoember 1889 G. K. zum ersten Mal und
anfangs nur in längeren Pausen, vom 14. Januar an aber regelmässig besuohte.
Athem-, rechtsseitige motorische, Spraoh-, näohtliobe Schlaf-, Blasenstö¬
rungen traten zum Theil mehr bleibend, zum Theil nur in vorübergehenderWeise
auf. G. K. hielt sich „für einen gebrochenen Mann, der für nichts mehr fähig
wäre*. Die allgemeine körperliche Schwäche, Sohwer- und Hinfälligkeit wurden,
wenn auch in wechselndem Verlaufe, grösser, indem der Kranke nur noch selten
auf kurze Zeit das Bett verlassen konnte. Aber bis zum Mai traten immer auoh
wieder bessere Zeiten in dieser Beziehung vorübergehend auf. Während der
Kranke Naohts mehr unruhig und nioht selten aufgeregt war, wurde er unter
Tags häufig schlummersüohtig. Seine geistigen Funotionen gingen langsamer,
mühsamer, schwerfälliger von statten, die geistige Energie- und Willenslosigkeit
wurden auffälliger. Aber immer wieder dazwischen machten sioh Zeiten freieren
geistigen Befindens geltend, in denen „das frühere Gemüth, der frühere Humor,
die frühere geistige Lebhaftigkeit, Frische und Klarheit G. K.’s zum Vorschein
kamen.* Noch im März erhielt S.S. von Frankfurt den Eindruck bei Gelegenheit
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Aerztliohes Gutachten aber zweifelhafte Testirfähigkeit.
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eines Besaohs, dass es sieh bei G. K. ,am eine baldige völlige Wiederherstel¬
lung“ handele, während viele andere Zeugen za selchen Zeiten den „ früheren
K.“ wieder za finden glaubten.
Mitte Mai worden Symptome der Thrombose der rechten Vena oruralis and
allmäliger stärkerer Verfall beobachtet. Die Näohte worden jetzt rahiger, der
sohlammersächtige Zastand herrschte Tag wie Maoht vor, immer mehr spielten
traumhafte Eiinnerungen und lebhafte phantastische Aeusserungen in das wache
Geistesleben hinein, immer mehr herrschte ein geistiger Traum- und Dämme-
rungszustand vor, der G. K. mehr in die Tage der Vergangenheit zurückfübrte,
als in der Gegenwart sich zureohtfinden Hess, der mehr phantastischen als reellen
Inhalt hatte, bis endlioh in allmäliger Absohwächung der 15. Juli dem armen
Dulder die lange vorher geahnte, zuletzt sicher erwartete und ersehnte Erlösung
braohte. Aber bis in die letzte Zeit vor dem Tode kamen stets nooh geistig
freiere Stunden, in denen das frühere Geistesleben G. K.’s, wenn auoh in abge-
sobwächter Weise, sich regte und zeigte, so dass viele Zeugen nooh bis Anfang
Juli den Geisteszustand G. K.’s als frisch, klar, original wie früher, also als un¬
verändert sohildem konnten.
Debereinstimmend geben sie an, dass G. K. während dieser Momente und
Stunden die frühere geistige Frisohe und Klarheit bewies und insbesondere in
Bezug auf sein Gedächtniss, sei es nun für längst vergangene, sei es für un¬
mittelbar vorhergegangene Vorgänge jeder Art, ungesohwächt war. Die directen
Angaben der Zeugen R. K., J. R. aus Berlin, Prof. S., A. F., Bibliothekar M.,
C. S., W., der Diaconissin G. beweisen dies genügend sicher.
Einige dieser Angaben sind geradezu charakteristisch für die Erhaltung des
Gedächtnisses nach allen Riohtungen bei G. K., während Dr. H. das Gedächtniss
für längst vergangene Vorkommnisse als vorzüglioh erhalten annahm, Dr. G. das
für „unmittelbar Vorgefallenes“.
Auoh der Umstand sprioht dafür, dass G. K. nooh bis in die spätesten
Krankheitsstadien hinein sich mit literarischen Gedanken nicht nur an kleinere
feuilletonistische Arbeiten, sondern selbst an grosse literarische Werke trug, zu
deren Ausführung ihm nach dem erfahrenen Eindruck der Zeugen weniger die
geistige als die körperliche Kraft mangelte.
loh kann bei dieser Gelegenheit nioht unterlassen, auf das vielfaoh Wider¬
sprechende der Zeugenaussagen aufmerksam zu machen, wenn sie den geistigen
Zustand G. K.’s zu sohildern versuchen. Es liegt dies vor Allem an den wechseln¬
den Zuständen, die das geistige Leben K.’s während der Krankheit darbot. Je
naoh den einzelnen Tagen, den verschiedenen Tageszeiten, an denen die Besuche
der Zeugen stattfanden; ja oft vielfach abhängig von zufälligen, äusseren und
inneren, Momenten, die auf G. K. während eines einzelnen Besuches Einfluss
hatten, mussten die Besucher davon abhängig einen anderen, einen wechselnden,
Eindruck vom Kranken erhalten. Dem Zeugen Forstmeister M. entging dieser
rasche, unerwartete Wechsel des Zustandes G. K.’s nioht, wie er sioh selbst bei
einem Besuche geltend maohte.
Sodann kommt dazu die grosse Schwierigkeit für den Laien, solohe ab¬
norme Geisteszustände riohtig zu beobachten und zu beurtheilen, das Riohtige
und Wesentliche herauszufinden und vom Unwesentlichen und Zufälligen zu
unterscheiden. Dass aber trotzdem so viel Uebereinstimmendes daraus sioh ge-
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Dr. Wille,
winnen lässt, spricht doch io überzeugender Weise dafür, dass eben eine grosse
Anzahl Zeogeo bis in die letzte Lebenszeit G. K.’s Gelegenheit hatten, zeitweilig
seinen Geisteszustand, wenn anoh nicht „in früherer Frische“, was wohl etwas
euphemistisch ansgedrückt ist, aber dooh in solcher Weise klar and bewasst za
beobachten, dass sie den Eindraok des Normalen, Gesunden, Unveränderten
davon gewannen.
Es ist zunächst jetzt die Frage zu beantworten, an welcher
Krankheit G. K. die letzten 2—3 Jahre seines Lebens gelitten hat.
Da die Herausgabe seines „Martin Salander“ in das Jahr 1886 fällt,
müssen wir selbstverständlicher Weise bis zu dieser Zeit völlige
geistige Integrität bei G. K. annehmen, wennschon der Inhalt dieses
Werkes sich in wesentlichen Dingen von seinen früheren Werken
unterscheidet. Der Einfluss des höheren Alters auf das Gehirn und
davon abhängig auf die geistigen Thätigkeiten hat sich bei dem mehr
als 65jährigen Herrn schon in gewisser Weise geltend gemacht.
Auch das literarische Stillschweigen G. K.’s von dieser Zeit an,
abgesehen von einigen späteren unbedeutenden gelegentlichen Ver¬
öffentlichungen, in Verbindung mit leichteren körperlichen Störungen,
lässt auf diesen Einfluss schliessen. Es hatte sich nicht nur ein kör¬
perliches, sondern auch ein geistiges ßuhebedürfniss bei ihm geltend
gemacht. „Er sollte nichts mehr schreiben als sein Testament. Es
falle ihm schwer, er bekomme Kopfschmerzen davon“ (Zeuge A. F.).
Der Beginn auffälliger centraler Störungen und damit der eigent¬
lichen Krankheit wird im Winter 1888 auf 1889 beobachtet, um sich
von da an in wechselndem Verlauf bis zum Tod fortzusetzen. Es
handelt sich dabei um eine Hirn-, respective Geistesstörung des Grei-
senalters, für deren Ausbruch die erfahrene Gemüthserregung
durch den Tod der Schwester den äusseren Anstoss gab,
während die wesentliche Grundlage, also Ursache derselben
gewebliche Veränderungen der Arterienwandungen bilden,
die eine mangelhafte, unregelmässige Ernährung der Organe, denen
sie das Blut, also das Ernährungsmaterial, znführen, und davon ab¬
hängig eine krankhafte Function derselben bedingen. Es sind Men¬
schen, die eine vorzugsweise sitzende Lebensweise führen, dabei reich¬
lich leben, viel Alkohol und Tabak consumiren, die zu dieser Gefäss-
veränderung besonders beanlagt sind, also unter Bedingungen stehen,
die bei G. K. zutreffen. Nach ihnen richtet sich wesentlich der Grad
der krankhaften Gefässveränderung und der davon abhängigen functio-
nellen eventuell anatomischen Störungen der Organe.
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Aerztliches Gutachten über zweifelhafte Testirfähigkeit. 73
Die dadurch bedingten centralen, nervösen und psychischen, Stö¬
rungen (und sie sind es, die hier vorzugsweise in Frage kommen) sind
darnach verschiedenartig.
Die Psychiatrie fasst sie je nach den Krankheitserschei-
nun gen in folgende drei Gruppen zusammen:
1. Fälle, bei denen nur allein das geistige Leben eine Störung
zeigt in der Form hypochondrischer, melancholischer oder leichter
maniakalischer Verstimmungen; sodann von aus Wahnideen, meistens
Verfolgungs- und Bestehlungswahn allein, oder aus solchen Wahnvor¬
stellungen und Hallucinationen gemischte Störungen, also solche mit
dem Charakter der Verrücktheit.
2. Fälle, die von Anfang an mit Erscheinungen geistigen Ver¬
falls, anhaltender Bewusstseinsstörung und körperlicher Abschwächung
auftreten, die vorzugsweise als intellectuelle Abschwächung, Vergess¬
lichkeit vorwaltend in Bezug auf jüngste Vorkommnisse, als unklares
Denken, Mangel an Orientirungsfähigkeit in Bezug auf Zeit und Raum
und damit zusammenhängende Urtheilsschwäche, als Schwer- und Un¬
besinnlichkeit sich geltend machen, wobei aber meistens auch Gemüth
und Wille in gleichem Sinne der Abschwächung betheiligt sind. Un¬
aufhaltsam im weiteren Krankheitsverlauf, hie und da mit dazwischen
liegenden vorübergehenden leichteren Besserungen, kommt es zu völ¬
ligem, geistigen Verfall mit körperlicher höcbstgradiger Schwäche bis
Lähmung, die früher oder später tödtlich enden.
Es sind dies die als „Dementia senilis“ speciell bezeichneten
Fälle, die sich klinisch und anatomisch zunächst an die ärztlich als
Paralysis progressiva, vulgo Hirnerweichung, bezeichnete Hirnkrank¬
heit anschliessen.
3. Fälle, bei denen das geistige Leben nur leichtere Störungen,
oft nur in vorübergehenden Krankheitsanfällen, entweder mit den Er¬
scheinungen der Fälle der 1. Gruppe oder mit denen zeitweiliger
deliriöser Zustände, meist verbunden mit leichteren Bewusstseinsstö¬
rungen und mässigen geistigen Schwächeerscheinungen zeigt, bei denen
aber vom Anfang der Krankheit an, oder erst im weiteren Krank¬
heitsverlaufe schwerere körperliche centrale Störungen auftreten, die
nicht selten durch krampf- oder schlagartige Anfälle, oder durch
schwere Störungen in anderen Organen frühzeitig den Tod herbei¬
führen, unter anderen Umständen aber auch durch längere Jahre sich
hinziehen können.
Die Untersuchung lehrt, dass es sich in anatomischer Be
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Dr. Wille,
zielrang bei den Fällen der 1. Gruppe um einfache, leichtere, meist
vorübergehende cerebrale Störungen, sogenannte nutritive oder functio¬
neile handelt.
Bei der 2. Gruppe handelt es sich dagegen um eine schwere
anatomische resp. organische Hirnkrankheit, deren anatomische Grund*
läge der Zerfall des Hirngewebes in Form allgemeiner Hirnatrophie
und davon abhängigem Hydrocephalus bildet.
Bei der 3. Gruppe handelt es sich um diffuse allgemeine leich¬
tere, nutritive Störungen des Hirns, wie solche die Fälle der 1. Gruppe
charakterisiren.
Ihnen gesellen sich aber locale, organische Hirnstörungen, in
Form vorübergehender oder bleibender Erweichungsheerde, seltener von
localen Hirnblutungen bei.
In Bezug auf die Handlungsfähigkeit in civilrechtiicher
Beziehung, die hier allein in Betracht fällt, gehören die Fälle der
1. und 3. Groppe unter die sogenannten zweifelhaften Fälle, bei denen
demnach der Nachweis des Vorhandenseins oder des Mangels der Dis¬
positionsfähigkeit den Gegenstand einer den Einzelfall betreffenden
ärztlichen Untersuchung bildet.
Bei den Fällen der 2. Gruppe ist die Dispositionsfähigkeit in
der Regel und im Allgemeinen nicht mehr fraglich oder zweifelhaft,
sondern als von Anfang an als mangelnd zu betrachten. Dabei ist
aber das Vorkommen von einzelnen Fällen nicht ausgeschlossen, denen
gegenüber während einzelner günstigerer vorübergehender Verlaufs¬
stadien eine vorübergehende Handlungsfähigkeit, meist nur mit rela¬
tivem Charakter, für bestimmte bürgerliche Acte nicht ausgeschlossen
ist, wie für Testiren, Zeugschaft leisten etc. etc.
Ich durfte es nicht unterlassen, die allgemeinen Sätze von der
Lehre der centralen Störungen des Greisenalters zur Wegleitung für
die Nichtärzte anzuführen, um ihnen dadurch das nach den Gesetzen
ihnen zukommende selbstständige Urtheil über den vorliegenden Fall
zu ermöglichen, resp. zu erleichtern.
Wenn ich diese allgemeinen Sätze auf den vorliegenden Fall in
Anwendung bringe, so kann es keinem Zweifel unterliegen, dass der¬
selbe der 3. Gruppe der centralen Greisenkrankheiten zu¬
gerechnet werden muss. Es handelt sich bei ihm um einfache Reiz¬
erscheinungen im Gemüthsleben, die sich als wechselnde hypochon¬
drische oder melancholische Verstimmungen mit bald stärkeren, bald
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Aerztliohes Gutachten über zweifelhafte Testirfahigkeit.
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leichteren Hem mangsvorgängen im Gebiete des Mechanismus des
Geistes, in der Form verlangsamter geistiger Operationen, des Den¬
kens and Wollens, charakterisiren.
Vorübergehend am Schluss des Selisberger und während der
Dauer des Badener Aufenthaltes und in den ersten Tagen nach der
Rückkehr nach Zürich traten dazwischen, besonders nächtlicher Weile,
mit einer gewissen Selbstständigkeit, deliriöse Erscheinungen bei G. K.
auf. Es fanden dieselben in vorübergehenden, erregenden Einflüssen,
durch gemüthliche Einwirkungen bei Gelegenheit des 70jährigen Ge¬
burtstages, durch die warmen Bäder Badens und endlich durch Alko¬
hol ihre Veranlassung, den der durch Alter und Krankheit Geschwächte
zeitweilig in von früher her gewohnten Mengen zu sich nahm, ohne
sie wie früher ertragen zu können.
Diese deliriösen Erscheinungen bilden eine vorüber¬
gehende, gleichsam für sich abgeschlossene Episode, die
mit Wegfall der temporären Reize wieder verschwand.
Gegen Ende Januar 1890, nach Ablauf der Influenza, änderten sich
die Krankheitserscheinungen insofern, als die gemüthlichen Verstim¬
mungen mehr zurücktraten, an Intensität und Dauer sich vermin¬
derten, an deren Stelle sowohl locale Hirnstörungen in der Form
rechtseitiger Schwäche und von Sprachstörungen, als auch allgemeine
diffuse Hirnstörungen, in der Form der Schlaftrunkenheit und traum¬
hafte Delirien, traten, die aber alle vorübergehenden Charakters waren,
im weiteren Verlauf aber einen immer mehr vorherrschenden Cha¬
rakter, aber selbst bis zum Lebensschluss im Wechsel mit luciden
Geisteszuständen, gewannen.
Bei dem Mangel anhaltender hochgradiger geistiger, speciell
intellectueller, Schwächeerscheinungen bis zum Mai 1890, ist man
ärztlich nicht berechtigt, als anatomische Grundlage dieser Erschei¬
nungen höher gradige Hirnatrophie als Ausfluss des stattgefundenen
Zerfalls zahlreicher und ausgedehnter centraler nervöser Elemente
anzunehmen.
Die in den Acten niedergelegte ärztliche Annahme „der Hirn¬
atrophie als Todesursache* ist weder klinisch beweisbar, noch
weniger ist sie anatomisch durch die Section bewiesen worden. Sie
ist einfach nach mündlicher Mitteilung des betreffenden Herrn Col-
legen während der Zeugenvernehmung aus formellen Giünden zu
Stande gekommen (v. Acten).
Es sprechen die bis zum Lebensende immer wieder sich geltend
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Dr. Wille,
machenden, Standen dauernden laciden Interralle des Kranken viel¬
mehr dafür, dass es sich während der schiammersüchtigen Verlaufs¬
stadien vorwiegend, selbst noch nach dem Mai, am vorübergehende
cerebrale Drackerscheinangen hydrocephalischer Natur handelte.
Ich darf zur Erklärung der immer wieder sich geltend machen¬
den luciden Intervalle ausserdem auf den Umstand aufmerksam
machen, dass G. K.’s reich und stark angelegte cerebrale resp. geistige
Natur an sich schon geeignet war, krankhaften Einflüssen gegenüber
grösseren Widerstand zu leisten und dadurch hervorgerufene Störungen
immer wieder auszugleichen, als dies schwächeren geistigen Consti¬
tutionen möglich gewesen wäre. —
Auf Grund dieser ärztlichen, auf den in den Acten enthaltenen
Beweisangaben beruhenden Erwägungen muss ich die erste Frage nach
dem Geisteszustand G. K.’s während der letzten Jahre dahin beant¬
worten, dass ich die civilrechtliche Handlungsfähigkeit, soweit sie
durch den Krankheitszustand des Dr. G. K. während der letzten
Lebensjahre bedingt ist, nur für die Zeit während des Badener Auf¬
enthaltes, von Mitte August bis Mitte December 1889, für eine nicht
immer, sondern nur für kürzere Zeiträume, aufgehobene ansehen kann.
Ich muss sie ferner für die deliriös schlummersüchtigen Stadien
des späteren Krankheitsverlaufes als aufgehoben annehmen, während
sie für die übrige Zeit der Krankheit, insofern der Kranke ausserhalb
des schlummersüchtigen Zustandes sich befand, also während des Be¬
standes der luciden Intervalle, die von Weihnachten 1889 bis zum
Ende April 1890 noch die vorherrschenden Erscheinungen im Geistes¬
zustand Dr. K.’s waren, für gegeben resp. erhalten angenommen wer¬
den müssen.
Ad II.
Wenn ich nun zur Beantwortung der II. Frage übergehe, wie
der Geisteszustand Dr. G. K.’s zur Zeit des Testirens war,
so kann ich auf Grund der Acten ohne allen und jeden Anstand
mich nicht anders aussprechen, als dass G. K. zu dieser Zeit im Zu¬
stand eines freien geistigen Intervalls sich befand. Die eingehenden
und übereinstimmenden Angaben der Herren Professor Sch., Dr. B.,
Notar K., Professor St. und der P. L., die ja durch ihre Beobach¬
tungen für die fragliche Zeit allein nur im Stande waren, über den
fraglichen Geisteszustand Auskunft zu geben, lassen absolut keine
andere Annahme zu, da diese Zeugen durch Bildung und Charakter,
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Aerztliches Gutachten über zweifelhafte Testirfähigkeit.
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wie durch Wissen nnd Erfahrung, als absolut glaubwürdige, als
.klassische“ Zeugen dastehen.
Alles, was wir durch sie über die Gedanken und Beden, das
Benehmen und Handeln G. K.’s zu dieser Zeit erfahren, lassen keine
andere Annahme zu. Es stehen ferner diese Angaben in Ueberein-
stimmung mit denen der früher angeführten Zeugen über den Geistes¬
zustand G. K.’s während der Zeit von Weihnachten bis und nach dem
Neujahr 1890. Es ist diese Annahme endlich um so gerechtfertigter,
als durch die Erscheinungen und Verlaufsweise solcher krankhaften
Zustände und speciell des uns beschäftigenden, dieselbe als eine im
Allgemeinen in der Art und Weise des Verlaufs dieser Krankheits-
processe liegende ist, die ja die Testirfähigkeit selbst noch in einem
viel späteren Krankheitsstadium, wenn sie während eines luciden
Intervalls in Anspruch genommen worden wäre, als erhalten an¬
nehmen lassen muss.
Wenn der Kläger, Herr Nationalrath Sch., aus der Annahme,
dass „G. K. der Meinung war, Dr. Sch. sei der einzige Verwandte,
und er hätte überhaupt keine erbberechtigten Verwandten“, bei Dr.
G. K. zur .Zeit der Testamentserrichtung die natürliche Willensfähig¬
keit als mangelnd beweisen will, so ist dieser Beweis nicht stich¬
haltig. Er ist es nicht, weil G. K. zu dieser Zeit nach den Acten
auch von anderen noch vorhandenen Verwandten sprach, weil G. K.
in der Verwendung und Verwerthung der gesetzlichen Bestimmungen
über Testiren als Laie zu betrachten ist, der zwischen Erb- und
P fl ich tthei 1-Berechti gten keinen scharfen Unterschied machte, und end¬
lich vor Allem, weil man aus dem Vorhandensein oder dem Mangel
einer einzelnen geistigen Erscheinung nicht auf den gesammten Geistes¬
zustand eines Menschen schliessen kann und darf (vide Schreiben des
Herrn Nationalrath Sch. vom 24. Juni 1891).
Wenn demnach die intellectuelle Einsicht in die Natur
und die Folgen der civilrechtlichen Handlung bei Dr. G. K.
als eine sicher gestellte angenommen werden muss nach dem Acten-
inhalt, so spricht der letztere in gleicher Weise bestimmt für die
damals vorhandene Willensfreiheit. Es ergiebt sich aus dem¬
selben mit gleicher Sicherheit, dass die Absicht so zu testiren, wie
er später in Wirklichkeit testirte, weder eine durch fremden Einfluss
aufgedrungene, noch auch zur Zeit des Testirens erst durch Ueber-
redung herbeigeführte ist.
Die übereinstimmenden Angaben der Zeugen B. M. von Roben-
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Dr. Will»,
hausen, Frau Oberst M., Prof. Ad. F., P. L., Prof. St., Dr. H., Alb.
F., Prof. G., Bibliothekar M., Forstmeister M., C. B.-Z., Prof. R.,
Lehrer J. M., Dr. A. St. lauten dahin, dass G. E. seit dem Tode
der Schwester, ja gelegentlich schon vorher, solche Absichten äusserte,
dass dieselben im Verlauf der Zeit eine immer bestimmtere Gestalt
annahmen, um schliesslich in der im Testament vorliegenden Gestalt
zur Ausführung gebracht zu werden.
Ich halte es für höchst wahrscheinlich, dass gerade die ausser*
gewöhnlichen Ehrungen, die Dr. G. E. bei Gelegenheit seines 70jih¬
rigen Geburtstages von Seiten der schweizerischen und zürcherischen
Behörden, des ganzen Schweizervolkes, ja der ganzen deutschen
Völkerfamilie erfahr, diese Gedanken und Absichten als Ausfluss
natürlicher, dankbarer Gesinnung reiften.
Wenigstens steht damit in Zusammenhang, dass diesfallsige
Aeusserungen Dr. E.’s von dieser Zeit an häufiger wurden und eine
bestimmtere Gestalt annahmen, um endlich zur Zeit des Testirens als
Ergebniss ureigener Geistes- und Gemüthsarbeit in abgeschlossener
Weise zum Vorschein zu kommen. Auch ich, der ich zwar G. E.
nur aus seinen Werken und aus gelegentlichen Unterredungen mit
Menschen, die in mehr und weniger häufige persönliche Berührung
mit ihm gekommen waren, kannte, muss meiner Ueberzeugung Aus¬
druck geben, dass der ideale Inhalt des Testaments so vollständig
dem Charakter, der geistigen Individualität Dr. E.’s, seinem auf das
Gemeinnützige, Allgemeine und Humane gerichtete Streben entspricht,
dass jede andere Fassung desselben unter den gegebenen Verhältnissen
mein Befremden, weil für mich psychologisch unverständlich, erregt hätte.
Mit Recht konnte daher 0. Br. G. E. nach seinem Testament
„als zweiten Winkelried“ mit poetischer Freiheit bezeichnen.
Nicht weniger psychologisch verständlich sind mir das Ueber-
gehen von Verwandten und insbesondere das völlige, scharf absichtlich
ausgedrückte Ignoriren des Elägers, Herrn Nationalrath Sch.’s im
Testament (v. Acten S. 25. Replik von Herrn Dr. jur. Pf.).
Wie sich während der letzten Jahrzehnte die geistige Natur G.
E.’s allmälig umwandelte, ist aus seinen Werken, seinen sonstigen
Schriftstücken und gelegentlichen Aeusserungen bekannt genug. Diese
Art und Weise der geistigen Metamorphose musste ihn in Gegen¬
satz mit den kleinlichen und kleinen Interessen seiner Verwandten,
insbesondere aber mit den Bestrebungen und der Art und Weise
ihrer Aeusserung und Durchführung Seitens des Elägers, bringen.
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Aerztliohea Qnt&ohten äbar zweifelhaft« Teatirf&higkeit.
79
G. K.’s durch und durch gerade, wahre, ideale und ausserge-
wöhnlich starke geistige Natur musste gerade diesen Verhältnissen
und Personen gegenüber die Stellung einnehmen, die sie thatsächlich
einnahm. Es musste einerseits eine gewisse Gleichgiltigkeit gegen¬
über den Einen, von denen nur Die eine Ausnahme erfuhren, die
ganz entsprechend der oft genug launen- und schrullenhaften Natur
des Dichters »eine äussere K.’sche Familienähnlichkeit“ darboten,
andererseits eine bestimmte Abneigung gegenüber dem Anderen, die
bis zum Gefühl des völligen Nichtvorhandenseins allmälig anwachs,
sich ausbilden.
Zur psychologischen Rechtfertigung auch dieser Annahme dienen
ferner die Aeusserungen der vorhin genannten Zeugen über das Ver¬
hältnis Dr. G. K.’s zu seinen Verwandten und speciell zu Herrn
Nationalrath Dr. Sch. Es scheint mir, dass die in den Acten ent¬
haltenen gegentheiligen Zeugenaussagen ihnen gegenüber bedeutungs¬
los sind.
Die psychologische Würdigung der geistigen Individualität Dr.
K.’s wie die Zeugenaussagen ergeben demnach übereinstimmend das
Vorhandensein der nöthigen Willensfreiheit zur Zeit des
Testirens.
Ich komme demnach zum Sohluss, indem ich die richterliche
Fragestellung dahin beantworte,
»dass der Erblasser zur Zeit der Errichtung des
Testaments seinen bewussten Willen gehabt habe,
beziehungsweise des Vernunftgebrauchs nicht be¬
raubt gewesen sei.“
Dies bezeugt nach Wissen und Gewissen
Prof. L. Wille.
Basel, den 25. August 1891.
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6 .
T«d darch Peatal bei Gelegenheit eiaer Zahaeperatiaa.
Mitgetbeilt vom
Kreisphysikus Dr. Ireane in Soest.
Das Pental ist eine vom Professor v. Mering entdeckte Kohlen-
wasserstoffverbindung von der Formel (OH 3 ) 2 CCH CH 3 . Das che¬
misch reine Präparat siedet bei 38 0 und hat ein specifisches Gewicht
von 0,65, ist farblos und unlöslich im Wasser. Sein Geruch wird
mit dem der Hoffmannstropfen verglichen.
Der Professor der Zahnheilknnde Dr. Hollaender und der Pro¬
fessor der inneren Medicin Dr. Weber zu Halle haben das Mittel
sehr oft angewandt und seine Verwendung bei Zahnoperationen und
leichten chirurgischen Eingriffen empfohlen. Die betäubende Wirkung
tritt nach dem Einathmen von 5—10 g innerhalb weniger Minuten
ein und dauert etwa so lange, als zur Vollendung der betreffenden
Operation nöthig ist. Das Excitationsstadium wird als kurz dauernd
und mässig bezeichnet, nur bei Alkoholikern als heftig. Es scheint,
dass bei der Anwendung dieses Betäubungsmittels dieselben Gegen¬
anzeichen vorhanden sind, wie bei der Anwendung der anderen An-
aesthetica. —
Mit Pental sind unzählige Versuche angestellt, und da unlieb¬
same Folgen seitens der Kliniker meines Wissens nicht beobachtet
wurden, musste seine Anwendung auch in die Hand der Praktiker
übergehen.
Die Zahnärzte sowohl als die Zahnkranken waren hier sehr be¬
friedigt, bis am 23. April 1892 sich ein Todesfall ereignete.
Am 24. April wurde die gerichtliche Obduction gemacht und
hatte folgende Ergebnisse, welche ich des seltenen Falles wegen voll¬
ständig mittheile.
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Tod durch Pental bei Gelegenheit einer Zahnoperation.
81
A. Aeussere Besichtigung.
1) Die Leiohe gehört einem Knaben von etwa 14 Jahren an. Der Körper
ist 1,46 m lang, im Allgemeinen nur massig gut genährt und wenig kräftig
gebaut.
2) Die Farbe des Körpers ist an dem vorderen Tbeile im Allgemeinen
blass, jedoch werden ausgedehnte blaurothe Stellen an der äusseren Seite der
beiden Oberschenkel und auf dem Rücken wahrgenommen; Einschnitte in diese
letzteren ergeben, dass im Unterhautzellgewebe Blut nioht angesammelt ist, son¬
dern sioh solches aus den durohsohnittenen Gefässen entleert. Auch beim stark
einwirkenden Druck auf die blaurothen Hautstellen schwindet die Färbung
derselben.
3) Auf den beiden Brusthälften ist die Oberhaut in derLängonausdehnung
von etwa 20 cm und in der Breite von 30 om gelbbraun gefärbt; sie fühlt sioh
an diesen Stellen trooken und lederhart an, auoh ist sie lederhart zu sohneiden.
Auf den Schnittflächen zeigt sioh die Haut lederartig und entbehrt vollständig
des unterliegenden Fettgewebes.
Aus den Einschnitten dringt ein deutlicher Geruch nach Kampher hervor.
4) Solche lederartige Hautstellen werden noch auf beiden Schienbeinen in
der Länge von etwa 12—15 om und in einer Breite von 4 om vorgefunden.
Einschnitte ergeben auch hier dieselben Verhältnisse, wie sie unter tio. 3
geschildert sind. Auoh an der Innenseite des linken Kniegelenks ist eine solche
Stelle wahrnehmbar im Durchmesser von 2 cm; desgleichen eine solche über den
vorderen oberen Darmbeinspitzen im Durchmesser von je 4 cm; desgleichen auf
beiden Oberarmen unterhalb der Schulterhöhe, desgleichen über beiden Ell¬
bogengelenken; Einschnitte in alle diese Stellen ergeben dieselben Verhältnisse
wie zu 3.
5) Der Kopf ist reiohlioh mit dunkelblonden Haaren bedeckt.
6) Die Augenlider sind geschlossen, die Hornhäute durohsichtig, Regen¬
bogenhäute blaugrau, Pupillen sehr erweitert, aber gleioh weit, die Augäpfel
prall. Beim Oeffnen der Augenlider gewahrt man eine quer über jeden Augapfel
unterhalb der Hornhäute sich vom äusseren nach dem inneren Augenwinkel hin¬
ziehende 2 mm breite blassröthliche Färbung der Augenbindehäute.
Die Färbung ist daduroh hervorgerufen, dass zahlreiche äusserst feine Ge-
fasse dort in den Bindehäuten verlaufen; Einschnitte an diesen Stellen ergeben
kein Blut im Gewebe. Die blassroth gefärbten Streifen liegen genau an den
Stellen der Augäpfel, wo die beiden Augenlider Zusammentreffen.
7) Die beiden Ohrmusoheln haben eine blaurothe Farbe, Einschnitte er¬
geben, dass sich aus den durohsohnittenen Gefässen mehrere Tropfen flüssigen
sohwarzrothen Blutes entleeren.
8) Die natürlichen Oeffnungen des Kopfes sind frei von fremden Körpern.
9) Die Mundhöhle ist geschlossen. Die Schleimhaut der Lippen ist sehr
blass; die Zahnreihen stehen auf einander, die Zähne sind gesund. In der rechten
Hälfte des Unterkiefers fehlt der dritte Baokenzahn, im linken Oberkiefer fehlt
gleichfaüs der dritte Baokenzahn. Zwisohen den sichtbaren Vorder- und Backen-
Vlette|Jaiinsehr. f. ger. Med. Dritte Folge. V. 1. 6
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82
Dr. Breoime,
zahnen liegt eine braanrothe Flüssigkeit von derselben Beschaffenheit, wie sie
sich in den Zahnlücken befindet, aas welchen die zwei Backenzähne ent¬
fernt sind.
10) Am Halse and im Naoken ist die Oberhaat anverletzt.
11) Der Kopf ist nicht ungewöhnlich beweglich.
12) Der After ist geschlossen.
13) Die Todtenstarre ist io allen Gelenken vorzüglioh vorhanden.
14) Die Mascalatar der Gliedmaassen ist ausserordentlich fest.
15) Leicbengeruoh fehlt.
16) Im Uebrigen ist keine Spar einer Verletzung vorhanden.
B. Innere Besichtigung.
I. Brust- und Bauchhöhle.
17) Es wird ein Schnitt vom Kinn bis zur Schambeinfuge geführt und
durch denselben zunächst die Bauchhöhle eröffnet. Die Organe der letzteren be¬
finden sich in regelmässiger Lage, die Därme drängen sich stark vor.
18) Der quere Theil des Dickdarms sowohl, als die dünne Därme sind
stark aufgetrieben.
19) In der Bauohhöhle befinden sich ungefähr 150 g einer braunrothen
Flüssigkeit ohne besonderen Geruch.
20) Beim Oeffnen der Bauchhöhle ist allseitig ein deutlicher Geruch von
Aether wahrgenommen.
21) Da der Verdacht einer Vergiftung vorliegt, so wird zuerst die Bauoh¬
höhle weiter geöffnet.
a) Bauchhöhle.
22) Das Zwerohfell liegt auf der rechten Seite in der Höhe der vierten,
auf der linken in der Höhe der fünften Rippe.
23) Alsdann wird dicht über demMagenmunde der untereTheil der Speise¬
röhre doppelt unterbunden, sowie auch um den Zwölffingerdarm unterhalb der
Einmündung des Gallenganges doppelte Ligaturen gelegt werden. Zwisohen
diesen werden beide Organe durchschnitten. Hierauf wird der Magen mit dem
Zwölffingerdarm im Zusammenhang herausgenommen.
24) Nachdem der Magen in vorgeschriebener Weise geöffnet ist, entleert
sich aus ihm eine schmutzig braune Flüssigkeit, welche keinen besonderen Ge¬
ruch darbietet. Weder in dieser Flüssigkeit, noch auch auf der Sohleimhaut des
Magens befindet sich etwas Besonderes ausser einer kleinen Menge glasigen
Schleimes.
Die Magenschleimhaut selbst zeigt eine starke Faltenbildung und hat eine
rothbraune Farbe. An keiner Stelle wird eine Verletzung nachgewiesen.
25) Der Zwölffingerdarm hat denselben Inhalt, wie der Magen, seine
Sohleimhaut hat eine rothbraune Farbe und ist unverletzt.
26) Magen, Zwölffingerdarm und Inhalt derselben wird in ein besonderes,
reines Glasgefäss gethan.
27) Das grosse Netz ist sehr wenig entwickelt und vollständig fettlos und
ohne besondere Gefässentwiokelung.
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Tod daroh Pental bei Gelegenheit einer Zahnoperation.
83
28) Der obere Theil des Dünndarms hat denselben Inhalt wie der Hagen,
seine Sohleimbaat ist braanrotb, die Qaerfalten sind gat gebildet.
29) Es wird nooh ein Stück von diesem Darmtheil and seinem Inhalt in
das oben beschriebene Glas za No. 26 gethan.
30) Der untere Theil des Dünndarms hat eine rothbraane Schleimhaut and
einen breiigen Inhalt von brauner Farbe, welcher einen besonderen Qeraoh nioht
darbietet. Sowohl die einzelnen, als die gehäaft stehenden Drüsen dieses Darm-
theils zeigen nichts Ungewöhnliches.
31) Der Diokdarm enthält viel Gas mit deutlichem Geruch nach Schwefel¬
wasserstoff.
Ausserdem befindet Hob in demselben breiiger gelbbrauner Koth, die
Schleimhaut ist blassroth und unverletzt.
32) Der Mastdarm ist leer, seine Schleimhaut blassroth.
33) Die Milz ist 11 cm lang, 7 om breit und 3 l /j om dick, die Oberfläche
ist stahlblau. Der Durchschnitt braun, das Balkengewebe gut ausgebildet, die
Consistenz des Organs gut, der Blutgehalt nicht auffallend vermehrt.
34) Die linke Niere ist 10 cm lang, b x / 2 cm breit, 3 cm dick. Die äussere
Oberfläche ist glatt, die Kapsel gut abziehbar, die Farbe der Oberfläche braun-
roth; beim Durchschnitt entleert sich auf die Oberfläche eine reichliche Menge
schwarzrothen Blutes. Die Rindensubstanz hat eine graubraune Farbe, die Mark¬
substanz dagegen ist dunkelbläulich gefärbt.
35) Die linke Nebenniere ist 4 om lang und 1 om breit, ihre Oberfläche ist
braun, Marksubstanz gelblich, Zwischenschicht dunkelroth.
36) Die rechte Niere ist von derselben Grösse und Beschaffenheit, wie die
linke, ebenso die rechte Nebenniere.
37) Die Harnblase ist vollständig leer, stark zusammengezogen, die Schleim¬
haut ist blass.
38) Die Hoden zeigen niohts Bemerkenswerthes.
39) Die Bauchspeicheldrüse ist sehr stark entwickelt, auf dem Darohschnitt
blassroth.
40) Die Leber ist 22 cm breit, 18 om hooh, 7 V 2 om diok. Die obere
Fläche der Leber ist glatt, hat eine braunrothe Farbe. Naoh dem Darohsohneiden
fiiesst dunkelkirschrotbes Blut ab, welches zum Theil aufgesammelt und in ein
reines Glasgefäss gethan wird. Die Farbe des Durchschnittes ist dunkelbraun-
roth. Die Leberläppchen sind deutlich siohtbar, aussen zeigt sich ein heller
Ring, das Innere ist dnnkelbraunroth.
41) Die Gallenblase enthält etwa 30 g Galle. Wenn diese Galle in ein
reines weisses Poroellangefäss geschüttet ist, so hat sie in dünner Sohicht ein
gelbliches Aussehen, in dicker ein dunkelkirsohrothes.
Es wird Blut ebenfalls in ein reines Poroellangefäss gethan behufs Ver •
gleiohung, dasselbe zeigt sowohl in dünner als dioker Sohicht das gleiche dunkel-
kirschrothe Aussehen.
Die Gallenblase selbst ist unversehrt.
42) Die untere Hohlader ist ziemlich reichlich mit dunkelkirsohrothem Blut
gefällt. Dieses Blut wird in dasselbe Gefäss gethan, in welohem bereits das Blut
aus der Leber sub No. 40 sich befindet. Stückchen aber von Leber, Milz und
Nieren werden in ein drittes reines Glasgefäss gethan.
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84
Dr. Bremme,
b) Brosthöhle.
43) Naohdem das Brostbein vorsohriftsmässig entfernt ist, zeigt sieh die
rechte Longe wenig, die linke mehr zoräokgesonken.
44) In beiden Brustfellsäcken befinden sich etwa 20 oom einer blassrotheo
Flüssigkeit ohne besonderen Gernoh.
45) Die reohte Longe ist an ihrer hinteren and anteren Fläohe mit der
Rippen wand and bezw. dem Zwerchfell sehr fest verwachsen.
Die linke Longe ist vollständig frei.
46) Im Herzbeotel befindet sich keine Spor von Flüssigkeit.
47) Das Herz selbst übertrifft die Grösse der Faost des Knaben ond hat
eine Länge von 10 om, eine Breite von 8 om. Die Kranzgefässe sind besonders
an der hinteren Fläche stark mit Blot gefüllt. Die linke Herzhälfte ist got zu-
sammengezogen and fühlt sich starr an, die rechte Herzhälfte ist sohlaff.
Daraof wird das Herz in seiner Lage geöffnet; dabei findet sich, dass der
rechte Vorhof sowohl, als die reohte Herzkammer blotleer sind, während in der
linken Herzkammer noch etwa 15 g eines dankten theerartigen flüssigen Blotes
gefonden werden.
Die Vorhofskammerklappen sind für 2 Finger dorchgängig. Daraof wird
das Herz aas der Leiche genommen.
Es entleeren sich aas den Gefässen, welche in den rechten Vorhof münden,
etwa 30 g eines theerartig dunklen flüssigen Blotes.
Aas dem Gefässe, welohes in den linken Vorhof mündet, fliessen etwa
20 g Blotes von derselben Beschaffenheit zurück.
Die Wandong der linken Herzkammer hat eine Stärke von lV 4 om, die¬
jenige der rechten Kammer eine solche von 6 mm. — Der Durchmesser der Aorta
sowohl, als der Lungenschlagader beträgt je l 1 /, cm. — Die halbmondförmigen
Klappen sind durch Wasseraufguss dicht befunden.
Das in dem Herzen und in den grossen Gefässen Vorgefundene Blot wird
in dasjenige Glasgefäss gethan, in welchem sich bereits das Blot za No. 40
befindet.
48) Darauf werden Lungen, Kehlkopf, Zunge in ihrer Gesammtheit aus der
Leiche genommen, nachdem sich vorher noch gezeigt hat, dass die grossen Blut¬
adern am Halse leer und die Nervenstämme anverletzt sind.
49) Die linke Lunge ist auf der Oberfläche blaoroth marmorirt, an den
Rändern fühlt sie sich knisternd an, in der Mitte fühlt man weniger Knistern
und eine etwas stärkere Härte des Gewebes. Beim Durohschnitt des oberen Lap¬
pens der linken Lunge entsteht reichliches Knistern, and Druck aaf die Durch¬
schnittsflächen bewirkt eine starke Entleerung sohaumiger Flüssigkeit von hell-
rother Beschaffenheit. Auch haben die Durchsohnittsfläohen ebenfalls ein hell-
rothes Aussehen.
Der Durchschnitt des unteren Lappens der linken Lunge hat ein donkel-
rothes Aussehen, Druck aof die Schnittflächen entleert weniger reiohliohen Schaum
von dunkelrother Beschaffenheit.
50) Die reohte Lunge zeigt auf der Oberfläche besonders an ihrer unteren
und an ihrer hinteren Fläohe als Folge ihrer Verwachsung mit der Umgebong
reiohliohen häutigen Belag.
In den beiden oberen Lappen wird alles so vorgefunden, wie es an dem
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Tod daroh Pental bei Gelegenheit einer Zahnoperation.
85
oberen Lappen der linken Lange gesohildert ist, in dem unteren Lappen der
rechten Lange hingegen so, wie es bei dem unteren Lappen der linken Lange
beschrieben ist, aber in auffallender Weise maoht siob gleioh nach der Bildung
der Durchschnitte der Umgebung allseits ein starker Geruch naoh Aether kund.
Im Uebrigen ist in dem Gewebe der Lunge nichts Krankhaftes vorge¬
funden.
51) Der Kehlkopf hat keinen Inhalt, ebensowenig die Luftröhre, die Schleim¬
haut beider hat ein hellrothes Aussehen, besonders stark ist dieses zwischen den
Knorpelringen ausgeprägt; bei Druck auf die Langen entleert sich nooh etwas
blatiger Schaum.
52) Die Zange ist von einer starren Härte, äbnlioh wie die Muskulatur der
Gliedmassen.
53) Weder an den Mandeln, nooh an dem Zäpfohen ist etwas Auffallendes
zu bemerken.
54) Die Speiseröhre hat eine blasse unverletzte Sohleimbaut, ein Stückchen
derselben wird in das Gefäss, in welchem sioh Magen nnd Mageninhalt befinden,
gelegt; auch wird ein Stüok von jeder Lange in das Gefäss nnter No. 42 gethan.
II. Kopfhöble.
55) Die Kopfhaut wird durch einen quer von einem Ohr zam anderen lau¬
fenden Schnitt gespalten and naoh vorn and hinten zurückgeschlagen. Dabei
zeigt sioh, dass im Gewebe weder vorn nooh hinten Blut vorhanden ist.
56) Das abgesägte Schädeldaoh ist leicht, darohsichtig in der Gegend der
ehemaligen grossen Fontanelle. Die Fingereindrüoke sind wenig vertieft, die Ge-
fässfuroben aber deutlich. Es fällt ein bläuliches Aussehen der inneren Sobädel-
fläohe auf. Die Sägefläche hat einen Durchschnitt von 3—5 mm, von denen
etwa die Hälfte von der gefässreiohen Zwisohensubstanz in Ansprach ge-
nommea wird.
57) Die harte Hirnhaat ist auf der äusseren Fläche blass and zeigt eine
geringe Entwicklung der Gefässe.
Der grosse Längsblutleiter ist leer.
Die innere Fläche der harten Hirnhaat ist gleichfalls blass.
58) Die weiohe Hirnhaat zeigt eine auffallende geringe Gefässfüllung, sie
ist feuoht, glatt und glänzend. Die Furohen sind wenig ausgeprägt.
Auf der rechten Hälfte der weichen Haut sind reiohliche Paoohioni’sche
Drusohen vorhanden. Die weiohe Haut lässt sich von der Hirnsubstanz leicht
abtrennen.
59) Darauf wird das Gehirn aus seiner Höhle genommen.
Dabei zeigt sich keine Ansammlung von Blot in den Schädelgraben.
60) In den beiden Unterhörnern der Seilenböhlen des Grosshims finden
sioh etwa 4 g einer blassrothen Flüssigkeit, die übrigen Theile der beiden Höhlen
sind leer, auch die dritte Höhle ist leer.
61) Die Gefässplatte ist darohsichtig, and das Adergefleoht ist nur wenig
mit Blut gefüllt.
62) Seh- und Streifen-Hügel zeigen sich aaf dem Durohsohnitt auffallend
blass und trocken, auch bei verschiedenen Durchschnitten der Hirnsubstanz zeigt
sioh nur hier und da ein Blutpankt, die graae Substanz ist hellgrau.
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86
Dr. Bramme,
63) Die vierte Höhle ist leer, auch das Kleinhirn ist sehr blass, nar hie
und da entleert sioh Blnt ans den durchschnittenen Qefässen.
64) Die Brücke ist blass und fest, wie auch das verlängerte Mark.
65) Die Querblutleiter an der Schädelgrandfläche sind sämmtlioh reichlich
gefüllt mit dnnklem theerartigen Blute.
66) Beim Abziehen der harten Hirnhaut zeigt sioh, dass die Knochen un¬
verletzt sind. Ein Stück Gehirn wird in das Gefäss unter No. 42 gelegt.
Hierauf wurde die Obduction geschlossen und gaben die Obdu¬
centen ihr vorläufiges Gutachten dahin ab:
1. Dass der Tod des Denatus durch Lungenödem erfolgt ist.
2. Da die Ursache dieses Lungenödems durch die Obduction
nicht aufgeklärt ist, so beantragen die Obducenten, indem
sie die Glasgefässe mit den aus der Leiche entnommenen
Theilen dem Herrn Untersuchungsrichter zur Verfügung
stellen, die chemische Untersuchung jener Theile.-
Die Aussagen des Zahnarztes vor Gericht lauten:
„Heute kam der Patient zu mir, um sich 2 Backenzähne aus-
ziehen zu lassen. Auf seinen Wunsch wandte ich zur Linderung der
Schmerzen Pental an. Es wurden 4—5 g verbraucht, die Betäubung
trat nach etwa einer Minute ein. Als die Zähne entfernt waren,
spuckte der Patient nach Auffordern aus, dann fiel derselbe in Ohn¬
macht und starb. Ich schickte sofort zu mehreren Aerzten, welche
die begonnenen Wiederbelebungsversuche fortsetzten, allein ohne Erfolg.“
Bei der Betäubung war die eingeübte Frau des Zahnarztes zu¬
gegen.
Demnach ist der Zahnkranke eines plötzlichen Todes durch Herz¬
lähmung gestorben.
Am Schlüsse des Obductionsprotokolls habe ich die am meisten
in die Augen springende Erscheinung des Lungenödems als Todes¬
ursache angegeben, zumal aus der ßlutvertheilung in den beiden
Herzhälften, bezw. in den ihnen das Blut zuführenden Gefassen mit
Sicherheit der Tod weder durch Erstickung, noch durch Herzlähmung
entstanden angenommen werden konnte (35 gegen 30 g).
Da aber aus der Aussage des Zahnarztes hervorgeht, dass der
Kranke am Ende der Betäubung in einem Ohnmachtsanfall, also
durch Synkope, geendet hat, so stehe ich nicht an, jetzt den Schluss
des Obductionsprotokolls dahin zu verändern, dass
1. „Denatus dureh Herzlähmung seinen Tod gefunden hat.“
Zweifellos geht aus dem bedeutenden Lungenödem hervor, dass das linke
Herz sohon gelähmt war, als das rechte nooh einen Augenblick in Thätigkeit sioh
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Tod dnroh Pental bei Gelegenheit einer Zabnoperation. 87
befand. Als das letztere znm Stillstand gelangte, bewirkten nooh die sohwaoh
bestehende Athmnng, möglichcherweise auch die Wiederbelebangsversucbe, die
sofort angestellt wurden, eine gewisse Blutfülle in den aum rechten Vorhof füh¬
renden Blutadern. Gegen die Annahme, dass Kohlensäureanhäufung im Blute
den Tod durch Erstickung herbeigeführt habe, spricht die geringe Gabe des Pen-
tals und die Angabe des Zahnarztes in Betreff der Art des Todeseintritts.
Ferner: Der zweite Satz des vorläufigen Gutachtens musste lauten:
2. Da die Ursache der Herzlähmung aus der Obduction nicht
erhellt, so wird die chemische Untersuchung der zurück¬
gestellten Leichentheile beantragt.
Dass diese Untersuchung zunächst auf Pental gerichtet sein musste, lag
klar zu Tage.
Sie geschah am 13. Mai.
Demnach war das Ergebniss derselben natürlich ein negatives.
Aus dem in einem den Acten beigegebenen Gläschen noch Vorgefundenen
Reste an Pental ging hervor, dass während der Betäubung nur 6—7 g gebraucht
waren. —
Aus dem Obductionsprotokoll ist ersichtlich, dass die Leichenerscheinungen
nach Vergiftung durch Pental denen nach Tod durch Chloroform, bezw. Chloral-
hydrat ähnlich sind (s. J. Borntiäger, diese Vierteljahrsschrift, N. F., 1890,
Bd. 53, H. 1,8. 19 u. 77).
a) Die Fäulnisserscheinungen sind gering.
b) Todtenstarre stark, sowohl an den Muskeln der Gliedmassen, als des
U nterkiefers, als der Zunge und an dem Herzmuskel.
c) Todtenfleoke umfangreich.
d) Blassrother Streifen quer über die beiden Augäpfel, in der Augenbinde¬
baut derselben an den Stellen verlaufend, wo die Augenlider beim Schluss Zu¬
sammentreffen. (Einwirkung des verdunstenden Pentals.)
e) Pupillen sehr weit.
f) Blut dünnflüssig, dunkelkirsohroth bis schwarzroth. Gasblasen nirgends
bemerkt.
g) Herz: Dicke Herzkammer starr;, in der linken Kammer 1 Esslöffel
flüssiges, schwarzrothes Blut, rechte Kammer leer. Daher die Annahme, dass
die linke Kammer zuerst gelähmt war.
h) Lungen stark ödematös.
i) Organe des Unterleibes: Milz und Bauchspeicheldrüsen roässig blut¬
haltig, Leber und Nieren reichlich bluthaltig.
k) Harnblase zusammengezogen, leer.
l) Kopfhöhle: Im Ganzen blutarmes Gehirn, nur Blutfülle in den Querblut¬
leitern der Sohädelgrundfläche und im Schädelknochen selbst. (Bläuliches Aus¬
sehen der inneren Fläche des Schädeldaches.)
m) Urin fehlt.
n) Pentalgeruch naoh dem Oeffnen der Bauchhöhle und beim Durch¬
sohneiden der rechten Lunge.
Aus der Obduotion geht ausserdem hervor, dass niobt allein am Herzen,
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88
Dr. Bremme.
sondern auch an den Athmnngsorganen leichte Verändernngen vorhanden waren.
Das Herz übertrifft die geballte Fanst des Knaben nnd bat eine Breite von
8 cm and eine Länge von 10 om. Die Wandungen der linken Kammer haben
einen Durchmesser von 1 f / 2 cm, die der rechten von 6 mm. Die halbmondför¬
migen Klappen sind dicht befanden, die Vorhofskammerklappen für zwei Finger
durchgängig (47). Die rechte Lange ist an ihrer hinteren and unteren Fläohe
mit der Rippenwand, bezw. mit dem Zwerchfell fest verwachsen (45). Di« rechte
Lange zeigt aaf ihrer hinteren and unteren Fläche als Folge ihrer Verwachsung
mit der Umgebung einen reichlichen häutigen Belag (50).
Somit hat der Knabe vor längerer Zeit eine rechtsseitige
Langen- and Rippenfellentzündung darohgemacht (höchstwahr¬
scheinlich auch zur Zeit der Operation an Herzklopfen gelitten),
wofür auch der mä'ssige Ernährnngsstand spricht.
Selbstverständlich war der Zahnarzt nicht im Stande, bei seinem
Patienten weder das Verwachsensein der rechten Lunge mit der Um¬
gebung an dem abgeschwächten Athmen jener, bezw. an der gemin¬
derten Ausdehnungsfähigkeit der rechten Brusthälfte zu erkennen, noch
auch das Herzklopfen richtig zu deuten, und die Vergrösserung des
Herzens nachznweisen. Höchstens konnte er — wie öfters — an
dem Zahnkranken eine gewisse Aufregung bemerken, welche bisher
niemals von üblen Folgen beim Betäuben begleitet gewesen war.
Da nun aus dem Zeugniss der Ehefrau hervorgeht, dass der
Zahnarzt genau nach den Vorschriften der Kliniker bei der Betäu¬
bung und beim Eintreten des Unglücksfalls gehandelt hat, so kann
eine Fahrlässigkeit nicht angenommen werden, zumal nach
der Ministerial-Verfügung vom 29. November 1860 und derjenigen
vom 4. December 1891 den approbirten Zahnärzten die Verordnung,
mithin auch die Anwendung der Betäubungsmittel gestattet ist, —
ohne ihnen die Verpflichtung aufzuerlegen, den Gesundheitszustand
der zu betäubenden Personen vorher durch einen praktischen Arzt
feststellen zu lassen.
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7.
Bedeitug der Zeichen fltar wiederhelte Gebart.
Von
Dr. §ehilling,
KreUphysikus in Querfurt.
Nicht selten wird dem Geriohtsarzte eine Frauensperson, welche auf Grand
von Leategerede oder zufälligen Auffindens einer Kinderleiche im Verdachte steht,
vor längerer oder kürzerer Zeit heimlioh geboren and das Kind vorsätzlich amge¬
bracht za haben, mit dem Aufträge zugeführt, darch eine sofortige Untersaohang
festzastellen, ob die Betreffende anlängst geboren habe, ob das Kind reif ge¬
wesen and wie lange Zeit etwa seit der Niederkunft verstriohen sei, widrigenfalls,
wenn der Verdaoht unbegründet erscheine, sofortige Entlassung der Inhaftirten
verfügt werde.
So sicher die bekannten Zeiohen sind, welohe die erste Gebart eines
reifen oder naheza reifen Kindes, weniger einen einmaligen Abort oharakterisiren,
so unsicher erweisen sich die einzelnen in den Lehrbüohern aufgeführten Zeiohen
wiederholter Gebart vor strenger Kritik, sobald längere Zeit seit der fraglichen
Gebart vergangen ist. Bisweilen bringt das Ensemble aller aafgefundenen Merk¬
male die vom Staatsanwalt aufgeworfene Frage zar positiven Entscheidung,
häufiger muss sioh der Arzt mit der Wahrscheinlichkeit stattgehabter Gebart be-
guägen oder za dem Aasspraohe, weloher den Richter am wenigsten befriedigt
und die Untersuchung nicht immer fördert, verstehn, dass die ärztliohe Unter¬
suchung keinen sicheren Anhalt für eine derartige Annahme gewährt.
Zweifellos artheilt der Arzt anbefangener und richtiger, wenn er von den
Untersachnngsacten vorläufig keine Kenntniss nimmt, überhaupt nioht die Rolle
eines Anklägers spielt and nar aas den am Körper gefundenen anatomischen
Veränderungen einen Schloss zieht.
Die Schwierigkeit, die Frage stattgehabter wiederholter Gebart positiv za
bejahen, liegt darin, dass die so überaus charakteristischen Kennzeichen der
ersten Schwangerschaft and Entbindung, namentlich die Milchsecretion, Striae
und Ausdehnung der Bauohdeoken, Pigmentation der Warzen und Linea alba,
Einrisse an den äusseren und inneren Genitalien, nicht wieder in gleichem Maasse
bei derzweiten und dritten oder späteren Geburt auftreten, also theilweise fehlen oder
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Dr. SohiHing,
bereits zur Zeit der Exploration gesobwundeD sind. Mit Recht unterscheidet
deshalb Liman bei der Diagnose der Oeburt dauernde und schwindende
Kennzeichen. Kommen keine neuen Einrisse an den gedehnten Genitalien za
Stande und sind die Zeichen allgemeiner Körpersohwäohe, die jede Geburt mit
seltenen Ausnahmen in den ersten Wochen begleiten, bereits überwanden, so
bleiben noch die grössere Targescenz and Milohsecretion der Mammae, neue
Striae an den Baaohdecken and je nach der frühen oder späten Untersuchung,
dem normalen oder anormalen Verlauf des Wochenbettes, Vergrösserung des
Uterus und blutig-eitriger oder eitriger Aasfluss als diagnostisch verwerthbare
Merkmale übrig. Auch unter der Zahl dieser wenigen Gharacteristiken fällt bis¬
weilen nooh das eine oder andere aus. Der Wochenfluss besteht unter gewöhn¬
lichen Verhältnissen nur so lange, als die Involution der Genitalien dauert und
hat schon 4 Wochen post partum nur noch zweifelhafte Anhaltspunkte. Die neuen
Gutiseinrisse in der Bauchhaut sind bei Mehrgebärenden selten reiohlich, fehlen
meist und sind unter zahlreichen grauweiss glänzenden alten Narben schwer
mit Sicherheit als solche zu constatiren, abgesehen davon, dass sie durch andere
• Ursache als Schwangerschaft gelegentlich hervorgerufen sein können.
Es bleibt demnach der Milchgehalt der Mammae als wichtigstes Griterium
übrig. Milch lässt sich schwer mit andern Flüssigkeiten verwechseln und mikro¬
skopisch, makroskopisch und durch die Zunge bei grösseren Mengen sioher nach-
weisen. Ein grösserer Gehalt bei einer Frau, die im Verdachte steht, unlängst
geboren zu haben, erregt nach landläufigen Begriffen und der Erfahrung, dass
die Brustdrüse mit der Entwickelung der Genitalien im Pubertätsalter auffallend
an Umfang zunimmt und zuerst in der zweiten Hälfte der Schwangerschaft Milch
produoirt, mit grösster Wahrscheinlichkeit den Verdacht, dass die Anschuldigung
begründet sei. Der Verdacht behält seine Sicherheit für Frauen, die geboren haben,
wenn die Secretion bei Müttern, die nicht stillen, etwa 10—12 Woohen dauert
(Hoffmann). Wie steht es aber, wenn man nach 5 Monaten denselben Gehalt
und kein Wässrigwerden (Liman) in dieser Zeit vorfindet?
Zweifellos giebt es im Leben auch Frauen and Mädohen, welche permanent
Milch prodaoiren, ohne überhaupt geboren zu haben, mag dieser Satz auch zu
den Ausnahmen des Naturgesetzes gehören. Hat man es nun bei der gerichtlichen
Untersuchung mit einem solchen Ausnahmefalle zu thun, für dessen Wahrheit
es keinen andern Anhalt als längere Beobachtung und etwaige subjective An¬
gaben der Angesohuldigten giebt, so wüide man ungereohter Weise die Ange-
sohuldigte belasten, wie folgende Beobachtung lehrt, wenn man allein aus dem
Milohbefund das Ueberstandenhaben einer Geburt erschliessen wollte.
Eine in der Mitte der Dreissiger stehende, schlank gebaute, mittelkräftige
Frau, welche vor 10 Jahren ein reifes Kind unehelich geboren hat, verheirathet
sich und pflegt vor wie nach unehelichen Umgang, während der Mann zum Mili-
tärdienste eingezogen ist. Eines Tages wird sie in das Gefängniss eingeliefert,
weil eine Kindesleiche in einer Kiste an ihren Wohnsitz per Post eingesandt
wird, allerdings an die Adresse eines jungen Mannes, der unbetheiligt ist, aber
als Weiberfeind gilt, und ihr Mann nnd andere Zeugen sie ehedem für schwanger
gehalten und sie sich ihres Kindes entledigt glaubten. Während der Exploration
erzählt sie, etwa vor 4 Wochen einen heftigen Blutsturz aus den Genitalien ge¬
habt zu haben, nachdem sie vorher mehrere Monate ihr Blut nioht gehabt habe;
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Bedeutung der Zeichen für wiederholte Gebart.
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indessen sei dies bei ihr nichts Ungewöhnliches, weil sie von jeher anregelmässig
menstrnire, bald monatelang die Menses nioht habe, bald wochenlang an starkem
Blatabgang leide.
Die Untersuchung ergab eine massig genährte Frau mit starken Brösten
and reichlichem Milchgehalt, starker Pigmentation des Warzenbofes, grosser
Sohlaffheit der Bauchdecken, auf jeder Seite des Unterleibes zwei bräunlichrothe,
andeutliche frische Striae, blutigeitrigen, an Lochien dem Geruch naoh erinnern¬
den Ausfluss und Vergrösserung des Uterus, indessen keine frischen Narben am
Damme, in der Scheide und am äusseren Muttermunde.
Der Befund an den Brüsten und dem Leibe, die Vergrösserung des Uterus
und der Ausfluss erregten den Verdacht bis zur Gewissheit, dass die Person un¬
längst, wahrscheinlich ein reifes oder nahezu reifes Kind geboren haben müsse.
Und doch erwies sich diese Annahme naoh längerer Beobachtung und wieder¬
holter Untersuchung als unsicher and schliesslich als falsch.
Bei jeder gerichtlichen Vernehmung behauptete die Frau, dass sie stets
Milch in ihren Brüstrn habe, öfter an Blutsturz gelitten, aber seit 10 Jahren
nioht mehr geboren habe, ja überhaupt nach Aussage von Aerzten, die sie früher
behandelten, nicht mehr gebären könne. Deshalb erging nach 6 Wochen ein er¬
neutes Ersuchen seitens des Amtsgerichtes an mich, die Beschuldigte noch ein¬
mal zu untersuchen und mich unter Berücksichtigung ihrer Angabe von neuem
zu äussern.
Wiederholt hatte ich als Gefangenenarzt Gelegenheit gefunden, die be¬
treffende Frau zu sehen und legte ich dabei das Hauptgewiobt auf den Miloh-
befund in den Brüsten, welchen Liman als ein höchst werthrolles Criterium
überstaodener Geburt bezeichnet, weil nur in höohst seltenen Ausnahmen un¬
zweifelhaft Milch ohne vorangegangenes Gebären bei Jungfern und
Wittwen. die lange nicht geboren haben, vorkomme. Die spärlichen,
undeutlichen Striae berücksichtigte ich weniger, da sie unsioher als solche zu
bezeichnen waren und bisweilen am Abdomen durch krankhafte Ausdehnung
erzeugt werden, obsohon es anwahrscheinlich war, dass die Frau ein schweres
Unterleibsleiden vor Kurzem überstanden hatte. Es fand sich nun in der Zeit
zwischen den Menses eine geringe Abnahme der Secretion und während der
Menstruation selbst ein stärkeres Turgesoiren und stärkere Füllung der Brüste.
Die Beobachtung, welohe fast 5 Monate umfasste und bei Ausschluss jeder
Gelegenheit zu geschlechtlichem Umgang noch nachträglich eine 3—4 Wochen
lange Blutung bei der Exploranda ermittelte, lehrte mioh, dass die Milchdrüsen
der Angeklagten zweifellos peruAnent secernirten und dass nicht hlos bei Jung¬
fern und Wittwen, die lange nioht geboren haben, wie Liman berichtet, sondern
auch bei verheiratheten Frauen, ohne dass sie geboren haben, eine dauernde
Milcbsecretion vorkommt.
Ueber diese Ausnahmefälle bietet die Literatur wenig oder gar keinen An¬
halt. Eulenburg’s Realen cyklopädie enthält keine Notiz darüber. Ploss er¬
zählt nichts von steter Thätigkeit der Mammae bei Frauen. Nur Villaret sagt:
„Auch eine allerdings spärliche Milcbsecretion ausserhalb des Woohenbettes
kommt bei gynäkologisch kranken and nervösen Frauen vor.“ Bei unserer An¬
geklagten fand sich in den 4—5 Monaten naoh der letzten Menorrhagie während
der Haft beständig Miloh vor, deren Menge in den Pausen zwisohen den Menses
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Dr. Schilling.
etwas naohliess, aber kurz vor Wiedereintritt derselben unter grösserer Turges-
oenz des Mammagewebes und während der langen letzten Blatang zanahm. Als
Ursache der Dysmenorrhoe ergab sich eine Knioknog and Vergrösserang des
Uterus. Da man vielfach die Mammae za den Geschlechtsorganen des Weibes
reohnet and dadurch die Wechselbeziehung zwischen beiden andeutet, so bestand
vielleicht in der sexuellen Reizung durch die Retroversio uteri ein Grund zu der
permanenten Milchproduction, ohne dass man sagen kann wie, da es unzählige
Frauen ohne Retroversio uteri giebt, denen jene Erscheinung fremd ist. —
Meine später auf diesen Gegenstand gerichteten Beobachtungen bestätigten
schliesslich, was ich jüngst bei Rheinstädter unter dem Kapitel Schwanger¬
schaft las: „Es lässt sioh ein milchiges Serum aus vielen jungfräulichen Brüsten
ausdrücken; Sohwellung und Milobgehalt der Brüste tritt auoh bisweilen bei
Niohtschwangern auf, wenn sie an Tumoren des Uterus oder der Ovarien leiden.*
Literatur.
1) Hoffman, Gerichtliche Medicin. II.
2) Casper-Liman, Gerichtliche Medioin. VII I. 223.
3) Villaret, Handwörterbuch der Medicin.
4) Ploss, Das Weib in der Völkerkunde.
5) Rheinstädter, Praktische Grundsätze der Gynäkologie.
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8 .
EU Fall Sarggebart
Von
Dr. Moritz,
Kreisphysikus za 8chlochau in Wettpreussen.
Der längere Aufsatz von Bleisoh aber einen Fall von Sarggebart im
Band III dieser Vierteljahrsschrift (3. Folge, 1892) veranlasst miob, über einen
ganz ähnlichen, vor Karzern von mir beobachteten Fall in Karze za berichten.
Meiner kurzen Darstellung dos Saohverhalts brauche ioh ausführliche epikritisohe
Bemerkungen nicht hinzazafügen, da die letzteren kaum etwas Anderes als eine
Wiederholung der Bleisoh’sohen Ausführungen würden sein können.
Aus dem von dem Herrn Untersuchungsrichter mir gütigst zur Verfügung
gestellten Actenmaterial entnehme ioh Folgendes:
Die Pächterfrau R., etwa 35 Jahre alt, bekam am Sonntag den 19. Juni
Naohts gegen 12 Uhr Geburtswehen, nachdem sie Sonntag Abends noch ganz
munter und gesund gewesen war. Um etwa 12 Uhr erschien die Pfuscherfrau K.
und untersuchte die Kreissende, welche in vollen Geburtswehen auf dem Schoosse
ihres Ehemannes sass, konnte das Kind aber nicht entwickeln. Die Kreissende
wurde zu Bette gebracht, wo die K. wiederum vielfache Manipulationen bei der
Kreissenden vornahm, den Kopf zu fühlen behauptete, sioh aber ausser Stande
erklärte, das Kind zu entwickeln; um etwa 7 Uhr Morgens starb die R., ohne
dass das Kind geboren war. Die Beerdigung fand drei Tage danach, am
23. Juni, statt. In Folge einer Denunciation des Gendarmen vom 5. Juli wurde
gegen die K. wegen Hebammenpfuscherei und ev. fahrlässiger Tödtung die Vor¬
untersuchung eröffnet, und im Verlauf derselben nach vielfachen Zeugenverneh¬
mungen endlioh, auf den 28. Juli, also 38 Tage naoh dem Tode, 35 Tage
nach der Beerdigung, die Section der Leiche der R. anberaumt. DieSeotion
ergab folgenden für die Beurtheilung des Falles wesentlichen Befand:
A. Aeussere Besichtigung.
1) Die Leiohe der etwa 35 Jahre alten Frau ist 157 cm lang, Fettpolster
und Musoalatur gut entwickelt.
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Dr. Moritz,
2) Die Haut ist im Allgemeinen schmutzig weissgrau, im Gesioht grüngrau
nnd gedunsen, &nf dem Räoken verwaschen grüngrau, an Brust and Baach
ebenso, an den Innenseiten der Oberschenkel sohmatzig graaroth. Am ganzen
Körper ist die Oberhaut in Blasen von Erbsen- bis Hähnereigrösse abgehoben;
die Blasen sind theils mit P&ulnissgas gefüllt, theils sind sie geplatzt, so dass
die Oberhaut in Falten zasammengesanken ist.
3) Verwesungsgerach stark, obere und untere Gliedmassen in allen Ge¬
lenken leicht beweglich. ...
5) . . . Bindehäute schmutzig grüngrau, . . . Augäpfel völlig matsch und
tief eingesunken. . . .
6) . . . Lippen schwarzblau und feuoht.
7) . . . Unterleib stark aufgetrieben. . . .
8) Zwischen den mässig gespreitzten Obersohenkeln lag die
Leiche eines männlichen Kindes von 2 s / 4 kg Gewicht, 49 cm Länge,
und mit sämmtlichen Zeichen der völligen Reife. Dasselbe war
an Achseln und Leisten mit käsiger Schmiere bedeckt, und völlig
weiss beschimmelt. Das Kind lag mit dem Rüoken nach oben, der
Kopf lag in der Kniegegend der Mutter und war nach vorn und links
gebeugt; die Füsse lagen dicht bei den Geschlechtstheilen der
Mutter. (Die vorstehende Schilderung betrifft die Lage, welche Mutter und
Kind im Sarge hatten.) Von der Mitte des Bauches der Fruoht ging
die 47 cm lange Nabelschnur aus, welche bleistiftdick, etwas platt,
blauschwarz und weich beschaffen war. Am anderen Ende der
Nabelschnur befand sich der Mutterkuchen als blausohwarze
schmierige Masse von brüchiger weicher Beschaffenheit, fast
kreisförmiger Gestalt und einem Durchmesser von 16 cm. Die
Nachgeburt lag zum grössten Theil frei zwischen den mütter¬
lichen Sohenkeln, und hing mit einem Theil ihres Randes noch an
der Gebärmutter fest. Die letztere war vollständig aus den Ge¬
schlechtstheilen hervorgestülpt und lag als fast mannskopf¬
grosser Körper, ihre Innenwandung vollständig nach aussen ge¬
kehrt, daroh Fäulnissgase aufgetrieben und prall gespannt, zwi¬
schen den Sohenkeln der Leiche. Mit ihr zugleich war die Scheide
hervorgestülpt, so dass auch deren Schleimhaut nach aussen ge¬
wandt war. Die Schleimhaut der Gebärmutter und der Scheide war
im Allgemeinen glatt und schmutzig röthlichgrau mit grünliohen
Flecken; nur an der Ansatzstelle der Nachgeburt, vorn unten, war
sie rauh und schwarzgrün. Die grossen Schamlippen waren mit
ihrer Innenfläche stark nach aussen gewandt, zwisoben ihnen und
der hervorgestülpten Gebärmutter ragten mit ihren vorderen plat¬
ten und schmutzig grüngrauen Rändern die kleinen Schamlippen
hervor. ...
B. Innere Besichtigung.
1. Schädelhöhle.
10) ... Beim Durchschneiden der harten Hirnhaut . . ., flieset das Gehirn
als dÜDne, etwas fadenziehende, röthlicb graue, stark stinkende Masse aus. . . .
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Gin Pali von Sarggebart.
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II. Brast- and Baachhöhle.
11) .... Bei Eröffnung der Baaohhöhle entweicht aas derselben viel
äbelrieehendes Gas. Die vorliegenden Darmschlingen sind stark von Gas
aufgetri eben.
13) Die Gebärmutter liegt nicht in der Baaohhöhle. An der
Stelle, welche dem inneren Muttermunde entspricht, stülpt sich
der Baachfellüberzag nach den äasseren Geschlechtstheilen hin
aas and bildet an der Aosstülpangsstelle eine qaerovale Oeffnung
von 3cm Länge and 7 2 cm Breite. Am Rande dieser Oeffnang bildet
der Baachfellüberzag einen Kranz feiner radiär gestellter Falten.
Bei Druck auf die vor den äasseren Gesohleohtstheilen liegende
aasgestülpte Gebärmutter tritt aas der eben beschriebenen Um-
stülpangsöffnang reichlich übelrieohendes Gas, dabei sinkt die
Gebärmutter zusammen und lässt sich schliesslich leioht in die
Bauchhöhle zurückstülpen. . . .
14) Zwerohfellstand beiderseits der 5. Rippe entsprechend.
a) Brusthöhle.
(Die Brustorgane zeigen aasser der stark vorgeschrittenen Verwesung nichts
Bemerkenswertes.)
b) Baachhöhle.
(Vorgeschrittene Fäalniss, besonders an Milz, Nieren and Leber.)
33) Die Wandung der Gebärmutter ist überall ziemlioh gleichmässig 6 mm
dick, grauweiss and sehr brüchig, unverletzt. Die zarückgestülp te
Gebärmatter misst in der Quere 13, in der Länge vom Grande bis
zam inneren Mattermande 16 cm. . . .
36) Magen von Gas ziemlich stark ausgedehnt, . . .
40) Dünndarm von Gas stark aafgetrieben, . . .
41) Diokdarm stark gashaltig,. . .
Unser vorläufiges Gatachten lautete folgendermassen:
1. Es handelt sich um dieLeiohe einer Kreissenden, die vor Vollendung
der Entbindung starb.
2. In Folge der vorgeschrittenen Fäalniss war die Todesursache, durch
die Section allein, nicht mehr mit Sicherheit festzustellen.
3. Ob es sich um Verblutung handelte, oder welches sonst die Todes¬
ursache war, und ob die Schuld eines Dritten an dem Tode vor¬
liegt, wird sich mit einiger Sicherheit erst nach Kenntnissnahme
der Vorgänge während des Gebäractes, bis zum Tode, beurtheilen
lassen.
Auf Befragen erklären wir noch, dass die Austreibung des Kindes aus dem
Leibe der mütterlichen Leiche erst im Sarge, durch Druok der Fäulnissgase,
stattgefunden hat').
*) Die Section der Fruoht wurde von Seiten des Gerichts nicht angeordnet,
und, deshalb von uns leider unterlassen.
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Dr. Moritz.
Nach der eingehenden Bespreohnng, welohe erat vor Kurzem (diese Viertel¬
jahrsschrift 1892, Bd. III, S. 38 ff.) Bl eis oh den Sarggebarten gewidmet hat,
habe ich über den vorbeschriebenen Fall nar wenig za sagen. Die Kreissende
starb vor der Gebart des Kindes; vom Tode bis zar Beerdigung vergingen drei
Tage; im Augenblick der Beerdigung selbst befand sich die Fruoht noch im
Mutterleibe. Dass hier an „postmortale Wehen“ (Reimann) gedacht werden
könnte, ist also absolut ausgeschlossen. Anderseits war eine so grosse Menge
von Fiiulnissgasen im Abdomen der Leiche vorhanden, und deren Druok ein so
grosser, dass dieser Druok zur Austreibung der normal gelagerten Frucht mehr
als hinreichen musste.
Wir hatten es also mit einem Falle von Sarggeburt zu thun, der zweifellos
ausschliesslich auf die Wirkung der Fäulnissgase zurüokzuführen ist.
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II. Oeffentliches Sanitätswesen.
l.
Berliner HerUlitätsttatistik toi acht Kraakheitca.
Von
Dr. ▼. Voller.
Für die medicinische Statistik ist die wichtigste Eigenschaft einer
Bevölkerung ihre Gesundheit. Dieselbe kann ziffernmässig nur in
negativem Sinne dargestellt werden, d. h. in der relativen Häufigkeit
der Krankheiten während eines gewissen Zeitabschnittes. Da aber
diese sogenannte Morbiditätsstatistik aus vielen Gründen stets ein
frommer Wunsch bleiben wird, so halte ich die Mortalitätsstatistik
für einen sichereren Gradmesser der Gesundheit einer bestimmten
Bevölkerung, sicherer hauptsächlich aus dem Grunde, weil die Con-
statirung der Todesursache weit weniger Irrthümern unterworfen ist
als diejenige der Krankheiten. Findet die Constatirung der Todes¬
ursache nur durch Aerzte statt, wie hier in Berlin, so wird dadurch
ein Material zusammen getragen, wie es sicherer und zuverlässiger
absolut nicht zu beschaffen ist und so spiegelt sich denn in den
statistischen Berichten der Stadt Berlin der Gesundheitszustand der
Bevölkerung möglichst naturgetreu in den Mortalitätstabellen wieder.
Für den Sanitätsbeamten haben nicht alle Todesursachen gleiches
Interesse, es stehen ihm im Vordergründe diejenigen, welche die Folge
ansteckender Krankheiten sind, weil die ev. Verhütung dieser letzteren
zu seinem eigentlichen Ressort gehört. So habe ich denn gerade auf
diese Todesursachen mein Augenmerk gerichtet und bin ihnen von
Monat zu Monat 10 Jahre lang gefolgt, indem ich die Aufzeichnungen
VlertoJjahrMChr. f. ger. Med. Dritte Folge. V. 1. 7
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Dr. v. Foller,
aus den Monats-Veröffentlichungen des Statistischen Amtes der Stadt
Berlin machte. Ich habe die wichtigsten der contagiösen Krankheiten,
7 an der Zahl, gewählt und ihnen nur noch den Brechdurchfall hin¬
zugefügt, weil dieser gerade hier in Berlin eine so bedeutende Rollo
spielt, — und vielleicht entpuppt er sich auch noch einmal als con-
tagiöse Erkrankung. Die Aufzeichnung umfasst das Decennium 1880
bis 1890 und habe ich die absoluten Zahlen jedesmal auch auf Pro¬
centmille der Bevölkerung berechnet, wobei die monatlich fortge¬
schriebene Einwohnerzahl benutzt wurde. Die Angabe in Procent¬
millen halte ich namentlich aus dem Grunde für sehr praktisch, weil
dadurch ein gemeinsamer gleichmässiger Maassstab gegeben und der
Vergleich sowohl der einzelnen Krankheiten untereinander als auch
der Jahres- und Monatsphasen ein und derselben Krankheit möglich
ist. Ich lasse zunächst die allgemeine Jahresübersicht folgen, die der
grösseren Klarheit wegen nur in Procentmillen gegeben ist.
(Siehe die Tabelle auf der nächsten Seite.)
Aus dieser Tabelle A. geht hervor, dass der Brechdurchfall weitaus prä-
dominirt, ja dass er selbst in seinem schlechtesten Jahrgang 1888 noch mehr
Berliner vernichtet bat als die Diphtherie io ihrem besten von 1883. Die Diph¬
therie, zu der ich die Todesfälle an Group, deren Zahl immer nur eine geringe
gewesen ist, hinzugezählt habe, weil die Differentialdiagnose beider eine preeäre
Sache ist, hat in den letzten 3 Jahren des qu. Decenniums abgenommen, ohne
dass sich ein Grund dafür finden lässt. Dasselbe findet für den Scharlach in den
letzten 4 Jahren statt. Ihm fast ebenbürtig erscheint der Keuchhusten, der vom
Jahre 1884 an ihn sogar überflügelt; in allen Jahrgängen ziemlich gleichmässig
arbeitend ruft er unsere Aufmerksamkeit wach, denn er tritt fast ebenso ver¬
nichtend wie der Scharlach auf und fordert daher die Sanitätspolizei zur Stellung¬
nahme heraus. Die Jahrgänge der Masern sind sehr verschieden und wechselnd;
auf ihr Verhältnis zum Scharlach komme ioh weiter unten noch zurück. Der
Abdominaltyphus war vom Jahre 1883 an im Niedergang begriffen; er hob sich
vom Jahre 1887 an wieder, ohne jedoch hohe Werthe zu erreichen. Das Puer¬
peralfieber zeigt niedrige Ziffern, namentlich in den letzten 3 Jahren, und selbst
wenn man sie doppelt so hoch nimmt, weil die weibliche Bevölkerung ungefähr
die Hälfte der ganzen Volkszahl ausmacht, so erreichen die Zahlen nur eine
mässige Höhe und dabei ist wohl noch zu vermuthen, dass bei der Diagnose viel
Fälle mit untergelaufen sind, die zweifelhafter Natur waren. Trotzdem von der
männlichen Bevölkerung Niemand an Wochenbettfieber sterben kann, halte ich
die Procentberechnung auf die Total-Einwohnerzahl für die richtigste, denn
erstens müsste man bei der Relation auf die nur weibliche Bevölkerung alle die¬
jenigen ausscbliessen, welche wie die Kinder und alle diejenigen, die überhaupt
garnicht in die Lage gekommen sind zu gebären, die Krankheit ebenso wenig
wie die Männer haben acquiren können, was von vornherein statistisch nicht zu
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Es starben in Berlin an
Berliner Mortalitätsstatistik von acht Krankheiten
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Dr. v. Folier,
erairen ist and ev. die Mortalität der Entbundenen an dieser Krankheit ergeben
würde — and zweitens will und muss der Statistiker wissen, welcher Bruohtheil
einer bestimmten Bevölkerung an den verschiedenen Krankheiten gestorben ist,
denn nur so erhält er eine einheitliche Uebersicht über die Macht der Todes¬
ursachen auf eine bestimmte Bevölkerung. Die Dysenterie ist in dem betreffenden
Jahrzehnt kaum zu rechnen, sie ist nie zu einer Epidemie angewachsen und in
den letzten 3 Jahren fast auf den Aussterbeetat gekommen.
Nach diesem allgemeinen Jahresüberblick gehe ich auf die Vertheilung der
Todesfälle der einzelnen Krankheiten auf die Monate über. Der Statistiker von
Faoh verlangt zwar die tägliohen Schwankungen, um, namentlich graphisch, ein
möglichst getreues Abbild zu bekommen, aber einmal sind dergleichen Dia¬
gramme sehr wenig übersichtlich und dann interessirt es auch den Medioiner
nicht, wie viel an jedem Tage an jenen Krankheiten gestorben sind, sondern die
Vertheiluog auf die verschiedenen Monate erscheint in ätiologischer Beziehung
weit wichtiger, abgesehen davon, dass tägliche Aufzeichnungen der Todesfälle
amtlich garnioht stattfinden.
Morbilli.
Die Acme der Todesfälle an Masern ist sowohl in die Sommermonate Mai,
Juni, Juli als auch in die Wintermonate Deoember, Januar gefallen, in manchen
Jahren tritt diese Acme 2 mal zu den obengenannten Zeiten ein, also sowohl im
Sommer wie im Winter. Das Jahr 1883 war ganz ausnahmsweise durch eine
sehr hohe Mortalität ausgezeichnet.
Scarlatina
Vergleicht man die Todesfälle an Scarlatina mit denen an Morbilli, so er-
giebt die Tabelle, dass gestorben sind in Procentmillen
an
Scarlatina
an Morbilli
im Jahre
1880
78,7
33,8
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79,2
17,8
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1882
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Demnach zeigt sich, dass die Todesfälle an Scarlatina seit dem Jahre 1884
bedeutend abgenommen haben, während das Sterben in Folge von Masern zuge-
') Versuchsweise habe ich die Tabelle des Scharlachs statt in rechtwinklige
Coordinaten in Polar-Coordinaten gezeichnet, was den Vortheil gewährt, dass
man die Uebergänge von einem Jahre zum anderen besser übersieht.
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UNIVERSUM OF IOWA
Berliner Mortalitätsstatistik von acht Krankheiten.
101
Todesfälle an Morbilli und ihr Verhältnis zur Einwohnerzahl
in Procentmillen.
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102
Dr. v. Foller,
nommen hat derartig, dass in manchen Jahren Berlin aa Masern mehr Seelen
verloren hat als an Scharlach. Während der letztere eine gefürchtete Krankheit
ist, gelten die Masern als leichte Erkrankung, und so sehr dies auch richtig sein
mag, wenn man die Todesfälle auf die Anzahl der Erkrankungen bezieht —
ziffermässig ist dies unmöglich, erstens weil eine Anzeigepflicht für Masern gar-
nicht existirt und zweitens weil, selbst wenn dies der Fall wäre, die Meldungen
von Erkrankungen überhaupt ein zu unvollständiges Material geben — so ist dies
vom hygienischen Standpunkt aus anders aufzufassen, denn es interessirt mehr,
zu eruiren, wieviel Berlin jährlich durchschnittlich an Scharlach, wieviel an
Masern verliert, als zu wissen, an Scharlach sterben von den Erkrankten soviel
Procent und an Masern soviel. Diese letzteren Zahlen werden stets die Masern in
rosigem Licht erscheinen lassen, während die oben angeführten die Frage nahe
legen, ob es nicht angemessen erscheine, dem Sterben an Masern wennmöglich
(durch Desinfection) Einhalt zu thun. — Die Acme des Sterbens an Scharlach
fiel in dem betreffenden Decennium in den October und November.
Diphtherie und Croup.
Die Acme der Diphtherie-Sterblichkeit fällt, wie die Tabelle zeigt, in die
Wintermonate October, November, December und Januar, im Sommer findet ein
ganz bedeutendes Sinken statt. Das Jahr 1883 ist wie bei den Masern durch
hohe Sterblichkeit ausgezeichnet gewesen. Nächst dem Brechdurchfall hat die
Diphtherie die höchsten Procentsätze und nur vom Jahre 1887 incl. ab sinken
die Procentmille unter 100.
Abdominal-Typhus.
Die Acme desselben fällt in den Augast, September und Ootober. Seit dem
Jahre 1883 ist die Sterblichkeit unter 20Procentmille pro anno heruntergegangen
und nur im Jahre 1889 ist sie wieder auf 22,3 gestiegen. Die Canalisation wird
gern mit dem Typhus in Connex gebracht und ein günstiger Einfluss auf ihn
präsumirt. Nach der Tabelle ist die Mortalität von 30,3 Procentmillen im Jahre
1882 auf 18,3 im Jahre 1883 gesunken und hat sich um diese Zahl herum bis
1889 incl. gehalten. Dieses plötzliche und fest bleibende Sinken lässt sich wohl
nicht mit der allmälig immer fortschreitenden Canalisation direct in ätiologisohe
Beziehung bringen, man müsste im Gegentheil erwarten, dass die Mortalität auch
allmälig nur von Jahr zu Jahr gesunken wäre. Es kommt dazu, dass derTyphus
ganz sporadisch über die ganze Stadt zerstreut in allen diesen Jahren aufgetreten
ist und ein stärkeres Ergriffensein der nicht canalisirten Gegenden keineswegs in
die Erscheinung getreten ist.
Tussis convulsiva.
Der Procentsatz der an dieser Krankheit Gestorbenen ist verhältnissmässig
reoht bedeutend. Das Jahr 1884 weist den grössten Procentsatz mit 43,4 Pro¬
centmillen, das Jahr 1882 den niedrigsten mit 24,7 Procentmillen auf, im Durch¬
schnitt starben von 100000 Einwohnern pr. pr. 30 an und io Folge dieser
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Berliner Mortalitätsstatistik von acht Krankheiten.
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Todesfälle an Scarlatina' und ihr Verhältniss zur Einwohnerzahl
in Procentmillen.
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Dr. v. Foller,
Todesfälle an Diphtherie und Croup und ihr Verhältniss zur
Einwohnerzahl in Procentmillen.
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Original from
UMIVERSITY OF IOWA
iphtherie und Croup.
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UMIVERSITY OF IOWA
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Dr. v. Foller,
Todesfälle an Typhus abdominalis und ihr Verhältnis zur
Einwohnerzahl in Procentmillen.
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UMIVERSITY OF IOWA
Berliner Mortalitätsstatistik von acht Krankheiten.
107
Todesfälle an Tussis convulsiva und ihr Verhältniss zur Einwohnerzahl
in Procentmillen.
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UNIVERSUM OF IOWA
108
Dr. v. Foller,
Krankheit. Die Acme fällt in den März and demnächst in die Wintermon&te
December und Jannar und in die Sommermonate Mai und Juli, nur einmal und
zwar im Jahre 1884 erreichte die Mortalität im August den absolut höchsten
Stand in den zehn Beobaohtungsjahren.
Febris puerperalis.
Der Procentsatz ist im Ganzen nicht bedeutend. Die Acme fällt in die
Wintermonate Januar, Februar, März, September, October und November, der
Monat Mai zeigt die wenigsten Sterbefälle.
Dysenterie.
Eine starke Epidemie ist in diesem zehnjährigen Zeiträume nicht aufge¬
treten, in den letzten 4 Jahren ist die Mortalität in keinem Monat auf 2. Procent¬
mille gestiegen. Die Acme fällt in die Monate Juli, August und September.
Brechdurchfall.
Der Prooentsatz dieser Krankheit ist der höchste von den 8 hier erwähnten
Krankheiten. Die Acme fällt in den Juli.
Nach den Procentsätzen geordnet folgen von den höheren zu den niederen
Sätzen herabsteigend die genannten Krankheiten in nachstehender Reihe:
1) Brechdurchfall,
2) Diphtherie und Croup,
3) Scarlatina,
4) Tussis convulsiva,
5) Morbilli,
6) Typhus,
7) Febris puerperalis,
8) Dysenterie.
Mit Bezug auf das Auftreten der Sterbefälle an diesen Krankheiten in den
verschiedenen Monaten bat sich ergeben, dass die Aome fällt:
für Brechdurchfall in den Monat Juli,
für Diphtherie und Croup in die Monate Januar, October, November
und December,
für Scarlatina in die Monate October und November,
für Tussis convulsiva in die Monate Januar, März, Mai, Juli und
December,
für Morbilli in die Monate Januar, Mai, Juni, Juli und December,
für Typhus in die Monate August, September und October,
für Febris puerperalis in die Monate Januar, Februar, März, September,
October und November,
für Dysenterie in die Monate Juli, August und September.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Berliner Mortalitätsstatistik von acht Krankheiten.
10»
Todesfälle an Febris puerperalis und ihr Verhältniss zur
Einwohnerzahl in Procentmillen.
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110
Dr. v. Foller
Todesfälle an Dysenterie und ihr Verhältniss zur Einwohnerzahl
in Procentmillen.
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8
TT
0,5
August ..
35
»
2,7
17
TT
1,3
7
TT
0,5
6
TT
0,4
5
TT
0,3
September
10
TT
0,8
20
TT
1.5
7
TT
0,5
6
TT
0.4
1
TT
0,1
October ..
2
TT
0,1
16
TT
1.2
2
TT
0,1
3
TT
0,2
1
TT
0,1
November
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TT
0,1
1
TT
0,1
0
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2
TT
0,1
0
TT
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December
2
TT
0,1
0
TT
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0
TT
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0
TT
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1
TT
0,1 .
Summa
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=
6,3
72
=
5,4
25
=
1,8
22
=
1,5
20
=
1.4
□ igitized by Go gle
Original from
UNIVERSITY OF fOWA
Berliner Mortalitätsstatistik von acht Krankheiten.
111
Todesfälle an Darm-, Magen- und Darm-Katarrh, Brechdurchfall und
ihr Verhältnis zur Einwohnerzahl in Procentmillen.
1 S 8 0
18 8 1
18 8 2
18 8 3
1 8 S 4
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pCt.-M.
pCt-M.
pCt.-M.
pCt.-M.
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65
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ft
6,8
März.
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fl
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fl
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fl
10,1
Mai.
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fl
27,1
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n
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w
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ft
20.3
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1390
ft
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TI
68,9
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ft
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fl
80,4
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fl
44,0
Juli.
1814
W
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112,7
2227
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w
136,6
August ..
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n
74,2
845
ff
74,1
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w
73,1
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ft
51,9
1349
ff
108,0
September
794
ft
71,8
257
n
22,5
454
fl
38,7
446
n
36,9
708
fl
57,0
October ..
284
»
25,7
128
fl
11,2
281
fl
23,9
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fl
16,8
267
n
21,4
November
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8,1
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131
n
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fl
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n
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December
80
n
7,2
78
fl
6,8
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fl
7,2
135
ff
11,2
67
ft
5,3
Summa
5964
=
539,0
4738
=
415,4
4555
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5244
=
433,8
5385
=
432,5
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18 88
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pCt.-M.
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pCt.-M.
pCt.-M.
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90
=
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Februar..
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=
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4376
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3939
=
272,9
6383
=
428,8
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Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
112
Dr. v. Foller.
Könnte man nach dem Ergehniss dieser zehnjährigen Periode weiter
schliessen, so würde man za erwarten haben
im Janaar viel Todesfälle an Diphtherie und Croup, Tussis convulsiva,
Morbilli, Febris puerperalis,
im Februar desgleichen an Febris puerperalis,
im März desgleichen an Tussis convulsiva, Febris puerperalis,
im Mai desgleichen an Tussis convulsiva, Morbilli,
im Juni desgleichen an Morbilli,
im Juli desgleichen an Brechdurchfall, Tussis convulsiva, Morbilli,
Dysenterie,
im August desgleichen an Typhus und Dysenterie,
im September desgleichen an Typhus, Febris puerperalis und Dys¬
enterie,
im Ootober desgleichen an Diphtherie und Croup, Scarlatina, Typhus,
und Febris puerperalis,
im November desgleichen ao Diphtherie und Croup, Scarlatina und
Febris puerperalis,
im December desgleichen an Diphtherie und Croup, Tussis convulsiva
und Morbilli.
Der Monat April wäre demnach für die Gesundheit mit Bezug auf die in
Rede stehenden Krankheiten der bestsituirte und nach ihm kämen Februar und
Juni, während die ungünstigsten Januar, Juli, September, October, November
und December wären und die Monate März, Mai und August in der Mitte lägen.
Eine solche Schlussfolgerung ist jedoch in der Statistik nicht zu¬
lässig, wenigstens genügt ein Zeitraum von 10 Jahren nicht dazu. Im
Laufe von mehreren Jahrzehnten kann sich andererseits in Berlin, der
in hygienischer Beziehung so rastlos fortschreitenden Stadt, so Vieles
in sanitärer Richtung verändern, dass der Verlauf der Krankheiten
völlig modificirt wird und dadurch eine Beurtheilung in die Zukunft
auch ihr Missliches hat. Ein dringendes Bedürfniss, vorher zu wissen,
in welchen Monaten diese oder jene Krankheit die meisten Opfer ver¬
langt, würde auch erst dann eintreten, wenn wir ein sicheres Prophy-
lacticum gegen dieselbe haben und dieses entweder in genügender
Menge zur bestimmten Zeit parat gehalten werden muss, oder zu
seiner Wirkung einer gewissen Frist bedarf, und daher rechtzeitig an¬
gewendet werden muss.
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Gck igle
Original from
UNIVERSITÄT OF IOWA
! lerteljahrssc/w /?e/<
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Original frnm
UMIVERSITY OF IOWA
Vierteljahi'ScJri' FgenMed. Dritte Folge.
Ta fe l H
Typhus abdominalis.
_ 1880
_ 188 /
□ igitized by l
.1882. _ 188 / /. _ 1886. 1888
1883. _ 1885. _ 1887. 1889.
^ Original from
u n i v e r s
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Original frnm
UMIVERSITY OF IOWA
2 .
(Aus der medicinischen Universitätsklinik des Herrn
Geheimrath Prof. Ebstein):
Me KebleaexydgasTergiftiag u4 die n deren Verhütug
geeigneten saaitätspalixeilichea Haagsregeln.
Von
Dr. med. Ernst Becker,
ehern. Assistenzärzte.
I. Einleitung.
Von sämmtlichen Vergiftungen ist, wie man statistisch nach-
weisen kann, diejenige durch Kohlenoxyd die bei Weitem häufigste.
Beispielsweise kamen in den grösseren Krankenhäusern und in dom
Institut iür Staatsarzneikunde in Berlin während der Jahre 1876 bis
1878 im Ganzen 432 Vergiftungen und 282 Todesfälle zur Beob¬
achtung, worunter sich nicht weniger als 155 durch Kohlenoxyd
finden, von welchen 118 tödtlich verliefen, was, auf die Gesammt-
zahl von nicht tödtlichen und tödtlichen Fällen berechnet, einen Pro¬
centsatz von 36 bezw. 42 pCt. ergeben würde. Zwar hat die Zahl
der in die Berliner Morgue eingelieferten Leichen in den Jahren 1876
bis 1882 im Allgemeinen abgenommen (40, 36, 27, 32, 27, 8, 15),
allein die Summe von diesen 185 Todesfällen auf die in diesen
7 Jahren secirten 431 Leichen Vergifteter berechnet, ergiebt trotzdem
fast 43 pCt. der Gesammtzahl. Die Höhe dieser Ziffern wird viel¬
leicht dadurch noch besser beleuchtet, dass nach derselben Zusammen¬
stellung auf Cyankali 17 pCt., auf Oxalsäure und oxalsaures Kali
9 pCt., Alkohol 7 pCt., Schwefelsäure 5 pCt., Phosphor und Blau¬
säure etwa je 3 pCt. und auf Morphin, Arsenik und Strychnin nur
Viertoljahmchr. f. gnr. Med. Dritte Folge. V. 1. 8
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Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
114
Dr. Becker,
je 2 pCt. kommen 1 ). Offenbar entzieht sich aber noch ein grosser
Theil der tödtlichen Kohlenoxydvergiftungen der behördlichen Kennt-
niss, da in nicht wenigen Fällen die äusseren Umstände die Todesart
nicht verrathen. „Die Leichen werden todt im Bett, in einer Sopha-
ecke sitzend, an der Erde liegend nach 24, 48 Stunden gefunden.
Etwaiger Kohlendunstgeruch hat sich längst verzogen, der besichti¬
gende Arzt bescheinigt den beliebten „Schlagfluss“, und die Leiche
wird beerdigt, wenn nicht die jetzt schon gewitzigten Polizeibeamten
umsichtiger sind, als der Arzt“. Die Worte Liman’s 2 3 ) legen zu¬
sammen mit den angeführten statistischen Belegen die Nothwendig-
keit eines genauen Studiums der Kohlenoxydvergiftung in überzeugen¬
der Weise dar.
II. Eigenschaften des Kohlenoxydes.
Das Kohlenoxyd (CO) ist ein färb- und geruchloses Gas von
0,967 spec. Gewicht, das sehr schwer eondensirbar und in Wasser
wenig löslich ist. Es verbrennt angezündet mit schwach leuchtender,
bläulicher Flamme zu Kohlensäure (C0 2 ) und entzieht in der Hitze
vielen sauerstoffhaltigen Körpern den Sauerstoff; es ist also ein kräf¬
tiges Reductionsmittel. Kohlenoxyd entsteht überall, wo Kohlenstoff
bei ungenügendem Zutritt von Sauerstoff verbrennt, und ist ausser¬
dem ein Bestandteil des Leuchtgases.
UI. Theorieen der Wirkling.
Die Aufnahme dieses Giftes in den thierischen Organismus ge¬
schieht durch die Athmung: es diffundirt von der Lungenoberfläche
aus in die Capillaren und gelangt somit direct in das Blut. Gross
ist die Zahl der Forscher, zahlreich ihre Experimente, welche den
Eintritt und die Ausscheidung, vornehmlich aber das Verhalten dieses
Giftes im Körper klar zu legen bemüht waren. Und trotzdem ist
durch sie eine Uebereinstimmung darüber, worin die Giftigkeit des
Gases eigentlich beruhe, keineswegs erzielt worden. Während näm¬
lich die Einen (Friedberg*), Pokrowsky 4 ) u. A.) die Kohlen-
1 ) Leas er, Atlas der gerichtlichen Medicin. Erste Abtheilung. S. 1, 41
und 141.
2 ) C&sper-Liman, II. Bd. S. 598.
3 ) Friedberg, Die Vergiftung duroh Kohlendunst. Berlin 1866.
4 ) Pokrowsky, Virohow’s Arohiv. 30. Bd. 1864.
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Die Kohlenoxydgasvergiftung und deren Verhütung.
115
oxydvergiftung als eine durch Sauerstoffmangel erzeugte Erstickung
auffassen, legen Andere (Klebs •)) das Hauptgewicht auf Störungen
im Blutkreisläufe (Atonie der Gefässmuskeln), die unabhängig von
der Sauerstoffverarmung als eine specifische Wirkung des Kohlen¬
oxydes zu betrachten seien, oder sie lassen das Gift nach Art eines
Narcoticums auf das Centralnervensystem einwirken (Siebenhaar
und Lehmann 2 ), Geppert 3 )). Die ersterwähnte Auffassung scheinen
die meisten Forscher heutzutage zu theilen. (Wir werden darauf später
zurückkommen.) Die blosse Erwähnung dieser Meinungsverschieden¬
heiten mag indessen genügen; in eine Discussion über dieselbe ein¬
zutreten, dürfte ausserhalb des Umfanges dieser Arbeit liegen.
I?. Aetiologie der Kohlenoxydvergiftungen.
Chemisch reines Kohlenoxyd wird nur äusserst selten Ver¬
anlassung zu Vergiftungen. In den meisten Fällen ist es mit
anderen zum Theil ganz indifferenten, zum Theil gleichfalls schäd¬
lichen Gasen vermengt, so dass man streng genommen nicht von
eigentlicher Kohlenoxydvergiftung sprechen kann. Doch hat einerseits
eine vielfältige Erfahrung gezeigt, andererseits haben die klassischen
Versuche von Biefel und Poleck direct bewiesen, dass die Gefähr¬
lichkeit solcher Gasgemenge unzweifelhaft auf der Anwesenheit des
Kohlenoxydes beruht, während die beigemischten Gase in den vor¬
handenen Mengen an und für sich kaum sichtbare Störungen be¬
dingen. Man kann daher von ihnen bei der Beurtheilung der Ver¬
giftungswirkungen völlig absehen.
Diejenigen Gasgemenge aber, welche hier in Frage kommen, sind:
1) der Kohlendunst,
2) das Leuchtgas,
3) das Wassergas und verwandte Producte und
4) die Minengase.
1. Kohlendunst.
Unter Kohlendnnst verstehen wir mit Biefel und Poleck 4 ) die durch
unvollkommene Verbrennung von Kohlen veränderte Zusammen-
! ) Klebs, Virohow’s Archiv. 32. Bd. 1865.
3 ) Siebenhaar u. Lehmann, Die Kohlendunstvergiftung. Dresden 1858.
*) Geppert, D. med. Wooh. 1892. S. 418.
4 ) L. o. S. 238.
8 *
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Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
116
Dr. Becker,
Setzung der atmosphärischen Luft eines abgeschlossenen Raumes.
Da die chemisohen Analysen dieses Gasgemisches, welche zwar vielfaoh ausge¬
führt wurden, theils unvollständig, theils ungenau waren, so unternahmen es
diese Forscher, die Versuche zu wiederholen. Die aus 8 Analysen berechnete
mittlere Zusammensetzung des Kohlendunstes, deren Zahlen wenig vom Mittel
abweichen, ergab in 100 Volumtheilen *):
Kohlensäure .... 6,75 pCt.
Kohlenoxyd. 0,34 pCt.
Sauerstoff.13,19 pCt.
Stiokstoff. 79,72 pCt.
Das Kohlenoxyd fand sich in den 8 Analysen zu 0,16—0,18—0,19—0,26
— 0,30—0,44—0,56 bis zu 0,62 pCt. im Kohlendunste vor. Vergleicht man
diese Zahlen mit der normalen Zusammensetzung der atmosphärischen Luft:
Kohlensäure .... 0,04 pCt.
Sauerstoff. 20,95 pCt.
Stickstoff.79,01 pCt.
so ergiebt sich, dass im Kohlendunste bei fast unverändertem Stickstoff der Sauer¬
stoffgehalt wesentlich vermindert ist; für den Verlust sind fast gleiohe Prooente
Kohlensäure eingetreten. Den Kohlenoxydgehalt des Kohlendunstes haben Biefel
und Poleck wesentlich niedriger gefunden, als z. B. Eulenberg, dessen Ana¬
lyse in die meisten Handbücher (Casper-Liman, Maschka, Ziemssen u. A.)
aufgenommen ist. Derselbe fing nämlich den Kohlendunst in der Weise auf, dass
er über ein Becken mit glühenden Kohlen ein grosses thönernes Gefäss in Zucker¬
hutform so aufsetzte, dass der Zutritt der atmosphärischen Luft nur spärlich er¬
folgte. Er fand in dem aufgefangenen Gasgemenge 0,52—5,4 pCt., im Mittel
2,54 pCt. Kohlenoxyd. Indessen entspricht doch die Versuchsanordnung nicht
den thatsächlichen Verhältnissen bei der Kohlendunstvergiftung, wo sioh das
Kohlenoxyd in mehr oder weniger ausgiebiger Weise mit der atmosphärischen
Luft mischen kann, was bei Eulenberg’s Versuchen ausgeschlossen war; bei
denselben handelt es sich vielmehr um ein sauerstofffreies Gemisch von Kohlen¬
oxyd, Kohlensäure und Stickstoff. Auch lassen die grossen Schwankungen des
procentischen Gehaltes an Kohlenoxyd — das Maximum beträgt mehr, als das
lOfache der Minimalmenge — die Analyse weniger werthvoll, als die von Biefel
und Po leck erscheinen. Immerhin würden sich die Differenzen in der Zu¬
sammensetzung des Kohlendunstes bis zu einem gewissen Grade durch die wech¬
selnde Menge des bei der Verbrennung zutretenden Sauerstoffs erklären lassen;
denn je weniger Luft zutreten kann, desto ungenügender wird die Verbrennung
und desto grösser wird der Gehalt an Kohlenoxyd ausfallen und umgekehrt.
Das todtbringende Gas im Kohlendunste ist das Kohlenoxyd; von den übri¬
gen Bestandtheilen könnte nur noch die Kohlensänre in Frage kommen. Indessen
haben besonders Biefel und Poleok, welche die einzelnen Bestandtheile des
Kohlendunstes gesondert auf ihre Versuchsthiere einwirken liessen, bewiesen, dass
der Tod durch das Kohlenoxyd herbeigeführt wird, und der gleichzeitig be¬
stehende Sauerstoffmangel und die Kohlensäure Überladung nur unterstützend
') L. c. S. 339.
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Original frnm
UMIVERSITY OF IOWA
Die KohlenoxydgasvergiftuDg und deren Verhütung.
117
dabei wirkt 1 ). Dem entspricht auch die Thatsache, dass Liman 2 ) in sämmt-
liehen beobachteten Todesfällen Kohlenoxyd im Blute nachzuweisen vermochte,
woraus er mit Recht den Schloss zieht, dass auch der Tod daroh dasselbe be¬
dingt war.
Eulenberg 3 ), weloher den aus verschiedenen Brennmaterialien ent¬
wickelten Kohlendunst analysirte, kommt zu folgenden Ergebnissen: Im Holz¬
kohlendampfe finden sich Kohlenoxyd, Kohlensäure und Ammoniak (in geringen
Mengen), im Steinkohlendampfe bisweilen geringe Mengen Schwefel Wasserstoff,
schweflige Säure und gelegentlich auch Arsen; der Coaksdunst ist reich an
Kohlensäure und schwefliger Säure, und bei unvollkommener Verbrennung ent¬
hält er sehr grosse Mengen Kohlenoxyd, sodass er als der gefährlichste
Kohlendampf zu betrachten ist. Im Braunkohlendampfe finden sich Kohlen¬
oxyd, Ammoniak und schweflige Säure. In dem Dampfe des friesländischen
Torfcoaks konnte Eulenberg ausser Kohlenoxyd eine grosse Menge Cyan
nachweisen, das, wie er glaubt, vielleicht eine Art Gegengift zum Kohlenoxyd
darstellt, da einmal erfahrungsgemäss in Holland fast nie Vergiftungen durch
Torfooaksdämpfe Vorkommen sollen, und andererseits Eulenberg’s Versuchs¬
tiere die Einwirkung des Torfooaksdampfes besser, als alle anderen Dunstarten
vertrugen. Die Thatsache hält Eulenberg jedenfalls für sicher, dass ceteris
paribas der Dampf aus Torfcoaks der unschädlichste, der aus Coaks dagegen
der gefährlichste Koblendunst ist.
Es ist irrig, zu glauben, dass in einem Raume, in welchem Kohlendunst
verbreitet ist, ein brenzlicher Geruch wahrgenommen werden müsse, und dadurch
das gefährliche Gas erkannt werden könne. Vielmehr ist reiner Kohlendunst,
ebenso wie Kohlenoxyd, geruchlos und daduroh besonders gefährlich. Indessen
kann er, zumal im Anfänge der Entwickelung, daroh Beimengung von stark
riechenden brenzlichen Produkten und Rauch einen brandigen, beklemmenden,
die Schleimhaut der Athemwege stark reizenden Geruch annehmen. Letztere sind
zwar häufige, aber nur zufällige Begleiter des Kuhlenoxydgases, keineswegs aber
nothwendige. Ebenfalls können demselben gelegentlich Russ und feinste Kohle-
theilchen beigemengt sein. Es ist leicht verständlich, dass die Kenntniss dieser
Thatsache für den Geriohtsarzt von der grössten Bedeutung ist, da nicht selten
Fälle Vorkommen, wo Leichen im Zimmer aufgefonden werden, und der Kohlen-
dunst entweder frei von riechenden Produkten war, oder der Geruch sich längst
wieder verzogen hatte, und trotzdem der Tod durch Kohlenoxyd herbeigeführt
war. In zweifelhaften Fällen wird die Todesursache dann noch durch die
Leiohenuntersuchung festgestellt werden können.
Vergiftungen mit Kohlendunst kommen in der mannigfachsten Weise
sowohl im häuslichen, wie industriellen Betriebe zu Stande.
In ersterer Beziehung hat am häufigsten eine fehlerhafte Anlage oder eine
unvorsichtige Handhabung der Heizvorrichtungen die schlimmsten Folgen
gehabt. Aus ökonomischen Gründen ist es nämlich wünsohenswerth, dass man
*) L. o. S. 356.
2 ) L. o. S. 597.
3 ) Eulenberg, Gewerbehygiene. S. 345.
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Original frnm
UMIVERSITY OF IOWA
118
Dr. Becker.
den Verbrennuogsvorgang im Ofen za reguliren vermag, indem man einerseits
durch Behinderung des Ueberganges der Heizgase und des Rauches nach dem
Schornsteine den Luftzutritt zur Feuerung vermindert, und so die Verbrennung
verlangsamt oder ganz unterbricht, andererseits aber nach Beendigung des Ver¬
brennungsvorganges die im Ofen aufgespeicherte Wärme davor schützt, dass sie
durch die einströmende kältere Luft nach dem Schornsteine entführt wird. Diesen
Zwecken entsprach in früherer Zeit ausschliesslich die Ofenklappe. Der su
frühzeitige Verschluss derselben hat einen Austritt von Heizgasen und Rauch aus
dem Ofen nach dem beheizten Raume zur Folge. Im Jahre 1876 sind in Berlin
47 Todesfälle durch Kohlenoxydvergiftung vorgekommen, von welchen mit einiger
Sicherheit zum mindesten 30 auf einen unvorsichtigen Gebrauch der Rauchrohr-
klappen zurückgefübrt werden können •).
Allein auch aus Oefen, welche ontweder gar keine Ofenklappen besitzen,
oder wo dieselbe gar nicht abgesperrt wurde, kann Kohlenoxyd ausströmen,
wenn die Rauchrohre durch Russ verlegt ist, oder wenn die Verbrennungsgase
durch heftigen Wind in den Ofen zurüobgetrieben werden. Dabei mag die Heiz-
thör selbst gut scbliessen. Jeder Ofen besitzt ausserdem in seinen Fugen un¬
dichte Stellen genug, durch welche die schädlichen Gase in den Wohnraum ge¬
langen können.
Das Aastreten derselben soll nach Meidinger 3 ) auch bei den sogenannten
Füllöfen erfolgen können, da man iu denselben, um einen möglichst hohen Heiz¬
effect zu erzielen, stets nur ein schwaches, langsam brennendes Feuer zu unter¬
halten pflegt. Da in Folge dessen die Verbrennungsprodukte nur mit wenig
hoher Temperatur in den Schornstein ziehen, so wird die in demselben befind¬
liche Gesammtwärme nur wenig sich über die der äusseren Luft erheben, und
folglich auch der „Zug“ im Kamine nur gering sein. Wenn nun bei Witterungs¬
wechsel die Wärme der Aussenluft rasch um viele Grade steigt, so soll die Tem¬
peratur im Ionern des Kamins von derjenigen der äusseren Luft übertroffen
werden können. Bei allmäliger Abnahme des Zages und damit auoh der Stärke
der Verbrennung im Ofen soll sich zuletzt ein niedergehender Zug bilden, der
die Ofengase in den Wohnraum treibt. Durch Oeffnen von Thüren und Fenstern
kann man am Tage die Gefahr der Kohlendunstvergiftung vermeiden, dagegen
befinden sich Schlafende dem Fällofenbetriebe gegenüber völlig hilflos, da ihnen
der Geruch der aasströmenden Ofengase nicht zum Bewusstsein kommt.
Der über Nacht brennende Füllofen kann aber auch den Bewohnern anderer
Stockwerke gefährlich werden, wenn gemeinsame Schornsteine die Verbrennungs¬
gase verschiedener Stockwerke aufnehmen und wegführen. Denn damit ist die
Möglichkeit gegeben, dass der Rauch ans einem oberen Stookwerke in einem un¬
teren aastritt und umgekehrt. Wenn nun auch Meidinger*) zwei Fälle der
Art erzählt und dabei auf die Gefahr des Füllöfen-Feuerns während der Naoht
aufmerksam maoht, so scheint dieselbe doch nicht allzu erheblich zu sein. Denn
*) Wolffhügel, „Heizung“ in Eulenberg’s Handbuch der öffentlichen
Gesundh. Berlin 1881. Bd. II. S. 38.
2 ) Meidinger, I. o.
*) L. o. S. 325.
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Original frnm
UNIVERSITÄT OF IOWA
Die Kohlenoxydgasvergiftung and deren Verhütung.
119
sonst müssten sioh doch bei der grossen Verbreitung der Füllöfen in den letzten
10 Jahren derartige Unglüoksfälle häufiger ereignet haben. Aach dürfte wohl eia
niedergehender Zag in der Heizanlage in Folge eines nächtlichen Witterungs¬
wechsels schon deshalb za den grossen Seltenheiten gehören, weil in der Regel
des Naohts die Aassenwärme noch niedriger, als am Tage ist.
Besonders haben aber die neaerdings so beliebten, transportablen kleinen,
sogen. Sparöfen ohne Abzugsrohr bereits mehrfach schwere Vergiftungen, selbst
Todesfälle herbeigeführt. Hierher gehört aach der von Alwin Nieske in
Dresden in den Handel gebrachte Carbon-N&tron-Ofen, der jetzt in 3 ver¬
schiedenen Constrnctionen für gut gelüftete Räume, Zimmerheizung und Bade¬
zimmer hergestellt wird, und dem der Fabrikant jetzt, wohl gewitzigt durch
die mancherlei Unglücksfälle, ein Blechrohr zum Ableiten der Verbrennungsgase
durch eine Oeffoung im Fensterrahmen beigiebt. Da sich indessen in dem Rauch¬
rohre eine Ofenklappe findet, so kann man auch diese Aenderung durchaus nicht
als einen Fortschritt begrüssen. Petri*) konnte in der Zimmerluft bei dieser
Heizungsart Kohlenoxyd naohweisen, seine Mäuse starben darin nach 2—3 Std.;
Aug. Pfeiffer l 2 ) zeigte durch einen einfachen Versuch (indem er ein brennen¬
des Streichholz über den Ofen hielt, welches sofort verlöschte) das Aastreten der
Verbrennungsgase selbst bei völlig geöffnetem Rauchrohre, und Wolpert wäre
bei einem Versuche, sioh von der Unschädlichkeit des Ofens zu überzeugen, bei¬
nahe selbst ein Opfer des entströmenden Gases geworden. Auoh die Acadämie de
mddecine in Paris hat auf Lanoeraux’ ausführlichen Berioht hin den Gebrauoh
transportabler Oefen prinoipiell verworfen und vor der Verwendung gewarnt 3 ).
Man hat ferner geglaubt, dass auoh eiserne Oefen, zumal die gusseisernen,
sobald sie glühend geworden sind, selbst bei unverschlossenem Abzugsrohre das
Kohlenoxyd entweichen lassen und dadurch die Gesundheit sobädigen. Den An¬
lass zu dieser Auffassung gab Dr. Garret in Chamböry, weloher im Jahre 1865
in einem Briefe an die französische Aoademie die Mittheilung machte, dass er
an 2600 Individuen in Savoyen eine eigenthümliche, dem Typhus ähnliche
Krankheit beobachtete, als deren Ursache er das den eisernen Oefen entströmende
Kohlenoxyd verdächtigte. Indessen ist Garret mit seinerAnsicht doch vereinzelt
geblieben, um so mehr, da ihm nacbgewiesen wurde, dass die fragliche Epidemie
im Juni aufgetreten war, also wohl schwerlich durch glühende Eisenöfen in An¬
betracht der Jahreszeit hatte erzeugt werden können. Trotzdem begegnete man
nooh hie und da der Warnung vor glühenden eisernen Oefen als der Quelle von
Kohlenoxyd (Fodor), bis im Jahre 1878 besonders durch Wolffhügel’s 4 )
Untersuchungen festgestellt wurde, dass bei tadellosem Zustande der Oefen keine
Spur von Kohlenoxyd denselben entströmen kann, um so weniger, als hier ein
kräftiges Saugen bezw. ein starker Zug stattfindet; ausserdem entwickeln sich
bei einem ergiebigen Luftzuge kaum Spuren von Kohlenoxyd im Ofen. Nur dann
kann dies Gas sioh bilden, wenn sich Staub auf den glühenden Eisenplatten ab-
l ) Petri, Deutsche Medioinalzeitnng. 1888. S. 1078.
*) Pfeiffer, Industrieblätter. 1888. S. 345.
*) Sohmidt’s Jahrbücher. Bd. 222. S. 266. 1889.
4 ) Zeitschrift für Biologie. XIV. Bd. S. 523.
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120
Dr. Becker,
lagert; indessen ist unter gewöhnlichen Verhältnissen die Menge desselben so
gering, dass von einer schädlichen Einwirkung kaum die Rede sein kann.
Wolffhügel 1 ) wies ferner nach, dass Beobachtungen von Kaiser und Votiert,
welche bei Luftheizungen Kohlenoxyd in der Heizluft nachgewiesen haben wollten,
nicht beweiskräftig sind, da in diesen Fällen der Betrieb naohweislioh ein an¬
reinlicher, oder die Caloriferen defect gewesen waren. Wir müssen daher das
Austreten des Kohlenoxydes aus glühenden Eisenöfen bei ordnangsmässiger
Handhabung derselben entschieden in Abrede stellen und können darin eine
Quelle der Kohlendunstvergiftung nicht sehen.
Nicht selten sind verborgene Brände von Balken unter dem Fussboden
oder in den Wänden der Wohnungen Veranlassung zu Unglöoksfällen geworden,
indem der Kohlendunst durch Thüren, Fussböden, ja sogar duroh die Mauern in
die Nachbarräume eindrang und selbst tödtliche Vergiftungen zur Folge hatte,
ohne dass sich in dem betreffenden Raume die Quelle des giftigen Gases naoh-
weisen liess. Solche Fälle sind in forensisoher Beziehung von der grössten Be¬
deutung.
Auoh die Verwendung von offenen Kohlenbecken führt zumal dann,
wenn der Sauerstoffzutritt behindert ist, nicht selten mehr oder weniger sohwere
Vergiftungen herbei. So erzählt Blumenstook 3 ) einen Fall, wo ein Arbeiter
in einen tiefen Brunnenschacht zur Winterszeit hinabgestiegen war, um dort eine
schadhaft gewordene Stelle auszubessern. Er hatte dabei das zum Erwärmen der
Löthkolben dienende Kohlenbecken auf dem Grande des Brunnens aufgestellt und
oberhalb desselben gearbeitet. Er wurde leblos heraufbefördert. Ebenso ereignen
sich garnicht selten Vergiftungen, wenn bei geschlossenen Fenstern und Thüren
die zum Bügeln der Wäsohe dienenden Eisen auf offenem Kohlenbecken heiss ge¬
halten werden.
Abgesehen von diesen öconomischen Vergiftungen giebt es eine nioht unbe¬
trächtliche Anzahl von Gewerben und Fabricationszweigen, welche mit
der Gefahr der Einathmung kohlenoxydhaltiger Gasgemenge verbunden sind. Hier
sind in erster Linie die in Eisenhütten beschäftigten Arbeiter gefährdet. Die aus
den Hochöfen entweichenden sogenannten „Gichtgase“ sind es, welohe neben
Kohlenwasserstoffen und Stickstoff auoh bedeutende Mengen Kohlenoxyd ent¬
halten. Während man nun dieselben früher einfaoh entweiohen liess, leitet man
sie jetzt allgemein in die Feuerung, um sie wegen ihres hohen Gehaltes an
Kohlenoxyd als Heizmaterial zu verwenden. Unglüoksfälle können dabei ent¬
stehen durch das Entweichen der Gichtgase infolge von Rissen des Ofens oder
Undichtweiden der Ableitungsrohre. Auch diejenigen Arbeiter, welohe den
Sohacht von den sich daran absetzenden Russ und fremden Körpern zu reinigen
haben, unterliegen der Gefahr der Kohlenoxyd Vergiftung.
Die gleichen Gasgemenge treten bei der Bereitung des Goaks durch trookene
Destillation der Steinkohle auf und können gelegentlich gefährlich werden. Einen
sehr interessanten Fall derart erzählt Greift 3 ). Ein Arbeiter war in eine guss-
‘) W. in Eulenberg’s Handbuch der öffentl. Gesundheitspfl. Bd.II. S.45.
2 ) L. c. S. 533.
3 ) Greiff, 1. o. Bd. 52. S. 359.
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Die Kohlenoxydgasvergiftung und deren Verhütung.
121
eiserne Retorte von 4 cbm Inhalt duroh das Mannloch gekroohen, um dort mit
einem Meissei die zusammengebackene und erkaltete Schlaokenmasse in Siüoke
zu schlagen und dann herauszubefördern, und war dabei umgekommen. Die
ohemisohe Untersuchung der Coaksmasse ergab einen Gehalt von 10,7 pCt.
Kohlenoxyd. Offenbar waren duroh das Losschlagen Hohlräume in der Masse er¬
öffnet, die mit Gas angefüllt waren. Dies hatte aber wegen der ungenügenden
Ventilation in der Retorte — dieselbe war innerhalb 14 Tage nach der letzten
Operation vollständig abgekühlt, und draussen herrschte eine sehr drückende,
schwüle Luft — nur sehr langsam entweichen können und dadurch bei seinem
hohen Gehalte an Kohlenoxyd den Tod des Mannes herbeigeführt.
Ferner ist bei der Ueberführung des Holzes in Holzkohle in den Meilern die
Möglichkeit zu einer Vergiftung duroh Kohlenoxyd gegeben, aber thatsäohlicb
nur bei -der allergrössten Unvorsichtigkeit der Köhler in sehr seltenen Fällen
beobachtet, wenn sioh z. B. ein Arbeiter auf dem Meiler zum Schlafen nieder¬
gelegt hatte'). Auch in Ziegel- und Kalkbrennereien sind gelegentlich Arbeiter
duroh den aus den Ofen entweichenden Kohlendunst vergiftet worden.
Endlich ist das Kohlenoxyd ein wichtiger Bestandtheil der in Bergwerken
vorkommenden sohlagenden Wetter und entwickelt sioh, wenn in unter¬
irdischen Räumen Feuersbrünste entstehen. Die Zusammensetzung eines von
Poleck 3 ) untersuchten Gasgemisohes aus der „Vereinigten Glüokhilf-Grube“ zu
Hermsdorf bei Waldenburg in Schlesien war folgende:
Kohlenoxyd .... 1,87 pCt.
Kohlensäure .... 41,49 pCt.
Methan. 32,65 pCt.
Aethan. 3,99 pCt.
Stickstoff. 20,00 pCt.
Die bei den in jener Streoke beschäftigten Arbeitern beobachteten Krankheits-
ersoheinungen konnten indessen nicht aussohliesslioh dem Kohlenoxyd zur Last
gelegt werden, sondern mussten gleichzeitig als duroh die beträchtliche Vermin¬
derung des Sauerstoffs und den hohen Gehalt an Kohlensäure bedingt angesehen
werden.
2. Leuchtgas.
Das zweite wichtige kohlenoxydhaltige Gasgemenge ist das Leuohtgas.
Dasselbe wird bekanntlich durch trockene Destillation der verschiedensten Brenn¬
materialien, meist der Steinkohle, gewonnen und, bevor es in dem Gasometer ge¬
sammelt wird, noch von einer Reihe unbrauohbarer Nebenproducte, zumal nicht
brennbarer, gasförmiger Substanzen befreit. Diese Reinigung geschieht in der
Weise, dass das Leuchtgas durch Berührung mit Coaks und Wasser gewaschen
und zuletzt in den sogenannten „ Reinigungskästen“ der Einwirkung von mit
wenig Wasser gelöschtem Kalke ausgesetzt wird. Dieser nimmt die grösste Masse
der vorhandenen Mengen von Kohlensäure, Ammoniak, Cyan, Stickstoff und
Sohwefelverbindungen auf und muss daher, sobald er unwirksam geworden ist,
*) Eulenberg, Gewerbehygiene. S. 342.
3 ) L. o. S. 6.
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122
Dr. Becker,
durch neuen ersetzt werden. Aus dem Reinigungsapparate gelangt das Gas in
den Gasometer und dann mittelst Rohrleitungen in die Häuser der Abnehmer.
Die Zusammensetzung des Leuchtgases ist je nach der Art der Bereitung
eine ausserordentlich verschiedene. Der Gehalt an Kohlenoxyd sohwankt bei dem
aus der Steinkohle dargestellten Gase zwischen 4—8 —10 pCt. und mehr 1 ), ist
also jedenfalls wesentlich höher, als der des Kohlendunstes, den wir oben zu
weniger als 1 pCt. angegeben haben.
Von allen im Leuchtgase enthaltenen Gasea ist das Kohlenoxyd dasjenige,
welches die Vergiftung hervorruft, wie besonders durch die sorgfältigen Unter¬
suchungen von Biefel und Poleck 3 ) bewiesen worden ist, so dass wir berech¬
tigt sind, die Leuchtgasvergiftung als einfache Kohlenoxyd Vergiftung anzusehen.
Unglücksfälle durch ausströmendes Gas kommen entsprechend der grossen
Verbreitung dieses Leuchtstoffes recht häufig vor. Schon in den Gasanstalten
selbst sind durch unvorsichtige Handhabung der bei der Gasbereitung gebrauchten
Apparate mehr oder weniger schwere Vergiftungen vorgefallen. So habe ich auf
der Göttinger medicinisohen Klinik auf meiner Abtheilung lange Zeit einen
Arbeiter behandelt, der an einem unter dem Bilde der multiplen Sclerose auf¬
tretenden Symptomencomplexe litt, der mit Sicherheit auf eine Leuohtsgasver-
giftung zurückzuführen war, die der Kranke sich gelegentlich der von ihm vor¬
genommenen Entfernung der Reinigungskästen in einer Gasanstalt zugezogen
hatte 3 ).
Weit häufiger aber, als bei der Fabrication, giebt das Leuchtgas zu Ver¬
giftungen Anlass, während es die Leitungsröhren durchstreioht. Bald sind
die Verbindungsstellen der einzelnen Rohre undicht geworden, bald finden sich
in diesen selbst Risse, Löcher und Sprünge, welche bei der Erneuerung des
Strassenpflasters, bei Canalbauten u. s. w. duroh die Spitzhaoke des Arbeiters
unbeabsichtigt und unbemerkt erzeugt sind.
