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Full text of "Vierteljahrsschrift Für Gerichtliche Medizin Und Öffentliches Sanitätswesen ( 3. F.) 60.1920"

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UNIVERSITY OF MICHIGAN 



1920. 


Juli. 


V iertel jahrsscbrift 

für 

gerichtliche Medizin 

und 

öffentliches Sanitätswesen. 


Unter Mitwirkung der wissenschaftlichen Deputation für 
das Medizinal wesen im Ministerium für Volkswohlfahrt 

herausgegeban 


Dr. M. Beninde, und Prof. llr. F. Strassmann, 

Geh. Med.-Rat in Berlin. Geh. Med.* Rat in Berlin. 


Dritte Folge. 60. Band. 1. Heft. 

Jahrgang 1920. 3. Heft. 

Mit - Kurvcntafeln und 1 Abbildung im Text. 


BERLIN 1920. 

VERLAG VON AUGUST HIRSCH WALD. 

NW. UNTER DEN LINDEN 68. 


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UNIVERSETY OF MICHIGAN 



Verlag von August Hirsrinvaltl in Berlin. 


Praktikum ‘ 

der gerichtlichen Medizin. 

Die Elemente der gericbtsärztlicben Dia¬ 
gnostik und Technik nebst einer Anlage: 
Gesetzesbestimmungen und Vorschriften 
für Mediziner, Juristen und praktische 
Kriminalisten 

von Gerichtsarzt Dr. Hugo Marx. 
Zweite, verbesserte und erweiterte Aull. 

1919. gr. 8 . Mit 25 Textliguren. 10 M. 

(irandriss 

der psychiatrischen Diagnostik 

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den Psychiater wichtigsten Gesetzesbe¬ 
stimmungen und eine Uehersicht der ge¬ 
bräuchlichsten Schlafmittel 
von Prof. Dr. J. Raecke. 

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1920. 8. Mit 14 Textliguren. Gebd. 8 M. 

Bernhard Fischer’s 

kurzgefasste Anleitung zu den wichtigeren 

hygienischen und bakteriologischen 
Untersuchungen. 

Dritte, wesentlich umgearbeitete Auflage 
von Prof. Dr. Karl Kisskalt. B • 
1918. 8. Gebd. 11 M. 

Pathologisch-anatomische 

Diagnostik 

nebst Anleitung zur Ausführung von 
Obduktionen sowie von pathologisch¬ 
histologischen Untersuchungen 

von Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Joh. Orth. 
Achte, durchgesehene u. vermehrte Aull. 
1917. gr.8. Mit 532 Textfig. 22 M., geb.24M. 

Soziale Pathologie. 

Versuch einer Lehre von den sozialen 
Beziehungen der menschlichen Krankheiten 
als Grundlage der sozialen Medizin und 
der sozialen Hygiene 
von Prof. Dr. med. Alfred Grotjahn. 
Zweite, ncubearb.Aull. 1915. gr.8. 15M. 

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und pathologischen Chemie 

nebst einer Anleitung zur anorganischen 
Analyse für Mediziner 

von Geh. Med.-Rat Prof. Dr. E. Salkowski. 
Vierte, vermehrte Auflage. 1912. 8. 

Mit 10 Textliguren und einer Spektraltafel 
in Buntdruck. Gebd. 8 M. 


j Verlag vo n Aug ust Hirschwald in Berlin. 

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j von Dr. Hans Hirschfeld. 

1918. gr. 8. Mit 7 chromojithogr. Tafeln 

i und 37 Textliguren. 32 M. 

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1 der Infektionskrankheiten 

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} Dritte Aull. gr.8. Mit 2 Taf. u. 4 Textfig. 
! 1914. 12 M. 

(Bibl.v. Coler-v.Schjeriiiug. XI.Bd. 3. Aull.) 

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I für deu Bau vou Krankenhäusern 

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j Zweite, vermehrte Auflage. 

; 1914. gr.8. Mit 4Tafeln u. S4Textfig. 6M. 
(Bibliothek v. Coier-v.Schjerning, XX. Bd.) 

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von Dr. mcd. F. 0. (Quetsch. 

1914. gr.8. Mit 103 Textlig. 4M. 30 Pf. 

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Dr. Weil eii borg, 

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Zweite Auflage. 1909. gr.8. 20 M. 

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Auf Grundlage des Deutschen Arzneibuches 5. Aus¬ 
gabe und der neuesten ausländischen Pharmakopoen 
bearbeitet von 

Geh. Med.-Rat Prof. Dr. ('. A. Ewald 
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1911. gr. 8. Gebd. 18 M. 

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von Dr. Ad. Silberstein. 

1911. gr. 8. 13 M. 


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Y iertelj ahrsschrift, 

für 

gerichtliche Medizin 

and 

öffentliches Sanitätswesen. 


Unter Mitwirkung der wissenschaftlichen Deputation für 
das Medizinalwesen im Ministerium für Volkswohlfahrt 

heraasgegeben 


Dr. M. Beninde, und Prof. I)r. F. Strassmann, 

Geh. Mod.-Bat in Berlin. Geh. lfed.-Bat in Berlin. 


Dritte Folge. 60. Band. 
Jahrgang 1920. 

Mit 2 Kurventafeln, l Kurve und 1 Abbildung im Text. 


BERLIN 1920. 

VERLAG VON AUGUST HIRSCHWALD. 

NW. UNTRE DK» LINDRN 68. 


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Inhalt. 


1. Heft. äeite 

I. lieber die Frage des Kalkmangels in der Kost. Gutachten der 
Wissenschaftlichen Deputation für das Medizinalwesen in Berlin. 
Erstattet am 10. März 1920. Referent: Geh. Ober-Med.-Rat Prof. 

Dr. R u b n o r. 1 

II. Das Verhalten des Körpergewichts und die Ernährungsverhältnisse 
der männlichen Verpflegten der sächsischen Landesanstalt Colditz 
während der Kriegsjahre 1915—1919. Von Ober-Med.-Rat Dr. 

Dehio, Direktor d.Landesanst.Colditz. (Mit2Kurventaf.i.Text.) 27 

III. Aus der medizinischen Klinik Bürgerspital Basel (Vorsteher: Prof. 

Dr. R. Staehelin). Ueber Brommethyl Vergiftung. Ein Beitrag 


zur Frage der Spätwirkungen von Giftstoffen. Von Fritz Rohrer, 

Dozent für Physiologie in Basel.51 

IV. Aus der medizinischen Klinik der Universität Basel (Vorsteher: 

Prof. Dr. R. Staehelin). Ueber Vergiftung mit Brommethyl und 
Nachweis der Substanz in Blut und Organen vergifteter Tiere. 

Von Privatdozent W. Löffler und W. Rütimeyer .... 60 

V. Tod nach Misshandlung. Von Dr. Räuber, Regierung^- und 

Geh. Med.-Rat in Erfurt. 68 

VI. Aus dem gerichtl.-med. Institut Basel (Vorsteher: Prof. S. Schön - 
berg). Beitragzur Kenntnis plötzlicherTodesfälledurcb Erstickung. 

Von Dr. med. Berthold Meyer. (Mit 1 Abbildung im Text.) . 79 


VII. Aus dem pathologischen Institut der städtischen Krankenanstalten 
in Dortmund (Direktor: Prof. Dr. Herrn. Schridde). Unter¬ 
suchungen über die Fäulnisveränderungen der menschlichen 
Lungen. Von Herbert Olivecrona, ehern. Assistent am Institut 102 

VIII. Die forensische Bedeutung der Gebirnarteriosklerose. Von Dr.med. 

W. Knape, Kreisarzt in Johannisburg (Ostpr.).121 

IX. Kleinere Mitteilungen: 

1. Mord, Verstümmelung der Leiche, Verurteilung und Ab- 
büssung der Strafe; Manifestation der Geisteskrankheit; 

Tod in der Irrenanstalt. Paralytische Veränderungen im Ge¬ 
hirne und luetische an der Aorta. Von Dr. L. Stano- 
j e v i 6, Direktor der Landesirrenanstalt in Stenjevec bei 


Zagreb (Agram) in Kroatien.137 

2. Klage auf Notzucht. — Abtreibungsversuch bei nicht¬ 
schwangerem Uterus. Von Dr. James Brock, ehemals 
Arzt der Kaiserl. St. Petersburger Entbindungsanstalt und 
St. Petersburger Stadtakkoucheur.140 

X. Besprechungen.142 

XI. Notiz.144 


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IV 


Inhalt. 


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2« Heft* Seit« 

XU. Die Begutachtung von Nierenerkrankungen auf Grund der Kriegs¬ 
erfahrungen. Von A.V. Knaok, Hamburg. (Mit 1 Kurve im Text.) 145 
XIII. Aus dem pathol.-anat. Institut des Krankenhauses Friedricbstadt 
in Dresden (Direktor: Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Schmorl). Ueber 


Vergiftung durch Trinken chloroformhaltiger Flüssigkeit. Von 

Raimund Schelcher.175 

XIV. Ueber künstliche Färbung und Entfärbung des menschlichen 
Haares in geriohtlioh-medizinischer Beziehung. Von Dr. Lothar 
Bock, Braunschweig.191 


XV. Die Ursachen des Verbrechens. Von Hugo Marx f . . . . 205 

XVI. Aus der Berliner städtischen Irrenanstalt Dalldorf (Direktor: 

Geheimrat Dr. Kortum). Dämmerzustände eines homosexuellen 
Neurotikers. Von Dr. Max Margulies, Hermsdorf bei Berlin . 226 

XVII. Die forensische Bedeutung der Gehirnarteriosklerose. Von Dr. med. 

W. Knape, Kreisarzt in Johannisburg (Ostpr.). (Schluss.) . . 247 

XVIII. Das Leichenwesen in Preussen: Von Dr. Robinski, Kreisarzt in 


Papenburg-Ems.258 

XIX. Kleinere Mitteilung: 

Hieb- und Schusswunde als Konkurrenz der Todesursache. 

Von Generaloberarzt a. D. Dr. Neumann, Naumburg a. S. . -269 

XX. Besprechungen.271 


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I. 


Ueber die Frage des Kalkmangels in der Kost. 

Gutachten der Wissenschaftlichen Deputation für das Medizinal¬ 
wesen in Berlin. Erstattet am 10. März 1920. 

Referent: Geh. Ober-Med.-R&t Prof. Dr. Rnbner. 


An den 

Herrn Minister für Volkswohlfahrt. 

I. 

Dem Ministerium für Volkswohlfahrt sind eine ganze Reihe von 
Druckschriften, sowie anderweitige Zusendungen unterbreitet worden, 
welche an die Bekanntgabe der in Deutschland gemachten Erfahrungen 
über Enochenerkrankungen anknüpfen und entweder auf die Emp¬ 
fehlungen von Salzmischungen oder Kalk in irgend welchen Kombi¬ 
nationen als Zusatz zur Nahrung hinauslaufen. Mit Berücksichtigung 
dieser Angelegenheit soll die Frage beantwortet werden, ob die seit 
der Hungerblockade von dem deutschen Volke bis auf den heutigen 
Tag genossene Nahrung so viel ärmer an Kalksalzen ist, dass dadifrch 
eine gesundheitlich ungünstige Beeinflussung des menschlichen und 
namentlich des wachsenden Organismus eingetreten ist. Ferner wird 
noch die Beantwortung der Frage gewünscht, ob durch ein Aufnehraen 
der kalkhaltigen Mineralwässer und Präparate, wie sie auf den Markt 
gebracht werden sollen, eine Verhütung oder Heilung der genannten 
Knochenerkrankungen ohne weiteres erreicht werden kann, oder ob 
nicht dadurch sogar Schädigungen der menschlichen Gesundheit ent¬ 
stehen können. 

Der gutachtlichen Aeusserung beehren wir uns zunächst eine 
kurze Schilderung des Inhaltes der Druck- und Schriftsachen voraus¬ 
zuschicken, weil in ihnen eine Reihe anderer gesundheitlicher Fragen, 
deren Erledigung im Interesse des ganzen Themas uns von Wichtigkeit 
erscheint, angeschnitten werden. 

Unter den Zuschriften befindet sich zunächst eine solche von 
dem Sanatoriumsleiter Dr. G., die an einen in der Täglichen Rund- 

Viertetifthreeehrift f. gor. Med. u. Off. 8ao.-Wesen. 3. Folge. Bd. 60. H. 1. i 


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2 Wissenschaftliche Deputation für das Medizinalwesen in Berlin, 

schau abgedruckten Artikel des Genannten anknüpft. Nicht im 
Nahrungsmangel an organischen Nährstoffen läge die Ursache unseres 
Ernährungszustandes, sondern in der Demineralisation von Boden, 
Pflanzen, Tier und Mensch. „Eine genaue Beobachtung der im Lande 
erzeugten pflanzlichen und tierischen Nahrungsmittel, sagt er, zeigt, 
dass genau wie Menschen und Tier auch Boden und Pflanzen hungern. 
Die Demineralisation aber übertrug sich von den Pflanzen auf Mensch 
und Tier“. Die Ernährungsphysiologie habe zu lange nur die organi¬ 
schen Nährstoffe betrachtet, die anorganischen nicht gewürdigt, vor 
allem nicht ihre Bedeutung für die Ausnützung der Energie aus den 
aufgenommenen Nahrungsmitteln.' Zweifellos hätten sonst die Folgen 
der Hungerblockade gemildert werden können. 

Die Mineralstoffe sind für G. nicht nur als Energieträger im 
Blute anzusehen, sollen vielmehr eine bessere Ausnützung des Nahrungs- 
eiweisses bewirken — wie als Eiweisssparer fungieren; bei Tier- und 
Menschenversuchen hätte man eine Sparung von Kalorien von 20 pCt. 
erwiesen. 

„Die regelmässige Zuführung der kombinierten Mineralsalze¬ 
verbindung gewährleistet selbst bei einer an Kraftstoffen armen Nahrung 
ungestörten Stoffwechsel, restlose Ausnutzung in brauchbaren Nähr¬ 
stoffen, normale Knochen- und Gewebsbildung, Erhaltung der Lebens¬ 
energie und Kraft, sowie Erhöhung der Leistungsfähigkeit. Es dürfte 
sich daher empfehlen, die Mineralsalze in den von mir untersuchten 
uncf angegebenen Verhältnissen dem Hauptvolksnahrungsmittel, dem 
Brot, regelmässig beim Backprozess zuzusetzen!“ 

Eine andere Gruppe von Petenten fordert nur Kalkzusatz. Den 
Reigen eröffnet eine von CI. überreichte Denkschrift, gleichfalls an¬ 
knüpfend an die Knochenerkrankungen. Während der Kriegszeit habe 
man wohl für die Zivilbevölkerung die Zufuhr organischer Nährstoffe, 
jedenfalls aber nicht jene mit anorganischen Nährstoffen organisiert, 
bei der Ernährung komme es nicht lediglich auf die Gewichtsraengen, 
sondern auch auf den „Gehalt“ der Nahrung an. „Hätten wir für 
die Herstellung einer Nahrung gesorgt, die alle zur Erhaltung des 
menschlichen Organismus notwendigen Stoffe enthielt, so hätten wir 
keine so furchtbare Unterernährung bekommen. Die Kriegskost hat 
im Kriegsbrot zu viel Magnesia und im allgemeinen zu wenig Kalk 
enthalten. Kalkhaltige Nahrungsmittel fehlten im Kriege, daher die 
Folge. Der Körper der Mutter erschöpft sich, kann das Kind nicht 
bilden und nähren“. Es wird dann auf die bekannten Schriften von 


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Ueber die Präge des K&lkmangels in der Kost. 


3 


Emmerich und Löw verwiesen, auf die Notwendigkeit der Einführung 
des Kalkbrotes und den Genuss des Kalkes und kalkhaltiger Quellen 
in leicht assimilierbarer Form. 1917 sei verfügt worden, in Zucht¬ 
häusern Wasser der Thüringer Kalziumquelle zu geben und habe gute 
Erfahrungen gezeitigt. 

Es muss in Zukunft von Staatswegen das Wasser unserer Kalzium¬ 
quelle für alle öffentlichen Nahrungsversorgungen verabreicht werden. 
Die Ernährungsämter der Städte und Kreise müssen entsprechende 
Anweisung bekommen. Propaganda in Schulen sei nötig. 

Weiter liegt vor eine Eingabe des Bundes der Kalkfreunde. Für 
Tiere, heisst es, habe man schon 1916 einen Schlemmkreidezusatz 
zum Futter empfohlen. Auch für den Menschen sei Vorsorge zu 
treffen. Der Bund der Kalkfreunde legt seinen Mitgliedern die Pflicht 
auf, das Speisesalz mit kohlensaurem oder phosphorsaurem Kalk zu 
versetzen. Der Bund verlangt, dem Getreide 1 pCt. Schlemmkreide 
beizumahlen. Der Werberuf der Gesellschaft lautet: „allezeit Kalk“. 
Schon der Embryo sei kalkbedürftig. Auch später sei Kalk not¬ 
wendig. Die schlechte Entwicklung mancher Säuglinge beruht auf 
Kalkroangel; die Kalkfreunde verlangen, dass zu jedem Pfund Salz 
50 g phosphorsaurer Kalk und 50 g kohlensaurer Kalk zugesetzt werde. 

Im Zusammenhang mit dem Schreiben der Kalkfreunde steht 
eine Eingabe des Vereins deutscher Kalkwerkc. Sie verlangen, dass 
von Reichswegen die Mühlen anzuhalten wären, dem Mehle Schlemm¬ 
kreide oder anderweitig kohlensauren Kalk zuzugeben. Als Beilage 
hat der Interessenverein deutscher Kalkwerke eine Abschrift einer im 
Jahre 1917 an den Generaloberst von Kessel gesandten Eingabe 
übermittelt. Sie beginnt mit dem gleichen Argument, das schon oben 
erwähnt ist, das Landwirtschaftsministerium habe schon 1916 eine 
Zuga*be von 50 g kohlensaurem und 50 g phosphorsaurem Kalk zum 
Futter für ein Stück Grossvieh empfohlen und ein segensreiches 
Resultat erzielt. Worin das bestanden hat, wird nicht angeführt. 
Weil die Milch beseitigt sei, müsse Ersatz geliefert werden. Die 
Mineralwässer von Sodenthal und Suderode seien zu teuer, um damit 
der Bevölkerung zu helfen. Beim Schwein sei erwiesen, dass bei 
Kalkmangel die Ausnützung der Futtermittel geringer sei, also wird 
es beim Menschen ebenso sein. Am besten sei es, wenn der Müller 
direkt Schlemmkreide zusetzt. Der Kalkzusatz wird weiter motiviert 
durch die sehr grossen natürlichen Schwankungen des Vorkommens 
von Kalk in unseren Nahrungsmitteln. 

1 * 


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Wissenschaftliche Deputation für das Medizinal wesen in Berlin, 


Eine sehr umfangreiche Literatur umfasst endlich eine von ver¬ 
schiedenen Seiten ausgeführte Begutachtung der thüringischen Karolinen¬ 
quelle. Einmal werden Backversuche, mit Zusatz von Karolinenquelle 
mit Chlorkalziumzusatz ausgeführt, berichtet. Dann folgen eine Reihe 
von Gutachten. Ein solches von dem Nahrungsmittelchemiker M. W., 
in dem gesagt wird, dass ein Zusatz von 500 kg Teig mit 500 g 
Quellensalz (= das natürliche Quellwasser der Karolinenquelle mit 
der Hälfte seines Gewichtes Chlorkalzium versetzt) bei 2350 g Brot 
pro Woche im Tag 1 g Chlorkalzium zuführt, was bei kalkarmer Er¬ 
nährung notwendig sei, um das Knochensystem mit Kalk zu versehen. 

Weiter ein Gutachten von Prof. X. über Nationalkalzbrot, das 
mit obigen Salzgemischen hergestellte Brot. Nach einem Hinweis 
auf die Angaben von Emmerich und Löw über Kalkbedürfnisse 
wird gesagt, dass die Kriegskost, wenn sie nur reichlich ist, genügend 
Kalk enthält, dass aber jetzt die a Bevölkerung geschwächt und die 
VerdauungsWerkzeuge nicht in der Lage seien, die Nahrungsbestand¬ 
teile, darunter die mineralischen, genügend zu verwerten. Vor allem 
trage an der schlechten Verwertung das schlechte Brot die Schuld. 
Gute Vollkornbrote müssten auch die Randschichten des Getreidekorns 
enthalten, aber nicht die Schalen. Solch Brot bedarf keines Zusatzes, 
es enthält die Salze in richtiger Menge. Aber wenn stärker ausge- 
mählen würde und Weizenmehl geringer Ausmahlung eingeführt wird, 
so können Uebelstände eintreten. Dabei könne dem Kalkzusatz das 
Wort geredet werden, 100 Kilo Brotteig empfangen mit der durch 
Chlorkalzium verstärkten Karolinenquelle dann 50 g Kalk als Zusatz. 
Das Nationalkalzbrot sei daher ein Beitrag zur Verbesserung der dar¬ 
niederliegenden Volksernährung. 

Ein Gutachten von Prof. 1\ besagt etwa folgendes: Einleitend 
wird wieder auf die Anschauungen von Emmerich und Löw hinge¬ 
wiesen, dann werden die Funktionen des Kalkes im Körper aufgezählt. 
Kalk könne aber durch Magnesia aus den Zellkernen und anderen 
Depotstellen verdrängt werden, wobei die Lebensfähigkeit und Wider¬ 
standskraft der Organe beeinträchtigt würde. Der Körper darf nicht 
zu wenig Kalk enthalten, weil sonst Zähne und Knochen weich werden. 
Kalkzirkulation muss vorhanden sein. Im Blutserum sei dreimal so 
viel Kalk als Magnesia, die Milch hat 8—9 mal so viel Kalk als 
Magnesia und ist überhaupt kalkreich. Das Blutserum zeigt an, wie 
das Mischungsverhältnis zwischen Kalk und Magnesia am zweck- 
mässigsten in der Nahrung sein soll. Der Kalkbedarf sei nach Löw 


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Ueber die Frage des Kalkmangels in der Kost. 


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l_g CaO im Tag. Wesentliche Herabsetzung müsse krankhafte Folgen 
haben, die Kalktherapie habe sich daher als zweckmässig erwiesen. 
Unsere Kriegscrnährung ist zu kalkarm. Nach Löw seien in der 
rationierten Kost nur 0,332 g CaO und 0,7429 Mg vorhanden, aber 
mit l / 2 Pfund Blatt- und Wurzelgemüsen käme man auf 0,882 CaO 
und 0,977 g Mg, was auch noch nicht ganz befriedigt. Im Winter 
sei die Gemüsezufuhr nicht möglich und zu teuer, also muss der 
Kalkgehalt der rationierten Kost erhöht werden. Kalkhaltige Mineral¬ 
wässer könne man nicht allgemein verabreichen, also müsse Kalk als 
Chlorkalzium dem Brot beigemengt werden. Trotz alledem habe das 
Kalkbrot keine genügende Verbreitung gefunden. Die Lösung wäre 
die Anreicherung der Karolinenquelle mit Chlorkalzium. Bei einem 
täglichen Genuss von 325 g Brot = Nationalkalzbrot würde täglich 
T),767 g CaO zugeführt. Man komme also mit Kalkbrot in der Ration 
auf 0,982 CaO und 0,742 Mg und mit 250 g Gemüse auf 1,552 CaO 
und 0,975 g MgO. Im Frieden würden bei 500 g Brot schon in 
diesem allein die erforderliche Kalkmenge vorhanden sein. Es bedarf 
aber einer eingehenden Kontrolle des Brotes. 

Der Nervenarzt B. in Berlin berichtet über die Wirkung der 
Karolinenquelle bei verschiedenen Krankheiten, was übergangen werden 
kann. Die Direktion der Grossherzogin Karolinenquelle zu Berlin 
stellt schliesslich den Antrag, dieses mit Chlorkalzium versetzte 
Quellsalz zur Herstellung von Brot in Vertrieb setzen zu dürfen. 
Die Kontrolle über das Salz soll ein Handelschemiker in Kassel, die 
Kontrolle über das Brot Dr. Fornet in Berlin ausüben. 

II. 

Wie berichtet, haben also die eingangs erwähnten Knochen- 
erkränkungen den Anlass geboten, eine Reihe von Kräften mobil zu 
machen, die ihre Ziele auf verschiedenen Wegen zu erreichen suchen. 
Die Gutachten und Begleitschreiben bewegen sich alle in den gleichen 
Gedankengängen, fussen auf den gleichen Motiven, bringen aber in 
ihrer Gesamtheit keine Tatsachen, nur Behauptungen, welche zumeist 
schon in allerlei populären Artikeln zum Ausdruck gekommen sind, 
oder als Schlagworte in allen möglichen Broschüren weiterverbreitet 
werden, obschon sie zum Teil tatsächliche Missverständnisse enthalten. 
Wenn wir auch nicht hoffen dürfen, sie aus derWelt zu schaffen, so muss 
doch dazu einmal Stellung genommen werden. Eine dieser oft wieder¬ 
holten Behauptungen besagt, dass die anorganischen Nährstoffe neben 


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6 , Wissenschaftliche Deputation für das Medizinalwesen in Berlin, 

den organischen bisher vernachlässigt worden seien, and mehrfach 
wird behauptet, dass erst die ausserhalb der Schulmedizin stehenden 
Aerzte auf diese Bedeutung aufmerksam gemacht hätten. In dieser 
Darstellung ist die Behauptung völlig unzutreffend, vielleicht eine nur 
auf Unkenntnis beruhende Entstellung. Die ersten Anregungen auf 
diesem Gebiete führen auf J. Liebig zurück, der zuerst die Regel« 
mässigkeit in der Aschezusämmensetzung der Tiere, der Menschen 
wie der Pflanzen erkannt und daraus auf ihre Notwendigkeit ge¬ 
schlossen hat. In diesem Sinne ist die Lehro Gemeingut der Er¬ 
nährungswissenschaft geblieben und diese Tatsachen, die seit Mitte 
des vorigen Jahrhunderts bekannt sind, bedürfen nicht einer stetigen 
Wiederholung, um als wissenschaftlicher Besitz anerkannt zu sein. 

Die Beziehungen der einzelnen Bestandteile, wie des Kalks für 
die Knochen, des Eisens für die Blutbildung, des Aufbaues der Zell¬ 
substanzen zu verschiedenen Salzen, des Kochsalzes zur Zell- und 
Säftebildung und für die Lösungs- und Diffusionsverhältnisse der Ei¬ 
weissstoffe, waren so auf der Hand liegend, dass ihre Zusammenhänge 
geradezu selbstverständlich erscheinen mussten. 

In dieser allgemein ausgesprochenen Form bedurften die An¬ 
nahmen Liebigs einer physiologischen Durchprüfung. Diese ist zu¬ 
erst von Chossat, Milne-Edwards, 0. Voit und seinen Schülern 
und dann von einer Reihe anderer Physiologen vorgenommen worden. 
Es handelt sich um den Nachweis der Ausfallserscheinungen bei der 
Entziehung einzelner anorganischer Nährstoffe. Die Untersuchungen 
über aschenarme Kost, über kalkarme Kost, über eisenfreie Kost 
haben in dieser Hinsicht ein Verständnis für die Bedeutung einzelner 
wichtiger Aschebestandteile eröffnet, zugleich aber auch erkennen 
lassen, dass solche Versuche nur schwierig einwandsfrei gelingen, 
da der Organismus in weitestem Masse an Salzen und einzelnen Be¬ 
standteilen zu sparen vei steht. Hieran schlossen sich später die 
weiteren Fragen, ob die anorganischen Bestandteile in Bindung mit 
organischen Verbindungen, oder auch für sich ihre Nährfunktion aus¬ 
üben können. Dagegen haben sich einwandsfrei trotz aller darauf 
verwandter Mühe in exakter Weise Grenzwerte für den Minimalbedarf 
einer jeden Komponente der anorganischen Zufuhr für den Erwachsenen 
nicht feststellen lassen. Für manche besonderen Zwecke, wie für die 
Säuglingsernährung hat. sich dagegen die quantitative Seite immerhin 
so weit geklärt, dass das Verhältniss der Zufuhr der wichtigsten 
Bestandteile sich hat einigermassen begrenzen lassen. 


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Ueber die Frage des Kalkmangels in der Kost. 


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Die Entziehung von Salzen gelingt nur nach längerer Zeit und 
unter ganz besonders künstlichen, nicht leicht zu realisierenden Be¬ 
dingungen, die von den bei natürlicher Kost gegebenen Verhältnissen 
wdt abweichen. Der Salzstoffwechsol zeigt sich von jenem der 
organischen Stoffe darin grundverschieden, dass er je nach der 
praktisch durchgeführten Ernährung mit grossen Ueberschüssen an¬ 
scheinend ohne Schaden betätigt werden kann, weil die Nieren wie 
Darm in der Lage sind, den Ueberschuss jederzeit so weit zu er¬ 
niedrigen, dass die optimalen Verhältnisse der Salze im Organismus 
eine' länger dauernde Umwertung und störende Anreicherung nicht 
erfahren. Im besonderen bietet die menschliche gemischte Durch¬ 
schnittskost keinerlei Anhaltspunkte, dass sie an mangelnder Salz¬ 
zufuhr litte, solches tritt nicht einmal bei ganz einseitigen Ernährungs- 
forracn, wie bei dem Fleischfresser, beim erwachsenen Tier wenigstens, 
in die Erscheinung. Aus diesen Gründen hat man auf die besondere 
Normierung und Regulierung der Salzzufuhr bei der durchschnittlichen 
Ernährung kein besondere? Gewicht zu legen sich berechtigt gefühlt, 
nicht aber deshalb, weil man etwa die Salze als minderwertig für die 
Ernährung betrachtet hätte. 

Auch noch ein anderer Gesichtspunkt tritt in dem Gutachten 
und populären Schriften häufig in die Erscheinung, nämlich die Be¬ 
hauptung, dass ein geringer Salzgehalt die Verdaulichkeit der Nahrung 
vermindere. Der Gedanke ist den Schriften Liebigs entnommen, 
der den Nahrungsmitteln die Eigenschaft zuschrieb, dass sie nur ver¬ 
daulich seien, wenn sie alle von Natur ihnen zukommenden Salze ent¬ 
hielten. Dieselbe Behauptung kehrt heute noch immer wieder. Es 
ist selbstverständlich, dass bei einem Versuch mit erfolgreicher Ent¬ 
ziehung der Aschebestandteile, wie ihn z. B. Förster durchgeführt 
hat, schliesslich auch die Bildung der Verdauungssäfte leiden kann 
und auch gelitten hat. Aber dass die spezifischen Salze eines Nah¬ 
rungsmittels keine Verminderung erfahren können, ohne die Verdauung 
ungünstig zu beeinflussen, ist längst widerlegt. Nicht nur für die 
Eiweissstoffe kann man zeigen, dass ihre Resorption von dem Asche¬ 
gehalt gar nicht abhängig ist, auch für die vegetabilischen Nahrungs¬ 
mittel und das Brot hat sich dartun lassen, dass die bei verschiedener 
Ausmahlung in diesen enthaltenen Salze auf den Grad der Verdaulich¬ 
keit nicht den geringsten hemmenden oder befördernden Einfluss haben. 
In wochen- und monatelangen Versuchen selbst mit einseitiger Kost 
haben sich solche Unterschiede nicht gezeigt, unter natürlichen Ver- 


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8 Wissenschaftliche Deputation für das Medizinalwesen in Berlin, 

hältnissen wechseln wir aber an sich die Nahrungsmittel so häufig 
und vielfach, dass wirkliche Einseitigkeit nicht wohl normalerweise in 
die Erscheinung treten kann. 

Während die Mehrzahl der Beobachter die richtige Voraussetzung 
machen, dass es sich im SalzstofFwechsel vom Ernährungsstandpunkt 
um ein rein stoffliches Bilanzproblera handelt, d. h. um den Ersatz 
eines unvermeidlichen Verlustes, dessen absolute Grösse man nicht 
exakt kennt, bringt G. einen Gedanken zum Ausdruck, der ja aller¬ 
dings nicht von ihm selbst aufgeworfen, sondern in der halbpopulären 
Literatur 'schon lange aufgetaocht, auch wohl gelegentlich in die 
medizinische Literatur herübergeraten ist. Die Salze sind für ihn und 
viele anderen Vertreter dieser Richtung „Energieträger“. Solche Vor¬ 
stellungen werden meist verbunden mit dem Gedanken an osmotische 
Wirkungen im Körper, mit der Bedeutung der Salze als Elektrolyten, 
als Quelle elektrischer Ströme und man spricht von den ungeheuren 
Spannungen zwischen Ionen u. a. mehr. Allen diesen Ebingen liegt 
ein prinzipieller Denkfehler zugrunde. Als Energieträger können wir 
nur einen Körper betrachten, der aus dem Körper mit geringerer Spann¬ 
kraft austritt, als er beim Eintritt in den Körper besessen hat. Nur 
auf den physikalischen Anfangs- und Endzustand kommt es an; 
welche Veränderungen sonst eine Verbindung erleidet, ist für den 
Endeffekt vollkommen gleichgültig. Der intermediäre Kraftwechsel 
hat für uns hier gar keine Bedeutung, ob die Kohlehydrate in 
einem Akt im Körper verbrennen oder in Dutzenden von Zwischen¬ 
stufen, ist im Hinblick auf den Energieaustausch völlig gleichgültig. 
Bei den organischen Nährstoffen kommt in betracht, in welchem 
Aggregatzustand sie aufgenommen werden. So ist der Zucker in ge¬ 
löstem Zustand, das Fett in geschmolzenem Zustand, das Eiweiss 
eventuell für den Quellungszustand bei der Aufnahme in Rechnung 
zu stellen. Die ausgeschiedenen Produkte sind Gase und Wasser¬ 
dampf, die Lösungswärme des Harns und Kotes kann mit in Frage 
kommen. Bei den Salzen kann man allenfalls in betracht ziehen, 
ob ausser der Lösung noch der Dissoziationsgrad in Ionen bei der 
Ein- und Ausfuhr derselbe ist. Die Dissoziationswärme ist aber an 
sich eine so geringfügige Grösse, dass man sie nur mit besten 
Methoden einigerraassen genau finden kann, sie ist von einer Grössen¬ 
ordnung, die neben dem sonstigen Energieverbrauch im Kraftwechsel 
des Tieres und des Menschen überhaupt nicht mit in Frage kommt. 
Das Gesetz der Erhaltung der Kraft ist nach exakter Methode auch 


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Ueber die Frage des Kalkmangels in der Kost. 


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am Menschen und Tieren nachgewiesen worden. Wir kennen die 
Kraftforraen der Einfuhr und des Kraftverlustes des Körpers; die 
„Euergieträger“ G.s haben damit nichts zu schaffen. 

Der Artikel G.s spricht von der D^mineralisation der Pflanzen, 
der Nahrung, der Tiere und des Menschen. Was die erstere anlangt, 
so beruht die Angabe jedenfalls auf reiner Spekulation. Er nimmt 
offenbar an, weil Düngermangel herrsche, so müssten auch die Pflanzen, 
also auch die Nahrungsmittel weniger Aschebestandteile enthalten. 
Solche aprioristischen Annahmen müssten aber doch erst nachgeprüft 
werden. Mehrfach ist von landwirtschaftlicher fachmännischer Seite 
gesagt worden, die frühere Düngung sei überreichlich gewesen, nament¬ 
lich sei aber Phosphorsäuremangel dadurch ausgeglichen worden, dass 
manche Pflanzen ihre Wurzeln verlängern; um aus tiefen Schichten 
die Nahrung herauszuholen. Eine systematische Untersuchung der 
Ascheverhältnisse der Kulturpflanzen hat nach Angabe Sachverständiger 
auf diesem Gebiete gar nicht stattgefunden, somit liegt eine Unterlage 
für weitere Betrachtungen nicht vor. Blosse Diskussion über diesen 
Gegenstand ersetzt den Mangel an Beweisen nicht. Es ist gewiss 
möglich, dass da und dort solche Einflüsse sich geltend gemacht 
haben, aber das kann doch auch in der Richtung geschehen sein, 
dass die Ernten im allgemeinen kleiner geworden sind, ohne die Zu¬ 
sammensetzung der Pflanze wesentlich zu verändern. Jedenfalls steht 
für den Referenten nach direkten Analysen der verschiedensten Ge¬ 
müsearten, des Obstes und Getreides während der Kriegszeit fest, 
dass eine gesetzmässige Abweichung von den sonstigcq Mittelwerten 
des Aschegehaltes nicht zu beobachten war. Ebensowenig hat sich 
erweisen lassen, dass die mittlere Zusammensetzung der Milch oder 
des Aschegehaltes des Fleisches eine andere geworden ist. Von den 
geringeren Erträgnissen der Milchbildung und der Mast kann hier ab¬ 
gesehen werden. Bei der Muttermilch ist wohl eine Abnahme der 
Ergiebigkeit der Drüsentätigkeit, aber eine Veränderung der Zusammen¬ 
setzung unseres Wissens bis jetzt nicht zahlenraässig erwiesen. Die 
erwiesenen Nachteile für die Säuglinge lassen sich alle aus dem 
Quantitätenmangel, d. h. den niederen Erträgnissen der Mutterbrust 
erklären. 

G. behauptet weiter, dass die Mineralstoffe auch als Eiweisssparer 
fungieren; auf welche Versuche er sich dabei stützt, ist nicht ersicht¬ 
lich; wenn er aber etwa dabei auf den von Ragnar Berg behaupteten 
Einfluss des Basenüberschusses in der Nahrung auf eine Minderung 


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im Eiweissverbrauch änspielen sollte, so ist zu bemerken, dass diese 
Angaben Bergs sich als unzutreffend erwiesen haben. Ebensowenig 
ist aus zuverlässigen Experimenten irgendwie bekannt geworden, dass 
die Salze eine Minderung des Energieverbrauchs um 20 pCt. herbei¬ 
führen, wie G. gefunden haben will. 

G. verlangt, dass man seine kombinierte Mineralraischung dem 
Brote regelmässig zufügt. Das scheint ein völlig planloses Unter¬ 
nehmen zu sein, da man doch erst übersehen müsste, welche an¬ 
organischen Nahrungs bestand teile fehlen und welche das G.sche Nähr¬ 
salz liefert. Ohne jede Klärung dieser Grundfragen wäre eine solche 
Empfehlung völlig nutzlos. Die Nährsalztherapie hat in der medizini¬ 
schen Welt keine sehr glanzvolle Geschichte, weil 'man solche Emp¬ 
fehlungen, wie auch die bekannte Lahmannsche, auf einem Boden 
aufbaute, der von einem physiologischen Durchdenken des Problems 
keinen Hauch empfinden liess. Nicht aus Vernachlässigung des 
Interesses für die anorganischen Nährstoffe hat die Physiologie dieser 
Nährsalzbewegung kein Vertrauen entgegengebracht, als wegen des 
völlig unkritischen Uebergriffs der Praktiker auf ein Gebiet, was einer 
noch viel weiter gehenden Durcharbeitung bedarf. 


III. 

Wenn wir in Nachfolgendem uns auf die weitere Betrachtung der 
anorganischen Nährstoffe einlassen müssen, geschieht dies unter der 
für die Physiologen selbstverständlichen Verwahrung, dass die als 
Asche aufzufindenden Bestandteile keineswegs in dieser Form in den 
Nahrungsmitteln enthalten, sondern zum Teil erst durch die Ver¬ 
aschung künstlich geschaffen sind. Deshalb haftet allen Betrachtungen 
stets ein gewisser Grad von Ungenauigkeit an, der mit diesem all¬ 
gemeinen Hinweis erledigt sein mag. 

Alle übrigen Eingaben ausser G. beschäftigen sich mit der Frage 
der Notwendigkeit des Kalkzusatzes. Wir wollen die ausführlichen 
Angaben von Emmerich und Löw über die Funktionen des Kalkes 
im Körper und für die Zwecke des Wachstums usw. als bekannt 
übergehen. Der Kalk gehört zu den notwendigen Bestandteilen, 
ausserdem steht fest, dass die Zufuhr von anorganischem Kalk für 
die Ernährungszwecke ausreichend ist. 

Die verschiedenen Petenten zeigen vielfach die gleichen Züge bei 
der Motivierung. Bei CI. ist der Zusammenhang mit den von G. ge¬ 
gebenen Darstellungen unverkennbar. Das Wort, dass die Mineralisie- 


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Ueber die Frage des K&lkmangels in der Kost. 


11 


rung der Nahrung die Hungerblockade gemildert hätte, scheint zu 
einer Art Schlagwort werden zu sollen. Die Kalkfreunde sind für 
kohlensauren und phosphorsauren Kalk und Schlemmkreide im Brot. 
Gl. für die Karolinenquelle mit Chlorkalziumzusatz. Weiter inter¬ 
essieren uns noch die wissenschaftlichen Gutachten. Auch in diesen 
spielen die Angaben von Emmerich und Löw die Hauptrolle. Bei 
Prof. X. wird behauptet, dass die Bevölkerung jetzt wegen geschwächter 
Verdauungswerkzeuge die Nährbestandteile, darunter die mineralischen, 
nicht genügend verwerten könne. Für eine solche prinzipielle 
Aenderung des Verdauungsvermögens lassen sich aber Experimente 
nicht anführen, soweit letztere in Frage kommen und nicht einfache 
Vermutungen, kann man die Aeüderung der Verdauungsfähigkeit nicht 
behaupten. 

Ferner sagt X., wenn gutes Vollkornbrot gegeben würde, so be¬ 
dürfe man eines Kalkzusatzes nicht, weil dieses die Salze in richtiger 
Menge enthalte. Dagegen möchten wir bemerken, dass kein Beweis 
zu erbringen ist, dass die Salzmischung, wie sie im Getreidekorn vorliegt, 
überhaupt die für den Körper allein richtige ist. Die Salze im Ge¬ 
treidekorn sind von der Natur eben für das Pflanzenwachstum be¬ 
stimmt, dabei kann der Gehalt an Asche bei Weizen und Roggen um 
600—'800 pCt. schwanken, was zeigt, dass zur Entwicklung der 
Pflanzen eine absolute Konstanz des Aschegehaltes des Kornes nicht 
notwendig ist. Was die stärkere Ausmahlung und den dadurch zu 
erzielenden Gewinn an Asche anlangt, so darf man den letzteren für 
unsere tägliche Ascheversorgung nicht übertreiben und hat vielmehr 
zu erwägen, dass der Aschegewinn sich vorwiegend auf Magnesia be¬ 
schränkt und dass weiterhin mit verstärkter Ausmahlung der Asche¬ 
verlust in den Ausscheidungen auch grösser wird. 


In 100 Teilen Asche sind: 

Alkalien 

Kalk 

Magnesia 

bei feinem Uehl. 

32,0 

7,5 

7,7 pCt. 

in der Kleie. 

28,5 

3,0 

16,9 „ 


' Der Aschegehalt der Abfallsprodukte zwischen reiner Schälkleie 
und Kleie bei 70 proz. Ausmahlung ist derselbe, so dass der Asche¬ 
gewinn unter normalen Verhältnissen keine besondere Bedeutung hat 
und etwa l x /2 g pro Tag und Kopf nicht übersteigen wird. Im 
übrigen kommt es bei der ganzen Frage nicht auf eine Korrektur der 
Ascheführung des Brotes an, sondern auf die Gesamtlage der an¬ 
organischen Bestandteile in der täglichen Kost an. In dieser Hinsicht 
trifft das Gutachten von Prof. Y. mehr den Kernpunkt der Frage. 


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Die einleitenden Bemerkungen über Kalk bewegen sich auf dem 
gleichen Boden wie die anderen Broschüren und Gutachten. Der 
Kalkbedarf wird nach Löw auf 1 g CaO pro Tag angenommen. 

IV. 

Die Gutachten bringen insofern keine Klärung der Angelegenheit, 
als sie sich auf die eigentliche Bedarfsfrage immer nur mit Zitaten 
anderer Arbeiten genügen lassen und die Grundlagen selbst nicht 
nachprüfen. Angenommen wird ein Bedarf nach Löw von 1 g CaO 
pro Tag für den Erwachsenen, während der Autor selbst keine dies¬ 
bezüglichen Versuche angestellt hat. Die Zahlen entstammen ver¬ 
mutlich aüs dem Buch von Albu und Neuberg und sind dort als 
Schätzungen angegeben. Ohne eine einigermassen sichere Grundlage 
kann man über die Notwendigkeit der Kalkzufuhr nichts entscheiden. 

Die einzigen Verhältnisse, welche etwas genauer bekannt sind, 
darf man die Ernährung der Säuglinge nennen, für welche wenigstens 
direkte Untersuchungen vorliegen, da deren Sal/.mengen sich aus dem 
mittleren Verbrauch an Muttermilch errechnen lassen. Die Säuglings¬ 
ernährung scheidet zunächst aus. Insoweit es sich dann um den Be¬ 
darf der Kinder und der Jugendlichen handelt, liegen hierüber keinerlei 
Grundlagen vor. Man kann allenfalls schätzungsweise aus dem An¬ 
wuchs in dieser Zeitperiode wenigstens die Mengen von Kalk, welche 
abgelagert werden, angeben. Was gemeinhin als Kalkbedürfnis be¬ 
zeichnet wird, bezieht sich approximativ auf den Erwachsenen, nach 
kurzen Beobachtungen an ein paar Personen. Der Bedarf hängt 
ausserdem von der Art der Nahrungsmittel und ihrer Verdaulichkeit 
ab. In manchen Nahrungsmitteln werden die Aschebestandteile schwer, 
in anderen besser oder vortrefflich resorbiert. Zum Unverdaulichen 
kommt hinzu, dass auch noch die Stoffwechselprodukte als Reste der 
Verdauungssäfte sehr wandelbar sind und dass ein Gleichgewicht der 
Gesamtasche in Ein- und Ausfuhr noch lange nicht ein Gleichgewicht 
der Komponenten bedeutet. Wenn meist, wie gesagt, angenommen 
wird, dass ein tägliches Kalkbedürfnis von 1,0—1,5 g CaO besteht, 
so weichen davon andere Angaben sehr wesentlich ab und gehen bis 
auf 0,7—0,4 g herunter, den Magnesiabedarf mit 0,6 g pro Tag kann 
man nur als vage Schätzung bezeichnen. Für die Phosphorsäure 
schwanken die wenigen Angaben von 0,7—0,8 bis 1 und 2 g P a 0 6 
für den Tag. Ausserdem sind aber Beobachtungen, allerdings an 
wachsenden Tieren gemacht, aus denen hervorgeht, dass bei fehlendem 


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Ueber die Frage des Kalkmangels in der Kost. 


13 


Kalk mehr Magnesia im Körper bleibt, wie andererseits behauptet 
wird, dass viel Magnesiazufuhr den Kalkverlust steigern könne. 

Wenn man also die Frage über den Mangel der notwendigen - 
Zufuhr einzelner Aschebestandteile exakt beantworten soll, so müssen 
wir vorläufig die Antwort als unmöglich ablehnen. Will man sich 
aber für praktische Zwecke mit einer gewissen Annäherung genügen 
lassen, so kann man etwa folgende Wege zur Beantwortung ein- 
schlagen. Massgebend und bedeutungsvoll können nur Zahlen sein, 
welche aus Mittelwerten der Nahrung einer grösseren Volksmasse 
gewonnen sind, wobei man über die Individualität, über störende Ein¬ 
flüsse hinwegkommt. Ein solcher Weg ergibt sieh; wenn man für 
den Nahrungskonsum einer ganzen Nation den Verbrauch an Asche¬ 
bestandteilen berechnet. Das ist möglich, denn wir kennen den 
Konsum der deutschen Nation an Nahrungsmitteln, es lässt sich dar¬ 
aus dann unter Zugrundelegung des durchschnittlichen Aschegehaltcs 
derselben und der Aschezusammensetzung der tägliche Verbrauch 
pro Kopf der Bevölkerung angeben. Genau sind auch dann die 
Ascheangaben nicht, weil wir schon eingangs erwähnten, dass die 
Aschebestandteile nicht die eigentlichen „Salze“ der Nahrungsmittel 
sind, weil ferner besonders bei den Vegetabilien die Salze sehr 
wechseln und weil endlich die Zahl der Analysen für jedes Nahrungs¬ 
mittel eine recht beschränkte ist. Aber einen anderen Weg können 
wir vorläufig nicht einschlagen. Wir wollen im folgenden nur das 
Kali, den Kalk, die Magnesia, das Eisen und die Phosphorsäure heran¬ 
ziehen, Chlor und Natron als irrelevant beiseite lassen. 

Wir geben im Nachstehenden die Werte für die deutsche Nation: 
pro Kopf und Tag ist der Verbrauch in g: 

K 2 0 CaO MgO F 2 0 3 P 2 0 6 

4,403 1,221 0,576 0,154 4,472 

Dazu kommen noch die Getränke, von denen nur das Wasser in 
Betracht gezogen wird. Was den Kalk anlangt, so kommt je nach 
der geologischen Formation mehr oder weniger an CaO hinzu. In 
der Granitformation und in Tonschiefer wird das Wasser sehr kalk¬ 
arm sein, in gipshaltigem Gestein enorm kalkreich. 1500* g Wasser¬ 
verbrauch für Koch- und Trinkzwecke angenommen beträgt der Kalk¬ 
gehalt zwischen 0,015 bis 1,15 g, d. h. unter seltenen und extremsten 
Umständen fast so viel, wie jener der ganzen Nahrung überhaupt, im 
Kochsalz sind ausserdem pro Tag etwa noch 0,03 g CaO vorhanden. 
Im Mittel wird. man für Trinkwasser und Salz zusammen nahe an 


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14 Wissenschaftliche Deputation für das Medizinalwesen in Berlin, 

0,2 g CaO schätzen können, so dass die Kalkmenge im ganzen auf 
rund 1,4 g im Tag steigt. 

Dieser nationale Mittelwert gilt pro Kopf der Bevölkerung, nicht 
für einen Erwachsenen. Man kann aus ihm durch Multiplikation 
mit 1,2 genäherte Werte für den Erwachsenen erhalten. Das wäre 
für CaO = 1,46 (ohne Trinkwasser), für MgO rund 0,6, der Wert 
für P 2 0 6 würde aber weit höher als die bisherigen allerdings approxi¬ 
mativen Werte sein, ln ähnlicher Weise könnte man heute auch die 
Nationalwerte anderer Völker berechnen, wobei sich manche Ver¬ 
schiedenheiten herausstellen. Der Mensch ist eben mit Bezug auf 
den Genuss anorganischer Nährstoffe in weitem Umfange frei und 
ungebunden, während die Bilanz hinsichtlich der organischen Nähr¬ 
stoffe bei allen genau untersuchten Nationen in Kalorien und Eiweiss¬ 
wert kaum abweicht, und sich heute schon das Ergebnis der Unter¬ 
suchung auf rund 470 Millionen Menschen erstreckt. 

Wir können natürlich nicht behaupten, dass die Salze der 
nationalen Werte notwendig sind, da die deutschen Werte nur ein 
Spezialfall sind, immerhin liegt darin aber ein Beweis, dass der ge¬ 
fundene Aschebedarf sicherlich für die Gesunderhaltung ausreichend 
ist, für die vorliegenden Fragen wird es aber darauf ankommen, za 
wissen, ob es nicht andere Möglichkeiten einer geringeren Salzzufuhr 
gibt. Der deutsche Konsum entspricht einer animalisch vegetabilischen 
Kost. Als gegensätzliches Beispiel nehme ich den Nationalkonsum 
der Japaner, in welchem nach dem durchschnittlichen Gemüsekonsum 
der Europäer die Zahlen ergänzt sind. Der Verbrauch, auf europäisches 
Körpergewicht berechnet, beträgt pro Kopf und Tag: 



k 2 o 

CaO 

MgO 

F 2 0 8 

p 2 o 5 

Japanische Kost. 

. . 3,376 

0,393 

0,686 

0,055 

4,853 

Demgegenüber die deutsche . . 

. . 4,403 

1,221 

0,576 

0,154 

4,472 

Nach der Literatur gefordert . 

— 

1—1,5 

0,6 

— 

0,7-2,0 


Die japanische Kost, zu 94 pCt. vegetabilisch, zeigt also, nach 
uns bemessen, einen enorm geringen Kalkgehalt. Bedingt wird das 
durch den Reis vor allem, der japanische Reis gehört zu den asche¬ 
ärmsten Sorten. Eigenartig ist der japanischen Kost das Fehlen der 
Milch, unter den an sich geringen animalischen Nahrungsmitteln. 
Kali, Phosphorsäure, Magnesia stimmen mit unserem Verbrauch überein, 
nur der Kalk unterscheidet sich so wesentlich von unserer reichen 
Zufuhr. Wir können aber nicht bezweifeln, dass diese kleinen Kalk- 
raengen für die Erhaltung eines ganzen Volkes zureichend sind. Wenn 


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Ueber die Frage des Kalkmangels in der Kost. 


15 


man bedenkt, dass die Mittelzahlen einer Nation sich ans einem Mehr 
oder Weniger der einzelnen Personen zusammensetzen, so wird man 
zweifellos auch mit etwas weniger als dem Gesamtdurchschnitt noch 
auskommen können. 0,393 Kalk auf einen Erwachsenen berechnet 
macht 0,471 g CaO. Da es sich bei der Aufrechnung nationaler Werte 
um eine Feststellung handelt, bei der auch kleine Verluste beim Ver¬ 
zehr der Speisen usw. nicht exakt gewürdigt werden können, muss 
man dies für anderweitige Vergleiche beachten. 

Jn solchen Fällen eines durchschnittlich so niedrigen Kalk¬ 
gehaltes kommt der Wahl des Wassers natürlich eine hohe Be¬ 
deutung zu. ' 

Andernfalls lässt sich jetzt so viel behaupten, dass ein Kalk¬ 
gehalt der Kost, welcher wesentlich niedriger ist als die bisherigen 
Annahmen, zu irgendwelchen Schädigungen nicht zu führen braucht. 
Ob aber die anderen Salze alle in den übereinstimmenden Mengen 
als notwendig zu erachten sind, lässt sich nicht mit Sicherheit be¬ 
haupten. 

Es lässt sich aber statt der völkischen Werte noch ein anderer 
Weg zur Auffindung annähernder Grenzwerte für die wichtigsten Nähr¬ 
stoffe anführen. 

Der einzige Fall, in welchem die Natur selbst die Nahrung be¬ 
reitet, ist die Ernährung der Säuglinge. Letztere hat das Eigenartige, 
dass sie znm Wachstum dient, und nebenbei für die Erhaltung des 
Körpers mit Eiweiss aufs sparsamste vorgeht. Die Salze der Mutter¬ 
milch sind nur zum Teil für das Wachstum bestimmt, im übrigen für 
den allgemeinen Betrieb der Versorgung des gesamten Zelllebens. 
Ueberträgt man die Zahlenwerte unter Ausschluss derjenigen 
Aschebestandteile und Mengen, die erfahrungsgemäss zum 
Aufbau verwendet werden, auf den nationalen Wert, so wird der 
Bedarf an Salzen pro Kopf und Tag: 



k 2 o 

CaO 

MgO 

^2^3 

p 2 o 6 


2,428 

0,588 

0,095 

— 

0,463 

Nach einer weiteren Versuchsreihe . . 

1,287 

0,429 

0,131 

— 

0,491 

Mittel . . 

1,857 

0,508 

0,113 

— 

0,477 

Deutscher Nationalwert. 

4/403 

1,221 

0,576 

— 

4,472 

Japanischer. 

3,376 

0,393 

0,686 

— 

4,853 

Der Kalkbedarf wird also 

nach 

dieser Schätzung 

nicht 

mehr 


kleiner, sondern bewegt sich auf der Höhe des japanischen Bedarfs. 
Es ist zu berücksichtigen, dass bei der Berechnung aus den Säuglings- 


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16 


Wissenschaftliche Deputation für das Medisinalwesen in Berlin, 


werten andere Getränke nicht aufgenommen werden, während bei den 
Mittelwerten der Nationen natürlich die letzteren als Kalkquelle noch 
hinzukom'men. Wir beschränken uns mit Rücksicht auf das Gut¬ 
achten nur auf den Kalkwert, dürfen aber doch kurz darauf ver¬ 
weisen, dass die grossen Ueberschüsse von Kali, Phosphorsäure und 
Magnesia anscheinend nicht zu den absolut unentbehrlichen Dingen 
gehören. 

Die Kalkzufuhr kann danach erheblich kleiner sein, als die von 
der Eingabe und Schrift dieser Aktenstücke hervorgehobene Bedarfs¬ 
grenze mit 1,5 g CaO pro Tag in der Kost allein, ohne dass deshalb 
sich Bedenken dagegen geltend machen lassen. 

Pro Kopf der Bevölkerung, d. h. etwa für 45—49 Kilo Gewicht 
{== einem 16—17 jährigen Menschen), bedeutet der Grenzwert etwa 
0,5—0,6 g CaO (inkl. Wassergenuss in letzterem Fall), für einen 
Erwachsenen etwa 0,6—0,72 g CaO pro Tag. Unter Grenzwert ver¬ 
steht sich aber sicher noch nicht das Minimum der möglichen 
Existenz, sondern ein gesicherter Verbrauch ohne gesundheitliche 
schädliche Nebenwirkung, alles für den Bestandstoffwechsel betrachtet. 

Nach diesen Erwägungen vermögen wir die bisher üblichen Be¬ 
trachtungsweisen des Mindestbedarfs an einzelnen Aschebestandteilen 
nicht für sich stichhaltig anzusehen, der Bedarf ist geringer. Dadurch 
werden die Unterlagen für die ganze Betrachtung wesentlich verschoben 
und auf eine andere Basis gestellt. 

V. 

Insoweit sich die Antragsteller und Begutachter überhaupt auf 
eine zahlenmässige Erörterung der Frage einer ungenügenden Kalk¬ 
menge in der Volkskost eingelassen haben, wiederholen sio eine ver¬ 
mutlich von 0. Löw stammende Angabe des Kalkgehalts einer 
„Ration“, womit dann die Zahlen über den Bedarf nach den oben 
schon kritisierten Annahmen verglichen werden. Auch die sach¬ 
verständigen Begutachter haben diese Angaben nicht weiter kritisch 
nachgeprüft. Dieses Verfahren gibt zu erheblichen Bedenken Anlass, 
weil die sogenannte Ration an sich sehr schwankend war, aber durch 
die örtlich verschiedenen amtlichen Zugaben noch unbestimmter wurde, 
von den anderweitigen ^Zuschüssen vorläufig abgesehen. 

Es ist aber natürlich, von allen diesen Bedenken abgesehen, ausser 
dem Erwachsenen doch auch noch der Kinder uud Halberwachsenen 
in ihrer Nahrungsversorgung durch anorganische Nährstoffe zu gc- 


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fK i 


Ueber die Frage des K&lkmangels in der Kost. 


17 


denken, nachdem einmal diese Frage zum Gegenstand der Behandlung 
gemacht ist. 

Die Charaktere unserer rationierten Kost mit Bezug auf die 
anorganischen Bestandteile sind leicht zu verstehen. Die Stadtkost, 
die eigentlich rationierte, ist wesentlich vegetabilisch geworden, aber 
nicht in einem günstigen Sinne. 

Diese Vorgänge sind in ihrer Entstehung leicht einzusehen. In 


unserer nationalen Kost des 
Gramm pro Kopf und Tag: 

Friedens 

treffen 

auf 

1000 kg/Kal. in 

K 2 0 

CaO 

MgO 


p 2 o 5 

Protein 

aus Animalien . . . 1,300 

0,986 

0,181 

0,044 

2,627 

55,5 

Vegetabilien . . . . 1,171 

0,265 

0,213 

0,059 

1,175 

19,5 


Die durch die Rationierung beseitigter/ Animalien bringen, wenn 
man von mehr Nebensächlichem absieht, das Sinken des Eiweiss¬ 
gehaltes und des Kalkgehaltes, */s der Kalorien sind in Animalien 
normal vorhanden, 2 / 3 in Vegetabilien. Da auch der vegetarische 
Anteil sich nicht mehr voll beschaffen lässt, so bleibt in der Tat ein 
eiweissarmes, kalkarmes Gemisch von unzureichender Kalorienzahl als 
Ration übrig, das durch die gelegentliche Beigabe von Graupen, Griess, 
Makkaroni oder die freihändige Beschaffung von Reis und etwas Mais 
in ihrer gesamten Beschaffenheit der anorganischen Bestandteile nicht 
geändert wird. 

Wir geben nachstehend nur ein Beispiel etwa aus der zwischen 
1917/18 vorkommenden Rationsform, den einzelnen Veränderungen 
nachzugehen, lohnt allerdings nicht. 

Eine Ration enthält pro Kopf und Tag in Gramm: 

K 2 0 . CaO MgO F 2 O a P 2 0 6 

3,375 0,226 0,290 0,089 1,922 

also in der Tat eine ausserordentlich weitgehende Kürzung der Kalk- 
zufuhr auf fast l / 6 des bisherigen nationalen Wertes. 

Weit weniger übersichtlich sind die Verhältnisse für die Kinder 
und Jugendlichen, da bei diesen eine sehr grosse Anzahl von Vor¬ 
schriften im Laufe der Jahre erlassen worden sind, es kann sich bei 
der Schilderung dieser Verhältnisse nur um ein aus der Praxis der 
letzten Zeit herausgegriffenes Beispiel handeln. Macht es schon bei 
dem Erwachsenen grosse Schwierigkeiten, zu einem Grenzwert des 
Kalkbedürfnisses zu kommen, so bewegen wir uns hinsichtlich des 
Kalkbedarfs während der Jugend und der Wachstumsperiode auf ganz 
unbekanntem Boden, nur für die ersten Lebensjahre und für die 

Viarteljahruehri/t f. gor. Med. u. Off. 8an,-Weaen. 3. Folge. Bd. 60. H. 1. o 


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18 Wissenschaftliche Deputation für das Medizinalwesen in Berlin, 

Mutterbrusternährung kennt man den Verbrauch und diesen betrachten 
wir zugleich auch als Bedürfnis aus dem Gedanken heraus, dass die 
Natur für diesen wichtigen Prozess des Wachstums mit der Mutter¬ 
milch optimale Verhältnisse geschaffen hat. Es ist klar, dass ohne 
einen Kalküberschuss über den Betriebsstoffwechsel kein Wachstum 
eintreten kann oder doch nicht neben dem allgemeinen Wachstum des 
Knochenbaues sich vollziehen kann. 

Am leichtesten wird die Uebeiwicht, wenn wir für die ganze 
Wachstumsperiode bis zum 18. oder 20. Lebensjahr die Gewichts¬ 
einflüsse ausschliessen, indem wir die Kalk- oder anderen Salze pro 
Quadratmeter Oberfläche berechnen. Dann kommen zwei Grenzwerte 
in Betracht. Der Kalk verbrauch in den ersten Monaten des Lebens 
und der Verbrauch nach Abschluss des Wachstums. Den ersten kann 
man genau angeben, für die Schulkindheit und die Pubertätsperiode 
und die sich anschliessenden Jahre haben wir aber keine Grundlagen 
dafür, um welche Grösse der Kalkverbrauch sich gegenüber den Er¬ 
wachsenen gesteigert hat. 

Unter allem Vorbehalt einer Schätzung lässt sich aber doch 
sagen, wieviel etwa bei der Massenzunahme des Körpers ungefähr an 
Kalk sich abgelagert haben dürfte. Es mag für das 6.—12. Jahr 
etwa 0,135 g CaO und für das 12.—18. Jahr etwa 0,290 g Kalk 
pro Tag in absoluter Masse als Mehrbedarf für Wachstum notwendig 
sein. Das 

beträgt für das Mittel der Kinder von 6—12 Jahren . . . pro 1 qm 0,121 g 
m Tag für den Halberwachsenen „ 12—18 „ ... „ 1 „ 0,191 „ 

Man kommt dann zu folgenden Werten. Für den Säugling pro 
1 qm 0,735 CaO 

für die 6—12Jäbrigen BestandsstotTwechsel 0,416 + 0,121 = pro lqm 0,531 CaO 
„ „12-18 „ „ 0,416 + 0,191 =„ 1 „ 0,607 CaO 

später 0,416 Gesamtbedarf. 


Aus den Lebensmittelkarten (ohne Nährmittel) findet sich bei 
der heutigen Rationierung 1920 folgende Aufnahme einzelner Asche¬ 
bestandteile: 




g im 

Tag pro 

1 qm 


Kinder 

K 2 0 

CaO 

MgO 

FoO s 

f 2 o 6 

1. Jahr = 6 kg . 

. . . 4,594 

1,857 

0,507 

0,106 

4,06» 

2. „ = 10 „ 

. . . 3,749 

1,428 

0,333 

0,085 

2,970 

5. „ = 16 „ 

. . . 2,864 

0,604 

0,229 

0,077 

2,024 

8. „ =22 „ . 

. . . 2,505 

0,184 

0,200 

0,077 

1,659 


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Ueber die Frage des Kalkmangels in der Kost. 19 

Daraus folgt, dass die Kalkzufuhr für die ein Jahr alten doppelt 
so gross ist, wie der Bedarf der Brustkinder, bis zu Beginn der 
Schule enthalten die verteilten Nahrungsmittel allein sicher mehr 
Kalk als notwendig. Dann aber fällt die Kalkmenge rapid ab und, 
was auch sonst an Nährmitteln gegeben werden mag, kommt für den 
Kalkbedarf kaum mehr in Betracht. Die Ursache liegt einzig und 
allein in der Milchkalamität. Die 8jährigen Kinder erhalten keinen 
Zuschuss von Milch. 

Wieweit der Mangel an Nahrung überhaupt für Jung und Alt 
durch freihändige Beschaffung abgeglichen wird, wissen wir nicht, 
weil die Zuschüsse, die dem Einzelnen aus freien oder verschobenen 
Nahrungsmitteln zukommen, uns unbekannt, jetzt aber sicher erheb¬ 
licher sind, als in den kritischen Jahren 1917—1918. Die vom Aus¬ 
land bezogene Verbesserung hat leider hauptsächlich nur das Fett 
betroffen und kommt für die Asche nicht in Betracht. 

Die Nahrungswahl hat selbstredend für die Deckung des Kalk¬ 
bedürfnisses einen ungleichen Wert. 

Auf 1000 Kalorien treffen etwa in g um 0,5 g Kalk zuzu- 



CaO 

MgO 

f 2 o s 

P 2 06 

führen, braucht man 

bei Weizen . 

. 0,1'46 

0,149 

0,015 

0,974 

3440 Kalorien 

Erbsen . 

. 0,374 

0,600 

0,063 

2,726 

1330 

77 

Kuhmilch 

. 2,405 

0,286 

0,031 

2,813 

208 

.77 

Kartoffel . 

. .0,266 

0,494 

0,110 

1,700 

1880 

71 

Magerem Fleisch 

. 0,151 

0,383 

0,055 

7,248 

3310 

71 

Weisskraut . 

. 2,800 

1,028 

— 

4,885 

180 

77 

Kopfsalat 

. 7,822 

3,314 

0,197 

4,885 

63 

77 

Spinat 

. 6,771 

3,343 

0,188 

5,800 

74 

77 


Die Ersatzraöglichkeiten scheinen sich hieraus glatt zu ergeben, 
ln der nationalen Friedenskost wird schon ein Teil der Kalkbedürf¬ 
nisse durch Gemüse und Obst gedeckt, nämlich pro Kopf und Tag 
i( 2 0 CaO MgO F 2 0 3 P 2 0 6 

0,659 0,407 0,179 0,018 0,333 

Aus obiger Tabelle könnten wir entnehmen, dass 310 g Milch 
hinreichen, 0,5 g Kalk zu gewinnen, vom Spinat müsste man 300 g 
Handelsware, von Salat 663 g anwenden, um die gleiche Kalkmenge 
zu erhalten. Erfahrungsgemäss kann man wegen der rascher wachsenden 
Nahrungsmenge von den Gemüsen nur einen beschränkten Gebrauch 
machen, wobei noch zu beachten ist, dass sie zur Deckung des 
Kalorienbedürfnisses nur wenig beitragen. Auch darf nicht unbeachtet 
bleiben, dass der Kalk aus den Gemüsen keineswegs so gut verdaat 

2 * 


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20 Wissenschaftliche Deputation für das Uedizinalwesen in Berlin, 

wird, wie etwa in der Milch. Alles in allem dürfte aber sicher sein, 
dass im letzten Jahre jedenfalls das Gemüse mit dazu beigetragen 
bat, die rationierte Kost zu ergänzen, nur fehlt ihnen ein hoher 
kalorischer Wert. Die Art der Ernährung der Jugendlichen vom 
achten Jahre ab, scheint uns ein wesentlicher Notstand zu sein. 

In bezug auf die Tendenz unserer Ernährungswirtschaft der 
letzten Jahre, nur Fett zu beschaffen, möchten wir noch auf folgende 
Tatsache hinweisen: die Knappheit der japanischen Kost an Kalk wird 
hauptsächlich durch die spezifische Kalkarmut des japanischen Heises 
bedingt. 

Die auffallende Fettarmut der japanischen Kost ist weiterhin 
etwas, was sie von allen anderen Nationen unterscheidet. Im Hinblick 
auf die Aschearmut der Kost muss die Fettarmut als etwas Zweck* 
mässiges erscheinen, weil grössere Fettmengen gradezu das ent¬ 
sprechende kalorische Aequivalent Vegetabilien ausschalten und den 
Aschegehalt der ganzen Kost aufs Aeusserste erniedrigen würden. 
Weiterhin ist folgendes von grosser Bedeutung. 

Im allgemeinen muss man sagen, dass ein Kalkmangel sich nicht 
bei den Starkarbeitenden zuerst fühlbar -machen wird, weil diese bei 
einem grossen Nahrungsumsatz an Nahrungsmitteln, welche sogar kalk¬ 
arm sind, durch die grosse Masse des Verzehrten zu einer Kalkan¬ 
reicherung kommen. Leichter treten die Gefahren ein, wenn über¬ 
haupt der Umsatz an ascheführender Nahrung kleiner, oder wenn, wie 
erwähnt, gar noch eine erhebliche Deckung durch Fett erreicht wird. 
Immer aber gehören auch ganz besondere eigenartige Umstände und 
das Zusammentreffen verschiedener Ereignisse dazu, um Kalkmangel 
wahrscheinlich zu machen. 

Auf die eigentlich zu wenig mit Milch bedachten Altersklassen 
haben wir schon hingewiesen. Die Annahme, dass bei ausschliess¬ 
lichem Genuss der rationierten Kost der Kalkmangel die Gesundheit 
gefährdet, ist dadurch völlig undiskutierbar, weil in erster Linie doch 
bekannt sein dürfte, dass mit der Ration für Erwachsene diese nicht 
am Leben zu erhalten sind. Die Ration enthält weder genügend Ei- 
weiss noch genügend Kalorien, bei der rationierten Kost beginnt sofort 
der partielle Hunger, unter Einschmelzen des Gewebes, wodurch dann 
deren Kalkanteii und Ascheanteile frei werden. Es besteht daher dabei 
überhaupt kein Aschemangel, so wenig wie bei ausschliesslichem Hunger. 
Diese Fälle können als Gefahr einer Kalkentziehung überhaupt nicht 
in Frage kommen, sie werden allmählich wegen der unzureichenden 
Gesamtversorgung zum Tode führen. 


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Ueber die Frage des Kalkmangels in der Kost. 21 

Fälle der Kalkentziehung kommen also nur zustande, wenn durch 
eine zureichende Kalorienzufuhr und Eiweissgleichgewicht oder geringen 
chronischen Eiweissverlust ohne stärkere Einbusse des Körpers alle 
Funktionen zwar aufrecht erhalten werden, bis der Ascheverlust oder 
Kalkverlust fühlbar wird. 

Die herrschende Zwangsernährung würde ganz sicher in manchen 
Lebensabschnitten zu einer Schädigung durch Kalkmangel führen 
können, aber immerhin bieten sich wenigstens einige Auswege für die 
Beseitigung dieser Gefahr und diese sind ausreichend benutzt worden. 
Vor allem werden wir immer auf die Jugendlichen und die Pubertät 
hingewiesen, in der entschieden die Qualität der Zusammensetzung der 
Kost die deutlichsten Mängel zeigt. 

Es sollte aber einleuchtend sein, dass es nur zu einem Mangel 
an Kalk kommen kann, wenn überhaupt ein Nährstoffmangel vor¬ 
handen ist und dabei einen Kalkmangel vorausgesetzt, die Kalkzufuhr 
auch nichts nützen könnte, weil Kalk ohne die organischen Nährstoffe 
ein Wachstum nicht ermöglichen kann. Wir kommen daher zu der 
immer mit Nachdruck betonten Aufgabe der unbedingten Mehrbe¬ 
schaffung der Nahrung, die von selbst, wir sehen das an der japanischen 
Kost, bei noch so ungünstigen Verhältnissen einen ausreichenden Salz¬ 
gehalt erreicht. 

Der Anlass zu dem Kalkansturm bilden die ätiologisch bis jetzt 
nicht aufgeklärten Knochenerkrankungen. Für den Laien ist der Zu¬ 
sammenhang von Kalkmangel und Knochenerkrankung ohne weiteres 
plausibel. Experimentell ergibt sich beim wachsenden Tier nach Kalk- 
entzichung das Zurückbleiben der Härtung der Knochen, während be¬ 
sonders die Weichteile ungestört zunehmen können, wodurch Defor¬ 
mationen ähnlich der Rachitis entstehen. Bei dem ausgewachsenen 
Tier kommt es zur Entkalkung der funktionell nicht beanspruchten 
Knochen bis zu einem filigranartigen Gitterwerk. 

Bei den Knochenerkrankungen der Blockade kann man nur sagen, 
dass sie mit den schlechten Ernährungszuständen aufgetreten sind, die 
Verabreichung von Kalk hat die Erkrankungen auch nicht zum 
Schwinden gebracht. Aus Tierexperimenten ist bekannt, dass bei 
bestehendem Kalkmangel und Hemmung des Wachstums z. B. die Zu¬ 
fuhr auch anorganischer Kalkverbindungen sofort einen Umschwung und 
raschen Ansatz von Kalk herbeiführt. Der ätiologische Zusammen¬ 
hang, so viel dürfte bis jetzt sicher feststehen, scheint jeden¬ 
falls nicht über den Weg einfacher Kalkarrout der Kost zustande 
za kommen. 


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22 


Wissenschaftliche Deputation für das Medizinalwesen in Berlin, 


Auch die Oedemkrankheit gehört in das Gebiet des Kalkschadens 
nicht hinein. 


VI. 

Es erübrigt jetzt noch die einzelnen Vorschläge einer Anreiche¬ 
rung mit Kalk kurz zu besprechen. Auf G’s. Empfehlung, seine 
Nährsalzpräparate dem Brot oder der Kost beizumischen, braucht nicht 
weiter eingegangen zu werden, da nach der ganzen Darlegung ein 
allgemeiner Salzmangel der Kost von niemanden behauptet werden 
kann, also ein Bedarf für Zumischung der verschiedensten Asche¬ 
bestandteile nicht besteht. Im übrigen dreht es sich hauptsächlich um 
Kalkzusatz zu Brot, der schon, wie eingangs erwähnt, zur Zeit von 
Liebig Gegenstand langer Diskussionen war. 

Die Verwendung kalk- und phosphorsäurehaltigen Brotes geht auf 
Horsford zurück. Horsford’s Brot war ein ungegorenes Brot unter 
Zusatz von doppeltkohlensaurem Natron und saurem phosphorsaurem 
Kalk. Wir begegnen jetzt diesem Vorschlag eines Kalkzusatzes in 
mannigfachen anderen Ausführungen. Ein Vorschlag empfiehlt 1 pCt. 
Schiemmkreide beim Mahlen zuzusetzen; was diese Menge anlangt, so 
würden bei 250 g Brot, wenn wir rund 1 pCt. kohlensauren Kalk im 
Mehl annehmen, in etwa 180 g Mehl, also 1,8 g Schlemmkreide haben, 
rund 1,0 g Kalk pro Kopf und Tag, ungerechnet das anderweitige 
Kalkvorkommen in Nahrungsmitteln und in Trinkwaren, eine Menge, 
die durch den Kalkbedarf sicher nicht gefordert wird. 

Der Bund der Kalkfreunde setzt dem Speisesalz kohlensauren und 
phosphorsauren Kalk zu, jedem Salz je 50 g. Aus dem Jahreskonsum 
von 7,7 kg Speisesalz pro Kopf berechnet man eine Menge von 21 g 
täglich. Die Zahl scheint reichlich hoch, wahrscheinlich ist ein 
Durchschnittskonsum für den Erwachsenen von 15 g pro Tag, dann 
erfolgt als Zusatz 1 / 10 kohlensaurer Kalk und V10 phosphorsaurer Kalk, 
also je 1,5 g. Was unter phosphorsaurem Kalk gemeint ist, findet 
sich nicht angegeben. In 1,5 g kohlensaurem Kalk sind 0,60 GaO, 
wenn unter phosphorsaurera Kalk das tertiäre Salz gemeint ist, liefern 
1,5 g 0,58 CaO = zusammen 1,18 g CaO, dazu 0,68 Phosphorsäure 

(P 2 0 6 ). 

Die der Nahrung zugesetzte Kalkmenge ist noch etwas höher als 
bei dem Schlemmkreidezusatz, die Zugabe der Phosphorsäure kann 
als überflüssig gelten, da von einem Mangel an dieser nicht die Rede 
sein kann. Die Inanspruchnahme an phosphorsaurem Kalk beträgt 
für eine Nation von rund 70 Millionen Menschen rund 37 000 Tonnen 


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Uober die Frage des Kalkmangels in der Kost. 


23 


eines sonst wertvollen Düngemittels. Es kann fraglich sein, ob man 
solche Mengen überhaupt leicht beschaffen könnte. 

Bei der Verwendung der Thüringer Karolinenquelle mit CI 2 Ca 
Zusatz wird im Tag ein Konsum von 1 g CI 2 Ca angenommen = 0,505, 
nach anderen Angaben 0,767 g CaO in 325 g täglicher Brotzufuhr. 
Wenn bisher der nationale Wert des Kalkkonsums, der sicher über das 
Bedürfnis weit hinausgeht, 1,22} g CaO betrug und die rationierte 
Kost 0,226 enthält, wo2u 0,767 CaO im Brot kommen, so macht 
das zusammen 0,993 g = rund 1,0 g. 

Alle diese Annahmen über • den Kalkzusatz haben keine allge¬ 
meine Berechtigung, sie würden bei dem Erwachsenen nur zutreffen, 
wenn er etwa in einem Gefängnis nur bei rationierter Kost gehalten 
wird, was erfahrungsgemäss zum Tode führt. Tatsächlich müssten 
ganz besondere ausgesucht seltene Bedingungen zusammen kommen, 
wenn eine schädliche Verringerung der Kalkeinfuhr zustande kommen 
sollte. Man kann dies nicht für absolut unmöglich erklären, wohl 
aber für ein unwahrscheinliches Vorkommnis. Am ungünstigsten liegen 
die Verhältnisse noch bei den Jugendlichen, wie schon erwähnt. Ein 
allgemeines Bedürfnis der Kalkzufuhr, vermögen wir in keiner Weise 
anzuerkennen. 

Ob die zugeführten Kalkmengen etwa schädlich sind, ist eine 
Frage, die man einigermassen wohl beantworten kann. Im allge¬ 
meinen steht man auf dem Standpunkt unter Trinkwässern übermässig 
harte zu vermeiden. Aber die Anschauung, als würden z. B. durch 
gipshaltige Wässer Steinleiden verursacht, dürfte wohl kaum noch 
viele Anhänger haben. Die harten Wässer haben übrigens so viel 
Unbequemes im Haushalt, dass man sie schon um deswillen meidet. 
Das Vermögen der Menschen, Kalksalze zu resorbieren und wieder 
auszuscheiden, ist ein ungemein grosses. Der Mensch vermag eine 
Zufuhr von Kalk, die etwa 15 mal so gross ist, wie die in Frage 
kommenden Zusätze, zu resorbieren, ohne dass der Resorptionsgrad 
sich ändert. Bei einem Konsum von 10 Litern Milch pro Tag mit 
15,1 g CaO ist der Verlust prozentisch nicht grösser als bei massigen 
Mengen von etwa 3 Litern Milch. 

Zusätze von 1—1,5 g CaO werden also irgendwelche Schwierig¬ 
keiten nicht bieten und deshalb unbedenklich sein, zumal sie ja im 
Gemisch verschiedener anderer Salze aufgenommen werden. 1 Liter 
Kuhmilch bedeutet bereits einen Gehalt von 1,7 g CaO. Für Jugend¬ 
liche und Erwachsene wird niemand eine solche Milchmenge beanstanden. 


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24 Wissenschaftliche Deputation für das Medizinalvesen in Berlin, 

Gegen die Verwendung der Kalkzusätze sprechen aber hygienische 
Bedenken, insoweit es sich um allgemeine Zusätze zum Mehl oder 
Brot handelt. Völlig unausführbar wäre der Gedanke des Kreide¬ 
zusatzes zu Mehl, da dies der Verfälschung- die allergrösste Gelegen¬ 
heit geben würde. Zur Ueberwachung würde eine umständliche und 
komplizierte Organisation notwendig sein. Ganz Aehnliches gilt für 
den Zusatz der Karoiinenquelle mit Chlorkalziumzusatz, man könnte 
eine solche Prozedur nicht einfach den Bäckern überlassen, ohne fest¬ 
zustellen, ob überhaupt Karolinenquelle benutzt wird, ob ferner Chlor¬ 
kalzium zugesetzt wird, und ob dies in den vorgeschriebenen Mengen 
' geschehen ist. 

Was die Wünsche der Kalkfreunde anlangt, so gilt für die all¬ 
gemeine Zümischung zum Speisesalz das eben Gesagte, es bedürfte 
einer umständlichen und schwer ausführbaren Kontrolle. Wer sich 
der Bewegung für sich anschliessen will, mag tun und lassen, was 
er will. 

VII. 

Der vorliegende Fall gibt, von der reinen Vertretung materieller 
Interessen abgesehen, ein schlagendes Beispiel von, der immer mehr 
überhand nehmenden Erregung des Publikums durch halbpopuläre 
Schriften, wie sie sich in den letzten Jahrzehnten immer häufiger 
geltend machen. Die Tatsache über die Grundbedeutung des Kalkes 
für Tier und Mensch waren seit langem bekannt, ohne dass deshalb 
die Masse der Laien dafür interessiert wurde, die wissenschaftlichen 
Arbeiten waren nicht abgeschlossen, sondern in vollem Fluss. Erst 
durch eine Popularisierung sind Gedanken und Probleme, die noch 
einer langen und schwierigen Untersuchung und Nachprüfung bedurft 
hätten, plötzlich in die grossen Massen geworfen worden, sie finden 
dort eine Auslegung und Anwendung, die in keiner Weise durch die 
Wissenschaft gestützt werden kann. Soweit der Einzelne sich nur 
irgend einer „Kalkbewegung“ und Kalkgemeinde anschliesst, bringt das 
kaum Schaden, aber der' organisierte Wust von oberflächlichen Be¬ 
hauptungen und angeblichen Erfahrungen wird auf die ruhige sachge- 
mässe Behandlung des Problems schädlich wirken. Dies gilt selbst 
für die ärztlichen Kreise, die mit solchen Propagandaschriften überflutet 
werden, ja es macht sich allmählich auch unter ihnen eine GedankeD- 
richtung geltend, die rein spekulativer Natur ist, sich in Kombination 
aller möglichen Erfahrungen und Wahrnehmungen vertieft und so den 
Zusammenhang mit der experimentellen Wissenschaft immer mehr verliert. 


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Ueber die Frage des Kalkmangels in der Kost. 


25 


Durch die „Kalkliteratur“, die propagandistisch verbreitet wird, 
und wie alle neuen Bewegungen dieser Art ergebene Anhänger hat, 
• wird unser Ernährungsproblero auf eine höchst unerwünschte Bahn 
geleitet. Wir haben schon einmal, 1917, erlebt, dass durch die 
Beeinflussung der Behörden unserer Volksernährung ein schlechter 
Dienst geleistet wurde. In der Zeit, als von seiten der wissenschaft¬ 
lichen Deputation und von seiten des Reichsgesundheitsamtes bereits 
auf die schweren Schädigungen der Volksernährung hingewiesen und 
gefordert wurde, alles daranzusetzen, um die Quantitäten der Zufuhren, 
die damals noch in Aussicht standen, zu heben, hat R. Berg durgb 
Eingaben und persönliche Besprechungen das damalige Kriegsernährungs¬ 
amt beeinflusst und behauptet, man könne recht wohl auch mit der 
Ration auskommen, wenn nur die richtige Verteilung von Säuren und 
Basen in der Kost vorhanden wäre. Namentlich sparten die „richtigen“ 
Salze an Eiweiss. Es hat sich alles, was Berg vorgebracht hat, zwar 
als unzutreflend erwiesen, sowohl das Auskommen mit der Ration wie 
die Beeinflussung durch das Säure-Basen-Verhältnis. Aber Schaden hat 
die Allgemeinheit durch derartige unzutreffende Einwirkungen doch ge¬ 
habt, weil sie die Behörden in der Verfolgung eines rationellen Vor¬ 
gehens der Nahrungsmittelbeschaffung unsicher gemacht haben und weil 
damals Solche Anschauungen, wie sie Berg im Kriegsernährungsamt 
vorgetragen hat, den warnenden Stimmen gegenüber nur angenehm 
waren. Statt der Säure-Basen-Theorie wird jetat durch den Kalk eine 
Beseitigung aller Schäden der Volksernährung gesucht, in dieser'Form 
stellt sich die Befürwortung des Kalkzusatzes als eine Irreführung der 
öffentlichen Meinung dar. 

Es ist ein prinzipieller Fehler, wenn einseitig nur das Augen¬ 
merk auf den Kalk gelenkt wird, als wenn er allein in der Lage 
wäre, unsere Situation zu verbessern, die Sachlage ist immer noch 
die, dass es für die städtische Bevölkerung eben an der notwendigen 
Gesamtmasse der Kost gebricht und dass wichtige Nahrungsmittel, 
wie die Milch und das Fleisch, entweder für einen grossen Teil der 
Jugendlichen und Erwachsenen gar nicht oder in so unbedeutenden 
Mengen geliefert werden, dass dadurch ein Nahrungsausfall besteht, 
der durch andere Nahrungsmittel nur unvollkommen gedeckt wird. 
Die Einfuhr solcher Nahrungsmittel, wie der Milch, ist an sich teuer 
Und bei fallender Valuta nicht zu bestreiten, und in noch höherem Masse 
gilt das für das Fleisch. Die einseitige Fettmehrung, die übrigens 
auch noch gering ist, kann die Verhältnisse nicht endgültig regeln. 


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26 


Wissenschaftliche Deputation für das Medizinalwesen in Berlin. 


Sie war auch nur als Teil unserer Reform gedacht und hat 
als vorübergehende Massregel ihre Zwecke erfüllt. Aber wir sind 
schliesslich an dem entscheidenden Punkt stecken geblieben, in der 
Durchführung aller Massregeln, die unsere Eigenproduktion zum Ziele 
haben und zur Freigabe der Nahrungsmittel überleiten sollten. 

Ohne eine Zunahme der Produktion, auch der animalischen 
Nahrung, werden wir aus der gegenwärtigen ungünstigen Lage nicht 
herauskommen. Es muss zunächst durch Einfuhr von Viehfutter 
endlich die Produktion in die Wege geleitet werden, um auch das 
Brotgetreide zu schonen, von welchem immer noch erhebliche Teile 
als Viehfutter dienen, ein Uebelstand, der die Erhöhung der Brot¬ 
ration uns seit 5 Jahren zur Unmöglichkeit gemacht hat. 

Ebenso liegt in der dauernden öffentlichen ßewirschaftung ein 
Zwang, der noch immer so gross ist, dass er der individuellen 
Nahrungswahl die grössten Schwierigkeiten bereitet und damit den 
normalen Ausgleich mit den Bedürfnissen des Körpers unmöglich 
macht, die Beseitigung des Zwanges kann nur der Produktions¬ 
mehrung folgen. 

Die sanitäre Situation ist heute nicht viel besser wie vor einem 
Jahre, nur hat man sich allmählich an die traurigen Zustände ge¬ 
wöhnt. Die Blockadewirkung macht sich iy 2 Jahre nach Schluss des 
Krieges noch in gleicher Weise geltend. 

Wir halten uns für verpflichtet, auf diese Uebelstände aufs neue 
aufmerksam zu machen, damit nicht durch Empfehlungen, wie die 
einfache Kalkzufuhr eine ist, die Behörden von dem Ziele, das wir 
anstreben, abgewendet werden. 


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II. 


Das Verhalten des Körpergewichts 
und die ErnährungsYerhKltnisse der männlichen 
Verpflegten der sächsischen Landesanstalt Colditz 
während der Kriegsjahre 1915—1919. 

Von 

Obermedizinalrat Dr. Dehio, Direktor der Landesanstalt Colditz. 

(Mit 2 Karren tafeln im Text.) 


Als mit dem Anfang des Jahres 1915 die beginnende Knappheit 
der Nahrungsmittel befürchten liess, dass die Ernährung der Anstalts¬ 
insassen schwierig werden würde, war es für mich als Direktor ein 
dringendes Bedürfnis, die Wirkung der veränderten Ernährung auf den 
Gesundheitszustand der Verpflegten möglichst umfassend und fort¬ 
laufend verfolgen zu können. Das Mittel dazu boten mir die üblichen 
regelmässigen Wägungen der Verpflegten, es galt nur eine geeignete 
Darstellungsform der Wägungsergebnisse zu finden, die ohne Schwierig¬ 
keit durchzuführen war. Die regelmässige Durchsicht der Körper¬ 
gewichtszahlen, die Verfolgung der Zu- oder Abnahme einzelner 
Kranker, so wichtig diese für die Behandlung der Einzelfälle ist, 
konnte mir nicht genügen, namentlich da ein Vergleich der fort¬ 
laufenden Wägungsergebnisse in dieser Weise nicht durchzuführen ist 
und unsicher erschien. Der Anforderung, ein übersichtliches, mög¬ 
lichst umfassendes und leicht vergleichbares, dabei ohne viele Mühe 
herstellbares Bild der Wägungsergebnisse zu geben, schien mir die 
Zusammenfassung in der Form der Variationskurve und der Berech¬ 
nung des wahrscheinlichen Mittels am besten zu genügen. In fol¬ 
gendem will ich versuchen, die dabei gemachten Beobachfungen wieder¬ 
zugeben. 

Die Insassen der Landesanstalt Colditz wurden zweimal im Monat 
bei dem allgemeinen Reinigungsbade nur mit dem Hemd bekleidet ge¬ 
wogen. Leider war es nicht möglich, die Wägungsergebnisse vorher¬ 
gehender Jahre zum Vergleich heranzuziehen. Mit der Einführung der 


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28 


Debio, 


neuen Anstaltsordnung im Jahre 1913 hatte die Anstalt Colditz eine 
vollständige Aenderung ihrer Belegung erlebt und noch im Laufe des 
Jahres 1914 wurden wiederholt grössere Massen Verlegungen aus anderen 
Anstalten vorgenommen. Erst in den letzten Monaten des genannten 
Jahres trat grössere Ständigkeit ein und auch äussere Verhältnisse 
Hessen es angebracht erscheinen, erst mit dem Januar 1915 die Zu¬ 
sammenstellung beginnen zu lassen. Nachher war es dann nicht mehr 
möglich, die Gewichtszahlen des Jahres 1914 für Colditz zusammen¬ 
zustellen. Dagegen habe ich die Gewichte der männlichen Verpflegten 
der unteren Klasse von Zschadrass für das Jahr 1914 erhalten, wofür 
ich den Kollegen der dortigen Anstalt Dank schulde. 

Eine genaue Darstellung der von mir angewandten Methodik fand 
ich später in dem 1919 erschienenen Buche von K iss kalt, auf das 
ich hiermit verweise. Hier will ich nur erwähnen, dass die Zu¬ 
sammenstellung aus den Wiegelisten nach der Reihe der Gewichts¬ 
zahlen und die prozentuale Berechnung der Einzelgruppen sehr wohl 
einem zuverlässig arbeitenden Verpflegten überlassen werden konnte. 
Schon die Betrachtung der Einzelkurve ergibt ein eindeutiges Bild des 
jeweiligen Ernährungszustandes, noch mehr der fortlaufende Ver¬ 
gleich, wobei selbst geringfügige Abweichungen in der Ernährung ihren 
Ausdruck Anden. 

Die Anstalt Colditz ist seit Einführung der Anstaltsordnung vom 
12. September 1913 bestimmt zur Aufnahme gefährlicher männlicher 
Geisteskranker der unteren Verpflegklasse aus dem ganzen Gebiet des 
sächsischen Staates, die sich ihres Vorlebens halber, wegen ihres ver¬ 
brecherischen Charakters oder schwer unsozialen Verhaltens zur ge¬ 
meinschaftlichen Verpflegung mit unbescholtenen Kranken nicht eignen. 
Früher war die Anstalt auch zur Aufnahme sogenannter chronisch 
tobsüchtiger unbescholtener Kranker bestimmt. Von diesen waren 
Ende 1914 im Bestände von 479 Männern noch 117 Kranke vor¬ 
handen, alles völlig ruhige, stumpfe und schwer verblödete Leute. 
Ausserdem war noch ein kleiner Rest der früheren Frauenabteilung 
von 50—60 Verpflegten vorhanden, die wegen ihrer geringen Zahl 
nicht in der Rechnung verwertet wurden. Die vorbestraften Kranken 
sind in der Mehrzahl jugendliche oder im kräftigsten Mannesalter 
stehende, rüstige Leute. Es leuchtet ein, dass unter der Lebens¬ 
mittelknappheit diese Leute mit ihrem hohen Nahrungsbedürfnis be¬ 
sonders zu leiden hatten, zumal die kleine Frauenabteilung und der 
sehr geringe Bestand an Alten und Siechen einen Ausgleich nicht ge- 


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Körpergewicht u. Ernährungsverhaltnisse männl.Verpflegter i. Colditz 1915—19. 29 

stattete. Im Laufe der Kriegsjahre sind wohl noch wiederholt Massen¬ 
aufnahmen aus anderen Anstalten (besonders Waldheim und Bautzen) 
erfolgt, diese wurden aber erst mehrere Male für sich verrechnet, bis 
sie sich im Gewicht den anderen angepasst hatten. Durch diese Zu¬ 
führungen ist auch die Zusammensetzung des Krankenbestandes nicht 
geändert worden. Erst im Herbst 1918 wurde eine grössere Anzahl 
nicht vorbestrafter Verpflegter aus Zschadrass übernommen. Diese 
sind aber nicht in die Rechnung hineingezogen worden, weil sie ganz 
andere Krankheitsformen darboten. Dagegen hat die Zahl der Ver¬ 
pflegten während der Kriegsjahre erheblich abgenomraen. 

Ein derartig zusammengesetzter Krankenbestand musste sich in 
bezug auf das Körpergewicht ganz anders verhalten als die Insassen 
der gewöhnlichen Irrenanstalt.- Deshalb war es mir besonders wert¬ 
voll, dass ich die Wägungsergebnisse der Nachbaranstalt Zschadrass 
vergleichen konnte. Freilich habe ich diese nur bis Oktober 1918 
herangezogen, weil zu dieser Zeit durch Massen Verlegungen die Zu¬ 
sammensetzung der dortigen Männerabteilung wesentlich verändert 
wurde und dadurch ein Vergleich mit den früheren Wägungen unzu¬ 
lässig erschien. Zschadrass hatte 1915 einen Bestand von 12 pCt. 
Paralytikern auf der Männerabteilung gegen 1,3pCt. in Colditz, ausser¬ 
dem viel mehr senile Psychosen und sonstige Sieche. Auch konnte 
Zschadrass bei einem höheren Kostsatz seine Kranken besser ernähren 
und die die Männerabteilung an Zahl übertreffende Frauenabteilung 
gestattete einen Ausgleich zugunsten der Männer, was bei dem von 
Essbacher angegebenen Verhältnis des Nahrungsbedürfnisses der 
beiden Geschlechter von 7 : 8 schon ins Gewicht fallen musste. Erst 
im Laufe des Krieges wurde der Kostsatz für Colditz erhöht, leider 
erst, als die Zwangsbewirtschaftung der Lebensmittel epnen Unterschied 
in der Ernährung nicht mehr gestattete und ein begrenzter Kostsatz 
schon ein Unding geworden war. 

Für das Jahr 1914 stehen mir nur die Wägungsergebnisse der 
Männerabteilung unterer Klasse von Zschadrass zur Verfügung, deren 
Verteilung auf die Gewichtsgruppen in der Tabelle 3 aufgeführt ist. 
Die Berechnung ergab folgende Mittelwerte (vgl. umstehende Tabelle). 

Der Gang des Mittels zeigt demnach einen Abfall bis zum Mai, 
der bis zum August nahezu ausgeglichen ist. Dann sinkt das Mittel 
wieder, um in den letzten Monaten nahezu gleich zu bleiben. Die 
Variationskurve vom Januar weist aber auf eine aussergewöhnliche 
Zusammensetzung des Bestandes hin, der wahrscheinlich durch. im 


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30 


Dehio, 


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Monat 

1. Viertel 

Mittel 

3. Viertel 

Hälfte- 

sptelraum 

Januar .... 

53,81 

59,80 

65,47 

11,66 

Februar . . . 

53,73 

59,25 

65,42 

11,69 

März .... 

53,37 

59,13 

65,56 

12,19 

April .... 

53.6G 

59,11 

65,31 

11,65 

Mai. 

53,35 

58,97 

64,78 

11,43 

Juni. 

53,25 

59,50 

64,48 

11,23 

Juli. 

53,07 

59,10 

64,39 

11,32 

August .... 

52,95 

59.53 

64,77 

11,82 

September . . . 

52,55 

59,31 

64,75 

12,20 

Oktober . . . 

52,45 

58,67 

64,59 

12,14 

November . . . 

52,19 

53.70 

64,59 

12,40 

Dezember . . . 

52,54 

58,92 

64,96 

12,42 


September und Oktober 1913 erfolgte Massenzuführungen aus anderen 
Anstalten noch stark beeinflusst ist und der sich erst später ausge¬ 
glichen hat. Der Abfall zum Frühjahr würde der alten Erfahrung 
entsprechen, dass diese Monate bis zum Beginn der Gemüseernte für 
die Massenernährung schwierig sind. Der weitere Rückgang nach 
dem August, so gering er ist, möchte doch schou mit der mit 
Kriegsausbruch beginnenden Zurückhaltung der Vorräte Zusammen¬ 
hängen, da mit der neuen Ernte und besonders mit den neuen Kar¬ 
toffeln eine Zunahme des Körpergewichts zu erwarten wäre. Im Laufe 
des Januar — in Zschadrass werden die Kranken am Ende des 
Monats gewogen — erfolgt dann ein Abfall ‘von rund einem Kilo¬ 
gramm, unzweifelhaft schon durch die Kriegsverhältnisse bedingt. Ich 
glaube dieselben Verhältnisse für Colditz annehmen zu dürfen. Da 
ich aber für Colditz erst vom Januar 1915 ab brauchbare Zahlen habe, 
so muss ich schon diesen Monat als Massstab nehmen mit dem Vor¬ 
behalt, dass auch hier das Friedensgewicht etwa 1 kg höher steht. 
Die übrigen Verhältnisse dürften sich aber kaum erheblich verändert 
haben, wie der Vergleich der Zahlen von 1914 in Zschadrass ergibt 
(vgl. dazu das Verhalten der Variationskurve vom Juli 1914 und 
Januar 1915 von Zschadrass auf Tafel I). 

Die Gewichtsverhältnisse ira Januar 1915 sind ans der Tabelle 1 
zu ersehen. Das wahrscheinliche Mittel betrug für Colditz 58,85, 
das 1. Viertel 53,28, das 3. Viertel 65,34, der Hälftespielraum, die 
Spannung zwischen dem 1. und 3. Viertel, der einen ungefähren Mass¬ 
stab für die Streuung gibt, ist demnach 12,06. Die entsprechenden 
Zahlen für Zschadrass betragen 57,79, 51,93, 64,34 und 12,4. Das 
fast um 1,1 kg niedrigere Mittel ist aber noch kein Beweis für eine 


Go^ 'gle 


Original fro-m 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 







Körpergewicht u. Ernähruugsverbältnisse männl.Verpflegter i. Colditz 1915—19. 31 


Tabelle 1. 

_ L 



C 0 

1 d i t 

z 


Zschadrass 

Jahr 

1. Viertel 

Mittel 

8. Viertel 

Hälfte- 

spielrauin 

1. Viertel 

Mittel 

3. Viertel 

Hälfte- 

spielraum 

1915 









Januar . . 

53,28 

58,86 

65,35 

12,07 

51,93 

57,79 

64,34 

12,41 

Februar . . 

52,64 

57,34 

64,55 

11,91 

51.54 

57,66 

64,00 

12.46 

März . . . 

51.69 

56,50 

63,31 

11,62 

50,77 

56.96 

63,08 

12,31 

April . . . 

50,56 

55,58 

61,94 

11,38 

50,10 

56,13 

61.66 

11,65 

Mai . . . 

50,02 

54.96 

60,50 

10,48 

48,97 

55,20 

60,97 

12,00 

Juni . . . 

49,84 

54.68 

60,18 

10,34 

48.48 

54,80 

60,41 

11,93 

Juli . . . 

49.27 

54,55 

59,36 

10,09 

48,16 

53,66 

59,65 

11,49 

August . ♦ 

48.82 

53,94 

59,45 

10,63 

48,11 

53,42 

59,74 

11,63 

September . 

48,77 

53.55 

59.29 

10,52 

47,83 

53,00 

59,50 

11,67 

Oktober . . 

48,90 

53,95 

59,91 

11,01 

47,81 

53,00 

58,84 

11,03 

November . 

48,96 

53,87 

59,27 

10,31 

47,77 

53,10 

58.75 

10,98 

Dezember 

49,43 

54,25 

59,29 

9,86 

47,55 

52,73 

58,60 

11,05 

1916 









Januar . . 

48.97 

54.00 

58,50 

9,58 

48.03 

52,94 

58,82 

10,79 

Februar . . 

48,95 

53,54 

58.78 

9,83 

47,89 

52,09 

58,86 

10,97 

März . . . 

48,50 

53,37 

58,70 

10.20 

47,70 

52,13 

58,85 

11,15 

April . . . 

48.23 

53,02 

57,91 

9,68 

48,46 

53.25 

59,13 

10,67 

Mai . . . 

47,06 

52,18 

57.25 

10,19 

48.32 

53,00 

58,63 

10,31 

Juni . . . 

46,93 

51,78 

56,65 

9.72 

48.28 

5\88 

58.42 

10,14 

Juli . . . 

46,39 

51.33 

56,22 

9,83 

48,00 

52,33 

57,80 

9,80 

August . . 

46,66 

51.00 

56,43 

9,77 

47,53 

51,68 

57,12 

9,59 

September . 

46,06 

50,68 

56,39 

10.33 

47.24 

51,60 

56.89 

9,65 

Oktober . . 

46.23 

50.84 

56,70 

10,47 

46,82 

51,66 

57,22 

10,40 

November . 

46.53 

50.79 

56,17 

9,64 

46,85 

51,73 

57,23 

10,38 

Dezember . 

45,68 

50,20 

55,08 

9,40 

46,48 

51,15 

56,89 

10,41 

1917 



! 






Januar . . 

44,89 

49,21 

! 54,07 

9.18 

45.91 

50,75 

56,29 

10,88 

Februar . . 

44,76 

49.17 

54,32 

9,56 

45,26 

50.29 

55,35 

10,09 

März . . . 

43,93 

48.91 

53.82 

9,84 

45,00 

49,71 

55,34 

10,34 

April . . . 

44 07 

48,38 

53,90 

9,83 

44,08 

48,71 

55,32 

11,24 

Mai . . . 

43,07 

47.82 

52.83 

9,76 

44,00 

48.53 

54,06 

10,06 

Juni . . . 

43.79 

48.32 

53,07 

9.28 

44,91 

49,85 

54,43 

9,52 

Juli . . . 

44.20 

48.18 

52,92 

8,72 

44,13 

48,75 

53,95 

9,82 

August . . 

43,89 

47,74 1 

53,03 

9,14 

44.57 

49,50 

54,85 

10,28 

September . 

4404 

48,09 

53,27 

9.23 

43,04 

48,00 

53,25 

10,21 

Oktober . . 

44,99 

48,82 

54,09 

9,10 

43,48 

48,16 

53,65 

10,17 

November . 

44,10 

48,74 

54.28 

10,18 

43,89 

48,36 

53,90 

10,01 

Dezember . 

43,52 

48,00 

54,17 

10,65 

43,30 

48,20, 

54,10 

10,80 

1918 

• 






i 


Januar . . 

44,47 

48,48 

54,32 

9,85 

43,36 

47,18 

53,14 

9,78 

Februar . . 

44.15 

48,15 

54,36 

10,21 

43,35 

47.46 

53.50 

10,15 

März . . . 

44.38 

48,40 

54,75 

10,36 

43,33 

47,75 

58,86 

10,53 

April . . . 

44,47 

49.14 

54,73 

10.26 

42,94 

47,56 

58,83 

10,89 

Mai . . . 

45.52 

49,96 

54,79 

9 27 

44,04 

49.14 

55,59 

11,55 

Juni . . . 

45,90 

50,95 

55,40 

9.50 

44,15 

49,45 

55,23 

11,08 

Juli . . . 

45,84 

50.08 

55,38 

9,54 

44,16 

50,19 

56.07 

11,91 

August . . 

45,29 

50,46 

54,40 

9,11 

45,84 

51,08 

56,64 

10,80 

September . 

44,88 

49.29 

53,59 

8,72 

46,50 

50,94 

55,67 

9,17 

Oktober . . 

44,62 

49,58 

53,77 

9,15 

47,75 

52.42 

56.98 

9,23 

November . 

44,70 

49,93 

53,50 

8,79 

— 

— 

— 

— 

Dezember . 

44,56 

49,88 

53,31 

8,75 

— 

— 

— 

— 


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Original fro-m 

UNIVERSETY OF MICHIGAN 












Dehio, 


7TT~| 


32 


Tabelle 1 (Fortsetzung). 



C o 

1 d i-1 

z 


Z s c h 

a d r a s s 

Jahr 

1. Viertel 

Mittel 

3.Viertel 

Hälfte¬ 

spielraum 

1. Viertel 

Mittel 

3* Viertel 

Hälfte¬ 

spielraun; 

1919 

Januar . . 

45,42 

49,93 

54,81 

9,39 





Februar . . 

46,20 

51,20 

56,00 

9,80 

— 

— 

— 

— 

März . . . 

45,96 

50,63 

51,70 

55,75 

9,79 

— 

— 

— 

— 

April . . . 

46,68 

56,05 

9,37 

— 

— 

— 

— 

Mai ... 

47,40 

51,86 

i 57,00 

' 9,60 

— 

— 

— 

— 

Juni . . . 

48,47 

54,08 

1 58,85 

i 10,38 

v - 

— 

— 

— 

Juli . . . 

48,50 

53,10 

1 58,58 

; 10,08 

— 

• __ 

— 

— 

August . . 

50,06 

54,80 

; 60,07 

| 10,01 

— 

— 

— 

— 

September . 

50.90 

55,79 

62,25 

11.35 

— 

— 

— 

— 

Oktober . . 

52,53 

56,75 

64,04 

I 11,51 

— 

— 

— 

— 

November . 

52,87 

57,16 

i 64,25 

; 11,88 

— 

- 1 

i 

— 

Dezember . 

53,83 

57,63 

i 68,70 

1 9,87 

— 

— 


— 


\ 

schlechtere Ernährung der Verpflegten in Zschadrass, darauf weist 
schon der grössere Hälftespielraum hin, der durch den tieferen Stand 
des 1. Viertels bedingt ist. Es sind also verhältnismässig mehr 
niedrigere Körpergewichte vorhanden, ohne dass die höheren, die Plus¬ 
varianten, merklich herabgegangen wären. Ganz unzweifelhaft zeigt 
das die Darstellung der Gewichts Verteilung in Kurvenform. Die Ver¬ 
hältniszahlen lassen schon erkennen, dass in Colditz nur sehr wenig 
niedrige Gewichte vorhanden sind, die Zahlen steigen schnell an zu 
einer spitzgipfligen Kurve, die dann langsamer mit einem deutlichen 
Buckel abfällt und niedrig ausläuft. In Zschadrass beginnt die Kurve 
mit viel niedrigeren Zahlen, steigt mit raschem Anstieg an, um in 
einem flachen Gipfel sich zu erheben, der zu einem gebuckelten Ab¬ 
fall mit weit in die höchsten Zahlen gehendem Auslauf führt. Es 
häufen sich demnach in Zschadrass die niedrigeren wie auch die 
höheren Gewichte und eine etwas grössere Anzahl Verpflegter erreicht 
hier höhere Gewichte als in Colditz, es erreichen in Zschadrass 
10,2 pCt., in Colditz 9,4 pCt. der Verpflegten ein Gewicht von mehr 
als 70 kg. Für Colditz dürfen daraufhin annähernd natürliche Ver¬ 
hältnisse angenommen werden. Die Ernährung hat gerade ausgereicht, 
ohne die Möglichkeit einer Mästung für einzelne zu geben, die in 
Zschadrass sicher vorhanden war. Die Betrachtung der Einzelzahlen 
gibt auch die Erklärung für die Höhe der Kurve bei 70—80 kg, den 
Buckel im Abfall in beiden Anstalten. In Colditz sind es die in der 
Zuputzküche und der Wirtschaftsverwaltung beschäftigten Kranken, die 
es hier mit grossem Geschick verstehen, ihre nahen Beziehungen zur 


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Körpergewicht u.ErnährungsVerhältnisse männl. Verpflegter i.Colditzl915—19. 33 

Küche für sich auszunatzen. ln Zschadrass sind es wieder die frei 
verpflegten und in der Landwirtschaft der Anstalt beschäftigten, die 
ebenso ihren Vorteil Anden. Diese Krankengruppen lassen sich auch 
später in jeder Gewichtskurve wiederflnden, und wenn sie natur- 
gemäss mit den anderen unter der Herabsetzung der Ernährung zu 
leiden hatten, so standen ihnen doch immer einige Möglichkeiten zur 
Aufbesserung ihrer Kost offen, so dass eine Zuweisung zu diesen Be¬ 
schäftigungen in Colditz geradezu als Kräftigungsmittel ärztlich aus¬ 
genutzt wurde. Ein Vergleich mit der Idealkurve der Binominalformel 
lässt ebenfalls erkennen, dass die höheren Gewichte in beiden An¬ 
stalten erfreulich überwiegen, und dass der Anstieg in Colditz zugleich 
völlig gleichmässig mit dieser Kurve verläuft. 

Da es mir nur auf die Beobachtung des allgemeinen Ganges des 
Körpergewichts als Massstab für mehr oder weniger ausreichende Er¬ 
nährung ankam und nicht auf eine Prüfung der absoluten Gewichts¬ 
zahlen, so hatte ich die Messung der Körperlänge des damaligen Ver- 
pflegtenbestandes unterlassen. Jetzt noch die Längenroasse des da¬ 
maligen Bestandes aus den Krankengeschichten zusammenzusuchen, 
würde eine unverhältnismässige Arbeit bedeuten. Ich habe daher die 
Körperlänge des Bestandes vom November 1919 zusammengestellt 
mit dem überraschenden Ergebnis, dass die Kurve nahezu völlig 
gleichsinnig mit der Gewichtskurve verläuft, nur hebt sich eine Gruppe 
sehr kleiner und sehr grosser Leute besonders hervor, ein Ausdruck 
dessen, dass vielo Entartete unter dem hiesigen Bestände vertreten 
sind. Einen ganz anderen Verlauf hat freilich die Kurve der Körper¬ 
längenmasse der in den Jahren 1910/11—1913/14 in Sachsen aus¬ 
gehobenen Rekruten. Die Kurve hat ihre Spitze bei 170 cm, ihr 
Mittel bei 166,3 (in Colditz 165 und 163,6), * es überwiegen bei den 
Rekruten demnach die grösseren Leute im Verhältnis ganz erheblich 
(vgl. die Tabelle 1 )]. Ich möchte aber den Messungen in Colditz einen 
grösseren Vergleichswert beilegen, da bei der Aushebung eine Aus¬ 
wahl nach ganz besonderen Grundsätzen stattfindet. Ein Vergleich 

1) Körperlänge der im November 1919 in Colditz verpflegten Männer (135 M.) 
145 150 155 160 165 170 177 180 185 cm 

2,2 1,5 8,9 20,8 29,6 17,0 13,3 3,7 3,0 pCt., Mittel 163,6. 

Körperlänge der in den Ersatzjahren 1910/11—1913/14 im Königreich Sachsen 
eingestellten Mannschaften (79487 M.) 

unter 154 154—160 165 170 175 180 185 über 185 cm 

0,1 12,1 28,3 33,3 19,1 6,0 1,0 0,1 pCt., Mitte) 166,4. 

▼ierteljahrasehrift f. ger. Med. u. Off. San.»Wesen. 3. Folge. Bd. 60. H. 1. 3 


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der Mittel der Körporlänge und der Gewichte muss freilich zu dem 
Schlüsse führen, dass sowohl in Colditz wie in Zschadrass die Ver¬ 
pflegten im Durchschnitt schon im Januar 1915 unterernährt waren, 
nach Rieger hätte das Durchschnittsgewicht 61 kg und nicht 58 und 
59 betragen müssen. Wie die Wägungen in Zschadrass aus dem 
Jahre 1914 gezeigt haben, kann aber höchstens ein Unterschied von 
1 kg gegen das Friedensgewicht angenommen werden. Leider habe 
ich Vergleichszahlen aus anderen Anstalten nicht finden können. 
Richter hat für Buch auch nur die Zahlen vom August 1914 und 
1915 verglichen, ohne Zwischenzahlen anzugeben.. Jedenfalls ist der 
Abfall in dem ersten Halbjahr des Krieges nicht so erheblich wie der 
mit der Einführung der Brotkarte einsetzende, wie er unten geschildert 
werden soll. 


