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y iertelj ahrsschrift
für
gerichtliche Medicin
und
öffentliches Sanitätswesen.
Unter Mitwirkung der Königl. wissenschaftlichen Deputation
für das Medicinalwesen im Ministerium der geistlichen,
Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten
herausgegeben
Dr. A. Wernich,
Regierungs- und Medicinal-Rath in Berlin.
Dritte Folge. IX. Band.
Jahrgang 1895.
Mit 1 Farben-Tafel.
BERLIN, 1895.
VERLAG VON AUGUST HIRSCHWALD.
NW. 68. UNTER DEN LINDEN.
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Inhalt.
Seite
L Gerichtlich© Medicin . 1—144. 203-341
1. Das Krankheitsbild des traumatischen Diabetes vorwiegend vom foren¬
sischen Standpunkt. Von Willie Asher aus Leipzig (Schluss.) . .
2. Ueber den Zusammenhang zwischen Trauma und Tuberculose. Von
Dr. Paul Guder, Kreisphysikus des Kreises Wittgenstein (Schluss.)
3. Zur Lehre von der forensischen Bedeutung der Gonokokkenbefunde in
alten Flecken. Von Dr. Leo Wachholz und Dr. Julius Nowak
in Krakau.
4. Zur Diagnose der Erstickung. Von Prof. Dr. J. Kratter in Graz. .
5. (Aus dem Institute für gerichtliche Medicin in Wien): Einiges über
Wasserleichen. Vom k. k. Landesgerichtsarzte Dr. Albin Haberda
in Wien.t . . .
6. Zwei im Civilverfahren abgegebene motivirte Gutachten über mit dem
Strafgesetz in Conflict gerathene Geisteskranke. Von Dr. Alfred
Richter zu Dalldorf (Schluss.).111
7. Spontaner Schlagfluss oder Gehirnblutung in Folge von Schlägen?
Vom Königl. Kreiswundarzt Sanitätsrath Dr. Kob in Stolp in Pommern 129
8. Die Verschwiegenheit des Arztes und der Zwang zum Zeugniss. Von
Dr. Kühner, Arzt und Gericbtsarzt in Frankfurt a. M.139
9. Ueber Geburtsverletzungen des Neugeborenen und deren forensische
Bedeutung. Von Prof. Dr. Paul Dittrich in Prag. (Mit 1 Tafel.) 203
10. Ueber einen ursprünglich als Verletzung angesehenen congenitalen
Cutisdefect am Scheitel eines neugeborenen Kindes. Von Professor
Dr. Paul Dittrich in Prag. (Mit 1 Tafel.).258
11. (Aus der medicinischen Klinik zu Halle): Tod eines Tracheotomirten
durch Erhängen. Von Dr. Reineboth in Halle.2G5
12. Tod durch Aspirationserstickung im bewusstlosen Zustande. Von
Professor Dr. C. Seydel in Königsberg i. Pr.285
13. Mord oder Todtschlag? Von Physikus Dr. Wahne au in Hamburg . 298
14. Die Geistesstörungen der Epileptiker. Von Dr. Feige in Niesky . . 309
15. Gutachten über einen reinen Fall von Irresein mit Zwangsvorstellungen
und Zwangshandlungen. Von Director Dr. C. Werner in Owinsk. . 32G
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IV
Inhalt.
Seite
16 . lieber die Ecchymosen hinter der Brustaorta. Von Prof. E. v. II o f -
mann in Wien.332
II. Oeffenüiches Sanitätswesen . 145—180. 342—413
1. Ueber die Kohlenoxydvergiftung vom medicinal- und sanitätspolizeil.
Standpunkte. Von Dr. med. Robert Stoermer in Berlin . . 145. 3GG
2. Beiträge zur öffentlichen Gesundheitspflege deutscher Städte im Mittel-
alter. Zusammengestellt von Dr. J. Köhler in Berlin.IGO
3. Ist Krebs des Magens und der Unterleibsorgane die mittelbare Folge
einer Contusion, eines Betriebsunfalls? Von Sanitätsrath Dr. Litthauer
in Berlin.342
4. Zur Prophylaxe der Masern. Von Kreisphysikus Dr. Reinhard Caspar
in Greifenberg in Pommern.395
in. Kleinere Mittheilungen, Referate, Literatnrnotizen 181—193. 414—432
IY. Amtliehe Verfügungen .. • 194—202. 433—435
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UNIVERSUM OF IOWA
I. Gerichtliche Medicin.
1 .
Das Krankheitsbild des traumatischen Diabetes
vorwiegend yom forensischen Standpunkt.
Von
Willie Asher aus Leipzig.
(Schluss.)
Denken wir in erster Linie an die berühmte Piquure CI. Bernard’s. Dieser
geniale Forscher lehrt Folgendes: Trifft ein Stich den Boden der Rautengrube
zwischen den Ursprüngen des Vagus und Acusticus, so hat er Melliturie zurFolge,
während beim Stich etwas unterhalb der Stelle nur einfache Polyurie auftritt und
endlich beim Stich etwas oberhalb keine Vermehrung der Harnmenge, dagegen
Eiweiss im Harn angctrolTen wird. Wird die Piquure richtig ausgeführt, so er¬
scheint schon nach einer Stunde oder selbst noch kürzerer Zeit der Urin stark
zuckerhaltig. Diese Glycosurie ist aber vorübergehend. Als Bernard ') kurz vor
seinem Tode die Resultate seiner Forschungen zusammenfasste, stellte er auf
Grund dieses Experimentes seine endgültige Erklärung des künstlichen Diabetes
auf: Die Zuckerproduction in der Leber ist dem Einflüsse des Nervensystems
unterworfen. Die Piquure des 4. Ventrikels bewirkt vorübergehend eine Steigerung
der zuckerbildenden Thätigkeit der Leber, eine Glycämie und temporäre Zucker¬
ausscheidung mit dem Urin. Die Bahnen, auf welchen sich der nervöse Einfluss
fortpflanzt, gehen vom Mark in der Höhe des ersten Dorsalnervenpaares auf den
Sympathicns und von hier vermittelst der Nn. splanchnici zur Leber über. Es
könnte sich dabei um Reizung oder Lähmung handeln. Bernard sah jetzt im
Gegensatz zu seiner früheren Meinung den künstlichen Diabetes als Folge einer
nervösen Reizung an. Das vasomotorische Nervensystem, das der Ruhe, gehört
zum Sympathicns; das andere, das Nervensystem der Thätigkeit, gehört zum Ce-
rebrospinalapparat. Die sympathischen vasomotorischen Nerven bilden eine Ilem-
') Bernard, CM., Le^ons sur le diabete et la glycogenese animal.
Paris 1877.
Vierteljahrssckr. f. ger. Med. Dritte Folge. IX. 1.
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Asher,
mung, welche die locale Blutzufuhr herabsetzt, die Ernährung des Organs be¬
schränkt. Zur Functionsäusserung derselben bedarf es der Wirkung cerebrospi¬
naler Nerren, welche die Blutbahnen erweitern, die Circulation beschleunigen.
Der Ursprung der letztgenannten Nerven scheint sich am Boden des 4. Ventrikels
zu befinden, durch ihre Vermittlung würde der Zuckerstich auf die Leber wirken,
ihre vorübergehende Reizung den vorübergehenden künstlichen Diabetes erzeugen.
Laffont hat durch höchst ingeniöse Experimente diese Theorie Bernard’s voll¬
auf bestätigt.
Wenden wir diese Erfahrung auf den traumatischen Diabetes an, so könnten
wir uns vorstellen, dass durch eine Verletzung des Hinterkopfes eine Reizung des
vasomotorischen Centruras stattfinde, und die Folge eine Glycosurie sei. Bei dem
künstlichen Diabetes ist dieselbe vorübergehend, während wir gerade die dauernde
Glycosurie in mehreren Fällen gesehen haben. Für diese fehlt zur Zeit eine Er¬
klärung. Auch Verletzungen der übrigen Theile des Schädels, der Stirn, der
Scheitelbeine könnten mit jenem Experiment in Einklang gebracht werden.
Nach Duret muss der bei einem Schlag oder Stoss gewaltsam und plötzlich
verdrängte Liquor cerebralis mehr als anderen Ilirntheile den Boden und die
nächste Nachbarschaft des Ventrikels insultiren. ln der Tliat ist oft in den am
Menschen beobachteten und am Thiere erzeugten Commotionsfällen gerade die
wichtige Gegend des Nodulus vitao Sitz der capillären llämorrhagieen und kleinen
Quetschungsherde. Meines Wissens ist allerdings noch kein Forscher fiir eine
solche Erklärung derjenigen Fälle von Diabetes eingetreten, welche einem Stoss
oder Schlag auf Stirn oder Scheitelbeine folgen.
Ob das Bernard’sche Experiment gelegentlich für solche Fälle als Grund¬
lago der Erklärung dienen kann, wo die Verletzung auf eine von der Medulla ob-
longata weit entfernte Stelle gewirkt hat, muss dahingestellt bleiben. Bei dem
von mir beschriebenen Falle sprach ich eine daraufzielendo Vermuthung aus'),
Aehnliehes gilt von dem Buzzard’schen Falle' i ).
Hierher gehören auch die Erfahrungen Eckhard’s 3 ). Eine Verletzung des
hintersten Theiles des Wurmes durch einfaches Einstechen oder Ausschneiden
eines kleinen oberflächlichen Stückchens bei dem Kaninchen, nicht beim Hunde,
ruft einen mit Hydrurie verknüpften Diabetes hervor. Wenn man beim Kaninchen
in das unterste Hals-erste und zweite Brust- — Ganglion einschneidet, erhält
man stets deutlichen Diabetes, Hydrurie fehlte.
Könnten diese Vorgänge auf den Menschen übertragen werden, so würden
sie wohl in erster Linie für Schläge oder Stösse auf den Hinterkopf Geltung haben.
Indessen ist die Sache sehr zweifelhaft, zumal schon beim Hunde das Experiment
versagt.
>) S. Band VIII, S. 227.
2 ) S. Beobachtung 2, S. 8.
3 ) Eckhard, C., Die Stellung der Nerven beim künstlichen Diabetes. Bei¬
träge zur Anatomie und Physiologie. IV. 1. Giessen 18C>7. S. 1—82; und l’eber
die zur Zeit feststehenden von der Experimentalphysiologie ausgemittelten That-
sachen, welche sich auf die Lehre vom Diabetes und der Hydrurie beziehen.
Pester med.-chir. Presse. IX. 7. 8. 0. 1878.
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Das Krankheitsbild des traumatischen Diabetes.
3
Werfen wir jetzt einen Blick auf die pathologisch-anatomischen Befunde zu¬
rück, so fanden sich zwei Fälle, wo wirklich nach Verletzungen des Schädels
Anomalien in der Rautengrube beobachtet wurden. Es war der eine von Reck¬
linghausen, der andere von Frerichs. Im ersteren handelte es sich um eine
entzündliche Schwellung des Plexus chorioideus im IV. Ventrikel, im anderen um
zahlreiche Hämorrhagiecn am Boden des letzteren, sowie Flecke in der Gegend des
Acnsticuskemes und seitliche von der Mittellinie. Im Gegensatz hierzu betont
Sch aper, dass in seinen 7 Fällen nicht ein einziges. Mal eine Anomalie der Mc-
dulla oblongata nachweisbar war.
Selbst da, wo die klinischen Symptome auf eine Affection der Medulla ob¬
longata hinwiesen, liess sich eine nur geringfügige Abnormität des Facialiskernes
constatiren. Wir müssen daher offen zugestehen, dass die bisher bekannten phy¬
siologischen Erfahrungen zur Erklärung des traumatischen Diabetes nicht aus-
reichen, wenngleich die bei sogenanntem accidentellem Diabetes Vorgefundenen
Tumoren der Medulla oblongata für eine Betheiligung dieser Stelle des Gehirns
immer wieder sprechen.
Auf Grund seines bereits mitgetheilten Falles hält Hermanides die Rinde
für das wichtigste vasomotorische Centrum. Weiter spricht er den Satz aus, der
Diabetes sei auf eine corticalc Läsion zurückzuführen. Der Diabetes sei primär
eine Nervenkrankheit, die weiteren Störungen und der Zuckergehalt des Blutes
rühren von Nervenstörungen her. Wenn diese von keiner Seite bestätigte Hypo¬
these richtig wäre, so würden auch die nahen Beziehungen zwischen Kopftrauma
und Diabetes verständlich sein.
Bei Schiff findet sich eine Beobachtung angegeben, welche uns die Ent¬
stehung des Diabetes durch Verletzung der Leber erklären könnte. Schiff er¬
zeugte nämlich einen allerdings nur vorübergehenden Diabetes durch Einstechen
von Nadeln in die Leber.
Auch Pavy erhielt dadurch, dass er die Polo einer galvanischen Batterie in
die Leber einsetzte und dann einen Strom hindurchgehen liess, also ebenfalls
durch directe Reizung, eine Glycosurie.
Letzterem Autor verdanken wir ausserdem eine ganze Reihe von Resultaten.
Er fand, dass die Entfernung des Ganglion cervicale superins des Sympa-
thicus Diabetes hervorrufe, ferner zeigte er, wenn man die Fasern des Sympa-
thicus, die die Vcrtebralarterio begleiten, namentlich auf beiden Seiten des Halses
durchtrenne, dass rasch, schon nach */ 2 Stunde, eine starke Glycosurie auftritt.
Also die gleiche Wirkung wie Verletzung oder Entfernung des Ganglion cervicale
superius, Durchschneidung des Sympathieus während seines Verlaufes durch die
Brust, gleichgültig, an welcher Stelle und ob auf einer oder auf beiden Seiten,
hatte bald eine starke, bald eine sehr geringfügige Glycosurie zur Folge, nicht
selten blieb auch der Urin ganz frei von Zucker. Diese Glycosurie war immer nur
vorübergehend (beim Hund leichter als beim Kaninchen). Pavy stellte als
wahrscheinlichste Hypothese auf, dass die Operationen am Sympathieus zu einer
Veränderung der Qualität des durch die Leber fliessenden Blutes führten und so
Glycosurie erzeugten. Spritzte man nämlich vor Entfernung des Ganglion cervi¬
cale superius eine Lösung von kohlcnsauremNatron in das Blut, so blieb der Urin
frei von Zucker. Es können, wie aus alledem hervorgeht, durch periphere Nerven-
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läsionen ähnliche Zustände hervorgerufen werden wie durch die Piquüre. Die
die Zuckerharnruhr erzeugenden Traumen brauchen sich also auch theoretisch
nicht auf solche des Kopfes zu beschränken.
Von Pavy stammen noch weitere Experimente, so die Durchschneidung der
Thalami optici und der Hirnschenke], des Pons, die transversale Durchschneidung
des Brustmarks, alle erzeugen Glycosurie, sofern man die Abkühlung der Thiere
verhindert. Er erklärt die Operationen als Erzeuger einer neuro-paralytischen
Hyperämie der Unterleibsorgane. Aber es genüge eine Hyperämie irgendwo im
Körper von einer gewissen Ausdehnung. Bei Katzen durchschnitt er die hinteren
Theile des Rückenmarks im Niveau der vorderen oder hinteren Lendenwirbel,
ferner durchschnitt er den Nervus ischiadicus u. s. f.
Je reicher die Erfahrung an Stellen ist, deren Verletzung Glycosurie erzeugt,
um so mehr wird die Anschauung gestützt, dass die Diabetes erzeugenden Trau¬
men, die eben die verschiedensten Stellen des Körpers treffen, etwas mehr sind
als blosse Gelegenheitsursachen. Eine wirkliche Erklärung des ätiologischen Zu¬
sammenhanges wird durch keines dieser zahlreichen Resultate gegeben, da die
Beweise durch entsprechende Sectionsbefunde fehlen.
Nach Ebstein gehören die Traumen in der That nur zu den Gelegenheits¬
ursachen des Diabetes mellitus. Jedesmal sei eine Anlage vorhanden, beruhend
auf einer unvollkommenen Beschaffenheit des Protoplasmas. Diese besteht in einer
unzureichenden Kohlensäurebildung aus kohlenstoffhaltigen Stoffen. Die Kohlen¬
säure sei aber wichtig, da sic die diastatischen Fermente hemme.
Cantani sieht dagegen im Diabetes mellitus einfach eine Nichtverbrennung
der von aussen eingeführten oder normaler Weise innerhalb des Organismus pro-
ducirten Kohlehydrate. Beiden Forschern ist gemeinsam, dass sie den Diabetes
auf eine einheitliche Grundlage zurückführen, deshalb muss von ihnen das Auf¬
treten des Diabetes traumaticus bei sonst stets Gesunden und erblich absolut nicht
Belasteten schlechterdings geleugnet werden.
Der Auffassung, dass bei dem Entstehen eines Diabetes immer die Anlage
Bedingung sei, wird man sich schwerlich anschliessen können. Es macht ganz
den Eindruck, als ob der Symptomencomplex des Diabetes nicht sowohl eine ein¬
heitliche Ursache habe, als durch Störungen des Stoffwechsels m verschiedenen
Organen bedingt sei. Der Diabetes wäre demzufolge keine einheitliche Krankheit,
sondern ein Symptomencomplex, der unter anderem durch Verletzungen der ver¬
schiedensten Theile des Körpers geschaffen werden könnte.
Manche Theorie verdiente noch Erwähnung, so auch die von Zimmer.
Nach dieser würde beim Diabetiker der Widerstand der Zellen gegen das Ein¬
dringen von freiem Wasser abnehmen, so dass ein Ferment wirksam werde. Diese
Erscheinung beruhe auf Gefiisslähmungen mit c-onsecutiver Durchfeuchtung der
Organe. So erklärten sich die Experimente und Traumen an Kopf und Rücken¬
mark. Dasselbe finde beim Muskel statt (Lähmung der Muskelgefässe), dann wirke
das Ferment auf das Glycogcn der Extremitäten z. B. bei Traumen.
Ferner würde dieAnschauung Senator’s hierher gehören. DieUrsachen von
Störungen im Bereich des Verdaungskanals und der Leber können zwiefach ver¬
schieden sein. Entweder sind es örtliche oder nervöse Einflüsse. Die Nerven¬
bahnen, welche beim neurogenen Diabetes in Betracht kommen, verlaufen von der
Medulla oblongata sowie vielleicht auch noch von anderen Punkten des grossen
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Das Krankheitsbild dos traumatischen Diabetes.