Aber auoh ohne directe Beschädigung durch die Arbeiter kann ein Rohr-
bruoh zu Stande kommen. Denn bei den mannigfachen Erdarbeiten werden die
Gasröhren der Strassenleitungen oft ganz frei gelegt, und bei der ungleich-
mässigen Beschaffenheit des Bodens dieser aufgelockert. In den zugeschütteten
Baugruben setzt er sich ungleichmässig fest; es bilden sieb Hohlräume, in denen
dann beim Strassen verkehr durch die Erschütterungen des Bodens, welche z. B.
schwer beladene Lastwagen hervorzurufen vermögen, Gasröhrenbrüohe ent¬
stehen 4 ). Das der Lücke entströmende Gas entweicht zwar manchmal naoh oben
und aussen; öfter aber, wenn der Erdboden gut gepflastert, undurchlässig, im
Winter gefroren oder mit Schnee bedeckt ist, bahnt es sioh seitwärts duroh die
Erdschiohten einen Weg und kann in die nächstgelegenen Häuser gelangen,
welche dabei — und das ist zweifellos der allerwichtigste Faotor — vermöge
ihrer Wärme wie ein geheizter Kamin auf die kalte Umgebung wirken. Diese
zuerst von Pettenkofer aufgestellte Behauptung hat durch die Arbeiten seines
*) Hirt, 1. c. S. 35. Das Göttinger Leuchtgas enthält lOpCt. Kohlenoxyd.
a ) L. c. S. 357.
3 ) Deutsohe medicinische Wochenschrift. 1889. No. 26—28.
*) Biefel und Poleok, 1. o. S. 315.
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Die Kohlenoxydgasvergiftung und deren Verhütung. 123
Schülers Welitschkowsky eine experimentelle Bestätigung erfahren, welohe
feststellen Hessen, dass 1 ) »im Winter unter dem Einflüsse der Temperaturdiffe¬
renz der äusseren Luft und der Keller- und Wohnungsluft ungeachtet der stär¬
keren Ventilation des Bodens zu dieser Jahreszeit, immer eine mehr oder minder
starke Strömung der Bodenluft in der Richtung der geheizten Räume stattfindet.“
Da ausserdem die Nächte in der Regel wesentlich kälter als die Tage sind, und
noch dazu Fenster und Thüren während der Nacht vielmehr geschlossen gehalten
werden als am Tage, so erklärt sioh daraus sehr einfach, warum die Unglücks-
Bille vorwiegend während der Nacht eintreten. Man hat beobachtet, dass selbst
auf grosse Entfernung hin das Gas von der Bruchstelle aus in die Kellerwohnung
eindrang. Derartige Unglücksfälle werden von Pettenkofer (Münohen), Biefel
(Breslau), Jacobs (Köln) und Anderen berichtet.
Diese Vergiftungen sind aber ausserdem noch deshalb so gefährlich, weil
das Leuchtgas erstens seinen charakteristischen Geruch einbüsst, wenn es lange
Strecken Erdboden durchströmt, und zweitens der Gehalt an Kohlenoxyd dadurch,
dass die schweren Kohlenwasserstoffe und das Sumpfgas vom Boden absorbirt
werden, relativ zunimmt. In dieser Beziehung sind besonders die Analysen von
Biefel und Poleok 3 ) lehrreioh:
Leuchtgas
Durch die Erd¬
schicht ge¬
strömtes Gas
Kohlensäure.
3,06
2,23
Schwere Kohlenwasserstoffe ...
4,66
0,69
Sumpfgas .
31,24
17,76
Wasserstoff .
49,44
47,13
Kohlenoxyd .
10,52
13,93
Sauerstoff.
0,00
6,55
Stickstoff .
1,08
11,71
100,00
100,00
Einen derartigen Fall habe ich während meiner Assistentenzeit auf der
Göttinger medioinischen Klinik beobachtet. Am 28. Januar 1889 wurde eine
32jährige Kutachersfrau mit ihrem 4jährigen Sohne im bewusstlosen Zustande
eingebracht und gab nach ihrem Erwachen an, dass sie sich am Abend vorher
ganz gesund zu Bett gelegt habe und um Mitternacht durch das Jammern ihres
Sohnes, welcher über Kopfsohmerzen geklagt und mehrfach erbrochen habe, ge¬
weckt sei. Sie sei anfgestanden, habe Licht angezündet, sei aber dann bewusst¬
los zusammengesunken und habe die Erinnerung von diesem Zeitpunkte an ver-
*) L. c. S. 264.
2 ) L. o. S. 313.
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124
Dr. Becker,
loren; das Feuer habe im Ofen nicht mehr gebrannt, und Gasleitung sei im Hause
überhaupt nicht. Am Abend wurden Mutter und Kind auf ihren Wunsch voll¬
kommen wohl entlassen. Trotz des ausdrücklichen-Verbotes, dass Niemand in der
Kammer schlafen dürfe, nächtigten ausser den beiden Personen noch die Eltern
der Matter Nachts darauf in einem nach dem Hofe zu gelegenen Raume. Alle
vier wurden von dem Morgens gegen 6 Uhr vom Nachtdienste zurückkehrenden
Manne betäubt aufgefunden. Die Grosseltern lagen in tiefem Coma. Mutter und
Kind waren nur somnolent, offenbar deshalb, weil sie einen Fensterflügel hinter
den allerdings verschlossenen Holzladen hatten offen stehen lassen. Nach ge¬
höriger Lüftung erholten sich Alle wioder. Diesmal bemerkte man — was Tags
vorher nicht möglich war — einen eigentümlichen Geruch im Hausflur, der
aber nicht an Leuchtgas erinnerte. Als man indessen die zu den Kellerräumen
führende Fallthür öffnete, entströmte denselben ein wenn auch schwacher, so
doch deutlicher Gasgeruch, welcher Veranlassung zu einer Revision der Strassen-
gasleitungen wurde und zur Entdeckung eines Rohrbruches führte. Einige Tage
nach der Ausbesserung desselben konnte die Wohnung wieder bezogen werden.
Nooh häufiger liegt die Ursache des Gasausströmens in den Wohnungen
selbst. Bald sind die Gashähne nicht vollständig geschlossen, wohl gar die
Flammen ausgeblasen worden, bald sind die Leitungen im Hause selbst schad¬
haft. Wolffhügel beriohtete auf dem VI. Hygiene-Congresse über einen Fall,
den er in Berlin beobachtete. Dort war das Kugelgelenk eines Gaskronleuohters
undicht geworden und hatte geringe Mengen Leuchtgas durch das Füllmaterial
der Zwisohendeoke hindurch in das darüber liegende Zimmer ausströmen lassen,
wodorch ebenfalls (wie bei den Rohrbrüohen im Erdboden) das Gas die vor der
Vergiftung warnenden Riechstoffe verloren hatte. Derartige Fälle sind selbstver¬
ständlich von der allergrössten Wichtigkeit, da die fortwährende Einwirkung selbst
kleiner Mengen Leuchtgas die schwersten Krankheitssymptome hervorrufen kann,
die sofort versohwinden, sobald die Ursaohe beseitigt ist. Man hat den Gasver¬
lust in Hausleitungen auf etwa 3 pCt. berechnet.
3. Wassergas.
In der neuesten Zeit ist vielfach die allgemeine Einführung des Wasser¬
gases empfohlen, welches in Amerika bereits seit dem Jahre 1874 eine ausge¬
dehnte industrielle Verwerlhung gefunden hat. Dasselbe wird erzeugt, indem
man überhitzten Wasserdampf ohne Luftbeimengung duroh glühenden Coaks
und dergleichen leitet, wobei ein Gemenge von durchschnittlich folgender Zu¬
setzung ') entsteht:
Leuchtende Bestandteile
. 12,48 pCt.
Sumpfgas.
. 20,55 pCt.
Wasserstoff.
. 36,34 pCt.
Kohlenoxyd .
. 27 , 4 « pCt.
Stickstoff.
. 2.56 pCt.
Sauerstoff.
. 0,26 pCt.
Kohlensäure.
0,35 pCt.
*) Sedgwick und Niohols, S. 5.
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Die Kohlenoxydgasvergiftung und deren Verhütung.
125
Um seine Leuchtkraft zu erhöhen, wird es duroh schwere Kohlenwasser¬
stoffe oarburirt und hat dadurch bereits in über 150 Städten Amerikas seinen
Einzug als Städtebeleuchtungsmittel gehalten. Als besondere Vorzüge 1 ) werden
ihm nachgerühmt: 1. ein ruhiges, weisses, nicht russendes Lioht und 2. verhält-
nissmässig geringe Herstellungskosten. Ein Blick auf die Zusammensetzung dieses
Gases genügt, um zu erkennen, mit welchen enormen Gefahren der Verbrauoh
desselben verbunden ist bei dem hohen Gehalt an Kohlenoxyd, welcher sogar bis
zu 40pCt. steigt und somit den des Steinkohlengases um das 5—6 fache über¬
trifft. Dazu kommt seine absolute Geruchlosigkeit, welche eine allgemeine Be¬
nutzung duroh das grosse Publikum unbedingt ausssohliesst. Letzterem Miss¬
stand hat man dadurch zu begegnen versucht, dass man dem Gase durch Bei¬
mengung von Naphthol, Phenol, Petroleumrüokständen, Mercaptan, Asa foetida
und anderen Stoffen einen penetranten Geruoh beimischte, der indessen wohl
ebenso, wie beim Leuchtgas, verschwinden wird, wenn das Gas duroh den Boden
geströmt ist. Und trotz dieser Imprägnirung mit Rieobstoffen hat das Wassergas
ganz erheblioh mehr Opfer, als das Leuchtgas, in denjenigen Städten Amerikas
gefordert, welohe dasselbe eiogeführt haben. So starben io New-York 2 ) in den
Jahren 1880—1887 an KoblengasVergiftung 9, an Wassergasvergiftung aber
177 Personen, in Baltimore starben an Wassergasvergiftung von 1883—1887
45, in San Francisco allein 11, in Chicago von Ootober 1886 bis Ende 1887
11 Personen. In dem einen Monat Januar 1888 traten in New-York ebenso viel
Todesfälle durch Wassergas ein, wie in Boston durch Leuchtgas in 55 Jahren!
Diese Zahlen sind beweisend genug, um die enorme Gefahr dieses Gases, welches
begeisterte Anhänger bereits als „Heizstoff der Zukunft“ proklamirt hatten, greif¬
bar vor Augen zu führen. Sie haben bewirkt, dass im März 1888 ein von
158 Aerzten des Staates Massachusetts Unterzeichneter Protest gegen die Ein¬
führung von Wassergas oder irgend eines über 10 pCt. Kohlenoxyd haltenden
Gases erhoben wurde.
In Europa ist bislang noch kein Gebrauoh von Wassergas als Beleuchtungs¬
mittel, wohl aber wegen seiner hohen Heizkraft als Heizstoff in verschiedenen
Fabriken gemacht worden, eine Anwendungsweise, die man nicht verhindern
kann, ohne dadurch der Entwicklung der Industrie eine hemmende Fessel anzu¬
legen. In der heimischen Industrie wird es gegenwärtig zum Sohweissen der
Eisenbleche, zum Heizen von Schmiedefeuern (Essen a. R., Fürstenwalde, Hörde,
Warstein in Obersohlesien), ferner zum Glasblasen (Gelnhausen bei Cassel), zum
Schmelzen von Flüssen und Metallen und zum Glühen von Farbkörpern (Frank¬
furt a. M.), sowie zum Sengen der Seide und sonstiger Gespinnste und Gewebe
(Elberfeld, Barmen) erfolgreich benutzt.
Abweichend von dem Wassergase werden in der Sohweiz 8 ) sogen. Halb-
wassergase (Misch-Generator-Wassergase u. a. m.) dadurch erzeugt, dass man
in einen gewöhnlichen, mit natürlicher Zugluft oder Gebläse getriebenen Gene¬
rator Wasser oder Wasserdampf zutreten lässt. Der Wasserdampf wird von
') Hartmann’s Referat auf dem VI. Hygienecongress.
3 ) A protest etc. S. 24 ff.
*) Lunge, 1. o. Heft 16.
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126
Dr. Becker,
der glühenden Kohle im Generator zersetzt, und diese Zersetznngsprodnkte
mischen sich dem gewöhnlichen Generatorgase bei, sodass demnach die Halb¬
wassergase ans Generatorgasen und Wassergas bestehen. Eines dieser Halbwasser¬
gase ist das nach seinem Erfinder benannte Dowson- Gas, welches in einer Hut-
fabrik za Bendlikon bei Zürich zum Erhitzen der eisernen Hutformen, in einigen
Florettspinnereien zam Sengen der Seide, an mehreren Orten zum Betriebe von
Gasmotoren etc. verwendet wird. In der genannten Hutfabrik sollen die Arbeiter
häufiger über Kopfschmerz, Schwindel, Uebelkeit und Appetitlosigkeit geklagt
haben. Versuche, welche Wyss und unter seiner Leitung Heinrich Schiller *)
anstellten, haben ergeben, dass das Mischgas, wenn es aus schwefelhaltigem
Anthracit oder Coaks hergestellt wurde, zwar einen entschiedenen, wenngleich
sehr viel schwächeren Geruoh als das Leuohtgas besitzt, aber stets 22—25 pCt.
Kohlenoxyd enthält. Während also dem eigentlichen Wassergase etwa die fünf¬
fache Giftigkeit des Leuchtgases zukommt, so ist dem Dowson-Gase immerhin
noch eine dreifache zuzuschreiben. Wenngleioh nun zwar in Europa tödtliohe
Vergiftungen durch Wassergas oder Halbwassergas zur öffentlichen Kenntniss
bislang noch nicht gelangt sind, so ist es doch Pflicht des Hygienikers, auf die
grossen Gefahren, welche eine allgemeine Einführung dieser Gasarten mit sich
bringen würde, warnend aufmerksam zu machen.
Das in West Pennsylvanien vorkommende und durch Bohrung gewonnene
sogenannte Naturgas 2 ), welohes daselbst zu Heiz- und Beleuohtungszwecken
seit 1883 verwendet wird, muss wegen seines sehr geringen Gehaltes (0,6 pCt.)
an Kohlenoxyd in sanitärer Hinsicht wenigstens als ein ideales Material angesehen
werden. Vergiftungen durch dasselbe sind mir nicht bekannt.
4. Minengase.
Endlich ist durch Poleok’s verdienstvolle Arbeit klar gestellt, dass in den
Minengasen, wie sie sich beim Belagerangskriege in den Gallerieen nach
Sprengung der Minen durch Pulverladungen bilden, das Kohlenoxyd dasjenige
Gas ist, welches für die Entstehung der sogenannten „Minenbrankheit“ verant¬
wortlich zu machen ist. Eine ausführliche Darstellung dieser Verhältnisse dürfte
wohl die Grenzen dieser Arbeit überschreiten. Der Hinweis auf den ätiologischen
Zusammenhang mag genügen.
Die Mehrzahl der Kohlenoxydvergiftungen verdankt ihre Ent¬
stehung unstreitig der Unvorsichtigkeit oder dem Zufalle; seltener
wird das Gas, wenigstens in Deutschland zu Mord und Selbstmord
(in 158 Beobachtungen Lesser’s 69mal) benutzt, während in Frank¬
reich diese Art des Selbstmordes sehr häufig ist. Es können in dem¬
selben Raume verschiedene Personen in verschiedenem Grade vergiftet
sein, sodass schon gegen die Ueberlebenden der Verdacht einer ver-
‘) Schiller, Experimentelle Untersuchungen über die Wirkung des Wasser¬
gases auf den thierisohen Organismus. Inaug.-Dissert. Leipzig 1888.
2 ) Hart mann’s Referat.
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Die Kohlenoxydgasvergiftang and deren Verhütung.
127
brecherischen Handlang entstanden ist. Von forensischer Bedeutung
für die Schuldfrage ist dabei die grössere oder geringere Entfernung
von der Entstehungsquelle, sowie von Thür und Fenster, die Richtung
des Luftzuges, die Zeit der Einwirkung, das Alter, der Kräftezustand
und individuelle Beanlagung. Selbstmörder pflegen häufig Thür- und
Fensterritzen in der Absicht zu verkleben, einen möglichst luftdichten
Verschluss des Zimmers dadurch herbeizuführen.
?. Dosis toxica.
Die zu einer tödtlichen Vergiftung erforderlichen Mengen von
Kohlenoxyd lassen sich nicht leicht bestimmen. Nach Gruber’s 1 )
Experimenten genügen 0,4 pCt., um bei Thieren in ‘/ a —1 Stunde
den Tod herbeizuführen. Auch in der Frage, ob eine dauernde Ein-
athmung minimaler Mengen schädigend wirken kann, gehen die An¬
sichten aus einander. Während nämlich Fodor 3 ) diese Frage bejaht,
sobald die Luft 0,5 pM. Kohlenoxyd enthält, erklären Vogel und
Wolffhügel 3 ) kleinere Mengen Kohlenoxyd als 2,5 pM. entschieden
für nicht schädlich. Letztere Ansicht unterstützen Gruber's Ver¬
suche. Er 4 ) selbst athmete an zwei auf einander folgenden Tagen je
drei Stunden lang Luft mit 0,21 und 0,24 pM. Kohlenoxyd, ohne die
geringste unangenehme Wirkung zu verspüren, und bewies durch diese
und andere Versuche direct, dass die untere Grenze der Schädlichkeit
des Gases für den Menschen bei einer Verdünnung von 0,5, sicherlich
aber von 0,2 pM. liege 8 ), und dass die Schwere der Vergiftung durch¬
aus nicht der Zeitdauer der Einathmung, sondern lediglich der
Concentration des Kohlenoxydes in der eingeathmeten Luft pro¬
portional ist. Ebenso wenig findet eine cumulative Wirkung statt.
Neuerdings hat Dreser 6 ) mit Hülfe des von Hüfner eonstruirten
Spectrophotometers die tödtliche Dosis für ein 2450 g schweres Ka¬
ninchen auf rund 0,0115 g Kohlenoxyd pro Kilogramm Thier fest¬
gestellt und daraus geschlossen, dass ein 70 kg schwerer Mensch
demnach durch etwa 0,805 g Kohlenoxyd getödtet werden würde.
*) Grober, 1. c. S. 158.
a ) Fodor, 1. o. S. 388.
s ) Wolffhügel, Zeitschrift für Biologie. XIV. S. 521.
4 ) Grober, 1. c. S. 159.
8 ) Gräber, 1. o. S. 160.
*) Dreser, Archiv f. experimont. Pathologie and Pharmakologie. Bd. 29.
S. 119. 1891.
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128
Dr. Becker,
Des Weiteren geht ans seinen Versnehen hervor, dass selbst in
den stärksten Graden der Vergiftung es nie zn einer vollständigen
Verdrängung des Sauerstoffs aus dem Blute kommt, indem im un¬
günstigsten Falle immer noch % der ursprünglichen Sauerstoffmenge
zurückbleibt. Endlich konnte sein Versuchsthier, welches er unter einer
Glasglocke einer Kohlenoxydatmosphäre ausgesetzt hatte, aus der¬
selben entfernt, selbst dann noch wieder zum Leben gebracht werden,
wenn nur noch 45,4 pCt. unverdorbenes Oxyhämoglobin in dem Blute
zurückgeblieben war. Er weist dabei auf die Analogie mit dem Ver¬
blutungstode hin, bei welchem ebenfalls ein Verlust von 50 pCt. oder
der Hälfte der gesammten Blutmenge tödtlich ist.
VI. Symptomatologie.
Die Wirkungen, welche das Kohlenoxyd auf den menschlichen
Organismus ausübt, sind sehr verschiedene. Es giebt erstens eine
acute Vergiftung, die je nach der Menge des eingeathmeten Gases
entweder in Genesung oder Tod übergehen kann, zweitens eine
chronische Form, welche man gelegentlich bei Fabrikarbeitern be¬
obachtet, die längere Zeit hindurch geringe Mengen Kohlendunst oder
Leuchtgas einzuathmen gezwungen sind, und drittens ein grosses
Heer von Nachkrankheiten, welche sich an eine acute, glücklich
überstandene Kohlenoxydvergiftung anschliessen können.
1. Acute Vergiftung.
Die Symptome der acuten Vergiftung sind verschieden, je nachdem die
Menge des eingeathmeten Kohlenoxydes gross oder gering ist. Im ersteren Falle
kann der Tod oder wenigstens die Bewusstlosigkeit fast blitzartig eintreten, wie
es z. B. bei dem oben (S. 122) erwähnten Arbeiter der Fall war. Nicht so stür¬
misch sind die Erscheinungen bei langsam eintretender Vergiftung. Die Wieder¬
belebten geben übereinstimmend an, dass sie zuerst ein Gefühl von dumpfem
Kopfschmerz, Eingenommensein des Kopfes, Schwindel, Sausen vor den Ohren
und Flimmern vor den Augen gespürt hätten; dazu gesellt sich bald Uebelkeit,
Beklemmungsgefühl, grosse Angst, hochgradige Mattigkeit und oft auch Er¬
brechen. Dann tritt ein Zustand von Unklarheit und Benommenheit ein, in dem
noch allerlei Bewegungen halb unbewusst ausgeführt werden können, bis die
Kranken völlig bewusstlos zusammensinken und von diesem Momente ab jede Er¬
innerung an das Vorgefallene verlieren. Devergie 1 ) giebt in seinem Lehrbuohe
') Citirt naoh Maschka, 1. c. S. 42.
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UNIVERSUM OF IOWA
Die Kohlenoxydgasvergiftung und deren Verhütung.
1*29
die sohriftlioben Aufzeichnungen eines Menschen wieder, weloher sioh mittelst
Kohlendunst tödtete; dieselben lauten: „Ich setze auf den Tisch eine Lampe,
eine Kerze, eine Uhr und beginne mit der Operation. Es ist 10 Uhr 15 Minuten.
Ich zünde meinen Ofen an. Die Kohle brennt langsam. 10 Uhr 20 Min. Der
Puls ist ruhig und schlägt nicht schneller, als gewöhnlich. 10 Uhr 30 Min. Ein
dichter Rauch verbreitet sich allmählich in der Stube. Meine Kerze scheint dem
Erlöschen nahe zu sein. Ein heftiger Kopfschmerz beginnt, meine Augen füllen
sioh mit Thränen. loh empfinde ein allgemeines Unbehagen, der Puls ist be¬
schleunigt. 10 Uhr 40 Min. Die Kerze ist ausgelöscht, die Lampe brennt nooh.
Meine Schläfen klopfen, als wenn die Adern platzen wollten. Ich leide schreck¬
lich im Magen. Der Puls hat 80 Schläge. 10 Uhr 50 Min. Ich ersticke. Fremd¬
artige Gedanken steigen in meinem Geiste auf, und ich kann kaum athmen. Ich
bin närrisch. 11 Uhr. Ich kann fast nicht mehr schreiben. Mein Gesicht trübt
sioh, die Lampe erlischt. Ich glaubte nicht, dass man so viel leiden müsste, um
zu sterben. 1,1 Uhr 2Min. u — Hier finden sich einige unleserliche Schriftzeichen.
Die meisten im Schlafe tödtlich Vergifteten pflegon ruhig in den Tod hin¬
über zu schlummern, andere werden von heftigen, tetanusartigen Krämpfen be¬
fallen, die schon durch leise Berührungen ausgelöst werden können. Die Pu¬
pillen sind dabei wechselnd weit, reagiren oft träge, und die Hauttemperatur ist
während der Anfälle nicht selten sehr erheblich erhöht. Gelegentlich besteht eine
mehr oder minder hochgradige Dyspnoe, selbst völlige Asphyxie. Der Puls, der
anfangs voll und beschleunigt, wird, je mehr die Kraft abnimmt, immer elender,
setzt oft aus und ist sohliesslioh garnicht mehr fühlbar, bis der Tod unter asphyc-
tischen Convulsionen das Leben beschliesst. Auch Paresen und Paralysen der
Extremitäten, sowie unwillkürlicher Abgang von Urin und Koth sind beobachtet.
Vorübergehend kann Zucker und Eiweiss im Urin auftreten. Tagelang können
die Vergifteten im tiefen Sopor daliegen, und ebensolange können auch die
Krämpfe andauern. An Stelle der letzteren tritt dann gewöhnlich ein Stadium
der hochgradigsten Erschöpfung, aus der sich die Kraoken nur langsam erholen.
Seltener stellt sich ein Zustand von grosser Aufregung ein, sobald die Betäubten
in die frische Luft gebracht werden, wofür Li man l ) einen höchst merkwürdigen
Fall als Beleg anführt. Es handelte sich hier um einen 29jährigen Schiffseigen-
thümer, der in einer Wirthschaft in einem Aof&lle von plötzlich ausgebrochener
Geistesverwirrung in eine Art von Tobsucht verfiel, erklärte, er sei der Teufel,
Streit mit dem Wirthe und den Gästen anfing, Stühle zerschlug und dem ihn
verhaftenden Schutzmanne den heftigsten Widerstand entgegensetzte. Am an¬
deren Morgen nach einem tiefen Sohlaf war er vollkommen klar und hatte gar
keine Erinnerung von der vergangenen Nacht. Als Ursache für diese Erregungs¬
zustände musste der nächtliche Aufenthalt in einer kleinen, geschlossenen und
mit Kohlendunst angefüllten Kajüte angesehen werden.
Verlauf und Dauer der acuten Vergiftung sind selbstverständlich in erster
Linie von der Dauer und Intensität der Einwirkung des Giftes abhängig. Daher
ist auch die Leuch tgasvergiftnng ceteris paribns für schwerer, als die Kohlen-
dunstvergiftung anzusehen, da einmal der Procentgehalt an Kohlendunst ein
') Casper-Liman, 1. c. I. Bd. S. 579.
YiertfljiilinifU'hr. I. gor. Drin» Y. I.
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UNiVERSlIY OF IOWA
130
Dr. Beoker,
grösserer ist and zweitens die Quelle des Gases aus einer defeoten Leitung natür¬
lich unversiegbar ist, während die Entwickelung des Kohlenduostes mit dem Er¬
löschen des Feuers aufhört.
2. Chronische Vergiftung.
Ueber die chronische Kohlenoxydgasvergiftung liegen bislang nur
wenige und unvollständige Beobachtungen vor.
Hirt 1 ) führt folgende Symptome auf die längere Einwirkung von Kohlen¬
dunst zurück: Kopfschmerzen, Uebelkeit, verbunden mit oft sich wiederholenden
Brechdurchfällen und Schwindel; während, wenn Leuohtgas das längere Zeit
einwirkende schädliche Agens war, sich bei der Hälfte aller Erkrankten vor allem
gestörte Verdanung vorfand, ausserdem belegte ZuDge, blassgraue Hautfärbung
und allgemeine Abgeschlagenheit, sowie vereinzelt auftretende Krampfanfälle,
Abnahme des Gedächtnisses und der Intelligenz. Wie oft diese chronische Ver¬
giftung Vorkommen mag, lässt sich bei der Unsicherheit der Symptome nicht fest¬
stellen. Hirt hält indessen im Allgemeinen den Gesundheitszustand der Gas¬
arbeiter für einen guten. Von anderen Autoren liegen keine Erfahrungen vor;
betreffs der Würdigung der von Dr. Carret geschilderten chronischen epide¬
mischen Kohlenoxyd Vergiftung muss auf das oben (S. 119) Gesagte verwiesen
werden.
3. Naohkrankheiten.
Ist aber der Kranke aus der nächsten Lebensgefahr gerettet, so hleibt er
noch immer gefährdet durch die zahlreichen Nachkrankheiten, welche der
Vergiftung folgen können. Dieselben spielen sich theils im nervösen Gebiete,
theils ausserhalb desselben ab. Unter letzteren ist zunäohst ein häufiges Be¬
fallensein derAlbmungsorgane zu oonstatiren; so wurden wiederholtPneumonieen
beobachtet (Liman, Oppolzer, Klebs), die wohl nicht zum geringen Theile
durch Aspiration der im Sopor erbrochenen Speisetheile hervorgerufen sein
dürften. Glycosurie findet sich wiederholt (Biefel und Poleck, S. 359,
Litten u. A.) beschrieben, von Hautkrankheiten findet man Herpes, Pemphigus,
Decuhitus und Gangrän erwähnt. Von Erkrankungen des nervösen Systems sind
— abgesehen von den mehrfach constatirten Störungen des Allgemeingefühls,
welche in allgemeiner Kraftlosigkeit und Ermüdung, Frösteln, Unsicherheit beim
Stehen und Gehen, Gefühl von dumpfer Schwere im Kopfe, Flimmern vor den
Augen und Ohrensausen bestehen — allgemeine Neurosen, Epilepsie, Idiotie,
Amnesie, Landry’sehe Paralyse, Poliomyelitis, Encephalomalaoie, multiple Skle¬
rose und centrale und periphere Lähmungen beobachtet. Die verschiedenartig¬
sten Psychosen treten garnicht selten erst nach Monaten auf, eine Tbatsaohe,
deren Kenntniss in forensischen Fällen und in UnfallsversicherungsangelegeDheiten
für den begutachtenden Arzt im Interesse des Beschädigten von der allerein-
sebneidendsten Bedeutung ist. So berichtet Briand 2 ) über eine Reihe von Yer-
') Hirt, 1. c. S. 41.
2 ) Briand, Ann. d’Hygien. publ. nach Scbmidt’s Jahrbüchern, Bd. 222,
S. 267 citirt.
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Die Kohlenoxydgasvergiftung and deren Verhälang.
131
giftaogserscbeinangen mit Kohlenoxydgas, nach welchen Amnesie aafgetreten
war, die sich oftmals nooh auf die letzte Zeit vor der Vergiftung erstreckte, und
macht dabei auf die forensisohe Bedeutung aufmerksam, dass, wenn z. B. eine
Person in verbrecherischer Absioht damit betäubt würde, diese nachher ausser
Stande sein könne, sich der begleitenden Umstände zu erinnern, damit den Ver¬
dacht eines Selbstmordversuches auf sich ziehen und dadurch zur Freisprechung
des Angeklagten unbewusst beitragen würde.
Von einer eingehenden Schilderung dieser mannigfachen Krankheitszustände
glaube ioh um so eher Abstand nehmen zu dürfen, da ich eine umfassende Zu¬
sammenstellung derselben in der Deutschen medioinischen Wochenschrift, Jahr¬
gang 1889, No. 26—28, gegeben habe •).
Der dort ausführlich mitgetheilte Fall von einer im Gefolge einer sohweren
Leuohtgasvergiftung aufgelretenen Erkrankung, welche unter dem Bilde einer
multiplen disseminirten Sklerose des Gentrainervensystems verlief, war damals
noch ein Unicum in der Literatur, und es fehlte vor allem die Bestätigung der
klinischen Diagnose durch die Autopsie. Inzwischen ist von Kramer 2 ) duroh
die Mittheilung eines anatomischen Befundes bei einem Fall von Koblendunst-
vergiftung die von mir seiner Zeit aufgestellte Behauptung, dass eine Vergiftung
durch Kohlenoxyd eine disseminirte Sklerose des Hirns und Rückenmarks zu er¬
zeugen vermöge, bestätigt worden.
Ich habe am 5. März d. J. Gelegenheit gehabt, meinen Kranken wieder zu
sehen und einer klinischen Vorstellung desselben durch Herrn Geh.-Rath Ebstein
beizuwohnen. Dabei ergab sich, dass — nach Ablauf von nunmehr 3 Jahren und
fast 5 Monaten seit dem Unfälle — sämmtliche Krankheitserscheinungen ent¬
schieden stärker geworden sind: der Tremor, die scandirende Spraohe, das
Zitterige der Sohriftzüge, die Unsicherheit des Gehens und der Drehschwindel.
Das Körpergewicht hat um etwa 20 Pfd. abgenommen. Herr Strauss wird den
Fall demnächst in seiner Dissertation beschreiben.
*) Anmerkung bei der Correctur. Von den später erschienenen
Arbeiten erwähne ioh besonders die von Schwerin. Berl. klin. Woch. 1891.
No. 45. S. 1089.
2 ) Kramer, Centralblatt für allgemeine Pathologie und pathologische
Anatomie. 1891. No. 13. S. 545 ff.
(Fortsetsung and Schluss folgt.)
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S )*
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UNIVERSITÄT OF IOWA
3.
Kar Casaistik des Ktapfei gegea dea Geheiaaittelaifig.
(No. LXXl bis XC.)
Von
Dr. Albert Weis«»
Geheimer Medicinalrath in Caasel.
(8chluss.)
Uebersicht der rechtskräftigen Verurtheilungen.
No.
Gegenstand.
LXXI.
LXXII.
LXXIII.
LXXIV.
LXXV.
I.XXV1.
LXXVII.
LXXVIII.-
Anpreisung von
Weissmann (Brochüre)
* n .
Stollwerck’s Brostbonbons .
w n
White’s Äugt nwasser.
Bullrich’s Reinigungssalz.
Thielen’s Haarspiritus.
Mariazeller Magentropfen.
Geheimmiltein .
Bock’s Pectoral.
Lieber’s Nerven-Elixir.
Brandt’s Schweizerpillen.
Oidtmann’s Purgaiiv.
Neave’s Kindermehl.
Dietze’s Zwiebelbonbons.
Burk’s Arzneiwein.
Schmidts Gehöröl-Brochüre.
Otto’s Gehöröl-Brochüre.
Retan’s Brochüre.
Bisentz* Brochüre.
Ange¬
klagter.
Erkenntniss.
Stn
Geld.
Mk.
afe.
Haft
Tage.
Redacteur.
Schöffeng. B. 9. 8. 1890.
15
2
Relacteur.
Landg. E. 25. 10. 1890.
15
2
Redacteur.
Kamm erg. 8. 1. 1891.
15
2
Konditor.
Landg. D. 7. 11. 1890.
3
1
Konditor.
Kammerg. 12. 1. 1891.
3
1
Buch¬
druckerei¬
Landg. D. 12. 11. 1890
3
1
besitzer.
Redacteur.
Schöffeng. C. 6. 7. 1890.
100
10
Redacteur.
1
1
Schöffeng. E. 20. 3.1890
1
1
I
95
19
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UNIVERSUM OF IOWA
Zur Casuistik des Kampfes gegen den GeheimtuiUeiunfug.
133
No.
1
Gegenstand.
1
Ange¬
klagter.
Erkenntniss.
Stra
Geld.
Mk.
ife.
Haft.
Tage.
Anpreisung von
1
LXXIX.
Geheimmitteln (in Unterhaltungs-
bei läge) .
Reiacteur.
Landg. D. 21 3. 1891.
3
1
LXXX.
Brandt’s Schweizerpillcu (in Ka-
lender)...
Redacteur.
Schöffeng. B. 21.3. 1891.
15
2
LXXXI.
Desgl , Marienbader Reductions-\
Schöffeng. E. 20. 3. 1890.
50
1 io
LXXXII.
pillen, Meyer’s Bleicbsucbtpillen.l
Landg E. 20.9. 1890.
t reisprechung
LXXXUI.
Bock’s Pectoral, Warneris Safe)
Redacteur.
Kammerg. 26. 1. 1891
Zurückver-
LXXXIV
Cure, Radlaueris Hühneraugen-1
Weisung.
mittel, Radema* n’s Kindermehl./
Landg. D. 11.4. 1891
50
10
LXXXV.
Geheimmitteln (Unterhaltungsbei-
läge) .
Redacteur
Landg. D. 21. 8. 1891.
3
1
lxxxvi
Weissmann (Brochüre).
Redacteur
Schöffeng. B 20. 6. 1891.
10
2
LXiXVU.
Mollet (Brochüre) .
Redacteur.
Landg. E. 18. 7. 1891.
1 10
2
LXXXVIII
Schweizerpillen (Danksagung).
Redacteur.
Schöffeng. D. 4. 9. 1891.
6
2
LXXXIX.
De 9 gl. (Bestellkarten) Extrabeilage
Redacteur.
Landg. E. 6. 6. 1891.
10
—
xc.
Dcsg 1 .
|
Redacteur.
Kammerg. 8. 1. 1891.
LXXI. Erkenntniss des Schöffengerichts zu B. vom 9. August 1890.
Der Angeklagte, Redacteur N., ist der Uebertretung gegen die Regierungs-
Polizeiverordnung vom 9. Mai 1888 schuldig und wird deshalb in eine Geldstrafe
von fünfzehn Mark, an deren Stelle im Nichtzahlungsfalle eine Haftstrafe von
zwei Tagen tritt und zur Tragung der Kosten verurtheilt.
Angeklagter hatte in No. 159 der N. Zeitung eine Anzeige veröffentlicht,
inhaltlich deren: tägliche Kopfwaschungen, durch welche entsprechende Sub¬
stanzen durch die Haut dem Nervensystem zugefübrt werden, empfohlen und zu¬
gleich dringliohst angerathen wird, eine Brochüre zu beziehen, welche das
Verfahren des Näheren angebe, welches geeignet sei, krankhaften Nervenzustän-
den, Gelenkschmerzen, Scbwächezuständen etc. etc. wirksam zu begegnen.
In der Ankündigung ist eine Namhaftmachung der empfohlenen Substanzen
und Stoffe nioht enthalten und liegt somit Uebertretung des § 1 b der Polizei¬
verordnung der Königlichen Regierung zu Düsseldorf vom 9. Mai 1888 vor.
Beklagter ist geständig, dass neben der direclen Anpreisung seiner Sub¬
stanz, eines Stoffes, auf die Brochüre verwiesen wird.
Die erkannte Strafe erschien angemessen.
Kostenentsoheidung nach § 497 Str.-P.-O.
LXXU. Erkenntniss des Landgori chts zu E. vom 25. October 1890.
Die Berufung des Angeklagten gegen das Urtheil des Königlichen Schöffen¬
gerichts zu N. vom 9. August 1890 (No. LXXI; wird kostenfällig verworfen.
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UMIVERSITY OF IOWA
134
Dr. Weiss.
ln No. 159 der unter der verantwortlichen Redaction des Angeklagten er¬
scheinenden Zeitung ist eine Annonce zum Abdrnok gekommen, welche überschrie-
ben: „Das grosse Heer der Nervenübel“ von einer angeblichen physiologi¬
schen Entdeckung berichtet, welche die nervöskranke Menschheit in hohem Grade
interessiren soll. Es heisst darin: „Das von dem ehemaligen Militärarzt Roman
Weiss mann zu Vieshofen erfundene und aus den Erfahrungen einer 50jäh-
rigen Praxis geschöpfte Heilverfahren: durch täglich einmaliges Waschen
entsprechende Substanzen direct durch die Haut dem Nervensystem
zuzuführen, hat so sensationelle Erfolge zu verzeichnen, dass die von dem Gr¬
ünder dieser Heilmethode herausgegebene Brochüre: Ueber Nervenkrank¬
heiten und Schlagfluss (Hirnlähmung), Vorbeugung und Heilung in kurzer
Zeit iD 21. Auflage erschienen ist etc. Es wird deshalb allen Denen, die an
krankhaften Nervenzuständen etc. laboriren, dringliohst angerathen, sich in den
Besitz der oben genannten Brochüre zu bringen, welche franco und kostenlos zu
beziehen ist (folgen Adressen).“
Der erste Richter hat in dieser Veröffentlichung einen Verstoss gegen die
Regierungs-Polizeiverordnung vom 9.Mai 1888 erblickt und deswegen den press¬
gesetzlich verantwortlichen Redacteur zu fünfzehn Mark Geldstrafe, event. zwei
Tagen Haft verurtheilt.
Die von Letzterem hiergegen rechtzeitig eingelegte Berufung kann keinen
Erfolg haben.
Stoffe und Zubereitungen jeder Art, deren Bestandtheile durch ihre Be¬
nennung oder Ankündigung nicht für Jedermann deutlich und zweifellos erkenn¬
bar sind, dürfen nach §1 der angegebenenPolizeiverordoung als Heilmittel gegen
Krankheiten und Körperschäden von Menschen und Thieren weder öffentlich an¬
gekündigt noch angepriesen werden.
Die obige Annonce enthält eine Zuwiderhandlung hiergegen, für welche eine
Geldstrafe von 30 Mark oder verhältnissmässige Haft angedroht ist.
Unrichtig ist es, wenn zur Begründung der Berufung angeführt wird, es
werde in der Annonce eine Heilmethode (Manipulation) und eine Bro¬
ch üre empfohlen. Es werden darin vielmehr ebenso direct entsprechende Sub¬
stanzen angepriesen, welche durch täglich einmalige Kopfwaschung direct durch
die Haut dem Nervensystem zugeführt, von sensationellem Erfolge gegen Nerven¬
leiden aller Art, also gegen Krankheiten und Körperschäden der Mensohen sein
sollen. Die Anpreisung dieser zusammengesetzten Heilflüssigkeit, duroh deren
Absatz der Inserent ein Geschäft zu machen gedenkt, ist der eigentliche Zweck
der Veröffentlichung und nicht die Empfehlung der Methode oder der gratis und
franco zu beziehenden Brochüre.
Da die Bestandtheile der als Heilmittel gegen Nervenübel angepriesenen
Substanzen nicht erkennbar gemacht sind, so hat der erste Riohter den in § 1
cit. angegebenen Tbatbestand mit Recht für gegeben eraohtet.
Die erkannte Strafe erscheint angemessen.
Den Kostenpunkt regelt § 505 St.Pr.-O.
LXX1II. Erkenntniss des KaMergeriehta vom 8. Jaaaar 1891.
Der Strafsenat des Königlichen Kammergeriohts zu Berlin hat in der
Sitzung vom 8. Januar 1891 für Recht erkannt:
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UNIVERSUM OF IOWA
Zur Casuistik de» Kampfes gegen den Geheimmittelunfug.
135
dass die Revision des Angeklagten gegen das Urtheil der ersten Straf¬
kammer des Königlichen Landgerichts zu E. vom 8./25. October
1890 (No. LXX1I) zurückgewiesen und die Kosten des Rechtsmittels
dem Angeklagten aufznerlegen.
Die Revision des Angeklagten, welche Verletzung des § 1 der Polizeiver-
Ordnung der Königlichen Regierung zu Düsseldorf vom 9. Mai 1888 durch un¬
richtige Anwendung rügt, scheitert an der thatsächlichen Feststellung des Be-
rufnngsrichters. Ohne ersiohtlichen Rechtsirrthum hat dieser io der Annonce der
N. Zeitung vom 11. Juli 1890, für deren Inhalt der Angeklagte als verantwort¬
licher Redacteur nach § 20 Absatz 2 des Reichsgesetzes als Thäter haftet, eine
Anpreisung von Stoffen (Substanzen), deren Bestandteile nicht für Jedermann
deutlich und zweifellos erkennbar gemacht sind, als Heilmittel gegen Nerven¬
krankheiten und Schlagfluss gefunden.
Die gedachte Annonce verstösst deshalb anzweifelhaft gegen das Strafverbot
des § 1 der Polizeiverordnung vom 9. Mai 1888.
Die Revision des Angeklagten war daher, wie geschehen, als unbegründet
znrückzu weisen.
Dem Angeklagten waren gemäss § 505 der Strafprooess-Ordnung auch die
Kosten des Rechtsmittels aufzuerlegen.
LXXIV. Erkenntniss des Landgerichts D. vom 7. November 1890.
In der Strafsache gegen
1) den Conditor and Kaufmann A. za B.,
2) den Kaufmann 0. zu B.
wegen Uebertretang des § 367 No. 3 des Strafgesetzbuches und der Polizeiver-
Ordnung der Königlichen Regierung za Düsseldorf vom 9. Mai 1888 hat aaf die
von der Königlichen Amtsanwaltschaft gegen das Urtheil des Königl. Schöffen¬
gerichts za B. vom 30. August 1890 eingelegte Berufung die II. Strafkammer
des Königlichen Landgerichts za D. in der Sitzang vom 7. November
1890 für Reoht erkannt:
Das Urtheil des Königlichen Schöffengerichts zu B. vom 30. August
1890 wird aufgehoben. Die Angeklagten A. und C., beide zu B., sind
ein jeder der Uebertretang des § 367 No. 3 des St.-G.-B. in Idealcon-
ourrenz mit Uebertretang der Regierangs-Polizeiverordnang vom 9. Mai
1888 schuldig and wird daher jeder von ihnen za einer Geldstrafe von
drei Mark, im Unvermögensfalle za einem Tage Haft verartheilt.
Die Kosten werden den- beiden Angeklagten auferlegt.
Gegen die Angeklagten ist unter der Beschuldigung, am 23. Juni 1890 in
ihren Gesohäftslooalen zu B. Stollwerk’sche Brustbonbons zum Verkaufe
feilgehalten za haben, unter Anführung des § 1 der Verordnung, betreffend den
Verkehr mit Arzeneimitteln vom 4. Januar 1875 and des § la und b der Polizei-
verordnung der Regierung za Düsseldorf vom 9. Mai 1888, das Hauptverfahren
eröffnet worden.
Das Königliobe Schöffengericht zu B. führt in dem Urtheile vom 30. August
1890, in welchem auf Freisprechung erkannt, zunäohst zutreffend aas, dass die
Heranziehung der Verordnung vom 4. Januar 1875 eine irrige ist and vielmehr
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UMIVERSITY OF IOWA
136
Dr. Weiss.
der §367 No. 3 des St.-G.-B. iu Verbindung mit der Verordnung vom 27. Januar
1890 (Reichsgesetzblatt S. 9) in Betracht kommt, es stellt sodann zwar that-
sächlich fest, dass die Angeklagten am 23. Juni 1890 Arzneien, soweit der
Handel mit denselben nicht freigegebon ist, ohne polizeiliche Genehmigung feil¬
gehalten bezw. verkauft haben, gelangt aber zur Freisprechung, indem es an¬
nimmt, dass die Stollwerk’schon Brustbonbons unter die bei No. 5 des Verzeich¬
nisses A der Verordnung vom 27. Januar 1890 aufgeführten Ausnahmen, näm¬
lich unter die mit Zucker eingekochten Fruchtsäfte fallen, deren Verkauf
freigegeben ist, und dass der angegebene Thatbestand eine Uebertretung der
Folizeiverordnung vom 9. Mai 1888 nicht enthalte.
Die Königliche Staatsanwaltschaft bat gegen diese Entscheidung in der
gesetzlichen Form und Frist das Rechtsmittel der Berufung eingelegt, da die
Stollwerk’scben Brustbonbons nicht
sondern als Pastillen im Sinne
als mit Zucker eingekochte Frn^htsäfte,
der No. 9 der Verordnung anzu¬
sehen seien und deshalb als Heilmittel nur in Apotheken feilgehalten werden
dürften.
In der Hauptverhandlung II. Instanz ist von der Vertheidigung Namens der
Angeklagten, wie in der Vorinstanz zugegeben worden, am 23. Juni 1890 in
ihren Geschäftslocalen in B. die bekannten „ S tollwerk'sehen Brustbon¬
bons“ feilgehalten zu haben und zwar in einer derartigen Umhüllung, wie sei¬
tens der Königlichen Staatsanwaltschaft ein Exemplar zu den Acten übergeben
worden ist.
Nach § 1 der mehrgedachten Verordnung vom 27. Januar 1890 (Reichs¬
gesetzblatt S. 9) dürfen die in dem Verzeichnisse A aufgeführten Zubereitungen,
ohne Unterschied, ob sie heilkräftige Stoffe enthalten oder nicht, als Heilmittel
nur in Apotheken feilgehalten oder verkauft werden. Dem Vorderrichter kann
nicht darin beigetreten werden, dass die Stollwerk’schen Brustbonbons unter die
bei No. 5 des Verzeichnisses A als Ausnahme aufgefübrten, mit Zuoker einge¬
kochten Fruchtsäfte fallen, vielmehr muss mit der Königlichen Staatsanwaltschaft
im Gegensätze zu dor nicht näher begründeten Ansicht des vernommenen Gut¬
achters, welcher davon ausgeht, dass Stollwerk’sche Brustbonbons nicht unter
die gedachte Verordnung fallen, angenommen werden, dass dieselben in ihrer be¬
kannten festen Erscheinungsform unter den Begriff der Pastillen (Plätzchen)
im Sinne der No. 9 des Verzeichnisses A zu stellen sind, ohne dass sie zu
den daselbst aufgeführten Ausnahmen gerechnet werden können. Die Verordnung
will, indem sie das Wort „Pastillen“ durch den Zusatz: „auch Plätzchen und
Zeltchen“ erläutert, offenbar auoh diejenigen Zubereitungen eingeschlossen
wissen, welche in plätzchenartiger Form — und dazu gehören doch die Bon¬
bons — in Verkehr gebracht werden. Zubereitungen in dieser Form sollen nach
der angezogenen Verordnung als „Heilmittel“ nur in Apotheken feilgehalten oder
verkauft werden. Der Gerichtshof nimmt an, dass die StGÜwerk’schen Brust¬
bonbons hier in der That als Heilmittel feilgebalten worden sind und zwar wegen
der auf der Umhüllung befindlichen Aufschriften, in welchen dieselben als wirk¬
same Heilmittel gegen Krankheiten angepriesen werden, ln einem auf der
Rüokseite der Umhüllung befindlichen Atteste des Professors Dr. Har¬
le ss zu Bonn heisst es wörtlich:
„Die Bestandtheile dieser angenehm schmeokenden und sich leioht im
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bv Google
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Zur Casuistik des Kampfes gegen den Geheiinmittelunfug.
137
Munde lösenden Zeltchen sind durchaus gut und zweckmässig gewählt von Pflan¬
zen, deren reizmildernde, beruhigende, und nach Umständen krampfstillende,
auflösende Wirksamkeit in catarrhalischen, nooh nicht veralteten Beschwerden
und daherrührender Heiserkeit oder mehr trockenem Reiz- und Krampfschoupfen
längst bekannt und häufig benutzt sind und zu denen jetzt noch der Zusatz eines
in jenen Zuständen besonders nützlichen Pflanzenmittels hinzugekommen ist,
durch welchen die Wirksamkeit dieser beliebten und empfehlungswerthen Cara-
mellen nicht unbedeutend vermehrt wird. “
Auf der anderen Seite der Umhüllung sind sodann die Namen von 23 Apo¬
thekern aufgefübrt, welche die Brustbonbons angeblich geprüft und attestirt
haben. Bei derartigen Aufschriften der Umhüllungen werden die Stollwerk’schen
Brustbonbons nicht als einfache Genussmittel, sondern in erster Linie als Heil¬
mittel gegen Krankheiten und Körperschäden angepriesen. Auf die An¬
sicht, dass die Brustbonbons nur aus Zucker bestehen, kann es hierbei nioht an¬
kommen, weil, abgesehen davon, dass der Gutachter nach seiner eigenen Er¬
klärung eine Untersuchung nicht vorgenommen hat, auf den Umhüllungen, in
welchen die Stollwerk’schen Brustbonbons feilgeboten werden und hier feilgeboten
worden sind, behauptet wird, dass dieselben Zusätze verschiedener heil¬
bringender Pflanzen enthalten.
Die Angeklagten haben hiernach durch das Feilhalten der Stollwerk’schen
Brustbonbons gegen den § 367 No. 3 des St.-G.-B. in Verbindung mit der Ver¬
ordnung vom 27. Januar 1890 verstossen. Der Gerichtshof erblickt in dem
obigen Thatbestande aber zugleich eine Uebertretung der Polizei Verordnung
der Regierung zu Düsseldorf vom 9. Mai 1888 (Amtsblatt S. 219), naoh
weloher gemäss § 1 b Stoffe und Zubereitungen jeder Art, deren Bestandtheile
durch ihre Benennung oder Ankündigung nicht für Jedermann deutlich und zwei¬
fellos erkennbar gemacht sind (Geheimmittel), als Heilmittel gegen Krank¬
heiten und Körperschäden von Menschen und Thieren weder öffentlich angekün¬
digt, nooh angepriesen werden dürfen. In dem oben angeführten Attest des Dr.
Harless auf der Umhüllung, welches hier als Anpreisung der Stollwerk’schen
Brustbonbons verwerthet wird, findet sich der Hinweis auf die Pflanzenzusätze,
ohne dass die Namen näher angegeben sind. Die öffentliche Anpreisung ist
darin zu finden, dass die Brustbonbons mit den anpreisenden Umhüllungen in
den offenen Läden der Angeklagten feilgehalten worden sind und an Jeder¬
mann ans dem Publikum verkauft werden.
Hiernach geht die thatsächliche Feststellung dahin:
„dass die Angeklagten am 23. Juni 1890 in ihren Gescbäftslocalen in
B. Stollwerk’sche Brustbonbons, welohe als Zubereitungen (Pastil¬
len, Plätzchen) im Sinne der No. 9 des Verzeichnisses A
zur Verordnung vom 27. Januar 1890 (Reiohsgesetzblatt S. 9)
anzusehen sind, als Heilmittel feilgehalten haben, obwohl dieses naoh
§ 1 der Verordnung nur in Apotheken statthaft ist“,
und zugleich die Stollwerk’schen Brustbonbons, welche sich als Zubereitungen
darstellen, deren Bestandtheile durch ihre Benennung oder Ankündigung nicht
für Jedermann deutlich und zweifellos erkennbar gemaoht sind (Geheimmittel)
als Heilmittel gegen Krankheiten und Körpersohäden von Menschen öffentlioh an¬
gepriesen haben.
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Dr. Weiss.
Die Angeklagten haben hiernach, wie bereits oben angedeatet, gegen
§ 367 No. 3 des St.-G.-B., za dessen Ausführung die Verordnung vom 27. Ja¬
nuar 1890 erlassen, in Idealconcurrenz mit der Uebertretung der Polizeiver-
ordnung der Königlichen Regierung zu Düsseldorf rom 9. Mai 1888 ver-
stossen.
In Anwendung des § 73 des St.-G.-B. ist demnach unter Berücksichtigung,
dass es sich um eine erstmalige Bestrafung handelt, unter Aufhebung des I. Ur-
theils auf eine Geldstrafe von drei Mark gegen jeden Angeklagten, im Unver-
mögensfalle auf je einen Tag Haft erkannt worden.
Die Kosten treffen den Angeklagten nach § 497 der St.-P.O.
LXXV. Erkenntniss des KaHBergeriekto vom 12. Jaaaar 1891.
Der Strafsenat des Königlichen Kammergerichts zu Berlin hat in der
Sitzung vom 12. Januar 1891 für Recht erkannt,
dass die Revision der Angeklagten gegen das Urtheil der zweiten
Strafkammer des Königlichen Landgerichts zu D. vom 7. November
1890 (No. LXXIV) zurückzuweisen und jedem der Angeklagten die
Kosten seines Rechtsmittels aufzuerlegen.
Die Revision der Angeklagten, welche die Rechtsgiltigkeit der vom Beru-
fungsriohter für anwendbar erachteten Polizei Verordnung der Königlichen Re¬
gierung zu Düsseldorf vom 9. Mai 1888 bestreitet und Verletzung der §§367 3 ,
Strafgesetzbuchs in Verbindung mit der Kaiserlichen Verordnung vom 27. Ja¬
nuar 1890 durch unrichtige Anwendung rügt, kann für begründet nicht erachtet
werden. Die thatsäcblichen Feststellungen des Berufungsrichters, welche in ihrer
Begründung einen Rechtsirrthum nicht erkennen lassen, erfüllen denThatbestand
einer Uebertretung des § 367 3 Strafgesetzbuchs und des § 1 lit. b der Polizei¬
verordnung vom 9. Mai 1888 in idealer Concurrenz.
Der Anwendbarkeit dieser Strafgesetze stehen auch naoh der zutreffenden
Ausführung des Berufungsrichters die Bestimmungen der Kaiserlichen Verord¬
nung vom 27. Januar 1890 nicht entgegen.
Die aus den §§ 137, 140 des Gesetzes über die allgemeine Landesverwal¬
tung vom 30. Juli 1883 gegen die formelle Giltigkeit der Polizeiverord-
nungvom 9.Mail888 hergeleiteten Einwendungen aber erscheinen verfehlt, weil das
gedachte Gesetz nach § 104 der Kreisordnung für die Rheinprovinz erst mit dem
1. Juli 1888 in Kraft getreten ist und die Polizeiverordnung vom 9. Mai 1888
ihrer äusseren Form nach den bis dahin massgebend gewesenen Vorschriften des
Ministers des Innern vom 6. Juni 1850 (Ministerialblatt für die innere Verwal¬
tung, Seite 176) völlig entspricht.
Die Revision war daher als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kosten des erfolglos eingelegten Rechtsmittels waren gemäss § 505
Strafprocessordnung den Angeklagten aufzuerlegen.
LXXVI. Erkenntniss des Landgerichts D. vom 21. November 1890.
Der Angeklagte, Buchdruckereibesitzer N. zu N., hat gegen das Urtheil des
Schöffengerichts zu N., welches ihn wegen Zuwiderhandlung gegen die Polizei-
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Zar Casuistik des Kampfes gegen den Geheimmittel aiifug.
139
Verordnung der Regierung zu Düsseldorf vom 9. Mai 1888 zu einer Geldstrafe
von 3 Mark verurtheilt, in der gesetzlichen Form und Frist das Rechtsmittel der
Berufung eingelegt. Dieselbe kann als begründet nicht erachtet werden.
Die gedachte Polizeiverordnung, bezüglich deren von der Verteidigung mit
Unrecht bezweifelter Rechtsgültigkeit auf Band VII, S. 228 der Entscheidungen
des Kammergerichts erwiesen wird, bestimmt im t § 1: „Stoffe und Zuberei¬
tungen jeder Art,
a) deren Feilhalten und Verkauf nicht Jedermann freigegeben ist,
b) deren Bestandtheile daroh ihre Benennung oder Ankündigung nicht für
Jedermann deutlich und zweifellos erkennbar gemacht sind (Geheim¬
mittel), —
dürfen als Heilmittel gegen Krankheiten und Körpersohäden von Menschen und
Thieren weder öffentlich angekündigt noch angepriesen werden.“
Der § 2 bedroht jede Zuwiderhandlung mit einer Geldstrafe bis zu
30 Mark.
Es kann zunächst nach dem Wortlaut und dem Zweck der Verordnung kei¬
nem Bedenken unterliegen, dass die Verbotsbestimmungen unter § 1 a und b
alternativ zu behandeln sind, so dass die Zuwiderhandlung gegen jede der
beiden Bestimmüngen strafbar ist.
Nach dem Ergebnisse der mündlichen Verhandlung ist der Angeklagte Ver¬
leger der zu N. erscheinenden N.’er Zeitung und hat seiner eigenen Angabe naoh
die vier incriminirten Inserate in der Ausgabe vom 27. März 1890, nämlich:
Dr. White’s Augenwasser, Bullrich’s Reinigungssalz, Thielen’s
Haarspiritus und Marienzeller Magentropfen vorher gelesen und ihre
Aufnahme in die Zeitung gatgeheissen. Die in diesen Inseraten aufgeführten
Zubereitungen werden, wie der Wortlaut der Inserate zweifellos ergiebt, als Heil¬
mittel gegen Krankheiten und Körperschäden von Menschen angekündigt, ohne
dass ihre Bestandtheile irgend wie angegeben sind. Sie fallen deshalb unter die
Verbotsbestimmung des § 1 b der gedachten Verordnung. — Der Einwand des
Angeklagten, dass er in der Veröffentlichung nichts Strafbares habe finden
können, kann, da namentlich bei Polizeiübertretungen der Reohts-
irrthum ohne Einfluss ist, keine Berücksichtigung finden.
Weiterhin ist auch sein Einwand, dass nach § 21 des Pressgesetzes vom
7. Mai 1874 vor ihm der Redacteur haftbar sei und er durch Namensangabe
seiner Auftraggeber straflos werde, unbegründet, da, wie bereits der Vorder¬
richter zutreffend hervorhebt, der Angeklagte auf Grund seines Geständnisses als
Thäter im Sinne des § 20 des Pressgesetzes anzusehen ist, während der
Schatz des § 21 ihm nur dann zur Seite stehen würde, wenn die Veröffentlichung
ohne sein Wissen erfolgt wäre.
Nach alledem war mit dem ersten Richter festzustellen,
„dass der Angeklagte N. Stoffe und Zubereitungen, deren Bestandtheile
durch ihre Benennung oder Ankündigung nicht für Jedermann deutlich
und zweifellos erkennbar gemacht sind (Geheimmittel) als Heilmittel
gegen Krankheiten und Körpersohäden von Menschen öffentlioh aoge-
kündigt hat.“
Die hiernach vom Vorderricbter wegen Zuwiderhandlung gegen die Polizei¬
verordnung der Königlichen Regierang za Düsseldorf vom 9. Mai 1888 gegen
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140
Dr. Weiss,
den Angeklagten verhängte Geldstrafe von 3 Mark erscheint aas den von ihm an¬
gegebenen Gründen auch bezüglich ihrer Höhe begründet.
Die Berufung des Angeklagten war deshalb zu verwerfen.
Die Kosten trägt Angeklagter nach § 505 der St.-P.-O.
LXXV1I. Erkenntniss des Schöffengerichts C. vom 6. Juli 1889.
Der Angeklagte, Redacteur N. zu N., ist des Vergehens gegen das Gesetz
vom 21.Germinal XI, 29. Pluviose XIII und vom 25. Prairial XIII in fünf Fällen
schuldig und wird daher für jedenFall zu einer Geldstrafe von zwanzig Mark,
zusammen von hundert Mark, an deren Stelle im Nichtbeitreibungsfalle für
je 10 Mark ein Tag Gefängniss tritt und zu den Kosten des Verfahrens
verurtheilt.
Der Angeklagte gestand zu, dass die ihm vorgezeigten und in dem Straf¬
befehl vom 8. Juni, gegen welchen Angeklagter form- und fristgerecht Einspruch
erhoben bat, näher angegebenen Anzeigen, in denen s. g. Geheimmittel an¬
gepriesen werden, aus der N.’er Zeitung herrühren und dass er selbst der ver-
antwörtliche Redacteur dieser Zeitung sei. Angeklagter giebt zu, dass er
zwar gewusst habe, dass sein Vorgänger in der näher bezeichneten Stellung
ebenfalls wegen des hier fragliohen Vergehens mit dem Strafgesetz in Conflict
gekommen sei, will nur Zweifel darüber gehabt haben, ob die Aufnahme der hier
fraglichen Anzeigen strafbar sei oder nicht. Auf Grund dieser Sachlage war An¬
geklagter der ihm zur Last gelegten Vergehen gegen das Decret vom 2l.Germinal
XI, 29. Pluviose XIII und 25. Prairial XIII für überführt zu erachten und für
jede Zuwiderhandlung gegen die angezogenen Gesetzesbestimmungen angemessen,
wie geschehen, zu bestrafen.
Die Kostenentscheidung war nach § 497 Straf-Process-Ordnung zu treffen.
LXXV1II. Erkenntniss des Schöffengerichts zu E. vom 20. März 1890.
Der Angeklagte, Redacteur N. zu N., wird wegen Uebertretung der Regie¬
rungs-Polizeiverordnung vom 9. Mai 1888 und der Kaiserlichen Verordnung vom
4. Januar 1875 in 19 Fällen zu einer Geldstrafe von je 5 Mark ev. einer
Haftstrafe von je 1 Tag kostenfällig verurtheilt und zwar wegen wiederholter
öffentlicher Anpreisung folgender Heilmittel, bezw. Brochüren in der von ihm
redigirten Zeitung:
Bock’s Peotoral, Husten stiller,
Dr. Lieber’s Nerven-Kraftelixir,
Brandt’s Schweizerpillen,
Oidtmann’s Purgativ,
Neave’s Kindermehl,
0. Dietze’s Zwiebelbonbons,
Burke’s Arznei- und Chinaweine, ,
Sohmidt’s Gehöröl, j
Mittel gegen Trunksucht. ,
Prospeot von Franz Otto aus Berlin, in welchem Heilmittel! an¬
gepriesen wurden. }
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UN1VERS1TY OF IOWA
Zur Casuistik des Kampfes gegen den Gebeimmittelunfug.
141
Broohüre: Die männlichen Schwäche zustande von Dr. Bie-
senz,
Broohüre: Dr. Retau’s SelbstbeWährung, and
Broohäre: Die ünterleibsbröche and ihre Heilang.
LXX1X. Erkenntniss des Landgerichts za D. vom 21. März 1891.
Das (Jrtheil des Schöffengerichts za G. vom 22. Januar d.J. wird aafgehoben.
Der Angeklagte wird wegen Uebertretang der Polizeiverordnung vom 9. Mai 1888
za einer Geldstrafe von drei Mark, im Unvermögensfalle za einer Haft¬
strafe von einem Tage and in die Kosten des Verfahrens verartheilt.
Durch das Urtheil vom 22. Januar d. J. ist der Angeklagte von der Be¬
schuldigung,
in der Ende 1890 in Berlin erschienenen Unterhaltungs-Beilage No. 40
zam „ Rheinländer“, betitelt „Der Zeitspiegel“ eine Reihe von Ge¬
heimmitteln angekändigt, bezw. angepriesen za haben,
Uebertretang gegen die Regierangs Polizei-Verordnung vom 9. Mai 1888 (Amts¬
blatt S. 219),
freigesprochen worden. Die rechtzeitig and in gehöriger Form ein¬
gelegte Berufung erscheint begründet. Dass in der fraglichen Unter¬
haltungs-Beilage (Blatt 3 der Acten) die in der Anklageschrift (Blatt 6
der Acten) näher bezeichneten Stoffe and Zabereiinngen als Heilmittel
gegen menschliche Krankheiten und Körperschäden angekündigt and
angepriesen worden, ergiebt sioh ohne Weiteres aus dem Wortlaut der
betreffenden Annoncen; diese Stoffe and Zubereitangen sind auch
Geheimmittel, weil ihre Bestandtbeile nioht für Jedermann deutlich
and zweifellos erkennbar gemacht sind. Es liegt also an sioh der
Thatbestand der Uebertretang gegen die Regierangs Polizei-Verordnung
vom 9. Mai 1888 vor. Es mass aber auch nach § 20, Abs. 2, des
Pressgesetzes vom 7. Mai 1874 der Angeklagte als Thäter bestraft
werden.
Der Angeklagte ist, wie er zugesteht, verantwortlicher Redacteur der in B.
erscheinenden periodischen Druckschrift „Der Rheinländer“. Als solcher ist er
aach verantwortlich für den gesammtenInhalt der „Gratis-Sonntagsbeilage“
zu dieser Zeitung, betitelt „Der Zeitspiegel“, „illastrirte Unterhaltungsbeilage“,
da diese Beilage einen integrirenden Bestandtheil der Zeitung „Der Rh.“ bildet.
Von dieser Verantwortung wird er daduroh, dass unter der Beilage noch als be¬
sonderer verantwortlicher Redacteur, ein gewisser N. in Berlin benannt ist, um
so weniger befreit, als in dem Vordruck des Haaptblattes er selbst als alleiniger
Redacteur sowohl des Hauptblattes, als aach der Sonntags-Beilage bezeichnet ist.
(Vergl. Rechtssprechung des Reichsgerichts in Strafsachen Bd. 5, S. 82; Ent¬
scheidungen Bd. 5, S. 814.)
Unter den „besonderen Umständen “, durch welche die Annahme der
Thäterschaft (beziehungsweise Mitthätersohaft) des Redaotears ausgeschlossen wird,
versteht das Gesetz nur anssergewöhnliche, von dem Willen des Redaotears un¬
abhängige Umstände, welche ihn im Einzelfalle ohne eigeaes Verschulden ver¬
hindert haben, den betreffenden Artikel za lesen and zu prüfen (vergleiche
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UNIVERSITÄT OF IOWA
142
Dr, Weiss,
Rechtsprechung des Reiohsgerichts Band 6, Seite 756; Band 1, Seite 65,
Seite 673).
Als ein solcher Umstand kann es nicht angesehen werden, dass der An¬
geklagte, wie er behauptet, die in Berlin hergestellte Beilage so rasch nach ihrer
Ankanft in B. weiter versenden muss, dass es ihm nur möglich ist, die Illustra¬
tionen und zuweilen kleinere Aufsätze zu prüfen. Wenn er sie fertig von Berlin
beziehen will, so mag er dafür Sorge tragen, dass ihm die Beilage oder ein
Probeblatt derselben rechtzeitig zugeht. Noch weniger konnte der Angeklagte
— wie der erste Richter annimmt — die nach dem Gesetze ihn gewöhnlich
treffende Verantwortlichkeit durch Vertrag auf den Berliner Verleger des „Zeit¬
spiegels“ abwälzen.
Mit Rücksicht auf die Umstände des Falles konnte auf eine gelinde Strafe
erkannt werden.
Ueber die Kosten ist nach § 497 der Strafprozessordnung entschieden.
LXXX. Erkennniss des Schöffengerichts zu B. vom 21. März 1891.
Es wurde das Urtheil mit Gründen dahin verkündet,
der Angeschuldigte wird wegen Uebertretung der Regierungs-Polizei-
Verordnung vom 9. Mai 1888 zu einer Geldstrafe von 15 Mark, im
Nichtzahlungsfalle zu einer Haftstrafe von zwei Tagen und zu den
Kosten des Verfahrens verurtheilt.
Angeschuldigter ist Redacteur des „Haupt-Annoncen-Blattes“. Mit No. 48
desselben vom 26. Februar 1891 ist ein Kalender zur Vertheilung gelangt, in
dem „Brandt’s Schweizerpapillen“ angepriesen werden. Auf diesen
„Prospect“ ist in der „Seufzerecke“ des Blattes aufmerksam gemachi. Hierdurch
sind in dem Blatte selbst, welches durch die Beilage sich für diesen Tag er¬
weitert bat, diese Schweizerpillen angekündigt. Dieselben siud wegen ihrer
Form „Pillen“ dem freien Verkehr entzogen und können nur in Apotheken feil¬
gehalten werden (Reichs-Verordnung vom 27. Januar 1890, VerzeichnissA.).
Deshalb ist ihre Ankündigung nach der Regierungs-Polizei-Verordnung vom
9. Mai. 1888 verboten und strafbar. Strafe bemessen im Hinblick auf die Vor¬
strafen des Angesohuldigten auf Grund derselben Verordnung.
LXXXI. Erkenntniss des Sohöffengerchts zu E. vom 20. März 1890.
In der Strafsache gegen den Redacteur Wilhelm E. wegen Anpreisung
von Geheimmitteln hat das Königliche Schöffengericht zu E. in der
Sitzung vom 20. März 1890 für Recht erkannt:
Der Angeklagte, Redacteur N. zu E., wird wegen Uebertretung der
Regieruogs-Polizei-Verordnung vom 9. Mai 1888 und der Kaiserlichen
Verordnung vom 4. Januar 1875 in 10 Fällen zu je 5 Mark Geld¬
strafe,. zusammon also zu 50 Mark Geldstrafe ev. zu 10 Tagen
Haft kostenfällig verurtheilt.
Gegen den Angeklagten waren in 10 Fällen wegen Uebertretung gegen die
Regierungs-Polizei-Verordnung vom 9. Mai 1888 (Anpreisung von Geheimmitteln)
polizeiliche Strafverfügungen ergangen.
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Zar C&saistik des Kampfes gegen den Qebeimmittelunfug.
143
Gegen s&mmtliohe Strafverfügungen bat der Angeklagte rechtzeitig auf
richterliche Entscheidung angetragen. *
Zunächst machte der Angeklagte geltend, dass er verantwortlicher Redactear
für den politischen Theil des Blattes sei, nioht dagegen für den Inseratenteil.
Die in Frage stehenden Inserate würden bezahlt, wie jedes andere Inserat und
sei es gleichgültig, ob dieselben unmittelbar anter den politischen Theil gesetzt
seien. Es bleibe immerhin ein bezahltes Inserat und hätten die Strafverfügungen
demnach gegen den Redacteur J. H. B. gerichtet Merden müssen. — Der Ver¬
treter des Angeklagten führte zur Sache selbst aus, dass durch die Ankündigung
von Rademann s Kindermehl eine Uebertretung gegen die Regierungs-
Polizei-Verordnung vom 9. Mai 1888 nicht begangen worden sei, da dasselbe als
Qenussmittel, nicht als Heilmittel angepriesen worden. Im Uebrigen gab der
Vertreter des Angeklagten zu, dass eine Uebertretung gegen die angezogene Be¬
stimmung vorliege und stellte endlich noch die Behauptung auf, dass es sich in
den vorliegenden Fällen um ein fortgesetztes Delict bandle, dass demnach die
durch die Strafverfügungen festgesetzten Strafen viel zu hooh seien.
Die Einrede des Angeklagten, nicht gegen ihn, sondern gegen den Redaoteur
N. hätten die Strafverfügungen gerichtet werden müssen, ist unzutreffend. N. ist
nur, wie es im Kopfe der Zeitung heisst, für den Inseratentheil verantwortlich;
dieser ist durch einen breiten Strich, den sogenannten Redactionsstrich,
von dem übrigen Inhalte der Zeitung getrennt und anf diese Weise gekenn¬
zeichnet. Die hier fraglichen Reclamen stehen über dem Redactionsstriche und
ist deshalb mit Recht für diese der Chefredacteur zur Verantwortung gezogen
worden.
Die Behauptung, Rademann’s Kindermehl sei als Genussmittel, nicht
als Heilmittel angepriesen, widerspricht dem Wortlaute de3 Inserates selbst.
Rademann’s Kindermehl wird dort als Mittel gegen Durchfall bei kleinen
Kindern, also als Heilmittel angepriesen. Ferner sind die Bestandtheile
des Rademann’schen Kindermehls weder durch ihre Benennung, noch Ankündi¬
gung deutlich und zweifellos erkennbar gemacht. Von einem fortgesetzten Delict
kann gar keine Rede sein; zunächst handelt es sich vorliegend um Uebertretungen,
sodann stellt sich jede Handlung als eine in sich selbstständige und abgeschlos¬
sene, den vollen Tbatbestand eines Straffalles bildende dar, ohne dass ein ein¬
heitliches zusammenhängendes Thun des Angeklagten, ein von,Anfang an auf
die Verübung sämmtlicher vorliegend incriminirter Fälle gerichteter Wille zu
erkennen wäre.
Das Königliche Schöffengericht hielt den Angeklagten hiernach in 10 Fällen
der Uebertretung gegen die Regierungs-Polizei-Verordnung vom 9. Mai 1888 für
überfahrt und verurtheilte denselben in jedem einzelnen Falle zu einer Geldstrafe
von 5 Mark, zusammen demnaoh zu 50 Mark, event. 5 Tagen Haft (10 Mark
ä 1 Tag Haft) und nach § 487 der Strafprozessordnung zur Tragung der Kosten
des Verfahrens.
LXXXII. Erkenntniss des Landgerichts zu E. vom 20. Septbr. 1890.
In der Strafsaohe gegen den Redactear Wilhelm E., 36 Jahre alt, zu
E., wegen Aopreisung von Geheimmitteln hat auf die von dem Angeklagten
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Dr. Weiss,
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gegen das Urtbeil des Königlioben Schöffengerichts zu E.vom 20. März 1890
(No. LXXXI) eingelegte Berufung, die I. Strafkammer des Königlioben
Landgerichts zu E. in der Sitzung vom 20. September 1890 für Recht
erkannt: Unter Annahme der Berufung wird das Urtheil des Königlichen
Schöffengerichts zu E. vom 20. März 1890 aufgehoben, der Angeklagte der
Uebertretung der Regierungs-Polizei-Verordnung vom 9. Mai 1888 nicht sohul-
dig erklärt und deshalb freigesprochen; die Kosten des Verfahrens fallen
der Staatskasse zur Last.
In der Zeit vom 28. März bis 9. September 1889 erschienen in dem redac-
tionellen Theil der Nummern 14, 94, 98, 107, 111, 113, 120, 124, 138, 139,
141, 142, 146, 150, 153, 157, 159, 180 und 247 der „Neuesten Nachrichten"
Anpreisungen betreffend Richard Brandt’s Schweizerpilen, Dr. Sohmid-
ler, Dr. Barnay’s Marienbader Reductionspillen, Dr. Bock’s Pecto-
ral, Dr. Meyer’s Bleichsuchtpillen, Rademann’s Kindermohl, S. Rad-
lauer’s Höhn eräugen m ittel und Warner’s Safe eure und zwar mit Aus¬
nahme der No. 94, welche zwei brachte, eine der vorgenannten Anzeigen.
Wegen Aufnahme dieser Anzeigen ist der Angeklagte, welcher unbestritten
Chef-Redacteur der in E. erscheinenden „Neuesten Nacbriohten“ ist, wäh¬
rend für den Inseratentheil als verantwortlich M. angegeben ist, zur straf¬
rechtlichen Verantwortung gezogen und durch das angegriffene Urtheil wegen
Uebertretung der Polizei-Verordnung der Königlichen Regierung zu Düsseldorf
vom 9. Mai 1888 und der Kaiserlichen Verordnung vom 4. Januar 1875 in
10 Fällen schuldig erklärt und deshalb zu je 5 Mark, zusammen 50 Mark Geld¬
strafe ev. 10 Tage Haft, sowie zur Tragung der Kosten des Verfahrens verurtheilt
worden. Abgesehen von der Strafsache C. 428/89, bei welcher 2 Strafbefehle
vorliegen, sind nach dem Vorgänge der Polizeibehörde 10 strafbare Handlungen
angenommen und zwar sind die Anzeigen in No. 84, 94, 98, 120, 124, 180
und 247 als je 1 Fall behandelt, dagegen die Anzeigen in No. 107, 111, 113
(C. 324/89) werden in No. 163, 157, 159 (C. 460 89 und zuletzt in No. 130,
139, 141, 142, 146 (C. 428/89) als je 1 Fall zusammengefasst.
Gegen dieses Urtheil hat der Angeklagte durch unterm 27. März 1890 ein¬
gegangenen Schriftsatz, also rechtzeitig, sowie auch formgerecht Berufung ein¬
gelegt. Er beantragt Freisprechung und zwar übereinstimmend mit seinen Aus¬
führungen in erster Instanz, weil nicht er — der Angeklagte —, sondern nur M.
strafrechtlich belangt werden könnte. Es müsse bezüglich Rademann’s Kinder¬
mehl Freisprechung eintreten, während er im Uebrigen das Vorliegen der Ueber¬
tretung anerkennt. Die Königliche Staatsanwaltschaft beantragt Verwerfung der
Berufung.
Auf Grund der Beweisaufnahme ist das Gericht den Ausführungen des An¬
geklagten beigetreten. Unbestritten und festgestellt ist zunächst, dass die frag¬
lichen Anzeigen alle über dem sogenannten grossen Redactionsstrich stehen, wäh¬
rend sie andererseits von dem eigentlichen politischen localen Theil u. s. w.
wiederum durch einen dem grossen Redactionsstrich ähnlichen, freilich nicht
gleiohen Strich getrennt erscheinen. Aeusserlioh erwecken dieselben sonach, wie
auoh der Sachverständige sagt, den Anschein, als ob sie von der Redaotion aus¬
gingen und stellen sie sich gleichsam als redaotionelle Anzeigen dar.
Andererseits sind jedoch diese Anzeigen, wie aus vorgelegten Schriftstücken des
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Zur Casuistik des Kampfes gegen den Geheimmittelunfug.
145
Angeklagten genügend festgestellt wurde, nioht aus eigenem Antriebe des Ange¬
klagten, sondern auf Veranlassung der Interessenten eingerüokt worden and
stehen dieselben daher in dieser Beziehung den eigentlichen Inseraten gleich.
Aach werden dieselben, wie gleichfalls durch die vorgelegten Bücher nachge¬
wiesen wurde, gleich den gewöhnlichen Anzeigen bezahlt, sogar bekanntermassen
mit einer höheren Gebühr und erstreben sie dasselbe Ziel wie das einfache In¬
serat. Erwägt man nun weiter, dass dies Verhältniss jedem nur einigermassen
erfahrenen Zeitungsleser bekannt ist, dass auch derartige Anzeigen ihrem ganzen
Inhalte und der Fassung naoh mit dem vorstehenden politischen Theil u. s. w. in
keiner Verbindung stehen und eine Täuschung sonach kaum möglich ist, dass
sodann zuletzt, wenn auch bei den Zeitungen hierüber keine unbedingt feste
Norm besteht, naoh den Erfahrungen des Sachverständigen derartige Anzeigen-
Reklamen nicht durch die Hand der RedacHon, sondern der Expedition gehen,
von letzterer allein bearbeitet werden und zur Kenntniss der ersteren vor dem
Druck fast nie kommen, dass bei einigen Zeitungen auch mitunter wirkliche In¬
serate vor dem allgemeinen Strich kommen, so ist derSohluss unabweisbar, dass
die fraglichen Reklamen als wirkliche Inserate anzusehen sind.
Demnach konnte Untergebens nioht der heutige Angeklagte zur strafrecht¬
lichen Verantwortung gezogen werden und war derselbe, ohne dass auf die Sache
selbst einzugehen gewesen wäre, freizusprechen.
Den Kostenpunkt regelt § 497 Str.-Pr.-O.
LXXXII. Erkenntniss des Kmaergeriehts vom 26. Januar 1891.
Im Namen des Königs!
In der Strafsache gegen den Redaoteur Wilhelm E. zu E. wegen Anpreisung
von Heilmitteln hat auf die von der Königlichen Staatsanwaltschaft gegen das
Urtheil der Strafkammer des Königlichen Landgerichts zu E. vom 20. September
1890 eingelegte Revision der Strafsenat des Königlichen Kammergerichts
zu Berlin in der Sitzung vom 26 Januar 1891 für Recht erkannt:
dass auf die Revision der Königlichen Staatsanwaltschaft das Urtheil
der I. Strafkammer des Königlichen Landgerichts zu E. vom 20. Sep¬
tember 1890 nebst der demselben zu Grunde liegenden Negativfest¬
stellung aufzuheben und die Saohe zur anderweiten Verhandlung
und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, in
die Berufungsinstanz zurück und zwar an das Königliche Landge¬
richt zu D. zu verweisen.
Die Revision der Königlichen Staatsanwaltschaft, welche Verletzung der
Polizeiverordnnng der Königlichen Regierung zu Düsseldorf vom 9. Mai 1888 in
Verbindung mit dem § 21, Absatz 2 des Reicbspressgesetzes vom 7. Mai 1874,
durch Nichtanwendung, sowie des § 7, Absatz 2 des Reichspressgesetzes durch
unrichtige Anwendung rügt, muss für begründet erachtet werden. Der Be¬
rufungsrichter hat den Angeklagten von der Anschuldigung, in verschiedenen
Nummern der unter seiner verantwortlichen Redaction erscheinenden periodischen
Druckschrift „Neueste Nachrichten“ Anpreisungen von Heilmitteln veröffentlicht
zu haben, ohne materielle Prüfung dieser Anschuldigung lediglich deshalb frci-
Viert«(Jabnwohr. f. gcr. Med. Dritte Fol-c. V. 1 . 10
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Dr. Weiss,
gesprochen, weil die incriminirten Reklamen, wenn sie sich anoh äasserlich als
„redactionelle Anzeigen“ darstellten, doch ihrem Inhalte nach den „eigentlichen
Inseraten" gleich za stellen seien, für den Iaseratentheil der gedaohten Druck¬
schrift aber, wie in der Ueberschrift derselben ausdrücklich angegeben, nicht der
Angeklagte, sondern M. zu E. als verantwortlicher Redaotenr hafte. Diese Ent¬
scheidung beruht auf einer unrichtigen Auslegung des § 7, Absatz 2 des Reichs-
Pressgesetzes. Nach ausdrücklicher Bestimmung dieses Paragraphen ist die Be¬
nennung mehrerer Personen als verantwortliche Redacteure nur dann zulässig,
wenn aus Form und Inhalt der Benennung mit Bestimmtheit zu ersehen
ist, für welchen Th eil der Druckschrift jede der genannten Personen die Re¬
daction besorgt. Die verschiedenen Theile der Druoksohrift, für welohe jeder der
mehreren Redaoteure haften soll, müssen also nicht blos dem Inhalte, sondern
auch der äusseren Form nach bestimmt angegeben und durch räumliche Trennung
äusserlich erkennbar bezeichnet werden. Dieser Vorschrift entsprechend ist
auch M. an der Spitze der „Neueste Nachriohten“ als verantwortlicher Redaoteur
des Inseratenteils, nicht als Redacteur aller, auch in dem redactionellen Theil
der Zeitung etwa aufgenommenen „Inserate" benannt. Es war demnach nur
zu prüfen, ob die incriminirten „Anpreisungen“ sich ihrer äusseren Form und
Stellung naoh im Inseraten theile der gedachten Zeitung befinden, nioht aber,
ob dieselben, wenn auch formell in den vom Angeklagten zu vertretenden redao-
tionellen Theil aufgenommen, ihrem Inhalte naoh eigentlichen Inseraten gleioh
zu stellen seien. Das auf einer unrichtigen Gesetzesauslegung beruhende Be-
rufungsurtheil musste demnach nebst der demselben zu Grande liegenden Nega¬
tivfeststellung aufgehoben und die Sache zur anderweiten Verhandlung und Ent¬
scheidung, auoh über die Kosten des Revisionsverfahrens, in die Berufungsinstanz
zurück, und zwar, da dies nach Lage der Saohe angemessen ersohien, an ein
anderes, nämlich an das Landgericht zu D. verwiesen werden.
LXXXIV. Erkenntniss des Landgerichts zu D. vom 11. April 1891.
In der Strafsache gegen den Redacteur W. E. zu E. wegen Anpreisens von
Heilmitteln hat, auf die von dem Angeklagten gegen das Urtheil des Königlichen
SchöffeDgeriohts zu E. vom 20. März 1890 eingelegte Berufung, die II. Straf¬
kammer des Königlichen Landgerichts zu D. in der Sitzung vom
11. April 1891 für Recht erkannt:
Da der Angeklagte in dem Termin zur Hauptverhandlung über die von ihm
eingelegte Berufung ungeachtet der durch Urkunde des Gerichtsvollziehers N.
vom 3. April und der Post vom 4. April 1891 nachgewiesenen Ladung weder
selbst nooh durch einen zulässigen Vertreter erschienen,
in Gemässheit der §§ 370, 505 der Strafprocessordnung wird die von
dem Angeklagten gegen das Urtheil des Königlichen Schöffengerichts
zu E. vom 20. März 1890 eingelegte Berufung verworfen und wird
der Angeklagte verurtheilt, die Kosten der Berufung zu tragen.
LXXXV. Erkenntniss des Landgerichts zu D. vom 21. März 1891.
In der Strafsache gegen den Redacteur N. N. zu N. wegen Anpreisung
von Geheimmitteln bat, auf die von der Königlichen Staatsanwaltschaft gegen
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Zur C&saistik des Kampfes gegen den Geheimmittelanfug.
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das Urtheil des Königliohen Sohöffengeriohts za N. vom 22. Januar 1891 einge¬
legte Beratung,' die II. Strafkammer des Königlichen Landgerichts zu
D. in der Sitzung vom 21. März 1891 für Reoht erkannt:
Das Urtheil des Schöffengerichts wird aufgehoben, der Angeklagte wird
wegen Uebertretung der Polizeiverordnung vom 9. Mai 1888 zu einer
Geldstrafe von 3 Mark, im Unvermögensfälle zu einer Haftstrafe von
einem Tag und in die Kosten des Verfahrens verurtheilt.
Durch das Urtheil vom 22. Januar ds. Js. ist der Angeklagte von der Be¬
schuldigung,
in der Ende 1890 in B. erschienenen Unterhaltungsbeilage No. 40
zum «Rheinländer", betitelt «Der Zeitspiegel", eine Reihe von
Geheimmitteln angeköndigt, beziehungsweise angepriesen zu haben,
Uebertretung gegen die Regierungs-Polizeiverordnung vom 9. Mai 1888,
Amtsblatt S. 219,
freigesprochen worden. Die rechtzeitig und in gehöriger Form eingelegte Be¬
rufung erscheint begründet. Dass in der fragliohen Unterhaltungsbeilage (Blatt3
der Acten) die in der Anklageschrift (Blatt 6 der Aoten) näher bezeiohneten
Stoffe und Zubereitungen als Heilmittel gegen menschliche Krankheiten und Kör-
perschäden angekündigt und angepriesen worden, ergiebt sioh ohne Weiteres aus
dem Wortlaut der betreffenden Annoncen; diese Stoffe und Zubereitungen sind
auch Geheimmittel, weil ihre Bestandtheile nicht für Jedermann deutlich und
zweifellos erkennbar gemacht sind. Es liegt also an sioh der Thatbestand der
Uebertretung gegen die Regierungs-Polizeiverordnung vom 9. Mai 1888 vor. Es
muss aber auch naoh § 20, Absatz 2 Prooessgesetzes vom 7. Mai 1874 der An¬
geklagte als Thäter bestraft werden.
Der Angeklagte ist, wie er zugesteht, verantwortlicher Redaoteur der in B.
erscheinenden periodischen Druckschrift «Der Rheinländer". Als solcher ist er
auch verantwortlich für den gesammten Inhalt der «Gratis-Sonntagsbeilage" zu
dieser Zeitung, betitelt „Der Zeitspiegel“, illustrirte Unterhaltungsbeilage, da
diese Beilage einen integrirenden Bestandtheil der Zeitung „Der Rheinländer"
bildet. Von dieser Verantwortlichkeit wird er dadurch, dass unter der Beilage
noch als besonderer verantwortlicher Redacteur ein gewisser 0. K. in B. be¬
nannt ist, um so weniger befreit, als in dem Vordruck des Hauptblattes er
selbst als alleiniger Redaoteur sowohl des Hauptblattes als auch der Sonntags¬
beilage bezeichnet ist. (Vergleiche Rechtsprechung des Reichsgerichts in Straf¬
sachen Bd. 5, S. 82; Entscheidungen Bd. -5, S. 314.)
Unter den „besonderen Umständen", durch welche die Annahme der Thäter-
Schaft (beziehungsweise Mitthäterschaft) des Redacteurs aasgeschlossen wird,
versteht das Gesetz nur aussergewöhnliohe, von dem Willen des Redacteurs unab¬
hängige Umstände, welche ihn im Einzel falle ohne eigenes Verschulden verhindert
haben, den betreffenden Artikel zu lesen und zu prüfen (vergl. Rechtsprechung
des Reichsgerichts Bd. 6, S. 756; Bd. 1, S. 65, 673). Als ein solcher Umstand
kann es nicht angesehen werden, dass der Angeklagte, wie er behauptet, die in
B. hergestellte Beilage so rasoh nach ihrer Ankunft in N. weiter versenden
muss, dass es ihm nur möglich ist, die Illustrationen und zuweilen kleinere Auf¬
sätze zu prüfen. Wenn er sie fertig von B. beziehen will, so mag er dafür
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Dr. Weiss,
Sorge tragen, dass ihm die Beilage oder ein Probeblatt derselben rechtzeitig zu¬
geht. Noch weniger konnte der Angeklagte — wie der erste Riohter annimmt —
die nach dem Gesetze ihn persönlich treffende Verantwortlichkeit durch Vertrag
auf den Verleger „des Zeitspiegels“ ab wälzen.
Hit Rucksioht auf die Umstände des Falles konnte auf eine gelinde Strafe
erkannt werden. Ueber die Kosten ist nach § 497 Strafprooessordnung ent¬
schieden.
LXXXVI. Erkenntniss des Schöffengerichts zu B. vom 30. Juni 1891.
ln der Strafsache gegen den Redacteur N. hier wurde das Urtheil mit
Gründen dahin verkündet:
Der Angeschuldigte wird wegen Geheimmittel-Ankündigung zu
einer Geldstrafe von 10 Mark, im Niohtzahlungsfalle zu einer
Haftstrafe von 2 Tagen und zu den Kosten des Verfahrens ver¬
urteilt.
In No. 102 des „Stadt-Anzeigers“ zur B.-Zeitung vom 3. Mai 1891, im
Anzeigenteile, dessen verantwortlicher Redacteur der Angesohuldigte ist, findet
sich eine Ankündigung: „Das grosse Heer der Nervenübel“, in welcher in
marktschreierischer Weise ein von Roman Weissmann erfundenes Heilverfahren
empfohlen wird. Es heisst darin u. A.: „Das.Heilverfahren, durch
täglich einmalige Kopfwaschung entspreohende Substanzen direot
durch die Haut dem Nervensystem zuzuführen, hat so sensationelle
Erfolge zu verzeichnen, dass die vom Erfinder .... herausgegebene Broohüre
.in 22. Auflage erschienen ist“. Durch diese Anzeige ist nicht blos, wie
Angesohuldigter behauptet, eine Brochüre, sondern auch ein Geheimmittel
öffentlich angekündigt, nämlich „dem Nervensystem zuzuführende Substanzen“,
welche nicht genannt sind, also als Geheimmittel auftreten. Gleichgültig ist,
ob etwa in der Brochüre diese „Substanzen“ genannt und so des Charakters des
Geheimmittels entkleidet werden, denn im Sinne der vom Angesohuldigten gegen¬
wärtig verletzten Regierungs-Polizei-Verordnung vom 9. Mai 1888 ist entschei¬
dend, dass in der Ankündigung die Bestandtheile der „Substanzen“ nicht für
Jedermann deutlich und zweifellos erkennbar gemacht sind.
Angemessene Strafe.
LXXXVII. Erkenntniss des Landgerichts zu E. vom 18. Juli 1891.
Unter Aufhebung des Urtheils des Königlichen Sohöffengeriohts zu E. vom
12. März 1891 wird der Angeklagte, Redacteur N. zu N.,
wegen Uebertretung der Polizei-Verordnung vom 9. Mai 1888 in zwei
Fällen zu je (5) fünf Mark, im Unvermögensfalle zu je (1) einem Tage
Haft, sowie in die Kosten des Verfahrens beider Instanzen ver-
urtheilt.
Gegen das vorbezeichnete Erkenntniss, durch welches der Angeklagte von
der Beschuldigung einer zweimaligen Uebertretnng der Polizei-Verordnung vom
9. Mai 1888 freigesprocheu ist, hat die Königliche Staatsanwaltschaft frist- und
formgerecht Berufung erhoben, welcher der Erfolg nicht zu versagen war.
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Zar Casaistik des Kampfes gegen den Geheimmittelunfug.
149
Wie die erneute Beweisaufnahme dieser Instanz ergeben hat, ist von dem
Vorderrichter zutreffend festgestellt, dass der Angeklagte in den Nummern 32
und 35 der Zeitung „Neueste Nachrichten", deren verantwortlicher Redacteur
er ist, folgende gleichlautende Anzeigen aufgenommen hat: „Zu beziehen durch
jede Buchhandlung ist die preisgekrönte Schrift des Med.-Rath Dr. Möller über
das gestörte Nerven- und Sexualsystem. Freizusendung unter Couvert
für 1 Mark in Briefmarken von Eduard Bendt, Braunsohweig“, sowie, dass in
dieser Schrift des Dr. Müller Geheimmittel — sog. Miraoulapräparate — an¬
gepriesen worden. Mit Unrecht verneint indess der erste Richter die Anwend¬
barkeit der vorbezeiohneten Polizei-Verordnung auf den somit festgestellten Sach¬
verhalt. Allerdings wird seiner Ausführung darin Niemand entgegentreten kön¬
nen, dass die Anpreisung einer Schrift nicht unmittelbar als eine Anpreisung
von Stoffen und Zubereitungen, wie sie der § 1 jener Verordnung voraussetzt,
anzusehen ist. Allein nach dem Zweck der Verordnung und der ihr dieserhalb
gegebenen allgemeinen Fassung muss angenommen werden, dass das Verbot nicht
nur die unmittelbaren, sondern auch die mittelbaren Anpreisungen von Geheim¬
mitteln treffen sollte und dass daher auch die öffentliche Empfehlung einer der¬
artige Geheimmittel anpreisenden Schrift durch die Zeitung unter das Verbot
fallt, sofern nur der verantwortliche Redacteur der Zeitung von dem strafbaren
Inhalt der Schrift Kenntniss hatte oder seine Unkenntniss hiervon durch eigene
Fahrlässigkeit verschuldet hat — verg). Entscheidung des Kammergerichts
Blatt 13 der Acten. Die letztbezeichnete Voraussetzung trifft aber Untergebens
zu, da der Angeklagte wegen dergleichen Annonce bereits wiederholt unter An¬
klagegestelltist und deshalb, obsohon seine Anklagen mit Freisprechung
geendet haben, als Redacteur Veranlassung nehmen musste, vor erneuten Aufnah¬
men der Annonce Kenntniss von dem Inhalte der Schrift zu nehmen, und zwar um
so mehr, als schon der Inhalt der Annonce selbst bei ihm einen Verdacht in der
gekennzeichneten Richtung erwecken musste.
ln Erwägung hiernach, dass die in den beiden Anzeigen empfohlene 25. Auf¬
lage jener Schrift, wie eine Vergleichung der bei den Acten befindlichen 18. und
24. — gleichlautenden — Auflage ergiebt und wio Angeklagter selbst nicht be¬
streitet, offenbar inhaltlich mit diesen beiden übereinstimmt, sowie in weiterer
Erwägung, dass dieSchrift selbst Miraculo-Elixir und Miraculo-Balsam als
Geheimmittel gegen Nerven- und Geschlechtsleiden lediglich mit dem Zusatz
empfiehlt, dass dieselben aus japanischen Pflanzen - Extracten zusammengestellt
seien, ohne diese näher zu bezeichnen, ist festgestellt, dass Angeklagter zu E.
durch zwei selbstständige Handlangen Zubereitungen, deren Bestandtheile durch
ihre Benennung oder Ankündigung nicht für Jedermann deutlich und zweifellos
erkennbar gemacht sind, als Heilmittel gegen Krankheiten von Menschen öffentlich
angekündigt hat. Uebertretung gegen § 2 der Verordnung vom 9. Mai 1888,
§ 78 St.-G.-B., § 20 Pressgesetzes.
Eine Geldstrafe von je 5 Mark für jede That erschien ausreichend.
Den Kostenpunkt regeln §§ 497 ff. St -P.-O.
LXXXVIII. Erkenntniss des Schöffengerichts zu D. vom 4. Sept. 1891.
Der Angeklagte, Redacteur N. zu N., hat gegen die Strafbefehle vom 5. und
12. August 1891, welche ihn wegen Anpreisen von Brandt’s Schweizer-
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Dr. Weiss,
pillen in zwei Nummern des „Täglichen Anzeigers“ zu Geldstrafen yon je
3 Mark verurtbeilten, rechtzeitig Einspruch erhoben, weil die Annoncen kein An¬
preisen enthielten, sondern einfaohe Danksagungen seien. — Der Einspruch
ist aber zu verwerfen. Denn der wesentliche Zweck derartiger öffentlicher Dank¬
sagungen ist, andere Personen auf das Mittel aufmerksam zu machen und sie zur
Anwendung, also auch zum Ankauf desselben zu veranlassen. Es ist daher die
Uebertretung der Polizei-Verordnung vom 9. Mai 1888 und der Reichs-Verordnung
vom 27. Januar 1891 gegeben.
Die in den Strafbefehlen normirte Geldstrafe erschien angemessen.
LXXXIX. Erkenntniss des Landgerichts zu E. vom 6. Juni 1891.
Der Angeklagte, Kappenmacher S. zn D., wird unter theilweiser Aufhebung
des Urtheils des Königlichen Schöffengerichts zu L. vom 10. März 1891
wegen Uebertretung gegen die Polizei-Verordnung der Königlichen Re¬
gierung zu Düsseldorf vom 9. Mai 1888 zu einer Geldstrafe von
10 Mark, im Nichtzahlungsfalle zu einer Haftstrafe von 2 Tagen,
verurtheilt.
Im Uebrigen wird die Berufung verworfen. Dem Angeklagten werden die
Kosten des Verfahrens beider Instanzen zur Last gelegt.
Gegen das Urtheil des Königl. Schöffengerichts zu L. vom 10. März 1891
durch welches der Angeklagte der Uebertretungen der Polizei-Verordnung der
Kgl. Regierung zu Düsseldorf vom 9. Mai 1888 und des § 367, No. 3 des Straf¬
gesetzbuchs frei gesprochen worden ist, hat die Kgl. Staatsanwaltschaft frist- und
formgerecht Berufung eingelegt.
In thatsächlicher Beziehung ergab sich in der Hauptverhandlung zweiter
Instanz, wie auch seitens des ersten'Riohters festgestellt war, zunäohst, dass der An¬
geklagte an die Adlerapotheke zu Frankfurt a.M. gerichtete Bestellkarten
von Brandt’s Schweizerpillen vorräthig hielt, die er, naohdem sie von den Bestellern
ausgefüllt waren, an die Adresse zur Post gab und dass er die Beträge für die
bestellten Pillen mit 1 Mark für die Schachtel von den Bestellern in Empfang
nahm und nach Abzug von 25 pCt. Provision monatlich der Adlerapotheke, dem
Lieferanten der Pillen, einsandte. Das Schöffengericht hat zutreffend ausgeführt,
dass in dieser Thätigkeit des Angeklagten eine Uebertretung gegen den § 367,
No. 3 St. G. B., wie sie dem Angeklagten zur Last gelegt wird, nioht gefunden
werden könne. Wenn die Schweizerpillen auch offenbar unter die nach dem Ver¬
zeichnisse und der Kaiserl. Verordnung vom 27. Januar 1890 den Verkauf in
Apotheken vorbehaltenen Arzneien gehören, so hat der Angeklagte dieselben dooh
nicht, wie die genannte Gesetzesbestimmung solche unter Strafe stellt, feil¬
gehalten, verkauft, oder sonst an Andere überlassen. Es ist als durch die Recht¬
sprechung festgestelltzu erachten, dass der Begriff des Feilhaltens ein Darbieten
und Bereithalten eines Gegenstandes enthält, dass ferner zu den im civilrecht-
lichen Sinne aufzufassenden Verkäufen die Uebernahme einer persönlichen Ver¬
pflichtung der Lieferung gehört und dass schliesslioh auoh bei dem Ueberlassen
eine unmittelbare Beziehung des Thäters zu der Sache bezw. deren Besitz oder
ein Recht darüber zu verfügen erforderlich ist. Der Angeklagte war aber nur
Agent des Verkäufers der Sohweizerpillen und beschränkte sein Handeln darauf,
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Zar Casaistik des Kampfes gegen den Gebeimmittelunfag.
151
dass er, wie ein Bote, gegen eine in Form von Provision erfolgende Bezahlung
die Besorgung der Bestellkarten und des Kaufpreises zur Post ausführte. Hier¬
nach reohtfertigte sich die Freisprechung des Angeklagten von der Uebertretang
gegen § 367, No. 3 des Strafgesetzbuchs und musste die Berufung, soweit sie
diese angegriffen hat, als unbegründet verworfen werden.
Der Angeklagte bat ferner zugegeben, dass er eine ihm von Br an dt zugesandte
Druckschrift in Zeitungsform, „Extra-Beilage“ bezeichnet, im Januar
1891 in vielen Exemplaren zu V. durch Abgabe an den Thüren der Häuser
verbreitet hat. Die Schrift enthält, wie eine Einsichtnahme in ein in der Haupt-
Verhandlung vorliegendes, von dem Angeklagten anerkanntes Exemplar ergab,
Artikel, welche die Vorzüge der Brandt’schen Sohweizerpillen als Heil¬
mittel gegen Krankheiten der Menschen aufzählt, empfehlende Zeugnisse von
Leidenden und lobende Aeusserungen „medicinischer Autoritäten“, schliesslich
ein auch den Namen des Angeklagten aufführendes Verzeichniss von Personen
in verschiedenen Städten, welche Bestellungsformulare vorräthig halten. Insoweit
die Berufung in der Verbreitung dieser Zeitung eine Uebertretang gegen die
Polizei-Verordnung der Kgl. Regierung zu Düsseldorf vom 9. Mai 1888 findet,
musste dieselbe Erfolg haben. Diese Polizei-Verordnung verbietet in ihrem § 1
Stoffe und Zubereitungen aller Art, gleichviel ob arzneilich wirksam oder nicht,
a) deren Feilhalten und Verkauf nicht Jedermann freigegeben ist, b) deren Be-
standtheile durch ihre Benennung oder Ankündigung nioht für Jedermann deutlioh
und zweifellos erkennbar gemacht sind (Geheimmittel) als Heilmittel gegen
Krankheiten und Körpersohäden von Menschen und Thieren öffentlich anzukün¬
digen und anzupreisen.
Wenn die Vertheidigung die Gültigkeit dieser Verordnung aus dem
Grunde angezweifelt hat, weil diePublioation derselben von der Kgl. Regierung, Ab-
theilnng des Innern, erfolgt sei, so wird verkannt, dass der Erlass vor Geltung des
in der Rheinprovinz am 1. Juli 1888 eingeführten LandesverwaltuDgsgesetzes
vom 30. Juli 1883, auf Grund des Gesetzes vom 11. März 1850, § 11 durch die
Bezirksregierung zu erfolgen hatte und dass von den den verschiedenen Ab¬
theilungen der Regierung obliegenden Geschäften das Polizeiverwaltungsrecht der
Abtheilung des Innern zustand.
Die von dem Angeklagten vorgenommene Verbreitung der „Extra-Beilage“
stellt eine nach dem § 1 verbotene öffentliche Ankündigung und Anpreisung dar.
Dass die „Brandt’schen Schweizerpillen“ zu denjenigen Zubereitungen gehören,
deren Feilheiten und Verkauf nicht Jedermann freigegeben ist, wurde schon
vorher festgestellt. Sie sind aber auoh gleichzeitig in jener Druckschrift, welche
ihre Bestandtheile in keiner Weise erkennbar macht, obige, als ein Geheimmittel
im Sinne der No. b. angekündigt. Dadurch, dass die Schrift in V. in sehr viele
Häuser gelangte, wurde ihr Inhalt, nämlich die darin geschehene Ankündigung und
Anpreisung des Arzneimittels einer Anzahl von unbestimmt welchen und wie
vielen Personen zugänglich und somit die Ankündigung und Anpreisuug zu einer
öffentlichen. Der Angeklagte war nicht Werkzeug eines Dritten für diese
Anpreisung, sondern S elbstthäter. Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass er
den Inhalt der Sohrift, die ihm gerade zu dem Zweck gesandt war, um durch
ihre Verbreitung die Besteller der Schweizerpillen aufmerksam zu machen, kannte
und er hat das Blatt, da er durch die Bestellungen zugleich sein Verdienst fand,
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Dr. Weiss.
bewusst auch im eigenen Interesse beliebigen Dritten zugänglich gemacht. Er
war nach § 2 der Verordnung zu bestrafen. Bei der Strafzumessung ist berück¬
sichtigt, dass erschwerende Umstände nicht Vorlagen.
Die Kosten des Verfahrens fielen dem Angeklagten nach § 497 der Straf -
processordnung zur Last.
XC. Erkenntniss des KaaHergeriehts vom 8 . Icteber 1891.
Die Revision des Angeklagten, Kappenmacher S. zu V. (gegen No. LXXXIX),
erscheint unbegründet. Mit Unrecht bestreitet Revident die gesetzliche Gül¬
tigkeit der gegen ihn zur Anwendung gebrachten Polizei - Verordnung der
König]. Regierung zu Düsseldorf, welche nicht vom 9. December, sondern vom
9. Mai 1888 datirt und schon vor Einführung des Landesverwaltungsgesetzes vom
80. Juli 1883 in der Rheioprovinz, nämlich durch das am 19. Mai 1888 aus¬
gegebene Stück 20 des Regierungs• Amtsblattes publioirt worden ist. In for¬
meller Beziehung entspricht die gedachte Polizei-Verordnung den Vorschriften
des Ministerial-Erlasses vom 6. Juni 1850 (Ministerialblatt für die innere Verwal¬
tung S. 176). Ihre materielle Begründet findet sie in den §§6 Lit. f. und 11
des Gesetzes über die Polizei-Verwaltung vom 11. März 1850. Mit Gesetzen
oderVerordnungen einer höheren Instanz steht sie nicht in Wider¬
spruch. Insbesondere verstösst sie weder gegen den § 1 des Reiohs-Press-
gesetzes, noch gegen §1 der Reichs-Gewerbeordnung. Denn nicht
die Freiheit der Presse wird durch sie beschränkt, sondern nur dem Miss¬
brauche der Presse durch Veröffentlichungen strafbaren Inhalts tritt sie in
Uebereinstimmung mit den in den §§ 20 und 21 des Reichsgesetzes enthaltenen
Vorschriften entgegen. Auch den Grundsatz der Gewerbefreiheit lässt sie völlig
unangetastet, daihre Bestimmungen den Gewerbetreibenden nicht bezüglich der Zu¬
lassung zum Gewerbebetriebe, sondern nur bezüglich der Ausübung desselben
gewisse nach § 6 Lit. f. des Gesetzes über die Polizei-Verwaltung vom 11. März
1850 zulässige Beschränkungen auferlegen. Auf den von dem Berufungsriohter
ohne ersichtliohen Rechtsirrthum festgestellten Thatbestand aber sind die §§ 1
und 2 der Polizei-Verordnung vom 9. Mai 1888 richtig angewendet worden.
Die Revision war daher, wie geschehen, zurückzuweisen.
Die Entscheidung über die Kosten des Rechtsmittels beruht auf § 505 der
Strafprozessordnung.
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Horbi4ität nd Mortalität 4er Bergarbeiter, iasbesea4ere ia
rbeiaifchea Gebiet, aa4 die rar Veraua4eraag 4erselbea er-
fer4erliehea Massregela.
Von
Dr. KOrfer in Aachen.
Morbidität and Mortalität der arbeitenden Klasse der Bevölke¬
rung werden, abgesehen von socialen, klimatischen und meteorolo¬
gischen Verhältnissen, durch die Berufstätigkeit wesentlich beein¬
flusst. Bei Beurteilung des Einflusses, den letztere auf die Gesund¬
heit des Individuums ausübt, sind 3 Hauptfactoren zu berücksichtigen.
1. Die Oertlichkeit, in welcher die Arbeit verrichtet wird.
2. Das zu verarbeitende Material.
3. Die Art der Beschäftigung an und für sich.
Fragt man sich, wie diese durch den Beruf bedingten, die Ge¬
sundheit schädigenden Einflüsse beim Bergarbeiter zur Geltung kom¬
men, so wird es vor Allem notwendig sein, dass man sich ver¬
gegenwärtigt, welcher Natur dieselben speciell bei der Bergwerks¬
arbeit sind.
Der Bergmann verrichtet seine Arbeit in einem Raume, zu dem
das Tageslicht absolut keinen Zutritt hat, und in welchem, wenn
nicht künstliche Ventilation hülfreich eingreift, die Luft stellenweise
derart ist, dass ein längeres Verweilen in derselben nicht nur ge¬
sundheitsschädlich, sondern selbst lebensgefährlich ist. Während in
allen oberirdischen Arbeitsstätten durch natürliche Ventilation, durch
Fenster, Mauern und Thüren Zufuhr von frischer und Abfluss von
verbrauchter Luft stattflndet, fällt diese natürliche Ventilation an der
Arbeitsstätte des Bergmannes fast vollkommen weg. Und doch wäre
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Dt. Körfer,
sie hier ganz besonders nothwendig, denn es wirken anf die den Berg¬
mann amgebende Luft ausser dem darch den Athmangsprocess be¬
dingten, verscblecbternden Einfluss noch eine Reibe anderer Factoren
schädigend ein. Zunächst ist es der Verbrennungsprocess in der
Lampe, welcher Sauerstoff absorbirt und Kohlensäure producirt, Ex¬
plosionen von Sprengstoffen, Verwesungs- und Oxydationsprocesse, die
durch den Contact der Kohlenwand und der fein vertheilten Kohlen¬
partikelchen mit der atmosphärischen Luft entstehen, im Gestein sich
entwickelnde schlechte Gase, tragen nicht unwesentlich dazu bei, die
normale Zusammensetzung der Luft zu verändern. Nach Schondorff
(citirt nach Schlockow, S. 94) soll an dem Gesammtverlust von
Sauerstoff die Belegschaft nur mit etwa Vn, an der Vermehrung der
Kohlensäure nur mit etwa V 9 betheiligt sein. Hiernach müssten 16 / t 7
resp. % der Luftverschlechterung den übrigen oben erwähnten Fac¬
toren zuzuschreiben sein. Der Kohlensäuregehalt in den Kohlengruben
stellt sich im Mittel nach Schlockow (S. 51) auf 1—2 pM., vor
Ort auf 3 —4 pM. Unter Umständen kann sich der Kohlensäuregehalt
auch noch bedeutend steigern und unter gleichzeitiger Entwickelung
von Kohlenoxyd der Bergmann in hohe Lebensgefahr kommen.
Der Bergmann nennt diese sich bei gesteigerter Kohlensäure und
Kohlenoxydentwickelung bildenden Gasgemenge „ böse Wetter “ im
Gegensatz zu den durch gesteigerte Kohlenwasserstoffentwickelung sich
bildenden „schlagenden Wetter“. Als unconstante Beimengungen der
Grubenluft finden sich stellenweise noch Schwefelwasserstoff und Am¬
moniak.
Zu diesen gasförmigen Verunreinigungen der Grubenluft kommt
ferner noch die Verunreinigung mit kleinsten Kohlen- nnd Gesteins¬
partikelchen, der hohe Wassergehalt der Luft, der erhöhte Luftdruck
und die erhöhte Temperatur.
Fassen wir alle diese Momente zusammen, so müssen wir
sagen, dass der Bergmann in einer sauerstoffarmen, kohlensäure¬
reichen, gewöhnlich auch noch mit anderen gesundheitsschädlichen
Gasen gemischten, staubreichen, mit Wasserdampf gesättigten, stel¬
lenweise auch noch ziemlich hoch temperirten und unter erhöhtem
Druck stehenden Atmosphäre zu arbeiten gezwungen ist. In dieser
Atmosphäre verrichtet der Bergarbeiter seine, an und für sich schwere,
Arbeit häufig in den gezwungensten Körperstellungen, knieend, auf
dem Rücken oder auf der Seite liegend, unter höchst mangelhafter
Beleuchtung. An besonders ungünstigen Stellen wird er während der
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Morbidität and Mortalität der Bergarbeiter.
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Arbeit durch aus dem Gestein hervorquellendes Wasser beständig
durchnässt. Greller Temperaturwechsel, dem er nicht nur beim An-
und Ausfahren, sondern auch im Bergwerk selbst, beim tJebergang
aus einem in den anderen Stollen, Passiren von Wetterthüren und
Querschlägen ausgesetzt ist, wirken auch keineswegs günstig auf seine
Gesundheit ein.
Und zum Schluss kommen dann noch die mannigfachen Gelegen¬
heiten zu äusseren, eventuell tödtlichen Verletzungen, denen er in der
Ausübung seines Berufes ausgesetzt ist.
All diese schädigenden Momente üben auf den Gesundheitszustand
des Bergarbeiters in mannigfacher Weise ihren Einfluss aus.
Als Folge der Verunreinigung der Athmungsluft mit schädlichen
Gasen treten Kohlensäure- und Kohlenoxyd-Vergiftungen in acuter
und chronischer Form auf, welch letztere in allgemeinen Ernährungs¬
störungen zur Geltung kommt und auch für das Auftreten des Emphy¬
sems beim Bergarbeiter verantwortlich gemacht wird. Kohlenwasser¬
stoff (Grubengas) wird für den Bergmann hauptsächlich durch seine,
bei einem gewissen Misehungsverhältniss mit atmosphärischer Luft
eintretende, Explosionsfähigkeit gefährlich.
Schwefelwasserstoff und Ammoniak sind sehr unconstante Ver¬
unreinigungen der Grubenluft. Ersteres giebt, in grösseren Mengen
eingeathmet, zu den schwersten, häufig mit dem Tode endenden Er¬
nährungsstörungen Veranlassung (Schlockow, S. 67).
Als Folgen der Staubbeimengung treten Catarrhe der Respirations¬
organe, Lungenentzündungen (Anthracosis) und Emphysem auf. Die
Tuberculose ist unter den Bergarbeitern, im Verhältnis zu anderen,
der Staubinhalation ausgesetzten Berufsklassen, sehr wenig verbreitet,
so dass man dem Kohlenstaub selbst eine immunisirende Wirkung
gegen Tuberculose zugeschrieben hat.
Die mit Wasserdampf gesättigte hoch temperirte Luft wirkt stö¬
rend auf die Wärmeöconomie, und diese wiederum störend auf den
Gesammtstoffwechsel ein.
Das Arbeiten in gezwungenen Körperstellungen giebt Veran¬
lassung zu Wirbelsäuleverkrümmungen, Gelenkcontracturen, chroni¬
schen Entzündungen an gewissen Körperteilen und abnormer Blut-
vertheilung.
Der häufige, grelle Temperaturwecbsel und die stellenweise unver¬
meidliche Dnrchnässung des Körpers erzeugt chronischen Muskel- und
Gelenkrheumatismus, Neuralgieen und Catarrhe der Respirationsorgane.
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Dr. Körfer,
Alle diese Momente zusammen bedingen schliesslich eine früh¬
zeitigere Abnutzung der Körperkräite, frühzeitigere Berufsunfähigkeit
und kürzere Lebensdauer.
Darüber, ob das mangelnde Tageslicht einen schädigenden Ein¬
fluss auf den Gesundheitszustand des Bergarbeiters ausübt, liegen
noch keine entscheidenden Beobachtungen vor. Jedenfalls ist aber die
mangelhafte Beleuchtung der Arbeitsstätte für den Nystagmus und
die Amblyopie verantwortlich zu machen.
Infectionskrankheiten, namentlich Typhus und Wechselfieber,
haben nach Schlockow (S. 149 und 151) mit der Berufsarbeit
keinen ursächlichen Zusammenhang, und ist ihr Auftreten unter den
Bergarbeitern an locale Verhältnisse geknüpft.
Nachdem ich die auf alle Bergarbeiter mehr oder weniger einwirkenden
Berufsschädlichkeiten und ihre Folgen für die Gesundheit vorausgesohiokt habe,
gehe ich zu dem speoielleren Theile meines Thema’s, zur Schilderung der Mor-
biditäts- und Mortalitätsverhältnisse der rheinischen Bergarbeiter über. Um mir
ein Bild von diesen Verhältnissen zu verschaffen, habe ich die in der „Zeitschrift
für Bergbau-, Hütten- und Salinenkunde“ veröffentlichten Knappsohaflsberichte
des Oberbergamtsbezirks Bonn zum Gegenstände meiner Untersuchung gemacht
und einerseits die Morbidität und Mortalität im Allgemeinen berüoksiohtigt,
andererseits erstere nach den wichtigsten beim Bergarbeiterberufe in Frage
kommenden Gesichtspunkten detaillirt.
Bei der Detailirung der Morbiditätsverbältnisse habe ich eine Trennung in
innere und äussere Krankheiten vorgenommen.
Von den inneren Krankheiten habe ich die Erkrankungen der Athmungs-
Organe, als die wichtigsten Berufskrankheiten, in Summa zusammengestellt, und
unter diesen wiederum eine Trennung in Bronchialkatarrh, Emphysem, Lungen¬
entzündung und Tuberculose eintreten lassen. Von inneren Krankheiten habe
ich ausserdem die Erkrankungen an Rheumatismus, Typhus und Wechselfieber,
Blutarmuth und Wassersucht besonders berüoksiohtigt, letztere beide als Reprä¬
sentanten der allgemeinen Ernährungsstörung. Von den äusseren Krankheiten
habe ioh die Verletzungen besonders hervorgehoben, welch letztere wiederum in
der Mortalitätstabelle eine Speoifioirung erfahren.
Bei der Mortalität habe ich, da nach dem mir zur Verfügung gestandenen
Material keine Scheidung nach Todesursachen möglich war, nur eine Trennung
in natürlichen Tod und Tod durch Verletzung vorgenommen, und in einer wei¬
teren Tabelle die Sterbliohkeit in verschiedenen Altersklassen berücksichtigt.
Unter der grossen Reihe der dem Oberbergamtsbezirk Bonn angehörenden
Knappschaftsvereine habe ioh mich auf den Saarbrücker K.-V.,‘ Worm K.-V.,
Esohweiler K.-V., Brühler K.-V., Deutzer K.-V. und Siegener K.-V. beschränkt.
Bei dieser Auswahl sind für mich folgende Gesichtspunkte massgebend gewesen.
1) haben die ausgewählten Knappschaftsvereine eine relativ grosse Mit¬
gliederzahl;
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Morbidität and Mortalität der Bergarbeiter.
157
2) sind die Mitglieder dieser Knappsohaftsvereine sämmtlich im Bergbau
beschäftigt, während die meisten anderen Knappsohaftsvereine Berg-
und Hättenarbeiter zu Mitgliedern haben, und in den Knappschaftsbe¬
richten diese beiden Berufsarten nicht getrennt sind;
3) sind im Saarbrücker K.-V., Worin K.-V. und Eschweiler K.-V. nur
Steinkohlenbergarbeiter, im Brühler K.-V. nur Braunkohlen¬
bergarbeiter, im Deutzer K.-V. nur Erzbergarbeiter vertreten. Der
Siegener K.-V. zählt allerdings auch Hüttenarbeiter zu seinen Mitglie¬
dern, es prävaliren jedoch die Bergarbeiter bedeutend, und zwar die
Erzbergarbeiter.
Zum Vergleich habe ich dann noch in zwei gesonderten Tabellen (Tabelle III
und IV) sämmtliohe dem Oberbergamtsbezirk Bonn angehörende Knappsobaftsver-
eine sowie sämmtliohe preussische Knappschaftsvereine berücksichtigt; diese Ta¬
bellen geben aber, weil keine Trennung zwisohen Berg- und Hüttenarbeitern
möglich war, für Bergarbeiter nur ein approximatives Resultat. Eine Specifioi-
rung der Morbiditätsverhältnisse enthalten diese Tabellen nicht.
Tabelle II giebt die Durchschnittszahlen aus Tabelle I, III und IV auf
1000 Mitglieder und pro Jahr berechnet.
Was nun die Morbidität im Allgemeinen anbelangt, so weisen die drei von
mir berücksichtigten Vertreter des Steinkohlenbergbaues sehr verschiedene
Zahlen auf.
auf 1000 Mitglieder pro Jahr
Saarbrücken. ... 634 Erkrankungen
Wormrevier .... 745 „
Eschweiler .... 1004 „
Daraus ergiebt sioh für Steinkohlenbergarbeiter eine mittlere Morbidität
von 689 pM., wenn ich Eschweiler, welches sehr schleohte Morbiditäts- und
Mortalitätsverhältnisse aufweist, vielleicht die schlechtesten von sämmtliohen
preussischen Knappschaftsvereinen, nicht berücksichtige. Eschweiler mit einbe¬
griffen erhalte ich eine mittlere Morbidität von 794 pM.
Nach Schlockow (S. 232) beträgt die mittlere Morbidität für Steinkohlen¬
bergarbeiter 670 pM., ausschliesslich des Oberschlesischen Knappschaftsvereins.
Mit Berücksichtigung des Oberschlesischen Knappschaftsvereins erhält Schlockow
(S. 232) eine mittlere Morbidität von 450 pM.
Der Oberschlesische Knappschaftsverein scheint demnach, was Morbiditäts¬
verhältnisse anbelangt, den Antipoden vom Eschweiler K.-V. zu bilden.
Die Braunkohlenbergarbeiter sind in meiner Tabelle nur durch einen Knapp¬
schaftsverein vertreten, und weisen eine Morbidität von 888 pM. auf, nach
Schlockow (S. 232) beträgt die Morbidität für Braunkohlenbergarbeiter
690 pM.
Für Erzbergarbeiter erhalte ich eine mittlere Morbidität von 740 pM. Auoh
hier ist zwisohen dem Deutzer und Siegener K.-V. eine grosse Differenz zu con-
statiren, die auch in den Mortalitätsverbältnissen (natürlichen Todes gestorben),
wenn auoh nicht in demselben Maasse, zur Geltung kommt.
Für sämmtüche Knappschaftsvereine des Oberbergamtsbezirks Bonn erhalte
ich eine Morbidität von 657 pM. und für sämmtliohe preussische Knappschaft*-
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Dr. Körfer,
vereine 545 pH. Sohliesse ioh den Oberbergamtsbezirk Bonn ans, so erhalte ich
für sämmtliohe preassisohe Knappscbaftsrereine excl. Bonn eine Morbidität von
525 pM. Daraas gebt hervor, dass im Oberbergamtsbezirk Bonn die Morbidität
eine grössere ist, als in den anderen Oberbergamtsbezirken zusammen.
Für das Locomotivpersonal der deutschen Eisenbahnen ergiebt sioh nach
Scblockow (S. 232) eine Morbidität von 1200 pM., für das übrige Fahrper¬
sonal 820 pM., für preussische Eisenhüttenarbeiter 1020 pM.
Diesen Berufsklassen gegenüber stehen also die Bergarbeiter auch im rhei¬
nischen Gebiet, was Morbidität anbelangt, günstig da.
Beim Vergleich der Anzahl der inneren Erkrankungen in den von mir be¬
rücksichtigten Knappschaftsvereinen ergeben sich sehr grosse Differenzen, so
weist Esohweiler fast die doppelte Anzahl innerer Erkrankungen auf, wie Saar¬
brücken; dagegen ist das Verbältniss der Erkrankungen an äusseren Krank¬
heiten in den verschiedenen Knappsohaftsvereinen ein ziemlich constantes.
In der Rubrik „Erkrankungen der Athmungsorgane“ nehmen die Braun¬
kohlenbergarbeiter die erste Stelle ein und weisen dementsprechend die meisten
Bronchialcatarrhe auf. Zu demselben Resultate kommt auch Sohlockow
(S. 133).
Für Erkrankungen der Athmungsorgane beim Zugpersonal einiger rhei¬
nischer Eisenbahnen giebt Sohlockow (S. 138) die Durchschnittszahl 261 pM.
Diese Zahl wird in meiner Tabelle nur von den Braunkohlenbergarbeitern er¬
reicht. Alle übrigen von mir aufgefübrten Knappschafts vereine bleiben unter
dieser Zahl.
Die Lungenentzündung ist bei den Erzbergwerkarbeitern am stärksten ver¬
treten, es folgen die Braunkoblenbergarbeiter und an dritter Stelle die Stein¬
kohlenbergarbeiter. Die Differenz ist jedooh nicht sehr bedeutend.
Die von mir gewonnenen Zahlen über das Vorkommen des Emphysems lassen
wegen ihrer grossen Verschiedenheit gar keinen Vergleich zu, und muss man sioh
diese grosse Verschiedenheit aus der individuellen Ansohauung der einzelnen
Knappschaftsärzte über die Diagnose „Emphysem“ erklären.
Wenn ich die Zahlen für Tuberculose mit den Sohlooko w’schen Zahlen
(S. 143) vergleiche, so kann ich auch nur die auffallend starke Verbreitung der¬
selben unter den Mitgliedern des Esohweiler Knappschaftsvereins constatiren.
Wenn ich auoh allenthalben für die Verbreitung der Tuberculose etwas höhere
Zahlen gewonnen habe, als Scblockow, mit Ausnahme von Eschweiler, und
sioh in meiner Tabelle der Deutzer Knappschaftsverein dem Esohweiler ziemlich
ebenbürtig zur Seite stellt, so bleibt trotzdem die starke Verbreitung der Tuber¬
culose unter den Mitgliedern des Eschweiler K.-V. im Vergleich zu den beiden
anderen Vertretern des Steinkohlenbergbaues auffallend. Dementsprechend ist
aber auch die Erkrankungsziffer an „Blutarmuth und Wassersucht“ eine auf¬
fallend hohe und ergiebt sioh auch für die Morbiditäts- und Mortalitätsverhält¬
nisse im Allgemeinen ein sehr schlechtes Resultat. Man muss daher in localen
Verhältnissen den Grund hierfür suchen, und wäre es zunäohst die Mähe der
Fabrikstädte Aachen und Burtscheid, die man dafür verantwortlich maohen
könnte, insofern als die weibliche Nachkommenschaft der Bergarbeiter, welche in
der Montanindustrie nicht beschäftigt wird, ihren Unterhalt in den Aachener und
Burtsobeider Fabriken suoht. Aliabendlioh oder allwöchentlich kehren die Mäd-
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Morbidität und Mortalität dor Bergarbeiter.
159
ohen in ihre Heimatgeroeinde zurück, und der junge Bergmann ist, wenn er die
Ehe eingehen will, auf diese, durch die frühzeitige Fabrikarbeit in der Entwicke¬
lung gehemmten, möglicherweise auch schon den Keim der Tuberoulose in sich
tragenden Individuen angewiesen. Dass aus solchen Ehen eine weniger wider¬
standsfähige Nachkommenschaft resultirt, ist leioht erklärlich. Demselben Uebel-
stande sind die Mitglieder des Worm Knappschaftsvereins ausgesetzt, die Morbi-
ditäts- und Mortalitätsverhältnisse sind in ihm allerdings bei Weitem nicht so
schlecht, als im Eschweiler Knappschaftsverein, jedenfalls aber bedeutend
schlechter, als im Saarbrücker Knappschafts verein, dessen Mitglieder diesem
Uebelstande nicht ausgesetzt sind.