Tabelle 2. Colditz. 


Verteilung der Wägnngsergebnisse auf die Gewichtsgruppen von Vierteljahr zn Vierteljahr. 


Jahr 

bis 
30 kg 

bis 
35 kg 

bis 
40 kg 

bis bis 

45 kg 50 kg 

bis j bis 
55 kg CO kg 

bis 
65 kg 

bis 
70 kg 

bis 
75 kg 

bis 
80 kg 

bis 
85 kg 

bis 1 1 
90 kg» 

1915 

pCt. 

pCt. 

pCt 

pCt. 

pCt. 

pCt. 

pCt. 

pCt. 

pCt. 

pCt. 

pCt. 

pCt. 

pCt. p 

Januar. . . 

— 

! — 

0,4 

2,7 

12,4 

21,8 

23.4 

17,3 

12,6 

3.8 

4,3 

0,5 

0,4 | 1 

April . . . 

— 

0,2 

0,9 

6,8 

19,0 

25,4 

19,7 

14.5 

6.5 

4,3 

2,1 

0,4 

“i 1 

Juli .... 

0,4 

0,2 

1,8 

9,0 

220 

27,7 

19,1 

9,8 

6,6 

2,6 

— 

0,6 

0,S 1 

Oktober . . 


0,4 

2,1 

10,2 

21,0 

27,2 

17,2 

11,0 

8,2 

1,6 

0,9 


— ( 

1916 



! 











Januar . . . 

— 

0,2 

2,3 

11,2 

23,0 

24,2 

20.3 

9,3 

7,0 

1,6 

0,5 

0,2 

0,2 

April . . . 

— 

— 

3,6 

11,4 

25,3 

24,3 

20,0 

10,3 

2,9 

1,7 

0,2 

0,2 

, — 

Juli .... 

— 

0,2 

6,3 

16,5 

25,4 

26,2 

14,3 

7.5 

3,2 

0,2 

0,2 

— 

— 

Oktober . . 

— 

1,5 

5,5 

17,2 

26,7 

21,7 

15,2 

8,2 

3,3 

0,5 

°,2 

— 

— 

1917 

Januar . . . 

_ . 

1,6 

6,8 

24.1 

i 

27,3 

21,8 

10,6 

5,7 

1.9 

0,2 




April . . . 

0.2 

0,8 

10,6 

23,8 

27,0 

21.2 

11,1 

3,7 

1.6 

— 

— 

— 

— 

Juli .... 

0,3 

2,5 

10,6 

24.8 

26,4 

18,6 

11.2 

3,4 

2,2 

— 

— 

— 

' - 

Oktober . . 

— 

2,1 

10,5 

20,9 

25,4 

19,9 

13,6 ; 

5,2 

2,4 

— 

— 

— 

] — 

1918 





i 








! 

Januar . . . 

— 

1,9 

9,2 

22,2 

28,7 

19,9 

11,9 

3,5 

2,7 

— 

— 

— 

i_ 

i 

April . . . 

— 

2,1 

7,3 

21,9 

27,9 

21,9 

12,5 

4,3 

2,1 

— 

— 

— 


Juli .... 

— 

1,5 

3,9 

20,9 

29.1 

23,3 

14,6 

4,8 

1,9 

— 

— 

— 

— 

Oktober . . 

— 

0.9 

7,4 

23,4 

26,3 

26,7 

8,8 

5,1 

1,8 

— 

— 

— 

— 

1919 














Januar. . . 

— 

1,7 

6,4 

19,9 

27,5 

25,2 

13,4 

4,7 

1.2 

— 

— 

— 

— 

April . . . 

— 

1,6 

4,9 

13,0 

27,6 

27,7 

15,5 

7,3 

2,4 

— 

— 

— 

— 

Juli .... 

— 

— 

5,5 

14,3 

18,3 

25,4 

20,6 

12,7 

1.6 

1,6 

— 

— 

— 

Oktober . . 

— 

— 

1,6 

4,1 

13,8 

26,8 

20,3 

15,5 

13,8 

4,1 

— 

— 

— 

1920 

Januar . . . 



0.8 

2,9 

6,6 

29,4 

25,0 

16,9 

15,5 

2,9 



_ 

März . . . 

— 

— 

0,7 

3,6 

10,1 

26.6 

21,6 

20,9 

12,2 

3,6 

! 0,7 

— 

- 


□ igitized by 


Gck igle 


Original from 

UMIVERSITY OF MICHIGAN 




Körpergewicht u. Ernäbrungsverhältnisse männl.Verpflegter i. Colditz 1915—19. .35 


Tabelle 3. Zschadrass. 


Verteilung der Wägungsergebnisse auf die Gewiehtsgrnppen von Vierteljahr an Vierteljahr. 



he 

^4 

bß 

bß 

M 

bß 

bß 

bß 

M 

bß 

JA 

bß 

JA 

bß 

JA 

bß 

M 

bß 

JA 

bß 

M 

bß 

M 

bß 

c* 

M 

M | 
£ 1 

bß 

Jahr 

(N 

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CO 

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O 


8 

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O 

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Xi 

3 

3 

•° 1 

Xi 

Xi 

Xi 

Xi 

— 

iß 

Xi 


Xi 

3 

3 | 


1914 

Januar. . . 

l 

pCt. 

pCt 

pCt. 

1,4 

pCt. 

1,7 

pCt. 

3,3 

pCt. 

8,8 

pCt. 

19,9 

pCt. 

20,4 

pCt. 

22,1 

pCt. 

11,9 

pCtJpCt. 
3,3 i 3,G 

1 1 

pCt. pCtJpCt. 
2,5 : 0,3 i- 

pCt.j 

0,3; 

pCt. 

0.5 

April . . . 

— 

— 

0,5 

1,3 

3,7 

11,4 

17,8 22 3 

20,1 

12,5 

4,0 

1,9 

2,7 

0,8 

0,5 

0,5 

Juli .... 

— 

0,5 

0,2 

1,5 

5,1 

11,2 

16,8 

23,5 

19,9 

10,5 

5,4 

1,5 

2.3 ! 0,8 

— 

0,5 

o.:; 

August . . 

— 

— 

1.0 

1,8 

5,0 

11.8 

17,8 

21,4 

19,6 

10,7 

6,0 

1,3 

2,9 

0,3 1 0,3 

0,3 , 

0,3 

Dezember. . 

— 

0,3 

0,8 

2,0' 

3,4 

14,5 

17,1 

21,0 

19,2 

9,8 

6,7 

2,3 

1,8 

0,5 

0,3 

— 

0,8 

1915 


















Januar. . . 

— 

0,2 

1,2 

1,4 

4,6 

15,6 

18,4 

21,4 

IS,9 

S.l 

4.8 

2,6 

1,4 

0,7 

0,5 

— 

0,2 

April . . . 

0,2 

— 

1,4 


8.7 

17,6 

20,0 

23,3 

11,5 

7,5 

5.1 

1,2 

1,4 

0,2 

— 

— 

0,2 

Juli .... 

0,2 

— 

1,5 

4,1 

10,3 

21,8 

23,2 

18,8 I 11,5 

4,8 

2,4 

0.7 

0,7 


— 

— 

-- 

Oktober . . 


0,5 

1,9 

4,1 

13,6 

18,7 

24,6 

17,7 

11,7 

4,3 

1,7 

0,7 

0,5 

— 

— 


— 

1916 


















Januar . . . 

-. 

0,5 

0,9 

4,8 

11,5 

21,5 

22,7 

20.7 

10,5 

! 4,1 

1.2 

1,4 

0,2 

— 

— 

— 

— 

April . . . 

— 

0,4 

1,4 

4.9 

10,0 

23,3 

23,3 

18,8 

11,2 

> 3.4 

1,7 

1,4 


— 

— 

. - 

0,2 

Juli .... 

— 

0,7 

1,7 

3,2 

11,0 

25,7 

24,3 

21,1 

6,6 

3,2 

2,0 

0,5 

— 

— 

— 

— 

-- 

Oktober . . 

0,2 

0,7 

1,2 

4,8 

13,5 

25,9 

26,6 

16,6 

6.8 

4,3 

1,2 

0,2 


— 

— 

— 

— 

1917 




1 




1 










Januar . . • . 

0,2 

1,5 

5,4 

17,5 

26,0 

22,4 

17,0 

5.4 

3,0 

i 0,9 

— 

— 


— 

— 

— 

— 

April . . . 

0,5 

2,3 

8,1 

23.4 

27,2 

18,1 

13.2 

4,8 

1,3 

0,8 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

- 

Juli .... 

0,5 

2,2 

7,5 

24,0 

26,3 

21,0 

12,8 

3,3 

1,4 

0,3 

■ 

— 

• - 

— 

— 

— 

— 

Oktober . . 

0,7 

3,0 

11,6 

19,8 

27,7 

18,8 

12,2 

2,0 

2.6 

: 0,3 

— 

— 

— 

i — 

— 


- 

1918 





i 




% 









Januar . . . 

0,5 

0,8 

3,7 

11,2 

23,8 

26,1 

18,3 

9,5 

3,7 

2,1 

0,3 

— 

1 

, — 

— 

— 

— 

April . . 

0,7 

1,8 

3.6 

12,1 

22,3 

27,2 

13,1 

12,8 

3,9 

! 2,7 

0,3 

' - 


—. 

•- 

1 

— 

Juli .... 

0,7 

1,9 

1,5 

7,6 

18,7 

24,7 

19,4 

16,3 

5,7 

1 2,3 

0,4 

0,4 


0,4 

! — 

- 

-- 

Oktober . . 

0,6 

— 

! 1,3 

5,7 

8,9 

26,1 

26,1 

17,2 

10,8 

1,9 

0,7 

— 

! 0,7 


! — 


— 


In der Kurve, die den Verlauf des Körpergewichts wiedergibl, 
entspricht die mittlere Linie dem Gange des Mittels, die untere dem 1., 
die obere dem 3. Viertel. Diese beiden Viertel sind die Mittel der 
Minus- und Plusvarianten, ihr gegenseitiger Abstand, der Hälftespiel¬ 
raum, gibt ein annäherndes Bild der Streuung der Zahlen, ist mithin 
zu Anfang in Zschadrass grösser als in Colditz. Nicht zum Ausdruck 
kommt das Verhalten der niedrigsten und höchsten Gewichte, der 
Beginn und der Auslauf der Einzelkurve, die aber für den Vergleich 
von geringerer Bedeutung sind. 

Den tiefsten Stand erreicht die Kurve des Mittels in Colditz im 
August 1917, in Zschadrass im 1. Viertel 1918, und zwar in Colditz 
mit 47,79, in Zschadrass mit 47,17 kg, der Durchschnittsverlust be¬ 
trägt demnach in beiden Anstalten fast y 5 des ursprünglichen Betrages. 

3* 


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Original fro-m 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



















• ^ 


36 Dehio, 

Dieser Tiefstand ist schon ina Mai 1917 nahezu erreicht worden und 
beginnt erst im Sommer 1918 einem Aufstieg Platz zu machen, der 
in Colditz freilich erst vom März 1919 ab dauernd wird. Die Gründe 
für dieses verschiedene Verhalten werden unten dargelegt werden. 
Wenn man bedenkt, dass bei einem Rückgang des Körpergewichts 
auf 3 / 6 des ursprünglichen unbedingt der Hungertod erfolgt, so liegt 
auf der Hand, dass die Anstaltsinsassen auf das Höchste gefährdet 
waren. Dazu kommt, dass die Erfahrungen mit der Oedemkrankheit 
zweifeln lassen, ob die Zahl den Ernährungszustand nicht noch etwas 
besser erscheinen lässt, als er tatsächlich war, indem die Zurück¬ 
haltung des Wassers das Körpergewicht erhöht und über den Kräfte¬ 
zustand täuscht. Auch Richter gibt als niedrigstes Gewicht 48,1 kg, 
also annähernd dieselbe Zahl an. Er rechnet aber mit dem arithmeti¬ 
schen Mittel, das für den August 1917 in Colditz 48,21 kg betrug. 

Ziemlich gleichzeitig erreicht die Kurve der Plusvarianten ihren 
niedrigsten Stand, in Colditz im Mai 1917 mit 52,82 (80 pCt. des 
Anfangsstandes), in Zschadrass ira Januar 1918 mit 55,13 (82,45pCt.). 
Zschadrass ist also nur um 17,55 pCt. gefallen gegenüber Colditz mit 
20,0 pCt., das bedeutet unter Berücksichtigung der oben erwähnten 
Eigenheiten des Krankenbestandes, dass Zschadrasb einen nicht uner¬ 
heblichen Teil der Verpflegten noch besser ernähren konnte. In 
Colditz war das für eine, wenn auch kurze Zeit nahezu ausge¬ 
schlossen. Doch schon im Oktober, offenbar unter dem Einfluss der 
neuen Kartoffelernte, tritt wieder der erwähnte Buckel der Variations¬ 
kurve hervor. 

Die Kurve der Minusvarianten ist gleichfalls erheblich gesunken, 
und zwar annähernd in demselben Verhältnis, 80,84 pCt. in Colditz 
und 82,85 pCt. des Anfangsgewichts in Zschadrass. Sie rückt zu¬ 
gleich sehr nahe an die Kurve des Mittels. Anders ausgedrückt er¬ 
gibt sich, dass in Colditz vom Januar 1917 bis mit Januar 1919 ab¬ 
gesehen von den Monaten Juni, Juli und August 1918 mehr als die 
Hälfte der männlichen Verpflegten, bisher vorwiegend körperlich ge¬ 
sunde, kräftige Männer ira besten Lebensalter unter 100 Pfund wogen. 
Im schlimmsten Monat, im Juli 1917, waren es gar 64,6 pCt. gegen 
15,5 pCt. im Januar 1915. In Zschadrass waren es im Januar 1918 
66,lpCt. gegen 15,2pCt. im Januar 1914 und 23,5pCt. im Januar 1915. 
Wenn Rubner nach Richter sagt, dass im allgemeinen Männerdurch¬ 
schnittsgewichte unter 50 kg auf die Dauer nicht vertragen werden, 
so sind das erschreckende Zahlen., 


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Original from 

UMIVERSITY OF MICHIGAN - “ 



Kurventafel I. 



Rö^piur^ewictit u. fr oätirurigs m-b»Uftisse m.iunl.VovfOlegter i, CoklUz 1V>Sf»— H). H7 

Die Vamlionskurmi aus dieser Zeit des tiefsten -Stande» unter¬ 
scheiden sieh wesentlich von der Friedenskyrve, Die Kurve von 
GoiiiitÄ ist schmal und steil, sie deckt sieh in ihrer Form oft 


T^rfr^{ 


nahezu iuit der Kurve der tfrieliigen Bimmitimlreiiie. einwim* Kurve» 
sind sogar erhohlioli .schmäl Wi Dyr ah fallende Schenkel ist steiler; 
hnd nur eine^ kleirm : Ordppe von Höchstgewichten tritt aus der Ideal- 


ft^irröFfdrCHIGAN 







kurve herauf Die Sfcfilc fies 1, Viertels zeigt einen niedrigeren 
eder diöh^Uv^tmi 'J|| Vach der *?|)gürB| -saun Steigen oder Fallen 
des KörpergevrictfiÄ «öl. tfft*i[irecherKbnt Verhalten der Spitze der 

Kvlrve. Oie Verpflegten erscheinen dern- 

• 

Ktirvöntap'.i ll 


t/rW w 




«. *s >(■ ss :*? es w n so: is m ?! 


nach : besonders' empfindlich gegen dje Schwankungen der Ernährung 
und bringen durch Ah- oder Zunahnre die kleinste Aruderimg zum 
ÄnsdrndkE . t>ass '.die: ^ die der ßinomutalreihe 

lässt die Deutung zu, dass das geringstindglieHe Körpergewicht er- 


tivimtfi 





Körpergewicht u. Ernährungsverhältnisse männl.Verpflegter i.Colditz 1915—19. 39 

reicht, wenn nicht unterschritten ist, was mit der Rubner’schen 
Zahl von 50 kg übereinstimmen würde. Die Kurven von Zschadrass 
gleichen jetzt sehr denen von Colditz, sie haben ihre breite Aus¬ 
ladung verloren, sind schmäler und steiler geworden und unterscheiden 
sich hauptsächlich nur durch einige besonders niedrige, aber auch 
einige höhere Körpergewichte, demgemäss bleibt die Streuung immer 
etwas grösser. In der Hauptsache hat aber auch hier der HuDger 
alle gleich gemacht. 

Der Gesamtverlauf der Kurve zeigt einen überraschend bis in 
Einzelheiten gleichen Verlauf in beiden Anstalten. Bemerkenswert ist 
der rasche Abfall mit der Einführung der Brotkarte im Februar 1915, 
der in Coldiz bedeutend steiler ist, ein Zeichen für die grosse Be¬ 
deutung des Brotes in der Ernährung der Anstaltsinsassen, wenn 
natürlich auch mit den anderen Nahrungsmitteln _gespart werden 
musste. Erst im August-September gelingt es in beiden Anstalten 
diesen Sturz aufzuhalten, doch hatte Colditz schon im Sommer den 
Abfall etwas zurückhalten können. Es ist schwerlich anzune}imen, 
dass eine Gewöhnung der Verpflegten an das geringere Kostmass ein¬ 
getreten sei, es wird vielmehr die neue Kartoffelernte der Grund dafür 
sein, die wieder eine reichlichere Ernährung erlaubte. Ergeben doch 
schon die Beköstigungslisten von Colditz, dass der Aufenthalt im 
Körpergewichtsabfall im Sommer mit einer vermehrten Ausspeisung 
von Kartoffeln bis 1 kg für den Kopf und Tag zusammenfiel. Das 
konnte natürlich nicht von Dauer sein und erst die neue Kartoffel¬ 
ernte konnte wieder Besserung schaffen. Der vorübergehend bessere 
Ernährungszustand in Colditz kommt auch im Anstieg der Plus¬ 
varianten zum Ausdruck, dem mit dem Anstieg der Mittelkurve die 
Minusvarianten folgen. Diese Erscheinung, ein Ansteigen der Körper¬ 
gewichtszahlen im Spätherbst, ist, abgesehen vom Jahre 1918, in dem 
besondere Verhältnisse obwalteten, in jedem Jahre zu bemerken. Ich 
möchte sie die Kartoffelzacke nennen. 

Diese Besserung blieb aber nur eine vorübergehende. Im März 
und April 1916 beginnt die Kurve weiter zu fallen, nach Einführung 
der Fleischkarte im April in beschleunigtem Masse, während die Ein¬ 
führung der Butterkarte im Juli und der Milchkarte im September 
vorläufig ohne Einfluss blieb. Freilich war die Anstalt dank der 
Vorsorge des Ministeriums in der glücklichen Lage, bei der Abschlach¬ 
tung der Schweinebestände eine grosse Menge Büchsenfleisch zu er¬ 
werben, auch wurde möglichst Ersatz durch Fischfleisch beschafft, 


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Original fro-m 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



40 


Dohio, 

doch Jiess sich das zugleich mit dem Fleisch ausfallende Fett nicht 
ersetzen. Ueberraschend ist, dass Zschadrass für diese Ze^t einen 
vorübergehenden Körpergewichtsanstieg verzeichnen kann, vielleicht 
dass dort das fehlende Fleisch und Fett aus eigenen Schlachtungen 
oder Vorräten überreichlich ersetzt werden konnte. Im Herbst steht 
Colditz nur wenig niedriger als die Nachbaranstalt und beide An¬ 
stalten zeigen noch eine deutliche Kartoffelzacke, ehe sie mit dem 
Einsetzen der Kartoffelbewirtschaftung im November in den „Kohl¬ 
rübenwinter 11 eintreten. Mit der Einschränkung der Kartoffelausspeisung 
wurde die letzte Möglichkeit einer freien Bewegung in der Ernährung 
der Kranken genommen, zugleich wurde aber auch die Schmack¬ 
haftigkeit der Kost beeinträchtigt, denn bei der geringen Menge des 
Kochmehls war die Kartoffel das einzige Mittel geblieben die regel¬ 
mässige Gemüsekost zu verdicken und etwas Abwechslung zu schaffen. 
Die Geraüsekost in dünner Brühe mit den immer wiederkehrenden 
Kohlrüben regte die Esslust trotz des dauernden Hungergefühls nicht 
an und neben den körperlichen Beschwerden infolge der ungenügenden 
Ernährung wuchs die Unzufriedenheit mit der Kost auf den Ab¬ 
teilungen. Die Kurve fällt jetzt rasch auf ihren tiefsten Stand. Auf¬ 
fällig ist, dass die bis dahin recht gleichraässig verlaufende Kurve 
während der Zeit des Tiefstandes unregelmässig äuf und ab schwankt, 
es scheint, als ob der auf das äusserste ausgehungerte Körper bei 
der geringsten Vermehrung der Nahrungszufuhr sofort ansetzt. Alle 
Bemühungen der Behörden durch Abgabe von Trockengemüsen, die 
auch nur in geringen Mengen vorhanden waren und durch Ersatz- 
herstellüngen abzuhelfen, blieben erfolglos. Namentlich die Ersatz¬ 
mittel fanden sehr wenig Anklang und mit Recht. Vieles gebotene, 
so der sogenannte holländische Salzspinat und die Trockensuppen 
waren recht minderwertig und verschwanden zum Teil bald, weil die 
Bevölkerung sie zurückwies. Die Anstalten aber mussten notgedrungen 
wiederholt solche Reste aufbrauchen. Erst nach und nach wurde es 
in dieser Hinsicht besser und jetzt sind die „Bezirkssuppen“ im all¬ 
gemeinen besser als ihr Ruf. Die Anstalt Zschadrass war dabei in 
einer viel günstigeren Lage als Colditz, da sie mehrere Monate im 
Jahre als Selbstversorgerin aus der eigenen Landwirtschaft erheblich 
vorteilen konnte, sie erhielt nicht nur mehr Brotmehl, sondern konnte 
auch einen Teil der' Hafer- und Gerstenernte zu Grützen und Flocken 
verarbeiten lassen. Freilich tritt das erst im Jahre 1918, als die 
Krankenzabl erheblich gesunken war, deutlich in der Gewichtskurve 


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Gougle 


Original fro-m 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Körpergewicht u. Ernährungsverhältnisse uiännl.Verpflegter i.Colditz 1915—19. 41 

hervor. So ist der rasche Anstieg im Jahre 1918 zu erklären, dem 
Colditz nur langsam nachfolgen konnte. Im Sommer 1918 brachten 
die fleischlosen Wochen durch die erhöhten Brot- und Trockengemüse¬ 
lieferungen eine langsame Besserung, begünstigt durch eine gute 
Gemüseernte im Anstaltsgarten. 

Die Kurve lässt bei ihrem Anstieg vom Sommer 1918 ab noch 
eine Besonderheit im Verhalten der Plus- und Minus Varianten er¬ 
kennen. Während die Kurve des Mittels unverkennbar eine Neigung 
zum Steigen hat, bleiben die beiden anderen Kurven zurück. Un¬ 
zweifelhaft konnte der vorhandenen Anlage und Neigung zur Mästung 
noch nicht nachgegeben werden, es waren unter den Vecpflegten 
offenbar auch viele vorhanden, die nicht mehr imstande waren die 
ein wenig bessere Ernährung auszunutzen, die dauernden Schaden aus 
der Hungerzeit davongetragen hatten. Erst mussten die vielen in 
der Anstalt vorhandenen Phthisiker fortsterben, ehe die Besserung 
deutlich werden und die Kurve sich der Friedensform nähern konnte. 
Diese Besserung brachte erst das Jahr 1919 und wie der Abfall im 
Jahre 1915 bedrückend auf das Gemüt des leitenden Arztes wirken 
musste, so brachte dieses Jahr mit dem entschiedenen Anstieg der 
Kurve die befreiende Lösung. Es ist aber der Friedensstand noch 
keineswegs erreicht und die Kurve der Minosvarianten steht noch 
sehr nahe am Mittel, unzweifelhaft kann eine erneute geringfügige 
Herabsetzung der Kostmenge wieder verheerend wirken. Auch die 
immer wieder auftretenden Neuerkrankungen an Tuberkulose zeigen 
die dauernde Herabsetzung der Widerstandsfähigkeit der Anstalts¬ 
insassen an. Doch davon später. Erst mit dem neuen Jahre wird die 
Kurve stetig, Mittel und Plusvarianten bleiben die nächsten Monate 
auf gleicher Höhe, ohne dass sie die Friedenshöhe voll erreicht hätten, 
die Minusvarianten steigen noch an. Dem entspricht, dass unter den 
Einzelgewichten nur die Phthisiker noch eine Zunahme zeigen. Die 
allgemeine Kost ist demnach noch keineswegs ausreichend wie im 
Frieden, sie wird aber für die Tuberkulösen genügend durch die 
ihnen zugebilligten Zulagen. 

Kurz mag noch das Verhalten des Hälftespielraums besprochen 
werden. Dieses ist am schwierigsten zu beurteilen, weil dabei die 
verschiedensten Einflüsse Zusammenwirken. Je grösser dieser ist, 
desto grösser muss die Streuung der Zahlen sein, ohne dass sie 
jedoch in ihm voll zum Ausdrück kommt. Da der Hälftespielraum 
sich aus zwei Teilen zusammensetzt, aus einem ober und einem unter 


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UNIVERSITY OF MICHIGAN 


42 


Debio, 


dem Mittel, so wird es auch nicht gleichgültig sein, welcher von beiden 
Teilen überwiegt. Das wird aber wesentlich von der jeweiligen Zu¬ 
sammensetzung des Krankenbestandes abhängen, wie schon die ver¬ 
schiedenen Friedenskurven von Zschadrass und Colditz zeigen. Ich 
möchte daher nur darauf hinweisen, dass die Grösse des Hälfte¬ 
spielraums annähernd gleichsinnig mit den Aenderungen des Körper¬ 
gewichts schwankt.- Dabei scheint jedoch dem Anstieg des Körper¬ 
gewichts eine Zunahme der oberen Hälfte des Hälftespielraums voraus- 
zugehen. Nur beim Beginn des letzten Anstiegs vom Sommer 1918 
ab ist das Gegenteil der Fall, wie gesagt, vermutlich bedingt durch 
die grosse Anzahl Tuberkulöser. In der zweiten Hälfte des Jahres 
1919 wird dieses Zurückbleiben reichlich eingeholt, ohne dass der 
gesamte Hälftespielraum zuniramt, ein Zeichen, dass die Streuung 
nach unten sehr abgenoramen hat. 

Ueber die Ernährungsverhältnisse während der Kriegszeit gibt die 
untenstehende Zusammenstellung Aufschluss (Tabelle 4). 

Sie gibt an, wieviel jeder Verpflegte in einer Woche in der 
Anstaltskost erhalten hat nach dem halbjährlichen Durchschnitt. Zum 
Vergleich ist ausserdem der Wochen verbrauch im Januar 1915 voran¬ 
gestellt. Fortgelassen sind nur die Gewürze, das wenige verabreichte 
Bier und der Kaffeeersatz, es sind also sämtliche Nährwert ent¬ 
haltenden Nahrungsmittel aufgezählt. An Zucker hatte die Anstalt 
reichliche Vorräte, so wurde deshalb ausser dem Kochzucker den 
Verpflegten durchgängig als Zulage je 80,0 g wöchentlich verabreicht, 
ausserdem konnte durch einige Monate den besonders Bedürftigen 


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UNIVERSITY OF MICHIGAN 







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Körpergewicht u. Ernährungsverhältnisse männl.Verpflegteri.Colditz 1915—19. 4$ 


Bienenhonig, der der Anstalt als Krankenanstalt zugewiesen worden 

war, neben der Kost verabreicht werden, der hier nicht aufgezählt 

ist. Im Obst aller Arten war die Anstalt auf den Ertrag ihres 

Gartens angewiesen, der naturgeraäss je nach der Ernte schwankte, 

aber nicht unerheblich ins Gewicht fiel. Namentlich nach frischem 

* 

Obst hatten die Verpflegten grosses Verlangen. 

Es braucht hier nicht weiter ausgeführt zu werden, dass das 
Königreich Sachsen bei der Bewirtschaftung der Nahrungsmittel ganz 
besonders schlecht weggekommen ist, da es in vielem völlig auf die 
Zufuhr angewiesen war. Ganz besonders hatten darunter die An¬ 
stalten zu leiden, da sie nahezu gänzlich auf die zugewiesenen Nah¬ 
rungsmittel angewiesen waren. Selbst die Anstalten mit eigener Land¬ 
wirtschaft, wie Zschadrass, hatten in den ersten Kriegsjahren nur 
einen geringen Vorteil davon, erst als die Krankenzahl erheblich 
zuriiekgegangen war, traten die Vorteile der Selbstversorgung hervor 
(vgl. die Gewichtszahlen für Zschadrass vom Jahre 1918). Dabei 
war der Hauptvorteil durch den Gewinn an Kochmehl, den ver¬ 
schiedenen Grützen und Graupen und Leinöl gegeben. Freilich be¬ 
mühte sich der Bezirksverband in nicht hoch genug anzuerkennender 
Weise durch Sonderzuweisungen, indem die Insassen der Anstalt als 
besonders bedürftig erachtet wurden, die Ernährung zu verbessern, 
da aber der ganze Bezirk Grimma als Landbezirk angesehen wurde, 
der ausserdem noch von seinen Ernteerträgnissen abzugeben hatte, 
so waren dem auch hierin enge Grenzen gezogen. Ausserdem waren 
namentlich im Winter 1916/17 die zur Ernährung herangezogenen 

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45 

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Original fro-m 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 




44 


Debio, 


ErsatznahrungsraiUel, vor allem die verschiedenen Kohlrübenzuberei¬ 
tungen, der sogenannte holländische Salzspinat, aber auch die ersten 
„Bezirkssuppen“, so minderwertig, dass sie vielfach von den Ver¬ 
pflegten trotz des quälenden Hungers zurückgewiesen wurden. 

Der Gehalt der Nahrung an Wärmeeinheiten ist im Laufe der 
Kriegsjahre wiederholt berechnet worden. Je länger ich mich damit 
beschäftigt habe, desto weniger zuverlässig erschienen mir die Er¬ 
gebnisse. Einesteils war die Zusammensetzung namentlich der Ersatz¬ 
nahrungsmittel kaum festzustellen, und ausserdem waren auch die 
üblichen Nahrungsmittel, besonders die tierischer Herkunft, minder¬ 
wertiger, worauf von verschiedenen Seiten schon hingewiesen worden 
ist, abgesehen von der allgemeinen Unzuverlässigkeit einer buch- 
mässigen Berechnung. Deshalb führe ich nur an, dass die Kost vom 
Jahre 1915 auf täglich 2400 Wärmeeinheiten, genau gerechnet, er¬ 
rechnet wurde. Es wurde damals aber schon angefangen zu sparen. 
Vergleicht man die Ernährung in den folgenden Jahren mit diesem 
Monat, so fällt zuerst die Verminderung der Nahrungsmittel tierischer 
Herkunft und der Fette auf. Diese haben auch jetzt noch nicht 
nennenswert zugenoramen, die Fleischwaren sind sogar infolge man¬ 
gelnder Vorräte noch geringer als in den ersten Kriegsjahren. Der 
Gang des Körpergewichts ist demnach wesentlich abhängig von der 
Menge der kohlehydrathaltigen Nahrungsmittel, zu denen auch die 
Hülsenfrüchte gerechnet werden können. Die keineswegs sehr er¬ 
hebliche Erhöhung der Zuweisung solcher Nahrungsmittel im ver¬ 
flossenen Jahre hat allein schon die so erfreuliche Hebung des Er¬ 
nährungszustandes bewirkt. Hält man dagegen, dass in der Friedens¬ 
zeit ein nicht sehr viel besseres Ergebnis durch verhältnismässig sehr 
grosse Mengen der in jeder Beziehung kostspieligeren Nahrungsmittel 
tierischer Herkunft erzielt wurde, so wird man für die Zukunft, in 
der zweifellos in jeder Weise gespart werden muss, das Hauptgewicht 
in der Anstaltsernährung auf die kohlehydrathaltigen Nahrungsmittel 
und deren schmackhafte und abwechslungsreiche Zubereitung legen. 
Leider reichen diese auch jetzt noch nicht und das Fehlen der Fette 
ist auch sehr bemerkbar. Sie durch die verschiedenen Frischgemüse 
zu ersetzen, war auch nicht annähernd möglich, mit den Gaben wie 
im zweiten Halbjahr 1917 von mehr als einem Pfunde Wurzel- und 
Krautgemüsen dürfte die Höchstgrenze für den menschlichen Magen 
erreicht sein. Von anderen Anstalten kann ich nur die Kost in der 
Anstalt Buch vergleichen. Diese Anstalt als städtische Anstalt ver- 


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Original from 

UNIVERSETY OFMICHSGAn' 



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Körpergewichtu.Ernährangsverhältnisse männl.Verpflegter i.Colditz 1915—19. 45 

mochte, nachdem die Folgen der Unterernährung ebensoweit gediehen 
waren als hier, durch die Stadtverwaltung als Verteilungsstelle bald 
Nahrungsmengen zugewiesen erhalten, die die uns gewährten erheb¬ 
lich überstiegen. Aber auch dort haben es -wesentlich die Kohle¬ 
hydrate gemacht. So üppig wie Schreber seine weiblichen Ge¬ 
fangenen im Lazarett verpflegte, hat es die Stadt Berlin in ihren An¬ 
stalten aber auch nicht leisten können. Was sie geben konnte, reicht 
an das uns im Jahre 1919 Gewährte heran und es geht aus den 
Wägungsverhältnissen hervor, dass hier das Möglichste mit dem Ge¬ 
gebenen erreicht worden ist. 

Die Folgen der Unterernährung für den Gesundheitszustand der 
Anstaltsinsassen, wie sie sich allein in der Zahl der Todesfälle dar¬ 
stellen, sind wahrhaft erschreckendo. Die Gesamtzahl der Todesfälle 
in der Anstalt im Verhältnis zum Durchschnittsbestände betrug 

in den Jahren.1914 1915 1916 1917 1918 1919 

4,5 15,1 18,8 54,8 50,9 25,1 pCt. 

auf der Männerabteilung ... — 16,0 17,3 59,4 56,8 31,1 „ 

Es sind demnach allein in den beiden schlimmsten Jahren 1917 
und 1918 mehr als die Hälfte des jeweiligen Durchschnittsbestandes 
verstorben, d. h. die Anstalt wäre ausgestorben, wenn nicht Zu¬ 
führungen stattgefunden hätten. Von dem Ende 1914 vorhandenen 
Bestände von 479 Männern sind in der Anstalt 350 verstorben. Auf¬ 
fallend ist, dass schon das Jahr 1915 so viele Todesfälle aufweist. 
Dieses ist einer heftigen Ruhrepidemie zuzuschreiben, die ganz plötz¬ 
lich im Spätsommer ausbrach, annehmbar verursacht durch Dauer¬ 
ausscheider, die sich unter einer Massenzuführung aus anderen ruhr¬ 
verseuchten Anstalten im Dezember 1914 befanden. Diese Krank¬ 

heit hat unzweifelhaft auch noch in den folgenden Jahren Opfer ge¬ 
fordert. Dass sie nur infolge einer erhöhten Krankheitsbereitschaft, 
die der Unterernährung zur Last gelegt werden muss, so bösartig 
aufgetreten ist, steht für mich ausser Zweifel. Ich verweise in dieser 
Hinsicht auf meine frühere Arbeit über die Anstaltsruhr. — Das 
Verhältnis der Todesfälle zum Gange des Körpergewichts erhellt aus 
der Kurventafel 1, in der ich das Verhältnis der vierteljährlichen 
Todesfälle auf der Männerabteilung 'zum jeweiligen Durchschnitts¬ 
bestände der Abteilung in Prozenten eingezeichnet habe. Die Zahl 
der Todesfälle steht danach in engem Zusammenhänge mit dem Gange 
des Körpergewichts, dessen Abnahme regelmässig von einem An¬ 
wachsen der Todesfälle gefolgt ist, wobei zu berücksichtigen ist, dass 


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UNIVERSITY OF MICHIGAN 



46 


Dehio, 

nach dem Massensterben der weniger Widerstandsfähigen naturgemäss 
ein gewisser Rückgang der Todesfälle eintreten muss, zugleich aber 
auch die Folgen der Unterernährung bei vielen erst später aufgetreten 
sein mögen. 

Leider war es nicht möglich, regelmässige Leichenöffnungen vor¬ 
zunehmen. Aerzte und Personal waren überlastet und im Winter 
war die Heizung des Sektionsrauraes nicht durchzuführen. Daher 
Raben die Zahlen für die Todesursachen nur sehr bedingten Wert. 
Namentlich werden rasch verlaufende Tuberkulosen häufig übersehen 
worden sein, die unter den Krankheitsbildern der Oedemkrankheit 
oder chronischer Durchfälle verlaufen sind. Deshalb habe ich die 
drei hauptsächlichsten Kriegskrankheiten, die Tuberkulose, Ruhr und 
Oedemkrankheit, zusammengezählt. Es starben an diesen Krankheiten 
im Verhältnis zum Jahresdurchschnittsbestande 

in den Jahren.1914 1915 1916 1917 1918 1919 

3,6 13,0 13,2 36,8 25,8 16,8pCt., 

also über die Hälfte der Gesamttodesfälle. Aber selbst bei der An¬ 
nahme, dass unter den übrigen Todesfällen viele wegen der Unsicher¬ 
heit der Diagnose unter die genannten Krankheiten fallen würden, ist 
doch unzweifelhaft die Zahl der an anderen Krankheiten Verstorbenen 
so gross, dass für alle Erkrankungen eine erhöhte Anfälligkeit und 
verminderte Widerstandsfähigkeit angenommen werden muss. So war 
auch die Zahl der Todesfälle in den Kriegsjahren .an Herzmuskel¬ 
erkrankungen, an Arteriosklerose, Apoplexie und Pyämie auffallend 
gross, unter den Todesfällen an Marasmus mögen manche unter die 
Oedemkrankheit zu .rechnen sein, aber mit einer verminderten Wider¬ 
standsfähigkeit der Alten und Siechen muss auch gerechnet werden. 
Auch hier konnte die Beobachtung gemacht werden, dass der Ver¬ 
lauf der Tuberkulose während der Zeit der Unterernährung ein gegen 
früher veränderter war und umgekehrt konnte im verflossenen Jahre die 
erfreuliche Tatsache festgestellt werden, dass selbst vorgeschrittene 
Tuberkulosen mit dem Beginn der besseren Ernährung zu heilen be¬ 
gannen und beginnende Fälle rasch ausheilten. Die Erkrankungs- 
Ziffer ist auch ganz wesentlich zurückgegangen, besonders unter Be¬ 
rücksichtigung der Durchseuchung der ganzen Anstalt, die mit ihren 
in das alte kurfürstliche Schloss eingebauten Abteilungen eine zeit- 
gemässe Absonderung und Behandlung der Tuberkulosen nicht er¬ 
möglicht. 


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UMIVERSITY OF MICHIGAN*' 




Körpergewicht u.Ernährungsverhältnisse männl.Verpflegter i.Golditz 1915—19. 47 

Unter den Anstaltsinsassen sind namentlich betroffen worden die 
nicht vorbestraften, der alte Bestand an sog. chronisch. Tobsüchtigen, 
hauptsächlich alte Fälle der Präkoxgruppe. Von dem Anfangsbestand 
von 117 Kranken dieser Art sind einige wenige entlassen und in 
andere Anstalten überführt, im ganzen 2, der Anstalt verblieben sind 4, 
alle übrigen, also 96 pCt, sind gestorben. Namentlich augenfällig 
sind sie der Ruhrcpidemip verfallen, die ihre Opfer vorwiegend unter 
ihnen fand, der Rest ist hauptsächlich an Tuberkulose und Oedem- 
krankheit verstorben. Viel besser haben die Vorbestraften ausge¬ 
halten. Zahlenmässig lässt sich dieses Verhältnis am besten dar¬ 
stellen durch die Absterbeziffer der als einfache Seelenstörung der 
Reichsstatistik gezählter) Kranken, unter denen sich freilich viele 
Psychopathen befinden, gegenüber den Imbezillen. Von den ersteren 
sind in den Kriegsjahren 48,3 pCt., von den letzteren 33,6 pCt. ver¬ 
storben, also erheblich weniger. Ob das der Form dar Geistesstörung 
zur Last zu legen ist, muss dahingestellt bleiben, da unter den letz¬ 
teren Formen viel mehr jugendliche und dadurch widerstandsfähigere 
Leute sind, unter den ersteren wiederum viele langjährige Anstalts¬ 
insassen, die erfahrungsgemäss viel anfälliger sind als die neuzuge- 
führten, wie die Verbreitung der Anstaltsruhr lehrt. 

Dass auch andere Anstalten ähnlich zu leiden hatten wie Colditz, 
lehren viele Anstaltsberichte, soweit solche schon über die Kriegsjahre 
erschienen sind. So berichtet Weygandt, dass die Anstalt Fried¬ 
richsberg im Jahre 1917 53,9.pCt. des Durchschnittsbestandes, im 
Jahre 1918 37,2 pCt. verloren habe. Neustadt i. H. hat im Rech¬ 
nungsjahre 1918/19 27,9 pCt., Weilmünster in derselben Zeit 42 pCt. 
und allein an Tuberkulose 22,3 pCt. verloren. Buch hat 45,5 pCt. 
im Jahre 1917 eingebüsst. Diese Zahl ist im Vergleich mit Colditz 
auffallend gering, da doch das Durchschnittsgewicht ebenso tief ge¬ 
sunken war, im Verhältnis zum Anfangsgewicht sogar noch tiefer. 
Aber Colditz befand sich bei der Zusammensetzung seines Kranken¬ 
bestandes in erheblich ungünstigeren Verhältnissen, wie schon an¬ 
fänglich erörtert worden ist, auch blieb der Tiefstand des Gewichts 
in Buch nicht so anhaltend, da die Stadt Berlin, wie alle grösseren 
Städte, ihre Anstalten sofort aus Eigenem reichlicher beliefern konnte. 
Es sind das nur einige Stichproben und die Zahlen geben nur ein 
dürftiges Bild von dem Elend, das damals in den Irrenanstalten ge¬ 
herrscht hat und das von den Aerzten nach Lage der Dinge still- 


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UNIVERSITY OF MICHIGAN 



48 


Dehio, 


schweigend getragen wurde. Die wenigen Zeilen, in denen Möller 
seine eigenen. Beobachtungen in einer Irrenanstalt wiedergibt, geben 
schon ein erschütterndes Bild. „Selbst auf den unruhigen Abteilungen 
verhielten sich die Geisteskranken stumpf und ruhig; sie lagen meist 
zusamraengekrümmt im Bett und boten einen beklagenswerten Anblick 
dar. Wer auf mehrstündigem Gange durch eine grosse Anstalt diese 
Bilder gesehen hat, wird sie sein ganzes Leben lang nicht vergessen.“ 
Unter diesen Eindrücken haben die Aerzte der Anstalten jahrelang 
arbeiten müssen. Die Hauptader ärztlichen Handelns, die Möglichkeit 
für das körperliche Wohlergehen seiner Schutzbefohlenen auch nur in 
der dürftigsten Weise zu sorgen, war unterbunden. Wahrlich, diese 
jahrelang zu tragenden gemütlichen Eindrücke waren ein Trommel¬ 
feuer schlimmster Art für den Irrenarzt und namentlich für den Anstalts- 
' leiter. Rührend war es aber auch oft zu beobachten, wie ergeben und 
bewusst einzelne Kranke ihr Schicksal trugen, ohne einen Laut des 
Vorwurfes gegen den Arzt. Sehr viel anders haben sich freilich die 
verbrecherischen Geisteskranken verhalten. 

Mit dem Rückgang der Ernährungsverhältnisse nahm auch die 
körperliche Leistungsfähigkeit der Verpflegten in für den Anstaltsbetrieb 
sehr fühlbarer Weise ab. Die vielen Betriebe einer Irrenanstalt, vor 
allem der Gartenbau, sind auf die Mitarbeit der Kranken angewiesen. 
Hier machte sich zuerst ejne Abnahme der Arbeitsleistung bemerkbar, 
die Verpflegten vermieden triebartig jede körperliche Anstrengung und 
die Arbeitslust, liess auffallend nach.. Sogar zum Gartengang waren 
die Verpflegten oft nur mit Mühe zu bewegen, wobei freilich erwähnt 
werden muss, dass der Gang in den in einem tiefen Tal gelegenen 
Spaziergarten aus den bis viergeschossigen Häusern des Schlosses für 
schwächliche Leute allein schon eine erhebliche körperliche Anstrengung 
bedingt. 

Bekannt ist die Neigung mancher verblödeter Kranker allerlei 
Unrat zu sammeln und zu essen. Schon im Jahre 1916 fiel es auf, 
dass auch recht geordnete Kranke anfingen, Gräser und Kräuter zu 
sammeln und zubereitet oder unzubereitet zu verzehren. Bedenklich 
wurde diese üble Gewohnheit bei den frei verpflegten Insassen der 
Anstalt Zschadrass, wo mehrere Pilzvergiftungen dadurch zustande 
gekommen sind. 

Auch bei den ausserhalb der Anstalt lebenden Geisteskranken 
hat das in der Verblödung ungehemmt wirkende Triebleben bei dem 
Hungerzustande der gesamten Bevölkerung oft zu Schwierigkeiten ge- 


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UNIVERSITY OF MICHIGÄT 



Körpergewicht u. Ernährungsverbältnisse männl. Verpflegten. Colditz 1915—19. 49 


führt, die die Unterbringung in der Anstalt erforderten. Eine ganze 
Anzahl Zuführungen von bisher jahrelang ohne Anstoss in der Freiheit 
verpflegten Geisteskranken ist auf solche infolge des Hungers auf¬ 
tretende üble Neigungen zurückzuführen. Die Kranken fingen an, 
verschlossene Schränke und Fächer aufzubrechen, um nach Nahrungs¬ 
mitteln zu suchen, sie wurden durch Betteln lästig oder dadurch auf¬ 
fällig, dass sie in Schutthaufen und Gossen nach Nahrungsresten 
suchten. Viele sonst unbescholtene Geisteskranke haben strafwürdige 
Verbrechen begangen, um ihren Hunger zu stillen, worüber auch 
Siebert berichtet. Ich glaube selbst einen Mord und Mordversuch 
bei einem jugendlichen Schwachsinnigen mit dem hemmungslosen 
Nahrungstriebe in Zusammenhang bringen zu dürfen. Nicht ganz 
hängt damit zusammen, dass einzelne schwachsinnige und klagsüchtig 
veranlagte Kranke sich in das Kartenwesen und die Zwangswirtschaft 
nicht finden konnten und dadurch mit den Behörden unliebsam zu- 
saramenstiessen» Auffallend war, dass von ihrer Geistesstörung Ge¬ 
nesende trotz der mangelhaften Ernährung Zunahmen oder zum 
wenigsten nicht abnahmen, auf der Frauenabteilung in Zschadrass 
konnten sogar recht erfreuliche Körpergewichtszunahmen beobachtet 
werden. 

Mit der Besserung der Ernährung im Jahre 1919 schwanden alle 
diese unliebsamen Begleiterscheinungen der Unterernährung und im 
ganzen bieten die Abteilungen wieder das gewohnte Bild. Namentlich 
seitdem es möglich ist, durch Einschaltung von Zwischenmahlzeiten 
das bei dem Fehlen des Fleisches sehr bald nach den Mahlzeiten 
auftretende Hungergefühl einigermassen zu bekämpfen, .sind auch die 
Klagen über zu geringe Kostmengen weniger geworden, wenn auch 
nicht geschwunden, da die Ernährung noch keineswegs ausreicht, wie 
das Verhalten des Körpergewichts lehrt. Aber auch bei dieser Kost 
haben einige in dieser Beziehung gut Veranlagte erheblich zunehmen 
können, so ist im Dezember 1919 ein Kranker mit 21,0 pCt. Ueber- 
gewicht (nach Rieger) entlassen worden. 

Nach meinen Erfahrungen, wie. ich sie oben dargelegt habe, 
glaube ich diese Berechnung der Wägungsergebnisse nach der Kol- 
lektivmasslehre überall dort empfehlen zu können, wo eine Ueber- 
wachung bei Massenernährung nötig ist. Die Zusammenstellung der 
Wägungsergebnisse ist sehr einfach und zuverlässig und gibt dabei 
mit erstaunlicher Feinheit jede Schwankung in den ErnährungsVer¬ 
hältnissen wieder. Wiederholt bin ich erst dadurch auf ein Nach- 

Viortoljalirwchrift f. ger. Med. u. Off. San.-Weeen. 3. Folge. Bd. 60. H. 1. 4 


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50 Dehio, Körpergewicht a. Ernährungsverhältnisse männlicher Verpflegter nsw. 

* 

lassen in der Beköstigung aufmerksam geworden und habe eingreifen 
können. 

Weiter hat namentlich das letzte Jahr die hohe Bedeutung der 
Kohlehydrate in der Massenernährung erwiesen, indem allein durch 
diese eine ganz 'erhebliche Besserung erzielt werden konnte, die bei 
reichlicherer Fettgabe vielleicht die Friedensverhältnisse wieder erreicht 
hätte. Damit will ich keineswegs die Bedeutung des Eiweisses und 
der Fleischwaren herabsetzen, aber es ist nicht zu leugnen, dass unter 
dem Einfluss der allgemeinen Bewertung dieser Nahrungsmittel ihnen 
in der Massenernährung vor dem Kriege ein zu grosser Platz einge¬ 
räumt worden ist. Von ihnen wird immer ein nicht zu niedriger Satz 
vorhanden sein müssen, dieser wird aber in der Beköstigung haupt¬ 
sächlich die Rolle eines Feiertagsessens übernehmen und der Küche 
die Möglichkeit geben, für grössere Abwechslung und Schmackhaftig¬ 
keit der Kost zu sorgen. Zu diesem Zwecke werden auch die Frisch¬ 
gemüse und namentlich die grünen Salate und das frische Obst als 
Beikost reichlich hinzugezogen werden müssen. In dieser Beziehung 
hat es die alte Gefängniskost sehr fehlen lassen. In den kommenden 
Jahren wird aus Sparsamkeitsgründen und um möglichst nur mit in¬ 
ländischen Erzeugnissen zu wirtschaften nach diesen Gesichtspunkten 
die Massenernährung einzurichten sein. 

Abgeschlossen Anfang April 1920. 


Angezogene Literatur. 

1) Dehio, Beobachtungen über die Anstaltsruhr. Psych.-Neur. Wochensohr. 
19. Jabrg. Nr. 49, 50 und 51. — 2) Jahresberichte von Neustadt i. H. und Weil- 
münster 1918/19. — 3) Kisskalt, Einführung in die Medizinalstatistik. Leipzig, 
G. Thieme. — 4) Richter, Ueber die Ernährungsverhältnisse in der Irrenanstalt 
Buch während des Krieges 1914/18 und deren Folgen. Allg. Zeitschr. f. Psych. 
Bd.75. S.407. — 5) Rieger, Die Messtange. Arbeiten aus der Psychiatr. Klinik. 
Würzburg. H. 9. — 6) Rubner und Müller, Berioht vom Dezember 1917. 
Münchener med. Wochenschr. 1920. Nr. 8. — 7)Schreber, Ernährung von 
Insassen eines preussischen Frauengefängnisses vom 1. 4. 1916 bis 31. 3. 1918. 
Diese Vierteljabrsschr. 1919. H. 4. S. 271. — 8) Siebert, Studien über die 
Kriminalität Geisteskranker. Psych.-Neur. Woohenschr. 1919. S. 279. — 9) Sta¬ 
tistisches Jahrbuch für das Königreich Sachsen. 1914/15. — 10) Weygandt. 
Deutsche med. Wochenschr. 1919. S. 1062. 


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III. 

Aus d. med.Klinik Bürgerspital Basel (Vorsteher: Prof.Dr.R.Staehelin). 

Uefoer Brommethylvergiftung. 

Ein Beitrag zur Frage der Spätwirkungen von Giftstoffen. 

Von 

Fritz Rohrer, 

Dozent ftlr Physiologie in Basel 1 ). 


Mit dem Inkrafttreten des neuen Kranken- und Unfallversicherungs¬ 
gesetzes, in welchem auch die Gewerbevergiftungen eingehend berück¬ 
sichtigt sind, gewinnen diese Erkrankungen ein allgemeines ärztliches 
Interesse. 

Es soll im folgenden über einen Fall von Brommethylvergiftung 
berichtet werden, welcher in seinem Verlauf die Eigentümlichkeiten 
dieser Vergiftung zeigt. 

Das Brommethyl ist eine sehr flüchtige Substanz, welche bei der 
Antipyrindarstellung zur Methylierung verwendet wird und die wegen 
ihrer Gefährlichkeit in die schweizerische Liste der Gewerbegifte 2 ) 
aufgenommen wurde. 

Die Brommethylvergiftung verdient deshalb ein besonderes Inter¬ 
esse, weil die Kasuistik noch klein ist und weil die Diagnose oft 
recht schwierig sein kann. 

In der Darlegung des Falles halte ich den Weg ein, welcher 
uns allmählich mit den einzelnen Umständen des Falles bekannt 
machte und zu einer abschliessenden Diagnose führte. 

Wir beginnen mit der Krankengeschichte, welche ich Herrn Dr. Ro- 
della, Assistent am Bürgerspital, verdanke. 

Fall E. B., 49 J., Spitalaufnahme 7. 3. 1917. Vorarbeiter in einer chemi¬ 
schen Fabrik. 

Familienanamnese and sonstige Angaben über den Pat. konnte man weder 
von demselben, da er bewusstlos war, noch vom begleitenden Arzt erhalten. Nach 

1) Im Frühjahr 1917 als hdpfl. Militärarzt am Bürgerspital Basel, med. 
Klinik, tätig. 

2) Pometta, Gewerbevergiftungen und Berufskrankheiten in „Unfallkunde“ 
von Gelpke und Schiatter. 

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Fritz Robrer, 


den Aussagen des Arztes ist gestern ein Rohr, welches für die Zufahr von Brom- 
metbyl diente, geplatzt. Pat., welcher Meister in der Abteilung zur Herstellung 
von Brommethyl war, konnte aber Weiterarbeiten bis heute Mittag, wo er plötzlich 
erkrankte. Die Symptome, die sich bei ihm zeigten, bestanden hauptsächlich in 
Zuckungen beider Arme, in tiefen Inspirationen und Herausschaffen von schau¬ 
migem Speichel. Ferner kontrahierte Pat. die Gesichtsmuskulatur und war ein 
Klappern der Zähne hörbar. Die Einführung irgend eines Instrumentes, auch mit 
Gewalt, war während eines Anfalles absolut unmöglich. Die Pupillen waren sehr 
weit und reagierten träge. 

Die Anfälle, welche nach Aussage des Arztes im Anfang spärlich waren, 
wiederholten sich während der Viertelstunde, welche Pat. im Spital noch lebte, 
immer häufiger und folgten sich zuletzt fast ohne Unterbrechung. Die Blutentnahme 
geschah etwas erschwert, da Pat. starke Krämpfe hatte und auch mit Hilfe eines 
Wärters die Arme nicht ruhig zu halten waren. Das Blut floss leicht, war dunkel¬ 
schwarz gefärbt und hatte normales Koagulationsvermögen. Andere Eingriffe wie 
Sondierung des Magens und Lumbalpunktion, welohe bereits vorbereitet waren, 
konnten nicht gemacht werden, da Pat. nach einer Viertelstunde starb. 

Harnbefund: Helbgelb, sauef, Eiweiss -f- 1 / 2 p.M., kein Zucker, kein 
Azeton, keine Azetessigsäure. Mikr. massenhaft Sperma, massig viel Leukozyten, 
keine Zylinder. 

Blutbefund: Giemsapräparat: Leukozyten (Neutroph. 57,5pCt., Eos. IpCt., 
Basoph. 0 pCt., Lymphom. 40 pCt., Uebgf. 1,5 pCt.) Bei den roten Blutkörperchen 
keine Polychromasie oder Punktierungen. 

Die Sektion ergab keinen nennenswerten Befund ausser einem eigentümlichen 
Geruoh bei allen Organen, besonders bei der Leber. Naoh dem Urteil des Obdu¬ 
zenten, Herrn Prof. Hedinger, spricht die ganze Saohlage sehr für Tod durch 
irgend ein gasförmiges Gift. 

Weitere Klärung des Falles brachte ein Bericht eines Fabrikbeamten an die 
Technische Direktion der Fabrik, aus dem wir das Wesentliche mitteilen. 

„Mittwoch 7. 3. nach 2 Uhr war Meister B. bei mir im Laboratorium. Unter¬ 
schrift von Gutscheinen, Besprechung von Betriebsangelegenheiten, ohne dass an 
B. Ungewöhnliches aufgefallen wäre. Zirka 1 Stunde später, etwas nach 3 Uhr, 
liess mich B. durch einen Arbeiter rufen. Ich fand ihn in seinem Zimmer im 
Fabrikationslokal auf einem Stuhl sitzen. Er klagte über heftige Zuckungen im 
linken Arm. B. verlor dann das Bewusstsein, schlug mit Armen und Beinen um 
sich. Wir legten ihn auf den Boden. Der Kranke zeigte Erscheinungen, wie sie 
bei einem epileptischen Anfall auftreten. Der Fabrikarzt veranlasste dann die 
Ueberführung des Pat. ins Bürgerspital. 

Am Tage vorher war in der Apparatur zur Brommethylregeneration aus Di- 
methylamidoantipyrin ein Wasserstandrohr geplatzt. Dieses hatte Meister B. aus¬ 
gewechselt, nachdem er vorher den Hahn geschlossen und damit die Brommethyl¬ 
zirkulation abgestellt hatte. Ich kam gerade nach der Reparatur hinzu und konnte 
keinen Geruch naoh Brommethyl bemerken. Auch B. sagte nichts darüber. Erst 
nachträglich erfuhr ich heute, dass das Wasserstandrohr schon einmal am Dienstag 
Vormittag morgens 7 Uhr gesprungen und durch B. ohne Hilfe ersetzt worden war. 
Es wäre denkbar, dass B. bei der ersten Reparatur Brommethyl eingeatmet hat.“ 


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Ueber Brommethylvergiftung. 53 

Wichtig erscheinen ferner die Angaben der Frau B. über das 
Verhalten ihres Mannes vor der Erkrankung. 

„B. war am Sonntag 4. 3. noch als Schiedsrichter in der zentralen Kranken¬ 
kasse der Fabrik tätig. B. war 49 Jahre alt, seit 19 Jahren verheiratet, 4 Kinder, 
das jüngste 3 Jahre. Seit 19 Jahren in der Fabrik, seit 4 Jahren Meister. Ueber 
Vorkommnisse in der Fabrik sagte er daheim nichts, es stand so in seinem Meister¬ 
vertrag. Am Dienstag beim Essen war nichts Besonderes. Am Abend kam Fran B. 
erst um 8 Uhr heim. B. ging schon 1Ö Minuten nachher ins Bett und sprach 
vorher sehr wenig. Ebenso am Mittwoch Morgen. Am Mittwoch Mittag blickte er 
starr, schläfrig, sprach nichts. War von 12 Uhr bis nach 12 : / 2 Uhr daheim. Er 
sah nioht einmal nach dem Kleinen, was er sonst immer tat, nur ihr sagte er 
adieu. Eine Nachbarsfrau fragte, was ist auch mit dem Herrn B., er läuft so lang¬ 
sam und ist so bleich.“ Am Mittwoch Naohmittag erfolgte dann die rasch zum 
Tode führende Erkrankung. 

Wenn wir den Fall kurz überblicken, ergibt sich folgendes Bild. 
Bei einem sonst immer gesunden Mann jreten plötzlich schwere 
Muskelkrämpfe und Benommenheit auf und führen in einigen Stunden 
ad exitum. Harnbefund spricht gegen Urämie oder Diabetes. Die 
Sektion ergibt keine Todesursache. Anamnestisch keine Anhaltspunkte 
für Epilepsie. 

Wie aus dem Bericht der Fabrik hervorgeht, machte Patient am 
Tage vorher zwei Reparaturen an einem Apparat, in welchem Brom¬ 
methyl war. Wenn der Tod des Patienten auf eine Vergiftung mit 
dieser Substanz zu beziehen ist, so würde also zwischen Einatmung 
des Giftes und Ausbruch der schweren letalen Erscheinungen ein re¬ 
lativ freies Intervall von etwa 24 Stunden liegen. Während dieser 
Zeit ging B. seiner Arbeit nach. In seinem Verhalten fiel daheim 
nur etwas Müdigkeit und Wortkargheit auf. 

Um diesen sonderbaren Krankheitsverlauf beurteilen zu können, 
zogen wir die Literatur zu Rate und fanden 8 Fälle von Brommethyl¬ 
vergiftung [Schüler 1 ) 3, Jaquet 2 ) 3, Bing 8 ) 2], deren Verlauf wir 
kurz anführen wollen. In den Fällen von Schüler und Bing konnte 
kein bestimmter Zeitpunkt der Einatmung von Brommethyl fest¬ 
gestellt werden. 

Schaler. 1. Fall: Am ersten Tage Erkrankung mit Kopfschmerzen, zweiter 
Tag Hautjacken and Ohnmachtsanfall. Dritter Tag Ohnmachtsanfall, Zuckungen 

1) Schaler, Vierteljahrsschr. f. öffentl. Gesundheitspfl. 1899. S. 696. 

2) Jaquet, Deutsch. Arch. f. klin. Mod. Bd. 71. S. 370. 

3) Bing, Schweiz. Rundschau f. Med. 1910. S. 1167. 


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54 Fritz Rohrer, 

in beiden reohten Extremitäten, Schaum vor dem Mund, Harn- und Stuhlabgang. 
Ausgang in Heilung. 

2. Fall: Beginn mit Unwohlsein, Krämpfen, Leibschmerzen, Schüttelfrost. 
Eine Stunde später eklamptische Erscheinungen, Koma. Tod auf Transport ins 
Spital. Sektion ergibt keine Todesursache. 

3. Fall: Krämpfe und Erbreohen. Uebergang in Heilung. 

Jaquet. 4. Fall: G. D., 30 J. Bei Ueberfüllen von Brommethyl grössere 
Menge ausgetreten und eingeatmet. Uebelkeit und Schwindel. Arbeitet trotzdem 
an diesem und folgendem Tag. In der Nacht des 3. und 4. Tages Delirieren. Am 

4. Tage Doppelbilder. Am 8. Tage Tobsuchtsanfall von 2 Stunden Dauer. Aus¬ 
gang in Rentenneurose. 

5. Fall: B., 35 J. Reparatur, bei welcher Dämpfe austraten. Unwohlsein, 
Sehstörung. Am 2. Tage Doppelbilder. Arbeitet bis am 3. Tage abends. Schwankt 
wie betrunken beim Heimgehen. Ausgang in Heilung. 

6. Fall: Selbstbeobachtung von Jaquet. Bei zufälligem Zerbrechen eines 
Glasröhrchens mit Brommethyl etwas eingeatmet. Sohwäche und Schwindel nach 
einigen Minuten. Schwäche in Beinen mehrere Stunden. Beim Lesen Buchstaben 
verschwimmend. Am folgenden Tage besohwerdefrei. 

Bing. 7. Fall. 32 J. Kopfschmerzen, blass, kleiner Puls, Apathie, Brech¬ 
reiz. Beim Transport ins Spital bewusstlos, allgemeine Zuckungen, Schaum vor 
dem Mund. Komatös bis am 3. Tage. Einzelne typische epileptiforme Anfälle. In 
folgenden 2 Monaten etwa epileptiforme Attacken, Delirien und Erregungszustände. 
Einmal Tobsuohtsanfall. Ausgang in traumatische Neurose. 

8. Fall. 24 J. Erbrechen, Schwindel, Sohwäche in Gliedmassen, 2 Woohen 
bettlägerig. Uebergang in Polyneuritis der unteren Extremitäten, welche von Bing 
auf gleichzeitige Vergiftung mit Methylalkohol bezogen wird. 

Unter diesen 8 Fällen ist Fall 5, 6 und 8 ohne sehr schwere 
Erscheinungen verlaufen oder waren diese durch eine andere Gift¬ 
substanz bedingt. Eine genaue Feststellung des Zeitpunktes der Brom- 
methyleinatmung liegt nur in den Fällen Jaquet’s vor. Wie Fall 4 
und der mittelschwere Fall 5 zeigen, kann in den ersten Tagen 
Arbeitsfähigkeit bestehen, auch wenn später das Arbeiten unmöglich 
ist oder sehr bedrohliche Symptome auftreten, in Fall 4 z. B. ein 
Tobsuchtsanfall nach einer Woche. Das relativ freie Intervall von 
24 Stunden in unserem Fall, während dessen Patient noch arbeitete, 
spricht also durchaus nicht gegen, sondern für die Auffassung als 
Brommethyl Vergiftung. Wie aus dem Verhalten des Patienten zu 
Hause sich schliessen lässt, empfand er in dieser Zeit wohl auch 
leichtere Beschwerden, die wahrscheinlich ähnliche waren wie im 
Jaquet’sehen Fall, über die er aber nicht klagte, weil er daheim 
vom Fabrikbetrieb nichts erzählen durfte. 


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Ueber Brommethylvergiftung. 


55 


Hinsichtlich der Art der auftretenden schweren Symptome steht 
unser Fall in Parallele mit Fall 1, 2, 3 and 7, wo auch motorische 
Reizerscheinungen im Vordergrund waren. Der Verlauf von Fall 7 in 
den ersten Tagen und der letal ausgehende Fall 2 entsprechen im 
ganzen Charakter vollständig den Symptomen unseres Falles. 

Aehnliche Erscheinungen konnte ferner Jaquet im Tierversuch 
feststellen. Kaninchen, welche Bromraethyl eingeatmet hatten, gingen 
nach Stunden unter epileptiformen Krämpfen zugrunde. Wie experi¬ 
mentell bei einem Versuchstier beobachtet wurde, stellt sich im Laufe 
der Brommethyleinatmung eine Schwellung des Gehirnes ein, .welche 
wahrscheinlich für die später auftretenden zentralen Symptome mit¬ 
veranlassend ist. 

Der Vergleich des Verlaufes von Fall B. mit dieser Kasuistik, 
der negative Sektionsbefund, ferner die Tatsache, dass B. am Tage 
vor dem Tod zweimal Reparaturen an einem Brommethylapparat vor¬ 
nahm, lassen mit zureichender Sicherheit die Diagnose Brommethyl¬ 
vergiftung stellen. Der Fall wurde auch in diesem Sinne begutachtet. 

Obschon es von vornherein wenig aussichtsvoll schien und bei 
negativem Ergebnis nicht gegen das Vorliegen einer Brommethylver¬ 
giftung sprach, wurde weiter noch der Versuch gemacht, in den 
Organen des Patienten Brom nachzuweisen. Zu diesem Zweck 
wurden Gehirn, Leber, Blut, Harn, Mageninhalt unmittelbar nach der 
Sektion in gut schliessenden Präparatengläsern in den Kühlraum ge¬ 
stellt und im Laufe der folgenden Tage untersucht. Zunächst wurde 
nach flüchtigen Bromverbindungen gesucht. Wir benutzten dabei auf 
Rat von Dr. Fleissig, Apotheker am Bürgerspital, folgendes Ver¬ 
fahren. Aus Zink und Schwefelsäure entwickelter Wasserstoff strömt 
durch die Versuchsflüssigkeit. Das Gas wird nachher noch in einem 
weiteren Gefäss durch Schwefelsäure getrocknet und nun durch eine 
fein ausgezogene Glaskanüle nach aussen geleitet und nach den üb¬ 
lichen Vorsichtsmassregeln entzündet. An der Kanüle wird eine kleine 
Spirale von blankem Kupferdraht so befestigt, dass sie gerade im 
unteren Teil der Wasserstoffflamme liegt. Bei Vorhandensein flüchtiger 
organischer Bromverbindungen wird die Flamme intensiv grün gefärbt, 
z. B. die Einführung kleinster Mengen von Broraäthyl ins Versuchs- 
gefäss bewirkte alsbald die typische Färbung der Flamme. Dieser 
Versuch fiel bei allen untersuchten Organen (Hirnbrei, Leberbrei) und 
Flüssigkeiten (Blut, Harn, Mageninhalt) negativ aus. Von der Leber 
wurde auch ein Teil zu Brei zerkleinert und in einem Rezipienten mit 


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Fritz Rohrer, 


Wasserdampf flüchtige Substanzen in eine eisgekühlte Vorlage über¬ 
destilliert. Auch bei diesem Destillat waren keine flüchtigen Brom¬ 
verbindungen nachweisbar. 

Ebenso wurden in den genannten Flüssigkeiten und in den durch 
Trocknen und vorsichtige Veraschung gewonnenen Mineralsubstanzen 
von Leber und Hirn mit der Chloroformprobe und der Probe von 
Jolles 1 ) keine nichtflüchtigen Bromverbindungen gefunden. 

Diese negativen Untersuchungsergebnisse sprechen durchaus nicht 
gegen eine Brommethylvergiftung. Es ist sogar wahrscheinlich, dass 
diese flüchtige Verbindung, da der Tod erst nach einem Tag erfolgte, 
nicht mehr im Organismus nachweisbar war. Dieser Befund, das 
Fehlen von Brom Verbindungen in den untersuchten Organen der Leiche, 
besonders im Gehirn, weist darauf hin, dass die schweren Erschei¬ 
nungen, welche dem Tod vorausgingen, nicht eine unmittelbare Wir¬ 
kung des Brommethyls selber sind. Auf dieses Moment werden wir 
unten zurückkommen. 

Wir wollen noch kurz hervorheben, was für Schlüsse aus dem 
Krankheitsverlauf für den Mechanismus der Brommethylwirkung 
im Organismus folgen. 

Die ersten Erscheinungen: Benommenheit und Schwindel, stehen 
in Parallele mit den Wirkungen anderer gasförmiger Narkotika. Auf¬ 
fallend ist nur beim Brommethyl, dass mit dem Aufhören der Ein- • 
atmung des Gases diese Symptome nicht allmählich zurückgehen, 
sondern längere Zeit, bleiben und sich noch verstärken können. Ganz 
eigenartig ist weiter in vielen Fällen das spätere Auftreten ganz neuer, 
schwerer Reizsymptorae von seiten des zentralen Nervensystems, Tob¬ 
suchtsanfälle oder epileptiforme Zustände. Jaquet schliesst mit Recht 
aus seinen Tierversuchen, dass es sich bei der Brommethylvergiftung 
nicht um eine einfache funktionelle Lähmung handelt, welche sich 
zurückbildet, sobald das Gift wieder isoliert worden ist, sondern dass 
das Brommethyl tiefe und irreparable Läsionen des Zentralnerven¬ 
systems verursachen kann. 

Bei einem so leicht resorbier baren, rasch im Körper verteilten 
und wieder ausscheidbaren Gift, wie Brommethyl, macht nun be¬ 
sondere Schwierigkeiten die Erklärung des langen, relativ freien Inter¬ 
valls bis zum plötzlichen Ausbruch der schweren zentralen Symptome. 
Die Entstehung eines freien Intervalls ist uns zunächst dann leicht 


1) Sahli, Klin. Untersuchungsmeth. 6. Aufl. Bd. II. S. 84. 


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Ueber Brommethyl Vergiftung. 


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verständlich, wenn eine langsame Resorption stattfindet und so die 
Ueberwindung der räumlichen Schranken zwischen herantretendem 
Giftstoff und dem Ort der Wirkung, wo erst bei Erreichung einer be¬ 
stimmten Konzentration eino merkbare Störung eintritt, das ver¬ 
zögernde Moment ist. 

Fast in jedem Fall, wo auf einen ersten Vorgang nach einem 
freien Intervall einer Latenzzeit regelmässig ein anderer Vorgang ein¬ 
tritt, zeigt uns die genauere Untersuchung die Verknüpfung durch 
weniger auffallende Zwischenvorgänge. Dieses Verhalten ist uns so ge¬ 
läufig und scheint uns so notwendig, dass wir überall, wo wir Latenz¬ 
zeiten finden, uns berechtigt fühlen, Zwischenvorgänge anzunehmeto, 
auch wenn wir uns von ihnen keine Vorstellung machen können. 

Der am leichtesten vorstellbare Zwischenvorgang ist der bereits 
genannte Fall, wo die Ueberwindung räumlicher Distanzen verzögernd 
wirkt. Ebenso leicht verständlich sind Fälle, bei welchen der Zwischen¬ 
prozess ein rein mechanischer ist, z. B. die allmähliche Entstehung 
eines Blutergusses bei Verletzung eines Gefässes, wo nach einiger Zeit 
Kompressionserscheinungen an Nachbarorganen eintreten (Haematoma 
cranii usw.) Ein anderes Beispiel mit rein mechanischen) Zwischen¬ 
prozess sind die Störungen durch Fettembolien nach Knochenbrüchen, 

Verwickelter gestalten sich die Verhältnisse bei Vorgängen, welche 
in den Zellchemismus eingreifen und hier einen verzögerten Verlauf 
nehmen. Fast kein freies Intervall besitzen Störungen, welche die 
Aterfffunktion betreffen, zunächst die Blutvergiftungen, welche die 
Leistungsfähigkeit des Blutes, den Gasaustausch zu vermitteln, ver¬ 
mindern oder aufheben, andererseits die Störungen der Durchlässigkeit 
der Zellwandung, ein Moment, welches wahrscheinlich bei der Wirkung 
der Narkotika wichtig ist. 

Bei Vorgängen, welche in andere zelluläre Leistungen ändernd 
eingreifen, sind im Gegensatz dazu oft recht lange Latenzzeiten vor¬ 
handen. Ein längeres Intervall findet sich bei Giften, wo an der Ein¬ 
trittstelle Reize gesetzt werden, welche im Laufe der Zeit zu exsuda¬ 
tiven Prozessen führen, die wiederum sekundäre Störungen veran¬ 
lassen, z. B. bei Nitroso-Gasvergiftungen die nach 6—8 Stunden auf¬ 
tretenden Lungenerscheinungen. Die Bildung allergischer Reaktions¬ 
körper bei bakteriellen Intoxikationen ist ferner ziemlich sicher auch 
eine Tätigkeit von Zellen. Wie die langen Inkubationszeiten mancher 
Infektionskrankheiten zeigen, ist hier die Verzögerung des Vorganges 
durch Zwischenprozesse eine ausserordentliche und sehr gesetzmässige. 


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Fritz Eobrer, 


Bei der Spätwirkung der Broramethylvergiftung scheint es sich 
weder um eine Störung der Durchlässigkeit von Membranen, noch- um 
eine Störung der Atemfunktion in der Zelle zu handeln, welche 
primär durch das Brommethyl bewirkt würde, sondern um eine tief¬ 
gehende Störung des Zellchemismus; welche im Anschluss an die 
primäre Brommethylwirkung entsteht, durch sie ausgelöst wird. Es 
sind dabei vorläufig gar keine Anhaltspunkte vorhanden, ob dieser 
Zwischenprozess in den Zellen des zentralen Nervensystems vor sich 
geht oder in anderen Zellen, z. B. in Zellen innersekretorischer Drüsen 
und dann erst von solchen Organen abgegebene Stoffe, die Funktions¬ 
änderung im zentralen Nervensystem bewirken. Möglich wäre auch 
eine allgemeine Veränderung im intermediären Stoffwechsel, welche 
im Laufe der Zeit zur Anhäufung von Produkten führt, die im zen¬ 
tralen Nervensystem jene katastrophale Wirkung ausüben. Die Er¬ 
scheinungen brechen dabei so plötzlich aus und sind so schwer und 
deletär wie ein tödlich verlaufender anaphylaktischer Shock. 

Es sprechen zahlreiche Momente dafür, dass es Stoffwechsel¬ 
störungen gibt, welche nicht in den Rahmen der jetzt genauer be¬ 
kannten Stoffwechselkrankheiten sich einordnen und welche zu oft 
schweren Funktionsstörungen im Nervensystem führen. In diesen 
Bereich gehören z. B. manche Avitaminosen, ferner die verschieden¬ 
artigen Erscheinungen im zentralen Nervensystem bei Hypo- und 
Hyperfunktionen innersekretorischer Drüsen. Es ist ferner wahr¬ 
scheinlich, dass auch die Störung der Hirnfunktionen bei manchen 
Psychosen, speziell bei Dementia praecox, durch noch nicht bekannte 
Stoffwechselstörungen bedingt sind. Es weisen darauf hin die Heil¬ 
erfolge, welche amerikanische und englische Autoren bei manchen 
Psychosen, besonders bei hebephrener Form der Dementia praecox 
nach intensiver Steigerung des Stoffwechsels durch forzierle Schild¬ 
drüsenmedikation sahen x )- 

Die Annahme eines Zwischenprozesses bei der Spätwirkung der 
Brommethylvergiftung ist sehr wahrscheinlich gemacht dadurch, dass 
in den Leichenorganen kein Brommethyl oder andere Bromverbindungen 
mehr nachzuweisen waren. 

Dieser Vorgang, dass nach Ablauf einer primären Vergiftung 
pathologische Erscheinungen an einem Organe, speziell am zentralen 
Nervensystem auftreten, steht ferner nicht vereinzelt. , Z. B. fand ich 


1) Wagner v. Jauregg, Organotherapie. S. 152. 


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Ueber Brommethylvergiftung. 


59 


in einem Falle von Hemicrania ophthalraica 1 )» dass die Anfälle von 
Flimmerskotora sehr oft nach grösserem Genuss alkoholischer Getränke 
auftraten, und zwar erst am 2. oder 3. Tag, also zu einef Zeit, wo die 
primäre Giftwirkung längst abgeklungen war. 

Die Art der sekundären Prozesse bei Brommethylvergiftung, ob es 
sich um Veränderungen im Stoffwechsel der Nervenzellen selber handelt 
oder ob sekundäre Giftstoffe irgendwo im Körper gebildet werden und 
auf dem Blutwege zum Nervensystem gelangen und sich dort ver¬ 
ankern, wird nur durch entsprechend angelegte Versuchsreihen aufzu¬ 
klären sein. 

Ob das Broraraethyl als Ganzes oder welcher seiner Bestandteile 
das Brom oder die Methylgruppe den Vorgang auslöst, ist ebenfalls 
noch unklar. Anorganische Brorasalze besitzen eine beruhigende Wir¬ 
kung auf das zentrale Nervensystem, speziell wird bei grossen Dosen 
die Erregbarkeit der motorischen Zentren herabgesetzt. Andererseits 
können dabei aber auf sensorischem Gebiet Reizerscheinungen auf- 
treten, wie von Schabelitz 2 ) gezeigt wurde. Auch in dem oben ge¬ 
nannten Hemikraniefall bewirkte Bromnatriummedikation eine Exazer- 
bierung der Flimmerskotomerscheinungen. Vielleicht sind die in 
mehreren Fällen gefundenen Sehstörungen bei BromraethylVergiftung 
in Parallele damit zu setzen. 

Dass die Methylgruppe in manchen organischen Verbindungen 
schwere Giftwirkungen besitzt, zeigt sich in der Alkoholreihe: Methyl¬ 
alkohol. Ferner handelt es sich nach Bloch bei der Jodoformidio- 
synkrasie indirekt um eine Methylwirkung. 

Was die Aehnlichkeiten und Unterschiede der toxischen Wirkung 
verschiedener organischer Brom-, Jod- und Chlorverbindungen betrifft, 
möchte ich auf die interessanten Ausführungen am Schlüsse der 
Arbeit von Jaquet hinweisen. Nach der Ansicht Jaquets bildet die 
Brommethyl- und die ähnlich verlaufende Jodmethylvergiftung vor¬ 
läufig eine besondere toxikologische Gruppe. 

1) Rohrer, Anaphylaktische Erscbeinnngen im Symptomenbilde der Hemi- 
kranie. Med. Klinik. 1915. Nr. 31. 

2) Schabelitz, Experimente und Selbstbeobachtungen im Bromismos. 
Inaug.-Diss. Zürich 1915. 


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IV. 


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Aus der medizinischen Klinik der Universität Basel 
(Vorsteher: Prof. Dr. R. Staehelin). 

Ueber Vergiftung mit Brommethyl 
und Nachweis der Substanz in Blut und Organen 

vergifteter Tiere. 

Von 

Privatdozent W. Löffler und W. Rtttimeyer. 

Die Darstellung von Broramethyl in chemischen Betrieben, wo es 
zur Gewinnung methylierter Anilinfarbstoffe bei der Bereitung des 
Antipyrins verwendet wird, gibt immer wieder zu schweren Vergif¬ 
tungen Anlass. In der Literatur liegen bis zur Zeit 10 Mitteilungen 
über Brommethylvergiftung vor, indem zu den Fällen von Schüler, 
Jaquet und Bing aus den Jahren 1899 bis 1910 in letzter Zeit 
zwei neue typische Beobachtungen, die eine von Steiger, die andere 
von Roh rer aus der hiesigen Klinik, mitgoteilt worden sind. 

Wir hatten Gelegenheit auf der Basler medizinischen Klinik eineo 
weiteren tödlichen Fall von gewerblicher ßrommethylVergiftung zu 
beobachten und haben im Anschluss daran einige Versuche vorge¬ 
nommen über die Möglichkeit des Brommetbylnachweises im Blut und 
in Leichenteilen. 

Leodegar M., 51 jähriger Arbeiter der pharmazeutischen Abteilung einer 
chemischen Fabrik, wird am 6. 12. 1917 mit der Diagnose Brommethylvergiftung 
eingeliefert. 

Anamnese: Der Begleiter des Pat., ein mit dem Sanitätsdienst in der 
Fabrik betrauter Angestellter, macht folgende Angaben: Gewährsmann wurde in 
der Fabrik 4,30 abends gerufen, «r solle mit der SauerstofTbombe ins Lokal 
kommen, wo ein erkrankter Arbeiter liege. Er traf dort den am Boden liegenden 
Pat., dessen Oberkleider geöffnet waren. Pat. war nicht bei sich, schrie fort¬ 
während laut, bekam alle 5—10 Minuten einen Krampfanfall, der ihn am ganzen 
Körper erschütterte, mit Zusammenbeissen der Zähne, so dass der Sauerstoff durch 
die Nase geleitet wurde; manchmal sperrte Pat. jedoch den Mund während der 
Anfälle krampfhaft auf; nach den Anfällen, die 3—5 Minuten dauerten, verfiel 


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Ueber Vergiftung mit Brommethyl usw. 


61 


Pat. wieder in Ruhe, mit offenen Augen und rnbiger Atmung, erkannte aber seine 
Umgebung nicht. Gewährsmann beobachtete in der Fabrik noch 4 Anfälle im 
Laufe von etwa 1 / 2 Stunde; während des Transports in die Klinik erfolgten 
wieder 4 Anfälle, unterbrochen von tierischem Brüllen, Pat. wollte sich in der 
Fabrik mit kolossaler Kraft erheben, so dass mehrere Leute ihn halten mussten. 
Einmal wurde der Ausruf gehört, unmittelbar vor einem Krampfanfall: „au das 
Bein, das rechte Bein, geht mir ab dem Bein.“ Pat.. ist dem Gewährsmann be¬ 
kannt als früherer starker Trinker, Anfälle habe er nie gehabt. 

Ergänzung der Anamnese durch deu Fabrikchemiker Dr. X., den dienst¬ 
lichen Vorgesetzten des Pat. M. Dem Gewährsmann ist im Verhalten des U. 
während der Beschäftigung im Brommetbyllokal bis jetzt nichts besonderes aufge¬ 
fallen. Am 6. 12. im Laufe des Vormittags musste M. an einem Brommetbylauto- 
klaven ein neues Manometer einsetzen, dessen Rohr an einer Stelle nicht ganz dicht 
war. Ein Mitarbeiter machte den M. auf den Defekt aufmerksam, doch schaltete 
dieser das Rohr gleichwohl ein; sobald Dr. X. von dem Vorfall Kenntnis erhielt, 
wurde der bereits angeheizte Autoklav ausser Betrieb gesetzt (etwa 2Uhr naohm.). 

M. arbeitete weiter; wie er nach Schluss der Arbeitsschioht das Lokal ver- 
liess und in e(nem Nebenraum sich waschen wollte, wurde es ihm schwindlig. Er 
begann zu zittern und musste von einem Mitarbeiter zu einem Sitz geführt werden. 
Dort traf ihn Dr. X. Im Aussehen bot M. nichts Besonderes (koine abnorme 
Blässe, keine Blaufärbung des Gesiohts); nur fiel der starre Blick auf. M. war 
noch bei Bewusstsein und konnte ihm verabreichtes Salzwasser trinken. Bald 
darauf begann jedooh heftiges Zittern des ganzen Körpers und M. verlor das Be¬ 
wusstsein. Geschrien hat damals M. noch niobt. Erbrechen erfolgte nicht. 

Der Schwiegersohn des Pat. macht folgende Angaben: Ich kam zufällig in 
das Lokal, in dem mein Schwiegervater arbeitet, und fand ihn auf einer Kiste 
sitzend, mit beiden Händen sich krampfhaft haltend am Sitz und rufend: „Brom 
erwisoht, Brom erwischt.“ Sofort wurde Sauerstoff gebracht und es wurde^ver- 
sucht durch Einflö3sen von Salzwasser Erbrechen zu erregen, doch kam es nicht 
mehr zum Erbrechen. 

Anamnestisohe Angaben der Frau des Pat. M.: Eltern des Pat. schon lange 
gestorben. Ein Bruder gesond. Frau gesund, 4 Kinder gesund, 2 gestorben an 
Soharlach. Pat. war früher immer gesund, seit einem Jahr hin und wieder rheu¬ 
matische Schmerzen in den Armen (musste deshalb im Sommer 1917 3 Wochen 
die Arbeit aussetzen). Pat. trägt seit Jahren eine Brille zum Lesen, war wegen 
einer Verletzung der Hornhaut durch Säure vor etwa 20 Jahren im Basler Augen¬ 
spital in Behandlung. Pat. arbeitet seit etwa 2 Jahren in einer Abteilung der 
Fabrik, wo Brommethyl verwendet wird. Nachdem er bis vor 4 Wochen dort im 
Freien beschäftigt gewesen, trat er für 14 Tage die Arbeit im geschlossenen Lokal 
an, doch bemerkte er sogleich, dass er sich nicht mehr so wohl fühlte wie bisher. 
Er verlor etwas den Appetit und war immer matt, ging sofort nach dem Nacht¬ 
essen za Bett, schlief die ganze Nacht tief; hatte kein Kopfweh, nie Erbreohen. 
Nach diesen 2 Woohen bekam Pat. wieder Arbeit im Freien, äusserte sich am- 
ersteb Tag sogleich, er fühle sich schon wieder wohler, ass besser und war weniger 
müde; den Angehörigen fiel auf, dass Pat. wieder frischer war. Seit dem 3. 12. 
arbeitet Pat. wieder im geschlossenen Lokal mit Brommethyl. Er sagte am 3. 12. 
daheim: „Jetzt müsse er wieder in die Totenkammer, es graue ihm davor.“ Am 3. 


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W. Löffler und W. Rütimeyer, 


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abends hatte M. keinen rechten Appetit. Er äusserte sich: „Er habe Brommethyl 
erwischt“ ; ein Chemiker habe sich auoh ihm gegenüber geäussert: „es riecht, M.“ 

• Nachts schwerer Schlaf, Pat. sprach viel im Schlaf, was er sonst nie tat. Die 
nächsten Tage sprach er sich mehrmals daheim aus, es sei ihm gar nicht recht 
wohl. Am 3. klagte Pat. über Schmerzen am Hinterkopf. Nie Erbrechen. Die An» 
gehörigen haben an den Kleidern keinen besonderen Geruch bemerkt. Vom 4. bis 
zum 6. 12. ist den Angehörigen, ausser dass Pat. weniger zur Nacht ass, nichts 
Besonderes mehr aufgefallen. Ueber die Mittagszeit ist Pat. immer in der Fabrik 
geblieben. Pat. hat nie an Krämpfen gelitten, ln der Familie keine Nervenkrank¬ 
heiten. Zu einem Mitarbeiter soll sich M. am 5. 12. geäussert haben, er sehe 
schwarze Punkte vor den Augen. 

Der Pat. wird am 6. 12. gegen 6 Uhr abends in das Spital gebraoht. Wäh¬ 
rend des ganzen Transports bis ins Krankenzimmer stösst er fortwährend unarti¬ 
kulierte laute Schreie aus. Er liegt mit etwas gerötetem Gesiebt da, die Augen 
krampfhaft geöffnet und starr in die Ferne gerichtet. Der Muskeltonus am ganzen 
Körper ist erhöbt. Nach ganz kurzer Zeit, wie mit der Untersuchung begonnen 
wird, erfolgt ein Krampfanfall: heftige klonische Krämpfe, gleichzeitig an den 
oberen und an den unteren Extremitäten beginnend, erschüttern den Körper. Nach 
etwa einer halben Minute gehen die klonischen Krämpfe in eine tonische Kon¬ 
traktur der gesamten Körpermuskulatur über mit Opisthotonus; Beugestellung der 
oberen, Strecksteilung der unteren Extremitäten; Hände zur Faust gebaUt. Pa¬ 
pillen in diesem Zustand maximal erweitert, ohne Reaktion auf Lichteinfall. 
Skleral- und Kornealreflex nicht auslösbar, Bulbi gerade nach oben gedreht. Kiefer 
fest geschlossen. Die Atmung verlangsamt sich, wird tiefer, setzt aber nioht aus, 
2 Minuten nach Beginn des Anfalles löst sich die allgemeine Starre allmählich. 
Alle Sehneureflexe werden lebhaft gesteigert, kein Babinski. Pupillen bleiben 
reaktionslos, Skleral- und Kornealreflex nicht auslösbar. Kein Abgang von Stuhl 
oder Urin. Pat. bleibt bewusstlos. 

Naoh dem Aufhören der Krämpfe wurde folgender Status praesens erhoben: 

Mittel grosser, sehr muskulöser Mann K Haut im ganzen blass, im Gesicht mit 
Stich ins Graue, keine Zyanose. Keine Oedeme, kein Exanthem. Pat. tief be¬ 
wusstlos. Keine Reaktion auf Hautreize. Pupillen weit, völlig reaktionslos, 
Skleren weiss. Mund- und Rachenorgane: o. B. Keine Zungenbisse. Hals: kräftig, 
Schilddrüse weich, o. B., am Hals keine Drüsen palpabel. Thorax: gut gewölbt, 
symmetrisch. Lungen: Lungen-Lebergrenze rechts vorn unten 6. Rippe, hinten 
unten Lungengrenze Höhe des XI. Proc. spin. dors. Lungenschall überaU sonor. 
Auskult.: überall reines Vesikuläratmen, nirgends Nebengeräusche. Herz: Grenze 
etwas rechts vom reohten Sternalrand, 3. Rippe, etwas ausserhalb der linken Mam- 
millarlinie. Absolute Dämpfung: entsprechend. Herzstoss schwach, 1 / 2 Finger 
breit ausserhalb der linken Mammillarlinie im 5. Interkostalraum. Herztöne 
ziemlich leise, rein. 2. PT. = 2. AT. Puls: regelmässig, ziemlich gross, mittel¬ 
hart, Arterienrohr der Radialis rigid, Temporalarterie o. B. Abdomen: Banch- 
decken weich. Leber: in der reohten Mammillarlinie am Rippenbogen Rand nicht 
palpabel. Milz: perkutorisch und palpatorisch nicht vergrössert. Bauchdecken¬ 
reflex -J-; Harnblase nicht abnorm gefüllt. Extremitäten: Muskeltonus andauernd 
stark erhöht. Keine fibrillären Zuckungen. Sehnen- und Periostreflexe der oberen 
Extremitäten stark erhöht. Patellarreflex gesteigert, kein Klonus. Achillessehnen- 


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' Ueber Vergiftung mit Brommetbyl usw. 63 

reftex erhöht, kein Klonus, Fusssohlenreflei nicht auslösbar; kein Babinski. 
Oppenheim negativ. 

Pat. bleibt bis zum Exitus, 10 l J t Uhr abends, bewusstlos; anfänglich mit 
10—15 Minuten Intervall, später sohon nach 2—4 Minuten jeweilen, erschüttern 
klonische Krämpfe von grösster Heftigkeit den Körper, tonisohe Starre besteht hin 
und wieder ganz kurz (maximal l J i Minute lang) zu Beginn eines neuen Anfalles. 
Dauer'der Anfälle 1—2—3 Minuten, mit der Zeit kürzer werdend. Manchmal nach 
einem Anfall etwas blutiger Sohleim vor dem Mund, kein Zähneknirschen, nie Ab¬ 
gang von Stuhl oder Urin. 

Das Schreien hat seit dem Spitaleintritt anfgehört. Die Atmung ist nur 
während der Anfälle stöhnend, etwas verlangsamt, sonst ziemlich oberflächlich, 
nicht verändert, ohne Cheyne-Stokes-Typus. Kein besonderer Geruch an Kleidern, * 
Atmungsluft usw. wahrnehmbar. Kein Trachealrasseln ante exitum. Puls beim 
Eintritt 54, regelmässig, um 9 Uhr abends um 130, klein und weich. Herzaktion 
immer ganz regelmässig. Blutdruck bei Spitaleintritt 110 mm Hg Riva Rocci. 

Therapie: heisses Bad, dann Aderlass 700 ccm (das herausfliessende Blut 
zeigte normales Aussehen und Verhalten in bezug auf Gerinnung). Intravenöse 
Injektion von 300 ocm Ringer-Lösung mit 5 pCt. Traubenzucker. Subkutane In¬ 
fusion von l L. Ringer-Lösung. Kampfer; 2mal 3 g Chloralhydrat per Klysma; 
Mo. 0,02; Sauerstoffzufuhr. 

Lumbalpunktion (nach Spitaleintritt): Druck 40 ccm Wasser, ausfliessender 
Liquor stark blutig. 

Katheter-Urin: klar, hell, schwach sauer. Eiweiss + (Kuppe); Zuoker, 
Diazo, Urobilin, Urobilinogen und Azeton negativ. Sediment: ganz spärliche 
hyaline Zylinder, keine roten,^spärlich weisse Blutkörperchen. 

Blutbefund: Rote Blutkörperchen 4876000, weisse Blutkörperchen 28600, 
Hämoglobin 86 pCt. naoh Sahli, polymorphkernige neutrophile Leukozyten 
81,75 pCt., eosinophile 1,25 pCt., grosse Mononukleäre und Uebergangszellen 
5,25 pCt., Lymphozyten (kleine, normale Formen) 11,75 pCt., keine Myelozyten. 
Rotes Blutbild: Normozyten. Blutplättchen: fast völlig fehlend. 

Harnstoffbestimmung im Blut: 85 mg in 100 ccm Blut. Wassermann im 
Blut: negativ. 

ln den bis jetzt bekannt gewordenen Fällen von Brommethyl¬ 
intoxikation handelt es sich um akute Vergiftungen. Unser Fall 
soheint zu zeigen, dass auch eine subakute Brommethylvergiftung 
Vorkommen kann. Von Wichtigkeit für diese Frage sind, wenn sie 
zuverlässig sind, die Angaben der Frau unseres Patienten über die 
krankhaften Erscheinungen, welche während seines ersten Aufenthaltes 
im geschlossenen Brommethyllokal aufgetreten sind. Diese Beschwerden 
hat der Patient sofort wieder verloren, sowie er an der freien Luft 
arbeiten konnte, trotzdem er hierbei ebenfalls mit Brommethyl zu 
hantieren hatte. Es genügten jedenfalls geringste Mengen von Brom¬ 
methyl, um die genannten krankhaften Erscheinungen bei M. hervor¬ 
zurufen. Von einem Defekt an den maschinellen Einrichtungen hören 


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W. Löffler und W. Rütimeyer, 


wir für diese erste Periode nichts. Es muss aber auch bei unserem 
Patienten eine besondere Empfindlichkeit für kleinste Mengen Brom- 
methyl bestanden haben; nach der Angabe des Fabrikchemikers war 
M. mit anderen Arbeitern im gleichen Lokal beschäftigt, welche, der 
gleichen Einwirkung ausgesetzt, nicht erkrankt sind. Gleichzeitig mit 
der zweiten Versetzung ins Brommethyl lokal treten die Störungen er¬ 
neut und in verstärktem Masse auf. Jetzt aber hat Patient, am 
3. 12. nach seiner Aussage, Brommethyl in grösserer Menge ein¬ 
geatmet. Trotz Vermehrung der Beschwerden ist aber M. seiner 
Arbeit weiter nachgegangen, bis es dann am 6. 12. zu einer erneuten 
stärkeren Aufnahme des Giftes kam, welche akute Vergiftungserschei¬ 
nungen hervorrief und welcher der Patient erlegen ist. Gross kann 
die Menge des eingeatmeten Brommethyls kaum gewesen sein, da 
der Patient, der die Gefährlichkeit des Stoffes nur zu gut kannte, 
bei Wahrnehmung von Brommethyl durch den Geruch sich sicher 
hätte warnen lassen (Brommethyl besitzt einen penetrant ätherartigen 
Geruch). Vielleicht genügten aber für den schon längere Zeit durch 
Brommethyl geschädigten Patienten sehr geringe Dosen des Giftes, 
wenn sie wiederholt aufgenommen wurden, um eine zum Tode führende 
Intoxikation hervorzurufen. 

Immerhin ist zu betonen, dass wir die Krankheitssymptome, die 
in den letzten 4 Wochen bis zum 6. Dezember aufgetreten sein sollen, 
nur aus den Angaben der Witwe kennen, und es ist bekannt, dass 
bei einem so erschütternden Ereignis die Erinnerung sehr wohl nicht 
ganz zuverlässig sein kann, besonders, wenn die Beteiligten der An¬ 
sicht sind, Entschädigung bzw. Rentenansprüche könnten von ihren 
Aussagen abhängig sein. Diese Hinweise auf das Bestehen einer 
chronischen Brommethylvergiftung könnten aber von grosser 
praktischer Bedeutung sein, falls in etwaigen weiteren Fällen 
ähnliche Erscheinungen beobachtet würden. 

Das Bild der Vergiftung, das unser Fall bietet, entspricht den 
Versuchsergebnissen, welche Jaquet bei seinen Experimenten ge¬ 
funden hat. Als charakteristisch für die Brommethylvergiftung sei 
hingewiesen auf das freie Intervall zwischen Einatmung des Giftes 
und Ausbruch der schweren Symptome, welches in unserem Falle 
2 bis 3 Stunden betragen hat (in 2 Fällen von Jaquet und im Falle 
Rohrer und Steiger wurde ebenfalls ein freies Intervall beobachtet) 
und das Weiterschreiten aller Vergiftungserscheinungen, in unserem 
Falle bis zum Tod, nachdem eine Zufuhr des Giftes längst aufgehört 


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Heber Vergiftung mit Brommethyl usw. 


65 


hat, beides Erscheinungen, welche in auffallendem Gegensätze stehen 
zam Vergiftungsbild bei Bromäthyl und Bromoform, wobei Intoxikation 
rasch erfolgt während der Einatmung der Substanz und sich rasch 
wieder verliert, sobald die Darreichung Ses Mittels eingestellt wird. 
Diese Besonderheiten der Vergiftung mit Brommethyl haben Jaquet, 
wie schon erwähnt, dazu geführt, nicht nur eine funktionelle Lähmung, 
sondern tief greifende und bei grösseren Dosen irreparable Läsionen 
des Zentralnervensystems durch das Gift anzunehmen. 

Ohne hier weiter auf die Theorie der Giftwirkung durch Brom¬ 
methyl einzugehen, möchten wir nur auf die Möglichkeit einer inter¬ 
mediären Bildung von Methylalkohol hinweisen als einer Fragestellung, 
die experimenteller Bearbeitung zugänglich ist. 

Wenn, schon im allgemeinen bei der Brommethylvergiftung, ab¬ 
gesehen von dem sehr charakteristischen klinischen Bild die Anamnese 
selten im Stiche lässt, so ist die Frage doch von grossem Interesse, ob 
sich objektiv in den Körperflüssigkeiten des Patienten Anhaltspunkte 
für die Vergiftung gewinnen lassen, d. h. ob sich Brommethyl darin 
nachweisen lässt. Dies ist von um so grösserer Bedeutung, als Brom¬ 
methylvergiftung keinen charakteristischen Autopsiebefund aufweist. 

Im vorliegenden Fall wurde Blut und Harn sofort mit der sehr 
empfindlichen einfachen Reaktion auf flüchtige Halogen verbind ungen 
untersucht, die darauf beruht, dass die Verbindungen von einem 
Wasserstoffstrom mitgerissen, imstande sind, der Flamme eine in¬ 
tensiv blaugrüne Farbe mitzuteilen, sobald eine Kupferspirale in der 
Flammq zu schwachem Glühen erhitzt wird. Der über Schwefel¬ 
säure getrocknete Wasserstoff wird durch ein Gefäss durchgeleitet, 
das die zu untersuchenden Körperflüssigkeiten oder die zerquetschten 
Organteile in Wasser aufgeschwemmt enthält. 

Die Resultate mit dem ganz frischen Harn und Blut unseres 
Patienten waren durchaus negativ. Ebenso verhielten sich Gehirn 
und Leber gleich nao^ der Autopsie. 

Um festzustellen, inwieweit überhaupt Aussicht besteht, die einer¬ 
seits eminent flüchtige und äusserst toxische, andererseits wohl auch 
sehr rasch im Organismus Veränderungen eingehende Substanz in 
Körperflüssigkeiten und Organen nachzuweisen, haben wir eine Reihe 
von Tierversuchen angestellt. Meerschweinchen wurden unter einer 
Glasglocke Brommethyldämpfen ausgesetzt, zunächst ohne Dosierung 
derselben, bis sich Vergiftungserscheinungen zeigten. (Die Organe 
wurden sehr sorgfältig, jedes mit frischen Instrumenten, entnommen.) 

VierteljahrMohrift f. ger. Med. n. Off. Bankwesen. 3. Folge. B<L 00. H. 1. c 


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66 


W. Löffler und W. Rütimeyer, 


I 


Versuch 1. Ein Meerschweinchen wird unter einer Glasglocke Brommethyl¬ 
dämpfen ausgesetzt. Anfang 4 Uhr 21 Min. 

4 Uhr 23 Min. Tier legt sich auf die Seite/ist bewusstlos. 

4 Uhr 26 Min. Atmet nicht mehr, wird aus der Glocke herausgenommen. 

4 Uhr 27 Min. Wieder einige Atembewegungen. Tier wird sofort getötet. 


Brommethylreaktion d 

sofort nach dem Tode 

Blut: positiv 
Leber: „ 

Gehirn: schwach positiv 
Lunge: negativ 


r Organe bei der Autopsie 

nach 1 / 2 stünd. Stehen in 
den Reaktionsgefässen 
positiv 

schwach positiv 
negativ 


Versuch 2. Ein Tier wird in gleicher Weise behandelt und nach dem 
spontan eingetretenen Tode 24 Stunden auf Eis aufbewahrt. Leber: positiv. Hirn: 
schwaoh positiv. Lunge: schwach positiv. Niere: positiv. 

t 

Versuoh 3. Das den Brommetbyldämpfen ausgesetzte Tier legt sich nach 
2V a Minuten auf die Seite, hört nach 9 Minuten auf zu atmen, erholt sich nioht 
mehr, wird sofort entblutet. Blut: stark positiv. Leber: stark positiv. Lunge: 
Spur. Harn: negativ (durch Punktion der Blase gewonnen). 

Bei akuter unmittelbar zum Tode führender Brommethylvergiftung 
lässt sich also die Substanz unmittelbar nach dem Tode im Blut und 
in Organen nachweisen. Auch nach 24 ständigem Aufbewahren eines 
an Brommethylvergiftung zugrunde gegangenen Tieres gelingt der 
Nachweis mit der angegebenen Methode noch leicht. 

Bei den folgenden Tieren wurde versucht, nach kurzer Einwir¬ 
kung des Brommethyls die Tiere sich wieder erholen zu lassen, ‘üin 
die Bedingungen mehr denjenigen der natürlichen Brommethylver-, 
giftung zu nähern. 

Versuch 4. Das Tier wird Brommetbyldämpfen ausgesetzt, bis es bewusst¬ 
los ist (4 Minuten), dann sofort an die Luft gebracht, es erholt sich vorübergehend 
etwas, geht aber Dach 45 Minuten spontan zugrunde. Leber: schwach, aber 
deutlich positiv. Lunge: schwach positiv. Hirn: sohwach positiv. Herz: Blut 

schwach positiv. Muskel: schwach positiv. Nieren: schwach positiv. 

Die Intensität der Reaktion hat in diesem Falle fast die Grenze 
der Wahrnehmbarkeit erreicht. 


Versuch 5. Ein Meerschweinchen wird Brommethyl ausgesetzt, nach 2 Mi¬ 
nuten bewusstlos, nach einer weiteren Minute wird das Tier aus der Glocke an 
die Luft gebraoht. Es erholt sich massig, geht etwas herum, ist aber'sehr matt. 
Eine Stunde 10 Minuten nach Herausnahme wird das Tier entblutet. Blut: negativ. 
Leber: negativ. 


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Original from 

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Ueber Vergiftung mit Brommetbyl usw. 


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Versuch 6. Drei Meerschweinchen werden Brommethyldämpfen ausgesetzt; 
nach 2 1 / 2 Minuten sind alle drei Tiere bewusstlos, naoh weiteren 2 Minuten er* 
holen sich die Tiere wieder, eines wird entblutet. Blut: negativ, ebenso Leber, 
Niere und Lunge. 

Versuch 7. Drei Meersohweinchen werden Brommethyldämpfen ausgesetzt. 
Nach 2 Minuten 45 Sekunden sind alle drei Tiere bewusstlos, sie werden noch 
1 1 / i Minute unter der Glocke gelassen, dabei treten leiohte krampfartige Bewe¬ 
gungen der Extremitäten auf. 

a) Ein Tier wird sofort entblutet. Blut: positiv. Leber: positiv. Niere: 
positiv. Hirn: sehr schwach positiv. Lunge: negativ. 

b) Das zweite Tier erholt sioh nur schleoht und ist nach 45 Minuten mori¬ 
bund, es wird entblutet. Blut: negativ. Leber, Niere, Hirn: negativ. 

c) Das dritte Tier hat sioh kurze Zeit erholt, ist dann aber 30 Minuten nach 
Herausnahme aus der Glocke spontan zugrunde gegangen. Die Organe werden 
gleichzeitig mit denjenigen des zweiten Tieres herausgenommen. Niere, Hirn, 
Lunge und die sehr blutreiche Leber sind negativ. 

Die Versuche 4 bis 7 zeigen, dass der Brommethylnachweis 
schwierig und bald unmöglich wird, sobald das Tier nach der Ver¬ 
giftung noch einige Zeit (30 Minuten bis 1 Stunde 10 Minuten) atmet; 
während der Nachweis von Brommethyl bei einem unter gleichen Be¬ 
dingungen vergifteten, aber sofort getöteten Tier noch sehr gut gelingt. 

Wenn auch diese Versuche nur eine rohe Annäherung an die 
Verhältnisse bei der gewerblichen Brommethylvergiftung des Menschen 
gestatten, so haben wir es doch mit Vergiftungen zu tun, die für die 
Versuchstiere maximal waren. Wennschon in der kurzen Zeit von 
30 Minuten, während der die Tiere überlebten, Brommethyl nicht mehr 
nachweisbar ist, so besteht kaum grosse Aussicht dafür, dass mit 
der angewandten sehr empfindlichen Methode bei den Vergiftungen des 
Aienschen der Nachweis von Brommethyl in Körperflüssigkeiten gelingen 
wird. Sind doclt diese Vergiftungen gerade durch ein freies Intervall 
zwischen der Aufnahme des Giftes und dem Ausbruch der Krankheits¬ 
erscheinungen ausgezeichnet. Nur bei akut tödlichen Vergiftungen be¬ 
steht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass mit der erwähnten Methode 
der Giftnachweis in der frischen Leiche noch gelingen kann. 

Literatur. 

1) Schaler, Vierteljahrsschr. f. öffentl. Gesundheitspflege. 1899. S. 696. — 
2) Jaquet, Deutsches Arcb. f. klin, Med. 1901. Bd. 71. — 3) Bing, Schweize¬ 
rische Rundschau f. Med. 1910. S. 1167. — 4) Steiger, Münchener med. 
Wochensohr. 1918. S. 753. — 5) Roh rer, Diese Vierteljahrsschr. 1920. 60. Bd, 
S. 51. 


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V. 

Tod nach Misshandlung. 

Von 

Dr. Räuber, 

Regierung»- und Geh. Med.-Rat in Erfurt. 


Als Vertreter des neuernannten aber noch kranken Kreisarztes 
hatte ich am 17. September 1917 eine gerichtliche Leichenöffnnng 
vorzunehmen, die mancherlei Eigentümlichkeiten darbot, und wenn 
mancher Leser bei Beurteilung der Krankengeschichte und des Leichen¬ 
befundes vielleicht zu einem anderen Schluss gelangt wäre als ich in 
meinem Gutachten und wenn manche Erscheinungen im Verlaufe der 
zum Tode führenden Krankheit unaufgeklärt sein mögen, so dass die 
eigentliche Todesursache nicht mit Sicherheit festgestellt werden 
konnte, sondern nur ein Wahrscheinlichkeitsschluss übrig blieb, so 
dürfte die Veröffentlichung des nachstehenden Falles doch deshalb 
von grossem gerichtsärztlichen Interesse sein, weil die zahlreichen bei 
der Leiche gefundenen Blutaustritte an den inneren Organen infolge 
von Traumen meines Wissens zu grossen Seltenheiten gehören; we¬ 
nigstens habe ich in dieser Zeitschrift einen ähnlichen Befund nicht 
auffinden können. Ich lege bei der Veröffentlichung auch das Haupt¬ 
gewicht auf diese Erscheinungen, bin aber bei dem sonst negativen 
• Befund an den inneren Organen, dem Ausschliessen anderer Todes¬ 
ursachen dazu gelangt, einen ursächlichen Zusammenhang des Todes 
mit den Misshandlungen anzunehmen, wengleich nur mit Wahrschein¬ 
lichkeit. 

Aus der Literatur möchte ich ausser der Veröffentlichung von 
Maschka (Viertoljahrsschr. f. gerichtl. Med., 30. Bd., S. 233) und 
Lesser (Ebenda, 3. Folge, Bd. 44, S. 203) besonders auf die Arbeit 
von Külbs (Experimentelle Untersuchungen über Herz und Trauma, 
Mitteilungen a. d. Grenzgeb. d. Med. u. Chir., Bd. 19, H. 4) hinweisen. 
Letzterer konnte nach traumatischer Einwirkung auf den Brustkorb 
ausser Blutungen im Herzen auch Hämorrhagien in der Interkostal- 




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Tod nach Misshandlung. 


69 


maskulatur, im subperikardialen Fettgewebe, an der Qinterseite des 
Perikards, besonders an der A. coronaria erzielen. 

Auch im vorliegenden Fall fanden sich an der hinteren Seite des 
Herzens, besonders an der Kranzfurche zahlreiche Blutaustritte. 

Ergänzend möchte ich noch aus dem Leichenbefund bemerken, dass 
es sich um eine 27—30 Jahre alte kräftig gebaute Frau mit gut ent¬ 
wickelter Muskulatur und gutem Ernährungszustand handelte, die wohl 
infolge Eifersucht ihres Mannes den Misshandlungen unterlag. Am 
Schädel und Gehirn keine Veränderungen, das Herzfleisch war gelblich- 
braun, die Leber 24:15:9 cm braunrot, ohne Veränderung, die Bauch¬ 
speicheldrüse graurot, von .fester Beschaffenheit, auf dem Durchschnitt 
graurot, Dünndarm ohne Veränderungen mit grünlich gelblichem 
Schleim, Dickdarm mit bräunlichem Kot in fester Form und reich¬ 
licher Menge. 

Geschieh tserzählung. 

Frau R. hat längere Zeit im Unfrieden mit ihrem Ehegatten, zur Zeit 
Fahrer der 2. Ersatzbatterie, gelebt und ist von diesem wiederholt misshandelt 
worden. 

Nach den Akten hat die neben ihr wohnende Witwe A. S. in der R.’sohen 
Wohnung, nachdem der Ehemann etwa Mitte Aagust auf Urlaub gekommen 
war, viel Skandal bemerkt und die Frau R. hat viel geweint; etwa am 25. oder 
26. August 1917 hat Frau R., die sehr geschrien habe, ihr nachträglich er¬ 
zählt, dass ihr Mann sie mit Fäusten gegen die Schläfen geschlagen, auf den 
Fussboden geworfen und sie fortgesetzt mit den stiefelbekleideten Fussen gegen 
den ganzen Leib getreten habe, seit dieser Zeit habe sie immer über heftige 
Schmerzen geklagt. Später gibt sie nooh an, dass der Mann, der etwa am 
6. September zu seinem Truppenteil zurückgereist war, sie kurz vorher, also 
spätestens 8 Tage vor ihrem Tode misshandelt habe. Frau H. bekundet Aehn- 
liches, auch sie bemerkte ebenso wie die Frau S., blaue Fleoken am Körper der 
R. Diese klagte aber besonders noch über heftige Schmerzen in der Magengegend. 
Die E. E. bekundet ebenfalls, dass ihre Freundin R. während des Urlaubs ihres 
Mannes täglich von ihrem Manne mit Tritten und Stockschlägen misshandelt 
worden sei. Auch dieser Zeugin gegenüber hat die R. über die Magengegend bzw. 
die Lebergegend geklagt, weil ihr Mann auf ihr gekniet hätte. Von besonderer 
Bedeutung ist noch die Aussage des Vaters der Verstorbenen, dem diese ihr Leid 
geklagt hatte. Ihr Mann hätte sie zu Boden geworfen, mit seinen Kommisstiefeln 
in die Seite und den Rücken getreten. Später klagte sie' ihrem Vater, dass sie 
nicht stehen, liegen nooh sitzen könne, ihr Mann habe ihr die Brust kaput ge¬ 
drückt, habe sioh mit beiden Knien auf die Brust gekniet und mit Gewalt den 
Beischlaf ausüben wollen. Die Lehrlinge des nebenan wohnenden Schmiede¬ 
meisters hätten Hilferufe der Frau gehört. 