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und kleinen Gehirns durch den obersten Theil des Halsmarks zum untersten Ilals-
und obersten Brustganglion und von da durch Fasern des Sympathicus zu den
Unterleibsorganen; sie enthalten vasomotorische möglicherweise secretorische oder
trophischo Fasern für dieselben und stehen somit den Circulations- und vielleicht
auch den Secrctionsverhältnissen des Digestionstractus und der Leber vor. Ihre
Erregung erfolgt entweder direct oder auf reflectorischem Wege.
An letzter Stelle verdient die Annahme Erwähnung, dass der Diabetes ledig¬
lich durch den von dem Trauma verursachten psychischen Shock bedingt sein
könne. Dieser Anschauung neigt Frerichs in gewissem Sinne zu. Er führt näm¬
lich u. A. Beispiele von Diabetes mellitus unter dem Kapitel „geistige Ursachen“
an. So oft auch unter den Ursachen des Diabetes Gemüthsbewogungen genannt
werden, ist es schwer sich vorzustellen, dass ein sicherlich durch anatomische
Veränderungen ausgezeichnetes Leiden durch psychische Einflüsse veranlasst wird.
Dass Aufregungen und nervöse Erschütterungen auf den bereits bestehenden Dia¬
betes ungünstig wirken, wird für den letzteren wie für alle Störungen der Gesund¬
heit gelten. Aber dafür, dass vom Grosshirn aus anatomische Veränderungen er¬
zeugt werden, fehlt jegliches Analogon in der Pathologie.
Für den Gerichtsarzt geht aus diesem unfruchtbaren Kapitel her¬
vor, dass er die Frage des Richters, ob die Aufstellung des trauma¬
tischen Diabetes als eines besonderen Krankheitsprocesscs wissen¬
schaftlich begründet sei, nur dahin beantworten kann:
Gegenwärtig ist es uns nicht vergönnt, durch die Erfahrungen
und Forschungen der pathologischen Anatomie und der Physiologie
den ursächlichen Zusammenhang zwischen Trauma und Diabetes zu
begründen. Es existiren nur Thatsachen, welche ihn wahrscheinlich
machen.
Symptomatologie, Klinischer Verlauf. Sobald der Diabetes
mellitus nach stattgehabtem Trauma eingetreten ist, unterscheidet er
sich in keiner Weise von dem idiopathischen in seinen Symptomen
und seinem Verlauf, er erscheint sowohl in der Form des klassischen
wie in der der wohlcharakterisirten Abweichungen von letzterem.
Selbstverständlich trägt aber der Diabetes traumaticus das Gepräge
seiner Entstehung in weitaus den meisten Fällen.
Entweder wird das Krankheitsbild durch die Folgen der durch
den Unfall erzeugten organischen Läsionen oder durch nervöse Stö¬
rungen modificirt, die functioneller Natur sind und das Bild der „trau¬
matischen Neurose“ darbieten. Dass man bei letzteren Formen oft
m Zweifel kommen wird, was auf Rechnung der „traumatischen Neu¬
rose“ und was auf die des Diabetes zu setzen ist, da der Diabetes
(idiopathicus) an und für sich häufig mit nervösen Störungen einher-
geht, werden wir später sehen.
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<» ' Asb er,
Elic wir uns jedoch mit dem Kranklieitshildc des I raumatischen
Diabetes, wie cs uns die Erfahrung lehrt, näher beschäftigen, müssen
wir uns mit den Anschauungen der Autoren vertraut machen, die den
Verlauf und die Symptomatologie des traumatischen Diabetes gekenn¬
zeichnet haben, da wir nur auf solche Weise zu einem objectiven Ur-
theil gelangen.
Griesinger ist auf Grund seiner Beispiele der Ansicht, dass die durch
Hirnverletzungen entstandenen Fälle von Diabetes selten chronisch werden, dass
sic eine relativ günstige Prognose geben und mehr vorübergehende Melliturien
seien. Er macht also den Verlauf des Diabetes von dem Orte der Verletzung ab¬
hängig.
Bergmann *) hält es für praktisch richtig, die Fälle von Melliturien, die Vor¬
kommen, einzutheilen in solche, welche unmittelbar nach der Verletzung ent¬
stehen, und solche, die sich erst später entwickeln. In beiden Kategorieen kom¬
men Fälle vor, die schnell oder verhältnissmässig bald vorübergehen, und solche,
die stationär bleiben und die übrigen Folgen des Leidens nach sich ziehen. Für
ihn ist die anfängliche Reizung und spätere Lähmung des vasomotorischen Cen¬
trums massgebend, wio sie für die Commotio cerebri erwiesen ist.
Buch schliesst sich hinsichtlich der Prognose der traumatischen Zucker¬
harnruhr dem Satze Griesinger’s an, dass dieselbe beim Vorhandensein ausge¬
sprochener Hirnerscheinungen besser ist, als wenn die letzteren vor den Sym¬
ptomen der Bothciligung der grossen Körperhöhlen zurücktreten. Ungünstig hat
man den Fall aufzufassen, wenn der Diabetes erst über einen Monat nach dem
Trauma aufgotreten ist, und desgleichen, wenn die Glyeosuric länger als ein Jahr
andauert. Von den verschiedenen für die Prognose zu verwertenden Momenten
ist nach ihm übrigens die Art der Verletzung das wichtigste. Buch macht hier¬
nach den Verlauf des Diabetes traumaticus von drei Factoren abhängig, von dem
Orte der Verletzung, von der Zeit, die zwischen Trauma und Ausbruch des Dia¬
betes verstreicht, endlich von der Art der Verletzung.
Brouardel und Richardiere unterscheiden zwischen dem „Diabete prö-
coce ou aigu“ und dem „Diabete retarde ou chroniquc“. Unter der ersten Form
verstehen sie die, welche unmittelbar nach dem Trauma mit Polydipsie, Polyurie
und Glycosurie beginnt. Sie ziehen aus ihren Untersuchungen folgende Schlüsse:
1. Der „Diabete precoce“ endigt stets mit Genesung. 2—3 Wochen, manch¬
mal ein bis zwei Monate nach dem Erscheinen der ersten Symptome, fühlt der
Kranke, wie seine Kräfte sich heben. Alle diabetischen Erscheinungen schwinden,
nur die Polyurie bleibt längere Zeit bestehen. Für gewöhnlich ist aber die Wieder¬
herstellung zwei bis drei Monato nach dem Trauma eine vollständige.
2. Der „Diabete retarde ou chronique“, wo die Symptome erst längere Zeit
nach erlittenem Trauma sich entwickeln, verläuft äusserst langsam. Seine Dauer
beträgt Monate und Jahre. Er gleicht ganz der klassischen Form des Diabetes.
Der Ausgang ist meist letal. Der Tod erfolgt durch den diabetischen Marasmus,
*) v. Bergmann, E., Die Lehre von den Kopfverletzungen. Stuttgart 1880.
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Das Krankheitsbihl des traumatischen Diabetes.
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durch anderweitige Complieationcn, sehr häufig Lungentuberculo.se, bisweilen
im Coimv.
Wir werden an der Hand von mehreren Krankengeschichten sehen, dass der
richtige Standpunkt nur von Bergmann vertreten wird, während die Schlüsse
Brouardel’s und Richardiere’s den Erfahrungen nicht gerecht werden.
1. Beobachtung (Rossbach). Kräftiges, gesundes Kind von 7 Mo¬
naten. — Sturz auf den Fussbodcn. — Eklamptischcr Paroxysmus,
Commotio ccrebri. — Mildes Reactionsstadium. — Binnen 4 Wochen
hochgradige Abmagerung. — Polyurie, Polydipsie, 2—5pCt. Zucker.
— Schwankungen zwischen Spuren und 10 pCt. Zucker. — Ekzema¬
töse und furunculöse Exantheme. — Zucker über 10 pCt. Hoch¬
gradigste Abmagerung. — Tod 3 Monate nach Entdeckung des
Leidens.
Ein Kind erlitt in seinem 7. Lebensmonate durch die Unvorsichtigkeit seiner
Wärterin einen Sturz von deren Arm auf den Fussboden, und zwar in so unglück¬
licher Weise, dass es sofort in einen heftigen eklamptischen Paroxysmus verfiel,
und sich hieran die Symptome einer schweren Commotio ccrebri schlossen. Ob¬
gleich aber das Krankheitsbild einen solchen ungünstigen Eindruck machte, dass
an ein Wiedergenesen kaum gedacht werden konnte, so Hessen am 3. Tage den¬
noch die beunruhigenden Erscheinungen nach, nach Ablauf eines milden Reac-
tionsstadiums schien alle Gefahr gehoben und das Kind vollständig geheilt zu
sein. Aber nach kaum 4 Wochen wurde Rossbach wieder zu dem Kinde ge¬
rufen, und sogleich beim ersten Anblick konnte er eine bedeutende Veränderung
an demselben constatiren. Während cs nämlich früher kräftig und gesund aussah,
war es jetzt in seinem Ernährungszustände hochgradig heruntergekommen. Trotz¬
dem nahm es nach der Aussage der Mutter reichlich Nahrung zu sich und zeigte
eine besondere Vorliebe für flüssige Substanzen. Es urinirtc ferner sehr viel, aber
der Harn besass, wie die Mutter bemerkte, nicht den gewöhnlichen scharfen Ge¬
ruch und machte auch in den Windeln gar keino Flecke. Es lag mithin die Ver-
muthung nahe, dass es hier infolgo der erlittenen Commotio cerebri — eine Ver¬
letzung der Schädclknochen hatte bei dem Sturze nicht stattgefunden — zu der
Entwicklung eines Diabetes mellitus gekommen sei, und die Untersuchung des
Harns bestätigte diesen Verdacht vollkommen. Auf eine höchst praktische Art und
Weise, die hier wiederzugeben der beschränkte Raum nicht gestattet, konnte
Rossbach eine annähernd genaue quantitative Bestimmung des Zuckers aus¬
führen, und zw T ar ergab es sich, dass der Urin der kleinen Patientin meist etwa
5pCt. Zucker enthielt, öfter aber auch nur 2—3pCt. Die Diät hatte sehr geringen
Einfluss auf den Zuckergehalt des Harns, er sank jedoch bei Anwendung von
frisch gewärmter Kuhmilch mit einem ansehnlichen Zusatz von gutem süssen
Rahm vorübergehend fast bis zum völligen Verschwinden, hob sich indessen bald
wieder ohne jede Veranlassung, stieg mitunter plötzlich bis auf 10 pCt. und ging
in den letzten Lebenswochen sogar noch über diese Zahl hinaus. Der Ausgang
war letal, das Kind starb etwa 3 Monate nach der Entdeckung seines Leidens
unter der hochgradigsten Abmagerung, nachdem es noch längere Zeit durch das
Auftreten ekzematöser und furunculöser Exantheme gepeinigt worden war. Bei der
Section wurde die Eröffnung der Schädelhöhle nicht gestattet.
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Asher,
Dies Beispiel beleuchtet zunächst das Auftreten des Diabetes traunmticus bei
einem Kinde, ferner eine Commotio cerebri als ätiologisches Moment. Hauptsäch¬
lich sollte es aber zur Schilderung der Symptomatologie dienen. Es bietet das
Bild des diabetischen Marasmus, einer intensiven Glycosurie verknüpft mit Poly¬
urie und Polydipsie, von Entzündungsdiathese, wie sich durch das Auftreten von
Ekzemen und Furunkeln zu erkennen giebt. Ferner zeigt es Tod im diabetischen
Marasmus, während die Hirnverletzung nicht die directe Ursache des letalen Aus¬
ganges bildete. Schon hier könnte darauf hingewiesen werden, dass der Diabetes
sicher sich nicht chronisch entwickelt hat, da binnen 4 Wochen nach der Ver¬
letzung bereits hochgradige Abmagerung eingetreten war, und doch zum Tode ge¬
führt hat, entgegen der dem „Diabete precoce“ zugesprochenen günstigen Pro¬
gnose; allein es werden deutlichere Beispiele folgen.
2. Beobachtung (Buzzard). Fehltritt. — Parese der Armo und
Beine. — Diabetes decipiens. — Entschädigungsansprüche. — Ab¬
nahme um 20 Pfund in 3 Monaten.
Ein 41jähriger Kaufmann stieg in der Nacht des Januar 1875 aus dem Coupö
und trat statt auf den Perron auf das Bahngleis, so dass er sich um 3 Fuss ver¬
sah. Er kam mit grosser Heftigkeit auf die Füsse. Zuerst spürte er ein dumpfes
Gefühl im Nacken, eine Woche später folgte Parese in Armen und Beinen. Er bot
die Zeichen einer Läsion der Medulla oblongata. Die Zuckermenge, welche nun¬
mehr bei der Untersuchung gefunden wurde, war erst gering, in den folgenden
12 Monaten fand eine Vermehrung statt. Der Zuckergehalt ging bei geeigneter
Diät auf kurze Zeit zurück. Der Patient erhob gegen die Eisenbahngesellschaft
Entschädigungsansprüche. Bei der hierdurch veranlassten Untersuchung waren
die Muskelsymptome fast gänzlich geschwunden, aber der Urin enthielt noch
immer Zucker. Pavy fand zuletzt fast 9 Gran auf die Unze. Eine genaue Ana¬
mnese über den Patienten war nicht zu erlangen. Bei der ersten Untersuchung
war sein Körpergewicht imVerhältniss zu seiner Grösse ein recht gutes. Während
der 3 Monate, die er unter Beobachtung stand, verminderte sich jenes um
20 Pfund.
Obwohl der hier beschriebene Krankheitsfall von Pavy als einfache Glyco¬
surie aufgefasst wurde, habe ich denselben als Beispiel dafür hingestellt, dass
nach einem Trauma auch der Diabetes decipiens auftreten kann. Es handelt sich
um eine dauernde Zuckorausscheidung, die mit Allgemeinsymptomen einhergeht,
vor Allem starker Abnahme des Körpergewichts. Ausserdem weicht der Zucker
nicht einer entsprechenden Diät. Das Fehlen von Polyurie und Polydipsie be¬
rechtigt zur Bezeichnung Diabetes decipiens, auf den immer wieder aufmerksam
gemacht werden muss, da er leicht übersehen wird.
3. Beobachtung (Frerichs). Aufschlagen auf den Boden mit der
Stirn. — Koin Bewusstseinsverlust. Keine Verletzung. — Kurz
darauf Polydipsie, Polyurie. — Nach 1 % Jahr Linsenstaar beider
Augen. Völlige Erblindung. — Kribbeln in Fingerspitzen undFuss-
sohlen. — Reissende Schmerzen in beiden unteren Extremitäten.
Paul, 36jähriger Arbeiter, wurde seit dem 16. December 1865 auf der medi-
cinischen Klinik beobachtet. Im September 1863 wurde er beim Ackern von einem
durchgehenden Pferde zu Boden gerissen und schlug mit der Stirn ziemlich heftig
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Das Krankheitsbild des traumatischen Diabetes.
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auf. Er kam mit dem blossen Schrecken davon, fügte sich keine Verletzung zu,
verlor auch nicht das Bewusstsein. Einige Tage nach diesem Fall verspürte der
Kranke auffallenden Durst, sowie eino über Nacht plötzlich cingetreteno Ver¬
mehrung der Urinabsonderung. Ein halbes Jahr später krankhafte Steigerung des
Nahrungsbedürfnisses. Seit Anfang des Jahres 1865 entwickelte sich ein Linsen-
staar beider Augen. Wegen völliger Erblindung Operation. Pat ient war schwächer
und schwächer geworden. Bei der Aufnahme am 16. December 1865 schlechter
Ernährungszustand. Gesicht und Gehör schlecht. Klagen über zeitweiliges Ge¬
fühl von Kribbeln in den Fingerspitzen und Fusssohlen. Reissende Schmerzen in
beiden unteren Extremitäten. Urin stark zuckerhaltig. Die Zahlen der Urinmengc
schwankten zwischen 3800 und 5200, specifisches Gewicht zwischen 1028 und
1032 bis zur Entlassung am 11. Februar 1866.
Interessant, und deshalb hier angeführt, ist dieser Fall wegen der Störung
der Sinnesorgane und des Auftretens von nervösen Erscheinungen. Wir sehen,
dass der im Gefolge eines Traumas entstandene Diabetes Cataracte und Störungen
des Gehörs hervorrief; letzteres Symptom ist eine Seltenheit. Die nervösen Er¬
scheinungen bestanden in einer Reihe von Parästhesien, vor Allem aber in hefti¬
gen Neuralgien, wahrscheinlich des Ischiadicus.
4. Beobachtung (Lennö). Heftiger Schlag auf den Hinterkopf. —
Immense Polydipsie, enorme Polyurie. — Ungeschmälerte Arbeits¬
fähigkeit. — Verschlimmerung mit grosser Mattigkeit. — Patcllar-
reflexe erloschen. — Heftige Muskelkrämpfo an den Beinon.
Ein Pferdeknecht vom Lande, 21 Jahre alt und bis zu diesem Unfall stets
gesund, erhielt im Spätsommer 1889 durch einen fallenden Balken einen heftigen
Schlag auf den Hinterkopf. 2 Monate später fiel dem Manne gesteigertes Durst¬
und Hungergefühl und vermehrtes Uriniren auf. Im Mai 1890 kam er zur Cur
nach Neuenahr. Körpergewicht 52 kg. Immenser Durst, starker Appetit, unauf¬
hörliches Uriniren, Nachts allein 3 Töpfe. Er liess 12 Liter Urin mit 7,6 pCt.
Zucker. Mit 58 kg Körpergewicht und durchschnittlich 3 Liter Urin mit 3,5 pCt.
Zucker pro die verliess er die Cur und kehrte gekräftigt heim. Er nahm wieder
eine Stellung als Knecht an und verrichteto seine Arbeit mit Leichtigkeit. Bis
Januar 1891 hielt Patient Diät, dann ass er wieder alles Unerlaubte, so dass Ver¬
schlimmerung seines Zustandes eintrat. Er suchte dann abermals die Behandlung
seines Arztes auf. Sein Körpergewicht betrug 52 kg, seine Organe waren noch
immer gesund. Es bestand jetzt grosses Mattigkeitsgefühl, die Patellarreflexe
waten erloschen. Die Urinmenge betrug am 25. August 4 V 2 Liter mit 5,5 pCt.