Die schlechten Morbiditäts- und Mortalitätsverhältnisse im Esohweiler K.-V.
sind, wahrscheinlich wenigstens, theilweise auoh daduroh bedingt, dass die Mit¬
glieder desselben in einer sehr alten Grube beschäftigt waren, die immer mehr
ihrer Erschöpfung entgegenging und im Laufe dieses Jahres vollständig ausser
Betrieb gesetzt worden ist. Durch den immer weiter fortschreitenden Abbau sind
die Verhältnisse in der Grube immer complicirtere geworden und sind möglicher¬
weise auch die hygienischen Anforderungen auf immer grössere technische
Schwierigkeiten gestossen. Eine woitere Erklärung für die schlechten Morbidi¬
täts- und Mortalitätsverhältnisse im Esohweiler K.-V. ergiebt sioh aus meiner
Tabelle VII. Diese Tabelle ist auch aus den Jahrgängen 1874—1884 zusammen¬
gestellt und erstreckt sich auf die ständigen Mitglieder der einzelnen Knapp¬
schaftsvereine. Aus derselben ergiebt sich, dass im Esohweiler K.-V. 27,75 pCt.
sämmtlioher ständiger Mitglieder das 45. Lebensjahr überschritten haben, im
Saarbrücker K.-V. nur 7,56 pCt., im Worm K.-V. 19,34 pCt. Eschweiler be¬
schäftigt also vielmehr ältere Leute als wie die anderen Knappschaftsvereine und
zwar nicht etwa deshalb, weil in den anderen Knappsohaftsvereineu die Arbeiter
früher sterben, sondern weil sie in Eschweiler später invalidisirt werden. Es hat
nämlich Saarbrücker K.-V. p. 1000 Mitglieder und Jahr — im Alter von 36 bis
45 Jahren 15,32 Invalide, im Alter von 46—55 Jahren 128,11 Invalide. Worm
K.-V. im Alter von 36—45 Jahren 13,64 Invalide, im Alter von 46—55 Jahren
66,53 Invalide und Eschweiler K.-V. im Alter von 36—45 Jahren 6,96 Inva¬
lide, im Alter von 46—55 Jahren 31,61 Invalide. Die hier angegebenen Zahlen
für Invalidität sind denselben Jahrgängen 1874—1884 entnommen, die auch
der Mortalitätstabelle nach Altersklassen zu Grunde liegen. Ich habe sie nioht
in die Tabelle aufgenommen, weil sie nioht direct zum Thema gehören. Da es
zweifellos feststeht, dass mit zunehmendem Alter die Gefahr zu erkranken wächst,
namentlich in einem so mannigfachen Schädlichkeiten ausgesetzten Berufe, wie
dem Bergarbeiterberufe, so ist dem oben erwähnten Umstande eine nicht unwe¬
sentliche Bedeutung für die schlechten Morbiditäts- und auch Mortalitätsverhält¬
nisse im Eschweiler K.-V. zuzuschreiben.
Wenn ich die einzelnen Knappschaftsvereine nach dem Prooentsatz der von
ihnen beschäftigten, über 45 Jahre alten Mitglieder gruppire, so erhalte ich naoh
Tabelle VII die Reihe:
Saarbrücken . . . 7,56 pCt.
Siegen. 9,64 pCt.
Deutz. 14,90 pCt.
Worm. 19,34 pCt.
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IGO
Dr. Körfer,
Brühl. 26,18 pCt.
Eschweiler .... 27,75 pCt.
und gruppire ich nun die Knappschaftsvereine nach ihrer Morbidität in Tabelle II,
so erhalte ich die Reihe:
Saarbrücken . . .
634
Siegen.
636
Worm.
745
Deutz.
844
Brühl.
888
Eschweiler ....
1004
Wenn Worm und Deutz ihre Stellen tauschen, sind die beiden Reihen ganz
identisch, der Einfluss des Alters ist also unverkennbar.
Aus den von mir gegebenen Zahlen für Typhus und Wechselfieber bin ich
nicht in der Lage Schlüsse zu ziehen, ob sie in Zusammenhang mit der Berufs¬
arbeit stehen, weil ich über die diesbezüglichen localen Verhältnisse nicht hin¬
reichend orientirt bin. Ich möchte jedoch bei dieser Gelegenheit nicht unerwähnt
lassen, dass vor einigen Jahren (1885—1888) unter den Mitgliedern der Worm-
knappschaft sich eine Reihe von Infectionen mit Ankylostomum duodenale ge¬
zeigt haben. Eingeschleppt wurde die Krankheit aus Belgien durch einen Ar¬
beiter, welcher eine Zeit lang in einer belgischen Grube gearbeitet hatte, auf
welcher Erkrankungen an Ankylostomum vorgekommen waren. Die Krankheit
hat keine weitere Verbreitung gefunden, da sehr bald geeignete Gegenmassregeln
getroffen wurden. Es sind im Ganzen 39 Erkrankungen vorgekommen, die letzte
datirt vom 5. Deoember 1888 (Organ der Knappschaftsberufsgenossenschaft für
das Deutsche Reich. IV. Jahrgang, No. 4. Dr. Greven: „Eine Wurmkrankheit
bei Bergleuten“).
Um die von mir gewonnenen Zahlen mit denen von Hirt (Hirt u. Merkel,
Handbuch der Hygiene und Gewerbekrankheiten) vergleichen zu können, gebe ich
in der nun folgenden Tabelle (I) eine Berechnung meiner Zahlen auf 100 Er¬
krankungsfälle.
Innere
Krank¬
heiten
Aeussere
Krank¬
heiten
Krankh.
d Ath-
mungs-
organe
1
Tubercu-I
lose
Emphy¬
sem
Lungen¬
entzün¬
dung
Bronchial¬
katarrh
Rheuma¬
tismus
pCt.
pCt.
pCt.
pCt.
pCt.
pCt.
pCt.
pCt.
Steinkobienarbeiter .
61,9
38,1
21,5
1,1
1 s
1,6
15,4
16,5
Erzarbeiter.
65,3
34,7
22,6
1,5
0,8
2,4
15,3
14,8
Braunkohlenarbeiter
72,5
27,5
37,7
0,3
—
1,5
31,3
12,5
Nach Hirt (S. 171) f. Oberschlesien
22,8
0,8
0,9
4,7
16,4
—
f. Hörde
23,0
U
—
3,6
18,3
—
Was speciell die Verbreitung der Phthise unter den der Einathmung von
Kohlenstaub ausgesetzten Arbeitern anbelangt, so giebt Hirt für dieselbe die
Zahl 1,3 pCt. sämmtlicher Erkrankungsfälle an; für Arbeiter, die der Inhalation
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Morbidität and Mortalität der Bergarbeiter.
161
von anorganisohemStaub aasgesetzt sind 26pCt; der Inhalation von organischem
Staub 17 pCt., keinem Staub 11 pCt.
Um den Vergleich dieser Zahlen mit den meinigen vollständig zu machen,
wäre es nothwendig, die den Hirt’schen Zahlen zu Grunde liegenden Zahlen für
die Morbidität im Allgemeinen zu kennen.
Die von mir gewonnenen Mortalitätszahlen ergeben als Durchschnitt auf
1000 Mitglieder pro Jahr:
bei den Steinkohlenbergarbeitern. 14,25 Todte
(wenn ioh Eschweiler nicht mit in Rech¬
nung setze 10,82 Todte)
bei den Braunkohlenbergarbeitern. 11,26 „
bei den Erzbergwerkarbeitern. 12,13 „
im Oberbergamtsbezirk Bonn. 10,23 „
in sämmtliohen preussisohen K.-V. 9,71 „
Nach Schlookow beträgt die Sterblichkeit p. 1000 Mitglieder und Jahr:
bei den Steinkohlenbergarbeitern. 11,02 Todte
bei den Braunkohlenbergarbeitern. 8,60 „
in sämmtliohen preussisohen K.-V. 10,78 „
Die Differenz zwisohen den für sämmtliche preussische Knappsohaftsvereine
von mir und von Schlockow angegebenen Zahlen erklärt sich daraus, dass
Schlockow’s Zahl die Jahrgänge 1869—1878 zu Grunde gelegt sind, der
meinigen die Jahrgänge 1874—1888. Aus den Jahrgängen 1869—1875 erhält
Schlockow eine Mortalität von 11,44.
Die von 1875—1878 eingetretene Abnahme in der Sterblichkeit hat also
bis 1888 weitere Fortschritte gemacht. Der grösseren Morbidität im Oberberg¬
amtsbezirk Bonn gegenüber sämmtliohen preussisohen Knappschaftsvereinen zu¬
sammen entspricht auoh eine grössere Mortalität.
Wie aus Tabelle II ersichtlich, ist die Zahl der tödtliohen Verletzungen
keine unbedeutende.
In allen preussischen Knappschaftsvereinen fanden 29,2 pCt. sämmtlicher
Gestorbenen durch Verletzung den Tod. Im Oberbergamtsbezirk Bonn 18,6 pCt.
Diese Zahlen berechtigen noch nicht zu dem Sohlass, dass im Oberberg¬
amtsbezirk Bonn die Sterblichkeit durch Verletzungen eine geringere ist, wie in
den preussisohen Knappschaftsvereinen zusammen, weil ja die Gesammtmorta-
lität im rheinischen Gebiet eine grössere ist.
Trotzdem entspricht dieser Schluss den thatsäohliohen Verhältnissen. Aus
Tabelle 2 ist ersichtlioh, dass
auf 1000 Mitglieder
in Bonn.1,77 Todte durch Verletzung
in sämmtliohen preuss. K.-V. 2,16 * „ „
kommen.
Dasselbe Resultat ergiebt sich auch aus Tabelle 5. Tabelle 5 zeigt ferner,
dass in Steinkohlenbergwerken die meisten tödtliohen Verletzungen Vorkommen,
es folgen die Braunkohlenkergwerke und an dritter Stelle die Erzbergwerke.
Vlcrtaljahntohr. f. ger. Med. Dritte Folge. V. 1. 11
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162 . Dr. Körfer,
Dasselbe Resultat ergiebt sioh auch aus Tabelle II:
auf 1000 Mitglieder
Steinkohlenbergwerke . . . 2,22 Todte durch Verletzung
Braunkohlenbergwerke ... 1,16 „ „ „
Erzbergwerke. 1,09 „ „
Tabelle 5 zeigt aber ferner noch, dass beim preussischen Bergbau die
Sterblichkeit durch Verletzungen im stetigen Steigen begriffen ist.
1850 betrug sie 1,680 pM. Mitglieder
1860 „ „ 1,910 pM. „
1866 „ „ 2,167 pM. „
1888 ,, ,, 2,500 pM. ,,
Tabelle VII giebt ein Bild über die Vertheilang der Sterblichkeit auf die
verschiedenen Altersklassen.
Es sterben von 1000 Mitgliedern pro Jahr im
Alter von Jahren
16-25
26-35
86—45
46-55
über 56
beim Steinkohlenbergbau...
4,41
5,74
11,64
23,74
37,36
beim Braunkohlenbergbau
1,99
3,89
12,24
13,28
29,47
leim Erzbergbau .
7,93
9,21
15,18
20,76
50,30
Naoh Schlockow (S. 184/85):
beim Steinkohlenbergbau...
6,93
8,71
12,46
21,90
34,14
beim Braunkohlenbergbau
4,89
5,95
8,51
13,33
29,16
Hieraus kann man den Sohluss ziehen, dass die in Braunkohlenbergwerken
beschäftigten Arbeiter das höohste Lebensalter erreichen, die im Erzbergbau be¬
schäftigten das niedrigste, zwischen beiden stehen die Steinkohlenbergarbeiter.
Dieser Schluss wird auoh bestätigt durch das Verhältniss, in welchem die Anzahl
der in den einzelnen Lebensaltern beschäftigten Mitglieder zu einander steht,
wie dies aus Tabelle VII ersiohtlioh ist. Aus den diesbezüglichen Zahlen geht
hervor, dass das 45. Lebensjahr überschritten haben
im Braunkohlenbergbau . . .
bO
oo
►ö
O
der Arbeiter
im Steinkohlenbergbau . . .
18,21 pCt.
im Erzbergbau.
12,27 pCt.
Naoh Schlockow
(S. 184/85):
im Braunkohlenbergbau. . .
20,03 pCt.
>> >>
im Steinkohlenbergbau . . .
11,27 pCt.
n 5)
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UNivERsrrv of iowa
Morbidität and Mortalität der Bergarbeiter.
163
Es starben von 1000 Mitgliedern pro Jahr
im Alter von Jahren
16—25
1 26-35
36—45
46-55
über 56
1 .
Im Oberbergamtsbezirk Bonn.
4,66
7,73
12,99
21,35
39,58
2.
In sämmtlichen preussischen E.-V.
18G8-1875 .
8,09
9,20
13,52
23,60
41,74
3.
In sämmtlichen preussischen K.-V.
1868—1878 .
6,93
8,66
13,00
22,13
89,46
4.
In sämmtlichen preussisohen K.-V.
1874—1884 .
5,56
7,60
12,03
19,55
34,96
5.
Männliche Bevölkerung Preussens
9,22
10,27
14,37
22,90
—
6.
Bergarbeiter in England.
8,08
9,84
12,45
20,47
—
7.
Männliche Bevölkerung in England
7,52
9,74
12,93
18,48
—
1 und 4 aus Tabelle VII, 2 und 3 nach Schlookow, S. 188/89,
5 nach Schlockow, S. 192, 6 nach Schlockow, S. 115.
7 nach Enlenbnrg, Re&lencyclopädie der ges. Heilkunde. Bd. 13,
S. 423.
Aus diesen Zahlen geht einerseits die sohon vorher constatirte Thatsache
hervor, dass im Oberbergamtsbezirk Bonn die Mortalitätsverhältnisse nngünstiger
sind, als in sämmtlichen preussisohen Oberbergamtsbezirken zusammen, sie be¬
stätigen ferner auoh noch das sohon vorher erwähnte Resultat, dass in den Mor¬
talitätsverhältnissen der preussisohen Enappschaftsvereine ein ständiger Fort*
schritt zur Besserung vorhanden ist.
Vergleiche ich die Mortalität in den preussisohen Knappschaftsvereinen mit
derjenigen der gesammten männlichen Bevölkerung Preussens, so ergiebt sich für
die preussisohen Knappschaftsvereine ein etwas günstigeres Resultat.
In England sind die Mortalitätsziffern für die gesammte männliche Bevölke¬
rung und für die Bergarbeiter ziemlich im Qleiohgewicht, erst nach dem
45. Lebensjahre tritt eine grössere Sterblichkeit unter den Bergarbeitern auf.
Der Vergleich zwisohen preussisohen Enappsohaftsvereinen und englischen
Bergarbeitern No. 2 und 6 ergiebt für letztere etwas günstigere Mortalitäts¬
verhältnisse.
Wie ich am Eingänge meiner Arbeit hervorgehoben habe, geben die von
mir für den Oberbergamtsbezirk Bonn und für sämmtliohe preussisohe Knapp¬
schaft« vereine gewonnenen Zahlen nur ein annäherndes Resultat für Bergarbeiter,
weil in den von mir benutzten Knappsohaftsberichten Berg- und Hüttenarbeiter
nicht getrennt sind. Nach Schlockow herrschen aber unter den Hüttenarbeitern
den Bergarbeitern gegenüber ungünstigere Verhältnisse, sowohl was Morbidität
als was Mortalität anbelangt.
Pro 1000 Mitglieder und Jahr ergiebt sioh naoh Schlockow (Seite 169)
eine Mortalität
11*
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164
Dr. Körfer,
unter den Hüttenarbeitern .... von 14,45 resp. 13,44
unter den Steinkohlenbergarbeitern von 11,82 resp. 11,02
Die von mir gewonnenen Morbiditätsziffern bleiben, wenn ich Eschweiler
nicht berücksichtige, für sämmtliche Bergarbeiterkategorien unter den Schlockow-
schen Zahlen für Hüttenarbeiter.
Pro 1000 Mitglieder und Jahr ergiebt sich nach Schlockow (Seite 232)
eine Morbidität
unter den Hüttenarbeitern. von 1020
unter den Braunkohlenbergarbeitern
(dienach meinen u. Schlockow’s
Zahlen die höchste Morbidität auf*
weisen). von 888 resp. 690'
Demnach würden sich also im Oberbergamtsbezirk Bonn und in sämmt-
lichen preussischen Knappschaftsvereinen für die Bergarbeiter die Verhältnisse
noch günstiger gestalten, als es in meinen Zahlen zum Ansdrnok kommt.
Ich glaube daher, die bis jetzt gewonnenen Resultate in folgende
Hauptsätze zusammenfassen zu können:
1) Die Morbidität im Allgemeinen weist bei den Steinkohlen¬
bergarbeitern die günstigsten Verhältnisse auf, es folgen die
Erzbergarbeiter und an dritter Stelle die Braunkohlenberg¬
arbeiter, während
2) in der Mortalität die Steinkohlenbergarbeiter am ungünstigsten
gestellt sind, es beruht dieser scheinbare Widerspruch darauf,
dass bei den Steinkohlenbergarbeitern die tödtlichen Ver¬
letzungen nicht unbedeutend häufiger sind.
3) Die Morbidität wird wesentlich durch das Alter beeinflusst.
4) Unter den Bergarbeitern im rheinischen Gebiet ist die Mor¬
bidität eine grössere als unter sämmtlichen preussischen
Bergarbeitern zusammen.
5) Ebenso ist die Mortalität unter den rheinischen Bergarbeitern
eine grössere als unter sämmtlichen preussischen Bergarbeitern
zusammen, obwohl^'
6) die Todesfälle durch Verletzungen unter den rheinischen Berg¬
arbeitern seltener sind als unter sämmtlichen preussischen
Bergarbeitern zusammen.
7) In der Mortalität lässt sich von 1869—1888 ein stetiger
Fortschritt zur Besserung constatiren, während
8) die Zahl der tödtlichen Verletzungen im preussischen Berg¬
bau von 1850—1880 stetig im Steigen begriffen ist.
9) Die Sterblichkeit unter den Bergarbeitern in Preussen zwischen
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Morbidität and Mortalität der Bergarbeiter.
165
dem 16. and 55. Lebensjahr ist geringer als unter der gleich¬
altrigen männlichen Bevölkerung Freussens.
10) Der Bergarbeiterberuf ist demnach, was Schädigung von Ge¬
sundheit und Leben anbelangt, der hygienisch günstiger ge¬
stellten Hälfte von ßerufsarten zuzuzählen, obwohl die Ge¬
fahren, die Gesundheit und Leben des Bergarbeiters bedrohen,
nicht zu unterschätzen sind.
Die mannigfachen, Gesundheit and Leben des Bergarbeiters bedrohenden
Gefahren haben schon lange die Aufmerksamkeit des Staates auf sich gelenkt,
und wir finden daher in Preussen schon seit langen Jahren diejenigen, das Wohl
des Arbeiters bezweckenden Wohlfahrtseinrichtungen in der Montanindustrie ver¬
wirklicht, die erst in den letzten Jahren mehr oder weniger für die gesammte
arbeitende Klasse der Bevölkerung Gesetzeskraft gewonnen haben. Hierzu ge¬
hören staatliche Beaufsichtigung der Betriebe durch die Bergrevierbeamten,
Krankenkassen, Unfallversicherung, Invaliditätsversicherung.
§ 135—139 der Gewerbeordnungs-Novelle verbieten die Beschäftigung von
Arbeiterinnen und von Kindern unter 12 Jahren unter Tage. Kinder von 12 bis
14 Jahren dürfen im Maximum nur 6 Stunden unter Tage beschäftigt werden.
Für jugendliche Arbeiter von 14—16 Jahren ist eine 10 ständige Arbeitszeit
als Maximum festgesetzt. Ausserdem ist für regelmässige Pausen vorgesorgt, und
ein Termin für Anfang und Ende der Arbeit festgesetzt. Die Verwendung
jugendlicher Arbeiter untersteht ferner noch einer besonderen polizeiliohen Mel¬
dung und Gontrolle.
Ausser diesen theilweise auch für die gesammte arbeitende Klasse der Be¬
völkerung Geltung habenden polizeilichen Bestimmungen existirt noch eine Reihe
speciell für den Bergbau geltender Vorschriften, die theilweise im allgemeinen
Berggesetz und in besonderen Ministerialerlassen enthalten, theilweise von den
einzelnen Oberbergämtern in besonderen Polizeiverordnungen niedergelegt sind,
und entweder für den ganzen Bezirk Geltung haben oder für einzelne Betriebe
besonders erlassen sind. Dieselben bezwecken zum grössten Theil die Verhütung
von plötzlichen Unglücksfällen und sind mehr bergpolizeilicher als sanitätspoli-
zeilioher Natur. Es gehören hierzu die Bestimmungen über Sicherung der Sohäohte
und Bremsberge, über den Gebrauch der Sioherheitslampe, überVerwendung und
Aufbewahrung von Sprengstoffen etc. Viel wichtiger als diese auf die Verhütung
von plötzlichen Unglücksfällen hinzielenden Bestimmungen ist für die Sanitäts¬
polizei die Frage, wie können für den Bergarbeiter die erst aus dauerndem Ver¬
bleiben in seiner Berufsthätigkeit resultirenden Gesundheitsschädigungen mög¬
lichst vermindert werden.
Wie ich schob hervorgehoben habe, ist der grösste Feind des Bergmanns
die Beschaffenheit der Luft in den Bergwerken und wird daher auch vom sani¬
tätspolizeilichen Standpunkte aus vor Allem die Frage zu erörtern sein, welche
Anforderungen sind an die Luft in den Bergwerken zu stellen, und an zweiter
Stelle, wie kann den gestellten Anforderungen auf technischem Wege Genüge ge¬
schehen. Nach Pettenkofer muss man eine Luft mit 1 pM. Kohlensäuregehalt
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166
Dr. Körfer,
in Räumen, die von vielen Menschen gleichzeitig benutzt werden, als verdorben
bezeichnen, und es wird eine solohe Luft auch von jedem, der einen solchen
Raum betritt, als verdorben empfanden. In Bergwerken ist der Gehalt der Laft
an Kohlensäure ein bedeutend höherer, er stellt sich im Mittel vor Ort auf 3 bis
4 pM., ohne dass vom Bergmann eine solche Luft unangenehm empfunden wird,
selbst eine Luft von 10 pM. Kohlensäuregehalt kann nach Schlockow in Stein¬
kohlenbergwerken eingeathmet werden, ohne dass ausgesprochenes Uebelbefinden
eintritt. Der auffallende Unterschied, weshalb in dem einem Falle ein viel ge¬
ringerer Gehalt an Kohlensäure unangenehm empfunden wird, in dem anderen
ein viel höherer nicht, beruht darauf, dass, wie ich oben hervorgehoben habe,
die Kohlensäure in den Bergwerken nur zum geringsten Theile von dem Ath-
mungsprocess der Menschen und Thiere herrährt, und Vermehrung der Kohlen¬
säure und Verminderung des Sauerstoffs nioht gleichen Schritt halten. Der
Kohlensäuregehalt ist daher auch nicht der allein massgebende Factor für die
Beurtheilung der Grubenluft, es kommt ausserdem noch der Gehalt an den oben
sohon erwähnten Verunreinigungen hinzu. Man hat auch von jeher das Bedürf¬
nis nach Ventilation der Bergwerke empfanden und gerade diesem Punkte die
weitgehendste Aufmerksamkeit geschenkt. Während früher der Fahr- und För¬
derschacht gleichzeitig als einziger Wetterschaoht benutzt wurde, und man in
diesem die natürliche Ventilation durch Anbringen von Wetteröfen, Wassertrom¬
meln etc. künstlich zu erhöhen suchte, ist man allmählich immer mehr dazu
übergegangen, besondere Wetterschächte oder, wo die Verhältnisse es gestatten,
Wetterstollen anzulegen, duroh welche die verbrauchten Wetter ihren Abzug
finden, und zwar indem, je nach dem in dem betreffenden Bergwerk herrschen¬
den Ventilationsprinoip, die verbrauchten Wetter duroh auf mechanischem Wege
in die einzelnen Stollen hineingepresste, unverdorbene Luft herausgedrückt wer¬
den, oder durch in oder über dem Wettersohacht angebrachte Ventilatoren
(Wetterräder etc.) angesogen werden. Letzteres Princip, das Saccionsprincip,
erfreut sich einer viel weiteren Verbreitung. Stellenweise finden sioh auch das
Succions- und Pulsionsprincip combinirt in Anwendung, und letzteres wird dann
benutzt, um besonders gefährdete Punkte in noch ausgiebigerer Weise mit guter
Luft zu versorgen.
Nach dem in neuerer Zeit herausgegebenen Hauptberioht der preussisohen
Schlagwettercommission (S. 229) soll das Wetterquantum in Sohlagwettergruben
pro Kopf der grössten unterirdischen Belegschaft in der Minute 2 cbm betragen,
wobei ein Pferd = 4 Mann gerechnet wird. Um dies zu erreichen, sollen die
Wetterschächte möglichst weit angelegt werden und die Hauptwetterwege einen
Querschnitt von mindestens 3 qm erhalten, damit nicht bei geringerem Quer¬
schnitt die Wettergeschwindigkeit eine zu grosse wird, und dadnroh unange¬
nehmer Zug entsteht. Die Wettergesohwindigkeit soll im einziehenden Strome
240 m, im ausziehenden 360 m pro Minute nioht überschreiten. Die Luft im
ausziehenden Wetterstrome soll einen Gehalt an Kohlensäure -{- Grubengas von
17a pCt. nicht übersteigen. Gesetzlich feststehende Normen für die Beschaffen¬
heit der Grubenluft existiren einstweilen nicht.
Um den Bergarbeiter vor den Gesundheitsschädigungen, denen er
durch häufigen Tcmperaturwechsel ausgesetzt ist, zu schützen, wird
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UMIVERSITY OF IOWA
Morbidität and Mortalität der Bergarbeiter.
167
wohl vor Allem eine passende Aaswahl der Kleidung das geeignetste
Mittel sein. Man sollte den Bergarbeitern anempfehlen, wollene Unter¬
kleider oder wenigstens Hemden zu tragen. Da dieselben aber dem
Arbeiter, weil zu warm, bei der Arbeit unbequem sind, so wäre viel¬
leicht der Versuch zu machen, die Arbeiter zu bewegen, vor Ort das
wollene Hemd mit einem leichteren leinenen Arbeitshemd zu ver¬
tauschen, und sich erst wieder beim Verlassen der Arbeitsstätte mit
dem wollenen Hemd zn bekleiden, und in diesem wieder den Weg
zum Schacht und die Ausfahrt zu machen. Die Zechenverwaltungen
hätten dafür zu sorgen, dass der Weg über Tage vom Schacht zu
den Wasch- und Ankleideräumen gegen Zugwind geschützt eventuell
im Winter erwärmt ist.
Geeignete Wasch- und Ankleideräume sollten auf jeder Zeche
vorhanden sein. Es würde sich vielleicht empfehlen, die stellenweise
noch ziemlich primitiven Wascheinrichtungen dahin umzuändern, dass
jeder Bergmann Gelegenheit hat, sich nach der Schicht seinen ganzen
Körper vollständig zu reinigen. Am vollkommensten und wohlfeilsten
würde diesem Bedürfnis Genüge geschehen, wenn eine hinreichende
Anzahl von Warmwasserbrausen vorhanden wäre.
In den Wasch- und Ankleideräumen wäre noch ganz besonders
auf das Aufstellen von mit Wasser gefüllten Spucknäpfen zu sehen,
und die Arbeiter anzuhalten, sich dieser bei der nach dem Waschen
meist reichlicheren Expectoration zu bedienen.
Um eine überflüssige Anstrengung der Körperkräfte zu vermeiden,
sollte den Arbeitern Gelegenheit gegeben werden, sich zur An- und
Ausfahrt der Seilfahrt zu bedienen, und sollte die Benutzung von
Fahrten und Fahrkünsten gänzlich abgeschafft werden.
Von grosser hygienischer Wichtigkeit, speciell auch für den Berg¬
arbeiter, ist die Wohnungs- und Wasserversorgungsfrage.
Abgesehen von den im Allgemeinen an eine gesunde Wohnung
zu stellenden Anforderungen, sollte beim Anlegen von Bergarbeiter¬
wohnungen darauf Rücksicht genommen werden, dass dieselben nicht
in allzu grosser Nähe der Schächte liegen, denn einerseits ist in der
Nähe der Schächte die Luft durch die ausziehenden Wetter und durch
den unvermeidlichen Staub verschlechtert, andererseits ist der Berg¬
mann alsdann gezwungen, sich auf dem Heimwege nach gethaner
Schicht einige Zeit in frischer Luft zu bewegen. Ebenso sollte ein
allzuweit entfernt Wohnen vermieden werden, damit keine überflüssige
Ausnutzung der Körperkräfte auf dem Wege von und zum Schacht
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UNIVERSUM OF IOWA
168
Dr. Körfer,
eintritt. Die Häuser sollten auch nicht in enge Dorfstrassen zu¬
sammengedrängt sein, sondern durch kleine Gärtchen von der Strasse
und von einander getrennt sein, dadurch würde einerseits das Haus
luftiger werden, andererseits der Arbeiter Gelegenheit haben, sich
nach der Arbeit, indem er seinen Garten selbst bestellt, möglichst
viel in frischer gesunder Luft aufzuhalten.
Was die Wasserversorgung anbelangt, so hat dieselbe in Berg¬
werksbezirken häufig mit grossen Schwierigkeiten zu kämpfen, denn
durch den Bergbau werden dem Grundwasser Abflusswege in die Tiefe
eröffnet, und infolge dessen versiegen die Brunnen. Die Anlage eines
diesen Verhältnissen entsprechenden Brunnens ist natürlich mit grossen
Schwierigkeiten und Kosten verknüpft, und die Folge davon ist, dass
die Anzahl der Brunnen eine sehr geringe ist, so dass die Bevölke¬
rung oft verhältnissmässig weite Wege machen muss, um sich gutes
Wasser zu verschaffen. Die Folge davon ist, dass einerseits mit dem
Wasser sehr sparsam umgegangen wird und andererseits schlechtes
Wasser, Halden-, Gruben- oder Regenwasser benutzt wird. Es sollte
daher darauf gesehen werden, dass allenthalben genügendes und leicht
zu erreichendes Wasser vorhanden ist, und dies eventuell durch An¬
lage von Wasserleitungen ermöglicht werden.
Literatur.
Zeitschrift für Bergbau-, Hütten- und Salinenkunde. Bd. 23—37.
Schlockow, Gesundheitspflege und medicinische Statistik beim preussischen
Bergbau.
Hirt und Merkel, Handbuch der Hygiene und Gewerbekrankheiten.
Eulenburg, Realencyolopädie der gesammten Heilkunde. Bd. 2 und 13.
Hasslacber, Hauptbericht der preussischen Schlagwettercommission.
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UNIVERSUM OF IOWA
Morbidität und Mortalität der Bergarbeiter.
169
Tabelle T.
Summe der beschäftigten
Mitglieder
Summe der inneren
Krankheiten
Tuberculose
Emphysem j
bC
P
P
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P
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N
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1
Bronchialcatarrh
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6
II
CA
Rheumatismus
Blutarmuth u. Wassersucht
Wechselfieber
Typhns
Summe der äusseren
Krankheiten
Verletzungen
Summe sämmtlicher
Krankheiten
Invalide
durch Verletzung ^
natürlichen Todes ^
gestorben ® 1
1874:
Saarbrücken
-21800
—
—
—
—
—
—
—
—
—
2607
13757
258
40
113
Worin K.
5532
2312
30
150
79
fi64
1623
254
21
42
30
1350
457
3662
36
15
Gl
Ksch weiter K.
1817
1121
29
70
12
80
24 2
90
83
9
5
265
255
1386
22
4
29
Siegen K.
4328
1180
24
16
72
244
444
224
12
0
32
684
56
1864
36
5
10
Deutz K.
2058
947
26
16
17
165
261
134
34
5
19
432
95
1399
12
3
15
Brühl K.
692
—
—
—
—
—
—
—
—
—
—
—
—
375
3
0
7
1875:
Saarbrücken
•22317
—
—
—
—
—
—
—
—
—
—
3023
16407
343
54
138
Worm K.
5513
1078
28
187
71
788
1078
267
24
24
63
1440
508
4162
71
9
75
Bscbweiler K.
1486
268
33
70
12
92
268
110
85
13
7
254
244
1715
31
2
43
Siegen K.
4522
522
22
13
125
250
522
316
2
1
39
830
97
2350
30
6
56
Deutz K.
2100
299
29
21
18
197
299
149
31
4
28
514
83
1549
16
0
23
Brühl K.
550
—
—
—
—
—
—
—
—
—
—
—
381
5
1
5
1876:
Saarbrücken
22859
10477
142
154
186
2911
3811
2251
48
339
88
6447
2910
16924
389
36
113
Worm K.
5132
2378
46
125
51
492
827
246
37
28
23
1492
617
4162
46
15
82
Kschweiler K.
1089
928
28
81
14
77
240
60
45
11
5
150
150
1715
53
2
18
Siegen K.
4634
#
—
—
—
—
—
—
—
—
—
—
123
2350
51
6
36
Deutz K.
2229
1286
30
25
16
276
388
181
50
8
17
616
143
1549
24
1
33
Brühl K.
566
295
2
—
4
114
135
58
2
0
2
131
80
426
4
0
8
1877:
Saarbrücken
•22613
10931
149
165
207
2903
3858
2259
61
238
151
6595
3010
17526
349
48
133
Worm K.
4911
2481
21
146
33
791
1057
297
16
29
8
1408
550
3889
74
8
62
Kschweiler K.
1126
937
37
63
16
74
225
55
59
8
4
220
214
1157
32
1
28
Siegen K .
4716
1895
46
27
112
453
700
330
2
1
56
1030
117
2925
32
6
55
Deutz K.
2269
1167
29
26
24
238
363
178
37
10
14
531
121
1698
20
2
29
Brühl K.
498
360
0
—
9
186
202
40
2
0
0
131
51
491
6
0
11
1878:
Saarbrücken
21597
9833
239
164
213
2492
33S2
2182
65
106
134
5865
2642
15698
365
39
122
Worm K.
5072
2423
50
122
60
737
1008
350
23
29
14
1491
592
3914
58
11
73
Kschweiler K
1097
970
44
70
22
89
259
50
47
6
13
230
218
1200
19
0
33
Siegen K .
5255
2059
61
19
123
461
712
312
4
8
62
1195
112
3254
52
6
73
Dentz K.
2249
1288
57
26
21
278
411
203
39
3
17
599
237
1887
23
5
33
Brühl K .
444
287
1
—
5
125
138
44
3
1
8
100
17
387
8
1
9
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UMIVERSITY OF IOWA
170
Dr. Körfer,
Summe der beschäftigten
Mitglieder
Summe der inneren
Krankheiten
Tuberculose
Emphysem
b L
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Krankheiten
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Krankheiten
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187«:
Saarbrücken
21990
7939
197
132
196
1989
2814
145S
52
56
194
5290
2439
13229
320
53
128
Worm K.
5301
2461
61
141
81
794
10961
314
24
19
10
1743
823
4204
82
11
74
Eschweiler K.
1123
1011
50
75
25
85
263
54
55
4
12
164
187
1175
15
4
44
Siegen K.
5451
2315
50
13
115
576
821
383
9
3
76
1223
184
3538
42
4
37
Deutz K.
2319
1241
68
25
18
255
400
172
45
3
24
619
189
1860
25
3
47
Brühl K.
447
302
2
—
6
113
134
51
2
0
1
107
59
409
2
0
3
1880:
Saarbrücken
23229
7952
261
177
220
1620
2512
1565
61
36
198
5584
2773
13536
259
47
142
Wurm K.
5398
2678
52
113
62
724
1025
380
37
9
16
1484
739
4162
66
13
89
Eschweiler K.
1084
620
41
58
10
58
192
45
25
4
14
150
147
770
13
2
35
Siegen K.
6102
2556
66
10
127
615
853
402
19
5
163
1518
189
4074
50
10
74
Deutz K.
2390
1478
66
40
21
268
444
193
58
54
23
665
194
2143
17
2
30
Brühl K.
439
300
2
—
4
122
136
51
0
0
0
109
62
409
9
2
5
1881:
Saarbrücken
23253
7161
173
144
193
1574
2401
1549
53
37
133
5015
2530
12176
269
45
123
Worm K.
5513
2475
40
94
63
839
1088
331
20
22
23
1430
703
3905
58
13
56
Eschweiler K.
1073
654
58
35
15
52
184
56
24
2
18
159
150
813
10
1
25
Siegen K,.
6266
2760
54
12
138
682
1031
513
2
1
45
1605
343
4365
48
9
87
Deutz K.
2353
1473
72
33
26
315
494
210
58
5
10
573
116
2046
24
5
27
BrühlK.
565
328
2
—
3
130
152
48
1
0
2
152
85
480
6
0
7
1882:
Saarbrücken
24249
8028
256
178
181
1761
2642
1569
37
41
149
5370
2685
13398
296
41
127
Worm K.
5721
2601
57
144
76
747
1200
337
29
10
11
1447
652
4048
92
15
92
Eschweiler K.
1217
730
68
43
14
64
210
68
28
0
22
162
199
892
14
2
24
Siegen K.
6845
2969
52
18
143
750
1018
557
4
1
64
1736
802
4705
57
8
85
Deutz K.
2350
1619
89
46
24
299
524
255
68
2
20
706
155
2325
24
3
38
Brühl K.
529
399
0
—
7
162
178
60
3
1
0
145
87
544
2
1
9
188»:
Saarbrücken
25657
9331
233
181
226
1963
2904
2079
62
34
156
5798
3175
15129
279
48
141
Worm K.
5809
2693
30
117
95
728
1012
464
22
11
20
1680
836
4373
68
15
70
Eschweiler K.
1082
759
55
58
29
89
248
56
20
0
19
257
245
1016
27
4
24
Siegen K.
7001
2989
60
14
137
828
1112
567
2
1
62
1739
890
4728
59
11
106
Deutz K.
2425
1608
84
58
22
381
600
1 226
68
0
6
780
138
2388
27
2
41
Brühl K.
573
458
1
—
17
166
199
66
4
0
0
179
113
637
5
0
14
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Original from
UMIVERSITY OF IOWA
Morbidität und Mortalität der Bergarbeiter.
171
Summe der beschäftigten
Mitglieder
Summe der inneren
Krankheiten
Tuberculose
Emphysem
b£
P
a
TZ*
P
:P
a
a
v
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P
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Bronchialcatarrh
Summe der Krankheiten
der Athmungsorgane
Rheumatismus
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Wechselfieber
Typhus
Summe der äusseren
Krankheiten
Verletzungen
Summe sämmtlicher
Krankheiten
Invalide
durch Verletzung h
o
natürlichen Todes ^
gestorben ©
1884:
Saarbrücken
27151
_
162
135
248
—
_
_
_
_
_
3292
16184
239
64
158
Worm K.
5783
—
33
70
58
—
—
—
—
—
—
—
964
4700
84
13
32
Eschweiler K.
1181
—
6
20
24
—
—
—
—
—
—
—
277
1467
21
2
10
Siegen K.
6893
—
49
23
92
—
—
—
—
—
—
800
4989
60
10
39
Deutz K.
2315
—
93
51
34
—
—
—
—
—
—
—
129
2272
24
0
19
Brühl K.
807
—
—
—
8
—
—
—
—
—
—
—
148
872
4
0
2
1885:
Saarbrücken
26379
_
—
—
—
—
—
—
_
—
—
—
3218
16755
336
258
197
112
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Eschweiler K.
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1226
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—
—
—
—
_
_
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_
_
—
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303
1534
36
2
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Siegen K.
6880
—
—
—
—
—
—
—
—
—
—
18
4833
77
5
62
Deutz K.
2430
—
—
—
—
—
—
—
—
—
97
2491
39
1
25
Brühl K .
893
—
—
—
—
—
—
—
—
—
—
180
977
2
0
7
1886:
Saarbrücken
25776
—
—
—
—
—
_
_
_
—
—
2947
15433
397
35
166
Worm K.
5888
—
—
—
—
—
—
—
—
—
—
909
4696
92
14
33
Eschweiler K.
1262
—
—
—
—
—
—
—
—
—
—
208
1675
18
1
9
Siegen K .
6295
—
—
—
—
—
—
—
—
—
—
—
13
5067
103
9
67
Deutz K .
2408
—
—
—
—
—
—
—
—
—
—
—
76
1991
47
3
20
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3
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1887:
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Saarbrücken
25460
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—
—
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—
—
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—
—
—
3159
15265
584
48
154
Worm K .
5672
—
—
—
—
—
—
—
—
—
—
—
850
4314
101
19
38
Eschweiler K.
1217
—
—
—
—
—
—
—
—
—
—
—
188
1730
20
2
13
Siegen K.
6059
—
—
—
—
—
—
—
—
—
—
—
819
5077
63
10
58
Deutz K.
2390
—
—
—
—
—
—
—
—
—
—
—
71
1744
36
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13
Brühl K .
1088
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—
—
—
—
—
—
—
—
—
—
153
947
4
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6
1888:
Saarbrücken
26775
—
—
—
—
—
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—
—
—
3365
16239
479
92
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5869
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—
—
—
—
—
—
—
—
—
—
944
4264
145
14
27
Eschweiler K.
1108
—
—
—
—
—
—
—
—
—
—
—
173
1301
22
1
4
Siegen K .
6485
—
—
—
—
—
—
—
—
—
—
—
1042
5683
95
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62
Deutz K .
2300
—
—
—
—
—
—
—
—
—
—
—
205
2487
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Brühl K .
1192
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943
10
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Berechnet aas Tabelle 1, III and IV.
172
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in Saarbrücken K...
in Worm K.
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in Siegen K.
in Deutz K.
in Brohl K.
im Oberbergamts¬
bezirk Bonn.
in sämmtlichen
preussischen Knapp¬
schaftsvereinen ....
386
4G8
754
401
578
672
Innere Krankheiten
6,4
6,4
25,0
5,2
20,0
2,0
Taberculose
6,7
25,0
48,0
2,9
12,0
Emphysem
8,8
12,0
14,0
21,0
11,0
13,0
Lungenentzündung
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Bronchialcatarrh
129
201
204
144
211
329
Krankheiten der Ath-
mnngsorgane
80
60
53
71
84
103
Rheumatismus
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Blntarmuth und Wasser¬
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Wechselfieber
6,5
4.1
9.8
11,8
7.8
3.2
Typhus
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277
250
229
266
216
Aeussere Krankheiten
121
133
173
64
59
151
103
Verletzungen
634
745
1004
636
844
888
657
545
Krankheiten in Snmma
14,3
14,3
21,9
9,7
11,7
7,1
10,5
11,47
Invalide
2.63
2,40
1.64
1,27
0,92
1,16
1,77
2,16
durch Verletzung h
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10,82
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11,74
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8,46
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UNIVERSUM OF IOWA
Auf 1000 Knappschaftsmitglieder kommen pro Jahr:
Morbidität aod Mortalität der Bergarbeiter.
173
Tabelle III.
Oberbergamtsbezirk Bonn.
Jahreszahl
Samme der
beschäftigten
Mitglieder
Verletzte
Kranke
in Snmma
Invalide
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durch Ver¬
letzung
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Todes ge¬
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1874
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1875
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7971
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78808
7893
52526
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1878
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52605
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671
1879
80935
8748
51383
879
138
649
1880
88133
8461
52496
710
131
764
1881
90406
9220
54769
702
137
833
1882
93186
9913
58256
775
133
811
1883
93813
10983
57687
861
143
916
1884
93520
10638
62642
870
137
817
1885
91700
8839
63878
1091
318
841
1886
89770
8588
63349
1291
126
774
1887
92738
9455
60036
1302
121
735
1858
96947
10739
64005
1260
172
789
Tabelle IV.
Sämmtliche preussische Knappsohaftsvereine.
Jahreszahl
Summe der
beschäftigten
Mitglieder
Verletzte
Kranke
in Summa
Invalide
T o i
durch Ver¬
letzung
d t e
natürl.
Todes ge¬
storben
1874
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2531
578
2334
1875
264372
—
—
2874
584
2082
1876
263688
—
146743
2852
610
1881
1877
252015
—
142862
3062
522
1906
1878
252388
—
174318
2987
546
1840
1879
253276
—
151253
3170
598
1787
1880
267267
—
152316
2413
577
2191
1881
281008
—
169000
2674
611
2383
1882
294029
—
162891
2749
674
2241
1883
308283
—
166699
2891
666
2559
1884
319973
—
172345
3243
618
2444
1885
331609
—
175582
4293
864
2540
1886
326373
—
181918
5190
660
2261
1887
331109
—
175191
5794
662
2131
1888
342908
—
147269
4378
744
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Tabelle V.
Tödtliohe Verletzungen im Oberbergamtsbezirk Bonn.
Morbidität und Mortalität der Bergarbeiter.
175
In den Knapp¬
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16-15
Jahren
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Jahren
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15
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3
13650
195
36815
421
3957
37
489
11
318
2
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1
980
14
437
9
13639
177
37749
449
3804
41
845
9
240
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UMIVERSITY OF IOWA
Morbidität und Mortalität der Bergarbeiter.
177
Tabelle VII.
Im Alter von
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Jahren
1874—1884
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Original frn-m
UNiVERSUY OF IOWA
(Aus dem chem.-mikroskop. Laboratorium von Dr. Maximilian
und Dr. Adolf Jolles in Wien):
Beitrag nr Eitstehaagsarsache toh Canalexplosionen.
Eine gutachtliche Aeusserung
von
Dr. ■»xtmillAn Jolles in Wien.
In der Naobt vom 21. anf den 22. Februar 1891 fand am 7 2 2 Uhr in
Wien im Hanse Bnrggasse33 während der Räumung des Hauscanales beim Canal-
sohacbt eine Explosion statt, wodurch zwei Canalarbeiter schwere Verletzungen
erlitten.
Durch die amtlichen Erhebungen wurde nun constatirt, dass am 22. Februar
gegen Feierabend eine bei der im selben Hause etablirten Knopffabrik der Firma
Winter u. Adler bedienstete Arbeiterin eine mehr als */ 4 m hohe Bleohkanne, in
der sioh nach Angabe dieser Arbeiterin die Ueberreste von Benzin, das zum
Putzen der Knöpfe verwendet wird, mit Wasser verdünnt befand, in den in der
Nähe des Einganges im Hofe befindlichen Canalschacht gegossen hat.
Von Herrn Dr. Adolf Baohrach, Hof- und Qerichtsadvocaten in Wien,
als Vertreter obiger Firma, habe ioh als Sachverständiger den Auftrag erhalten,
seine fachmännische Ansicht darüber zu äussern,
1) ob die in der Naoht vom 21. zum 22. Februar 1. J. bei der Canal¬
räumung des Hauses Burggasse 33 stattgefundene Explosion auf das
Ausgiessen von Benzinrückständen in denHausoanal seitens einer
Bediensteten obiger Firma zurückzuführen sei, oder ob andere Um¬
stände die Veranlassung zu derselben abgegeben haben könnten;
2) ob die Inhaber obiger Firma nach ihrer Beschäftigung oder überhaupt
nach ihren besonderen Verhältnissen einzusehen vermochten, dass
das Ausgiessen von so geringen Mengen der Benzinrückstände in den
Canal für das Leben, die Gesundheit oder körperliche Sicherheit von
Menschen eine Gefahr herbeizuführen im Stande gewesen sei (§ 335
St.G.B.).
12 *
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Original frnm
UMIVERSITY OF IOWA
Einstieg.
180
Dr. Jolles,
Auf Grund dieses Auftrages habe ich am 29. März 1. J. in Gemeinschaft
mit Herrn Dr. Bachrach einen Localaugenschein des betreffenden Haus-
canales vorgenommen und gleichzeitig Erhebungen über die näheren, den
Explosionsverlauf begleitenden Umstände gepflogen, wobei Folgendes constatirt
wurde. —
Der Hausoanal, in welchem sämmtliche Abortschläuche einmönden, beginnt
unterhalb der Kellerräume des linken Seitentractes, in der Gegend des dort be¬
findlichen Stiegenaufganges, geht geradewegs bis in die Mitte des Hofes, wo er,
ein rechtwinkliges Knie bildend, in gerader Richtung fortläuft und schliesslich
ca. 3—4 m vor dem Hauseingange unter einem grossen, stumpfen Winkel in
den Strassencanal abbiegt.
Eingussstelle.
Explosionsstelle.
mTFs ■ N. 9 <td
~ ■ M.13'70
ki
aej Schacht II
Schacht III
Schacht IV
■ Schacht I
\
Derselbe besitzt 4 Schächte, zwei grössere, mit grossen Quadersteinen ver¬
schlossene, und zwar an seinem Beginne, den sogenannten Canaleinstiegschacht
(Schaoht 1) und den vor seiner Abbiegung in den Strassenoanal angebrachten
Ausstiegschaoht (Schacht IV), sowie zwei kleinere mit eisernen Gittern ver¬
schlossene Sohäohte, von denen sich der eine (Schacht II) im Hofe, in der Nähe
ersten Kniebildungsstelle, der andere (Schaoht III) in der Nähe des Hofeinganges
befindet.
Schaoht I ist von Schacht II 6,7 m,
„ II , , , III 9,4 „
„ III „ „ IV 13,7 „ und
„ IV „ „ Strassencanal ca. 3—4 m entfernt.
Ueber die näheren Umstände, welohe der Explosion vorangingen und sie
begleitet haben, ist Nachstehendes zur Kenntniss gebracht worden.
Am Samstag, den 21. Februar laufenden Jahres vor Feierabend, also 4 bis
5 Uhr Nachmittags, wurden von einer Bediensteten der Knopffabrik Winter u.
Adler, Namens Aloisia Knarror, durch das Gitter des Canalschachtes No. III ca.
1V 2 Liter Benzinrüokstände, welche vorher mit 3—4 Litern Wasser verdünnt
worden waren, in den Hauscanal hineingegossen.
Diese Benzinrückstände entstammen dem Benzin, weloher in der Fabrik
zum Entfetten der Metallknöpfe Verwendung findet, und bestehen aus mit Benzin
durchsetzten Metallabfällen, Tuchfasern, Wiener Kalktheilen und Stearinöl. Da
der Preis des Benzins ein ziemlich bedeutender ist, pflegt die Fabrik die ver¬
wendeten Benzinmengen wieder zu sammeln und den Haupttheil dieses Produotes
dadurch wieder zu gewinnen, dass sie die specifisch schwerere demselben beige¬
mengten Metall- und andere Stofftheile, sioh in den verschlossenen Sammelge-
fässen am Boden ablagern lässt, und dann die darüber befindliche Benzinsohiohte
abgiesst. Die dabei zurückbleibendo, mit Benzin nur schwach durchtränkte,
Digitized by
Gck igle
4
Original fram
UNIVERSmr OF IOWA
Hauptcanal.
Gatachtl. Aeusserung über die Entstehungsursache einer Canalexplosion. 181
innerhalb' 3—4 Wochen eine Quantität von ca. 1 — 1 ( / 2 Liter ergebende, zäh¬
flüssige Masse gelangt nach entsprechender Verdünnung mit 3—4 Litern Wasser
zeitweise zmn Ausgusse und ist daher, abgesehen davon, dass ein grosser Theil
der in ihr vorhandenen Benzinquantität sich dabei noch verflüchtigt, deren eigent¬
licher Gehalt an Benzin als gering zu veranschlagen.
Nach Aussage des derzeitigen Hausmeisters des Hauses Burggasse 33, Na¬
mens Moritz Maiss, haben nun in der Nacht vom 21. auf den 22. Februar]. J.
drei Canalräumer die Reinigung des Hauscanales vorgenommen, und zwar seien
zwei derselben mit angezündeten, frei brennenden Kerzen duroh den Schacht I in
den Canal hineingestiegen und haben die Reinigung nahezu bis zum Canal¬
schachte No. IV durchgeführt, während der dritte in Gemeinschaft mit dem Haus¬
meister vom Hofe aus sie als Zureicher darin unterstützte. —
Da der im Hofe befindliche Arbeiter den Deckstein des Schachtes IV zu ent¬
fernen allein nicht im Stande war, so stieg der eine von den im Canale selbst
beschäftigten Canalräumern, den Canalgang wieder zurückpassirend, durch den
Schacht I wieder in den Hof hinauf und half an der Weghebung desselben.
Darauf hin begab sich dieser mittels einer Leiter und unter Mitnahme einer frei
brennenden Kerze in den erölfneten Schacht IV nnd arbeitete daselbst circa
20 Minuten gemeinschaftlich mit dem inzwischen bis dahin vorgedrungenen
anderen Canalräumer an der Fortschaffung des Unrathes. —
Nachdem bereits ein grosser Theil des stark angehäuften Canalinhaltes, der
dieOeffnung zum Hauptcanal fast vollständig verstopfte, fortgeräumt worden war,
sei plötzlich unter leichter Detonation eine Explosion in der Richtung vomHaupt-
oanale aus erfolgt, wobei die beiden Arbeiter schwere Verletzungen davontrugen.
Des Weiteren habe ich in Erfahrung gebracht, dass die vorbezeich-
neten Rückstände seit Jahren durch zeitweises Ausschütten in den mit dem
Hauscanal in Verbindung stehenden Abort fortgeschafft worden seien, ohne dass
der geringste Unfall sich hierbei jemals ereignet hätte.
Ausserdem soll nach Angabe des Hausmeisters sowohl, wie des Hausbe¬
sitzers an der Uebergangsstelle des Hauscanals in denStrassencanal zu jener Zeit
eine solohe, die Uebergangsstelle fast gänzlich verstopfende Unrathsfülle ange¬
häuft gewesen sein, wie sie sonst nicht vorzukommen pflegt. —
Ferner soll sowohl während des Canalräumens, als auch während des
darauffolgenden seitens des Wiener Stadtbauamtes am 23. Febrnar vorgenom¬
menen Localaugenscheines auffallenderweise ein Gasgeruch zu verspüren ge¬
wesen sein, „wie er in der Nähe älterer Rohrleitungen vorzukommen pflegt“.
Thatsäohlich soll einige Tage nach der Explosion die Gasgesellsohaft Ver¬
anlassung genommen haben, die in der Nähe der Explosionsstelle befindlichen
Gasröhren duroh neue zu ersetzen. —
Auf Grund des persönlich vorgenommenen Localaugenscheines
und des vorgekennzeichneten Thatbestandes, sowie insbesondere der
den Explosionsvorgang begleitenden Umstände, wie endlich auf
Grund der Beschaffenheit des in geringer Menge in der Fabrik
Vorgefundenen Abfallstoffcs bin ich zu dem Schlüsse gelangt, dass
es nicht nolhwendig sei, anzunehmen, dass die in der Nacht des
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182
Dr. Jolles,
21. Februar erfolgte Explosion durch das Hineinschütten des oben
gekennzeichneten Benzinrückstandes verursacht sei und stütze diese
meine Ansicht auf folgende Gründe:
1. Bekanntlich hat das Benzin einen derartig specifischen Ge¬
ruch, dass derselbe schon beim Vorhandensein minimalster Mengen
wahrgenommen werden muss. Nun wird aber weder von den Canal¬
räumern, noch von dem derzeitigen Hausbesorger Moritz Meiss, wel¬
cher nach obigen Ausführungen dem ganzen Canalreinigungsprocess
beigewohnt hatte, etwas über die Beobachtung eines solches Geruches
ausgesagt, sondern im Gegentheil, wollen Alle übereinstimmend einen
Gasgeruch wahrgenommen haben, wie er in der Nähe alter Gasrohr¬
leitungen aufzutreten pflegt.
2. Bei der bekannten Flüchtigkeit des Benzins ist es nicht
gut anzunehmen, dass dasselbe, zumal in so geringer Quantität, sich
nach Verlauf von 8—9 Stunden unverflüchtigt vorfinden sollte und
überdies in der Winterszeit, wo bekanntlich ein viel schnellerer Gas¬
austausch zwischen der kalten Aussenluft und der warmen Canalluft
vor sich gehen muss. —
Zieht man noch die Canalstromgeschwindigkeit in Betracht, wo¬
nach die hineingegossenen Abfallstoffe, wenn nicht ganz, so doch zum
grössten Theile weit weg von der Einwurfstelle in der Zwischenzeit
fortgeschwemmt sein müssten, so erhellt aus allen diesen Momenten,
dass während der Canalräumung im Hauptcanal überhaupt kein
Benzin vorhanden sein konnte. —
3. Gesetzt den Fall, dass noch geringe Mengen von Benzin im
Canalgange zurückgeblieben wären — sei es, dass die oben beschrie¬
benen Abfallstoffe in Folge ihrer klebrigen Beschaffenheit an der
rauhen Fläche des Canalbodens haften geblieben wären, sei es, dass
in Folge der constatirten Verstopfung an der Uebergangsstelle des
Hauscanales in den Strassencanal die Abfallstoffe nicht fortgeschwemmt
werden konnten, — so müsste nothwendigerweise bei der leichten Ent¬
zündbarkeit des Benzins sofort nach Betreten des Schachtes durch
die Arbeiter mit brennenden Kerzen unter heftiger Detonation eine
Explosion erfolgt sein.
Dies ist aber nicht der Fall gewesen; vielmehr sind nach den
Ergebnissen des Thatbostandes die Arbeiter mit brennenden Kerzen
nicht nur längere Zeit im ganzen Canalschlauche, also auch auf der
13,7 m langen Strecke zwischen Schacht III und Schacht IV, welche
die durch Canalschacht III eingegossenen Abfallstoffe unbedingt passirt
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t
(
(
Gutaohtl. Aeusseruog über die Entstebungsursache einer Canalexplosion. 183
haben mussten, ungefährdet thätig gewesen, sondern haben auch im
Schacht IV durch 20 Minuten mit offen brennenden Lichtern schadlos
gearbeitet. —
4. Auf einen etwaigen Einwurf, dass die Benzinabfallstoffe zwar
bis in die Einmündungsstelle des Hauscanales in den Strassencanal
gelangt seien und sich daselbst abgelagert hätten, dass aber nach
Beseitigung der an dieser Uebergangsstelle vorhanden gewesenen Ver¬
stopfung seitens der Arbeiter durch den plötzlich entstandenen Luft¬
zug die Benzingase aus dem Strassencanal in den Hauscanal hinein¬
gerissen und beim Zusammentreffen mit den brennenden Kerzen zur
Explosion gelangt wären, ist nun Folgendes zu entgegnen:
1. Dass, sobald einmal die Abfallstoffe aus dem engen Hausoanal bis zum
weiten Strassencanal gelangt seien, dieselben auch unbedingt von der daselbst
herrschenden starken Strömung erfasst und weithin hätten fortgespült wer¬
den müssen.
2. Wären die Abfallstoffe auch durch einen besonderen Zufall an
dieser Einmündungsstelle in den Strassencanal haften geblieben, so müssten
bei der leiobten Diffundirbarkoit des Benzins längst seine durch Verflüchtigung
entstandenen Dämpfe die verstopfenden Hassen durchdringend in den Hauscanal
hineingelangt, beziehungsweise diffundirt und unmittelbar beim Betreten des
Hauscanals mit brennenden Kerzen zur Entzündung gelangt sein.
3. Da das Oanalrohr eine ziemlich grosse Lichtweite besitzt, und weitere
Entleerungen in demselben nach dem Fabriksschlusse nicht anzunehmen sind, so
ergiebt sich daraus, dass wenn eine Verstopfung an der Uebergangsstelle des
Hauscanals in den Strassencanal thatsächlich vorhanden gewesen wäre, dieselbe
unbedingt schon vor dem Ein würfe der Benzinrüokstände in den Schacht III vor¬
gebildet gewesen sein musste. —
Hieraus würde nun zunächst folgen, dass ein Abfluss der ausgegossenen
Rückstände unmöglich hätte stattfinden können und dass daher, nachdem beim
unmittelbaren Eintritt mit den freibrennenden Kerzen in den Einstiegschacht
und während des Arbeitens im Canalsohlauche selbst keine Entzündung erfolgt
war, die den Canal etwa erfüllenden Benzindämpfe schon früher zum Aus¬
tausch mit der Luft gelangt sein musste.
Aus den vorstehenden Erwägungen geht hervor, dass die vorerwähnte Ex¬
plosion nicht auf die Entzündung von Benzindämpfen zurüokgeführt
werden könne.
Bei der Forschung nach den anderweitigen Ursachen der Explosion sind
nun folgende erklärende Möglichkeiten in Betracht zu ziehen.
Wie aus dem Thatbestand zu entnehmen, ist sowohl vor der Explosion
seitens der Canalräumer und des Hausbesorgers, als auch bei dem am nächst¬
folgenden Tage vorgenommenen Localaugenscheine seitens des Wiener Stadtbau¬
amtes ein auffallender Gasgeruch, wie er in der Nähe alter Rohrleitungen sich
bemerkbar macht, an der betreffenden Explosionsstelle zu verspüren gewesen.
Diese auffällige Thatsache liess es daher als möglich erscheinen, dass
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184
Dr. Jolles,
Leuchtgas durch die Wände der alten Gasrohren, ohne dass dieselben gerade
schadhaft zu sein brauchten, in geringer Menge diffundirt wäre, sich hinter
der Verstopfungsstelle nach und nach in namhafter Quantität angesammelt hätte,
nach Beseitigung des Hindernisses in den Schacht IV zurückgeströmt und an den
brennenden Kerzen zur Entzündung gelangt wäre.
Unterstützt wird diese in Betracht gezogene Möglichkeit durch die fernere
auffallende Thatsache, dass die Gasgesellschaft gerade einige Tage nach der Ex¬
plosion zu einer Auswechslung der in der Nähe der Entzündungsstelle befind¬
lichen Gasröhren geschritten sei. —
Nichtsdestoweniger sind die vorhandenen Indicien nicht ausreichend, um
mit Bestimmtheit die Explosion als durch eine Leuchtgasentzündung hervorge¬
rufen zu erklären, zumal noch hierboi die weitere Möglichkeit nicht ausser Acht
zu lassen ist, dass die durch die alten Gasrohrwände diffundirten geringen
Louchtgasmengeu durch die im Canale herrschende Ventilation zum Abzug
hätten gelangen müssen. —
Eine grössere Wahrscheinlichkeit als vorstehendes Moment bietet
die Annahme, dass die Explosion die Folge einer Entzündung von
Grubengas (CH 4 ) sei, welches sich hinter der Verstopfungsstelle in
grösseren Quantitäten angesammelt habe.
Bekanntlich enthalten die Canalgase (nach Rosenthal: Vor¬
losungen über öffentliche und private Gesundheitspflege, 2. Auflage,
S. 60, und Friedrich Renk: Die Canalgase, deren hygienische Be¬
deutung und technische Behandlung. München 1882. S. 11 u. ff.)
unter anderen ZersetzuDgsproducten, wie Kohlensäure, Ammoniak,
Schwefelwasserstoff etc. auch grössere Mengen brennbarer Kohlen¬
wasserstoffe und insbesondere einen hohen Gehalt an Grubengas
(Mothan CH 4 ).
Dieses Gas ist in den Canalgasen in einer um so grösseren
Menge enthalten, je mehr Fäulnissproducte vorhanden sind und je
weiter ihre Zersetzung vorgeschritten ist, was gewöhnlich an jenen
mit Abfallstoffen erfüllten Oertlichkeiten der Fall zu sein pflegt, wo
sie längere Zeit unbeseitigt liegen bleiben können, so z. B. in Schlamm¬
fängen, Canallücken und verstopften Canälen. —
Das Methan ist jenes Gas, welches in den Bergwerken die so
gefürchteten „schlagenden Wetter“ erzeugt, indem es sich nämlich
unbemerkt in grösseren Quantitäten ansammelt und seiner leichten
Entzündlichkeit wegen durch die leiseste Berührung mit frei brennen¬
den Lichtern zur Explosion gelangt. —
Es ist daher anzunehmen, dass — nachdem durch die Ver¬
stopfung des Hauscanals ein regerer Austausch der Strassencanalgase
mit der Aussenluft nicht habe stattfinden können, das Grubengas
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Gutaohtl. Aeusserung über die Eutstehangsarsache einer Canalexplosion. 185
sich in grösserer Menge an dieser Stelle nnd zwar an der dem
Strassencanal zugekchrtcn Seite angesammelt und nach Wegschaffang
des Unrathpfropfens anmittelbar beim Zusammentreffen mit den in
den Händen der Arbeiter befindlichen frei brennenden Kerzen die Ex¬
plosion verursacht habe. —
Diese Annahme gewinnt eine um so erhöhtere Wahrscheinlich¬
keit, als die Art und Weise des ganzen Explosionsverlaufcs eino
ausserordentliche Aehnlichkeit mit den bei schlagenden Wettern zu
Tage tretenden Erscheinungen aufwies, und man wird daher nicht fehl
gehen, in der Entzündung des in den Canalgasen enthaltenen und
sich in grösseren Mengen an der Verstopfungsstelle angesammelten
Grubengases die alleinige Ursache der in Frage stehenden Ex¬
plosion zu erblicken. —
Was nun die Frage anbelangt, ob die betreffenden Fabriksinhaber
nach ihrer Beschäftigung oder überhaupt nach ihren besonderen Ver¬
hältnissen einzusehen vermochten, dass das Ausgiessen von Benzin-
rückständen in den Canal für das Leben, die Gesundheit oder körper¬
liche Sicherheit von Menschen eine Gefahr herbeizuführen im Stande
sei, so ist, ohne hierdurch selbstverständlich das Gebiet richterlicher
Entscheidung berühren zu wollen, von fachmännischen Gesichts¬
punkten aus Folgendes in Betracht zu ziehen:
Allerdings ist dem Benzin eine hohe Entzündbarkeit und damit
gewissermassen auch eine Gefährlichkeit eigen. Doch
1) in Rücksicht des Umstandes, dass die zum Ausguss gelangte
Quantität von Benzinrückständen nur eine sehr geringe ist,
und diese in Gemässheit der oben näher dargethanen Gründe
nur einen sehr unbedeutenden Gehalt an Benzin selbst be¬
sitzen, —
2) in Erwägung, dass eino solche geringe Quantität einer so
flüchtigen Substanz wie Benzin, vertbeilt auf einen verhält-
nissmässig so grossen Raum, wie den des Canales, schnell
zur Verflüchtigung und bei der im Canale stattfindenden
Ventilation rasch zur Fortschaffang gelangt, —
3) in weiterer Erwägung, dass, nachdem gemäss § 21, 2 der
Vorschriften über die Bestellung der Unternehmer sämmt-
licher städtischer Unrathscanäle sowie sämmtlicher Haus¬
canäle, Ausgüsse, Wasserläufe und Senkgruben im Gemeinde¬
gebiete Wien in der Nähe von industriellen Unternehmungen,
deren Abwässer schädliche Bestandtheile und eine grössere
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UNIVERSITÄT OF IOWA
186
Dr. Jolles.
Ansammlung schädlicher Gase enthalten könne — eine Lüf¬
tung des Canalschachtes durch einige Stunden vor der Räu¬
mung seitens der Canalräumer vorzunehmen sei, die Fabrik¬
inhaber in der begründeten Ansicht erhalten bleiben mussten,
dass durch die Durchführung obiger Vorschrift jede Gefahr
beseitigt werde, —
4) in endlicher Erwägung, dass trotz jahrelangen Ausschüttens
jener Benzinabfalle in den Abort bez. in den Canal niemals
irgend ein Unfall sich ereignet hat — und andererseits trotz
ausgedehnter industrieller Verwendung des Benzins in der
ganzen Literatur, soweit sie den Unterzeichneten zu Gebote
stand, kein einziger Fall einer ähnlichen Explosion von Ben¬
zingasen in einem Unrathscanale angeführt erscheint:
aus all diesen Erwägungen glaube ich folgern zu müssen, dass unter
den obwaltenden Umständen die obigen Fabrikinhaber zu glauben
berechtigt waren, mit der Ausschüttung ihrer Benzinrückstände in
den Hauscanal keine die Gesundheit von Menschen in irgend einer
Weise gefährdende Handlung begangen zu haben. —
Die Anklage gegen die Fabrikinhaber wegen fahrlässiger Tödtung
(§ 335 des St.G.B.) wurde von der K. K. Staatsanwaltschaft zurück¬
gezogen.
bv Google
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6 .
Der Kaapf gegea die Cholera in Berlin.
Von
Dr. A. Wernich,
Ucgierungs- und Mcdicinnlrnth.
(Fortsetzung aus dem Suppl.-Heft)
Im Rahmen der durch den vorstehenden Anschlag (vgl. Bd. IV,
Suppl.-Heft, Seite 168 bis 171) populär gemachten Pläne bewegten
sich nun die Thätigkeitsäusserungen der verschiedenen Organe. Eifrige
Gesundheitscomraissionen begannen die einzelnen Häuser auf ihre
Sauberkeitseinrichtungen zu untersuchen und auf sofortige Beseitigung
Vorgefundener Missstände hinzuwirken, wobei die Beihälfe der Polizei¬
reviere keineswegs immer, ja nicht einmal in der überwiegenden
Mehrzahl der Fälle, nöthig war. Das Publikum bethätigte seine
Hauptbeihülfe in Nahrungsmittel-Angelegenheiten. Zahllose Anzeigen
über angeblich verdächtige Brunnen, über zweifelhafte Nahrungsmittel
an den Verkaufsstätten, über ünsauberkeit bei der Verabreichung von
Speisen gingen ein und wurden, wenn sie nicht geradezu kindisch
und skurril waren, in allen Einzelheiten untersucht und erledigt.
Den eigentlichen Polizeiorganen fielen neben dem Verfahren mit
Kranken und Verdächtigen noch mannigfache Aufgaben zu. Die Hof¬
räume der Berliner Häuser wurden gewaschen und gescheuert, —
nach Bedürfniss mit geruchlos machenden Stoffen behandelt; eine ent¬
sprechende Aufmerksamkeit wurde sämmtlichen Stallungen und Müll¬
aufbewahrungsstätten, — eine noch schärfere dem Hausirhandel mit
alten Sachen, insbesondere den betreffenden (Trödler-) Läden selbst,
gewidmet. Eine anschauliche, aus dem praktischen Bedürfniss der
Executivpolizei direct hervorgegangene Skizze des Benöthigten' lassen
nachstehende, Seitens des Königlichen Polizeipräsidiums gegebenen
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188
Dr. Wernioh,
„Hinweisungen für das Verhalten der Polizeireviere beim Ausbruch
der Choleraepidemie“ deutlich' erkennen:
1. Es sind Zweifel entstanden, ob etwa zur Erreichung einer
möglichst schnellen Desinfection nur die leichten transportablen
Effecten, wie Betten etc., nach der Desinfectionsanstalt geschafft und
dort desinficirt werden sollen und die schwerer zu transportirenden
Möbeln, sowie die Zimmer, Flure, Treppen und sonstigen Räume nur
im Falle der Noth durch geprüfte Heildiener desinficirt werden dürfen;
oder aber ob es den Letzteren auch gestattet ist, die erst erwähnten
Sachen, wie Betten etc., gleich an Ort und Stelle in den resp. Woh¬
nungen zu desinficiren, bezw. ob die Reviervorstände auch die ge¬
prüften Heildiener dazu requiriren dürfen?
In Bezug auf Auswahl der Gegenstände, die zu desinficiren sind,
bleibt die Bestimmung völlig in den Händen der amtlichen Desinfec-
toren, bezw. des Directoriums der Desinfectionsanstalt; über Zuziehung
von Heildienern, die gegenwärtig noch ausgeschlossen ist, wird im
Falle der Noth verfügt werden.
2. Hauswirthe und unbetheiligte Staatsbürger dürfen unter Hin¬
weis auf die etwa vorhandene Noth und Gefahr zur Bergung und
Hülfeleistunjg auf der Strasse plötzlich erkrankter und zum
Weitergehen unfähiger Personen polizeilich aufgefordert werden. —
Sobald sie erklären, dass für sie selbst erhebliche Gefahr vor¬
liege, ist ein weiterer Zwang ausgeschlossen. Bei Aerzten dagegen
erfolgt formelle Requisition unter Hinweis auf/§ 360, 10 St.G.B.
3. Die Desinfection des Hausflurs oder des Raumes, in
dem ein solcher Kranker verweilt hat, erfolgt zunächst auf öffentliche
Kosten. Kosten, welche den Revieren durch Desinfection oder Requi¬
sition ven Aerzten entstehen, dürfen bei dem Polizeipräsidium liqui-
dirt werden. Ueber etwaige Vorschussgelder für die Reviere bleibt
das Weitere zunächst Vorbehalten.
4. Für ärztlich (jetzt nicht mehr blos amtsärztlich, da die
Sache über die Constatirung der ersten Fälle hinaus ist) so benannte
Fälle von „Cholera asiatica“ bleibt das städtische Krankenhaus Moabit
vorläufig ausschliesslich zuständig; verdächtige Fälle dagegen
dürfen auch jedem anderen städtischen Krankenhaus zugeführt werden.
5. Transportmittel zur Fortschaffung Erkrankter sind genau in
der bisherigen Weise weiter zu requiriren, also bei den drei bekannten
Krankentransportgeschäften, welche in der Lage sind, den Requi¬
sitionen zu entsprechen.
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Der Kampf gegen die Cholera in Berlin.
189
6. Grössere Kinder der an Cholera erkrankten oder verstorbenen
Eltern sind event. nach dem Familienasyl, die kleineren in’s Waisen¬
haus zu schaffen.
7. Ein plötzlich an der Cholera auf der Strasse Erkrankter darf
auf seinen Wunsch und mittelst der vorgeschriebenen Transportmittel
nach seiner Wohnung geschafft werden, ohne dass den Revieren die
Prüfung obliegt, ob die Wohnung aus mehreren Zimmern besteht
oder ob der Krauke isolirt werden kann. Die Beamten, welche von
auf der Strasse an Cholera erkrankten Personen zu Hülfe gerufen
werden, haben schleunigst einen Arzt zu requiriren (cfr. Passus 2)
und darauf zu achten, dass der Erkrankte vor seinem event. Tode
Namen und Wohnung nennt. Anonym gebliebene Leichen gehören in
das Leichenschauhaus.
8. Verunreinigungen der Strasse durch an Cholera erkrankte
Personen sind nach der Instruction, welche die Reinigungscolonnen
haben, zu behandeln. Hinsichtlich der Reinigung und Desinfection
der öffentlichen Bedürfnissaustalten wird Bestimmung getroffen wer¬
den. Grobe Zuwiderhandlungen gegen die geschlossenen Verträge
Seitens der Concessionare bedingen Anzeigen wie zu jeder sonsti¬
gen Zeit.
9. Polizeilichen Requisitionen an die Todtengräber bezüglich An¬
nahme der Leichen wird ohne Zweifel genügt werden. Im Gegenfalle
ist telegraphisch Anzeige zu machen und im Nothfalle die Aufnahme
der qu. Leiche unter der Bezeichnung * unbestimmte Todesursache“
m Leichenschauhause zu erbitten.
Diesen Hinweisungen wird die Mahnung hinzugefügt, dass die
Reviere (der Sachlage entsprechend) nirgend Uebereifer gegen das
Publikum oder die Hausbesitzer anwenden, keine kleinlichen Diffe¬
renzen herbeiführen und die besonnene Hülfeleistung als die
erste der gegenwärtig zu beobachtenden Pflichten ansehen. Von An¬
fragen über nicht zweifelhafte Punkte ist kein übertriebener Gebrauch
zu machen. —
Ein grosser Theil der Sorge, stets Aerzte zur Verfügung zu
haben, wurde der Sanitätsbehörde durch das populäre Institut der
Sanitätswachen abgenommen und durch das Entgegenkommen, wel¬
ches die Stadt in der Completirung dieser Wachen durch Ueberwei-
sung ausserordentlicher Mittel an dieselben bewies. Es wurde ein
Tagesdienst mit beständig anwesenden Aerzten (in der Mehrzahl)
organisirt, so dass auch gleichzeitig von mehreren Seiten eintreffenden
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UNIVERSITÄT OF IOWA
190
Dr. Wernich,
Requisitionen hätte genügt werden können. 21000 Mark wurden den
einzelnen Wachen (zu Beträgen von 1000 bis 2500 Mark) überwiesen»
um einen so ausgiebigen ärztlichen Dienst zu organisiren. Unter den
während der Zeit der Choleragefahr erfolgten 1078 Inanspruchnahmen
und Hülfeleistungen betrafen choleraverdächtige und brechruhrartige
Krankheitsfälle jedoch nur 205.
Direct vom Polizeipräsidium aus erfolgte die Anstellung von
zwölf Civilärzten,. welche den ärztlichen Dienst an den Bahnhöfen
(Lehrter, Schlesischer, Bahnhof Charlottenburg), — und von zwei
Civilärzten, welche die Schiffer-Revisionen an der Plötzensee-Schleuse
etc. übernahmen. Die Competenzen regelte mit gewünschter Ein¬
deutigkeit folgendes Vertrags-Formular.
„Vertrag zwischen dem Königlichen Polizeipräsidium zu
Berlin und Herrn prakt. Arzt Dr. X. . . . hier, betreffend
ärztliche Hülfe bei Cholera.
§ 1 .
Herr Dr. X. . . . verpflichtet sich, auf dem Y.-Bahnhof täglich
6 Stunden und zwar von x bis z Uhr anwesend zu sein, um 1) jede
ihm während dieser Zeit vorgeführte Person auf ihren Gesundheits¬
zustand zu untersuchen und die für dieselbe nothwendigen Anord¬
nungen zu treffen, 2) mit Unterstützung der Organe der Bahnpolizei
auch nicht direct vorgeführte Personen zu ermitteln, und an solchen
die Anwesenheit oder Abwesenheit von Cholera-Erscheinungen fest¬
zustellen.
§ 2 .
Das Polizeipräsidium zahlt an Herrn Dr. X. . . . für lediglich
während der Tagesstunden (von 8 Uhr Morgens bis 10 Uhr Abends)
gethanen Pflichtdienst im obigen Sinne 12 Mark, für während der
Nachtstunden (von 10 Uhr Abends bis 8 Uhr Morgens) fallende
Wachen 20 Mark nach Ablauf dieses Uebereinkommens gegen Quittung.
§ 3 .
Der Tag des ersten Pflichtdienstes gilt als erster Diätentag, als
folgende Diätentage gelten alle Tage (Mitternacht bis Mitternacht),
in welche eine Wache gefallen ist; als letzter Diätentag gilt der Tag
der Kündigung dieses Uebereinkommens, welche dem Polizeipräsidium
jederzeit zustoht.
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Der Kampf gegen die Cholera in Berlin.
191
§ 4 .
Ueber alle zum Zweck der Ermittelung der Kranken wie für
deren Wohl wünschenswerthe Einzelheiten wird sich Herr Dr. X. . . .
mit dem Königlichen Bezirksphysikus Herrn etc. Dr. Z. . . . collegia-
lisch benehmen und dauernd auf dem Laufenden erhalten.
Berlin, den . . August 1892.
Der Polizeipräsident. Dr. X. . . .,
praktischer Arzt.“ —
Es hat sich bei der Regelung dieser Vertragsverpflichtungen
keinerlei Unklarheit oder Differenz ergeben. —
Völlig gefasst waren die Städtischen wie die Aufsichtsbehörden
auf Unzulänglichkeiten im Krankentransport- und Leichen-
überführungs-Wesen, da ein allzu langer Zeitraum der Ruhe den
Maassstab für eine aussergewöhnliche Inanspruchnahme derartiger
Vorkehrungen fast verloren gehen macht. Einer der betreffenden
Fuhrunternehmer wurde ausserdem (trotz der Androhung erheblicher
Conventionaistrafen) darüber betroffen, dass er an seinen Verpflich¬
tungen — so an der Mitgabe eines zuverlässigen Krankenabholers
ausser dem Kutscher, an der Güte der Wagenausrüstung, der Ge¬
schirre und Gespanne — zu kürzen versuchte, dass seine Wagen
nicht mit gewünschter Schnelligkeit eintrafen, dass deren Desinfections-
controle nicht völlig lückenlos war, dass für Choleraverdächtige nicht
ganz eigene und für diesen Zweck nachweislich allein benutzte Ge¬
fährte in Gang gebracht wurden. Es ist selbstverständlich, dass jede
einzelne dieser Erfahrungen für Verbesserungen in der Richtung, nach
welcher sie hinwies, auch für die Zukunft benutzt wurde. So werden
Mängel in der Ausrüstung der Choleratransportwagen (sei es hin¬
sichtlich der Begleiter, der Pferde, der Utensilien und Wagen) und
jede Umgehung des für die letzteren vorgeschriebenen Desinfections-
verfahrens durch verschärfte Conventionaistrafen künftig geahndet,
das Signalwesen vervollkommnet, die Controlbücher doppelt geführt,
Specialwagen unter besonderer Chiffre eingestellt werden. Allein bei
all* diesen Verbesserungen wird für den Ernstfall einer wirklichen
Epidemie der Apparat der contrahirenden Fuhrunternehmer niemals
ausreichen, — und es wird vielmehr dann sofort diejenige Organi¬
sation in Anspruch zu nehmen sein und in Anspruch genommen
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UNIVERSUM OF IOWA
102
Dr. Wernicb,
werden, welche auch bereits dieses Mal in Reserve gelegt war: die
Indienststellung eines grossen Wagenparks unter Beihülfe des Brand-
directors und mit völlig militärdienstähnlicher Eintheilung und An¬
weisung.
Grundstücke und Gebäulichkeiten für diese — so zu sagen —
Felddienstorganisation mit den in Frage kommenden Gefährten waren
in Aussicht genommen; der Abschluss der Verträge war soweit vor¬
bereitet, dass er innerhalb 24 Stunden hätte erfolgen können. Die
Namen von Bedienungsmannschaften für diesen Zweck waren vor¬
gemerkt. —
In ähnlicher Weise hatte sich die Verwaltung der Desinfections-
anstalten gerüstet. Und als dem Publikum und der Presse in den
Tagen der wirklichen Beunruhigung Nichts mehr prompt und schnell
genug ging, war es möglich, durch Zuziehung der Reserve-Desinfec-
tionsleute einen — vorläufig beschränkten — Nachtdienst in den
Desinfectionsanstalten einzurichten.
IV.
Thats&chlicher Ablauf der wiederholten Cholerainvasionen innerhalb
des Berliner Weichbildes.
Ich schicke eine ganz kurze historische Uebersicht vorauf.
Als die Cholera zum ersten Male Europa heimsuchte, im Jahre
1831, drang sie auch bis Berlin vor. Seitdem hat sie in dieser Stadt
nach officiellen Berichten folgende Sterbefälle verursacht: 1831 1423,
1832 412, 1837 2338, 1848 1595, 1849 3552, 1850 711, 1852
165, 1853 940, 1855 1385, 1866 5457, 1867 11, 1868 2, 1869 3,
1870 1, 1871 49, 1872 2, 1873 716. Seit dem Jahre 1874 ist
Berlin von der Cholera verschont geblieben. Die Zahl der Erkran¬
kungen betrug im Jahre 1866 8186, 1873 1074. In den Jahren
1837 und 1849 kam eine Erkrankung auf 74 Einwohner, 1873 erst
auf 497. Die Sterblichkeit belief sich in der Regel auf 62—67 pCt.
der Erkrankungsfälle. —
Der 23. August 1892 war der Tag des Eintreffens der ministe¬
riellen Benachrichtigung über den Choleraausbruch in Altona. Am
28. August (an einem Sonntag) meldete der Fernsprecher aus dem
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Der Kampf gegen die Cholera in Berlin.
193
Krankenhause Moabit Nachmittags gegen 4 ühr die Feststellung echter
Kommabacillen in den Dejectionen der (unter No. 1 der nachfolgen¬
den Uebersicht aufgeführten) Tags zuvor aus Hamburg anscheinend
noch gesund zugereisten Frau Fr. Am Montag, den 29. August Mor¬
gens 7 Uhr war die Berliner Bevölkerung durch grosse Anschläge an
den Säulen von diesem Vorkommniss unterrichtet, was selbstverständ¬
lich — da der Anschlag zugleich die Vorsichtsmassregeln und An¬
weisungen für das Meldewesen enthielt — nur durch voraufgängige
Herstellung des ganzen Satzes bis auf den Namen der noch fraglichen
kranken Person möglich war.
Das grössere Publicum fühlte sich durch die Unverhülltheit, Ent¬
schiedenheit und Schnelligkeit der Nachricht in unerwarteter Weise
beruhigt. Aeltere Personen, die von früheren Choleraepidemieen
wussten, hörte man beim Lesen des Plakats den Umstehenden die
Versicherung geben: „Wenn das so ist, wird es diesmal überhaupt
Nichts“ —: eine Aeusserung divinatorischen Instinkts, den die Cho¬
lerawissenschaft der Zukunft vielleicht dahin übersetzt, dass „wenn
sich diese Einschleichseuche nicht eingeschlichen hat, ohne richtig
benamst, ohne bemerkt zu sein, ihr die wesentlichste Kraft zur Aus¬
breitung abgeschnitten ist.“ Man dürfte mit diesem Axiom wohl eine
Strecke weiter kommen als mit allen mystischen Aussprüchen über
Feuchtigkeit im Erdboden, Grundwasserbewegung, Seuchendisposition
der Orte etc., und man kann daneben auf die Herstellung einer ver¬
nünftigen Wasser- und Fäcalienwirthschaft, auf die Erfüllung der
hygienischen Anforderungen gerade so gläubig und kräftig dringen
wie ohne den obigen Grundsatz. Ich für meinen Theil gehe in den
aus demselben zu ziehenden Folgerungen so weit, dass ich sage:
„Tausend in ihrer Natur jedesmal erkannte (dann selbstverständlich
auch demgemäss gewürdigte), in einen Platz eingeschleppte Cholera¬
fälle bilden für denselben keinen Ernstfall. Letzteren bildet demgegen¬
über, wenn nicht gar schon jeder einzelne Fall, so doch jede Mehr¬
heit nicht in ihrer Natur erkannter, und dann demgemäss auch
nicht in ihrer grauenvollen Bedeutung gewürdigter Cholerafälle.“
Man wolle von gegnerischer Seite einen Ort oder eine Epidemie nam¬
haft machen, in welchem diese Erfahrungssätze nicht zugetroffen
wären.
Die sich an unserem Platz nun weiter herausbildende Ent¬
wicklung findet ihr Abbild in der Chronologie der hier beobach-
Vierteljahrwchr. f. ger. Med. Dritte ^olge. V. 1. 13
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194
Dr. Wernich,
teten 33 Fälle, welche von ärztlicher bereits Seite ausgezeichnet ge¬
schildert worden sind. Um jedoch an sie auch einige sanitäts-
Zusammenstellung der in Berlin klargestellten
Vom 29. August bis 23. Sep-
ö
Datum des
ausgespro¬
chenen
bezw. be-
Vor- und Zuname
des
Erkrankten.
c
-*->
m
Stand und An¬
gabe, ob der
Erkrankte in
eigener Woh¬
nung oder als
Familienmitgl.,
Chambregar-
Wohnung.
(Wo zutreffend,
Strasse und
Haus-No.)
Berliner
Einwohner
oder
Ist
HÖ
a
0
rt
k-J
stätigten
Verdachts.
CD
rQ
a>
Jahr
nist, in Schlaf¬
stelle, Pension
etc. wohnt
und bei wem?
nicht?
Datum?
l
27./S.
Frohnert.
?
Restaurateur¬
frau.
Hamburg.
Passant.
27./8.
2
25./8.
Karpen, Josef.
34
Reisender.
Hamburg.
Passant.
25-/8.
3
30./8.
Krumrey.
—
Arbeiter.
Ohne.
Obdachlos
30./8.
4
1/9.
Pettke, August.
40
Arbeiter.
Stephanstr. 49 bei
S.
—
3I./8.
5
3-/9.
Kappel, Martin.
20
Kaufmann.
Steinstr. 13/14 bei
B.
—
3./9.
6
2./9.
Ostheern.
f,0
Zugführer.
Hamburg.
Passant.
2./9.
7
8./9.
Koppen, Doro¬
thea.
31
Monteurfrau.
Brandenburga. H.
Passant.
f 7-/9.
8
13./9.
Lindemann.
22
Schiffer.
Kahn am Holstei¬
ner Ufer.
Passant.
10./9.
9
15/9.
Woytkowski.
3
Schifferkind.
Kahn auf dar
Spree vor Müh¬
lenstrasse 48.
Passant.
15./9.
10
17./9.
Lange, Gustav.
—
Schuhmacher
(Kellner?),
Fischerstr. 25.
Passant.
16./9.
Digitized by Gougle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Der Kampf gegen die Cholera in Berlin.
195
polizeiliche Bemerkungen auzuschliesseu, erlaube ich mir hier die
Wiedergabe der
Fälle von Erkrankungen an Cholera asiatica.
tember 1892 (und folgende Wochen).
Wo
der
Patient
Nach dem
Geschlecht.
Total«
erkrankt.
Gr ist
Summe.
ge-
Er-
Ge-
Ge-
Bemerkungen.
in der
stör-
krankt. ,
nesen.
storben
Kur
ben.
3 I
o
ja
o
3 1
©
3
©
ja
© |
ja
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Datum
3
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W
©
03
©
P
©
o
©
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03
©
o
Luisenstrasse 38,
Hotel B.
Moabit.
30./8.
—
—
—
—
i
1
—
1
Auf der Reise von
Hamburg nach Kö¬
nigsberg.
—
Moabit.
—
—
—
i
—
—
1
1
—
—
Am Nordhafen als
Arbeiter beim
Stein kahn.
Moabit.
31./8
—
—
1
—
1
—
1
—
Am Nordhafen als
Arbeiter beim
Steinkahn.
Moabit.
2./9.
1
1
1
—
—
Moabit.
10/9.
—
—
—
—
1
—
l
—
1
—
Auf der Fahrt von
Hamburg nach
Berlin.
Moabit.
3./9.
—
—
—
l
—
l
—
1
—
Schulzendorfer-
strasse 13 bei
B.
Moabit.
8./9.
””
—
1
l
1
Auf der Durchreise
von Brandenburg
nach der Elbe.
Auf dem Kahn.
Moabit.
13./9.
—
—
—
—
1
—
l
—
1
In Zerpenschleuse'an-
sässig.
Auf dem Kahn.
Moabit.
—
—
—
—
—
—
l
1
—
Wohnung in Posen.
Herberge Fischer¬
strasse 26.
Moabit.
16./9.
—
—
—
—
1
—
l
—
1
—
Digitized by Go igle
Original fro-m
UNIVERSUM OF IOWA
196
Dr. Wernich,
©
Datum des
ausgespro¬
chenen
bezw. be¬
stätigten
Verdachts.
Vor- und Zuname
des
a>
Stand und An¬
gabe, ob der
Erkrankte in
eigener Woh¬
nung oder als
Familienmitgb,
Chambregar¬
nist, in Schlaf¬
stelle, Pension
etc. wohnt
und bei wem?
Wohnung.
(Wo zutreffend,
Strasse und
Haus-No.)
Berliner
Einwohner
oder
Ist
©
0
£>
0
rt
Erkrankten.
cn
3
<D
Jahr
nicht?
Datum?
11
17./9.
Bohlken.
—
Krankenpfle¬
gerin.
Hamburg.
—
16./9.
12
18./9.
Berthelsen.
40
Musikdirector.
Hamburg.
Passant.
15/9.
13
19./9.
Pohl, Eduard,
35
Arbeiter.
Pücklerstr. 8 bei
M.
—
19./9.
14
20./9.
Woytkowski.
15
SchifTerssohn.
Posen; z. Z. Kahn
vor Mühlen¬
strasse 48.
Passant.
19./9.
15
20./9.
Karsten, Franz
(Kersten).
15
Schifferssohn.
Kahn am Monbi¬
jouplatz 6.
Passant.
20./9.
16
20./9.
Baberski, Ida.
45
Hausirerin.
Kleine Augusstr.
bei ü.
—
20./9.
17
21./9.
Gericke, Her¬
mann.
21
Bootsmann.
Kahn an der
Schleuse bei
Plötzensee.
Passant.
20 /9.
18
21./9.
Michaelis, Anna.
34
Schifferfrau.
Kahn an der
Schleuse bei
Plötzensee.
Passant.
20./9.
19
21./9.
Michaelis, Martha.
5
Schifferkind.
Kahn an der
Schleuse bei
Plötzensee.
Passant.
20./9.
20
21./9.
Dannenberg I,
Friedrich.
49
Schiffseigner.
Kahn an der un¬
teren Schleuse.
Passant.
20./9.
21
21./9.
Dannenberg,
Albert.
16
Schifferssohn.
Kahn an der un¬
teren Schleuse.
Passant.
20./9.
22
21./9.
Ortmann.
3
Schifferskind,
Kahn an Monbi¬
jouplatz.
Passant.
21/9.
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Original from
UMIVERSITY OF IOWA
Der Kampf gegen die Cholera in Berlin.
197
erkrankt.
Wo
der
Patient
Kr ist
Nach dem
Geschlecht.
Total-
Surame.
ge-
Er-
Ge-
Ge-
Bemerkungen.
in der
stör-
krankt.
; nesen.
storben
Wo?
Kur
ist.
ben.
Datum.
Männlich
Weiblich
Männlich.
Weiblich.
Männlich.
Weiblich.
Erkrankt.
Genesen.
Gestorben
Wohnung.
Moabit.
—
—
—
1
—
—
i
1
Am 12.9. c. von Ham¬
burg gekommen.
Aus Hamburg ge¬
kommen.
Moabit.
—
—
—
—
—
—
—
i
1
—
Köpnickerstr. 18,
Velvetfabrik.
Moabit.
20./9.
—
—
—
—
i
—
1
_
i
—
Beobachtungssta¬
tion Moabit.
Moabit.
1
i
1
In Folge Erkrankung
seines Bruders am
15. 9. c. zur Beob¬
achtung in Moabit
u. daselbst nunmehr
seine eigene Erkran-
Kung zum Vorschein
gekommen.
Auf dem Kahn.
Moabit.
23-/9.
—
—
—
—
1
—
1
—
1
—
Im Hausflur des¬
selben Hauses.
Moabit
—
_
—
—
—
—
i
1
—
—
Auf dem Kahn.
Moabit.
22./9.
—
—
—
—
1
—
i
—
i
—
Auf dem Kahn.
Moabit.
21./9.
—
—
—
1
1
—
1
—
Auf dem Kahn.
Moabit.
20./9
—
—
—
—
1
1
—
1
—
Auf dem Kahn.
Moabit.
—
1 —
—
i
—
—
—
1
i
—
—
Auf dem Kahn.
Moabit.
—
—
—
i
—
—
—
1
i
—
—
Kr.-Haus Moabit.
Moabit.
22./9.
—
[
—
—
1
1
1
—
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Original from
UMIVERSITY OF IOWA
198
Dr. Wernioh,
©
*
Datum des
ausgespro¬
chenen
bezw. be-
Vor- und Zuname
des
Erkrankten.
i
"3
Stand und An¬
gabe, ob der
Erkrankte in
eigener Woh¬
nung oder als
Familienmitgl.,
Chambregar¬
nist, in Schlaf¬
stelle, Pension
etc. wohnt
und bei wem?
Wohnung.
(Wo zutreffend,
Strasse and
Haus-No
Berliner
Einwohner
oder
Ist
<15
G
«5
0
CG
stätigten
Verdachts.
o- Lebern
nicht?
Datum ?
23
21./9.
Michaelis, Julius.
33
Schiffer.
Kahn au der
Schleuse bei
Plötzensee.
Passant.
20./9.
24
22./9.
Ortmann, Emilie.
30
Schifferfrau.
Kahn an Monbi¬
jou-Insel.
Passant
21./9.
25
23./9.
Jarocki, Johann.
34
Schiffer.
Kahn bei Plötzen¬
see.
Passant.
23./9.
26
23./9.
Dannenberg II,
Friedrich.
20
Schiffer.
Kahn am Thier¬
gartenufer.
Passant«
20./9.
27
26-/9.
Porsch.
—
Töpfer.
Ohne.
Obdachlos.
25/9.
28
26-/9.
Glabow, Gustav.
18
Schifferssohn.
Kahn auf d. Spree
vor dem Grund¬
stück Stralauer-
thor 7.
Passant.
26., 9.
29
30./9.
Meinckc, Carl.
25
Kutscher,
Badewärter.
Hamburg.
Passant.
29. 9.
30
30./9.
Tasche, Auguste.
35
Schifferfrau.
Köpenick.
Passant.
29./9.
31
2./10,
Wichura, Julius.
—
Arbeiter.
Seit 28.7. er. Wi 9 -
nerstr. 31, jetzt
ohne Wohnung.
Obdachlos.
1./10.
32
5./10.
Winter, V
j 40
Corrigend.
Arbeitshaus Rum¬
melsbarg.
—
8./10.
33
6/10.
Schubert, V
48
1
Corrigend.
Arbeitshaus Rum¬
melsburg.
—
30./9.
An merk : Die unter No. 80 aufgefuhrte Tasche ist auf nachträgl. Verfügung in
gezählt ist.
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Original from
UMIVERSITY OF IOWA
Der Kampf gegen die Cholera in Berlin.
199
erkrankt.
Wo
der
Patient
Er ist
Nach dem
Geschlecht.
Total-
Summe.
ge-
Er¬
krankt.
| Ge-
Ge-
Bemerkungen.
in der
stör-
| nesen.
storben
Wo?
Kur
ist.
ben.
, Datum.
Männlich
Weiblich
Männlich.
Weiblich.
Männlich.
Weiblich.
Erkrankt.
Genesen.
Gestorben
Kr.-Haus Moabit.
Moabit.
—
1
—
—
—
i
1
—
Kr.-Haus Moabit.
Moabit.
—
—
i
—
—
1
1
—
—
Von Oderberg üb.
Potsdam gekom¬
men, auf d. Kahn
bei Plötzensee.
Moabit.
23.9
—
—
i
—
1
—
1
—
Auf dem Kahn.
Moabit
—
—
—
1
—
—
—
i
1
—
In der Charit6.
Charite
—
—
—
i
—
—
—
1
i
—
Auf dem Kahn.
Moabit.
i
i
Von der Rauen’schen
Ziegelei bei Fürsten¬
walde kommend.
Von H. hier zuge¬
reist, in Moabit
zur Beobachtung
gebracht u. dort
an Cholera er¬
krankt.
Moabit.
1
i
i
Von Hamburg hier
zugereist.-
Auf Kahn am Salz-
Ufer (Berliner
Terrain).
Char-
lottenb.
Ba¬
racken.
30./9.
i
1
Auf Verf. vom 8.10. c.
hieraeits notirt.
p.T. ist in Charlotten¬
burg verstorben.
(Charite.) Am Gör-
litzer Ufer, wo er
in Arbeit stand.
Cha¬
rite.
—
—
1
—
i
i
—
Angebl. b. Getreide¬
kahn, der v. Hamburg
gekommen, besohäft.
Arbeitshaus Rum¬
melsburg.
Moabit
5./10.
—
—
—
i
i
—
1
—
Arbeitshaus Rum¬
melsburg.
Moabit.
~l
1
—
—
—
i
i
—
—
den diesseitigen Listen gestrichen, weil vom Gesundheitsamte der Fall zu Cbarlott«nburg
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Original frnm
UMIVERSITY OF IOWA
200
Dr. Werniob,
Theilt man unsere hiernach sich auf sechs Wochen belaufende
Choleraperiode in drei gleich lange Zeiträume, so fallen auf die ersten
14 Tage 7, auf die zweiten 17, auf die dritten 9 Erkrankungen —
mit dazu gehörigen 6, bezw. 8, bezw. 5 Todesfällen. (Mit den sonst
officiös veröffentlichten Zahlen kommt hier deswegen eine kleine Col¬
lision zum Ausdruck, weil eine Schifferfrau zwar als auf Berliner
Territorium erkrankt aufgefiihrt werden muss, indess der localen Be¬
ziehungen wegen in die Charlottenburger Baracken überführt werden
musste, wo sie auch starb).
Die Anzahl der aus der Schiffsbevölkerung der Spree (soweit ihr
Lauf in Berliner Gebiet fällt) hervorgegangenen Cholerakranken be¬
läuft sich auf 17; die Anzahl der Hamburger Zugereisten, welche auf
dem Lehrter Bahnhof oder innerhalb Berlins als cholerakrank ver¬
sorgt worden, auf 8, — so dass ebenfalls 8 Cholerakranke bleiben,
welche als Einwohner Berlins zu verzeichnen sind. Unter diesen sind
4 obdachlose Arbeiter, welche theils nachgewiesenermassen, theils
unwidersprochener Vermuthung nach sich mit Ladearbeiten am Nord¬
hafen (in der Nähe des Lehrter Aussen bahnhofes) oder mit Kahn-
Entladungshülfe beschäftigt hatten; ferner 2 Arbeitshäuslinge, von
denen der eine — aller Wahrscheinlichkeit nach im unmittelbaren
Anschluss an eine ähnliche Arbeitsgelegenheit — am 27. August,
der andere allerdings schon vor längerer Zeit in das Rummelsburgcr
Arbeitshaus eingeliefert worden war.
Der Fall eines jungen Kaufmanns Kappel wurde authentisch
nicht aufgeklärt, da die Berührung mit einem Wäschestück eines aus
Hamburg gekommenen gesund gebliebenen Reisenden zwar behauptet,
aber nicht bewiesen wurde. Von einer Hausirerin J. B. (No. 16)
hiess es: ihre Erkrankung wäre die Folge des Genusses von ver¬
dächtigem (unmittelbar geschöpftem) Spreewasser gewesen. — Kein
Fall wurde ein Mittelpunkt für die Entstehung weiterer Fälle unter
der Berliner Bevölkerung.
V.
Nutzen der Oeffentlichkeit. — Demobilisirung. Vorläufiger Abschluss.
Die wahre Prophylaxe des Volkskörpers gegen das Einschleichen
der Cholera ist die Oeffentlichkeit. Keiner Gunst des Bodens
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Gck igle
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UNIVERSUM OF IOWA
Der Kampf gegen die Cholera in Berlin.
201
noch des Wetters, keiner hygienischen Einrichtung, keinor Vorsichts-
massregel, die der Einzelne anwendet, ist zu trauen, wenn nicht der
choleraverdächtige Mensch auf diesen Verdacht, dessen Ungrund oder
Begründung, untersucht und von verantwortlichen Helfern der nach
der einen oder anderen Seite sachgemässen Behandlung unterzogen
wird. Daher ist die Abstellung alles Verborgenen die geweihte
Waffe der Sanitätspolizei; — daher ist jedes Haltmachen vor einer
Heimlichkeit schon ein Fehler und absolut unrathsam.
Wie gross sind aber die Versuchungen im Getriebe des prak¬
tischen Lebens, die Kundgebungen des sich erst entwickelnden Krank-
heitsprocesses, ja eines bereits recht bedenklich gewordenen Zustandes
der Oeffentlichkeit vorzuenthalten. Keine andere Krankheit fordert
durch die Geringfügigkeit ihrer wirklichen Anfangserscheinungen die
Willenskraft energischer Naturen zum Widerstande gegen blosses Un¬
wohlsein so heraus; bei keiner anderen kommt das Zusammenbrechen,
der anscheinend foudroyante Beginn, das überstürzte todtliche Ende
in auch nur annähernd gleicher Häufigkeit vor.
Ist es soweit gekommen, dann bricht die Oeffentlichkeit sich ge-
wissermassen überströmend Bahn: schreckensvoll durchzittert das nicht
mehr zu verheimlichende Ereigniss das Haus, durcheilt es die Strasse,
schreit es aus den Doctorwagen und Apotheken, setzt es die elek¬
trischen Drähte in Tbätigkeit. Das allgemeine Volksbewusstsein, wie
es sich in der Presse und im Publikum vielleicht 1892 zum ersten
Mal mit solcher Wucht geltend gemacht hat, fordert aber eine frühere,
eine anfängliche Oeffentlichkeit, — ja es ist bis zu dem Grade
gereizt und erregt worden, dass es ein öffentliches Einschreiten vor
allem Anfang einer Gelahr verlangte; dass Personen, Sachen, Plätze,
Gerüche zur Anzeige gebracht wurden, die jeder thatsächlichen Be¬
ziehung zu einer Cholerabedrohung völlig fern standen. Hier galt es
— besonders der Spitzfindigkeit, wie sie der Bevölkerung der Gross¬
städte eigen ist, gegenüber —, die Phantasiegebilde in reale oder
wenigstens der Logik standhaltende Zusammenhänge umzuwandeln
und die Oeffentlichkeit dort an die Stelle der Heimlichkeit zu setzen,
wo die letztere nach den Fingerzeigen früherer epidemiologischer Er¬
fahrungen am unheilvollsten mit Folgen verknüpft war: auf dem
Gebiet des Verkehrs.
Man hat die grossen Erfolge der Flussschiffer-Beaufsichti¬
gung gerühmt, da eine Anzahl von weit über 100000 Personenbe¬
sichtigungen und entsprechend viele Fahrzeug-Revisionen und -Des-
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Original fro-rn
UNIVERSUM OF IOWA
202
Dr. Wernicb,
infectionen (zu einem allerdings recht verspäteten Zeitpunkt und nach¬
dem in Berlin bereits 10 cholerakranke Schiffer durch die gewöhn¬
lichen Strompolizeiorgane ermittelt worden waren) von Reichs wegen
angeordnet und ausgeführt wurde. Hier wird später zu unterscheiden
sein zwischen den wahrhaft segensreichen und bedeutungsvollen Fol¬
gen, welche das Hineingreifen in die heimlichen Gewohnheiten
des Schiffervolkes haben muss — und zwischen den Früchten der
sonst angeordneten Massnahmen. Jeder Berliner Arzt, der 1873 auf
Spree- und Canal-Stromgebiet Schiffer und Familien von Schiffern an
Cholera behandelt hat, wird mir beipflichten in der Beurtheilung jener
Schwierigkeiten, welche durch die eigenartige Lebensweise auf dem
flottirenden Boden für die Meldung der Krankheits- und Todesfälle
entstehen; für das Wiederaufflnden selbst der Fahrzeuge, sobald man
einen Verdacht auf Cholera geäussert; für die Ermittlung der Art,
wie man sich Wasser verschafft, vom Schiff aus seine Fäcalien ab¬
setzt; mit wem der Schiffer verkehrt, verhandelt, ja selbst mit wem
er noch die Nacht vorher auf seinem Fahrzeug gelebt und geschlafen
hat. Hier kann die Controle des Schiffsverkehrs Erhebliches leisten —*■
meiner Ansicht nach viel mehr als durch die blosse Annahme einer
sogenannten „Verseuchung“ der Flusswässer und durch „Desinfec-
tionen“, die keine sind.
Die Heimlichkeit im Verkehrstreiben ist auch nach zwei anderen
Richtungen hin die eigentliche Ursache früherer Choleraepidemieen
gewesen; nämlich soweit sie in den Gasthöfen und auf der Eisen¬
bahn geduldet und begünstigt wurde. Ohne eine scharfe Meldeord¬
nung, die in Hötels und anderen Absteigequartieren mit Consequenz
gehandhabt wird, lässt sich kein Ort gegen Cholera schützen. Bar¬
barisch mag man immerhin jenes Vorgehen heissen, welches Vorstände
und Bevölkerungen kleiner Orte gegenüber unglücklichen Hamburger
Reisenden zur Anwendung brachten, wenn sie ihnen ihr Weichbild
verschlossen, sie in Spritzenhäusern, Schuppen oder anderen proviso¬
rischen Verliessen internirten. Kleinlich genug war auch die Angst,
die nicht wenige Berliner Hauswirthe und Einwohner zu Denuncia-
tionen gegen zurückgekehrte Hamburger trieb, ja zuweilen sogar Ein¬
lassverweigerungen zu Wege brachte. Aber weder barbarisch noch
kleinlich nenne ich das Bestreben, die Herkömmlinge aus verseuchten
Plätzen zu kennen, sie ohne alle Belästigung in ihrem Befinden
einige Tage zu beobachten uqd ihnen im Falle der Erkrankung mit
einer geeigneteren Unterkunft zu dienen.
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UNIVERSUM OF IOWA
Der Kampf gegen die Cholera in Berlin.
203
Aach läuft es keinem Gesetz and keinem Gebot der Menschlich¬
keit zuwider, wenn der Eisenbahnverkehr der allergrössten Durch¬
sichtigkeit unterliegt. Er wird dadurch auch nach meiner Erfahrung
nicht „pilzdicht“, aber er wird ungefährlicher gestaltet, als wenn er
Heimlichkeiten birgt. Solche birgt er thatsächlich zunächst in den
Schlafwagen: hier soll ja nicht gestört, nicht nachgesehen werden
— hier unterliegt beschmutzte Wäsche etc. einzig der Disposition
des für jede Begünstigung leicht zu gewinnenden Dieners; hier wehrt
man sich am meisten, das benutzte kostspielige Material desinficiren
oder öffentlich reinigen zu lassen. Während also im Verkehr in den
gewöhnlichen Waggons (ja auf den Aborten) der Mitreisende, der
Schaffner, der Zugführer dem verdächtig Erkrankten seine Aufmerk¬
samkeit schenkt, ist es für den Schlafwagenreisenden leicht, jeder
Oeffentlichkeit zu entgehen. — Auf welche Weise ferner die ärzt¬
liche üeberwachung an den Bahnhöfen ihre segensreiche Wirkung zu
äussern hatte, ist oben bereits Gegenstand der Erwähnung gewesen;
sie wirkte als Beistand und Beruhigungsmittel des erkrankten Frem¬
den — hatte vornehmlich einen humanen Zweck und die Tendenz der
Hilfsbereitschaft. Allein, wenn man daneben ihre Mitwirkung zu dem
Zweck, den Eisenbahnverkehr zu Cholerazeiten durchsichtiger zu ge¬
stalten, verkleinern oder gar ableugnen möchte, so verdient eine der¬
artige missverständliche Auffassung die ernsteste Abwehr. Ohne die
Ermittlung der 8 wirklich Cholerakranken, nach Moabit gebrachten —
und ohne die Ueberweisung der über 300 Verdächtigen, welche den
Desinfectionsanstaltcn zugeführt wurden, an diese, hätte man mit den
entsprechenden einigen Hundert Choleraheerden rechnen müssen, die
sämmtlich oder doch in gewisser Anzahl zur heimlichen Weiterent¬
wicklung hätten gelangen können.
Heimliche Choleraheerde sahen hier aber jene ängstliche Ge-
müther, die mehr der localistischen Theorie huldigten, nun in allen
Gegenständen, von denen ein übler Geruch ausging, Abladestellen,
Droschkenplätzen etc.; solche, die an unbegrenzte Contagion glaubten,
in jedem an Hamburg auch nur erinnernden Handelsartikel. Das
Thema von der Zulässigkeit oder Bedenklichkeit der letzteren hat
nachher einen wesentlichen Antheil der von der Reichs-Choleracom¬
mission geleisteten Arbeit gebildet. Ein Verzeichniss der begutachteten
Gegenstände wird ohne Zweifel als künftige Directive für die nächstbe-
theiligten Behörden herausgegeben werden; hierorts verursachten einige
Zweifel: Margarine, ungegerbte Felle, Eier und gewisse Fleischwaaren. —
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
204
Dr. Wernich,
Was dio Presse als das Mundstück der Oeffentlichkeit anlangt,
so hat sie ihren Zweck und Beruf, der Beruhigung leicht erregbarer
Gemüther zu diesen und dabei doch leitend und besonnen wirkliche
Gefahren in’s Auge zu fassen — nur sehr theilweise erfüllt. Zwar
sind mir in Berlin nicht jene leidigen Illustrationen, wie sie das
Hamburger Elend in’s Masslose verzerrten, aufgestossen, auch nicht
Schilderungen aus den Krankenhäusern, recht zur Abschreckung und
zum Widerstande anreizend, begegnet, wie sie in Russland so böse
Saat ausstreuten. Aber wenn man sich auf den hiesigen Redactionen
stets recht gewissenhaft gefragt hätte: „Dienst Du wirklich mit dieser
und jener Reporternotiz der Oeffentlichkeit, welche Du vertrittst, —
dem Publikum, das Du belehren willst? 1 * — so wäre manche Spalte
Papier unbedruckt geblieben. Meiner Ueberzeugung nach nimmt an
der Pflicht, behauptete Zusammenhänge zu prüfen, bereits jeder Ge¬
bildete, mindestens jeder Schriftsteller Theil. Was aber an derartigen
Behauptungen seinen Weg in die täglichen Blätter fand, war zum
Theil offenkundig sinnlos — und grade das Sinnlose wurde am eifrig¬
sten colportirt, am häufigsten wiederholt und vom grossen Publikum
natürlich am liebsten gelesen.
Einen an sich nicht nur sachgemässen, sondern auch prakticablen
und Nützliches verheissenden Weg beschritt das socialdemocratische
Organ, der „Vorwärts“, als er daran ging, alles von einer „Arbeiter-
Sanitätscommission“ an öffentlichen Missständen gesammelte Material
zu veröffentlichen. Wo in Wohnhäusern und Fabriken eine zu geringe
Anzahl öffentlicher Bequemlichkeitsanstalten sich vorfand; wo unzu¬
reichende Ventilation sich geltend machte; wo beim Verladen von
Müll und sonstigem unreinem Material oder wo an gewissen Stellen
der öffentlichen Wasserläufe ein Gestank entstand — widmeten die
aufmerksamen Mitglieder jener Commission dem Gegenstände ihre
Aufmerksamkeit und sicherten ihm eine Besprechung im „Vorwärts“.
So wurden viele, der regelmässigen Controls leicht zu entziehende
(übrigens weit mehr vorübergehende als bleibende) Unzuträglichkeiten
öffentlich besprochen, dann sachgemäss untersucht und — wo erreich¬
bar — abgestellt. Uebertreibungen blieben nicht aus; sie erwiesen
sich auch nicht blos auf die Lückenhaftigkeit der ätiologischen Zu¬
sammenhänge beschränkt; sie hafteten dem unverhüllten Agitations¬
zweck gar zu unzertrennlich an. Denn wo „agitirt“ wird, geht es
nicht nur auf Kosten der Klarheit, sondern naturgemäss auch der
Wahrheit.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
Der Kampf gegen die Cholera in Berlin.
205
Schliesslich nahm der Cholerakampf, wie er sich in der Presse
wiederspiegclte, ganz verzerrte Züge an: die Rubriken für „Cholera“
verschwanden, und die nämlichen Zeitungen, welchen noch vor wenigen
Tagen das Bedrohlichste noch lange nicht bedrohlich genug gewesen
war, machten dcmobil mit einer Hinterlassenschaft schnöder Scherze
— sogenannter Cholerawitze. An den Ernst der Sache, an die
Wiederkehr des Uebels im nächsten Frühjahr zu denken, wäre wür¬
diger gewesen.
Mag man immerhin gern die Entschuldigung gelten lassen: es
müsse doch einmal ein Aufathmen von dem ungeheuren Druck statt¬
finden, — so darf doch der Frage (auch von Seiten der Oeffentlich-
keit und der Presse) nicht ganz aus dem Wege gegangen werden:
Was soll in Zukunft geschehen?
Dass die verschiedensten Zweige des Staatsdienstes und der Städti¬
schen Verwaltung, auch nachdem ihrerseits die einstweilige Demobil¬
machung in geräuschloser Weise bewirkt worden ist, mit der Wissen¬
schaft continuirlich weiter berathend Zusammenwirken müssen, ist
selbstverständlich. Wer redlich forscht und sucht, wird auch durch
allerlei Beirrungen nicht in ernsthafte Zweifel gerathen, wo er jene
Wissenschaft finden soll. Die Stärkung aber des Gemeingefühls für
das Ganze, — die Verschärfung der Einsicht, dass Jedermann für das
Gemeinwesen einzutreten hat, sollte ferner nicht blosse Theorie der
Socialisten sein.
Vor Allem brauchen wir jedenfalls — genau so wie gegenüber
bösen oder ländergierigen Nachbarn — einen förmlichen Cholera-
Mobilmachungsplan, der die erdrückende Arbeit auf alle tragfähigen
Schultern vcrtheilt und so eine systematische Organisation an die
Stelle zuckender halbblinder, das Ziel nicht erreichender oder darüber
hinaus schlagender Abwehrbewegungen setzt.
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III. Kleinere Mittheilnngen, Referate,
Literaturnotizen.
a) Sammelwerke, Statistisches.
Ans den zahlreichen facbwissenschaftlichen Darbietungen, welche das uns
zugesandte „Medico-legal Journal“, Organ der gerichtlich-medicinischen
Gesellschaft in New-York, in seinem IX. und X. Bande gebracht hat, heben wir
— als auch für deutsche Leserkreise von luteresse — hervor die Originalab¬
handlungen von Ireland: *„Is criminal anthropology a soienoe?“, — von
Wood: „The dangers of the new alienism“, — von Arthur McDonald:
„Criminal Aristocracy or the Mafia*', — von Harold N. Moyer: „Medico-legal
relations of abortiva“, — von John J. Reese: „Presumptions of death and of
survivorship“; und ferner von Clark Bell: Mechanical restraint of the insane,
— von Albert Bach: The medico-legal aspect of privileged Communications,
— von W. Struthers: The seat of language and lingual diseases u. a. —
Von dem Eifer und der Vielseitigkeit des Vereins legen seine Veröffentlichungen
jedenfalls ein günstiges Zeugniss ab.
Dr. R. Becker, Medicinalrath und Amtsphysikus in Gotha, Sammlung ge-
richtsärztliober Gutachten. Aus 20jähriger Amtsführung mitgetheilt.
Berlin. Karger, ohne Jahreszahl. 166 S.
Es sind im Ganzen 23, in dem Zeitraum von 1873 bis jetzt (1892) von
ihm verfasste Gutachten, welohe Vf. in dieser gedruckten Sammlung vereinigt
hat. Sie geben ein Bild seiner individuellen forensisohenThatigkeit. Literarische
Grundlagen sind besonders die gebräuchlichen Lehr- und Handbücher der ge¬
richtlichen Medioin und Psyohopathologie gewesen. Unter den einzelnen Fällen
begrüsst unsere Vierteljahrsschrift zum Theil alte Bekannte (so Ho. I aus dem
22., — No. III aus dem 27. Bande ihrer neuen Folge): es waren dies ganz
besonders interessante, ihrer Zeit aotuelle Specimina. Dooh glauben wir auch
die hier zum ersten Male veröffentlichten Fälle unseren Lesern als reoht be*
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Kleinere Mittheilungen, Referate, Literaturnotizen.
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lehrende und manche Seiten des Faches trefflich fördernde Erörterungen
empfehlen zu sollen.
Vr. Aog. tiärtacr, Professor der Hygiene etc. zu Jena. Leitfaden der Hygiene
für Studirende und Aerzte. Berlin 1892. Verlag von S. Karger.
Verf. bezeichnet in der Vorrede sein Werk als einen ans seinen Vorlesungen
entstandenen Leitfaden, welcher nur die Hauptpunkte aus dem Gebiete der Ge¬
sundheitslehre in ihren Grundzügen besprechen soll. Von diesem Gesichtspunkte
aus verdient das Buch wegen seiner gedrängten und lichtvollen Darstellung alle
Anerkennung und übertrifft in dieser Beziehung alle in dieser Richtung neuer¬
dings veröffentlichten Arbeiten. Für Studirende wird das Dargebotene eine
werthvolle Gabe sein, welche an der Hand des Lehrers ihren Zweck vollkommen
erreichen und als Führer auf dem grossen Forschungsgebiet der Hygiene
dienen wird.
Den Aerzten, welche auf diesem Gebiete schon bewandert sind, kann das
Werk einen Ueberblick über die neuesten hygienischen Forschungen gewähren.
Für solche Leser würde eine genauere Angabe der literarischen Quellen wün-
schenswerth gewesen sein, um über manche Kapitel, welche ihr Interesse beson¬
ders in Anspruch nehmen, sich vollständiger belehren zu können.
Die 206 Abbildungen tragen zur Erläuterung des Vorgetragenen wesentlich
bei. Nur die Abbildung des Siemens’schen Verbrennungsofens für Leichen ist
nicht deutlioh genug. Die Feuerbestattung befürwortet Verf. überhaupt nicht,
weil die Hygiene als solche an der Feuerbestattung zur Zeit kein actives Inter¬
esse habe. Es können aber Zeiten und Umstände eintreten, wo der hygienische
Werth der Leichenverbrennnng nicht hoch genug anzuschlagen ist.
Das Kapitel über Infectionskrankheiten führt alles Wichtige vor. Nament¬
lich „Disposition“ und „Immunität“ sind nach den hierüber herrschenden An¬
sichten kritisch beleuchtet worden.
Auch die Gewerbehygiene hat die möglichste Berücksichtigung gefunden.
Unter den Schädigungen durch Einathmen von Gasen war indess das allerge¬
fährlichste Gas, der Arsen Wasserstoff, besonders hervorzuheben. Auch die Dämpfe
der Untersalpetersäure bezw. der salpetrigen Säure sind in sanitärer Beziehung
im höchsten Grade beachtnngswerth, da die Verwendung der Salpetersäure keine
beschränkte ist, wie Verf. S. 228 vermeint. Die Darstellung der Explosivkörper,
namentlich des rauchlosen Pulvers, erfordert gegenwärtig grosse Mengen dieser
Säure. Dagegen haben die Schädigungen in den Spiegelbeleganstalten erheblich
abgenommen, seitdem Argentum nitric. das Quecksilber vertritt. Freilich muss
man nicht ausser Acht lassen, dass ein „Leitfaden“ nicht auf alle Einzelheiten
eingehen kann, sondern sich nur mit den wichtigsten Factoren zu beschäftigen
hat. Alle Ergänzungen sind ja für den mündliohen Vortrag Vorbehalten, während
der praktische Arzt in concreten Fällen zur event. Begründung seines Urtheils
die Hülfsmittel, welche ihm ausführliche Handbüoher darbieten, benutzen wird.
Immerhin ist das Gärtner’sche Werk insofern werthvoll, als es den neuesten
Standpunkt der bygienisohen Forschungen vertritt und dazu beiträgt, das Inter¬
esse für diese Wissenschaft anzuregen. Eulenberg-Bonn.
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Kleinere Mitteilungen. Referate, Literaturnotizen.
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b) Geriehtsärztliches.
Rudelf Yirehew, Die Sectionstechnik im Leicbenhause des Charitö-Kranken-
hanses, mit besonderer Rücksicht auf geriGhtsärztliehe Praxis. Im An¬
bange: Das preussisebe Regulativ für das Verfahren der Gerichtsärzte
bei den gerichtlichen Untersuchungen menschlicher Leichen vom 13. Febraar
1875. Vierte Auflage, mit 4 Abbildungen im Text. Berlin, Hirschwald
1893. 114 S.
Das zuerst als „erweiterter Abdruck aus den Charitä-Annalen' 1 heraasge¬
gebene, für die gerichtsärztliche Praxis kaum entbehrliche Anleitungswerk hat
in. der vorliegenden vierten Auflage seine Gestalt in mehrfacher Richtung ver¬
vollkommnet. Zunächst bieten sich die vier Abbildungen (das Herz und die Er¬
öffnung der Brusthöhle betreffend) so wie sie jetzt in den Text mit einbezogen
sind, dem Studium bequemer dar.
Vor dem Abdruck des „Regulativs 11 sind dann einige neue Bemerkungen
eingeschaltet über die Eröffnung der Nebenhöhlen des Kopfes, veranlasst
in erster Reihe durch die notwendige Rücksicht, welche auf die Pietätsan¬
schauungen zu nehmen ist. Es folgt eine Notiz über die Flüssigkeit des Capil-
larbluts in der Leiohe, und endlich stellt V. noch diejenigen Veränderungen
kurz zusammen, welche nur durch das Mikroskop bezw. dieLoupe erkennbar,
aber für die Deutung des Leichenbefundes von hervorragender Wichtigkeit sind.
Es werden diese Bereicherungen in Verbindung mit dem älteren Inhalt des
bekannten Buches den Interessenten (auch in dem Gewände der neuen vornehmen
äusseren Ausstattung, welche dasselbe erhalten hat) hoch willkommen sein.
Fr*f. A. Paltaaf, Ueber das falsche Lymph-Extravasat. Prager med.
Wochenschrift. 1892. No. 33.
Verf. hatte bei den Leichen mancher Individuen, welche naoh sohwerer
Verletzung innerhalb kürzester Zeit oder sofort gestorben waren, blutige Suffu-
sionen oder seröse Durchtränkungen gefunden, welche mit den von Lesser be¬
schriebenen Lymphorrbagien übereinstimmten, mit den ächten Lymphextravasaten
Gussenbauer’s aber Nichts gemein hatten. Lesser hielt seine Lymphorrhagien
mit denen Gussenbauer’s für identisch. Einen Unterschied zwischen beiden
beschreibt Verf., indem er betont, dass erstere aus einem von seröser Infiltration
wie von einer Randschioht umgebenen Blutgerinnsel, letztere nur oder fast nur
aus seröser, in einer traumatischen Höhle gelegenen Flüssigkeit bestehen.
Den von Lesser beobachteten Befund fand P., wenn er eine Ganüle in die
Carotis des Versuchstieres einband, an diese mittelst Sohlauohes eine zweite Ca-
uüle anschloss und durch letztere in das Unterhautgewebe des Thieres Garotis¬
blut einführte. Zu derselben Zeit, zu welcher Blut, welches aus derselben Ganüle
in eine Schale gelassen war, anfing, eine Trennung von Serum und Blutkuchen
erkennen zu lassen, zeigten auch die künstlichen Extravasate schon einen fest¬
geronnenen Blutkuohen, in dessen Umgebung das Zellgewebe feuoht glänzend
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Kleinere Mittheilungen, Referate, Literaturnotizen.
209
und gering ödematös durchtränkt erschien. Nach einer halben Stnnde and mehr
erschien der Blutkachen dichter und trockener und von einer ein Centimeter oder
breiteren Zone umgeben, welche von gelblioher, klarer, nicht gerounener Flüssig¬
keit durchsetzt war und sich scharf gegen den Blutkuchen abgrenzte. Die Flüssig¬
keit Hess sioh aus dem Gewebe völlig herausdrücken.
Um völlig jede Möglichkeit eines Lympheergusses auszusohliessen, führte
Verf. die Ganüle auch in das Unterhautgewebe mensohlioher Leichen. Das Er-
gebniss war dasselbe. Dass die Ursache dieser Erscheinung nur der Gerinnungs¬
vorgang im Bluterguss war, erhellte aus Gontrolversuohen mit gerinnungsunfähig
gemachtem Blute. Der serös-ödematöse Hof blieb aus, wenn gerinnungsunfahiges
Blut dem leben den Thiere eingespritzt wurde.
Die Leiohenversuohe beweisen die Möglichkeit des qu. Befundes unter Um¬
ständen, welche eine Lymphorragie völlig aussohliessen.
Endlich deducirt Verf. aus Geschwindigkeit und Druck der Blut- und
Lymphebewegung, dass ein grösseres Lymphextravasat wohl nach längerer Zeit,
nicht aber in wenigenSecunden oder Minuten sich entwickeln kann, zumal wenn
in Folge von Blutverlusten oder von Herzschwäohe der Seitendruck in Blut- und
Lymphgefässen gesunken ist.
Das Fehlen von ödematösen Durohtränkungen in der Umgebung einer Hä-
morrhagie kann auf unvollkommener Gerinnung, ungleiohmässiger Vertheilung
des Serams, aber auch auf bereits erfolgter Resorption des Serums beruhen. Es
würde also ein solcher Mangel eines serösen Hofes beweisen, dass das Extravasat
schon einige Zeit vor dem Tode entstanden sei.
Die angeblichen Lymphorrhagien nach Verletzungen, welche kurze Zeit oder
unmittelbar vor dem Tode zugefügt wurden, sind daher lediglich Gerinnungser-
scheinungen, keine wirklichen Lymphorrhagieen. Andererseits dürfen derartige
ödemalöse Durchfeuchtungen in der Umgebung des Extravasates nicht für vitale
Reaotion, sondern eher gegen dieselbe geltend gemacht werden, da ihr Fehlen,
weil eventuell durch Resorption bedingt, eine Fortdauer des Lebens naoh der
Entstehung des Extravasates voraussetzt. Flatten-Wilhelmshaven.
Ueber den Zwergwichs ii anatomischer and gerichtsäritlicher Beziehung nebst
Bemerkungen aber verwandte Waehsthamsstörnngea des menschlichen Ske¬
lettes. Von Dr. A. Paltauf. Wien 1891 bei A. Holder. Mit 3 Tafeln.