Frau R. ist am 11. September zuletzt bei Sanitätsrat Dr. V. gewesen, 
um sioh von diesem wegen der Misshandlung ihres Mannes ein Attest aus- 


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Käaber, 


stellen zu lassen. Genaue Angaben über den Befund kann Dr. V. jedoch nicht 
machen. 

Sie suchte hierauf Dr. U. auf, dor heftige Schmerzen in der rechten 
oberen Bauchseite der Verstorbenen feststellte und eine Gelbfärbung des Gesichts 
und der Augeqbindebäute bemerkte. Er nahm Gallensteinkolik an und wies di» 
Kranke, nachdem die Schmerzen nach 2tägiger Behandlung sich nicht besserten, 
vielmehr plötzlich eine Verschlimmerung mit Trübung des Bewusstseins ein¬ 
trat, in das städtische Krankenhaus. Hier wurde sie am 13. September 1917 
gegen 2 Uhr mittags in benommenem Zustande eingeliefert mit der Diagnose 
Gallensteinkoliken. Sie antwortete auf verschiedene Fragen immer nur das eine 
unverständliche Wort, nahm eine zusammengekauerte Stellung ein, empfaod aber 
bei Druck auf die Magen- und Lebergegend Schmerzen und schrie hierbei wieder¬ 
holt laut auf, warf sich, zeitlich und örtlich uporientiert, im Bett umher und 
zeigte einen solohen Erregungszustand, dass sie aus dem Bett fiel. Nach einer 
Einspritzung 0,01 Morphium wurde sie vollkommen apathisch, am 14. September 
gegen 1 / 2 9 Uhr vormittags wurde sie plötzlich blass, der Puls, der bis dahin 
kräftig und regelmässig war, wurde unregelmässig und klein und alsbald trat 
der Tod ein. 

Die Leber war nicht vergrössert, die Gallenblase nicht fühlbar, der Harn 
zeigte weder Eiweiss, noch Zucker, noch GallenfarbstofT, auch der Stuhlgang 
zeigte normale Farbe. Am 14. September morgens brach sie geringe Mengen 
gelblich gefärbter sauer riechender Flüssigkeit aus. Fieber bestand nicht, der 
Puls zeigte am 1. Tage 64 Sohläge. 

Bei der am 17. September 1917 vorgenommenen gerichtlichen Leichen¬ 
öffnung, welche unter Hinweis auf die vorhergegangene Misshandlung vorge¬ 
nommen wurde, fand sich im wesentlichen folgendes: 


A. Aeussere Besichtigung. 

10. Am Rüoken zeigt sich an der reohten Seite,* 5 cm nach aussen vom 
12. Brustwirbeldorn eine längs gerichtete 2 1 / 2 cm lange, 2 A / 2 cm breite braunrote 
Stelle, an welcher die Haut sich härter anfühlt und eingetrooknet ist. Nach 
aussen davon eine 10 cm lange, 3 om breite blaurote fleckige Stelle. Nach dem 
Einsohneiden dieser Stelle, welche sioh auch etwas nach innen von dem braunen 
Strioh fortsetzt, zeigt das Unterbautfettgewebe frei in das Gewebe ergossenes Blut. 

12. Am linken Oberarm, und zwar in der unteren Hälfte desselben mehrere 
blaurote Flecke, so an der Innenseite dicht oberhalb des inneren Gelenkvor- 
spronges eine 5 cm lange und 1 om breite Stelle, nach deren Einschneiden sich 
das ganze Unterhautzellgewebe blutig durchtränkt erweist. Unterhalb des Ellen¬ 
bogens befindet sich eine rundliche, 1 om im Durchmesser messende bräunliche 
und sich härter anfühlende Hautstelle, nach deren Einschneiden sioh im Unter¬ 
hautfettgewebe kein Blut zeigt. 

13. Am rechten Arm, und zwar an der Innenseite des Oberarms 4*/ 2 cm 
unterhalb der Achselhöhle ein 1 1 j 2 cm langer und breiter blauroter Fleck, nach 
dessen Einschneiden das Unterhautbindegewebe sich stark blutig durchtränkt er¬ 
weist. An der anderen Seite des reohten Oberarms 7 cm oberhalb der Ellenbeuge 
ein quergerichteter 2 om breiter, 1 cm in der Längsrichtung messender braunroter 


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Tod nach Misshandlung. 


t 


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Fleck, an dem die Hant sich härter anfühlt, nach dessen Einschneiden das Unter¬ 
hautzellgewebe sich frei von Blut erweist. 

14. An der vorderen Seite des linken Oberschenkels eine 15 om in der 
Längsriobtung und 8 cm in der Querrichtung messende blaurote 1 Stelle, die sich 
dadurch auszeichnet, dass blaurote 6—7 cm lange Querstreifen, in einer Zahl von 
fünf, hellere Stellen frei lassen. Etwas unterhalb dieser Querstreifen werden die 
Flecken unregelmässiger und kleiner. Die Gesamtlänge dieser Färbung beträgt 
21 cm. Nach dem Einsohneiden zeigt sich das Unterhautbindegewebe im Bereich 
der blauen Flecke überall blutig durchtränkt. Auch oberhalb der linken Knie¬ 
scheibe befindet sich eine y 2 cm im Durchmesser enthaltende blaurote Stelle mit 
Bluterguss ins fcewebe. Eine ähnliche an der Innenseite der linken Kniescheibe, 
eine weitere 1 cm grosse etwas nach innen und 5 cm unterhalb der Rauhigkeit 
des Schienbeins. 

15. Am rechten Bein, und zwar an der Aussenseite des Oberschenkels, 
20 om unterhalb des vorderen Darmbeinstachels eine 3 cm lange und breite Stelle, 
an welcher das Fettgewebe sich ebenfalls blutig durchtränkt erweist. 

B. Innere Besichtigung. 

II. Hals-, Brust- und Bauchhöhle. 

25. Bei der Oeflfnung der Bauobböhle tritt etwas übelriechendes Gas aus/ 
Das Fettgewebe ist am Bauch 3 cm, an der Brust 1 om dick, die Muskulatur 
kräftig und von fleischroter Farbe. Die Bauoheingeweide befinden sich in regel¬ 
rechter Lage, zeigen überall eine glatte und glänzende Oberfläche, das fettreiche 
Netz bedeckt schürzenartig die Därme. 

Vom grauroten Magen ist nur ein kleines Stüok sichtbar. An der inneren 
Bauchwand zeigt sioh die Gegend des Nabelstranges mit einer Anzahl (9—10) 

1—2 cm grosser blauroter Blutaustritte besetzt, nach deren Einschneiden das 
Gewebe lebhaft blutig durchtränkt erscheint. Auch das Netz ist mit zahlreichen 
Blutunterlaufungen, besonders im rechten und oberen Ende versehen, von denen 
etwa 20 gezählt werden. Sie sind 1—3 om gross, lebhaft dunkelrot gefärbt und 
zeigen nach dem Einsohneiden freies Blut im Gewebe. Ebenso befindet sich im 
6. Zwischenrippenraum dicht am Knorpel auf beiden Seiten der Brust je eine rund¬ 
liche 1 cm grosse Blutunterlaufung. Ein ungehöriger Inhalt ist im Leibe nicht 
vorhanden, das Zwerchfell steht rechts am oberen Rande der 4., links zwischen 
4. und 5. Rippe. 

a) Brusthöhle. 

27. Nach Entfernung des Brustbeines finden sich sowohl an der Innenseite 
des Brustbeines als auch im Mittelfellraum, sowohl am oberen wie am unteren 
Ende desselben, wo derselbe ans Zwerchfell sioh ansetzt, zahlreiche Blutaustritte 
ins Gewebe, an Zahl im oberen Teil des Mittelfellraumes 12—15, im unteren 35, 
an der Innenseite des Brustbeines etwa 10—15. 

29. Der Herzbeutel enthält an der Aussenseite zum Teil die beschriebenen 
Flecke. Er enthält 30 ocm hellgelblicher Flüssigkeit, seine Innenhaut ist glatt und 
glänzend. 

Das Herz erscheint gewölbt, in der Stärke der geballten Faust der Leiche, 
fühlt sich derb und prall an, von gelbgrauer Farbe, mit Fett ziemlich stark be- 


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Räuber, 


wachsen. An der hinteren Seite finden sich zahlreiche linsen- bis erbsengrosse 
(40—50) Blutaustritte ins Gewebe, die an der Kranzfurche zu grösseren Haufen 
zusammengeschlossen sind. Nach ihrem Einschneiden befindet sich im Gewebe 
dunkles flüssiges Blut. 

32. Die rechte Lunge ist an der Spitze mit dem Brustfell leicht verwachsen, 
an der Lungenspitze eine bindegewebige Verdichtung von etwa Bohnengrösse. 

34. Zunge und Rachen zeigen keine Veränderungen. 

35. Der Kehlkopf enthält geringen bräunlichen Sohleim, die Schleimhaut 
ist glatt. 

36. Die Speiseröhre ist leer. 

37. Auf beiden Seiten des Brustkorbes befinden sich in den Zwisohenrippen- 
gegenden Blutaustritte ins Gewebe von Linsengrösse und darüber, nach deren 
Einschneiden sioh schwarzrotes, grösstenteils geronnenes Blut zeigt. Sie sind von 
unregelmässiger Gestalt und betragen etwa 20 auf jeder Seite, im übrigen sind die 
Knochen nnverletzt. 

b) Bauchhöhle. 

38. Das Bauchfell ist überall glatt und glänzend, jedoch finden sich sowohl 
an der Hinterseite des Netzes, wie an der Verbindung des Netzes mit dem Hagen 

% und dem Dickdarm die oben beschriebenen Blutunterlaufungen, das Netz ist fett¬ 
reich, die Gefässe des Netzes sind nicht gefüllt. 

44. Der Mastdarm enthält braunen festen Kot in geringer Menge, die Schleim¬ 
baut ist'blass. 

45. Der Magen ist an der ganzen kleinen Krümmung blutunterlaufen, 3 cm 
breit, 12 cm in der Querriohtung messend. Nach dem Einschneiden ist in dem 
Gewebe freies Blut sichtbar. Der Magen enthält 100 ccm schwärzlioh-braunen 
flüssigen Mageninhaltes ohne Geruch und von trüber Beschaffenheit. Die Schleim¬ 
haut ist vollständig unversehrt, glatt und blass. Der Zwölffingerdarm ist aussen 
grauweiss, gefüllt mit derselben bräunlich-schwärzlichen Masse. Die Schleimhaut 
ist glatt und glänzend. Beim Druck auf die Gallenblase, welche eine Anzahl Steine 
enthält, entleert sich keine Galle. 

48. Das Gekröse ist sehr fettreich, seine Blutgefässe sind leer, es enthält 
zahlreiche Blutaustritte von Linsen- bis Erbsengrösse in der ganzen Ausdehnung 
bis dicht an den Darm heran, zum Teil auch auf den Darmüberzug, übergehend, 
schätzungsweise auf Handflächengrösse 20—30. ^ ^ 

Das vorläufige Gutachten lautete: 

1. eine bestimmte Todesursache hat sioh nicht ergeben, 

2. die zahlreich gefundenen Blutunterlaufungen lassen auf die wiederholte 
Einwirkung einer äusseren starken Gewalt schliessen. 

Gutachten. 

Nach dem Befund an der Leiche erscheint es zweifellos, dass 
Frau R. im Leben stark misshandelt wurde. Es fanden sich an der 
Haut sowohl ältere oberflächliche Verletzungen, an denen die Haut 
eingetrocknet war, als auch besonders zahlreiche frische Verletzungen 
der Haut mit ausgedehnten frischen Blutunterlaufungen, und zwar be- 


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Tod nach Misshandlung. 


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sonders an der rechten Seite des Rückens rechts vom 12. Brust¬ 
wirbel in einer Ausdehnung von 10 cm, am linken Oberarm, am 
rechten Oberarm, an der Aussenseite des rechten Beines, am linken 
Schienbein, oberhalb der linken Kniescheibe und besonders auch 
an der Vorderseite des linken Oberschenkels, hier betrug die Blut¬ 
unterlaufung sogar 21 cm in der Läpge und die von helleren Streifen 
unterbrochenen blauroten Querstreifen lassen darauf schliessen, dass 
hier eine sehr starke Einwirkung erfolgte, etwa durch die Faust oder 
durch nägelbeschlagene Schuhe, oder einen ähnlichen Gegenstand. 

In der Bauchhaut fanden sich zwar keine äusseren Blutunter¬ 
laufungen, dem widerspricht jedoch nicht, dass Stösse und Tritte auf 
die Bauchhaut erfolgten, da diese erfahrungsgemäss häufig nicht Ver¬ 
änderungen in der Bauchhaut hervorrufen, da die Bauchhaut nach¬ 
gibt; solche Tritte und Stösse werden ihre Wirkung vielmehr erst 
auf die tiefer gelegenen, weniger nachgebenden, hinten einen Wider¬ 
stand findenden Teile der Baucheingeweide hervorrufen. Als die 
Wirkung einer solchen wiederholt ausgeführten Gewalt muss ich die 
Blutunterlaufungen ansehen, die sich in der inneren Bauchwand in 
der Gegend des Nabelstranges, am Netz und am Gekröse, am Magen 
und am Darm, am Herzen und an der Innenseite des Brustkorbes fanden. 

Blutaustritte am Herzen und im Mittelfellraum finden sich auch 
beim Tod durch Erstickung, aber in viel geringerer Ausdehnung und 
Grösse und solche Blutaustritte sind dann auch fast immer .auf dem 
Ueberzug der Lunge zu finden. Hier fand sich an den Lungen nichts 
derartiges. 

Es wurde von seiten der Aerzte des städtischen Krankenhauses 
geltend gemacht, dass- es sich um eine Vergiftung handeln könne. 
Hierfür wurde besonders die gelbliche Färbung der Kranken, die 
starke Benommenheit, die grossen Delirien und die grosse Unruhe 
der Kranken geltend gemacht. Die gelbe Färbung aus dem Uebet- 
tritt zersetzten Blutfarbstoffes ins Blut und eine Gallensteinkolik'war 
auszuschliessen. Zwar fanden sich in der Gallenblase grössere, ab¬ 
geschliffene Gallensteine vor, jedoch kein in dem Gallengang ein¬ 
geklemmter Stein, auch enthielt der Urin keinen Gallenfarbstoff. Die 
Gelbfärbung der Haut und der Bindehäute des Auges war übrigens 
keine sehr grosse, ich möchte derselben auch keine all zu grosse 
Bedeutung beilegen und habe ähnliche Gelbfärbung bei Leichen aus 
der letzten Zeit gefunden, ohne dass im Leben ein Leberleiden oder 
ein Verdacht auf Vergiftung bestand. 


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Räuber, 


* 



Für eine Vergiftung konnten die im städtischen Krankenhause 
beobachteten Erscheinungen allerdings wohl sprechen; Ekchymosen, 
d. h. Blutaustritte in den zarten Häuten am Herzüberzug und an 
anderen inneren Organen kommen vor bei Vergiftungen, auch ohne 
äussere Gewalt, so bei Phosphorvergiftungen, Vergiftung mit Blau¬ 
säure, Chloroform, giftigen Schwämmen, ferner bei skorbutischen 
Prozessen, Septikämie, Hämophilie (Bluterkrankheit), sowie bei Er¬ 
stickten. 

Bei dem gesunden kräftigen gut ernährten Körper der Ver¬ 
storbenen sind derartige innere Erkrankungen auszufcchliessen, auch 
Vergiftung mit Chloroform, da nach dieser der Tod sehr schnell ein- 
tritt. Auch Blausäure kann nicht in Betracht kommen, da bei dieser 
der Tod schnell unter Krämpfen eintritt. 

Eher könnte man an Phosphorvergiftung denken. Bei dieser 
findet man neben gelblicher Hautfärbung noch am meisten, wenn 
auch nicht immer, Blutaustritte in den serösen Häuten, aber diese 
sind meistens viel kleiner, nur hirsekorn- oder linsengross, und ab¬ 
gesehen davon findet sich in der Leiche fettige ßntartung der inneren 
Organe, besonders der Leber und der Nieren und Gelbfärbung der¬ 
selben. Auch in der Magen- und Darraschleimhaut finden sich sehr 
häufig Blutaustritte, ebenso auf anderen Schleimhäuten, im Rachen, 
der Speiseröhre, im Nierenbecken. Die Schleimhaut des Magens sieht 
bleichgelb, trüb und geschwellt aus. Von alledem war im vorliegenden 
Falle nichts zu finden. Die Schleimhäute waren völlig unversehrt. 
Die Krankheitserscheinungen bestehen zwar in Druck und schmerz¬ 
haftem Gefühl in der Magengegend, aber auch in grosser Muskel¬ 
schwäche und Hinfälligkeit, kleinem, sehr schnellem Puls, schwachem 
Herschlage und erhöhter Körperwärme. Der Harn enthält Gallen¬ 
farbstoff, Eiweiss und Blut, das Bewusstsein bleibt meist bis zum 
Tode erhalten. Delirien kurz vor dem Tode kommen mitunter vor. 

Im vorliegenden Falle fehlte die erhöhte Körperwärme, der Puls 
war nicht schnell, vielmehr verlangsamt, kräftig und regelmässig, 
Gallenfarbstoff fehlte im Urin. Bei der Leichenöffnung wurde zufolge 
der normalen Beschaffenheit der Magen- und Darmschleimhaut und 
dem Inhalt kein Grund gefunden, an das Vorhandensein einer statt¬ 
gehabten Vergiftung zu denken. 

Eher noch könnte man an eine Vergiftung durch Azetylentetra¬ 
chlorid denken (Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Med., 3. Folge, Bd. 48, 
H. Suppl., S. 161), eine gewerbliche Vergiftung in Flugzeugfabriken f 


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Tod naoh Misshandlung. 


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bei der die Erkrankten Brechneigung, Schmerzen im Leibe, allgemeine 
Gelbsucht, Gallenfarbstoff im Urin, in der Leiche punktförmige 
Blutungen am üerzbeutel, an dem Bauchfellüberzug des Zwölffinger¬ 
darms zeigten, aber das Bild ist doch ein ganz anderes. Es handelt 
sich hierbei um ein Blutgift, das die roten Blutkörperchen zerstört 
und wie bei Phosphorvergiftung eine starke Fettinfiltration der Leber, 
Eiweiss im Urin, Blutungen in der Schleimhaut des Magens, Darms, 
der Blase (braunbierfarbener Urin) hervorruft, an der die Kranken, 
ohne dass das Bewusstsein benommen war, zugrunde gingen. Auch 
schliesst die Beschäftigung der Verstorbenen in der Gewehrfabrik zu 
Erfurt eine derartige Schädlichkeit aus. 

Durch die chemische Untersuchung der Leichenteile, die nach¬ 
träglich angeordnet wurde, ist das Vorhandensein von Giften nicht 
nachgewiesen. 

Nachdem man eine Vergiftung ausschliessen kann, ist es das 
Natürlichste, den Tod in Zusammenhang mit den vorhergegangenen 
Misshandlungen zu bringen und die Blutaustritte in den zarten Häuten 
auf diese Einwirkungen zurückzuführen. 

Ekchymosen oder Blutaustritte in den zarten (serösen) Häuten 
kommen, wenn auch in viel kleinerer Form vor bei dem Erstickungs¬ 
tode, sie sind das Ergebnis einer infolge des erhöhten Blutdruckes 
entstandenen Gefässzerreissung. Der erhöhte Blutdruck ist aber in 
erster Linie die Folge einer Reizung des vasomotorischen, d. h. ge- 
fässverengernden Zentrums im Gehirn, durch die Anhäufung der 
Kohlensäure im Blut. Häufig fehlen die Blutaustritte beim Erstickungs¬ 
tode, und zwar dann, wenn die Erstickung sehr schnell eintritt. Sie 
sind aber fast mit positiver Sicherheit zu erwarten, wenn die Reizung 
des vasomotorischen Zentrums eine genügend lange Zeit andauert, ehe 
sie in Lähmung übergeht, also bei langsamer allmählicher Unter¬ 
brechung der Atmung (Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Med., Bd. 32, S. 236). 
Es ist im vorliegenden Falle sehr wohl möglich, dass bei der Ver¬ 
storbenen eine gewisse längere Zeit andauernde Behinderung der 
Atmung stattgefunden hat, dadurch, dass der Ehemann auf ihr gekniet 
und ihren Brustkorb sowie ihren Leib zugedrückt hat. Dadurch würde 
das vasomotorische Zentrum erregt und die Bedingung für erhöhten 
Blutdruck und Gefässzerreissung gegeben sein. Findet man doch Blut¬ 
austritte in den serösen Häuten gerade nach Verschüttung, Erschütte¬ 
rung und Zusammenpressen des Brustkorbes und dass im vorliegenden 
Falle Erschütterungen des Körpers durch Hinwerfen, Schläge und 


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76 


Räuber, 

Fusstritte, besonders bei dem Widerstand, der der Ueberwältigung und 
dem gewaltsamen Beischlafsversuch entgegengesetzt wurde, stattge¬ 
funden haben, ist nach der Geschichtserzählung anzunehraen. Diese 
Annahme wird durch den Befund an der Leiche erheblich gestützt. 
Die Blutunterlaufung in der rechten Rückenseite stimmt mit den von 
den Zeugen erwähnten Tritten in die Seite und den Rücken überein, 
desgleichen die Blutunterlaufungen an den Oberschenkeln; das Beknien 
des Brustkorbes und Unterleibes braucht, wie erwähnt, keine Spuren 
auf der äusseren Haut zu hinterlassen, zumal wenn der Misshandelte 
bekleidet ist. Aber auch die mechanische Gewalt durch Beknien, 
Stösse in die Magengegend und Brustgegend bringt nicht allein durch 
eine gewisse Verlagerung der Organe abnorme Spannungszustände; 
sondern direkt Quetschungen in tiefer gelegenen Teilen hervor, die 
zarten Häute werden für eine solche Gewalt besonders empfänglich sein. 

Dazu kommt folgendes: Schläge und Gewalteinwirkungen auf die 
Magengrube oder die Bauchgegend haben nicht selten plötzlichen Tod 
durch Lähmung der Zentralorgane der Atmung und des Bluturalaufs 
(Shock) bewirkt, indem durch Erregung und Reizung der in dieser Gegend 
befindlichen wichtigen Nervengeflechte auf reflektorischem Wege ein 
Stillstand des Herzens und der Atmung herbeigeführt wird. Der Be¬ 
fund an der Leiche hierbei ist meist ein negativer, aber in der Literatur 
findet sich doch ein Fall (Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Med., 30. Bd., 
S. 233), in welchem nach einem Schlage gegen die Magengegend mit 
einer Schaufel nach einigen Sekunden der Tod eintrat und in welchem 
bei der Leichenöffnung im grossen Netze ein rundlicher talergrosser 
Blutaustritt gefunden wurde. Künstlich hat man ähnliche Blutaus¬ 
tritte an frischen Leichen durch starke Gewalt hervorrufen können 
(Lesser, Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Med., 3. Folge, Bd. 44, S. 203). 

Solche Einwirkungen sind demnach imstande im Netze, wie im 
vorliegenden Fall, Blutaustritte zu erzeugen und man wird nicht fehl 
gehen, wenn man die Vorgefundenen Blutextravasate auf eine mecha¬ 
nische Einwirkung zurückführt. 

Dass aber im vorliegenden Falle die Blutaustritte im Leben ent¬ 
standen waren, bewies ihre Beschaffenheit mit teilweise geronnenem 
Blute. 

Von Shocktod spricht man, wenn der Tod sehr bald nach der 
Einwirkung stattfand, spätestens nach 2—3 Stunden. Aber es kommen 
auch Fälle vor nach Gewalteinwirkungen auf den Unterleib,’ in denen 
noch nach mehreren (2—3) Tagen der Tod eintrat (Vierteljahrsschr. 


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Tod nach Misshandlung. 


77 


f. gerichtl. Med., 3. Folge, Bd. 28, S. 78, Georgie und Bd. 41, S. 243, 
Nolte). Für solche Fälle hat man bei dem Fehlen makroskopisch 
sichtbarer Veränderungen angenommen, dass es sich um eine Diffusion 
von Darmgasen und Darmbakterien durch die misshandelte Darm wand 
nach dem Bauchfell handle, eine akute peritoneale septische Intoxi¬ 
kation des Bauchfells. Eine solche Bauchfellentzündung möchte ich 
im vorliegenden Falle ebenfalls ausschliessen, da die Kollapserschei- 
nungen erst verhältnismässig spät einsetzten und nach der Miss¬ 
handlung doch so viel Tage vergangen waren, dass dann die Bauch¬ 
fellentzündung sichtbare Spuren hinterlassen haben würde. 

Im vorliegenden Falle kam es nicht zu einem Shocktod, auch 
nicht zu einer Bauchfellentzündung, aber zu einem sehr schmerzhaften 
Unterleibsleiden, das sich durch heftige Schmerzen in der Leber- und 
Magengegend seit den Misshandlungen kennzeichnete, trotz ärztlicher 
Behandlung mehr und mehr zunahm und sich fortlaufend derart 
steigerte, dass die Kranke laut schrie, stark erregt wurde, schliesslich 
das Bewusstsein verlor und zusammenbrach. Es ist also seit der 
Misshandlung eine allmähliche Entwicklung der zum Tode führenden 
Krankheit festzustellen. 

Die Blutaustritte in die zarten Häute fasse ich aüf als hervor¬ 
gerufen teils durch die bei der Misshandlung bedingte Reizung der 
gefässverengernden Nerven, Erhöhung des Blutdrucks in den Unter¬ 
leibsorganen und damit Berstung der kleinen Gefässe, teils durch die 
mechanische Läsion der zarten Teile des Brust- und Bauchfellüber- 
zuges der Eingeweide. Sie sind ferner der Ausdruck, dass hier auf 
die Unterleibsnerven ein starker Reiz ausgeübt sein muss. 

Die breite Ausdehnung der Erschütterungen auf die grosse Zahl 
der in den Unterleibsorganen befindlichen Nerven und Nervengeflechte 
hat nicht nur vorübergehend, sondern nachhaltig fortgewirkt, so dass 
starke, sich steigernde Schmerzen und schliesslich der Tod eintraten. 

Für eine derartige Reizung spricht der verlangsamte volle Puls 
im Krankenhause (Reizung des Nervus vagus und splanchnicus), der 
erst zuletzt einem fadenförmigen Puls wich. 

Sind nun schon Blutunterlaufungen der äusseren Haut, die durch 
Misshandlungen entstanden sind, sehr schmerzhaft durch Reizung der 
peripheren Nerven, so dass bei grosser Ausdehnung und sehr grosser 
Zahl schon dadurch allein der Tod durch Ueberreizung des Nerven¬ 
systems eintreten kann (Lynchen), so müssen durch Quetschung ent¬ 
standene zahlreiche Blutunterlaufungen in den Unterleibseingeweiden 


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78 Räuber, Tod nach Uissbandlung. 

in ihrem Bauchfellüberzug Schmerzen hervorrufen, die schliesslich un¬ 
erträglich werden müssen und ebenfalls eine Lähmung des Nerven¬ 
systems und damit einen reflektorischen Herztod hervorrufen. 

Im vorliegenden Fall lagen sowohl durch Misshandlungen ent¬ 
standene Blutunterlaufungen der äusseren Haut in nicht geringer Zahl 
vor, wie auch solche an den inneren Organen. 

Ich gebe daher mein Gutachten dahin ab, dass der Tod der 
Frau R. mit grosser Wahrscheinlichkeit auf die Misshandlungen durch 
ihren Ehemann zurückzuführen ist. 

Die Geschworenen erkannten in der Schwurgerichtssitzung vom 
9. April 1919 den Angeklagten wegen der Misshandlungen seiner 
Ehefrau für schuldig und billigten dem Angeklagten mildernde Um¬ 
stände zu. Ef wurde zu 9 Monaten Gefängnis verurteilt, doch musste 
auf Veranlassung des Verteidigers die Niederschlagung der Strafe mit 
bezug auf den Amnestieerlass vom 7. Dezember 1918 erfolgen, nach¬ 
dem festgestellt war, dass der Angeklagte im Militärverhältnis ge¬ 
standen hatte' 


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VI. 

Aus dem gerichtL-med. Institut Basel (Vorsteher: Prof. S. Schönberg). 

Beitrag zur Kenntnis plötzlicher Todesfälle 
durch Erstickung. 

Von 

Dr. med. Berthold Meyer. 

(Mit 1 Abbildung im Text.) 


Stirbt jemand plötzlich, d. h. aus scheinbar voller Gesundheit 
heraus oder nach so leichten Krankheitserscheinungen, dass niemand 
ein so rasches Ende vermutet hätte, so genügt die Tatsache des 
plötzlichen Todeseintrittes sehr oft, dass ein solcher Fall für den 
'Gerichtsarzt Bedeutung bekommt. Das leuchtet ohne weiteres ein, 
wenn man in Betracht zieht, dass der Tod unter den verschiedensten 
äusseren Umständen, in allen nur denkbaren, oft vielleicht verdächtig 
erscheinenden Situationen plötzlich einen Menschen überfallen kann. 
So kommt es,' dass sich in vielen Fällen rechtliche Fragen erheben: 
Liegt ein Verbrechen vor? Trat der Tod aus inneren Ursachen ein? 
Ist Selbstmord oder Unfall oder Zufall anzunehmen? usw., also 
Fragen zivil- und strafrechtlicher Natur. Diese Fragen werden dem 
Gerichtsarzt zur Entscheidung vorgelegt, und zu ihrer Beantwortung 
bedarf er einer Anzahl Hilfsmittel. Vor allem einer möglichst zu¬ 
verlässigen Anamnese, ferner einer sachverständig ausgeführten Toten¬ 
schau an Ort und Stelle 1 ). Damit kann ein Teil der Fragen in 
manchen Fällen zweifellos gelöst werden. In der überwiegenden 
Mehrheit jedoch genügen diese Hilfsmittel nicht, um die Todesursache 
festzustellen und so den Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung 
aufzudecken, ja, vielfach leiten sie uns auf falsche Fährte und geben 
zu Irrtümern Anlass; auch können bewusste Fälschungen der Situation 

1) lm Kt. Basel-Stadt besteht eine Verordnung (Leichenwesen), wonach bei 
allen Fällen von plötzlichem Tod, in denen von der Zeit vor dem Tod keine ärzt¬ 
liche Beobachtung vorliegt, eine amtliche Leichenschau vorgenommen werden muss. 
Es steht dabei dem Gerichtsarzt frei, eine gerichtliche Sektion zu verlangen. 


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80 


Berthold Meyer, 


r 


vorliegen. Es kann nicht genug betont werden, wie nützlich und 
nötig die Sektion in solchen Fällen dem Begutachter ist. In vielen 
Arbeiten und Büchern wird das Für und Wider der Leistungsfähigkeit 
der Obduktion erwogen [Brouardel (1), Lochte (2), Hanhart (3)]. 
Die vorliegende Arbeit macht es sich u. a. zur Aufgabe, an Hand 
von plötzlichen Todesfällen durch Erstickung, welche wegen ihrer be¬ 
sonderen Stellung in rechtlicher Beziehung sich sehr gut dafür eignen, 
zu zeigen, dass die Sektion plötzlicher Todesfälle wertvolle Resultate 
ergibt und deshalb empfohlen zu werden verdient; natürlich die lege 
artis und von kundiger'Hand ausgeführte Sektion. Der praktische 
Arzt sollte sie deshalb, sowie die pathologische Anatomie, mit Sicher¬ 
heit beherrschen, besonders der Landarzt. Der ärztlichen und klini¬ 
schen Diagnose ist bei plötzlichen Todesfällen wenig Sicherheit bei¬ 
zumessen; jedermann ist die oft grosse Differenz zwischen Sektions¬ 
ergebnis und klinischer Diagnose auch berufener Aerzte wohl bekannt 
und leicht begreiflich. Dass es Fälle gibt, denen auch mit der best- 
ausgeführten Sektion nicht beizukommen ist, soll uns nicht zur Re¬ 
signation bringen. Im Gegenteil; denn erstens: auch ein negatives 
Sektionsergebnis ist für den Gerichtsarzt ein brauchbares Resultat. 
Da die Gerichtsbehörden mei&t nicht nach der Todesursache fragen, 
sondern danach, ob im vorliegenden Fall ein Verbrechen, ein Unfall, 
ein Selbstmord für den Tod verantwortlich gemacht werden muss 
oder nicht, so gibt uns auch eine pathologisch-anatomisch resuttatlos 
verlaufene Autopsie genügend Anhaltspunkte für die Beantwortung 
dieser Fragen. Zweitens aber müssen wir bestrebt sein, für die 
durch die Sektion allein ungeklärt gebliebenen Fälle alle uns zu Ge¬ 
bote stehenden Hilfsmittel — die bakteriologische, mikroskopische, 
chemische Untersuchung usw. — heranzuziehen. Diese Methoden 
sollten eigentlich in jedem Fall vom plötzlichen Tod neben der 
Sektion angewandt werden. Das mag heute noch vielfach unaus¬ 
führbar und zu kostspielig sein; aber deswegen darf die Forderung, 
diese wichtigen Methoden sich zunutze zu machen, nicht fallen ge¬ 
lassen werden, sondern wir müssen suchen, sie durch Ausbau, Ver¬ 
einfachung und Verbilligung jedem praktischen Arzt zugänglich zu 
machen. , 

Besonders eindringlich hat das Inkrafttreten des schweizerischen 
Unfallversicherungsgesetzes gelehrt, dass den vielen neuen und eigen¬ 
artigen praktischen Fragen, welche darin aufgeworfen werden, mit 
den bisher vielerorts üblichen Methoden nicht mehr immer genügt 


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vi 


r.^'- 

Beitrag zur Kenntnis plötzlicher Todesfälle durch Erstickung. 


81 


werden konnte. Es wird unter allen Umständen der Nachweis ver¬ 
langt, ob ein plötzlicher Todesfall ursächlich mit einem Unfall Zu¬ 
sammenhänge, da sonst natürlich die Ansprüche der Hinterbliebenen 
als ungerechtfertigt dahinfallen. Man hat sich hier eventuell vor [den 
Angaben der Angehörigen zu hüten, wie das Richter (4) in einem 
Fall berichtet, wo bewusst der Todesfall als Unfallfolge bezeichnet 
wurde, während ihm in Wirklichkeit innere Ursachen zugrunde lagen. 
Ueberhaupt muss stets klar vor Augen gehalten werden, dass unsere 
Untersuchung wohl eine Angelegenheit der medizinischen Wissenschaft 
ist, dass aber unser Urteil stets rechtliche Konsequenzen nach sich 
zieht. Je nachdem unsere Diagnose ausfällt, müssen daraus für das 
Gutachten Folgerungen gezogen werden, welche dazu berufen sind, 
zivilrechtliche oder strafrechtliche Wirkungen auszuüben. Wollen wir 
also den Gesetzen nach bestem Wissen und Gewissen Genüge tun, 
so dürfen wir kein Mittel unangewandt lassen, das uns die Fälle auf¬ 
klären kann. 

Ueberblicken wir die Gesamtheit der plötzlichen Todesfälle, so 
sehen wir aus zahlreichen Zusammenstellungen und Darstellungen in 
der Literatur [Brouardel, Kolisko (5), Lochte, Richter, Hof¬ 
mann-Haberda (6), Schmidtraann (7)], dass in der überwiegenden 
Zahl Herz- und Gefässaffektionen, besonders Atherosklerose und ihre 
Folgezustände, dann Hirnerkrankungen, Bronchitiden und Pneu¬ 
monien usw. als Ursachen zugrunde liegen, während plötzlicher Tod 
durch Erstickung relativ selten beobachtet und beschrieben wurde. 
Aus diesem Grunde und auch besonders deshalb, weil der Erstickungs¬ 
befund bei einem plötzlich Verstorbenen stets den Verdacht auf kri¬ 
minelle gewaltsame Tötung erweckt und ohne Sektion zu sehr häufigen 
Irrtümern und Fehldiagnosen Anlass gibt [Hanhart, Strassmann (9), 
Richter], wurden 6 während der letzten 2 Jahre beobachtete plötz¬ 
liche Todesfälle durch Erstickung aus dem Material des hiesigen ge¬ 
richtlich-medizinischen Instituts an plötzlichen Todesfällen (jährlich 
etwa 60) ausgewählt zu der hier folgenden Zusammenstellung. In¬ 
folge ihrer besonderen Stellung auf der Grenze zwischen Strafrecht 
und Zivilrecht halben sie an sich für den Gerichtsarzt Interesse, sind 
aber ausserdem besonders geeignet, den Wert und die Notwendigkeit 
der Sektion und der übrigen Untersuchungsmethoden für die Entschei¬ 
dung der bei solchen Fällen auftauchenden Rechtsfragen vor Augen 
zu führen. 

Ich lasse die Fälle hier folgen. 

Vierteti&hmehrift f. ff er. Med. e. Off. San. -Wesen. 3. Folge. Bd. 60. H. 1. g 


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Berthold Meyer, 


1. H. E., 18 jährig, gestorben in der Nacht vom 31. Oktober auf den 1. No¬ 
vember 1918. 

Anamnese: Seit etwa 2 Jahren traten bei dem Jungen an Gesicht, Händen 
und am übrigen Körper spontane Schwellangen auf, die bald wieder ebenso 
spontan verschwanden. Der Arzt soll - diese Schwellungen als Nesselfieber be¬ 
zeichnet und dementsprechend behandelt haben. Vor 3 Monaten bekam H. plötzlich 
' einen Anfall von Engigkeit and Atemnot. Auf kalte Umschläge vergingen jedoch 
in kurzer Zeit die Beschwerden, ln der Nacht vom 31. Oktober auf den 1. No¬ 
vember 1918 fühlte sich H. etwas unwohl, klagte über Kopfweh und Hals¬ 
schmerzen. Die Mutter glaubte an Grippe, gab Aspirin und liess gurgeln. Um 
lO 1 ^ Uhr trat plötzlioh Heiserkeit auf, begleitet von einem vorübergehenden Ge¬ 
fühl von Enge im Hals. Beide Erscheinungen besserten sich schnell wieder ohne 
völlig zu verschwinden. Um Mitternacht trat während des Schlafes plötzlich ein 
heftiger Erstiokungsanfall ein, der in kürzester Zeit den Exitus letalis herbeiführte. 

Sektionsprotokoll: 166 cm messender grosser kräftiger, männlicher 
Körper. Totenstarre am Nacken gelöst, sonst ausgebildet. Leiohenflecken in den 
abhängigen Teilen reichlich, hellrot. Pupillen mittelweit, beiderseits gleich. Nir¬ 
gends Verletzungen. Brustmuskel hellrot, kräftig. Subkutanes Fett spärlich, hell¬ 
gelb. Zwerchfell beiderseits in der Höhe der 4. Rippe. Bauchsitus o.B. Appendix 
frei. In der Bauchhöhle keine freie Flüssigkeit. Rippenknorpel weiss. Langen 
wenig retrahiert, liioht kollabiert, frei. Pleurahöhle leer. Ductus thoraoicus zart. 
Herzbeutel handbreit vorliegend mit wenig Fettgewebe. Thymus 5:3:1 cm gross, 
Gewebe blutreich. Im Herzbeutel 10 ccm klare seröse Flüssigkeit. 

Herz: von entsprechender Grösse, links konsistent, rechts schlaff. Subepi¬ 
kardiales Fettgewebe spärlich. Venöse Ostien für 2 Finger durchgängig. In den 
Herzhöhlen reichlich dunkelflüssiges Blut. Klappen zart. Aorta ascendens 5 cm 
Umfang. Intima zart. Wanddicke links 12 mm, rechts 3—4 mm. Herzmuskel auf¬ 
fallend hellrot. Arteria pulmonaris 4,5 cm Umfang. Papillarmuskeln und Tra¬ 
bekeln kräftig, Sehnenfäden zart. Foramen, ovale zu. Koronararterien zart. 

Halsorgane: Zunge ohne Belag, feucht, blutreich. Tonsilla palatina 3:2:1 cm 
gross. Balgdrüsen der Zungenbasis kräftig. Der ganze Larynxeingang, die 
Hinterfläohe der Epiglottis, die aryepiglottischen Falten sowie die 
Innenfläche des oberen Abschnittes des Larynx sehr stark ödematös 
geschwollen, sulzig. Der Kehlkopfeingang stark eingeengt. Aus der 
Luftröhre entleert'sich reichlich schaumige Flüssigkeit. Die hintere j 
Raohenwand und das Bindegewebe hinter dem Rachen ödematös 
sulzig. Oesophagus sonst o.B. Thyreoidea leicht vergrössert, blutreich, reohts ein 
7 mm messender grauweisser Knoten. Aorta thoracica zart, Umfang 4 cm. 

Lungen: gross, flaumig. Pleura glatt, dunkelgraurot, mit reichlich 1—5 mm 
messenden frisohen Blutungen. AufSchnitt Gewebe sehr blutrejph, etwas ödematös. 
Bronchien sehr blutreich, in ihrem Lumen reichlich schaumiger Saft. Lungen¬ 
arterien zart. Bronchial- und untere Zervikaldrüsen rechts je ein 3 bzw. 5 mm 
messender Käseherd. 

Milz: 14:10:4 cm messend. Kapsel, zart gespannt. Pulpa blutreich, von 
normaler Konsistenz. Follikel sehr reichlich und gross. Trabekel wenig deutliob. 

Nebennieren: eher klein, blutreich. Rinde fettarm. Mark schmal, blutreich. 


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• S8 


Beitrag zur Kenntnis plötzlicher Todesfälle durch Erstickung 


Nieren: mit mittlerer FfcUkapsel. fibröse Kapsel zatt. Oberfläche glatt^fclat- 
reich; A/S. Gewebe blutreich, transparent. Mittlere Rindcnbreite 7 mm. .Nieren« 
becksr. blutreich, 

tm Magen: raioblich dickbreiiger Spcisebtei. Schleimlmot blutreich, Follikel 
klein, Papille, durchgängig. 


Essentielles Larrmödem (Fall 1). 


lebor; ziemlich gross. Serosa zart, glatt. Sctmitülacho blutreich, Zeichnung 
«öttentiich. Peripher bfor and da leichte Trübung. GHssnfischa ^phelÜeö nicht 
♦«brntort. Konsistenz normal, ln der Gallenblase wenig belle .Galje, Wend 0. B. 
P&nkre&s kräftig blutreich. Aorta abdominalis 3 cm Umfang, Ititttiia ztrt't, ebenso 
öckröse üöd Beinartcrieu. In den Beiuve&en «ad m der V. eava inf. reichlich 



•jri^uvil frsh . . 

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84 Berthold Meyer, 

flüssiges Blut. Mesenterial- und retroperitoneale Drüsen nicht vergrössert. In¬ 
guinaldrüsen gross, blutreich. 

Im Darm: etwas dünn- und diolcbreiiger Inhalt. Schleimhaut blutreich, 
Follikel klein. 

In der Harnblase: wenig klarer Urin. Schleimhaut o. V. Prostata, Samen¬ 
blasen, Hoden und Nebenhoden o. V. 

Sohädel: symmetrisch, etwas klein. Nahtsubstanz vorhanden. Diploe reich¬ 
lich blutreich. Dura mater nicht gespannt, Innenfläche glatt, ln den Sinus 
reichlich flüssiges Blut. Weiobe Hirnhäute blutreich, zart. Subarachnoideale 
Flüssigkeit in mittlerer Menge, klar. Basale Hirnarterien zart. Ventrikel von nor¬ 
maler Weite. Plexus chorioideus blutreich. Hirnsubstanz stark durchfeuchtet, 
blutreich. 

Zusammenfassend können wir also sagen, dass es sich um 
einen plötzlichen Tod durch Erstickung handelt, indem das am Aditus 
laryngis sitzende Oedem den Luftzutritt zu den Lungen verhindert hat. 
Zur Unterstützung der Diagnose eines Erstickungstodes sind die Daten 
der Anamnese sowie die übrigen allgemeinen Erstickungszeichen: Hy¬ 
perämie der Organe, dunkles flüssiges Blut, akutes Lungenemphysem, 
subpleurale Blutungen heranzuziehen. 

Dass es sich um ein Quinckesches Oedem und nicht ein Oedem 
anderer Aetiologie handelt, dafür spricht vor allem die Anamnese, 
dann aber auch der Sektionsbefund, welcher ein anatomisches Substrat 
für renale oder kardiale Funktionsstörungen vermissen lässt. Auch An¬ 
haltspunkte für lokale Läsionen und entzündliche Veränderungen fehlten. 

Der .Lokalbefund am Larynx und dessen Umgebung, entspricht 
wie umstehende Abbildung zeigt, den in ähnlichen Fällen beobachteten 
Veränderungen ziemlich genau. 

Tödliche Erstickungsfälle infolge essentiellem Larynxödem sind 
nach Angaben in der Literatur nicht allzu selten. Wir Anden in der 
Zusammenstellung von Cassirer (9) allein über 60 Fälle aufgezählt 
Den letzten einschlägigen Fall teilt Port (10) 1917 mit, auch Ten- 
deloo (11) berichtet in seinem neuen Lehrbuch der Allgemeinen Pa¬ 
thologie über einen solchen. 

Auf die Aetiologie und Pathogenese dieser Affektion kann ich 
hier nicht näher eingehen. Sie wird im allgemeinen als angioneuro- 
tisches Oedem bezeichnet, für das bisher ein anatomischer Befund 
nicht erhoben werden konnte. 

2. F. M., 15jährige Schülerin, gestorben am 2. Januar 1919. 

Anamnese: Nach Genuss von Linzertorte Auftreten von Uebelkeit, Er¬ 
brechen und Durchfall. Das Mädohen legte sich morgens gegen 10 Uhr zu Bett, 


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Beitrag zur Kenntnis plötzlicher Todesfälle durch Erstickung. 


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um auszuruhen. Eine halbe Stunde später fand sie der Bruder tot im Bett, das 
Gesicht gegen die Kissen gewendet. 

Naoh einer solchen Anamnese lag es auf der Hand, dass der Verdacht auf 
Vergiftung geäussert wurde und der Fall zur Anzeige kam. Aus diesem Grunde 
wurde auch die gerichtliche Sektion des Falles vorgenommen, weil sie die Frage 
lösen sollte, ob der Tod zurückzuführen sei auf Genuss gesundheitsschädigender 
Nahrungsmittel. 

Sektionsprotokoll: Für sein Alter ziemlich grosses Mädohtfb von gra¬ 
zilem Körperbau und geringem Ernährungszustand. Totenstarre äm Nacken und 
an den oberen Extremitäten gelöst, an den unteren Extremitäten vorhanden. 
Totenflecken in den abhängigen Partien reichlich. Zähne gut ausgebildet. In der 
seitlichen Bauchgegend und am Nabel Haut grünlich verfärbt. Fettpolster am 
Abdomen massig ausgesprochen, hellgelb. Muskulatur ziemlich kräftig, von guter 
Farbe und Transparenz. Mammae ziemlich kräftig, Drüsenkörper reichlich, grau- 
weisslich. Netz kurz, fettarm. Magen bis in die Nabelböhle vorliegend. Leber 
handbreit vorliegend. Darmschlingen etwas gebläht. Serosa glatt und spiegelnd. 
Appendix lang, naoh oben geschlagen, an der Vorderfläche des Zökum fixiert. 
Blase in der Höhe der Symphyse. Uterus und Adnexe frei, das linke Ovarium 
vergrössert. Im kleinen Becken etwa 30 ccm einer klaren leioht blutig verfärbten 
Flüssigkeit. Zwerchfellstand rechts und links 4. Rippe. Rippenknorpel gut 
schneidbar, weich. Sternum-Innenfläche o. B., Lungen wenig retrahiert, nicht 
kollabiert, berühren sioh fast in der Mittellinie, ohne Verwachsungen. Pleura¬ 
höhle leer. Ductus thoracicus zart. Im Mediastinum ant. wenig Fettgewebe und 
eine 2lappige 6:3:2 1 / 2 'cm messende grosse Thymus, graurot von lappigem 
Bau, feucht, Herzbeutel dreifingerbreit vorliegend, enthält etwas klare seröse 
Flüssigkeit. 

Herz: von entsprechender Grösse, rechts schlaff, links kontrahiert. Subepi¬ 
kardiales Fett mässig ausgesprochen. Venöse Ostien für 2 Finger durchgängig, 
ln den Höhlen wenig dunkles, flüssiges,’nicht geronnenes Blut. Im rechten Vorhof 
vereinzelte Speckgerinnsel. Mitralklappen am freien Rand und am Schliessungs¬ 
rand leicht verdickt, ebenso an der Basis. Sehnenfäden zart. Papillarmuskeln 
entsprechend kräftig. Aortenklappen zart, ebenso auch Aorta ascendens mit Aus¬ 
nahme vereinzelter kleiner gelblicher Trübungen. Umfang 4,5 cm. Kranzarterien 
zart. Trikuspidalis spurweise verdickt. Pulmonalklappen und Pulmonalis zart. 
Umfang 5,8 om. Ventrikel nicht erweitert, Endokard zart, Wanddicke links 9 bis 
11 mm, rechts 3—4 mm. Muskel auf Schnitt braunrot, von guter Transparenz. Vor¬ 
höfe o. B. Foramen ovale zu. 

Halsorgane: Zunge ohne Belag. Tonsillen und Balgdrüsen kräftig. Tonsillen 
o. B., graurötlich, feucht, mit tiefen Krypten, 2:1:1^2 cm gross. Pharynx ent¬ 
hält etwas gelblichen- Schleim, Schleimhaut hyperämisch. Oesophagus im ganzen 
graurot, glatt, blass, stellenweise leioht injiziert. Kehlkopfeingang nicht ödematös. 
In der Trachea gelbliche und im Larynx gelblich weissliche weiche Massen. 
Schleimhaut im Kehlkopf etwas injiziert. In der unteren Trachea Schleimhaut 
ebenso von etwas erhöhtem Blutgehalt. An der Innenfläche der Epiglottis mehrere 
1—2 mm messende grosse hell- bis dunkelrote Blutungen, die oben erwähnten 
weisslichen Massen sitzen zum Teil im Bereich der Stimmbänder. Schilddrüse 


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Berthold Meyer, 


kaum vergrössert, von lappigem Bau, blutreiob, ohne Knoten. Aorta thoracica 
glatt. Umfang 3,5 cm. 

Rechte Lunge: gross. Pleura überall glatt und spiegelnd. Im Oberlappen 
hellrot, im Unterlappen blaurot. Die seitlichen Partien etwas emphysematos. Auf 
SohnRt Oberlappen sehr gut lufthaltig, flaumig, blassrot, mit wenig blutigsohaumiger 
klarer Flüssigkeit. Gewebe ziemlich gut kompressibel. Unterlappen im ganzen 
wie der Oberlappen, ebenfalls gut lufthaltig, sehr blutreich, glatt, mit einer ge¬ 
ringen Menge blutigschanmiger, klarer Flüssigkeit. Die Hauptbroncbien, sowiÄ 
fast sämtliche Aeste, namentlich im Unterlappen mit ziemlich reichlioh ähnlich«! 
breiigen gelblichen Massen, wie oben erwähnt, in der Trachea. Diese Massen 
beim Aufschneiden der Bronchien bis in die kleinsten Aeste hinein verfolgbar. 

Linke Lunge: von aussen wie die rechte. Auf Schnitt Oberlappen eben¬ 
falls stark lufthaltig, hellrot, namentlich in den seitlichen Partien. Ränder 
stark flaumig. Unterlappen ebenfalls stark lufthaltig, sehr blutreich. Gewebe 
im ganzen weich. Auch auf dieser Seite in den kleinen Bronchien überall reich¬ 
lich gelbliche schleimige Massen, sowohl im. Ober- als im Unterlappen. Langen* 
arterien zart. 

Milz: von entsprechender Grösse. Kapsel zart, blutreich. A/S. Pulpa blut¬ 
reich, von mittlerer Konsistenz. Follikel klein. Trabekel massig deutlich. 

Linke Nebenniere klein, Rinde sohmal, fettreich. Mark schmal. 

Linke Niere: von entsprechender Grösse, mit geringer Fettkapsel, fibröse 
Kapsel gut abziehbar. Oberfläche glatt, blutreich. Auf Schnitt Rinde 6 mm breit, 
Zeichnung deutlich. Gewebe blutreich, in den Pyramiden am stärksten ausge¬ 
sprochen. Transparenz gut. Brüchigkeit normal. Nierenbecken blass. In der 
V. oava inf. flüssiges und wenig geronnenes Blut. 

Reohto Nebenniere: wie links. 

Rechte Niere: im ganzen wie links. Nierenbecken etwas blutreicher. 

Im Magen: Reichlich gelblich-bräunliche Flüssigkeit, sonst kein Inhalt. 
Schleimhaut im ganzen blass, nicht in Falten gelegt. Im Fundus leicht injiziert. 
Im Duodenum bräunlicher flüssiger Inhalt. Schleimhaut in der Gegend der Papille 
etwas stärker blutreich, sonst ebenso blass und glatt. Papille gut durchgängig. 
Aorta abdominalis und abgehende Gefässe zart. 

Pankreas von entsprechender Gjösse, blutreioh, von groblappigem Bau. 
Mesenterialdrüsen leicht vergrössert, graugelblich feucht. , . 

Leber von entsprechender Grösse, Oberfläche blutreich, glatt. Aufschnitt 
Zeichnung undeutlich. Im ganzen Blutgehalt gut, ebenso Transparenz. Konsistenz 
nioht erhöht, ln der Gallenblase dünnflüssige helle Galle, Schleimhaut o. B. 

Im Dünndarm ziemlich reichlich dünnflüssiger bräunlicher Inhalt. Schleim¬ 
haut im obersten Dünndarm blass und glatt, spurenweise etwas injiziert. Der 
untere Teil des Dünndarms ebenfalls im ganzen glatt, stellenweise leicht injiziert. 
Im untersten Ileum .die Follikel etwas vergrössert und zahlreich, besonders ober¬ 
halb der Klappe, Follikel und Peyer’sche Plaques sehr stark ausgesprochen. 

Im Dickdarm dünnbreiiger und flüssiger Inhalt. Schleimhaut im ganzen 
blass, glatt. Nirgends dickbreiiger oder geballter Kot. Schleimhaut stellenweise 
mit etwas stärkerer Injektion, Follikel klein. Im Rektum ebenfalls flüssige Massen. 
Schleimhaut wie im übrigen Dickdarm. 


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Beitrag zur Kenntnis plötzlioher Todesfälle durch Erstickung. 87 

In der Harnblase wenig klarer Urin. Schleimhaut blass, glatt. Vagina und 
Uterus o. B. Rechtes Ovar von entsprechender Grösse, Tuben o. B., Linkes Ovar 
in eine 3—4 cm messende Zyste mit graurötlichem Inhalt umgewandelt, Wand 
etwa 3—4 mm dick, Innenfläche glatt, blutreich, ln den Beinvenen flüssiges Blut. 

Schädeldach: symmetrisch, ziemlich dünn. Diploe reichlich. Nähte und Sub- 
stantia compaota überall gut ausgesprochen, Innenfläche glatt. Durainnenfläcbe 
glatt und spiegelnd. Sinus long. sup. mit etwas flüssigem Blut. Weiche Häute 
des Gehirns blutreich, zart. Windungen gut ausgebildet. Gefässe der Basis 
zart. Ventrikel etwas erweitert. Plexus oborioideus blutreich. Gehirn volu¬ 
minös, feucht, etwas klebrig ödematös. Zentrale Ganglien, Pons, Medulla obl. und 
Kleinhirn o. B. 

Zusammenfassung: Die Sektion ergibt, dass es sich im vor¬ 
liegenden Fall um einen Erstickungstod handelt, zurückzuführen auf 
Aspiration von erbrochenem Mageninhalt in die Luftwege. Die Dia¬ 
gnose Erstickungstod stützt sich auch auf die allgemeinen Zeichen 
von Erstickung. 

Des weiteren ergibt sich aus dem Befund flüssigen Inhaltes im 
Darmkanal bis in den untersten Dickdarm, sowie der teilweisen 
leichten Injektion der Darmschleimhaut eine geringgradige Reizung, 
welche sehr wohl auf den Genuss verdorbener Speisen bezogen werden 
kann. Diese Veränderungen sind aber so geriuggradig, dass durch 
sie allein der Tod nicht erklärt werden kann. 

Die Sektion lehrt uns also vor allen Dingen, dass es sich um 
eine Vergiftung im obengenannten Sinn nicht gehandelt hat, d. h., 
dass die Frage, ob der Tod durch Genuss gesundheitsschädigender 
Nahrungsmittel verursacht sei, zu verneinen ist. Die Todesursache 
ist die Erstickung, flicht die Vergiftung. 

Es erhebt sich daher die Frage nach der Ursache und dem 
Zustandekommen des Erstickungstodes. Es ist bekanntlich etwas Un¬ 
gewöhnliches, dass Erwachsene beim Erbrechen aspirieren, es sei 
denn, dass Trübung des Bewusstseins vorliege (Trunkenheit, Hirn¬ 
affektionen, Sopor, Narkose usw.), während ein solcher Vorgang bei 
Säuglingen und kleinen Kindern häufig beobachtet wird (vgl. Fall 3). 
Aus der Anamnese entnehmen wir, dass das Mädchen infolge des 
Erbrechens und der Diarrhoe ermattet war, und dass der folgende 
Schlaf, weil infolge dieser Umstände besonders tief, einer Trübung 
oder sogar dem Verlust des Bewusstseins gleichzustellen ist. So 
können wir uns erklären, dass trotz Nausea kein Erwachen eintrat, 
und der uns sonst merkwürdig erscheinende Vorgang des Aspirierens 
bei einem Erwachsenen wird verständlich. Auch dürfen wir die un- 


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88 Berthold Meyer, 

günstige Lage, in der die Verstorbene angetroffen wurde, mit in Be¬ 
tracht ziehen. 

Das Erbrechen seinerseits ist als Folge der akuten Gastro¬ 
enteritis anzusehen, und diese der' Anamnese nach als diejenige des 
Genusses des Kuchens, der die reizenden Bestandteile enthielt. So 
weit das Sektionsresultat. — Zur Ermittlung der Schädlichkeiten im 
Kuchen wurde eine chemische Untersuchung durch den Kantonschemiker 
angestellt. Denn da die Vergiftung als Todesursache ausgeschieden 
war, wurde von der Behörde die Frage aufgeworfen, ob im vor¬ 
liegenden Falle das Delikt des in Verkehrsbringens von verdorbenen 
Nahrungsmitteln vorliege, oder ob es sich um Verabreichung von ge¬ 
sundheitsschädigenden Stoffen handle. 

Der Bericht des Kantonschemikers lautete: Von den übrigen Mit¬ 
gliedern der Familie erkrankten noch mehrere mit ähnlichen Sym¬ 
ptomen, wie die Verstorbene, jedoch weniger heftig und ohne üble 
Folgen davon zu tragen; die übrigen blieben gesund. Da sich von 
dem betreffenden Kuchen nichts mehr vorfand, wurde aus den Her- 
stellungsraaterialien ein Kuchen gebacken und verschiedenen Versuchs¬ 
personen zu essen gegeben. Niemand von diesen erkrankte oder 
zeigte Gesundheitsschädigungen. Die chemische Untersuahung ergab, 
dass Kastanienmehl verwendet war, das durch langes Aufbewahren 
ranzig geworden. Die übrigen Materialien gaben keine Anhaltspunkte 
für die Annahme von Verdorbenheit. — Als Urteil fügte der Kantons¬ 
chemiker bei, dass die beim Prozess des Ranzigwerdens freiwerdenden 
Fettsäuren möglicherweise, die toxische Wirkung ausgeübt haben (ana¬ 
log der Rizinolsäure). 

Wir können also, obschon uns die chemische Untersuchung grund¬ 
sätzlich nichts Neues gebracht hat, sondern das durch die Sektion 
gewonnene Urteil nur bestätigt, die Frage, ob es sich um Inverkehr¬ 
bringen verdorbener Nahrungsmittel handle, bejahen. D. h., die ver¬ 
wendeten Materialien waren so beschaffen, dass je nach der indivi¬ 
duellen Resistenz oder Schwäche der Konsumenten die Möglichkeit 
einer vorübergehenden leichtgradigen Beeinträchtigung der Gesundheit 
vorhanden war, während die Möglichkeit, dass schwerere Gesundheits¬ 
schädigungen oder gar der Tod einträten, nicht als gegeben betrachtet 
werden konnte. Das Gericht erkannte demnach auch, dass eine fahr¬ 
lässige Tötung gemäss dem Sektionsbefund des Erstickungstodes nicht 
vorliege, und dass es sich um Inverkehrbringen -von verdorbenen 
Nahrungsmitteln handle. 


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Beitrag zur jKenntnis plötzlicher Todesfälle durch Erstiokung. 

3. U. E., männl. Säugling, gestorben im Alter von 2 Monaten, 12 Tagen. 

Anamnese: Das uneheliche Kind wurde morgens tot im Bett aufgefunden. 
Die Mutter soll tags zuvor den Wunsch geäussert haben: „Wenn nur das Kind 
tot wäre! 4 * 

Dieser Ausspruch der Mutter und die Tatsaohe, dass das Kind unehelich 
war, rechtfertigten zur Genüge die Anzeige des Falles. Auch aus dem Fehlen jeg- 
Jicher Anhaltspunkte für den Tod des Kindes ging die Notwendigkeit einer gericht¬ 
lichen Sektion hervor. 

Sektionsprotokoll: 55 cm langes, 3520 g schweres Kind, männlichen Ge¬ 
schlechts, von mässigem Ernährungszustand. Totenstarre am Kinn gelöst, an den 
Extremitäten wenig vorhanden. Haut überall blass, in den abhängigen Partien 
dunkle Totenflecke in reichlicher Ausbildung. Gesicht im ganzen blass. Nirgends 
Verletzungsspuren. Mund- und Nasenhöhle frei, ohne Inhaljt. Auch am Hals die 
Haut überall blass und glatt. Kopfhaut wenig behaart, Haarfe etwa \ 1 / 2 cm lang. 
Nabelstumpf geheilt, trocken, blass. Schädelumfang 36,3 cm. Längsdurchmesser 
12 3 / 4 , oberer querer 8, hinterer 9,5, schräger Durchmesser 17 cm. Schulter 13 cm, 
Hüften 8 cm. Knoohenkern in der unteren Femurepiphyse blutreich, 7 : 5 mm. 
Fettpolster an Brust und Bauch sehr spärlich, blass. Muskulatur spärlich, blass 
graurot, von guter Transparenz. Lig. teres verschlossen. Leber in der Mittellinie 
5 cm, in der rechten Mammillarlinie 3 cm vorliegend, Magen 1 Fingerbreit ober¬ 
halb des Nabels. Dünndarm wenig gefüllt, ebenso der Dickdarm. Serosa im ganzen 
glatt und glänzend. Appendix hängt ins kleine Becken hinab, frei. Im kleinen 
Becken kein abnormer Inhalt. Zwerchfellstand rechts 4., links 5. Rippe. 

Die Lungen liegen nach Eröffnung des Brustkastens breit vor, der Rand ist 
deutlich abgerundet. Herzbeutel in den oberen Abschnitten von den Lungen über¬ 
lagert. Im Mediastinum ant. eine kräftige 7:2 a / 2 : 1 1 / 2 cm messende graurote 
lappiggebaute Thymus. Im Herzbeutel keine freie Flüssigkeit. Im parietalen Blatt 
des Herzbeutels sowie stellenweise imEpikard des Herzens, namentlich an derHinter- 
fläohe des'linken Ventrikels, ziemlich reichlich kleine 1—2mm messende dunkelrote 
Blutpunkte. Aehnliche finden sich auch an der Innenfläche der grossen Gefasse. 

Herz: Im linken Ventrikel dunkles, z. T. geronnenes Blut. Mitralis zart. 
Im rechten Ventrikel wenig flüssiges dunkles Blut und vereinzelte kleine Blut¬ 
gerinnsel. Triknspidalis ebenfalls völlig zart, Pulmonalklappen im ganzen zart, 
ebenso Pulmonalis. Ductus Botalli geschlossen.' Aortenklappen zart, Aorta asc. 
2,5 cm. Linker Ventrikel von entsprechender Weite, Endokard zart. Trabekel 
und Papillarmuskeln ausgesprochen kräftig. Rechter Ventrikel ebenfalls etwas 
weit, Trabekel und Endokard zart. Wanddicke links.4 mm, rechts 1—2 mm. 
Muskelaufschnitt blass graurot, von guter Transparenz. Koronararterien zart. 

Halsorgane: Zunge ohne Belag, Balgdrüsen und Tonsillen klein, Zungen¬ 
grund o. B. Pharynx leicht venös-byperämisch. Oesophagus blass und glatt. 
Aus dem Kehlkopf entleeren sich auf Druck etwas dunkle, grüne, dickflüssige 
Massen. Im Kehlkopf sowie in der Trachea ziemlich bis in die Verzweigungen 
der Bronchien hinein sich fortsetzende dickflüssige, z. T. schleimige, grünlich 
bräunliche, locker liegende Massen. Innenfläche des Kehlkopfes an der Epiglottis 
deutlich injiziert. Kehlkopf und Trachea im gahzeu blass, leicht blutig injiziert. 
Aorta thor. zart. Umfang 12 mm. 


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Berthold Meyer, 


Lungen: voluminös. Pleura graurot, Ränder deutlich abgerundet Lungen 
beiderseits von erhöhtem Luftgehalt. Auf der Pleura beider LuDgen finden sich 
vereinzelte kleine 1—2 mm messende hellrote, z. T. dunkelrote Blutaustritte. 
Linke Lunge: auf Schnitt beide Lappen graurot, von ziemlich gutem Blutgehalt, 
überall gut lufthaltig, glatt, ziemlich kompressibel. Gefässe zart, ln den Bronchien 
finden sich in den grösseren, aber auch in den kleineren Verzweigungen ähnliche 
grünlich bräunliche, z. T. schleimige Blassen, wie oben erwähnt in der Luftröhre. 
Rechte Lunge: auf Schnitt blutreicher als links, sonst im ganzen die gleiche Be¬ 
schaffenheit wie links. In den Luftröhrenästen finden sich in den Hanptästen 
sowie in den Verzweigungen ähnliche Massen wie links, nur im ganzen reich¬ 
licher, teilweise das ganze Lumen der Bronchialäste verstopfend. Bronchial- 
drüsen klein. 

Milz: 5:4:0,7cm. Kapsel teils blass, teils graurot, glatt. AufSchnitt 
Pulpa sehr blutreioh, feucht. Follikel zahlreich, 1 mm gross. Trabekel nicht 
sichtbar. 

Linke Nebenniere: klein. Rinde blass, fettarm. Mark etwas dunkel. 

Linke Niere: mit geringer Fettkapsel. Fibröse Kapsel gut abziehbar. Niere 
von entsprechender Grösse. Oberfläche mit renkulären Furohen, sonst glatt. 
Venenzeichnung deutlich. Auf Schnitt Rinde von entsprechender Breite, Par¬ 
enchym blutreich, Zeichnung ziemlioh deutlich, Transparenz gut. Brüchigkeit 
normal. Nierenbeoken blass. In der Vena cava inf. wenig dunkles flüssiges Blut. 

Rechte Nebenniere: wie links. 

Rechte Niere: von geringem Blutgebalt, sonst wie links. Nierenbecken 
blass, glatt. 

Im Magen: ziemlich reichlich grau-grünlicher, dickflüssiger bis dickbreiiger, 
mit weisslich käsigen Massen untermischter Inhalt. Schleimhaut des Magens im 
ganzen blass, glatt, etwas verdickt, mit Schleim bedeckt. Ebenso im Duodenum. 

Leber: von entsprechender Grösse, 13 : 7,5 : 3 cm. Oberfläche blass, glatt, 
stellenweise etwas blutreicher. Auf Schnitt Gewebe von mittlerem Blutgehalt, 
guter Transparenz, Zeichnung verwischt, Konsistenz normal. In der Gallenblase 
wenig hellgelbe Galle, Schleimhaut blass, glatt. 

Pankreas: entsprechend gross, blass, körnig. Aorta abd. zart. Mesenterial¬ 
drüsen klein, ebenso retroperitoneale Drüsen. 

In der Harnblase: kein Inhalt. Schleimhaut blass und glatt, Reklumschleim- 
haut blass und glatt. Hoden beiderseits im Skrotum, blutreich, o. B., ebenso 
Nebenhoden, rechts eine kleine Hydrozele. 

Schleimhaut des Dünndarms blass, im ganzen verdickt. Namentlich im 
Dünndarm wenig sohleimiger, etwas grauer, dünn- und diokflüssiger Inhalt. 
Follikel und Peyersche Plaques nicht vergrössert, blass. Schleimhaut im Dickdarm 
ebenfalls etwas dick, blass, Follikel sehr zahlreich, 1—2 mm gross, im ganzen 
blass. Schleimhaut des Appendix blass und glatt. Im Dickdarm sauer riechender, 
dünner, gelber, mit einigen Fetzen vermischter Inhalt. 

Schädel: mit der Dura fest verwachsen, grosse Fontanelle 2 : 2,5 cm, kleine 
Fontanelle fest geschlossen. Knochen gegeneinander leicht verschieblich, dünn, 
biegsam. Dura-Innenfläche glatt. Im Sinus long. sup. spärliches flüssiges Blut. 
In dem Sinus der Basis flüssiges und wenig geronnenes Blut. Dura an der Basis 


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Beitrag zur Kenntnis plötzlicher Todesfälle duroh Erstiokung. 91 

zart, glatt. Weiche Häute der Konvexität blutreich, zart. Ebenso an der Basis. 
Gefässe zart. Fossae Sylvii o. B. Seitenventrikel von entsprechender Weite, ohne 
Inhalt. Plexus blass. Ependym glatt. 3. und 4. Ventrikel o. B. Hirnsubstanz 
von mittlerer Konsistenz, von mittlerem Bliitgehalt, etwas feucht. Zentrale Ganglien, 
Pons, Kleinhirn und Medulla obl. o. B. 

Uittelohr beiderseits o. B. 

Knoohenknorpelgreuze: in den Femurepiphysen glatt. Verkalkungszone 
nicht verbreitert. 

Zusammenfassung: Das Kind starb durch Erstickung infolge 
Aspiration erbrochenen Mageninhalts in Larynx, Trachea und Bronchien. 
Diese todesart wird durch die allgemeinen Zeichen: Lungenemphysem, 
subseröse Blutungen, Blutreichtum der Organe und dunkles flüssiges 
Blut bestätigt. Als Grund für die Erstickung ist das Brechen infolge 
chronischer Gastroenteritis anzusehen. 

Der Fall stellt also ein Analogon zum vorhergehenden dar, nur 
handelt es sich hier um einen Säugling, bei welchem diese Todesart 
doch im ganzen häufiger zur Beobachtung kommt. 

Hat demnach die Sektion ergeben, dass der Tod des Kindes sich 
sehr wohl auf natürliche Weise erklären lässt, ohne dass ein Ver- 
brechen von seiten der Mutter angenommen werden muss, so können 
wir ein solches doch nicht ausschliessen. Und zwar bleiben wir nach 
wie vor im Unklaren darüber, sowohl ob ein absichtlich herbeigeführter 
Mord, als auch ob fahrlässige Tötung vorliegt. 

Es kann durch die Sektion weder bestätigt noch bestritten werden, 
dass die Mutter von dem chronischen Darrokatarrh Kenntnis besass, 
und dass sie diese Tatsache ausnützte, um den Tod des Kindes ab¬ 
sichtlich herbeizaführen. Kannte sie den krankhaften Zustand des 
Kindes (den sie als sorgsame Mutter zudem noch hätte ärztlich be¬ 
handeln • lassen müssen), so konnte sie eventuell durch geschicktes 
Manipulieren den Brechakt dazu benützen, das Kind zum Ersticken 
zu bringen. So hätte sie gleichzeitig noch eine Situation bewusst 
gefälscht, um sich selber zu salvieren. Es käme auf ihre Kenntnisse 
in dieser Richtung an, und man müsste sie daraufhin in ihrer In¬ 
telligenz prüfen. Jedenfalls sind Laien höchst selten so weit instruiert. 

Eine zweite Möglichkeit wäre die: Die Mutter wusste um den 
chronischen Darmkatarrh ihres Kindes, hat aber, um sich des ihr 
überdrüssigen Kindes zu entledigen, mit Absicht den Krankheits¬ 
zustand vernachlässigt. So kam es schliesslich zum Tod des Kindes 
durch Erstickung infolge Aspiration, ohne dass sich die Mutter direkt 
mit einer Handlung daran beteiligt hätte. 


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Berthold Meyer, 


Diese zweite Möglichkeit ist die wahrscheinlichere, und zwar aus 
psychologischen Gründen. Hätte sie das Kind absichtlich ersticken 
wollen, so hätte sie nicht vor Zeugen einen so unvorsichtigen Aus¬ 
spruch getan. 

So kommen wir zu dem Resultat, dass eine fahrlässige Tötung 
durch Vernachlässigung nicht vollends ausgeschlossen werden kann. 
Objektive Beweise dafür lassen sich nicht geben. Zu Gunsten der 
Mutter müssen wir sagen, dass sich obige Erwägungen nur auf die 
Tatsache der Unehelichkeit des Kindes und das Zusammentreffen des 
Ausspruches der Mutter mit dem Tod des Kindes stützen, während 
die Sektion ergeben hat, dass sich der plötzliche Tod des Kindes 
sehr wohl auf andere Weise erklären lässt. Der Fall kam denn auch 
nicht vor Gericht. Aber er zeigt uns, dass wir gegebenenfalls mit 
unserem Urteil sehr zurückhaltend sein müssen. 

4. H. E., 35 Jahre alt. 

Anamnese: Ging abends munter zu Bett, anscheinend in voller Gesundheit. 
War früher lungenkrank. Nachts trat plötzlich starke Hämoptoe mit folgender 
Atemnot auf, die zum Tode führte. Sektion am folgenden Tage. 

Sektionsprotokoll: Kleine weibliche Leiohe von mittlerem Ernährungs- 
zustand. Totenstarre gut ausgebildet. Livores reichlich und dunkel. Aus Mand 
und Nase quillt etwas dunkles Blut. Fettpolster spärlich. Bauchsitus o. B. 

Rechte Lunge: zeigt ausgedehnte fibröse Adhäsionen mit dem Brustkorb. 
Die linke Lunge stark vorgewölbt, aufgetrieben, nur an der Spitze leicht fixiert. 
Keine Thymus. Im Mediastinum ant. etwas Fettgewebe. Herzbeutel von der linken 
Lunge überlagert, enthält etwas klare Flüssigkeit. Das Herz klein, auf d v em Epi- 
kard des linken Ventrikels einzelne kleine Blutaustritte, in den Höhlen dunkles 
flüssiges Blut. Die Klappen und Gefässe zart, nur die Mitralis zeigt einzelne 
kleine Trübungen und Verdickungen. Die Höhle nicht erweitert, Muskel beider¬ 
seits kräftig, graurot, von guter Transparenz. Kranzarterien zart. 

Halsorgane: Zunge ohne Belag. Zungengrund o. B. Balgdrüsen und Ton¬ 
sillen von mittlerer Grösse. In L&rynx, Trachea und Bronchien bis in die kleinsten 
Verzweigungen hinein dicke Kruormassen, die Sohleimhaut blass und glatt 
Schilddrüse leicht vergrössert, blutreich, dunkel. Die Aorta zart. 

Die reohto Lunge ist klein und derb, namentlich in den oberen Partien. 
Die Pleura schwartig verdickt. Das Gewebe im oberen Drittel des Oberlappens 
sohwielig anthrakotisch, luftleer, zeigt im mittleren Drittel eine 5:2 cm grosse un¬ 
regelmässig geformte, glattwandige Kaverne, die mit dunklen Blutkoageln ange¬ 
füllt ist. Das umgebende Gewebe zirrhotisch. Der blutende Gefässast konnte 
nicht aufgefunden werden. Die übrigen Abschnitte der rechten Lunge in Ober-, 
Mittel- und Unterlappen im ganzen lufthaltig, durchsetzt von zahlreichen 1—2cm 
grossen Knoten, z. Teil mit schwieliger Umgebung, die aus zahlreichen zum Teil 
verkästen 2—3 mm messenden Knötchen zusammengesetzt sind. In den Bronchien 


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Beitrag zur Kenntnis plötzlicher Todesfälle daroh Erstickung. 93 

überall dunkles geronnenes Blut, die Wand zart. Pulmonalgefässe zart. Bron¬ 
chialdrüsen anthrakotisch. 

Die linke Lunge: sehr voluminös, flaumig. Pleura glatt mit kleinen dunklen 
Blutpunkten. Das Gewebe in Ober» und Unterlappen blass graurot, stark lufthaltig, 
glatt, kompressibel. Die seitlichen Ränder abgerundet, ln den Bronchien bis in 
die kleinsten Verzweigungen dunkles geronnenes Blut. Gefässe zart. 

Milz: von entsprechender Grösse. Kapsel glatt. Pulpa blutreioh, von mitt¬ 
lerer Konsistenz. Follikel und Trabekel deutlich. 

Leber: gross. Oberfläche glatt, auf Schnitt Zeiohnung deutlich. Zentren 
der Acini dunkelrot, zum Teil verbreitert, eingesunken und konfluierend. Peri¬ 
pherie braunrot, von guter Transparenz, Glissonsche Scheiden nicht verbreitert. 
Konsistenz feine mittlere. Besonders im linken Lappen finden sioh im Parenchym 
verstreut zahlreiche 1—2—3 mm grosse, teils isolierte, teils in Gruppen gestellte, 
mit Blut gefüllte Räume (Teleangiectasia hepatis diffasa). Gallenblase o. B. 

Nieren: von entsprechender Grösse und geringer Fettkapsel. Fibröse Kapsel 
gut abziehbar. Oberfläche glatt. Auf Schnitt Gewebe sehr blutreich, dunkelrot, 
von guter Transparenz. Rinde 6—7 mm breit. Zeichnung deutlich. Nieren¬ 
becken blass. 

Schleimhaut des Magens und Duodenums blutreich, glatt. Papille durch¬ 
gängig. Pankreas blutreich. Mesenterialdrüsen leicht vergrössert. Aorta zart. 
Beckenorgane o. B. 

Schleimhaut des Dünndarms blutreich, im ganzen glatt, mit einzelnen 
kleinen typisch tuberkulösen Ulzera im unteren lleum. Appendix o. B. Dick¬ 
darm blass. 

Sohädel- und Gehirnsektion ergibt ausser etwas Oedem der Gehirnsubstanz 
und allgemeinem Blutreichtum nichts Besonderes. 

Zusammenfassung: Die Todesursache ist Erstickung infolge 
Blutung in eine Kaverne und Erguss des Blutes in die Luftwege. Der 
Erstickungstod wird weiter gekennzeichnet durch die übrigen Er¬ 
stickungsbefunde: hochgradiges, akutes Lungenemphysem, allgemeine 
Zyanose, flüssiges Blut, subseröse Ekchymosen, sowie , durch die ana¬ 
mnestischen Angaben. Als Ursache der Kavernenblutung fand sich eine 
chronische Tuberkulose der rechten Lunge. 

Nebenbefunde: bilden eine Tuberkulose des Darmes und die 
Teleangiectasia hepatis diffusa. 

Der Fall ist damit sowohl pathologisch-anatomisch als in recht-. 
licher Beziehung völlig geklärt. 

5. R. P., 19jähriger Schreinerlehrling. 

Anamnese: Der Junge war nach Angabe des Vaters immer gesund. Am 
Abend vor dem Tode trat plötzlich eine Hämoptoe auf. Der Junge erholte sich 
aber und ging am nächsten Tage zur Arbeit. Vormittags in der Werkstatt 
plötzlich erneute starke Hämoptoe. Der Junge fiel zu Boden und starb in wenigen 
Minuten unter Zeichen der Atemnot. In der Familie Hessen sioh keine Anhalts- 


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94 Berthold Meyer, 

punkte für Blutkrankheiten und Hämophilie finden. Die Sektion wurde am 
gleichen Tage vorgenommen. 

Sektionsprotokoll: Es war ein ziemlich grosser sohmächtiger Körper 
von geringem Ernährungszustand. Aeusserlioh keine Verletzungen. Die sicht* 
baren Sohleimhäute sehr blass. -Die Sektion ergab ausser starker Blutüberfüllung 
sämtlicher parenohymatöser Organe und dunklem flüssigem Blut keine Verände¬ 
rungen. 

Larynx, Trachea und die Bronohien zeigten bis in die kleinsten Verzwei¬ 
gungen hinein eine Ausfüllung mit dunklem, flüssigem und geronnenem Blut. Die 
Lungen waren stark gebläht, lufthaltig. Auf den Pleuren vereinzelte kleine Blut- 
austritte. 

Das Herz von entsprechender Grösse, die Ventrikel nicht erweitert. Klappen 
zart. Muskel kräftig. In den Höhlen dunkles flüssiges Blut. 

Der Magen und das Duodenum waren stark angefüllt mit sehr reichlich^blu* 
tigern, bräunlichem, teils flüssigem, teils geronnenem Inhalt. 

Die genaue Besichtigung des ganzen Kehlkopfes, der Trachea, Lungen, des 
Rachens, Oesophagus und Magendarmkanals ergab nirgends eine kleine Läsion 
oder irgend welohen Befund, welcher die Blutung erklären könnte. Auch die 
Nasensektion ergab keine Anhaltspunkte für eine solche. 

Eine Bronchialdrüse zeigte einen zirkumskripten zentralen Käseherd. Die 
Lnngen zeigten keinerlei Anhaltspunkte für eiue Tuberkulose. 

Zusammenfassung: Auch in diesem Falle trat der plötzliche 
Tod durch Erstickung ein, indem erbrochenes Blut in die Luftwege 
aspiriert wurde. Das Blut stammte aus dem Magen. Eine Ursache 
für den Bluterguss konnte nicht gefunden werden. Die agonalen Er¬ 
scheinungen sowie die allgemeinen Erstickungszeichen ergeben die 
Diagnose eines Erstickungstodes. 

Nachdem trotz genauester Nachforschung keine Quelle für die 
Mägenblutung entdeckt werden konnte, wurde per exclusionem die 
Diagnose „primäre“ parenchymatöse Magenblutung gestellt. 
Trotzdem in vielen Fällen von Magenblutung der Tod durch Verblutung 
eintritt, handelt es sich in unserem Fall nicht um einen solchen, 
sondern um einen typischen Erstickungstod. Es muss hier wie in 
Fall 2 gefragt werden, wieso bei einem 19jährigen Menschen Aspi¬ 
ration eintrat. Einmal mag der Junge aus Schrecken über den her- 
vorschiessenden Blutstrom eine unwillkürliche Inspirationsbewegung 
gemacht haben, oder aber er brach infolge des Blutverlustes be¬ 
wusstlos zusammen (s. Anamnese) und aspirierte in diesem Zustande. 

Im Gegensatz zu primären sind sekundäre parenchymatöse Magen- 
blutungen keine Seltenheit und können die verschiedensten Ursachen 
lokaler und allgemeiner Natur haben. Es würde hier zu weit führen, 
auf die Aetiologie, Pathogenese und Differentialdiagnose näher einzu- 


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Beitrag zur Kenntnis plötzlicher Todesfälle durch Erstickung. 95 

gehen. Nur so viel sei bemerkt, dass neuerdings der Frage erhöhtes 
Interesse zugewendet wird und dass in letzter Zeit mehrere Fälle 
bekannt gegeben worden sind, in welchen keine Ursache für die Blutung 
nachzuweisen war, trotz minutiösester Unterstichungen, in denen es 
sich also ebenfalls um primäre Blutungen handelte. Solche Fälle 
sind bis jetzt beschrieben, einer von Ewald (}2) - Kuttner (13), drei 
von Reichard (14), zwei von Czylharz (15). Erst vor kurzem er¬ 
schien aus dem hiesigen pathologischen Institut eine Arbeit von 
Fritzsche (16), welcher drei einschlägige Fälle beschreibt und ein¬ 
gehend die Aetiologie und Differentialdiagnose der parenchymatösen 
Magenblutungen bespricht (dort auch weitere Literatur). 

Die Möglichkeit einer traumatischen Entstehungsweise parenchy¬ 
matöser Magenblutungen wird von Wiemann (17) angegeben. Das 
ist in unserem Fall insofern von Interesse, als auf Grund dieser Mög¬ 
lichkeit eventuell Unfallansprüche gestellt werden könnten: der Ver¬ 
storbene war Schreinerlehrling in einer Fabrik und der Tod trat 
während der Arbeit ein. Doch ist diesen Ansprüchen zu begegnen 
und die Möglichkeit eines traumatischen Ursprungs der Magen blutung 
im vorliegenden Fall zu negieren. Erstens findet sich weder in der 
Anamnese noch im Sektionsbefund für eine traumatische Entstehungs¬ 
weise der Blutung irgendwelcher Anhaltspunkt, zweitens aber trat am 
Vorabend vor dem Tode die erste sichtbaro Blutung spontan auf. 
Analog dieser ersten wird die schliesslich in der Folge zum Exitus 
führende Blutung ebenfalls spontan entstanden sein. 

' 6. G. G., 18jähriger Sohreiner. 

Anamnese: Der jnnge Mann stürzte in der Werkstatt während der Arbeit 
plötzlich zu Boden and starb in einigen Minuten unter den Erscheinungen einer 
Erstickung. Nach Abgabe der Angehörigen hatte der Verstorbene vor einigen 
Wochen an einem Finger eine kleine infizierte Epidermisabhebung, wegen welcher 
er für einige Zeit die Arbeit ausgesetzt und in Behandlung der hiesigen Chirurgi¬ 
schen Poliklinik gestanden hatte. Seit etwa 8—10 Tagen sei er wieder an die 
Arbeit gegangen, ohne über irgendwelche Beschwerden zu klageD. 

Sektionsbefund: Es ist die Leiohe eines ziemlich grossen, schmächtigen 
Jungen in geringem Ernährungszustand. Haut blass, Totenflecke spärlich. Toten¬ 
starre teilweise ausgebildet. Auf der äusseren Hant nirgends Verletzungen, Hände 
and Füsse intakt. Fettpolster spärlich. Muskulatur ziemlich kräftig, dunkel. 
Bauohsitus o. B. Zwerchfellstand beiderseits an der 5. Rippe. 

Beim Eröffnen des Brustkorbs drängen sich die Lungen stark vor und be¬ 
rühren sich in der Mittellinie. Sie sind ohne Verwachsungen, die Brusthöhlen 
leer. Herzbeutel von den Lungen überlagert. Im vorderen Mittelfellraum eine 
zweilappige kleine Briesel. Im Herzbeutel wenig klare Flüssigkeit. 


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Berthold Meyer, 


Herz: von entsprechender Grösse. In den Höhlen dunkles, nicht geronnenes 
Blut. Innenhaut der Gefässe und Klappen zart. Kammern nioht erweitert. Muskel 
kräftig, braunrot, gut transparent. Kranzgef&sse zart. 

Halsorgane: Zunge ohne Belag, Mandeln kräftig, ohne Belag. Auf Schnitt 
feucht, o. B. Sohilddriise leicht vergrössert, blutreich. Speiseröhre, Kehlkopf 
und Luftröhre blutreioh, glatt. Brustschlagader zart. 

Lungen: sehr gross und flaumig. Brustfell zart, stellenweise kleine, un¬ 
regelmässige Blutungen. Auf Schnitt Gowebe überall sehr lufthaltig, blutreich, 
glatt, kompressibel. Luftröbrenäste gerötet, mit schleimigem Inhalt. Gefässe zart. 

An der Teilungsstelle der Luftröhre liegt eine hühnereigrosse, prall ge¬ 
spannte Geschwulst, die sich beim Einschneiden als ein Sack mit 2—3 mm dicker 
Wand erweist, mit reichlich ziemlich dickflüssigem Eiter als Inhalt. Die Innen¬ 
fläche der Wand ist glatt, grauweisslich. Die Geschwulst drückt auf das Lumen 
der Luftröhrenverzweigungen. In der Umgebung befinden sich mehrere ver- 
grösserte schwarze Lymphknoten mit kleinen Käse- und Kalkeinlagerungen. 

Die Milz: ist vergrössert, misst 13.7 : 4 cm. Kapsel glatt, Pulpa blutreich, 
etwas vorquellend, von mittlerer Konsistenz. Knötchen deutlich, Bälkchen klein. 

Die übrigen Bauchorgane zeigen einen erhöhten Blutgehalt, sonst ohne Ver¬ 
änderungen. 

Schleimhaut des Magens: blutreich, glatt. Im Dünndarm, namentlich in den 
unteren Abschnitten, zahlreiche kleinere und grössere Blutungen. 

Gehirn: blutreich, ohne Veränderungen. 

In sämtlichen Gelassen dunkles, flüssiges Blut. 

Bakteriologische Untersuchung: 

1. Aus der Milz gehen in Bouillon Reinkulturen von langen Ketten¬ 
kokken auf. 

2. Im Eiter aus dem Abszess neben der Lufröhre lassen sich Staphylo- und 
Streptokokken nachweisen. 

3. Herzblut naoh zweimal 24 Stunden steril. 

* Mikroskopische Untersuchung: Die Wand des Abszesses neben der 
Luftröhre besteht aus breiten Zügen kernarmen Bindegewebes mit herdförmigen 
Ansammlungen von Knötohen, z. T. um die Gefässe herum. An der Innenfläche 
findet sich ein Keimgewebe mit reichlich epithelioiden Zellen und Lymphozyten. 
Stellenweise kleine Knötchen mit Riesenzellen (Tuberkel). 

Die Lymphdrüsen in der Umgebung zeigen einzelne Käseherde, in der Um¬ 
gebung vereinzelte Tuberkel. 

Herzmuskel, Leber, Nieren zeigen ausser geringer Verfettung keine Besonder¬ 
heiten. 

Milz: zeigt starke Füllung mit roton Blutkörperchen. Das Bindegewebe ist 
nicht vermehrt. 

Zusammenfassung: Die Sektion ergab zusammen mit der 
bakteriologischen und mikroskopischen Untersuchung das Vorhanden¬ 
sein einer allgemeinen Sepsis, deren Ausgangspunkt sich durch die 
Autopsie nicht feststellen liess und welche zu einem metastatischen 
Abszess in einer tuberkulös veränderten Lymphdrüse mit Sitz an der 


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Beitrag zur Kenntnis plötzlicher Todesfälle durch Erstickung. 97 

Bifurkation der Trachea sowie zu geringgradiger Verfettung der 
Organe geführt hatte. Als Ausgangspunkt der Sepsis kann die in 
der Anamnese angeführte leichte Infektion als wahrscheinlich an¬ 
gesehen werden. 

Die Sektion zeigte ferner das Bild einer Erstickung, indem die 
Trachea durch den Abszess an der Bifurkation komprimiert wurde. 
Auch fanden sich die allgemeinen Zeichen der Erstickung (Lungen¬ 
blähung, dunkles flüssiges Blut, Blutreichtum der Organe, subseröse 
Blutaustritte), und die Anamnese verzeichnet Erstickungserscheinungen 
in der Agone. 

Der Pall bietet also das Bild zweier konkurrierender gleich¬ 
wertiger Todesursachen, ohne Zweifel gehört or zu den plötzlichen 
Todesfällen durch Erstickung, und die Erstickuug ihrerseits steht in 
ursächlichem Zusammenhang mit dem allgemeinen septischen Zustand. 
Eine weitere Frage ist nun die: vermag die Sepsis an und für sich 
ohne Erstickung ebenfalls den Tod zu erklären. Klinisch bestanden 
keine Anhaltspunkte für das Vorhandensein einer Sepsis. Die Affektion 
an der Hand war anscheinend verheilt und der Junge galt als voll¬ 
ständig arbeitsfähig. Der pathologisch-anatomische Befund bei der 
Sektion ergab ausser einem Milztumor und dem Abszess in der Lymph- 
drüse keine greifbaren Organ Veränderungen, die man als für die Todes¬ 
ursache genügend gelten lassen könnte. So käme man von vorn¬ 
herein zu der Annahme, dass die Sepsis als solche im vorliegenden 
Falle nicht als Todesursache angesehen werden könne. 

Hier ist nun zu bemerken, dass wir bei einer Reihe von anderen 
Fällen mit plötzlichem Tode als einzige Todesursache eine Sepsis 
konstatieren konnten, und zwar teils mit, teils ohne Organverände¬ 
rungen, aber mit positivem bakteriologischen Befund. 

Wegen der Wichtigkeit dieser Tatsache und besonders für den vor¬ 
liegenden Fall lasse ich zunächst diese Fälle auszugsweise hier folgen 1 ). 

1. R. K., 37jähriger Mann, gestorben 4. 5. 1917. Wurde morgens tot im 
Bett anfgefnnden. Soll vorher gesund gewesen sein bis auf ein altes Ohrenleiden. 


1) Zur Kritik der Diagnose Sepsis ist zu bemerken, dass sie sich in bisher 
üblicherweise auf die bakteriologische Untersuchung der Milz, in mehreren Fällen 
auch auf die des Herzblutes gründete. Nach unserer Ansicht sind die Ergebnisse 
der bakteriologisohori Untersuchung der Milz allein nicht in allen Fällen ohne 
weiteres als stichhaltig und einwandfrei anzusehen. Nach den Ergebnissen der 
heutigen Forschung sind wir jedoch noch berechtigt, diese Fälle als Sepsis zu. 
bezeichnen. 

Vierte^ahrsschrift f. ger. Med. u. Off. San .«Wesen. 3. Folge. Bd. 60. H. 1. n 


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Berthold Meyer, 


DieSektion ergab geringen Milztumor, eine Dilatation des Herzens, akute Tracheitis 
1 und Bronchitis sowie an den Lungen ein Stauungsödem. Ferner fand sich eine 
ulzeröse Enteritis und Colitis acuta septioa. An den schon in starker Fäulnis 
begriffenen Nieren zeigten sich Blutungen, ebenso an den Nierenbecken. Die 
Ohrensektion förderte auf beiden Seiten eine Otitis media purulenta zutage. 

Mikroskopische Untersuchung: ergab keine Veränderungen. 

Bakteriologisohe Untersuchung: Aus der Milz wurden in Bouillon 
und auf Agar nach 20 Stunden sehr reichlich kurze Ketten von Streptokokken 
gezüchtet. 

2. B. A., 48jährige Frau, gestorben 10. 10. 1917. Wurde tot bei der Näh¬ 
maschine aufgefunden. Daneben fand sich eine Schnapstlasche. Die Sektion 
ergab ausser allgemeiner Hyperämie der Organe und einem Gehirnödem mittleren 
Grades keine Veränderung an den Organen. 

Bakteriologische Untersuchung: Nach 48 Stunden gingen sowohl aus 
der Milz als aus dem Herzblut in Zuckerbouillon Streptokokken in Reinkultur auf. 
Auf Agar wuchsen Staphylo- und Streptokokken. 

Mikroskopische Untersuchung: Organe ohne Veränderungen. 

3. K. R., 43jährige Frau, gestorben 15. 1.1918. Wurde morgens tot im 
Bett aufgefunden. In letzter Zeit starker Husten. Die pathologisch-anato¬ 
mische Diagnose lautete Tracheitis und Bronchitis diffusa, entzündliche Hypo¬ 
stase im rechten Unterlappen, Struma colloides nodosa, Cholelithiasis. 

-Bakteriologische Untersuchung: Aus der Milz gingen auf Agar und 
in Bouillon Reinkulturen von Streptokokken auf. 

4. H. B., 24jähriges Mädchen, gestorben 22. 4.1919. Plötzlicher Tod an¬ 
geblich wegen Herzaffektion. Anzeige wegen Verdachtes auf Abtreibung. 

Die Obduktion ergab als allgemeinen Befund starke Hyperämie derOrgane. 
Ferner lag ein chronischer Milztumor vor und als Lokalbefund an den Genitalien 
eine Vergrösserung des Uterus, Endometritis interstitialis und ein Corpus luteum. 

Mikroskopisohe Untersuchung: Geringe Verfettung von Leber und 
Nieren, starke Hyperämie der Milz. Die Mukosa des Uterus stark infiltriert, mit 
korkzieherartig gewundenen Gefässen und weiten Venen. Das Corpus luteum in 
fibröser Umwandlung. 

Bakteriologische Untersuchung: In Bouillon fanden sich aus der 
Milz Streptokokken. 

5. G. J., 27jähriges Mädchen, gestorben 10. 3. 1919. Plötzlicher Tod nach 
anscheinender Gesundheit. Ilpara (unehelich). 

Sektionsergebnis: Innere Organe hyperämisch. Gravidität im 4. Monat. 
Eihäute intakt, mit klarem Fruchtwasser. Fötus ziemlich mazeriert. Endometritis 
decidualis. Kleines (traumatisches?) Ulkus an der Portio.— Akuter Milztumor. 

Bakteriologisch fanden sich aus der Milz und dem Herzblut Streptokokken. 

Ziehen wir das Fazit ans diesen 5 Fällen, so sehen wir, dass 
ein septischer Zustand allein hinreichen kann, den Tod plötzlich zu 
bedingen. Wenden wir dies Ergebnis auf unseren Fall G. an, wozu 


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Beitrag zur Kenntnis plötzlicher Todesfälle durch Erstickung. 99 

wir berechtigt sind, so finden wir darin doch die Bestätigung der 
Annahme, dass auch hier der Tod eventuell durch die Sepsis allein 
erklärt werden kann. 

Dies ist äusserst wichtig für die Begutachtung des Falles G. als 
Unfallfolge. Die Sektion hat zwar den Ausgangspunkt der Sepsis 
nicht zu ermitteln vermocht. Jedoch dürfen wir ohne weiteres als 
erwiesen annehmen, dass der in der Anamnese erwähnte leichte Un¬ 
fall (Infektion einer Blase an der reohten Hand), wegen dessen der 
Verstorbene in Behandlung der* Chirurgischen Poliklinik gestanden 
hatte, in Zusammenhang steht mit der einige Wochen darauf zum 
Tode führenden Sepsis, mit deren Folge dem Drüsenabszess an der 
Teilungsstelle der Trachea, der seinerseits den Erstickungstod be¬ 
dingt hat. Wir dürfen also an Hand unserer Untersuchungsergebnisse 
und obiger Betrachtungen in jedem Falle die Sepsis als Grundursache 
für das Eintreten des plötzlichen Todes angeben. 

Zu erörtern wäre noch die Frage, warum der Drüsenabszess den 
akuten Erstickungsanfall herbeigeführt hat, da doch mit Sicherheit 
anzunehmen ist, dass der Abszess schon längere Zeit in der gleichen 
Ausdehnung bestanden hatte. Eine sichere Beantwortung dieser Frage 
ist mir nicht möglich. Wie aus der Anamnese sich ergibt, trat der 
Erstickungsanfall auf, während der Junge an- der Hobelbank arbeitete. 
Es ist nun denkbar, dass durch die bei der Arbeit innegehaltene ge¬ 
beugte Stellung der Thoraxraum durch Druck des Sternums nach 
hinten verringert und gleichzeitig der Abszess stärker gegen die 
Trachea gedrängt wurde, so dass es zum vollkommenen Abschluss 
der Luftwege gekommen sein mag. Ich bin mir bewusst, dass durch 
eine solche Annahme die Erklärung einer plötzlichen Erstickung nicht 
restlos gegeben ist; allein der Befund des Erstickungstodes muss 
•uns an eine solche Möglichkeit denken lassen. 

Zu berücksichtigen ist noch, dass wir es hier allem Anschein 
nach mit einem durch die Sepsis in seiner Widerstandskraft ge¬ 
schwächten Kranken zu tun haben, und dass wir nicht fehl gehen, 
wenn wir hier gleichzeitig beide Aetiologien — Sepsis und Erstickung — 
zur Erklärung des plötzlichen Todes heranziehen. 

Da aber die Erstickung ihrerseits ebenfalls die Folge der Sepsis 
ist, so ergibt sich ohne weiteres, dass der Tod auf die Sepsis zurück¬ 
geführt und somit als Unfallfolge angesehen werden muss. 

In jedem Falle beweist diese Beobachtung den Wert der bakterio¬ 
logischen Untersuchung bei der Sektion. 

7* 


-Digitizsa 


bv Google 


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Berthold Meyer, 


Zusammenfassung. 

In der vorliegenden Arbeit habe ich über 6 Fälle von plötz¬ 
lichem Tod infolge Erstickung berichtet. Es handelte sich viermal 
am Erstickung durch Aspiration in die Luftwege, und zwar zweimal 
um Aspiration von Erbrochenem und zweimal um Aspiration von Blut 
aus den Lungen, bzw. aus den Magen. Einmal handelte es sich um 
ein akutes essentielles Larynxödem und im letzten Falle um eine 
Erstickung infolge Kompression d$r Trachea durch einen Lymph- 
drüsenabszess. 

Besonders hervorheben möchte ich nochmals Fall 2, bei dem ein 
15jähriges Mädchen durch Aspiration von Erbrochenem infolge leichter 
Gastroenteritis erstickte, weil er uns beweist, dass, wenn auch seltener¬ 
weise, Erwachsene ohne ausgesprochene Bewusstseinsstörung auf diese 
Art ad exitum kommen können; ferner Fall 5, der in zweifacher 
Weise interessant ist, einmal dadurch, dass für die eigeötliche Magen¬ 
blutung keine sichtbare Ursache vorliegt, dann durch die Art des 
Todes, der in gewissem Sinne ein Analogon zu Fall 2 bietet, da auch 
hier die Erstickung durch Aspiration der aus dem Magen kommenden 
Massen, und zwar ebenfalls bei einem Erwachsenen, erfolgte. 

Dem Alter nach waren es fast sämtlich jugendliche Individuen, 
das höchste Alter betrug 34 Jahre und betraf die Phthisikerin, die 
infolge einer Kavernenblutung erstickte. Wenn schon ein plötzlicher 
Tod in diesem jugendlichen Alter an und für sich etwas Ungewöhn¬ 
liches und für die Umgebung des Verstorbenen auffallend ist und 
verschiedene Vermutungen auslöst, so sind es auch besonders die 
äusseren Umstände und die alarmierende Art eines Erstickungstodes, 
welche eine polizeiliche Anzeige verursachen, und welche eine gericht¬ 
liche Untersuchung nötig machen. Ein anderer Teil der Fälle be¬ 
trifft Individuen, die anscheinend in voller Gesundheit und Arbeits¬ 
fähigkeit während der Arbeit vom Tode überrascht wurden. Hier 
sind es hauptsächlich Entschädigungsansprüche der Angehörigen, die 
einen Unfall als Ursache des Todes heranziehen wollen, und eine 
genaue Untersuchung des Falles erheischen. Wir sehen also, dass 
gerade die Todesfälle durch Erstickung Anlass geben zu strafrecht¬ 
lichen und zivilrechtlichen Untersuchungen und daher gleichsam auf 
der Grenze stehen zwischen den Fällen des natürlichen plötzlichen 
Todes und einer gewaltsamen Todesart. Die richtige Entscheidung 
in einem einschlägigen Falle kann nur durch eine genau durch- 


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Beitrag zur Kenntnis plötzlicher Todesfälle durch Erstickung. 101 

geführte Sektion getroffen werden. Ich mache hier nochmals auf die 
Bedeutungen .der bakteriologischen Untersuchung aufmerksam, durch 
welche allein in einzelnen Fällen eine Erklärung für den plötzlichen 
Tod erhalten werden kann. Besonders bei fraglichen Unfallssektionen 
ist die bakteriologische Untersuchung in zweifelhaften Fällen heran¬ 
zuziehen, will man den modernen Anforderungen der Unfallgesetz¬ 
gebung gerecht werden. Fall 6 bietet ein Beispiel für diese Ver¬ 
hältnisse. Die ihm angefügten Fälle von plötzlichem Tod bei krypto¬ 
genetischer oder dem Kranken unbewusster Sepsis zeigen ebenfalls 
den Wert der bakteriologischen Untersuchung bei Sektionen mit un¬ 
genügendem anatomischen Ergebnis. 


Literaturverzeichnis. 

1) Brouardel, La mort et la mort snbite. Paris 1895. — 2) Lochte, 
Vierteljahrssohr. f. gerichtl. Med. 1910. Bd. 34. — 3) Hanhart, Ueber die 
amtliche Totenschau, Diss. Zürich 1916. — 4) Richter, Gerichtsärztliche Technik 
and Diagnostik. Leipzig 1905. — 5) Kolisko, Tod aas natürlicher Ursache, in 
Handb. d. ärztl. Sachverständigen-Tätigkeit, herausgegeb. von Dittrich. Bd. 2. — 
6) Hofmann-Haberda, Lehrb. d. gerichtl. Med. 1919. — 7) Schmidtmann, 
Handb. d. gerichtl. Med. Bd. 1. — 8) Strassmann, Lehrb. d. gerichtl. Med. 
Bd. 4. — 9) Kassirer, Die vasomotorisch-trophischen Neurosen, Monographie. 
Berlin 1912. — 10) Port, Münch, med. Wochenschr. 1917. S. 384. — 11) Ten- 
deloo, Lehrb. d. allgem. Path. 1919. S. 678. — 12) Ewald, Realenzyklopädie. 
Bd. 14. — 13) Knttner, Berl. klin. Woohenschr. 1895. S. 142. — 14) Reichard, 
Deutsobe med. Wochenschr. 1910. S. 327. — 15) Czylharz, Aroh. f. Ver- 
danungskrankh. 1912. Bd. 18. — 16) Fritsohe, Berl. klin. Wochenschr. 1919. 
Nr. 32. — 17) Wiemann, Monatssohr. f. Unfallheilk. 1900. Nr. 3. 


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VII. 


Aas dem Forschungsinstitute für Gewerbe- und Unfallkrankheiten in 
Dortmund (Direktor: Prof. Dr. Herrn. Schridde). 

Untersuchungen über die FäulnisyerSnderungen 
der menschlichen Lungen. 

Von 

Herbert Olivecrona (Upsala), 

ehemaligem Assistenten am Institut. 


Für denjenigen, der in die Lage kommt, an mehr oder minder 
verwesten Leichen eine Obduktion vorzunehmen, bereitet es oft grosse 
Schwierigkeiten oder erscheint oft ganz unmöglich, eine bestimmte 
Entscheidung darüber zu treffen, ob und welche Veränderungen an den 
Lungen bestanden haben, insbesondere ob eine Lungenentzündung vor¬ 
handen gewesen ist oder nicht. Ja, man kann nach den heute vor¬ 
liegenden Erfahrungen nicht einmal mit irgend welcher Sicherheit sagen, 
ob eine normale Lunge vorliegt, wenn die Fäulnis weit vorgeschritten 
ist. Das im Dortmunder Institut zur Untersuchung kommende reiche 
Material, das sich auf viele Leichen, die nach der oft lange Zeit nach 
dem Tode vorgenommenen Ausgrabung zur Obduktion kommen, bezieht, 
hat Prof. Dr. Schridde bezüglich dieser Frage schon seit Jahren 
geprüft. Um zu sicheren Grundlagen zu kommen, habe ich auf seine 
Anregung hin die im folgenden zu schildernden Untersuchungen vor¬ 
genommen. 

Soweit ich die Literatur übersehe, bestehen über diesen Gegen¬ 
stand, soweit es Kinder und Erwachsene betrifft, keine Angaben. Nur 
über die Lungen Neugeborener liegen, wie bekannt, Beobachtungen 
vor, auf die ich hier nur kurz eingehe. 

Nach den bisherigen Erfahrungen ist der Einfluss der Fäulnis auf 
die Schwimmfähigkeit der Neugeborenen-Lungen, die sicher nicht ge¬ 
atmet haben, und bei Lungen, bei denen eine Atmung stattgefunden 
hat, ein wesentlich verschiedener. Gemäss den Untersuchungen von 
Bordas und Descourt, Ungar, Leubuscher, Rühs u. a. entstehen 


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Untersuchungen über die Fäolnisveränderungen der menschlichen Lungen. 103 

Fäulnisblasen nur bei Lungen, die geatmet haben, während bei Lungen 
von Feten, die sicher nicht geatmet haben, auch bei hochgradiger 
Fäulnis nur in Ausnahmefällen Gasbläschen zu finden sind. Aus diesen 
Befunden schliesst Ungar, dem sich Rühs anschliesst, dass eine 
reichliche Anhäufung von Fäulnisgasen im Gewebe jund unter der 
Pleura, sowie eine positive Schwimmfähigkeit fauler Lungen für die 
Annahme spricht, dass das Kind geatmet hat. 

Die oben genannten Autoren verlegen im allgemeinen den Sitz 
der Fäulnisgasbläschen vor allem unter die* Pleura sowie ins inter¬ 
stitielle Gewebe, während in den Alveolen niemals Gasbläschen vor¬ 
handen seien. Da diese Ansicht nicht durch mikroskopische Unter¬ 
suchungen gestützt wird, muss man sich hier skeptisch stellen, um so 
mehr, als von Balthazard und Lebrun positive histologische Be¬ 
funde im entgegengesetzten Sinne vorliegen. Diese Autoren fanden 
in faulen Neugeborenen-Lungen, die geatmet haben, eine Fäulnis¬ 
gasbildung in den Alveolen mit Zerreissung der Septen und Kom¬ 
pression des Stützgewebes, während dagegen in Lungen, die nicht 
geatmet haben, die Fäulnisgase sich im interstitiellen Gewebe ent¬ 
wickeln. 

Die im Nachstehenden zu schildernden Untersuchungen beziehen 
sich, wie gesagt, nur auf Lungen Erwachsener. Es wurden unter¬ 
sucht: 1. Normale Lungen. 2. Lungen mit fibrinöser Pneumonie. 
3. Atelektatische Lungen. 

Die Lungen wurden nach der Sektion in verschliessbaren Glas- 
gefässen aufgehoben und gewöhnlich zweimal in der Woche wieder 
untersucht, wobei jedesmal auch die Schwimmfähigkeit herausge¬ 
schnittener Stücke geprüft wurde. Es wurden die Stücke immer aus 
demselben Lungenabschnitt ausgeschnitten. Die Lungen wurden 3 bis 
€ Wochen bei einer Wärme von 6—8° C aufbewahrt. Die zur 
Schwimmprobe verwendeten Stücke wurden dann in lOproz. Formalin 
fixiert, in Paraffin eingebettet und mikroskopisch untersucht. Die 
Schnitte wurden mit Hämatoxylin-Eosin gefärbt. Bei den pneumoni¬ 
schen Lungen kam ausserdem die Weigertsche Fibrinmethode zur 
Anwendung, diese letztere, um festzustellen, wie lange sich das Fibrin 
bei faulenden Lungeir erhält. Denn wenn sich erweisen lässt, dass 
das Fibrin bei der Fäulnis pneumonischer Lungen nach einer be¬ 
stimmten Zeit schwindet, so wird also das Fehlen von Fibrin in einer 
Lunge, die erst nach Ablauf dieser Zeit zur Untersuchung kommt, 
nicht gegen die Diagnose fibrinöse Pneumonie sprechen. 


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104 


Herbert Olivecrona, 


Selbstverständlich kann gegen die angewandte Methodik einge¬ 
wendet werden, dass sie nicht den natürlichen Verhältnissen entspricht, 
und dass bei Lungen, die in der Leiche faulen, die Verhältnisse viel¬ 
leicht etwas anders liegen können. Abgesehen davon, dass es kaum 
möglich wäre, eine solche Untersuchung unter den natürlichen ent¬ 
sprechenden Bedingungen durchzuführen, glaube ich jedoch, wie ich 
weiter unten ausgeführt habe, dass die Abweichungen von den natür¬ 
lichen Verhältnissen, die durch die angewandte Methodik bedingt sind, 
kaum das Resultat wesentlich beeinflussen. Ausserdem zeigte sich 
eine vollkommene Uebereinstimmung mit den Befunden, die Prof. 
Schridde an den Lungen von Leichen, die mehr oder minder stark 
in Verwesung begriffen waren, gewonnen hat. 

Ich lasse nun die Untersuchungen im einzelnen folgen. 

A. Normale Lungen. 

Fall l. Rechte Lunge. E.-Nr. 1282. 

Makroskopischer Befund am 2. Tage naoh dem Tode: Sehr blass. Geringe 
Anthrakose des oberen und mittleren Lappens. Ueber die Schnittfläche des Unter¬ 
lappens quillt hellgraue, schaumige Flüssigkeit. Herausgesohnittene Stücke aus 
sämtlichen Lappen schwimmen in Wasser. Zur mikroskopischen Untersuchung 
wurden Stücke des Unterlappens verwandt. 

Mikroskopischer Befund: Zahlreiche Alveolen von Fäulnisgasen ausgedehnt. 
An einer Stelle die Alveolen mit roten Blutkörperchen gefüllt. An einzelnen 
Stellen die Alveolen atelektatisch. 

Befund am 5. Tage: Geringe Fäulnis. Schnittfläohe dunkelrot. Her&usge- 
schnittene Stücke schwimmen in Wasser. 

Mikroskopischer Befund: Zahlreiche Alveolen durch Fäulnisgase ausgedehnt. 
Gute Kernfärbung. 

Befund am 9. Tage: Mässig fortgeschrittene Fäulnis. Schnittfläohe schwärz¬ 
lichrot. Herausgeschnittene Stücke sinken in Wasser unter. 

Mikroskopischer Befund: Das untersuchte Stück (dasselbe, mit dem die 
Schwimmprobe gemaoht wurde) zeigte die Alveolen grösstenteils mit roten Blut¬ 
körperchen ausgefüllt. Es waren hier sehr wenige Fäulnisgasbläschen zu finden. 
In den Alveolen kein Fibrin. 