Zucker, specifisches Gewicht 1033. Kein Eiweiss. Das Verhalten des specifischen
Gewichts ging nicht parallel mit der Erhöhung und Erniedrigung dos Zuckerge¬
haltes. In der letzten Zeit seines Aufenthaltes machten sich heftige Muskelkrämpfe
besonders an den Beinen bemerkbar. Diese Erscheinung musste auf die Thatsache
zurückgeführt werden, dass Patient mehr Wasser ausschied, als er einnahm. Denn
es Hessen sich durch genaue Messungen Schwankungen von 270—700 ccm zu
Gunsten der Wasserausscheidung innerhalb 24 Stunden nachweisen.
Abgesehen von der hier besonders hervorgehobenen enormen Polyurie und
Polydipsie, zu welcher der Diabetes traumaticus führen kann, muss uns die An¬
gabe auffallen, dass der von schwerem Diabetes betroffene Knecht seine Arbeit mit
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Leichtigkeit verrichten konnte. Für den Gericliisarzt ist diese Thatsache von
grosser Bedeutung, indem sie ihm einen Fingerzeig giebt, wie er sieh betreffs Be¬
stimmung der Erwerbsfähigkeit zu verhalten hat. Es wird ihm dabei nicht ent¬
gehen dürfen, dass die Wiederaufnahme des Kampfes um’s Dasein, das Eintreten
ungünstigerer Vermögensverhältnisse, welche den Patienten hinderten diät zu
leben, dazu beigetragen hat, dass sich sein Zustand erheblich verschlimmerte. Ein
Zeichen für die letztere Thatsache ist zunächst das starke Mattigkeitsgefühl und
die Steigerung sowohl der Urinmenge als auch des Zuckergehaltes. Weiterhin legt
aber Lenn6 auch dem Fehlen der Patellarreflexe eine ernste Bedeutung in dieser
Beziehung bei, insofern als es ihm stets auf einen schweren Fall von Diabetes
hinzuweisen scheint. Interessant sind auch die spastischen Erscheinungen in der
motorischen Sphäre, die erfahrungsgemäss seltener sind als die diabetischen Par¬
esen und Paralysen und meist an den Waden localisirt sind.
5. Beobachtung (Schaper). Schlag eines Steines auf die linke
Seite des Kopfes. — Entwicklung diabetischer Symptome, subjec-
tives Wohlbefinden. — Facialis- und bald darauf Abducens-Läh-
mung. — Höchste Urinmenge 16500 ccm mit 424 g Zucker. — Er¬
höhung des Körpergewichts, erhöhte Arbeitsfähigkeit. — Tuber-
culose. — Dauer der Krankheit von 1868 — 1871. — Tod an Tuber-
c u 1 o s e.
Der Patient wurde vom 28. Februar 1868 bis 22. Mai 1871 in der Göttinger
Klinik beobachtet mit Unterbrechungen, die den akademischen Ferien entsprachen.
Heinrich Oppermann, 20 Jahr, Handarbeiter, will vor 6 Jahren nur 3 Wochen
lang einer Brustkrankheit wegen bettlägerig gewesen sein. In der Familie waren
keine belastenden Krankheiten vorgekommen.
13. Januar 1868 war Oppermann in einem Steinbruch damit beschäftigt,
Schutt wegzuräumen. Die Steine, auf welchen Oppermann steht, lösen sich plötz¬
lich, er stürzt mit ihnen in den Steinbruch hinab, ein einzelner kindskopfgrosser
Stein schlägt ihn auf die linke Seite des Kopfes. Das Bewusstsein schwand nicht
ganz. Während der Kranke seiner Verletzung halber noch bettlägerig war, bekam
er rasch zunehmenden Durst und lästige Trockenheit im Mundo. Trotzdem sich
diese Erscheinungen später steigerten, befand er sich subjectiv wohl; trotz der
Abmagerung waren die Kräfte nicht sehr herabgesetzt. Der Patient zeigte eine
Facialis- und bald darauf auch eine Abducens-Lähmung. Die höchste Urinmenge,
die er ausschied, betrug 16500 ccm mit einem Gehalt von 424 g Zucker, im
Uebrigen während des ganzen Verlaufs Schwankungen von subnormaler bis ’zu
der eben erwähnten Menge. Das Allgemeinbefinden blieb vortrefflich, er wog
108 Pfund gegen 96 Pfund bei der Aufnahme, nur seine Nachtruhe war wegen des
Harndranges gestört; er brachte es sogar auf 114 Pfund. 18. Juli wurde er ent¬
lassen. Den 19. October erfuhr man von seinem Herrn, dass er sehr ordentlich
und fleissig sei, und brauchbarer als zuvor. Am 7. Marz waren Symptome der
Tuberculose* an der Spitze der linken Lunge nachweisbar. Eine antidiabetische
Diät besserte ihn jedes Mal so, dass er zu wiederholten Malen wieder arbeitsfähig
wurde, und dass sich sein Zuckergehalt verminderte. Das Körpergewicht verhielt
sich fast während der ganzen Zeit über 100. Ende Februar 1870 wurde er ent¬
lassen. Den 23. März ist starke Verschlimmerung aller Symptome eingetreten, die
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Das Krankheitsbild des traumatischen Diabetes.
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Tuberculose schreitet rasch fort. Kurz vor dem Tode fand eine Abnahme des
specifischen Gewichts auf 1005—1002 statt, die Urinmonge war ziemlich normal,
Zucker war nur in Spuren oder garnicht nachweisbar. Allgemeiner Kräfteverfall
trat ein. Am 22. Mai 1871 erfolgte der Tod.
Die äusserst ausführliche Krankengeschichte ist hier nur im Auszug wieder¬
gegeben. Ich hoffe jedoch, dass die wichtigsten Symptome, auf die ich die Auf¬
merksamkeit zu lenken wünschte, genügend zur Geltung gekommen sind. Einer¬
seits ist es die merkwürdige Angabe des ungestörten subjectiven Wohlbefindens
des Patienten, andererseits die fast stetige Zunahme des Körpergewichts und vor
Allem die erhöhte Arbeitsfähigkeit des Patienten. Wir sehen also eine Wieder¬
holung der bereits in der 4. Beobachtung angegebenen Thatsache, dass trotz eines
schweren Diabetes, bei dem die enormen Mengen von über 16 Litern Urin ge¬
legentlich ausgeschieden wurden, der Patient nach einer geeigneten Behandlung
im Stande ist, seine Arbeit, noch dazu mit grösserer Leistungsfähigkeit, zu ver¬
richten. Weiterhin bleibt aber, ähnlich w T ie in der vorhergehenden Beobachtung,
der Rückschlag nicht aus: Die Krankheit verschlimmert sich nach einiger Zeit
und führt sogar zum Tode. Die letzte Ursache desselben dient zugleich als ein
Beleg dafür, dass der traumatische Diabetes gleich dem idiopathischen sich mit
Tuberculose der Lungen complicirt.
6. Beobachtung (Frerichs). Sturz auf die Stirn von 12 Fuss Höhe.
— Nach einem halben Jahre Auftreten deutlicher diabetischer Sym¬
ptome. — Acetonbildung. Eisenchloridreaction. — Anasarka. —
Magen-Darmkatarrh. — Phthisis. — Tod bei klarem Bewusstsein.
G. Wolter, 26 Jahr, fiel im December 1876 von einem Gasometer 12 Fuss
hoch herunter, wobei er mit der Stirn auf den Boden schlug. Seitdem vorüber¬
gehend Schwindel und Kopfschmerz. Im Sommer 1877 bemerkte er Abnahme der
Körperkräfte, vermehrten Durst. Er kam im Juli 1878 in die Klinik und starb am
26. März 1879. Er schied während dieser Zeit 7000—12000 ccm Harn aus mit
500—780 g Zucker. Zeitweise fand Acetonbildung statt, starke Eisenchloridreac¬
tion war nachweisbar, ebenso das Verschwunden und Wiederkehren von Anasarka.
Es entwickelte sich Magen-Darmkatarrh, Phthisis. Nach 2 */ 4 Jahren, am 26. März
1879, erfolgte der Tod bei klarem Bewusstsein.
Die Symptome, auf die es hier ankommt, Acetonbildung, Auftreten von Acet-
essigsäure und Anasarka, sind so klar ersichtlich, dass es eines besonderen Hin¬
weises nicht bedarf.
Ein Rückblick auf die hier angegebenen 6 Beobachtungen genügt schon, um
erkennen zu lassen, dass die Symptomatologie des traumatischenDiabetes in nichts
derjenigen des idiopathischen nachsteht.
Die Allgemeinerschoinungen des Diabetes, die Abmagerung, die Mattigkeit,
ja sogar schwerer Marasmus wurde wiederholt constatirt. Daneben kamen Fälle
vor, wo das subjective Befinden ungestört war, und die Leistungsfähigkeit längere
Zeit erhalten blieb. Nur das gesteigerte Bedürfniss nach Wasseraufnahme erzeugte
Beschwerden, ebenso die Polyurie.
Die Symptome von Seiten der Verdauungsorgane waren gelegentlich recht
ausgesprochen. Man erinnere sich an die enorme Polydipsie des Pferdeknechts,
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der von Lenne behandelt wurde, welche von der gleichzeitigen immensen Poly¬
urie hervorgerufen war. Der Fall Buzzard’s dagegen war ein Beispiel des Dia¬
betes decipiens, wo die fehlende Polyurie und Polydipsie betont worden ist. Auf
den vermehrten Hunger ist ebenfalls an entsprechender Stelle die Aufmerksamkeit
gelenkt worden.
Die Symptome der Erkrankung der Respirationsorgane traten mehrere Male
zu Tage, vor Allem zeigte sich die Entwicklung von Tuberculose der Lungen.
Ohne Beispiel sind die Symptome von Seiten der Circulations- sowie der
Harn- und Geschlechtsorgane geblieben. Jedoch werden dieselben in einem ande¬
ren Zusammenhang Erwähnung finden. Man darf annehmen, dass diese Compli-
cationen ebenso häufig wie alle anderen dem Diabetes mellitus eigentümlichen
Vorkommen (s. Beobachtung 18 und 21).
Als Beispiel krankhafter Affectionen der Sinnesorgane findet sich Cataract
mit völliger Erblindung verknüpft angeführt. Auch ist einmal Amblyopie ange¬
geben, welche offenbar sehr selten ist.
Bekanntlich hat die Haut der Diabetiker eine grosse Neigung zu entzünd¬
lichen Processen. So ergiebt sich denn auch aus unseren Fällen das Auftreten
von Ekzemen und Furunkeln. Das 7monatliche Kind (Beobachtung 1) war von
denselben schwer gepeinigt. Unsere 6. Beobachtung wies die ödematöse Durch¬
tränkung des Unterhautzellgewebes auf. Dieses Anasarka könnte sehr wohl auf
Herzschwäche zurückgeführt werden, so dass, wenn auch nur vermutungsweise,
das Auftreten von Circulationsstörungen auch hier festgestellt wäre.
Von den Symptomen des Nervensystems sei hier nur noch einmal hinge-
w T iesen auf die Neuralgieen, die Parästhesieen und das Fehlen der Patellarreflexe,
auf die Paresen und Paralysen, sowie auf die spastischen Erscheinungen der Mus-
culatur. Auf die sonst noch zu constatirenden Anomalien des Nervensystems werde
ich weiter unten des Genaueren einzugehen haben, da dieselben für den trauma¬
tischen Diabetes charakteristisch zu sein scheinen. Nur der Schwere Symptomen-
complex des diabetischen Coma finde hier noch Erwähnung. Derselbe ist auch
beim traumatischen Diabetes sicher festgestellt, die Vorboten desselben zeigen
sich in unserer 6. Beobachtung, wo sich Aceton und Acetessigsäure bildete 1 ).
Die aus der grossen Zahl von Diabetesfällen traumatischen Ursprungs ge¬
wählten Beispiele sollten dazu dienen, die Symptomatologie zu kennzeichnen. Wir
kommen jetzt zu der wichtigen Frage des Beginns und des Verlaufs des trauma¬
tischen Diabetes, welche nach Brouardel und Richardie&e für die Prognose
so wesentlich sein soll (vergl. auch Beobachtung 3).
7. Beobachtung (Kaemnitz). Quetschung des Kopfes. — Acuter
Eintritt der diabetischen Symptome. — Lähmung des Abducens. —
Nach 3 Monaten Uebergang in Diabetes insipidus. — Genesung.
Am 8. April bekam eine junge Arbeiterin von 17 Jahren den Kopf zwischen
zwei Maschinen von der linken Stirnhälfte bis hinter das rechte Ohr gequetscht.
Sie verlor das Bewusstsein. Bald später klagte sie über Schwindel. Sie schied
im Mittel 500 g klaren Urins aus, der eiweissfrei war. Ein bis zwei Tage zeigte
dio Kranke eine Lähmung des rechten Abducens. Am 14. April trat abnorme Ver-
l ) S. auch S. 18, Beobachtung 17.
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Das Krankheitsbild des traumatischen Diabetes.
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mehrung des Durstes ein. Der Urin war blass, 1023 specifisches Gewicht, 1 pCt.
Zucker. Bis zum 2. Mai war das specifische Gewicht 1029 und der Zuckergehalt
bis 2,3 pCt. Der Diabetes bestand ungefähr einen Monat unverändert fort. Die
Symptome verminderten sich dann, und Mitte Juni waren nur Spuren von Zucker
nachweisbar. Anfang Juli war nur noch Diabetes insipidus vorhanden, 4—6 Liter
Urin wurden ausgeschieden. Specifisches Gewicht 1005. Die Kranke wurde als
geheilt entlassen.
Hier haben wir den „Diabete pröcoce ou aigu“ der beiden französischen
Autoren, der, soweit die Angaben zu schliessen erlauben, mit Genesung endigte
und zugleich den Uebergang in Diabetes insipidus aufweist. Der ganze Verlauf
betrug nur 3 Monate.
8. Beobachtung (Scheuplein)'). Sturz von 42 Fuss Höhe. — Luxa¬
tion eines Dorsalwirbels. — Am 15. Tage nach der Verletzung Ein¬
tritt diabetischer Symptome. — Zunahme der Urin- und Zucker¬
menge. Abnahme des Körpergewichts. — Behandlung mit Diät,
Hydrotherapie. — Schwinden der diabetischen Symptome, am
43. Tage kein Zucker mehr nachweisbar. — Uebergang in Diabetes
insipidus. — 2 Jahre nach dem Unfälle kein diabetisches Symptom
nachweisbar. 130 Pfund Gewicht mit Kleidern.
Ein Dragoner, 23 Jahre alt, fiel von der Höhe einer dritten Etage 42 Fuss
herab. Er verlor das Bewusstsein nicht, wurde in’s Hospital gebracht und be¬
hauptet, nur eine schmerzhafte Erschütterung in der Kreuzgegend gespürt zu
haben, ohne dass ein knackendes Geräusch hörbar gewesen wäre.
Die Diagnose lautete auf Luxation des zweiten Dorsalwirbels nach vorn und
nach rechts; derselbe liess sich ziemlich leicht reponiren. Keine Nervenstörung,
bloss unfreiwilliger Urinabgang beim Fall.
Der Allgemeinzustand des Patienten war immer vortrefflich. In den ersten
14 Tagen enthielt der Ham weder Zucker noch Eiweiss. Am 15. Tage klagte der
Verletzte über lebhaften Durst und über Schlaflosigkeit. Dabei schied er reich¬
lichen blassen Urin aus; derselbe ergab Zuckerreaction. Von diesem Tage an ver¬
mehrte sich die Urinmenge rapid, ebenso der Zuckergehalt, das Körpergewicht
nahm ab. Als Beispiele mögen folgende Zahlen dienen.
Körpergewicht.
16. Tag 4500 ccm Urin. 17. Tag 115 Pfund.
18. „ 8800 „ „ 24. „ 112 „
20. „ 13000 „ „ 32. „ 109 ,.
Es wurde eine Behandlung eingeleitet, bestehend in Diät, Karlsbader Wasser,
später in warmen Bädern. Vom 20. Tage an nahm die Harnmengo stetig ab. Am
43. Tage war kein Zucker mehr nachweisbar. Am 70. Tage liess Patient noch
2700 ccm Urin, sein Körpergewicht betrug wieder 115 Pfund. Scheuplein sah
den Mann noch einmal, 2 Jahre nach dem Unfall, und fand kein diabetisches
Symptom. Das Körpergewicht des Wiederhergestellten betrug 130 Pfund mit
Kleidern.
') Archiv für klinische Chirurgie. XXIX.
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Asher,
Wenn in dem vorhergehenden Falle noch ein Zweifel darüber obwalten
konnte, ob die Wiederherstellung der Patientin eine vollständige und nachhaltige
war, ist die Genesung in der ebenerwähnten Beobachtung als ziemlich gesichert
anzusehen, da der betreffende Patient noch nach 2 .Jahren von allen diabetischen
Symptomen frei war. Wir sehen hier also ein ziemlich feststehendes Beispiel des
„Diabete pr<5coce ou aigu“. Bereits nach Ablauf von 14 Tagen traten die Sym¬
ptome rasch sich steigernd auf und nach 43 Tagen konnte man von keinem Dia¬
betes mellitus mehr sprechen.
9. Beobachtung (Griesinger). Sturz auf die Füsse und nach vorn
über. — Rapider Eintritt der diabetischen Symptome. — 6 Wochen
allgemeines Unbehagen. — Ausgebildeter Symptomencomplex der
Zuckerharnruhr. — Nach 3jähriger Dauer Furunculose und Ab-
scesse. — Nach 4 Jahren ausgeprägter diabetischer Marasmus. —
Trotz Einleitung von Behandlung Verschlimmerung des Zustandes.
— Tod nach 5 Jahren.
