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UNIVERSITY OF MICHIGAN
1920.
Juli.
V iertel jahrsscbrift
für
gerichtliche Medizin
und
öffentliches Sanitätswesen.
Unter Mitwirkung der wissenschaftlichen Deputation für
das Medizinal wesen im Ministerium für Volkswohlfahrt
herausgegeban
Dr. M. Beninde, und Prof. llr. F. Strassmann,
Geh. Med.-Rat in Berlin. Geh. Med.* Rat in Berlin.
Dritte Folge. 60. Band. 1. Heft.
Jahrgang 1920. 3. Heft.
Mit - Kurvcntafeln und 1 Abbildung im Text.
BERLIN 1920.
VERLAG VON AUGUST HIRSCH WALD.
NW. UNTER DEN LINDEN 68.
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UNIVERSETY OF MICHIGAN
Verlag von August Hirsrinvaltl in Berlin.
Praktikum ‘
der gerichtlichen Medizin.
Die Elemente der gericbtsärztlicben Dia¬
gnostik und Technik nebst einer Anlage:
Gesetzesbestimmungen und Vorschriften
für Mediziner, Juristen und praktische
Kriminalisten
von Gerichtsarzt Dr. Hugo Marx.
Zweite, verbesserte und erweiterte Aull.
1919. gr. 8 . Mit 25 Textliguren. 10 M.
(irandriss
der psychiatrischen Diagnostik
nebst einem Anhang, enthaltend die für
den Psychiater wichtigsten Gesetzesbe¬
stimmungen und eine Uehersicht der ge¬
bräuchlichsten Schlafmittel
von Prof. Dr. J. Raecke.
Aeilte, umgearbeitete und verb. Auflage.
1920. 8. Mit 14 Textliguren. Gebd. 8 M.
Bernhard Fischer’s
kurzgefasste Anleitung zu den wichtigeren
hygienischen und bakteriologischen
Untersuchungen.
Dritte, wesentlich umgearbeitete Auflage
von Prof. Dr. Karl Kisskalt. B •
1918. 8. Gebd. 11 M.
Pathologisch-anatomische
Diagnostik
nebst Anleitung zur Ausführung von
Obduktionen sowie von pathologisch¬
histologischen Untersuchungen
von Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Joh. Orth.
Achte, durchgesehene u. vermehrte Aull.
1917. gr.8. Mit 532 Textfig. 22 M., geb.24M.
Soziale Pathologie.
Versuch einer Lehre von den sozialen
Beziehungen der menschlichen Krankheiten
als Grundlage der sozialen Medizin und
der sozialen Hygiene
von Prof. Dr. med. Alfred Grotjahn.
Zweite, ncubearb.Aull. 1915. gr.8. 15M.
Praktikum der physiologischen
und pathologischen Chemie
nebst einer Anleitung zur anorganischen
Analyse für Mediziner
von Geh. Med.-Rat Prof. Dr. E. Salkowski.
Vierte, vermehrte Auflage. 1912. 8.
Mit 10 Textliguren und einer Spektraltafel
in Buntdruck. Gebd. 8 M.
j Verlag vo n Aug ust Hirschwald in Berlin.
I " * -' —
Lehrbuch
der Blutkrankheiten
ftir Aerzte und Studierende
j von Dr. Hans Hirschfeld.
1918. gr. 8. Mit 7 chromojithogr. Tafeln
i und 37 Textliguren. 32 M.
Die experimeutelle Diagnostik,
! Serumtherapie nnd Prophylaxe
1 der Infektionskrankheiten
| vou Oberstabsarzt Prof. Dr. E. Marx.
} Dritte Aull. gr.8. Mit 2 Taf. u. 4 Textfig.
! 1914. 12 M.
(Bibl.v. Coler-v.Schjeriiiug. XI.Bd. 3. Aull.)
Grundsätze
I für deu Bau vou Krankenhäusern
von Obergeneralarzt Dr. Thel.
j Zweite, vermehrte Auflage.
; 1914. gr.8. Mit 4Tafeln u. S4Textfig. 6M.
(Bibliothek v. Coier-v.Schjerning, XX. Bd.)
Die
Verletzungen der Wirbelsäule
durch Unfall.
Ein Beitrag zur Versicherungsmedizin.
Auf Grund von Eigenbeobachtuugeu
von Dr. mcd. F. 0. (Quetsch.
1914. gr.8. Mit 103 Textlig. 4M. 30 Pf.
Handbuch
der gerichtlichen Psychiatrie
unter Mitwirkung von Prof. Dr. Asch affe n-
burg, Prof. Dr. E. Schultze, Prof.
Dr. Weil eii borg,
herausgegebeu von Prof. Dr. A. Hoche.
Zweite Auflage. 1909. gr.8. 20 M.
Handbuch
der allgemeinen und speziellen
Arzneiverordnungslehre.
Auf Grundlage des Deutschen Arzneibuches 5. Aus¬
gabe und der neuesten ausländischen Pharmakopoen
bearbeitet von
Geh. Med.-Rat Prof. Dr. ('. A. Ewald
und Geh. Med.-Rat Prof. Dr. A. Heffter.
Mit einem Beitrag
von Prof. Dr. E. F r i c d b c r g e r.
Vierzehnte, gänzlich umgearbeiteteAuf!.
1911. gr. 8. Gebd. 18 M.
Lehrbuch der Unfallheilkunde
für Aerzte und Studierende
von Dr. Ad. Silberstein.
1911. gr. 8. 13 M.
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Y iertelj ahrsschrift,
für
gerichtliche Medizin
and
öffentliches Sanitätswesen.
Unter Mitwirkung der wissenschaftlichen Deputation für
das Medizinalwesen im Ministerium für Volkswohlfahrt
heraasgegeben
Dr. M. Beninde, und Prof. I)r. F. Strassmann,
Geh. Mod.-Bat in Berlin. Geh. lfed.-Bat in Berlin.
Dritte Folge. 60. Band.
Jahrgang 1920.
Mit 2 Kurventafeln, l Kurve und 1 Abbildung im Text.
BERLIN 1920.
VERLAG VON AUGUST HIRSCHWALD.
NW. UNTRE DK» LINDRN 68.
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Inhalt.
1. Heft. äeite
I. lieber die Frage des Kalkmangels in der Kost. Gutachten der
Wissenschaftlichen Deputation für das Medizinalwesen in Berlin.
Erstattet am 10. März 1920. Referent: Geh. Ober-Med.-Rat Prof.
Dr. R u b n o r. 1
II. Das Verhalten des Körpergewichts und die Ernährungsverhältnisse
der männlichen Verpflegten der sächsischen Landesanstalt Colditz
während der Kriegsjahre 1915—1919. Von Ober-Med.-Rat Dr.
Dehio, Direktor d.Landesanst.Colditz. (Mit2Kurventaf.i.Text.) 27
III. Aus der medizinischen Klinik Bürgerspital Basel (Vorsteher: Prof.
Dr. R. Staehelin). Ueber Brommethyl Vergiftung. Ein Beitrag
zur Frage der Spätwirkungen von Giftstoffen. Von Fritz Rohrer,
Dozent für Physiologie in Basel.51
IV. Aus der medizinischen Klinik der Universität Basel (Vorsteher:
Prof. Dr. R. Staehelin). Ueber Vergiftung mit Brommethyl und
Nachweis der Substanz in Blut und Organen vergifteter Tiere.
Von Privatdozent W. Löffler und W. Rütimeyer .... 60
V. Tod nach Misshandlung. Von Dr. Räuber, Regierung^- und
Geh. Med.-Rat in Erfurt. 68
VI. Aus dem gerichtl.-med. Institut Basel (Vorsteher: Prof. S. Schön -
berg). Beitragzur Kenntnis plötzlicherTodesfälledurcb Erstickung.
Von Dr. med. Berthold Meyer. (Mit 1 Abbildung im Text.) . 79
VII. Aus dem pathologischen Institut der städtischen Krankenanstalten
in Dortmund (Direktor: Prof. Dr. Herrn. Schridde). Unter¬
suchungen über die Fäulnisveränderungen der menschlichen
Lungen. Von Herbert Olivecrona, ehern. Assistent am Institut 102
VIII. Die forensische Bedeutung der Gebirnarteriosklerose. Von Dr.med.
W. Knape, Kreisarzt in Johannisburg (Ostpr.).121
IX. Kleinere Mitteilungen:
1. Mord, Verstümmelung der Leiche, Verurteilung und Ab-
büssung der Strafe; Manifestation der Geisteskrankheit;
Tod in der Irrenanstalt. Paralytische Veränderungen im Ge¬
hirne und luetische an der Aorta. Von Dr. L. Stano-
j e v i 6, Direktor der Landesirrenanstalt in Stenjevec bei
Zagreb (Agram) in Kroatien.137
2. Klage auf Notzucht. — Abtreibungsversuch bei nicht¬
schwangerem Uterus. Von Dr. James Brock, ehemals
Arzt der Kaiserl. St. Petersburger Entbindungsanstalt und
St. Petersburger Stadtakkoucheur.140
X. Besprechungen.142
XI. Notiz.144
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IV
Inhalt.
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2« Heft* Seit«
XU. Die Begutachtung von Nierenerkrankungen auf Grund der Kriegs¬
erfahrungen. Von A.V. Knaok, Hamburg. (Mit 1 Kurve im Text.) 145
XIII. Aus dem pathol.-anat. Institut des Krankenhauses Friedricbstadt
in Dresden (Direktor: Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Schmorl). Ueber
Vergiftung durch Trinken chloroformhaltiger Flüssigkeit. Von
Raimund Schelcher.175
XIV. Ueber künstliche Färbung und Entfärbung des menschlichen
Haares in geriohtlioh-medizinischer Beziehung. Von Dr. Lothar
Bock, Braunschweig.191
XV. Die Ursachen des Verbrechens. Von Hugo Marx f . . . . 205
XVI. Aus der Berliner städtischen Irrenanstalt Dalldorf (Direktor:
Geheimrat Dr. Kortum). Dämmerzustände eines homosexuellen
Neurotikers. Von Dr. Max Margulies, Hermsdorf bei Berlin . 226
XVII. Die forensische Bedeutung der Gehirnarteriosklerose. Von Dr. med.
W. Knape, Kreisarzt in Johannisburg (Ostpr.). (Schluss.) . . 247
XVIII. Das Leichenwesen in Preussen: Von Dr. Robinski, Kreisarzt in
Papenburg-Ems.258
XIX. Kleinere Mitteilung:
Hieb- und Schusswunde als Konkurrenz der Todesursache.
Von Generaloberarzt a. D. Dr. Neumann, Naumburg a. S. . -269
XX. Besprechungen.271
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I.
Ueber die Frage des Kalkmangels in der Kost.
Gutachten der Wissenschaftlichen Deputation für das Medizinal¬
wesen in Berlin. Erstattet am 10. März 1920.
Referent: Geh. Ober-Med.-R&t Prof. Dr. Rnbner.
An den
Herrn Minister für Volkswohlfahrt.
I.
Dem Ministerium für Volkswohlfahrt sind eine ganze Reihe von
Druckschriften, sowie anderweitige Zusendungen unterbreitet worden,
welche an die Bekanntgabe der in Deutschland gemachten Erfahrungen
über Enochenerkrankungen anknüpfen und entweder auf die Emp¬
fehlungen von Salzmischungen oder Kalk in irgend welchen Kombi¬
nationen als Zusatz zur Nahrung hinauslaufen. Mit Berücksichtigung
dieser Angelegenheit soll die Frage beantwortet werden, ob die seit
der Hungerblockade von dem deutschen Volke bis auf den heutigen
Tag genossene Nahrung so viel ärmer an Kalksalzen ist, dass dadifrch
eine gesundheitlich ungünstige Beeinflussung des menschlichen und
namentlich des wachsenden Organismus eingetreten ist. Ferner wird
noch die Beantwortung der Frage gewünscht, ob durch ein Aufnehraen
der kalkhaltigen Mineralwässer und Präparate, wie sie auf den Markt
gebracht werden sollen, eine Verhütung oder Heilung der genannten
Knochenerkrankungen ohne weiteres erreicht werden kann, oder ob
nicht dadurch sogar Schädigungen der menschlichen Gesundheit ent¬
stehen können.
Der gutachtlichen Aeusserung beehren wir uns zunächst eine
kurze Schilderung des Inhaltes der Druck- und Schriftsachen voraus¬
zuschicken, weil in ihnen eine Reihe anderer gesundheitlicher Fragen,
deren Erledigung im Interesse des ganzen Themas uns von Wichtigkeit
erscheint, angeschnitten werden.
Unter den Zuschriften befindet sich zunächst eine solche von
dem Sanatoriumsleiter Dr. G., die an einen in der Täglichen Rund-
Viertetifthreeehrift f. gor. Med. u. Off. 8ao.-Wesen. 3. Folge. Bd. 60. H. 1. i
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2 Wissenschaftliche Deputation für das Medizinalwesen in Berlin,
schau abgedruckten Artikel des Genannten anknüpft. Nicht im
Nahrungsmangel an organischen Nährstoffen läge die Ursache unseres
Ernährungszustandes, sondern in der Demineralisation von Boden,
Pflanzen, Tier und Mensch. „Eine genaue Beobachtung der im Lande
erzeugten pflanzlichen und tierischen Nahrungsmittel, sagt er, zeigt,
dass genau wie Menschen und Tier auch Boden und Pflanzen hungern.
Die Demineralisation aber übertrug sich von den Pflanzen auf Mensch
und Tier“. Die Ernährungsphysiologie habe zu lange nur die organi¬
schen Nährstoffe betrachtet, die anorganischen nicht gewürdigt, vor
allem nicht ihre Bedeutung für die Ausnützung der Energie aus den
aufgenommenen Nahrungsmitteln.' Zweifellos hätten sonst die Folgen
der Hungerblockade gemildert werden können.
Die Mineralstoffe sind für G. nicht nur als Energieträger im
Blute anzusehen, sollen vielmehr eine bessere Ausnützung des Nahrungs-
eiweisses bewirken — wie als Eiweisssparer fungieren; bei Tier- und
Menschenversuchen hätte man eine Sparung von Kalorien von 20 pCt.
erwiesen.
„Die regelmässige Zuführung der kombinierten Mineralsalze¬
verbindung gewährleistet selbst bei einer an Kraftstoffen armen Nahrung
ungestörten Stoffwechsel, restlose Ausnutzung in brauchbaren Nähr¬
stoffen, normale Knochen- und Gewebsbildung, Erhaltung der Lebens¬
energie und Kraft, sowie Erhöhung der Leistungsfähigkeit. Es dürfte
sich daher empfehlen, die Mineralsalze in den von mir untersuchten
uncf angegebenen Verhältnissen dem Hauptvolksnahrungsmittel, dem
Brot, regelmässig beim Backprozess zuzusetzen!“
Eine andere Gruppe von Petenten fordert nur Kalkzusatz. Den
Reigen eröffnet eine von CI. überreichte Denkschrift, gleichfalls an¬
knüpfend an die Knochenerkrankungen. Während der Kriegszeit habe
man wohl für die Zivilbevölkerung die Zufuhr organischer Nährstoffe,
jedenfalls aber nicht jene mit anorganischen Nährstoffen organisiert,
bei der Ernährung komme es nicht lediglich auf die Gewichtsraengen,
sondern auch auf den „Gehalt“ der Nahrung an. „Hätten wir für
die Herstellung einer Nahrung gesorgt, die alle zur Erhaltung des
menschlichen Organismus notwendigen Stoffe enthielt, so hätten wir
keine so furchtbare Unterernährung bekommen. Die Kriegskost hat
im Kriegsbrot zu viel Magnesia und im allgemeinen zu wenig Kalk
enthalten. Kalkhaltige Nahrungsmittel fehlten im Kriege, daher die
Folge. Der Körper der Mutter erschöpft sich, kann das Kind nicht
bilden und nähren“. Es wird dann auf die bekannten Schriften von
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Ueber die Präge des K&lkmangels in der Kost.
3
Emmerich und Löw verwiesen, auf die Notwendigkeit der Einführung
des Kalkbrotes und den Genuss des Kalkes und kalkhaltiger Quellen
in leicht assimilierbarer Form. 1917 sei verfügt worden, in Zucht¬
häusern Wasser der Thüringer Kalziumquelle zu geben und habe gute
Erfahrungen gezeitigt.
Es muss in Zukunft von Staatswegen das Wasser unserer Kalzium¬
quelle für alle öffentlichen Nahrungsversorgungen verabreicht werden.
Die Ernährungsämter der Städte und Kreise müssen entsprechende
Anweisung bekommen. Propaganda in Schulen sei nötig.
Weiter liegt vor eine Eingabe des Bundes der Kalkfreunde. Für
Tiere, heisst es, habe man schon 1916 einen Schlemmkreidezusatz
zum Futter empfohlen. Auch für den Menschen sei Vorsorge zu
treffen. Der Bund der Kalkfreunde legt seinen Mitgliedern die Pflicht
auf, das Speisesalz mit kohlensaurem oder phosphorsaurem Kalk zu
versetzen. Der Bund verlangt, dem Getreide 1 pCt. Schlemmkreide
beizumahlen. Der Werberuf der Gesellschaft lautet: „allezeit Kalk“.
Schon der Embryo sei kalkbedürftig. Auch später sei Kalk not¬
wendig. Die schlechte Entwicklung mancher Säuglinge beruht auf
Kalkroangel; die Kalkfreunde verlangen, dass zu jedem Pfund Salz
50 g phosphorsaurer Kalk und 50 g kohlensaurer Kalk zugesetzt werde.
Im Zusammenhang mit dem Schreiben der Kalkfreunde steht
eine Eingabe des Vereins deutscher Kalkwerkc. Sie verlangen, dass
von Reichswegen die Mühlen anzuhalten wären, dem Mehle Schlemm¬
kreide oder anderweitig kohlensauren Kalk zuzugeben. Als Beilage
hat der Interessenverein deutscher Kalkwerke eine Abschrift einer im
Jahre 1917 an den Generaloberst von Kessel gesandten Eingabe
übermittelt. Sie beginnt mit dem gleichen Argument, das schon oben
erwähnt ist, das Landwirtschaftsministerium habe schon 1916 eine
Zuga*be von 50 g kohlensaurem und 50 g phosphorsaurem Kalk zum
Futter für ein Stück Grossvieh empfohlen und ein segensreiches
Resultat erzielt. Worin das bestanden hat, wird nicht angeführt.
Weil die Milch beseitigt sei, müsse Ersatz geliefert werden. Die
Mineralwässer von Sodenthal und Suderode seien zu teuer, um damit
der Bevölkerung zu helfen. Beim Schwein sei erwiesen, dass bei
Kalkmangel die Ausnützung der Futtermittel geringer sei, also wird
es beim Menschen ebenso sein. Am besten sei es, wenn der Müller
direkt Schlemmkreide zusetzt. Der Kalkzusatz wird weiter motiviert
durch die sehr grossen natürlichen Schwankungen des Vorkommens
von Kalk in unseren Nahrungsmitteln.
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Wissenschaftliche Deputation für das Medizinal wesen in Berlin,
Eine sehr umfangreiche Literatur umfasst endlich eine von ver¬
schiedenen Seiten ausgeführte Begutachtung der thüringischen Karolinen¬
quelle. Einmal werden Backversuche, mit Zusatz von Karolinenquelle
mit Chlorkalziumzusatz ausgeführt, berichtet. Dann folgen eine Reihe
von Gutachten. Ein solches von dem Nahrungsmittelchemiker M. W.,
in dem gesagt wird, dass ein Zusatz von 500 kg Teig mit 500 g
Quellensalz (= das natürliche Quellwasser der Karolinenquelle mit
der Hälfte seines Gewichtes Chlorkalzium versetzt) bei 2350 g Brot
pro Woche im Tag 1 g Chlorkalzium zuführt, was bei kalkarmer Er¬
nährung notwendig sei, um das Knochensystem mit Kalk zu versehen.
Weiter ein Gutachten von Prof. X. über Nationalkalzbrot, das
mit obigen Salzgemischen hergestellte Brot. Nach einem Hinweis
auf die Angaben von Emmerich und Löw über Kalkbedürfnisse
wird gesagt, dass die Kriegskost, wenn sie nur reichlich ist, genügend
Kalk enthält, dass aber jetzt die a Bevölkerung geschwächt und die
VerdauungsWerkzeuge nicht in der Lage seien, die Nahrungsbestand¬
teile, darunter die mineralischen, genügend zu verwerten. Vor allem
trage an der schlechten Verwertung das schlechte Brot die Schuld.
Gute Vollkornbrote müssten auch die Randschichten des Getreidekorns
enthalten, aber nicht die Schalen. Solch Brot bedarf keines Zusatzes,
es enthält die Salze in richtiger Menge. Aber wenn stärker ausge-
mählen würde und Weizenmehl geringer Ausmahlung eingeführt wird,
so können Uebelstände eintreten. Dabei könne dem Kalkzusatz das
Wort geredet werden, 100 Kilo Brotteig empfangen mit der durch
Chlorkalzium verstärkten Karolinenquelle dann 50 g Kalk als Zusatz.
Das Nationalkalzbrot sei daher ein Beitrag zur Verbesserung der dar¬
niederliegenden Volksernährung.
Ein Gutachten von Prof. 1\ besagt etwa folgendes: Einleitend
wird wieder auf die Anschauungen von Emmerich und Löw hinge¬
wiesen, dann werden die Funktionen des Kalkes im Körper aufgezählt.
Kalk könne aber durch Magnesia aus den Zellkernen und anderen
Depotstellen verdrängt werden, wobei die Lebensfähigkeit und Wider¬
standskraft der Organe beeinträchtigt würde. Der Körper darf nicht
zu wenig Kalk enthalten, weil sonst Zähne und Knochen weich werden.
Kalkzirkulation muss vorhanden sein. Im Blutserum sei dreimal so
viel Kalk als Magnesia, die Milch hat 8—9 mal so viel Kalk als
Magnesia und ist überhaupt kalkreich. Das Blutserum zeigt an, wie
das Mischungsverhältnis zwischen Kalk und Magnesia am zweck-
mässigsten in der Nahrung sein soll. Der Kalkbedarf sei nach Löw
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Ueber die Frage des Kalkmangels in der Kost.
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l_g CaO im Tag. Wesentliche Herabsetzung müsse krankhafte Folgen
haben, die Kalktherapie habe sich daher als zweckmässig erwiesen.
Unsere Kriegscrnährung ist zu kalkarm. Nach Löw seien in der
rationierten Kost nur 0,332 g CaO und 0,7429 Mg vorhanden, aber
mit l / 2 Pfund Blatt- und Wurzelgemüsen käme man auf 0,882 CaO
und 0,977 g Mg, was auch noch nicht ganz befriedigt. Im Winter
sei die Gemüsezufuhr nicht möglich und zu teuer, also muss der
Kalkgehalt der rationierten Kost erhöht werden. Kalkhaltige Mineral¬
wässer könne man nicht allgemein verabreichen, also müsse Kalk als
Chlorkalzium dem Brot beigemengt werden. Trotz alledem habe das
Kalkbrot keine genügende Verbreitung gefunden. Die Lösung wäre
die Anreicherung der Karolinenquelle mit Chlorkalzium. Bei einem
täglichen Genuss von 325 g Brot = Nationalkalzbrot würde täglich
T),767 g CaO zugeführt. Man komme also mit Kalkbrot in der Ration
auf 0,982 CaO und 0,742 Mg und mit 250 g Gemüse auf 1,552 CaO
und 0,975 g MgO. Im Frieden würden bei 500 g Brot schon in
diesem allein die erforderliche Kalkmenge vorhanden sein. Es bedarf
aber einer eingehenden Kontrolle des Brotes.
Der Nervenarzt B. in Berlin berichtet über die Wirkung der
Karolinenquelle bei verschiedenen Krankheiten, was übergangen werden
kann. Die Direktion der Grossherzogin Karolinenquelle zu Berlin
stellt schliesslich den Antrag, dieses mit Chlorkalzium versetzte
Quellsalz zur Herstellung von Brot in Vertrieb setzen zu dürfen.
Die Kontrolle über das Salz soll ein Handelschemiker in Kassel, die
Kontrolle über das Brot Dr. Fornet in Berlin ausüben.
II.
Wie berichtet, haben also die eingangs erwähnten Knochen-
erkränkungen den Anlass geboten, eine Reihe von Kräften mobil zu
machen, die ihre Ziele auf verschiedenen Wegen zu erreichen suchen.
Die Gutachten und Begleitschreiben bewegen sich alle in den gleichen
Gedankengängen, fussen auf den gleichen Motiven, bringen aber in
ihrer Gesamtheit keine Tatsachen, nur Behauptungen, welche zumeist
schon in allerlei populären Artikeln zum Ausdruck gekommen sind,
oder als Schlagworte in allen möglichen Broschüren weiterverbreitet
werden, obschon sie zum Teil tatsächliche Missverständnisse enthalten.
Wenn wir auch nicht hoffen dürfen, sie aus derWelt zu schaffen, so muss
doch dazu einmal Stellung genommen werden. Eine dieser oft wieder¬
holten Behauptungen besagt, dass die anorganischen Nährstoffe neben
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6 , Wissenschaftliche Deputation für das Medizinalwesen in Berlin,
den organischen bisher vernachlässigt worden seien, and mehrfach
wird behauptet, dass erst die ausserhalb der Schulmedizin stehenden
Aerzte auf diese Bedeutung aufmerksam gemacht hätten. In dieser
Darstellung ist die Behauptung völlig unzutreffend, vielleicht eine nur
auf Unkenntnis beruhende Entstellung. Die ersten Anregungen auf
diesem Gebiete führen auf J. Liebig zurück, der zuerst die Regel«
mässigkeit in der Aschezusämmensetzung der Tiere, der Menschen
wie der Pflanzen erkannt und daraus auf ihre Notwendigkeit ge¬
schlossen hat. In diesem Sinne ist die Lehro Gemeingut der Er¬
nährungswissenschaft geblieben und diese Tatsachen, die seit Mitte
des vorigen Jahrhunderts bekannt sind, bedürfen nicht einer stetigen
Wiederholung, um als wissenschaftlicher Besitz anerkannt zu sein.
Die Beziehungen der einzelnen Bestandteile, wie des Kalks für
die Knochen, des Eisens für die Blutbildung, des Aufbaues der Zell¬
substanzen zu verschiedenen Salzen, des Kochsalzes zur Zell- und
Säftebildung und für die Lösungs- und Diffusionsverhältnisse der Ei¬
weissstoffe, waren so auf der Hand liegend, dass ihre Zusammenhänge
geradezu selbstverständlich erscheinen mussten.
In dieser allgemein ausgesprochenen Form bedurften die An¬
nahmen Liebigs einer physiologischen Durchprüfung. Diese ist zu¬
erst von Chossat, Milne-Edwards, 0. Voit und seinen Schülern
und dann von einer Reihe anderer Physiologen vorgenommen worden.
Es handelt sich um den Nachweis der Ausfallserscheinungen bei der
Entziehung einzelner anorganischer Nährstoffe. Die Untersuchungen
über aschenarme Kost, über kalkarme Kost, über eisenfreie Kost
haben in dieser Hinsicht ein Verständnis für die Bedeutung einzelner
wichtiger Aschebestandteile eröffnet, zugleich aber auch erkennen
lassen, dass solche Versuche nur schwierig einwandsfrei gelingen,
da der Organismus in weitestem Masse an Salzen und einzelnen Be¬
standteilen zu sparen vei steht. Hieran schlossen sich später die
weiteren Fragen, ob die anorganischen Bestandteile in Bindung mit
organischen Verbindungen, oder auch für sich ihre Nährfunktion aus¬
üben können. Dagegen haben sich einwandsfrei trotz aller darauf
verwandter Mühe in exakter Weise Grenzwerte für den Minimalbedarf
einer jeden Komponente der anorganischen Zufuhr für den Erwachsenen
nicht feststellen lassen. Für manche besonderen Zwecke, wie für die
Säuglingsernährung hat. sich dagegen die quantitative Seite immerhin
so weit geklärt, dass das Verhältniss der Zufuhr der wichtigsten
Bestandteile sich hat einigermassen begrenzen lassen.
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Ueber die Frage des Kalkmangels in der Kost.
7
Die Entziehung von Salzen gelingt nur nach längerer Zeit und
unter ganz besonders künstlichen, nicht leicht zu realisierenden Be¬
dingungen, die von den bei natürlicher Kost gegebenen Verhältnissen
wdt abweichen. Der Salzstoffwechsol zeigt sich von jenem der
organischen Stoffe darin grundverschieden, dass er je nach der
praktisch durchgeführten Ernährung mit grossen Ueberschüssen an¬
scheinend ohne Schaden betätigt werden kann, weil die Nieren wie
Darm in der Lage sind, den Ueberschuss jederzeit so weit zu er¬
niedrigen, dass die optimalen Verhältnisse der Salze im Organismus
eine' länger dauernde Umwertung und störende Anreicherung nicht
erfahren. Im besonderen bietet die menschliche gemischte Durch¬
schnittskost keinerlei Anhaltspunkte, dass sie an mangelnder Salz¬
zufuhr litte, solches tritt nicht einmal bei ganz einseitigen Ernährungs-
forracn, wie bei dem Fleischfresser, beim erwachsenen Tier wenigstens,
in die Erscheinung. Aus diesen Gründen hat man auf die besondere
Normierung und Regulierung der Salzzufuhr bei der durchschnittlichen
Ernährung kein besondere? Gewicht zu legen sich berechtigt gefühlt,
nicht aber deshalb, weil man etwa die Salze als minderwertig für die
Ernährung betrachtet hätte.
Auch noch ein anderer Gesichtspunkt tritt in dem Gutachten
und populären Schriften häufig in die Erscheinung, nämlich die Be¬
hauptung, dass ein geringer Salzgehalt die Verdaulichkeit der Nahrung
vermindere. Der Gedanke ist den Schriften Liebigs entnommen,
der den Nahrungsmitteln die Eigenschaft zuschrieb, dass sie nur ver¬
daulich seien, wenn sie alle von Natur ihnen zukommenden Salze ent¬
hielten. Dieselbe Behauptung kehrt heute noch immer wieder. Es
ist selbstverständlich, dass bei einem Versuch mit erfolgreicher Ent¬
ziehung der Aschebestandteile, wie ihn z. B. Förster durchgeführt
hat, schliesslich auch die Bildung der Verdauungssäfte leiden kann
und auch gelitten hat. Aber dass die spezifischen Salze eines Nah¬
rungsmittels keine Verminderung erfahren können, ohne die Verdauung
ungünstig zu beeinflussen, ist längst widerlegt. Nicht nur für die
Eiweissstoffe kann man zeigen, dass ihre Resorption von dem Asche¬
gehalt gar nicht abhängig ist, auch für die vegetabilischen Nahrungs¬
mittel und das Brot hat sich dartun lassen, dass die bei verschiedener
Ausmahlung in diesen enthaltenen Salze auf den Grad der Verdaulich¬
keit nicht den geringsten hemmenden oder befördernden Einfluss haben.
In wochen- und monatelangen Versuchen selbst mit einseitiger Kost
haben sich solche Unterschiede nicht gezeigt, unter natürlichen Ver-
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8 Wissenschaftliche Deputation für das Medizinalwesen in Berlin,
hältnissen wechseln wir aber an sich die Nahrungsmittel so häufig
und vielfach, dass wirkliche Einseitigkeit nicht wohl normalerweise in
die Erscheinung treten kann.
Während die Mehrzahl der Beobachter die richtige Voraussetzung
machen, dass es sich im SalzstofFwechsel vom Ernährungsstandpunkt
um ein rein stoffliches Bilanzproblera handelt, d. h. um den Ersatz
eines unvermeidlichen Verlustes, dessen absolute Grösse man nicht
exakt kennt, bringt G. einen Gedanken zum Ausdruck, der ja aller¬
dings nicht von ihm selbst aufgeworfen, sondern in der halbpopulären
Literatur 'schon lange aufgetaocht, auch wohl gelegentlich in die
medizinische Literatur herübergeraten ist. Die Salze sind für ihn und
viele anderen Vertreter dieser Richtung „Energieträger“. Solche Vor¬
stellungen werden meist verbunden mit dem Gedanken an osmotische
Wirkungen im Körper, mit der Bedeutung der Salze als Elektrolyten,
als Quelle elektrischer Ströme und man spricht von den ungeheuren
Spannungen zwischen Ionen u. a. mehr. Allen diesen Ebingen liegt
ein prinzipieller Denkfehler zugrunde. Als Energieträger können wir
nur einen Körper betrachten, der aus dem Körper mit geringerer Spann¬
kraft austritt, als er beim Eintritt in den Körper besessen hat. Nur
auf den physikalischen Anfangs- und Endzustand kommt es an;
welche Veränderungen sonst eine Verbindung erleidet, ist für den
Endeffekt vollkommen gleichgültig. Der intermediäre Kraftwechsel
hat für uns hier gar keine Bedeutung, ob die Kohlehydrate in
einem Akt im Körper verbrennen oder in Dutzenden von Zwischen¬
stufen, ist im Hinblick auf den Energieaustausch völlig gleichgültig.
Bei den organischen Nährstoffen kommt in betracht, in welchem
Aggregatzustand sie aufgenommen werden. So ist der Zucker in ge¬
löstem Zustand, das Fett in geschmolzenem Zustand, das Eiweiss
eventuell für den Quellungszustand bei der Aufnahme in Rechnung
zu stellen. Die ausgeschiedenen Produkte sind Gase und Wasser¬
dampf, die Lösungswärme des Harns und Kotes kann mit in Frage
kommen. Bei den Salzen kann man allenfalls in betracht ziehen,
ob ausser der Lösung noch der Dissoziationsgrad in Ionen bei der
Ein- und Ausfuhr derselbe ist. Die Dissoziationswärme ist aber an
sich eine so geringfügige Grösse, dass man sie nur mit besten
Methoden einigerraassen genau finden kann, sie ist von einer Grössen¬
ordnung, die neben dem sonstigen Energieverbrauch im Kraftwechsel
des Tieres und des Menschen überhaupt nicht mit in Frage kommt.
Das Gesetz der Erhaltung der Kraft ist nach exakter Methode auch
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Ueber die Frage des Kalkmangels in der Kost.
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am Menschen und Tieren nachgewiesen worden. Wir kennen die
Kraftforraen der Einfuhr und des Kraftverlustes des Körpers; die
„Euergieträger“ G.s haben damit nichts zu schaffen.
Der Artikel G.s spricht von der D^mineralisation der Pflanzen,
der Nahrung, der Tiere und des Menschen. Was die erstere anlangt,
so beruht die Angabe jedenfalls auf reiner Spekulation. Er nimmt
offenbar an, weil Düngermangel herrsche, so müssten auch die Pflanzen,
also auch die Nahrungsmittel weniger Aschebestandteile enthalten.
Solche aprioristischen Annahmen müssten aber doch erst nachgeprüft
werden. Mehrfach ist von landwirtschaftlicher fachmännischer Seite
gesagt worden, die frühere Düngung sei überreichlich gewesen, nament¬
lich sei aber Phosphorsäuremangel dadurch ausgeglichen worden, dass
manche Pflanzen ihre Wurzeln verlängern; um aus tiefen Schichten
die Nahrung herauszuholen. Eine systematische Untersuchung der
Ascheverhältnisse der Kulturpflanzen hat nach Angabe Sachverständiger
auf diesem Gebiete gar nicht stattgefunden, somit liegt eine Unterlage
für weitere Betrachtungen nicht vor. Blosse Diskussion über diesen
Gegenstand ersetzt den Mangel an Beweisen nicht. Es ist gewiss
möglich, dass da und dort solche Einflüsse sich geltend gemacht
haben, aber das kann doch auch in der Richtung geschehen sein,
dass die Ernten im allgemeinen kleiner geworden sind, ohne die Zu¬
sammensetzung der Pflanze wesentlich zu verändern. Jedenfalls steht
für den Referenten nach direkten Analysen der verschiedensten Ge¬
müsearten, des Obstes und Getreides während der Kriegszeit fest,
dass eine gesetzmässige Abweichung von den sonstigcq Mittelwerten
des Aschegehaltes nicht zu beobachten war. Ebensowenig hat sich
erweisen lassen, dass die mittlere Zusammensetzung der Milch oder
des Aschegehaltes des Fleisches eine andere geworden ist. Von den
geringeren Erträgnissen der Milchbildung und der Mast kann hier ab¬
gesehen werden. Bei der Muttermilch ist wohl eine Abnahme der
Ergiebigkeit der Drüsentätigkeit, aber eine Veränderung der Zusammen¬
setzung unseres Wissens bis jetzt nicht zahlenraässig erwiesen. Die
erwiesenen Nachteile für die Säuglinge lassen sich alle aus dem
Quantitätenmangel, d. h. den niederen Erträgnissen der Mutterbrust
erklären.
G. behauptet weiter, dass die Mineralstoffe auch als Eiweisssparer
fungieren; auf welche Versuche er sich dabei stützt, ist nicht ersicht¬
lich; wenn er aber etwa dabei auf den von Ragnar Berg behaupteten
Einfluss des Basenüberschusses in der Nahrung auf eine Minderung
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im Eiweissverbrauch änspielen sollte, so ist zu bemerken, dass diese
Angaben Bergs sich als unzutreffend erwiesen haben. Ebensowenig
ist aus zuverlässigen Experimenten irgendwie bekannt geworden, dass
die Salze eine Minderung des Energieverbrauchs um 20 pCt. herbei¬
führen, wie G. gefunden haben will.
G. verlangt, dass man seine kombinierte Mineralraischung dem
Brote regelmässig zufügt. Das scheint ein völlig planloses Unter¬
nehmen zu sein, da man doch erst übersehen müsste, welche an¬
organischen Nahrungs bestand teile fehlen und welche das G.sche Nähr¬
salz liefert. Ohne jede Klärung dieser Grundfragen wäre eine solche
Empfehlung völlig nutzlos. Die Nährsalztherapie hat in der medizini¬
schen Welt keine sehr glanzvolle Geschichte, weil 'man solche Emp¬
fehlungen, wie auch die bekannte Lahmannsche, auf einem Boden
aufbaute, der von einem physiologischen Durchdenken des Problems
keinen Hauch empfinden liess. Nicht aus Vernachlässigung des
Interesses für die anorganischen Nährstoffe hat die Physiologie dieser
Nährsalzbewegung kein Vertrauen entgegengebracht, als wegen des
völlig unkritischen Uebergriffs der Praktiker auf ein Gebiet, was einer
noch viel weiter gehenden Durcharbeitung bedarf.
III.
Wenn wir in Nachfolgendem uns auf die weitere Betrachtung der
anorganischen Nährstoffe einlassen müssen, geschieht dies unter der
für die Physiologen selbstverständlichen Verwahrung, dass die als
Asche aufzufindenden Bestandteile keineswegs in dieser Form in den
Nahrungsmitteln enthalten, sondern zum Teil erst durch die Ver¬
aschung künstlich geschaffen sind. Deshalb haftet allen Betrachtungen
stets ein gewisser Grad von Ungenauigkeit an, der mit diesem all¬
gemeinen Hinweis erledigt sein mag.
Alle übrigen Eingaben ausser G. beschäftigen sich mit der Frage
der Notwendigkeit des Kalkzusatzes. Wir wollen die ausführlichen
Angaben von Emmerich und Löw über die Funktionen des Kalkes
im Körper und für die Zwecke des Wachstums usw. als bekannt
übergehen. Der Kalk gehört zu den notwendigen Bestandteilen,
ausserdem steht fest, dass die Zufuhr von anorganischem Kalk für
die Ernährungszwecke ausreichend ist.
Die verschiedenen Petenten zeigen vielfach die gleichen Züge bei
der Motivierung. Bei CI. ist der Zusammenhang mit den von G. ge¬
gebenen Darstellungen unverkennbar. Das Wort, dass die Mineralisie-
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Ueber die Frage des K&lkmangels in der Kost.
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rung der Nahrung die Hungerblockade gemildert hätte, scheint zu
einer Art Schlagwort werden zu sollen. Die Kalkfreunde sind für
kohlensauren und phosphorsauren Kalk und Schlemmkreide im Brot.
Gl. für die Karolinenquelle mit Chlorkalziumzusatz. Weiter inter¬
essieren uns noch die wissenschaftlichen Gutachten. Auch in diesen
spielen die Angaben von Emmerich und Löw die Hauptrolle. Bei
Prof. X. wird behauptet, dass die Bevölkerung jetzt wegen geschwächter
Verdauungswerkzeuge die Nährbestandteile, darunter die mineralischen,
nicht genügend verwerten könne. Für eine solche prinzipielle
Aenderung des Verdauungsvermögens lassen sich aber Experimente
nicht anführen, soweit letztere in Frage kommen und nicht einfache
Vermutungen, kann man die Aeüderung der Verdauungsfähigkeit nicht
behaupten.
Ferner sagt X., wenn gutes Vollkornbrot gegeben würde, so be¬
dürfe man eines Kalkzusatzes nicht, weil dieses die Salze in richtiger
Menge enthalte. Dagegen möchten wir bemerken, dass kein Beweis
zu erbringen ist, dass die Salzmischung, wie sie im Getreidekorn vorliegt,
überhaupt die für den Körper allein richtige ist. Die Salze im Ge¬
treidekorn sind von der Natur eben für das Pflanzenwachstum be¬
stimmt, dabei kann der Gehalt an Asche bei Weizen und Roggen um
600—'800 pCt. schwanken, was zeigt, dass zur Entwicklung der
Pflanzen eine absolute Konstanz des Aschegehaltes des Kornes nicht
notwendig ist. Was die stärkere Ausmahlung und den dadurch zu
erzielenden Gewinn an Asche anlangt, so darf man den letzteren für
unsere tägliche Ascheversorgung nicht übertreiben und hat vielmehr
zu erwägen, dass der Aschegewinn sich vorwiegend auf Magnesia be¬
schränkt und dass weiterhin mit verstärkter Ausmahlung der Asche¬
verlust in den Ausscheidungen auch grösser wird.
In 100 Teilen Asche sind:
Alkalien
Kalk
Magnesia
bei feinem Uehl.
32,0
7,5
7,7 pCt.
in der Kleie.
28,5
3,0
16,9 „
' Der Aschegehalt der Abfallsprodukte zwischen reiner Schälkleie
und Kleie bei 70 proz. Ausmahlung ist derselbe, so dass der Asche¬
gewinn unter normalen Verhältnissen keine besondere Bedeutung hat
und etwa l x /2 g pro Tag und Kopf nicht übersteigen wird. Im
übrigen kommt es bei der ganzen Frage nicht auf eine Korrektur der
Ascheführung des Brotes an, sondern auf die Gesamtlage der an¬
organischen Bestandteile in der täglichen Kost an. In dieser Hinsicht
trifft das Gutachten von Prof. Y. mehr den Kernpunkt der Frage.
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Die einleitenden Bemerkungen über Kalk bewegen sich auf dem
gleichen Boden wie die anderen Broschüren und Gutachten. Der
Kalkbedarf wird nach Löw auf 1 g CaO pro Tag angenommen.
IV.
Die Gutachten bringen insofern keine Klärung der Angelegenheit,
als sie sich auf die eigentliche Bedarfsfrage immer nur mit Zitaten
anderer Arbeiten genügen lassen und die Grundlagen selbst nicht
nachprüfen. Angenommen wird ein Bedarf nach Löw von 1 g CaO
pro Tag für den Erwachsenen, während der Autor selbst keine dies¬
bezüglichen Versuche angestellt hat. Die Zahlen entstammen ver¬
mutlich aüs dem Buch von Albu und Neuberg und sind dort als
Schätzungen angegeben. Ohne eine einigermassen sichere Grundlage
kann man über die Notwendigkeit der Kalkzufuhr nichts entscheiden.
Die einzigen Verhältnisse, welche etwas genauer bekannt sind,
darf man die Ernährung der Säuglinge nennen, für welche wenigstens
direkte Untersuchungen vorliegen, da deren Sal/.mengen sich aus dem
mittleren Verbrauch an Muttermilch errechnen lassen. Die Säuglings¬
ernährung scheidet zunächst aus. Insoweit es sich dann um den Be¬
darf der Kinder und der Jugendlichen handelt, liegen hierüber keinerlei
Grundlagen vor. Man kann allenfalls schätzungsweise aus dem An¬
wuchs in dieser Zeitperiode wenigstens die Mengen von Kalk, welche
abgelagert werden, angeben. Was gemeinhin als Kalkbedürfnis be¬
zeichnet wird, bezieht sich approximativ auf den Erwachsenen, nach
kurzen Beobachtungen an ein paar Personen. Der Bedarf hängt
ausserdem von der Art der Nahrungsmittel und ihrer Verdaulichkeit
ab. In manchen Nahrungsmitteln werden die Aschebestandteile schwer,
in anderen besser oder vortrefflich resorbiert. Zum Unverdaulichen
kommt hinzu, dass auch noch die Stoffwechselprodukte als Reste der
Verdauungssäfte sehr wandelbar sind und dass ein Gleichgewicht der
Gesamtasche in Ein- und Ausfuhr noch lange nicht ein Gleichgewicht
der Komponenten bedeutet. Wenn meist, wie gesagt, angenommen
wird, dass ein tägliches Kalkbedürfnis von 1,0—1,5 g CaO besteht,
so weichen davon andere Angaben sehr wesentlich ab und gehen bis
auf 0,7—0,4 g herunter, den Magnesiabedarf mit 0,6 g pro Tag kann
man nur als vage Schätzung bezeichnen. Für die Phosphorsäure
schwanken die wenigen Angaben von 0,7—0,8 bis 1 und 2 g P a 0 6
für den Tag. Ausserdem sind aber Beobachtungen, allerdings an
wachsenden Tieren gemacht, aus denen hervorgeht, dass bei fehlendem
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Ueber die Frage des Kalkmangels in der Kost.
13
Kalk mehr Magnesia im Körper bleibt, wie andererseits behauptet
wird, dass viel Magnesiazufuhr den Kalkverlust steigern könne.
Wenn man also die Frage über den Mangel der notwendigen -
Zufuhr einzelner Aschebestandteile exakt beantworten soll, so müssen
wir vorläufig die Antwort als unmöglich ablehnen. Will man sich
aber für praktische Zwecke mit einer gewissen Annäherung genügen
lassen, so kann man etwa folgende Wege zur Beantwortung ein-
schlagen. Massgebend und bedeutungsvoll können nur Zahlen sein,
welche aus Mittelwerten der Nahrung einer grösseren Volksmasse
gewonnen sind, wobei man über die Individualität, über störende Ein¬
flüsse hinwegkommt. Ein solcher Weg ergibt sieh; wenn man für
den Nahrungskonsum einer ganzen Nation den Verbrauch an Asche¬
bestandteilen berechnet. Das ist möglich, denn wir kennen den
Konsum der deutschen Nation an Nahrungsmitteln, es lässt sich dar¬
aus dann unter Zugrundelegung des durchschnittlichen Aschegehaltcs
derselben und der Aschezusammensetzung der tägliche Verbrauch
pro Kopf der Bevölkerung angeben. Genau sind auch dann die
Ascheangaben nicht, weil wir schon eingangs erwähnten, dass die
Aschebestandteile nicht die eigentlichen „Salze“ der Nahrungsmittel
sind, weil ferner besonders bei den Vegetabilien die Salze sehr
wechseln und weil endlich die Zahl der Analysen für jedes Nahrungs¬
mittel eine recht beschränkte ist. Aber einen anderen Weg können
wir vorläufig nicht einschlagen. Wir wollen im folgenden nur das
Kali, den Kalk, die Magnesia, das Eisen und die Phosphorsäure heran¬
ziehen, Chlor und Natron als irrelevant beiseite lassen.
Wir geben im Nachstehenden die Werte für die deutsche Nation:
pro Kopf und Tag ist der Verbrauch in g:
K 2 0 CaO MgO F 2 0 3 P 2 0 6
4,403 1,221 0,576 0,154 4,472
Dazu kommen noch die Getränke, von denen nur das Wasser in
Betracht gezogen wird. Was den Kalk anlangt, so kommt je nach
der geologischen Formation mehr oder weniger an CaO hinzu. In
der Granitformation und in Tonschiefer wird das Wasser sehr kalk¬
arm sein, in gipshaltigem Gestein enorm kalkreich. 1500* g Wasser¬
verbrauch für Koch- und Trinkzwecke angenommen beträgt der Kalk¬
gehalt zwischen 0,015 bis 1,15 g, d. h. unter seltenen und extremsten
Umständen fast so viel, wie jener der ganzen Nahrung überhaupt, im
Kochsalz sind ausserdem pro Tag etwa noch 0,03 g CaO vorhanden.
Im Mittel wird. man für Trinkwasser und Salz zusammen nahe an
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0,2 g CaO schätzen können, so dass die Kalkmenge im ganzen auf
rund 1,4 g im Tag steigt.
Dieser nationale Mittelwert gilt pro Kopf der Bevölkerung, nicht
für einen Erwachsenen. Man kann aus ihm durch Multiplikation
mit 1,2 genäherte Werte für den Erwachsenen erhalten. Das wäre
für CaO = 1,46 (ohne Trinkwasser), für MgO rund 0,6, der Wert
für P 2 0 6 würde aber weit höher als die bisherigen allerdings approxi¬
mativen Werte sein, ln ähnlicher Weise könnte man heute auch die
Nationalwerte anderer Völker berechnen, wobei sich manche Ver¬
schiedenheiten herausstellen. Der Mensch ist eben mit Bezug auf
den Genuss anorganischer Nährstoffe in weitem Umfange frei und
ungebunden, während die Bilanz hinsichtlich der organischen Nähr¬
stoffe bei allen genau untersuchten Nationen in Kalorien und Eiweiss¬
wert kaum abweicht, und sich heute schon das Ergebnis der Unter¬
suchung auf rund 470 Millionen Menschen erstreckt.
Wir können natürlich nicht behaupten, dass die Salze der
nationalen Werte notwendig sind, da die deutschen Werte nur ein
Spezialfall sind, immerhin liegt darin aber ein Beweis, dass der ge¬
fundene Aschebedarf sicherlich für die Gesunderhaltung ausreichend
ist, für die vorliegenden Fragen wird es aber darauf ankommen, za
wissen, ob es nicht andere Möglichkeiten einer geringeren Salzzufuhr
gibt. Der deutsche Konsum entspricht einer animalisch vegetabilischen
Kost. Als gegensätzliches Beispiel nehme ich den Nationalkonsum
der Japaner, in welchem nach dem durchschnittlichen Gemüsekonsum
der Europäer die Zahlen ergänzt sind. Der Verbrauch, auf europäisches
Körpergewicht berechnet, beträgt pro Kopf und Tag:
k 2 o
CaO
MgO
F 2 0 8
p 2 o 5
Japanische Kost.
. . 3,376
0,393
0,686
0,055
4,853
Demgegenüber die deutsche . .
. . 4,403
1,221
0,576
0,154
4,472
Nach der Literatur gefordert .
—
1—1,5
0,6
—
0,7-2,0
Die japanische Kost, zu 94 pCt. vegetabilisch, zeigt also, nach
uns bemessen, einen enorm geringen Kalkgehalt. Bedingt wird das
durch den Reis vor allem, der japanische Reis gehört zu den asche¬
ärmsten Sorten. Eigenartig ist der japanischen Kost das Fehlen der
Milch, unter den an sich geringen animalischen Nahrungsmitteln.
Kali, Phosphorsäure, Magnesia stimmen mit unserem Verbrauch überein,
nur der Kalk unterscheidet sich so wesentlich von unserer reichen
Zufuhr. Wir können aber nicht bezweifeln, dass diese kleinen Kalk-
raengen für die Erhaltung eines ganzen Volkes zureichend sind. Wenn
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Ueber die Frage des Kalkmangels in der Kost.
15
man bedenkt, dass die Mittelzahlen einer Nation sich ans einem Mehr
oder Weniger der einzelnen Personen zusammensetzen, so wird man
zweifellos auch mit etwas weniger als dem Gesamtdurchschnitt noch
auskommen können. 0,393 Kalk auf einen Erwachsenen berechnet
macht 0,471 g CaO. Da es sich bei der Aufrechnung nationaler Werte
um eine Feststellung handelt, bei der auch kleine Verluste beim Ver¬
zehr der Speisen usw. nicht exakt gewürdigt werden können, muss
man dies für anderweitige Vergleiche beachten.
Jn solchen Fällen eines durchschnittlich so niedrigen Kalk¬
gehaltes kommt der Wahl des Wassers natürlich eine hohe Be¬
deutung zu. '
Andernfalls lässt sich jetzt so viel behaupten, dass ein Kalk¬
gehalt der Kost, welcher wesentlich niedriger ist als die bisherigen
Annahmen, zu irgendwelchen Schädigungen nicht zu führen braucht.
Ob aber die anderen Salze alle in den übereinstimmenden Mengen
als notwendig zu erachten sind, lässt sich nicht mit Sicherheit be¬
haupten.
Es lässt sich aber statt der völkischen Werte noch ein anderer
Weg zur Auffindung annähernder Grenzwerte für die wichtigsten Nähr¬
stoffe anführen.
Der einzige Fall, in welchem die Natur selbst die Nahrung be¬
reitet, ist die Ernährung der Säuglinge. Letztere hat das Eigenartige,
dass sie znm Wachstum dient, und nebenbei für die Erhaltung des
Körpers mit Eiweiss aufs sparsamste vorgeht. Die Salze der Mutter¬
milch sind nur zum Teil für das Wachstum bestimmt, im übrigen für
den allgemeinen Betrieb der Versorgung des gesamten Zelllebens.
Ueberträgt man die Zahlenwerte unter Ausschluss derjenigen
Aschebestandteile und Mengen, die erfahrungsgemäss zum
Aufbau verwendet werden, auf den nationalen Wert, so wird der
Bedarf an Salzen pro Kopf und Tag:
k 2 o
CaO
MgO
^2^3
p 2 o 6
2,428
0,588
0,095
—
0,463
Nach einer weiteren Versuchsreihe . .
1,287
0,429
0,131
—
0,491
Mittel . .
1,857
0,508
0,113
—
0,477
Deutscher Nationalwert.
4/403
1,221
0,576
—
4,472
Japanischer.
3,376
0,393
0,686
—
4,853
Der Kalkbedarf wird also
nach
dieser Schätzung
nicht
mehr
kleiner, sondern bewegt sich auf der Höhe des japanischen Bedarfs.
Es ist zu berücksichtigen, dass bei der Berechnung aus den Säuglings-
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Wissenschaftliche Deputation für das Medisinalwesen in Berlin,
werten andere Getränke nicht aufgenommen werden, während bei den
Mittelwerten der Nationen natürlich die letzteren als Kalkquelle noch
hinzukom'men. Wir beschränken uns mit Rücksicht auf das Gut¬
achten nur auf den Kalkwert, dürfen aber doch kurz darauf ver¬
weisen, dass die grossen Ueberschüsse von Kali, Phosphorsäure und
Magnesia anscheinend nicht zu den absolut unentbehrlichen Dingen
gehören.
Die Kalkzufuhr kann danach erheblich kleiner sein, als die von
der Eingabe und Schrift dieser Aktenstücke hervorgehobene Bedarfs¬
grenze mit 1,5 g CaO pro Tag in der Kost allein, ohne dass deshalb
sich Bedenken dagegen geltend machen lassen.
Pro Kopf der Bevölkerung, d. h. etwa für 45—49 Kilo Gewicht
{== einem 16—17 jährigen Menschen), bedeutet der Grenzwert etwa
0,5—0,6 g CaO (inkl. Wassergenuss in letzterem Fall), für einen
Erwachsenen etwa 0,6—0,72 g CaO pro Tag. Unter Grenzwert ver¬
steht sich aber sicher noch nicht das Minimum der möglichen
Existenz, sondern ein gesicherter Verbrauch ohne gesundheitliche
schädliche Nebenwirkung, alles für den Bestandstoffwechsel betrachtet.
Nach diesen Erwägungen vermögen wir die bisher üblichen Be¬
trachtungsweisen des Mindestbedarfs an einzelnen Aschebestandteilen
nicht für sich stichhaltig anzusehen, der Bedarf ist geringer. Dadurch
werden die Unterlagen für die ganze Betrachtung wesentlich verschoben
und auf eine andere Basis gestellt.
V.
Insoweit sich die Antragsteller und Begutachter überhaupt auf
eine zahlenmässige Erörterung der Frage einer ungenügenden Kalk¬
menge in der Volkskost eingelassen haben, wiederholen sio eine ver¬
mutlich von 0. Löw stammende Angabe des Kalkgehalts einer
„Ration“, womit dann die Zahlen über den Bedarf nach den oben
schon kritisierten Annahmen verglichen werden. Auch die sach¬
verständigen Begutachter haben diese Angaben nicht weiter kritisch
nachgeprüft. Dieses Verfahren gibt zu erheblichen Bedenken Anlass,
weil die sogenannte Ration an sich sehr schwankend war, aber durch
die örtlich verschiedenen amtlichen Zugaben noch unbestimmter wurde,
von den anderweitigen ^Zuschüssen vorläufig abgesehen.
Es ist aber natürlich, von allen diesen Bedenken abgesehen, ausser
dem Erwachsenen doch auch noch der Kinder uud Halberwachsenen
in ihrer Nahrungsversorgung durch anorganische Nährstoffe zu gc-
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• UNIVERSITY OF MICHIGAR “
fK i
Ueber die Frage des K&lkmangels in der Kost.
17
denken, nachdem einmal diese Frage zum Gegenstand der Behandlung
gemacht ist.
Die Charaktere unserer rationierten Kost mit Bezug auf die
anorganischen Bestandteile sind leicht zu verstehen. Die Stadtkost,
die eigentlich rationierte, ist wesentlich vegetabilisch geworden, aber
nicht in einem günstigen Sinne.
Diese Vorgänge sind in ihrer Entstehung leicht einzusehen. In
unserer nationalen Kost des
Gramm pro Kopf und Tag:
Friedens
treffen
auf
1000 kg/Kal. in
K 2 0
CaO
MgO
p 2 o 5
Protein
aus Animalien . . . 1,300
0,986
0,181
0,044
2,627
55,5
Vegetabilien . . . . 1,171
0,265
0,213
0,059
1,175
19,5
Die durch die Rationierung beseitigter/ Animalien bringen, wenn
man von mehr Nebensächlichem absieht, das Sinken des Eiweiss¬
gehaltes und des Kalkgehaltes, */s der Kalorien sind in Animalien
normal vorhanden, 2 / 3 in Vegetabilien. Da auch der vegetarische
Anteil sich nicht mehr voll beschaffen lässt, so bleibt in der Tat ein
eiweissarmes, kalkarmes Gemisch von unzureichender Kalorienzahl als
Ration übrig, das durch die gelegentliche Beigabe von Graupen, Griess,
Makkaroni oder die freihändige Beschaffung von Reis und etwas Mais
in ihrer gesamten Beschaffenheit der anorganischen Bestandteile nicht
geändert wird.
Wir geben nachstehend nur ein Beispiel etwa aus der zwischen
1917/18 vorkommenden Rationsform, den einzelnen Veränderungen
nachzugehen, lohnt allerdings nicht.
Eine Ration enthält pro Kopf und Tag in Gramm:
K 2 0 . CaO MgO F 2 O a P 2 0 6
3,375 0,226 0,290 0,089 1,922
also in der Tat eine ausserordentlich weitgehende Kürzung der Kalk-
zufuhr auf fast l / 6 des bisherigen nationalen Wertes.
Weit weniger übersichtlich sind die Verhältnisse für die Kinder
und Jugendlichen, da bei diesen eine sehr grosse Anzahl von Vor¬
schriften im Laufe der Jahre erlassen worden sind, es kann sich bei
der Schilderung dieser Verhältnisse nur um ein aus der Praxis der
letzten Zeit herausgegriffenes Beispiel handeln. Macht es schon bei
dem Erwachsenen grosse Schwierigkeiten, zu einem Grenzwert des
Kalkbedürfnisses zu kommen, so bewegen wir uns hinsichtlich des
Kalkbedarfs während der Jugend und der Wachstumsperiode auf ganz
unbekanntem Boden, nur für die ersten Lebensjahre und für die
Viarteljahruehri/t f. gor. Med. u. Off. 8an,-Weaen. 3. Folge. Bd. 60. H. 1. o
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18 Wissenschaftliche Deputation für das Medizinalwesen in Berlin,
Mutterbrusternährung kennt man den Verbrauch und diesen betrachten
wir zugleich auch als Bedürfnis aus dem Gedanken heraus, dass die
Natur für diesen wichtigen Prozess des Wachstums mit der Mutter¬
milch optimale Verhältnisse geschaffen hat. Es ist klar, dass ohne
einen Kalküberschuss über den Betriebsstoffwechsel kein Wachstum
eintreten kann oder doch nicht neben dem allgemeinen Wachstum des
Knochenbaues sich vollziehen kann.
Am leichtesten wird die Uebeiwicht, wenn wir für die ganze
Wachstumsperiode bis zum 18. oder 20. Lebensjahr die Gewichts¬
einflüsse ausschliessen, indem wir die Kalk- oder anderen Salze pro
Quadratmeter Oberfläche berechnen. Dann kommen zwei Grenzwerte
in Betracht. Der Kalk verbrauch in den ersten Monaten des Lebens
und der Verbrauch nach Abschluss des Wachstums. Den ersten kann
man genau angeben, für die Schulkindheit und die Pubertätsperiode
und die sich anschliessenden Jahre haben wir aber keine Grundlagen
dafür, um welche Grösse der Kalkverbrauch sich gegenüber den Er¬
wachsenen gesteigert hat.
Unter allem Vorbehalt einer Schätzung lässt sich aber doch
sagen, wieviel etwa bei der Massenzunahme des Körpers ungefähr an
Kalk sich abgelagert haben dürfte. Es mag für das 6.—12. Jahr
etwa 0,135 g CaO und für das 12.—18. Jahr etwa 0,290 g Kalk
pro Tag in absoluter Masse als Mehrbedarf für Wachstum notwendig
sein. Das
beträgt für das Mittel der Kinder von 6—12 Jahren . . . pro 1 qm 0,121 g
m Tag für den Halberwachsenen „ 12—18 „ ... „ 1 „ 0,191 „
Man kommt dann zu folgenden Werten. Für den Säugling pro
1 qm 0,735 CaO
für die 6—12Jäbrigen BestandsstotTwechsel 0,416 + 0,121 = pro lqm 0,531 CaO
„ „12-18 „ „ 0,416 + 0,191 =„ 1 „ 0,607 CaO
später 0,416 Gesamtbedarf.
Aus den Lebensmittelkarten (ohne Nährmittel) findet sich bei
der heutigen Rationierung 1920 folgende Aufnahme einzelner Asche¬
bestandteile:
g im
Tag pro
1 qm
Kinder
K 2 0
CaO
MgO
FoO s
f 2 o 6
1. Jahr = 6 kg .
. . . 4,594
1,857
0,507
0,106
4,06»
2. „ = 10 „
. . . 3,749
1,428
0,333
0,085
2,970
5. „ = 16 „
. . . 2,864
0,604
0,229
0,077
2,024
8. „ =22 „ .
. . . 2,505
0,184
0,200
0,077
1,659
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UMIVERSITY OF MICHIGAN
Ueber die Frage des Kalkmangels in der Kost. 19
Daraus folgt, dass die Kalkzufuhr für die ein Jahr alten doppelt
so gross ist, wie der Bedarf der Brustkinder, bis zu Beginn der
Schule enthalten die verteilten Nahrungsmittel allein sicher mehr
Kalk als notwendig. Dann aber fällt die Kalkmenge rapid ab und,
was auch sonst an Nährmitteln gegeben werden mag, kommt für den
Kalkbedarf kaum mehr in Betracht. Die Ursache liegt einzig und
allein in der Milchkalamität. Die 8jährigen Kinder erhalten keinen
Zuschuss von Milch.
Wieweit der Mangel an Nahrung überhaupt für Jung und Alt
durch freihändige Beschaffung abgeglichen wird, wissen wir nicht,
weil die Zuschüsse, die dem Einzelnen aus freien oder verschobenen
Nahrungsmitteln zukommen, uns unbekannt, jetzt aber sicher erheb¬
licher sind, als in den kritischen Jahren 1917—1918. Die vom Aus¬
land bezogene Verbesserung hat leider hauptsächlich nur das Fett
betroffen und kommt für die Asche nicht in Betracht.
Die Nahrungswahl hat selbstredend für die Deckung des Kalk¬
bedürfnisses einen ungleichen Wert.
Auf 1000 Kalorien treffen etwa in g um 0,5 g Kalk zuzu-
CaO
MgO
f 2 o s
P 2 06
führen, braucht man
bei Weizen .
. 0,1'46
0,149
0,015
0,974
3440 Kalorien
Erbsen .
. 0,374
0,600
0,063
2,726
1330
77
Kuhmilch
. 2,405
0,286
0,031
2,813
208
.77
Kartoffel .
. .0,266
0,494
0,110
1,700
1880
71
Magerem Fleisch
. 0,151
0,383
0,055
7,248
3310
71
Weisskraut .
. 2,800
1,028
—
4,885
180
77
Kopfsalat
. 7,822
3,314
0,197
4,885
63
77
Spinat
. 6,771
3,343
0,188
5,800
74
77
Die Ersatzraöglichkeiten scheinen sich hieraus glatt zu ergeben,
ln der nationalen Friedenskost wird schon ein Teil der Kalkbedürf¬
nisse durch Gemüse und Obst gedeckt, nämlich pro Kopf und Tag
i( 2 0 CaO MgO F 2 0 3 P 2 0 6
0,659 0,407 0,179 0,018 0,333
Aus obiger Tabelle könnten wir entnehmen, dass 310 g Milch
hinreichen, 0,5 g Kalk zu gewinnen, vom Spinat müsste man 300 g
Handelsware, von Salat 663 g anwenden, um die gleiche Kalkmenge
zu erhalten. Erfahrungsgemäss kann man wegen der rascher wachsenden
Nahrungsmenge von den Gemüsen nur einen beschränkten Gebrauch
machen, wobei noch zu beachten ist, dass sie zur Deckung des
Kalorienbedürfnisses nur wenig beitragen. Auch darf nicht unbeachtet
bleiben, dass der Kalk aus den Gemüsen keineswegs so gut verdaat
2 *
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20 Wissenschaftliche Deputation für das Uedizinalwesen in Berlin,
wird, wie etwa in der Milch. Alles in allem dürfte aber sicher sein,
dass im letzten Jahre jedenfalls das Gemüse mit dazu beigetragen
bat, die rationierte Kost zu ergänzen, nur fehlt ihnen ein hoher
kalorischer Wert. Die Art der Ernährung der Jugendlichen vom
achten Jahre ab, scheint uns ein wesentlicher Notstand zu sein.
In bezug auf die Tendenz unserer Ernährungswirtschaft der
letzten Jahre, nur Fett zu beschaffen, möchten wir noch auf folgende
Tatsache hinweisen: die Knappheit der japanischen Kost an Kalk wird
hauptsächlich durch die spezifische Kalkarmut des japanischen Heises
bedingt.
Die auffallende Fettarmut der japanischen Kost ist weiterhin
etwas, was sie von allen anderen Nationen unterscheidet. Im Hinblick
auf die Aschearmut der Kost muss die Fettarmut als etwas Zweck*
mässiges erscheinen, weil grössere Fettmengen gradezu das ent¬
sprechende kalorische Aequivalent Vegetabilien ausschalten und den
Aschegehalt der ganzen Kost aufs Aeusserste erniedrigen würden.
Weiterhin ist folgendes von grosser Bedeutung.
Im allgemeinen muss man sagen, dass ein Kalkmangel sich nicht
bei den Starkarbeitenden zuerst fühlbar -machen wird, weil diese bei
einem grossen Nahrungsumsatz an Nahrungsmitteln, welche sogar kalk¬
arm sind, durch die grosse Masse des Verzehrten zu einer Kalkan¬
reicherung kommen. Leichter treten die Gefahren ein, wenn über¬
haupt der Umsatz an ascheführender Nahrung kleiner, oder wenn, wie
erwähnt, gar noch eine erhebliche Deckung durch Fett erreicht wird.
Immer aber gehören auch ganz besondere eigenartige Umstände und
das Zusammentreffen verschiedener Ereignisse dazu, um Kalkmangel
wahrscheinlich zu machen.
Auf die eigentlich zu wenig mit Milch bedachten Altersklassen
haben wir schon hingewiesen. Die Annahme, dass bei ausschliess¬
lichem Genuss der rationierten Kost der Kalkmangel die Gesundheit
gefährdet, ist dadurch völlig undiskutierbar, weil in erster Linie doch
bekannt sein dürfte, dass mit der Ration für Erwachsene diese nicht
am Leben zu erhalten sind. Die Ration enthält weder genügend Ei-
weiss noch genügend Kalorien, bei der rationierten Kost beginnt sofort
der partielle Hunger, unter Einschmelzen des Gewebes, wodurch dann
deren Kalkanteii und Ascheanteile frei werden. Es besteht daher dabei
überhaupt kein Aschemangel, so wenig wie bei ausschliesslichem Hunger.
Diese Fälle können als Gefahr einer Kalkentziehung überhaupt nicht
in Frage kommen, sie werden allmählich wegen der unzureichenden
Gesamtversorgung zum Tode führen.
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Ueber die Frage des Kalkmangels in der Kost. 21
Fälle der Kalkentziehung kommen also nur zustande, wenn durch
eine zureichende Kalorienzufuhr und Eiweissgleichgewicht oder geringen
chronischen Eiweissverlust ohne stärkere Einbusse des Körpers alle
Funktionen zwar aufrecht erhalten werden, bis der Ascheverlust oder
Kalkverlust fühlbar wird.
Die herrschende Zwangsernährung würde ganz sicher in manchen
Lebensabschnitten zu einer Schädigung durch Kalkmangel führen
können, aber immerhin bieten sich wenigstens einige Auswege für die
Beseitigung dieser Gefahr und diese sind ausreichend benutzt worden.
Vor allem werden wir immer auf die Jugendlichen und die Pubertät
hingewiesen, in der entschieden die Qualität der Zusammensetzung der
Kost die deutlichsten Mängel zeigt.
Es sollte aber einleuchtend sein, dass es nur zu einem Mangel
an Kalk kommen kann, wenn überhaupt ein Nährstoffmangel vor¬
handen ist und dabei einen Kalkmangel vorausgesetzt, die Kalkzufuhr
auch nichts nützen könnte, weil Kalk ohne die organischen Nährstoffe
ein Wachstum nicht ermöglichen kann. Wir kommen daher zu der
immer mit Nachdruck betonten Aufgabe der unbedingten Mehrbe¬
schaffung der Nahrung, die von selbst, wir sehen das an der japanischen
Kost, bei noch so ungünstigen Verhältnissen einen ausreichenden Salz¬
gehalt erreicht.
Der Anlass zu dem Kalkansturm bilden die ätiologisch bis jetzt
nicht aufgeklärten Knochenerkrankungen. Für den Laien ist der Zu¬
sammenhang von Kalkmangel und Knochenerkrankung ohne weiteres
plausibel. Experimentell ergibt sich beim wachsenden Tier nach Kalk-
entzichung das Zurückbleiben der Härtung der Knochen, während be¬
sonders die Weichteile ungestört zunehmen können, wodurch Defor¬
mationen ähnlich der Rachitis entstehen. Bei dem ausgewachsenen
Tier kommt es zur Entkalkung der funktionell nicht beanspruchten
Knochen bis zu einem filigranartigen Gitterwerk.
Bei den Knochenerkrankungen der Blockade kann man nur sagen,
dass sie mit den schlechten Ernährungszuständen aufgetreten sind, die
Verabreichung von Kalk hat die Erkrankungen auch nicht zum
Schwinden gebracht. Aus Tierexperimenten ist bekannt, dass bei
bestehendem Kalkmangel und Hemmung des Wachstums z. B. die Zu¬
fuhr auch anorganischer Kalkverbindungen sofort einen Umschwung und
raschen Ansatz von Kalk herbeiführt. Der ätiologische Zusammen¬
hang, so viel dürfte bis jetzt sicher feststehen, scheint jeden¬
falls nicht über den Weg einfacher Kalkarrout der Kost zustande
za kommen.
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22
Wissenschaftliche Deputation für das Medizinalwesen in Berlin,
Auch die Oedemkrankheit gehört in das Gebiet des Kalkschadens
nicht hinein.
VI.
Es erübrigt jetzt noch die einzelnen Vorschläge einer Anreiche¬
rung mit Kalk kurz zu besprechen. Auf G’s. Empfehlung, seine
Nährsalzpräparate dem Brot oder der Kost beizumischen, braucht nicht
weiter eingegangen zu werden, da nach der ganzen Darlegung ein
allgemeiner Salzmangel der Kost von niemanden behauptet werden
kann, also ein Bedarf für Zumischung der verschiedensten Asche¬
bestandteile nicht besteht. Im übrigen dreht es sich hauptsächlich um
Kalkzusatz zu Brot, der schon, wie eingangs erwähnt, zur Zeit von
Liebig Gegenstand langer Diskussionen war.
Die Verwendung kalk- und phosphorsäurehaltigen Brotes geht auf
Horsford zurück. Horsford’s Brot war ein ungegorenes Brot unter
Zusatz von doppeltkohlensaurem Natron und saurem phosphorsaurem
Kalk. Wir begegnen jetzt diesem Vorschlag eines Kalkzusatzes in
mannigfachen anderen Ausführungen. Ein Vorschlag empfiehlt 1 pCt.
Schiemmkreide beim Mahlen zuzusetzen; was diese Menge anlangt, so
würden bei 250 g Brot, wenn wir rund 1 pCt. kohlensauren Kalk im
Mehl annehmen, in etwa 180 g Mehl, also 1,8 g Schlemmkreide haben,
rund 1,0 g Kalk pro Kopf und Tag, ungerechnet das anderweitige
Kalkvorkommen in Nahrungsmitteln und in Trinkwaren, eine Menge,
die durch den Kalkbedarf sicher nicht gefordert wird.
Der Bund der Kalkfreunde setzt dem Speisesalz kohlensauren und
phosphorsauren Kalk zu, jedem Salz je 50 g. Aus dem Jahreskonsum
von 7,7 kg Speisesalz pro Kopf berechnet man eine Menge von 21 g
täglich. Die Zahl scheint reichlich hoch, wahrscheinlich ist ein
Durchschnittskonsum für den Erwachsenen von 15 g pro Tag, dann
erfolgt als Zusatz 1 / 10 kohlensaurer Kalk und V10 phosphorsaurer Kalk,
also je 1,5 g. Was unter phosphorsaurem Kalk gemeint ist, findet
sich nicht angegeben. In 1,5 g kohlensaurem Kalk sind 0,60 GaO,
wenn unter phosphorsaurera Kalk das tertiäre Salz gemeint ist, liefern
1,5 g 0,58 CaO = zusammen 1,18 g CaO, dazu 0,68 Phosphorsäure
(P 2 0 6 ).
Die der Nahrung zugesetzte Kalkmenge ist noch etwas höher als
bei dem Schlemmkreidezusatz, die Zugabe der Phosphorsäure kann
als überflüssig gelten, da von einem Mangel an dieser nicht die Rede
sein kann. Die Inanspruchnahme an phosphorsaurem Kalk beträgt
für eine Nation von rund 70 Millionen Menschen rund 37 000 Tonnen
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Uober die Frage des Kalkmangels in der Kost.
23
eines sonst wertvollen Düngemittels. Es kann fraglich sein, ob man
solche Mengen überhaupt leicht beschaffen könnte.
Bei der Verwendung der Thüringer Karolinenquelle mit CI 2 Ca
Zusatz wird im Tag ein Konsum von 1 g CI 2 Ca angenommen = 0,505,
nach anderen Angaben 0,767 g CaO in 325 g täglicher Brotzufuhr.
Wenn bisher der nationale Wert des Kalkkonsums, der sicher über das
Bedürfnis weit hinausgeht, 1,22} g CaO betrug und die rationierte
Kost 0,226 enthält, wo2u 0,767 CaO im Brot kommen, so macht
das zusammen 0,993 g = rund 1,0 g.
Alle diese Annahmen über • den Kalkzusatz haben keine allge¬
meine Berechtigung, sie würden bei dem Erwachsenen nur zutreffen,
wenn er etwa in einem Gefängnis nur bei rationierter Kost gehalten
wird, was erfahrungsgemäss zum Tode führt. Tatsächlich müssten
ganz besondere ausgesucht seltene Bedingungen zusammen kommen,
wenn eine schädliche Verringerung der Kalkeinfuhr zustande kommen
sollte. Man kann dies nicht für absolut unmöglich erklären, wohl
aber für ein unwahrscheinliches Vorkommnis. Am ungünstigsten liegen
die Verhältnisse noch bei den Jugendlichen, wie schon erwähnt. Ein
allgemeines Bedürfnis der Kalkzufuhr, vermögen wir in keiner Weise
anzuerkennen.
Ob die zugeführten Kalkmengen etwa schädlich sind, ist eine
Frage, die man einigermassen wohl beantworten kann. Im allge¬
meinen steht man auf dem Standpunkt unter Trinkwässern übermässig
harte zu vermeiden. Aber die Anschauung, als würden z. B. durch
gipshaltige Wässer Steinleiden verursacht, dürfte wohl kaum noch
viele Anhänger haben. Die harten Wässer haben übrigens so viel
Unbequemes im Haushalt, dass man sie schon um deswillen meidet.
Das Vermögen der Menschen, Kalksalze zu resorbieren und wieder
auszuscheiden, ist ein ungemein grosses. Der Mensch vermag eine
Zufuhr von Kalk, die etwa 15 mal so gross ist, wie die in Frage
kommenden Zusätze, zu resorbieren, ohne dass der Resorptionsgrad
sich ändert. Bei einem Konsum von 10 Litern Milch pro Tag mit
15,1 g CaO ist der Verlust prozentisch nicht grösser als bei massigen
Mengen von etwa 3 Litern Milch.
Zusätze von 1—1,5 g CaO werden also irgendwelche Schwierig¬
keiten nicht bieten und deshalb unbedenklich sein, zumal sie ja im
Gemisch verschiedener anderer Salze aufgenommen werden. 1 Liter
Kuhmilch bedeutet bereits einen Gehalt von 1,7 g CaO. Für Jugend¬
liche und Erwachsene wird niemand eine solche Milchmenge beanstanden.
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24 Wissenschaftliche Deputation für das Medizinalvesen in Berlin,
Gegen die Verwendung der Kalkzusätze sprechen aber hygienische
Bedenken, insoweit es sich um allgemeine Zusätze zum Mehl oder
Brot handelt. Völlig unausführbar wäre der Gedanke des Kreide¬
zusatzes zu Mehl, da dies der Verfälschung- die allergrösste Gelegen¬
heit geben würde. Zur Ueberwachung würde eine umständliche und
komplizierte Organisation notwendig sein. Ganz Aehnliches gilt für
den Zusatz der Karoiinenquelle mit Chlorkalziumzusatz, man könnte
eine solche Prozedur nicht einfach den Bäckern überlassen, ohne fest¬
zustellen, ob überhaupt Karolinenquelle benutzt wird, ob ferner Chlor¬
kalzium zugesetzt wird, und ob dies in den vorgeschriebenen Mengen
' geschehen ist.
Was die Wünsche der Kalkfreunde anlangt, so gilt für die all¬
gemeine Zümischung zum Speisesalz das eben Gesagte, es bedürfte
einer umständlichen und schwer ausführbaren Kontrolle. Wer sich
der Bewegung für sich anschliessen will, mag tun und lassen, was
er will.
VII.
Der vorliegende Fall gibt, von der reinen Vertretung materieller
Interessen abgesehen, ein schlagendes Beispiel von, der immer mehr
überhand nehmenden Erregung des Publikums durch halbpopuläre
Schriften, wie sie sich in den letzten Jahrzehnten immer häufiger
geltend machen. Die Tatsache über die Grundbedeutung des Kalkes
für Tier und Mensch waren seit langem bekannt, ohne dass deshalb
die Masse der Laien dafür interessiert wurde, die wissenschaftlichen
Arbeiten waren nicht abgeschlossen, sondern in vollem Fluss. Erst
durch eine Popularisierung sind Gedanken und Probleme, die noch
einer langen und schwierigen Untersuchung und Nachprüfung bedurft
hätten, plötzlich in die grossen Massen geworfen worden, sie finden
dort eine Auslegung und Anwendung, die in keiner Weise durch die
Wissenschaft gestützt werden kann. Soweit der Einzelne sich nur
irgend einer „Kalkbewegung“ und Kalkgemeinde anschliesst, bringt das
kaum Schaden, aber der' organisierte Wust von oberflächlichen Be¬
hauptungen und angeblichen Erfahrungen wird auf die ruhige sachge-
mässe Behandlung des Problems schädlich wirken. Dies gilt selbst
für die ärztlichen Kreise, die mit solchen Propagandaschriften überflutet
werden, ja es macht sich allmählich auch unter ihnen eine GedankeD-
richtung geltend, die rein spekulativer Natur ist, sich in Kombination
aller möglichen Erfahrungen und Wahrnehmungen vertieft und so den
Zusammenhang mit der experimentellen Wissenschaft immer mehr verliert.
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Ueber die Frage des Kalkmangels in der Kost.
25
Durch die „Kalkliteratur“, die propagandistisch verbreitet wird,
und wie alle neuen Bewegungen dieser Art ergebene Anhänger hat,
• wird unser Ernährungsproblero auf eine höchst unerwünschte Bahn
geleitet. Wir haben schon einmal, 1917, erlebt, dass durch die
Beeinflussung der Behörden unserer Volksernährung ein schlechter
Dienst geleistet wurde. In der Zeit, als von seiten der wissenschaft¬
lichen Deputation und von seiten des Reichsgesundheitsamtes bereits
auf die schweren Schädigungen der Volksernährung hingewiesen und
gefordert wurde, alles daranzusetzen, um die Quantitäten der Zufuhren,
die damals noch in Aussicht standen, zu heben, hat R. Berg durgb
Eingaben und persönliche Besprechungen das damalige Kriegsernährungs¬
amt beeinflusst und behauptet, man könne recht wohl auch mit der
Ration auskommen, wenn nur die richtige Verteilung von Säuren und
Basen in der Kost vorhanden wäre. Namentlich sparten die „richtigen“
Salze an Eiweiss. Es hat sich alles, was Berg vorgebracht hat, zwar
als unzutreflend erwiesen, sowohl das Auskommen mit der Ration wie
die Beeinflussung durch das Säure-Basen-Verhältnis. Aber Schaden hat
die Allgemeinheit durch derartige unzutreffende Einwirkungen doch ge¬
habt, weil sie die Behörden in der Verfolgung eines rationellen Vor¬
gehens der Nahrungsmittelbeschaffung unsicher gemacht haben und weil
damals Solche Anschauungen, wie sie Berg im Kriegsernährungsamt
vorgetragen hat, den warnenden Stimmen gegenüber nur angenehm
waren. Statt der Säure-Basen-Theorie wird jetat durch den Kalk eine
Beseitigung aller Schäden der Volksernährung gesucht, in dieser'Form
stellt sich die Befürwortung des Kalkzusatzes als eine Irreführung der
öffentlichen Meinung dar.
Es ist ein prinzipieller Fehler, wenn einseitig nur das Augen¬
merk auf den Kalk gelenkt wird, als wenn er allein in der Lage
wäre, unsere Situation zu verbessern, die Sachlage ist immer noch
die, dass es für die städtische Bevölkerung eben an der notwendigen
Gesamtmasse der Kost gebricht und dass wichtige Nahrungsmittel,
wie die Milch und das Fleisch, entweder für einen grossen Teil der
Jugendlichen und Erwachsenen gar nicht oder in so unbedeutenden
Mengen geliefert werden, dass dadurch ein Nahrungsausfall besteht,
der durch andere Nahrungsmittel nur unvollkommen gedeckt wird.
Die Einfuhr solcher Nahrungsmittel, wie der Milch, ist an sich teuer
Und bei fallender Valuta nicht zu bestreiten, und in noch höherem Masse
gilt das für das Fleisch. Die einseitige Fettmehrung, die übrigens
auch noch gering ist, kann die Verhältnisse nicht endgültig regeln.
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26
Wissenschaftliche Deputation für das Medizinalwesen in Berlin.
Sie war auch nur als Teil unserer Reform gedacht und hat
als vorübergehende Massregel ihre Zwecke erfüllt. Aber wir sind
schliesslich an dem entscheidenden Punkt stecken geblieben, in der
Durchführung aller Massregeln, die unsere Eigenproduktion zum Ziele
haben und zur Freigabe der Nahrungsmittel überleiten sollten.
Ohne eine Zunahme der Produktion, auch der animalischen
Nahrung, werden wir aus der gegenwärtigen ungünstigen Lage nicht
herauskommen. Es muss zunächst durch Einfuhr von Viehfutter
endlich die Produktion in die Wege geleitet werden, um auch das
Brotgetreide zu schonen, von welchem immer noch erhebliche Teile
als Viehfutter dienen, ein Uebelstand, der die Erhöhung der Brot¬
ration uns seit 5 Jahren zur Unmöglichkeit gemacht hat.
Ebenso liegt in der dauernden öffentlichen ßewirschaftung ein
Zwang, der noch immer so gross ist, dass er der individuellen
Nahrungswahl die grössten Schwierigkeiten bereitet und damit den
normalen Ausgleich mit den Bedürfnissen des Körpers unmöglich
macht, die Beseitigung des Zwanges kann nur der Produktions¬
mehrung folgen.
Die sanitäre Situation ist heute nicht viel besser wie vor einem
Jahre, nur hat man sich allmählich an die traurigen Zustände ge¬
wöhnt. Die Blockadewirkung macht sich iy 2 Jahre nach Schluss des
Krieges noch in gleicher Weise geltend.
Wir halten uns für verpflichtet, auf diese Uebelstände aufs neue
aufmerksam zu machen, damit nicht durch Empfehlungen, wie die
einfache Kalkzufuhr eine ist, die Behörden von dem Ziele, das wir
anstreben, abgewendet werden.
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II.
Das Verhalten des Körpergewichts
und die ErnährungsYerhKltnisse der männlichen
Verpflegten der sächsischen Landesanstalt Colditz
während der Kriegsjahre 1915—1919.
Von
Obermedizinalrat Dr. Dehio, Direktor der Landesanstalt Colditz.
(Mit 2 Karren tafeln im Text.)
Als mit dem Anfang des Jahres 1915 die beginnende Knappheit
der Nahrungsmittel befürchten liess, dass die Ernährung der Anstalts¬
insassen schwierig werden würde, war es für mich als Direktor ein
dringendes Bedürfnis, die Wirkung der veränderten Ernährung auf den
Gesundheitszustand der Verpflegten möglichst umfassend und fort¬
laufend verfolgen zu können. Das Mittel dazu boten mir die üblichen
regelmässigen Wägungen der Verpflegten, es galt nur eine geeignete
Darstellungsform der Wägungsergebnisse zu finden, die ohne Schwierig¬
keit durchzuführen war. Die regelmässige Durchsicht der Körper¬
gewichtszahlen, die Verfolgung der Zu- oder Abnahme einzelner
Kranker, so wichtig diese für die Behandlung der Einzelfälle ist,
konnte mir nicht genügen, namentlich da ein Vergleich der fort¬
laufenden Wägungsergebnisse in dieser Weise nicht durchzuführen ist
und unsicher erschien. Der Anforderung, ein übersichtliches, mög¬
lichst umfassendes und leicht vergleichbares, dabei ohne viele Mühe
herstellbares Bild der Wägungsergebnisse zu geben, schien mir die
Zusammenfassung in der Form der Variationskurve und der Berech¬
nung des wahrscheinlichen Mittels am besten zu genügen. In fol¬
gendem will ich versuchen, die dabei gemachten Beobachfungen wieder¬
zugeben.
Die Insassen der Landesanstalt Colditz wurden zweimal im Monat
bei dem allgemeinen Reinigungsbade nur mit dem Hemd bekleidet ge¬
wogen. Leider war es nicht möglich, die Wägungsergebnisse vorher¬
gehender Jahre zum Vergleich heranzuziehen. Mit der Einführung der
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Google
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28
Debio,
neuen Anstaltsordnung im Jahre 1913 hatte die Anstalt Colditz eine
vollständige Aenderung ihrer Belegung erlebt und noch im Laufe des
Jahres 1914 wurden wiederholt grössere Massen Verlegungen aus anderen
Anstalten vorgenommen. Erst in den letzten Monaten des genannten
Jahres trat grössere Ständigkeit ein und auch äussere Verhältnisse
Hessen es angebracht erscheinen, erst mit dem Januar 1915 die Zu¬
sammenstellung beginnen zu lassen. Nachher war es dann nicht mehr
möglich, die Gewichtszahlen des Jahres 1914 für Colditz zusammen¬
zustellen. Dagegen habe ich die Gewichte der männlichen Verpflegten
der unteren Klasse von Zschadrass für das Jahr 1914 erhalten, wofür
ich den Kollegen der dortigen Anstalt Dank schulde.
Eine genaue Darstellung der von mir angewandten Methodik fand
ich später in dem 1919 erschienenen Buche von K iss kalt, auf das
ich hiermit verweise. Hier will ich nur erwähnen, dass die Zu¬
sammenstellung aus den Wiegelisten nach der Reihe der Gewichts¬
zahlen und die prozentuale Berechnung der Einzelgruppen sehr wohl
einem zuverlässig arbeitenden Verpflegten überlassen werden konnte.
Schon die Betrachtung der Einzelkurve ergibt ein eindeutiges Bild des
jeweiligen Ernährungszustandes, noch mehr der fortlaufende Ver¬
gleich, wobei selbst geringfügige Abweichungen in der Ernährung ihren
Ausdruck Anden.
Die Anstalt Colditz ist seit Einführung der Anstaltsordnung vom
12. September 1913 bestimmt zur Aufnahme gefährlicher männlicher
Geisteskranker der unteren Verpflegklasse aus dem ganzen Gebiet des
sächsischen Staates, die sich ihres Vorlebens halber, wegen ihres ver¬
brecherischen Charakters oder schwer unsozialen Verhaltens zur ge¬
meinschaftlichen Verpflegung mit unbescholtenen Kranken nicht eignen.
Früher war die Anstalt auch zur Aufnahme sogenannter chronisch
tobsüchtiger unbescholtener Kranker bestimmt. Von diesen waren
Ende 1914 im Bestände von 479 Männern noch 117 Kranke vor¬
handen, alles völlig ruhige, stumpfe und schwer verblödete Leute.
Ausserdem war noch ein kleiner Rest der früheren Frauenabteilung
von 50—60 Verpflegten vorhanden, die wegen ihrer geringen Zahl
nicht in der Rechnung verwertet wurden. Die vorbestraften Kranken
sind in der Mehrzahl jugendliche oder im kräftigsten Mannesalter
stehende, rüstige Leute. Es leuchtet ein, dass unter der Lebens¬
mittelknappheit diese Leute mit ihrem hohen Nahrungsbedürfnis be¬
sonders zu leiden hatten, zumal die kleine Frauenabteilung und der
sehr geringe Bestand an Alten und Siechen einen Ausgleich nicht ge-
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Körpergewicht u. Ernährungsverhaltnisse männl.Verpflegter i. Colditz 1915—19. 29
stattete. Im Laufe der Kriegsjahre sind wohl noch wiederholt Massen¬
aufnahmen aus anderen Anstalten (besonders Waldheim und Bautzen)
erfolgt, diese wurden aber erst mehrere Male für sich verrechnet, bis
sie sich im Gewicht den anderen angepasst hatten. Durch diese Zu¬
führungen ist auch die Zusammensetzung des Krankenbestandes nicht
geändert worden. Erst im Herbst 1918 wurde eine grössere Anzahl
nicht vorbestrafter Verpflegter aus Zschadrass übernommen. Diese
sind aber nicht in die Rechnung hineingezogen worden, weil sie ganz
andere Krankheitsformen darboten. Dagegen hat die Zahl der Ver¬
pflegten während der Kriegsjahre erheblich abgenomraen.
Ein derartig zusammengesetzter Krankenbestand musste sich in
bezug auf das Körpergewicht ganz anders verhalten als die Insassen
der gewöhnlichen Irrenanstalt.- Deshalb war es mir besonders wert¬
voll, dass ich die Wägungsergebnisse der Nachbaranstalt Zschadrass
vergleichen konnte. Freilich habe ich diese nur bis Oktober 1918
herangezogen, weil zu dieser Zeit durch Massen Verlegungen die Zu¬
sammensetzung der dortigen Männerabteilung wesentlich verändert
wurde und dadurch ein Vergleich mit den früheren Wägungen unzu¬
lässig erschien. Zschadrass hatte 1915 einen Bestand von 12 pCt.
Paralytikern auf der Männerabteilung gegen 1,3pCt. in Colditz, ausser¬
dem viel mehr senile Psychosen und sonstige Sieche. Auch konnte
Zschadrass bei einem höheren Kostsatz seine Kranken besser ernähren
und die die Männerabteilung an Zahl übertreffende Frauenabteilung
gestattete einen Ausgleich zugunsten der Männer, was bei dem von
Essbacher angegebenen Verhältnis des Nahrungsbedürfnisses der
beiden Geschlechter von 7 : 8 schon ins Gewicht fallen musste. Erst
im Laufe des Krieges wurde der Kostsatz für Colditz erhöht, leider
erst, als die Zwangsbewirtschaftung der Lebensmittel epnen Unterschied
in der Ernährung nicht mehr gestattete und ein begrenzter Kostsatz
schon ein Unding geworden war.
Für das Jahr 1914 stehen mir nur die Wägungsergebnisse der
Männerabteilung unterer Klasse von Zschadrass zur Verfügung, deren
Verteilung auf die Gewichtsgruppen in der Tabelle 3 aufgeführt ist.
Die Berechnung ergab folgende Mittelwerte (vgl. umstehende Tabelle).
Der Gang des Mittels zeigt demnach einen Abfall bis zum Mai,
der bis zum August nahezu ausgeglichen ist. Dann sinkt das Mittel
wieder, um in den letzten Monaten nahezu gleich zu bleiben. Die
Variationskurve vom Januar weist aber auf eine aussergewöhnliche
Zusammensetzung des Bestandes hin, der wahrscheinlich durch. im
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30
Dehio,
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Monat
1. Viertel
Mittel
3. Viertel
Hälfte-
sptelraum
Januar ....
53,81
59,80
65,47
11,66
Februar . . .
53,73
59,25
65,42
11,69
März ....
53,37
59,13
65,56
12,19
April ....
53.6G
59,11
65,31
11,65
Mai.
53,35
58,97
64,78
11,43
Juni.
53,25
59,50
64,48
11,23
Juli.
53,07
59,10
64,39
11,32
August ....
52,95
59.53
64,77
11,82
September . . .
52,55
59,31
64,75
12,20
Oktober . . .
52,45
58,67
64,59
12,14
November . . .
52,19
53.70
64,59
12,40
Dezember . . .
52,54
58,92
64,96
12,42
September und Oktober 1913 erfolgte Massenzuführungen aus anderen
Anstalten noch stark beeinflusst ist und der sich erst später ausge¬
glichen hat. Der Abfall zum Frühjahr würde der alten Erfahrung
entsprechen, dass diese Monate bis zum Beginn der Gemüseernte für
die Massenernährung schwierig sind. Der weitere Rückgang nach
dem August, so gering er ist, möchte doch schou mit der mit
Kriegsausbruch beginnenden Zurückhaltung der Vorräte Zusammen¬
hängen, da mit der neuen Ernte und besonders mit den neuen Kar¬
toffeln eine Zunahme des Körpergewichts zu erwarten wäre. Im Laufe
des Januar — in Zschadrass werden die Kranken am Ende des
Monats gewogen — erfolgt dann ein Abfall ‘von rund einem Kilo¬
gramm, unzweifelhaft schon durch die Kriegsverhältnisse bedingt. Ich
glaube dieselben Verhältnisse für Colditz annehmen zu dürfen. Da
ich aber für Colditz erst vom Januar 1915 ab brauchbare Zahlen habe,
so muss ich schon diesen Monat als Massstab nehmen mit dem Vor¬
behalt, dass auch hier das Friedensgewicht etwa 1 kg höher steht.
Die übrigen Verhältnisse dürften sich aber kaum erheblich verändert
haben, wie der Vergleich der Zahlen von 1914 in Zschadrass ergibt
(vgl. dazu das Verhalten der Variationskurve vom Juli 1914 und
Januar 1915 von Zschadrass auf Tafel I).
Die Gewichtsverhältnisse ira Januar 1915 sind ans der Tabelle 1
zu ersehen. Das wahrscheinliche Mittel betrug für Colditz 58,85,
das 1. Viertel 53,28, das 3. Viertel 65,34, der Hälftespielraum, die
Spannung zwischen dem 1. und 3. Viertel, der einen ungefähren Mass¬
stab für die Streuung gibt, ist demnach 12,06. Die entsprechenden
Zahlen für Zschadrass betragen 57,79, 51,93, 64,34 und 12,4. Das
fast um 1,1 kg niedrigere Mittel ist aber noch kein Beweis für eine
Go^ 'gle
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Körpergewicht u. Ernähruugsverbältnisse männl.Verpflegter i. Colditz 1915—19. 31
Tabelle 1.
_ L
C 0
1 d i t
z
Zschadrass
Jahr
1. Viertel
Mittel
8. Viertel
Hälfte-
spielrauin
1. Viertel
Mittel
3. Viertel
Hälfte-
spielraum
1915
Januar . .
53,28
58,86
65,35
12,07
51,93
57,79
64,34
12,41
Februar . .
52,64
57,34
64,55
11,91
51.54
57,66
64,00
12.46
März . . .
51.69
56,50
63,31
11,62
50,77
56.96
63,08
12,31
April . . .
50,56
55,58
61,94
11,38
50,10
56,13
61.66
11,65
Mai . . .
50,02
54.96
60,50
10,48
48,97
55,20
60,97
12,00
Juni . . .
49,84
54.68
60,18
10,34
48.48
54,80
60,41
11,93
Juli . . .
49.27
54,55
59,36
10,09
48,16
53,66
59,65
11,49
August . ♦
48.82
53,94
59,45
10,63
48,11
53,42
59,74
11,63
September .
48,77
53.55
59.29
10,52
47,83
53,00
59,50
11,67
Oktober . .
48,90
53,95
59,91
11,01
47,81
53,00
58,84
11,03
November .
48,96
53,87
59,27
10,31
47,77
53,10
58.75
10,98
Dezember
49,43
54,25
59,29
9,86
47,55
52,73
58,60
11,05
1916
Januar . .
48.97
54.00
58,50
9,58
48.03
52,94
58,82
10,79
Februar . .
48,95
53,54
58.78
9,83
47,89
52,09
58,86
10,97
März . . .
48,50
53,37
58,70
10.20
47,70
52,13
58,85
11,15
April . . .
48.23
53,02
57,91
9,68
48,46
53.25
59,13
10,67
Mai . . .
47,06
52,18
57.25
10,19
48.32
53,00
58,63
10,31
Juni . . .
46,93
51,78
56,65
9.72
48.28
5\88
58.42
10,14
Juli . . .
46,39
51.33
56,22
9,83
48,00
52,33
57,80
9,80
August . .
46,66
51.00
56,43
9,77
47,53
51,68
57,12
9,59
September .
46,06
50,68
56,39
10.33
47.24
51,60
56.89
9,65
Oktober . .
46.23
50.84
56,70
10,47
46,82
51,66
57,22
10,40
November .
46.53
50.79
56,17
9,64
46,85
51,73
57,23
10,38
Dezember .
45,68
50,20
55,08
9,40
46,48
51,15
56,89
10,41
1917
!
Januar . .
44,89
49,21
! 54,07
9.18
45.91
50,75
56,29
10,88
Februar . .
44,76
49.17
54,32
9,56
45,26
50.29
55,35
10,09
März . . .
43,93
48.91
53.82
9,84
45,00
49,71
55,34
10,34
April . . .
44 07
48,38
53,90
9,83
44,08
48,71
55,32
11,24
Mai . . .
43,07
47.82
52.83
9,76
44,00
48.53
54,06
10,06
Juni . . .
43.79
48.32
53,07
9.28
44,91
49,85
54,43
9,52
Juli . . .
44.20
48.18
52,92
8,72
44,13
48,75
53,95
9,82
August . .
43,89
47,74 1
53,03
9,14
44.57
49,50
54,85
10,28
September .
4404
48,09
53,27
9.23
43,04
48,00
53,25
10,21
Oktober . .
44,99
48,82
54,09
9,10
43,48
48,16
53,65
10,17
November .
44,10
48,74
54.28
10,18
43,89
48,36
53,90
10,01
Dezember .
43,52
48,00
54,17
10,65
43,30
48,20,
54,10
10,80
1918
•
i
Januar . .
44,47
48,48
54,32
9,85
43,36
47,18
53,14
9,78
Februar . .
44.15
48,15
54,36
10,21
43,35
47.46
53.50
10,15
März . . .
44.38
48,40
54,75
10,36
43,33
47,75
58,86
10,53
April . . .
44,47
49.14
54,73
10.26
42,94
47,56
58,83
10,89
Mai . . .
45.52
49,96
54,79
9 27
44,04
49.14
55,59
11,55
Juni . . .
45,90
50,95
55,40
9.50
44,15
49,45
55,23
11,08
Juli . . .
45,84
50.08
55,38
9,54
44,16
50,19
56.07
11,91
August . .
45,29
50,46
54,40
9,11
45,84
51,08
56,64
10,80
September .
44,88
49.29
53,59
8,72
46,50
50,94
55,67
9,17
Oktober . .
44,62
49,58
53,77
9,15
47,75
52.42
56.98
9,23
November .
44,70
49,93
53,50
8,79
—
—
—
—
Dezember .
44,56
49,88
53,31
8,75
—
—
—
—
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Original fro-m
UNIVERSETY OF MICHIGAN
Dehio,
7TT~|
32
Tabelle 1 (Fortsetzung).
C o
1 d i-1
z
Z s c h
a d r a s s
Jahr
1. Viertel
Mittel
3.Viertel
Hälfte¬
spielraum
1. Viertel
Mittel
3* Viertel
Hälfte¬
spielraun;
1919
Januar . .
45,42
49,93
54,81
9,39
Februar . .
46,20
51,20
56,00
9,80
—
—
—
—
März . . .
45,96
50,63
51,70
55,75
9,79
—
—
—
—
April . . .
46,68
56,05
9,37
—
—
—
—
Mai ...
47,40
51,86
i 57,00
' 9,60
—
—
—
—
Juni . . .
48,47
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1 58,85
i 10,38
v -
—
—
—
Juli . . .
48,50
53,10
1 58,58
; 10,08
—
• __
—
—
August . .
50,06
54,80
; 60,07
| 10,01
—
—
—
—
September .
50.90
55,79
62,25
11.35
—
—
—
—
Oktober . .
52,53
56,75
64,04
I 11,51
—
—
—
—
November .
52,87
57,16
i 64,25
; 11,88
—
- 1
i
—
Dezember .
53,83
57,63
i 68,70
1 9,87
—
—
—
\
schlechtere Ernährung der Verpflegten in Zschadrass, darauf weist
schon der grössere Hälftespielraum hin, der durch den tieferen Stand
des 1. Viertels bedingt ist. Es sind also verhältnismässig mehr
niedrigere Körpergewichte vorhanden, ohne dass die höheren, die Plus¬
varianten, merklich herabgegangen wären. Ganz unzweifelhaft zeigt
das die Darstellung der Gewichts Verteilung in Kurvenform. Die Ver¬
hältniszahlen lassen schon erkennen, dass in Colditz nur sehr wenig
niedrige Gewichte vorhanden sind, die Zahlen steigen schnell an zu
einer spitzgipfligen Kurve, die dann langsamer mit einem deutlichen
Buckel abfällt und niedrig ausläuft. In Zschadrass beginnt die Kurve
mit viel niedrigeren Zahlen, steigt mit raschem Anstieg an, um in
einem flachen Gipfel sich zu erheben, der zu einem gebuckelten Ab¬
fall mit weit in die höchsten Zahlen gehendem Auslauf führt. Es
häufen sich demnach in Zschadrass die niedrigeren wie auch die
höheren Gewichte und eine etwas grössere Anzahl Verpflegter erreicht
hier höhere Gewichte als in Colditz, es erreichen in Zschadrass
10,2 pCt., in Colditz 9,4 pCt. der Verpflegten ein Gewicht von mehr
als 70 kg. Für Colditz dürfen daraufhin annähernd natürliche Ver¬
hältnisse angenommen werden. Die Ernährung hat gerade ausgereicht,
ohne die Möglichkeit einer Mästung für einzelne zu geben, die in
Zschadrass sicher vorhanden war. Die Betrachtung der Einzelzahlen
gibt auch die Erklärung für die Höhe der Kurve bei 70—80 kg, den
Buckel im Abfall in beiden Anstalten. In Colditz sind es die in der
Zuputzküche und der Wirtschaftsverwaltung beschäftigten Kranken, die
es hier mit grossem Geschick verstehen, ihre nahen Beziehungen zur
Digitized by
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Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Körpergewicht u.ErnährungsVerhältnisse männl. Verpflegter i.Colditzl915—19. 33
Küche für sich auszunatzen. ln Zschadrass sind es wieder die frei
verpflegten und in der Landwirtschaft der Anstalt beschäftigten, die
ebenso ihren Vorteil Anden. Diese Krankengruppen lassen sich auch
später in jeder Gewichtskurve wiederflnden, und wenn sie natur-
gemäss mit den anderen unter der Herabsetzung der Ernährung zu
leiden hatten, so standen ihnen doch immer einige Möglichkeiten zur
Aufbesserung ihrer Kost offen, so dass eine Zuweisung zu diesen Be¬
schäftigungen in Colditz geradezu als Kräftigungsmittel ärztlich aus¬
genutzt wurde. Ein Vergleich mit der Idealkurve der Binominalformel
lässt ebenfalls erkennen, dass die höheren Gewichte in beiden An¬
stalten erfreulich überwiegen, und dass der Anstieg in Colditz zugleich
völlig gleichmässig mit dieser Kurve verläuft.
Da es mir nur auf die Beobachtung des allgemeinen Ganges des
Körpergewichts als Massstab für mehr oder weniger ausreichende Er¬
nährung ankam und nicht auf eine Prüfung der absoluten Gewichts¬
zahlen, so hatte ich die Messung der Körperlänge des damaligen Ver-
pflegtenbestandes unterlassen. Jetzt noch die Längenroasse des da¬
maligen Bestandes aus den Krankengeschichten zusammenzusuchen,
würde eine unverhältnismässige Arbeit bedeuten. Ich habe daher die
Körperlänge des Bestandes vom November 1919 zusammengestellt
mit dem überraschenden Ergebnis, dass die Kurve nahezu völlig
gleichsinnig mit der Gewichtskurve verläuft, nur hebt sich eine Gruppe
sehr kleiner und sehr grosser Leute besonders hervor, ein Ausdruck
dessen, dass vielo Entartete unter dem hiesigen Bestände vertreten
sind. Einen ganz anderen Verlauf hat freilich die Kurve der Körper¬
längenmasse der in den Jahren 1910/11—1913/14 in Sachsen aus¬
gehobenen Rekruten. Die Kurve hat ihre Spitze bei 170 cm, ihr
Mittel bei 166,3 (in Colditz 165 und 163,6), * es überwiegen bei den
Rekruten demnach die grösseren Leute im Verhältnis ganz erheblich
(vgl. die Tabelle 1 )]. Ich möchte aber den Messungen in Colditz einen
grösseren Vergleichswert beilegen, da bei der Aushebung eine Aus¬
wahl nach ganz besonderen Grundsätzen stattfindet. Ein Vergleich
1) Körperlänge der im November 1919 in Colditz verpflegten Männer (135 M.)
145 150 155 160 165 170 177 180 185 cm
2,2 1,5 8,9 20,8 29,6 17,0 13,3 3,7 3,0 pCt., Mittel 163,6.
Körperlänge der in den Ersatzjahren 1910/11—1913/14 im Königreich Sachsen
eingestellten Mannschaften (79487 M.)
unter 154 154—160 165 170 175 180 185 über 185 cm
0,1 12,1 28,3 33,3 19,1 6,0 1,0 0,1 pCt., Mitte) 166,4.
▼ierteljahrasehrift f. ger. Med. u. Off. San.»Wesen. 3. Folge. Bd. 60. H. 1. 3
Digitizeo by Gougle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
der Mittel der Körporlänge und der Gewichte muss freilich zu dem
Schlüsse führen, dass sowohl in Colditz wie in Zschadrass die Ver¬
pflegten im Durchschnitt schon im Januar 1915 unterernährt waren,
nach Rieger hätte das Durchschnittsgewicht 61 kg und nicht 58 und
59 betragen müssen. Wie die Wägungen in Zschadrass aus dem
Jahre 1914 gezeigt haben, kann aber höchstens ein Unterschied von
1 kg gegen das Friedensgewicht angenommen werden. Leider habe
ich Vergleichszahlen aus anderen Anstalten nicht finden können.