Befund am 15. Tage: Ziemlich starke Fäulnis. Schnittfläche schwärzlich- 
grünlich. Substanz sehr weich. Herausgeschnittene Stücke schwimmen in Wasser. 

Mikroskopischer Befund: Keine Kernfärbung. Starkes Fäulnisemphysem. 

Befund am 22. Tage: Starke Fäulnis. Schnittfläche schwärzlich-grünlich. 
Substanz fast matschig. Herausgesohnittene Stücke schwimmen in Wasser. 

Mikroskopischer Befund: Die Fäulnisbläschen sind grösser geworden und 
durch Zerreissung der Alveolenwände zu Gruppen zusammengeflossen. Auch in 
den Interstitien und in den Gefässen Fäulnisgasbläschen. 


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Untersuchungen über die Fäulnisveränderungen der menschlichen Lnngen. 105 

Befand am 29. Tage: Sehr starke Fäulnis. Schnittfläche schwärzlich- 
grünlioh. Substanz vollkommen matschig. Herausgeschnittene Stücke sohwmmen 
in Wasser. , 

Mikroskopischer Befund: Derselbe Befund wie am 22. Tage. 

Fall 2 . Linke Lunge. S.-Nr. 45. 

Makroskopischer Befand am 3. Tage nach dem Tode: Stark gebläht. Ober¬ 
fläche glatt und spiegelnd. Nirgends Verdichtungen durchzufühlen. Ueber die 
Schnittfläche des Unterlappens quillt auf Druck reichlich graurötliche, schaumige 
Flüssigkeit. Herausgeschnittene Stüoke aus beiden Lappen sohwimmen in Wasser. 
Zur weiteren Untersuchung werden Stücke aus dem Oberlappen verwandt. 

Mikroskopischer Befund: Mässige Anthrakose. Die meisten Alveolen von 
Fäulnisgasen- ausgedehnt. 

Befand am 6 .Tage: Wenig Fäulnis. Schnittfläche dunkelrot und schwärzlich¬ 
rot. Herausgeschnittene Stücke schwimmen in Wasser. 

Mikroskopischer Befund: Gate Kernfärbung. Fast alle Alveolen von Fäulnis¬ 
gasen ausgedehnt. 

Befund am 9. Tage: Mässig fortgeschrittene Fäulnis. Schnittfläche schwärz¬ 
lichrot. Herausgesohnittene Stücke schwimmen in Wasser. 

Mikroskopischer Befund: Keine Kernfärbung. Fast alle Alveolen von Fäulnis¬ 
gasen ausgedehnt. 

Befand am 13. Tage: Makroskopisch und mikroskopisch derselbe Befand wie 
am 9. Tage. Auoh in den Interstitien und in den Gefässen Fäulnisgasbläschen. 

Befund am 14. Tage: Ziemlich starke Fäulnis. Schnittfläche sohwärzlioh- 
rötlioh. Substanz sehr weich. Herausgesohnittene Stüoke schwimmen in Wasser. 

Mikroskopisch derselbe Befund wie am 9. Tage. 

Befund am 21. Tage: Starke Fäulnis. Schnittfläche schwärzlich-grünlich. 
Substanz fast matschig. Herausgeschnittene Stücke schwimmen in Wasser. 

Mikroskopischer Befund: Die Alveolen teilweise etwas zusammengesunken, 
die meisten jedoch stark von Fäulnisgasen ausgedehnt, und die Septen vielfach 
zerrissen, so dass grosse Blasen entstanden sind. 

Befund am 28. Tage: Makroskopisch und mikroskopisch derselbe Befund wie 
am 21. Tage. 

Fall 3 . Rechte Lunge. S.-Nr. 79. 

Makroskopischer Befund am 1. Tage nach dem Tode: Etwas gebläht. Ober¬ 
fläche glatt. Sämtliche Lappen fühlen sich lufthaltig an. Schnittfläche hellrot. 
Herausgeschnittene Stücke aus sämtlichen Lappen schwimmen in Wasser. 

Mikroskopispher Befund: Normales Lungengewebe. Keine Fäulnisgas¬ 
bläschen, 

Befund am 4. Tage: Makroskopisch derselbe Befand frie am 1 . Tage. 

Mikroskopischer Befund: Gute Kernfärbung. Viele Alveolen von Fäulnis¬ 
gasen ausgedehnt. In einigen Alveolen Oedem und auch in diesen Fäulnisgas¬ 
bläschen, sowie in den Gefässen und Interstitien. 

Befund am 6 . Tage: Sehr wenig Fäulnis. Schnittfläche schwärzlich-rot. 
Herausgeschnittene Stücke schwimmen in Wasser. 


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106 Herbert Olivecrona, 

Mikroskopischer Befand: Schlechte Kernfärbung. Sonst derselbe Befand wie 
am 4.«Tage. 

Befand am 8. Tage: Makroskopisch derselbe Befand wie am 6. Tage. 

Mikroskopischer Befund: Schlechte Kernfarbung. Fast alle Alveolen durch 
Fäulnisgase ausgedehnt and vielfach die Septen zerrissen. 

Befand am 10. Tage: Makroskopisoh derselbe Befand wie am 6. Tage. 

Mikroskopischer Befand: Keine Kernfärbang, sonst derselbe Befand wie am 
8 . Tage. 

Befand am 14. Tage: Mässig fortgeschrittene Fäulnis. Schnittfläche 
schwärzlicbrot. Herausgeschnittene Stöcke schwimmen in Wasser. 

Mikroskopisch: Derselbe Befand wie am 8. Tage. 

Befand am 17. Tage: Ziemlich starke Fäulnis. Sohnittfläohe schwärzlichrot. 
Heraasgeschnittene Stöcke schwimmen in Wasser. 

Mikroskopisoh derselbe Befund wie am 8. Tage. 

Befand am 22. Tage: Makroskopisch and mikroskopisch derselbe Befand 
wie am 8. Tage. 

Befand am 28. Tage: Starke Fäulnis. Schnittfläche sohwärzlich-grünlich. 
Substanz sehr weich. Herausgeschnittene Stücke schwimmen in Wasser. 

Mikroskopisch derselbe Befund wie vorher. 

Befund am 39. Tage: Sehr starke Fäulnis. Sohnittfläche schwärzlich-grün¬ 
lich. Substanz fast matschig. Heraasgeschnittene Stücke schwimmen in Wasser. 

Mikroskopischer Befund: Keine Kernfärbang. An einigen Stellen sind die 
Alveolen etwas zusammengesanken, die meisten jedoch stark daroh Fäulnisgase 
ausgedehnt, und grosse Gruppen Alveolen, deren Septen zerrissen sind, bilden 
eine grosse Blase, die gewisse Aehnlichkeit mit den Bildern bei starkem Em¬ 
physem hat. 

Fall 4. Linke Lunge. E.-Nr. 2557. 

Makroskopischer Befand am 3. Tage naoh dem Tode: Besonders in den 
unteren Partien deutlich gebläht. Oberfläohe überall glatt. Die Luftröhrenäste 
zeigen eine sehr deutliche Längsstreifung. Sonst kein besonderer Befund. Heraas¬ 
geschnittene Stücke aus beiden Lappen schwimmen in Wasser. Zar weiteren 
Untersuchung gelangten Stücke aus dem Unterlappen. 

Mikroskopischer Befund: Mässige Russeinlagerung, sonst normale Lunge. 
Ziemlich zahlreiche Alveolen durch Fäulnisgase ausgedehnt. 

Befund am 7. Tage: Schnittfläche dankelrot. Heraasgeschnittene Stüoke 
schwimmen in Wasser. 

Mikroskopischer Befund: Die meisten Alveolen duroh Fäulnisgase mässig 
ausgedehnt. 

Befund am 10. Tage: Makroskopisch derselbe Befund wie.am 7. Tage. 

Mikroskopischer Befand: Ziemlich gute Kernfärbung. Die Fäulnisgas¬ 
bläschen etwas grösser als am 7. Tage, and durch Zerreissang der Septen die 
Alveolen vielfach zu grossen Blasen zusammengeflossen. Auch in den Gefässen 
und Interstitien Fäulnisgasbläschen. 

Befund am 13. Tage: Makroskopisoh dasselbe Bild wie am 10. and 
7. Tage. 


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.Untersuchungen über die Fäulnisveränderungen der menschlichen Lungen. 107 

Mikroskopischer Befund: Keine Kernfärbung. Fast alle Alveolen durch 
Fäulnisgase ausgedehnt. Grosse Gruppen von Alveolen, deren Septen zerrissen 
sind, bilden eine grosse Blase. Das in den Gelassen und Alveolen befindliche 
Fäulnisemphysem tritt sehr gegen das in den Alveolen vorhandene zurück. 

Befund am 17. Tage: Schnittfläohe schmutzig sohwärzlichrot. Heraus- 
gesohnittene Stücke schwimmen in Wasser. 

Mikroskopisoh dasselbe Bild wie am 13. Tage. 

Befund am 21. Tage: Makroskopisoh und mikroskopisch derselbe Befund wie 
am 17. Tage. 

Befund am 25. Tage: Schnittfläche schwärzliohrot. Substanz sehr weich. 
Herausgeschnittene Stücke schwiinmen in Wasser. 

Mikroskopischer Befund: Keine Kernfärbung. Die bei weitem meisten Al¬ 
veolen von Fäulnisgasen ausgedehnt. Ein Teil der Alveolen ist jedoch zusammen¬ 
gesunken. 

Befund am 29. Tage: Starke Fäulnis. Schnittfläche schwärzlich-grünlich. 
Substanz sehr weioh. Herausgeschnittene Stücke schwimmen, in Wasser. 

Mikroskopisoh dasselbe Bild wie am 25. Tage. 

Befund am 33. Tage: Makroskopisch derselbe Befund wie am 29. Tage. 

Mikroskopischer Befund: Karne Kernfärbung. Die meisten Alveolen ziemlich 
stark zusammengesunken, in anderen finden sich nooh reichlich Fäulnisblasen. 

In sämtlichen untersuchten Fällen von 'normalen Lungen zeigte 
sich also, dass die Fäulnis die Schwimmfähigkeit der Lungen nicht 
beeinträchtigt. Nur in einem Fall (Fall 1) fiel die Schwimmprobe 
negativ aus, was aber seine Erklärung darin findet, dass in dem 
untersuchten Stücke die Alveolen fast ganz von roten Blutkörperchen 
ausgefüllt waren. In sämtlichen Fällen wurde eine starke Entwicklung 
von Fäulnisgasbläschen beobachtet, die entsprechend den Erfahrungen 
Balthazards und Lebruns an Lungen, die geatmet haben, haupt¬ 
sächlich in den Alveolen steckten und vielfach durch ihre starke 
Eutwicklung zur Zerreissung der Septen führten, so dass an manchen 
Stellen an starkes Emphysem erinnernde Bilder entstehen. Doch 
wurde auch in den Interstitien eine deutliche Entwicklung von Fäulnis¬ 
blasen beobachtet. Bei weit fortgeschrittener Fäulnis wurde das 
Fäulnisemphysem deutlich geringer, was wohl durch Auspressen der 
Gasbläschen durch die Schwere des zusammensinkenden Gewebes be¬ 
dingt ist. Immerhin überwog auch nach 6 wöchiger Fäulnis (Fall 3) 
die Zahl der durch Fäulnisgase ausgedehnten Alveolen diejenige der 
zusammengesunkenen ganz erheblich. Es dürfte wohl daher sehr 
wahrscheinlich sein, dass normale Lungen, solange überhaupt 
ein geweblicher Zusammenhang noch besteht, ihre Schwimm¬ 
fähigkeit durch die Fäulnis nicht verlieren. 


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Herbert Olivecrona, 




B. Pneumonische Lungen. 

Fall 5 . S.-Nr. 28. Linke Lange. Fibrinöse Pneumonie. (Rote Hepatisation.) 

Makroskopischer Befand am 2. Tage nach dem Tode. Die Lunge ist auf¬ 
fallend gross. Die Oberfläche von massig reiohlich festhaftenden Bindegewebs* 
fetzen sowie von dicken, matten, graugelbliohen, leicht abstreifbaren Auflagerungen 
bedeckt. Die Lunge fühlt sich leberartig fest an. Die Schnittfläohe sehr feucht, 
von schmutzig grauroter Farbe, fein gekörnt. Herausgeschnittene Stücke sinken in 
Wasser unter. 

Mikroskopischer Befand: Die Alveolen mit Leukozyten und sehr reichlich 
Fibrin ausgefüllt. Vereinzelte Fäulnisgasbläsoheh. 

Befund am 6 . Tage: Schnittfläche schmutzig graurot. Herausgeschnittene 
Stücke sinken in Wasser. 

Mikroskopischer Befund: Gute Kernfärbung. Reichlich Fibrin. Im Schnitt 
keine Fäulnisgasbläschen. 

Befund am 11 . Tage: Schnittfläche schmutzig graurot. Substanz ziemlich 
weich. Herausgeschnittene Stücke schwimmen in Wasser. 

Mikroskopischer Befund: Ziemlich schlechte Kernfärbung. Struktur der 
Alveolen noch gut erhalten. In ziemlich zahlreichen Alveolen reichlich Fibrin. 
Wenige Fäulnisgasbläschen, die hauptsächlich in den Gefässen und Interstitien 
liegen. 

Befund am 18. Tage: Lunge sehr faul. Schnittfläohe schmutzig gelblich¬ 
rötlich. Substanz sehr weich. Herausgeschnittene Stücke sinken in Wasser unter. 

Mikroskopischer Befund: Keine Kernfärbung. Die Alveolen zum Teil nicht 
gegeneinander abgrenzbar. Das Fibrin grösstenteils geschwunden, nur in ganz 
vereinzelten Alveolen findet sich noch Fibrin. Wenige Fäulnisgasbläsohen. 

Befund am 24. Tage: Sehr starke Fäulnis. Substanz fast vollkommen 
matsohig. Schnittfläche schwärzlich-grünlich. Herausgeschnittene Stücke sinken 
in Wasser unter. 

Mikroskopischer Befand: Keine Kernfärbung. Das Fibrin vollkommen ge¬ 
schwunden. Wenige Fäulnisgasbläschen. Die zelligen Massen in den Alveolen 
noch deutlich zu erkennen, so dass die Diagnose Pneumonie sich einwandfrei 
stellen lässt. 

Fall 6 . E.-Nr. 1884. Fibrinöse Pneumonie der reohten Lunge. Graue Hepa¬ 
tisation. 

Makroskopischer Befund am 3. Tage nach dem Tode: Lunge auffallend gross, 
sich in sämtlichen Lappen leberartig fest anfühlend. An der Spitze in massiger 
Ausdehnung festhaftende Bindegewebsfetzen. Ausserdem an der Vorderfläche des 
Oberlappens dicke, gelbliche, abstreifbare Ablagerungen. Sonst Ober- und Unter¬ 
lappen in ganzer Ausdehnung mit matten, abziehbaren Belägen bedeckt. Die 
Sohnittfläche sämtlicher Lappen fein gekörnt, im Oberlappen gelblichgrau, im 
Mittellappen und unteren Teil des Unterlappens gelblichrot gefärbt. Heraus¬ 
geschnittene Stücke aus sämtlichen Lappen sinken in Wasser unter. Zur weiteren 
Untersuchung wurden Stücke aus dem Oberlappen benutzt. 

Mikroskopischer Befund: In den Alveolen Fibrinnetze mit sehr reichlich 
Leukozyten. Keine Fäulnisgasbläschen. 


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Untersuchungen über die Fäulnisveränderungen der menschlichen Lungen. 109 

Befund am 6 . Tage: Ziemlich wenig Fäulnis. Schnittfläche grünlich-grau. 
Herausgeschnittene Stücke sinken in Wasser unter. 

Mikroskopischer Befund: Alveolen mit Leukozyten und Fibrinnetzen gefüllt. 
In den Intersti.tien ganz vereinzelte Gasbläschen. 

Befand am 10. Tage: Makroskopisch derselbe Befund wie am 6 . Tage. Her- 
ausgeschnittene Stücke sinken in Wasser unter. 

Mikroskopischer Befund: Ziemlioh schlechte Kernfärbung. In den Alveolen 
zahlreiche Leukozyten und reichlich Fibrin. Im Schnitt in mässiger Zahl Gas- 
bläsohen vorhanden, die hauptsächlich in den Gelassen und Jnterstitien, zum Teil 
auoh in den Alveolen liegen. 

Befund am 14. Tage: Ziemlich starke Fäulnis. Schnittfläche schmutzig röt- 
licbgrau. Herausgeschnittene Stüoke sinken teils, teils schwimmen sie in Wasser. 

Mikroskopischer Befand: Sehr sohlechte Kernfärbung. Die Alveolen mit 
zahlreichen Leukozyten und sehr reichlich Fibrin gefüllt. Im Schnitt Fäulnisgas¬ 
bläschen in ziemlich geringer Zahl vorhanden. 

Befand am 18. Tage: Makroskopisch derselbe Befund wie am 14. Tage. 
Stücke sinken in Wasser unter. 

Mikroskopischer Befund: Keine Kernfärbung. Die Alveolen zum Teil nicht 
mehr deutlioh gegeneinander abgegrenzt, und ein Teil der Alveolen ist ziemlich 
stark zusammengesunken. Auch an Weigert-Präparaten ist kein Fibrin mehr 
nachweisbar. Im Schnitt massig reichliche Gasbläschen, die auf Interstitien und 
Alveolen ziemlich gleichmässig verteilt sind. 

Befand am 21 ..Tage: Starke Fäulnis. Schnittfläche schmutzig grünlich-grau. 
Substanz sehr weich. Herausgeschnittene Stücke sinken in Wasser unter. 

Mikroskopischer Befund: Keine Kernfärbung. Die Alreolenstruktur zum Teil 
noch erhalten. Kein Fibrin nachweisbar. Sehr wenige Gasbläschen. 

Befund am 25. Tage: Sowohl makroskopisch wie mikroskopisch derselbe Be* 
fund wie am 21. Tage. 

Befand am 28. Tage: Makroskopisch derselbe Befund wie am 21. Tage. 

Mikroskopischer Befund: Keine Kernfärbung. Kein Fibrin nachweisbar. Ver¬ 
einzelte grosse Gasbläschen im Schnitt. 

Befand am 31. Tage. Sehr starke Fäulnis. Schnittfläohe schmutzig grün¬ 
lich-schwärzlich. Substanz fast matschig. Herausgeschnittene Stücke sinken in 
Wasser unter. 

Mikroskopischer Befund: Keine Kernfärbung. Die Alveolen ziemlich stark 
zusammengesunken. Kein Fibrin nachweisbar. Vereinzelte Gasbläschen. 

Befund am 35. Tage: Makroskopisch und mikroskopisch derselbe Befand wie 
am 31. Tage. In den Alveolen dichte zeitige Massen deutlich zu erkennen, so dass 
die Diagnose Pneumonie ohne weiteres klar ist. Auch bei allen vorhergehenden 
Untersuchungen war dieser Befund stets zu erheben. 

Fall 7 . E.-Nr. 2147. Fibrinöse Pneumonie des rechten Unterlappens. Rote 
Hepatisation. 

Makroskopischer Befund am 3. Tage nach dem Tode: An derOberfläche des 
Unterlappens, der sich leberartig fest anfühlt, leioht abstreifbare, matte Auflage¬ 
rungen. Die Schnittfläche des Unterlappens sehr feucht, graurot und dunkelrot 
gefleokt, feinkörnig. Herausgesohnittene Stücke sinken in Wasser unter. Ober- 


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110 Herbert Olivecrona, 

fläche des Ober« and Mittellappens glatt. Diese Lappen überall lufthaltig and ohne 
Befand. 

Mikroskopischer Befund: Die Alveolen äasgefällt mit dichten Fibrinnetzen, 
in denen sich bald weniger reichlich, bald sehr reichlich Leukozyten befinden. In 
Alveolen, die weniger Leukozyten enthalten, auch rote Blutkörperchen. 

Befund am 7. Tage: Wenig Fäulnis. Schnittfläche schmutzig dunkelrot. 
Substanz ziemlich weich. Herausgesohnittene Stücke schwimmen in Wasser. 

Mikroskopisoher Befund: In den meisten Alveolen reichlioh Fibrin. Im 
Schnitt roässig zahlreiche, meist nur kleine Gasbläschen, die ziemlich gleichmässig 
auf Alveolen und Interstitien verteilt sind. 

Befund am 10. Tage: Mässige Fäulnis. Schnittfläche sohmutzig schwärzlich¬ 
rot. Substanz ziemlioh weich. Herausgeschnittene Stücke sinken in Wasser unter. 

Mikroskopischer Befund: Die Alveolen mit bald wenigen, bald sehr zahl¬ 
reichen Leukozyten ausgefüllt und gewöhnlich mässig reichlich Fibrin. Wenige 
Gasbläschen, hauptsächlich in den Alveolen liegend. 

Befand am 13. Tage: Makroskopisch derselbe Befund wie am 10. Tage. 

Mikroskopisoher Befand: Schlechte Kernfärbnng, sonst derselbe Befand wie 
am 10. Tage. 

Befund am 16. Tage: Ziemlich starke Fäulnis. Sohnittfläche schmutzig 
schwärzlich-rot. Herausgeschnittene Stüoke sinken in Wasser unter. 

Mikroskopischer Befund: Sehr schlechte Kernfärbung. Die Alveolen zum 
Teil nicht deutlich gegeneinander abgrenzbar. Nur in vereinzelten Alveolen Fibrin 
nachweisbar. Im Schnitt vereinzelte Gasbläschen, die hauptsächlich in den Alveolen 
liegen. 

Befund am 19. Tage: Starke Fäulnis. Schnittfläche schmutzig schwärzlich- 
rot. Substanz sehr weich. 

Mikroskopischer Befund: Keine Kernfärbung. Im Schnitt vereinzelte Gas¬ 
bläschen, hauptsächlich in den Alveolen liegend. In diesem Schnitt enthielten 
zahlreiche Alveolen ziemlich reichlich Fibrin. 

Befund am 21. Tage: Makroskopisch derselbe Befand wie am-19. Tage. 

Mikroskopischer Befund: Keine Kernfärbnng. Die Alveolen meistens noch 
gegeneinander abgrenzbar. An Weigert-Präparaten sieht man noch in zahlreichen 
Alveolen Fibrinnetze. Im Schnitt vereinzelte Gasbläsohen, auf Interstitien und 
Alveolen ziemlich gleichmässig verteilt. 

Befund am 25. Tage: Makroskopisch derselbe Befund wie am 19. und 
21. Tage. 

Mikroskopisoher Befund: An Weigert-Präparaten ist in zahlreichen Alveolen 
Fibrin nachweisbar. Vereinzelte Gasbläschen, hauptsächlich in den Alveolen 
liegend. 

Befund am 27. Tage: Starke fäulnis. Schnittfläche schmutzig schwärzlich- 
rot. Substanz sehr weich. Herausgeschnittene Stüoke sinken in Wasser unter. 

Mikroskopischer Befund: Derselbe Befund wie am 25. Tage. 

Befand am 33. Tage: Sehr starke Fäulnis. Schnittfläche schwärzlich-rot. 
Substanz matschig. Herausgeschnittene Stücke sinken in Wasser unter. 

Mikroskopischer Befund: Keine Kernfärbung. Die Alveolen zum Teil nicht 
gegeneinander abgrenzbar. ln vereinzelten Alveolen Fibrin nachweisbar. Im 


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Untersuchungen über die Fäulnis Veränderungen der menschlichen Lungen. 111 

Schnitt vereinzelte kleinere Gasbläschen, die auf Interstitien und Alveolen ziemlich 
gleichmässig verteilt sind. 

Befund am 39. Tage: Hochgradige Fäulnis. Schnittfläohe schwärzlich. 
Substanz dick-breiig. Herausgeschnittene Stöcke sinken in Wasser unter. 

Mikroskopischer Befund: Kein Fibrin nachweisbar. Sonst derselbe Befund 
wie 'am 33. Tage. Die zelligen Massen in den Alveolen sind auch hier nooh sehr 
deutlich erkennbar, ebenso in den Präparaten aus allen vorhergehenden Unter* 
suchungs tagen. 

Pall 8 . S.-Nr. 81. Linke Lunge. Fibrinöse Pneumonie. 

Makroskopischer Befund am 3. Tage nach dem Tode: Sehr gross. Ober¬ 
fläche des Unterlappens von dioken, matten, graugelblichen, abstreifbaren Auf¬ 
lagerungen bedeckt. Schnittfläche sohmutzig-graurot, feingekörnt. Heraus¬ 
geschnittene Stücke sinken in Wasser unter. 

Mikroskopischer Befund: Die Alveolen von wenig Fibrin, Leukozyten und 
abgestossenen Alveolenepithelien ausgefüllt. 

Befund am 5. Tage: In diesem Stöck dichtere Fibrinnetze, sonst makro¬ 
skopisch und mikroskopisch derselbe Befund wie vorher. 

Befand am 8. Tage: Wenig Fäulnis. Schnittfläche schmutzig-graurötlich. 
Herausgeschnittene Stücke sinken in Wasser unter. 

Mikroskopischer Befund: Die Kernfärbung noch einigermassen gut. Die Alve¬ 
olen enthalten stellenweise dichte Fibrinnetze. Im Schnitt keine Fäalnisgasbläschen. 

Befund am 11. Tage: Mässig fortgeschrittene Fäulnis. Schnittfläche schmutzig 
rötlicbgrau. Heraasgeschnittene Stücke sinken in Wasser unter. 

Mikroskopischer Befund: Kernfärbung wie am 8. Tage. In zahlreichen 
Alveolen dichte Fibrinnetze, besonders in Alveolen, die wenige Leukozyten ent¬ 
halten, während dagegen in Alveolen, in denen sioh zahlreiche Leukozyten be¬ 
finden, wenig Fibrin vorhanden ist. Keine Fäulnisgasbläschen. 

Befund am 15. Tage: Makroskopisch derselbe Befund wie am <11. Tage. 

Mikroskopischer Befund: Etwas schlechtere Kernfärbung. Keine Gasbläschen. 

Befund am 18. Tage: Ziemlich starke Fäulnis. Schnittfläche schwärzlich¬ 
rot. Substanz ziemlich weich. Herausgeschnittene Stücke sinken in Wasser unter. 

Mikroskopischer Befund: Schlechte Kernfärbung. Die Alveolen noch gut 
gegeneinander abgrenzbar. Nur noch in einzelnen Gruppen von Alveolen sind 
Fibrinnetze vorhanden. Im Schnitt keine Gasbläschen. 

Befund am 23.Tage: Starke Fäulnis. Schnittfläohe schwärzlich-rot. Substanz 
sehr weich. Herausgeschnittene Stücke sinken in Wasser unter. 

Mikroskopischer Befund: Keine Kernfarbung. Die Alveolen zum Teil nicht 
mehr deutlich gegeneinander abgrenzbar. Nur in einzelnen Alveolen Fibrin nach¬ 
weisbar. Im Schnitt einzelne kleine Gasbläschen, die durch eine glatte, scharfe 
Linie gegen die umgebenden Zellmassen abgegrenzt sind und sowohl in den 
Alveolen wie in Gefässen und Interstitien liegen. 

Befund am 29. Tage: Sehr starke Fäulnis. Schnittfläohe schwärzlichrot. 
Substanz fast matschig. Herausgescbnittene Stücke sinken in Wasser unter. 

Mikroskopischer Befund: Keine Kernfarbung. In diesen Schnitten sind in 
fast allen Alveolen die Fibrinnetze gut gefärbt. Das Fibrin auch in Hämatoxylin- 
Eosinpräparaten gut erkennbar. Im Schnitt vereinzelte kleine Gasbläscben. 


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Herbert Olivecrona, 


Befand am 39. Tage: Hochgradige Fäulnis. Schnittfläche schwärzlich-grün¬ 
lich. Substanz fast vollkommen matschig. Herausgeschnittene Stöcke sinken in 
Wasser unter. 

Mikroskopischer Befand: Kein Fibrin mehr nachweisbar. An Hämatoxylin- 
Eosinschnitten in den Alveolen dichte zeitige Massen deutlich erkennbar. Auch 
bei dieser Färbung keine Fibrinfäden mehr feststellbar. Vereinzelte Fäulnisgas¬ 
bläschen, hauptsächlich in den Gefässen und Interstitien liegend. 

Fall 9 . S.-Nr. 81. Rechte Lunge. Fibrinöse Pneumonie. Graue' He* 
pätisation. 

Makroskopischer Bofund am 3. Tage nach dem Tode: Sehr gross. An der 
Oberfläche des Unterlappens dicke, abstreifbare, graugelbliche Auflagerungen. 
Der Unterlappen fühlt sich leberartig fest an. Die Schnittfläche graugelblich und 
rötlichgrau. Herausgeschnittene Stücke sinken in Wasser unter. 

Mikroskopischer Befund: Die Alveolen von sehr zahlreichen Leukozyten und 
Fibrinnetzen ausgefüllt, die besonders dicht sind in Alveolen, die nur wenige 
Leukozyten enthalten. Keine Gasbläschen. 

Befund am 3. Tage: Makroskopisch -und mikroskopisch derselbe Befund wie 
vorher. 

Befund am 6 . Tage: Wenig Fäulnis. Sohnittfläche graurötlioh. Heraus¬ 
geschnittene Stüoke sinken in Wasser unter. 

Mikroskopisoher Befund: Kernfärbung noch ziemlich gut. In zahlreichen 
Alveolen dichte Fibrinnetze. Vereinzelte kleine Gasbläschen, die auf Alveolen 
und Interstitien ziemlich gleichmässig verteilt sind. 

Befund am 9. Tage: Mässig fortgeschrittene Fäulnis. Schnittfläche rötlich¬ 
grau bis schwärzliohrot. Herausgeschnittene Stücke sinken in Wasser unter. 

Mikroskopischer Befand: Schlechte Kernfärbung. In einigen Alveolen, haupt¬ 
sächlich in solchen, die wenige Leukozyten enthalten, reiohlich Fibrin. Im Schnitt 
vereinzelte Gasbläschen, hauptsächlich in den Gefässen und Interstitien liegend. 

Befund am 13.Tage: Makroskopisch und mikroskopisch derselbe Befund wie 
am 9. Tage. 

Befund am 16. Tage: Makroskopisch derselbe Befund wie am 9. und 
13. Tage. 

Mikroskopischer Befand: Keine Kernfärbung. Die Alveolen noch gut gegen¬ 
einander abgegrenzt. In ziemlich vielen Alveolen noch reichlioh Fibrin. Im 
Schnitt einige kleinere und grössere Gasbläsohen, hauptsächlich in den Gefässen 
und Insterstitien liegend. 

Befund am 21.Tage: Starke Fäulnis. Schnittfläche scbwärzlichrot. Substanz 
sehr weich. Herausgesohnittene Stücke sinken in Wasser unter. 

Mikroskopischer Befand: Keine Kernfärbung. Kein Fibrin naohweisbar. 
Im Schnitt vereinzelte Gasbläscben, die meistens in den Gefässen und Inter¬ 
stitien liegen. 

Befund am 27. Tage: Sehr starke Fäulnis. Schnittfläche schwärzlichrot. 
Substanz fast matschig. Herausgesohnittene Stücke sinken in Wasser unter. 

Mikroskopischer Befand: Keine Kernfärbung. In einzelnen Alveolen ist in 
diesem Sohnitt noch Fibrin vorhanden. Es finden sich in den zeitigen Massen in 
den Alveolen reichlich, teilweise ziemlich lange, bei Weigert blau gefärbte 


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Untersuchungen über die Fäulnisveränderungen der menschlichen Lungen. 113 

Bakterienfäden, die nicht mit Fibrin verwechselt werden dürfen. Im Schnitt sehr 
wenige Fäulnisgasbläschen, die meistens in den Gefässen und Interstitien liegen. 

Befund am 37. Tage: Hochgradige Fäulnis. Schnittfläche schwärzlich-grün¬ 
lich. Substanz vollkommen matschig. Herausgescbnittene Stücke sinken in 
Wasser unter. 

Mikroskopischer Befund: Keine Kernfärbung. Kein Fibrin. Im Schnitt in 
geringer Zahl kleine Fäulnisgasbläschen, die hauptsächlich in den Gelassen und 
Interstitien liegen. Bei Hämatoxylin-Eosinfarbung sind wie an allen vorher¬ 
gehenden Tagen noch deutlich die 'heiligen Massen erkennbar, so dass ohne 
weiteres die Diagnose Pneumonie gestellt werden kann. 

Fall 10 und u. E.-Nr. 2556. 

Makroskopischer Befund am 3. Tage nach dem Tode: Fibrinöse Pneumonie 
der rechten Lunge mit roter Hepatisation des Oberlappens und teilweise auch des 
Unterlappens, sowie grauer Hepatisation des Mittellappens und eines Teiles des 
Unterlappens. Zur Untersuchung gelangten Stücke aus dem Oberlappen (O.-L.) 
und aus dem Mittellappen (M.-L.). Die Lunge sehr gross. An der Oberfläohe 
ausser festhaftenden Bindegewebsfetzen ziemlich dicke, abstreifbare, gelbliche 
Beläge, besonders über dem Unterlappen. Sämtliche Lappen fühlen sioh leberartig 
fest an. Die Schnittfläche des Oberlappens (Fall 10) ist fein gekörnt, graurot, 
die des Mittellappens (Fall 11) zum grössten Teil mehr gelblich. Stücke aus beiden 
Lappen sinken in Wasser unter. 

Mikroskopischer Befund: Oberlappen: Die Alveolen von dichten Fibrinnetzen 
und zahlreichen Leukozyten ausgefüllt. 

Befund am 7. Tage: O.-L. Schnittfläohe schmutzig graurot. Substanz massig 
fest. Herausgeschnittene Stücke schwimmen in Wasser. 

Mikroskopischer Befund: ln den Alveolen reichlich Fibrin. Im Schnitt ziem¬ 
lich zahlreiche Fäulnisgasbläschen, die sowohl in den Gefässen und Interstitien 
und hauptsächlich in diesen, wie in den Alveolen liegen. 

M.-L. Schnittfläche graugelblich. Substanz mässig fest. Herausgeschnittene 
Stücke schwimmen in Wasser. 

Mikroskopischer Befund: In den Alveolen sehr reichlich Fibrin. Zahlreiche 
kleinere und grössere Fäulnisgasbläsoben, die zum Teil auch in den Alveolen 
liegen. 

Befund am 10. Tage: Stücke aus dem Oberlappen*schwimmen, teils sinken 
sie in Wasser unter. Sonst in beiden Lappen derselbe makroskopische und mikro¬ 
skopische Befuud wie am 7. Tage. 

Befund am 13. Tage: O.-L. Schnittfläche schmutzig schwärzliohrot. Substanz 
mässig fest. Herausgesohnittene Stücke schwimmen, teils sinken sie in Wasser unter. 

Mikroskopischer Befund: Ziemlich gute Kernfärbung. In zahlreichen Al¬ 
veolen reichlich Fibrin. Fäulnisgasbläschen in geringer Zahl vorhanden. 

M.-L. Schnittfläche grünlioh-gelblich. Substanz mässig fest. Herausge¬ 
schnittene Stücke schwimmen in Wasser. 

Mikroskopischer Befund: Ziemlich gute Kernfärbung. in den meisten Al¬ 
veolen reichlich Fibrin. Ziemlich zahlreiche Fäulnisgasbläschen, von denen die 
meisten in den Alveolen liegen. 

Befund am 17. Tage: Makroskopisch derselbe Befund wie am 13. Tage. 

Vierieljahrsschrift f. ger. Med. u. öflF. San.-Wesen. 3. Folge. Bd. 00. H. 1. g 


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Herbert Oliveorona, 


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Mikroskopischer Befand: Schlechte Kernfärbung. Sonst derselbe Befund 
wie vorher. 

Befand am 21.Tage: O.-L. Schnittfläche schmutzig sohwärzliohrot. Substanz 
etwas weich. Heraasgeschnittene Stücke sohwimmen, teils sinken sie inWasser unter. 

Mikroskopischer Befund: Keine Kernfärbung. In den meisten Alveolen 
reichlioh Fibrin. Zahlreiche Gasbläschen, die meistens in den Interstitien und 
Gefässen liegen. 

M.-L. Schnittfläche rötlich-gelblich. Substanz- etwas weich. Qerausge- 
schnittene Stücke schwimmen in Wasser. 

Mikroskopischer Befund: Scbleohte Kernfärbung, ln fast allen Alveolen 
reichlich Fibrin. Zahlreiche Gasbläschen, die hauptsächlich in denAlveolen liegen. 

Befund am 25. Tage: Makroskopisch derselbe Befund wie am 21. Tage. 

Mikroskopischer Befund': O.-L. Keine Kernfärbung. Ziemlich zahlreiche Al¬ 
veolen enthalten reichlich Fibrin. Gasbläsohen in geringer Zahl vorhanden. — 
M.-L. Derselbe Befund wie im O.-L. 

Befand am 29. Tage: O.-L. Starke Fäulnis. Schnittfläche sohwärzlich- 
grünlich. Substanz sehr weich, Herausgeschnittene Stüoke sinken in Wasser unter. 

Mikroskopischer Befund: Keine Kernfärbung. In vereinzelten Alveolen 
Fibrin nachweisbar. Fäulnisgasbläsoben in Interstitien und Alveolen. 

M.-L. Makroskopisch derselbe Befund wie im O.-L. 

Mikroskopischer Befund:. Keine Kernfärbung. Die Alveolen zum Teil nicht 
gegen einander abgrenzbar. Das Fibrin vollkommen geschwunden. Fäulnisgas- 
bläschen in geringer Zahl vorhanden und meistens in Gefässen und Alveolen 
liegend. 

Befund am 34. Tage: O.-L. Sehr starke Fäulnis. Schnittfläche schwärzlich¬ 
grünlich. Substanz sehr weich. Herausgeschnittene Stücke sinken inWasser unter. 

Mikroskopisch derselbe Befund wie am 29. Tage. 

M.-L. Makro- und mikroskopisch derselbe Befund wie am 29. Tage, ln den 
Alveolen sind die zeitigen Massen noch deutlich erkennbar. 

Die Schwimroprobe bei pneumonischen Lungen zeigte also, dass, 
wenn keine Fäulnis vorhanden war, die herausgeschnittenen Stücke 
ausnahmslos untersanken. Weiter zeigte sich, dass in allen Fällen 
mit Ausnahme der Fälle 8 und 9 während eines gewissen 
Stadiums der Fäulnis die herausgeschnittenen Stücke wieder 
schwimmfähig werden, um dann im fortgeschrittenen Stadium 
der Fäulnis wieder unterzusinken. Da die Lungen nicht jeden 
Tag untersucht wurden, lässt sich nicht exakt sagen, wann die Schwimm¬ 
fähigkeit wieder auftritt bzw. verschwindet. In drei Fällen waren die 
herausgeschnittenen Stücko nach 7 Tagen wieder schwimmfähig (Fälle 7, 
10 und 11), in einem Falle (Fall 6) nach 10 und in einem Falle 
(Fall 5) nach 11 Tagen. Die Dauer der Schwimmfähigkeit scheint 
innerhalb weiter Grenzen schwanken zu können. In drei Fällen wurden 
nur bei einer Untersuchungsgelegenheit die herausgeschnittenen Stücke 


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Untersuchungen über die Fäulnisveränderungen der menschlichen Lungen. 115 

schwimmfähig gefunden, während in zwei Fällen während 21 Tagen 
die Schwimmfähigkeit erhalten blieb. 

Fibrin konnte noch nachgewiesen werden bei: 

Fall 9 . . . nach 30 Tagen 
„ 10 . . . „34 „ 

„11... „ 25 „ 

Das Fibrin scheint sich also während ziemlich wechselnder Zeit 
erhalten zu können, da dieselbe zwischen 18 and 34 Tagen schwankt. 
Da das Material za klein ist, um bestimmte Schlüsse über die hier 
bestimmenden Ursachen zu ziehen, kann ich nur vermutungsweise 
aussprechen, dass für die Dauer des Erhaltenseins des Fibrins wahr¬ 
scheinlich massgebend ist einmal die Lufttemperatur und zweitens das 
Stadium der Pneumonie. Denn die beiden ersten Fälle, in denen das 
Fibrin nur während 18 Tagen nachweisbar war, wurden während der 
warmen Monate Juli und August aufgehoben, während die anderen 
Fälle in den kühleren Herbstmonaten untersucht wurden. Weiter 
scheint das Fibrin, was ja auch a priori wahrscheinlich ist, schneller 
zu schwinden, wenn sich die Lungen in grauer Hepatisation befinden, 
als wenn in roter. Besonders augenfällig ist dieses in den Fällen 10 
und 11, wo 10 den Oberlappen (rote Hepatisation) und 11 den Mittel¬ 
lappen (graue Hepatisation) derselben Lunge darstellt, ln dem in 
roter Hepatisation befindlichen Oberlappen war das Fibrin noch nach 
34 Tagen nachweisbar, im Mittellappen nur nach 25 Tagen. Es muss 
betont werden, dass in den späteren Stadien der Fäulnis es für ge¬ 
wöhnlich nur durch Fibrinfärbung gelingt, das Fibrin aufzufinden. 
Denn das Fibrin schwindet nicht in allen Alveolen gleichzeitig, so 
dass am Ende nur vereinzelte Alveolen fibrinhaltig sind, die dann nur 
durch Fibrinfärbung auffindbar werden.* Man muss darauf achten, 
dass man die bei Weigert*Färbung schön hervortretenden Fäulnis¬ 
stäbchen, die oft in langen, fadenähnlichen Ketten liegen, nicht mit 
Fibrin verwechseln darf. 

Die Entwicklung des Fäulnisemphysems blieb gewöhnlich weit 
hinter der in normalen Lungen zurück. Meistens lagen die Fäulnis¬ 
gasbläschen hauptsächlich in den Interstitien oder in den Gefässen. 
Doch konnte ich auch oft in den Alveolen sichere Fäulnisgasbläschen 
nachweisen. Es war überhaupt die Lagerung der Fäulnisbläschen keine 
regelmässige, da auch in derselben Lunge die meisten Fäulnisbläschen 
bald in den Gefässen und Interstitien, bald in den Alveolen lagen. 

8 * 


Fall 

5 . . 

. nach 18 

Tagen 

11 

6 . . 

. „18 

71 

n 

7 . . 

. „32 

J! 

11 

8 . . 

„30 

11 


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Herbert Olivecrona, 


Bemerkenswert ist weiter, dass in sämtlichen Fällen die 
zelligen Massen in den Alveolen auch nach fünfwöchiger Auf¬ 
bewahrung deutlich erkennbar waren und somit auch nach so 
langer Zeit sich die Diagnose Pneumonie ohne Zweifel feststellen lässt. 

('. Atelektatische Lungen. 

Fall 12 . S.-Nr. 109. Doppelseitiger Hydrothorax mit Kompression der 
Lungen. 

Makroskopischer Befund am 3. Tage nach dem Tode. Linke Lunge: Ober¬ 
fläche glatt. Die hinteren Absohnitte, • besonders des Unterlappens von blauroter 
Farbe. Die Lunge fühlt sich zum grössten Teil lederartig an. Die Schnittfläche 
dunkelrot, gibt bei Druck eine mit wenigen Bläschen vermischte Flüssigkeit ab. 
Herausgeschnittene Stücke aus dem Oberlappen schwimmen, aus dem Unterlappen 
sinken in Wasser unter. Die rechte Lunge zeigt genau denselben Befund. 

Mikroskopischer Befund: Linke Lunge, Oberlappen (L.L.O.) Starke Atelek¬ 
tase. Dpoh ist ein Teil der Alveolen lufthaltig und ein Teil derselben durch 
Fäulnisgase ausgedehnt. Auch in den Interstitien einige Fäulnisgasbläschen. — 
Linke Lunge, Unterlappen (L.L. U.): Vollkommene Atelektase. Die Alveolen voll¬ 
ständig zusammengesunken. — Reohte Lunge, Oberlappen (R.L.O.): Massige 
Atelektase. Die meisten Alveolen lufthaltig, ein Teil derselben durch Fäulnisgase 
ausgedehnt, und enthalten ausserdem zahlreiche abgestossene Alveolarepithelien 
und geringe Mengen Oedemflüssigkeit. — Reohte Lunge, Unterlappen (R.L.U.): 
Derselbe Befund wie im linken Unterlappen. 

Befund am 7. Tage: L.L.O. Schnittfläche dunkelrot. Herausgeschnittene 
Stücke schwimmen in Wasser. 

Mikroskopischer Befund: Gute Kernfärbung. Fast alle Alveolen durch 
Fäulnisgase ausgedehnt, und durcIPZerreissung der Septen sind die Alveolen 
teilweise zu grossen Blasen zusammengeflossen. Auch in den Gelassen und Inter- 
stitien einige Fäulnisgasbläschen. 

L.L.U.: Makroskopisch derselbe Befund wie bei der ersteh Untersuchung. 

Mikroskopischer Befund: Ganz vereinzelte Fäulnisgasbläschen. Sonst der¬ 
selbe Befund wie bei der ersten Untersuchung. 

R.L.O.: Derselbe Befund wie am linken Oberlappen. 

Mikroskopischer Befund: Derselbe Befund wie bei der ersten Untersuchung. 

R.L. U.: Makroskopisch derselbe Befund wie bei der ersten Untersuchung. 

Mikroskopischer Befund: Etwas zahlreichere Fäulnisgasbläschen. Sonst der¬ 
selbe Befund wie im linken Unterlappen. 

Befund am 11. Tage: Wenig Fäulnis. Sonst zeigen sämtliche Lappen beider 
Lungen denselben makroskopischen Befund wie am 7. Tage. 

Mikroskopischer Befund: L.L.O. Ziemlich gute Kernfärbung. Zahlreiche 
Alveolen von Fäulnisgasen ausgedehnt, die meisten Alveolen jedoch zusammen- 
gesunkon, luftleer. Auch in den Interstitien einige Gasbläschen.-— L.L.U.: Di« 
Kernfärbung etwas schlechter, sonst derselbe Befund wie am 11.Tage. — R.L.O.: 
Derselbe Befund wie im linken Oberlappen. — R.L.U.: Derselbe Befund wie im 
linken Oberlappen. 


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Untersuchungen über die Fäulnisveränderungen der menschlichen Lungen. 117 

Befund am 15. Tage: Makroskopisch in sämtlichen Lappen derselbe Befund 
wie am 11 . Tage. 

Mikroskopischer Befund: Keine Kernfarbung, sonst in sämtlichen Lappen 
derselbe Befund wie am 11. Tage. 

Befund am 19. Tage: Mässig fortgeschrittene Fäulnis, sonst an sämtlichen 
Lappen derselbe makroskopische Befund wie am 15. Tage. 

Mikroskopischer Befund: L.L.O.: Keine Kernfärbung. Die meisten Alveolen 
zusammengesunken, aber zahlreiche Alveolen von Fäulnisgasen ausgedehnt. Auch 
in den Gefässen und Interstitien ziemlich reichlich Gasbläschen. — L.L.U.: Fast 
alle Alveolen zusammengesunken. Im Sohnitt nur vereinzelte Fäulnisgasbläsohen, 
die teils in den Alveolen, teils in den Gefässen und Interstitien liegen. — 
R.L.O.: Das Fäulnisemphysem geringer als im linken Oberlappen, sonst derselbe 
Befund. — R.L.U.:,Derselbe Befund wie im linken'Unterlappen. 

Befund am 23.Tage: L.L.O. ziemlich starke Fäulnis. Sohnittfläche schwärz¬ 
lichrot. Herausgeschnittene Stücke sinken in Wasser unter. 

Mikroskopischer Befund: Keine Kernfärbung. Fast alle Alveolen zusammen¬ 
gesunken. Nur vereinzelte Fäulnisgasbläsohen, die auf Alveolen und Interstitien 
ziemlioh gleichmässig verteilt sind. 

L.L.U.: Makroskopisoh und mikroskopisch derselbe Befund wie im Oberlappen. 

R.L.O.: Ziemlich starke Fäulnis. Schnittfläche schwärzlichrot. Herausge¬ 
schnittene Stücke sinken in Wasser unter. 

Mikroskopischer Befund: Fast alle Alveolen zusammengesunken. Fäulnis¬ 
gasbläschen in geringer Zahl vorhanden, sie finden sich in Gefässen und Inter¬ 
stitien sowie in den Alveolen in ungefähr gleicher Verteilung. 

R.L.U.: Makroskopisch und mikroskopisch derselbe Befund wie im Oberlappen. 

Befund am 28. Tage: In sämtlichen Lappen derselbe makroskopische und 
mikroskopische Befund wie am 23. Tage. 

Befund am 33. Tage: In'sämtlichen Lappen die Schnittfläche von schwärz- 
licbroter Farbe. Substanz sehr weich. Herausgesohnittene Stücke sinken in Wasser. 

Mikroskopischer Befund: Keine Kernfärbung. In sämtlichen Lappen nur 
eine geringe Zahl von Fäulnisgasbläschen vorhanden, die sowohl in den Alveolen 
wie in den Gefässen und Interstitien liegen. 

Fall 13 . E.-Nr. 2824. Rechte Lunge. Hydrothorax mit Kompressions¬ 
atelektase des Unterlappens. 

Makroskopischer Befund am 2. Tage nach dem Tode: An der Oberfläche des 
Unterlappens sehr dicke, graugelbe Beläge, die sioh ziemlioh leicht ablösen lassen 
und nach der Lunge zu sehr feucht und von rein gelber Farbe sind. Der untere 
Teil des Unterlappens ist schlaff, lederartig. Herausgeschnittene Stücke sinken 
in Wasser unter. Bei der weiteren Untersuchung wurden Stücke aus dem Unter¬ 
lappen benutzt. 

Mikroskopischer Befund: Starke Atelektase. Die meisten Alveolen fast voll¬ 
kommen zusammengesunken. Vereinzelte Fäulnisgasbläschen sowohl in den 
Alveolen wie in den Gefässen und Interstitien. An einigen Stellen sind die Alveolen 
mit abgostossenen Alveolarepithelien gefüllt. 

Befund am 6 . Tage: Makroskopisch derselbe Befund wie vorher. 

Mikroskopischer Befund: Vereinzelte Fäulnisgasbläschen. 


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118 


Herbert Olivecrona, 


Befund am 10. Tage: Ziemlich starke Fäulnis. Schnittfläche schwirzlichrot. 
Substanz ziemlich weich. Herausgeschnittene Stücke sinken in Wasser unter. 

Mikroskopischer Befund: Schlechte Kernfärbung. Sonst derselbe Befund wie 
am 6. Tage- 

Befund am 15. Tage: Makroskopisch derselbe Befund wie am 6. Tage. 

Mikroskopischer Befund: Keine Kernfärbung. Die Alveolen vollkommen zu¬ 
sammengesunken. Aeusserst geringes Fäulnisempbysem. 

Befund am 20. Tage: Starke Fäulnis. Schwärzlich-grünlich. Substanz sehr 
weich. Herausgeschnittene Stücke sinken in Wasser unter. 

Mikroskopischer Befund: Keine Kernfärbung. Vereinzelte Fäulnisgasbläschen 
sowohl in den Alveolen wie in den Gefässen und Interstitien. 

Befund am 25. Tage: Makro- und mikroskopisch derselbe Befund wie am 
20. Tage. 

Die Untersuchung der fünf atelektatischen Lungenlappen zeigte also, 
dass, wenn dieselben von Anfang an nicht schwimmfähig waren, 
sich auch im weiteren Verlauf der Fäulnis keine Schwimm¬ 
fähigkeit einstellt. Es zeigte sich vielmehr, dass die Schwimmfähig¬ 
keit durch die Fäulnis in gegensätzlicher Beziehung beeinflusst wurde, 
indem die beiden Oberlappen des Falles 12, die anfangs noch schwammen, 
bei der weiteren Entwicklung der Fäulnis die Schwimmfähigkeit ver¬ 
loren. Wahrscheinlich wird dies wohl ebenso wie bei den eine Zeitlang 
schwimmfähigen, pneumonischen Lungen darauf zurückzuführen sein,, 
dass die Lunge bei der Fäulnis mehr und mehr zusammensinkt, und 
dabei ein Teil der Fäulnisgase ausgedrückt wird. Zweifellos wird das 
Entweichen der Gase durch die vorgenommene Sektion der Lunge 
erleichtert, und man muss an die Möglichkeit denken, dass bei nicht 
sezierten Lungen die Verhältnisse vielleicht anders liegen könnten. 
Doch glaube ich kaum, dass die angelegten Sektionsschnitte von 
wesentlicher Bedeutung sein können, denn ich habe wenigstens keinen 
Unterschied in der Schwimmfähigkeit der Stücke, die aus der Nähe 
der früher angelegten Schnittfläche herausgeschnitten waren, und 
solchen, die dem Innern der Lunge entstammten, beobachten können 

Die Fäulnisgasblächen fand ich sowohl in den Gefässen und 
Interstitien wie in den Alveolen und zwar vorwiegend in den letzteren. 
Dieses steht in einem gewissen Widerspruch mit den Befunden Bal- 
thazards und Lebruns, die bei atelektatischen, fetalen Lungen 
keine Gasbläschen in den Alveolen fanden, sondern nur in den Inter¬ 
stitien. Doch ist wohl das Material nicht direkt vergleichbar, und 
weiter muss betont werden, dass bei grösseren Fäulnisgasblächen die 
Frage, ob sie in oder ausserhalb der Alveolen liegen, nifeht immer 
bestimmt zu beantworten ist. 


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Untersuchungen über die Fäulnisveränderungen der menschlichen Lungen. 119 

Wenn ich das Ergebnis der vorstehenden Untersuchungen 
kurz zusammenfasse, so ergibt sich: 

1. Normale schwimmfähige Lungen wurden durch die Fäulnis 
in ihrer Schwimmfähigkeit nicht beeinträchtigt. Sie schwimmen stets. 
Niemals habe ich ein Untersinken im Wasser beobachtet. 

2. Bei der fibrinösen Pneumonie sinken die Lungen anfangs im 
Wasser unter, aber sehr oft stellt sich während der Fäulnis eine 
Periode ein, in der die herausgeschnittenen Stücke wieder schwimm¬ 
fähig werden. Diese Periode der Schwimmfähigkeit habe ich frühestens 
nach 7, spätestens nach 11 Tagen ein treten sehen. Mit Wahrschein¬ 
lichkeit kann man also sagen, dass, wenn die Lungen überhaupt 
wieder schwimmfähig wurden, dieses während der ersten 14 Tage 
«intreffen wird. Die Dauer dieser schwimmfähigen Periode scheint 
sehr wechseln zu können. Die längste Zeit, die ich beobachtet habe, 
betrug 3 Wochen. Da in diesem Falle die Schwimmfähigkeit am 
7. Tage vorhanden war, zeigt dieses also, dass, selbst wenn man die 
Lungen einen Monat nach dem Tode schwimmfähig findet, dennoch 
«ine Pneumonie bestehen kann, und man muss nach den obigen Be¬ 
funden sagen, dass die Schwimmprobe für die Diagnose der Pneu¬ 
monie keinen Wert besitzt. 

3. Das Fibrin bei krupösen Pneumonien ist gewöhnlich ziemlich 
lange nachweisbar, aber es schwindet stets nach einer gewissen Zeit. 
Am frühesten habe ich das Schwinden des Fibrins nach 18, am 
spätesten nach 34 Tagen beobachtet. Das Fibrin scheint früher zu 
vergehen, wenn der Tod im Stadium der grauen Hepatisation er¬ 
folgte, als wenn bei roter Hepatisation. Jedoch lässt sich auch nach 
Schwinden des Fibrins die Diagnose Pneumonie mit Sicherheit stellen, 
indem die Leukozyten in den Alveolen auch in späten Stadien der 
Fäulnis als eine zeitige Masse gut erkennbar sind. Auch nach 
b Wochen, wo die Lungen ganz weich, vielleicht auch schwiramfähig 
sind, und eine makroskopische Diagnose unmöglich ist, kann man 
mikroskopisch die Diagnose Pneumonie noch mit Sicherheit feststellen. 

4. Atelektatische Lungen, die von Anfang an in Wasser unter¬ 
sinken, wurden durch die Fäulnis nicht wieder schwimmfähig. Im 
Gegenteil können zum grossen Teil atelektatische, aber im Anfang 
noch schwimmfähige Lungen während der Fäulnis ihre Schwimmfähig¬ 
keit allmählig einbüssen. 

Nach den obigen Befunden muss ich also sagen, dass, wenn die 
herausgeschnittenen Lungenstücke in Wasser untersinken, 


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-Jß% 

120 Herbert Olivecrona, Fäulnisveränderungen der menschlichen Langen. 

dieses für irgend eine pathologische Veränderung in der 
Lunge spricht. Dagegen schliesst Schwimmfähigkeit der 
Lungenstückchen nicht aus, dass pathologische Prozesse 
vorliegen. 

Auffallend muss es erscheinen, dass das Fäulnisemphysem sich 
bei normalen Lungen viel stärker entwickelt als bei Pneumonien und 
Atelektasen. Zum Teil mag dieses insofern eine Täuschung sein, in¬ 
dem es nur einer geringen Entwicklung von Fäulniserregern in den 
Alveolen bedarf um die schon lufthaltigen Alveolen zu kreisrunden 
Blasen auszudehnen. Aber der Unterschied ist so gross, dass meines 
Erachtens noch andere Momente wirksam sein müssen. Welche anderen 
Ursachen hier mitwirken, lässt sich natürlich nur vermuten. Man 
könnte sich ja denken, dass bei den lufthaltigen Lungen auch aerobe 
Bakterien die Fäulnisgase bilden helfen. Auch bei pneumonischen 
Lungen ist die Entwicklung der Fäulnisgase in verschiedenen Fällen 
eine sehr verschiedene, was man ebenfalls vielleicht- auf eine ver¬ 
schiedene Bakterienflora zurückführen könnte. 


Literaturverzeichnis. 

1) Balthazard u. Lebrun, Annales d’byg. publ. et de med. legale. 1906. 
Zit. nach Rühs. — 2) Bordas u. Descourt, Annales d’byg. publ. et de mäd. 
legale. 1893. Zit. nach Leubuscher. — 3) Leubuscber, Lungenfäulnis und 
Sohwimmprobe. Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Med. 1904. Bd. 26.— 4) Rühs, 
Ein Beitrag zur Fäulnis der Lungen Neugeborener. Vierteljahrssohr. f. gerichtl. 
Med. 1908. Bd. 36. 


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VIII. 


Die forensische Bedeutung der Gehirnarterioskierose. 

Von 

Dr. med. W. Knape, 

Kreisarzt in Johaonisbarg (Ostpr.). 


Die Untersncbungen der letzten Jahrzehnte liessen das Augenmerk bei der 
Forsohnng nach den anatomischen Grundlagen für die klinisohen Erscheinungen 
der Erkrankung des Zentralnervensystems besonders auf Veränderungen zweierlei 
Art richten. Es waren dies einerseits krankhafte Veränderungen der nervösen Sub¬ 
stanz selbst und andererseits solche des Gefässapparates des Nervensystems, ln 
sehr vielen Erkrankungsformen finden sich die Veränderungen an den Gelassen 
und an dem Organgewebe derartig kombiniert, dass die Entscheidung schwierig 
ist, ob diese Veränderungen in einem Abhängigkeitsverhältnis zueinander stehen, 
oder ob sie unabhängig von einander sich entwickeln. Eine von den wenigen Er¬ 
krankungen, wo diese Frage entschieden ist, ist die Hirnarteriosklerose, bei welcher 
es gelungen ist, die Degeneration und den Zerfall der nervösen Substanz als Folge 
der Biutgefässerkrankung zu erkennen. Es ist vor allen das Verdienst Alz¬ 
heimers (1) und Binswangers (2), klinisch und anatomisch das in seinen ver¬ 
schiedenen Entwicklungsformen so eigentümliche und vielgestaltige Krankheitsbild 
der zerebralen Arteriosklerose unter den Erkrankungen des Zentralnervensystems 
so scharf abgegrenzt zu haben, dass die ärztliche Feststellung mit genügender 
Sicherheit möglich ist. Dieser Gewinn in der Lehre von den Störungen des Zentral¬ 
nervensystems muss auch das besondere Interesse des Gerichtsarztes in Anspruch 
nehmen, insbesondere wegen des zeitlichen Auftretens dieser Erkrankung im Rück- 
bildungsalter des Menschen. Während unsere Gesetze den mangelhaften und un¬ 
vollkommenen Funktionen des Nervensystems in der Entwicklungsperiode generell 
Reohnung tragen und für die Jugendlichen Sonderbestimmungen enthalten, ent¬ 
behrt die Rückbildungsperiode dergleichen. Hier bleibt es die Aufgabe des Ge¬ 
richtsarztes, in jedem einzelnen Falle die nervösen Ausfallserscheinungen nach 
ihrem Wesen und in ihrem Umfange festzustellen und durch sein Gutachten dem 
Riohter eine gerechte Würdigung der infolge Krankheit minderwertigen Persön¬ 
lichkeit zu ermöglichen. Diese ärztiohe Begutachtung erfordert eine genaue Kennt¬ 
nis der Entstehung und des Verlaufs der Krankheit in ihren verschiedenen Formen 
sowie ihres klinischen und anatomischen Nachweises, um die Persönlichkeit und 
die Handlungen eines kranken Menschen in foro richtig einzuschätzen. Die Durch¬ 
sicht der Literatur, welohe im Gegensätze zu der ausserordentlichen Verbreitung 
der Arteriosklerose nur eine auffallend kleine forensische Kasuistik bietet, wie auch 


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122 W. Knape, 

Beobachtungen, welche ich als Militärarzt während des Krieges machte, lassen es 
mir erscheinen, dass die Erkennung und Bewertung des Krankheitsbildes der 
Gehirnarteriosklerose noch nicht in der ärztlichen Gutachtertätigkeit die Rolle 
spielt, welche ihr in Wirklichkeit zukommt. Sehr oft findet sich auf diesem Ge¬ 
biet die beginnende Gehirnarteriosklerose unter der Diagnose Neurasthenie. Mit 
diesem ärztlichen Urteil wird man aber dem zu begutachtenden Zustand nicht 
ganz gerecht, da im täglichen Leben, im Beruf und insbesondere tot Gericht eine 
funktionelle, „nervöse“ Störung berechtigterweise eine wesentlich geringere Be¬ 
wertung findet als die Erscheinungen einer nachweisbaren organischen Gehirn- 
erkrankung. 

Die forensische Bedeutung der zerebralen Arteriosklerose erstreckt sich vor¬ 
nehmlich auf die beiden Fragen, in welchem Masse die Erkrankung in rechtlicher 
Beziehung die Vollwertigkeit des Menschen beschränkt und ferner welche Bedeu¬ 
tung der Erkrankung beim Hinzutreten von äusseren schädigenden Einflüssen bei 
der Beurteilung des entstandenen Schadens zuzumessen ist. Die Beantwortung 
dieser für die gerichtsärztlicbe Tätigkeit wiohtigen Fragen erfordert, auf unsere 
heutigen Anschauungen von der Entstehung der Arteriosklerose, insbesondere der¬ 
jenigen des Gehirns einzugehen, sowie die klinischen und anatomischen Ausdrucks¬ 
formen des Krankheitsverlaufs, sowie die Möglichkeit ihres diagnostischen Nach¬ 
weises zu erörtern. 

Das vorzugsweise Auftreten der Arteriosklerose in dem mit dem fünften Jahr¬ 
zehnt einsetzenden Rückbildungsalter des Menschen und bei Individuen, deren 
Leben von starken körperlichen oder geistigen Anstrengungen ausgefüllt ist, lässt 
die Arteriosklerose fast allgemein als eine Abnutzungskrankheit ansehen. Rom¬ 
berg (3) spricht diesem Moment der Abnutzung sogar eine wesentliche Rolle für 
die lokale Ausbreitung dieser degenerativen Gefässerkrankung mit den Worten zu, 
dass ein jeder seine Arteriosklerose vorzugsweise in dem Gefässgebiet bekommt, 
das er am meisten angestrengt hat. Die Erkrankung ist häufiger bei kräftigen, 
schwer arbeitenden Männern zu finden als bei schwächlichen und bei Frauen; sie 
entwickelt sich besonders früh an den Stellen des Gefässgebietes, wo sich die Ge- 
fässe verzweigen, wie wir es bei den Sektionen häufig an der Teilungstelle der 
Karotiden und am Ursprung der Interkostalarterien zu sehen pflegen und an 
Stellen, wo Stenosen und Stauungen die Blutströmungen behindern. Die Eigen¬ 
tümlichkeit dieser lokalen Disposition weist zwingend auf einen Zusammenhang 
mit einer Reibung des Blutstroms an der Gefässwand und mit der Höhe des Blut¬ 
drucks hin. Man nimmt daher an, dass die dadurch bedingte grössere funktionelle 
Inanspruchnahme der Gefässwand anfangs zu einer kompensatorischen Verstärkung 
der Wandbestandteile führt, dass dieser Verstärkung aber in der Erschöpfung der 
-Gewebselemente ein Ziel gesetzt ist und ihre Zellen und Fasern der Degeneration 
anheimfallen. Das elastische Gewebe büsst dabei allmählich seine spezifische 
Eigenschaft ein, an seine Stelle tritt vermehrtes, aber minderwertiges Bindegewebe, 
welches regressiven Veränderungen, der hyalinen Entartung, der Verfettung und 
Verkalkung unterliegt. Diese Theorie, welche den Beginn des Prozesses von dem 
elastischen Gewebe der Media ausgehen lässt, vertritt Thpma (4) und Aschoff (5). 
Dagegen verlegt Kaufmann (6) den Beginn der Erkrankung in die Intima. Nach 
ihm zeigt die Gefässinnenhaut physiologisch während des Lebens eine langsam zu* 


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Die forensische Bedeutung der Gehirnarteriosklerose. 123 

.nehmende Verdiokung und in dem Auftreten degenerativer Veränderungen offenbart 
sie die Grenze ihres Anpassungsvermögens. 

Nicht selten kommt die Arteriosklerose und auch diejenige der Gehirngefässe 
aber bereits in jüngeren Jahren als dem eigentlichen Rüokbildungsalter des 
Menschen zur Entwicklung. Alzheimer (1) erwähnt als besonderes Charakte¬ 
ristikum dieser frühzeitigen Arteriosklerose, dass sie häufig auf einzelne Gefäss- 
gebiete beschränkt bleibt, in diesen aber besonders intensive Veränderungen bis 
in die kleinen und kleinsten Gelasse bedingt. Von ursächlichen Momenten, welche 
für das frühzeitige und intensive Auftreten genannt werden, ist unter anderen die 
Heredität zu nennen. Ziehen (7), Binswanger (2), Alzheimer (1) sprechen 
von einer Disposition mancher Familien und Moritz (8) zieht aus den Statistiken 
der Lebensversioherungsanstalten den Schluss, dass die Hirnapoplexie häufig here¬ 
ditäre Belastung in der Familienanamnese hat, dass also die Vererbung der Dis- 
' position zur arteriosklerotischen Erkrankung sich an das Organ hält. Von toxischen 
Einflüssen wird der Syphilis eine grosse Bedeutung eingeräumt. Es ist zurzeit 
noch eine offene Frage, ob es sich in diesen Fällen um eine typische Arterio¬ 
sklerose handelt oder um syphilitische Gelasserkrankungen, welche wir als solche 
no<A nioht von den arteriosklerotischen zu unterscheiden gelernt haben. Von der Er¬ 
fahrung ausgehend, dass auoh andere Infektionskrankheiten häufig einen deletären 
Einfluss auf den Verlauf einer bestehenden Arteriosklerose ausüben, ist es wahr¬ 
scheinlich, dass auoh anderen Bakterientoxinen eine Bedeutung für die Entstehung 
der Arteriosklerose zukommt, der Diphtherie, Lungenentzündung, Malaria, dem 
Typhus u. a. m. Häufig sieht man auch die frühzeitige Arteriosklerose nach Blei¬ 
vergiftung, bet Stoffwechselstörungen wie Gicht, Diabetes und chronischen Nieren¬ 
entzündungen. Klemperer(9) u.a. messen dem Tabakmissbrauch, Kräpelin(lO), 
Alzheimer (1), Zingerle (LI) und Buohholz (12) dem Alkoholismus eine 
wichtige ätiologische Bedeutung bei, während Hebold (13) einen kausalen Zu¬ 
sammenhang zwischen Trunksucht und Arteriosklerose leugnet, Kaufmann (6) 
ihn noch nicht für erwiesen hält. Meine Beobachtungen während der Tätigkeit an 
dem pathologisch-anatomischen Institut in Magdeburg, wo häufig bei der Obduktion 
alter, arbeitsscheuer Trinker der gut erhaltene Zustand der Gefässe geradezu auf¬ 
fiel, soheinen mir diese Zweifel zu rechtfertigen./- 1 

Mechanischen und psychischen Schädigungen wird nioht allein für Ver¬ 
schlimmerung, sondern auch für die Entstehung einer frühzeitigen Arteriosklerose 
ein wichtiger Einfluss zugebilligt. So nahm Leers (14), Ferenscy (15), 
Wolff (16), Mendel (17) einen kausalen Zusammenhang zwischen mechanischen 
Traumen und Arterioskerose an. Genauer präzisiert Friedemann (18) die nach¬ 
teiligen Folgen einer Erschütterung des Gefässsystems als eine Schwäobung der 
vasomotorischen Regulierung im Gehirn und als eine Störung der Ernährungs¬ 
verhältnisse und der Resistenzkraft der Gefässwände. Stern (19) glaubt, dass 
die Entstehung arteriosklerotischer Veränderungen infolge von Gefässquetschung 
bei Menschen noch nicht naebgewiesen ist, mithin Betrachtungen über die Art 
eines solchen ursächlichen Zusammenhangs nur Hypothesen seien, jedoch zeigen 
auch nach ihm die klinischen Erfahrungen besonders auf dem Gebiete der Unfall¬ 
medizin auf eine abnorme Beschleunigung in der Entwicklung der Arteriosklerose 
als,Folge mechanischer und auch psyohischer Sohädigung hin. Dass psychische 


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Insalte, besonders schwere and häufig wiederkehrende Aufregungen und Gemüts¬ 
bewegungen von schädigendem Einfluss auf die Entwicklung einer Arteriosklerose 
insbesondere im Gefassgebiet des Gehirns sind, ist eine bekannte ärztliche Er¬ 
fahrung und insbesondere bei der Unfallneurose beobachtet [Oppenheim (20), 
Goldscheider (21), Leers (14), Watermann und Baum (22), Ferenscy (15), 
Windsoheid (23)]. Albrecht(24) sah frühzeitiges Auftreten arteriosklerotischer 
Veränderungen nach längeren und schweren Erregungszuständen des manisch- 
depressiven Irreseins, Jaksch (25) als Folge der Neurasthenie. 

Diese Beziehung zwischen Psyche und Zerebralarteriosklerose spiegelt siob 
vielleicht in der sonst schwer verständlichen Beobachtung wieder, warum mitunter 
aussohliesslich oder doch vorwiegend in manchen Fällen die Gehirnarterien allein 
orkranken, während die Gefässe des Rumpfes und der Gliedmassen frei bleiben. 
Binswanger (2) fand, dass in höchstens 50pCt. der Fälle eineUebereinstimmung 
in der Sklerose des Hirns und der Körperarterien besteht. Die Annahme eines 
Zusammenhangs zwischen Psyche und Gehirnarteriosklerose würde auch die Be¬ 
vorzugung gewisser Berufsarten und Charaktertypen für die Häufigkeit der Krank¬ 
heit erklären. So spricht Cr am er (26) von einer Bevorzugung der „Kraftnaturen“, 
Nerz (27) von den ernst angelegten „Pflichtmonschen“, welche in den Widrig¬ 
keiten ihres Berufs eine vorzeitige Abnutzung erleiden. 

Die anatomischen Veränderungen, welche die Arteriosklerose in der Gefäss- 
wand in Erscheinung treten lässt, sind verschiedenartig; die einen finden sieb 
mehr bei relativ jüngeren Individuen in den Gefässen kleineren Kalibers, andere 
häufiger bei Greisen und in den grösseren Körperschlagadern. Die gewucherte 
Intima verfällt der fettigen Degeneration. Innerhalb und zwischen den Intima¬ 
zellen wie auch in den Muskelfasern der Intima treten Fetttröpfchen auf. Daneben 
besteht eine Vermehrung der Bindegewebsfasern, sowohl in der Intima, deren 
elastische Fasern dadurch eine Aufsplitterung erfahren, als auch in der Media, 
wo sie als unvollkommener Ersatz für muskuläre elastische Elemente erscheinen. 
Die fettig degenerierten Teile können früher oder später eine Kalkablagcrung er¬ 
fahren und damit der Gefässverkalkung einen bestimmenden Ausdruck verleihen. 
An Stelle der fettigen Entartung können die faserigen Elemente der Intima und 
der Media der hyalinen Degeneration verfallen, die fibrösen, z. T. nengebildeten 
Lamellen wandeln sich zu einer homogenen, kernlosen, stark lichtbrechenden 
Masse um, welche im weiteren Verlauf ebenfalls weiteren regressiven Verände¬ 
rungen, der Verkalkung unterliegen. Diese letztere Form der Verkalkung wird 
besonders bei der Arterioskleroso der kleineren Arterien im Gehirn, Herz und in 
den Nieren gefunden. Die fettige Degeneration der gewucherten Intimaplaques 
kann aber auch in so grober Weise geschehen, namentlich wenn die Kalkablage¬ 
rung daneben nur wenig ausgeprägt ist, dass die erkrankten Stellen nekrotisch 
zerfallen. An Stelle der Wucherung bietet sich dann das Bild des mit glänzen¬ 
dem, weissgelbem, bröckligem Brei gefüllten atheromatösen Geschwürs. Ver¬ 
kalkung und Erweichung gehen nebeneinander her, so dass Marohand (28) statt 
des NamensArteriosklorose die KrankheitsbezeiohnungAtherosklerose vorgeschlagen 
hat, um die Einheitlichkeit des Krankheitsprozesses der Sklerose und der Atbero- 
matose zu kennzeiohnen. Beide Veränderungen beteiligen sich aber, wie die täg¬ 
lichen Beobachtungen am Sektionstisch lehren, in sehr verschiedenem Masse. Man 


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Die forensische Bedeutung der Gehirnarteriosklerose. 125 

trifft ausgedehnte Sklerosen ohne auffällige Erweichungen, und man sieht in 
anderen Fällen, so namentlich bei Greisen, die Erweichung im Vordergrund des 
anatomischen Bildes stehen, ln der Praxis wird daher die Bezeichnung Arterio¬ 
sklerose oder Atheromatose eine präzisere Vorstellung geben. 

Die Einbusse, welche die Gefässwand unter diesen zerstörenden Verände¬ 
rungen an Elastizität und an Festigkeit erleidet, kann zu Erweiterungen und Ver¬ 
engerungen des GefasSrohres führen. Im Gehirn finden wir die Erweiterung be¬ 
sonders in der Form der sogenannten miliaren Aneurysmen, welche für die Hirn¬ 
apoplexien verantwortlich gemacht werden. WährendCharcot undBouchard (29) 
sie als „wahre“ Aneurysmen der feinen und feinsten Arterien besonders im Ge¬ 
biete der Zentralganglien auffassten, zeigten Ellis und Pick (30), dass ihre Ent¬ 
stehung auf eine Zerreissung der erkrankten Intima und Ausweitung einzelner 
Wandschichten durch das Hineinwühlen des Blutes, sei es zwisohen Intima und 
Media oder zwischen Media und Adventitia zurückzuführen ist. Sie sind anato¬ 
misch daher dem Aneurysma dissecans zuzureohnen. Durchbricht der Blutstrom 
sämtliche Gewebsscbichten und kommt die ausgetretene Blutmenge erst duroh 
fremdes Organgewebe als Blutsack zur Abgrenzung, so bietet sich bei bleibender 
Kommunikation durch den Wanddefekt das Bild des Aneurysma spurium. Während 
in früheren Zeiten diesen Aneurysmen in bezug auf ihre Häufigkeit eine grosse 
Bedeutung zugemessen wurde, werden sie in neuerer Zeit [Weber(31),Cramer (26)] 
für seltenere Befunde gehalten. Auffällig ist, wie reoht selten es am Sektionstisch 
gelingt, bei an Apoplexie Verstorbenen Aneurysmen nachzuwoisen. Diese Er¬ 
fahrung weist vielleicht doch darauf hin, dass die erste primäre Zerreissung der 
-Oeiässwand ohne Aneurysmabildung häutig unmittelbar zur Apoplexie führt. Sehr 
-viel häufiger als die Erweiterung hat man die Verengerung der Gofässe infolge 
•der arteriosklerotischen Veränderungen zu beobachten Gelegenheit. Die Verdiokung 
■der Intima, die atheromatösen Veränderungen und Verkalkungen führen häufig zu 
•einer starken Verengerung des Gefässnetzes, und Thromben, welche sich auf die 
-erkrankten Wandstellen niederschlagen, zu einem vollkommenen Verschluss des 
Lumens. Auch eine starke Wucherung der Endothelien und fibrösen Elemente 
-der Intima ohne nennenswerten Zerfall kann allein duroh diese Wandverdickung 
einen völligen Verschluss des Gefässrohres bedingen. Es bestehen noch Zweifel 
darüber, ob diese Veränderung, die Endarteriitis obliterans, der Arteriosklerose 
zuzurechnen ist, wie Orth (32) meint, oder ob sie eine selbständige Gefäss- 
-erkrankung ist, welche so häufig neben der Arteriosklerose beobachtet wird [Kauf¬ 
mann (6)]. 

Die Folgen, der Aderverkalkung sehen wir am augenscheinlichsten im Gewebe 
des Zentralnervensystems bei den Blutungen, welohe je nach der Grösse des Blut¬ 
ergusses das Gewebe in grossem Umfang zertrümmern. Wenn bei derartigen Blut¬ 
austritten' grösseren Umfangs, wie wir sie bei der Gehirnapoplexie.zu finden ge¬ 
wohnt sind, der Charakter der Rhexisblutung nicht angezweifelt werden kann, bin 
ich geneigt, für die kleinen, oft miliar auftretenden Blutungen im Gehirngewebe, 
besonders der Rinde, den Vorgang als Diapedesisblutung aufzufassen, und setze sie 
in Beziehung zu der später zu besprechenden Stase. 

Die Folge der Blutung ist eine in mehr oder weniger grösserem Umfange 
auftretende Nekrose, oder wie wir es beim Nervengewebe zu nennen gewohnt sind, 


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eine Erweichung. Die Konsistenz des betroffenen Gewebes verringert sich, in 
kurzer Zeit zerfallen die geformten Elemente durch Verfettung und Verflüssigung 
zu einem Brei. Auch die roten Blutkörperchen des Blutergusses verschwinden, 
ihr Farbstoff bleibt in Form.des scholligen Blutpigments zurück. Allmählich ge¬ 
langt der Brei des Erweichungsherdes zur Resorption unter besonders lebhafter 
Beteiligung von Wanderzellen, welche sich durch die Aufnahme der aus dem 
Detritus stammenden Fetttröpfchen zu den bekannten Körnchenkugeln oder 
Körnchenzellon umwandeln. Gleichzeitig dringt vom Rand des Erweiohungsherdes 
unter lebhafter Wucherung die Neuroglia gegen das Zentrum vor und vermag bei 
nicht zu grosser Ausdehnung des Defekts diesen nach Resorption des nekrotisohen 
Breis vollständig auszufüllen.. Wir haben danach das Bild der von dem Testieren¬ 
den Blutpigment noch gelbbräunlich gefärbten Narbe vor uns. Ist der Eryreichungs- 
herd von einer solchen Grösse, dass die wuchernde Glia von den Rändern her 
sich nicht zu vereinigen, sondern nur einen abgrenzenden Wall gegen das gesunde 
Gewebe zu bilden vermag, so restiert nach der Resorption des Breis ein oft mit 
seröser Flüssigkeit gefüllter Hohlraum („apoplektische Zyste“), durch welchen zu¬ 
weilen noch einige Stränge erhaltenen widerstandsfähigeren und gefässführenden 
Bindegewebes hindurchziehen. 

Eine ganz ähnliche Veränderung, wie sie hier als die Folge der hämorrhagi¬ 
schen Zertrümmerung und Infarzierung des Nervengewebes auftritt, bedingt auöh 
ein vollkommener Verschluss eines das Gewebe ernährenden Blutgefässes. Auch 
hier verfällt der von der Ernährung durch das Blutgeiass abhängige Bezirk der 
Erweichung, der ischämischen Nekrose. Sie lässt die gleichen degenerativen und 
reparatorischen Vorgänge beobachten wie die hämorrhagische, nur dass bei ihr 
das die gelbbräunliche Verfärbung des Herdes bedingende Blutpigment mehr oder 
weniger vollständig fehlt. 

Ueberaus häufig verursacht die arteriosklerotische Erkrankung an vielen 
Stellen des Gehirns nicht diese groben Veränderungen sondern weil die Blut¬ 
versorgung des Gewebes nicht vollständig aufhört, vielmehr nur infolge der Ver¬ 
engerung der Hirngefässe eine unvollkommene, für die Dauer ungenügende ist, 
geschieht das Absterben und der Schwund des Gewebes nur langsam und unvoll¬ 
kommen. Er trifft insbesondere die empfindlichen nervösen Bestandteile des Hirn¬ 
gewebes, deren Stelle die weniger anspruchsvolle Glia infolge sekundärer repara- 
torisober Wucherung einnimmt*. 

Bei der Besprechung dieser Zirkulationsstörungen ist noch einer wichtigen 
Funktion der Blutgefässe zu gedenken. Wir wissen, dass die Weite der Strombahn 
und die Stromgeschwindigkeit im Blutgefässsystem nicht allein von der Herzarbeit 
und von der passiven, physikalischen Elastizität der Gefässwand abhängt, sondern 
dass vielmehr die Blutbewegung und Verteilung eine vitale Arbeitsleistung des 
neuromuskulären Apparates der Gefässwand ist. „Die Gefasse, insonderheit die 
Arterien, aber auch die Kapillaren und die Venen sind akzessorische Herzen, 
welche die Tätigkeit des Herzens unterstützen und nebenher die Blutverteilung 
regeln“ [Grützner (33)]. Ricker(34) wies im Jahre 1905 als erster bestimmt 
auf diese Arbeitsleistung der Gefässe hin und macht von ihren Schwankungen die 
anatomischen Veränderungen und ihre Lokalisation in den Organen abhängig. Es 
sei mir gestattet, näher auf diese Untersuchungen Rickers (34) einzugeheu, weil 


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Die forensische Bedeutung der Gehirnarteriosklerose. 


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mir die Ergebnisse seiner experimentellen Forschung für die Pathologie der zere¬ 
bralen Arteriosklerose nioht genügend berücksichtigt scheinen und besonders auch 
für die gerichtliche Medizin wichtige Schlüsse gestatten. 

Die Ergebnisse der Rickersohen Untersuchungen, welche sich auf mikro¬ 
skopische Untersuchungen im lebenden Tier (Kaninchen) stützen und ihre Er¬ 
gänzung in Beobachtungen auf dem Gebiete der menschlichen Pathologie fanden, 
sind in Kürze folgende: Die Schwankungen der Blutgefässweite und die Ge¬ 
schwindigkeit der Blntströmung sind abhängig von der Gefässinnervation, in 
weloher wir die Tätigkeit der Vasokonstriktoren und Vasodilatatoren unterscheiden. 
Unabhängig von ihrer qualitativen Natur, ob thermisoher, chemischer oder mecha¬ 
nischer Art, bedingen auf diese Nerven einwirkende Reize je nach Reizstärke und 
Reizdauer bestimmte Typen der Strombahnweite und der Stromgeschwindigkeit in 
den Blutgefässen. I. Ein schwacher Reiz erzeugt eine Erregung der Dilatatoren, 
eine Erweiterung der Strombahn, verbunden mit beschleunigter Blutströmung. 
II. Ein starker Reiz bedingt eine Konstriktorenerregung, eine Verengerung der 
Strombahn mit leicht verlangsamter Strömung. 111. Längere Einwirkung und 
weitere Steigerung des starken Reizes lässt infolge Abnahme der Konstriktoren¬ 
erregbarkeit die Reizung der länger erregbar bleibenden Dilatatoren zum Vorschein 
kommen und die Blutbabn sich erweitern. Die Strömungsgeschwindigkeit kann 
bei' diesem Typus anfangs schnell sein, zeigt dann aber bald eine zunehmende 
Verlangsamung und schliesslich Stillstand des Blutes in dem betroffenen Gefäss- 
bezirk. Während eine geringere Verlangsamung der Blutströmung beim 111. Typus 
der Gefässerregbarkeit mit einer Vermehrung der weissen Blutkörperchen in der 
Peripherie des Blutstromes mit zeitweisem Waftenbleiben an der Geiässwand und 
stellenweiser Diapedese von Leukozyten verbunden ist, geht diese Randstellung 
der weissen Blutkörperchen in einem stark verlangsamten Blutstrom wieder ver¬ 
loren, das Bluf rollt ohne Scheidung seiner körperlichen Elemente im „trägen 
Strom“ dabin. Geht dieser träge Strom in Stillstand, in Stase über, so kommt es 
zur Diapedese von roten Blutkörperchen um so reichlicher, je länger sich der voll¬ 
ständige Stillstand, die Stase, verzögert. 

Diese Beobachtungen Rickers zwingen zu dem Schluss, dass nicht allein 
die Weite der Blutgefässe, sondern auch die Blutströmung als Arbeitsleistung der 
Gefäss- und Kapillarwand abhängig ist von dem Gefässnervensystem. Verlang¬ 
samung der Strömung bedeutet Herabsetzung der Arbeitsleistung infolge herab¬ 
gesetzter Erregbarkeit der Gefässnerven, Stase bedeutet das vollständige Erlösoben 
der Erregbarkeit. Bei der angewandten Versuchstechnik konnte diese Beziehung 
einwandfrei festgestellt werden, da andere Momente, die iür die Stase gewöhnlioh 
verantwortlich gemachte Wasserentziehung, eine verminderte Herzarbeit, Ab¬ 
knickung des Gewebes mit Sicherheit ausgeschlossen werden konnten. 

Eine weitere Versuchsreihe Rickers zeigte, dass eine fortdauernde reflek¬ 
torische Reizung eines Gefässgebietes — sie wurde in den Versuchen in Form der 
Unterbindung des Ausführungsganges des Kaninchenpankreas angewandt — nach 
einem kurze Zeit währenden Höhestadium an Reizwirkung auf die Gefässnerven 
schnell abnahm. Es entwickelt sich ein Zustand, von dem man annehmen könnte, 
dass Strombahnweite und Blutbewegung zur Norm zurüokgekehrt seien, z. B. 
3 Monate nach der Gangunterbindung. Bei der Prüfung eines solchen Gefass- 


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W. Knape, 


gebietes findet man Reizen gegenüber ein verändertes Verhalten der Gefässnerven, 
sie zeigen eine abnorme Reaktion und eine krankhafte Herabsetzung der Reiz¬ 
schwelle. Eine Verengerang der Strombahn kommt auf Reizung im Vergleich zur 
Norm nur vermindert zustande, oder bleibt ganz aus z. B. bei Einwirkung von 
Kälte oder von Suprarenin, dagegen tritt abnorm schnell und schon nach Ein¬ 
wirkung relativ geringer Reize vollständiger Verlust der Erregbarbeit, die Stase 
und die mit ihr verbundene Diapedesisblutung auf. Bei einer abnormen Erregbar¬ 
keit des Gefässnervensystems können demnach sowohl im natürlichen Leben auf¬ 
tretende wie auch künstlich gesetzte Reize zur Stase und Blutung führen. Dass 
bei der zerebralen Arteriosklerose ganze Gefässgebiete eine verminderte Vaso- 
rootorenerregbarkeit und dementsprechend verminderte Leistungsfähigkeit der Ge- 
fässwand, welche nicht auf die physikalische, durch die Sklerose bedingte Ver¬ 
änderung zu beziehen sind, haben, beweisen die so häufig zu beobachtenden ka¬ 
pillären Blutungen, welche scheinbar spontan entstehen, ohne dass irgend ein 
Trauma vorhergegangen oder eine Zerreissung der Gefässwand nachweisbar wäre, 
welohe vielmehr auch naoh Kaufmann (6) als Diapedesisblutungen aufzufassen 
sind. Diese sind aber nach Rickers Untersuchungen auf eine Stase, auf eine 
Aufhebung der Blutströmung infolge Erlöschens der Tätigkeit des neuromuskulären 
Apparates der Gefäss- und Kapillarwand zu beziehen. Ferner beweisen die von 
allen Autoren bei der zerebralen Arteriosklesose beobachtete Diapedese von weissen 
Blutkörperchen durch die Gefässwand und ihre Anhäufung in den Lymphscheiden 
der Gerässe, dass diese Bezirke während des Lebens zu einer verlangsamten Blut¬ 
strömung in Beziehung standen, d. h. auch ihr Gefässnervenapparat nicht die 
normale Arbeitsleistung vollzog. 

Klinische Beobachtungen bei der zerebralen Arteriosklerose bestätigen diese 
Annahme. Stern (19) und Leers (14) weisen darauf hin, dass gerade bei Arterio¬ 
sklerose Störungen der Gefässinnervation infolge von Unfällen, d. h. also von mehr 
oder weniger schweren mechanischen Reizen hochgradig und langdanemd zu sein 
pflegen. Apelt (35) betont, dass bei der „traumatischen Neurose“ die Klagen über 
Kopfschmerz, Schwindel, und Gedächnisschwäche bei gesundem Gefässsystem meist 
schnell verschwinden, bei nachweisbarer Arteriosklerose dagegen viel häufiger und 
länger bestehen bleiben. Romberg (3) und Otfried Müller (32) machten die 
Beobachtung, dass arteriosklerotische Arterien .auf kalte und warme Reize viel 
„träger“ reagieren als gesunde Arterien. Auch Winscheid (23) betont den starken 
Einfluss, den ein Trauma besonders im Leben des bis dahin vollkommen be¬ 
schwerdelosen Arteriosklerotikers ausübt, und maoht für diese Krankheitserschei¬ 
nungen das Aussetzen „gewisser Regulationsvorrichtungen“ verantwortlich, deren 
Funktionen rein physiologisch infolge des Alters oder plötzlich durch ein Sohädel- 
trauma beschädigt werden. Als diese Regulationsvorricbtungen möchte ich die 
Vasomotorentätigkeit im Sinne Rickers ansehen, welcher die Blutgefässweite und 
die Blutstromgeschwindigkeit als eine Funktion des Gefässnervensystems betrachtet 
Dass aber nicht nur mechanische Traumen als Reize für das zerebrale Gefässgebiet 
angesehen werden dürfen, sondern ebenso sehr sensugene psychische Reize irri¬ 
tierend auf die Blutgefässe des Gehirns einwirken, beweisen neben zahlreichen 
klinischen Erfahrungen die Beobachtungen von Mosso (36) und nach ihm von 
Otfried Müller (32). Beiden Autoren gelang es mit der Wage den Einfluss 


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Die forensische Bedeutung der Gehirnarteriosklerose. 


129 


psyohischer Alterationen auf den Blutgehalt nacbzuweisen, indem sie die gefun¬ 
denen Gewichtsveränderungen auf die Kaliberschwankungen der Hirngefässe bezogen. 

Ich bin auf diese ätiologischen Momente der arteriosklerotisohen Störungen 
des Gehirns näher eingegangen, weil insbesondere der Gerichtsarzt in seiner Tätig¬ 
keit ebenso häufig gezwungen ist, sich ein Urteil darüber zu bilden, welche Be¬ 
deutung den Ereignissen, welche für die Entstehung oder die Versohlimmerung 
eines Krankheitszustandes verantwortlich gemacht werden, zuzumessen ist als 
über die Folgen, welohe sich aus dem Krankheitsbefund für das erkrankte Indivi¬ 
duum in rechtlicher Beziehung ergeben. 

Die Verschiedenheiten der arteriosklerotischen Veränderung an den Gelassen, 
ihre ungleiche Ausbreitung in den einzelnen Gefässgebieten des Gehirns lassen 
mit Recht ein ausserordentlioh mannigfaltiges anatomisches und klinisches Krank¬ 
heitsbild erwarten. Die in ihrem anatomischen Bau und in ihren physiologischen 
Leistungen so fein differenzierten Teile des menschlichen Gehirns müssen auch bei 
ihren Erkrankungen ihre Verschiedenartigkeit zum Ausdruck bringen. Wir werden 
demgemäss ausgesprochene „Herdsymptome“ in dem Krankheetsbilde wiederfinden, 
ihr mehr oder weniger starkes Hervortreten gestattet uns gerade diagnostisch eine 
Abgrenzung gegen die auf diffusen Organveränderungen beruhende senile Demenz, 
welche häufig in demselben Lebensalter wie die arteriosklerotische Geistesstörung 
aufzutreten pflegt; diese Abgrenzung wird uns nicht selten auch noch in Fällen 
gelingen, wo senile Demenz und arteriosklerotische Degeneration nebeneinander 
bestehen. Da die Krankheitserscheinungen abhängig sind von den Blutgefässen, 
deren Funktion, wie oben erläutert wurde, ausserordentlich häufigen Schwankungen 
infolge physiologischer und pathogenetischer Reize unterliegt, ist für die arterio¬ 
sklerotische Hirnerkrankung eine Flüchtigkeit der Symptome, ein Schwanken in 
der Schwere des Krankheitsbildes charakteristisch. Bei der Betrachtung dieser 
Unbeständigkeit der Krankheitserscheinungen muss auch des vikariierenden Ein¬ 
tretens anderer Hirnzentren für die in ihrer Funktion geschädigten gedacht werden, 
ein Vorgang, der klinisch zweifelsfrei feststeht, dessen anatomische Grundlage 
aber bisher nooh nicht genügend geklärt ist, um im Einzclfalle sagen zu können, 
wie weit wir mit einem solchen vikariierenden Eintreten anderer Hirnzentren 
rechnen dürfen, wo die Grenze des Möglichen liegt. Klinisch können wir meist 
auch in den besten Fällen einer derartigen Wiederherstellung der Funktion die 
Versehrtheit der geschädigten Gehirnteile noch erkennen an der abnorm leichten 
Ermüdbarkeit bei ihrer Inanspruchnahme. 

Wenn im folgenden die naoh Verlauf und Lokalisation verschiedenen Typen 
der Hirnarteriosklerose und ihre speziellen anatomischen Befunde besprochen 
werden, so sei im voraus darauf hingewiesen, dass es uns meist klinisch nicht * 
möglich ist, festzustellen, ob wir es im Einzelfalle z. B. mit einer „perivaskulären 
Gliose“ oder mit einer „senilen Rindenverödung“ zu tun haben. Währond des 
Lebens wird es nach unseren gegenwärtigen Kenntnissen nur möglich sein, den 
Charakter der Krankheit als einen arteriosklerotischen zu diagnostizieren und aus 
den Herderscheinungen, ihrer Schwere und Ausbreitung Schlüsse auf die Lokali¬ 
sation and den Umfang der Veränderung zu ziehen. Welche Art von arterio¬ 
sklerotischen Veränderungen anatomisch den klinischen Symptomen zugrunde 
liegen, kann intra vitam meist nicht entschieden werden. 

ViertaljahrMehrirt f. gor.Med. o.flff.San.-Wesen. 3. Folge. Bd. 60. H. I. y 


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W. Knape, 


1 . Die nervöse Form der zerebralen Arteriosklerose. 

Die nervöse Form oder auch leichte Form der zerebralen Arteriosklerose 
kommt bereits nach dem 40., häufiger naoh dem 50. Lebensjahr zur Beobachtung. 
Sie ist in ihren Krankheitserscheinungen den Initialsymptomen der schweren Form 
vollkommen gleich, kann aber jahre- und jahrzehntelang stationär bleiben, ohne 
eine Verschlimmerung zu erfahren. Sie kennzeichnet sich durch die Symptomen* 
trias: Kopfschmerz, Schwindelgefühl, Gedächtnisschwäche. Der Kopfschmerz wird 
meist in der Stirngegend empfunden, das Schwindelgefübl tritt mehr oder weniger 
häufig, teils spontan, teils bei Lageveränderungen des Körpers oder bei körper- 
liehen und geistigen Anstrengungen auf und kann von leichten, schnell vorüber* 
gehenden Verwirrtheitszustände,n gefolgt sein. Die Gedächtnisschwäche erreicht 
einen so erheblichen Grad, dass auch ein körperlicher Arbeiter in seiner Tätigkeit 
sie störend empfindet. Flüchtige motorische Störungen kennzeichnen sich durch 
vorübergehendes Schwäcbegefübl in einer Extremität. Der Schlaf ist meist ge¬ 
stört, besonders das Einschlafen erschwert. Psychisch fällt vor allem die Abnahme 
der geistigen Produktivität auf sowie eine abnorm gesteigerte, leichte Ermüdbar¬ 
keit in der Tätigkeit des Kranken, sie führt zu Klagen des Leidenden wegen 
Arbeitsüberbürdung, da er sich den Ansprüchen seines Berufs nicht mehr voll ge¬ 
wachsen fühlt. Fast immer besteht den Krankheitserscheinungen gegenüber volle 
Krankheitseinsicht. Auf dem Gebiete des Gemüts findet sich sowohl Neigung zu 
depressiven hypochondrischem Wesen als auch häufig damit verbundene krank¬ 
hafte Reizbarkeit mit leicht auslösbaren Erregungszuständen. Ausgeprägt pflegt 
bei der Erkrankung meist das Symptom der Intoleranz gegen Alkohol, gelegent¬ 
lich auch gegen Nikotin vorhanden zu sein. 

Anatomisch finden sich im nervösen Gewebe keine schwereren Veränderungen, 
die Windungen sind nicht nennenswert verschmälert, die weichen Hirnhäute oß 
nur leicht verdickt und hyperämisch, das Gehirngewicht ist nicht vermindert. Bei 
der Sektion solcher Fälle finden sich nach Alzheimer (1) schon schwere arterio¬ 
sklerotische Veränderungen an den Arterien. Die Lymphscheiden der Blutgefässe 
sind in Rinde, Mark und Ganglien stark erweitert, in ihrer Umgebung das Glia- 
gewebe vermehrt und verdichtet, mit einzelnen Spinnenzellen. Ein deutlicher Aus¬ 
fall an Ganglienzellen oder Marksoheiden ist hingegen nioht nachweisbar. Die 
Krankheitserscheinungen sind daher nach Alzheimer auf „Stauungserscheinun¬ 
gen in der Blutzirkulation“, nach Pick (37) und Spielmeyer (38) auf Verände¬ 
rungen der Gefässelastizität und auf eine Beeinträchtigung der Vasomotorentätig¬ 
keit zu beziehen, wofür Pick in der Alkoholintoleranz eine Bestätigung sieht. 
Meines Erachtens weisen die leichte Ermüdbarkeit, das Schwindelgefübl als Re¬ 
aktion auf physische und psychische Reize ebenso sehr auf eine Störung der Er¬ 
regbarkeit des Gefässnervensystems hin, wie die abnorme Reaktion auf toxische 
Einflüsse. 

2. Die schwere, fortschreitende Form der arteriosklerotischen Hirn¬ 
erkrankung. 

Diese progrediente Form wird von Krankheitserscheinuugen eingeleitet, 
welche denen der leichten, nervösen Form vollständig gleichen; nioht selten be¬ 
ginnt das Leiden auch mit einem apoplektischen Insult, dem in längeren oder 


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Die forensische Bedeutung der Gehirnarteriosklerose. 


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kürzeren Intervallen weitere, klinisch oft nur als Ohnmachts- und Sohwindelanfälle 
sich äussernd, folgen können. Nachdem der Kranke schon mehr oder weniger lange 
über Gedächtnisschwäche, Kopfschmerzen, Schwindelgefühl und leichte Ermüd¬ 
barkeit geklagt hat, entwickeln sich unter einem vorwiegend schubweisen Verlauf 
allmählich schwere psychische Ausfallerscheinungen. Die Stimmung der Kranken 
ist weinerlich, traurig, öfters bietet sich schon frühzeitig das Bild der Melancholie 
mit hypochondrischen Klagen, Angstzuständen und Suizid versuchen. Der Affekt 
ist sehr labil, kleinliche Anlässe, geringfügige äussere Vorkommnisse vermögen 
schwere Depressionszustände oder jähzorniges Exaltieren hervorzurufen. Die Auf¬ 
fassung ist ersohwert, die Gedankenassoziation verlangsamt. Während die Auf¬ 
fassung und Beurteilung neuer Eindrücke und Vorgänge eine deutliche Beein¬ 
trächtigung teigen, bleiben die intellektuellen Leistungen auf dem Gebiete des 
aus dem früheren Leben gewöhnten Interessenkreises viel länger erhalten. So 
ist denn der geistige Zerfall bei diesen Kranken kein gleiohmässiger. Sie 
erscheinen vollkommen apathisch, zeitweise stumpf und verblödet, weil die 

erschwerte Auffassung sie nicht mehr an den neuen Ereignissen des täglichen 
Lebens recht teilnehmen lässt, während sie uns gleichzeitig duroh Ge¬ 
dächtnisleistungen für Vorgänge früherer Jahre überraschen und sich auf 

Grund alter Erinnerungen ihrer eigenen Persönlichkeit lange voll bewusst 

bleiben. Die Krankhoitseinsicht bleibt lange erhalten, selbst bei anscheinend 
schon vorgeschrittener Verblödung zeigen die Kranken zuweilen durob ihre 
Klagen, dass sie ihre traurige Lage 'richtig erkennen. So ersoheint, wie 

Alzheimer (1) den Unterschied treffend kennzeichnet, der arteriosklerotisch De¬ 
mente immer mehr als Hirnkranker, der Paralytiker und senil Demente als 
Geisteskranker. Bei wiederholten Untersuchungen pflegen sich häufige Schwan¬ 
kungen in der Intensität der Kränkbeitsersoheinungen zu zeigen. Allmählich wird 
aber mit der weiteren Entwicklung der Krankheit die Verblödung eine immer 
tiefere und gleichmässigere, die Abnahme der intellektuellen und gemütlichen 
Regsamkeit eine immer grössere. Sie verhalten sich stumpf und gleichgültig allen 
Ereignissen in ihrer Umgebung gegenüber, sowohl was das Geschick ihrer Ange¬ 
hörigen betrifft, als auch was den Kreis ihrer eigenen wirtschaftlichen und beruf¬ 
lichen Interessen berührt. Sie stehen ratlos und hilflos im Leben da; sie ver¬ 
leugnen ihre gute Erziehung, verletzen die Gesetze des Anstandes, und das Pehlen 
von Gegenvorstellungen und Hemmungen lässt in geschlechtlichen Exzessen ein 
Aufflackern der sinnlichen Erregbarkeit Vortäuschen. Charakteristisch für die 
arteriosklerotische Grundlage des Leidens ist das Auftreten typischer Herdsym¬ 
ptome neben diesen eigenartigen psychischen Ausfallerscheinungen. Sie betreffen 
am frühesten die feineren und komplizierteren Innervationen. Die Pupillen sind 
häufig different und zeigen zuweilen eine der absoluten Starre zuzureohnende 
Störung der Licht- und Konvergenzreaktion, die reflektorische Pupillenstarre wird 
dagegen nicht gefunden. Die Sprache ist auffallend langsam, undeutlich, zeigt 
paraphasische Einmischungen in Form von Wort-, Silben- und Buchstabenver¬ 
wechslungen. Je nach der Sobwere und dem Sitz .des Degenerationsprozesses v « 
können wir abhängig von dem physiologischen Wert der erkrankten Himprovinz 
die verschiedensten motorischen und sensorischen Störungen beobachten. Die Be¬ 
wegungen werden unsicher, die Hände zeigen ein grobes Zittern, eine Art 

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W.Knape, 


Schüttelbewegung, die Schrift ist zittrig, der Gang langsam und schleppend. 
Lähmung oder Schwäche eines Gliedes oder einer Körperseite treten auf, bleiben 
bestehen oder bilden sich langsam zurück; wir sehen in der Unfähigkeit, be¬ 
stimmte intendierte Bewegungen auszuföhren, sioh eine Apraxie, in dem Verlust 
des Sprechvermögens die motorische, des Sprachverständnisses die sensorische 
Aphasie entwickeln. Die Erkrankung anderer Zentren bedingt die Unfähigkeit 
Schriftz9iohen zu lesen (Agraphie) oder andere Sinneseindrücke richtig zu er¬ 
kennen (Agnosie: Seelenblindheit, Seelentaubheit usw.). Ein vorwiegendes Auf¬ 
treten der arteriosklerotischen Veränderungen in der Brücke und im verlängerten 
Mark des Hirns lässt ein Krankheitsbild in Erscheinung treten, das sehr viel 
Aehnlichkeit mit der Bulbärparalyse hat und als deren akute, apoplektische Form 
bezeichnet wird. Es ist das Verdienst Jakobsohns (39), die Genese der Krankheit 
als „schwere Form der Arteriosklerose im Nervensystem“ geklärt zu haben. 

Gegenüber dem sohleichenden progredienten Verfall in körperliches und 
geistiges Siechtum stehen in einer Reibe von Fällen der zerebralen Arteriosklerose 
zwei Symptomenkomplexe so im Vordergründe der Krankheitserscheinungen, dass 
sie das Krankheitsbild beherrschen. Es sind dies einerseits die Schlaganfalle und 
apoplektiformen Insulte, andererseits Erscheinungen der Epilepsie. 

Die Sohlaganfälle .können spontan ohne ersiohtliche äussere Ursache oder 
nach körperlichen und psychischen Anstrengungen und Traumen auftreten. Die 
den klinischen Erscheinungen zugrunde liegenden Blutungen im Gehirn haben 
gewisse Prädilektionsstellen, so z. B. die grossen Zentralganglien und die benach¬ 
barten Markzüge der inneren und äusseren Kapsel. Je naob dem Umfang und Sitz 
der Blutung kann bereits der erste Anfall das Leben vernichten oder günstigen 
Falls ein Siechtum mit grösstenteils schweren körperlichen und geistigen Läh¬ 
mungserscheinungen hinterlassen; oder aber die Läsion kann geringfügiger, re¬ 
parabler Natur sein, so dass sioh der Kranke nach längerer oder kürzerer Zeit 
wieder erholt und zuweilen/ in der Folgezeit eine ganze Reihe apoplektiformer An¬ 
fälle mit mehr oder weniger kurzen Intervallen erleidet. Die Folgeerscheinungen, 
welche diese Gehirnblutungen hinterlassen, gleichen in ihrer eigenartigen herd¬ 
förmigen Demenz und ihren Herdsymptomen, ihrem Wechsel in der Schwere des 
Ausfalls den oben für die schwere Form der Arteriosklerose des Hirns beschrie¬ 
benen vollkommen. 

Von den epileptisohen Erscheinungen wissen wir, dass sie nicht eine einzige 
Krankheitsursache haben, sondern dass der epileptische Krampfanfall ein Symptom 
ist, welches wir bei den verschiedensten Hirnkranken beobachten. So finden wir 
es auch bei der arteriosklerotischen Hirnatrophie wieder, ln einer Reihe von 
Fällen verlaufen die Anfälle ganz naoh Art der genuinen Epilepsie (Bewusstseins¬ 
störung, Krämpfe, deliriöse Zustände), in anderen Fällen treten sie nach Art der 
partiellen Epilepsie des Jacksonsehen Typus auf (tonische und klonische 
Krämpfe einer oder mehrerer Muskelgruppen). Alzhermer (I) scheidet ätiologisch 
die arteriosklerotische Epilepsie in eine kardiovasale Form, wo Störungen des 
Blutkreislaufes des Gehirns,, insbesondere bei gleichzeitiger Herzerkrankung, vor¬ 
übergehende arterielle Anämien und venöse Stauungen, epileptiforme Krämpfe 
auszulösen vermögen, welche ganz nach Art der genuinen Epilepsie verlaufen 
können. Diese Erscheinungen können bei der Arteriosklerose des Hirns bereits 


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Die forensische Bedeutung där Gehirnarteriosklerose. 133 

auftreten, wo ausserhalb der Anfälle keine psychisoben Ausfälle bestehen und die 
geistige Regsamkeit noch gut erhalten sein kann. Die zweite Gruppe bringt 
Alzheimer in Zusammenhang mit den arteriosklerotischen Herden, deren Reiz* 
erscheinungen sich mehr dem Typus der Jackson sehen Epilepsie nähern. 
Finkh (40) glaubt, dass den arteriosklerotischen Veränderungen bei dem Auf¬ 
treten der Spätepilepsie nur die Bedeutung eines ätiologischen Faktors zweiter 
Ordnung zukommt, indem sie eine besondere Prädisposition des Gehirns, welche 
bisher latent war, manifest macht. Finkh fand bei seinen Untersuchungen der 
Spätepilepsie, dass unter den ätiologisohen Faktoren die erste Stelle die Heredität 
einnimmt ( 2 / s der Fälle) und in zweiter Linie der Alkohol als ursächliches 
Moment ersoheint. Auch Kräpelin (10) nimmt an, dass eine vorhergehende 
Trunksucht die Neigung zu epileptiformen Anfällen bei der arteriosklerotischen 
Hirnatrophie verstärkt. 

Das anatomische Bild der schweren zerebralen Arteriosklerose zeigt eine er¬ 
hebliche allgemeine Atrophie und Gewichtsabnahme, ohne dass die Windungen 
immer eine wesentliche Verschmälerung zeigen. Die weichen Hirnhäute sind nur 
massig verdickt nnd getrübt, die Himgefässe starrwandig. Auf dem Durchschnitt 
fallen die stärk erweiterten Lymphräume der verdickten Gefässe auf, in ihrer Um¬ 
gebung erscheint die Gehirnsubstanz etwas eingesunken, die auffallend weiten 
perivaskulären Lymphräume lassen das Gewebe wie durchlöchert erscheinen 
(„siebartige Degeneration“, „6tat oriblä“), eine Erscheinung, welche man besonders 
im Gebiet der Stammganglion und der inneren Kapsel beobachtet. Die Ventrikel 
sind erweitert, ihr Ependym zeigt nur selten Granulationen. Das Hemisphären¬ 
mark zeigt, dem Verlauf der Gefässe folgend, häufig eine graue Verfärbung in Form 
von Streifen und Flecken und an diesen Stellen auch eine derbere Konsistenz als 
in der Norm. Vereinzelt oder in Gruppen stehend, trifft man auf miliare Blutungen 
und kleine Erweichungsherde oder die Reste von solchen. An umschriebenen 
Stellen zäigt die im allgemeinen gut erhaltene Rinde stellenweise Verschmälerung 
oder keilartige Ausfälle. Mikroskopisch findet man diffus über das Hirn verteilt 
leichte Veränderungen, eine geringe Vermehrung der Glia in der Oberfiächenschicht 
der Rinde und eine vermehrte Pigmentanhäufung in den Ganglienzellen; nirgends 
aber finden siob, von den arteriosklerotischen Herden abgesehen, Veränderungen 
in der Zytoarchitektur der Rinde und ein deutlicher Ausfall von Markfasern. Die 
arteriosklerotischen Herde finden sich in verschiedener Dichte über Rinde, Mark 
und Stammganglien verteilt, in ihrer Mitte liegt meist ein stark sklerotisch ver¬ 
ändertes Gefäss mit erweiterter Lymphsoheide, um das Gefäss herum treffen wir 
alle Stadien der regressiven Veränderungen, leichte Vermehrung der Glia mit kaum 
nennenswertem Ausfall .nervöser Substanz, in anderen Herden wieder ist das ner¬ 
vöse Gewebe vollständig geschwunden, an seiner Stelle findet sich ein dichter 
Gliafilz mit echten, fettleibigen Spinnenzellen, zwischen ihnen Körnohenkugeln als 
Zeuge von dem Zerfall des ursprünglich hier vorhandenen nervösen Gewebes. Je 
nachdem diese arteriosklerotischen Herde sich vorzugsweise in bestimmten Teilen 
des Hirns in besonderer Häufigkeit finden, können wir nach Alzheimer (1) ana¬ 
tomisch mehrere Typen der arteriosklerotischen Hirnatrophie unterscheiden. Es 
muss dazu bemerkt werden, dass sioh im Einzelfalle diese typischen Veränderungen 
nicht isoliert finden, sondern mehr oder weniger kombiniert auftreten, so dass der 


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134 W. Knape, 

Name nur das quantitative Hervortreten einer typischen Veränderung in dem ans* 
tomischen Befund andeutet. 

Ein soloher Typus ist die Encephalitis subcorticalis ohronica (Bins- 
wanger), wo infolge arteriosklerotischer Erkrankung der als Endarterien bekannten 
Gefässe des Hemisphärenmarks eine hochgradige Atrophie des Marklagers eintritt. 
Da ein Ausgleich durch Anastomosenbildung bei Störungen der Blutzirkulation in 
diesem Bezirk ausgeschlossen ist, sehen wir bei Sklerose der langen Markarterien 
frühzeitig schwere Gewebsveränderungen entstehen. Die arteriosklerotischen Herde 
bedingen infolge sekundärer Strangdegeneration weitere Verödungen, welche sieb 
bis in die Leitungsbahnen des Rückenmarkes verfolgen lassen. Wir sehen anf diese 
Weise die höchsten Grade von Markatrophie entstehen, der Fnnktionsausfall doku¬ 
mentiert sich in einem Blödsinn, der, wie Binswanger (2) bemerkt, an die gross¬ 
hirnlosen Versuchstiere erinnert. Die Hirnrinde pflegt bei diesem Typus meist gut 
erhalten zu sein oder nur geringfügige, vereinzelte, herdförmige Veränderungen 
zu zeigen. 

im Gegensatz zu dieser Erkrankung des Markes steht die senile Rindeo- 
verödung (Alzheimer), wo die Veränderungen vorzugsweise die Hirnrinde 
treffen. Da die Rindengefässe in der Pia miteinander mannigfach anästomosieren, 
eine Ernährung des Gewebes durch Kollateralen viel leichter zu stände kommen 
und viel länger erhalten bleiben kann als in den von Endarterien abhängigen zen¬ 
tralen Ganglien und den Marklagern der Hemisphären, wird die senile Rindenver¬ 
ödung wesentlich später, meist erst im hohen Alter und häufig vergesellschaftet 
mit den diffusen Veränderungen der Dementia senilis gefunden. Charakteristisch 
für die senile Rindenverödung ist das Auftreten keilförmiger Herde, meist gruppen- 
weis im Bereioh eines oder mehrerer Gefässgebiete angeordnet. Von der Ober¬ 
fläche aus stellen sie sich als Einsenkungen dar, auf dem Durchschnitt zeigen sie 
eine keilförmige Gestalt, die Basis des Keils der Hirnoberfläche zugekehrt, ln 
diesen Herden sind die Ganglienzellen und Markfasern geschwunden* an ihrer 
Stelle findet sich dichtes, gewuchertes Gliagewebe. 