Ein 18jähriger Bursche hatte sich bis dahin vollkommen wohl gefühlt, als
er im December 1852 durch das Bodenloch einer Scheune ein Stockwerk hoch her¬
unterstürzte; er fiel zuerst auf die Füsse, dann nach vom über, nicht aber auf
Kopf und Rücken; das Bewusstsein blieb ungestört. Gleich in der ersten
Nacht nach dem Fall stellte sich ein ungewöhnlich heftiger Durst ein, wie er
solchen noch nie verspürt; dieser blieb andauernd, er war das erste Symptom des
Diabetes; es entstand dabei ein allgemeines inneres Unwohlsein, das den Kranken
6 Wochen bettlägerig machte, über das er aber keine rechte Auskunft geben konnte;
bald kam der ausgebildete Symptomencomplex derZuckerhamruhr. Nach 3jähriger
Dauer des Leidens bekam der Patient viele Furunkel und mehrere sehr grosse Ab-
scesse an den Hinterbacken, in der Inguinalgegend u. s. w. Im Mai 1855 kam er
marastisch in die Klinik. Der Kranke wurde mit Laab, das aus frischem Schweins¬
magen durch sorgfältige Extraction der Schleimhaut bereitet wurde, genährt. Am
24. Februar 1856 begann er bei gemischter Kost mit reichlichem Fleisch den Ge¬
brauch des Acid. phosphor. dil. Pharm. Württ. und setzte diese Diät bis zum
15. März fort. Der Kranke nahm das Mittel gern, war Anfangs guter Laune und
zeigte nicht die geringste Störung der Verdauung oder seines sonstigen Befindens.
Vom 10. Tage an klagte er über Müdigkeit und Unbehaglichkeit, sehr unruhige
Nächte, Eingenommenheit des Kopfes, beträchtliche Vermehrung des Durstes und
starken Hunger; nach einigen Tagen klagte er über mehr Gesichtsschw'äche (es
bestand beiderseits mässiger Gataract), es stellte sich starke Injection der Con-
junctiva ein, nach einigen Tagen auch rechts Keratitis. Der Urin war - vor der
Untersuchung 5 Tage lang unter genauester Controle gesammelt worden und be¬
trug damals im Mittel täglich 5116 ccm; während der 19 Tage des Phosphor¬
säuregebrauchs betrug er im Mittel 5713 ccm. Der 24stiindige Zuckergehalt, wäh¬
rend jener 5 Tage vor dem Einnehmen durchschnittlich 259,7 g, stieg in diesen
19 Tagen auf durchschnittlich 272 g. Hier ist eine längere Pause in den An¬
gaben. Bekannt ist nur, dass der Patient im November 1857 im diabetischen Ma¬
rasmus starb.
Wenn irgend ein Fall geeignet ist, die Gültigkeit der Theorie vom „Diabete
precoec“ umzuslossen, so ist cs gewiss dieser, interessanter Weise der erste von
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Das Krankheitsbild des traumatischen Diabetes.
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Griesinger selbst beobachtete. Er hat denselben an die Spitze seiner berühmten
Zusammenstellung von Diabetesfallen traumatischen Ursprungs gestellt. Einen
acuteren Eintritt diabetischer Symptome, als gleich in der ersten Nacht nach dem
Unfall, kann man sich wohl schwerlich vorstellen; und keine der von Brouardel
und Richardiere angeführten Beobachtungen zeigt einen so rapiden Beginn des
Diabetes.
Trotz dieser raschen Entwicklung sehen wir aber, wie der Diabetes fort¬
schreitend die Kräfte des Patienten untergräbt, wie er denselben zum Opfer
schwerer entzündlicher Processe macht, und wie er, ohne sich im Verlaufe der
Jahre zum Besseren zu wenden, nach öjähriger Dauer durch hochgradigen Kräftc-
verfall zum Tode führt.
10. Beobachtung (Marsh) 1 ). Sturz auf den unteren Theil der Wir¬
belsäule. — Circa 3 Monate darauf Diurese. — Tod im diabetischen
Marasmus nach 2 Jahren.
Ein 43jähriger Herr erleidet einen schweren Sturz aus dem Wagen, wobei
besonders der untere Theil der Wirbelsäule stark aufgestossen wird; circa 3 Mo¬
nate darauf fällt die Diurese auf. Tod im diabetischen Marasmus nach 2 Jahren.
Aus diesem Falle ist ohne Weiteres ersichtlich, dass es sich um den „Dia-
bete chronique ou retarde“ handelt. Ich lasse demselben sofort ein zweites Bei¬
spiel von „Diabete prtfcoce“ folgen, der gleich dem ersten chronisch verlief und
ungünstig endete.
11. Beobachtung (Vallon) 2 ). Wurf auf den Bauch. — Einige Tage
später Fieber und Beginn des Diabetes. — Circa 3 , / 2 jährigcr Ver¬
lauf. — Tod an Tuberculose.
Ein 17jähriger Maurerlehrling wird beim Zuwerfen der Ziegelsteine von
einem derselben auf den Bauch getroffen; gleich darauf kurz dauerndes Ucbclscin
und Erbrechen, einige Tage später Fieber mit einem Hautausschlag und Beginn
des Diabetes. Circa 3 b' 2 jährigcr Verlauf. Tod an Tuberculose.
12. Beobachtung (Williamson) 3 ). Heftiger Stoss gegen den Kopf.
— Acuter Eintritt diabetischer Symptome. — Kopfschmerzen, Ma¬
rasmus, Kniephänomene erloschen. — Starke Glycosurie, Eisen-
ohloridreaction.
Die 18jährige Patientin war ein kräftiges, gesundes, starkes Mädchen bis zu
einem Unfall, den sie 7 Monate vor der Aufnahme in’s Krankenhaus erlitt. Als
sie die Treppe herabstieg, glitt sie plötzlich aus und fiel 13 Stufen herunter, wo¬
bei ihr Scheitel heftig gegen die Thür am unteren Endo der Treppe aufschlug.
Sie wurde durch den Fall betäubt, aber verlor das Bewusstsein nicht. Sie hatto
heftige Kopfschmerzen mehrere Stunden lang nach dem Sturz und hat seitdem
häufig an argem Kopfweh gelitten. Zwei Wochen nach dem Sturz bemerkte sie
’) Dublin Journal. XVII. 1854. S. 9.
2 ) Zeitschrift der k. k. Gesellschaft der Aerztc in Wien. IX. 2. 1853.
S. 186.
*) Williamson, R. T., Some points in the etiology and pathology of dia«
betes mellitus. The Lancet. Vol. II. July 9. 1892. Case 3.
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Äsher,
zuerst gesteigerten Durst, dem bald Abmagerung folgte. Bei der Aufnahme war
Patientin marastisch. Kniephänomene erloschen. Urin sauer, specifisches Gewicht
1045, kein Eiweiss. Starker Zuckergehalt: 23 Gran auf die Unze. Deutliche Eisen-
chloridreaction. Während des Aufenthalts der Patientin im Hospital schwankte
die Urinmenge erst zwischen 80 und 90 Unzen täglich, später zwischen 56 und
68 Unzen täglich mit einer Vermehrung des Zuckers auf 33 Gran per Unze.
Dieses von Williamson selbst als schön bezeichnete Beispiel zeigt in klarer
Weise, wie die schwerste und selbstverständlich chronische Form des Diabetes
mellitus sich nicht in schleichender Weise zu entwickeln braucht, sondern die
Symptome des letzteren sehr bald nach dem Trauma geltend macht. Die Schwere
des Falles wird insbesondere durch den verhältnissmässig rasch eintretenden dia¬
betischen Marasmus, durch die starke Glycosurie, durch das Erloschensein der
Kniephänomene und schliesslich durch den Gehalt des Urins an Acetessigsäure
charakterisirt. Bezeichnend ist auch — als weitere Stütze unserer Erörterungen
im Kapitel der Aetiologie —, dass die Patientin im jugendlichen Alter steht, wel¬
ches am meisten gefährdet erschien, ferner dass sich dieselbe bis zu dem Unfall
voller Gesundheit erfreute, so dass man nicht nöthig hat eine Anlage zu beschul¬
digen, sondern einem so schweren Unfall w 7 ohl die alleinige Ursache der Ent¬
stehung des Diabetes zuzuschreiben gerechtfertigt ist.
Dass Griesinger’s und Buch’s Anschauungen über den günstigeren Ver¬
lauf des auf ein Kopftrauma folgenden Diabetes sich mit unseren bisher gewon¬
nenen Erfahrungen absolut nicht decken, geht ohneWeiteres aus den aufgeführten
Fällen hervor. Nunmehr sind auch die Ergebnisse, zu denen Brouardel und
Ili c har die re gelangt sind, modiiieirt und corrigirt. Weder Ort noch Art der
Verletzung noch Zwischenraum zwischen Verletzung und Diabetes geben uns
sichere Anhaltepunkte für die Prognose des Diabetes selbst.
Mit diesen wenigen Beispielen glaube ich doch den Beginn und Verlauf des
„Diabete precoce“ und des „Diabete retard6 u genügend gekennzeichnet zu haben;
es erübrigt nur noch die intermittirende Form des Diabetes durch einen Fall zu
erläutern.
13. Beobachtung (Jordao) 1 ). Heftigen Schlag auf den Nacken im
Juli. — Im November diabetische Symptome. — Verschwinden der
Symptome nach 3 Wochen. — Im October des folgenden Jahres
rasche, vollständige Wiederkehr des Diabetes.
Ein 40jähriger Erdarbeiter bekommt im Juli 1855 einen heftigen Schlag auf
den Nacken; im November fällt Durst, Diurese, Mattigkeit auf; diese Erschei¬
nungen verlieren sich aber drei Wochen darauf w r ieder, kehren im October 1856
zurück mit rascher, vollständiger Ausbildung des Zuckerdiabetes.
Wir hätten also mit dieser letzten Beobachtung sämmtliche Varietäten des
Diabetes mellitus erschöpft, wir lernten den Diabetes decipiens und den Diabetes
mit seinen klassischen Symptomen, den Diabetes intermittens kennen, wir sahen,
wie der Diabetes acut und wie er allmälig, geraume Zeit nach dem Unfall eintrat,
und w r ir konnten uns davon überzeugen, dass er in beiden Fällen sich entweder
*) Jordao, Consid, sur un cas de diabete. Paris 1857.
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Das Krankheitsbild des traumatischen Diabetes.
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bessern und ganz schwinden oder nach chronischem Verlauf tödtlich enden
konnte.
Man wird einen besonderen Hinweis auf das Vorkommen der sogenannten
leichten und der schweren Form des Diabetes vermissen. Dies ist mit Absicht
unterlassen, da einerseits aus mehreren Krankengeschichten hervorgeht, wo es sich
um die leichte oder schwere Form handelt, andererseits beide Formen chronisch
verlaufen können, so dass man auch die von der leichten Form Betroffenen unter
Umständen als chronisch Kranke beurtheilen muss.
Zum Schlüsse bedürfen noch einer eingehenderen Schilderung die nervösen
Anomalieen, die dem Diabetes traumaticus sehr häufig ein charakteristisches Ge¬
präge geben. Auf die organischen Veränderungen mit ihren Folgezuständen näher
einzugehen, muss ich verzichten, da dieselben zu verschiedener Natur sind, um
sie einheitlich zusammenzufassen.
Wo solche organische Veränderungen fehlen, kann man darauf rechnen, dass
irgend welche nervöse Störungen functionellcr Natur auftrcten, die dem Trauma
ihre unmittelbare Entstehung verdanken. Es sind dies Anomalieen, die wir seit
dem Erscheinen der Oppenheim’schen Monographie als Symptome der „trau¬
matischen Neurose“ zu bezeichnen pflegen. Daneben freilich geht der Diabetes
mellitus schon an und für sich mit allerlei nervösen Störungen einher, so dass es
bisweilen schwer sein kann zu entscheiden, ob dieselben auf Rechnung des Trau¬
mas oder auf die des Diabetes zu setzen sind.
An dieser Stelle erinnere man sich der Schilderung Sch aper’s, aus der
hervorgeht, welche Art von Verletzung Symptome der traumatischen Neurose zu
veranlassen im Stande wäre. Er sagt:
Was die Art der Verletzung bei traumatischer Melliturie betrifft, so war es
in 20 Fällen eine verhältnissmässig wenig schwere Verletzung, wo keine weitere
Störung auf dem Gebiete des Nervensystems, auch keine palpable Veränderung
constatirt werden konnte. Schläge und Stösse auf den unteren Theil des Rückens,
in’s rechte oder linko Hypochondrium, sowie starke Muskelanstrengungen, um
einen drohenden Sturz zu vermeiden. Dieser Schilderung scheinen u. A. folgende
Fälle zu Grunde zu liegen:
14. Beobachtung (Goolden) 1 ). Ein 46jähriger Bahnwärter wird durch
einen Bahnzug leicht gefasst und bekommt dabei einen Stoss an die Seite des
Kopfes. Er ist betäubt, kommt nach einer Stunde zu sich, erinnert sich aber des
Vorfalls nicht. Er kann von dort an die Erschütterung des Fahrens
nicht mehr ertragen und ist oft verworren. Seitdem Unfall ungeheure
Diurese mit starkem Zuckergehalt des Harns. Einige Wochen später Genesung.
15. Beobachtung (Kiessling) 2 ). Ein gefangener Soldat, früher Schnaps¬
trinker und hauptsächlich von Vegetabilien lebend, bekommt starke Schläge auf
Rücken und Lenden; es bleiben lange, oft wiederk ehrende Schmerzen
zurück und im Lauf der nächsten Monate entwickelt sich Diabetes. Nach 4 Mo¬
naten angeblich Genesung.
») Goolden, Lancet 1854. Vol. I. S. 657.
2 ) Kiessling, Dissert. Giessen 1828.
Vierteljahrsechr. f. ger. Med. Dritte Folge. IX. I.
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A s h e r,
Die Analogie mit «len Symptomen der „traumatischen Neurose“ geht auch
aus einer Beobachtung Ebstein’s hervor:
16. Beobachtung. Ebstein erzählt, eine 14jährige Patientin habe einen
Stein gegen die Lebergegend geworfen bekommen. Nach der Verletzung stellten
sich bei derselben Stiche in der Lebergegend ein, welche 8 Tage anhielten
und dann einer grossen Mattigkeit, sowie beständigen ziehenden Schmer¬
zen in den Unterschenkeln Platz machten. Nach ungefähr 3 Monaten traten die
ersten Symptome des Diabetes ein.
In diesen 3 Fällen scheint lediglich das Trauma die Ursache der eigenthüm-
lichen subjectiven Beschwerden gewesen zu sein, zumal in zwei von denselben der
Diabetes erst spät eintrat. Nur die ziehenden Schmerzen in der Beobachtung 16
scheinen diabetischer Natur zu sein. 7
Nach Wichmann 1 ) ist allerdings die traumatische Ischias sehr häufig. Wie
aber diese Neuralgie mit dem Trauma in Verbindung zu bringen wäre, ist schwer
zu sagen.
Zweideutiger ist der Sachverhalt in zwei Beobachtungen, die wir Frerichs
verdanken.
17. Beobachtung. Georg Dobber (Schwester diabeteskrank), 15 Jahre alt,
war bis August kräftig und gesund. Nachdem er sich beim Turnen am Kopf ge-
stossen hatte, wurde er in dieser Zeit von Schwindel und heftigem Durst be¬
fallen. Er schied 4—6 Liter Urin mit 320—360g Zucker aus. Sein Gemüth wurde
durch die eigene Krankheit und den Tod der Schwester erschüttert. Es stellten
sich heftige Kopfschmerzen, Apathie, Stuhlverstopfung ein. Am 24. October
gegen Abend Unbesinnlichkeit, obstartiger Athemgeruch. Morgens Tod.
18. Beobachtung. Franz Beyer, 34jähriger Arbeitsmann, vor Jahren schwerer
Typhus. 1865 Verwundung. Bei der Arbeit fiel ihm ein Stück Eisen auf den Kopf
und warf ihn bewusstlos nieder. Nach einigen Wochen vollständige Erholung.
1866 Herzklopfen, Kurzathmigkeit, reissende Schmerzen in den
Beinen. Seit 2 Jahren, seit Frühjahr 1869, gesteigerter Durst, krankhafte Ess¬
lust, Abnahme der Kräfte. 23. März 1871 in die Klinik aufgenommen. Patient
ist abgemagert, hat unklares Selbstbewusstsein. Schlaf schlecht, chro¬
nische Bronchitis, Gastrokatarrh, Kopfschmerz, Schwindel, Benommenheit,
Somnolenz. Vor 3 Jahren 155 Pfund, jetzt 99 Pfund. Urin, specifisches Gewicht
1030. 4,5 pCt. Zucker. Collaps. Am 27. März früh Tod. Todtenstarre zwei
Stunden später.
Die Apathie ist ein Symptom i welches in den meisten Fällen von Diabetes
beobachtet wird. Ich möchte daher nicht anstehen, diese psychische Anomalie,
die selbstverständlich auch in reinen Fällen von „traumatischer Neurose“ vor¬
kommt 2 ), bei dem Patienten Dobber auf Rechnung des Diabetes zu setzen, wäh¬
rend der Schwindel sowie die heftigen Kopfschmerzen offenbar grösstentheils auf
die erlittene Kopfverletzung zu beziehen sind. Herzklopfen, Kurzathmigkeit,
reissende Schmerzen in den Beinen, wahrscheinlich Neuralgieen der Ischiadici,
Schlaflosigkeit, die Veränderung des Ich-Bewusstseins sowie die leichten nervösen
') S. Wichmann, S. 20.
2 ) S. auch eigene Beobachtung II.
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UNIVERSUM OF f0WA
Das Krankheitsbild des traumatischen Diabetes.
19
Symptome des Kopfes (Beyer) können ebensowohl dem Trauma wie dem Diabetes
mellitus zugeschrieben werden. Man sieht, wie die Symptome der „traumatischen
Neurose“ und des Diabetes mellitus fliessend in einander übergehen. Es scheint
daher kein Fehlschluss zu sein, wenn man sagt, der Diabetes mellitus, welcher
an und für sich mit einer Reihe von nervösen Störungen Hand in Hand geht, hat,
wenn er traumatischen Ursprungs ist, besondere Neigung, sich mit nervösen Stö¬
rungen zu compliciren.
Auf diese Thatsache haben auch Brouardel und Richardiero hinge¬
wiesen. Sie classificiren die vorkommenden Möglichkeiten und sie erklären, diese
nervösen Störungen seien ein Beweis dafür, dass die Verletzung das Nervensystem
schwer angegriffen habe, und dass dieselbe die directe Ursache eines Diabetes
nervösen Ursprungs sein konnte.
Der Vollständigkeit halber mögen noch die 3 selbständigen Beobachtungen
der beiden französischen Autoren hier folgen, da dieselben recht deutliche nervöse
Störungen zeigen und einen gewissen Werth haben, weil sie gut verbürgt sind.