Richter hat für Buch auch nur die Zahlen vom August 1914 und
1915 verglichen, ohne Zwischenzahlen anzugeben.. Jedenfalls ist der
Abfall in dem ersten Halbjahr des Krieges nicht so erheblich wie der
mit der Einführung der Brotkarte einsetzende, wie er unten geschildert
werden soll.
Tabelle 2. Colditz.
Verteilung der Wägnngsergebnisse auf die Gewichtsgruppen von Vierteljahr zn Vierteljahr.
Jahr
bis
30 kg
bis
35 kg
bis
40 kg
bis bis
45 kg 50 kg
bis j bis
55 kg CO kg
bis
65 kg
bis
70 kg
bis
75 kg
bis
80 kg
bis
85 kg
bis 1 1
90 kg»
1915
pCt.
pCt.
pCt
pCt.
pCt.
pCt.
pCt.
pCt.
pCt.
pCt.
pCt.
pCt.
pCt. p
Januar. . .
—
! —
0,4
2,7
12,4
21,8
23.4
17,3
12,6
3.8
4,3
0,5
0,4 | 1
April . . .
—
0,2
0,9
6,8
19,0
25,4
19,7
14.5
6.5
4,3
2,1
0,4
“i 1
Juli ....
0,4
0,2
1,8
9,0
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27,7
19,1
9,8
6,6
2,6
—
0,6
0,S 1
Oktober . .
0,4
2,1
10,2
21,0
27,2
17,2
11,0
8,2
1,6
0,9
— (
1916
!
Januar . . .
—
0,2
2,3
11,2
23,0
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20.3
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7,0
1,6
0,5
0,2
0,2
April . . .
—
—
3,6
11,4
25,3
24,3
20,0
10,3
2,9
1,7
0,2
0,2
, —
Juli ....
—
0,2
6,3
16,5
25,4
26,2
14,3
7.5
3,2
0,2
0,2
—
—
Oktober . .
—
1,5
5,5
17,2
26,7
21,7
15,2
8,2
3,3
0,5
°,2
—
—
1917
Januar . . .
_ .
1,6
6,8
24.1
i
27,3
21,8
10,6
5,7
1.9
0,2
April . . .
0.2
0,8
10,6
23,8
27,0
21.2
11,1
3,7
1.6
—
—
—
—
Juli ....
0,3
2,5
10,6
24.8
26,4
18,6
11.2
3,4
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—
—
—
' -
Oktober . .
—
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20,9
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19,9
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5,2
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—
—
—
] —
1918
i
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Januar . . .
—
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19,9
11,9
3,5
2,7
—
—
—
i_
i
April . . .
—
2,1
7,3
21,9
27,9
21,9
12,5
4,3
2,1
—
—
—
Juli ....
—
1,5
3,9
20,9
29.1
23,3
14,6
4,8
1,9
—
—
—
—
Oktober . .
—
0.9
7,4
23,4
26,3
26,7
8,8
5,1
1,8
—
—
—
—
1919
Januar. . .
—
1,7
6,4
19,9
27,5
25,2
13,4
4,7
1.2
—
—
—
—
April . . .
—
1,6
4,9
13,0
27,6
27,7
15,5
7,3
2,4
—
—
—
—
Juli ....
—
—
5,5
14,3
18,3
25,4
20,6
12,7
1.6
1,6
—
—
—
Oktober . .
—
—
1,6
4,1
13,8
26,8
20,3
15,5
13,8
4,1
—
—
—
1920
Januar . . .
0.8
2,9
6,6
29,4
25,0
16,9
15,5
2,9
_
März . . .
—
—
0,7
3,6
10,1
26.6
21,6
20,9
12,2
3,6
! 0,7
—
-
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Gck igle
Original from
UMIVERSITY OF MICHIGAN
Körpergewicht u. Ernäbrungsverhältnisse männl.Verpflegter i. Colditz 1915—19. .35
Tabelle 3. Zschadrass.
Verteilung der Wägungsergebnisse auf die Gewiehtsgrnppen von Vierteljahr an Vierteljahr.
he
^4
bß
bß
M
bß
bß
bß
M
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JA
bß
JA
bß
JA
bß
M
bß
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M
bß
M
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1914
Januar. . .
l
pCt.
pCt
pCt.
1,4
pCt.
1,7
pCt.
3,3
pCt.
8,8
pCt.
19,9
pCt.
20,4
pCt.
22,1
pCt.
11,9
pCtJpCt.
3,3 i 3,G
1 1
pCt. pCtJpCt.
2,5 : 0,3 i-
pCt.j
0,3;
pCt.
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April . . .
—
—
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0,8
0,5
0,5
Juli ....
—
0,5
0,2
1,5
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19,9
10,5
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—
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August . .
—
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0,3 ,
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Dezember. .
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17,1
21,0
19,2
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6,7
2,3
1,8
0,5
0,3
—
0,8
1915
Januar. . .
—
0,2
1,2
1,4
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1,4
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0,5
—
0,2
April . . .
0,2
—
1,4
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17,6
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11,5
7,5
5.1
1,2
1,4
0,2
—
—
0,2
Juli ....
0,2
—
1,5
4,1
10,3
21,8
23,2
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1916
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0,5
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Oktober . .
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—
1917
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1
Januar . . • .
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April . . .
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Juli ....
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Oktober . .
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1918
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Januar . . .
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April . .
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Juli ....
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Oktober . .
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—
! 0,7
! —
—
In der Kurve, die den Verlauf des Körpergewichts wiedergibl,
entspricht die mittlere Linie dem Gange des Mittels, die untere dem 1.,
die obere dem 3. Viertel. Diese beiden Viertel sind die Mittel der
Minus- und Plusvarianten, ihr gegenseitiger Abstand, der Hälftespiel¬
raum, gibt ein annäherndes Bild der Streuung der Zahlen, ist mithin
zu Anfang in Zschadrass grösser als in Colditz. Nicht zum Ausdruck
kommt das Verhalten der niedrigsten und höchsten Gewichte, der
Beginn und der Auslauf der Einzelkurve, die aber für den Vergleich
von geringerer Bedeutung sind.
Den tiefsten Stand erreicht die Kurve des Mittels in Colditz im
August 1917, in Zschadrass im 1. Viertel 1918, und zwar in Colditz
mit 47,79, in Zschadrass mit 47,17 kg, der Durchschnittsverlust be¬
trägt demnach in beiden Anstalten fast y 5 des ursprünglichen Betrages.
3*
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Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
• ^
36 Dehio,
Dieser Tiefstand ist schon ina Mai 1917 nahezu erreicht worden und
beginnt erst im Sommer 1918 einem Aufstieg Platz zu machen, der
in Colditz freilich erst vom März 1919 ab dauernd wird. Die Gründe
für dieses verschiedene Verhalten werden unten dargelegt werden.
Wenn man bedenkt, dass bei einem Rückgang des Körpergewichts
auf 3 / 6 des ursprünglichen unbedingt der Hungertod erfolgt, so liegt
auf der Hand, dass die Anstaltsinsassen auf das Höchste gefährdet
waren. Dazu kommt, dass die Erfahrungen mit der Oedemkrankheit
zweifeln lassen, ob die Zahl den Ernährungszustand nicht noch etwas
besser erscheinen lässt, als er tatsächlich war, indem die Zurück¬
haltung des Wassers das Körpergewicht erhöht und über den Kräfte¬
zustand täuscht. Auch Richter gibt als niedrigstes Gewicht 48,1 kg,
also annähernd dieselbe Zahl an. Er rechnet aber mit dem arithmeti¬
schen Mittel, das für den August 1917 in Colditz 48,21 kg betrug.
Ziemlich gleichzeitig erreicht die Kurve der Plusvarianten ihren
niedrigsten Stand, in Colditz im Mai 1917 mit 52,82 (80 pCt. des
Anfangsstandes), in Zschadrass ira Januar 1918 mit 55,13 (82,45pCt.).
Zschadrass ist also nur um 17,55 pCt. gefallen gegenüber Colditz mit
20,0 pCt., das bedeutet unter Berücksichtigung der oben erwähnten
Eigenheiten des Krankenbestandes, dass Zschadrasb einen nicht uner¬
heblichen Teil der Verpflegten noch besser ernähren konnte. In
Colditz war das für eine, wenn auch kurze Zeit nahezu ausge¬
schlossen. Doch schon im Oktober, offenbar unter dem Einfluss der
neuen Kartoffelernte, tritt wieder der erwähnte Buckel der Variations¬
kurve hervor.
Die Kurve der Minusvarianten ist gleichfalls erheblich gesunken,
und zwar annähernd in demselben Verhältnis, 80,84 pCt. in Colditz
und 82,85 pCt. des Anfangsgewichts in Zschadrass. Sie rückt zu¬
gleich sehr nahe an die Kurve des Mittels. Anders ausgedrückt er¬
gibt sich, dass in Colditz vom Januar 1917 bis mit Januar 1919 ab¬
gesehen von den Monaten Juni, Juli und August 1918 mehr als die
Hälfte der männlichen Verpflegten, bisher vorwiegend körperlich ge¬
sunde, kräftige Männer ira besten Lebensalter unter 100 Pfund wogen.
Im schlimmsten Monat, im Juli 1917, waren es gar 64,6 pCt. gegen
15,5 pCt. im Januar 1915. In Zschadrass waren es im Januar 1918
66,lpCt. gegen 15,2pCt. im Januar 1914 und 23,5pCt. im Januar 1915.
Wenn Rubner nach Richter sagt, dass im allgemeinen Männerdurch¬
schnittsgewichte unter 50 kg auf die Dauer nicht vertragen werden,
so sind das erschreckende Zahlen.,
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Original from
UMIVERSITY OF MICHIGAN - “
Kurventafel I.
Rö^piur^ewictit u. fr oätirurigs m-b»Uftisse m.iunl.VovfOlegter i, CoklUz 1V>Sf»— H). H7
Die Vamlionskurmi aus dieser Zeit des tiefsten -Stande» unter¬
scheiden sieh wesentlich von der Friedenskyrve, Die Kurve von
GoiiiitÄ ist schmal und steil, sie deckt sieh in ihrer Form oft
T^rfr^{
nahezu iuit der Kurve der tfrieliigen Bimmitimlreiiie. einwim* Kurve»
sind sogar erhohlioli .schmäl Wi Dyr ah fallende Schenkel ist steiler;
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ft^irröFfdrCHIGAN
kurve herauf Die Sfcfilc fies 1, Viertels zeigt einen niedrigeren
eder diöh^Uv^tmi 'J|| Vach der *?|)gürB| -saun Steigen oder Fallen
des KörpergevrictfiÄ «öl. tfft*i[irecherKbnt Verhalten der Spitze der
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nach : besonders' empfindlich gegen dje Schwankungen der Ernährung
und bringen durch Ah- oder Zunahnre die kleinste Aruderimg zum
ÄnsdrndkE . t>ass '.die: ^ die der ßinomutalreihe
lässt die Deutung zu, dass das geringstindglieHe Körpergewicht er-
tivimtfi
Körpergewicht u. Ernährungsverhältnisse männl.Verpflegter i.Colditz 1915—19. 39
reicht, wenn nicht unterschritten ist, was mit der Rubner’schen
Zahl von 50 kg übereinstimmen würde. Die Kurven von Zschadrass
gleichen jetzt sehr denen von Colditz, sie haben ihre breite Aus¬
ladung verloren, sind schmäler und steiler geworden und unterscheiden
sich hauptsächlich nur durch einige besonders niedrige, aber auch
einige höhere Körpergewichte, demgemäss bleibt die Streuung immer
etwas grösser. In der Hauptsache hat aber auch hier der HuDger
alle gleich gemacht.
Der Gesamtverlauf der Kurve zeigt einen überraschend bis in
Einzelheiten gleichen Verlauf in beiden Anstalten. Bemerkenswert ist
der rasche Abfall mit der Einführung der Brotkarte im Februar 1915,
der in Coldiz bedeutend steiler ist, ein Zeichen für die grosse Be¬
deutung des Brotes in der Ernährung der Anstaltsinsassen, wenn
natürlich auch mit den anderen Nahrungsmitteln _gespart werden
musste. Erst im August-September gelingt es in beiden Anstalten
diesen Sturz aufzuhalten, doch hatte Colditz schon im Sommer den
Abfall etwas zurückhalten können. Es ist schwerlich anzune}imen,
dass eine Gewöhnung der Verpflegten an das geringere Kostmass ein¬
getreten sei, es wird vielmehr die neue Kartoffelernte der Grund dafür
sein, die wieder eine reichlichere Ernährung erlaubte. Ergeben doch
schon die Beköstigungslisten von Colditz, dass der Aufenthalt im
Körpergewichtsabfall im Sommer mit einer vermehrten Ausspeisung
von Kartoffeln bis 1 kg für den Kopf und Tag zusammenfiel. Das
konnte natürlich nicht von Dauer sein und erst die neue Kartoffel¬
ernte konnte wieder Besserung schaffen. Der vorübergehend bessere
Ernährungszustand in Colditz kommt auch im Anstieg der Plus¬
varianten zum Ausdruck, dem mit dem Anstieg der Mittelkurve die
Minusvarianten folgen. Diese Erscheinung, ein Ansteigen der Körper¬
gewichtszahlen im Spätherbst, ist, abgesehen vom Jahre 1918, in dem
besondere Verhältnisse obwalteten, in jedem Jahre zu bemerken. Ich
möchte sie die Kartoffelzacke nennen.
Diese Besserung blieb aber nur eine vorübergehende. Im März
und April 1916 beginnt die Kurve weiter zu fallen, nach Einführung
der Fleischkarte im April in beschleunigtem Masse, während die Ein¬
führung der Butterkarte im Juli und der Milchkarte im September
vorläufig ohne Einfluss blieb. Freilich war die Anstalt dank der
Vorsorge des Ministeriums in der glücklichen Lage, bei der Abschlach¬
tung der Schweinebestände eine grosse Menge Büchsenfleisch zu er¬
werben, auch wurde möglichst Ersatz durch Fischfleisch beschafft,
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Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
40
Dohio,
doch Jiess sich das zugleich mit dem Fleisch ausfallende Fett nicht
ersetzen. Ueberraschend ist, dass Zschadrass für diese Ze^t einen
vorübergehenden Körpergewichtsanstieg verzeichnen kann, vielleicht
dass dort das fehlende Fleisch und Fett aus eigenen Schlachtungen
oder Vorräten überreichlich ersetzt werden konnte. Im Herbst steht
Colditz nur wenig niedriger als die Nachbaranstalt und beide An¬
stalten zeigen noch eine deutliche Kartoffelzacke, ehe sie mit dem
Einsetzen der Kartoffelbewirtschaftung im November in den „Kohl¬
rübenwinter 11 eintreten. Mit der Einschränkung der Kartoffelausspeisung
wurde die letzte Möglichkeit einer freien Bewegung in der Ernährung
der Kranken genommen, zugleich wurde aber auch die Schmack¬
haftigkeit der Kost beeinträchtigt, denn bei der geringen Menge des
Kochmehls war die Kartoffel das einzige Mittel geblieben die regel¬
mässige Gemüsekost zu verdicken und etwas Abwechslung zu schaffen.
Die Geraüsekost in dünner Brühe mit den immer wiederkehrenden
Kohlrüben regte die Esslust trotz des dauernden Hungergefühls nicht
an und neben den körperlichen Beschwerden infolge der ungenügenden
Ernährung wuchs die Unzufriedenheit mit der Kost auf den Ab¬
teilungen. Die Kurve fällt jetzt rasch auf ihren tiefsten Stand. Auf¬
fällig ist, dass die bis dahin recht gleichraässig verlaufende Kurve
während der Zeit des Tiefstandes unregelmässig äuf und ab schwankt,
es scheint, als ob der auf das äusserste ausgehungerte Körper bei
der geringsten Vermehrung der Nahrungszufuhr sofort ansetzt. Alle
Bemühungen der Behörden durch Abgabe von Trockengemüsen, die
auch nur in geringen Mengen vorhanden waren und durch Ersatz-
herstellüngen abzuhelfen, blieben erfolglos. Namentlich die Ersatz¬
mittel fanden sehr wenig Anklang und mit Recht. Vieles gebotene,
so der sogenannte holländische Salzspinat und die Trockensuppen
waren recht minderwertig und verschwanden zum Teil bald, weil die
Bevölkerung sie zurückwies. Die Anstalten aber mussten notgedrungen
wiederholt solche Reste aufbrauchen. Erst nach und nach wurde es
in dieser Hinsicht besser und jetzt sind die „Bezirkssuppen“ im all¬
gemeinen besser als ihr Ruf. Die Anstalt Zschadrass war dabei in
einer viel günstigeren Lage als Colditz, da sie mehrere Monate im
Jahre als Selbstversorgerin aus der eigenen Landwirtschaft erheblich
vorteilen konnte, sie erhielt nicht nur mehr Brotmehl, sondern konnte
auch einen Teil der' Hafer- und Gerstenernte zu Grützen und Flocken
verarbeiten lassen. Freilich tritt das erst im Jahre 1918, als die
Krankenzabl erheblich gesunken war, deutlich in der Gewichtskurve
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Körpergewicht u. Ernährungsverhältnisse uiännl.Verpflegter i.Colditz 1915—19. 41
hervor. So ist der rasche Anstieg im Jahre 1918 zu erklären, dem
Colditz nur langsam nachfolgen konnte. Im Sommer 1918 brachten
die fleischlosen Wochen durch die erhöhten Brot- und Trockengemüse¬
lieferungen eine langsame Besserung, begünstigt durch eine gute
Gemüseernte im Anstaltsgarten.
Die Kurve lässt bei ihrem Anstieg vom Sommer 1918 ab noch
eine Besonderheit im Verhalten der Plus- und Minus Varianten er¬
kennen. Während die Kurve des Mittels unverkennbar eine Neigung
zum Steigen hat, bleiben die beiden anderen Kurven zurück. Un¬
zweifelhaft konnte der vorhandenen Anlage und Neigung zur Mästung
noch nicht nachgegeben werden, es waren unter den Vecpflegten
offenbar auch viele vorhanden, die nicht mehr imstande waren die
ein wenig bessere Ernährung auszunutzen, die dauernden Schaden aus
der Hungerzeit davongetragen hatten. Erst mussten die vielen in
der Anstalt vorhandenen Phthisiker fortsterben, ehe die Besserung
deutlich werden und die Kurve sich der Friedensform nähern konnte.
Diese Besserung brachte erst das Jahr 1919 und wie der Abfall im
Jahre 1915 bedrückend auf das Gemüt des leitenden Arztes wirken
musste, so brachte dieses Jahr mit dem entschiedenen Anstieg der
Kurve die befreiende Lösung. Es ist aber der Friedensstand noch
keineswegs erreicht und die Kurve der Minosvarianten steht noch
sehr nahe am Mittel, unzweifelhaft kann eine erneute geringfügige
Herabsetzung der Kostmenge wieder verheerend wirken. Auch die
immer wieder auftretenden Neuerkrankungen an Tuberkulose zeigen
die dauernde Herabsetzung der Widerstandsfähigkeit der Anstalts¬
insassen an. Doch davon später. Erst mit dem neuen Jahre wird die
Kurve stetig, Mittel und Plusvarianten bleiben die nächsten Monate
auf gleicher Höhe, ohne dass sie die Friedenshöhe voll erreicht hätten,
die Minusvarianten steigen noch an. Dem entspricht, dass unter den
Einzelgewichten nur die Phthisiker noch eine Zunahme zeigen. Die
allgemeine Kost ist demnach noch keineswegs ausreichend wie im
Frieden, sie wird aber für die Tuberkulösen genügend durch die
ihnen zugebilligten Zulagen.
Kurz mag noch das Verhalten des Hälftespielraums besprochen
werden. Dieses ist am schwierigsten zu beurteilen, weil dabei die
verschiedensten Einflüsse Zusammenwirken. Je grösser dieser ist,
desto grösser muss die Streuung der Zahlen sein, ohne dass sie
jedoch in ihm voll zum Ausdrück kommt. Da der Hälftespielraum
sich aus zwei Teilen zusammensetzt, aus einem ober und einem unter
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
42
Debio,
dem Mittel, so wird es auch nicht gleichgültig sein, welcher von beiden
Teilen überwiegt. Das wird aber wesentlich von der jeweiligen Zu¬
sammensetzung des Krankenbestandes abhängen, wie schon die ver¬
schiedenen Friedenskurven von Zschadrass und Colditz zeigen. Ich
möchte daher nur darauf hinweisen, dass die Grösse des Hälfte¬
spielraums annähernd gleichsinnig mit den Aenderungen des Körper¬
gewichts schwankt.- Dabei scheint jedoch dem Anstieg des Körper¬
gewichts eine Zunahme der oberen Hälfte des Hälftespielraums voraus-
zugehen. Nur beim Beginn des letzten Anstiegs vom Sommer 1918
ab ist das Gegenteil der Fall, wie gesagt, vermutlich bedingt durch
die grosse Anzahl Tuberkulöser. In der zweiten Hälfte des Jahres
1919 wird dieses Zurückbleiben reichlich eingeholt, ohne dass der
gesamte Hälftespielraum zuniramt, ein Zeichen, dass die Streuung
nach unten sehr abgenoramen hat.
Ueber die Ernährungsverhältnisse während der Kriegszeit gibt die
untenstehende Zusammenstellung Aufschluss (Tabelle 4).
Sie gibt an, wieviel jeder Verpflegte in einer Woche in der
Anstaltskost erhalten hat nach dem halbjährlichen Durchschnitt. Zum
Vergleich ist ausserdem der Wochen verbrauch im Januar 1915 voran¬
gestellt. Fortgelassen sind nur die Gewürze, das wenige verabreichte
Bier und der Kaffeeersatz, es sind also sämtliche Nährwert ent¬
haltenden Nahrungsmittel aufgezählt. An Zucker hatte die Anstalt
reichliche Vorräte, so wurde deshalb ausser dem Kochzucker den
Verpflegten durchgängig als Zulage je 80,0 g wöchentlich verabreicht,
ausserdem konnte durch einige Monate den besonders Bedürftigen
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
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Körpergewicht u. Ernährungsverhältnisse männl.Verpflegteri.Colditz 1915—19. 4$
Bienenhonig, der der Anstalt als Krankenanstalt zugewiesen worden
war, neben der Kost verabreicht werden, der hier nicht aufgezählt
ist. Im Obst aller Arten war die Anstalt auf den Ertrag ihres
Gartens angewiesen, der naturgeraäss je nach der Ernte schwankte,
aber nicht unerheblich ins Gewicht fiel. Namentlich nach frischem
*
Obst hatten die Verpflegten grosses Verlangen.
Es braucht hier nicht weiter ausgeführt zu werden, dass das
Königreich Sachsen bei der Bewirtschaftung der Nahrungsmittel ganz
besonders schlecht weggekommen ist, da es in vielem völlig auf die
Zufuhr angewiesen war. Ganz besonders hatten darunter die An¬
stalten zu leiden, da sie nahezu gänzlich auf die zugewiesenen Nah¬
rungsmittel angewiesen waren. Selbst die Anstalten mit eigener Land¬
wirtschaft, wie Zschadrass, hatten in den ersten Kriegsjahren nur
einen geringen Vorteil davon, erst als die Krankenzahl erheblich
zuriiekgegangen war, traten die Vorteile der Selbstversorgung hervor
(vgl. die Gewichtszahlen für Zschadrass vom Jahre 1918). Dabei
war der Hauptvorteil durch den Gewinn an Kochmehl, den ver¬
schiedenen Grützen und Graupen und Leinöl gegeben. Freilich be¬
mühte sich der Bezirksverband in nicht hoch genug anzuerkennender
Weise durch Sonderzuweisungen, indem die Insassen der Anstalt als
besonders bedürftig erachtet wurden, die Ernährung zu verbessern,
da aber der ganze Bezirk Grimma als Landbezirk angesehen wurde,
der ausserdem noch von seinen Ernteerträgnissen abzugeben hatte,
so waren dem auch hierin enge Grenzen gezogen. Ausserdem waren
namentlich im Winter 1916/17 die zur Ernährung herangezogenen
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
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Debio,
ErsatznahrungsraiUel, vor allem die verschiedenen Kohlrübenzuberei¬
tungen, der sogenannte holländische Salzspinat, aber auch die ersten
„Bezirkssuppen“, so minderwertig, dass sie vielfach von den Ver¬
pflegten trotz des quälenden Hungers zurückgewiesen wurden.
Der Gehalt der Nahrung an Wärmeeinheiten ist im Laufe der
Kriegsjahre wiederholt berechnet worden. Je länger ich mich damit
beschäftigt habe, desto weniger zuverlässig erschienen mir die Er¬
gebnisse. Einesteils war die Zusammensetzung namentlich der Ersatz¬
nahrungsmittel kaum festzustellen, und ausserdem waren auch die
üblichen Nahrungsmittel, besonders die tierischer Herkunft, minder¬
wertiger, worauf von verschiedenen Seiten schon hingewiesen worden
ist, abgesehen von der allgemeinen Unzuverlässigkeit einer buch-
mässigen Berechnung. Deshalb führe ich nur an, dass die Kost vom
Jahre 1915 auf täglich 2400 Wärmeeinheiten, genau gerechnet, er¬
rechnet wurde. Es wurde damals aber schon angefangen zu sparen.
Vergleicht man die Ernährung in den folgenden Jahren mit diesem
Monat, so fällt zuerst die Verminderung der Nahrungsmittel tierischer
Herkunft und der Fette auf. Diese haben auch jetzt noch nicht
nennenswert zugenoramen, die Fleischwaren sind sogar infolge man¬
gelnder Vorräte noch geringer als in den ersten Kriegsjahren. Der
Gang des Körpergewichts ist demnach wesentlich abhängig von der
Menge der kohlehydrathaltigen Nahrungsmittel, zu denen auch die
Hülsenfrüchte gerechnet werden können. Die keineswegs sehr er¬
hebliche Erhöhung der Zuweisung solcher Nahrungsmittel im ver¬
flossenen Jahre hat allein schon die so erfreuliche Hebung des Er¬
nährungszustandes bewirkt. Hält man dagegen, dass in der Friedens¬
zeit ein nicht sehr viel besseres Ergebnis durch verhältnismässig sehr
grosse Mengen der in jeder Beziehung kostspieligeren Nahrungsmittel
tierischer Herkunft erzielt wurde, so wird man für die Zukunft, in
der zweifellos in jeder Weise gespart werden muss, das Hauptgewicht
in der Anstaltsernährung auf die kohlehydrathaltigen Nahrungsmittel
und deren schmackhafte und abwechslungsreiche Zubereitung legen.
Leider reichen diese auch jetzt noch nicht und das Fehlen der Fette
ist auch sehr bemerkbar. Sie durch die verschiedenen Frischgemüse
zu ersetzen, war auch nicht annähernd möglich, mit den Gaben wie
im zweiten Halbjahr 1917 von mehr als einem Pfunde Wurzel- und
Krautgemüsen dürfte die Höchstgrenze für den menschlichen Magen
erreicht sein. Von anderen Anstalten kann ich nur die Kost in der
Anstalt Buch vergleichen. Diese Anstalt als städtische Anstalt ver-
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Körpergewichtu.Ernährangsverhältnisse männl.Verpflegter i.Colditz 1915—19. 45
mochte, nachdem die Folgen der Unterernährung ebensoweit gediehen
waren als hier, durch die Stadtverwaltung als Verteilungsstelle bald
Nahrungsmengen zugewiesen erhalten, die die uns gewährten erheb¬
lich überstiegen. Aber auch dort haben es -wesentlich die Kohle¬
hydrate gemacht. So üppig wie Schreber seine weiblichen Ge¬
fangenen im Lazarett verpflegte, hat es die Stadt Berlin in ihren An¬
stalten aber auch nicht leisten können. Was sie geben konnte, reicht
an das uns im Jahre 1919 Gewährte heran und es geht aus den
Wägungsverhältnissen hervor, dass hier das Möglichste mit dem Ge¬
gebenen erreicht worden ist.
Die Folgen der Unterernährung für den Gesundheitszustand der
Anstaltsinsassen, wie sie sich allein in der Zahl der Todesfälle dar¬
stellen, sind wahrhaft erschreckendo. Die Gesamtzahl der Todesfälle
in der Anstalt im Verhältnis zum Durchschnittsbestände betrug
in den Jahren.1914 1915 1916 1917 1918 1919
4,5 15,1 18,8 54,8 50,9 25,1 pCt.
auf der Männerabteilung ... — 16,0 17,3 59,4 56,8 31,1 „
Es sind demnach allein in den beiden schlimmsten Jahren 1917
und 1918 mehr als die Hälfte des jeweiligen Durchschnittsbestandes
verstorben, d. h. die Anstalt wäre ausgestorben, wenn nicht Zu¬
führungen stattgefunden hätten. Von dem Ende 1914 vorhandenen
Bestände von 479 Männern sind in der Anstalt 350 verstorben. Auf¬
fallend ist, dass schon das Jahr 1915 so viele Todesfälle aufweist.
Dieses ist einer heftigen Ruhrepidemie zuzuschreiben, die ganz plötz¬
lich im Spätsommer ausbrach, annehmbar verursacht durch Dauer¬
ausscheider, die sich unter einer Massenzuführung aus anderen ruhr¬
verseuchten Anstalten im Dezember 1914 befanden. Diese Krank¬
heit hat unzweifelhaft auch noch in den folgenden Jahren Opfer ge¬
fordert. Dass sie nur infolge einer erhöhten Krankheitsbereitschaft,
die der Unterernährung zur Last gelegt werden muss, so bösartig
aufgetreten ist, steht für mich ausser Zweifel. Ich verweise in dieser
Hinsicht auf meine frühere Arbeit über die Anstaltsruhr. — Das
Verhältnis der Todesfälle zum Gange des Körpergewichts erhellt aus
der Kurventafel 1, in der ich das Verhältnis der vierteljährlichen
Todesfälle auf der Männerabteilung 'zum jeweiligen Durchschnitts¬
bestände der Abteilung in Prozenten eingezeichnet habe. Die Zahl
der Todesfälle steht danach in engem Zusammenhänge mit dem Gange
des Körpergewichts, dessen Abnahme regelmässig von einem An¬
wachsen der Todesfälle gefolgt ist, wobei zu berücksichtigen ist, dass
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
46
Dehio,
nach dem Massensterben der weniger Widerstandsfähigen naturgemäss
ein gewisser Rückgang der Todesfälle eintreten muss, zugleich aber
auch die Folgen der Unterernährung bei vielen erst später aufgetreten
sein mögen.
Leider war es nicht möglich, regelmässige Leichenöffnungen vor¬
zunehmen. Aerzte und Personal waren überlastet und im Winter
war die Heizung des Sektionsrauraes nicht durchzuführen. Daher
Raben die Zahlen für die Todesursachen nur sehr bedingten Wert.
Namentlich werden rasch verlaufende Tuberkulosen häufig übersehen
worden sein, die unter den Krankheitsbildern der Oedemkrankheit
oder chronischer Durchfälle verlaufen sind. Deshalb habe ich die
drei hauptsächlichsten Kriegskrankheiten, die Tuberkulose, Ruhr und
Oedemkrankheit, zusammengezählt. Es starben an diesen Krankheiten
im Verhältnis zum Jahresdurchschnittsbestande
in den Jahren.1914 1915 1916 1917 1918 1919
3,6 13,0 13,2 36,8 25,8 16,8pCt.,
also über die Hälfte der Gesamttodesfälle. Aber selbst bei der An¬
nahme, dass unter den übrigen Todesfällen viele wegen der Unsicher¬
heit der Diagnose unter die genannten Krankheiten fallen würden, ist
doch unzweifelhaft die Zahl der an anderen Krankheiten Verstorbenen
so gross, dass für alle Erkrankungen eine erhöhte Anfälligkeit und
verminderte Widerstandsfähigkeit angenommen werden muss. So war
auch die Zahl der Todesfälle in den Kriegsjahren .an Herzmuskel¬
erkrankungen, an Arteriosklerose, Apoplexie und Pyämie auffallend
gross, unter den Todesfällen an Marasmus mögen manche unter die
Oedemkrankheit zu .rechnen sein, aber mit einer verminderten Wider¬
standsfähigkeit der Alten und Siechen muss auch gerechnet werden.
Auch hier konnte die Beobachtung gemacht werden, dass der Ver¬
lauf der Tuberkulose während der Zeit der Unterernährung ein gegen
früher veränderter war und umgekehrt konnte im verflossenen Jahre die
erfreuliche Tatsache festgestellt werden, dass selbst vorgeschrittene
Tuberkulosen mit dem Beginn der besseren Ernährung zu heilen be¬
gannen und beginnende Fälle rasch ausheilten. Die Erkrankungs-
Ziffer ist auch ganz wesentlich zurückgegangen, besonders unter Be¬
rücksichtigung der Durchseuchung der ganzen Anstalt, die mit ihren
in das alte kurfürstliche Schloss eingebauten Abteilungen eine zeit-
gemässe Absonderung und Behandlung der Tuberkulosen nicht er¬
möglicht.
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Körpergewicht u.Ernährungsverhältnisse männl.Verpflegter i.Golditz 1915—19. 47
Unter den Anstaltsinsassen sind namentlich betroffen worden die
nicht vorbestraften, der alte Bestand an sog. chronisch. Tobsüchtigen,
hauptsächlich alte Fälle der Präkoxgruppe. Von dem Anfangsbestand
von 117 Kranken dieser Art sind einige wenige entlassen und in
andere Anstalten überführt, im ganzen 2, der Anstalt verblieben sind 4,
alle übrigen, also 96 pCt, sind gestorben. Namentlich augenfällig
sind sie der Ruhrcpidemip verfallen, die ihre Opfer vorwiegend unter
ihnen fand, der Rest ist hauptsächlich an Tuberkulose und Oedem-
krankheit verstorben. Viel besser haben die Vorbestraften ausge¬
halten. Zahlenmässig lässt sich dieses Verhältnis am besten dar¬
stellen durch die Absterbeziffer der als einfache Seelenstörung der
Reichsstatistik gezählter) Kranken, unter denen sich freilich viele
Psychopathen befinden, gegenüber den Imbezillen. Von den ersteren
sind in den Kriegsjahren 48,3 pCt., von den letzteren 33,6 pCt. ver¬
storben, also erheblich weniger. Ob das der Form dar Geistesstörung
zur Last zu legen ist, muss dahingestellt bleiben, da unter den letz¬
teren Formen viel mehr jugendliche und dadurch widerstandsfähigere
Leute sind, unter den ersteren wiederum viele langjährige Anstalts¬
insassen, die erfahrungsgemäss viel anfälliger sind als die neuzuge-
führten, wie die Verbreitung der Anstaltsruhr lehrt.
Dass auch andere Anstalten ähnlich zu leiden hatten wie Colditz,
lehren viele Anstaltsberichte, soweit solche schon über die Kriegsjahre
erschienen sind. So berichtet Weygandt, dass die Anstalt Fried¬
richsberg im Jahre 1917 53,9.pCt. des Durchschnittsbestandes, im
Jahre 1918 37,2 pCt. verloren habe. Neustadt i. H. hat im Rech¬
nungsjahre 1918/19 27,9 pCt., Weilmünster in derselben Zeit 42 pCt.
und allein an Tuberkulose 22,3 pCt. verloren. Buch hat 45,5 pCt.
im Jahre 1917 eingebüsst. Diese Zahl ist im Vergleich mit Colditz
auffallend gering, da doch das Durchschnittsgewicht ebenso tief ge¬
sunken war, im Verhältnis zum Anfangsgewicht sogar noch tiefer.
Aber Colditz befand sich bei der Zusammensetzung seines Kranken¬
bestandes in erheblich ungünstigeren Verhältnissen, wie schon an¬
fänglich erörtert worden ist, auch blieb der Tiefstand des Gewichts
in Buch nicht so anhaltend, da die Stadt Berlin, wie alle grösseren
Städte, ihre Anstalten sofort aus Eigenem reichlicher beliefern konnte.
Es sind das nur einige Stichproben und die Zahlen geben nur ein
dürftiges Bild von dem Elend, das damals in den Irrenanstalten ge¬
herrscht hat und das von den Aerzten nach Lage der Dinge still-
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
48
Dehio,
schweigend getragen wurde. Die wenigen Zeilen, in denen Möller
seine eigenen. Beobachtungen in einer Irrenanstalt wiedergibt, geben
schon ein erschütterndes Bild. „Selbst auf den unruhigen Abteilungen
verhielten sich die Geisteskranken stumpf und ruhig; sie lagen meist
zusamraengekrümmt im Bett und boten einen beklagenswerten Anblick
dar. Wer auf mehrstündigem Gange durch eine grosse Anstalt diese
Bilder gesehen hat, wird sie sein ganzes Leben lang nicht vergessen.“
Unter diesen Eindrücken haben die Aerzte der Anstalten jahrelang
arbeiten müssen. Die Hauptader ärztlichen Handelns, die Möglichkeit
für das körperliche Wohlergehen seiner Schutzbefohlenen auch nur in
der dürftigsten Weise zu sorgen, war unterbunden. Wahrlich, diese
jahrelang zu tragenden gemütlichen Eindrücke waren ein Trommel¬
feuer schlimmster Art für den Irrenarzt und namentlich für den Anstalts-
' leiter. Rührend war es aber auch oft zu beobachten, wie ergeben und
bewusst einzelne Kranke ihr Schicksal trugen, ohne einen Laut des
Vorwurfes gegen den Arzt. Sehr viel anders haben sich freilich die
verbrecherischen Geisteskranken verhalten.
Mit dem Rückgang der Ernährungsverhältnisse nahm auch die
körperliche Leistungsfähigkeit der Verpflegten in für den Anstaltsbetrieb
sehr fühlbarer Weise ab. Die vielen Betriebe einer Irrenanstalt, vor
allem der Gartenbau, sind auf die Mitarbeit der Kranken angewiesen.
Hier machte sich zuerst ejne Abnahme der Arbeitsleistung bemerkbar,
die Verpflegten vermieden triebartig jede körperliche Anstrengung und
die Arbeitslust, liess auffallend nach.. Sogar zum Gartengang waren
die Verpflegten oft nur mit Mühe zu bewegen, wobei freilich erwähnt
werden muss, dass der Gang in den in einem tiefen Tal gelegenen
Spaziergarten aus den bis viergeschossigen Häusern des Schlosses für
schwächliche Leute allein schon eine erhebliche körperliche Anstrengung
bedingt.
Bekannt ist die Neigung mancher verblödeter Kranker allerlei
Unrat zu sammeln und zu essen. Schon im Jahre 1916 fiel es auf,
dass auch recht geordnete Kranke anfingen, Gräser und Kräuter zu
sammeln und zubereitet oder unzubereitet zu verzehren. Bedenklich
wurde diese üble Gewohnheit bei den frei verpflegten Insassen der
Anstalt Zschadrass, wo mehrere Pilzvergiftungen dadurch zustande
gekommen sind.
Auch bei den ausserhalb der Anstalt lebenden Geisteskranken
hat das in der Verblödung ungehemmt wirkende Triebleben bei dem
Hungerzustande der gesamten Bevölkerung oft zu Schwierigkeiten ge-
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UNIVERSITY OF MICHIGÄT
Körpergewicht u. Ernährungsverbältnisse männl. Verpflegten. Colditz 1915—19. 49
führt, die die Unterbringung in der Anstalt erforderten. Eine ganze
Anzahl Zuführungen von bisher jahrelang ohne Anstoss in der Freiheit
verpflegten Geisteskranken ist auf solche infolge des Hungers auf¬
tretende üble Neigungen zurückzuführen. Die Kranken fingen an,
verschlossene Schränke und Fächer aufzubrechen, um nach Nahrungs¬
mitteln zu suchen, sie wurden durch Betteln lästig oder dadurch auf¬
fällig, dass sie in Schutthaufen und Gossen nach Nahrungsresten
suchten. Viele sonst unbescholtene Geisteskranke haben strafwürdige
Verbrechen begangen, um ihren Hunger zu stillen, worüber auch
Siebert berichtet. Ich glaube selbst einen Mord und Mordversuch
bei einem jugendlichen Schwachsinnigen mit dem hemmungslosen
Nahrungstriebe in Zusammenhang bringen zu dürfen. Nicht ganz
hängt damit zusammen, dass einzelne schwachsinnige und klagsüchtig
veranlagte Kranke sich in das Kartenwesen und die Zwangswirtschaft
nicht finden konnten und dadurch mit den Behörden unliebsam zu-
saramenstiessen» Auffallend war, dass von ihrer Geistesstörung Ge¬
nesende trotz der mangelhaften Ernährung Zunahmen oder zum
wenigsten nicht abnahmen, auf der Frauenabteilung in Zschadrass
konnten sogar recht erfreuliche Körpergewichtszunahmen beobachtet
werden.
Mit der Besserung der Ernährung im Jahre 1919 schwanden alle
diese unliebsamen Begleiterscheinungen der Unterernährung und im
ganzen bieten die Abteilungen wieder das gewohnte Bild. Namentlich
seitdem es möglich ist, durch Einschaltung von Zwischenmahlzeiten
das bei dem Fehlen des Fleisches sehr bald nach den Mahlzeiten
auftretende Hungergefühl einigermassen zu bekämpfen, .sind auch die
Klagen über zu geringe Kostmengen weniger geworden, wenn auch
nicht geschwunden, da die Ernährung noch keineswegs ausreicht, wie
das Verhalten des Körpergewichts lehrt. Aber auch bei dieser Kost
haben einige in dieser Beziehung gut Veranlagte erheblich zunehmen
können, so ist im Dezember 1919 ein Kranker mit 21,0 pCt. Ueber-
gewicht (nach Rieger) entlassen worden.
Nach meinen Erfahrungen, wie. ich sie oben dargelegt habe,
glaube ich diese Berechnung der Wägungsergebnisse nach der Kol-
lektivmasslehre überall dort empfehlen zu können, wo eine Ueber-
wachung bei Massenernährung nötig ist. Die Zusammenstellung der
Wägungsergebnisse ist sehr einfach und zuverlässig und gibt dabei
mit erstaunlicher Feinheit jede Schwankung in den ErnährungsVer¬
hältnissen wieder. Wiederholt bin ich erst dadurch auf ein Nach-
Viortoljalirwchrift f. ger. Med. u. Off. San.-Weeen. 3. Folge. Bd. 60. H. 1. 4
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50 Dehio, Körpergewicht a. Ernährungsverhältnisse männlicher Verpflegter nsw.
*
lassen in der Beköstigung aufmerksam geworden und habe eingreifen
können.
Weiter hat namentlich das letzte Jahr die hohe Bedeutung der
Kohlehydrate in der Massenernährung erwiesen, indem allein durch
diese eine ganz 'erhebliche Besserung erzielt werden konnte, die bei
reichlicherer Fettgabe vielleicht die Friedensverhältnisse wieder erreicht
hätte. Damit will ich keineswegs die Bedeutung des Eiweisses und
der Fleischwaren herabsetzen, aber es ist nicht zu leugnen, dass unter
dem Einfluss der allgemeinen Bewertung dieser Nahrungsmittel ihnen
in der Massenernährung vor dem Kriege ein zu grosser Platz einge¬
räumt worden ist. Von ihnen wird immer ein nicht zu niedriger Satz
vorhanden sein müssen, dieser wird aber in der Beköstigung haupt¬
sächlich die Rolle eines Feiertagsessens übernehmen und der Küche
die Möglichkeit geben, für grössere Abwechslung und Schmackhaftig¬
keit der Kost zu sorgen. Zu diesem Zwecke werden auch die Frisch¬
gemüse und namentlich die grünen Salate und das frische Obst als
Beikost reichlich hinzugezogen werden müssen. In dieser Beziehung
hat es die alte Gefängniskost sehr fehlen lassen. In den kommenden
Jahren wird aus Sparsamkeitsgründen und um möglichst nur mit in¬
ländischen Erzeugnissen zu wirtschaften nach diesen Gesichtspunkten
die Massenernährung einzurichten sein.
Abgeschlossen Anfang April 1920.
Angezogene Literatur.
1) Dehio, Beobachtungen über die Anstaltsruhr. Psych.-Neur. Wochensohr.
19. Jabrg. Nr. 49, 50 und 51. — 2) Jahresberichte von Neustadt i. H. und Weil-
münster 1918/19. — 3) Kisskalt, Einführung in die Medizinalstatistik. Leipzig,
G. Thieme. — 4) Richter, Ueber die Ernährungsverhältnisse in der Irrenanstalt
Buch während des Krieges 1914/18 und deren Folgen. Allg. Zeitschr. f. Psych.
Bd.75. S.407. — 5) Rieger, Die Messtange. Arbeiten aus der Psychiatr. Klinik.
Würzburg. H. 9. — 6) Rubner und Müller, Berioht vom Dezember 1917.
Münchener med. Wochenschr. 1920. Nr. 8. — 7)Schreber, Ernährung von
Insassen eines preussischen Frauengefängnisses vom 1. 4. 1916 bis 31. 3. 1918.
Diese Vierteljabrsschr. 1919. H. 4. S. 271. — 8) Siebert, Studien über die
Kriminalität Geisteskranker. Psych.-Neur. Woohenschr. 1919. S. 279. — 9) Sta¬
tistisches Jahrbuch für das Königreich Sachsen. 1914/15. — 10) Weygandt.
Deutsche med. Wochenschr. 1919. S. 1062.
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UNIVERSfTY OF MICHIGAN
III.
Aus d. med.Klinik Bürgerspital Basel (Vorsteher: Prof.Dr.R.Staehelin).
Uefoer Brommethylvergiftung.
Ein Beitrag zur Frage der Spätwirkungen von Giftstoffen.
Von
Fritz Rohrer,
Dozent ftlr Physiologie in Basel 1 ).
Mit dem Inkrafttreten des neuen Kranken- und Unfallversicherungs¬
gesetzes, in welchem auch die Gewerbevergiftungen eingehend berück¬
sichtigt sind, gewinnen diese Erkrankungen ein allgemeines ärztliches
Interesse.
Es soll im folgenden über einen Fall von Brommethylvergiftung
berichtet werden, welcher in seinem Verlauf die Eigentümlichkeiten
dieser Vergiftung zeigt.
Das Brommethyl ist eine sehr flüchtige Substanz, welche bei der
Antipyrindarstellung zur Methylierung verwendet wird und die wegen
ihrer Gefährlichkeit in die schweizerische Liste der Gewerbegifte 2 )
aufgenommen wurde.
Die Brommethylvergiftung verdient deshalb ein besonderes Inter¬
esse, weil die Kasuistik noch klein ist und weil die Diagnose oft
recht schwierig sein kann.
In der Darlegung des Falles halte ich den Weg ein, welcher
uns allmählich mit den einzelnen Umständen des Falles bekannt
machte und zu einer abschliessenden Diagnose führte.
Wir beginnen mit der Krankengeschichte, welche ich Herrn Dr. Ro-
della, Assistent am Bürgerspital, verdanke.
Fall E. B., 49 J., Spitalaufnahme 7. 3. 1917. Vorarbeiter in einer chemi¬
schen Fabrik.
Familienanamnese and sonstige Angaben über den Pat. konnte man weder
von demselben, da er bewusstlos war, noch vom begleitenden Arzt erhalten. Nach
1) Im Frühjahr 1917 als hdpfl. Militärarzt am Bürgerspital Basel, med.
Klinik, tätig.
2) Pometta, Gewerbevergiftungen und Berufskrankheiten in „Unfallkunde“
von Gelpke und Schiatter.
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
52
Fritz Robrer,
den Aussagen des Arztes ist gestern ein Rohr, welches für die Zufahr von Brom-
metbyl diente, geplatzt. Pat., welcher Meister in der Abteilung zur Herstellung
von Brommethyl war, konnte aber Weiterarbeiten bis heute Mittag, wo er plötzlich
erkrankte. Die Symptome, die sich bei ihm zeigten, bestanden hauptsächlich in
Zuckungen beider Arme, in tiefen Inspirationen und Herausschaffen von schau¬
migem Speichel. Ferner kontrahierte Pat. die Gesichtsmuskulatur und war ein
Klappern der Zähne hörbar. Die Einführung irgend eines Instrumentes, auch mit
Gewalt, war während eines Anfalles absolut unmöglich. Die Pupillen waren sehr
weit und reagierten träge.
Die Anfälle, welche nach Aussage des Arztes im Anfang spärlich waren,
wiederholten sich während der Viertelstunde, welche Pat. im Spital noch lebte,
immer häufiger und folgten sich zuletzt fast ohne Unterbrechung. Die Blutentnahme
geschah etwas erschwert, da Pat. starke Krämpfe hatte und auch mit Hilfe eines
Wärters die Arme nicht ruhig zu halten waren. Das Blut floss leicht, war dunkel¬
schwarz gefärbt und hatte normales Koagulationsvermögen. Andere Eingriffe wie
Sondierung des Magens und Lumbalpunktion, welohe bereits vorbereitet waren,
konnten nicht gemacht werden, da Pat. nach einer Viertelstunde starb.
Harnbefund: Helbgelb, sauef, Eiweiss -f- 1 / 2 p.M., kein Zucker, kein
Azeton, keine Azetessigsäure. Mikr. massenhaft Sperma, massig viel Leukozyten,
keine Zylinder.
Blutbefund: Giemsapräparat: Leukozyten (Neutroph. 57,5pCt., Eos. IpCt.,
Basoph. 0 pCt., Lymphom. 40 pCt., Uebgf. 1,5 pCt.) Bei den roten Blutkörperchen
keine Polychromasie oder Punktierungen.
Die Sektion ergab keinen nennenswerten Befund ausser einem eigentümlichen
Geruoh bei allen Organen, besonders bei der Leber. Naoh dem Urteil des Obdu¬
zenten, Herrn Prof. Hedinger, spricht die ganze Saohlage sehr für Tod durch
irgend ein gasförmiges Gift.
Weitere Klärung des Falles brachte ein Bericht eines Fabrikbeamten an die
Technische Direktion der Fabrik, aus dem wir das Wesentliche mitteilen.
„Mittwoch 7. 3. nach 2 Uhr war Meister B. bei mir im Laboratorium. Unter¬
schrift von Gutscheinen, Besprechung von Betriebsangelegenheiten, ohne dass an
B. Ungewöhnliches aufgefallen wäre. Zirka 1 Stunde später, etwas nach 3 Uhr,
liess mich B. durch einen Arbeiter rufen. Ich fand ihn in seinem Zimmer im
Fabrikationslokal auf einem Stuhl sitzen. Er klagte über heftige Zuckungen im
linken Arm. B. verlor dann das Bewusstsein, schlug mit Armen und Beinen um
sich. Wir legten ihn auf den Boden. Der Kranke zeigte Erscheinungen, wie sie
bei einem epileptischen Anfall auftreten. Der Fabrikarzt veranlasste dann die
Ueberführung des Pat. ins Bürgerspital.
Am Tage vorher war in der Apparatur zur Brommethylregeneration aus Di-
methylamidoantipyrin ein Wasserstandrohr geplatzt. Dieses hatte Meister B. aus¬
gewechselt, nachdem er vorher den Hahn geschlossen und damit die Brommethyl¬
zirkulation abgestellt hatte. Ich kam gerade nach der Reparatur hinzu und konnte
keinen Geruch naoh Brommethyl bemerken. Auch B. sagte nichts darüber. Erst
nachträglich erfuhr ich heute, dass das Wasserstandrohr schon einmal am Dienstag
Vormittag morgens 7 Uhr gesprungen und durch B. ohne Hilfe ersetzt worden war.
Es wäre denkbar, dass B. bei der ersten Reparatur Brommethyl eingeatmet hat.“
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Ueber Brommethylvergiftung. 53
Wichtig erscheinen ferner die Angaben der Frau B. über das
Verhalten ihres Mannes vor der Erkrankung.
„B. war am Sonntag 4. 3. noch als Schiedsrichter in der zentralen Kranken¬
kasse der Fabrik tätig. B. war 49 Jahre alt, seit 19 Jahren verheiratet, 4 Kinder,
das jüngste 3 Jahre. Seit 19 Jahren in der Fabrik, seit 4 Jahren Meister. Ueber
Vorkommnisse in der Fabrik sagte er daheim nichts, es stand so in seinem Meister¬
vertrag. Am Dienstag beim Essen war nichts Besonderes. Am Abend kam Fran B.
erst um 8 Uhr heim. B. ging schon 1Ö Minuten nachher ins Bett und sprach
vorher sehr wenig. Ebenso am Mittwoch Morgen. Am Mittwoch Mittag blickte er
starr, schläfrig, sprach nichts. War von 12 Uhr bis nach 12 : / 2 Uhr daheim. Er
sah nioht einmal nach dem Kleinen, was er sonst immer tat, nur ihr sagte er
adieu. Eine Nachbarsfrau fragte, was ist auch mit dem Herrn B., er läuft so lang¬
sam und ist so bleich.“ Am Mittwoch Naohmittag erfolgte dann die rasch zum
Tode führende Erkrankung.
Wenn wir den Fall kurz überblicken, ergibt sich folgendes Bild.
Bei einem sonst immer gesunden Mann jreten plötzlich schwere
Muskelkrämpfe und Benommenheit auf und führen in einigen Stunden
ad exitum. Harnbefund spricht gegen Urämie oder Diabetes. Die
Sektion ergibt keine Todesursache. Anamnestisch keine Anhaltspunkte
für Epilepsie.
Wie aus dem Bericht der Fabrik hervorgeht, machte Patient am
Tage vorher zwei Reparaturen an einem Apparat, in welchem Brom¬
methyl war. Wenn der Tod des Patienten auf eine Vergiftung mit
dieser Substanz zu beziehen ist, so würde also zwischen Einatmung
des Giftes und Ausbruch der schweren letalen Erscheinungen ein re¬
lativ freies Intervall von etwa 24 Stunden liegen. Während dieser
Zeit ging B. seiner Arbeit nach. In seinem Verhalten fiel daheim
nur etwas Müdigkeit und Wortkargheit auf.
Um diesen sonderbaren Krankheitsverlauf beurteilen zu können,
zogen wir die Literatur zu Rate und fanden 8 Fälle von Brommethyl¬
vergiftung [Schüler 1 ) 3, Jaquet 2 ) 3, Bing 8 ) 2], deren Verlauf wir
kurz anführen wollen. In den Fällen von Schüler und Bing konnte
kein bestimmter Zeitpunkt der Einatmung von Brommethyl fest¬
gestellt werden.
Schaler. 1. Fall: Am ersten Tage Erkrankung mit Kopfschmerzen, zweiter
Tag Hautjacken and Ohnmachtsanfall. Dritter Tag Ohnmachtsanfall, Zuckungen
1) Schaler, Vierteljahrsschr. f. öffentl. Gesundheitspfl. 1899. S. 696.
2) Jaquet, Deutsch. Arch. f. klin. Mod. Bd. 71. S. 370.
3) Bing, Schweiz. Rundschau f. Med. 1910. S. 1167.
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54 Fritz Rohrer,
in beiden reohten Extremitäten, Schaum vor dem Mund, Harn- und Stuhlabgang.
Ausgang in Heilung.
2. Fall: Beginn mit Unwohlsein, Krämpfen, Leibschmerzen, Schüttelfrost.
Eine Stunde später eklamptische Erscheinungen, Koma. Tod auf Transport ins
Spital. Sektion ergibt keine Todesursache.
3. Fall: Krämpfe und Erbreohen. Uebergang in Heilung.
Jaquet. 4. Fall: G. D., 30 J. Bei Ueberfüllen von Brommethyl grössere
Menge ausgetreten und eingeatmet. Uebelkeit und Schwindel. Arbeitet trotzdem
an diesem und folgendem Tag. In der Nacht des 3. und 4. Tages Delirieren. Am
4. Tage Doppelbilder. Am 8. Tage Tobsuchtsanfall von 2 Stunden Dauer. Aus¬
gang in Rentenneurose.
5. Fall: B., 35 J. Reparatur, bei welcher Dämpfe austraten. Unwohlsein,
Sehstörung. Am 2. Tage Doppelbilder. Arbeitet bis am 3. Tage abends. Schwankt
wie betrunken beim Heimgehen. Ausgang in Heilung.
6. Fall: Selbstbeobachtung von Jaquet. Bei zufälligem Zerbrechen eines
Glasröhrchens mit Brommethyl etwas eingeatmet. Sohwäche und Schwindel nach
einigen Minuten. Schwäche in Beinen mehrere Stunden. Beim Lesen Buchstaben
verschwimmend. Am folgenden Tage besohwerdefrei.
Bing. 7. Fall. 32 J. Kopfschmerzen, blass, kleiner Puls, Apathie, Brech¬
reiz. Beim Transport ins Spital bewusstlos, allgemeine Zuckungen, Schaum vor
dem Mund. Komatös bis am 3. Tage. Einzelne typische epileptiforme Anfälle. In
folgenden 2 Monaten etwa epileptiforme Attacken, Delirien und Erregungszustände.
Einmal Tobsuohtsanfall. Ausgang in traumatische Neurose.
8. Fall. 24 J. Erbrechen, Schwindel, Sohwäche in Gliedmassen, 2 Woohen
bettlägerig. Uebergang in Polyneuritis der unteren Extremitäten, welche von Bing
auf gleichzeitige Vergiftung mit Methylalkohol bezogen wird.
Unter diesen 8 Fällen ist Fall 5, 6 und 8 ohne sehr schwere
Erscheinungen verlaufen oder waren diese durch eine andere Gift¬
substanz bedingt. Eine genaue Feststellung des Zeitpunktes der Brom-
methyleinatmung liegt nur in den Fällen Jaquet’s vor. Wie Fall 4
und der mittelschwere Fall 5 zeigen, kann in den ersten Tagen
Arbeitsfähigkeit bestehen, auch wenn später das Arbeiten unmöglich
ist oder sehr bedrohliche Symptome auftreten, in Fall 4 z. B. ein
Tobsuchtsanfall nach einer Woche. Das relativ freie Intervall von
24 Stunden in unserem Fall, während dessen Patient noch arbeitete,
spricht also durchaus nicht gegen, sondern für die Auffassung als
Brommethyl Vergiftung. Wie aus dem Verhalten des Patienten zu
Hause sich schliessen lässt, empfand er in dieser Zeit wohl auch
leichtere Beschwerden, die wahrscheinlich ähnliche waren wie im
Jaquet’sehen Fall, über die er aber nicht klagte, weil er daheim
vom Fabrikbetrieb nichts erzählen durfte.
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UMIVERSITY OF MICHIGA
Ueber Brommethylvergiftung.
55
Hinsichtlich der Art der auftretenden schweren Symptome steht
unser Fall in Parallele mit Fall 1, 2, 3 and 7, wo auch motorische
Reizerscheinungen im Vordergrund waren. Der Verlauf von Fall 7 in
den ersten Tagen und der letal ausgehende Fall 2 entsprechen im
ganzen Charakter vollständig den Symptomen unseres Falles.
Aehnliche Erscheinungen konnte ferner Jaquet im Tierversuch
feststellen. Kaninchen, welche Bromraethyl eingeatmet hatten, gingen
nach Stunden unter epileptiformen Krämpfen zugrunde. Wie experi¬
mentell bei einem Versuchstier beobachtet wurde, stellt sich im Laufe
der Brommethyleinatmung eine Schwellung des Gehirnes ein, .welche
wahrscheinlich für die später auftretenden zentralen Symptome mit¬
veranlassend ist.
Der Vergleich des Verlaufes von Fall B. mit dieser Kasuistik,
der negative Sektionsbefund, ferner die Tatsache, dass B. am Tage
vor dem Tod zweimal Reparaturen an einem Brommethylapparat vor¬
nahm, lassen mit zureichender Sicherheit die Diagnose Brommethyl¬
vergiftung stellen. Der Fall wurde auch in diesem Sinne begutachtet.
Obschon es von vornherein wenig aussichtsvoll schien und bei
negativem Ergebnis nicht gegen das Vorliegen einer Brommethylver¬
giftung sprach, wurde weiter noch der Versuch gemacht, in den
Organen des Patienten Brom nachzuweisen. Zu diesem Zweck
wurden Gehirn, Leber, Blut, Harn, Mageninhalt unmittelbar nach der
Sektion in gut schliessenden Präparatengläsern in den Kühlraum ge¬
stellt und im Laufe der folgenden Tage untersucht. Zunächst wurde
nach flüchtigen Bromverbindungen gesucht. Wir benutzten dabei auf
Rat von Dr. Fleissig, Apotheker am Bürgerspital, folgendes Ver¬
fahren. Aus Zink und Schwefelsäure entwickelter Wasserstoff strömt
durch die Versuchsflüssigkeit. Das Gas wird nachher noch in einem
weiteren Gefäss durch Schwefelsäure getrocknet und nun durch eine
fein ausgezogene Glaskanüle nach aussen geleitet und nach den üb¬
lichen Vorsichtsmassregeln entzündet. An der Kanüle wird eine kleine
Spirale von blankem Kupferdraht so befestigt, dass sie gerade im
unteren Teil der Wasserstoffflamme liegt. Bei Vorhandensein flüchtiger
organischer Bromverbindungen wird die Flamme intensiv grün gefärbt,
z. B. die Einführung kleinster Mengen von Broraäthyl ins Versuchs-
gefäss bewirkte alsbald die typische Färbung der Flamme. Dieser
Versuch fiel bei allen untersuchten Organen (Hirnbrei, Leberbrei) und
Flüssigkeiten (Blut, Harn, Mageninhalt) negativ aus. Von der Leber
wurde auch ein Teil zu Brei zerkleinert und in einem Rezipienten mit
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56
Fritz Rohrer,
Wasserdampf flüchtige Substanzen in eine eisgekühlte Vorlage über¬
destilliert. Auch bei diesem Destillat waren keine flüchtigen Brom¬
verbindungen nachweisbar.
Ebenso wurden in den genannten Flüssigkeiten und in den durch
Trocknen und vorsichtige Veraschung gewonnenen Mineralsubstanzen
von Leber und Hirn mit der Chloroformprobe und der Probe von
Jolles 1 ) keine nichtflüchtigen Bromverbindungen gefunden.
Diese negativen Untersuchungsergebnisse sprechen durchaus nicht
gegen eine Brommethylvergiftung. Es ist sogar wahrscheinlich, dass
diese flüchtige Verbindung, da der Tod erst nach einem Tag erfolgte,
nicht mehr im Organismus nachweisbar war. Dieser Befund, das
Fehlen von Brom Verbindungen in den untersuchten Organen der Leiche,
besonders im Gehirn, weist darauf hin, dass die schweren Erschei¬
nungen, welche dem Tod vorausgingen, nicht eine unmittelbare Wir¬
kung des Brommethyls selber sind. Auf dieses Moment werden wir
unten zurückkommen.
Wir wollen noch kurz hervorheben, was für Schlüsse aus dem
Krankheitsverlauf für den Mechanismus der Brommethylwirkung
im Organismus folgen.
Die ersten Erscheinungen: Benommenheit und Schwindel, stehen
in Parallele mit den Wirkungen anderer gasförmiger Narkotika. Auf¬
fallend ist nur beim Brommethyl, dass mit dem Aufhören der Ein- •
atmung des Gases diese Symptome nicht allmählich zurückgehen,
sondern längere Zeit, bleiben und sich noch verstärken können. Ganz
eigenartig ist weiter in vielen Fällen das spätere Auftreten ganz neuer,
schwerer Reizsymptorae von seiten des zentralen Nervensystems, Tob¬
suchtsanfälle oder epileptiforme Zustände. Jaquet schliesst mit Recht
aus seinen Tierversuchen, dass es sich bei der Brommethylvergiftung
nicht um eine einfache funktionelle Lähmung handelt, welche sich
zurückbildet, sobald das Gift wieder isoliert worden ist, sondern dass
das Brommethyl tiefe und irreparable Läsionen des Zentralnerven¬
systems verursachen kann.
Bei einem so leicht resorbier baren, rasch im Körper verteilten
und wieder ausscheidbaren Gift, wie Brommethyl, macht nun be¬
sondere Schwierigkeiten die Erklärung des langen, relativ freien Inter¬
valls bis zum plötzlichen Ausbruch der schweren zentralen Symptome.
Die Entstehung eines freien Intervalls ist uns zunächst dann leicht
1) Sahli, Klin. Untersuchungsmeth. 6. Aufl. Bd. II. S. 84.
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Ueber Brommethyl Vergiftung.
57
verständlich, wenn eine langsame Resorption stattfindet und so die
Ueberwindung der räumlichen Schranken zwischen herantretendem
Giftstoff und dem Ort der Wirkung, wo erst bei Erreichung einer be¬
stimmten Konzentration eino merkbare Störung eintritt, das ver¬
zögernde Moment ist.
Fast in jedem Fall, wo auf einen ersten Vorgang nach einem
freien Intervall einer Latenzzeit regelmässig ein anderer Vorgang ein¬
tritt, zeigt uns die genauere Untersuchung die Verknüpfung durch
weniger auffallende Zwischenvorgänge. Dieses Verhalten ist uns so ge¬
läufig und scheint uns so notwendig, dass wir überall, wo wir Latenz¬
zeiten finden, uns berechtigt fühlen, Zwischenvorgänge anzunehmeto,
auch wenn wir uns von ihnen keine Vorstellung machen können.
Der am leichtesten vorstellbare Zwischenvorgang ist der bereits
genannte Fall, wo die Ueberwindung räumlicher Distanzen verzögernd
wirkt. Ebenso leicht verständlich sind Fälle, bei welchen der Zwischen¬
prozess ein rein mechanischer ist, z. B. die allmähliche Entstehung
eines Blutergusses bei Verletzung eines Gefässes, wo nach einiger Zeit
Kompressionserscheinungen an Nachbarorganen eintreten (Haematoma
cranii usw.) Ein anderes Beispiel mit rein mechanischen) Zwischen¬
prozess sind die Störungen durch Fettembolien nach Knochenbrüchen,
Verwickelter gestalten sich die Verhältnisse bei Vorgängen, welche
in den Zellchemismus eingreifen und hier einen verzögerten Verlauf
nehmen. Fast kein freies Intervall besitzen Störungen, welche die
Aterfffunktion betreffen, zunächst die Blutvergiftungen, welche die
Leistungsfähigkeit des Blutes, den Gasaustausch zu vermitteln, ver¬
mindern oder aufheben, andererseits die Störungen der Durchlässigkeit
der Zellwandung, ein Moment, welches wahrscheinlich bei der Wirkung
der Narkotika wichtig ist.
Bei Vorgängen, welche in andere zelluläre Leistungen ändernd
eingreifen, sind im Gegensatz dazu oft recht lange Latenzzeiten vor¬
handen. Ein längeres Intervall findet sich bei Giften, wo an der Ein¬
trittstelle Reize gesetzt werden, welche im Laufe der Zeit zu exsuda¬
tiven Prozessen führen, die wiederum sekundäre Störungen veran¬
lassen, z. B. bei Nitroso-Gasvergiftungen die nach 6—8 Stunden auf¬
tretenden Lungenerscheinungen. Die Bildung allergischer Reaktions¬
körper bei bakteriellen Intoxikationen ist ferner ziemlich sicher auch
eine Tätigkeit von Zellen. Wie die langen Inkubationszeiten mancher
Infektionskrankheiten zeigen, ist hier die Verzögerung des Vorganges
durch Zwischenprozesse eine ausserordentliche und sehr gesetzmässige.
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58
Fritz Eobrer,
Bei der Spätwirkung der Broramethylvergiftung scheint es sich
weder um eine Störung der Durchlässigkeit von Membranen, noch- um
eine Störung der Atemfunktion in der Zelle zu handeln, welche
primär durch das Brommethyl bewirkt würde, sondern um eine tief¬
gehende Störung des Zellchemismus; welche im Anschluss an die
primäre Brommethylwirkung entsteht, durch sie ausgelöst wird. Es
sind dabei vorläufig gar keine Anhaltspunkte vorhanden, ob dieser
Zwischenprozess in den Zellen des zentralen Nervensystems vor sich
geht oder in anderen Zellen, z. B. in Zellen innersekretorischer Drüsen
und dann erst von solchen Organen abgegebene Stoffe, die Funktions¬
änderung im zentralen Nervensystem bewirken. Möglich wäre auch
eine allgemeine Veränderung im intermediären Stoffwechsel, welche
im Laufe der Zeit zur Anhäufung von Produkten führt, die im zen¬
tralen Nervensystem jene katastrophale Wirkung ausüben. Die Er¬
scheinungen brechen dabei so plötzlich aus und sind so schwer und
deletär wie ein tödlich verlaufender anaphylaktischer Shock.
Es sprechen zahlreiche Momente dafür, dass es Stoffwechsel¬
störungen gibt, welche nicht in den Rahmen der jetzt genauer be¬
kannten Stoffwechselkrankheiten sich einordnen und welche zu oft
schweren Funktionsstörungen im Nervensystem führen. In diesen
Bereich gehören z. B. manche Avitaminosen, ferner die verschieden¬
artigen Erscheinungen im zentralen Nervensystem bei Hypo- und
Hyperfunktionen innersekretorischer Drüsen. Es ist ferner wahr¬
scheinlich, dass auch die Störung der Hirnfunktionen bei manchen
Psychosen, speziell bei Dementia praecox, durch noch nicht bekannte
Stoffwechselstörungen bedingt sind. Es weisen darauf hin die Heil¬
erfolge, welche amerikanische und englische Autoren bei manchen
Psychosen, besonders bei hebephrener Form der Dementia praecox
nach intensiver Steigerung des Stoffwechsels durch forzierle Schild¬
drüsenmedikation sahen x )-
Die Annahme eines Zwischenprozesses bei der Spätwirkung der
Brommethylvergiftung ist sehr wahrscheinlich gemacht dadurch, dass
in den Leichenorganen kein Brommethyl oder andere Bromverbindungen
mehr nachzuweisen waren.
Dieser Vorgang, dass nach Ablauf einer primären Vergiftung
pathologische Erscheinungen an einem Organe, speziell am zentralen
Nervensystem auftreten, steht ferner nicht vereinzelt. , Z. B. fand ich
1) Wagner v. Jauregg, Organotherapie. S. 152.
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Ueber Brommethylvergiftung.
59
in einem Falle von Hemicrania ophthalraica 1 )» dass die Anfälle von
Flimmerskotora sehr oft nach grösserem Genuss alkoholischer Getränke
auftraten, und zwar erst am 2. oder 3. Tag, also zu einef Zeit, wo die
primäre Giftwirkung längst abgeklungen war.
Die Art der sekundären Prozesse bei Brommethylvergiftung, ob es
sich um Veränderungen im Stoffwechsel der Nervenzellen selber handelt
oder ob sekundäre Giftstoffe irgendwo im Körper gebildet werden und
auf dem Blutwege zum Nervensystem gelangen und sich dort ver¬
ankern, wird nur durch entsprechend angelegte Versuchsreihen aufzu¬
klären sein.
Ob das Broraraethyl als Ganzes oder welcher seiner Bestandteile
das Brom oder die Methylgruppe den Vorgang auslöst, ist ebenfalls
noch unklar. Anorganische Brorasalze besitzen eine beruhigende Wir¬
kung auf das zentrale Nervensystem, speziell wird bei grossen Dosen
die Erregbarkeit der motorischen Zentren herabgesetzt. Andererseits
können dabei aber auf sensorischem Gebiet Reizerscheinungen auf-
treten, wie von Schabelitz 2 ) gezeigt wurde. Auch in dem oben ge¬
nannten Hemikraniefall bewirkte Bromnatriummedikation eine Exazer-
bierung der Flimmerskotomerscheinungen. Vielleicht sind die in
mehreren Fällen gefundenen Sehstörungen bei BromraethylVergiftung
in Parallele damit zu setzen.
Dass die Methylgruppe in manchen organischen Verbindungen
schwere Giftwirkungen besitzt, zeigt sich in der Alkoholreihe: Methyl¬
alkohol. Ferner handelt es sich nach Bloch bei der Jodoformidio-
synkrasie indirekt um eine Methylwirkung.
Was die Aehnlichkeiten und Unterschiede der toxischen Wirkung
verschiedener organischer Brom-, Jod- und Chlorverbindungen betrifft,
möchte ich auf die interessanten Ausführungen am Schlüsse der
Arbeit von Jaquet hinweisen. Nach der Ansicht Jaquets bildet die
Brommethyl- und die ähnlich verlaufende Jodmethylvergiftung vor¬
läufig eine besondere toxikologische Gruppe.
1) Rohrer, Anaphylaktische Erscbeinnngen im Symptomenbilde der Hemi-
kranie. Med. Klinik. 1915. Nr. 31.
2) Schabelitz, Experimente und Selbstbeobachtungen im Bromismos.
Inaug.-Diss. Zürich 1915.
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IV.
\
Aus der medizinischen Klinik der Universität Basel
(Vorsteher: Prof. Dr. R. Staehelin).
Ueber Vergiftung mit Brommethyl
und Nachweis der Substanz in Blut und Organen
vergifteter Tiere.
Von
Privatdozent W. Löffler und W. Rtttimeyer.
Die Darstellung von Broramethyl in chemischen Betrieben, wo es
zur Gewinnung methylierter Anilinfarbstoffe bei der Bereitung des
Antipyrins verwendet wird, gibt immer wieder zu schweren Vergif¬
tungen Anlass. In der Literatur liegen bis zur Zeit 10 Mitteilungen
über Brommethylvergiftung vor, indem zu den Fällen von Schüler,
Jaquet und Bing aus den Jahren 1899 bis 1910 in letzter Zeit
zwei neue typische Beobachtungen, die eine von Steiger, die andere
von Roh rer aus der hiesigen Klinik, mitgoteilt worden sind.
Wir hatten Gelegenheit auf der Basler medizinischen Klinik eineo
weiteren tödlichen Fall von gewerblicher ßrommethylVergiftung zu
beobachten und haben im Anschluss daran einige Versuche vorge¬
nommen über die Möglichkeit des Brommetbylnachweises im Blut und
in Leichenteilen.
Leodegar M., 51 jähriger Arbeiter der pharmazeutischen Abteilung einer
chemischen Fabrik, wird am 6. 12. 1917 mit der Diagnose Brommethylvergiftung
eingeliefert.
Anamnese: Der Begleiter des Pat., ein mit dem Sanitätsdienst in der
Fabrik betrauter Angestellter, macht folgende Angaben: Gewährsmann wurde in
der Fabrik 4,30 abends gerufen, «r solle mit der SauerstofTbombe ins Lokal
kommen, wo ein erkrankter Arbeiter liege. Er traf dort den am Boden liegenden
Pat., dessen Oberkleider geöffnet waren. Pat. war nicht bei sich, schrie fort¬
während laut, bekam alle 5—10 Minuten einen Krampfanfall, der ihn am ganzen
Körper erschütterte, mit Zusammenbeissen der Zähne, so dass der Sauerstoff durch
die Nase geleitet wurde; manchmal sperrte Pat. jedoch den Mund während der
Anfälle krampfhaft auf; nach den Anfällen, die 3—5 Minuten dauerten, verfiel
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Ueber Vergiftung mit Brommethyl usw.
61
Pat. wieder in Ruhe, mit offenen Augen und rnbiger Atmung, erkannte aber seine
Umgebung nicht. Gewährsmann beobachtete in der Fabrik noch 4 Anfälle im
Laufe von etwa 1 / 2 Stunde; während des Transports in die Klinik erfolgten
wieder 4 Anfälle, unterbrochen von tierischem Brüllen, Pat. wollte sich in der
Fabrik mit kolossaler Kraft erheben, so dass mehrere Leute ihn halten mussten.
Einmal wurde der Ausruf gehört, unmittelbar vor einem Krampfanfall: „au das
Bein, das rechte Bein, geht mir ab dem Bein.“ Pat.. ist dem Gewährsmann be¬
kannt als früherer starker Trinker, Anfälle habe er nie gehabt.
Ergänzung der Anamnese durch deu Fabrikchemiker Dr. X., den dienst¬
lichen Vorgesetzten des Pat. M. Dem Gewährsmann ist im Verhalten des U.
während der Beschäftigung im Brommetbyllokal bis jetzt nichts besonderes aufge¬
fallen. Am 6. 12. im Laufe des Vormittags musste M. an einem Brommetbylauto-
klaven ein neues Manometer einsetzen, dessen Rohr an einer Stelle nicht ganz dicht
war. Ein Mitarbeiter machte den M. auf den Defekt aufmerksam, doch schaltete
dieser das Rohr gleichwohl ein; sobald Dr. X. von dem Vorfall Kenntnis erhielt,
wurde der bereits angeheizte Autoklav ausser Betrieb gesetzt (etwa 2Uhr naohm.).
M. arbeitete weiter; wie er nach Schluss der Arbeitsschioht das Lokal ver-
liess und in e(nem Nebenraum sich waschen wollte, wurde es ihm schwindlig. Er
begann zu zittern und musste von einem Mitarbeiter zu einem Sitz geführt werden.
Dort traf ihn Dr. X. Im Aussehen bot M. nichts Besonderes (koine abnorme
Blässe, keine Blaufärbung des Gesiohts); nur fiel der starre Blick auf. M. war
noch bei Bewusstsein und konnte ihm verabreichtes Salzwasser trinken. Bald
darauf begann jedooh heftiges Zittern des ganzen Körpers und M. verlor das Be¬
wusstsein. Geschrien hat damals M. noch niobt. Erbrechen erfolgte nicht.
Der Schwiegersohn des Pat. macht folgende Angaben: Ich kam zufällig in
das Lokal, in dem mein Schwiegervater arbeitet, und fand ihn auf einer Kiste
sitzend, mit beiden Händen sich krampfhaft haltend am Sitz und rufend: „Brom
erwisoht, Brom erwischt.“ Sofort wurde Sauerstoff gebracht und es wurde^ver-
sucht durch Einflö3sen von Salzwasser Erbrechen zu erregen, doch kam es nicht
mehr zum Erbrechen.
Anamnestisohe Angaben der Frau des Pat. M.: Eltern des Pat. schon lange
gestorben. Ein Bruder gesond. Frau gesund, 4 Kinder gesund, 2 gestorben an
Soharlach. Pat. war früher immer gesund, seit einem Jahr hin und wieder rheu¬
matische Schmerzen in den Armen (musste deshalb im Sommer 1917 3 Wochen
die Arbeit aussetzen). Pat. trägt seit Jahren eine Brille zum Lesen, war wegen
einer Verletzung der Hornhaut durch Säure vor etwa 20 Jahren im Basler Augen¬
spital in Behandlung. Pat. arbeitet seit etwa 2 Jahren in einer Abteilung der
Fabrik, wo Brommethyl verwendet wird. Nachdem er bis vor 4 Wochen dort im
Freien beschäftigt gewesen, trat er für 14 Tage die Arbeit im geschlossenen Lokal
an, doch bemerkte er sogleich, dass er sich nicht mehr so wohl fühlte wie bisher.
Er verlor etwas den Appetit und war immer matt, ging sofort nach dem Nacht¬
essen za Bett, schlief die ganze Nacht tief; hatte kein Kopfweh, nie Erbreohen.
Nach diesen 2 Woohen bekam Pat. wieder Arbeit im Freien, äusserte sich am-
ersteb Tag sogleich, er fühle sich schon wieder wohler, ass besser und war weniger
müde; den Angehörigen fiel auf, dass Pat. wieder frischer war. Seit dem 3. 12.
arbeitet Pat. wieder im geschlossenen Lokal mit Brommethyl. Er sagte am 3. 12.
daheim: „Jetzt müsse er wieder in die Totenkammer, es graue ihm davor.“ Am 3.
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62
W. Löffler und W. Rütimeyer,
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abends hatte M. keinen rechten Appetit. Er äusserte sich: „Er habe Brommethyl
erwischt“ ; ein Chemiker habe sich auoh ihm gegenüber geäussert: „es riecht, M.“
• Nachts schwerer Schlaf, Pat. sprach viel im Schlaf, was er sonst nie tat. Die
nächsten Tage sprach er sich mehrmals daheim aus, es sei ihm gar nicht recht
wohl. Am 3. klagte Pat. über Schmerzen am Hinterkopf. Nie Erbrechen. Die An»
gehörigen haben an den Kleidern keinen besonderen Geruch bemerkt. Vom 4. bis
zum 6. 12. ist den Angehörigen, ausser dass Pat. weniger zur Nacht ass, nichts
Besonderes mehr aufgefallen. Ueber die Mittagszeit ist Pat. immer in der Fabrik
geblieben. Pat. hat nie an Krämpfen gelitten, ln der Familie keine Nervenkrank¬
heiten. Zu einem Mitarbeiter soll sich M. am 5. 12. geäussert haben, er sehe
schwarze Punkte vor den Augen.
Der Pat. wird am 6. 12. gegen 6 Uhr abends in das Spital gebraoht. Wäh¬
rend des ganzen Transports bis ins Krankenzimmer stösst er fortwährend unarti¬
kulierte laute Schreie aus. Er liegt mit etwas gerötetem Gesiebt da, die Augen
krampfhaft geöffnet und starr in die Ferne gerichtet. Der Muskeltonus am ganzen
Körper ist erhöbt. Nach ganz kurzer Zeit, wie mit der Untersuchung begonnen
wird, erfolgt ein Krampfanfall: heftige klonische Krämpfe, gleichzeitig an den
oberen und an den unteren Extremitäten beginnend, erschüttern den Körper. Nach
etwa einer halben Minute gehen die klonischen Krämpfe in eine tonische Kon¬
traktur der gesamten Körpermuskulatur über mit Opisthotonus; Beugestellung der
oberen, Strecksteilung der unteren Extremitäten; Hände zur Faust gebaUt. Pa¬
pillen in diesem Zustand maximal erweitert, ohne Reaktion auf Lichteinfall.
Skleral- und Kornealreflex nicht auslösbar, Bulbi gerade nach oben gedreht. Kiefer
fest geschlossen. Die Atmung verlangsamt sich, wird tiefer, setzt aber nioht aus,
2 Minuten nach Beginn des Anfalles löst sich die allgemeine Starre allmählich.
Alle Sehneureflexe werden lebhaft gesteigert, kein Babinski. Pupillen bleiben
reaktionslos, Skleral- und Kornealreflex nicht auslösbar. Kein Abgang von Stuhl
oder Urin. Pat. bleibt bewusstlos.
Naoh dem Aufhören der Krämpfe wurde folgender Status praesens erhoben:
Mittel grosser, sehr muskulöser Mann K Haut im ganzen blass, im Gesicht mit
Stich ins Graue, keine Zyanose. Keine Oedeme, kein Exanthem. Pat. tief be¬
wusstlos. Keine Reaktion auf Hautreize. Pupillen weit, völlig reaktionslos,
Skleren weiss. Mund- und Rachenorgane: o. B. Keine Zungenbisse. Hals: kräftig,
Schilddrüse weich, o. B., am Hals keine Drüsen palpabel. Thorax: gut gewölbt,
symmetrisch. Lungen: Lungen-Lebergrenze rechts vorn unten 6. Rippe, hinten
unten Lungengrenze Höhe des XI. Proc. spin. dors. Lungenschall überaU sonor.
Auskult.: überall reines Vesikuläratmen, nirgends Nebengeräusche. Herz: Grenze
etwas rechts vom reohten Sternalrand, 3. Rippe, etwas ausserhalb der linken Mam-
millarlinie. Absolute Dämpfung: entsprechend. Herzstoss schwach, 1 / 2 Finger
breit ausserhalb der linken Mammillarlinie im 5. Interkostalraum. Herztöne
ziemlich leise, rein. 2. PT. = 2. AT. Puls: regelmässig, ziemlich gross, mittel¬
hart, Arterienrohr der Radialis rigid, Temporalarterie o. B. Abdomen: Banch-
decken weich. Leber: in der reohten Mammillarlinie am Rippenbogen Rand nicht
palpabel. Milz: perkutorisch und palpatorisch nicht vergrössert. Bauchdecken¬
reflex -J-; Harnblase nicht abnorm gefüllt. Extremitäten: Muskeltonus andauernd
stark erhöht. Keine fibrillären Zuckungen. Sehnen- und Periostreflexe der oberen
Extremitäten stark erhöht. Patellarreflex gesteigert, kein Klonus. Achillessehnen-
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' Ueber Vergiftung mit Brommetbyl usw. 63
reftex erhöht, kein Klonus, Fusssohlenreflei nicht auslösbar; kein Babinski.
Oppenheim negativ.
Pat. bleibt bis zum Exitus, 10 l J t Uhr abends, bewusstlos; anfänglich mit
10—15 Minuten Intervall, später sohon nach 2—4 Minuten jeweilen, erschüttern
klonische Krämpfe von grösster Heftigkeit den Körper, tonisohe Starre besteht hin
und wieder ganz kurz (maximal l J i Minute lang) zu Beginn eines neuen Anfalles.
Dauer'der Anfälle 1—2—3 Minuten, mit der Zeit kürzer werdend. Manchmal nach
einem Anfall etwas blutiger Sohleim vor dem Mund, kein Zähneknirschen, nie Ab¬
gang von Stuhl oder Urin.
Das Schreien hat seit dem Spitaleintritt anfgehört. Die Atmung ist nur
während der Anfälle stöhnend, etwas verlangsamt, sonst ziemlich oberflächlich,
nicht verändert, ohne Cheyne-Stokes-Typus. Kein besonderer Geruch an Kleidern, *
Atmungsluft usw. wahrnehmbar. Kein Trachealrasseln ante exitum. Puls beim
Eintritt 54, regelmässig, um 9 Uhr abends um 130, klein und weich. Herzaktion
immer ganz regelmässig. Blutdruck bei Spitaleintritt 110 mm Hg Riva Rocci.
Therapie: heisses Bad, dann Aderlass 700 ccm (das herausfliessende Blut
zeigte normales Aussehen und Verhalten in bezug auf Gerinnung). Intravenöse
Injektion von 300 ocm Ringer-Lösung mit 5 pCt. Traubenzucker. Subkutane In¬
fusion von l L. Ringer-Lösung. Kampfer; 2mal 3 g Chloralhydrat per Klysma;
Mo. 0,02; Sauerstoffzufuhr.
Lumbalpunktion (nach Spitaleintritt): Druck 40 ccm Wasser, ausfliessender
Liquor stark blutig.
Katheter-Urin: klar, hell, schwach sauer. Eiweiss + (Kuppe); Zuoker,
Diazo, Urobilin, Urobilinogen und Azeton negativ. Sediment: ganz spärliche
hyaline Zylinder, keine roten,^spärlich weisse Blutkörperchen.
Blutbefund: Rote Blutkörperchen 4876000, weisse Blutkörperchen 28600,
Hämoglobin 86 pCt. naoh Sahli, polymorphkernige neutrophile Leukozyten
81,75 pCt., eosinophile 1,25 pCt., grosse Mononukleäre und Uebergangszellen
5,25 pCt., Lymphozyten (kleine, normale Formen) 11,75 pCt., keine Myelozyten.
Rotes Blutbild: Normozyten. Blutplättchen: fast völlig fehlend.
Harnstoffbestimmung im Blut: 85 mg in 100 ccm Blut. Wassermann im
Blut: negativ.
ln den bis jetzt bekannt gewordenen Fällen von Brommethyl¬
intoxikation handelt es sich um akute Vergiftungen. Unser Fall
soheint zu zeigen, dass auch eine subakute Brommethylvergiftung
Vorkommen kann. Von Wichtigkeit für diese Frage sind, wenn sie
zuverlässig sind, die Angaben der Frau unseres Patienten über die
krankhaften Erscheinungen, welche während seines ersten Aufenthaltes
im geschlossenen Brommethyllokal aufgetreten sind. Diese Beschwerden
hat der Patient sofort wieder verloren, sowie er an der freien Luft
arbeiten konnte, trotzdem er hierbei ebenfalls mit Brommethyl zu
hantieren hatte. Es genügten jedenfalls geringste Mengen von Brom¬
methyl, um die genannten krankhaften Erscheinungen bei M. hervor¬
zurufen. Von einem Defekt an den maschinellen Einrichtungen hören
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64
W. Löffler und W. Rütimeyer,
wir für diese erste Periode nichts. Es muss aber auch bei unserem
Patienten eine besondere Empfindlichkeit für kleinste Mengen Brom-
methyl bestanden haben; nach der Angabe des Fabrikchemikers war
M. mit anderen Arbeitern im gleichen Lokal beschäftigt, welche, der
gleichen Einwirkung ausgesetzt, nicht erkrankt sind. Gleichzeitig mit
der zweiten Versetzung ins Brommethyl lokal treten die Störungen er¬
neut und in verstärktem Masse auf. Jetzt aber hat Patient, am
3. 12. nach seiner Aussage, Brommethyl in grösserer Menge ein¬
geatmet. Trotz Vermehrung der Beschwerden ist aber M. seiner
Arbeit weiter nachgegangen, bis es dann am 6. 12. zu einer erneuten
stärkeren Aufnahme des Giftes kam, welche akute Vergiftungserschei¬
nungen hervorrief und welcher der Patient erlegen ist. Gross kann
die Menge des eingeatmeten Brommethyls kaum gewesen sein, da
der Patient, der die Gefährlichkeit des Stoffes nur zu gut kannte,
bei Wahrnehmung von Brommethyl durch den Geruch sich sicher
hätte warnen lassen (Brommethyl besitzt einen penetrant ätherartigen
Geruch). Vielleicht genügten aber für den schon längere Zeit durch
Brommethyl geschädigten Patienten sehr geringe Dosen des Giftes,
wenn sie wiederholt aufgenommen wurden, um eine zum Tode führende
Intoxikation hervorzurufen.
Immerhin ist zu betonen, dass wir die Krankheitssymptome, die
in den letzten 4 Wochen bis zum 6. Dezember aufgetreten sein sollen,
nur aus den Angaben der Witwe kennen, und es ist bekannt, dass
bei einem so erschütternden Ereignis die Erinnerung sehr wohl nicht
ganz zuverlässig sein kann, besonders, wenn die Beteiligten der An¬
sicht sind, Entschädigung bzw. Rentenansprüche könnten von ihren
Aussagen abhängig sein. Diese Hinweise auf das Bestehen einer
chronischen Brommethylvergiftung könnten aber von grosser
praktischer Bedeutung sein, falls in etwaigen weiteren Fällen
ähnliche Erscheinungen beobachtet würden.
Das Bild der Vergiftung, das unser Fall bietet, entspricht den
Versuchsergebnissen, welche Jaquet bei seinen Experimenten ge¬
funden hat. Als charakteristisch für die Brommethylvergiftung sei
hingewiesen auf das freie Intervall zwischen Einatmung des Giftes
und Ausbruch der schweren Symptome, welches in unserem Falle
2 bis 3 Stunden betragen hat (in 2 Fällen von Jaquet und im Falle
Rohrer und Steiger wurde ebenfalls ein freies Intervall beobachtet)
und das Weiterschreiten aller Vergiftungserscheinungen, in unserem
Falle bis zum Tod, nachdem eine Zufuhr des Giftes längst aufgehört
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Heber Vergiftung mit Brommethyl usw.
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hat, beides Erscheinungen, welche in auffallendem Gegensätze stehen
zam Vergiftungsbild bei Bromäthyl und Bromoform, wobei Intoxikation
rasch erfolgt während der Einatmung der Substanz und sich rasch
wieder verliert, sobald die Darreichung Ses Mittels eingestellt wird.
Diese Besonderheiten der Vergiftung mit Brommethyl haben Jaquet,
wie schon erwähnt, dazu geführt, nicht nur eine funktionelle Lähmung,
sondern tief greifende und bei grösseren Dosen irreparable Läsionen
des Zentralnervensystems durch das Gift anzunehmen.
Ohne hier weiter auf die Theorie der Giftwirkung durch Brom¬
methyl einzugehen, möchten wir nur auf die Möglichkeit einer inter¬
mediären Bildung von Methylalkohol hinweisen als einer Fragestellung,
die experimenteller Bearbeitung zugänglich ist.
Wenn, schon im allgemeinen bei der Brommethylvergiftung, ab¬
gesehen von dem sehr charakteristischen klinischen Bild die Anamnese
selten im Stiche lässt, so ist die Frage doch von grossem Interesse, ob
sich objektiv in den Körperflüssigkeiten des Patienten Anhaltspunkte
für die Vergiftung gewinnen lassen, d. h. ob sich Brommethyl darin
nachweisen lässt. Dies ist von um so grösserer Bedeutung, als Brom¬
methylvergiftung keinen charakteristischen Autopsiebefund aufweist.
Im vorliegenden Fall wurde Blut und Harn sofort mit der sehr
empfindlichen einfachen Reaktion auf flüchtige Halogen verbind ungen
untersucht, die darauf beruht, dass die Verbindungen von einem
Wasserstoffstrom mitgerissen, imstande sind, der Flamme eine in¬
tensiv blaugrüne Farbe mitzuteilen, sobald eine Kupferspirale in der
Flammq zu schwachem Glühen erhitzt wird. Der über Schwefel¬
säure getrocknete Wasserstoff wird durch ein Gefäss durchgeleitet,
das die zu untersuchenden Körperflüssigkeiten oder die zerquetschten
Organteile in Wasser aufgeschwemmt enthält.
Die Resultate mit dem ganz frischen Harn und Blut unseres
Patienten waren durchaus negativ. Ebenso verhielten sich Gehirn
und Leber gleich nao^ der Autopsie.
Um festzustellen, inwieweit überhaupt Aussicht besteht, die einer¬
seits eminent flüchtige und äusserst toxische, andererseits wohl auch
sehr rasch im Organismus Veränderungen eingehende Substanz in
Körperflüssigkeiten und Organen nachzuweisen, haben wir eine Reihe
von Tierversuchen angestellt. Meerschweinchen wurden unter einer
Glasglocke Brommethyldämpfen ausgesetzt, zunächst ohne Dosierung
derselben, bis sich Vergiftungserscheinungen zeigten. (Die Organe
wurden sehr sorgfältig, jedes mit frischen Instrumenten, entnommen.)
VierteljahrMohrift f. ger. Med. n. Off. Bankwesen. 3. Folge. B<L 00. H. 1. c
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66
W. Löffler und W. Rütimeyer,
I
Versuch 1. Ein Meerschweinchen wird unter einer Glasglocke Brommethyl¬
dämpfen ausgesetzt. Anfang 4 Uhr 21 Min.
4 Uhr 23 Min. Tier legt sich auf die Seite/ist bewusstlos.
4 Uhr 26 Min. Atmet nicht mehr, wird aus der Glocke herausgenommen.
4 Uhr 27 Min. Wieder einige Atembewegungen. Tier wird sofort getötet.
Brommethylreaktion d
sofort nach dem Tode
Blut: positiv
Leber: „
Gehirn: schwach positiv
Lunge: negativ
r Organe bei der Autopsie
nach 1 / 2 stünd. Stehen in
den Reaktionsgefässen
positiv
schwach positiv
negativ
Versuch 2. Ein Tier wird in gleicher Weise behandelt und nach dem
spontan eingetretenen Tode 24 Stunden auf Eis aufbewahrt. Leber: positiv. Hirn:
schwaoh positiv. Lunge: schwach positiv. Niere: positiv.
t
Versuoh 3. Das den Brommetbyldämpfen ausgesetzte Tier legt sich nach
2V a Minuten auf die Seite, hört nach 9 Minuten auf zu atmen, erholt sich nioht
mehr, wird sofort entblutet. Blut: stark positiv. Leber: stark positiv. Lunge:
Spur. Harn: negativ (durch Punktion der Blase gewonnen).
Bei akuter unmittelbar zum Tode führender Brommethylvergiftung
lässt sich also die Substanz unmittelbar nach dem Tode im Blut und
in Organen nachweisen. Auch nach 24 ständigem Aufbewahren eines
an Brommethylvergiftung zugrunde gegangenen Tieres gelingt der
Nachweis mit der angegebenen Methode noch leicht.
Bei den folgenden Tieren wurde versucht, nach kurzer Einwir¬
kung des Brommethyls die Tiere sich wieder erholen zu lassen, ‘üin
die Bedingungen mehr denjenigen der natürlichen Brommethylver-,
giftung zu nähern.
Versuch 4. Das Tier wird Brommetbyldämpfen ausgesetzt, bis es bewusst¬
los ist (4 Minuten), dann sofort an die Luft gebracht, es erholt sich vorübergehend
etwas, geht aber Dach 45 Minuten spontan zugrunde. Leber: schwach, aber
deutlich positiv. Lunge: schwach positiv. Hirn: sohwach positiv. Herz: Blut
schwach positiv. Muskel: schwach positiv. Nieren: schwach positiv.
Die Intensität der Reaktion hat in diesem Falle fast die Grenze
der Wahrnehmbarkeit erreicht.
Versuch 5. Ein Meerschweinchen wird Brommethyl ausgesetzt, nach 2 Mi¬
nuten bewusstlos, nach einer weiteren Minute wird das Tier aus der Glocke an
die Luft gebraoht. Es erholt sich massig, geht etwas herum, ist aber'sehr matt.
Eine Stunde 10 Minuten nach Herausnahme wird das Tier entblutet. Blut: negativ.
Leber: negativ.
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Ueber Vergiftung mit Brommetbyl usw.
67
Versuch 6. Drei Meerschweinchen werden Brommethyldämpfen ausgesetzt;
nach 2 1 / 2 Minuten sind alle drei Tiere bewusstlos, naoh weiteren 2 Minuten er*
holen sich die Tiere wieder, eines wird entblutet. Blut: negativ, ebenso Leber,
Niere und Lunge.
Versuch 7. Drei Meersohweinchen werden Brommethyldämpfen ausgesetzt.
Nach 2 Minuten 45 Sekunden sind alle drei Tiere bewusstlos, sie werden noch
1 1 / i Minute unter der Glocke gelassen, dabei treten leiohte krampfartige Bewe¬
gungen der Extremitäten auf.
a) Ein Tier wird sofort entblutet. Blut: positiv. Leber: positiv. Niere:
positiv. Hirn: sehr schwach positiv. Lunge: negativ.
b) Das zweite Tier erholt sioh nur schleoht und ist nach 45 Minuten mori¬
bund, es wird entblutet. Blut: negativ. Leber, Niere, Hirn: negativ.
c) Das dritte Tier hat sioh kurze Zeit erholt, ist dann aber 30 Minuten nach
Herausnahme aus der Glocke spontan zugrunde gegangen. Die Organe werden
gleichzeitig mit denjenigen des zweiten Tieres herausgenommen. Niere, Hirn,
Lunge und die sehr blutreiche Leber sind negativ.
Die Versuche 4 bis 7 zeigen, dass der Brommethylnachweis
schwierig und bald unmöglich wird, sobald das Tier nach der Ver¬
giftung noch einige Zeit (30 Minuten bis 1 Stunde 10 Minuten) atmet;
während der Nachweis von Brommethyl bei einem unter gleichen Be¬
dingungen vergifteten, aber sofort getöteten Tier noch sehr gut gelingt.
Wenn auch diese Versuche nur eine rohe Annäherung an die
Verhältnisse bei der gewerblichen Brommethylvergiftung des Menschen
gestatten, so haben wir es doch mit Vergiftungen zu tun, die für die
Versuchstiere maximal waren. Wennschon in der kurzen Zeit von
30 Minuten, während der die Tiere überlebten, Brommethyl nicht mehr
nachweisbar ist, so besteht kaum grosse Aussicht dafür, dass mit
der angewandten sehr empfindlichen Methode bei den Vergiftungen des
Aienschen der Nachweis von Brommethyl in Körperflüssigkeiten gelingen
wird. Sind doclt diese Vergiftungen gerade durch ein freies Intervall
zwischen der Aufnahme des Giftes und dem Ausbruch der Krankheits¬
erscheinungen ausgezeichnet. Nur bei akut tödlichen Vergiftungen be¬
steht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass mit der erwähnten Methode
der Giftnachweis in der frischen Leiche noch gelingen kann.
Literatur.
1) Schaler, Vierteljahrsschr. f. öffentl. Gesundheitspflege. 1899. S. 696. —
2) Jaquet, Deutsches Arcb. f. klin, Med. 1901. Bd. 71. — 3) Bing, Schweize¬
rische Rundschau f. Med. 1910. S. 1167. — 4) Steiger, Münchener med.
Wochensohr. 1918. S. 753. — 5) Roh rer, Diese Vierteljahrsschr. 1920. 60. Bd,
S. 51.
5*
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V.
Tod nach Misshandlung.
Von
Dr. Räuber,
Regierung»- und Geh. Med.-Rat in Erfurt.
Als Vertreter des neuernannten aber noch kranken Kreisarztes
hatte ich am 17. September 1917 eine gerichtliche Leichenöffnnng
vorzunehmen, die mancherlei Eigentümlichkeiten darbot, und wenn
mancher Leser bei Beurteilung der Krankengeschichte und des Leichen¬
befundes vielleicht zu einem anderen Schluss gelangt wäre als ich in
meinem Gutachten und wenn manche Erscheinungen im Verlaufe der
zum Tode führenden Krankheit unaufgeklärt sein mögen, so dass die
eigentliche Todesursache nicht mit Sicherheit festgestellt werden
konnte, sondern nur ein Wahrscheinlichkeitsschluss übrig blieb, so
dürfte die Veröffentlichung des nachstehenden Falles doch deshalb
von grossem gerichtsärztlichen Interesse sein, weil die zahlreichen bei
der Leiche gefundenen Blutaustritte an den inneren Organen infolge
von Traumen meines Wissens zu grossen Seltenheiten gehören; we¬
nigstens habe ich in dieser Zeitschrift einen ähnlichen Befund nicht
auffinden können. Ich lege bei der Veröffentlichung auch das Haupt¬
gewicht auf diese Erscheinungen, bin aber bei dem sonst negativen
• Befund an den inneren Organen, dem Ausschliessen anderer Todes¬
ursachen dazu gelangt, einen ursächlichen Zusammenhang des Todes
mit den Misshandlungen anzunehmen, wengleich nur mit Wahrschein¬
lichkeit.
Aus der Literatur möchte ich ausser der Veröffentlichung von
Maschka (Viertoljahrsschr. f. gerichtl. Med., 30. Bd., S. 233) und
Lesser (Ebenda, 3. Folge, Bd. 44, S. 203) besonders auf die Arbeit
von Külbs (Experimentelle Untersuchungen über Herz und Trauma,
Mitteilungen a. d. Grenzgeb. d. Med. u. Chir., Bd. 19, H. 4) hinweisen.
Letzterer konnte nach traumatischer Einwirkung auf den Brustkorb
ausser Blutungen im Herzen auch Hämorrhagien in der Interkostal-
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Tod nach Misshandlung.
69
maskulatur, im subperikardialen Fettgewebe, an der Qinterseite des
Perikards, besonders an der A. coronaria erzielen.
Auch im vorliegenden Fall fanden sich an der hinteren Seite des
Herzens, besonders an der Kranzfurche zahlreiche Blutaustritte.
Ergänzend möchte ich noch aus dem Leichenbefund bemerken, dass
es sich um eine 27—30 Jahre alte kräftig gebaute Frau mit gut ent¬
wickelter Muskulatur und gutem Ernährungszustand handelte, die wohl
infolge Eifersucht ihres Mannes den Misshandlungen unterlag. Am
Schädel und Gehirn keine Veränderungen, das Herzfleisch war gelblich-
braun, die Leber 24:15:9 cm braunrot, ohne Veränderung, die Bauch¬
speicheldrüse graurot, von .fester Beschaffenheit, auf dem Durchschnitt
graurot, Dünndarm ohne Veränderungen mit grünlich gelblichem
Schleim, Dickdarm mit bräunlichem Kot in fester Form und reich¬
licher Menge.
Geschieh tserzählung.
Frau R. hat längere Zeit im Unfrieden mit ihrem Ehegatten, zur Zeit
Fahrer der 2. Ersatzbatterie, gelebt und ist von diesem wiederholt misshandelt
worden.
Nach den Akten hat die neben ihr wohnende Witwe A. S. in der R.’sohen
Wohnung, nachdem der Ehemann etwa Mitte Aagust auf Urlaub gekommen
war, viel Skandal bemerkt und die Frau R. hat viel geweint; etwa am 25. oder
26. August 1917 hat Frau R., die sehr geschrien habe, ihr nachträglich er¬
zählt, dass ihr Mann sie mit Fäusten gegen die Schläfen geschlagen, auf den
Fussboden geworfen und sie fortgesetzt mit den stiefelbekleideten Fussen gegen
den ganzen Leib getreten habe, seit dieser Zeit habe sie immer über heftige
Schmerzen geklagt. Später gibt sie nooh an, dass der Mann, der etwa am
6. September zu seinem Truppenteil zurückgereist war, sie kurz vorher, also
spätestens 8 Tage vor ihrem Tode misshandelt habe. Frau H. bekundet Aehn-
liches, auch sie bemerkte ebenso wie die Frau S., blaue Fleoken am Körper der
R. Diese klagte aber besonders noch über heftige Schmerzen in der Magengegend.
Die E. E. bekundet ebenfalls, dass ihre Freundin R. während des Urlaubs ihres
Mannes täglich von ihrem Manne mit Tritten und Stockschlägen misshandelt
worden sei. Auch dieser Zeugin gegenüber hat die R. über die Magengegend bzw.
die Lebergegend geklagt, weil ihr Mann auf ihr gekniet hätte. Von besonderer
Bedeutung ist noch die Aussage des Vaters der Verstorbenen, dem diese ihr Leid
geklagt hatte. Ihr Mann hätte sie zu Boden geworfen, mit seinen Kommisstiefeln
in die Seite und den Rücken getreten. Später klagte sie' ihrem Vater, dass sie
nicht stehen, liegen nooh sitzen könne, ihr Mann habe ihr die Brust kaput ge¬
drückt, habe sioh mit beiden Knien auf die Brust gekniet und mit Gewalt den
Beischlaf ausüben wollen. Die Lehrlinge des nebenan wohnenden Schmiede¬
meisters hätten Hilferufe der Frau gehört.
Frau R. ist am 11. September zuletzt bei Sanitätsrat Dr. V. gewesen,
um sioh von diesem wegen der Misshandlung ihres Mannes ein Attest aus-
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70
Käaber,
stellen zu lassen. Genaue Angaben über den Befund kann Dr. V. jedoch nicht
machen.
Sie suchte hierauf Dr. U. auf, dor heftige Schmerzen in der rechten
oberen Bauchseite der Verstorbenen feststellte und eine Gelbfärbung des Gesichts
und der Augeqbindebäute bemerkte. Er nahm Gallensteinkolik an und wies di»
Kranke, nachdem die Schmerzen nach 2tägiger Behandlung sich nicht besserten,
vielmehr plötzlich eine Verschlimmerung mit Trübung des Bewusstseins ein¬
trat, in das städtische Krankenhaus. Hier wurde sie am 13. September 1917
gegen 2 Uhr mittags in benommenem Zustande eingeliefert mit der Diagnose
Gallensteinkoliken. Sie antwortete auf verschiedene Fragen immer nur das eine
unverständliche Wort, nahm eine zusammengekauerte Stellung ein, empfaod aber
bei Druck auf die Magen- und Lebergegend Schmerzen und schrie hierbei wieder¬
holt laut auf, warf sich, zeitlich und örtlich uporientiert, im Bett umher und
zeigte einen solohen Erregungszustand, dass sie aus dem Bett fiel. Nach einer
Einspritzung 0,01 Morphium wurde sie vollkommen apathisch, am 14. September
gegen 1 / 2 9 Uhr vormittags wurde sie plötzlich blass, der Puls, der bis dahin
kräftig und regelmässig war, wurde unregelmässig und klein und alsbald trat
der Tod ein.
Die Leber war nicht vergrössert, die Gallenblase nicht fühlbar, der Harn
zeigte weder Eiweiss, noch Zucker, noch GallenfarbstofT, auch der Stuhlgang
zeigte normale Farbe. Am 14. September morgens brach sie geringe Mengen
gelblich gefärbter sauer riechender Flüssigkeit aus. Fieber bestand nicht, der
Puls zeigte am 1. Tage 64 Sohläge.
Bei der am 17. September 1917 vorgenommenen gerichtlichen Leichen¬
öffnung, welche unter Hinweis auf die vorhergegangene Misshandlung vorge¬
nommen wurde, fand sich im wesentlichen folgendes:
A. Aeussere Besichtigung.
10. Am Rüoken zeigt sich an der reohten Seite,* 5 cm nach aussen vom
12. Brustwirbeldorn eine längs gerichtete 2 1 / 2 cm lange, 2 A / 2 cm breite braunrote
Stelle, an welcher die Haut sich härter anfühlt und eingetrooknet ist. Nach
aussen davon eine 10 cm lange, 3 om breite blaurote fleckige Stelle. Nach dem
Einsohneiden dieser Stelle, welche sioh auch etwas nach innen von dem braunen
Strioh fortsetzt, zeigt das Unterbautfettgewebe frei in das Gewebe ergossenes Blut.