Als dritte typische anatomische Veränderung der zerebralen Arteriosklerose 
ist die perivaskuläre Gliose zu nennen. Aehnlioh wie wir in den übrigen Or¬ 
ganen des Körpers bei mangelhafter Gewebsernährung ein allmähliches Abnehmen 
des spezifischen Parenchyms zugunsten einer Vermehrung der bindegewebigen 
Stützsubstanz finden, so sehen wir auch im Hirn den arteriosklerotischen Gefässen 
folgend einen allmählichen Schwund der spezifischen nervösen Substanz und an 
ihrer Stelle Wucherungsvorgänge und Vermehrung der Glia. Mit der längeren 
Dauer des Krankheitsprozesses nehmen die Veränderungen an Schwere zu, sie 
liegen der Gefasssklerose folgend sowohl im Mark als in der Rinde. Es erübrigt 
sich hier noch einmal auf den speziellen Befund bei postapoplektisohen Zu¬ 
ständen einzugehen, da die Folgen der groben Gewebsschädigung diejenigen re¬ 
gressiven und reparatorischen Vorgänge zeigen, wie wir sie bei der einleitenden 
Betrachtung der Arteriosklerose des Hirns geschildert haben. 

Für die Sonderstellung, welohe klinisch die arteriosklerotische Epilepsie ein¬ 
nimmt, ist die anatomische Grundlage bisher nicht bekannt. Wir wissen nioht, 
welche makroskopischen und mikroskopischen Veränderungen das anatomisch* 
Substrat sind, um klinisch das Krankheitsbild durch die epileptischen Erschei¬ 
nungen zn komplizieren. 


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Die forensische Bedeutung der Gebirnarteriosklerose. 


135 


Am Schluss dieser anatomischen Betrachtung der zerebralen Arteriosklerose 
ist es nötig, noch auf einige ungeklärte Fragen hinzuweisen. Die Forschung hat 
bisher keine Erklärung dafür gefunden, warum die Gefässsklerose und der ihr 
folgende Organschwund einmal mehr in der Hirnrinde, das andere Mal vorwiegend 
im Hirnmark sich ausdehnt, ebensowenig dafür, warum bei der Sektion zuweilen 
grobe Veränderungen der Gefässe gefunden werden, ohne dass anatomisch nennens¬ 
werte Ausfälle im Nervengewebe gefunden werden. Nicht immer bringt die mikro¬ 
skopische Untersuchung der feinen Gefässe in solchen Fällen die gewünschte 
Aufklärung. Auch daran muss erinnert werden, dass aus dem anatomischen Be¬ 
fund allein ein Urteil nicht darüber abgegeben werden kann, wie hochgradig die 
psychischen und nervösen Ausfallerscheinungen während des Lebens gewesen sind. 
Das vikariierende Eintreten erhalten gebliebener Zentren des Gehirns in die Funk¬ 
tion zerstörter oder geschädigter Teile ist anatomisch noch grösstenteils unauf¬ 
geklärt upd wegen der Unkenntnis dieser Komponente bedarf der Sektionsbefund 
unbedingt der Ergänzung durch Beobachtungen während des Lebens, um ein be¬ 
stimmtes Urteil über den in Frage stehenden Krankheitszustand abzugeben. 

Unter Berücksichtigung der Differentialdiagnose ist der Nachweis der zere¬ 
bralen Arteriosklerose inf Stadium des Beginns nicht leicht. Wenn wir von früher 
her gewöhnt waren, die Arteriosklerose durch Starre und geschlängelten Verlauf 
der Puls- und Schläfenarterien zu diagnostizieren, so muss nach unseren heutigen 
Erfahrungen dagegen eingowandt werden, dass dieser Befund ebensowenig als 
Beweis für eine gleichzeitig bestehende Sklerose der Hirngefässse angesehen 
werden darf, als wie das Fehlen dieser Veränderungeu an den sicht- und fühl¬ 
baren Arterien eine Gefässerkrankung im Gehirn ausschliessen kann. Es ist nicht 
selten, dass die Gehirnarterien ausschliesslich oder doch vorwiegend und zuerst 
erkranken. Binswanger (2) fand eine Uebereinstimmung zwischen Arteriosklerose 
des Hirns und der anderer Körperarterien nur in 50 pCt. der Fälle. Immerhin wird 
uns ein eigenartiges, vorzeitiges Altern, eine Vergrösserung der Herzdämpfung mit 
besonderer Beteiligung der linken Kammer, nicht nur vorübergehende, sondern 
dauernde Blutdruckerhöhungen über 120 mm Hg, Nierenerkrankungen und Diabetes, 
wie wir sie bei der allgemeinen Arteriosklerose häufig beobachten, auch für die 
zerebrale wertvolle Richtpunkte bei der Diagnose geben. Speziell für eine Arterio¬ 
sklerose der Hirnarterien spricht nach Merz-Weigant (41) der Naohweis sklero¬ 
tischer Veränderungen an den Netzhautarterien, die sich im Augenspiegelbefund 
als weisse, stärker geschlängelte Stränge ohne deutlichen, sonst zu beobachtenden 
zentralen Reflex darstellen. Nach Spielmeyer (38) ist vielleicht auch eine stärkere 
Füllung nnd eine Steigerung des Blutdrucks in den Schläfenarterien beim Vorn- 
überbeugen des Kopfes als ein spezifisches Symptom der Hirnarteriosklerose an¬ 
zusehen. 

Viel wichtiger als diese Befunde sind für die Diagnose die eigentümlichen, 
herdförmigen Krankheitserscheinungen des Nervonsystems. Der ungleichartige 
psyohische Ausfall, der den Kern der Persönlichkeit lange unberührt lässt, das 
lang erhaltene Krankheitsgefühl, die Erschwerung der Auffassung, welche früh¬ 
zeitig schon ein Erlahmen der Produktivität bewirkt, sowie die von dem Kranken 
selbst empfundene abnorm leichte Ermüdbarkeit sind wichtige diagnostische 
Fingerzeige. Das schubweise Auftreten und der häufige Wechsel in der Schwere 
dieser Symptome lernten wir als charakteristisch für das Krankheitsbild der zere- 


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136 W. Knape, Die forensische Bedeutung der Gebirnarteriosklerose. 

bralen Arteriosklerose kennen. Dazu gesellen sioh die herdförmigen nervösen An¬ 
fälle apoplektischen oder epileptischen Charakters, Störungen der Motilität und 
Sensibilität, teils längeri Zeit bestehend, teils vorübergehender N^tur, Sprach¬ 
störungen und Sehstörungen. Ein wichtiges Symptom bieten häufig krankhafte 
Veränderungen der Pupillen, die wir bei jedem Nervenkranken zu untersuchen 
gewöhnt sind. Bei der zerebralen Arteriosklerose finden wir häufig Differenzen in 
der Weite und der Form der Pupillen, sowie eine Störung ihrer Reflexe bei Licht¬ 
einfall und Konvergenz. Das für die metasyphilitischen Krankheiten typische iso¬ 
lierte Fehlen des Pupillenreflexes auf Lichteinfall, die reflektorische Pupillen¬ 
starre, kommt bei der Hirnarteriosklerose nicht vor. 

(Schluss folgt.) 




IX. 

Kleinere Mitteilungen 


1. 

Mord, Verstümmelung der Leiche, Verurteilung und Abbüssung 
der Strafe; Manifestation der Geisteskrankheit; Tod in der 
Irrenanstalt. Paralytische Veränderungen im Gehirn und luetisehe 

an der Aorta. 

% 

Von 

Dr. L. Stanojevil, 

Direktor der Landesirrenanstalt in Stenjeree bei Zagreb (Agram) in Kroatien. 


In der ganzen Psychiatrie haben wir kein so gründlich und so genau ge¬ 
schildertes pathologisches Bild, bei welchem man die Diagnose und Prognose so 
sicher zu stellen vermag, wie bei der progressiven Paralyse. 

Jedoch stossen wir noch immer auf einzelne atypische Fälle dieser Geistes¬ 
störung. Solche Fälle sind von grosser Wichtigkeit vom forensischen Standpunkte 
ads, besonders im Beginn der Krankheit, sei es wegen Mangels an Symptomen oder 
aber gerade wegen der Kaleidoskopie derselben, und vom klinischen Standpunkte 
wegen der Schwierigkeiten in der Feststellung der Diagnose. 

Es kommt sehr häuGg vor, dass das Verbrechen die Folge einer gestörten 
psychischen Funktion ist, und dass dabei der Täter auf die Gerichtsbehörde nicht 
den Eindruck eines Geistesgestörten macht. Und doch ist es auffallend, dass die 
Schwere der Tat im folgenden Falle nicht wenigstens den Verdacht einer schweren 
Geistesstörung des Angeklagten erweckte. Gerade aus diesem Grunde halte ich es 
für wichtig, dass ioh einen solchen Fall heute publiziere. 

Der betreffenden Krankheitsgeschichte können wir Folgendes entnehmen: 

Anamnese: St. V., 48 Jahre alter, verheirateter Bauer. Wie man dem Zeug¬ 
nisse des Gemeindearztes entnehmen kann, hat der Angeklagte vor einigen Jahren 
einen Mann ermordet, dessen Leiche kastriert und verstümmelt. 

, Wegen dieser verbrecherischen Tat wurde er zu 4 Jahren Gefängnis verurteilt, die 
er auch abgesessen hat. Zwei Monate bevor man ihn in die Anstalt gebracht hat, 
bemerkte man an ihm Zeichen einer Geistesstörung. Er hatte die Hosen ausge¬ 
zogen und ging naokt im Dorfe herum. Mehrmals hat er die Sense genommen und 
damit auf dem ganzen Felde gemäht, und wenn er dann jemandem begegnete, er¬ 
zählte er ihm, „dass er so viel Klee gemäht habe wie noch niemand“. Er hat 
seinen Ochsen ans dem Stalle herausgeführt, ihn vor dem Hause festgebunden, 


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Kleinere Mitteilungen. 


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das Messer herausgezogen und wollte ihn schlachten, woran er von seinem Sohne 
verhindert wurde. Die ganze Nacht ist er umhergeirrt, im Dorfe herumgegangen, 
hat geschrien, alle dortigen Bauern gestört, ist zu den Nachbarn gegangen and 
hat ihnen Brot und alles übrige, was er «um Essen gutfand, weggenommen. 

Am 6. 9. 1919 hat er seine Frau, die ihm entlaufen war, mit blankem 
Messer herbeigeführt, ihr aus dem Hucksack Mais vorgeworfen, 
dabei sie wie eine Sau rufend und lockend. Vor einem Gastbanse 
wollte er sie schlaohten und dabei schrie er: „Kommt her ihr Leute, 
seht diese Sau, ich werde sie jetzt schlachten . . Als die Vorbeigehenden das 
sahen, liefen sie herbei und befreiten die Frau von ihm. 

Am 29. 9. 1919 in die Anstalt gebracht, gab er seine Generalien richtig an. 
Er war zeitlich gut, dagegen in bezug auf Ort und Umgebung schwach orientiert. 
Er gibt an, dass sein Vater ein Alkoholiker gewesen ist, so wie er selbst. Seine 
Mutter ist „geisteskrank“ gewesen. Ebenso hat er angegeben, dass er vor einigen 
Jahren einen Mann mit der Axt gesohlagen habe, welcher dann zwei Tage später 
gestorben sei. Er bestreitet aber, dass er ihn habe töten wollen. Er wollte nur 
gegenüber einem unehrlichen Menschen sich selbst verteidigen. Besonders aber 
bestreitet er, dass er den Toten kastrieren oder in Stücke schneiden wollte. Er 
hat nur die Hunde kastriert, und das hat er nur deshalb getan, „damit sie nicht 
herumliefen, sondern sich wie tot verhielten . . . u Er behauptet, seine Frau tu 
lieben, leugnet das im ärztlichen Zeugnis geschilderte Misshandeln und .will sie 
nur mit einem spanischen Rohr auf den Kopf und Körper geschlagen haben. Er 
erinnert sioh nicht, dass seine Frau ihm entflohen wäre. Später behauptet er 
wieder, es sei das möglich; es sei ebenso möglioh, dass er seine Frau heimge¬ 
trieben hat. Er beklagt sich über seinen älteren Sohn, der ein Schurke ist, weil 
er ihn der Gendarmerie angezeigt hat; einen Kranken (von der Abteilung) erkennt 
er als seinen jüngeren Sohn an, zeigt auf ihn hin und fängt an zu weinen. 

In körperlicher Beziehung: gross, mittelkräftig gebaut und schwach genährt. 
Am Schädel äussere Degenerationszeichen. Die Pupillen sind enger als normal, 
gleich rund und reagieren trage auf Licht. Die Patellarreflexe sind gesteigert, 
R. >L. Die Achillessehnenreflexe sind aufgehoben. Babinski negativ. Der Gang 
normal. Brach-Romberg negativ. Keine Störung der Sensibilität. Die Sprache 
ist klar und rein. Im Harn keine pathologische Veränderung. DieWassermannsche 
Reaktion im Blute negativ. Der Liquor konnte aus äusseren Gründen nicht unter¬ 
sucht werden. 

1. 10. 1919. In der Nacht unruhig, schreit, versucht zu entfliehen. 

4. 10. 1919. Sehr ungeordnet. Spuckt auf den Boden, überall, wohin er 
geht. In der Naoht nicht geschlafen, lärmte. 

Fleht mit gefaltenen Händen, man möge ihn nach Hause lassen zusammen 
mit seinem Sohne, den er unter den Kranken gefunden. Verwirrt. 

28. 10. 1919. Um Mittag wollte er nicht essen, aufgeregt. Schreit, drängt 
hinaus, zerreisst seine Kleidung, die Wäsche, schlägt seine Mitkranken, so dass 
man ihm die Zwangsjaoke anlegen muss. Gegen Abend ist er ruhiger und lässt 
sich vom anwesenden Arzt beeinflussen und beruhigen. Isst dann das Nachtmahl 
ohne jede Einwendung. 

31. 10. Drängt immerfort hinaus. Er liegt im Gitterbette, schreit, schimpft, 
spricht lasziv. 


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19. 11. Nachmittag ruhig, schweigsam, auf Fragen gibt er keine Antwort. 
Beim Abendessen spcjngt er plötzlich auf und nimmt einem kranken Nachbarn das 
Abendessen weg. 

21. 11. Sehr verwirrt, vernachlässigt, im Abort hat er sich mit Kot ganz 
beschmutzt. 

25. 11. Wechselnder Zustand, lässt sich von einem jeden beeinflussen. 
Spricht verwirrt, jammert übertrieben, spricht vorbei, später ist er wieder ruhig 
und zugänglich. 

1. 12. Den ganzen Tag aufgeregt, liegt im Gitterbette in der Zwangsjacke, 
stöhnt, schreit wie ein Tier, ab und zu lacht er auf, soheint gehemmt zu sein, 
dann springt er wieder im Bette auf und schimpft über die Aerzte und über 
seine Frau. 

12. 12. Um 4 y 2 Uhr vormittags Exitus unter Kollapssymptomen. 

Obduktion am 12. 12. 1919, nachmittags (Dr. Palmoviö): Pachymeningitis 
int. baemorrhagica sin. Leptomeningitis chronica fibrosa praecipue loborum fron* 
talium et parietalium. Oedema leptomeningum chron. Hydrocephalus internus 
chron. cum ependymitide granulari chronica. Arteriosclerosis arteriarum fossae 
Sylvii et basilaris. Arteriosolerosis arcus aortae et ulcera atheromatosa. Cicatrices 
multiplioes partim hyalinisatao intimae aortae. Arteriosclerosis valvularum mitra- 
lium et tricuspidalium. Atrophia fusoa myocardii gravis et oedema pulmonum 
acutum. Hyperaemia passiva lienis, hepatis, renum et mucosae ventriculi atque 
intestini. Atrophia et cachexia universalis. 

Kurz zusammengefasst müssen wir zugeben, dass man bei dem Kranken nooh 
zur Zeit seiner Ankunft in die Anstalt auf der Grundlage seines katatonisohen 
psychischen Zustandes, der träge auf Lioht reagierenden Pupillen, der gesteigerten 
aber differenten Patellarreilexe und der aufgehobenen Achillessehnenreflexe am 
natürlichsten und zu allererst an eine katatonische Paralyse denken musste. 
Die ethischen Defekte, die man vor mehreren Jahren in dem brutalen Benehmen 
and Zynismus des Kranken bemerken konnte, können unsere Diagnose nur be¬ 
stätigen. ln unserem Falle ist es das Auffallendste, dass das von unserem Kranken 
noch zu jener Zeit auf bestialische Weise verübte Verbrechen niemand darauf auf* 
merksam gemacht hat, es könne sich in diesem Falle um einen geisteskranken 
Menschen handeln. Nicht nur, dass niemand anf etwaige Geisteskrankheit seine 
Aufmerksamkeit gelenkt hat, — er wurde von der Gerichtsbehörde wegen seiner 
brutalen Tat einfach zu vierjährigem Kerker verurteilt, welche Strafe er auch ab* 
gebüsst hat. Wann er aus dem Gefängnis entlassen wurde, wo er sich naohher 
aufgehalten und wie sich der Kranke vor der Manifestation der Geistesstörung zu 
Hause verhalten hat, darüber stehen uns keine Daten zur Verfügung. 

Erst zwei Monate vor seiner Ankunft in diese Anstalt zeigte er seiner Um* 
gebung die Symptome einer Geistesstörung, also zu der Zeit, da die Krankheit 
schon ihren terminalen Verlauf genommen hatte. 

Noch mehr gewinnt an Bedeutung der vorliegende Fall dadurch, dass die 
Krankheit bei ihm längere Zeit angedauert hat. Die Krankheit hat bis zum Tode 
die typischen katatonischen Erscheinungen einer progressi ven Para¬ 
lyse 'gezeigt. 

Es ist möglich, dass gerade diese Art von progressiver Paralyse in unserem 
Falle infolge ihrer Eigenartigkeit, wie das sehr häufig vorkommt, der Aufmerksamkeit 


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der Umgebung entgangen ist. Knecht (2) selbst, Näcke (3). Jahrmärker (4), 
Pilcz (5) und Mattausohek (6) heben hervor, wie schwer es ist, diese Art von 
progressiver Paralyse zu diagnostizieren. 

In unserem Falle hat man erst in der Anstalt festgestellt, dass der Kranke 
ein mit katatonischen Zögen behafteter Paralytiker ist. — Die 
Nekroskopie hat schliesslich den typischen Befund ergeben und damit diesen so¬ 
wohl klinisch wie forensisch interessanten Fall endgültig geklärt. 

Literatur. 

1 ) Tarnowsky, Die krankhaften Erscheinungen des Geschlechtssinnes. 
S. 82 (Fälle von Päderastie und Bestialität). — 2) Knecht, Allgem. Zeitschr. 
f. Psych. Bd. 42. S. 33. - 3) Näcke, Ebenda. Bd. 49. S. 51. — 4) Jabr- 
märker, Neurol. Zentralbl. 1903. S. 595. — 5) Pilcz, Lehrbuch der spez. 
Psych. 1904. S. 130. - 6) Mattauschek, Jahrb. f. Psych. 1905. S. 283. 


2 . 

Klage auf Notzucht. — Abtreibungsversuch bei nichtschvrangerem 

Uterus. 

Von 

Dr. James Brock, 

ehemals Arzt der Kaiserl. St. Petersburger Entbindungsanstalt 
und st. Petersburger SUdtakkoucheur. 


Die im vergangenen Jahre in dieser Zeitschrift erschienene Arbeit über Ab¬ 
treibungsbandlungen bei nichtschwangerem Uterus von Dr. J. R. Spinner, 
Zürioh, gibt mir die Veranlassung, folgenden Fall aus meiner Tätigkeit als Sach¬ 
verständiger in gynäkologischen Fällen bei den St. Petersburger Gerichtsinstitu¬ 
tionen hier mitzuteilen, der ausser anderem auoh deshalb Interesse beanspruchen 
dürfte, weil er den Standpunkt darlegt, den das russische Gericht in der in Be¬ 
tracht kommenden Frage einzunehmen pflegt. 

Im Dezember 1914 war ich vom Untersuchungsrichter des 13. Bezirks von 
St. Petersburg um Abgabe meines Gutachtens in folgendem Fall aufgefordert 
worden: Im April 1914 hatte das unverehelichte Dienstmädchen Sch., 18 Jahre 
alt, gegen den Zimmereinwohner ihrer Dienstherrschaft N. N. eine Klage auf Not¬ 
zucht angestrengt. Dieser Akt sollte vor einer Woche stattgehabt haben und sie 
sei dabei ihrer Jungfernschaft beraubt worden. Am 26. April fand die gerichts¬ 
ärztliche'Untersuchung der Klägerin statt, wobei der Arzt, Dr. S., Blutung und 
Eröffnung des Muttermundes feststellte. Hierüber befragt, gestand die Sch., dass 
sie die Notzuchtsklage aus Rache gegen N. N. erhoben habe. Sie habe mehrere 
Monate ein Liebesverhältnis mit ihm unterhalten. Sich schwanger wähnend, habe 
sie das dem N. N. erklärt und er versprochen, ihr zu helfen, sich von der Schwanger¬ 
schaft zu befreien. Da er nun dieses Versprechen nicht erfüllt hat, sondern sie im 
Stiche gelassen, habe sie auf Notzucht geklagt, um sich an ihm zu rächen. Sie 


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habe sich an die Hebamme P. gewandt, die ihr eine Bougie in den Uterus ein¬ 
führte. Der Gerichtsarzt Dr. S. beförderte die Sch. ins Peter-Pauls-Hospital, wo 
sie sich vom 26. bis 29. April befunden hat. Dem mir vorgelegten Krankenbogen 
entnahm ich, dass die Blutung im Hospital aufgehört hatte. Der Vermerk des 
Anstaltsarztes im Krankenbogen lautete: „Muttermund geschlossen, Uterus infan- 
tilis, menses.“ 

Die in dieser Angelegenheit vom Untersuchungsrichter verhörte Hebamme P. 
gab zu Protokoll: Sie ist die Frau eines Advokaten, der aber sie mit ihren Kindern 
ohne Subsistenzmittel habe sitzen lassen. Sie habe sich redlich durch geburts¬ 
hilfliche Praxis ernährt, niemals einen künstlichen Abort gemacht. Nun, da sie 
und ihre Kinder sich in grösster Notlage befanden, habe sie dem Drängen der S., 
sie von ihrer Schwangerschaft zu befreien, nachgegeben und sich bereit erklärt, 
für den ihr angebotenen Lohn von 15 Hubel, den Abortiiervorzurufen. Da sie an 
6 er Schwangerschaft der S. nicht zweifelte, habe sie ihr die Bougie eingeführt. 
Auf Grund oben angeführter Tatsachen gab ich mein Gutachten ab, von dem es 
abhing, ob die S. und die Hebamme' in Anklagezustand zu versetzen seien. Eine 
Untersuchung der S. hielt ich für überflüssig, zumal da die russische Prozessord¬ 
nung die körperliche Untersuchung von Frauenspersonen nur bei zwingender Not¬ 
wendigkeit zulässt. 

Ich erklärte, dass das Faktum stattgehabter Schwangerschaft mangels objek¬ 
tiver Symptome nicht festgestellt ist. Die bei der S. beobachtete Blutung wäre 
wohl die normale Regel gewesen und dürfe nicht als Folge vor sich gegangenen 
Abortes aufgefasst werden. Hierauf bedeutete mir der Untersuchungsrichter, dass 
er infolge dieses Gutachtens bei der Staatsanwaltschaft um Einstellung des Ver¬ 
fahrens vorschlägig werden müsse. Denn wenn keine Schwangerschaft Vorgelegen 
habe, kein Produkt derselben — der Fötus — vorhanden gewesen ist, fehle das 
Objekt des Verbrechens und weder die S., noch die Hebamme P. könnten in An¬ 
klagezustand versetzt werden. 

Da ich bei Dr. Spinner die Angabe Gnde, „es hat in Deutschland zu der 
konstanten Praxis geführt, die Frau in diesen Fällen zu bestrafen“, hielt ich es 
nicht für überflüssig, auf den Standpunkt des russischen Gerichts in Fällen 
von Abtreibungshandlungen bei nicbtsohwangerem Uterus hinzuweisen und vor¬ 
stehenden Fall zu veröffentlichen. 


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X. 


Besprechungen. 


H. Zangger, Medizin und Recht. Zürich 1920. Orell Füssli. 701 Ss. 80 11. 

Von hoher geistiger Warte aus behandelt der gedankenreiche Vertreter 
unseres Faches an der Universität Zürich die Beziehungen der Medizin zam Recht, 
die Kausalität in Medizin und Recht und die Aufgaben des geriohtlich-medizi- 
nischen Unterrichts. Wir können aus dem reichen Inhalt des Buches, in dem 
überall die selten vielseitige Begabung des Verfassers hervortritt, nur einzelne 
wichtige Punkte herausgreifen. 

Zangger hält neben der theoretischen Vorlesung praktische Uebungen für 
die Studierenden des Rechts und der Medizin gemeinsam für nötig und hat solche 
bereits eingerichtet. In diesen führt er seinen Schülern die frischen Fälle, die 
ihm zugehen, unmittelbar vor, nimmt mit ihnen die notwendigen Ortsbesichti¬ 
gungen und alle sonstigen Untersuchungen zusammen vor, lässt sie an der ganzen 
weiteren Entwicklung der Begutachtung teilnehmeq und endlich auch an der ab¬ 
schliessenden Gerichtsverhandlung. Er bebt hervor, dass nur durch solches un¬ 
mittelbares Erleben das notwendige Verständnis für den Ernst der Aufgabe erzielt 
werden kann, die später Mediziner und Juristen, zum Teil auch Techniker ge¬ 
meinsam zu lösen haben. Man wird den Wert eines solchen in höchstem Sinne 
praktischen Unterrichts nicht verkennen, freilich bedenken müssen, dass er nur 
durchführbar ist bei weitgehendem Entgegenkommen aller, besonders der polizei¬ 
lichen und richterlichen Behörden und bei einer überragenden Stellung des Fach¬ 
lehrers, wie sie der Verfasser offenbar an seiner Wirkungsstelle besitzt. Durch 
diese unmittelbare Teilnahme an den Untersuchungen, bei der die Studierenden 
selbst mit ihren Meinungen und Vorschlägen gehört werden, soll in ihnen das 
Gefühl der Verantwortung ausgebildet werden. Wie ein roter Faden zieht sich 
durch das ganze Buch der Gedanke, dass nur die verantwortungsvolle Tätigkeit 
wahre Befriedigung enthält und dass das ganze Sehnen unserer Jugend nach 
einer solchen Tätigkeit geht. 

Ein weiterer, einen grossen Teil des Buohes beherrschender Gedanke geht 
dahin, dass die strafrechtliche Tätigkeit mehr in die Prophylaxe verlegt werden 
muss, dass sie schon zu einer Zeit eingreifen soll, in der das Unheil noch nicht 
geschehen ist und dass zu diesem Zwecke der Tatbestand der Gefährdung in 
ganz anderer Weise als bisher strafrechtlich gehandelt werden muss, wobei gerade 
wieder die Tätigkeit des medizinischen und naturwissenschaftlichen Sachverstän¬ 
digen, die auf Grund seiner Kausalitätsbegriffe zu treffenden Feststellungen ent¬ 
scheidend sein werden. Auf andere Punkte, so auf die Betrachtungen über .das 
Geständnis, über falsche Selbstgeständnisse, auf die eingestreuten Beispiele, die 


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Besprechungen. - 143 

vielfach gerichtlich-medizinisch wichtige Beobachtungen darstellen, können wir 
nur hinweisen. 

Beim Lesen des Zanggerschen Buches kommt man immer wieder Zum Be¬ 
wusstsein, wie sehr der Bliok des zukünftigen Arztes erweitert, wie sehr seine 
Lebenserfahrung erhöht wird, wenn er duroh die Beschäftigung mit unserem Fach 
einen Einblick in die Welt des Rechts und die mannigfachen hier verhandelten 
Lebensverhältnisse erlangt. Schwer begreiflich erscheint es uns immer wieder, 
dass man neuerdings versucht, dem jungen Mediziner dieses wichtige Bildungs¬ 
mittel zu entziehen, um so mehr, als unsere künftigen Aerzte doch vielfach ge¬ 
zwungen sein werden, im Ausland den Wettkampf mit don Medizinern anderer 
Staaten aufzunehmon, denen durchweg diese Vorbildung zur Verfügung steht. 
Statt dessen will man freilich dem Studierenden der Medizin eine Vorlesung über 
Logik auferlegen. Gewiss kann er auch dabei nützliche Kenntnisse erwerben; 
wenn man sich aber einbildet, dass er Schärfe des Denkens durch ein Collegium 
logioum erlangen soll, so wird man demgegenüber an das Wort des seligen 
Fontane erinnert: ,,Man hat sie oder hat sie nioht.“ F. Strassmann. 


Das uns zugegangene Heft 1 des Jahrgangs 1920 (Bd. XV) des Arcbfvio 
di antropologia oriminale, psichiatria e medicina legale (Herausgeber 
Prof. Mario Carrara in Turin) enthält folgen de Originalarbeiten: E.Ferri (Rom), 
Die Strafrechtsreform in Italien; A. Setti (Turin), Zur Erlösung der Minderjährigen; 
G. Levi (Turin), Form und Funktion; M. U. Massini (Genua), a) Leichenzer¬ 
stückelung bei epileptischer Geistesstörung, b) Selbstentmannung mit Autophagie 
(Einzelmitteilungen). Ferner bringt das Heft berichtende Artikel über die Gesell¬ 
schaft für gerichtliche Medizin in Rom, über kriminologische Probleme, über anthro¬ 
pologisch interessante Strafprozesse, über Gesetzgebung undRecbtsprechnng(Berufs- 
geheimnis und Abtreibung in Frankreich), sowie schliesslich eine reiche Literatur¬ 
ubersicht. 


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i 


XL 

Notiz. 

Tagung der Deutschen Gesellschaft für gerichtliche und soziale 
Medizin in Bad Nauheim. 

Die diesjährige Tagung der Deutschen Gesellschaft für gerichtliche nnd 
soziale Medizin findet im Anschluss an die 86. Naturforscherrersammlang rom 
20. bis 25. September in Bad Nauheim statt. 

Die Herren Kollegen werden gebeten, Vorträge und Demonstrationen dem 
Unterzeichneten Schriftführer anzumelden. 

Geh. Obermedizinalrat Dr. Baiser (Darmstadt), 

Einführender 

Prof. Dr. A. Haberda (Wien), Prof. Dr. Loohte (Göttingen), 

Vorsitzender Schriftführer 

der Deutschen Gesellschaft für gerichtliche Medizin. 


Druck von L. Schumacher in Berlin N. 4. 


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UNIVERSITY QFjf 




1920. 


Oktober. 


Y iertelj alirsschrift 

für 

gerichtliche Medizin 

and 

öffentliches Sanitätswesen. 

; 

Unter Mitwirkung der wissenschaftlichen Deputation für 
das Medizinal wesen im Ministerium für Volks Wohlfahrt 


herausgegeben 


Dr. M. Beninde, und Prof. Br. E. Strassmann, 

Geb. Med.-Rat in Berlin. Geb. Med.-Rat in Berlin. 


Dritte Folge. 60. Band. 2. Heft. 

Jahrgang 1920. 4. Heft. 

Mit 1 Kurve im Text. 


BERLIN 1920. 

VERLAG VON AUGUST HIRSCHWALD. 

NW. UNTER DEN LINDEN 68. 


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Verlag von Anglist Hirschwald in Berlin. 


Soeben erschien: 

Grundriss 

der psychiatrischen Diagnostik 

nebst einem Anhang, enthaltend die für 
den Psychiater wichtigsten Gesetzesbe¬ 
stimmungen und eine Uebersicht der ge¬ 
bräuchlichsten Schlafmittel 
von Prof. Dr. J. Raeeke. 

Achte, umgearbeitete und verb. Auflage. 
1920. 8. Mit 14 Textfiguren. Gebd. 8 M. 


Bernhard Flscher’s 

kurzgefasste Anleitung zu den wichtigeren 

hygienischen und bakteriologischen 
Untersuchungen. 

Dritte, wesentlich umgearbeitete Auflage 
von Prof. Dr. Karl Kisskalt. 

1918. 8. Gebd. 11 M. 


Pathologisch-anatomische 

Diagnostik 

nebst Anleitung zur Ausführung von 
Obduktionen sowie von pathologisch- 
histologischen Untersuchungen 
von Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Job. Orth. 
Achte, durcbgesehene u. vermehrte Aufl. 
1917. gr.8. Mit532Textfig. 22 M., geh. 24 M. 


Handbuch 

der gerichtlichen Medizin. 

Herausgegeben v. Wirkt. Geh.Ober-Med.-Rat 
Prof. Dr. A. Sckmidtmann, 
unter Mitwirkung von Prof.Dr. A.Haberda, 
Prof. Dr. Kockel, Prof.Dr. Wachholz, 
Med.-Rat Prof. Dr. Puppe, Prof. Dr. 
Ziemke, Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Ungar 
und Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Sieraerling. 
Neunte Auflage 

des Casper-Liman'sehen Handbuches. 
I. Bd. gr.8. Mit 40 Textfig. 1905. 24 M. 
H. Bd. gr.8. Mit 63 Textfig. 1907. 15 M. 
III.Bd. gr.8. 1906. 16 M. 


Soeben erschien: 

Algolmllucinosis 

von Dr. S. Galant. 

1920. gr. 8. Mit 8 Abb. im Text. 28 M. 


Verlag von Augnst Hirschwald in Berlin. 


Praktikum 

der gerichtlichen Medizin. 

Die Elemente der gerichtsärztlicben Dia¬ 
gnostik und Technik nebst einer Anlage: 
Gesetzesbestimmungen und Vorschriften 
für Mediziner, Juristen und praktische 
Kriminalisten 

von Gerichtsarzt Dr. Hngo Marx. 
Zweite, verbesserte und erweiterte Aufl. 
1919. Mit 25 Textfiguren. 10 U. 

Die experimentelle Diagnostik, 
Serumtherapie und Prophylaxe 
der Infektionskrankheiten 
von Oberstabsarzt Prof. Dr. E. Marx. 
Dritte Aufl. gr.8. Mit 2 Taf. u. 4 Textfig. 
1914. 12 M. 

(Bibl.v.Coler-v.Scbjerning. XI. Bd. 3. Aul) 


Handbuch 

der allgemeinen und speziellen 

Arzneiverordnungslehre. 

Auf Grundlage des Deutschen Arzneibuches 5. Aus- 
gebe und der neuesten ausländischen Pharmakopoen 
bearbeitet von 

Geh. Med.-Rat Prof. Dr. C. A. Ewald 
und Geh. Med. : Rat Prof. Dr. A. Hefter. 

Mit einem Beitrag 

von Prof. Dr. E. Friedbergir. 
Vierzehnte, gänzlich umgearbeitete Aufl. 
1911. *r. 8. Gebd. 18 M. 


Das Pieckfieber. 

Von Prof. Dr. G. Jürgens. 

1916. ^ gr. 8. Mit 6 Tafeln und 33 Text¬ 
figuren. 8 M. 

(Bibi. v. Coler-v. Schjerning, XXXVLTI. Bd.) 


Der gerichtlich-medizinische 
Nachweis der wichtigsten Gifte. 

Von Prof. Dr. med. Hermann Hildebrandt. 

8. 1912. 2 M. 


Handbuch 

der gerichtlichen Psychiatrie 


unter Mitwirkung von Prof. Dr.A schaffen - 
bürg, Prof. Dr. E. Schultze, Prof. 
Dr. Wollenberg, 

herausgegeben von Prof. Dr. A. Hoehe. 
Zweite Auflage. 1909. gr.8. 20 M. 


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XII. 


Die Begutachtung von Nierenerkrankungen 
auf Grund der Kriegserfahrungen. 

Von 

A. V. Knack. 

(Mit 1 Kurve im Text.) 


Das grosse Material von * Erkrankungen der Harn- und Geschlechts¬ 
organe, das während des Krieges zur Beobachtung kam, hat uns 
mancherlei bemerkenswerte Gesichtspunkte in gerichts- und versiche¬ 
rungsärztlicher Richtung auf diesem bisher noch recht unklaren Gebiet 
gebracht. Der besondere Charakter des Krieges bringt es mit sich, 
dass einmal Körperverletzungen der verschiedensten Art sowie Unfälle 
in mannigfacher Form in grosser Zahl Vorkommen, unter denen auch 
Versuche der Simulation bis zur Selbstverstümmelung nicht allzu 
selten sind. 

Die Erfahrungen der während der Kriegsjahre gewaltig ange¬ 
wachsenen Literatur, die in ihrer fortlaufenden Uebersicht anfangs von 
Lohnstein, dann nach dem Tode dieses ausgezeichneten Urologen 
von mir in der Zeitschrift für Urologie zusammengestellt wurde, kann 
ich durch ein während der Kriegsjahre auf der Abteilung für Nieren- 
und Blasenkranke des Reservelazaretts Allgemeines Krankenhaus Barra- 
beck, Hamburg, beobachtetes grosses, einschlägiges Material ergänzen. 

In dieser Arbeit soll zunächst nur von den Erkrankungen der 
Nieren berichtet werden. 

Wer die bisher erschienene Literatur über den ursächlichen Zu¬ 
sammenhang zwischen Unfällen und Auftreten innerer Nierenerkran¬ 
kungen liest, hat den zwingenden Eindruck, dass, von wenigen Fällen 
abgesehen, der Begutachter sich meist nur in Vermutungen ergeht. 

Auf eine ausführliche Wiedergabe der bisher erschienenen Lite¬ 
ratur zu dieser Frage verzichte ich und beschränke mich darauf, die 
drei letzten wichtigen Arbeiten von Horn, Posner und Wild bolz 

Vierteljahruchrift f. ger.Med. n öff. San.-Wesen. 3. Folge. Bd. 60. H. 2. in 


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A. V. Knack, 


zu nennen, die auch einen kritischen Rückblick auf die ältere Lite¬ 
ratur zu geben versuchen. 

Die herrschende Unklarheit wird um so leichter verständlich, 
wenn man bedenkt, dass noch bis vor wenigen Jahren das Gebiet der 
inneren Nierenerkrankungen ein systemloses Durcheinander von mehr 
minder gut durchforschten Krankheitsbildern darstellte. Vor allem 
war es meist nicht möglich, aus der klinischen Beobachtung einen 
sicheren Rückschluss auf den anatomischen Charakter der bestehenden 
Nierenveränderung zu gewinnen. Dieser Zustand änderte sich erst 
kurz vor dem Kriege, als Fahr und Volhard nach mehrjähriger ana¬ 
tomischer und klinischer Zusammenarbeit ein System der Nieren¬ 
erkrankungen veröffentlichten, nach dem es mit einem Schlage möglich 
wurde, in der überwiegenden Mehrzahl der inneren Nierenerkrankungen 
auf Grund der klinischen Untersuchung eine exakte anatomische Dia¬ 
gnose des vorliegenden Nierenleidens zu stellen. Sicherlich haben 
viele namhafte Forscher, unter denen ich besonders Aschoff, Jores, 
Löhlein, von Müller und Strauss hervorheben möchte, wichtige 
Vor- und kritische Mitarbeit geleistet. Das Verdienst endgültiger 
Klärung gebührt jedoch nur Volhard und Fahr. Seit dem Erscheinen 
ihres ersten grundlegenden Werkes im Winter 1913 ist das von ihnen 
aufgestellte System in den weitesten Kreisen der Aerzteschaft so be¬ 
kannt geworden, dass es an dieser Stelle genügt, nur einen kurzen 
Ueberblick über die von ihnen abgegrenzten Krankheitsbilder zu geben. 
Ich berücksichtige dabei gleichzeitig die während der Kriegszeit von 
Fahr, Volhard u. a. veröffentlichten Arbeiten. 

Fahr und Volhard greifen aus der grossen Zahl innerer Nierenerkrankungen 
überhaupt die nach altem Herkommen zur Brightschen Erkrankung gezählten 
Krankheitsformen heraus im Gegensatz zu anderen Autoren, die wie Aschoff 
sämtliche inneren Nierenorkrankungen in ein umständliches Schema hineinzupressen 
versuchen, ohne damit jedoch die für praktische Zwecke zu erstrebende Klarheit 
zu schaffen. Die Krankheitsbilder, die Bright im Beginne des vorigen Jahr¬ 
hunderts zusammenfasste, gehören auch nach unserer heutigen Kenntnis mit vollem 
Recht in eio für sich geschlossenes System, da es sich bei ihnen nicht nur um 
Erkrankungen der Nieren allein, sondern um entzündlich-degenerative und skleroti¬ 
sche Systemerkrankungen des gesamten Körpers handelt, unter denen die Erkran¬ 
kung der Nieren nur besonders stark hervortritt. 

Volhard und Fahr unterscheiden drei grosse Gruppen: 

1. Die primär degenerativen Erkrankungen, die Nephrosen. 

2. Die primär entzündlichen Erkrankungen, die Nephritiden. 

3. Nieronerkrankungen, bei denen sklerotische Gefässprozesse im Vorder¬ 
gründe stehen, die Sklerosen. 


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Die Begutachtung von Nierenerkrankungen auf Grund der Kriegserfahrungen. 147 

ln einer Uebersichtstabelle gobe ich kurz zusammengefasst die von Volhard 
und Fahr aufgesteliten Krankheitsbilder wieder. Die gleiche Tabelle enthält auoh 
die Angaben über die klinisch differential-diagnostisoh wichtigen Punkte (vgl. um¬ 
stehende Tabelle I) für die Krankheitsbilder im allgemeinen. Mit Abweichungen 
muss natürlich hier wie überall gerechnet werden. 

Der Vorzug der Volhard-Fahrschen Einteilung ist auch der, dass sie mit 
relativ einfachen Untersuchungsmethoden arbeitet. Neben dem genauen Urin¬ 
befund, der Blutdruckbestimmung 'und der Berücksichtigung des sonstigen körper¬ 
lichen Befundes sind als Funktionsprüfungen nur erforderlich der Wasseraus- 
scheidungs-und Konzentrationsversuch sowie die KeststicbstofTbestimmung im Blute. 

Die Wasserausscheidung und Konzentrationsfähigkeit der Niere wird so ge¬ 
prüft, dass dem Patienten morgens uüohtern 1 1 / 2 Liter Wasser zugeführt werden, 
und dass dann bei weiterer Trockendiät der Zeitpunkt bestimmt wird, an dem die 
zugeführte Flüssigkeit wieder im Urin ausgeschieden wird — das soll normaler¬ 
weise in 4 Stunden geschehen — sowie in am gleichen und am nächsten Tage 
gelassenen Urineinzelmengen das spezifische Gewicht bestimmt wird, dasselbe soll 
beim Normalen zwischen 1000 und 1030 verschieblich sein. 

Die Bestimmung des Reststickstoifs muss im nüchtern entnommenen Pa¬ 
tientenblut erfolgen und ist nach mehreren Methoden ausführbar. Die obere Grenze 
der Norm liegt bei der meist geübten Bestimmung nach Rone und Michaelis 
zwischen 35 und 40 mg RN in 100 ccm Gesamtblut. 

Zu der in der Tabelle gegebenen Einteilung seien mir noch einige ergänzende 
Ausführungen gestattet. 

Bei den Nephrosen muss man unterscheiden: 

1. Die genuinen Nephrosen; diese sind Krankheitsprozesse primär degene- 
rativer Natur am Epithelialapparat der Nieren (vorwiegend an den Tubuli con- 
torti), für deren Entstehung eine Aetiologie nicht gefunden werden kann. 

2. Die Nephrosen aus bekannter Ursache. Hierher gehören die primär 
degenerativen Nierenprozesse aus infektiöser oder toxischer Ursache. Unter den 
Infektionen stehen an erster Stelle Diphtherie, Typhus, Cholera, Pneumonie, 
Lues u. a. m. Unter den Intoxikationen kommen die verschiedensten Gifte, am 
häufigsten Sublimat (man, spricht hier wegen des schweren Zerfalls von einer 
Sublimatnekrose), in selteneren Fällen Arsen, Chrom u. a. Stoffe in Frage. 

3. Die bestimmt charakterisierten Nephrosen; hierher gehören die Amyloid¬ 
niere und die Diabetesniere. 

Bezüglich der Nierenfunktion ist eine Unterscheidung dieser einzelnen 
Nephrosengruppen bisher nicht exakt möglich. Vielfach wird man aus der Kennt¬ 
nis der Ursache heraus die Differenzierung vornehmen. Die Diagnose der Amyloid¬ 
niere wird man neben der für nephrotischen Prozess sprechenden Funktionsstörung 
dann stellen, wenn auch nach dem sonstigen Krankheitsbilde die Möglichkeit des 
Amyloids vorliegt, wie besonders bei älteren tuberkulösen Prozessen, tertiärer Lues, 
Karzinom u. dgl., allerdings gibt es auch ein Amyloid, ohne dass man eine fass¬ 
bare Ursache selbst anatomisch dafür findet. 

Eine der häufigsten Nierenerkrankungen ist die Mischform zwischen der 
diffusen Glomerulonephritis und der Nephrose. Da im Vordergründe der Er¬ 
krankung die Beteiligung des Glomerulusapparates steht, spricht man hier von 
einer Glomerulonephritis mit nephrotischer Komponente. 

10 * 


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Die Begutachtung von Nierenerkrankungen auf Grund der Kriegserfahrungen. 149 

klebungen der Kapselblätter, intrakapüläre Zellvermehrung, Fibrinpfröpfcben, 
rote Blutkörperchen im Kapselraum, Bildung ausgesprochener Halbmonde). Am 
Parenchym bemerkt man Verfettungen, lipoide und tropfige Degeneration, be¬ 
sonders an den Epithelien der Hauptstücke. Wegen dieses Hinzukommens degene- 
rativ entzündlicher Prozesse zur reinen Sklerose sprachen Volhard und Fahr 
anfänglich hier von einer Kombinationsform. Da dieser Begriff aber wiederholt 
missverstanden wurde, hat Fahr in neuerer Zeit das Krankheitsbild als maligne 
Nierensklerose bezeichnet. Während das Endstadium der akuten diffusen Glomerulo¬ 
nephritis die sekundäre Schrumpfniere ist, entspricht die maligne Sklerose dem, 
was man früher als genuine Schrumpfniere bezeichnet hat. Das in Frage kom¬ 
mende toxische Moment, das die maligne Sklerose bedingt, können entweder 
„Stoffweehselprodukte sein, welche durch die Niere ausgeschieden werden sollen 
und die sich bei progredienter Niereninsuffizienz in weit erhöhter Konzentration 
im Blute finden. Für diese Ausscheidung lässt sich ins Feld führen, dass im 
späteren Verlauf schwerer Gicht sehr häufig die sogenannte Gichtniere eintritt, die 
sioh anatomisch nicht von anderen Formen der genuinen Schrumpfniere unter- 


erkrankung im Kriege. Med. Klinik. 1916. Nr. 19—21.) 


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*) alk. = meist alkalisch. 4 ) s. = meist sauer. 5 ) hypertr. = Hypertrophie des 1. Ventrikels. 


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A. V. Knack, 


scheiden lässt. Die Harnsäure gehört — wie die übrigen Parinderivate — exquisit 
zu den Stoffen, welche auf die Gefässe und speziell auch auf das Nierengewebe 
reizend wirken“ (F. v. Müller). Andere Gifte sind das Blei und die Lues. „Viel¬ 
leicht sind manche chronischen Infektionen und Intoxikationen, z. B. das Pota- 
torium und rezidivierende Mandelerkrankung, imstande, ein ähnliches Bild zu 
machen, das sich aus vaskulären und entzündlichen Elementen zusammensetzt.“ 

Für den Begutachter von Wichtigkeit ist zunächst die Frage der 
Aetiologie der akuten und chronischen Nierenentzündungen. Zwar 
wissen wir, dass eine Menge infektiöser und toxischer Momente ur¬ 
sächlich in Betracht kommen können. Es bleiben aber doch noch 
eine erhebliche Anzahl von Nierenerkrankungen übrig, bei denen uns 
jeder Anhalt für die Entstehung fehlt. Es ist zur medizinischen Haus¬ 
regel geworden, bei jeder Nierenerkrankung den Patienten eingehend 
nach einer früher durchgemachten Angina oder einem Scharlach zu 
befragen. Der Krieg aber hat uns gerade gelehrt, dass es zahllose 
akute Nierenentzündungen gibt, für die noch jedweder ätiologischer 
Anhalt fehlt. Hierher gehört die geradezu epidemisch seit dem Früh¬ 
jahr 1915 aufgetretene Kriegsnephritis. Man hat mit grossem Eifer 
erfolglos die Ursache dieser akuten diffusen Glomerulonephritis während 
der Kriegsjahre zu ergründen versucht. Anfangs glaubte ein Teil der 
Autoren, Infektionen der oberen Luftwege als ätiologisches Moment 
annehmen zu können. Herxheim er konnte wiederholt Streptokokken 
an Leichen in Organen, Blut und Eiter nachweisen. Andere Autoren 
glaubten in einer Ernährungschädigung eine toxische Ursache finden 
zu können (Albu und Schlesinger). Einer sogar fand im ödema- 
tösen Hautgewebe rikettsiaartige Gebilde (Töpfer.) Bei genauerem 
Zusehen aber passte keine dieser Aetiologien auf die Gesamtheit der 
sonst ganz gleichartig verlaufenden Krankheitsbilder. Auch die nahe¬ 
liegende Annahme, dass Erkältung oder Durchnässung die Ursache 
wären, konnte nicht aufrecht erhalten bleiben, da die gleichen Er¬ 
krankungen auch ohne Mitwirkung dieser Witterungsschädigungen auf¬ 
traten, oder dass sogar in Gegenden, in denen infolge ausserordent¬ 
licher Kälteeinwirkung massenhafte Erfrierungen der übrigen Körper¬ 
teile vorkaraen, wie z. B. in den Karpathenkärapfen, Nierenerkrankungen 
fast völlig fehlten. Auch hat uns das Kriegsmaterial keinerlei be¬ 
sonders beachtliche Einzelfälle geliefert, in denen Nierenentzündungen 
durch plötzlich eintretende starke Abkühlung, wie Sturz ins Wasser 
u. dgl. m. auftraten. So umfassende Beobachtungen wir auch in der 
klinischen Symptomatologie der akuten Nierenerkrankungen machen 


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Die Begutachtung von Nierenerkrankungen auf Grund der Kriegserfabrungen. 151 


konnten, ätiologisch haben wir nichts Nennenwertes durch den Krieg 
hinzugelernt. 

Die wichtige Frage, inwieweit ein lokales Trauma eine 
akute Nierenentzündung auslösen kann, hat in der Kriegs¬ 
literatur eine indirekte Beantwortung gefunden. Die bisherige Literatur 
vermochte einige Fälle anzuführen, in denen ein Zusammenhang 
zwischen "Trauma und frischer Nierenentzündung zu bestehen schien, 
aber diese Fälle waren doch, das wird mir jeder in der Literatur Be¬ 
wanderte zugeben, meist wenig überzeugend. Entweder fehlte der 
sichere Nachweis, dass vor dem Trauma keinerlei Nierenveränderungen 
bereits bestanden hatten, oder die klinische Diagnose konnte nicht 
genügend exakt durchgeiführt werden, weil eben damals noch die 
Nierenfunktionsprüfungen unbekannt waren und die Diagnostiker haupt¬ 
sächlich auf Vermutungen angewiesen waren, oder die Fälle, in denen 
anatomische Befunde erhoben werden konnten, zeigten histologische 
Veränderungen, die mit einer echten Nierenentzündung nichts zu tun 
hatten. Ich erinnere hier an die oft angeführten Fälle von Holz 
und Pfeiffer. Würde es eine traumatische Nephritis im oben an¬ 
gedeuteten Sinne geben, so hätte uns der Krieg sicherlich eine grössere 
Anzahl solcher Fälle geliefert, denn Verletzungen der Nierengegend 
durch stumpfe oder scharfe Gewalt waren durchaus nicht selten. Ihre 
Folge war aber stets eine chirurgische Nieren Verletzung, nie eine echte 
Nephritis. Die Literatur berichtet über keinen solchen Fall, und der 
einzige Fall, der unserer Abteilung als solcher überwiesen wurde, 
hatte bei exakter Untersuchung ein völlig negatives Ergebhis. 

W., 30 Jahre alt, 15/2683. 1914 Quetschung der linken Körperhälfte 
zwischen zwei Wagen. Oktober 1914 ins Feld. Februar 1915 in einen Schützen¬ 
graben gefallen. Seit dieser Zeit Schmerzen im Kreuz. Angeblich nierenleidend. 
Nierenbefund völlig normal. Röntgenaufnahme der Nieren o. B. 

In der Literatur ist während des Krieges wiederholt die Frage 
angeschnitten worden, ob ein Trauma zu einer Nephrose führen 
könne? Anlass gab ein von Volhard beschriebener Fall, in dem 
das typische Krankheitsbild der genuinen Nephrose sich an einen 
Sturz aus dem Fenster anschloss. Ganz ähnlich lag ein Fall von 
Kapsammer, bei dem nach einem Sturz aus dem Fenster eine 
Nierenerkrankung mit Oedem ohne irgendwelche Herzerscheinungen, 
also wahrscheinlich auch eine Nephrose auftrat. In einigen ähnlichen 
Fällen der französischen Literatur (zit. bei Posner), die, wie die von 
Holz und Pfeiffer, anatomisch untersucht wurden, lagen zwar mehr 


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A. V. Knack, 

oder minder ausgedehnte nephrotische Veränderungen zum Teil mit 
starker Verfettung der an den Zerfallsherden beteiligten Tubuli vor. 
Klinisch boten diese Fälle aber nicht das Bild der Nephrose, sondern 
sie zeigten im Gegenteil einen stark blutigen, relativ wenig Eiweiss 
enthaltenden Urin. Wenn ja nun auch die Fälle von Volhard 
und Kapsaramerin ihrer ganzen Art sehr für die traumatische Ent¬ 
stehungsmöglichkeit eines degenerativen Nierenprozesses sprechen, so 
muss es doch Wunder nehmen, dass das Kriegsmaterial uns gar keine 
derartigen Fälle geliefert hat. Wir werden den Begriff der von 
Posner in die Literatur eingeführten „traumatischen Nephrose“ vor¬ 
erst noch recht skeptisch behandeln müssen und immerhin bedenken, 
ob die von ihm als Beweis angeführten Unglücksfälle nicht doch nur 
durch einen Schwächezustand der bereits im Entstehen begriffenen 
Nierenerkrankung ausgelöst wurden, dass Ursache und Wirkung hier 
verwechselt wurden. 

Mancherlei hat uns der Krieg auch auf dem Gebiete der chroni¬ 
schen Nierenerkrankungen gelehrt. Dass eine bestehende chro¬ 
nische Erkrankung durch vermehrte körperliche Belastung, wie sie 
der Kriegsdienst mit sich bringt, exazerbieren kann, ist nichts Neues, 
t Einige Fälle von Exazerbation chronisch entzündlicher 

^ierenerkrankungen aus unserem Beobachtungsmaterial mögen 
hier aufgeführt sein. 

E., 21 Jahre alt, 16/6282. 1911 Nierenentzündung. August 1915 ins Feld. 
September 1915 Schwellung des ganzen Körpers. Nierenbefund im März 1916: 
Urin: Eiweiss 1 pM., Blut Spur. RN 62. Wasserausscheidung in 12y 2 Stunden. 
Konzentrationsbreite 1005—1008. Blutdruck 165 mm Hg. Röntgenaufnahme des 
Herzens TD 13,0, LD 16,0. Augenhintergrund o. B. 

Diagnose: Chronische diffuse Glomerulonephritis mit Niereninsuffizienz. 

S. , 43 Jahre alt, 16/5716. November 1915 in die Garnison. Wiederholt bei 
leichteren Marschanstrengungen und Uebungen Atemnot. Nierenbefund im De¬ 
zember 1916: Urin: Eiweiss 1 pM., Blut negativ. BD 210 mm Hg. RN 186. Reti¬ 
nitis beiderseits. Herzhypertrophie, Galopprbythmus. 8. 1. 1917 Exitus. 

Sektion: Sekundäre Schrumpfniere. 

T. , 19 Jahre alt, 15/2908. 1913 Scharlach mit anschliessender Nieren¬ 
entzündung. Juni 1914 Fahnenjunker, Januar 1915 ins Feld. Mai 1915 Kopf¬ 
schmerzen, Erbrechen, Mattigkeit. Nierenbefund: Urin: Eiweiss 1 / i pM., Blut 
negativ, Wasserausscheidung in 24 Stunden. Konzentrationsbreite 1002—1026. 
BD 120 mm Hg. RN 24. Herz o. B. 

Diagnose: Chronische diffuse Glomerulonephritis ohne Niereninsuffiziens. 

S., 25 Jahre alt, 15/4079. Mit 15 Jahren Scharlach. Dezember 1914 ins 
Feld. Ende Januar 1915 im Eis eingebrochen. Mai 1915 ins Lazarett. Im August 


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Die Begutachtung von Nierenerkrankungen auf Grund der Kriegserfahrungen. 153 

1915 ins Barmbecker Krankenhaus <nit Bewusstlosigkeit und Krämpfen eingeliefert. 
Nierenbefund: Urin: Eiweiss und Blut positiv. RN 42. 

Sektion: Sekundäre Schrumpfniere. 

Die Kriegsliteratur weiss von weiteren Fällen zu berichten. Aller¬ 
dings handelte es sich dabei wie in den vorstehenden Fällen stets 
nur um den schädigenden Einfluss körperlicher Mehrbelastung oder 
allgemeiner ungünstiger Witterungseinflüsse wie Erkältung und Durch- 
nässung (vgl. Lohnstein). Eine Exazerbation durch lokale Traumen 
wurde meines Wissens während der Kriegszeit nicht beschrieben. 

Besonders wichtig ist nun das Verhalten der zum Gebiet 
der Sklerosen gehörigen chronischen Nierenprozesse gegen¬ 
über den vorerwähnten Schädigungen durch körperliche 
Mehrbelastung. Die benignen Sklerosen sind reine Erkrankungen 
des Gefässsysteras, die Nierenerkrankung tritt klinisch völlig zurück. 
Im Vordergründe stehen vielfach nur Herz- oder Gehirnsymptome. 
Werden solche Patienten, die meist im 5. Lebensjahrzehnte stehen, 
aus ihrer alltäglichen Gewohnheit herausgerissen und zu vermehrter 
körperlicher Leistung herangezogen, so treten in der Mehrzahl der 
Fälle Herzinsuffizienzerscheinungen auf, in seltenen Fällen auch Ge¬ 
hirnsymptome. Ich selbst verfüge über keinen Fall, in dem eine 
grössere Gehirnläsion im Sinne einer Apoplexie auftrat. Meist handelt 
es sich um das Auftreten mehr oder minder erheblicher Herzinsuffizienz. 
Als Beispiel zwei Fälle: 

S.. 48 Jahre alt, 18/12438. Seit 1914 in der Etappe. Ende Juli 1917 er¬ 
krankt mit Blasenbeschwerden. Unwillkürlicher Urinabgang, vermehrter Harn¬ 
drang. Im Lazarett Nierenentzündung festgestellt. Nierenbefund am 15. 1.: Urin: 
Eiweiss leichte Trübung, vereinzelte Blutkörperchen im Sediment. BD 160 mm Hg 
Wasserausscheidung in 2 Stunden. Konzentrationsbreite 1000—1032. Gesamt¬ 
ausscheidung 3660 ccm. RN 19. Wa negativ. Röntgenaufnahme des Herzens: 
LD 16,8. TD 14,6. Aorta cooperscherenförmig aufgebogen. Zystoskopie normal. 

E., 45 Jahre alt, 18/12932. Seit 1914 als Krankenpfleger im Lazarettzug. 
Anfang 1918 zunehmende Mattigkeit. Nierenbefund: Urin: Eiweiss Spur, Blut 
negativ. BD 160—205 mm Hg. RN 53. Wa negativ. Wasserausscheidung in 
29 Stunden. Konzentrationsbreite 1004—1035. Röntgenaufnahme des Herzens 
normal. 1. 6. gebessert entlassen. BD schwankt zwischen 115—168 mm Hg. 

Beachtlich erscheint mir auch ein Fall, in dem heftige dauernde 
Kopfschmerzen zunächst än alles andere als an eine Nierensklerose 
denken Hessen, bis eine endlich vorgenommene Blutdruckmessung die 
Diagnose mit einem Schlage klärte. 


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A.V. Knack, 


Der Patient war als Arbeitssoldat in der Garnisonbäckerei tätig. Er klagte 
über .Mattigkeit und anerträgliche Kopfschmerzen. Neben einer Herzvergrösserung 
bestand eine Blutdrucksteigerung von über 200 mm Hg. Der Nierenbefnnd 
sprach für benigne Sklerose. Ruhe und diätetische Behandlung beseitigten die 
Beschwerden. 

Besonders bemerkenswert sind nun aber diejenigen Fälle, in denen 
das Trauma der plötzlichen körperlichen Mehrbelastung den 
Uebergang einer benignen in eine maligne Nierensklerose 
bedingt. Das Verhältnis der benignen und malignen Nierensklerose 
ist von den pathologischen Anatomen noch heiss umstritten. Während 
Löhlein und Jores, denen sich auch A sch off anschliesst, in beiden 
Erkrankungen lediglich verschiedene Grade desselben Gefässprozesses 
sehen und behaupten, dass die maligne Sklerose nur ein weiter vor¬ 
geschrittenes Stadium der benignen Sklerose darstellö und in der 
Nomenklatur von einer Nephrocirrhosis arteriosclerotica initialis und 
progressa sprechen, vertritt Fahr den Standpunkt, dass es sich bei 
beiden Erkrankungen um prinzipiell verschiedene Krankheitsbilder 
handelt. Zwar finden wir bei beiden erhebliche sklerotische Verände¬ 
rungen in den feinen Gefässen, bei der malignen Sklerose kommen 
dazu jedoch ausgesprochene entzündlich-degenerative Veränderungen 
an den Glomerulis und Tubulis, die durch ein besonderes schädi¬ 
gendes Agens bedingt sein müssen und niemals rein angiotrophisch 
ausgelöst werden können. Hinzu kommt, dass es Fahr in letzter 
Zeit hier auch wiederholt gelang, ausgesprochene endarteriitische 
Prozesse nachzuweisen im Gegensatz zu den blanden sklerotischen 
bei der benignen Form. Es wurde bereits oben angeführt, dass 
im Sinne der besonderen anatomischen Veränderungen auch ätio¬ 
logisch spezifische Momente wie Lues, Blei und Gicht für die Aus¬ 
lösung des malignen Prozesses in Frage kommen. Neben diesen 
spielt nun auch die durch plötzlich einsetzende körperliche Mehr¬ 
belastung bedingte Stoffwechseländerung für die Auslösung eines 
malignen Prozesses eine bemerkenswerte Rolle, wie folgende Fälle 
zeigen: t 

S. Bei dem jetzt 47jährigen Manne traten bereits 1899 die ersten Anzeichen 
einer Arteriosklerose auf. Damals klagte er über manchmal auftretendes Beklemmungs- 
gefübl in der Herzgegend und rheumatische Beschwerden in verschiedenen Gelenken. 
Wegen dieser Beschwerden war der Mann wiederholt in Krankenhäusern in Be¬ 
handlung. Da man eine organische Veränderung nicht finden konnte, lautete die 
Diagnose meist auf Neurasthenie, Hysterie und Taedium laboris. 1912 traten vor¬ 
übergehende Obnmachtsanfälle auf, 1913 eine */ 2 Stunde dauernde Lähmung der 


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Die Begutachtung von Nierenerkrankungen auf Grund der Kriegserfahrungen. 155 

rechten Körperhälfte. Der Mann ka in wieder ins Krankenhaus. Die Beschwerden 
worden aber, zumal sie von äusseren Anlässen abhängig zu sein schienen, als 
funktionell aufgefasst und die Diagnose Hysterie gestellt. Erst im Juli 1914 fand 
sich bei einer tonometrischen Untersuchung eine erhebliche Blutdrucksteigerung 
bis 210 mm Hg, daneben eine deutliche Hypertrophie des linken Ventrikels. Der 
Urin war bei den bisherigen ärztlichen Untersuchungen stets normal gewesen. 
Mit Kriegsbeginn trat der Mann als Unteroffizier ein, war anfangs mit Rekruten¬ 
transporten nach dem Westen beschäftigt, später nur mit Ausbildung neuer Truppen 
in der Garnison. Die zweite Hälfte des Jahres 1914 und das Jahr 1915 verbrachte 
er ohne erhebliche Beschwerden. Erst im Februar 1916 traten im Anschluss an 
Uebungsmärsche erneut Kopfschmerzen, Schmerzen in der Herzgegend und Lähmungs¬ 
gefühl in den Beinen auf. Seit Mitte März hatte Patient auoh über Schwachsichtig¬ 
keit zu klagen, es war ihm nicht möglich, irgendwelche Gegenstände scbarf kon- 
turiert zu sehen. Ende März trat ziemlich plötzlich blutiger Urin auf. Bei der 
deshalb erfolgten Aufnahme im Barmbecker Krankenhaus wurde eine erhebliche 
Herzbypertrophie und eine Blutdrucksteigerung bis 240 mm Hg festgestellt. Der 
Urin war fast rein blutig, zeigte leicht vermehrte Tagesmenge, durchschnittlich 
1 8 / 4 pM. Eiweiss, Zylinder aller Art. Man dachte zunächst an eine Massenblutung 
aus einer Niere und glaubte, vielleicht im Platzen eines kleinen Nierengefässes 
oder einem Infarkt die Ursache der Blutung vermuten zu können. Der in diesem 
Sinne ausgeführte Ureterenkatheterismus ergab als Ausgangspunkt der Blutung 
die rechte Niere. In den nächsten Tagen ging der Blutgehalt des Urins bis auf 
Spuren zurück. Die Funktionsprüfung der Nieren ergab erhöhte Reststickstoffwerte, 
der Reststickstoff stieg während der Beobachtung langsam an, betrug anfangs 
56 mg, nach etwa 14 Tagen 69 mg, kurz vor dem Tode 258 mg in 100 ccm Gesamt¬ 
blut. Die Prüfung der Wasserausscheidung und Konzentrationsfähigkeit ergab das 
Bild ausgesprochener Hypesthenurie. Das spezifische Gewicht schwankte in engen 
Grenzen zwischen 1003 und 1010, die zugeführte Flüssigkeitsmenge wurde in einer 
gleichmässigen, flachen Kurve ausgescbieden. Am Augenhintergrund fand sich 
beiderseits ausgesprochene Retinitis albuminurica. Während der sechswöchigen 
Krankenhausbehandlung bestanden dauernde heftige Kopfschmerzen, wiederholt 
Erbrechen, zunehmende Atemnot, zweimal heftiges Nasenbluten. Der Tod erfolgte 
unter einer komplizierenden Bronchopneumonie. Bei dem vorliegenden klinischen 
Verhalten der Nieren konnte die Diagnose nur schwanken zwischen sekundärer 
Schrumpfniere oder maligner Nierensklerose. Da die ganze Vorgeschichte des 
Mannes für eine langsam sich, ausbildende Arteriosklerose sprach und der Urin¬ 
befund noch bis 1914 bei wiederholten Krankenhausbeobachtungen stets normal 
gewesen war, wurde die Diagnose maligne Sklerose gestellt, die auch anatomisoh 
durch die von Fahr vorgenommene Sektion vollauf bestätigt wurde. Der Vorwurf 
der Neurasthenie, Hysterie und des Taedium laboris hat den Patienten bei rück¬ 
läufiger Betrachtung völlig zu Unrecht getroffen. Man hätte vielleicht schon früh¬ 
zeitig den Ernst der Erkrankung erkennen können, wenn man den Blutdruck nicht 
erst im Jahre 1914 zum ersten Male bei ihm gemessen hätte. 

B., 42 Jahre alt, 16/8789. Früher stets gesund. Keinerlei Nieren- oder Herz¬ 
symptome. Februar bis April 1916 in Belgien. Machte dann Dienst in Geesthacht 
als Landsturmmann. In letzter Zeit häufiger nächtlicher Urindrang. Kinderlos 


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156 A.V. Knack, 

verheiratet. 22. Dezember 1916 moribund eingeliefert. Nierenbefund: Urin: Ei- 
weiss 2 pM., Blut: negativ, Wa. negativ. 

Sektion: Maligne Nierenskierose. 

Diese Fälle können nur so erklärt werden, dass die bereits (be¬ 
nigne) sklerotisch veränderte Niere zwar den StofTwechselansprüchen 
des alltäglichen Lebens noch völlig gewachsen war, dass aber, als 
die vermehrten Ansprüche einsetzten, es zu einer Schlackenstauung 
im Blute kam und diese dann ihrerseits schädigend auf das Nieren¬ 
parenchym wirkte und die entzündlich-degenerativen Veränderungen 
an den Glomeruli und Tubuli auslöste. 

Die Beobachtung solcher Fälle und ihre exakte Diagnose sind 
besonders wichtig für die Frage der Beurteilung der Unfallsschädigung. 
Haben wir eine chronische diffuse Glomerulonephritis vor uns oder 
auch eine von vornherein maligne Sklerose speziGscher Natur (Lues, 
Gicht u. dgl.), so können wir bei vorliegender Verschlimmerung mit 
grösserer Wahrscheinlichkeit annehmen, dass das Leiden durch die 
eingetretene Schädigung zwar beschleunigt wurde, aber auch ohne 
das erlittene Trauma seinen verderblichen Verlauf weiter genommen 
hätte. Bei diesen besonderen Fällen der Ueberführung einer benignen 
in eine maligne Nierensklerose müssen wir im Gegensatz dazu aner¬ 
kennen, dass voraussichtlich ohne Trauma die Nierenerkrankung nicht 
maligne geworden wäre. Erleben wir es doch bei Alterssektionen 
häußg genug, dass eine benigne Nierensklerose jahrzehntelang be¬ 
stehen kann, ohne für ihren Träger lebensgefährlich zu werden. 

Wichtig ist, wie wiederholt erwähnt, der Nachweis einer Lues 
für die Stellung der Prognose bei beginnenden Nierensklerosen. 
Darum mögen an dieser Stelle ein paar Worte darüber eingeschoben 
werden. Bei Nachweis der luetischen Infektion ist eine Nierenaffektion, 
die zunächst noch als benigne Sklerose imponiert, stets als Vorstadium 
einer malignen Sklerose zu deuten und die Prognose infaust zu stellen. 
Als charakteristisches Beispiel folgender Fall: 

G. K., Major. 16/8671. In der Jagend Lues. Jetzt wegen Nierenleiden auf¬ 
genommen. War während einer Tätigkeit im Bekleidungsamte wiederholten Er¬ 
kältungen ausgesetzt. Nierenbefund: Urin: Eiweiss Spur, Blut negativ. Tages¬ 
menge 900—1200 ccm, spez. Gew. 1015—1020. Wasserausscheidqng in 7 Standen. 
Konzentrationsbreite 1002—1025. RN 53. BD 180. Wa negativ. Röntgenauf¬ 
nahme des Herzens: TD 15,2. LD 18. Herzsilhouette links etwas verbreitert, 
Arcus über die Fläche gebogen. Aorta descendens sichtbar. Blutbild: 6,5 Millionen 
rote, 4600 weisse Blutkörperchen. Augenhintergrund: Ueber der Netzhaut in der 
nächsten Umgebung der Papille ein leichter Schleier, rechts zwei ganz kleine Ex- 


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Die Begutachtung von Nierenerkrankungen auf Grund der Kriegserfahrungen. 157 


sudate. April 1917 Bd 175—185. Wasseraussoheidong in 2 1 / i Stunden. Konzen¬ 
trationsbreite 1026. RN 38. 27. III. 17. BD 198. Nierenbefund: Urin: Eiweiss 
Spur, Blut Spur. Augenbintergrund: Exsudate deutlicher. Januar 1919 private 
Mitteilung über fortschreitendes Sieobtum. 

Bei der Augenuntersuchung bestanden anfangs Zweifel, ob es sich um Ex* 
sudate oder atrophische Herdchen handle. Da aber eine Lues in der Anamnese 
war, wurde eine beginnende Retinitis nephritica angenommen, die dann auch der 
spätere Verlauf bestätigte. 

Ist einmal ein Zusammenhang zwischen erlittener Schädigung und 
Brightschcr Nierenerkrankung anerkannt, so handelt es sich darum, 
einen sicheren Aufschluss über die Prognose und über den 
weiteren Verlauf für die Begutachtung zu gewinnen. Und gerade 
hier ist in früherer Zeit soviel gesündigt worden, weil man bei der 
Beurteilung jeder JUerenerkrankung nur angewiesen war auf den Urin¬ 
befund und das Verhalten des Zirkulationsapparates. Erst in neuerer 
Zeit hat uns die Nierenfunktionsprüfung die Möglichkeit gegeben, 
tieferen Einblick in das Wesen des Nierenprozesses selbst zu erlangen, 
um so jederzeit über den Stand der Erkrankung und den Grad der 
noch vorliegenden Veränderung genau orientiert zu sein. 

Die Nierenfunktionsprüfung ermöglicht es uns auch, in das grosse 
Gebiet der Albuminurie Klarheit zu bringen und eine als Zeichen 
einer ernst zu nehmenden chronischen Nierenveränderung auftretende 
Albuminurie scharf abzugrenzen gegen eine harmlose nach Ablauf 
irgendeiner Erkrankung der Harnorgane zurückbleibende Eiweiss¬ 
ausscheidung. 

Auf dem Gebiete der Albuminurie hat der Krieg unsere Erfah¬ 
rungen wesentlich bereichert. Aus der Friedenszeit kannten wir be¬ 
reits die Sportalbuminurie, die bei Wettstreiten verschiedenster 
Art infolge der stattgehabten erheblichen körperlichen Anstrengung 
in Erscheinung trat. Ich selbst hatte Gelegenheit, an der Unter¬ 
suchung eines Armeegepäckmarsches teilzunehmen, der kurz vor 
Kriegsausbruch in Hamburg stattfand. Die Ergebnisse desselben 
wurden von Feigl und Querner veröffentlicht. Wir sahen dabei 
vorübergehende Albuminurien zwischen Spur und 1 pM. Esbach in 
24 pCt. der Fälle, Blutausscheidung im Urin (vorwiegend nur mikro¬ 
skopisch) in 35 pCt. der Fälle. Bemerkenswert war, dass auch der 
Reststickstoffgehalt des Blutes in 55 pCt., der Fälle eine Steigerung 
des Grundwertes um etwa 20 pCt. zeigte. Aehnliche Urinbefunde 
erhoben Reber und Lauener, die Albuminurie bei Soldaten nicht 
nur nach einem Drilltage (Freiübungen, Exerzieren, Turnen, Schanzen), 


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158 


A.V. Knack, 


sondern auch nach längerem Postenstehen beobachteten. Auch hier 
war die Eiweissausscheidung, sofern der Urin vor der körperlichen 
Anstrengung eiweissfrei war, nur von kurzer Daner. Besonders be¬ 
achtlich ist auch ihr Befund, dass unter 528 Soldaten auch nach 
längerer Ruhe bei 56, also in 10,6 pCt. der Fälle, Eiweiss meist in 
sehr geringen Mengen gefunden wurde. Es wird hiermit das Vor¬ 
kommen der Albuminurie bei sonst völlig Gesunden erneut 
bestätigt. Reber und Lauener arbeiteten dabei mit den in der 
ärztlichen Praxis üblichen Reagentien. Wer dagegen, wie wir, mit 
besonders feinen Eiweissproben regelmässig untersucht, mit Pollaccis- 
Reagens (einer Mischung von Sublimat, Weinsäure und Formalin) oder 
mit 20 proz. Sulfosalizylsäure, findet in einer noch wesentlich grösseren 
Anzahl bei Nierengesunden eine geringe Eiweissausscheidung, ohne 
dass körperliche Leistungen irgendwelcher Art vorangegangen sind. 
Für den Begutachter ist die Kenntnis solcher Eiweissausscheidungen 
bei Normalen von grösster Bedeutung. Die ohne vorangehende körper¬ 
liche Anstrengung zustandegekommenen Albuminurien dokumentieren 
sich meist nur als Spuren von Eiweiss und werden darum von dem 
Begutachter eher richtig eingeschätzt als die erheblicheren Eiweiss¬ 
ausscheidungen nach körperlichen Anstrengungen. So ist es sehr wohl 
möglich, dass solche Albuminurien Zustandekommen, wenn die zu 
Begutachtenden einen längeren Marsch oder eine sonstige erhebliche 
körperliche Anstrengung kurz vor dem Untersuchungstermin hinter 
sich haben. Man muss sogar mit der Möglichkeit rechnen, dass von 
in der Heilkunde irgendwie erfahrenen Personen solche Eiweissaus¬ 
scheidungen zu Simulationszwecken absichtlich erzeugt werden können, 
genügt doch nach den Kriegserfahrungen von Reber und Lauener 
bereits längeres Stehen zur Auslösung derselben. 

Durch die modernen Untersuchungsmethoden sind wir nun aller¬ 
dings in den Stand gesetzt, mit völliger Sicherheit eine derartige 
harmlose Albuminurie von einer ernstzunehmenden Nierenerkrankung 
unterscheiden zu können. Der genauere Urinbefund selbst bringt uns 
noch nicht weiter. Ich hatte bei dem oben erwähnten Armeegepäck¬ 
marsch die Möglichkeit, eine Sedimentreihenuntersuchung vorzunehmen, 
und fand dabei, dass fast sämtliche Formelemente, die wir sonst als 
Zeichen einer schweren Nierenaffektion anzunehmen pflegen, auch bei 
Sportalbuminurien Vorkommen. Vor allem konnte ich Zylinder fast 
aller Gattungen nachweisen, so dass mir nach diesen Erfahrungen 


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Oie. Begutachtung *oi> NierenerferstUiunge-n auf Gnind der Krteg.strfahru.ijg*!». 1-59 

eine Abgrenzung einer solchen harmlosen Albuminurie gegenüber einer 
echten Kierenerkran.feu.ng;- ■ nicht raöglmh Urscheiiit, Da$ Einfeige, was 
Klarheit versc.liaflt, ist die Prüfung der Nierenlnnktiun, -bei der aller¬ 
dings jedesmai die noch weiter unten- m erwiivo endennervösen Ein¬ 
flüsse berücksichtigt werden müssen. Eine ■ .solche Prüfung bedarf — 
das ist eine bedauerliche Erschwerung eines uhehrtngigeu Kranken-- 
hausaui'oriMuütcs, Es ist natürlich auch die Durchführung einer 
solchen Prüfung im PtivaUmuse möglich.Einwandfrei exakte Werte 
küiiüen jedoch nur bei gleich/.i'itigem Krankeuhaus'ujfßotlvalt und ge¬ 
nügend geschuitem Beobivchtuhgspersomii gewonnen werden. 

in dieses Kapitel: hinein gehört auch die Fragt. inwieweit eine 
vöriiegende Albuminurie der .Resty.üsiami eines abgeiaufene» Nieren¬ 
leidens ist. biW:;, Wann und oh eio Ntefenleiden als .abgeheilt, befrachtet 
werden kann, trotzdem 'auch eine solche „pnstiofia m watorWehe* 
Albuminurie vorliegt. Viele derartige Fit!Iß wurden früher ä!s chro¬ 
nische Nierenerkrankungen betrachtet tau! zu strenger Bettruhe und 
Diät von raonate-, oft jahrelanger Dauer verurteilt, weil man über den 
Ürinbefund hinaus nicht tiefer in das - Wesen des Niere oprozessos ebi- 
ittdringej» vermochte. Auch hier helioti uns jetzt die FunktioDS- 
prütüngsmethodcii, die mit fast ntathemathkher Genauigkeit den Grad 
der Nierenschädigung an geben. Ich bringehier einige Beispiele für 
den Verlaub der NiecenfiHtkt.ionspiiifungsiriethoden bei typischen Fällen 
ans efü^K^föhfirfeh: Afheii. -k'-' 7 <. r ' ? ,V* I: 


Auf; -£‘afeetlfe,if;.a und II b ist das Verhaften der Wass^rauaacbeidung unil 
ivoHzenWatiwisbrtüte bei typischen Füllen in etwa vieft»ijahfiifiheri Zeitabständpn 
angegeben. Ihn zua siehst bestehet! de verlangsaunte'WasS>/l-a‘*sscheHitnsg njiamt fort- 
läufend ah und. uSheti sieb det Horm, die maximale Koafeeßtrutieu steigt zu immer 


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160 


A.V. Knack, 


höheren Werten. Tabelle IIb zeigt bezüglich der Konzentrationsfähigkeit das 
gleiche Verhalten wie 11a, während die Wasserausscheidung hier, wie wir das bei 
ablaufenden Nephritiden recht häufig sehen, zunächst eine erhebliche Beschleuni¬ 
gung zeigt, ehe sie sich der Norm zuwendet. 

Tabelle 111 bringt das Verhalten der Reststickstoffwerte in verschiedenen 
Krankheitszeiten bei gleichzeitiger Berücksichtigung des prozentualen Harnstoff- 
anteils. Man sieht hier, wie mit zunehmender Besserung der Wert des Gesamt¬ 
reststickstoffes zur Norm absinkt und gleichzeitig der prozentuale Harnstoffanteil 
ebenfalls niedriger wird. 

Tabelle III. 


Fall 1. 

11. 1. 

RN 

143 

Ur 80 pCt. 


30. 5. 

n 

94 

» 75 

11 


21. 7. 

71 

36 

„ 60 

71 

Fall 2. 

00 

ID 

11 

48 

* 80 

11 


3. 3. 

71 

32 

„ 75 

11 


7. 4. 

11 

29 • 

„ 70 

11 


|N& 

00 

71 

22 

„ 50 

11 

Fall 3. 

13. 7. 

11 

149 

„ 80 

71 


13.12. 

71 

34 

„ 52 

11 


Haben wir durch die Nierenfunktionsprüfung festgestellt, dass die 
Nieren trotz noch bestehender Albuminurie keine wesentlichen Störungen 
mehr zeigen, so bleibt immer noch die Frage offen, ob eine solche 
Niere sich nun auch einer Belastungsprobe gegenüber ebenso verhält 
wie eine normale. Fussend auf der Erfahrung, dass die normalen 
Nieren auf körperliche Anstrengungen reagieren, haben wir von unseren 
nierenkranken Soldaten vor Abschluss der Behandlung Probemärsche 
machen lassen, ln einigen kurzen Uebersichtstabellen gebe ich die dabei 
gemachten Beobachtungen wieder (vgl. nebenstehende Tabellen IVa—d). 

Die auf Tabelle IVa verzeichneten Fälle zeigen keinerlei Marschreaktionen, 
bei den auf Tabelle IVb aufgeführten Fällen sehen wir nach dem Marsch geringe 
Ausschläge in Vermehrung des Eiweissgehaltes auftreten. In den auf Tabelle lVc 
aufgeführten Fällen sehen wir neben zum Teil recht erheblicher Vermehrung 
des Eiweissgehaltes auch Ausschläge im Blutgehalt des Urins und eine Blut¬ 
druckreaktion, die für ablaufende akute Nierenentzündungen sehr charakteristisch 
ist. Während nämlich nach körperlicher Anstrengung der Blutdruck bei Nor¬ 
malen absinkt, beobachteten wir bei noch bestehender Nierenerkrankung eine 
Blutdrucksteigerung. Auch die Prüfung der Stickstofffunktion gibt oft deut¬ 
liche Ausschläge: Während wir bei Normalen eine Steigerung des Reststickstoff¬ 
spiegels bis zu 20 pCt. des Grundwertes beobachten, sehen wir in den pathologisch 
veränderten Fällen der Tabelle IV d eine wesentlich höhere Steigerung auftreten. 

Bei Soldaten war diese Marsehreaktion ohne Schwierigkeit exakt 
durchzuführen, weil sie der militärischen Befehlsgewalt unterlagen, 
und ein Vorgesetzter für die zweckmässige Durchführung der Marsch- 


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Bdgutaohtung von Niertmerkranhiugeti auf Kr und der Ivri.'jxsi'rfaliruugvn. 161 


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162 


A. V. Knack, 


Übung die Verantwortung übernehmen konnte. Bei Fällen von Zivil¬ 
kranken wird die Marschprobe nicht so leicht durchzuführen sein, 
wenn man nicht unterstützt wird durch den guten Willen der 
Patienten. 

Auf den Gebieten der übrigen zur inneren Medizin gehörigen 
Nierenerkrankungen hat uns der Krieg nur noch wenige neue Gesichts¬ 
punkte gebracht. So erschreckend auch die Zunahme der Lungen¬ 
tuberkulose unter den Kriegseinflüssen war, so blieb doch eine nennens¬ 
werte Steigerung der Nierentuberkulose aus. Unter den chir¬ 
urgischen Nierenerkrankungen war diese trotzdem die häufigste und oft 
nicht rechtzeitig erkannte chirurgische Nierenerkrankung (Kümmell). 
„Bei jedem länger andauernden Blasenkatarrh mit heftigem Harn¬ 
drang, besonders wenn Blutungen damit verbunden sind, muss genan 
auf die Möglichkeit einer Tuberkulose geachtet werden.“ 

Wenn auch die Prognose der rechtzeitig diagnostizierten Nieren¬ 
tuberkulose bei operativer Behandlung eine gute ist, so muss doch die 
zurückbleibende Niere sorgfältig vor erheblichen körperlichen Schädi¬ 
gungen bewahrt bleiben. Mir wurde ein ausserordentlich trauriger 
Fall bokannt, der durch das ganz unverantwortliche Handeln des 
musternden Militärarztes frühzeitig zugrunde ging. 

D., 38 Jahre alt, 16/5771. 1911 Entfernung der rechten Niere wegen Tuber¬ 
kulose. Oktober 1915 eingezogen, trotz ärztlicher Atteste! Januar 1916 Schüttel¬ 
frost, Urinverhaltung. Nierenbefund: Urin: Eiweiss 1 / 2 pM., Blut sobwach posi¬ 
tiv. BD 115. Wasserausscheidung in 12 Stunden, Konzentrationsbreite 1005—1010. 
Gesamtausscheidung 4400. Tbo. im Urin positiv. 5. 5. Exitus. 

Was die Beeinflussung der Nierenfunktion durch den tuberkulösen 
Prozess betrifft, so ist es ja recht naheliegend, dass bei einseitiger 
Erkrankung die andere Niere die gesamte Funktion übernimmt, und 
dass dann alle Methoden, die die Gesamtfunktion beider Nieren prüfen, 
normale Werte ergeben. Nur in seltenen Fällen beobachtet man auch 
bei Vorhandensein nur eines kleinen tuberkulösen Herdes in einer 
Niere eine erhebliche Funktionsstörung beider Nieren, welche nach 
Baetzner auf reflektorischem Wege zustande kommt. Im allgemeinen 
sieht man erheblichere Störungen der Gesamtfunktion nur bei Er¬ 
krankung beider Nieren. Wie hochgradig die Funktionsstörung einer 
erkrankten Niere werden kann, beweist der oben bereits angeführte 
Fall, in dem die, nach der Exstirpation, zurückgebliebene Niere 
nachträglich tuberkulös erkrankte. Zur weiteren Illustration noch 
einige Fälle: 


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Die Begutachtung von Nierenerkrankungen auf Grund der Kriegserfahiungen. 163 

H., 23 Jahre alt, 18/14721. Oktober 1915 ins Feld. Dezember 1915 Brustfell* 
entzöndung. März 1918 Nierenentzündung. Nierenbefund: Urin: Eiweiss l s / 4 pM., 
Blut positiv. Leukozyten -|—Wasserausscheidung in 14 Stunden, Konzen* 
trationsbreite 1002—1023. Gesamtausscheidung 2690. RN 35. Im Urin Tuberkel¬ 
bazillen -J—f-. Zystoskopie nicht durchführbar. 

E., 23 Jahre alt, 16/6634. Seit Kindheit lungenleidend. August 1915 ins 
Feld. Dezember 1915 Nierenentzündung, Rückenschmerzen, Mattigkeit. Mai 1916 
Nierenbefund: Urin: Eiweiss Spur, Blut Spur. Wasserausscheidung in 11 Stunden, 
Konzentrationsbreite 1002—1018. RN 17. BD 110. Sediment massenhaft Leuko* 
zyten. Zystoskopie o. B. Im Urin beider Nieren Tbc positiv. Röntgenaufnahme 
der Lungen: kleinfleckige Infiltrationen in beiden Spitzen, besonders rechts. Tbo 
im Auswurf negativ. 

Die Geringgradigkeit der Funktionsstörung im Gegensatz zum vor¬ 
geschrittenen Stadium des Krankheitsprozesses beweist folgender Fall: 

M., 25 Jahre alt, 15/3045. Mai 1915 Granatsplitterverletzung, dabei Quet¬ 
schung des rechten Hodens. Dauernde Fistelung. 31. August histologischer Nach¬ 
weis von Tuberkulose im Fistelgewebe. Exstirpation des rechten Hodens. 16. Sep¬ 
tember Tierversuch im Urin für Tuberkulose positiv. 12. Dezember Nierenbefund: 
Urin: Eiweiss y 2 pM., Blut negativ. BD 155. Wasserausscheidung in 3 Stunden, 
Konzentrationsbreite 1000—1028. Gesamtausscheidung 3130. ÄN 28. 22. März 
1916 Exitus. 

Sektion: Ausgedehnter käsiger Zerfall beider Nieren. 

Manchmal stösst die Diagnose der Nierentuberkulose auf erheb¬ 
liche Schwierigkeiten, wenn eine Komplikation der ableitenden Harn¬ 
wege vorliegt, wie in folgendem Fall: 

S., 36 Jahre alt, 17/11942. Als Kind Bettnässen. 1905 Tripper. 1912 er¬ 
neute Blasenbeschwerden, vermehrter, schmerzhafter Urindrang. November 1917 in 
Garnison, dort Erkältung, Verschlimmerung der Beschwerden. Nierenbefund: 
Urin: Eiweiss Trübung, Blut Spur. Leukozyten -|—J-, ebenso Bakterien. Wasser¬ 
ausscheidung in 2*/ 2 Stunden. Konzentrationsbreite 1000—1032. RN 20. Wa 
negativ. Zystoskopie nicht durchführbar wegen Striktur der hinteren Harnröhre. 
Röntgenaufnahme der Nieren: in der rechten Niere, in der unteren Hälfte eine 
Reihe leicht hirsekorn- bis stark stocknadelkopfgrosser unregelmässiger Kalk¬ 
schatten. Februar 1918 im Urin Tierversuch Tbo positiv. 

Die bakteriologische Untersuchung ist bei solchen Fällen oft 
etwas schwierig. Die gleichzeitig neben den Tuberkelbazillen vor-. 
handenen sonstigen Keime wirken im Meerschweinchen versuch als 
Eitererreger störend, sie müssen erst durch Antiforminanreicherung 
ausgeschaltet werden, bei der nur die Tuberkelbazillen nach kürzerer 
Einwirkung noch lebensfähig bleiben. Oft kann eine Röntgenunter¬ 
suchung in solch zweifelhaftem Falle die Diagnose lördern. Bei er¬ 
heblicher Ausdehnung des Nierenprozesses geben die verkalkten oder 

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A.V. Knack, 

verkästen Massen deutliche Schattenbildung. Im Gegensatz zu den 
Nierensteinen sind diese Schatten nicht scharf abgegrenzt. Sie haben 
oft, besonders bei kleineren Herden, radiär verlaufende, den Sammel¬ 
röhrchen entsprechende Anordnung. Auch die Lokalisation des Krank¬ 
heitsprozesses wird oft durch eine solche Röntgenaufnahme möglich. 

F., 27 Jahre alt, 17/11039. 1914 ins Feld. März 1917 Lungenleiden. August 
1917 Nierenbefund: Urin: Eiweiss ^ pM., Blut positiv, Sediment Leukozyten 
und Erythrozyten, Tbc positiv. BD 129. KN 86. Wasserausscheidung in 13Stunden, 
Konzentrationsbreite 1002—1010. Gesamtausscheidung 3200. Röntgenaufnahme 
der Nieren: Rechter Nierenschatten grösser als links; in der Niere reichlich diffuse, 
kalkige Schatten. Röntgenaufnahme der Lungen: Beide Spitzenfelder stark ab- 
gescbattet, rechter Oberlappen zirrhotisch. 

Differentialdiagnostisch kommen bei diesen Röntgenaufnahmen 
neben Nierensteinen Verkäsungen aus nicht tuberkulöser Ursache in 
Betracht, wie die sogenannte Kittniere, von der Oehlecker einen 
Fall röntgenologisch beobachtete, ln einem weiteren Falle derselben 
Art, den ich als Leichenbefund zu erheben Gelegenheit hat,te, war 
eine Röntgenaufnahme nicht gemacht; die Veränderung, die eine 
völlige, gleichroässige Verkäsung der betroffenen Niere darstellte, hatte 
im Leben keinerlei Erscheinungen verursacht. 

Der Krieg war auch ein summarisches Experiment für die Frage 
der traumatischen Entstehung der Nierensteine. Sicherlich 
gibt es ja einen Zusammenhang zwischen Trauma der Nierengegend 
und Nierensteinbildung. 

„Allgemein anerkannt ist, dass Blutgerinnsel ebenso wie andere 
Fremdkörper als Gerüst für Steinbildungen dienen können“ (Stern). 
Fälle, die diesen Zusammenhang einwandfrei beweisen sollen, finden sich 
in allen üblichen Lehrbüchern der Unfallheilkunde. Im Kriege mit seinen 
zahllosen traumatischen Insulten finden wir auffallenderweise keine 
Fälle, in denen Nierensteine im Anschluss an ein Trauma entstanden 
sind. Das spricht denn doch wieder für einen nur recht lockeren 
Zusammenhang zwischen Trauma und Nicrensteinbildung und lässt 
die Fälle der Fricdensliteratur, die einen solchen Zusammenhang kon¬ 
struieren wollen, noch recht skeptisch betrachten. 

Häufiger sind natürlich die Fälle, in denen ein Nierenstein- 
leiden durch vermehrte körperliche Anstrengung in die Er¬ 
scheinung tritt, bzw. sich verschlimmert. 

S., 24 Jahre alt, 17/9562. März 1916 ins Feld. November 1916 Nierenkolik 
rechts. Nierenbefund: Urin: Eiweiss leichte Trübung, Blut Spur. BD 112. RN 27. 
Wasserausscheidung in 2 1 / 2 Stunden, Konzentrationsbreite 1000—1027. 


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Die Begutachtung von Nierenerkranbungen auf Grund der Kriegserfahrungen. 165 

W., 28 Jahre alt, 17/11848. Vor 12 Jahren Nierenbluteü. Schmerzen in der 
rechten Lendengegend. August 1914 in Garnison. Dezember 1914 Nierenstein¬ 
leiden. November 1916 ins Feld. Dezember 1916 ins Lazarett. November 1917 
Nierenbefund: Urin: Eiweiss leichte Trübung, Sediment Leukozyten. BD 92. 
RN 19. Wasserausscheidung in 5 Stunden, Konzentrationsbreite 1002—1023. 
Röntgenaufnahme: In der rechten Niere ein hirsekorngrosser Steinschatten. 

W., 39 Jahre alt, 17/10074. Vor 9 Jahren wegen Nierensteinen behandelt. 
November 1916 ins Feld. Januar 1917 ins Lazarett. Nierenbefund: Urin: Eiweiss 
negativ. BD 105. RN 39. Wasserausscheidung in 24 Stunden, Konzentrations¬ 
breite 1002—1020. Röntgenaufnahme: kleiner Steinschatten in der rechten Niere, 
desgl. in der linken Niere. 

Von Bedeutung ist, wenn auch nur in seltenen Fallen, die exakte 
Differentialdiagnose zwischen Nierenstein und Nierenent¬ 
zündung. Eine Verwechslung ist hier einmal dadurch möglich, dass 
die Nierensteino oft keinerlei typische Schmerzreaktion geben, im 
Urin erscheint Eiweiss und Blut meist nur in geringerer Menge und 
so wird dann die Diagnose auf Nierenentzündung bei oberflächlicher 
Betrachtung leicht gestellt. 

D., 35 Jahre alt, 17/11441. Januar 1915 ins Feld. Juli 1917 Nierenleiden. 
Keine Körperschwellung. Oktober 1917 Nierenbefund: Urin: Eiweiss 1 pM., Blut 
Spuren. RN 25. BD 102. Wasserausscheidung in 11 Stunden, Konzentrations¬ 
breite 1003—1023. Dann wiederholt Schmerzen in der rechten Lendengegend. 
Pat. gibt an, auch in früheren Jahren Nierenkoliken gehabt zu haben. Röntgen¬ 
aufnahme der Nieren: Grosser rechtsseitiger Nierenstein. November Operation. 
Januar 1918 Nierenbefund: Urin: Eiweiss leichte Trübung, Sediment vereinzelt 
Leukozyten und Erythrozyten. Wasserausscheidung in 5 Stunden, Konzentrations¬ 
breite 1000-1027. RN 17. 

H., 40 Jahre alt, 19/17527. Seit 1914 im Felde. 31. August 1918 Kreuz¬ 
schmerzen und Bluturin. Im Lazarett Nierenentzündung festgestellt und bisher 
mit Bettruhe und strengster Diät behandelt. 25. März 1919 zur Beobachtung ins 
Barmbecker Krankenhaus. Beschwerden: Schmerzen in der Nierengegend, leichte 
Ermüdbarkeit. Mutter nierensteinleidend. 

Kräftig gebaut, fettleibig. Innere Organe normal. Nierenuntersucbung: Urin: 
Eiweiss pM., Blut wechselnd stark, meist Spur. Wasserausscheidung in 
7 J / 2 Stunden, Konzentrationsbreite 1002—1030. Gesamtausscheidung2340. RN 44. 
BD 115. Röntgenaufnahme der Nieren: Im rechten Nierenbecken ein bohnengrosser 
Steinscbatten. Am 7. April Operation. Pyelotomie. 11. Juni geheilt entlassen. 

Dem Erfahrenen wird bei einer exakten Nierenuntersuchung aller¬ 
dings doch das eine oder andere Symptom aufstossen, das ihn ver¬ 
anlasst, zur Klärung eine Röntgenaufnahme machen zu lassen, und 
diese gibt dann ohne weiteres Aufschluss. Von welcher Bedeutung 
eine solche richtige Nierensteindiagnose werden kann, beweist der 
letzte Fall, der mit Bettruhe und strengster Nierendiät geradezu ge- 


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166 


A. V. Knack, 


mästet wurde und dabei in eine immer ernstere, seelische Verfassung 
geriet, weil seine r Nierenentzündung u aller Diät trotzte. 

Auch die Differentialdiagnose gegenüber Pyelitis und 
Nierenabszess kann manchmal schwierig werden wie im folgenden 
Falle: 

0., 23 Jahre alt, 11/355. März 1915 ins Feld. Seit 3 Wochen mitSchmerzen 
in der linken Lendengegend erkrankt. Kopfschmerzen und hohes Fieber. Nieren* 
befand: Geringe Druckempfindlichkeit beider Nierenlager. Urin: Eiweiss 2 pM. 
Im Sediment massenhaft Leukozyten. Wasserausscheidung in 13 Stunden, Kon¬ 
zentrationsbreite 1000—1023. RN 21. BD 102. Temperatur bis 40°. Röntgen¬ 
aufnahme: ln der linken Niere ein korallenförmiger Ausguss zahlreicher Kelche. 

Operation ergibt vereiterte Steinniere. 

Es kann nun auch eine entzündliche Nierenerkrankung 
unter dem Symptomenbild der Nierensteinkolik verlaufen. 
Das sah man besonders im Anfangsstadiura, manchmal auch iru 
späteren Stadium der Kriegsnierenentzündungen. Sind die Schmerzen 
in beiden Nierengegenden gleichzeitig, so wird man kaum an Nieren¬ 
steinkoliken denken. Wir haben aber auch Fälle von akuter, diffuser 
Glomerulonephritis gesehen, in denen die Schmerzen ausgesprochen 
einseitig auftraten. Die sichere Differentialdiagnose liefert in solchen 
Fällen ein gutes Röntgenbild. Mit der Verwendung der Nieren¬ 
funktionsprüfung muss man sehr vorsichtig sein. Zwar machen Nieren¬ 
steine im Gegensatz zur frischen Nierenentzündung meist keinerlei er¬ 
hebliche Funktionsstörungen. Wir wissen aber auch, dass manchmal 
ein kleiner Nierenstein auf reflektorischem Wege ganz erhebliche 
Störungen bis zur völligen Anurie auslösen kann. 

Ein Fall, der die Schwierigkeiten der Differentialdiagnose zwischen 
Entzündung oder Steinbildung recht interessant beleuchtet, möge hier 
noch wegen seiner Seltenheit angeführt werden. 

K., 36 Jahre alt, Oberleutnant (Tuchfabrikant). Früher stets gesund. 
Oktober 1915 im Felde Influenza. Seit Dezember 1915 leichte > Ermüdbarkeit, häufig 
Mattigkeitsgefühl, bekam deshalb eine leichtere Stellung als Verpflegungsoffizier. 
Im Dezember 1916 vermehrten sich während einer Reise die dauernd vorhandenen 
Beschwerden so sehr, dass Patient sich zu einem Arzt begab. Dieser stellte Ei¬ 
weiss im Urin fest. Die zur Zeit der jetzigen Untersuchung vorliegenden Be¬ 
schwerden waren: allgemeine Müdigkeit, Schwäche in den Beinen, Kopfschmerzen, 
geringes Brennen in der vorderen Harnröhre, Kurzatmigkeit bei längerem Gehen. 
1915 Gonorrhoe mit Prostatitis. 

Herzgrenzen normal. 2. Aortenton akzentuiert. Blutdruck 138 mm Hg. Urin: 
Tagesmenge schwankt zwischen 1100 und 1700, Konzentration zwischen 1006 und 
1015. Eiweiss Spur, Blut negativ. Im Sediment vereinzelte Leukozyten, Erythro- 


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J 



Die Begutachtung von Nierenerkrankungen auf Grund der Kriegserfabrungen. 167 

zyten, hyaline und granulierte Zylinder. Prüfung der Nierenfunktion: Wasser- 
aussoheidung in 13 Stunden, Kurve der Ausscheidung abgeflacht, Konzentrations¬ 
breite 1000-1023. RN 29. 

Während des Krankenhausaufenthaltes plötzlich Piebersteigerung bis 39°. 
Im Urin Eiweiss 1 pM., Blut stark positiv. Diese plötzlich auftretende Hämaturie 
legte den Verdacht auf Nierensteinleiden nahe, und der Zufall wollte es, dass bei 
einer Röntgenaufnahme sich zahlreiche bohnengrosse, zunächst als Steine im¬ 
ponierende Schatten in der Gegend des linken Nierenbeckens und der grossen 
Kelche der oberen Nierenhälfte fanden. Da jedoch die klinischen Symptome nicht 
ohne weiteres, zumal bei dem Fehlen von Koliken, für Nierensteine sprachen, 
wurden noch erneute Kontrollaufnahmen angefertigt, und dabei konnte man fest¬ 
stellen, dass die Kalkschatten median und etwas unterhalb des linken Nieren- 
schattens bei den verschiedenen Aufnahmen stets etwas anders lagen und ihre 
Anordnung wechselte. Als dann noch eine Ureterensonde eingelegt wurde, sah 
man deutlich, dass dieselbe median an dem Kalkkonglomerat vorüberzog. Der 
Röntgenologe (Oberarzt Dr. Haenisch) glaubte darum, Nierensteine mit ziem¬ 
licher Sicherheit ausschliessen zu können und neigte eher zu der Annahme, dass 
es sich um verkalkte Mesenterialdrüsen handeln müsse. Die Diagnose wurde unter 
Zusammenfassung aller Befunde in diesem Palle auf subakute, rezidivierende 
Glomerulonephritis gestellt. 

Dieser Fall lehrt uns, dass wir auch in der Beurteilung der 
durch Konkremente im Röntgonbild gegebenen Schatten 
vorsichtig sein müssen. 

Ein besonders interessantes Gebiet stellen seltene Fälle von unter 
heftigen Koliken verlaufenden Nierenaffektionen dar, die weder eine 
genügende klinische noch anatomische Veränderung zeigen. Man 
nannte diese Fälle früher Nephritis dolorosa. Neuerdings schlägt 
Casper die Bezeichnung Koliknephritis vor. Das Gebiet dieser 
Krankheitsfälle ist noch recht dunkel. Bei genauerer histologischer 
Untersuchung fand Casper minimale entzündliche und degenerative 
Veränderungen an den operativ freigelegten Nieren. Bemerkenswert, 
wenn auch noch ungeklärt, ist die Tatsache, dass die Schraerzanfälle 
meist nachlassen nach der Vornahme einer Dekapsulation. Unter dem 
Militärkrankenmaterial sahen wir solche Fälle von Koliknephritis re¬ 
lativ selten. Sie boten nichts Neues. Ihre Diagnose konnte nur 
nach längerer Beobachtung und sicherem Ausschluss aller sonstigen 
in Frage kommenden Erkrankungen gestellt werden. Vor allem müssen 
Erkrankungen der Prostata, die leider noch immer viel zu wenig 
untersucht wird, und tuberkulöse Prozesse ausgeschlossen werden. 

E., 20 Jahre alt, Feldartillerist. Mit 12 Jahren wegen Nierenleidens ein 
Vierteljahr im Krankenhause. Es traten damals Schmerzanfälle in der linken 
Lendengegend anf. Diese Anfälle wiederholten sich von Zeit zu Zeit. Der letzte 


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168 


A. V. Knack, 


Anfall trat vor 2 Monaten auf. Eingezogen am 15. 4. 1916. 2. 5. 1916 wegen 
eines Kolikanfalles krank gemeldet. 

BDI 15. Urin: Reaktion sauer, Eiweiss Spur, Blut 0. Sediment o.B. Wasser¬ 
ausscheidung in 67 a Stunden, Konzentrationsbreite 1000—1032. RN33. Röntgen¬ 
bild ergibt keinerlei Anhalt für Konkrementbildung im Urogenitaltraktus. Zysto- 
skopie ergibt keinerlei pathologische Verhältnisse. Eine Belastungsprobe 'mit 
stickstoffreicher Substanz (Gelatine) nach Feigl und Knack ergibt normale Aus¬ 
scheidungskurve. 

Patient hat wiederholt auch während der Krankenhausbeobachtung heftige 
Schmerzanfälle in der Gegend der linken Niere. Die in den nächsten Tagen ge¬ 
lassenen Urine zeigen ausser einer leichten Eiweisstrübung nichts Pathologisches. 

B., 27 Jahre alt, Infanterist. Ara 22. 10. 1915 Infanteriegewehrschuss¬ 
verletzung der rechten Hüfte, Weichteilschuss. Am 11. 1. 1916 im Lazarett unter 
leichter Temperatursteigerung heftige Schmerzen in der Nierengegend. Im Urin 
Spur Eiweiss und Zucker. Rechte Nierengegend druckempfindlich. Solche 
Schmerzan fälle wiederholten sich in der nächsten Zeit, deshalb zur Beobachtung 
auf die Nierenstation. 

Blasser, krank aussehender Mann. Blutdruck 115. Urin: Reaktion sauer, 
Eiweiss leichte Trübung, Blut 0. Im Sediment vereinzelte Leukozyten und Phos¬ 
phatkristalle. Wasserausscheidung in b l } 2 Stunden, Konzentrationsbreite 1000 
bis 1025. Zystoskopie ergibt keine pathologischen Veränderungen. Funktion 
beider Nieren gleichmässig gut. Röntgenuntersuchung ergibt keinerlei Anhalt für 
Konkrementbildung. 

Während der Krankenhausbehandlung noch zwei weitere kolikartige Schmerz- 
anfalle in der rechten Nierengegend, ohne dass ein anderer Befund als eine leichte 
Eiweisstrübung im Urin erhoben werden konnte. 

Während für die Koliken dieser Fälle von Nephritis dolorosa, 
wenn auch nur geringe, organische Veränderungen angeschuldigt 
werden können, die ihren klinischen Ausdruck in pathologischen Harn¬ 
beimengungen finden, so sind uns im Kriegsmaterial auch wiederholt 
Fälle aufgestossen, bei denen es nicht gelang, irgend eine fassbare 
Veränderung nachzuweisen und die wir darum in das Gebiet echter 
Nierenneurosen einordnen müssen. 

Ueber Nierenneurosen ist bisher in der Literatur noch nichts 
bekannt geworden. Einmal wohl deshalb, weil die klinischen Unter¬ 
suchungsmöglichkeiten der Nieren noch recht unvollkommene bis in 
die jüngste Zeit hinein waren, und man darum auch, wenn man nichts 
erhebliches fand, doch zur Vermutung neigte, dass eine leichte Ver¬ 
änderung wegen ungenügender Untersuchungsmöglichkeiten entgangen 
sein konnte. Dann aber wissen wir über die feineren nervösen Ver¬ 
hältnisse der Nieren anatomisch wie physiologisch nocht recht wenig. 
Vor allem beherrschen wir den Zusammenhang zwischen dem sezer- 
nierenden Parenchym und der Aufspaltung der feineren Nervenfasern 


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Die Begutachtung von Nierenerkrankungen auf Grund der Kriegserfahrungen. 169 

noch nicht, wenn man auch die Bedeutung rein reflektorisch bedingter 
Nieren funktionsstörungen aus klinischen Beobachtungen heraus un¬ 
bedingt längst anerkennen musste. Ich erinnere an die oben er¬ 
wähnten Fälle von erheblicher doppelseitiger Funktionsstörung bei 
kleinen entzündlichen' Herden oder kleinen Steinen in einer Niere. 

Beweise für die Abhängigkeit der Nierenfunktion von 
nervösen Einflüssen lieferte uns die Vornahme systematischer 
Nierenfunktionsprüfungen bei organischen und funktionellen Erkran¬ 
kungen des Nervensystems. Ich lasse einige besonders charakte¬ 
ristische Fälle folgen: 


Hysterie . . . Wasserausscheidung 

in 1V 2 

Std., 

Konzentrationsbreite 

1000/1030 

71 ... 

77 

» 2 V 2 

77 

77 

1000/1030 

« ... 

77 

« 251 / 2 

77 

77 

1000/1030 

77 ... 

77 

„ 48 

77 

77 

1000/1023 

Neurasthenie . 

77 

„ 2 

77 

77 

1000/1028 

77 

77 

» 27 2 

77 

77 

1000/1026 

77 

77 

„ 2 V 2 

77 

77 

1000/1027 

77 

77 

,, 6 

77 

77 

1000/1025 

77 

77 

„ 11 Vs 

77 

77 

1000/1025 

Epilepsie . . . 

77 

„ 3 

77 

77 

1000/1020 

Kopfschuss . . 

7' 

„ 23 

77 

77 

1000/1022 

Concussio spinalis 

77 

„ 8 

77 

77 

1000/1026 

Lues cerebrospinalis 

77 

„ 48 

77 

77 

1000/1022 

77 77 

77 

„20 

77 

77 

1000/1020 

Spinal paralyse 

77 

„48 

77 

77 

1000/1026 


Diese Beobachtungen, die sich nur auf die Wasserausscheidung 
und Konzentration erstrecken, werden durch psychiatrische Erfah¬ 
rungen aus früherer Zeit auf dem Gebiete der Kochsalz- und Stick¬ 
stoffausscheidung ergänzt (Kauffmann). Allerdings ist bei diesen 
Störungen schwer zu entscheiden, inwieweit sie auf eine neurogene 
Beeinflussung der Nierentätigkeit allein oder vielmehr des Körper¬ 
haushalts im allgemeinen zurückzuführen sind. Das Vorkommen 
solcher rein neurogen bedingten Funktionsstörungen muss aber bei 
der Beurteilung der Funktionsstörungen überhaupt stets mit in Rech¬ 
nung gezogen werden. 

Die Diagnose auf eine Schmerzneurose der Niere kann mit 
Sicherheit nur dann gestellt werden, wenn bei Anwendung sämtlicher 
bekannten Untersuchungsmethoden und nach längerer Beobachtung 
keinerlei Befund erhoben wird. Ich lasse hier einen solchen Fall 
folgen: 


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170 


A.V. Knack, 


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K., 25 Jabre alt, Fliegerabwehr. 1910 */ 4 Jahr im Nervensanatorium. Machte 
dauernd Garnisondienst. Erkrankte am 15. Mai 1916 mit Husten, Schnupfen, 
Ohrensausen. Seit dieser Erkrankung bestehen heftige Schmerzen in der Nieren¬ 
gegend, die gegen die Blase zu ausstrahlen. Der Urin kann öfter nur mit Muhe 
gehalten werden, zeitweilig unwillkürliches Harntröpfeln. BD 95. Urin: Reaktion 
sauer, eiweiss- und blutfrei, Sediment ohne Besonderheiten. Wasserausscheidung 
in 2 1 /* Stunden, Konzentrationsbreite 1001 — 1028. RN 31. Röntgenuntersuchung 
ergibt keinerlei Anhalt für Konkrementbildung, auch sonstige urologische Unter¬ 
suchungen o. B. 