Die Seotion eines 49 Jahre alten Zwerges gab dem Verfasser Anlass zur
ausgiebigen Untersuchung des Skelettes, welohe in anatomischer, anthropolo¬
gischer und forensisoher Hinsicht bemerkenswerthe Ergebnisse lieferte. Die
gleich verdienstvolle wie gründliche Arbeit ergab naturgemäss eine Menge Details,
für deren Wiedergabe es an dieser Stelle des Raumes ermangelt. Da sie den
Gegenstand soweit als möglich ersohöpft, bildet sie eine wesentliche Grundlage
für weitere einschlägige Untersuchungen und einen werthvollen Führer bei der
forensischen Beurtheilung ähnlicher Skeletanomalieen. Auch die mikroskopischen
Befunde der wesentlichen Skelettbeile wurden berücksichtigt. Die Arbeit sei
daher dem Studium des Gerichtsarztes bestens empfohlen.
Flatten-Wilhelmshaven.
Vierteljahraeohr. f. ger, Med. Dritte Folge. V. 1. 14
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Kleinere Mittheilungen, Referate, Literatornotizen.
c) PsychtptthoUglscbes.
Pref. Ir. R. vai Kraft-Ebing, Lehrbuch der geriohtliohen Psyohopatho-
logie. Mit Berücksichtigung der Gesetzgebung von Oesterreich, Deutschland
und Frankreich. Dritte umgearbeitete Auflage. Stuttgart, Ferdinand Enke,
1892. XVI und 488 Seiten.
Im obigen Lehrbuoh wurde die Eintheilung der beiden voraufgegangenen
Auflagen: „Buch 1 Die Beziehungen zum Criminalreoht“, — „Buch II Die Be¬
ziehungen zum Civilreoht“ — ebenso wie die Capiteleintheilung der beiden
Büoher, als vollauf im günstigen Sinne erprobt, beibehalten. So findet (ad I)
das Princip der forensischen Psychologie — Willensfreiheit, dann die Zurechnung
und Zurechnungsfähigkeit nebst den sie betreffenden rechtlichen Grundsätzen;
die Stellung und Aufgabe des ärztliohen Technikers im Criminalforum; der ärzt¬
liche Nachweis geistiger Krankheit; die Simulation des Irreseins; das Alter der
strafrechtlichen Unreife; die psychischen Entwicklungshemmungen, die Taub¬
stummheit ihre Würdigung. Kapitel IX dieses Buches „Geisteskrankheiten“ bildet
den Mittelpunkt der Darstellung (124 Seiten). Dann folgen hier nooh (Kap. X)
Nervenkrankheiten mit psychischer Störung (Anhang: Traumatische Neu¬
rose); — ferner die psychischen Entartungen; die Zustände krankhafter Be¬
wusstlosigkeit; alsdann die Verbreohen und Vergehen an Geisteskranken, —
fälschliche Anschuldigungen von Seiten Geisteskranker, — Versetzung in Geistes¬
krankheit, — Haftfähigkeit mit Bezug auf die psyohisohe Gesundheit. Damit er¬
scheinen alle Beziehungen zum Criminalreoht erschöpft.
Die Beziehungen zum Civilreoht finden sich in 8 Abschnitten: Dispositions¬
fähigkeit — Entmündigungsverfahren — Aufhebung der Curatel — Streitige
Dispositionsfähigkeit Niohtentmündigter — Psyohopathisohe Zustände in Bezug
auf Ehefähigkeit und Ehescheidung — Schadenersatzpflicht Geisteskranker —
Zeugnissfähigkeit in psychopathischen Zuständen und Testirfähigkeit — duroh-
gesprochen.
Sehr glüoklioh erscheint in der Allgemeinen Disposition des Werkes die An¬
ordnung gewählt, alle Beziehungen zum Verwaltungs- und Polizeireoht in einem
besonderen Anhänge unterzubringen, in welchem also der Lernende die Bestim¬
mungen über Aufnahme und Entlassung, die staatliche Beaufsichtigung der
Irrenanstalten, die Concession zu deren Errichtung, Gemeingefährlichkeit und
zwangsweise Internirung, staatliche Fürsorge und Beaufsichtigung extraner Irren
— kurz: die Punkte des als „Irrengesetzgebung“ bezeiohneten Fachgebietes
studiren kann.
An 209 Beobachtungen des Praktikers Kraft-Ebing, einer vorzüglioh
ausgewählten Casuistik, sind die Anschauungen des Forsohers, Klinikers und
Lehrers verdeutlicht; literarische Quellen sind überall in derjenigen Vollständig¬
keit und Auswahl mitgetheilt, welohe nützt und anregt, ohne zu überlasten.
Für die Freunde der früheren Auflagen des unentbehrlichen Buohes wird
es von Interesse sein zu erfahren, dass die Absohnitte „Wahnsinn“, „Paranoia
politioa“, „Morphinismus und Coo&inismus“, die „Neurasthenie“, die „Trauma¬
tische Neurose“ Neubearbeitungen darstellen, wie sie vordem noch nioht geliefert
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Kleinere Mittheilungen, Referate, Literaturnotizen.
211
werden konnten. Auch die Menstruation in ihrem Einfluss auf das Geistesleben,
der Eifersüchte wahn, das Irresein in Zwangsvorstellungen, die transitorischen
Störungen des Geistes bei Gebärenden und Neuentbundenen sind als ganz neue
Abschnitte zu bezeichnen.
W. Waadt, Hypnotismus und Suggestion. Leipzig 1892. Engelmann.
110 S.
Zeitschrift für lypnstiiaias, Suggestionstherapie, Saggestioaslehre and rer*
wandte psychologische Vorsehungen. Redigirt von Dr. J. Grossmann,
Könitz, Westpr. Jahrgang I, Heft 2. Berlin 1892. Brieger.
Obwohl, nach seinem eigenen Ausdruck, Wundt die Notbwendigkeit, den
sogenannten Geheimwissenschaften näher zu treten, als eine „unerfreuliche
Pflioht“ empfindet, hat er sich mit den im Titel genannten Theilgebieten der¬
selben vortrefflich auseinandergesetzt. Im Abschnitt I werden die Erscheinungen
des Einschläferungszustandes in Beispielen, — in II die Physiologie und Psy¬
chologie der Hypnose und Suggestion, — in III die Suggestion als experimen¬
telle Methode besprochen. Abschnitt IV enthält die praktische Bedeutung des
Hypnotismus. — Die Frage: „Inwieweit entspricht die Suggestion den Forde¬
rungen eines psyobologisohen Experiments?“ — bildet den Kern der Ausein¬
andersetzungen. Dass man die Suggestion eben so wenig wie etwa die willkür¬
liche Beeinflussung der Träume, die Erzeugung von Halluoinationen durch
Haschich, Chloroform und Aehnliches den exacten Experimenten zurechnen kann,
beweist W. in überzeugender und sachgemässer Deduction.
Den Herren Einschäferern und Einflüsterungskünstlern sind derartige Unter¬
suchungen auf der einen Seite willkommen, auf der anderen unbequem. Das
erstere, weil die Geheimwissensohaften durch die Theilnahme ernster Forscher
allmälig auf einen anscheinend höheren Curs gehoben werden; das letztere, weil
vor Solchen jener Nimbus, mit dem man dort den hohlen Kern des Oocultismus
doch so gern umgeben sehen möchte, an allen Stellen brioht und reisst. Dieser
Unbehaglichkeit bat denn auch ein Pro domo-Referat in dem Heft 2 der über-
schriftlich genannten „Zeitschrift“ einen reichlioh bemessenen Ausdruok ver¬
liehen. —
Da übrigens Herr Dr. Hans Sohmidkunz wiederholt auf unser objectives
Referat im Januarheft dieser Vierteljahrsschrift 1892, S. 221, zurüokkommt und
dessen Sohluss „Sapienti sat“ bemängelt, komme ich seinem Ansuchen um „Be¬
richtigung“ dieser Interjeotion gern entgegen und muss nun sagen: Sapientibus
nullo modo nunquamve satis. Es wird weiter disontirt werden müssen — auoh
über Einflüsterei, Träumerei, Gedankenlesen und sonstigen Zauber. Doch wäre
Kürze hierbei des Themas Würze. Wern ich.
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Kleinere Mitteilungen, Referate, Literaturnotizen.
RefMll L. Strack, Dr. theol. und Prof. e. o. der Theologie an der Universität
Berlin, Der Blutaberglaube in der Menschheit, Blutmorde und
Blutritus. Zugleiob eine Antwort auf die Herausforderung des Osservatore
cattolioo. Vierte neubearbeitete Auflage. München 1892. 155 Seiten.
Wir haben die Beziehungen, welche das Buch Straok’s zu einigen in der
„ Wissenschaftlichen Deputation“ verhandelten Vorfällen hat, im II. Band, dritter
Folge dieser Vierteljahresschrift, Seite 398, dargelegt. Eine in weite Kreise ge¬
tragene Polemik gegen dasselbe, Angriffe, die sioh keineswegs immer in den
Grenzen wirklicher Loyalität bewegten, mussten den Verfasser anregen, in einer
neuen Auflage eine Zurückweisung eintreten zu lassen. Aus 59 Seiten der ersten
Auflage sind jetzt 155 geworden. Als neu hinzugekommene Abschnitte sind Ab¬
schnitt XI.—XIII. (Der Bfutaberglaube als Veranlassung von Verbrechen „Blut¬
morde“, — Der Aberglaube bei Wahnsinnigen. Verbrechen aus religiösem Wahn¬
sinn, Menschenopfer, Blutritus) und XVII.—XIX. (welche letzteren die Polemik
hauptsächlich umfassen) zu bezezeichnen. Dem sogenannten Xantener Falle sind
in der Vorrede mehrere Bemerkungen gewidmet. Wir wiederholen hier gern die
Bitte des Verfassers, ihm Ergänzungen, Berichtigungen, besonders auch Selbst¬
erlebnisse, die in diesem oder im bestätigenden Sinne zu verwerthen wären, zu¬
gehen zu lassen. Auch eine an sich unbedeutende Notiz kann durch den Zusam¬
menhang, in den sie gebracht wird, Werth erhalten.
d) NihriifontteMlygiae.
ir. SehUmpp (an der thierärztliohen Hoohschule in München), Die Fleisch¬
beschau-Gesetzgebung in den sämmtliohen Bundesstaaten des
Deutschen Reiches. Zum Gebrauche für Staats- und städtische Behörden,
Polizoi- and thierärztliche Beamte und Thierärzte. Enke. Stuttgart 1892.
Der Verf. wünscht sein umfangreiches — 494 Seiten enthaltendes — Werk
in den Dienst der Aufgabe zu stellen, dereinst die jetzige Fleischbeschau-Gesetz¬
gebung besser auszubauen und zu entwickeln. Er ging von der Meinung aus,
dass, wer sich sein Urtheil darüber zu bilden wünscht, ob und in welcher Weise
die Deutsche Fleischbeschau-Gesetzgebung geändert werden soll oder muss, das
Bedürfniss und die Verpflichtung hat, über die gegenwärtig in Kraft stehenden
gesetzlichen Bestimmungen sich zu informiren. Viele Persönlichkeiten dürften
es wohl kaum sein, denen eine ganz in’s Einzelne gehende Kenntniss dieser Be¬
stimmungen inne gewohnt hat. Als Basis für etwaige Reformarbeiten schien es
sonach unumgänglich, die mehreren Tausende von Paragraphen in einer Samm¬
lung wie die vorige zu vereinigen: nur auf einer derart sicheren Basis lässt sich
ein Vorwärtsschreiten zum Vollkommenen denken — sei es, dass man, wie bisher,
den einzelnen Bundesstaaten überlässt, ihren berechtigten regionären Eigenarten
weiter gerecht zu werden; — sei es, dass eine glelchmässige Ordnung dieser
schwierigen Materie in absehbarer Zeit duroh ein Reichsgesetz erfolgen soll.
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Kleinere Mittbeilungen, Referate, Literaturnotizen.
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Für seine eigene Wissensgrundlage bat Sobl. nach einer nooh viel mehr ge¬
sicherten Stellung gestrebt und seine Aufgabe entsprechend höher aufgefasst.
Er bat eine lüokenlose Sammlung der einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen
aller europäischen Gulturstaaten druokfertig liegen. Möge ihm der erwartete Er¬
folg seines Werkes, soweit dieses bis jetzt an die Oeffentliohkeit gelangte, nicht
ausbleiben und die Veranlassung werden, dass der noch rückständige Theil in
ebenso vorzüglicher Ausstattung bald naohfolgen kann.
Br. aed. Robert tstertag, Professor an der thierärztlichen Hochschule in Berlin,
Handbuch der Fleischbeschau für Thierärzte, Aerzte und Richter.
Mit 108 in den Text gedruckten Abbildungen. Enke. Stuttgart 1892. 568 S.
Verf. bezeichnet selbst als Neuerung in seinem Werk die Durchführung der
Diagnostik und der Differentialdiagnostik bei der Fleiscbsobau, den Versuch, die¬
selbe als angewandte pathologische Anatomie, Parasitologie und Bakteriologie zu
behandeln. Dennooh galt ihm als unausweichliche Pflicht die strenge Rücksicht¬
nahme auf den Wortlaut der bestehenden Gesetze und die Vermeidung willkür¬
licher, in den Gesetzen nicht vorfindlioher Ausdrüoke. Von einer normalen Ana¬
tomie der Schlachtthiere und der einzelnen Organe dürfte das Handbuch, wie 0.
näher rechtfertigt, nicht Umgang nehmen. Sie bildet den 5. Abschnitt desselben,
welchem 1. Allgemeines über Fleischbeschau, — 2. Die reichsgesetzliohen Grund¬
lagen für die Regelung des Fleisohverkehrs, — 3. Schlaohtbare Hausthiere (Be¬
sichtigung derselben vor dem Schlachten, Schlachtmethode, Gang des gewerbs¬
mässigen Schlachtens) — und 4. Untersuchung der ausgeschlachteten Thiere —
voraufgehen. Die unter 6. behandelten, „von der Norm abweichenden physiolo¬
gischen Verhältnisse, welche sanitätspolizeilicbes Interesse haben*, folgen un¬
mittelbar auf die normalen; dann 7. Allgemeine Schlachtthiere vom Standpunkt
der Sanitätspolizei, — 8. Besonders erwähnenswerthe Organ-Krankheiten, —
9. Blutanomalien, — 10. Vergiftungen, Medicamentwirkungen, Autointoxica-
tionen, — 11. Thierische Parasiten (Invasions-), — 12. Pflanzliche Para¬
siten (Infections-Krankheiten), — 13. Nothschlachtungen und damit Zusammen¬
hängendes, — 14. Postmortable Veränderungen, — 15. Mehlzusatz zu Würsten,
Färben und Aufblasen des Fleisches, — 16. Conservirung, — 17. Kochen, Dampf¬
sterilisation, unschädliche Beseitigung des Fleisches bilden den Sohluss. — Der
reiche Inhalt, wie er schon aus dieser kurzen Inhaltsangabe erhellt, wird uusere
Leser von der Nützlichkeit des Buchs für den Arzt und Gerichtsarzt überzeugen.
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Kleinere Mittheilungen, Referate, Literaturnotizen.
e) BitUgisehe ud Hygienische Tagesfragei,
ir. Ceutiitli liifmu, Handbuoh der Unfallversicherungen — mit
Berücksichtigung der deutschen, österreichischen und schweize¬
rischen Unfallpraxis. Für Aerzte, Versicherungsbeamte und Juristen.
Stuttgart. Enke. 1893. 256 S.
Verf., Docent für Chirurgie an der Universität Zünoh, erkennt die medioi-
nischen Speoialarbeiten auf dem von ihm neubearbeiten Gebiete voll an. Er er¬
wartet jedoch einen besonderen Vortheil für die Kreise, denen die Bearbeitung
zu Gute kommen soll, von der vergleiohsweisen Betrachtung der Unfallpraxis,
wie sie sich in den übersohriftlioh genannten drei mitteleuropäischen Staaten-
complexen entwickelt hat. So wird denn die principielle Stellung, welche
Deutschland, Oesterreich und die Schweiz zu den durch die Unfallgesetzgebung
geschaffenen Anforderungen einnehmen, zur Fragestellung wesentlich mitbenutzt
und in den zwei Theilen des Handbuchs der Durcharbeitung unterzogen: im
ersten Theile bezüglich der allgemeinen Gesichtspunkte für die Untersuchung und
Beurtheilung der Fälle, — im zweiten Theile mit besonderer Berücksichtigung
des Heilverfahrens den Unfallverletzungen gegenüber und deren Folgen für die
Erwerbsunfähigkeit.
Von den Entschädigungsbestimmungen wünscht Verf., dass die hierzu den
Grund abgebenden Entscheidungen der Versicherungsbehörden von diesen über¬
sichtlicher und vollständiger zugänglioh gemacht werden möchten, als bisher.
Erst dann wird von den Aerzten eine solche Schätzung der Unfallfolgen bewirkt
werden können, um eine Grundlage für das Maass der jeweiligen Entschädigung
zu sohaffen, welches von vornherein zu beurtheilen, die Aerzte ja weder an der
Hand ihrer Studien, noch nach ihrer Sondererfahrung befähigt sind. Dass K.’s
Werk nach allen Seiten bereichernd und wegweisend wirken wird, ist bei seiner
Vollständigkeit sicher zu erwarten.
Br. Th. Wejrl, Studien zur Strassenbygiene mit besonderer Berück¬
sichtigung der Müll Verbrennung. Reisebericht, dem Magistrat der Stadt
Berlin erstattet, mit dessen Genehmigung erweitert und veröffentlicht. Mit
5 Abbildungen im Text und 11 Tafeln. G. Fischer. Jena 1993. 142 S.
Der durch den Titel in ihren Hauptzügen dargelegten Entstehungsgeschichte
der W.’schen Sohrift wäre ergänzend noch hinzuzufügen, dass die Studien für
den X. (Londoner) internationalen Gongress und auch zeitlich im Zusammenhänge
mit demselben angestellt worden sind. Der erste Abschnitt des Berichts enthält
Beobachtungen, Erkundigungen und literarische Ermittelungen über Verkehr,
Pflaster, Strassenreinigung, Bedürfnisanstalten und Beseitigung der städtischen
Abfallstoffe in Brüssel, Paris und London, während im zweiten Absohnitt ein Bild
von dem Stand der Verbrennung städtischer Abfallstoffe in England gegeben
worden ist.
Viele beispielgebende und verwerthbare Thatsaohen finden sich in beiden
Abschnitten; dooh gebührt dem zweiten vornehmlich die Werthsohätzung einer
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Kleinere Mittbeilungen, Referate, Literaturnotizen.
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im besten Sinne agitatorischen Schrift, da Verf. hier jeden Pnnkt auf seinen
wahren Werth zu prüfen bemüht ist, der vom Standpunkt unserer heimisohen
Verhältnisse als fordernd oder widersachlich in den bezüglichen Discussionen
vorgebracht zu werden pffegt. Die Abbildungen dienen vorwiegend der Verdeut¬
lichung der Mülltransport- und Müllrerniohtungs-Apparate. — Jedenfalls darf es
als ein praktischer Erfolg der Studien und Berichterstattung W.’s betrachtet
werden, dass die städtische Baudeputation vom Berliner Magistrat zur Herstel¬
lung von Versuohsbauten zur Müll-Destruction bereits mit Auftrag versehen
worden ist.
C. J. Ck. liMeratii (Baudirector) und L Rappel (Bauinspeotor), Das neue
allgemeine Krankenhaus in Hamburg-Eppendorf. Nach amtliohen
Quellen dargestellt. Mit 7 Kupfert. Wilh. Ernst. Berlin 1892. 16 S. Text.
Die vorstehende elegant ausgestattete Monographie kann als eine Muster¬
vorlage für ähnliohe Beschreibungen gelten. Jede der zahlreichen Localitäten ist
eingehend geschildert und nach Bedürfniss in Abbildungen veranschaulicht —
nooh abgesehen von den Kupfertafeln. Diese letzteren bringen Uebersichtsdar-
stellungen, Qrund- und Aufrisse, welche dem Sachkundigen keine Aufklärung
sohuldig bleiben. Auf der 7. Tafel sind besonders die Details, betreffend die
Bettstell- und Wascheinricbtuagen, wiedergegeben.
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IV. Amtliche VerfQgungen.
4. Cholera betreffend (die grundlegenden Anweisungen für die
1992er Epidemie vom 28. Juli 1892 brachte bereits das Supplement-
Heft zum IV. Bande). Es ergingen ferner:
a) Rnnderl&ss, betreffend telegraphische Anzeigen über Cholera-
Erkrankungs- und Todesfälle unterm 27. August; —
b) Runderlass des Ministeriums des Innern, betreffend Massnahmen
gegen die Cholera unterm 1. September; — (Anlage I: Liste
der Cholerafälle und Muster für die Zählkarte, — II. Naoh-
weisung über den Stand der Cholera, — III. Grundsätze für
das Verhalten d. Eisenbahn-Pers., — IV. Desinfection, —
V. Populäre Belehrung); —
c) Runderlass des Ministeriums des Innern pp., betreffend behörd¬
liche Schutzmassregeln gegen Cholera vom 8. September; —
d) Runderlass des Ministeriums der öffentlichen Arbeiten, betreffend
Verhaltungsmassregeln für das Eisenbahn-Personal unterm
1. September; —
e) Runderlass des Ministeriums der Medioinal-Angelegenheiten, betr.
bakteriolgisohe Untersuchungen der ersten Erkrankungen
an Cholera; — Versendung von Untersuchungs-Objekten und
Cbolerakulturen unterm 25. August; —
f) Runderlass des Ministeriums der Medioinal-Angelegenheiten und des
Innern, betreffend die nämlichen Gegenstände wie sub bV und
sub e — vom 8. September; —
g) Runderlass des Ministeriums der Medioinal-Angelegenheiten, betr.
Inanspruchnahme der Königl. Sanitätsämter der General-
Commmandos Seitens der Civilbehörden für bakteriologisoheUnter¬
suchungen vom 6. Septbr.; —
h) Rundschreiben des Reichskanzlers, betreffend Reiobsoommissar für
die Gesundheitspflege im Stromgebiete der Elb‘e vom 11. Sep¬
tember; —
Gck igle
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Amtliche Verfügungen.
217
i) Randsohreiben des Reichskanzlers, betreffend Errichtung einer
Cholera - Commission im Kaiserl. Gesundheitsamt vom
11. September; —
k) Randerlass des Ministeriums des Innern pp., betreffend sanitäts¬
polizeiliche Controlle der Post- and Eisenbahn-Beamten
vom 5. September; —
l) Randerlass des Ministeriums der Medicinal-Angelenheiten, be¬
treffend Aborte in den Eisenbahnzügen vom 3. September; —
m) Gemeinsamer Randerlass der betheiligten Ministerien, betreffend
freien Verkaaf von Desinfectionsmitteln auch Sonntags etc.
vom 13. September; —
n) Randerlass des Ministeriums der Medioinal-Angelegenheiten pp.,
betreffend Beschaffung lOprocent. Carbolsäure, vom 20. Sep¬
tember; —
o) Randerlass des Ministeriums derMedicinal-Angelegeheiten, betreffend
die Cholera - Erkrankungs- and Todes - Anzeigen, vom
23. September;
r p) Schreiben des Reichskanzlers, betreffend Desinfeotion der aas
Hambarg kommenden WaarenSendungen, vom 3. Octbr.; —
q) Gemeinsamer Randerlass der betheiligten Ministerien, betreffend
Einfahr- und Durchfuhrverbot gegenüber der Nieder¬
lande, vom 4. October; —
r) Randerlass des Ministeriums des Innern pp., betreffend Kosten
für die Unterbringung cholerakranker Reisender, vom
16. September; —
s) Schatzmassregeln für die Schiffer gegen Cholera (Kaiserl. Ge-
sandheitsamt) vom 6. October; —
t) Randerlass des Ministeriums der Medioinal Angelegenheiten, be¬
treffend Berichterstattung über Cholera-Erkrankungen,
vom 14. October; —
u) Randerlass des Ministeriums des Innern pp., betreffend Post- and
Packetsendungen von Hamburg, vom 11. October; —
v) Runderlass des Ministeriums des Innern pp., betreffend Versendang
spanischer Weintrauben in Fässern über Hambarg, vom
15. October; —
w) Runderlass des Ministeriums der öffentlichen Arbeiten, betreffend
Massregeln gegen die Cholera zum Schutz der Arbeiter im staat¬
lichen Baubetriebe, vom 15. October.
(Ausserdem 8—10 Erlasse, betreffend die Aufhebung der obigen extra-
ordinären and Sonder-Massregeln.)
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218
Amtliche Verfügungen.
B. Anderweite Verfügungen:
Rinderlass des Ministers der i. s. w. Medicinal-Angelegenheiten vom 26. Sep¬
tember 1892 betr. Verkauf van Mineralwässern anf den Strassen n. s. w.
Von beachtenswerter Seite ist darauf hingewiesen worden, dass die auf
den Strassen u. s. w. feilgehaltenen Mineralwasser, wie Selterser-, Soda-Wasser
u. a. m. an die Abnehmer stets eiskalt verabfolgt werden und dass der Genuss
so kalten Wassers, welches schon in normalen Zeiten leicht ernste Verdauungs¬
störungen von längerer Dauer nach sich ziehe, beim Drohen der Cholera die Nei¬
gung zu ähnlichen Krankheiten befördere.
Ew. Hochwohlgoboren ersuche ich ganz ergebenst, die Verkäufer von Mineral¬
wässern im Ausschenken gefälligst anzuweisen, dieses Getränk fernerhin, gleich¬
viel, ob Cholera droht oder nicht, und in einem der Trinkwasser-Temperatur
entsprechenden Wärmegrade von etwa 10° C. abzugeben und das Publikum vor
dem Genurr eiskalter Getränke überhaupt, insbesondere aber der Mineralwässer
zu warnen; die bezüglichen Bekanntmachungen wollen Ew. Hoohwohlgeboren
jährlich öfter gefälligst wiederholen.
gez. Bosse.
An sämmtliche Königl. Regierungspräsidenten.
Erlass des ministen der u. s. w. Medieinal-Angeiegenheiten vom
27. September 1892 betr. Beschaffung von Bieustexemplaren des neuen
Hebammenlehrbuchs für die Kreisphysiker.
Ew. Hochwohlgeboren erwidere ich auf den Bericht vom 14. September
d. J., dass die Beschaffung von Dienstexemplaren des neuen Hebammenlehrbuchs
für die Kreisphysiker aus Staatsmitteln Mangels geeigneter Fonds nicht zu
ermöglichen ist.
gez. I. A. Bartsoh.
An den Königl. Regierungspräsidenten zu M. etc.
Runderlass des Ministers der u. s w. Medici aal-Angelegenheiten
vom 18. fetober 1892 betr. Prüfung des Physikatsgntaehten über Anlage von
Begräbnissplätieu dureh den Regierings- nnd Medieinal-Rath.
Nach dem durch die Verfügung vom 20. Januar d. J. — M. N. 9127 G I
G II G III — die Gesichtspunkte bezeichnet worden, welche für die amtsärztliche
Begutachtung von Grundstücken zu Neuanlagen oder Erweiterung von Begräb-
nissplätzen massgebend sind, bestimme ich hierdurch, dass jedes Physikats-Gnt-
achten über derartige Neuanlagen oder Erweiterungen von dem zuständigen Re¬
gierungs- und Medicinal Rath geprüft und mit einem Vermerk, dass dies geschehen,
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UMIVERSITY OF IOWA
Amtliche Verfügungen.
219
versehen werde. Im Falle das amtsärztliche Gutachten der Verfügung vom
20. Januar d. J. nioht genügt, ist dasselbe zur Vervollständigung an den Gut¬
achter zurüchzugebeD.
Bei den Anträgen auf Ertheilung meiner Genehmigung zu dergleichen
Projekten ist der Regierungs- und Medicinal-Rath als Mit-Berichterstatter zu
betheiligen.
Ew. Hochwohlgeboren ersuche ich ergebenst, soweit hiernach dort bisher
noch nicht verfahren sein sollte, demgemäss das Weitere gefälligst zu ver¬
anlassen.
gez. I. A. Bartsch.
An sämmtliche Königl. Regierungspräsidenten.
Erlass des flinisters der i. s. w. nediciaal Angelegenheitea betr. Verbereitaag
einer neuen ledicinal-Taxe von 19. November 1892.
Es ist allgemein anerkannt, dass die Taxe für die Medicinal-Personen vom
21. Juni 1815 den jetzigen Verhältnissen nicht mehr entspricht. Nachdem in
neuerer Zeit auch mehrere Aerztekammern diese Angelegenheit erörtert haben
und einzelne deshalb bei mir vorstellig geworden sind, habe ich den Erlass einer
neuen Taxe auf Grund des § 80 der Reichsgewerbe-Ordnung als Norm für strei¬
tige Fälle beim Mangel einer Vereinbarung in Aussioht genommen.
Hierbei ist es mir wünschenswert zunächst über die folgenden allgemeinen
Fragen, welche für die Behandlung der Sache von besonderer Wichtigkeit sind,
die Aerztekammer gutachtlich zu hören:
I. Erscheint es zweckmässig, eine einheitliche ärztliche Taxe für die ganze
Monarchie, oder besondere Taxen für die einzelnen Provinzen zu erlassen,
eventuell unter Berücksichtigung der Verhältnisse des flachen Landes und
der kleinen Städte einerseits und der grossen und grösseren Städte andererseits?
II. Empfiehlt sich der Erlass einer Taxe, in welcher nur der Mindestbetrag
der zu gewährenden Gebühren bestimmt wird, oder einer solchen, welohe einen
Mindest- und einen Höchstbetrag feststellt?
Im ersteren Falle wäre die wetiere Frage zu berücksichtigen, wann eine
solche Taxe zur Anwendung zu bringen sein würde, ob z. B. auch dann, wenn
die Zahlung der Gebühren aus Staats- oder Kommunalmitteln oder aus Gewerks-
Krankenkassen etc. zu erfolgen hat.
Im zweiten Falle würde es sich fragen, nach welchen allgemeinen Gesichts¬
punkten die Festsetzung einer ärztlichen Forderung innerhalb der durch die
Taxe festgesetzten Grenzen zu erfolgen hätte.
III. Nach welchen Gesichtspunkten wird die Frage zu behandeln sein, ob
und in welchem Maasse dem Arzte, falls er beim Besuche eines Kranken einen
längeren und zeitraubenderen Weg zurückzulegen hat, neben der Gebühr für die
ärztliche Verrichtung Entschädigungen für die Fuhrkosten etc. und die Zeitver-
säumniss zuzubilligen sind, und zwar:
1. wenn der Besuch einem ausserhalb des Wohnortes des Arztes befind¬
lichen Kranken gemacht wird:
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220
Amtliche Verfügungen.
2. wenn der Kranke sich am Wohnorte des Arztes befindet, letzterer aber
entweder
a) den Besuch von seiner Wohnung aus unternimmt and von dem¬
selben in seine Wohnung zurückkehrt, oder
b) den Besuch im Verlaufe des täglichen Randganges bei seinen
Kranken erledigt?
Gw. Excellenz ersuche ich ganz ergebenst, der Aerztekammer der dortigen
Provinz za einer gutachtlichen Aeasserung hierüber Gelegenheit za geben and
naoh Eingang derselben gefälligst gutachtlich an mich zu beriohten.
(gez.) Bosse.
An sämmtliche Königl. Oberpräsidenten.
■ ittheilnng.
Es wird ergebenst mitgetheilt, dass in Folge des Erlasses des Königlioh
Preussischen Herrn Ministers der geistlichen etc. Angelegenheiten vom 31. Aagast
d. J. (Vierteljahr8scbiift, IV. Bd., Suppl.-Heft Seite 190) — betreffend die Ein¬
führung des handerttheiligen Thermometers — auf diesseitige Veranlassung die
Buchdrackerel von P. Stankiewicz zu Berlin SW., Bernburgerstrasse No. 14,
es übernommen hat, die dort erwähnten Umreohnungstafeln herzustellen und za
nachstehenden Preisen — aassohl. Porto etc. — abzugeben.
1.
Kleine Tafeln auf Papier.
1000 Stück zu
10,00 Mk.
2.
»1 99
„ gelbem Karton.
1000
•9 99
15,00 „
99 99
»9 99 99 .
100
99 9 9
2,50 ,,
3.
9 9 99
„ starkem weissen Karton,
r 100
99 99
5,00 ,,
lackirt mit Metallöse .
l io
99 99
1,00 „
4.
Grosse „
„ gelbem Karton.
f 100
l 10
99 19
9 9 99
5,00 „
1.00 „
Hiernach wird ergebenst anheimgestellt, den
dortseitigen Bedarf bei der
genannten Buchdruokerei anmittelbar zu bestellen.
Berlin, im October 1892.
Physikalisch-Technische Reichsanstalt.
Abtheilung II.
(gez.) Loewenherz.
Gedruckt bei Ti. Nrhiiinnclicr in Berlin.
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I. Gerichtliche Medicin.
1 .
Mittheilungen aus dem Institute für gerichtliche Medicin des
Herrn Hofrathes Prof. E. von Hofmann in Wien.
I.
Atypische Lage der Eiaschnssöffniing beim Selbstmord durch
Schuss iu deu Kopf.
Von
Dr. Albin üaberda,
Assistenten am Institute.
Es ist eine bekannte Thatsache, dass beim Selbstmord durch
Schuss in den Kopf die Eingangsöffnung zumeist an ganz bestimmten
Stellen sitzt, und zwar sind es hauptsächlich die Schläfe, dann Stirne,
Mund und Kinn, an welchen Stellen Selbstmörder die Schusswaffe
anzulegen pflegen. Diese Thatsaehen sind uns so geläufig, dass wir
bei sonst unverdächtigen Umständen und einem solchen Sitze
der Einschussöffnung, wenn es sich gleichzeitig um einen Nahschuss
handelt, zunächst an Selbstmord denken und in diesem Sinne auch
unser Gutachten abgeben.
Es ist jedoch nicht unwichtig zu wissen, dass Abweichungen von
dieser Norm in dem Sinne Vorkommen, dass Selbstmörder zuweilen
die Waffe an Stellen anlegen, die für den ersten Anblick so unge¬
wöhnlich erscheinen, dass man leicht in der Diagnose irre gehen
kann, besonders wenn der Fall sonst nicht aufgeklärt ist und dem
begutachtenden Arzte keine anamnestischen Daten hilfreich zur Seite
stehen.
Yierteljahrochr. f. ger. Med. Dritte Folge. V. 2.
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Dr. Haberda,
Ich will mich hier nur auf Kopfschüsse beziehen und die dies¬
bezügliche Casuistik durch mehrere im Wiener medicinisch-forensischen
Institute zur Beobachtung gekommene Fälle bereichern.
Schon im Jahre 1884 hat vonMaschka 1 ) zwei Fälle von zwei¬
fellosem Selbstmord durch Schuss veröffentlicht, in deren einem die
Einschussöffnung im linken Scheitelbein nahe dem Winkel zwischen
dem hinteren Ende der Pfeilnaht und der Spitze des Hinterhaupt¬
beines sass, während im anderen eine einem Einschuss entsprechende
Knochensplitterung im linken Scheitelbein entsprechend der Pfeilnaht
und 15 mm über der Spitze der Lambdanaht sich vorfand. Nur im
ersteren der beiden Fälle penetrirte der Schuss und wirkte tödtlich,
während im anderen erst durch einen zweiten in die linke Brust ab¬
gegebenen Schuss der Tod herbeigeführt wurde.
Ein von mir im Sommer 1891 beobachteter und secirter Fall gleicht fast
völlig dem ersteren Maschka’s:
Am 26. August v. J. wurde mir die Leiohe eines etwa 30 Jahre alten un¬
bekannten Mannes zur sanitätspolizeilichen Beschau vorgelegt.
Die Untersuchung ergab: Körper 163 cm lang, kräftig gebaut, musoulös,
todtenstarr. Aus den Nasenöffnungen und dem linken Ohre entleert sich Blot.
Das rechte obere Augenlid stark geschwellt, weich, schwarzblau; ebenso die Haut
am linken inneren Augenwinkel. Nach innen vom linken Stirnhöcker eine linsen¬
grosse, braunrothe und darunter eine kreuzergrosse, bläulich rotbe Hautvertrock¬
nung, welche beide beim Einschneiden weithin suffundirt sind. Beide Hand¬
rücken, besonders der linke, stark mit einer dünnen Schicht ge¬
ronnenen Blutes bedeokt; Pulverschwärzungen oder -einsprengungen an
den Händen nicht vorhanden. Sonst war am Körper vorläufig keine weitere Ver¬
letzung auffindbar. Da ich aber an Schuss in den Kopf dachte, suchte ich diesen
— auch die Muudhöhle — genau ab und da fand sich dann am Hinterkopfe
unter dem Haarwirbel eine rundliche, für die Fingerkuppe passirbare Oeffnung
mit intensiv geschwärzten Rändern, von der drei je 1 cm lange Strahlen stern¬
förmig nach oben, unten und rechts abgingen. Von dieser Wunde aus gelangte
man in einen in den Schädel sich fortsetzenden fingerweiten Canal, aus dem sich
Blut und geschwärzte Hirntrümmer entleerten. Die Haare in der Umgebung
der Wunde waren nicht versengt.
Aus diesen Befunden war es klar, dass es sich um einen aus
unmittelbarster Nähe gegen das Hinterhaupt abgefeuerten Schuss
handle.
Die polizeilichen Erhebungen stellten den Selbstmord ausser
Frage. Der Mann hatte sich des Abends in einem stark besuchten
') Prager med. Wochenschrift. No. 17 des IX. Jahrg.
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Atypische Lage d. Einschussöffnung b. Selbstmord durch Schuss in d. Kopf. 223
Pratercafö, aut einem Stuhle sitzend, erschossen. Nachdem die De¬
tonation erfolgt war, sah man ihn vom Stuhle sinken und die als¬
bald erschienene polizeiliche Commission fand noch in der fest ge¬
schlossenen Rechten die Schusswaffe, eine doppelläufige Pistolo von
9 mm Caliber. Die Durchsuchung seiner Kleider ergab unter Anderem
eine Schachtel zur Pistole passender Patronen und eine Correspon-
denzkarte, auf der er Nothlage als Grund des Selbstmordes angiebt.
Die Section zeigte nun folgendes:
Die Schädeldecken über der ganzen Convexität mit geronnenem Blute unter¬
laufen; ebensolche Blutaustritte auch unter dem Periost und unter den Schläfe¬
muskeln. Am Vereinigungspunkt der Pfeil- und Lambdanaht eine unregelmässig
ruudliche, aussen scharfrandige und nach innen abgeschrägte, bis 12 mm weite,
stark geschwärzte Oeffnung (siehe Figur l) 1 ), in deren Umkreis die Schädel¬
decken in thalergrossem Umfang von Pulver intensiv geschwärzt sind, doch so,
Fig. 1
dass die Einschussöffnung excentrisch, näher der oberen Circumferenz der rund¬
lichen Schwärzung liegt. Nach Ablösung des Periostes erweist sich das Schädel-
l ) Die Zeichnungen verdanke ich meinem Freunde Dr. v. Friedländer.
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Dr. Haberda,
dach fast vollständig abgesprengt und zwar beiläufig entsprechend jener Circum-
ferenz, in der man es bei Sectionen aufzusägen pflegt. Der Sprung klafft am
stärksten an der Stirne, ist daselbst über der Glabella fast horizontal und steigt
dann fast symmetrisch nach beiden Seiten über den Arcus superciliares durch
das Stirnbein nach hinten (siehe Figur2), dann durch den grossen Keilbeinflügel
und die Schläfeschuppen. Links geht nun dieser Sprung in der Schläfeschuppe
in eine im hinteren Antheil derselben gelegene, fast senkrechte Fissur über,
welche auf die Schädelbasis sich fortsetzt, während ihr rechter Antheil durch die
Schläfeschuppe hindurch in eineDiastase der rechten Lambdanaht und der Sutura
occipitomastoidea übergeht (Figur 1). Nur links hinten besteht noch durch die
unversehrte linke Lambdanaht ein fester Zusammenhang zwischen Schädeldach
und -basis.
Fig. 2.
Unter der Knochenlücke zeigt die Dura einen schlitzförmigen Einriss mit
stark geschwärzton Rändern, durch den man in einen fingerweiten, von stark
geschwärzten Hirntrümmern erfüllten Schusscanal gelangt, der mit einer rinnen¬
förmigen Aufschlitzung der Innenseite des linken sowohl als besonders des
rechten Hinterhauptslappens beginnt und in der Richtuog von links hinten nach
rechts vorne und etwas nach unten unter den Ventrikeln durch das Gehirn ver¬
läuft und nach einer oberflächlichen Zertrümmerung des rechten Brückenrandes
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AtypisoheLage d. Einschussöffnung b. Selbstmord durch Schuss in d.Kopf. 225
hinter dem Chiasma nervorum opticorum endet. Hier liegt in einem 1 cm langen
Sohlitz der basalen Dura vor dem Foramen jugulare dextrum die stark deformirte
Spitzkugel mit 8 und 10 mm Durchmesser ihrer Basis. Nachdem die harte Hirn¬
haut von dem Schädelgrunde abgelöst war, sah man, dass die beschriebenen
Sprünge sich sämmtlich auf die Basis fortsetzen und mit Brüchen der Orbital¬
dächer und des Keilbeinkörpers endigen. Das Ende des Schusscanales ist am
Knochen durch eine Absprengung der Spitze der rechten Schläfebeinpyramide
bezeichnet. Zwischen den Hirnhäuten überall ausgebreitete Hämorrhagien.
Die weitere Section ergab ausser Ecchymosen an der Mundschleimhaut und
am Herzen, einem kleinen Tbymusrest und geringgradigen Potatorenbefunden an
Leber, Magen und Gekrösfett nichts Bemerkenswerthes.
Am macerirten Sohädel sieht man, dass die Fracturen der Schädelbasis auf
beide Oberkieferkörper sich fortsetzen.
Die doppelläufige Pistole war eine fast neue Waffe. Beim Ver¬
gleich beider Läufe erweist sich der rechte intensiv geschwärzt, wäh¬
rend der linke ziemlich rein war, so dass man in ihm die Züge ohne
Weiteres verfolgen kann. Auch das spricht dafür, dass der Mann
mit der rechten Hand abfeuerte, während die linke die Waffe
offenbar so fest an den Schädel andrückte, dass die ganze
Ladung unmittelbar in die Schädolhöhle eindrang. Es er¬
klärt sich so der völlige Mangel von Versengung der Haare um den
Einschuss herum, das Fehlen von Schwärzung und Pulvereinsprengung
an den Händen, die jedoch beide — besonders die linke — mit ge¬
ronnenem Blute besudelt waren. Auch die starke Schwärzung des
Schusscanales, die sich tief hinein erstreckte, ist so leicht begreiflich,
ebenso wie die fast völlige Absprengung des Schädeldaches und die
sonstigen reichlichen Fissuren durch den Druck der im Schädelraum
zur Wirkung gelangten vollen Pulvergase ungezwungen sich erklärt.
Wenn man dieselbe Waffe am eigenen Hinterkopf anzulegen ver¬
sucht, so sieht man, dass dies ganz leicht sei. Ein Selbstmord auf
diese Weise ist also zwar ein seltenes Ereigniss; doch zeigt dieser
Fall, dass wir selbst bei so absonderlichem Sitze der Einschuss¬
öffnung nicht ohne Weiteres auf das Einwirken einer zweiten Person
denken dürfen.
Unser Museum beherbergt noch weitere Präparate von atypischem
Sitz der Einschussöffnung am Kopfe von Selbstmördern.
So sitzt am Schädeldach eines 41jährigen Mannes, der sich im Angast
1883 entleibte, der Einschass im vorderen oberen Winkel des rechten
Scheitelbeines, 1 cm nach aussen von der Pfeilnabt and 3 mm hinter der
rechten Kranznahthälfte. Die Oeffnang ist kreisrund, 17 mm weit, die Ränder
aassen scharf, nach innen terrassenförmig abgesohrägt. Das Stirnbein ist durch
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Dr. Haberda,
einen dasselbe balbirenden und vollständig durchsetzenden Spruog gespalten.
Das Projectil ist eine stark plattgedrückte Spitzkugel mit 8 und 10 mm Duroh¬
messer an der Basis. Die kurzen Angaben, die über diesen Fall im Museum -
katalog eingetragen sind, erweisen ihn als Selbstmord. —
In einem weiteren Falle von Selbstmord sehen wir die Einschussöffnung
gerade am rechten Tuber parietale. Der Sobädel stammt von einem jungen
Menschen, der seine Geliebte und dann sich erschoss. Am Schädel der ersteren
liegt der Einschuss hinter und über dem rechten Warzeofortsatz, zeigt deutliche
Abschrägung nach innen und ist mit Fissuren der Basis cranii combinirt. —
Dass aber auch beim Selbstmofd der Einschuss in der Nähe des
Warzenfortsatzes gefunden werden kann, beweist uns ein im Museum auf¬
bewahrtes, von einem Selbstmörder stammendes Koochenstück, wo eine 7—8 mm
weite, nach innen abgeschrägte Schusswunde gerade hinter der Basis
des rechten Warzenfortsatzes sitzt. —
Neuerdings kam im Institute noch ein weiterer hierhergehöriger Fall zur
Beobachtung:
Ein junger Mann von etwa 18 Jahren erschoss sich in einem Hötel. Seine
Kopfhaare sind stark mit Blut verunreinigt. Drei Queiflnger hinter der vorderen
Haarwuchsgrenze und zwei Querfinger nach rechts von der Mittellinie des Kopfes
siebt man zwischen den durch Blut verklebten Haaren eine unregelmässig rund¬
liche, zackig gerandete, 4 mm weite geschwärzte Oeffnung, in deren Umgebung
die Haare deutlich versengt sind. Aus der Oeffnung entleert sich Blut. Die
Seotion zeigte, dass die Schädeldecken an dieser Stelle mit Blut unterlaufen und
stark geschwärzt waren. Im Stirnbein, l’/j Querfinger naoh rechts von
dessen Mitte und 1 Querfinger vor der Kranznaht eine runde, fast
kreuzergrosse Einschussöffnung. Das Projectil durchdrang Meningen und Hirn
und lag an der Basis des letzteren innerhalb des Circulus arteriosus Willisii, ohne
an der Schädelbasis den Knochen irgend zu verletzen. Es ist eine 7 mm breite
Spitzkugel, deren Spitze gekrümmt und breit gedrückt ist. —
Als Gegenstücke zu den erwähnten Präparaten weist die hiesige Sammlung
mehrere Schädel auf, die von Mord fällen herrühren und an denen sich der Ein¬
schuss an ähnlich gelegenen Stellen findet, wie in den angeführten Selbstmorden.
So finde ich unter anderen das Schädeldach eines von Anarchisten erschossenen
Detectives, wo eine typische kreuzergrosse Einschussöffnung in der linken
Kranznahthälfte, 2om nach links von dem vorderen Ende der Pfeil¬
naht sitzt, und von der ein klaffender Knochensprung naoh rechts hinten bis
iu’s Hinterhauptbein abgeht. —
Am Schädel eines ermordeten Mädchen sitzt der Einsohuss im linken
Scheitelbein etwas vor und über dem Tuber parietale.
Es beweisen also diese angeführten Fälle wohl zur Ge¬
nüge, dass bei einer Kopfschusswunde die Stelle des Ein¬
schusses allein kein Kriterium zwischen Mord und Selbst¬
mord abgiebt, und dass demnach in einem concreten Falle, wenn
auch die Zeichen des Nahschusses z. B. durch Fäulniss verschwunden
sind und nur die Knochen zur Begutachtung vorliegen, selbst bei
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UNIVERSUM OF IOWA
(I
Atypische Lage d. Einschussöffnung b.Selbstmord durch Sohuss in d. Kopf. 227
für Selbstmord ganz ungewöhnlichem Sitz der Verletzung, immer die
Möglichkeit eines Selbstmordes zugegeben und mindestens ein unbe¬
stimmtes Gutachten abgegeben werden muss, es sei denn, dass die
Umstände des Falles und sonstigen Erhebungen zu einer bestimmten
anderen Deutung zwingen. Denn schliesslich giebt es am Kopfe spe-
ciell keine Stelle, wo der Selbstmörder nicht, wenn auch nur mit
etwas complicirter Handstellung, die Schusswaffe anlegen könnte.
Maschka’s diesbezügliche Forderung kann demnach nur auf andere
Körperregionen — besonders die Rückseite des Rumpfes — Bezug
haben. Dass aber natürlich auch in einem ganz frischen Falle nur
beim Zusammenhalt aller anatomischen Befunde (Nahschuss, Ver¬
halten der Hände, fehlende Zeichen der Gegenwehr u. s. w.) und ge¬
nauer Erwägung der Umsiände ein bestimmtes Gutachten auf Selbst¬
mord wird abgegeben werden können, ist klar und gilt ja Für alle
Selbstmordarten.
Schliesslich möchte ich noch die Beschreibung einer Schussver¬
letzung anfügen, die viel Interessantes bietet, und die mir Herr k. und
k. Regimentsarzt Dr. E. Faulhaber, Chefarzt im Garnisonsspital
No. 1 in Wien, gütigst zur Veröffentlichung überlassen hat, wofür ich
ihm nochmals bestens danke.
Zunächst die Geschichte des Falles:
An einem bestimmten Tage ihres dritten Dienstjahres pflegen sich die Sol¬
daten in Wien so in ihre Betten zu legen, dass sie mit den Köpfen am Fussende
ihrer Betten ruhen. Wenn demnach im Zimmer links und rechts Beltreihen
stehen, sehen die Köpfe der Soldaten in’s Innere des Zimmers. So geschah es
auch am 19.März 1891. Da erschoss sich um x / i \ Uhr Nachts der Oberkanonier
Wilhelm Sch. mit seinem Dienstgewehr, einem Werndlgewehr mit 11 mm
Kaliber, indem er es unter der linken Clavicula anselzte. Der Sohuss tödtete
ihn sofort; dasProjectil verliess seinen Körper am Innenrand des linken Schulter¬
blattes, traf dann den gegenüberliegenden Unterkanonier Franz Cb.
in den Kopf und verletzte schliesslich noch dessen Naohbar am
Arm. Franz Ch. starb 6 Stunden nach der Verletzung. Beide Leichen wurden
am 21. März von Herrn Regimentsarzt Dr. Faulhaber gerichtlich obducirt.
Interessant ist die Schädelverletzung des Franz Ch. Am behaarten Kopf,
auf der Scheitelhöhe, fand sich links neben der Mittellinie eine vierstrahlige Haut¬
wunde. Unter derselben im linken Scheitelbein ein 5 om langer und 2cm breiter
Substanzverlust, der schräg von rechts hinten nach links vorn verläuft und dessen
hinteres Ende 1,5 om nach links von der Pfeilnaht und 3,5cm hinter der Kranz¬
naht liegt, während sein vorderes Ende bis nabe an den linken Coronarnaht-
scheohel heranreicht und sich dabei auf 3,5 cm nach links von der Pfeilnaht ent¬
fernt. Im Ganzen stellt die Verletzung ein Rechteck dar, dessen
lange Seitenränder ebenso wie der kurze IIinterrand aussen soharf,
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228
Dr. H&berda,
unregelmässig gezackt und deutlich nach innen terrassenförmig
abgeschrägt sind, während der an die Kranznaht grenzende Vorder¬
rand innen eher scharf ist und nach aussen sich etwas abschrägt.
Die hintere Begrenzung des Defectes ist von einem haarfeinen Riss in der äusseren
Glastafel fast vollständig umsäumt.
Unter der Knochenverletzung fand sich die harte Hirnhaut zerrissen, das
linke Stirn- und Schläfehirn zertrümmert, ebenso die linken Stammganglien. Alle
diese Thoile stark mit Blut unterlaufen Die Basis cranii war unversehrt. Von
dem Loch im Scheitelbein gehen fünf Fracturen des Schädeldaches
strahlig aus: Die eine nach rechts; sie durchsetzt die Pfeilnaht und das rechte
Scheitelbein und endet am rechten Tuber parietale. Zwei gehen von der linken
Breitseite des Defectes aus und durchsetzen das linke Scheitelbein; sie sind dnrcb
eine fast horizontale Fissur verbunden, so dass sich zwischen ihnen ein etwa
dreieckiges Knochenstück völlig losgelöst befindet. Von der hinteren dieser
beiden Fissuren geht ausserdem noch ein feinerSprung nach oben und rückwärts
gegen das hintere Ende der Pfeilnaht. Auch der vierte und fünfte Hauptstrahl,
die durch das Stirnbein gehen, sind durch eine schrägeQuerfissnr verbunden und
schliessen so ein trapezförmiges Knochenstück zwischen sich ein, welches mit
seiner linken unteren Ecke die Haut über der linken Augenbraue durchbrochen
hatte. Die aus der grossen Knochenlücke ausgeschlagenen Stücke fanden sich —
bleigrau verfärbt — in den zertrümmerten Hirnpartieen.
Wir haben es hier also mit einem Schuss zu thun, welcher den Schädel
nicht durchsetzte, sondern denselben nur tangential — in der Richtung von
rechts hinten nach links vorn — traf und gleichsam rinnenförmig aufschlitzte.
Zugleich sehen wir an der so entstandenen Knochenlücke neben einander die
Merkmale des Ein- und Ausschusses, allerdings die Zeichen des letzteren nur an
einer kleinen Stelle.
Ich glaube, dass ein solcher Befund bei gleichzeitigem Fehlen
des Projcctiles und dem Mangel einer typischen Ausschussöffnung die
Diagnose einer Schussverletzung, speciell eines solchen Rinnenschusses,
in einem weiteren ähnlichen Falle ermöglichen würde, wenn auch die
Umstände nicht so klar lägen, wie in dem beschriebenen, wo das
Projectil noch ein anderes Individuum traf und verwundete. Die un¬
regelmässige Zertrümmerung von Hirnpartieen, allenfalls eine bloss
oberflächliche etwa im Bereiche der Schädelzertrüramerung gelegene
Aufschlitzung der Hirnrinde könnte in einem solchen Falle noch
weiter aufklärend wirken.
Es ist übrigens nicht zu leugnen, dass auch durch eine stumpfe
oder stumpfkantige Gewalt eine dieser Schussverletzung ähnliche
Schädelzertrümmerung entstehen könnte und dass allenfalls bei voll¬
ständig unaufgeklärten Umständen des Falles bei einer solchen Wunde
leicht ein Irrthum in der Diagnose des verletzenden Werkzeuges zu
Stande kommen könnte. Hier hätte der Umstand, dass die Verletzung
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Atypische Lage d.Einsohnssöffnung b. Selbstmord durch Schuss in d.Kopf. 229
die Zeichen des Ein- und Ausschusses neben einander bot und die in
das Gehirn deprimirten, aus der Knochenlücke stammenden Knochen¬
stückchen eine bleigraue Verfärbung aufwiesen, jedenfalls zur richtigen
Deutung führen müssen.
Hervorzuheben sind noch die ausgebreiteten Sprünge im Schädel¬
dach. Sie können hier wohl nach keiner der — übrigens noch nicht
geklärten — Theorieen der Geschosswirkung erklärt werden, ausser
auf mechanische Weise. Wir müssen uns vorstellen, dass das Pro-
jectil wie ein stumpfes Werkzeug wirkte, welches den Schädel in der
Richtung des Aufschlages coraprimirte und in der darauf senkrechten
über die Elasticitätsgrenzen ausbog, so dass hier die Knochen ein-
rissen und nach dem Angriffspunkt ausstrahlende Knochensprünge
entstanden. Diese Erklärung giebt von Hofmann für das Zustande¬
kommen der Knochensprünge am Schädel bei Einwirkung stumpfer
und ähnlicher Gewalten, und sie ist wohl für gewisse Fälle, besonders
wenn sich isolirto, mit der Angriffsstelle der Gewalt nicht zusammen¬
hängende Fissuren finden, die einzig mögliche.
II.
Selbsterdrosseluog eines Alkoholikers.
E. W., 34 Jahre alt, wurde am 1. August 1891 der psychia¬
trischen Klinik des allgemeinen Krankenhauses in Wien eingeliefert.
Hier benahm er sich sehr unruhig und tobte besonders am Abend
sehr heftig in der Isolirzelle. Indessen spielten seine Wärter am
Gange vor der Zelle Karten und kümmerten sich um den Tobenden
selbst dann nicht, als ihnen ein zwar reizbarer, aber urtheils-
fähiger anderer Patient, der den E. W. durch das Guckloch beob¬
achtete, meldete, dass jener sich am Boden wälze und mit den
Händen an seinem Halse hantire. Dies geschah gegen 9 Uhr
Abends. Bald darauf wurde es in E. W.’s Zelle ruhig. Als nun um
10 Uhr Nachts der diensthabende Assistent Dr. M. die Runde machte,
fand er E. W. todt und ausgekleidet am Fussboden. Sein Gesicht
war congestionirt, an den Bindehäuten kleine Ecchymosen, vor Mund
und Nase Blut. Der Nacken war bereits rigid. Am Halse verlief
eine deutliche, ganz frische, offenbar von einem breiten
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230
Dr. Hab erd a.
Umschnüruogsroittel herrühronde Strangfurche. Dr. M. be¬
kam sofort den Eindruck, dass es sich um Selbsterdrosselung handele
und erfuhr nun auch die eingangs geschilderten Begebenheiten. Erst
jetzt gaben die Wärter an, dass E. W. einen aus dem Rückentheil
seines durch Urin ganz durchnässten Spitalshemdes gerissenen breiten
Streifen um den Hals gehabt habe, doch sei derselbe nicht geknüpft,
sondern mittelst einfacher Schlinge zugezogen und leicht abnehmbar
gewesen.
Am 4. August nahm ich die gerichtliche Obduction der Leiche
des E. W. vor. Sie ergab im Wesentlichen:
Kräftiges Individuum. Gesicht nur im Stirntheil und in den ab¬
hängigen Partieen bläulichroth, sonst eher blass. In der Stirnhaut,
besonders links, ziemlich zahlreiche Ecchymosen. Beide Lider etwas
gedunsen, von zahlreichen winzigen Blutaustritten durchsetzt, die
Bindehäute stärker injicirt mit sehr zahlreichen flohstichförmigen
Ecchymosen; überdies rechts ein linsengrosser Blutaustritt in der
Conjunctiva bulbi am inneren Augenwinkel. In den Nasenöifnungen
reichliches Blut angetrocknet. Lippen geschwollen, ihre Schleimhaut¬
fläche blauroth, von zahlreichen mohnkerngrossen Blutaustritten durch¬
setzt. Daselbst auch zwei horizontal gestellte, seichte, je 6 mm lange
Schleimhautwunden. Auch am Uebergang in die äussere Haut ist die
Schleimhaut stellenweise abgängig und entleert sich daselbst etwas
Blut.
Am Vorderhalse ist die Haut zwischen den Kopfnickern
unterhalb der halben Halshöhe in’s Grauviolette verfärbt.
Rechts rückwärts über dem M. cucullaris ein fingerbreiter,
nicht vertiefter, blasser Streifen.
Links vom Kehlkopf mehrere rundliche und oberhalb des rechten
inneren Schlüsselbeinendes mehrere bis 7 mm lange streifenförmige,
braunroth vertrocknete Hautabschürfungen. Eine weitere solche, 1 cm
lange und 1 mm breite, senkrecht gestellte über dem rechten Sterno-
claviculargelenke und eine 2,5 cm lange, 1 mm breite, rothe, von
winzigen Blutaustritten durchsetzte, horizontale quer über dem rechten
Kopfnicker. Auch links drei Querfinger über dem Schlüsselbein eine
vertrocknete Hautabschürfung. Die Hinterseite beider Ellbogengelenke
und eine kreuzergrosse Stelle am oberen Drittel des linken Vorder¬
armes bläulich verfärbt und beim Einschneiden in dünner Schicht mit
geronnenem Blute unterlaufen.
Die Schädeldecken blutreich mit zahlreichen bis halbkreuzer-
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Selbsterdrosseltmg eines Alkoholikers.
231
grossen dünnen Blataustritten. Ueber beiden Scbeitelhöckern und über
dem Stirnbein thalergrosse Blutaustritte unter der Beinhaut, unter
denen der Schädelknochen unverletzt ist.
Hirnhäute und Hirn blutreich, die ersteren am Scheitel verdickt
und getrübt, ödematös. In den Blutleitern flüssiges Blut.
Unter der Halshaut findet sich drei Querfinger unter
dem rechten Unterkieferwinkel eine kreuzergrosse Unter¬
laufung mit geronnenem Blute. Eine ähnliche solche Suf-
fusion, doch in dünnerer Schicht, unter der Scheide des
rechten M. sternothyreoideus, sowie beiderseits in den Mm.
cricothyreoideis. Die Seitentheile des Ringknorpels nach
Entfernung der sie bedeckenden Musculatur bläulich durch¬
scheinend und unter dem Perichondrium beiderseits ein
flacher, über linsengrosser Blutaustritt, unter dem sich
links und rechts ein je 1 cm langer, zackiger, von aussen
oben nach innen unten schräg verlaufender Sprung im Ring¬
knorpel findet. Je ein kleiner Blutaustritt auch im Liga¬
mentum hyothyreoideum beiderseits.
Der Schildknorpel und seine Hörner, ebenso das Zungenbein und
die Innenwand der grossen Halsgefässe unversehrt.
Die Schleimhaut des Rachens dunkelviolett, spärlich ecchymosirt.
In der Luftröhre etwas blutig gefärbter Schleim. Die Schilddrüse in
beiden Lappen über hühnereigross, grobkörnig, blutreich. Lungen
blutreich, Herz schlaff, ecchymosirt, flüssiges Blut enthaltend.
Leber, Magenschleimhaut und Fettgewebe zeigten die gewöhn¬
lichen Befunde bei Alkoholikern. Nach Herausnahme der Eingeweide
fand sich noch rechts im Zellgewebe über der Vorderseite
der Halswirbelsäule ein kleiner flacher Blutaustritt.
Der anatomische Befund stellte somit den Erstickungstod durch
Strangulation ausser Frage. Wenn auch bei der Obduction eine deut¬
lich ausgeprägte Strangfurche nicht mehr zu sehen war, so war deren
frühere Anwesenheit doch durch die verlässliche Beobachtung des
Dr. M. sicher gestellt. Dass eine durch ein breites weiches Strangu¬
lationswerkzeug, wie es hier vorlag, erzeugte Strangfurche an der
Leiche leicht und bald verschwindet, ist ja eine bekannte Thatsache.
Uebrigens können Spuren derselben in dem grauvioletten Streifen am
Vorderhalse und in dem blassen seitlichen vermuthet werden. Bei
den Umständen, unter denen sich der Tod des E. W. ereignete, dem
Befunde am Halse, den Erstickungskennzeichen, war also im Vereine
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232
Dr. Haberda,
mit der bald nach dem Tode constatirten Strangfurche nicht zu zwei¬
feln, dass sich der Untersuchte mittelst besagten Hemdstreifens selbst
erdrosselt habe und demnach auch ein dahin lautendes Gutachten ab¬
gegeben.
Die Möglichkeit des Selbstmordes durch Erdrosseln ist ja schon
längst zugegeben und die von von Hofmann') angeführten Gründe
widerlegen schlagend die früher gegen diese Möglichkeit erhobenen
Bedenken. Dass sich Verletzungen der Halsorgane gerade beim Er¬
drosseln häufig finden, erklärt sich — wie von Hofmann ausfuhrt —
hauptsächlich daraus, dass hierbei das Strangulationswerkzeug zumeist
auf den Keblkopt selbst zu liegen kommt und demnach nicht eine
blosse Zerrung nach oben — wie beim Erhängen' — sondern eine
directe Quetschung der Halsgebilde, namentlich des Larynx, statthat.
So erklärt sich auch in unserem Falle die Suffusion unter der Haut,
den Muskelscheiden, dem Perichondrium, sowie der Doppelbruch der
vorderen Ringknorpelspange nur durch die mit dem Hemdstreifen er¬
zeugte kräftige horizontale Constriction des Halses.
Langreuter 2 ) meint zwar, dass zahlreiche Selbsterdrosselungs¬
versuche deshalb nicht zum Ziele führen, weil das Strangulations¬
werkzeug zumeist auf den Kehlkopf zu liegen komme und so die
Compression — wie er durch Leichenversuche zeigt — selbst bei
starker Krattanwendung kaum zum vollständigen Abschluss der Luft¬
wege führe. Für breite und weiche Strangulationsmittel aber muss in
Betracht kommen, dass sie wegen ihrer Breite ausser dem Larynx
auch oberhalb und unterhalb desselben gelegene Theile comprimiren
können, so dass dann natürlich der vollständige Luftabschluss viel
leichter und rascher erfolgen kann.
Diese Vermuthung möchte ich speciell für meinen Fall aus¬
sprechen, wo sich die Verletzungen nicht nur in verschiedenen
Schichten, sondern auch in verschiedener Höhe fanden.
Einigermassen auffällig war die Angabe der Wärter, dass der
Hemdstreifen nicht geknüpft, sondern in einer einfachen Schlinge zu¬
gezogen gewesen sei. Selbst wenn man dieser Angabe Glauben
schenkt, ist an der Erdrosselung nicht zu zweifeln, wie uns ein gleich
damals angestellter Leichenversuch lehrte. Wir enthirnten und tra-
cheotomirten eine Leiche, legten die Carotiden bloss und banden in
*) Wiener medicinische Presse. 1879. No. 1, 2, 3, 4, 5 und 6.
2 ) Diese Vierteljahrsschrift. N. F. Bd. 45. S. 295 u. ff.
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Selbsterdrosselung eines Alkoholikers.
233
sie Canölen ein. Nun konnte man durch die Luftwege und die Hals-
gefässe ganz leicht mittelst einer Spritze Wasser durchtreiben 1 ).
Wenn man nun einen jenem Hemdstreifen analogen Leinwandstreifen
um den Hals der Leiche legte und nach einfacher Schlingenbildung
an den Enden kräftig anzog, vermochte man einen solchen Abschluss
der Luftwege und Gefässe zu erzielen, dass nur mit der grössten —
in Wirklichkeit nicht in Betracht kommenden — Kraft mittelst der
Spritze Wasser durchzubringen war. Zugleich überzeugten wir uns,
dass, wenn das Tuch nass« gemacht war, das kräftige Zuziehen der
Schlinge zwar mehr Kraft erforderte, dafür aber die nicht geknotete
Schlinge so fest sass, dass sie von selbst nicht aufging und auch nur
schwer gelockert werden konnte.
Der Obducirte war ein sehr kräftiges Individuum. Ueberdies ist
ja bekannt, dass Geisteskranke bei der Ausführung des Selbstmordes
grosse Kraft und Ausdauer bekunden, — und auch E. W. soll längere
Zeit an seinem Halse herumgethan haben, wobei offenbar die be¬
schriebenen zahlreichen Hautkratzer am Halse entstanden sind.
‘) Diesen Leichen versuoh macht von Hof mann alljährlich, am seinen Hörern
den Qefäss- und Respirationsabschlass hei der Saspension zu demonstriren.
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2 .
(Aus dem Institut für Staatsarzneikunde in Berlin):
Heber die Ursachen des FlAssigbleibens des Blutes bei der
Erstieknig und anderes Ttdesarten.
Von
Dr. Ctftbrlel Co rin aus Lüttich.
Es ist eine wohlbekannte Thatsache, dass das Blut bei den Er¬
stickten meistens flüssig oder halbflüssig erscheint.
Plenk 1 ) und Müll-er 2 ) sind die Ersten, welche diese eigentümliche Be¬
schaffenheit als ein charakteristisches Zeichen des Erstickungstodes beschrieben
haben. Schon vorher hatte Pyl 3 ) diesen Befand bei einem Erstickten gemacht:
„Beyde ventriculi cordis waren mit Blut, welches nicht coagalirt war, angefällt.“
Seitdem ist diese Erscheinung von verschiedenen Autoren wiederholt be¬
stätigt geworden.
Uebrigons sei schon bemerkt, dass in mehreren Fällen diese Beschaffenheit
keine vollkommen flüssige ist. Wie Haekel 4 ) es noch neuerdings constatirt hat,
sind häufig mehr oder weniger entwickelte, wenn aach weiohe, rothe Gerinnsel
im Blute zu beobachten.
Hofmann 3 ) hat darauf hiogewiesen, dass dieses Flüssigbleiben der Er¬
stickung nicht eigenthümlich ist. Vielmehr sei es bei den meisten acuten Todes¬
arten zu finden.
Ob in der Tbat der Grund dieser Erscheinung in der Abwesenheit der dem
1 ) Anfangsgründe der gerichtlichen Arzneywissensohaft. S.46. Wien 1802.
2 ) Entwurf der gerichtlichen Arzneywissensohaft. S. 32. Frankfurt a. M.
1802.
3 ) Aufsatze, Sammel. S. 72.
4 ) Ein Beitrag zum Erhängungs- und Erstiokungstode im engeren Sinne.
Dissert. Dorpat 1891.
B ) Lehrbuch der gerichtlichen Medicin. 5. Aufl. S. 508.
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Ueber die Ursachen des Flüssigbleibens des Blutes bei der Erstickung. 235
gewöhnlichen subacnten Tode vorangehenden Leukocytose za sehen ist, wie von
Hofmann es annimmt, mag zunächst dahingestellt bleiben.
Die bisherigen Theorien dor Blutgerinnung sind nun nicht im Stande diese
Erscheinung befriedigend zu erklären.
Wenn man mit Brücke annimmt, dass wirksame Lebenseigenschaften der
Gefässwände, welche die Blutgerinnung verhindern, auch eine Zeit nach dem
Tode fortbestehen, so sollten doch diese Eigenschaften schliesslich verloren gehen
and die Blutgerinnung, wenn auch etwas später, eintreten.
Wenn ein Ueberschuss Kohlensäure, nach Al. Schmidt, die fibrino-
plastische Substanz niederzuschlagen und in dieser Weise einen der Hauptfac-
toren der Gerinnung inactiv zu machen vermag, so hat Pflüger ja bewiesen,
dass das Blut nicht wesentlich mehr C0 2 in der Asphyxie als in den anderen
Todesarten enthält.
Später hat Hammarsten bewiesen, dass diese fibrinoplastische Substanz
zwar den Gerinnungsprocess befördert, aber für denselben nicht unentbehr¬
lich ist.
Da wir ans in einer anderen noch nicht veröffentlichten Arbeit
schon mit der flüssigen Beschaffenheit des Blutes bei Phosphorver-
giftnng beschäftigt hatten, schien es uns interessant, dieselbe Er¬
scheinung bei den Erstickten zu studiren.
Im hiesigen Institute hatten wir die günstigste Gelegenheit, viele
Erstickte oder plötzlich Gestorbene zu sehen und Herr Privatdocent
Dr. Strassmann hat uns in liebenswürdigster Weise sein Laboratorium
und die Ergebnisse seiner eigenen Erfahrung zur Verfügung gestellt,
wofür es uns erlaubt sei, hierselbst unseren besten Dank auszu¬
sprechen.
Die hier obducirten Leiehen sind meistens drei oder noch mehr
Tage alt. Wenn es sich um Erstickte oder plötzlich Gestorbene han¬
delt, findet man in den Herzhöhlen derselben entweder flüssiges Blut
oder lockere, weiche, rothe Blutgerinnsel, welche in einer blutigen
Flüssigkeit schwimmen. Aber selbst bei protrahirtera Verlaufe des
Todeskampfes, wo man in den Herzhöhlen und in den grossen Ge¬
lassen feste, weisse. Gerinnsel findet, ist auch neben denselben mehr
oder weniger rothes flüssiges Blut zu beobachten.
Es fragt sich nun, ob dieses Blut die zur Gerinnung nothwen-
digen Elemente enthält, und es war besonders interessant, die alte
Schmidt’sche Theorie einer weiteren Prüfung zu unterwerfen. Für
die Gerinnung kommen darnach besonders Fibrinogen und Paraglo¬
bulin in Betracht. Wenn sie in einer Flüssigkeit mit einer genügen¬
den Menge Salze in Berührung kommen, so tritt Coagulation ein.
Das Blut, welches wir bei den Leichen gewinnen konnten, war
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236
Dr. Corin,
niemals gerinnungsfähig. Nur einmal erfolgte die Gerinnung 2 Tage
nach der Obduction. Wir machen auf diesen Umstand besonders auf¬
merksam, da von Hofmann') behauptet, dass „das aus den Gefässen,
sowohl während des Lebens, als auch nach dem Tode gelassene Blut
gerinnt (allerdings das erstere rascher und intensiver).“ Es ist uns
wahrscheinlich, dass diese postmortale Gerinnung nur bei ganz frischen
Leichen vorkommt; denn es ist in unseren älteren Fällen niemals
(ein Mal ausgenommen) uns gelungen, selbst nach acht Tagen eine
Gerinnung zu beobachten.
Aus dieser Thatsache darf man aber nicht von vornherein
schliessen, dass die qualitative Zusammensetzung des Blutes wesent¬
lich verändert ist. Das Fibrinogen z. B. ist zweifellos vorhanden.
Allerdings ist der Beweis desselben etwas schwierig. Im Anfang ge¬
lang dieser Beweis uns nur, indem wir seine Fähigkeit bei 57° 0. zu
gerinnen benutzten. Fredericq 2 ) hat ja schon gezeigt, dass, wenn
man Blutplasma bei 57° erhitzt, ein besonderer Niederschlag ent¬
steht, nach dessen Entfernung das Plasma bei gewöhnlicher Tempe¬
ratur gerinnungsunfähig wird.
Ein weiterer Beweis, den wir später liefern werden, ist die That¬
sache, dass man unter gewissen Umständen in einer solchen blutigen
Flüssigkeit eine Gerinnung bei der normalen Zimmertemperatur er¬
zeugen kann.
Aber auch in der von Fibrinogen befreiten Flüssigkeit kann man
bei 65° eine weitere Gerinnung entstehen sehen. Diese Gerinnung
betrifft das Paraglobulin, die fibrinoplastische Substanz, welche wir
übrigens auch durch Sättigung durch Magnesiumsulphat niederschlagen
konnten.
Es sei beiläufig bemerkt, dass unsere Gerinnungsversuche sowohl
als das Niederschlagen nicht in der blutigen Flüssigkeit, sondern in
dem von derselben abgehobenen Plasma vollgezogen wurden. Wenn
man das Blut einen Tag ruhen lässt, so sinken die Blutkörperchen
zu Boden und die obere Schicht ist eine schöne, helle, kaum röth-
liche Flüssigkeit, das wirkliche Plasma. Nach unseren Erfahrungen
kann nur das Pferdeblutplasma rascher von Blutkörperchen abge¬
hoben werden.
») L. c. S. 507.
2 ) Recherches sur la Constitution du Plasma sanguin. Dissert. Inaug.
Gand 1878.
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Ueber die Ursaohen des Flüssigbleibens des Blutes bei der Erstiokung. 237
Diese Thatsache ist insofern wichtig, als Halliburton 1 ) aach
in den Blutkörperchen ein Globulin beschrieben hat, welches aller¬
dings nicht um 65°, sondern um 60° gerinnt, welches aber, wie das
Plasmaparaglobulin, durch MgS0 4 niedergeschlagen werden kann.
Diese Befunde waren sowohl bei langsamen als bei acuten Todes¬
processen zu constatiren; nur die Menge der gesammelten Flüssigkeit
war bedeutend geringer in den ersten Fällen.
Die Annahme ist also berechtigt, dass:
„Bei sämmtlichen Leichen niemals eine vollständige Gerinnung
des Blutes stattfindet; neben mehr oder weniger entwickelten Ge¬
rinnseln kann man immer flüssiges Blut, in welchem Fibrinogen und
Paraglobulin vorhanden sind, beobachten. Dieses Blut ist bei spä¬
teren Obductionen, wie es z. B. die gerichtlichen zumeist sind, ge¬
rinnungsunfähig.“
Es lag jetzt die Frage vor, ob genügende Menge Fibrinogen und
Paraglobulin, um eine Gerinnung zu ermöglichen, sich im flüssigen
Blute finden.
Diese Frage ist für das Fibrinogen gleichgültig, da selbst in zehnfach mit
Wasser verdünntem Blute noch eine Coagnlation stattfindet. Ganz anderen Be¬
dingungen unterliegt aber das Paraglobulin, wenn wir nun einmal die alte
Schmidt’sche Theorie annehmen; die Menge des für die Coagulation erforder¬
lichen Paraglobulins ist hiernach unbekannt.
Wenn jedoch ein Theil des Paraglobulins wirklich duroh Kohlensäure
niedergeschlagen wäre, und wenn die Gerinnung dadurch unmöglich geworden
wäre, so müsste dieselbe bei einer Wiederauflösung dieser Substanz eintreten.
Wenn wir aber auch das sämmtliche nicht filtrirte Blut von einem starken
Luftzuge durchziehen Hessen, bis die dunkelrothe Farbe desselben eine hellrothe
geworden war, wenn demgemäss die grösste Menge der Kohlensäure verschwunden
war, entstand doch nie eine Gerinnung.
Obwohl es doch sehr wahrscheinlich war, dass das Paraglobulin mit diesem
Verfahren wieder aufgelöst war, suchten wir noch, nichtsdestoweniger, einen
directeren Beweis, und zwar auf dem folgenden Wege:
Nachdem wir im asphyctischen Plasma das sämmtliche Fibrinogen um 57 0
coagulirt hatten, schlugen wir das Paraglobulin durch Magnesiumsulphat nieder.
Der Niederschlag wurde mehrmals mit gesättigter Magnesiumsulphatlösung auf
dem Filter gewaschen, dann in wenigem Wasser wieder gelöst, die so erhaltene
opalescirende Flüssigkeit filtrirt, dann mit destillirtem Wasser so viel verdünnt,
dass ein weisser Niederschlag entstand. DieserNiederschlag wurde auf ein Filter
gebracht und noch vielfaob mit destillirtem Wasser gewaschen.
*) The Journal of Physiology. IX. p. 229.
Vierteljebrsschr. f. gor. Med. Dritte Folge. V. 2. 16
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Dr. Coriq,
Das io dieser Waise erhaltene P&r&globulin wurde jetzt verschiedenen Proben
asphyctisohen Blutes in verschiedenen Mengen hinzugesetzt. In keinem Falle
entstand eine Gerinnung.
Infolge dieses Befundes sind wir also berechtigt, „dem Paraglobulin oder
vielmehr seiner Abwesenheit eine Rolle bei dem Flüssigbleiben des Blutes zu
versagen*.
Eine weitere Frage war, ob das Gerinnungsferment in diesem Blute vor¬
handen war.
Durch das bekannte Sohmidt’soheVerfahren war es uns unmöglich, dieses
Vorhandensein zu beweisen. Bekanntlich besteht diese Bereitung darin, das Blut
duroh zehnfaches Volum starken Alkohols niederzuschlagen und nach langer Ruhe
diesen Niederschlag durch Wasser zu extrahiren. Deshalb ist es indess nicht
unsere Absicht zu behaupten, dass das Ferment wirklich im Erstickten- resp.
Leichenblute fehlt oder vernichtet ist 1 ).
Es giebt noch eine zweite Möglichkeit: nämlich dass man mit dem
Schmidt’sohen Verfahren gleichzeitig nicht nur das Ferment, sondern auch
gerinnungshemmende Bestandtheile extrabirt. Dieser Frage wollen wir im Inter¬
esse der Klarheit unserer Arbeit erst später näher treten. Indess mag schon hier
erwähnt werden, dass die Anwesenheit einiger wenn auoh spärlicher Gerinnsel
im Blute der meisten Erstickten wie anderer Leichen ein genügendes Zeiohen
des Daseins von Ferment im Blute, mindestens in den ersten Zeiten nach
dem Tode, ist und dass schon dieseThatsaohe dafür sprioht, dass das Ferment
nioht fehlt und dass demgemäss seine Thätigkeit duroh einen anderen Umstand
unterdrückt wird.
Wie schon vorher gesagt, sind die im hiesigen Schauhause obduoirten
Leichen meistens 4 bis 8 Tage alt und es fragte sich, ob das Blut bei weniger
vorgeschrittenem Leiohenalter, wenn auoh flüssig, nioht die Fähigkeit spontan zu
gerinnen bewahrt.
Die früheren Angaben, dass das Blut aus den Gefässen auch nach dem
Tode gerinne, haben wir auoh in einem Falle bestätigen können. Er betraf einen
70jährigen Mann, der unter verdächtigen Umständen 3 Tage vorher plötzlioh ge¬
storben war. Die Obduotion ergab, dass es sioh in Wirklichkeit um eine Miliar-
tuberculose handelte. Das gesammelte flüssige Blut war zwei Tage später theil-
weise geronnen. In Folge dieser Verspätung konnte man zwei Theile in dem
Gerinnsel beobachten: einen oberen, welcher ganz weiss war und offenbar in der
oberen hellen Plasmaschicht erzeugt war, und einen unteren dunkelrothen, wel¬
cher in der Blutkörperchensohioht schwamm. Die nebenstehende Flüssigkeit ent¬
hielt übrigens Fibrinogen 2 ).
') Al. Sohmidt hat bewiesen, dass das Fibrinferment nach einer Zeit im
Blutserum sich zu vermindern beginnt.
2 ) Seitdem hatten wir noch Gelegenheit zwei solche Fälle zu sehen: Der
erste betraf ein Kind, welches 24 Stunden vorher an Rachendiphtherie zu
Grunde gegangen war. Das aus den Herzkammern gelassene flüssige Blut gerann
vollkommen naoh wenigen Minuten im Herzbeutel. Im zweiten Falle bandelte es
sich um einen Mann, der drei Tage vorher überfahren gewesen und einige
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lieber die Ursachen des Flüssigbleibens des Blotes bei der Erstiokung. 239
Von vornherein aber war zu erwarten, dass wir siohere Anhaltspunkte für
das Verständnis des Prooesses gewinnen worden, wenn wir Thierversuche ans-
stellten.
Bei einem 5 monatlichen Kaninchen, welohes wir erdrosselt hatten, fingen
wir zn verschiedenen Zeiten geringe Blutproben in kleinen Glasröhrchen auf,
welche wir gleich verlötheten, damit keine Verdunstung stattfinden könnte.
A. Sofort naoh dem Tode aus der Vena jugularis sinistra aosgesaugte
Blutprobe. Naoh 2 Minuten entsteht eine Gerinnung. Den folgen¬
den Tag sieht man deutlich in dem Röhrchen ein centrales retra-
hirtes Gerinnsel mit umgebendem hellem Serum.
B. 24 Stunden nach dem Tode aus der Vena jugularis deztra ausge¬
saugte Blutprobe. Neben dem flüssigen Blute enthielt die Ader
auch ein lockeres Gerinnsel. Nach 10 Minuten tritt Gerinnung ein.
24 Stunden später finden wir ebenfalls eine helle periphere Scbioht
Serum.
C. 48 Stunden nach dem Tode aus der Vena femoralis sinistra aspi-
rirte Blutprobe. Nach 1 */j Stunden entsteht eine Gerinnung. Den
folgenden Tag eine rothgefärbte Scbioht Flüssigkeit rings um das
Gerinnsel.
D. 96 Stunden nach dem Tode wird die Obduotion vollzogen.
In sämmtlichen Gefässen sowie in den Herzkammern findet man rothe
lookere Blutgerinnsel. Daneben ist eine rothe undurchsichtige Flüssigkeit vor¬
handen, welche wir in zwei Proben vertheilen. Die eine, der Ruhe überlassen,
gerinnt selbst nach 4 Tagen nicht. Die andere wird im Wasserbade erhitzt und
um 57° entsteht ein Coagulum.
Auf Grund dieser Beobachtung können wir jetzt sicher schliessen, dass das
Blut nicht in Folge der Erstickung gerinnungsunfähig geworden ist, sondern
vielmehr dass eine Veränderung in demselben nach dem Tode stattgefunden hat.
Diese Veränderung kann in dem vorliegenden Falle nicht vor dem dritten
Tage eingetreten sein, sonst würde das Blut schon nach 48 Stunden im Röhrchen
flüssig geblieben sein.
Uebrigens sind wir nioht der Meinung, dass die Gerinnungsunfähigkeit
immer so sehr verzögert sein mag. Mehrere uns bisher unbekannte Umstände
können die Entstehung dieser Erscheinung beschleunigen.
Zum Beispiele kann der folgende Versuch dienen.
Einem 9monatlioheo Kaninchen werden ungefähr 15 com aus der Carotis
sinistra gelassen. 1 Stunde später wird das Thierchen erdrosselt. Die gleioh
nach dem Tode entzogene Blutprobe gerinnt ebenfalls nach 2 Minuten. 24 Stun¬
den später wird aber das Blut in den Herzkammern flüssig gefunden und gerinnt
nur naoh drei Tagen.
Stunden später gestorben war. Bei der Obduotion fand man eine hochgradige
Leberzertrümmerung. Infolge dieser Zertrümmerung war die Bauchhöhle mit
vollkommen flüssigem Blut überfüllt. Dieses Blut wurde gesammelt. Nur drei
Tage später konnte man allerdings sehr spärliche und sehr kleine Gerinnsel in
demselben beobachten.
16*
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240
Dr. Corin,
Nun, woher stammt diese mehr oder weniger spät eintretende
Ungerinnbarkeit?
Die Lösung dieser Frage erfordert eine kurze Darlegung der
neuen Gerinnungstheorieen. Die altbekannte Schmidt’sche Theorie,
welche das Wesen der Gerinnung als von drei Hauptfactoren, Fibri¬
nogen, Paraglobulin und Ferment, inclusive Salzen, abhängig be¬
trachtet, ist vielfach angegriffen und selbst von ihrem Verfasser
modificirt worden. Wir selbst haben bewiesen, dass sie nicht im
Stande ist, die hier vorliegenden Vorgänge zu erklären.
Freund 1 ) behauptet, dass eine unlösliche Verbindung zwischen
der in den Blutkörperchen enthaltenen Phosphorsänre und den im
Plasma vorhandenen Calciumsalzen bei der Gerinnung entsteht and
das Fibrin nur dieses Niederschlages vermöge unlöslich werden kann.
Nun mag es sich fragen, ob gerade in dem asphyctischen resp.
Leichenblute nicht ein Theil der Calciumsalze durch einen Ueber-
schuss Kohlensäure gelöst bleiben kann. Sollte dies der Fall sein,
so würde die Coagulation nach der Kohlensäurevertreibung eintreten
müssen, was, wie schon gezeigt, nicht geschieht. Uebrigens würde
nicht erklärt, warum gleich nach dem Tod entzogenes Blut gerin¬
nungsfähig ist.
Gegen eine Anwendung der von Arthus und Pages 2 ) ent¬
worfenen Theorie, welche die Calciumsalze als unentbehrlich für die
Gerinnung betrachtet, sprechen dieselben Gründe.
Es ist nicht unsere Absicht, weder den Werth irgend einer dieser
Auffassungen, noch die Thatsachen, auf welchen sie gegründet wurden,
zu bestreiten. Jedenfalls können sie nicht das Flüssigbleiben des
Leichenblutes erklären.
Zuletzt haben wir noch die neue Theorie Al. Schmidt’s*) in
Betracht zu ziehen. Nach dieser sieht Al. Schmidt auch noch
immer das Fibrinferment als den activen Factor, nimmt doch aber
an, dass mehrere Umstände seine Thätigkeit befördern bez. hemmen
können.
Im lebenden kreisenden Blute sind schon kleine Mengen Fibrin¬
ferment, besonders aber die unwirksame Vorstufe desselben (das so¬
genannte Prothrombin) enthalten. Wird das Blut aus der Ader ge-
*) Wiener Jahrb. 1888. S. 259.
2 ) Archives de Physiologie. 1890. p. 739.
*) Zur Blutlebre. Leipzig 1892.
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Ueber die Ursachen des Flössigbleibens des Blates bei der Erstiokang. 241
lassen, so entsteht aus diesem Prothrombin eine bedeutende Menge
Fibrinferment (Thrombin) und zwar durch den Einfluss gewisser Sub¬
stanzen, welche besonders in den farblosen Blutkörperchen vorhanden
sind und welche die Vorstufe abzuspalten vermögen. Diese Substanzen
sind aber nicht bloss in den Leukocyten enthalten; vielmehr bestehen
sie in defi meisten Körpergeweben.
Man kann dieselben leicht gewinnen, indem man diese Gewebe
mehrmals mit starkem Alkohol extrahirt und den Alkohol auf dem
Wasserbade verdunstet. Die wässerige Lösung des Rückstandes be¬
schleunigt die Gerinnung solcher Flüssigkeiten, welche vorher die un¬
wirksame Vorstufe des Fermentes enthielten (Magnesiumplasma z. B.),
hat aber keinen Einfluss auf die Flüssigkeiten, in denen diese Vor¬
stufe abwesend ist (sogenannte proplastische Flüssigkeiten, z. B. Hy-
droceleflüssigkeit). —
Aber aus denselben Geweben nach der Alkoholbehandlung kann
man mit Wasser eine Substanz extrahiren, welche die Gerinnung
unterdrückt resp. verspätet. Diese Substanz bezeichnet Schmidt als
Gytoglobin. Sie wird durch Alkohol aus ihren wässerigen Lösungen
niedergeschlagen und kann dann in Wasser wieder gelöst werden;
durch Siedehitze wird sie coagulirt; durch Essigsäure entsteht in ihren
Lösungen ein Niederschlag, der weder im Wasser noch in einem
Ueberschuss Essigsäure löslich ist. Dieser Niederschlag bildet das
Präglobulin, welches auch die Gerinnung zu unterdrücken resp. zu
verzögern im Stande ist. Aus der Leber lässt sich nun ein Gyto¬
globin gewinnen, welches diese letzte Eigenschaft, durch Essigsäure
niedergeschlagen zu werden, nicht besitzt. Diese Thatsache würde für
sich allein genügen zu beweisen, dass das Gytoglobin keinen reinen
chemischen Körper darstellt.
Bisher ist es Al. Schmidt niemals gelungen, Gytoglobin oder
Präglobulin im kreisenden Blute zu finden.
Das Flüssigbleiben des Blutes während des Lebens ist also nicht
von einem die Gerinnung hemmenden Bestandteile desselben, sondern
vielmehr von der fortwährenden Ausscheidung des in ihm kreisenden
Fermentes abhängig. Wenn das Blut aus der Ader gelassen wird,
so wird diese Ausscheidung unmöglich; vielmehr entstehen stets
neue Mengen desselben durch die abspaltende Wirkung der in
Alkohol löslichen Substanzen auf die unwirksame Vorstufe des Fer¬
mentes.
Versuchen wir es nun, diese neue Theorie Al. Schmidt’s auf
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242 Dr. Corin,
die Verhältnisse an der Leiche anzawenden, so gelangen wir za fol¬
genden Ergebnissen:
Mit dem Tode hört die Ausscheidung des Fermentes auf.
Aber da das Blut hier in den Gefässen bleibt, so wird kein
neues Ferment mehr erzeugt. Die Erzeugung neuer Mengen desselben
wird nur möglich, wenn die Leukocyten durch eine Berührung mit
fremden Körpern erregt sind und so ihre die unwirksame Vorstufe
abspaltenden Substanzen absondern können.
Gab es in dem lebenden Blute viel Ferment, so entsteht be¬
trächtliche Gerinnung. Diesem Fall wird man häufig bei den lang¬
samen Todesarten begegnen und wirklich hat Köhler 1 ) z. B. bei
künstlich erzeugter Septicämie auch eine bedeutende Zunahme des
vitalen Fermentes gefunden.
Es lässt sich demnach nicht leugnen, dass die Leukocytose ge¬
rade in diesen langsamen Todesarten, wie von Hofmann es annimmt,
eine wichtige Rolle spielt; denn, wie Schmidt es bewiesen hat, sind
die Leukocyten die wahren Fermentquellen.
Ist der Fermentgehalt sehr klein, wie es im gesunden Zustande
der Fall ist, so können nur unbedeutende Gerinnsel nach dem Tode
erzeugt werden.
Auf diese Weise erklären sich sehr leicht die verschiedenen Be-?
funde, welche man bei den Obductionen machen kann: Die Aus¬
dehnung der Gerinnsel ist von der vor dem Tode bestehenden Fer¬
mentmenge abhängig.
Leider ist es uns bis jetzt unmöglich, den vitalen Fermentgehalt
des menschlichen Blutes zu bestimmen. Jedenfalls kann man aus
den Leichenbefunden schliessen, dass er im gesunden Zustande sehr
klein ist, ja selbst vielleicht ganz fehlen kann.
Aber eine Sache ist noch nicht klar gestellt: Wie kann das nach
dem Tode aus den Gefässhöhlen gelassene Blut flüssig bleiben, wenn
es auch Fibrinogen enthält. Wenn die Menge Ferment, um eine voll¬
kommene Coagulation zu erzeugen, nicht genügt, so giebt es doch im
Blute die Vorstufe des Fermentes und die Substanzen, welche diese
Vorstufe abspalten können. .
Zuerst war zu beweisen, dass diese Vorstufe und diese abspaltenden Sub¬
stanzen wirklich im Leiobenblute bestehen. Ein direoter Beweis ist aber nicht
') Ueber Thrombose und Transfusion u. s. w. Inaugural-Abhandlung.
Dorpat 1877,
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Deber die Ursachen des Flüssigbleibens des Blatos bei der Brstickang. 243
za erwarten, da von den chemischen Eigenschaften dieser Vorstufe nur eine,
namlioh die Fähigkeit Ferment za erzeugen, ans bekannt ist.
20 ccm Blat eines Erhängten, der 6 Tage naoh dem Tode obdaoirt wurde,
werden mit 200 ccm starken Alkohol (96°) gemischt und während dreier Tage
häufig gesohüttelt, dann einige Standen in Rahe gelassen. Nach Abheben der
hellen oberen Sohicht wird abermals so viel Alkohol hinzugesetzt, 3 Tage gesohüt-
telt, dann abgehoben and nooh einmal dieses Verfahren wiederholt.
Der gesammte Alkohol wurde nun auf dem Wasserbade eingedampft und
der Rückstand mit wenigem Wasser tüchtig zerrieben und dann filtrirt. Die so
erhaltene Lösung sollte nach den Sohmidt’sohen Ergebnissen Substanzen ent¬
halten, welche das Ferment von seiner unwirksamen Vorstufe abspalten.
Wenn also das asphyctisohe resp. Leichenplasma wirklich diese Vorstufe
enthielt, so sollte es auch nach Zusatz dieser Lösung gerinnen. Als wir non die
gesammte Lösung mit 5 com aspbyctisohem Blutplasma gemischt hatten, war¬
teten wir 2 Tage erfolglos. Wir daohten uns, dass die damalige niedrige Tempe¬
ratur die Gerinnung oder die Abspaltung des Fermentes verhindern resp. ver¬
zögern könnte und setzten darum die gesammte Mischung auf das Wasserbad, wo
wir 2Standen 36° leicht festhalten konnten. Nach dieser Zeit erfolgte eine voll¬
kommene Gerinnung.
Wir machen jedooh darauf aufmerksam, dass wir, am mühsam dieses Re¬
sultat bei 5ocm Plasma za erlangen, mit dem alkoholischen Extracte von 20ccm
Blutplasma za arbeiten gezwungen waren.
Nichtsdestoweniger können wir im flüssigen Leichenblutplasma das Vor¬
handensein einerVorstufe des Fibrinferments and der der Abspaltang dieserVor-
stufe nöthigen Substanzen annehmen 1 ); und wird jetzt za untersuchen sein,
waram diese Abspaltang nicht stattfindet.
Dass eine die Abspaltang hemmende Substanz daran schuld ist, ist kaum
zu bezweifeln. Alex. Schmidt ist aber einem solohen Bestandtheil niemals im
normalen Blute begegnet. Wenn wir sein schon oben beschriebenes Verfahren
mit asphyotisohem resp. Leiohenblute wiederholen, so können wir deshalb un¬
möglich beträchtliche Mengen des in Frage stehenden Körpers erwarten.
ln der That, wenn wir den Rückstand, welcher naoh der alkoholischen Ex-
trahirung hinterblieb, mit wenigem Wasser behandelten, so gewannen wir eine
Flüssigkeit, welche mit Alkohol einen Niederschlag gab. Dieser Niedersohlag
war im Wasser wieder löslich. Mit dem Erhitzen entstand auch ein Niederschlag,
der aber nioht mehr za lösen war. Mit Essigsäure konnten wir keine Coagulation
erhalten. Nach diesem Befunde war also unser vermuthetes Cytoglobin dem von
Alex. Sohmidt in der Leber gefundenen Cytoglobin analog.
Leider konnten wir in unseren Versuchen nicht eine genügende Menge
dieser Substanz gewinnen, um dieselbe einer vollkommenen Prüfung zu unter-
') Es scheint darnach überflüssig zu beweisen, dass ein Zusatz normales
Ferment das Leichenblut gerinnen zu lassen vermag. Wir haben dooh den Ver¬
such gemacht und zwar mit dem aus Rinderblutserum nach den Sohmidt’sohen
Vorschriften präparirten Fermente. Die Gerinnung trat naoh mehreren Stunden
(S'/j) ein.
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244
Dr. Co rin,
werfen. Namentlich war es uns unmöglich, ihre Eechtspolarisationsdrehnng zu
bestimmen. Dies wird die Aufgabe weiterer Versuche sein.
Dass diese Substanz wirklich gerinnungshemmend wirkt, werden die fol¬
genden Beispiele beweisen.
Der mit Alkohol gereinigte Niedersohlag, welohen wir aus 15 ccm flüssiges
Blut erhalten haben, wird mit 5 com destillirtes Wasser gut zerrieben und filtrirt;
2 ccm werden, um den Einfluss des Alkohols, der Essigsäure und der Siedehitze
zu prüfen, angewandt. Zu den anderen 3 com werden 2 com aus der Carotis
eines lebenden Kaninchens gelassenes Blut gegeben; 2 ocm desselben Blutes
werden zu 3 ccm destillirtes Wasser gegeben; 5 Minuten später sind die beiden
Proben geronnen. Doch bei der ersten ist das Gerinnsel bedeutend geringer und
haftet namentlich nicht an den Rohrwänden. Wenn es uns also unmöglich ist,
in diesem Palle eine Verspätung der Gerinnung zu beobachten, so giebt es doch
eine Verminderung derselben, was wahrscheinlich von vorherein von einer un¬
vollkommenen Umwandlung des Fibrinogens abhängig war. ln der That, in der
Flüssigkeit, welche neben dem Gerinnsel in dem ersten Rohre vorhanden war,
konnten wir bei 57° ein Coagulum erhalten, während dies nioht in dem zweiten
Rohre geschah.
Uebrigens war es uns in einem Falle möglich, vollkommen die Gerinnung
zu unterdrücken. Bei einem Kaninchen, welches wir erdrosselt hatten, erfolgte
die Gerinnung des 24 Stunden nach dem Tode erhaltenen Blutes 3 Tage später,
wenn das Blut rein war. Wenn wir aber dasselbe mit Cytoglobinlösung misohten,
so war selbst nach 6 Tagen keine Gerinnung zu beobachten.
Es scheint daram überflüssig zu untersuchen, ob das reine
Leichenplasnaa auch die Coagnlation des lebenden Blutes zu unter¬
drücken vermag. In der That haben wir Kaninchenblut mit diesem
Plasma gemischt und beobachtet, dass die Gerinnung erst nach
4 Stunden eintrat.
Die Schwierigkeit, positive Resultate mit Cytoglobin zu erlangen,
erklärt sich, weil die Gewinnung des Cytoglobins vollkommen mit
derjenigen des Fibrinfermentes sich deckt. Man extrahirt so immer
gleichzeitig kleine Mengen des Fermentes, welche natürlich die Ge¬
rinnung befördern.
Es erklärt sich auch aus dieser Thatsache, warum wir aus dem
flüssigen Blute ein thätiges Ferment mit der üblichen Methode nicht
extrahiren konnten. Mit diesem Verfahren extrahiren wir zugleich
Ferment und gerinnungshemmende Substanz. Nur wenn unser Blut
noch gerinnungsfähig ist, d. h. wenn die Wirksamkeit des Ferments
grösser als die des Cytoglobins ist, kann das Vorhandensein des Fer¬
ments durch Gerinnung bewiesen werden. —
Woher stammt nun diese gerinnungshemmende Substanz? Es ist
von vornherein nicht wahrscheinlich, dass sie ihre Quelle im Blute
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UNIVERSUM OF IOWA
Ueber die Ursaohen des Flüssigbleibens des Blutes bei der Erstiokung. 245
habe; sonst würde es sich nicht erklären, wie das aus den Gefäss-
höhlen in den ersten Zeiten nach denn Tode aspirirte Blut gerinnbar
sein kann, während es diese Eigenschaft verloren hat, wenn man es
einige Tage später aus den Gefässhöhlen aussaugt.
Es wäre möglich, dass Cytoglobin mit dem Tode der Leukocyten
erzeugt werde. Das Cytoglobin, welches Alexander Schmidt
aus den Lymphzellen extrahirt hat, wird aber durch Essigsäure
niedergeschlagen, was nicht bei dem von uns gewonnenen der
Fall ist.
Schon hieraus darf man schliessen, dass die Gerinnungsunfähig-
keit ihren Ursprung den Gefässwänden verdankt.
Ein sicherer Beweis dieser Behauptung lässt sich bisher leider
nicht liefern. Die Versuchstiere geben dafür zu geringe Mengen Blut
und bei don uns zu Gebote stehenden Sectionen konnten wir nur
selten noch gerinnungsfähiges Blut erhalten. Das dafür anzuwendende
Verfahren wäre, verschiedene Blutproben zu verschiedenen Zeiten einer
Leiche zu entnehmen und in demselben die Menge des Cytoglobins,
bez. die Kraft der gerinnungshemmenden Wirkung zu bestimmen.
Eine fernere Frage, welche sowohl vom theoretischen als vom
praktischen Standpunkte aus von Wichtigkeit sein kann, ist, zu er¬
mitteln, ob die Gewebe, welche nach den Rauschenbach’schen')
Versuchen in frischem Zustande immer Fibrinferment resp. ferment¬
abspaltende Bestandtheile enthalten, die Gerinnung des Leichenblutes
befördern können.
Das Verfahren besteht in einer Auspressung verschiedener Ge¬
webe, Zerrühren des gewonnenen Saftes mit Wasser, Filtriren des so
erhaltenen Breies. Die dazu von uns benutzten Gewebe waren Leber,
Milz, Thymus, Lymphdrüsen, Knochen, welche wir aus derselben
Leiche wie das zu probirende Blut entnahmen. In keinem Falle er¬
zeugte der Zusatz dieser Flüssigkeiten Blutgerinnung.
Dieser Befund lässt zweierlei Erklärungen zu. Entweder die ge¬
rinnungsfordernden Substanzen sind in den Geweben noch so wie im
frischen Zustande vorhanden, aber ihre Wirkung wird durch die der
im Blute befindlichen gerinnungshemmenden aufgehoben, oder aber
auch es hat in den Geweben nach dem Tode eine Vermehrung der
gerinnungswidrigen Substanzen stattgefunden.
*) Ueber die Wechselwirkung zwischen Protoplasma und Blutplasma.
Inaug.-Abh. Dorpat 1883.
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246
Dr. Corio,
Jedenfalls dürfte diese Thatsache auch in praktisch-gerichtsärzt¬
licher Beziehnng ein besonderes Interesse beanspruchen.
Schon lange hat vonHofmann') bewiesen, dass „auch bei Con-
tusionen und überhaupt bei Verletzungen, bei welchen die Haut nicht
durchtrennt wurde, somit das in das Gewebe ausgetretene Blut mit
der äusseren Luft nicht in Contact kam, die postmortale Suffusion
aus geronnenem Blute bestand, ein Umstand, der, weil die Versuche
an erstickten Thieren geschahen, bei denen somit das Blut im Herzen
und in den Gefässen flüssig blieb, beweist, dass erst in den Partieen,
in welche das Blut ausgetreten war, die Bedingung (das Ferment)
gesetzt wurde, welche nothwcndig ist, um aus den sogenannten Fibrin¬
generatoren Fibrin zu erzeugen. Doch muss bemerkt werden, dass
wir bei unseren Versuchen immer nur locker geronnenes Blut in den
postmortalen Suffusionen fanden, niemals aber so feste Gerinnsel,
wie sie bei vital erzeugten Extravasaten, wenn auch nicht immer, so
doch meistens beobachtet werden.“
Nach unseren Versuchen ist es erklärlich, dass die Leichenextra¬
vasate im Allgemeinen lockerer sind und schon aus einfachen theo¬
retischen Erwägungen kann man schliessen, dass diese Gerinnsel bei
postmortalen Verletzungen, welche lange genug nach dem Tode er¬
zeugt worden sind, fehlen müssen.
Wir haben auch directe Experimente zur Entscheidung dieser
Frage angestellt.
Bei einem erdrosselten Kaninchen erzengten wir verschiedene Verletzungen
und zwar:
A. Sofort nach dem Tode eine Fractur des Sohädels ohne Trennung
der Haut.
B. 24 Stunden nach dem Tode eine Fraotur des rechten Oberschenkels.
G. 48 Stunden nach dem Tode eine Fractur des linken Obersohenkols.
Naoh der Schädelfractur wurde eine Probe Blut aus der Vena jugularis
sinistra, nach der Fractur des rechten Oberschenkels aus der Vena axillaris
sinistra, nach der Fractur des linken Oberschenkels aus der Vena axillaris
sinistra genommen.
Nur die beiden ersten Proben zeigten eine Gerinnung.
Nach jedem erfolgten Bruohe wurde das Thier so suspendirt, dass der ver¬
letzte Theil die niedrigste Stellung während 24 Stunden hatte.
Bei der später vollzogenen Obduction zeigte sich, dass nur bei den beiden
ersten Verletzungen die Knochenenden von geronnenem Blute umgeben wurden.
Wir sind deshalb nicht der Meinung, dass 2 Tage naoh dem Tode die
*) L. c. S. 370--371.
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Ueber die Ursachen des Flüssigbleibens des Blates bei der Erstickung. 247
Grenzen bilden, innerhalb weloher das in die Gewebe ausgetretene Blut gerinnen
kann. Vielmehr glauben wir, dass unter gewissen Umständen schon naoh 24Stun-
den oder auoh erst nach 72 Stunden nach dem Tode das ausgetretene Blut nicht
mehr gerinnungsfähig ist. Es wird die Aufgabe weiterer Versuche sein, diese
Grenzen und die hierbei unberücksichtigten näheren Umstände genauer festzu-
stellen.
Wenn wir nun eine kurze Zusammenfassung der vorliegenden
Resultate unternehmen wollen, so ergiebt sich, dass bei der Leiche im
Blute Gerinnung eintritt nur insofern, als in demselben schon wäh'
rend des Lebens Ferment vorhanden war, und dass die Ausdehnung
der bei der Obduction gefundenen Gerinnsel direct von der Menge des
vitalen Fermentgehaltes abhängig 1 ] ist.
Eine weitere Erzeugung dieses Fermentes nach dem Tode findet
nicht mehr statt, wenn auch im Blute die unwirksame Vorstufe des¬
selben besteht.
Die Gegenwart dieser Vorstufe ist aber die Ursache einer wei¬
teren Gerinnung, wenn das Blut früh aus den Gefässen gelassen wird,
und zwar in Folge der abspaltenden Wirkung, welche gewisse Blut-
bestandtheile auf diese Vorstufe ausüben.
Später aber entsteht im Blute — und offenbar nicht aus dem Blute,
sondern aus den Gefässwänden — ein Körper, welcher die Eigenschaft
hat, die Gerinnung zu hemmen resp. die Thätigkeit der fermentab¬
spaltenden Substanzen zu unterdrücken.
Dieser Körper ist höchstwahrscheinlich identisch mit dem von
Al. Schmidt beschriebenen Cytoglobin und besonders dem in der
Leber gefundenen Cytoglobin.
Die Gefässwände spielen daher bei der Leiche eine doppelte
Rolle dem Blute gegenüber: im Anfänge nämlich halten sie das Blut
flüssig, d. h. verhindern sie eine Fermentproduction, indem sie keine
Erregung auf die Leukocyten, die Erzeuger dieses Fermentes, ausüben.
Später aber verhindern sie die Gerinnung auch durch eine Ab¬
sonderung gerinnungshemmender Substanz.
Aus dem Gesagten folgt auch, dass es zwischen dem Blute der
Erstickten resp. der plötzlich Gestorbenen und demjenigen der lang¬
sam Gestorbenen nur einen relativen Unterschied giebt.
Dieser Unterschied ist durch don verschiedenen Fermentgehalt
zu erklären. Aber in keinem Falle entsteht nach dem Tode in den
Gefässhöhlen eine vollkommene Gerinnung, wie es in dem aus dem
lebenden Körper gelassenen Blute geschieht. Immer bleibt neben dem
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UMIVERSITY OF IOWA
248
Dr. Corin.
Fibrin ein mohr oder weniger beträchtlicher Ueberschnss gelösten
Fibrinogens.
Dieses Fibrinogen ist während den ersten Zeiten nach dem Tode
noch gerinnungsfähig, wird aber später ungerinnbar und zwar, nicht
weil es selbst verändert wird, sondern weil die Fermenterzeugnng
unmöglich wird.
Es möge noch hier erwähnt werden, dass dieses Flüssigbleiben
des Leichenblutes ganz verschieden von dem Flüssigwerden der Lei¬
chengerinnsel ist. Falk 1 ) hat ja bewiesen, dass dieses Flüssigwerden
wesentlich in einer Umwandlung des Fibrins in Globulin durch Fäul-
niss besteht.
In praktisch gerichtsärztlicher Beziehung ergeben sich aus unseren
Versuchen zweierlei Ergebnisse. Zunächst ein negatives: in Bestäti¬
gung früherer Angaben können auch wir der flüssigen Beschaffenheit
des Blutes eine Bedeutung für die Diagnose des acuten Erstickungs¬
todes gegenüber anderen acuten Todesarten gesunder Personen nicht
einräumen.
In positiver Beziehung sprechen unsere Versuche dafür, dass ent¬
sprechend der alten Lehre der geronnenen Beschaffenheit des Blutes
in Extravasaten eine gewisse Bedeutung für die vitale Natur der be¬
treffenden Verletzungen zukommt, insofern bei Verletzungen, die erst
einige Zeit nach dem Tode erzeugt werden, eine Gerinnung des aus¬
getretenen Blutes nicht mehr stattfindet.
Welches die Zeitgrenzen sind, bis zu denen auch an der Leiche
eine Blutgerinnung eintritt, das wird durch weitere Versuche genauer
zu bestimmen sein.
*) Diese Vierteljahrsschrift. N. F. LII. S. 215.
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Me Yerletnigei des Mastdames gerichtsärztlichea
Standpunkt*
Von
Dr. Adolf Hantzel in Elberfeld.
Verletzungen des Mastdarmes kommen dem Gerichtsarzte nicht
gerade häufig vor. Was Casper-Liman (Handbuch der gerichtlichen
Medicin, 8. Aufl., I. Bd., S. 346) anführen, um die Seltenheit der
Verletzungen der Geschlechtsteile zu erklären: dass nämlich die Ge¬
nitalien sowohl durch ihre Lage am Körper, als auch, namentlich bei
Weibern, durch die Bekleidung besonders geschützt seien, dass ferner
Jeder wisse, wie ungemein reizbar und empfindlich diese Organe sind,
und deshalb ein Angriff gegen sie schon immer eine ganz besondere
Roheit voraussetze — dies Alles gilt auch für den benachbarten
Mastdarm.
Nach von Hofmann (Lehrbuch der gerichtl. Medicin, 5. Aufl.,
S. 270) handelt es sich um eine „Verletzung“ im engeren Sinne,
„wenn Störungen des Zusammenhanges oder der Function gewisser
Organe oder Organgewebe durch mechanische Mittel veranlasst wer¬
den“; und damit übereinstimmend definiren Casper-Liman (1. c.,
II. Bd., S. 214) die Verletzung im forensischen Sinne „als jede durch
äussere Veranlassung bewirkte Veränderung im Bau oder in der Ver¬
richtung eines Körperteils“. Hiernach sind als Verletzungen des
Mastdarmes anzusehen: Wunden, Zerreissungen, Verbrennungen, Ver¬
ätzungen sowie unter gewissen Umständen auch Lähmung des Schliess-
muskels und Vorfall.
Um eine Verletzung des Mastdarmes am Lebenden zu er¬
kennen, verfährt der Gerichtsarzt nach den Regeln der chirurgischen
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UNIVERSITÄT OF IOWA
250
Dr. M&ntzel,
Diagnostik. Vielfach wird überhaupt zuerst der Chirurg eine solche
Läsion diagnosticiren, weil sie sofortige Behandlung erfordert. Der
Gerichtsarzt wird also oft lediglich die Diagnose des behandelnden
Collegen bestätigen, ja zuweilen, um dem Kranken unnöthige Schmer¬
zen zu ersparen, auf eingehende Untersuchung verzichten können. So
berichtet Li man über die Besichtigung des päderastisch gemiss-
brauchten Knaben Handtke (Casper-Liman, 1. c., I. Bd., S. 189):
„Ob hier, event. wie weit auch der untere Theil des Mastdarmes ein¬
gerissen, haben wir unsererseits nicht festgestellt, weil, nachdem die
behandelnden Aerzto mehrfache Untersuchungen schon vorgenommen,
wir durch erneutes Eingehen mit dem Finger die Wunde nicht reizen
und dem Kinde nicht Schmerzen bereiten wollten.“ Im Allgemeinen
aber soll der Gerichtsarzt, wie namentlich Weil (Entstehung der
mechanischen Verletzungen in Maschka’s Handbuch der gerichtlichen
Medicin, I. Bd., S. 286) betont, sich nicht mit oberflächlicher Be¬
sichtigung der Analgegend begnügen, sondern womöglich den Mast¬
darm genau inspiciren. König (Lehrbuch der speciellen Chirurgie,
5. Aufl., II. Bd., S. 408) räth, die Untersuchung so vorzunehmen,
dass der Explorand sich mit dem Oberkörper über eine nicht za höhe
Stuhllehne beugt. Für genauere Untersuchungen ist entweder die von
Maschka (1. c., III. Bd., S. 96) für die Inspection der Genitalien
angegebene „Steinschnittlage“ zu wählen, wobei der After in Rücken¬
lage des zu Untersuchenden frei über den Rand eines Tisches ragt,
während die Oberschenkel gegen den Leib gebeugt und auseinander
gezogen werden, oder der zu Untersuchende ist in die Seiten läge
zu bringen, wobei der Arzt, um die Analgegend zu übersehen, die
ihm zugewandten Glutaeen mit beiden Händen auseinander halten
muss.
Der Besichtigung des Afters folgt die Einführung des einge¬
fetteten Zeigefingers in den Mastdarm. Kommt man hierdurch nicht
zum Ziel, so bemüht man sich, mit Hilfe eines Speculums die Mast¬
darmschleimhaut dem Auge zugänglich zu machen. König (1. c.,
S. 409) empfiehlt besonders den von Fergusson angegebenen Mast¬
darmspiegel, der von jedem Klempner je nach dem einzelnen Falle
leicht herzustellen sei und ohne Narcose fast schmerzlos angewandt
werden könne. Die Narcose und vollends die Einführung der ganzen
Hand in das Rectum nach Simon kann überhaupt bei forensischen
Mastdarmexplorationen wohl kaum jemals in Frage kommen. Auch
zur Mastdarmsonde wird der Gerichtsarzt nur ganz ausnahmsweise
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Die Verletzungen des Mastdarmes rom gerichtsärztlichen Standpunkt. 251
greifen, weil die mit dieser Untersuchungsmethode erzielten Ergeb¬
nisse doch gewöhnlich unsicher sind. Bei Weibern darf man, falls
eine Mastdarmverletzung vermuthet wird, nicht die gleichzeitige Ex¬
ploration der Scheide unterlassen. In manchen Fällen empfiehlt sich
die von Störer (cit. nach König, 1. c., S. 409) geübte Methode,
einen oder zwei Finger in die Vagina einzuführen und, indem man
die Finger hakenförmig nach der Afteröfifnung hindrängt, durch den
Anus die vordere Mastdarmwand herauszustülpen. Die Diagnose einer
Recto-Vaginalfistel kann, wenn Koth durch die Scheide abgeht, oft
ohne Weiteres gestellt werden.
Die Untersuchung des Mastdarmes an der Leiche geschieht
nach den §§13 und 21 des preussischen Regulativs für das Ver¬
fahren der Gerichtsärzte bei den gerichtlichen Untersuchungen mensch¬
licher Leichen. Orth beschreibt in seinem Compendium der patho¬
logisch-anatomischen Diagnostik. (5. Aufl., S. 354 u. 427) ausführlich
die hierbei zu befolgende Sectionsmethode. In Betreff der Besichtigung
des Afters einer Leiche ist hervorzuheben, dass, wie Liman (1. c.,
I. Bd., S. 196) in einem seiner Gutachten bemerkt, blosses Offen¬
stehen des Afters und Ausfliessen von Koth ein alltäglicher Befund
bei Leichen und für die Diagnose einer Mastdarmverletzung ohne den
geringsten Werth ist. —
Als Nachbar der Geschlechtsorgane ist der Mastdarm bei
sexuellen Acten manchen Läsionen ausgesetzt. Von Hofmann (1.
c., S. 130) sah auf Albert’s Klinik eine grosse Vulvo-Rectalfistel, die
beim Coitus durch Einreissen der Fossa navicularis unmittelbar an
der hinteren Insertion des sehr festen und eine enge Oeffnung be¬
sitzenden, fast noch völlig erhaltenen Hymens entstanden war. Der
Ehemann hatte Jahre lang den Beischlaf durch diese Fistel ausge¬
führt. Ueber einen ähnlichen Fall berichtet Sinaisky (Weekly Med.
Rev. XXII. 5. 90, cit. nach Deutsche Medicinal-Zeit., 1891, S. 245):
Eine neuvermählte Frau von 23 Jahren empfand beim ersten Coitus
grosse Schmerzen und verlor so viel Blut, dass sie ohnmächtig wurde.
Hinterher stellten sich Schmerzen beim Gehen und bei der Defäcation
ein. Die Untersuchung ergab ein unverletztes, mässig verdicktes,
halbmondförmiges Hymen. Von der hinteren Commissur ging ein Riss
aus, der zwei bis drei Finger passiren liess und im Rectum oberhalb
des Sphincter extern, endigte. Dieser Riss communicirte auch mit
der Scheide, denn sie enthielt Darmgase und Fäcalmassen. Mit den
Fingern oder anderen Fremdkörpern manipulirt zu haben, stellte das
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252
Dr. Mantzel,
durchaus glaubwürdige Ehepaar entschieden in Abrede, so dass die
Verletzung einzig und allein durch den heftigen und falsch dirigirten
Stoss des Penis zu erklären ist. Sinaisky, dessen Arbeit ich mir
im Original leider nicht verschaffen konnte, soll aus der Literatur
noch 14 andere derartige Fälle zusammengestellt haben.
Umgekehrt hat sich der Penis zuweilen in den Anus verirrt und
von dort aus das Septum recto-vaginale durchbohrt, meist ebenfalls
beim Coitus primae noctis. Price (Philadelph. med. and surg. Re¬
porter 21, 1886, — cit. nach Deutsche Medicinal-Zeitung, 1887,
S. 240) fand bei einer jungen Frau von 22 Jahren einen Riss in der
Recto-Vaginal wand, der zwei Finger passiren liess, während das
Hymen vollkommen intact war. Die Frau, die vor ihrer Verheirathung
ganz gesund gewesen war, hatte beim Coitus jedesmal so furchtbare
Schmerzen, dass sie ohnmächtig wurde und hinterher viel Blut aus
den Genitalien verlor. Auch trat bald Incontinentia alvi ein. Belajew
(Medizinskoje Obosrenije 20, 1886 — cit. nach Deutsche Medicinal-
Zeitung, 1887, S. 240) berichtet ebenfalls über eine von ihm operirte
Recto-Vaginalfistel, die beim Coitus primae noctis entstanden war.
Trotzdem bei dieser Verletzung der Penis in den Anus eindringt,
handelt es sich doch um einen in natürlicher Lage vollzogenen Bei¬
schlaf, denn nur so vermag der nach vorn gerichtete, erigirte Penis
von hinten her die Recto-Vaginalwand zu durchstossen, während beim
eigentlichen a tergo vollzogenen päderastischen Acte, auch wenn
Weiber ihn erdulden, die Spitze des Penis in die Kreuzbeinhöhlung
eindringt und wohl kaum in die Vagina gelangen kann.
Bei der Päderastie kommen dagegen andere Verletzungen des
Mastdarmes vor, doch sind sie, wie Casper-Liman (l. c., I. Bd.,
S. 175) und Maschka (1. c., III. Bd., S. 183) übereinstimmend be¬
tonen, ziemlich selten und gehören nicht zu den gewöhnlichen Kenn¬
zeichen der Kynäden. Freilich steigert sich ein häufiges Symptom
der habituellen passiven Päderastie, die Erschlaffung des Sphincter
ani, bisweilen derartig, dass mehr oder weniger vollständige Lähmung
des Schliessmuskels, verbunden mit Kothincontinenz eintritt; ja es
kann sogar zum Mastdarmvorfall kommen.
Bei einer von Tardieu (Etüde mödico-lögale sur les attentats
aux moeurs, 7. 6dit., p. 56) untersuchten 18jährigen Frau, die seit
fünf Monaten von ihrem Ehemann päderastisch gemissbraucht worden
war, bildete der After ein rundliches, klaffendes Loch, so dass der
Darminhalt nur unvollständig zurückgehalten werden konnte. In
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Die Verletzungen des Hastdarmes vom gerichtsärztliohen Standpunkt. ‘253
einem von Schwarze (diese Vierteljahrsschrift, Nene Folge, 39. Bd.,
S. 257) mitgetheilten Falle, wo zwei Mädchen im Alter von 8 und
10 Jahren vom eigenen Vater längere Zeit hindurch päderastisch ge-
missbraucht und dann durch Erstickung mittels eines Federbettes er¬
mordet waren, beobachteten die Obducenten bei der jüngeren Leiche
eine auffällige Erweiterung und Erschlaffung der Mastdarmöffnung,
die wie ein leeres Loch von mindestens 1 Zoll Durchmesser erschien,
in welches der Daumen ohne jedes Hinderniss hineingeführt werden
konnte, und bei der älteren Leiche in der spaltförmigen fast lV 2 Zoll
langen Mastdarmöffnung einen fünfzig-Pfennig-Stück grossen Schleim¬
hautvorfall.
Ponfick (Breslauer ärztliche Zeitschrift, 1884, S. 65) und sein
Schüler Juliusburger (Beiträge zur Kenntniss von den Geschwüren
und Stricturen des Mastdarmes, S. 117 ff.) haben die Vermuthung
ausgesprochen, dass auch ein Theil der gewöhnlich als syphilitisch
angesehenen Mastdarmgeschwüre und -Stricturen in Folge eines Trau¬
mas beim widernatürlichen Coitus zu Stande kommen dürfte. Sie
beobachteten diese Ulcerationen vorwiegend bei prostituirten Weibern,
unter denen ja Fälle von passiver Päderastie unzweifelhaft nicht allzu
selten sind. Es handelt sich hier aber nur um eine Vermuthung. In
keinem Falle ist bisher der Beweis gelungen, dass die Entstehung
eines solchen Geschwüres, welches nach Ponfick „mit einer kegel¬
förmigen Zuspitzung ähnlich der Gestalt der Glans za endigen pflegt“,
wirklich auf päderastischen Coitus zurückzuführen sei. Auch fehlen
ähnliche Beobachtungen an männlichen Eynäden.
Dagegen entstehen Mastdarmverletzungen zuweilen beim frischen,
zum ersten Male ausgeübten päderastischen Acte, wenn Gewalt an¬
gewandt wird, oder wenn, namentlich bei widernatürlicher Nothzucht
an Kindern, ein grosses Missverhältnis zwischen den beschädigten
Theilen und dem Penis des Thäters vorhanden ist.
Hierher gehören zunächst zwei merkwürdige Fälle von Sodomie, in denen
männliche Individuen durch die in ihren Anus eingeführte Ruthe eines Thieres
verletzt wurden. In dem einen dieser Fälle, welchen Tardieu selbst, der ihn er¬
zählt (1. o. S. 10), als kaum glaublich bezeichnet, wurde ein Bauer, der nach
Verrichtung seiner Nothdurft mit noch offenen Beinkleidern den Kuhstall betrat,
durch einen zweijährigen Stier von hinten her angegriffen und zu Boden ge-
stossen, so dass er nach vorn auf seine Hände stürzte und mit entblösstem Ge-
säss in eine der sogenannten „Knie-Ellenbogen-Lage“ ähnliche Position gerieth,
worauf der Stier ihn mit den Vorderbeinen niederdrüokte, ihm seine Ruthe in
VterUtyahrMchr. f. gor. Med. Dritte Folg«. V. 2. 17
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Dr. Mantzel,
den Anas einbohrte and das Reotam perforirte. Der Verletzte starb nach
8 Standen. — Ueber den zweiten Fall betichtete Broaardel der Pariser Gesell¬
schaft für gerichtliche Medicin am 8. August 1887 (citirt nach Deutsohe Medi-
cinal-Zeitung, 1887, S. 759) nach den Mittheilungen eines ungenannten Arztes.
Ein 18jähriger Diener liess sich gewohnheitsmässig von einem grossen Jagdhund
per anum gebrauchen. Während eines solchen Aktes warde er ins Haus gerufen,
und beim Versuche, sich schnell von dem Thiere loszumaohen, zerriss ihm die
geschwollene Eichel des Hundepenis den Sphincter ani.
Laoassagne (Verhandlungen des X. internationalen medioinischen Con-
gresses, V. Bd., 17. Abtheilung, S.49) unterscheidet eine gewaltsame (brueque)
and eine allmähliche (lente) „defloration anale*. Während sioh nach der
letzteren nor ausnahmsweise Veränderungen am Anas vorfinden, zeigt nach der
enteren die Mastdarmsohleimhant fast immer dreieokige Einrisse, deren Basis
naoh innen gerichtet ist, wogegen die Seiten des Dreiecks naoh der Afteröffnung
za oonvergiren. Dieselben Verletzungen entstanden, als eine kegelförmig zu-
gespitzte Walze von 40 mm Durchmesser in den Anus einer Leiche und ein ähn¬
licher Gegenstand von 31 mm Durchmesser in den Anus eines Hundes gewaltsam
eingeführt wurden. Die Einrisse hatten niemals die Richtung der Linea bulbo-
ano-ooccygea, sondern fanden sich immer seitwärts von dieser Raphe.
Um solche „defloration anale brueque “ handelte es sioh ohne Zweifel
bei einer von Tardieu (1. o. p. 257) untersuchten 16 V 2 jährigen Frau, die seit
den ersten Tagen ihrer Ehe päderastischen Attentaten des Gatten aasgesetzt war.
Tardieu fand bei ihr nooh drei Monate naoh der Hochzeit mehrfache, unvoll¬
ständig vernarbte Einrisse des Sphinoter. Auoh Toulmouche (Ann. d’hyg.,
1876, Juillet — citirt nach Maschka l.o. III.Bd., S. 183) sah einen 16jährigen,
päderastisch gemissbrauchten Barschen, dessen After eingerissen war. Rei-
mann (Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medioin, Neue Folge, 22. Bd., S. 58)
erzählt von einem 9jährigen Mädchen, das ein russischer Priester päderastisoh
genothzüchtigt und dabei die Ränder des Anus an mehreren Stellen eingerissen
hatte. Poelohen (Virchow’s Archiv, 127. Bd., S. 271) sah bei einem 15jährigen
Mädohen, das angab, am Tage vorher von zwei Männern gemisshandelt zu sein,
neben einem frischen Einriss in dem sonst intacten Hymen zwei frisohe Einrisse
im After ungefähr 1 cm tief und 1 */ 2 cm weit hinaufgehend. Aus diesen Ein¬
rissen entwickelten sich Ulcerationen mit indurirtem Grunde, die jeder Therapie
widerstanden und im Laufe mehrerer Jahre fast den ganzen Analring zerstört
hatten. Einige Wochen nach der Verletzung traten auch Symptome allgemeiner
Lues auf.