12. Am linken Oberarm, und zwar in der unteren Hälfte desselben mehrere
blaurote Flecke, so an der Innenseite dicht oberhalb des inneren Gelenkvor-
spronges eine 5 cm lange und 1 om breite Stelle, nach deren Einschneiden sich
das ganze Unterhautzellgewebe blutig durchtränkt erweist. Unterhalb des Ellen¬
bogens befindet sich eine rundliche, 1 om im Durchmesser messende bräunliche
und sich härter anfühlende Hautstelle, nach deren Einschneiden sioh im Unter¬
hautfettgewebe kein Blut zeigt.
13. Am rechten Arm, und zwar an der Innenseite des Oberarms 4*/ 2 cm
unterhalb der Achselhöhle ein 1 1 j 2 cm langer und breiter blauroter Fleck, nach
dessen Einschneiden das Unterhautbindegewebe sich stark blutig durchtränkt er¬
weist. An der anderen Seite des reohten Oberarms 7 cm oberhalb der Ellenbeuge
ein quergerichteter 2 om breiter, 1 cm in der Längsrichtung messender braunroter
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Tod nach Misshandlung.
t
71
Fleck, an dem die Hant sich härter anfühlt, nach dessen Einschneiden das Unter¬
hautzellgewebe sich frei von Blut erweist.
14. An der vorderen Seite des linken Oberschenkels eine 15 om in der
Längsriobtung und 8 cm in der Querrichtung messende blaurote 1 Stelle, die sich
dadurch auszeichnet, dass blaurote 6—7 cm lange Querstreifen, in einer Zahl von
fünf, hellere Stellen frei lassen. Etwas unterhalb dieser Querstreifen werden die
Flecken unregelmässiger und kleiner. Die Gesamtlänge dieser Färbung beträgt
21 cm. Nach dem Einsohneiden zeigt sich das Unterhautbindegewebe im Bereich
der blauen Flecke überall blutig durchtränkt. Auch oberhalb der linken Knie¬
scheibe befindet sich eine y 2 cm im Durchmesser enthaltende blaurote Stelle mit
Bluterguss ins fcewebe. Eine ähnliche an der Innenseite der linken Kniescheibe,
eine weitere 1 cm grosse etwas nach innen und 5 cm unterhalb der Rauhigkeit
des Schienbeins.
15. Am rechten Bein, und zwar an der Aussenseite des Oberschenkels,
20 om unterhalb des vorderen Darmbeinstachels eine 3 cm lange und breite Stelle,
an welcher das Fettgewebe sich ebenfalls blutig durchtränkt erweist.
B. Innere Besichtigung.
II. Hals-, Brust- und Bauchhöhle.
25. Bei der Oeflfnung der Bauobböhle tritt etwas übelriechendes Gas aus/
Das Fettgewebe ist am Bauch 3 cm, an der Brust 1 om dick, die Muskulatur
kräftig und von fleischroter Farbe. Die Bauoheingeweide befinden sich in regel¬
rechter Lage, zeigen überall eine glatte und glänzende Oberfläche, das fettreiche
Netz bedeckt schürzenartig die Därme.
Vom grauroten Magen ist nur ein kleines Stüok sichtbar. An der inneren
Bauchwand zeigt sioh die Gegend des Nabelstranges mit einer Anzahl (9—10)
1—2 cm grosser blauroter Blutaustritte besetzt, nach deren Einschneiden das
Gewebe lebhaft blutig durchtränkt erscheint. Auch das Netz ist mit zahlreichen
Blutunterlaufungen, besonders im rechten und oberen Ende versehen, von denen
etwa 20 gezählt werden. Sie sind 1—3 om gross, lebhaft dunkelrot gefärbt und
zeigen nach dem Einsohneiden freies Blut im Gewebe. Ebenso befindet sich im
6. Zwischenrippenraum dicht am Knorpel auf beiden Seiten der Brust je eine rund¬
liche 1 cm grosse Blutunterlaufung. Ein ungehöriger Inhalt ist im Leibe nicht
vorhanden, das Zwerchfell steht rechts am oberen Rande der 4., links zwischen
4. und 5. Rippe.
a) Brusthöhle.
27. Nach Entfernung des Brustbeines finden sich sowohl an der Innenseite
des Brustbeines als auch im Mittelfellraum, sowohl am oberen wie am unteren
Ende desselben, wo derselbe ans Zwerchfell sioh ansetzt, zahlreiche Blutaustritte
ins Gewebe, an Zahl im oberen Teil des Mittelfellraumes 12—15, im unteren 35,
an der Innenseite des Brustbeines etwa 10—15.
29. Der Herzbeutel enthält an der Aussenseite zum Teil die beschriebenen
Flecke. Er enthält 30 ocm hellgelblicher Flüssigkeit, seine Innenhaut ist glatt und
glänzend.
Das Herz erscheint gewölbt, in der Stärke der geballten Faust der Leiche,
fühlt sich derb und prall an, von gelbgrauer Farbe, mit Fett ziemlich stark be-
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72
Räuber,
wachsen. An der hinteren Seite finden sich zahlreiche linsen- bis erbsengrosse
(40—50) Blutaustritte ins Gewebe, die an der Kranzfurche zu grösseren Haufen
zusammengeschlossen sind. Nach ihrem Einschneiden befindet sich im Gewebe
dunkles flüssiges Blut.
32. Die rechte Lunge ist an der Spitze mit dem Brustfell leicht verwachsen,
an der Lungenspitze eine bindegewebige Verdichtung von etwa Bohnengrösse.
34. Zunge und Rachen zeigen keine Veränderungen.
35. Der Kehlkopf enthält geringen bräunlichen Sohleim, die Schleimhaut
ist glatt.
36. Die Speiseröhre ist leer.
37. Auf beiden Seiten des Brustkorbes befinden sich in den Zwisohenrippen-
gegenden Blutaustritte ins Gewebe von Linsengrösse und darüber, nach deren
Einschneiden sioh schwarzrotes, grösstenteils geronnenes Blut zeigt. Sie sind von
unregelmässiger Gestalt und betragen etwa 20 auf jeder Seite, im übrigen sind die
Knochen nnverletzt.
b) Bauchhöhle.
38. Das Bauchfell ist überall glatt und glänzend, jedoch finden sich sowohl
an der Hinterseite des Netzes, wie an der Verbindung des Netzes mit dem Hagen
% und dem Dickdarm die oben beschriebenen Blutunterlaufungen, das Netz ist fett¬
reich, die Gefässe des Netzes sind nicht gefüllt.
44. Der Mastdarm enthält braunen festen Kot in geringer Menge, die Schleim¬
baut ist'blass.
45. Der Magen ist an der ganzen kleinen Krümmung blutunterlaufen, 3 cm
breit, 12 cm in der Querriohtung messend. Nach dem Einschneiden ist in dem
Gewebe freies Blut sichtbar. Der Magen enthält 100 ccm schwärzlioh-braunen
flüssigen Mageninhaltes ohne Geruch und von trüber Beschaffenheit. Die Schleim¬
haut ist vollständig unversehrt, glatt und blass. Der Zwölffingerdarm ist aussen
grauweiss, gefüllt mit derselben bräunlich-schwärzlichen Masse. Die Schleimhaut
ist glatt und glänzend. Beim Druck auf die Gallenblase, welche eine Anzahl Steine
enthält, entleert sich keine Galle.
48. Das Gekröse ist sehr fettreich, seine Blutgefässe sind leer, es enthält
zahlreiche Blutaustritte von Linsen- bis Erbsengrösse in der ganzen Ausdehnung
bis dicht an den Darm heran, zum Teil auch auf den Darmüberzug, übergehend,
schätzungsweise auf Handflächengrösse 20—30. ^ ^
Das vorläufige Gutachten lautete:
1. eine bestimmte Todesursache hat sioh nicht ergeben,
2. die zahlreich gefundenen Blutunterlaufungen lassen auf die wiederholte
Einwirkung einer äusseren starken Gewalt schliessen.
Gutachten.
Nach dem Befund an der Leiche erscheint es zweifellos, dass
Frau R. im Leben stark misshandelt wurde. Es fanden sich an der
Haut sowohl ältere oberflächliche Verletzungen, an denen die Haut
eingetrocknet war, als auch besonders zahlreiche frische Verletzungen
der Haut mit ausgedehnten frischen Blutunterlaufungen, und zwar be-
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UMIVER5ITY 0 ? i
Tod nach Misshandlung.
73
sonders an der rechten Seite des Rückens rechts vom 12. Brust¬
wirbel in einer Ausdehnung von 10 cm, am linken Oberarm, am
rechten Oberarm, an der Aussenseite des rechten Beines, am linken
Schienbein, oberhalb der linken Kniescheibe und besonders auch
an der Vorderseite des linken Oberschenkels, hier betrug die Blut¬
unterlaufung sogar 21 cm in der Läpge und die von helleren Streifen
unterbrochenen blauroten Querstreifen lassen darauf schliessen, dass
hier eine sehr starke Einwirkung erfolgte, etwa durch die Faust oder
durch nägelbeschlagene Schuhe, oder einen ähnlichen Gegenstand.
In der Bauchhaut fanden sich zwar keine äusseren Blutunter¬
laufungen, dem widerspricht jedoch nicht, dass Stösse und Tritte auf
die Bauchhaut erfolgten, da diese erfahrungsgemäss häufig nicht Ver¬
änderungen in der Bauchhaut hervorrufen, da die Bauchhaut nach¬
gibt; solche Tritte und Stösse werden ihre Wirkung vielmehr erst
auf die tiefer gelegenen, weniger nachgebenden, hinten einen Wider¬
stand findenden Teile der Baucheingeweide hervorrufen. Als die
Wirkung einer solchen wiederholt ausgeführten Gewalt muss ich die
Blutunterlaufungen ansehen, die sich in der inneren Bauchwand in
der Gegend des Nabelstranges, am Netz und am Gekröse, am Magen
und am Darm, am Herzen und an der Innenseite des Brustkorbes fanden.
Blutaustritte am Herzen und im Mittelfellraum finden sich auch
beim Tod durch Erstickung, aber in viel geringerer Ausdehnung und
Grösse und solche Blutaustritte sind dann auch fast immer .auf dem
Ueberzug der Lunge zu finden. Hier fand sich an den Lungen nichts
derartiges.
Es wurde von seiten der Aerzte des städtischen Krankenhauses
geltend gemacht, dass- es sich um eine Vergiftung handeln könne.
Hierfür wurde besonders die gelbliche Färbung der Kranken, die
starke Benommenheit, die grossen Delirien und die grosse Unruhe
der Kranken geltend gemacht. Die gelbe Färbung aus dem Uebet-
tritt zersetzten Blutfarbstoffes ins Blut und eine Gallensteinkolik'war
auszuschliessen. Zwar fanden sich in der Gallenblase grössere, ab¬
geschliffene Gallensteine vor, jedoch kein in dem Gallengang ein¬
geklemmter Stein, auch enthielt der Urin keinen Gallenfarbstoff. Die
Gelbfärbung der Haut und der Bindehäute des Auges war übrigens
keine sehr grosse, ich möchte derselben auch keine all zu grosse
Bedeutung beilegen und habe ähnliche Gelbfärbung bei Leichen aus
der letzten Zeit gefunden, ohne dass im Leben ein Leberleiden oder
ein Verdacht auf Vergiftung bestand.
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74
Räuber,
*
Für eine Vergiftung konnten die im städtischen Krankenhause
beobachteten Erscheinungen allerdings wohl sprechen; Ekchymosen,
d. h. Blutaustritte in den zarten Häuten am Herzüberzug und an
anderen inneren Organen kommen vor bei Vergiftungen, auch ohne
äussere Gewalt, so bei Phosphorvergiftungen, Vergiftung mit Blau¬
säure, Chloroform, giftigen Schwämmen, ferner bei skorbutischen
Prozessen, Septikämie, Hämophilie (Bluterkrankheit), sowie bei Er¬
stickten.
Bei dem gesunden kräftigen gut ernährten Körper der Ver¬
storbenen sind derartige innere Erkrankungen auszufcchliessen, auch
Vergiftung mit Chloroform, da nach dieser der Tod sehr schnell ein-
tritt. Auch Blausäure kann nicht in Betracht kommen, da bei dieser
der Tod schnell unter Krämpfen eintritt.
Eher könnte man an Phosphorvergiftung denken. Bei dieser
findet man neben gelblicher Hautfärbung noch am meisten, wenn
auch nicht immer, Blutaustritte in den serösen Häuten, aber diese
sind meistens viel kleiner, nur hirsekorn- oder linsengross, und ab¬
gesehen davon findet sich in der Leiche fettige ßntartung der inneren
Organe, besonders der Leber und der Nieren und Gelbfärbung der¬
selben. Auch in der Magen- und Darraschleimhaut finden sich sehr
häufig Blutaustritte, ebenso auf anderen Schleimhäuten, im Rachen,
der Speiseröhre, im Nierenbecken. Die Schleimhaut des Magens sieht
bleichgelb, trüb und geschwellt aus. Von alledem war im vorliegenden
Falle nichts zu finden. Die Schleimhäute waren völlig unversehrt.
Die Krankheitserscheinungen bestehen zwar in Druck und schmerz¬
haftem Gefühl in der Magengegend, aber auch in grosser Muskel¬
schwäche und Hinfälligkeit, kleinem, sehr schnellem Puls, schwachem
Herschlage und erhöhter Körperwärme. Der Harn enthält Gallen¬
farbstoff, Eiweiss und Blut, das Bewusstsein bleibt meist bis zum
Tode erhalten. Delirien kurz vor dem Tode kommen mitunter vor.
Im vorliegenden Falle fehlte die erhöhte Körperwärme, der Puls
war nicht schnell, vielmehr verlangsamt, kräftig und regelmässig,
Gallenfarbstoff fehlte im Urin. Bei der Leichenöffnung wurde zufolge
der normalen Beschaffenheit der Magen- und Darmschleimhaut und
dem Inhalt kein Grund gefunden, an das Vorhandensein einer statt¬
gehabten Vergiftung zu denken.
Eher noch könnte man an eine Vergiftung durch Azetylentetra¬
chlorid denken (Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Med., 3. Folge, Bd. 48,
H. Suppl., S. 161), eine gewerbliche Vergiftung in Flugzeugfabriken f
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Tod naoh Misshandlung.
75
bei der die Erkrankten Brechneigung, Schmerzen im Leibe, allgemeine
Gelbsucht, Gallenfarbstoff im Urin, in der Leiche punktförmige
Blutungen am üerzbeutel, an dem Bauchfellüberzug des Zwölffinger¬
darms zeigten, aber das Bild ist doch ein ganz anderes. Es handelt
sich hierbei um ein Blutgift, das die roten Blutkörperchen zerstört
und wie bei Phosphorvergiftung eine starke Fettinfiltration der Leber,
Eiweiss im Urin, Blutungen in der Schleimhaut des Magens, Darms,
der Blase (braunbierfarbener Urin) hervorruft, an der die Kranken,
ohne dass das Bewusstsein benommen war, zugrunde gingen. Auch
schliesst die Beschäftigung der Verstorbenen in der Gewehrfabrik zu
Erfurt eine derartige Schädlichkeit aus.
Durch die chemische Untersuchung der Leichenteile, die nach¬
träglich angeordnet wurde, ist das Vorhandensein von Giften nicht
nachgewiesen.
Nachdem man eine Vergiftung ausschliessen kann, ist es das
Natürlichste, den Tod in Zusammenhang mit den vorhergegangenen
Misshandlungen zu bringen und die Blutaustritte in den zarten Häuten
auf diese Einwirkungen zurückzuführen.
Ekchymosen oder Blutaustritte in den zarten (serösen) Häuten
kommen, wenn auch in viel kleinerer Form vor bei dem Erstickungs¬
tode, sie sind das Ergebnis einer infolge des erhöhten Blutdruckes
entstandenen Gefässzerreissung. Der erhöhte Blutdruck ist aber in
erster Linie die Folge einer Reizung des vasomotorischen, d. h. ge-
fässverengernden Zentrums im Gehirn, durch die Anhäufung der
Kohlensäure im Blut. Häufig fehlen die Blutaustritte beim Erstickungs¬
tode, und zwar dann, wenn die Erstickung sehr schnell eintritt. Sie
sind aber fast mit positiver Sicherheit zu erwarten, wenn die Reizung
des vasomotorischen Zentrums eine genügend lange Zeit andauert, ehe
sie in Lähmung übergeht, also bei langsamer allmählicher Unter¬
brechung der Atmung (Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Med., Bd. 32, S. 236).
Es ist im vorliegenden Falle sehr wohl möglich, dass bei der Ver¬
storbenen eine gewisse längere Zeit andauernde Behinderung der
Atmung stattgefunden hat, dadurch, dass der Ehemann auf ihr gekniet
und ihren Brustkorb sowie ihren Leib zugedrückt hat. Dadurch würde
das vasomotorische Zentrum erregt und die Bedingung für erhöhten
Blutdruck und Gefässzerreissung gegeben sein. Findet man doch Blut¬
austritte in den serösen Häuten gerade nach Verschüttung, Erschütte¬
rung und Zusammenpressen des Brustkorbes und dass im vorliegenden
Falle Erschütterungen des Körpers durch Hinwerfen, Schläge und
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76
Räuber,
Fusstritte, besonders bei dem Widerstand, der der Ueberwältigung und
dem gewaltsamen Beischlafsversuch entgegengesetzt wurde, stattge¬
funden haben, ist nach der Geschichtserzählung anzunehraen. Diese
Annahme wird durch den Befund an der Leiche erheblich gestützt.
Die Blutunterlaufung in der rechten Rückenseite stimmt mit den von
den Zeugen erwähnten Tritten in die Seite und den Rücken überein,
desgleichen die Blutunterlaufungen an den Oberschenkeln; das Beknien
des Brustkorbes und Unterleibes braucht, wie erwähnt, keine Spuren
auf der äusseren Haut zu hinterlassen, zumal wenn der Misshandelte
bekleidet ist. Aber auch die mechanische Gewalt durch Beknien,
Stösse in die Magengegend und Brustgegend bringt nicht allein durch
eine gewisse Verlagerung der Organe abnorme Spannungszustände;
sondern direkt Quetschungen in tiefer gelegenen Teilen hervor, die
zarten Häute werden für eine solche Gewalt besonders empfänglich sein.
Dazu kommt folgendes: Schläge und Gewalteinwirkungen auf die
Magengrube oder die Bauchgegend haben nicht selten plötzlichen Tod
durch Lähmung der Zentralorgane der Atmung und des Bluturalaufs
(Shock) bewirkt, indem durch Erregung und Reizung der in dieser Gegend
befindlichen wichtigen Nervengeflechte auf reflektorischem Wege ein
Stillstand des Herzens und der Atmung herbeigeführt wird. Der Be¬
fund an der Leiche hierbei ist meist ein negativer, aber in der Literatur
findet sich doch ein Fall (Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Med., 30. Bd.,
S. 233), in welchem nach einem Schlage gegen die Magengegend mit
einer Schaufel nach einigen Sekunden der Tod eintrat und in welchem
bei der Leichenöffnung im grossen Netze ein rundlicher talergrosser
Blutaustritt gefunden wurde. Künstlich hat man ähnliche Blutaus¬
tritte an frischen Leichen durch starke Gewalt hervorrufen können
(Lesser, Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Med., 3. Folge, Bd. 44, S. 203).
Solche Einwirkungen sind demnach imstande im Netze, wie im
vorliegenden Fall, Blutaustritte zu erzeugen und man wird nicht fehl
gehen, wenn man die Vorgefundenen Blutextravasate auf eine mecha¬
nische Einwirkung zurückführt.
Dass aber im vorliegenden Falle die Blutaustritte im Leben ent¬
standen waren, bewies ihre Beschaffenheit mit teilweise geronnenem
Blute.
Von Shocktod spricht man, wenn der Tod sehr bald nach der
Einwirkung stattfand, spätestens nach 2—3 Stunden. Aber es kommen
auch Fälle vor nach Gewalteinwirkungen auf den Unterleib,’ in denen
noch nach mehreren (2—3) Tagen der Tod eintrat (Vierteljahrsschr.
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Tod nach Misshandlung.
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f. gerichtl. Med., 3. Folge, Bd. 28, S. 78, Georgie und Bd. 41, S. 243,
Nolte). Für solche Fälle hat man bei dem Fehlen makroskopisch
sichtbarer Veränderungen angenommen, dass es sich um eine Diffusion
von Darmgasen und Darmbakterien durch die misshandelte Darm wand
nach dem Bauchfell handle, eine akute peritoneale septische Intoxi¬
kation des Bauchfells. Eine solche Bauchfellentzündung möchte ich
im vorliegenden Falle ebenfalls ausschliessen, da die Kollapserschei-
nungen erst verhältnismässig spät einsetzten und nach der Miss¬
handlung doch so viel Tage vergangen waren, dass dann die Bauch¬
fellentzündung sichtbare Spuren hinterlassen haben würde.
Im vorliegenden Falle kam es nicht zu einem Shocktod, auch
nicht zu einer Bauchfellentzündung, aber zu einem sehr schmerzhaften
Unterleibsleiden, das sich durch heftige Schmerzen in der Leber- und
Magengegend seit den Misshandlungen kennzeichnete, trotz ärztlicher
Behandlung mehr und mehr zunahm und sich fortlaufend derart
steigerte, dass die Kranke laut schrie, stark erregt wurde, schliesslich
das Bewusstsein verlor und zusammenbrach. Es ist also seit der
Misshandlung eine allmähliche Entwicklung der zum Tode führenden
Krankheit festzustellen.
Die Blutaustritte in die zarten Häute fasse ich aüf als hervor¬
gerufen teils durch die bei der Misshandlung bedingte Reizung der
gefässverengernden Nerven, Erhöhung des Blutdrucks in den Unter¬
leibsorganen und damit Berstung der kleinen Gefässe, teils durch die
mechanische Läsion der zarten Teile des Brust- und Bauchfellüber-
zuges der Eingeweide. Sie sind ferner der Ausdruck, dass hier auf
die Unterleibsnerven ein starker Reiz ausgeübt sein muss.
Die breite Ausdehnung der Erschütterungen auf die grosse Zahl
der in den Unterleibsorganen befindlichen Nerven und Nervengeflechte
hat nicht nur vorübergehend, sondern nachhaltig fortgewirkt, so dass
starke, sich steigernde Schmerzen und schliesslich der Tod eintraten.
Für eine derartige Reizung spricht der verlangsamte volle Puls
im Krankenhause (Reizung des Nervus vagus und splanchnicus), der
erst zuletzt einem fadenförmigen Puls wich.
Sind nun schon Blutunterlaufungen der äusseren Haut, die durch
Misshandlungen entstanden sind, sehr schmerzhaft durch Reizung der
peripheren Nerven, so dass bei grosser Ausdehnung und sehr grosser
Zahl schon dadurch allein der Tod durch Ueberreizung des Nerven¬
systems eintreten kann (Lynchen), so müssen durch Quetschung ent¬
standene zahlreiche Blutunterlaufungen in den Unterleibseingeweiden
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78 Räuber, Tod nach Uissbandlung.
in ihrem Bauchfellüberzug Schmerzen hervorrufen, die schliesslich un¬
erträglich werden müssen und ebenfalls eine Lähmung des Nerven¬
systems und damit einen reflektorischen Herztod hervorrufen.
Im vorliegenden Fall lagen sowohl durch Misshandlungen ent¬
standene Blutunterlaufungen der äusseren Haut in nicht geringer Zahl
vor, wie auch solche an den inneren Organen.
Ich gebe daher mein Gutachten dahin ab, dass der Tod der
Frau R. mit grosser Wahrscheinlichkeit auf die Misshandlungen durch
ihren Ehemann zurückzuführen ist.
Die Geschworenen erkannten in der Schwurgerichtssitzung vom
9. April 1919 den Angeklagten wegen der Misshandlungen seiner
Ehefrau für schuldig und billigten dem Angeklagten mildernde Um¬
stände zu. Ef wurde zu 9 Monaten Gefängnis verurteilt, doch musste
auf Veranlassung des Verteidigers die Niederschlagung der Strafe mit
bezug auf den Amnestieerlass vom 7. Dezember 1918 erfolgen, nach¬
dem festgestellt war, dass der Angeklagte im Militärverhältnis ge¬
standen hatte'
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VI.
Aus dem gerichtL-med. Institut Basel (Vorsteher: Prof. S. Schönberg).
Beitrag zur Kenntnis plötzlicher Todesfälle
durch Erstickung.
Von
Dr. med. Berthold Meyer.
(Mit 1 Abbildung im Text.)
Stirbt jemand plötzlich, d. h. aus scheinbar voller Gesundheit
heraus oder nach so leichten Krankheitserscheinungen, dass niemand
ein so rasches Ende vermutet hätte, so genügt die Tatsache des
plötzlichen Todeseintrittes sehr oft, dass ein solcher Fall für den
'Gerichtsarzt Bedeutung bekommt. Das leuchtet ohne weiteres ein,
wenn man in Betracht zieht, dass der Tod unter den verschiedensten
äusseren Umständen, in allen nur denkbaren, oft vielleicht verdächtig
erscheinenden Situationen plötzlich einen Menschen überfallen kann.
So kommt es,' dass sich in vielen Fällen rechtliche Fragen erheben:
Liegt ein Verbrechen vor? Trat der Tod aus inneren Ursachen ein?
Ist Selbstmord oder Unfall oder Zufall anzunehmen? usw., also
Fragen zivil- und strafrechtlicher Natur. Diese Fragen werden dem
Gerichtsarzt zur Entscheidung vorgelegt, und zu ihrer Beantwortung
bedarf er einer Anzahl Hilfsmittel. Vor allem einer möglichst zu¬
verlässigen Anamnese, ferner einer sachverständig ausgeführten Toten¬
schau an Ort und Stelle 1 ). Damit kann ein Teil der Fragen in
manchen Fällen zweifellos gelöst werden. In der überwiegenden
Mehrheit jedoch genügen diese Hilfsmittel nicht, um die Todesursache
festzustellen und so den Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung
aufzudecken, ja, vielfach leiten sie uns auf falsche Fährte und geben
zu Irrtümern Anlass; auch können bewusste Fälschungen der Situation
1) lm Kt. Basel-Stadt besteht eine Verordnung (Leichenwesen), wonach bei
allen Fällen von plötzlichem Tod, in denen von der Zeit vor dem Tod keine ärzt¬
liche Beobachtung vorliegt, eine amtliche Leichenschau vorgenommen werden muss.
Es steht dabei dem Gerichtsarzt frei, eine gerichtliche Sektion zu verlangen.
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80
Berthold Meyer,
r
vorliegen. Es kann nicht genug betont werden, wie nützlich und
nötig die Sektion in solchen Fällen dem Begutachter ist. In vielen
Arbeiten und Büchern wird das Für und Wider der Leistungsfähigkeit
der Obduktion erwogen [Brouardel (1), Lochte (2), Hanhart (3)].
Die vorliegende Arbeit macht es sich u. a. zur Aufgabe, an Hand
von plötzlichen Todesfällen durch Erstickung, welche wegen ihrer be¬
sonderen Stellung in rechtlicher Beziehung sich sehr gut dafür eignen,
zu zeigen, dass die Sektion plötzlicher Todesfälle wertvolle Resultate
ergibt und deshalb empfohlen zu werden verdient; natürlich die lege
artis und von kundiger'Hand ausgeführte Sektion. Der praktische
Arzt sollte sie deshalb, sowie die pathologische Anatomie, mit Sicher¬
heit beherrschen, besonders der Landarzt. Der ärztlichen und klini¬
schen Diagnose ist bei plötzlichen Todesfällen wenig Sicherheit bei¬
zumessen; jedermann ist die oft grosse Differenz zwischen Sektions¬
ergebnis und klinischer Diagnose auch berufener Aerzte wohl bekannt
und leicht begreiflich. Dass es Fälle gibt, denen auch mit der best-
ausgeführten Sektion nicht beizukommen ist, soll uns nicht zur Re¬
signation bringen. Im Gegenteil; denn erstens: auch ein negatives
Sektionsergebnis ist für den Gerichtsarzt ein brauchbares Resultat.
Da die Gerichtsbehörden mei&t nicht nach der Todesursache fragen,
sondern danach, ob im vorliegenden Fall ein Verbrechen, ein Unfall,
ein Selbstmord für den Tod verantwortlich gemacht werden muss
oder nicht, so gibt uns auch eine pathologisch-anatomisch resuttatlos
verlaufene Autopsie genügend Anhaltspunkte für die Beantwortung
dieser Fragen. Zweitens aber müssen wir bestrebt sein, für die
durch die Sektion allein ungeklärt gebliebenen Fälle alle uns zu Ge¬
bote stehenden Hilfsmittel — die bakteriologische, mikroskopische,
chemische Untersuchung usw. — heranzuziehen. Diese Methoden
sollten eigentlich in jedem Fall vom plötzlichen Tod neben der
Sektion angewandt werden. Das mag heute noch vielfach unaus¬
führbar und zu kostspielig sein; aber deswegen darf die Forderung,
diese wichtigen Methoden sich zunutze zu machen, nicht fallen ge¬
lassen werden, sondern wir müssen suchen, sie durch Ausbau, Ver¬
einfachung und Verbilligung jedem praktischen Arzt zugänglich zu
machen. ,
Besonders eindringlich hat das Inkrafttreten des schweizerischen
Unfallversicherungsgesetzes gelehrt, dass den vielen neuen und eigen¬
artigen praktischen Fragen, welche darin aufgeworfen werden, mit
den bisher vielerorts üblichen Methoden nicht mehr immer genügt
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UMIVERS1TY OF MICHIGAN
vi
r.^'-
Beitrag zur Kenntnis plötzlicher Todesfälle durch Erstickung.
81
werden konnte. Es wird unter allen Umständen der Nachweis ver¬
langt, ob ein plötzlicher Todesfall ursächlich mit einem Unfall Zu¬
sammenhänge, da sonst natürlich die Ansprüche der Hinterbliebenen
als ungerechtfertigt dahinfallen. Man hat sich hier eventuell vor [den
Angaben der Angehörigen zu hüten, wie das Richter (4) in einem
Fall berichtet, wo bewusst der Todesfall als Unfallfolge bezeichnet
wurde, während ihm in Wirklichkeit innere Ursachen zugrunde lagen.
Ueberhaupt muss stets klar vor Augen gehalten werden, dass unsere
Untersuchung wohl eine Angelegenheit der medizinischen Wissenschaft
ist, dass aber unser Urteil stets rechtliche Konsequenzen nach sich
zieht. Je nachdem unsere Diagnose ausfällt, müssen daraus für das
Gutachten Folgerungen gezogen werden, welche dazu berufen sind,
zivilrechtliche oder strafrechtliche Wirkungen auszuüben. Wollen wir
also den Gesetzen nach bestem Wissen und Gewissen Genüge tun,
so dürfen wir kein Mittel unangewandt lassen, das uns die Fälle auf¬
klären kann.
Ueberblicken wir die Gesamtheit der plötzlichen Todesfälle, so
sehen wir aus zahlreichen Zusammenstellungen und Darstellungen in
der Literatur [Brouardel, Kolisko (5), Lochte, Richter, Hof¬
mann-Haberda (6), Schmidtraann (7)], dass in der überwiegenden
Zahl Herz- und Gefässaffektionen, besonders Atherosklerose und ihre
Folgezustände, dann Hirnerkrankungen, Bronchitiden und Pneu¬
monien usw. als Ursachen zugrunde liegen, während plötzlicher Tod
durch Erstickung relativ selten beobachtet und beschrieben wurde.
Aus diesem Grunde und auch besonders deshalb, weil der Erstickungs¬
befund bei einem plötzlich Verstorbenen stets den Verdacht auf kri¬
minelle gewaltsame Tötung erweckt und ohne Sektion zu sehr häufigen
Irrtümern und Fehldiagnosen Anlass gibt [Hanhart, Strassmann (9),
Richter], wurden 6 während der letzten 2 Jahre beobachtete plötz¬
liche Todesfälle durch Erstickung aus dem Material des hiesigen ge¬
richtlich-medizinischen Instituts an plötzlichen Todesfällen (jährlich
etwa 60) ausgewählt zu der hier folgenden Zusammenstellung. In¬
folge ihrer besonderen Stellung auf der Grenze zwischen Strafrecht
und Zivilrecht halben sie an sich für den Gerichtsarzt Interesse, sind
aber ausserdem besonders geeignet, den Wert und die Notwendigkeit
der Sektion und der übrigen Untersuchungsmethoden für die Entschei¬
dung der bei solchen Fällen auftauchenden Rechtsfragen vor Augen
zu führen.
Ich lasse die Fälle hier folgen.
Vierteti&hmehrift f. ff er. Med. e. Off. San. -Wesen. 3. Folge. Bd. 60. H. 1. g
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82
Berthold Meyer,
1. H. E., 18 jährig, gestorben in der Nacht vom 31. Oktober auf den 1. No¬
vember 1918.
Anamnese: Seit etwa 2 Jahren traten bei dem Jungen an Gesicht, Händen
und am übrigen Körper spontane Schwellangen auf, die bald wieder ebenso
spontan verschwanden. Der Arzt soll - diese Schwellungen als Nesselfieber be¬
zeichnet und dementsprechend behandelt haben. Vor 3 Monaten bekam H. plötzlich
' einen Anfall von Engigkeit and Atemnot. Auf kalte Umschläge vergingen jedoch
in kurzer Zeit die Beschwerden, ln der Nacht vom 31. Oktober auf den 1. No¬
vember 1918 fühlte sich H. etwas unwohl, klagte über Kopfweh und Hals¬
schmerzen. Die Mutter glaubte an Grippe, gab Aspirin und liess gurgeln. Um
lO 1 ^ Uhr trat plötzlioh Heiserkeit auf, begleitet von einem vorübergehenden Ge¬
fühl von Enge im Hals. Beide Erscheinungen besserten sich schnell wieder ohne
völlig zu verschwinden. Um Mitternacht trat während des Schlafes plötzlich ein
heftiger Erstiokungsanfall ein, der in kürzester Zeit den Exitus letalis herbeiführte.
Sektionsprotokoll: 166 cm messender grosser kräftiger, männlicher
Körper. Totenstarre am Nacken gelöst, sonst ausgebildet. Leiohenflecken in den
abhängigen Teilen reichlich, hellrot. Pupillen mittelweit, beiderseits gleich. Nir¬
gends Verletzungen. Brustmuskel hellrot, kräftig. Subkutanes Fett spärlich, hell¬
gelb. Zwerchfell beiderseits in der Höhe der 4. Rippe. Bauchsitus o.B. Appendix
frei. In der Bauchhöhle keine freie Flüssigkeit. Rippenknorpel weiss. Langen
wenig retrahiert, liioht kollabiert, frei. Pleurahöhle leer. Ductus thoraoicus zart.
Herzbeutel handbreit vorliegend mit wenig Fettgewebe. Thymus 5:3:1 cm gross,
Gewebe blutreich. Im Herzbeutel 10 ccm klare seröse Flüssigkeit.
Herz: von entsprechender Grösse, links konsistent, rechts schlaff. Subepi¬
kardiales Fettgewebe spärlich. Venöse Ostien für 2 Finger durchgängig. In den
Herzhöhlen reichlich dunkelflüssiges Blut. Klappen zart. Aorta ascendens 5 cm
Umfang. Intima zart. Wanddicke links 12 mm, rechts 3—4 mm. Herzmuskel auf¬
fallend hellrot. Arteria pulmonaris 4,5 cm Umfang. Papillarmuskeln und Tra¬
bekeln kräftig, Sehnenfäden zart. Foramen, ovale zu. Koronararterien zart.
Halsorgane: Zunge ohne Belag, feucht, blutreich. Tonsilla palatina 3:2:1 cm
gross. Balgdrüsen der Zungenbasis kräftig. Der ganze Larynxeingang, die
Hinterfläohe der Epiglottis, die aryepiglottischen Falten sowie die
Innenfläche des oberen Abschnittes des Larynx sehr stark ödematös
geschwollen, sulzig. Der Kehlkopfeingang stark eingeengt. Aus der
Luftröhre entleert'sich reichlich schaumige Flüssigkeit. Die hintere j
Raohenwand und das Bindegewebe hinter dem Rachen ödematös
sulzig. Oesophagus sonst o.B. Thyreoidea leicht vergrössert, blutreich, reohts ein
7 mm messender grauweisser Knoten. Aorta thoracica zart, Umfang 4 cm.
Lungen: gross, flaumig. Pleura glatt, dunkelgraurot, mit reichlich 1—5 mm
messenden frisohen Blutungen. AufSchnitt Gewebe sehr blutrejph, etwas ödematös.
Bronchien sehr blutreich, in ihrem Lumen reichlich schaumiger Saft. Lungen¬
arterien zart. Bronchial- und untere Zervikaldrüsen rechts je ein 3 bzw. 5 mm
messender Käseherd.
Milz: 14:10:4 cm messend. Kapsel, zart gespannt. Pulpa blutreich, von
normaler Konsistenz. Follikel sehr reichlich und gross. Trabekel wenig deutliob.
Nebennieren: eher klein, blutreich. Rinde fettarm. Mark schmal, blutreich.
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nm ’+gir'*m
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• S8
Beitrag zur Kenntnis plötzlicher Todesfälle durch Erstickung
Nieren: mit mittlerer FfcUkapsel. fibröse Kapsel zatt. Oberfläche glatt^fclat-
reich; A/S. Gewebe blutreich, transparent. Mittlere Rindcnbreite 7 mm. .Nieren«
becksr. blutreich,
tm Magen: raioblich dickbreiiger Spcisebtei. Schleimlmot blutreich, Follikel
klein, Papille, durchgängig.
Essentielles Larrmödem (Fall 1).
lebor; ziemlich gross. Serosa zart, glatt. Sctmitülacho blutreich, Zeichnung
«öttentiich. Peripher bfor and da leichte Trübung. GHssnfischa ^phelÜeö nicht
♦«brntort. Konsistenz normal, ln der Gallenblase wenig belle .Galje, Wend 0. B.
P&nkre&s kräftig blutreich. Aorta abdominalis 3 cm Umfang, Ititttiia ztrt't, ebenso
öckröse üöd Beinartcrieu. In den Beiuve&en «ad m der V. eava inf. reichlich
•jri^uvil frsh . .
üMiverVity öf Michigan
84 Berthold Meyer,
flüssiges Blut. Mesenterial- und retroperitoneale Drüsen nicht vergrössert. In¬
guinaldrüsen gross, blutreich.
Im Darm: etwas dünn- und diolcbreiiger Inhalt. Schleimhaut blutreich,
Follikel klein.
In der Harnblase: wenig klarer Urin. Schleimhaut o. V. Prostata, Samen¬
blasen, Hoden und Nebenhoden o. V.
Sohädel: symmetrisch, etwas klein. Nahtsubstanz vorhanden. Diploe reich¬
lich blutreich. Dura mater nicht gespannt, Innenfläche glatt, ln den Sinus
reichlich flüssiges Blut. Weiobe Hirnhäute blutreich, zart. Subarachnoideale
Flüssigkeit in mittlerer Menge, klar. Basale Hirnarterien zart. Ventrikel von nor¬
maler Weite. Plexus chorioideus blutreich. Hirnsubstanz stark durchfeuchtet,
blutreich.
Zusammenfassend können wir also sagen, dass es sich um
einen plötzlichen Tod durch Erstickung handelt, indem das am Aditus
laryngis sitzende Oedem den Luftzutritt zu den Lungen verhindert hat.
Zur Unterstützung der Diagnose eines Erstickungstodes sind die Daten
der Anamnese sowie die übrigen allgemeinen Erstickungszeichen: Hy¬
perämie der Organe, dunkles flüssiges Blut, akutes Lungenemphysem,
subpleurale Blutungen heranzuziehen.
Dass es sich um ein Quinckesches Oedem und nicht ein Oedem
anderer Aetiologie handelt, dafür spricht vor allem die Anamnese,
dann aber auch der Sektionsbefund, welcher ein anatomisches Substrat
für renale oder kardiale Funktionsstörungen vermissen lässt. Auch An¬
haltspunkte für lokale Läsionen und entzündliche Veränderungen fehlten.
Der .Lokalbefund am Larynx und dessen Umgebung, entspricht
wie umstehende Abbildung zeigt, den in ähnlichen Fällen beobachteten
Veränderungen ziemlich genau.
Tödliche Erstickungsfälle infolge essentiellem Larynxödem sind
nach Angaben in der Literatur nicht allzu selten. Wir Anden in der
Zusammenstellung von Cassirer (9) allein über 60 Fälle aufgezählt
Den letzten einschlägigen Fall teilt Port (10) 1917 mit, auch Ten-
deloo (11) berichtet in seinem neuen Lehrbuch der Allgemeinen Pa¬
thologie über einen solchen.
Auf die Aetiologie und Pathogenese dieser Affektion kann ich
hier nicht näher eingehen. Sie wird im allgemeinen als angioneuro-
tisches Oedem bezeichnet, für das bisher ein anatomischer Befund
nicht erhoben werden konnte.
2. F. M., 15jährige Schülerin, gestorben am 2. Januar 1919.
Anamnese: Nach Genuss von Linzertorte Auftreten von Uebelkeit, Er¬
brechen und Durchfall. Das Mädohen legte sich morgens gegen 10 Uhr zu Bett,
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Beitrag zur Kenntnis plötzlicher Todesfälle durch Erstickung.
85
um auszuruhen. Eine halbe Stunde später fand sie der Bruder tot im Bett, das
Gesicht gegen die Kissen gewendet.
Naoh einer solchen Anamnese lag es auf der Hand, dass der Verdacht auf
Vergiftung geäussert wurde und der Fall zur Anzeige kam. Aus diesem Grunde
wurde auch die gerichtliche Sektion des Falles vorgenommen, weil sie die Frage
lösen sollte, ob der Tod zurückzuführen sei auf Genuss gesundheitsschädigender
Nahrungsmittel.
Sektionsprotokoll: Für sein Alter ziemlich grosses Mädohtfb von gra¬
zilem Körperbau und geringem Ernährungszustand. Totenstarre äm Nacken und
an den oberen Extremitäten gelöst, an den unteren Extremitäten vorhanden.
Totenflecken in den abhängigen Partien reichlich. Zähne gut ausgebildet. In der
seitlichen Bauchgegend und am Nabel Haut grünlich verfärbt. Fettpolster am
Abdomen massig ausgesprochen, hellgelb. Muskulatur ziemlich kräftig, von guter
Farbe und Transparenz. Mammae ziemlich kräftig, Drüsenkörper reichlich, grau-
weisslich. Netz kurz, fettarm. Magen bis in die Nabelböhle vorliegend. Leber
handbreit vorliegend. Darmschlingen etwas gebläht. Serosa glatt und spiegelnd.
Appendix lang, naoh oben geschlagen, an der Vorderfläche des Zökum fixiert.
Blase in der Höhe der Symphyse. Uterus und Adnexe frei, das linke Ovarium
vergrössert. Im kleinen Becken etwa 30 ccm einer klaren leioht blutig verfärbten
Flüssigkeit. Zwerchfellstand rechts und links 4. Rippe. Rippenknorpel gut
schneidbar, weich. Sternum-Innenfläche o. B., Lungen wenig retrahiert, nicht
kollabiert, berühren sioh fast in der Mittellinie, ohne Verwachsungen. Pleura¬
höhle leer. Ductus thoracicus zart. Im Mediastinum ant. wenig Fettgewebe und
eine 2lappige 6:3:2 1 / 2 'cm messende grosse Thymus, graurot von lappigem
Bau, feucht, Herzbeutel dreifingerbreit vorliegend, enthält etwas klare seröse
Flüssigkeit.
Herz: von entsprechender Grösse, rechts schlaff, links kontrahiert. Subepi¬
kardiales Fett mässig ausgesprochen. Venöse Ostien für 2 Finger durchgängig,
ln den Höhlen wenig dunkles, flüssiges,’nicht geronnenes Blut. Im rechten Vorhof
vereinzelte Speckgerinnsel. Mitralklappen am freien Rand und am Schliessungs¬
rand leicht verdickt, ebenso an der Basis. Sehnenfäden zart. Papillarmuskeln
entsprechend kräftig. Aortenklappen zart, ebenso auch Aorta ascendens mit Aus¬
nahme vereinzelter kleiner gelblicher Trübungen. Umfang 4,5 cm. Kranzarterien
zart. Trikuspidalis spurweise verdickt. Pulmonalklappen und Pulmonalis zart.
Umfang 5,8 om. Ventrikel nicht erweitert, Endokard zart, Wanddicke links 9 bis
11 mm, rechts 3—4 mm. Muskel auf Schnitt braunrot, von guter Transparenz. Vor¬
höfe o. B. Foramen ovale zu.
Halsorgane: Zunge ohne Belag. Tonsillen und Balgdrüsen kräftig. Tonsillen
o. B., graurötlich, feucht, mit tiefen Krypten, 2:1:1^2 cm gross. Pharynx ent¬
hält etwas gelblichen- Schleim, Schleimhaut hyperämisch. Oesophagus im ganzen
graurot, glatt, blass, stellenweise leioht injiziert. Kehlkopfeingang nicht ödematös.
In der Trachea gelbliche und im Larynx gelblich weissliche weiche Massen.
Schleimhaut im Kehlkopf etwas injiziert. In der unteren Trachea Schleimhaut
ebenso von etwas erhöhtem Blutgehalt. An der Innenfläche der Epiglottis mehrere
1—2 mm messende grosse hell- bis dunkelrote Blutungen, die oben erwähnten
weisslichen Massen sitzen zum Teil im Bereich der Stimmbänder. Schilddrüse
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86
Berthold Meyer,
kaum vergrössert, von lappigem Bau, blutreiob, ohne Knoten. Aorta thoracica
glatt. Umfang 3,5 cm.
Rechte Lunge: gross. Pleura überall glatt und spiegelnd. Im Oberlappen
hellrot, im Unterlappen blaurot. Die seitlichen Partien etwas emphysematos. Auf
SohnRt Oberlappen sehr gut lufthaltig, flaumig, blassrot, mit wenig blutigsohaumiger
klarer Flüssigkeit. Gewebe ziemlich gut kompressibel. Unterlappen im ganzen
wie der Oberlappen, ebenfalls gut lufthaltig, sehr blutreich, glatt, mit einer ge¬
ringen Menge blutigschanmiger, klarer Flüssigkeit. Die Hauptbroncbien, sowiÄ
fast sämtliche Aeste, namentlich im Unterlappen mit ziemlich reichlioh ähnlich«!
breiigen gelblichen Massen, wie oben erwähnt, in der Trachea. Diese Massen
beim Aufschneiden der Bronchien bis in die kleinsten Aeste hinein verfolgbar.
Linke Lunge: von aussen wie die rechte. Auf Schnitt Oberlappen eben¬
falls stark lufthaltig, hellrot, namentlich in den seitlichen Partien. Ränder
stark flaumig. Unterlappen ebenfalls stark lufthaltig, sehr blutreich. Gewebe
im ganzen weich. Auch auf dieser Seite in den kleinen Bronchien überall reich¬
lich gelbliche schleimige Massen, sowohl im. Ober- als im Unterlappen. Langen*
arterien zart.
Milz: von entsprechender Grösse. Kapsel zart, blutreich. A/S. Pulpa blut¬
reich, von mittlerer Konsistenz. Follikel klein. Trabekel massig deutlich.
Linke Nebenniere klein, Rinde sohmal, fettreich. Mark schmal.
Linke Niere: von entsprechender Grösse, mit geringer Fettkapsel, fibröse
Kapsel gut abziehbar. Oberfläche glatt, blutreich. Auf Schnitt Rinde 6 mm breit,
Zeichnung deutlich. Gewebe blutreich, in den Pyramiden am stärksten ausge¬
sprochen. Transparenz gut. Brüchigkeit normal. Nierenbecken blass. In der
V. oava inf. flüssiges und wenig geronnenes Blut.
Reohto Nebenniere: wie links.
Rechte Niere: im ganzen wie links. Nierenbecken etwas blutreicher.
Im Magen: Reichlich gelblich-bräunliche Flüssigkeit, sonst kein Inhalt.
Schleimhaut im ganzen blass, nicht in Falten gelegt. Im Fundus leicht injiziert.
Im Duodenum bräunlicher flüssiger Inhalt. Schleimhaut in der Gegend der Papille
etwas stärker blutreich, sonst ebenso blass und glatt. Papille gut durchgängig.
Aorta abdominalis und abgehende Gefässe zart.
Pankreas von entsprechender Gjösse, blutreioh, von groblappigem Bau.
Mesenterialdrüsen leicht vergrössert, graugelblich feucht. , .
Leber von entsprechender Grösse, Oberfläche blutreich, glatt. Aufschnitt
Zeichnung undeutlich. Im ganzen Blutgehalt gut, ebenso Transparenz. Konsistenz
nioht erhöht, ln der Gallenblase dünnflüssige helle Galle, Schleimhaut o. B.
Im Dünndarm ziemlich reichlich dünnflüssiger bräunlicher Inhalt. Schleim¬
haut im obersten Dünndarm blass und glatt, spurenweise etwas injiziert. Der
untere Teil des Dünndarms ebenfalls im ganzen glatt, stellenweise leicht injiziert.
Im untersten Ileum .die Follikel etwas vergrössert und zahlreich, besonders ober¬
halb der Klappe, Follikel und Peyer’sche Plaques sehr stark ausgesprochen.
Im Dickdarm dünnbreiiger und flüssiger Inhalt. Schleimhaut im ganzen
blass, glatt. Nirgends dickbreiiger oder geballter Kot. Schleimhaut stellenweise
mit etwas stärkerer Injektion, Follikel klein. Im Rektum ebenfalls flüssige Massen.
Schleimhaut wie im übrigen Dickdarm.
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Beitrag zur Kenntnis plötzlioher Todesfälle durch Erstickung. 87
In der Harnblase wenig klarer Urin. Schleimhaut blass, glatt. Vagina und
Uterus o. B. Rechtes Ovar von entsprechender Grösse, Tuben o. B., Linkes Ovar
in eine 3—4 cm messende Zyste mit graurötlichem Inhalt umgewandelt, Wand
etwa 3—4 mm dick, Innenfläche glatt, blutreich, ln den Beinvenen flüssiges Blut.
Schädeldach: symmetrisch, ziemlich dünn. Diploe reichlich. Nähte und Sub-
stantia compaota überall gut ausgesprochen, Innenfläche glatt. Durainnenfläcbe
glatt und spiegelnd. Sinus long. sup. mit etwas flüssigem Blut. Weiche Häute
des Gehirns blutreich, zart. Windungen gut ausgebildet. Gefässe der Basis
zart. Ventrikel etwas erweitert. Plexus oborioideus blutreich. Gehirn volu¬
minös, feucht, etwas klebrig ödematös. Zentrale Ganglien, Pons, Medulla obl. und
Kleinhirn o. B.
Zusammenfassung: Die Sektion ergibt, dass es sich im vor¬
liegenden Fall um einen Erstickungstod handelt, zurückzuführen auf
Aspiration von erbrochenem Mageninhalt in die Luftwege. Die Dia¬
gnose Erstickungstod stützt sich auch auf die allgemeinen Zeichen
von Erstickung.
Des weiteren ergibt sich aus dem Befund flüssigen Inhaltes im
Darmkanal bis in den untersten Dickdarm, sowie der teilweisen
leichten Injektion der Darmschleimhaut eine geringgradige Reizung,
welche sehr wohl auf den Genuss verdorbener Speisen bezogen werden
kann. Diese Veränderungen sind aber so geriuggradig, dass durch
sie allein der Tod nicht erklärt werden kann.
Die Sektion lehrt uns also vor allen Dingen, dass es sich um
eine Vergiftung im obengenannten Sinn nicht gehandelt hat, d. h.,
dass die Frage, ob der Tod durch Genuss gesundheitsschädigender
Nahrungsmittel verursacht sei, zu verneinen ist. Die Todesursache
ist die Erstickung, flicht die Vergiftung.
Es erhebt sich daher die Frage nach der Ursache und dem
Zustandekommen des Erstickungstodes. Es ist bekanntlich etwas Un¬
gewöhnliches, dass Erwachsene beim Erbrechen aspirieren, es sei
denn, dass Trübung des Bewusstseins vorliege (Trunkenheit, Hirn¬
affektionen, Sopor, Narkose usw.), während ein solcher Vorgang bei
Säuglingen und kleinen Kindern häufig beobachtet wird (vgl. Fall 3).
Aus der Anamnese entnehmen wir, dass das Mädchen infolge des
Erbrechens und der Diarrhoe ermattet war, und dass der folgende
Schlaf, weil infolge dieser Umstände besonders tief, einer Trübung
oder sogar dem Verlust des Bewusstseins gleichzustellen ist. So
können wir uns erklären, dass trotz Nausea kein Erwachen eintrat,
und der uns sonst merkwürdig erscheinende Vorgang des Aspirierens
bei einem Erwachsenen wird verständlich. Auch dürfen wir die un-
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88 Berthold Meyer,
günstige Lage, in der die Verstorbene angetroffen wurde, mit in Be¬
tracht ziehen.
Das Erbrechen seinerseits ist als Folge der akuten Gastro¬
enteritis anzusehen, und diese der' Anamnese nach als diejenige des
Genusses des Kuchens, der die reizenden Bestandteile enthielt. So
weit das Sektionsresultat. — Zur Ermittlung der Schädlichkeiten im
Kuchen wurde eine chemische Untersuchung durch den Kantonschemiker
angestellt. Denn da die Vergiftung als Todesursache ausgeschieden
war, wurde von der Behörde die Frage aufgeworfen, ob im vor¬
liegenden Falle das Delikt des in Verkehrsbringens von verdorbenen
Nahrungsmitteln vorliege, oder ob es sich um Verabreichung von ge¬
sundheitsschädigenden Stoffen handle.
Der Bericht des Kantonschemikers lautete: Von den übrigen Mit¬
gliedern der Familie erkrankten noch mehrere mit ähnlichen Sym¬
ptomen, wie die Verstorbene, jedoch weniger heftig und ohne üble
Folgen davon zu tragen; die übrigen blieben gesund. Da sich von
dem betreffenden Kuchen nichts mehr vorfand, wurde aus den Her-
stellungsraaterialien ein Kuchen gebacken und verschiedenen Versuchs¬
personen zu essen gegeben. Niemand von diesen erkrankte oder
zeigte Gesundheitsschädigungen. Die chemische Untersuahung ergab,
dass Kastanienmehl verwendet war, das durch langes Aufbewahren
ranzig geworden. Die übrigen Materialien gaben keine Anhaltspunkte
für die Annahme von Verdorbenheit. — Als Urteil fügte der Kantons¬
chemiker bei, dass die beim Prozess des Ranzigwerdens freiwerdenden
Fettsäuren möglicherweise, die toxische Wirkung ausgeübt haben (ana¬
log der Rizinolsäure).
Wir können also, obschon uns die chemische Untersuchung grund¬
sätzlich nichts Neues gebracht hat, sondern das durch die Sektion
gewonnene Urteil nur bestätigt, die Frage, ob es sich um Inverkehr¬
bringen verdorbener Nahrungsmittel handle, bejahen. D. h., die ver¬
wendeten Materialien waren so beschaffen, dass je nach der indivi¬
duellen Resistenz oder Schwäche der Konsumenten die Möglichkeit
einer vorübergehenden leichtgradigen Beeinträchtigung der Gesundheit
vorhanden war, während die Möglichkeit, dass schwerere Gesundheits¬
schädigungen oder gar der Tod einträten, nicht als gegeben betrachtet
werden konnte. Das Gericht erkannte demnach auch, dass eine fahr¬
lässige Tötung gemäss dem Sektionsbefund des Erstickungstodes nicht
vorliege, und dass es sich um Inverkehrbringen -von verdorbenen
Nahrungsmitteln handle.
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Beitrag zur jKenntnis plötzlicher Todesfälle durch Erstiokung.
3. U. E., männl. Säugling, gestorben im Alter von 2 Monaten, 12 Tagen.
Anamnese: Das uneheliche Kind wurde morgens tot im Bett aufgefunden.
Die Mutter soll tags zuvor den Wunsch geäussert haben: „Wenn nur das Kind
tot wäre! 4 *
Dieser Ausspruch der Mutter und die Tatsaohe, dass das Kind unehelich
war, rechtfertigten zur Genüge die Anzeige des Falles. Auch aus dem Fehlen jeg-
Jicher Anhaltspunkte für den Tod des Kindes ging die Notwendigkeit einer gericht¬
lichen Sektion hervor.
Sektionsprotokoll: 55 cm langes, 3520 g schweres Kind, männlichen Ge¬
schlechts, von mässigem Ernährungszustand. Totenstarre am Kinn gelöst, an den
Extremitäten wenig vorhanden. Haut überall blass, in den abhängigen Partien
dunkle Totenflecke in reichlicher Ausbildung. Gesicht im ganzen blass. Nirgends
Verletzungsspuren. Mund- und Nasenhöhle frei, ohne Inhaljt. Auch am Hals die
Haut überall blass und glatt. Kopfhaut wenig behaart, Haarfe etwa \ 1 / 2 cm lang.
Nabelstumpf geheilt, trocken, blass. Schädelumfang 36,3 cm. Längsdurchmesser
12 3 / 4 , oberer querer 8, hinterer 9,5, schräger Durchmesser 17 cm. Schulter 13 cm,
Hüften 8 cm. Knoohenkern in der unteren Femurepiphyse blutreich, 7 : 5 mm.
Fettpolster an Brust und Bauch sehr spärlich, blass. Muskulatur spärlich, blass
graurot, von guter Transparenz. Lig. teres verschlossen. Leber in der Mittellinie
5 cm, in der rechten Mammillarlinie 3 cm vorliegend, Magen 1 Fingerbreit ober¬
halb des Nabels. Dünndarm wenig gefüllt, ebenso der Dickdarm. Serosa im ganzen
glatt und glänzend. Appendix hängt ins kleine Becken hinab, frei. Im kleinen
Becken kein abnormer Inhalt. Zwerchfellstand rechts 4., links 5. Rippe.
Die Lungen liegen nach Eröffnung des Brustkastens breit vor, der Rand ist
deutlich abgerundet. Herzbeutel in den oberen Abschnitten von den Lungen über¬
lagert. Im Mediastinum ant. eine kräftige 7:2 a / 2 : 1 1 / 2 cm messende graurote
lappiggebaute Thymus. Im Herzbeutel keine freie Flüssigkeit. Im parietalen Blatt
des Herzbeutels sowie stellenweise imEpikard des Herzens, namentlich an derHinter-
fläohe des'linken Ventrikels, ziemlich reichlich kleine 1—2mm messende dunkelrote
Blutpunkte. Aehnliche finden sich auch an der Innenfläche der grossen Gefasse.
Herz: Im linken Ventrikel dunkles, z. T. geronnenes Blut. Mitralis zart.
Im rechten Ventrikel wenig flüssiges dunkles Blut und vereinzelte kleine Blut¬
gerinnsel. Triknspidalis ebenfalls völlig zart, Pulmonalklappen im ganzen zart,
ebenso Pulmonalis. Ductus Botalli geschlossen.' Aortenklappen zart, Aorta asc.
2,5 cm. Linker Ventrikel von entsprechender Weite, Endokard zart. Trabekel
und Papillarmuskeln ausgesprochen kräftig. Rechter Ventrikel ebenfalls etwas
weit, Trabekel und Endokard zart. Wanddicke links.4 mm, rechts 1—2 mm.
Muskelaufschnitt blass graurot, von guter Transparenz. Koronararterien zart.
Halsorgane: Zunge ohne Belag, Balgdrüsen und Tonsillen klein, Zungen¬
grund o. B. Pharynx leicht venös-byperämisch. Oesophagus blass und glatt.
Aus dem Kehlkopf entleeren sich auf Druck etwas dunkle, grüne, dickflüssige
Massen. Im Kehlkopf sowie in der Trachea ziemlich bis in die Verzweigungen
der Bronchien hinein sich fortsetzende dickflüssige, z. T. schleimige, grünlich
bräunliche, locker liegende Massen. Innenfläche des Kehlkopfes an der Epiglottis
deutlich injiziert. Kehlkopf und Trachea im gahzeu blass, leicht blutig injiziert.
Aorta thor. zart. Umfang 12 mm.
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90
Berthold Meyer,
Lungen: voluminös. Pleura graurot, Ränder deutlich abgerundet Lungen
beiderseits von erhöhtem Luftgehalt. Auf der Pleura beider LuDgen finden sich
vereinzelte kleine 1—2 mm messende hellrote, z. T. dunkelrote Blutaustritte.
Linke Lunge: auf Schnitt beide Lappen graurot, von ziemlich gutem Blutgehalt,
überall gut lufthaltig, glatt, ziemlich kompressibel. Gefässe zart, ln den Bronchien
finden sich in den grösseren, aber auch in den kleineren Verzweigungen ähnliche
grünlich bräunliche, z. T. schleimige Blassen, wie oben erwähnt in der Luftröhre.
Rechte Lunge: auf Schnitt blutreicher als links, sonst im ganzen die gleiche Be¬
schaffenheit wie links. In den Luftröhrenästen finden sich in den Hanptästen
sowie in den Verzweigungen ähnliche Massen wie links, nur im ganzen reich¬
licher, teilweise das ganze Lumen der Bronchialäste verstopfend. Bronchial-
drüsen klein.
Milz: 5:4:0,7cm. Kapsel teils blass, teils graurot, glatt. AufSchnitt
Pulpa sehr blutreioh, feucht. Follikel zahlreich, 1 mm gross. Trabekel nicht
sichtbar.
Linke Nebenniere: klein. Rinde blass, fettarm. Mark etwas dunkel.
Linke Niere: mit geringer Fettkapsel. Fibröse Kapsel gut abziehbar. Niere
von entsprechender Grösse. Oberfläche mit renkulären Furohen, sonst glatt.
Venenzeichnung deutlich. Auf Schnitt Rinde von entsprechender Breite, Par¬
enchym blutreich, Zeichnung ziemlioh deutlich, Transparenz gut. Brüchigkeit
normal. Nierenbeoken blass. In der Vena cava inf. wenig dunkles flüssiges Blut.
Rechte Nebenniere: wie links.
Rechte Niere: von geringem Blutgebalt, sonst wie links. Nierenbecken
blass, glatt.
Im Magen: ziemlich reichlich grau-grünlicher, dickflüssiger bis dickbreiiger,
mit weisslich käsigen Massen untermischter Inhalt. Schleimhaut des Magens im
ganzen blass, glatt, etwas verdickt, mit Schleim bedeckt. Ebenso im Duodenum.
Leber: von entsprechender Grösse, 13 : 7,5 : 3 cm. Oberfläche blass, glatt,
stellenweise etwas blutreicher. Auf Schnitt Gewebe von mittlerem Blutgehalt,
guter Transparenz, Zeichnung verwischt, Konsistenz normal. In der Gallenblase
wenig hellgelbe Galle, Schleimhaut blass, glatt.
Pankreas: entsprechend gross, blass, körnig. Aorta abd. zart. Mesenterial¬
drüsen klein, ebenso retroperitoneale Drüsen.
In der Harnblase: kein Inhalt. Schleimhaut blass und glatt, Reklumschleim-
haut blass und glatt. Hoden beiderseits im Skrotum, blutreich, o. B., ebenso
Nebenhoden, rechts eine kleine Hydrozele.
Schleimhaut des Dünndarms blass, im ganzen verdickt. Namentlich im
Dünndarm wenig sohleimiger, etwas grauer, dünn- und diokflüssiger Inhalt.
Follikel und Peyersche Plaques nicht vergrössert, blass. Schleimhaut im Dickdarm
ebenfalls etwas dick, blass, Follikel sehr zahlreich, 1—2 mm gross, im ganzen
blass. Schleimhaut des Appendix blass und glatt. Im Dickdarm sauer riechender,
dünner, gelber, mit einigen Fetzen vermischter Inhalt.
Schädel: mit der Dura fest verwachsen, grosse Fontanelle 2 : 2,5 cm, kleine
Fontanelle fest geschlossen. Knochen gegeneinander leicht verschieblich, dünn,
biegsam. Dura-Innenfläche glatt. Im Sinus long. sup. spärliches flüssiges Blut.
In dem Sinus der Basis flüssiges und wenig geronnenes Blut. Dura an der Basis
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Beitrag zur Kenntnis plötzlicher Todesfälle duroh Erstiokung. 91
zart, glatt. Weiche Häute der Konvexität blutreich, zart. Ebenso an der Basis.
Gefässe zart. Fossae Sylvii o. B. Seitenventrikel von entsprechender Weite, ohne
Inhalt. Plexus blass. Ependym glatt. 3. und 4. Ventrikel o. B. Hirnsubstanz
von mittlerer Konsistenz, von mittlerem Bliitgehalt, etwas feucht. Zentrale Ganglien,
Pons, Kleinhirn und Medulla obl. o. B.
Uittelohr beiderseits o. B.
Knoohenknorpelgreuze: in den Femurepiphysen glatt. Verkalkungszone
nicht verbreitert.
Zusammenfassung: Das Kind starb durch Erstickung infolge
Aspiration erbrochenen Mageninhalts in Larynx, Trachea und Bronchien.
Diese todesart wird durch die allgemeinen Zeichen: Lungenemphysem,
subseröse Blutungen, Blutreichtum der Organe und dunkles flüssiges
Blut bestätigt. Als Grund für die Erstickung ist das Brechen infolge
chronischer Gastroenteritis anzusehen.
Der Fall stellt also ein Analogon zum vorhergehenden dar, nur
handelt es sich hier um einen Säugling, bei welchem diese Todesart
doch im ganzen häufiger zur Beobachtung kommt.
Hat demnach die Sektion ergeben, dass der Tod des Kindes sich
sehr wohl auf natürliche Weise erklären lässt, ohne dass ein Ver-
brechen von seiten der Mutter angenommen werden muss, so können
wir ein solches doch nicht ausschliessen. Und zwar bleiben wir nach
wie vor im Unklaren darüber, sowohl ob ein absichtlich herbeigeführter
Mord, als auch ob fahrlässige Tötung vorliegt.
Es kann durch die Sektion weder bestätigt noch bestritten werden,
dass die Mutter von dem chronischen Darrokatarrh Kenntnis besass,
und dass sie diese Tatsache ausnützte, um den Tod des Kindes ab¬
sichtlich herbeizaführen. Kannte sie den krankhaften Zustand des
Kindes (den sie als sorgsame Mutter zudem noch hätte ärztlich be¬
handeln • lassen müssen), so konnte sie eventuell durch geschicktes
Manipulieren den Brechakt dazu benützen, das Kind zum Ersticken
zu bringen. So hätte sie gleichzeitig noch eine Situation bewusst
gefälscht, um sich selber zu salvieren. Es käme auf ihre Kenntnisse
in dieser Richtung an, und man müsste sie daraufhin in ihrer In¬
telligenz prüfen. Jedenfalls sind Laien höchst selten so weit instruiert.
Eine zweite Möglichkeit wäre die: Die Mutter wusste um den
chronischen Darmkatarrh ihres Kindes, hat aber, um sich des ihr
überdrüssigen Kindes zu entledigen, mit Absicht den Krankheits¬
zustand vernachlässigt. So kam es schliesslich zum Tod des Kindes
durch Erstickung infolge Aspiration, ohne dass sich die Mutter direkt
mit einer Handlung daran beteiligt hätte.
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Berthold Meyer,
Diese zweite Möglichkeit ist die wahrscheinlichere, und zwar aus
psychologischen Gründen. Hätte sie das Kind absichtlich ersticken
wollen, so hätte sie nicht vor Zeugen einen so unvorsichtigen Aus¬
spruch getan.
So kommen wir zu dem Resultat, dass eine fahrlässige Tötung
durch Vernachlässigung nicht vollends ausgeschlossen werden kann.
Objektive Beweise dafür lassen sich nicht geben. Zu Gunsten der
Mutter müssen wir sagen, dass sich obige Erwägungen nur auf die
Tatsache der Unehelichkeit des Kindes und das Zusammentreffen des
Ausspruches der Mutter mit dem Tod des Kindes stützen, während
die Sektion ergeben hat, dass sich der plötzliche Tod des Kindes
sehr wohl auf andere Weise erklären lässt. Der Fall kam denn auch
nicht vor Gericht. Aber er zeigt uns, dass wir gegebenenfalls mit
unserem Urteil sehr zurückhaltend sein müssen.
4. H. E., 35 Jahre alt.
Anamnese: Ging abends munter zu Bett, anscheinend in voller Gesundheit.
War früher lungenkrank. Nachts trat plötzlich starke Hämoptoe mit folgender
Atemnot auf, die zum Tode führte. Sektion am folgenden Tage.
Sektionsprotokoll: Kleine weibliche Leiohe von mittlerem Ernährungs-
zustand. Totenstarre gut ausgebildet. Livores reichlich und dunkel. Aus Mand
und Nase quillt etwas dunkles Blut. Fettpolster spärlich. Bauchsitus o. B.
Rechte Lunge: zeigt ausgedehnte fibröse Adhäsionen mit dem Brustkorb.
Die linke Lunge stark vorgewölbt, aufgetrieben, nur an der Spitze leicht fixiert.
Keine Thymus. Im Mediastinum ant. etwas Fettgewebe. Herzbeutel von der linken
Lunge überlagert, enthält etwas klare Flüssigkeit. Das Herz klein, auf d v em Epi-
kard des linken Ventrikels einzelne kleine Blutaustritte, in den Höhlen dunkles
flüssiges Blut. Die Klappen und Gefässe zart, nur die Mitralis zeigt einzelne
kleine Trübungen und Verdickungen. Die Höhle nicht erweitert, Muskel beider¬
seits kräftig, graurot, von guter Transparenz. Kranzarterien zart.
Halsorgane: Zunge ohne Belag. Zungengrund o. B. Balgdrüsen und Ton¬
sillen von mittlerer Grösse. In L&rynx, Trachea und Bronchien bis in die kleinsten
Verzweigungen hinein dicke Kruormassen, die Sohleimhaut blass und glatt
Schilddrüse leicht vergrössert, blutreich, dunkel. Die Aorta zart.
Die reohto Lunge ist klein und derb, namentlich in den oberen Partien.
Die Pleura schwartig verdickt. Das Gewebe im oberen Drittel des Oberlappens
sohwielig anthrakotisch, luftleer, zeigt im mittleren Drittel eine 5:2 cm grosse un¬
regelmässig geformte, glattwandige Kaverne, die mit dunklen Blutkoageln ange¬
füllt ist. Das umgebende Gewebe zirrhotisch. Der blutende Gefässast konnte
nicht aufgefunden werden. Die übrigen Abschnitte der rechten Lunge in Ober-,
Mittel- und Unterlappen im ganzen lufthaltig, durchsetzt von zahlreichen 1—2cm
grossen Knoten, z. Teil mit schwieliger Umgebung, die aus zahlreichen zum Teil
verkästen 2—3 mm messenden Knötchen zusammengesetzt sind. In den Bronchien
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Beitrag zur Kenntnis plötzlicher Todesfälle daroh Erstickung. 93
überall dunkles geronnenes Blut, die Wand zart. Pulmonalgefässe zart. Bron¬
chialdrüsen anthrakotisch.
Die linke Lunge: sehr voluminös, flaumig. Pleura glatt mit kleinen dunklen
Blutpunkten. Das Gewebe in Ober» und Unterlappen blass graurot, stark lufthaltig,
glatt, kompressibel. Die seitlichen Ränder abgerundet, ln den Bronchien bis in
die kleinsten Verzweigungen dunkles geronnenes Blut. Gefässe zart.
Milz: von entsprechender Grösse. Kapsel glatt. Pulpa blutreioh, von mitt¬
lerer Konsistenz. Follikel und Trabekel deutlich.
Leber: gross. Oberfläche glatt, auf Schnitt Zeiohnung deutlich. Zentren
der Acini dunkelrot, zum Teil verbreitert, eingesunken und konfluierend. Peri¬
pherie braunrot, von guter Transparenz, Glissonsche Scheiden nicht verbreitert.
Konsistenz feine mittlere. Besonders im linken Lappen finden sioh im Parenchym
verstreut zahlreiche 1—2—3 mm grosse, teils isolierte, teils in Gruppen gestellte,
mit Blut gefüllte Räume (Teleangiectasia hepatis diffasa). Gallenblase o. B.
Nieren: von entsprechender Grösse und geringer Fettkapsel. Fibröse Kapsel
gut abziehbar. Oberfläche glatt. Auf Schnitt Gewebe sehr blutreich, dunkelrot,
von guter Transparenz. Rinde 6—7 mm breit. Zeichnung deutlich. Nieren¬
becken blass.
Schleimhaut des Magens und Duodenums blutreich, glatt. Papille durch¬
gängig. Pankreas blutreich. Mesenterialdrüsen leicht vergrössert. Aorta zart.
Beckenorgane o. B.
Schleimhaut des Dünndarms blutreich, im ganzen glatt, mit einzelnen
kleinen typisch tuberkulösen Ulzera im unteren lleum. Appendix o. B. Dick¬
darm blass.
Sohädel- und Gehirnsektion ergibt ausser etwas Oedem der Gehirnsubstanz
und allgemeinem Blutreichtum nichts Besonderes.
Zusammenfassung: Die Todesursache ist Erstickung infolge
Blutung in eine Kaverne und Erguss des Blutes in die Luftwege. Der
Erstickungstod wird weiter gekennzeichnet durch die übrigen Er¬
stickungsbefunde: hochgradiges, akutes Lungenemphysem, allgemeine
Zyanose, flüssiges Blut, subseröse Ekchymosen, sowie , durch die ana¬
mnestischen Angaben. Als Ursache der Kavernenblutung fand sich eine
chronische Tuberkulose der rechten Lunge.
Nebenbefunde: bilden eine Tuberkulose des Darmes und die
Teleangiectasia hepatis diffusa.
Der Fall ist damit sowohl pathologisch-anatomisch als in recht-.
licher Beziehung völlig geklärt.
5. R. P., 19jähriger Schreinerlehrling.
Anamnese: Der Junge war nach Angabe des Vaters immer gesund. Am
Abend vor dem Tode trat plötzlich eine Hämoptoe auf. Der Junge erholte sich
aber und ging am nächsten Tage zur Arbeit. Vormittags in der Werkstatt
plötzlich erneute starke Hämoptoe. Der Junge fiel zu Boden und starb in wenigen
Minuten unter Zeichen der Atemnot. In der Familie Hessen sioh keine Anhalts-
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94 Berthold Meyer,
punkte für Blutkrankheiten und Hämophilie finden. Die Sektion wurde am
gleichen Tage vorgenommen.
Sektionsprotokoll: Es war ein ziemlich grosser sohmächtiger Körper
von geringem Ernährungszustand. Aeusserlioh keine Verletzungen. Die sicht*
baren Sohleimhäute sehr blass. -Die Sektion ergab ausser starker Blutüberfüllung
sämtlicher parenohymatöser Organe und dunklem flüssigem Blut keine Verände¬
rungen.
Larynx, Trachea und die Bronohien zeigten bis in die kleinsten Verzwei¬
gungen hinein eine Ausfüllung mit dunklem, flüssigem und geronnenem Blut. Die
Lungen waren stark gebläht, lufthaltig. Auf den Pleuren vereinzelte kleine Blut-
austritte.
Das Herz von entsprechender Grösse, die Ventrikel nicht erweitert. Klappen
zart. Muskel kräftig. In den Höhlen dunkles flüssiges Blut.
Der Magen und das Duodenum waren stark angefüllt mit sehr reichlich^blu*
tigern, bräunlichem, teils flüssigem, teils geronnenem Inhalt.
Die genaue Besichtigung des ganzen Kehlkopfes, der Trachea, Lungen, des
Rachens, Oesophagus und Magendarmkanals ergab nirgends eine kleine Läsion
oder irgend welohen Befund, welcher die Blutung erklären könnte. Auch die
Nasensektion ergab keine Anhaltspunkte für eine solche.
Eine Bronchialdrüse zeigte einen zirkumskripten zentralen Käseherd. Die
Lnngen zeigten keinerlei Anhaltspunkte für eiue Tuberkulose.
Zusammenfassung: Auch in diesem Falle trat der plötzliche
Tod durch Erstickung ein, indem erbrochenes Blut in die Luftwege
aspiriert wurde. Das Blut stammte aus dem Magen. Eine Ursache
für den Bluterguss konnte nicht gefunden werden. Die agonalen Er¬
scheinungen sowie die allgemeinen Erstickungszeichen ergeben die
Diagnose eines Erstickungstodes.
Nachdem trotz genauester Nachforschung keine Quelle für die
Mägenblutung entdeckt werden konnte, wurde per exclusionem die
Diagnose „primäre“ parenchymatöse Magenblutung gestellt.
Trotzdem in vielen Fällen von Magenblutung der Tod durch Verblutung
eintritt, handelt es sich in unserem Fall nicht um einen solchen,
sondern um einen typischen Erstickungstod. Es muss hier wie in
Fall 2 gefragt werden, wieso bei einem 19jährigen Menschen Aspi¬
ration eintrat. Einmal mag der Junge aus Schrecken über den her-
vorschiessenden Blutstrom eine unwillkürliche Inspirationsbewegung
gemacht haben, oder aber er brach infolge des Blutverlustes be¬
wusstlos zusammen (s. Anamnese) und aspirierte in diesem Zustande.
Im Gegensatz zu primären sind sekundäre parenchymatöse Magen-
blutungen keine Seltenheit und können die verschiedensten Ursachen
lokaler und allgemeiner Natur haben. Es würde hier zu weit führen,
auf die Aetiologie, Pathogenese und Differentialdiagnose näher einzu-
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Beitrag zur Kenntnis plötzlicher Todesfälle durch Erstickung. 95
gehen. Nur so viel sei bemerkt, dass neuerdings der Frage erhöhtes
Interesse zugewendet wird und dass in letzter Zeit mehrere Fälle
bekannt gegeben worden sind, in welchen keine Ursache für die Blutung
nachzuweisen war, trotz minutiösester Unterstichungen, in denen es
sich also ebenfalls um primäre Blutungen handelte. Solche Fälle
sind bis jetzt beschrieben, einer von Ewald (}2) - Kuttner (13), drei
von Reichard (14), zwei von Czylharz (15). Erst vor kurzem er¬
schien aus dem hiesigen pathologischen Institut eine Arbeit von
Fritzsche (16), welcher drei einschlägige Fälle beschreibt und ein¬
gehend die Aetiologie und Differentialdiagnose der parenchymatösen
Magenblutungen bespricht (dort auch weitere Literatur).
Die Möglichkeit einer traumatischen Entstehungsweise parenchy¬
matöser Magenblutungen wird von Wiemann (17) angegeben. Das
ist in unserem Fall insofern von Interesse, als auf Grund dieser Mög¬
lichkeit eventuell Unfallansprüche gestellt werden könnten: der Ver¬
storbene war Schreinerlehrling in einer Fabrik und der Tod trat
während der Arbeit ein. Doch ist diesen Ansprüchen zu begegnen
und die Möglichkeit eines traumatischen Ursprungs der Magen blutung
im vorliegenden Fall zu negieren. Erstens findet sich weder in der
Anamnese noch im Sektionsbefund für eine traumatische Entstehungs¬
weise der Blutung irgendwelcher Anhaltspunkt, zweitens aber trat am
Vorabend vor dem Tode die erste sichtbaro Blutung spontan auf.
Analog dieser ersten wird die schliesslich in der Folge zum Exitus
führende Blutung ebenfalls spontan entstanden sein.
' 6. G. G., 18jähriger Sohreiner.
Anamnese: Der jnnge Mann stürzte in der Werkstatt während der Arbeit
plötzlich zu Boden and starb in einigen Minuten unter den Erscheinungen einer
Erstickung. Nach Abgabe der Angehörigen hatte der Verstorbene vor einigen
Wochen an einem Finger eine kleine infizierte Epidermisabhebung, wegen welcher
er für einige Zeit die Arbeit ausgesetzt und in Behandlung der hiesigen Chirurgi¬
schen Poliklinik gestanden hatte. Seit etwa 8—10 Tagen sei er wieder an die
Arbeit gegangen, ohne über irgendwelche Beschwerden zu klageD.
Sektionsbefund: Es ist die Leiohe eines ziemlich grossen, schmächtigen
Jungen in geringem Ernährungszustand. Haut blass, Totenflecke spärlich. Toten¬
starre teilweise ausgebildet. Auf der äusseren Hant nirgends Verletzungen, Hände
and Füsse intakt. Fettpolster spärlich. Muskulatur ziemlich kräftig, dunkel.
Bauohsitus o. B. Zwerchfellstand beiderseits an der 5. Rippe.
Beim Eröffnen des Brustkorbs drängen sich die Lungen stark vor und be¬
rühren sich in der Mittellinie. Sie sind ohne Verwachsungen, die Brusthöhlen
leer. Herzbeutel von den Lungen überlagert. Im vorderen Mittelfellraum eine
zweilappige kleine Briesel. Im Herzbeutel wenig klare Flüssigkeit.
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Berthold Meyer,
Herz: von entsprechender Grösse. In den Höhlen dunkles, nicht geronnenes
Blut. Innenhaut der Gefässe und Klappen zart. Kammern nioht erweitert. Muskel
kräftig, braunrot, gut transparent. Kranzgef&sse zart.
Halsorgane: Zunge ohne Belag, Mandeln kräftig, ohne Belag. Auf Schnitt
feucht, o. B. Sohilddriise leicht vergrössert, blutreich. Speiseröhre, Kehlkopf
und Luftröhre blutreioh, glatt. Brustschlagader zart.
Lungen: sehr gross und flaumig. Brustfell zart, stellenweise kleine, un¬
regelmässige Blutungen. Auf Schnitt Gowebe überall sehr lufthaltig, blutreich,
glatt, kompressibel. Luftröbrenäste gerötet, mit schleimigem Inhalt. Gefässe zart.
An der Teilungsstelle der Luftröhre liegt eine hühnereigrosse, prall ge¬
spannte Geschwulst, die sich beim Einschneiden als ein Sack mit 2—3 mm dicker
Wand erweist, mit reichlich ziemlich dickflüssigem Eiter als Inhalt. Die Innen¬
fläche der Wand ist glatt, grauweisslich. Die Geschwulst drückt auf das Lumen
der Luftröhrenverzweigungen. In der Umgebung befinden sich mehrere ver-
grösserte schwarze Lymphknoten mit kleinen Käse- und Kalkeinlagerungen.
Die Milz: ist vergrössert, misst 13.7 : 4 cm. Kapsel glatt, Pulpa blutreich,
etwas vorquellend, von mittlerer Konsistenz. Knötchen deutlich, Bälkchen klein.
Die übrigen Bauchorgane zeigen einen erhöhten Blutgehalt, sonst ohne Ver¬
änderungen.
Schleimhaut des Magens: blutreich, glatt. Im Dünndarm, namentlich in den
unteren Abschnitten, zahlreiche kleinere und grössere Blutungen.
Gehirn: blutreich, ohne Veränderungen.
In sämtlichen Gelassen dunkles, flüssiges Blut.
Bakteriologische Untersuchung:
1. Aus der Milz gehen in Bouillon Reinkulturen von langen Ketten¬
kokken auf.
2. Im Eiter aus dem Abszess neben der Lufröhre lassen sich Staphylo- und
Streptokokken nachweisen.
3. Herzblut naoh zweimal 24 Stunden steril.
* Mikroskopische Untersuchung: Die Wand des Abszesses neben der
Luftröhre besteht aus breiten Zügen kernarmen Bindegewebes mit herdförmigen
Ansammlungen von Knötohen, z. T. um die Gefässe herum. An der Innenfläche
findet sich ein Keimgewebe mit reichlich epithelioiden Zellen und Lymphozyten.
Stellenweise kleine Knötchen mit Riesenzellen (Tuberkel).
Die Lymphdrüsen in der Umgebung zeigen einzelne Käseherde, in der Um¬
gebung vereinzelte Tuberkel.
Herzmuskel, Leber, Nieren zeigen ausser geringer Verfettung keine Besonder¬
heiten.
Milz: zeigt starke Füllung mit roton Blutkörperchen. Das Bindegewebe ist
nicht vermehrt.
Zusammenfassung: Die Sektion ergab zusammen mit der
bakteriologischen und mikroskopischen Untersuchung das Vorhanden¬
sein einer allgemeinen Sepsis, deren Ausgangspunkt sich durch die
Autopsie nicht feststellen liess und welche zu einem metastatischen
Abszess in einer tuberkulös veränderten Lymphdrüse mit Sitz an der
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Beitrag zur Kenntnis plötzlicher Todesfälle durch Erstickung. 97
Bifurkation der Trachea sowie zu geringgradiger Verfettung der
Organe geführt hatte. Als Ausgangspunkt der Sepsis kann die in
der Anamnese angeführte leichte Infektion als wahrscheinlich an¬
gesehen werden.
Die Sektion zeigte ferner das Bild einer Erstickung, indem die
Trachea durch den Abszess an der Bifurkation komprimiert wurde.
Auch fanden sich die allgemeinen Zeichen der Erstickung (Lungen¬
blähung, dunkles flüssiges Blut, Blutreichtum der Organe, subseröse
Blutaustritte), und die Anamnese verzeichnet Erstickungserscheinungen
in der Agone.
Der Pall bietet also das Bild zweier konkurrierender gleich¬
wertiger Todesursachen, ohne Zweifel gehört or zu den plötzlichen
Todesfällen durch Erstickung, und die Erstickuug ihrerseits steht in
ursächlichem Zusammenhang mit dem allgemeinen septischen Zustand.
Eine weitere Frage ist nun die: vermag die Sepsis an und für sich
ohne Erstickung ebenfalls den Tod zu erklären. Klinisch bestanden
keine Anhaltspunkte für das Vorhandensein einer Sepsis. Die Affektion
an der Hand war anscheinend verheilt und der Junge galt als voll¬
ständig arbeitsfähig. Der pathologisch-anatomische Befund bei der
Sektion ergab ausser einem Milztumor und dem Abszess in der Lymph-
drüse keine greifbaren Organ Veränderungen, die man als für die Todes¬
ursache genügend gelten lassen könnte. So käme man von vorn¬
herein zu der Annahme, dass die Sepsis als solche im vorliegenden
Falle nicht als Todesursache angesehen werden könne.
Hier ist nun zu bemerken, dass wir bei einer Reihe von anderen
Fällen mit plötzlichem Tode als einzige Todesursache eine Sepsis
konstatieren konnten, und zwar teils mit, teils ohne Organverände¬
rungen, aber mit positivem bakteriologischen Befund.
Wegen der Wichtigkeit dieser Tatsache und besonders für den vor¬
liegenden Fall lasse ich zunächst diese Fälle auszugsweise hier folgen 1 ).
1. R. K., 37jähriger Mann, gestorben 4. 5. 1917. Wurde morgens tot im
Bett anfgefnnden. Soll vorher gesund gewesen sein bis auf ein altes Ohrenleiden.
1) Zur Kritik der Diagnose Sepsis ist zu bemerken, dass sie sich in bisher
üblicherweise auf die bakteriologische Untersuchung der Milz, in mehreren Fällen
auch auf die des Herzblutes gründete. Nach unserer Ansicht sind die Ergebnisse
der bakteriologisohori Untersuchung der Milz allein nicht in allen Fällen ohne
weiteres als stichhaltig und einwandfrei anzusehen. Nach den Ergebnissen der
heutigen Forschung sind wir jedoch noch berechtigt, diese Fälle als Sepsis zu.
bezeichnen.
Vierte^ahrsschrift f. ger. Med. u. Off. San .«Wesen. 3. Folge. Bd. 60. H. 1. n
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98
Berthold Meyer,
DieSektion ergab geringen Milztumor, eine Dilatation des Herzens, akute Tracheitis
1 und Bronchitis sowie an den Lungen ein Stauungsödem. Ferner fand sich eine
ulzeröse Enteritis und Colitis acuta septioa. An den schon in starker Fäulnis
begriffenen Nieren zeigten sich Blutungen, ebenso an den Nierenbecken. Die
Ohrensektion förderte auf beiden Seiten eine Otitis media purulenta zutage.
Mikroskopische Untersuchung: ergab keine Veränderungen.
Bakteriologisohe Untersuchung: Aus der Milz wurden in Bouillon
und auf Agar nach 20 Stunden sehr reichlich kurze Ketten von Streptokokken
gezüchtet.
2. B. A., 48jährige Frau, gestorben 10. 10. 1917. Wurde tot bei der Näh¬
maschine aufgefunden. Daneben fand sich eine Schnapstlasche. Die Sektion
ergab ausser allgemeiner Hyperämie der Organe und einem Gehirnödem mittleren
Grades keine Veränderung an den Organen.
Bakteriologische Untersuchung: Nach 48 Stunden gingen sowohl aus
der Milz als aus dem Herzblut in Zuckerbouillon Streptokokken in Reinkultur auf.
Auf Agar wuchsen Staphylo- und Streptokokken.
Mikroskopische Untersuchung: Organe ohne Veränderungen.
3. K. R., 43jährige Frau, gestorben 15. 1.1918. Wurde morgens tot im
Bett aufgefunden. In letzter Zeit starker Husten. Die pathologisch-anato¬
mische Diagnose lautete Tracheitis und Bronchitis diffusa, entzündliche Hypo¬
stase im rechten Unterlappen, Struma colloides nodosa, Cholelithiasis.
-Bakteriologische Untersuchung: Aus der Milz gingen auf Agar und
in Bouillon Reinkulturen von Streptokokken auf.
4. H. B., 24jähriges Mädchen, gestorben 22. 4.1919. Plötzlicher Tod an¬
geblich wegen Herzaffektion. Anzeige wegen Verdachtes auf Abtreibung.
Die Obduktion ergab als allgemeinen Befund starke Hyperämie derOrgane.
Ferner lag ein chronischer Milztumor vor und als Lokalbefund an den Genitalien
eine Vergrösserung des Uterus, Endometritis interstitialis und ein Corpus luteum.
Mikroskopisohe Untersuchung: Geringe Verfettung von Leber und
Nieren, starke Hyperämie der Milz. Die Mukosa des Uterus stark infiltriert, mit
korkzieherartig gewundenen Gefässen und weiten Venen. Das Corpus luteum in
fibröser Umwandlung.
Bakteriologische Untersuchung: In Bouillon fanden sich aus der
Milz Streptokokken.
5. G. J., 27jähriges Mädchen, gestorben 10. 3. 1919. Plötzlicher Tod nach
anscheinender Gesundheit. Ilpara (unehelich).
Sektionsergebnis: Innere Organe hyperämisch. Gravidität im 4. Monat.
Eihäute intakt, mit klarem Fruchtwasser. Fötus ziemlich mazeriert. Endometritis
decidualis. Kleines (traumatisches?) Ulkus an der Portio.— Akuter Milztumor.
Bakteriologisch fanden sich aus der Milz und dem Herzblut Streptokokken.
Ziehen wir das Fazit ans diesen 5 Fällen, so sehen wir, dass
ein septischer Zustand allein hinreichen kann, den Tod plötzlich zu
bedingen. Wenden wir dies Ergebnis auf unseren Fall G. an, wozu
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Beitrag zur Kenntnis plötzlicher Todesfälle durch Erstickung. 99
wir berechtigt sind, so finden wir darin doch die Bestätigung der
Annahme, dass auch hier der Tod eventuell durch die Sepsis allein
erklärt werden kann.
Dies ist äusserst wichtig für die Begutachtung des Falles G. als
Unfallfolge. Die Sektion hat zwar den Ausgangspunkt der Sepsis
nicht zu ermitteln vermocht. Jedoch dürfen wir ohne weiteres als
erwiesen annehmen, dass der in der Anamnese erwähnte leichte Un¬
fall (Infektion einer Blase an der reohten Hand), wegen dessen der
Verstorbene in Behandlung der* Chirurgischen Poliklinik gestanden
hatte, in Zusammenhang steht mit der einige Wochen darauf zum
Tode führenden Sepsis, mit deren Folge dem Drüsenabszess an der
Teilungsstelle der Trachea, der seinerseits den Erstickungstod be¬
dingt hat. Wir dürfen also an Hand unserer Untersuchungsergebnisse
und obiger Betrachtungen in jedem Falle die Sepsis als Grundursache
für das Eintreten des plötzlichen Todes angeben.
Zu erörtern wäre noch die Frage, warum der Drüsenabszess den
akuten Erstickungsanfall herbeigeführt hat, da doch mit Sicherheit
anzunehmen ist, dass der Abszess schon längere Zeit in der gleichen
Ausdehnung bestanden hatte. Eine sichere Beantwortung dieser Frage
ist mir nicht möglich. Wie aus der Anamnese sich ergibt, trat der
Erstickungsanfall auf, während der Junge an- der Hobelbank arbeitete.
Es ist nun denkbar, dass durch die bei der Arbeit innegehaltene ge¬
beugte Stellung der Thoraxraum durch Druck des Sternums nach
hinten verringert und gleichzeitig der Abszess stärker gegen die
Trachea gedrängt wurde, so dass es zum vollkommenen Abschluss
der Luftwege gekommen sein mag. Ich bin mir bewusst, dass durch
eine solche Annahme die Erklärung einer plötzlichen Erstickung nicht
restlos gegeben ist; allein der Befund des Erstickungstodes muss
•uns an eine solche Möglichkeit denken lassen.
Zu berücksichtigen ist noch, dass wir es hier allem Anschein
nach mit einem durch die Sepsis in seiner Widerstandskraft ge¬
schwächten Kranken zu tun haben, und dass wir nicht fehl gehen,
wenn wir hier gleichzeitig beide Aetiologien — Sepsis und Erstickung —
zur Erklärung des plötzlichen Todes heranziehen.
Da aber die Erstickung ihrerseits ebenfalls die Folge der Sepsis
ist, so ergibt sich ohne weiteres, dass der Tod auf die Sepsis zurück¬
geführt und somit als Unfallfolge angesehen werden muss.
In jedem Falle beweist diese Beobachtung den Wert der bakterio¬
logischen Untersuchung bei der Sektion.
7*
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100
Berthold Meyer,
Zusammenfassung.
In der vorliegenden Arbeit habe ich über 6 Fälle von plötz¬
lichem Tod infolge Erstickung berichtet. Es handelte sich viermal
am Erstickung durch Aspiration in die Luftwege, und zwar zweimal
um Aspiration von Erbrochenem und zweimal um Aspiration von Blut
aus den Lungen, bzw. aus den Magen. Einmal handelte es sich um
ein akutes essentielles Larynxödem und im letzten Falle um eine
Erstickung infolge Kompression d$r Trachea durch einen Lymph-
drüsenabszess.
Besonders hervorheben möchte ich nochmals Fall 2, bei dem ein
15jähriges Mädchen durch Aspiration von Erbrochenem infolge leichter
Gastroenteritis erstickte, weil er uns beweist, dass, wenn auch seltener¬
weise, Erwachsene ohne ausgesprochene Bewusstseinsstörung auf diese
Art ad exitum kommen können; ferner Fall 5, der in zweifacher
Weise interessant ist, einmal dadurch, dass für die eigeötliche Magen¬
blutung keine sichtbare Ursache vorliegt, dann durch die Art des
Todes, der in gewissem Sinne ein Analogon zu Fall 2 bietet, da auch
hier die Erstickung durch Aspiration der aus dem Magen kommenden
Massen, und zwar ebenfalls bei einem Erwachsenen, erfolgte.
Dem Alter nach waren es fast sämtlich jugendliche Individuen,
das höchste Alter betrug 34 Jahre und betraf die Phthisikerin, die
infolge einer Kavernenblutung erstickte. Wenn schon ein plötzlicher
Tod in diesem jugendlichen Alter an und für sich etwas Ungewöhn¬
liches und für die Umgebung des Verstorbenen auffallend ist und
verschiedene Vermutungen auslöst, so sind es auch besonders die
äusseren Umstände und die alarmierende Art eines Erstickungstodes,
welche eine polizeiliche Anzeige verursachen, und welche eine gericht¬
liche Untersuchung nötig machen. Ein anderer Teil der Fälle be¬
trifft Individuen, die anscheinend in voller Gesundheit und Arbeits¬
fähigkeit während der Arbeit vom Tode überrascht wurden. Hier
sind es hauptsächlich Entschädigungsansprüche der Angehörigen, die
einen Unfall als Ursache des Todes heranziehen wollen, und eine
genaue Untersuchung des Falles erheischen. Wir sehen also, dass
gerade die Todesfälle durch Erstickung Anlass geben zu strafrecht¬
lichen und zivilrechtlichen Untersuchungen und daher gleichsam auf
der Grenze stehen zwischen den Fällen des natürlichen plötzlichen
Todes und einer gewaltsamen Todesart. Die richtige Entscheidung
in einem einschlägigen Falle kann nur durch eine genau durch-
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Beitrag zur Kenntnis plötzlicher Todesfälle durch Erstickung. 101
geführte Sektion getroffen werden. Ich mache hier nochmals auf die
Bedeutungen .der bakteriologischen Untersuchung aufmerksam, durch
welche allein in einzelnen Fällen eine Erklärung für den plötzlichen
Tod erhalten werden kann. Besonders bei fraglichen Unfallssektionen
ist die bakteriologische Untersuchung in zweifelhaften Fällen heran¬
zuziehen, will man den modernen Anforderungen der Unfallgesetz¬
gebung gerecht werden. Fall 6 bietet ein Beispiel für diese Ver¬
hältnisse. Die ihm angefügten Fälle von plötzlichem Tod bei krypto¬
genetischer oder dem Kranken unbewusster Sepsis zeigen ebenfalls
den Wert der bakteriologischen Untersuchung bei Sektionen mit un¬
genügendem anatomischen Ergebnis.
Literaturverzeichnis.
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Vierteljahrssohr. f. gerichtl. Med. 1910. Bd. 34. — 3) Hanhart, Ueber die
amtliche Totenschau, Diss. Zürich 1916. — 4) Richter, Gerichtsärztliche Technik
and Diagnostik. Leipzig 1905. — 5) Kolisko, Tod aas natürlicher Ursache, in
Handb. d. ärztl. Sachverständigen-Tätigkeit, herausgegeb. von Dittrich. Bd. 2. —
6) Hofmann-Haberda, Lehrb. d. gerichtl. Med. 1919. — 7) Schmidtmann,
Handb. d. gerichtl. Med. Bd. 1. — 8) Strassmann, Lehrb. d. gerichtl. Med.
Bd. 4. — 9) Kassirer, Die vasomotorisch-trophischen Neurosen, Monographie.
Berlin 1912. — 10) Port, Münch, med. Wochenschr. 1917. S. 384. — 11) Ten-
deloo, Lehrb. d. allgem. Path. 1919. S. 678. — 12) Ewald, Realenzyklopädie.
Bd. 14. — 13) Knttner, Berl. klin. Woohenschr. 1895. S. 142. — 14) Reichard,
Deutsobe med. Wochenschr. 1910. S. 327. — 15) Czylharz, Aroh. f. Ver-
danungskrankh. 1912. Bd. 18. — 16) Fritsohe, Berl. klin. Wochenschr. 1919.
Nr. 32. — 17) Wiemann, Monatssohr. f. Unfallheilk. 1900. Nr. 3.
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VII.
Aas dem Forschungsinstitute für Gewerbe- und Unfallkrankheiten in
Dortmund (Direktor: Prof. Dr. Herrn. Schridde).
Untersuchungen über die FäulnisyerSnderungen
der menschlichen Lungen.
Von
Herbert Olivecrona (Upsala),
ehemaligem Assistenten am Institut.
Für denjenigen, der in die Lage kommt, an mehr oder minder
verwesten Leichen eine Obduktion vorzunehmen, bereitet es oft grosse
Schwierigkeiten oder erscheint oft ganz unmöglich, eine bestimmte
Entscheidung darüber zu treffen, ob und welche Veränderungen an den
Lungen bestanden haben, insbesondere ob eine Lungenentzündung vor¬
handen gewesen ist oder nicht. Ja, man kann nach den heute vor¬
liegenden Erfahrungen nicht einmal mit irgend welcher Sicherheit sagen,
ob eine normale Lunge vorliegt, wenn die Fäulnis weit vorgeschritten
ist. Das im Dortmunder Institut zur Untersuchung kommende reiche
Material, das sich auf viele Leichen, die nach der oft lange Zeit nach
dem Tode vorgenommenen Ausgrabung zur Obduktion kommen, bezieht,
hat Prof. Dr. Schridde bezüglich dieser Frage schon seit Jahren
geprüft. Um zu sicheren Grundlagen zu kommen, habe ich auf seine
Anregung hin die im folgenden zu schildernden Untersuchungen vor¬
genommen.
Soweit ich die Literatur übersehe, bestehen über diesen Gegen¬
stand, soweit es Kinder und Erwachsene betrifft, keine Angaben. Nur
über die Lungen Neugeborener liegen, wie bekannt, Beobachtungen
vor, auf die ich hier nur kurz eingehe.
Nach den bisherigen Erfahrungen ist der Einfluss der Fäulnis auf
die Schwimmfähigkeit der Neugeborenen-Lungen, die sicher nicht ge¬
atmet haben, und bei Lungen, bei denen eine Atmung stattgefunden
hat, ein wesentlich verschiedener. Gemäss den Untersuchungen von
Bordas und Descourt, Ungar, Leubuscher, Rühs u. a. entstehen
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Untersuchungen über die Fäolnisveränderungen der menschlichen Lungen. 103
Fäulnisblasen nur bei Lungen, die geatmet haben, während bei Lungen
von Feten, die sicher nicht geatmet haben, auch bei hochgradiger
Fäulnis nur in Ausnahmefällen Gasbläschen zu finden sind. Aus diesen
Befunden schliesst Ungar, dem sich Rühs anschliesst, dass eine
reichliche Anhäufung von Fäulnisgasen im Gewebe jund unter der
Pleura, sowie eine positive Schwimmfähigkeit fauler Lungen für die
Annahme spricht, dass das Kind geatmet hat.
Die oben genannten Autoren verlegen im allgemeinen den Sitz
der Fäulnisgasbläschen vor allem unter die* Pleura sowie ins inter¬
stitielle Gewebe, während in den Alveolen niemals Gasbläschen vor¬
handen seien. Da diese Ansicht nicht durch mikroskopische Unter¬
suchungen gestützt wird, muss man sich hier skeptisch stellen, um so
mehr, als von Balthazard und Lebrun positive histologische Be¬
funde im entgegengesetzten Sinne vorliegen. Diese Autoren fanden
in faulen Neugeborenen-Lungen, die geatmet haben, eine Fäulnis¬
gasbildung in den Alveolen mit Zerreissung der Septen und Kom¬
pression des Stützgewebes, während dagegen in Lungen, die nicht
geatmet haben, die Fäulnisgase sich im interstitiellen Gewebe ent¬
wickeln.
Die im Nachstehenden zu schildernden Untersuchungen beziehen
sich, wie gesagt, nur auf Lungen Erwachsener. Es wurden unter¬
sucht: 1. Normale Lungen. 2. Lungen mit fibrinöser Pneumonie.
3. Atelektatische Lungen.
Die Lungen wurden nach der Sektion in verschliessbaren Glas-
gefässen aufgehoben und gewöhnlich zweimal in der Woche wieder
untersucht, wobei jedesmal auch die Schwimmfähigkeit herausge¬
schnittener Stücke geprüft wurde. Es wurden die Stücke immer aus
demselben Lungenabschnitt ausgeschnitten. Die Lungen wurden 3 bis
€ Wochen bei einer Wärme von 6—8° C aufbewahrt. Die zur
Schwimmprobe verwendeten Stücke wurden dann in lOproz. Formalin
fixiert, in Paraffin eingebettet und mikroskopisch untersucht. Die
Schnitte wurden mit Hämatoxylin-Eosin gefärbt. Bei den pneumoni¬
schen Lungen kam ausserdem die Weigertsche Fibrinmethode zur
Anwendung, diese letztere, um festzustellen, wie lange sich das Fibrin
bei faulenden Lungeir erhält. Denn wenn sich erweisen lässt, dass
das Fibrin bei der Fäulnis pneumonischer Lungen nach einer be¬
stimmten Zeit schwindet, so wird also das Fehlen von Fibrin in einer
Lunge, die erst nach Ablauf dieser Zeit zur Untersuchung kommt,
nicht gegen die Diagnose fibrinöse Pneumonie sprechen.
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104
Herbert Olivecrona,
Selbstverständlich kann gegen die angewandte Methodik einge¬
wendet werden, dass sie nicht den natürlichen Verhältnissen entspricht,
und dass bei Lungen, die in der Leiche faulen, die Verhältnisse viel¬
leicht etwas anders liegen können. Abgesehen davon, dass es kaum
möglich wäre, eine solche Untersuchung unter den natürlichen ent¬
sprechenden Bedingungen durchzuführen, glaube ich jedoch, wie ich
weiter unten ausgeführt habe, dass die Abweichungen von den natür¬
lichen Verhältnissen, die durch die angewandte Methodik bedingt sind,
kaum das Resultat wesentlich beeinflussen. Ausserdem zeigte sich
eine vollkommene Uebereinstimmung mit den Befunden, die Prof.
Schridde an den Lungen von Leichen, die mehr oder minder stark
in Verwesung begriffen waren, gewonnen hat.
Ich lasse nun die Untersuchungen im einzelnen folgen.
A. Normale Lungen.
Fall l. Rechte Lunge. E.-Nr. 1282.
Makroskopischer Befund am 2. Tage naoh dem Tode: Sehr blass. Geringe
Anthrakose des oberen und mittleren Lappens. Ueber die Schnittfläche des Unter¬
lappens quillt hellgraue, schaumige Flüssigkeit. Herausgesohnittene Stücke aus
sämtlichen Lappen schwimmen in Wasser. Zur mikroskopischen Untersuchung
wurden Stücke des Unterlappens verwandt.
Mikroskopischer Befund: Zahlreiche Alveolen von Fäulnisgasen ausgedehnt.
An einer Stelle die Alveolen mit roten Blutkörperchen gefüllt. An einzelnen
Stellen die Alveolen atelektatisch.
Befund am 5. Tage: Geringe Fäulnis. Schnittfläohe dunkelrot. Her&usge-
schnittene Stücke schwimmen in Wasser.
Mikroskopischer Befund: Zahlreiche Alveolen durch Fäulnisgase ausgedehnt.
Gute Kernfärbung.
Befund am 9. Tage: Mässig fortgeschrittene Fäulnis. Schnittfläohe schwärz¬
lichrot. Herausgeschnittene Stücke sinken in Wasser unter.
Mikroskopischer Befund: Das untersuchte Stück (dasselbe, mit dem die
Schwimmprobe gemaoht wurde) zeigte die Alveolen grösstenteils mit roten Blut¬
körperchen ausgefüllt. Es waren hier sehr wenige Fäulnisgasbläschen zu finden.
In den Alveolen kein Fibrin.
Befund am 15. Tage: Ziemlich starke Fäulnis. Schnittfläche schwärzlich-
grünlich. Substanz sehr weich. Herausgeschnittene Stücke schwimmen in Wasser.
Mikroskopischer Befund: Keine Kernfärbung. Starkes Fäulnisemphysem.
Befund am 22. Tage: Starke Fäulnis. Schnittfläche schwärzlich-grünlich.
Substanz fast matschig. Herausgesohnittene Stücke schwimmen in Wasser.
Mikroskopischer Befund: Die Fäulnisbläschen sind grösser geworden und
durch Zerreissung der Alveolenwände zu Gruppen zusammengeflossen. Auch in
den Interstitien und in den Gefässen Fäulnisgasbläschen.
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Untersuchungen über die Fäulnisveränderungen der menschlichen Lnngen. 105
Befand am 29. Tage: Sehr starke Fäulnis. Schnittfläche schwärzlich-
grünlioh. Substanz vollkommen matschig. Herausgeschnittene Stücke sohwmmen
in Wasser. ,
Mikroskopischer Befund: Derselbe Befund wie am 22. Tage.
Fall 2 . Linke Lunge. S.-Nr. 45.
Makroskopischer Befand am 3. Tage nach dem Tode: Stark gebläht. Ober¬
fläche glatt und spiegelnd. Nirgends Verdichtungen durchzufühlen. Ueber die
Schnittfläche des Unterlappens quillt auf Druck reichlich graurötliche, schaumige
Flüssigkeit. Herausgeschnittene Stüoke aus beiden Lappen sohwimmen in Wasser.
Zur weiteren Untersuchung werden Stücke aus dem Oberlappen verwandt.
Mikroskopischer Befund: Mässige Anthrakose. Die meisten Alveolen von
Fäulnisgasen- ausgedehnt.