Unentschieden bleiben manchmal Fälle, in denen von den Pa¬ 
tienten Nierenerkrankungen unerheblicher Art anaranestisch angegeben 
werden. Man muss dann dazu neigen, die vorliegenden Schmerzen 
mit einem Restzustand solcher Erkrankungen in Zusammenhang zu 
zu bringen. 

Den Restzustand einer Nephritis haben wir vielleicht in 
folgendem Falle vor uns: 

C., 43 Jahre alt, Kaufmann. Wird vom Bezirkskommando zur Beobachtung 
eingewiesen. Von 1900 bis 1912 jähriioh sehr heftige eitrige Mandelentzündung, 
die wiederholt operiert wurde. 1912 wurde im Anschluss an eine solche eine 
Nierenerkrankung festgestellt, die nach 5 Wochen geheilt war, es soll dann noch 
monatelang Eiweiss im Urin nachgewiesen worden sein. Seit dieser Zeit traten 
anfallsweise Schmerzen auf, die von der Nierengegend nach vorn bis zur Harn¬ 
röhre ausstrahlten. Das Auftreten dieser Schmerzen ist abhängig von seelischen 
Erregungen und körperlichen Anstrengungen, vielfach treten diese Schmerzen im 
Anschluss an Bücken und längeres Stehen und Tragen kleinerer Lasten ausser¬ 
ordentlich heftig auf. Die Schmerzen treten auch nach dem Geschlechtsverkehr in 
Erscheinung. In der Jugend wiederholt Gonorrhoe. Blutdruck 130. Herzfigur 
auch röntgenologisch normal. Urin: Reaktion sauer, Eiweias leichte Trübung, im 
Sediment Leukozyten, vereinzelte hyaline Zylinder, Epithelien und harnsaure 
Salze. Wasserausscheidung verlangsamt in 11 Stunden, Konzentrationsbreite 1000 
bis 1031. RN 48. N-Belastung mit Gelatine (nach Feigl und Knack) ergibt ge¬ 
ringe Verzögerung der N-Ausscheidung. Röntgenuntersuchung ergibt keinen An¬ 
halt für Konkrementbildungen, auch sonstige urologische Untersuchungen ohne 
Besonderheiten. 

Den Restzustand einer früheren Nierensteinerkrankung 
glaubten wir in folgendem Falle vor uns zu haben: 

W., 34 Jahre alt, Militärkrankenwärter. Im Juli 1911 rechtsseitige Nieren¬ 
kolik, damals sollen Steine abgegangen sein. Am 26. August 1915 eingezogen. 
Vom 29. Oktober bis 9. November 1915 wegen Nierenkolik im Lazarett. War zu¬ 
nächst als Arbeitssoldat in'der Etappe, dann als Krankenwärter beschäftigt. BD 
zwischen 96 und 116. Urin: Reaktion sauer, Eiweiss leichte Trübung, im Sedi¬ 
ment vereinzelte Leukozyten. Wasserausscheidung in 2 l / 2 Stunden, Konzentration- 


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Die Begutachtung von Nierenerkrankungen auf Grund der Kriegserfahrungen. 171 

breite 1000—1026. RN 38. Röntgenuntersuchung: ln der Umgebung des linken 
Ureters vereinzelte konkrementverdächtige Schatten, die dann aber durch Ein¬ 
führung eines Ureterenkatbeters und nochmalige Röntgenaufnahme als nicht im 
Ureter liegend, sondern als Phlebolithen erwiesen werden. 

Eine eben erst abgelaufene echte Nierensteinkolik nahmen 
wir im folgenden Falle an: 

J., 31 Jahre alt, 18/13952. 1914 ins Feld. Im Winter oft Mandelentzündung. 
Mai 1918 kolikartige Schmerzen in der Lendengegend, die nach der Blase zu aus- 
strahlten. Nierenbefund: Urin: Eiweiss leichte Trübung, Sediment wenig Leuko¬ 
zyten und Erythrozyten. BD 103. RN 35. Wa negativ. Wasserausscheidung in 
3 Stunden, Konzontrationsbreite 1000—1025, Gesamtausscheidung 2700. Röntgen¬ 
aufnahme der Nieren o. B. Tbc negativ. 

Den Verdacht einer beginnenden Tuberkulose stellten wir 
trotz dauernder negativer bakteriologischer Befunde in folgendem Falle: 

Sch., 24 Jahre alt, Schütze. November 1915 eingezogen. März 1916 ins Feld. 
Erkrankte Mitte November 1916 mit starken Schmerzen in der rechten Nieren¬ 
gegend. Die Schmerzen traten plötzlich auf und strahlten von der Nierengegend 
gegen die Blase zu aus. Der Urin zeigte damals nur einzelne weisse und rote 
Blutkörperchen im Sediment. Patient batte seit dieser Zeit wiederholt leichtere 
Schmerzen in der rechten Nierengegend, jedoch keinen gleich heftigen Anfall 
mehr. Im Sediment dauernd rote und weisse Blutkörperchen in mässigen Mengen. 
Eine Anfang März bei uns durchgeführte Nierenuntersuchung ergab im Urin leichte 
Eiweisstrübung, Blut Spur, im Sediment Leukozyten, vereinzelte Erythrozyten, Epi- 
thelien und hyaline Zylinder. BD 115. Wasserausscheidung in 2y a Stunden, 
Konzentrationsbreite 1000—1027. RN 27. Sonstiger körperlicher Befund o. B. 
Eine Röntgenaufnahme des Urogenitaltraktus ergab keinen Anhalt für Konkrement¬ 
bildung. Zystoskople. Der aus beiden Nieren gewonnene Urin zeigt gleiches Ver¬ 
halten. Blauausscheidung R = L in 12 Minuten. Der Tierversuch auf Tuber¬ 
kulose mit dem aus beiden Nieren getrennt gewonnenen Urin war wiederholt 
negativ. 

Hinsichtlich der übrigen Affektionen des Nierenparenchyms bot 
uns das Kriegsmaterial keinerlei Besonderheiten. Auch die Literatur 
bringt nichts wesentliches. 

Die Restzustände nach den zahlreich beobachteten Nieren¬ 
schussverletzungen fanden noch keine eingehende kritische Zu¬ 
sammenstellung. Ueber eigenes Material verfüge ich nicht. 

Besondere Beachtung verdient eine Arbeit von Bloch über das 
Schicksal und die Beurteilung Nephrektomierter. Bei der 
Beurteilung der militärischen Verwendbarkeit Nephrektomierter kommt 
es nach ihm „nicht so sehr auf die Zeit an, die seit der Nephrektomie 


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172 


A.V. Knack, 


verstrichen ist, als auf die Krankheitsursache, welche zur Nephrek¬ 
tomie geführt hat. Musste z. ß. wegen Steinerkrankung eine Niere 
entfernt werden, so liegt ein Anlass zur Erkrankung der zweiten 
Niere im hohen Masse vor und der Patient muss vor allen erheblichen 
körperlichen Strapazen möglichst bewahrt werden. Ein solcher Patient 
dürfte nur d. a. v. Heimat sein. Es muss in allen diesen Fällen 
individualisiert werden, Krankheitsursache, verstrichene Zeit seit der 
Nephrektomie und auch die Beschaffenheit der Narbe muss in Be¬ 
tracht gezogen werden.“ 

Interessant war auch der Verlauf schwerster akuter diffuser 
Glomerulonephritiden, die im Frühstadium nach dem Vorschläge 
Kümmells dekapsuliort wurden. Die Operation wirkte vielfach 
lebensrettend. Fälle, die ich in späteren Krankheitsmonaten sah, 
zeigten keinerlei irgendwie nachteilige Folgeerscheinungen des statt¬ 
gehabten chirurgischen Eingriffs auf die Nieren. Ihr Verlauf glich 
völlig dem nicht operierter Fälle in späteren Stadien. 

Primäre Erkrankungen des Nierenbeckens waren selten; auch 
sekundäre Erkrankungen aszendierender Art waren relativ' selten, 
wenn man die enorme Verbreitung des Trippers bei den Kriegsteil¬ 
nehmern berücksichtigt. Sicherlich ist diese Tatsache auf die sach¬ 
gerechte Behandlung im Frühstadium der gonorrhoischen Infektion 
zurückzuführen. Eine systematische Durchprüfung des Verhaltens der 
Nierenfunktionsprüfungen bei Erkrankungen des Nierenbeckens ergab 
in vielen Fällen als charakteristisch eine beschleunigte Wasseraus¬ 
scheidung bei normaler oder nur gering beeinflusster Konzentrations¬ 
breite. Berücksichtigt man die Gesamtwasserausscheidung, so findet 
man eine erhebliche Vermehrung derselben gegenüber der einge¬ 
nommenen Wassermenge von 1 J / 2 Litern. Auch bei sonst gesunden 
Nieren ist die in 2 X 24 Stunden wieder ausgeschiedene Wassermenge 
höher als die aufgenommene, sie schwankt um 2500 ccm herum. 
Bei den Affektionen des Nierenbeckens jedoch schwankt die Gesamt¬ 
menge etwa um 4000 ccm herum, so dass man hier von einem 
„Ueberschiessen“ der Wasserausscheidung mit Fug und Recht 
sprechen kann. 

Die gleiche überschiessende Wasserausscheidung finden wir nur 
noch im Reparationsstadium akuter diffuser Glomerulonephritiden. 
Hier konnte also manchmal die Differentialdiagnose zwischen 
Nephritis und Pyelitis schwierig werden, zumal wenn auch 


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Aus d. path.-anat. Institut des Krankenhauses Friedrichstadt in Dresden 
(Direktor: Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Schmorl). 

lieber Vergiftung durch Trinken chloroformhaltiger 

Flüssigkeit. 

Von 

Raimund Schelcher. 

Unter den Chloroforravergiftungen stellen die Inhalationsintoxika¬ 
tionen naturgeraäss die grösste Zahl, und mit ihnen hat sich die 
medizinische Literatur besonders in den letzten Dezennien des ver¬ 
gangenen Jahrhunderts vielfach befasst; in Sabarths (1) zusammen¬ 
fassendem Werk „Das Chloroform“ sind bis 1863 allein IIP Fälle 
von Narkosetod verzeichnet. Es sei hier nur kurz auf die Arbeiten 
von Ungar (2), Ostertag (3) Strassraann (4), Frankel (5), Eisen¬ 
drath (6), Marthen (7), Bandler(8), Schenk (9), Poroschin (10), 
Guleke (11), Stierlin (12) u. a. verwiesen. 

Bei weitem seltener sind die Chloroformvergiftungen durch Trinken 
des Mittels. Sie beruhen zum grössten Teile der Fälle auf Verwechs¬ 
lungen mit anderen Medikamenten, so z. B. Chloroform Olivenöl ana 
(Liniment), zum geringeren Teile wurde Chloroform in selbstmörde¬ 
rischer Absicht eingenommen. Eine medikamentöse innerliche Ver¬ 
abreichung von Chloroform in Mengen von 4—5 g war besonders in 
Frankreich als Bandwurmmittel üblich und führte bisweilen zu letalem 
Ausgang [Robert (13)]. 

Eine grössere Zusammenstellung über Fälle von interner Chloro- 
forravergiftung findet sich in der Arbeit von Hirsch (14) aus dem 
Jahre 1894 und — unter Benutzung derselben — in der Arbeit von 
Schönhof (15) aus dem Jahre 1914, der neben einer eigenen Be¬ 
obachtung 49 Fälle aus der Literatur anführt. Ernberg (16), dessen 
Arbeit (1903) mir nur in dem Referat von Jessen zur Verfügung 
stand, erwähnt ausser einem eigenen Fall 41 Fälle aus der Literatur, 
von denen 28 zur Genesung führten. Ferner beschreibt 1906 Wollen¬ 
weber (17) den klinischen Verlauf einer Chloroformvergiftung vom 


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176 


Raimund S c h e 1 c h o r, 


Magen aus, die nach 6 Tagen in Genesung überging. Im folgenden 
möchte ich einen weiteren Fall von Chloroforravergiftung mitteilen, 
bei dem das Chloroform in selbstmörderischer Absicht getrunken 
worden ist. 

Krankengeschichte: 

58 jähriger Maschinist E. aus einer chemischen Fabrik, die sich hauptsäch¬ 
lich mit der Herstellung von Chloroform befasst, wurde am 16. 9. 1919 in be¬ 
nommenem Zustande ins Krankenhaus eingeliefert. Laut telephonischer Mitteilung 
soll er ein Gift zu sich genommen haben, da gegen ihn ein gerichtliches Ver¬ 
fahren schwebte. 

Kräftiger, massig benommener Patient. Die Benommenheit wechselt. 
Stöhnen. Die Lippen sind geschwollen und hellrot, das Zahnfleisch ist wund 
und blutet. 

Die Magengrube ist massig druckempfindlich. Der Mund wird auf Aufforde¬ 
rung nicht geöffnet. Beim Versuch, den Magen auszuhebern (ohne Kieferklemme), 
beisst er in den Schlauch. Nach Einlegen einer Kieferklemme wird der Magen 
ausgehebert und es entleert sich dünnflüssiger, rot aussehender Brei, der einige 
unverdaute gröbere Speisereste enthält und stark nach Chloroform riecht. Eine 
Magenspülung wird angeschlossen. Die Spülflüssigkeit riecht ebenfalls nach Chlo¬ 
roform und ist dauernd blutig gefärbt; deshalb wird von weiterer Spülung Ab¬ 
stand genommen. Die Pupillen sind gleich gross und reagieren prompt auf Lichi- 
oinfall. Patellarreflexe positiv. Achillessehnenreflexe fraglich. — Nach 1 */ 2 Stunden 
weicht die Benommenheit. Pat. kann aber nur lallen und keine deutlichen Worte 
sagen. Er verstoht aber die Fragen nachmittags. Puls weich und leicht unter¬ 
drückbar, regelmässig. Herz: Normale Grenzen, kein hebender Spitzenstoss, 
klopfende Töne. Die Speiseröhre ist anscheinend zugeschwollen. Pat. kann keine 
Flüssigkeit zu sich nehmen. 

18.9. Im ausgehebertem Mageninhalt wird* chemisch Chloroform nach¬ 
gewiesen. Puls wird ohne Kampfer rasch weich. 

Lippen, Zunge, Magenschleimhaut stark verätzt, beträchtlicherFoetor ex ore. 
Stuhlgang blutig. Zahl der Erythrozyten 5200000. Urin sauer, kein Eiweiss, 
Spuren von Blut. Wassermann posiliv. Nährklystiere. 

19. 9. Pat. kann mit heiserer Stimme kurze Sätze sagen. Zunehmende 
Atemnot. Links hinten unten Dämpfung mit leichter Abschwächung des Stimm- 
fremitus. Klingeode Geräusche. Lungenränder noch verschieblich. Im Urin kein 
Eiweiss, aber Bilirubin. Mittags 500 ccm CI Na-lnfusion. 

20. 9. Sehr weicher Puls. Wegen Abschwächung des Stimmfremitus wird 
eine Probepunktion gemacht, die 3—4 Tropfen gelblicher Flüssigkeit ergibt. 
Bakteriologischer Befund: Keine pathogenen Keime. Im‘Urin Bilirubin, kein 
Eiweiss. 

21. 9. Puls weich. Starke Atemnot. Mehrere bronchopneumonische Herde, 
besonders rechts. Im Urin Bilirubin, kein Eiweiss. Unter zunehmender Herz¬ 
schwäche erfolgt der Exitus 6 Uhr 45 Min. nachmittags. 

Die Therapie bestand in Kampfer- und Koffeininjektionen vom 1. Tage an, 
Kochsalzinfusionen, Nährklystieren und zuletzt Strophanthin. 


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Heber Vergiftung durch Trinken chloroformhaltiger Flüssigkeit. 177 

Was in der eingenommenen Flüssigkeit enthalten war, lässt sich 
mit Sicherheit nicht feststellen. Die Menge mag nach des Patienten 
eigenen Angaben, etwa 50 g betragen haben. Die betreffende Fabrik 
teilte mir auf meine Anfrage bereitwilligst mit, dass es sich aller 
Wahrscheinlichkeit nach nicht um reines Chloroform, sondern um ein 
ganz rohes, noch unfertiges Produkt gehandelt; habe, da sich in den 
in Frage kommenden Tagen Chloroform gerade in der Fabrikation 
befand und erst das erste Stadium erreicht hatte, das dem Patienten 
verhältnismässig leicht zugängig war, und andererseits Chloroform 
p. narc. nicht auf Lager war. 

Unter den Stoffen, die in einem ungereinigten Chloroform ent¬ 
halten sein können, ist — nach Angabe der Fabrik — in erster 
Linie Salzsäure zu nennen, dann auch freies Chlor, fremde Chlorie¬ 
rungsprodukte und eventuell Phosgen. 

Sektionsbericht (Auszug). 

Mittelgrosser, kräftig gebauter, leidlich gut genährter männlicher Leichnam. 
Hautfarbe im allgemeinen blass. An den Lippen keine Verätzungserscheinungen, 
ebensowenig an der von aussen sichtbaren Mundschleimhaut. Leib etwas auf¬ 
getrieben. 

In der Bauchhöhle keine freie Flüssigkeit. Bauchfell glatt und spiegelnd. 

Zwerchfellstand rechts 5., links 4. Kippe. Lungen sinken leidlich zurück, 
ln der rechten Pleurahöhle ein Liter jauchig-eitriger Flüssigkeit. 

In den Herzhöhlen vereinzelte Speckhaut- und dunkelrote Blutgerinnsel. 
Muskulatur kräftig, braunrot gefärbt. Auf Flachschnitten keine Veränderungen. 
Papillarmuskeln o. B. Innenhaut der Kranzgefässe zeigt vereinzelte gelbweisse 
Verdickungen, ebenso die der Körperschlagader. 

Linke Lunge ziemlich gross, Lungenfell getrübt, besonders über dem Unter¬ 
lappen mit feinen fibrinösen Auflagerungen bedeckt. Oberlappen hellrot gefärbt; 
hier treten im zungenförmigen Teile etwa kirschkern- bis gut taubeneigrosse, 
derbe, luftleere Herde hervor, welche auf der Schnittfläche und nach der Pleura 
vorspringen, graugelblicb gefärbt erscheinen und fest sind. Das übrige Gewebe 
des Oberlappens lufthaltig, lässt auf Druck nur wenig feinschaumige, dunkelrote 
Flüssigkeit ausdrücken. Unterlappen tiefdunkelrot, nur wenig lufthaltig; hier 
ausserordentlich zahlreiche und dichtstehende, etwa erbsen-bis halbkirschengrosse, 
dunkelrote, auf der Sohnittfläche vorspringende Herde, von denen die grösseren im 
Zentrum einen gelben Herd erkennen lassen; sie fühlen sich derb an und sind 
meist scharf umgrenzt. Aus den kleineren \ind grösseren Luftröhrenästen entleert 
sich reichlioh eitriger Schleim. Schleimhaut der letzteren .tiefdunkelrot gefärbt, 
geschwollen, mit zähem eitrigen Sohleim belegt. 

Rechte Lunge bietet im allgemeinen dasselbe Bild dar wie die linke, nur ist 
hier der Unterlappen, infolge des eitrig-jauchigen Ergusses in die rechte Pleura¬ 
höhle, in seinen hinteren unteren Abschnitten etwas zusammengedrückt. Das Ge¬ 
webe sehr blutreich. Die Pleura hier über den hinteren Abschnitten des Unter- 

Vierte^jahresohrift f. ger. Med. n. Off. San.-Wesen. 3. Folge. Bd. 60. H. 2. 22 


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Raimund Schelcher, 


lappens, und zwar Pleura pulmonalis und costalis, zeigen schmatzigraugnL * 
Verfärbung. Das Gewebe ist an der Pforte der rechten Lunge bis zum Zwerchfell 
entlang dem Oesophagus von einer eitrig-jauohigen Flüssigkeit durchtränkt, ebenso 
auch die Wand der Speiseröhre, die wie aufgefasert erscheint. Dicht oberhalb des 
Magenmundes an der Einmündungsstelle der Speiseröhre findet sich eine spalt¬ 
förmige Oeffnung in der Speiseröhrenwand, vermittels der die rechte Pleurahöhle 
mit der Speiseröhre kommuniziert. 

Schleimhaut des weichen Gaumens etwas gerötet, schmutziggrauweiss ge¬ 
färbt. Mandeln massig gerötet. 

Schleimhaut des Rachens und des Kehlkopfeinganges ist sehr stark ge- 
sohwollen, gefaltet, schmutziggraurot: mit aufgelagerten, ziemlich weichen, 
schmutziggraugelben, an der Oberfläohe schiefrigen Schorfen; beim Einschneiden 
zeigt sich, dass die Schorfe durch eine dünne Schicht von Eiter von den tieferen 
Schichten der Schleimhaut abgehoben sind. Am Kehlkopfeingang fühlt sich die 
Schleimhaut derb an, ist sohmutziggraugelb gefärbt, beim Einschneiden eitrig 
durchtränkt. 

Der Kehlkopfeingang wird durch die aryepiglottischen Falten, die stark an¬ 
geschwollen sind, stark verengt. 

Die ganze Speiseröhrenschleimhaut zeigt ein missfarbiges, dunkelgelbgraues 
bzw. schmutziggelbsohwarzes Aussehen, hier und da treten etwas derbere in Ab¬ 
lösung begriffene Schorfe hervor, besonders im unteren Drittel. Schleimhaut 
ausserordentlich weioh. Die ganze Speiseröhrenwand ist wie morsch und, wie 
oben erwähnt, in den unteren Abschnitten von eitrig-jauchiger Flüssigkeit durch¬ 
tränkt. 

Im Magen findet sioh eine massige Menge dunkelgrauroter, übelriechender 
Flüssigkeit. Magenmund in toto verdickt. An der Aussenseite, und zwar an der 
Hinter- und Vorderfläche, starke Rötung derSerosamit faserstoffigen Auflagerungen. 
Gefässe bis in die feinsten Verzweigungen stark gefüllt. Von der Magenschleim¬ 
haut ist nur ein ganz kleiner Teil, der der Hinterfläche des Pylorus entspricht und 
etwa handtellergross ist, vorhanden, aber auch hier schmutziggraurot gefärbt, 
glatt. Der übrige Teil der Magenschleimhaut zeigt ein schwarzrotes bzw. schwarz¬ 
gelbes Aussehen, teilweise, und zwar in der Umgebung der Kardia, ist die 
Schleimhaut in eine weiche, schmutziggraugrünliche und schwarzgelbe Masse ver¬ 
wandelt, die sich leicht abstreifen lässt. Die tieferen Schichten, die Submukosa 
und die Muskularis zeigen ein missfarbiges Aussehen und sind ausserordentlich 
leicht zerreissbar. Ungefähr in der Mitte zwischen der grossen und kleinen 
Krümmung findet sich gürtelförmig den Magen umkreisend eine starke ausgedehnte 
Verschorfung der Magenschleimhaut; dieSchorfe treten in Form von flachen, sich 
derb anfühlenden Wülsten hervor, deren Oberfläche teils schmutzig graugelb, teils 
dunkelrot gefärbt ist. Beim Einschneiden findet sich auf der Grundfläche der 
Schorfe da, wo sie der Wand aufsitzen, hier und da eine golblichgraue schmierige 
Flüssigkeit. Die äusseren Schichten des Magens sind sehr stark verdickt und sehr 
stark durchfeuchtet, ausserordentlich blutreich, die Verschorfung reicht bis dicht 
an den Pförtner heran, bleibt aber von ihm ungefähr fingerbreit entfernt und 
endet hier mit einer unregelmässigen zackigen Grenze. Die Schleimhaut zwischen 
dem Pförtner und der Verschorfung ist graurötlich gefärbt und etwas geschwollen. 


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Ueber Vergiftung durch Tiinken chloroformhaltiger Flüssigkeit. 179 

lm Zwölffingerdarm galliger Inhalt, Schleimhaut etwas geschwollen, gerötet 
und aufgelookert. Gallengang durchgängig. 

Milz nicht vergrössert. 

Leber: Oberfläche glatt, braunrot gefärbt. Schnittfläche feucht und vor¬ 
quellend. Drüsiger Bau deutlich erkennbar, Gewebe hier braunrot gefärbt. Mitt¬ 
lerer Teil sinkt etwas ein, ist dunkelrot gefärbt, während die Peripherie mehr 
graubräunlioh gefärbt ist. 

Gallenblase: Ausserordentlich prall mit dunkelgrüner, klarer, dünnflüssiger 
Galle gefüllt, Wand und Schleimhaut intakt, ebenso Ductus choledochus und 
«ysticus. 

Nieren: Schlaff. Kapsel leicht abziehbar. Oberfläche glatt, dunkelgraurot 
gefärbt. Auf der Schnittfläohe die Rinde von gewöhnlicher Breite, graurot gefärbt, 
deutlich gezeichnet. Marksubstanz in der Grenzschicht etwas dunkler gerötet. 
Von der Schnittfläche fliesst mässig viel Blut ab. Nierenbecken und Harnleiter¬ 
schleimhaut blass. 

Harte Hirnhaut ziemlich fest mit der Unterfläche des Sohädels verwachsen. 

Weiche Hirnhäute über den mittleren Abschnitten desGehirns leicht getrübt. 
Windungen etwas schmäler als normal, besonders im Bereiche des Stirnbir'ns. 
Weisse Marksubstanz quillt auf äer Schnittfläche vor, ist mässig feucht glänzend. 
Aus den durchschnittenen Gefässen treten ausserordentlich zahlreiche, leicht ab- 
spülbare Blutpunkte hervor. Rinde von gewöhnlicher Breite, grauweiss gefärbt. 
Grosse Nervenknoten sind deutlioh gezeichnet, lassen ebenfalls auf der Schnitt¬ 
fläche reichlich abspülbare Blutpunkte hervortreten; das Gleiche gilt vom Klein¬ 
hirn, Brücke und verlängertem Mark, nirgends finden sich Herderkrankungen. 

Zur mikroskopischen Untersuchung wurde sowohl in 4proz. Formalin als 
auch in Sublimat fixiertes Material verwendet, und zwar wurden untersucht: Herz- 
znuskulatur, Leber, Pankreas, Milz, Niere, Speiseröhren- und Magenschleimhaut, 
Grosshirn und Medulla oblongata. Gefärbt wurden Gefrier- und Paraffinschnitte 
mit Sudan lll-Hämatoxylin und mit Hämatoxylin-Eosin, die Magenschleimhaut 
zur Darstellung des Fibrins mitLithionkarmin-Anilinwassergentianaviolett, ausser¬ 
dem Gehirn und verlängertes Mark nach der Lenhossekschen Methode mit 
Thionin und Toluidin. Dabei ergab die Toluidinfärbung im allgemeinen bessere 
Resultate als die mit Thionin. Die Befunde sind folgende: 

Herz: In den Muskelzellen finden sich bei Sudanfärbung an den Kernpolen 
kleine Körnchen angebäuft, die, ähnlich wie Fett, orange bis bräunlich gefärbt 
sind, aber auch in Paraffinschnitten bei Hämatoxylin-Eosinfärbung als bräunliche 
Körnchen deutlich zu sehen sind. Diese für Abnutzungspigment charakteristische 
zirkumpolare Anordnung ist in Längs- und Querschnitten der Muskelfasern deutlich 
eingehalten. Die Kerne sind durchweg gut färbbar, Quer- und Längsstreifung der 
Muskelzellen deutlich zu sehen. Protoplasma ist überall gleichmässig gefärbt. 
Keine Fragmentationen. 

Leber: Bei Sudanfärbung zeigen sich die Leberzellen in den zentralen 
Läppohenteilen vollgestopft mit gelbbraunen, krümlichen Körnchen und zwar der¬ 
art, dass diese feinkörnigen Massen nicht gleichmässig über die ganze Zelle ver¬ 
teilt, sondern meist in einem rundlichen Häufchen neben den Kernen angeordnet 
sind. Sie bestehen aber nicht aus Fett, sondern aus Pigment, da sie nicht die 

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Raimund Schelcher, 

charakteristische Sudanfärbung annehmen und nicht durch fettlösende Mittel ex¬ 
trahierbar sind. Eine Untersuchung mit Berliner Blaureaktion sowie Schwefel- 
Ammonium auf Eisen fiel negativ aus, auch die Gmelinsche Probe mit Salpeter¬ 
säure auf Gallenfarbstoff war negativ. Im Hämatoxylin-Eosinpräparat sind diese 
Körnchen ebenso zu sehen; auch in den KupferschenSternzellen finden sich ziem¬ 
lich reichlich diese Pigmentkörperchen. In den zentralen Läppchenteilen ist 
Stauung vorhanden; die Blutkapillaren sind sehr stark gefüllt und erweitert. Die 
Läppchenzeichnung ist durchweg deutlioh ausgeprägt. Die Wände der Zentral¬ 
venen sind verdickt und gequollen, und die Leberzellen zeigen in ihrerUmgebung 
zum Teil undeutliche Konturen oder sind auch ganz nekrotisch, vom Kerne nur 
noch Trümmer vorhanden. 

Pankreas: Bei Sudanfärbung zeigen sich zum Teil die Drüsenzellen mit 
kleineren und grösseren, orange gefärbten Fettkörnchen mehr oder minder voll¬ 
gestopft. In einzelnen Läppchen sind die Drüsenzellen aber ganz frei davon. Im 
Hämatoxylin-Eosinpräparat, das diese Fettkörnchen natürlich nicht zeigt, sind die 
Langerhansschen Inseln deutlich ausgeprägt. Die Kerne sind überall gut färbbar. 

Nieren: Bei Sudanfärbungen finden sich in den Epithelzellen beider Teile 
der Henleschen Schleifen u,nd der Tubuli recti feinste Fettkörnchen, die ziemlich 
dicht über das Protoplasma gleichmässig verstreut sind, aber auch oft an der 
Basis der Zelle etwas dichter liegen, ln den Glomeruli und den Tubuli contorti 
findet sich nichts von solchen Fettkörnchen.— Im Hämatoxylin-Eosinpräparat 
zeigen sich die Epithelien der Tubuli contorti und recti etwas gequollen, das 
Protoplasma ist wenig getrübt. Die Zellkerne sind überall gut färbbar, die Glo¬ 
meruli blutreich. Ganz vereinzelte hyaline Zylinder liegen in den anteren Ab¬ 
schnitten der Henleschen Schleifen. 

Milz: Fett lässt sich nicht nachweisen. In den Milzsinus finden sich ausser¬ 
ordentlich grosse Mengen roter Blutkörperchen. 

Medulla oblongata: Bei Sudanfärbung zeigt sich das Protoplasma der 
Ganglienzellen mit kleinen bis mittelgrossen, orange gefärbtenFettkörncben erfüllt, 
ln denGefässendothelien finden sich keine solchen Körnchen.— Durch Hämatoxylin- 
Eosin werden die Kerne der Ganglienzellen verhältnismässig wenig gefärbt, auch 
das Protoplasma ist schwach färbbar und von lockerer, wabiger Struktur.— Deut¬ 
liche Veränderungen zeigen die Ganglienzellen bei Toluidinfärbung. Die Zelle 
im ganzen ist etwas geschrumpft. Bei einigen wenigen Ganglienzellen sind die 
Nisslschen Schollen zwar über den ganzen Körper sichtbar, aber sie sind eigen¬ 
tümlich grossschollig, klumpig. Das Protoplasma ist nicht homogen, sondern von 
wabiger Struktui. Bei anderen Ganglienzellen sind die Nisslschen Schollen nur an 
der Zellperipherie vorhanden, während sie in den mittleren Teilen dos Zellkörpers 
ganz fehlen oder nur sehr undeutlich sind. Bei diesen Zellen liegt bisweilen auch 
der Kern nicht in der Mitte des Zellleibes, sondern etwas exzentrisch, selten ist 
er ganz randständig. Kern und Kernkörperchen sind immer deutlich, ln fast 
allen Ganglienzellen ist eine schwach hellgelbe körnige Masse zu sehen, oft an 
einem Ende der Zelle am Ansatz eines Protoplasmafortsatzes, bisweilen die Hälfte 
des Zeilprotoplasmas ausfüllend. 

Grosshirn: In fast sämtlichen Ganglienzellen zeigt sich bei Sudanfärbung 
auf einer Seite im Protoplasma ein zusammengeballtes Häufchen kleiner gelb- bis 


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Ueber Vergiftung durch Trinken chloroformhaltiger Flüssigkeit. 181 

orangefarbener Körnchen, die erheblich dunkler gefärbt sind als die (auf Lipo- 
chromen beruhende) Färbung der Gliazellen. Auch die Gefässendothelien enthalten 
vielfach solche Fettkörnohen. — Bei der Toluidinfärbung ist in den meisten Zellen 
von Tigroidschollen nichts zu sehen, nur in vereinzelten Zellen sind an der Peri¬ 
pherie noch einige kleine Schollen, z. T. mit verwaschenen Konturen, zu erkennen, 
sonst sind staubförmige Körnchen an Stelle der Tigroidschollen über der ganzen 
Zelle verbreitet. Kern und Kernkörperchen sind stets deutlich und zentral gelegen 
bis auf wenige Ausnahmen, wo der Kern etwas nach der Peripherie abgerückt ist. 
Die Nervenfortsätze sind nicht geschlängelt. Die sohwaohkörnigen gelben Massen 
in den Ganglienzellen sind hier zwar auch zu finden, aber nicht so häufig wie in 
der Medulla oblongata. 

.Die schwersten Veränderungen im mikroskopischen Bild bietet der Magen: 
Die ganze Schleimhaut ist völlig nekrotisch, vom Epithel sind nur noch einzelne 
wenige Trümmer in Form von einzelnen Zellen und kleineren Zellgruppen zu 
sehen. Die Nekrose geht bis tief io die Muskelschicht hinein. Die Arterienwände 
sind teilweise in Nekrose begriffen und mit Leukozyten durchsetzt. An solchen 
Stellen zeigt sich auch beginnende Thrombusbildung. Noch stärkere Nekrosen 
zeigen die Wände der Venen, die stark anfgequollen sind; im Bereiche der Media 
sind sie deutlich aufgelockert, das Gefässlumen meist völlig thrombosiert. In dem 
zerstörten, ödematös abgehobenen und gelockerten Gewebe ausserhalb der Muskel- 
sohicht finden sich grosse Blutaustritte. Die Blutgefässe sind maximal erweitert 
und stark gefüllt. Stellenweise finden sich aufgelagerte Schorfe an Stelle des Epi¬ 
thels, in denen blaue Bakterienmassen liegen, ausserdem Leukozytenanhäufungen 
mit zerfallenden Kernen. — Die Färbung mit Lithionkarmin und Anilinwasser-* 
gentianaviolett zur deutlichen Herstellung des Fibrins zeigt ein blaues, lockeres 
Fibrinnetz besonders an Stelle der zerstörten Schleimhaut. Auch in den Gefäss- 
thromben findet sich, namentlich an deren Randpartien in Anlehnung an die Ge- 
fässwand, ein starkes Netzwerk von 'blau gefärbten Fibrinmassen; ebenso treten 
in den Blutaustritten die blauen Fibrinmassen bei dieser Färbung deutlich hervor. 

Die Schleimhaut des Oesophagus bietet ein ganz entsprechendes Bild: 
Völlige Nekrose der gesamten Schleimhaut, z. T. bis tief in die Muscularis mu¬ 
cosae. Wo die Schleimhaut in ihrer Kontinuität noch einigermassen erhalten ist, 
ist das Gewebe ausserordentlich aufgelockert, ödematös geschwollen; auch hier 
zahlreiche Blutergüsse. Die Gefässe bieten das gleiche Bild wie in der Magenwand. 

Das klinische Bild der internen Chloroformvergiftung ist nicht 
immer das gleiche. Meist tritt bei der Aufnahme per os binnen 
weniger Minuten, oft sofort, Bewusstlosigkeit und tiefster Sopor ein 
— in den 19 von Hirsch (14) zusammengestellten’ Fällen bis auf 
einen Fall nach spätestens 10 Minuten; in einem Fall, in dem eine 
halbe Unze Chloroform genommen wurde (Greiner, Wiener med. 
Zeitung, 1871), trat keine Bewusstlosigkeit ein. Die Bewusstlosigkeit 
kann mehrere Stunden bis einen Tag lang [Schönhoff (15)] andauern. 
Sie kann als eine Art sekundärer Inhalationsnarkose aufgefasst werden; 
denn es ist unvermeidlich, dass während oder nach dem Verschlucken 


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auch Chloroform eingeatmet wjrd, zumal wenn noch Erbrechen ein- 
tritt, wie es in manchen Fällen bald nach der Einnahme des Mittels 
geschieht. Indes wurde solch baldiges Erbrechen nicht allzuhäufig 
festgestellt. In einem Fall von Mygge (nach Hirsch) trat erst nach 
dem Erwachen aus der Betäubung Erbrechen auf. In anderen Fällen 
wird es erst durch die Magenspülung ausgelöst, die als ein stärkerer 
Reiz aufzufassen ist. Dass der menschliche Organismus bei Chloro¬ 
formvergiftungen per os nicht häufiger zu dieser Selbsthilfe greift, 
um sich von dem Gifte zu befreien, wie er es bei vielen anderen 
akuten Vergiftungen tut, dürfte seinen Grund in der durch das Chloro¬ 
form herabgesetzten Reflexerregbarkeit haben. Aus dem gleichen 
Grunde misslingt es auch meist bei Chloroform Vergiftungen, durch 
Einbringen eines Fingers tief in den Rachen Erbrechen zu erregen. 
In unserem Fall trat weder spontan noch auf die Magenspülung, hin 
Erbrechen auf. Die Patcllarreflcxe waren dabei gut auslösbar, die 
Achillessehnenreflexe fraglich. Die Pupillen waren gleich gross und 
reagierten auf Lichteinfall. Doch ist das Verhalten der Pupillen in 
den einzelnen Fällen durchaus verschieden; bald sind sie bis zu Steck¬ 
nadelkopfgrösse verengt, bald erweitert; in den meisten der Fälle 
besteht Lichtstarre, mehrfach ist aber, wie hier, die Lichtreaktion 
gut erhalten. Die Atmung ist in der Regel oberflächlich, der Puls 
klein. Die Atemluft riecht deutlich nach Chloroform, unter Um¬ 
ständen mehrere Tage lang, wie in einem Fall von Böttger (Deutsche 
Klinik, 1871). Pneumonien traten öfters auf im Verlauf der Er¬ 
krankung. Ein Exzitationsstadium wurde bei interner Chloroform¬ 
vergiftung nur selten beobachtet — in den 19 von Hirsch (14) auf¬ 
geführten Fällen nur dreimal, und zwar nach kleineren Mengen des 
Giftes. Wie oft ein kurzes Exzitationsstadium vorhanden gewesen 
sein mag, aber nicht beobachtet wurde, da der Patient im bewusst¬ 
losen Zustand aufgefunden wurde, entzieht sich natürlich einer genauen 
Beurteilung. Schönhof (15) beobachtete delirienhafte Zustände bei 
Hunden, denen er Kampferöl in den Magen goss, keine Delirien aber 
bei Einverleibung von Chloroform oder einer Mischung von Kampfer 
und Chloroform. Ich möchte glauben, dass grössere Dosen von 
Chloroform so rasch und stark reflexhemraend wirken, dass ein Exzi¬ 
tationsstadium dadurch unterdrückt wird, es somit bei kleineren 
Mengen von Chloroform, bei denen die Reflexwirkung nicht so rasch 
eintritt, zur Exzitation kommt. — Die Gegend der Magengrube ist 
sehr oft druckempfindlich oder schmerzhaft, in anderen Fällen wird 


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Ueber Vergiftung durch Trinken chloroformbaltiger Flüssigkeit. 183 


auch auf tiefen Druck in die Magengend kein Schmerz geäussert. 
Infolge der lokalen Aetzwirkung des Chloroforms wird bisweilen über 
Brennen im Munde und über Halsschmerzen geklagt. Auch ist das 
Schlucken erschwert bzw. ganz unmöglich, wie in unserem Fall. Der 
Stuhl kann diarrhoisch sein und Blut enthalten. Im Urin linden sich 
selten Spuren von Eiweiss und Blut, dagegen Bilirubin. Ikterus trat 
im Anschluss am Chloroformvergiftungen mehrfach auf, war aber in 
manchen Fällen, wie auch in diesem, sicher nicht vorhanden. 

Die Entstehung dieses Ikterus könnte in der hämolytischen Wir¬ 
kung begründet sein, die das Chloroform zweifellos besitzt. Doch 
ist mir sehr viel wahrscheinlicher die Erklärung Hirschs (14), der 
sagt: „Die Entstehung dieses Ikterus ist wohl darauf zurückzuführen, 
dass die Entzündung von der Magenschleimhaut sich auf das Duodenum 
ausbreitet und zu Verstopfung des Ductus choledochus führt. Es 
würde sich also um einen Icterus catarrhalis oder gastroduodenalis 
handeln.“ 

Einigermassen auffallend ist der meist negative Eiweissbefund 
im Urin; stellten doch Hegar und Kaltenbach (18) kurz nach und 
während der Chloroformnarkose Eiweiss im Harn fest, der vor der 
Narkose eiweissfrei befunden worden war, und Eisendrath (6) fand 
in 62 pCt. der Chloroforranarkosen vorübergehend nach dem Erwachen. 
Albuminurie. In dem Falle von Hirsch (14) und Schönhof (15) 
sowie in unserem Falle hier konnte kein Eiweiss festgestellt werden. 

Das Chloroform wird vom Körper sehr rasch wieder ausgeschieden, 
und zwar erfolgt die Ausscheidung bei Narkosen nach Lew in, wie 
Stierlin (12) sagt, zu einem Drittel durch die Lungen und zu 
zwei Dritteln durch die Nieren. Dass nach Trinken von Chloroform 
die gänzliche Ausscheidung nicht immer so rasch erfolgt, beweist 
der schon oben erwähnte Fall von Böttcher, bei dem noch nach 
mehreren Tagen deutlicher Chloroformgeruch in der Exzitationsluft 
wahrnehmbar war. 

Ueber die tödliche Dosis des Chloroforms lassen sich keine ge¬ 
nauen Angaben machen. Nach Schraidtmann (25) trat in einem 
von Taylor beschriebenen Falle bei einem 4jährigen Kinde nach 
3 g Chloroform per os der Tod ein. Leonpacher berichtet über 
einen Fall mit gutem Ausgang, in dem 20 g Chloroform mit der 
gleichen Menge Olivenöl gemischt getrunken wurde. In einem Fall 
von Board (nach Schmidtmann) erfolgte der Tod nach 120 g, 
während in einem der Taylorschen Fälle nach derselben Dosis Heilung 


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Raimund Scheich er, 


erfolgte. Es muss eben eine individuell verschiedene Empfänglichkeit 
für dieses Gift angenommen werden, und wie Hirsch (14) sagt: 
„haben bei manchen Individuen kleine Dosen viel intensivere und 
schnellere Wirkungen als bei andern grosse“. 

Aehnlich den klinischen Erscheinungen sind auch die Obduktions¬ 
befunde bei internen Chloroform Vergiftungen wenig konstant, wie aus 
den ziemlich spärlichen Sektionsberichten hervorgeht. — Von lokalen 
Wirkungen wurde eine mehr oder weniger starke Verätzung der 
Lippen sowie der Mundschleimhaut, der Speiseröhre, des Magens und 
bisweilen auch des Darms beobachtet. Besonders auch letztere kann 
recht beträchtlich sein, wie der Fall von Mygge beweist, den 
Hirsch (14) anführt: Nach Trinken von fast 40 g reinen Chloroforms 
war der Exitus nach 7 Tagen erfolgt, bei schwersten Verätzungen 
im Magen fanden sich auch im Jejunum zahlreiche Ulzerationen in 
Ausdehnung von 1 1 J 2 m Länge. In anderen Fällen kam es im Magen 
und besonders im Darm nur zu entzündlicher Rötung. Massgebend 
für die schwächere oder stärkere Aetzwirkung ist sicher der Füllungs¬ 
zustand des Magens, wie aus den Tierversuchen Schönhofs (15) 
klar ersichtlich ist. Bemerkenswert in unserem Falle waren die ge¬ 
ringen Schädigungen der Darmschleimhaut bei der so schweren Ver¬ 
ätzung des Magens, dessen Schleimhaut zum.grössten Teile nekrotisch, 
zum anderen Teile ausserordentlich stark ödematös geschwollen war. 
Nur ein kleiner Bezirk oberhalb des Pylorus war weniger stark er¬ 
griffen, eine Erscheinung, wie sic in ähnlicher Weise kürzlich im 
hiesigen Institut bei einer Lysolvergiftung beobachtet wurde. Auch 
da war nur mit Ausnahme eines dreieckigen Bezirkes an der Vorder- 
und Hinterwand vor dem Pylorus, dem Isthmus des Magens ent¬ 
sprechend, fast die gesamte Magenwand schwer verätzt. 

Bei den mikroskopischen Untersuchungen fanden die verschiedenen 
Beobachter fettige Degenerationen am Herzmuskel, in der Leber und 
in den Nieren. Ern borg (16) fand in seinem Falle auch Verände¬ 
rungen im Gehirn, und zwar Tigrolyse in den Ganglienzellen der 
Hirnrinde, sowie einen Erweichungsherd im Grosshirn. Bei den äusserst 
spärlichen Berichten über mikroskopische Befunde bei internen Chloro- 
formvergiftungcn sind die Tierversuche zur Erkenntnis dieser Ver¬ 
änderungen äusserst wichtig. Als erster hat wohl Nothnagel (18) 
solche Versuche angestellt, indem er Kaninchen Chloroform in den 
Magen brachte. Er fand die Leberzellen stark gefüllt mit kleineren 
und grösseren Fettropfen, z. T. eine schlecht erkennbare Läppchen- 


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Ueber Vergiftung durch Trinken chloroformhaltiger Flüssigkeit. 185 

Zeichnung. Durch vorherige Probeexzision eines Leberstückchens wies 
er nach, dass diese Verfettung tatsächlich innerhalb 6 Stunden eintrat. 
Am Herzen fand sich eine feinkörnige Trübung; in einem Falle waren 
die Fibrillen dicht. gefüllt mit kleinen, rundlichen, lichtbrechenden 
Fettropfen. Von der Querstreifung der Muskelfasern war nichts mehr 
zu sehen. 

Die Nieren fand Nothnagel wenig oder gär nicht verändert; 
erst bei Chloroforminjektionen unter die Rückenhaut trat eine stärkere 
Nierenschädigung ein. In der Körpermuskulatur konnte er nur in 
einem Falle Degeneration nachweisen, und zwar in den Bauchmuskeln. 
Ostertag (3) fand bei subkutaner Injektion von Chloroform starke 
Veränderungen in den inneren Organen und zwar besonders in den 
Nieren (Zylinder in den geraden und gewundenen Kanälchen). 

Schönhof (15) beobachtete bei seinen Tierversuchen mit Ka¬ 
ninchen neben Herz- und peripherer Leberverfettung im Gegensatz 
zu Nothnagel sehr starke Verfettung der Nierenepithelien, vor allem 
der Tubuli recti, dann der Henleschen Schleifen. Ernberg (16) fand 
wiederum im Kaninchen versuch mit Magensonde die Leber am stärksten 
ergriffen. 

Im allgemeinen sind die mikroskopischen Befunde bei der in¬ 
ternen Chloroformvergiftung gleich oder ähnlich denen bei Inhalations¬ 
intoxikationen sowohl bei Menschen wie bei Tieren, wenn auch, wie 
Ostertag (3) durch seine Versuche mit Narkosen bei Kaninchen, 
Meerschweinchen, Ratten, Tauben, Katzen und Hunden nachwies, ver¬ 
schiedene Tierarten für Chloroform eine verschiedene Empfänglichkeit 
zeigen. Stets wurde bei Schädigungen durch Chloroformnarkose fettige 
Degeneration in der Leber gefunden, und zwar am stärksten in den 
peripheren Läppchenteilen; auch hier konnte Schenk (9) bei narkoti¬ 
sierten Affen durch Kontrolle mit exzidierten Leberstückchen bereits 
einige Stunden nach der Narkose Fett nachweisen. 

Ferner zeigte sich regelmässig fettige Degeneration in der Herz¬ 
muskulatur und in den Nieren, und zwar besonders in den Tubuli 
contorti; die Glomeruli waren stets frei, nur Porosohin (10) und 
Marthen (7) fanden auch dort fettige Degeneration des Epithels. 

Einige Beobachter fanden degenerative Vorgänge im Zwerchfell 
und Skelettmuskulatur [Unger (2), Ostertag (3), Strassmann (10), 
Fränkel (5)], Veränderungen in der Milz, Magenschleimhaut und 
Gehirn [Müller (20)] und im verlängerten Mark [Poroschin (10)]. 
Dabei fanden die einen in den Nieren die stärksten Veränderungen 


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Raimund Schelcher, 

[Marthen (7), Guleke (11), Frankel (5)], andere mehr in Herz und 
Leber [Strassmann (4), Bandler (8)], ohne ausser acht zu lassen, 
dass bei manchen der Fälle schon vor Beginn der Chloroformschädi¬ 
gung eine krankhafte Veränderung, - insbesondere Verfettung, dieses 
oder jenes Organs stattgefunden haben .konnte, die eventuell durch 
längeres Kranksein oder Siechtum bedingt waren. Eine Verfettung 
der Pankreasdrüsenzellen, wie in unserem Falle, fand ich in der mir 
zur Verfügung stehenden Literatur nur in der Arbeit von Müller (20) 
erwähnt. Derselbe wies nach Narkosen ferner Fett nach in den 
Drüsenzellen des Magens, im Hoden und in den Nebennieren, selten 
nur in der Milz; sodann in den Zellen des Epithels der Lungen¬ 
alveolen, der Bronchiolen und sogar der groben Bronchien, sowie in 
den Zellen der Bronchialknorpel. Beträchtliche Veränderung fand 
ferner Müller im Gehirn: „Es sind vor allem zweierlei Verände¬ 
rungen, die ich nach Narkose im Gehirn beobachtet habe, eine reich¬ 
liche Fettansammlung in den Wandungen der Blutgefässe und solche 
in den Ganglienzellen.“ Poroschin (10) beobachtete bei Todesfällen 
nach Chloroformnarkosen hyaline und vakuolige Degeneration^ in den 
Nervenzellen. 

Wenn man die Befunde unseres Falles mit denen anderer Chlo¬ 
roformvergiftungen vergleicht, so ergibt sich zwar in manchen Ueber- 
einstimmung in denselben, in anderen aber wieder weicht unser Fall 
ab. So zeigt sich hier keine Spur von Verfettung in Herz und Leber. 
Das in diesen beiden Organen reichlich vorhandene Pigment braucht 
bei einem 58jährigen Individuum nichts Pathologisches zu bedeuten; 
in einem solchen Alter wird man Abnutzungspigmente in vielen Fällen 
finden. Dagegen dürfte die Schädigung der Leberzellen in den zen¬ 
tralen Läppchenteilen (undeutliche Konturen oder auch gänzliche Zell¬ 
nekrose), sowie die Quellung der Wände der Zentralvenen als eine 
direkte Chloroformschädigung anzusehen sein. Die Verfettung des 
Pankreas sowie der Nieren ist bei unserem Falle verhältnismässig 
gering, zumal in den Nieren, wo sich in den Epithelien der Tubuli 
contorti gar keine, in denen der Tubuli recti doch weniger Fett¬ 
körnchen finden, als man hätte erwarten können. Von parenchyma¬ 
töser Trübung und Degeneration, wie sie Nothnagel (19) bei seinen 
Tierversuchen ira Herzen, Marthen (7), Guleke (11), Fränkel(5) 
und Poroschin (10) bei Chloroformtod nach Narkosen in den Herz¬ 
muskelfasern und in den Nierenepithelien neben der Verfettung fanden, 
ist hier nichts oder fast gar nichts zu sehen. 



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Ueber Vergiftung durch Trinken ohloroformbaltiger Flüssigkeit. 187 

Die Veränderungen im Gehirn, die sich bei unserem Falle zeigten, 
stimmen völlig mit dem überein, was bis jetzt überhaupt darüber 
bei Chloroform Vergiftungen veröffentlicht ist. Ueber Gehirnverände¬ 
rungen bei Vergiftungen per os berichtet nur Ernberg(16). Ob der 
Erweichungsherd, den er im Grosshirn fand, ein zufälliger Befund 
war, bleibe dahingestellt. Jedenfalls ist bei Chloroformvergiftungen 
über Regelmässige Befunde von Erweichungsherden im Gehirn, wie sie 
etwa für CO-Vergiftungen im Linsenkern charakteristisch sind, nichts 
bekannt. Das Gehirn ist wohl dasjenige Organ, das am meisten 
und raschesten für Chloroform empfänglich ist, wie auch Bandler 
[nach Pohl (27)] hervorhebt. Durch seinen Gehalt an Lezithin und 
Cholesterin — Substanzen, die in Chloroform löslich sind — kann es 
leicht Chloroform binden. Auch in unserem Falle sind die histologischen 
Veränderungen der Ganglienzellen im Vergleiche zu denen in anderen 
Organen sehr stark. Dass unter der Einwirkung von Giften ver¬ 
schiedener Art die Ganglienzellen ,ihr Aussehen verändern, ist eine 
schon längst bekannte Tatsache [s. Monakow (24), Robert (13)]. 

Veränderungen des Tigroids, Verlagerungen des Kernes und Fett¬ 
degeneration in den Ganglienzellen wie in den Gefässendothelien 
finden sich ja auch bei unserem Falle. Das leicht hellgelb gefärbte 
Pigment, das in den meisten Ganglienzellen zu sehen ist, oft an der 
Basis eines Protoplasmafortsatzes, wo die Tigroidschollen fehlen, ist 
dagegen sicherlich eine normale Erscheinung, die bei allen älteren 
Individuen auftritt. Darauf haben schon Rossin und Fenyvessy (21) 
sowie Roth mann (22) hingewiesen; es ist eine bei Neugeborenen 
fehlende, erst mit zunehmendem Alter auftretende fettähnliche Sub¬ 
stanz, die aber durch Aether und Alkohol nicht ausziehbar ist und 
zu den LipocHromen zu rechnen ist. 

Wie man sich die Wirkung des Chloroforms vorzustellen habe, 
ob es direkt blutschädigend wirkt oder nur das Blut als Transport¬ 
mittel gebraucht, darüber entstanden verschiedene Meinungen. Die 
Hypothese von Pleische [Huseraann (23)], „dass Chloroform sich 
im Körper in Blausäure um wandelt . . .“, braucht hier nicht erörtert 
zu werden und hat heute höchstens noch historisches Interesse. Nach 
den Mitteilungen Sabarths (1) „besitzt nach A. Böttcher-Dorpat 
Chloroform in hohem Grade die Eigenschaft, rote Blutkörperchen zu 
zerstören und Hämoglobin in kristallinische Form überzuführen“. 
Auch Nothnagel (19) hebt die hämolytische Wirkung des Chloro¬ 
forms hervor. Strassmann wie Ungar konnten jedoch „hinsichtlich 


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Raimund Schelcher, 


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der Entstehung der Organ Verfettung keine Blutveränderung direkt oder 
indirekt feststellen“ [Ostertag (3)]. Chloroform besitzt ja, wie alle 
Narkotika, die Fähigkeit, Lipoide zu lösen, und wirkt somit auch, 
wenn es in genügender Konzentration auftritt, hämolytisch, da ja die 
roten Blutkörperchen reichlich Lipoide enthalten [Kobert (13)]. Auch 
die Versuche Ostertags (3), der Kaninchen subkutan Chloroform 
injizierte, zeigten eine hämolytische Wirkung des Chloroforms. (Es 
wäre somit auch ein hämolytischer Ikterus erklärbar. Häufiger dürfte 
es sich jedoch, wie schon oben erwähnt, um einen mechanischen 
Ikterus handeln.) Jedenfalls möchte ich mich der Ansicht Ungars (2), 
Strassmanns (4) und Ostertags (3) anschliessen, der sagt: „Die 
Fettmetamorphose ist die Folge einer Einwirkung des Chloroforms 
auf das Blut (Zerstörung roter Blutkörperchen) und auf die Gewebs¬ 
zellen selbst.“ Dabei dürfte vielleicht die direkte Wirkung auf die 
Organzellen die grössere Bedeutung haben als die hämolytische 
Wirkung. 

Noch ein Wort über die Pneumonien, die nach Chloroform¬ 
vergiftung mehrfach beobachtet wurden. Da ja das Chloroform zum 
Teil durch die Lungen ausgeschieden wird, Wäre es wohl möglich, 
dass durch diese Exkretion das Alveolarepithel geschädigt wird — 
konute doch Müller (20) nach Narkosen auch in den Zellen des 
Epithels der Lungenalveolen Fett nach weisen —, und dass auf diesem 
Boden dann die Pneumonie entsteht. 

Indessen ist zu bedenken, dass bei sonst intakten Lungen nach 
Chloroformvergiftung Hyperämie derselben ein ganz gewöhnlicher Be¬ 
fund ist [Hirsch (14)]. Die Respiration ist durch das Chloroform 
meist stark herabgesetzt, und in der Regel findet sich eine oberfläch¬ 
liche Atmung. Auch schon damit sind für die Entwicklung einer 
Pneumonie äusserst günstige Bedingungen geschaffen. 

Bei der rein mikroskopischen Betrachtung unseres Falles (stärkste 
Verätzung des Magens und der Speiseröhre mit Durchbruch in die 
Pleurahöhle, Empyem) und unter Berücksichtigung der Krankheits¬ 
geschichte (vom 4. Tage an zunehmende Atemnot und Dämpfungen 
über der Lunge) ist anzunehmen, dass diese starken Verätzungen mit 
anschliessendem Empyem und Bronchopneumonien die direkte Todes¬ 
ursache gewesen sind. Chloroform kann ja an sich sehr stark ätzend 
wirken, nur überrascht hier dio so ausserordentlich starke Wirkung 
in Speiseröhre und Magen, die teilweise durch Substanzen bedingt 
sein mag, die in der getrunkenen Flüssigkeit enthalten waren. Welcher 


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Ueber Vergiftung durch Trinken chlorofonnhaltiger Flüssigkeit. 189 


Natur diese Substanzen waren, ist, wie oben erwähnt, nicht genau 
festzustellen; vermutlich war jedenfalls Salzsäure mit darin enthalten. 
Doch fanden sich keinerlei typische Zeichen einer Säure-, Laugen¬ 
oder anderen Vergiftung. — Ich glaube, dass der Fall trotz der Kom¬ 
plikationen, die den Tod herbeiführten, doch deutlich die Zeichen einer 
Chloroformvergiftung aufweist, das ist: fettige Degeneration der par¬ 
enchymatösen Organe (hier nur in Nieren und Pankreas), der Ganglien¬ 
zellen und Hirngefässendothelien, sowie anderweitige Veränderung der 
Ganglienzellen, und dass er in der Reihe der internen Chloroform¬ 
vergiftungen mit aufzuzählen ist. 

Zum Schlüsse meiner Arbeit ist es mir eine angenehme Pflicht, 
Herrn Geheimrat Prof. Dr. Schmorl meinen ergebensten Dank aus¬ 
zusprechen für die Ueberlassung des Materials zu dieser Arbeit sowie 
für die freundliche Unterstützung bei derselben. 


Benützte Literatur. 

1) Sabarth, Das Chloroform. 1866. — 2) Ungar, Ueber tödliche Nach¬ 
wirkung derCbloroforminhalation. Vierteljahrssschr. f. gerichtl.Med. 1887. Bd.47. 
S. 98. — 3) Ostertag, Die tödliche Nachwirkung des Chloroforms. Virchows 
Arch. 1889. Bd. 118. S.250. — 4) Strassmann, Die tödliche Nachwirkung des 
Chloroforms. Ebendas. 1889. Bd. 115. S. 1. — 5) Frankel, Ueber anatomische 
Veränderungen durch Chloroformnachwirkungen beim Menschen. Ebendas. 1892. 
Bd. 127. S. 381.— Derselbe, Ueber Chloroformnachwirkung beim Menschen. 
Ebendas. 1892. Bd. 129. S. 254. — 6) Eisendrath, Ueber den Einfluss von 
Aether und Chloroform auf die Nieren Deutsche Zeitsclir. f. Chir. 1895. Bd. 40. 
S.466.— 7) Marthen, Ueber tödliche Chloroformnachwirkung. Berl.klin. Wochen¬ 
schrift. 1896. Nr. 33. S. 204. — 8) Bandler, Ueber den Einfluss der Chloro¬ 
form- und Aethernarkose auf die Leber. Milteil. a. d. Grenzgeb. d. Med. u. Chir. 
1896. Bd.l. S.309. — 9) Schenk, Zur tödlichen Nachwirkung des Chloroforms. 
Zeitschr. f. Heilk. 1898. Bd. 19. S. 93.— 10) Poroschin, Zur Frage über die 
pathologisch-anatomischen Veränderungen in durch Chloroformnarkose bedingten 
Todesfällen. Zentralbl. f. d. med. Wissensch. 1898. S. 365. — 11) Guleke, 
Akute gelbe Leberatrophie im Gefolge der Chloroformnarkose. Arch. f. klin. Chir. 
1907. Bd. 83. S. 602.— 12) Stierlin, Ueber Spätwirkungen der Chloroform¬ 
narkose. Mitteil. a. d. Grenzgeb. d. Med. u. Chir. 1911. Bd. 23. S. 468. — 
13) Kobert, Lehrbuch der Intoxikationen. 1906.— 14) Hirsch, Ein Fall von 
Chloroformintoxikation durch innerlich genommenes Chloroform. Zeitschr. f. klin. 
Med. 1894. S. 190. — 15) Sohönhof, Ueber interne Chloroformvergiftung. 
Zieglers Beitr. 1914. Bd. 58. S. 130.— 16) Ernberg, Ueber Intoxikationen mit 
per os eingenommenem Chloroform. Nord. med. Arch. 1903. 4. Febr. Nur im 
Ref. v. Jessen, Zentralbl. f. innere Med. 1904. Bd. 25. S. 893. — 17) Wollen¬ 
weber, Vierteljahrsschr. f. geriohtl. Med. Bd. 32. S. 116. — 18) Hegar und 


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Raimund Schelcher, lieber Vergiftung durch Trinken usw. 


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Kaltenbach, Eine eigentümliche Wirkung des Chloroforms. Virchows Arch. 
1870. Bd. 49. S. 437. — 19) Nothnagel, Berl. klin. Wochenschr. 1866. S. 32.— 
20) Müller, Fettmetamorphose innerlicher Organe nach Chloroform- and Misch¬ 
narkosen. Arch.f.klin.Chir. 1905. Bd.75. S.896.— 21) Rosip und Fenyvessy, 
Ueber das Lipochrom der Nervenzellen. Virchows Arch. 1900. Bd.162. S.534.— 
22) Rothmann, Ueber das Lipochrom der Ganglienzellen. Deutsche med. 
Wochenschr. 1901. Nr. 11. — 23) Husemann, Handb. d. Toxikol. 1862. — 
24) Monakow, Gehirnpathol. 1905 und Spezielle Patbol. u. Ther. von Noth¬ 
nagel.— 25) Schmidtmann, Handb. d. gerichtl. Med. 1905.— 26) Leon¬ 
pacher, Friedreichs Blätter f. gerichtl. Med. 1900. Bd. 51. — 27) Pohl, Ueber 
Aufnahme und Verteilung des Chloroforms im tierischen Organismus. Arch. f. 
exper. Patbol. u. Pharmakol. 1891. Bd. 28. S. 239. 


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Ueber künstliche Färbung und Entfärbung des menschlichen Haares. 193 

nicht von geübter fremder Hand, sondern vom Träger der Haare 
selbst ausgeführt wurde. 

Der Uebergang des natürlich gefärbten zum ergrauten Haar findet 
dahingegen stets allmählich statt. Nur durch grossen Luftgehalt des 
Markes grau erscheinende Haare zeigen einen plötzlichen Uebergang. 
Hier klärt die Betrachtung unter dem Mikroskop die Sachlage auf. 

Ebenso dürfen verschieden dunkel gefärbte Partien desselben 
Haares nicht für eine Kunstfärbung angesehen werden, wenn die 
helleren Partien den dünneren Teilen des Haares oder dem letzten 
Stück des absterbenden Haares entsprechen. 

Auch pflegen die Haare an verschiedenen Teilen des Kopfes, be¬ 
sonders bei Blonden und Braunhaarigen, geringe Differenzen in ihrer 
Färbung zu zeigen; und oft findet man vereinzelt ganz abweichend 
gefärbte Haare auf demselben Kopfe. Wenn daher das ganze Haar 
desselben Kopfes auffallend gleichgefärbt ist, so kann daraus der 
' Verdacht auf eine Kunstfärbung geschöpft werden (8). Es neigen 
aber die meisten Kunstfärbungen in besonders hohem Masse zum 
Ausbleichen (8) — auch naturfarbenes, besonders blondes Haar bleicht 
im Sonnenlicht aus — so dass diese homogene Beschaffenheit des 
künstlich gefärbten Haares nur kurz nach der Färbung anzutreffen 
sein dürfte. 

Ferner geben bisweilen gewisse Farbtöne einen Anhalt für eine 
künstliche Färbung. So nimmt z. B. das Haar durch länger fort¬ 
gesetztes Bleichen und Nachfärben mit Kamillenextrakt einen unnatür¬ 
lich strohigen Ton an (9). 

Unter dem Mikroskop soll nach Oesterlen (5) die Frage, ob 
ein Haar künstlich gefärbt ist oder natürliche Farbe besitzt, sofort 
zu lösen sein, da bei gelungener Färbung das Haar eine so gleich- 
massige Farbe seines Schaftes böte, wie sie bei dem natürlichen 
nicht vorkommt. Es sind aber einerseits naturfarbene dunkelblonde 
Haare oft auffallend homogen gefärbt, andererseits zeigen mit Metall¬ 
farben gefärbte Haare genau die körnige Anordnung des Farbstoffes 
wie die naturfarbenen Haare. 

Leicht zu erkennen ist unter dem Mikroskop nur eine oberflächliche 
Färbung, z. B. mit chinesischer Tusche, Kasselerbraun, Torffarbstoff 
oder Stiefelwichse. Hier haftet der Farbstoff vorwiegend an einzelnen 
halbgelösten Oberflächenschuppen und anderen Rauhigkeiten des Haares. 

Guder (10) gibt nun an: „Je nach dem verwandten Haarfärbe¬ 
mittel muss zur Beseitigung desselben eine Waschung des Haares mit 

Vierteljahrsschrift f. ger. Med. u. öfF. San.-Wesen. 3. Folge. Bd. 60 . ir. 2 , 13 


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194 


Lothajr Bock, 

Wasser, verdünnter Salzsäure, Salpetersäure oder Chlorwasser versucht 
werden.“ 

Boira Waschen des fettfreien Haares mit Wasser lösten sich 
Kasselerbraun in Schollen, chinesische Tusche wolkig — als „Kohol“ 
mit Gummi arabicum vermischt zum Färben der Augenbrauen ver¬ 
wandt —, ferner lösten sich'im Wasser ein filtriertes ammoniakalisches 
Dekokt aus Braunkohle, Kaffee, Kamillentee und Hopfenblütenaufguss. 
Die beiden letzten Farbstoffe waren nicht völlig zu entfernen, doch 
war an einem grösseren Haarbündel deutlich das Hellerwerden des 
Farbtones zu sehen. 

Verdünnte Säuren wirken in der Kälte auf die meisten Metall¬ 
farbstoffe kaum ein. Konzentrierte Salpetersäure zerstörte in der 
Kälte, verdünnte 18 proz. bei leichtem Erwärmen die silbei*-, eisen-, 
kupfer-, raangan-, wisraut-, blei-, kobalthaltigen Metallfarben. 

Es entsteht aber eine leichte Hellgelbfärbung des Haares durch 
die Einwirkung der Salpetersäure, die man bei Bestimmung der ur¬ 
sprünglichen Haarfarbe zu berücksichtigen hat. 

Die organisch-chemischen Verbindungen der Haarfärbemittel bilden 
mit der Salpetersäure Farbstoffe, und zwar färben sich mit Para- 
Phenylendiamin und mit Aureol gefärbte Haare rotbraun, solche mit 
Pyrogallussäure leuchtend gelb. 

Da die gleiche Behandlung den natürlichen Haarfarbstoflf nicht 
wesentlich verändert, ist leicht festzustellen, ob eine Haarfärbung 
vorliegt. 

Es erhebt sich nun die Frage, womit fand die Färbung statt? 

Da nach dem Reichsgesetz vom 5. Juli 1887, § 3, zur Her¬ 
stellung von kosmetischen Mitteln zum Färben des Haares Farbstoffe 
und Farbzubereitungen verboten sind, die Antimon, Arsen, Barium, 
Blei, Kadmium, Chrom, Kupfer, Quecksilber, Uran, Zink, Zinn, Gumroi- 
gutti, Korallin, Pikrinsäure enthalten, so kommen hi Deutschland nur 
Silber-, Mangan-, Eisen- und Wismutsalze neben Pflanzen- und 
Anilinfarben zum Färben des lebenden Haares in Frage. In Bayern 
sind durch die Kgl. Bayrische Verordnung vom 16. Juni 1895 auch 
Silbersalze mit Ausnahme des Chlorsilbers verboten. 

Es dürfte aber die überwiegende Mehrzahl der zurzeit in Deutsch¬ 
land verbreiteten Haarfärbemittel aus Silbersalzen hergestellt sein. 
Von 13 am Ort erhältlichen Haarfärbemitteln waren 12 silberhaltig. 

Die Färbemittel dieser Gruppe enthalten das Silber meist in einer 
ammoniakalischen Silbernitratlösung und in einer zweiten Flasche eine 


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Ueber künstliche Färbung und Entfärbung des menschlichen Haares. 195 

Lösung von Byrogallol oder von einem schwefelabspaltenden Stoff, 
z. B. von Schwefelleber. Die Farbe ist sehr echt, es lassen sich je 
nach der Konzentration der angewandten Lösungen Färbungen von 
hellblond bis schwarz erzielen. Es tritt aber leicht ein metallisch¬ 
violetter Schimmer an den Haaren auf. Bei den langsam erst in 
mehreren Tagen wirkenden „Haarfarbewiederherstellern“ kann die 
Reihe der durchlaufenen Färbungen besonders vielgestaltig sein, indem 
zunächst auf weissem Haar ein schön goldgelber Ton entsteht, dem 
am nächsten Tage die erwähnten Anlauffarben folgen, und erst nach 
3 oder 4 Tagen entsteht ein kräftiges Dunkelblond oder Schwarz. 
Aber auch fuchsigrote und grüne Farbtöne können gelegentlich ent¬ 
stehen. So gibt Klein (8) an, dass weisses Haar, das früher schwarz 
oder braun war, unnatürlich rotbraun werden kann. Grüne Ver¬ 
färbungen sollen besonders auftreten, wenn das Haar vor dem Färben 
nicht genügend vom Fett befreit war. 

Der Nachweis der Silberfärbung gelingt schon an einem etwa 
1 cm langen Stück eines kräftig dunkelblond oder schwarz gefärbten 
Haares. Bringt man auf ein solches Haarstück ein Tröpfchen kon¬ 
zentrierter Salpetersäure oder erwärmt gelinde mit einem Tröpfchen 
verdünnter 18 prozentiger Salpetersäure und wartet bis das Haarstück 
entfärbt bzw. hellgelb gefärbt ist, so kann man durch ein Tröpfchen 
Salzsäure in dem erstgenannten Tropfen auf dunklem Untergrund und 
unter dem Mikroskop deutlich sichtbare weisse käsige Flocken von 
Chlorsilber erzielen, die sich beim Hinzufügen einiger Tropfen Am¬ 
moniak wieder lösen. Oder man löst den Farbstoff eines 1 cm langen 
Haarstückes in einem Tröpfchen Salpetersäure und legt einen mög¬ 
lichst kleinen Kristall von Kaliumbichromat ein. Bei etwa 350 facher 
Vergrösserung sieht man dann zahlreiche Nadeln und Blättchen von 
blutrotem Silberchromat aufschiessen (11). 

Ist die Färbung des Haares sehr wenig intensiv, z.,B. nur schwach 
hellblond, so dürften die oben genannten Versuche noch auszuführen 
sein, wenn man mehrere Haare in einem kleinen Tiegel verascht und 
den Rückstand mit einem Tropfen Salpetersäure aufnimmt. 

Silber ist in nachfolgenden Haarfärbemitteln enthalten, von denen 
die mit einem * bezeichneten zurzeit in Göttingen käuflich zu er¬ 
halten sind. 

Ala-Haarfarbe (12, S. 6). 

Amerikanische Haarfarbe von A. Zwerner, Hannover (12, S. 199). 

Brylon (15, 1903, S. 259). 

13* 


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196 


Lothar Bock, 


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Chinesische Haarfarbe (15, 1909, S. 1065). 

Crinin von Funke u. Co. Berlin (12). 

Eau de Figaro (12, S. 118). 

Eau de Montblano (12, S. 119). 

Eau de Vienne aus Paris (12, S. 121). 

Eau de X chimiste (12, S. 121). 

Eau Egyptienne aus Paris (12, S. 121). 

Eau Lajeune aus Paris (12, S. 122). 

Eau Vögötale de Paul L. Marquis, Paris (12, S. 122). 

Flui de imperial de Jean Kabot von Bernhardt in Braunschweig * (12, S. 167). 
Haarbalsam der Franziskanerbrüder in St. Mount (12, S. 198). 

Haarfarbe Venus (12, S. 200). 

Haarfarbe von Leytens in Antwerpen (12, S. 199). 

Haarfarbewiederhersteller von Fritsch, von Klafft u. Buss, Wetzlar *. 
Haarfarbewiederhersteller von Hermann Janke, Berlin * (12, S. 199). 
Haarfarbewiederhersteller Nimmeralt (12, S. 199). 

Haarfarbewiederhersteller Seegers 5b (12, S. 199)*. 

Haarfarbewiederhersteller Victoria (15, 1911, S. 1324). 

Haarlikör, chinesischer von Richard Hoffmann, Leipzig (12, S. 202). 

Haarmilch von Johann Grolich *. 

Heliosa (12, S. 214). 

Hair Dye von Abt, Wien (12, S. 207). 

Kanada (15, 1907, S. 72). 

Kascha von Wetzel, Stuttgart * (12, S. 122). 

Krinochrom (7) (12, S. 267). 

Liqueur transmutative von Faivre, Paris (12, S. 286). 

Melanogene von Dicquemare in Rouen (12, S. 307). 

Melainocome (12, S. 122). 

Neril von Franz Dralle, Hamburg * (14, 1903, II, S. 1388). 

Noircir von R. Schumann, Leipzig (12, S. 337). 

Noirogene des Chemikers Karl K re Iler, Nürnberg (12, S. 337). 

Nuancin von Seeger, Berlin * (12, S. 201). 

Pigmol Schlempen u. Co., Leipzig *. 

Plaisir zum Farben der Augenbrauen von Wetzel in Stuttgart *. 

Rcnovateur (12, S. 397). 

Schellenberg's Haarwiederhersteller „20 Jahre jünger“ *. 

Scbroers Haarfarbe (15, 1895, S. 187). 

Seegers Haarfarbe Nr. 4 * (14, 1908, ll, S. 1076). 

Dr. Sernaus Haarfarbe Nr. III (12, S. 433) enthält nach (14, 1895, S. 187) auch 
Kupfer. 

Teinture americaine pour la barbe (12, S. 461). 

Teintures progressives (12, S. 461). 

Teinture Richards von Seguin, Bordeaux (12, S. 461). 

C. D. Wunderlichs Haarfärbemittel, Nürnberg (12, S. 201). 

Youpla, Haarfarbewiederhersteller von Kopp u. Joseph, Berlin (12, S. 511). 


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Ueber künstliche Färbung und Enterbung des menschlichen Haares. 197 

Ausserdem empfiehlt Joseph (16) als unschädliche Haarfarbe 
Argentumvaseline, zu der 1—20 pCt. Silbernitrat, in möglichst wenig 
Wasser gelöst, verwandt werden sollen. 

Nächst "dem Silber ist im Deutschen Reich die Anwendung von 
Mangan- in Haarfärbemitteln erlaubt. Das Mangan wird meist als 
Permanganat verwandt, eventuell abwechselnd mit Pyrogallussäure 
oder Natriumthiosulfat. Es soll sich nur zu blonden Tönungen ver¬ 
wenden lassen (7). Die Färbung bleicht leicht aus und das Haar 
wird dann angeblich vollständig weiss (17). Verwendet man Kalium¬ 
permanganat in stärkerer Lösung, etwa um dunklere Töne zu er¬ 
zielen, so wird das Haar durch die oxydierende Wirkung brüchig. 
Die Entfärbung ist durch verdünnte Salpetersäure oder Salzsäure, 
oder im Laufe einiger Tage durch Jodkalilösung zu erreichen. Der 
Nachweis des Mangans geschieht am einfachsten durch die Soda- 
salpeterschraelze. Bringt man ein einige Zentimeter langes Stückchen 
des mit Mangansalz gefärbten Haares auf einer Porzellanschalen¬ 
scherbe in Sodasalpeter und erhitzt es in der Oxydationsfiamme, so 
löst sich das Haar unter Verkohlen und die Schmelze färbt sich 
deutlich grün. 

Mangan enthalten: 

Hoffers Haarfarbekamm von Karl Hoffers, Berlin (12, S. 200). 

Notköl von C. G. Krause, Dresden (12, S. 338). 

Seegers Haarfarbe „Braun“ (12, S. 200). 

Ebenso wie Mangansalze sind Wismutsalze nur zu braunen Farb¬ 
tönen oder eventuell einem bräunlichen Schwarz zu verwenden. Die 
braunen Töne sind mehr rötlich, da das verwandte Schwefelwismut 
rotbraun ist. Der Schwefel kann z. B. durch Schwefelleber geliefert 
werden. Entfärben lassen sich mit Wismut gefärbte Haare mit kon¬ 
zentrierter Salpetersäure. 

Zum Nachweis entfärbt man ein einige Zentimeter langes Haar¬ 
stück mit einem Tröpfchen verdünnter Salpetersäure durch leichtes 
Erwärmen und legt in die Lösung einen kleinen Kristall von Kalium¬ 
sulfat oder Kalium-Hydrosulfat. Nach einigen Minuten bilden sich 
sechsseitige farblose Blättchen (11). 

Wismut enthalten: 

Haarfärbemittel „Endlich“ (15, 1905, S. 547). 

Haarfärbebalsam von P. und R. Jilge, Berlin (12, S. 201). 

Kalamax (12, S. 238). 

Puttendörfers Universalhaarfärbeextrakt (15, 1903, S. 459). 


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Lothar Bock, 


Im Gegensatz zu den Wismutsalzen liefern Eisensalze schwarze 
tintenartige Farbtöne, wenn sie, wie üblich, mit Pyrogallussäure zu¬ 
sammen verwandt werden. Diese Eisenfarben sollen meist nicht sehr 
beständig sein. 

Der Nachweis des Eisens ist leicht. Es genügt ein 1 cm langes 
Stück Haar, das man auf dem Objektträger mit einem Tröpfchen 
Salpetersäure entfärbt. Fügt man ein Tröpfchen Ferrozyankalium- 
lösung oder erst etwas Salzsäure und dann Ferrizyankaliumlösung 
hinzu, so erhält man unter dem Mikroskop deutlich sichtbare amorphe 
blaue Flocken und später eine Blaufärbung des ganzen Haares. 

Eisen allein enthalten: 

Reform haar färbe von M. Waltsgott Naohf., Halle a. S. (14, 1908, II, S. 1070). 

Panaxhaarfarbe Viteks Immerjung (12, S. 201). 

Seegers verbesserte Haarfarbe 3b (14, 1908, II, S. 1070). 

Ersen enthalten neben dem in Deutschland verbotenen Kupfer: 

Nussextrakt von A. Uaszuski und P. V. Ardeliano, Wien (12, S. 340). 

Haarwasser Lotion cosmetique von Laforest (12, S. 201). 

Haarwasser von Seeger, Wien (12, S. 201). 

Orientalische Haarfarbe von Milan Buydics (14, 1914, I, S. 491). 

Schaubs Chicago Hair-Drye (14, 1908, II, S. 1069). 

Das in diesen Haarfärbemitteln enthaltene Kupfer dürfte leicht 
spektralanalytisch nachzuweisen sein (11). Steht ein Spektralapparat 
nicht zu Verfügung, so gelingt es in dem Verbrennungsrückstand von 
mehreren Haaren, der mit einem Tröpfchen Salpetersäure aufgenommen 
ist, das Kupfer durch die Tripelnitritprobe nachzuweisen. Die Probe 
ist bei dem Nachweis des nächsten Metalles angeführt. 

Ein vorwiegend in ausländischen Präparaten immer noch vor¬ 
handenes Metall ist das Blei. Blei gibt mit schwefelabspaltenden 
Substanzen aschblonde bis tiefschwarze Farbtöne. Der Nachweis 
glückt meist leicht, am einzelnen Haar mit der Tripelnitritprobe (11). 
Emich gibt hierzu folgendes an: „Die auf Blei zu untersuchende 
neutrale oder saure Lösung wird mit einer passenden Quantität (für 
den Bleinachweis ist das Verhältnis Kupfer: Blei gleich 10:1 am 
günstigsten) Kupferazetat befeuchtet und auf einer möglichst kleinen 
Fläche des Objektträgers bei mässiger Temperatur bis zur Trockne 
eingedunstet. Man lässt den Rückstand ganz abkühlen und benutzt 
diese Zeit, um eine Mischung von gleichen Volumteilen Wasser, Eis¬ 
essig und konzentrierter Ammonazetatlösung zu bereiten.- Von dieser 
Mischung wird ein kleiner Tropfen mit einem gleichgrossen Tropfen 
gesättigter Kaliumnitritlösung gemischt. Mit diesem Reagens be- 


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Ueber künstliohe Färbung und Entfärbung des menschlichen Haares. 199 


feuchtet man den oben erwähnten Rückstand, wobei darauf zu achten 
ist, dass der Objektträger nicht gekratzt werde, damit keine zu kleinen 
Kristalle entstehen. Das Tripelnitrit bildet dunkelbraune bis schwarze 
würfelförmige Kristalle, deren Grösse 10—25 /1 betragen kann. Sie 
werden durch Ammoniak entfärbt.“ 

Der Kupfernachweis erfordert in entsprechender Weise die An¬ 
wendung einer Bleiazetatlösung. 

Blei ist enthalten in nachfolgenden Mitteln: 

Aliens Hair Restorer (7). 

Ambrosia, Hair Restorer of America (12, S. 13). 

Aqua amarella von I>r. Will Booth (12, S. 30). 

Arabellas amerikanischer Haarregenerator (15, 1903, S. 259). 

Beaume circassienne, Wien (12, S. 51). 

Colorogene von Dr. Louis Dupaints (15, 1903, S. 259). 

Eau de Bahama (12, S. 117). 

Eau de Capille von von Camprath und Schwarze (12, S. 118). 

Eau de Capille von J. F. Uffhausen in Neumünster (12, S. 118). 

Eau de Fdes von Sarah Felix (12, S. 118). 

Eau de Fees Haarnaturalisier-Präparat des Chemikers Lattke in Kiel (12, 
S. 118). 

Eau de Fleurs aus Paris (12, S. 118). 

Eau Figaro der Soc. d’hygiene (12, S. Ijll). 

Eau Trömolieres (12, S. 122). 

Extrait de noix (12, S. 148). 

Feen-Wasser, Köln (12, S. 150). 

Haarbalsam von Hanger und Löber, Berlin (12, S. 197). 

Haarbalsam von Leppert, Wien (12, S. 197). 

Haarbalsam von A. Marquart, Leipzig (12, S. 198). 

Haarbalsam, ostindisoher. von Dr. Ayer (12, S. 198). 

Haarbalsam, vegetabilischer, von Frau Maria Schuber, Hirschberg, Schlesien 
(12, S. 198). 

Haarbalsam von W. Rauhut, Berlin (12, S. 197). 

Haarelixier Frederiksens (12, S. 198). 

Haarfärbungsbalsam „Kardomin“ (12. S. 200). 

Haarfärbungsbalsam, vegetabilischer, von Treu u. Nuglisch, Berlin (12, S.200). 
Haarfärbungsbalsam, vegetabilischer, von A. Beyer, Berlin (12, S. 200). 
Haarfärbemittel Korina du Japon (14, 1900, II, S. 737). 

Haarhersteller von Bernhard Petzold u. Co., Dresden (12, S. 201). 

Haarwasser, englisch, von Maschke, Breslau (12, S. 201). 

Circassian Hair-RejuVenator (12, S. 88). 

Juvenileau (12, S. 236). 

Kleopatras Haarwiederhersteller (12, S. 249). 

Päte d’Ambroise (12, S. 357). 

Pilipton von J. Ihnatowicz, Lemberg (15, 1903, S. 259). 


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200 


Lothar Bock, 


Puttendörfers Universal-Haarfärbeextrakt (12, S. 385). 

Teintures instantan4es (12, S. 461). 

Teinture de Venus von Dr. Louis Bonnot (12. S. 461). 

Tolma Haarfarbewiederhersteller von Ziegler (12, S. 468). 

Dr. Whites amerikanisches Haarwasser (12, S. 504). 

Ausserdem kommen in ausländischen Haarfarben noch Kobalt, 
Nickel und Chrom vor. So enthalten z. B. von den in 25 verschie¬ 
denen Nuancen erhältlichen Haarfärbemitteln von Broux in Paris 
1—4 Kaliumbichroraat, 5 Ammoniuromolybdat, 6—13 Kaliumbichro- 
mat, 15—21 Kobaltnitrat (15, 1908, S. 998). Ebenso enthält Jean 
Sehrs Hair Coloring Kobaltnitrat (15, 1907, S. 72). Kobalt liefert 
als Sulfid im Haar ein tiefes glänzendes Schwarz. Zerstört man den 
Farbstoff eines 1 cm langen Stückes des Haares mit Salpetersäure 
und bringt in dieses Tröpfchen eine Spur eines Reagens aus 5 Teilen 
Sublimat, 5 Teilen Rhodanammon in 6 Teilen Wasser, so erhält man 
tiefblaue Kristalldrusen. Auch kann man eine kleinere Boraxperle 
lebhaft blau färben, wenn man ein etwa 10 cm langes Stück des 
kobalthaltigen Haares auf der heissen Perle verbrennen lässt. 

In neuerer Zeit sind mit den Metallfarben Anilinfarben in Wett¬ 
bewerb getreten. Unter den 13 Haarfarben für lebendes Haar, die 
ich am Orte erhielt, war eine Farbe dieser Gruppe, das Aureol von 
Schwarzlose, Berlin. 

Nachdem 1889 Erdmann das Para-Phenylendiamin in Verbin¬ 
dung mit Wasserstoffsuperoxyd als Haarfärbemittel empfohlen hatte, 
entstand bald eine ganze Reihe neuer Haarfärbemittel, die diesen Stoff 
enthielten. Als man dann entdeckte, dass das Para-Phenylendiamin 
giftig und imstande ist (18), Ekzem hervorzurufen, wurde es durch 
Bundesratsbeschluss vom 1. 2. 1906 dem freien Verkehr entzogen und 
in das Verzeichnis der Gifte aufgenomraen und in Preussen durch 
Polizeiverordnung über den Handel mit Giften vom 22. 2. 1906 unter 
der 3. Abteilung der Gifte aufgeführt (18). 

Aus dem Bestreben, an Stelle des giftigen Para-Phenylendiamin 
ungiftige Derivate desselben von geeigneter Farbkraft zu finden, ent¬ 
standen das Aureol von Schwarzlose, Berlin — es enthält 1 pCt. 
Methol, 0,3 pCt. Amidophenol - Chlorhydrat, 0,6 pCt. Monoamido- 
diphenylamin, l,5pCt. schwefligsaures Natrium (14, 1903, U, S.1465) —, 
das Eugatol der Agfa — es soll durch eine Sulfogruppe als Seiten¬ 
kette entgiftet sein und hat den Nachteil, nur langsam zu färben — 
und das schnellfärbende Primal der Agfa (21, 22). Beim Erwärmen 


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Ueber künstliche Färbung und Entfärbung des menschlichen Haares. 201 

eines mit Aureol dunkelblond gefärbten Haarstückes mit 18 proz. 
Salpetersäure bildete sich in dem Haar eine leuchtend orange bis rot¬ 
braune Färbung. 

Aber auch wasserlösliche Anilinfarben finden in der Haarfärbung 
Verwendung. Da es selbst mit den besten Haarfärbemitteln nicht 
möglich ist, ganz feine Nuancen genau zu treffen, so hilft sich der 
Haarfärber dadurch, dass er nach der vollzogenen eigentlichen Färbung 
mit einem der oben angeführten Mittel noch das Haar mit einer ganz 
schwachen wässrigen Lösung eines Anilinfarbstoffes nachfärbt. Als 
Farben kommen hier in Betracht Methylviolett, Malachitgrün und 
Methylenblau (8). 

Ebenso kann durch Nigrosin, Vesuvin und Methylviolett in stark 
verdünnter Lösung in Form des sogenannten Tintenbades der rote 
Farbton gebrochen werden, der beim Bleichen der Haare entsteht (9). 

Da diese Farbstoffe in ausserordentlich geringer xWenge angewandt 
werden, dürfte ihr Nachweis am einzelnen Haar wohl kaum gelingen. 
Aus grösseren Haarmengen möchten sie durch heisses angesäuertes 
Wasser teilweise auszulaugen sein. 

Von den früher ausschliesslich verwandten Pflanzenfarben hat sich 
als Haarfärbemittel der aus dem Orient übernommene Hennafarbstoff 
erhalten. Henna, ein rotgelber Farbstoff, der in den Blättern von 
Lawsonia inermis enthalten ist, wird mit Indigo zusammen oder nach¬ 
einander in wechselndem Verhältnis angewandt. Es sollen sich da¬ 
durch alle möglichen blonden und rötlichen Tönungen, auch ein tiefes 
Blauschwarz erzielen lassen (19). Unbequem ist nur, dass der feuchte 
Pflanzenbrei längere Zeit — bis zu mehreren Stunden — im Haar 
liegen muss, bis die Färbung beendet ist. Man findet in der Deut¬ 
schen allgemeinen Friseurzeitung zwei Präparate angezeigt, die wahr¬ 
scheinlich Henna enthalten: Henna Gora und Lakao-Henna von 
F. Müller, Berlin. 

Versuche konnten mit dem Hennafarbstoff nicht angestellt werden, 
da er zur Zeit am Ort nicht zu erhalten war. 

Kastanienbraune Farbtöne sollen sich mit wässrigen oder ararao- 
niakalischen Auszügen von Nussschalen erzielen lassen. Nach 
Müller (9) kommt der früher viel verwandte Walnussschalenextrakt 
heute kaum noch vor. Die meisten unter dem Namen Nussfarbe im 
Handel befindlichen Präparate enthalten ihn nicht, sondern Metall¬ 
farben oder Phenolderivate. Versuche sind daher mit diesem Farb¬ 
stoff ebenfalls nicht angestellt. 


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202 


Lothar Bock, 


Zum Färben des toten Haares gibt F. Müller (19) eine grössere 
Anzahl von Rezepten aus Tannin, Galläpfeln, Catechou, Sumach, Blau¬ 
holz, Krapp und Gelbholz an. Da allen Rezepten Eisenvitriol als 
Beize zugesetzt ist, dürfte der Nachweis des letzteren leicht durch 
die Berliner-Blaureaktion gelingen. Es ist aber das hierbei verwandte 
Küpenverfahren, eine Färbung mit heissem Farbbad in grossen 
Bottichen, so umständlich, dass es wohl heute kaum noch ver¬ 
wandt wird. 

Sodann kommen von den früher oder noch heute am Lebenden 
verwandten Farben besonders die jetzt in Deutschland verbotenen 
Kupfersalze in Verbindung mit Eisen und Pyrogallussäure in Frage. 
Hierher gehört z. B. Seegers Haarfarbe Schwarz lür totes Haar. 

Ferner ist das in der Pelzfärberei unter dem Namen Ursol in 
grossen Mengen verwandte Para-Phenylendiamin für totes Haar an¬ 
wendbar, Es ist wahrscheinlich in der U-Farbe von F. R. Müller 
(Berlin) enthalten, deren Zusammensetzung in der Literatur nicht be¬ 
kannt ist. 

Für Theaterperrücken empfiehlt F. Müller Bismarckbraun B. u. R., 
Mandarinrot und Martiusgelb in Verbindung mit einer Alaunbeize 
5:1000 (19). 

Zum Entfärben des Haares, d. h. zum Zerstören des natürlichen 
Farbstoffes dienen in erster Linie 3—10 proz. Lösungen von Wasser¬ 
stoffsuperoxyd, die durch hinzugefügte verdünnte Säuren haltbar ge¬ 
macht sind. Es erfordert jedoch der Entfärbungsprozess meist mehrere 
Tage. So kann schwarzes Haar zunächst etwa am ersten Tage braun¬ 
rot, dann etwa am folgenden Tage rot, dann hellblond und schliess¬ 
lich weiss gebleicht werden. Hellblonde Haare dürften eher das End¬ 
ziel erreichen lassen. Da aber mit einem dunklen Haar meist ein 
bräunlicher Teint verbunden ist, zu dem blonde Haare unnatürlich 
oder unschön aussehen, so dürfte das Blondbleichen dunkler Haare 
selten Vorkommen (8). 

Ein zweites Verfahren zum Bleichen der dunklen oder z. B. teil¬ 
weise ergrauten Haare beruht auf der oxydierenden Wirkung de§ 
Kaliumpermanganats. Man soll zunächst die Haare mit einer ge¬ 
sättigten Kaliumpermanganatlösung färben, dieselbe dann antrocknen 
lassen Und entfärben mit verdünnten Säuren (8). Nach einigen in 
etwa 84 Stunden Abstand vorgenommenen Prozeduren soll das Haar 
schneeweiss werden. Sind die Haare noch leicht gelblich, so kann 
eine mit sehr dünnen Anilinfarben vorgenommene leichte Bläuung 


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Ueber künstliche Färbung und Entfärbung des menschlichen Haares. 203 

ein reines Weiss ergeben. Die während des Bleichens auftretenden 
roten Farbtöne werden in der oben angegebenen Weise durch das 
Tintenbad gebrochen. Ist als Endziel ein goldblondes Haar gewünscht, 
so erfolgt meist eine Nachfärbung mit Kamillenextrakt. 

Wasserstoffsuperoxyd enthalten nachfolgende Haarfärbemittel: 

Aureoline (12, S. 41). 

Aurioomus (12, S. 41). 

Blondeur (12, S. 59). 

Eau do Fontaine de Jouvence von E. H. Thillay, London (12, S. 118). 

Goldelfenwasser (12, S. 190). 

Golden Hair Wash (12, S. 191). 

Gold Feen Water (12, S. 191). 

Zum Bleichen des toten Haares wird gleichfalls Wasserstoff¬ 
superoxyd mit Ammoniak versetzt, Kaliumpermanganat mit nach¬ 
folgender Säurebehandlung und ein Bleichbad aus Natriumsuperoxyd 
und Schwefelsäure oder Bittersalz benutzt, das gleichfalls Wasserstoff¬ 
superoxyd enthält (19). 

Der Nachweis, dass ein Haar künstlich gebleicht ist, gelingt 
mikroskopisch nicht, sofern nicht noch gefärbte Wurzelenden oder 
nach gewachsene untere Haarstücke mit vorliegen. Der einzige Unter¬ 
schied zwischen einem künstlich gebleichten und einem Natürlich 
weissen Haar dürfte in der grösseren Brüchigkeit des letzteren gegen¬ 
über einem gleich starken ungebleichten Haar zu finden sein. 

Es gelingt also stets schon am einzelnen Haar festzustellen, dass 
eine Färbpng stattgefunden hat. In vielen Fällen ist schon »an ein¬ 
zelnen Haarstücken oder an mehreren. Haaren nachzuweisen, womit 
die Färbung ausgeführt war. Sind organisch chemische Stoffe zum 
Färben des Haares benutzt, so kann die Untersuchung nur einen ge¬ 
wissen Anhalt über die Konstitution dieser Stoffe ergeben. 


Literatur. 

1) Otto Höfer, Die Farbe des menschlichen Haares in forensischer Be¬ 
ziehung. Dissert. 1916. — 2) Comptes rendus de l’Acad. des Sciences. 143. 
192—93 (16/7). — 3) Gross, Handb. für Untersuchungsrichter. München 1904. 
— 4) Waldeyer, Atlas der menschlichen und tierischen Haare. Lahr 1884. — 
5) Oesterlen, Das menschliche Haar und seine gerichtsärztliohe Bedeutung. 
Tübingen 1874. — 6) Eugon Dieterich, Neues Pharmazeutisches Manual. 
Berlin 1903. — 7) Buchheister, Vorsohriftenbuoh für Drogisten. 1919. — 
8) Friedrich Klein, Die moderne Kosmetik. Berlin 1919. — 9) C. Müller, 
Ueber Haarfärbekunst. Dermatol. Wochenschr. 1918. Nr. 40. — 10) Guder, 


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204 Lothar Bock, Uebor künstliche Färbung und Entfärbung usw. 

Kompendium der gerichtsärztlicben Medizin. — 11) Fr. Emich, Lehrbuch der 
Mikrochemie. Wiesbaden 1911. — 12)Ahrends-Hahn-Holfert, Spezialitäten 
und Geheimmittel. Berlin 1919. Springer. — 13) Zeitschr. f. Nabrungsmittel¬ 
chemie. 1908—1910. — 14) Chem. Zentralbl. 1890—1918. — 15) Pharmazeut. 
Zentralhalle. 1900—1918. — 16) M. Joseph, Handbuch d. Kosmetik. 1912. — 
17) Hager, Handb. d. pharmazeut. Praxis. — 18) Ueber Haarfärbemittel. Münch, 
med. Wochenschr. 1906. S. 359. — 19) Ferdinand Müller, Das moderne 
Friseurgewerbe in W r ort und Bild. Leipzig, H. Killinger. — 20) Richter, Er¬ 
fahrungen mit Aureol als Haarfärbemittel. Arch. f. Dermatol, u. Syph. 1897. 
Bd. 38. S. 280. — 21) Tomaczewski, Haarfärbemittel „Eugatol“. a. a. 0. 1903. 
Bd. 77. S. 472. — 22) Broers, Neue Haarfärbemittel, a. a. 0. 1900. Bd. 54. 


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XV. 

Die Ursachen des Verbrechens. 

Von ' 

Hugo Marx f. 

Die nachfolgende Arbeit ist von unserem verstorbenen Freunde in seinen 
letzten Lebenstagen vollendet worden: obwohl in dem Aufsatz teilweise Gedanken¬ 
gänge wiederkehren, die er schon früher und an anderer Stelle entwickelt hat, 
sind die leitenden Ideen doch hier wieder in so selbständiger und eigenartiger 
Weise begründet, dass wir geglaubt haben, die leider Fragment gebliebene Arbeit 
der wissenschaftlichen Welt nicht vorenthalten zu sollen. 

Die beigegebenen statistischen Tafeln, die seine Darlegungen stützen sollten, 
hat Marx aus den Büchern des Moabiter Untersuchungsgefängnisses gewonnen. 
Sie stellen die Zahlen der dort unter der Anschuldigung der genannten Straf¬ 
taten Eingelieferten dar. Die Schriftleitung. 

I. 

Es ist kein Zufall, dass dasselbe Zeitalter, das uns die glänzen¬ 
den Forschungen über die Ursachen gemeingefährlicher Krankheiten 
gebracht hat, die ersten wahrhaft systematischen Untersuchungen über 
die Ursachen des Verbrechens zeitigte. Es ist ebensowenig ein Zu¬ 
fall, dass Lorabroso, dem wir die ersten grosszügigen Gedanken 
über das Verbrechertum verdanken, zugleich seine erfolgreichen Unter¬ 
suchungen über die Ursache einer seucheartigen Erkrankung, , der 
Pellagra, anstellen konnte. Dieser Synchronismus beruht auf der 
Tatsache, dass im Grunde das Verbrechen nichts anderes ist wie eine 
Krankheit am Volkskörper. 

In der Tat lässt sich leicht zeigen, dass die Kurven des Ver¬ 
brechens einen Parallelismus mit den allgemeinen Gesundheitsverhält¬ 
nissen des Volkskörpers aufweisen. Die Parallelität zwischen Ver¬ 
brechen und Seuchen lässt sich zwanglos und nicht bloss rein bild¬ 
lich bis in manche Einzelheiten durchführen. Die „Infektiosität“ des 
Verbrechens ist z. B. eine kaum geringere als die einer beliebigen 
Seuche; und der Kampf gegen das Verbrechen wurzelt in nicht ge- 


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206 Hugo Marx, 

ringerem Masse als bei den Infektionskrankheiten in vorbeugenden 
und sichernden Massnahmen. 

Am Anfang der Lehre vom verbrecherischen Menschen stand die 
rein naive Betrachtungsweise des Sündenfalls, auf dem Querbalken 
der Themiswage stand das Sühnewort: Auge um Auge, Zahn um 
Zahn. Der Theologe hat dem strafenden Richter durch Jahrtausende 
die Hand geführt, wie er denn auch in langen Zeiträumen die Seelen¬ 
kunde und mit. ihr die Psychiatrie erfolgreich für sich beansprucht 
hat. Rast erst in unserer Zeit haben sich die Wege des Straf¬ 
rechtlers den Naturwissenschaften zugewandt. Zuletzt durfte er den 
immer lauter werdenden Zuruf des Arztes nicht mehr überhören. 

Jene Bild- und Erscheinungsähnlichkeit zwischen Volkskrankheiten 
und Verbrechen erstreckt sich nun leider nicht im Entferntesten auf 
den Erfolg im Kampfe gegen den Krankheitskomplex. Ja, man darf 
ohne Uebertreibung sagen, dass wir dem Verbrechen heute rat- und 
hilfloser gegenüberstehen als je zuvor. Das Verbrechertum schmarotzt 
' an unserem Volkskörper in einem Masse, dass der Rest von Kraft, 
der noch geblieben ist, bald aufgezehrt sein kann. Erscheint schon 
der Kampf gegen die wütenden Seuöhen der Syphilis, der Gonorrhoe, 
der Tuberkulose wie ein fast übermenschliches Ringerl, so kann man 
sich im Kampfe gegen das Verbrechertum fast versucht fühlen, die 
Hände in den Schoss zu legen angesichts der geradezu ungeheuer¬ 
lichen Schwierigkeiten, des schmarotzenden und infizierenden Ge¬ 
sindels Herr zu werden. 

Es wäre töricht zu leugnen, dass die wirtschaftlichen und politi¬ 
schen Verhältnisse diese Hochflut des Verbrechens herangeführt haben. 
Wir werden später zeigen, dass der allgemeine Zeitcharakter gerade 
die entscheidende Einwirkung auf diese Dinge gewonnen hat. Aller¬ 
dings in einem ganz anderen Sinne, wie ihn die allgemeingültige An¬ 
nahme erfasst. 

Gleichwohl müssen wir einmal mit Ehrlichkeit bekennen, dass 
unser bisheriges System der Bekämpfung des Verbrechens vollkommen 
Bankerott gemacht hat. 

Wir sind auch heute noch der Ansicht, dass das Verbrechen 
eine gemeingefährliche Erkrankung des Volkskörpers darstellt, und 
glauben, dass dieser Gedanke eine heuristische Idee im besten Sinne 
bedeutet hat. Gegen die soziologische Richtung in der Kriminal¬ 
anthropologie ist nicht das Mindeste einzuwenden. Wir.werden demnächst 
selbst Beweise für die Richtigkeit dieser Gedankenreihen beibringen. 


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Die Ursachen des Verbrechens. 


207 


Auch gegen die Forschungsmitte], deren sich die Kriminalanthropo¬ 
logie und ihre regste Tochter, die Kriminalpsychologie, bedient, sind 
keine ernsthaften Einwendungen zu machen. Die Kriminalstatistik ist 
trotz aller ihr zur Last gelegten Fehler unentbehrlich; sie gibt uns 
Aufschlüsse, die allein uns den Zusammenhang zwischen Verbrechen 
und Zeitläufen offenbaren. Ich erinnere an die Aufdeckung der Zu¬ 
sammenhänge zwischen Verbrechen und Brotpreis, die wir der Krirainal- 
statistik verdanken. Die Bedeutung der Kriminalität der Jugendlichen 
ist uns wesentlich aus den Zahlenreihen der Statistik klar geworden. 
Ein breiter Strom kriminalanthropologischer Kenntnisse floss aus der 
psychiatrischen Klinik. Die Erforschung der Grenzzustände hat uns 
wesentlich gefördert. Dass der Bezirk der geistigen Minderwertig¬ 
keit allmählich eine verhängnisvolle Ausdehnung anzunehmon droht, 
ist ein Vorwurf, der nicht die Klinik der Grenzzustände trifft. 

Und trotz unermüdlicher Arbeit, trotz allem Forschen und Finden 
das kümmerlichste Ergebnis. Kann es daran liegen, dass die, in 
deren Hände die Pflege der Gerechtigkeit gelegt ist, noch nicht von 
dem Geiste moderner Kriminalanthropologie erfüllt sind? Vielleicht, 
zum Teil. Aber haben wir nicht in den grössten Städten, wie in 
Berlin, alle Errungenschaften der neuen Zeit: die Jugendgerichte mit 
ihrem Stab von Aerzten und Helfern, die Fürsorgeerziehung, die 
Magdalenenheime, die besten Organe der Jugendfürsorge und zahl¬ 
reiche Richter mit dem besten Verständnis für die Forderungen der 
Aerzte? Und dennoch eine Steigerung der Kriminalität der Jugend¬ 
lichen von Jahr zu Jahr, deren Umfang aus einigen später zu gebenden 
Ziffern erschreckend deutlich hervorgeht. 

Man kann einwenden, dass alle die neuzeitlichen Bestrebungen 
der Jugendfürsorge noch zu jung sind, um schon sichtbare Erfolge 
bringen zu können. Man kann mit Recht darauf hinweisen, dass 
aller guter Wille der geistigen Helfer an der Verständnislosigkeit 
nachgeordneter Organe seine Grenze findet, denn der weiseste Richter¬ 
spruch ist umsonst getan, wenn er nicht im Geiste der gleichen Weis¬ 
heit vollstreckt wird. 

Es sind in der Tat Fehler in der Technik vorhanden. Was 
würden uns z. B. alle bakteriologischen Entdeckungen helfen, wenn 
ihnen die praktische Seuchenbekämpfung nicht gefolgt wäre. So 
auch müsste die gescheiteste Kriminalanthropologie fruchtlos bleiben, 
wenn man nicht verstände, ihr eine adäquate Technik nachzuschaffen. 
Alle Kenntnis von Verbrechensursachen bleibt wesenlos, solange es 


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208 


Hugo Marx, 


nicht möglich ist, die Ursachen zu beseitigen. Was hilft etwa der 
tausendmal wiederholte Hinweis der Bedeutung des Wohnungselendes 
für die Häufigkeit des Verbrechens, solange alle bodenreformerischen 
Bestrebungen lediglich ein literarisches Dasein führen? 

Mit grossen Hoffnungen wurden die Ansätze der experimentellen 
Psychologie zu exakten Untersuchungen über die Verbrecherseele be- 
grüsst. In psychologischen Laboratorien und kriminalistischen Semi¬ 
naren wurden mit grossem Eifer Assoziationsversuche angestellt, die 
geradezu eine inquisitorische Aufdeckung des Verbrechens versprachen. 
Die praktischen Ergebnisse sind ausgeblieben, die Experimente fast 
schon wieder vergessen. 

Die psychoanalytische Untersuchung der Einzelpersönlichkeit er¬ 
schien immerhin als der aussichtsreichste Weg zu einer wirklichen 
Klinik des Verbrechens; und in der. Tat ist man auf diesem Wege 
wenigstens bis zu einer Typenbildung vorgeschritten. Gerade diese 
mehr versprechenden Erfolge zeigen die Notwendigkeit, unsere Psycho¬ 
logie aus den Quellen zu schöpfen, die das Leben selbst uns dar¬ 
bietet. Nur wer die unendliche Mannigfaltigkeit verbrecherischer Ge¬ 
stalten in unabsehbaren Zügen an sich vorübergehen sah, ist berufen, 
die Kriminalpsychologie zu treiben, die uns nottut. Nicht in Labo¬ 
ratorien und Seminaren quillt die Fülle des Lebens. Wer über den 
Verbrecher urteilen soll, muss sich in den Winkeln der Städte, in 
den Zellen und Gemcinschaftsräumen der Gefängnisse, in den Gerichts¬ 
sälen umgetan haben, sonst fasst er die drängende Fülle der .Er¬ 
scheinungen nicht und bleibt im besten Fall ein geistvoller Literat. 

In Ansehung der. heute allgemein geübten Technik bei der Er¬ 
forschung der verbrecherischen Person ist anzumerken, dass unsere 
Methoden im ganzen viel zu sehr nach rationalistischen Grundsätzen 
aufgebaut sind. Die Intelligenzprüfungen, die wir heute üben, bringen 
uns nicht einen Schritt weiter. Wir haben den alten Unterschied 
zwischen Intelligenz und Weisheit ganz vergessen und täten gut, uns 
seiner wieder zu erinnern. Unser Volk und auch das Verbrechertum 
in unserem Volke ist durchschnittlich durchaus „intelligent“, viel zu 
intelligent. Aber an Weisheit fehlts. Und nach ihrem Grade müssen 
wir bei der Psychoanalyse forschen. Es kommt nicht darauf an, 
was an positiven Kenntnissen erworben und verloren wurde. Ent¬ 
scheidend für unsere Werturteile müssen die Bestände an Welt- und 
Lebensanschauungen, an Einsichten in soziale Notwendigkeiten werden. 
Wir müssen Klarheit nicht nur darüber gewinnen, wie wir den Ver¬ 
brecher anzusehen haben, sondern auch darüber, wie er uns ansieht. 


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Die Ursachen des Verbrechens. 


209 


Vor allem aber müssen wir überhaupt einmal System in unsere 
Anschauungen über Verbrechen und Verbrechensbekämpfung bringen. 
Und das ist unmöglich, solange wir über die allgemeinsten Ursachen 
des Verbrechens im Unklaren sind. 

Lombroso glaubte die Frage mit der Aufstellung des „geborenen 
Verbrechers“ gelöst zu haben. Die moderne soziologische Richtung 
ist fast zu dem diametral entgegengesetzten Standpunkt gekommen, den 
Verbrecher nämlich aus dem gesellschaftlichen Milieu begreifen zu wollen, 
ohne indes die Bedeutung der Persönlichkeit ihrem Dogma zu opfern. 

Es kann fraglich sein, ob es überhaupt zulässig und zweckvoll 
ist, noch einmal den Versuch zu machen, den Verbrecher von einem 
hoch genommenen Standpunkte aus zu betrachten. Lombrosos 
genialer Versuch ist gescheitert; er haftete zu stark am Morphologi¬ 
schen. Aber gerade Lombrosos Versuch und seine Lösung des 
Problems zeigen die unabweisbare Notwendigkeit, zu einer allgemeinen, 
das Verbrechen begreiflich machenden Formel zu gelangen. So gewiss 
es wahr ist, dass jede Gültigkeit beanspruchende Lehre vom Ver¬ 
brecher von der reichsten persönlichen Einzelerfahrung ausgehen muss, 
so wahr ist es auch, dass wir aus den Tiefen der Kasuistik zu immer 
höheren Begriffsgruppen aufsteigen müssen, um einen Standpunkt ge¬ 
winnen zu können, von dem aus der ganzo Bezirk des Verbrechens 
übersehbar wird. Erst von dieser Warte aus wird sich ein erfolg¬ 
reicher Kampf gegen das Verbrechen führen lassen. 

Es kann gar keinem Zweifel unterliegen, dass auf diesem Wege 
nur der Arzt führen kann. Wie die Anthropologie, so ist auch die 
Krirainalanthropologie medizinisches Gebiet. So wenig Lombrosos 
Lehre das gehalten hat, was sich ihr Urheber von ihr versprach, so 
bedeutend ist die Fülle von Einze^erkenntnissen, die wir dem klugen 
Manne verdanken. Noch grösser aber ist die Anregung zum kriminal¬ 
anthropologischen Weiterdenken, die sein Werk uns gegeben und hintcr- 
lassen hat. Und wir als seine Epigonen müssen auf dem Boden, den 
er erobert hat, weiter bauen. 

Lombroso hat die besondere Funktion durch die besondere 
Form zu erklären versucht. Der Versuch misslang. Vielleicht gelingt 
es eher, die besondere Funktion auf eine allgemeine Funktion zurück¬ 
zuführen. Dieser Versuch ist um so mehr zu empfehlen, als die 
Korrektur der Form ja ein aussichtsloses Beginnen, der Versuch einer 
Aenderung der Funktion aber durchaus im Bereich der Möglich¬ 
keiten liegt. 

Viarteljahrssehrift f. ger. Med. o. öff. San.-Wesen. 3. Folge. Bd. 60. H. 2. i a 


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210 


Hugo Marx, 


Wir sind uns klar darüber, dass wir uns mit dem Versuch, das 
Verbrechen unter dem allgemeinen Gesichtspunkt der Funktion zu er¬ 
klären, in das Gebiet der wirklichkeitsfernsten Abstraktionen begeben. 
Wir haben schon oben die Notwendigkeit eines derartigen Aufstieges 
in abstrakteste Regionen betont; im übrigen ist dieser Aufstieg zu 
einer höchsten letzten Formel in dem Augenblick eine selbstverständ¬ 
liche Forderung, in dem eine Kriminalanthropologie als Wissenschaft 
auftreten will. 