Liman (1. c. I. Bd., S. 189) constatirte bei dem gemissbrauohten 5 Jahre
alten Knaben Handtke ausser drei kleineren Verletzungen des Afters einen
grossen, klaffenden, den ganzen Schliessmuskel durchtrennenden Riss, der wohl
nicht daroh den Penis entstanden war, sondern durch gewaltsames Auseinander-
reissen der Hinterbacken in der Crema ani, um auf diese Weise das Eindringen
des männliohen Gliedes zu erleichtern. An der Leiche eines 3 Vs Jahre alten
Knaben, den zwei Päderasten gemeinsam bearbeitet und dann ermordet hatten
fand Tardieu (1. c. p. 273) neben anderen tödtliohen Verletzungen den Anult
weit geöffnet und hooh ins Rectum hinein zerrissen. Diesem Verbreohen ähnes,
in manoher Beziehung die unaufgeklärt gebliebene Ermordung des 16jährigen
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Die Verletzungen des Mastdarmes vom gerichtsärztlichen Standpunkt. 255
Corny in Berlin (Casper-Liman II. Bd., S. 820ff.), woran sich ebenfalls, wie
das von Skrzeczka dictirte Obdactionsprotokoll betont, mindestens zwei Per¬
sonen betheiligt haben müssen. An dem aus der Panke gezogenen Leichnam
fanden sich mehrere Wanden am Kopf nnd zahlreiche Hautabschürfungen. Beide
Hoden waren aus dem Sorotum herausgerissen, und statt der Afteröffnung klaffte
ein 2 1 / 2 Zoll langes Loch, welohes durch den zerrissenen Mastdarm, von dem
überhaupt nur ein 6 Zoll langes Stück noch vorhanden war, mit der Bauchhöhle
communicirte. Die Gedärme, das Netz und die Leber waren mehrfach zerrissen,
die Milz nicht vorhanden. In der Bauchhöhle wurden Sand und mehrere kleine
Baumzweige gefunden. Die Obducenten bezeichneten als Todesursache: Verblu¬
tung, nnd begutachteten, dass die Verletzungen am After und in der Bauohhöhle
duroh Eintreiben eines harten, walzenförmigen Körpers von über 1 Fuss Länge
und wenigstens 6 Zoll Dicke hervorgebracht seien. Liman’s Vermuthung, dass
es sich hier um einen päderastischen Nothzuchtsaot gehandelt habe, gewinnt an
Wahrscheinlichkeit durch das Vorhandensein anderer Fälle, in denen bei päde¬
rastischen Attentaten mehr oder minder voluminöse Fremdkörper die Stelle
des Penis vertraten und unter Umständen das Rectum vorletzten. So berichtet
Stromeyer (oitirt nach F. Esmarch, Die Krankheiten des Mastdarms und des
Afters in Pitha-Billroth’s Handbuch der Chirurgie, UI. Bd., 2. Abth., 5. Lief.,
S. 58), dass ein paar junge Leute einem alten Paederasten, der ihnen nach¬
gestellt, einen grossen Holzpflock in den Mastdarm keilten, und v. Hofmann
(1. c. S. 487) erzählt, dass dem Liebhaber einer Bäuerin von dem Gatten der¬
selben und mehreren anderen aufgelauert und dann mit Hilfe eines Steines ein
Holzpflock in den After getrieben wurde, ohne dass jedoch nach Entfernung des
Fremdkörpers schwere Erscheinungen auftraten.
Aach za päderastischer Onanie werden Fremdkörper manch¬
mal benutzt. Schauenstein (cit. nach Maschka, III. Bd., S. 185)
sah anf Dumreicher’s Klinik aas dem Mastdarm eines Mannes eine
mehr als Vs Liter haltende Weinflasche hervorziehen, die er sich
höchst wahrscheinlich in päderastischer Absicht za tief eingefahrt
hatte. Einen ähnlichen Fall beschreibt J. Collins Warren (Boston
med. and sarg. Joarn., CXXII, 23, 90 — cit. nach Deutsche Medi-
cinal-Zeitung, 1891, S. 646): Ein 41jähriger Vagabund pflegte, um
seine Geschlechtslust zu befriedigen, eine kegelförmige, 10 Zoll lange
Einmacheflasche, die Basis nach unten gerichtet, im Rectum rhyth¬
misch hin und her zu schieben. Eines Tages entglitt sie seiner Hand
und konnte erst, nachdem der Sphincter bis zum Steissbein durch¬
schnitten und dieses mit einer Zange nach hinten gezogen war, ex-
trahirt werden. Nölaton (Elements de Pathologie Chirurg., p. 42 —
cit. nach Esmarch, 1. c., S. 64) erzählt von einem Manne, dem bei
einer Orgie ein grosses fiiergl&s in’s Rectum geschoben worden war.
Das Glas zerbrach in Folge der Bemühungen, es herauszubefördern,
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and bei der Extraction der Stücke wurde der Mastdarm an mehreren
Stellen beträchtlich zerrissen, so dass der Verletzte nach 8 Tagen an
Phlegmone des Beckenbindegewebes zu Grunde ging.
Zuweilen rühren die Vorgefundenen Läsionen auch von unzüch¬
tigen Fingermanipulationen her. Die Zerreissung des eigenen
Mastdarmes mit den Fingern verübte, wie M. Coli ins (Med. Record
XXXVII, 21, 1890 — citirt nach Deutsche Medicinal-Zeitung, 1891,
S. 518) mittheilt, ein 16jähriger irrsinniger Epileptiker. Auch er
starb an Phlegmone 3 Tage nach der Verletzung. — Ein 16jähriges
Mädchen ermordete, wie Majer (Friedreich’s Blätter für gerichtliche
Medicin, 33- Jahrg., S. 457) erzählt, aus Geilheit vier kleine Kinder
— das jüngste davon war 19 Wochen alt —, indem sie mit ihrem
Finger im Mastdarm der kleinen Geschöpfe herumbohrte und die
Darmwandungen perforirte. Auf dieselbe Weise tödtete sie auch ein
junges Schwein und ein Kalb. — Bei einem 5jährigen Mädchen,
dessen Geschlechtstheile mit dem Finger bearbeitet waren, fand
Li man (1. c., I. Bd., S. 348) einen completen Dammriss mit Mast¬
darmvorfall und Kothincontinenz. Einen vollständigen Dammriss bis
in’s Rectum hinein beobachtete auch Maschka (1. c., III. Bd., S. 104
und 158) an einem 13jährigen Mädchen, dem ein Soldat, um sich
den Nothzuchtsact zu erleichtern, mit dem hakenförmig in die Scheide
eingeführten Finger die Theile gewaltsam zerrissen hatte. Liman
(1. c., I. Bd., S. 349) berichtet, dass ein junges Mädchen durch drei
Knechte überfallen wurde, dass einer davon ihr mit dem Finger in
die Geschlechtstheile griff und Sand und Steine hineinstopfte. Die
Folge war vollständige Zerreissung des Dammes. Die Communication
zwischen Scheide und Mastdarm erstreckte sich einen Zoll tief. Durch
längere chirurgische Behandlung gelang es jedoch, den Damm wieder¬
herzustellen. —
Fremdkörper der verschiedensten Art werden, wenn sie von
oben, von unten oder von der Seite her in den Mastdarm eindringen,
verhältnissmässig häufig die Ursache von Verletzungen. In der Lite¬
ratur findet man eine grosse Anzahl solcher Fälle beschrieben, doch
bieten wenige derselben ein unmittelbares forensisches Interesse
dar. Für den Gerichtsarzt sind ja diese Läsionen nur dann von
Bedeutung, wenn der Verdacht besteht, dass das Eindringen des
fremden Körpers einem Verbrechen oder einer Fahrlässigkeit zuzu¬
schreiben ist, oder dass der Thäter die Absicht hatte, sich selbst za
verletzen.
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Die Verletzungen des Mastdarmes vom gerichtsärztlichen Standpnnkt. 257
Freilich gehen oft scharfe and spitze Gegenstände, die aas irgend einem
Grande verschlaokt worden sind, durch den ganzen Darmoanal hindurch, ohne
nennenswerten Schaden anzariohten. F. Esmaroh (1. o. S. 53 n. 54) erwähnt
eine silberne Gabel, einen spitzigen Zirkel, eine mit künstlichen Zähnen and
Klammern versehene Goldplatte, die sämmtlich ohne Nachtheil für die betreffen¬
den Kranken durch den After zum Vorschein kamen. Die Ausleerungen eines
Melanoholikors (Bloch in Schmucker’s vermischten ohirarg. Schriften, I. Bd..
S. 374 — oitirt nach Esmarcb 1. c. S. 54) enthielten im Verlaufe von 8 Mo¬
naten: 157Stücke soharfen und eckigen Glases bis zu 2 Zoll Länge, 102messingene
Stecknadeln, 150 verrostete eiserne Nägel, 3 grosse Haarnadeln, 15 Stücke Eisen
von verschiedener Grösse, ein grosses Stück Blei, eine halbe messingene Schuh¬
schnalle und 3 Zelthaken. Der Patient, welcher wegen eines Schrotschusses, den
er gegen seine Stirn abgefeuert hatte, in ärztliche Behandlung gekommen war,
wurde körperlich vollständig gesund, blieb aber geisteskrank.
Zuweilen indess setzen sich solche Fremdkörper oberhalb des Sphincter ani
fest und durchbohren die Schleimhaut des Mastdarms. So schnitt Rothmund
(citirt nach Esmarcb 1. c. S. 54) aus dem After eines Mannes ein 8 Y 2 Zoll
langes, fingerdickes Eisenstück, das 3 Zoll über dem Anus durch die Mastdarm¬
wand gedrungen war. Der Patient hatte dasselbe vor 19 Tagen aus Lebens¬
überdruss verschluokt. Brodie (Esmarch I. c. S. 55) sah bei der Obduotion
eines amerikanischen Matrosen, der gewerbsmässig Taschenmesser zu verschlingen
pflegte, ausser mehreren halbverrosteten Messerklingen, die sich im Darmoanal
befanden, ein breites Messer, welches quer im Mastdarm liegend die Wände des¬
selben auf beiden Seiten durchbohrt hatte.
Bei den fremden Körpern, die von unten und von der Seite her in das
Rectum gelangen, hängt die Grösse der Verletzung nicht nur ab von Umfang,
Gestalt und sonstiger Beschaffenheit des eingedrungenen Gegenstandes, sondern
auch von der Gewalt, welche das Eindringen bewirkte. Der Einführung von Holz¬
pflöcken, Flaschen und Gläsern bei päderastischen Acten ist im Anschluss an
den Fall Corny schon gedacht worden. — Eine eigenthümlicbe Verletzung des
Mastdarms beobachtete v. Fillenbaum (Der Militärarzt, Beibl. zur Wiener me-
dicinischen Wochenschrift, 1878, No. 7 und 8 ) im Lemberger Garnisonspital bei
galiziscben Rekruten, nämlich einen Mastdarmvorfall, den man künstlich erzeugt
hatte, um die betreffenden Individuen vom Militärdienst zu befreien. Zu diesem
Zweck wurde entweder ein Schwamm, der an eine Schnur gebunden war, 24 Stun¬
den im Mastdarm belassen und, nachdem er aufgequollen war, durch einen ge¬
waltsamen Zug (Fall naoh vorwärts) extrahirt, wobei die Mastdarmschleimhaut
mit prolabirte, oder ein 6—8 cm langes, conisohes, an einem Ende bimförmig
verdicktes, glattes Bleistück, das am dickeren Ende eine Oese hatte, wurde in
den Mastdarm hineingescboben, worauf durch heftiges Drängen und gleichzeitiges
starkes Ziehen an einer durch die Oese geführten Schnur die Mastdarmschleim¬
haut hervorgezogen ward. Mit einem Ruck, unterstützt durch eine leichte
Drehung der Lendenwirbelsäule, konnte gewöhnlich der oft 6 —10 cm lange
Vorfall wie duroh eine Feder hervorgeschnellt werden. Die Therapie war wenig
befriedigend, weil die Kranken fortwährend den Bemühungen des Arztes ent¬
gegenarbeiteten.
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Sehr schwere Verwundungen kommen zu Stande, wenn Menschen
aus mehr oder minder beträchtlicher Höhe anf spitze Gegenstände
fallen, und diese in den Mastdarm eindringen. Ein Knabe, welchen
F. Esmarch’s Vater behandelte (Esmaich, 1. c., S. 43), war von
einem Obstbaum herab auf einen Blumenstock gefallen. Da der Stock
durch den After bis in die Bauchhöhle gedrungen war, so starb der
Verletzte nach wenigen Stunden. Heath (Lancet 3. 12. 1887 — cit.
nach Deutsche Medicinal-Zeitung, 1888, S. 233) berichtet über einen
18jährigen Jüngling, dem beim Fall aus einer Höhe von ungefähr
vier Fuss der Schaft eines Schmiedehammers so tief in den Anas ein¬
drang, dass ein kräftiger Arbeiter den Stiel nur mit Mühe heraus¬
ziehen konnte. Der Patient begab sich, da der Unfall ihm nur wenig
Schmerzen verursachte, noch zu Fuss in das eine englische Meile ent¬
fernte Krankenhaus, ging aber am nächsten Morgen an Peritonitis zu
Grunde. Bei der Section fand sich in der vorderen Mastdarm wand
3 Zoll oberhalb des Afters ein dreieckiger Einriss. Die Bauchhöhle
enthielt eine kleine Quantität harter Fäces und ausserdem ein 2 Zoll
langes, l'/ 2 Zoll breites Stück vom Hemde des Verwundeten. Für
den Gerichtsarzt ist bei diesem E'alle besonders bemerkenswerth, dass
trotz einer so gewaltigen Verletzung des Abdomens keine Shoek-Er-
scheinungen aufgetreten waren. Derartige Läsionen können jedoch,
namentlich wenn die Peritonealhöhle nicht eröffnet wurde, auch einen
günstigen Ausgang nehmen, wie folgender von Thoman (Wiener
medicinische Presse, 1867, No. 39) publicirte Fall zeigt: Eine 26jäh-
rige, im sechsten Monat schwangere Tagelöhnerin wurde, als sie über
einen aus zugespitzten Holzpfählen bestehenden Gartenzaun hinweg¬
setzen wollte, um ihrer Verhaftung bei einem Rübendiebstahl zn ent¬
gehen, förmlich aufgespiesst und trug neben ausgedehnter Zerreissung
des Dammes zwei grosse Scheiden-Mastdarmrisse davon. Dennoch war
die Patientin nach acht Wochen vollständig geheilt, und — was be¬
sonders zu beachten ist — die Schwangerschaft, erlitt durch die
schwere Verletzung nicht die geringste Störung.
Wirkliche Stich- und Schnittwunden des Mastdarmes kom¬
men dem Gerichtsarzte selten zu Gesicht. Der Chirurg freilich ist
öfter in der Lage, das Rectum absichtlich oder unabsichtlich verletzen
zu müssen. Namentlich wird bisweilen bei Ausführung des Stein¬
schnittes vom Damme aus der Mastdarm ohne Absicht angeschnitten;
doch passirt dieses Unglück nach Esmarch (1. c., S. 41) auch be¬
rühmten Operateuren, weshalb es kaum jemals Gegenstand der foren-
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Di« Verletzungen des Mastdarmes vom gerichtsärztlioben Standpunkt 259
sischen Beurtheilung sein dürfte. Ueber eine Mastdarmstichwunde, die
der Verletzte bei einer Tanzbodenraoferei acquirirt hatte, berichtet
Buhl in Henle’s und v. Pfeufer’s Zeitschrift für rationelle Medicin
(III. Reihe, VII. Band, 1859, S. 82ff.): Die äussere Wundöffnung,
wodurch sich Koth und Darmgase entleerten, befand sich dicht neben
dem rechten Sitzknorren. Die Heilung war innerhalb sechs Wochen
vollendet, jedoch verfiel der Verletzte in Siechthum und starb vier
Jahre später an Lungen-, Nieren- und Blasentuberculose, worauf der
Fall zur gerichtsärztlichen Begutachtung kam. lndess gelang es nicht,
einen Zusammenhang zwischen der Todesursache und der Mastdarm¬
verletzung nachzuweisen. — Schnittwunden des Afters und des Mast¬
darmes werden auch beobachtet, wenn Porzellantöpfe, auf denen
Kinder zur Verrichtung ihrer Nothdurft sitzen, unter diesen zerbrechen.
Esmarch (1. c., S. 43) fand nach einem solchen Unglück den Sphincter
ani fast ganz durchschnitten. Diese Fälle können forensisches Inter¬
esse gewinnen, wenn Fahrlässigkeit des Pflegepersonals in Frage
kommt.
Schusswunden des Mastdarmes unterliegen ebenfalls sehr selten
der gerichtsärztlichen Beurtheilung. König (1. c., S. 424) unter¬
scheidet zwei Typen solcher Verletzungen: Bei dem ersten Typus,
der fast immer mit Verletzung der Beckenknochen complicirt ist,
wird der Mastdarm in querer Richtung durchbohrt. Bei dem zweiten
geht der Schuss von vorne nach hinten, so dass ausser dem Mast¬
darm die Bauchdecken und leicht auch die Blase, das Bauchfell, die
Symphyse und das Kreuzbein verletzt werden. Sommerbrodt be¬
merkt in seiner Arbeit „Ueber Schussverletzungen der Bauchorgane
vom gerichtsärztlichen Standpunkte aus“ (Prager Vierteljahrsschrift
für die praktische Heilkunde, 140. Band, 1878, S. 24), dass bei
Schüssen in das Rectum die Gefahr hauptsächlich in den Nebenver-
letzungen liege. In der That ruft namentlich die Eröffnung des
Bauchfellsackes fast immer tödtliche Peritonitis hervor. Die Zer¬
schmetterung der Beckenknochen kann Knochenverjauchung und tödt-
liche Pyämie (Esmarch, 1. c., S. 44), die gleichzeitige Verletzung
der Blase den Eintritt von Koth in dieselbe, faulige Cystitis und
Concrementbildung zur Folge haben (König, 1. c., S. 424). Am
Mastdarm selbst sind nach Dem me (Allgem. Chirurgie der Schuss¬
wunden, 2. Auflage, S. 259) Zurückbleiben und Einbohrungen von
Knochensplittern und Geschossen, Kothinfiltrationen, Abscesse und
Verjauchungen des Zellgewebes, langwierige Fistelzustände, wieder-
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Dr. Mantzel.
holte, oft profuse Blutungen aus den Venae haemorrhoidales, Läh¬
mungen der Sphincteren und narbige Stricturen beobachtet worden.
Dennoch kommt es in vielen, nach Brix (Ueber Schussverletzungen
der Blase und des Mastdarmes, S. 23) sogar in den meisten Fällen,
in denen das Peritoneum unverletzt geblieben ist, zu vollständiger
Genesung. Schon Jobert (Memoire sur les plaies du canal intestinal,
p. 14) berichtet über zwei Heilungen solcher Mastdarmschüsse, die
gleichzeitig die Blase perforirt hatten, und die neuere kriegschirur¬
gische Literatur bietet in dieser Beziehung eine reichhaltige Casuistik.
Als Beispiel einer tödtlichen Verbrennung des Mastdarmes er¬
wähnt von Hofmann (1. c., S. 488) die Ermordung des englischen
Königs Eduard II. durch Einführen eines glühenden Eisens in das
Rectum. Im Uebrigen entstehen Verbrennungen des Mastdarmes wohl
kaum auf eine andere Weise, als wenn zu therapeutischen Zwecken,
z. B. zur Heilung des Vorfalls und der Hämorrhoiden, das Glüheisen
oder der Thermokauter auf die Schleimhaut applicirt werden. Aetz-
mittel, wie der Höllenstein, die rauchende Salpetersäure u. dgl., sind
ja für diesen Zweck ebenfalls im Gebrauch.
Aber auch durch ätzende Flüssigkeiten, die Klystieren zu¬
gesetzt waren, sind Läsionen der Mastdarmschleimhaut vorgekommen.
Orth (1. c., S. 430) bemerkt, dass man in solchen Fällen die Falten¬
höhen des Rectums entweder mit Substanzverlusten versehen, oder
mit einer grauen, verschorft erscheinenden Schleimhaut bodeckt findet,
deren Umgebung sehr stark geröthet und geschwollen ist. Die Be¬
grenzung einer derartigen Affection auf eine kleine Strecke und das
Freisein der übrigen Theile des Darmes von solchen, den dysente¬
rischen sehr ähnlichen Veränderungen, müssten stets den Verdacht
einer chemischen Ursache erregen. Orth nennt speciell den Essig,
der ja häufig Klystierflüssigkeiten zugesetzt wird; doch habe ich ein
Beispiel von Anätzung des Mastdarmes durch Essigsäure in der Lite¬
ratur nicht auffinden können. Dagegen hat Schuchardt (Vergif¬
tungen in Maschka’s Handbuch, II. Bd., S. 67) fünf Fälle von ab¬
sichtlicher oder zufälliger Schwefelsäurevergiftung per Clysma
zusaramengestellt. Zwei davon sind durch Taylor (London Med.
Gaz. 17, S. 623) veröffentlicht worden, ln einem dieser Fälle litt
der Kranke an den heftigsten Schmerzen und starb im Verlaufe
weniger Stunden. In dem dritten Falle, welchen Deutsch in der
preussischen medicinischen Vereinszeitung, 1848, No. 13 mitgetheilt
hat, handelte es sich um eine zufällige Schwefelsäure-Intoxication von
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Die Verletzungen des Mastdarmes vom gerichtsärztlicben Standpunkt. 261
Muttor und Kind durch eine Hebamme, die statt des Oels eine Quan¬
tität Schwefelsäure in die Klystierflüssigkeit gegossen hatte. Beide
genasen binnen einer Woche. Die vierte und fünfte Beobachtung
machte von Hofmann (1. c., S. 648), nämlich einer zufälligen Ver¬
giftung bei einem Kinde und einer möglicherweise beabsichtigten Ver¬
giftung bei einer gelähmten Officierswittwe. Nähere Angaben über
den etwaigen Befund im Mastdarm fehlen in allen diesen Fällen,
von Hofmann (1. c., S. 615) berührt ferner kurz den Selbstmord
eines Mädchens durch ein Klysma mit Wanzengift (alkoholischer
Sublimatlösung). Heinicke (Ueber Rectalstricturen, S. 8) be¬
richtet, ohne seine Quelle anzugeben, dass auch nach einem Klystier
von zu heissera Wasser eine Mastd arm Verletzung mit nachfolgender
Strictur beobachtet worden sei. Li man (1. c., II. Bd., S. 582ff.)
erörtert ausführlich die Vergiftung einer an Dysenterie erkrankten
Frau durch ein Carbolsäure zu 3 '/ 3 pCt. enthaltendes Klystier, doch
erwähnt er nichts von einer Anätzung des Mastdarmes, die auch bei
so geringer Concentration der Säure wohl kaum erfolgen konnte.
Im Uebrigen kommen Läsionen des Mastdarmes durch kunst¬
widriges Heilverfahren nicht allzu selten vor. Insbesondere ist
das Rectum durch fehlerhafte Application von . Klystieren
häufiger verletzt oder ganz durchbohrt worden. Die Kenntniss dieser
Thatsachen ist für den Gerichtsarzt von erheblicher Wichtigkeit. Hat
doch, wie Wossidlo (diese Vierteljahrsschrift, N. F., V. Bd., S. 109)
berichtet, vor nunmehr freilich bald dreissig Jahren ein Arzt als
Defensional Sachverständiger vor Gericht erklärt, «dass eine Verwun¬
dung durch eine Klystierspritze überhaupt kaum erhört sei!“
Neuerdings bat A. Nordmann, gestützt auf 25 in der Baseler patholo¬
gischen Anstalt obducirte Fälle in seiner Inauguraldissertation (Ueber olysma-
tisebe Läsionen des Mastdarms, 1887) diese Frage ebenso ausführlich wie gründ¬
lich erörtert. Derartige Verletzungen verdanken ihre Entstehung einerseits dem
Umstande, dass die Klystierapparate nooh immer vielfach mit knöchernen oder
metallenen Ansatzstücken versehen werden, die bei rohem Einschieben die Mast¬
darmwand beschädigen können, andererseits, wie v. Recklinghausen (Sitzungs¬
berichte der pbysikalisch-medicinischen Gesellschaft zu Würzborg. 1869, II.,
S. 11) betont hat, der Unkenntniss des Verlaufes des Rectums von Seiteu der
«Klystier-Techniker“. Da nämlich der Mastdarm mit seiner vorderen Wand 2
bis 3 cm über dem After eine nach vorne convexe Bucht bildet, während er ober¬
halb derselben in eine nach links und hinten gerichtete Krümmung übergeht, so
kann die Spitze des Klystieransatzes, falls sie nach vorn, statt nach hinten und
links gerichtet wird, sich in der eben erwähnten Bucht fangen und hier die Darm¬
wand verletzen. Diesen Verhältnissen entspricht, dass bei weitem die meisten
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Dr. Mantzel,
klysmatisoben Mastdarmläsionen ihren Sitz an der vorderen Wand haben. Köster
(Deutsche medicinische Wochenschrift, 1877, Ko. 41) behauptet sogar, dass dies
ausnahmslos zutreffe; doch fand Nord mann (1. c. S. 28) unter seinen 25 Fällen
die Verletzung dreimal auch an der hinteren Wand. Dem entspricht weiter, dass
die Entfernung der Läsionen vom Anus nach Nordmann’s Beobachtungen 2
bis 7 cm, in der Mehrzahl aber nur 2—4 cm beträgt.
Orth (1. c. S. 431) meint, dass besonders alle längs verlaufenden,
mitten in sonst normaler Schleimhaut gelegenen Wunden und Geschwüre einem
Clysma ihre Entstehung verdanken. Auch Wossidlo (l.c. S. 106) beobachtete eine
2Zoll laoge und nur ’ / 3 Zoll breite Perforation. Unter Nordmann’s Fällen befand
sich aber nur einer, worüber im Sectionsprotocoll ausdrücklich bemerkt wird, dass
die Vorgefundenen nekrotischen Stellen der Schleimhaut länglich seien (S. 23).
Im allgemeinen batten die von Nord mann untersuchten Perforationen, Nekrosen
und Geschwüre eine rundliche Form (S. 27). Köster (1. c.). der ebenfalls be¬
tont, dass die Ulcera clysmatica gewöhnlich rund seien, erwähnt dabei, dass sie
häufig trichterförmig von unten und innen, nach oben und aussen in die Mast¬
darmwand eindringen. Nordmann fand aber nur io einem Falle diese Trichter¬
form. Niokel (Virchow’s Archiv, 127. Bd., S. 294 u. 295), der die Sammlung
des Greifswalder pathologischen Instituts nach Klystierverletzungen durchmustert
hat und zwei Fälle nicht perforirender klysmatischer Mastdarmgeschwüre aus¬
führlich beschreibt, hebt hervor, dass die klysmatischen Geschwüre sich duroh
wallartig überbängende, beim Aufgiessen von Wasser flottirende Ränder aus¬
zeichnen. Die Breite und Höhe der Veränderungen sohwankt nach Nord mann
(S. 27) zwisohen 1 und 5 cm; die Tiefe ist sehr verschieden: von leichten Ver¬
letzungen, die lediglich die Mucosa betreffen, bis zur vollständigen Perforation
kommen sämmtliche Tiefengrade vor. An den total durchbohrten Stellen zeigt
sich entweder ein umfängliches Loch oder eine Fistelöffnung; in der Nähe können
sich Nekrosen oder Geschwürsbildungen befinden, welohe in zwei Fällen Nord¬
mann’s die Perforationsöffnung ringförmig umgaben (S. 29). Solche multiplen
Verletzungen sind wohl auf wiederholte Klystier-Applioation zurüokzuführen.
Die oberflächlichen Geschwüre entstehen naoh Nord mann, der bei seinen
genau untersuchten Präparaten stets eine merkliche Infiltration der Geschwürs¬
basis vorfand, infolge von Schleimbautquetscbung durch den Spritzenansatz und
späterer Abstossung eines Schorfes (S. 32). Köster (1. o.) dagegen spricht von
directer Durchstossung der Schleimhaut und fand dementsprechend wenig oder
gar keine entzündliche Wucherung der Ränder. Für die Entstehung grösserer
Geschwüre kommt auch die submucöse Phlegmone in Betracht (Nordmann,
S. 31), welche trotz fehlender Perforation sich entwickeln kann. Das Absterben
geschieht nach Nordmann’s Beobachtungen meist in Form der feuchten Gan¬
grän, doch fanden sioh auch nekrobiotische Umwandlungen der Gewebe in Form
hyaliner und diphtheroider Bildungen, in einem Falle sogar Verkalkungen. —
Das männliche Gesohlecht war bei Nord mau n’s Fällen viel stärker betbeiligt,
als das weibliche: 17 Männer gegen 8 Weiber (S. 27). .Nordmann vermuthet,
dass füi Frauen im Allgemeinen ungefährlichere Instrumente (Irrigator mit
Gummiansatz), als für Männer im Gebrauch seien.
Für die Diagnose der klysmatisoben Mastdarmverletzung kommt namentlich
der Sitz der Affection und die Entfernung vom Anus in Betracht. Im Uebrigen
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Die Verletzungen des Mastdarmes vom geriohtsärztlichen Standpunkt. 263
sind die oben angeführten Kennzeichen doch za weßig charakteristisch, am allein
aas dem objectiven Befand den klysmatisohen Ursprung einer Mastdarmläsion an¬
zweifelhaft za diagnostioiren, zumal ja die verschiedenen Beobachter sich in
mancher Beziehung widersprechen. In den meisten Fällen dürfte deshalb, wie
auch Nord mann (S. 37) hervorbebt, nur die Anamnese volle Sicherheit ge¬
währen. — Die nicht perforirenden Ulcera clysmatica gehen wohl meist in Hei¬
lung über, ohne dass es za Complicationen kommt, doch ist die Entwicklung
einer paraprootalen Phlegmone nicht ganz ausgeschlossen; auch können diese
Geschwüre in einzelnen Fällen chronisch werden und in ein atouisches Stadium
gelangen. Köster (1. o.) macht darauf aufmerksam, dass sie unter Umständen
auch die Ursaohe einer Mastdarmfistel werden können. Ging das Ulcas beträcht¬
lich in die Tiefe oder in die Breite, so kann sich eine Strictur herausbilden.
Todesfälle, die mit Sicherheit aaf eine klysmatisobe Verletzung zarückzuführen
sind, bat man, so weit mir die Literatur bekannt geworden ist, nur nach voll¬
ständiger Perforation beobachtet. Die letztere führt wohl fast immer zar Para¬
prootitis oder Periprootitis, namentlich, wenn naoh der Durchbohrung des Mast¬
darms die oft reizende und bacterienhaltige Klystierflüssigkeit in das Beoken-
Bindegewebe deponirt worden ist. Die paraprootale Phlegmone kann durch
Sepsis und Pyaemie zum Tode führen oder sich mit tödtlicher Peritonitis combi-
niren. Im anderen Falle bleibt fast ohne Ausnahme eine Strictur zurück, bei
Frauen zuweilen eine Recto-Vaginalfistel. Immerhin kommt eine beträchtliche
Anzahl der Verletzten mit dem Leben davon.
Velpeau allerdings (Nouveaux Elements de mödecine operatoire, Tom. I.,
p. 278 — citirt nach Esmarch 1. c. S. 41) sah von 8 Fällen 6 tödtlich en¬
digen, während in einem Falle eine bedeutende Functionsstörung für das ganze
Leben zurüokblieb und nur in einem naoh langen Leiden schliesslich Heilung
eintrat. Auoh Cbomel (Bulletin de thärapeutique, 1835, Tom. IX. p. 139 —
citirt nach Esmarch 1. c. S.42) beobaohtete zwei Todesfälle, den einen 7 Tage,
den anderen schon 4 Tage nach der Perforation. Bei der Section des letzteren,
wo eine abnorme Krümmung des Mastdarms 3 cm oberhalb des Afters die Ver¬
letzung veranlasst hatte, fand sich neben brandiger Entzündung des extraperi¬
tonealen Bindegewebes eine ausgebreitete eitrige Peritonitis. Ashton (Die
Krankheiten, Verletzungen und Missbildungen des Rectum und Anus, 3. Aufl.,
deutsch von Uterhart, S. 155) beschreibt ein im Museum des St. Bartholomäus-
Hospitals befindliches Präparat von einem Manne, der infolge von Perforation des
Rectums durch die metallene Spitze eioer Klystierspritze und von gleichzeitiger
Injection eines Quantums Haferschleim in die Bauchhöhle an Peritonitis zu Grunde
ging, — und ferner ein Präparat von einem Kinde weiblichen Gesohlechts, dem
10 Monate vor seinem Tode der Ansatz einer Klystierspritze durob die Recto-
Vaginalwand gestossen war, und das schliesslich infolge von ausgedehnter nar¬
biger Strictur an Kothverhaltung starb. Dieser letzte Fall ist vielleicht identisch
mit dem von Curling (Diseases of the Rectum. Annotä et traduit par
Dr. H. Bergeron — citirt naoh Juliusburger 1. c. S. 6) angeführten, wo bei
einem 5jährigen Kinde nach einer Klystierspritzen-Perforation der Mastdarm-
Scbeidenwand das Lumen des Darmoanals ca. 1 Zoll vom After entfernt bis auf
3 mm narbig verengert gefunden wurde.
Paulioki (Memorab., XIV. 3. 9. 1868 — oitirt nach Schmidt’s Jahr-
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Dr. Mantzel,
264
büchern, 145. Bd., S. 183) erzählt einen Fall, wo nach einer klysmatisohen
Mastdarmperforation tödtlicbe phlegmonöse Entzündung des Perineums mit nach¬
folgender Gangrän des Scrotums nnd der Umgebung eintrat. Das Reotam war
vollständig in eine jauchige Masse verwandelt, so dass die Perforationsstelle
nicht mehr nacbgewiesen werden konnte Haschek (Oesterreichische Zeitschrift
für praktische Heilkunde, XV., 33 — 36, 1869 — citirt nach Schmidt’s Jahr¬
büchern 1. c.) berichtet, dass bei einer 42jährigen Magd, die durch vier hinter¬
einander gesetzte Klystiere ohne Zweifel mehrfach verletzt worden war, nach
einigen Tagen sich ein fast spannenlanges, abgestorbenes Stück des Darmrohres
entleerte. Der Tod trat hier erst nach fünf Monaten ein. Bei der Obduction
fand sich ausgedehnte jauchige Periproctitis und Peritonitis Hnd ausserdem eine
Gommunication zwischen Mastdarm und Scheide. Wossidlo (1. c. S. 104 ff.)
theilt mit, dass einer 31jährigen Frau acht Tage nach ihrer normalen Entbin¬
dung beim Setzen eines Klystiers von der Hebamme die Reoto-Vaginalwand
durohstossen wurde, worauf die Kranke acht Tage später an septischer Endo¬
metritis und Peritonitis zu Grunde ging. Eine solche Klystierverletzung bei einer
Wöohnerin beobachtete auch Wyss (Correspondenz-Blatt für Schweizer Aerzte,
1881, No. 5), doch trat hier nach Ablauf einer heftigen Paraproctitis, während
welcher dreimal darmartige Gewebsstücke abgingen, schliesslich Heilung ein,
wenn auch unter Bildung einer Strictur. Eine durch Klystierapplication bei einer
Wöchnerin entstandene Mastdarm-Scheidenfistel halte auch Breisky (Die Krank¬
heiten der Vagina in Billroth-Lücke’s Handbuch der Frauenkrankheiten, 2. Aufl.,
ni. Bd., S. 759) zu sehen Gelegenheit.
Dieffenbach (Archives genörales de möd., 1828, T. XVI, p. 287 —
citirt nach Esmarch 1. c. S.42) beobachtete bei einem Knaben, dem ausnahms¬
weise die hintere Rectum wand durch das Klystier perforirt worden war, voll¬
ständige Genesung, nachdem am sechsten Tage ein Stück des Mastdarms sich
brandig abgestossen batte. Passavant (Deutsche Klinik 1862, No. 51 und
1863, No. 1) beschreibt ausführlich fünf derartige Fälle. Nur einer davon, der
einen an Prostata-Hypertrophie und Blasenblutung leidenden 83jährigen Greis
betraf, endigte tödtlich 14 Tage nach der Verletzung. In den übrigen Fällen
trat naoh Monate langen Leiden schliesslich Heilung ein, wenngleich vorher bei
einem jungen Manne eine durch die Verletzung entstandene oomplete Mastdarm¬
fistel und bei einer 53 jährigen Frau eine Mastdarmscbeidenfistel, die sich infolge
der Perforation gebildet hatte, operirt werden mussten. Esmaroh (1. o. S. 41)
sah vier solcher Perforationen, die sämmtlich beträchtliche Substanzverluste,
aber doch nicht den Tod zur Folge hatten. Von Hofmann (1. c. S 488) beob¬
achtete ebenfalls eine Perforation, die zur Heilung gelangte. Auch unter Nord-
mann’s Fällen befinden sich nur zwei, bei denen mit Sicherheit der Tod als
eine Folge der Verletzung anzaseben ist. In dem einen Falle handelte es sioh
um einen 22jährigen Metzger, der 3 Wochen vor seinem Tode durch mehrere
Glysmata verletzt wordon war. in dem andern um einen 69jährigen Pfründner,
der am 6. und 11. Januar 1882 je ein Klystier bekommen hatte und am 29. Januar
starb. Bei beiden fand sich ausgedehnte Phlegmone des Beokenbindegewebes.
Schliesslich sei noch erwähnt, dass nach Bökai (Die Krank¬
heiten des Mastdarmes und des Afters in Gerhardts Handbuch der
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Die Verletzungen des Mastdarmes vom gerichtsärztlichen Standpunkt. 265
Kinderkrankheiten. VI. Bd., 2. Abtheil., S. 661) durch häufige und
übermässige Anwendung von Klystieren wie von Suppositorien nament¬
lich bei Kindern das Zustandekommen des Mastdarm Vorfalles be¬
günstigt wird. —
Auch durch unvorsichtige Einführung von Bougies bei der
Stricturenbehandlung kann das Rectum verletzt und perforirt werden.
Curling (Die Krankheiten des Mastdarmes, deutsch von de Neuf-
ville, S. 97ff.), der betont, dass schon mit einer elastischen Mast¬
darmsonde Perforationen vorgekoramen seien, sah in der Sammlung
des Guy’s Hospitals einen vollständig gesunden Darm, den ein Wund¬
arzt in der Meinung, eine Strictur vor sich zu haben, 14 Zoll ober¬
halb des Afters mit einer Kerze durchbohrt hatte, so dass der Tod
des Verletzten in Folge von Peritonitis eintrat. Derselbe Autor er¬
zählt, dass ein an Mastdarmstrictur leidender Mann, dem es über¬
lassen ward, sich selbst zu bougiren, sein eigenes Rectum doppelt
perforirte, worauf Darmschlingen in das Mastdarmlumen eindrangen.
Er starb bereits am nächsten Tage. Englisch (Eulenburg’s Real-
encyklopädie, 2. Aufl., XII. Bd., S. 600) macht darauf aufmerksam,
dass besonders in denjenigen Fällen, wo schon Verschwärungen des
Mastdarmes bestehen, die Durchbohrung der Wand beim leisesten
Druck erfolgen kann.
Bei der Einführung der ganzen Hand in das Rectum, also
der Simon’schen Untersuchungsmethode, sind ebenfalls, wie Weil
(1. c., S. 286) bemerkt, Zerreissungen des Mastdarmes vorgekommon;
und König (1. c., S. 581) erzählt, dass selbst in Folge zu starken
Aufblasens eines eingelegten Colpeurynters Platzen des Mastdarmes
beobachtet worden sei.
Ashton (1. c, S. 156) sah einen Mann, dem beim Kathete¬
rismus die Spitze des Instrumentes durch die Urethra unmittelbar
vor der Prostata bis in’s Rectum gestossen war, ohne dass dem Ver¬
letzten ein bleibender Nachtheil daraus erwuchs.
Lüders (Deutsche Klinik, 1858, No. 10) beschreibt ausführlich
einen merkwürdigen Fall von Perforation des Mastdarmes durch ein
gewaltsam und fehlerhaft applicirtes Scheidenpessar. Eine 50jäh-
rige Dame liess ihr Hausarzt, weil sie über Unterleibsbeschwerden
klagte, durch eine Hebamme untersuchen, die sogleich einen Pro¬
lapsus uteri diagnosticirte und deshalb, wiederum auf Anordnung des
Arztes, der Kranken ein Pessarium einführen musste. Bei dieser Pro-
cedur, die der Patientin furchtbare Schmerzen verursachte, wurde das
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Dr. Mantzel,
hintere Scheidengewölbe eingerissen, und das Pessar durch den Riss
in’s Septum recto-vaginale hineingeschoben. Hier blieb es sitzen und
konnte, weil der Scheidenriss vernarbte, später in der Vagina nicht
mehr aufgefunden werden. Erst nach zwei Jahren gelang es, das
Pessar, welches mittlerweile die Mastdarmwand durchbohrt hatte, per
anum zu entfernen, worauf die Kranke vollständig genas.
Bei Geburten lässt sieh eine Verletzung des Mastdarms nicht immer ver¬
meiden, wenn der Kindskopf aussergewöhnlich gross oder die mötterliohen Weich-
theile aussergewöhnlich eng und zerreisslich sind und die Entbindung zu schnell
von statten geht. Entweder handelt es sich dann um einen Riss allein im Reoto-
Vaginalseptum ohne Betheilignng des Perineums, was sehr selten ist, oder um
einen sogenannten completen Dammriss, der hoch ins Rectum hinaufreiohen
kann. Aber auch durch rohes Operiren werden Verletzungen dieser Art zuweilen
verursacht. Gleichzeitige Zerreissung der Gebärmutter und des Mastdarms sah
Graves (Philad. med. and surg. Reporter, XXI., 12. September 18, 1869 —
citirt nach Sohmidt’s Jahrbüchern, 146. Bd., S. 55) bei einer 33jährigen Frau,
die im vierten Monat ihrer Schwangerschaft durch Einführen einer Stricknadel
in den Uterus sioh die Frucht abzutreiben versuchte. Der wegen Eintritts heftiger
Kreuzschmerzen und hohen Fiebers herbeigerufene Arzt bemühte sioh, den Foetus
mit einer Polypenzange zu entfernen und zerriss dabei Collum uteri und Rectum,
so dass Faecalmaterie und einige Ascariden aus dem Muttermunde hervorkamen.
Rach längerer Krankheit erfolgte spontane Schliessung des Risses. Die Frau
wurde später ohne Kunsthilfe noch von zwei Kindern entbunden. (Relata refero;
ich muss aber gestehen, dass mir die anatomischen Verhältnisse der Verwundung
in diesem Falle nicht ganz klar sind.)
Für das Zustandekommen eines completen Dammrisses wird der Geburts¬
helfer, wenn er auoh manchmal nicht ohne jede Schuld sein mag, doch straf¬
rechtlich nie zur Verantwortung gezogen werden können, denn, wie Hecker
(citirt nach Schröder, Lehrbuch der Geburtshülfe, 8. Auflage, S. 697) mit
Recht bemerkt hat, trifft man zuweilen „Dämme, die wie Zunder reissen*,
und bei denen alle Vorsicht und Sorgfalt vergeblich ist. Dagegen ist naoh dem
heutigen Stande unserer Kunst und Wissenschaft der Arzt verpflichtet, einen
completen Dammriss sofort durch die Naht zu vereinigen. Leidliche Spontan¬
heilungen kommen äusserst selten und nur unter ganz besonders günstigen Um¬
ständen vor (vergleiche Hohl, Lehrbuch der Geburtshülfe, 2. Aufl., S. 632),
während man durch kunstgerechte Naht heutzutage doch glücklicherweise in den
meisten Fällen primäre Heilung erzielt und damit die Wöchnerin vor Incontinentia
alvi bewahrt, deren Beseitigung später nur mit viel grösseren Schwierigkeiten
und mit viel zweifelhafterem Erfolge angestrebt werden kann. Der Geburtshelfer
also, der die Naht unterlässt, desgleichen die Hebamme, die es verabsäumt, so¬
fort einen Arzt herbeizuholen, setzen fahrlässiger Weise die Aufmerksamkeit aus
den Augen, zu welcher sie vermöge ihres Berufes besonders verpflichtet sind
(§ 230 D. Straf-G.) und könnten mit demselben Recht bestraft werden, wie ein
Arzt, der eine leicht erkennbare Luxation zu reponiren unterlässt.
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Die Verletzungen des Mastd&rmes vom geriohtsärztliohen Standpunkt. 267
Im Vorstehenden sind mit möglichster Vollständigkeit alle Arten
der Mastdarm7erletzung erörtert worden, die unter Umständen der ge¬
richtsärztlichen Beurtheilung unterliegen können. Aber der Gerichts¬
arzt muss auch wissen, dass lediglich gewaltsames Hervordrängen
harter Eothmassen aus dem After mehr oder minder beträchtliche
Zerreissungen des Mastdarmes zu bewirken vermag. Auf diese Weise
sind nicht nur Einrisse in den Anus entstanden, sondern auch be¬
deutende transversale Einrisse in das Rectum oberhalb des Sphincter
internus. Mehrere derartige Verletzungen beschreibt Ashton (1. c.,
S. 152 und 153). In einigen Fällen, wo die Darmwand schon vorher
krankhaft verändert war, ist es sogar allein durch gewöhnliches
Drängen beim Stuhlgang, ferner beim Heben einer schweren Last, ja
selbst ohne jede nachweisbare Veranlassung zur Zerreissung des Rec-
tums und zum Vorfall von Dünndarmschlingen aus dem After ge¬
kommen (Esmarch, 1. c., S. 46). —
Manche Verletzungen des Mastdarmes, namentlich solche der Pars
analis, haben für den Gerichtsarzt eine vorwiegend diagnostische
Bedeutung, insofern sie die Spuren einer strafbaren Handlung dar¬
stellen. Hierher gehören: die Lähmung des Sphincter durch päde-
rastische Acte — und leichte Einrisse des Alters, wie sie zuweilen
nach unzüchtigen Handlungen verschiedener Art, besonders bei Kin¬
dern beobachtet werden. In den allermeisten Fällen aber kommen
hauptsächlich die Folgen in Betracht, die eine Mastdarm Verletzung
für Leben oder Gesundheit des Beschädigten nach sich zieht.
Bei schweren Läsionen des Rectums, zumal wenn auch die Bauch¬
höhle eröffnet worden ist, kann der Tod lediglich durch Shock ver¬
ursacht werden; doch lehrt der von Heath mitgetheilte, oben be¬
schriebene Fall, dass auch nach gewaltigen Verletzungen des Ab¬
domens der Shock hier und da ganz ausbleibt. Zweitens kommt als
Todesursache die Verblutung in Betracht, die durch den grossen
Reichthum der Mastdarm Wandungen an Gefässen, namentlich an Venen,
besonders erleichtert wird. Wenn die Mastdarmvenen varicös erweitert
sind, wächst diese Gefahr erheblich. Den Verblutungstod erlitt, wie
oben erwähnt wurde, der auf räthselhafte Weise ermordete Knabe
Corny. Ferner kann im Anschluss an eine Verletzung Thrombose
und Entzündung der Mastdarmvenen zu Stande kommen (Es¬
march, 1. c., S. 47), die sich meist rasch nach oben gegen die Pfort¬
ader hin verbreitet und oft eine tödtliche Pyämie zur Folge hat.
Pyämisches und septisches Fieber kann auch dadurch entstehen,
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Dr. Mantzel,
dass durch eine Mastdarmwunde Gas in das periproctale Bindegewebe
gelangt und ein fortschreitendes Emphysem erzeugt. Ein solches
Emphysem führt noch sicherer zum Tode, wenn das Gas nicht aus
dem Darme stammt, sondern von brandiger Zersetzung in dem ver¬
jauchenden Bindegewebe selbst herrührt. Die gewöhnlichste Folge
einer tieferen Mastdarmverlctzung ist jedoch die paraproctale
Phlegmone, deren Zustandekommen dadurch begünstigt wird, dass
die im Rectum vorhandenen Fäcalmassen in die Wunde und von da
in’s Beckenbindegewebe eindringen, wo sie die sogenannte Kothinfil-
tration hervorrufen. Auch nach Einspritzungen von Klystierflüssigkeit
in’s paraproctale Gewebe entwickelt sich, wie oben erörtert worden
ist, diese Phlegmone. Sie führt häufig zu umfangreichen Verjauchungen
und brandigen Zerstörungen und vermag das Leben zu vernichten
durch Sepsis oder Pyämie oder durch das Hinzutreten einer Peri¬
tonitis. Letztere kommt primär zu Stande, wenn der Mastdarm
durch die Perforationsstelle mit der Bauchhöhle communicirt.
Diese Folgen einer Mastdarmverletzung bedingen oft ein längeres
Krankenlager. In dem von Haschek veröffentlichten Falle einer
Klystierverletzung trat der Tod erst nach fünf Monaten ein. Dem
Gerichtsarzte wird es deshalb erst dann möglich sein, ein abschliessen¬
des Urtheil über den Grad der Verletzung zu fällen, wenn keine Ent¬
zündungserscheinungen mehr vorhanden sind. Aber auch in diesem
Stadium ist die Gefahr für das Leben des Verletzten keineswegs be¬
seitigt. Fast immer bleiben nach Perforationen und ausgedehnteren
Zerreissungen des Mastdarmes, namentlich wenn sie durch eine Phleg¬
mone complicirt werden, narbige Verengerungen zurück, die
schliesslich durch Kothverhaltung oder Marasmus zum Tode führen
können. In dem von Ashton beschriebenen Falle, wovon ein Prä¬
parat im St. Bartholomäus-Hospital aufbewahrt wird, starb das durch
ein Klysma verwundete Kind in Folge von Kothverhaltung 10 Monate
nach der Verletzung. Da indess gewöhnlich Jahre vergehen, bis es
in Folge einer Strictur des Rectums zum letalen Ende kommt, so
wird der Gerichtsarzt wohl nur äusserst selten in der Lage sein, eine
Mastdarmläsion, die zur Verengerung geführt hat, als tödtliche Ver¬
letzung bezeichnen zu müssen.
Jede Strictur des Mastdarmes aber bedingt Verfall in Sicch-
thum im Sinne des Superarbitriums der preussischen wissenschaft¬
lichen Deputation für das Medicinalwesen vom 7. Mai 1877. Dort
heisst es: „Zunächst liegt im Worte Siechthum der Begriff eines lang
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Die Verletzungen des Mastdarmes vom gerichtsärztlichen Standpunkt. 269
andauernden (chronischen) Krankheitszustandes, der den Menschen in
gewissem Grade schwer benachtheiligt, die Arbeits- und Erwerbsfähig-
keit resp. Leistungsfähigkeit in erheblicher Weise beeinträchtigt. Un¬
heilbarkeit liegt nicht unbedingt im Worte Siechthum (da man auch
von Genesung aus langem Siechthum spricht), aber es lässt sich .bei
diesen schweren chronischen Krankheitszuständen auch nicht Vorher¬
sagen, ob sie jemals beseitigt werden können, und in welcher Frist
dies möglicherweise geschehen könnte“ (vergl. Maisch, diese Viertel¬
jahrsschrift, 3. Folge, III. Band, S. 105). — Dies Alles trifft ohne
Zweifel auf die Mastdarmstrictur vollständig zu. Sie ist ein eminent
chronischer Krankheitszustand, der den Patienten fortwährend quält,
seine Energie lähmt und seine Leistungsfähigkeit verringert; und wenn
es auch gelingt, die Beschwerden durch fortgesetzte ärztliche Behand¬
lung zu lindern, ja in allerdings seltenen Fällen Heilung zu erzielen,
so bleibt doch immer die Möglichkeit einer abermaligen Verschlimme¬
rung bestehen.
Um Siechthum handelt es sich ferner, wenn in Folge completer
Zerreissung des Afterschliessmuskels Koth und Darmgase un¬
freiwillig abgehen. Zwar bietet dieser Zustand für eine vollkommene
Heilung weit grössere Chancen, als die Strictur, aber die Heilung ist
nur möglich durch eine Operation, und „eine Operation kann“, wie
Maisch (1. c., S. 108) mit Recht bemerkt, „doch nur mit Einwilli¬
gung des Verletzten gemacht werden; man kann Niemand zwingen,
sich den Chancen einer Operation zu unterwerfen, denn auch leichte
Operationen haben ihre Opfer gefordert, und das Chloroform ist schon
Manchem gefährlich geworden. Also darauf, ob vielleicht durch eine
in einiger Zeit vorzunehmende Operation Heilung eintreten kann, und
ob der Verletzte seine Einwilligung dazu giebt, auf solche Eventuali¬
täten brauchen wir uns nicht einzulassen.“ Dementsprechend gab
auch Lim an (1. c., I. Bd., S. 348) in einem Falle, wo es sich um
completen Dammriss bei einem fünfjährigen Mädchen handelte, sein
Gutachten dahin ab, dass die Verletzung im Sinne des § 224 St.-G.
eine schwere sei, weil das Kind seinen Koth nicht halten könne und
dadurch in Siechthum verfallen sei.
Etwas anderes ist es mit der Beurtheilung des Mastdarmvor¬
falles, der ebenfalls, wenn auch selten, im Gefolge einer Verletzung
des Rectums beobachtet wird. Der durch Prolapsus recti verursachte
Krankheitszustand kann nur unter der Bedingung als Siechthum be-
Vierteljahraoehr. f. gar. Med. Dritte Folge. V. 2.
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Dr. Maotzel,
zeichnet werden, dass der Vorfall entweder nach jeder Reposition so¬
gleich wieder zam Vorschein kommt, oder überhaupt nicht zurück-
zubringen ist, so dass dauernde Kothincontinenz besteht. Auch eine
Mastdarm-Scheidenfistel bedingt Siechthum nur dann, wenn
selbst fester Koth unwillkürlich durch die Scheide abgeht. Kleinere
Rectovaginalüsteln belästigen wenig und haben grosse Neigung zu
heilen. Endlich kann es sich bei der forensischen Beurtheilung der
Folgen einer Mastdarmrerletzung auch um die Bedeutung der ge¬
wöhnlichen Mastdarmfistel handeln. Ihre Existenz wird aber nur
ganz ausnahmsweise, wenn sehr grosse Beschwerden bestehen und
Besserung nicht wahrscheinlich ist, als Verfall in Siechthum be¬
zeichnet werden können.
Ist nach einer Mastdarmrerletzung keiner der genannten Folge¬
zustände eingetreten oder zu befürchten, so muss die Verletzung als
eine leichte angesehen werden.
Literatur.
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Paris 1826.
2) T. B. Curling, Die Krankheiten des Mastdarmes. Deutsch von W. C. de
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8) A. F. Hohl, Lehrbuch der Geburtshülfe. 2. Aufl. Leipzig 1862.
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und Anus. 8. Aufl. Deutsch von C. Uterhärt. Würzburg 1868.
6) H. Demme, Allgemeine Chirurgie der Schusswunden. 2 Aufl. Würzburg 1868.
6) F. Eamaroh, Die Krankheiten des Mastdarmes und des Afters in Pitha-Bill-
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6. Lieferung. Erlangen 1872.
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Paris 1878
8) J. Bökai, Die Krankheiten des Mastdarmes und des Afters in Gerhardts
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10) K Schröder, Lehrbuch der Geburtshülfe. 8. Aufl Bonn 1884.
11) A. Breisky, Die Krankheiten der Vagina in Billroth-Lüoke’s Handbach der
Frauenkrankheiten. 2. Aufl., 8 Bd. Stuttgart 1886
12) Eulenburg’s Real-Encyklopädie der gesammten Heilkunde. 2. Aufl., 12. Bd.
Wien 1887. (,, Mastdarm“, bearbeitet von Englisch.)
18) J. Orth, Compendium der pathologisch-anatomischen Diagnostik, 4. Aufl.
Berlin 1888.
14) Fr. König, Lehrbuch der speciellen Chirurgie. 5. Aufl., 2. Bd. Berlin 1889.
16) Casper-Liman, Handbuch der gerichtlichen Medicin. 8. Aufl. Berlin 1889.
16) E. v. Hof mann, Lehrbuch der geriohtliohen Medicin. 6. Aufl. Wien 1691.
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Die Verletzungen des Mastdarmes vom geriohtsärztlichen Standpunkt. 271
17) Verhandlungen des X. internationalen medioinischen Gongresses. 6. Band,
XVII Abtheil. Berlin 1891.
18) X. Heinioke, Ueber Rectalstrioturen Inaug.-Dissert. Berlin 1882.
19) 0. Juliusburger, Beiträge zur Kenntniss von den Geschwüren und Stric-
turen des Mastdarmes. Inaug.-Dissert Breslau 1884.
20) J. Brix, Ueber Sohussrerletzungen der Blase und des Mastdarmes. Inaug.-
Dissert. Berlin 1886.
21) A. Nord mann, Ueber klysmatische Läsionen des Mastdarmes. Inaug.-Dissert.
Basel 1887.
22) Deutsche Klinik, 1858, No. 10 (0. F. Luders, Merkwürdiger Fall von Ein¬
gewachsensein eines Pessariums im Douglas’schen Raume und Entfernung
desselben durch das Rectum).
28) Deutsche Klinik, 1862, No. 51 und 1863, No. 1 (G. Passavant, Gefährliche
Verwundungen durch das Setzen eines Klystiers).
24) Henle’s und v. Pfeufer’s Zeitschrift für rationelle Medioin. 8. Reihe, 7. Band,
1859 (Buhl, Stichwunde in den Mastdarm).
26) Diese Vierteljahrsschrift, Neue Folge, 5. Bd., 1866 (Wossidlo, Einige Worte
über die Stellung der Aerzte vor Gericht als Defensional-Sachverständige).
26) Diese Vierteljahrsscbrift, N. F., 22. Bd., 1875 (Reimann, Ein Fall von ge¬
waltsamer, unnatürlicher Nothzucht).
27) Diese Vierteljahrsschrift, N. F., 89. Bd., 1888 (Sohwarze, Untersuchung
wegen widernatürlicher Unzucht u s w.).
28) Diese Vierteljahrsschrift, 8. Folge, 8. Bd., 1892 (Maisoh, Ueber die gerichts¬
ärztliche Diagnose des Siechthums und der Lähmung).
29) Wiener medicinische Presse, 1867, No. 89 (E. Thoman, Ein Fall spontanen
Verschlusses zweier durch Trauma veranlassten mit dem Mastdarme com-
municirenden Riss- und Quetschwunden der Vagina bei einem sechs Monate
schwangeren Weibe).
80) Sitzungsberichte der physikalisch - medioinischen Gesellschaft zu Würzburg,
1869 , n, S. 11.
81) Deutsche medicinische Wochensohrift, 1877, No. 41 (Köster, Ulcera clys-
matioa).
32) Prager Vierteljahrsschrift für die praktische Heilkunde, 140. Band, 1878
(M. Sommerbrodt, Ueber Schussverletzungen der Bauchorgane vom ge¬
riohtsärztlichen Standpunkte aus).
88) Der Militärarzt, Beiblatt zur Wiener medicinischen Wochenschrift, 1878, No. 7
und 8 (v. Fillenbaum, Ueber das häufige Vorkommen des Mastdarmvor¬
falles bei den galizischen Rekruten).
84) Correspondenzblatt für Schweizer Aerzte, 1881, No. 5
85) Friedreich’s Blätter für gerichtl. Vedicin u. Sanitätspolizei, 1882 (C. Majer,
Statistik der Strafrechtspflege in Bayern nebst Beiträgen zur geriohtsärzt¬
lichen Casuistik für das Jahr 1880).
86) Sohmidt’s Jahrbücher der gesammten Medicin, 145. Bd., 1870 (Referate über
a) Paulicki, Fall von jauchiger Zerstörung des Rectum und der um¬
liegenden Gewebe in Folge von Perforation durch eine Klystier¬
spritze;
b) Hasohek, Perforation des Mastdarmes beim Geben eines Klystiers).
87) Schmidt’s Jahrbücher der gesammten Medicin, 146. Bd., 1870 (Referat über
J B. Graves, Abortus mit Zerreissung des Uterus und Rectum).
38) Breslauer ärztliche Zeitschrift. 1884, S. 65.
89) Deutsohe Medicinalzeitung, 1887, No. 21 (Referate über
a) N. Belajew, Operativ-gynäkologische Casuistik der Vesico-Vaginal¬
und Reoto-Vaginal-Fisteln;
b) Price, Mastdarmscheidenfistel durch Coitus).
40) Deutsche Medicinalzeitung, 1887, No. 67 (Referat über Brouardel, Päde¬
rastie des Hundes am Menschen).
41) Deutsche Medicinalzeitung, 1888, No. 19 (Referat über Heath, Ruptur des
Mastdarmes etc.).
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42) Deutsche Medicinalzeitung. 1891, No. 21 (Referat über Sinaisky, Dammriss
mit Bildung einer Mastdarm-Scheidenfistel nach dem ersten Coitus).
48) Deutsche Medicinalzeitung, 1891, No. 44 (Referat über M. Co 11 ins. Zer-
reissung des Rectums und Perineums bei einem irrsinnigen Epileptiker).
44) Deutsche Medicinalzeitung, 1891, No. 56 (Referat über J. Co 11 ins Warren,
Eine Einmacheflasche im Rectum).
45) Virchow’s Archiv für pathologische Anatomie etc, 127. Bd , 2. Heft, 1892
(R. Poelchen, Ueber die Aetiologie der stricturirenden Mastdarmge¬
schwüre. — P. Nickel, Ueber die sogenannten syphilitischen Mastdarm¬
geschwüre).
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4.
Die Beurtheilug der perrersei Sexaalvergehei ia fero.
Von
Dr. CL Seydelf
Ausserordentl. Professor und Pol. 8Udtphj8ikus su Königsberg i. Pr.
Die interessanten Bücher von Erafft-Gbing and Moll lassen
eine geradezu erschreckende Aasbreitung der perversen Sexualempfin-
dong und -Vergehen in dieser Richtung in den heutigen Culturvölkern
erkennen, von denen sich Uneingeweihte bis dahin eine Vorstellung
wohl kaum gemacht haben. Im Vergleich zu den von competenten
Beurtheilern (namentlich Moll für Berlin) festgestellten perverse be-
anlagten Individuen kommen selbst in grösseren Städten Delicte in
dieser Beziehung relativ selten zur Aburtheilung in foro. Fast mehr
gelegentlich wurden bei Diebstahlsprocessen beim sogen. Fetischismus,
bei Untersuchung in einer Mordsache hier in Königsberg perverse
Sexualvergehen zur Kenntniss der Gerichte gebracht.
Die schweren Geisteserkrankungen sind im Uebrigen dabei nicht
sehr viel betheiligt. Moeli citirt in seinem Werke „Ueber irre Ver¬
brecher“ im Ganzen 25 Fälle von Vergehen gegen die Sittlichkeit,
hauptsächlich von Geistesschwachen, Alkoholikern und Epileptikern
begangen.
Was will diese kleine Zahl der von Moeli unter Gruppe V zu¬
sammengefassten irren Verbrecher gegen die enormen Zahlen von Moll
sagen, welche er ans gewiss auf Grund wohl verbürgter Angaben und
einer reichen Erfahrung mittheilt. Es ist hiernach der Schluss wohl
berechtigt, dass es sich bei den Individuen mit perverser Sexual-
empfindung entweder um Menschen handelt, die im Uebrigen gesund,
vor verbrecherischen Excessen vorsichtig sich zu wahren verstehen,
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274
Dr. Seydel,
oder dass ihre Vergehen von ihren Complicen gebilligt und dem Arme
der strafenden Gerechtigkeit entzogen werden.
Mit welch unglaublicher Schlauheit und Kühnheit solche Ver¬
brechen allerdings oft Jahre lang unentdeckt verübt werden können,
beweist uns die Geschichte des Marquis de Sade, nach welchem
Krafft-Ebing den Sadismus benamset hat, und in der neuesten Zeit
die Lustmorde des Jack the Ripper, der vielleicht in der Person des
John Deeming in Australien von der Nemesis ereilt ist.
Nach den Erfahrungen Krafft-Ehing’s sind dabei perverse be-
anlagte Individuen in Bezug auf die Befriedigung ihrer Gelöste einem
viel grösseren Triebe, gewissermassen einem Zwange unterworfen, der
bei normal beanlagten Menschen in Bezug auf geschlechtliche Be¬
gierden meist nur unter abnormen Verhältnissen, z. B. im Alkohol¬
rausche, beobachtet wird. Krafft-Ebing führt eine Reihe von Fällen
an, aus denen hervorgeht, dass sich die Verirrungen der perversen
Sexualität durch einen psychischen Zwang, der sich in Benommenheit
des Kopfes, dumpfem Drucke im Kopfe, somatischem Unbehagen bis
zur Erfüllung der Libido kundgaben und den betreffenden Individuen
vor dem Excesse fast die normale Ueberlegung raubten.
Die schwereren Psychosen, die zu unsittlichen Ausschreitungen
führen, pflegen sich der Oeffentlichkeit gewöhnlich nicht lange zu ent¬
ziehen. Sie wenden sich, wie auch die Erfahrung von Moeli zeigt,
relativ häufig gegen Kinder, werden auf offener Strasse mit einer un¬
glaublichen Schamlosigkeit ausgeführt und kommen daher gewöhnlich
bald zu strafrechtlicher Verfolgung.
Anders steht die Sache bei päderastischen Attentaten, die oft
Jahre lang mit einer Schlauheit und ängstlicher Vermeidung von
Entdeckung betrieben werden, dass nur gewisse, wie es scheint, nicht
ganz unbetheiligte Kreise darum wissen. Kommt ein solcher Fall zur
richterlichen Aburtheilung, so zeigt sich oft, dass vox populi über
das betreffende Individuum lange vor dem competenten Richter sein,
allerdings geheim gehaltenes, Votum abgegeben hat.
Man wird die perversen Sexualvergehen am besten in 2 Gruppen
eintheilen, je nachdem sie in Abweichungen und Verirrungen des nor¬
malen Geschlechtstriebes dem weiblichen Geschlechte gegenüber oder
in päderastischen oder gar sodomitischen Excessen bestehen 1 ).
*) In Bezog auf die gesetzgeberische Beurtheilung dieser Materie finden
wir hochinteressante Mittheilungen in einem Aufsätze eines Anonymus mit einer
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Die Beurtheilang der perversen Sexaalvergehen in foro.
275
Die Verirrungen der ersten Gruppe, die eine so interessante
Illustration in den erwähnten Werken von Krafft-Ebing und Moll
finden, beschäftigen den Strafrichter wohl sehr selten. Sie spielen
sich, abgesehen von wirklich Geisteskranken, in der Sphäre der Pro¬
stitution ab und werden von bestimmten Individuen dieser Eiasse
bereitwillig unterstützt. Die Mitwisserinnen solcher Verirrungen sind,
wie es scheint, im Ganzen verschwiegen, wenn auch die Bücher beider
erwähnten Autoren eine Fülle von Beispielen in dieser Beziehung
aufweisen.
Der von Krafft-Ebing mit dem Namen Masochismus (naoh Saoher-
Masoch’s Roman Venns im Pelz) belegte perverse Sexualtrieb scheint sioh, wie
dieser Autor anführt, relativ am häufigsten zu finden, mir selbst wurden ein paar
Originalbriefe eingehändigt, welche diese eigenthümliohe Verirrung recht charak-
terisiren. Sie lauten.an den bezeichnenden Stellen:
Meine geliebte T.! Grausame Herrin und gestrenge Gebieterin I — Ob ich
punkt 9 kommen werde weiss ich nicht, sollte ich später kommen, so wirst Du
am besten wissen, wie man einen ungehorsamen Hund bestraft. Ich glaube Du
wirst ohne dies in fürchterliche Wuth gerathen, wenn ich Dir bekenne, dass ioh
den Knebel selbst abgemacht und die Strafarbeit nicht ausgeführt habe. Den
Knebel (um den der Penis geschnürt war) hast Du so schlecht angemacht, dass
Zusatzbemerkung von Krafft-Ebing in Band XII, Heft 1 der Zeitschrift für
gesammte Strafrechtswissenschaft von List-Lilienthal etc. Eigenthümlich ist
die Stellung der verschiedenen Culturstaaten zu diesem Strafdelict: Italien und
Frankreich lassen dasselbe mit gewissen Einschränkungen straffrei, d. h. wenn
das öffentliche Schamgefühl nicht verletzt, eine Gewalt gegen Personen über
14 Jahren oder das Delict gegen Personen unter 14 Jahren nioht ausgeübt ist.
Deutschland und Ungarn stellen nur die widernatürliche Unzucht unter Männern
unter Strafe, Oesterreich auch den Amor lesbicus. Amerika jede widernatürliche
önzuobt zwischen Mann und Mann, Frau und Frau, Mann und Frau, Mensch und
Thier, Mensch und Leichnam. Zum Begriff der widernatürlichen Unzucht wird
ein Eindringen in die Geschlechtstheile vorausgesetzt.
Am strengsten bestraft England jede widernatürliche Unzucht, die Päde¬
rastie sogar mit dem Tode.
Krafft-Ebing in einem Nachworte zu diesem anonymen Aufsatze plädirt
für directe Abschaffung des § 175 des deutschen St.-G.-B., weil die hier vorge¬
sehenen Deliote in der Regel einer krankhaften seelischen Veranlagung ent¬
springen. Die meisten der sogen. Urninge ständen unter einem geradezu phy¬
sischen Zwange; der nicht einer blossen Perversität, sondern einer krankhaften
Perversion entspränge. Der § 175 wäre zu unbestimmt gehalten und gebe dem
subjectiven Ermessen des Richters einen zu grossen Spielraum. Der §175 wirke
nur selten abschreckend, bessernd niemals, denn krankhafte Naturerscheinungen
werden nicht durch Strafen beseitigt. Der §175 leiste der falschen Denunciation
und der Erpressung und der Chan tage Vorschub.
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276
Dr. Seydel,
•r von selbst abging and nar am Dioh etwas za fahlen, habe ich dies wieder
selbst befestigt, obgleich dies nicht den richtigen Reiz ausübt. — Da musst mir
wenn ich eintrete einen Brief geben, durch den ich weiss was mir bevorsteht*
wenn ich nioht blindlings Deinen darin ausgesprochenen allerstrengsten Befehlen
gehorohe. Wenn Dein Hand heate von Dir fortgeht mass er kein Glied rühren
können and mehr todt als lebendig sein. Sinne Dir nur eine grausame Marter
für Deinen Hand aas, aber ioh glaube es wird wieder Nichts sein. Wenn Da
mich mit dem bewussten Schriftstück ängstigen and zugleich erfreuen willst, so
stecke es mir in ein Taschentuch etc. Dein Hand.“
Das zweite Schreiben ist ähnlich, ein Passus darin lautet: „Die Hauptsache
ist, dass der Hintere (nach den von ihm erbetenen Flagellationen) so dick an-
schwellen muss und eine einzige grosse Wunde sein muss, dass man kaum die
Hose herüberbekommt und dann vier Wochen lang nicht sitzen kann.“
Dieser Masochist der schlimmsten Sorte soll nach Aussage der betreffenden
Prostituirten ein stattlicher hübscher Mann in mittleren Jahren gewesen sein, der
von ihr sich vor dem Coitus die Oberarme mit langen Nadeln durchstechen, sioh
energisoh peitschen liess und sich fast jedes Mal bis zur Steroophagie binreissen
Hess. Wenn der betreffende Mann auoh nioht fein gebildet, so war er es dooh
nach seinen Briefen jedenfalls viel mehr als die betreffende Prostituirte, der
gegenüber er sich in jeder Weise erniedrigte und die er in Qualen für sich immer
erfinderischer machen woUte.
Dass dieser schlimmsten Form des Masochismus unendlich viel
schwächere Nuancen bis zum annähernd normalen Empfinden zur
Seite stehen, ist eine von den besagten Autoren vielfach hervorge¬
hobene Erfahrung. Es scheint in dieser Hinsicht ebenso wie bei
anderen Neuropathieen die Heredität nicht ohne Einfluss zu sein; ich
kenne von einer Familie Vater und Sohn, die, wie ich erfahren,
eigentümlich masochistische Gewohnheiten im Kreise der Prosti¬
tuirten entwickelten, dabei beide verheiratet und Familienväter sind.
Leichte masochistische Anwandlungen scheinen überhaupt, wie
Krafft-Ebing hervorhebt, sehr häufig zu sein und ist Flagellation
nicht allein bei entnervten älteren, sondern auch bei jüngeren neuro-
pathisch beanlagten Männern ein bei Prostituirten nicht selten be¬
gehrtes Reizmittel.
Die perverse Sexualempfindung in der activen und passiven Päde¬
rastie füllt seit den bekannten Urningschriften des Assessor M. eine
ganze Reihe von Büchern, doch scheint sie, wenn auch in unserem
Klima gerade nicht ohne Beispiel und namentlich in den grossen
Städten, wie Moll nach weist, gewissermassen in Centren vereinigt,
doch nicht so allgemein geworden zu sein, wie in den Ländern am
Mittelmeer. Die Griechen scheinen seit dem klassischen AUerthume
das grösste Contingent dieser Sexaalverirrung zu zeigen, wenigstens
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Die Beartheilung der perversen Sexnaivergehen in foro.
277
gelten sie in den Mittelmeerhäfen (Marseille, Genua etc.) für beson¬
ders stark belastet.
In meiner Praxis habe ich ein gewaltsames päderastiscbes Attentat
gegen einen Bäckergesellen durch zwei hier beschäftigte griechische
Arbeiter beobachtet.
In foro werden päderastische Perversitäten sehr viel leichter Ob¬
jecte richterlicher Aburtheilung als Perversitäten gegen das weibliche
Geschlecht, da nach § 175 des St.-G.-B. hierbei nur accidenteile
Vergehen strafbar sind. Wenn auch in der Mehrzahl dieser Fälle,
ebenso wie bei den Geschlechtsverirrungen gegen Weiber, eine ange¬
borene Anlage anzunehmen ist und sich, wie Krafft-Ebing in sei¬
nem Werke so anschaulich ausfährt, in den Träumen und Phantasieen
der Pubertätsperiode zeigt, so treten doch zweifellos Fälle hervor,
die im späteren Alter erworben und dann oft recht krass und unbe¬
greiflich sich darstellen.
Meiner in dieser Beziehung allerdings nioht sehr reichhaltigen Erfahrung
nach sind solche im späteren Geschlechtsleben auftretende Perversitäten nicht
selten Anzeichen und Vorläufer sohwerer Psychosen. Es ist eine in der Psychiatrie
bekannte Thatsache, dass weibliche Irre im Beginn fast aller Psychosen, die mit
Erregungszuständen in die Erscheinung treten, einen mehr oder weniger aus¬
gesprochenen nymphomanischen Zug darbieten. Jeder Arzt, der z. B. eine auf¬
geregte psychotische Kranke nach der Irrenanstalt begleitet, muss auf Zärtlich¬
keiten seitens der Patientin gefasst sein. Oft verbirgt sich diese erotische Fär¬
bung unter allerlei nicht immer feinen Neckereien, Ohrfeigen, Püffe u. s. w.
können applioirt werden und doch brioht gelegentlich eine unmotivirte Zärtlich¬
keit hervor, namentlich wenn man genöthigt ist, die Kranke gewaltsam anzu¬
fassen oder sie zu tragen.
Als ein Aequivalent dafür möohte ioh die Geschlechtsperversitäten ansehen,
die oft als ungeahnte Vorläufer vor schweren Psyohosen bis dahin in keiner
Weise durch das Vorleben angedeutet bei Männern, unabhängig und zeitlich ge¬
trennt von der Pubertätsentwicklung Vorkommen. —
Ein seiner Zeit hier peinliches Aufsehen erregender sehr trauriger Fall
findet hierdurch seine Erklärung. Ein aus den gebildeten Kreisen stammender
Beamter, der duroh sein liebenswürdiges und bescheidenes Wesen in seiner
Studienzeit und später allgemein beliebt und geachtet war, verlobte und ver-
heirathete sich als junger Beamter mit einer in jeder Beziehung passenden Dame.
Nach der Geburt des ersten Kindes zeigte der Mann eigenthümlioh aufgeregtes
Wesen, versuchte als Officier päderastisobe Attentate mit Soldaten etc. Er wurde
angeklagt, zu einer grösseren Freiheitsstrafe und Cassation von, allen seinen amt¬
lichen Stellungen verurtheilt. Im Gefängniss entwickelte sioh bei ihm para¬
lytischer Blödsinn, dem er vor längerer Zeit erlegen ist.
Ein junger Beamter, seit längerer Zeit neuropathisoh und naohweislioher
Morphinist, maohte hier einigen Soldaten in der plumpsten, unerklärlichsten Weise
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Dr. Soydel,
päderastische Anerbietungen, er wurde verhaftet, zeigte aioh anfangs vollständig
verworren, später fast amnestisch mit tiefer geistiger Depression. Einer Nerven*
anstalt zugeföhrt nnd daselbst einer Entziehnngscur für Morphium unterworfen,
hat er sich später nicht allein seinem Amte, das bisher stark vernachlässigt
worden war, mit vollständigem Eifer gewidmet, sondern auch in jeder Beziehung
ein moralisch tadelfreies Leben geführt, so dass er seine Carriöre fortsetzen kann.
Dass in diesem Falle Morphinismus als Aequivalent für Geistesstörung an¬
zunehmen, dürfte wohl zweifellos sein.
Von Exhibitionismus theilt Uoeli in seinem Werke einen Fall
auf zweifellos epileptischer Basis beruhend mit und einen vollständig
analogen Hotzen in der Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medicin,
Bd. VII.
Namentlich interessant ist die Motivirung in dem H.’schen Gutachten, das
sich über einen vielfach bestraften und in Irrenanstalten untergebrachten Kauf¬
mann ausspricht. Derselbe hatte die wiederholten schamlosesten Exhibitionen,
verbunden mit dipsomanischen Anfällen ausgefübrt, aber auch ohne Alkohol-
excesse kamen derartige Excesse vor, bei deren Herannahen der Untersuchte an-
giebt „er werde manchmal von Schwindel, Unruhe und Angst befallen, dann er¬
greife ihn gewaltsam der Trieb sich vor Mädchen zu entblössen und wenn er es
gethan erlange er Erleichterung und Befreiung des Athmens*. Nach dem Anfalle
habe er vollständige Amnesie und werde nur durch die behördliche Untersuchung
von der Wahrheit seines Deliotes überzeugt. H. plädirt unter dem Einflüsse
Lombroso’s für volle Geistesunfreiheit des Betreffenden. Ein Fall von Exhi¬
bitionismus wurde hier beim Schöffengericht im vorigen Jahre abgeurtheilt. Der
verheirathete Kellner M. entblösste wiederholt am Fenster eines Restaurants
stehend vor den vorbeigehenden Scbulmädohen seine Genitalien, that dasselbe
auch vor einigen Damen, indem er sich besonders beim Eingang in das Haus an
ihnen vorbeidrängte oder sie anrief und dann seine entblössten Genitalien prä-
sentirte. Er wurde nicht auf Geisteskrankheit untersucht, führte dieselbe auch
nicht als Entschuldigung an und verbüsste seine 20tägige Strafe wegen Erregung
öffentlichen Aergernisses.
Die in der Literatur nicht allzu häufigen Beispiele von Exhibi¬
tionismus scheinen sich zum grössten Theile auf psychisch abnorme
Persönlichkeiten zu beziehen. Jedenfalls gehört der von Liman in
der Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medicin, Neue Folge, Bd. 38,
mitgetheilte Fall dahin und wird als hypochondrische Geistesstörung
nach Westphal bezeichnet, obgleich Manches dafür spricht, dass es
sich um ein epileptisches Aequivalent handelt. Der Betreffende war
in seiner Jugend Onanist, hatte später Scheu vor Frauenzimmern, die
er behauptet nie berührt zu haben. Vor den hauptsächlich im Thier¬
garten an frequenten Stellen sich abspielenden Scenen giebt der Be¬
treffende an, lebhafte Hitze im Kopfe empfunden zu haben, dann habe
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Die Benrtheilang der perversen Sexual vergehen in foro.
279
sich eine Art Bewusstlosigkeit eingestellt * während der er mit ent-
blössten Genitalien umherlief, danach scheint Amnesie eingetreten zu
sein. Westphal’s Erklärung für derartige Zustände lautet: „Indem
die Aufmerksamkeit von körperlichen Empfindungen und Vorgängen
in abnormer Weise in Anspruch genommen wird, verfallen die Be¬
treffenden auf sonderbare Mittel zur Bekämpfung dieser Vorstellungen
und Empfindungen.“
Der zweite ebendaselbst von Li man beschriebene Fall von Ex¬
hibitionismus ist zweifellos auf epileptischer Basis, die von Fach¬
männern anerkannt zu psychiatrischer Behandlung geführt hatte.
Bei Frauen ist die Literatur über perverse Sexualempfindung
viel ärmer. Ob beim weiblichen Geschlecht, namentlich in besseren
den nervösen Affectionen mehr ausgesetzten Ständen, die Discretion
aus Scham mehr verhüllend wirkt, oder ob Erziehung und geringere
Libido im Ganzen wirksamer sind, lässt sich nicht bestimmt sagen.
Ganz frei ist das weibliche Geschlecht von der Psychopathia sexualis
jedenfalls nicht. Abgesehen von der nymphomanischen Erregung fast
aller acut Maniakalischen, finden wir auch bei angeborener Imbe-
cillität die zügelloseste Libido, ein Beispiel davon verdanke ich der
freundlichen Mittheilung des Herrn Director Sommer-Allenberg.
Es handelte sioh am eine unehelioh geborene Halbidiotin, deren Matter
blödsinnig war; schon in früher Jagend ging sie za ihren Pflegegenossinnen ins
Bett and belästigte dieselben daroh Betasten der Genitalien etc. Von ihrem
16. Jahre war sie zügellos dem männlichen Umgänge ergeben, mit 18 Jahren
gebar sie einen Knaben, den sie, als er 1 i / 2 Jahre alt, masturbatorisoh miss¬
brauchte. Von ihrer ersten Entbindung zeigte sie anfallsweise zügellose Nympho¬
manie, lief Männern, besonders halberwachsenen Jungen and zerlumpten Bettlern
stundenweit in den Wald nach, setzte mehrere blödsinnige Kinder in die Welt,
trieb mit einem grossen Hofhunde Sodomie and wurde naoh langem Warten ihrer
Heimathgemeinde in die Irrenpflegeanstalt aafgenommen, wo sie naoh einigen
Jahren starb.
Halbidiotinnen sind überhaupt im geschlechtsreifen Alter oft
zügelloser sexueller Ausschweifung ergeben.
Auch für den von Krafft-Ebing beim weiblichen Geschlecht
vermissten Masochismus haben wir ein Beispiel in der Patientin
Dieffenbach’s, die sich wiederholt den Arm absichtlich luxirte, um
bei der damals natürlich ohne Narkose ausgeführten Reduction die
wollüstigsten Empfindungen zu haben. Auch Fetischismus wird nicht
allzu selten bei Frauen beobachtet. Beispiele von homosexualer Per¬
versität scheinen bei dem weiblichen Geschlecht geradezu häufig zu
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Dr. Seydel,
sein and selbst bei Prostituirten kommen derartige Beispiele vor, die
dadurch ihrem Gewerbe darch Belästigung ihrer Genossinnen und ab¬
lehnende Kühle gegen das männliche Geschlecht entfremdet werden.
Die Beispiele Krafft-Ebing’s und Moll’s der sogenannten „schwulen
Weiber“ sind ja auch recht zahlreich.
Sodomie ist in den Lehrbüchern der gerichtlichen Medicin von
Hofmann, Liman etc. nicht ohne Beispiel, wird aber entschieden
sehr viel häufiger bei geisteskranken Personen, die an psychopathischer
sexueller Erregung leiden, beobachtet.
Präcisiren wir non den Standpunkt, den der Gerichtsarzt den
Aeusserungen der speciellen Perversität gegenüber einzunehmen hat;
dass solche AeusseruDgen im Interesse der öffentlichen Sittlichkeit
durch Strafe verfolgt und zurück gedrängt werden müssen, ist ausser
allem Zweifel. Es ist nur die Frage, wann wir wirkliche geistige
Verirrung, wann geistige Erkrankung und die sexuelle Perversität ge¬
wisseren assen als Symptom derselben anzusehen haben. 1 )
Stellt sich bei einem jugendlichen, im Uebrigen im Nerven¬
system nicht abnormen Individuum, bei dem hereditäre Belastung
nachweisbar, sexuelle Perversität ein, so wird dagegen wohl, so lange
keine Oollision mit dem Strafgesetz erfolgt und eine gewisse Beherr¬
schung und Wahrung des öffentlichen Anstandes beobachtet wird,
Nichts zu thun sein; es sind dies eben Fälle nervöser Verschroben¬
heit, die leider mit dem Fortschreiten der nervös überreizten Cultur-
roenschen immer häufiger zu werden scheinen. Es wäre durchaus
falsch, alle diese Individuen, die nach allen übrigen Seiten sich normal
zeigen, als Geisteskranke anzusehen. Kommen durch derartige Indi¬
viduen Ueberschreitungen des Strafgesetzes vor, so wird man den¬
selben Maassstab wie an geistig Gesunde anzulegen haben. Zu be¬
rücksichtigen wäre allerdings die erfahrongsmässig schwache Resistenz
solcher Individuen gegen alle körperlichen und geistigen Anstrengungen
und Reize, namentlich die sehr schwache Toleranz gegen Alcoholica;
die meisten Excesse kommen nach durchschwärmten Nächten, nach
übermässiger Aufregung und Anstrengung des Nervensystems vor.
*) Dass die oben in der Anmerkung angeführte Ansicht von Krafft-
Ebing nicht ganz den Beifall der Criminalisten finden dürfte, ist wohl anzu¬
nehmen. Delicte mit jugendlichen Personen unter 14 Jahren werden stets strenge
Benrtheilnng erfahren müssen. Dass sehr häufig die Art und Weise der Delicte
beinahe zwingend anf eine krankhafte Basis hinweisen, wird jedem vorartheils¬
freien Beurtheiier bei einzelnen Fallen entgegentreten.
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Die BeortheilaDg der perversen Sexaalvergeben in foro.
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Ob hierdurch eine verminderte Zurechnungsfähigkeit, welche vom
Reichsgericht unter Umständen angenommen wird, eintreten kann,
wird dem Urtheil des Sachverständigen und der Judicatur anheim¬
gegeben werden müssen. Anders stellt sich die Sache bei hereditär
schwer belasteten für gewöhnlich normal empfindenden und handeln¬
den Individuen, bei denen periodisch unbegreifliche, schamlose Excesse
beobachtet werden. In erster Linie sind hier wohl die Exhibitio¬
nisten zu betrachten, die der Mehrzahl nach als psychisch abnorm,
namentlich als epileptisch-psychopathisch erkannt worden sind, wie
die oben kurz angeführten Beispiele zeigen; die einzelnen Excesse
characterisiren sich nicht selten als epileptische Aequivalente, nament¬
lich durch die deutlich angegebenen Vorboten, Aura, die Kopflosig¬
keit des Handelns und die nicht als Simulation aufzufassende Amne¬
sie. Dieselben dürften als Geisteskranke zu beurtheilen sein. Eine
dritte Gruppe, die allerdings, wie es scheint, im Verhältniss zu den
beiden vorangeführten klein zu sein scheint, wird direct Geisteskranke
umfassen, die sexuelle Excesse im Anfangsstadium einer sich ent¬
wickelnden Geisteskrankheit zeigen. Bei diesen wird neben sexuellen
Excessen, die bis dahin nicht vorgekommen sind, sehr bald eine durch¬
greifende Veränderung der Psyche gefunden werden können. Ebenso
wie bei weiblichen Individuen im Beginn der Psychopathie erotische Er¬
regungen, die ihrem Charakter sonst fremd sind, sich einstellen,
ebenso zeigt sich bei Männern eine bis dahin nie beobachtete Scham¬
losigkeit und Excesse, die mit ihrem sonstigen Gebühren unvereinbar
sind. Der von mir eben angeführte Fall, der sich durch eine geraume
Zeit — in 4 Jahren — hinzog, gehört meines Erachtens zweifellos
dahin, wenn auch die mir von competenter Seite zugestellte genaue
Anamnese eine gewisse Verschrobenheit schon in früher Jugend er¬
kennen lässt. Alkoholische und überhaupt toxische Psychopathien
scheinen besonders leicht zu sexuellen Perversitäten in ihrem Anfangs¬
stadium Anlass zu geben. Weit entfernt, diese Perversitäten, die im
Geheimen unter Umständen schon längere Zeit bestanden haben, als
besonders geeignet für eine milde Beurtheilung ansehen zu wollen,
möchte ich doch den Collegen, die mit der sachverständigen Be¬
urtheilung eines solchen Falles betraut werden, eine grosse Vorsicht
und unter Umständen die Beobachtung in einer Irrenanstalt empfehlen.
Die Beobachtung im Gefängniss unter deprimirenden geistigen und
körperlichen Verhältnissen ruft bei wirklich Geisteskranken oft eine
so veränderte geistige Haltung hervor, das Bewusstsein in der Familie
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282
Dr. Seydttl.
beobachtet and überwacht za werden macht derartige Kranke, am die
es sich de facto doch handelt so störrisch und anzagänglich, ja ge¬
radezu renitent, dass ein sicheres Urtheil allein durch Beobachtung
in einer geschlossenen Anstalt mit vollständig sachverständiger Ueber-
wachung und Beobachtung gewonnen werden kann. Dass übereilte
und allzu sehr auf Simulation gerichtete (Jrtheile in dieser Beziehung
viel Unheil anrichten können, beweist die alltägliche Praxis der Irren¬
anstalten. Und wenn das Strafverfahren den humanen Grundsatz in
dubiis pro reo in freier Praxis aufrechterhält, so haben die ärztlichen
Sachverständigen als Organe der Rechtspflege dieselbe Pflicht.
Mit derartigen Grundsätzen werden wir die Lombroso’schen
Ideen nicht zu sehr adoptiren, dem humanen Grundgedanken derselben
aber volle Rechnung tragen.
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5.
Ueber Anezikvergiftug in gerichtsärztlicher Beziehnng.
Von
Dr. Sehnnburf,
Stabsarzt beim raed.-chir. Friedrich-Wilhelms-Institut zu Berlin.
Von allen Giften, die im Laufe der Jahrhunderte den Gerichts¬
arzt beschäftigten, hat keines andauernd solches Interesse erweckt
als das Arsen, hat aber wohl auch keines absichtlich oder unab¬
sichtlich so viele Menschen unter die Erde gebracht.
Diese letztere Behauptung wird allerdings nach Jahrhunderten
an Richtigkeit einbüssen, denn die Statistiken schon aus verschiedenen
Jahrzehnten unseres Jahrhunderts zeigen, dass die Vergiftungen mit
Arsen an Häufigkeit bedeutend abnehmen.
Während nämlich noch in Frankreich aus den Jahren 1825—49,
im Durchschnitt genommen, von 100 Vergiftungen 71,02 mit Arsen
bewerkstelligt wurden, berechnet Tardieu 1 ) als Durchschnitt der
Jahre 1851—62 nur noch 37,6 pCt. Arsen Vergiftungen; während
Taylor 2 ) aus den Jahren 1837 und 1838 in England von 100 Ver¬
giftungen 34,2 auf Arsen zurückführt, findon wir aus den Jahren
1663—67 3 ) sogar nur noch 5,1 pCt. Auch in Deutschland wird
Arsen in den letzten Jahrzehnten nur noch selten zu Vergiftungen
benutzt, so sind nach Lesser 1 ), der die Vergiftungen in der Stadt
Berlin von den Jahren 1876 bis 1878 vergleicht, nur 2,7 pCt. aller
Vergiftungen auf Arsen zu beziehen, in den grossen Krankenhäusern
Berlins sind in denselben Jahren nur 2 pCt. Arsenvergiftungen beob-
*) Die Vergiftungen, übersetzt von Th eile und Ludwig. 1868. S. 68.
3 ) On poisons. Deutsch von Seydeler. 1863. 1. S. 428.
s ) Brit. med. Journal. 1899. No. 446.
4 ) Virohow’s Archiv für pathologische Anatomie. Bd. 83. S. 196.
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Dr. Schumbarg,
achtet und das Institut für Staatsarzneikunde in Berlin berechnet für
dieselbe Zeit einen Procentsatz von 3,4 l ).
Diese Abnahme der Arsen Vergiftungen findet ihre Begründung
einmal darin, dass die Fortschritte der Chemie besonders in den
Alkaloiden den Giftmischern bequemer zu handhabende und oft
schneller betäubende Präparate geliefert haben, wie dies die zahl¬
reichen Opium- und Morphium-Intoxicationen in England und Amerika
beweisen, dass ferner die Gesetzgebung den Handel und Verkehr mit
Arsen wesentlich gegen früher eingeschränkt hat, dass schliesslich
auch der Giftmörder aus den verschiedenen weltbekannten und noch
täglich in den Zeitungen discutirten Arsenvergiftungsprocessen jetzt
weiss, dass Arsen noch nach vielen Jahren in der Leiche nach¬
gewiesen werden kann und dass er deshalb nie sicher vor Ent¬
deckung ist.
Die Arsenpräparate, die zu Vergiftungen Anlass geben, sind fast
stets dieselben: Arsen gediegen als Fliegenstein ist ja an sich nicht
giftig, doch oxydirt er sich sehr leicht an der Luft oder im Orga¬
nismus und enthält im Handel meist beträchtliche Mengen arseniger
Säure. Seine stahlgrauen oder schwarzen Flitter in den Contenta,
sein knoblauchartiger Geruch beim Verbrennen sind den Gerichts¬
ärzten wohlbekannt.
Das am häufigsten verwandte und älteste Präparat aber ist der
weisse Arsenik, die arsenige Säure und ihre leicht löslichen Salze,
besonders das Kalium arsenicosum, in Wasser gelöst als Solutio ar-
senicalis Fowleri. Schon Charles le Mauvais (1384) kannte ihre
eclatante Wirkung. Die Arsensäure wird seltener verwendet und
nach Saikowski 9 ) ist, vorausgesetzt dass sie nicht mit arseniger
Säure verunreinigt ist, ihre Wirkung auf die Organe auch nicht so
heftig wie die der arsenigen Säure.
Die Schwefelverbindungen des Arsens, Realgar und Auripigment,
sind im Handel auch oft mit arseniger Säure (bis 30 pCt.!) verun¬
reinigt und geben daher als Farben oft Anlass zu Intoxicationen,
ebenso wie das arsenigsaure Kupfer (Scheelsches Grün) und das
Schweinfurter Grün (arsenig- und essigsaures Kupfer). — Nur wenige
‘) Maschka, Gerichtliche Medioin. 1882. Bd. II. S. 28 und 29.
9 ) Virohow’s Archiv. Bd. 34. S. 76. „Ueber die Fettmetamorphose der
Organe n&oh innerlichem Gebrauch von Arsenik. “
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Ueber Arsenikvergiftung in geriohtsärztlicher Beziehung.
285
Menschen (Chemiker, Lnftschiffer u. s. w.) verfallen zuweilen dem
äusserst giftigen Arsenwasserstoff.
Die übrigen Arsenverbindungen haben für den Gerichtsarzt nur
untergeordnete Bedeutung: Es genügt, wenn er weiss, dass in England
eine Salzsäure officinell ist, die Arsen enthält, dass in Frankreich
eine Solutio Pearsonii arsenigsaures Natron, eine Solutio Biettii
arsenigsäures Ammonium enthält, dass Arsen mit den organischen
Alkoholradicalen die verschiedenen, sich meist durch intensiven Ge¬
ruch auszeichnenden Kakodylverbindungen eingeht.
Die nächste für den Gerichtsarzt wichtige Frage bei den Arsen¬
vergiftungen ist die nach den
Gelegenheits Ursachen
derselben, von welchen der erste Theil meiner Arbeit handeln soll.
1. Giftmord.
Wegen seiner Geruchlosigkeit, seines wenigstens in kleinen Dosen kaum
wahrnehmbaren Geschmaoks, wegen der eine acute Krankheit ausserordentlich
leicht vortäuschenden Vergiftungssymptome hat der weisse Arsenik sioh bei
Giftmischern einer besonderen Vorliebe zu erfreuen gehabt. Allerdings soll, wie
Li man 1 ) von Selbstmördern in Erfahrung gebracht hat, die arsenige Säure in
grösseren Dosen einen herben, salzigen Geschmack haben, doch wird dieser in
Speisen and Getränken vollständig verdeckt, wenn anoh durch sie die Löslichkeit
des Arseniks erschwert wird.
Ausführliche Angaben, unter Heranziehung von Einzelfallen, in Bezug auf
den Geschmack der arsenigen Säure macht Taylor 2 ), wonach bald ein wie
Pfeffer brennender, scharf heissender (aorid), bald gewöhnlicher und derber
(coarse and smartish) nach sauren Aepfeln, bald ein rauher und salziger Ge-
sohmaok wenigstens für grosse Dosen angegeben wird.
Ueber die Häufigkeit der Giftmorde mit Arsen finden wir bei Husemann*)
angeführt, dass in Frankreich von 461 Giftmordprocessen der Jahre 1851 —1858
200 Mal Arsen benutzt wurde, während die gleiche Berechnung für Preussen für
das nächstfolgende Jahrzehnt (1857 bis 1867) nur den siebenten Theil davon
ergab.
Noch instructiver ist die Statistik von Tardieu, die Masohka 4 ) anführt:
Nach ihm wurden in Frankreich
*) Praktisches Handbuch der gerichtlichen Medicin von Casper-Liman.
II. Bd. 71.
2 ) On poisons. 1863. Bd. II. S. 185.
3 ) Handbuch der Toxicologie. 1867. S. 59.
4 ) Handbuch der gerichtlichen Medioin. 1882. II. Bd. S. 237.
Vierteljalirsschr. f. ger. Med. Dritte Folge. V. 9. ]Q
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' im Jahre 1851 35 Oiftmordprocesse
„ „ 1855 42 „
„ „ 1860 3
„ „ 1862 3
verhandelt.
Also anoh hieraas geht klar hervor, dass die Giftmorde mit Arsen, wie
schon oben angedeatet, im Abnehmen begriffen sind. Masohka 1 ) macht für
diese Abnahme der Arsenikmorde die in den letzten Jahrzehnten aafblühende
Phosphorindustrie verantwortlich und in England die Gesetzesbestimmung, dass
weisser Arsenik in Mengen unter 10 Pfund nicht verkauft werden darf, wenn ihm
nicht Vie des Gewichts Russ oder V 32 Indigo beigemengt ist. Für die erwähnte
Abnahme dor Arsenvergiftungen gegenüber den Phosphorvergiftungen giebt
A. Tardieu 3 ) folgende Zahlen: Es kamen vor in den Jahren
1851—56 174 Arsen-, 67 Phosphorvergiftungen,
1856-62 68 „ 103
Für die Dosis toxica der arsenigen Säure wird von allen Autoren fast die*
selbe Grösse angegeben, nämlich 0,025, ebenso für die Dosis lethalis, soweit
man von einer solchen sprechen kann, 0,1—0,2 g. Welche Umstände diese
Dosis erhöhen oder verringern können, werden wir weiter unten sehen. Im
Uebrigen behauptet A. Taylor 3 ), dass „wir die Maximaldose, in der das Gift
tödtet, durohaus nicht kennen“, dass dagegen 4 ) die kleinste bisher erwähnte
tödtliohe Dose in einem von Dr. Castle in Leeds mitgetheilten Fall 2 gran be¬
trug. Auf weiteren an dieser selben Stelle angeführten Thatsachen fassend, kann
nach Taylor der Gerichtsarzt behaupten, dass unter günstigen Umständen 2 bis
3 gran arseniger Säure hinreicben, um den Tod berbeizuführen; beträgt die Dose
weniger, so erholt sich der Betroffone gewöhnlich wieder. Auf der anderen Seite
aber darf dem Qerichtsarzt nicht unbekannt sein, dass selbst von Nichtarsenik¬
essern grosse Dosen — Taylor 5 ) erzählt von 1 */ # Unzen und zwei Esslöffeln —
unbeschadet genommen sind, allerdings wohl bei vollem Magen und unter nach¬
folgender Entleerung per os et anum. Indess bilden dooh solohe Fälle nur Aus¬
nahmen von der Regel.
Die gewöhnlichste Art, wie der Giftmörder seinem Opfer das Gift beibringt,
ist naturgemäss die per os in Speisen, gewöhnlioh in Suppen oder Getränken
(Warmbier, Thee, Kaffee, Schnaps).
Seltenere Applioationsweisen sind naoh Maschka 6 ) die per rectum und
per vaginam. Fodörö 7 ) beschreibt einen Fall, wo eine Magd ihrer Herrin Arsen
*) Ebendaselbst. S. 237.
3 ) Die Vergiftungen. Deutsch von Theile und Ludwig. S. 86.
3 ) Guy’s hosp. reports. Bd. XII.
4 ) On poisons. 1863. Bd. II. S. 226.
8 ) On poisons. 1863. Bd. II. S. 230.
6 ) Handbuch der gerichtlichen Medioin. 1882. Bd. II. S. 238.
7 ) Medicine lögale. Bd. IV. S. 226.
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Ueber Arsenikvergiftung in geriohtsärztlioher Beziehung.
287
mehrmals im Klysma mit tödtlichem Ausgang beibrachte, Ansiaulx 1 ) einen
solchen, in dem ein Mann seine Frau duroh Arsen tödtete, das er ihr während des
Beischlafs in die Soheide gebraoht hatte. Diesem Fall schliesst sioh der von
Mangor 2 ) an, der 1786 bei Kopenhagen vorkam: Bin Landwirth vergiftete
seine zwei Frauen nach einander dadurch, dass er ihnen nach dem Beischlaf auf
dem Finger ein Pulver von Mehl und Arsenik in die Scheide einführte. Einen
weiteren Fall der Art beschreibt Brisken 3 ), in dem eine Frau, wahrscheinlich
um Abortus hervorzurufen, sich selbst Arsen in die Scheide steckte und in Folge
dessen starb.
Die Präparate, welche die Giftmörder benutzen, sind meist arsenige Säure
in Substanz, die sie den Speisen beimengen, die sich darin aber nur zum Theil
löst. A. Taylor 4 ) hat die Löslichkeit der arsenigen Säure genau untersucht und
Folgendes festgestellt:
Kaltes Wasser löst.
V1000
warmes Wasser.
/ 400?
nach einstündigem Kochen .
1/
/ 24>
Thee und Bier.
1/
/iooo>
Kaffee und Branntwein . .
/soo*
Die glasige arsenige Säure löst sioh im Uebrigen leichter als die porcellan-
artige. Ueberhanpt können nach Taylor Flüssigkeiten, welche zäh und schlei¬
mig sind, das Gift fast in jeder Menge suspendirt enthalten, aber man darf in
diesen Fällen nicht von Lösung sprechen. In einem Fall bei Taylor 5 ) war man
geneigt, Selbstmord anzunehmen, weil man kein Vehikel kannte, in dem 88 gran
Arsenik unwissentlich beigebracbt werden konnten. Nach Taylor ist es nicht
zweifelhaft, dass „diese und selbst noch eine viel grössere Dose gepulverten Ar¬
seniks sich in Flüssigkeiten wie Haferschleim oder Chocolade im Geheimen bei-
bringen lässt“. Zuweilen wird die arsenige Säure vor dem Zusatz oder dem Ge¬
nuss, womöglich durch Kochen, gelöst (Fall Knothe, Fall Bolle). Auch als
Rattengift mit Leberwurst auf Brod gestrichen 6 ) oder als Scheel’sches oder
Schweinfurter Grün grünen Gemüsen, wie Spinat etc., zugesetzt, wurde Arsen
gegeben; der Auszug von Fliegenpapier, der in einem von Sonnenschein 7 )
angeführten Fall 0,15 arsenigsaures Natron im Bogen enthielt, selbst der an sich
ungiftige Fliegenstein (Fall Dombrowski) diente zur Vergiftung. Wird Arsen mit
anderen Giften zusammen gereicht (die sogenannten complexen Vergiftungen), so
wird die toxische Wirkung des Arsens noch erhöht; Beispiele von Vergiftungen
mit Arsen und Strychnin erzählen Abegg und Kasper, von Arsen und Subli¬
mat Julia de Fontenelle, von arseniger Säure und Opium Taylor 8 ).
*) Henke’s Zeitschrift für Staatsarzneikunde. Bd. II. S. 187.
2 ) Acta societ. reg. Hafniens. III. S. 178.
s ) Diese Vierteljahrsschrift. Bd. 25. S. 110.
4 ) On poisons. Bd. II. S. 188. (Deutsch von Seideler.)
6 ) Die Gifte, übersetzt von Seideler. 1863. Bd. I. S. 362.
6 ) Handbuch der gerichtl. Chemie von Sonnensohein. 1869. S. 121.
7 ) Ebendaselbst. S. 121.
9 ) Husemann, Handbuch der Toxicologie. S. 67.
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Die Triebfedern, die dem Giftmörder im Allgemeinen den Giftbeoher in
die Hand drängen, finden natürlich auch bei den Arsenmorden Geltung; jedoch
soheint gerade beim Arsenik der erste glöcklioh vollbrachte Mord die Lust za
weiteren erweckt zu haben, so dass Husemann 1 ) eine Giftmordmonomanie an¬
zunehmen geneigt ist bei den Fällen berüchtigter Giftmisoherinnen, wie der
Gesohe Gottfried, Geheimräthin Ursinus, der Zwanziger.
2. Selbstmord.
Die Leichtigkeit, mit der man namentlich früher Arsen bekommen konnte,
hat häufig gerade zu diesem Gift den Selbstmörder greifen lassen, der gewiss
Blausäure, Opium oder ein anderes Alkaloid vorgezogen hätte, wenn er gewusst
hätte, dass Arsen meist nur mit grossen Schmerzen und bei völlig erhaltenem
Bewusstsein, wenn auch sicher tödtet.
Die Selbstmörder der neueren Zeit sind aufgeklärter, und es ist begreiflich,
wenn Briöre de Boismoud berechnet, dass von 158 Selbstvergifteten nur 6
Arsenik wählten, und wenn nach von Hofmann in Wien unter 63 Selbstmorden
mit Gift im Jahre 1874 nur 2 mit Arsen sich befanden 2 ).
Die Formen, in denen die Selbstmörder das Arsen benutzen, sind am häu¬
figsten das Rattengift oder der weisse Arsenik in Substanz, seltener in Lösung.
Doch sind auch Fälle bekannt, wo selbst arsenhaltige Farben zum Selbstmord
benutzt wurden; so beschreibt Masohka 3 ) einen Fall, in dem sich ein junges
Mädchen mit einem tüchtigen Esslöffel voll Schweinfurter Grün vergiftete. Ein
ähnlicher findet sich bei Huber 4 ).
Häufig wird dem Gerichtsarzt von dem Richter die Frage gestellt, ob es
möglich sei zu entscheiden, ob Mord oder Selbstmord vorliegt.
Beim Arsen ist diese Frage ausserordentlich sohwer zu beantworten. Die
Anhaltspunkte, die dem Gerichtsarzt sich zur Entscheidung der Frage bieten,
sind einmal der Umstand, dass Selbstmörder schlecht schmeckende oder stark
ätzende Gifte meiden, ein Kriterium, welches bei dem fast geruch- und ge¬
schmacklosen Arsenik wegfällt, zweitens die Erfahrung, dass die Giftmenge, die
der Selbstmörder nimmt, im Allgemeinen eine weit grössere ist wie die des Mör¬
ders. Da nun die ziemlich schnelle Ausscheidung des Arsens per os et anum
wie durch die Secrete den Schluss auf die ursprünglich gegebene Dosis kaum
mehr oder nur noch annähernd gestattet, muss die Entscheidung der Frage, ob
Mord ob Selbstmord, mehr aus den den einzelnen Fall begleitenden Umständen
gefolgert werden.
Indess macht Liman in einem in seinem Handbuch 3 ) angeführten Gut-
') Ebendaselbst. S. 60.
2 ) von Hofmann, Handbuch der gerichtlichen Medioin. S. 664.
3 ) Maschka, Handbuoh der gerichtlichen Medioin. 1882. Bd. II. S.263.
4 ) Zeitschrift für klinisohe Medicin. 1888. S. 444.
3 ) Praktisches Handbuoh der gerichtlichen Medioin. 1871. 11. Bd. S. 460.
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Ueber Arsenikvergiftung in gerichtsärztlicher Beziehung.
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achten ans der mnthmasslichen Menge and dem Präparat allein die Annahme
eines Selbstmordes „wahrscheinlich*.
3. Vergiftung durch Verwechselung von Genussmitteln,
Unachtsamkeit, Fahrlässigkeit, Unkenntniss.
Diese Gelegenheitsursache zu Arsenvergiftungen schliesst sich insofern den
oben abgehandelten an, als auch sie im Allgemeinen eine schnell zum Tode
führende Intoxication, eine acute Arsenvergiftung zur Folge hat.
Vor Allen ist es auoh hier wieder die arsenige Säure in Substanz, die in
Folge ihrer Aehnliohkeit mit anderen weissen Pulvern, besonders Zuoker, Salz,
Stärke, Mehl, wiederholt Anlass zu schweren Vergiftungen gab. So gelangte bei
der Würzburger Brodvergiftung l ) der sogenannte „englische“ Arsenik, der sehr
feinkörnig ist, aus Versehen in den Teig.
Trotz dieser gefährlichen Aehnlichkeit ist der Gebrauch des Arseniks im
Haushalt auch unvermengt noch verbreitet, besonders aber in Mischungen mit
Mehl, Zucker und Stärke, sei es zur Vertilgung von Ungeziefer im Hause oder
von Parasiten bei Thieren, ja sogar bei Menschen.
Hierher sind auch die Fälle zu rechnen, wo vergiftete Ratten in Brunnen
fielen und dem Wasser das Gift mittheilten, oder wo Vergiftungen eintraten durch
Genuss von Fleisch und Milch von Thieren, die mit Arsen behandelt waren oder
durch Verwechselung reinen Getreides mit solchem, das, wie es besonders in
Frankreich üblich ist, zum Schutz gegen Brandpilze oder zur Abhaltung der
Mäuse mit arseniger Säure imprägnirt war (ohaulage des blöa), wie verschiedene
Massen Vergiftungen durch Brod beweisen 2 ). Uebrigens ist die Behauptung von
Andouard, dass er Arsen in der Kornähre gefunden habe, wenn das Saat¬
korn' vorher mit einer Lösung von arseniger Säure behandelt gewesen sei, durch
Girardin widerlegt, der in mehr als 4 Pfund solchen Kornes kein Arsen nach-
weisen konnte.
Aber Tauben und Hühner auf dem Felde fressen diese vergifteten Körner
der Saat und können so wieder für Menschen gefährlich werden.
Auoh Eulen borg*) weist darauf hin, dass in der Nähe von Arsenfabriken
der zuweilen in der Umgebung sich ausbreitende Arsenstaub auf Pflanzen, be¬
sonders Kartoffeln und andere Feldfrüchte, wie auf Geflügel derart schädlich ein¬
wirkt, dass sie zu Grunde gehen können.
Der Gerichtsarzt muss ferner wissen, dass auch zur Abtödtung der Milben
im Käse Arsenlösungen zuweilen gebräuchlich sind, dass beim Brodbaoken häufig
englisohe Kunsthefe, die mit der in England officinellen Arsensalzsäure darge¬
stellt wird, Verwendung findet, dass das zum Heizen des Backofens gebrauchte
Holz zuweilen mit Arsenfarben bemalt ist oder von Tonnen stammt, in denen
Arsen verpaokt war, dass das beim Brodbaoken verwendete Alaun bisweilen
arsenhaltig befanden warde; ferner dass im Wein Arsen enthalten sein kann
*) Dr. Seisser im bayrischen ärztlichen Intelligenzblatt. 1869. No. 6.
a ) Leroy des Barres. Virohow u. Hirsch, Jahresber. 1880. I. 560.
9 ) Handbuch der Gewerbehygiene von Dr. H. Eulen lerg. 76.
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Dr. Sohumburg,
darob Ausspülen der Weinflaschen mit Schrot, welches fast immer das Qift ent¬
hält, oder durch Aasschwefeln der Fässer mit arsenhaltigem Schwefel.
Aach zam Reinigen von Kesseln wird arsenigsaares Natron benutzt and so
za Vergiftungen Anlass gegeben, wie der bei Taylor 1 ) beschriebene Fall zeigt,
in dem 340 Schulkinder in London aaf diese Weise stark vergiftete Milch ge¬
nossen hatten.
Aach finden aas Fahrlässigkeit in Drogaerieen, selbst Apotheken Verwechs¬
lungen des Arseniks mit unschädlichen Salzen, Mittelsalzen, Weinsäure, Crernor
tartari noch recht oft statt. — Einen instructiven Fall fahrlässiger Vergiftung
beschreibt Sonnenschein 2 ): Ein Wirth schenkte einem Gast eine Flasohe an¬
geblich mit Likör. Ein Sohluck führte den Tod des Gastes herbei. Im Magen
wurden 1,35 gran arseniger Säure nacbgewiesen. Die Flasche enthielt Fliegengift.
Ein zweiter Fall findet sich in Virchow’s Jahrbüchern 3 ) von Morley be¬
schrieben, bei dem 15 Personen an einem arsenikhaltigen Pudding erkrankten.
4. Vergiftung bei Ausübung eines Gewerbes.
In diesem Abschnitt betraohten wir die Gelegenheitsursaohen besonders zu
chronischen Arsenvergiftungen.
Bei dem gewaltigen Aufschwung der Metallindustrie in den letzten Jahr¬
zehnten ist es begreiflich, dass sowohl bei Darstellung des Arsens und seiner
Präparate, wie auoh bei der Bearbeitung in den verschiedensten Gewerben eine
grosse Anzahl von Arbeitern den Dämpfen des leioht flüchtigen und selbst in
Staubform in kleinsten Dosen giftigen Metalloids ausgesetzt ist. Albert Ferrä
hat in einer Tb&se pour le dootorat 4 ) eine grosse Zahl von Vergiftungsfällen
dieser Art zusammengestellt.
Die Sanitätspolizei waoht über die Ausführung und Erfüllung der vorge¬
schriebenen Sicherheitsmassregeln 3 ), der Gerichtsarzt dagegen kommt oft in die
Lage, ein Gutachten abgeben zu müssen bei Vergiftungen, die ihre Ursache
haben in einer sehr fahrlässigen Handhabung dieser Sicherheitsmassnahmen oder
bei Anklagen wegen Beschädigung und Benachtheiligung durch Arsenikwerke,
unter deren Staub und Dämpfen nioht nur Feldfrüohte, sondern auoh das Vieh
und der Mensch leidet.
Schon der Bergmann, der die arsenhaltigen Erze „pocht*, „ausklaubt*
oder „fördert*, ist der Gefahr der Einathmung des arsenhaltigen Staubes aus¬
gesetzt, besonders bei den Erzen, die im Herbst gefördert, den Winter über ver¬
wittern und erst im Frühjahr verarbeitet werden. Die Hüttenarbeiter, die die
Erze „aufbereiten*, sie in die Retorten füllen, in denen das Arsen in Dampf-
form übergeführt und dann in die Giftkammern geleitet wird, sind sowohl beim
*) Die Gifte. Deutsch von Seideler. 1863. II. S. 227.
2 ) Handbuch der gerichtlichen Chemie. 1869. S. 118.
®) 1873. I. S. 362.
4 ) Arsenicisme professionel et arsönicisme domestique. Bordeaux 1882.
B ) Verfügung des Ministers für Handel vom 10. Juni 1865, betreffend die
Bereitung von Anilinfarben.
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Ueber Arsenikvergiftung in geriohtsärztlicher Beziehung.
291
Füllen, beim Reinigen and Ausräumen der Retorten wie der Kammern in der
grossen Gefahr, entweder den Staab des Arsens einzaathmen oder sogar den aas
Undichten der Apparate entweiohenden Arsendampf, der sich an der Loft bald
sa arseniger Säure oxydirt.
Selbst der so äasserst gefährliche Arsen Wasserstoff bildet sich in Silber¬
hätten aas dem benutzten, meist arsenhaltigen Zink, er findet sioh auoh in Eisen¬
werkstätten, in denen Eisenblech verbleit oder verzinnt wird. Aehnlioh bildet
sioh beim „Beizen" des Hessings flüchtiges Arsenohlorid, das eingeathmet durch
Umsetzung in arsenige Säure giftig wirkt.
Bier muss man auch der Opfer gedenken, die das Experimentiren mit
Arsen Wasserstoff gefordert hat, unter ihnen der Entdecker des Gases, Professor
Gehlen in München und Professor Brittan in Dublin, der Arsenwasserstoff für
reinen Wasserstoff gehalten und nur wenige Athemzüge gethan hatte.
Ferrö 1 * ) beschreibt weiter einen Fall, wo Händler mit rothen Gummibal¬
lons, die mit Wasserstoff gefällt werden, an Arsenwasserstoffvergiftung erkrankten
in Folge unreiner Reagentien bei der Wasserstoffdarstellung. Dieselbe Beobach¬
tung maohte Wächter 3 ), eine ähnliche Frost 3 ), in welchem Falle 3 Arbeiter
das Leben einbüssten. Interessant ist auch die Beobachtung von C. Bisohof 4 ),
dass Schimmelpilze ans metallischem Arsen Arsenwasserstoff entstehen lassen
können.
Auoh bei der Königlichen Luftschifferabtheilung in Berlin sind, in Folge
unreiner Reagentien znrWasserstoffentwiokelung, mehrere Fälle von Arsenwasser¬
stoffvergiftung vorgekommen, von denen zwei im Jahre 1888 im Garnisonlaza-
reth II. Berlin tödtlich verliefen.
Wenn nun auch nach Taylor 5 ) die Arbeiter daroh Verstopfen der Nase
und Zuhalten des Mundes sich gegen die Einathmung des Arsenstaubes und
-Dampfes zu sohützen suchen, so werden sie dooh äusserlich von allerlei Leiden
heimgesucht, besonders an Theilen der Hant, wo sich Oeffnungen und Ein-
senkungen befinden, Sorotum, Kinngrube, Nasen-, Mundwinkel, Furchen der
Stirn etc.
Obgleich deshalb manche Arbeiter nicht lange in den Arsenikwerken von
Cornwall und. South Wales arbeiten können, so erfreuen sich doch die meisten
80—30Jahre lang ungetrübter Gesundheit. Auch meint Hirt 6 ), dass der Gesund¬
heitszustand in Arsenwerken im Allgemeinen ein guter sei. Er führt besonders
die Beobachtungen an den Arbeitern von Reichenstein in Schlesien an und hat
zum Beweis den durchschnittlichen Sterblichkeitsprocentsatz und das durch¬
schnittliche Lebensalter beim Tode berechnet: Durchschnittlich starben von
90 Arbeitern jährlich 1—2, das durchschnittliche Lebensalter stellte sich auf
47,0 Jahre.
l ) Ferrd, Arsdnioisme professionel. Bordeaux 1882.
3 ) Diese Vierteljahrsschrift. N. F. Bd. 28.
8 ) Diese Vierteljahrsschrift. Bd. 15.
4 ) Diese Vierteljahrsschrift. N. F. Bd. 37.
5 ) Die Gifte. Deutsch von Seideler. 1863. Bd. II. S. 306.
a ) Hirt, Die Krankheiten der Arbeiter. Leipzig 1875. Bd. III. S. 160.
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Dr. Schambarg,
Die technische Verwendung der arsenigen Säure ist eine ganz bedeutende:
Bei der Qlasfabrikation ist sie als billigstes Reduotionsmittel gebräuchlich, auch
zum Entfärben der Gläser; in der Indigoindustrie reduoirt sie das Indigoblau zu
Indigoweiss; in der Anilinfarbenfabrikation reducirt sie das Nitrobenzol, aus den
Rückständen wird sie als arsensaures und theils als arsenigsaures Calcium wieder¬
gewonnen.
Eine gefährliche Rolle spielt die arsenige Säure beim Ausstopfen von Thier¬
bälgen 1 ), in die sie meist in Form einer Seife (Böeoeur’sche Seife) eingerieben
wird, aus denen sie aber, als berüchtigter Staub der Naturaliencabinete, auoh
wieder austreten kann.
Auch der Maler und Droguist, der sich mit der Herstellung arsenhaltiger,
besonders grüner und gelber Farben befasst, der Tuohdrucker und Färber, der
Kleiderstoffe mit grünen Mustern bedruckt und oft womöglich als Beize statt der
Weinsäure Arsensäure benutzt, die Wäsoherin, die die Wäsche mit Smalte 2 )
bläut, der Fabrikant grüner Drahtgeflechte, die Arbeiterinnen in Fabriken künst¬
licher Blumen, in Tapeten- und Papierfabriken, der Tapezier, der die Tapeten
anklebt, die Näherin, welche arsenhaltige Kleider anfertigt: Alle sind mehr oder
weniger der giftigen Einwirkung der arsenigen Säure ausgesetzt.
Neu und interessant ist ferner eine Beobachtung, die sich in der Medical
news von 1889 findet, dass die beim Schatzamt in Washington angestellten
Geldzäblerinuen durch das arsenhaltige Papier der Kassenscheine sowohl an
localen Geschwüren wie allgemeinen Intoxicationsersoheinungen häufig erkranken.
Auch die beiden Sulfide des Arsens, das Realgar und das Auripigment,
entfalten schon bei ihrer Darstellung ihre giftige Wirkung auf den Hüttenarbeiter,
später in den Gewerben auf den Maler. Tapeten- und Kattundrucker, denSchrot-
giesser, den Arbeiter in Schellackfabriken*), wenn auoh die Sulfide von allen
Arsenverbindungen als am wenigsten giftig gelten.
Die durch Ausübung eines Gewerbes hervorgerufene Arsenvergiftung zeigt
in den allermeisten Fällen, wie schon angedeutet wurde, dieSymptome der chro¬
nischen Vergiftung, selten die der acuten. Bezüglich der letzteren findet
Hirt 4 ), dass von 10 Fällen 9 als Gastroduodenaloatarrhe, einer unter dem Bilde
einer acuten Gehirnaffeotion verläuft.
5. Vergiftung duroh Verfälschung von Lebensbedürfnissen.
Die Anzahl von Vergiftungen, die unter diese Kategorie gehören, ist eine
ausserordentlich grosse und gerade diese Arsenvergiftungen sind es, die, während
*) The Lancet. 1890. S. 119. Barton: Two oases of arsenic. peripher,
neuritis.
2 ) Ueber die giftige Wirkung der blauen Stärke. Von Dr. Rosenthal za
Ohlau. Diese Vierteljahrsschrift. Bd. 4.
*) Taylor, Die Gifte. 1863. Bd. II. S. 215.
*) Die Krankheiten der Arbeiter. 1875. Bd. III. S. 68.
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Ueber Arsenikvergiftung in gerichtsärztlicher Beziehung.
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die Arsengiftmorde allmälig seltener werden, häufiger in der Neuzeit vor das
Forum kommen.
Leider hat das Gesetz den § 2 und 3 der Kaiserlichen Verordnung vom
1. Mai 1882 auf Grund des §5 des Nahrungs- und Genussmittelgesetzes — welche
Paragraphen die Verpackung von Lebensbedürfnissen in arsenhaltigen Materialien
verbieten — in Rücksicht darauf nicht in Kraft treten lassen, dass sonst viele In¬
dustriezweige, wie Färbereien und Papierfabriken, schwer geschädigt werden
würden. In Folge dessen stellt genannte Verfügung nur die Verwendung giftiger
Farben zur Färbung von Lebensmitteln wie von Tapeten und Kleidern ab. Allein
trotz dieses Verbotes werden Arsenfarben und andere Arsenpräparate noch reich¬
lich verwendet, wie aus den vielen deshalb angestrengten Processen hervorgeht.
So färben oft Gonditoren, Metzger und Wursthändler Esswaaren und Würste,
um ihnen ein besseres Ansehen besonders auf der Schnittfläche zu geben, mit
Fuchsin') oder Cochenille, die meist nach dem Arsensäureverfahren hergestellt
und deshalb arsenhaltig ist; es verdanken immer noch grüne oder rothe Ta¬
peten 2 ), Spielsachen und Hausgeräthe (Lamponscbirme, Fliegenspinde 3 ), Lösch-
papier 4 )) ihre schöne Farbe den verschiedenartigsten, so zahlreichen weil wohl¬
feilen gelben 5 ) besonders aber grünen Arsenfarben (Schweinfurter-, Soheel’sches,
Smaragd-, Braunschweiger-, Mineral-, Wienergrün etc.). So sagte ein Fabrikant
zu Taylor 5 ), die Nachfrage nach diesen „hübschen“ Farben sei so bedeu¬
tend, dass sich der durchschnittliche Arsenikverbrauch wöchentlich bei ihm auf
ungefähr zwei Tonnen belaufe.
Ferner führte die wissenschaftliche Deputation für das Medicinalwesen zu
Berlin in einem Gutachten „Ueber Arsenikfarben und deren Verwendung“ 6 ) aus,
dass „es wenig Häuser giebt (im Jahre 1859), in denen nicht wenigstens die
Wände eines Zimmers mit grünen, arsenikhaltigen Tapeten versehen oder mit
grünen, arsenikhaltigen Farben angestrichen sind.“ Nun, Dank den Schlussfolge¬
rungen, welche die wissenschaftliche Deputation aus diesen Missständen zog, ist
das jetzt anders geworden!
Sehr reich ist auch die Zusammenstellung von Taylor 7 ) an Vergiftungs¬
fällen, welche hervorgerufen sind beim Bewohnen von Zimmern mit arsenhaltigen
Tapeten oder Farben.
Von Kleiderstoffen sind besonders die englischen und elsässischen Fabrikate
immer noch zuweilen mit Mustern von Arsenfarben bedruckt. Auch als Fixir-
mittel benutzt man hierbei statt des kostspieligen Eiweiss eine Mischung von
essigsaurem Aluminium, Glycerin und arseniger Säure. Selbst in einem Futter-
0 Unter 6 von Prof. Ludwig untersuchten Fuohsinsorten fand sioh nur
eine arsenfrei.
4 ) von Hofmann, Handbuch der gerichtlichen Medioin. S. 672.
2 ) Otto, Ausmittelung der Gifte. 1884. S. 137.
3 ) Sonnenschein, Gerichtliche Chemie. 1869. S. 153.
4 ) Taylor, Die Gifte. 1863. Bd. II. S. 324.
5 ) Taylor, Die Gifte. 1863. Bd. II. S. 331.
6 ) Diese Vierteljahrssohrift. Bd. 16. S. 9.
7 ) Die Gifte. Deutsch von Seideler. Bd. 11 S. 319.
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Dr. Sohumburg,
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Stoffe von schwarzer Farbe, der vermuthlioh auf gleiche Weise gebeizt wnrde,
hat Seil 1 ) reichliche Mengen von Arsen gefunden. Auch Weinessig enthält ihn
nach Taylor 2 ) zuweilen, wenn er durch Destillation essigsauren Natrons mit
arsenikhaltiger Schwefelsäure, dargestellt wird.
In Siegelmarken, zu deren Herstellung Scheel’sohes Grün benutzt war, fand
M. Yvon 8 ) etwa 0,006 arseniger Säure.
Hierher sind noch die Vergiftungen zu rechnen, die nach von Hasselt 4 )
von verbrennenden Stearinkerzen herrührten, denen arsenige Säure zugesetzt war,
um sie härter und leuchtender zu maohen. Diese sogenannten Bougies de l’dtoile
werden jetzt kaum mehr Vorkommen.
Schliesslioh soll auch die vielfaoh in der Technik verwendete Bronoe arsen¬
haltig sein: N. J. Berlin 5 ) hat nun durch Untersuchung der verschiedensten
Metalllegirungen festgestellt, dass Arsen im Messing wohl nicht in hinreichender
Menge vorhanden ist, um Schaden verursachen zu können. Gefährlicher seien
Zinkgefässe, besonders wenn sie für Miloh verwendet würden: Milch löse das
Zink auf und das Arsen werde frei.
6. Vergiftung durch unvorsichtigen und übermässigen Gebrauoh
von Arzneien.
Die Arsenpräparate werden sowohl innerlich wie äusserlicb in der Medioin
verwendet, ln Deutschland wird innerlich wohl nur die Solut. Fowleri, höchstens
nooh Acidum arsenioosum in Substanz gegeben, in Frankreich noch die Solutio
Pearsonii oder Biettii (Natron- und Ammoniumsalz), seltener der Liq. Donavani
(Jodarsen) und das arsenigsaure Bromkali.
Vergiftung durch äusserliohe Anwendung 6 ) kommen vor durch den unvor¬
sichtigen Gebrauch verschiedener Pasten als Aetzmittel, wie Pulvis Cosmi, Hell-
mund’sche Salbe, des Dupuytren'scben Arsenpulvers, wovon Böhm, Henning,
Möan, Bayard, Ferme, Roux, Gooper, Küchler, Taylor 7 ) und Andere
Beispiele erzählen, ferner durch Anwendung von Seifen (Bdcoeur’s Seife). Po¬
maden (cröme parisienne), Schönheitsmitteln, Pudern und Salben gegen Unge¬
ziefer — besonders ist in England bei Hirten und Schäfern eine Mischung von
Arsenik, sohwarzer Seife und Theerwasser bekannt —, durch Anwendung der
Gigarettes arsenicales von Boudin und Tronsseau.