Befand am 6 .Tage: Wenig Fäulnis. Schnittfläche dunkelrot und schwärzlich¬
rot. Herausgeschnittene Stücke schwimmen in Wasser.
Mikroskopischer Befund: Gate Kernfärbung. Fast alle Alveolen von Fäulnis¬
gasen ausgedehnt.
Befund am 9. Tage: Mässig fortgeschrittene Fäulnis. Schnittfläche schwärz¬
lichrot. Herausgesohnittene Stücke schwimmen in Wasser.
Mikroskopischer Befund: Keine Kernfärbung. Fast alle Alveolen von Fäulnis¬
gasen ausgedehnt.
Befand am 13. Tage: Makroskopisch und mikroskopisch derselbe Befand wie
am 9. Tage. Auoh in den Interstitien und in den Gefässen Fäulnisgasbläschen.
Befund am 14. Tage: Ziemlich starke Fäulnis. Schnittfläche sohwärzlioh-
rötlioh. Substanz sehr weich. Herausgesohnittene Stüoke schwimmen in Wasser.
Mikroskopisch derselbe Befund wie am 9. Tage.
Befund am 21. Tage: Starke Fäulnis. Schnittfläche schwärzlich-grünlich.
Substanz fast matschig. Herausgeschnittene Stücke schwimmen in Wasser.
Mikroskopischer Befund: Die Alveolen teilweise etwas zusammengesunken,
die meisten jedoch stark von Fäulnisgasen ausgedehnt, und die Septen vielfach
zerrissen, so dass grosse Blasen entstanden sind.
Befund am 28. Tage: Makroskopisch und mikroskopisch derselbe Befund wie
am 21. Tage.
Fall 3 . Rechte Lunge. S.-Nr. 79.
Makroskopischer Befund am 1. Tage nach dem Tode: Etwas gebläht. Ober¬
fläche glatt. Sämtliche Lappen fühlen sich lufthaltig an. Schnittfläche hellrot.
Herausgeschnittene Stücke aus sämtlichen Lappen schwimmen in Wasser.
Mikroskopispher Befund: Normales Lungengewebe. Keine Fäulnisgas¬
bläschen,
Befund am 4. Tage: Makroskopisch derselbe Befand frie am 1 . Tage.
Mikroskopischer Befund: Gute Kernfärbung. Viele Alveolen von Fäulnis¬
gasen ausgedehnt. In einigen Alveolen Oedem und auch in diesen Fäulnisgas¬
bläschen, sowie in den Gefässen und Interstitien.
Befund am 6 . Tage: Sehr wenig Fäulnis. Schnittfläche schwärzlich-rot.
Herausgeschnittene Stücke schwimmen in Wasser.
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106 Herbert Olivecrona,
Mikroskopischer Befand: Schlechte Kernfärbung. Sonst derselbe Befand wie
am 4.«Tage.
Befand am 8. Tage: Makroskopisch derselbe Befand wie am 6. Tage.
Mikroskopischer Befund: Schlechte Kernfarbung. Fast alle Alveolen durch
Fäulnisgase ausgedehnt and vielfach die Septen zerrissen.
Befand am 10. Tage: Makroskopisoh derselbe Befand wie am 6. Tage.
Mikroskopischer Befand: Keine Kernfärbang, sonst derselbe Befand wie am
8 . Tage.
Befand am 14. Tage: Mässig fortgeschrittene Fäulnis. Schnittfläche
schwärzlicbrot. Herausgeschnittene Stöcke schwimmen in Wasser.
Mikroskopisch: Derselbe Befand wie am 8. Tage.
Befand am 17. Tage: Ziemlich starke Fäulnis. Sohnittfläohe schwärzlichrot.
Heraasgeschnittene Stöcke schwimmen in Wasser.
Mikroskopisoh derselbe Befund wie am 8. Tage.
Befand am 22. Tage: Makroskopisch and mikroskopisch derselbe Befand
wie am 8. Tage.
Befand am 28. Tage: Starke Fäulnis. Schnittfläche sohwärzlich-grünlich.
Substanz sehr weich. Herausgeschnittene Stücke schwimmen in Wasser.
Mikroskopisch derselbe Befund wie vorher.
Befund am 39. Tage: Sehr starke Fäulnis. Sohnittfläche schwärzlich-grün¬
lich. Substanz fast matschig. Heraasgeschnittene Stücke schwimmen in Wasser.
Mikroskopischer Befund: Keine Kernfärbang. An einigen Stellen sind die
Alveolen etwas zusammengesanken, die meisten jedoch stark daroh Fäulnisgase
ausgedehnt, und grosse Gruppen Alveolen, deren Septen zerrissen sind, bilden
eine grosse Blase, die gewisse Aehnlichkeit mit den Bildern bei starkem Em¬
physem hat.
Fall 4. Linke Lunge. E.-Nr. 2557.
Makroskopischer Befand am 3. Tage naoh dem Tode: Besonders in den
unteren Partien deutlich gebläht. Oberfläohe überall glatt. Die Luftröhrenäste
zeigen eine sehr deutliche Längsstreifung. Sonst kein besonderer Befund. Heraas¬
geschnittene Stücke aus beiden Lappen schwimmen in Wasser. Zar weiteren
Untersuchung gelangten Stücke aus dem Unterlappen.
Mikroskopischer Befund: Mässige Russeinlagerung, sonst normale Lunge.
Ziemlich zahlreiche Alveolen durch Fäulnisgase ausgedehnt.
Befund am 7. Tage: Schnittfläche dankelrot. Heraasgeschnittene Stüoke
schwimmen in Wasser.
Mikroskopischer Befund: Die meisten Alveolen duroh Fäulnisgase mässig
ausgedehnt.
Befund am 10. Tage: Makroskopisch derselbe Befund wie.am 7. Tage.
Mikroskopischer Befand: Ziemlich gute Kernfärbung. Die Fäulnisgas¬
bläschen etwas grösser als am 7. Tage, and durch Zerreissang der Septen die
Alveolen vielfach zu grossen Blasen zusammengeflossen. Auch in den Gefässen
und Interstitien Fäulnisgasbläschen.
Befund am 13. Tage: Makroskopisoh dasselbe Bild wie am 10. and
7. Tage.
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.Untersuchungen über die Fäulnisveränderungen der menschlichen Lungen. 107
Mikroskopischer Befund: Keine Kernfärbung. Fast alle Alveolen durch
Fäulnisgase ausgedehnt. Grosse Gruppen von Alveolen, deren Septen zerrissen
sind, bilden eine grosse Blase. Das in den Gelassen und Alveolen befindliche
Fäulnisemphysem tritt sehr gegen das in den Alveolen vorhandene zurück.
Befund am 17. Tage: Schnittfläohe schmutzig sohwärzlichrot. Heraus-
gesohnittene Stücke schwimmen in Wasser.
Mikroskopisoh dasselbe Bild wie am 13. Tage.
Befund am 21. Tage: Makroskopisoh und mikroskopisch derselbe Befund wie
am 17. Tage.
Befund am 25. Tage: Schnittfläche schwärzliohrot. Substanz sehr weich.
Herausgeschnittene Stücke schwiinmen in Wasser.
Mikroskopischer Befund: Keine Kernfärbung. Die bei weitem meisten Al¬
veolen von Fäulnisgasen ausgedehnt. Ein Teil der Alveolen ist jedoch zusammen¬
gesunken.
Befund am 29. Tage: Starke Fäulnis. Schnittfläche schwärzlich-grünlich.
Substanz sehr weioh. Herausgeschnittene Stücke schwimmen, in Wasser.
Mikroskopisoh dasselbe Bild wie am 25. Tage.
Befund am 33. Tage: Makroskopisch derselbe Befund wie am 29. Tage.
Mikroskopischer Befund: Karne Kernfärbung. Die meisten Alveolen ziemlich
stark zusammengesunken, in anderen finden sich nooh reichlich Fäulnisblasen.
In sämtlichen untersuchten Fällen von 'normalen Lungen zeigte
sich also, dass die Fäulnis die Schwimmfähigkeit der Lungen nicht
beeinträchtigt. Nur in einem Fall (Fall 1) fiel die Schwimmprobe
negativ aus, was aber seine Erklärung darin findet, dass in dem
untersuchten Stücke die Alveolen fast ganz von roten Blutkörperchen
ausgefüllt waren. In sämtlichen Fällen wurde eine starke Entwicklung
von Fäulnisgasbläschen beobachtet, die entsprechend den Erfahrungen
Balthazards und Lebruns an Lungen, die geatmet haben, haupt¬
sächlich in den Alveolen steckten und vielfach durch ihre starke
Eutwicklung zur Zerreissung der Septen führten, so dass an manchen
Stellen an starkes Emphysem erinnernde Bilder entstehen. Doch
wurde auch in den Interstitien eine deutliche Entwicklung von Fäulnis¬
blasen beobachtet. Bei weit fortgeschrittener Fäulnis wurde das
Fäulnisemphysem deutlich geringer, was wohl durch Auspressen der
Gasbläschen durch die Schwere des zusammensinkenden Gewebes be¬
dingt ist. Immerhin überwog auch nach 6 wöchiger Fäulnis (Fall 3)
die Zahl der durch Fäulnisgase ausgedehnten Alveolen diejenige der
zusammengesunkenen ganz erheblich. Es dürfte wohl daher sehr
wahrscheinlich sein, dass normale Lungen, solange überhaupt
ein geweblicher Zusammenhang noch besteht, ihre Schwimm¬
fähigkeit durch die Fäulnis nicht verlieren.
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108
Herbert Olivecrona,
B. Pneumonische Lungen.
Fall 5 . S.-Nr. 28. Linke Lange. Fibrinöse Pneumonie. (Rote Hepatisation.)
Makroskopischer Befand am 2. Tage nach dem Tode. Die Lunge ist auf¬
fallend gross. Die Oberfläche von massig reiohlich festhaftenden Bindegewebs*
fetzen sowie von dicken, matten, graugelbliohen, leicht abstreifbaren Auflagerungen
bedeckt. Die Lunge fühlt sich leberartig fest an. Die Schnittfläohe sehr feucht,
von schmutzig grauroter Farbe, fein gekörnt. Herausgeschnittene Stücke sinken in
Wasser unter.
Mikroskopischer Befand: Die Alveolen mit Leukozyten und sehr reichlich
Fibrin ausgefüllt. Vereinzelte Fäulnisgasbläsoheh.
Befund am 6 . Tage: Schnittfläche schmutzig graurot. Herausgeschnittene
Stücke sinken in Wasser.
Mikroskopischer Befund: Gute Kernfärbung. Reichlich Fibrin. Im Schnitt
keine Fäulnisgasbläschen.
Befund am 11 . Tage: Schnittfläche schmutzig graurot. Substanz ziemlich
weich. Herausgeschnittene Stücke schwimmen in Wasser.
Mikroskopischer Befund: Ziemlich schlechte Kernfärbung. Struktur der
Alveolen noch gut erhalten. In ziemlich zahlreichen Alveolen reichlich Fibrin.
Wenige Fäulnisgasbläschen, die hauptsächlich in den Gefässen und Interstitien
liegen.
Befund am 18. Tage: Lunge sehr faul. Schnittfläohe schmutzig gelblich¬
rötlich. Substanz sehr weich. Herausgeschnittene Stücke sinken in Wasser unter.
Mikroskopischer Befund: Keine Kernfärbung. Die Alveolen zum Teil nicht
gegeneinander abgrenzbar. Das Fibrin grösstenteils geschwunden, nur in ganz
vereinzelten Alveolen findet sich noch Fibrin. Wenige Fäulnisgasbläsohen.
Befund am 24. Tage: Sehr starke Fäulnis. Substanz fast vollkommen
matsohig. Schnittfläche schwärzlich-grünlich. Herausgeschnittene Stücke sinken
in Wasser unter.
Mikroskopischer Befand: Keine Kernfärbung. Das Fibrin vollkommen ge¬
schwunden. Wenige Fäulnisgasbläschen. Die zelligen Massen in den Alveolen
noch deutlich zu erkennen, so dass die Diagnose Pneumonie sich einwandfrei
stellen lässt.
Fall 6 . E.-Nr. 1884. Fibrinöse Pneumonie der reohten Lunge. Graue Hepa¬
tisation.
Makroskopischer Befund am 3. Tage nach dem Tode: Lunge auffallend gross,
sich in sämtlichen Lappen leberartig fest anfühlend. An der Spitze in massiger
Ausdehnung festhaftende Bindegewebsfetzen. Ausserdem an der Vorderfläche des
Oberlappens dicke, gelbliche, abstreifbare Ablagerungen. Sonst Ober- und Unter¬
lappen in ganzer Ausdehnung mit matten, abziehbaren Belägen bedeckt. Die
Sohnittfläche sämtlicher Lappen fein gekörnt, im Oberlappen gelblichgrau, im
Mittellappen und unteren Teil des Unterlappens gelblichrot gefärbt. Heraus¬
geschnittene Stücke aus sämtlichen Lappen sinken in Wasser unter. Zur weiteren
Untersuchung wurden Stücke aus dem Oberlappen benutzt.
Mikroskopischer Befund: In den Alveolen Fibrinnetze mit sehr reichlich
Leukozyten. Keine Fäulnisgasbläschen.
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Untersuchungen über die Fäulnisveränderungen der menschlichen Lungen. 109
Befund am 6 . Tage: Ziemlich wenig Fäulnis. Schnittfläche grünlich-grau.
Herausgeschnittene Stücke sinken in Wasser unter.
Mikroskopischer Befund: Alveolen mit Leukozyten und Fibrinnetzen gefüllt.
In den Intersti.tien ganz vereinzelte Gasbläschen.
Befand am 10. Tage: Makroskopisch derselbe Befund wie am 6 . Tage. Her-
ausgeschnittene Stücke sinken in Wasser unter.
Mikroskopischer Befund: Ziemlioh schlechte Kernfärbung. In den Alveolen
zahlreiche Leukozyten und reichlich Fibrin. Im Schnitt in mässiger Zahl Gas-
bläsohen vorhanden, die hauptsächlich in den Gelassen und Jnterstitien, zum Teil
auoh in den Alveolen liegen.
Befund am 14. Tage: Ziemlich starke Fäulnis. Schnittfläche schmutzig röt-
licbgrau. Herausgeschnittene Stüoke sinken teils, teils schwimmen sie in Wasser.
Mikroskopischer Befand: Sehr sohlechte Kernfärbung. Die Alveolen mit
zahlreichen Leukozyten und sehr reichlich Fibrin gefüllt. Im Schnitt Fäulnisgas¬
bläschen in ziemlich geringer Zahl vorhanden.
Befand am 18. Tage: Makroskopisch derselbe Befund wie am 14. Tage.
Stücke sinken in Wasser unter.
Mikroskopischer Befund: Keine Kernfärbung. Die Alveolen zum Teil nicht
mehr deutlioh gegeneinander abgegrenzt, und ein Teil der Alveolen ist ziemlich
stark zusammengesunken. Auch an Weigert-Präparaten ist kein Fibrin mehr
nachweisbar. Im Schnitt massig reichliche Gasbläschen, die auf Interstitien und
Alveolen ziemlich gleichmässig verteilt sind.
Befand am 21 ..Tage: Starke Fäulnis. Schnittfläche schmutzig grünlich-grau.
Substanz sehr weich. Herausgeschnittene Stücke sinken in Wasser unter.
Mikroskopischer Befund: Keine Kernfärbung. Die Alreolenstruktur zum Teil
noch erhalten. Kein Fibrin nachweisbar. Sehr wenige Gasbläschen.
Befund am 25. Tage: Sowohl makroskopisch wie mikroskopisch derselbe Be*
fund wie am 21. Tage.
Befand am 28. Tage: Makroskopisch derselbe Befund wie am 21. Tage.
Mikroskopischer Befund: Keine Kernfärbung. Kein Fibrin nachweisbar. Ver¬
einzelte grosse Gasbläschen im Schnitt.
Befand am 31. Tage. Sehr starke Fäulnis. Schnittfläohe schmutzig grün¬
lich-schwärzlich. Substanz fast matschig. Herausgeschnittene Stücke sinken in
Wasser unter.
Mikroskopischer Befund: Keine Kernfärbung. Die Alveolen ziemlich stark
zusammengesunken. Kein Fibrin nachweisbar. Vereinzelte Gasbläschen.
Befund am 35. Tage: Makroskopisch und mikroskopisch derselbe Befand wie
am 31. Tage. In den Alveolen dichte zeitige Massen deutlich zu erkennen, so dass
die Diagnose Pneumonie ohne weiteres klar ist. Auch bei allen vorhergehenden
Untersuchungen war dieser Befund stets zu erheben.
Fall 7 . E.-Nr. 2147. Fibrinöse Pneumonie des rechten Unterlappens. Rote
Hepatisation.
Makroskopischer Befund am 3. Tage nach dem Tode: An derOberfläche des
Unterlappens, der sich leberartig fest anfühlt, leioht abstreifbare, matte Auflage¬
rungen. Die Schnittfläche des Unterlappens sehr feucht, graurot und dunkelrot
gefleokt, feinkörnig. Herausgesohnittene Stücke sinken in Wasser unter. Ober-
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110 Herbert Olivecrona,
fläche des Ober« and Mittellappens glatt. Diese Lappen überall lufthaltig and ohne
Befand.
Mikroskopischer Befund: Die Alveolen äasgefällt mit dichten Fibrinnetzen,
in denen sich bald weniger reichlich, bald sehr reichlich Leukozyten befinden. In
Alveolen, die weniger Leukozyten enthalten, auch rote Blutkörperchen.
Befund am 7. Tage: Wenig Fäulnis. Schnittfläche schmutzig dunkelrot.
Substanz ziemlich weich. Herausgesohnittene Stücke schwimmen in Wasser.
Mikroskopisoher Befund: In den meisten Alveolen reichlioh Fibrin. Im
Schnitt roässig zahlreiche, meist nur kleine Gasbläschen, die ziemlich gleichmässig
auf Alveolen und Interstitien verteilt sind.
Befund am 10. Tage: Mässige Fäulnis. Schnittfläche sohmutzig schwärzlich¬
rot. Substanz ziemlioh weich. Herausgeschnittene Stücke sinken in Wasser unter.
Mikroskopischer Befund: Die Alveolen mit bald wenigen, bald sehr zahl¬
reichen Leukozyten ausgefüllt und gewöhnlich mässig reichlich Fibrin. Wenige
Gasbläschen, hauptsächlich in den Alveolen liegend.
Befand am 13. Tage: Makroskopisch derselbe Befund wie am 10. Tage.
Mikroskopisoher Befand: Schlechte Kernfärbnng, sonst derselbe Befand wie
am 10. Tage.
Befund am 16. Tage: Ziemlich starke Fäulnis. Sohnittfläche schmutzig
schwärzlich-rot. Herausgeschnittene Stüoke sinken in Wasser unter.
Mikroskopischer Befund: Sehr schlechte Kernfärbung. Die Alveolen zum
Teil nicht deutlich gegeneinander abgrenzbar. Nur in vereinzelten Alveolen Fibrin
nachweisbar. Im Schnitt vereinzelte Gasbläschen, die hauptsächlich in den Alveolen
liegen.
Befund am 19. Tage: Starke Fäulnis. Schnittfläche schmutzig schwärzlich-
rot. Substanz sehr weich.
Mikroskopischer Befund: Keine Kernfärbung. Im Schnitt vereinzelte Gas¬
bläschen, hauptsächlich in den Alveolen liegend. In diesem Schnitt enthielten
zahlreiche Alveolen ziemlich reichlich Fibrin.
Befund am 21. Tage: Makroskopisch derselbe Befand wie am-19. Tage.
Mikroskopischer Befund: Keine Kernfärbnng. Die Alveolen meistens noch
gegeneinander abgrenzbar. An Weigert-Präparaten sieht man noch in zahlreichen
Alveolen Fibrinnetze. Im Schnitt vereinzelte Gasbläsohen, auf Interstitien und
Alveolen ziemlich gleichmässig verteilt.
Befund am 25. Tage: Makroskopisch derselbe Befund wie am 19. und
21. Tage.
Mikroskopisoher Befund: An Weigert-Präparaten ist in zahlreichen Alveolen
Fibrin nachweisbar. Vereinzelte Gasbläschen, hauptsächlich in den Alveolen
liegend.
Befund am 27. Tage: Starke fäulnis. Schnittfläche schmutzig schwärzlich-
rot. Substanz sehr weich. Herausgeschnittene Stüoke sinken in Wasser unter.
Mikroskopischer Befund: Derselbe Befund wie am 25. Tage.
Befand am 33. Tage: Sehr starke Fäulnis. Schnittfläche schwärzlich-rot.
Substanz matschig. Herausgeschnittene Stücke sinken in Wasser unter.
Mikroskopischer Befund: Keine Kernfärbung. Die Alveolen zum Teil nicht
gegeneinander abgrenzbar. ln vereinzelten Alveolen Fibrin nachweisbar. Im
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Untersuchungen über die Fäulnis Veränderungen der menschlichen Lungen. 111
Schnitt vereinzelte kleinere Gasbläschen, die auf Interstitien und Alveolen ziemlich
gleichmässig verteilt sind.
Befund am 39. Tage: Hochgradige Fäulnis. Schnittfläohe schwärzlich.
Substanz dick-breiig. Herausgeschnittene Stöcke sinken in Wasser unter.
Mikroskopischer Befund: Kein Fibrin nachweisbar. Sonst derselbe Befund
wie 'am 33. Tage. Die zelligen Massen in den Alveolen sind auch hier nooh sehr
deutlich erkennbar, ebenso in den Präparaten aus allen vorhergehenden Unter*
suchungs tagen.
Pall 8 . S.-Nr. 81. Linke Lunge. Fibrinöse Pneumonie.
Makroskopischer Befund am 3. Tage nach dem Tode: Sehr gross. Ober¬
fläche des Unterlappens von dioken, matten, graugelblichen, abstreifbaren Auf¬
lagerungen bedeckt. Schnittfläche sohmutzig-graurot, feingekörnt. Heraus¬
geschnittene Stücke sinken in Wasser unter.
Mikroskopischer Befund: Die Alveolen von wenig Fibrin, Leukozyten und
abgestossenen Alveolenepithelien ausgefüllt.
Befund am 5. Tage: In diesem Stöck dichtere Fibrinnetze, sonst makro¬
skopisch und mikroskopisch derselbe Befund wie vorher.
Befand am 8. Tage: Wenig Fäulnis. Schnittfläche schmutzig-graurötlich.
Herausgeschnittene Stücke sinken in Wasser unter.
Mikroskopischer Befund: Die Kernfärbung noch einigermassen gut. Die Alve¬
olen enthalten stellenweise dichte Fibrinnetze. Im Schnitt keine Fäalnisgasbläschen.
Befund am 11. Tage: Mässig fortgeschrittene Fäulnis. Schnittfläche schmutzig
rötlicbgrau. Heraasgeschnittene Stücke sinken in Wasser unter.
Mikroskopischer Befund: Kernfärbung wie am 8. Tage. In zahlreichen
Alveolen dichte Fibrinnetze, besonders in Alveolen, die wenige Leukozyten ent¬
halten, während dagegen in Alveolen, in denen sioh zahlreiche Leukozyten be¬
finden, wenig Fibrin vorhanden ist. Keine Fäulnisgasbläschen.
Befund am 15. Tage: Makroskopisch derselbe Befund wie am <11. Tage.
Mikroskopischer Befund: Etwas schlechtere Kernfärbung. Keine Gasbläschen.
Befund am 18. Tage: Ziemlich starke Fäulnis. Schnittfläche schwärzlich¬
rot. Substanz ziemlich weich. Herausgeschnittene Stücke sinken in Wasser unter.
Mikroskopischer Befund: Schlechte Kernfärbung. Die Alveolen noch gut
gegeneinander abgrenzbar. Nur noch in einzelnen Gruppen von Alveolen sind
Fibrinnetze vorhanden. Im Schnitt keine Gasbläschen.
Befund am 23.Tage: Starke Fäulnis. Schnittfläohe schwärzlich-rot. Substanz
sehr weich. Herausgeschnittene Stücke sinken in Wasser unter.
Mikroskopischer Befund: Keine Kernfarbung. Die Alveolen zum Teil nicht
mehr deutlich gegeneinander abgrenzbar. Nur in einzelnen Alveolen Fibrin nach¬
weisbar. Im Schnitt einzelne kleine Gasbläschen, die durch eine glatte, scharfe
Linie gegen die umgebenden Zellmassen abgegrenzt sind und sowohl in den
Alveolen wie in Gefässen und Interstitien liegen.
Befund am 29. Tage: Sehr starke Fäulnis. Schnittfläohe schwärzlichrot.
Substanz fast matschig. Herausgescbnittene Stücke sinken in Wasser unter.
Mikroskopischer Befund: Keine Kernfarbung. In diesen Schnitten sind in
fast allen Alveolen die Fibrinnetze gut gefärbt. Das Fibrin auch in Hämatoxylin-
Eosinpräparaten gut erkennbar. Im Schnitt vereinzelte kleine Gasbläscben.
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Befand am 39. Tage: Hochgradige Fäulnis. Schnittfläche schwärzlich-grün¬
lich. Substanz fast vollkommen matschig. Herausgeschnittene Stöcke sinken in
Wasser unter.
Mikroskopischer Befand: Kein Fibrin mehr nachweisbar. An Hämatoxylin-
Eosinschnitten in den Alveolen dichte zeitige Massen deutlich erkennbar. Auch
bei dieser Färbung keine Fibrinfäden mehr feststellbar. Vereinzelte Fäulnisgas¬
bläschen, hauptsächlich in den Gefässen und Interstitien liegend.
Fall 9 . S.-Nr. 81. Rechte Lunge. Fibrinöse Pneumonie. Graue' He*
pätisation.
Makroskopischer Bofund am 3. Tage nach dem Tode: Sehr gross. An der
Oberfläche des Unterlappens dicke, abstreifbare, graugelbliche Auflagerungen.
Der Unterlappen fühlt sich leberartig fest an. Die Schnittfläche graugelblich und
rötlichgrau. Herausgeschnittene Stücke sinken in Wasser unter.
Mikroskopischer Befund: Die Alveolen von sehr zahlreichen Leukozyten und
Fibrinnetzen ausgefüllt, die besonders dicht sind in Alveolen, die nur wenige
Leukozyten enthalten. Keine Gasbläschen.
Befund am 3. Tage: Makroskopisch -und mikroskopisch derselbe Befund wie
vorher.
Befund am 6 . Tage: Wenig Fäulnis. Sohnittfläche graurötlioh. Heraus¬
geschnittene Stüoke sinken in Wasser unter.
Mikroskopisoher Befund: Kernfärbung noch ziemlich gut. In zahlreichen
Alveolen dichte Fibrinnetze. Vereinzelte kleine Gasbläschen, die auf Alveolen
und Interstitien ziemlich gleichmässig verteilt sind.
Befund am 9. Tage: Mässig fortgeschrittene Fäulnis. Schnittfläche rötlich¬
grau bis schwärzliohrot. Herausgeschnittene Stücke sinken in Wasser unter.
Mikroskopischer Befand: Schlechte Kernfärbung. In einigen Alveolen, haupt¬
sächlich in solchen, die wenige Leukozyten enthalten, reiohlich Fibrin. Im Schnitt
vereinzelte Gasbläschen, hauptsächlich in den Gefässen und Interstitien liegend.
Befund am 13.Tage: Makroskopisch und mikroskopisch derselbe Befund wie
am 9. Tage.
Befund am 16. Tage: Makroskopisch derselbe Befund wie am 9. und
13. Tage.
Mikroskopischer Befand: Keine Kernfärbung. Die Alveolen noch gut gegen¬
einander abgegrenzt. In ziemlich vielen Alveolen noch reichlioh Fibrin. Im
Schnitt einige kleinere und grössere Gasbläsohen, hauptsächlich in den Gefässen
und Insterstitien liegend.
Befund am 21.Tage: Starke Fäulnis. Schnittfläche scbwärzlichrot. Substanz
sehr weich. Herausgesohnittene Stücke sinken in Wasser unter.
Mikroskopischer Befand: Keine Kernfärbung. Kein Fibrin naohweisbar.
Im Schnitt vereinzelte Gasbläscben, die meistens in den Gefässen und Inter¬
stitien liegen.
Befund am 27. Tage: Sehr starke Fäulnis. Schnittfläche schwärzlichrot.
Substanz fast matschig. Herausgesohnittene Stücke sinken in Wasser unter.
Mikroskopischer Befand: Keine Kernfärbung. In einzelnen Alveolen ist in
diesem Sohnitt noch Fibrin vorhanden. Es finden sich in den zeitigen Massen in
den Alveolen reichlich, teilweise ziemlich lange, bei Weigert blau gefärbte
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Untersuchungen über die Fäulnisveränderungen der menschlichen Lungen. 113
Bakterienfäden, die nicht mit Fibrin verwechselt werden dürfen. Im Schnitt sehr
wenige Fäulnisgasbläschen, die meistens in den Gefässen und Interstitien liegen.
Befund am 37. Tage: Hochgradige Fäulnis. Schnittfläche schwärzlich-grün¬
lich. Substanz vollkommen matschig. Herausgescbnittene Stücke sinken in
Wasser unter.
Mikroskopischer Befund: Keine Kernfärbung. Kein Fibrin. Im Schnitt in
geringer Zahl kleine Fäulnisgasbläschen, die hauptsächlich in den Gelassen und
Interstitien liegen. Bei Hämatoxylin-Eosinfarbung sind wie an allen vorher¬
gehenden Tagen noch deutlich die 'heiligen Massen erkennbar, so dass ohne
weiteres die Diagnose Pneumonie gestellt werden kann.
Fall 10 und u. E.-Nr. 2556.
Makroskopischer Befund am 3. Tage nach dem Tode: Fibrinöse Pneumonie
der rechten Lunge mit roter Hepatisation des Oberlappens und teilweise auch des
Unterlappens, sowie grauer Hepatisation des Mittellappens und eines Teiles des
Unterlappens. Zur Untersuchung gelangten Stücke aus dem Oberlappen (O.-L.)
und aus dem Mittellappen (M.-L.). Die Lunge sehr gross. An der Oberfläohe
ausser festhaftenden Bindegewebsfetzen ziemlich dicke, abstreifbare, gelbliche
Beläge, besonders über dem Unterlappen. Sämtliche Lappen fühlen sioh leberartig
fest an. Die Schnittfläche des Oberlappens (Fall 10) ist fein gekörnt, graurot,
die des Mittellappens (Fall 11) zum grössten Teil mehr gelblich. Stücke aus beiden
Lappen sinken in Wasser unter.
Mikroskopischer Befund: Oberlappen: Die Alveolen von dichten Fibrinnetzen
und zahlreichen Leukozyten ausgefüllt.
Befund am 7. Tage: O.-L. Schnittfläohe schmutzig graurot. Substanz massig
fest. Herausgeschnittene Stücke schwimmen in Wasser.
Mikroskopischer Befund: ln den Alveolen reichlich Fibrin. Im Schnitt ziem¬
lich zahlreiche Fäulnisgasbläschen, die sowohl in den Gefässen und Interstitien
und hauptsächlich in diesen, wie in den Alveolen liegen.
M.-L. Schnittfläche graugelblich. Substanz mässig fest. Herausgeschnittene
Stücke schwimmen in Wasser.
Mikroskopischer Befund: In den Alveolen sehr reichlich Fibrin. Zahlreiche
kleinere und grössere Fäulnisgasbläsoben, die zum Teil auch in den Alveolen
liegen.
Befund am 10. Tage: Stücke aus dem Oberlappen*schwimmen, teils sinken
sie in Wasser unter. Sonst in beiden Lappen derselbe makroskopische und mikro¬
skopische Befuud wie am 7. Tage.
Befund am 13. Tage: O.-L. Schnittfläche schmutzig schwärzliohrot. Substanz
mässig fest. Herausgesohnittene Stücke schwimmen, teils sinken sie in Wasser unter.
Mikroskopischer Befund: Ziemlich gute Kernfärbung. In zahlreichen Al¬
veolen reichlich Fibrin. Fäulnisgasbläschen in geringer Zahl vorhanden.
M.-L. Schnittfläche grünlioh-gelblich. Substanz mässig fest. Herausge¬
schnittene Stücke schwimmen in Wasser.
Mikroskopischer Befund: Ziemlich gute Kernfärbung. in den meisten Al¬
veolen reichlich Fibrin. Ziemlich zahlreiche Fäulnisgasbläschen, von denen die
meisten in den Alveolen liegen.
Befund am 17. Tage: Makroskopisch derselbe Befund wie am 13. Tage.
Vierieljahrsschrift f. ger. Med. u. öflF. San.-Wesen. 3. Folge. Bd. 00. H. 1. g
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Mikroskopischer Befand: Schlechte Kernfärbung. Sonst derselbe Befund
wie vorher.
Befand am 21.Tage: O.-L. Schnittfläche schmutzig sohwärzliohrot. Substanz
etwas weich. Heraasgeschnittene Stücke sohwimmen, teils sinken sie inWasser unter.
Mikroskopischer Befund: Keine Kernfärbung. In den meisten Alveolen
reichlioh Fibrin. Zahlreiche Gasbläschen, die meistens in den Interstitien und
Gefässen liegen.
M.-L. Schnittfläche rötlich-gelblich. Substanz- etwas weich. Qerausge-
schnittene Stücke schwimmen in Wasser.
Mikroskopischer Befund: Scbleohte Kernfärbung, ln fast allen Alveolen
reichlich Fibrin. Zahlreiche Gasbläschen, die hauptsächlich in denAlveolen liegen.
Befund am 25. Tage: Makroskopisch derselbe Befund wie am 21. Tage.
Mikroskopischer Befund': O.-L. Keine Kernfärbung. Ziemlich zahlreiche Al¬
veolen enthalten reichlich Fibrin. Gasbläsohen in geringer Zahl vorhanden. —
M.-L. Derselbe Befund wie im O.-L.
Befand am 29. Tage: O.-L. Starke Fäulnis. Schnittfläche sohwärzlich-
grünlich. Substanz sehr weich, Herausgeschnittene Stüoke sinken in Wasser unter.
Mikroskopischer Befund: Keine Kernfärbung. In vereinzelten Alveolen
Fibrin nachweisbar. Fäulnisgasbläsoben in Interstitien und Alveolen.
M.-L. Makroskopisch derselbe Befund wie im O.-L.
Mikroskopischer Befund:. Keine Kernfärbung. Die Alveolen zum Teil nicht
gegen einander abgrenzbar. Das Fibrin vollkommen geschwunden. Fäulnisgas-
bläschen in geringer Zahl vorhanden und meistens in Gefässen und Alveolen
liegend.
Befund am 34. Tage: O.-L. Sehr starke Fäulnis. Schnittfläche schwärzlich¬
grünlich. Substanz sehr weich. Herausgeschnittene Stücke sinken inWasser unter.
Mikroskopisch derselbe Befund wie am 29. Tage.
M.-L. Makro- und mikroskopisch derselbe Befund wie am 29. Tage, ln den
Alveolen sind die zeitigen Massen noch deutlich erkennbar.
Die Schwimroprobe bei pneumonischen Lungen zeigte also, dass,
wenn keine Fäulnis vorhanden war, die herausgeschnittenen Stücke
ausnahmslos untersanken. Weiter zeigte sich, dass in allen Fällen
mit Ausnahme der Fälle 8 und 9 während eines gewissen
Stadiums der Fäulnis die herausgeschnittenen Stücke wieder
schwimmfähig werden, um dann im fortgeschrittenen Stadium
der Fäulnis wieder unterzusinken. Da die Lungen nicht jeden
Tag untersucht wurden, lässt sich nicht exakt sagen, wann die Schwimm¬
fähigkeit wieder auftritt bzw. verschwindet. In drei Fällen waren die
herausgeschnittenen Stücko nach 7 Tagen wieder schwimmfähig (Fälle 7,
10 und 11), in einem Falle (Fall 6) nach 10 und in einem Falle
(Fall 5) nach 11 Tagen. Die Dauer der Schwimmfähigkeit scheint
innerhalb weiter Grenzen schwanken zu können. In drei Fällen wurden
nur bei einer Untersuchungsgelegenheit die herausgeschnittenen Stücke
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Untersuchungen über die Fäulnisveränderungen der menschlichen Lungen. 115
schwimmfähig gefunden, während in zwei Fällen während 21 Tagen
die Schwimmfähigkeit erhalten blieb.
Fibrin konnte noch nachgewiesen werden bei:
Fall 9 . . . nach 30 Tagen
„ 10 . . . „34 „
„11... „ 25 „
Das Fibrin scheint sich also während ziemlich wechselnder Zeit
erhalten zu können, da dieselbe zwischen 18 and 34 Tagen schwankt.
Da das Material za klein ist, um bestimmte Schlüsse über die hier
bestimmenden Ursachen zu ziehen, kann ich nur vermutungsweise
aussprechen, dass für die Dauer des Erhaltenseins des Fibrins wahr¬
scheinlich massgebend ist einmal die Lufttemperatur und zweitens das
Stadium der Pneumonie. Denn die beiden ersten Fälle, in denen das
Fibrin nur während 18 Tagen nachweisbar war, wurden während der
warmen Monate Juli und August aufgehoben, während die anderen
Fälle in den kühleren Herbstmonaten untersucht wurden. Weiter
scheint das Fibrin, was ja auch a priori wahrscheinlich ist, schneller
zu schwinden, wenn sich die Lungen in grauer Hepatisation befinden,
als wenn in roter. Besonders augenfällig ist dieses in den Fällen 10
und 11, wo 10 den Oberlappen (rote Hepatisation) und 11 den Mittel¬
lappen (graue Hepatisation) derselben Lunge darstellt, ln dem in
roter Hepatisation befindlichen Oberlappen war das Fibrin noch nach
34 Tagen nachweisbar, im Mittellappen nur nach 25 Tagen. Es muss
betont werden, dass in den späteren Stadien der Fäulnis es für ge¬
wöhnlich nur durch Fibrinfärbung gelingt, das Fibrin aufzufinden.
Denn das Fibrin schwindet nicht in allen Alveolen gleichzeitig, so
dass am Ende nur vereinzelte Alveolen fibrinhaltig sind, die dann nur
durch Fibrinfärbung auffindbar werden.* Man muss darauf achten,
dass man die bei Weigert*Färbung schön hervortretenden Fäulnis¬
stäbchen, die oft in langen, fadenähnlichen Ketten liegen, nicht mit
Fibrin verwechseln darf.
Die Entwicklung des Fäulnisemphysems blieb gewöhnlich weit
hinter der in normalen Lungen zurück. Meistens lagen die Fäulnis¬
gasbläschen hauptsächlich in den Interstitien oder in den Gefässen.
Doch konnte ich auch oft in den Alveolen sichere Fäulnisgasbläschen
nachweisen. Es war überhaupt die Lagerung der Fäulnisbläschen keine
regelmässige, da auch in derselben Lunge die meisten Fäulnisbläschen
bald in den Gefässen und Interstitien, bald in den Alveolen lagen.
8 *
Fall
5 . .
. nach 18
Tagen
11
6 . .
. „18
71
n
7 . .
. „32
J!
11
8 . .
„30
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Bemerkenswert ist weiter, dass in sämtlichen Fällen die
zelligen Massen in den Alveolen auch nach fünfwöchiger Auf¬
bewahrung deutlich erkennbar waren und somit auch nach so
langer Zeit sich die Diagnose Pneumonie ohne Zweifel feststellen lässt.
('. Atelektatische Lungen.
Fall 12 . S.-Nr. 109. Doppelseitiger Hydrothorax mit Kompression der
Lungen.
Makroskopischer Befund am 3. Tage nach dem Tode. Linke Lunge: Ober¬
fläche glatt. Die hinteren Absohnitte, • besonders des Unterlappens von blauroter
Farbe. Die Lunge fühlt sich zum grössten Teil lederartig an. Die Schnittfläche
dunkelrot, gibt bei Druck eine mit wenigen Bläschen vermischte Flüssigkeit ab.
Herausgeschnittene Stücke aus dem Oberlappen schwimmen, aus dem Unterlappen
sinken in Wasser unter. Die rechte Lunge zeigt genau denselben Befund.
Mikroskopischer Befund: Linke Lunge, Oberlappen (L.L.O.) Starke Atelek¬
tase. Dpoh ist ein Teil der Alveolen lufthaltig und ein Teil derselben durch
Fäulnisgase ausgedehnt. Auch in den Interstitien einige Fäulnisgasbläschen. —
Linke Lunge, Unterlappen (L.L. U.): Vollkommene Atelektase. Die Alveolen voll¬
ständig zusammengesunken. — Reohte Lunge, Oberlappen (R.L.O.): Massige
Atelektase. Die meisten Alveolen lufthaltig, ein Teil derselben durch Fäulnisgase
ausgedehnt, und enthalten ausserdem zahlreiche abgestossene Alveolarepithelien
und geringe Mengen Oedemflüssigkeit. — Reohte Lunge, Unterlappen (R.L.U.):
Derselbe Befund wie im linken Unterlappen.
Befund am 7. Tage: L.L.O. Schnittfläche dunkelrot. Herausgeschnittene
Stücke schwimmen in Wasser.
Mikroskopischer Befund: Gute Kernfärbung. Fast alle Alveolen durch
Fäulnisgase ausgedehnt, und durcIPZerreissung der Septen sind die Alveolen
teilweise zu grossen Blasen zusammengeflossen. Auch in den Gelassen und Inter-
stitien einige Fäulnisgasbläschen.
L.L.U.: Makroskopisch derselbe Befund wie bei der ersteh Untersuchung.
Mikroskopischer Befund: Ganz vereinzelte Fäulnisgasbläschen. Sonst der¬
selbe Befund wie bei der ersten Untersuchung.
R.L.O.: Derselbe Befund wie am linken Oberlappen.
Mikroskopischer Befund: Derselbe Befund wie bei der ersten Untersuchung.
R.L. U.: Makroskopisch derselbe Befund wie bei der ersten Untersuchung.
Mikroskopischer Befund: Etwas zahlreichere Fäulnisgasbläschen. Sonst der¬
selbe Befund wie im linken Unterlappen.
Befund am 11. Tage: Wenig Fäulnis. Sonst zeigen sämtliche Lappen beider
Lungen denselben makroskopischen Befund wie am 7. Tage.
Mikroskopischer Befund: L.L.O. Ziemlich gute Kernfärbung. Zahlreiche
Alveolen von Fäulnisgasen ausgedehnt, die meisten Alveolen jedoch zusammen-
gesunkon, luftleer. Auch in den Interstitien einige Gasbläschen.-— L.L.U.: Di«
Kernfärbung etwas schlechter, sonst derselbe Befund wie am 11.Tage. — R.L.O.:
Derselbe Befund wie im linken Oberlappen. — R.L.U.: Derselbe Befund wie im
linken Oberlappen.
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Untersuchungen über die Fäulnisveränderungen der menschlichen Lungen. 117
Befund am 15. Tage: Makroskopisch in sämtlichen Lappen derselbe Befund
wie am 11 . Tage.
Mikroskopischer Befund: Keine Kernfarbung, sonst in sämtlichen Lappen
derselbe Befund wie am 11. Tage.
Befund am 19. Tage: Mässig fortgeschrittene Fäulnis, sonst an sämtlichen
Lappen derselbe makroskopische Befund wie am 15. Tage.
Mikroskopischer Befund: L.L.O.: Keine Kernfärbung. Die meisten Alveolen
zusammengesunken, aber zahlreiche Alveolen von Fäulnisgasen ausgedehnt. Auch
in den Gefässen und Interstitien ziemlich reichlich Gasbläschen. — L.L.U.: Fast
alle Alveolen zusammengesunken. Im Sohnitt nur vereinzelte Fäulnisgasbläsohen,
die teils in den Alveolen, teils in den Gefässen und Interstitien liegen. —
R.L.O.: Das Fäulnisemphysem geringer als im linken Oberlappen, sonst derselbe
Befund. — R.L.U.:,Derselbe Befund wie im linken'Unterlappen.
Befund am 23.Tage: L.L.O. ziemlich starke Fäulnis. Sohnittfläche schwärz¬
lichrot. Herausgeschnittene Stücke sinken in Wasser unter.
Mikroskopischer Befund: Keine Kernfärbung. Fast alle Alveolen zusammen¬
gesunken. Nur vereinzelte Fäulnisgasbläsohen, die auf Alveolen und Interstitien
ziemlioh gleichmässig verteilt sind.
L.L.U.: Makroskopisoh und mikroskopisch derselbe Befund wie im Oberlappen.
R.L.O.: Ziemlich starke Fäulnis. Schnittfläche schwärzlichrot. Herausge¬
schnittene Stücke sinken in Wasser unter.
Mikroskopischer Befund: Fast alle Alveolen zusammengesunken. Fäulnis¬
gasbläschen in geringer Zahl vorhanden, sie finden sich in Gefässen und Inter¬
stitien sowie in den Alveolen in ungefähr gleicher Verteilung.
R.L.U.: Makroskopisch und mikroskopisch derselbe Befund wie im Oberlappen.
Befund am 28. Tage: In sämtlichen Lappen derselbe makroskopische und
mikroskopische Befund wie am 23. Tage.
Befund am 33. Tage: In'sämtlichen Lappen die Schnittfläche von schwärz-
licbroter Farbe. Substanz sehr weich. Herausgesohnittene Stücke sinken in Wasser.
Mikroskopischer Befund: Keine Kernfärbung. In sämtlichen Lappen nur
eine geringe Zahl von Fäulnisgasbläschen vorhanden, die sowohl in den Alveolen
wie in den Gefässen und Interstitien liegen.
Fall 13 . E.-Nr. 2824. Rechte Lunge. Hydrothorax mit Kompressions¬
atelektase des Unterlappens.
Makroskopischer Befund am 2. Tage nach dem Tode: An der Oberfläche des
Unterlappens sehr dicke, graugelbe Beläge, die sioh ziemlioh leicht ablösen lassen
und nach der Lunge zu sehr feucht und von rein gelber Farbe sind. Der untere
Teil des Unterlappens ist schlaff, lederartig. Herausgeschnittene Stücke sinken
in Wasser unter. Bei der weiteren Untersuchung wurden Stücke aus dem Unter¬
lappen benutzt.
Mikroskopischer Befund: Starke Atelektase. Die meisten Alveolen fast voll¬
kommen zusammengesunken. Vereinzelte Fäulnisgasbläschen sowohl in den
Alveolen wie in den Gefässen und Interstitien. An einigen Stellen sind die Alveolen
mit abgostossenen Alveolarepithelien gefüllt.
Befund am 6 . Tage: Makroskopisch derselbe Befund wie vorher.
Mikroskopischer Befund: Vereinzelte Fäulnisgasbläschen.
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Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
118
Herbert Olivecrona,
Befund am 10. Tage: Ziemlich starke Fäulnis. Schnittfläche schwirzlichrot.
Substanz ziemlich weich. Herausgeschnittene Stücke sinken in Wasser unter.
Mikroskopischer Befund: Schlechte Kernfärbung. Sonst derselbe Befund wie
am 6. Tage-
Befund am 15. Tage: Makroskopisch derselbe Befund wie am 6. Tage.
Mikroskopischer Befund: Keine Kernfärbung. Die Alveolen vollkommen zu¬
sammengesunken. Aeusserst geringes Fäulnisempbysem.
Befund am 20. Tage: Starke Fäulnis. Schwärzlich-grünlich. Substanz sehr
weich. Herausgeschnittene Stücke sinken in Wasser unter.
Mikroskopischer Befund: Keine Kernfärbung. Vereinzelte Fäulnisgasbläschen
sowohl in den Alveolen wie in den Gefässen und Interstitien.
Befund am 25. Tage: Makro- und mikroskopisch derselbe Befund wie am
20. Tage.
Die Untersuchung der fünf atelektatischen Lungenlappen zeigte also,
dass, wenn dieselben von Anfang an nicht schwimmfähig waren,
sich auch im weiteren Verlauf der Fäulnis keine Schwimm¬
fähigkeit einstellt. Es zeigte sich vielmehr, dass die Schwimmfähig¬
keit durch die Fäulnis in gegensätzlicher Beziehung beeinflusst wurde,
indem die beiden Oberlappen des Falles 12, die anfangs noch schwammen,
bei der weiteren Entwicklung der Fäulnis die Schwimmfähigkeit ver¬
loren. Wahrscheinlich wird dies wohl ebenso wie bei den eine Zeitlang
schwimmfähigen, pneumonischen Lungen darauf zurückzuführen sein,,
dass die Lunge bei der Fäulnis mehr und mehr zusammensinkt, und
dabei ein Teil der Fäulnisgase ausgedrückt wird. Zweifellos wird das
Entweichen der Gase durch die vorgenommene Sektion der Lunge
erleichtert, und man muss an die Möglichkeit denken, dass bei nicht
sezierten Lungen die Verhältnisse vielleicht anders liegen könnten.
Doch glaube ich kaum, dass die angelegten Sektionsschnitte von
wesentlicher Bedeutung sein können, denn ich habe wenigstens keinen
Unterschied in der Schwimmfähigkeit der Stücke, die aus der Nähe
der früher angelegten Schnittfläche herausgeschnitten waren, und
solchen, die dem Innern der Lunge entstammten, beobachten können
Die Fäulnisgasblächen fand ich sowohl in den Gefässen und
Interstitien wie in den Alveolen und zwar vorwiegend in den letzteren.
Dieses steht in einem gewissen Widerspruch mit den Befunden Bal-
thazards und Lebruns, die bei atelektatischen, fetalen Lungen
keine Gasbläschen in den Alveolen fanden, sondern nur in den Inter¬
stitien. Doch ist wohl das Material nicht direkt vergleichbar, und
weiter muss betont werden, dass bei grösseren Fäulnisgasblächen die
Frage, ob sie in oder ausserhalb der Alveolen liegen, nifeht immer
bestimmt zu beantworten ist.
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Untersuchungen über die Fäulnisveränderungen der menschlichen Lungen. 119
Wenn ich das Ergebnis der vorstehenden Untersuchungen
kurz zusammenfasse, so ergibt sich:
1. Normale schwimmfähige Lungen wurden durch die Fäulnis
in ihrer Schwimmfähigkeit nicht beeinträchtigt. Sie schwimmen stets.
Niemals habe ich ein Untersinken im Wasser beobachtet.
2. Bei der fibrinösen Pneumonie sinken die Lungen anfangs im
Wasser unter, aber sehr oft stellt sich während der Fäulnis eine
Periode ein, in der die herausgeschnittenen Stücke wieder schwimm¬
fähig werden. Diese Periode der Schwimmfähigkeit habe ich frühestens
nach 7, spätestens nach 11 Tagen ein treten sehen. Mit Wahrschein¬
lichkeit kann man also sagen, dass, wenn die Lungen überhaupt
wieder schwimmfähig wurden, dieses während der ersten 14 Tage
«intreffen wird. Die Dauer dieser schwimmfähigen Periode scheint
sehr wechseln zu können. Die längste Zeit, die ich beobachtet habe,
betrug 3 Wochen. Da in diesem Falle die Schwimmfähigkeit am
7. Tage vorhanden war, zeigt dieses also, dass, selbst wenn man die
Lungen einen Monat nach dem Tode schwimmfähig findet, dennoch
«ine Pneumonie bestehen kann, und man muss nach den obigen Be¬
funden sagen, dass die Schwimmprobe für die Diagnose der Pneu¬
monie keinen Wert besitzt.
3. Das Fibrin bei krupösen Pneumonien ist gewöhnlich ziemlich
lange nachweisbar, aber es schwindet stets nach einer gewissen Zeit.
Am frühesten habe ich das Schwinden des Fibrins nach 18, am
spätesten nach 34 Tagen beobachtet. Das Fibrin scheint früher zu
vergehen, wenn der Tod im Stadium der grauen Hepatisation er¬
folgte, als wenn bei roter Hepatisation. Jedoch lässt sich auch nach
Schwinden des Fibrins die Diagnose Pneumonie mit Sicherheit stellen,
indem die Leukozyten in den Alveolen auch in späten Stadien der
Fäulnis als eine zeitige Masse gut erkennbar sind. Auch nach
b Wochen, wo die Lungen ganz weich, vielleicht auch schwiramfähig
sind, und eine makroskopische Diagnose unmöglich ist, kann man
mikroskopisch die Diagnose Pneumonie noch mit Sicherheit feststellen.
4. Atelektatische Lungen, die von Anfang an in Wasser unter¬
sinken, wurden durch die Fäulnis nicht wieder schwimmfähig. Im
Gegenteil können zum grossen Teil atelektatische, aber im Anfang
noch schwimmfähige Lungen während der Fäulnis ihre Schwimmfähig¬
keit allmählig einbüssen.
Nach den obigen Befunden muss ich also sagen, dass, wenn die
herausgeschnittenen Lungenstücke in Wasser untersinken,
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-Jß%
120 Herbert Olivecrona, Fäulnisveränderungen der menschlichen Langen.
dieses für irgend eine pathologische Veränderung in der
Lunge spricht. Dagegen schliesst Schwimmfähigkeit der
Lungenstückchen nicht aus, dass pathologische Prozesse
vorliegen.
Auffallend muss es erscheinen, dass das Fäulnisemphysem sich
bei normalen Lungen viel stärker entwickelt als bei Pneumonien und
Atelektasen. Zum Teil mag dieses insofern eine Täuschung sein, in¬
dem es nur einer geringen Entwicklung von Fäulniserregern in den
Alveolen bedarf um die schon lufthaltigen Alveolen zu kreisrunden
Blasen auszudehnen. Aber der Unterschied ist so gross, dass meines
Erachtens noch andere Momente wirksam sein müssen. Welche anderen
Ursachen hier mitwirken, lässt sich natürlich nur vermuten. Man
könnte sich ja denken, dass bei den lufthaltigen Lungen auch aerobe
Bakterien die Fäulnisgase bilden helfen. Auch bei pneumonischen
Lungen ist die Entwicklung der Fäulnisgase in verschiedenen Fällen
eine sehr verschiedene, was man ebenfalls vielleicht- auf eine ver¬
schiedene Bakterienflora zurückführen könnte.
Literaturverzeichnis.
1) Balthazard u. Lebrun, Annales d’byg. publ. et de med. legale. 1906.
Zit. nach Rühs. — 2) Bordas u. Descourt, Annales d’byg. publ. et de mäd.
legale. 1893. Zit. nach Leubuscher. — 3) Leubuscber, Lungenfäulnis und
Sohwimmprobe. Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Med. 1904. Bd. 26.— 4) Rühs,
Ein Beitrag zur Fäulnis der Lungen Neugeborener. Vierteljahrssohr. f. gerichtl.
Med. 1908. Bd. 36.
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VIII.
Die forensische Bedeutung der Gehirnarterioskierose.
Von
Dr. med. W. Knape,
Kreisarzt in Johaonisbarg (Ostpr.).
Die Untersncbungen der letzten Jahrzehnte liessen das Augenmerk bei der
Forsohnng nach den anatomischen Grundlagen für die klinisohen Erscheinungen
der Erkrankung des Zentralnervensystems besonders auf Veränderungen zweierlei
Art richten. Es waren dies einerseits krankhafte Veränderungen der nervösen Sub¬
stanz selbst und andererseits solche des Gefässapparates des Nervensystems, ln
sehr vielen Erkrankungsformen finden sich die Veränderungen an den Gelassen
und an dem Organgewebe derartig kombiniert, dass die Entscheidung schwierig
ist, ob diese Veränderungen in einem Abhängigkeitsverhältnis zueinander stehen,
oder ob sie unabhängig von einander sich entwickeln. Eine von den wenigen Er¬
krankungen, wo diese Frage entschieden ist, ist die Hirnarteriosklerose, bei welcher
es gelungen ist, die Degeneration und den Zerfall der nervösen Substanz als Folge
der Biutgefässerkrankung zu erkennen. Es ist vor allen das Verdienst Alz¬
heimers (1) und Binswangers (2), klinisch und anatomisch das in seinen ver¬
schiedenen Entwicklungsformen so eigentümliche und vielgestaltige Krankheitsbild
der zerebralen Arteriosklerose unter den Erkrankungen des Zentralnervensystems
so scharf abgegrenzt zu haben, dass die ärztliche Feststellung mit genügender
Sicherheit möglich ist. Dieser Gewinn in der Lehre von den Störungen des Zentral¬
nervensystems muss auch das besondere Interesse des Gerichtsarztes in Anspruch
nehmen, insbesondere wegen des zeitlichen Auftretens dieser Erkrankung im Rück-
bildungsalter des Menschen. Während unsere Gesetze den mangelhaften und un¬
vollkommenen Funktionen des Nervensystems in der Entwicklungsperiode generell
Reohnung tragen und für die Jugendlichen Sonderbestimmungen enthalten, ent¬
behrt die Rückbildungsperiode dergleichen. Hier bleibt es die Aufgabe des Ge¬
richtsarztes, in jedem einzelnen Falle die nervösen Ausfallserscheinungen nach
ihrem Wesen und in ihrem Umfange festzustellen und durch sein Gutachten dem
Riohter eine gerechte Würdigung der infolge Krankheit minderwertigen Persön¬
lichkeit zu ermöglichen. Diese ärztiohe Begutachtung erfordert eine genaue Kennt¬
nis der Entstehung und des Verlaufs der Krankheit in ihren verschiedenen Formen
sowie ihres klinischen und anatomischen Nachweises, um die Persönlichkeit und
die Handlungen eines kranken Menschen in foro richtig einzuschätzen. Die Durch¬
sicht der Literatur, welohe im Gegensätze zu der ausserordentlichen Verbreitung
der Arteriosklerose nur eine auffallend kleine forensische Kasuistik bietet, wie auch
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122 W. Knape,
Beobachtungen, welche ich als Militärarzt während des Krieges machte, lassen es
mir erscheinen, dass die Erkennung und Bewertung des Krankheitsbildes der
Gehirnarteriosklerose noch nicht in der ärztlichen Gutachtertätigkeit die Rolle
spielt, welche ihr in Wirklichkeit zukommt. Sehr oft findet sich auf diesem Ge¬
biet die beginnende Gehirnarteriosklerose unter der Diagnose Neurasthenie. Mit
diesem ärztlichen Urteil wird man aber dem zu begutachtenden Zustand nicht
ganz gerecht, da im täglichen Leben, im Beruf und insbesondere tot Gericht eine
funktionelle, „nervöse“ Störung berechtigterweise eine wesentlich geringere Be¬
wertung findet als die Erscheinungen einer nachweisbaren organischen Gehirn-
erkrankung.
Die forensische Bedeutung der zerebralen Arteriosklerose erstreckt sich vor¬
nehmlich auf die beiden Fragen, in welchem Masse die Erkrankung in rechtlicher
Beziehung die Vollwertigkeit des Menschen beschränkt und ferner welche Bedeu¬
tung der Erkrankung beim Hinzutreten von äusseren schädigenden Einflüssen bei
der Beurteilung des entstandenen Schadens zuzumessen ist. Die Beantwortung
dieser für die gerichtsärztlicbe Tätigkeit wiohtigen Fragen erfordert, auf unsere
heutigen Anschauungen von der Entstehung der Arteriosklerose, insbesondere der¬
jenigen des Gehirns einzugehen, sowie die klinischen und anatomischen Ausdrucks¬
formen des Krankheitsverlaufs, sowie die Möglichkeit ihres diagnostischen Nach¬
weises zu erörtern.
Das vorzugsweise Auftreten der Arteriosklerose in dem mit dem fünften Jahr¬
zehnt einsetzenden Rückbildungsalter des Menschen und bei Individuen, deren
Leben von starken körperlichen oder geistigen Anstrengungen ausgefüllt ist, lässt
die Arteriosklerose fast allgemein als eine Abnutzungskrankheit ansehen. Rom¬
berg (3) spricht diesem Moment der Abnutzung sogar eine wesentliche Rolle für
die lokale Ausbreitung dieser degenerativen Gefässerkrankung mit den Worten zu,
dass ein jeder seine Arteriosklerose vorzugsweise in dem Gefässgebiet bekommt,
das er am meisten angestrengt hat. Die Erkrankung ist häufiger bei kräftigen,
schwer arbeitenden Männern zu finden als bei schwächlichen und bei Frauen; sie
entwickelt sich besonders früh an den Stellen des Gefässgebietes, wo sich die Ge-
fässe verzweigen, wie wir es bei den Sektionen häufig an der Teilungstelle der
Karotiden und am Ursprung der Interkostalarterien zu sehen pflegen und an
Stellen, wo Stenosen und Stauungen die Blutströmungen behindern. Die Eigen¬
tümlichkeit dieser lokalen Disposition weist zwingend auf einen Zusammenhang
mit einer Reibung des Blutstroms an der Gefässwand und mit der Höhe des Blut¬
drucks hin. Man nimmt daher an, dass die dadurch bedingte grössere funktionelle
Inanspruchnahme der Gefässwand anfangs zu einer kompensatorischen Verstärkung
der Wandbestandteile führt, dass dieser Verstärkung aber in der Erschöpfung der
-Gewebselemente ein Ziel gesetzt ist und ihre Zellen und Fasern der Degeneration
anheimfallen. Das elastische Gewebe büsst dabei allmählich seine spezifische
Eigenschaft ein, an seine Stelle tritt vermehrtes, aber minderwertiges Bindegewebe,
welches regressiven Veränderungen, der hyalinen Entartung, der Verfettung und
Verkalkung unterliegt. Diese Theorie, welche den Beginn des Prozesses von dem
elastischen Gewebe der Media ausgehen lässt, vertritt Thpma (4) und Aschoff (5).
Dagegen verlegt Kaufmann (6) den Beginn der Erkrankung in die Intima. Nach
ihm zeigt die Gefässinnenhaut physiologisch während des Lebens eine langsam zu*
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Die forensische Bedeutung der Gehirnarteriosklerose. 123
.nehmende Verdiokung und in dem Auftreten degenerativer Veränderungen offenbart
sie die Grenze ihres Anpassungsvermögens.
Nicht selten kommt die Arteriosklerose und auch diejenige der Gehirngefässe
aber bereits in jüngeren Jahren als dem eigentlichen Rüokbildungsalter des
Menschen zur Entwicklung. Alzheimer (1) erwähnt als besonderes Charakte¬
ristikum dieser frühzeitigen Arteriosklerose, dass sie häufig auf einzelne Gefäss-
gebiete beschränkt bleibt, in diesen aber besonders intensive Veränderungen bis
in die kleinen und kleinsten Gelasse bedingt. Von ursächlichen Momenten, welche
für das frühzeitige und intensive Auftreten genannt werden, ist unter anderen die
Heredität zu nennen. Ziehen (7), Binswanger (2), Alzheimer (1) sprechen
von einer Disposition mancher Familien und Moritz (8) zieht aus den Statistiken
der Lebensversioherungsanstalten den Schluss, dass die Hirnapoplexie häufig here¬
ditäre Belastung in der Familienanamnese hat, dass also die Vererbung der Dis-
' position zur arteriosklerotischen Erkrankung sich an das Organ hält. Von toxischen
Einflüssen wird der Syphilis eine grosse Bedeutung eingeräumt. Es ist zurzeit
noch eine offene Frage, ob es sich in diesen Fällen um eine typische Arterio¬
sklerose handelt oder um syphilitische Gelasserkrankungen, welche wir als solche
no<A nioht von den arteriosklerotischen zu unterscheiden gelernt haben. Von der Er¬
fahrung ausgehend, dass auoh andere Infektionskrankheiten häufig einen deletären
Einfluss auf den Verlauf einer bestehenden Arteriosklerose ausüben, ist es wahr¬
scheinlich, dass auoh anderen Bakterientoxinen eine Bedeutung für die Entstehung
der Arteriosklerose zukommt, der Diphtherie, Lungenentzündung, Malaria, dem
Typhus u. a. m. Häufig sieht man auch die frühzeitige Arteriosklerose nach Blei¬
vergiftung, bet Stoffwechselstörungen wie Gicht, Diabetes und chronischen Nieren¬
entzündungen. Klemperer(9) u.a. messen dem Tabakmissbrauch, Kräpelin(lO),
Alzheimer (1), Zingerle (LI) und Buohholz (12) dem Alkoholismus eine
wichtige ätiologische Bedeutung bei, während Hebold (13) einen kausalen Zu¬
sammenhang zwischen Trunksucht und Arteriosklerose leugnet, Kaufmann (6)
ihn noch nicht für erwiesen hält. Meine Beobachtungen während der Tätigkeit an
dem pathologisch-anatomischen Institut in Magdeburg, wo häufig bei der Obduktion
alter, arbeitsscheuer Trinker der gut erhaltene Zustand der Gefässe geradezu auf¬
fiel, soheinen mir diese Zweifel zu rechtfertigen./- 1
Mechanischen und psychischen Schädigungen wird nioht allein für Ver¬
schlimmerung, sondern auch für die Entstehung einer frühzeitigen Arteriosklerose
ein wichtiger Einfluss zugebilligt. So nahm Leers (14), Ferenscy (15),
Wolff (16), Mendel (17) einen kausalen Zusammenhang zwischen mechanischen
Traumen und Arterioskerose an. Genauer präzisiert Friedemann (18) die nach¬
teiligen Folgen einer Erschütterung des Gefässsystems als eine Schwäobung der
vasomotorischen Regulierung im Gehirn und als eine Störung der Ernährungs¬
verhältnisse und der Resistenzkraft der Gefässwände. Stern (19) glaubt, dass
die Entstehung arteriosklerotischer Veränderungen infolge von Gefässquetschung
bei Menschen noch nicht naebgewiesen ist, mithin Betrachtungen über die Art
eines solchen ursächlichen Zusammenhangs nur Hypothesen seien, jedoch zeigen
auch nach ihm die klinischen Erfahrungen besonders auf dem Gebiete der Unfall¬
medizin auf eine abnorme Beschleunigung in der Entwicklung der Arteriosklerose
als,Folge mechanischer und auch psyohischer Sohädigung hin. Dass psychische
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124
W. Knape,
Insalte, besonders schwere and häufig wiederkehrende Aufregungen und Gemüts¬
bewegungen von schädigendem Einfluss auf die Entwicklung einer Arteriosklerose
insbesondere im Gefassgebiet des Gehirns sind, ist eine bekannte ärztliche Er¬
fahrung und insbesondere bei der Unfallneurose beobachtet [Oppenheim (20),
Goldscheider (21), Leers (14), Watermann und Baum (22), Ferenscy (15),
Windsoheid (23)]. Albrecht(24) sah frühzeitiges Auftreten arteriosklerotischer
Veränderungen nach längeren und schweren Erregungszuständen des manisch-
depressiven Irreseins, Jaksch (25) als Folge der Neurasthenie.
Diese Beziehung zwischen Psyche und Zerebralarteriosklerose spiegelt siob
vielleicht in der sonst schwer verständlichen Beobachtung wieder, warum mitunter
aussohliesslich oder doch vorwiegend in manchen Fällen die Gehirnarterien allein
orkranken, während die Gefässe des Rumpfes und der Gliedmassen frei bleiben.
Binswanger (2) fand, dass in höchstens 50pCt. der Fälle eineUebereinstimmung
in der Sklerose des Hirns und der Körperarterien besteht. Die Annahme eines
Zusammenhangs zwischen Psyche und Gehirnarteriosklerose würde auch die Be¬
vorzugung gewisser Berufsarten und Charaktertypen für die Häufigkeit der Krank¬
heit erklären. So spricht Cr am er (26) von einer Bevorzugung der „Kraftnaturen“,
Nerz (27) von den ernst angelegten „Pflichtmonschen“, welche in den Widrig¬
keiten ihres Berufs eine vorzeitige Abnutzung erleiden.
Die anatomischen Veränderungen, welche die Arteriosklerose in der Gefäss-
wand in Erscheinung treten lässt, sind verschiedenartig; die einen finden sieb
mehr bei relativ jüngeren Individuen in den Gefässen kleineren Kalibers, andere
häufiger bei Greisen und in den grösseren Körperschlagadern. Die gewucherte
Intima verfällt der fettigen Degeneration. Innerhalb und zwischen den Intima¬
zellen wie auch in den Muskelfasern der Intima treten Fetttröpfchen auf. Daneben
besteht eine Vermehrung der Bindegewebsfasern, sowohl in der Intima, deren
elastische Fasern dadurch eine Aufsplitterung erfahren, als auch in der Media,
wo sie als unvollkommener Ersatz für muskuläre elastische Elemente erscheinen.
Die fettig degenerierten Teile können früher oder später eine Kalkablagcrung er¬
fahren und damit der Gefässverkalkung einen bestimmenden Ausdruck verleihen.
An Stelle der fettigen Entartung können die faserigen Elemente der Intima und
der Media der hyalinen Degeneration verfallen, die fibrösen, z. T. nengebildeten
Lamellen wandeln sich zu einer homogenen, kernlosen, stark lichtbrechenden
Masse um, welche im weiteren Verlauf ebenfalls weiteren regressiven Verände¬
rungen, der Verkalkung unterliegen. Diese letztere Form der Verkalkung wird
besonders bei der Arterioskleroso der kleineren Arterien im Gehirn, Herz und in
den Nieren gefunden. Die fettige Degeneration der gewucherten Intimaplaques
kann aber auch in so grober Weise geschehen, namentlich wenn die Kalkablage¬
rung daneben nur wenig ausgeprägt ist, dass die erkrankten Stellen nekrotisch
zerfallen. An Stelle der Wucherung bietet sich dann das Bild des mit glänzen¬
dem, weissgelbem, bröckligem Brei gefüllten atheromatösen Geschwürs. Ver¬
kalkung und Erweichung gehen nebeneinander her, so dass Marohand (28) statt
des NamensArteriosklorose die KrankheitsbezeiohnungAtherosklerose vorgeschlagen
hat, um die Einheitlichkeit des Krankheitsprozesses der Sklerose und der Atbero-
matose zu kennzeiohnen. Beide Veränderungen beteiligen sich aber, wie die täg¬
lichen Beobachtungen am Sektionstisch lehren, in sehr verschiedenem Masse. Man
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Die forensische Bedeutung der Gehirnarteriosklerose. 125
trifft ausgedehnte Sklerosen ohne auffällige Erweichungen, und man sieht in
anderen Fällen, so namentlich bei Greisen, die Erweichung im Vordergrund des
anatomischen Bildes stehen, ln der Praxis wird daher die Bezeichnung Arterio¬
sklerose oder Atheromatose eine präzisere Vorstellung geben.
Die Einbusse, welche die Gefässwand unter diesen zerstörenden Verände¬
rungen an Elastizität und an Festigkeit erleidet, kann zu Erweiterungen und Ver¬
engerungen des GefasSrohres führen. Im Gehirn finden wir die Erweiterung be¬
sonders in der Form der sogenannten miliaren Aneurysmen, welche für die Hirn¬
apoplexien verantwortlich gemacht werden. WährendCharcot undBouchard (29)
sie als „wahre“ Aneurysmen der feinen und feinsten Arterien besonders im Ge¬
biete der Zentralganglien auffassten, zeigten Ellis und Pick (30), dass ihre Ent¬
stehung auf eine Zerreissung der erkrankten Intima und Ausweitung einzelner
Wandschichten durch das Hineinwühlen des Blutes, sei es zwisohen Intima und
Media oder zwischen Media und Adventitia zurückzuführen ist. Sie sind anato¬
misch daher dem Aneurysma dissecans zuzureohnen. Durchbricht der Blutstrom
sämtliche Gewebsscbichten und kommt die ausgetretene Blutmenge erst duroh
fremdes Organgewebe als Blutsack zur Abgrenzung, so bietet sich bei bleibender
Kommunikation durch den Wanddefekt das Bild des Aneurysma spurium. Während
in früheren Zeiten diesen Aneurysmen in bezug auf ihre Häufigkeit eine grosse
Bedeutung zugemessen wurde, werden sie in neuerer Zeit [Weber(31),Cramer (26)]
für seltenere Befunde gehalten. Auffällig ist, wie reoht selten es am Sektionstisch
gelingt, bei an Apoplexie Verstorbenen Aneurysmen nachzuwoisen. Diese Er¬
fahrung weist vielleicht doch darauf hin, dass die erste primäre Zerreissung der
-Oeiässwand ohne Aneurysmabildung häutig unmittelbar zur Apoplexie führt. Sehr
-viel häufiger als die Erweiterung hat man die Verengerung der Gofässe infolge
•der arteriosklerotischen Veränderungen zu beobachten Gelegenheit. Die Verdiokung
■der Intima, die atheromatösen Veränderungen und Verkalkungen führen häufig zu
•einer starken Verengerung des Gefässnetzes, und Thromben, welche sich auf die
-erkrankten Wandstellen niederschlagen, zu einem vollkommenen Verschluss des
Lumens. Auch eine starke Wucherung der Endothelien und fibrösen Elemente
-der Intima ohne nennenswerten Zerfall kann allein duroh diese Wandverdickung
einen völligen Verschluss des Gefässrohres bedingen. Es bestehen noch Zweifel
darüber, ob diese Veränderung, die Endarteriitis obliterans, der Arteriosklerose
zuzurechnen ist, wie Orth (32) meint, oder ob sie eine selbständige Gefäss-
-erkrankung ist, welche so häufig neben der Arteriosklerose beobachtet wird [Kauf¬
mann (6)].
Die Folgen, der Aderverkalkung sehen wir am augenscheinlichsten im Gewebe
des Zentralnervensystems bei den Blutungen, welohe je nach der Grösse des Blut¬
ergusses das Gewebe in grossem Umfang zertrümmern. Wenn bei derartigen Blut¬
austritten' grösseren Umfangs, wie wir sie bei der Gehirnapoplexie.zu finden ge¬
wohnt sind, der Charakter der Rhexisblutung nicht angezweifelt werden kann, bin
ich geneigt, für die kleinen, oft miliar auftretenden Blutungen im Gehirngewebe,
besonders der Rinde, den Vorgang als Diapedesisblutung aufzufassen, und setze sie
in Beziehung zu der später zu besprechenden Stase.
Die Folge der Blutung ist eine in mehr oder weniger grösserem Umfange
auftretende Nekrose, oder wie wir es beim Nervengewebe zu nennen gewohnt sind,
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126
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eine Erweichung. Die Konsistenz des betroffenen Gewebes verringert sich, in
kurzer Zeit zerfallen die geformten Elemente durch Verfettung und Verflüssigung
zu einem Brei. Auch die roten Blutkörperchen des Blutergusses verschwinden,
ihr Farbstoff bleibt in Form.des scholligen Blutpigments zurück. Allmählich ge¬
langt der Brei des Erweichungsherdes zur Resorption unter besonders lebhafter
Beteiligung von Wanderzellen, welche sich durch die Aufnahme der aus dem
Detritus stammenden Fetttröpfchen zu den bekannten Körnchenkugeln oder
Körnchenzellon umwandeln. Gleichzeitig dringt vom Rand des Erweiohungsherdes
unter lebhafter Wucherung die Neuroglia gegen das Zentrum vor und vermag bei
nicht zu grosser Ausdehnung des Defekts diesen nach Resorption des nekrotisohen
Breis vollständig auszufüllen.. Wir haben danach das Bild der von dem Testieren¬
den Blutpigment noch gelbbräunlich gefärbten Narbe vor uns. Ist der Eryreichungs-
herd von einer solchen Grösse, dass die wuchernde Glia von den Rändern her
sich nicht zu vereinigen, sondern nur einen abgrenzenden Wall gegen das gesunde
Gewebe zu bilden vermag, so restiert nach der Resorption des Breis ein oft mit
seröser Flüssigkeit gefüllter Hohlraum („apoplektische Zyste“), durch welchen zu¬
weilen noch einige Stränge erhaltenen widerstandsfähigeren und gefässführenden
Bindegewebes hindurchziehen.
Eine ganz ähnliche Veränderung, wie sie hier als die Folge der hämorrhagi¬
schen Zertrümmerung und Infarzierung des Nervengewebes auftritt, bedingt auöh
ein vollkommener Verschluss eines das Gewebe ernährenden Blutgefässes. Auch
hier verfällt der von der Ernährung durch das Blutgeiass abhängige Bezirk der
Erweichung, der ischämischen Nekrose. Sie lässt die gleichen degenerativen und
reparatorischen Vorgänge beobachten wie die hämorrhagische, nur dass bei ihr
das die gelbbräunliche Verfärbung des Herdes bedingende Blutpigment mehr oder
weniger vollständig fehlt.
Ueberaus häufig verursacht die arteriosklerotische Erkrankung an vielen
Stellen des Gehirns nicht diese groben Veränderungen sondern weil die Blut¬
versorgung des Gewebes nicht vollständig aufhört, vielmehr nur infolge der Ver¬
engerung der Hirngefässe eine unvollkommene, für die Dauer ungenügende ist,
geschieht das Absterben und der Schwund des Gewebes nur langsam und unvoll¬
kommen. Er trifft insbesondere die empfindlichen nervösen Bestandteile des Hirn¬
gewebes, deren Stelle die weniger anspruchsvolle Glia infolge sekundärer repara-
torisober Wucherung einnimmt*.
Bei der Besprechung dieser Zirkulationsstörungen ist noch einer wichtigen
Funktion der Blutgefässe zu gedenken. Wir wissen, dass die Weite der Strombahn
und die Stromgeschwindigkeit im Blutgefässsystem nicht allein von der Herzarbeit
und von der passiven, physikalischen Elastizität der Gefässwand abhängt, sondern
dass vielmehr die Blutbewegung und Verteilung eine vitale Arbeitsleistung des
neuromuskulären Apparates der Gefässwand ist. „Die Gefasse, insonderheit die
Arterien, aber auch die Kapillaren und die Venen sind akzessorische Herzen,
welche die Tätigkeit des Herzens unterstützen und nebenher die Blutverteilung
regeln“ [Grützner (33)]. Ricker(34) wies im Jahre 1905 als erster bestimmt
auf diese Arbeitsleistung der Gefässe hin und macht von ihren Schwankungen die
anatomischen Veränderungen und ihre Lokalisation in den Organen abhängig. Es
sei mir gestattet, näher auf diese Untersuchungen Rickers (34) einzugeheu, weil
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Die forensische Bedeutung der Gehirnarteriosklerose.
127
mir die Ergebnisse seiner experimentellen Forschung für die Pathologie der zere¬
bralen Arteriosklerose nioht genügend berücksichtigt scheinen und besonders auch
für die gerichtliche Medizin wichtige Schlüsse gestatten.
Die Ergebnisse der Rickersohen Untersuchungen, welche sich auf mikro¬
skopische Untersuchungen im lebenden Tier (Kaninchen) stützen und ihre Er¬
gänzung in Beobachtungen auf dem Gebiete der menschlichen Pathologie fanden,
sind in Kürze folgende: Die Schwankungen der Blutgefässweite und die Ge¬
schwindigkeit der Blntströmung sind abhängig von der Gefässinnervation, in
weloher wir die Tätigkeit der Vasokonstriktoren und Vasodilatatoren unterscheiden.
Unabhängig von ihrer qualitativen Natur, ob thermisoher, chemischer oder mecha¬
nischer Art, bedingen auf diese Nerven einwirkende Reize je nach Reizstärke und
Reizdauer bestimmte Typen der Strombahnweite und der Stromgeschwindigkeit in
den Blutgefässen. I. Ein schwacher Reiz erzeugt eine Erregung der Dilatatoren,
eine Erweiterung der Strombahn, verbunden mit beschleunigter Blutströmung.
II. Ein starker Reiz bedingt eine Konstriktorenerregung, eine Verengerung der
Strombahn mit leicht verlangsamter Strömung. 111. Längere Einwirkung und
weitere Steigerung des starken Reizes lässt infolge Abnahme der Konstriktoren¬
erregbarkeit die Reizung der länger erregbar bleibenden Dilatatoren zum Vorschein
kommen und die Blutbabn sich erweitern. Die Strömungsgeschwindigkeit kann
bei' diesem Typus anfangs schnell sein, zeigt dann aber bald eine zunehmende
Verlangsamung und schliesslich Stillstand des Blutes in dem betroffenen Gefäss-
bezirk. Während eine geringere Verlangsamung der Blutströmung beim 111. Typus
der Gefässerregbarkeit mit einer Vermehrung der weissen Blutkörperchen in der
Peripherie des Blutstromes mit zeitweisem Waftenbleiben an der Geiässwand und
stellenweiser Diapedese von Leukozyten verbunden ist, geht diese Randstellung
der weissen Blutkörperchen in einem stark verlangsamten Blutstrom wieder ver¬
loren, das Bluf rollt ohne Scheidung seiner körperlichen Elemente im „trägen
Strom“ dabin. Geht dieser träge Strom in Stillstand, in Stase über, so kommt es
zur Diapedese von roten Blutkörperchen um so reichlicher, je länger sich der voll¬
ständige Stillstand, die Stase, verzögert.
Diese Beobachtungen Rickers zwingen zu dem Schluss, dass nicht allein
die Weite der Blutgefässe, sondern auch die Blutströmung als Arbeitsleistung der
Gefäss- und Kapillarwand abhängig ist von dem Gefässnervensystem. Verlang¬
samung der Strömung bedeutet Herabsetzung der Arbeitsleistung infolge herab¬
gesetzter Erregbarkeit der Gefässnerven, Stase bedeutet das vollständige Erlösoben
der Erregbarkeit. Bei der angewandten Versuchstechnik konnte diese Beziehung
einwandfrei festgestellt werden, da andere Momente, die iür die Stase gewöhnlioh
verantwortlich gemachte Wasserentziehung, eine verminderte Herzarbeit, Ab¬
knickung des Gewebes mit Sicherheit ausgeschlossen werden konnten.
Eine weitere Versuchsreihe Rickers zeigte, dass eine fortdauernde reflek¬
torische Reizung eines Gefässgebietes — sie wurde in den Versuchen in Form der
Unterbindung des Ausführungsganges des Kaninchenpankreas angewandt — nach
einem kurze Zeit währenden Höhestadium an Reizwirkung auf die Gefässnerven
schnell abnahm. Es entwickelt sich ein Zustand, von dem man annehmen könnte,
dass Strombahnweite und Blutbewegung zur Norm zurüokgekehrt seien, z. B.
3 Monate nach der Gangunterbindung. Bei der Prüfung eines solchen Gefass-
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W. Knape,
gebietes findet man Reizen gegenüber ein verändertes Verhalten der Gefässnerven,
sie zeigen eine abnorme Reaktion und eine krankhafte Herabsetzung der Reiz¬
schwelle. Eine Verengerang der Strombahn kommt auf Reizung im Vergleich zur
Norm nur vermindert zustande, oder bleibt ganz aus z. B. bei Einwirkung von
Kälte oder von Suprarenin, dagegen tritt abnorm schnell und schon nach Ein¬
wirkung relativ geringer Reize vollständiger Verlust der Erregbarbeit, die Stase
und die mit ihr verbundene Diapedesisblutung auf. Bei einer abnormen Erregbar¬
keit des Gefässnervensystems können demnach sowohl im natürlichen Leben auf¬
tretende wie auch künstlich gesetzte Reize zur Stase und Blutung führen. Dass
bei der zerebralen Arteriosklerose ganze Gefässgebiete eine verminderte Vaso-
rootorenerregbarkeit und dementsprechend verminderte Leistungsfähigkeit der Ge-
fässwand, welche nicht auf die physikalische, durch die Sklerose bedingte Ver¬
änderung zu beziehen sind, haben, beweisen die so häufig zu beobachtenden ka¬
pillären Blutungen, welche scheinbar spontan entstehen, ohne dass irgend ein
Trauma vorhergegangen oder eine Zerreissung der Gefässwand nachweisbar wäre,
welohe vielmehr auch naoh Kaufmann (6) als Diapedesisblutungen aufzufassen
sind. Diese sind aber nach Rickers Untersuchungen auf eine Stase, auf eine
Aufhebung der Blutströmung infolge Erlöschens der Tätigkeit des neuromuskulären
Apparates der Gefäss- und Kapillarwand zu beziehen. Ferner beweisen die von
allen Autoren bei der zerebralen Arteriosklesose beobachtete Diapedese von weissen
Blutkörperchen durch die Gefässwand und ihre Anhäufung in den Lymphscheiden
der Gerässe, dass diese Bezirke während des Lebens zu einer verlangsamten Blut¬
strömung in Beziehung standen, d. h. auch ihr Gefässnervenapparat nicht die
normale Arbeitsleistung vollzog.
Klinische Beobachtungen bei der zerebralen Arteriosklerose bestätigen diese
Annahme. Stern (19) und Leers (14) weisen darauf hin, dass gerade bei Arterio¬
sklerose Störungen der Gefässinnervation infolge von Unfällen, d. h. also von mehr
oder weniger schweren mechanischen Reizen hochgradig und langdanemd zu sein
pflegen. Apelt (35) betont, dass bei der „traumatischen Neurose“ die Klagen über
Kopfschmerz, Schwindel, und Gedächnisschwäche bei gesundem Gefässsystem meist
schnell verschwinden, bei nachweisbarer Arteriosklerose dagegen viel häufiger und
länger bestehen bleiben. Romberg (3) und Otfried Müller (32) machten die
Beobachtung, dass arteriosklerotische Arterien .auf kalte und warme Reize viel
„träger“ reagieren als gesunde Arterien. Auch Winscheid (23) betont den starken
Einfluss, den ein Trauma besonders im Leben des bis dahin vollkommen be¬
schwerdelosen Arteriosklerotikers ausübt, und maoht für diese Krankheitserschei¬
nungen das Aussetzen „gewisser Regulationsvorrichtungen“ verantwortlich, deren
Funktionen rein physiologisch infolge des Alters oder plötzlich durch ein Sohädel-
trauma beschädigt werden. Als diese Regulationsvorricbtungen möchte ich die
Vasomotorentätigkeit im Sinne Rickers ansehen, welcher die Blutgefässweite und
die Blutstromgeschwindigkeit als eine Funktion des Gefässnervensystems betrachtet
Dass aber nicht nur mechanische Traumen als Reize für das zerebrale Gefässgebiet
angesehen werden dürfen, sondern ebenso sehr sensugene psychische Reize irri¬
tierend auf die Blutgefässe des Gehirns einwirken, beweisen neben zahlreichen
klinischen Erfahrungen die Beobachtungen von Mosso (36) und nach ihm von
Otfried Müller (32). Beiden Autoren gelang es mit der Wage den Einfluss
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Die forensische Bedeutung der Gehirnarteriosklerose.
129
psyohischer Alterationen auf den Blutgehalt nacbzuweisen, indem sie die gefun¬
denen Gewichtsveränderungen auf die Kaliberschwankungen der Hirngefässe bezogen.
Ich bin auf diese ätiologischen Momente der arteriosklerotisohen Störungen
des Gehirns näher eingegangen, weil insbesondere der Gerichtsarzt in seiner Tätig¬
keit ebenso häufig gezwungen ist, sich ein Urteil darüber zu bilden, welche Be¬
deutung den Ereignissen, welche für die Entstehung oder die Versohlimmerung
eines Krankheitszustandes verantwortlich gemacht werden, zuzumessen ist als
über die Folgen, welohe sich aus dem Krankheitsbefund für das erkrankte Indivi¬
duum in rechtlicher Beziehung ergeben.
Die Verschiedenheiten der arteriosklerotischen Veränderung an den Gelassen,
ihre ungleiche Ausbreitung in den einzelnen Gefässgebieten des Gehirns lassen
mit Recht ein ausserordentlioh mannigfaltiges anatomisches und klinisches Krank¬
heitsbild erwarten. Die in ihrem anatomischen Bau und in ihren physiologischen
Leistungen so fein differenzierten Teile des menschlichen Gehirns müssen auch bei
ihren Erkrankungen ihre Verschiedenartigkeit zum Ausdruck bringen. Wir werden
demgemäss ausgesprochene „Herdsymptome“ in dem Krankheetsbilde wiederfinden,
ihr mehr oder weniger starkes Hervortreten gestattet uns gerade diagnostisch eine
Abgrenzung gegen die auf diffusen Organveränderungen beruhende senile Demenz,
welche häufig in demselben Lebensalter wie die arteriosklerotische Geistesstörung
aufzutreten pflegt; diese Abgrenzung wird uns nicht selten auch noch in Fällen
gelingen, wo senile Demenz und arteriosklerotische Degeneration nebeneinander
bestehen. Da die Krankheitserscheinungen abhängig sind von den Blutgefässen,
deren Funktion, wie oben erläutert wurde, ausserordentlich häufigen Schwankungen
infolge physiologischer und pathogenetischer Reize unterliegt, ist für die arterio¬
sklerotische Hirnerkrankung eine Flüchtigkeit der Symptome, ein Schwanken in
der Schwere des Krankheitsbildes charakteristisch. Bei der Betrachtung dieser
Unbeständigkeit der Krankheitserscheinungen muss auch des vikariierenden Ein¬
tretens anderer Hirnzentren für die in ihrer Funktion geschädigten gedacht werden,
ein Vorgang, der klinisch zweifelsfrei feststeht, dessen anatomische Grundlage
aber bisher nooh nicht genügend geklärt ist, um im Einzclfalle sagen zu können,
wie weit wir mit einem solchen vikariierenden Eintreten anderer Hirnzentren
rechnen dürfen, wo die Grenze des Möglichen liegt. Klinisch können wir meist
auch in den besten Fällen einer derartigen Wiederherstellung der Funktion die
Versehrtheit der geschädigten Gehirnteile noch erkennen an der abnorm leichten
Ermüdbarkeit bei ihrer Inanspruchnahme.
Wenn im folgenden die naoh Verlauf und Lokalisation verschiedenen Typen
der Hirnarteriosklerose und ihre speziellen anatomischen Befunde besprochen
werden, so sei im voraus darauf hingewiesen, dass es uns meist klinisch nicht *
möglich ist, festzustellen, ob wir es im Einzelfalle z. B. mit einer „perivaskulären
Gliose“ oder mit einer „senilen Rindenverödung“ zu tun haben. Währond des
Lebens wird es nach unseren gegenwärtigen Kenntnissen nur möglich sein, den
Charakter der Krankheit als einen arteriosklerotischen zu diagnostizieren und aus
den Herderscheinungen, ihrer Schwere und Ausbreitung Schlüsse auf die Lokali¬
sation and den Umfang der Veränderung zu ziehen. Welche Art von arterio¬
sklerotischen Veränderungen anatomisch den klinischen Symptomen zugrunde
liegen, kann intra vitam meist nicht entschieden werden.
ViertaljahrMehrirt f. gor.Med. o.flff.San.-Wesen. 3. Folge. Bd. 60. H. I. y
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130
W. Knape,
1 . Die nervöse Form der zerebralen Arteriosklerose.
Die nervöse Form oder auch leichte Form der zerebralen Arteriosklerose
kommt bereits nach dem 40., häufiger naoh dem 50. Lebensjahr zur Beobachtung.
Sie ist in ihren Krankheitserscheinungen den Initialsymptomen der schweren Form
vollkommen gleich, kann aber jahre- und jahrzehntelang stationär bleiben, ohne
eine Verschlimmerung zu erfahren. Sie kennzeichnet sich durch die Symptomen*
trias: Kopfschmerz, Schwindelgefühl, Gedächtnisschwäche. Der Kopfschmerz wird
meist in der Stirngegend empfunden, das Schwindelgefübl tritt mehr oder weniger
häufig, teils spontan, teils bei Lageveränderungen des Körpers oder bei körper-
liehen und geistigen Anstrengungen auf und kann von leichten, schnell vorüber*
gehenden Verwirrtheitszustände,n gefolgt sein. Die Gedächtnisschwäche erreicht
einen so erheblichen Grad, dass auch ein körperlicher Arbeiter in seiner Tätigkeit
sie störend empfindet. Flüchtige motorische Störungen kennzeichnen sich durch
vorübergehendes Schwäcbegefübl in einer Extremität. Der Schlaf ist meist ge¬
stört, besonders das Einschlafen erschwert. Psychisch fällt vor allem die Abnahme
der geistigen Produktivität auf sowie eine abnorm gesteigerte, leichte Ermüdbar¬
keit in der Tätigkeit des Kranken, sie führt zu Klagen des Leidenden wegen
Arbeitsüberbürdung, da er sich den Ansprüchen seines Berufs nicht mehr voll ge¬
wachsen fühlt. Fast immer besteht den Krankheitserscheinungen gegenüber volle
Krankheitseinsicht. Auf dem Gebiete des Gemüts findet sich sowohl Neigung zu
depressiven hypochondrischem Wesen als auch häufig damit verbundene krank¬
hafte Reizbarkeit mit leicht auslösbaren Erregungszuständen. Ausgeprägt pflegt
bei der Erkrankung meist das Symptom der Intoleranz gegen Alkohol, gelegent¬
lich auch gegen Nikotin vorhanden zu sein.
Anatomisch finden sich im nervösen Gewebe keine schwereren Veränderungen,
die Windungen sind nicht nennenswert verschmälert, die weichen Hirnhäute oß
nur leicht verdickt und hyperämisch, das Gehirngewicht ist nicht vermindert. Bei
der Sektion solcher Fälle finden sich nach Alzheimer (1) schon schwere arterio¬
sklerotische Veränderungen an den Arterien. Die Lymphscheiden der Blutgefässe
sind in Rinde, Mark und Ganglien stark erweitert, in ihrer Umgebung das Glia-
gewebe vermehrt und verdichtet, mit einzelnen Spinnenzellen. Ein deutlicher Aus¬
fall an Ganglienzellen oder Marksoheiden ist hingegen nioht nachweisbar. Die
Krankheitserscheinungen sind daher nach Alzheimer auf „Stauungserscheinun¬
gen in der Blutzirkulation“, nach Pick (37) und Spielmeyer (38) auf Verände¬
rungen der Gefässelastizität und auf eine Beeinträchtigung der Vasomotorentätig¬
keit zu beziehen, wofür Pick in der Alkoholintoleranz eine Bestätigung sieht.
Meines Erachtens weisen die leichte Ermüdbarkeit, das Schwindelgefübl als Re¬
aktion auf physische und psychische Reize ebenso sehr auf eine Störung der Er¬
regbarkeit des Gefässnervensystems hin, wie die abnorme Reaktion auf toxische
Einflüsse.
2. Die schwere, fortschreitende Form der arteriosklerotischen Hirn¬
erkrankung.
Diese progrediente Form wird von Krankheitserscheinuugen eingeleitet,
welche denen der leichten, nervösen Form vollständig gleichen; nioht selten be¬
ginnt das Leiden auch mit einem apoplektischen Insult, dem in längeren oder
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Die forensische Bedeutung der Gehirnarteriosklerose.
131
kürzeren Intervallen weitere, klinisch oft nur als Ohnmachts- und Sohwindelanfälle
sich äussernd, folgen können. Nachdem der Kranke schon mehr oder weniger lange
über Gedächtnisschwäche, Kopfschmerzen, Schwindelgefühl und leichte Ermüd¬
barkeit geklagt hat, entwickeln sich unter einem vorwiegend schubweisen Verlauf
allmählich schwere psychische Ausfallerscheinungen. Die Stimmung der Kranken
ist weinerlich, traurig, öfters bietet sich schon frühzeitig das Bild der Melancholie
mit hypochondrischen Klagen, Angstzuständen und Suizid versuchen. Der Affekt
ist sehr labil, kleinliche Anlässe, geringfügige äussere Vorkommnisse vermögen
schwere Depressionszustände oder jähzorniges Exaltieren hervorzurufen. Die Auf¬
fassung ist ersohwert, die Gedankenassoziation verlangsamt. Während die Auf¬
fassung und Beurteilung neuer Eindrücke und Vorgänge eine deutliche Beein¬
trächtigung teigen, bleiben die intellektuellen Leistungen auf dem Gebiete des
aus dem früheren Leben gewöhnten Interessenkreises viel länger erhalten. So
ist denn der geistige Zerfall bei diesen Kranken kein gleiohmässiger. Sie
erscheinen vollkommen apathisch, zeitweise stumpf und verblödet, weil die
erschwerte Auffassung sie nicht mehr an den neuen Ereignissen des täglichen
Lebens recht teilnehmen lässt, während sie uns gleichzeitig duroh Ge¬
dächtnisleistungen für Vorgänge früherer Jahre überraschen und sich auf
Grund alter Erinnerungen ihrer eigenen Persönlichkeit lange voll bewusst
bleiben. Die Krankhoitseinsicht bleibt lange erhalten, selbst bei anscheinend
schon vorgeschrittener Verblödung zeigen die Kranken zuweilen durob ihre
Klagen, dass sie ihre traurige Lage 'richtig erkennen. So ersoheint, wie
Alzheimer (1) den Unterschied treffend kennzeichnet, der arteriosklerotisch De¬
mente immer mehr als Hirnkranker, der Paralytiker und senil Demente als
Geisteskranker. Bei wiederholten Untersuchungen pflegen sich häufige Schwan¬
kungen in der Intensität der Kränkbeitsersoheinungen zu zeigen. Allmählich wird
aber mit der weiteren Entwicklung der Krankheit die Verblödung eine immer
tiefere und gleichmässigere, die Abnahme der intellektuellen und gemütlichen
Regsamkeit eine immer grössere. Sie verhalten sich stumpf und gleichgültig allen
Ereignissen in ihrer Umgebung gegenüber, sowohl was das Geschick ihrer Ange¬
hörigen betrifft, als auch was den Kreis ihrer eigenen wirtschaftlichen und beruf¬
lichen Interessen berührt. Sie stehen ratlos und hilflos im Leben da; sie ver¬
leugnen ihre gute Erziehung, verletzen die Gesetze des Anstandes, und das Pehlen
von Gegenvorstellungen und Hemmungen lässt in geschlechtlichen Exzessen ein
Aufflackern der sinnlichen Erregbarkeit Vortäuschen. Charakteristisch für die
arteriosklerotische Grundlage des Leidens ist das Auftreten typischer Herdsym¬
ptome neben diesen eigenartigen psychischen Ausfallerscheinungen. Sie betreffen
am frühesten die feineren und komplizierteren Innervationen. Die Pupillen sind
häufig different und zeigen zuweilen eine der absoluten Starre zuzureohnende
Störung der Licht- und Konvergenzreaktion, die reflektorische Pupillenstarre wird
dagegen nicht gefunden. Die Sprache ist auffallend langsam, undeutlich, zeigt
paraphasische Einmischungen in Form von Wort-, Silben- und Buchstabenver¬
wechslungen. Je nach der Sobwere und dem Sitz .des Degenerationsprozesses v «
können wir abhängig von dem physiologischen Wert der erkrankten Himprovinz
die verschiedensten motorischen und sensorischen Störungen beobachten. Die Be¬
wegungen werden unsicher, die Hände zeigen ein grobes Zittern, eine Art
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132
W.Knape,
Schüttelbewegung, die Schrift ist zittrig, der Gang langsam und schleppend.
Lähmung oder Schwäche eines Gliedes oder einer Körperseite treten auf, bleiben
bestehen oder bilden sich langsam zurück; wir sehen in der Unfähigkeit, be¬
stimmte intendierte Bewegungen auszuföhren, sioh eine Apraxie, in dem Verlust
des Sprechvermögens die motorische, des Sprachverständnisses die sensorische
Aphasie entwickeln. Die Erkrankung anderer Zentren bedingt die Unfähigkeit
Schriftz9iohen zu lesen (Agraphie) oder andere Sinneseindrücke richtig zu er¬
kennen (Agnosie: Seelenblindheit, Seelentaubheit usw.). Ein vorwiegendes Auf¬
treten der arteriosklerotischen Veränderungen in der Brücke und im verlängerten
Mark des Hirns lässt ein Krankheitsbild in Erscheinung treten, das sehr viel
Aehnlichkeit mit der Bulbärparalyse hat und als deren akute, apoplektische Form
bezeichnet wird. Es ist das Verdienst Jakobsohns (39), die Genese der Krankheit
als „schwere Form der Arteriosklerose im Nervensystem“ geklärt zu haben.
Gegenüber dem sohleichenden progredienten Verfall in körperliches und
geistiges Siechtum stehen in einer Reibe von Fällen der zerebralen Arteriosklerose
zwei Symptomenkomplexe so im Vordergründe der Krankheitserscheinungen, dass
sie das Krankheitsbild beherrschen. Es sind dies einerseits die Schlaganfalle und
apoplektiformen Insulte, andererseits Erscheinungen der Epilepsie.
Die Sohlaganfälle .können spontan ohne ersiohtliche äussere Ursache oder
nach körperlichen und psychischen Anstrengungen und Traumen auftreten. Die
den klinischen Erscheinungen zugrunde liegenden Blutungen im Gehirn haben
gewisse Prädilektionsstellen, so z. B. die grossen Zentralganglien und die benach¬
barten Markzüge der inneren und äusseren Kapsel. Je naob dem Umfang und Sitz
der Blutung kann bereits der erste Anfall das Leben vernichten oder günstigen
Falls ein Siechtum mit grösstenteils schweren körperlichen und geistigen Läh¬
mungserscheinungen hinterlassen; oder aber die Läsion kann geringfügiger, re¬
parabler Natur sein, so dass sioh der Kranke nach längerer oder kürzerer Zeit
wieder erholt und zuweilen/ in der Folgezeit eine ganze Reihe apoplektiformer An¬
fälle mit mehr oder weniger kurzen Intervallen erleidet. Die Folgeerscheinungen,
welche diese Gehirnblutungen hinterlassen, gleichen in ihrer eigenartigen herd¬
förmigen Demenz und ihren Herdsymptomen, ihrem Wechsel in der Schwere des
Ausfalls den oben für die schwere Form der Arteriosklerose des Hirns beschrie¬
benen vollkommen.
Von den epileptisohen Erscheinungen wissen wir, dass sie nicht eine einzige
Krankheitsursache haben, sondern dass der epileptische Krampfanfall ein Symptom
ist, welches wir bei den verschiedensten Hirnkranken beobachten. So finden wir
es auch bei der arteriosklerotischen Hirnatrophie wieder, ln einer Reihe von
Fällen verlaufen die Anfälle ganz naoh Art der genuinen Epilepsie (Bewusstseins¬
störung, Krämpfe, deliriöse Zustände), in anderen Fällen treten sie nach Art der
partiellen Epilepsie des Jacksonsehen Typus auf (tonische und klonische
Krämpfe einer oder mehrerer Muskelgruppen). Alzhermer (I) scheidet ätiologisch
die arteriosklerotische Epilepsie in eine kardiovasale Form, wo Störungen des
Blutkreislaufes des Gehirns,, insbesondere bei gleichzeitiger Herzerkrankung, vor¬
übergehende arterielle Anämien und venöse Stauungen, epileptiforme Krämpfe
auszulösen vermögen, welche ganz nach Art der genuinen Epilepsie verlaufen
können. Diese Erscheinungen können bei der Arteriosklerose des Hirns bereits
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Die forensische Bedeutung där Gehirnarteriosklerose. 133
auftreten, wo ausserhalb der Anfälle keine psychisoben Ausfälle bestehen und die
geistige Regsamkeit noch gut erhalten sein kann. Die zweite Gruppe bringt
Alzheimer in Zusammenhang mit den arteriosklerotischen Herden, deren Reiz*
erscheinungen sich mehr dem Typus der Jackson sehen Epilepsie nähern.
Finkh (40) glaubt, dass den arteriosklerotischen Veränderungen bei dem Auf¬
treten der Spätepilepsie nur die Bedeutung eines ätiologischen Faktors zweiter
Ordnung zukommt, indem sie eine besondere Prädisposition des Gehirns, welche
bisher latent war, manifest macht. Finkh fand bei seinen Untersuchungen der
Spätepilepsie, dass unter den ätiologisohen Faktoren die erste Stelle die Heredität
einnimmt ( 2 / s der Fälle) und in zweiter Linie der Alkohol als ursächliches
Moment ersoheint. Auch Kräpelin (10) nimmt an, dass eine vorhergehende
Trunksucht die Neigung zu epileptiformen Anfällen bei der arteriosklerotischen
Hirnatrophie verstärkt.
Das anatomische Bild der schweren zerebralen Arteriosklerose zeigt eine er¬
hebliche allgemeine Atrophie und Gewichtsabnahme, ohne dass die Windungen
immer eine wesentliche Verschmälerung zeigen. Die weichen Hirnhäute sind nur
massig verdickt nnd getrübt, die Himgefässe starrwandig. Auf dem Durchschnitt
fallen die stärk erweiterten Lymphräume der verdickten Gefässe auf, in ihrer Um¬
gebung erscheint die Gehirnsubstanz etwas eingesunken, die auffallend weiten
perivaskulären Lymphräume lassen das Gewebe wie durchlöchert erscheinen
(„siebartige Degeneration“, „6tat oriblä“), eine Erscheinung, welche man besonders
im Gebiet der Stammganglion und der inneren Kapsel beobachtet. Die Ventrikel
sind erweitert, ihr Ependym zeigt nur selten Granulationen. Das Hemisphären¬
mark zeigt, dem Verlauf der Gefässe folgend, häufig eine graue Verfärbung in Form
von Streifen und Flecken und an diesen Stellen auch eine derbere Konsistenz als
in der Norm. Vereinzelt oder in Gruppen stehend, trifft man auf miliare Blutungen
und kleine Erweichungsherde oder die Reste von solchen. An umschriebenen
Stellen zäigt die im allgemeinen gut erhaltene Rinde stellenweise Verschmälerung
oder keilartige Ausfälle. Mikroskopisch findet man diffus über das Hirn verteilt
leichte Veränderungen, eine geringe Vermehrung der Glia in der Oberfiächenschicht
der Rinde und eine vermehrte Pigmentanhäufung in den Ganglienzellen; nirgends
aber finden siob, von den arteriosklerotischen Herden abgesehen, Veränderungen
in der Zytoarchitektur der Rinde und ein deutlicher Ausfall von Markfasern. Die
arteriosklerotischen Herde finden sich in verschiedener Dichte über Rinde, Mark
und Stammganglien verteilt, in ihrer Mitte liegt meist ein stark sklerotisch ver¬
ändertes Gefäss mit erweiterter Lymphsoheide, um das Gefäss herum treffen wir
alle Stadien der regressiven Veränderungen, leichte Vermehrung der Glia mit kaum
nennenswertem Ausfall .nervöser Substanz, in anderen Herden wieder ist das ner¬
vöse Gewebe vollständig geschwunden, an seiner Stelle findet sich ein dichter
Gliafilz mit echten, fettleibigen Spinnenzellen, zwischen ihnen Körnohenkugeln als
Zeuge von dem Zerfall des ursprünglich hier vorhandenen nervösen Gewebes. Je
nachdem diese arteriosklerotischen Herde sich vorzugsweise in bestimmten Teilen
des Hirns in besonderer Häufigkeit finden, können wir nach Alzheimer (1) ana¬
tomisch mehrere Typen der arteriosklerotischen Hirnatrophie unterscheiden. Es
muss dazu bemerkt werden, dass sioh im Einzelfalle diese typischen Veränderungen
nicht isoliert finden, sondern mehr oder weniger kombiniert auftreten, so dass der
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134 W. Knape,
Name nur das quantitative Hervortreten einer typischen Veränderung in dem ans*
tomischen Befund andeutet.
Ein soloher Typus ist die Encephalitis subcorticalis ohronica (Bins-
wanger), wo infolge arteriosklerotischer Erkrankung der als Endarterien bekannten
Gefässe des Hemisphärenmarks eine hochgradige Atrophie des Marklagers eintritt.
Da ein Ausgleich durch Anastomosenbildung bei Störungen der Blutzirkulation in
diesem Bezirk ausgeschlossen ist, sehen wir bei Sklerose der langen Markarterien
frühzeitig schwere Gewebsveränderungen entstehen. Die arteriosklerotischen Herde
bedingen infolge sekundärer Strangdegeneration weitere Verödungen, welche sieb
bis in die Leitungsbahnen des Rückenmarkes verfolgen lassen. Wir sehen anf diese
Weise die höchsten Grade von Markatrophie entstehen, der Fnnktionsausfall doku¬
mentiert sich in einem Blödsinn, der, wie Binswanger (2) bemerkt, an die gross¬
hirnlosen Versuchstiere erinnert. Die Hirnrinde pflegt bei diesem Typus meist gut
erhalten zu sein oder nur geringfügige, vereinzelte, herdförmige Veränderungen
zu zeigen.
im Gegensatz zu dieser Erkrankung des Markes steht die senile Rindeo-
verödung (Alzheimer), wo die Veränderungen vorzugsweise die Hirnrinde
treffen. Da die Rindengefässe in der Pia miteinander mannigfach anästomosieren,
eine Ernährung des Gewebes durch Kollateralen viel leichter zu stände kommen
und viel länger erhalten bleiben kann als in den von Endarterien abhängigen zen¬
tralen Ganglien und den Marklagern der Hemisphären, wird die senile Rindenver¬
ödung wesentlich später, meist erst im hohen Alter und häufig vergesellschaftet
mit den diffusen Veränderungen der Dementia senilis gefunden. Charakteristisch
für die senile Rindenverödung ist das Auftreten keilförmiger Herde, meist gruppen-
weis im Bereioh eines oder mehrerer Gefässgebiete angeordnet. Von der Ober¬
fläche aus stellen sie sich als Einsenkungen dar, auf dem Durchschnitt zeigen sie
eine keilförmige Gestalt, die Basis des Keils der Hirnoberfläche zugekehrt, ln
diesen Herden sind die Ganglienzellen und Markfasern geschwunden* an ihrer
Stelle findet sich dichtes, gewuchertes Gliagewebe.