19. Beobachtung (Brouardel und Richardiere). P., 58 Jahr, stets ge¬
sund gewesen, hatte am 23. April 1881 einen Unfall vom Wagen. Er sass auf
dem oberen Theil eines Omnibus und wurde von demselben auf die Fahrstrasse
geschleudert in Folge des Zerbrechens einer Radachse. Bei seinem Falle wäre
seine Kreuzgegend gegen die Balustrade gestossen worden. Er sei auf die rechte
Schulter gefallen. Trotzdem konnte Patient seine Wohnung erreichen. Zu Hause
angekommen, sei er von Zittern befallen worden. Infolge dieses Unfalls musste
er ungefähr 3 Monate zu Bett liegen. Die Untersuchungen fanden am 26. Juni
und 10. Juli 1882 statt. Herr P. strengte einen Entschädigungsprocess gegen die
Omnibusgesellschaft an. Bei der Untersuchung ergaben sich folgende nervöse
Störungen:
1. Parese des rechten Arms. 2. Anästhesie dieses Arms.
3. Leichte Muskelatrophie derselben Extremität.
P. bot u. A. Zeichen von Entzündung des Schultergelenks. Sein Urin war
zuckerhaltig. P. war seit dem Unfall abgemagert. Ebenso hatten die Kräfte ab¬
genommen. Im April 1881 war der Urin gemäss ärztlichem Zeugniss albuminös.
20. Beobachtung (Id.). Oh., 45 Jahre alt, war immer gesund gewesen.
18. Juli 1884 wurde er das Opfer eines Eisenbahnunfalls auf der Linie von Puy
nach Saint-Etienne. Der Unfall war nicht mit Bewusstseinsverlust verbunden.
Patient wurde nur betäubt. Er erinnerte sich nicht, wie er aus seinem Coupä
herausgekommen war. Er entsinnt sich indessen sehr wohl, wie ihm zu Mutho
war, als er den Heizer und Maschinenführer antraf. Er bemerkte, dass er eine
Wunde am linken Bein hatte und fing an, seinen Reisebegleitern zu folgen. Er
legte mit ihnen 2 km zurück, um die nächste Station zu erreichen. Ch. fiel auf,
dass er auf diesem Wege nur mühsam gleichen Schritt mit den weiblichen Per¬
sonen hielt, die zugleich mit ihm den Eisenbahnwagen verlassen hatten.
Ch. wurde von einem Arzte mehrmals untersucht. Derselbe gab ihm drei
Zeugnisse, datirt vom 30. Juli 1884, vom 24. December 1884 und 30. November
1885, und constatirte:
1) dass die Quetschwunde des Beins in ungefähr 20 Tagen geheilt sei;
2) dass die Schmerzen der Lendengegend, über die vom ersten Tage an
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A s h e r
geklagt wurde, noch bestehen und sehr lebhaft seien; 3) dass der Urin,
dessen Menge seit 30. Juli vermehrt gewesen sei, Ende November 1885 einen be¬
trächtlichen Zuckergehalt aufweise.
Bei der Untersuchung am 13. Februar bot Ch. die äusseren Zeichen einer
blühenden Gesundheit. Die Beinwunde war durch eine Narbe von 3 l / 2 cm im
Durchmesser ersetzt. Die Kreuzschmerzen bestanden fort. In der Ruhe
traten keine Schmerzen auf, wohl aber bei dem Versuche aufzu¬
stehen, beim Aufrechtstehen und beim Husten. Kein wahrnehmbares
Zeichen von Fractur der Wirbelknochen. Druckempfindlichkeit besonders
links. Aussehen gut. Kein Hautausschlag. Spec-ifisches Gewicht des Urins 1032.
47 g Zucker pro Liter. Kein Eiweiss.
21. Beobachtung (Id.). Cot., 45 Jahr, Handlungsreisender, immer gesund
gewesen, erlitt einen Eisenbahnunfall den 14. August 1883. Er verlor das Be¬
wusstsein im Augenblick des Unfalls eine unbestimmte Zeit lang. Infolge des
Unfalls empfand er heftige Schmerzen im ganzen Körper und besonders
über dem rechten Knie und links in der Höhe der Kreuzgegend. Seit
dem Unfall magerte der Verletzte in 2 Jahren 18 kg ab. Er wurde sehr schwach
und musste seine Reisen 7 Monate unterbrechen. Er will 5 Mal reichlichen blu¬
tigen Auswurf gehabt haben. 31. Juli 1885 fand die Untersuchung statt. Cot.
klagte über heftige Schmerzen bei Rumpfbewegungen, Schmerzen
längs der Wirbelsäule, besonders in der Höhe des 6. und 7. Hals¬
wirbels und 2. und 3. Lendenwirbels. Druckempfindlichkeit,
Schmerzen auf die seitlichen Rumpftheile ausstrahlend auf dem
.Verlauf des 7., 8., 9. und 10. Intercostalnerven.
Die Genitalfunctionen waren nach Aussage des Kranken seit dem Unfall
vollständig erloschen.
Der Urin enthielt 49 g Zucker pro Liter. Kein Eiweiss (C. wusste damals
nicht, dass er diabetisch sei).
Antidiabetische Diät. 2 Monate später war der Zucker verschwunden.
Nachdem wir auf diese Weise die Symptomatologie und den
Verlauf des traumatischen Diabetes an der Hand von 21 Beobach¬
tungen kennen gelernt haben, erübrigt noch zu fragen, wie lange Zeit
nach der Verletzung ablaufen kann, bis diese Symptome, die diabe¬
tischen, eintreten, wenn dies nicht sehr bald geschehen ist. Eine be¬
stimmte Antwort hierauf zu geben, ist nicht möglich. Hier heisst es
im Einzelfall abwägen, was zu Gunsten einer traumatischen und was
zu Gunsten einer spontanen Entstehung spricht. An und für sich ist
ein Zwischenraum von über 3—5 Jahren als zweifelhaft anzusehen,
selbst wo keine erbliche oder direct constitutioneile Disposition nach¬
weisbar ist. Hier versagt eben die menschliche Erkenntniss; wir
müssen daher darauf gefasst sein, unter Umständen einem Unfall¬
kranken Ungerechtigkeit widerfahren zu lassen, indem wir das Auf¬
treten eines Diabetes bei demselben als sein persönliches Missgeschick
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l JNIVFR^iTY QF IGW,
Das Krankheitsbild des traumatischen Diabetes.
21
bezeichnen, dessen Zusammenhang mit dem Trauma uns nicht er¬
wiesen zu sein scheint.
Als gültig können aber folgende Sätze aufgestellt werden:
1. Die Symptomatologie des Diabetes traumaticus ist mit der
des idiopathischen identisch.
2. Die Symptomatologie des Diabetes traumaticus wird sehr
häufig durch organische Veränderungen oder Störungen func-
tioneller Natur erweitert, welche bereits vor Eintritt des Dia¬
betes bestehen können.
3. Der Diabetes traumaticus kann am Tage des Unfalls, kürzere
oder längere Zeit, selbst Jahre nach demselben einsetzen.
Doch ist der traumatische Ursprung zweifelhaft, wenn über
3—5 Jahre nach demselben verstrichen sind.
4. Man kann zwischen dem Diabetes, der gleich oder sehr bald
nach dem erlittenen Unfall eintritt und demjenigen, der sich
chronisch entwickelt, unterscheiden.
a) Der acut eintretende und der chronisch sich entwickelnde
Diabetes kann vorübergehen oder stationär bleiben.
Bleibt er stationär, so kann er in 1—5 Jahren zum
Tode führen.
5. Alle Verlaufsarten, wie sie beim idiopathischen Diabetes mel¬
litus Vorkommen, sind, ebenso wie dessen verschiedene For¬
men, beim Diabetes traumaticus beobachtet.
Diagnose. Von der allergrössten Wichtigkeit ist die Erkennung
des traumatischen Diabetes als solchen. Von ihr hängen die weiteren
forensischen Erwägungen in erster Linie ab.
Die Grundlagen der Diagnose sind durch die obigen Ausführungen
gegeben.
Dieselbe stützt sich zunächst auf das wohlverbürgtc Vorkommen
der Zuckerhamruhr im Anschluss an eine erlittene Verletzung.
Die Urinuntersuchung giebt die erste Handhabe zur Erkennung
des Leidens.
Ist im Urin Zucker nachgewiesen und fehlen die charakteristischen
Allgemeinsymptome des Diabetes mellitus, so kann die Diagnose erst
im weiteren Verlaufe der Krankheit gestellt werden. Es kommt näm¬
lich differentialdiagnostisch die Glyeostirifc -'-in Betrachtv welche«ob¬
wohl vorübergehend, geraume Zeit bestehen kann.
Sobald ausser der Zuckerausscheidung Abnahme des Körperge-
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UNIVERSUM OF IOWA
22
As hör,
wichts, allgemeines Unwohlsein, Polyurie und Polydipsie nachgewiesen
werden kann, ist die Diagnose des Diabetes mellitus gesichert.
Kommen besonders nervöse Störungen zu den übrigen Symptomen
hinzu, so ist diese Erscheinung als weitere Stütze der Diagnose an¬
zusehen.
Um diesen Diabetes in Zusammenhang mit der erlittenen Ver¬
letzung zu bringen, die entweder von dem betreffenden Patienten in
den Vordergrund gestellt oder bei der Aufnahme der Anamnese zu¬
fällig eruirt wird, und dieselbe als die eigentliche Ursache anzuer¬
kennen, bedarf es indessen einer äusserst gründlichen Untersuchung.
Da uns eine pathogenetische Erklärung versagt ist, müssen wir
uns darauf beschränken, nachzuforschen, ob nicht schon vor dem Un¬
fall Diabetes bestanden hat.
Ist der Sachverständige in der glücklichen Lage, von einem ge¬
wissenhaften Arzte über den Patienten nach dieser Richtung hin ge¬
naue Auskunft zu erlangen, so ist die Entscheidung eine leichte. In
der Regel wird dieser günstige Zufall selten sein.
Dann bleibt jonem nur übrig, nach objectiven Zeichen zu for¬
schen, die auf eine längere Dauer des Diabetes hinweisen, und durch
geschickt gestellte Fragen anamnestische Daten zu eruiren. Er wird
in erster Linie sämmtliche Organe und Organsysteme prüfen müssen,
die nachweislich bei dem Diabetes mellitus betheiligt sein können.
Man untersuche die Mundhöhle daraufhin, ob die Zunge breit
und dick, uneben und rissig, ob das Zahnfleisch gelockert ist, ob die
Zähne stark cariös sind, ob die Mundflüssigkeit sauer reagirt.
Bei den Respirationsorganen achte man auf obstartigen Aceton¬
geruch, auf tuberculöso und gangränöse Processe der Lunge.
Bei den Circulationsorganen richte man sein Augenmerk auf An¬
zeichen von Herzschwäche, auf die Zahl der Pulsschläge, auf etwaige
Arteriosclerose.
Eine stärkere Albuminurie, beruhend auf chronischer Nephritis
neben einer geringen Zuckerausscheidung, spricht entschieden für ein
späteres Stadium des Diabetes, obwohl natürlich zu einer bereits be¬
stehenden Nephritis eine leichte Zuckerausscheidung hinzukommen
kann. Balanitis, Ekzeme und furunculöse Abscesse der äusseren Ge-
( sch}ccht$theil£ dürften *ka«»:inj. Bjiti^stadium des Diabetes auftreten,
aJtQ Narben: Wn: jefa^Qreu.isiod: ■ärC sicherer Beweis, dass das Leiden
längere Zeit bestanden •Iiat»,
• • •• •! I? •!• •
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UNiVERSUY OF IOWA
Das Krankheitsbild des traumatischen Diabetes.
23
Den gleichen Werth für die Beurtheilung der Dauer haben die
Cataracte.
Die Haut des chronischen Diabetikers imponirt durch ihre Trocken¬
heit; Furunkel und Carbunkel, noch mehr alte Narben derselben, be¬
rechtigen zu der Annahme, dass es sich um einen länger bestehenden
Diabetes handelt. Dazu kommt das Auftreten von Gangränbildung,
besonders einzelner Zehen, und mitunter Oedeme des Unterhautzell-
gewebes.
Auf Seiten des Nervensystems ist ein aulfällig häufiges Symptom
das Fehlen der Patellarschnenphänomene, das meist nur in schweren
Fällen constatirt wird. Im weiteren Verlaufe des Diabetes kommen
auch nicht selten apoplectiforme Insulte vor. Die motorische Sphäre
weist gelegentlich Lähmungen, meist starke Paresen auf, seltener sind
die Störungen spastischer Natur.
Ist in dem Urin eines frisch Verletzten Zucker nachgewiesen,
und findet sich nur ein einziges dieser objectivcn Symptome, so kann
es nicht in dem Sinne einer längeren Dauer des Diabetes gedeutet
werden; nur das Zusammentreffen von mehreren dieser objectiven
Symptome muss den Verdacht erwecken, dass der Diabetes schon
lange bestanden hat.
Dieselben haben aber nur in dem Falle Werth, wo der Patient
bald nach erlittenem Trauma dem Arzte vorgestellt wird. Denn wenn
bereits längere Zeit nach demselben verstrichen ist, können ja alle
erwähnten Symptome, wie im Kapitel der Symptomatologie darge¬
stellt ist, als Begleiterscheinungen des traumatischen Diabetes auf-
treten.
Allein es können selbst bei länger bestehendem Diabetes alle
objectivcn Symptome fehlen, da derselbe gelegentlich sehr latent ver¬
läuft. Hiervon giebt Blau 1 ) ein recht anschauliches Bild.
Es handelte sich um einen schwächlichen Herrn, Ende der fünfziger Jahre,
der sich durch einen Fall von einem Wagen ein grosses Goschwür zugezogen
hatte, das sich gamicht schliesscn wollte. Trotz des offenbar und sogar in
schwerer Form vorhandenen Diabetes mellitus, der schon zu gangränösen Stö¬
rungen geführt hatte, zeigte sich aber bei dem Patienten keines der für die Krank¬
heit charakteristischen Symptome. Das galt von der vermehrten Urinentleerung,
*) Blau, L., Ueber Diabetes mellitus und insipidus. Schmidt’s Jahrbücher
der gesammten Medicin. 173. Bd. Jahrg. 1877.
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24
As her,
dem quälenden Durst, Heisshunger und der Trockenheit im Munde; das Sehver¬
mögen hatte nicht gelitten, der Patient war nicht abgemagert, hatte nichts von
seiner Muskelenergie verloren, seine Stimmung hatte sich nicht verändert, die
Lungen waren intact.
Es kann also Vorkommen, dass ein Trauma fälschlich als Ursache des Dia¬
betes bezichtigt wird, selbst wenn der Verletzte sehr bald nach seinem Unfall zur
Untersuchung kommt, ohne irgend ein objectives Symptom eines bereits bestehen¬
den Diabetes zu bieten.
Nach Saundby 1 ) ist es sogar vorgekommen, dass sich ein intermittirender
Diabetes ohne nachweisbares ätiologisches Moment entwickelt hat. Träfe man
also einen intermittirenden Diabetes nach vorausgegangenem Trauma an, so
könnte derselbe eine zufällige Coinplication sein, und das Trauma irrthümlich als
Ursache desselben aufgefasst werden.
Noch grösser ist die Unsicherheit, wenn man sich bei Erforschung
objcctivcr Symptome auf die Aussage des Patienten verlassen muss.
Dies gilt namentlich von der Gewichtsabnahme, von der Polyurie,
von der geschlechtlichen Impotenz und von den Neuralgicen. Wenn
jenem daran gelegen ist, seine Krankheit als Folge eines Unfalls er¬
scheinen zu lassen, wird er schwerlich zugeben, dass derartige Sym¬
ptome vor demselben bestanden haben, selbst wenn dies sicher der
Fall war. Doch wird man unter Umständen durch geschickt gestellte
Fragen oder durch Erkundigungen bei unintcrcssirten Personen der
Wahrheit auf den Grund kommen.
Bei den Nachforschungen nach etwa früher bestehenden subjcc-
tiven Beschwerden wird die Unterscheidung zwischen wahren Angaben
und Täuschungsvcrsuchcn am schwierigsten sein. Wenn er sein Inter¬
esse im Auge hat, wird der Befragte leugnen, früher an gesteigertem
Durst- oder Hungergefühl gelitten zu haben, matt und kraftlos ge¬
wesen zu sein, von Pruritus pudendi gepeinigt (weibliche Pat.), von
lästigem Hautjucken gequält worden zu sein, über Kopfschmerzen und
psychische Verstimmung u. a. Beschwerden, die so charakteristisch
für Diabetes sind, haben klagen zu müssen.
Sind derartige subjective Beschwerden für Aussenstehende er¬
kennbar geworden, und sind die betreffenden Leute vertrauenswürdig,
so kann man gelegentlich auf diesem Wege Angaben von gewissem
Werth erhalten.
Anamnestische Daten über erbliche oder direct constitutioneile
') R. Saundby, Lecturcs on diabetes. Bristol und London. 1891. p. 85.
Case 12.
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Das Krankheitsbild des traumatischen Diabetes.
25
Disposition der Verletzten sind nur dann von Bedeutung, wenn zu¬
gleich Anzeichen eines bereits früher bestehenden Diabetes vorhanden
sind. Denn die Anlage für sich allein kommt nur für die Prognose
in Betracht, für die gerichtliche Beurtheilung der Entstehung des Lei¬
dens ist sie, wie oben ausgeführt worden ist, unwesentlich.
Ebenso bedeutungslos sind Angaben über Krankheiten, die er-
fahrungsgemäss, allerdings sehr selten, einen Diabetes zur Folge
haben; das sind Infectionskrankheiten aller Art, wie Typhus, Schar¬
lach, Masern, Cholera etc., wenn in der Zeit zwischen einer solchen
Erkrankung und der Vorstellung des an Diabetes Erkrankten keine
diabetischen Symptome aufgetreten sind, die objectiv nachweisbare
Spuren hinterlassen.
In jedem Falle, wo Entschädigungsansprüche auf Grund eines
nach vorausgegangenera Trauma entstandenen Diabetes erhoben wer¬
den, ist es nothwendig, den betreffenden Patienten zu controliren.
Denn der Diabetes kann simulirt werden.