Ferner liegen auoh Fälle von Vergiftungen vor duroh das sogenannte Rusma,
ein besonders im Orient beliebtes Depilatorium, welches in einem Gemenge
anderer Stoffe auoh Arsentrisulfid enthält, ferner duroh Anwendung von Arsen-
*) Otto, Ausmittelung der Gifte. 83.
2 ) Die Gifte. 1863. Bd. II. S. 286.
8 ) Diese Vierteljahrssohrift. N. F. Bd. 40. S. 401.
4 ) Husemann, Handbuch der Toxioologie. 1867. S. 817.
s ) Schmidt’s Jahrbücher. Bd. 192. S. 130.
6 ) Handbuch der Tolioologie von Husemann. 1867. S. 819.
7 ) Die Gifte. Deutsch von Seideler. 1863. Bd. II. S. 210.
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UMIVERSITY OF IOWA
Ueber Arsenikvergiftung in gericbtsärztlicher Beziehung.
295
Präparaten als Aboitivmittel. als welche sie hier und da vom Volke angesehen
and angewendet werden').
Wenn nan auch medicinale Arsenvergiftungen dadurch zu Stande kommen
können, dass dem Apotheker eine Verwechselung, dem Arzt ein Schreibfehler
unterläuft, so ist doch der häufigste Fall der, dass entweder die illegaliter vom
Apotheker reiterirte Uedicin lange Zeit hindurch fortgenommen wird, oder dass
Quacksalber gefährliche Ordinationen treffen.
Von der ersten Art ist dem Verfasser selbst ein Fall in der Privat¬
praxis vorgekommen: Ein älterer Mann, Elsässer, der vor einigen Jahren von
einem inzwischen versetzten Collegen Solutio Fowleri verschrieben bekommen
hatte, brauchte P /2 Jahr lang seine Tropfen weiter. Heftige, stark juckende
Eczeme fast über den ganzen Körper veranlassten ihn sogar, immer einen
Tropfen von Zeit zn Zeit der Dosis znzulegen. Das Anssetzen der Tropfen
bei geeigneter Hautpflege Hessen das Eozem bald verschwinden, und der
„deutsohe Arzt“ stand seitdem in hohem Ansehen bei den elsässisohen Ein¬
wohnern.
Ob die oft von Quacksalbern auf die Haut gebrachten Aetzpasten, die all¬
mählich dieHant zerstören und dann resorbirt werden können, auch durch die un¬
verletzte Haut Arsen an das Blnt abgeben, ist eine noch ungelöste Frage, die
Kaposi und mit ihm Rossbach 3 ) verneinen, die dagegen Masohka 8 ) min¬
destens als noch zweifelhaft bezeichnet.
Letzterer referirt 8 ) einige instructive Beispiele, die den Gerichtsarzt inso¬
fern interessiren, als bei einigen wegen fahrlässiger Tödtung durch äussere An¬
wendung von Arsenpräparaten Anklage erhoben wurde:
1. Ein Mann brauohte gegen Scabies Waschungen mit einem Wasser, in
dem Arsen gekocht war; Blasenbildung, Gastroenteritis, Tod am 5. Tage.
2. Zwei kleine Kinder wurden gegen Wundsein mit Veilchenpulver be¬
streut, das ans Versehen 38 pCt. Arsen enthielt; beide starben.
3. Einer Frau mit chronischer Mastitis, welche für Krebs gehalten
wurde, applioirte ein Quacksalber eine Arseniksalbe, nachdem er vorher ein
Blasenpflaster gelegt hatte. Tod nach wenigen Tagen unter den Erscheinungen
einer schweren Arsen Vergiftung.
Soviel über die gelegentlichen Ursachen der Arsenvergiftung, die
der Gerichtsarzt nothwendig alle gegenwärtig haben muss, um auf
die unter Umstanden recht versteckte Ursache einer Arsenvergiftung
aufmerksam zu werden. Die Möglichkeit einer Intoxication durch
Arsen nun zur unumstösslichen Gewissheit zu erheben, ist die vor-
') Diese Vierteljahrsschrift. N. F. Bd. 43. S. 353. „Vortäuschung einer
Arsenikvergiftung“ von Prof. Ludwig und Mauthner.
3 ) Nothnagel-Rossbach, Arzneimittellehre. 1880. S. 212.
8 ) Handbuch der geriohtliohen Medicin von Maschka. 1882. II. Bd.
S. 238.
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•296
Dr. Schomburg.
nehmste Aufgabe des Gerichtsarztes und die unsrige soll jetzt sein,
festzustellen, welche Hiilfsmittel der jetzige Stand der medicinischen
Wissenschaft demselben bietet, um die Diagnose einer stattgehabten
Arsen Vergiftung sicher zu stellen.
Der Wege, auf denen schon die ältere gerichtliche Medicin den
Nachweis einer Vergiftung zu führen suchte, sind im Wesentlichen
vier. Dieselben sind von unseren überaus sorgsam beobachtenden
älteren Gerichtsärzten, Husemann, Casper, Taylor, Orfila,
Tardieu, von Hofmann, Liman, derartig uns Jüngeren geebnet,
dass wir dieselben zuversichtlich betreten können und nur, mit Hülfe
der Neuerungen der Wissenschaft, hier und da ein abgenutztes Stern¬
chen im Wege beseitigen, eine kleine Lücke dort auszufüllen brauchen.
Diese vier Arten des gerichtlich-medicinischen Nachweises der
Vergiftung will auch ich meiner Bearbeitung zu Grunde legen, nämlich
1) die Krankheitserscheinungen im Leben,
2) den Sectionsbefund,
3) den physikalischen und chemischen Nachweis,
4) die besonderen Indicien des Falles.
(FortcetsvDg und Schlusa folgt.)
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Superarbitrium
der K. Wissenschaft!. Deputation für das Medicinalwesen,
betreffend fahrlässige Tödtaag bei der Eatbiadaag.
(I. Referent: Olahftuaen.)
(II. Referent: Piator.)
Ew. Excellenz haben durch Rescript M. 18147 vom 23. November
d. Js. von der gehorsamst Unterzeichneten Deputation ein Obergut¬
achten erfordert in Sachen der Voruntersuchung gegen den praktischen
Arzt Dr. H. zu K. wegen fahrlässiger Tödtung, welches wir unter
Rücksendung der Acten in Folgendem erstatten:
Geschiohtserzählung.
In der Nacht vom 17. zum 18. Juni d. J. rief der Miillermeister G. F. in
Gr. die 76jährige Hebamme W. N.-zur Entbindung seiner Frau, welohe zuvor
schon viermal und ohne Kunsthülfe geboren hatte. Die Hebamme, noch vor
Mitternacht in der Wohnung des F. angelangt, fand die Ehefrau desselben in
heftigen Wehen und das Kind in Steisslage sich zur Geburt stellend. Nach ganz
kurzer Frist wurde die untere Hälfte des Rumpfes geboren, welcher unter ge¬
ringer Naohhfilfe seitens der Hebamme auch die obere Hälfte des Rumpfes mit
den Armen folgte. Um den Kopf zu entwickeln, will die Hebamme zwei oder drei
Mal kräftig mit den hakenförmig über die Schultern gelegten Fingern gezogen
haben (Bl. 19 and 39 v.). Während dessen hielt eine Nachbarin, Frau Sch., das
Kind an den Füssen und will, nach Aufforderung durch die Hebamme daran auoh
gezogen haben, jedoch nur ein einziges Mal und ohne grosse Kr&ftanstrengung
(Bl. 42). Als die Bemühungen der Hebamme erfolglos blieben, verlangte sie
ärztliche Hülfe, und der F. holte nun den Dr. H. aus K. Dieser Letztere war
noch nicht im Bett, weil er in seinem Hause Gäste gehabt hatte. Dr. H. ging
sofort mit dem F. und traf in dessen Wohnung zwischen 2 und 3 Uhr Nachts ein.
Während der bis zur Ankunft des Beklagten verfliessenden zwei Stunden
hat die Kreissende, naoh Aussage der Hebamme, ruhig im Bett gelegen, eine
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298
Snperarbitriam der Königl. wissenschaftlichen Deputation.
Tasse Kaffee getrunken, nicht über heftige Schmerzen geklagt, auch nicht ge¬
blutet, noch Ohnmachtsanwandlungen oder sonstige Symptome innerer Blutung
gezeigt (Bl. 38t., Bl. 39).
Der Beschuldigte untersuchte nach seiner Ankunft die Kreissende — ob
auch äusserlich, ist aus den Acten nicht deutlich ersichtlich; dooh giebt die Heb*
amme an, der Beschuldigte habe die Frau F., ehe er an die Operation ging, auf
den Leib gefasst (Bl 93), während der Ehemann dies leugnet (Bl. 94 v.), ebenso
Frau Sch. (Bl. 95). Er legte sie sodann auf einen Tisch und versuchte die Zange
anzulegen. Beim ersten Versuch gelang ihm der Schluss der Zange nicht; bei
den weiteren Versuchen scheint dies gelungen zu sein; doch blieb es beim Ver¬
such der Zangenentbindung. Der kindliche Schädel folgte nicht. Der Beklagte
giebt an, die Zange nicht öfter als dreimal angelegt zu haben (Bl. 25 v. und
Bl. 53 v. und BI. 99 v.), während die Zeugen sämmtlich bekunden, dies sei min¬
destens 10mal geschehen (Frau N. Bl. I9v. und Bl. 23 und 93, Frau Scb.
Bl. 42, F. Bl. 94t.). Doch fügte die Zeugin Frau Sch. hinzu, der Beschuldigte
habe die Zange nicht zum Schluss gebraoht. Die Entbindungsversuche sollen
nach Aussage der Zeugin U. 2 Stunden ohne jede Unterbrechung gedauert haben
(Bl. 40t.). Dasselbe bekundet Frau N. (Bl. 19 t.).
Die Kreissende verlor bei den Zangenversuchen nicht unerheblich Blut, wie
Frau N. (Bl. 20) und Frau Sch. (Bl. 42) übereinstimmend bekunden.
Hach den vergeblichen Versuchen, mit der Zange zum Ziel zu kommen,
schnitt der Beschuldigte den Rumpf vom Kopf ab. Er selbst giebt an, schon bei
seiner Ankunft die Wirbelsäule des Kindes durchgerissen und den Kopf mit dem
Rumpf nur durch drei Finger breite Weichtheile verbunden gefunden zu haben.
Nach der erfolgten Abtrennung des Rumpfes brachte der Beschuldigte seinen
Arm bis zum Ellenbogen in die Geburtstheile der Frau, konnte jedoch auch auf
diese Weise den Kopf nicht hervorholen. Er erklärte jetzt ohne Assistenz und
Ghloroformnarcose,. welche bisher nicht zur Anwendung gekommen war, Frau F.
nicht entbinden zu können und ordnete an, dass zum Dr. P. in U. geschickt
werden solle. Er verliess dann um 5 Uhr Morgens die Kreissende und gab an, er
werde am Vormittag um 11 Uhr wieder kommen.
Der unterdessen herbeigerufene Dr. P. traf bereits um 10 Uhr Vormittags
bei Frau F. ein. Als um 7 2 12 Uhr Mittags Dr. H. noch nicht wieder erschienen
war, wurde er telegraphisch gerufen und traf alsbald ein.
Dr. P. will bei seinem Eintreffen die Kreissende in einem bedrohlichen
Zustande, mit 130 Pulsschlägen über starke Leibschmerzen klagend gefunden
haben.
Er hat deshalb nicht gewagt sie innerlich zu untersuchen. — Doch konnte
er durch äussere Untersuchung feststellen, dass der rechts in der Lebergegend
befindliche Kopf des Kindes einen ungewöhnlich grossen Umfang hatte, und dass
die Kopfknooben mindestens 2 Finger breit aus einander standen, woraus auf
starken Wasserkopf zu schliessen war (Bl. 5 und 91). Er will diese Diagnose
auch dem Dr. H. mitgetheilt haben.
Diesen Aussagen des Dr. P. stehen diejenigen des Beklagten direct ent¬
gegen. Derselbe behauptet (Bl. 99v.): „Als ioh Frau F. verliess (nämliob 5Uhr
Morgens), war sie zwar erschöpft, aber völlig bei Bewusstsein und verlor kein
Blut“ und (Bl. 100): „als ich am nächsten Vormittag wieder an das Bett der
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betreffend fahrlässige Tödlung bei der Entbindung.
299
Frau F. trat, fand ioh sie durchaus nicht in dem von Dr. P. beschriebenen,
elenden Zustande. Ich habe ihren Puls gefühlt und nicht mehr als 80 Sohl&ge
p. M. gezählt, auch das Thermometer in die Achselhöhle gelegt und normale
Körperwärme festgestellt. Es ist unwahr, dass mir Dr. P. gesagte hätte, es läge
ein Wasserkopf vor. Er meinte nur, als ioh in das Zimmer trat, es sei ein sehr
grosser Kopf vorhanden. *
Mit dieser letzteren Aussage stimmt diejenige der Zeugin U. überein, welche
sagt (Bl. 41): „Davon, dass das Kind einen Wasserkopf hätte, hat Dr. P. über¬
haupt Niohts gesagt.“ Und später: „Dr. P. hat überhaupt von Wasserkopf auch
nachher nicht gesprochen; vielmehr hat der Beschuldigte, nachdem er meine
Tochter untersuoht hatte, nachher erklärt, es müsse ein starker Wasserkopf
da sein.“
Zum Zweoke der Entbindung wurde nun duroh Dr. P. die Kreissende oblo-
roformirt. Alsdann versuchte der Beklagte zunächst nochmals vergeblich die
Zange, dann ebenso vergeblich den Haken und untersuchte dann nochmals durch
Eingehen mit der Hand. Jetzt kam er auf die richtige Diagnose und perforirte
den vorhandenen Wasserkopf.
Es flössen nach Angabe des Dr. P. und der Frau N. etwa 2 Liter Wasser
aus; nach Angabe des Beschuldigten nur etwa Va Liter. Den zusammengefal¬
lenen Kopf, dessen Umfang sich später, bei der Obduction, noch auf 55 cm her¬
ausstellte, konnte der Beklagte jetzt mittelst einer „Stiftzange“ und des ge¬
krümmten Fingers herausbefördern.
Während dieser im Ganzen 40 Minuten dauernden Entbindungsmanöver
verlor die Kreissende viel Blut. Sie hatte einen sehr kleinen Puls bekommen und,
wie Frau N. angiebt, „den Athem verloren“. Gegen 3 Uhr Nachmittags ent¬
fernten sich die Aerzte; die Hebamme erst 9 Uhr Abends. Die Wöobnerin war
in dieser Zeit sehr schwach, verlangte immerfort zu trinken, brach aber das
Genossene wieder aus. Der Tod erfolgte etwa 10 Stunden nach der Ent¬
bindung.
Am 16. Juli, genau 4 Wochen naoh der stattgehabten Entbindung, wurde
die Leiche der Frau F. exhumirt und durch den Kreisphysikus Dr. Sch. und den
praktischen Arzt Dr. E. seoirt. *
Für die Ermittelung der Todesursache kommen nur wenige Nummern des
Seotionsprotocolls in Betraoht, nämlich No. 29.Nachdem der Kehlkopf
aufgeschnitten ist, findet sich in demselben in der Mitte eine Zahnwurzel von der
Länge eines halben Centimeters, welche asservirt wird. (NB.: Sie befindet sioh
bei den Acten.) Die Kehlkopfsohleimhaut, wie die des oberen Theils der Luft¬
röhre ist sohmutzigroth verfärbt, zeigt keine Gefässentwiokelung und auch keinen
weiteren Inhalt.
No. 46. Bei äusserer Besichtigung der Geschlechtsorgane (nämlioh von der
Bauchhöhle aus) fällt schon in’s Auge ein auf der rechten Seite der Gebär¬
mutter verlaufender Längsriss. Bei Aufsohneiden der Scheide ergiebt sioh, dass
dieser Riss sich an der rechten Vorderseite der Scheide bis in die Mitte derselben
erstreckt.
No. 48. Der oben erwähnte Riss hat eine Länge von 18 om. Davon ent¬
fallen auf die Scheide 4 cm, auf den Halstheil der Gebärmutter 10 om, der Rest
auf den Gebärmutterkörper. Die Randung des ganzen Risses ist unregelmässig,
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Superarbitrium der Königl. wissenschaftlichen Deputation,
an einzelnen Stellen, besonders am Körper, glatt, am Hals- und Soheidentheil
mehr uneben. Die Randungen des Risses sind nioht blutig infiltrirt; das Bauch¬
fell an dieser Stelle ist fetzig abgerissen. —
Die Obducenten geben ihr Gutachten nach Schluss der Seotion dahin ab:
1) Denata ist in Folge einer umfangreiohen Zerreissung der Gebärmutter und der
Scheide gostorben. 2) Die Zerreissung ist eine gewaltsame gewesen. 3) Ob
diese Zerreissung durch die Schuld eines Dritten herbeigeführt ist, lässt sich
durch die Ergebnisse der Section allein nioht feststellen, sondern erst naoh
sorgfältiger Ermittelung des Geburtsverlaufs und der Manipulationen der Ge¬
burtshelfer.
Auf die Frage des Richters, ob der constatirte Gebärmutterriss etwa spon¬
tan, durch eine Wehe, verursacht sein könne, erklärt der Kreisphysikus Dr. Sch.:
„ich halte diese Möglichkeit nicht für ausgeschlossen*. Dagegen Dr. E.: Auch
ich glaube, dass hochgradige Wehen bei schweren Geburtshindernissen einen Ge¬
bärmutterriss hervorrufen können; kaum aber meines Eraohtens einen Riss von
derartiger Ausdehnung, wie sie der heute von uns Vorgefundene hat.
Ein schriftliches, motivirtes Gutachten der Obducenten, auf welches die¬
selben als erforderlich hingewiesen hatten, findet sioh zu unserem Bedauern in
den Acten nicht und scheint auch dem Königlichen Medioinaloollegium nicht Vor¬
gelegen zu haben.
Unter dem 15. September d.J. erstattete das Königliohe Medioinalcollegiom
zu B. ein Gutachten, welches seine Schlüsse nicht unter bestimmten Nummern
kurz zusammen fasst. Die Hauptresultate sind aber folgende: Frau F. ist an den
Folgen des Gebärmutterrisses gestorben. Spontan konnte bei dem geschilderten
Geburtsverlauf eine Ruptur nicht entstehen. Vor Allem ist die Anlegung der
Zange als Grund der Verletzung zu beschuldigen. Die Anlegung der Zange beim
Wasserkopf ist ein Kunstfehler. Das Verkennen des Wasserkopfes trotz längerer
Operation war ein Kunstfebler; denn die Diagnose ist so leicht, dass wenn der
Arzt überhaupt daran denkt, er auch die Diagnose stellen kann und muss. Die
falsche Diagnose hatte eine falsche Behandlung, die falsche Behandlung die Ver¬
letzung und den Tod der Frau zur Folge. Ob in dem Handeln des Beschuldigten
eine FahrlässigkeK in dem Sinne des § 222 des Strafgesetzbuchs liegt, ist eine
juristische Frage, welche das Medicinaloollegium dem Richter zu beantworten
überlässt.
Das Medioinalcollegiom sohliesst sein Gutachten damit, dass es als wün¬
schenswert!) bezeichnet, noch über eine Anzahl bestimmt bezeiohneter Punkte
nähere Aufklärung zu erhalten.
Nachdem die erforderten Reoheroben durch nochmalige Vernehmung der
Zeugen angestellt worden und das Medicinaloollegium von den Resultaten Kennt-
niss genommen, kommt dasselbe in seinem zweiten Gutachten vom 10. November
zu folgenden formulirten Schlusssätzen:
1. Die Ursache des Todes der Frau F. war ein Riss in der Gebärmutter.
2. Das Entbindungsverfahren des Dr. H. war der Grund des Gebär¬
mutterrisses.
3. Das Entbindungsverfahren war falsch.
4. Die Wahl des falschen Verfahrens war die Folge der falschen Dia¬
gnose d. h. des Niobterkennens des Wasserkopfes.
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betreffend fahrlässige Tödtung bei der Entbindung.
301
5. Bei Anwendung der Aufmerksamkeit und Faohkenntniss, za der
Dr. H. vermöge seines Berufes verpflichtet war, musste er spätestens
nach der festgestellten Erfolglosigkeit seines Entbindungsversuches
die richtige Diagnose stellen.
Unter dem 16. November erbittet nunmehr das Königliohe Amtsgericht zu
Q. ein Obergutachten der Wissenschaftlichen Deputation darüber,
„ob der Angeschaldigte bei der Behandlung der Frau F. schuld¬
hafter Weise einen Kunstfehler begangen hat, und ob der Tod der
Frau F. auf diesen Kunstfehler zurückzuführen ist.“
Gutachten.
Wir haben zunächst die Todesursache festzustellen:
Als solche kann nur der Gebärmutterriss in Frage kommen.
Der Befund des bei den Acten befindlichen Zahnes im Kehlkopf
kann zur Erklärung des Todes nicht herangezogen werden, da von
Erstickungserscheinungen Nichts beobachtet worden ist, während die
Krankheitserscheinungen durchaus mit den Symptomen einer Gebär-
mutterzerreissun g ü berei nstimmen.
Die zweite zu beantwortende Frage ist die nach der Entstehungs¬
weise und Entstehungszeit der Zerreissung. Bezüglich der Zeit ist
nicht anzunehmen, dass die Zerreissung vor den zweiten Entbindungs¬
versuchen, welche Dr. H. am Vormittag, in Gegenwart des Dr. P.
vornahm, zu Stande gekommen ist; denn, wie die Hebamme N. be¬
zeugt, ist in der Zwischenzeit zwischen den operativen Eingriffen in
der Nacht und am anderen Mittag keine Blutung gewesen. Auch hat
die Kreissende nicht die Zeichen innerer Blutung gehabt und auch
nicht über erhebliche Loibschmerzen geklagt.
Erst bei den Entbindungsversuchen am anderen Mittag hat Frau
F. übermässig stark geblutet und wurde nach vollendeter Entbindung
bnwusstlos.
Es ist hiernach wohl nicht zu bezweifeln, dass die Ruptur bei
den Entbindungsversuchen eintrat, welche der Beklagte am 18. Mit¬
tags unternahm; aber ob dies während und durch die Zangenversuche
geschah, oder vielleicht dann, als der Beschuldigte zum Zweck der
genaueren Untersuchung die ganze Hand in die Geburtstheile ein¬
führte, ist nicht mit völliger Sicherheit zu entscheiden. Das Erstere
ist das Wahrscheinlichere.
Der nicht zu entschuldigende Fehler des Beklagten lag, wie
schon das Königliche Medicinalcollegium ausgeführt hat, in dem Ver-
Vierteljabretchr. f. ger. Ued. Dritte Folge. V. 9. 20
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UNIVERSUM OF IOWA
302
Superarbitrium der König!, wissenschaftlichen Deputation.
kennen der Diagnose. Ist auch der Wasserkopf, zumal wenn der
Rumpf des Kindes zuerst geboren wird, nicht immer sofort zu er¬
kennen, so muss doch bei jedem erheblichen Wasserkopf, wie er hier
vorlag, die Diagnose sich durch die äussere Untersuchung stellen
lassen. Darin lag der Kunstfehler des Beklagten, dass er diese ver¬
säumte (Bl. 91v.). Zumal nach den vergeblichen Zangenversuchen
war eine genauere Untersuchung doppelt geboten und hätte ohne
Zweilel zur richtigen Diagnose und damit auch zur richtigen Behand¬
lung geführt, wie sie der Beklagte zuletzt ausführte, als es zu spät war.
Zur milderen Beurtheilung des diagnostischen Irrthums muss je¬
doch hervorgehoben werden, dass Wasserköpfe unter der Geburt zu
den selteneren Ereignissen gehören. Wie dem Beklagten früher kein
einziger derartiger Fall vorgekommen war, so erlebt mancher be¬
schäftigte Geburtshelfer im Laufe seines ganzen Lebens keinen ein¬
zigen derartigen Fall. Es wird dadurch eher begreiflich, wenngleich
nicht entschuldbar, dass der Beklagte garnicht auf den Gedanken
eines solchen Geburtshindernisses kam.
Alle übrigen Punkte, welche aus den Acten hervorgehen, sind
für die Beurtheilung der Schuld des Beklagten gleichgültig und be¬
dürfen deshalb der Erörterung nicht weiter.
Es kann keine Frage sein, dass Denata, wenn rechtzeitig d. h.
in der Nacht oder wahrscheinlich auch noch am Mittag des 18. Juni
die richtige Behandlung eingeschlagen worden wäre, ihr Leben nicht
eingebüsst hätte. Lediglich dem Verkennen des Geburtshindernisses
seitens des, wie mit Blindheit geschlagenen, Beklagten führte zu der
kunstwidrigen Behandlung und dem tödtlichen Ausgang.
Wir geben unser schliessliches Gutachten dahin ab:
1. Frau F. ist in Folge des Gebärmutterrisses gestorben.
2. Der Riss war die Folge des kunstwidrigen Entbindungsver¬
fahrens, welches der Beklagte einschlug.
3. Lediglich das Nichterkennen des Wasserkopfes führte zu der
kunstwidrigen Behandlung.
4. Bei gehöriger Aufmerksamkeit, zu welcher der Beklagte in
Folge seines Berufes verpflichtet war, und bei ruhiger Ueber-
legung hätte er rechtzeitig die richtige Diagnose stellen können.
Berlin, den 7. December 1892.
(Folgen die Unterschriften.)
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UNIVERSUM OF IOWA
7.
Eia weiterer Fall toi Siwilatioi toi Schwächste bei
besteheider Geistesstftriig* ‘)
Motivirtes Gutachten
von
Dr. Cleaeiu Keiner,
(Jberar/.t an der Provlmial-Irrenanstalt zu Leubus.
Den nachfolgenden Fall halte ioh ans zwei Gründen der Mittheilang für
werth. Einmal scheint es in weiteren ärztliohen Kreisen und wohl auoh manchen
Gerichts- and Gefängnissärzten noch immer nicht hinlänglich bekannt zu sein,
dass zweifellos geisteskranke Individuen garnicht so selten psychische Krank¬
heitserscheinungen simuliren und dass somit die Alternative: Geistes¬
kranker oder Simulant? keineswegs immer eine richtige Frage¬
stellung bildet. Sodann aber ist von mir in diesem Falle zur Erkennung des
Geisteszustandes meines Wissens zum ersten Male ein Hülfsmittel ver¬
wertet worden, dessen Anwendung durch Sachverständige sich öfters empfehlen
dürfte, nämlich die Berücksichtigung der verschiedenartigen Reactions-
weise gesunder und kranker Gehirne auf Opiate.
Ueber den betreffenden Fall habe ioh seiner Zeit im Aufträge meines ver¬
ehrten Chefs, des Herrn Sanitätsrath Dr. Alter, ein motivirtes Gutachten aus¬
gearbeitet und mit seiner gütigen Erlaubniss gebe ioh dasselbe hier — mit
einigen Kürzungen — dem Wortlaute nach wieder.
Leubus, den 19. October 1889.
Gemäss Ersuchens des Königlichen Herrn Ersten Staatsanwalts zu Gl. vom
22. Juli d. J. gebe ich über den Geisteszustand des Goldarbeitergehülfen PaulR.
aus 0. das nachstehende ausführlich motivirte ärztliohe Gutachten ab.
Explorat, der Goldarbeitergehülfe Paul R., unehelich geboren am %ß. Fe¬
bruar 1867 zu 0., wurde am 26. Januar d. J. in Gl. in Untersuchungshaft ge-
') Vergl. diese Vierteljahrsschrift Bd. 49, S. 64 und Bd. 62, S. 291.
20 *
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304
Dr. Neisser,
nommen, weil er dringend verdächtig erschien, zu wiederholten Halen seinem
Principal, dem Goldarbeiter Ed. M. zu GL, Gold entwendet und zur Anfertigung
von Ringen benutzt zu haben, welche er dann auf eigene Hand verkaufte. Am
22. Mai d. J. wurde die Untersuchungshaft über den R. aufgehoben, da die Fort¬
führung derselben einer angeblich plötzlich aufgetretenen Gehirnkrankheit wegen
nach ärztlichem Gutachten als bedenklich erschien. Er wurde an letztgedaohtem
Tage in das städtische Krankenhaus zu Gl. aufgenommen. Ueber den Beginn
der Krankheit wird berichtet, dass R. im Gefängniss plötzlich in der Zelle, welche
er mit anderen Gefangenen gemeinschaftlich bewohnte, bewusstlos umgefallen
sei; er habe nicht sprechen können und die Gesichtsmusculatur sei von krampf¬
haften Zuckungen ergriffen worden. Er wurde im Tragbette in das Lazareth ge¬
schafft und soll daselbst noch einige Tage in bewusstlosem Zustande verblieben
sein, während deren ihm nur mit Muhe etwas flüssige Nahrung eingeflösst werden
konnte. Danach sei seine freiwillige Beweglichkeit sowie die Sprache und die
Neigung Speisen zu sich zu nehmen wiedergekehrt; indess sei er auoh nach¬
her sehr still, „dumpf brütend u geblieben und habe auf Fragen nur dürftige
und zumeist confuse Antworten gegeben. Er behauptete, er heisse nicht „R. u ,
sondern „H. . . 1“, erzählte von dem Verluste seines grossen Reichthums, den er
als Kaufmann erlitten habe, faselte von dem Verluste eines Buches und war
weder zu einer zusammenhängenden Aussprache noch zu einer geordneten Be¬
schäftigung zu bewegen. Zeitweise sei er sehr furchtsam erschienen, äusserte-.
„dort kommen sie! sehen Sie nur, sie holen miohl“ und ein paar Male habe er
auch in der Nacht „getobt“.
Am 13. Juni d. J. (so. 1889) wurde R. als Geisteskranker in die hiesige
Provinzial-Irrenanstalt übergeführt, in welcher er sich zur Zeit noch befindet.
Bei seiner Aufnahme war das Sensorium des Exploraten soweit frei, dass er
Fragen, die an ihn gerichtet wurden, verstehen und beantworten konnte, wenn
auch der Inhalt seiner Antworten mehrfach unriohtig war. Dieselben erfolgten
sehr langsam und energielos und seine Art zu sprechen zeugte in Uebereinstim-
mung mit seinem schlaffen Gesichtsausdruck und seiner schlechten Körperhaltung
von hochgradiger Abgespanntheit. Aus der Seitens des Arztes mit dem Explo¬
raten bei seiner Aufnahme gepflogenen Unterredung führe ich Folgendes wört¬
lich an:
(Wie heissen Sie?) „Paul H-1“ (falsch).
(Wie alt sind Sie?) „28 Jahre“ (falsch).
(Wann sind Sie geboren?) „28 Jahre“.
(loh frage, in welchem Jahre Sie ge¬
boren sind?) „1860“ (falsch).
(An welchem Datum?) „im März“ (falsch).
(Woher kommen Sie heute?) „aus C.“ (falsch).
(Was haben Sie dort gemacht?) „ich bin zu Besuch dagewesen“.
Etwa 2—3 Stunden naoh seiner Aufnahme wurde Explorat, weloher in¬
zwischen gebadet und in’s Bett gelegt worden war, von demselben Arzte von
Neuem untersucht. Er erklärte auf Befragen, dass er denselben nicht kenne und
noch nie gesehen habe; hier befinde er sich seit ungefähr zwei MonatenI Ferner
erzählte er, dass er in Breslau das Gymnasium besucht habe. Auf die Frage,
welohes Gymnasium? erwiederte er: „nu das Gymnasium!“ Er sei bis zur Unter-
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Simulation von Schwachsinn bei bestehender Geistesstörung. 305
Tertia gekommen. Aufgefordert, die Namen der einzelnen Klassen zu nennen,
vermag er dieselben nicht in der richtigen Reihenfolge anzugeben. Er habe
lateinisch gelernt, aber Alles wieder vergessen. Griechischen Sprachunterricht
habe er nicht gehabt, wohl aber französischen; indess auch davon wisse er nichts
mehr. Die Antworten erfolgten auch bei dieser Unterhaltung sehr langsam und
stockend; von selbst sagte er kein Wort.
Die körperliche Untersuchung ergiebt, dass Explorat ein kleiner ver¬
wachsener Mann ist. Die Rückenwirbelsäule ist stark nach rechts verkrümmt,
die Lendenwirbelsäule entsprechend nach links; die grösste seitliche Abweichung
der ersteren von der Medianlinie beträgt 3'/, cm; die der letzteren ca. 2'/ 2 cm.
Der Kopf ist auffallend gross aber normal configurirt; nur die Hinterbaupt-
schuppe springt in plötzlicher und zu starker Krümmung vor. Die Gesichtshaut
und die sichtbaren Schleimhäute sind blass, das Fettpolster ist reichlich. Die
Musculatur schlaff. Im Gesicht und an den Extremitäten treten Lähmungserschei¬
nungen nicht hervor. Die Pupillen sind erweitert, aber beiderseits in gleichem
Maasse und von guter Reaction auf Lichteinfall. Die Zunge wird langsam aber
gerade und ohne Zittern herausgestreckt. Die Hautreflexe sind lebhaft, der Fuss-
sohlenreflex deutlich gesteigert. Die Kniephänomene lassen sich nicht hervor-
rufen, da Explorat die Spannung der Musculatur nicht zu überwinden vermag.
Die Athmung ist ein wenig beschleunigt: 22 Respirationen pro Minute. Die
Auscultation der Lunge und des Herzens lässt Abnormitäten nicht erkennen.
In den ersten Wochen seines Hierseins kohnte Explorat in Gemeinschaft
ruhiger Kranker belassen werden. Er wälzte sich zwar viel im Bett umher
(— dauernde Bettruhe wurde aus therapeutischen Rücksichten angeordnet —),
hielt auoh ab und zu leise Selbstgespräche, lief auch mitunter im Hemde an das
Fenster, aber im Grossen und Ganzen verhielt er sich nioht störend und liess
sich durch Ermahnungen der Aerzte und des Wartepersonals ohne Widerstreben
beeinflussen. Gegen Ende Juli jedoch trat eine vermehrte Unruhe bei dem Ex-
ploraten hervor, so dass er in eine andere Abtheilung dislocirt werden musste,
in welcher er auch gegenwärtig noch sich befindet. Seine wirren Selbstgespräche
wurden lauter, manchmal stiess er wie von Sohreck erfasst laute Schreie aus,
sprang aus dem Bett heraus, warf die Zudecke weit von sich und liess sich in
solchen Erregungszuständen erst durch die Application von Bädern oder durch
Morphiumeinspritzungen einigermassen beruhigen. Stundenlang liegt Explorat
in eigentümlichen Stellungen im Bett, indem er die Beine senkrecht an der
Wand in die Höhe streckt oder dieselben zu anderen Zeiten in den Kniegelenken
stark flectirt gegen den Leib hinaufzieht, dabei unausgesetzt mit den flachen
Händen taktmässig auf die Oberschenkel klopfend. Der Blick ist zumeist starr
in’s Leere gerichtet und die Lippen bewegen sich in leisem Selbstgespräch. Wird
er in den Garten geführt, so geht er, um die anderen Kranken unbekümmert,
mit gebücktem Kopfe in schnellem Schritte umher, fast andauernd leise vor sich
hinsprechend. Seine spontanen Aeusserungen sind in der Regel unverständlich
gewesen; nur ab und zu konnte man Sätze vernehmen, wolche er auch auf Be¬
fragen in sich ziemlich gleich bleibender Weise äusserte, dass er hier in Japan
und dass der angrenzende Wald der Urwald sei, ferner dass er fortgesetzt „von den
Frauen“ verfolgt werde und dass „die Frauen“ ihn umbringen wollen. Aehnliche
Bemerkungen finden sioh auch zu wiederholten Malen in seinen Briefen, welche er
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306
Dr. Neisser,
hier geschrieben hat and die im Uebrigen grösstentheils unleserlich and za-
Am 14. Aagast d. J. führte ich mit dem Exploraten, weloher sioh gerade
im Garten befand, das folgende Gespräch:
(Wo sind wir hier?)
(Was ist das für ein Haus?)
(Sind Sie aach krank?)
(Warum sind Sie denn hier?)
(Warum und von wem?)
(Durch welche Lügen?)
(Wie lange sind Sie hier?)
(In welchem Monat leben wir?)
(Was sind Sie?)
(Wo wurden Sie krank?)
(Sie sind doch in’s Gefängniss gebracht
worden? weshalb?)
(Was haben Sie denn unterschlagen?)
(Kennen Sie mich?)
(Wo sind wir hier?)
(Wo liegt Leubus?)
(Früher sagten Sie, Sie wären in Japan?
Ist das so?)
(Sprechen denn die Leute in Japan
deutsch?)
»in Leubus“.
„ein Krankenhaus“.
„nein“.
„verbannt bin ich“.
„durch Lügen“.
„durch Sohlingen und . .“
„seit anderthalb Jahren“. (!)
„im Mai“.
„Goldarbeiter“,
keine Antwort.
„wegen Unterschlagung“.
„es sollte Gold gewesen sein“,
„nein“.
„Leubus“.
„Schlesien“.
„ja, ich sehe doch den Urwald“,
„es wird verschieden gesprochen“.
Schliesslich sei noch Einiges aus einer Unterredung hier mitgetheilt, welche
am 25. August d. J. mit dem Exploraten geführt wurde:
(Wie alt sind Sie?)
(Wann geboren?)
(Was haben wir jetzt für ein Jahr?)
(Was für eineTageszeit ist denn jetzt?)
(Was für eine Tageszeit?)
(Jahreszeit?)
(Was für ein Ort ist hier?)
(Was ist das hier für ein Zimmer?)
(Woher sind Sie gekommen?)
(Wer hat Sie hierher verbannt?)
(Weshalb?)
(Kennen Sie mich?)
(Wieviel ist 5 X 10?)
(Wieviel ist 2X4?)
(Soll von 100 um je 1 rückwärts zählen:)
„26 Jahre“.
„am 23. Februar 1860“.
„1881“.
„Mittwoch“.
„Naohmittag“ (es war Vormittags
'/ 2 10 Uhr!).
„Frühling“.
„Frankfurt“.
„hier sind lauter Verbannte“.
„ans Breslau“.
„das Gericht“.
„ich soll einen Mord begangen haben
oder so was“.
„ja aus der grossen Mühle der Buch¬
halter“.
„5X10, 5X10 ist 60, 5X10 ist 15“.
„2X4 ist 6, 2X4 ist 9, 2 X 4
ist 6“.
„100, 1, 98, 97, 94, 92, 90, 91, 93,
94, 96, 99, 100“.
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Simulation von Sobwachsinn bei bestehender Geistesstörung.
307
(Wiederholung derselben Aufgabe:) »100, 98, 97, 96, 94, 91, 80“.
(Wann war der Krieg gegen Frank¬
reich?) »1880 und 81“.
In dieser Weise erfolgten in jeder Unterredung mit dem Exploraten neben
sehr vereinzelten richtigen Angaben eine Fülle von ganz verkehrten Antworten,
und zwar, wie hervorgehoben werden muss, bei sehr einfachen Dingen, welche
keineswegs ausserhalb des Bereiches der Kenntnisse und Fähigkeiten des R.
liegen. Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass die Mehrzahl aller Antworten
des Exploraten oder doch wenigstens sehr viele von demselben absichtlich
falsch und mit dem Bewusstsein, etwas Verkehrtes zu produoiren,
gegeben wurden. Namentlich deutlich geht dies aus seiner Art und Weise zu
rechnen, aus den Angaben über seine Personalien, über die Jahreszeit, über sein
Lebensalter u. dergl. mehr hervor. Es liegt hier ein plumper Versuch vor, sich
für einen geistesschwachen und irrenMensohen hinzustellen, und wie die meisten
ungeschickten Simulanten geistiger Störung verräth R. seine Absicht daduroh,
dass er zu viel Verkehrtes und Unsinniges zu Tage fördert. Wenn wirklich eine
geistige Störung eine so hochgradige Schädigung des intellectuellen Besitzstandes
herbeigeführt haben würde, dass die einfachsten Personal fragen nicht mehr cor-
rect beantwortet, die leichtesten Rechnenexempel nicht mehr richtig gelöst worden
könnten, so würde dieser Verfall sich in dem Gesammtbilde der Person ganz
anders ausgeprägt zeigen, und es würden vor allen Dingen nicht fast stets Ant¬
worten gegeben werden, welohe zwar falsch sind, aber doch deutlioh erkennen
lassen, dass die Pointe und der Sinn der Frage richtig verstanden und verarbeitet
worden ist. Gerade die Art von Antworten, wie sie Explorat giebt und als deren
Prototyp ioh diejenige herausheben möchte, wonach der letzte Krieg „1880 und
81“ stattgefunden habe, ist absolut charakteristisch für eine absichtliche Fäl¬
schung, für eine dreiste Simulation!
Wenn nun berechtigterweise weiter gefragt wird, ob das Gesa'mmtverhallen
des Exploraten durch diese Annahme der Simulation erklärt werden könne, so
muss ich dies entschieden verneinen. Bei einem Menschen, welcher in Anklage-
zustand sich befindet und mit grosser Wahrscheinlichkeit eine schwere Bestra¬
fung zu gewärtigen hat, könnte es ja plausibel erscheinen, wenn er als ein letztes
Mittel, um sich zu exculpiren, die Simulation geistiger Störung wählen würde.
In Wirklichkeit lehrt indess die Erfahrung, dass geistesgesunde Personen nur in
sehr seltenen Fällen zu einem derartigen Versuche ihre Zuflucht nehmen und
dass sie dann in der Regel nach sehr kurzer Zeit an der Schwierigkeit der Durch¬
führung ihrer Rolle scheitern, zumal die Wenigsten in der Lage sind, über hin¬
längliche Beobachtungen zu verfügen, um naturwahre Bilder liefern zu können.
Dass Simulanten ihrVerbalten in gleichmässigerWeise durch Monate hindurch —
Explorat befindet sich jetzt bereits 4 Monate in unserer Anstalt — fortzusetzen
die Kraft finden, dürfte kaum Vorkommen.
Aber nicht nur derartige allgemeine Erwägungen sind es, auf welche ich
mein Urtheil, dass Explorat sich in wirklich geisteskrankem Zustande befindet,
stütze, sondern die Betrachtung seines Verhaltens bietet hierfür ausreichende
positive Anhaltspunkte.
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308
Dr. Neisser,
Explorat ist der Herrschaft lebhafter Sinnestäuschungen unterworfen. —
Wenn für diese Annahme nur die oft wiederholten Angaben des R. selbst in’s
Feld geführt werden könnten, wie dass er Soldaten mit Flinten auf sich zu¬
kommen sehe oder lange Züge von Frauen, welche sich hin und her bewegten
oder dass er seinen Hamen rufen und Drohungen ausstossen höre u. dergl. mehr,
so wäre die Möglichkeit einer Täuschung nicht ausgeschlossen. Aber auch wenn
Explorat selbst niemals eine diesbezügliche Aeusserung hätte laut werden lassen,
so würde, wie ich bestimmt behaupten möchte, trotzdem jeder Irrenarzt von selbst,
aus der Beobachtung seines Verhaltens heraus, das Bestehen intensiver Halluci-
nationen diagnosticirt haben. Er machte stets den Eindruck eines psyohisch prä-
occupirten, den wirklichen Vorgängen gänzlich entrüokten Mensohen; Anreden,
Berührungen etc. scheinen ihn in der Regel aus einem Traumleben aufzuwecken,
und oft gelingt es garnicht, seine Aufmerksamkeit auch nur vorübergehend zu
fesseln. Nicht selten springt er, ohne jeden erkennbaren äusseren Anlass, ans
dem Bett auf, läuft zum Fenster, sieht sich scheu und furchtsam nach allen
Richtungen um, bleibt im Hemde mitten im Zimmer stehen und ist nur sohwer
zu bewegen sich wieder hinzulegen. Zu anderen Zeiten verhüllt er sich durch
Stunden den Kopf fest mit der Decke, wie es Gehörshalluoinanten zu thun pflegen,
wenn sie ihren krankhaften Wahrnehmungen ungestört nachhängen wollen. Manch¬
mal blickt er durch lange Zeit starr mit angespanntestem Gesichtsausdruck auf
einen Punkt an der Wand oder der Decke, und wenn er in einem solchen Zu¬
stande sich befindet, bleibt jeder Versuch ihn zu beeinflussen und die Aufmerk¬
samkeit abzulenken, z. B. durch Darreichung von Speisen etc., erfolglos. Wesent¬
lich ist ferner, hervorzuheben, dass sein Verhalten ein in keinerWeise anderes ist
in Gegenwart oder in Abwesenheit der Aerzte. Auch in der Nacht, sofern er
nicht zu schlafen vermochte, bot er ein ganz ebenmässiges Zustandsbild dar.
Ferner muss betont werden, dass eine vorzügliche Uebereinstimmung seines Ge-
sammtverhaltens, seines physiognomischen Ausdrucks, seiner Haltung, Sprech¬
weise und Bewegungsart mit dem kundgegebenen Inhalt seiner subjectiven
Sinneswahrnehmungen vorhanden ist. Immer fast pflogt sich im Verein mit
schreckhaften Hallucinationen eine mehr weniger hochgradige Hemmung in der
psychomotorischen Sphäre auszubilden, und so zeigt anch der Explorat eine äusserst
verlangsamte und mangelhafte Reaction auf psychische Reize, eine verringerte
mimische Beweglichkeit, leise, zögernde, stockende Sprechweise und eine erheb¬
liche Herabsetzung der Initiative; er muss zum Waschen, zum Essen, zur Be¬
nützung des Abortes und überhaupt zu'jeder Verrichtung von aussen einen An¬
trieb erhalten.
Von ganz besonderem Werthe für die Beurtheilung des
Geisteszustandes des Exploraten ist ferner der Umstand, dass
derselbe einer medicamentösen Einwirkung unterzogen wurde,
welohe sehr geeignet ist zwischen einem gesunden und einem kran¬
ken Nervensysteme unterscheiden zu lassen. Explorat erhielt nämlich
hier durch längere Zeit in täglich gesteigerter Dosis innerlich Opiumtinctur, bis
er schliesslich die Höhe von 75 Tropfen pro Tag erreichte, ohne dass die ge¬
ringste Aenderung in seinem Zustande zu Tage trat. Es ist nioht anzunehmen,
dass ein gesundes Gehirn von derartiger eingreifender Medication in seinen
Verrichtungen ganz unbeeinflusst hätte bleiben können, während es eine Er-
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Simulation von Schwachsinn bei bestehender Geistesstörung. 309
fahrnngsthatsache ist, dass mit krankhaften psychischen Aufregungszuständen
behaftete Individuen eine ausserordentliche Resistenzfähigkeit gegen Opiate be¬
sitzen.
Endlich weise ich darauf hin, dass nach dem Bericht des Königl. Kreis-
physikus Dr. C. in Gl. die Krankheit plötzlich unter Erscheinungen von Convul-
sionen und Bewusstlosigkeit ausbrach, welch letztere durch mehrere Tage ange¬
halten haben soll. Die mir über jene Zeit zur Verfügung stehenden Angaben sind
so ungenaue und dürftige, dass ich ein Urtheil über den damaligen Zustand des
Exploraten nicht abgeben möchte; nur soviel scheint ersichtlich, dass eine Simu¬
lation Seitens des Letzteren damals kaum denkbar war, zumal ausdrücklich an¬
gegeben ist, dass selbst die Beibringung flüssiger Nahrung mit grossen Schwierig¬
keiten verknüpft war.
Nach alledem unterliegt es für mich keinem Zweifel, dass Explorat an einer
mit lebhaften Sinnestäuschungen einhergehenden Geistesstörung leidet, und ich
gebe mein Gutachtnn dahin ab, dass R. sich mindestens seit Anfang Juni d. J.
in einem Zustande krankhafter Störung seiner Geistesthätigkeit befindet, durch
welchen seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen ist.
Ueber die Aussichten auf Besserung des Zustandes bin ich zur Zeit noch
nicht in der Lage ein definitives Urtheil aussprechen zu können; indess sind die¬
selben als günstige nicht zu bezeichnen ').
Endlich bemerke ich, dass die in den Gerichtsacten niedergelegten münd¬
lichen und schriftlichen Auslassungen des Exploraten einen Fingerzeig für da¬
mals bereits bestehende Geistesstörung bei demselben nicht gewähren und dass
auch die Art der Ausführung seiner Delicte, sowie dieselbe durch die Zeugen¬
aussagen bekundet wird, keinen Anhaltspunkt für eine solche Annahme darbietet.
*) Neuestens hat R., welcher am 16. Mai 1890 ungeheilt von hier ent¬
lassen wurde, ein Gesuch hierher gerichtet, aus welchem sich ergiebt, dass eine
erhebliche Besserung der Krankheit, wenn nicht Genesung inzwischen doch ein¬
getreten ist.
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Jugendliches Irreseia, Hysterie. — Braadstiftuug. —
Freisprechung.
Von
Dr. Hrftner,
Direclur der Froviimal-Irrenanstalt zu Neustadt in Wcstpreusse».
In der Untersuchungssache wider die unverehelichte Martha G.
aus B. wegen Brandstiftung, durch Beschluss des Untersuchungsrichters
beim Königlichen Amtsgericht in Neustadt vom 16. April er. zum
Sachverständigen ernannt, erstatte ich im Nachstehenden das von mir
erforderte Gutachten über den Geisteszustand der Angeklagten.
Geschichtserzählung.
Am 7. März er. hatte das l6jäbrige Dienstmädchen Martha G. gegen
8 1 /, Uhr Vormittags glimmende Torfstöcken vom Kuchenheerde entnommen, die¬
selben auf den Boden des Hauses ihrer Dienstherrschaft, des Besitzers C., ge¬
tragen und nahe an das Strohdach auf einen Balken gelegt. Durch Dazwischen-
kunft der Tochter ihrer Dienstherrschaft M. C. wurde der Ausbruch eines Feuers
verhütet.
Dem Gendarm, der sie unmittelbar nach der That vernahm, gab sie an, sie
habe keine bestimmte Absioht bei der Brandlegung gehabt, es sei ihr mit einem
Male so in den Kopf gekommen. Dem Amtsvorsteher sagte sie, sie habe in
letzter Zeit sehr häufig starke Kopfschmerzen und habe deshalb am Tage vor
der That und an diesem Tage selbst mehrere Löffel Petroleum genommen, dar¬
nach wurde ihr noch schlechter, ihr vergingen öfters die Sinne. Sie gab an, sie
habe garnicht gedacht, dass durch die Kohlen Feuer entstehen könne: „ich
dachte mir, das wird so liegen und wenn ich brauchen werde, werde ich mir
holen“.
Sie wisse nicht, wie sie dazu gekommen sei. Dem Amtsvorsteher machte
sie bei dieser Vernehmung den Eindruck einer Geisteskranken. — DieseAnnabme
findet durch die weiteren Vernehmungen ihre Begründung.
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Jugendliches Irresein, Hysterie.
311
So sagt die Dienstherrin von der Angeklagten aus: „Sie habe über sie and
ihre Leistungen sonst keine Klagen zu führen, sie benehme sioh aber oft sonder¬
bar und lache oftmals ohne jede Ursaohe. Der Vater der Angeklagten fügt dem
hinzu, dass dieses Lachen oft stundenlang dauere, er nenDt es einen „Schwach-
sinnsanfall“.
Die Angeklagte selbst giebt an, dass sie als ganz junges Mädchen einmal
sohwer krank gewesen sei. — So lange sie zuröckdenken könne, habe sie an
Lachanfällen gelitten, welche später mit Weinanfällen gewechselt hätten, ohne
dass sie weder für das Lachen, noch für das Weinen einen Grund gehabt habe.
— Ihre Mutter bezeugt, dass die Angeklagte im 10. Jahre 8 Woohen krank lag,
es sei das Nervenfieber gewesen. Seit dieser Zeit datirt das Lachen. Sie stand
dann gewöhnlich vor dem Spiegel, fuhr sich mit den Händen in den Haaren
herum, schlug ohne jeden Grund auf ihre Geschwister los; dieser Zustand hat
sich bis in die jüngste Zeit hinein häufig wiederholt. — Die Angeklagte selbst
giebt an, von den zuletzt angeführten Nebenumständen niohts zu wissen.
Der Pfarrer, bei dem die p. G. Religionsunterricht hatte, sagt über sie aus,
dass sie nur mittelmässig begabt und nicht besonders geweckt gewesen sei.
Der Lehrer schildert sie als eine wenig geweckte, flatterhafte Person, die
sich nur geringe Kenntnisse erworben habe. Auoh er führt an, dass sie schon in
der Schule ohne Veranlassung häufig in ein lang anhaltendes Lachen ausge-
broohen sei. — Ihrer eigenen Angabe nach war sie während ihrer Schulzeit meist
für sieb, allein und zurückgezogen von den übrigen Kindern, weil sie von ihnen
gehänselt wurde, wenn sie etwas nicht wusste. — Auch später lebte sie für sich
allein; sie hat niemals Gesellschaft gesucht und hat ihr heimathliches Dorf that-
sächlich noch niemals verlassen, während ihre Altersgenossen bei Processionen
in N., bei Märkten der Umgegend nicht fehlten.
Der frühere Dienstherr der p. G., Herr F., sagt von ihr aus, dass sie zwar
fleissig und dienstwillig sei, aber nur im Dienst zu gebrauchen sei, wenn man
sie gut behandele. Schelte man sie, so werde sie „wie verdreht“. Einmal lief
sie aus dem Dienst, als sie gescholten worden war und kam erst wieder, als ihr
Vater sie zurückbrachte. Auch hier heisst es, dass Martha bisweilen ohne irgend
welche Veranlassung aus vollem Halse lache und nicht aufbören könne. Sie selbst
giebt an, dass sie bei F. einmal in der Nacht sehr krank geworden sei, das
Nebenmädchen habe zu ihr gesagt, sie sei wie todt und bewusstlos gewesen.
Ueber die That selbst ezistirt nur eine einzige Zeugin, die 14jährige Tochter
ihrer Dienstherrschaft. Diese erzählt, sie habe am Morgen der That gehört, dass
die Angeklagte öfters nach dem Boden hinauf steige und dort oben herumrumore,
Dieses laute Klopfen, Poltern und Rumoren bewog sie, der Angeklagten nachzu¬
gehen und nachzusehen, was sie da maohe.
Sie fand die Angeklagte am Boden kauern und sah, wie sie zusammen¬
schrak. Sie bemerkte vor ihr glühende Torfkohlen am Fussboden. Auf Befragen
äusserte sie: „Jesus Maria und Josef, ich weiss nicht wie mir das in den Kopf
gekommen ist. “ — Sie leugnete, noch an einer anderen Stelle Kohlen hingelegt
zu haben, gab es aber bald darauf zu und ging mit der Zeugin wieder hinauf
und zeigte ihr an einer zweiten Stelle 3—4 kleine Torfkohlenstücken.
Die Angeklagte selbst schildert den Vorgang der Brandlegung derart, dass
sie einige glimmende Torfstücken an einer Stelle auf dem Bodenraum nieder-
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312
Dr. Krömer,
gelegt habe. Als sie wieder unten in der Köche war, kam ihr der Gedanke, dass
daraus doch etwas Schlimmes entstehen könne. Sie lief deshalb wieder auf den
Boden hinauf, ergriff einige Kohlenstücken, um sie wieder herunter auf denHeerd
zu tragen. Im Begriff, dieses zu thun, kam die Wirthstochter. Aus Schreck und
Furcht kauerte sio nieder, um die Kohlenstöcken nicht sehen zu lassen und dabei
fielen sie herab. Das waren die Stücken, welche an der zweiten Stelle gefunden
worden sind.
Die Angeklagte leugnete bei allen Vernehmungen und Fragen, die Absioht
gehabt zu haben, das Haus in Brand stecken zu wollen. — Sie wusste keinen
Grund dafür und gab wiederholt an, sie habe es wie bewusstlos gethan, sie wisse
selbst nicht wie und warum.
lieber die Familie G. wurde fernerhin festgestellt, dass der Vater der An¬
geklagten ein aufgeregter, wilder Mensch von auffallend erregtem und exaltirtem
Wesen sei; von einem anderen Zeugen wird er ein beschränkter Mann genannt,
der viel unvernünftige Reden führe und auffallend mehr schwarze als audere
Leute. — Die Angeklagte führt an, dass der Vater sie und die Geschwister öfters
unbarmherzig geschlagen habe, sie wisse garnicht weshalb.
Von der Mutter wird nur erwähnt, dass sie viel über Kopf- und Brust¬
schmerz klage. Von der ältesten Schwester der p. G. steht fest, dass sie nach
langer schwerer Krankheit geisteskrank geworden ist. Sie zeigte sich als Kind
bereits durchaus unbegabt. Sie wurde im Unterricht nur so mitgeschleppt und
nur eingesegnet, weil sie das nölhige Alter hatte. Sie ist zeitweilig stupide, ver¬
rückt und geistesabwesend; sie hat, wie die Angeklagte, gleichfalls Lachanfälle
nur in viel ausgeprägterem Maasse, als diese, mitunter war sie tobsüchtig. Die
zweite Schwester ist nach einer Gehirnentzündung gänzlich taub geworden. Von
ihrem Geisteszustände gilt dasselbe; sie ist gleichfalls zeitweise geistesabwesend,
kann dann keinWort reden und hat mitunter getobt, so dass man sie hat binden
wollen.
Von den beiden jüngeren Schwestern, sowie von den Brüdern der Ange¬
klagten gilt dasselbe, was von dem ebengenannten älteren in Bezug auf ihre Be¬
schränktheit und geringe Bildungsfähigkeit gesagt worden ist und so wie diese
war die Angeklagte selbst, sie machte in der Schule ganz denselben Eindruck.
Auf Grund dieses actenmässigen Materials, sowie des persönlichen Ein¬
drucks, den die Angeklagte machte, nahm der Herr Untersuchungsrichter Veran¬
lassung, den Geisteszustand der p. G. von sachverständiger Seite untersuchen
zu lassen. Das Resultat dieser Untersuchung, welches in drei Vorbesucben bei
der p. G. am 18. und 26. April und 2. Mai im hiesigen Amtsgerichtsgefängniss
zum Theil in Gegenwart des Untersuchungsrichters festgeslellt worden ist, ist
folgendes:
Körperlicher Befund.
Die Angeklagte ist eine kleine Person von blassem Aussehen, scrophulösem
Habitus, schwachem Knochenbau, schlaffer dünner Musculatur. Im Laufe des
Gesprächs zeigt ihr Gesicht stark ausgeprägte hektische Röthung.
Ihr Kopf ist brachycephal gebaut, ungewöhnlich kurz, im Allgemeinen
klein. — Die Käse zeigt einen verdickten Knorpelansatz, ist beständig mit
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Jugendliches Irresein, Hysterie.
313
dickem grünen Secret angefüllt, welches übel riecht und an die Stinknase
(Coryza) erinnert, die bei scrophulösen Personen and bei Knoohenkranken beob¬
achtet wird. Die Nasenschleimhaut ist stark geschwellt, aafgelockert and blutet
leicht. Die Nase ist permanent so verstopft, dass dadurch die Sprache den be¬
kannten näselnden Ton erhält.
Nach Angabe der Angeklagten besteht diese Nasenaffection schon so lange
als sie denken kann.
Die Rachenschleimhaat ist gleichfalls geröthet und mit chronischen kleinen
Wucherungen (Granulationen) bedeckt, secernirt etwas stärker (foetor ex ore),
subjectiv wird fortgesetztes Brennen and Jacken auf derselben geklagt. Die
Zunge ist stark belegt, trocken, es besteht Appetitlosigkeit.
Die Ohrläppchen sind bei der Angeklagten nur andeutungsweise vorhanden,
sie sind von der Backe nicht abgesetzt, sondern mit ihr verwaohsen, ein Vor¬
kommnis, dass bei degenerirten Personen nicht selten ist und zum Beweise dieser
Degeneration angeführt wird.
An den inneren, sowie an den Sinnesorganen sind krankhafte Erscheinungen
nicht nachzuweisen.
Nur am Herzen hört man leise blasende Geräusche, welche auf Blutleere
zurückzuführen sind (Nonnensausen). Der Puls ist klein, leicht wegdrückbar und
machte bei allen Untersuchungen mehr als 100 Schläge.
Exploratin ist nooh nicht gesohlechtsreif, hat keine Brüste, ist unentwickelt
und bat die Periode noch nicht gehabt.
Störungen der Sensibilität sind nicht vorhanden, der Motilität zunächst
gleichfalls nicht; es fallt jedoch auf, dass während der vorgenommenen längeren
Unterredungen sich ein leises Zittern der oberen Extremitäten, stärker der Hände
und Finger bemerkbar macht, das von Auflaufen der Haut (Gänsehaut, Horripi-
lationen) begleitet ist und von überaus leichter nervöser Erregbarkeit der p. G.
Kunde giebt. — Dieses anfallsweise für halbe und ganze Minuten auftretende
Zittern habe sie vor circa */ 4 Jahr bei ihrer letzten Dienstherrschaft nach einem
heftigen Sohreck bekommen. Sie sei mitten in der Nacht durch heftiges Pochen
und Schreien an der Thür aus tiefem Schlaf plötzlich aufgeschreckt worden und
seit dieser Zeit sei sie schreckhafter, fahre leicht zusammen, zittere sie öfters.
Als subjective Klagen werden geäussert Kopfweh, Schmerzen und Pochen
in den Schläfengegenden. Im Kopfe drehe es mitunter heftig herum, so dass sie
Schwindel bekomme. Mit diesen Erscheinungen sei meistens Herzklopfen ver¬
bunden, doch trete letzteres häufig auoh ohne Kopfweh auf. Wenn es im Kopfe
wirbelt, komme Brammen und Summen im Ohre dazu. Der Kopfschmerz ist ab¬
wechselnd in der Stirn oder in der Scheitelhöhe fest localisirt, dazu habe sie
häufig Angstempfindungen, welohe sie ganz richtig in die Praecordien verlegt.
Im Halse habe sie häufig die Empfindung, als ob ein fester Gegenstand darin
auf- und absteige, der sie am Schlacken hindere, öfters sei es, als ob weiches
seidenes Papier darüber gedeckt sei, oder darin steoke; streiche sie mit dem
Finger darüber, so bringe sie diese unangenehmen, täglich 2—3 Mal auftretenden
Erscheinungen zum Schwinden. Dieses Gefühl habe sie veranlasst, einmal eine
Perle ihres Rosenkranzes zu verschlucken; es ist eine perverse Neigung, dass sie
mehrere Male Petroleum geschluckt hat und gehört in dasselbe Gebiet der ange¬
führten Sensationen.
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314
Dr. Krömer,
Psychischer Befund.
Was nun zunächst das Wissen und den Intelligenzzustand der
Angeklagten betrifft, so ist derselbe von einem sehr engen Horizont
begrenzt.
Die p. G. kennt nicht die laufende Jahreszahl, nicht das Datum;
sie weiss nicht, wieviel Monate es giebt, wieviel das Jahr Wochen
oder Tage hat. Sie weiss, dass ein Monat 30 Tage hat, kann aber
trotz der ihr gegebenen Zahlen die Zahl der Tage im Jahre nicht
ausrechnen. — In Zahlenvcrhältnisson weiss sie sich nicht zu be¬
helfen, sie kann nur die allerleichtesten Zahlen addiren und sub-
trahiren, das Multipliciren und Dividiren, selbst der Zahlen unter 10
versteht sie nicht. — Die ihr aufgegebenen unlösbaren Exempel waren:
2 X 12, 10—2, 6X4, 10:2, 12 : 2. Sie weiss nicht mehr, an wel¬
chem Tage sie das Feuer angelegt hat, weiss nicht, wie lange sie
sich im Gefängniss befindet, wie lange sie gedient hat. Sie machte
darüber nur ganz unbestimmte Angaben, nicht einmal dio Jahres¬
zahlen ihrer Dienstzeit oder die Zahl ihrer Dienstmonate ist ihr be¬
kannt. — Selbst als ihr beim ersten Besuche die nöthigen Daten
angegeben waren, sie auch über andere Gegenstände unterrichtet
worden war, vermag sie doch vom gesammten Inhalt des ersten Ge¬
spräches beim zweiten Besuch nicht das geringste mehr anzugeben;
sie meint: „das hab’ ich alles vergessen“.
Auch in anderen naheliegenden Dingen zeigt die Angeklagte die
denkbar grössten Lücken, sie weiss nur auf Suggestivfragen anzu¬
geben, dass die hiesige Provinz „Westpreussen“ heisst; zu welchem
König- oder Kaiserreich diese Provinz gehört, weiss sie nicht, ebenso¬
wenig, wie sie anzugeben vermag, von welchem Reiche Berlin die
Hauptstadt ist. Den Hamen des Kaisers kennt sie, aber nicht den
des Kronprinzen und der Kaiserin. Sie weiss nicht, von welchem Er¬
eigniss ab die christliche Zeitrechnung beginnt, weiss nicht, wer
Christus ist, kennt keine Gebote und hat keine Ahnung von Religion.
Als Curiosum führe ich an, dass sie als einzige Sünde, die sie be¬
gangen, dem Geistlichen gebeichtet hat, sie habe einmal „Teufel“ zu
den Hühnern gesagt, die ihrem Rufe nicht folgten.
Ihre Indolenz geht soweit, dass sie gegenwärtig nicht einmal den
Namen ihres Gefängniswärters kennt, bei dem sie täglich arbeitet,
auch den Namen des Richters und des Unterzeichneten behält sie
nicht, auch nachdem ihr dieselben wiederholt gesagt worden sind und
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Jugendliches Irresein, Hysterie.
315
die za behalten, sie doch einiges Interesse haben müsste. Auf dieser
schwachsinnigen Grundlage haben sich aber nun weitere Krankheits¬
erscheinungen aufgebaut, die durch die Untersuchungshaft eine Stei¬
gerung erfahren zu haben scheinen.
Sie giebt ganz von selbst und ohne bezügliche Frage an, als sie
nach Ohrgeräuschen gefragt wird, sie höre, wenn sie allein sei, die
Stimme ihrer Eltern und Geschwister, sie hört deutlich die Worte
des Aulsehers, des Untersuchungsrichters und von Personen, mit denen
sie in letzter Zeit zu thun gehabt hat. Sie spricht selbst mit diesen
Personen und in der Vertiefung dieser Gespräche komme es ihr so
vor, als ob dieselben leibhaftig da seien, sie seien so dicht bei ihr,
dass sie sie athmen höre. Gleichwohl weiss sie, dass es in Wirklich¬
keit nicht der Fall ist. — Sie habe diese Erscheinungen nur im
Finstern Abends und bei Nacht, wenn sie aufwecke, während sie im
Schlaf selbst keine Träume habe. Im Schlafe komme es ihr so vor,
als ob das Bett tief in die Erde hinein versinke, oder mit ihr im
Zimmer umherfliege. Sie schrecke bei solchen Gelegenheiten auf und
erwache. — Diese Stimmen hört sie bloss heimlich flüstern, sie reden
niemals laut, so dass sie auch meist garnicht verstehe, was sie sprechen.
Es sei ihr so, als ob man schlecht von ihr rede; deutlich höre sie
sich bisweilen schimpfen; manchmal höre sie auch einzelne lächer¬
liche Worte.
Ein weiteres System knüpft sich an diese Sinnestäuschungen
bisher nicht.
Gutachten.
Fassen wir den wesentlichen Inhalt aus dem Voranstehenden
zusammen, so sehen wir in der Angeklagten p. G. eine Person vor
uns, die aus einer Familie stammt, welche in einer ganz ungewöhn¬
lichen Weise zu Geistesstörung disponirt ist. Wir hören, dass der
Vater ein trunksüchtiger, aufgeregter Mensch, dass die Mutter nervös
und kränklich, dass ein Theil der Kinder evident geisteskrank, der
andere in seiner geistigen Entwickelung derart zurückgeblieben ist,
dass es Jedermann auffällt.
Die Angeklagte hat diese Prädestination zu psychischer Ent¬
artung schon frühzeitig gezeigt; sie war in der Schulzeit wenig bil¬
dungsfähig und fiel bereits als Mädchen durch mancherlei Eigentüm¬
lichkeiten auf.
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316
Dr. Krömer,
Es ist nicht unerheblich za erwähnen, dass sie sich von ihren
Schulgenossinnen zurückzog, weil sie von ihnen gehänselt wurde, ein
Loos, dem Geistesschwache und geistig Unbeholfene fast überall heim¬
zufallen pflegen und welches zur Charakterisirung eben dieser Unbe-
holfenheit und Schwäche dient.
Schon als Schulkind verfiel sie plötzlich und ohne jeden äusseren
Anlass in ein anhaltendes und nicht zu bändigendes Lachen, das ge¬
radezu anfallsweise auftrat, Anfälle, welche der älteren geisteskranken
Schwester in noch ausgeprägterem Maasse anhaften, als der Ange¬
klagten selbst.
Es wird erwähnt, dass dieselben im 10. Lebensjahre auftraten
und zwar nach einer schweren Krankheit, welche als Nerven- oder
Hirnfieber charakterisirt wird.
Dieses Lachen ist sämmtlichen Zeugen, die vernommen worden
sind, als etwas Absonderliches, Krankhaftes aufgefallen, während ihnen
für die übrigen psychischen krankhaften Erscheinungen das Verständ-
niss abging, was den gewöhnlichen und einfachen Leuten nicht sonder¬
lich übel genommen werden kann. Immerhin giebt der Dienstherr F.
zu, dass die p. G. ein eigenthümliches Menschenkind sei, das in ganz
besonderer Weise behandelt und angegriffen sein wolle.
Es habe Zeiten gegeben, in denen mit ihr durchaus Nichts anzu¬
fangen gewesen sei, insbesondere habe sie kein hartes Wort vertragen.
Derartige Lachanfälle sind erfahrungsgemäss nichts Ungewöhnliches
bei hysterischen Personen, zumal solchen, welche sich in der Zeit
ihrer Entwickelung befinden. — Wir haben oben gehört, dass die
16jährige Angeklagte in körperlicher Beziehung zurückgeblieben, fast
noch ganz unentwickelt und noch nicht menstruirt ist, dass sich
fernerhin die Zeichen der Scrophulose und evidenter Blutarmuth bei
ihr finden (Coryza), welche ihr körperliches Wachsthum beeinträch¬
tigen. Derartige körperliche Schwäche und geringe Entwickelung ist
häufig die Grundlage nervöser hysterischer Störungen.
Ausser diesen Lachanfällen sind als Zeichen von Hysterie auf¬
zufassen die Empfindung, als ob der Hals verschlossen wäre, als ob
ein fester Gegenstand darin auf- und abstiege (Globus hystericus),
ferner das Gefühl auf dem Scheitel des Kopfes, der stechende Kopf¬
schmerz an genau begrenzter unveränderter Stelle (Clivus hystericus).
— Die weiteren subjectiven Beschwerden der Angeklagten, das „Herz¬
klopfen, die Beängstigung, das Ohrensausen", sind zwar nicht für
Hysterische allein charakteristisch, diese Gefühle und Empfindungen,
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Jugendliches Irresein, Hysterie.
317
die die Angeklagte übrigens durchaus richtig schildert und durchaus
richtig localisirt, sind vielmehr fast allen Geisteskranken, zumal in
der Entwickelung und in den Anfangsstadien der Krankheit eigen,
bleiben aber auch im ferneren Verlauf bei einzelnen Kranken mit¬
unter anhaltend bestehen.
Hierher gehört auch die Empfindung, als ob sie mit ihrem Bett
in einen Abgrund hineinfahre oder in der Luft schwebe, eine Er¬
scheinung, die als Schwindelerscheinung auf Blutleere im Kopfe zu-
rückzuführen ist. Es ist ein Gewicht darauf zu legen, dass die An¬
geklagte, wie bereits gesagt, diese Empfindungen richtig schildert und
an die richtige Stelle verlegt.
Eine so dumme und einfältige Person, wie sie ist, würde nicht
im Stande sein, derartige Angaben zu machen, wenn sie sie nicht
wirklich empfände, oder sie würde dieselben nicht so specialisiren
und immer nur über die angegebenen Punkte klagen. Es muss des¬
halb jeder Verdacht an Simulation abgewiesen werden.
Diese Erwägungen gelten auch von den weiteren Krankheits¬
erscheinungen, den Sinnestäuschungen, die oben des Näheren geschil¬
dert sind. — Es ist wichtig und spricht für die Wahrheitsliebe der
Angeklagten, dass sie aus diesen Sinnestäuschungen kein grosses
Kapital schlägt, und dass sie ausdrücklich das Imaginäre derselben
hervorhebt, dass sie ihnen objectiv gegenübersteht.
In der Weise, wie die p. G. die Sinnestäuschungen schildert, das
Entstehen und die Art und Weise derselben, der Umstand, dass sie
anführt, sie höre die Stimmen meist nur leise flüstern, so dass sie
für gewöhnlieh überhaupt Worte nicht verstehe, spricht für die unge¬
schminkte und gewissenhafte Darstellung derselben.
In solcher Weise beginnen die Sinnestäuschungen erfahrungs-
gemäss, so wird der Vorgang von allen Hallucinanten geschildert,
die sich über diese krankhaften Empfindungen noch Rechenschaft zu
geben vermögen.
Eine so beschränkte Person, wie die p. G., kann so treffende
Krankheitsschilderungen nicht erfinden und erheucheln.
Wenn sie sich krank stellen wollte, so würde sie auch mehr
auf die psychischen Erscheinungen Werth legen und würde von ihren
körperlichen Symptomen nicht reden. Beide zusammen aber geben
ein richtiges vorschriftsmässiges Krankheitsbild.
Ich erachte demnach die p. G. für geisteskrank und ihre Hand-
Vierteijahrachr. f. ger. Med. Dritte Folge. V. 2. 21
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Dr. Krömer,
lang, den von ihr aasgeführten Brandstiftangsversach, als Ausfluss
ihrer Krankheit, als unüberlegtes absicht- und sinnlos Walten per¬
verser Triebe, die in ihr wohnen. Hätte sie die Brandstiftang mit
Absicht und aus Vorsatz begangen, so würden die Nebenumstände,
von denen in der historischen Darstellung die Rede war, ganz andere
sein müssen. Ganz abgesehen davon, dass die Angeklagte mit ihrer
Dienstherrschaft in bestem Einvernehmen stand, keinerlei Klage über
sie zu führen, sich im Gegentheil kurz vor der That lobend über
dieselbe ausgesprochen hatte, dass somit jeder Grund und jedes ver¬
nünftige Motiv zu der That fehlt. — Ich stelle mir eine Brandstif¬
terin und ihr Vorgehen anders vor.
Sie begeht die That am hellen Vormittag, als ihre Dienstherr¬
schaft wach und im Hause ist. — Sie geht nicht heimlich an die
Stelle, an welcher sie den Brand legen will, sie läuft vielmehr oft
hin und her und auf den Boden poltert und lärmt sie so, dass die
Tochter des Hauses dadurch aufmerksam wird und sehen geht, was
die Angeklagte denn eigentlich auf dem Boden so herumlärme.
Dass sie erschrickt, als diese auf den Boden kommt, ist nichts
Auffälliges, das thuen Geisteskranke von grosser Verwirrtheit, wenn
sie bei einer Unrechten That ertappt werden, auch; um wieviel mehr
wird es die p. G. gethan haben, die ja ausdrücklich anführt, es sei
ihr mittlerweile in der Küche zum Bewusstsein gekommen, dass aus
ihrer unüberlegten und sinnlosen Handlung Unheil entstehen könne,
weshalb sie bereits wieder hinaufgegangen war, um die glimmenden
Kohlen zu entfernen.
Brandstifter pflegen übrigens nicht erst glühende Kohlen auf die
Böden zu tragen, sie haben es mit Streichhölzchen bequemer und
weniger auffällig; sie zünden ausserdem die brennbaren Gegenstände
wirklich an und legen die Zündmasse nicht nur in mehr oder weniger
grosse Entfernung von dem Gegenstand nieder, welchen sie anzünden
wollen.
Hingegen ist es Geisteskranken eigen, mit dem Feuer zu spielen
und es bald hier, bald dahin zu tragen, wofür man in Anstalten Ge¬
legenheit zu Beobachtungen hat. — In den Krankheitsberichten der
praktischen Aerzte wird es öfters erwähnt, dass Kranke Feuer, bren¬
nende Gegenstände in die Schürze nehmen und damit umherlaufen,
ohne sich darüber bewusst und klar zu werden, dass sie sich
selbst nicht nur, sondern auch der Umgebung dadurch schaden
können.
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Jugendliches Irresein, Hysterie.
319
Gesunde Brandstifter suchen sich für gewöhnlich nicht die
hellen Vormittage dazu aus, sondern betreiben ihr Werk in der
Nacht.
Darnach ist die p. G. eine durch körperliche Krankheiten ge¬
schwächte und dadurch, sowie durch eine ungewöhnlich starke Fami¬
liendisposition zn Nerven- und Geisteskrankheit neigende Person, die
die Zeichen der letzteren in einer überaus geringen Intelligenz und
psychischer Schwäche, in hysterischen Sensationen, perversen Gefühlen
und Neigungen und in Sinnestäuschungen an den Tag legt.
Ich gebe mein Gutachten somit dahin ab: ^
Die Angeklagte befand sich zur Zeit der That in einem
Zustand krankhafter Störung ihrer Geistesthätigkeit, durch
welche ihre freie Willensbestimmung ausgeschlossen war.
Die Daten dieses Gutachtens habe ich den Voruntersuchungs¬
acten, sowie eigener Wahrnehmung entnommen und richtig wieder¬
gegeben.
Die Richtigkeit desselben versichere ich auf den ein für allemal
geleisteten Sachverständigeneid.
Infolge des vorstehenden Gutachtens wurde die Angeklagte ausser
Verfolgung gesetzt und der Polizeibehörde behufs Unterbringung in
die Irrenanstalt übergeben. Der Kreisphysikus, der das zur Aufnahme
nöthige ärztliche Zeugniss ausstellen sollte, erachtete die p. G. nicht
für so geisteskrank, dass ihre Aufnahme in die Irrenanstalt erforder¬
lich erscheine. Es sei an ihr kaum eine Abweichung von der Norm
in ihrem geistigen Verhalten vorhanden.
Auch in zwei folgenden Untersuchungen der Kranken war es ihm
nicht möglich, die Ueberzeugung zu gewinnen, dass sie derartig krank
sei, um ihre Ueberführung in die Irrenanstalt zu rechtfertigen, er
könne weder in geistiger, noch in körperlicher Beziehung etwas Krank¬
haftes an ihr finden.
Die p. G. wurde darauf trotz dieser Zeugnisse des Kreisphysikus
der Irrenanstalt überwiesen, welche sie seitdem nicht wieder ver¬
lassen hat.
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21 ‘
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Das Krankheitsbild hat sich im Laufe der verflossenen vier
Jahre etwas geändert. Die hysterischen Erscheinungen sind mit
Eintritt der Geschlechtsreife und zufolge besserer Ernährang fast
gunz geschwunden, dafür aber haben sich die Sinnestäuschungen ver¬
mehrt. Sie tragen vorzugsweise den Charakter der Verfolgung. —
Reizbarkeit und Launenhaftigkeit sind gesteigert; ihre Intelligenz und
ihr Wissen hat sich hingegen gebessert und vermehrt.
bv Google
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9.
T«d ii Kfhleacijd ud Ttd durch Kihlemyd.
Von
Dr. Chlunaky,
Kreisphysik na in Wohlau.
In der Vornntersuohang9saohe gegen den Manrer J. B. ans D. wegen Körper¬
verletzung mit tödtlichem Erfolge (J. 6/90) verfehlen wir nicht, dem Königlichen
Amtsgericht das erforderte motivirte Gutachten aber die Todesarsache der Kinder
Paaline and Johanna R. im Nachstehenden, anter Rückgabe der Acten, ergebenst
za erstatten.
In der im Maurer J. B.’sohen Hause belogenen Wohnung der Arbeiter
R.’schen Eheleute za D. hatte es nach übereinstimmenden Angaben der über¬
lebenden Familienmitglieder seit etwa 6 Wochen mehr oder weniger stark ge¬
raucht, so dass man wiederholt vom Feueranmaohen hatte Abstand nehmen oder
das eben angezündete wieder auslöschen müssen; aber auch dann, wenn nar in
der genau unter der R.’schen im Erdgeschoss gelegenen Wohnung des B. gefeuert
wurde, drang, insbesondere bei Wind, gelegentlich Rauch und Qualm in die
R.’sche Stabe hinein.
Hiervon hatten zwar, nach ihren Angaben, der Arbeiter Angust R. selbst
and dessen 13jähriger Sohn Augnst niemals irgendwelche Uebelkeiten verspürt,
dagegen hat nach Angabe des letzteren dessen 12jährige Schwester Pauline
öfters über solohe geklagt; nach wesentlich übereinstimmenden mehrfachen
Actendepositionen hat die letztere am 9. Februar er. intensivere Krankheitser-
scheinnngen dargeboten, darin bestehend, dass sie mit den Worten „mir ist so
schlecht“ plötzlich in der elterlichen Wohnung zur Erde fiel, hezw. dass sie
„einen Ohnmachtsanfall hatte“, von dem sie naoh Angabe des Vater9, ohne dass
sie aus dem Zimmer in’s Freie gebracht worden wäre, sich schnell, nach Angabe
der Matter erst dann erholte, nachdem von jener die beiden Fensterflügel ge¬
öffnet worden waren.
Bezüglich dieses 9. Februar and des nächstfolgenden Tages, an welchem
die beiden Kinder gestorben sind, geht aas den Acten, wesentlich nach Angaben
der miterkrankt gewesenen Matter, der Fraa Arbeiter R., speoiell noch Folgendes
hervor.
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322
Dr. Chlumsky,
Besonders stark habe es in der Stabe am 9. Februar geraaoht, an welchem,
wie am folgenden Tage, mit Kohlen gefeuert wurde, während sonst nur Holz ge¬
brannt worden war. Während die Tochter Pauline hiervon den oben erwähnten
Ohnmachtsanfall hatte, habe auch Frau R. selbst sioh unwohl gefühlt, indem
sie Kopfsohmerzen und Athemnoth bekam und der Rauch ihr Kratzen im Halse
verursachte. Sie habe in Folge dessen das Feuer gelöscht und an diesem Tage
garnioht mehr geheizt.
Als am 10. Februar früh wiederum mit Kohlen Feuer angemacht worden
war, habe es wieder stark geraucht und Frau R. habe sioh sohon frühzeitig an
diesem Tage sehr schwach und müde gefühlt, während ihre Toohter Pauline, als
sie früh zur Schule ging, sich ebenfalls sehr schwaoh fühlte und über Kopf- and
Halsschmerzen geklagt hat, wie auch von ihrem Bruder bestätigt wird.
Um 10 Uhr kam Pauline R. in der Frühstückspause aus der Schule naoh
Haus, da aber die Mutter selbst sich sehr schwach fühlte und ihr jüngstes Kind
JohannaR. ebenfalls sehr unruhig war und fortwährend schrie, so kehrte Pauline
niobt mehr zur Schule zurück, sondern blieb zu der Schwester und der Matter
Pflege zu Hause.
Letztere legte sich wegen zunehmender Mattigkeit gegen 11 Uhr — nach¬
dem sie noch vorher, angeblich um Störungen des jüngsten, schlafenden Kindes
(Johanna) durch ein fremdes Kind zu vermeiden, die Thür verriegelt hatte —
zu Bett.
Der Ofen rauohte unterdessen in der heftigsten Weise weiter und stiess zu¬
weilen ganze Ballen von Ranch aus, Frau R. habe zwar öfter die Fenster ge¬
öffnet, musste sie aber der heftigen Kälte wegen wieder schliessen.
Sie habe sich immer schlechter gefühlt, das Kratzen im Halse wurde immer
heftiger and die Athemnoth wachs immer mehr, schliesslich habe sie die Besin¬
nung verloren, die sie erst im Krankenhause wiedererlangt hat. Erinnerlich sei
ihr nur noch, dass, als sie vor Schmerzen laut stöhnte, ihre Tochter Pauline sioh
ebenfalls auf’s Bett legte und laut zu schreien anfing.
Bald nach 12 Uhr wurde auf Ersuchen des aus der Schule zurückkehrenden
August R., der nach der verschlossenen Thür eine Abwesenheit der Mutter und
ein Kranksein der Schwester vermuthete, der Thürverschluss durch den Maurer
B. gewaltsam gesprengt, und es fanden die Eintretenden nunmehr, dass Pauline
R. vollständig bewusstlos mit dem Gesicht auf dem Bette lag und beim Versuch,
sie aufzuheben, bereits todt erschien, während Frau R., wie jene vollständig an¬
gekleidet, laut röchelnd, stöhnend und nach Athem ringend, in ihrem Bette lag.
Das jüngste Kind Johanna R. lag still in ihrem Bett und war mit einem Tuche
über’s Gesicht bedeckt, nach dessen Aufheben das Kind die Augen offen hatte
und ganz munter zu sein schien; in der Stube fanden sioh starke Verunreini¬
gungen, von Erbrochenem und Stuhlentleerung herrührend, vor.
Das Kind Johanna R. wurde sofort in eine andere Stube gebraoht, und die
Mutter habe, nachdem Thür und Fenster aufgerissen worden waren, sich sicht-
lioh erholt.
Der danach gegen 2 Uhr Nachmittags benachrichtigte und alsbald an Ort
und Stelle erschienene Polizeiverwalter fand mehrere Frauen mit Wiederbele¬
bungsversuchen an der vollkommen bewusstlosen Frau R. beschäftigt and auf
einem zweiten Bette die Pauline R. bereits verstorben vor.
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Tod in Kohlenoxyd and Tod duroh Kohlenoxyd.
323
Während nan Fr&a R., in’s Krankenhaus übergeführt, dort sioh mehr and
mehr erholte, so dass sie am 13. Februar bereits wohl vernehmungsfähig war,
and das kleine Kind offenbar in der anderen Stabe, in die es gebracht worden
war, verblieb — wenigstens ist von einer Zarüokführang desselben in die elter¬
liche Wohnung nirgends etwas erwähnt —, ist das letztere in der Naoht vom
10. zam 11. Februar ebenfalls verstorben, ohne dass über die speoielle Zeit des
Todeseintritts oder etwa noch wahrgenommenen Krankheitsersoheinangen aas
den Acten sich Näheres ergiebt.
Die hiernach angeordneten Obdactionen der beiden Kinder Paaline and
Johanna R. wurden von ans am 12. and 13. Februar er. in D. ausgeführt and
haben dieselben an für die Beartbeilang wesentlichen Momenten Folgendes
ergeben.
a) Seotion der Paaline R. (12. Febraar 1890).
1) Die Leiohe des dem Anschein naoh etwa 12 Jahre alten Mädchens ist
132 cm lang.
2) Dieselbe ist von mittelkräftigem Körperbau and, wie Einschnitte zeigen,
von leidlichem Ernährungszustände.
5) Die allgemeine Hautfarbe ist an der vorderen Fläche des Rumpfes and
im Gesicht hellgrauweiss, am Unterbaach beiderseits leicht grünlich, in den
Seitengegenden des Rampfes and an der ganzen Rückseite des Rampfes and der
Extremitäten in grosser Ausdehnung, am Rüoken mehr continuirlich, an den Ex¬
tremitäten mehr fleckig, verwaschen hellroth mit einem unverkennbaren Stich der
Verfärbung in’s Rosafarbene. Die Verfärbungen erleiden daroh Fingerdrack nir¬
gends eine Veränderung, bei Einschnitten tritt überall hellrothes flüssiges Blut
aus durchschnittenen Gefässen ziemlich reichlich hervor and es zeigt sich im
Uebrigen das Gewebe überall gleichmässig, zam Theil mit sehr deatliohem Stioh
in’s Hellrosarothe, röthlich durohtränkt, wobei stellenweise auch eine besonders
hellrosaröthliche, wie laohsartige Färbung der Musoulatar auffällt and wahrge¬
nommen wird. pp.
6) pp. Vor Mond and Nase befindet sich rein weisslicher Schaum, pp.
13) An den Gliedmassen, oberen wie unteren, ist aasser einer bläulichen,
ebenfalls einigermassen in’s Rosafarbene spielenden Verfärbung der Nägel and
Fingerspitzen nichts Auffallendes za bemerken.
16) Die äussere Oberfläche der stark gespannten harten Hirnhaut ist von
hellblauröthlioher Farbe und im ganzen Umfange von flüssigem hellrothem Blute
wie bethaut, ihre grossen Gefässe sind mässig gefüllt.
17) Im Längsblutleiter befinden sich 15 oom vollkommen flüssigen hell-
rothen Blutes.
18) Die innere Oberfläche der harten Hirnhaut ist von hellblauröthlicher
mit einem Stioh in’s Rosarothe spielender Farbe, die äussere Oberfläohe der
weioben Hirnhaut ist mässig feucht und glänzend, das Gewebe derselben voll¬
kommen durobsichtig und zart, ihre grösseren Gefässe zwischen den Hirn¬
windungen überall ziemlich stark, namentlich nach hinten hin bis zur Run¬
dung mit flüssigem verschiebbarem Blute gefüllt und auch deren feinere und
Verzweigungen auf den Hirnwindungen selbst überall deutlioh hellroth feinste
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324 Dr. Cblumsky,
mit auoh hier grösstentheils noch yersohiebbarem flüssigem Blote aasge¬
spritzt.
19) Am Schädelgrande finden sich etwa 1 & com hellrothen flüssigen
Blates als Inhalt vor, die Querblutleiter enthalten ebenfalls hellrothes flüssi¬
ges Blat.
22) Die Seitenkammern enthalten je einige Tropfen blassröthlioh wässriger
Flüssigkeit, die Gehirnhalbkugeln sind auf dem Darohschnitt stark glänzend and
feacht, die weisse Substanz mit darch den Wasserstrahl abspülbaren and danach
wiederkehrenden Blatpunkten ausserordentlich reichlich durchsetzt und fast
•inen Stich in’s Rosafarbene bietend, beide Substanzen von guter Consistenz.
23) Die Adergeflechte und die obere Gefässplatte sind von hellbraunrother,
fast hocbrother Farbe, ihre Gefässe stark mit flüssigem! in den grösseren eben¬
falls verschiebbarem Blute gefüllt. Im 3. Ventrikel finden sich ebenfalls einige
Tropfen blassrötblich wässriger Flüssigkeit.
24) Seh- und Streifenhügel, die Vierhügel, der Wurm, das Kleinhirn, die
Brücke und das verlängerte Mark, auf Durohsohnitten ebenfalls überall blutreich,
zeigen keine krankhafte Veränderung.
27) pp. wobei (sc. Eröffnung der Bauchhöhle) die feuchte und auffallend
hellroth gefärbte, fast rosaroth erscheinende Musoulatur leidlich entwickelt
sich zeigt.
28) pp. An den vorliegenden pp. Dünndarmsohlingen pp. ist zum Theil
die Beimischung eines rosafarbenen Tones unverkennbar, pp.
29) pp. Die Lungen sind mässig retrahirt und die vorliegenden Theile der¬
selben erscheinen von graublauröthlicher marmorirter Farbe.
30) Im rechten Brustfellsack finden sich 10, im linken 8 ccm einer blass-
röthlichen, blutigwässrigen Flüssigkeit.
31) pp. Die grossen Gefässe ausserhalb des Herzbeutels sind dem An¬
scheine nach leidlich gefüllt.
32) Der Herzbeutel, mässig fettreich, ist von graurosarother Farbe und
zeigt überall deutliche Ausspritzung der feinsten Gefässchen, die grösseren sind
mit verschiebbarem Blute deutlich gefüllt, pp.
33) Das Herz pp. ist an der vorderen Fläche etwas zusammengefallen, in
der rechten Hälfte schlaff, in der linken dagegen prall anzufühlen, im Ganzen
von blassbraunrother, ebenfalls einen Stich in’s Rosafarbene zeigender pp. Farbe.
Die Kranzgefässe des Herzens sind vorn und hinten stark, zum Theil bis zur
Rundung mit flüssigem verschiebbarem Blute gefüllt.
34) Beim Aufschneiden des Herzens finden sich in der linken Vorkammer
und Kammer 10 ccm, in der rechten Kammer und Vorkammer 6 ccm hellrothen
flüssigen Blutes, pp. \
35) Nach der Herausnahme des Herzens, wobei sich aus de# grossen Ge-
fässen noch etwa 20 ccm Blut entleeren, pp. (
36) Die linke Lunge pp. ist voluminös und pp. von gräwblauröthlicher
Farbe pp. Auf dem Durchschnitt ist das Gewebe in beiden Lappen von hell¬
braunrother, fast hocbrother Farbe und lässt bei Druck überall eine blutigsohau-
mige Flüssigkeit in reichlicher Menge hervortreten pp. Die Luftröhrenäste ent¬
halten blutigen weissröthlichen Schaum in reichlicher Menge, der bei Druok auf
die LuDgentheile in ihnen besonders emporsteigt, ihre Schleimhaut ist von gleich-
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Tod in Kohlenoxyd und Tod durch Kohlenoxyd.
325
massig verwaschen hellrotber Farbe. In den Lnngenarterien findet sich hell-
rothes flüssiges Blot in ziemlicher Menge vor. pp.
37) Die rechte Lange pp. erscheint ebenfalls voluminös, von graublauröth-
licher Farbe pp. Auf dem Durchschnitt ist auch hier das Gewebe überall von
hellbraunrother, fast hochrother Farbe und lässt bei Druck blutigsohaumige
Flüssigkeit in reichlicher Menge hervortreten. Die Luftröhrenäste sind auch hier
mit blutigweisslichem Schaum reichlich gefällt, ihre Schleimhaut ist durchgängig
von verwaschen hellrotber Farbe, die Lungenarterien enthalten ebenfalls flüssiges
Blut pp.
39) In den grossen Gefässen des Halses findet sich etwas flüssiges Blut pp.
40) pp. Der Kehlkopf enthält in seiner ganzen Ausdehnung eine Lage
weisslichen resp. weissröthlichen feinblasigen Sohaumes, seineSohleimhaut, durch¬
weg von hochrother Farbe, zeigt eine dichte Ausspritzung der feinsten Gefäss-
chen; dicht oberhalb der Stimmbänder an der Rückseite des Kehldeckels findet
sich ein im Ganzen rundliches, etwa 4—5-mm im Durchmesser haltendes flaches
Partikelchen einer gelbbräunliohen, bei der Berührung zerfliessenden, weichen
Substanz, welches der Schleimhaut lose aufliegt, und das offenbar als aus dem
Magen herstammend anznsehen ist, und unterhalb derStimmbänder findet sioh ein
etwas kleineres, im Uebrigen genau ebenso beschaffenes der Schleimhaut lose
aufliegendes Partikelchen vor.
43) Die absteigende Brustschlagader ist mit flüssigem Blute mässig gefüllt.
59) Die grossen Gefässe der Bauchhöhle enthalten Spuren flüssigen Blutes.
b) Seotion der Johanna R. (13. Februar 1890).
1) Die Leiche des dem Anschein naoh etwa 3 /< Jahre alten Kindes ist
61 cm lang.
2) Dieselbe ist von sehr schwächlichem Körperbau und äusserst dürftigem
(atrophischem) Ernährungszustände, so dass insbesondere an den Gliedmassen,
namentlich den oberen, die Haut fast nur die Knochen und zwar in schlotternder
Weise zu bedecken scheint und auch am Rumpfe jede einzelne Rippe äusserlich
sichtbar deutlich durch die Haut hervortritt.
5) Die allgemeine Hautfarbe ist am Kopfe und der Vorderseite des Rumpfes
schmutziggrauweiss, am ganzen Bauche blassgrünlich, an der ganzen Rüokseite
des Rumpfes und zum Theil aueh der Extremitäten in kleineren und grösseren
Flecken verwasohen schmutzigblauroth; diese Verfärbungen erleiden durohFinger-
druck keinerlei Veränderung, bei Einschnitten tritt Blut in allerfeinsten Tröpf¬
chen aus durchschnittenen Gefässchen nur in minimalen Sparen hervor und er¬
scheint im Uebrigen das Gewebe gleiohmässig, jedooh überhaupt nur in sehr ge¬
ringem Grade blaurötblich durchtränkt, pp.
7) Beim Umwenden der Leiche fliesst aus Mund und Nase etwas graulioh-
trübe, viscide, wässrige Flüssigkeit heraus.
8) An beiden Nasenöffnungen liegt schwärzlicher Schmutz lose auf. pp.
Die Zunge liegt, nicht geschwollen, auf dem Unterkiefer auf, oder denselben noch
eine Spur nach vorn überragend.
17) Die harte Hirnhaut pp. ist von graublauröthlicher Farbe, ihre grossen
Gefässe mit zum Theil verschiebbarem Blute mässig gefüllt.
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Dr. Chlumsky,
18) Der Längsblutleiter enthalt nnr nicht messbare Sparen etwas dick*
flüssigen dunklen Blotes.
19) Die weiohe Hirnhaut an der Gehirnoberfläohe ist vollkommen zart and
durchsichtig, stark glänzend uod feucht, die grösseren Gefässe derselben zwischen
den Hirnwindungen, namentlich naoh hinten hin, mit flüssigem verschiebbarem
Blute ziemlich angefüllt und als bläuliche Stränge hervortretend, and auch deren
feinere und feinste Verzweigungen auf den Hirnwindungen selbst mit zum Theil
auch hier noch verschiebbarem Blute überall deutlich hochroth ausgespritzt.
20) pp. Die Querblutleiter sind mit danklem flüssigem Blute massig gefüllt.
23) Die Seitenkammern enthalten je etwa 1—2Tropfen wässriger Flüssig¬
keit, die Gehirnhalbkugeln sind stark durchfeuchtet und glänzend, die weisse
Substanz mit durch den Wasserstrahl abspülbaren und danaoh wenigstens zum
Theil wiederkehrenden feinen Blutpunkten reichlich durchsetzt, pp.
24) Die Adergeflechte und die obere Gefässplatte sind von hellbraunrother
bis hochrother Farbe, ihre Gefässe deutlioh bis stark gefüllt, pp.
25) Seh- und Streifenhügel, Vierhügel, Wurm, Kleinhirn, Brücke und
verlängertes Mark auf Durchschnitten überall ziemlich blutreich, pp.
28) pp. wobei (die Eröffnung der Bauohhöhle) sich zeigt, dass das Unter¬
hautfettgewebe fast gänzlich fehlt und nur in minimalsten Spuren von blassgelb-
weisslicher Farbe hier und da angedeutet ist, und dass die Musoulatur, von fast
nur graubraunröthlicher Farbe und mässig feucht, ebenfalls nur in dürftigster
Weise entwickelt ist.
29) pp. Das Netz ist fast fettlos, pp. seine grossen Gefässe pp. fast voll¬
kommen leer. pp.
31) Sämmtliohe Rippen des Brustkorbes sind am Uebergange zwischen
dem knöchernen und dem knorpeligen Theile stumpfwinklig bis fast rechtwinklig
abgeknickt und diese Stelle bei jeder einzelnen Rippe durch eine Verdiokung
markirt (rhachitischer Rosenkranz).
32) pp. Die LuDgen sind nur mässig, insbesondere die rechte fast garnioht
retrahirt pp. Die vorliegenden Lungenränder sind von blassgrauröthliohem,
schwach marmorirtem Aussehen.
33) Der linke Brustfellsack ist vollkommen leer, im rechten, wo die Lunge
fast in ganzer Ausdehnung duroh zarte, weissröthliche leicht trennbare Verkle¬
bungen an die Brustwand angewachsen ist, finden sich etwa 2 com einer blutig-
wässrigen Flüssigkeit vor.
36) Das Herz, etwas grösser als die atrophische Faust der Leiohe, ist an
der Basis 4 cm breit und etwa ebenso lang pp. Die Kranzgefässe desselben
sind überall stark, meist bis zur Rundung mit flüssigem verschiebbarem Blute
gefüllt und auch die feineren Verzweigungen derselben überall deutlich mit meist
ebenfalls verschiebbarem Blute hell- und blauroth ausgespritzt. An der linken
Seitenwand des linken Ventrikels findet sich ein punktförmiger und ein etwa
halblinsengrosser d. i. gegen 2 mm im Durchmesser haltender, scharfumsohrie-
bener, hellrother Fleck, weiohe durch Einschnitte als sehr oberflächlich gelegene
minimale Blutunterlaufungen festgestellt werden. Die Farbe des Herzens ist im
Allgemeinen hellbraunroth, dasselbe fühlt sich in der linken Hälfte ausserordent¬
lich prall an, bietet aber auoh in der rechten Hälfte eine mindestens gute bis
schwach pralle Resistenz.
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Tod in Kohlenoxyd and Tod dnroh Kohlenoxyd.
327
37) Bei der Eröffnung de9 Herzens finden sioh in der linken Kammer nnd
Vorkammer 5 ccm dunkelkirsohrothes flüssiges Blut, in der rechten Kammer and
Vorkammer etwa 2 oom ebensolchen Blate9 pp.
38) pp. wobei (sc. Herausnahme des Herzens) sioh ans den grossen Ge-
fässen noch 3 ccm dnnkelkirschrothen Blutes entleeren pp. Nach dem Auf-
sohneiden des Herzens findet sich in der linken Herzkammer noch ein flächen¬
förmiges Speckhautgerinnsel von etwa 1 ccm Volumen, desgleichen finden sioh
in der rechten Herzkammer minimale Spuren ebensolchen Speckhautgerinnsels
und im rechten Vorhof ein ebensolches von beiläufig gleichfalls 1 ccm Volumen
vor. pp.
39) Die linke Lunge ist voluminös und im unteren Lappen respective in
den rückwärtigen Partieen von mehr dunkelblaurother Farbe. Dieselbe ist von
unebener Oberfläche, fühlt sich überall elastisch an und knistert beim Berühren.
Auf dem Durchschnitt ist das Gewebe von im oberen Lappen hellbraunrother, im
unteren Lappen mehr dunkelbraunröther Farbe und lässt auf Druck blutigschau-
mige Flüssigkeit in mässiger Menge, im unteren Lappen etwas reichlicher und
mit stärkerer Blutbeimischung, hervortreten. DieLuftröhrenä9te enthalten blutig-
röthlichen Schaum in mässiger Menge, der bei Druck auf die Lungentheile in
ihnen emporsteigt, ihre Schleimhaut ist von verwaschen blauröthlieber Färbung.
Die Lungenarterien enthalten minimale Spuren flüssigen Blutes, pp.
40) Die rechte Lunge ist mit Ausnahme des vorderen Randes entsprechend
den oben beschriebenen Verklebungen im ganzen Umfange mit sohmutzigbraun-
röthliohen häutigen Anflügen besetzt und im Ganzen von dunkelblaurother Farbe.
Sie erscheint im Ganzen weniger voluminös als die linke, fühlt sich weniger
elastisch an und knistert nioht so deutlich beim Berühren. Auf dem Durchschnitt
ist das Gewebe im oberen Lappen überall lufthaltig von hellbraunrother Farbe
und lässt auf Druck blutigschaumige Flüssigkeit in spärlicher Menge hervor¬
treten, im mittleren und unteren Lappen ist das Gewebe auf dem Durohsohnitt
von stärkerer, derberer, wie fleischiger Consistenz und lässt auf Druck mehr nur
blutigwässrige Flüssigkeit mit geringeren Sparen von Luftbeimisohung hervor¬
treten; auch zeigt sich das Gewebe in den rückwärtigen Theilen der Lunge viel¬
fach auf Durchschnitten mit kleineren unter hirsekorngrossen weissgelblichen
Knötchen durchsetzt, von denen bei näherem Zusehen jedes einzelne eine feine
Oeffnung erkennen lässt, aus der sich bei Druck entweder blutige Flüssigkeit
oder auch hier und da gelbgrünlioher Schleim hervordrüoken lässt. Luftröhren¬
äste, Lungenarterien etc. zeigen hier da9 nämliohe Verhalten wie links.
41) Das Rippenfell von graublauröthlicherFarbe zeigt sich reohter9eits mit
hellrosaröthlichen häutigen Anflügen besetzt, pp.
42) In den grossen Gefässen des Halses finden sich Spuren flüssigen
Blutes, pp.
43) pp. Der Kehlkopf ist leer, die Schleimhaut, stark feucht, im Ganzen
von grauweissröthlioher Farbe, lässt stellenweise geringe Ausspritzung aller-
feinster Gefässchen erkennen.
46) Die absteigende Brustschlagader ist nur mit Sparen dunklen flüssigen
Blutes in sehr geringer Menge gefüllt.
50) pp. Die linke Niere, mit sehr spärlich entwickelter Fettkapsel, ist6om
lang, 3 cm breit und 1 VjCm dick, im Ganzen von unregelmässiger, jedooh etwas
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328
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in die Länge gezogener Gestalt, noch eine gewisse Lappungsandentang zeigend»
von blassbraanröthlicher Farbe. Die Kapsel ist zart, leicht abziehbar, die Nieren¬
oberfläche glatt und nur massige Füllung der feinsten Gefässchen erkennen
lassend. Auf dem Durchsohnitt ist die Rindensubstanz nur 2—3 mm breit, beide
Substanzen entschieden blass und gleichmässig von fast nur graubraunröthlioher
Farbe. Im Nierenbecken findet sich ein im Ganzen etwa blassgrüngelbliches,
ovalrundliches, hartes, steiniges Gonorement von 4 mm Länge und ungefähr je
2 mm Breite und Höhe. pp.
51) Die rechte Niere zeigt pp. in allen Stüoken äusserlioh wie innerlich
genau das nämliohe Verhalten wie die linke Niere. Und auch hier findet sioh
ein steiniges Concrement von der nämlichen blassgrüngelbliohen Farbe, welches,
aus einem dickeren, beiläufig cylindrischen Tbeile und einem dünneren recht¬
winklig darangesetzten Haken bestehend, genau in seinem Aussehen an das eines
Gehörknöchelchens, speciell des Hammers und Ambosses erinnert, und welches
örtlich so angetroffen wird, dass der diokere Theil desselben vorangehend sich
bereits im Harnleiter befindet, während duroh den Haken das Ganze noch im
Nierenbeoken festgehalten wird. pp.
54) Im Mastdarm findet sich ein Kothinhalt nioht und nur Spuren grau-
weisslichen Schleimes vor, seine Schleimhaut ist vollkommen blass.
55) Der Zwölffingerdarm enthält mässigeMengen eines sehr blassgelbliohen
Schleimes, seine Sohleimhaut ist blass, pp.
56) pp. Die Gallenblase ist ausgedehnt, wie durchscheinend und enthält
nach dem Aufschneiden 7 ccm einer sehr dünnflüssigen, bernsteinfarbenen, voll¬
kommen klaren, wie öligen Galle; die Schleimhaut der Gallenblase ist stark
durchfeuchtet, glänzend und sehr glatt, von blassgrauröthlicher Farbe und lässt
keine Spur der gewöhnlichen gitterartigen Anordnung erkennen.
59) Das Gekröse ist wenig fetthaltig pp. die Gekrösdrüsen bis über Bohnen¬
grösse d. i. bis za 1 cm und darüber vergrössert.
60) Im Dünndarm findet sich blassgraulioher, stellenweise mehr wässriger
mitFlocken untermischter Schleim in massiger Menge, seine Sohleimhaut ist voll¬
kommen blass, die solitären Drüsohen sind als ganz feine unter Hirsekorn-grosse
opake Körnchen zu erkennen.
61) Im Dickdarm findet sich der nämliche Schleim wie im Dünndarm als
Inhalt vor, die Schleimhaut ist überall blass, auch hier sind die solitären Dräs¬
chen als hirsekorngrosse opake Körnchen, noch deutlicher als im Dünndarm,
erkennbar.
62) Die grossen Blutgefässe der Bauchhöhle enthalten Spuren dunklen
flüssigen Blutes.
Auf Grund dieser Obductioneu haben wir unser vorläufiges Gutachten dahin
abgegeben,
1) hinsichtlioh beider Kinder, dass dieselben unter mehrfachen Erschei¬
nungen der Erstickung an Lungenödem gestorben sind, und
2) a) hinsiohtlich der Pauline R.,
dass diese Erstiokung höohst wahrscheinlich durch die Einwir¬
kung von Kohlenoxydgas bedingt worden ist;
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Tod in Kohlenoxyd and Tod daich Kohlenoxyd.
329
b) hinsiohtlioh der Johanna R.,
dass diese Erstioknng möglicherweise durch die Einwirkung von
Kohlenoxydgas bedingt worden ist, bezw. dass einer solchen An¬
nahme der Obductionsbefand nicht widerspricht.
Ein definitives Gutachten über die Todesart der beiden Kinder behielten
wir ans bis nach Bekanntgabe des Ergebnisses der spektroskopischen Unter¬
suchung der von beiden Leichen entnommenen und zur gerichtlichen Asservation
übergebenen Blutproben vor.
Die durch den chemischen Sachverständigen Dr.S. zu B. ausgeführte spek¬
troskopisch-chemische Untersuchung dieser Blutproben führte nach dem Bericht
desselben zu folgendem Resultat.
Das Blut der Johanna R. zeigte einen rothvioletten Farbenton, wie er bei
normalem Blut zu beobachten ist, das Blut der PaulineR. dagegen eine, nament¬
lich nach der Verdünnung mit Wasser recht deutliche kirsohrothe Farbe, wie sie
für kohlenoxydhaltiges Blut ziemlich charakteristisch ist.
In entsprechender Verdünnung in planparallelen Gläschen vor den Spalt
eines Spectralapparates gebraoht, zeigten zunächst beide Blutproben je 2 Ab¬
sorptionsstreifen im Spectrum.
Nachdem dann aber zu beiden Proben des verdünnten Blutes je einige
Tropfen einer Sohwefelammoniumlösung hinzugefügt worden waren, wurde bei
dem wieder vor dem Spectralapparat gebrachten Blute der Johanna R. nunmehr
ein einziger, breiterer Absorptionsstreifen im Spectrum sichtbar, indem die beiden
ursprünglichen sich zu einem einzigen Bande vereinigt hatten; bei dem Blute
der Pauline R. dagegen blieben auch nach Hinzufügung van Schwefelammonium
die beiden ursprünglichen Absorptionsstreifen persistent, eine Vereinigung der¬
selben zu einem einzigen Bande erfolgte niobt.
Durch dieses Verhalten der beiden Blutproben vor dem Spectralapparat war
mit Sicherheit dargethan, dass das Blot der Johanna R. nicht kohlenoxydhämo¬
globinhaltig, somit frei von Kohlenoxyd war, und dass der Blutfarbstoff im Blute
der Pauline R. aus Kohlenoxydhämoglobin bestand, das Blut somit Kohlenoxyd
enthielt.
Bezüglich beider Blutproben wurde dieser spektroskopische Befand überdies
noch durch eine chemisohe Reaction bestätigt, welche darauf beruht, dass der
Farbstoff des normalen Blutes durch Natronlauge leicht zersetzt wird, während
derjenige eines kohlenoxydhaltigen Blutes ziemlioh resistent und unveränderlich
bleibt: naoh Zusatz von einigen Tropfen lOproc. Natronlauge trat bei dem Blute
der Johanna R. alsbald eine Veränderung des rothen Farbentons in einen
sohmutziggrünliohen ein, während bei dem Blute der Pauline R. nach analogen
Versuchen eine Veränderung der kirsohrothen Farbe keineswegs wahrzuneh¬
men war.
Das Gesammtresultat der Untersuchung war somit — worin wir uns voll¬
kommen ansohliessen — dahin zusammenzufassen, dass das Blut der Johanna R.
kohlenoxydfrei war und dass das Blut der Pauline R. Kohlenoxyd enthielt.
Wenn wir unser vorläufiges Gutachten bezüglich der Todesursache der
beiden Kinder gleiohlautend dahin abgegeben hatten, dass dieselben unter mehr¬
fachen Erscheinungen der Erstickung an Lungenödem gestorben sind, und wenn
wir in Bezug auf die besondere Veranlassung der Erstickang uns dahin ausge-
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sprochen hatten, dass dieselbe bei der Paniine R. höchst wahrscheinlich and bei
der Johanna R. möglicherweise durch die Einwirkung von Kohlenoxydgas bedingt
worden sei, so können wir nach der nunmehr erlangten Kenntniss des Resultates
der spektroskopisch-chemisohen Untersuchung des Blutes beider Leichen, und
nachdem uns die vor dem Tode der beiden Kinder stattgehabten Vorgänge näher
bekannt geworden sind, unser vorläufiges Gutachten wesentlich, insbesondere be¬
züglich der Erstickung als Todesursache beider Kinder vollständig, aufrecht er¬
halten und sind in der Lage uns in Betreff der besonderen Veranlassung dieser
Erstiokung nunmehr mit Bestimmtheit dahin auszusprechen, dass diese Er-
stiokung bei beiden Kindern durch die Einwirkung von Kohlenoxydgas zu Stande
gekommen ist.
Dieses unser definitives Gutachten begründen wir, zunächst hinsichtlich der
Pauline R., wie folgt.
Es gebt bereits aus den actenmässigen Depositionen der Mitglieder der
R.’sohen Familie und der sonst vernommenen Zeugen hervor, dass die Pauline R.
in der letzten Zeit vor ihrem Tode in der elterlichen Wohnung wiederholt den
Einwirkungen von Rauch und Qualm ausgesetzt gewesen ist, und dass sie für
derartige Einwirkungen ganz charakteristische Krankheitserscheinungen leichterer
und schwererer Art mehrfach dargeboten hat.
Sie hat in jener Zeit öfters überUebligkeiten geklagt, ist am 9. Februar er.,
an welchem Tage es besonders stark rauchte, in der Stube sogar plötzlich mit
den Worten „mir wird so schlecht“ ohnmächtig zusammengesunken, und fühlte
sich, als sie am 10. Februar früh zur Schule ging, sehr schwaoh und hat über
Kopf- und Halsschmerzen geklagt.
Wenn sie nun an jenem nämliohen Tage, an welchem es offenbar in der
Stube stärker als jemals zuvor geraucht hat, um 10 Uhr aus der Schule zurück¬
gekehrt zur Pflege der inzwischen in analoger Weise schwer erkrankten Mutter
zu Haus verblieben ist und — nachdem sie höchst wahrscheinlich noch Erbrechen
und Stuhlentleerung gehabt hatte — kurz nach 12 Uhr Mittags in ihrem Bette
todt aufgefunden worden ist, so bedarf es keiner weiteren Auseinandersetzungen
darüber, dass schon die bei der Pauline R. vordem hervorgetretenen Kraokheits-
erscheinungen und die äusseren Umstände des Falles in der denkbar positivsten
Weise für die Annahme eines Todes durch Erstickung zu sprechen geeignet sind.
Aber auch ganz abgesehen von diesen ungewöhnlich conclusiven Krank-
heitserscheiuungen und äusseren Umständen des Falles hat die Obduction selbst
eine Reihe von Befunden ergeben, wie sie für den Tod durch Erstickung charak¬
teristisch und an sich beweisend sind.
Es fand sich zunäohst eine allgemeine ungewöhnliche Flüssigkeit des Blutes
vor, und bezüglich der Blutvertheilung bestand eine wohlmarkirte Blutüberfül¬
lung der inneren Brustorgane, und eine analoge solche lag in den Organen der
Schädelhöhle vor.
Das Blut ersohien vollkommen flüssig in dem Längsblutleiter (17) und in
den Querblutleitern des Hirns (19), ebenso in allen Abtheilungen des Herzens
(34) und den grossen Gofässen der Brusthöhle (35), in den Lungenarterien (36,
37) und in den grossen Gefässen am Halse (39), und bot die nämliche Be¬
schaffenheit in der absteigenden Brustschlagader (43) und den grossen Gefässen
der Bauchhöhle (59) dar.
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Tod in Kohlenoxyd and Tod durch Kohlenoxyd.
331
Blatäberfällt waren zanäohst die Langen and das Herz: sohon der Herz¬
beutel zeigte überall eine deutliche Ausspritzung der feinsten Gefässchen, and
die grösseren waren dentlioh gefüllt (32), am Herzen selbst waren die Kranz-
gefässe stark znm Theil bis zur Rundung gefüllt (33), im linken Herzen finden
sich 10, im reohten 6 ccm Blut (34) and bei Herausnahme des Herzens ent¬
leerten sich ans den grossen Gefässen, die bereits änsserlioh leidlich gefüllt er¬
schienen waren (31), noch 20 ccm Blut (35). Beide Langen waren voluminös,
von granblanröthlicher and aaf dem Durcbsohnitt von hellbraanrother, fast hoch-
rother Farbe, and bei Draok trat überall eine blntigschanmige Flüssigkeit in
reichlicher Menge hervor (36, 37), in den Lnngenarterien fand sich Blut in
ziemlicher Menge vor (36).
Bezüglich der Organe der Schädelhöhle erschien die äussere Oberfläche der
stark gespannten harten Hirnhaut, bei mässiger Füllung ihrer grossen Gefässe,
im ganzen Umfange mit flüssigem Blute wie bethaut (16), im Längsblutleiter
fanden sich 15 ocm Blut (17) und ebensoviel als Inhalt am Schädelgrunde vor
(19); die grösseren Gefässe der weichen Hirnhant waren überall ziemlioh stark,
namentlich nach hinten bis zur Rundung, blutgefüllt, and aach die feineren and
feinsten Verzweigungen derselben überall deutlich ausgespritzt (18); die weisse
Substanz der Hirnhalbkugeln war mit durch den Wasserstrahl abspülbaren and
danaoh wiederkehrenden Blutpankten ausserordentlich reichlioh durchsetzt (22),
die Gefässe der hellbraunrothen, fast hochrothen oberen Gefässplatte und der
Adergefleohte stark blutgefüllt (23) and auch an den übrigen Theilen des Ge¬
hirns war aaf Durchschnitten überall ein gewisser Blutreichthum erkennbar (24).
Ferner fand sioh eine starke Gefässfüllung der Schleimhaut des Kehlkopfes
and der Luftröhre vor, and dieser ganze Canal war mehr oder weniger aasgefüllt
mit Schaum.
Es enthielt nach dem Seotionsprotokoll der Kehlkopf in seiner ganzen Aus¬
dehnung eine Lage weisslichen respeotive weissröthlichen feinblasigen Schaums,
seine Schleimhaut, durchweg von hoohrother Farbe, zeigte eine dichte Aus¬
spritzung der feinsten Gefässchen (40), die Luftröhrenäste enthielten blutigen,
weissröthlichen Schaum in reichlicher Menge, der bei Druck auf dieLungentheile
in ihnen besonders emporstieg, ihre Sohleimhaut war von gleichmässig verwaschen
hellrother Farbe (36, 37).
Auch vor Mund und Nase befand sich weisslicherSchaum (6), und im Kehl¬
kopf finden sich 2 kleine Partikel einer gelbbräunlicben, ■ weichen, offenbar aas
dem Magen stammenden und vom Erbrochenen herrührenden Substanz (40).
Alle diese Befunde zusammengenommen — ungewöhnliche Flüssigkeit des
Blutes in allen Organen, Blutüberfüllung des Herzens und der Langen and reich¬
licher Aastritt von blatigschaumiger Flüssigkeit aas allen Theilen der letzteren,
Blutüberfüllung des Gehirns und seiner Häute, starke Injection der Kehlkopfs¬
und Luftröhrenschleimhant und Anfüllung von Kehlkopf and Luftröhre mit Schaam,
sowie der Befund von Mageninhalt im Kehlkopf selbst — beweisen, dass derTod
der Pauline R. durch Erstiokung, mit Lungenödem als terminaler Erscheinung,
herbeigeführt worden ist.
Wenn aber hinsichtlich der Beschaffenheit des Blutes dieSection acsser der
ungewöhnlichen Flüssigkeit zngleioh eine eigenthümliohe Färbung desselben aller¬
orten nachgewiesen hat, — so zwar, dass das Blat als solches nirgends eine
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dankte Farbe angenommen hatte, sondern überall and ausnahmslos hellroth er¬
schien, dass sohon bei der äasseren Besichtigung an den hellrothenTodtenflecken
ein Stich in’s Rosafarbene unverkennbar war, und bei Einschnitten das Gewebe
zum Theil mit einem sehr deutlichen Stich in’s Hellrosarothe durchtränkt er¬
schien (ö), dabei auch eine besonders hellrosäröthliche, wie lachsartige Färbung
der Musculatur wahrgenommen wurde (5, 27) und auch an den bläulichen Fin¬
gerspitzen eine einigermassen in’s Rosafarbene spielende Verfärbung aufgefallen
war (13), und dass auch hinsichtlich der inneren Organe insbesondere an der
inneren Oberfläche der harten Hirnhaut (18) und am Gehirn selbst (22), am
Herzbeutel (32) und am Herzen (33) sowie an den Darmschlingen (28) der
nämliohe rosafarbene Ton wahrgenommen worden ist — so konnte schon naoh
der Section selbst, wie es in unserem vorläufigen Gutachten zum Ausdruck ge¬
langt ist, mit hoher Wahrscheinlichkeit angenommen werden, dass die Erstickung
duroh Einwirkung von Kohlenoxydgas bedingt worden war.
Denn das Kohlenoxydgas entfaltet naoh der Einathmung seine verderbliche
Wirkung dadurch, dass es mit dem Hämoglobin, dem rothen Farbstoff der rothen
Blutkörperchen, eine schwerlösliohe Verbindung eingeht, welche die Blutzellen
der Fähigkeit zur Aufnahme von Sauerstoff in den Lungen und zur Aufnahme von
Kohlensäure in den Geweben beraubt, sie für die Athmung untauglich macht,
und dass das so veränderte (vergiftete) Blut dann eine intensive Affection des
Gehirns hervorbringt und speoiell eine lähmende Wirkung auf die Athmungs-
centren ausübt, so dass der Tod durch innere Erstickung die Folge davon ist.
Mit dem Auftreten dieser schwerlösliohen, als Kohlenoxydhämoglobin zu
bezeichnenden Verbindung nimmt aber das Blut eine intensiv hellrothe bis car-
moisinrothe Färbung an, welohe eben den von ihm durchströmten Organen und
Gewebstheilen das frische, hellrothe, rosafarbene Aussehen verleiht.
Es erübrigte somit nur noch den Nachweis zu führen, dass in derThat das
Blut der Pauline R. Kohlenoxyd enthielt, und nachdem dieser Nachweis durch
die spektroskopisoh-chemische Untersuchung, wie oben ausgeführt, mit aller Be¬
stimmtheit erbracht worden ist, kann es nach alledem nioht dem mindesten
Zweifel unterliegen, dass in der That die Erstickung der Pauline R. duroh Ein¬
athmung von Kohlenoxydgas zu Stande gekommen ist. —
Was sodann den Tod der Johanna R. anbetrifft, so wurden bei der Ob-
duotion der Leiche derselben ebenfalls Befunde erhoben, die zusammengenommen
für den Tod duroh Erstickung vollkommen und ausreichend charakteristisch sind.
Auch hier fand sich eine Blutanhäufung in den inneren Brustorganen, spe-
ciell in Herz und Lungen und eine analoge Blutüberfüllung der Organe der
Schädelhöhle vor.
Denn die Kranzgefässe des Herzens waren überall stark, meist bis zur
Rundung gefüllt and auoh die feineren Verzweigungen derselben überall deut¬
lich ausgespritzt (36), im linken Herzen fanden sich 5 com flüssigen Blutes und
ein Speokhautgerinnsel von 1 ccm Volumen, im rechten Herzen etwa 2 com
flüssigen Blutes und ein Gerinnsel von 1 ccm Volumen vor (37, 38), und aus
den grossen Gefässen entleerten sich bei Herausnahme des Herzens noch 3 com
Blutes (38).
Die Langen waren im Ganzen von dunkelblaurother, auf dem Durchschnitt
von hell- bis dunkelbraunrother Farbe und Hessen bei Druok blutigsohaumige
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Tod in Kohlenoxyd and Tod daroh Kohlenoxyd.
333
Flüssigkeit in massiger Menge wenigstens im grössten Theile ihrer Abschnitte
hervortreten (39 and 40).
In der Schädelhöhle waren an der granblaaröthlichen harten Hirnhaut die
grösseren Qefässe massig gefüllt (17), an der weichen Hirnhaut erschienen die
grösseren Gefässe ziemlich blatgefüllt and aaob deren feinere and feinste Ver¬
zweigungen überall deutlich aasgespritzt (19), die Qaerblatleiter waren massig,
(20), die hellbraunrotben bis hochrothen Adergeflechte deatlioh bis stark gefüllt,
(24), and die weisse Substanz der Hirnhalbkugeln erschien mit durch den Wasser¬
strahl abspülbaren and danaoh wenigstens znm Theil wiederkehrenden Blut-
pankten reichlioh durchsetzt (23).
Aaoh hier fand sich eine Injection der Kehlkopfs- and der Laftröhren-
schleimhaat and Sohaumanhäafung in der Luftröhre vor: es liess die Kehlkopf-
schleimhaat, stark feucht and im Ganzen von graaweissröthlioher Farbe, stellen¬
weise geringe Ausspritzung allerfeinster Gefässchen erkennen (43), in den Luft-
röhrenästen war die Schleimhaut von verwaschen blauröthlioher Farbe, und die¬
selben enthielten blauröthlichen Sohaum in massiger Menge, der bei Druck auf
die Lungentheile in ihnen emporstieg (39, 40), und beim Umwenden der
Leiche floss auoh aus Mund und Nase etwas graulichtrübe visoide Flüssigkeit
aus (7).
Nicht aber fand sich hier die im vorigen Falle so auffallende hellrothe Farbe
des Blutes, welohes auch nicht so ganz ausnahmslos wie dort von flüssiger Be¬
schaffenheit war, sondern hier und da auoh mehr oder weniger geronnen erschien
(18, 38); und dementsprechend wurde auch nirgends das frisohe bellrosafarbene
Aussehen der von ihm durchströmten Organe und Gewebe constatirt.
Dagegen wurden ausser den im vorigen Falle erhobenen positiven Befunden
hier nooh 2 kleine, soharfumschriebene hellrothe Blutunterlaufungen — Eochy-
mosen — an der linken Seitenwand des Herzens (36) und eine geringe Vorlage¬
rung der Zunge (8) festgestellt: Erscheinungen, die beide in Verbindung mit
anderen und zum Theil auch für sich ebenfalls charakteristisch für den Er¬
stickungstod sind, auf welchen eventuell auch der Befund von schwärzlichem,
den Nasenöffnungen lose aufliegendem Schmatz (8) hinzuweisen geeignet ist.
Zwar ist die Hyperämie der Brustorgane im vorliegenden Falle an sich
keine besonders ausgeprägte, namentlich in den Lungen, gewesen, und auoh im
Herzen war das absolute Quantum des Vorgefundenen Blutes nicht irgend erheb¬
lich gross.
Es ist aber nach Inhalt des ganzen Obductionsprotokolls das Kind ein elen¬
des und sieches gewesen, welches insbesondere in hohem Grade abgemagert (2,
28, 29, 60) war, und bei dem die Seotion eine Reihe von ausgesprochenen
Krankheiten, wie Rhachitis (31), rechtsseitige Brustfellentzündung (33, 40),
eine partielle ohronisch entzündliche Affection des Lungengewebes (40), Nieren¬
steinbildung (50, 51), Oedem der Gallenblase (56) und chronischen Darmkatarrh
(54, 55, 60, 61, 62) — und in deren Gefolge eine hochgradige allgemeine Blut¬
leere (5 und 4) nachgewiesen hat, so dass mit Rücksioht auf diese allgemeine
Blutleere der Befund an den Organen derBrusthöhle immerhin respective zweifel¬
los als relative Blutüberfüllung zu bezeichnen war.
Dagegen war die Blutüberfüllung in der Sohädelhöhle auch in diesem Falle
Vierteljahr!«ehr. t ger. Med. Dritte Folge. V. 2. 22
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334
Dr. Chlumsky,
wohl markirt and erschien hier, wie im vorigen Falle, deutlicher ausgesprochen,
als es sonst bei der Erstickung im engeren Sinne des Wortes, durch Absperrung
der Luftzufuhr von Aussen, in vielen Fällen gefunden wird.
Dies erklärt sich daraus, dass eben, wie oben hervorgehoben wurde, das
duroh Kohlenoxyd vergiftete Blut eine intensive Affection des Gehirns hervor¬
bringt, welche, durch Lähmung der Gefässnerven und der Gefässmuskeln sich
äussernd, eine Erweiterung der Gefässe zur Folge hat. Diese Gefässerweiterung
ist dann, ebenso wie im vorigen, so auch im Falle der Johanna R. insbesondere
in der reichlichen Durchsetzung der weissen Gehirnsubstanz mit Blutpunkten
zum Ausdruck gelangt.
Denn es ist auch bei der Johanna R. der Erstickungstod unzweifelhaft durch
Einathmung von Kohlenoxydgas erfolgt. Die Johanna R. ist nach Inhalt der
Acten in der elterlichen Wohnung den nämlichen Einwirkungen von Rauch und
Qualm, insbesondere auch an den Tagen des 9. und 10. Februar or. und zwar
noch länger als ihre Schwester Pauline ausgesetzt gewesen, da eine Unter¬
brechung des Aufenthaltes in dem in Rede stehenden Zimmer, wie bei Pauline
durch den Schulbesuch am 10. früh, bei ihr nioht stattgefunden hat. Es kann
also zunächst nioht zweifelhaft sein, dass auch die Johanna R. an dem in Rede
stehenden Tage in jenem Raume Kohlenoxydgas eingeathmet bat.