Als dritte typische anatomische Veränderung der zerebralen Arteriosklerose
ist die perivaskuläre Gliose zu nennen. Aehnlioh wie wir in den übrigen Or¬
ganen des Körpers bei mangelhafter Gewebsernährung ein allmähliches Abnehmen
des spezifischen Parenchyms zugunsten einer Vermehrung der bindegewebigen
Stützsubstanz finden, so sehen wir auch im Hirn den arteriosklerotischen Gefässen
folgend einen allmählichen Schwund der spezifischen nervösen Substanz und an
ihrer Stelle Wucherungsvorgänge und Vermehrung der Glia. Mit der längeren
Dauer des Krankheitsprozesses nehmen die Veränderungen an Schwere zu, sie
liegen der Gefasssklerose folgend sowohl im Mark als in der Rinde. Es erübrigt
sich hier noch einmal auf den speziellen Befund bei postapoplektisohen Zu¬
ständen einzugehen, da die Folgen der groben Gewebsschädigung diejenigen re¬
gressiven und reparatorischen Vorgänge zeigen, wie wir sie bei der einleitenden
Betrachtung der Arteriosklerose des Hirns geschildert haben.
Für die Sonderstellung, welohe klinisch die arteriosklerotische Epilepsie ein¬
nimmt, ist die anatomische Grundlage bisher nicht bekannt. Wir wissen nioht,
welche makroskopischen und mikroskopischen Veränderungen das anatomisch*
Substrat sind, um klinisch das Krankheitsbild durch die epileptischen Erschei¬
nungen zn komplizieren.
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UMIVERSITY OF MiCHld
Die forensische Bedeutung der Gebirnarteriosklerose.
135
Am Schluss dieser anatomischen Betrachtung der zerebralen Arteriosklerose
ist es nötig, noch auf einige ungeklärte Fragen hinzuweisen. Die Forschung hat
bisher keine Erklärung dafür gefunden, warum die Gefässsklerose und der ihr
folgende Organschwund einmal mehr in der Hirnrinde, das andere Mal vorwiegend
im Hirnmark sich ausdehnt, ebensowenig dafür, warum bei der Sektion zuweilen
grobe Veränderungen der Gefässe gefunden werden, ohne dass anatomisch nennens¬
werte Ausfälle im Nervengewebe gefunden werden. Nicht immer bringt die mikro¬
skopische Untersuchung der feinen Gefässe in solchen Fällen die gewünschte
Aufklärung. Auch daran muss erinnert werden, dass aus dem anatomischen Be¬
fund allein ein Urteil nicht darüber abgegeben werden kann, wie hochgradig die
psychischen und nervösen Ausfallerscheinungen während des Lebens gewesen sind.
Das vikariierende Eintreten erhalten gebliebener Zentren des Gehirns in die Funk¬
tion zerstörter oder geschädigter Teile ist anatomisch noch grösstenteils unauf¬
geklärt upd wegen der Unkenntnis dieser Komponente bedarf der Sektionsbefund
unbedingt der Ergänzung durch Beobachtungen während des Lebens, um ein be¬
stimmtes Urteil über den in Frage stehenden Krankheitszustand abzugeben.
Unter Berücksichtigung der Differentialdiagnose ist der Nachweis der zere¬
bralen Arteriosklerose inf Stadium des Beginns nicht leicht. Wenn wir von früher
her gewöhnt waren, die Arteriosklerose durch Starre und geschlängelten Verlauf
der Puls- und Schläfenarterien zu diagnostizieren, so muss nach unseren heutigen
Erfahrungen dagegen eingowandt werden, dass dieser Befund ebensowenig als
Beweis für eine gleichzeitig bestehende Sklerose der Hirngefässse angesehen
werden darf, als wie das Fehlen dieser Veränderungeu an den sicht- und fühl¬
baren Arterien eine Gefässerkrankung im Gehirn ausschliessen kann. Es ist nicht
selten, dass die Gehirnarterien ausschliesslich oder doch vorwiegend und zuerst
erkranken. Binswanger (2) fand eine Uebereinstimmung zwischen Arteriosklerose
des Hirns und der anderer Körperarterien nur in 50 pCt. der Fälle. Immerhin wird
uns ein eigenartiges, vorzeitiges Altern, eine Vergrösserung der Herzdämpfung mit
besonderer Beteiligung der linken Kammer, nicht nur vorübergehende, sondern
dauernde Blutdruckerhöhungen über 120 mm Hg, Nierenerkrankungen und Diabetes,
wie wir sie bei der allgemeinen Arteriosklerose häufig beobachten, auch für die
zerebrale wertvolle Richtpunkte bei der Diagnose geben. Speziell für eine Arterio¬
sklerose der Hirnarterien spricht nach Merz-Weigant (41) der Naohweis sklero¬
tischer Veränderungen an den Netzhautarterien, die sich im Augenspiegelbefund
als weisse, stärker geschlängelte Stränge ohne deutlichen, sonst zu beobachtenden
zentralen Reflex darstellen. Nach Spielmeyer (38) ist vielleicht auch eine stärkere
Füllung nnd eine Steigerung des Blutdrucks in den Schläfenarterien beim Vorn-
überbeugen des Kopfes als ein spezifisches Symptom der Hirnarteriosklerose an¬
zusehen.
Viel wichtiger als diese Befunde sind für die Diagnose die eigentümlichen,
herdförmigen Krankheitserscheinungen des Nervonsystems. Der ungleichartige
psyohische Ausfall, der den Kern der Persönlichkeit lange unberührt lässt, das
lang erhaltene Krankheitsgefühl, die Erschwerung der Auffassung, welche früh¬
zeitig schon ein Erlahmen der Produktivität bewirkt, sowie die von dem Kranken
selbst empfundene abnorm leichte Ermüdbarkeit sind wichtige diagnostische
Fingerzeige. Das schubweise Auftreten und der häufige Wechsel in der Schwere
dieser Symptome lernten wir als charakteristisch für das Krankheitsbild der zere-
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\ * '
136 W. Knape, Die forensische Bedeutung der Gebirnarteriosklerose.
bralen Arteriosklerose kennen. Dazu gesellen sioh die herdförmigen nervösen An¬
fälle apoplektischen oder epileptischen Charakters, Störungen der Motilität und
Sensibilität, teils längeri Zeit bestehend, teils vorübergehender N^tur, Sprach¬
störungen und Sehstörungen. Ein wichtiges Symptom bieten häufig krankhafte
Veränderungen der Pupillen, die wir bei jedem Nervenkranken zu untersuchen
gewöhnt sind. Bei der zerebralen Arteriosklerose finden wir häufig Differenzen in
der Weite und der Form der Pupillen, sowie eine Störung ihrer Reflexe bei Licht¬
einfall und Konvergenz. Das für die metasyphilitischen Krankheiten typische iso¬
lierte Fehlen des Pupillenreflexes auf Lichteinfall, die reflektorische Pupillen¬
starre, kommt bei der Hirnarteriosklerose nicht vor.
(Schluss folgt.)
IX.
Kleinere Mitteilungen
1.
Mord, Verstümmelung der Leiche, Verurteilung und Abbüssung
der Strafe; Manifestation der Geisteskrankheit; Tod in der
Irrenanstalt. Paralytische Veränderungen im Gehirn und luetisehe
an der Aorta.
%
Von
Dr. L. Stanojevil,
Direktor der Landesirrenanstalt in Stenjeree bei Zagreb (Agram) in Kroatien.
In der ganzen Psychiatrie haben wir kein so gründlich und so genau ge¬
schildertes pathologisches Bild, bei welchem man die Diagnose und Prognose so
sicher zu stellen vermag, wie bei der progressiven Paralyse.
Jedoch stossen wir noch immer auf einzelne atypische Fälle dieser Geistes¬
störung. Solche Fälle sind von grosser Wichtigkeit vom forensischen Standpunkte
ads, besonders im Beginn der Krankheit, sei es wegen Mangels an Symptomen oder
aber gerade wegen der Kaleidoskopie derselben, und vom klinischen Standpunkte
wegen der Schwierigkeiten in der Feststellung der Diagnose.
Es kommt sehr häuGg vor, dass das Verbrechen die Folge einer gestörten
psychischen Funktion ist, und dass dabei der Täter auf die Gerichtsbehörde nicht
den Eindruck eines Geistesgestörten macht. Und doch ist es auffallend, dass die
Schwere der Tat im folgenden Falle nicht wenigstens den Verdacht einer schweren
Geistesstörung des Angeklagten erweckte. Gerade aus diesem Grunde halte ich es
für wichtig, dass ioh einen solchen Fall heute publiziere.
Der betreffenden Krankheitsgeschichte können wir Folgendes entnehmen:
Anamnese: St. V., 48 Jahre alter, verheirateter Bauer. Wie man dem Zeug¬
nisse des Gemeindearztes entnehmen kann, hat der Angeklagte vor einigen Jahren
einen Mann ermordet, dessen Leiche kastriert und verstümmelt.
, Wegen dieser verbrecherischen Tat wurde er zu 4 Jahren Gefängnis verurteilt, die
er auch abgesessen hat. Zwei Monate bevor man ihn in die Anstalt gebracht hat,
bemerkte man an ihm Zeichen einer Geistesstörung. Er hatte die Hosen ausge¬
zogen und ging naokt im Dorfe herum. Mehrmals hat er die Sense genommen und
damit auf dem ganzen Felde gemäht, und wenn er dann jemandem begegnete, er¬
zählte er ihm, „dass er so viel Klee gemäht habe wie noch niemand“. Er hat
seinen Ochsen ans dem Stalle herausgeführt, ihn vor dem Hause festgebunden,
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das Messer herausgezogen und wollte ihn schlachten, woran er von seinem Sohne
verhindert wurde. Die ganze Nacht ist er umhergeirrt, im Dorfe herumgegangen,
hat geschrien, alle dortigen Bauern gestört, ist zu den Nachbarn gegangen and
hat ihnen Brot und alles übrige, was er «um Essen gutfand, weggenommen.
Am 6. 9. 1919 hat er seine Frau, die ihm entlaufen war, mit blankem
Messer herbeigeführt, ihr aus dem Hucksack Mais vorgeworfen,
dabei sie wie eine Sau rufend und lockend. Vor einem Gastbanse
wollte er sie schlaohten und dabei schrie er: „Kommt her ihr Leute,
seht diese Sau, ich werde sie jetzt schlachten . . Als die Vorbeigehenden das
sahen, liefen sie herbei und befreiten die Frau von ihm.
Am 29. 9. 1919 in die Anstalt gebracht, gab er seine Generalien richtig an.
Er war zeitlich gut, dagegen in bezug auf Ort und Umgebung schwach orientiert.
Er gibt an, dass sein Vater ein Alkoholiker gewesen ist, so wie er selbst. Seine
Mutter ist „geisteskrank“ gewesen. Ebenso hat er angegeben, dass er vor einigen
Jahren einen Mann mit der Axt gesohlagen habe, welcher dann zwei Tage später
gestorben sei. Er bestreitet aber, dass er ihn habe töten wollen. Er wollte nur
gegenüber einem unehrlichen Menschen sich selbst verteidigen. Besonders aber
bestreitet er, dass er den Toten kastrieren oder in Stücke schneiden wollte. Er
hat nur die Hunde kastriert, und das hat er nur deshalb getan, „damit sie nicht
herumliefen, sondern sich wie tot verhielten . . . u Er behauptet, seine Frau tu
lieben, leugnet das im ärztlichen Zeugnis geschilderte Misshandeln und .will sie
nur mit einem spanischen Rohr auf den Kopf und Körper geschlagen haben. Er
erinnert sioh nicht, dass seine Frau ihm entflohen wäre. Später behauptet er
wieder, es sei das möglich; es sei ebenso möglioh, dass er seine Frau heimge¬
trieben hat. Er beklagt sich über seinen älteren Sohn, der ein Schurke ist, weil
er ihn der Gendarmerie angezeigt hat; einen Kranken (von der Abteilung) erkennt
er als seinen jüngeren Sohn an, zeigt auf ihn hin und fängt an zu weinen.
In körperlicher Beziehung: gross, mittelkräftig gebaut und schwach genährt.
Am Schädel äussere Degenerationszeichen. Die Pupillen sind enger als normal,
gleich rund und reagieren trage auf Licht. Die Patellarreflexe sind gesteigert,
R. >L. Die Achillessehnenreflexe sind aufgehoben. Babinski negativ. Der Gang
normal. Brach-Romberg negativ. Keine Störung der Sensibilität. Die Sprache
ist klar und rein. Im Harn keine pathologische Veränderung. DieWassermannsche
Reaktion im Blute negativ. Der Liquor konnte aus äusseren Gründen nicht unter¬
sucht werden.
1. 10. 1919. In der Nacht unruhig, schreit, versucht zu entfliehen.
4. 10. 1919. Sehr ungeordnet. Spuckt auf den Boden, überall, wohin er
geht. In der Naoht nicht geschlafen, lärmte.
Fleht mit gefaltenen Händen, man möge ihn nach Hause lassen zusammen
mit seinem Sohne, den er unter den Kranken gefunden. Verwirrt.
28. 10. 1919. Um Mittag wollte er nicht essen, aufgeregt. Schreit, drängt
hinaus, zerreisst seine Kleidung, die Wäsche, schlägt seine Mitkranken, so dass
man ihm die Zwangsjaoke anlegen muss. Gegen Abend ist er ruhiger und lässt
sich vom anwesenden Arzt beeinflussen und beruhigen. Isst dann das Nachtmahl
ohne jede Einwendung.
31. 10. Drängt immerfort hinaus. Er liegt im Gitterbette, schreit, schimpft,
spricht lasziv.
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19. 11. Nachmittag ruhig, schweigsam, auf Fragen gibt er keine Antwort.
Beim Abendessen spcjngt er plötzlich auf und nimmt einem kranken Nachbarn das
Abendessen weg.
21. 11. Sehr verwirrt, vernachlässigt, im Abort hat er sich mit Kot ganz
beschmutzt.
25. 11. Wechselnder Zustand, lässt sich von einem jeden beeinflussen.
Spricht verwirrt, jammert übertrieben, spricht vorbei, später ist er wieder ruhig
und zugänglich.
1. 12. Den ganzen Tag aufgeregt, liegt im Gitterbette in der Zwangsjacke,
stöhnt, schreit wie ein Tier, ab und zu lacht er auf, soheint gehemmt zu sein,
dann springt er wieder im Bette auf und schimpft über die Aerzte und über
seine Frau.
12. 12. Um 4 y 2 Uhr vormittags Exitus unter Kollapssymptomen.
Obduktion am 12. 12. 1919, nachmittags (Dr. Palmoviö): Pachymeningitis
int. baemorrhagica sin. Leptomeningitis chronica fibrosa praecipue loborum fron*
talium et parietalium. Oedema leptomeningum chron. Hydrocephalus internus
chron. cum ependymitide granulari chronica. Arteriosclerosis arteriarum fossae
Sylvii et basilaris. Arteriosolerosis arcus aortae et ulcera atheromatosa. Cicatrices
multiplioes partim hyalinisatao intimae aortae. Arteriosclerosis valvularum mitra-
lium et tricuspidalium. Atrophia fusoa myocardii gravis et oedema pulmonum
acutum. Hyperaemia passiva lienis, hepatis, renum et mucosae ventriculi atque
intestini. Atrophia et cachexia universalis.
Kurz zusammengefasst müssen wir zugeben, dass man bei dem Kranken nooh
zur Zeit seiner Ankunft in die Anstalt auf der Grundlage seines katatonisohen
psychischen Zustandes, der träge auf Lioht reagierenden Pupillen, der gesteigerten
aber differenten Patellarreilexe und der aufgehobenen Achillessehnenreflexe am
natürlichsten und zu allererst an eine katatonische Paralyse denken musste.
Die ethischen Defekte, die man vor mehreren Jahren in dem brutalen Benehmen
and Zynismus des Kranken bemerken konnte, können unsere Diagnose nur be¬
stätigen. ln unserem Falle ist es das Auffallendste, dass das von unserem Kranken
noch zu jener Zeit auf bestialische Weise verübte Verbrechen niemand darauf auf*
merksam gemacht hat, es könne sich in diesem Falle um einen geisteskranken
Menschen handeln. Nicht nur, dass niemand anf etwaige Geisteskrankheit seine
Aufmerksamkeit gelenkt hat, — er wurde von der Gerichtsbehörde wegen seiner
brutalen Tat einfach zu vierjährigem Kerker verurteilt, welche Strafe er auch ab*
gebüsst hat. Wann er aus dem Gefängnis entlassen wurde, wo er sich naohher
aufgehalten und wie sich der Kranke vor der Manifestation der Geistesstörung zu
Hause verhalten hat, darüber stehen uns keine Daten zur Verfügung.
Erst zwei Monate vor seiner Ankunft in diese Anstalt zeigte er seiner Um*
gebung die Symptome einer Geistesstörung, also zu der Zeit, da die Krankheit
schon ihren terminalen Verlauf genommen hatte.
Noch mehr gewinnt an Bedeutung der vorliegende Fall dadurch, dass die
Krankheit bei ihm längere Zeit angedauert hat. Die Krankheit hat bis zum Tode
die typischen katatonischen Erscheinungen einer progressi ven Para¬
lyse 'gezeigt.
Es ist möglich, dass gerade diese Art von progressiver Paralyse in unserem
Falle infolge ihrer Eigenartigkeit, wie das sehr häufig vorkommt, der Aufmerksamkeit
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der Umgebung entgangen ist. Knecht (2) selbst, Näcke (3). Jahrmärker (4),
Pilcz (5) und Mattausohek (6) heben hervor, wie schwer es ist, diese Art von
progressiver Paralyse zu diagnostizieren.
In unserem Falle hat man erst in der Anstalt festgestellt, dass der Kranke
ein mit katatonischen Zögen behafteter Paralytiker ist. — Die
Nekroskopie hat schliesslich den typischen Befund ergeben und damit diesen so¬
wohl klinisch wie forensisch interessanten Fall endgültig geklärt.
Literatur.
1 ) Tarnowsky, Die krankhaften Erscheinungen des Geschlechtssinnes.
S. 82 (Fälle von Päderastie und Bestialität). — 2) Knecht, Allgem. Zeitschr.
f. Psych. Bd. 42. S. 33. - 3) Näcke, Ebenda. Bd. 49. S. 51. — 4) Jabr-
märker, Neurol. Zentralbl. 1903. S. 595. — 5) Pilcz, Lehrbuch der spez.
Psych. 1904. S. 130. - 6) Mattauschek, Jahrb. f. Psych. 1905. S. 283.
2 .
Klage auf Notzucht. — Abtreibungsversuch bei nichtschvrangerem
Uterus.
Von
Dr. James Brock,
ehemals Arzt der Kaiserl. St. Petersburger Entbindungsanstalt
und st. Petersburger SUdtakkoucheur.
Die im vergangenen Jahre in dieser Zeitschrift erschienene Arbeit über Ab¬
treibungsbandlungen bei nichtschwangerem Uterus von Dr. J. R. Spinner,
Zürioh, gibt mir die Veranlassung, folgenden Fall aus meiner Tätigkeit als Sach¬
verständiger in gynäkologischen Fällen bei den St. Petersburger Gerichtsinstitu¬
tionen hier mitzuteilen, der ausser anderem auoh deshalb Interesse beanspruchen
dürfte, weil er den Standpunkt darlegt, den das russische Gericht in der in Be¬
tracht kommenden Frage einzunehmen pflegt.
Im Dezember 1914 war ich vom Untersuchungsrichter des 13. Bezirks von
St. Petersburg um Abgabe meines Gutachtens in folgendem Fall aufgefordert
worden: Im April 1914 hatte das unverehelichte Dienstmädchen Sch., 18 Jahre
alt, gegen den Zimmereinwohner ihrer Dienstherrschaft N. N. eine Klage auf Not¬
zucht angestrengt. Dieser Akt sollte vor einer Woche stattgehabt haben und sie
sei dabei ihrer Jungfernschaft beraubt worden. Am 26. April fand die gerichts¬
ärztliche'Untersuchung der Klägerin statt, wobei der Arzt, Dr. S., Blutung und
Eröffnung des Muttermundes feststellte. Hierüber befragt, gestand die Sch., dass
sie die Notzuchtsklage aus Rache gegen N. N. erhoben habe. Sie habe mehrere
Monate ein Liebesverhältnis mit ihm unterhalten. Sich schwanger wähnend, habe
sie das dem N. N. erklärt und er versprochen, ihr zu helfen, sich von der Schwanger¬
schaft zu befreien. Da er nun dieses Versprechen nicht erfüllt hat, sondern sie im
Stiche gelassen, habe sie auf Notzucht geklagt, um sich an ihm zu rächen. Sie
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\
habe sich an die Hebamme P. gewandt, die ihr eine Bougie in den Uterus ein¬
führte. Der Gerichtsarzt Dr. S. beförderte die Sch. ins Peter-Pauls-Hospital, wo
sie sich vom 26. bis 29. April befunden hat. Dem mir vorgelegten Krankenbogen
entnahm ich, dass die Blutung im Hospital aufgehört hatte. Der Vermerk des
Anstaltsarztes im Krankenbogen lautete: „Muttermund geschlossen, Uterus infan-
tilis, menses.“
Die in dieser Angelegenheit vom Untersuchungsrichter verhörte Hebamme P.
gab zu Protokoll: Sie ist die Frau eines Advokaten, der aber sie mit ihren Kindern
ohne Subsistenzmittel habe sitzen lassen. Sie habe sich redlich durch geburts¬
hilfliche Praxis ernährt, niemals einen künstlichen Abort gemacht. Nun, da sie
und ihre Kinder sich in grösster Notlage befanden, habe sie dem Drängen der S.,
sie von ihrer Schwangerschaft zu befreien, nachgegeben und sich bereit erklärt,
für den ihr angebotenen Lohn von 15 Hubel, den Abortiiervorzurufen. Da sie an
6 er Schwangerschaft der S. nicht zweifelte, habe sie ihr die Bougie eingeführt.
Auf Grund oben angeführter Tatsachen gab ich mein Gutachten ab, von dem es
abhing, ob die S. und die Hebamme' in Anklagezustand zu versetzen seien. Eine
Untersuchung der S. hielt ich für überflüssig, zumal da die russische Prozessord¬
nung die körperliche Untersuchung von Frauenspersonen nur bei zwingender Not¬
wendigkeit zulässt.
Ich erklärte, dass das Faktum stattgehabter Schwangerschaft mangels objek¬
tiver Symptome nicht festgestellt ist. Die bei der S. beobachtete Blutung wäre
wohl die normale Regel gewesen und dürfe nicht als Folge vor sich gegangenen
Abortes aufgefasst werden. Hierauf bedeutete mir der Untersuchungsrichter, dass
er infolge dieses Gutachtens bei der Staatsanwaltschaft um Einstellung des Ver¬
fahrens vorschlägig werden müsse. Denn wenn keine Schwangerschaft Vorgelegen
habe, kein Produkt derselben — der Fötus — vorhanden gewesen ist, fehle das
Objekt des Verbrechens und weder die S., noch die Hebamme P. könnten in An¬
klagezustand versetzt werden.
Da ich bei Dr. Spinner die Angabe Gnde, „es hat in Deutschland zu der
konstanten Praxis geführt, die Frau in diesen Fällen zu bestrafen“, hielt ich es
nicht für überflüssig, auf den Standpunkt des russischen Gerichts in Fällen
von Abtreibungshandlungen bei nicbtsohwangerem Uterus hinzuweisen und vor¬
stehenden Fall zu veröffentlichen.
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X.
Besprechungen.
H. Zangger, Medizin und Recht. Zürich 1920. Orell Füssli. 701 Ss. 80 11.
Von hoher geistiger Warte aus behandelt der gedankenreiche Vertreter
unseres Faches an der Universität Zürich die Beziehungen der Medizin zam Recht,
die Kausalität in Medizin und Recht und die Aufgaben des geriohtlich-medizi-
nischen Unterrichts. Wir können aus dem reichen Inhalt des Buches, in dem
überall die selten vielseitige Begabung des Verfassers hervortritt, nur einzelne
wichtige Punkte herausgreifen.
Zangger hält neben der theoretischen Vorlesung praktische Uebungen für
die Studierenden des Rechts und der Medizin gemeinsam für nötig und hat solche
bereits eingerichtet. In diesen führt er seinen Schülern die frischen Fälle, die
ihm zugehen, unmittelbar vor, nimmt mit ihnen die notwendigen Ortsbesichti¬
gungen und alle sonstigen Untersuchungen zusammen vor, lässt sie an der ganzen
weiteren Entwicklung der Begutachtung teilnehmeq und endlich auch an der ab¬
schliessenden Gerichtsverhandlung. Er bebt hervor, dass nur durch solches un¬
mittelbares Erleben das notwendige Verständnis für den Ernst der Aufgabe erzielt
werden kann, die später Mediziner und Juristen, zum Teil auch Techniker ge¬
meinsam zu lösen haben. Man wird den Wert eines solchen in höchstem Sinne
praktischen Unterrichts nicht verkennen, freilich bedenken müssen, dass er nur
durchführbar ist bei weitgehendem Entgegenkommen aller, besonders der polizei¬
lichen und richterlichen Behörden und bei einer überragenden Stellung des Fach¬
lehrers, wie sie der Verfasser offenbar an seiner Wirkungsstelle besitzt. Durch
diese unmittelbare Teilnahme an den Untersuchungen, bei der die Studierenden
selbst mit ihren Meinungen und Vorschlägen gehört werden, soll in ihnen das
Gefühl der Verantwortung ausgebildet werden. Wie ein roter Faden zieht sich
durch das ganze Buch der Gedanke, dass nur die verantwortungsvolle Tätigkeit
wahre Befriedigung enthält und dass das ganze Sehnen unserer Jugend nach
einer solchen Tätigkeit geht.
Ein weiterer, einen grossen Teil des Buohes beherrschender Gedanke geht
dahin, dass die strafrechtliche Tätigkeit mehr in die Prophylaxe verlegt werden
muss, dass sie schon zu einer Zeit eingreifen soll, in der das Unheil noch nicht
geschehen ist und dass zu diesem Zwecke der Tatbestand der Gefährdung in
ganz anderer Weise als bisher strafrechtlich gehandelt werden muss, wobei gerade
wieder die Tätigkeit des medizinischen und naturwissenschaftlichen Sachverstän¬
digen, die auf Grund seiner Kausalitätsbegriffe zu treffenden Feststellungen ent¬
scheidend sein werden. Auf andere Punkte, so auf die Betrachtungen über .das
Geständnis, über falsche Selbstgeständnisse, auf die eingestreuten Beispiele, die
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Besprechungen. - 143
vielfach gerichtlich-medizinisch wichtige Beobachtungen darstellen, können wir
nur hinweisen.
Beim Lesen des Zanggerschen Buches kommt man immer wieder Zum Be¬
wusstsein, wie sehr der Bliok des zukünftigen Arztes erweitert, wie sehr seine
Lebenserfahrung erhöht wird, wenn er duroh die Beschäftigung mit unserem Fach
einen Einblick in die Welt des Rechts und die mannigfachen hier verhandelten
Lebensverhältnisse erlangt. Schwer begreiflich erscheint es uns immer wieder,
dass man neuerdings versucht, dem jungen Mediziner dieses wichtige Bildungs¬
mittel zu entziehen, um so mehr, als unsere künftigen Aerzte doch vielfach ge¬
zwungen sein werden, im Ausland den Wettkampf mit don Medizinern anderer
Staaten aufzunehmon, denen durchweg diese Vorbildung zur Verfügung steht.
Statt dessen will man freilich dem Studierenden der Medizin eine Vorlesung über
Logik auferlegen. Gewiss kann er auch dabei nützliche Kenntnisse erwerben;
wenn man sich aber einbildet, dass er Schärfe des Denkens durch ein Collegium
logioum erlangen soll, so wird man demgegenüber an das Wort des seligen
Fontane erinnert: ,,Man hat sie oder hat sie nioht.“ F. Strassmann.
Das uns zugegangene Heft 1 des Jahrgangs 1920 (Bd. XV) des Arcbfvio
di antropologia oriminale, psichiatria e medicina legale (Herausgeber
Prof. Mario Carrara in Turin) enthält folgen de Originalarbeiten: E.Ferri (Rom),
Die Strafrechtsreform in Italien; A. Setti (Turin), Zur Erlösung der Minderjährigen;
G. Levi (Turin), Form und Funktion; M. U. Massini (Genua), a) Leichenzer¬
stückelung bei epileptischer Geistesstörung, b) Selbstentmannung mit Autophagie
(Einzelmitteilungen). Ferner bringt das Heft berichtende Artikel über die Gesell¬
schaft für gerichtliche Medizin in Rom, über kriminologische Probleme, über anthro¬
pologisch interessante Strafprozesse, über Gesetzgebung undRecbtsprechnng(Berufs-
geheimnis und Abtreibung in Frankreich), sowie schliesslich eine reiche Literatur¬
ubersicht.
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XL
Notiz.
Tagung der Deutschen Gesellschaft für gerichtliche und soziale
Medizin in Bad Nauheim.
Die diesjährige Tagung der Deutschen Gesellschaft für gerichtliche nnd
soziale Medizin findet im Anschluss an die 86. Naturforscherrersammlang rom
20. bis 25. September in Bad Nauheim statt.
Die Herren Kollegen werden gebeten, Vorträge und Demonstrationen dem
Unterzeichneten Schriftführer anzumelden.
Geh. Obermedizinalrat Dr. Baiser (Darmstadt),
Einführender
Prof. Dr. A. Haberda (Wien), Prof. Dr. Loohte (Göttingen),
Vorsitzender Schriftführer
der Deutschen Gesellschaft für gerichtliche Medizin.
Druck von L. Schumacher in Berlin N. 4.
Goog le
Original'-frorr
UNIVERSITY QFjf
1920.
Oktober.
Y iertelj alirsschrift
für
gerichtliche Medizin
and
öffentliches Sanitätswesen.
;
Unter Mitwirkung der wissenschaftlichen Deputation für
das Medizinal wesen im Ministerium für Volks Wohlfahrt
herausgegeben
Dr. M. Beninde, und Prof. Br. E. Strassmann,
Geb. Med.-Rat in Berlin. Geb. Med.-Rat in Berlin.
Dritte Folge. 60. Band. 2. Heft.
Jahrgang 1920. 4. Heft.
Mit 1 Kurve im Text.
BERLIN 1920.
VERLAG VON AUGUST HIRSCHWALD.
NW. UNTER DEN LINDEN 68.
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UNIVERSETY OF MICHIGAN
Verlag von Anglist Hirschwald in Berlin.
Soeben erschien:
Grundriss
der psychiatrischen Diagnostik
nebst einem Anhang, enthaltend die für
den Psychiater wichtigsten Gesetzesbe¬
stimmungen und eine Uebersicht der ge¬
bräuchlichsten Schlafmittel
von Prof. Dr. J. Raeeke.
Achte, umgearbeitete und verb. Auflage.
1920. 8. Mit 14 Textfiguren. Gebd. 8 M.
Bernhard Flscher’s
kurzgefasste Anleitung zu den wichtigeren
hygienischen und bakteriologischen
Untersuchungen.
Dritte, wesentlich umgearbeitete Auflage
von Prof. Dr. Karl Kisskalt.
1918. 8. Gebd. 11 M.
Pathologisch-anatomische
Diagnostik
nebst Anleitung zur Ausführung von
Obduktionen sowie von pathologisch-
histologischen Untersuchungen
von Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Job. Orth.
Achte, durcbgesehene u. vermehrte Aufl.
1917. gr.8. Mit532Textfig. 22 M., geh. 24 M.
Handbuch
der gerichtlichen Medizin.
Herausgegeben v. Wirkt. Geh.Ober-Med.-Rat
Prof. Dr. A. Sckmidtmann,
unter Mitwirkung von Prof.Dr. A.Haberda,
Prof. Dr. Kockel, Prof.Dr. Wachholz,
Med.-Rat Prof. Dr. Puppe, Prof. Dr.
Ziemke, Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Ungar
und Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Sieraerling.
Neunte Auflage
des Casper-Liman'sehen Handbuches.
I. Bd. gr.8. Mit 40 Textfig. 1905. 24 M.
H. Bd. gr.8. Mit 63 Textfig. 1907. 15 M.
III.Bd. gr.8. 1906. 16 M.
Soeben erschien:
Algolmllucinosis
von Dr. S. Galant.
1920. gr. 8. Mit 8 Abb. im Text. 28 M.
Verlag von Augnst Hirschwald in Berlin.
Praktikum
der gerichtlichen Medizin.
Die Elemente der gerichtsärztlicben Dia¬
gnostik und Technik nebst einer Anlage:
Gesetzesbestimmungen und Vorschriften
für Mediziner, Juristen und praktische
Kriminalisten
von Gerichtsarzt Dr. Hngo Marx.
Zweite, verbesserte und erweiterte Aufl.
1919. Mit 25 Textfiguren. 10 U.
Die experimentelle Diagnostik,
Serumtherapie und Prophylaxe
der Infektionskrankheiten
von Oberstabsarzt Prof. Dr. E. Marx.
Dritte Aufl. gr.8. Mit 2 Taf. u. 4 Textfig.
1914. 12 M.
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der allgemeinen und speziellen
Arzneiverordnungslehre.
Auf Grundlage des Deutschen Arzneibuches 5. Aus-
gebe und der neuesten ausländischen Pharmakopoen
bearbeitet von
Geh. Med.-Rat Prof. Dr. C. A. Ewald
und Geh. Med. : Rat Prof. Dr. A. Hefter.
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von Prof. Dr. E. Friedbergir.
Vierzehnte, gänzlich umgearbeitete Aufl.
1911. *r. 8. Gebd. 18 M.
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1916. ^ gr. 8. Mit 6 Tafeln und 33 Text¬
figuren. 8 M.
(Bibi. v. Coler-v. Schjerning, XXXVLTI. Bd.)
Der gerichtlich-medizinische
Nachweis der wichtigsten Gifte.
Von Prof. Dr. med. Hermann Hildebrandt.
8. 1912. 2 M.
Handbuch
der gerichtlichen Psychiatrie
unter Mitwirkung von Prof. Dr.A schaffen -
bürg, Prof. Dr. E. Schultze, Prof.
Dr. Wollenberg,
herausgegeben von Prof. Dr. A. Hoehe.
Zweite Auflage. 1909. gr.8. 20 M.
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XII.
Die Begutachtung von Nierenerkrankungen
auf Grund der Kriegserfahrungen.
Von
A. V. Knack.
(Mit 1 Kurve im Text.)
Das grosse Material von * Erkrankungen der Harn- und Geschlechts¬
organe, das während des Krieges zur Beobachtung kam, hat uns
mancherlei bemerkenswerte Gesichtspunkte in gerichts- und versiche¬
rungsärztlicher Richtung auf diesem bisher noch recht unklaren Gebiet
gebracht. Der besondere Charakter des Krieges bringt es mit sich,
dass einmal Körperverletzungen der verschiedensten Art sowie Unfälle
in mannigfacher Form in grosser Zahl Vorkommen, unter denen auch
Versuche der Simulation bis zur Selbstverstümmelung nicht allzu
selten sind.
Die Erfahrungen der während der Kriegsjahre gewaltig ange¬
wachsenen Literatur, die in ihrer fortlaufenden Uebersicht anfangs von
Lohnstein, dann nach dem Tode dieses ausgezeichneten Urologen
von mir in der Zeitschrift für Urologie zusammengestellt wurde, kann
ich durch ein während der Kriegsjahre auf der Abteilung für Nieren-
und Blasenkranke des Reservelazaretts Allgemeines Krankenhaus Barra-
beck, Hamburg, beobachtetes grosses, einschlägiges Material ergänzen.
In dieser Arbeit soll zunächst nur von den Erkrankungen der
Nieren berichtet werden.
Wer die bisher erschienene Literatur über den ursächlichen Zu¬
sammenhang zwischen Unfällen und Auftreten innerer Nierenerkran¬
kungen liest, hat den zwingenden Eindruck, dass, von wenigen Fällen
abgesehen, der Begutachter sich meist nur in Vermutungen ergeht.
Auf eine ausführliche Wiedergabe der bisher erschienenen Lite¬
ratur zu dieser Frage verzichte ich und beschränke mich darauf, die
drei letzten wichtigen Arbeiten von Horn, Posner und Wild bolz
Vierteljahruchrift f. ger.Med. n öff. San.-Wesen. 3. Folge. Bd. 60. H. 2. in
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146
A. V. Knack,
zu nennen, die auch einen kritischen Rückblick auf die ältere Lite¬
ratur zu geben versuchen.
Die herrschende Unklarheit wird um so leichter verständlich,
wenn man bedenkt, dass noch bis vor wenigen Jahren das Gebiet der
inneren Nierenerkrankungen ein systemloses Durcheinander von mehr
minder gut durchforschten Krankheitsbildern darstellte. Vor allem
war es meist nicht möglich, aus der klinischen Beobachtung einen
sicheren Rückschluss auf den anatomischen Charakter der bestehenden
Nierenveränderung zu gewinnen. Dieser Zustand änderte sich erst
kurz vor dem Kriege, als Fahr und Volhard nach mehrjähriger ana¬
tomischer und klinischer Zusammenarbeit ein System der Nieren¬
erkrankungen veröffentlichten, nach dem es mit einem Schlage möglich
wurde, in der überwiegenden Mehrzahl der inneren Nierenerkrankungen
auf Grund der klinischen Untersuchung eine exakte anatomische Dia¬
gnose des vorliegenden Nierenleidens zu stellen. Sicherlich haben
viele namhafte Forscher, unter denen ich besonders Aschoff, Jores,
Löhlein, von Müller und Strauss hervorheben möchte, wichtige
Vor- und kritische Mitarbeit geleistet. Das Verdienst endgültiger
Klärung gebührt jedoch nur Volhard und Fahr. Seit dem Erscheinen
ihres ersten grundlegenden Werkes im Winter 1913 ist das von ihnen
aufgestellte System in den weitesten Kreisen der Aerzteschaft so be¬
kannt geworden, dass es an dieser Stelle genügt, nur einen kurzen
Ueberblick über die von ihnen abgegrenzten Krankheitsbilder zu geben.
Ich berücksichtige dabei gleichzeitig die während der Kriegszeit von
Fahr, Volhard u. a. veröffentlichten Arbeiten.
Fahr und Volhard greifen aus der grossen Zahl innerer Nierenerkrankungen
überhaupt die nach altem Herkommen zur Brightschen Erkrankung gezählten
Krankheitsformen heraus im Gegensatz zu anderen Autoren, die wie Aschoff
sämtliche inneren Nierenorkrankungen in ein umständliches Schema hineinzupressen
versuchen, ohne damit jedoch die für praktische Zwecke zu erstrebende Klarheit
zu schaffen. Die Krankheitsbilder, die Bright im Beginne des vorigen Jahr¬
hunderts zusammenfasste, gehören auch nach unserer heutigen Kenntnis mit vollem
Recht in eio für sich geschlossenes System, da es sich bei ihnen nicht nur um
Erkrankungen der Nieren allein, sondern um entzündlich-degenerative und skleroti¬
sche Systemerkrankungen des gesamten Körpers handelt, unter denen die Erkran¬
kung der Nieren nur besonders stark hervortritt.
Volhard und Fahr unterscheiden drei grosse Gruppen:
1. Die primär degenerativen Erkrankungen, die Nephrosen.
2. Die primär entzündlichen Erkrankungen, die Nephritiden.
3. Nieronerkrankungen, bei denen sklerotische Gefässprozesse im Vorder¬
gründe stehen, die Sklerosen.
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Die Begutachtung von Nierenerkrankungen auf Grund der Kriegserfahrungen. 147
ln einer Uebersichtstabelle gobe ich kurz zusammengefasst die von Volhard
und Fahr aufgesteliten Krankheitsbilder wieder. Die gleiche Tabelle enthält auoh
die Angaben über die klinisch differential-diagnostisoh wichtigen Punkte (vgl. um¬
stehende Tabelle I) für die Krankheitsbilder im allgemeinen. Mit Abweichungen
muss natürlich hier wie überall gerechnet werden.
Der Vorzug der Volhard-Fahrschen Einteilung ist auch der, dass sie mit
relativ einfachen Untersuchungsmethoden arbeitet. Neben dem genauen Urin¬
befund, der Blutdruckbestimmung 'und der Berücksichtigung des sonstigen körper¬
lichen Befundes sind als Funktionsprüfungen nur erforderlich der Wasseraus-
scheidungs-und Konzentrationsversuch sowie die KeststicbstofTbestimmung im Blute.
Die Wasserausscheidung und Konzentrationsfähigkeit der Niere wird so ge¬
prüft, dass dem Patienten morgens uüohtern 1 1 / 2 Liter Wasser zugeführt werden,
und dass dann bei weiterer Trockendiät der Zeitpunkt bestimmt wird, an dem die
zugeführte Flüssigkeit wieder im Urin ausgeschieden wird — das soll normaler¬
weise in 4 Stunden geschehen — sowie in am gleichen und am nächsten Tage
gelassenen Urineinzelmengen das spezifische Gewicht bestimmt wird, dasselbe soll
beim Normalen zwischen 1000 und 1030 verschieblich sein.
Die Bestimmung des Reststickstoifs muss im nüchtern entnommenen Pa¬
tientenblut erfolgen und ist nach mehreren Methoden ausführbar. Die obere Grenze
der Norm liegt bei der meist geübten Bestimmung nach Rone und Michaelis
zwischen 35 und 40 mg RN in 100 ccm Gesamtblut.
Zu der in der Tabelle gegebenen Einteilung seien mir noch einige ergänzende
Ausführungen gestattet.
Bei den Nephrosen muss man unterscheiden:
1. Die genuinen Nephrosen; diese sind Krankheitsprozesse primär degene-
rativer Natur am Epithelialapparat der Nieren (vorwiegend an den Tubuli con-
torti), für deren Entstehung eine Aetiologie nicht gefunden werden kann.
2. Die Nephrosen aus bekannter Ursache. Hierher gehören die primär
degenerativen Nierenprozesse aus infektiöser oder toxischer Ursache. Unter den
Infektionen stehen an erster Stelle Diphtherie, Typhus, Cholera, Pneumonie,
Lues u. a. m. Unter den Intoxikationen kommen die verschiedensten Gifte, am
häufigsten Sublimat (man, spricht hier wegen des schweren Zerfalls von einer
Sublimatnekrose), in selteneren Fällen Arsen, Chrom u. a. Stoffe in Frage.
3. Die bestimmt charakterisierten Nephrosen; hierher gehören die Amyloid¬
niere und die Diabetesniere.
Bezüglich der Nierenfunktion ist eine Unterscheidung dieser einzelnen
Nephrosengruppen bisher nicht exakt möglich. Vielfach wird man aus der Kennt¬
nis der Ursache heraus die Differenzierung vornehmen. Die Diagnose der Amyloid¬
niere wird man neben der für nephrotischen Prozess sprechenden Funktionsstörung
dann stellen, wenn auch nach dem sonstigen Krankheitsbilde die Möglichkeit des
Amyloids vorliegt, wie besonders bei älteren tuberkulösen Prozessen, tertiärer Lues,
Karzinom u. dgl., allerdings gibt es auch ein Amyloid, ohne dass man eine fass¬
bare Ursache selbst anatomisch dafür findet.
Eine der häufigsten Nierenerkrankungen ist die Mischform zwischen der
diffusen Glomerulonephritis und der Nephrose. Da im Vordergründe der Er¬
krankung die Beteiligung des Glomerulusapparates steht, spricht man hier von
einer Glomerulonephritis mit nephrotischer Komponente.
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Die Begutachtung von Nierenerkrankungen auf Grund der Kriegserfahrungen. 149
klebungen der Kapselblätter, intrakapüläre Zellvermehrung, Fibrinpfröpfcben,
rote Blutkörperchen im Kapselraum, Bildung ausgesprochener Halbmonde). Am
Parenchym bemerkt man Verfettungen, lipoide und tropfige Degeneration, be¬
sonders an den Epithelien der Hauptstücke. Wegen dieses Hinzukommens degene-
rativ entzündlicher Prozesse zur reinen Sklerose sprachen Volhard und Fahr
anfänglich hier von einer Kombinationsform. Da dieser Begriff aber wiederholt
missverstanden wurde, hat Fahr in neuerer Zeit das Krankheitsbild als maligne
Nierensklerose bezeichnet. Während das Endstadium der akuten diffusen Glomerulo¬
nephritis die sekundäre Schrumpfniere ist, entspricht die maligne Sklerose dem,
was man früher als genuine Schrumpfniere bezeichnet hat. Das in Frage kom¬
mende toxische Moment, das die maligne Sklerose bedingt, können entweder
„Stoffweehselprodukte sein, welche durch die Niere ausgeschieden werden sollen
und die sich bei progredienter Niereninsuffizienz in weit erhöhter Konzentration
im Blute finden. Für diese Ausscheidung lässt sich ins Feld führen, dass im
späteren Verlauf schwerer Gicht sehr häufig die sogenannte Gichtniere eintritt, die
sioh anatomisch nicht von anderen Formen der genuinen Schrumpfniere unter-
erkrankung im Kriege. Med. Klinik. 1916. Nr. 19—21.)
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150
A. V. Knack,
scheiden lässt. Die Harnsäure gehört — wie die übrigen Parinderivate — exquisit
zu den Stoffen, welche auf die Gefässe und speziell auch auf das Nierengewebe
reizend wirken“ (F. v. Müller). Andere Gifte sind das Blei und die Lues. „Viel¬
leicht sind manche chronischen Infektionen und Intoxikationen, z. B. das Pota-
torium und rezidivierende Mandelerkrankung, imstande, ein ähnliches Bild zu
machen, das sich aus vaskulären und entzündlichen Elementen zusammensetzt.“
Für den Begutachter von Wichtigkeit ist zunächst die Frage der
Aetiologie der akuten und chronischen Nierenentzündungen. Zwar
wissen wir, dass eine Menge infektiöser und toxischer Momente ur¬
sächlich in Betracht kommen können. Es bleiben aber doch noch
eine erhebliche Anzahl von Nierenerkrankungen übrig, bei denen uns
jeder Anhalt für die Entstehung fehlt. Es ist zur medizinischen Haus¬
regel geworden, bei jeder Nierenerkrankung den Patienten eingehend
nach einer früher durchgemachten Angina oder einem Scharlach zu
befragen. Der Krieg aber hat uns gerade gelehrt, dass es zahllose
akute Nierenentzündungen gibt, für die noch jedweder ätiologischer
Anhalt fehlt. Hierher gehört die geradezu epidemisch seit dem Früh¬
jahr 1915 aufgetretene Kriegsnephritis. Man hat mit grossem Eifer
erfolglos die Ursache dieser akuten diffusen Glomerulonephritis während
der Kriegsjahre zu ergründen versucht. Anfangs glaubte ein Teil der
Autoren, Infektionen der oberen Luftwege als ätiologisches Moment
annehmen zu können. Herxheim er konnte wiederholt Streptokokken
an Leichen in Organen, Blut und Eiter nachweisen. Andere Autoren
glaubten in einer Ernährungschädigung eine toxische Ursache finden
zu können (Albu und Schlesinger). Einer sogar fand im ödema-
tösen Hautgewebe rikettsiaartige Gebilde (Töpfer.) Bei genauerem
Zusehen aber passte keine dieser Aetiologien auf die Gesamtheit der
sonst ganz gleichartig verlaufenden Krankheitsbilder. Auch die nahe¬
liegende Annahme, dass Erkältung oder Durchnässung die Ursache
wären, konnte nicht aufrecht erhalten bleiben, da die gleichen Er¬
krankungen auch ohne Mitwirkung dieser Witterungsschädigungen auf¬
traten, oder dass sogar in Gegenden, in denen infolge ausserordent¬
licher Kälteeinwirkung massenhafte Erfrierungen der übrigen Körper¬
teile vorkaraen, wie z. B. in den Karpathenkärapfen, Nierenerkrankungen
fast völlig fehlten. Auch hat uns das Kriegsmaterial keinerlei be¬
sonders beachtliche Einzelfälle geliefert, in denen Nierenentzündungen
durch plötzlich eintretende starke Abkühlung, wie Sturz ins Wasser
u. dgl. m. auftraten. So umfassende Beobachtungen wir auch in der
klinischen Symptomatologie der akuten Nierenerkrankungen machen
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Die Begutachtung von Nierenerkrankungen auf Grund der Kriegserfabrungen. 151
konnten, ätiologisch haben wir nichts Nennenwertes durch den Krieg
hinzugelernt.
Die wichtige Frage, inwieweit ein lokales Trauma eine
akute Nierenentzündung auslösen kann, hat in der Kriegs¬
literatur eine indirekte Beantwortung gefunden. Die bisherige Literatur
vermochte einige Fälle anzuführen, in denen ein Zusammenhang
zwischen "Trauma und frischer Nierenentzündung zu bestehen schien,
aber diese Fälle waren doch, das wird mir jeder in der Literatur Be¬
wanderte zugeben, meist wenig überzeugend. Entweder fehlte der
sichere Nachweis, dass vor dem Trauma keinerlei Nierenveränderungen
bereits bestanden hatten, oder die klinische Diagnose konnte nicht
genügend exakt durchgeiführt werden, weil eben damals noch die
Nierenfunktionsprüfungen unbekannt waren und die Diagnostiker haupt¬
sächlich auf Vermutungen angewiesen waren, oder die Fälle, in denen
anatomische Befunde erhoben werden konnten, zeigten histologische
Veränderungen, die mit einer echten Nierenentzündung nichts zu tun
hatten. Ich erinnere hier an die oft angeführten Fälle von Holz
und Pfeiffer. Würde es eine traumatische Nephritis im oben an¬
gedeuteten Sinne geben, so hätte uns der Krieg sicherlich eine grössere
Anzahl solcher Fälle geliefert, denn Verletzungen der Nierengegend
durch stumpfe oder scharfe Gewalt waren durchaus nicht selten. Ihre
Folge war aber stets eine chirurgische Nieren Verletzung, nie eine echte
Nephritis. Die Literatur berichtet über keinen solchen Fall, und der
einzige Fall, der unserer Abteilung als solcher überwiesen wurde,
hatte bei exakter Untersuchung ein völlig negatives Ergebhis.
W., 30 Jahre alt, 15/2683. 1914 Quetschung der linken Körperhälfte
zwischen zwei Wagen. Oktober 1914 ins Feld. Februar 1915 in einen Schützen¬
graben gefallen. Seit dieser Zeit Schmerzen im Kreuz. Angeblich nierenleidend.
Nierenbefund völlig normal. Röntgenaufnahme der Nieren o. B.
In der Literatur ist während des Krieges wiederholt die Frage
angeschnitten worden, ob ein Trauma zu einer Nephrose führen
könne? Anlass gab ein von Volhard beschriebener Fall, in dem
das typische Krankheitsbild der genuinen Nephrose sich an einen
Sturz aus dem Fenster anschloss. Ganz ähnlich lag ein Fall von
Kapsammer, bei dem nach einem Sturz aus dem Fenster eine
Nierenerkrankung mit Oedem ohne irgendwelche Herzerscheinungen,
also wahrscheinlich auch eine Nephrose auftrat. In einigen ähnlichen
Fällen der französischen Literatur (zit. bei Posner), die, wie die von
Holz und Pfeiffer, anatomisch untersucht wurden, lagen zwar mehr
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152
A. V. Knack,
oder minder ausgedehnte nephrotische Veränderungen zum Teil mit
starker Verfettung der an den Zerfallsherden beteiligten Tubuli vor.
Klinisch boten diese Fälle aber nicht das Bild der Nephrose, sondern
sie zeigten im Gegenteil einen stark blutigen, relativ wenig Eiweiss
enthaltenden Urin. Wenn ja nun auch die Fälle von Volhard
und Kapsaramerin ihrer ganzen Art sehr für die traumatische Ent¬
stehungsmöglichkeit eines degenerativen Nierenprozesses sprechen, so
muss es doch Wunder nehmen, dass das Kriegsmaterial uns gar keine
derartigen Fälle geliefert hat. Wir werden den Begriff der von
Posner in die Literatur eingeführten „traumatischen Nephrose“ vor¬
erst noch recht skeptisch behandeln müssen und immerhin bedenken,
ob die von ihm als Beweis angeführten Unglücksfälle nicht doch nur
durch einen Schwächezustand der bereits im Entstehen begriffenen
Nierenerkrankung ausgelöst wurden, dass Ursache und Wirkung hier
verwechselt wurden.
Mancherlei hat uns der Krieg auch auf dem Gebiete der chroni¬
schen Nierenerkrankungen gelehrt. Dass eine bestehende chro¬
nische Erkrankung durch vermehrte körperliche Belastung, wie sie
der Kriegsdienst mit sich bringt, exazerbieren kann, ist nichts Neues,
t Einige Fälle von Exazerbation chronisch entzündlicher
^ierenerkrankungen aus unserem Beobachtungsmaterial mögen
hier aufgeführt sein.
E., 21 Jahre alt, 16/6282. 1911 Nierenentzündung. August 1915 ins Feld.
September 1915 Schwellung des ganzen Körpers. Nierenbefund im März 1916:
Urin: Eiweiss 1 pM., Blut Spur. RN 62. Wasserausscheidung in 12y 2 Stunden.
Konzentrationsbreite 1005—1008. Blutdruck 165 mm Hg. Röntgenaufnahme des
Herzens TD 13,0, LD 16,0. Augenhintergrund o. B.
Diagnose: Chronische diffuse Glomerulonephritis mit Niereninsuffizienz.
S. , 43 Jahre alt, 16/5716. November 1915 in die Garnison. Wiederholt bei
leichteren Marschanstrengungen und Uebungen Atemnot. Nierenbefund im De¬
zember 1916: Urin: Eiweiss 1 pM., Blut negativ. BD 210 mm Hg. RN 186. Reti¬
nitis beiderseits. Herzhypertrophie, Galopprbythmus. 8. 1. 1917 Exitus.
Sektion: Sekundäre Schrumpfniere.
T. , 19 Jahre alt, 15/2908. 1913 Scharlach mit anschliessender Nieren¬
entzündung. Juni 1914 Fahnenjunker, Januar 1915 ins Feld. Mai 1915 Kopf¬
schmerzen, Erbrechen, Mattigkeit. Nierenbefund: Urin: Eiweiss 1 / i pM., Blut
negativ, Wasserausscheidung in 24 Stunden. Konzentrationsbreite 1002—1026.
BD 120 mm Hg. RN 24. Herz o. B.
Diagnose: Chronische diffuse Glomerulonephritis ohne Niereninsuffiziens.
S., 25 Jahre alt, 15/4079. Mit 15 Jahren Scharlach. Dezember 1914 ins
Feld. Ende Januar 1915 im Eis eingebrochen. Mai 1915 ins Lazarett. Im August
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Die Begutachtung von Nierenerkrankungen auf Grund der Kriegserfahrungen. 153
1915 ins Barmbecker Krankenhaus <nit Bewusstlosigkeit und Krämpfen eingeliefert.
Nierenbefund: Urin: Eiweiss und Blut positiv. RN 42.
Sektion: Sekundäre Schrumpfniere.
Die Kriegsliteratur weiss von weiteren Fällen zu berichten. Aller¬
dings handelte es sich dabei wie in den vorstehenden Fällen stets
nur um den schädigenden Einfluss körperlicher Mehrbelastung oder
allgemeiner ungünstiger Witterungseinflüsse wie Erkältung und Durch-
nässung (vgl. Lohnstein). Eine Exazerbation durch lokale Traumen
wurde meines Wissens während der Kriegszeit nicht beschrieben.
Besonders wichtig ist nun das Verhalten der zum Gebiet
der Sklerosen gehörigen chronischen Nierenprozesse gegen¬
über den vorerwähnten Schädigungen durch körperliche
Mehrbelastung. Die benignen Sklerosen sind reine Erkrankungen
des Gefässsysteras, die Nierenerkrankung tritt klinisch völlig zurück.
Im Vordergründe stehen vielfach nur Herz- oder Gehirnsymptome.
Werden solche Patienten, die meist im 5. Lebensjahrzehnte stehen,
aus ihrer alltäglichen Gewohnheit herausgerissen und zu vermehrter
körperlicher Leistung herangezogen, so treten in der Mehrzahl der
Fälle Herzinsuffizienzerscheinungen auf, in seltenen Fällen auch Ge¬
hirnsymptome. Ich selbst verfüge über keinen Fall, in dem eine
grössere Gehirnläsion im Sinne einer Apoplexie auftrat. Meist handelt
es sich um das Auftreten mehr oder minder erheblicher Herzinsuffizienz.
Als Beispiel zwei Fälle:
S.. 48 Jahre alt, 18/12438. Seit 1914 in der Etappe. Ende Juli 1917 er¬
krankt mit Blasenbeschwerden. Unwillkürlicher Urinabgang, vermehrter Harn¬
drang. Im Lazarett Nierenentzündung festgestellt. Nierenbefund am 15. 1.: Urin:
Eiweiss leichte Trübung, vereinzelte Blutkörperchen im Sediment. BD 160 mm Hg
Wasserausscheidung in 2 Stunden. Konzentrationsbreite 1000—1032. Gesamt¬
ausscheidung 3660 ccm. RN 19. Wa negativ. Röntgenaufnahme des Herzens:
LD 16,8. TD 14,6. Aorta cooperscherenförmig aufgebogen. Zystoskopie normal.
E., 45 Jahre alt, 18/12932. Seit 1914 als Krankenpfleger im Lazarettzug.
Anfang 1918 zunehmende Mattigkeit. Nierenbefund: Urin: Eiweiss Spur, Blut
negativ. BD 160—205 mm Hg. RN 53. Wa negativ. Wasserausscheidung in
29 Stunden. Konzentrationsbreite 1004—1035. Röntgenaufnahme des Herzens
normal. 1. 6. gebessert entlassen. BD schwankt zwischen 115—168 mm Hg.
Beachtlich erscheint mir auch ein Fall, in dem heftige dauernde
Kopfschmerzen zunächst än alles andere als an eine Nierensklerose
denken Hessen, bis eine endlich vorgenommene Blutdruckmessung die
Diagnose mit einem Schlage klärte.
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154
A.V. Knack,
Der Patient war als Arbeitssoldat in der Garnisonbäckerei tätig. Er klagte
über .Mattigkeit und anerträgliche Kopfschmerzen. Neben einer Herzvergrösserung
bestand eine Blutdrucksteigerung von über 200 mm Hg. Der Nierenbefnnd
sprach für benigne Sklerose. Ruhe und diätetische Behandlung beseitigten die
Beschwerden.
Besonders bemerkenswert sind nun aber diejenigen Fälle, in denen
das Trauma der plötzlichen körperlichen Mehrbelastung den
Uebergang einer benignen in eine maligne Nierensklerose
bedingt. Das Verhältnis der benignen und malignen Nierensklerose
ist von den pathologischen Anatomen noch heiss umstritten. Während
Löhlein und Jores, denen sich auch A sch off anschliesst, in beiden
Erkrankungen lediglich verschiedene Grade desselben Gefässprozesses
sehen und behaupten, dass die maligne Sklerose nur ein weiter vor¬
geschrittenes Stadium der benignen Sklerose darstellö und in der
Nomenklatur von einer Nephrocirrhosis arteriosclerotica initialis und
progressa sprechen, vertritt Fahr den Standpunkt, dass es sich bei
beiden Erkrankungen um prinzipiell verschiedene Krankheitsbilder
handelt. Zwar finden wir bei beiden erhebliche sklerotische Verände¬
rungen in den feinen Gefässen, bei der malignen Sklerose kommen
dazu jedoch ausgesprochene entzündlich-degenerative Veränderungen
an den Glomerulis und Tubulis, die durch ein besonderes schädi¬
gendes Agens bedingt sein müssen und niemals rein angiotrophisch
ausgelöst werden können. Hinzu kommt, dass es Fahr in letzter
Zeit hier auch wiederholt gelang, ausgesprochene endarteriitische
Prozesse nachzuweisen im Gegensatz zu den blanden sklerotischen
bei der benignen Form. Es wurde bereits oben angeführt, dass
im Sinne der besonderen anatomischen Veränderungen auch ätio¬
logisch spezifische Momente wie Lues, Blei und Gicht für die Aus¬
lösung des malignen Prozesses in Frage kommen. Neben diesen
spielt nun auch die durch plötzlich einsetzende körperliche Mehr¬
belastung bedingte Stoffwechseländerung für die Auslösung eines
malignen Prozesses eine bemerkenswerte Rolle, wie folgende Fälle
zeigen: t
S. Bei dem jetzt 47jährigen Manne traten bereits 1899 die ersten Anzeichen
einer Arteriosklerose auf. Damals klagte er über manchmal auftretendes Beklemmungs-
gefübl in der Herzgegend und rheumatische Beschwerden in verschiedenen Gelenken.
Wegen dieser Beschwerden war der Mann wiederholt in Krankenhäusern in Be¬
handlung. Da man eine organische Veränderung nicht finden konnte, lautete die
Diagnose meist auf Neurasthenie, Hysterie und Taedium laboris. 1912 traten vor¬
übergehende Obnmachtsanfälle auf, 1913 eine */ 2 Stunde dauernde Lähmung der
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Die Begutachtung von Nierenerkrankungen auf Grund der Kriegserfahrungen. 155
rechten Körperhälfte. Der Mann ka in wieder ins Krankenhaus. Die Beschwerden
worden aber, zumal sie von äusseren Anlässen abhängig zu sein schienen, als
funktionell aufgefasst und die Diagnose Hysterie gestellt. Erst im Juli 1914 fand
sich bei einer tonometrischen Untersuchung eine erhebliche Blutdrucksteigerung
bis 210 mm Hg, daneben eine deutliche Hypertrophie des linken Ventrikels. Der
Urin war bei den bisherigen ärztlichen Untersuchungen stets normal gewesen.
Mit Kriegsbeginn trat der Mann als Unteroffizier ein, war anfangs mit Rekruten¬
transporten nach dem Westen beschäftigt, später nur mit Ausbildung neuer Truppen
in der Garnison. Die zweite Hälfte des Jahres 1914 und das Jahr 1915 verbrachte
er ohne erhebliche Beschwerden. Erst im Februar 1916 traten im Anschluss an
Uebungsmärsche erneut Kopfschmerzen, Schmerzen in der Herzgegend und Lähmungs¬
gefühl in den Beinen auf. Seit Mitte März hatte Patient auoh über Schwachsichtig¬
keit zu klagen, es war ihm nicht möglich, irgendwelche Gegenstände scbarf kon-
turiert zu sehen. Ende März trat ziemlich plötzlich blutiger Urin auf. Bei der
deshalb erfolgten Aufnahme im Barmbecker Krankenhaus wurde eine erhebliche
Herzbypertrophie und eine Blutdrucksteigerung bis 240 mm Hg festgestellt. Der
Urin war fast rein blutig, zeigte leicht vermehrte Tagesmenge, durchschnittlich
1 8 / 4 pM. Eiweiss, Zylinder aller Art. Man dachte zunächst an eine Massenblutung
aus einer Niere und glaubte, vielleicht im Platzen eines kleinen Nierengefässes
oder einem Infarkt die Ursache der Blutung vermuten zu können. Der in diesem
Sinne ausgeführte Ureterenkatheterismus ergab als Ausgangspunkt der Blutung
die rechte Niere. In den nächsten Tagen ging der Blutgehalt des Urins bis auf
Spuren zurück. Die Funktionsprüfung der Nieren ergab erhöhte Reststickstoffwerte,
der Reststickstoff stieg während der Beobachtung langsam an, betrug anfangs
56 mg, nach etwa 14 Tagen 69 mg, kurz vor dem Tode 258 mg in 100 ccm Gesamt¬
blut. Die Prüfung der Wasserausscheidung und Konzentrationsfähigkeit ergab das
Bild ausgesprochener Hypesthenurie. Das spezifische Gewicht schwankte in engen
Grenzen zwischen 1003 und 1010, die zugeführte Flüssigkeitsmenge wurde in einer
gleichmässigen, flachen Kurve ausgescbieden. Am Augenhintergrund fand sich
beiderseits ausgesprochene Retinitis albuminurica. Während der sechswöchigen
Krankenhausbehandlung bestanden dauernde heftige Kopfschmerzen, wiederholt
Erbrechen, zunehmende Atemnot, zweimal heftiges Nasenbluten. Der Tod erfolgte
unter einer komplizierenden Bronchopneumonie. Bei dem vorliegenden klinischen
Verhalten der Nieren konnte die Diagnose nur schwanken zwischen sekundärer
Schrumpfniere oder maligner Nierensklerose. Da die ganze Vorgeschichte des
Mannes für eine langsam sich, ausbildende Arteriosklerose sprach und der Urin¬
befund noch bis 1914 bei wiederholten Krankenhausbeobachtungen stets normal
gewesen war, wurde die Diagnose maligne Sklerose gestellt, die auch anatomisoh
durch die von Fahr vorgenommene Sektion vollauf bestätigt wurde. Der Vorwurf
der Neurasthenie, Hysterie und des Taedium laboris hat den Patienten bei rück¬
läufiger Betrachtung völlig zu Unrecht getroffen. Man hätte vielleicht schon früh¬
zeitig den Ernst der Erkrankung erkennen können, wenn man den Blutdruck nicht
erst im Jahre 1914 zum ersten Male bei ihm gemessen hätte.
B., 42 Jahre alt, 16/8789. Früher stets gesund. Keinerlei Nieren- oder Herz¬
symptome. Februar bis April 1916 in Belgien. Machte dann Dienst in Geesthacht
als Landsturmmann. In letzter Zeit häufiger nächtlicher Urindrang. Kinderlos
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156 A.V. Knack,
verheiratet. 22. Dezember 1916 moribund eingeliefert. Nierenbefund: Urin: Ei-
weiss 2 pM., Blut: negativ, Wa. negativ.
Sektion: Maligne Nierenskierose.
Diese Fälle können nur so erklärt werden, dass die bereits (be¬
nigne) sklerotisch veränderte Niere zwar den StofTwechselansprüchen
des alltäglichen Lebens noch völlig gewachsen war, dass aber, als
die vermehrten Ansprüche einsetzten, es zu einer Schlackenstauung
im Blute kam und diese dann ihrerseits schädigend auf das Nieren¬
parenchym wirkte und die entzündlich-degenerativen Veränderungen
an den Glomeruli und Tubuli auslöste.
Die Beobachtung solcher Fälle und ihre exakte Diagnose sind
besonders wichtig für die Frage der Beurteilung der Unfallsschädigung.
Haben wir eine chronische diffuse Glomerulonephritis vor uns oder
auch eine von vornherein maligne Sklerose speziGscher Natur (Lues,
Gicht u. dgl.), so können wir bei vorliegender Verschlimmerung mit
grösserer Wahrscheinlichkeit annehmen, dass das Leiden durch die
eingetretene Schädigung zwar beschleunigt wurde, aber auch ohne
das erlittene Trauma seinen verderblichen Verlauf weiter genommen
hätte. Bei diesen besonderen Fällen der Ueberführung einer benignen
in eine maligne Nierensklerose müssen wir im Gegensatz dazu aner¬
kennen, dass voraussichtlich ohne Trauma die Nierenerkrankung nicht
maligne geworden wäre. Erleben wir es doch bei Alterssektionen
häußg genug, dass eine benigne Nierensklerose jahrzehntelang be¬
stehen kann, ohne für ihren Träger lebensgefährlich zu werden.
Wichtig ist, wie wiederholt erwähnt, der Nachweis einer Lues
für die Stellung der Prognose bei beginnenden Nierensklerosen.
Darum mögen an dieser Stelle ein paar Worte darüber eingeschoben
werden. Bei Nachweis der luetischen Infektion ist eine Nierenaffektion,
die zunächst noch als benigne Sklerose imponiert, stets als Vorstadium
einer malignen Sklerose zu deuten und die Prognose infaust zu stellen.
Als charakteristisches Beispiel folgender Fall:
G. K., Major. 16/8671. In der Jagend Lues. Jetzt wegen Nierenleiden auf¬
genommen. War während einer Tätigkeit im Bekleidungsamte wiederholten Er¬
kältungen ausgesetzt. Nierenbefund: Urin: Eiweiss Spur, Blut negativ. Tages¬
menge 900—1200 ccm, spez. Gew. 1015—1020. Wasserausscheidqng in 7 Standen.
Konzentrationsbreite 1002—1025. RN 53. BD 180. Wa negativ. Röntgenauf¬
nahme des Herzens: TD 15,2. LD 18. Herzsilhouette links etwas verbreitert,
Arcus über die Fläche gebogen. Aorta descendens sichtbar. Blutbild: 6,5 Millionen
rote, 4600 weisse Blutkörperchen. Augenhintergrund: Ueber der Netzhaut in der
nächsten Umgebung der Papille ein leichter Schleier, rechts zwei ganz kleine Ex-
Go 'gle
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Die Begutachtung von Nierenerkrankungen auf Grund der Kriegserfahrungen. 157
sudate. April 1917 Bd 175—185. Wasseraussoheidong in 2 1 / i Stunden. Konzen¬
trationsbreite 1026. RN 38. 27. III. 17. BD 198. Nierenbefund: Urin: Eiweiss
Spur, Blut Spur. Augenbintergrund: Exsudate deutlicher. Januar 1919 private
Mitteilung über fortschreitendes Sieobtum.
Bei der Augenuntersuchung bestanden anfangs Zweifel, ob es sich um Ex*
sudate oder atrophische Herdchen handle. Da aber eine Lues in der Anamnese
war, wurde eine beginnende Retinitis nephritica angenommen, die dann auch der
spätere Verlauf bestätigte.
Ist einmal ein Zusammenhang zwischen erlittener Schädigung und
Brightschcr Nierenerkrankung anerkannt, so handelt es sich darum,
einen sicheren Aufschluss über die Prognose und über den
weiteren Verlauf für die Begutachtung zu gewinnen. Und gerade
hier ist in früherer Zeit soviel gesündigt worden, weil man bei der
Beurteilung jeder JUerenerkrankung nur angewiesen war auf den Urin¬
befund und das Verhalten des Zirkulationsapparates. Erst in neuerer
Zeit hat uns die Nierenfunktionsprüfung die Möglichkeit gegeben,
tieferen Einblick in das Wesen des Nierenprozesses selbst zu erlangen,
um so jederzeit über den Stand der Erkrankung und den Grad der
noch vorliegenden Veränderung genau orientiert zu sein.
Die Nierenfunktionsprüfung ermöglicht es uns auch, in das grosse
Gebiet der Albuminurie Klarheit zu bringen und eine als Zeichen
einer ernst zu nehmenden chronischen Nierenveränderung auftretende
Albuminurie scharf abzugrenzen gegen eine harmlose nach Ablauf
irgendeiner Erkrankung der Harnorgane zurückbleibende Eiweiss¬
ausscheidung.
Auf dem Gebiete der Albuminurie hat der Krieg unsere Erfah¬
rungen wesentlich bereichert. Aus der Friedenszeit kannten wir be¬
reits die Sportalbuminurie, die bei Wettstreiten verschiedenster
Art infolge der stattgehabten erheblichen körperlichen Anstrengung
in Erscheinung trat. Ich selbst hatte Gelegenheit, an der Unter¬
suchung eines Armeegepäckmarsches teilzunehmen, der kurz vor
Kriegsausbruch in Hamburg stattfand. Die Ergebnisse desselben
wurden von Feigl und Querner veröffentlicht. Wir sahen dabei
vorübergehende Albuminurien zwischen Spur und 1 pM. Esbach in
24 pCt. der Fälle, Blutausscheidung im Urin (vorwiegend nur mikro¬
skopisch) in 35 pCt. der Fälle. Bemerkenswert war, dass auch der
Reststickstoffgehalt des Blutes in 55 pCt., der Fälle eine Steigerung
des Grundwertes um etwa 20 pCt. zeigte. Aehnliche Urinbefunde
erhoben Reber und Lauener, die Albuminurie bei Soldaten nicht
nur nach einem Drilltage (Freiübungen, Exerzieren, Turnen, Schanzen),
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158
A.V. Knack,
sondern auch nach längerem Postenstehen beobachteten. Auch hier
war die Eiweissausscheidung, sofern der Urin vor der körperlichen
Anstrengung eiweissfrei war, nur von kurzer Daner. Besonders be¬
achtlich ist auch ihr Befund, dass unter 528 Soldaten auch nach
längerer Ruhe bei 56, also in 10,6 pCt. der Fälle, Eiweiss meist in
sehr geringen Mengen gefunden wurde. Es wird hiermit das Vor¬
kommen der Albuminurie bei sonst völlig Gesunden erneut
bestätigt. Reber und Lauener arbeiteten dabei mit den in der
ärztlichen Praxis üblichen Reagentien. Wer dagegen, wie wir, mit
besonders feinen Eiweissproben regelmässig untersucht, mit Pollaccis-
Reagens (einer Mischung von Sublimat, Weinsäure und Formalin) oder
mit 20 proz. Sulfosalizylsäure, findet in einer noch wesentlich grösseren
Anzahl bei Nierengesunden eine geringe Eiweissausscheidung, ohne
dass körperliche Leistungen irgendwelcher Art vorangegangen sind.
Für den Begutachter ist die Kenntnis solcher Eiweissausscheidungen
bei Normalen von grösster Bedeutung. Die ohne vorangehende körper¬
liche Anstrengung zustandegekommenen Albuminurien dokumentieren
sich meist nur als Spuren von Eiweiss und werden darum von dem
Begutachter eher richtig eingeschätzt als die erheblicheren Eiweiss¬
ausscheidungen nach körperlichen Anstrengungen. So ist es sehr wohl
möglich, dass solche Albuminurien Zustandekommen, wenn die zu
Begutachtenden einen längeren Marsch oder eine sonstige erhebliche
körperliche Anstrengung kurz vor dem Untersuchungstermin hinter
sich haben. Man muss sogar mit der Möglichkeit rechnen, dass von
in der Heilkunde irgendwie erfahrenen Personen solche Eiweissaus¬
scheidungen zu Simulationszwecken absichtlich erzeugt werden können,
genügt doch nach den Kriegserfahrungen von Reber und Lauener
bereits längeres Stehen zur Auslösung derselben.
Durch die modernen Untersuchungsmethoden sind wir nun aller¬
dings in den Stand gesetzt, mit völliger Sicherheit eine derartige
harmlose Albuminurie von einer ernstzunehmenden Nierenerkrankung
unterscheiden zu können. Der genauere Urinbefund selbst bringt uns
noch nicht weiter. Ich hatte bei dem oben erwähnten Armeegepäck¬
marsch die Möglichkeit, eine Sedimentreihenuntersuchung vorzunehmen,
und fand dabei, dass fast sämtliche Formelemente, die wir sonst als
Zeichen einer schweren Nierenaffektion anzunehmen pflegen, auch bei
Sportalbuminurien Vorkommen. Vor allem konnte ich Zylinder fast
aller Gattungen nachweisen, so dass mir nach diesen Erfahrungen
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Oie. Begutachtung *oi> NierenerferstUiunge-n auf Gnind der Krteg.strfahru.ijg*!». 1-59
eine Abgrenzung einer solchen harmlosen Albuminurie gegenüber einer
echten Kierenerkran.feu.ng;- ■ nicht raöglmh Urscheiiit, Da$ Einfeige, was
Klarheit versc.liaflt, ist die Prüfung der Nierenlnnktiun, -bei der aller¬
dings jedesmai die noch weiter unten- m erwiivo endennervösen Ein¬
flüsse berücksichtigt werden müssen. Eine ■ .solche Prüfung bedarf —
das ist eine bedauerliche Erschwerung eines uhehrtngigeu Kranken--
hausaui'oriMuütcs, Es ist natürlich auch die Durchführung einer
solchen Prüfung im PtivaUmuse möglich.Einwandfrei exakte Werte
küiiüen jedoch nur bei gleich/.i'itigem Krankeuhaus'ujfßotlvalt und ge¬
nügend geschuitem Beobivchtuhgspersomii gewonnen werden.
in dieses Kapitel: hinein gehört auch die Fragt. inwieweit eine
vöriiegende Albuminurie der .Resty.üsiami eines abgeiaufene» Nieren¬
leidens ist. biW:;, Wann und oh eio Ntefenleiden als .abgeheilt, befrachtet
werden kann, trotzdem 'auch eine solche „pnstiofia m watorWehe*
Albuminurie vorliegt. Viele derartige Fit!Iß wurden früher ä!s chro¬
nische Nierenerkrankungen betrachtet tau! zu strenger Bettruhe und
Diät von raonate-, oft jahrelanger Dauer verurteilt, weil man über den
Ürinbefund hinaus nicht tiefer in das - Wesen des Niere oprozessos ebi-
ittdringej» vermochte. Auch hier helioti uns jetzt die FunktioDS-
prütüngsmethodcii, die mit fast ntathemathkher Genauigkeit den Grad
der Nierenschädigung an geben. Ich bringehier einige Beispiele für
den Verlaub der NiecenfiHtkt.ionspiiifungsiriethoden bei typischen Fällen
ans efü^K^föhfirfeh: Afheii. -k'-' 7 <. r ' ? ,V* I:
Auf; -£‘afeetlfe,if;.a und II b ist das Verhaften der Wass^rauaacbeidung unil
ivoHzenWatiwisbrtüte bei typischen Füllen in etwa vieft»ijahfiifiheri Zeitabständpn
angegeben. Ihn zua siehst bestehet! de verlangsaunte'WasS>/l-a‘*sscheHitnsg njiamt fort-
läufend ah und. uSheti sieb det Horm, die maximale Koafeeßtrutieu steigt zu immer
Go gle
160
A.V. Knack,
höheren Werten. Tabelle IIb zeigt bezüglich der Konzentrationsfähigkeit das
gleiche Verhalten wie 11a, während die Wasserausscheidung hier, wie wir das bei
ablaufenden Nephritiden recht häufig sehen, zunächst eine erhebliche Beschleuni¬
gung zeigt, ehe sie sich der Norm zuwendet.
Tabelle 111 bringt das Verhalten der Reststickstoffwerte in verschiedenen
Krankheitszeiten bei gleichzeitiger Berücksichtigung des prozentualen Harnstoff-
anteils. Man sieht hier, wie mit zunehmender Besserung der Wert des Gesamt¬
reststickstoffes zur Norm absinkt und gleichzeitig der prozentuale Harnstoffanteil
ebenfalls niedriger wird.
Tabelle III.
Fall 1.
11. 1.
RN
143
Ur 80 pCt.
30. 5.
n
94
» 75
11
21. 7.
71
36
„ 60
71
Fall 2.
00
ID
11
48
* 80
11
3. 3.
71
32
„ 75
11
7. 4.
11
29 •
„ 70
11
|N&
00
71
22
„ 50
11
Fall 3.
13. 7.
11
149
„ 80
71
13.12.
71
34
„ 52
11
Haben wir durch die Nierenfunktionsprüfung festgestellt, dass die
Nieren trotz noch bestehender Albuminurie keine wesentlichen Störungen
mehr zeigen, so bleibt immer noch die Frage offen, ob eine solche
Niere sich nun auch einer Belastungsprobe gegenüber ebenso verhält
wie eine normale. Fussend auf der Erfahrung, dass die normalen
Nieren auf körperliche Anstrengungen reagieren, haben wir von unseren
nierenkranken Soldaten vor Abschluss der Behandlung Probemärsche
machen lassen, ln einigen kurzen Uebersichtstabellen gebe ich die dabei
gemachten Beobachtungen wieder (vgl. nebenstehende Tabellen IVa—d).
Die auf Tabelle IVa verzeichneten Fälle zeigen keinerlei Marschreaktionen,
bei den auf Tabelle IVb aufgeführten Fällen sehen wir nach dem Marsch geringe
Ausschläge in Vermehrung des Eiweissgehaltes auftreten. In den auf Tabelle lVc
aufgeführten Fällen sehen wir neben zum Teil recht erheblicher Vermehrung
des Eiweissgehaltes auch Ausschläge im Blutgehalt des Urins und eine Blut¬
druckreaktion, die für ablaufende akute Nierenentzündungen sehr charakteristisch
ist. Während nämlich nach körperlicher Anstrengung der Blutdruck bei Nor¬
malen absinkt, beobachteten wir bei noch bestehender Nierenerkrankung eine
Blutdrucksteigerung. Auch die Prüfung der Stickstofffunktion gibt oft deut¬
liche Ausschläge: Während wir bei Normalen eine Steigerung des Reststickstoff¬
spiegels bis zu 20 pCt. des Grundwertes beobachten, sehen wir in den pathologisch
veränderten Fällen der Tabelle IV d eine wesentlich höhere Steigerung auftreten.
Bei Soldaten war diese Marsehreaktion ohne Schwierigkeit exakt
durchzuführen, weil sie der militärischen Befehlsgewalt unterlagen,
und ein Vorgesetzter für die zweckmässige Durchführung der Marsch-
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Bdgutaohtung von Niertmerkranhiugeti auf Kr und der Ivri.'jxsi'rfaliruugvn. 161
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162
A. V. Knack,
Übung die Verantwortung übernehmen konnte. Bei Fällen von Zivil¬
kranken wird die Marschprobe nicht so leicht durchzuführen sein,
wenn man nicht unterstützt wird durch den guten Willen der
Patienten.
Auf den Gebieten der übrigen zur inneren Medizin gehörigen
Nierenerkrankungen hat uns der Krieg nur noch wenige neue Gesichts¬
punkte gebracht. So erschreckend auch die Zunahme der Lungen¬
tuberkulose unter den Kriegseinflüssen war, so blieb doch eine nennens¬
werte Steigerung der Nierentuberkulose aus. Unter den chir¬
urgischen Nierenerkrankungen war diese trotzdem die häufigste und oft
nicht rechtzeitig erkannte chirurgische Nierenerkrankung (Kümmell).
„Bei jedem länger andauernden Blasenkatarrh mit heftigem Harn¬
drang, besonders wenn Blutungen damit verbunden sind, muss genan
auf die Möglichkeit einer Tuberkulose geachtet werden.“
Wenn auch die Prognose der rechtzeitig diagnostizierten Nieren¬
tuberkulose bei operativer Behandlung eine gute ist, so muss doch die
zurückbleibende Niere sorgfältig vor erheblichen körperlichen Schädi¬
gungen bewahrt bleiben. Mir wurde ein ausserordentlich trauriger
Fall bokannt, der durch das ganz unverantwortliche Handeln des
musternden Militärarztes frühzeitig zugrunde ging.
D., 38 Jahre alt, 16/5771. 1911 Entfernung der rechten Niere wegen Tuber¬
kulose. Oktober 1915 eingezogen, trotz ärztlicher Atteste! Januar 1916 Schüttel¬
frost, Urinverhaltung. Nierenbefund: Urin: Eiweiss 1 / 2 pM., Blut sobwach posi¬
tiv. BD 115. Wasserausscheidung in 12 Stunden, Konzentrationsbreite 1005—1010.
Gesamtausscheidung 4400. Tbo. im Urin positiv. 5. 5. Exitus.
Was die Beeinflussung der Nierenfunktion durch den tuberkulösen
Prozess betrifft, so ist es ja recht naheliegend, dass bei einseitiger
Erkrankung die andere Niere die gesamte Funktion übernimmt, und
dass dann alle Methoden, die die Gesamtfunktion beider Nieren prüfen,
normale Werte ergeben. Nur in seltenen Fällen beobachtet man auch
bei Vorhandensein nur eines kleinen tuberkulösen Herdes in einer
Niere eine erhebliche Funktionsstörung beider Nieren, welche nach
Baetzner auf reflektorischem Wege zustande kommt. Im allgemeinen
sieht man erheblichere Störungen der Gesamtfunktion nur bei Er¬
krankung beider Nieren. Wie hochgradig die Funktionsstörung einer
erkrankten Niere werden kann, beweist der oben bereits angeführte
Fall, in dem die, nach der Exstirpation, zurückgebliebene Niere
nachträglich tuberkulös erkrankte. Zur weiteren Illustration noch
einige Fälle:
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Die Begutachtung von Nierenerkrankungen auf Grund der Kriegserfahiungen. 163
H., 23 Jahre alt, 18/14721. Oktober 1915 ins Feld. Dezember 1915 Brustfell*
entzöndung. März 1918 Nierenentzündung. Nierenbefund: Urin: Eiweiss l s / 4 pM.,
Blut positiv. Leukozyten -|—Wasserausscheidung in 14 Stunden, Konzen*
trationsbreite 1002—1023. Gesamtausscheidung 2690. RN 35. Im Urin Tuberkel¬
bazillen -J—f-. Zystoskopie nicht durchführbar.
E., 23 Jahre alt, 16/6634. Seit Kindheit lungenleidend. August 1915 ins
Feld. Dezember 1915 Nierenentzündung, Rückenschmerzen, Mattigkeit. Mai 1916
Nierenbefund: Urin: Eiweiss Spur, Blut Spur. Wasserausscheidung in 11 Stunden,
Konzentrationsbreite 1002—1018. RN 17. BD 110. Sediment massenhaft Leuko*
zyten. Zystoskopie o. B. Im Urin beider Nieren Tbc positiv. Röntgenaufnahme
der Lungen: kleinfleckige Infiltrationen in beiden Spitzen, besonders rechts. Tbo
im Auswurf negativ.
Die Geringgradigkeit der Funktionsstörung im Gegensatz zum vor¬
geschrittenen Stadium des Krankheitsprozesses beweist folgender Fall:
M., 25 Jahre alt, 15/3045. Mai 1915 Granatsplitterverletzung, dabei Quet¬
schung des rechten Hodens. Dauernde Fistelung. 31. August histologischer Nach¬
weis von Tuberkulose im Fistelgewebe. Exstirpation des rechten Hodens. 16. Sep¬
tember Tierversuch im Urin für Tuberkulose positiv. 12. Dezember Nierenbefund:
Urin: Eiweiss y 2 pM., Blut negativ. BD 155. Wasserausscheidung in 3 Stunden,
Konzentrationsbreite 1000—1028. Gesamtausscheidung 3130. ÄN 28. 22. März
1916 Exitus.
Sektion: Ausgedehnter käsiger Zerfall beider Nieren.
Manchmal stösst die Diagnose der Nierentuberkulose auf erheb¬
liche Schwierigkeiten, wenn eine Komplikation der ableitenden Harn¬
wege vorliegt, wie in folgendem Fall:
S., 36 Jahre alt, 17/11942. Als Kind Bettnässen. 1905 Tripper. 1912 er¬
neute Blasenbeschwerden, vermehrter, schmerzhafter Urindrang. November 1917 in
Garnison, dort Erkältung, Verschlimmerung der Beschwerden. Nierenbefund:
Urin: Eiweiss Trübung, Blut Spur. Leukozyten -|—J-, ebenso Bakterien. Wasser¬
ausscheidung in 2*/ 2 Stunden. Konzentrationsbreite 1000—1032. RN 20. Wa
negativ. Zystoskopie nicht durchführbar wegen Striktur der hinteren Harnröhre.
Röntgenaufnahme der Nieren: in der rechten Niere, in der unteren Hälfte eine
Reihe leicht hirsekorn- bis stark stocknadelkopfgrosser unregelmässiger Kalk¬
schatten. Februar 1918 im Urin Tierversuch Tbo positiv.
Die bakteriologische Untersuchung ist bei solchen Fällen oft
etwas schwierig. Die gleichzeitig neben den Tuberkelbazillen vor-.
handenen sonstigen Keime wirken im Meerschweinchen versuch als
Eitererreger störend, sie müssen erst durch Antiforminanreicherung
ausgeschaltet werden, bei der nur die Tuberkelbazillen nach kürzerer
Einwirkung noch lebensfähig bleiben. Oft kann eine Röntgenunter¬
suchung in solch zweifelhaftem Falle die Diagnose lördern. Bei er¬
heblicher Ausdehnung des Nierenprozesses geben die verkalkten oder
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verkästen Massen deutliche Schattenbildung. Im Gegensatz zu den
Nierensteinen sind diese Schatten nicht scharf abgegrenzt. Sie haben
oft, besonders bei kleineren Herden, radiär verlaufende, den Sammel¬
röhrchen entsprechende Anordnung. Auch die Lokalisation des Krank¬
heitsprozesses wird oft durch eine solche Röntgenaufnahme möglich.
F., 27 Jahre alt, 17/11039. 1914 ins Feld. März 1917 Lungenleiden. August
1917 Nierenbefund: Urin: Eiweiss ^ pM., Blut positiv, Sediment Leukozyten
und Erythrozyten, Tbc positiv. BD 129. KN 86. Wasserausscheidung in 13Stunden,
Konzentrationsbreite 1002—1010. Gesamtausscheidung 3200. Röntgenaufnahme
der Nieren: Rechter Nierenschatten grösser als links; in der Niere reichlich diffuse,
kalkige Schatten. Röntgenaufnahme der Lungen: Beide Spitzenfelder stark ab-
gescbattet, rechter Oberlappen zirrhotisch.
Differentialdiagnostisch kommen bei diesen Röntgenaufnahmen
neben Nierensteinen Verkäsungen aus nicht tuberkulöser Ursache in
Betracht, wie die sogenannte Kittniere, von der Oehlecker einen
Fall röntgenologisch beobachtete, ln einem weiteren Falle derselben
Art, den ich als Leichenbefund zu erheben Gelegenheit hat,te, war
eine Röntgenaufnahme nicht gemacht; die Veränderung, die eine
völlige, gleichroässige Verkäsung der betroffenen Niere darstellte, hatte
im Leben keinerlei Erscheinungen verursacht.
Der Krieg war auch ein summarisches Experiment für die Frage
der traumatischen Entstehung der Nierensteine. Sicherlich
gibt es ja einen Zusammenhang zwischen Trauma der Nierengegend
und Nierensteinbildung.
„Allgemein anerkannt ist, dass Blutgerinnsel ebenso wie andere
Fremdkörper als Gerüst für Steinbildungen dienen können“ (Stern).
Fälle, die diesen Zusammenhang einwandfrei beweisen sollen, finden sich
in allen üblichen Lehrbüchern der Unfallheilkunde. Im Kriege mit seinen
zahllosen traumatischen Insulten finden wir auffallenderweise keine
Fälle, in denen Nierensteine im Anschluss an ein Trauma entstanden
sind. Das spricht denn doch wieder für einen nur recht lockeren
Zusammenhang zwischen Trauma und Nicrensteinbildung und lässt
die Fälle der Fricdensliteratur, die einen solchen Zusammenhang kon¬
struieren wollen, noch recht skeptisch betrachten.
Häufiger sind natürlich die Fälle, in denen ein Nierenstein-
leiden durch vermehrte körperliche Anstrengung in die Er¬
scheinung tritt, bzw. sich verschlimmert.
S., 24 Jahre alt, 17/9562. März 1916 ins Feld. November 1916 Nierenkolik
rechts. Nierenbefund: Urin: Eiweiss leichte Trübung, Blut Spur. BD 112. RN 27.
Wasserausscheidung in 2 1 / 2 Stunden, Konzentrationsbreite 1000—1027.
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Die Begutachtung von Nierenerkranbungen auf Grund der Kriegserfahrungen. 165
W., 28 Jahre alt, 17/11848. Vor 12 Jahren Nierenbluteü. Schmerzen in der
rechten Lendengegend. August 1914 in Garnison. Dezember 1914 Nierenstein¬
leiden. November 1916 ins Feld. Dezember 1916 ins Lazarett. November 1917
Nierenbefund: Urin: Eiweiss leichte Trübung, Sediment Leukozyten. BD 92.
RN 19. Wasserausscheidung in 5 Stunden, Konzentrationsbreite 1002—1023.
Röntgenaufnahme: In der rechten Niere ein hirsekorngrosser Steinschatten.
W., 39 Jahre alt, 17/10074. Vor 9 Jahren wegen Nierensteinen behandelt.
November 1916 ins Feld. Januar 1917 ins Lazarett. Nierenbefund: Urin: Eiweiss
negativ. BD 105. RN 39. Wasserausscheidung in 24 Stunden, Konzentrations¬
breite 1002—1020. Röntgenaufnahme: kleiner Steinschatten in der rechten Niere,
desgl. in der linken Niere.
Von Bedeutung ist, wenn auch nur in seltenen Fallen, die exakte
Differentialdiagnose zwischen Nierenstein und Nierenent¬
zündung. Eine Verwechslung ist hier einmal dadurch möglich, dass
die Nierensteino oft keinerlei typische Schmerzreaktion geben, im
Urin erscheint Eiweiss und Blut meist nur in geringerer Menge und
so wird dann die Diagnose auf Nierenentzündung bei oberflächlicher
Betrachtung leicht gestellt.
D., 35 Jahre alt, 17/11441. Januar 1915 ins Feld. Juli 1917 Nierenleiden.
Keine Körperschwellung. Oktober 1917 Nierenbefund: Urin: Eiweiss 1 pM., Blut
Spuren. RN 25. BD 102. Wasserausscheidung in 11 Stunden, Konzentrations¬
breite 1003—1023. Dann wiederholt Schmerzen in der rechten Lendengegend.
Pat. gibt an, auch in früheren Jahren Nierenkoliken gehabt zu haben. Röntgen¬
aufnahme der Nieren: Grosser rechtsseitiger Nierenstein. November Operation.
Januar 1918 Nierenbefund: Urin: Eiweiss leichte Trübung, Sediment vereinzelt
Leukozyten und Erythrozyten. Wasserausscheidung in 5 Stunden, Konzentrations¬
breite 1000-1027. RN 17.
H., 40 Jahre alt, 19/17527. Seit 1914 im Felde. 31. August 1918 Kreuz¬
schmerzen und Bluturin. Im Lazarett Nierenentzündung festgestellt und bisher
mit Bettruhe und strengster Diät behandelt. 25. März 1919 zur Beobachtung ins
Barmbecker Krankenhaus. Beschwerden: Schmerzen in der Nierengegend, leichte
Ermüdbarkeit. Mutter nierensteinleidend.
Kräftig gebaut, fettleibig. Innere Organe normal. Nierenuntersucbung: Urin:
Eiweiss pM., Blut wechselnd stark, meist Spur. Wasserausscheidung in
7 J / 2 Stunden, Konzentrationsbreite 1002—1030. Gesamtausscheidung2340. RN 44.
BD 115. Röntgenaufnahme der Nieren: Im rechten Nierenbecken ein bohnengrosser
Steinscbatten. Am 7. April Operation. Pyelotomie. 11. Juni geheilt entlassen.
Dem Erfahrenen wird bei einer exakten Nierenuntersuchung aller¬
dings doch das eine oder andere Symptom aufstossen, das ihn ver¬
anlasst, zur Klärung eine Röntgenaufnahme machen zu lassen, und
diese gibt dann ohne weiteres Aufschluss. Von welcher Bedeutung
eine solche richtige Nierensteindiagnose werden kann, beweist der
letzte Fall, der mit Bettruhe und strengster Nierendiät geradezu ge-
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mästet wurde und dabei in eine immer ernstere, seelische Verfassung
geriet, weil seine r Nierenentzündung u aller Diät trotzte.
Auch die Differentialdiagnose gegenüber Pyelitis und
Nierenabszess kann manchmal schwierig werden wie im folgenden
Falle:
0., 23 Jahre alt, 11/355. März 1915 ins Feld. Seit 3 Wochen mitSchmerzen
in der linken Lendengegend erkrankt. Kopfschmerzen und hohes Fieber. Nieren*
befand: Geringe Druckempfindlichkeit beider Nierenlager. Urin: Eiweiss 2 pM.
Im Sediment massenhaft Leukozyten. Wasserausscheidung in 13 Stunden, Kon¬
zentrationsbreite 1000—1023. RN 21. BD 102. Temperatur bis 40°. Röntgen¬
aufnahme: ln der linken Niere ein korallenförmiger Ausguss zahlreicher Kelche.
Operation ergibt vereiterte Steinniere.
Es kann nun auch eine entzündliche Nierenerkrankung
unter dem Symptomenbild der Nierensteinkolik verlaufen.
Das sah man besonders im Anfangsstadiura, manchmal auch iru
späteren Stadium der Kriegsnierenentzündungen. Sind die Schmerzen
in beiden Nierengegenden gleichzeitig, so wird man kaum an Nieren¬
steinkoliken denken. Wir haben aber auch Fälle von akuter, diffuser
Glomerulonephritis gesehen, in denen die Schmerzen ausgesprochen
einseitig auftraten. Die sichere Differentialdiagnose liefert in solchen
Fällen ein gutes Röntgenbild. Mit der Verwendung der Nieren¬
funktionsprüfung muss man sehr vorsichtig sein. Zwar machen Nieren¬
steine im Gegensatz zur frischen Nierenentzündung meist keinerlei er¬
hebliche Funktionsstörungen. Wir wissen aber auch, dass manchmal
ein kleiner Nierenstein auf reflektorischem Wege ganz erhebliche
Störungen bis zur völligen Anurie auslösen kann.
Ein Fall, der die Schwierigkeiten der Differentialdiagnose zwischen
Entzündung oder Steinbildung recht interessant beleuchtet, möge hier
noch wegen seiner Seltenheit angeführt werden.
K., 36 Jahre alt, Oberleutnant (Tuchfabrikant). Früher stets gesund.
Oktober 1915 im Felde Influenza. Seit Dezember 1915 leichte > Ermüdbarkeit, häufig
Mattigkeitsgefühl, bekam deshalb eine leichtere Stellung als Verpflegungsoffizier.
Im Dezember 1916 vermehrten sich während einer Reise die dauernd vorhandenen
Beschwerden so sehr, dass Patient sich zu einem Arzt begab. Dieser stellte Ei¬
weiss im Urin fest. Die zur Zeit der jetzigen Untersuchung vorliegenden Be¬
schwerden waren: allgemeine Müdigkeit, Schwäche in den Beinen, Kopfschmerzen,
geringes Brennen in der vorderen Harnröhre, Kurzatmigkeit bei längerem Gehen.
1915 Gonorrhoe mit Prostatitis.
Herzgrenzen normal. 2. Aortenton akzentuiert. Blutdruck 138 mm Hg. Urin:
Tagesmenge schwankt zwischen 1100 und 1700, Konzentration zwischen 1006 und
1015. Eiweiss Spur, Blut negativ. Im Sediment vereinzelte Leukozyten, Erythro-
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Die Begutachtung von Nierenerkrankungen auf Grund der Kriegserfabrungen. 167
zyten, hyaline und granulierte Zylinder. Prüfung der Nierenfunktion: Wasser-
aussoheidung in 13 Stunden, Kurve der Ausscheidung abgeflacht, Konzentrations¬
breite 1000-1023. RN 29.
Während des Krankenhausaufenthaltes plötzlich Piebersteigerung bis 39°.
Im Urin Eiweiss 1 pM., Blut stark positiv. Diese plötzlich auftretende Hämaturie
legte den Verdacht auf Nierensteinleiden nahe, und der Zufall wollte es, dass bei
einer Röntgenaufnahme sich zahlreiche bohnengrosse, zunächst als Steine im¬
ponierende Schatten in der Gegend des linken Nierenbeckens und der grossen
Kelche der oberen Nierenhälfte fanden. Da jedoch die klinischen Symptome nicht
ohne weiteres, zumal bei dem Fehlen von Koliken, für Nierensteine sprachen,
wurden noch erneute Kontrollaufnahmen angefertigt, und dabei konnte man fest¬
stellen, dass die Kalkschatten median und etwas unterhalb des linken Nieren-
schattens bei den verschiedenen Aufnahmen stets etwas anders lagen und ihre
Anordnung wechselte. Als dann noch eine Ureterensonde eingelegt wurde, sah
man deutlich, dass dieselbe median an dem Kalkkonglomerat vorüberzog. Der
Röntgenologe (Oberarzt Dr. Haenisch) glaubte darum, Nierensteine mit ziem¬
licher Sicherheit ausschliessen zu können und neigte eher zu der Annahme, dass
es sich um verkalkte Mesenterialdrüsen handeln müsse. Die Diagnose wurde unter
Zusammenfassung aller Befunde in diesem Palle auf subakute, rezidivierende
Glomerulonephritis gestellt.
Dieser Fall lehrt uns, dass wir auch in der Beurteilung der
durch Konkremente im Röntgonbild gegebenen Schatten
vorsichtig sein müssen.
Ein besonders interessantes Gebiet stellen seltene Fälle von unter
heftigen Koliken verlaufenden Nierenaffektionen dar, die weder eine
genügende klinische noch anatomische Veränderung zeigen. Man
nannte diese Fälle früher Nephritis dolorosa. Neuerdings schlägt
Casper die Bezeichnung Koliknephritis vor. Das Gebiet dieser
Krankheitsfälle ist noch recht dunkel. Bei genauerer histologischer
Untersuchung fand Casper minimale entzündliche und degenerative
Veränderungen an den operativ freigelegten Nieren. Bemerkenswert,
wenn auch noch ungeklärt, ist die Tatsache, dass die Schraerzanfälle
meist nachlassen nach der Vornahme einer Dekapsulation. Unter dem
Militärkrankenmaterial sahen wir solche Fälle von Koliknephritis re¬
lativ selten. Sie boten nichts Neues. Ihre Diagnose konnte nur
nach längerer Beobachtung und sicherem Ausschluss aller sonstigen
in Frage kommenden Erkrankungen gestellt werden. Vor allem müssen
Erkrankungen der Prostata, die leider noch immer viel zu wenig
untersucht wird, und tuberkulöse Prozesse ausgeschlossen werden.
E., 20 Jahre alt, Feldartillerist. Mit 12 Jahren wegen Nierenleidens ein
Vierteljahr im Krankenhause. Es traten damals Schmerzanfälle in der linken
Lendengegend anf. Diese Anfälle wiederholten sich von Zeit zu Zeit. Der letzte
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A. V. Knack,
Anfall trat vor 2 Monaten auf. Eingezogen am 15. 4. 1916. 2. 5. 1916 wegen
eines Kolikanfalles krank gemeldet.
BDI 15. Urin: Reaktion sauer, Eiweiss Spur, Blut 0. Sediment o.B. Wasser¬
ausscheidung in 67 a Stunden, Konzentrationsbreite 1000—1032. RN33. Röntgen¬
bild ergibt keinerlei Anhalt für Konkrementbildung im Urogenitaltraktus. Zysto-
skopie ergibt keinerlei pathologische Verhältnisse. Eine Belastungsprobe 'mit
stickstoffreicher Substanz (Gelatine) nach Feigl und Knack ergibt normale Aus¬
scheidungskurve.
Patient hat wiederholt auch während der Krankenhausbeobachtung heftige
Schmerzanfälle in der Gegend der linken Niere. Die in den nächsten Tagen ge¬
lassenen Urine zeigen ausser einer leichten Eiweisstrübung nichts Pathologisches.
B., 27 Jahre alt, Infanterist. Ara 22. 10. 1915 Infanteriegewehrschuss¬
verletzung der rechten Hüfte, Weichteilschuss. Am 11. 1. 1916 im Lazarett unter
leichter Temperatursteigerung heftige Schmerzen in der Nierengegend. Im Urin
Spur Eiweiss und Zucker. Rechte Nierengegend druckempfindlich. Solche
Schmerzan fälle wiederholten sich in der nächsten Zeit, deshalb zur Beobachtung
auf die Nierenstation.
Blasser, krank aussehender Mann. Blutdruck 115. Urin: Reaktion sauer,
Eiweiss leichte Trübung, Blut 0. Im Sediment vereinzelte Leukozyten und Phos¬
phatkristalle. Wasserausscheidung in b l } 2 Stunden, Konzentrationsbreite 1000
bis 1025. Zystoskopie ergibt keine pathologischen Veränderungen. Funktion
beider Nieren gleichmässig gut. Röntgenuntersuchung ergibt keinerlei Anhalt für
Konkrementbildung.
Während der Krankenhausbehandlung noch zwei weitere kolikartige Schmerz-
anfalle in der rechten Nierengegend, ohne dass ein anderer Befund als eine leichte
Eiweisstrübung im Urin erhoben werden konnte.
Während für die Koliken dieser Fälle von Nephritis dolorosa,
wenn auch nur geringe, organische Veränderungen angeschuldigt
werden können, die ihren klinischen Ausdruck in pathologischen Harn¬
beimengungen finden, so sind uns im Kriegsmaterial auch wiederholt
Fälle aufgestossen, bei denen es nicht gelang, irgend eine fassbare
Veränderung nachzuweisen und die wir darum in das Gebiet echter
Nierenneurosen einordnen müssen.
Ueber Nierenneurosen ist bisher in der Literatur noch nichts
bekannt geworden. Einmal wohl deshalb, weil die klinischen Unter¬
suchungsmöglichkeiten der Nieren noch recht unvollkommene bis in
die jüngste Zeit hinein waren, und man darum auch, wenn man nichts
erhebliches fand, doch zur Vermutung neigte, dass eine leichte Ver¬
änderung wegen ungenügender Untersuchungsmöglichkeiten entgangen
sein konnte. Dann aber wissen wir über die feineren nervösen Ver¬
hältnisse der Nieren anatomisch wie physiologisch nocht recht wenig.
Vor allem beherrschen wir den Zusammenhang zwischen dem sezer-
nierenden Parenchym und der Aufspaltung der feineren Nervenfasern
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Die Begutachtung von Nierenerkrankungen auf Grund der Kriegserfahrungen. 169
noch nicht, wenn man auch die Bedeutung rein reflektorisch bedingter
Nieren funktionsstörungen aus klinischen Beobachtungen heraus un¬
bedingt längst anerkennen musste. Ich erinnere an die oben er¬
wähnten Fälle von erheblicher doppelseitiger Funktionsstörung bei
kleinen entzündlichen' Herden oder kleinen Steinen in einer Niere.
Beweise für die Abhängigkeit der Nierenfunktion von
nervösen Einflüssen lieferte uns die Vornahme systematischer
Nierenfunktionsprüfungen bei organischen und funktionellen Erkran¬
kungen des Nervensystems. Ich lasse einige besonders charakte¬
ristische Fälle folgen:
Hysterie . . . Wasserausscheidung
in 1V 2
Std.,
Konzentrationsbreite
1000/1030
71 ...
77
» 2 V 2
77
77
1000/1030
« ...
77
« 251 / 2
77
77
1000/1030
77 ...
77
„ 48
77
77
1000/1023
Neurasthenie .
77
„ 2
77
77
1000/1028
77
77
» 27 2
77
77
1000/1026
77
77
„ 2 V 2
77
77
1000/1027
77
77
,, 6
77
77
1000/1025
77
77
„ 11 Vs
77
77
1000/1025
Epilepsie . . .
77
„ 3
77
77
1000/1020
Kopfschuss . .
7'
„ 23
77
77
1000/1022
Concussio spinalis
77
„ 8
77
77
1000/1026
Lues cerebrospinalis
77
„ 48
77
77
1000/1022
77 77
77
„20
77
77
1000/1020
Spinal paralyse
77
„48
77
77
1000/1026
Diese Beobachtungen, die sich nur auf die Wasserausscheidung
und Konzentration erstrecken, werden durch psychiatrische Erfah¬
rungen aus früherer Zeit auf dem Gebiete der Kochsalz- und Stick¬
stoffausscheidung ergänzt (Kauffmann). Allerdings ist bei diesen
Störungen schwer zu entscheiden, inwieweit sie auf eine neurogene
Beeinflussung der Nierentätigkeit allein oder vielmehr des Körper¬
haushalts im allgemeinen zurückzuführen sind. Das Vorkommen
solcher rein neurogen bedingten Funktionsstörungen muss aber bei
der Beurteilung der Funktionsstörungen überhaupt stets mit in Rech¬
nung gezogen werden.
Die Diagnose auf eine Schmerzneurose der Niere kann mit
Sicherheit nur dann gestellt werden, wenn bei Anwendung sämtlicher
bekannten Untersuchungsmethoden und nach längerer Beobachtung
keinerlei Befund erhoben wird. Ich lasse hier einen solchen Fall
folgen:
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A.V. Knack,
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K., 25 Jabre alt, Fliegerabwehr. 1910 */ 4 Jahr im Nervensanatorium. Machte
dauernd Garnisondienst. Erkrankte am 15. Mai 1916 mit Husten, Schnupfen,
Ohrensausen. Seit dieser Erkrankung bestehen heftige Schmerzen in der Nieren¬
gegend, die gegen die Blase zu ausstrahlen. Der Urin kann öfter nur mit Muhe
gehalten werden, zeitweilig unwillkürliches Harntröpfeln. BD 95. Urin: Reaktion
sauer, eiweiss- und blutfrei, Sediment ohne Besonderheiten. Wasserausscheidung
in 2 1 /* Stunden, Konzentrationsbreite 1001 — 1028. RN 31. Röntgenuntersuchung
ergibt keinerlei Anhalt für Konkrementbildung, auch sonstige urologische Unter¬
suchungen o. B.