Es ist von vornherein selbstverständlich, dass alle subjectiven
Symptome vorgetäuscht werden können. Bei den zahlreichen Quellen,
aus denen das Publikum seine medicinischen Kenntnisse schöpft, wäre
es nicht unmöglich, dass sich der eine oder andere den Diabetes
zum Studium gemacht oder auch zufällig gehört hätte, eine Verletzung
sei im Stande, einen solchen hervorzurufen. Selbst ein so objectives
Zeichen, wie die Polyurie, kann durch unmässiges Trinken vorge¬
täuscht werden. Dass aber das entscheidende objectivc Symptom
durch Betrug erzeugt werden kann, lehrt folgender Fall von simu-
lirtem Diabetes mellitus, den Abeies und Hofmann 1 ) beobachtet
haben.
„Die hysterische Kranke wurde nach Karlsbad geschickt, weil sie über Poly¬
urie und Polydipsie klagte und ihr Ham Zucker enthielt. Allein es war dies kein
Traubenzucker, sondern Rohrzucker und derselbe wurde offenbar dem Urin erst
nach der Entleerung von der Patientin zugesetzt. Er drehte die Polarisationsebene
zwar nach rechts, gab aber erst nach Zusatz von Säuren und Kochen die gewöhn¬
lichen Zuckerreactionen. Ohne Wissen der Patientin entnommene Harnproben
waren immer zuckerfrei. Im nächsten Jahre kam die Dame wieder nach Karlsbad,
und dieses Mal fand sich in dem mit dem Katheter entleerten Urin allerdings
Traubenzucker vor. Doch lag dem wiederum eine Täuschung zu Grunde; denn
wie sich aus dem Missverhältnisse zwischen der optischen und chemischen Ana¬
lyse ergab, handelte es sich auch jetzt nicht um innerhalb des Organismus ge-
’) Wiener medicinische Presse. XVU. 47, 48. 1876.
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26
As h er,
bildeten, sondern um käuflichen Traubenzucker. Letzterer, ein Uebergangszucker
zwischen Dextrin und Dextrose, hat bekanntlich ein viel stärkeres Drehungsver¬
mögen für die Polarisationsebene als der Harnzucker, während er dagegen bei
weitem weniger Kupferoxyd aus alkalischer Lösung reducirt. Dio hysterische
Kranke hatte mithin, um ihren Betrug fortsetzen zu können, die Mühe nicht ge¬
scheut, sich über dio Natur des Harnzuckers zu belehren, sich dann Trauben¬
zucker angeschafft und denselben in die Blase injicirt.“
Es könnte also Vorkommen, dass ein Verletzter seinem Urin
Zucker zusetzte und subjeetive Symptome simulirte, weniger, um wie
die Hystcrica sich interessant zu machen, als sich eine dauernde
Rente zu verschaffen.
Um die Diagnose zu sichern, ist daher der klagbare Patient
unter genaue, jedoch nicht auffällige Controle zu stellen, und zwar
empfiehlt es sich, auch mit Rücksicht auf die Prognose, die Bcobach-
tungszeit auf 2—3 Monate auszudehnen. Eine Ausnahme bilden natür¬
lich die rasch mit Genesung endigenden Fälle von traumatischem
Diabetes, die übrigens selten zu Entschädigungsansprüchen veranlassen
werden. Im Hinblick auf die Möglichkeit eines intermittirenden Ver¬
laufs fordere man den Patienten auf, sich von Zeit zu Zeit vorzu¬
stellen, ohne ihm natürlich die wahren Gründe zu eröffnen.
Die Prognose des Diabetes traumaticus lässt sich erst im Ver¬
lauf des Leidens stellen. Wo es sich nicht um rascher heilende Fälle
handelt, ist dazu eine Beobachtungszeit von mindestens 2—3 Monaten
nothwendig. Hat das Leiden bis dahin nicht die Neigung gezeigt,
sich zum Besseren zu wenden, so ist nicht viel Aussicht auf voll¬
ständige Heilung vorhanden. Je nach der Schwere des Einzelfalles
kann die Lebensdauer auf 1—5 Jahre und länger berechnet werden.
Wo es sich um erblich oder direct constitutionell disponirte Kranke
handelt, wird man einen nach einem Trauma auftretenden Diabetes
stets als ernst auffassen müssen. Sobald der Diabetes einen chro¬
nischen Verlauf nimmt, ist der von demselben Betroffene als chro¬
nisch Kranker anzusehen, der allen möglichen Gefahren durch Com-
plicationen ausgesetzt ist. Lässt sich, wo es sich um einen Patienten
aus der arbeitenden Klasse handelt, auch nicht ohne Weiteres be¬
haupten, dass derselbe durch das Leiden in seiner Leistungsfähigkeit
geschwächt ist, so muss doch darauf aufmerksam gemacht werden,
dass selbst solche Kranke, welche arbeitstüchtig waren, als sie die
Arbeit wieder aufnahmen (Beobachtung 4 und 5), eine bedeutende
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Das Krankheitsbild des traumatischen Diabetes.
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Verschlimmerung ihres Leidens nachträglich erfuhren. Nur die Mög¬
lichkeit einer geeigneten Diät und zweckmässigen Lebensweise macht
bei Leuten dieser Klasse die Prognose günstiger.
Therapie. Die Behandlung des Leidens muss gegen die Zucker¬
harnruhr, gegen die organischen Ncrvenläsionen, gegen die functio¬
neilen Nervenstörungen und gegen die in's Gebiet der Chirurgie schla¬
genden Verletzungen gerichtet sein. Ihre Handhabung ist Sache der
praktischen Erfahrung und gehört nicht in diese lediglich theoretischen
Erwägungen.
In allen Theilen der Arbeit benutzte Literatur:
Schmidt’s Jahrbücher, Zusammenstellungen übor Diabetes mellitus.
Strümpell, A., Lehrbuch der speciellen Pathologie und Therapie der
inneren Krankheiten. Leipzig 1890.
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2 .
Veber den Zusammenhang zwischen Trauma und
Tuberculose.
Kino klinisch-forensische Studie
von
Dr. Pani Gnder,
Kreisphysikus des Kreises Wittgenstein.
^Fortsetzung und 8chluss.)
Proust kommt dann zu den Rippenbrüchen, die bei ihrer Häufigkeit selten
von Pneumonien gefolgt seien. Seiner Meinung nach kommt die Pneumonie nur
zu Stande, wenn die Gewalt, die die Rippen zerbrach, auch eine Contusion der
Lunge erzeugte. Er schliesst dieses daraus, dass in einigen Fällen die Pneumonie
nicht an der Stelle der Fractur begann.
Da die traumatische Pneumonie fast immer heilt, so sind Obductionen sehr
selten. Bei einigen Sectioncn wurde allerdings durch den Befund die Ansicht
Litten’s, dass es sich um eine fibrinöse Pneumonie handele, bestätigt, dagegen
hält Vulpian und mit ihm Proust die traumatische Pneumonie in der Mehrzahl
der Fälle für eine katarrhalische, der auch die klinischen Phänomene und der
Verlauf mehr entsprechen.
In Folge einer mehr oder weniger heftigen Contusion des Thorax oder eines
Schlages oder Stosses bricht die Pneumonie aus zuweilen in den Stunden, die
dem Unfall folgen, oder 24 Stunden später, sehr oft in 2—3 Tagen, seltener nach
Ablauf des 4. Tages.
Seitenstechen bestellt immer und zwar an der verletzten Stelle, es ist auf¬
fällig durch seine Stärke und seine Dauer. Es ist das erste Zeichen, welches auf-
tritt und cs besteht oft noch nach dem Abklingen der entzündlichen Erschei¬
nungen. Durch massigen Druck oder die geringsten Bewegungen des Körpers wird
es bis zur Unerträglichkeit gesteigert. Deshalb liegt der Kranke mit Vorliebe auf
der gesunden Seite, stellt den Brustkorb fest und athmet oberflächlich. Dadurch
ist die Untersuchung in jeder Hinsicht erschwert. Die anscheinend vorhandene
Dyspnoe verschwindet mit dem Schmerz, folgen aber entzündliche Erscheinungen,
dann wächst auch die Dyspnoe, erreicht aber niemals den Grad wie bei der
genuinen Pneumonie.
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Ober den Zusammenhang zwischen Trauma und Tuberculose. 29
Der initiale Schüttelfrost fehlt oft, Proust halt ihn überhaupt für eine sel¬
tene Erscheinung und meint, dass, wenn er vorhanden ist, er nicht den ausge¬
sprochenen Charakter habe wio bei der genuinen Pneumonie.
Blutauswurf erscheint oft bald nach dem Unfall, aber er steht dann in Be¬
ziehung zur Lungenverletzung und nicht zu der nachfolgenden Entzündung. Wenn
er die ersten Tage dauert, findet man ihn ausschliesslich aus schwarzen Blutcoa-
gulis bestehend. Durch aspirirtes Blut entsteht auch Husten, der auch Auswurf
fördert, dessen Aussehen jedoch nicht constant ist. In den ersten Tagen ist die
Expectoration gebildet durch durchscheinende, lufthaltige, zähe, am Rand des
Spuckglases klebende Sputa, welche mit Blut gestreift sind oder vermischt sind
mit kleinen braunschwarzen Blutklumpen; dann kommen rothbraune Sputa wie
bei der genuinen Pneumonie, die eine homogene Masse bilden. Diese Rostfarbe
besteht 3—4 Tage, später verliert sie sich allmälig und dio weniger reichlichen
Sputa werden hell und mit Eiter gemischt. Doch kommen traumatische Pneu¬
monien vor, ohne dass der Kranke jemals rothe Sputa auswirft, sondern nur solche
wie bei der Bronchitis.
Die durch die Schmerzhaftigkeit sehr erschwerte Percussion hat nicht den
vollen Werth wie bei der genuinen Pneumonie. Sehr oft ist die traumatische Pneu¬
monie begleitet von einer Pleuritis, die sich auf die verletzte Stelle beschränken
kann. Dämpfung findet man oft an einer umschriebenen Stelle, entsprechend der
Ausdehnung der entzündlichen Erscheinungen. — Die Auscultation ist wegen der
geringen Athembewegungcn sehr erschwert. Zunächst bemerkt man Abnahme der
Intensität des Vesiculärathmens auf der kranken Seite, dann feinblasiges Rasseln,
später Rasselgeräusche verschiedenster Natur, Bronchialathmen, zuweilen an einer
umschriebenen Stelle. Es erreicht oft nicht die Intensität wie bei der fibrinösen
Pneumonie, ja es kann ganz fehlen.
Die Erscheinungen der Pneumonie finden sich gewöhnlich an der verletzten
Stelle. Die Pneumonie hat sehr wenig Neigung sich auszubreiten.
Die Temperaturcurven bieten keinen bestimmten Typus dar. Sie unter¬
scheiden sich mehr oder weniger von einander. Proust behauptet aber so viel,
dass die Temperatur wenig erhöht sei und schnell zur Normalen abfalle. Der
Lysis begegne man bei der traumatischen Pneumonie häufiger als der Krisis. Es
sei sehr selten, dass die Temperatur die hohen Ziffern erreiche, wie bei der
genuinen Pneumonie, sie schwanke oft zwischen 37,5° und 38°. In den beiden
ersten Tagen erhebe sie sich bis zu 39°. Während man die Temperatur oft zwi¬
schen 3—5 Tagen erhöht findet, kann sie auch 8—10—15 und mehr Tage an¬
dauern. Der Thermometer sei kein sicherer Führer, denn während er eine der nor¬
malen sich nähernde Temperatur zeige, ergebe die Auscultation einen entzündlichen
Zustand. Sei die Entstehung der Pneumonie eine rasche, dann sei dieTemperatur
höher, aber'ihre Dauer sei immer kürzer als bei der genuinen Pneumonie.
Am 5.—6. Tage vom Beginn der Lungenerscheinungen kann Alles normal
sein, zuweilen bleiben Erscheinungen von Bronchitis 1—2 Wochen bestehen.
Alle Autoren stimmten überein in dem Urtheil über den gutartigen Charakter
der traumatischen Pneumonie. Proust verweist ganz besonders auf das Urtheil
Grisolle’s 1 ).
*) „Cette Mnignitö ordinaire, n’est pas un fait exceptionnel mais genöral,
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30
Dr. Guder,
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Koch, P. Wagner, Weichselbauni, Petit 1 ), Jollye*), Wagner 3 )
und Ullmann 4 ) bringen casuistische Beweise für das Vorkommen dieser Arten
von Pneumonien.
Der von Koch 5 ) unter Bollinger bearbeitete Fall ist von grosser Wichtig¬
keit. Auch in diesem setzte, wie in den Fällen Litten’s, die Krankheit am
s’appliquant ä un grand nombre de phlegmasies. II importe, en effet, de remar-
quer ici que la pneumonie qui survient par le fait d’une violence extärieure est
en quelque Sorte un acte physiologique, un acte röparateur, se produisant chez
un individu, en general bien portant, et dans un Organe qui n’a commun^ment
aucune pr6disposition morbide. II n’en est plus de meme que la pneumonie spon-
tanöe, ou de celle qui öclate apres l’impression d’une de ces causes banales, dont
l’individu avait subi nombre de fois les atteintes sans aucune dommage. Dans ce
cas, on ne saurait mfconnaitre l’intervention nöcessaire d’une inconnue dont
l’action ne s’<5puise pas tout de suite, mais se prolonge souvent bien au delä, de
maniere ä modifier d’une maniere facheuse la marclie, la durö et l’issue de la
maladie.“
*) Petit, Contribution äl’&ude de la pneumonie infectieuse et de la pneu¬
monie traumatique. Gazette hebdominaire. No. 7. 1886. Ref. Cannstatt’s Jahres¬
berichte. 117.
Er beschreibt einen Fall von traumatischer Pneumonie, wo im Alveolarex¬
sudat Mikrokokken der Pneumonie nachgewiesen wurden. Da der Nachweis,
wenigstens im Auswurfe, durch die Gram’sche Methode geschah, so wird es sich
schwerlich, wie der Autor meint, um Friedländer’sche Mikroorganismen, son¬
dern vielmehr um den von Frankel beschriebenen gehandelt haben. Die Rolle
des Traumas bei der Entstehung der Krankheit sieht Petit so an, dass durch
Ruptur der Alveolen das Eindringen der Mikroorganismen in das Lungengewebe
ermöglicht wurde.
2 ) Jollye, Oase of acute pneumonie following extern, violence. Lancet. Juli.
Er bespricht an der Hand eines Falles von deutlich ausgesprochener, nach
seiner Meinung traumatischer Pneumonie, die Erkrankung, ohne wesentlich Neues
zu bringen.
3 ) Wagner, Deutsches Archiv für klinische Medicin. 1888.
Dieser Fall blieb während der kurzen klinischen Beobachtung unklar und
wurde leider durch die Section nicht aufgehellt. Wagner schliesst eine ambula¬
torische Pneumonie nicht aus.
4 ) Ullmann, Festschrift für den Verein pfälzischer Aerzte. 1889. (Mir
nicht zugänglich.)
5 ) Koch, Ueber Contusionspneumonie. Diss. inaug. München.
Ein 38 Jahre alter Zimmermann und Braugehülfe, der früher vollkommen
gesund war und ziemlich viel Alkoholica zu geniessen pflegte, rutschte eines
Abends durch Umkippen eines Brettes in der Höhe des 2. Stockwerkes vom Ge¬
rüst, klammerte sich im Fall an eine vorspringonde Fensternische und trug, eine
Kniewunde und eine ziemlich starke Quetschung der vorderen Brusthälfte davon.
Er wollte weiter arbeiten, klagte auch den übrigen Theil des Abends nicht^ Am
folgenden Morgen unterzog er sich seiner gewöhnlichen Arbeit, jedoch klagte er
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Ueber den Zusammenhang zwischen Trauma und Tuberculose.
31
2. Tage nach dem Unfall mit einem einmaligen heftigen Schüttelfrost und ent¬
schiedenem Krankheitsgefühle ein. Die Temperatur ist nicht bekannt (36,5 vor
dem Tode war schon Collapserscheinung), doch deuten auf Fieber: Durst, Hitze
und Schweisse. Die „grossen Massen Blut“, welche ausgehustet sein sollen,
können nach der Section nicht auf eine traumatische Lungenblutung zurückge-
führt werden, sondern sind auf Rechnung der Pneumonie zu setzen. Bemerkens¬
werth ist, dass im Krankenhause weder vor noch nach dieser Zeit ein Fall von
croupöser Pneumonie in Behandlung kam.
Bei der Section fand sich nichts von Rippenbruch oderHämothorax, dagegen
eine typische croupöse Entzündung des rechten Unter- und Oberlappens im Sta¬
dium der rothen Hepatisation. Das erkrankte Lungengewebe ist derb, weniger
elastisch, dunkelbraunroth, zeigt auf dem Durchschnitt eine granulirte Fläche,
mikroskopisch finden sich die Capillaren strotzend mit Blutkörperchen angefüllt
und in den Lungenalveolen die charakteristischen Fibrinpfröpfe. An dem frisch
untersuchten Präparat fanden sich die bekannten Pneumoniekokken in grosser
Menge (Bollinger). Wie es auch bei der genuinen Pneumonie gewöhnlich, ist
die Pleura über den entzündeten Partieen sammetartig getrübt; auch der geringe
seröse eitrige Erguss in der rechten Pleurahöhle ist nichts Aussergewöhnliches
und findet sich in gleicher Weise häufig bei der genuinen Pneumonie. Dagegen
fand sich an keiner Stelle eine gröbere Verletzung (Riss) der Pleura oder Lunge,
wie solche auch ohne Rippenbruch nicht selten zu Stande kommen. Dass übrigens
trotzdem eine Quetschung oder Contusion des Lungengewebes stattgefunden,
darauf weisen die kleinen confluirenden Hämorrhagieen unter der Pleura des
rechten Unterlappens hin, wenn gleich sich diese auch vielleicht ohne Hinzu¬
ziehung dieses Momentes als Zerreissung der oberflächlichen, dünnwandigen Ca-
pillaren in Folge der Ueberladung der entzündeten Lunge mit Blut deuten lassen.
Auch Riedinger fand bei seinen Experimenten oft nur kleine punktförmige Blut¬
extravasate in den Lungen und zwar immer subpleural gelegen.