Es könnte zweifelhaft sein, ob man die Kriminalanthropologie 
den nomothetischen oder den idiographischen Wissenschaften, d. h. 
ob man sie den Naturwissenschaften oder den Geisteswissenschaften 
zurechnen soll. Zählt man sie den ersteren zu, so braucht die Not¬ 
wendigkeit des Suchens nach einer letzten alles begreifenden Formel 
überhaupt nicht erörtert zu werden, sie ergibt sich dann von selbst. 

Die Kriminalanthropologie enthält aber zugleich ein unverkenn¬ 
bares historisches Moment. Es ist sehr wohl möglich, direkt eine 
historische und eine systematische Krirainalanthropologie zu unter¬ 
scheiden. Die Geschichte des verbrecherischen Menschen wäre dann 
unzweifelhaft Gegenstand einer Geisteswissenschaft, die als solche 
eine allgemeine letzte und höchste Formel nicht duldet. Da wir 
hier jedoch nicht beabsichtigen, eine Geschichte des Verbrechens zu 
versuchen, vielmehr die systematische Krirainalanthropologie Gegen¬ 
stand unserer Untersuchung sein soll, so ist es für uns entschieden, 
dass die Kriminalanthropologie als reine Naturwissenschaft gedacht 
und als solche behandelt werden soll. 

Die letzte, eigentlich schon entschiedene Frage ist die, ob die 
Medizin die zuständige Instanz für ünsern Gegenstand sei, ob der 
Arzt sich mit der Krirainalanthropologie zu befassen habe. Die Ant¬ 
wort könnte einfach lauten: Die Kriminalanthropologie ist lediglich 
ein Stück der sozialen Medizin. Darüber hinaus ist die Lehre vom 
verbrecherischen Menschen erst von den Aerzten oder von den Natur¬ 
wissenschaftlern, im weiteren Sinne, geschaffen worden. Virchow, 
Lombroso, Darwins Abstammungs- und Vererbungslehre haben erst 
eine wissenschaftliche Krirainalanthropologie möglich gemacht. 

Wenn wir jetzt unsererseits die Wendung von einer uu c wesent¬ 
lichen morphologisch orientierten zu einer vorwiegend funktionell ge¬ 
richteten Kriminalanthropologic vollziehen, so ist damit keineswegs 
die Ueberwindung und Ausschaltung des Formenprinzips ausgesprochen. 
Und noch weniger bedeutet das Suchen nach einer letzten Formel 


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Die Ursachen des Verbrechens. 


211 


die endgültige Abkehr von der Einzelerscheinung. Die Persönlichkeit 
mit ihrer besonderen Form bleibt immer das lebendige Material für 
jede Forschung, da ausserhalb der Individuen ein reales Leben nicht 
vorhanden ist, und jede kriminalanthropologische Betrachtung wird 
immer vom Individuum ausgehen und zu ihm zurückkehren müssen, 
wenn sie Anspruch auf Geltung im Realen erhebt. Gelegentlich kann 
sich sogar, auch in der Kriminalanthropologie, das Individuum, ebenso 
wie in der Geschichte, zur Bedeutung eines Individuendum erheben, 
mit einer ähnlichen historischen Rolle, wie sie etwa dem Neandertal- 
menschen zugekommen ist. 

Begriflen ist aber die Einzelerscheinung erst dann, wenn sie im 
„System“ ihren Platz gefunden hat. Das fordert die Betrachtung 
vom Standpunkt einer „Idee“, und eben diese Idee ist für uns die 
Behandlung der kriminellen „Gestalt“ unter dem Gesichtspunkt der 
Funktion. 

Wenn wir eines Tages so weit sind, dass wir aus der Form, 
etwa der Zelle, ohne weiteres die Funktion ableiten können, so wollen 
wir gern zugeben, dass Form und Funktion nur Eines sind. Davon 
sind wir einstweilen noch weit entfernt. Und mir scheint, dass gerade 
in der Kriminalanthropologie die Form herzlich wenig für die Ab¬ 
leitung der Funktion ergeben hat. 

Es kommt aber noch- ein weit wichtigeres Moment hinzu, das 
gebieterisch eine funktionelle Kriminalanthropologie verlangt. Die 
Kriminalanthropologie, ein Stück der Staatsarzneikunde, muss sich, . 
neben den Erkenntnisaufgaben, praktische Ziele stecken. 

Die Lehre vom „geborenen Verbrecher“ schliesst eine unendliche 
Trostlosigkeit in sich, sie schien jeden Kampf gegen das Verbrechertum 
zur Erfolglosigkeit zu verdammen, da jeder Kampf gegen die ange¬ 
borene Form als Donquixoterie erscheinen musste. Es ist klar, dass 
dies zugleich das Verhängnis jeder rein morphologischen Kriminal¬ 
anthropologie sein muss. Ja, man darf noch weiter gehen und konse¬ 
quenterweise aussprechen, dass im günstigsten Falle eine Züchtungs¬ 
praxis, eine bewusst betriebene Selektion, Erfolg im Kampfe gegen 
das Verbrechertum versprechen könnte, und weiter, dass alles Er¬ 
ziehen cwles Tun und Lassen sein und bleiben müsste. Man braucht 
dann nur noch ein wenig von jenem Determinismus, der sich durch 
seine seichte Bequemlichkeit so sehr empfiehlt, hinzuzunehmen, um 
danach feierlichst den Verzicht auf ein Unternehmen auszusprechen, 
von dem doch nichts zu erwarten sei. 

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212 


Hugo Marx, 


Die Wirklichkeit scheint jenem Nihilismus Recht zu geben. Nur 
verkennt eben dieser Nihilismus, dass er selbst an dieser trübseligen 
Wirklichkeit Schuld hat. 

Die Welt fordert hingegen einen tätigen Positivismus. Heute 
und in Deutschland mehr als je und anderswo. Der Kampf gegen 
das Verbrechen ist ein wesentlicher Teil des Wiederaufbaus. Wir 
Aerzte sind mitberufene Kämpfer. Die Tradition und die Hilfsmittel 
unseres Berufes befähigen uns, die Angriffspunkte in diesem Kampfe 
aufzufinden und aufzuzeigen. Jeder entsagende Nihilismus ist hier 
gefährlich, er ist vor allem aber unbegründet. Wenn die Form sich 
unserm Zugriff versagt, so wenden wir uns an die Funktion. 

II. 

Die soziologische Richtung im Strafrecht versucht, wie wir sahen, 
den verbrecherischen Menschen in seiner Einzelgestalt wie das Phä¬ 
nomen des Verbrechens aus den räumlichen und zeitlichen Umständen 
zu begreifen. Darin ist der Anlass zu einer glücklichen Auffassungs¬ 
weise gegeben. Mir scheint nur, dass der Versuch, zu einer gültigen 
Lösung des Problems zu gelangen, auf halbem Wege stecken ge¬ 
blieben ist. Wir müssen einen bedeutsamen Schritt weiter gehen. 

Das Verbrechen ist in seinen Zusammenhängen mit dem kos¬ 
mischen Geschehen aufzuhellen. Wir müssen zu der Erkenntnis 
kommen, dass der Verbrecher nur einen Sonderfall im Funktio¬ 
neilen darstellt. 

Statt Funktion können wir Bewegung setzen und sagen: Das 
Verbrechen ist eine Sonderform der Bewegung. 

Bewegung ist die Funktion des Kosmos, wie sie im Kleinsten 
die Funktion des Moleküls ist. Im Begriff der Bewegung stecken 
zwei Momente: ein räumliches und ein zeitliches, Weg und Tempo. 
In diesen Stücken, in Wegeslänge und Richtung und in der in der 
Zeiteinheit zurückgelegten Strecke, können sich Bewegungen vonein¬ 
ander unterscheiden. 

Alle Umwälzungen in der geologischen Erdgeschichte, die grössten 
Revolutionen im Bezirk der Himmelskörper, die Entstehung neuer 
Gestirne, alle diese kosmischen Ereignisse bedeuten, auf eine Grund¬ 
form zurückgeführt, nichts anderes als plötzlich eintretende Aenderung 
in Weg und Tempo der Bewegungen. 

Noch besser als im tellurischen Geschehen erkennen wir im Ab¬ 
lauf der Menschengeschichtc wiederholt das Auftreten plötzlicher Be- 
wogungsänderungen, deren eine wir soeben selbst erlebten. 


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Die Ursachen des Verbrechens. 


213 


Wenn wir versuchen wollten, das Geschehen der Menschheits¬ 
geschichte graphisch darzustellen, so würden wir ira wesentlichen 
Kurven von allergrösster Gleichförmigkeit und zeitlicher Gleichmässig- 
keit erhalten. Indes würden wir in unregelmässigen Abständen jähe 
Aenderungen in der Kurvenführung beobachten, steile Anstiege und 
Abfälle, höchste Zacken mit tiefsten Tälern, die den gleichmässigen 
Ablauf unterbrechen. 

Im. allgemeinen gleicht das Volk der Menschen einem gleich- 
massig fortbewegten Trägheitssystem. Zögernd geht seine Geschichte 
ihren Weg. Gleichmässigkeit der Ideen, Gleichförmigkeit ira Ge¬ 
schehen, gesellschaftliche Friedfertigkeit ist das Kennzeichen solcher 
Perioden. 

Plötzlich ändern sich Tempo und Richtung. Der langsame Gang 
des Geschehens wandelt sich in jähen Sturmschritt. Gedanken, die 
gestern noch zu schlummern schienen, sprengen die gesellschaftliche 
Decke, was in Jahrzehnten nicht erreichbar schien, wird von gestern 
auf heute in Szene gesetzt, Herr und Diener tauschen ihre Plätze, 
das Recht von Gestern wird das Unrecht von Morgen. 

Oder ein anderes Bild: Die Beziehungen zwischen den Völkern 
und Staaten regeln sich auf dem Wege friedlichen Wettbewerbes. 
Strittige Angelegenheiten werden auf dem Wege der Verhandlung ge¬ 
ordnet. Ein wechselseitiger Verkehr unterhält das gegenseitige Ver¬ 
ständnis. Eines Tages ist dies alles zu Ende. Eine Welt von feind¬ 
lich bewegtem Eisen richtet sich an den Grenzen auf. Was streitig 
war zwischen den Völkern, soll durch Gewalt zugunsten des einen, 
zuungunsten des anderen entschieden werden. 

Hier sind zwei Fälle aus der Menschheitsgeschichte aufgezeigt 
als Beispiele für das Walten eines Gesetzes, das wir als das Gesetz 
des kürzesten Weges bezeichnen wollen. Revolution und Krieg 
(das sihd jene beiden Fälle) sind die Fortsetzung der Geschichte und 
der Politik auf dein kürzesten Wege. 

Die Geschichte der Kriege und Revolutionen ist zugleich die Ge¬ 
schichte der menschlichen Ungeduld. Von hier aus verstehen wir 
erst die Worte des stürmenden Faust: „Und Fluch vor allem der 
Geduld!“ 

Unsere Sittengeschichte ist ebenso zugleich eine lehrreiche De¬ 
monstration von der Notwendigkeit der Geduld. Und Geduld ist 
schliesslich nichts anderes wie die anerzogene Gewohnheit, unsere 
Bewegungen über die von gesellschaftlichen Notwendigkeiten geleiteten 
Umwege zu leiten. 


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Hugo Marx, 


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Wenn für alle Menschen die gleiche Menge von Gütern zum Ge¬ 
nuss bereit stände und alle Menschen um die gleiche Radiuslänge 
von diesen Gütern entfernt oder alle ihnen gleich nahe wären, so 
hätten wir damit die natürliche Grundlage für den sozialen Frieden. 
Das Symbol für diesen Zustand wäre die Kreislinie, deren Punkte, 
als Menschheitsorte gedacht, von dem gemeinsamen Interessenmittel¬ 
punkt gleichen Abstand haben, soviel Radien, soviel Felder; jedem 
das Seinige zugeteilt, auf der Kreislinie selbst zwischen den einzelnen 
Punkten gleiche Bogenstücke. Hier brauchte niemand Geduld zu 
üben, jeder könnte den „kürzesten Weg“ gehen, als welcher der 
Radius von der Peripherie zum Mittelpunkt anzusehen ist. Dies wäre 
etwa der Zustand des Menschengeschlechtes, den Fichte als denjenigen 
der „vollendeten Kindhaftigkeit“ bezeichnet hat. 

Dem umfassenden Geiste, aus dem das Alte Testament ge¬ 
schrieben worden ist, ist es nicht verborgen geblieben, dass, bei aller 
Bedeutung einer gerechten Verteilung der materiellen Güter für den 
Gesellschaftsfrieden, die Keime des Verbrechens nicht beseitigt sind. 
Damit hat die Bibel den grundlegenden Unterschied zwischen endo¬ 
genen und exogenen Verbrechensursachen deutlich herausgehoben. 
Wenn man ein Freund neugebildeter „Ismen“ ist, kann man wohl von 
einem Kainismus sprechen und damit die Lehre von endogenen Ver¬ 
brechensursachen bezeichnen. Jedenfalls ist nun das Kainszeichen auf¬ 
gerichtet, und die Erde wird es tragen, solange Menschen auf ihr wohnen. 

Jedenfalls ist es nicht allein das wachsende Missverhältnis 
zwischen den Gütersummen und der Zahl der an ihr teilnehmenden 
Verzehrer, das die Plattform für das Verbrechertum abgibt. Damit 
ist auch die sozialistische Phrase erledigt, dass ausschliesslich die Ge¬ 
sellschaft für das aus ihrer Mitte erwachsene Verbrechertum verant¬ 
wortlich sei. Diese Phrase kann nur auf dem Boden einer rein 
materialistisch orientierten Weltanschauung erwachsen, eine grob me¬ 
chanistische Auffassung, die sich im Bezirk des Psychischen zurecht¬ 
findet wie die berühmte Kuh im Porzellanladen. 

Es soll selbstverständlich nichts gegen die Tatsache gesagt werden, 
dass die zunehmende Verdichtung der Bevölkerung zu einer Häufung 
exogener Verbrechensursachen führte. Es wird sich auch ohne Mühe 
nachweisen lassen, dass die Kriminalität eines Landes direkt pro¬ 
portional dem Besitz an Grossstädten ist. Alles aber spricht nicht 
im mindesten gegen die von uns vertretene Anschauung, dass das 
Verbrechen im wesentlichen psychogen bedingt ist.- 


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Die Ursachen des Verbrechens. 


215 


III. 

Wenn es möglich wäre, die Wegstrecke aufzuzeichnen, die zwischen 
dem ersten Auftauchen einer Zielvorstellung und der Erreichung des 
Zieles vom Individuum zurückgelegt wird, so würden wir damit eine 
graphische Charakterologie allerersten Ranges gewonnen haben. Wir 
würden zuvörderst feststellen können, dass diese Strecken nach Länge 
und Richtung ausserordentlich variieren; von geraden Linien und 
kürzesten Wegen bis zu weitausschweifenden Kurven und umständ¬ 
lichsten Umwegen. 

Für den Verlauf der Menschheitsgeschichte ist eine derartige Auf¬ 
zeichnung schon jetzt durchaus möglich. Kropotkin hat sie sogar 
in seiner Geschichte der französischen Revolution schon angedeutet. 
Wenn in gewöhnlichen Zeitläuften die Begebenheitslinie in mehr oder 
minder gleichmässig geformten Kurven verläuft, so haben wir in 
kritischen Perioden steile Aufstiege, steile Abstürze, gewisserraassen 
Stosslinien festzustellen. 

Es begibt sich nun, dass innerhalb der Lebenskurve des Einzelnen 
in ganz analoger Weise Mähligkeits- und Stosslinien miteinander 
wechseln. Wenn wir einmal den Begriff der Lebenstechnik in unsere 
Betrachtungen einführen, so ergibt sich, dass die Technik der ersten 
Lebensjahre nur die Stosslinien, den kürzesten Weg, kennt. Das Kind 
sieht, will haben und ergreift; das ist der „kürzeste Weg“ im ursprüng¬ 
lichsten Sinne. Im Grunde geht jede Erziehung von der Umkehrung 
dieses Satzes aus, wie sie auch in diese Umkehrung einmünden muss. 

In eben dem Sinne ist auch die gesamte Sittengeschichte nichts 
anderes wie der Versuch einer Umkehrung des Gesetzes des kürzesten 
Weges. Dem „Ur“menschen ist die Erreichung der ihm förderlichen 
Ziele auf dem kürzesten Wege die Selbstverständlichkeit. Erst die 
immer grösser werdenden Gemeinschaften, von der einfachen Ge¬ 
schlechtsgemeinschaft angefangen, forderten von ihm und zwangen ihn 
zu gehen: den Umweg. Und die Erziehung des Einzelnen ist und 
kann immer nur sein: die Wiederholung der gesamten Sittengeschichte 
an der einzelnen Gestalt. Und der Sinn aller Erziehung kann, ab¬ 
gesehen von der Vermittlung der sogenannten Kenntnisse, nur in der 
Einpflanzung der Erkenntnis von der Notwendigkeit des Umweges be¬ 
ruhen. Alle gebräuchlichen Erziehungsbegriffe wie Zucht, Selbst¬ 
beherrschung, Gehorsam, Ehrfurcht usw. sind nichts anderes als eben¬ 
so viele Bezeichnungen für die gesellschaftliche Notwendigkeit, den 
Umweg in die Lebenstechnik einzuschalten. 


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Hugo Marx, 


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In der persönlichen und gattungsgemässen Selbstbehauptung 
pflegen wir die Dominante unserer Lebensführung zu sehen. Wir 
haben schon angedeutet, dass dieser Dominante die Begehung des 
kürzesten Weges am angemessen erscheint, wenigstens einem naiven 
Selbstbewusstsein. Ein derartiger Standpunkt ist ja unter dem Namen 
des Solipsismus bekannt genug; er ist der eine Teil faustischen Geistes 
und Wurzel des „Ucbermenschen“. Im Gegenteil steht der Faust der 
letzten reifsten Lebensanschauung, der „sittlichen Lebenstechnik“. „In 
diesem Sinne bin ich ganz ergeben, dies ist der Weisheit letzter 
Schluss; nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, der täglich sie 
erobern muss.“ 

Von hier aus ergibt sich nun ein Einblick in die Zusammenhänge 
zwischen geisteswissenschaftlicher (idiographischer) und naturwissen¬ 
schaftlicher (nomothetischer) Begriffsbildung, der für den Fortgang 
unserer Untersuchung von Bedeutung ist. 

Wir treffen in den biologischen Naturwissenschaften wie in den 
Geisteswissenschaften als ein erklärendes Prinzip den Begriff der Ent¬ 
wicklung an. Der Begriff enthält zwei Bestandteile: Wachstum und 
Differenzierung. Das trifft zu, ob wir etwa in der Geschichte von 
der Entwicklung des sozialen Gedankens oder ob wir in der Embryo¬ 
logie von der Entwicklung des Urogenitalapparates sprechen. Zu¬ 
gleich liegt im Entwicklungsbegriff der Ausdruck eines Wege- und 
Zeitverhältnisses, der Gedanke einer Bewegung und zwar ausgesprochen 
der Gedanke einer mählichen Bewegung (natura non saltat, wenigstens 
nicht die normale bewegte organische Natur). Dieser mähliche Gang 
ist offensichtlich auf bestimmte regulative Einwirkungen zu beziehen, 
die wir öur zum Teil kennen, zum Teil erraten und erschliessen 
müssen. Wo diese regulativen Vorrichtungen versagen, kann auch- 
die organische Natur den „kürzesten Weg“ beschreiten, der dann 
regelmässig in der Destruktion endet. Ich erinnere an die Autokratie 
und Generalisierung der malignen Geschwulstzelle. 

Wenn Entwicklung Wachstum und Differenzierung bedeutet, so 
bedeutet sie zugleich eine Anfangsstufe, von der. ihr Gang anhebt, 
einen Zustand des Ursprünglichen: des Keirahaften und Undifferen¬ 
zierten. Von dort aus führt der Gang der Entwicklung über unzählige, 
gesetzmässig aufeinanderfolgende Stufen dem Ziele zu, und dieses 
Ziel heisst: der Organismus, d. i. jene Einheit der Teile im ganzen, 
bei der sich Teile und Ganzes wechselseitig bestimmen. 


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Die Ursachen des Verbrechens. 


217 


Es ist leicht einzusehen, dass Erziehung und Entwicklung ein¬ 
ander ausserordentlich inhaltsähnliche Begriffe sind. Beide bedeuten 
mähliche unter die Einwirkung regulativer Vorkehrungen gestellte Be¬ 
wegungen mit dem Ziele eines im Organismus endenden Wachstums¬ 
und Arbeitsteilungsprozesses. 

Nächst der Kindheit, von der wir schon sprachen, kennen wir 
im normalen Ablauf des menschlichen Einzellebens eine Reihe von 
Phasen, in denen der mähliche Gang des Bewegens zur Stossbewegung 
neigt. Das klassische Beispiel ist die Zeit der Pubertät. In jener 
Periode, in der die „Natur“ einen überwiegenden Nachdruck auf die 
Förderung der Keimdrüsen legt, wird die Mählichkeit der Bewegung 
und die Einheitlichkeit des Organismus auf das Schwerste bedroht. 
Dies ist die klassische Zeit des „kürzesten Weges“, die Zeit, in der 
es sich entscheidet, ob der Gang auf dem kürzesten Wege nur eine 
Episode oder ob er das Tempo des ganzen künftigen Lebens bleiben, 
ob der 1 „kürzeste Weg“ verewigt werden soll. Und dies ist, be¬ 
merkenswerterweise, zugleich der Augenblick, wo das Heer der Ge¬ 
wohnheitsverbrecher seine besten Rekruten bekommt, wo der Knabe 
zum Rohling und Dieb, das Mädchen zur Dirne wird. 

Diese Zeit der Frühlingsstürrae, wo leibliches und geistiges 
Drängen in Eins zusammenfliessen, ist im Leben des Einzelnen ver¬ 
gleichbar den politischen Stürmen im Leben der Völker und die beste 
Gelegenheit, das Gesetz des kürzesten Weges zu studieren. Daneben 
stehen etwa als weitere Paradigmata die Ovulationszeiten des Weibes 
und, ganz allgemein, die Episoden der Affekte. 

In allen diesen Zeitabschnitten wird der mähliche Gang des Sich- 
begebens abgebaut zugunsten des kürzesten Weges, zu ungunsten 
eines organisch aufbauenden Geschehens, zum Schaden der Entwick¬ 
lung. Die Regulierungen erscheinen durchbrochen, der Losgelassene 
bricht durch Hecken und Zäune, zerstampft die Aecker, zertritt den 
Garten des Nachbarn und verletzt den Frieden aller. 

IV. 

Wenn wir uns auf das Gebiet des Werturteils begeben, so finden 
wir, dass wir schon bei einer wertenden Einreihung der Tiere die¬ 
jenigen als die höherstehenden bezeichnen, bei denen die kurzwegigen 
Bewegungen zugunsten der umwegigen zurücktreten, bei denen Er¬ 
ziehung möglich ist. Der den Selbstbehauptungstrieb zugunsten der 


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218 


Hugo Marx, 


Treue überwindende Hund, das seine letzte Krait hergebende Pferd 
erscheinen im Lichte der Sittlichkeit als „höhere“ Tiere. 

Steigen wir in den Bezirk menschlicher Betätigung hinauf, so 
erscheint das Gesetz des kürzesten Weges überall als Experiment 
kulturellen Abbaues, der Zerstörung. Die ergreifende Schönheit der 
Revolutionspassagen in Schillers „Glocke“, die für unsere Tage neu¬ 
geschrieben erscheinen, zeigt uns diesen Satz in der Sprache des 
grossen politisch und psychologisch geschulten Dichters des deutschen 
Idealismus. Es ist kein Zufall, dass die Epoche der Revolution die 
Epoche der gesteigerten Kriminalität ist. Die wirtschaftlichen Nöte 
unserer Zeit haben mit dieser Steigerung sehr viel weniger zu tun 
als allgemein angenommen wird. 

Die Revolution ist die klassische Zeit für die Herrschaft des 
Gesetzes des* kürzesten Weges. Der Kriminalanthropologe spricht 
damit der Revolution zugleich ihr Urteil: die Revolution ist eine 
pathologische Erscheinung. Sie verneint die Begriffe der Entwicklung 
und des Organismus, sie zerstört die vernünftigen Regulierungen und 
das Zusammenarbeiten der Teile, sie setzt an deren Stelle die Auto¬ 
kratie, Hypertrophie und Generalisierung von mehr oder weniger 
'untergeordneten Gliederteilen und fördert so die Kachexie des 
Ganzen. 

Dieses Streben, alles Geschehen auf die Bahn des kürzesten, 
allerkürzesten Weges zu leiten, ergreift alle. Und nun zeigt sich die 
innigste Beziehung zwischen dem Gesetze des kürzesten Weges und 
der kriminellen Betätigung. Das Verbrechen lässt sich direkt defi¬ 
nieren als das Ergebnis einer Wege- und Tempoverkürzung 
im Ablauf des psychophysischen Geschehens. Dies nun ist 
der kriminalanthropologische Charakter der Gegenwart, dass alles 
Geschehen dem Gesetz des kürzesten Weges unterworfen ist. Es ist, 
als ob eine allgemeine Pubertät das Volk ergriffen hat. Das ist 
mehr als bildlich gemeint. Unverkennbar setzt sich das jugendliche 
Element stärker als je in Szene. Die Jacobiner von heute wussten, 
was sie taten, als sie den Zwanzigjährigen, oder wie in den Betriebs¬ 
räten, den Achtzehnjährigen das Wahlrecht verliehen. Das Wirken 
unseres Gesetzes ist in Permanenz erklärt. Wie das „Volk“ sich das 
Recht nahm, die Entwicklung abzusetzen, den Begriff des Organismus 
zu verneinen, jedem „Umweg“, jedem mählichen Geschehen, jeder 
Geduld abzusagen, so beruft sich jeder Einzelne auf die „W 7 ohltat“ 
unseres Gesetzes und treibt mit im Strome der Kriminellen. 


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219 


Es lässt sich leicht zeigen, dass auch das „Denken“ unseres 
„Volkes“ unserem Gesetze unterworfen ist. Die Herrschaft des Schlag¬ 
wortes enthüllt die ganze Dürftigkeit des Denkprozesses unserer Tage. 
Von einer Verarbeitung der Begriffe und ihrer Hineinarbeitung in ein 
vernünftiges System ist nicht mehr die Rede. Das Schlagwort ist 
das bequeme Symbol der allgemeinen Begehrlichkeit und zugleich 
der fadenscheinige Mantel der Urteilslosigkeit. Statt des Arguments 
herrscht das „grosse Maul“, statt der Ueberzeugung die Ueberredung 
und Verführung. 

Die ethische Differenzierung, deren praktische Betätigung um- 
wegig ist, verliert alle Geltung, die Triebhaftigkeit steigt ins Un¬ 
gemessene, der Rausch wird zum Dauerzustand. Wo der Alkohol 
fehlt, stellen sich Morphium und Kokain ein. Spiel- und Tanzwut 
sind Rauschäquivalente. 

Diese Zeit lehrt auf das eindringlichste, dass das Ver¬ 
brechen nicht an eine bestimmte Art von Menschen ge¬ 
bunden ist. Es gibt keine geborenen Verbrecher. Sie lehrt, 
dass das Verbrechen unabhängig ist von der Form. Es gibt 
keine morphologische Kriminalanthropologie. Sie lehrt, 
dass das Verbrechen aus einer Tempo- und Wegabkürzung 
im psychophysischen Geschehen entspringt, dass der Ver¬ 
brecher da erwächst, wo das Gesetz des kürzesten Weges 
geltend wird. Es gibt nur eine funktionelle Kriminal¬ 
anthropologie. 


Statistische Uebersichten. 
Männer: vom 1. 4. bis 30. 9. 1914. 


Abtreibung. 1 

— Beihilfe dazu .... 3 

— Anstiftung dazu . . 1 

Anschuldigung, falsche 2 

Bannbruch. 1 

Bedrohung . 8 

Begünstigung. 1 

Beilegung falschen Na¬ 
mens . 1 

Beleidigung. 36 

Betrug.406 

Betteln.394 

Blutschande. 8 

Brandstiftung. 9 

Buchmacherei. 1 

Denkmalsschändung . . 5 


Diebstahl.1804 

— Anstiftung dazu . . 1 

— Beihilfe dazu .... 6 

— versuchter. 6 

— Wilddieberei .... 5 

Entführung. 2 

Erpressung. 14 

— versuchte . 1 

Erregung ötfentl. Aerger- 

nisses. 25 

Freiheitsberaubung . . 2 

Geldfälschung. 1 

Gewerbevergehen .... 3 

Glücksspiel. 4 

— Beihilfe dazu .... 1 

Hausfriedensbruch ... 34 


Hehlerei. 49 

Hoch- und Landesverrat 2 
Konkurs. 8 

— Beihilfe dazu .... I 

Körperverletzung .... 67 

— mit tödl. Ausgang . 2 

Kuppelei. 9 

Majestätsbeleidigung . . 3 

Meineid. 15 

— Verleitung dazu 

Mord . 

Münzverbrechen . 

Nötigung. 1 

Notzucht. 4 

Obdachlosigkeit .... 9 

Raub. 22 


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^ 4- O' 






























220 


Hugo Marx, 


Raub, versuchter. . . 
Sachbeschädigung . . 
Sittlichkeitsverbrechen 
Totschlag, versuchter 
Tötung, fahrlässige . . 

Uebertretung. 

Unfug. 

Unterschlagung. . 

Untreue. 

Unzucht, widernatürl. 


1 

Urkundenfälschung. . . 

91 

. 13 

Vergehen im Amt . . . 

6 

. 104 

— geg. Seemannsordn. 

1 

. 3 

-Süssstoffgesetz . 

1 

1 

-Transportgesetz. 

1 

. 7 

— — Viehseuchenges. 

1 

2 

- §4. 

2 

. 222 

--§ 12. 

2 

. 16 

- 6 13 . 

2 

. 5 i 

. . 

-§110 . 

1 


Gesamtzahl 

Jugendliche 


Vergehen gegen § 175 . 1 

-§ 176. 2 

-§ 184. 2 

-§ 223 . 1 

-§ 271. 1 

Vergewaltigung. 2 

Verursachter Lärm . . 1 

Wechserfälschung ... 1 

Widerstand.29 

Zuhälterei .117 

. 4460 
. 252 


Männer: vom 1. 4. bis 30. 9. 1915. 


Abtreibung. 1 

— Beihilfe dazu .... 1 

Anschuldigung, falsche 2 
Aufforderung. 1 

, Bedrohung. 2 

Begünstigung. 1 

Beileg, falschen Namens 1 

Beleidigung. 12 

Bestechung. 4 

Betrug .181 

— versuchter . 5 

Betteln.162 

Bigamie. 1 

Blutschande. 9 

Brandstiftung. 4 

Buchmacherei. 1 

Diebstahl.1077 

— Anstiftung dazu . . 1 

— versuchter. 10 

Entfernung, unerlaubte 5 

Erpressung. 5 

Erregung öffentl.Aerger- 

nisses. 14 

Grabschändung. 1 

Hausfriedensbruch ... 12 

Hehlerei. 61 

Heiratsschwindel .... 1 

Hoch- und Landesverrat 9 

— Beihilfe dazu .... 1 


Konkurs. 2 

Kontraktbruch. 1 

Körperverletzung .... 43 

— mit tödl. Ausgang . 2 

Kuppelei ........ 4 

Landstreicherei. 11 

Majestätsbeleidigung . . 1 

Meineid. 5 

— Verleitung dazu . . 1 

Mord . 1 

— versuchter. 2 

Münzverbrechen .... 4 

Nötigung. . 1 

Notzucht. 4 

— versuchte. 3 

Obdachlosigkeit .... 8 

Raub . .. 23 

— versuchter . 3 

Raubmord. 2 

— versuchter. 1 

Sachbeschädigung ... - 6 

Sittlichkeitsverbrechen. 76 

Totschlag. 1 

Tötung, fahrlässige . . 2 

Uebcrtretung. 5 

Unbefugt.Trag.v. Waffen 1 

Unfug. 5 

Unterschlagung.244 

— Beihilfe dazu .... 1 


Untreue. 6 

Unzucht, widernatürl. . 5 

Urkundenfälschung... 49 

Vergehen im Amt ... 5 

— gegen Ausfuhrverbot 2 

— — Belagerungszust. 61 

-Gesetz beschr. 

Haftung. 1 

-Kriegsvergehen . 1 

— — Süssstoffgesetz . 1 

-§ 43. 2 

-§ 89. 2 

-§ 91. 2 

-§ 110. 1 

-§ 180. 2 

-§ 133. 1 

-§ 175. 1 

-§ 177. 1 

-§ 183. I 

-§ 218. 5 

— — § 242 . 1 

-$ 263 . 1 

-§ 266 . 2 

Verrat militärischer Ge¬ 
heimnisse . 2 

Widerstand. 7 

Zechprellerei. 1 

Zuhälterei. 52 


Gesamtzahl. 2620 

Jugendliche.306 

Männer : vom 1. 4. bis 30. 9. 1916. 


Abtreibung. 3 | Bigamie. 1 


Bedrohung. 6 

Begünstigung. 4 

Beileg, falschen Namens 3 

Beleidigung . . •. 11 

Bestechung. 1 

Betrug .163 

— versuchter . 3 

Betteln. 85 


Blutschande. 6 

Brandstiftung. 6 

— fahrlässige. 1 

Buchmacherei. 1 

Diebstahl.1395 

— Anstiftung dazu . . 2 

— versuchter . 4 

— Wilddieberei .... 2 


Entwendung v. Esswaren 

Erpressung. 

— Verleitung dazu 
Erregung offenti.Aerger 

nisses . 

Gewerbevergehen . . 

Glücksspiel. 

Hausfriedensbruch . 
Hehlerei ....... 


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222 


Hugo Marx, 


Männer: vom 1. 4. bis 30. 9. 1918. 


Abtreibung. 2 

— Beihilfe dazu .... 2 

Bedrohung . 1 

Begünstigung. 2 

Beilegung falschen Na¬ 
mens . 8 

Beleidigung. 2 

Betrug ...163 

— versuchter . 3 

Betteln. 25 

Brandstiftung. 1 

Brotkartenschwindel . . 1 

Buchmacherei. 1 

Diebstahl.1498 

— Anstiftung dazu . . 2 

— Wilddieberei .... 1 

Entfernung, unerlaubte 1 

Entziehung der Militär¬ 
pflicht . 1 

Erpressung. 2 

Fahnenflucht . 1 

Freiheitsberaubung. . . 1 

Fundunterschlagung . . 1 

Gefangenenbefreiung . . 2 

Handel, unerlaubter, m. ■' 
Goldmünzen .... 1 , 

— — mit Brotkarten . 4 I 


Hausfriedensbruch ... 1 

Hehlerei.170 

Hoch* und Landesverrat 26 
Höchstpreisüberschreit. 4 

Kettenhandel. 2 

Konkurs. 1 

Kontraktbruch. 7 

Körperverletzung .... 16 

— mit tödlichem Ausg. 6 

Kriegswycher. 5 

Landfriedensbruch ... 1 

Landstreicherei. 3 

Lebensmittelschiebung. 1 

Meineid. 1 

Misshandlung. 1 

Mord . i2 

— -verdacht. 2 

Münzverbrechen .... 5 

Notzucht. 1 

Obdachlosigkeit. 1 

Raub. 24 

— versuchter. 2 

Raubmord. 1 

Sachbeschädigung ... 3 

Schlachtung, unerlaubte 1 

Schleichhandel ... . 17 

Sittlichkeitsverbrechen. 34 


Spionage. 

Totschlag.. . . 

— versuchter . 

Uebertietung. 

Unterschlagung. 

Untreue. 

Unzucht . 

— widernatürliche . . . 
Vergehen im Amt . . . 

— gegen Belagerungs¬ 
zustand . 

— Kriegsvergehen . . . 

— gegen Lebensmittel¬ 
verordnung . 

— Meldevergehen . . . 

— gegen Nahrungsmit¬ 
telbestimmung . . . 

— — Reichsgetreide¬ 
verordnung . 

— — Süssstoffgesetz . 

-§ 125. 

-§ 271. 

-§ 360 . 

Verrat militär. Gebeimn. 

Widerstand. 

Zuhälterei. 


Gesamtzahl. 3135 

Jugendliche.414 


2 

3 
2 

1 

85 

1 

2 

1 

4 

1 

29 

1 

1 

1 

5 
2 

1 

1 
1 

2 
4 


Männer : vom 1. 4. bi» 30. 9. 1919. 


Abtreibung. 

1 

Amtsanmassung . . . , 

4 

Aufforderung. 

1 

Aufreizung. 

5 

Aufruhr. 

69 

Bannbruch . 

2 

Bedrohung ....... 

5 

Begünstigung. 

6 

Beilegung falschen Na- 


mens. 

7 

— — Ausweises . . . 

i 

Beleidigung. 

2 

Betrug . 

370 

Betteln. 

13 

Bigamie. 

3 

Blutschande. 

4 

Brandstiftung. 

2 

Diebstahl . 

3228 

— Anstiftung dazu . 

3 

— Wilddieberei . . . 

5 

Erpressung. 

20 

— versuchte . 

3 

Gewerbevergehen . . . 

1 

Glücksspiel. 

3 


Grabschändung. 

i 

Grenzüberschreit., unerl. 

7 

Handel, unerlaubter . . 

2 

— — mit Banknoten . 

2 

— — mit Brotkarten . 

7 

Hausfriedensbruch . . . 

1 

Hehlerei. 

143 

Hoch- und Landesverrat 

16 

Konkurs. 

1 

Körperverletzung .... 

14 

— mit tödlichem Ausg. 

4 

Kriegswucher. 

3 

Kuppelei. 

3 

Landfriedensbruch . . . 

15 

Landstreicherei. 

6 

Lebensmittelschiebung . 

1 

Meineid. 

1 

Meuterei . 

1 

Misshandlung. 

1 

Mord . .... 

25 

- - versuchter. 

14 

Münzverbrechen .... 

53 

Nötigung. 

1 

Notzucht. 

1 


Obdachlosigkeit .... 1 

Pfandbruch . 1 

Plündern. 4 

Politische Umtriebe . . 6 

Raub. 93 

— versuchter . 3 

— Beihilfe dazu .... 1 

Raubmord. S 

Sabotage . 1 

Sachbeschädigung ... 1 

Schleichhandel. 26 

Sittlichkeitsverbrechen. 30 
Steuerhinterziehung . . I 

Totschlag . .. 4 

Tötung, fahrlässige . . 2 

Unbefugtes Tragen von 

Waffen. 2 

Ungebühr vor Gericht . 2 


Unterschlagung.141 

Untreue. I 

Urkundenfälschung . . 170 

Vergeben im Amt ... 10 

— gegen Belagerungs¬ 
zustand . 17 


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Original fro-m 

UNIVERSfTY OF MICHIGAN 






























































































Die Ursachen des Verbrechens. 


223 


Vergehen gegen Devisen-' i Vergehen gegen § 43 . 2 ! Vergehen gegen § 249 . 3 


Ordnung. 

i 

1 - 

- § 50 . . . 

... 2 1 

-§ 268 . 

1 

— — Einf.v. Brillanten 

1 

— 

- § 52 . . . 

... 1 | 

-§ 269 . 

1 

— Kriegsvergehen . . . 

9 

— 

- §81 . . . 

... 1 

- § 284 . 

1 

— geg. Reichsgetreide- 


— 

- § 113 . . 

... 1 

-§ 350 . 

' 1 

Verordnung. 

1 

— 

- § 115 . . 

1 

-§ 352 . 

1 

— — Sprengstoffgesetz 

1 

— 

- § 128 . . 

... 2 

Verrat militär. Geheimn. 

15 

— — Süssstoffgesetz . 

1 

— 

- § 129 

... i 

Vertrieb unzüchtiger 


— — Verordnung der 


— 

- § 130 

... 2 

Schriften ...... 

1 

— Voiksbeauftragten . 

1 

— 

- § 184 . . 

• • 1 

Widerstand. 

7 

— — Zigarettensteuer¬ 
gesetz .. 

1 

— 

- § 211 
— § 241 . . 

... 2 

... 1 

Zuhälterei. 

G 

Gesamtzahl . 



. 7250 


Jugendliche . 


. 

690 



Frauen: vom 1. 4. 1914 bis 30. 3. 1915* 


Abtreibung. 31 

— Beihilfe dazu .... 2 

— versuchte. 7 

— Lohnabtreibung . . 1 

Anschuldigung, falsche 2 

Bedrohung. 1 

Begünstigung. 3 

Beileg falschen Namens 10 

Beleidigung. 6 

Bestechung. 1 

Betrug. 83 

— versuchter. 6 

Betteln. 7 

Brandstiftung . 1 

Diebstahl.456 

— Beihilfe dazu .... 1 

— versuchter. 2 

— Beischlafs-. 2 

Erpressung. G 

Erregung öffentlichen 

Aergernisses .... 19 


Gefangenenbefreiung . . 1 

Hausfriedensbruch ... 4 

Hehlerei. 17 

Kindesmord. 6 

— versuchter. 1 

Körperverletzung mit 

tödlichem Ausgang 4 

Kuppelei. 9 

Landstreicherei. 1 

Meineid. 23 

— fahrlässiger. 1 

Mord . 6 

— versuchter. 2 

Münzverbrechen .... 2 

Obdachlosigkeit .... 7 

Pfandbruch. 1 

Plündern. 1 

Raub, versuchter ... 1 

Sachbeschädigung ... 6 

I Sittcnpolizeil.Uebertrtg. 35 

| Spionage. 1 


Spionage, Beihilfe dazu 1 

Totschlag. 1 

Totschlag, versuchter . 1 

Uebertretung. 8 

Unterschlagung .... 38 

Unfug. 1 

Unzucht, gewerbl. ... 25 

Urkundenfälschung . . 38 

Vergehen gegen Belage¬ 
rungszustand .... 2 

— — Erzwingung der 

Eidesleistung .... 1 

— — Fürsorgegesetz . 1 

— — Nichtbeschaff. v. 

Unterkunft. 1 

— — Verordnung vom 

3. 10. 14 . . 1 

-§ 89. 1 

-§ ISO. 1 

Verrat milit. Geheimn. 1 
j Widerstand. 5 


Gesamtzahl.1040 

Jugendliche. 42 


Frauen: vom 1. 4« 1915 bis 30« 3. 1916. 


Abtreibung ....... 

28 

Diebstahl, Beischlafs- 


Kontraktbruch. 

— Anstiftung,versuchte 

1 

diebstabl. 

i 

Körperverletzung mit 

— Beihilfe dazu .... 

5 

Entfernung, unerlaubte 

2 

tödlichem Ausgang 

— Lolinabtreibung . . 

2 

Entwendung von Nah- 


Kuppelei. 

Anschuldigung, falsche 

2 

rungsmittein .... 

1 

Landstreicherei. 

Arrestbruch. 

1 

Erpressung. 

1 

Majestätsbeleidigung . . 

Bedrohung. 

1 

— versuchte. 

4 

Meineid. 

Beilegung falschen Na¬ 
mens . 

14 

Erregung öffentlichen 
Aergernisses .... 
Hausfriedensbruch . . . 

2 

Meuterei . 

Mord. 

Beleidigung. 

8 

7 

Münzverbrechen, Ver¬ 

Betrug , . 

90 

Hehlerei. 

37 

dacht . 

Betteln. 

6 

Kindesmord. 

l 

Pfandbruch . 

Brandstiftung. 

1 

— Begünstigung dazu 

1 

Raub. 

Diebstahl. 

476 

Kindesunterschiebung . 

2 

Sachbeschädigung . . . 


Digitized by 


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Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 






















































































224 


Hugo Marx, 


Sittenpolizeil. Ueber- 

tretung. 30 

Sittlichkeitsverbrechen. 1 
— Beihilfe dazu .... 1 

Totschlag. 1 

Tötung, fahrlässige . . 2 

Unterschlagung. 37 

Unfug. 1 


Unzucht, gewerbliche . 22 

Urkundenfälschung . . 37 

Vergehen gegen Belage¬ 
rungszustand .... 6 

— — Beiseiteschaffens 

einer Leiche .... 1 

— — Fürsorgegesetz . 1 

— — Gewerbesteuer . 1 


Vergehen gegen § 3. . 1 

-§ 89. 1 

-§ 92. 1 

-§ 134. 1 

-§ 222 . 1 

-§ 223 . 1 

Widerstand. 6 


1105 

58 


Gesamtzahl 

Jugendliche 


Frauen: vom 1. 4. 1916 bis 30* 3, 1917. 


Abtreibung. 

40 

Körperverletzung.... 

7 

Vergehen geg. Bekannt- 

— Beihilfe dazu .... 

3 

Kriegswucher. 

4 

mach v. 16. 6. 15 . 

— Lohnabtreibung . . 

2 

Kuppelei. 

5 

— — Belagcrungszust. 

Bannbruch . 

2 

Meuterei .. 

1 

— — Bestimm.d.Ober- 

Begünstigung. 

1 

Meineid. 

7 

kommandos. 

Beilegung falschen Na- 


— Verleitung dazu . . 

i 

— — Bundesratsbest. 

mens. 

26 

| Misshandlung. 

1 

— — Kriegs-V. 

— Adelsprädikat . . . 

1 

Mord. 

7 

-Mel de-V. 

Beleidigung. 

ii 

— versuchter . 

9 

— — Nahrungsmittel- 

Betrug. 

120 

Nötigung. 

2 

bestimraung . . . . 

— versuchter. 

1 

Obdachlosigkeit .... 

5 

— — Nichtbeschaff. v. 

Betteln. 

9 

Raub. 

6 

Unterkunft. 

Brandstiftung. 

1 | 

Sittenpolizei!. Uebcr- 


-§ 2. 

Diebstahl. 

525 

tretung. 

40 

-§ 4. 

— Beihilfe dazu .... 

1 

Sittlichkeitsverbrechen 

2 

-§ 49. 

— Beischlafsdiebstahl. 

2 

— Beihilfe dazu .... 

1 

-§ 55. 

Erpressung. 

2 

Spionage. 

1 

-§ 74. 

Erregung öffentlichen 


Totschlag. 

2 

-§ 89. 

Aergernisses .... 

2 

— Anstiftung. 

1 

- § 174 . 

Fahnenflucht, Beihilfe 

1 

Uebertretung. 

3 

- § 221 . 

Hausfriedensbruch . . . 

6 

Unterschlagung .... 

38 

- § 235 . 

Hehlerei. 

45 

Untreue. 

2 

- § 239 . 

Hoch- und Landesverrat 

3 

Unentschuld. Ausbleib. 


- § 246 . 

Höchstpreisüberschreit. 

2 

von Hauptverhandl. 

1 

- § 259 . 

Kettenhandel. 

2 

Unzucht, gewerbliche . 

16 

Verletzung des Brief¬ 

Kindesmord. 

3 

Urkundenfälschung . . 

71 

geheimnisses . . . . 

Kindesunterschiebung . 

2 

Vergehen gegen Abgabe 


Widerstand. 

Kontraktbruch. 

1 

eidesstattl. Vers. . . 

1 



Gesamtzahl.1445 

Jugendliche. 75 


Gesamtzahl.1445 

Jugendliche. 75 


1 

2 

2 

1 

1 

2 

1 

1 

1 

1 

2 

1 

1 

2 

1 

1 

2 

1 

1 

1 

1 


Frauen: vom 1. 4. 1917 bis 30. 3. 


Abtreibung. 19 

— Beihilfe dazu .... 3 

— Lohnabtreibung, 

Beihilfe. 2 

Bedrohung. 1 

Begünstigung. 5 

Beilegung falschen Na¬ 
mens . 17 

Beleidigung. 4 

Betteln. 5 

Betrug.115 


Betrug, versuchter ... 3 

Bigamie. 1 

Brandstiftung. 1 

Diebstahl.402 

— Beihilfe dazu .... 6 

Erregung öffentlichen 
Aergernisses .... 1 

Fahnenflucht, Beihilfe 2 

Glücksspiel. 1 

Hausfriedensbruch ... 1 

Hehlerei.101 


1918. 

Hoch- und Landesverrat 9 

Kindesmord. 5 

Kontraktbruch. 2 

Körperverletzung .... 2 

Kuppelei. 7 

Landfriedensbruch ... 5 

Landstreicherei. 3 

Lebensmittelschiebung. 2 

Meineid. 7 

Misshandlung von Kind l 

Mord, versuchter .... 7 


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Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 


















































































Die Ursachen des Verbrechens. 


225 


Raub. 7 

Bbubmord . 2 

Sachbeschädigung ... 2 

Schleichhandel. 2 

Sittenpolizeil.Uebertrtg. 74 
Totschlag, versuchter . 2 

Unterschlagung. 61 

Untreue. 1 

Unzucht, gewerbl. ... 15 

Urkundenfälschung . . 82 

— Beihilfe. 2 


Vergehen gegen Best, 
des Oberkommandos 

-Brotkarten-V. . 

-Kriegs-V. 

-Lärm. 

-Melde-V. 

— — Rubeldurchfuhr- 

Verbot . 

-Streik-V. . . . . 

— — Unbefugt.Tragen 
der roten Kreuz-Med. 


1 1 
1 

11 

1 

2 

1 

2 

1 


Vergehen gegen uner¬ 
laubten Verkehr mit 
Kriegsgefangenen . 

-Verbergen eines 

Fürsorgezöglings . . 

-§ 43. 

-§ 89. 

-§ 115. 

-§ 171. 

Widerstand. 


Gesamtzahl. 2047 

Jugendliche.125 


Frauen: vom 1« 4. 1918 bis 30. 3. 1919. 


Abtreibung.. 27 

— Beihilfe. 2 

— Lohnabtreibung . . 1 

— versuchte. 2 

Anschuldigung, falsche 1 

Arrestbruch. 1 

Aufruhr. 1 

Begünstigung. 5 

Beileg, falschen Namens 6 

Beleidigung. 5 

Betrug. 109 

Betteln. 8 

Bigamie. 1 

Brandstiftung . 1 

Diebstahl.1080 

— Anstiftung dazu . . 3 

— Beihilfe dazu .... 6 

— Beischlafsdiebstahl. 2 

Gefangenenbefreiung . . 1 

Handel, unerlaubter, mit 

Fleisch. 1 

— -Brotkarten . 2 


Hausfriedensbruch ... 1 

Hehlerei. 65 

Hoch- und Landesverrat 7 

Ilöchstpreisüberschreit. 1 

Körperverletzung, fahrl. 3 

— mit tödlich. Ausgang 1 

Kindesaussetzung ... 1 

Kindesmord. 3 

Kriegswucher. 1 

Kuppelei. 7 

Landfriedensbruch ... 4 

Landstreicherei. 1 

Meineid. 5 

— Verleitung dazu . . 1 

Mord.. 7 

— Beihilfe dazu .... 1 

— versuchter. 5 

Obdachlosigkeit .... 1 

Pfandbruch. 1 

Raub. 14 

Raubmord. 2 

| Sachbeschädigung ... 2 


Gesamtzahl 

Jugendliche 


Schleichhandel. 

Schutzhaft. 

Srttenpoliz. Uebertret. 
Sittlichkeitsverbrechen. 

Spionage. 

Uebertretung. 

Unterschlagung. 

Unzucht, gewerbl. . . . 
Urkundenfälschung . . 
Vergeh, geg. Korpsbefehl 

— — Kriegs-V. 

— — Melde-V. 

— — Süssstoffgesetz . 
-Verordnung vom 

20. 11. 18. 

-Waffenbesitz, 

unerlaubter. 

-§ 3. 

-§ 133 . 

- § 256 . 

Verlegen des Wohnorts 
Widerstand. 

. 2273 
. 116 


Frauen: vom 1. 4. 1919 bis 30. 9. 1919. 


Abtreibung. 13 

Anschuldigung, falsche 1 

Aufruhr. 1 

Begünstigung. 3 

Beileg, falschen Namens 2 

Beleidigung. 1 

Betrug. 46 

Diebstahl ..498 

— Beihilfe dazu .... 1 

Erpressung. 1 

Fundunterschlagung . . 1 


Hausfriedensbruch ... 1 

Hehlerei. 31 

Kindesmord. 1 

Kindesraub. 1 

Landstreicherei. 1 

Mord . 4 

— Anstiftung. 1 

— versuchter. 4 

Münzverbrechen .... 8 

Nötigung •. 1 

Plündern. 1 


Politische Umtriebe . 
Raub, versuchter . . . 

Raubmord. 

Schleichhandel .... 

Schutzhaft .. 

Sittenpoliz. Uebertret. 
Unterschlagung . . . 
Urkundenfälschung . 
Vergehen im Amt . . 
— gegen Kriegs-V. . 
Verrat milit. Geheimn 


Gesamtzahl.1316 

Jugendliche.. . ? 


4 

1 

1 

1 

1 

1 

6 


1 

5 

32 

2 

1 

1 

50 

10 

69 

2 

G 

1 

1 

1 

1 

1 

1 

1 

1 

3 


1 

1 

1 

2 

1 

1 

43 

43 

2 

1 

2 


Vierteljahr «gehn ft f. ger. Med. n. Off. San.-Wegen. 3. Folge. Bd. 60. H. 2. 


15 


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XVI. 

Aus der Berliner städtischen Irrenanstalt Dalldorf 
(Direktor: Geheimrat Dr. Kortum). 

Dämmerzustände eines homosexuellen Neurotikers. 

Von 

Dr. Max Margulies, Hermsdorf bei Berlin. 

Es ist allgemein bekannt, dass unter den sexuell abnorm ver¬ 
anlagten Persönlichkeiten zahlreiche Neurotiker jeder Art sind. Seltener 
aber scheint es schon vorzukommen, dass Dämmerzustände solcher 
Individuen forensische Bedeutung erlangen, ohne dass das Delikt irgend¬ 
wie durch die Perversion bestimmt erscheint. Und wenn diese Per¬ 
version nun gleichzeitig durch Vermittlung psychischer Faktoren sich 
als pathogen für die Dämmerzustände, herausstellt, dürfte der Fall 
allgemeineres Interesse beanspruchen. 

Die Tatsachen in dem hier mitgeteilten Falle sind kurz folgende: 
Ein junger Mann, zweifellos effeminierter Homosexueller, ist mehrfach 
bei Taschendiebstählen ertappt und schon zweimal deswegen verurteilt. 
Er hat einen Anstaltsaufenthalt hinter sich, und wenn auch die 
Krankengeschichten davon nicht zu erhalten waren, spricht doch alles 
dafür, dass er an Dämmerzuständen gelitten hat. Wegen zweier 
weiterer Taschendiebstähle unter Anklage, wird er zur Beobachtung 
seines Geisteszustandes der Irrenanstalt Dalldorf überwiesen. Hier 
ergibt sich eine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür, dass er die 
eine Tat im Dämmerzustände begangen hat. 

Bei allen Diebstählen, deren er überführt ist, handelt es sich uni 
Damenportemonnaies. Doch sprechen Indizien dafür, dass er sich 
auch ganz andere Gegenstände in ähnlicher Weise angeeignet hat. 
Ein psychologischer Zusammenhang seiner Sucht gerade für Damen- 
Portemonnaies mit seiner Effemination ist in einigermassen zwangloser 
Weise nicht zu finden. Dagegen treten (im Gegensatz zu seinen sonst 
vorzüglichen Gedächtnisleistungen) in Assoziationsversuchen mit Re- 


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Dämmerzustände eines homosexuellen Neurotikers. 


227 


Produktion eine Anzahl von merkwürdigen inselartigen Lücken auf, 
welche mit den von ihm geschilderten und während des Anstalts¬ 
aufenthaltes auch vereinzelt beobachteten Bewusstseinstrübungen 
zweifellos wesensverwandt sind. Eine Analyse ergibt nun, dass dabei 
Vorstellungen sexuellen Inhalts wirksam geworden sind, welche für 
ihn eine besondere Bedeutsamkeit besitzen. 

Die Kenntnis solcher „Komplexe“ und der sie anzeigenden „Kom¬ 
plexmerkmale“ verdanken wir den Forschungen von Jung und Rick- 
lin. Abweichend von diesen Autoren glaube ich nicht, dass diese 
Komplexmerkmale durch unbewusste Konstellationen zustande kommen, 
sondern es sich um wirkliche Erlebnisse in den Versuchen handelt, 
wie sie eine dazu veranlagte und psychologisch geschulte Versuchs¬ 
person wohl darstellen könnte. Diesem aktuellen Erleben im einzelnen 
nachzugehen, habe ich mir auch in diesem Falle zur besonderen Auf¬ 
gabe gemacht. Nähere methodologische Ausführungen sind aber hier, 
wo es sich um die möglichst vollständige Aufklärung eines Einzel¬ 
falles handelt, nicht am Platze. Zur Aufdeckung affektbetonter und 
gegebenenfalls pathogener Vorstellungsreihen sind jedenfalls die Jung- 
schen Anweisungen entschieden fruchtbar, und ihre praktische Ver¬ 
wertbarkeit drängt sich gerade hier besonders deutlich auf. 

Die erste Straftat des Hausdieners Adolf B. war ein versnobter Tasohendieb- 
diebstahl im Warenbause Tietz am Alexanderplatz. Die Meldung des ibn fest¬ 
nehmenden Kriminalschutzmanns gibt folgende Darstellung seines Verhaltens: 
„Er operierte in der Weise, dass er von hinten die in den Fahrstuhl steigenden 
Damen musterte, beim Einsteigen folgte und dann im Gedränge deren Handtasohe 
öffnete, um die Portemonnaies daraus zu stehlen.“ Bei seiner Durchsuchung 
fanden sich bei ihm ein Damenportemonnaie, Lebensmittelkarten u. dgl., Dinge, 
welche anscheinend durch strafbare Handlungen erworben waren. Der Vorgang 
spielte sich am 13. 11. 1917 gegen 6 Uhr nachmittags ab. 

Bereits am folgenden Tage wurde er vor dem Warenhause Werthoim, Leip¬ 
ziger Strasse, wieder dabei betroffen, wie er auf Tascbendiebstähle ausging und 
einer Frau H. das Portemonnaie aus der Handtasche stahl. 

Bei seiner Vernehmung gab er trotz aller Vorhaltungen nur einen Taschen- 
diebstabl zu. 

Ueber seinen Lebensgang finden sich folgende Angaben: B. ist am 10.11.1898 
in K. (Westpreussen) geboren. 1913 kam er nach Berlin zu einem Kaufmann in 
die Lehre. Ein halbes Jahr später ging er nach Hause zurück und hatte danach 
verschiedene Stellungen als Hausdiener und Silberputzer. Vom Militär war er als 
unbrauchbar entlassen worden. Eine Stellung hatte er seither nicht mehr gehabt, 
sondern angeblich von seinen Ersparnissen gelebt. 

Das Schöffengericht Berlin-Mitte verurteilte B. zu Uahr 6 Monaten Gefängnis. 
B. legte dagegen Berufung ein und kam vor die 5. Strafkammer des Landgerichts 1 

15* 


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228 


Max Margulies, 


Berlin. Der Verteidiger warf die Frage nach seiner geistigen Gesundheit auf. In dem 
Urteil wird dazu folgendennassen Stellung genommen: „Der Angeklagte bat etwa 
7^ Jahre die Bürgerschule mit gutem Erfolge besucht. — Auf der Fahrt zu seinem 
Truppenteil zeigte sich bei ihm in der Nacht zum 31. 12. 1916 eine geistige Er¬ 
krankung, weshalb er zunächst in das Reservelazarett zu B. eingeliefert wurde. 
Von dort kam er am 9. 1. 1917 in das Vereinslazarett der Heil- und Pflegeanstalt 
zu A.', von wo er am 22. 4. 1917 in die Heilanstalt zu L. gebracht wurde. Ende 
September 1917 war er als geeignet, seinen früheren Beruf als Diener wieder aus¬ 
zuüben, aus der letztgenannten Heilanstalt entlassen. In der Hauptverhandlung 
vor der Strafkammer hat er ausdrücklich zugegeben, dass seine geistige Gesund¬ 
heit wieder hergestellt sei und dass er sich am 13. und 14.11. während seines Auf¬ 
enthaltes im Tietzschen Warenhause und vor den Schaufenstern des Wertheim- 
sohen Warenhauses in einem zurechnungsfähigen Zustande befunden habe. Das 
ganze Verhalten des Angeklagten war auoh ein solches, dass die Strafkammer die 
Ueberzeugung gewonnen hat, dass der Angeklagte sowohl bei der Ausführung der 
beiden Diebstahlsversuche als auch bef Begehung des vollendeten Diebstahls und 
der Unterschlagung in vollem Masse strafrechtlich zurechnungsfähig war.“ 

Es wurde auf eine Gesamtstrafe von 1 Jahr Gefängnis erkannt, ln der 
Urteilsbegründung wird auf die grosse Geriebenheit in derAusführung hingewiesen 
und von mildernden Umständen abgesehen. 

Die Krankenblätter der oben genannten Anstalten waren leider nicht zu er¬ 
langen. ln den Personalakten des Reservelazaretts L. sind wesentliche Angaben 
nicht zu finden. Nach einer Notiz ist im Vereinslazarett A. Dementia praecox an¬ 
genommen worden. 

Während der Strafverbüssung sind psychische Störungen bei B. nicht beob¬ 
achtet worden. Dagegen wurde auf Veranlassung des Anstaltsarztes Dr. H. im 
Februarl918 wegen Unterernährung und allgemeiner Körperschwäche dieStrafe auf 
3 Monate unterbrochen. 

Bereits am 24. 2. wurde er von einem Schutzmann dabei ertappt, wie er die 
Handtasche von dessen Ehefrau öffnete und hineinzulangen versuchte. Sofort er¬ 
griffen und auf die Polizeiwache geführt, bestritt er die Tat. 

Bei der Vernehmung vor dem Amtsgericht Berlin-Mitte heisst es: „Der Be¬ 
schuldigte erklärte . . . nichts, sondern hielt beständig die Hand an den Mund 
und gab, abgesehen von der Nennung seines Namens B. keine Antwort. — Unter¬ 
schrift verweigert.“ 

Auch in der Hauptverhandlung am 11. 3. 1918 erwiderte B. auf die Ver¬ 
lesung der Anklageschrift: „Ich bin mir nichts bewusst.“ Er wurde zu 1 Jahr 
Gefängnis verurteilt und verzichtete auf Rechtsmittel. Die Möglichkeit einer 
krankhaften Störung der Geistestätigkeit wurde hierbei gar nicht erörtert. Ueber 
die Strafhaft wird nichts berichtet; sie wurde am 19. 12. 1918 auf Grund der 
Amnestie vom 3.12. 1918 aufgehoben. 

In der jetzt zur Untersuchung stehenden Angelegenheit handelte es sioh um 
zwei Vergehen. Am 27. 12., also 8 Tage nach seiner Entlassung, stahl er einer 
Frau K. nachmittags gegen 9 3 / 4 Uhr auf dem Kopfbahnsteig des Anhalter Bahn¬ 
hofes aus ihrer Handtasche ein schwarzlederndes Portemonnaie. Der Diebstahl 
wurde von einer Frau M. beobachtet, deren Sohn den B. stellte und einem militä¬ 
rischen Sicherheitsposten übergab. B. gab bei seiner sofortigen Vernehmung auf 


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Dämmerzustände eines homosexuellen Neurotikers. 


229 


der Polizeiwache die Tat zu; er habe es aus Not getan, weil er ausser Stellung 
und ohne ausreichende Barmittel sei. In der Unterschrift ist die zittrige Schrift 
bemerkenswert, welche sich von seiner sonstigen Handschrift wesentlich unter¬ 
scheidet. Das Geständnis wiederholte er am 29. 12. Er wurde daraufhin als nicht 
fluchtverdächtig aus der Untersuchungshaft entlassen. 

Die zweite Handlung spielte sich am 19. 1. 1919 gegen 3 Ubr 50 Min. nach¬ 
mittags auf der Strassenbahn der Linie 70 am Hallescben Tor ab. Es wurde ihm 
zur Last gelegt, einem Fräulein B. das Portemonnaie aus der Handtasche ent¬ 
wendet und, dabei ertappt, es auf die Plattform des Strassenbahnwagens geworfen 
zu haben. Von einem Sioherheitssoldaten festgenommen, bestritt er in der polizei¬ 
lichen Vernehmung alles. Doch belasteten ihn die Zeugenaussagen erheblich. 
Die B. hörte, wie die geöffnete Handtasche wieder zuschnappte, sah, dass B. die 
Hand von ihr zurückzog und sagte ihm denDiebstahl auf denKopfzu. B.leugnete 
zunächst, gleich darauf aber sagte er, auf den Fussboden zeigend: „Da liegt es.“ 
Da auf der Plattform dicht gedrängt Leute standen, batte er das Portemonnaie 
nicht sehen können, sondern es vermutlich selber fortgeworfen. B. beharrte beim 
Leugnen. 

Vorgefunden und beschlagnahmt wurden bei ihm etwas über 1500 M. (an¬ 
geblich Ersparnisse), 3 Portemonnaies, 2 Tasohen für Papiergeld, 1 Silbertäsch¬ 
chen, 1 Stück von einer Uhrkette und einige Lebensmittelkarten. 

Die Anklageschrift führte die beiden Tatbestände auf und spricht von einer 
in der Hauptverhandlung unter Umständen notwendig werdenden Erweiterung der 
Anklage. 

In der Verhandlung vor dem Schöffengericht Berlin-Mitte beantragte der 
Staatsanwalt 3 Jahre Gefängnis und Einziehung des Geldes und der beschlag¬ 
nahmten Portemonnaies. Das Schöffengericht erklärte sich als unzuständig und 
verwies die Sache an das Landgericht I Berlin, Strafkammer, zur weiteren Ver¬ 
handlung und Entscheidung. 

Der Verteidiger beantragte nun die Beobachtung des Angeklagten auf seinen 
Geisteszustand in einer Anstalt unter Hinweis auf seinen oben angegebenen Auf¬ 
enthalt in Irrenanstalten. Eine daraufhin erfolgte Beobachtung in der Strafanstalt 
durch den Gerichtsarzt Geh. Med.-Hat Dr. Hoffmann führte zu einem Gutachten 
vom 12. 6. 1919, in welchem gemäss § 81 StPrO. Verbringung des Angeklagten 
in eine Irrenanstalt und Beobachtung beantragt wurde. Das Gutachten brachte 
die folgenden belangreichen Daten: „Im Untersuchungsgefängnis ist er nach keiner 
Richtung hin aufgefallen. . . . Von der Straftat will er nichts wissen; er habe 
überhaupt Zustände, wo er nicht wisse, was er tue; er höre jetzt immer Stimmerl 
des Nachts, sehe Gestalten in die Zelle treten, so z. B. seinen früheren Herrn, der 
ihn beschimpfe.“ ' \ 

Die Ueberführung naoh der Irrenanstalt Dalldorf erfolgte daraufhin am 
26. 7. 1919. 

B. ist 1,69 m gross bei 54,5 kg Körpergewicht. Knochenbau grazil, Musku¬ 
latur gering entwickelt, Fettpolster dürftig. Gesichtsfarbe meist sehr blass, tiefe 
Ränder um die Augen. Während des Anstaltsaufenthaltes trat deutliche Er¬ 
holung auf. 

Der Kopf zeigt in beiden Scbläfengegenden bydrozephalische Ausladungen; 
sein Umfang beträgt 56 cm, der Längendurchmesser 13 cm, Sagiltalbogen 34 cm, 


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230 


Max Margulies, 


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Querdurchmesser 10 cm, Frontalbogen 33 cm. Die linke Gesichts* and Schädel¬ 
hälfte ist auffallend schwächer entwickelt als die rechte; stark hervortretende 
Backenknochen. 

Papillen rand, etwas weit, reagieren regelreoht. 

Gesiohtsbewegungsnerv in der linken Mandpartie etwas schwächer innerviert 
als rechts. 

Augenbindehaut- und Hornhautreflexe erhalten, Würgereflex aufgehoben. 
Kniesehnenreflexe sehr stark, oberhalb und unterhalb der Kniescheibe auslösbar; 
Äcbillessehnenreflex vorhanden; starker Fusssohlenreflex von normalem Typus. 
Kein Fusszittern. Alle Reflexe an den Beinen links noch etwas stärker als rechts. 

Grobe Kraft gering; bei Druck auf den Kraftmesser wird beiderseits 50° 
erzielt. 

Gefühlssinn ohne Störung; keine abnormen Druckpunkte; Hautreflexe 
regelrecht. 

Bei Untersuchung der inneren Organe ergibt sioh eine Verbreiterung der 
relativen Herzdämpfung nach reohts bis zur Mitte des Brustbeins. Herztöne leise 
und rein. An den anderen inneren Organen nichts Auffälliges. 

B. wurde zufällig von mir in die Anstalt aufgenommen. Bei dieser Gelegen¬ 
heit war er etwas scheu und in sich gekehrt, sprach mit leiser Stimme, schien 
aber orientiert und bot kein ausgesprochen pathologisches Bild. Er wurde dem 
festen Hause überwiesen. Hier ergab die unmittelbare Beobachtung zunächst 
nichts Auffälliges. Nur klagte er einmal über Kopfsohmerzen und zeitweilige 
Zuckungen im Kopf. Er wurde in einem Einzelzimmer untergebracht und über 
Mittag allein in den Garten geführt. Von einer Unterhaltung mit ihm am 30. 7. 
habe ich folgende Notizen gemacht: 

Dem ärztlichen Beobachter gegenüber zurückhaltend; formal geordnet. Un¬ 
steter Blick, etwas soheues Gebahren. Sehr weite Pupillen. Sehr blass. Sehr 
langes Zögern bei einfachsten Antworten, anscheinend schwer besinnlich; bestreitet 
sein Vergehen: es sei nichts bei ihm gefunden worden. Auoh an einen früheren 
Diebstahl bei Wertheim, für den er nach seiner auf Befragen erfolgten Angabe 
bestraft ist, will er keine genauere Erinnerung haben. Bleibt dabei trotz sehr 
energischer Vorhaltungen, welche eine Beeinflussung in keiner Weise erkennen 
lassen. Obwohl ich ihn hier aufgenommen habe, will er mich nicht wieder¬ 
erkennen (ich war damals allerdings ganz anders angezogen und wurde von B. 
kaum angesehen, wenn er auch meine wenigen Fragen sachgemäss beantwortete 
und angab, dass er sich zurzeit nicht krank fühle). 

Warum er hier ist, soheint ihm nicht ganz klar zu sein. Die Orientierung 
ist erhalten, nur das genaue Datum weiss er nicht. Die Zeit seiner früheren Ver¬ 
urteilung gibt er erst nach mehrfachem Befragen und sehr langem Nachdenken 
ungefähr richtig an. 

Im Nachtbericht vom 30. zum 31. 7. heisst es: B. sass von 2 bis */ 4 4 Uhr 
aufrecht im Bett, verhielt sioh aber ruhig. 

31. 7. Bei einer Exploration etwas gespannte Haltung. Aussprache etwas 
geziert, aber frei von krankhaften Manieren. Auf die Frage, weswegen er in der 
Anstalt A. gewesen sei: Zuerst sei er in ein Lazarett gekommen, das er auf Be¬ 
fragen nicht näher bezeichnen kann. Er habe auf seinem Transport noch Cöln 


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Dämmerzustände eines homosexuellen Neurotikers. 


231 


gesehen, hinter Cöln noch ein paar Berge; von da an wisse er nichts mehr. 
Stimmen habe er damals nicht gehört. 

Auf die Frage, wie es mit seinem Gedächtnis stehe: Er könne sich schwer 
besinnen, denke aber, das sei durch die Haft gekommen. 

Es wird mit ihm eine Vorübung für die Ranschbnrgsche Merkfähigkeitsprobe 
vorgenommen; dazu werden ihm assoziativ verbundene Wortpaare (wie' „Mönch— 
Kloster“) einzeln vorgesprochen, die er sofort nachzusprechen und sich zu merken 
hat. Nach einer Reihe solcher Wortpaare hat er dann auf Zuruf des ersten Wortes 
das zugehörige zweite zu ergänzen. Er bringt zunächst nach 3 Wortpaaren 
2 richtige Ergänzungen, nach 6 weiteren Wortpaaren behauptet er zunächst, kein 
Wort mehr zu wissen, scbliessliob gelingt ihm noch eine richtige Ergänzung. 

Einfaohe Multiplikationsaufgaben löst er glatt bei minimaler Reaktionszeit. 
Bei 12X13 besinnt er sich ausserordentlioh lange; als ich abbrechen will, macht 
er eine erregte Bewegung mit den Armen, im Gesiebt zeigt sioh affektive Rötung, 
er schlägt mit der Hand auf den Tisch: „Na, ich muss es doch aber loskriegen, 
zum Donnerwetter, soll ich denn nicht mehr wissen, wieviel 12X13 ist? Das 
wäre noch schöner!“ Additionsaufgaben mit steigender Schwierigkeit löst er dann, 
wenn auoh auffallend viel langsamer als die vorigen. 12x13 kann er dann 
wieder nicht lösen. (84—25?) Naoh sehr langer Pause: „Endlich hab’ ich es, 
59“. (12X13?) Prompt: „12X13 ist 156“. 

Es werden dann mit ihm Vorübungen zum Assoziationsexperiment gemaoht, 
er bekommt die von ihm sofort von ihm verstandene Instruktion, auf ein ihm zu¬ 
gerufenes Reizwort mit dem nächsten, was ihm einfällt, zu reagieren. Die Re¬ 
aktionszeiten, welche hier nicht gemessen wurden, sind durchweg recht lang. 
Während der Versuohe spielt er nervös mit den Fingern der auf dem Tisch 
liegenden linken Hand. Er bringt lauter Reaktionen, bei denen ein innerer Zu¬ 
sammenhang mit dem Reizwort nicht erkennbar ist. Bei dem Reizwort „Laster“ 
fallen merkwürdige Bewegungen der Zunge auf, welche er immerfort in die Mund¬ 
winkel stösst. 

Auf mein Ersuchen erklärt er sich sofort bereit, seinen Lebenslauf zu 
sohreiben. Meine besonderen Anweisungen dazu fasst er sofort richtig auf. 

Naohtbericht vom 31. 7. zum 1.8.: B. wälzte sich anfangs im Bett umher 
und brachte stöhnend unverständliche Laute hervor. Seit 4 Uhr morgens sass er 
dauernd auf der Bettkante, die Arme kreuzweise übereinander gelegt, und sah zum 
Fenster hinaus. 

1. 8. Hat an sein erregtes Gebahren während der Nacht angeblich keine Er¬ 
innerung. Auf Befragen: es sei ihm früher gesagt worden, dass er oft im Schlafe 
berumgehe. 

2. 8. Hat seinen Lebenslauf fertig geschrieben, der hier wegen bemerkens¬ 
werter Angaben mitgeteilt werden soll: 

„Auf Wunsch des Herrn Dr. schreibe ich folgendes nieder. Ich, Adolf Beglio, 
bin am 10. November 1898 geboren. Mein Vater heisst Otto B. und ist Sohuh- 
machermeister. Meine Mutter ist schon tot. Dieselbe hat bei meiner Geburt ihr 
Leben eingebüsst. Vom sechsten Lebensjahre an habe ich die sechsklassige Si¬ 
multanschule in meiner Vaterstadt besucht. Habe 2 1 / 2 Jahre der I. Knabenklasse 
angehört, und bin dann im Septembor 1912 in der evangelischen Kirche konfirmiert 


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232 


Max Margulies, 


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worden. Ich hatte nnn während meiner Schalzeit in wilden Tieren and sonstigem 
fahrenden Zirkuswesen meinen Idealberuf erblickt. Da ich non aber im allgemeinen 
ein schlechter Turner war, and es mir an sonstigen Anlagen za diesem Beruf 
mangelte, wie mir von verschiedenen massgebenden Seiten gesagt wurde, sah ich 
mioh notgedrungen von diesem Beruf abzusehen, was mioh sehr oft in trübe Stim¬ 
mung versetzte. Jetzt fasste ich zum Kaufmannsberufe Entschluss und siedelte 
Anfangs 1913 nach Neukölln über, wo ich Aufnahme in einem Kolonialwaren¬ 
geschäft fand. Leider wurden mir seitens meiner Schwester nach ungefähr einem 
halben Jahre Hindernisse in den Weg gelegt, sodass ich mich veranlasst fühlte, 
auch diesen Beruf aufzugeben. Einstweilen fuhr ich nun vorübergehend nach 
Hause und kam einige Zeit später wieder nach Berlin. Hier habe ich nun ver¬ 
schiedene flüchtige Stellen als Hausdiener, Hoteldiener, Silberputzer usw. inne 
gehabt. Später gelang es mir, eine Anstellung auf dem Schlosse Ihrer Exzellenz 
der Gräfin von W. zu bekommen. Hier wurde ich unter Leitung eines alten per¬ 
fekten Dieners zum herrsohaftliohen Diener herangebildet. Habe mich in den 
dortigen Verhältnissen ganz wohl gefühlt und beabsichtigte auch längere Zeit zu 
verbleiben. Plötzlich entstanden aber Uneinigkeiten zwisohen Ihrer Exzellenz und 
den Offizieren, welche dort anwesend waren. Dieses hatte die Folge, dass der Be¬ 
trieb dort aufgelöst wurde und sämtlichem Personal von einem Reohtsanwalt ge¬ 
kündigt wurde. Hierauf begann ich meine Laufbahn als herrschaftlicher Diener 
fortzusetzen, indem ich mir weitere Stellen suchte. Habe nun öfters gewechselt, 
weil ioh meine Kenntnisse auf dem Gebiete bereichern wollte. Lernte nun in¬ 
zwischen einen älteren sympathischen Kollegen kennen, mit welchem ioh in nähere 
freundschaftliche Beziehungen trat. Da derselbe in den Auslandsverhältnissen sehr 
gut orientiert war, so beschloss ich mit ihm, nach Beendigung des Krieges den 
Orient oder Amerika aufzusuchen. Auch habe ioh mich öfters durch An- und Ver¬ 
kauf von kleineren Gebrauchsgegenständen beschäftigt. Ich wurde nun im De¬ 
zember 1916 zur Truppe einberufen. Auf dem Transport erlitt ich eine Geistes¬ 
störung. Als ich meine Besinnung wiederbekam, befand ich mich in der Irren¬ 
anstalt zu A. Hier blieb ich dann noch einige Zeit und wurde dann während einer 
zweiten Krankheitsperiode nach der Provinzialanstalt zu L. verlegt. Dort war ich 
in Behandlung des Herrn Sanitätsrat Dr. Sch. und wurde nach ungefähr einem 
halben Jahre von dort entlasset). Von anderen Krankheitszuständen sind mir be¬ 
kannt, dass ich von Kindheit an sehr nervös war, so dass ich von anderen Leuten 
darüber zurecht gewiesen wurde. Während meiner Schulzeit hatte ich die Masern 
und einen besinnungslosen Zustand, wo ich für scheintot gehalten wurde. Dann 
machte sich bei mir ein starkes Herzklopfen bemerkbar. Ferner führe ich sehr oft 
Selbstgespräche und mache dabei Handbewegungen. Dieses geschieht aber meisten¬ 
teils nur, wenn ich allein bin und keine andere Person in meiner Nähe bemerke. 
Auch höre ich öfters abends, wenn ich die Augen zugemaoht habe, aber noch 
nicht eingeschlafen bin, Stimmen. Auch habe ich öfters abends heftiges Knattern 
im Kopf verspürt, und mir war, als wenn mir der Kopf in tausend Stücke zer¬ 
springen sollte. Es wurde mir nun auch von anderen Leuten gesagt, dass ioh des 
Nachts umhergehen sollte. Ob diese Behauptung der Tatsache entspricht, weiss 
ich nicht, da ich mir deswegen nichts bewusst bin. Nach meiner Entlassung aus 
der Heilanstalt zu L. kam ich wieder nach Berlin zurüok. Hier wurde ich nach 


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Dämmerzustände eines homosexuellen Neurotikers. 


233 


einiger Zeit verschiedener Taschendiebstähle beschuldigt. Wurde nun zu einem 
Jahr Gefäpgnis verurteilt. Ich kam jetzt ins Strafgefangnis zu Tegel und wurde 
dort mit Kuvertkleben beschäftigt. Naoh meiner dortigen Entlassung wurde ich 
des wiederholten Tasohendiebstahls beschuldigt und kam ins Untersuchungs¬ 
gefängnis Moabit. Dort blieb ich verschiedene Monate und wurde von dort nach 
dem Gefängnis in der Lehrterstrasse verlegt. Seit Sonnabend befinde ich mich in 
der Irrenanstalt zu Dalldorf. gez. Adolf Beglio.“ 

Auf Befragen macht er über seine Familie folgende Angaben: Urgrossvater 
sei aus Italien gekommen und im Kriege (welchem, wisse er nioht) in Deutschland 
geblieben. Er sei der jüngste Sohn und habe 4 verheiratete Schwestern und 2 Brüder. 
Geisteskrankheiten in der Familie nioht bekannt. 

Er wird aus dem Einzelzimmer berausgenommen und in einen gemeinschaft¬ 
lichen Schlafsaal gelegt. In den nächsten Tagen ist nichts Auffälliges bemerkt, 
nur aus der Nacht vom 4.—5. 8. wird gemeldet, dass er von 3—4 Uhr aufreoht 
im Bett sass. 

7. 8. Auf Fragen nach etwaigen Beeinträchtigungsideen in der Anstalt: Habe 
mit keinem Kranken etwas vor. Solche Ideen sind bei ihm überhaupt nicht nach¬ 
zuweisen. Auf schlechte Nächte hier kann er sich angeblich gamiobt besinnen. 
Gestern habe er Kopfschmerz gehabt, Zucken im Kopf, der Kopf sei „angespannt“, 
er empfinde einen gewissen Sohmerz und ein Zucken (zeigt auf die Mitte der Stirn), 
merke auch, dass ihm die Sinne benommen seien. Sonst keine Schmerzen. Das 
trete bei ihm häufiger auf, unregelmässig, in letzter Zeit besonders oft. 

Auf die Frage nach seinem Gedächtnis sagt er dieses Mal: denke, dass es 
normal sei; jedenfalls habe er es nicht so, wie er es früher gehabt, glaube aber, 
dass es jetzt normal sei. 

Bei nochmaligem Vorversuch zur Ranschburgsohen Probe mit 6 Wort¬ 
paaren (den 6 letzten des ersten Vorversuchs) bringt er 5 richtige Ergänzungen. 
Er besinnt sich nicht darauf, dass es die gleiohen Wortpaare wie das vorige Mal 
waren. 

Erzählt im weiteren Gespräch von einer sehr guten Dienerstelle bei einem 
alleinstehenden Herrn, mit der es eine besondere Bewandtnis gehabt habe. Nach 
langem Sträuben gibt er zu, dass dort homosexuelle Handlungen vorgekommen 
seien. Der Herr habe eine „öffentliche Existenz“, er wolle nichts Näheres dar¬ 
über sagen. 

8. 8. Krämpfe und Bettnässen negiert. Schildert einen eigentümlichen Be- 
wusstsoinszustand während der Untersuchungshaft, den er dem Gefängnisarzt mit¬ 
geteilt habe. Auf Ersuohen gibt er folgende schriftliche Darstellung: 

„Ich konnte eines Abends vor Nervosität nicht einschlafen. Nachdem ich 
eine geraume Zeit mioh umhergewälzt hatte, verfiel ioh in folgenden Zustand: Ich 
verspürte heftiges Knattern im Kopf. Dieses war gerade, als wenn man einen 
Gegenstand in tausend Stücke zerschlägt. Hierbei hörte ich nun von draussen ver¬ 
schiedene helle Kinderstimmen und heftiges Donnerrollen. Vor dem Donner emp¬ 
fand ich ein gewisses Grauen und wollte nun einen Angstsohrei ausstossen. Dieses 
war mir aber nicht möglich, da mir die Sprache genommen und die Glieder ge¬ 
lähmt waren. Auch wurde ioh im Bette hin- und hergeschleudert. Nachdem der 
Zustand beendet war, vernahm ich einen leisen Ruck im Kopf, und meine Sinne 


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;.v 


234 Max Margulies, 

traten wieder in Kraft. Draussen war es nun dunkle Nacht nnd von Gewitter war 
keine Spar vorhanden. Kurze Zeit darauf verfiel ich in einen guten Schlaf und 
erwachte erst, als das Zeichen zum Aufstehen gegeben wurde. u 

Gleichzeitig macht er schriftliche Angaben über Bewussteinstrübungen: „Mir 
waren in letzter Zeit meine Sinne öfters abgestumpft, so dass es mir sohwer fiel, 
mich auf etwas zu besinnen. Dieses kann ich aber nur behaupten, nachdem ich 
den Aufenthalt in den verschiedenen Anstalten gehabt habe. Hierbei ist mir dann 
der Kopf auch ziemlich schwindelig.' Es treten bei mir öfters Kopfschmerzen ein, 
gewöhnlich nach einem Aerger und Aufregung. Diese äussern sich in folgender 
Weise: Ich empfinde einen Schmerz und heftiges Zucken im Kopf. Hierbei 
versagen dann auch die Sinne bei mir und ich gehe dann ziemlich aufgeregt 
umher.“ 

Petit mal-Anfälle, die ihm beschrieben werden, kennt er nicht. Bei Selbst¬ 
gesprächen vergesse er das Gesprochene, er habe aber dabei keiue Bewusstseins¬ 
trübung wie bei den Kopfschmerzen. 

9. 8. vormittags 9^2 Uhr. Prüfung der Merkfähigkeit nach Ranschburg. 

Es werden 6 Serien von je 9 Wortpaaren verwendet. Das Ergebnis ist: 

Serie 1: 1.—6. 7. Ausfall, 8., 9. —; 8 : 9. 

Serie 2: 1.—3. +, 4., 5. Ausfall, 6.-9. +; 7: 9. 

Serie 3: 1., 2. -f-, 3. Ausfall, 4. -J-, 5. Ausfall, 6., 7. -J-, 8. Ausfall, 9. nach 
Korrektur -j- (mit 0,5 bereohnet): 5,5 : 9. 

Serie 4: 1. Ausfall, 2., 3. -f-, 4. Ausfall, 5. +, 6.—8. Ausfall, 9.-}-; 4:9. 

Serie 5: 1.—6. -f-, 7. Ausfall, 8., 9. —|—; 8 : 9. 

Serie 6: 1.—4. -j-, 5. Ausfall, 6. -|-, 7. Ausfall, 8. -(-, 9. Ausfall; 6 : 9. 

Gesamtheit der richtigen Ergänzungen: 38,5 = 71,3pCt. 

Bei Serie 4 Wortpaar 6 gibt er an, es zucke wieder im Kopf, weiter habe er 
keine Sohmorzen. Er erklärt auf Befragen, den Versuch fortsetzen zu wollen. Am 
Sohluss beschreibt er seinen Zustand näher: „Etwas Zucken im Kopf, nnd der 
Kopf war angespannt dabei, aber sonst hatte ich meine Gedanken beisammen.“ 
Aufmerksam gemacht auf sein Versagen bei Serie 4 und die folgende vorzügliche 
Leistung bei Serie 5, sagt er: „Ich bin überhaupt im allgemeinen ein zweiseitiger 
Mensch, öfters bin ich eben zugänglich und öfters nicht. u 

In der folgenden Nacht ist B. bis 12 Uhr sohlaflos; dann schläft er zeitweilig 
in sitzender Stellung. 

10. 8. Prüfung des sogenannten konservativen Gedächtnisunifanges; er hat 
ohne nochmalige Erlernung die am Tage vorher gebrachten Ergänzungen noch¬ 
mals auf Zuruf der ersten Worte zu bringen. Es kommt eine Gesamtleistung von 
78 pCt. gegen die Vortage zustande. 

Dabei gibtB. an, es gehe ihm nicht besonders gut, er habe dieNacht schlecht 
gesohlafen und jetzt Kopfschmerzen. Ueber seinen Zustand spricht er spontan 
noch lebhaft weiter, er habe fast gar nicht gesohlafen, sei gestern Abend sehr 
müde und abgespannt gewesen, habe nicht schlafen können, der Schlaf sei ihm 
abhanden gekommen, hätte heute Morgen erst riohtig einschlafen können. Nach 
der ersten Serie sagte er, er merke jetzt, dass die Kopfschmerzen nachgelassen 
hätten; am Schluss, der Kopf sei noch etwas schwindlig, aber Schmerz empfinde 
er nicht. 

Von Einzelheiten ist wichtig das Ergebnis in Serie 4 und 5: 


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Serie 4: 1. -j-, 2. —, 3. -j-, 4. —, 5. +, 6.-9. —; 3:9 (am Vor¬ 
tage 4:9). 

Serie 5: 1., 2. -j-, 3.-8. —, 9. naohKorrektur2,5 : 9 (am Vortage8:9) 

Es ist eine ganz auffallende inselförmige Lücke der Erinnerung 
festzustellen: bei Serie 4 am Vortage sohlechte Leistung, welohe B. mit dem 
„Zucken im Kopf“ begründete, dann führte in Serie 5 der Vorsatz, den Versuch 
weiterzuführen, zu einer vorzüglichen Leistung, die aber nur sehr oberflächlich 
haftete. 

Bei den übrigen Serien zeigt sich eine verschwindend geringe Abweichung 
von der Leistung des Vortages, so dass der konservative Qedächtnisumfang ohne 
Ausfall nooh weit besser sein würde, als die Berechnung ohnehin ergibt. 

Im Naohtbericht heisst es: Schlief ruhig bis 1 Uhr, danach stand er wieder¬ 
holt am Fenster und sah hinaus. 

11.8. Sieht besonders blass aus; auf Befragen: sei nachts verschiedene 
Male aufgewesen, habe weiter keine Beschwerden. Dass er am Fenster gestanden 
hat, weiss er angeblich nicht; er sei verschiedene Male wach gewesen und auf¬ 
gestanden, um ein Bedürfnis zu erledigen. Aufgeregt sei ec nicht, „wüsste nichts, 
nichts bekannt davon“. Auf Befragen: habe bis jetzt keinen Geschlechtsverkehr 
gehabt mit einem Menschen, bis jetzt noch kein Bedürfnis dazu empfunden; habe 
sich um derartige Sachen sehr wenig gekümmert. Onanie wird bestritten, habe 
häufig Samenerguss des Nachts. (Träume dabei?) „Ja, meistenteils träume ich 
etwas.“ ln der vorvorigen Nacht sei es passiert. (Was geträumt?) „Das weiss 
ich nicht mehr.“ Könne es nicht genau sagen, sei im Unklaren darüber. Auf 
Drängen: „Herr Doktor, ich weiss niohts, möchte nicht hier etwas behaupten, 
was sioh nicht mit der Wahrheit vereinbaren lässt.“ Dabei muss man von seinem 
Nachsinnen und seiner ganzen Mimik den Eindruck gewinnen, dass er mit seinem 
Wissen zurückhält. Auf Fragen nach seinem oben angedeuteten homosexuellen 
Erlebnis ist trotz energischster Anrede keine Antwort zu erzielen. Er sieht anf 
seine Finger, antwortet überhaupt nichts mehr und sperrt sich derartig, dass eine 
Einwirkung auf ihn überhaupt nicht mehr möglich erscheint. Wie in einer 
tiefen Versunkenheit sitzt er unbeweglich zusammengekrümmt da, 
einem stuporösen Kranken ähnelnd. Wird ins Einzelzimmer zurück¬ 
verlegt. 

Nachtberioht (11.—12. 8.): Sohimpft und skandaliert im Schlaf, bringt un¬ 
verständliche Worte hervor. 

Die Tageswachen melden am 11. und 12. nichts Auffälliges. 13. 8. Fragt, 
warum er ins Einzelzimmer gekommen sei, in Gemeinschaft fühle er sich doch 
viel wohler. Auf das Gespräch am 11. könne er sich nicht besinnen. Wie ihm 
damals zumute gewesen, wisse er nicht, darüber könne er keine genügende Aus¬ 
kunft geben. Wisse nur, dass er eine Aussprache gehabt habe, aber nicht worüber. 
Wenn er es gewusst hätte, so hätte er Auskunft gegeben. 

Bei einem neuen Vorversuch zum Assoziationsexperiment sind die Reaktionen 
im allgemeinen kurz, die Beziehungen von Reizwort zu Reaktion überwiegend 
sinnvoll. 

Das Assoziationsexperiment ist in der folgenden Zeit wiederholt mit ihm 
vorgenommen worden, wobei bemerkenswerte Ergebnisse erzielt wurden, die weiter 
unten im Zusammenhang besprochen werden sollen. 


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Max Margulies, 


B. wird wieder in Gemeinschaft verlegt. Sein Verhaltet wird in den Pfleger¬ 
berichten als geordnet bezeichnet, er erweist sich als gefällig und sehr höflich. In 
der Nacht vom 15. zum 16. wird wiederholte Schlaflosigkeit gemeldet, sonst bringen 
die Naohtberichte nichts Bemerkenswertes mehr, ln den weiteren Tagesberichten 
ist mehrfach von ausgelassener Heiterkeit die Rede: er wirft dasTaschentuoh oder 
kleine Steine in die Höhe und fängt sie geschickt wieder auf, singt leise vor sich 
hin, deutet Schiebetänze an, sucht sich vom Garten aus mit einem im Einzel¬ 
zimmer untergebrachten Beobachtungskranken (einem hysterischen Zitterer) durch 
Zeichensprache zu verständigen, lässt aber auf Verbot davon ohne weiteres ab. 
Bei Explorationen kommt noch eine Anzahl wichtiger Feststellungen zutage. 

20. 8. Macht heute nähere Angaben über seine sexuelle Veranlagung; da¬ 
nach ist er ein echter Homosexueller von femininer Artung. Zu Afterverkehr will 
er nur einmal durch seinen oben angedeuteten Herrn veranlasst sein. Die Stellung 
will er damals verlassen haben, weil an ihn das Ansinnen gestellt wurde, den 
Geschlechtsteil des Herrn in den Mund zu führen. „Ich wäre daran gestorben. u 
Erpresserneigung läge ihm ganz fern. Weiber hätten keinen Reiz für ihn. Er 
verrichte gern weibliche Arbeiten, habe auch schon weibliche Kleidung getragen. 
Schriftlich äussert er sich darüber auf mein Ersuchen folgendermassen: 

„loh habe seit frühester Kindhoit grosse Vorliebe für Damengarderoben 
empfunden. Meiner Neigung hierfür habe ich nun auoh stattgegeben, indem ioh 
mir Kleidungsstücke meiner Schwestern aneignete und dieselben reservierte. Bei 
günstiger Gelegenheit habe ich dieselben dann angezogen und habe mioh damit 
auf offener Strasse produziert. Hierdurch wurde ioh nun allerdings der Gegen¬ 
stand eines Amüsements für andere Leute. Als meine Angehörigen von meinem 
Treiben in Kenntnis gesetzt waren, hielten mich dieselben für nicht ganz normal. 
Habe aber diesem Ausdrucke sehr wenig Aufmerksamkeit gewidmet, sondern liess 
ruhig meiner Neigung ihren Lauf. Mit Entwicklung meines Körpers entwickelte 
sich auch dieser Trieb in mir. Auch kann ich behaupten, als ich in dem vor¬ 
gerückten Knabenalter mich befand, sich zu diesem Triebe eine gewisse Leiden¬ 
schaft für Schmuck gesellte. Diese veranlasste mich, dass ich sehr oft uneohten 
Schmuck anlegte. Hierzu fanden dann auch gewöhnlich meine damaligen geringen 
ersparten Gelder Verwendung. Dadurch entstand mir manche Unannehmlichkeit 
von seiten meines Vaters. Als ich nun mit der Grossstadt näher bekannt wurde, 
tauchte auch dort die Sehnsucht in mir auf, mich öfters in Damenkleidung zu 
produzieren. Da ich nun aber befürchtete, mit der Polizei deswegen in Konflikt 
geraten zu können, so sah ioh mich notgedrungen, meine Neigung etwas im Zaum 
zu halten. Dagegen suchte ich nun meine männliche Kleidung in einem weib¬ 
lichen Genre herzustellen. Dass ich nun auch eine gewisse Vorliebe für Hand- 
täschohen und dergleichen hatte, will ich nicht in Abrede stellen; denn ich war 
stets im Besitz irgendwelcher Damenportemonnaies. Ebenfalls schaffte ioh mir 
auch viel Parfüm und Toilettenseife an. Das Schicksal fügte es nun, dass ich 
plötzlich einen um 10 Jahre älteren Kollegen kennen lernte. Da derselbe über 
dieselbe Veranlagung so ziemlich wie ich verfügte, so trat ich mit dem genannten 
in einen harmonischen Verkehr. Wir unternahmen nun gemeinsam Ausflüge, be¬ 
suchten Theater und Konzerte, und ioh stattete demselben sehr oft einen Besuch 
ab. Da derselbe über verschiedene elegante Damentoiletten und Perücken ver¬ 
fügte, so verkleideten wir uns gewöhnlich bei meiner dortigen Anwesenheit als 


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Damen. Wir suchten uns dann die Zeit durch heiteres Plaudern, Singen und 
Kokettieren zu vertreiben. Auch nahmen wir in dieser Aufmachung als imitierte 
Damen der besseren Gesellschaft unseren 5 Uhr-Tee ein. Diese Sympathie für 
weibliche Artikel hat sioh auoh weiter bei mir fortgepflanzt.“ 

22. 8. Sehr betroffen, als ich ihm Vorhalte, dass er bei etwaiger Unzu¬ 
rechnungsfähigkeit mit längerer Anstaltsinternierung zu rechnen hätte. Dann 
ziehe er es vor, bestraft zu werden; später wolle er, sobald es ginge, nach Amerika 
auswandern. 

Den einen der Fälle, deretwegen Anklage erhoben ist, stellt er folgender- 
maassen dar: Er habe sich plötzlich, ohne zu wissen, wie er dahin gekommen sei, 
auf dem Anhalter Bahnhof befunden. Um ihn hätten Leute herumgestanden und 
ein Herr hätta ihn des Diebstahls beschuldigt. In seiner Hand hätte er ein fremdes 
Portemonnaie gehabt. Wie er dahin gekommen, sei ihm völlig unklar. Seine 
Erinnerung reiche bis zu einem Zeitpunkt, in dem er in einem Lokal in der 
Friedrichstrasse gewesen sei und dort Kartoffelpuffer gegessen habe. 

An der Angelegenheit in der Strassenbahn will er völlig unbeteiligt gewesen 
sein. Ein anderer Mann habe gesagt, da liege das Portemonnaie. Bewusstseins¬ 
trübungen habe er während der Fahrt nicht gehabt. Wenn er sich nicht un¬ 
schuldig gefühlt hätte, so hätte er gar nicht zur Wache mitzugehen brauchen, 
sondern reichlich Gelegenheit gehabt, wegzulaufen. 

25. 8. Macht- weitere Angaben über nervöse Zustände, Denksperrung und 
über ein homosexuelles Erlebnis, die er wiederum schriftlich fixiert: 

„Ich wurde früher öfters von Angsfzuständen heimgesucht. Diese äusserten 
sich in der Weise, dass ich nach einem Schreck oder Aufregung ein grosses Angst¬ 
gefühl und starkes Herzklopfen bekam. Auch traten sie in der Weise auf, dass 
ich öfters Gegenstände untersuchte, wo ich sehr wohl wusste, dass sie mit Sicher- 
heitsmassregeln .versehen waren und ich nachher selbst einsah, dass meine Unter¬ 
suchung zwecklos war, ich es aber doch nicht unterlassen konnte, diese Handlung 
beizubehalten. Ob sich diese Zustände fortgepflanzt haben, kann ioh nioht genau 
sagen, da ich in letzter Zeit wenig davon verspürt habe“. 

„Ich werde sehr oft in meinem Gedächtnis gestört. Diese Störung wird ge¬ 
wöhnlich dadurch hervorgerufen, dass sich mir Phantasien vorgaukeln, mit denen 
ioh mich sehr oft in Gedanken beschäftige. Auch wird mein Gedächtnis durch 
heftiges Zucken im Kopf gestört. Hierbei werde ich dann ganz stumpfsinnig, so 
dass ich für eine Zeit nicht in der Lage bin, mich auf etwas zu besinnen. Diese 
Erscheinung nehme ich sehr oft beim Lesen wahr, und hat sich dieselbe bis auf 
den heutigen Tag fortgepflanzt.“ ' 

„loh wurde eines Abends durch starkes Klopfen an der Tür geweckt. Auf 
die Frage: ,Wer ist dort? 1 erhielt ich die Aufforderung, dass ioh die Tür 
schleunigst öffnen sollte. Dieser Aufforderung kam ich aber nicht nach, sondern 
versuchte weiter einzuschlafen. Plötzlich sprang ich durch ein heftiges Geräusch 
geweckt aus dem Bett. Hierbei vernahm ioh, dass die Scheibe über meiner Tür 
zersprang. Von diesem Moment an waren meine Sinne mir völlig genommen. Am 
anderen Morgen befand ioh mich in der bereits geschilderten Lage.“ 

Zum letzten Punkt hatte er gesagt, er habe sich bei Wiederkehr des Bewusst¬ 
seins neben seinem Herrn in dessen Bett befunden, der lachend geäussert hatte: 
„Du hast mir das Leben gerettet“. Ferner maoht er Angaben über einen Selbst- 


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Max Margulies, 


mordversucb. Seine Zusage, auch darüber einen schriftlichen Berioht zu geben, 
macht er nioht wahr; er habe dazu keine Veranlassung. Seine mündliche Schilde¬ 
rung war etwa folgende: Eines Abends habe er, über seine Veranlagung nach¬ 
denkend und deswegen in verzweifelter Stimmung, in der Küohe gesessen und 
sohliesslich die Gashähne geöffnet. Dann habe er sich plötzlich, ohne zu wissen, 
wie er dort hingekommen sei, auf dem Balkon befunden; bald sei er wieder in die 
Küche zurückgegangen, habe die Hähne geschlossen und sich bis zum Bett seiner 
Wirtin geschleppt, wo er umgefallen sei und sich habe übergeben müssen. Am 
nächsten Tage erst habe die Wirtin, als sie von einem Ausfluge zurückkehrte, die 
Verunreinigung bemerkt. Damals habe er es abgeleugnet. 

Die Ergebnisse der weiteren Unterredungen können in fortlaufender Dar¬ 
stellung gegeben werden. Er kam immer freimütiger mit Aeusserungen über seine 
homosexuelle Veranlagung heraus. Seine Neigung gehört danach kräftigen, ein¬ 
drucksvollen Männern, welche erheblich älter als er sein können. Sehr oft will 
er auch auf den Strich gegangen sein, Afterverkehr sei aber mit der einen er¬ 
wähnten Ausnahme niemals für ihn in Frage gekommen. Meist scheint es sich um 
mutuelle Onanie gehandelt zu haben. Aeusserungen seiner Veranlagung reichen 
weit in das Jugendalter zurück. 

Bei einer Besprechung über die Herkunft seiner sogenannten Ersparnisse 
suche ich ihm rechnerisch klar zu machen, dass er bei 40—50 Mark monatlich 
unter Anrechung reiohlicher Trinkgelder kaum die beschlagnahmte Summe einge- 
nommen haben könnte, gesohweige denn Ausgaben für Garderobe u. dgl. bestreiten. 
Er weist nach langem Zögern auf Einnahmen durch homosexuelle Angebote hin, 
welohe ihm oft wertvollen Schmuck eingebracht hätten, sowie auf denVerkauf von 
Gebrauchsgegenständen im Strasseqhandel. 

Da es naheliegt, dass er später sioh einmal als' Hochstapler betätigt, bringe 
ich das Gespräch auf seine etwaige Veranlagung dazu. Er wies das erste Mal 
solche Gedanken weit von sich, und zwar in bestimmtem Tone. Später kam er 
aber von selber darauf zurück und gab zu, sich mit solchen Ideen bereits befasst 
zu haben. Er bat um einen Rat, wie er davor geschützt werden könnte. Auch 
von seiner abnormen Sexualität möchte er befreit werden. Am Tage vor seiner 
Rückführung in die Haft sagte er mir nooh in der letzten Aussprache, er möchte 
nur dazu gelangen, ein Weib zu befriedigen, um später heiraten zu können. 

Beiläufig erwähnte er einmal, dass er nie eine Waffe in der Hand gehabt 
habe und vor dem Waffengebrauch Abscheu habe. 

Es bleibt nun nooh eine Besprechung der Ergebnisse der Asso¬ 
ziationsexperimente übrig. Von einer Mitteilung des sehr umfang¬ 
reichen Materials möchte ich absehen und nur das psychologisch 
Bemerkenswerte bringen. 

Die Handhabung des Experiments ist oben schon kurz angegeben. 
Es wird dem Kranken ein Reizwort zugerufen, auf das er mit der 
nächsten sprachlichen Aeusserung zu reagieren hat. Er soll das 
Nächste bringen, was ihm einfällt. Ein sinnvoller Zusammenhang 
wird in der Instruktion nicht verlangt, und dass ein solcher in der 


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Dämmerzustände eines homosexuellen Neurotikers. 


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Regel ohne weiteres angestrebt wird, ist ein allgemeiner Ausdruck 
der Tendenz, die auf uns einwirkenden Reize ihrer Bedeutung nach 
zu verstehen und dementsprechend auf sie zu reagieren. Es kommen 
nun Reaktionen zustande, welche uns über die verschiedensten Re¬ 
gungen, Interessen, Gefühle, Wünsche usw. der Versuchsperson Auf¬ 
schluss geben. Dazu ist es erforderlich, durch bestimmte Kennzeichen 
das subjektive Erleben während des Einzelversuchs sich zu vergegen¬ 
wärtigen. Wir messen die Reaktionszeit — es genügt eine Bestim¬ 
mung nach Fünftelsekunden —, geben eine möglichst naturalistische 
Darstellung des Sprechvorgangs sowie der begleitenden Ausdrucks¬ 
bewegungen, stellen die Beziehungen jeder Reaktion zum Reizwort, 
zu früheren Reaktionen oder Reizworten und zu Momenten dar, welche 
ausserhalb der Versuchsreihe liegen, und prüfen schliesslich, ob die 
Reaktion nach einer bestimmten Anzahl weiterer Reaktionen noch 
haftet. Wir wiederholen also nach einer Reihe von Einzel versuchen — 
im vorliegenden Falle wurden 50—100 Einzelversuche gemacht — 
die alten Reizwörter, dieses Mal mit der Instruktion, die vorigen 
Reaktionen, soweit erinnerlich, nochmals zu bringen. Ein Ausfall der 
Erinnerung oder ein Gedächtnisfehler deutet sehr oft an, dass in der 
Reaktion besondere Erlebnismomente aktuell gewesen sind. 

1. 16. 8. 19. 50 Versuche. Beginn 11 Uhr, Schluss 11 Uhr 23 Min. 

Fast durchweg sinnvoller Zusammenhang zwischen Reizwort und Reaktion; 
Ausnahmen: 

Trieb „Tisch“ (nach 7,8", während im übrigen die Zeitmittelwerte 1,2 bis 
1,8" betragen); Reproduktion: „Veranlassung“ (12"); bei der Reproduktion beob¬ 
achtet, dass er mit der Zunge dauernd in den rechten Mundwinkel stösst; starke 
Ablenkung mit Erregung, dann Verlegenheitsreaktion, die bei Reproduktion völlig 
ausgeschaltet ist; auch der ganze ursprüngliche Vorgang ist ihm entfallen, und er 
bildet mit grosser Anstrengung eine angemessene Assoziation, deren Reproduk- 
tionscharakter ihm nicht sehr wahrscheinlich ist. 

Entschluss: Es erfolgt überhaupt keine Reaktion; Reproduktion: „gefasst“; 
völlige Leere, Sperrung,Zustand, der in der Reproduktion nioht mehr erinnert wird. 

Die Reproduktion ist ausser in den beiden angeführten in 3 weiteren Ver¬ 
suchen gestört: 

Kalt „Wand“; Reproduktion: „Wasser“; es kommt eine speziellere Vor¬ 
stellung, unterstützt durch klangassoziative Verwandtschaft zum Vorschein. Die 
Reproduktionsstörung lässt Ablenkung, vielleioht infolge Gefühlsbetonung ver¬ 
muten; man kann daran denken, dass die Vorstellung „Gefängnis“ vorsohwebte. 

Süss „bitter“, Reproduktion: „sauer, nicht?“ Kontrastassoziation, in der die 
vorige Assoziation (duftig—schön) nachwirken' mag, was bei der Reproduktion 
fortfällt infolge der stärkeren Anspannung. Es ist aber auoh denkbar, dass für ihn 
nabeliegende sexuelle Vorstellungen störend, aufgetreten waren. 


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Max Margulies, 


Ruhig „au . . . aufgeregt“ (2,6"); Reproduktion: „weiss ich nicht“; Kon¬ 
trast, schwere Wortfindung und Erschwerung des motorischen Sprechvorganges; 
zusammen mit Reproduktionsstörung Zeichen besonderer Gefühlsbetonung, viel¬ 
leicht ein Fortspinnen eines durch die vorige Assoziation (Gesundheit—Krankheit) 
geweckten Erlebnisses. 

Das Experiment, in welchem die reine Gedächtnisleistung sich wiederum als 
eine hoohstehende erweist, bringt als besonders merkwürdige Momente das 
völlige Vergessen von Sperrungen, welche nach den Reizwörtern „Trieb“ 
und „Entschluss“ auftraten, und da diese Wörter verwandte Begriffe darstellen, 
ist es wahrscheinlich, dass durch sie Erlebnisse angeregt wurden, welohem er 
duroh Worte keinen adäquaten Ausdruck verleihen konnte oder deren Wiedergabe 
sich für ihn au* irgend einem Grunde verbot. ' 

2. 18. 8. 1919, 100 Versuche. Beginn 11 Uhr 16Min., Schluss llUhr54Min. 

In dieser Reihe befinden sich eine beträchtliche Anzahl von Reaktionen, 
welche keinen sinnvollen Zusammenhang mit dem Reizwort aufweisen. Auf ihre 
Mitteilung muss wegen Raummangels verzichtet werden. 

Es interessieren ferner diejenigen Reaktionen, welohe nioht reproduziert 
werden können 1 ). 

Dunkel „Bild“ (1,0): Reproduktion: „hell“ (1,2) . . . Manege? . . . 
„weiss ich nicht“. Es ist eine oberflächliche Wortergänzung anzunehmen; man 
sucht in so einem Falle die Ursache der Oberflächlichkeit in einer vorhergehenden 
Verbindung, welche ein intensiveres Erleben zum Ausdruok brachte und durch 
ihre Nachwirkung eine geringe Sperrung verursachte; erst diese Sperrung zeigt 
dann unter Umständen das yorausgehende Erlebnis an. Die vorige Assoziation 
war: glatt—schmal (1,2); Reproduktion erfolgte richtig nach 2,4 unter sichtlichem 
Nachdenken. Es ist eine fernliegendeVerbindung, bei der man sich aber sehr wohl 
eine Bewusstheit von etwas Zusammengehörigem als begleitendes Erlebnis vor¬ 
stellen kann; wenn dieses Erlebnis so stark ist, dass es noch die nächste Reaktion 
beeinflusst, darf man nach zahlreichen Erfahrungen an eine sexuelle Bedeutung 
der Verbindung denken und dürfte da verschiedene Anknüpfungsmöglichkeiten 
finden. 

Liebe „platonisoh“ (2,4); Reproduktion: „Weib“ (2,0) . . . „plato¬ 
nisch“ (sehr eifrig). Die Reaktion scheint durch Ueberlegung gefunden und mit 
einem Erleben verbunden zu sein, dem er frei gegenübersteht; die Reproduktion 
bringt zunächst eine geläufige Verbindung, dann wird, von angenehmen Gefühls¬ 
tönen begleitet, der ursprüngliche Zustand wieder erweckt. 

Sünder „Knabe“ (3,0); Reproduktion: „böse, nioht?“ (2,4) . . . „weiss ich 
nicht.“ Die Reaktion steht im Zusammenhang mit den beiden ihr vorausgehenden: 
Mädchen—Knabe, Reproduktion richtig, und Traum—Nacht, Reproduktion s. o.; 
die Reaktion ist durch Haftenbleiben entstanden, wobei aller Wahrscheinlichkeit 
nach ein innerer Zusammenhang mit vorsohwebte; es dürfte sich eine für ihn be¬ 
deutsame Assoziation: Knabe—Traum—Sünder gebildet haben, welche eine Ab¬ 
lenkung bedingte und das Haften der zufällig gewählten Reaktion beeinträchtigte. 


1) Auch diese sind wegen Raummangels nicht vollständig mitgeteilt. Eine 
ausführliche Analyse der Versuche wird für eine andere Gelegenheit Vorbehalten. 


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Dämmerzustände eines homosexuellen Neurotikers. 


241 


Fest „lang“ (1,6); Reproduktion: „schmal (3,6) . . . oder . . . weiss ich 
nicht.“ Ein Einfluss vorhergehender Reaktionen ist hier nicht erkennbar, die Re¬ 
produktionsstörung macht aber bei der auffälligen Reaktion — „fest—lang“ ist 
keine naheliegende Verbindung — nicht den Eindruck eines zufälligen Versagens 
des Gedächtnisses. Obpn war die Verbindung „glatt—schmal“ als ungewöhnlich 
gekennzeichnet und die Möglichkeit sexueller Nebenvorstellungen angenommen 
worden; die jetzige Verbindung kann in der gleiohen Richtung verwertet werden. 

Hart „weich“ (7,0") nach langem mimisch sehr ausgeprägtem Nachdenken; 
Reproduktion: „das weiss ich nicht“. 