Unentschieden bleiben manchmal Fälle, in denen von den Pa¬
tienten Nierenerkrankungen unerheblicher Art anaranestisch angegeben
werden. Man muss dann dazu neigen, die vorliegenden Schmerzen
mit einem Restzustand solcher Erkrankungen in Zusammenhang zu
zu bringen.
Den Restzustand einer Nephritis haben wir vielleicht in
folgendem Falle vor uns:
C., 43 Jahre alt, Kaufmann. Wird vom Bezirkskommando zur Beobachtung
eingewiesen. Von 1900 bis 1912 jähriioh sehr heftige eitrige Mandelentzündung,
die wiederholt operiert wurde. 1912 wurde im Anschluss an eine solche eine
Nierenerkrankung festgestellt, die nach 5 Wochen geheilt war, es soll dann noch
monatelang Eiweiss im Urin nachgewiesen worden sein. Seit dieser Zeit traten
anfallsweise Schmerzen auf, die von der Nierengegend nach vorn bis zur Harn¬
röhre ausstrahlten. Das Auftreten dieser Schmerzen ist abhängig von seelischen
Erregungen und körperlichen Anstrengungen, vielfach treten diese Schmerzen im
Anschluss an Bücken und längeres Stehen und Tragen kleinerer Lasten ausser¬
ordentlich heftig auf. Die Schmerzen treten auch nach dem Geschlechtsverkehr in
Erscheinung. In der Jugend wiederholt Gonorrhoe. Blutdruck 130. Herzfigur
auch röntgenologisch normal. Urin: Reaktion sauer, Eiweias leichte Trübung, im
Sediment Leukozyten, vereinzelte hyaline Zylinder, Epithelien und harnsaure
Salze. Wasserausscheidung verlangsamt in 11 Stunden, Konzentrationsbreite 1000
bis 1031. RN 48. N-Belastung mit Gelatine (nach Feigl und Knack) ergibt ge¬
ringe Verzögerung der N-Ausscheidung. Röntgenuntersuchung ergibt keinen An¬
halt für Konkrementbildungen, auch sonstige urologische Untersuchungen ohne
Besonderheiten.
Den Restzustand einer früheren Nierensteinerkrankung
glaubten wir in folgendem Falle vor uns zu haben:
W., 34 Jahre alt, Militärkrankenwärter. Im Juli 1911 rechtsseitige Nieren¬
kolik, damals sollen Steine abgegangen sein. Am 26. August 1915 eingezogen.
Vom 29. Oktober bis 9. November 1915 wegen Nierenkolik im Lazarett. War zu¬
nächst als Arbeitssoldat in'der Etappe, dann als Krankenwärter beschäftigt. BD
zwischen 96 und 116. Urin: Reaktion sauer, Eiweiss leichte Trübung, im Sedi¬
ment vereinzelte Leukozyten. Wasserausscheidung in 2 l / 2 Stunden, Konzentration-
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Die Begutachtung von Nierenerkrankungen auf Grund der Kriegserfahrungen. 171
breite 1000—1026. RN 38. Röntgenuntersuchung: ln der Umgebung des linken
Ureters vereinzelte konkrementverdächtige Schatten, die dann aber durch Ein¬
führung eines Ureterenkatbeters und nochmalige Röntgenaufnahme als nicht im
Ureter liegend, sondern als Phlebolithen erwiesen werden.
Eine eben erst abgelaufene echte Nierensteinkolik nahmen
wir im folgenden Falle an:
J., 31 Jahre alt, 18/13952. 1914 ins Feld. Im Winter oft Mandelentzündung.
Mai 1918 kolikartige Schmerzen in der Lendengegend, die nach der Blase zu aus-
strahlten. Nierenbefund: Urin: Eiweiss leichte Trübung, Sediment wenig Leuko¬
zyten und Erythrozyten. BD 103. RN 35. Wa negativ. Wasserausscheidung in
3 Stunden, Konzontrationsbreite 1000—1025, Gesamtausscheidung 2700. Röntgen¬
aufnahme der Nieren o. B. Tbc negativ.
Den Verdacht einer beginnenden Tuberkulose stellten wir
trotz dauernder negativer bakteriologischer Befunde in folgendem Falle:
Sch., 24 Jahre alt, Schütze. November 1915 eingezogen. März 1916 ins Feld.
Erkrankte Mitte November 1916 mit starken Schmerzen in der rechten Nieren¬
gegend. Die Schmerzen traten plötzlich auf und strahlten von der Nierengegend
gegen die Blase zu aus. Der Urin zeigte damals nur einzelne weisse und rote
Blutkörperchen im Sediment. Patient batte seit dieser Zeit wiederholt leichtere
Schmerzen in der rechten Nierengegend, jedoch keinen gleich heftigen Anfall
mehr. Im Sediment dauernd rote und weisse Blutkörperchen in mässigen Mengen.
Eine Anfang März bei uns durchgeführte Nierenuntersuchung ergab im Urin leichte
Eiweisstrübung, Blut Spur, im Sediment Leukozyten, vereinzelte Erythrozyten, Epi-
thelien und hyaline Zylinder. BD 115. Wasserausscheidung in 2y a Stunden,
Konzentrationsbreite 1000—1027. RN 27. Sonstiger körperlicher Befund o. B.
Eine Röntgenaufnahme des Urogenitaltraktus ergab keinen Anhalt für Konkrement¬
bildung. Zystoskople. Der aus beiden Nieren gewonnene Urin zeigt gleiches Ver¬
halten. Blauausscheidung R = L in 12 Minuten. Der Tierversuch auf Tuber¬
kulose mit dem aus beiden Nieren getrennt gewonnenen Urin war wiederholt
negativ.
Hinsichtlich der übrigen Affektionen des Nierenparenchyms bot
uns das Kriegsmaterial keinerlei Besonderheiten. Auch die Literatur
bringt nichts wesentliches.
Die Restzustände nach den zahlreich beobachteten Nieren¬
schussverletzungen fanden noch keine eingehende kritische Zu¬
sammenstellung. Ueber eigenes Material verfüge ich nicht.
Besondere Beachtung verdient eine Arbeit von Bloch über das
Schicksal und die Beurteilung Nephrektomierter. Bei der
Beurteilung der militärischen Verwendbarkeit Nephrektomierter kommt
es nach ihm „nicht so sehr auf die Zeit an, die seit der Nephrektomie
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172
A.V. Knack,
verstrichen ist, als auf die Krankheitsursache, welche zur Nephrek¬
tomie geführt hat. Musste z. ß. wegen Steinerkrankung eine Niere
entfernt werden, so liegt ein Anlass zur Erkrankung der zweiten
Niere im hohen Masse vor und der Patient muss vor allen erheblichen
körperlichen Strapazen möglichst bewahrt werden. Ein solcher Patient
dürfte nur d. a. v. Heimat sein. Es muss in allen diesen Fällen
individualisiert werden, Krankheitsursache, verstrichene Zeit seit der
Nephrektomie und auch die Beschaffenheit der Narbe muss in Be¬
tracht gezogen werden.“
Interessant war auch der Verlauf schwerster akuter diffuser
Glomerulonephritiden, die im Frühstadium nach dem Vorschläge
Kümmells dekapsuliort wurden. Die Operation wirkte vielfach
lebensrettend. Fälle, die ich in späteren Krankheitsmonaten sah,
zeigten keinerlei irgendwie nachteilige Folgeerscheinungen des statt¬
gehabten chirurgischen Eingriffs auf die Nieren. Ihr Verlauf glich
völlig dem nicht operierter Fälle in späteren Stadien.
Primäre Erkrankungen des Nierenbeckens waren selten; auch
sekundäre Erkrankungen aszendierender Art waren relativ' selten,
wenn man die enorme Verbreitung des Trippers bei den Kriegsteil¬
nehmern berücksichtigt. Sicherlich ist diese Tatsache auf die sach¬
gerechte Behandlung im Frühstadium der gonorrhoischen Infektion
zurückzuführen. Eine systematische Durchprüfung des Verhaltens der
Nierenfunktionsprüfungen bei Erkrankungen des Nierenbeckens ergab
in vielen Fällen als charakteristisch eine beschleunigte Wasseraus¬
scheidung bei normaler oder nur gering beeinflusster Konzentrations¬
breite. Berücksichtigt man die Gesamtwasserausscheidung, so findet
man eine erhebliche Vermehrung derselben gegenüber der einge¬
nommenen Wassermenge von 1 J / 2 Litern. Auch bei sonst gesunden
Nieren ist die in 2 X 24 Stunden wieder ausgeschiedene Wassermenge
höher als die aufgenommene, sie schwankt um 2500 ccm herum.
Bei den Affektionen des Nierenbeckens jedoch schwankt die Gesamt¬
menge etwa um 4000 ccm herum, so dass man hier von einem
„Ueberschiessen“ der Wasserausscheidung mit Fug und Recht
sprechen kann.
Die gleiche überschiessende Wasserausscheidung finden wir nur
noch im Reparationsstadium akuter diffuser Glomerulonephritiden.
Hier konnte also manchmal die Differentialdiagnose zwischen
Nephritis und Pyelitis schwierig werden, zumal wenn auch
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Aus d. path.-anat. Institut des Krankenhauses Friedrichstadt in Dresden
(Direktor: Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Schmorl).
lieber Vergiftung durch Trinken chloroformhaltiger
Flüssigkeit.
Von
Raimund Schelcher.
Unter den Chloroforravergiftungen stellen die Inhalationsintoxika¬
tionen naturgeraäss die grösste Zahl, und mit ihnen hat sich die
medizinische Literatur besonders in den letzten Dezennien des ver¬
gangenen Jahrhunderts vielfach befasst; in Sabarths (1) zusammen¬
fassendem Werk „Das Chloroform“ sind bis 1863 allein IIP Fälle
von Narkosetod verzeichnet. Es sei hier nur kurz auf die Arbeiten
von Ungar (2), Ostertag (3) Strassraann (4), Frankel (5), Eisen¬
drath (6), Marthen (7), Bandler(8), Schenk (9), Poroschin (10),
Guleke (11), Stierlin (12) u. a. verwiesen.
Bei weitem seltener sind die Chloroformvergiftungen durch Trinken
des Mittels. Sie beruhen zum grössten Teile der Fälle auf Verwechs¬
lungen mit anderen Medikamenten, so z. B. Chloroform Olivenöl ana
(Liniment), zum geringeren Teile wurde Chloroform in selbstmörde¬
rischer Absicht eingenommen. Eine medikamentöse innerliche Ver¬
abreichung von Chloroform in Mengen von 4—5 g war besonders in
Frankreich als Bandwurmmittel üblich und führte bisweilen zu letalem
Ausgang [Robert (13)].
Eine grössere Zusammenstellung über Fälle von interner Chloro-
forravergiftung findet sich in der Arbeit von Hirsch (14) aus dem
Jahre 1894 und — unter Benutzung derselben — in der Arbeit von
Schönhof (15) aus dem Jahre 1914, der neben einer eigenen Be¬
obachtung 49 Fälle aus der Literatur anführt. Ernberg (16), dessen
Arbeit (1903) mir nur in dem Referat von Jessen zur Verfügung
stand, erwähnt ausser einem eigenen Fall 41 Fälle aus der Literatur,
von denen 28 zur Genesung führten. Ferner beschreibt 1906 Wollen¬
weber (17) den klinischen Verlauf einer Chloroformvergiftung vom
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176
Raimund S c h e 1 c h o r,
Magen aus, die nach 6 Tagen in Genesung überging. Im folgenden
möchte ich einen weiteren Fall von Chloroforravergiftung mitteilen,
bei dem das Chloroform in selbstmörderischer Absicht getrunken
worden ist.
Krankengeschichte:
58 jähriger Maschinist E. aus einer chemischen Fabrik, die sich hauptsäch¬
lich mit der Herstellung von Chloroform befasst, wurde am 16. 9. 1919 in be¬
nommenem Zustande ins Krankenhaus eingeliefert. Laut telephonischer Mitteilung
soll er ein Gift zu sich genommen haben, da gegen ihn ein gerichtliches Ver¬
fahren schwebte.
Kräftiger, massig benommener Patient. Die Benommenheit wechselt.
Stöhnen. Die Lippen sind geschwollen und hellrot, das Zahnfleisch ist wund
und blutet.
Die Magengrube ist massig druckempfindlich. Der Mund wird auf Aufforde¬
rung nicht geöffnet. Beim Versuch, den Magen auszuhebern (ohne Kieferklemme),
beisst er in den Schlauch. Nach Einlegen einer Kieferklemme wird der Magen
ausgehebert und es entleert sich dünnflüssiger, rot aussehender Brei, der einige
unverdaute gröbere Speisereste enthält und stark nach Chloroform riecht. Eine
Magenspülung wird angeschlossen. Die Spülflüssigkeit riecht ebenfalls nach Chlo¬
roform und ist dauernd blutig gefärbt; deshalb wird von weiterer Spülung Ab¬
stand genommen. Die Pupillen sind gleich gross und reagieren prompt auf Lichi-
oinfall. Patellarreflexe positiv. Achillessehnenreflexe fraglich. — Nach 1 */ 2 Stunden
weicht die Benommenheit. Pat. kann aber nur lallen und keine deutlichen Worte
sagen. Er verstoht aber die Fragen nachmittags. Puls weich und leicht unter¬
drückbar, regelmässig. Herz: Normale Grenzen, kein hebender Spitzenstoss,
klopfende Töne. Die Speiseröhre ist anscheinend zugeschwollen. Pat. kann keine
Flüssigkeit zu sich nehmen.
18.9. Im ausgehebertem Mageninhalt wird* chemisch Chloroform nach¬
gewiesen. Puls wird ohne Kampfer rasch weich.
Lippen, Zunge, Magenschleimhaut stark verätzt, beträchtlicherFoetor ex ore.
Stuhlgang blutig. Zahl der Erythrozyten 5200000. Urin sauer, kein Eiweiss,
Spuren von Blut. Wassermann posiliv. Nährklystiere.
19. 9. Pat. kann mit heiserer Stimme kurze Sätze sagen. Zunehmende
Atemnot. Links hinten unten Dämpfung mit leichter Abschwächung des Stimm-
fremitus. Klingeode Geräusche. Lungenränder noch verschieblich. Im Urin kein
Eiweiss, aber Bilirubin. Mittags 500 ccm CI Na-lnfusion.
20. 9. Sehr weicher Puls. Wegen Abschwächung des Stimmfremitus wird
eine Probepunktion gemacht, die 3—4 Tropfen gelblicher Flüssigkeit ergibt.
Bakteriologischer Befund: Keine pathogenen Keime. Im‘Urin Bilirubin, kein
Eiweiss.
21. 9. Puls weich. Starke Atemnot. Mehrere bronchopneumonische Herde,
besonders rechts. Im Urin Bilirubin, kein Eiweiss. Unter zunehmender Herz¬
schwäche erfolgt der Exitus 6 Uhr 45 Min. nachmittags.
Die Therapie bestand in Kampfer- und Koffeininjektionen vom 1. Tage an,
Kochsalzinfusionen, Nährklystieren und zuletzt Strophanthin.
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Heber Vergiftung durch Trinken chloroformhaltiger Flüssigkeit. 177
Was in der eingenommenen Flüssigkeit enthalten war, lässt sich
mit Sicherheit nicht feststellen. Die Menge mag nach des Patienten
eigenen Angaben, etwa 50 g betragen haben. Die betreffende Fabrik
teilte mir auf meine Anfrage bereitwilligst mit, dass es sich aller
Wahrscheinlichkeit nach nicht um reines Chloroform, sondern um ein
ganz rohes, noch unfertiges Produkt gehandelt; habe, da sich in den
in Frage kommenden Tagen Chloroform gerade in der Fabrikation
befand und erst das erste Stadium erreicht hatte, das dem Patienten
verhältnismässig leicht zugängig war, und andererseits Chloroform
p. narc. nicht auf Lager war.
Unter den Stoffen, die in einem ungereinigten Chloroform ent¬
halten sein können, ist — nach Angabe der Fabrik — in erster
Linie Salzsäure zu nennen, dann auch freies Chlor, fremde Chlorie¬
rungsprodukte und eventuell Phosgen.
Sektionsbericht (Auszug).
Mittelgrosser, kräftig gebauter, leidlich gut genährter männlicher Leichnam.
Hautfarbe im allgemeinen blass. An den Lippen keine Verätzungserscheinungen,
ebensowenig an der von aussen sichtbaren Mundschleimhaut. Leib etwas auf¬
getrieben.
In der Bauchhöhle keine freie Flüssigkeit. Bauchfell glatt und spiegelnd.
Zwerchfellstand rechts 5., links 4. Kippe. Lungen sinken leidlich zurück,
ln der rechten Pleurahöhle ein Liter jauchig-eitriger Flüssigkeit.
In den Herzhöhlen vereinzelte Speckhaut- und dunkelrote Blutgerinnsel.
Muskulatur kräftig, braunrot gefärbt. Auf Flachschnitten keine Veränderungen.
Papillarmuskeln o. B. Innenhaut der Kranzgefässe zeigt vereinzelte gelbweisse
Verdickungen, ebenso die der Körperschlagader.
Linke Lunge ziemlich gross, Lungenfell getrübt, besonders über dem Unter¬
lappen mit feinen fibrinösen Auflagerungen bedeckt. Oberlappen hellrot gefärbt;
hier treten im zungenförmigen Teile etwa kirschkern- bis gut taubeneigrosse,
derbe, luftleere Herde hervor, welche auf der Schnittfläche und nach der Pleura
vorspringen, graugelblicb gefärbt erscheinen und fest sind. Das übrige Gewebe
des Oberlappens lufthaltig, lässt auf Druck nur wenig feinschaumige, dunkelrote
Flüssigkeit ausdrücken. Unterlappen tiefdunkelrot, nur wenig lufthaltig; hier
ausserordentlich zahlreiche und dichtstehende, etwa erbsen-bis halbkirschengrosse,
dunkelrote, auf der Sohnittfläche vorspringende Herde, von denen die grösseren im
Zentrum einen gelben Herd erkennen lassen; sie fühlen sich derb an und sind
meist scharf umgrenzt. Aus den kleineren \ind grösseren Luftröhrenästen entleert
sich reichlioh eitriger Schleim. Schleimhaut der letzteren .tiefdunkelrot gefärbt,
geschwollen, mit zähem eitrigen Sohleim belegt.
Rechte Lunge bietet im allgemeinen dasselbe Bild dar wie die linke, nur ist
hier der Unterlappen, infolge des eitrig-jauchigen Ergusses in die rechte Pleura¬
höhle, in seinen hinteren unteren Abschnitten etwas zusammengedrückt. Das Ge¬
webe sehr blutreich. Die Pleura hier über den hinteren Abschnitten des Unter-
Vierte^jahresohrift f. ger. Med. n. Off. San.-Wesen. 3. Folge. Bd. 60. H. 2. 22
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178
Raimund Schelcher,
lappens, und zwar Pleura pulmonalis und costalis, zeigen schmatzigraugnL *
Verfärbung. Das Gewebe ist an der Pforte der rechten Lunge bis zum Zwerchfell
entlang dem Oesophagus von einer eitrig-jauohigen Flüssigkeit durchtränkt, ebenso
auch die Wand der Speiseröhre, die wie aufgefasert erscheint. Dicht oberhalb des
Magenmundes an der Einmündungsstelle der Speiseröhre findet sich eine spalt¬
förmige Oeffnung in der Speiseröhrenwand, vermittels der die rechte Pleurahöhle
mit der Speiseröhre kommuniziert.
Schleimhaut des weichen Gaumens etwas gerötet, schmutziggrauweiss ge¬
färbt. Mandeln massig gerötet.
Schleimhaut des Rachens und des Kehlkopfeinganges ist sehr stark ge-
sohwollen, gefaltet, schmutziggraurot: mit aufgelagerten, ziemlich weichen,
schmutziggraugelben, an der Oberfläohe schiefrigen Schorfen; beim Einschneiden
zeigt sich, dass die Schorfe durch eine dünne Schicht von Eiter von den tieferen
Schichten der Schleimhaut abgehoben sind. Am Kehlkopfeingang fühlt sich die
Schleimhaut derb an, ist sohmutziggraugelb gefärbt, beim Einschneiden eitrig
durchtränkt.
Der Kehlkopfeingang wird durch die aryepiglottischen Falten, die stark an¬
geschwollen sind, stark verengt.
Die ganze Speiseröhrenschleimhaut zeigt ein missfarbiges, dunkelgelbgraues
bzw. schmutziggelbsohwarzes Aussehen, hier und da treten etwas derbere in Ab¬
lösung begriffene Schorfe hervor, besonders im unteren Drittel. Schleimhaut
ausserordentlich weioh. Die ganze Speiseröhrenwand ist wie morsch und, wie
oben erwähnt, in den unteren Abschnitten von eitrig-jauchiger Flüssigkeit durch¬
tränkt.
Im Magen findet sioh eine massige Menge dunkelgrauroter, übelriechender
Flüssigkeit. Magenmund in toto verdickt. An der Aussenseite, und zwar an der
Hinter- und Vorderfläche, starke Rötung derSerosamit faserstoffigen Auflagerungen.
Gefässe bis in die feinsten Verzweigungen stark gefüllt. Von der Magenschleim¬
haut ist nur ein ganz kleiner Teil, der der Hinterfläche des Pylorus entspricht und
etwa handtellergross ist, vorhanden, aber auch hier schmutziggraurot gefärbt,
glatt. Der übrige Teil der Magenschleimhaut zeigt ein schwarzrotes bzw. schwarz¬
gelbes Aussehen, teilweise, und zwar in der Umgebung der Kardia, ist die
Schleimhaut in eine weiche, schmutziggraugrünliche und schwarzgelbe Masse ver¬
wandelt, die sich leicht abstreifen lässt. Die tieferen Schichten, die Submukosa
und die Muskularis zeigen ein missfarbiges Aussehen und sind ausserordentlich
leicht zerreissbar. Ungefähr in der Mitte zwischen der grossen und kleinen
Krümmung findet sich gürtelförmig den Magen umkreisend eine starke ausgedehnte
Verschorfung der Magenschleimhaut; dieSchorfe treten in Form von flachen, sich
derb anfühlenden Wülsten hervor, deren Oberfläche teils schmutzig graugelb, teils
dunkelrot gefärbt ist. Beim Einschneiden findet sich auf der Grundfläche der
Schorfe da, wo sie der Wand aufsitzen, hier und da eine golblichgraue schmierige
Flüssigkeit. Die äusseren Schichten des Magens sind sehr stark verdickt und sehr
stark durchfeuchtet, ausserordentlich blutreich, die Verschorfung reicht bis dicht
an den Pförtner heran, bleibt aber von ihm ungefähr fingerbreit entfernt und
endet hier mit einer unregelmässigen zackigen Grenze. Die Schleimhaut zwischen
dem Pförtner und der Verschorfung ist graurötlich gefärbt und etwas geschwollen.
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Ueber Vergiftung durch Tiinken chloroformhaltiger Flüssigkeit. 179
lm Zwölffingerdarm galliger Inhalt, Schleimhaut etwas geschwollen, gerötet
und aufgelookert. Gallengang durchgängig.
Milz nicht vergrössert.
Leber: Oberfläche glatt, braunrot gefärbt. Schnittfläche feucht und vor¬
quellend. Drüsiger Bau deutlich erkennbar, Gewebe hier braunrot gefärbt. Mitt¬
lerer Teil sinkt etwas ein, ist dunkelrot gefärbt, während die Peripherie mehr
graubräunlioh gefärbt ist.
Gallenblase: Ausserordentlich prall mit dunkelgrüner, klarer, dünnflüssiger
Galle gefüllt, Wand und Schleimhaut intakt, ebenso Ductus choledochus und
«ysticus.
Nieren: Schlaff. Kapsel leicht abziehbar. Oberfläche glatt, dunkelgraurot
gefärbt. Auf der Schnittfläohe die Rinde von gewöhnlicher Breite, graurot gefärbt,
deutlich gezeichnet. Marksubstanz in der Grenzschicht etwas dunkler gerötet.
Von der Schnittfläche fliesst mässig viel Blut ab. Nierenbecken und Harnleiter¬
schleimhaut blass.
Harte Hirnhaut ziemlich fest mit der Unterfläche des Sohädels verwachsen.
Weiche Hirnhäute über den mittleren Abschnitten desGehirns leicht getrübt.
Windungen etwas schmäler als normal, besonders im Bereiche des Stirnbir'ns.
Weisse Marksubstanz quillt auf äer Schnittfläche vor, ist mässig feucht glänzend.
Aus den durchschnittenen Gefässen treten ausserordentlich zahlreiche, leicht ab-
spülbare Blutpunkte hervor. Rinde von gewöhnlicher Breite, grauweiss gefärbt.
Grosse Nervenknoten sind deutlioh gezeichnet, lassen ebenfalls auf der Schnitt¬
fläche reichlich abspülbare Blutpunkte hervortreten; das Gleiche gilt vom Klein¬
hirn, Brücke und verlängertem Mark, nirgends finden sich Herderkrankungen.
Zur mikroskopischen Untersuchung wurde sowohl in 4proz. Formalin als
auch in Sublimat fixiertes Material verwendet, und zwar wurden untersucht: Herz-
znuskulatur, Leber, Pankreas, Milz, Niere, Speiseröhren- und Magenschleimhaut,
Grosshirn und Medulla oblongata. Gefärbt wurden Gefrier- und Paraffinschnitte
mit Sudan lll-Hämatoxylin und mit Hämatoxylin-Eosin, die Magenschleimhaut
zur Darstellung des Fibrins mitLithionkarmin-Anilinwassergentianaviolett, ausser¬
dem Gehirn und verlängertes Mark nach der Lenhossekschen Methode mit
Thionin und Toluidin. Dabei ergab die Toluidinfärbung im allgemeinen bessere
Resultate als die mit Thionin. Die Befunde sind folgende:
Herz: In den Muskelzellen finden sich bei Sudanfärbung an den Kernpolen
kleine Körnchen angebäuft, die, ähnlich wie Fett, orange bis bräunlich gefärbt
sind, aber auch in Paraffinschnitten bei Hämatoxylin-Eosinfärbung als bräunliche
Körnchen deutlich zu sehen sind. Diese für Abnutzungspigment charakteristische
zirkumpolare Anordnung ist in Längs- und Querschnitten der Muskelfasern deutlich
eingehalten. Die Kerne sind durchweg gut färbbar, Quer- und Längsstreifung der
Muskelzellen deutlich zu sehen. Protoplasma ist überall gleichmässig gefärbt.
Keine Fragmentationen.
Leber: Bei Sudanfärbung zeigen sich die Leberzellen in den zentralen
Läppohenteilen vollgestopft mit gelbbraunen, krümlichen Körnchen und zwar der¬
art, dass diese feinkörnigen Massen nicht gleichmässig über die ganze Zelle ver¬
teilt, sondern meist in einem rundlichen Häufchen neben den Kernen angeordnet
sind. Sie bestehen aber nicht aus Fett, sondern aus Pigment, da sie nicht die
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charakteristische Sudanfärbung annehmen und nicht durch fettlösende Mittel ex¬
trahierbar sind. Eine Untersuchung mit Berliner Blaureaktion sowie Schwefel-
Ammonium auf Eisen fiel negativ aus, auch die Gmelinsche Probe mit Salpeter¬
säure auf Gallenfarbstoff war negativ. Im Hämatoxylin-Eosinpräparat sind diese
Körnchen ebenso zu sehen; auch in den KupferschenSternzellen finden sich ziem¬
lich reichlich diese Pigmentkörperchen. In den zentralen Läppchenteilen ist
Stauung vorhanden; die Blutkapillaren sind sehr stark gefüllt und erweitert. Die
Läppchenzeichnung ist durchweg deutlioh ausgeprägt. Die Wände der Zentral¬
venen sind verdickt und gequollen, und die Leberzellen zeigen in ihrerUmgebung
zum Teil undeutliche Konturen oder sind auch ganz nekrotisch, vom Kerne nur
noch Trümmer vorhanden.
Pankreas: Bei Sudanfärbung zeigen sich zum Teil die Drüsenzellen mit
kleineren und grösseren, orange gefärbten Fettkörnchen mehr oder minder voll¬
gestopft. In einzelnen Läppchen sind die Drüsenzellen aber ganz frei davon. Im
Hämatoxylin-Eosinpräparat, das diese Fettkörnchen natürlich nicht zeigt, sind die
Langerhansschen Inseln deutlich ausgeprägt. Die Kerne sind überall gut färbbar.
Nieren: Bei Sudanfärbungen finden sich in den Epithelzellen beider Teile
der Henleschen Schleifen u,nd der Tubuli recti feinste Fettkörnchen, die ziemlich
dicht über das Protoplasma gleichmässig verstreut sind, aber auch oft an der
Basis der Zelle etwas dichter liegen, ln den Glomeruli und den Tubuli contorti
findet sich nichts von solchen Fettkörnchen.— Im Hämatoxylin-Eosinpräparat
zeigen sich die Epithelien der Tubuli contorti und recti etwas gequollen, das
Protoplasma ist wenig getrübt. Die Zellkerne sind überall gut färbbar, die Glo¬
meruli blutreich. Ganz vereinzelte hyaline Zylinder liegen in den anteren Ab¬
schnitten der Henleschen Schleifen.
Milz: Fett lässt sich nicht nachweisen. In den Milzsinus finden sich ausser¬
ordentlich grosse Mengen roter Blutkörperchen.
Medulla oblongata: Bei Sudanfärbung zeigt sich das Protoplasma der
Ganglienzellen mit kleinen bis mittelgrossen, orange gefärbtenFettkörncben erfüllt,
ln denGefässendothelien finden sich keine solchen Körnchen.— Durch Hämatoxylin-
Eosin werden die Kerne der Ganglienzellen verhältnismässig wenig gefärbt, auch
das Protoplasma ist schwach färbbar und von lockerer, wabiger Struktur.— Deut¬
liche Veränderungen zeigen die Ganglienzellen bei Toluidinfärbung. Die Zelle
im ganzen ist etwas geschrumpft. Bei einigen wenigen Ganglienzellen sind die
Nisslschen Schollen zwar über den ganzen Körper sichtbar, aber sie sind eigen¬
tümlich grossschollig, klumpig. Das Protoplasma ist nicht homogen, sondern von
wabiger Struktui. Bei anderen Ganglienzellen sind die Nisslschen Schollen nur an
der Zellperipherie vorhanden, während sie in den mittleren Teilen dos Zellkörpers
ganz fehlen oder nur sehr undeutlich sind. Bei diesen Zellen liegt bisweilen auch
der Kern nicht in der Mitte des Zellleibes, sondern etwas exzentrisch, selten ist
er ganz randständig. Kern und Kernkörperchen sind immer deutlich, ln fast
allen Ganglienzellen ist eine schwach hellgelbe körnige Masse zu sehen, oft an
einem Ende der Zelle am Ansatz eines Protoplasmafortsatzes, bisweilen die Hälfte
des Zeilprotoplasmas ausfüllend.
Grosshirn: In fast sämtlichen Ganglienzellen zeigt sich bei Sudanfärbung
auf einer Seite im Protoplasma ein zusammengeballtes Häufchen kleiner gelb- bis
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Ueber Vergiftung durch Trinken chloroformhaltiger Flüssigkeit. 181
orangefarbener Körnchen, die erheblich dunkler gefärbt sind als die (auf Lipo-
chromen beruhende) Färbung der Gliazellen. Auch die Gefässendothelien enthalten
vielfach solche Fettkörnohen. — Bei der Toluidinfärbung ist in den meisten Zellen
von Tigroidschollen nichts zu sehen, nur in vereinzelten Zellen sind an der Peri¬
pherie noch einige kleine Schollen, z. T. mit verwaschenen Konturen, zu erkennen,
sonst sind staubförmige Körnchen an Stelle der Tigroidschollen über der ganzen
Zelle verbreitet. Kern und Kernkörperchen sind stets deutlich und zentral gelegen
bis auf wenige Ausnahmen, wo der Kern etwas nach der Peripherie abgerückt ist.
Die Nervenfortsätze sind nicht geschlängelt. Die sohwaohkörnigen gelben Massen
in den Ganglienzellen sind hier zwar auch zu finden, aber nicht so häufig wie in
der Medulla oblongata.
.Die schwersten Veränderungen im mikroskopischen Bild bietet der Magen:
Die ganze Schleimhaut ist völlig nekrotisch, vom Epithel sind nur noch einzelne
wenige Trümmer in Form von einzelnen Zellen und kleineren Zellgruppen zu
sehen. Die Nekrose geht bis tief io die Muskelschicht hinein. Die Arterienwände
sind teilweise in Nekrose begriffen und mit Leukozyten durchsetzt. An solchen
Stellen zeigt sich auch beginnende Thrombusbildung. Noch stärkere Nekrosen
zeigen die Wände der Venen, die stark anfgequollen sind; im Bereiche der Media
sind sie deutlich aufgelockert, das Gefässlumen meist völlig thrombosiert. In dem
zerstörten, ödematös abgehobenen und gelockerten Gewebe ausserhalb der Muskel-
sohicht finden sich grosse Blutaustritte. Die Blutgefässe sind maximal erweitert
und stark gefüllt. Stellenweise finden sich aufgelagerte Schorfe an Stelle des Epi¬
thels, in denen blaue Bakterienmassen liegen, ausserdem Leukozytenanhäufungen
mit zerfallenden Kernen. — Die Färbung mit Lithionkarmin und Anilinwasser-*
gentianaviolett zur deutlichen Herstellung des Fibrins zeigt ein blaues, lockeres
Fibrinnetz besonders an Stelle der zerstörten Schleimhaut. Auch in den Gefäss-
thromben findet sich, namentlich an deren Randpartien in Anlehnung an die Ge-
fässwand, ein starkes Netzwerk von 'blau gefärbten Fibrinmassen; ebenso treten
in den Blutaustritten die blauen Fibrinmassen bei dieser Färbung deutlich hervor.
Die Schleimhaut des Oesophagus bietet ein ganz entsprechendes Bild:
Völlige Nekrose der gesamten Schleimhaut, z. T. bis tief in die Muscularis mu¬
cosae. Wo die Schleimhaut in ihrer Kontinuität noch einigermassen erhalten ist,
ist das Gewebe ausserordentlich aufgelockert, ödematös geschwollen; auch hier
zahlreiche Blutergüsse. Die Gefässe bieten das gleiche Bild wie in der Magenwand.
Das klinische Bild der internen Chloroformvergiftung ist nicht
immer das gleiche. Meist tritt bei der Aufnahme per os binnen
weniger Minuten, oft sofort, Bewusstlosigkeit und tiefster Sopor ein
— in den 19 von Hirsch (14) zusammengestellten’ Fällen bis auf
einen Fall nach spätestens 10 Minuten; in einem Fall, in dem eine
halbe Unze Chloroform genommen wurde (Greiner, Wiener med.
Zeitung, 1871), trat keine Bewusstlosigkeit ein. Die Bewusstlosigkeit
kann mehrere Stunden bis einen Tag lang [Schönhoff (15)] andauern.
Sie kann als eine Art sekundärer Inhalationsnarkose aufgefasst werden;
denn es ist unvermeidlich, dass während oder nach dem Verschlucken
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auch Chloroform eingeatmet wjrd, zumal wenn noch Erbrechen ein-
tritt, wie es in manchen Fällen bald nach der Einnahme des Mittels
geschieht. Indes wurde solch baldiges Erbrechen nicht allzuhäufig
festgestellt. In einem Fall von Mygge (nach Hirsch) trat erst nach
dem Erwachen aus der Betäubung Erbrechen auf. In anderen Fällen
wird es erst durch die Magenspülung ausgelöst, die als ein stärkerer
Reiz aufzufassen ist. Dass der menschliche Organismus bei Chloro¬
formvergiftungen per os nicht häufiger zu dieser Selbsthilfe greift,
um sich von dem Gifte zu befreien, wie er es bei vielen anderen
akuten Vergiftungen tut, dürfte seinen Grund in der durch das Chloro¬
form herabgesetzten Reflexerregbarkeit haben. Aus dem gleichen
Grunde misslingt es auch meist bei Chloroform Vergiftungen, durch
Einbringen eines Fingers tief in den Rachen Erbrechen zu erregen.
In unserem Fall trat weder spontan noch auf die Magenspülung, hin
Erbrechen auf. Die Patcllarreflcxe waren dabei gut auslösbar, die
Achillessehnenreflexe fraglich. Die Pupillen waren gleich gross und
reagierten auf Lichteinfall. Doch ist das Verhalten der Pupillen in
den einzelnen Fällen durchaus verschieden; bald sind sie bis zu Steck¬
nadelkopfgrösse verengt, bald erweitert; in den meisten der Fälle
besteht Lichtstarre, mehrfach ist aber, wie hier, die Lichtreaktion
gut erhalten. Die Atmung ist in der Regel oberflächlich, der Puls
klein. Die Atemluft riecht deutlich nach Chloroform, unter Um¬
ständen mehrere Tage lang, wie in einem Fall von Böttger (Deutsche
Klinik, 1871). Pneumonien traten öfters auf im Verlauf der Er¬
krankung. Ein Exzitationsstadium wurde bei interner Chloroform¬
vergiftung nur selten beobachtet — in den 19 von Hirsch (14) auf¬
geführten Fällen nur dreimal, und zwar nach kleineren Mengen des
Giftes. Wie oft ein kurzes Exzitationsstadium vorhanden gewesen
sein mag, aber nicht beobachtet wurde, da der Patient im bewusst¬
losen Zustand aufgefunden wurde, entzieht sich natürlich einer genauen
Beurteilung. Schönhof (15) beobachtete delirienhafte Zustände bei
Hunden, denen er Kampferöl in den Magen goss, keine Delirien aber
bei Einverleibung von Chloroform oder einer Mischung von Kampfer
und Chloroform. Ich möchte glauben, dass grössere Dosen von
Chloroform so rasch und stark reflexhemraend wirken, dass ein Exzi¬
tationsstadium dadurch unterdrückt wird, es somit bei kleineren
Mengen von Chloroform, bei denen die Reflexwirkung nicht so rasch
eintritt, zur Exzitation kommt. — Die Gegend der Magengrube ist
sehr oft druckempfindlich oder schmerzhaft, in anderen Fällen wird
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Ueber Vergiftung durch Trinken chloroformbaltiger Flüssigkeit. 183
auch auf tiefen Druck in die Magengend kein Schmerz geäussert.
Infolge der lokalen Aetzwirkung des Chloroforms wird bisweilen über
Brennen im Munde und über Halsschmerzen geklagt. Auch ist das
Schlucken erschwert bzw. ganz unmöglich, wie in unserem Fall. Der
Stuhl kann diarrhoisch sein und Blut enthalten. Im Urin linden sich
selten Spuren von Eiweiss und Blut, dagegen Bilirubin. Ikterus trat
im Anschluss am Chloroformvergiftungen mehrfach auf, war aber in
manchen Fällen, wie auch in diesem, sicher nicht vorhanden.
Die Entstehung dieses Ikterus könnte in der hämolytischen Wir¬
kung begründet sein, die das Chloroform zweifellos besitzt. Doch
ist mir sehr viel wahrscheinlicher die Erklärung Hirschs (14), der
sagt: „Die Entstehung dieses Ikterus ist wohl darauf zurückzuführen,
dass die Entzündung von der Magenschleimhaut sich auf das Duodenum
ausbreitet und zu Verstopfung des Ductus choledochus führt. Es
würde sich also um einen Icterus catarrhalis oder gastroduodenalis
handeln.“
Einigermassen auffallend ist der meist negative Eiweissbefund
im Urin; stellten doch Hegar und Kaltenbach (18) kurz nach und
während der Chloroformnarkose Eiweiss im Harn fest, der vor der
Narkose eiweissfrei befunden worden war, und Eisendrath (6) fand
in 62 pCt. der Chloroforranarkosen vorübergehend nach dem Erwachen.
Albuminurie. In dem Falle von Hirsch (14) und Schönhof (15)
sowie in unserem Falle hier konnte kein Eiweiss festgestellt werden.
Das Chloroform wird vom Körper sehr rasch wieder ausgeschieden,
und zwar erfolgt die Ausscheidung bei Narkosen nach Lew in, wie
Stierlin (12) sagt, zu einem Drittel durch die Lungen und zu
zwei Dritteln durch die Nieren. Dass nach Trinken von Chloroform
die gänzliche Ausscheidung nicht immer so rasch erfolgt, beweist
der schon oben erwähnte Fall von Böttcher, bei dem noch nach
mehreren Tagen deutlicher Chloroformgeruch in der Exzitationsluft
wahrnehmbar war.
Ueber die tödliche Dosis des Chloroforms lassen sich keine ge¬
nauen Angaben machen. Nach Schraidtmann (25) trat in einem
von Taylor beschriebenen Falle bei einem 4jährigen Kinde nach
3 g Chloroform per os der Tod ein. Leonpacher berichtet über
einen Fall mit gutem Ausgang, in dem 20 g Chloroform mit der
gleichen Menge Olivenöl gemischt getrunken wurde. In einem Fall
von Board (nach Schmidtmann) erfolgte der Tod nach 120 g,
während in einem der Taylorschen Fälle nach derselben Dosis Heilung
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Raimund Scheich er,
erfolgte. Es muss eben eine individuell verschiedene Empfänglichkeit
für dieses Gift angenommen werden, und wie Hirsch (14) sagt:
„haben bei manchen Individuen kleine Dosen viel intensivere und
schnellere Wirkungen als bei andern grosse“.
Aehnlich den klinischen Erscheinungen sind auch die Obduktions¬
befunde bei internen Chloroform Vergiftungen wenig konstant, wie aus
den ziemlich spärlichen Sektionsberichten hervorgeht. — Von lokalen
Wirkungen wurde eine mehr oder weniger starke Verätzung der
Lippen sowie der Mundschleimhaut, der Speiseröhre, des Magens und
bisweilen auch des Darms beobachtet. Besonders auch letztere kann
recht beträchtlich sein, wie der Fall von Mygge beweist, den
Hirsch (14) anführt: Nach Trinken von fast 40 g reinen Chloroforms
war der Exitus nach 7 Tagen erfolgt, bei schwersten Verätzungen
im Magen fanden sich auch im Jejunum zahlreiche Ulzerationen in
Ausdehnung von 1 1 J 2 m Länge. In anderen Fällen kam es im Magen
und besonders im Darm nur zu entzündlicher Rötung. Massgebend
für die schwächere oder stärkere Aetzwirkung ist sicher der Füllungs¬
zustand des Magens, wie aus den Tierversuchen Schönhofs (15)
klar ersichtlich ist. Bemerkenswert in unserem Falle waren die ge¬
ringen Schädigungen der Darmschleimhaut bei der so schweren Ver¬
ätzung des Magens, dessen Schleimhaut zum.grössten Teile nekrotisch,
zum anderen Teile ausserordentlich stark ödematös geschwollen war.
Nur ein kleiner Bezirk oberhalb des Pylorus war weniger stark er¬
griffen, eine Erscheinung, wie sic in ähnlicher Weise kürzlich im
hiesigen Institut bei einer Lysolvergiftung beobachtet wurde. Auch
da war nur mit Ausnahme eines dreieckigen Bezirkes an der Vorder-
und Hinterwand vor dem Pylorus, dem Isthmus des Magens ent¬
sprechend, fast die gesamte Magenwand schwer verätzt.
Bei den mikroskopischen Untersuchungen fanden die verschiedenen
Beobachter fettige Degenerationen am Herzmuskel, in der Leber und
in den Nieren. Ern borg (16) fand in seinem Falle auch Verände¬
rungen im Gehirn, und zwar Tigrolyse in den Ganglienzellen der
Hirnrinde, sowie einen Erweichungsherd im Grosshirn. Bei den äusserst
spärlichen Berichten über mikroskopische Befunde bei internen Chloro-
formvergiftungcn sind die Tierversuche zur Erkenntnis dieser Ver¬
änderungen äusserst wichtig. Als erster hat wohl Nothnagel (18)
solche Versuche angestellt, indem er Kaninchen Chloroform in den
Magen brachte. Er fand die Leberzellen stark gefüllt mit kleineren
und grösseren Fettropfen, z. T. eine schlecht erkennbare Läppchen-
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Ueber Vergiftung durch Trinken chloroformhaltiger Flüssigkeit. 185
Zeichnung. Durch vorherige Probeexzision eines Leberstückchens wies
er nach, dass diese Verfettung tatsächlich innerhalb 6 Stunden eintrat.
Am Herzen fand sich eine feinkörnige Trübung; in einem Falle waren
die Fibrillen dicht. gefüllt mit kleinen, rundlichen, lichtbrechenden
Fettropfen. Von der Querstreifung der Muskelfasern war nichts mehr
zu sehen.
Die Nieren fand Nothnagel wenig oder gär nicht verändert;
erst bei Chloroforminjektionen unter die Rückenhaut trat eine stärkere
Nierenschädigung ein. In der Körpermuskulatur konnte er nur in
einem Falle Degeneration nachweisen, und zwar in den Bauchmuskeln.
Ostertag (3) fand bei subkutaner Injektion von Chloroform starke
Veränderungen in den inneren Organen und zwar besonders in den
Nieren (Zylinder in den geraden und gewundenen Kanälchen).
Schönhof (15) beobachtete bei seinen Tierversuchen mit Ka¬
ninchen neben Herz- und peripherer Leberverfettung im Gegensatz
zu Nothnagel sehr starke Verfettung der Nierenepithelien, vor allem
der Tubuli recti, dann der Henleschen Schleifen. Ernberg (16) fand
wiederum im Kaninchen versuch mit Magensonde die Leber am stärksten
ergriffen.
Im allgemeinen sind die mikroskopischen Befunde bei der in¬
ternen Chloroformvergiftung gleich oder ähnlich denen bei Inhalations¬
intoxikationen sowohl bei Menschen wie bei Tieren, wenn auch, wie
Ostertag (3) durch seine Versuche mit Narkosen bei Kaninchen,
Meerschweinchen, Ratten, Tauben, Katzen und Hunden nachwies, ver¬
schiedene Tierarten für Chloroform eine verschiedene Empfänglichkeit
zeigen. Stets wurde bei Schädigungen durch Chloroformnarkose fettige
Degeneration in der Leber gefunden, und zwar am stärksten in den
peripheren Läppchenteilen; auch hier konnte Schenk (9) bei narkoti¬
sierten Affen durch Kontrolle mit exzidierten Leberstückchen bereits
einige Stunden nach der Narkose Fett nachweisen.
Ferner zeigte sich regelmässig fettige Degeneration in der Herz¬
muskulatur und in den Nieren, und zwar besonders in den Tubuli
contorti; die Glomeruli waren stets frei, nur Porosohin (10) und
Marthen (7) fanden auch dort fettige Degeneration des Epithels.
Einige Beobachter fanden degenerative Vorgänge im Zwerchfell
und Skelettmuskulatur [Unger (2), Ostertag (3), Strassmann (10),
Fränkel (5)], Veränderungen in der Milz, Magenschleimhaut und
Gehirn [Müller (20)] und im verlängerten Mark [Poroschin (10)].
Dabei fanden die einen in den Nieren die stärksten Veränderungen
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[Marthen (7), Guleke (11), Frankel (5)], andere mehr in Herz und
Leber [Strassmann (4), Bandler (8)], ohne ausser acht zu lassen,
dass bei manchen der Fälle schon vor Beginn der Chloroformschädi¬
gung eine krankhafte Veränderung, - insbesondere Verfettung, dieses
oder jenes Organs stattgefunden haben .konnte, die eventuell durch
längeres Kranksein oder Siechtum bedingt waren. Eine Verfettung
der Pankreasdrüsenzellen, wie in unserem Falle, fand ich in der mir
zur Verfügung stehenden Literatur nur in der Arbeit von Müller (20)
erwähnt. Derselbe wies nach Narkosen ferner Fett nach in den
Drüsenzellen des Magens, im Hoden und in den Nebennieren, selten
nur in der Milz; sodann in den Zellen des Epithels der Lungen¬
alveolen, der Bronchiolen und sogar der groben Bronchien, sowie in
den Zellen der Bronchialknorpel. Beträchtliche Veränderung fand
ferner Müller im Gehirn: „Es sind vor allem zweierlei Verände¬
rungen, die ich nach Narkose im Gehirn beobachtet habe, eine reich¬
liche Fettansammlung in den Wandungen der Blutgefässe und solche
in den Ganglienzellen.“ Poroschin (10) beobachtete bei Todesfällen
nach Chloroformnarkosen hyaline und vakuolige Degeneration^ in den
Nervenzellen.
Wenn man die Befunde unseres Falles mit denen anderer Chlo¬
roformvergiftungen vergleicht, so ergibt sich zwar in manchen Ueber-
einstimmung in denselben, in anderen aber wieder weicht unser Fall
ab. So zeigt sich hier keine Spur von Verfettung in Herz und Leber.
Das in diesen beiden Organen reichlich vorhandene Pigment braucht
bei einem 58jährigen Individuum nichts Pathologisches zu bedeuten;
in einem solchen Alter wird man Abnutzungspigmente in vielen Fällen
finden. Dagegen dürfte die Schädigung der Leberzellen in den zen¬
tralen Läppchenteilen (undeutliche Konturen oder auch gänzliche Zell¬
nekrose), sowie die Quellung der Wände der Zentralvenen als eine
direkte Chloroformschädigung anzusehen sein. Die Verfettung des
Pankreas sowie der Nieren ist bei unserem Falle verhältnismässig
gering, zumal in den Nieren, wo sich in den Epithelien der Tubuli
contorti gar keine, in denen der Tubuli recti doch weniger Fett¬
körnchen finden, als man hätte erwarten können. Von parenchyma¬
töser Trübung und Degeneration, wie sie Nothnagel (19) bei seinen
Tierversuchen ira Herzen, Marthen (7), Guleke (11), Fränkel(5)
und Poroschin (10) bei Chloroformtod nach Narkosen in den Herz¬
muskelfasern und in den Nierenepithelien neben der Verfettung fanden,
ist hier nichts oder fast gar nichts zu sehen.
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Ueber Vergiftung durch Trinken ohloroformbaltiger Flüssigkeit. 187
Die Veränderungen im Gehirn, die sich bei unserem Falle zeigten,
stimmen völlig mit dem überein, was bis jetzt überhaupt darüber
bei Chloroform Vergiftungen veröffentlicht ist. Ueber Gehirnverände¬
rungen bei Vergiftungen per os berichtet nur Ernberg(16). Ob der
Erweichungsherd, den er im Grosshirn fand, ein zufälliger Befund
war, bleibe dahingestellt. Jedenfalls ist bei Chloroformvergiftungen
über Regelmässige Befunde von Erweichungsherden im Gehirn, wie sie
etwa für CO-Vergiftungen im Linsenkern charakteristisch sind, nichts
bekannt. Das Gehirn ist wohl dasjenige Organ, das am meisten
und raschesten für Chloroform empfänglich ist, wie auch Bandler
[nach Pohl (27)] hervorhebt. Durch seinen Gehalt an Lezithin und
Cholesterin — Substanzen, die in Chloroform löslich sind — kann es
leicht Chloroform binden. Auch in unserem Falle sind die histologischen
Veränderungen der Ganglienzellen im Vergleiche zu denen in anderen
Organen sehr stark. Dass unter der Einwirkung von Giften ver¬
schiedener Art die Ganglienzellen ,ihr Aussehen verändern, ist eine
schon längst bekannte Tatsache [s. Monakow (24), Robert (13)].
Veränderungen des Tigroids, Verlagerungen des Kernes und Fett¬
degeneration in den Ganglienzellen wie in den Gefässendothelien
finden sich ja auch bei unserem Falle. Das leicht hellgelb gefärbte
Pigment, das in den meisten Ganglienzellen zu sehen ist, oft an der
Basis eines Protoplasmafortsatzes, wo die Tigroidschollen fehlen, ist
dagegen sicherlich eine normale Erscheinung, die bei allen älteren
Individuen auftritt. Darauf haben schon Rossin und Fenyvessy (21)
sowie Roth mann (22) hingewiesen; es ist eine bei Neugeborenen
fehlende, erst mit zunehmendem Alter auftretende fettähnliche Sub¬
stanz, die aber durch Aether und Alkohol nicht ausziehbar ist und
zu den LipocHromen zu rechnen ist.
Wie man sich die Wirkung des Chloroforms vorzustellen habe,
ob es direkt blutschädigend wirkt oder nur das Blut als Transport¬
mittel gebraucht, darüber entstanden verschiedene Meinungen. Die
Hypothese von Pleische [Huseraann (23)], „dass Chloroform sich
im Körper in Blausäure um wandelt . . .“, braucht hier nicht erörtert
zu werden und hat heute höchstens noch historisches Interesse. Nach
den Mitteilungen Sabarths (1) „besitzt nach A. Böttcher-Dorpat
Chloroform in hohem Grade die Eigenschaft, rote Blutkörperchen zu
zerstören und Hämoglobin in kristallinische Form überzuführen“.
Auch Nothnagel (19) hebt die hämolytische Wirkung des Chloro¬
forms hervor. Strassmann wie Ungar konnten jedoch „hinsichtlich
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der Entstehung der Organ Verfettung keine Blutveränderung direkt oder
indirekt feststellen“ [Ostertag (3)]. Chloroform besitzt ja, wie alle
Narkotika, die Fähigkeit, Lipoide zu lösen, und wirkt somit auch,
wenn es in genügender Konzentration auftritt, hämolytisch, da ja die
roten Blutkörperchen reichlich Lipoide enthalten [Kobert (13)]. Auch
die Versuche Ostertags (3), der Kaninchen subkutan Chloroform
injizierte, zeigten eine hämolytische Wirkung des Chloroforms. (Es
wäre somit auch ein hämolytischer Ikterus erklärbar. Häufiger dürfte
es sich jedoch, wie schon oben erwähnt, um einen mechanischen
Ikterus handeln.) Jedenfalls möchte ich mich der Ansicht Ungars (2),
Strassmanns (4) und Ostertags (3) anschliessen, der sagt: „Die
Fettmetamorphose ist die Folge einer Einwirkung des Chloroforms
auf das Blut (Zerstörung roter Blutkörperchen) und auf die Gewebs¬
zellen selbst.“ Dabei dürfte vielleicht die direkte Wirkung auf die
Organzellen die grössere Bedeutung haben als die hämolytische
Wirkung.
Noch ein Wort über die Pneumonien, die nach Chloroform¬
vergiftung mehrfach beobachtet wurden. Da ja das Chloroform zum
Teil durch die Lungen ausgeschieden wird, Wäre es wohl möglich,
dass durch diese Exkretion das Alveolarepithel geschädigt wird —
konute doch Müller (20) nach Narkosen auch in den Zellen des
Epithels der Lungenalveolen Fett nach weisen —, und dass auf diesem
Boden dann die Pneumonie entsteht.
Indessen ist zu bedenken, dass bei sonst intakten Lungen nach
Chloroformvergiftung Hyperämie derselben ein ganz gewöhnlicher Be¬
fund ist [Hirsch (14)]. Die Respiration ist durch das Chloroform
meist stark herabgesetzt, und in der Regel findet sich eine oberfläch¬
liche Atmung. Auch schon damit sind für die Entwicklung einer
Pneumonie äusserst günstige Bedingungen geschaffen.
Bei der rein mikroskopischen Betrachtung unseres Falles (stärkste
Verätzung des Magens und der Speiseröhre mit Durchbruch in die
Pleurahöhle, Empyem) und unter Berücksichtigung der Krankheits¬
geschichte (vom 4. Tage an zunehmende Atemnot und Dämpfungen
über der Lunge) ist anzunehmen, dass diese starken Verätzungen mit
anschliessendem Empyem und Bronchopneumonien die direkte Todes¬
ursache gewesen sind. Chloroform kann ja an sich sehr stark ätzend
wirken, nur überrascht hier dio so ausserordentlich starke Wirkung
in Speiseröhre und Magen, die teilweise durch Substanzen bedingt
sein mag, die in der getrunkenen Flüssigkeit enthalten waren. Welcher
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Ueber Vergiftung durch Trinken chlorofonnhaltiger Flüssigkeit. 189
Natur diese Substanzen waren, ist, wie oben erwähnt, nicht genau
festzustellen; vermutlich war jedenfalls Salzsäure mit darin enthalten.
Doch fanden sich keinerlei typische Zeichen einer Säure-, Laugen¬
oder anderen Vergiftung. — Ich glaube, dass der Fall trotz der Kom¬
plikationen, die den Tod herbeiführten, doch deutlich die Zeichen einer
Chloroformvergiftung aufweist, das ist: fettige Degeneration der par¬
enchymatösen Organe (hier nur in Nieren und Pankreas), der Ganglien¬
zellen und Hirngefässendothelien, sowie anderweitige Veränderung der
Ganglienzellen, und dass er in der Reihe der internen Chloroform¬
vergiftungen mit aufzuzählen ist.
Zum Schlüsse meiner Arbeit ist es mir eine angenehme Pflicht,
Herrn Geheimrat Prof. Dr. Schmorl meinen ergebensten Dank aus¬
zusprechen für die Ueberlassung des Materials zu dieser Arbeit sowie
für die freundliche Unterstützung bei derselben.
Benützte Literatur.
1) Sabarth, Das Chloroform. 1866. — 2) Ungar, Ueber tödliche Nach¬
wirkung derCbloroforminhalation. Vierteljahrssschr. f. gerichtl.Med. 1887. Bd.47.
S. 98. — 3) Ostertag, Die tödliche Nachwirkung des Chloroforms. Virchows
Arch. 1889. Bd. 118. S.250. — 4) Strassmann, Die tödliche Nachwirkung des
Chloroforms. Ebendas. 1889. Bd. 115. S. 1. — 5) Frankel, Ueber anatomische
Veränderungen durch Chloroformnachwirkungen beim Menschen. Ebendas. 1892.
Bd. 127. S. 381.— Derselbe, Ueber Chloroformnachwirkung beim Menschen.
Ebendas. 1892. Bd. 129. S. 254. — 6) Eisendrath, Ueber den Einfluss von
Aether und Chloroform auf die Nieren Deutsche Zeitsclir. f. Chir. 1895. Bd. 40.
S.466.— 7) Marthen, Ueber tödliche Chloroformnachwirkung. Berl.klin. Wochen¬
schrift. 1896. Nr. 33. S. 204. — 8) Bandler, Ueber den Einfluss der Chloro¬
form- und Aethernarkose auf die Leber. Milteil. a. d. Grenzgeb. d. Med. u. Chir.
1896. Bd.l. S.309. — 9) Schenk, Zur tödlichen Nachwirkung des Chloroforms.
Zeitschr. f. Heilk. 1898. Bd. 19. S. 93.— 10) Poroschin, Zur Frage über die
pathologisch-anatomischen Veränderungen in durch Chloroformnarkose bedingten
Todesfällen. Zentralbl. f. d. med. Wissensch. 1898. S. 365. — 11) Guleke,
Akute gelbe Leberatrophie im Gefolge der Chloroformnarkose. Arch. f. klin. Chir.
1907. Bd. 83. S. 602.— 12) Stierlin, Ueber Spätwirkungen der Chloroform¬
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13) Kobert, Lehrbuch der Intoxikationen. 1906.— 14) Hirsch, Ein Fall von
Chloroformintoxikation durch innerlich genommenes Chloroform. Zeitschr. f. klin.
Med. 1894. S. 190. — 15) Sohönhof, Ueber interne Chloroformvergiftung.
Zieglers Beitr. 1914. Bd. 58. S. 130.— 16) Ernberg, Ueber Intoxikationen mit
per os eingenommenem Chloroform. Nord. med. Arch. 1903. 4. Febr. Nur im
Ref. v. Jessen, Zentralbl. f. innere Med. 1904. Bd. 25. S. 893. — 17) Wollen¬
weber, Vierteljahrsschr. f. geriohtl. Med. Bd. 32. S. 116. — 18) Hegar und
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190
Raimund Schelcher, lieber Vergiftung durch Trinken usw.
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Kaltenbach, Eine eigentümliche Wirkung des Chloroforms. Virchows Arch.
1870. Bd. 49. S. 437. — 19) Nothnagel, Berl. klin. Wochenschr. 1866. S. 32.—
20) Müller, Fettmetamorphose innerlicher Organe nach Chloroform- and Misch¬
narkosen. Arch.f.klin.Chir. 1905. Bd.75. S.896.— 21) Rosip und Fenyvessy,
Ueber das Lipochrom der Nervenzellen. Virchows Arch. 1900. Bd.162. S.534.—
22) Rothmann, Ueber das Lipochrom der Ganglienzellen. Deutsche med.
Wochenschr. 1901. Nr. 11. — 23) Husemann, Handb. d. Toxikol. 1862. —
24) Monakow, Gehirnpathol. 1905 und Spezielle Patbol. u. Ther. von Noth¬
nagel.— 25) Schmidtmann, Handb. d. gerichtl. Med. 1905.— 26) Leon¬
pacher, Friedreichs Blätter f. gerichtl. Med. 1900. Bd. 51. — 27) Pohl, Ueber
Aufnahme und Verteilung des Chloroforms im tierischen Organismus. Arch. f.
exper. Patbol. u. Pharmakol. 1891. Bd. 28. S. 239.
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Ueber künstliche Färbung und Entfärbung des menschlichen Haares. 193
nicht von geübter fremder Hand, sondern vom Träger der Haare
selbst ausgeführt wurde.
Der Uebergang des natürlich gefärbten zum ergrauten Haar findet
dahingegen stets allmählich statt. Nur durch grossen Luftgehalt des
Markes grau erscheinende Haare zeigen einen plötzlichen Uebergang.
Hier klärt die Betrachtung unter dem Mikroskop die Sachlage auf.
Ebenso dürfen verschieden dunkel gefärbte Partien desselben
Haares nicht für eine Kunstfärbung angesehen werden, wenn die
helleren Partien den dünneren Teilen des Haares oder dem letzten
Stück des absterbenden Haares entsprechen.
Auch pflegen die Haare an verschiedenen Teilen des Kopfes, be¬
sonders bei Blonden und Braunhaarigen, geringe Differenzen in ihrer
Färbung zu zeigen; und oft findet man vereinzelt ganz abweichend
gefärbte Haare auf demselben Kopfe. Wenn daher das ganze Haar
desselben Kopfes auffallend gleichgefärbt ist, so kann daraus der
' Verdacht auf eine Kunstfärbung geschöpft werden (8). Es neigen
aber die meisten Kunstfärbungen in besonders hohem Masse zum
Ausbleichen (8) — auch naturfarbenes, besonders blondes Haar bleicht
im Sonnenlicht aus — so dass diese homogene Beschaffenheit des
künstlich gefärbten Haares nur kurz nach der Färbung anzutreffen
sein dürfte.
Ferner geben bisweilen gewisse Farbtöne einen Anhalt für eine
künstliche Färbung. So nimmt z. B. das Haar durch länger fort¬
gesetztes Bleichen und Nachfärben mit Kamillenextrakt einen unnatür¬
lich strohigen Ton an (9).
Unter dem Mikroskop soll nach Oesterlen (5) die Frage, ob
ein Haar künstlich gefärbt ist oder natürliche Farbe besitzt, sofort
zu lösen sein, da bei gelungener Färbung das Haar eine so gleich-
massige Farbe seines Schaftes böte, wie sie bei dem natürlichen
nicht vorkommt. Es sind aber einerseits naturfarbene dunkelblonde
Haare oft auffallend homogen gefärbt, andererseits zeigen mit Metall¬
farben gefärbte Haare genau die körnige Anordnung des Farbstoffes
wie die naturfarbenen Haare.
Leicht zu erkennen ist unter dem Mikroskop nur eine oberflächliche
Färbung, z. B. mit chinesischer Tusche, Kasselerbraun, Torffarbstoff
oder Stiefelwichse. Hier haftet der Farbstoff vorwiegend an einzelnen
halbgelösten Oberflächenschuppen und anderen Rauhigkeiten des Haares.
Guder (10) gibt nun an: „Je nach dem verwandten Haarfärbe¬
mittel muss zur Beseitigung desselben eine Waschung des Haares mit
Vierteljahrsschrift f. ger. Med. u. öfF. San.-Wesen. 3. Folge. Bd. 60 . ir. 2 , 13
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194
Lothajr Bock,
Wasser, verdünnter Salzsäure, Salpetersäure oder Chlorwasser versucht
werden.“
Boira Waschen des fettfreien Haares mit Wasser lösten sich
Kasselerbraun in Schollen, chinesische Tusche wolkig — als „Kohol“
mit Gummi arabicum vermischt zum Färben der Augenbrauen ver¬
wandt —, ferner lösten sich'im Wasser ein filtriertes ammoniakalisches
Dekokt aus Braunkohle, Kaffee, Kamillentee und Hopfenblütenaufguss.
Die beiden letzten Farbstoffe waren nicht völlig zu entfernen, doch
war an einem grösseren Haarbündel deutlich das Hellerwerden des
Farbtones zu sehen.
Verdünnte Säuren wirken in der Kälte auf die meisten Metall¬
farbstoffe kaum ein. Konzentrierte Salpetersäure zerstörte in der
Kälte, verdünnte 18 proz. bei leichtem Erwärmen die silbei*-, eisen-,
kupfer-, raangan-, wisraut-, blei-, kobalthaltigen Metallfarben.
Es entsteht aber eine leichte Hellgelbfärbung des Haares durch
die Einwirkung der Salpetersäure, die man bei Bestimmung der ur¬
sprünglichen Haarfarbe zu berücksichtigen hat.
Die organisch-chemischen Verbindungen der Haarfärbemittel bilden
mit der Salpetersäure Farbstoffe, und zwar färben sich mit Para-
Phenylendiamin und mit Aureol gefärbte Haare rotbraun, solche mit
Pyrogallussäure leuchtend gelb.
Da die gleiche Behandlung den natürlichen Haarfarbstoflf nicht
wesentlich verändert, ist leicht festzustellen, ob eine Haarfärbung
vorliegt.
Es erhebt sich nun die Frage, womit fand die Färbung statt?
Da nach dem Reichsgesetz vom 5. Juli 1887, § 3, zur Her¬
stellung von kosmetischen Mitteln zum Färben des Haares Farbstoffe
und Farbzubereitungen verboten sind, die Antimon, Arsen, Barium,
Blei, Kadmium, Chrom, Kupfer, Quecksilber, Uran, Zink, Zinn, Gumroi-
gutti, Korallin, Pikrinsäure enthalten, so kommen hi Deutschland nur
Silber-, Mangan-, Eisen- und Wismutsalze neben Pflanzen- und
Anilinfarben zum Färben des lebenden Haares in Frage. In Bayern
sind durch die Kgl. Bayrische Verordnung vom 16. Juni 1895 auch
Silbersalze mit Ausnahme des Chlorsilbers verboten.
Es dürfte aber die überwiegende Mehrzahl der zurzeit in Deutsch¬
land verbreiteten Haarfärbemittel aus Silbersalzen hergestellt sein.
Von 13 am Ort erhältlichen Haarfärbemitteln waren 12 silberhaltig.
Die Färbemittel dieser Gruppe enthalten das Silber meist in einer
ammoniakalischen Silbernitratlösung und in einer zweiten Flasche eine
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Ueber künstliche Färbung und Entfärbung des menschlichen Haares. 195
Lösung von Byrogallol oder von einem schwefelabspaltenden Stoff,
z. B. von Schwefelleber. Die Farbe ist sehr echt, es lassen sich je
nach der Konzentration der angewandten Lösungen Färbungen von
hellblond bis schwarz erzielen. Es tritt aber leicht ein metallisch¬
violetter Schimmer an den Haaren auf. Bei den langsam erst in
mehreren Tagen wirkenden „Haarfarbewiederherstellern“ kann die
Reihe der durchlaufenen Färbungen besonders vielgestaltig sein, indem
zunächst auf weissem Haar ein schön goldgelber Ton entsteht, dem
am nächsten Tage die erwähnten Anlauffarben folgen, und erst nach
3 oder 4 Tagen entsteht ein kräftiges Dunkelblond oder Schwarz.
Aber auch fuchsigrote und grüne Farbtöne können gelegentlich ent¬
stehen. So gibt Klein (8) an, dass weisses Haar, das früher schwarz
oder braun war, unnatürlich rotbraun werden kann. Grüne Ver¬
färbungen sollen besonders auftreten, wenn das Haar vor dem Färben
nicht genügend vom Fett befreit war.
Der Nachweis der Silberfärbung gelingt schon an einem etwa
1 cm langen Stück eines kräftig dunkelblond oder schwarz gefärbten
Haares. Bringt man auf ein solches Haarstück ein Tröpfchen kon¬
zentrierter Salpetersäure oder erwärmt gelinde mit einem Tröpfchen
verdünnter 18 prozentiger Salpetersäure und wartet bis das Haarstück
entfärbt bzw. hellgelb gefärbt ist, so kann man durch ein Tröpfchen
Salzsäure in dem erstgenannten Tropfen auf dunklem Untergrund und
unter dem Mikroskop deutlich sichtbare weisse käsige Flocken von
Chlorsilber erzielen, die sich beim Hinzufügen einiger Tropfen Am¬
moniak wieder lösen. Oder man löst den Farbstoff eines 1 cm langen
Haarstückes in einem Tröpfchen Salpetersäure und legt einen mög¬
lichst kleinen Kristall von Kaliumbichromat ein. Bei etwa 350 facher
Vergrösserung sieht man dann zahlreiche Nadeln und Blättchen von
blutrotem Silberchromat aufschiessen (11).
Ist die Färbung des Haares sehr wenig intensiv, z.,B. nur schwach
hellblond, so dürften die oben genannten Versuche noch auszuführen
sein, wenn man mehrere Haare in einem kleinen Tiegel verascht und
den Rückstand mit einem Tropfen Salpetersäure aufnimmt.
Silber ist in nachfolgenden Haarfärbemitteln enthalten, von denen
die mit einem * bezeichneten zurzeit in Göttingen käuflich zu er¬
halten sind.
Ala-Haarfarbe (12, S. 6).
Amerikanische Haarfarbe von A. Zwerner, Hannover (12, S. 199).
Brylon (15, 1903, S. 259).
13*
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Lothar Bock,
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Chinesische Haarfarbe (15, 1909, S. 1065).
Crinin von Funke u. Co. Berlin (12).
Eau de Figaro (12, S. 118).
Eau de Montblano (12, S. 119).
Eau de Vienne aus Paris (12, S. 121).
Eau de X chimiste (12, S. 121).
Eau Egyptienne aus Paris (12, S. 121).
Eau Lajeune aus Paris (12, S. 122).
Eau Vögötale de Paul L. Marquis, Paris (12, S. 122).
Flui de imperial de Jean Kabot von Bernhardt in Braunschweig * (12, S. 167).
Haarbalsam der Franziskanerbrüder in St. Mount (12, S. 198).
Haarfarbe Venus (12, S. 200).
Haarfarbe von Leytens in Antwerpen (12, S. 199).
Haarfarbewiederhersteller von Fritsch, von Klafft u. Buss, Wetzlar *.
Haarfarbewiederhersteller von Hermann Janke, Berlin * (12, S. 199).
Haarfarbewiederhersteller Nimmeralt (12, S. 199).
Haarfarbewiederhersteller Seegers 5b (12, S. 199)*.
Haarfarbewiederhersteller Victoria (15, 1911, S. 1324).
Haarlikör, chinesischer von Richard Hoffmann, Leipzig (12, S. 202).
Haarmilch von Johann Grolich *.
Heliosa (12, S. 214).
Hair Dye von Abt, Wien (12, S. 207).
Kanada (15, 1907, S. 72).
Kascha von Wetzel, Stuttgart * (12, S. 122).
Krinochrom (7) (12, S. 267).
Liqueur transmutative von Faivre, Paris (12, S. 286).
Melanogene von Dicquemare in Rouen (12, S. 307).
Melainocome (12, S. 122).
Neril von Franz Dralle, Hamburg * (14, 1903, II, S. 1388).
Noircir von R. Schumann, Leipzig (12, S. 337).
Noirogene des Chemikers Karl K re Iler, Nürnberg (12, S. 337).
Nuancin von Seeger, Berlin * (12, S. 201).
Pigmol Schlempen u. Co., Leipzig *.
Plaisir zum Farben der Augenbrauen von Wetzel in Stuttgart *.
Rcnovateur (12, S. 397).
Schellenberg's Haarwiederhersteller „20 Jahre jünger“ *.
Scbroers Haarfarbe (15, 1895, S. 187).
Seegers Haarfarbe Nr. 4 * (14, 1908, ll, S. 1076).
Dr. Sernaus Haarfarbe Nr. III (12, S. 433) enthält nach (14, 1895, S. 187) auch
Kupfer.
Teinture americaine pour la barbe (12, S. 461).
Teintures progressives (12, S. 461).
Teinture Richards von Seguin, Bordeaux (12, S. 461).
C. D. Wunderlichs Haarfärbemittel, Nürnberg (12, S. 201).
Youpla, Haarfarbewiederhersteller von Kopp u. Joseph, Berlin (12, S. 511).
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Ueber künstliche Färbung und Enterbung des menschlichen Haares. 197
Ausserdem empfiehlt Joseph (16) als unschädliche Haarfarbe
Argentumvaseline, zu der 1—20 pCt. Silbernitrat, in möglichst wenig
Wasser gelöst, verwandt werden sollen.
Nächst "dem Silber ist im Deutschen Reich die Anwendung von
Mangan- in Haarfärbemitteln erlaubt. Das Mangan wird meist als
Permanganat verwandt, eventuell abwechselnd mit Pyrogallussäure
oder Natriumthiosulfat. Es soll sich nur zu blonden Tönungen ver¬
wenden lassen (7). Die Färbung bleicht leicht aus und das Haar
wird dann angeblich vollständig weiss (17). Verwendet man Kalium¬
permanganat in stärkerer Lösung, etwa um dunklere Töne zu er¬
zielen, so wird das Haar durch die oxydierende Wirkung brüchig.
Die Entfärbung ist durch verdünnte Salpetersäure oder Salzsäure,
oder im Laufe einiger Tage durch Jodkalilösung zu erreichen. Der
Nachweis des Mangans geschieht am einfachsten durch die Soda-
salpeterschraelze. Bringt man ein einige Zentimeter langes Stückchen
des mit Mangansalz gefärbten Haares auf einer Porzellanschalen¬
scherbe in Sodasalpeter und erhitzt es in der Oxydationsfiamme, so
löst sich das Haar unter Verkohlen und die Schmelze färbt sich
deutlich grün.
Mangan enthalten:
Hoffers Haarfarbekamm von Karl Hoffers, Berlin (12, S. 200).
Notköl von C. G. Krause, Dresden (12, S. 338).
Seegers Haarfarbe „Braun“ (12, S. 200).
Ebenso wie Mangansalze sind Wismutsalze nur zu braunen Farb¬
tönen oder eventuell einem bräunlichen Schwarz zu verwenden. Die
braunen Töne sind mehr rötlich, da das verwandte Schwefelwismut
rotbraun ist. Der Schwefel kann z. B. durch Schwefelleber geliefert
werden. Entfärben lassen sich mit Wismut gefärbte Haare mit kon¬
zentrierter Salpetersäure.
Zum Nachweis entfärbt man ein einige Zentimeter langes Haar¬
stück mit einem Tröpfchen verdünnter Salpetersäure durch leichtes
Erwärmen und legt in die Lösung einen kleinen Kristall von Kalium¬
sulfat oder Kalium-Hydrosulfat. Nach einigen Minuten bilden sich
sechsseitige farblose Blättchen (11).
Wismut enthalten:
Haarfärbemittel „Endlich“ (15, 1905, S. 547).
Haarfärbebalsam von P. und R. Jilge, Berlin (12, S. 201).
Kalamax (12, S. 238).
Puttendörfers Universalhaarfärbeextrakt (15, 1903, S. 459).
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198
Lothar Bock,
Im Gegensatz zu den Wismutsalzen liefern Eisensalze schwarze
tintenartige Farbtöne, wenn sie, wie üblich, mit Pyrogallussäure zu¬
sammen verwandt werden. Diese Eisenfarben sollen meist nicht sehr
beständig sein.
Der Nachweis des Eisens ist leicht. Es genügt ein 1 cm langes
Stück Haar, das man auf dem Objektträger mit einem Tröpfchen
Salpetersäure entfärbt. Fügt man ein Tröpfchen Ferrozyankalium-
lösung oder erst etwas Salzsäure und dann Ferrizyankaliumlösung
hinzu, so erhält man unter dem Mikroskop deutlich sichtbare amorphe
blaue Flocken und später eine Blaufärbung des ganzen Haares.
Eisen allein enthalten:
Reform haar färbe von M. Waltsgott Naohf., Halle a. S. (14, 1908, II, S. 1070).
Panaxhaarfarbe Viteks Immerjung (12, S. 201).
Seegers verbesserte Haarfarbe 3b (14, 1908, II, S. 1070).
Ersen enthalten neben dem in Deutschland verbotenen Kupfer:
Nussextrakt von A. Uaszuski und P. V. Ardeliano, Wien (12, S. 340).
Haarwasser Lotion cosmetique von Laforest (12, S. 201).
Haarwasser von Seeger, Wien (12, S. 201).
Orientalische Haarfarbe von Milan Buydics (14, 1914, I, S. 491).
Schaubs Chicago Hair-Drye (14, 1908, II, S. 1069).
Das in diesen Haarfärbemitteln enthaltene Kupfer dürfte leicht
spektralanalytisch nachzuweisen sein (11). Steht ein Spektralapparat
nicht zu Verfügung, so gelingt es in dem Verbrennungsrückstand von
mehreren Haaren, der mit einem Tröpfchen Salpetersäure aufgenommen
ist, das Kupfer durch die Tripelnitritprobe nachzuweisen. Die Probe
ist bei dem Nachweis des nächsten Metalles angeführt.
Ein vorwiegend in ausländischen Präparaten immer noch vor¬
handenes Metall ist das Blei. Blei gibt mit schwefelabspaltenden
Substanzen aschblonde bis tiefschwarze Farbtöne. Der Nachweis
glückt meist leicht, am einzelnen Haar mit der Tripelnitritprobe (11).
Emich gibt hierzu folgendes an: „Die auf Blei zu untersuchende
neutrale oder saure Lösung wird mit einer passenden Quantität (für
den Bleinachweis ist das Verhältnis Kupfer: Blei gleich 10:1 am
günstigsten) Kupferazetat befeuchtet und auf einer möglichst kleinen
Fläche des Objektträgers bei mässiger Temperatur bis zur Trockne
eingedunstet. Man lässt den Rückstand ganz abkühlen und benutzt
diese Zeit, um eine Mischung von gleichen Volumteilen Wasser, Eis¬
essig und konzentrierter Ammonazetatlösung zu bereiten.- Von dieser
Mischung wird ein kleiner Tropfen mit einem gleichgrossen Tropfen
gesättigter Kaliumnitritlösung gemischt. Mit diesem Reagens be-
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Ueber künstliohe Färbung und Entfärbung des menschlichen Haares. 199
feuchtet man den oben erwähnten Rückstand, wobei darauf zu achten
ist, dass der Objektträger nicht gekratzt werde, damit keine zu kleinen
Kristalle entstehen. Das Tripelnitrit bildet dunkelbraune bis schwarze
würfelförmige Kristalle, deren Grösse 10—25 /1 betragen kann. Sie
werden durch Ammoniak entfärbt.“
Der Kupfernachweis erfordert in entsprechender Weise die An¬
wendung einer Bleiazetatlösung.
Blei ist enthalten in nachfolgenden Mitteln:
Aliens Hair Restorer (7).
Ambrosia, Hair Restorer of America (12, S. 13).
Aqua amarella von I>r. Will Booth (12, S. 30).
Arabellas amerikanischer Haarregenerator (15, 1903, S. 259).
Beaume circassienne, Wien (12, S. 51).
Colorogene von Dr. Louis Dupaints (15, 1903, S. 259).
Eau de Bahama (12, S. 117).
Eau de Capille von von Camprath und Schwarze (12, S. 118).
Eau de Capille von J. F. Uffhausen in Neumünster (12, S. 118).
Eau de Fdes von Sarah Felix (12, S. 118).
Eau de Fees Haarnaturalisier-Präparat des Chemikers Lattke in Kiel (12,
S. 118).
Eau de Fleurs aus Paris (12, S. 118).
Eau Figaro der Soc. d’hygiene (12, S. Ijll).
Eau Trömolieres (12, S. 122).
Extrait de noix (12, S. 148).
Feen-Wasser, Köln (12, S. 150).
Haarbalsam von Hanger und Löber, Berlin (12, S. 197).
Haarbalsam von Leppert, Wien (12, S. 197).
Haarbalsam von A. Marquart, Leipzig (12, S. 198).
Haarbalsam, ostindisoher. von Dr. Ayer (12, S. 198).
Haarbalsam, vegetabilischer, von Frau Maria Schuber, Hirschberg, Schlesien
(12, S. 198).
Haarbalsam von W. Rauhut, Berlin (12, S. 197).
Haarelixier Frederiksens (12, S. 198).
Haarfärbungsbalsam „Kardomin“ (12. S. 200).
Haarfärbungsbalsam, vegetabilischer, von Treu u. Nuglisch, Berlin (12, S.200).
Haarfärbungsbalsam, vegetabilischer, von A. Beyer, Berlin (12, S. 200).
Haarfärbemittel Korina du Japon (14, 1900, II, S. 737).
Haarhersteller von Bernhard Petzold u. Co., Dresden (12, S. 201).
Haarwasser, englisch, von Maschke, Breslau (12, S. 201).
Circassian Hair-RejuVenator (12, S. 88).
Juvenileau (12, S. 236).
Kleopatras Haarwiederhersteller (12, S. 249).
Päte d’Ambroise (12, S. 357).
Pilipton von J. Ihnatowicz, Lemberg (15, 1903, S. 259).
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200
Lothar Bock,
Puttendörfers Universal-Haarfärbeextrakt (12, S. 385).
Teintures instantan4es (12, S. 461).
Teinture de Venus von Dr. Louis Bonnot (12. S. 461).
Tolma Haarfarbewiederhersteller von Ziegler (12, S. 468).
Dr. Whites amerikanisches Haarwasser (12, S. 504).
Ausserdem kommen in ausländischen Haarfarben noch Kobalt,
Nickel und Chrom vor. So enthalten z. B. von den in 25 verschie¬
denen Nuancen erhältlichen Haarfärbemitteln von Broux in Paris
1—4 Kaliumbichroraat, 5 Ammoniuromolybdat, 6—13 Kaliumbichro-
mat, 15—21 Kobaltnitrat (15, 1908, S. 998). Ebenso enthält Jean
Sehrs Hair Coloring Kobaltnitrat (15, 1907, S. 72). Kobalt liefert
als Sulfid im Haar ein tiefes glänzendes Schwarz. Zerstört man den
Farbstoff eines 1 cm langen Stückes des Haares mit Salpetersäure
und bringt in dieses Tröpfchen eine Spur eines Reagens aus 5 Teilen
Sublimat, 5 Teilen Rhodanammon in 6 Teilen Wasser, so erhält man
tiefblaue Kristalldrusen. Auch kann man eine kleinere Boraxperle
lebhaft blau färben, wenn man ein etwa 10 cm langes Stück des
kobalthaltigen Haares auf der heissen Perle verbrennen lässt.
In neuerer Zeit sind mit den Metallfarben Anilinfarben in Wett¬
bewerb getreten. Unter den 13 Haarfarben für lebendes Haar, die
ich am Orte erhielt, war eine Farbe dieser Gruppe, das Aureol von
Schwarzlose, Berlin.
Nachdem 1889 Erdmann das Para-Phenylendiamin in Verbin¬
dung mit Wasserstoffsuperoxyd als Haarfärbemittel empfohlen hatte,
entstand bald eine ganze Reihe neuer Haarfärbemittel, die diesen Stoff
enthielten. Als man dann entdeckte, dass das Para-Phenylendiamin
giftig und imstande ist (18), Ekzem hervorzurufen, wurde es durch
Bundesratsbeschluss vom 1. 2. 1906 dem freien Verkehr entzogen und
in das Verzeichnis der Gifte aufgenomraen und in Preussen durch
Polizeiverordnung über den Handel mit Giften vom 22. 2. 1906 unter
der 3. Abteilung der Gifte aufgeführt (18).
Aus dem Bestreben, an Stelle des giftigen Para-Phenylendiamin
ungiftige Derivate desselben von geeigneter Farbkraft zu finden, ent¬
standen das Aureol von Schwarzlose, Berlin — es enthält 1 pCt.
Methol, 0,3 pCt. Amidophenol - Chlorhydrat, 0,6 pCt. Monoamido-
diphenylamin, l,5pCt. schwefligsaures Natrium (14, 1903, U, S.1465) —,
das Eugatol der Agfa — es soll durch eine Sulfogruppe als Seiten¬
kette entgiftet sein und hat den Nachteil, nur langsam zu färben —
und das schnellfärbende Primal der Agfa (21, 22). Beim Erwärmen
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Ueber künstliche Färbung und Entfärbung des menschlichen Haares. 201
eines mit Aureol dunkelblond gefärbten Haarstückes mit 18 proz.
Salpetersäure bildete sich in dem Haar eine leuchtend orange bis rot¬
braune Färbung.
Aber auch wasserlösliche Anilinfarben finden in der Haarfärbung
Verwendung. Da es selbst mit den besten Haarfärbemitteln nicht
möglich ist, ganz feine Nuancen genau zu treffen, so hilft sich der
Haarfärber dadurch, dass er nach der vollzogenen eigentlichen Färbung
mit einem der oben angeführten Mittel noch das Haar mit einer ganz
schwachen wässrigen Lösung eines Anilinfarbstoffes nachfärbt. Als
Farben kommen hier in Betracht Methylviolett, Malachitgrün und
Methylenblau (8).
Ebenso kann durch Nigrosin, Vesuvin und Methylviolett in stark
verdünnter Lösung in Form des sogenannten Tintenbades der rote
Farbton gebrochen werden, der beim Bleichen der Haare entsteht (9).
Da diese Farbstoffe in ausserordentlich geringer xWenge angewandt
werden, dürfte ihr Nachweis am einzelnen Haar wohl kaum gelingen.
Aus grösseren Haarmengen möchten sie durch heisses angesäuertes
Wasser teilweise auszulaugen sein.
Von den früher ausschliesslich verwandten Pflanzenfarben hat sich
als Haarfärbemittel der aus dem Orient übernommene Hennafarbstoff
erhalten. Henna, ein rotgelber Farbstoff, der in den Blättern von
Lawsonia inermis enthalten ist, wird mit Indigo zusammen oder nach¬
einander in wechselndem Verhältnis angewandt. Es sollen sich da¬
durch alle möglichen blonden und rötlichen Tönungen, auch ein tiefes
Blauschwarz erzielen lassen (19). Unbequem ist nur, dass der feuchte
Pflanzenbrei längere Zeit — bis zu mehreren Stunden — im Haar
liegen muss, bis die Färbung beendet ist. Man findet in der Deut¬
schen allgemeinen Friseurzeitung zwei Präparate angezeigt, die wahr¬
scheinlich Henna enthalten: Henna Gora und Lakao-Henna von
F. Müller, Berlin.
Versuche konnten mit dem Hennafarbstoff nicht angestellt werden,
da er zur Zeit am Ort nicht zu erhalten war.
Kastanienbraune Farbtöne sollen sich mit wässrigen oder ararao-
niakalischen Auszügen von Nussschalen erzielen lassen. Nach
Müller (9) kommt der früher viel verwandte Walnussschalenextrakt
heute kaum noch vor. Die meisten unter dem Namen Nussfarbe im
Handel befindlichen Präparate enthalten ihn nicht, sondern Metall¬
farben oder Phenolderivate. Versuche sind daher mit diesem Farb¬
stoff ebenfalls nicht angestellt.
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202
Lothar Bock,
Zum Färben des toten Haares gibt F. Müller (19) eine grössere
Anzahl von Rezepten aus Tannin, Galläpfeln, Catechou, Sumach, Blau¬
holz, Krapp und Gelbholz an. Da allen Rezepten Eisenvitriol als
Beize zugesetzt ist, dürfte der Nachweis des letzteren leicht durch
die Berliner-Blaureaktion gelingen. Es ist aber das hierbei verwandte
Küpenverfahren, eine Färbung mit heissem Farbbad in grossen
Bottichen, so umständlich, dass es wohl heute kaum noch ver¬
wandt wird.
Sodann kommen von den früher oder noch heute am Lebenden
verwandten Farben besonders die jetzt in Deutschland verbotenen
Kupfersalze in Verbindung mit Eisen und Pyrogallussäure in Frage.
Hierher gehört z. B. Seegers Haarfarbe Schwarz lür totes Haar.
Ferner ist das in der Pelzfärberei unter dem Namen Ursol in
grossen Mengen verwandte Para-Phenylendiamin für totes Haar an¬
wendbar, Es ist wahrscheinlich in der U-Farbe von F. R. Müller
(Berlin) enthalten, deren Zusammensetzung in der Literatur nicht be¬
kannt ist.
Für Theaterperrücken empfiehlt F. Müller Bismarckbraun B. u. R.,
Mandarinrot und Martiusgelb in Verbindung mit einer Alaunbeize
5:1000 (19).
Zum Entfärben des Haares, d. h. zum Zerstören des natürlichen
Farbstoffes dienen in erster Linie 3—10 proz. Lösungen von Wasser¬
stoffsuperoxyd, die durch hinzugefügte verdünnte Säuren haltbar ge¬
macht sind. Es erfordert jedoch der Entfärbungsprozess meist mehrere
Tage. So kann schwarzes Haar zunächst etwa am ersten Tage braun¬
rot, dann etwa am folgenden Tage rot, dann hellblond und schliess¬
lich weiss gebleicht werden. Hellblonde Haare dürften eher das End¬
ziel erreichen lassen. Da aber mit einem dunklen Haar meist ein
bräunlicher Teint verbunden ist, zu dem blonde Haare unnatürlich
oder unschön aussehen, so dürfte das Blondbleichen dunkler Haare
selten Vorkommen (8).
Ein zweites Verfahren zum Bleichen der dunklen oder z. B. teil¬
weise ergrauten Haare beruht auf der oxydierenden Wirkung de§
Kaliumpermanganats. Man soll zunächst die Haare mit einer ge¬
sättigten Kaliumpermanganatlösung färben, dieselbe dann antrocknen
lassen Und entfärben mit verdünnten Säuren (8). Nach einigen in
etwa 84 Stunden Abstand vorgenommenen Prozeduren soll das Haar
schneeweiss werden. Sind die Haare noch leicht gelblich, so kann
eine mit sehr dünnen Anilinfarben vorgenommene leichte Bläuung
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Ueber künstliche Färbung und Entfärbung des menschlichen Haares. 203
ein reines Weiss ergeben. Die während des Bleichens auftretenden
roten Farbtöne werden in der oben angegebenen Weise durch das
Tintenbad gebrochen. Ist als Endziel ein goldblondes Haar gewünscht,
so erfolgt meist eine Nachfärbung mit Kamillenextrakt.
Wasserstoffsuperoxyd enthalten nachfolgende Haarfärbemittel:
Aureoline (12, S. 41).
Aurioomus (12, S. 41).
Blondeur (12, S. 59).
Eau do Fontaine de Jouvence von E. H. Thillay, London (12, S. 118).
Goldelfenwasser (12, S. 190).
Golden Hair Wash (12, S. 191).
Gold Feen Water (12, S. 191).
Zum Bleichen des toten Haares wird gleichfalls Wasserstoff¬
superoxyd mit Ammoniak versetzt, Kaliumpermanganat mit nach¬
folgender Säurebehandlung und ein Bleichbad aus Natriumsuperoxyd
und Schwefelsäure oder Bittersalz benutzt, das gleichfalls Wasserstoff¬
superoxyd enthält (19).
Der Nachweis, dass ein Haar künstlich gebleicht ist, gelingt
mikroskopisch nicht, sofern nicht noch gefärbte Wurzelenden oder
nach gewachsene untere Haarstücke mit vorliegen. Der einzige Unter¬
schied zwischen einem künstlich gebleichten und einem Natürlich
weissen Haar dürfte in der grösseren Brüchigkeit des letzteren gegen¬
über einem gleich starken ungebleichten Haar zu finden sein.
Es gelingt also stets schon am einzelnen Haar festzustellen, dass
eine Färbpng stattgefunden hat. In vielen Fällen ist schon »an ein¬
zelnen Haarstücken oder an mehreren. Haaren nachzuweisen, womit
die Färbung ausgeführt war. Sind organisch chemische Stoffe zum
Färben des Haares benutzt, so kann die Untersuchung nur einen ge¬
wissen Anhalt über die Konstitution dieser Stoffe ergeben.
Literatur.
1) Otto Höfer, Die Farbe des menschlichen Haares in forensischer Be¬
ziehung. Dissert. 1916. — 2) Comptes rendus de l’Acad. des Sciences. 143.
192—93 (16/7). — 3) Gross, Handb. für Untersuchungsrichter. München 1904.
— 4) Waldeyer, Atlas der menschlichen und tierischen Haare. Lahr 1884. —
5) Oesterlen, Das menschliche Haar und seine gerichtsärztliohe Bedeutung.
Tübingen 1874. — 6) Eugon Dieterich, Neues Pharmazeutisches Manual.
Berlin 1903. — 7) Buchheister, Vorsohriftenbuoh für Drogisten. 1919. —
8) Friedrich Klein, Die moderne Kosmetik. Berlin 1919. — 9) C. Müller,
Ueber Haarfärbekunst. Dermatol. Wochenschr. 1918. Nr. 40. — 10) Guder,
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204 Lothar Bock, Uebor künstliche Färbung und Entfärbung usw.
Kompendium der gerichtsärztlicben Medizin. — 11) Fr. Emich, Lehrbuch der
Mikrochemie. Wiesbaden 1911. — 12)Ahrends-Hahn-Holfert, Spezialitäten
und Geheimmittel. Berlin 1919. Springer. — 13) Zeitschr. f. Nabrungsmittel¬
chemie. 1908—1910. — 14) Chem. Zentralbl. 1890—1918. — 15) Pharmazeut.
Zentralhalle. 1900—1918. — 16) M. Joseph, Handbuch d. Kosmetik. 1912. —
17) Hager, Handb. d. pharmazeut. Praxis. — 18) Ueber Haarfärbemittel. Münch,
med. Wochenschr. 1906. S. 359. — 19) Ferdinand Müller, Das moderne
Friseurgewerbe in W r ort und Bild. Leipzig, H. Killinger. — 20) Richter, Er¬
fahrungen mit Aureol als Haarfärbemittel. Arch. f. Dermatol, u. Syph. 1897.
Bd. 38. S. 280. — 21) Tomaczewski, Haarfärbemittel „Eugatol“. a. a. 0. 1903.
Bd. 77. S. 472. — 22) Broers, Neue Haarfärbemittel, a. a. 0. 1900. Bd. 54.
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XV.
Die Ursachen des Verbrechens.
Von '
Hugo Marx f.
Die nachfolgende Arbeit ist von unserem verstorbenen Freunde in seinen
letzten Lebenstagen vollendet worden: obwohl in dem Aufsatz teilweise Gedanken¬
gänge wiederkehren, die er schon früher und an anderer Stelle entwickelt hat,
sind die leitenden Ideen doch hier wieder in so selbständiger und eigenartiger
Weise begründet, dass wir geglaubt haben, die leider Fragment gebliebene Arbeit
der wissenschaftlichen Welt nicht vorenthalten zu sollen.
Die beigegebenen statistischen Tafeln, die seine Darlegungen stützen sollten,
hat Marx aus den Büchern des Moabiter Untersuchungsgefängnisses gewonnen.
Sie stellen die Zahlen der dort unter der Anschuldigung der genannten Straf¬
taten Eingelieferten dar. Die Schriftleitung.
I.
Es ist kein Zufall, dass dasselbe Zeitalter, das uns die glänzen¬
den Forschungen über die Ursachen gemeingefährlicher Krankheiten
gebracht hat, die ersten wahrhaft systematischen Untersuchungen über
die Ursachen des Verbrechens zeitigte. Es ist ebensowenig ein Zu¬
fall, dass Lorabroso, dem wir die ersten grosszügigen Gedanken
über das Verbrechertum verdanken, zugleich seine erfolgreichen Unter¬
suchungen über die Ursache einer seucheartigen Erkrankung, , der
Pellagra, anstellen konnte. Dieser Synchronismus beruht auf der
Tatsache, dass im Grunde das Verbrechen nichts anderes ist wie eine
Krankheit am Volkskörper.
In der Tat lässt sich leicht zeigen, dass die Kurven des Ver¬
brechens einen Parallelismus mit den allgemeinen Gesundheitsverhält¬
nissen des Volkskörpers aufweisen. Die Parallelität zwischen Ver¬
brechen und Seuchen lässt sich zwanglos und nicht bloss rein bild¬
lich bis in manche Einzelheiten durchführen. Die „Infektiosität“ des
Verbrechens ist z. B. eine kaum geringere als die einer beliebigen
Seuche; und der Kampf gegen das Verbrechen wurzelt in nicht ge-
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206 Hugo Marx,
ringerem Masse als bei den Infektionskrankheiten in vorbeugenden
und sichernden Massnahmen.
Am Anfang der Lehre vom verbrecherischen Menschen stand die
rein naive Betrachtungsweise des Sündenfalls, auf dem Querbalken
der Themiswage stand das Sühnewort: Auge um Auge, Zahn um
Zahn. Der Theologe hat dem strafenden Richter durch Jahrtausende
die Hand geführt, wie er denn auch in langen Zeiträumen die Seelen¬
kunde und mit. ihr die Psychiatrie erfolgreich für sich beansprucht
hat. Rast erst in unserer Zeit haben sich die Wege des Straf¬
rechtlers den Naturwissenschaften zugewandt. Zuletzt durfte er den
immer lauter werdenden Zuruf des Arztes nicht mehr überhören.
Jene Bild- und Erscheinungsähnlichkeit zwischen Volkskrankheiten
und Verbrechen erstreckt sich nun leider nicht im Entferntesten auf
den Erfolg im Kampfe gegen den Krankheitskomplex. Ja, man darf
ohne Uebertreibung sagen, dass wir dem Verbrechen heute rat- und
hilfloser gegenüberstehen als je zuvor. Das Verbrechertum schmarotzt
' an unserem Volkskörper in einem Masse, dass der Rest von Kraft,
der noch geblieben ist, bald aufgezehrt sein kann. Erscheint schon
der Kampf gegen die wütenden Seuöhen der Syphilis, der Gonorrhoe,
der Tuberkulose wie ein fast übermenschliches Ringerl, so kann man
sich im Kampfe gegen das Verbrechertum fast versucht fühlen, die
Hände in den Schoss zu legen angesichts der geradezu ungeheuer¬
lichen Schwierigkeiten, des schmarotzenden und infizierenden Ge¬
sindels Herr zu werden.
Es wäre töricht zu leugnen, dass die wirtschaftlichen und politi¬
schen Verhältnisse diese Hochflut des Verbrechens herangeführt haben.
Wir werden später zeigen, dass der allgemeine Zeitcharakter gerade
die entscheidende Einwirkung auf diese Dinge gewonnen hat. Aller¬
dings in einem ganz anderen Sinne, wie ihn die allgemeingültige An¬
nahme erfasst.
Gleichwohl müssen wir einmal mit Ehrlichkeit bekennen, dass
unser bisheriges System der Bekämpfung des Verbrechens vollkommen
Bankerott gemacht hat.
Wir sind auch heute noch der Ansicht, dass das Verbrechen
eine gemeingefährliche Erkrankung des Volkskörpers darstellt, und
glauben, dass dieser Gedanke eine heuristische Idee im besten Sinne
bedeutet hat. Gegen die soziologische Richtung in der Kriminal¬
anthropologie ist nicht das Mindeste einzuwenden. Wir.werden demnächst
selbst Beweise für die Richtigkeit dieser Gedankenreihen beibringen.
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Die Ursachen des Verbrechens.
207
Auch gegen die Forschungsmitte], deren sich die Kriminalanthropo¬
logie und ihre regste Tochter, die Kriminalpsychologie, bedient, sind
keine ernsthaften Einwendungen zu machen. Die Kriminalstatistik ist
trotz aller ihr zur Last gelegten Fehler unentbehrlich; sie gibt uns
Aufschlüsse, die allein uns den Zusammenhang zwischen Verbrechen
und Zeitläufen offenbaren. Ich erinnere an die Aufdeckung der Zu¬
sammenhänge zwischen Verbrechen und Brotpreis, die wir der Krirainal-
statistik verdanken. Die Bedeutung der Kriminalität der Jugendlichen
ist uns wesentlich aus den Zahlenreihen der Statistik klar geworden.
Ein breiter Strom kriminalanthropologischer Kenntnisse floss aus der
psychiatrischen Klinik. Die Erforschung der Grenzzustände hat uns
wesentlich gefördert. Dass der Bezirk der geistigen Minderwertig¬
keit allmählich eine verhängnisvolle Ausdehnung anzunehmon droht,
ist ein Vorwurf, der nicht die Klinik der Grenzzustände trifft.
Und trotz unermüdlicher Arbeit, trotz allem Forschen und Finden
das kümmerlichste Ergebnis. Kann es daran liegen, dass die, in
deren Hände die Pflege der Gerechtigkeit gelegt ist, noch nicht von
dem Geiste moderner Kriminalanthropologie erfüllt sind? Vielleicht,
zum Teil. Aber haben wir nicht in den grössten Städten, wie in
Berlin, alle Errungenschaften der neuen Zeit: die Jugendgerichte mit
ihrem Stab von Aerzten und Helfern, die Fürsorgeerziehung, die
Magdalenenheime, die besten Organe der Jugendfürsorge und zahl¬
reiche Richter mit dem besten Verständnis für die Forderungen der
Aerzte? Und dennoch eine Steigerung der Kriminalität der Jugend¬
lichen von Jahr zu Jahr, deren Umfang aus einigen später zu gebenden
Ziffern erschreckend deutlich hervorgeht.
Man kann einwenden, dass alle die neuzeitlichen Bestrebungen
der Jugendfürsorge noch zu jung sind, um schon sichtbare Erfolge
bringen zu können. Man kann mit Recht darauf hinweisen, dass
aller guter Wille der geistigen Helfer an der Verständnislosigkeit
nachgeordneter Organe seine Grenze findet, denn der weiseste Richter¬
spruch ist umsonst getan, wenn er nicht im Geiste der gleichen Weis¬
heit vollstreckt wird.
Es sind in der Tat Fehler in der Technik vorhanden. Was
würden uns z. B. alle bakteriologischen Entdeckungen helfen, wenn
ihnen die praktische Seuchenbekämpfung nicht gefolgt wäre. So
auch müsste die gescheiteste Kriminalanthropologie fruchtlos bleiben,
wenn man nicht verstände, ihr eine adäquate Technik nachzuschaffen.
Alle Kenntnis von Verbrechensursachen bleibt wesenlos, solange es
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208
Hugo Marx,
nicht möglich ist, die Ursachen zu beseitigen. Was hilft etwa der
tausendmal wiederholte Hinweis der Bedeutung des Wohnungselendes
für die Häufigkeit des Verbrechens, solange alle bodenreformerischen
Bestrebungen lediglich ein literarisches Dasein führen?
Mit grossen Hoffnungen wurden die Ansätze der experimentellen
Psychologie zu exakten Untersuchungen über die Verbrecherseele be-
grüsst. In psychologischen Laboratorien und kriminalistischen Semi¬
naren wurden mit grossem Eifer Assoziationsversuche angestellt, die
geradezu eine inquisitorische Aufdeckung des Verbrechens versprachen.
Die praktischen Ergebnisse sind ausgeblieben, die Experimente fast
schon wieder vergessen.
Die psychoanalytische Untersuchung der Einzelpersönlichkeit er¬
schien immerhin als der aussichtsreichste Weg zu einer wirklichen
Klinik des Verbrechens; und in der. Tat ist man auf diesem Wege
wenigstens bis zu einer Typenbildung vorgeschritten. Gerade diese
mehr versprechenden Erfolge zeigen die Notwendigkeit, unsere Psycho¬
logie aus den Quellen zu schöpfen, die das Leben selbst uns dar¬
bietet. Nur wer die unendliche Mannigfaltigkeit verbrecherischer Ge¬
stalten in unabsehbaren Zügen an sich vorübergehen sah, ist berufen,
die Kriminalpsychologie zu treiben, die uns nottut. Nicht in Labo¬
ratorien und Seminaren quillt die Fülle des Lebens. Wer über den
Verbrecher urteilen soll, muss sich in den Winkeln der Städte, in
den Zellen und Gemcinschaftsräumen der Gefängnisse, in den Gerichts¬
sälen umgetan haben, sonst fasst er die drängende Fülle der .Er¬
scheinungen nicht und bleibt im besten Fall ein geistvoller Literat.
In Ansehung der. heute allgemein geübten Technik bei der Er¬
forschung der verbrecherischen Person ist anzumerken, dass unsere
Methoden im ganzen viel zu sehr nach rationalistischen Grundsätzen
aufgebaut sind. Die Intelligenzprüfungen, die wir heute üben, bringen
uns nicht einen Schritt weiter. Wir haben den alten Unterschied
zwischen Intelligenz und Weisheit ganz vergessen und täten gut, uns
seiner wieder zu erinnern. Unser Volk und auch das Verbrechertum
in unserem Volke ist durchschnittlich durchaus „intelligent“, viel zu
intelligent. Aber an Weisheit fehlts. Und nach ihrem Grade müssen
wir bei der Psychoanalyse forschen. Es kommt nicht darauf an,
was an positiven Kenntnissen erworben und verloren wurde. Ent¬
scheidend für unsere Werturteile müssen die Bestände an Welt- und
Lebensanschauungen, an Einsichten in soziale Notwendigkeiten werden.
Wir müssen Klarheit nicht nur darüber gewinnen, wie wir den Ver¬
brecher anzusehen haben, sondern auch darüber, wie er uns ansieht.
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Die Ursachen des Verbrechens.
209
Vor allem aber müssen wir überhaupt einmal System in unsere
Anschauungen über Verbrechen und Verbrechensbekämpfung bringen.
Und das ist unmöglich, solange wir über die allgemeinsten Ursachen
des Verbrechens im Unklaren sind.
Lombroso glaubte die Frage mit der Aufstellung des „geborenen
Verbrechers“ gelöst zu haben. Die moderne soziologische Richtung
ist fast zu dem diametral entgegengesetzten Standpunkt gekommen, den
Verbrecher nämlich aus dem gesellschaftlichen Milieu begreifen zu wollen,
ohne indes die Bedeutung der Persönlichkeit ihrem Dogma zu opfern.
Es kann fraglich sein, ob es überhaupt zulässig und zweckvoll
ist, noch einmal den Versuch zu machen, den Verbrecher von einem
hoch genommenen Standpunkte aus zu betrachten. Lombrosos
genialer Versuch ist gescheitert; er haftete zu stark am Morphologi¬
schen. Aber gerade Lombrosos Versuch und seine Lösung des
Problems zeigen die unabweisbare Notwendigkeit, zu einer allgemeinen,
das Verbrechen begreiflich machenden Formel zu gelangen. So gewiss
es wahr ist, dass jede Gültigkeit beanspruchende Lehre vom Ver¬
brecher von der reichsten persönlichen Einzelerfahrung ausgehen muss,
so wahr ist es auch, dass wir aus den Tiefen der Kasuistik zu immer
höheren Begriffsgruppen aufsteigen müssen, um einen Standpunkt ge¬
winnen zu können, von dem aus der ganzo Bezirk des Verbrechens
übersehbar wird. Erst von dieser Warte aus wird sich ein erfolg¬
reicher Kampf gegen das Verbrechen führen lassen.
Es kann gar keinem Zweifel unterliegen, dass auf diesem Wege
nur der Arzt führen kann. Wie die Anthropologie, so ist auch die
Krirainalanthropologie medizinisches Gebiet. So wenig Lombrosos
Lehre das gehalten hat, was sich ihr Urheber von ihr versprach, so
bedeutend ist die Fülle von Einze^erkenntnissen, die wir dem klugen
Manne verdanken. Noch grösser aber ist die Anregung zum kriminal¬
anthropologischen Weiterdenken, die sein Werk uns gegeben und hintcr-
lassen hat. Und wir als seine Epigonen müssen auf dem Boden, den
er erobert hat, weiter bauen.