Wenn sie aber nioht direct, in dem Kohlenoxydgas enthaltenden Raume selbst
ihren Tod gefunden hat, sondern erst mehrere Stunden danach, nachdem sie in
ein anderes Zimmer übergeführt worden war, in der darauffolgenden Nacht ge¬
storben ist, so steht solches einerseits im Einklang mit der wissenschaftlichen
Erfahrung, dass nicht selten nach Kohlenoxydgaseinathmung der Tod erst einige
Zeit, nachdem das Individuum bereits aus der Kohlenoxydatmosphäre befreit war,
eintritt, und dass er dann, indem das aufgenommene Kohlenoxyd im Blute zu
Kohlensäure oxydirt wird, durch secundäre Kohlensäurevergiftung erfolgt.
Und andererseits liegen in den speciellen Verhältnissen und äusseren Um¬
ständen unseres Falles bestimmte Momente vor, die einen solchen Hergang der
Dinge ganz besonders wahrscheinlich machen und vollkommen erklären.
Die Johanna R. war, wie oben ausgefübrt, ein durch eine Reihe von ver¬
schiedenen Krankheiten in der Ernährung äusserst herabgekommenes, sohwäch-
liches Kind, bei welchem die Athmung an sich um so weniger mit der normalen
Energie erfolgen konnte, als ihre quantitative Ausgiebigkeit duroh das fast totale
Angewachsensein der rechten Lunge an die Brustwand (durch Brustfellentzün¬
dung 33, 40) direct beschrankt und behindert war.
Sie wurde, als man an dem in Rede stehenden Tage die R.’sohe Wohnung
betrat, vorgefunden mit einem Tuche über’s Gesicht bedeckt, welcher Umstand
bei diesem Kinde auch seinerseits die Athmungsgrösse herabzusetzen und zu ver¬
mindern sehr wohl geeignet war.
Es kann daher kaum zweifelhaft sein, dass das Kind in dem Kohlenoxyd
enthaltenden Raume infolge der aus inneren und äusseren Ursachen verminderten
Ausgiebigkeit der Athmung nur relativ geringe Mengen von Kohlenoxyd aufge¬
nommen hat, wodurch es auch allein erklärlich wird, dass zur Zeit, als ihre
ältere Schwester Pauline bereits verstorben und die Mutter schwer erkrankt und
besinnungslos war, an der Johanna R. wenigstens auffallende Krankheitssymptome
nioht wahrgenommen worden sind.
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Tod in Kohlenoxyd und Tod duroh Kohlenoxyd.
335
N&ohdem dann aber das Kind ans der Kohlenoxydatmosphäre entfernt and
in ein anderes Zimmer fibergeföhrt worden war, reiohte nunmehr, trotz der rela¬
tiv kleinen Menge des aofgenommenen Kohlenoxyds, die geringe Energie der
Lebensvorgänge des Kindes überhaupt nicht mehr aas, das Kohlenoxyd aas dem
Organismus za eliminiren; dasselbe wurde vielmehr im Blate za Kohlensäure oxy-
dirt, deren das Kind auch nicht mehr Herr za werden vermochte, und es erfolgte
duroh secandäre Kohlensäurevergiftung der Tod.
Die stattgehabte Oxydation des aufgenommenen Kohlenoxyds zu Kohlensäure
maoht es denn auch erklärlich, dass in dem Blute der JohannaR. bei der spektro¬
skopisch-ohemischen Untersuchung Kohlenoxyd nioht mehr aufgefunden worden ist.
Nach den voransgegangenen Aaseinandersetzangen resamiren wir
unser definitives Gatachten dahin,
1) dass die beiden Kinder Paaline and Johanna R. an Erstickung
gestorben sind;
2) dass diese Erstickung bei beiden Kindern durch die Einath-
mung von Kohlenoxydgas za Stande gekommen ist, so zwar,
dass die Paaline R. direct and anmittelbar in der Kohlen¬
oxydatmosphäre gestorben ist, dass dagegen der Tod der
Johanna R. erst einige Zeit nach deren Entfernung aas der
Kohlenoxydatmosphäre durch secandäre Kohlensäarevergiftang
herbeigeführt worden ist.
Aaf die specielle Veranlassung des Auftretens von Kohlenoxyd
in der R.’schen Wohnung brauchen und haben wir, da uns irgend¬
welche bezügliche Fragen nicht vorgelegt worden sind, nicht näher
einzagehen, glauben aber gegenüber der in den Acten enthaltenen
gegentheiligen Deposition des Bausachverständigen darauf hinweisen
zu sollen, dass es unseres Erachtens allerdings möglich ist, dass auch
bei der festgestellten Beschaffenheit der Feuerungsanlagen in der
Wohnung der R.’schen Eheleute sich Kohlenoxyd gebildet habe, ohne
dass eine Veränderung oder Verstopfung der Feuerungsanlagen vorge¬
nommen worden ist, und zwar um so mehr möglich, als in jedem,
bei jeder beliebigen Beschaffenheit der Feuerungsanlagen, aus irgend¬
welcher Veranlassung auftretenden Rauche Kohlenoxydgas enthalten ist.
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II. Oeffentliches Sanitätswesen.
1.
(Aus der medicinischen Universitätsklinik des Herrn
Geheimrath Prof. Ebstein):
Die Kohlenoiydgamrgiftuig nid die la derea Yerhitaag
geeignete! siaitätspoliieiliehea Maassregel!.
Von
Dr. med. Ernst Becker,
ehern. Assistenzärzte.
(Schluss.)
YII. Pathologische Anatomie.
Die Leichenerscheinungen, welche man bei der Kohlenoxydgas-
vergiftung vorfindet, können unter Umständen so ausgeprägt sein,
dass die richtige Diagnose oft auf den ersten Blick gestellt werden
kann, in anderen Fällen können sie völlig negativ sein. An dem
Aeusseren der Leichen fällt die hellrothe Farbe der Todtenflecken
auf, welche durch das mit Kohlenoxyd imprägnirte Blut bedingt ist.
Dieselben sitzen allerdings vorzugsweise an der Vorderfläche des
Rumpfes, aber auch an der Rückenfläche, welche ausserdem die ge¬
wöhnlichen, mehr blaurothen hypostatischen Flecken aufweist. Diese
Flecken 1 ) halten sich sehr lange und sind noch an Leichen deutlich
gesehen worden, deren Haut bereits durch die Verwesung grün ge¬
färbt war. Gelegentlich ist die hellrosenrothe Färbung im Gesicht,
zumal auf den Wangen, so frappirend und der lebensfrischen Farbe
so täuschend ähnlich, dass Laien sich absolut nicht von dem einge-
l ) Lesser, Atlas. Tafel XVII. Fig. 3.
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Die Kohlenoxydgasvergiftung and deren Verhütang.
337
tretenen Tode überzeugen lassen wollten nnd Schwierigkeiten bei der
Obduction bezw. Einsargung der Leiche machten. Nur die Blansäure ‘)
macht bisweilen ähnliche hellrothe Leichenflecke. Die gleiche rosen-
rothe Färbung findet sich auch an den inneren Organen, den Muskeln,
Schleimhäuten und serösen Häuten. Die Blutgefässe sind bis in die
feinsten Verästelungen auffallend weit, geschlängelt und enthalten
reichlich flüssiges, meist hellrothes Blut. In Milz, Nieren und Leber
findet man, wenn der Tod erst nach einigen Tagen eingetreten ist,
beginnende parenchymatöse Degenerationen, in den Muskeln Verlust
der Querstreifung und fettige Entartung. Das Gehirn ist meist infolge
arterieller Hyperämie 3 ), zumal in der Rindensubstanz schön rosa ge¬
färbt, während die weisse Substanz niemals ähnliche rosa Töne auf¬
weist, und enthält nicht selten Capillarblutungen und Erweichungs¬
heerde 8 ). Die auf Pleura, Pericard und Peritoneum gefundenen Ek-
chymosen sind nicht selten infolge fettiger Degeneration der Gefäss-
wände, vielfach aber durch die bei den asphyktischen Krämpfen
herrschende allgemeine Stauung des Blutes entstanden. In den Respi¬
rationsorganen sieht man Hyperämie der Schleimhaut, sowie Entzün¬
dungen mannigfacher Art (acute eitrige Bronchitis, fibrinöse Pneu¬
monie, Aspirationspneumonie), die aber für die Kohlenoxydvergiftung
als solche nicht charakteristisch sind. Grauer oder schwarzer Belag
an Lippen und Nasenflügeln, welcher bei Kohlenoxydvergiftungen vor¬
kommt, gehört natürlich nicht dem Gase, sondern dem gleichzeitig
vorhandenen Rauche an und kann daher zur Differentialdiagnose zwi¬
schen Leuchtgas- und Kohlendunstvergiftung verwerthet werden.
Der Fäulniss verfallen die Leichen offenbar relativ schnell; in¬
dessen pflegt sich die hellrothe Farbe der Brust- und Bauchmusku¬
latur länger, als die des Blutes zu erhalten, so dass es wahrschein¬
lich ist, dass die Muskelsubstanz selbst durch die Einwirkung des
Kohlenoxydes eine qualitativ allerdings mit der des Blutes überein¬
stimmende Farben Veränderung erleide 4 ). Neuerdings wird diese An¬
nahme durch die von Falk 5 ) angestellten Thierversuche bestätigt,
welche darthun, dass thatsächlich das Kohlenoxyd viel länger in den
Muskeln als im Blute haftet. Diese Imprägnirung der Muskeln mit
! ) Casper-Liman, 1. c. S. 492.
2 ) und 3 ) Lesser, Atlas. Tafel XVII. Fig. 6 und 7.
4 ) Lesser, 1. o. S. 143.
5 ) Falk, Diese Vierteljahrsschrift. Ootober 1891. S. 260 ff.
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338
Dr. Beokor,
Kohlenoxyd dürfte allein schon im Stande sein, die erwähnten schweren
Functionsstörnngen zu bedingen.
Wenn man nun bedenkt, dass ein Theil der Leichenerscheinungen
für die Vergiftung durch Kohlenoxyd nicht charakteristisch, ein ande¬
rer nicht regelmässig vorhanden ist, so würde es um die Feststellung
des Thatbestandes in manchen Fällen schwach bestellt sein, wenn
wir nicht in der Lage wären, das Kohlenoxyd im Blute direct nach¬
zuweisen.
VIII. Das Kohlenoxydblat.
1. Aussehen desselben.
Wie bereits (S. 336) erwähnt, giebt es einige äussere, leicht erkennbare
Zeiohen, welobe in denjenigen Fällen, wo das Blut viel Kohlenoxyd enthält, so zu
sagen mit dem Oase gesättigt ist, mit einer an Gewissheit grenzenden Wahr¬
scheinlichkeit die Todesursache festzustellen ermöglichen. Sobald das Kohlen¬
oxyd durch die Lungenoapillaren in’s Blut eingetreten ist, verdrängt es dort, wie
zuerst von Lothar Meyer 1859 naobgewiesen wurde, ein gleiches Volumen
Sauerstoff aus seiner Verbindung mit dem Hämoglobin und geht mit letzterem
eine Verbindung zu Kohlenoxydhämoglobin ein. Dieses ist zur Erhaltung
des notwendigen Qasweohsels vollständig untauglioh und stellt ausserdem eine
festere und beständigere Verbindung als das Oxyhämoglobin dar: Die Restitutio
ad integrum der Blutkörperchen während des Lebens, sowie die Zersetzung der¬
selben nach dem Tode ist daher keine ganz leiohte, nooh sohnell sioh voll¬
ziehende.
Das Kohlenoxydhämoglobin ist ausgezeichnet durch eine hellrothe Farbe,
welche sioh der ganzen Blutmasse bei der Vergiftung mittheilt, sodass daduroh
der Unterschied zwischen arteriellem und venösem Blute mehr und mehr ver¬
wischt wird. In dicken Schichten erscheint das Kohlenoxydblut kirsohroth, in dünnen
dagegen mehr weniger hellroth, Zinnober- oder ziegelroth. Diese Färbung kann
aber durch verschiedene Vorgänge mehr oder weniger modifioirt oder ganz zum
Verschwinden gebracht werden. Einmal durch die Fäulniss, welohe der Blutfarbe
etwas Verwaschenes, Schmutziges mittheilt; dann aber auch duroh die Gegen¬
wart von Kohlensäure im Blute. Da, wie wir bei der Schilderung der Symptome
(S. 129) auseinander gesetzt haben, der Tod nioht selten unter dem Bilde
schwerer Asphyxie eintritt, z. B. wenn erbrochene Massen in grosser Menge aspi-
rirt werden, so findet man dann auoh in diesen Fällen bei der Section die aus¬
gesprochenen Zeichen der Kohlensäureüberladung des Blutes, welches daduroh
die bekannte dunkel- bis schwarzrothe Farbe annimmt. Das Gleiche tritt ein,
wenn der Kohlendunst, dem das Individuum zum Opfer fiel, sehr reich an Kohlen¬
säure war. Wir sehen daraus, dass unter einer Reihe von Bedingungen der Tod
duroh Kohlenoxyd hervorgerufen sein kann, ohne dass das äussere Aussehen des
Leiohenblutes diese Todesart verräth. Mikroskopisch lässt sioh eine Veränderung
an den Blutkörperchen niemals naohweisen.
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Die Koblenoxydgasvergiftung and deren Verhütung.
339
2. Naohweis des Kohlenoxydes im Blate.
Es ist daher von der grössten Wiohtigkeit, dass man darch eine Reihe ab¬
solut sicherer Methoden den Kohlenoxydgehalt des Blutes nachweisen kann.
Dies ist auf zweierlei Weisen möglich: entweder man weist das Kohlenoxyd im
Blute selbst direct nach oder man entfernt es aus dem Blute, und prüft
es darauf auf seine verschiedenen Reaotionen gegenüber chemischen Agentien.
Die Methoden der ersten Gruppe sind im Allgemeinen leichter ausführbar,
als die der zweiten, und verlangen nicht, wie diese, grössere Apparate und tech¬
nisch-chemische Kenntnisse. Sie beruhen alle auf dem veränderten Verhalten des
Kohlenoxydhämoglobins gegenüber dem Oxyhämoglobin des gesunden Blutes und
verlangen demnach stets zum Vergleiche den Controllversuoh mit letzterem. Man
kann nun entweder:
a) das Kohlenoxydhämoglobin selbst nachweisen mit Hilfe der Hoppe-
Seyler*sehen spektroskopischen Probe oder
b) man wandelt duroh chemisohe Agentien das Hämoglobin in Häma¬
tin, Methämatin oder Sohwefelmethämoglobin um oder erzeugt gewisse
Niederschläge im Blute; durch alle diese Vorgänge werden Farbenreao-
tionen erzeugt, die je nach dem Vorhandensein oder Fehlen voq Kohlenoxyd im
Blute verschieden ausfallen.
Die nun folgende Besprechung der einzelnen Methoden kann sioh nioht auf
alle mit der gleichen Ausführlichkeit erstrecken, sondern nur die zumal für den
Gerichtsarzt wichtigen einer eingehenden Würdigung unterziehen.
A. Hoppe-Seyler's spektroskopisohe Probe.
Naobdem Hoppe-Seyler sohon im Jahre 1862 das Speotrum des im nor¬
malen Blute vorhandenen Oxyhämoglobin beschrieben hatte, zeigte er im
Jahre 1864 das Spectrum des Kohlenoxydhämoglobins und im folgenden
Jahre dessen Verhalten gegenüber reducirenden Substanzen.
Verdünnt man nämliob kohlenoxydhaltiges Blut mit Wasser auf das aoht-
bis zehnfache, oder auch noch stärker ’), füllt diese Lösung in ein Glaskästohen
mit parallelen Wänden oder in ein gewöhnliches Reagenzgläschen und bringt
dasselbe zwischen Flamme und Prisma eines Spectralapparates 2 ), so zeigt das
Spectrum im Gelb und Grün zwischen den Frauenbofer’schen Linien D und E,
bei D einen sohmalen und bei E einen breiteren dunkelen Absorptionsstreifen, die
sogenannten Absorptionsstreifen des Kohlenoxydhämoglobins 3 ), die
*) Ist die Lösung zu ooncentrirt, so vermag man sie nicht zu durch¬
leuchten.
3 ) In gerichtsärztlichen Untersuchungen leistet das kleine Browning’sche
Tasohenspectroskop ausgezeichnete Dienste, während man in Laboratorien meistens
mit dem Kirchhoff-Bunsen’schen oder dem Vogel’schenApparate zu arbeiten
pflegt. Auch das Hering’sche „Spectroskop ohne Linsen“ (Prager medicinisebe
Woohenschr. 1886. 11) wird gelobt.
3 ) Lesser, Atlas. Tafel XVIH. Fig. 11. No. 3.
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340
Dr. Beoker,
denjenigen des Oxyhämoglobins im normalen Blute zwar sehr ähnlioh sind, aber
sich dooh von ihnen unterscheiden lassen. Nämlich zunächst liegen die Kohlen¬
oxydstreifen nicht genau an derselben Stelle, wo sich die Oxystreifen finden, son¬
dern sind etwas nach der stärker gebrochenen — also der violetten — Seite des
Speotrums versohoben; diese Verschiebung betrifft besonders den bei D gelegenen,
schmaleren Streifen, welcher näher an den bei E liegenden herangerüokt ist. Der
Zwischenraum zwischen beiden ist dadurch geringer geworden und erscheint anoh
nicht so scharf begrenzt, wie beim Oxyhämoglobinspectrnm. Diese nur für ein
geübteres Auge bemerkbaren Unterschiede würden es Manohem sehr schwer
machen, in zweifelhaften Fällen mit absoluter Sicherheit die Gegenwart des Giftes
nachzuweisen, wenn man nicht durch Zusatz reducirender Substanzen
einen sinnfälligen Unterschied in beiden Speotren zu erzeugen vermöchte. Wäh¬
rend nämlich dann das Kohlenoxydblut keine Aenderung seiner Ab¬
sorptionsstreifen zeigt, tritt beim normalen Blute, dadurch dass das Oxyhämo¬
globin reducirt wird, statt der vorher sichtbaren zwei Absorptionsstreifen ein
einziger auf, der etwa in der Mitte zwischen beiden verschwundenen liegt, erheb¬
lich breiter als diese, aber weniger dunkel und weniger scharf oontourirt er¬
scheint. Es lässt sich dadurch das Spectrum des Kohlenoxydblutes sehr leioht
von dem des normalen unterscheiden.
Als Reductionsmittel kann man ausser dem ursprünglich von Hoppe-
Seyler empfohlenen Schwefelammonium oder Scbwefelnatrium eine frisch be¬
reitete Lösung von Ferroammoniumtartrat benutzen, die fast augenblicklich
wirkt. Die Bereitung des Reagens ist die denkbar einfachste. Von einer bereit
gehaltenen Mischung von Weinsäure und Ferrum sulfuricum ana füllt man die
untere Kuppe eines weiten Reagenzglases an, giesst dieses halb voll destillirtes
Wasser und setzt schliesslich einige Gubikcentimeter Ammoniak hinzu. Man
braucht bei Anwendung dieses Reductionsmittels, das man sich schon bei der
Autopsie leioht herstellen kann, nicht, wie bei den langsam wirkenden, längere
Zeit zn warten, um durch das Ausbleiben der Reduction mit Sicherheit auf die
Gegenwart von Kohlenoxyd schliessen zu können. Jedenfalls ist es aber bei An¬
stellung der Versuche unerlässlich, durch Vergleich mit normalem Blute sich von
der Güte der Reductionsfiüssigkeit zu überzeugen.
Steht nur eine sehr verdünnte Lösung des Kohlenoxydblutes zur Verfügung,
so dass im Spectralapparate die Absorptionsstreifen kaum zn sehen sind, so kann
man dieselben sehr leicht zur Anschauung bringen, wenn man die zu durch¬
leuchtende Schicht verbreitert; dies geschieht am einfachsten, indem man die
Lösung in eine der bekannten mit 2 planparallelen Wänden versehenen Eau de
Gologneflaschen füllt, ein Verfahren, das wegen seiner grossen Einfachheit gegen¬
über den mancherlei complicirten und trotzdem nicht immer sicheren, zu diesem
Zwecke angegebenen chemischen Methoden den Vorzug verdienen dürfte.
Nun wird man aber in allen Fällen,' wo im Blute nur wenig Kohlenoxyd,
aber viel Sauerstoff vorhanden ist, bei Zusatz reducirender Substanzen nicht das
reine Spectrum des Kohlenoxydhämoglobins bekommen, sondern daneben das des
reduoirten Oxyhämoglobins, d. h. es tritt zwischen den beiden Absorptionsstreifen
des Kohlenoxydhämoglobins eine Verdunkelung des Zwischenraumes auf 1 ), die
*) Lesser, Atlas. Tafel XVIII. Fig. 11. No. 4.
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Die Koblenoxydgasvergiftung and deren Verhütung.
341
nm so intensiver aasfällt, je mehr Sauerstoff (Oxyhämoglobin) im Blnte vorhan¬
den ist. Indessen ist die Kohlenoxydvergiftung ebenso wohl bewiesen, wenn
keine vollkommene, als wenn gar keine Redaction eintritt; das Niohtver-
schwinden der beiden Absorptionsstreifen des Kohlenoxydhämoglobins ist also
Ausschlag gebend.
Unter zwei Umständen können sich aber leicht anbemerkt Fehlerquellen
bei dieser Probe einschleichen. Einmal verschwindet bei Zutritt des atmosphä¬
rischen Sauerstoffes im Laufe der Zeit das Kohlenoxyd aus dem Blute und lässt
sich dann spectroskopisoh nicht mehr nachweisen. Man thut daher in foren¬
sischen Fällen gut, Jäderholm’s ! ) Rath zu befolgen und das fragliche Blut,
wenn man die Untersuchung nicht bald nach dem Tode vornehmen kann, in voll¬
ständig angefällten und wohlverschlossenen Flasohen aufzubewahren. Auf diese
Weise verwahrtes Blut hielt sich bei Zimmertemperatur zwei Jahre völlig unver¬
ändert und zeigte in zugesohmolzenen Glasröhren selbst nooh nach 10 Jahren
keine Veränderung. Dagegen hat Eulenberg’s 2 ) Angabe, dass an freier Luft
angetrooknetesBlut noch nach Monaten seine spectralen Eigenschaften beibehalte,
von anderer Seite bislang keine Bestätigung erfahren.
Zweitens aber kann man, wenn das Blut sohon sehr faul und missfarbig
ist, das Speotrum des Kohlenoxydhämoglobins mit demjenigen des reduoirten
Hämatins verwechseln, das bei der Zersetzung des Blutes entsteht. Indessen
ist der erste Absorptionsstreifen dunkler, liegt mehr naoh dem violetten Ende des
Speotrums hin, und beide Streifen treten nach Zusatz reduoirender Substanzen
deutlicher hervor. In sehr zweckmässiger Weise kann man nun ebenfalls auf
Jäderholm’s Empfehlung hin die Fäulniss des Blutes verhindern, wenn man
auf 1 Volum Blut mindestens 1 Volum einer kaltgesättigten Boraxlösung zusetzt.
Eine solche Mischung eignet sich noch nach Jahren zum speotroskopisohen
Nachweise.
Als Curiosum — einen praktischen Werth wird es wohl kaum jemals
haben — sei erwähnt, dass carminsaures Ammoniak fast genau die gleichen Ab¬
sorptionsstreifen wie das Kohlenoxydbiut liefert, die auch selbstverständlich duroh
Schwefelammonium nicht reduoirt werden. Sie liegen nur etwas mehr nach dem
violetten Ende des Spectrum zu. Bei Zusatz einer dünnen Säure fällt dagegen
sofort das Carmin als rothes Pulver aus, während in der Blutlösung das Speotrum
des sauren Hämatins entsteht. Hierdurch würde man auch diese eventuell beab¬
sichtigte Täuschung erkennen können.
Unter zwei Voraussetzungen kann aber das Kohlenoxyd im Blute nicht
mehr nachweisbar sein, nämlich 1) wenn der Mensoh aus der Kohlenoxyd-Atmo-
sphäre in die freie Luft gebracht, dort nooh einige Zeit geathmet hat und dann erst
gestorben ist und 2) wenn die Kohlenoxydquelle* in dem Raume vor Eintritt des
Todes versiegt ist, s<r dass durch die letzten Athemzüge bereits wieder reine Luft
eingeathmet wurde. Unter diesen Bedingungen pflegt das Kohlenoxyd aus dem
Blute naoh einiger Zeit wieder zu entweiohen. Umgekehrt gelingt der Naohweis
des Kohlenoxydes im Blute von Leiohen, die in undurchlässigem Moor- oder Mer-
*) L. c. S. 50.
2 ) Berliner Klinische Woohensohrift. 1866. S. 233.
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342
Dr. Becker,
gelboden gleichsam hermetisch abgeschlossen lagen, nicht selten noch nach
Woohen mit ausreichender Sicherheit.
Der untere Grenzwerth der mit dieser Methode bestimmbaren Kohlenoxyd¬
menge liegt sehr niedrig.
„Es lassen sich nämlich 2,5—4,0 pM. Kohlenoxyd in einer Luft noch eben
durch die charakteristischen Streifen nachweisen, wenn 100 ocm Luft mit 3 ocm
sehr verdünnter Blutlösung in einem mit Gummikappe verschlossenen Glaskölb-
ohen in innige Berührung gebracht werden; bei einem noch niedrigeren Gehalte
ist keine Veränderung des Blutes mehr wahrzunehmen u *).
Da aber in Fällen von acuter Kohlenoxydvergiftung wohl selten weniger als
2,5 pM. des giftigen Gases eingeathmet werden, so wird auch diese Methode
meistens den sicheren Nachweis liefern. Bei grösseren Verdünnungen ist aller¬
dings eine der empfindlicheren chemischen Proben zu empfehlen.
B. Farbenreaotionen.
Gehen wir nunmehr zu den verschiedenen durch Zusatz von Chemikalien
eintretenden Farbenreactionen des Kohlenoxydblutes über, so ist zuerst
die älteste derselben, die von Hoppe-Seyler im Jahre 1858 gefundene
Natronprobe
zu erwähnen. Man führt dieselbe in der Weise aus, dass man 1 Theil defibri-
nirtes Blut mit 2 Theilen Natronlauge von 1,3 speo. Gewicht (dem Liquor natrii
oaustici der deutschen Ph&rmacopoe) in einem Reagenzrohre schüttelt und dann
die Farbenunterschiede zwischen dem normalen und dem kohlenoxydhaltigen
Blute vergleicht. Im letzteren tritt eine schöne dunkelrothe, im ersteren eine
ohoooladenbraune Farbe ein, die in dünnen Schichten in’s Grüne oder Braun¬
grüne spielt. Naoh Jäderholm’s 2 ) sorgfältigen Untersuchungen wird bei dieser
Probe durch die Einwirkung der Natronlauge im normalen Blute das Oxy¬
hämoglobin in Oxyhämatin übergefübrt, welohes in conoentrirter Natronlauge
unlöslich ist und daher sofort als grüner bezw. grünbrauner Niederschlag aus¬
fällt. Im Kohlenoxydblute fällt die Lauge Kohlenoxydhämatin als un¬
löslichen, dunkelzinnoberrothen Niederschlag. Derselbe Forscher*) hat auch die
von Hoppe-Seyler ursprünglich gegebene Vorschrift, man solle das Gemisch
auf Porzellan ausstreichen, aufgegeben, weil dabei durch den Sauerstoff der Luft
ein Theil des Kohlenoxydhämatins in Oxyhämatin übergeführt wird, und daher
empfohlen, die Probe im Reagenzglase anzustellen. Alle übrigen Modifloationen
können nicht als Verbesserungen angesehen werden.
Die Natronprobe hat eine ungemein praktische Bedeutung, weil sie leicht
von jedem Arzte ausgeführt werden kann, gar keine ohemisoh-teohnisohen Kennt¬
nisse oder besondere Apparate voraussetzt, und die Farbenuntersohiede sehr auf¬
fällige sind; die offioinelle Natronlauge kann sofort aus der nächsten Apotheke
bezogen werden, und die Probe selbst ist in kürzester Zeit vollendet. Allerdings
*) Flügge, 1. c. S. 152.
2 ) L. o. S. 83.
3 ) L. c. S. 84.
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Di« Kohlenoiydg&svergiftung und deren Verbot an g.
343
muss zagegeben werden, dass sie nicht selten im Stiche lässt, wo der speotrosko-
pische Nachweis unschwer za fahren ist.
Eine weitere Groppe von Reactionen theilten Weyl and An rep 1 ) im Jahre
1880 mit, welche darauf beruhen, dass das Hämoglobin des normalen Blotes daroh
die Einwirkung oxydirender Substanzen, wie Jodjodkalium (J 0,05 pCt., KJ 1 pCt.),
Kali chlorioum (5pCt.) and Chamäleonlösang (0,025pCt.) oder reducirender Sub¬
stanzen, wie Brenzkatechin (1 pCt.), Hydrochinon (1 pCt.) und Pyrogallollösung
(0,5pCt) in Methämoglobin übergeführt and dadurch gelblich oder gelblioh-
grün gefärbt wird, während das Kohlenoxydblat anverändert roth bleibt.
Durch verschiedene Sohwefelverbindungen vermag man im sauerstoff¬
haltigen Blute Sohwefelmethämoglobin zu erzeugen, welohes demselben
eine sohmutzig grüne Farbe verleiht, während auch hier wieder das Kohlen¬
oxydblat seine hellrothe Farbe unverändert beibehält. Hierher gehört
das von Salkowski empfohlene Schwefelwasserstoffwasser; Fodor 2 ) benutzt
Ammonsalfid and Kaniyosi Katayama 8 ) fand, dass naoh Zusatz von orange¬
farbenem Schwefelammon and Essigsäure im Kohlenoxydblate eine schön bell-
rothe Farbe erzeugt wird, während das normale Blut grünlich-grau oder röthlioh
grüngrau erscheint.
Neuerdings hat Konkel 4 ) mehrere Fällangsreaotionen für Kohlen¬
oxydhämoglobin and Oxyhämoglobin angegeben, welche so typische Farbenunter-
sohiede zeigen, dass man durch Vergleichung derselben die sichere Diagnose der
Kohlenoxyd Vergiftung stellen kann. Man benutzt dazaBlat, das mit der lOfaohen
Menge Wasser verdünnt ist. Bei sämmtlichen Reaotionen sind die in der ge¬
wöhnlichen Blutlösung erzeugten Präoipitate sofort oder nach einiger Zeit braan
gefärbt, während die Kohlenoxydniedersohläge mehr einen blaarothen Ton aaf-
weisen. Für die werthvollsten and darohaus brauchbarsten hält Kunkel (S.88)
folgende:
1) Tannin, 3 pCt. wässrige Lösung, ist die beste Probe, welohe sich
wochenlang nnverändert hält,
2) Phosphormolybdänsäure,
3) und 4) Zinkchlorid and Sublimat in 1—2proc. Lösungen; die Reactionen
dauern viele Tage an,
5) Platinchlorid (1:60), rasch vergänglich.
Kunkal vermochte mit Hülfe dieser Reaotionen nooh 20 pCt. Kohlenoxyd¬
hämoglobin in einer Blutlösung naohzuweisen, während ihn die Spectralprobe
schon bei weniger als 30 pCt. im Stiche liess (S. 89).
Endlioh hat Rubner B ) gefunden, dass bei Zusatz von der 4—5 fachen
Menge Bleiessig zum Kohlenoxydblate and nachfolgendem kräftigen Schütteln
‘) L. c. S. 227.
a ) L. c. S. 392.
8 ) L. o. S. 57.
4 ) L. o. S. 86 ff.
5 ) Rubner, Archiv für Hygiene. X. 3. S. 397. 1890.
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344
Dr. Beoker,
der Mischang das Kohlenoxydblat sohön roth bleibt, während normales Blot einen
bräunliohen Farbenton annimmt. Nach einigem Znwarten sollen die Farbendiffe»
renzen noch deutlicher werden nnd selbst bei Mischungen von Kohlenoxydblat
mit normalem noch bei einem Verhältnisse von 1:8 bis 9 gnt erkennbar sein.
Die Besprechung dieser chemischen Reactionen des Kohlenoxydblntes kann
durchaus nicht Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Fast täglich werden neue
Methoden angegeben, die mehr oder weniger zuverlässig, aber auch fast durch¬
weg complicirter sind. Da eine genaue Kritisirung derselben die Grenzen dieser
Arbeit bei Weitem überschreiten würde, so konnten hier nur die allgemeinen Ge¬
sichtspunkte angedeutet werden. Ein Fehler aber haftet sämmtliohen Farben-
reactionen an, nämlich der, dass die Deutung geringer Differenzen zu sehr dem
subjectiven Ermessen überlassen bleibt, und überdies das Gelingen von der Rein¬
heit der Reagentien abhängig ist.
C. Fodor’s Methode.
Abgesehen von diesen Methoden, welche im Blute selbst das Kohlenoxyd
nachzuweisen vermögen, giebt es solche, mit deren Hülfe man das Gas zuerst
aus dem Blute entfernt und dann erst Reactionen mit ihm anstellt (vergl. S. 339).
Es mag genügen, an dieser Stelle den Hauptrepräsentanten dieser Gruppe von
Reactionen, nämlioh die von Fodor 1 ) geübte Methode in ihren Grundzügen zu
erwähnen, da die übrigen bei Weitem nicht die gleiche Empfindlichkeit besitzen.
Man pumpt zunächst nach Zuntz’s 2 ) Vorgang unter Erwärmen das Kohlenoxyd
aus dem Blute aus und leitet es in eine neutrale Lösung von Palladiumchlorür,
die auf lOOccm Wasser ca. 0,2mg PdCl 2 enthält. Dann wird durch das Kohlen¬
oxyd metallisches Palladium in Form kleiner, glänzender, sohwarzer Plättchen
abgespalten, welche auf der Flüssigkeit schwimmen. Auch kann man Filtrir-
papier mit der PdCl 2 -Lösung tränken, trooknen und in Streifen sohneiden; beim
Gebrauche hängt man einen angefeuchteten Streifen in dem Gefässe auf, in wel¬
ches man das Kohlenoxyd leitet. Nach kurzer Zeit überzieht sich dasselbe mit
einem zarten, schwarzen Häutchen von Palladium. Mit Hülfe dieser Methode ver¬
mag man im Blute das Kohlenoxyd dann noch nachzuweisen, wenn die einge-
athmete Luft es nur in einer Verdünnung von V20000 enthält. Da indessen
PdCl 2 auch durch Ammoniak, Schwefelwasserstoff, sowie gewisse Kohlenwasser¬
stoffe unter Bildung eines schwarzen Niederschlages zersetzt wird, so bedarf man
verschiedener hier nicht näher zu erörternder Correoturen, um ein einwandfreies
Resultat zu erzielen. Trotzdem wird diese Methode heutzutage wohl allgemein
für die empfindlichste gehalten 3 ).
Wenn wir nun zum Schlüsse nooh mit wenigen Worten in eine Kritik über
die Brauchbarkeit der verschiedenen Methoden eintreten, so muss man im Allge-
‘) L. c. S. 396.
2 ) Eulenberg, Gewerbehygiene. S. 350.
3 ) Sitzungsberichte der physiologisch medioinischen Gesellschaft Würzburg.
1888. S. 92.
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Die Kohlenoxydgasvergiftung und deren Verhütung.
345
meinen die Jäderholm’sche Ansioht*) wohl für die richtige ansehen: Als die
einfachste nnd nnr leicht zugängliche Hülfsmittel erfordernde, allerdings nicht
immer hinreichend genaue Probe kann die mit der offioinellen Natronlauge zum
allgemeinen Gebrauohe empfohlen werden. Dooh ist in forensisohen Fällen eine
Gontrole derselben durch die Spectraluntersuohung gleichzeitig öder später unter
den vorgeschriebenen Cautelen unter jeder Bedingung vorzunehmen. In
schwer zu entscheidenden Fällen kann man nooh verschiedene der anderen, als
besonders empfindlich gerühmten Blutproben ausführen, da sich aus der Mehr¬
zahl der nicht ganz deutlichen Reactionen in ihrer Gesammtheit dennoch ein
ziemlioh sicherer Schluss über die Gegenwart oder das Fehlen des Kohlenoxydes
im Blute ziehen lässt. Der Hauptvorzug der spectroskopischen Methode beruht
darin, dass sie exact ausgeführt, zu Irrthümern überhaupt keinen Anlass geben
kann, die bei den leider nioht immer ganz deutlichen Farbenreaotionen nioht aus¬
geschlossen sind. Leider besitzt sie aber nicht den gleiohen Grad der Empfind¬
lichkeit wie diese. Die Fodor’sohe Methode wird man wegen ihrer schweren
Ausführbarkeit zweckmässig wohl auf diejenigen Fälle beschränken, in denen
man die Gegenwart von Spuren Kohlenoxyd im Blute mit absoluter Sicherheit
aussohliessen will.
IX. Diagnose.
Die Diagnose der Kohlenoxyd Vergiftung kann aus den Krank¬
heitserscheinungen, dem Leichenbefunde, dem chemischen Nachweise
des Giftes und aus den das Sterben begleitenden Umständen gestellt
werden.
1. Was die Krankheitsersoheinungen betrifft, so sind dieselben in
der Regel für den Gerichtsarzt von nar untergeordneter Bedeutung. In vielen
Fällen fehlen sie gaoz, wenn der Vergiftete, was ja häufig genug vorkommt,
Morgens todt im Zimmer aufgefunden wird. In anderen Fällen bieten sie nichts
Besonderes und geben nicht selten Anlass zu Verwechselungen mit anderen
Krankheitszuständen, wie in der oben erwähnten Epidemie des Dr. Carret, die
offenbar eine Typhusepidemie war. Verwechseln kann man die Kohlenoxydver¬
giftung z. B. auch mit der aouten Alkoholintoxication, da sich bei beiden Verlust
des Bewusstseins und der Sinnesthätigkeit, sowie langsame stertoröse Athmung
und kaum fühlbarer Puls finden kann. Allein meist schützt der Geruch der
Athemluft nach den genossenen Getränken vor Irrthümern. Eine Verwechselung
mit Blausäure-, Cyankalium- oder Bittermandelölvergiftung, zu der die hell-
rothen Todtenflecke Veranlassung geben können, wird durch den Geruoh nach
bitteren Mandeln, sowie durch das spectroskopische Verhalten des Blutes, wel¬
ches bei letzterer Intoxication unverändert ist, leicht vermieden.
Was die chronische Vergiftung, sowie die Nachkrankheiten der
acuten anlangt, so können dieselben wegen der Unbestimmtheit der Symptome
*) L. o. S. 100.
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346 Dr. Becker,
wohl nur dann mit Sioherheit diagnosticirt werden, wenn die Materia peooans
bekannt ist.
2. Viel wichtiger ist für den Gerichtsarzt die Leicheneröffnung, bei
der es sich besonders am die Beschaffenheit and Vertheilang des Blates handelt.
Die hellrothe Farbe, die flüssige Beschaffenheit desselben, die hellrothen Todten-
flecken, der Blatreichtham der inneren Organe, zumal des Gehirns and der
Lange, sind, wenn auch keineswegs pathognomonisohe, so doch wichtige Zeichen,
welche dem Obdaoenten den Verdacht einer Kohlenoxyd Vergiftung nahe legen
müssen.
3. Der sichere Beweis derselben kann erst daroh den ehernisohen
Nachweis des Kohlenoxydhämoglobins im Blute erbracht werden, bei dem man
sich der oben geschilderten Methoden za bedienen hat. Dieselben müssen aber
sobald wie möglioh nach dem Tode vorgenommen werden, da das Kohlenoxyd
allmälig aas dem Blate wieder verschwindet, and alsdann der Beweis des Ver-
giftangstodes überhaupt nicht mehr erbracht werden kann.
Das Gas verschwindet (wie S. 341 gesagt) aas dem Blate einmal, wenn¬
gleich wahrscheinlich erst spät, sobald ein hoher Grad vonFäulniss an der Leiche
eingetreten ist; zweitens aber dann, wenn der Verstorbene aas der Koblenoxyd-
atmosphäre entfernt and nach einiger Zeit in der frischen Laft gestorben ist.
Das Kohlenoxyd wird dann' durch den mit der Athmang neu aufgenommenen
Sauerstoff allmälig wieder verdrängt und vielleicht aach wohl in Kohlensäure
übergeführt 1 ); neuerdings wird dies indessen von Gaglio 3 ) auf Grund seiner
unter Schmiedeberg’s Leitung aasgeführten Experimente entschieden in Ab¬
rede gestellt. Dabei ist folgende Thatsacbe von der allergrössten Wichtigkeit
Wenn der Nachweis des Kohlenoxydhämoglobins im Herzblute nicht mehr ge¬
lingt, so soll man niemals unterlassen, das Blot der Hirnsinus genaa za unter¬
suchen. In vielen Fällen wird dann die Probe positiv ausfallen, offenbar deshalb,
weil der Sauerstoff der Luft zu der ringsum abgeschlossenen Schädelkapsel nar
langsam Zutritt erlangt. In zweifelhaften Fällen kann man oft durch die Blut-
Untersuchung von Thieren, welche in demselben Raume starben, ohne vorher
noch lebend an die Luft gebracht zu sein, das Gift noch nachweisen, während
es aus dem Mensohenblute bereits wieder geschwunden ist.
4. Endlich sind, wie überhaupt bei der Mehrzahl der plötzlichen Todes¬
fälle, die äusseren Umstände, unter denen der Tod eiütrat, für die gerichts¬
ärztliche Diagnose von Werth. Dahin gehört der eigenthümliche Geruch naoh
Kohlendunst oder Leuchtgas, der indessen, wie wir oben auseinander gesetzt
haben, auch fehlen kann, eine vorsohlossene Ofenklappe, ein im Erlöschen be¬
griffenes Feuer im offenen Kohlenbecken, das Offenstehen des Gashahnes, ver¬
kohlte oder noch glimmende Balken in der Wand des Hauses, geplatzte Gas¬
rohre u. s. w., schriftliche Aufzeichnungen von Selbstmördern über ihre Absicht.
Indessen können alle diese Momente nur unterstützend wirken bei der Diagnosen-
stellung, das Hauptgewicht ist stets auf den chemischen Nachweis des Kohlen¬
oxydhämoglobins zu legen.
*) L. o. S. 358.
a ) L. o. S. 243.
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Die Kohlenoxydgasvergiftung and deren Verfaätnng.
347
Hiernach muss man die Diagnose der Kohlenoxydvergiftang mit Casper 1 )
dahin formaliren:
„Wenn in einem Falle von fraglioher Kohlenoiydvergiftung das verdünnte
Blut durch Reductionsmittel nicht redacirt wird, so kann man das Vorhandensein
einer Kohlenoxyd Vergiftung ausspreohen.“
„Wenn in einem Falle von fraglicher Kohlenoxydvergiftang, in welchem die
äusseren Umstände eine solche Vergiftung wahrscheinlich maohen, die Leichen¬
befunde einer solchen nicht widersprechen, der Zusatz von Schwefelammonium
zu der verdünnten Blutlösung aber eine Reduction hervorbringt, so muss man
erklären, dass die erhobenen Befunde eine Kohlendunstvergiftung zwar nicht
erweisen, aber auch nicht ausschliessen, dass vielmehr eine solobe möglich,
respective wahrscheinlich sei. Nach Lage des Falles kann man sich noch be¬
stimmter erklären. “
X. Prognose.
Die Prognose ist in allen, anch den leichtesten Fällen ernst,
besonders ungünstig aber dann zu stellen, wenn der Kranke längere
Zeit hindurch das Bewusstsein verloren und viel Kohlenoxyd einge-
athmet hatte. Indessen tritt bisweilen auch bei Vergiftungen schwer¬
sten Grades Genesung ein. Bezüglich der Dauer der Nachkrankheiten
lässt sich gewöhnlich keine bestimmte Voraussage machen.
XI. Therapie.
Je frühzeitiger die Behandlung eingeleitet wird, desto mehr
Aussicht auf Erfolg bietet sie. Der erste Act derselben muss selbst¬
verständlich die Entfernung des Vergifteten aus der gefährlichen
Atmosphäre sein, wodurch in den leichteren Fällen schon die Gefahr
beseitigt wird, weil durch Einathmung frischer Luft in dem Rest
normalen, noch nicht mit Kohlenoxyd imprägnirten Blutes ein mög¬
lichst lebhafter Gaswechsel angeregt wird. Ist der Kranke bewusst¬
los, und die Athmung behindert oder ganz aufgehoben, so muss die
künstliche Athmung eingeleitet und eventuell stundenlang energisch
fortgesetzt werden. Daneben empfiehlt es sich, Reizmittel aller Art
anzuwenden. Wenn trotz dieser Maassnahmen die bedrohlichen Sym¬
ptome nicht abnehmen, so käme als letztes Mittel die Transfusion in
Frage, ein Verfahren, das mehrfach eine lebensrettende Wirkung hatte,
‘) L. o. S. 603.
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348 Dr. Becker,
obgleich der Werth der Transfusion von anderer Seite 1 ) wieder sehr
in Frage gezogen wird.
Soweit ich die Literatur übersehe, sind indessen die Acten wie
über den Werth der Transfusion im Allgemeinen, so besonders auch
darüber noch nicht geschlossen, ob man natürlich nur bei den schwe¬
ren und schwersten Fällen der Kohlenoxydvergiftung die Transfusion
frischen, defibrinirten, menschlichen Blutes machen soll. Wäre die
Frage nach dem Werthe der Transfusion bejahend zu beantworten,
so würde sie bei der Kohlenoxydvergiftung besonders deshalb zu be¬
fürworten sein, weil man vor der Einspritzung des neuen eine Ent¬
fernung des durch Kohlenoxyd untauglich gewordenen Blutes durch
einen ausgiebigen Aderlass vornehmen könnte. Kühne’s 2 ) Thierver¬
suche scheinen dafür zu sprechen.
Praktisch wichtig ist, dass man an einer sterbenden oder ge¬
storbenen Gravida unter allen Umständen den Kaiserschnitt ausführen
muss, da in der Regel der Fötus vom Kohlenoxyd wenig beein¬
trächtigt wird und eventuell den Tod der Mutter eine Zeit lang über¬
lebt. Nur in den Fällen, wo sehr grosse Mengen des Giftes in kurzer
Zeit eingeathmet sind, wenn also die rothen Blutkörperchen der
Mutter das in das Blut aufgenommene Gift nicht vollständig zu binden
vermochten, wo also auch das Blutserum mit Kohlenoxyd geladen
war, hat man sowohl beim Menschen 3 ) als in Thierversuchen 4 )
Kohlenoxyd im Blute des Fötus nachzuweisen vermocht.
Die Behandlung der Nachkrankheiten richtet sich nach den all¬
gemeinen Grundsätzen der Therapie.
Es erhellt, dass die Behandlung im Wesentlichen nur eine sym¬
ptomatische ist; die Erfolge, welche sie erzielt, werden um so grösser
sein, je leichter die Vergiftung war; in den schwersten Fällen ist sie
so gut wie machtlos. Daraus ergiebt sich die zwingende Nothwendig-
keit, durch sorgfältige Prophylaxe, durch geeignete sanitätspolizei¬
liche Maassnahmen die Kohlenoxydvergiftung nach Möglichkeit zu
verhüten.
! ) Vergl. die Discussion über Leyden's Vortrag im Verein für innere
Medicin am 19. November 1888.
2 ) Kühne, Centralblatt für die medicinisohen Wissenschaften. 1864.
S. 134.
*) Lesser, 1. c. S. 143.
4 ) Dreser, 1. c.
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Die Kohlenoxydgasvergiftung und deren Verhütung.
349
XII. Sanitätspolixeiliche Maassregeln zur Verhütung der
Kohlenoxydvergiftung.
Bei der grossen Verbreitung des Kohlenoxydes, als eines wich¬
tigen Bestandtheiles des Kohlendunstes, Leucht- und Wassergases,
sowie der Minengase, bei dem so häufigen Vorkommen schwerer, nicht
selten tödtlicher Vergiftungen sowohl im häuslichen, wie industriellen
Betriebe und bei der leider oft völligen Fruchtlosigkeit unserer thera¬
peutischen Bestrebungen erscheint es zunächst durchaus erforderlich,
durch Belehrung des Publikums über die Giftigkeit des Gases
und die Gefahren, welche mit seiner Verwendung verknüpft sind,
durch Wort und Schrift segensreich zu wirken. Wie wenig indessen
man bislang die Unwissenheit und den Leichtsinn der Bevölkerung
wirksam zu bekämpfen vermocht hat, beweisen die fast täglich be¬
richteten, durch mangelhafte Heizanlagen oder fehlerhafte Handhabung
derselben hervorgerufenen Unfälle. Um so wünschenswerther erscheint
es daher, dass in den Schulen, zumal in Bürger- und Volksschulen,
durch Belehrung der Jugend ein Verständuiss für diese in volkswirt¬
schaftlicher Beziehung so wichtigen Fragen geweckt wird. Aber auch
hier sind wir noch in den ersten Anfängen.
Etwas günstiger gestalten sich die Verhältnisse dort, wo es sich
um Fabrikbetrieb handelt, wo vor Allem der Arbeitgeber auf¬
merksam gemacht werden kann auf das, was er seinen Arbeitern
schuldig ist, was ihm und seinem Geschäfte direct und indirect för¬
derlich ist. In industriellen, mechanischen und technischen Schulen
kann durch Ausbildung tüchtiger Techniker, in Gewerbe- und Arbeiter¬
bildungsvereinen, wie sie in fast allen grösseren Städten Deutsch¬
lands bestehen, durch Belehrung und Aufklärung sowohl der Arbeit¬
geber, wie der Arbeitenden, endlich durch die Errichtung von Ge¬
werbemuseen, welche in Modellen und dergl. den Industriebetrieb dem
Volke vor Augen führen, viel in dieser Richtung angestrebt und auch
erreicht werden. Hand in Hand damit müsste gehen, dass in Fabrik¬
localen gedruckte Anweisungen und Belehrungen über die Gefahren
des Betriebes und die Maassregeln zur Verhütung derselben ange¬
schlagen würden. Vor allen Dingen aber können durch die staat¬
liche Beaufsichtigung der Fabriken, wie sie bei uns besonders seit
dem Inslebentreten der Gewerbeordnungsnovelle vom 17. Juli 1878
Yierteljahrsschr. f. ger. Med. Dritte Folge. V. 2. 23
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350
Dr. Becker,
durch die Anstellung von Fabrikinspectoren, in Preussen mit dem
Titel Gewerberäthe, gehandhabt wird, die Gefahren der verschiedenen
Fabricationszweige wirksam eingeschränkt werden.
Wenden wir uns jetzt im Besonderen zu den Maassregeln,
durch welche man die Kohlendunstvergiftung zu bekämpfen ver¬
mag, so ist in erster Linie als erfreulicher Fortschritt das Verbot
der Ofenklappon zu verzeichnen, wie es z. B. in der polizeilichen
Verordnung für Berlin vom 29. November 1879, für das Königreich
Bayern durch die Bauordnung vom 30. August 1877. im Herzogthum
Anhalt durch die Polizeiverordnung vom 16. Januar 1888 ausge¬
sprochen ist. Die Ofenklappen werden jetzt fast überall durch Zug-
regulirvorrichtungen ersetzt, welche es gestatten, nach Bedarf den
Querschnitt der luftzuführenden Wege gross oder klein zu machen.
Bei richtiger Handhabung derselben ist ein Ausströmen der Heizgase
in das Zimmer unmöglich.
Den unter gewissen Bedingungen sich einstellenden „niedergehen¬
den Zug“ (S. 118 und 119) in den Füllöfen, kann man leicht da¬
durch beseitigen, dass man, sobald bei steigender Lufttemperatur ein
Nachlassen des Feuers sich einstellt, dasselbe durch Vorgrösserung
der Zugöffnungen unterhalb des Feuers verstärkt. Da nun aber beim
Vorhandensein von mehreren Stockwerken gemeinsamen Kaminen
Ofengase auch aus dem nicht geheizten Ofen in den Wohnraum aus¬
treten können (S. 118), so empfiehlt es sich, während der Nacht
Thüren und Zugregulirvorrichtungen an den Oefen geschlossen zu
halten unter der Voraussetzung, dass kein Feuer unterhalten wird.
Im Uebrigen besteht selbst im Falle des Ausströmens von Heizgasen
eine Gefahr nicht, wenn in dem Schlafzimmer selbst oder in dem
benachbarten Wohnraume ein Fenster über Nacht wenig geöffnet
bleibt 1 ).
Selbstverständlich verlangen alle Heizapparate, Oefen sowohl wie
Centralheizungen, ein wachsames Auge für ihre Reinhaltung und
zwar nicht allein hinsichtlich der von Zeit zu Zeit nöthigen Entfer¬
nung von Russablagerungen in den Zügen, Rauchrohren und Schorn¬
steinen, sondern auch bezüglich der Niederschläge von Staub und
Schmutz auf den Heizflächen, weil durch das Erhitzen derselben ein
brenzlicher Geruch im Zimmer entsteht. So können z. B. bei unvor¬
sichtiger Beschickung der Meidingeröfen Kohlen zwischen die der Ver-
') Meidinger, 1. c. S. 329.
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Die Kohlenoxydg&svergiftung and deren Verhütung.
351
mehruDg der Heizfläche dienenden vertikalen, eisernen Rippen fallen,
durch deren langsame Verbrennung sich sehr lästige Heizgase zu ent¬
wickeln pflegen.
Auch müssen die im Laufe der Zeit stets undicht werdenden
zahlreichen Fugen, zumal an Kachelöfen und vor Allem die Verbin¬
dung des Rauchrohres mit dem Kamine, deren häufig schadhafte Ver¬
kittung durch einen darüber gelegten Messingring der Beobachtung
entzogen wird, von Zeit zu Zeit ausgebessert werden. Kurz es muss
in Anlage und Betrieb einer jeden Heizvorrichtung stets die nöthige
Sorgfalt und Vorsicht aufgeboten werden.
Den Gefahren, welche die Verwendung von Carbon-Natron¬
öfen in sich birgt, ist infolge des Circularerlasses des Königlich
preussischen Ministeriums des Innern vom 2. October 1888 bereits
gebührend in den Bekanntmachungen des Königl. Polizeipräsidenten
von Berlin vom 19. October 1888, der Königl. Regierungspräsidenten
von Oppeln und Breslau vom 23. October 1888 und von Erfurt vom
30. October 1888 Rechnung getragen und öffentlich vor der Verwen¬
dung derselben zur Beheizung von geschlossenen Räumen, welche zum
dauernden Aufenthalte für Menschen dienen, insbesondere von Schlaf¬
zimmern, gewarnt worden.
Ebenso können Kohlendunstvergiftungen durch offene Kohlen¬
becken leicht vermieden werden, wenn dieselben nicht in geschlossenen
Räumen verwendet werden; verborgene Balkenbrände in den Wän¬
den der Wohnungen müssen durch geeignete baupolizeiliche Maass-
nahmen verhütet werden. So schroibt die Baupolizeiordnung für den
Stadtkreis Berlin vom 15. Januar 1887 vor, dass unter Feuerherden
die Fussböden und Decken aus durchweg unverbrennlichem Materiale
bestehen müssen, und dass der Rauch durch feuerfeste Rohre in die
Schornsteine geleitet werden muss, welche, falls sie nicht ummantelt
sind, vom freien Holzwerk 100, vom verputzten wenigstens 50 cm
entfernt sein müssen.
Die in den verschiedensten industriellen Betrieben, vor Allem
beim Hochofenprocesse, entstehenden kohlenoxydhaltigen Gasgemische
werden zweckmässig unter geeigneten Sicherheitsraaassregeln in be¬
sonderen Ableitungsrohren unter den Rost der Feuerung geleitet, wo
sie als Brennmaterial eine passende Verwendung finden.
„Das einzige wirksame Mittel gegen schlagende Wetter
und die durch sie veranlassten Explosionen ist“ — nach
Mittheilung der Gruben - Verwaltung in Waldenburg in Schle-
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352
Dr. Becker,
sien 1 ) — „nur eine gute Ventilation, durch welche die aus den
Spalten der Kohle sich entwickelnden Gase von dem Luftstrome be¬
ständig fortgeführt werden.“ In welcher Weise dies erreicht werden
kann, ist eine rein technische Frage, deren Erörterung nicht in den
Rahmen dieser Arbeit gehört.
Gehen wir nunmehr zu den Maassregeln über, welche eine Ver¬
giftung durch Leuchtgas zu verhüten geeignet sind, so wäre es ge¬
wiss das Wünschenswertheste, wenn man den Kohlenoxydgehalt des¬
selben verringern könnte. Da diese Aufgabe indessen bislang von
der Technik noch nicht gelöst ist, so muss man die Gefahren auf
andere Weise zu beseitigen suchen. Es muss deshalb zunächst die
Darstellung in den Gasanstalten durch entsprechende Vorschriften
möglichst gefahrlos gestaltet werden. Wichtiger ist indessen die Pro¬
phylaxe des Rohrbruches. Die Leitung des Gases erfolgt in
schmiedeeisernen Röhren, die dort, wo sie an einander gefügt sind,
möglichst fest und dicht verstopft sein müssen; die Vereinigung darf
nur mittelst Muffen, nie durch Flanschen hergestellt sein, weil durch
Temperaturwechsel ein Ausdehnen und Zusammenziehen des Metalls
stattfindet und dadurch undichte Stellen entstehen. Wo die Rohre
in Sand gelegt werden müssen, ist ein Einbetten derselben in Thon
oder Lehm 2 ) sehr wünschenswerth, wodurch eine etwaige Verbreitung
des entströmenden Gases in weitere Umgebung wenigstens etwas ver¬
mindert werden kann. Das wirksamste Mittel zur Verhütung der
Gasrohrbrüche, das aber wohl stets auf die grössten Schwierigkeiten
in der Durchführung stossen wird, würde wohl eine grossmöglichste
Einschränkung der fast unaufhörlichen Erdarbeiten sein, welche das
Legen von ausgedehnten Gas- und Wasserleitungs- und Canalisations-
netzen in den grösseren Städten erforderlich macht. Jedenfalls ist es
aber eine berechtigte Forderung der öffentlichen Gesundheitspflege,
dass dieselben unter allen technischen Vorsichtsmaassregeln ausge¬
führt werden müssen.
Durch alle diese Vorkehrungen wird man zwar den Bruch der
Gasleitungsröhren nicht völlig verhüten, aber sicherlich erheblich ein¬
schränken können. Ist derselbe trotzdem erfolgt, so kann er durch
sinnreich construirte Apparate leicht erkannt werden. Dr. Böhm*)
') Poleck, 1. o. S. 1.
2 ) Eulenberg, Gewerbebygiene. S. 601.
3 ) Coglievina, 1. c. S. 395.
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Die Kohlenoxydgasvergiftung and deren Verhütung.
353
in Wien hat wohl zuerst an eine systematische Ueberwachung des
ganzen unterirdischen Gasrohrnetzes gedacht, als er den Vorschlag
machte, das Gasrohr in seiner ganzen Ausdehnung in ein zweites
Rohr zu legen, welch’ letzteres an bestimmten Stellen nach aufwärts
gerichtete Rohrstutzen erhalten sollte. Diese Idee dürfte wohl wegen
der enormen Dimensionen der nöthigen Rohrleitungen und Umhül¬
lungsrohre praktisch nicht ausführbar sein, ganz abgesehen davon,
dass das Aussenrohr gerade so gut platzen und dadurch die ganze
Anlage illusorisch machen kann.
Sehr sinnreich ist der von Baurath C. Schmidt 1 ) in Breslau
construirte Undichtigkeitsprüfer für Strassengasleitungen in Ver¬
bindung mit Erd Ventilation. Derselbe besteht aus einem eisernen,
cylindrischen, unten trichterartig erweiterten, offenen Rohre mit schlitz¬
artigen Seitenöffnungen, welches senkrecht in den Erdboden eingesetzt
wird. Das obere Ende dieses Rohres mündet in einen dicht unter der
Erdoberfläche befindlichen Behälter, dessen Deckel durch einen Bügel¬
schraubenverschluss luftdicht verschlossen werden kann. Sobald nun
in der Nähe dieses Apparates ein Rohrbruch stattgefunden hat, so
dringt das Gas durch die Seitenschlitze in den Undichtigkeitsprüfer
und kann in dessen Behälter durch den Geruch, durch Anzünden oder
Palladiumchlorürpapier nachgewiesen werden. Aus diesem Behälter
wird das Gas durch ein horizontal unter dem Boden verlaufendes
Seitenrohr zur nächsten Strassenlaterne geleitet und dort wie in einem
Schornsteine in höhere Luftschichten abgeführt. Coglievina 2 ) schlägt
statt dessen vor, das Ableitungsrohr bis zur Frontmauei des nächsten
Gebäudes zu leiten und dort in einer unter Verschluss befindlichen
Nische in einem mit Palladiumchlorürpapier beschickten Behälter
münden zu lassen. Die Stadtbehörde kann dann den patrouillirenden
Schutzmann oder den Hausbesitzer anhalten, mehrmals täglich die
Farbe des Reagenspapieres zu eontrolliren. Ob bereits praktische Er¬
fahrungen über diese Apparate vorliegen, habe ich aus der mir zu¬
gängigen Literatur nicht ersehen können; auch ist mir keine Stadt
bekannt, in der dieselben ausgedehnte Verwendung gefunden hätten.
Meist veranlasst der 10 pCt., selbst 20 pCt. betragende Gasverlust oder
der dem Strassenpflaster entströmende Gasgeruch die Gasanstalten zur
») L. c. S. 13.
2 ; L. o. S. 402.
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354 Dr. Beoker,
zeitweisen Revision der Leitangen, ohne dass eine dauernde Gontrolle
derselben stattfindet.
Wird also ein Rohrbruch vermuthet, so muss unverzüglich das
Strassenpflaster aufgegraben und nach der undichten Stelle gesucht
werden. Ist sie gefunden, was unter Umständen länger als 24 Stun¬
den dauern kann, so wird das schadhafte Rohr durch ein neues er¬
setzt. Dass ein einfaches Dichten des Sprunges nicht ausreicht, be¬
weist ein von Pettenkofer l ) erzählter Fall, wo zwei Menschen da¬
durch ihren Tod fanden, dass auch nach dem Verstopfen des ge¬
brochenen Gasrohres das in der Grundluft des Strassenkörpers noch
vorhandene Leuchtgas in die geheizte Wohnung aspirirt wurde. Gs
empfiehlt daher Pettenkofer 2 ), gestützt auf Erfahrung und Experi¬
ment, noch ehe man an das Aufgraben und das Suchen nach der
undichten Stelle geht, in den nächstgelegenen Häusern die Fenster in
Kellern und Erdgeschoss Wohnungen ganz oder theilweise zu öffnen
und offen zu halten, bis der Leck wieder gedichtet oder wenigstens
die grössere Menge des ausgeströmten Leuchtgases wieder aus dem
Boden verschwunden ist. Nur wo die Häuser bis zur Kellertiefe durch
einen nach oben offenen Luftschacht vom Strassenkörper getrennt
sind, kann diese Vorsichtsmaassregel überflüssig sein. Dies ist ein
höchst einfaches Mittel, das, rechtzeitig angewandt, viel Unglück ver¬
hüten kann.
Dem Ausströmen des Leuchtgases in den Wohnungen selbst kann
man dadurch zweckmässig begegnen, dass man den Bewohnern eine
sorgfältige Ueberwachung der Hähne, Leitungsrohre «md des Gas¬
messers zur Pflicht macht; auch ist es angerathen, dass in Privat¬
wohnungen, wo gemeiniglich eine Gasbeleuchtung über Nacht nicht
erforderlich ist, der Haupthahn Abends abgestellt wird.
Bezüglich des Wassergases und Dowsongases sind specielle
sanitätspolizeiliche Vorschriften bislang noch nicht erfolgt. Der hohe
Kohlenoxyd geh alt desselben lässt Hartmann’s Warnung auf dem
VI. Hygienecongress als durchaus berechtigt erscheinen: er hält es näm¬
lich zur Beleuchtung bewohnter Räume für unzulässig und gestattet es
in der Industrie zu Heiz- und Feuerungsanlagen nur unter Anwendung
besonderer Vorsichtsmaasregeln. Im gleichen Sinne spricht sich Lunge 3 )
') L. o. S. 20.
2 ) L. c. S. 21.
3 ) L. c. Heft 16.
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Die Kohlehoxydgasvergiftung and deren Verhütung.
355
aus. Auch von Seiten des Bundesrathes der schweizerischen Eidge¬
nossenschaft (13. Juli 1888) sowie in Preussen von Seiten der Herren
Minister der geistlichen pp. Angelegenheiten und für Handel und Ge¬
werbe (25. Mai 1889) sind bereits die nöthigon Schritte gethan, um
Maassnahmen zum Schutz gegen die gesundheitsschädlichen Wirkungen
des Wasser- und Halbwassergases zu ergreifen. Die in dieser Hin¬
sicht gemachten Vorschläge beziehen sich besonders auf strenge Con-
trolle industrieller Anlagen, event. Herabminderung des Kohlenoxyd¬
gehaltes durch Wasserdampf, Anbringung von Gascontrolleuren oder
ähnlicher Vorrichtungen, welche das etwaige Entweichen des Wasser¬
gases in bewohnte Räume augenscheinlich machen sollen, Beimischung
stark riechender Körper zum Wassergase etc. Eine allgemeine Rege¬
lung der Erzeugung und Verwendung des Wassergases für das deutsche
Reich ist meines Wissens bislang aber noch nicht erfolgt.
Zur Verhütung der Minenkrankheit hat man zahlreiche Schutz¬
mittel vorgeschlagen. Zumal hat man andere Sprengmittel empfohlen
mit Rücksicht darauf, dass ein kohleärmeres Pulver auch weniger
Kohlenoxyd liefert; statt des Pulvers hat man auch Nitroglycerin
oder ein Gemenge von Schiessbaumwolle mit chlorsaurem Kali
empfohlen. Das sicherste Mittel bleibt indessen immer eine schleu¬
nige Entfernung der Gase aus den Minen durch grosse, mittelst
Wasser- oder Dampfkraft getriebene Ventilatoren.
Literatur.
1) Alberti, Deutsche Zeitschrift für Chirurgie. 20. Bd. S. 476. 1884.
2) A protest against the use of watorgas or gas contaiDing more tban ten per
cent of carbonic oxide in Massachusetts. Boston 1888.
3) Becker, Ueber Nachbrankheitcn der Kohlenoxydvergiftung etc. Deutsche
med. Wochenschrift. 1889. No. 26—28.
4) Biefel und Poleck, Ueber Kohlendunst und Leuchtgasvergiftung. Zeit¬
schrift für Biologie. XVI. Bd. S. 279. 1880.
5) Blumenstock, Kohlenoxydvergiftung in Eulenburg’s Realencyclopiidic der
gesammten Heilkunde. Wien 1881. VII. Bd. S. 533.
6) Böhm, Intoxication durch Kohlenoxyd in Ziemssen’s Handbuch der spe-
oiellen Pathologie und Therapie. Leipzig 1876. XV. Bd. S. 157.
7) Casper-Liman, Handbuch der gerichtlichen Medicin. 7 Aufl. Berlin 1882.
8) Coglievina, Ueber Undichtheiten im Strassengasrobrnetze und die Mittel zu
deren Abhülfe. Gesundheits-Ingenieur. 1887. S. 394.
9) Cramer, Anatomischer Befund im Gehirn bei einer Kohlenoxydvergiftung.
Centralblatt für allgemeine Pathologie und pathologische Anatomie. 1891.
No. 13. S. 545.
10) Eulenborg, Handbach der Gewerbehygiene. Berlin 1876.
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356
Dr. Beoker,
11) Eulenberg, Handbuch des öffentlichen Gesundheitswesens. Berlin 1881.
12) Derselbe, Ueber die Diagnose der Kohlenoxidvergiftung. Berliner klinische
Wochenschrift. III. Bd. S. 231. 1866.
13) Dreser, Zur Toxicologie des Kohlenoxyds. Archiv für experimentelle Patho¬
logie und Pharmacologie. XXIX. Bd. S. 119. 1891.
14) Falk, Zur Casuistik der Kohlenoxydvergiftungen. Diese Vierteljahrsschrift.
October 1891. S. 260 ff.
15) Flügge, Lehrbuch der hygienischen Untersuchungsmethoden. Leipzig 1881.
S. 150.
16) Derselbe, Grundriss der Hygiene. Leipzig 1889.
17) Fodor, Das Kohlenoxyd in seinen Beziehungen zur Gesundheit. Deutsche
Vierteljahrsschrift für öffentliche Gesundheitspflege. XII. Bd. S. 377. 1880.
18) Friedberg, Die Vergiftung durch Kohlendunst. Berlin 1866.
19) Gaglio, Ueber die Unveränderlichkeit des Kohlenoxyds und der Oxalsäure
im thierischen Organismus. Archiv für experimentelle Pathologie u. Phar¬
macologie. XXII. Bd. S. 243. 1887.
20) Geppert, Kohlenoxydvergiftung und Erstickung. Deutsche med. Woebensohr.
1892. S. 418.
21) Greiff, Ueber Kohlenoxydvergiftung bei Theerdestillation. Diese Vierteljahrs¬
schrift. Bd. 52. S. 359. 1890.
22) Gr über, Ueber den Nachweis und die Giftigkeit des Kohlenoxyds und sein
Vorkommen in Wohnräumen. Archiv für Hygiene. I. Bd. S. 146. 1883.
23) Hartmann’s Referat auf dem VI. internationalen Gongress für Hygiene.
Wien 1887.
24) Hirt, Kohlenoxydvergiftung in Pettenkofer’s und Ziemssen’s Handbuch
der Hygiene und Gewerbekrankheiten. Leipzig 1882. III. Aufl. II. TheiL
4. Abth. S. 34.
25) Hoppe-Seyler, Ueber die optischen und chemischen Eigenschaften des Blut¬
farbstoffes. Centralblatt f. d. medicinischen Wissenschaften. 1864. No. 52.
5. 817.
26) Hünefeld, Die Blutprobe vor Gericht. Leipzig 1875.
27) Itzigsohn, Virchow’s Archiv. 14. Bd. S. 190. 1858.
28) Jäderholm, Die gerichtlich-medioinische Diagnose der Kohlenoxydvergiftung.
Berlin 1876.
29) Klebs, Virchow’s Archiv. 32. Bd. 1865.
30) Kühne, Verfahren bei Kohlenoxydvergiftung. Centralblatt für die medici¬
nischen Wissenschaften. Jahrg. 1864. S. 134.
31) Kuniyosi Katayama, Ueber eine neue Blutprobe bei Kohlenoxydvergiftung.
Virchow’s Archiv. Bd. 114. S. 57. 1888.
32) Kunkel, Ueber Kohlenoxydvergiftung und Nachweis. Sitzungsbericht der
physik. med. Gesellschaft. Würzburg 1888.
33) Lesser, Atlas der gerichtlichen Medicin. Erste Abtheilung.
34) Leudet, Arch. gönir. de m6deo. VI. sörie, tome 5, p. 516. Paris 1865.
35) Litten, Deutsche med. Wochenschrift. 1889. No. 5. S. 83.
36) Lunge, Ueber die bei der Verwendung des Wassergases zu industriellen
Zwecken erforderlichen Vorsichtsmaassregeln. Separat-Abdruok aus der Zeit¬
schrift für angewandte Chemie. Jahrgang 1888 Heft 16.
37) Derselbe, Ueber die mit der Anwendung des Wassergases verbundenen Ge¬
fahren. Ebenda 1888. Heft 23.
38) Maschka, Prager medic. Wochenschrift. 1880. V. Bd. No. 5—6.
39) Meidinger, Gefahren des Füllofen-Feuerns über Nacht. Gesundheits-Inge¬
nieur. 1888. S. 320.
40) Pettenkofer, Ueber Vergiftung mit Leuchtgas -Nord und Süd“. Januar
1884.
41) Petri, Deutsche Medicinalzeitung. 1888. S. 1078.
42) Pfeiffer, Industrieblätter. 1888. S. 345.
43) Poelchen, Virchow’s Archiv. Bi. 112. S. 26. 1888.
44) Derselbe, Berliner klinische Wochenschrift. 1882. S. 397.
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UNIVERSUM OF IOWA
Die Kohlenoxydgasvergiftung and deren Verhütung.
357
45) Pokrow9ky, Virchow’s Archiv. 30. Bd. 1864.
46) Poleok, Ueber die Zusammensetzung von Grubengasen, schlagenden Wet¬
tern etc. Separat-Abdruck aus dem 60. Jahresberichte der schlesischen Ge¬
sellschaft für vaterländische Cultur in Breslau. 1883.
47) Rübner, Eine Reaction des Kohlenoxydblutes. Archiv für Hygiene. X. Bd.
S. 397. 1890.
48) Schiller, Experimentelle Untersuchungen über die Wirkung des Wassergases
auf den thierischen Organismus. Leipzig 1888.
49) Schmidt, Undichtigkeitsprüfer für Strassengasleitungen. Breslau 1886.
50) Schwerin, Ueber nervöse Nachkrankheiten der Kohlendunstvergiftuog. Berl.
klin. Wochenschrift. 1891. S. 1089.
51) Sedgwick and Nichols, A study of the relative poisonous effects of coal-
and watergas. Departm. of health. Juli 1885.
52) Seidel, Vergiftung mit Kohlenoxyd in Maschka’s Handbuch der gericht¬
lichen Medicin. Tübingen 1882. II. Bd. S. 338.
53) Siebenhaar und Lehmann, Die Kohleudunstvergiftung. Dresden 1858.
54) Simon, Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten. I. Bd. S. 263.
55) Soyka, „Gase“ in Eulenburg’s Realencyclopädie. V. Bd. S. 501.
56) Welitschkowsky, Experimentelle Untersuchungen über die Verbreitung
des Leuchtgases und Kohlenoxyds im Erdboden. Archiv für Hygiene. I. Bd.
S. 210.
57) Weyl und Anrep, Ueber Kohlenoxydhämoglobin. Archiv für Physiologie
von Du Bois Reymond. 1880. S. 227.
58) Wolffhügel, Kohlenoxyd und gusseiserne Oefen. Zeitschrift für Biologie.
XIV. Bd. S. 506. 1878.
Anmerkung bei der Correctur. Da die Arbeit bereits im April 1892
der Redaction zugeschiokt wurde, so konnten die später erschienenen Arbeiten
bei der Drucklegung aus äusseren Gründen nicht berücksichtigt werden.
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Die Knikheitei der Arbeiter ia Theer- aad Parafftafabrikea
ia aiediciaiseh-paliseilicher Hiasicht.
Von
Dr. med. Hoffmnnn,
Kreiswundarzt in Halle a. S.
Um beurtheilen zu können, von welchen Krankheiten die Ar¬
beiter in Theer- und Paratfinfabriken am leichtesten befallen
werden und welchen Unfällon sie am ehesten ausgesetzt sind, und
um zu wissen, in wie weit sich durch Aufstellen gewisser Vorschriften
und Befolgen derselben diese Uebel ganz oder theilweise vermeiden
lassen, ist es nöthig, zuerst den Betrieb in genannten Fabriken kennen
zu lernen.
Der Hauptsitz dieses Industriezweiges in Deutschland ist die
Provinz Sachsen oder noch genauer der Regierungsbezirk Merseburg.
Hauptsächlich die Umgegend dreier Städte dieses Regierungsbezirks
hat für die Theer- und Paraffingewinnung Bedeutung: es sind dies
Halle an der Saale, Weissenfels und Zeitz.
Bei der nun folgenden Schilderung der Theer- und Paraffinfabri¬
kation folge ich theils der Arbeit von L. Grotowsky 1 ), theils
meinen Beobachtungen, die ich bei Besuchen solcher Fabriken ge¬
sammelt habe.
Ich habe die Schweelereien und Mineralölfabriken in der näheren
und weiteren Umgebung von Halle und Weissenfels besichtigt, und
*) Grotowsky: Der derzeitige Stand der Paraffin- und Mineraiölgewin-
nung in der Provinz Sachsen. Zeitschrift für das Berg-, Hütten- und S t alinen-
wesen im preussischen Staate, herausgegeben im Ministerium für Handel,Ge¬
werbe und öffentliche Arbeiten. 1876. S. 351—401. \
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Die Kraukheiten der Arbeiter in Theer- and Paraffinfabriken.
359
ist mir überall nicht nur der Besuch gern gestattet, sondern auch
jede wünschenswerthe Auskunft bereitwilligst ertheilt worden, wodurch
ich mich zu aufrichtigem Danke verpflichtet fühle.
Das Rohmaterial, welches zur Gewinnung des Theeres dient, ist
die Braunkohle und zwar zeichnet sich die zur Theerfabrikation am
besten geeignete Kohle durch eine hellere, braungelbe, mitunter sogar
hellgelbe Farbe aus. Bemerkt sei nebenbei, dass allerdings nicht
immer die hellere Kohle die paraffinreiche ist.
Diese Kohle nun wird im grubenfeuchten Zustande dem soge¬
nannten Schweelprocess, einer trockenen Destillation, unterworfen.
Wir haben augenblicklich zwei Methoden, nach welchen geschweelt wird.
Die ältere, nar noch in schon länger bestehenden Fabriken befindliche Ein¬
richtung, ist das Schweelen mit liegenden Retorten, in neueren oder u'mgebauten
Fabriken wird nur noch mit stehenden Retorten geschweelt.
Zunächst das Schweelen mit liegenden Retorten:
Diese Retorten sind vielleicht 2 bis 3 m lange, ungefähr 30 cm hohe und
circa 60—70 cm breite, im Querschnitte elliptische gusseiserne Röhren und sind
so eingemauert, dass immer zwei und zwei eine gemeinsame Feuerung haben,
und zwar werden die Retorten von den Feuerzögen umgeben.
In diese Retorten wird nun die zum Schweelen bestimmte Kohle mittels
breiter Schau fei' gebraoht; die Kohle muss den Boden der Retorte mit einer gleich-
massigen, vielleicht 10 cm hohen Sohioht bedecken.
Die vordere Oeffnung der Retorte wird durch einen eisernen Deckel oder
durch eine eiserne Thür geschlossen.
Sobald die Retorte die nöthige Hitze erlangt hat, entwickeln sioh aus der
eingescblossenen Schweelkohle Gase, welohe durch ein an der hinteren Seite der
Retorte und nicht zu nahe am Boden derselben angebrachtes Abzugsrohr ent¬
weichen. Die Abzugscanäle münden in ein gemeinsames Sammelrohr, hier ver¬
dichten sioh bereits einigo der Gase, die anderen gehen weiter durch ein System
von vielen liegenden und stehenden Köhren (liegende und stehende Gondensation),
welche sich ausserhalb der Gebäude befinden. Dadurch, dass die Gase durch
diese grosse Zahl von Röhren streichen müssen, werden sie immer mehr abge-
kühit, und es erfolgen immer mehr Niederschläge. Die uncondensirbaren Gase
verlassen die Gondensationsapparate und gehen durch das letzte Rohr der Con-
densation, welches höher ist als die vorhergehenden, frei in die Atmosphäre.
Die vorhin erwähnten Niederschläge werden entweder als Theerwasser
durch die am Boden der Gondensation befindlichen Hähne abgelassen oder wer¬
den als Theer, welcher specifisch leichter ist als Wasser, in ein Sammelbassin
geleitet.
Ist nun in einer liegenden Retorte der Schweelprocess beendet, was viel¬
leicht 6—8 Stunden in Anspruch nimmt, so wird der Rückstand der Schweel¬
kohle, der sogenannte Koks, aus der Retorte entfernt. Dies geschieht mit eisernen
Krücken, nachdem vorher der Abzugscanal für die Gase durch eine Sperrvor-
richtung geschlossen ist. Würde diese Sperrvorrichtung nicht geschlossen, so
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360
Dr. Hoffmann,
könnte leicht die atmosphärische Loft, welche iD die geöffnete Retorte Zutritt hat,
durch diese hindurch gehen in das Sammelrohr und dort mit den daselbst vor¬
handenen Gasen ein explosives Gomenge bilden und so eine Explosion verur¬
sachen, die natürlich für das ganze Gebäude höohst gefahrbringend werden
könnte.
Das Herausbefördern des Koks aus den Retorten ist eine sehr mühselige
und auch gefährliche Arbeit: der Koks ist glühend, und beim Hinzutritt der atmo¬
sphärischen Luft schlägt oft eine Flammensäule empor.
Der Koks wird dann in zum Theil mit Wasser gefüllte, ausgemauerte Gruben
gefahren und dort „gelöscht“. Auf diese Löschgruben werden wir später noch
näher eingehen.
Weit einfacher im Betriebe, wenn auoh vielleicht schwerer zu beschreiben,
ist das Schweelen mit stehenden Retorten, den sogenannten Cylindern, welches
jetzt fast allgemein üblich ist, nur in zwei Schweelereien habe ioh noch liegende
Retorten gefunden.
Wir haben hier stehende Cylinder aus Gusseisen oder auoh aus Chamotte-
steinen von vielleicht 5 m Höhe. Der Durchmesser der Cylinder wird durchweg
noch nach dem alten Maass, nach Fuss, angegeben, und man schweelt haupt¬
sächlich in vier- und in fünffüssigen Cylindern d. h. also in Cylindern von vier
und von fünf Fuss Durchmesser.
In dem Innern der Cylinder befinden sich Ringe, deren Zahl Grotowsky l )
auf 30 für jeden einzelnen Cylinder angiebt. Jeder dieser Ringe bat eine unge¬
fähre Höhe von 12 oder 15 cm. Die Ringe sind glockenförmig, d. h. ihr oberer
Durchmesser ist kleiner als der mittlere, und dieser wieder kleiner als der untere;
deshalb werden sie auch Glocken genannt. Diese Glocken liegen nun dachförmig
oder jalousieartig über einander und werden im Mittelpunkte von einer duroh
alle Glocken hindurch gehenden, eisernen Stange getragen. Da der Mittelpunkt
jeder Glocke im Mittelpunkte des stehenden Cylinders liegt, und da weiter der
grösste Durchmesser jeder Glooke um vielleicht 20 bis 24 cm hinter dem Duroh¬
messer des Cylinders zurüokbleibt, so entsteht rings um die Glocken ein freier
Raum, der also zwischen den Glocken und der Cylinderwandung sich befindet,
der Schweelraum. Im Inneren der Glocken ist ein zweiter Raum, der oben durch
den Glockenhut, welcher die Glocken bedeokt, abgeschlossen ist. Der Cylinder
endet unten in einen Conus, an diesen Conus schliesst sich nach unten ein cylin-
drischer Kasten, der vom Conus durch einen Schieber getrennt ist. Ein zweiter
Schieber schliesst diesen Kasten naoh unten ab, so dass also der Kasten sich
zwischen zwei Schiebern befindet.
Die Cylinder sind ebenfalls eingemauert, nur ein Theil des Conus und der
ganze Kasten sind frei und zugänglich. Der unterste Schieber ist vielleicht kaum
ein Meter vom Erdboden entfernt.
Mehrere Cylinder befinden sioh in einem Hause, und zwar ist die Einrich¬
tung so: Die Cylinder sind annähernd in der Mitte des Hauses eingemauert. Auf
der einen Seite der Mauer ist der Raum für die Feuerung. Die Feuerzüge um¬
geben den Cylinder von allen Seiten und steigen an ihm in die Höhe. Auf der
') Grotowsky, 1. c. S. 364.
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Die Krankheiten der Arbeiter in Theer- und Paraffinfabriken.
3G1
anderen Seite der Mauer ist der Zugang za dem anteren Ende des Cylinders,
dem oben erwähnten Kasten. Aaf dieser Seite befinden sich aach, am das vor*
weg za nehmen, die Abzugsrohre für die Gase.
Das obere Ende des Cylinders steht in gleicher Höhe mit der Decke, welche
das Haus in zwei Etagen theilt. Die obere Etage heisst der Scbweelboden.
Soll nun ein solcher Cylinder in Betrieb gesetzt werden, so wird, nachdem
beide Schieber geschlossen sind, der Conus mit Koks gefüllt, ebenso die unterste
Partie des Sohweelraums. In den mittleren Theil des Schweelraums wird ein
Gemisch von Koks und Kohle zu gleichen Theilen und in den obersten Abschnitt
Kohle gebracht.
Das Füllen des Schweelraums geschieht einfach durch Hineinschütten der
betreffenden Massen vom Scbweelboden aus. Da die Glocken dachförmig über¬
einander liegen und nach oben durch den Glockenhut abgeschlossen sind, so
kann natürlich keine Kohle in das Innere der Glocken gelangen. Das obere Ende
des Cylinders wird mit einem Kohlenhaufen bedeckt. Auch hier beginnt die Ver¬
gasung, so bald die Cylinder die nöthige Bitze haben.
Um ein Bild von der Wärme im Innern der Cylinder zu erhalten, sei hier
bemerkt, dass die aus dem Cylinder abziehenden Gase dicht am Cylinder ge¬
messen eine Temperatur von + 180° bis 250° C. zeigen, wie ich z. B. in der
Scbweelerei Nietleben zu sehen Gelegenheit hatte.
Wir können im Cylinder drei Zonen unterscheiden: im oberen Drittel findet
fast nur Wasserentziehung statt, im mittleren Drittel wird der Schweelprocess
eingeleitet und im unteren Drittel vollendet; deshalb muss auch beim Beginn
des Betriebes das untere Drittel des Cylinders mit Koks gefüllt werden.
Die Gase ziehen zwischen den einzelnen Glocken hindurch in den Innen¬
raum der Glocken. Von hier werden sie durch zwei Abzugsrohre weitergeführt,
das eine Abzugsrohr verlässt dicht über dem Conus den Cylinder, während das
zweite höher oder ganz am oberen Ende angebracht ist. Die Gase gehen nun in
das Sammelrohr, von da durch die Condensation, und verdichten sich zu Theer
und Wasser oder, verlassen den Condensationsapparat als uncondensirbare Gase,
ganz ebenso wie beim Schweelen mit liegenden Retorten. Der Austritt der Gase
aus dem Sammelrohre wird dadurch erleichtert, dass ein zwischen Sammelrohr
und Condensation eingeschalteter Exhaustor die Gase aus dem Sammelrohre an¬
saugt und sie in die Condensation drückt.
Der Rückstand der Schweelkohle befindet sich in dem untersten Theile des
Cylinders und sinkt allmälig in den Conus. Dann wird der Schieber, welcher
den Conus von dem cylindrischen Kasten trennt, aufgezogen, und der Koks fällt
in den Kasten; doch muss jedesmal, ehe der Schieber gezogen wird, durch eine
Sperrvorrichtung (Drosselklappe) das untere Abzugsrohr vom Sammelrohr abge¬
schlossen werden, um auch hier den Eintritt der atmosphärischen Luft in das
Sammelrohr und die Condensation zu verhindern.
Jetzt wird der obere Schieber wieder geschlossen, ein Karren oder Kübel
unter den cylindrisohen Kasten gestellt, dann der untere Sobieber geöffnet, und
der Koks fällt in das untergeschobene Gefäss.
Mit dem Koks wird jetzt nun ebenso verfahren, wie wir oben sahen. Bei
diesem Ablassen des Koks aus den Cylindern ist darauf zu sehen, dass nie beide
Schieber zugleich geöffnet sind, weil dann der glühende Inhalt des Cylinders her-
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3G2
Dr. Hoffmann,
ausstärzen würde, und weil aach durch Hinzutritt der atmosphärischen Luft eine
Explosion entstehen könnte.
Der Arbeiter auf dem Schweelboden hat darauf za achten, dass das obere
Ende des Cylinders stets mit einem Hänfen Kohle, die nöthigen Falls vorher zer¬
kleinert worden ist, bedeckt ist, und dass diese Kohle, sobald Koks abgelassen
wird, gleichmässig in den Cylinder hineinsinkt. Tritt dieses Letztere nicht ein,
so muss der Arbeiter mit einer langen eisernen Stange nachhelfen, damit sich
die Kohle an der Aussenseite der Glocken nicht fest ansetzt und so zu Bildung
von hohlen Räumen Anlass giebt. welche ihrerseits wieder den Schweelprocess
aufhalten und dann auch zu einer Explosion des Cylinders führen können.
In gewissen Zeiträumen müssen die Cylinder auch gereinigt werden. Es
setzt sich natürlich doch mit der Zeit von dem Rückstände der Schweelkohlen
etwas an den Glooken fest und versperrt so den Gasen den Weg in das Innere
der Glocken. Die Glocken müssen dann einzeln herausgonommen und gereinigt
werden: eine Arbeit, die nicht ohne Gefahr ist, weil durch das Hineinsteigen der
Arbeiter in den nooh heissen Cylinder Verbrennungen entstehen können. Auch
ist hierbei Explosion zu fürchten.
Die Häufigkeit des Reinigens richtet sich nach der Beschaffenheit der Kohle,
im Duicbschnitt geschieht die Reinigung halbjährig.
Welcher Sehweelerei, ob der mit stehenden oder der mit liegen¬
den Retorten vom medicinisch-polizeilichen Standpunke der Vorzug
zu geben ist, werden wir später sehen.
Der so gewonnene Theer wird nun zunächst von dem Wasser,
welches er ja immer noch enthält, befreit. Dies geschieht in der so¬
genannten Schmelze. Der Theer befindet sich in den Schmelzgefässen,
die auf Gestellen einige Meter über dem Erdboden stehen; durch diese
Schmelzgefässe geht ein sich schlangenförrnig windendes Rohr, iu
welches Dampf geleitet wird. Dieser Dampf erwärmt den Theer;
bei einer Temperatur von 50 ° C. trennt sich das im Theer ent¬
haltene Wasser von demselben und setzt sich als specifisch schwerer
zu Boden und kann dann aus der Schmelze abgelassen werden.
Der wasserfreie Theer wird nun mit Schwefelsäure behandelt, er
wird „gesäuert“, dies geschieht in der sogenannten „Mischerei“ und
wird deshalb vorgenommen, um die „Brandharze“, Körper, die un¬
angenehm auf Farbe und Geruch der Endproducte ein wirken, zu ent¬
fernen. Der Theer befindet sich in grossen Gefässen, in welche
Schwefelsäure geleitet wird, dann wird mittels einer Luftpumpe ein
Luftstrom in die Massen hineingeblasen.
Hierbei entwickeln sich Gase, hauptsächlich schweflige Säure, in
Menge.
Der Theer wird nun weiter mit Natron behandelt und kommt
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Die Krankheiten der Arbeiter in Theer- und Paraffinfabriken.
363
dann zur Destillation. Nicht immer ist der Gang der Aufarbeitung
das Theers derselbe, doch sind diese Modificationen für uns gleich¬
gültig.
Die Destillation wird in den sogenannten „Blasen“ aasgeführt; es sind
dies grosse, eiserne, topfartige Gelasse, die mit fest aufgesohraubtem Deckel ver¬
sehen der Feuerung ausgesetzt werden. Die Dämpfe, wolche aus dem Theer auf¬
steigen, werden duroh ein schlangenförmig gebogenes Bleirobr, welches ans der
Blase beraustritt, abgeleitet, das Rohr geht durch ein Küblfass, wo die Gase ver-
dioktet werden, nnd so treten die Gase aus dem Ende des Schlangenrohres als
flüssige Producte aas. Zwischen denselben befinden sich allerdings immer noch
Gase, ancondensirbare, welche aber durch eine Vorrichtung nach der atmosphä¬
rischen Laft abgeführt werden. Diese Vorrichtung besteht darin, dass das Ende
des oben erwähnten Schlangenrohres U-förmig gebogen ist. Vom oberen Ende
des absteigenden Schenkels dieses U-förmigen Rohres geht ein Rohr senkrecht
nach oben durch das Dach des Gebäudes in’s Freie; diesen Weg sollen die nicht
condensirten Gase nehmen, da der Ausgang aus dem Schlangenrohr durch die
stets in dem U förmigen Rohre befindliche Flüssigkeit den Gasen versperrt ist.
Ob aber in jedem Falle die Gase den vorgeschriebenen Weg einschlagen, ist eine
andere Frage, die wir später beantworten werden. Was die Kühlflüssigkeit,
Wasser, anlangt, so sei noch bemerkt, dass dieselbe immer eine dem duroh-
passirenden Destillat entsprechende Temperatur haben muss, damit innerhalb
des Bleirohrs keine Gerinnung, also Verstopfung, stattfinden kann, die eine Ex¬
plosion der Blase im Gefolge haben würde.
Ausser dieser freien Destillation habe ich in zwei Fabriken, Kupferhammer
bei Oberröblingen und Webau bei Weissenfels, die Vacuumdestillation gesehen,
die von Dr. Krey, Director zu Wobau, in die Paraffinindustrie eingefuhrt worden
ist. Hierbei werden von einem Vacuum die condensirten und die nicht conden¬
sirten Gase angesogen, die nicht condensirbaren Gase werden dann durch Rohre
weiter geführt, um entweder in’s Freie zu gelangen oder als Gas verbrannt zu
werden.
Damit ununterbrochen gearbeitet werden kann, befinden sich vor jeder Blase
zwei Vacuumräume, welche alternirend gebraucht werden.
Nach einer mündlichen Angabe des Dr. Rosen thal') entweichen beim
Beginn der Theerdestillation zuerst beissende Gase, hauptsächlich schweflige
Säure, dann organische Schwefelverbindungen und leichte Kohlenwasserstoffe,
dann Rohöl, Rohparaffin, daneben aber immer Gase, welche theilweise von Ueber-
hitzung der Blase herrühren.
Nennen wir die drei Hauptproducte mit anderen Namen und
zwar in der Reihenfolge, wie sie überdestilliren, so haben wir Pho¬
togen (Benzin), Solaröl und Rohparaffin.' Jedes Product wird natür¬
lich gesondert aufgefangen beziehungsweise in besondere Gefässe ge-
') Dr. Rosenthal: Mündliche Mittheilungen.
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364
Dr. Hoffm&nn,
leitet. Die Grenze zwischen Oel and Paraffinenasse bestimmt der
Arbeiter dadurch, dass er einige Tropfen des Destillates auf einem
Stück Gis oder einem durch auftropfenden Aether gekühlten Uhrglase
auffängt; bleibt dieser Tropfen flüssig, so ist das Product noch Oel,
erstarrt er, so ist es Paraffinmasse.
Diese Paraffinmasso, welche uns hier hauptsächlich interessirt,
wird nun in grössere oder kleinere Blechgefässe gebracht und durch
Abkühlung zur Krystallisation gezwungen. Die Krystalle sind gelb¬
liche, glänzende, Fischschuppen ähnliche Blättchen. Aus diesen Blech-
gefässen werden dann die Krystalle herausgenommen und zu einem
Brei verarbeitet.
Das Herausnehmen der Krystalle aus den Krystallisationshülsen
ist eine bis jetzt nur durch Menschenhand auszuführende Arbeit, die
durchaus nicht sauber genannt werden kann; wir werden ihr noch
weitere Beachtung schenken müssen. Bis jetzt existirt aber keine
Maschine, welche hier die menschlichen Kräfte ersetzen könnte. Das
dann folgende breiartige Zerkleinern des Rohparaffins ist wieder
Maschinenarbeit.
Das zerkleinerte Paraffin kommt nun in die Filterpresse, um
dort von dem ihm anhaftenden Oele getrennt zu werden. Diese Tren¬
nung geschieht aber hier nicht vollständig, deshalb werden die Pa-
raffinkrystalle in Presstücher gepackt und in stehenden hydraulischen,
angewärmten Pressen einem hohen Drucke ausgesetzt; die Press¬
kuchen werden dann mit einem leichten Mineralöl, in der Regel Ben¬
zin, geschmolzen; diese geschmolzene Masse wird auf Wasser, welches
sich in Bassins aus Cement befindet, gegossen, nach ihrem Erstarren
in Tafeln geschnitten, und diese Tafeln werden wieder in liegenden
hydraulischen Pressen einem starken Drucke unterworfen, dann wird
die Masse wieder mit Benzin geschmolzen und nach ihrem Erkalten
wieder gepresst. Dieses Pressen wird um so öfter wiederholt, je reiner
man das Paratfin haben will.
Das abgepresste Oel wird nochmals verarbeitet, um alles Paraffin
daraus zu gewinnen. Dieses Paraffin ist dann allerdings etwas roinder-
werthig und ist auch weicher, das heisst: es hat einen niedrigeren
Schmelzpunkt. —
Von dem Benzingehalt und -Geruch wird das Paraffin durch
Schmelzen und Abblasen mit Dampf befreit, dann wird es, um ihm
eine klare, weisse Farbe zu geben, mit Thierkohle behandelt und
nun durch Papier filtrirt. Zuletzt wird es in Formen gegossen, nach
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Die Krankheiten der Arbeiter in Theer- und Paraffinfabriken.
365
dem Erstarren ans den Formen genommen and ist nun zum Verkauf
fertig, wenn es nicht gleich an Ort und Stelle weiter zu Kerzen ver¬
arbeitet wird.
Das Oel, welches nach wiederholter Bearbeitung kein Paraffin
mehr abgiebt, kommt als Paraffinöl in den Handel und findet als
Schmieröl und als Gasöl seine Verwendung.
Das gebrauchte Benzin ist auch nicht ohne Weiteres auf das
Verlustconto zu setzen. Die abgeblasenen Benzindämpfe nämlich wer¬
den in Köhlvorlagen wieder verdichtet, und geben so wieder brauch¬
bares Benzin.
Die Kerzenfabrikation absorbirt den grössten Theil des Paraffins,
„denn Paraffin ist,“ wie Grotowsky 1 ) angiebt, „hinsichtlich seiner
Zusammensetzung das vorzüglichste Kerzenmaterial, welches es giebt.“
Auf die Kerzengiesserei näher einzugehen ist nicht geboten, da dies
uns über den Bahmen des Themas hinausführen würde.
Ausser zu Kerzen wird Paraffin noch verwandt nach Gro¬
towsky 2 ) als Appretur für Wäsche und Webstoffe, in Laboratorien
als Verschluss für Säuren und Aetzlauge; als Bäder, wenn es sich
um constante hohe Temperaturen handelt. Die weichen Sorten werden
gebraucht als Zusatzraittel für Wachs, Stearin, ferner zum Tränken
von Papier, von schwedischen Streichhölzern, von Schiffsseilen, von
Mauerwerk, von Leinewand zu wasserdichten Planen und mit elasti¬
schem Gummi zusammengeschmolzen zur Anfertigung wasserdichter
Kleiderstoffe.
Weiter findet das Paraffin Verwendung in Zuckerfabriken, Glas¬
bläsereien, bei der Telegraphie u. s. w. u. s. w.
Soweit vom Betriebe in Theer- und Paraffinfabriken.
Es ist nun die Frage zu beantworten, welchen Krankheiten und Un¬
fällen sind in derartigen Fabriken beschäftigte Arbeiter am meisten
ausgesetzt, und wie können diese Schädlichkeiten für Gesundheit und
Leben eventuell vermieden werden.
Im Allgemeinen sei voraus bemerkt, dass die specifisoben Erkrankungen
der Theer- und Paraffinarbeiter bei Weitem seltener geworden sind, als sie früher
waren.
Man hat gelernt den Anforderungen der Hygiene Rechnung zu tragen und
hat dafür den Vortheil, nicht mehr so viele Erkrankungen unter den Arbeitern
’) und 2 ) Grotowsky, 1. c. S. 393.
VlertelJahrMohr. f. ger. Med. Dritte Folge. V. 2. 24
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366
Dr. Hoffmann,
zu sehen wie früher. Die mir mündlich and schriftlich gewordenen Mittheilangen
der Herren Collegen, welche Theer- and Paraffinarbeiter in Behandlung haben,
sprechen sich ganz übereinstimmend dahin aas, dass specifisohe Erkrankungen
genannter Arbeiter nicht häufig auftreten. Herr College Dr. Baetge za Laach-
stedt sagt in einem Briefe: Ich habe seit 1879 Gelegenheit, Leate, die in Theer-
schweelereien and Paraffinfabriken arbeiten, za behandeln and za beobachten,
specifische Erkrankungen sind wenig yorgekommen.
Herr Dr. Sohliephacke, Director der Paraffinfabrik Wald&a bei Zeitz,
schreibt mir, dass darch die verbesserten Einrichtungen in den Fabriken, welche
der Laaf der Zeiten mit sich gebracht hätte, specifische Erkrankungen „fast aas¬
gestorben“ seien. Die Krankheiten, welche in genannten Fabriken Vorkommen,
sind, wie Grotowsky 1 ) sagt, nicht solche, an deren Folgen die Arbeiter sterben
oder doch ein sieches, hinfälliges Leben führen, and dieser Aasspraoh hat nicht
viel Aasnahmen aafzaweisen.
Es wird vielleicht am Uebersichtlichsten sein, wenn wir der Verarbeitung
der Kohle za Theer and des Theers za Paraffin folgend bei den einzelnen Pankten
die betreffenden Krankheiten hervorheben and näher beleuchten.
Beim Heizen der Retorten in den Schweelereien müssen die Feaerleate alle
Unbilden ertragen wie in anderen Fabriken. Sie werden von Staub, Rauch, Hitze
belästigt, sie sind leicht Erkältungen and deren Folgen, wohin vor Allem der
Muskelrheumatismas gehört, aasgesetzt. Es ist hier hauptsächlich nöthig, dass
die Gänge, in denen sich der Raum zur Feuerung befindet, möglichst breit sind,
damit die Einwirkung der Hitze nicht so stark empfunden wird; weiter ist für
genügende Ventilation zu sorgen; das Abfahren der Asche darf nicht von den¬
selben Arbeitern ausgeführt werden, welche das Feuern besorgen, weil letztere
zuerst der Hitze aasgesetzt sind and dann beim Hinaasfahren der Asohe einen
za jähen Temperatarwechsel erleiden würden, wenigstens im Winter, ausserdem
aber würde doch dann auch die Feuerung zeitweise ohne Bedienung sein. Doch
sei dies Alles nur beiläufig bemerkt, da es allen Fabriken, in denen gefeuert
wird, gemeinsam ist. Auch Verbrennungen, die bei der Feuerung Vorkommen,
interessiren uns hier nicht.
Wir wollen ans im Folgenden nur mit den in Theer- und Paraffinfabriken
speciell vorkommenden Erkrankungen beschäftigen.
In dem Manascript des Dr. C. Sohröder 2 ) lese ich, dass specifisohe Er¬
krankungen in Theerschweelereien nicht vorkämen, hauptsächlich auch die soge¬
nannte Theerkrätze nicht, weil die Arbeiter wohl mit Kohle und Koks in Be¬
rührung kämen, aber nicht mit dem Theer.
Ich kann dem Dr. Sohröder hierin nicht beistimmen. Ich bin der Ansioht,
dass specifische Erkrankungen in den Theerschweelereien wohl Vorkommen,. dass
auch die sogenannte Theerkrätze in genannten Fabriken auftritt, allerdings nur
in höohst vereinzelten Fällen.
*) Grotowsky, 1. c. S. 400.
2 ) Sohröder, Die sanitätspolizeilichen Massnahmen zum Schutze der Ar¬
beiter in Paraffin- and Theerfabriken, mit Berücksichtigung der Krankheiten
welchen diese Arbeiter besonders aasgesetzt sind. Manasoript. 1884.
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Die Krankheiten der Arbeiter in Theer- und Paraffinfabriken. 367
Ferner ist ja dnrcbans nicht gesagt, dass nur der Theer als solcher speci-
fisohe Krankheiten hervorrufen kann, sondern dieselben können aach veranlasst
werden durch Gase, die bei dem Schweelprocess entstehen.
Und das geschieht auch. Ebenso wie der Geruchssinn von den in der Luft
befindlichen Gasen, unter denen wohl hauptsächlich Sohwefelammonium zu nennen
ist, belästigt wird, so wird auch die Augenbindehaut angegriffen.
ln mehreren Schweelereien ist mir gesagt worden, dass „ Augenentzündung“
nicht allzu selten vorkäme. Sicher spricht bei der Häufigkeit oder Seltenheit
dieser Erkrankung auch mit die Beschaffenheit der Sohweelkoble, ihr Gehalt an
Schwefel u. s. w.
In den Schweelereien Zscherben und Nietleben wurden am häufigsten die
Arbeiter auf dem Schweelboden von Aogenbindehautentzündung befallen. Dort,
wie noch in mehreren anderen Schweelereien sah man ganz deutlich aus dem den
„Cylinder“ bedeckenden Koblenhaufen Gase aufsteigen.
Dass diese Gase nioht nur Wasserdämpfe, nioht indifferenter Natur sind,
geht wohl aus folgender Beobachtung hervor: ln Nietleben, wo in der Schwee-
lerei ungefähr 15 Arbeiter täglich beschäftigt werden, ist in circa 2 1 /: Jahren
fünfmal Gonjunotivitis beobachtet worden. Und zwar viermal bei Arbeitern auf
dem Schweelboden, „als die Cylinder auf dem Sohweelboden stark dampften und
die Lukenlöcher geschlossen waren“ l ). Die Krankheit hatte von diesen 4 Fällen
dreimal eine zeitweise Arbeitsunfähigkeit (5,7 und 12 Arbeitstage) zur Folge,
im vierten Falle bekam der Betreffende andere Arbeit und wurde nur einige Tage
ambulatorisch behandelt. Der fünfte Fall, wo die Conjunctivitis eine 22 tägige
Erwerbsunfähigkeit bedingte, betraf einen Arbeiter, der das Kobslöschen zu be¬
sorgen hatte, und gehört somit nicht hierher. Auch in anderen Sohweelereien
sind Augenbindehautentzündungen vorgekommen. In den Schweelereien, die zur
Mineralölfabrik Gerstewitz gehören und welche täglich oiroa 75 Arbeiter beschäf¬
tigen, kamen seit 1. Januar 1885 zweimal Augenbindehantentzündungen vor, die
auf eine Einwirkung der specifischen Gase zurückzuführen waren. Die Arbeits¬
unfähigkeit betrug einmal 4, das andere Mal 21 Tage. Auoh von der Schweelerei
Kaninchenberg bei Langenbogen erzählt mir der Betriebsführer, dass dann und
wann Arbeiter von Augenentzündung befallen würden und zwar am leichtesten
Arbeiter auf dem Schweelboden und meist nur dann, wenn die Cylinder stark
dampften. Ich seihst spürte, als ich an einem Tage mehrere Schweelereien be¬
sucht und mich mit den Gasen mehr als vielleicht nöthig war beschäftigt hatte,
am Abend ein Drücken und Thränen der Augen. Duroh eine einmalige Einpin¬
selung einer Höllensteinlösung (0,03:20,0) beseitigte ich diesen Beizzustand.
Auch briefliche Mittheilungen der Herren Collegen Dr. Baetge-Lauchstedt,
Dr. Thomas-Schraplau und Dr. Frey-Teutschenthal bestätigen mir das Vor¬
kommen von Augenbindehautentzündungen in Schweelereien, die genannten
Herren sind auch der Ansicht, dass diese Entzündungen der Einwirkung von
Gasen ihre Entstehung verdanken.
Welches Gas hier hauptsächlich wirkt, ist nioht mit Bestimmtheit Zusagen;
*) Schriftliche Mittheilungen des Bergwerksdirectors Ziervogel zu
Halle.
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Dr. Hoffmann,
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sicher ist, dass wir die geschwefelten Kohlenwasserstoffe für diesen schädlichen
Einfluss verantwortlich za machen haben. Doch sollen nach Dr. Rosenthal 1 )
auch basische Körper — besonders die der Pyridinreihe — die Augen reizen.
Klinisch werden diese Augenbindehautentzündungen zu zählen sein zu den
einfachen, oatarrbalischen Conjunctiviten oder mitunter auch zu der Conjuncti¬
vitis follicularis. Bedenklich sind diese Entzündungen nie gewesen. Die Therapie
ist die gleiche, wie bei einer Conjunotivitis catarrhalis. Wichtiger aber noch als
die Therapie ist für uns die Frage: „Wie können diese Augenbindehantentzün-
düngen verhütet werden?“ Kann man Vorschriften oder Verordnungen erlassen,
deren Befolgung vor solchen Erkrankungen schützt?
Wir finden einen Fingerzeig zur Beantwortung dieser Frage in der vorhin
wörtlich angeführten Mittheilung von der Schweelerei Nietleben. Die Entzündung
trat auf als „die Cylinder auf dem Schweelboden stark dampften, und die Luken¬
löcher geschlossen waren“.
Also Ventilation. Es ist vor Allem dafür zu sorgen, dass auf dem Boden
sich etwa ansammelnde Gase abziehen können, und dass der frischen Luft der
Zugang zu dem Schweelboden nicht verwehrt oder wenigstens nicht erschwert wird.
Als bester Ventilationsapparat für solche Räume empfehlen sich die soge¬
nannten Dachreiter mit verschliessbaren beziehungsweise zu öffnenden Klappen.
Ein weiteres Erforderniss ist das, dass die Cylinder genügend mit Kohle
bedeckt sind, dadurch wird den Gasen der Weg nach dem Sohweelboden verlegt,
oder richtiger, sie finden auf diesem Wege mehr Hindernisse, als auf dem Wege
nach dem Inneren der Glocken.
Andererseits darf der die Cylinder nach oben absohliessende Kohlenhaufen
auch nicht zu gross sein, damit der Arbeiter auf dem Sohweelboden sehen kann,
ob jedesmal die Kohle gleichmässig nachsinkt, wenn unten der Schieber ge¬
zogen wird.
Noch ein drittes Moment ist zu beachten. Wir haben oben gehört, dass die
Gase aus dem Cylinder duroh einen Exhaustor gesaugt werden: arbeitet nun
dieser Exbaustor zu schwach, so kann der Fall eintreten, dass die Gase naoh
dem Schweelboden entweichen.
An einem Manometer kann die Kraft, mit der der Exhaustor arbeitet, abge¬
lesen und somit auch regulirt werden, so dass also die scbädliohen Gase nicht
nach dem Schweelboden ziehen.
Da man in neuerer Zeit diesen Punkten genügend Rechnung trägt, so treten
diese Augenbindehautentzündungen auch verhältnissmässig sehr selten auf und
werden meist, wie sobon erwähnt, bedingt durch die Beschaffenheit der Sohweel-
kohle.
Verfolgen wir den Betrieb in der Sohweelerei weiter, so stossen wir noch
einmal anf Gase, welche schädlich wirken können.
Die Gase, welche durch die ganze Condensation gegangen sind, ohne zu
Flüssigkeiten verdiohtet zu werden, verlassen als permanente Gase die Conden¬
sation. Die Länge der Condensation thut viel zur Beschaffenheit der letzten
Gase. Je länger die Condensation ist, um so mehr Gase werden verdiohtet,
f ) Mündliche Mittheilung des Fabrikdirigenten Dr. Rosenthal.
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Die Krankheiten der Arbeiter in Tbeer- und Paraffinfabriken.
369
und um so weniger Oase treten in ihrer gasförmigen Gestalt in die Atmo¬
sphäre.
Diese permanenten Gase bestehen hanptsäohlioh aus Stiokstoff, Kohlen¬
säure, Kohlenoxyd, Wasserstoff, Sumpfgas, Aethan, Aetbylen, Schwefelwasser¬
stoff u. s. w. *)
Sie sind sehr feuergefährlich, aber auch gesundheitsschädlich.
Einen Todesfall kann ich anführen, den diese Gase indireot verschuldet
haben.
Im Jahre 1883 wollte auf einer Sohweelerei bei Teutschenthal ein Aufseher
nachsehen, ob die Röhren der Condensation überall dioht seien, damitGase nicht
an ungehöriger Stelle entweichen könnten. Zu diesem Zwecke musste er natür¬
lich auoh die durch Deokel verschlossenen oberen Enden der vielleicht 10 m
hohen Condensationsröbren nachsehen. Er fand eine undichte Stelle, aus welcher
Gase austraten, durch Einathmen dieser Gase stürzte er betäubt zusammen.
Duroh den Sturz brach das schmale, vielleicht auch bereits etwas morsche Brett,
auf dem der Aufseher stand, und so fiel derselbe aus einer Höhe von ungefähr
10 m herab und erlitt den Tod in Folge eines complioirten Sohädelbruohes 3 ).
Dies ist der einzige mir bekannt gewordene Fall, wo die Gase der Conden¬
sation eine schädliche Wirkung geäussert haben.
Auch hier muss die Sanitätspolizei Anordnungen treffen, wodurch es un¬
möglich wird, dass diese Gase ihren verderbenbringenden Einfluss ausüben
können.
Zunächst ist es erforderlich, dass das obere Ende der stehenden Conden¬
sation mit einer Gallerie, welche eine Brustlehne haben muss, umgeben ist. Die
Festigkeit dieser Gallerie muss von Zeit zu Zeit geprüft werden.
Wäre dies in dem oben erwähnten Falle geschehen, so wäre es wahrschein¬
lich gelungen, den duroh die Gase betäubten Aufseher wieder in’s Leben zurück¬
zurufen.
Dann weiter muss das Endrohr der Condensation, durch welches die per¬
manenten, feuergefährlichen und gesundheitsschädlichen Gase entweichen, die
umliegenden Gebäude um ein Bedeutendes überragen, damit eben kein Unglück
entstehen, und Niemand durch diese Gase belästigt werden kann.
In neuester Zeit ist 'versuoht worden, diese permanenten Gase zu ver
brennen, doch sind die Versuche, soviel ich weiss, noch nioht zum Abschluss
gekommen. Wenn natürlich diese Verbrennung vollkommen und gefahrlos gelänge,
so wäre das der sicherste Weg, diese Gase zu vernichten.
Noch an einem dritten Orte sind die Arbeiter der Einwirkung von Gasen
ansgesetzt, nämlich an der Schmelze.
loh hätte wohl richtiger sagen müssen „ waren“ die Arbeiter ausgesetzt.
Denn hier, ebenso wie an der eben geschilderten Condensation kommen duroh
Gase veranlasste Erkrankungen kaum noch vor. In der Schmelze wird, wie be¬
kannt, der Theer erwärmt und so vom Wasser befreit. Bei dieser Erwärmung
findet auch eine geringe Gasentwiokelung statt. Es entweichen hier permanente
’) Bergrath Hecker, Halle a. S.: Mündliohe Mittheilung.
2 ) Mittheilung des Dr. Frey- Teutsohenthal.
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Dr. Hoffmann,
Gase und Dämpfe leioht flüchtiger Substanzen. Diese Gase verursachten früher,
wo die Scbmelzgefässe noch zu ebener Erde standen, häufig Augenbindehautent¬
zündungen. Jetzt sind diese Gefässe einige Meter über dem Erdboden angebracht,
und so kommen Arbeiter mit den Gasen kaum noch in Berührung.
Die Feuergefährlicbkeit dieser Gase ist nicht so hoch anzunehmen, weil die
Entwickelung derselben bei verhältnissmässig niedriger Temperatur stattfindet,
und die hinzutretende Luft schnell eine starke Verdünnung bedingt.
Wir kommen jetzt zu einerweiteren, für dieTheerschweelereien specifischen
Krankheit, der sogenannten Theer- oder Paraffinkrätze.
Es ist dies eine Hautkrankheit mit Akne ähnlichen Knötchen, welohe die
Arbeiter, speciell eine bestimmte Gruppe von Arbeitern, in solchen Fabriken be¬
fällt, und welche ihre Ursache hat in der Einwirkung des Theers beziehungs¬
weise des Paraffins oder eines gewissen Bestandteils des Theers oder Paraffins
auf die menschliche Körperoberfläche. Da in der Mehrzahl der Fälle die Er¬
krankten über lästiges Jucken klagen, und dieses Jucken in der Wärme zunimmt,
so hat der Volksmund diese Krankheit mit dem Namen „Krätze“ belegt, und
sprioht von einer Theer- oder Paraffinkrätze,* die eben nur in Theer- und Paraffin¬
fabriken vorkommt. Mit Soabies hat unsere Krankheit nur den deutschen Namen
gemein.
Wir wollen hier auf die Theerkrätze nicht näher eingehen, wir finden sie in
der Paraffinfabrik unter dem Namen „Paraffinkrätze“ wieder, und da sie dort
stets, wenn auoh gegen frühere Zeiten unendlioh viel seltener, vorkommt, so wer¬
den wir sie dort näher kennen lernen.
loh gehe auoh hier deshalb schnell über diese Krankheit hinweg, weil ich
nur einen einzigen Fall von Theerkrätze, der in Theersohweelereien vorgekommen
ist, anführen kann und dieser Fall ist nioht einmal in ärztlioher Behandlung
gewesen.
Dass die Theerkrätze in den Theerfabriken so ungemein selten auftritt, ist
nach meiner Ansicht durch die Verhältnisse bedingt. Dr. Sohröder 1 ) sagt, die
Arbeiter in den Sohweelereien kommen wohl viel mit Kohle und Koks in Be¬
rührung, nicht aber mit Theer. Wenn dies der Fall ist, dann kann allerdings
die Theerkrätze nicht auftreten, denn dieselbe wird nur durch den Theer oder
richtiger duroh irgend welohe, nachher zu erwähnende Stoffe, die im Theer ent¬
halten sind, erzeugt.
Aber dies „nicht mit Theer in Berührung kommen“ stimmt nur für die
Fabriken, wo Schweelerei und Paraffinfabrik neben einander stehen. Dort wird
der in der Schweelerei gewonnene Theer in die „Sohmelze* gepumpt, and von da
wird er wieder durch Pumpwerk oder dergleichen in Röhren nach der Destillation,
der Paraffinfabrik, gesohafft. Hier hat natürlich der Arbeiter mit dem Theer
Nichts zu thun.
Aber wo die Sohweelerei sich allein befindet, wo der Theer also als End-
product versandt beziehungsweise verkauft wird, da liegt die Saohe anders. Da
wird der in der „Schmelze“ wasserfrei gemachte Theer auf Fässer gefüllt und so
verladen.
*) Schröder: Manuscript, 1. c.
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Die Krankheiten der Arbeiter in Theer- und Par&ffinfabrikeo. 371
Hier kommen die Arbeiter, die das Füllen des Theers und das Verschliessen
der Fässer zu besorgen haben, ständig mit Theer in Berührung. Hier kann also
der Theer seine Wirkung auf die mensohliche Haut ausüben.
In einer solchen Sohweelerei ist auch der betreffende Krankheitsfall vorge¬
kommen.
Nach einer mündlichen Mittheilung des Betriebsführers der Sohweelerei
„Kaninohenberg“ bei Langenbogen wurde dort zu Anfang des Jahres 1887 ein
Mann beim Füllen des Theers beschäftigt, der einige Tage naohdem er diese
Arbeit übernommen hatte, an beiden Händen einen „Ausschlag“ bekam. Der
Ausschlag nahm zu, trotz öfterer vom Betriebsführer angeordneter Waschungen,
so dass der Betreffende die Arbeit niederlegen musste, er erhielt andere Arbeit
und gesundete binnen kurzer Zoit.
Als einige Zeit später durch irgend einen Zufall der Arbeiter wieder zum
Abfüllen des Theers commandirt wurde, stellte sich nach wenigen Tagen der
Aussohlag wieder ein, nach dem Wechsel der Arbeit verschwand auch der
Aussohlag.
Ich glaube, dass es wohl ziemlich sicher ist, dass wir es in diesem Falle
mit der Theerkrätze zu thun haben. Sie befällt eben solche Arbeiter, deren Hände
mit Theer in häufige Berührung kommen; dooh gehört wohl immer eine indivi¬
duelle Disposition dazu. Wir werden auch hierauf bei der Paraffinfabrikation zu
spreohen kommen. Auf die Möglichkeit des Vorkommens der Theerkrätze in
Theerschweelereien weist auoh von Volkmann 1 ) hin. Ebenso gehört hierher
auch die Beobachtung von Volkmann’s, welche wir auf Seite 384 unter 2 an¬
führen werden.
Auch über das, was in medicinisch-polizeilioher Hinsicht gegen die Theer¬
krätze gethan werden kann, werde ioh mioh nachher äussern.
Zu den specifischen Erkrankungen inTheerfabriken gehört auch bei gewisser
individueller Disposition der Magenoatarrh.
Dem Herrn Collegen Dr. Frey zu Teutschenthal verdanke ich die Mitthei¬
lung zweier hierhin gehöriger Fälle.
Ein in der Sohweelerei beschäftigter Arbeiter klagte fortwährend über Uebel-
keit und Erbrechen. Jede Therapie erwies sioh als erfolglos. Nachdem der Be¬
treffende die Schweelereiarbeit aufgegeben hatte, hat sich sein Zustand spontan
gebessert, und ist eine Klage bis jetzt nioht wieder erfolgt.
Der zweite Fall betrifft einen in einer Sohweelerei angestellten Böttcher.
Sobald derselbe glühende Reifen, oder richtiger Reifen, die eben glühend ge¬
wesen waren, um Theertonnen legen musste, bekam er heftiges Erbrechen, das
tagelang anhielt. Der Mann, der sonst gesund war, wurde aus der Schweelerei
entlassen; er betreibt das Böttcherhandwerk weiter und hat nie wieder über Er¬
brechen zu klagen gehabt.
Dr. Frey macht für dieses Erbrechen den Einfluss der in Menge geschluckten
Oase auf die Magenschleimhaut verantwortlich.
Ob mit Recht — will ich nicht entscheiden.
*) Volkmann: Beiträge zur Chirurgie. 1875. Ueber Theer-, Paraffin-
und Russkrebs (Sohornsteinfegerkrebs). S. 371. Anmerkung.
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Dr. Hoffm&nn,
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In medicinisch-polizeilicher Hinsicht hat allerdings diese Erkrankung wenig
oder kein Interesse, da Verordnungen u. s. w. zur Verhütung solcher Krankheits¬
fälle nicht wohl getroffen werden können. Das Einzige, an was man denken
könnte, wäre die Sorge für den Hinzutritt genügender Menge frischer Luft in die
betreffenden Arbeitsräume, worauf schon oben hingewiesen ist. In dem erwähnten
zweiten Falle wird aber sicher dieser Anforderung genugsam entsprochen worden
sein, denn die Böttcherarbeiten werden in den Fabriken fast immer unter freiem
Himmel oder in einem weiten Schuppen ausgeführt.
Ehe ich das Kapitel über die Erkrankungen in Theerfabriken abbreche,
möchte ich noch einen Brief erwähnen, den ich von einem älteren Betriebs¬
beamten *) erhalten habe, weloher im Jahre 1861 Betriebsführer einer Schwee-
lerei gewesen ist.
Dieser Brief entwirft ein interessantes Bild von den damaligen Zuständen
in einer Sohweelerei.
Es heisst in dem Briefe:
„Das Wegsaugen der Cylindergase war sohwach, und so dampften die Cy-
linder stark. Die Condensation war nicht lang, das Ausgangsrohr höchstens 4 m
hoch. Die Theerschmeizen waren fast zur Hälfte in der Erde, und das Theer-
füllen und Versenden geschah nur in kleinen Fässern.
Bei dieser Anlage hatten wir damals viel mit Krankheiten zu thun: Furcht¬
bare Augenentzündungen bekam fast durchweg jeder Arbeiter, welcher das
Schmelzen des Theers zu besorgen hatte. Mindestens vier Wochen musste er
diese Arbeit meiden, und nahm er sie wieder auf, so stellte sich auch die Ent¬
zündung bald wieder ein. Nicht viel besser war es auf dem Schweelboden.
Theerkrätze hatten fast alle Schweelereiarbeiter durchzumaohen, besonders
aber diejenigen, die alle Tage Theer in Eimern nach der Schmelze zu tragen
hatten.*
Welcher Unterschied zwischen damals und jetzt!
Zum Sohluss will ich nicht unerwähnt lassen, dass Erkrankungen der Ath-
mungsorgane sehr selten, jedenfalls durchaus nicht häufiger, als bei irgend
einem anderen Industriezweige sind. Es wird mir dies von den verschiedensten
Seiten bestätigt, auch vom Gollegen Dr. Frey-Teutschenthal, welcher aber die
Beobachtung gemacht haben will, dass Lungenentzündungen bei Leuten, welche
längere Zeit in Schweelereien gearbeitet hätten, einen schwierigeren Verlauf
nähmen und leicht in Lungengangrän übergingen.
Dr. Frey hat zwei derartige Fälle gesehen; Weiteres ist mir nicht bekannt
geworden.
Im Folgenden sollen die Unfälle, die speciell in den Theer¬
fabriken Vorkommen können, besprochen werden.
Auf dem Schweelboden kann so leicht kein Unglück geschehen, es müsste
denn eine Explosion stattfinden.
Allerdings ist ein Fall bekannt, wo ein Arbeiter mit den Füssen in einen
jm Betriebe befindlichen Cylinder gerieth und leichte Brandwunden davon trug:
') Briefliche Mittheilungen des Berginspectors Schmeisser.
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Die Krankheiten der Arbeiter in Theer- und Paraffinfabriken.
373
Ein grösseres Kohlenstück, welches aus Versehen mit in den Schweelraum
gekommen war, hatte sich festgesetzt und hatte so eine Zeitlang das Naohfallen
der übrigen Kohle verhindert; plötzlich löste sioh dieses Stüok und daduroh
stürzte eine grössere Partie Kohle nach, in deren Nähe der betreffende Arbeiter
gestanden hatte 1 ).
DieserUnfall hätte vermieden werden können, wenn der betreffende Arbeiter
darauf geachtet hätte, wie es ja seine Pflicht ist, ob die Kohle stets gleichmässig
naohrutschte.
Ausserdem gefährdete der Arbeiter durch seine Unachtsamkeit das ganze
Fabriksgebäude, da duroh die Bildung von Hohlräumen im Sohweelraume, wie
sie eben durch das Nichtnaohfallen der Kohle hervorgerufen werden, Explosionen
entstehen können, wie sohon oben ausgeführt wurde.
Hiergegen kann nur genaue Instruction der Arbeiter und Aufseher schützen.
Da wir uns jetzt einmal auf dem Schweelbodeo befinden, so sei hier gleioh
noch Folgendes erwähnt.
Beim Reinigen und beim Bau eines Cylinders muss streng darauf gesehen
werden, dass die leeren Cylinder mit einer Schranke umgeben sind, da es schon
öfters passirt ist, dass Arbeiter in'die leeren Cylinder gestürzt sind.
Ferner ist beim Reinigen darauf zu achten, dass die Cylinder vorher duroh
Schliessen der Drosselklappe von der Condensation abgesperrt werden, dass
weiter die Cylinder nicht zu heiss gereinigt werden, sondern dass sie sich vorher
genügend abkühlen konnten. Dann ist Vorsicht beim Herausnehmen der Glocken
anzuwenden. Oft hängen die Glocken duroh die Koksmassen, die sich an ihnen
festgesetzt haben, so fest zusammen, dass sie nur mit Mühe herausgebracht wer¬
den können.
Meist steigt dann ein Arbeiter in den Cylinder hinein, um die Glocken los
zu bekommen. Dabei zieht er sioh leicht in dem verhältnissmässig nooh immer
heissen Cylinder Brandwunden zu, oder es entsteht, — wie es auch schon oft
vorgekommen ist — durch den Zutritt der atmosphärischen Luft in den Cylinder,
in dem nooh immer Gase vorhanden sind, eine Explosion, welohe den Arbeitern
und dem Gebäude Gefahr bringt.
Damit nun die Arbeiter nioht in den Cylinder hinein zu steigen brauchen,
ist ein einfacher Apparat construirt worden, mit dem die einzelnen Glooken her¬
ausgehoben werden können a ).
Tritt jetzt nooh eine Explosion ein, so werden die Arbeiter nicht von ihr
betroffen, da sie sich nioht in dem Cylinder befinden, und auch für das Gebäude
verläuft dieselbe meist gefahrlos, wenn die Drosselklappe geschlossen ist. Das
Schliessen der Drosselklappe ist überhaupt bei jeder Explosion vorzunehmen, und
sind Aufseher und Arbeiter dahin zu instruiren. Auf richtige Instruction der
Arbeiter und Aufseher ist nicht blos an diesem Orte, sondern für den ganzen Be¬
trieb grosses Gewicht zu legen.
In der Theer- und Paraffinfabrik Kopsen bekommt jeder Aufseher gedruckte
*) Briefliche Mittbeilung des Dr. Frey.
a ) Amtliche Mittheilungen aus den Jahresberichten der mit der Beaufsichti¬
gung der Fabriken betrauten Beamten. 1882. S. 128.