Schwarz „Farbe“ (6,4"!); Reproduktion: „blau, nicht? . . . weiss (1,4") 
. . . dann weiss ich nicht“. , 

Wunsch „gut“ (1,4"); Reproduktion: „weiss ich nicht“. Drei aufeinander¬ 
folgende Reproduktionsstörungen'; vorhergehende Reaktion: Gesundheit—Krankheit 
kann sehr wohl besondere Erlebnisse angeregt haben; schon in den beiden ersten 
Reaktionen sind Hemmungen durch die sehr langen Reaktionszeiten merklioh. Es 
fallt aber auf, dass ebenso wie bei dem sinnverwandten „fest“ jetzt boi „hart“ 
Störungen auftreten, ebenso ist bei einem späteren Versuche die Reaktion 
„schwarz“ vergessen; daher muss an eine besondere Wirksamkeit des Inhalts der 
Reizworte gedacht werden, und da liegen Vorstellungen von Fäkalien nahe; ohne 
die Homosexualität des B. zu kennen, würde man demnach durch die Assozia¬ 
tionen darauf gebracht werden. ( 

Recht „gut“ (2,6"); Reproduktion: „das weiss ioh nicht“. Vorhergehende 
Reaktion: Knabe—Mädchen, deren Nachwirkung jetzt verständlich sein dürfte. 

Spitz „Kante“ (2,0"); Reproduktion: „Sultan, nicht? (8,8") . . . weiss 
ioh nicht . . . Konstantinopel? . . '. weiss ich nicht“. 

Kinder „Knaben“ (2,2"); Reproduktion: „das weiss ioh nicht“. Zwei auf¬ 
einanderfolgende Reproduktionsstörungen, deren erste sich nicht zwanglos be¬ 
gründen lässt, während die zweite den homosexuellen Komplex bestätigt. 

Weich „hart“ (1,0"); Reproduktion: „das weiss ich nicht“. Die besondere 
Bedeutung der Ausdrücke „fest“ und „hart“ bestätigt sich. 

Wunder „Bank“ (5,6"), nach geringfügigen Schulterbewegungen; Repro¬ 
duktion: „das weiss ich nicht“. 

' Verfolgung „Räuber“ (1,4"); Reproduktion: „das weiss ich nicht“ (4,1"), 
■dann sehr eifrig richtig. 

Blau „schwarz“ (1,8"); Reproduktion: „das weiss ich nicht“. 

Knospe „Blüte“ (1,2"); Reproduktion: „das weiss ich nicht“. Eine Lücke 
in 4 aufeinanderfolgenden Reproduktionen; die vorausgehende Assoziation 
„schön—Augen“ kann durch Eigenbeziehung mit sexuellem Beiklang sehr wohl 
eine starke Ablenkung bedingt haben. „Bank“ ist eine ausgesprochene Verlegen¬ 
heitsreaktion. „Räuber“ wird nach langer Hemmung schliesslich gefunden; es 
mag ihm ein Vorgang, den er gelegentlich erzählt hatte, vorgeschwebt haben: er 
hatte sich angeblich, nachts mit der Bahn naoh Berlin gekommen, auf eine Bank 
„Unter den Linden“ gesetzt, war eingeschlafen und fand beim Erwachen sein 
ganzes Geld geraubt; das Wort „schwarz“ scheint, wie oben erwähnt, für ihn 
eine besondere Bedeutung zu haben. Durch eine verdichtete Nachwirkung aller 

Yierteljahrssohriftf. ger. Med. o. öff. San.-Wesen. 3. Folge. Bd. 60. H. 2. i g 


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3 ~ 


242 Max Margulies, 

dieser Erlebnisse ist aller Wabrsoheinlichkeit nach die Assoziation „Knospe— 
Blüte" ausgeschaltet. 

Die beiden letzten Versuchsreihen bringen keine neuen Ergebnisse, we-che 
für den vorliegenden Zweck belangreich sind. Interessant ist die am 4. 9. ge¬ 
brachte Verbindung „Wohltat—Frau“, welche bei der Reproduktion ausgesohaltet 
ist; am folgenden Tage sagte er spontan, er wolle nur dazu gelangen, mit einer 
Frau verkehren zu können. Hier zeigt es sich, mit welcher Feinheit die Versuche 
sein Innenleben aufzeigen. 

Nach dem Aktenstudium war es allein keineswegs zu ver¬ 
muten, dass die Straftaten in einem die freie Willensbestiramung aus- 
schliessenden Zustande begangen worden waren. In dem einen Falle 
hatte B. sofort ein Geständnis abgelegt, in dem anderen, in welchem 
er sich herauszureden suchte, war er durch übereinstimmende Zeugen¬ 
aussagen schwer belastet. Das erste Moment, welches die psychi¬ 
atrische Untersuchung wünschenswert erscheinen liess, lag in der 
Tatsache, dass B., bevor er jemals kriminell geworden ist, in 
zwei Irrenanstalten interniert war. Ein zweiter Punkt, welcher auf¬ 
merken liess, war sein Verhalten bei dem an der Frau des Schutz¬ 
manns N. begangenen Taschendiebstahl; B. war wenige Tage vorher 
wegen schwerer Unterernährung aus der Strafhaft entlassen. Er be¬ 
hauptete, von seiner Handlung nichts zu wissen. Bei der Vernehmung 
vor dem Amtsgericht heisst es: Der Beschuldigte erklärte nichts, 
sondern hielt beständig die Hand an den Mund und gab, abgesehen 
von der Nennung seines Namens Beglio, keine Antwort. — Unter¬ 
schrift verweigert. 

Machen wir uns ein anschauliches Bild von dem Vorgang, so 
dürften wir dazu kommen, nicht eine aktive Verweigerung der Unter¬ 
schrift anzunehmen, sondern einen Zustand von Sperrung, in dem B. 
nicht zu bewegen war, irgendwelche Aufforderungen auszuführen. Im 
Zusammenhang des Ganzen ist die Entstehung dieser Störung durch 
seelisch erregende Momente wahrscheinlich; sie wäre demnach als 
„emotioneller Stupor“ aufzufassen. 

Es ist nun auffällig, dass gerade in dieser Strafsache die Frage 
nach einer krankhaften Störung der Geistestätigkeit garnicht auf¬ 
geworfen wurde. Jedoch war sie in dem voraufgehenden Urteil der 
5. Strafkammer eingehend erwogen worden. Hier wird angeführt, 
dass er selber sich als wiederhergestellt bezeichnet habe. Trotz seiner 
Behandlung in Irrenanstalten ist er also garnicht auf den Gedanken 
gekommen, in einer geistigen Störung seine Entlastung zu suchen. 
Dementsprechend wird auch von auffälligem Benehmen in der Straf- 


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Dämmerzustände eines homosexuellen Neurotikers. 


243 


haft nichts berichtet, und auch in der jetzigen Untersuchungshaft hat 
er spontan keine Abweichungen gezeigt. 

Sehr bedauerlich ist der Umstand, dass die Krankheitsgeschichten 
aus, A. und L. nicht zu erlangen waren. Die Krankheit ist in A. 
als Dementia praecox bezeichnet worden; dieses summarische Urteil 
ist für unseren Zweck unzureichend. Wichtig wäre eine Kenntnis der 
Erscheinungen, welche zu seiner Einlieferung führten, und die Mit¬ 
teilung des Krankheitsverlaufs. Die Ergebnisse der eigenen Beob¬ 
achtung müssen nach Möglichkeit die Lücke ergänzen und gegebenen¬ 
falls zu einer kritischen Beleuchtung der Diagnose führen. Fest¬ 
stehen dürfte, dass mit seiner Entlassung aus L. dort seine straf¬ 
rechtliche Verantwortlichkeit vorausgesetzt wurde. 

Die körperliche Untersuchung hat einiges Bemerkenswerte er¬ 
geben insofern, als er sich als ausgesprochen schwächlicher Mensch 
erwiesen hat mit grossem hydrozephalischem Schädel und ungleich- 
mässiger Entwicklung beider Gesichts- und Schädelhälften. Das kann 
durch Störungen während des Geburtsakts verursacht sein, und dem 
entspricht seine Angabe im Lebenslauf, dass seine Mutter bei seiner 
Geburt gestorben sei. Von funktionell-nervösen Symptomen ist die 
besonders starke Steigerung der Sehnenreflexe hervorzuheben, während 
im. übrigen diese Symptome auffallend spärlich sind. In seinem Be¬ 
nehmen war er im allgemeinen geordnet, und man konnte ihm nicht 
vorwerfen, dass er darauf bedacht gewesen wäre, krankhafte Züge 
geflissentlich hervorzukehren. Soweit solche sich spontan äusserten, 
seien sie in folgendem nacheinander aufgeführt: Bei seiner ersten 
Unterredung mit ihm am 30. 7. trat scheues Wesen und ausser- 
* ordentliche Schwerbesinnlichkeit hervor; obwohl ich ihn wenige Tage 
vorher in die Anstalt aufgenommen hatte, erkannte er mich nicht 
wieder, schien überhaupt an die Einzelheiten der Aufnahme, bei der 
er äusserlich geordnet war, keine rechte Erinnerung zu haben. Am 
nächsten Tage kam ein auffälliges Versagen bei einer Rechenaufgabe 
und bei einer leichten Gedächtnisprüfung' vor, Dinge, welche ihn in 
ehrliche Missstimmung versetzten. Wie weitere Untersuchungen er¬ 
gaben, war das Versagen durch die augenblickliche Disposition be¬ 
dingt gewesen; es waren Erscheinungen, wie man sie bei Haftpsychosen 
findet, dort allerdings viel ausgesprochener und ohne die hier so deut¬ 
liche Tendenz zu ihrer Ueberwindung. Ein ausgesprochen stuporöser 
Zustand war dann in der Untersuchung vom 11. 8. aufgetreten, als 
ich ihn zum ersten Mal ausführlicher über seine Sexualität befragte. 

16 * 


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244 


Max Margulies, 


An diesen Zustand, der zunächst als aktive Sperrung imponierte, be¬ 
hauptete er später, gar keine Erinnerung zu haben, was an und für 
sich unwahrscheinlich, aber im Zusammenhang mit anderen Fest¬ 
stellungen nicht auszuschliessen war. 

Solch ein Moment war die wiederholte Erregung während der 
Nächte, von denen er im wachen Zustande nichts wusste. Diese 
Erregungen sind mehrfach nach verstimmenden Erlebnissen am Tage 
vorher vorgekommen, so nach der ihn in starken Affekt versetzenden 
Insuffizienz beim Rechnen und nach dem stuporösen Gebahren am 
II. 8. An seine Amnesie für diese Vorgänge konnte man unbedingt 
glauben, und ihr innerer Zusammenhang mit erregenden Ereignissen 
war von vornherein sehr wahrscheinlich. 

Damit sind die spontanen Aeusserungen einer krankhaften Ver¬ 
anlagung erschöpft. Sie bieten im Zusammenhang das Bild einer 
nervös labilen Persönlichkeit, welche auf unangenehme Eindrücke 
ausserordentlich stark reagiert, so dass Bewusstseinstrübungen auf- 
treten, welche sich ija starrer Abschliessung gegen die Vorgänge 
der nächsten Umgebung äussem. Welche tieferen Ursachen diese 
Veranlagung hat, darüber mussten besondere Untersuchungen auf¬ 
klären. 

In erster Reihe waren seine eigenen Angaben dazu heranzuziehen. 
Er hat von früher Jugend an phantastische Pläne gehabt, für deren 
Wahrmachung ihm jede Fähigkeit gebrach. Bei seinem ersten Ver¬ 
such als Kaufmannslehrling scheiterte er, obwohl es ihm an Intelligenz 
allem Anschein nach nicht gefehlt haben dürfte. Dann erst begann 
seine Laufbahn als herrschaftlicher Diener, welche ihm zusagte, wobei 
seine abnorme geschlechtliche Veranlagung eine wesentliche Rolle . 
spielte. Ueber die Erkrankung, welche zu seiner Internierung führte, 
wusste er nichts anzugeben. Auf dem Transport zum Truppenteil 
erinnerte er sich, Köln und Berge hinter Köln gesehen zu haben; von 
da an sei jede Erinnerung entschwunden. Man muss danach an einen 
Dämmerzustand denken uud an der Diagnose „Dementia praecox“ 
Zweifel hegen. Aus seiner frühen Kindheit weiss er über einen Zu¬ 
stand von Bewusstlosigkeit zu berichten, in welchem er „scheintot“ 
war. Er will ferner abends vor dem Einschlafen Stimmen hören; 
sehr interessant ist der von ihm geschilderte Zustand während der 
Untersuchungshaft. Sehr ausführliche Angaben hat er über seine 
Kopfschmerzen gemacht. Ebenso hat er sich über Angstzustände 
und Störungen des Gedächtnisses geäussert, welche nach seiner 


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Dämmerzustände eines homosexuellen Neurotikers. 


245 


Schilderung durch Ablenkung infolge phantastischer fortgesponnener 
Einfälle zustande kommen sollen. Das Wichtigste, was seine Per¬ 
sönlichkeit in ganz neuartiger Weise beleuchtet, sind seine Angaben 
über seine abnorme sexuelle Veranlagung. Ob alle Einzelheiten 
stimmen, ist dabei belanglos; das Wesentliche — seine feminine 
Artung und ihre Aeusserung in sexuellen Akten — ist sicher zu¬ 
treffend. Davon überzeugt bereits seine mit allgemeinen Erfahrungen 
übereinstimmende Darstellungsweis^, und zum Ueberfluss bringen die 
Assoziationsversuche Resultate, welche, seiner Willkür durchaus ent¬ 
zogen, ohne weiteres einen 'Solchen Verdacht erwecken würden, .wie 
ich bei der Besprechung der Versuche mich zu zeigen bemüht habe. 
Er ist zweifellos ein unglücklicher Mensch, auf dem das Bewusstsein 
seiner Abnormität schwer lastet, so dass es ihn schon vor Jahren zu 
einem allerdings schwächlichen Selbstmordversuch getrieben hat. Dass 
er nun, von mir etwas angeregt, versuchte, seine Diebstähle, welche 
ja, soweit nachgewiesen, lediglich auf Damenportemonnaies gingen, 
mit seiner femininen Veranlagung in einen psychologischen Zusammen¬ 
hang zu bringen, war verständlich, aber bei dem Mangel jeder Zwangs¬ 
empfindung entschieden gesucht und nicht ausreichend zu begründen. 
Eine symbolisierende Umdeutung der Diebstähle scheint mir gerade 
bei B., der über sein Innenleben ausserordentlich klare Angaben 
machte, besonders wenig angebracht. 

In zweiter Linie sind die Ergebnisse der feineren experimentellen 
Untersuchungen heranzuziehen. In der ausführlichen ‘ Gedächtnis¬ 
prüfung nach Ran sch bürg zeigte sich bei einer sonst besonders 
guten Gesamtleistung eine inselförmige grössere Lücke, allem An¬ 
schein nach durch plötzlich auftretende Kopfschmerzen bedingt; eine 
Durchsicht des zur Verwendung gelangten Wortematerials zeigt, dass 
die Lücke nach Wortpaar „Weib-Liebe“ einsetzte, so dass auch eine 
inhaltlich verursachte Ablenkung angenommen werden kann. Solche 
Ablenkungen hat das Assoziationsexperiment in grosser Zahl zum 
Vorschein gebracht mit dem Erfolg von Reproduktionsstörungen und 
Beeinflussung der einer solchen Ablenkung folgenden Reaktionen; der 
Einfluss sexueller Vorstellungen war dabei vielfach durchsichtig. Dass 
solche Lücken mit den von ihm geschilderten Bewusstseinsstörungen 
eine innere Verwandtschaft aufweisen, ist ja naheliegend, und das 
Zustandekommen von Bewusstseinstrübungen durch Versinken in traum¬ 
haft aufsteigende Vorstellungsreihen, wie er sie schildert, hat danach 
grosse Wahrscheinlichkeit für sich. 


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246 Max Margulies, Dämmerzustände eines homosexuellen Neurotikers. 


Das führt weiter dazu, dass wir in Uebereinstimmung mit seinen 
Anssagen die Erkrankung, welche zu seiner Internierung führte, als 
einen Dämmerzustand und nicht als Dementia praecox auffassen; es 
mag sich um einen stuporösen Zustand gehandelt haben, wie er einmal 
auch während einer Untersuchung beobachtet wurde, und da lag die 
Annahme einer Dementia praecox sehr nahe. Nun ist aber das 
Charakteristische solcher stuporösen Zustände im Verlauf der Dementia 
praecox gerade die oft peinlich genaue Erinnerung an das, was während 
dieser scheinbar tiefsten Versunkenheit in der Umgebung vorgegangen 
ist. Wenn mit guten Gründen anzunehmen ist, dass eine solche Er¬ 
innerung völlig fehlt, so ist die Diagnose eines Dämmerzustandes die 
gegebene. Solche Dämmerzustände sind bei ihm die Folge starker 
und peinlicher äusserer Eindrücke oder des Fortspinnens erregender 
innerer Erlebnisse. Eine organische Grundlage ist für sie also nicht 
notwendigerweise heranzuziehen, wenn auch die oben angeführte ab¬ 
norme Schädelbildung eine gewisse Disposition dazu anzeigen mag. 
Die entscheidende Frage für das Gutachten war jetzt, ob zur Zeit 
der der Anklage zugrunde liegenden Handlungen solche Dämmer¬ 
zustände Vorgelegen und die freie Willensbestimmung ausgeschlossen 
hatten. Hierbei war man ganz auf die Angaben des Angeklagten 
angewiesen. Nun war das, was er über seinen Bewusstseinszustand 
während des Vorgangs am Anhalter Bahnhof aussagte, die typische 
Darstellung einer Lücke im wachen Bewusstsein; er hatte eine genaue 
Vorstellung von dem, was bis zu einem bestimmten Zeitpunkt vor¬ 
gegangen war, und kam zur Besinnung, indem er sich überraschend 
in einer neuen Umgebung fand. Sehr charakteristisch war es auch, 
dass sich ihm die Situation unmittelbar nach dem Erwachen besonders 
lebhaft eingeprägt hatte. Befremdend wirkte sein sofortiges und 
wenige Tage später wiederholtes Geständnis gerade in diesem Falle. 
Es konnte aber zwanglos mit der Willenlosigkeit und Erschöpfung, 
wie sie solchen Dämmerzuständen zu folgen pflegen, erklärt werden, 
dass er seine Bewusstlosigkeit während der Begehung der Tat nicht 
sofort energisch geltend machte; es war ihm ja voll bewusst ge¬ 
worden, dass er einwandfrei überführt worden war. Somit musste 
mit grosser Wahrscheinlichkeit angenommen werden, dass diese Tat 
im Dämmerzustände begangen worden war. 

Für das andere Vergehen, dessen Schauplatz die Plattform einer 
Strassenbahn war, lag keine Ursache zu einer solchen Annahme vor. 


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XVII. 


Die forensische Bedeutung der Gehirnarteriosklerose. 

Von 

Dr. med. W. Knape, 

Kreisarzt in Johannisburg (Ostpr.). 

(Schluss.) 

Differentialdiagnostisch kommt im Beginn der Erkrankung einmal die Neur¬ 
asthenie in Betracht und dann vor allem auch die progressive Paralyse. Bei der 
Neurasthenie werden wir bei Erhebung der Vorgeschichte meist immer auf das un¬ 
mittelbar vorhergehende Moment der Erschöpfung als auf eine wesentliche Krank¬ 
heitsursache hingewiesen, während das arteriosklerotische Leiden diese ursächliche 
Klärung meist nicht findet. Eine Steigerung des Blutdrucks pflegen wir bei der 
Neurasthenie nur vorübergehend nach körperlichen und psyohischen Leistungen 
zu sehen, die bei eintretender Ruhe zur Norm abklingt; anders beim Arterio- 
sklerotiker, wo diese Steigerung konstant ist. Doch müssen wir bekennen, dass 
nicht in jedem Falle eine sichere Scheidung zwischen Neurasthenie und beginnen¬ 
der Hirnarteriosklerose möglich ist. Um so sorgfältiger sollte aus diesem Grunde 
bei Kranken jenseits des 40. Lebensjahres die Untersuchung auf das Bestehen von 
Herderscheinungen achten, die gegenüber den diffusen funktionellen Störungen 
der Neurasthenie ausschlaggebende Unterscheidungsmerkmale sind. Der Verdaoht 
der Paralyse wird am sichersten durch die Wassermannsche Blutuntersuchung und 
zytologische Untersuchung des Lumbalpunktates geklärt. 

Bei den späteren, schwereren Krankheitszuständen haben wir differential- 
diagnostisch den Greisenblödsinn, die atypische Paralyse sowie die Hirnlues zu 
berücksichtigen. Die senile und die paralytische Geistesstörung unterscheiden 
sich durch den diffusen Charakter ihrer Symptome von der arteriosklerotischen 
Erkrankung. Die Verblödung und die Charakterveränderung ist dort eine all¬ 
gemeine und tiefergehende; das Fehlen der Krankheitseinsicht, stark betonte de¬ 
pressive und exaltive Affekte sowie Wahnbildungen zeigen den senil-dementen 
oder paralytischen Kranken in einem traumhaften, dämmerhaften Zustand, der sich 
gegenüber den isolierten psychischen Ausfallerscheinungen und der Krankheits¬ 
einsicht des arteriosklerotischen Kranken deutlich abhebt. Auch bei der anato¬ 
mischen Diagnose ist die diffuse. Erkrankung des Hirns, wo der Degenerations¬ 
prozess allgemein, wenn auch in verschieden starkem Grade, das ganze Hirn be¬ 
trifft, für die Paralyse und die senile Atrophie ausschlaggebend gegenüber dem 
durch den Gefässverlauf angezeigten herdförmigen Ausfall von Ganglienzellen und 
Markfasern und herdförmigen Vermehrung der Glia bei der Arteriosklerose. Als 
sicherstes diagnostisches Hilfsmittel gegenüber der Paralyse und der Lues cerebri 
bietet sich auch in den späteren Stadien die Wassermannsche Blutuntersuchung 
in Verbindung mit der zytologischen und serologischen Untersuchung des Lumbal- 
punktats. Eine deutliche Lymphozytose in dem Liquor findet sich bei derZerebral- 
arteriosklerose nicht, ihr Nachweis spricht also für eine syphilitische oder meta¬ 
syphilitische Erkrankung des Nervensystems. Nicht allzu selten begegnet man bei 


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248 


W. Knape, 


der Hirnarteriosklerose Fällen, welche wegen der Eigenart ihrer Herdsymptome 
den Verdacht auf Hirntumor nahelegen. Ich erinnere mich, als Anatom mehrere 
Fälle gesehen zu haben, wo auf Grund fachärztlicher Untersuchung wegen Tumor- 
Verdachtes die Neisser-Pollaoksche Hirnpunktion vorgenommen wurde. Die Unter¬ 
suchung der Punktionspartikelchen, welche lediglich Blutpigment ergab, und die 
in einigen Fällen später vorgenommene Obduktion klärten die arteriosklerotische 
Genese in diesen Fällen auf. Bei solch zweifelhaften Kfankheitszuständen wurde 
eine Stauungspapille im Augenhintergrund, ein erhöhter Druck der Zerebrospinal¬ 
flüssigkeit sowie langsam zunehmende Lahmungserscbeinungen eng zusammen- 
liegenderZentren und Bahnen für die WahrscheinlichkeitsdiagnoseTumor sprechen, 
während höheres Alter des Kranken, das Hervortreten psychischer Störungen 
und multilokulärer Herdsymptome mehr auf eine arteriosklerotische Ursache hin¬ 
deuten. 

Nach diesen Ausführungen über die Pathologie und über den Nachweis der 
Arteriosklerose der Hirngefässe Stehen wir nunmehr vor der Aufgabe, die diesem 
Krankheitszustand zuzumessende Bedeutung in foro zu erläutern. Die bisherige 
Erfahrung ergab, dass das Schwergewicht in der gerichtsärztlichen Beurteilung 
dieser Kranken auf dem Gebiete des Zivilrechts liegt; eine nicht unwesentliche 
Rolle spielt die zerebrale Arteriosklerose aber auch auf dem Gebiete des Straf- 
reohts. Im strafrechtlichen Verfahren können derartige Kranke sowohl als Täter 
der strafbaren Handlung wie auch als der durch das Delikt geschädigte Teil der 
Gegenstand gerichtsärztlicher Begutachtung werden. Als Täter einer strafbaren 
Handlung kommt der arteriosklerotische Kranke besonders im Beginn der Er¬ 
krankung in Frage. Die starke Labilität der Affekte, die krankhaft gesteigerte 
Reizbarkeit bringen ihn nicht selten in Konflikt mit dem Strafrecht. Beleidigung 
und Körperverletzung sehen wir als Folgen der krankhaften Erregbarkeit dieser 
Kranken, welche in ihrer sinnlosen Wut selbst ihre nächsten Angehörigen mit 
ihren Angriffen nicht verschonen. Besonders unter der Einwirkung alkoholischer 
Getränke kommt es infolge der Intoleranz zu Handlungen, welche der Kranke 
ebenso schnell, wie die Erregung abklingt, bitter bereut. Die krankhaft gesteigerte 
Ermüdbarkeit und Vergesslichkeit führt zu Klagen wegen Vernachlässigung des 
Dienstes, zu Fahrlässigkeitsdelikten, zu Anklagen wegen Urkundenfälschung und 
Unterschlagung. So teilt Albrecht (24) zwei Fälle ausführlich mit, in denen 
gegen bis dahin als zuverlässig geltende Steuerbeamte wegen nicht rechtzeitiger 
Ablieferung von Steuergeldern die Anklage auf Unterschlagung erhoben wurde. 
Bei beiden Angeklagten wurden typische Krankheitssymptome der Hirnarterio¬ 
sklerose festgestellt und die gerichtliche Untersuchung rechtfertigte die Annahme, 
dass in beiden Fällen das Vergehen eine Folge der Krankheit sei. 

Aehnlicb wie bei der senilen Geistesstörung werden auch bei der arterio¬ 
sklerotischen Hirnerkrankung nicht selten Delikte gegen die Sittlichkeit beobachtet; 
zuweilen in einem Stadium der Krankheit, wo anderweitig keine ausgesprochenen 
krankhaften Mängel des Seelenlebens vorhanden sind, Fälle, in denen die An¬ 
nahme besteht, dass der ethische Defekt dem intellektuellen Verfalle vorangeht. 
Während Leppmann (42) die Hauptursache der Sexualverbrechen im späteren 
Lebensalter auf eine krankhafte Steigerung des Geschleohtstriebes mit Verkehrung 
der Triebrichtung sieht, nehmen Hofmann (43), Zingerle (11) u. a. an, dass es 
der Ausfall psychischer Hemmungen, das Fehlen von Gegenvorstellungen ist, was 


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Die forensische Bedeutung der Gehirnarteriosklerose. 249 

aus dem sinnlichen Triebe Handlungen entstehen lässt, die den Täter mit dem 
Strafgesetz in Konflikt bringen. So sehen wir nicht selten einen bis dahin un¬ 
bescholtenen, von seinen Mitbürgern geachteten Mann nach anscheinend glück¬ 
lichem Familienleben plötzlich wegen Notzucht oder wegen Schändung ünter An¬ 
klage vor Gericht stehen. Bei der Analyse des Sittliohkeitsverbrechens fand 
Leppmann, dass die Häufigkeit derartiger Delikte in Beziehung steht zu der 
Umgebung des Rechtsbrechers, je nachdem sie mehr oder weniger verführend 
wirkt. Dieses Moment kann durch Amt und Stellung des Täters gegeben sein, 
sein, wenn die angegriffene Person ihm untergeben oder sonst von ihm abhängig 
ist. Die autoritative Stellung des Lehrers, des Geistlichen, des Arbeitsgebers wird 
aus diesem Grunde das Sittlichkeitsverbrechen auch bei arteriosklerotischen Kranken 
in diesen Berufen häufiger beobachten lassen als in anderen Berufen. 

Bei dem schleichenden Verlauf der Krankheit, dem häufigen Wechsel der 
Intensität der Krankheitserscheinungen ist es für den Gerichtsarzt oft nicht leicht, 
zu einem klaren Urteil darüber zu kommen, ob dem Täter für die Handlung die straf¬ 
rechtliche Zurechnungsfähigkeit zuzuerkennen oder diese auszüschliessen ist. Be¬ 
sonders schwierig ist diese Frage, wenn dauernde ethische oder intellektuelle Aus¬ 
fälle noch nicht nachweisbar sind. Eine schematisohe Formel für die Beurteilung 
derartiger Kranker bei Konflikten mit dem Strafrecht ist nicht angängig, jeder 
Einzelfali verlangt vielmehr seine individuelle Prüfung. Eine genaue Vorgeschichte 
des Kranken, sein Verhalten unmittelbar vor und nach der Tat, sowie eine sorg¬ 
fältige Körperliche und psychische Untersuchung werden uns die Unterlagen für 
das gerichtsärztliche Gutachten geben, ln den Fällen, wo die früher erörterten 
Erscheinungen der schweren zerebralen Arteriosklerose nachweisbar sind und für 
die Tat die Annahme eines impulsiven, durch die Labilität des Affekts bedingten 
Handelns zwingend erscheint oder auch nur sehr wahrscheinlich ist, werden die 
Voraussetzungen des strafausschliessenden § 51 als erfüllt anzusehen sein. Häufiger 
sind aber jene Fälle, wo bei der ärztlichen Untersuchung zwar Anzeichen einer 
Hirnarteripsklerose vorhanden, aber keine schwereren nervösen Veränderungen 
nachweisbar sind. Hier werden wir vor allem durch wiederholte Untersuchungen 
dem aus der Klinik bekannten Wechsel und Schwanken des Krankheitsbildes 
Rechnung tragen. Als weitere Unterlagen müssen die Zeugenaussagen heran¬ 
gezogen werden, die über das Verhalten des Täters vor, während und nach der 
Tat berichten und eventuell Zeichen der geistigen Insuffizienz des Täters offen¬ 
baren. Besondere. Aufmerksamkeit verdient die Möglichkeit, dass die Tat unter 
dem Einfluss des Alkohols geschehen ist. Auch das Vorleben des Ange¬ 
klagten wird uns einige Richtpunkte geben können. Ist der Täter wiederholt und 
zu einer Zeit, in der eine arteriosklerotische Störung nicht in Frage kommt, mit 
dem Strafrecht kollidiert, so würde es unwahrscheinlich sein, wollte man ein im 
späteren Alter begangenes Vergehen einer nicht einmal sicheren arterioskleroti¬ 
schen Herddegeneration zur Last legen. Anders bei Individuen, welche nicht vor¬ 
bestraft, von ihren Mitbürgern geachtet und als zuverlässige Menschen bekannt, 
im Alter vor dem Strafrichter stehen wegen einer Tat, die sowohl der Umgebung 
als auch oft genug später dem Täter selbst unbegreiflich erscheint. Bei derartigen 
Fällen sollte grundsätzlich der Gerichtsarzt wenigstens gehört werden, denn, wie 
Asch affen bürg (44) sagt, „der Charakter des Menschen ändert sich nicht ohne 
tiefgreifende Gründe von heute auf morgen so, dass aus einem bis in sein hohes 


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W. Knape, 


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Alter einwandfrei lebenden Menschen plötzlich ein verkommener Wüstling wird". 
In solchen Fällen ist vielmehr die Annahme krankhafter Motive sehr nabeliegend. 

Sind die Krankheitserscheinungen sowohl zur Zeit der Tat als bei der ge¬ 
richtsärztlichen Untersuchung nicht derartig sohwere, dass sie die „freie Willens¬ 
bestimmung“ ausschliessen, haben wir es z. B. mit der leichten nervösen Form 
derZerebralarteriosklerose zu tun, bei welcher wir annehmen müssen, dass derTäter 
zwar zurechnungsfähig ist, aber nicht mehr die für den Durchschnittsmenschen 
anzunehmende Fähigkeit hat, sinnliche und leidenschaftliche Triebe zu beherrschen, 
so ist es angängig und geboten, da das Gesetz eine verminderte Zurechnungs¬ 
fähigkeit nicht anerkennt, in dem Gutachten auszuführen, dass der Untersuchte 
zwar zurechnungsfähig im Sinne des Strafgesetzes ist, aber infolge seines Hiro- 
leidens in seinem Tun und Lassen weniger widerstandsfähig und leichter zu 
aktivem Vorgehen bestimmbar ist als der Durchschnittsmensch. Der Richter pflegt 
bei der Strafabmessung diesem Umstande Rechnung zu tragen. 

Von besonderem Interesse muss die zerebrale Arteriosklerose in der Frage 
des § 224 StGB, sein, welcher über auftretendes Siechtum, Lähmung oder Geistes¬ 
krankheit nach einer Körperverletzung spricht. In der Einleitung wurde bereits 
darüber gesprochen, dass ein Trauma erheblich schwerere Folgen auf ein arterio¬ 
sklerotisches als auf ein normales Gefässsystem hat und nach den Rick ersehen 
Untersuchungen nahm ich dafür eine krankhafte Herabsetzung der Erregbarkeit 
des Gefässnervenapparates an, die sich in einer Herabsetzung der Reizschwelle 
und in einer abnormen Reizwirkung dokumentiert. Der Qualität der Reize kam 
dafür keine entscheidende Rolle zu; es wurde auch daraufhingewiesen, dass nicht 
allein die physischen, sondern auch psychische, sensugene Vorgänge als Reize für 
das Gefässnervensystem des Gehirns aufzufassen sind. Wir müssen demgemäss 
damit rechnen, dass die Folgen einer Körperverletzung bei einer arterioskleroti¬ 
schen Hirndegeneration sich wesentlich schlimmer darstellen als wenn das Trauma 
einen gesunden Organismus getroffen hätte. Stase und ausgedehnte kapilläre 
Blutungen oder bei der Brüchigkeit der sklerotischen Gefässe eine ausgedehnte 
Rhexisblutung mit den klinischen Erscheinungen der Hirnapoplexie können die 
unmittelbare Folge der Körperverletzung sein. Der sich anschliessende Krank¬ 
heitsverlauf kann sowohl den Charakter des Siechtums, der Lähmung oder der 
Geisteskrankheit zeigen je nach den Symptomen, welche wir früher als die klini¬ 
schen Ausdrucksformen der schweren fortschreitenden Form der arterioskleroti¬ 
schen Hirndegeneration schilderten. Nach dem Gutachten der preussischen 
wissenschaftlichen Deputation für .das Medizinalwesen vom 16. 5. 1877 (Viertel- 
jahrsschr. f. gerichtl. Med., N. F., Bd. 27) erfordert der Begriff des Verfalls in 
Siechtum einen chronischen Krankheitszustand mit schwerer Schädigung des All¬ 
gemeinbefindens, der Erwerbsfähigkeit und zunehmender Hinfälligkeit, einen 
Zustand, der, wenn auch nicht unheilbar, so doch in absehbarer Zeit eine Besse¬ 
rung nicht erwarten lässt. Auch die schweren Formen der traumatischen Neurose 
können sich als Siechtum in diesem Sinne manchmal darstellen, und die Unter¬ 
suchungen von Leers (14) ergaben, dass gerade der Hirnarteriosklerose als Grund¬ 
lage für das Auftreten traumatischer Neurosen von langer Dauer und schwerer 
Form eine grosse Bedeutung zukommt. Der Verfall in Lähmung im Sinne des 
§ 224 StGB, setzt eine so ausgedehnte Gebrauchsunfähigkeit einer oder mehrerer 
Körperteile voraus, dass die Bewegungsfähigkeit des Gesamtorganismus schwer 


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Die forensische Bedeutung der Gehirnarteriosklerose. 


251 


geschädigt ist; und zwar ist auch hier erforderlich, dass der Kranbheitszustand 
ein langdauernder ist, in absehbarer Zeit nicht besserungsfähig ist. Es wurden 
hierunter die Fälle irreparabler Hemiplegie eventuell auch Monoplegie zu rechpen 
sein. Lähmungserscheinungen einzelner Muskelgruppen, welche die Bewegungs¬ 
fähigkeit des Organismus nicht wesentlich beeinflussen, können nicht als „Verfall 
in Lähmung u angesehen werden. Aehnlich liegen die Verhältnisse, wenn nicht so 
sehr die körperlichen Krankheitserscheinungen, sondern die psychischen Störungen 
im Vordergründe stehen und als Folge einer Körperverletzung anzusehen sind; es 
würden hierunter die schwere Form der arteriosklerotischen Demenz und der Epi¬ 
lepsie zu rechnen sein. 

Bei der Unsicherheit der Aetiologie der Funktionsstörungen des Gehirns ist 
bei der Begutachtung solcher Fälle Vorsicht geboten; der wechselnde Krankheits¬ 
verlauf der arteriosklerotischen Störungen erheischt dies um so mehr. Erst wenn 
in grösseren Zwischenräumen vorgenommene Untersuchungen bleibende, schwere 
Störungen nachgewiosen haben, ist die geforderte Prognose der Unheilbarkeit oder 
des chronischen Charakters des Krankheitszustandes gesichert. Auch die Be¬ 
ziehung der Entstehung des Krankheitszustandes zu dem beschuldigten Trauma 
ist vorsichtig zu erwägen. Nur ein sehr enger zeitlicher Zusammenhang vermag 
in derartigen Fällen eine sichere Grundlage abzugeben. Die in der Unfallmedizin 
vielbesprochene Spätapoplexie, von welcher Mendel (17) ein Zeitintervall zwischen 
Trauma und Hirnblutung von 1 bis 6 Woohen in der Mehrzahl der Fälle annimmt, 
ist meines Erachtens noch zu wenig geklärt, als dass die darüber bestehenden 
Hypothesen eine Unterlage für ein Urteil im Sinne des § 224 StGB, bieten. Hält 
der Gutachter den ursächlichen Zusammenhang für erwiesen, so wird er gleich¬ 
zeitig betonen, dass der Krankheitszustand nicht allein durch die Verletzung be¬ 
dingt ist, sondern seine Entstehung zum grossen Teil in der vorher bestandenen 
Arteriosklerose begründet ist. Die Strafkammern pflegen bei der Strafabmessung 
diesem Umstande Rechnung zu tragen. Das Reichsgericht hat sich hiergegen in 
seiner Entscheidung vom 29. 5. 1911 dieser Sachlage gegenüber wie folgt ausge¬ 
sprochen: „Würde der mit einer krankhaften Anlage Behaftete, Verletzte ohne die 
Verletzung nicht krank geworden sein, so muss die Verletzung als die alleinige 
Ursache des Krankheitszustandes gelten, und es geht nicht an, die Folgen als 
zum Teil durch die krankhafte Anlage verursacht anzusehen, auch wenn diese 
Verletzung ohne diese Anlage einen schädlichen Einfluss nicht gehabt hätte. u 

Hin und wieder wird dem Gerichtsarzt die Frage nach der Verhandlungs¬ 
fähigkeit eines an zerebraler Arteriosklerose leidenden Menschen vorgelegt. Die 
ärztliche Erfahrung lehrt, dass bei einer vorhandenen Disposition Aufregungen, 
wie sie die Gerichtsverhandlung mit sich bringt, zu Sohlaganfällen führen können. 
Wegen der dadurch bedingten Lebensgefahr würde die Verhandlungsfähigkeit zu 
verneinen sein und damit ein Aufschub des Verfahrens veranlasst werden. Wenn 
nicht ein dringender Anlass zu einer solchen Vermutung von Gesundheitsschädi¬ 
gung vorliegt, sollte der Gerichtsarzt sowohl im Interesse der Rechtspflege als 
auch des Angeklagten die Verhandlungsfäbigkeit bejahen. Das Verhalten des zu 
Begutachtenden bei früheren Vernehmungen wird einen Massstab abgeben, wie 
hooh die Gefährdung zu bemessen ist. 

Auch die Zeugnisfähigkeit kann durch die arteriosklerotischen Störungen 
nachteilig beeinflusst werden. Bei vorliegendem Zweifel ist zu untersuchen, wie 


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war das Auffassungsvermögen zur Zeit des Geschehnisses, konnte er in der frag, 
liehen Zeit einen mehr oder weniger komplizierten Vorgang wie den in Frage 
stehenden r.cht.g auffassen ohne Wesentliches zu übersehen, und zweitens würde 
zu prüfen sein das Gedächtnisvermögen zur Zeit, wo der Zeuge aussagen soll. Die 
nicht selten spater erhobenen Anklagen wegen Eidesverletzung gegen derartige 
ranke zwingen zu einer vorsichtigen Erwägung in der Beurteilung der Zeugnis- 
fahigkeit Bubener (45) macht ferner darauf aufmerksam, dass infolge der 
eichten Ermüdbarkeit bei der Arteriosklerose die Länge der Verhandlung ein 
langes Warten vor der Vernehmung die Sicherheit der Zeugenaussagen beein- 
meiderf* ^ eD “ pfiehlt ’ diese nachtei, 'gen Faktoren bei derartigen Zeugen zu ver- 

Q . Die P‘° sste Bedeutung hat die zerebrale Arteriosklerose vom zivilrechtlichen 
Standpunkt für die Geschäftsfähigkeit und für die Testierlabigkeit. Es ist eine 
bekannte Tatsache, dass hochbetagte Personen, welche auf den ersten Blick dem 
Sachverständigen eine allgemeine arteriosklerotische Gefässveränderung insbe¬ 
sondere an den sicht- und fühlbaren Gefässen verraten, trotz der leichten psychi- 
sohen Veränderungen sich bis in ihr hohes Alter eine derartige geistige Leistungs- 
fahigkeit bewahrt haben, dass die selbständige Führung ihrer eigenen Angelegen¬ 
heiten gesichert ist. Das hohe Alter, eine Verhärtung und Schlängelung der Ar- 
terien aMein kann daher auch kein Kriterium sein, die Geschäftsfähigkeit eines 
ndividuums zu beschranken oder zu verneinen. Erst das Auftreten wesentlicher 
psychischer Krankbeitszeichen, eine hochgradige Gedächtnisschwäche, eine schwere 
Schädigung des Auffassungsvermögens, welche eine genügende Orientierungsfähig- 
ke.t unmöglich macht, ein abgestumpftes, ideenarmes, willenschwaches Wesen erst 
berechtigen «u einem solchen Vorgehen. Auch stärkere Ausfälle im ethischen 
Empfinden, wie sie sich in einer unordentlichen Lebensweise, in sexuellen Ex¬ 
zessen, anstosserregendem Verkehr mit Dirnen und anderen zweifelhaften Personen 
offenbaren können eine Beschränkung der Geschäftsfähigkeit des Arteriosklero- 
tikers erfordern, um ihn und seine Familie vor moralischem und materiellem 
Schaden zu schützen. Kennzeichnend für die Beurteilung des gegenwärtigen Zu¬ 
stands wird dabei ein Vergleich sein, welche Stellung der zu Untersuchende in 
früheren Zeiten einnahm und wieviel er infolge seiner Krankheit auf intellektuellem 
und moralischem Gebiete eingebüsst hat. Diese Differenz zeigt die Folgen des 
Krankheitszustandes viel schärfer als der absolute Krankheitsbefund. Da der Be¬ 
griff der Geschäftsfähigkeit das Können voraussetzt, seine Angelegenheiten zu be¬ 
sorgen, die nicht allein die Vermögenssachen, sondern die Führung und Regelung 
der gesamten Lebensverhältnisse umfassen, so ist bei derFrage nach der Geschäfts¬ 
fähigkeit nicht allein der Krankheitszustand, sondern ebenso sehr auch der Um- 
ang c et Angelegenheiten massgebend, der nach der sozialen Stellung und der 
Art des Berufes individuell sehr verschieden ist. Derselbe Grad der arteriosklero¬ 
tischen Störung braucht daher für einen Tagelöhner noch keine Einschränkung 
dei Geschäftsfähigkeit zu bedingen, während sie für einen Mann in leitender verant¬ 
wortlicher Stellung unbedingt erforderlich ist. Der allgemeine Massstab’für die 
kritische Beurteilung der Geschäftsfähigkeit eines Individuums, welchen wir aus 
ein Gesetz herleiten, dass der Minderjährige mit Vollendung des 7. Lebensjahres 
ie beschrankte Geschäftsfähigkeit erlangt, ist daher nur mit Vorbehalt anwendbar, 
lohtig ist es, bei der Frage der Geschäftsfähigkeit bei der arteriosklerotischen 


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Die forensische Bedeutung der Gehirnarterioskierose. 


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Hirndegeneration auf die leichte Beeinflussbarkeit solcher Kranker infolge der 
leichten Erschöpfbarkeit und infolge des Insuffizienzgefühls, wie es bei dem Ar- 
teriosklerotiker häufig beobachtet wird, hinzuweisen. Die böswillige Ausnutzung 
des Krankheitszustandes von dritter Seite ist daher eine ständige Gefahr, auf die 
besonders Binswanger (2) aufmerksam gemacht hat. Die leichte Form oder das 
neurasthenische Stadium der zerebralen Arteriosklerose wird meist keinen Anlass 
bieten, dem Kranken die Geschäftsfähigkeit abzuerkennen oder zu beschränken. 
Dagegen wird die schwere, fortschreitende Form mit ihren mannigfachen Störungen 
häufig es erforderlich machen, den Kranken durch Bestellung eines Vormunds oder 
für einen bestimmten Kreis seiner Angelegenheiten eines Pflegers vor böswilliger 
Ausnutzung seines hilflosen Zustands zu schützen und der Gefahr vorzubeugen, 
dass aus krankhaften Motiven entspringenden Entschliessungen ihm selbst und 
seiner Familie Schaden erwächst. Die Krankheitseinsicht und das äusserlich ge¬ 
ordnete Verhalten solcher Kranken während der Untersuchung darf den Gutachter 
nicht die bestehenden geistigen Defekte verkennen lassen. 

Aehnliche Gesichtspunkte sind massgebend bei der Beurteilung der Testier¬ 
fähigkeit eines arteriosklerotischen Kranken. Solange der Erblasser einen sicheren 
Ueberblick über Art und Grösse seines Vermögens hat, sich der Beziehungen zu 
den Erben bewusst ist und diese nicht durch krankhafte Motive entstellt, die Be¬ 
deutung der abgegebenen Willenserklärung begreift, liegt kein Grund vor, dem 
arteriosklerotischen Kranken die Testierfähigkeit abzusprechen, selbst wenn dieses 
oder jenes Symptom eine arteriosklerotische Erkrankung des Hirns anzeigt. Ist die 
geistige Leistungsfähigkeit so weit gesunken, dass der Erblasser diese Bedingungen 
nicht mehr erfüllen kann, so ist er auch nicht mehr testierfähig. Wesentlich 
schwieriger ist die Begutachtung der Geschäfts- und Testierfähigkeit, wenn es 
sich nicht um einen gegenwärtigen Zustand handelt, sondern in dem nicht selten 
vorkommenden Fall, dass die Willenserklärung schon längere Zeit zurückliegt oder 
der die Willenserklärung abgebende Teil bereits verstorben ist und seine Ge¬ 
schäftsfähigkeit oder Testierfähigkeit nachträglich in Zweifel gezogen wird. Er¬ 
fahrungsgemäss kann der Gutachter den aus Laienkreisen stammenden Zeugen¬ 
aussagen, welche sich auf die Art und auf den Umfang einer Geistesstörung 
beziehen, nur geringen Wert beimessen. Eine viel sicherere Unterlage für eine 
solche Begutachtung liefert das Studium der Briefe, der selbstgefübrten Bücher 
des Kranken oder Verstorbenen aus der Zeit, wo die in Frage stehende Willens¬ 
erklärung abgegeben ist. Sowohl fotmell als nach seinem gedanklichen Inhalt 
kann das Geschriebene uns mannigfache Krankheitszeiohen verraten, ihre Fest¬ 
stellung kann die objektive Untersuchung bis zu einem gewissen Grade ersetzen. 
Nicht selten werden aber diese Wege auch bei grösster Ausnutzung und Sorgfalt 
nicht genügen, um dem Sachverständigen ausreichendes Material zu bieten, sich 
nach der einen oder anderen Seite ein bestimmtes Urteil zu bilden. Es wird dem 
Gerichtsarzt von Seiten des Gerichts nicht verübelt werden können, wenn er in 
seinem Gutachten eine ärztliche Entscheidung der Frage mangels ausreichender 
Untersuchungsbelege für unmöglich erklärt. Eine sehr zurückhaltende Beurteilung 
müssen auch die Testamente erfahren, welche von den Kranken sub finem abge¬ 
schlossen sind. Handelt es sich z. B. um eine Apoplexie, welche nach mehr¬ 
tägigem Krankenlager zum Tode führt, so kommt es nicht selten vor, dass dem 
Sterbenden wenige Stunden vor dem Tode ein Testament vorgelegt wird und der 


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ausserordentlich hinfällige Kranke, zur Unterschrift-gedrängt, diese vollzieht. Aus 
der Erfahrung heraus, wie lange ein Schlaganfall bei günstigem Krankheitsverlauf 
die Auffassungsfähigkeit in schwerster Form lähmt, werden wir, sofern nicht die 
Zeugenaussagen den Gegenbeweis liefern, dass der Testator mit deutlichen Zeichen 
des Verständnisses der Errichtung des Testaments beigewohnt hat, annehmen, 
dass die freie Willensbestimmung des Individuums kurz vor seinem Tode 
nicht bestanden hat. Einen Massstab, welche Anforderungen das Gesetz an die 
geistigen Fähigkeiten des Erblassers bei Errichtung des Testaments stellt, kann 
die gesetzliche Bestimmung geben, dass der in seiner Geschäftsfähigkeit be¬ 
schränkte 16jährige Minderjährige ohne Einwilligung seines gesetzlichen Vertreters 
ein Testament errichten darf. Der Gesetzgeber stellt damit an die Testierfähigkeit 
geringere Anforderungen als an die Geschäftsfähigkeit. 

Eine besondere Erwähnung verdienen in dieser Erörterung die aphasischen 
Störungen und die ihnen ähnlichen Erscheinungen der Agraphie und Alexie. Es 
gehört nicht zu unserer Aufgabe, hier das Zustandekommen dieser bei der Zere¬ 
bralarteriosklerose häufig isoliert auftretenden Symptomenkomplexe zu erläutern, 
wie sie sich aus dem anatomischen Bau dieser differenzierten Zentren und aus der 
Analyse ihrer Funktionen ergeben; es soll hier vielmehr auf die forensische Be¬ 
deutung dieser Störungen eingegangen werden. Dabei ist bei diesen Zuständen zu 
unterscheiden, ob die Unfähigkeit zu sprechen, die Sprache zu verstehen, zu lesen 
oder zu schreiben als ein isolierter Funktionsausfall besteht, oder ob diese Er¬ 
scheinungen durch anderweitige Störungen auf psychischem Gebiet kompliziert 
sind. Für diese letzteren ergibt sich die Beurteilung aus den früher gegebenen 
Gesichtspunkten. Anders dagegen in jenen Fällen, wo der Verlust des Sprach- 
vermögens, der Fähigkeit zu lesen oder zu schreiben, nicht von erkennbaren Aus¬ 
fallerscheinungen auf dem Gebiete der Intelligenz oder des Gefühlslebens begleitet 
ist. Ob die Geschäftsfähigkeit und Testierfähigkeit bei derartigen Zuständen er¬ 
halten ist, wird davon abhängig sein, ob der Kranke auf mündlichem, schriftlichem 
oder mimischem Wege seinen Willen noch für seine Umgebung deutlich zutn Aus¬ 
druck bringen kann. Der Gutachter hat sich bei der Untersuchung solcher Kranker 
davon zu überzeugen, dass die Urteilsfähigkeit nicht nennenswert geschädigt ist 
und hat durch eine Art Kreuzverhör zu prüfen, ob die Willensäusserung eindeutig, 
klar verständlich und beständig ist. Bei der subkortikalen motorischen Aphasie 
und der amnestischen Aphasie begegnen wir Fällen, die diese Bedingungen 
zweifellos erfüllen, wo mithin kein Anlass vorliegt, die Geschäftsfähigkeit zu be¬ 
schränken. Für die Testierfähigkeit derartiger Kranker sind im Bürgerlichen Ge¬ 
setzbuch Sonderbestimmungen enthalten. So bestimmt § 2243, dass Personen, die 
nach der Ueberzeugung des Richters oder des Notars stumm oder sonst am 
Sprechen verhindert sind, das Testament nur durch Uebergabe einer Sohrift er¬ 
richten und bei der Verhandlung eigenhändig in das Protokoll schreiben, dass die 
Schrift ihren letzten Willen enthalte. Umgekehrt kann jemand, der nicht fähig ist, 
Geschriebenes zu lesen (§ 2238, Abs. 2) nur mündlich vor dem Richter oder Notar 
testieren. Kann der Testator nicht schreiben, so erfolgt die Errichtung des Testa¬ 
ments vor dem Richter oder Notar entweder mündlich, oder durch Ueberreichung 
einer Schrift mit der gleichzeitigen mündlichen Erklärung, dass die Sohrift seinen 
letzten Willen enthalte (§ 2238, Abs. 1). Bei der ausgebildeten sensorischen 
Aphasie, d. h. beim Verlust des Sprachverständnisses pflegen neben und infolge 


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Die forensische Bedeutung der Gehirnarteriosklerose. 


255 


dieser Störung derartige psychische Veränderungen sich einzustellen, dass* der 
Kranke nicht mehr fähig ist, seine Angelegenheiten zu besorgen. Eine Ausnahme 
können nur die sehr seltenen Fälle darstellen von isolierter Worttaubheit, wo auf 
dem Wege des Lesens und Schreibens, und von isolierter Wortblindheit, wo auf 
akustischem Wege eine Verständigung der Kranken mit der Aussenwelt erhalten ist. 

Endlich kann die zerebrale Arteriosklerose auch als Grund für die Anfecht¬ 
barkeit einer im späteren Alter geschlossenen Ehe in Betracht kommen. Wenn 
bereits mehrere apoplektiforme Anfälle vorausgegangen sind, deren Folgen bei dem 
wechselvollen Verlauf der Erkrankung zur Zeit der Eingehung der Ehe vom Laien 
nicht mehr erkannt werden konnten und der andere Ehepartner von dem bestehen¬ 
den Krankheitszustand und djer Gefahr des täglich drohenden Eintritts schwerer 
Krankheitserscheinungen keine Kenntnis bekommen hat, so würde die Frage des 
Richters zu bejahen sein, dass sich der die Ehe anfechtende Ehegatte bei der Ehe- 
sohliessung über solche persönlichen Eigenschaften des anderen Ehegatten geirrt 
bat, die ihn bei Kenntnis der Sachlage und bei verständiger Würdigung des 
Wesens der Ehe von der Eingehung der Ehe abgehalten haben würden (§ 1333 
BGB.). Auch für die angesuchte Ehescheidung wegen Geisteskrankheit kann die 
zerebrale Arteriosklerose die Grundlage bieten. Die Forderung des § 1569 BGB., 
dass die Krankheit mindestens 3 Jahre dauert und so weit unheilbar ist, dass für 
die Gegenwart und Zukunft eine geistige Gemeinschaft, die sich in der Teilnahme 
an dem Lebens- und Gedankenkreis des anderen äussern soll, zwischen den Ehe¬ 
gatten ausgeschlossen ist, lässt nur die Endzustände der schweren fortschreitenden 
Arteriosklerose hierunter rechnen, wo die organische Erkrankung so tiefgehend ist, 
dass auch in den Remissionen ein hochgradig geistiges Siechtum besteht. 
Grösseren Schwierigkeiten begegnet die angesuchte Ehescheidung auf Grund des 
§ 1568 BGB., wenn ein Ehegatte in der seinem Krankheitszustande eigen¬ 
tümlichen reizbaren Stimmung Beschimpfungen, Bedrohungen und Gewalttätig¬ 
keiten gegen den anderen Ehepartner begeht. Der § 1568 setzt als Grund für eine 
Ehescheidung für diese Handlung ein Verschulden und demnach die Zurechnungs¬ 
fähigkeit voraus. Müssen wir diese verneinen, weil die Handlung ihre Motive in 
der krankhaften Geistestätigkeit des Täters findet, so bietet die Handlung keinen 
Grund für die Ehescheidung. Da sich diese Unzuträglichkeiten oft bereits in 
einem Krankheitsstadium ereignen, wo eine Wiederherstellung der geistigen Ge¬ 
meinschaft zwischen den Ehegatten nicht ausgeschlossen werden kann, so sind 
die Voraussetzungen auch des § 1569 BGB. nicht erfüllt und demgemäss eine 
Ehescheidung infolge Geisteskrankheit nicht möglich. Auf einen Ausweg, um 
solchen in der Familie unerträglichen Zuständen bei derartigen Kranken ein Ende 
zu machen, hat Moeli (46) unter Hinweis auf den § 1353 des BGB. aufmerksam 
gemacht, welcher von der Verpflichtung zur ehelichen Gemeinschaft spricht; 
„Stellt sich das Verlangen eines Ehegatten nach Herstellung der Gemeinschaft als 
ein Missbrauch seines Rechtes dar, so ist der andere Ehegatte nicht verpflichtet, 
dem Verlangen Folge zu leisten. u Wenn danach der arteriosklerotische Kranke 
gegen seinen Ehepartner Tätlichkeiten begeht oder ihn durch anderweitige Hand¬ 
lungen in seinem Empfinden derartig verletzt, dass diesem nach billigem Er¬ 
messen die Fortsetzung der Hausgemeinschaft nicht zugemutet werden kann, so 
ist er, ohne sich schuldig zu machen, berechtigt, die eheliche Gemeinschaft auf¬ 
zuheben. 


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W. Knape, 


* Die forensische Bedeutung der zerebralen Arteriosklerose ist, wie wir sahen, 
eine vielseitige. Liegt das Hauptgewicht der Bedeutung einer Geistesstörung in 
der gerichtlichen Psyohopathologie meist mehr in der Quantität, in dem Grad des 
geistigen Defekts, so zeigen doch gerade die Beziehungen, welche wir für die zere¬ 
brale Arteriosklerose in foro erörterten, dass manche Fragen für dieses Krankheits¬ 
bild eine spezifische Behandlung erfahren müssen. 


Literaturverzeichnis. 

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versamml. d. Vereins d. deutschen Irrenärzte. Münohen 1902. Alig. Zeitschr. f. 
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berg, zitiert nach Hirsch, Die Zirkulationsstörungen des Gehirns, im Lehrbuch 
der Nervenkrankheiten. Herausgeg. von Curschmann. Berlin 1909. — 4) Thoma, 
Das elastische Gewebe der Arterienwand. Pathologisch-anatomische Arbeiten. 
1899. — 5) Aschoff, Ueber Atherosklerose und andere Sklerosen des Gefäss- 
Systems. Beih, z. Med. Klinik. 1908. H. 1. — 6) Kaufmann, Lehrbuch der 
speziellen pathologischen Anatomie 1911. — 7) Ziehen, Organische Gehirn¬ 
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perer, Einige Erfahrungen über Aetiologie und Therapie der Arteriosklerose. 
Ther. d. Gegenw. 1905. — 10) Kraepelin, Psychiatrie. 1909. — 11) Zingerle, 
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Ueber die die Arteriosklerose begleitenden nervösen Symptome. Neurol. Zentralbl. 
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schwere Form von Folgezuständen nach Gehirnerschütterung und über den vaso¬ 
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1892. Bd. 23. — 19) Stern, Ueber die traumatische Entstehung innerer Krank¬ 
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Berl. kiin. Wocbenschr. 1906. — 22) Watermann und Baum, Arteriosklerose als 
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Beziehungen. Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Med. III. Folge. 1907. Bd. 33 und 
Manisch-depressives Irresein und Arteriosklerose. Allg. Zeitschr. f. Psych. 
Bd. 63. — 25) Jaksch, zitiert naoh Spielmeyer, Die Psychosen des Rück- 
bildungs- und Greisenalters. Handb. Psych., herausgeg. von Aschaffenburg. 


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Die forensische Bedeutung der Gehirnarteriosklerose. 257 

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Handbuch der pathologischen Anatomie des Nervensystems. Herausgeg. von Fla- 
tau, Jacobsohn, Minor. 1904. Cramer, Gerichtl. Psych. 1908. — 27) Herz, zitiert 
nach Spielmeyer &. a. 0. — 28) Marchand, zitiert nach Kaufmann a. a. 0. 

— 29) Charcot and Bouchard, zitiert nach Kaufmann a. a. 0. — 30) Ellis 
and Piok, zitiert nach Kaufmann a. a. 0. — 31) Weber, Veränderungen an 
den Gefässen bei miliaren Hirnblutungen. Arch. f. Psych. Bd. 35. — 32) Ot- 
fried Müller, zitiert nach Hirsch a. a. 0. — 33) Grützner, Betrachtungen 
über die Bedeutung der Gefässmuskeln und ihrer Nerven. Deutsches Aroh. f. klin. 
Med. 1907. Bd. 89. — 34) Ricker, Entwurf einer Relationspathologie 1905. 
Natus, Beiträge zur Lehre von der Stase nach Versuchen am Pankreas des leben¬ 
den Kaninchens. Virobow’s Arch. 1910. Bd. 199. Derselbe, Versuch einer 
Theorie der chronischen Entzündung auf Grund von Beobachtungen am Pankreas 
des lebenden Kaninchens und histologischen Untersuchungen nach Unterbindung 
des Ausführungsganges. Virchow’s Arch. 1910. Bd. 202. Knape, Untersuchungen 
über Pankreashämorrhagie usw. Virchow’s Archiv. 1911. Bd. 207. Rioker und 
Knape, Mikroskopische Beobachtungen am lebenden Tier über die Wirkung des 
Salvarsans und des Neosalvarsans auf die Blutströmung. Med. Klinik. 1912. Nr. 31. 

— 35) Jlpelt, Arteriosklerose und Commotio. Aerztl. Sachverständ.-Ztg. 1902. 

— 36) Mosso, zitiert naoh Hirsch a. a. 0. — 37) Pick, Initialerscheinungen 
der zerebralen Arteriosklerose. Hoohes Sammlung zwangloser Abhandlungen auf 
dem Gebiete der Nerven- und Geisteskrankheiten. 1909. Bd. 8. — 38) Spiel- 
meyer, Die Psychosen des Rüokbildungs- und Greisenalters. Handbuch der Psyohi- 
atrie. Herausgeg. von Aschaffenburg. Spezieller Teil. 5 Abt. — 39) Jakobsohn, 
Ueber die schwere Form der Arteriosklerose im Zentralnervensystem. Arch. f. 
Psych. 1895. Bd. 27. — 40) Finkh, Beiträge zur Lehre von der Epilepsie. Arch. 
f. Psych. 1905. Bd. 39. — 41) Merz-Weigandt, zitiert nach Spielmeyer 
a. a. 0. — 42) Leppmann, Die Sittlichkeitsverbrecher. Vierteljahrsschr. f. ge- 
richtl. Med. 111. Folge. 1907. Bd. 33. — 43) Hofmann, Lehrbuch der gericht¬ 
lichen Medizin. Herausgeg. von Kolisko. 1903. — 44) Aschaffenburg, zitiert 
nach Spielmeyer a. a. 0. — 45) Hübener, Lehrbuch der forensischen Psychi¬ 
atrie. 1914. — 46) Moeli, zitiert nach Cramer a. a. 0. 


Vierte^ahreschriA f. ger. Med. n. Off. San.-Wesen. 3. Folge. Bd. 60. H. 2. 


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xvm. 

Das Leichenwesen in Preussen. 

Von 

Dr. Robiiski, 

Kreisarzt in Papenburg - Eros. 


Die Vereinheitlichung der Gesetzgebung in Deutschland kann als 
das beste Mittel zur Bekämpfung partikularistischen Geistes angesehen 
werden. Wenn ich aus der grossen Zahl erstrebenswerter Gesetze 
gerade das hcrausgreife, welches über das Leichenwesen handeln soll, 
so geschieht es, weil auf diesem Gebiete gerade Preussen rückständig 
ist und daher aus doppelten Gründen Anschluss an seine Nachbarn 
zu suchen bestrebt sein sollte. 

Auf dem Gebiet des Leichenwesens ist eine einheitliche Regelung 
in Deutschland bisher nur in folgenden Punkten erfolgt: 

1. Personen, welche im Nahrungs- und Genussmittelverkehr 
tätig sind, dürfen nicht als Leichenträger, -beschauer, -frauen 
tätig sein (für Preussen: Min.-Erlass vom ß. 5. 1908, in den 
andern Bundesstaaten gleichlautende Bestimmungen). 

2. Betr. den Transport von Leichen auf der Eisenbahn (Eisen¬ 
bahnverkehrs-Ordnung vom 25. 12. 1908) und auf dem See¬ 
wege (Bundesratsbeschluss vom 9. 4. 1906). 

3. Betr. die Aufbewahrung, Einsargung, Beförderung und Be¬ 
stattung der Leichen von Personen, die an einer gemein¬ 
gefährlichen Krankheit gestorben sind (Gesetz vom 30. 6. 
1900). 

4. Betr. die Kirchhofsanlagen (für Preussen: Min.-Erlass vom 
20. 1. 1892) mit der Einschränkung, dass in dem bayrischen 
Min.-Erlass vom 8. 3. 1911 (Abschnitt U und III) der Bau 
von Leichenhäusern energischer gefördert und ihr Ausbau 
genau vorgeschrieben wird, ferner genaue Bestimmungen über 
die Grüfte beigegeben sind. 


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Das Leichenwesen in Preussen. 


259 


Eine einheitliche Regelung fehlt 

1. bezügl. der Feststellung des Todes, 

2. bezügl. der Bestattungsfrist, 

3. bezügl. der Leichenverbrennung. 

Mit Ausnahme von Preussen besteht in fast allen deutschen 
Bundesstaaten die obligatorische Leichenschau: in Bayern seit 1839, 
in Sachsen seit 1850, in Württemberg seit 1833, in Baden seit 1822, 
in Hessen seit 1819, in Sachsen-Weimar seit 1851, in Sachsen-Mei¬ 
ningen, Sachsen-Koburg-Gotha, Reuss j. L. seit 1852, in Schaumburg- 
Lippe seit 1862, ferner in Hamburg, Bremen, Lübeck (1). 

In Preussen ist die obligatorische Leichenschau eingeführt im 
ganzen Gebiet der Rheinprovinz seit 1909, in Hohenzollern-Sigma- 
ringen und in den meisten Städten und Ortschaften, in denen Aerzte 
ansässig. [Genauere spezielle Angaben von Rapmund (1)]. Es gibt 
aber in Preussen Städte und zahlreiche Ortschaften, in denen Aerzte 
ansässig sind und wo trotzdem keine Leichenschau geübt wird. Preussen 
ist das einzige Kulturland, in welchem in dieser Beziehung eine ein¬ 
heitliche Regelung fehlt. 

Wenn einige Staaten, insonderheit Preussen, die allgemeine 
Leichenschau bisher auch nicht eingeführt haben, so ist m. E. hierfür 
die Befürchtung bestimmend gewesen, dass eine Leichenschau durch 
Laien mit Missständen verknüpft sein könnte. Die Einführung der 
obligatorischen Leichenschau ohne Zuhilfenahme von Laienpersonal 
würde auf den unüberwindlichen Widerstand aller der Landgemeinden 
stossen, in welchen der Besuch eines Arztes mit unverhältnismässigen 
Kosten verknüpft ist. Infolgedessen betrachte ich es als meine erste 
Aufgabe, festzustellen, ob in den Staaten (Bayern, Sachsen, Württem¬ 
berg, Hessen, Sachsen-Weimar, Sachsen-Meiningen, Reuss j. L., Rhein¬ 
provinz), wo die Leichenschau auch durch Laien ausgeübt wird, irgend 
welche Missstände sich hierbei herausgestellt haben. 

Anfragen bei den massgebenden Stellen ergaben, dass die Ver¬ 
wendung von Laien als Leichenschauern irgend welche Missstände 
nicht zur Folge hat. 

Welche Vorteile hiergegen dem Staat durch Einführung der obli¬ 
gatorischen Leichenschau erwachsen würden, will ich im folgenden 
skizzieren: 

Wenn auch selten, so kommen doch Fälle von Scheintod vor. 
In unserer aller Erinnerung ist jener Fall von Scheintod einer Kranken¬ 
schwester ira Grunewald (2). Verlegen wir den Schauplatz der 

17* 


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260 


Robinski, 

Handlung aufs Land (wo es mehr Hysterische gibt, als gewöhnlich 
angenommen!), so wächst die Gefahr, dass ein lebender Mensch ins 
Grab versenkt wird. Es sind leider noch längst nicht in allen Ge¬ 
meinden Leichenhallen vorhanden und in der Scheune, in welche eine 
aufgefundene angebliche Leiche gewöhnlich gebracht würde, könnte 
ein raässiger Frost schon aus dem Scheintoten einen Toten machen. 
Gerade im Winter besteht die Gefahr des Lebendig-beerdigt-werdens, 
wenn Froststarre Totenstarre vortäuscht. 

Nun stehen einige Forscher, z. B. Brouardel (3), auf dem Stand¬ 
punkt, die Diagnose des eingetretenen Todes sei zu schwierig, als 
dass sie Laien anvertraut werden dürfe. Wir haben im Grunewald (2) 
erlebt, dass auch ein Arzt sich täuschen kann. Weitere ähnliche 
Beispiele nennt Devergie ( 4 ). Wird der Laienleichenschauer zu zwei 
Besuchen am ersten und dritten Tage nach eingetretenem Tode (min¬ 
destens aber in 36 ständigem Abstand) verpflichtet, so ist m. E. auch 
für den Laien eine Täuschung ausgeschlossen, da spätestens am 
dritten Tage Verwesungsgeruch einzutreten pflegt. Bezüglich der 
Sicherheit der Feststellung des Todes sind dann m. E. zwei Besuche 
eines Laienleichenschauers einem Arztbesuch vorzuziehen, da dieser 
gewöhnlich möglichst schnell nach Eintritt des Todes herbeigerufen 
wird und infolgedessen oft überhaupt garnicht in der Lage ist, Scheintod 
von Tod zu unterscheiden. Denn Stocken des Pulses und der At¬ 
mung, Aufhebung des Gefühlssinnes, Starre, sind alles Symptome, 
welche auch bei Scheintod vorhanden sind. Erst deutliche Totenflecke 
und Verwesungsgeruch ermöglichen die zweifelsfreie Feststellung des 
Todes. Die meisten Menschen sterben aber nach Ablauf einer Krank¬ 
heit, welche ein Wiederaufleben von vornherein ausschliesst. Da nun 
selbstverständlich beim Auftauchen des leisesten Verdachtes die Laien¬ 
leichenschauer zur Zuziehung eines Arztes gehalten sein werden, so 
werden eben dadurch besondere Garantien gegeben, dass künftig die 
Einsargung eines Scheintoten nicht mehr vorkommt; denn ein Atzt, 
welcher zu einem Zweifelfall gerufen wird, untersucht selbstverständ¬ 
lich viel gewissenhafter als er es tun würde, wenn er einfach zur 
Totenschau geholt wird. 

Ein zweiter ungleich grösserer Vorteil wird durch Einführung 
der obligatorischen Leichenschau errungen. Eine vollständige und 
lückenlose Statistik bildet die Grundbedingung für sachgemässe Durch¬ 
führung der hygienischen Massregeln. Wie soll eine energische Be¬ 
kämpfung der Tuberkulose durchgeführt werden, wenn man ihre Herde 


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Das Leichenwesen in Preussen. 


261 


ausfindig zu machen nicht im Stande ist? Mit nichten hat diese 
Volksseuche ihren Sitz allein in überfüllten Grossstadtwohnungen, wo 
auch die Bekämpfung viel leichter ist. Mitten auf dem Lande, kaum 
dem einheimischen Arzte bekannt, finden sich zahllose Herde. Wer 
soll die kleinen Bauernhäuser, wo in derselben „Butze“ ein Opfer 
nach dem andern dahingerafft wird, finden, wenn nicht der Laien¬ 
leichenschauer? So lange zahlreiche Tuberkuloseherde über das ganze 
Land verstreut infolge der mangelnden Leichenschau garnicht bekannt 
sind, wird der Kampf gegen dieses Uebel in ländlichen Gegenden 
wenig von Erfolg gekrönt sein. 

Auf dem Lande werden die Aerzte des Bezirks auf eine Seuche 
häufig erst aufmerksam, wenn sie einen bedrohlichen Umfang ange¬ 
nommen und Opfer gekostet hat, die vom Arzt ungesehen dahinsterben. 
In einigen ländlichen Kreisen Deutschlands liegen die Verhältnisse 
zurzeit so, dass durch Einschleppung einer Seuche diese in ganzen 
Flecken weite Ausdehnung finden kann, ehe die meilenweit entfernt 
wohnenden Aerzte etwas davon gewahr werden. Und welcher 
Seuchengefahr ist unser armes Ostpreussen jetzt ausgesetzt!!! In 
derartigen Gegenden bilden gut ausgebildete Leichenschauer einen 
ganz erheblichen Schutzwall. Beim Unterricht des Leichenschauers 
wird auf die Erkennung der Seuchen das grösste Gewicht gelegt 
werden müssen. 

Eine lückenlose Statistik würde der Wissenschaft unschätzbaren 
Vorteil gewähren und mittelbar wieder zur besseren Bekämpfung der 
Krankheiten beitragen. Ich greife den Krebs heraus. Bezüglich seiner 
Aetiologie wissen wir heute so gut wie nichts Feststehendes und über 
seine Verbreitung herrscht Unklarheit. Es bestehen Statistiken, welche 
seine stärkere Verbreitung in feuchten Gegenden zu erweisen scheinen 
und man spricht von Krebshäusern und Krebsnestern. Wir wären 
ein ganz bedeutendes Stück weiter, wenn endgültig entschieden werden 
könnte, ob es Krebsnester bzw. -häuser gibt oder nicht. Nach Ein¬ 
führung der obligatorischen Leichenschau wird diese Feststellung leicht 
möglich sein. In einem Falle (6) kann ich beweisen, dass die sehr 
fleissige und auf mühsamen Studien beruhende Arbeit des Herrn Ver¬ 
fassers, welcher im Kreise Hadeln ein Krebsnest gefunden zu haben 
glaubte, insofern auf einem Irrtum beruht, als im Kreise Hadeln nicht 
nur der eine Ort, wie der Herr Verfasser meinte, sondern mehrere 
Orte, ja wahrscheinlich der grösste Teil des Kreises unter einer ab¬ 
norm hohen Krebsmorbidität zu leiden haben. Diese Feststellung ist 


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262 


Robinski, 


unschwer zu machen. Denn seit dem Fortzug des Herrn G. ist im 
Kreise wenigstens teilweise die Leichenschau eingeführt worden. Be¬ 
stände im ganzen Kreise und in den Nachbarkreisen die allgemeine 
Leichenschau, so würden m. E. gerade in dortiger (Marschen-) Gegend 
eingehendere Studien, als ich sie zu treiben vermochte, richtige 
Schlüsse betreffend die Aetiologie des Krebses zulassen, denn nach 
den mir vorgelegten Todesmeldungen und eingezogenen Erkundigungen 
scheint ein bestimmter Teil des Kreises (Altenbruch), wo äusserlich 
dieselben Bodenverhältnisse herrschen, in auffälliger Weise vom Krebs 
verschont zu sein. 

Laut § 21 des Gesetzes betr. die Beurkundung des Personen¬ 
standes vom 6. 2. 1875 ist der Standesbeamte verpflichtet, sich von 
der Richtigkeit der Anzeige, wenn er dieselbe zu bezweifeln Anlass 
hat, in geeigneter Weise Ueberzeugung zu verschaffen. 

Wie wenig dieser Paragraph Straftaten zu verhindern imstande 
st, beweist Tracinski (5), den ich im folgenden zitiere: Ganz be¬ 
kannt und auch schon wiederholt zur gerichtlichen Aburteilung ge¬ 
kommen ist hier folgender Vorgang: 

Ein Mitglied der oberschlesischen Knappschaft meldete fälschlich 
dem Standesamt den Tod eines Kindes und empfängt hierüber eine 
Sterbeurkunde. Auf Grund derselben empfängt er vom Knappschafts¬ 
verein die ihm zustehende Begräbnisunterstützung. Aus der Petition 
des Niederrheinischen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege zitiert 
Tracinski noch folgende Fälle: Ein Ehemann meldet den Tod seiner 
gesunden Frau und erhält den Todesschein und die Erlaubnis zur 
Beerdigung. Die Falschmeldung wurde begangen, um Geld aus der 
Sterbekasse erheben zu können. — Ein Gattenmord wäre unentdeckt 
geblieben und die Beerdigung ungehindert erfolgt, wenn nicht der 
unerwartete Besuch eines Arztes das Verbrechen ans Licht ge¬ 
bracht hätte. 

Ich habe mich bemüht, weitere derartige Verbrechen aus Kriminal¬ 
statistiken zu sammeln. Mein vergebliches Suchen beweist nur, dass 
solche Verbrechen nicht bekannt wurden, nicht aber, dass sie nicht 
begangen worden wären. Dass auf dem Gebiete des Leichenwesens 
ein Eingreifen der Regierung nottut, beweist auch jener Fall (7), wo 
durch Zufall entdeckt wurde, dass ein Pflegekind ohne Sarg beerdigt 
worden war. 

Engelmacherei, Kurpfuscherei, Abtreibung müssen sich unter 
solchen Umständen zur höchsten Blüte entwickeln. Das Vertrauen 


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Das Leichenwesen in Preussen. 


263 


zur Justiz geht verloren, wenn Sektionen wegen vorgeschrittener Fäul¬ 
nis ergebnislos verlaufen. Die allgemeine Leichenschau würde wenigstens 
in einer Anzahl von Fällen zur Ermittelung des Mörders führen und 
die Furcht vor dem Ermittelungsverfahren würde viele beabsichtigte 
Morde nicht zur Ausführung gelangen lassen. 

Schon öfters trat man von den verschiedensten Seiten an die 
Regierung mit der Bitte heran, diesen unhaltbaren Zuständen ein Ende 
zu bereiten. 

Auch ein Gesetzwurf wurde bereits 1875 ausgearbeitet (8). In 
neuer Fassung gestatte auch ich mir den Entwurf eines Gesetzes betr. 
die allgemeine Leichenschau (Anlage 1) und Ausführungsbestimmungen 
(Anlage 2) mit Schema des Bestattungsscheines (Anlage 3) der Re¬ 
gierung vorzulegen. 

In der Fassung des Gesetzes habe ich mich nach Möglichkeit an 
den Entwurf von 1875 angelehnt. Im § 4 glaubte ich eine Aende- 
rung vornehmen zu müssen, da ein Besuch eines Laienleichenbeschauers 
nicht als ausreichend angesehen werden kann. (In Sachsen sind 4 
vorgeschrieben.) Der eigentliche Bestattungsschein darf selbstverständ¬ 
lich erst nach dem zweiten Besuche ausgestellt werden; andererseits 
ist es zur Durchführung des Gesetzes meines Erachtens unerlässlich, 
dass die Freigabe der Leiche zur Bestattung von einer Bescheinigung 
des Leichenschauers abhängig gemacht wird. Diese Schwierigkeit 
suchte ich durch Einführung eines „vorläufigen Bestattungsscheines“ 
zu begegnen. Ich glaube dies unbedenklich tun zu können, da eine 
Zurücknahme der vorläufigen Freigabe (infolge Scheintods) zu den 
grössten Seltenheiten gehören dürfte. Um den Nutzen des Leichen¬ 
schau-Gesetzes zu sichern, soll der Laienleichenschauer sich nicht nur 
oberflächlich über den Toten (die Tote) erkundigen, sondern genaue 
und eingehende Fragen stellen. Die grosse Reihe von Fragen, welche 
mein Bestattungsscheinschema enthält, garantiert ein Mindestmass von 
Gründlichkeit bei den Erkundigungen. Der Laienleichenschauer darf 
sich aber keineswegs allein auf die Angaben der Angehörigen ver¬ 
lassen. Deswegen fügte ich im § 5 des Gesetzes die Worte ein: „und 
unter Würdigung ihm bekannter Tatsachen.“ — Mein Bestattungsschein¬ 
schema enthält drei abtrennbare Abschnitte. Der erste, der sich nur 
mit den Personalverhältnissen beschäftigt, wird ausgefüllt dem Standes¬ 
beamten übersandt und zusammen mit dem „vorläufigen Bestattungs¬ 
schein“ dem Personenstandsregister einverleibt. Der zweite und dritte 
Abschnitt dienen zur Informierung der Aerzte, insbesondere des 


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264 Robinski, 

Kreisarztes, und zur möglichst einwandfreien Feststellung der Todes¬ 
ursache. 

Abschnitt II setzt den Kreisarzt instand, die Tätigkeit des Laien¬ 
leichenschauers fortdauernd zu überwachen. Abschnitt III wird dem 
behandelnden Arzte übersandt, falls ein solcher vorhanden, anderen¬ 
falls im Zusammenhang mit Abschnitt II dem Kreisärzte übersandt. 
Die Mitwirkung des behandelnden Arztes ist erforderlich, um die vom 
Laienleichenschauer angegebene Todesursache zu korrigieren und eine 
einwandfreie Statistik zu ermöglichen. 

Auch bezüglich der Bestattungsfrist und bezüglich der Leichen¬ 
verbrennung herrscht keine Einheitlichkeit in Deutschland. In Preussen 
und Sachsen beträgt die Bestattungsfrist 72 Stunden, in Bayern und 
Württemberg 48 Stunden. Meines Erachtens liegt kein Grund vor, 
die bei uns vorgeschriebenen 72 Stunden nicht beizubehalten, da diese 
Frist zur Verhütung der Beerdigung Scheintoter zweckmässiger ist. 

Eine einheitliche Regelung der Bestimmungen betr. die Leichen¬ 
verbrennung ist für Deutschland dringend erforderlich, damit das 
Loch in der Einheitlichkeit gesetzlicher Bestimmungen nicht noch 
grösser werde. In der Kriegstagung der Feuerbestattungsvereine 
1916 (9) sind Richtlinien für ein Feuerbestattungsgesetz ausgearbeitet, 
von denen ich nur in folgenden Punkten abweiche: Nach § 6 II soll 
das Zeugnis eines praktischen Arztes genügen. Die praktischen 
Aerzte Deutschlands gehören statistisch nachweisbar zu den am 
seltensten inkriminierten Ständen. Durch die Hinzuziehung des Kreis¬ 
arztes wird erstens ein zweiter glaubwürdiger Zeuge geschaffen, zweitens 
ist nun einmal durch seine Ausbildung der Kreisarzt in gerichtlichen 
Materien besser bewandert als die praktischen Aerzte; ausserdem ge¬ 
hören gerichtliche Leichenbesichtigungen und Gutachten über Mord 
zu seinem täglichen Brot. Wenn in der Begründung zu § 6 II eine 
Zurücksetzung der praktischen Aerzte darin erblickt wird, dass für die 
Feuerbestattung das Gutachten eines Kreisarztes verlangt wird, so 
müssen die praktischen Aerzte ebenso auch darüber entrüstet sein, 
dass Ohrenkranke den Ohrenarzt und Augenkranke den Augenarzt 
aufsuchen. Wer Feuerbestattung wünscht, übernimmt durch die sehr 
oft notwendige Ueberführung der Leiche so grosse Kosten, dass die 
Honorierung des Kreisarztes dabei gar keine Rolle spielt und als 
Hindernis jedenfalls überhaupt nicht in Betracht kommt. 


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Das Leichenwesen in Preussen. 


265 


Anlage 1. 


Alter Gesetzentwurf. 

§ 1. Eine Leiohe darf erst dann 
bestattet werden, nachdem eine Leichen¬ 
schau in Gemässheit dieses Gesetzes 
stattgefunden hat. 

§ 2. Jede Gemeinde bat die er¬ 
forderliche Anzahl von Personen, welche 
die Leichenschau vorzunehmen haben, 
mit Zustimmung des zuständigen Medi¬ 
zinalbeamten anzustellen und zu ver¬ 
pflichten. 

§ 3. Jeder Todesfall ist tunlichst 
bald nach eingetretenem Tode, jeden¬ 
falls im Laufe des Tages, oder, wenn 
der Todesfall bei Nacht eingetreten ist, 
am folgenden Morgen dem Leichen- 
schauer zu melden. 

§ 4. Der Leichenschauer hat durch 
Prüfung an Ort und Stelle sich von dem 
wirklich erfolgten Tode zu überzeugen, 
um, sofern nicht der Verdacht einer ge¬ 
waltsamen Todesart vorliegt, über den 
Todesfall einen Leichenbestatlungs- 
schein nach vorgeschriebenem Schema 
auszustellen. Das Schema für den 
Leichenbestattungsschein ist von der 
Ortsbehörde festzustellen, muss aber 
mindestens folgende Angaben enthalten: 
1. Sterbeart, 2. Vor- und Zuname des 
Verstorbenen, 3. Geburtsjahr und Tag, 
4. Familienstand, 5. Beruf, 6. Tag und 
Stunde des erfolgten Todes, 7. Todes¬ 
ursache, 8. ob diese ärztlich beglaubigt, 
9. Ort, an dem die Leichenschau vor¬ 
genommen, 10. Name des Leichen- 
schauers. 

§ 5. Hat der Verstorbene in ärzt¬ 
licher Behandlung gestanden, so hat 
der betreffende Arzt die Todesursache 
in den Leichenbestattungscbein ein- 


Neuer Gesetzentwurf. 
§ 1. Unverändert. 


§ 2. Unverändert. 


§ 3. Unverändert. 


§ 4. Der Laienleichenschauer hat 
an zwei Tagen durch wiederholte Prü¬ 
fung an Ort und Stelle sich von dem 
wirklich erfolgten Tode zu überzeugen. 
Er stellt den Bestattungsschein erst nach 
dem zweiten Besuch nach vorgesohrie- 
benemSobemaaus. In Fällen vonVerdacht 
auf Scheintod, Tod durch äussere Ge¬ 
walt oder gemeingefährliche Krankheit 
darf er den Bestattungsschein nicht aus¬ 
füllen, sondern hat für sofortige Zu¬ 
ziehung eines Arztes sorgen. Von Laien¬ 
leichenschauern ausgestellte Leichen¬ 
pässe und Atteste für Leichen verbrennung 
sind ungültig. 


§ 5. Der Leichenschauer hat nach 
Erkundigung bei den Angehörigen oder 
anderen glaubwürdigen Personen und 
unter Würdigung ihm bekannter Tat- 


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266 


Robinski, 


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zutragen, anderenfalls bat der Leichen- 
scbauer naob Erkundigung bei den An¬ 
gehörigen des Verstorbenen oder anderen 
glaubwürdigen Personen die Todes¬ 
ursache einzuschreiben. 

§ 6. Der Leichenbeschauer bat den 
Leichenbestattungsschein in 2 Exempla¬ 
ren auszustellen und damit nach näherer 
Anweisung der Behörde zu verfahren. 

§ 7. Wegen Feststellung desTarifs 
für die Leiohenschaugebühren bleibt 
jeder Bundesregierung die Bestimmung 
überlassen. 


Sachen dieTodesursache im Bestattungs- 
schein einzutragen. 


§ 6. Der Leiohenbeschauer hat ein 
Tagebuch zu führen. Seine Amtstätig¬ 
keit wird dauernd vom Kreisarzt be¬ 
aufsichtigt. 

§ 7. Die Festsetzung der Gebühren 
für die Laienleichenschauer bleibt den 
Gemeinden überlassen. Die Kosten 
haben die Bestattungspflichtigen zu 
tragen. 

§ 8. Verstösse gegen § 1 und § 3 
werden mit Polizeistrafen bedroht. 


Anlage 2. 

Ausführungsbestimmungen. 

Zu § 1. a) Unter Leiche ist auch die menschliche Frucht zu verstehen, sofern der 
der 6. Kalendermonat überschritten (die Frucht über 32 cm lang ist). 
Min.-Erlass vom 16. Oktober 1893. 

b) Aus Zweckmässigkeitsgründen soll im Falle derGeburt einer mindestens 
6 Monate alten Frucht oder eines während der Geburt verstorbenen 
Kindes ausnahmsweise die Hebamme zur Ausfüllung des Bestattungs- 
soheines berechtigt sein. 

Zu § 2. a) Die Leichenschau bat im allgemeinen durch einen Arzt zu geschehen. 

Wohnt der nächste Arzt weiter als 3 km entfernt, so kann auf Antrag 
beim Regierungspräsidenten einer Gemeinde widerruflich gestattet 
werden, Laien als Leiohenschauer anzustellen. Für stärker bevölkerte 
Abbauten (Kämpen), die weiter als 2 km vom Hauptteil der Gemeinde 
entfernt liegen, ist nach Möglichkeit je ein besonderer Leichenschauer 
zu bestellen. Sind in einer Gemeinde mehrere Leichensohauer ange¬ 
stellt, so haben diese sich gegenseitig zu vertreten. Ist nur ein Leicben- 
schauer angestellt, so hat die Gemeinde dafür zu sorgen, dass im Be¬ 
hinderungsfalle ein Vertreter zum selben Gebührensatz leicht zu er¬ 
reichen ist. 

b) Hebammen (mit Ausnahme von § 1. a) und Personen, welche im Nah¬ 
rungs- und Genussmittelverkehr tätig sind, sollen nicht zu Leiohen- 
schauern bestellt werden. Es sollen möglichst intelligente Leute ge¬ 
wählt werden (Aktuare, Lehrer, Desinfektoren, Gendarmen). 


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Das Leichen wesen in Preussen. 


267 


Leichenfrauen, die in Sachsen gewöhnlich auch als Leiohenscbaue- 
rinnen angestellt werden, ermangeln meines Erachtens häufig der er¬ 
forderlichen Einsicht, um durch geschickte Prägen die Todesursache 
annähernd richtig zu ermitteln. 

Zu § 4. a) Die Leichenschau durch einen Arzt geschieht in einmaliger Unter¬ 
suchung. Für die Leichensohau durch Laien sind 2 Besnche erforder- 
, lieb, welche im allgemeinen am 1. und 3. Tage nach erfolgtem Tode, 
mindestens aber in einem Abstand von 36 Stunden stattzufinden haben, 
b) Der ärztliohe Leichenschauer übergibt nach seinem Besuch dem Be- 
stattungspflichtigen den Totenschein zur weiteren Veranlassung wie 
bisher. Der Laienleicbenschauer übergibt nach seinem ersten Besuch 
(falls er nichts Regelwidriges findet) dem Bestattungspflichtigen eine 
rote Karte (vorläufigen Bestattungsschein), auf welcher er bescheinigt, 


dass: „nach dem Ergebnis seines ersten Besuches am .... . der Be- 

(j er 

stattung am.Verstorbenen.voraussichtlich 

des 


nichts im Wege stehen wird“. Auf Grund dieser roten Karte wird die 
Leiche zur Beerdigung freigegebdta. Entsteht bei seinem zweiten Be¬ 
such der Verdacht auf Scheintod, Tod durch äussere Gewalt oder durch 
eine gemeingefährliche Krankheit, so hat er umgehend (wenn möglich 
unter Benutzung des Telephons) die Ortspolizeibehörde und einen Arzt 
von dem Sachverhalt in Kenntnis zu setzen und gegebenenfalls dafür 
zu sorgen, dass die Bestattung aufgesohoben wird. Findet er auch bei 
seinem zweiten Besuch nichts Regelwidriges, so füllt er den Be¬ 
stattungsschein aus, übersendet Abschnitt I dem Standesbeamten, Ab¬ 
schnitt II dem Kreisarzt, Abschnitt III dem behandelnden Arzte, 
welcher Abschnitt III ausgefüllt dem Kreisarzt zusendet. 

Zu § 6. Auf Antrag des Kreisarztes kann jeder Laienleichenschauer vom Re¬ 
gierungspräsidenten disziplinarisch bestraft und seines Postens enthoben 
werden. 

Zu § 7. a) Portoauslagen in Dienstsachen werden dem Laienleichenschauer vergütet, 
b) Für die ärztlich beglaubigte Feststellung eines Falles von Scheintod 
erhält der Laienleichenschauer aus der Regierungshauptkasse eine 
Prämie von 1000 Mark. 

Für die kreisärztlich beglaubigte Feststellung eines ersten Sterbe¬ 
falles (im Sinne des § 6 des Gesetzes vom 28. August 1905) an einer 
gemeingefährlichen Krankheit erhält der Laienleichenschauer aus der 
Regierungshauptkasse eine Prämie von 1000 Mark. 

Für die gerichtlich beglaubigte Feststellung eines Mordes erhält der 
Laienleichenschauer aus der Regierungshauptkasse eine Prämie von 
1000 Mark. 

Für die gerichtlich beglaubigte Feststellung des Versuchs einer 
wissentlich falschen Totmeldung erhält der Laienleichenschauer aus 
der Regierungshauptkasse eine Prämie von 1000 Mark. 


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268 


Robinski, Das Leichenwesen in Preussen. 


Anlage 3. 


I. 

Ort: 

Name (auch Vor¬ 
name): 

Stand: 

Geboren: 

Gestorben: 

Religion: 

Familienstand: 

Uneheliches Kind 
der . . . 

Persönlich be¬ 
kannt: . . . 

oder agnostiziert 
durch: 

Bemerkungen: 


X. 


gepr. Leichen¬ 
schauen 


ii. 

Ort: 

Name (auch Rufname): 

Alter: 

Stand: 

Gestorben am.Uhr 

Behandelt von Dr. . . . zu . . . 

Tag der letzten ärztlichen Konsultation: 
Schwanger? ... im wievielten Monat? . 
Wie lange krank: 

Schmerzen? 

. wie lange? , 


Erster Besuch am . 
Zweiter „ „ . 

Todesursache: 


Uhr 


Blut? 


Husten? . . 

Ausschläge? 

Bewusstlos? 

Erbrechen? . . . wie oft? . . . Farbe? . . . 
Geruch? . . . 

Durchfälle? . . . wie oft? . . . Farbe? . . . 
Blut? ... 

Hat der Leichenbeschauer selbst den Stuhl 
gesehen? ... 

Nur bei Kindern bis zu 1 Jahr: wie lange 
Muttermilch? . . . 

Besondere Bemerkungen: 


X. 

gepr. Leichen¬ 
schau er. 


Dr. M. (Sichtvermerk) 

Kreisarzt, 


iii. 

Ort: 

Name (auch Ruf¬ 
name): 

Alter: 

Stand: 

Gestorben: 


Tom behandelnden in 
a o si u füllen: 

Oben bexeichiH 
Person wurde Tonm 
behandelt vom . 
bis . . . 

(oder am ...) 
wegen. 

Todesursache: 


Dr. R, 

appr. Ai 


Literaturverzeichnis. 

1) Rapmund, Aerztliohe Rechts- and Gesetzeskunde. — 2) Grunewald- 
Echo. Jahrg. 1919. Nr. 44. — 3) Brouardel, La mort et la mort subite. — 
4) Devergie, Inhumations präcipitäes. Annales d’bygiene publique. Sörie II. 
T. 26. — 5) Traoinski, Einführung der allgemeinen Pfliohtleichenschau im 
Deutschen Reich. Deutsche Vierteljahrsschr. f. öffentl. Gesundheitspfl. 1893. — 

6) Guttmann, Gehäuftes Vorkommen von Krebs im Dorfe Nordleda, Kreis Hadeln. 
Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Med. u. öffentl. Sanitätsw. 3. Folge. Bd. 36. — 

7) Sachs, Leichenschau und Todesursachenstatistik. Strassburger med. Ztg. 
1908. — 8) Deutsche Vierteljahrsschr. f. öffentl. Gesundheitspfl. 1875. — 
9) Kriegstagung d. Feuerbestattungsvereine. 1916. 


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XIX. 

Kleinere Mitteilung. 


Hieb* und Schusswunde als Konkurrenz der Todesursache. 

Von 

Generaloberarzt a. D. Dr. Neumann, Naumburg a. S. 

In der Schwurgerichtssaohe gegen X and Genossen in Y bandelte es sich um 
die Frage, wodurch der Tod bei J. erfolgt sei und ob ein oder mehrere Mörder 
in Frage kommen. Bei einem Aufruhr hat die Menge mit Stöcken, Schirmen, Gas* 
rohren, Gewehrkolben auf einen Mann losgeprügelt, ihn durch die Stadt geschleift, 
ihn ins Wasser getrieben, herausgeholt, bis ein Mörder ihm den Gnadenschuss ge¬ 
geben hat. Die Sektion ergab folgendes: ato rechten Ohr Einsohuss in den Kopf. 
Die Kopfknochen völlig zertrümmert, das Gehirn ein formloser Brei. Am linken 
Hinterhaupt eine 18 cm lange und 10 cm breite Wunde mit glatten Rändern, Aus¬ 
schussöffnung. Ein Teil des knöchernen Schädels fehlt. Zeichen von Stook- 
.schlägen am Körper. Am Rücken leichte Wunden von Stockschlägen herrührend. 
Verschiedene Zeugen sagen aus, dass der Erschossene vor der Erschiessung be¬ 
stimmt gelebt hat. Der Mörder hat nicht auf eine Leiche geschossen. ' Die aus 
der Menge der Beihülfe zum Morde Angeklagten leugnen jede Schuld und stellen 
fest, dass der Mann noch gelebt habe und dass derjenige der Mörder sei, der 
den Sohuss abgegeben hat. Der Schuss war ein Nahschuss mit kleinkalibrigem 
Karabiner, so dass die Explosionswirkung an sioh ohne weiteres klar ist. Die Be¬ 
gutachtung sprach sich zunächst dafür aus, dass von den Verletzungen an der Leiohe 
es sioh um die 18 cm lange und 10 cm breite Wunde am Hinterkopf handeln konnte, 
welche den Tod herbeigeführt hat. Sie kommt als Konkurrenz der Todesursache 
aber deshalb in Betracht, weil sowohl die Hiebwunde, als auch die Schusswunde 
an sich allein im Stande gewesen wäre, den Tod zu bewirken. Eigenartig ist, 
dass der Ausschuss mit der Hiebwunde zusammenfällt, was aber dadurch erklärt 
werden kann, dass der Schuss naoh der Seite des kleinsten Widerstandes explodierte 
und dass die Schädelzertrümmerung an der linken Hinterhauptseite auch durch 
Hiebe mit dem Gasrohr oder Gewehrkolben entstanden sein konnte. Es brauchten 
nicht alle Schädelsprünge durch die Explosion entstanden zu sein. 

Es liegt also hier der Fall vor, der immerhin selten ist, dass an einem und dem¬ 
selben Individuum zwei Verletzungen sich finden, von denen jede allein im Stande 
sein konnte, den Tod zu bewirken. Es liegt also eine Konkurrenz von Todesur¬ 
sachen im strengsten Sinne des Wortes vor und hat hier deshalb forensisohe Be- 


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deutung, weil die Verletzungen nicht von einem Täter y sondern jede von einem 
anderen zugefügt worden ist. Wer hier Täter der Hiebwunde ist, kommt gerichts¬ 
ärztlich nicht in Betracht. Es handelt sich darum, ob es objektiv feststellbar ist, 
welcher Verletzung ein tödlicher Charakter zukommt. Die glatten Ränder der 
Hiebwunde sprechen für eine solche, so dass angenommen werden muss, dass die 
Wunde am Hinterhaupt vorhanden war, ehe der Tod durch Erschlossen erfolgte. 
Es ist nicht anzunebmen, dass die 18 cm lange und 10 cm breite Wunde durch 
die Sobädelexplosion erfolgt ist. Eine solche Explosion macht keine glatten 
Ränder und diese Bezeichnung ist absichtlich gewählt worden, wie einer der Sach¬ 
verständigen, der bei der Sektion dabei war, äusserte. Die Hiebwunde wurde 
vor der Schusswunde zugefügt. Der Sachverständige äusserte sich dahin, dass 
mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit der Tod des Mannes durch 
die Verletzungen insbesondere durch die Hiebwunde mit Zertrümmerung des 
Schädels erfolgt wäre. Das ist schon deshalb wahrscheinlich, weil die erregtu 
Menge den Tod des Mannes haben wollte. Die Menge verlangte den Tod des Mannes 
und als einer aus der Menge rief, gebt ihm doch den Gnadenschuss, da erschoss 
der Mörder den Mann vor den Augen der Menge, die dann befriedigt war. Der 
Fall ist auch typisch für den Begriff der Massenpsychose. Die anderen Ange¬ 
schuldigten bekundeten, dass der Mann noch gelebt habe. Er war, als man ihn 
auf einem offenen Wagen durch die Strasse zog, nur mit dem Hemd bekleidet. 
Er soll das Hemd heruntergezogen haben, um die Geschlechtsteile zu bedecken 
und einer aus der Menge schrie: das Schwein schämt sich noch. Von Seiten der 
Angeschuldigten aus der Menge wird das als eine bewusste Handlung aufgefasst. 
Diese Auffassung braucht nicht richtig zu sein, da es sich um unterbewusste 
Abwehrbewegungen gehandelt haben kann oder Reflexbewegungen im Sinne 
Pflügers. Die an sich zweckmässige Handlung das Herunterziehen des Hemdes 
setzt durchaus nicht immer ein Bewusstsein voraus. Die Sachverständigen äusserten 
sich dahin, dass die Schläge mit Stöcken, Schirmen, Gasrohr usw. wahrscheinlich 
den Tod zur Folge gehabt hätten. Die Misshandlungen, welche der Mann erlitt, 
haben für sich allein den Tod herbeigeführt. Ein strikter Beweis, dass die Ver¬ 
letzungen des Mannes nicht tödlich geendet hätten, lässt sich nicht führen, da er 
ja später erschossen worden ist. Eine Hiebwunde, wie die vorliegende, pflegt in 
der Regel den Tod herbeizuführen und die Hiebwunde ist an sich eine tödliche. 
Es ist an ihr als solcher nicht zu zweifeln. 


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XX. 

Besprechungen. 


A. Förster, Die Preussisöhe Gebührenordnung für approbierte Aerzte 
und Zahnärzte. 7. vermehrte Aufl., herausgegeben von E. Dietrich. Berlin 
1920, Richard Schoetz. 

Wie der Herausgeber im Vorwort mitteilt, hatte der Verfasser diese Auflage 
schon vorbereitet, als ihn der Tod mitten aus der Arbeit hinwegnahm. Obwohl 
der Erlass einer neuen Gebührenordnung für Aerzte in Preussen bereits in An¬ 
griff genommen ist, wünschte der Verlag die Herausgabe dieser Ausgabe noch zu 
vollenden, da die neue Gebührenordnung sich in ihrem 'Aufbaue von der alten 
nicht wesentlich unterscheiden würde. Sie soll alsbald nach ihrer Veröffentlichung 
als Nachtrag zu dieser Auflage erscheinen. 

Das Werk selbst, das durch den Herausgeber bis zum 1. April 1920 fort¬ 
geführt ist, bedarf einer Empfehlung nicht mehr. Sein Preis (gebunden 9,50 M.), 
muss mit Rücksicht auf die Teuerungsverhältnisse als sehr gering bezeichnet 
werden. P. Strassmann. 

Das Geschlechtsleben der Hysterischen. Eine medizinische, soziologische 
und forensische Studie. Von Dr. med. Placzek, Nervenarzt in Berlin. Bonn 
1919, A. Marcus u. E. Webers Verlag. 264 Seiten. 

Ueber die ursächliche Bedeutung der Sexualität für die Entstehung der 
Hysterie ist schon fast allzuviel, über das tatsächliche Geschlechtsleben der Hyste¬ 
rischen aber nur verhältnismässig wenig geschrieben. Diese nicht nur für die 
theoretische Deutung und Erkenntnis der Hysterie, sondern auch für die richtige 
Beurteilung der Hysterischen im praktischen Leben empfindliche Lücke will Pla¬ 
czek mit seinem wertvollen Buohe ausfüllen, das des Interesses gerade auch des 
gerichtsärztlichen Sachverständigen sicher sein kann. Gehört es doch keineswegs 
zu den Seltenheiten, dass die hysterische Geschlechtseigenart, namentlich auch in 
ihren Abirrungen, nicht verstanden und in foro oft eine recht sonderbare richter¬ 
liche Beurteilung erfährt. Aus dem Inhalt des Buches, in dem ein reiches, in der 
Literatur weit zerstreutes Beobachtungsmaterial zusammengestellt und auf Grund 
eigener Erfahrung kritisoh verwertet ist, sei hier aufmerksam gemacht auf die 
Ausführungen über die Pseudologia phantastica und mannigfache Triebhandlungen 
(Stehltrieb, Kauftrieb, Brandstiftungstrieb usw.), die sich als Ersatzhandlungen 
zur Abfuhr sexueller Stauungen erweisen. Etwas kurz ist das Kapitel über den 
hysterischen Mann geraten. In den Erörterungen über das Geschlechtsleben der 
Hysterischen in soziologischer Beziehung kommt Placzek zu der Forderung 
der Verhinderung der Fortpflanzung jeder degenerativen Hysterie und tritt zur Er- 


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272 


Besprechungen. 


reichung dieses Zweckes aus rassenhygienischer Indikation für die Zulässigkeit 
des künstlichen Aborts — unter Sicherungsmassnahmen gegen einen Missbrauch — 
ein. In den Schlusskapiteln werden im Zusammenhang die zahlreichen Fragen er¬ 
örtert, die bei der forensischen Beurteilung der mannigfachen Kollisionen von 
Wichtigkeit sind, welche die Hysterischen nicht selten in Berührung mit dem Straf- 
und Zivilrecht bringen und ihre Wurzeln im Geschlechtsleben haben, wenn aach 
ein solcher Zusammenhang oft erst dem erfahrenen Beobachter erkennbar wird. 
Auf die Ausführungen über Hysterie und Eherecht und über Hysterisohe als Zeugen 

und Denunzianten sei noch besonders hingewiesen. Falkenberg. 

% 

Ueber die Spirochätenfunde im Paralytikergehirn and ihre Be¬ 
deutung. Von Dr. B. Klarfeld, wissenschaftl. Assistenten an der psychiatr. 
Nervenklinik in Breslau. Aus: Sammlung zwangloser Abhandlungen aus d. Ge¬ 
biet d. Nerven- und Geisteskrankheiten. XI. Bd., 8. H. Halle a. S., 1919, 
Verlag v. C. Marhold. 

Eine kurze aber vortreffliche, kritische Uebersicht über die Entwicklung der 
Anschauungen von dem Wesen der paralytischen Erkrankung und insbesondere 
von der Bedeutung der Spirochätenfunde im paralytischen Gehirn. Der Nachweis 
der Spirochäten im Gehirn ist zunächst nur das Endglied in der Beweiskette für 
die luetische Natur der Paralyse; eine Erklärung des komplizierten histopatho- 
logischen Befundes ist aber damit noch nicht gegeben: insbesondere ist es nach 
dem heutigen Stand unseres Wissens noch nicht angängig, alle paralytischen Ge¬ 
websveränderungen ohne weiteres auf direkte Einwirkung der Spirochäten zurück¬ 
zuführen. Falkenberg. 

Das Wesen der psychiatrischen Erkenntnis. Beiträge zur allgemeinen 
Psychiatrie. I. VonDr. Arthur Kronfeld. Berlin 1920, Verlag von J. Springer, 
485 Seiten. 

Die Ergebnisse der übliohen psychiatrischen Forschungsmethode sind nach 
Kronfeld deshalb vielfach wenig befriedigend, weil die Grundlagen der wissen¬ 
schaftlichen Möglichkeit der Psychiatrie nicht genügend durchdacht und beachtet 
sind. Hier setzt die Arbeit Kronfelds ein, dem als Ziel vorschwebt eine Dar¬ 
stellung der allgemeinen Psychiatrie als streng systematischer Wissenschaft. Auf 
dem Boden des kritischen Idealismus der Kant-Friessschen Lehre stehend will 
er „alle diejenigen methodologischen, logisch und theoretisch fundierenden and 
kritischen Gedankengänge und Entwicklungen mit präziser Begründung versehen, 
durch welche psychiatrisch-psychologisches Denken ermöglicht, gesichert und 
zum Range wirklicher Wissenschaft erhoben zu werden vermag“. In dem vor¬ 
liegenden ersten Bande werden als Hauptprobleme die wissenschaftstheoreti¬ 
schen Grundlagen der Psychologie, insbesondere die Probleme der 
psychischen Kausalität, und die Phänomenologie des Psyohisohen 
behandelt. Es wird dem philosophisch und psychologisch weniger geschalten Leser 
nicht leioht fallen, den Gedankengängen des Verfassers za folgen, man wird an 
, ihnen aber schon wegen ihrer Bedeutung für die psyohologisch-klinischen Frage¬ 
stellungen nicht vorübergehen können, sondern sich recht eingehend mit ihnen be¬ 
schäftigen müssen. Falkenberg. 


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Besprechungen. 


273 


Ueber Massenmörder. Ein Beitrag za den persönlichen Verbrechensarsacben 
und zu den Methoden ihrer Erforschung. Von Privatdozent Dr. Albrecht 
Wetzelj Oberarzt a. d. psyohiatr. Univ.-Klinik in Heidelberg. Abhandl. a. d. 
Gesamtgeb. d. Kriminalpsychologie. Herausgegeben von K. von Lilienthal, 
S. Sohott, C. Wilmanns. Heft 3. Berlin 1920, J. Springer. 

Eine wertvolle, inhaltreicbe, kriminalpsychologische Untersuchung mit dem 
Ziel, nicht nur die allgemeinen, für den Durchschnitt der Massenmordsdelikte 
oder einzelner Gruppen wesentlichen inneren und äusseren Ursachen aufzudecken, 
sondern auch nach Möglichkeit durch Zergliederung des Einzelfalls in seinen 
ganzen psychologischen Aufbau die psychologischen und psychopathologischen 
Zusammenhänge beim Zustandekommen des Deliktes aufzuhellen. Die statistische 
Methode erfährt daduroh eine wesentliche Erweiterung uud Vertiefung: Die psycho¬ 
logische Analyse führt zur Erfassung verständlicher Zusammenhänge und aus der 
Ursachenforschung wird eine Verursachungserforschung. — Der Untersuchung 
liegt zugrunde ein statistisches Material von 119 Fällen: in 69 pCt. war der Täter 
ausgesprochen geisteskrank, in 31 pCt. seelisoh gesund, wobei psychopathische 
und mässige intellektuelle Abweichungen noch zur Gesundheit gerechnet wurden; 
33 pCt. aller geisteskranken Massenmörder gehörten in die Gruppe der Dementia 
praecox. Auch die beiden vom Verfasser selbst beobachteten und eingehend 
unter dem Gesichtspunkte der inneren Zusammenhänge zwischen Persönlichkeit, 
Psychose und Tat bearbeiteten beiden Fälle litten an dieser Erkrankung. Ob man 
in der eigenartigen Mischung von zäher Beharrlichkeit mit verhaltener oder in 
Erregung sioh entladender Spannung etwas der Dementia praecox allein Eigenes 
und den Massencharakter des Deliktes Begünstigendes sehen darf, wird, wie auch 
Wetzel selber meint, noch weiterer Untersuchung bedürfen. Jedenfalls wird 
ausserhalb der eigentlichen Geisteskrankheit die statistische Erfassung der Motive 
des Deliktes erst dann wertvoll, wenn sie sioh auf die genaue Kenntnis der Gesamt- 
persönlicbkeit stützt und damit dem Motiv Ort und Wertigkeit anweist. Die Arbeit 
Wetzeis zeigt aber weiter, dass man bei der nötigen Kritik und Gründlichkeit 
auch bei ausgeprägten Psychosen mit uneinfühlbar erscheinenden Begleiterschei¬ 
nungen des Deliktes noch verständliche Zusammenhänge finden und damit selbst 
bei schizophrenen Störungen diesem Ziel ein gut Teil näher kommen kann. 

Falkenberg. 


Viertelj&hrsfichrift f. ger. Med. u. öff. San.-Wesen. 3. Folge. Bd. 60. H. 2. 


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Druck von L. Schumacher in Horlin N. 4. 




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das Verfahren der UerichtsSrste bei den 
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von Geb. Med.-Rat Prof. Dr. Job. Orth.. 
1905. gr. 8. 2. M. 


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Ein klinisches Lehrbuch 

von Geh. Med.-Rat Prof. Dr. C. Binz. 

Vi erzeh n te gemäss dem Deutschen Arznei¬ 
buche von 1910 völlig umgearbeitete Aufl. 
1912. 8. 6 M. 


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i 

1914. g 
(Bibtiol 






Inhalt. 


Seite 


XII. Die Begutachtung von Nierenerkrankungen auf Grund der Kriegs¬ 
erfahrungen. Von A.V. Knäok, Hamburg. (Mit 1 Kurve im Text.) 145 

XIII. Aus dem pathol.-anat. Institut des Krankenhauses Friedrichstadt 
in Dresden (Direktor: Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Schmort).- Ueber 


Vergiftung durch Trinken chloroformhaltiger Flüssigkeit. Von 

Raimund Schelcher.175 

XIV. Ueber künstliche Färbung und Entfärbung des mensohlichen 
Haares in gerichtlioh-mediziniscber Beziehung. Von Dr. Lothar 
Bock, Braunschweig.191 


XV. Die Ursachen des Verbrechens. Voii Hugo Marx f . . . . 205 

XVI. Aus der Berliner städtischen Irrenanstalt Dalldorf (Direktor: 

Geheimrat Dr. Kortum). Dämmerzustände eines homosexuellen 
Neurotikers. Von Dr. Max Margulies, Hermsdorf bei Berlin . 226 

XVII. Die forensische Bedeutung der Gehirnarteriosklerose. Von Dr. med. 

W. Knape, Kreisarzt in Jobannisburg (Ostpr.). (Schluss.) . . 247 

XVIII. Das Leichenwesen in Preussen. Von Dr. Robinski, Kreisarzt in 

Papenburg-Ems.258 

XIX. Kleinere Mitteilung: 

Hieb- und Schusswunde als Konkurrenz der Todes ursacL j. 

Von Generaloberarzt a. D. Dr. Neumann, Naumburg a. S. . 269 

XX. Besprechungen.271 


W“ Die Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medizin und öffent¬ 
liches Sanitätswesen erscheint in 2 Bänden (jährlich 4Vierteljiihrshefte). 
Der Preis des Jahrgangs beträgt 20 Hark. 

Einsendungen für die Vierteljahrsschrift wolle man an Herrn Geh. Med.-Rat 
Dr. M. Beninde (Berlin-Schmargendorf, AngnsteViktoriastrasse 66) oder an 
Herrn Geh. Med.-Rat Prof. Dr. F. Strassmann (Berlin NW., Siegmundshof 18) 
oder an die Verlagsbuchhandlung (Berlin NW., Unter den Linden 68) richten. 


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