Lombroso hat die besondere Funktion durch die besondere
Form zu erklären versucht. Der Versuch misslang. Vielleicht gelingt
es eher, die besondere Funktion auf eine allgemeine Funktion zurück¬
zuführen. Dieser Versuch ist um so mehr zu empfehlen, als die
Korrektur der Form ja ein aussichtsloses Beginnen, der Versuch einer
Aenderung der Funktion aber durchaus im Bereich der Möglich¬
keiten liegt.
Viarteljahrssehrift f. ger. Med. o. öff. San.-Wesen. 3. Folge. Bd. 60. H. 2. i a
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210
Hugo Marx,
Wir sind uns klar darüber, dass wir uns mit dem Versuch, das
Verbrechen unter dem allgemeinen Gesichtspunkt der Funktion zu er¬
klären, in das Gebiet der wirklichkeitsfernsten Abstraktionen begeben.
Wir haben schon oben die Notwendigkeit eines derartigen Aufstieges
in abstrakteste Regionen betont; im übrigen ist dieser Aufstieg zu
einer höchsten letzten Formel in dem Augenblick eine selbstverständ¬
liche Forderung, in dem eine Kriminalanthropologie als Wissenschaft
auftreten will.
Es könnte zweifelhaft sein, ob man die Kriminalanthropologie
den nomothetischen oder den idiographischen Wissenschaften, d. h.
ob man sie den Naturwissenschaften oder den Geisteswissenschaften
zurechnen soll. Zählt man sie den ersteren zu, so braucht die Not¬
wendigkeit des Suchens nach einer letzten alles begreifenden Formel
überhaupt nicht erörtert zu werden, sie ergibt sich dann von selbst.
Die Kriminalanthropologie enthält aber zugleich ein unverkenn¬
bares historisches Moment. Es ist sehr wohl möglich, direkt eine
historische und eine systematische Krirainalanthropologie zu unter¬
scheiden. Die Geschichte des verbrecherischen Menschen wäre dann
unzweifelhaft Gegenstand einer Geisteswissenschaft, die als solche
eine allgemeine letzte und höchste Formel nicht duldet. Da wir
hier jedoch nicht beabsichtigen, eine Geschichte des Verbrechens zu
versuchen, vielmehr die systematische Krirainalanthropologie Gegen¬
stand unserer Untersuchung sein soll, so ist es für uns entschieden,
dass die Kriminalanthropologie als reine Naturwissenschaft gedacht
und als solche behandelt werden soll.
Die letzte, eigentlich schon entschiedene Frage ist die, ob die
Medizin die zuständige Instanz für ünsern Gegenstand sei, ob der
Arzt sich mit der Krirainalanthropologie zu befassen habe. Die Ant¬
wort könnte einfach lauten: Die Kriminalanthropologie ist lediglich
ein Stück der sozialen Medizin. Darüber hinaus ist die Lehre vom
verbrecherischen Menschen erst von den Aerzten oder von den Natur¬
wissenschaftlern, im weiteren Sinne, geschaffen worden. Virchow,
Lombroso, Darwins Abstammungs- und Vererbungslehre haben erst
eine wissenschaftliche Krirainalanthropologie möglich gemacht.
Wenn wir jetzt unsererseits die Wendung von einer uu c wesent¬
lichen morphologisch orientierten zu einer vorwiegend funktionell ge¬
richteten Kriminalanthropologic vollziehen, so ist damit keineswegs
die Ueberwindung und Ausschaltung des Formenprinzips ausgesprochen.
Und noch weniger bedeutet das Suchen nach einer letzten Formel
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Die Ursachen des Verbrechens.
211
die endgültige Abkehr von der Einzelerscheinung. Die Persönlichkeit
mit ihrer besonderen Form bleibt immer das lebendige Material für
jede Forschung, da ausserhalb der Individuen ein reales Leben nicht
vorhanden ist, und jede kriminalanthropologische Betrachtung wird
immer vom Individuum ausgehen und zu ihm zurückkehren müssen,
wenn sie Anspruch auf Geltung im Realen erhebt. Gelegentlich kann
sich sogar, auch in der Kriminalanthropologie, das Individuum, ebenso
wie in der Geschichte, zur Bedeutung eines Individuendum erheben,
mit einer ähnlichen historischen Rolle, wie sie etwa dem Neandertal-
menschen zugekommen ist.
Begriflen ist aber die Einzelerscheinung erst dann, wenn sie im
„System“ ihren Platz gefunden hat. Das fordert die Betrachtung
vom Standpunkt einer „Idee“, und eben diese Idee ist für uns die
Behandlung der kriminellen „Gestalt“ unter dem Gesichtspunkt der
Funktion.
Wenn wir eines Tages so weit sind, dass wir aus der Form,
etwa der Zelle, ohne weiteres die Funktion ableiten können, so wollen
wir gern zugeben, dass Form und Funktion nur Eines sind. Davon
sind wir einstweilen noch weit entfernt. Und mir scheint, dass gerade
in der Kriminalanthropologie die Form herzlich wenig für die Ab¬
leitung der Funktion ergeben hat.
Es kommt aber noch- ein weit wichtigeres Moment hinzu, das
gebieterisch eine funktionelle Kriminalanthropologie verlangt. Die
Kriminalanthropologie, ein Stück der Staatsarzneikunde, muss sich, .
neben den Erkenntnisaufgaben, praktische Ziele stecken.
Die Lehre vom „geborenen Verbrecher“ schliesst eine unendliche
Trostlosigkeit in sich, sie schien jeden Kampf gegen das Verbrechertum
zur Erfolglosigkeit zu verdammen, da jeder Kampf gegen die ange¬
borene Form als Donquixoterie erscheinen musste. Es ist klar, dass
dies zugleich das Verhängnis jeder rein morphologischen Kriminal¬
anthropologie sein muss. Ja, man darf noch weiter gehen und konse¬
quenterweise aussprechen, dass im günstigsten Falle eine Züchtungs¬
praxis, eine bewusst betriebene Selektion, Erfolg im Kampfe gegen
das Verbrechertum versprechen könnte, und weiter, dass alles Er¬
ziehen cwles Tun und Lassen sein und bleiben müsste. Man braucht
dann nur noch ein wenig von jenem Determinismus, der sich durch
seine seichte Bequemlichkeit so sehr empfiehlt, hinzuzunehmen, um
danach feierlichst den Verzicht auf ein Unternehmen auszusprechen,
von dem doch nichts zu erwarten sei.
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212
Hugo Marx,
Die Wirklichkeit scheint jenem Nihilismus Recht zu geben. Nur
verkennt eben dieser Nihilismus, dass er selbst an dieser trübseligen
Wirklichkeit Schuld hat.
Die Welt fordert hingegen einen tätigen Positivismus. Heute
und in Deutschland mehr als je und anderswo. Der Kampf gegen
das Verbrechen ist ein wesentlicher Teil des Wiederaufbaus. Wir
Aerzte sind mitberufene Kämpfer. Die Tradition und die Hilfsmittel
unseres Berufes befähigen uns, die Angriffspunkte in diesem Kampfe
aufzufinden und aufzuzeigen. Jeder entsagende Nihilismus ist hier
gefährlich, er ist vor allem aber unbegründet. Wenn die Form sich
unserm Zugriff versagt, so wenden wir uns an die Funktion.
II.
Die soziologische Richtung im Strafrecht versucht, wie wir sahen,
den verbrecherischen Menschen in seiner Einzelgestalt wie das Phä¬
nomen des Verbrechens aus den räumlichen und zeitlichen Umständen
zu begreifen. Darin ist der Anlass zu einer glücklichen Auffassungs¬
weise gegeben. Mir scheint nur, dass der Versuch, zu einer gültigen
Lösung des Problems zu gelangen, auf halbem Wege stecken ge¬
blieben ist. Wir müssen einen bedeutsamen Schritt weiter gehen.
Das Verbrechen ist in seinen Zusammenhängen mit dem kos¬
mischen Geschehen aufzuhellen. Wir müssen zu der Erkenntnis
kommen, dass der Verbrecher nur einen Sonderfall im Funktio¬
neilen darstellt.
Statt Funktion können wir Bewegung setzen und sagen: Das
Verbrechen ist eine Sonderform der Bewegung.
Bewegung ist die Funktion des Kosmos, wie sie im Kleinsten
die Funktion des Moleküls ist. Im Begriff der Bewegung stecken
zwei Momente: ein räumliches und ein zeitliches, Weg und Tempo.
In diesen Stücken, in Wegeslänge und Richtung und in der in der
Zeiteinheit zurückgelegten Strecke, können sich Bewegungen vonein¬
ander unterscheiden.
Alle Umwälzungen in der geologischen Erdgeschichte, die grössten
Revolutionen im Bezirk der Himmelskörper, die Entstehung neuer
Gestirne, alle diese kosmischen Ereignisse bedeuten, auf eine Grund¬
form zurückgeführt, nichts anderes als plötzlich eintretende Aenderung
in Weg und Tempo der Bewegungen.
Noch besser als im tellurischen Geschehen erkennen wir im Ab¬
lauf der Menschengeschichtc wiederholt das Auftreten plötzlicher Be-
wogungsänderungen, deren eine wir soeben selbst erlebten.
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Die Ursachen des Verbrechens.
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Wenn wir versuchen wollten, das Geschehen der Menschheits¬
geschichte graphisch darzustellen, so würden wir ira wesentlichen
Kurven von allergrösster Gleichförmigkeit und zeitlicher Gleichmässig-
keit erhalten. Indes würden wir in unregelmässigen Abständen jähe
Aenderungen in der Kurvenführung beobachten, steile Anstiege und
Abfälle, höchste Zacken mit tiefsten Tälern, die den gleichmässigen
Ablauf unterbrechen.
Im. allgemeinen gleicht das Volk der Menschen einem gleich-
massig fortbewegten Trägheitssystem. Zögernd geht seine Geschichte
ihren Weg. Gleichmässigkeit der Ideen, Gleichförmigkeit ira Ge¬
schehen, gesellschaftliche Friedfertigkeit ist das Kennzeichen solcher
Perioden.
Plötzlich ändern sich Tempo und Richtung. Der langsame Gang
des Geschehens wandelt sich in jähen Sturmschritt. Gedanken, die
gestern noch zu schlummern schienen, sprengen die gesellschaftliche
Decke, was in Jahrzehnten nicht erreichbar schien, wird von gestern
auf heute in Szene gesetzt, Herr und Diener tauschen ihre Plätze,
das Recht von Gestern wird das Unrecht von Morgen.
Oder ein anderes Bild: Die Beziehungen zwischen den Völkern
und Staaten regeln sich auf dem Wege friedlichen Wettbewerbes.
Strittige Angelegenheiten werden auf dem Wege der Verhandlung ge¬
ordnet. Ein wechselseitiger Verkehr unterhält das gegenseitige Ver¬
ständnis. Eines Tages ist dies alles zu Ende. Eine Welt von feind¬
lich bewegtem Eisen richtet sich an den Grenzen auf. Was streitig
war zwischen den Völkern, soll durch Gewalt zugunsten des einen,
zuungunsten des anderen entschieden werden.
Hier sind zwei Fälle aus der Menschheitsgeschichte aufgezeigt
als Beispiele für das Walten eines Gesetzes, das wir als das Gesetz
des kürzesten Weges bezeichnen wollen. Revolution und Krieg
(das sihd jene beiden Fälle) sind die Fortsetzung der Geschichte und
der Politik auf dein kürzesten Wege.
Die Geschichte der Kriege und Revolutionen ist zugleich die Ge¬
schichte der menschlichen Ungeduld. Von hier aus verstehen wir
erst die Worte des stürmenden Faust: „Und Fluch vor allem der
Geduld!“
Unsere Sittengeschichte ist ebenso zugleich eine lehrreiche De¬
monstration von der Notwendigkeit der Geduld. Und Geduld ist
schliesslich nichts anderes wie die anerzogene Gewohnheit, unsere
Bewegungen über die von gesellschaftlichen Notwendigkeiten geleiteten
Umwege zu leiten.
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214
Hugo Marx,
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Wenn für alle Menschen die gleiche Menge von Gütern zum Ge¬
nuss bereit stände und alle Menschen um die gleiche Radiuslänge
von diesen Gütern entfernt oder alle ihnen gleich nahe wären, so
hätten wir damit die natürliche Grundlage für den sozialen Frieden.
Das Symbol für diesen Zustand wäre die Kreislinie, deren Punkte,
als Menschheitsorte gedacht, von dem gemeinsamen Interessenmittel¬
punkt gleichen Abstand haben, soviel Radien, soviel Felder; jedem
das Seinige zugeteilt, auf der Kreislinie selbst zwischen den einzelnen
Punkten gleiche Bogenstücke. Hier brauchte niemand Geduld zu
üben, jeder könnte den „kürzesten Weg“ gehen, als welcher der
Radius von der Peripherie zum Mittelpunkt anzusehen ist. Dies wäre
etwa der Zustand des Menschengeschlechtes, den Fichte als denjenigen
der „vollendeten Kindhaftigkeit“ bezeichnet hat.
Dem umfassenden Geiste, aus dem das Alte Testament ge¬
schrieben worden ist, ist es nicht verborgen geblieben, dass, bei aller
Bedeutung einer gerechten Verteilung der materiellen Güter für den
Gesellschaftsfrieden, die Keime des Verbrechens nicht beseitigt sind.
Damit hat die Bibel den grundlegenden Unterschied zwischen endo¬
genen und exogenen Verbrechensursachen deutlich herausgehoben.
Wenn man ein Freund neugebildeter „Ismen“ ist, kann man wohl von
einem Kainismus sprechen und damit die Lehre von endogenen Ver¬
brechensursachen bezeichnen. Jedenfalls ist nun das Kainszeichen auf¬
gerichtet, und die Erde wird es tragen, solange Menschen auf ihr wohnen.
Jedenfalls ist es nicht allein das wachsende Missverhältnis
zwischen den Gütersummen und der Zahl der an ihr teilnehmenden
Verzehrer, das die Plattform für das Verbrechertum abgibt. Damit
ist auch die sozialistische Phrase erledigt, dass ausschliesslich die Ge¬
sellschaft für das aus ihrer Mitte erwachsene Verbrechertum verant¬
wortlich sei. Diese Phrase kann nur auf dem Boden einer rein
materialistisch orientierten Weltanschauung erwachsen, eine grob me¬
chanistische Auffassung, die sich im Bezirk des Psychischen zurecht¬
findet wie die berühmte Kuh im Porzellanladen.
Es soll selbstverständlich nichts gegen die Tatsache gesagt werden,
dass die zunehmende Verdichtung der Bevölkerung zu einer Häufung
exogener Verbrechensursachen führte. Es wird sich auch ohne Mühe
nachweisen lassen, dass die Kriminalität eines Landes direkt pro¬
portional dem Besitz an Grossstädten ist. Alles aber spricht nicht
im mindesten gegen die von uns vertretene Anschauung, dass das
Verbrechen im wesentlichen psychogen bedingt ist.-
Go igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Die Ursachen des Verbrechens.
215
III.
Wenn es möglich wäre, die Wegstrecke aufzuzeichnen, die zwischen
dem ersten Auftauchen einer Zielvorstellung und der Erreichung des
Zieles vom Individuum zurückgelegt wird, so würden wir damit eine
graphische Charakterologie allerersten Ranges gewonnen haben. Wir
würden zuvörderst feststellen können, dass diese Strecken nach Länge
und Richtung ausserordentlich variieren; von geraden Linien und
kürzesten Wegen bis zu weitausschweifenden Kurven und umständ¬
lichsten Umwegen.
Für den Verlauf der Menschheitsgeschichte ist eine derartige Auf¬
zeichnung schon jetzt durchaus möglich. Kropotkin hat sie sogar
in seiner Geschichte der französischen Revolution schon angedeutet.
Wenn in gewöhnlichen Zeitläuften die Begebenheitslinie in mehr oder
minder gleichmässig geformten Kurven verläuft, so haben wir in
kritischen Perioden steile Aufstiege, steile Abstürze, gewisserraassen
Stosslinien festzustellen.
Es begibt sich nun, dass innerhalb der Lebenskurve des Einzelnen
in ganz analoger Weise Mähligkeits- und Stosslinien miteinander
wechseln. Wenn wir einmal den Begriff der Lebenstechnik in unsere
Betrachtungen einführen, so ergibt sich, dass die Technik der ersten
Lebensjahre nur die Stosslinien, den kürzesten Weg, kennt. Das Kind
sieht, will haben und ergreift; das ist der „kürzeste Weg“ im ursprüng¬
lichsten Sinne. Im Grunde geht jede Erziehung von der Umkehrung
dieses Satzes aus, wie sie auch in diese Umkehrung einmünden muss.
In eben dem Sinne ist auch die gesamte Sittengeschichte nichts
anderes wie der Versuch einer Umkehrung des Gesetzes des kürzesten
Weges. Dem „Ur“menschen ist die Erreichung der ihm förderlichen
Ziele auf dem kürzesten Wege die Selbstverständlichkeit. Erst die
immer grösser werdenden Gemeinschaften, von der einfachen Ge¬
schlechtsgemeinschaft angefangen, forderten von ihm und zwangen ihn
zu gehen: den Umweg. Und die Erziehung des Einzelnen ist und
kann immer nur sein: die Wiederholung der gesamten Sittengeschichte
an der einzelnen Gestalt. Und der Sinn aller Erziehung kann, ab¬
gesehen von der Vermittlung der sogenannten Kenntnisse, nur in der
Einpflanzung der Erkenntnis von der Notwendigkeit des Umweges be¬
ruhen. Alle gebräuchlichen Erziehungsbegriffe wie Zucht, Selbst¬
beherrschung, Gehorsam, Ehrfurcht usw. sind nichts anderes als eben¬
so viele Bezeichnungen für die gesellschaftliche Notwendigkeit, den
Umweg in die Lebenstechnik einzuschalten.
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Gck gle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
216
Hugo Marx,
Difitized by
In der persönlichen und gattungsgemässen Selbstbehauptung
pflegen wir die Dominante unserer Lebensführung zu sehen. Wir
haben schon angedeutet, dass dieser Dominante die Begehung des
kürzesten Weges am angemessen erscheint, wenigstens einem naiven
Selbstbewusstsein. Ein derartiger Standpunkt ist ja unter dem Namen
des Solipsismus bekannt genug; er ist der eine Teil faustischen Geistes
und Wurzel des „Ucbermenschen“. Im Gegenteil steht der Faust der
letzten reifsten Lebensanschauung, der „sittlichen Lebenstechnik“. „In
diesem Sinne bin ich ganz ergeben, dies ist der Weisheit letzter
Schluss; nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, der täglich sie
erobern muss.“
Von hier aus ergibt sich nun ein Einblick in die Zusammenhänge
zwischen geisteswissenschaftlicher (idiographischer) und naturwissen¬
schaftlicher (nomothetischer) Begriffsbildung, der für den Fortgang
unserer Untersuchung von Bedeutung ist.
Wir treffen in den biologischen Naturwissenschaften wie in den
Geisteswissenschaften als ein erklärendes Prinzip den Begriff der Ent¬
wicklung an. Der Begriff enthält zwei Bestandteile: Wachstum und
Differenzierung. Das trifft zu, ob wir etwa in der Geschichte von
der Entwicklung des sozialen Gedankens oder ob wir in der Embryo¬
logie von der Entwicklung des Urogenitalapparates sprechen. Zu¬
gleich liegt im Entwicklungsbegriff der Ausdruck eines Wege- und
Zeitverhältnisses, der Gedanke einer Bewegung und zwar ausgesprochen
der Gedanke einer mählichen Bewegung (natura non saltat, wenigstens
nicht die normale bewegte organische Natur). Dieser mähliche Gang
ist offensichtlich auf bestimmte regulative Einwirkungen zu beziehen,
die wir öur zum Teil kennen, zum Teil erraten und erschliessen
müssen. Wo diese regulativen Vorrichtungen versagen, kann auch-
die organische Natur den „kürzesten Weg“ beschreiten, der dann
regelmässig in der Destruktion endet. Ich erinnere an die Autokratie
und Generalisierung der malignen Geschwulstzelle.
Wenn Entwicklung Wachstum und Differenzierung bedeutet, so
bedeutet sie zugleich eine Anfangsstufe, von der. ihr Gang anhebt,
einen Zustand des Ursprünglichen: des Keirahaften und Undifferen¬
zierten. Von dort aus führt der Gang der Entwicklung über unzählige,
gesetzmässig aufeinanderfolgende Stufen dem Ziele zu, und dieses
Ziel heisst: der Organismus, d. i. jene Einheit der Teile im ganzen,
bei der sich Teile und Ganzes wechselseitig bestimmen.
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSETY OF MICHIGAN
Die Ursachen des Verbrechens.
217
Es ist leicht einzusehen, dass Erziehung und Entwicklung ein¬
ander ausserordentlich inhaltsähnliche Begriffe sind. Beide bedeuten
mähliche unter die Einwirkung regulativer Vorkehrungen gestellte Be¬
wegungen mit dem Ziele eines im Organismus endenden Wachstums¬
und Arbeitsteilungsprozesses.
Nächst der Kindheit, von der wir schon sprachen, kennen wir
im normalen Ablauf des menschlichen Einzellebens eine Reihe von
Phasen, in denen der mähliche Gang des Bewegens zur Stossbewegung
neigt. Das klassische Beispiel ist die Zeit der Pubertät. In jener
Periode, in der die „Natur“ einen überwiegenden Nachdruck auf die
Förderung der Keimdrüsen legt, wird die Mählichkeit der Bewegung
und die Einheitlichkeit des Organismus auf das Schwerste bedroht.
Dies ist die klassische Zeit des „kürzesten Weges“, die Zeit, in der
es sich entscheidet, ob der Gang auf dem kürzesten Wege nur eine
Episode oder ob er das Tempo des ganzen künftigen Lebens bleiben,
ob der 1 „kürzeste Weg“ verewigt werden soll. Und dies ist, be¬
merkenswerterweise, zugleich der Augenblick, wo das Heer der Ge¬
wohnheitsverbrecher seine besten Rekruten bekommt, wo der Knabe
zum Rohling und Dieb, das Mädchen zur Dirne wird.
Diese Zeit der Frühlingsstürrae, wo leibliches und geistiges
Drängen in Eins zusammenfliessen, ist im Leben des Einzelnen ver¬
gleichbar den politischen Stürmen im Leben der Völker und die beste
Gelegenheit, das Gesetz des kürzesten Weges zu studieren. Daneben
stehen etwa als weitere Paradigmata die Ovulationszeiten des Weibes
und, ganz allgemein, die Episoden der Affekte.
In allen diesen Zeitabschnitten wird der mähliche Gang des Sich-
begebens abgebaut zugunsten des kürzesten Weges, zu ungunsten
eines organisch aufbauenden Geschehens, zum Schaden der Entwick¬
lung. Die Regulierungen erscheinen durchbrochen, der Losgelassene
bricht durch Hecken und Zäune, zerstampft die Aecker, zertritt den
Garten des Nachbarn und verletzt den Frieden aller.
IV.
Wenn wir uns auf das Gebiet des Werturteils begeben, so finden
wir, dass wir schon bei einer wertenden Einreihung der Tiere die¬
jenigen als die höherstehenden bezeichnen, bei denen die kurzwegigen
Bewegungen zugunsten der umwegigen zurücktreten, bei denen Er¬
ziehung möglich ist. Der den Selbstbehauptungstrieb zugunsten der
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Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
218
Hugo Marx,
Treue überwindende Hund, das seine letzte Krait hergebende Pferd
erscheinen im Lichte der Sittlichkeit als „höhere“ Tiere.
Steigen wir in den Bezirk menschlicher Betätigung hinauf, so
erscheint das Gesetz des kürzesten Weges überall als Experiment
kulturellen Abbaues, der Zerstörung. Die ergreifende Schönheit der
Revolutionspassagen in Schillers „Glocke“, die für unsere Tage neu¬
geschrieben erscheinen, zeigt uns diesen Satz in der Sprache des
grossen politisch und psychologisch geschulten Dichters des deutschen
Idealismus. Es ist kein Zufall, dass die Epoche der Revolution die
Epoche der gesteigerten Kriminalität ist. Die wirtschaftlichen Nöte
unserer Zeit haben mit dieser Steigerung sehr viel weniger zu tun
als allgemein angenommen wird.
Die Revolution ist die klassische Zeit für die Herrschaft des
Gesetzes des* kürzesten Weges. Der Kriminalanthropologe spricht
damit der Revolution zugleich ihr Urteil: die Revolution ist eine
pathologische Erscheinung. Sie verneint die Begriffe der Entwicklung
und des Organismus, sie zerstört die vernünftigen Regulierungen und
das Zusammenarbeiten der Teile, sie setzt an deren Stelle die Auto¬
kratie, Hypertrophie und Generalisierung von mehr oder weniger
'untergeordneten Gliederteilen und fördert so die Kachexie des
Ganzen.
Dieses Streben, alles Geschehen auf die Bahn des kürzesten,
allerkürzesten Weges zu leiten, ergreift alle. Und nun zeigt sich die
innigste Beziehung zwischen dem Gesetze des kürzesten Weges und
der kriminellen Betätigung. Das Verbrechen lässt sich direkt defi¬
nieren als das Ergebnis einer Wege- und Tempoverkürzung
im Ablauf des psychophysischen Geschehens. Dies nun ist
der kriminalanthropologische Charakter der Gegenwart, dass alles
Geschehen dem Gesetz des kürzesten Weges unterworfen ist. Es ist,
als ob eine allgemeine Pubertät das Volk ergriffen hat. Das ist
mehr als bildlich gemeint. Unverkennbar setzt sich das jugendliche
Element stärker als je in Szene. Die Jacobiner von heute wussten,
was sie taten, als sie den Zwanzigjährigen, oder wie in den Betriebs¬
räten, den Achtzehnjährigen das Wahlrecht verliehen. Das Wirken
unseres Gesetzes ist in Permanenz erklärt. Wie das „Volk“ sich das
Recht nahm, die Entwicklung abzusetzen, den Begriff des Organismus
zu verneinen, jedem „Umweg“, jedem mählichen Geschehen, jeder
Geduld abzusagen, so beruft sich jeder Einzelne auf die „W 7 ohltat“
unseres Gesetzes und treibt mit im Strome der Kriminellen.
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Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Die Ursachen des Verbrechens.
219
Es lässt sich leicht zeigen, dass auch das „Denken“ unseres
„Volkes“ unserem Gesetze unterworfen ist. Die Herrschaft des Schlag¬
wortes enthüllt die ganze Dürftigkeit des Denkprozesses unserer Tage.
Von einer Verarbeitung der Begriffe und ihrer Hineinarbeitung in ein
vernünftiges System ist nicht mehr die Rede. Das Schlagwort ist
das bequeme Symbol der allgemeinen Begehrlichkeit und zugleich
der fadenscheinige Mantel der Urteilslosigkeit. Statt des Arguments
herrscht das „grosse Maul“, statt der Ueberzeugung die Ueberredung
und Verführung.
Die ethische Differenzierung, deren praktische Betätigung um-
wegig ist, verliert alle Geltung, die Triebhaftigkeit steigt ins Un¬
gemessene, der Rausch wird zum Dauerzustand. Wo der Alkohol
fehlt, stellen sich Morphium und Kokain ein. Spiel- und Tanzwut
sind Rauschäquivalente.
Diese Zeit lehrt auf das eindringlichste, dass das Ver¬
brechen nicht an eine bestimmte Art von Menschen ge¬
bunden ist. Es gibt keine geborenen Verbrecher. Sie lehrt,
dass das Verbrechen unabhängig ist von der Form. Es gibt
keine morphologische Kriminalanthropologie. Sie lehrt,
dass das Verbrechen aus einer Tempo- und Wegabkürzung
im psychophysischen Geschehen entspringt, dass der Ver¬
brecher da erwächst, wo das Gesetz des kürzesten Weges
geltend wird. Es gibt nur eine funktionelle Kriminal¬
anthropologie.
Statistische Uebersichten.
Männer: vom 1. 4. bis 30. 9. 1914.
Abtreibung. 1
— Beihilfe dazu .... 3
— Anstiftung dazu . . 1
Anschuldigung, falsche 2
Bannbruch. 1
Bedrohung . 8
Begünstigung. 1
Beilegung falschen Na¬
mens . 1
Beleidigung. 36
Betrug.406
Betteln.394
Blutschande. 8
Brandstiftung. 9
Buchmacherei. 1
Denkmalsschändung . . 5
Diebstahl.1804
— Anstiftung dazu . . 1
— Beihilfe dazu .... 6
— versuchter. 6
— Wilddieberei .... 5
Entführung. 2
Erpressung. 14
— versuchte . 1
Erregung ötfentl. Aerger-
nisses. 25
Freiheitsberaubung . . 2
Geldfälschung. 1
Gewerbevergehen .... 3
Glücksspiel. 4
— Beihilfe dazu .... 1
Hausfriedensbruch ... 34
Hehlerei. 49
Hoch- und Landesverrat 2
Konkurs. 8
— Beihilfe dazu .... I
Körperverletzung .... 67
— mit tödl. Ausgang . 2
Kuppelei. 9
Majestätsbeleidigung . . 3
Meineid. 15
— Verleitung dazu
Mord .
Münzverbrechen .
Nötigung. 1
Notzucht. 4
Obdachlosigkeit .... 9
Raub. 22
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Original fro-m
UNIVERSETY OF MICHIGAN
^ 4- O'
220
Hugo Marx,
Raub, versuchter. . .
Sachbeschädigung . .
Sittlichkeitsverbrechen
Totschlag, versuchter
Tötung, fahrlässige . .
Uebertretung.
Unfug.
Unterschlagung. .
Untreue.
Unzucht, widernatürl.
1
Urkundenfälschung. . .
91
. 13
Vergehen im Amt . . .
6
. 104
— geg. Seemannsordn.
1
. 3
-Süssstoffgesetz .
1
1
-Transportgesetz.
1
. 7
— — Viehseuchenges.
1
2
- §4.
2
. 222
--§ 12.
2
. 16
- 6 13 .
2
. 5 i
. .
-§110 .
1
Gesamtzahl
Jugendliche
Vergehen gegen § 175 . 1
-§ 176. 2
-§ 184. 2
-§ 223 . 1
-§ 271. 1
Vergewaltigung. 2
Verursachter Lärm . . 1
Wechserfälschung ... 1
Widerstand.29
Zuhälterei .117
. 4460
. 252
Männer: vom 1. 4. bis 30. 9. 1915.
Abtreibung. 1
— Beihilfe dazu .... 1
Anschuldigung, falsche 2
Aufforderung. 1
, Bedrohung. 2
Begünstigung. 1
Beileg, falschen Namens 1
Beleidigung. 12
Bestechung. 4
Betrug .181
— versuchter . 5
Betteln.162
Bigamie. 1
Blutschande. 9
Brandstiftung. 4
Buchmacherei. 1
Diebstahl.1077
— Anstiftung dazu . . 1
— versuchter. 10
Entfernung, unerlaubte 5
Erpressung. 5
Erregung öffentl.Aerger-
nisses. 14
Grabschändung. 1
Hausfriedensbruch ... 12
Hehlerei. 61
Heiratsschwindel .... 1
Hoch- und Landesverrat 9
— Beihilfe dazu .... 1
Konkurs. 2
Kontraktbruch. 1
Körperverletzung .... 43
— mit tödl. Ausgang . 2
Kuppelei ........ 4
Landstreicherei. 11
Majestätsbeleidigung . . 1
Meineid. 5
— Verleitung dazu . . 1
Mord . 1
— versuchter. 2
Münzverbrechen .... 4
Nötigung. . 1
Notzucht. 4
— versuchte. 3
Obdachlosigkeit .... 8
Raub . .. 23
— versuchter . 3
Raubmord. 2
— versuchter. 1
Sachbeschädigung ... - 6
Sittlichkeitsverbrechen. 76
Totschlag. 1
Tötung, fahrlässige . . 2
Uebcrtretung. 5
Unbefugt.Trag.v. Waffen 1
Unfug. 5
Unterschlagung.244
— Beihilfe dazu .... 1
Untreue. 6
Unzucht, widernatürl. . 5
Urkundenfälschung... 49
Vergehen im Amt ... 5
— gegen Ausfuhrverbot 2
— — Belagerungszust. 61
-Gesetz beschr.
Haftung. 1
-Kriegsvergehen . 1
— — Süssstoffgesetz . 1
-§ 43. 2
-§ 89. 2
-§ 91. 2
-§ 110. 1
-§ 180. 2
-§ 133. 1
-§ 175. 1
-§ 177. 1
-§ 183. I
-§ 218. 5
— — § 242 . 1
-$ 263 . 1
-§ 266 . 2
Verrat militärischer Ge¬
heimnisse . 2
Widerstand. 7
Zechprellerei. 1
Zuhälterei. 52
Gesamtzahl. 2620
Jugendliche.306
Männer : vom 1. 4. bis 30. 9. 1916.
Abtreibung. 3 | Bigamie. 1
Bedrohung. 6
Begünstigung. 4
Beileg, falschen Namens 3
Beleidigung . . •. 11
Bestechung. 1
Betrug .163
— versuchter . 3
Betteln. 85
Blutschande. 6
Brandstiftung. 6
— fahrlässige. 1
Buchmacherei. 1
Diebstahl.1395
— Anstiftung dazu . . 2
— versuchter . 4
— Wilddieberei .... 2
Entwendung v. Esswaren
Erpressung.
— Verleitung dazu
Erregung offenti.Aerger
nisses .
Gewerbevergehen . .
Glücksspiel.
Hausfriedensbruch .
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11
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222
Hugo Marx,
Männer: vom 1. 4. bis 30. 9. 1918.
Abtreibung. 2
— Beihilfe dazu .... 2
Bedrohung . 1
Begünstigung. 2
Beilegung falschen Na¬
mens . 8
Beleidigung. 2
Betrug ...163
— versuchter . 3
Betteln. 25
Brandstiftung. 1
Brotkartenschwindel . . 1
Buchmacherei. 1
Diebstahl.1498
— Anstiftung dazu . . 2
— Wilddieberei .... 1
Entfernung, unerlaubte 1
Entziehung der Militär¬
pflicht . 1
Erpressung. 2
Fahnenflucht . 1
Freiheitsberaubung. . . 1
Fundunterschlagung . . 1
Gefangenenbefreiung . . 2
Handel, unerlaubter, m. ■'
Goldmünzen .... 1 ,
— — mit Brotkarten . 4 I
Hausfriedensbruch ... 1
Hehlerei.170
Hoch* und Landesverrat 26
Höchstpreisüberschreit. 4
Kettenhandel. 2
Konkurs. 1
Kontraktbruch. 7
Körperverletzung .... 16
— mit tödlichem Ausg. 6
Kriegswycher. 5
Landfriedensbruch ... 1
Landstreicherei. 3
Lebensmittelschiebung. 1
Meineid. 1
Misshandlung. 1
Mord . i2
— -verdacht. 2
Münzverbrechen .... 5
Notzucht. 1
Obdachlosigkeit. 1
Raub. 24
— versuchter. 2
Raubmord. 1
Sachbeschädigung ... 3
Schlachtung, unerlaubte 1
Schleichhandel ... . 17
Sittlichkeitsverbrechen. 34
Spionage.
Totschlag.. . .
— versuchter .
Uebertietung.
Unterschlagung.
Untreue.
Unzucht .
— widernatürliche . . .
Vergehen im Amt . . .
— gegen Belagerungs¬
zustand .
— Kriegsvergehen . . .
— gegen Lebensmittel¬
verordnung .
— Meldevergehen . . .
— gegen Nahrungsmit¬
telbestimmung . . .
— — Reichsgetreide¬
verordnung .
— — Süssstoffgesetz .
-§ 125.
-§ 271.
-§ 360 .
Verrat militär. Gebeimn.
Widerstand.
Zuhälterei.
Gesamtzahl. 3135
Jugendliche.414
2
3
2
1
85
1
2
1
4
1
29
1
1
1
5
2
1
1
1
2
4
Männer : vom 1. 4. bi» 30. 9. 1919.
Abtreibung.
1
Amtsanmassung . . . ,
4
Aufforderung.
1
Aufreizung.
5
Aufruhr.
69
Bannbruch .
2
Bedrohung .......
5
Begünstigung.
6
Beilegung falschen Na-
mens.
7
— — Ausweises . . .
i
Beleidigung.
2
Betrug .
370
Betteln.
13
Bigamie.
3
Blutschande.
4
Brandstiftung.
2
Diebstahl .
3228
— Anstiftung dazu .
3
— Wilddieberei . . .
5
Erpressung.
20
— versuchte .
3
Gewerbevergehen . . .
1
Glücksspiel.
3
Grabschändung.
i
Grenzüberschreit., unerl.
7
Handel, unerlaubter . .
2
— — mit Banknoten .
2
— — mit Brotkarten .
7
Hausfriedensbruch . . .
1
Hehlerei.
143
Hoch- und Landesverrat
16
Konkurs.
1
Körperverletzung ....
14
— mit tödlichem Ausg.
4
Kriegswucher.
3
Kuppelei.
3
Landfriedensbruch . . .
15
Landstreicherei.
6
Lebensmittelschiebung .
1
Meineid.
1
Meuterei .
1
Misshandlung.
1
Mord . ....
25
- - versuchter.
14
Münzverbrechen ....
53
Nötigung.
1
Notzucht.
1
Obdachlosigkeit .... 1
Pfandbruch . 1
Plündern. 4
Politische Umtriebe . . 6
Raub. 93
— versuchter . 3
— Beihilfe dazu .... 1
Raubmord. S
Sabotage . 1
Sachbeschädigung ... 1
Schleichhandel. 26
Sittlichkeitsverbrechen. 30
Steuerhinterziehung . . I
Totschlag . .. 4
Tötung, fahrlässige . . 2
Unbefugtes Tragen von
Waffen. 2
Ungebühr vor Gericht . 2
Unterschlagung.141
Untreue. I
Urkundenfälschung . . 170
Vergeben im Amt ... 10
— gegen Belagerungs¬
zustand . 17
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSfTY OF MICHIGAN
Die Ursachen des Verbrechens.
223
Vergehen gegen Devisen-' i Vergehen gegen § 43 . 2 ! Vergehen gegen § 249 . 3
Ordnung.
i
1 -
- § 50 . . .
... 2 1
-§ 268 .
1
— — Einf.v. Brillanten
1
—
- § 52 . . .
... 1 |
-§ 269 .
1
— Kriegsvergehen . . .
9
—
- §81 . . .
... 1
- § 284 .
1
— geg. Reichsgetreide-
—
- § 113 . .
... 1
-§ 350 .
' 1
Verordnung.
1
—
- § 115 . .
1
-§ 352 .
1
— — Sprengstoffgesetz
1
—
- § 128 . .
... 2
Verrat militär. Geheimn.
15
— — Süssstoffgesetz .
1
—
- § 129
... i
Vertrieb unzüchtiger
— — Verordnung der
—
- § 130
... 2
Schriften ......
1
— Voiksbeauftragten .
1
—
- § 184 . .
• • 1
Widerstand.
7
— — Zigarettensteuer¬
gesetz ..
1
—
- § 211
— § 241 . .
... 2
... 1
Zuhälterei.
G
Gesamtzahl .
. 7250
Jugendliche .
.
690
Frauen: vom 1. 4. 1914 bis 30. 3. 1915*
Abtreibung. 31
— Beihilfe dazu .... 2
— versuchte. 7
— Lohnabtreibung . . 1
Anschuldigung, falsche 2
Bedrohung. 1
Begünstigung. 3
Beileg falschen Namens 10
Beleidigung. 6
Bestechung. 1
Betrug. 83
— versuchter. 6
Betteln. 7
Brandstiftung . 1
Diebstahl.456
— Beihilfe dazu .... 1
— versuchter. 2
— Beischlafs-. 2
Erpressung. G
Erregung öffentlichen
Aergernisses .... 19
Gefangenenbefreiung . . 1
Hausfriedensbruch ... 4
Hehlerei. 17
Kindesmord. 6
— versuchter. 1
Körperverletzung mit
tödlichem Ausgang 4
Kuppelei. 9
Landstreicherei. 1
Meineid. 23
— fahrlässiger. 1
Mord . 6
— versuchter. 2
Münzverbrechen .... 2
Obdachlosigkeit .... 7
Pfandbruch. 1
Plündern. 1
Raub, versuchter ... 1
Sachbeschädigung ... 6
I Sittcnpolizeil.Uebertrtg. 35
| Spionage. 1
Spionage, Beihilfe dazu 1
Totschlag. 1
Totschlag, versuchter . 1
Uebertretung. 8
Unterschlagung .... 38
Unfug. 1
Unzucht, gewerbl. ... 25
Urkundenfälschung . . 38
Vergehen gegen Belage¬
rungszustand .... 2
— — Erzwingung der
Eidesleistung .... 1
— — Fürsorgegesetz . 1
— — Nichtbeschaff. v.
Unterkunft. 1
— — Verordnung vom
3. 10. 14 . . 1
-§ 89. 1
-§ ISO. 1
Verrat milit. Geheimn. 1
j Widerstand. 5
Gesamtzahl.1040
Jugendliche. 42
Frauen: vom 1. 4« 1915 bis 30« 3. 1916.
Abtreibung .......
28
Diebstahl, Beischlafs-
Kontraktbruch.
— Anstiftung,versuchte
1
diebstabl.
i
Körperverletzung mit
— Beihilfe dazu ....
5
Entfernung, unerlaubte
2
tödlichem Ausgang
— Lolinabtreibung . .
2
Entwendung von Nah-
Kuppelei.
Anschuldigung, falsche
2
rungsmittein ....
1
Landstreicherei.
Arrestbruch.
1
Erpressung.
1
Majestätsbeleidigung . .
Bedrohung.
1
— versuchte.
4
Meineid.
Beilegung falschen Na¬
mens .
14
Erregung öffentlichen
Aergernisses ....
Hausfriedensbruch . . .
2
Meuterei .
Mord.
Beleidigung.
8
7
Münzverbrechen, Ver¬
Betrug , .
90
Hehlerei.
37
dacht .
Betteln.
6
Kindesmord.
l
Pfandbruch .
Brandstiftung.
1
— Begünstigung dazu
1
Raub.
Diebstahl.
476
Kindesunterschiebung .
2
Sachbeschädigung . . .
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
224
Hugo Marx,
Sittenpolizeil. Ueber-
tretung. 30
Sittlichkeitsverbrechen. 1
— Beihilfe dazu .... 1
Totschlag. 1
Tötung, fahrlässige . . 2
Unterschlagung. 37
Unfug. 1
Unzucht, gewerbliche . 22
Urkundenfälschung . . 37
Vergehen gegen Belage¬
rungszustand .... 6
— — Beiseiteschaffens
einer Leiche .... 1
— — Fürsorgegesetz . 1
— — Gewerbesteuer . 1
Vergehen gegen § 3. . 1
-§ 89. 1
-§ 92. 1
-§ 134. 1
-§ 222 . 1
-§ 223 . 1
Widerstand. 6
1105
58
Gesamtzahl
Jugendliche
Frauen: vom 1. 4. 1916 bis 30* 3, 1917.
Abtreibung.
40
Körperverletzung....
7
Vergehen geg. Bekannt-
— Beihilfe dazu ....
3
Kriegswucher.
4
mach v. 16. 6. 15 .
— Lohnabtreibung . .
2
Kuppelei.
5
— — Belagcrungszust.
Bannbruch .
2
Meuterei ..
1
— — Bestimm.d.Ober-
Begünstigung.
1
Meineid.
7
kommandos.
Beilegung falschen Na-
— Verleitung dazu . .
i
— — Bundesratsbest.
mens.
26
| Misshandlung.
1
— — Kriegs-V.
— Adelsprädikat . . .
1
Mord.
7
-Mel de-V.
Beleidigung.
ii
— versuchter .
9
— — Nahrungsmittel-
Betrug.
120
Nötigung.
2
bestimraung . . . .
— versuchter.
1
Obdachlosigkeit ....
5
— — Nichtbeschaff. v.
Betteln.
9
Raub.
6
Unterkunft.
Brandstiftung.
1 |
Sittenpolizei!. Uebcr-
-§ 2.
Diebstahl.
525
tretung.
40
-§ 4.
— Beihilfe dazu ....
1
Sittlichkeitsverbrechen
2
-§ 49.
— Beischlafsdiebstahl.
2
— Beihilfe dazu ....
1
-§ 55.
Erpressung.
2
Spionage.
1
-§ 74.
Erregung öffentlichen
Totschlag.
2
-§ 89.
Aergernisses ....
2
— Anstiftung.
1
- § 174 .
Fahnenflucht, Beihilfe
1
Uebertretung.
3
- § 221 .
Hausfriedensbruch . . .
6
Unterschlagung ....
38
- § 235 .
Hehlerei.
45
Untreue.
2
- § 239 .
Hoch- und Landesverrat
3
Unentschuld. Ausbleib.
- § 246 .
Höchstpreisüberschreit.
2
von Hauptverhandl.
1
- § 259 .
Kettenhandel.
2
Unzucht, gewerbliche .
16
Verletzung des Brief¬
Kindesmord.
3
Urkundenfälschung . .
71
geheimnisses . . . .
Kindesunterschiebung .
2
Vergehen gegen Abgabe
Widerstand.
Kontraktbruch.
1
eidesstattl. Vers. . .
1
Gesamtzahl.1445
Jugendliche. 75
Gesamtzahl.1445
Jugendliche. 75
1
2
2
1
1
2
1
1
1
1
2
1
1
2
1
1
2
1
1
1
1
Frauen: vom 1. 4. 1917 bis 30. 3.
Abtreibung. 19
— Beihilfe dazu .... 3
— Lohnabtreibung,
Beihilfe. 2
Bedrohung. 1
Begünstigung. 5
Beilegung falschen Na¬
mens . 17
Beleidigung. 4
Betteln. 5
Betrug.115
Betrug, versuchter ... 3
Bigamie. 1
Brandstiftung. 1
Diebstahl.402
— Beihilfe dazu .... 6
Erregung öffentlichen
Aergernisses .... 1
Fahnenflucht, Beihilfe 2
Glücksspiel. 1
Hausfriedensbruch ... 1
Hehlerei.101
1918.
Hoch- und Landesverrat 9
Kindesmord. 5
Kontraktbruch. 2
Körperverletzung .... 2
Kuppelei. 7
Landfriedensbruch ... 5
Landstreicherei. 3
Lebensmittelschiebung. 2
Meineid. 7
Misshandlung von Kind l
Mord, versuchter .... 7
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Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Die Ursachen des Verbrechens.
225
Raub. 7
Bbubmord . 2
Sachbeschädigung ... 2
Schleichhandel. 2
Sittenpolizeil.Uebertrtg. 74
Totschlag, versuchter . 2
Unterschlagung. 61
Untreue. 1
Unzucht, gewerbl. ... 15
Urkundenfälschung . . 82
— Beihilfe. 2
Vergehen gegen Best,
des Oberkommandos
-Brotkarten-V. .
-Kriegs-V.
-Lärm.
-Melde-V.
— — Rubeldurchfuhr-
Verbot .
-Streik-V. . . . .
— — Unbefugt.Tragen
der roten Kreuz-Med.
1 1
1
11
1
2
1
2
1
Vergehen gegen uner¬
laubten Verkehr mit
Kriegsgefangenen .
-Verbergen eines
Fürsorgezöglings . .
-§ 43.
-§ 89.
-§ 115.
-§ 171.
Widerstand.
Gesamtzahl. 2047
Jugendliche.125
Frauen: vom 1« 4. 1918 bis 30. 3. 1919.
Abtreibung.. 27
— Beihilfe. 2
— Lohnabtreibung . . 1
— versuchte. 2
Anschuldigung, falsche 1
Arrestbruch. 1
Aufruhr. 1
Begünstigung. 5
Beileg, falschen Namens 6
Beleidigung. 5
Betrug. 109
Betteln. 8
Bigamie. 1
Brandstiftung . 1
Diebstahl.1080
— Anstiftung dazu . . 3
— Beihilfe dazu .... 6
— Beischlafsdiebstahl. 2
Gefangenenbefreiung . . 1
Handel, unerlaubter, mit
Fleisch. 1
— -Brotkarten . 2
Hausfriedensbruch ... 1
Hehlerei. 65
Hoch- und Landesverrat 7
Ilöchstpreisüberschreit. 1
Körperverletzung, fahrl. 3
— mit tödlich. Ausgang 1
Kindesaussetzung ... 1
Kindesmord. 3
Kriegswucher. 1
Kuppelei. 7
Landfriedensbruch ... 4
Landstreicherei. 1
Meineid. 5
— Verleitung dazu . . 1
Mord.. 7
— Beihilfe dazu .... 1
— versuchter. 5
Obdachlosigkeit .... 1
Pfandbruch. 1
Raub. 14
Raubmord. 2
| Sachbeschädigung ... 2
Gesamtzahl
Jugendliche
Schleichhandel.
Schutzhaft.
Srttenpoliz. Uebertret.
Sittlichkeitsverbrechen.
Spionage.
Uebertretung.
Unterschlagung.
Unzucht, gewerbl. . . .
Urkundenfälschung . .
Vergeh, geg. Korpsbefehl
— — Kriegs-V.
— — Melde-V.
— — Süssstoffgesetz .
-Verordnung vom
20. 11. 18.
-Waffenbesitz,
unerlaubter.
-§ 3.
-§ 133 .
- § 256 .
Verlegen des Wohnorts
Widerstand.
. 2273
. 116
Frauen: vom 1. 4. 1919 bis 30. 9. 1919.
Abtreibung. 13
Anschuldigung, falsche 1
Aufruhr. 1
Begünstigung. 3
Beileg, falschen Namens 2
Beleidigung. 1
Betrug. 46
Diebstahl ..498
— Beihilfe dazu .... 1
Erpressung. 1
Fundunterschlagung . . 1
Hausfriedensbruch ... 1
Hehlerei. 31
Kindesmord. 1
Kindesraub. 1
Landstreicherei. 1
Mord . 4
— Anstiftung. 1
— versuchter. 4
Münzverbrechen .... 8
Nötigung •. 1
Plündern. 1
Politische Umtriebe .
Raub, versuchter . . .
Raubmord.
Schleichhandel ....
Schutzhaft ..
Sittenpoliz. Uebertret.
Unterschlagung . . .
Urkundenfälschung .
Vergehen im Amt . .
— gegen Kriegs-V. .
Verrat milit. Geheimn
Gesamtzahl.1316
Jugendliche.. . ?
4
1
1
1
1
1
6
1
5
32
2
1
1
50
10
69
2
G
1
1
1
1
1
1
1
1
3
1
1
1
2
1
1
43
43
2
1
2
Vierteljahr «gehn ft f. ger. Med. n. Off. San.-Wegen. 3. Folge. Bd. 60. H. 2.
15
Digitized by
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Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
XVI.
Aus der Berliner städtischen Irrenanstalt Dalldorf
(Direktor: Geheimrat Dr. Kortum).
Dämmerzustände eines homosexuellen Neurotikers.
Von
Dr. Max Margulies, Hermsdorf bei Berlin.
Es ist allgemein bekannt, dass unter den sexuell abnorm ver¬
anlagten Persönlichkeiten zahlreiche Neurotiker jeder Art sind. Seltener
aber scheint es schon vorzukommen, dass Dämmerzustände solcher
Individuen forensische Bedeutung erlangen, ohne dass das Delikt irgend¬
wie durch die Perversion bestimmt erscheint. Und wenn diese Per¬
version nun gleichzeitig durch Vermittlung psychischer Faktoren sich
als pathogen für die Dämmerzustände, herausstellt, dürfte der Fall
allgemeineres Interesse beanspruchen.
Die Tatsachen in dem hier mitgeteilten Falle sind kurz folgende:
Ein junger Mann, zweifellos effeminierter Homosexueller, ist mehrfach
bei Taschendiebstählen ertappt und schon zweimal deswegen verurteilt.
Er hat einen Anstaltsaufenthalt hinter sich, und wenn auch die
Krankengeschichten davon nicht zu erhalten waren, spricht doch alles
dafür, dass er an Dämmerzuständen gelitten hat. Wegen zweier
weiterer Taschendiebstähle unter Anklage, wird er zur Beobachtung
seines Geisteszustandes der Irrenanstalt Dalldorf überwiesen. Hier
ergibt sich eine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür, dass er die
eine Tat im Dämmerzustände begangen hat.
Bei allen Diebstählen, deren er überführt ist, handelt es sich uni
Damenportemonnaies. Doch sprechen Indizien dafür, dass er sich
auch ganz andere Gegenstände in ähnlicher Weise angeeignet hat.
Ein psychologischer Zusammenhang seiner Sucht gerade für Damen-
Portemonnaies mit seiner Effemination ist in einigermassen zwangloser
Weise nicht zu finden. Dagegen treten (im Gegensatz zu seinen sonst
vorzüglichen Gedächtnisleistungen) in Assoziationsversuchen mit Re-
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Dämmerzustände eines homosexuellen Neurotikers.
227
Produktion eine Anzahl von merkwürdigen inselartigen Lücken auf,
welche mit den von ihm geschilderten und während des Anstalts¬
aufenthaltes auch vereinzelt beobachteten Bewusstseinstrübungen
zweifellos wesensverwandt sind. Eine Analyse ergibt nun, dass dabei
Vorstellungen sexuellen Inhalts wirksam geworden sind, welche für
ihn eine besondere Bedeutsamkeit besitzen.
Die Kenntnis solcher „Komplexe“ und der sie anzeigenden „Kom¬
plexmerkmale“ verdanken wir den Forschungen von Jung und Rick-
lin. Abweichend von diesen Autoren glaube ich nicht, dass diese
Komplexmerkmale durch unbewusste Konstellationen zustande kommen,
sondern es sich um wirkliche Erlebnisse in den Versuchen handelt,
wie sie eine dazu veranlagte und psychologisch geschulte Versuchs¬
person wohl darstellen könnte. Diesem aktuellen Erleben im einzelnen
nachzugehen, habe ich mir auch in diesem Falle zur besonderen Auf¬
gabe gemacht. Nähere methodologische Ausführungen sind aber hier,
wo es sich um die möglichst vollständige Aufklärung eines Einzel¬
falles handelt, nicht am Platze. Zur Aufdeckung affektbetonter und
gegebenenfalls pathogener Vorstellungsreihen sind jedenfalls die Jung-
schen Anweisungen entschieden fruchtbar, und ihre praktische Ver¬
wertbarkeit drängt sich gerade hier besonders deutlich auf.
Die erste Straftat des Hausdieners Adolf B. war ein versnobter Tasohendieb-
diebstahl im Warenbause Tietz am Alexanderplatz. Die Meldung des ibn fest¬
nehmenden Kriminalschutzmanns gibt folgende Darstellung seines Verhaltens:
„Er operierte in der Weise, dass er von hinten die in den Fahrstuhl steigenden
Damen musterte, beim Einsteigen folgte und dann im Gedränge deren Handtasohe
öffnete, um die Portemonnaies daraus zu stehlen.“ Bei seiner Durchsuchung
fanden sich bei ihm ein Damenportemonnaie, Lebensmittelkarten u. dgl., Dinge,
welche anscheinend durch strafbare Handlungen erworben waren. Der Vorgang
spielte sich am 13. 11. 1917 gegen 6 Uhr nachmittags ab.
Bereits am folgenden Tage wurde er vor dem Warenhause Werthoim, Leip¬
ziger Strasse, wieder dabei betroffen, wie er auf Tascbendiebstähle ausging und
einer Frau H. das Portemonnaie aus der Handtasche stahl.
Bei seiner Vernehmung gab er trotz aller Vorhaltungen nur einen Taschen-
diebstabl zu.
Ueber seinen Lebensgang finden sich folgende Angaben: B. ist am 10.11.1898
in K. (Westpreussen) geboren. 1913 kam er nach Berlin zu einem Kaufmann in
die Lehre. Ein halbes Jahr später ging er nach Hause zurück und hatte danach
verschiedene Stellungen als Hausdiener und Silberputzer. Vom Militär war er als
unbrauchbar entlassen worden. Eine Stellung hatte er seither nicht mehr gehabt,
sondern angeblich von seinen Ersparnissen gelebt.
Das Schöffengericht Berlin-Mitte verurteilte B. zu Uahr 6 Monaten Gefängnis.
B. legte dagegen Berufung ein und kam vor die 5. Strafkammer des Landgerichts 1
15*
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UNIVERSfTY OF MICHIGAN
228
Max Margulies,
Berlin. Der Verteidiger warf die Frage nach seiner geistigen Gesundheit auf. In dem
Urteil wird dazu folgendennassen Stellung genommen: „Der Angeklagte bat etwa
7^ Jahre die Bürgerschule mit gutem Erfolge besucht. — Auf der Fahrt zu seinem
Truppenteil zeigte sich bei ihm in der Nacht zum 31. 12. 1916 eine geistige Er¬
krankung, weshalb er zunächst in das Reservelazarett zu B. eingeliefert wurde.
Von dort kam er am 9. 1. 1917 in das Vereinslazarett der Heil- und Pflegeanstalt
zu A.', von wo er am 22. 4. 1917 in die Heilanstalt zu L. gebracht wurde. Ende
September 1917 war er als geeignet, seinen früheren Beruf als Diener wieder aus¬
zuüben, aus der letztgenannten Heilanstalt entlassen. In der Hauptverhandlung
vor der Strafkammer hat er ausdrücklich zugegeben, dass seine geistige Gesund¬
heit wieder hergestellt sei und dass er sich am 13. und 14.11. während seines Auf¬
enthaltes im Tietzschen Warenhause und vor den Schaufenstern des Wertheim-
sohen Warenhauses in einem zurechnungsfähigen Zustande befunden habe. Das
ganze Verhalten des Angeklagten war auoh ein solches, dass die Strafkammer die
Ueberzeugung gewonnen hat, dass der Angeklagte sowohl bei der Ausführung der
beiden Diebstahlsversuche als auch bef Begehung des vollendeten Diebstahls und
der Unterschlagung in vollem Masse strafrechtlich zurechnungsfähig war.“
Es wurde auf eine Gesamtstrafe von 1 Jahr Gefängnis erkannt, ln der
Urteilsbegründung wird auf die grosse Geriebenheit in derAusführung hingewiesen
und von mildernden Umständen abgesehen.
Die Krankenblätter der oben genannten Anstalten waren leider nicht zu er¬
langen. ln den Personalakten des Reservelazaretts L. sind wesentliche Angaben
nicht zu finden. Nach einer Notiz ist im Vereinslazarett A. Dementia praecox an¬
genommen worden.
Während der Strafverbüssung sind psychische Störungen bei B. nicht beob¬
achtet worden. Dagegen wurde auf Veranlassung des Anstaltsarztes Dr. H. im
Februarl918 wegen Unterernährung und allgemeiner Körperschwäche dieStrafe auf
3 Monate unterbrochen.
Bereits am 24. 2. wurde er von einem Schutzmann dabei ertappt, wie er die
Handtasche von dessen Ehefrau öffnete und hineinzulangen versuchte. Sofort er¬
griffen und auf die Polizeiwache geführt, bestritt er die Tat.
Bei der Vernehmung vor dem Amtsgericht Berlin-Mitte heisst es: „Der Be¬
schuldigte erklärte . . . nichts, sondern hielt beständig die Hand an den Mund
und gab, abgesehen von der Nennung seines Namens B. keine Antwort. — Unter¬
schrift verweigert.“
Auch in der Hauptverhandlung am 11. 3. 1918 erwiderte B. auf die Ver¬
lesung der Anklageschrift: „Ich bin mir nichts bewusst.“ Er wurde zu 1 Jahr
Gefängnis verurteilt und verzichtete auf Rechtsmittel. Die Möglichkeit einer
krankhaften Störung der Geistestätigkeit wurde hierbei gar nicht erörtert. Ueber
die Strafhaft wird nichts berichtet; sie wurde am 19. 12. 1918 auf Grund der
Amnestie vom 3.12. 1918 aufgehoben.
In der jetzt zur Untersuchung stehenden Angelegenheit handelte es sioh um
zwei Vergehen. Am 27. 12., also 8 Tage nach seiner Entlassung, stahl er einer
Frau K. nachmittags gegen 9 3 / 4 Uhr auf dem Kopfbahnsteig des Anhalter Bahn¬
hofes aus ihrer Handtasche ein schwarzlederndes Portemonnaie. Der Diebstahl
wurde von einer Frau M. beobachtet, deren Sohn den B. stellte und einem militä¬
rischen Sicherheitsposten übergab. B. gab bei seiner sofortigen Vernehmung auf
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Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Dämmerzustände eines homosexuellen Neurotikers.
229
der Polizeiwache die Tat zu; er habe es aus Not getan, weil er ausser Stellung
und ohne ausreichende Barmittel sei. In der Unterschrift ist die zittrige Schrift
bemerkenswert, welche sich von seiner sonstigen Handschrift wesentlich unter¬
scheidet. Das Geständnis wiederholte er am 29. 12. Er wurde daraufhin als nicht
fluchtverdächtig aus der Untersuchungshaft entlassen.
Die zweite Handlung spielte sich am 19. 1. 1919 gegen 3 Ubr 50 Min. nach¬
mittags auf der Strassenbahn der Linie 70 am Hallescben Tor ab. Es wurde ihm
zur Last gelegt, einem Fräulein B. das Portemonnaie aus der Handtasche ent¬
wendet und, dabei ertappt, es auf die Plattform des Strassenbahnwagens geworfen
zu haben. Von einem Sioherheitssoldaten festgenommen, bestritt er in der polizei¬
lichen Vernehmung alles. Doch belasteten ihn die Zeugenaussagen erheblich.
Die B. hörte, wie die geöffnete Handtasche wieder zuschnappte, sah, dass B. die
Hand von ihr zurückzog und sagte ihm denDiebstahl auf denKopfzu. B.leugnete
zunächst, gleich darauf aber sagte er, auf den Fussboden zeigend: „Da liegt es.“
Da auf der Plattform dicht gedrängt Leute standen, batte er das Portemonnaie
nicht sehen können, sondern es vermutlich selber fortgeworfen. B. beharrte beim
Leugnen.
Vorgefunden und beschlagnahmt wurden bei ihm etwas über 1500 M. (an¬
geblich Ersparnisse), 3 Portemonnaies, 2 Tasohen für Papiergeld, 1 Silbertäsch¬
chen, 1 Stück von einer Uhrkette und einige Lebensmittelkarten.
Die Anklageschrift führte die beiden Tatbestände auf und spricht von einer
in der Hauptverhandlung unter Umständen notwendig werdenden Erweiterung der
Anklage.
In der Verhandlung vor dem Schöffengericht Berlin-Mitte beantragte der
Staatsanwalt 3 Jahre Gefängnis und Einziehung des Geldes und der beschlag¬
nahmten Portemonnaies. Das Schöffengericht erklärte sich als unzuständig und
verwies die Sache an das Landgericht I Berlin, Strafkammer, zur weiteren Ver¬
handlung und Entscheidung.
Der Verteidiger beantragte nun die Beobachtung des Angeklagten auf seinen
Geisteszustand in einer Anstalt unter Hinweis auf seinen oben angegebenen Auf¬
enthalt in Irrenanstalten. Eine daraufhin erfolgte Beobachtung in der Strafanstalt
durch den Gerichtsarzt Geh. Med.-Hat Dr. Hoffmann führte zu einem Gutachten
vom 12. 6. 1919, in welchem gemäss § 81 StPrO. Verbringung des Angeklagten
in eine Irrenanstalt und Beobachtung beantragt wurde. Das Gutachten brachte
die folgenden belangreichen Daten: „Im Untersuchungsgefängnis ist er nach keiner
Richtung hin aufgefallen. . . . Von der Straftat will er nichts wissen; er habe
überhaupt Zustände, wo er nicht wisse, was er tue; er höre jetzt immer Stimmerl
des Nachts, sehe Gestalten in die Zelle treten, so z. B. seinen früheren Herrn, der
ihn beschimpfe.“ ' \
Die Ueberführung naoh der Irrenanstalt Dalldorf erfolgte daraufhin am
26. 7. 1919.
B. ist 1,69 m gross bei 54,5 kg Körpergewicht. Knochenbau grazil, Musku¬
latur gering entwickelt, Fettpolster dürftig. Gesichtsfarbe meist sehr blass, tiefe
Ränder um die Augen. Während des Anstaltsaufenthaltes trat deutliche Er¬
holung auf.
Der Kopf zeigt in beiden Scbläfengegenden bydrozephalische Ausladungen;
sein Umfang beträgt 56 cm, der Längendurchmesser 13 cm, Sagiltalbogen 34 cm,
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Querdurchmesser 10 cm, Frontalbogen 33 cm. Die linke Gesichts* and Schädel¬
hälfte ist auffallend schwächer entwickelt als die rechte; stark hervortretende
Backenknochen.
Papillen rand, etwas weit, reagieren regelreoht.
Gesiohtsbewegungsnerv in der linken Mandpartie etwas schwächer innerviert
als rechts.
Augenbindehaut- und Hornhautreflexe erhalten, Würgereflex aufgehoben.
Kniesehnenreflexe sehr stark, oberhalb und unterhalb der Kniescheibe auslösbar;
Äcbillessehnenreflex vorhanden; starker Fusssohlenreflex von normalem Typus.
Kein Fusszittern. Alle Reflexe an den Beinen links noch etwas stärker als rechts.
Grobe Kraft gering; bei Druck auf den Kraftmesser wird beiderseits 50°
erzielt.
Gefühlssinn ohne Störung; keine abnormen Druckpunkte; Hautreflexe
regelrecht.
Bei Untersuchung der inneren Organe ergibt sioh eine Verbreiterung der
relativen Herzdämpfung nach reohts bis zur Mitte des Brustbeins. Herztöne leise
und rein. An den anderen inneren Organen nichts Auffälliges.
B. wurde zufällig von mir in die Anstalt aufgenommen. Bei dieser Gelegen¬
heit war er etwas scheu und in sich gekehrt, sprach mit leiser Stimme, schien
aber orientiert und bot kein ausgesprochen pathologisches Bild. Er wurde dem
festen Hause überwiesen. Hier ergab die unmittelbare Beobachtung zunächst
nichts Auffälliges. Nur klagte er einmal über Kopfsohmerzen und zeitweilige
Zuckungen im Kopf. Er wurde in einem Einzelzimmer untergebracht und über
Mittag allein in den Garten geführt. Von einer Unterhaltung mit ihm am 30. 7.
habe ich folgende Notizen gemacht:
Dem ärztlichen Beobachter gegenüber zurückhaltend; formal geordnet. Un¬
steter Blick, etwas soheues Gebahren. Sehr weite Pupillen. Sehr blass. Sehr
langes Zögern bei einfachsten Antworten, anscheinend schwer besinnlich; bestreitet
sein Vergehen: es sei nichts bei ihm gefunden worden. Auoh an einen früheren
Diebstahl bei Wertheim, für den er nach seiner auf Befragen erfolgten Angabe
bestraft ist, will er keine genauere Erinnerung haben. Bleibt dabei trotz sehr
energischer Vorhaltungen, welche eine Beeinflussung in keiner Weise erkennen
lassen. Obwohl ich ihn hier aufgenommen habe, will er mich nicht wieder¬
erkennen (ich war damals allerdings ganz anders angezogen und wurde von B.
kaum angesehen, wenn er auch meine wenigen Fragen sachgemäss beantwortete
und angab, dass er sich zurzeit nicht krank fühle).
Warum er hier ist, soheint ihm nicht ganz klar zu sein. Die Orientierung
ist erhalten, nur das genaue Datum weiss er nicht. Die Zeit seiner früheren Ver¬
urteilung gibt er erst nach mehrfachem Befragen und sehr langem Nachdenken
ungefähr richtig an.
Im Nachtbericht vom 30. zum 31. 7. heisst es: B. sass von 2 bis */ 4 4 Uhr
aufrecht im Bett, verhielt sioh aber ruhig.
31. 7. Bei einer Exploration etwas gespannte Haltung. Aussprache etwas
geziert, aber frei von krankhaften Manieren. Auf die Frage, weswegen er in der
Anstalt A. gewesen sei: Zuerst sei er in ein Lazarett gekommen, das er auf Be¬
fragen nicht näher bezeichnen kann. Er habe auf seinem Transport noch Cöln
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gesehen, hinter Cöln noch ein paar Berge; von da an wisse er nichts mehr.
Stimmen habe er damals nicht gehört.
Auf die Frage, wie es mit seinem Gedächtnis stehe: Er könne sich schwer
besinnen, denke aber, das sei durch die Haft gekommen.
Es wird mit ihm eine Vorübung für die Ranschbnrgsche Merkfähigkeitsprobe
vorgenommen; dazu werden ihm assoziativ verbundene Wortpaare (wie' „Mönch—
Kloster“) einzeln vorgesprochen, die er sofort nachzusprechen und sich zu merken
hat. Nach einer Reihe solcher Wortpaare hat er dann auf Zuruf des ersten Wortes
das zugehörige zweite zu ergänzen. Er bringt zunächst nach 3 Wortpaaren
2 richtige Ergänzungen, nach 6 weiteren Wortpaaren behauptet er zunächst, kein
Wort mehr zu wissen, scbliessliob gelingt ihm noch eine richtige Ergänzung.
Einfaohe Multiplikationsaufgaben löst er glatt bei minimaler Reaktionszeit.
Bei 12X13 besinnt er sich ausserordentlioh lange; als ich abbrechen will, macht
er eine erregte Bewegung mit den Armen, im Gesiebt zeigt sioh affektive Rötung,
er schlägt mit der Hand auf den Tisch: „Na, ich muss es doch aber loskriegen,
zum Donnerwetter, soll ich denn nicht mehr wissen, wieviel 12X13 ist? Das
wäre noch schöner!“ Additionsaufgaben mit steigender Schwierigkeit löst er dann,
wenn auoh auffallend viel langsamer als die vorigen. 12x13 kann er dann
wieder nicht lösen. (84—25?) Naoh sehr langer Pause: „Endlich hab’ ich es,
59“. (12X13?) Prompt: „12X13 ist 156“.
Es werden dann mit ihm Vorübungen zum Assoziationsexperiment gemaoht,
er bekommt die von ihm sofort von ihm verstandene Instruktion, auf ein ihm zu¬
gerufenes Reizwort mit dem nächsten, was ihm einfällt, zu reagieren. Die Re¬
aktionszeiten, welche hier nicht gemessen wurden, sind durchweg recht lang.
Während der Versuohe spielt er nervös mit den Fingern der auf dem Tisch
liegenden linken Hand. Er bringt lauter Reaktionen, bei denen ein innerer Zu¬
sammenhang mit dem Reizwort nicht erkennbar ist. Bei dem Reizwort „Laster“
fallen merkwürdige Bewegungen der Zunge auf, welche er immerfort in die Mund¬
winkel stösst.
Auf mein Ersuchen erklärt er sich sofort bereit, seinen Lebenslauf zu
sohreiben. Meine besonderen Anweisungen dazu fasst er sofort richtig auf.
Naohtbericht vom 31. 7. zum 1.8.: B. wälzte sich anfangs im Bett umher
und brachte stöhnend unverständliche Laute hervor. Seit 4 Uhr morgens sass er
dauernd auf der Bettkante, die Arme kreuzweise übereinander gelegt, und sah zum
Fenster hinaus.
1. 8. Hat an sein erregtes Gebahren während der Nacht angeblich keine Er¬
innerung. Auf Befragen: es sei ihm früher gesagt worden, dass er oft im Schlafe
berumgehe.
2. 8. Hat seinen Lebenslauf fertig geschrieben, der hier wegen bemerkens¬
werter Angaben mitgeteilt werden soll:
„Auf Wunsch des Herrn Dr. schreibe ich folgendes nieder. Ich, Adolf Beglio,
bin am 10. November 1898 geboren. Mein Vater heisst Otto B. und ist Sohuh-
machermeister. Meine Mutter ist schon tot. Dieselbe hat bei meiner Geburt ihr
Leben eingebüsst. Vom sechsten Lebensjahre an habe ich die sechsklassige Si¬
multanschule in meiner Vaterstadt besucht. Habe 2 1 / 2 Jahre der I. Knabenklasse
angehört, und bin dann im Septembor 1912 in der evangelischen Kirche konfirmiert
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worden. Ich hatte nnn während meiner Schalzeit in wilden Tieren and sonstigem
fahrenden Zirkuswesen meinen Idealberuf erblickt. Da ich non aber im allgemeinen
ein schlechter Turner war, and es mir an sonstigen Anlagen za diesem Beruf
mangelte, wie mir von verschiedenen massgebenden Seiten gesagt wurde, sah ich
mioh notgedrungen von diesem Beruf abzusehen, was mioh sehr oft in trübe Stim¬
mung versetzte. Jetzt fasste ich zum Kaufmannsberufe Entschluss und siedelte
Anfangs 1913 nach Neukölln über, wo ich Aufnahme in einem Kolonialwaren¬
geschäft fand. Leider wurden mir seitens meiner Schwester nach ungefähr einem
halben Jahre Hindernisse in den Weg gelegt, sodass ich mich veranlasst fühlte,
auch diesen Beruf aufzugeben. Einstweilen fuhr ich nun vorübergehend nach
Hause und kam einige Zeit später wieder nach Berlin. Hier habe ich nun ver¬
schiedene flüchtige Stellen als Hausdiener, Hoteldiener, Silberputzer usw. inne
gehabt. Später gelang es mir, eine Anstellung auf dem Schlosse Ihrer Exzellenz
der Gräfin von W. zu bekommen. Hier wurde ich unter Leitung eines alten per¬
fekten Dieners zum herrsohaftliohen Diener herangebildet. Habe mich in den
dortigen Verhältnissen ganz wohl gefühlt und beabsichtigte auch längere Zeit zu
verbleiben. Plötzlich entstanden aber Uneinigkeiten zwisohen Ihrer Exzellenz und
den Offizieren, welche dort anwesend waren. Dieses hatte die Folge, dass der Be¬
trieb dort aufgelöst wurde und sämtlichem Personal von einem Reohtsanwalt ge¬
kündigt wurde. Hierauf begann ich meine Laufbahn als herrschaftlicher Diener
fortzusetzen, indem ich mir weitere Stellen suchte. Habe nun öfters gewechselt,
weil ioh meine Kenntnisse auf dem Gebiete bereichern wollte. Lernte nun in¬
zwischen einen älteren sympathischen Kollegen kennen, mit welchem ioh in nähere
freundschaftliche Beziehungen trat. Da derselbe in den Auslandsverhältnissen sehr
gut orientiert war, so beschloss ich mit ihm, nach Beendigung des Krieges den
Orient oder Amerika aufzusuchen. Auch habe ioh mich öfters durch An- und Ver¬
kauf von kleineren Gebrauchsgegenständen beschäftigt. Ich wurde nun im De¬
zember 1916 zur Truppe einberufen. Auf dem Transport erlitt ich eine Geistes¬
störung. Als ich meine Besinnung wiederbekam, befand ich mich in der Irren¬
anstalt zu A. Hier blieb ich dann noch einige Zeit und wurde dann während einer
zweiten Krankheitsperiode nach der Provinzialanstalt zu L. verlegt. Dort war ich
in Behandlung des Herrn Sanitätsrat Dr. Sch. und wurde nach ungefähr einem
halben Jahre von dort entlasset). Von anderen Krankheitszuständen sind mir be¬
kannt, dass ich von Kindheit an sehr nervös war, so dass ich von anderen Leuten
darüber zurecht gewiesen wurde. Während meiner Schulzeit hatte ich die Masern
und einen besinnungslosen Zustand, wo ich für scheintot gehalten wurde. Dann
machte sich bei mir ein starkes Herzklopfen bemerkbar. Ferner führe ich sehr oft
Selbstgespräche und mache dabei Handbewegungen. Dieses geschieht aber meisten¬
teils nur, wenn ich allein bin und keine andere Person in meiner Nähe bemerke.
Auch höre ich öfters abends, wenn ich die Augen zugemaoht habe, aber noch
nicht eingeschlafen bin, Stimmen. Auch habe ich öfters abends heftiges Knattern
im Kopf verspürt, und mir war, als wenn mir der Kopf in tausend Stücke zer¬
springen sollte. Es wurde mir nun auch von anderen Leuten gesagt, dass ioh des
Nachts umhergehen sollte. Ob diese Behauptung der Tatsache entspricht, weiss
ich nicht, da ich mir deswegen nichts bewusst bin. Nach meiner Entlassung aus
der Heilanstalt zu L. kam ich wieder nach Berlin zurüok. Hier wurde ich nach
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einiger Zeit verschiedener Taschendiebstähle beschuldigt. Wurde nun zu einem
Jahr Gefäpgnis verurteilt. Ich kam jetzt ins Strafgefangnis zu Tegel und wurde
dort mit Kuvertkleben beschäftigt. Naoh meiner dortigen Entlassung wurde ich
des wiederholten Tasohendiebstahls beschuldigt und kam ins Untersuchungs¬
gefängnis Moabit. Dort blieb ich verschiedene Monate und wurde von dort nach
dem Gefängnis in der Lehrterstrasse verlegt. Seit Sonnabend befinde ich mich in
der Irrenanstalt zu Dalldorf. gez. Adolf Beglio.“
Auf Befragen macht er über seine Familie folgende Angaben: Urgrossvater
sei aus Italien gekommen und im Kriege (welchem, wisse er nioht) in Deutschland
geblieben. Er sei der jüngste Sohn und habe 4 verheiratete Schwestern und 2 Brüder.
Geisteskrankheiten in der Familie nioht bekannt.
Er wird aus dem Einzelzimmer berausgenommen und in einen gemeinschaft¬
lichen Schlafsaal gelegt. In den nächsten Tagen ist nichts Auffälliges bemerkt,
nur aus der Nacht vom 4.—5. 8. wird gemeldet, dass er von 3—4 Uhr aufreoht
im Bett sass.
7. 8. Auf Fragen nach etwaigen Beeinträchtigungsideen in der Anstalt: Habe
mit keinem Kranken etwas vor. Solche Ideen sind bei ihm überhaupt nicht nach¬
zuweisen. Auf schlechte Nächte hier kann er sich angeblich gamiobt besinnen.
Gestern habe er Kopfschmerz gehabt, Zucken im Kopf, der Kopf sei „angespannt“,
er empfinde einen gewissen Sohmerz und ein Zucken (zeigt auf die Mitte der Stirn),
merke auch, dass ihm die Sinne benommen seien. Sonst keine Schmerzen. Das
trete bei ihm häufiger auf, unregelmässig, in letzter Zeit besonders oft.
Auf die Frage nach seinem Gedächtnis sagt er dieses Mal: denke, dass es
normal sei; jedenfalls habe er es nicht so, wie er es früher gehabt, glaube aber,
dass es jetzt normal sei.
Bei nochmaligem Vorversuch zur Ranschburgsohen Probe mit 6 Wort¬
paaren (den 6 letzten des ersten Vorversuchs) bringt er 5 richtige Ergänzungen.
Er besinnt sich nicht darauf, dass es die gleiohen Wortpaare wie das vorige Mal
waren.
Erzählt im weiteren Gespräch von einer sehr guten Dienerstelle bei einem
alleinstehenden Herrn, mit der es eine besondere Bewandtnis gehabt habe. Nach
langem Sträuben gibt er zu, dass dort homosexuelle Handlungen vorgekommen
seien. Der Herr habe eine „öffentliche Existenz“, er wolle nichts Näheres dar¬
über sagen.
8. 8. Krämpfe und Bettnässen negiert. Schildert einen eigentümlichen Be-
wusstsoinszustand während der Untersuchungshaft, den er dem Gefängnisarzt mit¬
geteilt habe. Auf Ersuohen gibt er folgende schriftliche Darstellung:
„Ich konnte eines Abends vor Nervosität nicht einschlafen. Nachdem ich
eine geraume Zeit mioh umhergewälzt hatte, verfiel ioh in folgenden Zustand: Ich
verspürte heftiges Knattern im Kopf. Dieses war gerade, als wenn man einen
Gegenstand in tausend Stücke zerschlägt. Hierbei hörte ich nun von draussen ver¬
schiedene helle Kinderstimmen und heftiges Donnerrollen. Vor dem Donner emp¬
fand ich ein gewisses Grauen und wollte nun einen Angstsohrei ausstossen. Dieses
war mir aber nicht möglich, da mir die Sprache genommen und die Glieder ge¬
lähmt waren. Auch wurde ioh im Bette hin- und hergeschleudert. Nachdem der
Zustand beendet war, vernahm ich einen leisen Ruck im Kopf, und meine Sinne
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traten wieder in Kraft. Draussen war es nun dunkle Nacht nnd von Gewitter war
keine Spar vorhanden. Kurze Zeit darauf verfiel ich in einen guten Schlaf und
erwachte erst, als das Zeichen zum Aufstehen gegeben wurde. u
Gleichzeitig macht er schriftliche Angaben über Bewussteinstrübungen: „Mir
waren in letzter Zeit meine Sinne öfters abgestumpft, so dass es mir sohwer fiel,
mich auf etwas zu besinnen. Dieses kann ich aber nur behaupten, nachdem ich
den Aufenthalt in den verschiedenen Anstalten gehabt habe. Hierbei ist mir dann
der Kopf auch ziemlich schwindelig.' Es treten bei mir öfters Kopfschmerzen ein,
gewöhnlich nach einem Aerger und Aufregung. Diese äussern sich in folgender
Weise: Ich empfinde einen Schmerz und heftiges Zucken im Kopf. Hierbei
versagen dann auch die Sinne bei mir und ich gehe dann ziemlich aufgeregt
umher.“
Petit mal-Anfälle, die ihm beschrieben werden, kennt er nicht. Bei Selbst¬
gesprächen vergesse er das Gesprochene, er habe aber dabei keiue Bewusstseins¬
trübung wie bei den Kopfschmerzen.
9. 8. vormittags 9^2 Uhr. Prüfung der Merkfähigkeit nach Ranschburg.
Es werden 6 Serien von je 9 Wortpaaren verwendet. Das Ergebnis ist:
Serie 1: 1.—6. 7. Ausfall, 8., 9. —; 8 : 9.
Serie 2: 1.—3. +, 4., 5. Ausfall, 6.-9. +; 7: 9.
Serie 3: 1., 2. -f-, 3. Ausfall, 4. -J-, 5. Ausfall, 6., 7. -J-, 8. Ausfall, 9. nach
Korrektur -j- (mit 0,5 bereohnet): 5,5 : 9.
Serie 4: 1. Ausfall, 2., 3. -f-, 4. Ausfall, 5. +, 6.—8. Ausfall, 9.-}-; 4:9.
Serie 5: 1.—6. -f-, 7. Ausfall, 8., 9. —|—; 8 : 9.
Serie 6: 1.—4. -j-, 5. Ausfall, 6. -|-, 7. Ausfall, 8. -(-, 9. Ausfall; 6 : 9.
Gesamtheit der richtigen Ergänzungen: 38,5 = 71,3pCt.
Bei Serie 4 Wortpaar 6 gibt er an, es zucke wieder im Kopf, weiter habe er
keine Sohmorzen. Er erklärt auf Befragen, den Versuch fortsetzen zu wollen. Am
Sohluss beschreibt er seinen Zustand näher: „Etwas Zucken im Kopf, nnd der
Kopf war angespannt dabei, aber sonst hatte ich meine Gedanken beisammen.“
Aufmerksam gemacht auf sein Versagen bei Serie 4 und die folgende vorzügliche
Leistung bei Serie 5, sagt er: „Ich bin überhaupt im allgemeinen ein zweiseitiger
Mensch, öfters bin ich eben zugänglich und öfters nicht. u
In der folgenden Nacht ist B. bis 12 Uhr sohlaflos; dann schläft er zeitweilig
in sitzender Stellung.
10. 8. Prüfung des sogenannten konservativen Gedächtnisunifanges; er hat
ohne nochmalige Erlernung die am Tage vorher gebrachten Ergänzungen noch¬
mals auf Zuruf der ersten Worte zu bringen. Es kommt eine Gesamtleistung von
78 pCt. gegen die Vortage zustande.
Dabei gibtB. an, es gehe ihm nicht besonders gut, er habe dieNacht schlecht
gesohlafen und jetzt Kopfschmerzen. Ueber seinen Zustand spricht er spontan
noch lebhaft weiter, er habe fast gar nicht gesohlafen, sei gestern Abend sehr
müde und abgespannt gewesen, habe nicht schlafen können, der Schlaf sei ihm
abhanden gekommen, hätte heute Morgen erst riohtig einschlafen können. Nach
der ersten Serie sagte er, er merke jetzt, dass die Kopfschmerzen nachgelassen
hätten; am Schluss, der Kopf sei noch etwas schwindlig, aber Schmerz empfinde
er nicht.
Von Einzelheiten ist wichtig das Ergebnis in Serie 4 und 5:
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Serie 4: 1. -j-, 2. —, 3. -j-, 4. —, 5. +, 6.-9. —; 3:9 (am Vor¬
tage 4:9).
Serie 5: 1., 2. -j-, 3.-8. —, 9. naohKorrektur2,5 : 9 (am Vortage8:9)
Es ist eine ganz auffallende inselförmige Lücke der Erinnerung
festzustellen: bei Serie 4 am Vortage sohlechte Leistung, welohe B. mit dem
„Zucken im Kopf“ begründete, dann führte in Serie 5 der Vorsatz, den Versuch
weiterzuführen, zu einer vorzüglichen Leistung, die aber nur sehr oberflächlich
haftete.
Bei den übrigen Serien zeigt sich eine verschwindend geringe Abweichung
von der Leistung des Vortages, so dass der konservative Qedächtnisumfang ohne
Ausfall nooh weit besser sein würde, als die Berechnung ohnehin ergibt.
Im Naohtbericht heisst es: Schlief ruhig bis 1 Uhr, danach stand er wieder¬
holt am Fenster und sah hinaus.
11.8. Sieht besonders blass aus; auf Befragen: sei nachts verschiedene
Male aufgewesen, habe weiter keine Beschwerden. Dass er am Fenster gestanden
hat, weiss er angeblich nicht; er sei verschiedene Male wach gewesen und auf¬
gestanden, um ein Bedürfnis zu erledigen. Aufgeregt sei ec nicht, „wüsste nichts,
nichts bekannt davon“. Auf Befragen: habe bis jetzt keinen Geschlechtsverkehr
gehabt mit einem Menschen, bis jetzt noch kein Bedürfnis dazu empfunden; habe
sich um derartige Sachen sehr wenig gekümmert. Onanie wird bestritten, habe
häufig Samenerguss des Nachts. (Träume dabei?) „Ja, meistenteils träume ich
etwas.“ ln der vorvorigen Nacht sei es passiert. (Was geträumt?) „Das weiss
ich nicht mehr.“ Könne es nicht genau sagen, sei im Unklaren darüber. Auf
Drängen: „Herr Doktor, ich weiss niohts, möchte nicht hier etwas behaupten,
was sioh nicht mit der Wahrheit vereinbaren lässt.“ Dabei muss man von seinem
Nachsinnen und seiner ganzen Mimik den Eindruck gewinnen, dass er mit seinem
Wissen zurückhält. Auf Fragen nach seinem oben angedeuteten homosexuellen
Erlebnis ist trotz energischster Anrede keine Antwort zu erzielen. Er sieht anf
seine Finger, antwortet überhaupt nichts mehr und sperrt sich derartig, dass eine
Einwirkung auf ihn überhaupt nicht mehr möglich erscheint. Wie in einer
tiefen Versunkenheit sitzt er unbeweglich zusammengekrümmt da,
einem stuporösen Kranken ähnelnd. Wird ins Einzelzimmer zurück¬
verlegt.
Nachtberioht (11.—12. 8.): Sohimpft und skandaliert im Schlaf, bringt un¬
verständliche Worte hervor.
Die Tageswachen melden am 11. und 12. nichts Auffälliges. 13. 8. Fragt,
warum er ins Einzelzimmer gekommen sei, in Gemeinschaft fühle er sich doch
viel wohler. Auf das Gespräch am 11. könne er sich nicht besinnen. Wie ihm
damals zumute gewesen, wisse er nicht, darüber könne er keine genügende Aus¬
kunft geben. Wisse nur, dass er eine Aussprache gehabt habe, aber nicht worüber.
Wenn er es gewusst hätte, so hätte er Auskunft gegeben.
Bei einem neuen Vorversuch zum Assoziationsexperiment sind die Reaktionen
im allgemeinen kurz, die Beziehungen von Reizwort zu Reaktion überwiegend
sinnvoll.
Das Assoziationsexperiment ist in der folgenden Zeit wiederholt mit ihm
vorgenommen worden, wobei bemerkenswerte Ergebnisse erzielt wurden, die weiter
unten im Zusammenhang besprochen werden sollen.
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B. wird wieder in Gemeinschaft verlegt. Sein Verhaltet wird in den Pfleger¬
berichten als geordnet bezeichnet, er erweist sich als gefällig und sehr höflich. In
der Nacht vom 15. zum 16. wird wiederholte Schlaflosigkeit gemeldet, sonst bringen
die Naohtberichte nichts Bemerkenswertes mehr, ln den weiteren Tagesberichten
ist mehrfach von ausgelassener Heiterkeit die Rede: er wirft dasTaschentuoh oder
kleine Steine in die Höhe und fängt sie geschickt wieder auf, singt leise vor sich
hin, deutet Schiebetänze an, sucht sich vom Garten aus mit einem im Einzel¬
zimmer untergebrachten Beobachtungskranken (einem hysterischen Zitterer) durch
Zeichensprache zu verständigen, lässt aber auf Verbot davon ohne weiteres ab.
Bei Explorationen kommt noch eine Anzahl wichtiger Feststellungen zutage.
20. 8. Macht heute nähere Angaben über seine sexuelle Veranlagung; da¬
nach ist er ein echter Homosexueller von femininer Artung. Zu Afterverkehr will
er nur einmal durch seinen oben angedeuteten Herrn veranlasst sein. Die Stellung
will er damals verlassen haben, weil an ihn das Ansinnen gestellt wurde, den
Geschlechtsteil des Herrn in den Mund zu führen. „Ich wäre daran gestorben. u
Erpresserneigung läge ihm ganz fern. Weiber hätten keinen Reiz für ihn. Er
verrichte gern weibliche Arbeiten, habe auch schon weibliche Kleidung getragen.
Schriftlich äussert er sich darüber auf mein Ersuchen folgendermassen:
„loh habe seit frühester Kindhoit grosse Vorliebe für Damengarderoben
empfunden. Meiner Neigung hierfür habe ich nun auoh stattgegeben, indem ioh
mir Kleidungsstücke meiner Schwestern aneignete und dieselben reservierte. Bei
günstiger Gelegenheit habe ich dieselben dann angezogen und habe mioh damit
auf offener Strasse produziert. Hierdurch wurde ioh nun allerdings der Gegen¬
stand eines Amüsements für andere Leute. Als meine Angehörigen von meinem
Treiben in Kenntnis gesetzt waren, hielten mich dieselben für nicht ganz normal.
Habe aber diesem Ausdrucke sehr wenig Aufmerksamkeit gewidmet, sondern liess
ruhig meiner Neigung ihren Lauf. Mit Entwicklung meines Körpers entwickelte
sich auch dieser Trieb in mir. Auch kann ich behaupten, als ich in dem vor¬
gerückten Knabenalter mich befand, sich zu diesem Triebe eine gewisse Leiden¬
schaft für Schmuck gesellte. Diese veranlasste mich, dass ich sehr oft uneohten
Schmuck anlegte. Hierzu fanden dann auch gewöhnlich meine damaligen geringen
ersparten Gelder Verwendung. Dadurch entstand mir manche Unannehmlichkeit
von seiten meines Vaters. Als ich nun mit der Grossstadt näher bekannt wurde,
tauchte auch dort die Sehnsucht in mir auf, mich öfters in Damenkleidung zu
produzieren. Da ich nun aber befürchtete, mit der Polizei deswegen in Konflikt
geraten zu können, so sah ioh mich notgedrungen, meine Neigung etwas im Zaum
zu halten. Dagegen suchte ich nun meine männliche Kleidung in einem weib¬
lichen Genre herzustellen. Dass ich nun auch eine gewisse Vorliebe für Hand-
täschohen und dergleichen hatte, will ich nicht in Abrede stellen; denn ich war
stets im Besitz irgendwelcher Damenportemonnaies. Ebenfalls schaffte ioh mir
auch viel Parfüm und Toilettenseife an. Das Schicksal fügte es nun, dass ich
plötzlich einen um 10 Jahre älteren Kollegen kennen lernte. Da derselbe über
dieselbe Veranlagung so ziemlich wie ich verfügte, so trat ich mit dem genannten
in einen harmonischen Verkehr. Wir unternahmen nun gemeinsam Ausflüge, be¬
suchten Theater und Konzerte, und ioh stattete demselben sehr oft einen Besuch
ab. Da derselbe über verschiedene elegante Damentoiletten und Perücken ver¬
fügte, so verkleideten wir uns gewöhnlich bei meiner dortigen Anwesenheit als
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Damen. Wir suchten uns dann die Zeit durch heiteres Plaudern, Singen und
Kokettieren zu vertreiben. Auch nahmen wir in dieser Aufmachung als imitierte
Damen der besseren Gesellschaft unseren 5 Uhr-Tee ein. Diese Sympathie für
weibliche Artikel hat sioh auoh weiter bei mir fortgepflanzt.“
22. 8. Sehr betroffen, als ich ihm Vorhalte, dass er bei etwaiger Unzu¬
rechnungsfähigkeit mit längerer Anstaltsinternierung zu rechnen hätte. Dann
ziehe er es vor, bestraft zu werden; später wolle er, sobald es ginge, nach Amerika
auswandern.
Den einen der Fälle, deretwegen Anklage erhoben ist, stellt er folgender-
maassen dar: Er habe sich plötzlich, ohne zu wissen, wie er dahin gekommen sei,
auf dem Anhalter Bahnhof befunden. Um ihn hätten Leute herumgestanden und
ein Herr hätta ihn des Diebstahls beschuldigt. In seiner Hand hätte er ein fremdes
Portemonnaie gehabt. Wie er dahin gekommen, sei ihm völlig unklar. Seine
Erinnerung reiche bis zu einem Zeitpunkt, in dem er in einem Lokal in der
Friedrichstrasse gewesen sei und dort Kartoffelpuffer gegessen habe.
An der Angelegenheit in der Strassenbahn will er völlig unbeteiligt gewesen
sein. Ein anderer Mann habe gesagt, da liege das Portemonnaie. Bewusstseins¬
trübungen habe er während der Fahrt nicht gehabt. Wenn er sich nicht un¬
schuldig gefühlt hätte, so hätte er gar nicht zur Wache mitzugehen brauchen,
sondern reichlich Gelegenheit gehabt, wegzulaufen.
25. 8. Macht- weitere Angaben über nervöse Zustände, Denksperrung und
über ein homosexuelles Erlebnis, die er wiederum schriftlich fixiert:
„Ich wurde früher öfters von Angsfzuständen heimgesucht. Diese äusserten
sich in der Weise, dass ich nach einem Schreck oder Aufregung ein grosses Angst¬
gefühl und starkes Herzklopfen bekam. Auch traten sie in der Weise auf, dass
ich öfters Gegenstände untersuchte, wo ich sehr wohl wusste, dass sie mit Sicher-
heitsmassregeln .versehen waren und ich nachher selbst einsah, dass meine Unter¬
suchung zwecklos war, ich es aber doch nicht unterlassen konnte, diese Handlung
beizubehalten. Ob sich diese Zustände fortgepflanzt haben, kann ioh nioht genau
sagen, da ich in letzter Zeit wenig davon verspürt habe“.
„Ich werde sehr oft in meinem Gedächtnis gestört. Diese Störung wird ge¬
wöhnlich dadurch hervorgerufen, dass sich mir Phantasien vorgaukeln, mit denen
ioh mich sehr oft in Gedanken beschäftige. Auch wird mein Gedächtnis durch
heftiges Zucken im Kopf gestört. Hierbei werde ich dann ganz stumpfsinnig, so
dass ich für eine Zeit nicht in der Lage bin, mich auf etwas zu besinnen. Diese
Erscheinung nehme ich sehr oft beim Lesen wahr, und hat sich dieselbe bis auf
den heutigen Tag fortgepflanzt.“ '
„loh wurde eines Abends durch starkes Klopfen an der Tür geweckt. Auf
die Frage: ,Wer ist dort? 1 erhielt ich die Aufforderung, dass ioh die Tür
schleunigst öffnen sollte. Dieser Aufforderung kam ich aber nicht nach, sondern
versuchte weiter einzuschlafen. Plötzlich sprang ich durch ein heftiges Geräusch
geweckt aus dem Bett. Hierbei vernahm ioh, dass die Scheibe über meiner Tür
zersprang. Von diesem Moment an waren meine Sinne mir völlig genommen. Am
anderen Morgen befand ioh mich in der bereits geschilderten Lage.“
Zum letzten Punkt hatte er gesagt, er habe sich bei Wiederkehr des Bewusst¬
seins neben seinem Herrn in dessen Bett befunden, der lachend geäussert hatte:
„Du hast mir das Leben gerettet“. Ferner maoht er Angaben über einen Selbst-
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mordversucb. Seine Zusage, auch darüber einen schriftlichen Berioht zu geben,
macht er nioht wahr; er habe dazu keine Veranlassung. Seine mündliche Schilde¬
rung war etwa folgende: Eines Abends habe er, über seine Veranlagung nach¬
denkend und deswegen in verzweifelter Stimmung, in der Küohe gesessen und
sohliesslich die Gashähne geöffnet. Dann habe er sich plötzlich, ohne zu wissen,
wie er dort hingekommen sei, auf dem Balkon befunden; bald sei er wieder in die
Küche zurückgegangen, habe die Hähne geschlossen und sich bis zum Bett seiner
Wirtin geschleppt, wo er umgefallen sei und sich habe übergeben müssen. Am
nächsten Tage erst habe die Wirtin, als sie von einem Ausfluge zurückkehrte, die
Verunreinigung bemerkt. Damals habe er es abgeleugnet.
Die Ergebnisse der weiteren Unterredungen können in fortlaufender Dar¬
stellung gegeben werden. Er kam immer freimütiger mit Aeusserungen über seine
homosexuelle Veranlagung heraus. Seine Neigung gehört danach kräftigen, ein¬
drucksvollen Männern, welche erheblich älter als er sein können. Sehr oft will
er auch auf den Strich gegangen sein, Afterverkehr sei aber mit der einen er¬
wähnten Ausnahme niemals für ihn in Frage gekommen. Meist scheint es sich um
mutuelle Onanie gehandelt zu haben. Aeusserungen seiner Veranlagung reichen
weit in das Jugendalter zurück.
Bei einer Besprechung über die Herkunft seiner sogenannten Ersparnisse
suche ich ihm rechnerisch klar zu machen, dass er bei 40—50 Mark monatlich
unter Anrechung reiohlicher Trinkgelder kaum die beschlagnahmte Summe einge-
nommen haben könnte, gesohweige denn Ausgaben für Garderobe u. dgl. bestreiten.
Er weist nach langem Zögern auf Einnahmen durch homosexuelle Angebote hin,
welohe ihm oft wertvollen Schmuck eingebracht hätten, sowie auf denVerkauf von
Gebrauchsgegenständen im Strasseqhandel.
Da es naheliegt, dass er später sioh einmal als' Hochstapler betätigt, bringe
ich das Gespräch auf seine etwaige Veranlagung dazu. Er wies das erste Mal
solche Gedanken weit von sich, und zwar in bestimmtem Tone. Später kam er
aber von selber darauf zurück und gab zu, sich mit solchen Ideen bereits befasst
zu haben. Er bat um einen Rat, wie er davor geschützt werden könnte. Auch
von seiner abnormen Sexualität möchte er befreit werden. Am Tage vor seiner
Rückführung in die Haft sagte er mir nooh in der letzten Aussprache, er möchte
nur dazu gelangen, ein Weib zu befriedigen, um später heiraten zu können.
Beiläufig erwähnte er einmal, dass er nie eine Waffe in der Hand gehabt
habe und vor dem Waffengebrauch Abscheu habe.
Es bleibt nun nooh eine Besprechung der Ergebnisse der Asso¬
ziationsexperimente übrig. Von einer Mitteilung des sehr umfang¬
reichen Materials möchte ich absehen und nur das psychologisch
Bemerkenswerte bringen.
Die Handhabung des Experiments ist oben schon kurz angegeben.
Es wird dem Kranken ein Reizwort zugerufen, auf das er mit der
nächsten sprachlichen Aeusserung zu reagieren hat. Er soll das
Nächste bringen, was ihm einfällt. Ein sinnvoller Zusammenhang
wird in der Instruktion nicht verlangt, und dass ein solcher in der
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Dämmerzustände eines homosexuellen Neurotikers.
239
Regel ohne weiteres angestrebt wird, ist ein allgemeiner Ausdruck
der Tendenz, die auf uns einwirkenden Reize ihrer Bedeutung nach
zu verstehen und dementsprechend auf sie zu reagieren. Es kommen
nun Reaktionen zustande, welche uns über die verschiedensten Re¬
gungen, Interessen, Gefühle, Wünsche usw. der Versuchsperson Auf¬
schluss geben. Dazu ist es erforderlich, durch bestimmte Kennzeichen
das subjektive Erleben während des Einzelversuchs sich zu vergegen¬
wärtigen. Wir messen die Reaktionszeit — es genügt eine Bestim¬
mung nach Fünftelsekunden —, geben eine möglichst naturalistische
Darstellung des Sprechvorgangs sowie der begleitenden Ausdrucks¬
bewegungen, stellen die Beziehungen jeder Reaktion zum Reizwort,
zu früheren Reaktionen oder Reizworten und zu Momenten dar, welche
ausserhalb der Versuchsreihe liegen, und prüfen schliesslich, ob die
Reaktion nach einer bestimmten Anzahl weiterer Reaktionen noch
haftet. Wir wiederholen also nach einer Reihe von Einzel versuchen —
im vorliegenden Falle wurden 50—100 Einzelversuche gemacht —
die alten Reizwörter, dieses Mal mit der Instruktion, die vorigen
Reaktionen, soweit erinnerlich, nochmals zu bringen. Ein Ausfall der
Erinnerung oder ein Gedächtnisfehler deutet sehr oft an, dass in der
Reaktion besondere Erlebnismomente aktuell gewesen sind.
1. 16. 8. 19. 50 Versuche. Beginn 11 Uhr, Schluss 11 Uhr 23 Min.
Fast durchweg sinnvoller Zusammenhang zwischen Reizwort und Reaktion;
Ausnahmen:
Trieb „Tisch“ (nach 7,8", während im übrigen die Zeitmittelwerte 1,2 bis
1,8" betragen); Reproduktion: „Veranlassung“ (12"); bei der Reproduktion beob¬
achtet, dass er mit der Zunge dauernd in den rechten Mundwinkel stösst; starke
Ablenkung mit Erregung, dann Verlegenheitsreaktion, die bei Reproduktion völlig
ausgeschaltet ist; auch der ganze ursprüngliche Vorgang ist ihm entfallen, und er
bildet mit grosser Anstrengung eine angemessene Assoziation, deren Reproduk-
tionscharakter ihm nicht sehr wahrscheinlich ist.
Entschluss: Es erfolgt überhaupt keine Reaktion; Reproduktion: „gefasst“;
völlige Leere, Sperrung,Zustand, der in der Reproduktion nioht mehr erinnert wird.
Die Reproduktion ist ausser in den beiden angeführten in 3 weiteren Ver¬
suchen gestört:
Kalt „Wand“; Reproduktion: „Wasser“; es kommt eine speziellere Vor¬
stellung, unterstützt durch klangassoziative Verwandtschaft zum Vorschein. Die
Reproduktionsstörung lässt Ablenkung, vielleioht infolge Gefühlsbetonung ver¬
muten; man kann daran denken, dass die Vorstellung „Gefängnis“ vorsohwebte.
Süss „bitter“, Reproduktion: „sauer, nicht?“ Kontrastassoziation, in der die
vorige Assoziation (duftig—schön) nachwirken' mag, was bei der Reproduktion
fortfällt infolge der stärkeren Anspannung. Es ist aber auoh denkbar, dass für ihn
nabeliegende sexuelle Vorstellungen störend, aufgetreten waren.
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240
Max Margulies,
Ruhig „au . . . aufgeregt“ (2,6"); Reproduktion: „weiss ich nicht“; Kon¬
trast, schwere Wortfindung und Erschwerung des motorischen Sprechvorganges;
zusammen mit Reproduktionsstörung Zeichen besonderer Gefühlsbetonung, viel¬
leicht ein Fortspinnen eines durch die vorige Assoziation (Gesundheit—Krankheit)
geweckten Erlebnisses.
Das Experiment, in welchem die reine Gedächtnisleistung sich wiederum als
eine hoohstehende erweist, bringt als besonders merkwürdige Momente das
völlige Vergessen von Sperrungen, welche nach den Reizwörtern „Trieb“
und „Entschluss“ auftraten, und da diese Wörter verwandte Begriffe darstellen,
ist es wahrscheinlich, dass durch sie Erlebnisse angeregt wurden, welohem er
duroh Worte keinen adäquaten Ausdruck verleihen konnte oder deren Wiedergabe
sich für ihn au* irgend einem Grunde verbot. '
2. 18. 8. 1919, 100 Versuche. Beginn 11 Uhr 16Min., Schluss llUhr54Min.
In dieser Reihe befinden sich eine beträchtliche Anzahl von Reaktionen,
welche keinen sinnvollen Zusammenhang mit dem Reizwort aufweisen. Auf ihre
Mitteilung muss wegen Raummangels verzichtet werden.
Es interessieren ferner diejenigen Reaktionen, welohe nioht reproduziert
werden können 1 ).
Dunkel „Bild“ (1,0): Reproduktion: „hell“ (1,2) . . . Manege? . . .
„weiss ich nicht“. Es ist eine oberflächliche Wortergänzung anzunehmen; man
sucht in so einem Falle die Ursache der Oberflächlichkeit in einer vorhergehenden
Verbindung, welche ein intensiveres Erleben zum Ausdruok brachte und durch
ihre Nachwirkung eine geringe Sperrung verursachte; erst diese Sperrung zeigt
dann unter Umständen das yorausgehende Erlebnis an. Die vorige Assoziation
war: glatt—schmal (1,2); Reproduktion erfolgte richtig nach 2,4 unter sichtlichem
Nachdenken. Es ist eine fernliegendeVerbindung, bei der man sich aber sehr wohl
eine Bewusstheit von etwas Zusammengehörigem als begleitendes Erlebnis vor¬
stellen kann; wenn dieses Erlebnis so stark ist, dass es noch die nächste Reaktion
beeinflusst, darf man nach zahlreichen Erfahrungen an eine sexuelle Bedeutung
der Verbindung denken und dürfte da verschiedene Anknüpfungsmöglichkeiten
finden.
Liebe „platonisoh“ (2,4); Reproduktion: „Weib“ (2,0) . . . „plato¬
nisch“ (sehr eifrig). Die Reaktion scheint durch Ueberlegung gefunden und mit
einem Erleben verbunden zu sein, dem er frei gegenübersteht; die Reproduktion
bringt zunächst eine geläufige Verbindung, dann wird, von angenehmen Gefühls¬
tönen begleitet, der ursprüngliche Zustand wieder erweckt.
Sünder „Knabe“ (3,0); Reproduktion: „böse, nioht?“ (2,4) . . . „weiss ich
nicht.“ Die Reaktion steht im Zusammenhang mit den beiden ihr vorausgehenden:
Mädchen—Knabe, Reproduktion richtig, und Traum—Nacht, Reproduktion s. o.;
die Reaktion ist durch Haftenbleiben entstanden, wobei aller Wahrscheinlichkeit
nach ein innerer Zusammenhang mit vorsohwebte; es dürfte sich eine für ihn be¬
deutsame Assoziation: Knabe—Traum—Sünder gebildet haben, welche eine Ab¬
lenkung bedingte und das Haften der zufällig gewählten Reaktion beeinträchtigte.
1) Auch diese sind wegen Raummangels nicht vollständig mitgeteilt. Eine
ausführliche Analyse der Versuche wird für eine andere Gelegenheit Vorbehalten.
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Dämmerzustände eines homosexuellen Neurotikers.
241
Fest „lang“ (1,6); Reproduktion: „schmal (3,6) . . . oder . . . weiss ich
nicht.“ Ein Einfluss vorhergehender Reaktionen ist hier nicht erkennbar, die Re¬
produktionsstörung macht aber bei der auffälligen Reaktion — „fest—lang“ ist
keine naheliegende Verbindung — nicht den Eindruck eines zufälligen Versagens
des Gedächtnisses. Obpn war die Verbindung „glatt—schmal“ als ungewöhnlich
gekennzeichnet und die Möglichkeit sexueller Nebenvorstellungen angenommen
worden; die jetzige Verbindung kann in der gleiohen Richtung verwertet werden.