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Dr. Hoffmann,
Instraction äber seine Thätigkeit. Nooh zweckmässiger soheint mir der Usos in
Gerstewitz zq sein. Dort ist in jedem Arbeitsraume auf einem grossen, weissen
Bleohschilde kurz und bändig angegeben, was geschehen muss und was verboten
ist. Es empfiehlt sich auch jedesmal, wie Eulenberg 1 ) beziehungsweise Gro-
towsky betont, vor dem Reinigen eines Cylinders eine Sioherheitslampe in den¬
selben zu senken: Durch Verlöschen oder Funken am Gitter maoht sie auf vor¬
handene gefährliche Gase aufmerksam.
Wir kommen jetzt zum Ablassen und Löschen des Koks.
Beim Ablassen des Koks hat der Arbeiter abwechselnd die zwei oben be¬
schriebenen Schieber zu handhaben. Zieht er diese beiden Schieber gleichzeitig,
oder zieht er den einen, wenn der andere nicht geschlossen ist, so stürzt der
glühende Inhalt aus dem Cylinder heraus: Der Mann verbrennt sich und das ge¬
fürchtete Gespenst einer Explosion steht wieder vor uns, weil die atmosphärische
Luft frei und ungehindert von unten in den Cylinder eintreten kann.
Um nun, wie Eulenberg 3 ) schreibt, „nioht von dem guten Willen and
der Intelligenz des Arbeiters abhängig zu sein“, hat Director Grotowsky in
Kopsen einen Hebel construirt, der nur einen Schieber zu öffnen gestattet. So¬
bald der eine Schieber geöffnet ist, ist der andere durch den Hebel geschlossen
und kann erst dann geöffnet werden, wenn der erste wieder gesohlossen ist.
Diese oder eine ähnliche Einrichtung, welche denselben Zweck verfolgt, findet
man jetzt wohl auf allen Sohweelereien.
Noch ist zu beaohten, dass stets vor dem Ziehen des oberen Schiebers die
Drosselklappe gesohlossen wird, damit die Verbindung des Cylinders mit derCon-
densation aufgehoben wird. Es wäre ja möglich, dass nach dem Oeffnen des
oberen Schiebers Luft durch den Exhaustor in den Cylinder gesaugt würde, dass
die Luft mit den im Cylinder vorhandenen Gasen ein explosibles Gemenge bilden
würde, und die nun stattfindende Explosion würde sioh, wenn oben die Drossel¬
klappe nicht gesohlossen wäre, in die Condensation fortsetzen und so ungeheures
Unglüok anrichten können 3 ).
Auch hier müssen richtige und strenge Instructionen gegeben werden.
Die Gänge, in denen das Ablassen des Koks gesohiebt, liegen, wie aus dem
oben Gesagten hervorgeht, tief und sind meist nicht gerade durch gute Beleuch¬
tung und gute Ventilation ausgezeichnet.
Deshalb hat Neubert 4 ) vorgesohlagen, die Decken beziehungsweise Fuss-
böden zum Theil aus eisernem Gitterwerk herzustellen, eine Einrichtung, die ich
in Nietleben gesehen habe und als praktisch rühmen hörte.
Der abgelassene Koks wird rvun auf Karren in ausgemauerte und zum
Theil mit Wasser gefüllte Gruben gebracht. Beim Hineinstürzen des Koks in
diese Gruben soblögt fast immer eine Feuersäule empor, hoi der kleinsten Zug¬
luft läuft der Arbeiter Gefahr von dieser Flamme versengt zu werden. Anderer-
*) Eulenberg, Handbuch des öffentlichen Gesundheitswesens. 2. Bd.
S. 567. 1882.
2 ) Ebenda. S. 560.
•) Ebenda. S. 566.
4 ) Berichte der Fabrikinspeotoren, 1. c. 1884. S. 98.
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Die Krankheiten der Arbeiter in Theer- und Paraffinfabriken. 375
seits hat sich auch der Fall nioht allzu selten ereignet, dass Arbeiter und Karren
in die mit glühendem oder doch wenigstens heissem Schlamme angefüllte Grube
gefallen sind.
Director Grotowsky hat die Kokslöoher mit 12 cm hohen Eisenbahn¬
schienen umgeben, damit der Arbeiter den Karren nicht bineinfahren kann.
Dann hat er einen Galgen errichtet, an dem eine Rolle befestigt ist. Ueber diese
Rolle läuft eine Kette. An das eine Ende dieser Kette wird der mit einer Kipp¬
vorrichtung versehene Wagen gehängt, und am anderen Ende zieht der 3 m von
dem Koksloch entfernt stehende Arbeiter und entleert so den Wagen 1 ).
loh habe diese Einrichtung in Kopsen selbst gesehen; wenn sie von dem
Arbeiter benutzt wird, wie die Instiuotion haben will, so kann den Arbeiter
selbstverständlich beim Kokslöschen kein Unglück treffen.
Wenn man indess öfters mit Arbeitern zu thun hat, so weiss man, dass die¬
selben Alles, was nur irgendwie complicirt ist oder zu sein scheint, vermeiden.
So glaube ich auch, dass in diesem Falle die Arbeiter ihren Wagen an das Koks¬
loch heranfahren und denselben dann oft ohne Benutzung jenes Apparates ein¬
fach mit der Hand Umstürzen. Natürlich wird dies nur hinter dem Rücken der
Aufseher geschehen.
Uan kann nur solchen Vorrichtungen unbedingtes Vertrauen entgegen¬
bringen, deren Gebrauch sich absolut nicht umgehen lässt.
Aus diesem Grunde glaube ich der Einrichtung in Gerstewitz, nooh mehr
aber der in Waldau, Lob spenden zu müssen.
In Gerstewitz sind die im Gebrauch befindlichen Löschgruben zum Tbeil
(vielleicht l / 4 ihrer Breite) mit einem eisernen Roste bedeckt, so dass ein Hinein¬
fahren in die Grube nicht möglioh ist; der Arbeiter kann auch von der eventuell
emporschlagenden Flamme nicht getroffen werden, weil er den Karren auf dem
Roste weit genug vorschieben kann. Sodann sind die Gruben mit doppelten Bar¬
rieren umgeben, so dass der Arbeiter selbst im Falle eines Ausgleitens stets einen
Halt findet.
Ueber die Einrichtung in Waldau sohreibt mir Herr Dr. Sohliephacke,
Director der dortigen Fabrik: Die Kokslöschgruben sind so eingerichtet, dass
oben auf der Rampe an der vorderen Seite der Gruben senkrechte Blechwände
stehen, welche unten einen nur wenige Zoll hohen Ausschnitt, fast so lang als
die Grube breit ist, haben. Der Arbeiter schüttet die Karren Koks auf das Pla¬
num der Rampe bei diesem Schlitze aus; hierbei schlägt natürlich keine Flamme
empor, weil kein grosser Luftzug entsteht, dann schiebt der Arbeiter den Koks
mit einem an einem langen Stiele sitzenden Eisenbleche duroh den Ausschnitt,
so dass der Koks nur allmälig die Fuge hinab in die Koksgrube rinnt. DieBleoh-
wand sohützt den dahinter stehenden Arbeiter gegen die Funken.
Ich glaube, dass diese Einrichtung als sehr praktisch zu empfehlen ist.
Hier beim Kokslösohen muss die Sanitätspolizei ihre wohlbereohtigten For¬
derungen stellen: sie muss verlangen, dass duroh Vorrichtungen der Arbeiter
vor Verbrennungen, die hier nioht allzu selten sind, geschützt wird. Und dieser
Schutz kann wirksam durchgeführt werden, wenn die Arbeiter selbst, wollen.
l ) Eulenberg: Gesundheitswesen, 1. o. S. 560.
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Dr. Hoffmann,
Uebertretungen der erhaltenen Instructionen rächen sich hier oft an denen,
die leichtsinnig gefehlt haben. Beim Löschen des Koks kann anoh dadurch, dass
kleine Partikelchen vom Winde in’s Auge des Arbeiters getrieben werden, Augen¬
bindehautentzündung entstehen. Es empfiehlt sich deswegen, die Löscbgruben
von allen Seiten zugängig zu machen, damit das Löschen des Koks stets in der
herrschenden Windrichtung geschehen kann. Qegen die eventuell in’s Auge drin¬
genden Fremdkörper kann sich der Arbeiter nur wirksam schützen, wenn er —
bei starkem Winde wenigstens — eine Schutzbrille trägt.
Die Bestimmung Schutzbrillen zu tragen ist aber wohl auch nur ein Gebot,
das gegeben ist, um — übertreten zu werden. Wir kommen naohher noohm&l
darauf zurüok.
Wir haben in der vorhergehenden Schilderang der Unfälle, welche
sich beim Betriebe in einer Theerfabrik ereignen können, angenommen,
dass das Schweelen in stehenden Retorten geschieht und müssen des¬
halb jetzt noch das Schweelen in liegenden Retorten und seine even¬
tuellen Folgen betrachten.
Hier ist die Arbeit viel mühsamer und auch gefährlicher: Der
Boden der liegenden Retorten wird mit einer Schicht Kohle gleich-'
mässig bedeckt; ist nach 6 bis 8 Stunden der Schweelprocess be¬
endet, so muss der eiserne Deckel von der glühenden Retorte ent¬
fernt werden. Dann wird der glühende Koks mittels einer langen
Krücke aus der Retorte herausgezogen, dann wird die glühende Re¬
torte von Neuem mit Kohle „beschickt“, und endlich wird der heisse
Deckel wieder befestigt. Dass bei diesen Manipulationen selbst den
vorsichtigen Arbeiter leicht Verbrennungen treffen können, liegt auf
der Hand. Ebenso klar ist es, dass die Luft in einem solchen Raume
voll von Staub und Gasen sein muss.
Herr Director Grotowsky zu Kopsen sagte mir auch, dass
wegen der enormen Hitze, die die Arbeiter in solchen Schweelereien
ertragen müssen, es sehr schwer sei, vorzüglich im Sommer, Leute
zu diesem Geschäfte zu bekommen.
Und wir werden das auch verstehen, wenn wir das vergleichen,
was hier ein Arbeiter leisten muss, mit dem, was vom Arbeiter in
Schweelereien mit stehenden Retorten gefordert wird.
Vom sanitäts-polizeilichen Standpunkte müssen wir wegen der
Gefahren, die das Schweelen in liegenden Retorten mit sich bringt,
uns für das Schweelen in stehenden Cylindern entscheiden.
Und in diesem Falle wird diese Entscheidung auch von den
Industriellen gern angenommen, denn die Schweelerei in stehenden
Retorten hat auch für den Fabrikanten der Vortheile genug. Dieses
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Die Krankheiten der Arbeiter in Theer- and Paraffinfabriken. 377
näher aaszuführen gehört nicht hierher and verweise ich auf Gro-
trowsky’s 1 ) öfters citirte Arbeit.
Die Theerbassins will ich noch erwähnen. In den Sammelröhren
and in den Bassins befinden sich oft über dem Theer noch brennbare
Gase, und deshalb ist beim Oeffnen dieser Behälter Vorsicht, vor
Allem Vorsicht mit Licht, za empfehlen, damit nicht eine entstehende
Explosion den betreffenden Arbeiter unglücklich macht.
Auch hier kann nur, wie schon öfters betont, gute Instruction
und genaues Befolgen der Vorschriften schützen.
Der folgende Abschnitt wird uns mit den in Paraffinfabriken
auftretenden specifischen Krankheiten bekannt machen.
Zwei Krankheiten sind es, die ans hier entgegentreten: nämlioh Augen -
bindehaatentzüodang and Paraffinkrätze, oder wenn wir vom Betriebe
aasgehen, so sind es drei Punkte, welche unsere Aufmerksamkeit fesseln: der in
die Paraffinfabrik gebrachte and dort behandelte Theer, dann das flüssige De¬
stillat und seine Beimengungen und endlioh das Paraffin.
Zunächst also noohmal der Theer. Derselbe wird, wie schon aasgeführt,
zunächst in der sogenannten Mischerei mit Schwefelsäure gemisoht. Die Schä¬
den, welche die Sohwefelsäure als solche anriohtet, interessiren uns nicht hier,
sondern werden ihre Erwähnung finden bei den Unfällen in den Paraffin fabriken.
Dagegen müssen wir unser Augenmerk richten auf die sich hier bildenden Gase,
unter denen wieder die „geschwefelten Kohlenwasserstoffe“ für uns die grösste
Bedeutung haben, da sie Augenentzündungen hervorzurufen im Stande sind.
Diese Bindehautentzündungen haben niemals einen bösartigen oder dooh nur
einen ernsten Charakter gehabt, sie sind schnell einer Therapie, bestehend in
kalten Aufschlägen, gewichen.
Eine schädliche Wirkung der hier entstehenden sohwefligen Säure habe ich
nioht feststellen können. Wenn auob das Einathmen der schwefligen Säure zu¬
nächst einen Hustenreiz abgiebt, so sind doch wirkliche Krankheiten der Ath-
mungsorgane unter den Arbeitern in der Misoherei nioht mehr zu verzeichnen,
als irgendwo anders. Ja der Dirigent einer Paraffinfabrik, Dr. Schäfer zu Halle,
will, wie er mir sagte, die Erfahrung gemacht haben, dass „kurzathmige, asth¬
matische Leute“ besonders gern in der Mischerei arbeiteten. loh kann über
diesen Punkt nioht urtheilen; die hierüber brieflich von mir befragten Herren
Collegen hatten auch nichts dabin Gehöriges beobachtet.
Eine weitere zu beaohtende Eigenschaft der in der Mischerei auftretenden
Gase ist die, dass sie in sohlecht ventilirten Mischereien leicht Kopfweh erzeugen,
und in concentrirtem Zustande eingeatbmet (z.B. wenn man sich über die offenen
Mischgefässe beugen würde) sogar betäubend wirken können.
Zur Verhütung der in der Misoherei auftretenden Erkrankungen muss die
l ) Grotowsky, 1. c. S. 367—370.
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Dr. Hoffmann,
Sanitätspolizei fordern: gnte Ableitung der sich bildenden sohädlichen Oase und
genügende Ventilation des ganzen Gebäudes.
In fast allen Fabriken, die ich gesehen habe, fand ich die Mischgefässe mit
einem hölzernen Deokel geschlossen, an einer Stelle war dieser Deckel durchbohrt
und von hier führte ein Rohr durch das Dach des Gebäudes in die atmosphä¬
rische Luft. Auf diesem Wege sollen die betreffenden Gase entweichen. Man
kann nicht leugnen, dass diese Vorrichtung gegen früher, wo die Mischgefässe
unbedeckt waren, einen grossen Fortschritt bedeutet, aber andererseits wird auch
Niemand behaupten wollen, dass dieser immerhin mangelhafte Versohluss, der
wo möglich geöffnet werden muss, um die Schwefelsäure in den Behälter giessen
zu können, ideal genannt werden könne. Hier muss die Teohnik Verbesserungen
treffen, um den Anforderungen der Hygiene zu genügen. Und sie hat es bereits
gethan.
Ich hatte Gelegenheit die neue Mischerei in Webau zu sehen, welohe auf
Veranlassung des Dr. Krey, Director zu Webau, gebaut worden ist.
Hier finden wir in einem grossen, hellen, zweistöckigen Gebäude in zwei
parallelen Reihen die Mischgefässe stehen. In dem unteren Stookwerk sehen wir
nur die untere Hälfte der auf eisernen Säulen ruhenden, eiförmigen Mischgefässe.
Im zweiten Stook können wir die andere Hälfte derselben betrachten; von dieser
oberen Hälfte führen Röhren die verderblichen Gase in’s Freie.
Das Hauptprinoip dieser Misoherei ist das, dass die aus Eisenblech gefer¬
tigten, innen mit Bleiplatten ausgekleideten Gefässe vollkommen geschlossen
sind, dass also Gase nur auf dem für sie bestimmten Wege entweichen können.
Theer und Schwefelsäure werden in die Gefässe hineingepumpt und dann durch
Rohre wieder abgelassen, so dass kein Arbeiter mit diesen Stoffen in Berührung
kommt. Wir haben hier eine Mischerei, die wohl alle Mängel ausschliesst.
Diese Einrichtung wäre wohl der Nachahmung wertb, wenn nicht die unge¬
heuren Kosten davon abschreoken würden.
Und da erwähnenswerthe Nachtheile für die Gesundheit der Arbeiter in
den bisherigen Mischereien nicht festgestellt sind, da ferner die vorgekommenen
Unfälle bei einiger Vorsioht sich hätten vermeiden lassen, so wird man dem
Fabrikanten wohl diese enormen Kosten, die eine Anlage wie die oben geschil¬
derte verursacht, nicht zumuthen können.
Noch ein zweites Mal haben wir es mit einer Augenbindehautentzündung zu
thun und zwar bei der Destillation, wo die Krankheit unter dem Namen «Gas¬
blindheit“ bekannt ist.
Aus dem im Destillationsgefässe befindlichen Theere entweichen beim Be¬
ginne der Destillation beissende Gase, die dem Arbeiter, der sich häufig über
das Ausflussrohr beugt, um den Anfang der Destillation bestimmen zu können,
sehr lästig fallen, auch während der Destillation treten immer noch Gase auf,
die nicht ohne Einfluss auf den menschlichen Organismus sind.
Ich habe schon oben die Vorrichtung beschrieben, die jetzt in den meisten
Fabriken angebracht ist, um die Gase abzuleiten.
Aber die Gase verschmähen oft den ihnen angewiesenen Weg. Zu Beginn
der Destillation, wo der durch das Destillat in der U-förmigen Röhre gebildete
Abschluss nooh nioht vorhanden, oder noch nicht vollkommen ist, oder wenn die
Blase etwas stärker erhitzt wird, die Gase also unter einem höheren Drucke
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Die Krankheiten der Arbeiter in Theer- and Paraffinfabriken. 379
stehen, werden dieselben aas dem Abflussrohr heraasgedrängt and können nan
doch ihre schädlichen Einwirkungen auf die Gesundheit der Arbeiter geltend
machen, die eben darin bestehen, dass die Arbeiter aagenleidend werden.
Die Arbeiter empfinden einen drückenden Schmerz im Aage, der sie zwingt
das Auge öfters zu schliessen, es tritt endlich ein krampfartiger Zustand der
Lider auf, so dass das Auge nicht mehr geöffnet oder wenigstens nioht offen ge¬
halten werden kann. Der Arbeiter muss seine Beschäftigung für den Tag im
Stich lassen. Aber meist auch nur für den Tag: Aufenthalt in reiner Luft, kalte
Oompressen auf die Augen gelegt, und das Uebel ist bald beseitigt.
Sehr selten nimmt die Entzündung einen ernsteren Charakter an, meist
liegt dann aber die Schuld an dem Arbeiter selbst, der die Krankheit Tage lang
vernachlässigt hat.
Io gewissem Sinne spielt hier aber auch wohl eine individuelle Disposition
eine Rolle, denn wie wäre es sonst zu erklären, dass ein und derselbe Arbeiter
öfters von dieser Augenentzündung befallen ist, während ein anderer Arbeiter,
der ganz die gleiche Beschäftigung hat, wie der erste, niemals erkrankt, eine
Beobachtung, die mehrfach gemacht worden ist und mir auch brieflich von Dr;
Sohliephake bestätigt wird.
Ausser den Arbeitern in der Destillation ergreift diese Krankheit auch mit¬
unter die Arbeiter, welche in dem Keller die heissen, flüssigen Paralfinmassen in
die Krystallisationshülsen ablassen.
Schwer ist zu entscheiden, welche Gase die Entzündung hervorrufen.
Eulenberg 1 ) macht dafür geschwefelte Kohlenwasserstoffe, Schwefel¬
ammon, Schwefelwasserstoff, Kohlensäure u. s. w. verantwortlich. Schröder 3 )
dagegen hält die Carbolsäure für das schädliobe Agens, welches diese Augenent-
zündung herbeiführt und stützt sich hierbei auf Folgendes: In seiner Gewerbe¬
hygiene spricht Eulenberg 8 ) von der Einwirkung der Dämpfe der Carholsäure
auf den thierischen Organismus und hebt hierbei auch die durch Carbolsäure
hervorgerufene Entzündung der Conjunotiva und Cornea hervor. Weiter giebt
Schröder 4 ) als Belag für seine Aussage an, dass die Wirkung dieser Gase ähn¬
lich sei der, welche der Tabakrauch auf die Augen habe; und Ludwig 5 ) habe
naohgewiesen, dass auch imTabakrauoh Carbolsäure enthalten sei. Also sei wohl
auch im Tabakrauche das Wirksame die Carbolsäure.
Naoh meiner Ansicht ist es die Carbolsäure allein nicht, die diese Ent¬
zündungen verursacht, da deren Dämpfe sich wohl nur in äusserst geringer
Menge in der Luft des Destillationsraumes finden möchten.
Aus demselben Grunde ist auch Ammoniak und Schwefelwasserstoff auszu¬
scheiden. — Die Wirkung der Kohlensäure auf die Augen ist nioht ganz sicher.
*) Eulenberg, Handbuoh des öffentlichen Gesundheitswesens. 2. Band.
S. 562.
3 ) Schröder, Manuscript, 1. c.
3 ) Eulenberg, Handbuch der Gewerbehygiene. 1876. S. 610.
4 ) Sohröder, Manuscript, 1. c.
8 ) Archiv für klinisohe Chirurgie. 1887. Bd. 20. XIV. Ludwig, Ueber
einige Bestandtheile des Tabakrauohes. S. 364.
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Dr. Hoffmann,
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leb glaube, dass auoh hier die geschwefelten Kohlenwasserstoffe bezw. andere
SchwefelverbinduDgen die Hauptrolle spielen. Ob nooh andere Körper mitwirken,
ist wohl wahrscheinliob, aber noob nicht bewiesen.
Es ist überhaapt für die Tbeer- nnd Paraffinfabrikation höchst charakte¬
ristisch, dass überall da, wo Gasentwicklung stattfindet, auch Augenbindehaut¬
entzündung auftritt.
Sollte nicht überall die Ursaohe die gleiche sein ?
Jetzt haben ja, wie schon öfters hervorgehoben, diese Erkrankungen keine
grosse Wichtigkeit mehr, da sie nur selten und dann auch wohl nie bösartig
sind. Auch unsere zuletzt besprochene Augenbindehautentzündung, die bei der
Destillation auftritt, ist nur noch sporadisch zu finden, seitdem durch die oben
geschilderte Vorrichtung die schädlichen Gase abgeleitet werden. Wir haben
oben auch die Bedingungen erfahren, wann trotz der Ableitung die Augenbinde¬
hautentzündung sich zeigen kann; dabei ist aber zu erwähnen vergessen, dass
auoh die Beschaffenheit des Theers, also zuerst die der Kohle, bei der Häufigkeit
oder Seltenheit der Augenentzündung mitspricht.
Es muss nun Aufgabe der Paraffinindustrie sein, auch nooh diese wenigen
Bedingungen, welche das Heraustieten der Gase aus dem Ausflussrohre ge¬
statten, zu beseitigen. Und auch diese Aufgabe ist als gelöst zu betrachten.
Ehe ich aber der Lösung dieser Frage einige Worte widme, möchte ich
hervorheben, was vorher zur Verhütung von Augenentzündungen gethan wor¬
den ist.
Früher traten die Gase aus dem Ausflussrohre frei heraus, und der Arbeiter
konnte sich nur durch das Tragen einer Schutzbrille *) vor der Gefahr einer
Augenbindehautentzündung decken. Die Bestimmungen, Sohutzbrillen zu tragen,
sind aber wohl oft nicht befolgt worden.
Denn das Tragen dieser Brillen für längere Zeit ist doch reoht unbequem,
auoh die lästige Wärme, die unter der Brille sich entwickelt, ist nicht zu unter¬
schätzen, und endlioh ist zu erwähnen das Blindwerden, Anlaufen der Brillen
bei einem Temperaturunterschiede zwischen der Aussenluft und der Laft im
Destillationsraume, wenn der Arbeiter, was nioht zu vermeiden ist, von dem
einem Orte zum anderen gehen muss. Ausserdem kommt nooh als Hauptfactor
die grosse Gleichgültigkeit der Arbeiter hinzu, welche fast alle solohe Vorschriften
illusorisch macht.
Deshalb war die Einführung der U-förmigen Röhre und des anfsteigenden
Rohres, duroh welches die Gase entweichen sollen und ja auoh zum sehr grossen
Theile entweichen, entschieden von hoher Bedeutung.
Dadurch worden die Krankheitsfälle auf ein Minimum beschränkt und die
Sanitätspolizei hätte nur noch fordern können, auch wo möglich diese wenigen
Augenentzündungen zu verhüten.
Und dieser Forderung ist entsprochen worden oder wird entsprochen durch
die von Herrn Dr. Krey zu Webau veranlasste Einführung der Vacuumdestil-
lation, bei der sich das Verlangen der Sanitätspolizei mit dem Vortheile des
Fabrikanten deckt. Bei der Vacuumdestillation können absolut keine Gase in den
') Beriohte der Fabrikinspectoren. 1882. S. 130.
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Die Krankheiten der Arbeiter in Theer- and Paraffinfabriken. 381
Destillationsraam gelangen, sondern sie werden weiter geleitet, and dienen theils
als Lenohtgas, theils bleiben sie unbenutzt. Neubert 1 ) sagt über die Vacuum-
destillation: „Von den technischen Vorzügen und der grösseren Feuersicherheit
dieser Vaouumdestillation abgesehen, sind den die Apparate bedienenden Arbei¬
tern Vortheile in sanitärer Beziehung aus ihr erwachsen: Die besonders zu Be¬
ginn der Destillation auftretenden belästigenden Oase, welche die Destillations-
häuser erfüllten und namentlich Augenentzündungen veranlassten, werden jetzt
abgesogen.“
') Aus dem schriftlichen, nicht gedruckten Berichte des mit der Beauf¬
sichtigung der Fabriken betrauten Qewerberathes Neubert zu Merseburg vom
Jahre 1885.
(Schluss folgt.)
Vierteljahre gehr. f. gor. Med. Dritte Folge. V. 2.
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3.
Superarbitrium
der K. Wissenschaft! Deputation für das Medicinalwesen
Aber die im Odergebiet 1891 beobachtete „Scblammkrankheit“.
(I. Referent: Gerhardt«)
(II. Referent: Hühner.)
Ew. Excellenz haben der gehorsamst Unterzeichneten wissen¬
schaftlichen Deputation die erbetenen ausführlicheren Quellen, welche
über die Einzelheiten der vorigjährigen eigenartigen, * Schlammkrank-
heit“ genannten Volksseuche in Schlesien Aufschlüsse gewähren, zur
Kenntnissnahme und gutachtlichen Aeusserung zugewiesen. Wir ver¬
fehlen nicht unter Rückleitung der Acten ein kurzes Bild jener
Krankheit zu entwerfen:
Die Erkrankung fand ihre Verbreitung längs der Oder in den Orten und
der Umgegend von Ratibor, Kosel, Oppeln, Ohlau und Glogau, längs der Neisse
in Ottmachau, Neisse und Grottkau (Kroplitz) zwischen Neisse und Oder in Neu¬
stadt, Obergloglau. Falkenberg und Proskau. Mit Ausnahme von den weiter
nördlich gelegenen Kreisen Ohlau und Glogau gehören alle diese Orte einem
Dreieoke an, das in dem südlichsten Theile Schlesiens von Oder und Neisse ge¬
bildet wird. Nur zwei Heerde liegen weiter von diesem Dreiecke ab, westlich
Goldberg im Thale der Katzbaoh, östlioh Lublinitz.
Schon 1882 soll eine derartige Erkrankung in Grottkau während der Som¬
mermonate beobachtet worden sein von Dr. Kornfeld.
Im Jahre 1891 kam der erste sichergestellte Fall am 12. Juni in Neisse
beim Militär vor. Sonst wird der Anfang der Epidemie angegeben in Gnadenfeld
und Grottkau Anfang Juli, Polnisch-Wette Mitte Juli, Neustadt O./S., Kreis
Kosel, Glogau (und wohl auoh Ohlau) im Juli, Falkenberg 1. August, Patschkau
9. September, Goldberg Anfang August.
Die Epidemie war beendet: in Neisse unter dem Militär am 18. August
1891, in Oppeln bis auf Ottmachau am 6. September, in Kosel am 26. August
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Superarbitrium üb. die im Odergebiet 1891 beobachtete „Sohlammkrankheit“. 383
(im Erlöschen). Dagegen kamen nach einem Berichte des Herrn Regierungs¬
präsidenten von Bitter noch November 1891 bis Januar 1892 vereinzelte
Fälle im Kreise Qrottkan vor.
Die Zahl der Erkrankungen wird im Kreise Neustadt nnd Oppeln, ferner in
Knttlan auf l / 5 der Bevölkerung gesohätzt. In Kotzemenschei erkrankten von
200 Einwohnern 85, im Ohlaner Krankenhaus wurden 270 Kranke derart ver¬
pflegt, im Krankenhause in Grottkau 50. Von der Garnison in Kosel erkrankten
nur 32 Mann.
1. Fieber. Der Beginn der Erkrankung erfolgte in allen Fällen plötzlich,
zumeist mit Schüttelfrost oder wiederholtem Frösteln. Bei 33Kranken vom Militär
in Kosel wird nur 4mal Frost oder Frösteln nicht als Anfangserscheinung ange¬
geben. Ebenso gleichmässig werden im Beginne heftige Kopf* und namentlich
Hinterhaupt-, Kreuz- und Gliederschmerzen angegeben. Vereinzelt tritt auch bei
kräftigen Leuten Ohnmacht anf, auoh Schwindel, ebenso manchmal Erbrechen.
Einige sind im Stande, noch 1—2 Tage sioh auf den Beinen zu halten, die
Meisten wirft die Krankheit sofort auf das Bett.
Die Körperwärme steigt sehr rasoh mit dem Krankheitsbeginn auf 39 bis
40 bis 41. Letzere Zahl wird von 5 Berichterstattern erwähnt, von ebensovielen
40 und darüber, von einem (Neumann in Kosel) 41,8. — Ueber den weiteren
Verlauf der Fieberhitze giebt der militärische Berichterstatter in Kosel die ge¬
nauesten Aufschlüsse. Die Körperwärme blieb in den ersten Tagen gleichmässig
hooh, um etwa zur Zeit des Ansbruches des Hautaussohlages naoh und nach zu
sinken.
Die Entfieberung war am 4. bis 13. Tage beendet, im Mittel am 8. Tage.
Die Zeit der anfänglichen hohen Wärmegrade umfasste 4—5 Tage. Davon hatte
in der Regel der erste Tag höhere Grade aufzuweisen als die folgenden. Das
Sinken der Körperwärme umfasste 3—4 Tage. Am Schlüsse der Entfieberung,
naoh eintägigem fieberlosem Verhalten trat häufig nochmals ein Steigen der Kör¬
perwärme um 1° ein (auoh von Dr. Lichtwitz beobachtet). Der Puls zeigte
mässige, eher für die hohen Wärmegrade geringe Beschleunigung (90—114),
sank nach der Entfieberung auf niedere Zahlen (44—60). Die Athmung war
mässig, und nur im Verhältnisse zur Körperwärme gesteigert an Zahl der Züge.
Das Vorkommen von fieberhaftem Bläsohenaussohlag an den Lippen (Herpes
labialis) wird hie und da erwähnt (Dr. Kornfeld in Grottkau).
Milzvergrösserung wurde bei den Militärkranken in Kosel nur vereinzelt
(zweimal) wabrgenommen, sonst wird sie bald regelmässig vorgefunden, bald
häufig vermisst.
Hie und da wurde auch Sohwellung der Leber gefunden, bei den erkrankten
Civilisten und Soldaten vielfache Schwellung der Lymphdrüsen. Delirien, sohwere
Entkräftung wurde öfter beobachtet.
Die Entfieberung vollzog sich bei Einigen unter reichlichem Sohweissaus-
bruohe; bei Anderen, namentlich den Soldaten, wurde dies seltener gefunden.
2. Der Hautaussohlag kam am 2. bis 6. Tage, im Mittel am 3. bis
5. Tage zum Vorscheine, dauerte 2—8 Tage, im Mittel 4—5 Tage. Er begann
in der Schlüsselbeingegend und verbreitete sich auf den übrigen Körper mit
Ausnahme des Gesichts. Nur Stirne und behaarte Köpfe waren in einer Minder¬
es*
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384 Saperarbitrium der Königl. wissenschaftlichen Depntation
zahl von Fällen mitbetroffen. Er bestand in rothen masernähnlichen, oft leicht
erhabenen, und mit Sohwellang des Follikels einhergehenden Fleoken. Mancher¬
lei Abweichungen kamen da vor. Der Ausschlag war mehr eine gleichmässige
Rothe, bestand nur an vereinzelten Stellen. Er fehlte unter 32 Fällen beim Mili¬
tär 4 mal.
In einzelnen Gegenden scheint das Fehlen des Ausschlages die Regel, sein
Auftreten die Ausnahme gewesen zu sein. So berichtet Dr. Gotzmann in
Gnadenfeld: nur in 2 Fällen = 3 pCt. Exanthem; Dr. Kornfeld in Grottkau:
Hautausschlag nur vereinzelt; Dr. Grüttner in Grottkau sah kein Exanthem,
einmal Herpes cervicalis; Dr. Deichmann in Grottkau unter 5 Fällen nur 2mal
Exanthem; Dr. Leja in Krappitz: zahlreiche Fälle ohne Exanthem; Dr. Rot her
in Falkenberg: unter 16 Fällen Imal Exanthem; Dr. Simon in Bielau: zahl¬
reiche Fälle, nie Exanthem.
Unter 13 kranken Soldaten hatten 6 gleichzeitig Entfieberung und Ab¬
blassen des Hautausschlages, bei 4 überdauerte der Hautausschlag die Entfiebe¬
rung, dreimal dauerte das Fieber länger als der Hautaussohlag. Zweimal nur
unter 32 Fällen trat nach 2 Wochen Abschilfung der Haut ein; von Anderen
wurde sie garnicht getroffen.
Zumeist wird starke Blutanfüllung der Bindehaut des Auges getroffen, die
Kachenorgane sind gewöhnlich geröthet, ohne zu schmerzen, die Zunge zeigt
jedoch nur dem Fieber entsprechendes Aussehen. Vereinzelt wurden flüohtige
Röthen und Schwellungen der Gesichtshaut gesehen. —
3. Innere Organe. Die Athmungsschleimhaut geht mit verschwindend
seltenen Ausnahmen frei aus. Der Unterleib ist bald mässig, bald stärker ge¬
wölbt, die Blinddarmgegend zeigt öfter Gurren, ohne schmerzhaft za sein.
Schmerzen in der Gegend des Magens und der Rippenbogen kommen vor. Der
Stuhl war bald angebalten, bald diarrhöisch. Eiweissharnen wird im Verhält-
niss zu der Fieberhöhe selten erwähnt.
Sehr vereinzelt sind kurze Rückfälle beobachtet worden. Die Sterblichkeit
war so gut wie Rull. Die Krankheit war meist in 2 Wochen gänzlich vorüber,
stellenweise schon nach wenigen Tagen, andermal erst nach 3—4 Wochen. An
Raohkrankheiten sind erwähnt: einmal Gelbsuoht, vereinzelt Nierenwassersucht.
Verbreitungsweise und Ursachen der geschilderten Volkskrankheit
sind dunkel. Die Erkrankten sind grösstentheils Bewohner der Fluss¬
gebiete der Oder und Neisse. Alle Berichte stimmen darin überein,
dass vorwiegend Leute im arbeitsfähigen Alter betroffen würden,
Leute aus dem Arbeitsstande, Feld- und Wiesenarbeiter, die in
sumpfigen oder überschwemmten Gegenden im Freien gearbeitet
hatten. Meist überwiegen die Männer, im Krankenhause in Grottkau
die Weiber (11/2 : 1). Dies soll dort der Fall gewesen sein, wo die
Frauen vorwiegend die Feldarbeit verrichten. Von allen Seiten wird
das seltene Betroflfenwerden der Kinder hervorgehoben. Doch waren
in Krappitz bei Oppeln 5 Kinder von 3—7 Jahren erkrankt. Von
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über die im Odergebiet 1891 beobachtete „Schlammkrankheit“. 385
den Kranken selbst und den Aerzten wurde vielfach als Grund der
Erkrankung Trinken von Wasser aus Gräben beschuldigt. Doch
spricht sich Dr. Ponitz in Kosel ausdrücklich gegen diese Annahme
aus und glaubt, dass Wohnung und Ernährung wichtiger seien. Auch
Dr. Kornfeld in Grottkau sagt, dass Wasser aus Gräben nur von
einzelnen der Erkrankten 'getrunken worden sei. Dagegen hebt
Dr. Grüttner in Grottkau hervor, dass sein erster Fall ein Mann
war, der in Ertrinkungsgefahr viel Neissewasser geschluckt haben
mochte.
Die allseitige Würdigung der ursächlichen Verhältnisse, welche
der Bericht der Garnison Kosel liefert, fällt hier besonders in’s Ge¬
wicht. Die Erkrankten waren 2 Gefreite und 31 Gemeine, kein
Officier, Freiwilliger, Hoboist wurde betroffen, 25 Mann der Kranken
waren im ersten Dienstjahre. 22 davon waren Schwimmschüler»
1 Schwimmlehrer. Am 8. August wurde der Schwimmunterricht ein¬
gestellt, nun erkrankten erst am 17. und 18. August wieder 4 Mann,
von denen bei 3 das Schwimmen nicht Ursache sein konnte. Die
Erkrankten stammten aus 7 verschieden Kasernen. Das Gelände, auf
welchem die Truppenübungen stattfanden, war zum Theil über¬
schwemmt und verschlammt gewesen.
Hier scheint die Berührung mit dem Oderwasser beim Schwim¬
men von Einfluss gewesen zu sein, aber sie war gewiss nicht die
alleinige Ursache. Was die Frage von der Uebertragbarkeit dieses
Leidens betrifft, so wird sie fast allgemein verneint. Die spärlichen
Erkrankungen in verschiedenen Kasernen, das Verschontbleiben der
Vorgesetzten, das Verschontbleiben der Familienangehörigen der Ar¬
beiter spricht laut dagegen. Dennoch dürfen zwei Thatsachen, welche
zu Gunsten einer solchen Uebertragbarkeit sprechen könnten, nicht
unerwähnt bleiben. Uebertragung fand in dem überfüllten Hospital
in Ohlau auf einen Typhusreconvalescenten statt.
Zweitens berichtet Dr. Max Bleisch in Kosel. dass er selbst
bis zum 1. August öfters solche Kranke behandelt habe, sodann bis
9. August in einer seuchefreien Gegend in Strehlen auf Urlaub ge¬
wesen und nun nach einer Körperanstrenguug selbst erkrankt sei.
Alles zusammengefasst spricht die geographische Verbreitung, wie die
allgemeine Meinung in den Seuchegebieten dafür, dass Flusswasser,
Sumpfwasser und Ueberschwemmungsgebiet wesentlich bei der Ent¬
stehung dieser Krankheit mitwirken; jedoch zeigen manche Erfah¬
rungen (Lublinitz), dass diese Einflüsse nicht die einzigen wirksamen
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386 Saperarbitriom der König], wissensohaftliohen Deputation
seien. Es scheint, dass schlechte Wohnung and Nahrang und Ueber-
anstrengung für die Seache empfänglich machen. Die eigentliche Ur¬
sache derselben konnte bis jetzt nicht aafgefunden werden; aufge-
stellte Vermathangen darüber entbehren bis jetzt genügender Be¬
gründung.
Die vorliegende Erkrankung ist eine eigenartige, von den be¬
kannteren, bei uns vorkommenden, häufigeren Yolksseuchen ver¬
schiedene.
Sie bat den Fieberbeginn wie eine Lungenentzündung und den
Entfieberungsgang wie Darmtyphus, wobei das häufig nach eintägiger
Entfieberung auftretende, eintägige Nachfieber noch eine Besonderheit
bildet. Sie hat einen inconstanten Hautausschlag, der masernähnlich
ist, aber das Gesicht frei lässt und gewöhnlich nicht abschuppt. Sie
betrifft kein inneres Organ mit erheblicher Häufigkeit mit, nurRöthe
des Rachens, Schmerzhaftigkeit der Magen- und Rippenbogengegend,
Schwellung der Milz und Lymphdrüsen kommen wenigstens häufig
vor. Sie steht in keinem Ausschliessungsverhältnisse zu Darmtyphus,
der vorher (Fall in Ohlau) wachsen und zugleich (Bericht des Mili¬
tärarztes in Kosel) denselben Menschen betreffen kann. —
Einige Aehnlichkeit hat sie mit der im Oriente vorkommenden,
auch in Südeuropa beobachteten, Dengue genannten Yolksseuche.
Yom Fleckfieber, mit dem sie viel Aehnlichkeit hat, unterscheidet
sie sich durch Kürze des Yerlaufes, langsame Entfieberung, geringe
oder fehlende Ansteckungsfähigkeit.
Die vorgenommenen Blutuntersuchungen haben keine Aufschlüsse
über die Natur der Krankheit geliefert. Sie hat somit mit Recurrens
und Malaria nichts zu schaffen. —
Die vom Oberstabsarzt Dr. Globig in der Militärärztlichen Zeit¬
schrift 1891 veröffentlichten Beobachtungen haben allerdings mit den
Thatsachen der schlesischen Epidemie grosse Aehnlichkeit. Da jene
85 Erkrankungen von Matrosenartilleristen sämmtlich vom Schwimm¬
unterrichte abhängig waren, wie in sehr überzeugender Weise nach¬
gewiesen wird, könnten die Erfahrungen Globig’s für die Ent¬
stehungsursache der schlesischen Erkrankung sehr werthvoll sein.
Indess bestehen folgende Unterschiede:
Bei der Epidemie in Lehe ging zumeist ein- bis mehrtägiges
Unwohlsein voraus. Der Beginn erfolgte nicht so plötzlich. Das
Fieber fiel rascher ab, öfter auf subnormale Grade. Rückfälle mit
starken Beschwerden traten in l / z der Fälle ein. Der Abfall war
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über die im Odergebiet 1891 beobachtete „Schlammkrankheit". 387
steiler. Nur in 7 Fällen trat Hautansschlag ein. Auch sonst fanden
sich manche kleinere Unterschiede. Man wird deshalb die Aehnlich-
keit beider Erkrankungen hervorheben, doch noch keine Gleichartig¬
keit derselben annehmen dürfen. Bakteriologische Untersuchung hatte
bei der Krankheit in Lehe gleichfalls kein bestimmtes Ergebniss.
Sollte die Krankheit in Schlesien nochmals zum Vorscheine
kommen, so möchten wir vorschlagen:
1) dass von den behandelnden Aerzten Anzeige und möglichst
genaue Berichterstattung verlangt werde. Namentlich von
den Herren Hospitalärzten dürften auch (wenigstens einige
beispielsweise) Krankengeschichten und Temperaturcurven zu
erwarten sein;
2) dass von etwaigen Todesfällen, wie deren z. B. in Ohlau
einer vorkam, wo die Zustimmung der Angehörigen zu er¬
langen ist, vollständige Leichenuntersuchung nach dem Regu¬
lativ für gerichtliche Obductionen mit mikroskopischer Unter¬
suchung der wichtigeren Organe vorgenommen werde;
3) dass ein mit Bakteriologie vollständig vertrauter Arzt für
Erforschung des Thatbestandes in die betreffende Gegend ent¬
sendet werde.
4) Vorbeugungsmassregeln lassen sich aus dem Wenigen, was
über Ursachen und Verbreitungsweise der Seuche bekannt ist,
kaum begründen. Höchstens könnte in Gegenden, wo die
Seuche aufträte, gewarnt werden:
vor dem Trinken von Fluss-, Graben- und Schlammwasser,
vor dem Essen mit von Schlamm beschmutzten Fingern,
vor dem Arbeiten im Wasser.
Auch könnten die Gutsbesitzer aufmerksam gemacht werden,
dass sie nach Kräften auf Reinlichkeit in den Wohn- und Schlaf¬
stätten, gute Ernährung und Vermeidung von Ueberanstrengung bei
ihren Arbeitern hinwirken möchten.
Berlin, den 9. November 1892.
(Folgen die Unterschriften.)
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4.
Eia Todesfall durch Eiiathuea tob Cloakcngas.
Von
Dr. Kirnst Hankel,
Bezirksarst za Glauchau.
Die ans den Cloaken, Abort- und Düngergraben aasströmende
bez. dort vorhandene Laft ist ein Gemenge von Ammoniak, Stick¬
stoff, Sauerstoff, Kohlensäure und insbesondere Schwefelwasserstoffgas.
Die Analysen derselben sollen bis 8 pCt. Schwefelwasserstoff ergeben
haben. Gaultier de Claubry hat stets weniger, aber doch in
einem Falle Sauerstoff 13,79, Stickstoff 81,21, Kohlensäure 2,01,
Schwefelwasserstoff 2,99 gefunden. Selbstverständlich schwankt die
Zusammensetzung der in der Grube vorhandenen bez. ausströmenden
Luft nach dem Inhalte der Grube. Namentlich findet sich in den
Fäces, welche Reste von eiweissreicher Nahrung enthalten, sehr viel
Schwefelwasserstoff, auch das Latrinenwasser soll nach Thönard unter
Umständen ein Dritttheil seines Volumens Schwefelwasserstoff gelöst
enthalten. Die Giftigkeit des ausströmenden Gases wird durch den
Gehalt an Schwefelwasserstoff bedingt.
Schwefelwasserstoff findet sich frei in der Natur in den Schwe¬
felquellen, entwickelt sich bei einzelnen Gewerben, insbesondere beim
Erhitzen der, aus Eisenfeilspänen, Schwefel und Salmiak bestehenden,
Verkittung der Dampfkessel, manchmal auch zufällig z. B. beim
Färben der Weinbowlen mit ultramarinhaltigem Zucker (Eulenberg).
In den Abortgruben und Kanälen hat das Schwefelwasserstoffgas
oft zu Vergiftungen, die theilweise tödtlich geendet haben, geführt.
Die meisten Vergiftungsfalle führt Gaultier de Claubry auf. Gr er¬
zählt, dass 12 Arbeiter, welche in einen Kanal hineingegangen waren, der Reihe
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Ein Todesfall darob Einathmen von Cloakengas.
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nach einen Sohrei aasstiessen, bewasstlos and dann asphyktisch wurden. Es ge*
lang sie heraaszasohaffen, aoht waren nioht za sohwer affioirt, vier massten dem
Krankenhaase übergeben werden. Einer der letzteren starb, die übrigen drei
kamen naoh mehreren Standen wieder za sich and konnten nach 6 Tagen ent¬
lassen werden. Nur der Qestorbene hatte Krämpfe gehabt, die übrigen gaben
an, dass sie keinen Schmerz gefühlt hätten, dass der Schrei nur daroh den
Schreck hervorgerufen sei, dann habe sie ein Schlaf mit der Empfindung des
Wohlbefindens, dem za widerstehen anmöglich war, überfallen.
In der folgenden Naoht hatten die sämmtlichen, schwer and leioht, Er¬
krankten theilweise angenehme, theilweise ermüdende and anangenehme Träume.
Hai 16 erzählt, dass in einer Abortgrube drei Arbeiter daroh Cloakengas
verunglückten, zwei blieben todt, einer konnte noch gerettet werden.
Chevallier erwähnt eine ähnliohe Vergiftung, wobei zwei Arbeiter am
das Leben kamen, zwei andere zwar bewusstlos worden, aber nooh gerettet
werden konnten.
Blumenstock berichtet, dass einmal zwei, ein anderes Mal ein Arbeiter
ebenso verunglückten. Sein vierter Fall betrifft einen Menschen, der in den Ab¬
ort gefallen war.
Thierling führt einmal drei, ein anderes Mal zwei Personen an, die bei
Ausräamang zweier verschiedener Abortgraben verunglückten. Einer konnte nioht
wieder zam Leben gebracht werden.
Caspar erzählt von zehn Männern, die in einer Gerberei einen zam Mace-
riren der Häute bestimmten, in die Erde gesenkten Kasten angebohrt hatten. Es
drang eine Menge Wasser, welches 13 Volumen Schwefelwasserstoff absorbirt
enthielt, in die Grabe. Ein Arbeiter wollte das Wasser ausscböpfen, fiel aber
dabei plötzlich todt am. Die übrigen eilten ihm za Hülfe, and so verunglückten
sechs tödtlich, während vier nach längerem oder kürzerem Kranksein wieder
genasen.
Ganz ausserordentlich zahlreich sind die drohenden Asphyxien, über die
Gaaltier de Claubry berichtet. Von zehn Arbeitern, die sämmtlioh nicht
länger als 6 Monate beim Kanalreinigen beschäftigt waren, and im Kranken¬
haase Aufnahme gefunden hatten, erwähnt er vier wirkliche and zwanzig dro¬
hende Asphyxien, letztere bei dem einen Arbeiter viermal.
Er erzählt weiter, wie in dem Hospital für Syphilitisohe, in dem sioh die
Aborte in einem allerdings jammervollen Zustande befanden, eine Reihe von
Kranken, die in einem bestimmten Bette gegenüber der Thüre an der Seite, wo
die Cloakengrube sich befand, gelegen hatten, jedesmal naoh acht Tagen in
einer bestimmten eigentümlichen Weise mit Fieber und Speichelfluss erkrankten.
Aach sonst erkrankten die Syphilitischen durch Cloakengas sehr häufig und
schwer, und bekamen bei erneuter Einwirkung dieses Gases sehr leicht Rückfälle.
Wie leioht aber daroh die Abortsgase die Mensohen erkranken, beweist die
Beobachtung von Finkeinbar g. Bei einer Rüokstauung des Cloakeninhaltes nach
dem Arresthause entstand eine völlige Ueberscbwemmung des Souterrains der
Männerabtheilang, so dass die Cloakenmasse mehrere Fuss booh darin stand.
In demselben Souterrain, dessen Sohle 4 Fass anter dem Niveau des Hofes lag,
and nicht weit von den Räamen, welohe überschwemmt worden waren, wurde
eiae Anzahl von Sträflingen am Tage mit Bdrstenmaohen beschäftigt. Hier er-
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390
Dr. Hankel,
krankten 13 Sträflinge so schwer, dass sie in’s Krankenhaus gebracht werden
mussten, während noch mehrere andere leichter erkrankt waren. Die meisten Er¬
krankungen fanden am Tage nach der Entleerung der Grube, wobei ein pesti-
lenzialischer Geruch entstand, statt. Diese offenbar kleine Menge von Cloaken¬
gas hatte ausgereioht, zahlreiche Erkrankungen, z. Th. ziemlich schwerer Art,
herrorzurufen.
Christison erzählt einen Fall, wo 22 Knaben erkrankt und 2 gestorben
sein sollen, naohdem der Inhalt einer sehr übelriechenden Sammelgrube über
den Garten, der dicht am Spielplätze der Kinder gelegen war, ausgegossen war,
und Siegfried berichtet, dass nach der Räumung einer Abortsgrube alle vier
Kinder im Hause, drei davon tödtlioh, an Erbreohen und Durchfall erkrankten.
•Da sich bei Fleisohnahrung im unteren Theile des Diokdarmes Schwefel¬
wasserstoff entwickelt, ja auoh beim Fehlen der Säure im Magen bereits dort
Schwefelwasserstoff entstehen kann, so kommen Selbstinfeotiönen von aufge¬
nommenem Schwefelwasserstoff vor, die von Senator, Betz, Emminghaus
beschrieben worden sind.
Ja es hat den Anschein, als ob die duroh längere Stuhl Verstopfung hervor¬
gerufenen Beschwerden, insbesondere der Kopfschmerz, ebenfalls duroh leichte
Seltstinfection mit dem im Darme entwickelten Sohwefelwasserstoffgas hervor¬
gerufen würden.
Symptomatologie. Leichtere Vergiftungen mit Gloakengas sind bei den
Pariser Kanalfegern etwas sehr Gewöhnliches. Sie unterscheiden zwei Arten von
Vergiftung. La mitte — Dunst — nennen sie die starke Reizung der Rasen¬
schleimhaut mit Abnahme der Seoretion derselben, heftige Schmerzen in der
Tiefe der Augenhöhlen bis an die Stirnhöhle strahlend, Schwellung und Entzün¬
dung der Conjunctiva, Photophobie, selbst vollständige Verdunkelung des Seh¬
vermögens, die Tage lang anhalten kann, aber ohne Folgen vorübergeht. Man
nahm früher an, dass diese Erscheinungen duroh Ammoniak bedingt seien. Leh¬
mann hat aber gezeigt, dass durch Einwirkung kleiner Dosen (0,04—1 pM.)
reinen Schwefelwasserstoffgases diese Reizerscheinungen auftreten. Sie dürften
also auch auf Vergiftung mit letztgedachtem Gase zu beziehen sein bez. viel¬
leicht auch auf eine Verbindung beider Gase.
Die andere Art der Vergiftung, die durch lediglich Schwefelwasserstoff be¬
dingt ist, nennen sie le plomb — Blei — wahrscheinlich von dem Gefühl der
Schwere im Kopf und den Gliedern, oder Fronton.
Die Schwefelwasservergiftung ist vielfach an Thieren studirt worden. Pohl
spritzte denselben Schwefelnatrium in die Venen und fand, dass dasselbe den
Tod schon in sehr kleinen Mengen bewirkt, und zwar bei Warmblütern duroh
seinen lähmenden Einfluss auf die Centren des verlängerten Marks, bei Kalt¬
blütern namentlich durch Gefährdung der Herzaction. Regelmässig wurde beob¬
achtet: Narcose, centrale motorische Lähmung, Verlangsamung des Herzschlages,
allmälige Abschwächung der Energie des Herzmuskels bis zum diastolischen
Stillstand, fibrilläre Muskelzuckungen. Häufig Schreien und stossweises Athmeu.
Lehmann’ prüfte hauptsächlich die Wirkung kleiner Dosen (0,04—1 pM.)
von Schwefelwasserstoffgas bei Katzen und Kaninchen. Hierbei zeigten sich
Reizerscheinungen (Speiohel-, Nasen-, Thränenabsonderungen) und Zeiohen einer
narcotischen Wirkung auf das Nervensystem. Diese äusserten sich in Mattigkeit,
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Ein Todesfall daroh Einathmen von Cloakengas.
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lähmongsartiger Schwäche, Reflexlosigkeit; endlich trat unter Sopor and Jacta-
tionen Athemlähmang ein, welohe nar bei Kaninchen yon ausgesprochenen
Krämpfen begleitet war. Trat der Tod erst nach mehreren Standen ein, so fand
sich regelmässig Lungenödem. Bei zwei Personen, die sich den Untersuchungen
unterwarfen, zeigten sich nach Einathmung von 0 S 5 pM. Schwefelwasserstoffgas
heftige Kopfschmerzen, Sohläfrigkeit, Mattigkeit, vereinzelt Schweisse, Durch¬
fälle, Tenesmus der Harnblase, und regelmässig starke Reizersoheinungen von
Seiten der Augen-, Nasen- und Luftröhrensohleimhnut.
Auffällig war das mitunter beobachtete Auftreten schwerer Störungen erst
einige Zeit nach dem Verlassen des Gasraumes, sowie die Beobachtung, dass bei
öfteren Versuchen eine Steigerung der Empfindlichkeit eintrat.
Lehmann glaubt, dass 0,7—0,8 pM. bei einem Aufenthalt von mehreren
Stunden lebensgefährlich sind und 1,0 —1,2 pM. rasoh das tödtliche Ende her¬
beiführen.
Kaufmann und Rosenthal stellten fest, dass auoh bei leichten Vergif¬
tungen eine Verlangsamung des Herzschlages und vorübergehender Stillstand ein¬
trat, wurden jedoch vorher die Nervi vagi zerschnitten, so trat bei kleinen Dosen
gar keine Veränderung des Herzschlages ein. Grosse Dosen hatten aber auch
dann einen Stillstand des Herzens zur Folge.
Eulenberg sowie Biefel und Poleck Hessen Thieren Luft mitSohwefel-
wasserstoffgas ‘Ao pCt. bis 1 pCt. einathmen. Sie beobachteten grosse Unruhe,
beschleunigte, mühsame, oft sehr oberflächliche, oft krampfhafte Respiration,
intermittirende Athemzüge, oder auch inspiratorisohe Dyspnoe, schwankenden
Gang und Aufsperren des Schnabels. DieThiere stürzten hin, hatten sehr heftige
Convulsionen, zum Theil tetanischer Art. Urin und Stuhlgang ging unwillkürlich
ab. Der ganze Körper verfiel, es trat Coma, Asphyxie und endlich der Tod ein.
Die Erholung der Thiere war stets, auch naoh nioht zu langer Einathmung,
eine sehr langsame. Die Respiration blieb noch lange erschwert und aus¬
setzend.
Hasselt unterscheidet zwei Arten. Die apoplectische Form, wobei die
Thiere plötzlich zusammensinken and bei aufgehobenem Bewusstsein zu Grunde
gehen, und die tetanische Form, wobei die Vergifteten stundenlang bewusstlos
daliegen, und das Koma endlich in den Tod übergeht. Während des Komas
treten häufig Krampfanfälle, meist tetanischer Art, auf.
Bei den Menschen dürfte zu unterscheiden sein die leichte, mittel¬
schwere, schwere und chronische Form.
Die leichteste Form äussert sich häufig nur durch das Gefühl
eines schweren Druckes auf den Kopf und die Brust. Diese Vergif¬
tung ist, wie bereits bemerkt, den Arbeitern selbst sehr wohl be¬
kannt. Bei etwas schweren Fällen kommt Erbrechen, Kolikschmerzen,
Entleerung stark nach Schwefelwasserstoff riechender Gase, auch durch
Aufstossen, hinzu. Der Puls wird klein, das Athmen beschleunigt
und erschwert, es treten Schwindel, grosse Mattigkeit und Muskel¬
schwäche auf.
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392
Dr. Hankei,
In mittelschweren Fällen zeigt sich die Haut kühl, mit
kaltem Schweisse bedeckt. Es treten Ekel, Magenschmerzen, Gelenk¬
schmerzen, ein eigenthümlich znsammenschnürendes Gefühl im Schlund,
Delirien und Muskelzuckungen, Ohnmächten, Schreien, Singen und
Schwatzen auf. Das Letztere ist den Arbeitern so bekannt, dass sie
es chanter le plomb nennen.
Sodann folgt Bewusstlosigkeit und Convulsionen, namentlich teta-
nischer Art. Die Pupillen sind meist erweitert, die Lippen und das
Gesicht blau und cyanotisch.
Bei den schwersten Fällen tritt sofortiger Tod ein. Der
Arbeiter steigt in die Grube hinab, und sinkt dort plötzlich, wie von
einer Kugel getroffen, todt oder wenigstens bewusstlos zusammen.
Ein anderer öfter beobachteter Verlauf ist folgender: Der Arbeiter
stösst einen gellenden Schrei aus, bekommt heftige Krämpfe mit Er¬
brechen, Abgang von Koth und Urin, es zeigt sich Schaum vor dem
Munde und der Kranke stirbt, oder bleibt doch wenigstens lange be¬
wusstlos.
Leichte Fälle heilen meist rasch und ohne weitere Störung, aber
schon bei mittelschweren Vergiftungen bleiben schwere und lang¬
dauernde Störungen zurück. Das Gesicht ist gedunsen, bläulich-roth
mit cyanotischer Färbung der Lippen, Ohren und Nägel, die Respi¬
ration bleibt oft lange schnarchend, unregelmässig und oberflächlich,
der Puls klein und schnell. Das Bewusstsein ist noch tagelang ge¬
trübt, die Kranken antworten schwer und langsam, und es dauert
zuweilen Stunden, selbst 3—4 Tage, bis die Kranken zu sich kommen.
Mitunter treten Tobsuchtsanfälle ein, die sich oft wochenlang wieder¬
holen. Es findet sich häufig Zittern, Zähneklappen, Erbrechen und
regelmässig eine starke Mattigkeit, so dass die Kranken oft 6 Tage
im Krankenhause bleiben müssen.
Auch sind öfter Nachkrankheiten, die einem Typhus oder einer
Cerebrospinalmeningitis ähnelten, aber nur zuweilen Temperatursteige¬
rungen bis 39,0°, selten noch höhere Temperaturen, zeigten, beob¬
achtet worden. Endlich kommen sonstige schwere Nervenstörungen und
wirkliche Meningiten, Encephaliten, Myeliten und Pneumonien (meist
Schluckpneumonien) vor.
Selbst bei Reconvalescenten treten neue schwere Störungen ein.
Eulenberg erzählt von einem Manne, der, nachdem er bereits so
weit wieder hergestellt war, dass er in den Garten gehen konnte,
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Ein Todesfall darob Einathmen von Cloakeogas.
393
daselbst plötzlich, wie die Section ergab, durch einen Riss in der
vierten Hirnhöhle todt zusammensank.
Bei Unglücksfällen ist der Verunglückte sofort an die frische
Luft zu bringen, mit kaltem Wasser zu begiessen und die künstliche
Respiration, die sehr lange fortzusetzen ist, einzuleiten. Mit dieser
Behandlung wird man, auch in recht schweren Fällen, meist noch
gute Erfolge erzielen.
Die Anwendung der Bluttransfusion bez. die Einspritzung von
physiologischer Kochsalzlösung ist vorgeschlagen, aber wohl noch
nicht angewendet worden.
Die chronische Form ist bei Arbeitern in einer chemischen
Fabrik, wo sie schwefelwasserstoffhaltiges Wasser getrunken hatten
und bei Bergleuten in den Kohlengruben zu Auzain beobachtet.
Es zeigte sich starke Anämie, drückendes Gefühl im Magen,
Magenschmerzen und Kolik, der Puls war theils beschleunigt, theils
verlangsamt. Die Kräfte verfielen, später hörten die Leibschmerzen
auf, die Haut wurde gelb, profuse Schweisse traten ein. Der Leib
trieb sich auf, und es traten eitrige Stuhlentleerungen auf.
Bei den Bergleuten endete häufig ein plötzlicher Tod dieses
Leiden. Bei den Arbeitern der chemischen Fabrik entstanden Fu¬
runkel oder ähnliche Leiden am Hals, im Gesicht und an den
Händen.
Der reichliche Genuss von Milch soll das beste Mittel gegen die
chronische Vergiftung sein. —
Bei der Seltenheit gut beobachteter Fälle glaubt Verf., dass es
von Werth sei, einen von ihm selbst beobachteten und secirten Fall
hier genauer zu beschreiben:
R., ein 26jähriger, gesunder, nüchterner Gasschlosser, war am 18. Janaar
in eine Villa geschickt worden, am die Wasserclosets im-Erdgeschoss aufzuthauen.
Er machte dort ein Kohlenfeuer an, and hob den Deckel eines von dem Closet-
raam nach der Grabe führenden 10 cm weiten Rohres, in dem die Abflussrohre
des Glosets einmünden, ab. Das Rohr wird sonst nie geöffnet, and nach Aussage
seines Meisters ist es anoh heim Anfthaaen der Glosets nicht nöthig, dass das¬
selbe geöffnet wird. Es muss aber angenommen werden, dass sich R. über and
in dem Rohre za schaffen gemacht and so das Aafsteigen der Cloakengase ans
der Grabe befördert hat. Die Grabe sollte zwar, wie vorgesohrieben, ordentlich
desinficirt sein, da das überlaufende Wasser nach gehöriger Klärung den Schleusen
zugeführt wird, dooh war die Desinfeotion bei der andauernden strengen Kälte
nicht besorgt worden.
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Dr. Hantel,
Um 3 V 2 Uhr hatte noch Jemand mit R. gesprochen, ohne dass R. geklagt
hätte, oder sonst etwas Auffälliges an ihm bemerkt worden wäre. Um 5 Uhr
wollte der Kutscher des Hauses nach R. sehen und fand ihn mit herunterge-
zogenen Hosen todt, so in der Nähe des gedaohten offenen Rohres liegen, dass
die aufsteigenden Gase gerade sein Gesicht treffen mussten. Der Raum war um
5 Uhr so stark mit penetranter, erstickender Luft gefüllt, dass es dem Kutscher,
trotzdem er die Thüre offen gelassen hatte, drehend und schwindlig wurde. Noch
nach einer Stunde, und nachdem die Leiche herausgeschafft nnd die Thüre
wiederholt geöffnet worden war, fand man in dem Glosetraum so schlechte Luft,
dass Verf., als er nur kurze Zeit darin verweilte, Benommenheit und Aufstossen,
wenn auch ohne Brechreiz, bekam.
Die nach dem Heraussohaffen der Leiohe angestellten Wiederbelebungsver¬
suche erwiesen sich, trotzdem sie lange fortgesetzt wurden, erfolglos. Das Brett
des Closets, welches abgerückt war, war mit frischem Kothe verunreinigt, und
die Kleider des R waren mit Erbrochenem beschmutzt.
Hieraus lässt sich folgende Krankengeschichte feststellen:
Um 372 Uhr war R. noch ganz gesund. Er bekam später Uebelkeit und
Erbrecheq, musste zu Stuhle gehen, hatte auch die Hosen bereits
heruntergezogen, war aber nicht mehr bis auf das Closet gekom¬
men, sondern vorher ohnmächtig geworden, so dass der Stuhlgang
unwillkürlich abging. Bei der Ohnmacht ist er gefallen und in
eine so unglückliche Lage gekommen, dass die aus dem Rohre auf¬
steigenden Gase gerade in sein Gesicht bez. seinen Mund und Nase
kommen und so duroh fortgesetzte Einwirkung seinen Tod hervor-
rufen mussten. Das Gesicht war nach dem Tode nicht verzerrt, und es liegt
daher kein Grund vor, anzunehmen, dass R. Krämpfe gehabt hat.
Sectionsresultate.
Auf Veranlassung der Berufsgenossensohaft wurde am 20. Januar früh
8 Uhr die Section der Leiche vorgenommen, die dadurch so interessant und
wichtig war, dass die Leiche in starker Kälte gelegen hatte, mässig gefroren
war und absolut keine Spur von Fäulniss zeigte.
Der Sectionsbefund war folgender:
A. Aeussere Besichtigung.
1) Die Leiche des 159 cm grossen, kräftigen, gut genährten Mannes zeigt
gut entwickeltes Fettpolster und kräftige Musculatur.
2) Die Hautfärbung ist blass. Die Lippen sind blass. Blaue oder gelbe
Färbung ist nirgend vorhanden. Am Rücken finden sich wenige Todtenfleoke.
Fäulniss ist absolut nicht vorhanden.
3) Der Kopf ist mit 3 cm langen braunen Haaren dicht bedeckt, zeigt nir¬
gend eine Spur von Verletzungen.
4) Die Augen sind offen, die Augäpfel weioh, die Pupillen normal.
5) Die äusseren Körperöffnungen sind frei von fremden Körpern.
6) Die Lippen sind fest geschlossen. Die Zunge liegt hinter den Zähnen.
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Ein Todesfall durch Einathmen von Cloakengas.
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7) Es ist ziemlich starke Todtenstarre vorhanden.
8 ) Am Halse ist niohts Abnormes za bemerken.
9) An der gat gewölbten and sonst normalen Brost finden sioh links zehn
noch nicht ganz pfenniggrosse vertrocknete Haatstellen. Dieselben röhren daher,
dass bei den Wiederbelebungsversuchen Siegellack aafgeträafelt worden ist.
10) Der Leib ist durchaus normal, nicht aufgetrieben, nicht grün.
11) Der Rüoken ist normal. Die Gegend des Afters in sehr grosser Aus¬
dehnung mit Koth beschmutzt.
12) Die Geschlechtstheile und Glieder sind normal.
B. Innere Besichtigung.
I. Kopfhöhle.
13) Die Weiohtheile des Kopfes werden regelrecht zurückgelegt. Es finden
sich am Schädel keine Verletzungen oder Blutunterlaufungen.
14) Die Bdinhaut des Schädels ist blassröthlich, leicht abziehbar, ohne
Verletzungen, sie hat einige wenige mit Blut gefüllte Gefässe.
15) Der Schädel wird regelrecht durchsägt, hierbei fliesst 5 com Blut aus.
16) Die harte Hirnhaut ist glatt, dünn durchscheinend, die Gefässe sind
ziemlich stark angefüllt. Der Längsblutleiter ist mit dunklem flüssigem Blute,
besonders in den hinteren Theilen, gefüllt. Die innere Fläche ist glatt.
17) Die weiche Hirnhaut ist zart und durchsichtig, vom Gehirn leicht ab¬
ziehbar, die Gefässe bis zu den kleinen Aesten stark mit Blut gefüllt.
18) Naoh Herausnahme des Gehirns zeigt sioh im Schädelgrunde weder
Flüssigkeit, nooh sonstiger Inhalt.
19) Die queren Blutleiter sind stark mit dunklem, flüssigen Blute gefüllt.
20) Das grosse Gehirn ist symmetrisch gebaut, die Windungen sind nor¬
mal, die Substanz fest, nur mässig mit Blut gefüllt. Die graue Substanz, die
eine im Wesentlichen normale, wenn auch etwas intensive Farbe hat, setzt sich
von der weissen scharf ab.
21) Die Seiten Ventrikel sind fast leer, nicht ausgedehnt. Ihre Wände fest,
röthlicb. Die Adergeflecbte zart, durchsichtig.
22) Seh- und Streifenhügel sind fest, feucht, glänzend.
23) Der 3. Ventrikel ist normal, die Vierhügel sind leioht röthlicb, fest.
24) Das Kleinhirn ist fest, feucht, glänzend und ebenso wie der Hirn¬
knoten, das verlängerte Mark ohne Abnormität, nur mässig blutreich.
25) Die Sobädelgrundfläche ist unverletzt.
II. Brust- und Bauchhöhle.
26) Bei regelrechter Eröffnung der Brust und Bauchhöhle zeigt sioh die
Musculatur hellroth und sehr kräftig entwickelt.
27) Die Bauchhöhle ist frei von Flüssigkeiten, die Lage der Organe ist
normal.
28) Das Zwerchfell steht beiderseits am oberen Rande der 5. Rippe.
a) Brusthöhle.
29) Beide Brustfellsäcke sind völlig leer. Die Lungen sind zusammenge-
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Dr. Hankel,
fallen. Die Brustfelle glatt, bellröthlich, ihre Gefasse etwas gefüllt und nur links
unten, aber leicht trennbar, verwachsen.
30) Der Mittelfellraum ist normal, die grossen Gefasse sind etwas zu¬
sammengefallen, bellröthlich.
31) Der Herzbeutel ist blassgelb, nicht auffällig blutreioh, beim Eröffnen
findet sich fast keine Flüssigkeit in demselben. Er ist hell, durchscheinend, glatt.
32) Das Herz ist 11 cm breit, 12,5 cm lang. Die linke Kammer ist straff
zusammengezogen, die rechte schlaff. Sämmtliche Kammern und Yorhöfe sind
stark mit dunkelblaurothem, flüssigem Blutegefüllt. Die Kranzadern sind massig
stark mit Blut erfüllt. Geronnenes Blut findet sich nirgend.
33) Der Kehlkopf von vorn eingeschnitten, zeigt nur eine geringe Menge
glasig blasigen Schleimes.
34) Nunmehr werden sämmtliohe Brust- und Halsorgane im Zusammen¬
hänge herausgenommen, und dabei festgestellt, dass die Jugularvenen von dun¬
klem, nicht geronnenen Blute ziemlich stark gefüllt sind. Beim Durchsohneiden
der unteren Hohlvene entleert sich viel Blut.
35) Die Zunge und die Rachentheile sind völlig normal.
36) Die Speiseröhre ist leer und ihre Schleimhaut durch Blutanfüllung der
Gefasse schwach röthlich gefärbt.
37) 'Der Kehlkopf enthält, wie erwähnt, etwas blasigen Schleim, seine Ge¬
fasse sind ziemlich stark bluterfüllt, und die baumförmigen Verzweigungen sind
deutlich siohthar.
38) Ebenso sind die Gefasse der Schleimhaut der grösseren Bronchien stark
bluterfüllt. In denselben findet sich ein wenig glasiger Schleim.
39) Die Lungen sind in den oberen Lappen hellroth, in den unteren tief
dunkelblauroth gefärbt, ihr Gewebe knistert beim Fingerdruok überall.
40) Beim Einsohneiden zeigen sioh die oberen Lappen hellgrauröthlich ge¬
färbt, und aus der Schnittfläche quillt blasige, helle Flüssigkeit.
41) Die unteren Lappen sind tief dunkelblauroth gefärbt, und die aus den¬
selben austretende blasige Flüssigkeit hat eine blaurothe Farbe.
42) Die kleineren Bronchien haben eine durch Gefässinjeotion geröthete
Sohleimhaut, in derselben findet sich etwas glasig-blasiger Sohleim.
43) Einige Bronchialdrüsen sind erbsengross, sohwarz, fest.
44) Das Herzfleisoh der linken Kammer ist hellbraunroth fest, das der
reohten Kammer etwas weniger fest. Die Klappen und die Innenfläohe des Her¬
zens sind vollkommen normal, die Klappen schliessen sämmtlich.
45) Die Vorhöfe und grossen Gefasse sind normal, die Arterien fast leer,
die Venen stark mit flüssigem dunkelblaurothem Blute gefüllt.
b) Bauchhöhle.
46) Das Netz ist normal, die Gefasse darin ziemlioh stark mit Blut gefüllt.
47) Die Milz ist 12 cm lang, 8 cm breit, 4,5 cm dick. Die Kapsel normal,
das Gewebe ziemlich stark blutreich, ein wenig dunkler als normal. Die Mal-
pighi’sohen Körperchen sind deutlich siohtbar.
48) Beide Nieren sind in eine hufeisenförmige Niere vereinigt, die zum
grössten Theil auf der rechten Seite liegt, so dass nur ein kleiner Theil, der auf
der Wirbelsäule aufliegt, nach links geht, und zwar reicht die Niere nicht über
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Ein Todesfall durch Eioathmen von Cloakengas.
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die Wirbel nach links. Die Hufeisenniere hat zwei deutlich getrennte Becken,
Harnleiter und ihre Gefässe sind ebenfalls getrennt, doch ist zwischen beiden
Nieren eine Einziehung nioht bemerkbar. Ihre Kapsel ist leicht abziehbar, ihr
Gewebe stark bluthaltig. Die Länge beträgt 15 cm, die Breite 8 cm.
49) Die Nebennieren sind normal.
50) Die Harnblase ist fest zusammengezogen, fast leer.
51) Der Mastdarm enthält ziemlich viel braunen Koth, seine Schleimhaut
ist röthlioh gefärbt.
52) Der Zwölffingerdarm enthält gelblich braune Flüssigkeit, seine Schleim¬
haut ist rosaroth (durch Blutanfüllung der Gefässe). Bei Druck auf die Gallen¬
blase entleert sich dunkelbraune flüssige Galle in den Zwölffingerdarm.
53) Der Magen ist mässig ausgedehnt, äusserlich schwach röthlich. Er ist
vollständig mit braungelber Flüssigkeit, in der sich sehr zahlreiche, runde,
kuglige, etwa 0,5—0,6 cm grosse, weisse Stücke (offenbar schleoht gekauter
Käse) befinden, angefüllt. Seine Sohleimhaut ist schwach röthlich. Die Gefässe
sind deutlich sichtbar.
54) Die Leber ist 22 cm lang, 16 cm breit, braunroth, äusserlich glatt,
prall, auf dem Durchschnitte ist sie ebenso gefärbt, fest, sehr blutreich. Beim
Durchschneiden fliesst sehr viel Blut aus.
55) Die Gallenblase ist mit branngelber Galle vollständig gefüllt.
56) Die Bauchspeicheldrüse ist normal.
57) Das Gekröse ist normal.
58) Im Dünndarm, der äusserlich glatt und schwach rosenroth gefärbt ist,
findet sich oben ein dünner, weiter unten ein festerer, fäculent riechender, gelb¬
lich grauer Brei. Ganz unten ist derselbe ziemlich fest. Die Sohleimhaut ist
rosenroth, die Gefässe sind deutlich sichtbar. Die Querfalten sind schwaoh ge-
röthet. Die Peyer’schen Drüsen nioht geschwollen.
59) Der Diokdarm ist mässig ausgedehnt, sohwach rosenroth gefärbt, er
enthält reichlichen, braunen, dicken Koth. Die Schleimhaut ist schwach rosen¬
roth gefärbt, sonst normal.
60) Die Gefässe des Leibes sind normal, die Blutadern stark mit Blut
gefüllt.
61) Geruch nach Cloakengas oder Schwefelwasserstoff war während der
ganzen Section nioht zu bemerken.
Der Befund der Section ist selbstverständlich fast durohaus ein negativer.
Ausser französischen Autoren haben Thierling, Casper, Blumenstok
Sectionen veröffentlicht. Immerhin ist die Anzahl derselben nicht bedeutend.
Die vorliegende Section, die den Resultaten bei Thierexperimenten genau ent¬
spricht, war dadurch besonders interessant, dass die Leiche bei sehr strenger
Kälte bereits zwei Stunden nach dem Tode in die Leichenhalle geschafft worden,
und hier nicht unbedeutend gefroren war. Die Leiche machte den Eindruck
einer vollständig frisohen, und es war auch nicht die geringste Spur von Fäul-
niss zu bemerken. Die Fäulnisserscheinungen, die namentlich von Blumen¬
stok und Casper hervorgehoben, von Guörand und Eulenberg geleugnet
Viert« Ijahrachr. f. ger. Med. Dritte Folge. V. 2. 26
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398 Dr. Hankel,
werden, konnten im vorliegenden Falle der Natnr der Sache naoh absolut nicht
bemerkt werden.
Der Eintritt auffällig rascher Fäulniss wird bei Vergiftung durch Oase
ziemlich häufig erwähnt, z. B. bei den durch Chloroformeinathmung bedingten
Todesfällen, und es kann nicht auffallen, dass es auoh bei Cloakengasrergiftung
erwähnt wird.
Die Leiohenstarre wird als sehr ausgeprägt geschildert. Im vorliegenden
Falle war sie ziemlich stark vorhanden. Ahch auf ihr Vorhandensein wird ein
grosser Werth nicht zu legen sein.
Das Gesicht soll blassgelb, oder bei vorhandener Fäulniss grünlioh sein.
Auch im vorliegenden Falle war die blasse Färbung des Gesichtes und der
Lippen auffällig.
Die auffälligste Veränderung zeigte im vorliegenden Falle das Blut, wel¬
ches nirgend geronnen, sondern überall flüssig war. Seine Farbe war tief dun-
kelblanroth. Dieselbe Erscheinung wird von allen Autoren erwähnt, nur wird
die Farbe häufig noch dunkler bis tief tintenschwarz beschrieben.
Es kommt diese dunkle Färbung und Flüssigkeit des Blutes bei raschen
und plötzlichen Todesfällen ganz gewöhnlich vor, und Verf. hat sie insbesondere
bei Chloroform und Carbolsäuretodesfällen beobachtet. Die gedachten Eigen¬
schaften beweisen nioht einmal den Erstickungstod, sondern höchstens einen
reschen, plötzlichen Tod. Durch diese Veränderung des Blutes soll auch die
Farbe der Organe verändert werden, eine Angabe, die dem Befunde vorstehender
Section nur so weit entspricht, als die Organe, ausschliesslich des nur etwas
blutreichen Gehirns ausserordentlich stark blutreich waren, und daduroh theils
dunkler, theils rötber erschienen.
Ein schwarzes Aussehen der Lungen, wie es beschrieben wird, fand sich
nicht. Die Lungen waren sogar in den oberen Lappen hellgrauröthlich, in den
unteren tief dunkelblauroth gefärbt, sowohl auf der Oberfläohe als auch auf der
Schnittfläche. Die Milz und Leber waren kaum etwas dunkler als normal ge¬
färbt. Ebenso die Nieren, welche den zufälligen Befund einer Hufeisenniere er¬
geben. Dagegen war der ausserordentliohe Blutreichthum der gedachten Organe
bemerkenswerth.
Eulenberg nennt die Lungen schmutzig hellroth, die Leber braun, und
ebenso wie die Milz mit reichlichem frischen Blute gefüllt.
Der Darm, die Bronchien, der Kehlkopf zeigten dieGefässe sehr stark blut¬
erfüllt und das Gewebe daher vielfach rosenroth gefärbt. Da diese Färbung sioh
auf allen Schleimhäuten findet, so kann der Umstand, dass sie auch im Kehl¬
kopfe bemerkt wurde, nicht so verwerthet werden, dass man daraus die Er¬
stickung oder eine Reizung der Bronohien folgern könnte.
Auch des glasig blasigen Schleimes im Kehlkopf, der sich bei vorliegender
Section fand, gedenkt Eulenberg.
Das Herz war im vorliegenden Falle überall stark mit Blut gefüllt. Die
linke Kammer war straff zusammen gezogen, die rechte sohlaff.
Seydel sagt: Das Herz sei besonders in der rechten Hälfte meist stark mit
Blut gefüllt, während Blumenstok angiebt, das Herz sei zusammengefallen
und leer. Dagegen giebt Eulenberg auf Grund von Thierversuohen an, dass
das ganze Herz mit Blut gefüllt ist.
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Gin Todesfall duroh Einatbmen von Cloakengas.
399
Das Gehirn war in jeder Weise normal, seine Farbe normal und nur die
harte Hirnhaut and der Sinas waren stärker, die eigentliche Hirnsabstanz war
nur massig mit Blot gefüllt. Die graue Substanz setzte sich gegen die weisse
scharf ab. Ihre Farbe war also deutlich grau.
Dieselben Befände wie hier, nur etwas stärkere Hyperämie der Hirnhäute,
sind bei Thierversuchen beobachtet. Seydel erwähnt die Verfärbung des Ge¬
hirns in beiden Substanzen, besonders der Rinde, dasselbe wird als schmutzig-
grau, graugrün, wie bei vorgeschrittener Verwesung beschrieben. Diese Farbe
soll nach Seydel zu einer Zeit, wo von Fäulniss des Organs keine Rede sein
könnte, Vorkommen und durch die Farbe des Blutes bedingt seiu.
Blnmenstok hat die graugrüne Färbung auch gefunden, bezieht sie
aber, wohl mit Recht, lediglich auf die Fäulniss, die überhaupt ganz auffällig
rasohe Veränderungen im Körper hervorzurufen scheint.
Es scheint undenkbar, dass der Tod bei diesen Vergiftungen
durch Erstickung eintritt, denn die Thiere starben in einer Luft, die
Schwefelwasserstoffgas, aber noch für das Athmen ausreichende Menge
von Sauerstoff bez. atmosphärischer Luft enthielt (auch enthält das
Blut der so vergifteten Thiere immer noch freien Sauerstoff) und
starben an Einspritzung von Schwefelnatrium; sondern es ist anzu¬
nehmen, dass der Tod durch einen deletären Einfluss auf die Inner¬
vationsorgane des Herzens herbeigeführt wird, und die Wirkung des
Cloakengases bez. des Schwefelwasserstoffes dürfte der des Chloro¬
forms in gewisser Weise ähnlich sein. Der Schwefelwasserstoff ent¬
zieht dem Hämoglobin den locker gebundenen Sauerstoff.
Im Spectrum zeigt das Blut die Absorptionsstreifen des sauer¬
stofffreien Hämoglobins. Als Zeichen weiterer Zersetzung tritt dann
ein Absorptionsstreifen im Roth auf (Schwefelmethämoglobin). Diese
Verhältnisse finden sich sowohl beim Einathmen von Schwefelwasser¬
stoff als auch nach dem Einspritzen von Natrium sulphantimoniat.
Sie sind nur bei Thieren beobachtet, und von Hofmann glaubt, dass
nur ein sehr hoher Gehalt von Schwefelwasserstoff im Blute, wie er
bei den gewöhnlichen Vergiftungen niemals Vorkommen kann, dieses
Spectrum erzeugt. Für die gerichtliche Beurtheilung eines Falles
würden diese Absorptionsstreifen daher kaum zu verwerthen sein.
Im Gutachten wurde auf die Flüssigkeit und die dunkle Farbe
des Blutes, sowie die Blutüberfüllung aller Organe (mit Ausnahme
des Gehirns), namentlich aber auch des Kehlkopfes und der Bronchien
hingewiesen, — und angegeben, dass hierdurch nachgewiesen sei, dass
der Tod plötzlich eingetreten wäre.
Im Uebrigen konnte man nur hervorheben, dass R. gesund zur
26 *
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400
Dr. Hankel.
Arbeit gegangen, um 3 l / 2 Uhr noch ganz gesund gewesen war, und
um 5 Uhr in der Nähe des Rohres, welches so viel Cloakengas aus¬
strömen liess, dass der ganze Abort von einer penetranten, Schwindel
erregenden, erstickenden Luft erfüllt war, todt gefunden wurde. Da
eine andere Todesursache nicht aufzufinden war, so musste die Ein-
athmung von Cloakengas als Ursache des Todes angesehen werden.
Literatur.
Blumenstok, Diese Vierteljahrsschrift. N. F. XVIIf. 295.
Finkelnburg, Ebenda. N. F. XX. 801.
Maschka, Handbuch. II. Bd. Vergiftungen (Seidel). 865.
Eulenburg, Schädliche und giftige Gase. S. 293.
Chevallier, Asphyxie double par le vidange d’une fosse d’aisance. Annal.
d’hyg. 1876. II. S6r. XLIII. p. 480.
Gaultier de Claubry, Annal d’hyg. et de m6d. 16g. II. 82.
Casse, Presse m6d. XXX. 689
Biefel und Poleck, Zeitschrift für Biologie. XVI. 8. S. 279.
Pohl, Archiv für experimentelle Pathologie u. Pharmacologie. XXII. S. 1.
Garnier, Annal. d’Hyg. publ. XV. p 619.
Thierling, Ueber Vergiftung durch Cloakengas. Inaug.-Diss. Breslau 1879.
Eossatz, Ueber Intoxication mit Senkgrabengas. Inaug.-Diss. Berlin 1872.
Caspar, Handbuch der gerichtlichen Medicin II. S. 598.
Kaufmann und Eosenthal, Archiv für Anatomie und Physiologie. 1865.
S. 659.
Hoppe-Seyler, Med-ehern. Untersuchungen. Heft 1. S. 161. 1866.
Falok, Lehre von den giftigen und schädlichen Gasen. Braunschweig 1865.
S. 260.
Demarquay, Aoad. de Science. 1865. Avril.
Claude Bernard. Le$ons aur les effets de substanoes toxiques et m6dica-
menteuses p 57.
Senator, Berliner klinische Wochenschrift. 1872. S. 254.
Emminghaus-, Memorabilien. XIV. Lief 1. Mai 1869.
Betz, Jahresberichte von Virchow und Hirsch. 1868. I. S. 802.
Hasemann, Handbuch der Toxicologie Berlin 1862. S. 748.
Clemens, Henle’s Zeitschrift für rat. Medicin. 1849. S. 216.
Lebmann, Archiv für Hygiene XIV. Heft II.
Eulenberg’s Gewerbehygiene. S. 142, 285, 825.
Eulenberg, Oeffentliches Gesundheitswesen. I. S. 116, 692. II. S. 884, 772.
Christison, Robert, A Treatise on poisons. Deutsch. Weimar 1881. p. 826.
(Citat aus Maschka.)
Eulenburg’s Realencyolopädie. XV111. S. 109.
Geigel, Hirt, Merkel, Handbuch der öffentl. Gesundheitspflege II. Aufl.
S. 469.
Eulenberg, Diese Vierteljahrssohrift. N. F. XXV. S. 209.
Siegfried, Diese Vierteljahrssohrift. N. F. XXL S. 888.
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UMIVERSITY OF IOWA
III Kleinere Mittheilungen, Referate,
Literaturnotizen.
a) Samelwerke, Statistisches.
Tabellen mm Gebrauche bei mikreskepiseben Arbeiten. Von Wilhelm
Behrens in Göttingen. Zweite, neu bearbeitete Auflage. Braunsobweig,
Harald Brubn, 1892.
Die Tabellen dieses Werkes sind einer neuen Bearbeitung unterworfen
worden; sie liefern ein unentbehrliches Hülfsmaterial für genauere Unter¬
suchungen. Wir begnügen uns damit, den Inhalt der verschiedenen Tabellen auf¬
zuführen, um darnach ihren Werth beurtheilen zu können. Das Werk beginnt
mit der Vergleichung der gebräuchlichsten Medioinalgewichte mit
dem Gramm. Hierauf folgt die Vergleichung des englischen und ameri¬
kanischen Flüssigkeitsmaasses mit dem Cubikcentimeter, ferner die
Tropfentabelle, dieVergleichung der früher gebräuchlichen Maass¬
einheiten mit dem Millimeter, die Vergleichung des englischen Zol¬
les mit dem Millimeter.
Den Formeln zur Umrechnung der Thermometergrade von Celsius, Rdaumur
und Fahrenheit sohliessen sich ausser anderen Tabellen an: die Lösliohkeitsver-
hältnisse einiger thierischer Oele, Harze und Balsame, das Verhalten der ge¬
bräuchlichsten organischen Farbstoffe und der Breohungsindex
einiger Stoffe. Hinsichtlich der Mikroskopie sind hervorzuheben: Die Fixi-
rungs- und Härtungsmittel, Beobacbtungs- undConservirungsmittel, Aufhellungs¬
mittel, Versohlusslacke, Einbettungsmittel, Aufklebemittel, Maoerationsmittel, Im¬
prägnationsmittel, Carmin-, Hämatoxylin-, Brasilin-, Anilin- und combinirte
Tinotionsmittel, die wichtigsten Bakterienfärbungen, die Culturflüssigkeiten und
Mährsubstrate, mikrochemische Reagentien im Allgemeinen, sowie botanische und
mineralogische mikroskopische Reactionen.
Es liegt auf-der Hand, dass die Tabellen nicht nur bei botanisohen, son¬
dern auch bei histologischen, bakteriologischen und mineralogischen Arbeiten ein
mühsames Machschlagen und Aufsuchen des Materiels unnöthig machen, und so¬
fort die gewünschte Auskunft ertheilen. Eulenberg-Bonn.
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402
Kleinere Mittheilungen. Referate, Literaturnotizen.
Günther, R., Drei und zwanzigster Jahresbericht des Landesmedi-
cinalcollegiums über das Medicinalwesen im Königreich Sachsen
auf das Jahr 1891. Leipzig.
Die Sterblichkeit des Jahres 1891 betrug im ganzen Königreich Sachsen,
wie Günther’s Bericht ausführt, 25,33 pM., eine Ziffer, welche einen nicht un¬
wesentlichen Rückgang — über 3 pM. — seit den jüngsten 15 Jahren aus¬
drückt. Die Säuglingssterblichkeit, nach dem Material aus 10 Jahren berechnet,
hat ihr Maximum (41,2 pM.) im August, ihr Minimum (21,3 pM.) im Januar
und November. — Von je 10 000 Bewohnern starben an
im Jahre
Masern
Scharlach
Bräune-
Krank¬
heiten
Keuch¬
husten
Typhus
Krebs
Schwind¬
sucht
L 881
i,i
4,0
9,6
8,0
3,2
7,0
28,8
1882
1,7
8,7
19.8
8,4
2,5
7,0
28,6
1883
3.4
7,0
1 17,7
1,8
2,8
7,1
24,6
1884
4,6
4,2
25,2
2,8
2,6
7,1
25,2
1885
1,7
8,2
21,4
8,8
1,9
7.4
25,0
1886
2.9
8,2
20,1
2,2
2,1
7,2
24,8
1887
4,0
2,2
14,7
2,0
1,6
7,5
22,7
1888
2,4
2,2
11,7
2,5
2,4
7,6
23 1
1889
1,1
2,1
10,8
8,0
1,6
7,6
23 8
1890
8,3
3,1
10,1
3,5
1,2
8,0
24,1
1891
1,7
5,1
9,1
1,8
0,9
8,0
21,6
Was speciell das Jahr 1891 anlangt, soweit seine Sterblichkeit auf die
Schuld der Infectionskrankheiten zurückzuführen war, so bedingten gegenüber
allen Todesursachen insgesammt, die Masern 1 pCt., — Scharlachfieber
2 pCt., — Diphtherie 13 pCt., — Keuchhusten 1 pCt., — Unterleibs¬
typhus 7a pCt., — Krebs reichlich 3 pCt., — Lungenschwindsucht
8,5 pCt. An Pocken wurden 1891 37 Erkrankungen festgestellt (23 an Unge-
impften), die sich auf 10 Ortschaften vertheilten.
Kämmerer, E., Bericht des Wiener Stadtphysikates über seine Amts-
thätigkeit und die Gesundheitsverhältnisse der Stadt Wien in
den Jahren 1887—1890. Wien.
Ein ziemlich anschauliches Bild von den im obigen Bericht Kammerer’s
geschilderten Wiener Krankheitsverhältnissen geben die 3 auf Infectionskrank¬
heiten sich beziehenden Tabellen.
(Siehe die Tabelle auf der nächsten Seite.)
Eine ganz besondere Berücksichtigung hat das schulpflichtige Alter bei der
Theilnahme an der Infections-Morbidität und -Mortalität erfahren. Jeder ein¬
zelnen Infectionskrankbeit sind längere — auch auf die Ursaohen sich er¬
streckende — Erörterungen gewidmet.
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Kleinere Mittheilungen, Referate, Literaturnolizen.
403
Von der Gesamrotzahl der gemeldeten Erkrankungen entfielen in Pro-
oenten auf
das
Jahr
Blattern
Scharlach
Diphtherie
1
Pf
>>
o
©
00
0
,0
Pf
iS
©
E
Masern
0
$
00
0
fP
Xi
o
0
©
W
0
©
©
©
V
>
©
00
£
l
fi
s
Pf ©
Vf
© a?
P ep
Po
Ophthalmia
contag.
Dysenterie
1887
2,0
22,9
5,9
1,6
0,03
48,9
4.4
9,0
4.0 1
0,7
05
0,1
1888
16
20 0
7,2
8,4 ! 0,1
41,0
7,6
110
5,6 i
1,1
1,1
0,3
1889
0,5
9.7
62
2,4
0,0
52 7
10 8
11,3
4,6
14
0,7
0,2
1890
1,5
8 4
8.0
1,5
’
54,0
84
10,5
5,0
1,2
1,0
0,2
Die absoluten Ziffern der an Infeotionskrankbeiten V erstorbenen stellten
sich wie folgt:
1887
68
866
205
68
0 450
78 0
64
87 ! —
1888
55
212
289
79
0 217
98 0
55
87 —
1889
12
127
222
79
1 385
9L 0
58
76 —
1890
46
81
891
58
0 415
1
78 j 1
!
49
7« | -
Dies ergiebt in Prooenten berechnet an Todesfällen aus den entsprechenden
Ursachen:
1887
46
26,7
14,9
4,6
0
82,8
6,8
0
47
6,8
1888
5,3
20,4
280
7,6
0
20,9
9,0
0
5,3
84
1889
1,2
12,6
22,0
7,8
0.1
882
9,0
0
5.7
7,5
1890
8,8
6,8
82,9
4,4
0
84,7
6,5
0,1
4,!
6,3
Bildet dieser statistische Abschnitt für sich gewissennassen den Kernpunkt
des Berichts, so finden sich als praktisch wichtig die Fortschritte hier ange¬
schlossen, welche die Prophylaxis hinsichtlich der übrigen Infectionskrankbeiten
aufzuweisen hat. Es findet sich hier die Desinfection (seit dem 16. August 1887
besteht eine hierauf bezügliche eingehende Anweisung) besonders besprochen;
demnächst Fragebogen betreffend nähere Umstände bei Typhusfällen; ferner In¬
structionen über die Anmeldung contagiöser Augenentzündungen. Das Kranken¬
transport wesen, soweit die Benutzung öffentlicher Fuhrwerke durch Ansteckungs¬
kranke in Frage kommt, hat auch in Wien Schwierigkeiten (wie überall). —
Erweitert wurden die prophylaktischen Massnahmen in Bezug auf die Militär-
gestellungspflichtigen, — in Bezug auf die Wäsche von in entgeltlicher Pflege
gestandenen an einer Infectionskrankheit gestorbenen Findlingen, — in Bezug
auf die Hintanhaltung von Einschleppungen der Infectionskrankbeiten in die
städtischen Waisenhäuser, auch in die Spitäler. — Für das Verhalten der Lehrer
und Schüler in Lehr- und Erziehungsanstalten, soweit die Verhütung und Weiter¬
verbreitung übertragbarer Krankheiten durch sie in Frage kommen könnte, ist
unterm 6. Juni 1888 eine sehr erweiterte Verordnung ergangen. Zwei Schluss¬
abschnitte geben Rechenschaft von der Durchführung derTodtenbeschau während
der Beriohtszeit.
Viel Interessantes enthalten aber auch die hygienischen und sanitätspolizei-
liohen Kapitel, in denen die sanitätswidrigen Wohnungen und Gewerbe, die
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UMIVERSITY OF IOWA
404
Kleinere Mittbeilungen, Referate, Literaturnotizen.
Nahrungsmittelcontrole, das Leiohenwesen, der Verkehr mit Giften (S. 1—128);
demnächst die speoiell medioinalpolizeilichen Anfgaben — einschliesslioh des
Rettungswesens, der Kranken- und verschiedener Fürsorge-Anstalten ihre Dar¬
stellung gefunden haben (S. 129—360).
b) Geriehtsärztliches.
Prof. §r. Jolins Kratter, Die Aufgaben der geriohtliohen Medicin in
Lehre und Forsohung. Vortrag gehalten am 22.0ctober 1892 aus Anlass
der Eröffnung seiner Vorlesungen in Graz. Wien, Holder 1892. 16 S.
Unser hochgeschätzter Mitarbeiter hat das Ereigniss seiner Versetzung von
Insbruck nach Graz zum wohlberechtigten Anlass gewählt, sich in programma¬
tischer Weise über seine Auffassung des forensischen Unterrichtes und der ge-
riohtlich-medioinischen Lehrmethode zu verbreiten. Dass diese Auffassung eine
sehr ernste und hohe ist, werden alle Freunde der Disoiplin gern anerkennen.
Wir hoffen mit dem Verf., dass die hochaasgebildeten naturwissenschaftlichen
Methoden der Physiologie und Pathologie, der Chemie und Bakteriologie, zur Er¬
forschung der noch so zahlreichen ungelösten Probleme der gerichtlichen Medicin
verwerthet, dieser noch eine reiche Ernte bringen werden — dass gerade auf
diese Weise sie ihre etwas gesohmälerte Stellung und Bedeutung als academisohe
Disciplin in der Höhe wieder erlangen wird, zu welcher ihr für die menschliche
Gesellschaft so unverkennbarer Werth sie berechtigt.
Prof. Korber, Sohultze’sche Schwingungen — Tod des Kindes. Vor¬
trag gehalten auf dem IV. Livländischen Aerztetag. Sep.-Abdruck aus der
St. Petersburger med. Wochensohrift. 1891/51.
Eine anregende Darstellung des Themas von der event. Gefährlichkeit der
überschriftlich genannten Methode besonders im Punkt der Leberzerreissung.
Zahlreiche Sectionen dürften hier Aufklärung schaffen und die Beantwortung der
Frage anbahnen, ob diese Wiederbelebungsmethode nicht den Aerzten vorzu¬
behalten sei?
Messner, Ueber Sterilisation der Geschosse durch Erhitzung beim
Schuss. Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie. 1892.
Diese für die forensische Beurtheilung wie für die Praxis gleich wichtige
Frage suchte Messner zu beantworten, indem er bei einer Entfernung von 250m
auf sterilisirte Blechbüchsen schoss, welche mit steriler Gelatine gefüllt waren,
nachdem er zuvor mit demselben Gewehr rasch hintereinander etwa 20 Sohüsse
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UMIVERSITY OF IOWA
Kleinere Mittheilungen, Referate, Literaturnotizen. 405
abgegeben hatte. Die Projeotile benutzte er theils ohne Vorbehandlung, theila
naoh Infeotion mit Prodigiosus, Stapbylocooous pyogenes und mit Bacillus des
grünen Eiters. In letzteren Fällen war der Schussoanal in der Gelatine stets,
im ersteren Falle garnicht — odor höchstens mit Schimmelpilzen infioirt.
Waren die Büchsen mit Flanell überzogen, welohen er mit Reinoulturen der
qu. Bakterien bestrichen hatte, so fand sioh, was für die Bedeutung der in den
Schusscanal mit hineingerissenen Kleiderfetzen von Wichtigkeit ist, der Schuss*
canal ebenfalls inücirt. Flatten-Wilhelmshaven.
f.Luger, Ueber einen Fall von rasch tödtlicher Phosphorvergiftung
mit eigenthümlichem Befunde im Magen und Oesophagus. Prager
medicinisohe Wochenschrift. 1892. No. 39. (Aus dem deutschen gerichtlich-
medicinisohen Institute zu Prag.)
Bei einem 9 Stunden naoh dem Genüsse von Phosphor gestorbenen 71 Jahre
altenManne fand sioh die geschwellte, düster geröthete und ekchymosirteSchleim*
haut des Magens und des unteren Drittels der Speiseröhre mit feinen weissen,
mit dem Messer abstreifbaren Körnchen besetzt, welche an den Befund der Ver¬
giftung mit arseniger Säure erinnerten. Mikroskopisch stellten sie glänzende
durchscheinende Schollen dar. Dieselben bestanden aus Kalkooncrementen und
lagen nicht auf, sondern in der obersten Sohicht der Schleimhaut. Der sonstige
Befund der Schleimhaut (Verdickung der kleinsten Gefässe, Bindegewebsver¬
mehrung und Pigmentirung in Mucosa und Submucosa), insbesondere der Speise¬
röhre, welche nach Entkalkung der Körnchen verdicktes Plattenepithel an deren
Stelle erkennen Hess, sprach für eine chemische Veränderung, welche mit der
Intoxication in keinem Zusammenhänge stand. Flatten-Wilhelmshaven.
c) Psychapatholagie; Nerveapathalagie.
1. Piper (Erziehungs-Inspector der Städtischen Idioten-Anstalt in Dalldorf),
Schriftproben von schwachsinnigen resp. idiotischen Kindern.
Berlin, Kornfeld 1893. 8 S. Text, Tafeln und Figuren.
Durch die auf 64 Tafeln in musterhafter Ausführung wiedergegebenen
Schriftproben schwachsinniger beziehungsweise idiotisoher Kinder liefert P. den
Beweis, dass Spiegelschrift am häufigsten da gefunden wird, wo centrale
Mängel und Störungen bestehen; dass aber andererseits nioht immer, wo centrale
Störungen vorhanden, Spiegelschrift geschrieben werden muss.
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UNIVERSUM OF IOWA
406
Kleiner« Mittheilungen, Referate, Literäturnotizen.
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Dr. Eigen Rehlseh, Der Selbstmord. Eine kritische Stndie. Nebst einem
Vorworte von Prof. Dr. Mendel. Berlin, Kornfeld 1893. 167 S.
Seinen anregenden Essay über «jene Krankheit des Menschengeschlechts,
die wir den Selbstmord nennen“, überblickt R. in 5 Hauptabschnitten, in denen
neben (I) den allgemeinen Ursachen des Selbstmordes zunächst (II) dessen Ver¬
breitung durch Vererbung und geistige Infection (III), dann seine Ausbreitung
in Europa und demnächst (IV) die Verbreitung naoh Geschlecht und Civilstand,
Alter und Beruf, Jahreszeiten, Religion — auch die Motive, die Arten und
Weisen und noch einige andere nähere Umstände des Selbstmordes besprochen
werden. Was Verf. unter (V) „Therapie des Selbstmordes“ versteht, empfehlen
wir allen Interessenten zum Nachlesen.
Udtnt (Genf), L’obsession du meurtre. Separat-Abdruck aus Betz’ Irren¬
freund. 1892. No. 5—6.
Klagnu (Asyle de St. Anne), L’obsession oriminelle morbide. Ebenda.
No. 3—4.
In La dam e’s Abhandlung findet sich Gasuistik zusammengestellt, die im
Wesentlichen Zwangsvorstellungen, die zum Morde treiben, anbetrifft. Er dis-
cutirt dabei besonders den Werth des hereditären Moments und betont als her¬
vorragend wichtig die Erfahrung, dass bei hereditär Belasteten sich die Zwangs¬
vorstellung, morden zu müssen, oft ganz isolirt vorfinde.
Magnan geht in der Anerkennung der Monomanieen älteren Sinnes noch
weiter und wünsoht ausser den auf Mord, Diebstahl und Feueranlegen bezüg¬
lichen Zwangsvorstellungen auch noch die das Geschlechtsleben angehenden
(Eroto- und Nymphomanie, conträre Sexualempfindungen, Bestialismus) als
vierte Gruppe besonders unterschieden zu sehen.
Dr. A. Schmiti, Die Entmündigung Trunksüchtiger vom medicinischen
Standpunkte. Bonn, Hanstein 1892. 16 S.
In dem Referat, mit dessen Erstattung Schmitz für die 9. Jahresver¬
sammlung des Deutsohen Vereins gegen den Missbrauch geistiger Getränke be¬
traut war, gelangt er unter geeigneten Begründungen dazu, folgende Vorschläge
zu vertreten: Die Trunksuoht ist eine Krankheit; — Trunksüchtige sind behufs
Heilung freiwillig oder zwangsweise in staatlich beaufsichtigte Trinkerheilan¬
stalten aufzunehmen; — unheilbare Truoksüohtige sind unter Zuziehung eines
oder zweier ärztlicher Sachverständigen zu entmündigen; — den Antrag auf
Entmündigung wegen Trunksuoht können stellen: der Ehegatte, die Eltern, die
Kinder, die Geschwister, der Staatsanwalt.
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Kleinere Mittheilungen, Referate, Literaturnotizen.
407
lUlf WiehMMB, Der Werth der Symptome der sogenannten trauma¬
tischen Neurose und Anleitung zur Beurtheilung der Simulation
von Nervenkrankheiten. Für Krankenkassenärzte und Medioinalbeamte.
Braunschweig 1892. 103 S.
W. gelangt auf einem neuen Wege, nämlich indem er die angebliche Sym-
ptomatologie der traumatischen Neurose alphabetisch (mit „Alkoholismus“ an¬
hebend und mit „Zwangsvorstellungen“ schliessend) Revue passiren lässt, zu
der Auffassung, dass kein einziges ihrer Symptome für dieselbe charakteristisch
ist, dass so gut wie alle sich (mitjErfolg) simuliren lassen, und dass jedes dieser
Symptome gelegentlich simulirt wird. Daraus leitet er für das auf dem Titel
der Schrift namhaft gemachte ärztliche Publikum den Rath her, bei der Unter¬
suchung fraglioher Kranker „garnicht an traumatische Neurose zu denken, son¬
dern vielmehr den betreffenden Fall stets in die allbekannten, präciseren und
von allen Aerzten auoh anerkannten übrigen Krankheitsbilder einzureihen zu ver¬
suchen.“
d) T«iic«ltgie ud Nahraigsrnttel-Hygieie; BUltgische
Tagesfragei*
Professor Br. Ralalf Kober t, Lehrbuoh der Intoxicationen. Stuttgart,
Enke 1893. 816 Seiten; 63 Abbildungen im Text.
Kobert’s Buch hat neben seinem für unseren Leserkreis bestehenden nooh
insofern ein bedeutendes allgemeines Interesse für grössere ärztliche Kreise, als
es ein ganz vorzüglicher Repräsentant aus der „Sammlung medicinischer Lehr¬
bücher für Studirende und Aerzte“ ist, welohe unter dem Titel „Bibliothek des
Arztes“ in dem alt- und bestrenommirten Enke’sohen Verlage erscheint.
Um allen Anforderungen zu genügen, welohe in unserer Zeit von Seiten
der Kliniker und Klinicisten, der Therapeutiker und der Sachverständigen in foro
an ein Handbuch der Vergiftungen gestellt werden, müsste, nach dem eigenen
Ausdruck des Autors, ein Universalgenie ein mehrbändiges Werk sohreiben. Soll
demgegenüber gleichzeitig der Lehr- und Lernzweok berücksichtigt, und ein ge¬
gebener Raum nioht überschritten werden, so war ein eingeschränkter Stand¬
punkt zu wählen und trotz aller im Thema liegender Verlockungen festzuhalten.
Diesen festen Punkt gewährte der Kobert'sohen Lösung der Aufgabe die Phar-
macologie — und da alle Erörterungen und Darlegungen des Buches auf viel¬
seitiger praktischer und theoretischerJCigenerfahrung beruhen, ist dieser gewählte
Standpunkt als ein sehr zufriedenstellender zu bezeichnen.
Im Allgemeinen Theil behandelt die Erste Abtheilung das Allgemeine, die
Zweite den Naohweis der Intoxicationen. Der Speoielle Theil umfasst: Stoffe,
welohe schwere anatomische Veränderungen der Organe veranlassen; — dem¬
nächst die Blutgifte; — dann die Gifte, welohe, ohne sohwere anatomische Ver¬
änderungen veranlasst zu haben, tödten können; ein „Anhang“ bringt (als
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Kleinere Mittheiluugen, Referate, Literaturnotizen.
VI. Abtbeilung) die „Giftigen Stoffweohselproduote“: ohne Zweifel eine ebenso
übersichtliche wie zum Studium anregende Eintheilung.
So ersetzt K.'s Buch das noch immer auf allen Universitäten mangelnde
Studium der Toxicologie in unerwartet glücklioher Weise und wird sioh als Lehr-
und Handbuch bald allen Interessenten als unentbehrlich erweisen.
Br. Willi. Schlaapp (an der thierärztl. Hochschule zu Münohen), Die Fleisch ¬
beschau-Gesetzge bang in den sämmtliohen Bundesstaaten des
Deutschen Reiches zum Gebrauche für Staats- und städtisohe Behörden,
Polizei- und thierärztliche Beamte und Thierärzte. Stuttgart, Ferd. Enke.
1892. 4. 494 S.
Angeregt durch die Verhandlungen des Deutschen Veterinärrathes im März
1891 zu Nürnberg hat sioh Verf. der ebenso mühevollen wie dankenswerthen
Aufgabe unterzogen, die deutsche Landesgesetzgebung über die Fleischbeschau
zusammenzustellen. Hierbei wurden für jeden der in alphabetischer Reihenfolge
angeordneten 24Bundesstaaten alle Gesetze, alle von den Staatsministerien
ergangenen Verfügungen, Erlasse, Bekanntmachungen etc., sowi.e alle duroh die
Regierungen (Kreisregierungen in Bayern, Regierungspräsidenten bez. Bezirks¬
regierungen in Preussen) erlassenen Verordnungen ihrem Wortlaute naoh aufge¬
nommen, in einzelnen Fällen auch mit kurzen Anmerkungen versehen. Da¬
gegen wurden, um das Werk nicht zu sehr ansohwellen zu lassen und mit Rück¬
sicht auf ihre geringere Tragweite die von Seiten der unteren Verwaltungsbe¬
hörden (Kreisverwaltung und Landräthe in Preussen, Bezirksämter in Bayern,
Baden und einigen anderen Bundesstaaten, Oberämtern in Württemberg, Amts¬
hauptmannschaften in Sachsen), sowie von Ortspolizeiverwaltungen im Allge¬
meinen ferngehalten. Eine Ausnahme bilden nur einzelne principiell besonders
wichtige, z. B. für die Reichshauptstadt erlassene Bestimmungen.
Verf. beabsichtigt, dem vorliegenden Werke je naoh seinem buohhändle-
rischen Erfolge ein zweites folgen zu lassen, das die deutsche Reichsgesetzgebung
wie die Gesetzgebung der übrigen wichtigen europäischen Staaten berücksichtigt.
Das Erscheinen dieses neuen Buches würde nur mit grösster Freude zu begrüssen
sein. — Anderenfalls würde für eine zweite Auflage des vorliegenden Buches
die Aufnahme der deutschen Reiohsgesetze unerlässlich sein.
Die Anschaffung des Werkes sei allen im Titel genannten Behörden und
Personen auf das Wärmste empfohlen. R. Wehmer (Berlin).
Br. Arthw Loes, Schmarotzerthum in d er T hier weit. Leipzig, Richard
Freese. 1892. 180 S.
Die flotte Darstellung, in welche L. seinen umfangreichen Gegenstand ge¬
bracht hat, wird der Form, welche für denselben vorgesehen war (es ist das
10. Heft der „Zoologischen Vorträge, herausgegeben von Professor William
Marshall“, in welchem das Sohmarotzerthum der Thierwelt abgehandelt ist),
vorzüglioh gereoht. Die von jeder Systematisirung befreite Unmittelbarkeit, in
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Kleinere Mitibeilungen, Referate, Literaturnotizen.
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weloher sieb Beobachtung und Theorie geben, regt immer von Neuem zum
Weiterstudium an. Für weitere Leserkreise, die an den Zusammenhängen des
Parasitismus Theil nehmen, wäre allerdings die Hinzufügung einer Uebersicht
nach irgendwelchen Eintbeilungsgründen von Nutzen gewesen; Nichtfachmänner,
wie die Aerzte in dieser Materie es sind, werden sich mit Vortheil Belehrung
holen, aber schwer im Loos’schen Werke etwas Bestimmtes aufsuchen oder nach-
sohlagen können.
A. Jehne (Professor an der Königl. Thierärztlichen Hochschule in Dresden), Der
Trichinenschauer. Leitfaden für den Unterricht in derTrichinensohau und
für die mit der Controie und Nachprüfung der Trichinensohauer beauftragten
Veterinär- und Medicinalbeamten. Vierte durebgesehene und verbesserte
Auflage. Mit 115 Textabbildungen und einem Anhang: Gesetzliche Bestim¬
mungen über Trichinenschau. Berlin, Parey. 1893. 150 Seiten.
So schwierig die Vereinigung der verschiedenen Zwecke erscheinen konnte,
welche Johne in seinem „Triohinenschauer“ anstrebte, wenn er ihn zu einer
Grundlage für den Unterricht und die Prüfungen der empirisohen Trichinen¬
schauer und gleichzeitig zu einem verlässlichen Rathgeber für die mit der Con¬
troie und den Nachprüfungen befassten Beamten bestimmte, — so glücklich
wurden durch das besondere Geschick des Verf.’s diese Aufgaben bereits in der
ersten Auflage des Werkchens gelöst. Der Beifall des betheiligten Publikums
drückt sich in der Wiederholung der Auflagen deutlioh genug aus. Der werth¬
volle Anhang (Gesetz-Sammlung) ist duroh unablässige sorgfältige Naobträge auf
der Höhe seiner Bestimmung erhalten worden, ein zuverlässiger Rathgeber für
die Veterinär- und Medioinalbeamten zu sein.
Lferseh (Kottbus), Die linke Hand. Eine physiologische und medicinisch-
praktische Abhandlung für Aerzte, Pädagogen, Berufsgenossenschaften und
Versicherungsanstalten. Berlin, Schötz. 1893. 48 S.
Neben der Zweckbestimmung der Schrift, wie derTitel sie klarlegt, werden
die Inhaltsangaben über die 8 einzelnen Absohnitte den Leser über ihren Ge¬
dankengang orientiren: 1) Die Hand des Menschen, — 2) Gehirn, Auge und
Hand, — 3) Rechtshändigkeit und Linkshändigkeit, — 4) Die linke Hand, —
5 ) Rückwirkungen der Rechtshändigkeit (hierunter a: Die Rüokgratsverkrüm-
mung; b: Erkrankungen und Fehler der Augen; o: Innere Leiden), — 6) Die
linke Hand bei Unfällen, — 7) Simulation der Linkshändigkeit, — 8) Uebung
der linken Hand.
Unter eingehender Begründung und in einer so lehrreichen Weise, dass die
Lectüre der Schrift für jeden Leser etwas Neues und Brauchbares zur Folge
haben dürfte, wirkt Verf. darauf hin, den Werth der Zweihändigkeit (Ambidex-
terität der Alten) und des Strebens, auch die Linke sohön, behende, richtig, un-
sohmerzhaft und leicht in Gebrauch zu nehmen, duroh geeignete praktische Bei¬
spiele zu illustriren.
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Kleinere Mitteilungen, Referate, Literaturnotizen.
e) lafcctfeiskraakheitoM nd ierea Verhfttiig.
Entwurf eines Gesetzes betreffend die Bekämpfung gemeingefähr¬
licher Krankheiten — nebst der amtlichen Begründung. Berlin, Springer.
1893. 56 S.
In der handliohen und sich durch Correctheit auszeiohnenden Ausgabe des
obigen Gesetzentwurfs, wie sie Seitens des Springer’sohen Verlages veran¬
staltet worden ist, nimmt die Reihe der 46 Paragraphen die Seiten 1 —13, die
„amtliche Begründung“ die Seiten 14—56 ein. Der Ausführlichkeit der Be¬
gründung gegenüber erscheint es angemessen, die meritorisohe Besprechung des
Inhaltes an die Disoussionen im Reiohstage erent. anzuknüpfen, — dies um so
mehr, als die politische Presse bereits die Aufgabe übernommen hat, allerlei Be¬
denklichkeiten den gesetzgebenden Factoren zu unterbreiten.
(Auoh der rührige Berliner Verlag von Franz Vahlen hat uns eine cor-
reote zierliche Ausgabe des „Entwurfs“ zugehen lassen.)
Professor I. Quincke, Die Strafbarkeit der Uebertragung anstecken¬
der Krankheiten. Sep.-Abdr. aus d. ärztl. Vereinbl. 1893/249.
Nach §232 St.-G.-B. können die duroh Fahrlässigkeit verursachten Körper¬
verletzungen nur auf Antrag verfolgt werden. Hierin erblickt Qu. einen Mangel
und würde letzteren für beseitigt halten, wenn eingefügt würde: „Ohne Antrag
des Geschädigten kann auch die fahrlässige Uebertragung einer ansteckenden
Krankheit verfolgt werden, wenn der Thäter von dem Vorhandensein der Krank¬
heit oder der Gefahr der Uebertragung Kenntniss hatte.“
Br. A. Blaseh ko, Die Verbreitung der Syphilis in Berlin. Unter Be¬
nutzung amtlichen Materials bearbeitet. Berlin, Karger. 1892.
Der Zweck dieses Vortrags beruht in der Betonung der Bedeutung, welohe
Krankenkassen für die Prophylaxe der Geschlechtskrankheiten haben. Es han¬
delt sioh also um eine Angelegenheit, die nioht oft genug auf die Tagesordnung
gebracht werden kann. Auf Grund des ihm zu Gebote stehenden statistischen
Materials glaubt Verf. nachgewiesen zu haben, dass sich in einer 25jährigen
Periode von 1860—1886 eine zweifellose Abnahme der venerisohen Krankheiten
herausgestellt habe.
Er stützt sich hauptsächlich auf die noch am besten geführten Listen der
Polizeiärzte, obgleioh in denselben stets nur von venerischen Krankheiten iro
Allgemeinen die Rede ist, ohne dass eine Scheidung der 5 verschiedenen Krank¬
heitsgruppen gemacht wird. Von wesentlichem Einflüsse auf die Erkrankungs¬
ziffer sei die Häufigkeit, sowie die Gründlichkeit der Untersuchung.
Dass auch in der Gesammtbevölkerung während der letzten 3 Deoennien
die venerischen Krankheiten sioh vermindert haben, sucht Verf. aus den Listen,
welche die Erkrankungen der Mannsohaften der Berliner Garnison, sowie der Mit-
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Kleinere Miltheilungeu, Referate, Literaturnotizen.
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glieder des Qewerkskrankenvereins betreffen, nachzaweisen, obgleich aaoh dieses
Material kein exaotes war. Im Anhänge sind die bezüglichen Tabellen mit*
getheilt.
Bei der Erforschung der Gründe, ans welchen sioh die Abnahme der vene¬
rischen Krankheiten erklären lasse, betont Verf. zunächst nochmals die sanitäre
Controle der Prostituirten, die Eliminirung der Erkrankten und deren Behandlung
in der Charitd. Trotzdem sei dieser Einfluss nicht zu überschätzen, zumal nur
ein Bruchtheil der Prostituirten der Controle unterworfen sei. Betrachte man die
Prostitnirten weniger in ihrer Eigenschaft als Geberinnen, vielmehr als Em¬
pfängerinnen der Syphilis und berücksichtige man, dass sie heute weniger häufig
als früher erkranken, so sei eben das Medium, in dem sie sioh bewegen, ein ge¬
sunderes geworden. Die Ursachen hiervon seien in der Entwicklung des gewerk-
liohen Krankenkassenwesens zu suchen, namentlich wenn bei der ärztliohen Be¬
handlung jede Beschränkung zu Uogunsten der Geschlechtskranken aufhöre.
Einen Rückschritt in dieser Erkrankung bedeute das Krankenkassengesetz
von 1883, dessen §§ 6 und 26 bekanntlich die Entziehung des Kranken¬
geldes bei Krankheiten, die durch geschlechtliche Ausschweifung erzeugt sind,
gestatten. k
Die grössten Krankenkassen Berlins haben bereits keinen Gobrauoh von
dieser Bestimmung gemacht, während die Mehrzahl der Kassen sie noch bei-
bebalten haben. Verf. geht von der Ansicht aus, dass die Krankenkassen keine
moralischen, sondern hygienischen Institute sind, und gesellt sich zu den Kassen¬
ärzten, die schon in den 50er und 60er Jahren die fragliche Beschränkung be¬
kämpft haben. Der Geschlechtskranke müsse in jedem Öffentlichen Krankenhause
Aufnahme und überall eine humane Behandlung finden, weil sonst der Ver¬
schleppung, Verheimlichung und Weiterverbreitung der Krankheit nur Vorsohub
geleistet werde.
Zwangsbordelle werden mit Reoht für die unglüokliohste Lösung der Prosti¬
tutionsfrage gehalten. Als ein Fortschritt in dieser Riohtuog würde einestheils
der Fortfall aller Beschränkungen, welche der Behandlung Gesohleohtskranker
in und ausserhalb der Krankenhäuser im Wege ständen, andererseits die Vervoll¬
kommnung der bestehenden sanitären Untersuchungen der Prostituirten zu be¬
zeichnen sein. In Uebereinstiinmung mit dem Sypbilidologen Ne iss er wird
schliesslich die Umgestaltung des polizeilichen Charakters der Untersuchung
in eine rein ärztliche, die Verlegung derselben in die Krankenhäuser und
ihre Umwandlung in eine Art poliklinisoher Sprechstunde, verbunden mit
ambulatorischer Behandlung, empfohlen. Allerdings würde in diesem
Falle die Zahl der Untersuchungen sich verdoppeln und verdreifachen, auoh die
Zahl der untersuchenden Aerzte sich vervielfachen. Immerhin dürfte diese An¬
regung zu neuen Versuchen auf einem der schwierigsten Gebiete nicht wieder
spurlos vorübergehen, sondern das Interesse aller bei der Lösung der Prosti¬
tutionsfrage betheiligten Faohgenossen dauernd fesseln, da nur mit Sorgfalt ge¬
prüfte Erfahrungen über den Werth des in Rede stehenden Untersuchungs¬
verfahrens Entscheidung treffen können. Eulen borg-Bonn.
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Kleinere Mitteilungen, Referate, Literatnrnotizen.
Wie der Königl. preussische Minister der etc. Medicinalangelegenheiten im
Randsohreiben vom 29. November d. J. den Königl. Oberpräsidenten mittheilt,
hat er „aas den Berichten über die im Vorjahre gegen die Verbreitung der
Tuberkulose durchgeführten Maassregeln mit Befriedigung ersehen, dass durch
Ausbreitung von Belehrungen über die Uebertragungsweise der Tuber¬
kulose, durch Aufstellung von Wasser enthaltenden Speibeoken an geeigneten
Orten, sowie durch Anschaffung von Dampfdesinfektionsapparaten seitens
der Gemeinden und Anstalten erfreulich viel auf diesem Gebiete geschehen ist.
Wenn die getroffenen Maassregeln dauernd zur Ausführung gelangen, so wird im
nächsten Jahre hoffentlich aber ebenso günstige Erfolge zu berichten sein“.
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IV. Amtliehe Verfügungen.
Randerlass 18. Jnli 1892, betr. Befngaiss der Plreeteren der Proviasial-
Irrenanstalten iar Aasstelling ran Leiehenpässea.
Im Anschluss an die Rundverfügungen vom 6. April. 23. September und
29. December 1888, vom 14. October 1889 und 7. Februar 1890 bestimmen wir
hierdurch, dass auch die ärztlichen Directoren der Provinzial-Irrenheil- und Ver¬
pflegungsanstalten berechtigt sein sollen, bei Leichenpässen die erforderliche Be¬
scheinigung über die Todesursache und darüber, dass gesundheitliche Bedenken
gegen die Beförderung der Leiche nicht vorliegen, auszustellen.*)
Ew. Excellenz überlassen wir hiernach ganz ergebenst das Erforderliche
gefälligst zu verfügen.
Der Minister des Innern:
gez. Herrfurtb.
Der Minister der pp. Medicinal-
angelegenheiten:
gez. i. A. Löwenberg.
An sämmtliche Königl. Oberpräsidenten.
Erlass der minister des Innern aad der a. s. w. medielaal-Aagelegeaheitea vom
19 . Peeember 1892, betr. Stelling der Krankenanstalten des Jabanniter-irdens.
den staatlichen Behörden gegenüber.
Ew. Hochwohlgeboren erwidern wir auf den gefälligen Bericht vom 24. Oc¬
tober d. J. — 2529 I. P. K. — ergebenst, dass zwar dem Staate auch den
Krankenanstalten des Johanniterordens gegenüber ein Aufsichtsrecht unzweifel¬
haft zusteht, dass aber durch die dem Ordern Allerhöchst gewährleistete Immediat-
stellung die Aufsichtsbehörden gehindert sind, dieses Recht anders als auf Grund
einer Allerhöchsten Entschliessung auszuüben.
*) Selbstverständlich erstreckt sich die hier ertheilteBefugniss (in analoger
Weise wie bei den Chefärzten der Militärlazarethe und den Directoren der Uni¬
versitätsklinik,) nur auf die Leichen soloher Personen, die in den Provinzial-Irren¬
anstalten n. s. w. gestorben sind.
ViertetyahrsBchr. f. ger. Med. Dritte Folge. V. 2. 27
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Amtliche Verfügungen.
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Eine solohe zu erwirken, wird aber nur dann erforderlioh sein, wenn be¬
sondere Vorgänge bekannt werden, welche eine Revision nothwendig oder
wünschenswert!) erscheinen lassen.
Erforderlichen Falls sehen wir gefälligem Berichte ergebenst entgegen.
An den Königl. Regierungspräsidenten zu M.
Ruderlau rem II. febraar 1893, betr. telegraphische Aameldaag der
Erkraakugei ud Todesfälle aa Chelera.
Ew. Hochwohlgeboren ersuche ich unter Bezugnahme auf den Erlass vom
27. August v. J. — H Nr. 8114 — ergebenst, die Telegramme über etwa ver¬
kommende Erkrankungen und Todesfälle an Cholera von jetzt an gefälligst
doppelt und zwar gleichlautend, das eine als Staatstelegramm an die Geheime
Medicinalregistratur meines Ministeriums, das andere als Reichsdienstsache an
das Bureau des Kaiserlichen Gesundheitsamts hierselbst aufzugeben, sowie die
Landräthe und die Ortspolizeibehörden wegen der von ihnen zu erstattenden Mel¬
dungen über erste Fälle in den einzelnen Ortschaften hiernach mit entsprechen¬
der Weisung zu versehen.
Der Minister der pp. Medioinalangelegenheiten:
(gez.) Bosse.
An sämmtlicbe Königl. Regierungspräsidenten.
Bekuataaehug des Köaigl. Peliieipräsideatea !■ Berlin rem 13. Februar 1893,
betr. Beielehnaag der Tedesarsaehen anf den Tadteascheiaea.
Die Herren Aerzte Berlins bedienen sich bei Angabe der tödtlich gewor¬
denen Krankheit der Verstorbenen auf den Todtenscheinen in neuerer Zeit häufig
ausschliesslich nichtdeutscher Ausdrücke. Dies Verfahren führt zu Unzuträglioh-
keiten, weil die Todtenscheine vorzugsweise zum Zweck der polizeilichen Con-
trole eingeführt sind und diesem Zweck nur dann entsprechen können, wenn die
Todesursache mit einem auch für den Nichtarzt verständlichen Namen be¬
zeichnet ist.
loh ersuche daher die Herren Aerzte bei Ausfüllung der Todtenscheine sich
thunlichst deutscher Krankheitsnamen zu bedienen.
Im Hinblick auf die vielfach in der Presse wie im Publikum dadurch ver¬
ursachte Beängstigung wird noch das ergebenste Ersuchen an die Herren
Aerzte beigefügt, den Ausdruck „Cholera nostras“ gänzlich zu meiden und bei
jedem amtlichen Verkehr durch die ohnehin viel zutreffendere Bezeichnung
„Einheimischer Brechdurchfall“ zu ersetzen.
Die Anweisungen über das Verfahren mit Fällen „Asiatischer Brechruhr“
(Cholera asiatioa), deren Meldung etc., bleiben hierdurch selbstverständlich un¬
berührt.
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(v(*drtickt hoi L. Srhmmirhcr in Brrlin.
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