Von Interesse ist noch das Bestehen eines Emphysems der Unterlappen. Es
bestätigt dieser Befund auch in unserem Falle die Mittheilung Litten’s (Verlust
der Elasticität des Lungengewebes).
Koch widerlegt den etwaigen Einwurf, dass der Mann vorher krank und in
Folge seiner Krankheit abgestürzt sei.
Sodann stellt er die Frage: „Ist die Contusion wirklich die Ursache der
über Unsicherheit und Zittern in den Gliedern, sowie Schmerzen in der Brust.
Am nächsten Morgen war grosse Mattigkeit und Brustbeklemmung vorhanden, hef¬
tiger Schüttelfrost, starker Schweiss, Durst stellten sich ein. Der Brustschmerz
steigerte sich, Athemnoth und Husten traten hinzu. Nachmittags des 3. Tages
wurden grosse Massen Blut ausgehustet. Am Morgen des 4. Tages 36,5. Auf¬
nahme in’s Krankenhaus, Tod nach 3 Stunden. An der vorderen Thoraxwand,
namentlich rechts, deutliche Sugillationen. In der rechten Pleurahöhle ein Wein¬
glas voll einer schmutzig grüngelben, süsslich riechenden Flüssigkeit (Eiter). Am
oberen Theil der Pleura sammetartige Trübungen, acute croupöse Pneumonie,
rothe Hepatisation des rechten Ober- und Unterlappens, geringe Atrophie des Her¬
zens, Fettherz leichten Grades, Granularatrophie der Nieren. Magendarmkatarrh.
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32
Dr. Guder,
Pneumonie?“ Er beansprucht zur Bejahung dasselbe Recht wie diejenigen, die
die Erkältung als Ursache der Pneumonie ansehen. Hier wie dort stützt man sich
auf die Anamnese und Erfahrung, wenn auch letztere in unserem Falle nicht so
gross ist. Hier wie dort tritt nicht in jedem Falle von Contusion oder Erkältung
croupöse Pneumonie auf. — Allein man braucht diese Frage ja nicht unbedingt
bejahen, vielmehr können wir der Contusion jene Rolle zuweisen, welche man
auch der Erkältung in jüngster Zeit zugewiesen hat, wir können sie als Hülfs-
moment, als Gelegenheitsursachc der Pneumonie ansehen. Purgesz 1 ), ein eifri¬
ger Verfechter der infectiösen Natur der croupösen Pneumonie, welcher auch die
Litten’schen Beobachtungen erwähnt, einerseits um vermittelst derselben die
früher erwähnte Aeusserung .Jürgensen’s von dem typischen Verlauf der Pneu¬
monie, welche durch keine gewöhnliche Reize hervorgebracht werden könne, zu
bekämpfen, andererseits um dieselben in den Rahmen seiner Ansicht von der spe-
cifischen Natur der Lungenentzündung einzufügen, sagt in dieser Hinsicht: „Das
Nacheinander zweier Erscheinungen lässt noch nicht darauf schliessen, dass diese
von einander abhängen. Gerade so, wie wenn bei Jemand nach einer Erkältung
Malaria auftritt, es Niemandem einfallen wird zu behaupten, dass Erkältung Ma¬
laria erzeugen kann, ebenso wenig dürfen wir annehmen, dass die Erschütterung
des Thorax resp. der Lungen eine Lungenentzündung von solch specifischemCha¬
rakter hervorzurufen im Stande ist. Die Erschütterung war nichts anderes als eine
gute Gelegenheit, das Gleichgewicht des Körpers zu stören, wodurch die Arbeit
des auf der Lauer stehenden Pneumoniekeimes erleichtert wurde-. Wo das
Bindeglied zwischen den oben erwähnten Gelegenheitsursachen (Erkältung,
Trauma) und der eigentlichen Krankheitsursache liegt, ist eine ebenso offene
Frage bei der Pneumonie wie bei anderen Infectionskrankheitem“ Purgesz führt
darauf in ausführlicher Weise Keller an, welcher sich über diesen Punkt näher
auslässt, und welcher gut daran zu thun glaubt, für jede Infectionskrankheit die
Präexistenz irgend einer Läsion, und sei es auch nur die allerunbedeutendste ka¬
tarrhalische Erosion zu postuliren, wodurch das Eindringen der Mikroben in den
Organismus ermöglicht werde. — „Für den Bronchialkatarrh, für die Bronchitis
wäre dieser Nexus sofort verständlich“ — sagt Keller — „und für das Trauma
imSinne Litten’s“, fügt Purgesz hinzu, „nicht weniger“. Ist es nicht ganz gut
denkbar, dass jenes Trauma, welches wohl keine deutliche Continuitätstrennung
hervorgerufen, doch eine Lockerung in dem Gefüge des Epithels veranlasste, wel¬
ches gerade so als Micropyle für den bereitstehenden Pneumoniekeim dienen wird,
wie die kleinste unscheinbarste Kratzwunde im Gesicht für das weitgreifendste
Erysipel.“
P. Wagner 2 ) schliesst an sein Referat über die Arbeit von Koch einen
! ) Purgesz, Deutsches Archiv für klinische Mediein. XXXV.
2 ) Wagner.
Ein vorher ganz gesunder 17jähriger Schornsteinfeger stürzte vom Dache
eines 4 Etagen hohen Hauses herab. Er schlug zuerst auf einen unbelaubten
Baum auf und fiel dann in den gepflasterten Hof. Schwerer Shock. Ausser einer
stärkeren Contusion der linken Brust- und Hüftgegend keine Verletzung. 36 Stun¬
den später Schüttelfrost. Temperatur 40°, Puls 140, Respiration 36. Typische
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Ueber den Zusammenhang zwischen Trauma und Tuberculose.
33
Fall von Contusionspneumonie, den er vor mehreren Jahren auf der Thiersch-
schen Klinik beobachtete.
Während Litten unter 320 Pneumonieen bei Männern in 6 Jahren nicht
weniger als 14 mal (d. h. in 4,4 pCt.) den Ursprung durch Contusion nach weisen
konnte, fand Demuth 1 ) unter 604 croupösen Pneumonieen lOmal (d. h. in
1,66 pCt.) Trauma als Ursache. Es ist ihm nicht gelungen, Fälle zu beobachten
und zu finden, die die von Litten angegebenen Thatsachen bestätigen, dass in
Folge von Contusionen Entzündungen entständen, die in jeder Beziehung den rein
croupösen an die Seite zu setzen wären. Er hebt nach den von ihm beobachteten
Fällen als unterscheidendes Merkmal gegenüber der croupösen Entzündung hervor
vor Allem das Fehlen des initialen Schüttelfrostes, überhaupt das Fehlen stärkerer
Temperaturen und damit das Fehlen der croupösen Pneumonie eigenen deletären
Rückwirkung auf das Allgemeinbefinden (Appetit und Ernährung), ferner das
Fehlen stärkerer allgemeiner Sehweisse. Nie ist die Milz vergrössert, nie Herpes
labialis vorhanden, nie kritischer Fieberabfall beobachtet worden.
Das Sputum war wenigstens in den ersten Tagen in allen Fällen von hämor-
rhagischerem Aussehen, als es bei der genuinen Pneumonie der Fall ist. Diese
Beschaffenheit hielt verschiedene Zeit, bis zu 6 Tagen, an. Nie machte sich im
weiteren Verlauf stärkerer Auswurf bemerkbar.
Bezüglich der physikalischen Erscheinungen fand Deinuth: Fehlen des
Knisterrasselns, frühzeitiges Bemerkbarwerden von Verdichtungserscheinungen und
baldiges, aber nicht so scharf ausgeprägtes Bronchialathmen. Das Oppressions-
gefiihl war gewöhnlich nicht auffallend stark.
„Mit Litten nehme ich also dieThatsache als sicher an“, schreibt Deniuth,
„dass wirkliche lobuläre entzündliche Infiltration der Lunge 2 ) durch Contusionen
des Thorax ohne weitere Verletzung entstehen kann, meine Fälle jedoch decken
sich wiederum mit einem Theil der von Litten beobachteten. Relativ häufiger
als bei der genuinen Pneumonie beobachtete ich ambulatorische Formen bei Con-
tusionspneumonie. Es waren dies Fälle, die mit sein* kurz dauerndem und ge¬
ringem Fieber und minimalen subjeetiven Beschwerden einhergehen, und welche
man als Pneumonieen vielleicht garnicht erkannt haben würde, wenn nicht das
rubiginöse Sputum zu einer Untersuchung der Brustorgane aufgefordert hätte. Der
Verlauf war in diesen Fällen ein kurzer und milder.“
Pneumonie des rechten l nterlappens. Am nächsten Tage auch leichte Dämpfung
und feinblasiges Rasseln über dem rechten unteren Lungenlappen. Charakte¬
rist isolier Ablauf der Pneumonie in 5 Tagen.
v ) Demuth, Beiträge zur Lehre von der Contusionspneumonie. Münchener
medicinische Wochenschrift. 1888. 32 33.
2 ) Lieberm eist er (Ueber Lungenentzündung mul Lungentubereulose.
Deutsche medicinische Wochenschrift. 1888. S. 101 ff. u. 507IT.) spricht sich fol-
gendermassen aus: Die Contusionspneumonieen, die Fremdkörper- und Schluck-
pneumonieen sind nicht mir ätiologisch, sondern auch symptomatologiseh als be¬
sondere Formen anzusehen. Sie entsprechen in manchen Fällen in dem anatomi¬
schen Verhalten und in dem Krankheitsbilde mehr der lobulären Pneumonie.
Vierteljahr*#«:hr. f. ger. Med. Dritte Folge. IX. I. 3
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34
Dr. Guder,
„Gerade der Verlauf dieser lobulären entzündlichen Infiltration, besser ge¬
sagt lobulären Blutinfiltration der Lunge nach Contusionen mit nachfolgender
meist leichter entzündlicher Reaction beweist, dass wir es hier nicht mit einem
derartigen entziindungserregenden Agens zu thun haben. Ich kann mir wohl den¬
ken, dass Producte des Zerfalls und der Umbildung von in oder zwischen die Al¬
veolen ergossenen Blutmassen eine locale entzündliche Reizung und nach der Re¬
sorption auch einige Steigerung der Körpertemperatur hervorrufen, gerade wie wir
dieses auch nach ausgedehnten Blutergüssen beobachten. So lange wir aber hier
keine pathogenen specifischen Bakterien haben, die sich fortzeugend entweder
durch sich allein oder durch ihre StofTwechselproducte einen länger dauernden
Reiz und nach resorptiver Aufnahme in die Blutbahn Fieber hervorrufen, so lange
haben wir auf den einmal gesetzten Reiz gleichartiger, wenigstens dem Körper
nicht ganz heterogener Stoffe, wie die Producte des einfachen Zerfalles ergossener
Blutmassen ein heftiges, vor Allem ein anhaltendes Fieber beobachten können.
Und hierin glaube ich auch die Erklärung zu finden, warum in den uncomplicirten
Fällen von Contusionspneumonie kein Krankheitsverlauf zu beobachten ist, der
dem der genuinen Poeumonie an die Seite zu setzen wäre.“
„Wollte man in jetziger Zeit seit der Aera der Krankenversicherung u. s. w.
die Meinung der an Pneumonie Erkrankten bezüglich der Entstehung ihrer Krank¬
heit kritiklos hinnehmen, so käme man zur Ansicht, dass die allermeisten Pneu-
monieen der Erwachsenen durch Verletzung, Stoss, Schlag u. s. w. entständen,
gerade wie früher in der vorbaktcriellen Zeit selbstverständlich Jeder seine Pneu¬
monie durch Erkältung acquirirt haben wollte.“
Er verlangt 1) den Nachweis, dass eine wirkliche Contusion stattgefunden
habe und 2) dass der Verletzte — und das ist die Hauptsache — vorher völlig
gesund war.
Macdougal *) sucht an der Hand klinischer Erfahrungen die Frage des Zu¬
sammenhanges der lobulären Pneumonie mit vorausgegangenen Traumen zu ent¬
scheiden. Wenn er auch nicht von der Hand weisen will, dass durch ein Trauma
prädisponirte Lungenpartieen der Sitz einer fibrinösen Pneumonie werden können,
so glaubt er doch, dass bei der Mehrzahl traumatischer Pneumonieen es sich nicht
um genuine fibrinöse handele. Dies sei auch durch den ganz andersartigen Ver¬
lauf derselben zu beweisen.
Weichselbaum 2 ) wird von Hofmann citirt, in der Arbeit, welche er in
der Wiener medicinischen Wochenschrift publicirt, finde ich nur folgende Stelle:
„Was schliesslich die Frage betrifft, ob eine Erkältung an und für sich eine Pneu¬
monie erzeugen könne, so glaube ich dieselbe verneinen zu müssen. Dagegen
widerspricht es dem bakteriologischen Standpunkt durchaus nicht, anzunehmen,
dass die Erkältung, sowie überhaupt alle jene Factoren, welche Circu-
lationsstörungen in den Lungen hervorrufen, einen für die Ansiedelung und
Vermehrung der specifischen Pneumoniebakterien günstigen Boden schaffen und
*) Macdougal, Can injury producc lobular pneumonie. Lancet. Juni.
Cannstatt’s Jahresberichte. 1891. II. 155.
2 ) Weichselbaum, Wiener medicinische Wochenschrift. 1886. No. 39.
Aetiologic und pathologische Anatomie der acuten Lungenentzündungen.
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Ueber den Zusammenhang zwischen Trauma und Tuberculose. 35
somit ein disponirendes Moment bei der Entstehung der Lungenentzündung
bilden können. M
Die andere Arbeit Weichselba um’s 1 ) konnte ich nicht erlangen.
Ri es eil*) führt in seiner Arbeit 2 Fälle von Pneumonie nach Körperver¬
letzung an.
Am 15. Mai 1893 sprach Ungar*) in der niederrheinischen Gesellschaft für
Natur- und Heilkunde in Bonn über einen Fall von Pneumonie nach Trauma. In
der Discussion bemerkte Schnitze in Uebereinstimmung mit Ungar, „dass man
ausser einer Contusion auch noch besondere Entzündungserreger für das Zustande¬
kommen einer Pneumonie annehmen muss, die leichter im contusionirten Gewebe
eindringen und haften können, als im gesunden Gewebe. Freilich kann man das
Eindringen solcher Entzündungserreger von bestimmten Theilen des Körpers her
oft nur vermuthen.“
Paterson-Cardiff 4 ) veröffentlichte 1894 5 Fälle von Lungenentzündung
nach Einwirkung äusserer Gewalt, an die der Referent folgende Betrachtung
*) We ich sei bäum, Wiener medicinische Jahrbücher. 1886. No. 8.
*) Riesell, Zur Aetiologie der croupösen Pneumonie. Diese Vierteljahrs¬
schrift. 1889. Heft 2. S. 154.
1. Der 51 Jahre alte gesunde Ackerer P. in D. hat 1872 eine Pneumonie
durchgemacht. Am 1. März 1885 fährt er zu einer Mühle und stellt daselbst aus
Scherz mit einem Freunde einen Ringkampf an. Nach Beendigung desselben fühlt
er einen sehr heftigen Stich in der Brust und speit Blut. Von da ab fühlt er sich
stark angegriffen; am 3. März befällt ihn der Initialfrost einer tödtlichen Pneu-
monia duplex.
2. Ein öjähriger Knabe, schwächlich, hereditär belastet, fällt am 21. August
1886 auf den „Leib“ und kommt weinend zu Hause, übor heftigen Brustschmerz
und Leibschmerz klagend. Die Schmerzen dauern bis zum folgenden Tage und es
tritt alsdann Erbrechen und Fieber ein und am 23. August constatirte R. eine be¬
ginnende schwere, rechtsseitige Pneumonie.
8 ) Deutsche medicinische Wochenschrift. 1894. No. 3. S. 66. Anscheinend
ist der Fall noch nicht weiter veröffentlicht.
4 ) Lancet. 1894. 20. I. Ref. Monatsschrift für Unfallheilhunde. No. 2.
S. 60.
1. Mann von 47 Jahren ward am 18. Juni 1889 an der linken Seite verletzt.
Er stand auf einem hohen Heuschober, kam zu nahe an dessen Rand und fiel her¬
unter mit der linken Seite auf eine unten stehende Karre aufschlagend. Er musste
nach Hause gehen, konnte am anderen Morgen nicht aufstehen und hatte —
15 Stunden nach der Verletzung — einen Schüttelfrost. Bis zu dem Unfall war
er ganz gesund gewesen. Bei seiner Aufnahme in das Cardiff central Hospital am
23. Juni hatte er sehr heftige Schmerzen in der linken Seite. Temperatur 38,5,
Puls 116, Respiration 34. Kein reibendes Geräusch von einem Rippenbruch.
Ueber dem linken unteren Lappen Bronchialathmen und feines Knisterrasseln. Am
28. Eisblase auf den Kopf wegen heftiger Delirien. 30. Temperatur 37,8, Puls 92,
Respiration 32, weniger Schmerzen, besseres Befinden. Es war eine genauere
Untersuchung möglich. Bei derselben zeigte sich eine aussergewühnliche Beweg-
3*
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36
Dr. Guder,
schliesst: „Alle diese 5 Fälle zeigen die charakteristischen Eigenschaften, welche
auch die deutschen Autoren für Quetschungs-Lungenentzündungen beschrieben
lichkeit an dem Knorpelansatz der 8. und 9. Rippe. Bronchialathmen geringer,
Temperatur normal. 31. schwere Aphthen im ganzen Munde und Gaumen. 6. Juli:
Patient wurde schlechter, Delirien treten wieder auf, Temperatur 39,8, Puls 118,
Respiration 40. Es ward eine Lungenentzündung rechts unten aufgefunden. Die¬
selbe steigerte sich. 10. Tod. Die Leichenöffnung ergab eine Abreissung der
Knorpel der 8. und 9. linken Rippe. Der ganze linke untere Lungenlappen ver¬
dichtet, zeigte auf dem Schnitt rot he Hepatisation. Uebcr der linken hinteren
Partie eine weiche frische Anheftung des Brustfelles. Die vordere Fläche, welche
über den Rippenverletzungen lag, zeigte das Brustfell normal, dasselbe war weich
und glänzend. Kein sonstiges Zeichen von Verletzung. Rechter unterer Lungen¬
lappen verdichtet.