Hart „weich“ (7,0") nach langem mimisch sehr ausgeprägtem Nachdenken;
Reproduktion: „das weiss ich nicht“.
Schwarz „Farbe“ (6,4"!); Reproduktion: „blau, nicht? . . . weiss (1,4")
. . . dann weiss ich nicht“. ,
Wunsch „gut“ (1,4"); Reproduktion: „weiss ich nicht“. Drei aufeinander¬
folgende Reproduktionsstörungen'; vorhergehende Reaktion: Gesundheit—Krankheit
kann sehr wohl besondere Erlebnisse angeregt haben; schon in den beiden ersten
Reaktionen sind Hemmungen durch die sehr langen Reaktionszeiten merklioh. Es
fallt aber auf, dass ebenso wie bei dem sinnverwandten „fest“ jetzt boi „hart“
Störungen auftreten, ebenso ist bei einem späteren Versuche die Reaktion
„schwarz“ vergessen; daher muss an eine besondere Wirksamkeit des Inhalts der
Reizworte gedacht werden, und da liegen Vorstellungen von Fäkalien nahe; ohne
die Homosexualität des B. zu kennen, würde man demnach durch die Assozia¬
tionen darauf gebracht werden. (
Recht „gut“ (2,6"); Reproduktion: „das weiss ioh nicht“. Vorhergehende
Reaktion: Knabe—Mädchen, deren Nachwirkung jetzt verständlich sein dürfte.
Spitz „Kante“ (2,0"); Reproduktion: „Sultan, nicht? (8,8") . . . weiss
ioh nicht . . . Konstantinopel? . . '. weiss ich nicht“.
Kinder „Knaben“ (2,2"); Reproduktion: „das weiss ioh nicht“. Zwei auf¬
einanderfolgende Reproduktionsstörungen, deren erste sich nicht zwanglos be¬
gründen lässt, während die zweite den homosexuellen Komplex bestätigt.
Weich „hart“ (1,0"); Reproduktion: „das weiss ich nicht“. Die besondere
Bedeutung der Ausdrücke „fest“ und „hart“ bestätigt sich.
Wunder „Bank“ (5,6"), nach geringfügigen Schulterbewegungen; Repro¬
duktion: „das weiss ich nicht“.
' Verfolgung „Räuber“ (1,4"); Reproduktion: „das weiss ich nicht“ (4,1"),
■dann sehr eifrig richtig.
Blau „schwarz“ (1,8"); Reproduktion: „das weiss ich nicht“.
Knospe „Blüte“ (1,2"); Reproduktion: „das weiss ich nicht“. Eine Lücke
in 4 aufeinanderfolgenden Reproduktionen; die vorausgehende Assoziation
„schön—Augen“ kann durch Eigenbeziehung mit sexuellem Beiklang sehr wohl
eine starke Ablenkung bedingt haben. „Bank“ ist eine ausgesprochene Verlegen¬
heitsreaktion. „Räuber“ wird nach langer Hemmung schliesslich gefunden; es
mag ihm ein Vorgang, den er gelegentlich erzählt hatte, vorgeschwebt haben: er
hatte sich angeblich, nachts mit der Bahn naoh Berlin gekommen, auf eine Bank
„Unter den Linden“ gesetzt, war eingeschlafen und fand beim Erwachen sein
ganzes Geld geraubt; das Wort „schwarz“ scheint, wie oben erwähnt, für ihn
eine besondere Bedeutung zu haben. Durch eine verdichtete Nachwirkung aller
Yierteljahrssohriftf. ger. Med. o. öff. San.-Wesen. 3. Folge. Bd. 60. H. 2. i g
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3 ~
242 Max Margulies,
dieser Erlebnisse ist aller Wabrsoheinlichkeit nach die Assoziation „Knospe—
Blüte" ausgeschaltet.
Die beiden letzten Versuchsreihen bringen keine neuen Ergebnisse, we-che
für den vorliegenden Zweck belangreich sind. Interessant ist die am 4. 9. ge¬
brachte Verbindung „Wohltat—Frau“, welche bei der Reproduktion ausgesohaltet
ist; am folgenden Tage sagte er spontan, er wolle nur dazu gelangen, mit einer
Frau verkehren zu können. Hier zeigt es sich, mit welcher Feinheit die Versuche
sein Innenleben aufzeigen.
Nach dem Aktenstudium war es allein keineswegs zu ver¬
muten, dass die Straftaten in einem die freie Willensbestiramung aus-
schliessenden Zustande begangen worden waren. In dem einen Falle
hatte B. sofort ein Geständnis abgelegt, in dem anderen, in welchem
er sich herauszureden suchte, war er durch übereinstimmende Zeugen¬
aussagen schwer belastet. Das erste Moment, welches die psychi¬
atrische Untersuchung wünschenswert erscheinen liess, lag in der
Tatsache, dass B., bevor er jemals kriminell geworden ist, in
zwei Irrenanstalten interniert war. Ein zweiter Punkt, welcher auf¬
merken liess, war sein Verhalten bei dem an der Frau des Schutz¬
manns N. begangenen Taschendiebstahl; B. war wenige Tage vorher
wegen schwerer Unterernährung aus der Strafhaft entlassen. Er be¬
hauptete, von seiner Handlung nichts zu wissen. Bei der Vernehmung
vor dem Amtsgericht heisst es: Der Beschuldigte erklärte nichts,
sondern hielt beständig die Hand an den Mund und gab, abgesehen
von der Nennung seines Namens Beglio, keine Antwort. — Unter¬
schrift verweigert.
Machen wir uns ein anschauliches Bild von dem Vorgang, so
dürften wir dazu kommen, nicht eine aktive Verweigerung der Unter¬
schrift anzunehmen, sondern einen Zustand von Sperrung, in dem B.
nicht zu bewegen war, irgendwelche Aufforderungen auszuführen. Im
Zusammenhang des Ganzen ist die Entstehung dieser Störung durch
seelisch erregende Momente wahrscheinlich; sie wäre demnach als
„emotioneller Stupor“ aufzufassen.
Es ist nun auffällig, dass gerade in dieser Strafsache die Frage
nach einer krankhaften Störung der Geistestätigkeit garnicht auf¬
geworfen wurde. Jedoch war sie in dem voraufgehenden Urteil der
5. Strafkammer eingehend erwogen worden. Hier wird angeführt,
dass er selber sich als wiederhergestellt bezeichnet habe. Trotz seiner
Behandlung in Irrenanstalten ist er also garnicht auf den Gedanken
gekommen, in einer geistigen Störung seine Entlastung zu suchen.
Dementsprechend wird auch von auffälligem Benehmen in der Straf-
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Dämmerzustände eines homosexuellen Neurotikers.
243
haft nichts berichtet, und auch in der jetzigen Untersuchungshaft hat
er spontan keine Abweichungen gezeigt.
Sehr bedauerlich ist der Umstand, dass die Krankheitsgeschichten
aus, A. und L. nicht zu erlangen waren. Die Krankheit ist in A.
als Dementia praecox bezeichnet worden; dieses summarische Urteil
ist für unseren Zweck unzureichend. Wichtig wäre eine Kenntnis der
Erscheinungen, welche zu seiner Einlieferung führten, und die Mit¬
teilung des Krankheitsverlaufs. Die Ergebnisse der eigenen Beob¬
achtung müssen nach Möglichkeit die Lücke ergänzen und gegebenen¬
falls zu einer kritischen Beleuchtung der Diagnose führen. Fest¬
stehen dürfte, dass mit seiner Entlassung aus L. dort seine straf¬
rechtliche Verantwortlichkeit vorausgesetzt wurde.
Die körperliche Untersuchung hat einiges Bemerkenswerte er¬
geben insofern, als er sich als ausgesprochen schwächlicher Mensch
erwiesen hat mit grossem hydrozephalischem Schädel und ungleich-
mässiger Entwicklung beider Gesichts- und Schädelhälften. Das kann
durch Störungen während des Geburtsakts verursacht sein, und dem
entspricht seine Angabe im Lebenslauf, dass seine Mutter bei seiner
Geburt gestorben sei. Von funktionell-nervösen Symptomen ist die
besonders starke Steigerung der Sehnenreflexe hervorzuheben, während
im. übrigen diese Symptome auffallend spärlich sind. In seinem Be¬
nehmen war er im allgemeinen geordnet, und man konnte ihm nicht
vorwerfen, dass er darauf bedacht gewesen wäre, krankhafte Züge
geflissentlich hervorzukehren. Soweit solche sich spontan äusserten,
seien sie in folgendem nacheinander aufgeführt: Bei seiner ersten
Unterredung mit ihm am 30. 7. trat scheues Wesen und ausser-
* ordentliche Schwerbesinnlichkeit hervor; obwohl ich ihn wenige Tage
vorher in die Anstalt aufgenommen hatte, erkannte er mich nicht
wieder, schien überhaupt an die Einzelheiten der Aufnahme, bei der
er äusserlich geordnet war, keine rechte Erinnerung zu haben. Am
nächsten Tage kam ein auffälliges Versagen bei einer Rechenaufgabe
und bei einer leichten Gedächtnisprüfung' vor, Dinge, welche ihn in
ehrliche Missstimmung versetzten. Wie weitere Untersuchungen er¬
gaben, war das Versagen durch die augenblickliche Disposition be¬
dingt gewesen; es waren Erscheinungen, wie man sie bei Haftpsychosen
findet, dort allerdings viel ausgesprochener und ohne die hier so deut¬
liche Tendenz zu ihrer Ueberwindung. Ein ausgesprochen stuporöser
Zustand war dann in der Untersuchung vom 11. 8. aufgetreten, als
ich ihn zum ersten Mal ausführlicher über seine Sexualität befragte.
16 *
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244
Max Margulies,
An diesen Zustand, der zunächst als aktive Sperrung imponierte, be¬
hauptete er später, gar keine Erinnerung zu haben, was an und für
sich unwahrscheinlich, aber im Zusammenhang mit anderen Fest¬
stellungen nicht auszuschliessen war.
Solch ein Moment war die wiederholte Erregung während der
Nächte, von denen er im wachen Zustande nichts wusste. Diese
Erregungen sind mehrfach nach verstimmenden Erlebnissen am Tage
vorher vorgekommen, so nach der ihn in starken Affekt versetzenden
Insuffizienz beim Rechnen und nach dem stuporösen Gebahren am
II. 8. An seine Amnesie für diese Vorgänge konnte man unbedingt
glauben, und ihr innerer Zusammenhang mit erregenden Ereignissen
war von vornherein sehr wahrscheinlich.
Damit sind die spontanen Aeusserungen einer krankhaften Ver¬
anlagung erschöpft. Sie bieten im Zusammenhang das Bild einer
nervös labilen Persönlichkeit, welche auf unangenehme Eindrücke
ausserordentlich stark reagiert, so dass Bewusstseinstrübungen auf-
treten, welche sich ija starrer Abschliessung gegen die Vorgänge
der nächsten Umgebung äussem. Welche tieferen Ursachen diese
Veranlagung hat, darüber mussten besondere Untersuchungen auf¬
klären.
In erster Reihe waren seine eigenen Angaben dazu heranzuziehen.
Er hat von früher Jugend an phantastische Pläne gehabt, für deren
Wahrmachung ihm jede Fähigkeit gebrach. Bei seinem ersten Ver¬
such als Kaufmannslehrling scheiterte er, obwohl es ihm an Intelligenz
allem Anschein nach nicht gefehlt haben dürfte. Dann erst begann
seine Laufbahn als herrschaftlicher Diener, welche ihm zusagte, wobei
seine abnorme geschlechtliche Veranlagung eine wesentliche Rolle .
spielte. Ueber die Erkrankung, welche zu seiner Internierung führte,
wusste er nichts anzugeben. Auf dem Transport zum Truppenteil
erinnerte er sich, Köln und Berge hinter Köln gesehen zu haben; von
da an sei jede Erinnerung entschwunden. Man muss danach an einen
Dämmerzustand denken uud an der Diagnose „Dementia praecox“
Zweifel hegen. Aus seiner frühen Kindheit weiss er über einen Zu¬
stand von Bewusstlosigkeit zu berichten, in welchem er „scheintot“
war. Er will ferner abends vor dem Einschlafen Stimmen hören;
sehr interessant ist der von ihm geschilderte Zustand während der
Untersuchungshaft. Sehr ausführliche Angaben hat er über seine
Kopfschmerzen gemacht. Ebenso hat er sich über Angstzustände
und Störungen des Gedächtnisses geäussert, welche nach seiner
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Dämmerzustände eines homosexuellen Neurotikers.
245
Schilderung durch Ablenkung infolge phantastischer fortgesponnener
Einfälle zustande kommen sollen. Das Wichtigste, was seine Per¬
sönlichkeit in ganz neuartiger Weise beleuchtet, sind seine Angaben
über seine abnorme sexuelle Veranlagung. Ob alle Einzelheiten
stimmen, ist dabei belanglos; das Wesentliche — seine feminine
Artung und ihre Aeusserung in sexuellen Akten — ist sicher zu¬
treffend. Davon überzeugt bereits seine mit allgemeinen Erfahrungen
übereinstimmende Darstellungsweis^, und zum Ueberfluss bringen die
Assoziationsversuche Resultate, welche, seiner Willkür durchaus ent¬
zogen, ohne weiteres einen 'Solchen Verdacht erwecken würden, .wie
ich bei der Besprechung der Versuche mich zu zeigen bemüht habe.
Er ist zweifellos ein unglücklicher Mensch, auf dem das Bewusstsein
seiner Abnormität schwer lastet, so dass es ihn schon vor Jahren zu
einem allerdings schwächlichen Selbstmordversuch getrieben hat. Dass
er nun, von mir etwas angeregt, versuchte, seine Diebstähle, welche
ja, soweit nachgewiesen, lediglich auf Damenportemonnaies gingen,
mit seiner femininen Veranlagung in einen psychologischen Zusammen¬
hang zu bringen, war verständlich, aber bei dem Mangel jeder Zwangs¬
empfindung entschieden gesucht und nicht ausreichend zu begründen.
Eine symbolisierende Umdeutung der Diebstähle scheint mir gerade
bei B., der über sein Innenleben ausserordentlich klare Angaben
machte, besonders wenig angebracht.
In zweiter Linie sind die Ergebnisse der feineren experimentellen
Untersuchungen heranzuziehen. In der ausführlichen ‘ Gedächtnis¬
prüfung nach Ran sch bürg zeigte sich bei einer sonst besonders
guten Gesamtleistung eine inselförmige grössere Lücke, allem An¬
schein nach durch plötzlich auftretende Kopfschmerzen bedingt; eine
Durchsicht des zur Verwendung gelangten Wortematerials zeigt, dass
die Lücke nach Wortpaar „Weib-Liebe“ einsetzte, so dass auch eine
inhaltlich verursachte Ablenkung angenommen werden kann. Solche
Ablenkungen hat das Assoziationsexperiment in grosser Zahl zum
Vorschein gebracht mit dem Erfolg von Reproduktionsstörungen und
Beeinflussung der einer solchen Ablenkung folgenden Reaktionen; der
Einfluss sexueller Vorstellungen war dabei vielfach durchsichtig. Dass
solche Lücken mit den von ihm geschilderten Bewusstseinsstörungen
eine innere Verwandtschaft aufweisen, ist ja naheliegend, und das
Zustandekommen von Bewusstseinstrübungen durch Versinken in traum¬
haft aufsteigende Vorstellungsreihen, wie er sie schildert, hat danach
grosse Wahrscheinlichkeit für sich.
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246 Max Margulies, Dämmerzustände eines homosexuellen Neurotikers.
Das führt weiter dazu, dass wir in Uebereinstimmung mit seinen
Anssagen die Erkrankung, welche zu seiner Internierung führte, als
einen Dämmerzustand und nicht als Dementia praecox auffassen; es
mag sich um einen stuporösen Zustand gehandelt haben, wie er einmal
auch während einer Untersuchung beobachtet wurde, und da lag die
Annahme einer Dementia praecox sehr nahe. Nun ist aber das
Charakteristische solcher stuporösen Zustände im Verlauf der Dementia
praecox gerade die oft peinlich genaue Erinnerung an das, was während
dieser scheinbar tiefsten Versunkenheit in der Umgebung vorgegangen
ist. Wenn mit guten Gründen anzunehmen ist, dass eine solche Er¬
innerung völlig fehlt, so ist die Diagnose eines Dämmerzustandes die
gegebene. Solche Dämmerzustände sind bei ihm die Folge starker
und peinlicher äusserer Eindrücke oder des Fortspinnens erregender
innerer Erlebnisse. Eine organische Grundlage ist für sie also nicht
notwendigerweise heranzuziehen, wenn auch die oben angeführte ab¬
norme Schädelbildung eine gewisse Disposition dazu anzeigen mag.
Die entscheidende Frage für das Gutachten war jetzt, ob zur Zeit
der der Anklage zugrunde liegenden Handlungen solche Dämmer¬
zustände Vorgelegen und die freie Willensbestimmung ausgeschlossen
hatten. Hierbei war man ganz auf die Angaben des Angeklagten
angewiesen. Nun war das, was er über seinen Bewusstseinszustand
während des Vorgangs am Anhalter Bahnhof aussagte, die typische
Darstellung einer Lücke im wachen Bewusstsein; er hatte eine genaue
Vorstellung von dem, was bis zu einem bestimmten Zeitpunkt vor¬
gegangen war, und kam zur Besinnung, indem er sich überraschend
in einer neuen Umgebung fand. Sehr charakteristisch war es auch,
dass sich ihm die Situation unmittelbar nach dem Erwachen besonders
lebhaft eingeprägt hatte. Befremdend wirkte sein sofortiges und
wenige Tage später wiederholtes Geständnis gerade in diesem Falle.
Es konnte aber zwanglos mit der Willenlosigkeit und Erschöpfung,
wie sie solchen Dämmerzuständen zu folgen pflegen, erklärt werden,
dass er seine Bewusstlosigkeit während der Begehung der Tat nicht
sofort energisch geltend machte; es war ihm ja voll bewusst ge¬
worden, dass er einwandfrei überführt worden war. Somit musste
mit grosser Wahrscheinlichkeit angenommen werden, dass diese Tat
im Dämmerzustände begangen worden war.
Für das andere Vergehen, dessen Schauplatz die Plattform einer
Strassenbahn war, lag keine Ursache zu einer solchen Annahme vor.
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XVII.
Die forensische Bedeutung der Gehirnarteriosklerose.
Von
Dr. med. W. Knape,
Kreisarzt in Johannisburg (Ostpr.).
(Schluss.)
Differentialdiagnostisch kommt im Beginn der Erkrankung einmal die Neur¬
asthenie in Betracht und dann vor allem auch die progressive Paralyse. Bei der
Neurasthenie werden wir bei Erhebung der Vorgeschichte meist immer auf das un¬
mittelbar vorhergehende Moment der Erschöpfung als auf eine wesentliche Krank¬
heitsursache hingewiesen, während das arteriosklerotische Leiden diese ursächliche
Klärung meist nicht findet. Eine Steigerung des Blutdrucks pflegen wir bei der
Neurasthenie nur vorübergehend nach körperlichen und psyohischen Leistungen
zu sehen, die bei eintretender Ruhe zur Norm abklingt; anders beim Arterio-
sklerotiker, wo diese Steigerung konstant ist. Doch müssen wir bekennen, dass
nicht in jedem Falle eine sichere Scheidung zwischen Neurasthenie und beginnen¬
der Hirnarteriosklerose möglich ist. Um so sorgfältiger sollte aus diesem Grunde
bei Kranken jenseits des 40. Lebensjahres die Untersuchung auf das Bestehen von
Herderscheinungen achten, die gegenüber den diffusen funktionellen Störungen
der Neurasthenie ausschlaggebende Unterscheidungsmerkmale sind. Der Verdaoht
der Paralyse wird am sichersten durch die Wassermannsche Blutuntersuchung und
zytologische Untersuchung des Lumbalpunktates geklärt.
Bei den späteren, schwereren Krankheitszuständen haben wir differential-
diagnostisch den Greisenblödsinn, die atypische Paralyse sowie die Hirnlues zu
berücksichtigen. Die senile und die paralytische Geistesstörung unterscheiden
sich durch den diffusen Charakter ihrer Symptome von der arteriosklerotischen
Erkrankung. Die Verblödung und die Charakterveränderung ist dort eine all¬
gemeine und tiefergehende; das Fehlen der Krankheitseinsicht, stark betonte de¬
pressive und exaltive Affekte sowie Wahnbildungen zeigen den senil-dementen
oder paralytischen Kranken in einem traumhaften, dämmerhaften Zustand, der sich
gegenüber den isolierten psychischen Ausfallerscheinungen und der Krankheits¬
einsicht des arteriosklerotischen Kranken deutlich abhebt. Auch bei der anato¬
mischen Diagnose ist die diffuse. Erkrankung des Hirns, wo der Degenerations¬
prozess allgemein, wenn auch in verschieden starkem Grade, das ganze Hirn be¬
trifft, für die Paralyse und die senile Atrophie ausschlaggebend gegenüber dem
durch den Gefässverlauf angezeigten herdförmigen Ausfall von Ganglienzellen und
Markfasern und herdförmigen Vermehrung der Glia bei der Arteriosklerose. Als
sicherstes diagnostisches Hilfsmittel gegenüber der Paralyse und der Lues cerebri
bietet sich auch in den späteren Stadien die Wassermannsche Blutuntersuchung
in Verbindung mit der zytologischen und serologischen Untersuchung des Lumbal-
punktats. Eine deutliche Lymphozytose in dem Liquor findet sich bei derZerebral-
arteriosklerose nicht, ihr Nachweis spricht also für eine syphilitische oder meta¬
syphilitische Erkrankung des Nervensystems. Nicht allzu selten begegnet man bei
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248
W. Knape,
der Hirnarteriosklerose Fällen, welche wegen der Eigenart ihrer Herdsymptome
den Verdacht auf Hirntumor nahelegen. Ich erinnere mich, als Anatom mehrere
Fälle gesehen zu haben, wo auf Grund fachärztlicher Untersuchung wegen Tumor-
Verdachtes die Neisser-Pollaoksche Hirnpunktion vorgenommen wurde. Die Unter¬
suchung der Punktionspartikelchen, welche lediglich Blutpigment ergab, und die
in einigen Fällen später vorgenommene Obduktion klärten die arteriosklerotische
Genese in diesen Fällen auf. Bei solch zweifelhaften Kfankheitszuständen wurde
eine Stauungspapille im Augenhintergrund, ein erhöhter Druck der Zerebrospinal¬
flüssigkeit sowie langsam zunehmende Lahmungserscbeinungen eng zusammen-
liegenderZentren und Bahnen für die WahrscheinlichkeitsdiagnoseTumor sprechen,
während höheres Alter des Kranken, das Hervortreten psychischer Störungen
und multilokulärer Herdsymptome mehr auf eine arteriosklerotische Ursache hin¬
deuten.
Nach diesen Ausführungen über die Pathologie und über den Nachweis der
Arteriosklerose der Hirngefässe Stehen wir nunmehr vor der Aufgabe, die diesem
Krankheitszustand zuzumessende Bedeutung in foro zu erläutern. Die bisherige
Erfahrung ergab, dass das Schwergewicht in der gerichtsärztlichen Beurteilung
dieser Kranken auf dem Gebiete des Zivilrechts liegt; eine nicht unwesentliche
Rolle spielt die zerebrale Arteriosklerose aber auch auf dem Gebiete des Straf-
reohts. Im strafrechtlichen Verfahren können derartige Kranke sowohl als Täter
der strafbaren Handlung wie auch als der durch das Delikt geschädigte Teil der
Gegenstand gerichtsärztlicher Begutachtung werden. Als Täter einer strafbaren
Handlung kommt der arteriosklerotische Kranke besonders im Beginn der Er¬
krankung in Frage. Die starke Labilität der Affekte, die krankhaft gesteigerte
Reizbarkeit bringen ihn nicht selten in Konflikt mit dem Strafrecht. Beleidigung
und Körperverletzung sehen wir als Folgen der krankhaften Erregbarkeit dieser
Kranken, welche in ihrer sinnlosen Wut selbst ihre nächsten Angehörigen mit
ihren Angriffen nicht verschonen. Besonders unter der Einwirkung alkoholischer
Getränke kommt es infolge der Intoleranz zu Handlungen, welche der Kranke
ebenso schnell, wie die Erregung abklingt, bitter bereut. Die krankhaft gesteigerte
Ermüdbarkeit und Vergesslichkeit führt zu Klagen wegen Vernachlässigung des
Dienstes, zu Fahrlässigkeitsdelikten, zu Anklagen wegen Urkundenfälschung und
Unterschlagung. So teilt Albrecht (24) zwei Fälle ausführlich mit, in denen
gegen bis dahin als zuverlässig geltende Steuerbeamte wegen nicht rechtzeitiger
Ablieferung von Steuergeldern die Anklage auf Unterschlagung erhoben wurde.
Bei beiden Angeklagten wurden typische Krankheitssymptome der Hirnarterio¬
sklerose festgestellt und die gerichtliche Untersuchung rechtfertigte die Annahme,
dass in beiden Fällen das Vergehen eine Folge der Krankheit sei.
Aehnlicb wie bei der senilen Geistesstörung werden auch bei der arterio¬
sklerotischen Hirnerkrankung nicht selten Delikte gegen die Sittlichkeit beobachtet;
zuweilen in einem Stadium der Krankheit, wo anderweitig keine ausgesprochenen
krankhaften Mängel des Seelenlebens vorhanden sind, Fälle, in denen die An¬
nahme besteht, dass der ethische Defekt dem intellektuellen Verfalle vorangeht.
Während Leppmann (42) die Hauptursache der Sexualverbrechen im späteren
Lebensalter auf eine krankhafte Steigerung des Geschleohtstriebes mit Verkehrung
der Triebrichtung sieht, nehmen Hofmann (43), Zingerle (11) u. a. an, dass es
der Ausfall psychischer Hemmungen, das Fehlen von Gegenvorstellungen ist, was
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Die forensische Bedeutung der Gehirnarteriosklerose. 249
aus dem sinnlichen Triebe Handlungen entstehen lässt, die den Täter mit dem
Strafgesetz in Konflikt bringen. So sehen wir nicht selten einen bis dahin un¬
bescholtenen, von seinen Mitbürgern geachteten Mann nach anscheinend glück¬
lichem Familienleben plötzlich wegen Notzucht oder wegen Schändung ünter An¬
klage vor Gericht stehen. Bei der Analyse des Sittliohkeitsverbrechens fand
Leppmann, dass die Häufigkeit derartiger Delikte in Beziehung steht zu der
Umgebung des Rechtsbrechers, je nachdem sie mehr oder weniger verführend
wirkt. Dieses Moment kann durch Amt und Stellung des Täters gegeben sein,
sein, wenn die angegriffene Person ihm untergeben oder sonst von ihm abhängig
ist. Die autoritative Stellung des Lehrers, des Geistlichen, des Arbeitsgebers wird
aus diesem Grunde das Sittlichkeitsverbrechen auch bei arteriosklerotischen Kranken
in diesen Berufen häufiger beobachten lassen als in anderen Berufen.
Bei dem schleichenden Verlauf der Krankheit, dem häufigen Wechsel der
Intensität der Krankheitserscheinungen ist es für den Gerichtsarzt oft nicht leicht,
zu einem klaren Urteil darüber zu kommen, ob dem Täter für die Handlung die straf¬
rechtliche Zurechnungsfähigkeit zuzuerkennen oder diese auszüschliessen ist. Be¬
sonders schwierig ist diese Frage, wenn dauernde ethische oder intellektuelle Aus¬
fälle noch nicht nachweisbar sind. Eine schematisohe Formel für die Beurteilung
derartiger Kranker bei Konflikten mit dem Strafrecht ist nicht angängig, jeder
Einzelfali verlangt vielmehr seine individuelle Prüfung. Eine genaue Vorgeschichte
des Kranken, sein Verhalten unmittelbar vor und nach der Tat, sowie eine sorg¬
fältige Körperliche und psychische Untersuchung werden uns die Unterlagen für
das gerichtsärztliche Gutachten geben, ln den Fällen, wo die früher erörterten
Erscheinungen der schweren zerebralen Arteriosklerose nachweisbar sind und für
die Tat die Annahme eines impulsiven, durch die Labilität des Affekts bedingten
Handelns zwingend erscheint oder auch nur sehr wahrscheinlich ist, werden die
Voraussetzungen des strafausschliessenden § 51 als erfüllt anzusehen sein. Häufiger
sind aber jene Fälle, wo bei der ärztlichen Untersuchung zwar Anzeichen einer
Hirnarteripsklerose vorhanden, aber keine schwereren nervösen Veränderungen
nachweisbar sind. Hier werden wir vor allem durch wiederholte Untersuchungen
dem aus der Klinik bekannten Wechsel und Schwanken des Krankheitsbildes
Rechnung tragen. Als weitere Unterlagen müssen die Zeugenaussagen heran¬
gezogen werden, die über das Verhalten des Täters vor, während und nach der
Tat berichten und eventuell Zeichen der geistigen Insuffizienz des Täters offen¬
baren. Besondere. Aufmerksamkeit verdient die Möglichkeit, dass die Tat unter
dem Einfluss des Alkohols geschehen ist. Auch das Vorleben des Ange¬
klagten wird uns einige Richtpunkte geben können. Ist der Täter wiederholt und
zu einer Zeit, in der eine arteriosklerotische Störung nicht in Frage kommt, mit
dem Strafrecht kollidiert, so würde es unwahrscheinlich sein, wollte man ein im
späteren Alter begangenes Vergehen einer nicht einmal sicheren arterioskleroti¬
schen Herddegeneration zur Last legen. Anders bei Individuen, welche nicht vor¬
bestraft, von ihren Mitbürgern geachtet und als zuverlässige Menschen bekannt,
im Alter vor dem Strafrichter stehen wegen einer Tat, die sowohl der Umgebung
als auch oft genug später dem Täter selbst unbegreiflich erscheint. Bei derartigen
Fällen sollte grundsätzlich der Gerichtsarzt wenigstens gehört werden, denn, wie
Asch affen bürg (44) sagt, „der Charakter des Menschen ändert sich nicht ohne
tiefgreifende Gründe von heute auf morgen so, dass aus einem bis in sein hohes
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Alter einwandfrei lebenden Menschen plötzlich ein verkommener Wüstling wird".
In solchen Fällen ist vielmehr die Annahme krankhafter Motive sehr nabeliegend.
Sind die Krankheitserscheinungen sowohl zur Zeit der Tat als bei der ge¬
richtsärztlichen Untersuchung nicht derartig sohwere, dass sie die „freie Willens¬
bestimmung“ ausschliessen, haben wir es z. B. mit der leichten nervösen Form
derZerebralarteriosklerose zu tun, bei welcher wir annehmen müssen, dass derTäter
zwar zurechnungsfähig ist, aber nicht mehr die für den Durchschnittsmenschen
anzunehmende Fähigkeit hat, sinnliche und leidenschaftliche Triebe zu beherrschen,
so ist es angängig und geboten, da das Gesetz eine verminderte Zurechnungs¬
fähigkeit nicht anerkennt, in dem Gutachten auszuführen, dass der Untersuchte
zwar zurechnungsfähig im Sinne des Strafgesetzes ist, aber infolge seines Hiro-
leidens in seinem Tun und Lassen weniger widerstandsfähig und leichter zu
aktivem Vorgehen bestimmbar ist als der Durchschnittsmensch. Der Richter pflegt
bei der Strafabmessung diesem Umstande Rechnung zu tragen.
Von besonderem Interesse muss die zerebrale Arteriosklerose in der Frage
des § 224 StGB, sein, welcher über auftretendes Siechtum, Lähmung oder Geistes¬
krankheit nach einer Körperverletzung spricht. In der Einleitung wurde bereits
darüber gesprochen, dass ein Trauma erheblich schwerere Folgen auf ein arterio¬
sklerotisches als auf ein normales Gefässsystem hat und nach den Rick ersehen
Untersuchungen nahm ich dafür eine krankhafte Herabsetzung der Erregbarkeit
des Gefässnervenapparates an, die sich in einer Herabsetzung der Reizschwelle
und in einer abnormen Reizwirkung dokumentiert. Der Qualität der Reize kam
dafür keine entscheidende Rolle zu; es wurde auch daraufhingewiesen, dass nicht
allein die physischen, sondern auch psychische, sensugene Vorgänge als Reize für
das Gefässnervensystem des Gehirns aufzufassen sind. Wir müssen demgemäss
damit rechnen, dass die Folgen einer Körperverletzung bei einer arterioskleroti¬
schen Hirndegeneration sich wesentlich schlimmer darstellen als wenn das Trauma
einen gesunden Organismus getroffen hätte. Stase und ausgedehnte kapilläre
Blutungen oder bei der Brüchigkeit der sklerotischen Gefässe eine ausgedehnte
Rhexisblutung mit den klinischen Erscheinungen der Hirnapoplexie können die
unmittelbare Folge der Körperverletzung sein. Der sich anschliessende Krank¬
heitsverlauf kann sowohl den Charakter des Siechtums, der Lähmung oder der
Geisteskrankheit zeigen je nach den Symptomen, welche wir früher als die klini¬
schen Ausdrucksformen der schweren fortschreitenden Form der arterioskleroti¬
schen Hirndegeneration schilderten. Nach dem Gutachten der preussischen
wissenschaftlichen Deputation für .das Medizinalwesen vom 16. 5. 1877 (Viertel-
jahrsschr. f. gerichtl. Med., N. F., Bd. 27) erfordert der Begriff des Verfalls in
Siechtum einen chronischen Krankheitszustand mit schwerer Schädigung des All¬
gemeinbefindens, der Erwerbsfähigkeit und zunehmender Hinfälligkeit, einen
Zustand, der, wenn auch nicht unheilbar, so doch in absehbarer Zeit eine Besse¬
rung nicht erwarten lässt. Auch die schweren Formen der traumatischen Neurose
können sich als Siechtum in diesem Sinne manchmal darstellen, und die Unter¬
suchungen von Leers (14) ergaben, dass gerade der Hirnarteriosklerose als Grund¬
lage für das Auftreten traumatischer Neurosen von langer Dauer und schwerer
Form eine grosse Bedeutung zukommt. Der Verfall in Lähmung im Sinne des
§ 224 StGB, setzt eine so ausgedehnte Gebrauchsunfähigkeit einer oder mehrerer
Körperteile voraus, dass die Bewegungsfähigkeit des Gesamtorganismus schwer
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geschädigt ist; und zwar ist auch hier erforderlich, dass der Kranbheitszustand
ein langdauernder ist, in absehbarer Zeit nicht besserungsfähig ist. Es wurden
hierunter die Fälle irreparabler Hemiplegie eventuell auch Monoplegie zu rechpen
sein. Lähmungserscheinungen einzelner Muskelgruppen, welche die Bewegungs¬
fähigkeit des Organismus nicht wesentlich beeinflussen, können nicht als „Verfall
in Lähmung u angesehen werden. Aehnlich liegen die Verhältnisse, wenn nicht so
sehr die körperlichen Krankheitserscheinungen, sondern die psychischen Störungen
im Vordergründe stehen und als Folge einer Körperverletzung anzusehen sind; es
würden hierunter die schwere Form der arteriosklerotischen Demenz und der Epi¬
lepsie zu rechnen sein.
Bei der Unsicherheit der Aetiologie der Funktionsstörungen des Gehirns ist
bei der Begutachtung solcher Fälle Vorsicht geboten; der wechselnde Krankheits¬
verlauf der arteriosklerotischen Störungen erheischt dies um so mehr. Erst wenn
in grösseren Zwischenräumen vorgenommene Untersuchungen bleibende, schwere
Störungen nachgewiosen haben, ist die geforderte Prognose der Unheilbarkeit oder
des chronischen Charakters des Krankheitszustandes gesichert. Auch die Be¬
ziehung der Entstehung des Krankheitszustandes zu dem beschuldigten Trauma
ist vorsichtig zu erwägen. Nur ein sehr enger zeitlicher Zusammenhang vermag
in derartigen Fällen eine sichere Grundlage abzugeben. Die in der Unfallmedizin
vielbesprochene Spätapoplexie, von welcher Mendel (17) ein Zeitintervall zwischen
Trauma und Hirnblutung von 1 bis 6 Woohen in der Mehrzahl der Fälle annimmt,
ist meines Erachtens noch zu wenig geklärt, als dass die darüber bestehenden
Hypothesen eine Unterlage für ein Urteil im Sinne des § 224 StGB, bieten. Hält
der Gutachter den ursächlichen Zusammenhang für erwiesen, so wird er gleich¬
zeitig betonen, dass der Krankheitszustand nicht allein durch die Verletzung be¬
dingt ist, sondern seine Entstehung zum grossen Teil in der vorher bestandenen
Arteriosklerose begründet ist. Die Strafkammern pflegen bei der Strafabmessung
diesem Umstande Rechnung zu tragen. Das Reichsgericht hat sich hiergegen in
seiner Entscheidung vom 29. 5. 1911 dieser Sachlage gegenüber wie folgt ausge¬
sprochen: „Würde der mit einer krankhaften Anlage Behaftete, Verletzte ohne die
Verletzung nicht krank geworden sein, so muss die Verletzung als die alleinige
Ursache des Krankheitszustandes gelten, und es geht nicht an, die Folgen als
zum Teil durch die krankhafte Anlage verursacht anzusehen, auch wenn diese
Verletzung ohne diese Anlage einen schädlichen Einfluss nicht gehabt hätte. u
Hin und wieder wird dem Gerichtsarzt die Frage nach der Verhandlungs¬
fähigkeit eines an zerebraler Arteriosklerose leidenden Menschen vorgelegt. Die
ärztliche Erfahrung lehrt, dass bei einer vorhandenen Disposition Aufregungen,
wie sie die Gerichtsverhandlung mit sich bringt, zu Sohlaganfällen führen können.
Wegen der dadurch bedingten Lebensgefahr würde die Verhandlungsfähigkeit zu
verneinen sein und damit ein Aufschub des Verfahrens veranlasst werden. Wenn
nicht ein dringender Anlass zu einer solchen Vermutung von Gesundheitsschädi¬
gung vorliegt, sollte der Gerichtsarzt sowohl im Interesse der Rechtspflege als
auch des Angeklagten die Verhandlungsfäbigkeit bejahen. Das Verhalten des zu
Begutachtenden bei früheren Vernehmungen wird einen Massstab abgeben, wie
hooh die Gefährdung zu bemessen ist.
Auch die Zeugnisfähigkeit kann durch die arteriosklerotischen Störungen
nachteilig beeinflusst werden. Bei vorliegendem Zweifel ist zu untersuchen, wie
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war das Auffassungsvermögen zur Zeit des Geschehnisses, konnte er in der frag,
liehen Zeit einen mehr oder weniger komplizierten Vorgang wie den in Frage
stehenden r.cht.g auffassen ohne Wesentliches zu übersehen, und zweitens würde
zu prüfen sein das Gedächtnisvermögen zur Zeit, wo der Zeuge aussagen soll. Die
nicht selten spater erhobenen Anklagen wegen Eidesverletzung gegen derartige
ranke zwingen zu einer vorsichtigen Erwägung in der Beurteilung der Zeugnis-
fahigkeit Bubener (45) macht ferner darauf aufmerksam, dass infolge der
eichten Ermüdbarkeit bei der Arteriosklerose die Länge der Verhandlung ein
langes Warten vor der Vernehmung die Sicherheit der Zeugenaussagen beein-
meiderf* ^ eD “ pfiehlt ’ diese nachtei, 'gen Faktoren bei derartigen Zeugen zu ver-
Q . Die P‘° sste Bedeutung hat die zerebrale Arteriosklerose vom zivilrechtlichen
Standpunkt für die Geschäftsfähigkeit und für die Testierlabigkeit. Es ist eine
bekannte Tatsache, dass hochbetagte Personen, welche auf den ersten Blick dem
Sachverständigen eine allgemeine arteriosklerotische Gefässveränderung insbe¬
sondere an den sicht- und fühlbaren Gefässen verraten, trotz der leichten psychi-
sohen Veränderungen sich bis in ihr hohes Alter eine derartige geistige Leistungs-
fahigkeit bewahrt haben, dass die selbständige Führung ihrer eigenen Angelegen¬
heiten gesichert ist. Das hohe Alter, eine Verhärtung und Schlängelung der Ar-
terien aMein kann daher auch kein Kriterium sein, die Geschäftsfähigkeit eines
ndividuums zu beschranken oder zu verneinen. Erst das Auftreten wesentlicher
psychischer Krankbeitszeichen, eine hochgradige Gedächtnisschwäche, eine schwere
Schädigung des Auffassungsvermögens, welche eine genügende Orientierungsfähig-
ke.t unmöglich macht, ein abgestumpftes, ideenarmes, willenschwaches Wesen erst
berechtigen «u einem solchen Vorgehen. Auch stärkere Ausfälle im ethischen
Empfinden, wie sie sich in einer unordentlichen Lebensweise, in sexuellen Ex¬
zessen, anstosserregendem Verkehr mit Dirnen und anderen zweifelhaften Personen
offenbaren können eine Beschränkung der Geschäftsfähigkeit des Arteriosklero-
tikers erfordern, um ihn und seine Familie vor moralischem und materiellem
Schaden zu schützen. Kennzeichnend für die Beurteilung des gegenwärtigen Zu¬
stands wird dabei ein Vergleich sein, welche Stellung der zu Untersuchende in
früheren Zeiten einnahm und wieviel er infolge seiner Krankheit auf intellektuellem
und moralischem Gebiete eingebüsst hat. Diese Differenz zeigt die Folgen des
Krankheitszustandes viel schärfer als der absolute Krankheitsbefund. Da der Be¬
griff der Geschäftsfähigkeit das Können voraussetzt, seine Angelegenheiten zu be¬
sorgen, die nicht allein die Vermögenssachen, sondern die Führung und Regelung
der gesamten Lebensverhältnisse umfassen, so ist bei derFrage nach der Geschäfts¬
fähigkeit nicht allein der Krankheitszustand, sondern ebenso sehr auch der Um-
ang c et Angelegenheiten massgebend, der nach der sozialen Stellung und der
Art des Berufes individuell sehr verschieden ist. Derselbe Grad der arteriosklero¬
tischen Störung braucht daher für einen Tagelöhner noch keine Einschränkung
dei Geschäftsfähigkeit zu bedingen, während sie für einen Mann in leitender verant¬
wortlicher Stellung unbedingt erforderlich ist. Der allgemeine Massstab’für die
kritische Beurteilung der Geschäftsfähigkeit eines Individuums, welchen wir aus
ein Gesetz herleiten, dass der Minderjährige mit Vollendung des 7. Lebensjahres
ie beschrankte Geschäftsfähigkeit erlangt, ist daher nur mit Vorbehalt anwendbar,
lohtig ist es, bei der Frage der Geschäftsfähigkeit bei der arteriosklerotischen
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Hirndegeneration auf die leichte Beeinflussbarkeit solcher Kranker infolge der
leichten Erschöpfbarkeit und infolge des Insuffizienzgefühls, wie es bei dem Ar-
teriosklerotiker häufig beobachtet wird, hinzuweisen. Die böswillige Ausnutzung
des Krankheitszustandes von dritter Seite ist daher eine ständige Gefahr, auf die
besonders Binswanger (2) aufmerksam gemacht hat. Die leichte Form oder das
neurasthenische Stadium der zerebralen Arteriosklerose wird meist keinen Anlass
bieten, dem Kranken die Geschäftsfähigkeit abzuerkennen oder zu beschränken.
Dagegen wird die schwere, fortschreitende Form mit ihren mannigfachen Störungen
häufig es erforderlich machen, den Kranken durch Bestellung eines Vormunds oder
für einen bestimmten Kreis seiner Angelegenheiten eines Pflegers vor böswilliger
Ausnutzung seines hilflosen Zustands zu schützen und der Gefahr vorzubeugen,
dass aus krankhaften Motiven entspringenden Entschliessungen ihm selbst und
seiner Familie Schaden erwächst. Die Krankheitseinsicht und das äusserlich ge¬
ordnete Verhalten solcher Kranken während der Untersuchung darf den Gutachter
nicht die bestehenden geistigen Defekte verkennen lassen.
Aehnliche Gesichtspunkte sind massgebend bei der Beurteilung der Testier¬
fähigkeit eines arteriosklerotischen Kranken. Solange der Erblasser einen sicheren
Ueberblick über Art und Grösse seines Vermögens hat, sich der Beziehungen zu
den Erben bewusst ist und diese nicht durch krankhafte Motive entstellt, die Be¬
deutung der abgegebenen Willenserklärung begreift, liegt kein Grund vor, dem
arteriosklerotischen Kranken die Testierfähigkeit abzusprechen, selbst wenn dieses
oder jenes Symptom eine arteriosklerotische Erkrankung des Hirns anzeigt. Ist die
geistige Leistungsfähigkeit so weit gesunken, dass der Erblasser diese Bedingungen
nicht mehr erfüllen kann, so ist er auch nicht mehr testierfähig. Wesentlich
schwieriger ist die Begutachtung der Geschäfts- und Testierfähigkeit, wenn es
sich nicht um einen gegenwärtigen Zustand handelt, sondern in dem nicht selten
vorkommenden Fall, dass die Willenserklärung schon längere Zeit zurückliegt oder
der die Willenserklärung abgebende Teil bereits verstorben ist und seine Ge¬
schäftsfähigkeit oder Testierfähigkeit nachträglich in Zweifel gezogen wird. Er¬
fahrungsgemäss kann der Gutachter den aus Laienkreisen stammenden Zeugen¬
aussagen, welche sich auf die Art und auf den Umfang einer Geistesstörung
beziehen, nur geringen Wert beimessen. Eine viel sicherere Unterlage für eine
solche Begutachtung liefert das Studium der Briefe, der selbstgefübrten Bücher
des Kranken oder Verstorbenen aus der Zeit, wo die in Frage stehende Willens¬
erklärung abgegeben ist. Sowohl fotmell als nach seinem gedanklichen Inhalt
kann das Geschriebene uns mannigfache Krankheitszeiohen verraten, ihre Fest¬
stellung kann die objektive Untersuchung bis zu einem gewissen Grade ersetzen.
Nicht selten werden aber diese Wege auch bei grösster Ausnutzung und Sorgfalt
nicht genügen, um dem Sachverständigen ausreichendes Material zu bieten, sich
nach der einen oder anderen Seite ein bestimmtes Urteil zu bilden. Es wird dem
Gerichtsarzt von Seiten des Gerichts nicht verübelt werden können, wenn er in
seinem Gutachten eine ärztliche Entscheidung der Frage mangels ausreichender
Untersuchungsbelege für unmöglich erklärt. Eine sehr zurückhaltende Beurteilung
müssen auch die Testamente erfahren, welche von den Kranken sub finem abge¬
schlossen sind. Handelt es sich z. B. um eine Apoplexie, welche nach mehr¬
tägigem Krankenlager zum Tode führt, so kommt es nicht selten vor, dass dem
Sterbenden wenige Stunden vor dem Tode ein Testament vorgelegt wird und der
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ausserordentlich hinfällige Kranke, zur Unterschrift-gedrängt, diese vollzieht. Aus
der Erfahrung heraus, wie lange ein Schlaganfall bei günstigem Krankheitsverlauf
die Auffassungsfähigkeit in schwerster Form lähmt, werden wir, sofern nicht die
Zeugenaussagen den Gegenbeweis liefern, dass der Testator mit deutlichen Zeichen
des Verständnisses der Errichtung des Testaments beigewohnt hat, annehmen,
dass die freie Willensbestimmung des Individuums kurz vor seinem Tode
nicht bestanden hat. Einen Massstab, welche Anforderungen das Gesetz an die
geistigen Fähigkeiten des Erblassers bei Errichtung des Testaments stellt, kann
die gesetzliche Bestimmung geben, dass der in seiner Geschäftsfähigkeit be¬
schränkte 16jährige Minderjährige ohne Einwilligung seines gesetzlichen Vertreters
ein Testament errichten darf. Der Gesetzgeber stellt damit an die Testierfähigkeit
geringere Anforderungen als an die Geschäftsfähigkeit.
Eine besondere Erwähnung verdienen in dieser Erörterung die aphasischen
Störungen und die ihnen ähnlichen Erscheinungen der Agraphie und Alexie. Es
gehört nicht zu unserer Aufgabe, hier das Zustandekommen dieser bei der Zere¬
bralarteriosklerose häufig isoliert auftretenden Symptomenkomplexe zu erläutern,
wie sie sich aus dem anatomischen Bau dieser differenzierten Zentren und aus der
Analyse ihrer Funktionen ergeben; es soll hier vielmehr auf die forensische Be¬
deutung dieser Störungen eingegangen werden. Dabei ist bei diesen Zuständen zu
unterscheiden, ob die Unfähigkeit zu sprechen, die Sprache zu verstehen, zu lesen
oder zu schreiben als ein isolierter Funktionsausfall besteht, oder ob diese Er¬
scheinungen durch anderweitige Störungen auf psychischem Gebiet kompliziert
sind. Für diese letzteren ergibt sich die Beurteilung aus den früher gegebenen
Gesichtspunkten. Anders dagegen in jenen Fällen, wo der Verlust des Sprach-
vermögens, der Fähigkeit zu lesen oder zu schreiben, nicht von erkennbaren Aus¬
fallerscheinungen auf dem Gebiete der Intelligenz oder des Gefühlslebens begleitet
ist. Ob die Geschäftsfähigkeit und Testierfähigkeit bei derartigen Zuständen er¬
halten ist, wird davon abhängig sein, ob der Kranke auf mündlichem, schriftlichem
oder mimischem Wege seinen Willen noch für seine Umgebung deutlich zutn Aus¬
druck bringen kann. Der Gutachter hat sich bei der Untersuchung solcher Kranker
davon zu überzeugen, dass die Urteilsfähigkeit nicht nennenswert geschädigt ist
und hat durch eine Art Kreuzverhör zu prüfen, ob die Willensäusserung eindeutig,
klar verständlich und beständig ist. Bei der subkortikalen motorischen Aphasie
und der amnestischen Aphasie begegnen wir Fällen, die diese Bedingungen
zweifellos erfüllen, wo mithin kein Anlass vorliegt, die Geschäftsfähigkeit zu be¬
schränken. Für die Testierfähigkeit derartiger Kranker sind im Bürgerlichen Ge¬
setzbuch Sonderbestimmungen enthalten. So bestimmt § 2243, dass Personen, die
nach der Ueberzeugung des Richters oder des Notars stumm oder sonst am
Sprechen verhindert sind, das Testament nur durch Uebergabe einer Sohrift er¬
richten und bei der Verhandlung eigenhändig in das Protokoll schreiben, dass die
Schrift ihren letzten Willen enthalte. Umgekehrt kann jemand, der nicht fähig ist,
Geschriebenes zu lesen (§ 2238, Abs. 2) nur mündlich vor dem Richter oder Notar
testieren. Kann der Testator nicht schreiben, so erfolgt die Errichtung des Testa¬
ments vor dem Richter oder Notar entweder mündlich, oder durch Ueberreichung
einer Schrift mit der gleichzeitigen mündlichen Erklärung, dass die Sohrift seinen
letzten Willen enthalte (§ 2238, Abs. 1). Bei der ausgebildeten sensorischen
Aphasie, d. h. beim Verlust des Sprachverständnisses pflegen neben und infolge
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dieser Störung derartige psychische Veränderungen sich einzustellen, dass* der
Kranke nicht mehr fähig ist, seine Angelegenheiten zu besorgen. Eine Ausnahme
können nur die sehr seltenen Fälle darstellen von isolierter Worttaubheit, wo auf
dem Wege des Lesens und Schreibens, und von isolierter Wortblindheit, wo auf
akustischem Wege eine Verständigung der Kranken mit der Aussenwelt erhalten ist.
Endlich kann die zerebrale Arteriosklerose auch als Grund für die Anfecht¬
barkeit einer im späteren Alter geschlossenen Ehe in Betracht kommen. Wenn
bereits mehrere apoplektiforme Anfälle vorausgegangen sind, deren Folgen bei dem
wechselvollen Verlauf der Erkrankung zur Zeit der Eingehung der Ehe vom Laien
nicht mehr erkannt werden konnten und der andere Ehepartner von dem bestehen¬
den Krankheitszustand und djer Gefahr des täglich drohenden Eintritts schwerer
Krankheitserscheinungen keine Kenntnis bekommen hat, so würde die Frage des
Richters zu bejahen sein, dass sich der die Ehe anfechtende Ehegatte bei der Ehe-
sohliessung über solche persönlichen Eigenschaften des anderen Ehegatten geirrt
bat, die ihn bei Kenntnis der Sachlage und bei verständiger Würdigung des
Wesens der Ehe von der Eingehung der Ehe abgehalten haben würden (§ 1333
BGB.). Auch für die angesuchte Ehescheidung wegen Geisteskrankheit kann die
zerebrale Arteriosklerose die Grundlage bieten. Die Forderung des § 1569 BGB.,
dass die Krankheit mindestens 3 Jahre dauert und so weit unheilbar ist, dass für
die Gegenwart und Zukunft eine geistige Gemeinschaft, die sich in der Teilnahme
an dem Lebens- und Gedankenkreis des anderen äussern soll, zwischen den Ehe¬
gatten ausgeschlossen ist, lässt nur die Endzustände der schweren fortschreitenden
Arteriosklerose hierunter rechnen, wo die organische Erkrankung so tiefgehend ist,
dass auch in den Remissionen ein hochgradig geistiges Siechtum besteht.
Grösseren Schwierigkeiten begegnet die angesuchte Ehescheidung auf Grund des
§ 1568 BGB., wenn ein Ehegatte in der seinem Krankheitszustande eigen¬
tümlichen reizbaren Stimmung Beschimpfungen, Bedrohungen und Gewalttätig¬
keiten gegen den anderen Ehepartner begeht. Der § 1568 setzt als Grund für eine
Ehescheidung für diese Handlung ein Verschulden und demnach die Zurechnungs¬
fähigkeit voraus. Müssen wir diese verneinen, weil die Handlung ihre Motive in
der krankhaften Geistestätigkeit des Täters findet, so bietet die Handlung keinen
Grund für die Ehescheidung. Da sich diese Unzuträglichkeiten oft bereits in
einem Krankheitsstadium ereignen, wo eine Wiederherstellung der geistigen Ge¬
meinschaft zwischen den Ehegatten nicht ausgeschlossen werden kann, so sind
die Voraussetzungen auch des § 1569 BGB. nicht erfüllt und demgemäss eine
Ehescheidung infolge Geisteskrankheit nicht möglich. Auf einen Ausweg, um
solchen in der Familie unerträglichen Zuständen bei derartigen Kranken ein Ende
zu machen, hat Moeli (46) unter Hinweis auf den § 1353 des BGB. aufmerksam
gemacht, welcher von der Verpflichtung zur ehelichen Gemeinschaft spricht;
„Stellt sich das Verlangen eines Ehegatten nach Herstellung der Gemeinschaft als
ein Missbrauch seines Rechtes dar, so ist der andere Ehegatte nicht verpflichtet,
dem Verlangen Folge zu leisten. u Wenn danach der arteriosklerotische Kranke
gegen seinen Ehepartner Tätlichkeiten begeht oder ihn durch anderweitige Hand¬
lungen in seinem Empfinden derartig verletzt, dass diesem nach billigem Er¬
messen die Fortsetzung der Hausgemeinschaft nicht zugemutet werden kann, so
ist er, ohne sich schuldig zu machen, berechtigt, die eheliche Gemeinschaft auf¬
zuheben.
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* Die forensische Bedeutung der zerebralen Arteriosklerose ist, wie wir sahen,
eine vielseitige. Liegt das Hauptgewicht der Bedeutung einer Geistesstörung in
der gerichtlichen Psyohopathologie meist mehr in der Quantität, in dem Grad des
geistigen Defekts, so zeigen doch gerade die Beziehungen, welche wir für die zere¬
brale Arteriosklerose in foro erörterten, dass manche Fragen für dieses Krankheits¬
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Die forensische Bedeutung der Gehirnarteriosklerose. 257
Spez. Teil. 5. Abt. — 26) Cramer, Pathologische Anatomie der Psychosen.
Handbuch der pathologischen Anatomie des Nervensystems. Herausgeg. von Fla-
tau, Jacobsohn, Minor. 1904. Cramer, Gerichtl. Psych. 1908. — 27) Herz, zitiert
nach Spielmeyer &. a. 0. — 28) Marchand, zitiert nach Kaufmann a. a. 0.
— 29) Charcot and Bouchard, zitiert nach Kaufmann a. a. 0. — 30) Ellis
and Piok, zitiert nach Kaufmann a. a. 0. — 31) Weber, Veränderungen an
den Gefässen bei miliaren Hirnblutungen. Arch. f. Psych. Bd. 35. — 32) Ot-
fried Müller, zitiert nach Hirsch a. a. 0. — 33) Grützner, Betrachtungen
über die Bedeutung der Gefässmuskeln und ihrer Nerven. Deutsches Aroh. f. klin.
Med. 1907. Bd. 89. — 34) Ricker, Entwurf einer Relationspathologie 1905.
Natus, Beiträge zur Lehre von der Stase nach Versuchen am Pankreas des leben¬
den Kaninchens. Virobow’s Arch. 1910. Bd. 199. Derselbe, Versuch einer
Theorie der chronischen Entzündung auf Grund von Beobachtungen am Pankreas
des lebenden Kaninchens und histologischen Untersuchungen nach Unterbindung
des Ausführungsganges. Virchow’s Arch. 1910. Bd. 202. Knape, Untersuchungen
über Pankreashämorrhagie usw. Virchow’s Archiv. 1911. Bd. 207. Rioker und
Knape, Mikroskopische Beobachtungen am lebenden Tier über die Wirkung des
Salvarsans und des Neosalvarsans auf die Blutströmung. Med. Klinik. 1912. Nr. 31.
— 35) Jlpelt, Arteriosklerose und Commotio. Aerztl. Sachverständ.-Ztg. 1902.
— 36) Mosso, zitiert naoh Hirsch a. a. 0. — 37) Pick, Initialerscheinungen
der zerebralen Arteriosklerose. Hoohes Sammlung zwangloser Abhandlungen auf
dem Gebiete der Nerven- und Geisteskrankheiten. 1909. Bd. 8. — 38) Spiel-
meyer, Die Psychosen des Rüokbildungs- und Greisenalters. Handbuch der Psyohi-
atrie. Herausgeg. von Aschaffenburg. Spezieller Teil. 5 Abt. — 39) Jakobsohn,
Ueber die schwere Form der Arteriosklerose im Zentralnervensystem. Arch. f.
Psych. 1895. Bd. 27. — 40) Finkh, Beiträge zur Lehre von der Epilepsie. Arch.
f. Psych. 1905. Bd. 39. — 41) Merz-Weigandt, zitiert nach Spielmeyer
a. a. 0. — 42) Leppmann, Die Sittlichkeitsverbrecher. Vierteljahrsschr. f. ge-
richtl. Med. 111. Folge. 1907. Bd. 33. — 43) Hofmann, Lehrbuch der gericht¬
lichen Medizin. Herausgeg. von Kolisko. 1903. — 44) Aschaffenburg, zitiert
nach Spielmeyer a. a. 0. — 45) Hübener, Lehrbuch der forensischen Psychi¬
atrie. 1914. — 46) Moeli, zitiert nach Cramer a. a. 0.
Vierte^ahreschriA f. ger. Med. n. Off. San.-Wesen. 3. Folge. Bd. 60. H. 2.
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xvm.
Das Leichenwesen in Preussen.
Von
Dr. Robiiski,
Kreisarzt in Papenburg - Eros.
Die Vereinheitlichung der Gesetzgebung in Deutschland kann als
das beste Mittel zur Bekämpfung partikularistischen Geistes angesehen
werden. Wenn ich aus der grossen Zahl erstrebenswerter Gesetze
gerade das hcrausgreife, welches über das Leichenwesen handeln soll,
so geschieht es, weil auf diesem Gebiete gerade Preussen rückständig
ist und daher aus doppelten Gründen Anschluss an seine Nachbarn
zu suchen bestrebt sein sollte.
Auf dem Gebiet des Leichenwesens ist eine einheitliche Regelung
in Deutschland bisher nur in folgenden Punkten erfolgt:
1. Personen, welche im Nahrungs- und Genussmittelverkehr
tätig sind, dürfen nicht als Leichenträger, -beschauer, -frauen
tätig sein (für Preussen: Min.-Erlass vom ß. 5. 1908, in den
andern Bundesstaaten gleichlautende Bestimmungen).
2. Betr. den Transport von Leichen auf der Eisenbahn (Eisen¬
bahnverkehrs-Ordnung vom 25. 12. 1908) und auf dem See¬
wege (Bundesratsbeschluss vom 9. 4. 1906).
3. Betr. die Aufbewahrung, Einsargung, Beförderung und Be¬
stattung der Leichen von Personen, die an einer gemein¬
gefährlichen Krankheit gestorben sind (Gesetz vom 30. 6.
1900).
4. Betr. die Kirchhofsanlagen (für Preussen: Min.-Erlass vom
20. 1. 1892) mit der Einschränkung, dass in dem bayrischen
Min.-Erlass vom 8. 3. 1911 (Abschnitt U und III) der Bau
von Leichenhäusern energischer gefördert und ihr Ausbau
genau vorgeschrieben wird, ferner genaue Bestimmungen über
die Grüfte beigegeben sind.
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Das Leichenwesen in Preussen.
259
Eine einheitliche Regelung fehlt
1. bezügl. der Feststellung des Todes,
2. bezügl. der Bestattungsfrist,
3. bezügl. der Leichenverbrennung.
Mit Ausnahme von Preussen besteht in fast allen deutschen
Bundesstaaten die obligatorische Leichenschau: in Bayern seit 1839,
in Sachsen seit 1850, in Württemberg seit 1833, in Baden seit 1822,
in Hessen seit 1819, in Sachsen-Weimar seit 1851, in Sachsen-Mei¬
ningen, Sachsen-Koburg-Gotha, Reuss j. L. seit 1852, in Schaumburg-
Lippe seit 1862, ferner in Hamburg, Bremen, Lübeck (1).
In Preussen ist die obligatorische Leichenschau eingeführt im
ganzen Gebiet der Rheinprovinz seit 1909, in Hohenzollern-Sigma-
ringen und in den meisten Städten und Ortschaften, in denen Aerzte
ansässig. [Genauere spezielle Angaben von Rapmund (1)]. Es gibt
aber in Preussen Städte und zahlreiche Ortschaften, in denen Aerzte
ansässig sind und wo trotzdem keine Leichenschau geübt wird. Preussen
ist das einzige Kulturland, in welchem in dieser Beziehung eine ein¬
heitliche Regelung fehlt.
Wenn einige Staaten, insonderheit Preussen, die allgemeine
Leichenschau bisher auch nicht eingeführt haben, so ist m. E. hierfür
die Befürchtung bestimmend gewesen, dass eine Leichenschau durch
Laien mit Missständen verknüpft sein könnte. Die Einführung der
obligatorischen Leichenschau ohne Zuhilfenahme von Laienpersonal
würde auf den unüberwindlichen Widerstand aller der Landgemeinden
stossen, in welchen der Besuch eines Arztes mit unverhältnismässigen
Kosten verknüpft ist. Infolgedessen betrachte ich es als meine erste
Aufgabe, festzustellen, ob in den Staaten (Bayern, Sachsen, Württem¬
berg, Hessen, Sachsen-Weimar, Sachsen-Meiningen, Reuss j. L., Rhein¬
provinz), wo die Leichenschau auch durch Laien ausgeübt wird, irgend
welche Missstände sich hierbei herausgestellt haben.
Anfragen bei den massgebenden Stellen ergaben, dass die Ver¬
wendung von Laien als Leichenschauern irgend welche Missstände
nicht zur Folge hat.
Welche Vorteile hiergegen dem Staat durch Einführung der obli¬
gatorischen Leichenschau erwachsen würden, will ich im folgenden
skizzieren:
Wenn auch selten, so kommen doch Fälle von Scheintod vor.
In unserer aller Erinnerung ist jener Fall von Scheintod einer Kranken¬
schwester ira Grunewald (2). Verlegen wir den Schauplatz der
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260
Robinski,
Handlung aufs Land (wo es mehr Hysterische gibt, als gewöhnlich
angenommen!), so wächst die Gefahr, dass ein lebender Mensch ins
Grab versenkt wird. Es sind leider noch längst nicht in allen Ge¬
meinden Leichenhallen vorhanden und in der Scheune, in welche eine
aufgefundene angebliche Leiche gewöhnlich gebracht würde, könnte
ein raässiger Frost schon aus dem Scheintoten einen Toten machen.
Gerade im Winter besteht die Gefahr des Lebendig-beerdigt-werdens,
wenn Froststarre Totenstarre vortäuscht.
Nun stehen einige Forscher, z. B. Brouardel (3), auf dem Stand¬
punkt, die Diagnose des eingetretenen Todes sei zu schwierig, als
dass sie Laien anvertraut werden dürfe. Wir haben im Grunewald (2)
erlebt, dass auch ein Arzt sich täuschen kann. Weitere ähnliche
Beispiele nennt Devergie ( 4 ). Wird der Laienleichenschauer zu zwei
Besuchen am ersten und dritten Tage nach eingetretenem Tode (min¬
destens aber in 36 ständigem Abstand) verpflichtet, so ist m. E. auch
für den Laien eine Täuschung ausgeschlossen, da spätestens am
dritten Tage Verwesungsgeruch einzutreten pflegt. Bezüglich der
Sicherheit der Feststellung des Todes sind dann m. E. zwei Besuche
eines Laienleichenschauers einem Arztbesuch vorzuziehen, da dieser
gewöhnlich möglichst schnell nach Eintritt des Todes herbeigerufen
wird und infolgedessen oft überhaupt garnicht in der Lage ist, Scheintod
von Tod zu unterscheiden. Denn Stocken des Pulses und der At¬
mung, Aufhebung des Gefühlssinnes, Starre, sind alles Symptome,
welche auch bei Scheintod vorhanden sind. Erst deutliche Totenflecke
und Verwesungsgeruch ermöglichen die zweifelsfreie Feststellung des
Todes. Die meisten Menschen sterben aber nach Ablauf einer Krank¬
heit, welche ein Wiederaufleben von vornherein ausschliesst. Da nun
selbstverständlich beim Auftauchen des leisesten Verdachtes die Laien¬
leichenschauer zur Zuziehung eines Arztes gehalten sein werden, so
werden eben dadurch besondere Garantien gegeben, dass künftig die
Einsargung eines Scheintoten nicht mehr vorkommt; denn ein Atzt,
welcher zu einem Zweifelfall gerufen wird, untersucht selbstverständ¬
lich viel gewissenhafter als er es tun würde, wenn er einfach zur
Totenschau geholt wird.
Ein zweiter ungleich grösserer Vorteil wird durch Einführung
der obligatorischen Leichenschau errungen. Eine vollständige und
lückenlose Statistik bildet die Grundbedingung für sachgemässe Durch¬
führung der hygienischen Massregeln. Wie soll eine energische Be¬
kämpfung der Tuberkulose durchgeführt werden, wenn man ihre Herde
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Das Leichenwesen in Preussen.
261
ausfindig zu machen nicht im Stande ist? Mit nichten hat diese
Volksseuche ihren Sitz allein in überfüllten Grossstadtwohnungen, wo
auch die Bekämpfung viel leichter ist. Mitten auf dem Lande, kaum
dem einheimischen Arzte bekannt, finden sich zahllose Herde. Wer
soll die kleinen Bauernhäuser, wo in derselben „Butze“ ein Opfer
nach dem andern dahingerafft wird, finden, wenn nicht der Laien¬
leichenschauer? So lange zahlreiche Tuberkuloseherde über das ganze
Land verstreut infolge der mangelnden Leichenschau garnicht bekannt
sind, wird der Kampf gegen dieses Uebel in ländlichen Gegenden
wenig von Erfolg gekrönt sein.
Auf dem Lande werden die Aerzte des Bezirks auf eine Seuche
häufig erst aufmerksam, wenn sie einen bedrohlichen Umfang ange¬
nommen und Opfer gekostet hat, die vom Arzt ungesehen dahinsterben.
In einigen ländlichen Kreisen Deutschlands liegen die Verhältnisse
zurzeit so, dass durch Einschleppung einer Seuche diese in ganzen
Flecken weite Ausdehnung finden kann, ehe die meilenweit entfernt
wohnenden Aerzte etwas davon gewahr werden. Und welcher
Seuchengefahr ist unser armes Ostpreussen jetzt ausgesetzt!!! In
derartigen Gegenden bilden gut ausgebildete Leichenschauer einen
ganz erheblichen Schutzwall. Beim Unterricht des Leichenschauers
wird auf die Erkennung der Seuchen das grösste Gewicht gelegt
werden müssen.
Eine lückenlose Statistik würde der Wissenschaft unschätzbaren
Vorteil gewähren und mittelbar wieder zur besseren Bekämpfung der
Krankheiten beitragen. Ich greife den Krebs heraus. Bezüglich seiner
Aetiologie wissen wir heute so gut wie nichts Feststehendes und über
seine Verbreitung herrscht Unklarheit. Es bestehen Statistiken, welche
seine stärkere Verbreitung in feuchten Gegenden zu erweisen scheinen
und man spricht von Krebshäusern und Krebsnestern. Wir wären
ein ganz bedeutendes Stück weiter, wenn endgültig entschieden werden
könnte, ob es Krebsnester bzw. -häuser gibt oder nicht. Nach Ein¬
führung der obligatorischen Leichenschau wird diese Feststellung leicht
möglich sein. In einem Falle (6) kann ich beweisen, dass die sehr
fleissige und auf mühsamen Studien beruhende Arbeit des Herrn Ver¬
fassers, welcher im Kreise Hadeln ein Krebsnest gefunden zu haben
glaubte, insofern auf einem Irrtum beruht, als im Kreise Hadeln nicht
nur der eine Ort, wie der Herr Verfasser meinte, sondern mehrere
Orte, ja wahrscheinlich der grösste Teil des Kreises unter einer ab¬
norm hohen Krebsmorbidität zu leiden haben. Diese Feststellung ist
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
262
Robinski,
unschwer zu machen. Denn seit dem Fortzug des Herrn G. ist im
Kreise wenigstens teilweise die Leichenschau eingeführt worden. Be¬
stände im ganzen Kreise und in den Nachbarkreisen die allgemeine
Leichenschau, so würden m. E. gerade in dortiger (Marschen-) Gegend
eingehendere Studien, als ich sie zu treiben vermochte, richtige
Schlüsse betreffend die Aetiologie des Krebses zulassen, denn nach
den mir vorgelegten Todesmeldungen und eingezogenen Erkundigungen
scheint ein bestimmter Teil des Kreises (Altenbruch), wo äusserlich
dieselben Bodenverhältnisse herrschen, in auffälliger Weise vom Krebs
verschont zu sein.
Laut § 21 des Gesetzes betr. die Beurkundung des Personen¬
standes vom 6. 2. 1875 ist der Standesbeamte verpflichtet, sich von
der Richtigkeit der Anzeige, wenn er dieselbe zu bezweifeln Anlass
hat, in geeigneter Weise Ueberzeugung zu verschaffen.
Wie wenig dieser Paragraph Straftaten zu verhindern imstande
st, beweist Tracinski (5), den ich im folgenden zitiere: Ganz be¬
kannt und auch schon wiederholt zur gerichtlichen Aburteilung ge¬
kommen ist hier folgender Vorgang:
Ein Mitglied der oberschlesischen Knappschaft meldete fälschlich
dem Standesamt den Tod eines Kindes und empfängt hierüber eine
Sterbeurkunde. Auf Grund derselben empfängt er vom Knappschafts¬
verein die ihm zustehende Begräbnisunterstützung. Aus der Petition
des Niederrheinischen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege zitiert
Tracinski noch folgende Fälle: Ein Ehemann meldet den Tod seiner
gesunden Frau und erhält den Todesschein und die Erlaubnis zur
Beerdigung. Die Falschmeldung wurde begangen, um Geld aus der
Sterbekasse erheben zu können. — Ein Gattenmord wäre unentdeckt
geblieben und die Beerdigung ungehindert erfolgt, wenn nicht der
unerwartete Besuch eines Arztes das Verbrechen ans Licht ge¬
bracht hätte.
Ich habe mich bemüht, weitere derartige Verbrechen aus Kriminal¬
statistiken zu sammeln. Mein vergebliches Suchen beweist nur, dass
solche Verbrechen nicht bekannt wurden, nicht aber, dass sie nicht
begangen worden wären. Dass auf dem Gebiete des Leichenwesens
ein Eingreifen der Regierung nottut, beweist auch jener Fall (7), wo
durch Zufall entdeckt wurde, dass ein Pflegekind ohne Sarg beerdigt
worden war.
Engelmacherei, Kurpfuscherei, Abtreibung müssen sich unter
solchen Umständen zur höchsten Blüte entwickeln. Das Vertrauen
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Das Leichenwesen in Preussen.
263
zur Justiz geht verloren, wenn Sektionen wegen vorgeschrittener Fäul¬
nis ergebnislos verlaufen. Die allgemeine Leichenschau würde wenigstens
in einer Anzahl von Fällen zur Ermittelung des Mörders führen und
die Furcht vor dem Ermittelungsverfahren würde viele beabsichtigte
Morde nicht zur Ausführung gelangen lassen.
Schon öfters trat man von den verschiedensten Seiten an die
Regierung mit der Bitte heran, diesen unhaltbaren Zuständen ein Ende
zu bereiten.
Auch ein Gesetzwurf wurde bereits 1875 ausgearbeitet (8). In
neuer Fassung gestatte auch ich mir den Entwurf eines Gesetzes betr.
die allgemeine Leichenschau (Anlage 1) und Ausführungsbestimmungen
(Anlage 2) mit Schema des Bestattungsscheines (Anlage 3) der Re¬
gierung vorzulegen.
In der Fassung des Gesetzes habe ich mich nach Möglichkeit an
den Entwurf von 1875 angelehnt. Im § 4 glaubte ich eine Aende-
rung vornehmen zu müssen, da ein Besuch eines Laienleichenbeschauers
nicht als ausreichend angesehen werden kann. (In Sachsen sind 4
vorgeschrieben.) Der eigentliche Bestattungsschein darf selbstverständ¬
lich erst nach dem zweiten Besuche ausgestellt werden; andererseits
ist es zur Durchführung des Gesetzes meines Erachtens unerlässlich,
dass die Freigabe der Leiche zur Bestattung von einer Bescheinigung
des Leichenschauers abhängig gemacht wird. Diese Schwierigkeit
suchte ich durch Einführung eines „vorläufigen Bestattungsscheines“
zu begegnen. Ich glaube dies unbedenklich tun zu können, da eine
Zurücknahme der vorläufigen Freigabe (infolge Scheintods) zu den
grössten Seltenheiten gehören dürfte. Um den Nutzen des Leichen¬
schau-Gesetzes zu sichern, soll der Laienleichenschauer sich nicht nur
oberflächlich über den Toten (die Tote) erkundigen, sondern genaue
und eingehende Fragen stellen. Die grosse Reihe von Fragen, welche
mein Bestattungsscheinschema enthält, garantiert ein Mindestmass von
Gründlichkeit bei den Erkundigungen. Der Laienleichenschauer darf
sich aber keineswegs allein auf die Angaben der Angehörigen ver¬
lassen. Deswegen fügte ich im § 5 des Gesetzes die Worte ein: „und
unter Würdigung ihm bekannter Tatsachen.“ — Mein Bestattungsschein¬
schema enthält drei abtrennbare Abschnitte. Der erste, der sich nur
mit den Personalverhältnissen beschäftigt, wird ausgefüllt dem Standes¬
beamten übersandt und zusammen mit dem „vorläufigen Bestattungs¬
schein“ dem Personenstandsregister einverleibt. Der zweite und dritte
Abschnitt dienen zur Informierung der Aerzte, insbesondere des
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264 Robinski,
Kreisarztes, und zur möglichst einwandfreien Feststellung der Todes¬
ursache.
Abschnitt II setzt den Kreisarzt instand, die Tätigkeit des Laien¬
leichenschauers fortdauernd zu überwachen. Abschnitt III wird dem
behandelnden Arzte übersandt, falls ein solcher vorhanden, anderen¬
falls im Zusammenhang mit Abschnitt II dem Kreisärzte übersandt.
Die Mitwirkung des behandelnden Arztes ist erforderlich, um die vom
Laienleichenschauer angegebene Todesursache zu korrigieren und eine
einwandfreie Statistik zu ermöglichen.
Auch bezüglich der Bestattungsfrist und bezüglich der Leichen¬
verbrennung herrscht keine Einheitlichkeit in Deutschland. In Preussen
und Sachsen beträgt die Bestattungsfrist 72 Stunden, in Bayern und
Württemberg 48 Stunden. Meines Erachtens liegt kein Grund vor,
die bei uns vorgeschriebenen 72 Stunden nicht beizubehalten, da diese
Frist zur Verhütung der Beerdigung Scheintoter zweckmässiger ist.
Eine einheitliche Regelung der Bestimmungen betr. die Leichen¬
verbrennung ist für Deutschland dringend erforderlich, damit das
Loch in der Einheitlichkeit gesetzlicher Bestimmungen nicht noch
grösser werde. In der Kriegstagung der Feuerbestattungsvereine
1916 (9) sind Richtlinien für ein Feuerbestattungsgesetz ausgearbeitet,
von denen ich nur in folgenden Punkten abweiche: Nach § 6 II soll
das Zeugnis eines praktischen Arztes genügen. Die praktischen
Aerzte Deutschlands gehören statistisch nachweisbar zu den am
seltensten inkriminierten Ständen. Durch die Hinzuziehung des Kreis¬
arztes wird erstens ein zweiter glaubwürdiger Zeuge geschaffen, zweitens
ist nun einmal durch seine Ausbildung der Kreisarzt in gerichtlichen
Materien besser bewandert als die praktischen Aerzte; ausserdem ge¬
hören gerichtliche Leichenbesichtigungen und Gutachten über Mord
zu seinem täglichen Brot. Wenn in der Begründung zu § 6 II eine
Zurücksetzung der praktischen Aerzte darin erblickt wird, dass für die
Feuerbestattung das Gutachten eines Kreisarztes verlangt wird, so
müssen die praktischen Aerzte ebenso auch darüber entrüstet sein,
dass Ohrenkranke den Ohrenarzt und Augenkranke den Augenarzt
aufsuchen. Wer Feuerbestattung wünscht, übernimmt durch die sehr
oft notwendige Ueberführung der Leiche so grosse Kosten, dass die
Honorierung des Kreisarztes dabei gar keine Rolle spielt und als
Hindernis jedenfalls überhaupt nicht in Betracht kommt.
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Das Leichenwesen in Preussen.
265
Anlage 1.
Alter Gesetzentwurf.
§ 1. Eine Leiohe darf erst dann
bestattet werden, nachdem eine Leichen¬
schau in Gemässheit dieses Gesetzes
stattgefunden hat.
§ 2. Jede Gemeinde bat die er¬
forderliche Anzahl von Personen, welche
die Leichenschau vorzunehmen haben,
mit Zustimmung des zuständigen Medi¬
zinalbeamten anzustellen und zu ver¬
pflichten.
§ 3. Jeder Todesfall ist tunlichst
bald nach eingetretenem Tode, jeden¬
falls im Laufe des Tages, oder, wenn
der Todesfall bei Nacht eingetreten ist,
am folgenden Morgen dem Leichen-
schauer zu melden.
§ 4. Der Leichenschauer hat durch
Prüfung an Ort und Stelle sich von dem
wirklich erfolgten Tode zu überzeugen,
um, sofern nicht der Verdacht einer ge¬
waltsamen Todesart vorliegt, über den
Todesfall einen Leichenbestatlungs-
schein nach vorgeschriebenem Schema
auszustellen. Das Schema für den
Leichenbestattungsschein ist von der
Ortsbehörde festzustellen, muss aber
mindestens folgende Angaben enthalten:
1. Sterbeart, 2. Vor- und Zuname des
Verstorbenen, 3. Geburtsjahr und Tag,
4. Familienstand, 5. Beruf, 6. Tag und
Stunde des erfolgten Todes, 7. Todes¬
ursache, 8. ob diese ärztlich beglaubigt,
9. Ort, an dem die Leichenschau vor¬
genommen, 10. Name des Leichen-
schauers.
§ 5. Hat der Verstorbene in ärzt¬
licher Behandlung gestanden, so hat
der betreffende Arzt die Todesursache
in den Leichenbestattungscbein ein-
Neuer Gesetzentwurf.
§ 1. Unverändert.
§ 2. Unverändert.
§ 3. Unverändert.
§ 4. Der Laienleichenschauer hat
an zwei Tagen durch wiederholte Prü¬
fung an Ort und Stelle sich von dem
wirklich erfolgten Tode zu überzeugen.
Er stellt den Bestattungsschein erst nach
dem zweiten Besuch nach vorgesohrie-
benemSobemaaus. In Fällen vonVerdacht
auf Scheintod, Tod durch äussere Ge¬
walt oder gemeingefährliche Krankheit
darf er den Bestattungsschein nicht aus¬
füllen, sondern hat für sofortige Zu¬
ziehung eines Arztes sorgen. Von Laien¬
leichenschauern ausgestellte Leichen¬
pässe und Atteste für Leichen verbrennung
sind ungültig.
§ 5. Der Leichenschauer hat nach
Erkundigung bei den Angehörigen oder
anderen glaubwürdigen Personen und
unter Würdigung ihm bekannter Tat-
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
266
Robinski,
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zutragen, anderenfalls bat der Leichen-
scbauer naob Erkundigung bei den An¬
gehörigen des Verstorbenen oder anderen
glaubwürdigen Personen die Todes¬
ursache einzuschreiben.
§ 6. Der Leichenbeschauer bat den
Leichenbestattungsschein in 2 Exempla¬
ren auszustellen und damit nach näherer
Anweisung der Behörde zu verfahren.
§ 7. Wegen Feststellung desTarifs
für die Leiohenschaugebühren bleibt
jeder Bundesregierung die Bestimmung
überlassen.
Sachen dieTodesursache im Bestattungs-
schein einzutragen.
§ 6. Der Leiohenbeschauer hat ein
Tagebuch zu führen. Seine Amtstätig¬
keit wird dauernd vom Kreisarzt be¬
aufsichtigt.
§ 7. Die Festsetzung der Gebühren
für die Laienleichenschauer bleibt den
Gemeinden überlassen. Die Kosten
haben die Bestattungspflichtigen zu
tragen.
§ 8. Verstösse gegen § 1 und § 3
werden mit Polizeistrafen bedroht.
Anlage 2.
Ausführungsbestimmungen.
Zu § 1. a) Unter Leiche ist auch die menschliche Frucht zu verstehen, sofern der
der 6. Kalendermonat überschritten (die Frucht über 32 cm lang ist).
Min.-Erlass vom 16. Oktober 1893.
b) Aus Zweckmässigkeitsgründen soll im Falle derGeburt einer mindestens
6 Monate alten Frucht oder eines während der Geburt verstorbenen
Kindes ausnahmsweise die Hebamme zur Ausfüllung des Bestattungs-
soheines berechtigt sein.
Zu § 2. a) Die Leichenschau bat im allgemeinen durch einen Arzt zu geschehen.
Wohnt der nächste Arzt weiter als 3 km entfernt, so kann auf Antrag
beim Regierungspräsidenten einer Gemeinde widerruflich gestattet
werden, Laien als Leiohenschauer anzustellen. Für stärker bevölkerte
Abbauten (Kämpen), die weiter als 2 km vom Hauptteil der Gemeinde
entfernt liegen, ist nach Möglichkeit je ein besonderer Leichenschauer
zu bestellen. Sind in einer Gemeinde mehrere Leichensohauer ange¬
stellt, so haben diese sich gegenseitig zu vertreten. Ist nur ein Leicben-
schauer angestellt, so hat die Gemeinde dafür zu sorgen, dass im Be¬
hinderungsfalle ein Vertreter zum selben Gebührensatz leicht zu er¬
reichen ist.
b) Hebammen (mit Ausnahme von § 1. a) und Personen, welche im Nah¬
rungs- und Genussmittelverkehr tätig sind, sollen nicht zu Leiohen-
schauern bestellt werden. Es sollen möglichst intelligente Leute ge¬
wählt werden (Aktuare, Lehrer, Desinfektoren, Gendarmen).
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Das Leichen wesen in Preussen.
267
Leichenfrauen, die in Sachsen gewöhnlich auch als Leiohenscbaue-
rinnen angestellt werden, ermangeln meines Erachtens häufig der er¬
forderlichen Einsicht, um durch geschickte Prägen die Todesursache
annähernd richtig zu ermitteln.
Zu § 4. a) Die Leichenschau durch einen Arzt geschieht in einmaliger Unter¬
suchung. Für die Leichensohau durch Laien sind 2 Besnche erforder-
, lieb, welche im allgemeinen am 1. und 3. Tage nach erfolgtem Tode,
mindestens aber in einem Abstand von 36 Stunden stattzufinden haben,
b) Der ärztliohe Leichenschauer übergibt nach seinem Besuch dem Be-
stattungspflichtigen den Totenschein zur weiteren Veranlassung wie
bisher. Der Laienleicbenschauer übergibt nach seinem ersten Besuch
(falls er nichts Regelwidriges findet) dem Bestattungspflichtigen eine
rote Karte (vorläufigen Bestattungsschein), auf welcher er bescheinigt,
dass: „nach dem Ergebnis seines ersten Besuches am .... . der Be-
(j er
stattung am.Verstorbenen.voraussichtlich
des
nichts im Wege stehen wird“. Auf Grund dieser roten Karte wird die
Leiche zur Beerdigung freigegebdta. Entsteht bei seinem zweiten Be¬
such der Verdacht auf Scheintod, Tod durch äussere Gewalt oder durch
eine gemeingefährliche Krankheit, so hat er umgehend (wenn möglich
unter Benutzung des Telephons) die Ortspolizeibehörde und einen Arzt
von dem Sachverhalt in Kenntnis zu setzen und gegebenenfalls dafür
zu sorgen, dass die Bestattung aufgesohoben wird. Findet er auch bei
seinem zweiten Besuch nichts Regelwidriges, so füllt er den Be¬
stattungsschein aus, übersendet Abschnitt I dem Standesbeamten, Ab¬
schnitt II dem Kreisarzt, Abschnitt III dem behandelnden Arzte,
welcher Abschnitt III ausgefüllt dem Kreisarzt zusendet.
Zu § 6. Auf Antrag des Kreisarztes kann jeder Laienleichenschauer vom Re¬
gierungspräsidenten disziplinarisch bestraft und seines Postens enthoben
werden.
Zu § 7. a) Portoauslagen in Dienstsachen werden dem Laienleichenschauer vergütet,
b) Für die ärztlich beglaubigte Feststellung eines Falles von Scheintod
erhält der Laienleichenschauer aus der Regierungshauptkasse eine
Prämie von 1000 Mark.
Für die kreisärztlich beglaubigte Feststellung eines ersten Sterbe¬
falles (im Sinne des § 6 des Gesetzes vom 28. August 1905) an einer
gemeingefährlichen Krankheit erhält der Laienleichenschauer aus der
Regierungshauptkasse eine Prämie von 1000 Mark.
Für die gerichtlich beglaubigte Feststellung eines Mordes erhält der
Laienleichenschauer aus der Regierungshauptkasse eine Prämie von
1000 Mark.
Für die gerichtlich beglaubigte Feststellung des Versuchs einer
wissentlich falschen Totmeldung erhält der Laienleichenschauer aus
der Regierungshauptkasse eine Prämie von 1000 Mark.
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268
Robinski, Das Leichenwesen in Preussen.
Anlage 3.
I.
Ort:
Name (auch Vor¬
name):
Stand:
Geboren:
Gestorben:
Religion:
Familienstand:
Uneheliches Kind
der . . .
Persönlich be¬
kannt: . . .
oder agnostiziert
durch:
Bemerkungen:
X.
gepr. Leichen¬
schauen
ii.
Ort:
Name (auch Rufname):
Alter:
Stand:
Gestorben am.Uhr
Behandelt von Dr. . . . zu . . .
Tag der letzten ärztlichen Konsultation:
Schwanger? ... im wievielten Monat? .
Wie lange krank:
Schmerzen?
. wie lange? ,
Erster Besuch am .
Zweiter „ „ .
Todesursache:
Uhr
Blut?
Husten? . .
Ausschläge?
Bewusstlos?
Erbrechen? . . . wie oft? . . . Farbe? . . .
Geruch? . . .
Durchfälle? . . . wie oft? . . . Farbe? . . .
Blut? ...
Hat der Leichenbeschauer selbst den Stuhl
gesehen? ...
Nur bei Kindern bis zu 1 Jahr: wie lange
Muttermilch? . . .
Besondere Bemerkungen:
X.
gepr. Leichen¬
schau er.
Dr. M. (Sichtvermerk)
Kreisarzt,
iii.
Ort:
Name (auch Ruf¬
name):
Alter:
Stand:
Gestorben:
Tom behandelnden in
a o si u füllen:
Oben bexeichiH
Person wurde Tonm
behandelt vom .
bis . . .
(oder am ...)
wegen.
Todesursache:
Dr. R,
appr. Ai
Literaturverzeichnis.
1) Rapmund, Aerztliohe Rechts- and Gesetzeskunde. — 2) Grunewald-
Echo. Jahrg. 1919. Nr. 44. — 3) Brouardel, La mort et la mort subite. —
4) Devergie, Inhumations präcipitäes. Annales d’bygiene publique. Sörie II.
T. 26. — 5) Traoinski, Einführung der allgemeinen Pfliohtleichenschau im
Deutschen Reich. Deutsche Vierteljahrsschr. f. öffentl. Gesundheitspfl. 1893. —
6) Guttmann, Gehäuftes Vorkommen von Krebs im Dorfe Nordleda, Kreis Hadeln.
Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Med. u. öffentl. Sanitätsw. 3. Folge. Bd. 36. —
7) Sachs, Leichenschau und Todesursachenstatistik. Strassburger med. Ztg.
1908. — 8) Deutsche Vierteljahrsschr. f. öffentl. Gesundheitspfl. 1875. —
9) Kriegstagung d. Feuerbestattungsvereine. 1916.
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XIX.
Kleinere Mitteilung.
Hieb* und Schusswunde als Konkurrenz der Todesursache.
Von
Generaloberarzt a. D. Dr. Neumann, Naumburg a. S.
In der Schwurgerichtssaohe gegen X and Genossen in Y bandelte es sich um
die Frage, wodurch der Tod bei J. erfolgt sei und ob ein oder mehrere Mörder
in Frage kommen. Bei einem Aufruhr hat die Menge mit Stöcken, Schirmen, Gas*
rohren, Gewehrkolben auf einen Mann losgeprügelt, ihn durch die Stadt geschleift,
ihn ins Wasser getrieben, herausgeholt, bis ein Mörder ihm den Gnadenschuss ge¬
geben hat. Die Sektion ergab folgendes: ato rechten Ohr Einsohuss in den Kopf.
Die Kopfknochen völlig zertrümmert, das Gehirn ein formloser Brei. Am linken
Hinterhaupt eine 18 cm lange und 10 cm breite Wunde mit glatten Rändern, Aus¬
schussöffnung. Ein Teil des knöchernen Schädels fehlt. Zeichen von Stook-
.schlägen am Körper. Am Rücken leichte Wunden von Stockschlägen herrührend.
Verschiedene Zeugen sagen aus, dass der Erschossene vor der Erschiessung be¬
stimmt gelebt hat. Der Mörder hat nicht auf eine Leiche geschossen. ' Die aus
der Menge der Beihülfe zum Morde Angeklagten leugnen jede Schuld und stellen
fest, dass der Mann noch gelebt habe und dass derjenige der Mörder sei, der
den Sohuss abgegeben hat. Der Schuss war ein Nahschuss mit kleinkalibrigem
Karabiner, so dass die Explosionswirkung an sioh ohne weiteres klar ist. Die Be¬
gutachtung sprach sich zunächst dafür aus, dass von den Verletzungen an der Leiohe
es sioh um die 18 cm lange und 10 cm breite Wunde am Hinterkopf handeln konnte,
welche den Tod herbeigeführt hat. Sie kommt als Konkurrenz der Todesursache
aber deshalb in Betracht, weil sowohl die Hiebwunde, als auch die Schusswunde
an sich allein im Stande gewesen wäre, den Tod zu bewirken. Eigenartig ist,
dass der Ausschuss mit der Hiebwunde zusammenfällt, was aber dadurch erklärt
werden kann, dass der Schuss naoh der Seite des kleinsten Widerstandes explodierte
und dass die Schädelzertrümmerung an der linken Hinterhauptseite auch durch
Hiebe mit dem Gasrohr oder Gewehrkolben entstanden sein konnte. Es brauchten
nicht alle Schädelsprünge durch die Explosion entstanden zu sein.
Es liegt also hier der Fall vor, der immerhin selten ist, dass an einem und dem¬
selben Individuum zwei Verletzungen sich finden, von denen jede allein im Stande
sein konnte, den Tod zu bewirken. Es liegt also eine Konkurrenz von Todesur¬
sachen im strengsten Sinne des Wortes vor und hat hier deshalb forensisohe Be-
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Kleinere Mitteilang.
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deutung, weil die Verletzungen nicht von einem Täter y sondern jede von einem
anderen zugefügt worden ist. Wer hier Täter der Hiebwunde ist, kommt gerichts¬
ärztlich nicht in Betracht. Es handelt sich darum, ob es objektiv feststellbar ist,
welcher Verletzung ein tödlicher Charakter zukommt. Die glatten Ränder der
Hiebwunde sprechen für eine solche, so dass angenommen werden muss, dass die
Wunde am Hinterhaupt vorhanden war, ehe der Tod durch Erschlossen erfolgte.
Es ist nicht anzunebmen, dass die 18 cm lange und 10 cm breite Wunde durch
die Sobädelexplosion erfolgt ist. Eine solche Explosion macht keine glatten
Ränder und diese Bezeichnung ist absichtlich gewählt worden, wie einer der Sach¬
verständigen, der bei der Sektion dabei war, äusserte. Die Hiebwunde wurde
vor der Schusswunde zugefügt. Der Sachverständige äusserte sich dahin, dass
mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit der Tod des Mannes durch
die Verletzungen insbesondere durch die Hiebwunde mit Zertrümmerung des
Schädels erfolgt wäre. Das ist schon deshalb wahrscheinlich, weil die erregtu
Menge den Tod des Mannes haben wollte. Die Menge verlangte den Tod des Mannes
und als einer aus der Menge rief, gebt ihm doch den Gnadenschuss, da erschoss
der Mörder den Mann vor den Augen der Menge, die dann befriedigt war. Der
Fall ist auch typisch für den Begriff der Massenpsychose. Die anderen Ange¬
schuldigten bekundeten, dass der Mann noch gelebt habe. Er war, als man ihn
auf einem offenen Wagen durch die Strasse zog, nur mit dem Hemd bekleidet.
Er soll das Hemd heruntergezogen haben, um die Geschlechtsteile zu bedecken
und einer aus der Menge schrie: das Schwein schämt sich noch. Von Seiten der
Angeschuldigten aus der Menge wird das als eine bewusste Handlung aufgefasst.
Diese Auffassung braucht nicht richtig zu sein, da es sich um unterbewusste
Abwehrbewegungen gehandelt haben kann oder Reflexbewegungen im Sinne
Pflügers. Die an sich zweckmässige Handlung das Herunterziehen des Hemdes
setzt durchaus nicht immer ein Bewusstsein voraus. Die Sachverständigen äusserten
sich dahin, dass die Schläge mit Stöcken, Schirmen, Gasrohr usw. wahrscheinlich
den Tod zur Folge gehabt hätten. Die Misshandlungen, welche der Mann erlitt,
haben für sich allein den Tod herbeigeführt. Ein strikter Beweis, dass die Ver¬
letzungen des Mannes nicht tödlich geendet hätten, lässt sich nicht führen, da er
ja später erschossen worden ist. Eine Hiebwunde, wie die vorliegende, pflegt in
der Regel den Tod herbeizuführen und die Hiebwunde ist an sich eine tödliche.
Es ist an ihr als solcher nicht zu zweifeln.
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XX.
Besprechungen.
A. Förster, Die Preussisöhe Gebührenordnung für approbierte Aerzte
und Zahnärzte. 7. vermehrte Aufl., herausgegeben von E. Dietrich. Berlin
1920, Richard Schoetz.
Wie der Herausgeber im Vorwort mitteilt, hatte der Verfasser diese Auflage
schon vorbereitet, als ihn der Tod mitten aus der Arbeit hinwegnahm. Obwohl
der Erlass einer neuen Gebührenordnung für Aerzte in Preussen bereits in An¬
griff genommen ist, wünschte der Verlag die Herausgabe dieser Ausgabe noch zu
vollenden, da die neue Gebührenordnung sich in ihrem 'Aufbaue von der alten
nicht wesentlich unterscheiden würde. Sie soll alsbald nach ihrer Veröffentlichung
als Nachtrag zu dieser Auflage erscheinen.
Das Werk selbst, das durch den Herausgeber bis zum 1. April 1920 fort¬
geführt ist, bedarf einer Empfehlung nicht mehr. Sein Preis (gebunden 9,50 M.),
muss mit Rücksicht auf die Teuerungsverhältnisse als sehr gering bezeichnet
werden. P. Strassmann.
Das Geschlechtsleben der Hysterischen. Eine medizinische, soziologische
und forensische Studie. Von Dr. med. Placzek, Nervenarzt in Berlin. Bonn
1919, A. Marcus u. E. Webers Verlag. 264 Seiten.
Ueber die ursächliche Bedeutung der Sexualität für die Entstehung der
Hysterie ist schon fast allzuviel, über das tatsächliche Geschlechtsleben der Hyste¬
rischen aber nur verhältnismässig wenig geschrieben. Diese nicht nur für die
theoretische Deutung und Erkenntnis der Hysterie, sondern auch für die richtige
Beurteilung der Hysterischen im praktischen Leben empfindliche Lücke will Pla¬
czek mit seinem wertvollen Buohe ausfüllen, das des Interesses gerade auch des
gerichtsärztlichen Sachverständigen sicher sein kann. Gehört es doch keineswegs
zu den Seltenheiten, dass die hysterische Geschlechtseigenart, namentlich auch in
ihren Abirrungen, nicht verstanden und in foro oft eine recht sonderbare richter¬
liche Beurteilung erfährt. Aus dem Inhalt des Buches, in dem ein reiches, in der
Literatur weit zerstreutes Beobachtungsmaterial zusammengestellt und auf Grund
eigener Erfahrung kritisoh verwertet ist, sei hier aufmerksam gemacht auf die
Ausführungen über die Pseudologia phantastica und mannigfache Triebhandlungen
(Stehltrieb, Kauftrieb, Brandstiftungstrieb usw.), die sich als Ersatzhandlungen
zur Abfuhr sexueller Stauungen erweisen. Etwas kurz ist das Kapitel über den
hysterischen Mann geraten. In den Erörterungen über das Geschlechtsleben der
Hysterischen in soziologischer Beziehung kommt Placzek zu der Forderung
der Verhinderung der Fortpflanzung jeder degenerativen Hysterie und tritt zur Er-
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Besprechungen.
reichung dieses Zweckes aus rassenhygienischer Indikation für die Zulässigkeit
des künstlichen Aborts — unter Sicherungsmassnahmen gegen einen Missbrauch —
ein. In den Schlusskapiteln werden im Zusammenhang die zahlreichen Fragen er¬
örtert, die bei der forensischen Beurteilung der mannigfachen Kollisionen von
Wichtigkeit sind, welche die Hysterischen nicht selten in Berührung mit dem Straf-
und Zivilrecht bringen und ihre Wurzeln im Geschlechtsleben haben, wenn aach
ein solcher Zusammenhang oft erst dem erfahrenen Beobachter erkennbar wird.
Auf die Ausführungen über Hysterie und Eherecht und über Hysterisohe als Zeugen
und Denunzianten sei noch besonders hingewiesen. Falkenberg.
%
Ueber die Spirochätenfunde im Paralytikergehirn and ihre Be¬
deutung. Von Dr. B. Klarfeld, wissenschaftl. Assistenten an der psychiatr.
Nervenklinik in Breslau. Aus: Sammlung zwangloser Abhandlungen aus d. Ge¬
biet d. Nerven- und Geisteskrankheiten. XI. Bd., 8. H. Halle a. S., 1919,
Verlag v. C. Marhold.
Eine kurze aber vortreffliche, kritische Uebersicht über die Entwicklung der
Anschauungen von dem Wesen der paralytischen Erkrankung und insbesondere
von der Bedeutung der Spirochätenfunde im paralytischen Gehirn. Der Nachweis
der Spirochäten im Gehirn ist zunächst nur das Endglied in der Beweiskette für
die luetische Natur der Paralyse; eine Erklärung des komplizierten histopatho-
logischen Befundes ist aber damit noch nicht gegeben: insbesondere ist es nach
dem heutigen Stand unseres Wissens noch nicht angängig, alle paralytischen Ge¬
websveränderungen ohne weiteres auf direkte Einwirkung der Spirochäten zurück¬
zuführen. Falkenberg.
Das Wesen der psychiatrischen Erkenntnis. Beiträge zur allgemeinen
Psychiatrie. I. VonDr. Arthur Kronfeld. Berlin 1920, Verlag von J. Springer,
485 Seiten.
Die Ergebnisse der übliohen psychiatrischen Forschungsmethode sind nach
Kronfeld deshalb vielfach wenig befriedigend, weil die Grundlagen der wissen¬
schaftlichen Möglichkeit der Psychiatrie nicht genügend durchdacht und beachtet
sind. Hier setzt die Arbeit Kronfelds ein, dem als Ziel vorschwebt eine Dar¬
stellung der allgemeinen Psychiatrie als streng systematischer Wissenschaft. Auf
dem Boden des kritischen Idealismus der Kant-Friessschen Lehre stehend will
er „alle diejenigen methodologischen, logisch und theoretisch fundierenden and
kritischen Gedankengänge und Entwicklungen mit präziser Begründung versehen,
durch welche psychiatrisch-psychologisches Denken ermöglicht, gesichert und
zum Range wirklicher Wissenschaft erhoben zu werden vermag“. In dem vor¬
liegenden ersten Bande werden als Hauptprobleme die wissenschaftstheoreti¬
schen Grundlagen der Psychologie, insbesondere die Probleme der
psychischen Kausalität, und die Phänomenologie des Psyohisohen
behandelt. Es wird dem philosophisch und psychologisch weniger geschalten Leser
nicht leioht fallen, den Gedankengängen des Verfassers za folgen, man wird an
, ihnen aber schon wegen ihrer Bedeutung für die psyohologisch-klinischen Frage¬
stellungen nicht vorübergehen können, sondern sich recht eingehend mit ihnen be¬
schäftigen müssen. Falkenberg.
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Besprechungen.
273
Ueber Massenmörder. Ein Beitrag za den persönlichen Verbrechensarsacben
und zu den Methoden ihrer Erforschung. Von Privatdozent Dr. Albrecht
Wetzelj Oberarzt a. d. psyohiatr. Univ.-Klinik in Heidelberg. Abhandl. a. d.
Gesamtgeb. d. Kriminalpsychologie. Herausgegeben von K. von Lilienthal,
S. Sohott, C. Wilmanns. Heft 3. Berlin 1920, J. Springer.
Eine wertvolle, inhaltreicbe, kriminalpsychologische Untersuchung mit dem
Ziel, nicht nur die allgemeinen, für den Durchschnitt der Massenmordsdelikte
oder einzelner Gruppen wesentlichen inneren und äusseren Ursachen aufzudecken,
sondern auch nach Möglichkeit durch Zergliederung des Einzelfalls in seinen
ganzen psychologischen Aufbau die psychologischen und psychopathologischen
Zusammenhänge beim Zustandekommen des Deliktes aufzuhellen. Die statistische
Methode erfährt daduroh eine wesentliche Erweiterung uud Vertiefung: Die psycho¬
logische Analyse führt zur Erfassung verständlicher Zusammenhänge und aus der
Ursachenforschung wird eine Verursachungserforschung. — Der Untersuchung
liegt zugrunde ein statistisches Material von 119 Fällen: in 69 pCt. war der Täter
ausgesprochen geisteskrank, in 31 pCt. seelisoh gesund, wobei psychopathische
und mässige intellektuelle Abweichungen noch zur Gesundheit gerechnet wurden;
33 pCt. aller geisteskranken Massenmörder gehörten in die Gruppe der Dementia
praecox. Auch die beiden vom Verfasser selbst beobachteten und eingehend
unter dem Gesichtspunkte der inneren Zusammenhänge zwischen Persönlichkeit,
Psychose und Tat bearbeiteten beiden Fälle litten an dieser Erkrankung. Ob man
in der eigenartigen Mischung von zäher Beharrlichkeit mit verhaltener oder in
Erregung sioh entladender Spannung etwas der Dementia praecox allein Eigenes
und den Massencharakter des Deliktes Begünstigendes sehen darf, wird, wie auch
Wetzel selber meint, noch weiterer Untersuchung bedürfen. Jedenfalls wird
ausserhalb der eigentlichen Geisteskrankheit die statistische Erfassung der Motive
des Deliktes erst dann wertvoll, wenn sie sioh auf die genaue Kenntnis der Gesamt-
persönlicbkeit stützt und damit dem Motiv Ort und Wertigkeit anweist. Die Arbeit
Wetzeis zeigt aber weiter, dass man bei der nötigen Kritik und Gründlichkeit
auch bei ausgeprägten Psychosen mit uneinfühlbar erscheinenden Begleiterschei¬
nungen des Deliktes noch verständliche Zusammenhänge finden und damit selbst
bei schizophrenen Störungen diesem Ziel ein gut Teil näher kommen kann.
Falkenberg.
Viertelj&hrsfichrift f. ger. Med. u. öff. San.-Wesen. 3. Folge. Bd. 60. H. 2.
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Druck von L. Schumacher in Horlin N. 4.
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Verlag von August Hirschwaid in Berlin.
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Beziehungen der menschlichen Krankheiten
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Zweite, neubearb. Aufl. 1915. gr. 8. 15M.
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5. Aufl. 1919. In Mappe (8Taf.m.Text). 7M.
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1908. gr. 8. Gebd. 3 M.
Praktikum der physiologischen
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Vierte, vermehrte Auflage. 1912. 8.
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Erläuterungen in den Vorschriften für
das Verfahren der UerichtsSrste bei den
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Grundzüge
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1914. g
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Inhalt.
Seite
XII. Die Begutachtung von Nierenerkrankungen auf Grund der Kriegs¬
erfahrungen. Von A.V. Knäok, Hamburg. (Mit 1 Kurve im Text.) 145
XIII. Aus dem pathol.-anat. Institut des Krankenhauses Friedrichstadt
in Dresden (Direktor: Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Schmort).- Ueber
Vergiftung durch Trinken chloroformhaltiger Flüssigkeit. Von
Raimund Schelcher.175
XIV. Ueber künstliche Färbung und Entfärbung des mensohlichen
Haares in gerichtlioh-mediziniscber Beziehung. Von Dr. Lothar
Bock, Braunschweig.191
XV. Die Ursachen des Verbrechens. Voii Hugo Marx f . . . . 205
XVI. Aus der Berliner städtischen Irrenanstalt Dalldorf (Direktor:
Geheimrat Dr. Kortum). Dämmerzustände eines homosexuellen
Neurotikers. Von Dr. Max Margulies, Hermsdorf bei Berlin . 226
XVII. Die forensische Bedeutung der Gehirnarteriosklerose. Von Dr. med.
W. Knape, Kreisarzt in Jobannisburg (Ostpr.). (Schluss.) . . 247
XVIII. Das Leichenwesen in Preussen. Von Dr. Robinski, Kreisarzt in
Papenburg-Ems.258
XIX. Kleinere Mitteilung:
Hieb- und Schusswunde als Konkurrenz der Todes ursacL j.
Von Generaloberarzt a. D. Dr. Neumann, Naumburg a. S. . 269
XX. Besprechungen.271
W“ Die Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medizin und öffent¬
liches Sanitätswesen erscheint in 2 Bänden (jährlich 4Vierteljiihrshefte).
Der Preis des Jahrgangs beträgt 20 Hark.
Einsendungen für die Vierteljahrsschrift wolle man an Herrn Geh. Med.-Rat
Dr. M. Beninde (Berlin-Schmargendorf, AngnsteViktoriastrasse 66) oder an
Herrn Geh. Med.-Rat Prof. Dr. F. Strassmann (Berlin NW., Siegmundshof 18)
oder an die Verlagsbuchhandlung (Berlin NW., Unter den Linden 68) richten.
Druck von L. Schumacher in Berlin N. -4.
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