2. Mann von 52 Jahren fiel auf einem dunklen Wege am 14. Februar 1891
heftig mit der rechten Schulter auf den gefrorenen Boden. Einige Tage fühlte er
heftige Schmerzen in der Schulter und der rechten Seite und fröstelte ab und zu.
Nach 2 bis 8 Tagen musste er in das Bett. Am 25. wurde er schlechter und be¬
gann Blut zu speien. Am 1. März bedeutende Athemnoth, heftige Schmerzen,
blutiger Auswurf. Temperatur 38,8, Puls 100, Respiration 40. Dämpfung auf
dem oberen und mittleren rechten Lappen, Bronchialathmen, kein Knistern. Links
abgeschwächter Percussionston, unterhalb der Brustwarze Bronchialathmen und
feines Knistern. Auch an dieser Stelle heftige Schmerzen. Auf der linken Seite
keine Zeichen von Verletzung. 3. die Verdichtung des linken oberen Lappens war
ausgesprochen, Auswurf fast nur Blut. 4. llerzdämpfung vergrössert, Herz¬
schwäche, bedeutende Rasselgeräusche über beiden Lungen. Patient collabirte
und starb am 5. Abends. Oeffnung der Leiche: Massige Flüssigkeit im Herzbeutel,
frische Herzbeutelentzündung. Die rechte Lunge zeigte über dem oberen und mitt¬
leren Lappen frische Verwachsungen mit dem Brustfell. Im Brustfellraume
1 1 / 2 Liter Flüssigkeit. Oberer und mittlerer Lappen der Lunge verdichtet, vom
unteren Lappen ein kleinerStreifen. Der obereTheil blasser, mit grauem Schnitt.
Unterer Theil ödematüs und lufthaltig. Linke Seite der obere Theil verdichtet mit
rot hem Schnitte, der untere ödematüs, Leber gross und blutreich. Milz weich
und vergrössert.
3. Ein 60 Jahre alter, schwächlicher Mann fiel am 20. Februar 1892 über
ein Stück Eis auf der Strasse, mit der linken Seite auf eine Ecke des Pilasters.
Am anderen Morgen fühlte er sich krank, fröstelte und hatte Schmerzen in der
linken Seite. 24. Februar Aufnahme in das Hospital. Temperatur 38,5, Puls klein
und unregelmässig. Leber dem linken unteren Lappen Dämpfung, Bronchialath¬
men, Knistern. Leber den beiden unteren Lappen Rhonchi. Frischer Herpes auf
den Lippen. Herztöne schwach und unbestimmt. Herzschwäche veranlasste An¬
wendung von Stimularnien. 28. Besserung, Puls besser, Rhonchi verschwunden.
29. Temperatur 38,8, Puls 108, Respiration 44. 2. März Bronchialathmen und
feines Knistern unten. 7. Besserung, Flecken auf der rechten Brust klärte sich
auf, linke Lunge noch erkrankt. 14.: Patient befand sich wieder schwächer. Am
17. erschien ein Absccss in der Dammgegend. Patient genas. Am 4. April war
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UNIVERSUM OF IOWA
Leber den Zusammenhang zwischen Trauma und Tubcreulose. 37
haben, und welche diese von der infectiösen Lungenentzündung charakteristisch
unterscheiden. — Charakteristisch ist für solche Quetschungs-Lungenentzündun¬
gen, dass sie nur nach heftiger äusserer Verletzung, die allerdings ohne
Rippenbrüche geschehen kann, von der aber mehr weniger äussere Zeichen —
Blutunterlaufungen u.s.w. — Zurückbleiben — Pufferquetschung, Fall aus grosser
Höhe, Verschüttetwerden durch ein einfallendes Scheunendach — gesehen wurden.
Die Entzündung trat immer am ersten oder zweiten Tage nach derVerletzung
bereits charakteristisch in Erscheinung. Es war ferner immer die verletzte
Seite der Sitz der Lungenentzündung. Endlich zeigte der Schnitt durch
die Lunge bei der Oeffnung der Leiche eine rothe Färbung und nicht die graue
der eroupösen Lungenentzündung. Litten fand eine dunkel rothe Färbung des
Schnittes noch tief in der 2. Woche nach der Verletzung, auch ist die Milz
nicht geschwollen.
Aus diesem Grunde ist der 2. Fall Paterson’s nicht einwandsfrei als eine
einfache Quetschungs-Lungenentzündung. Der Schnitt durch die Lunge war grau
und nur an der unverletzten Seite zeigte die Spitze rothe Verfärbung. Ausserdem
war die Milz vergrössert. Daher spricht auch P. selbst einen Zweifel aus, ob der
Fall ein reiner sei.
Es ist ja nun möglich, und wird es sich oft ereignen, dass Jemand, welcher
vor kürzerer oder längerer Zeit eine Verletzung erlitten hat, auch an einer Lun¬
genentzündung erkrankt. Handelt es sich daher darum, in einem solchen Falle
er schon mehrere Tage ausser Bett. Die Dämpfung links unten blieb noch eine
Zeit lang bestehen, an einzelnen Stellen war noch Bronchialathmen und Knistern
namentlich in den unteren Partieen. Temperatur seit, einiger Zeit normal.
4. Ein 38jähriger Kutscher stand am 11. Mai 1892 vor dem Geschirr. Die
Deichselstange löste sich und die Deichsel stiess nach vorn und traf den Kutscher
mit Macht gegen die linke Seite der Brust. Der Betroffene arbeitete bis Abend
weiter, fühlte dann Frösteln, in der linken Seite Schmerzen. Am 13. blutiger
Auswurf. 18. Aufnahme in das Spital. Starke Dämpfung links unten, Reibege¬
räusche und Knistern. Später weniger starke Dämpfung, aber Bronchialathmen.
Schmerzen über der 8. Rippe, welche aber nicht gebrochen war. Der Mann bessert
sich, die Dämpfung hellte sich auf und am 31. konnte er gesund entlassen
werden.
5. Ein 35jähriger Mann ward am 1. Juni 1892 in das Hospital aufgenommen.
Derselbe hatte etwa eine Woche früher in einer Kiesgrube gegraben und ward von
fallendem Boden zur Erde geschleudert und an der rechten Seite gequetscht. Er
hörte auf zu arbeiten und blieb zu Hause. Am 4. Tage ward der Schmerz grösser
und der Mann fröstelte. Von dieser Zeit an musste er das Bett hüten und fühlte
sich sehr krank. Er hatte beim Athmen sehr starke Schmerzen. Abends Fieber¬
phantasien, Dämpfung über der ganzen rechten Brust mit Ausnahme der Spitze.
In den nächsten Tagen schritt die Dämpfung über die Spitze fort. 5. Juni Zeichen
von Aussetzen des Herzens, Lungenödem. 6. Juni Tod. Obduction ergab rothe
Hepatisation. Viel Flüssigkeit in dem Brustfellraume. An der Basis der Lunge
einige frische Verlöthungen mit dem Rippenfell. Sonst war kein Zeichen von Ver¬
letzung da. Die Rippen zeigten sich gesund.
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38
Dr. Glider,
den Zusammenhang der Verletzung mit der Erkrankung resp. dem erfolgten Tode
zu bescheinigen, so wird es nicht, genügen einfach zu schreiben, dass
die Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit vorliege, dass der Tod mü¬
dem Unfälle Zusammenhänge, sondern es müssen die Gründe, die
aus der Beobachtung und der Leichenöffnung dafür sprechen, an¬
geführt werden.“
Büchner 1 ) hat einen forensischen Fall aus dem Jahre 1867 mitgetheilt:
Der Hülfslehrer G. hat den 8 Jahre alten E. J. am 28. November, indem er seinen
Kopf niederdrückte, 3—4mal mit einem Stückchen auf den Rücken geschlagen. J.
ging noch am 28. und 29. November in die Schule, erkrankte aber am 30. No¬
vember an einer Lungenentzündung. Der behandelnde Arzt erklärt, die Lungen¬
entzündung rühre von den Schlägen her. Er habe am 30. November den J. im
Bette gefunden, dieser habe Blut ausgehustet und über stechende Schmerzen in
der linken oberen Brusthälftc und unter dem linken Schulterblatt geklagt. Der
Junge war auf der linken Seite des Rückens ziemlich erkennbar geschwollen ohne
Entfärbung der Haut. Mit 21 Tagen sei der Knabe wieder genesen. Zur Zeit der
Erkrankung des E. J. hätten Brustentzündungskrankheiten nicht geherrscht und
er, der behandelnde Arzt, sei daher der festen Ueberzeugung, dass durch die er¬
haltenen Schläge sogleich eine Erschütterung des linken Brustkorbes mit der
Lunge und dem Brustfelle und eine Blutstauung zunächst in den Capillaren des
Lungengewebes erfolgte, wodurch die freie Circulation des Blutes durch den lin¬
ken Lungenflügel eine Hemmung erlitten habe. In Folge dieser Blutstauung und
des Reizes durch die Schläge habe sich die Entzündung um so rascher entwickelt,
als der Knabe E. J. plethorischer Constitution und von sensibler Nervenbeschaf-
fenheit sei. — Dr.M. stellt den ursächlichen Zusammenhang zwischen den Schlä¬
gen und der Lungenentzündung in Abrede und erklärt sie für eine genuine, nicht
aber als eine traumatische.
Das Obergutachten des Königl. Mcdicinalcomites vom 31. Juli lautet: Es ist
nicht anzunehmen, dass die bei J. am 30. November aufgetretene Lungenentzün¬
dung in ursächlichem Zusammenhang stehe mit den Schlägen, die er am 28. No¬
vember in der Schule erhalten. Begründung: Lungenentzündungen entstehen mei¬
stens in Folge von Verkältung. Es ist nicht nachgewiesen, dass die Lungenent¬
zündung des J. nicht auch in Folge von Yerkältung eingetreten sei. Zu einer
Yerkältung war aber Ende November um so mehr Gelegenheit gegeben . . . Lun¬
genentzündung entsteht zwar auch in Folge äusserer Gewalteinwirkungen, wenn
durch solche die Lunge selbst verletzt wird oder benachbarte Theile so beschädigt
werden, dass sie verletzend auf die Lunge einwirken, z. B. bei Rippenbrüchen.
Im gegebenen Fall ist nicht bewiesen, dass eine solche Verletzung der Lunge
durch die Gewalteinwirkung unmittelbar oder durch Beschädigung benachbarter
Theile stattgefunden habe.
Die linksseitige Geschwulst sei, da sie keine Verfärbung der Haut zeige, mit
den Schlägen nicht in Zusammenhang zu bringen. Wenn aber auch ein solcher
bestehen sollte, so wäre damit noch nicht bewiesen, dass eine solche Beschädi-
l ) Friedreich’s Blätter für gerichtliche Medicin. 1867. S. 230. Lungenent
Zündung entstanden durch Schläge auf den Rücken?
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Feber den Zusammenhang zwischen Trauma und Tubcmilosc.
30
gung der benachbarten Tlieilc slattgefunden, dass dadurch eine Verletzung der
Lunge bezw. eine Lungenentzündung bewirkt werden musste. Es sind überhaupt
nach den Schlägen keine solchen Erscheinungen bei dem J. aufgetreten, die auf
eine Verletzung der Lungen hindcuten würden, oder auf eine Beschädigung der
benachbarten Theile, die geeignet gewesen wäre, eine Lungenentzündung hervor¬
zurufen. J. ist noch am 28. und 20. November in die Schule gegangen. Nach
alledem ist der oben gegebene Ausspruch gerechtfertigt.
Im Jahre 1876 vermochte dann Maschka 1 ) einen hierher gehörigen foren¬
sischen Fall zu publicircn.
„Der 51 Jahr alte J. F. wurde von lt. geschlagen, niedergeworfen und mit
Füssen getreten; wie lange er misshandelt würfle, vermochte er wegen bald ein¬
getretenen Verlustes des Bewusstseins nicht anzugeben. Hieran schloss sich nach
Aussage des Experten eine Lungenentzündung, die sich F. bei 6 Stunden langem
Liegen am Wahlplatze durch Erkältung zugezogen habe; sie sei also eine mit¬
telbare Folge der Verletzung, wozu F. auch noch durch ein Emphysem disponirt
gewesen sei. Die Beschädigungen — es bestanden ausserdem diverse Schwellun¬
gen, Abschürfungen und Hautwunden, Verlust eines Schneidezahnes — bilden in
ihrer Gesammtwirkung eine lebensgefährliche schwere Verletzung, die zur Heilung
über 20 Tage gebraucht haben würde.
Circa 17 Tage nach der Verletzung starb F. Bei der Obduction fand sich im
Wesentlichen an der rechten Seite von der Achselhöhle an eine bis zur 7. Rippe
herabreichende, flaehhandbreito Sugillation; beide Lungenflügel waren an den
Rändern erweitert, rechts der mittlere und obere Lappen untereinander und in
einer Ausdehnung von Handtellergrösse mit dem Brustkörbe verwachsen; in bei¬
den Brustfellsäckcn befand sich eine ansehnliche Menge schmutzigen Serums.
Entsprechend der Verwachsungsstelle zeigte sich am rechten Mittellappen eine
faustgrosse Abseesshöhle mit schmutzig grauem Eiter und necrotischem Gewebe
erfüllt, hinter derselben ein zweiter kleiner Abscess; in der Umgebung derselben
Hepatisation. Der linke Unterlappon war compact, schwer, luftleer, braunroth
hepatisirt. Rechterseits erschienen sämmtlichc Rippen von der 2. bis zur 8. in
der Mitte der rechten Thoraxseite gebrochen, und zwar an gleicher Stelle und fast
in gleicher Linie von oben nach abwärts. Die Bruchflächen zeigten mit Ausnahme
der 3. Rippe weder Zeichen eines Blutergusses noch in der Umgebung eine Cal-
lusbildung. Nur die Bruchflächen der 3. Rippe waren mit Eiter bedeckt, die Lunge
an dieser Stelle war, wie erwähnt, mit dem Brustfell verwachsen. Der übrige
Fund bot nichts Erwähnenswcrthes dar.
Die Experten gaben ihr Gutachten im Wesentlichen dahin ab, dass F. mit
Lungenemphysem behaftet war und an Lungenentzündung des rechten mittleren
und linken unteren Lappens gestorben sei. Der Bluterguss am rechten Thorax
spreche dafür, dass er einen Fusstritt erhalten habe, oder gegen einen harten
Körper geschleudert sei; durch die Erschütterung des Thorax sei die Lun¬
genentzündung entstanden; die Brüche der 7 Rippen seien erst nach dem Tode
*) Maschka, Misshandlung mit nachfolgender tödtlichcr Lungenentzün¬
dung. Nachweis ursächlichen Zusammenhanges. Prager medicinisehe Wochen¬
schrift. 1876. Nach Koch citirt.
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I>r. G u <1c r,
erfolgt, da keine Reactionserscheinungen und keine Uallu>bildung gefunden
wurde.
Das Unheil der Faculiät weist diese Anschauung zurück. . . . „Der Mangel
eines Blutaustrittes und von Callusbildung an den übrigen Bruchstellen habe an
sich nichts Auffallendes, da seit der Verletzung schon 18 Tage verflossen waren
und bei Fractur der stets bewegten Rippen Callusbildung zuweilen oft spät be¬
merkt wird. Uebrigcns sei bei der Ausdehnung des Lungenabscesses zweifelhaft,
ob in der Thal nur an der 3. Kippe Reactionserscheinungen bestanden haben. Es
sei anzunehmen, dass die Kippenbrüche während des Lebens zugefügt
wurden und eine eitrige zum Tode führende Lungen Verletzung zur
Folge hatten. Die Verletzung war demnach eine tödtliche und unter Zurückwei¬
sung von durch das Emphysem bedingter Disposition als solche zu betrachten,
welche den Tod ihrer allgemeinen Natur nach herbeigeführt habe.“
Kuby 1 ) hat im Jahre 1880 2 Fälle veröffentlicht. Der erste: „Tod durch
Lungenentzündung nach gewaltsamer Einwirkung auf die Brust, mit Obergut¬
achten des Medicinalcomites“ betraf einen 70 Jahre alten Tagelöhner, der am
21. October 1878 eine starke Gewalteinwirkung auf die Brust erlitt, er glaubte, es
sei ihm ein Stein an die Brust geworfen worden. Er hatte eine schlechte Nacht,
heftige Schmerzen auf der Brust und konnte vor Schmerz kaum schnaufen und
reden. Er liess sich Blutegel ansetzen. Am 3. Tage machte er dem Arzte nicht
den Eindruck eines schwerkranken Mannes, er klagte über Kurzathmigkeit. Am
25. October fand der Arzt alle Zeichen der Lungenentzündung, die sich am
20. October verschlechterte und der er am 27. October erlag. Einen Itippenbruch
hat der Arzt nicht bemerkt. Am 30. October Beerdigung der Leiche, am 5. No¬
vember Ohduction.
Unterhalb des rechten Schlüsselbeines ist die Haut in der Ausdehnung von
t! cm Länge und ebenso viel Breite dunkel unterlaufen. An dieser Stelle findet
sich etwas freies Blut unter der Haut. — Nach Abhebung der vorderen Brustwand
findet sich blutige Unterlaufung des Rippenfelles in der Ausdehnung einer Man¬
nesfaust, deren Mittelpunkt die 2. Rippe bildet, an ihrem Ansatz an das Brust¬
bein. Die 3. Kippe ist 3 cm von der Knorpelverbindung quer gebrochen. Die
Bruchenden haben das Rippenfell nicht durchbohrt. Der Ueberzug der rechten
Lunge zeigt keine Verletzung, auch nicht in der Gegend des Kippenbruches. In
der rechten Brusthöhle keine Flüssigkeit. Nach der Herausnahme der Lunge findet
man die 2. Rippe an ihrer grössten Curvatur entzwei gebrochen, ohne dass das
Rippenfell an dieser Stelle verletzt wäre; nur eine leichte, aber scharf begrenzte
Blutunterlaufung bezeichnet äusserlich, d.h. auf der Pleura der Kippen, die Stelle
des Bruches. Der untere Lappen der rechten Lunge ist mit dem Brustfelle fest
verwachsen, und kann nur mit dem Messer getrennt werden.
Die oberen Particen sind lufthaltig, ohne Knoten, grau marmorirt, während
der untere und mittlere Lappen tief braunroth gefärbt ist. Das Gewebe enthält
viele schaumige, röthliche Flüssigkeit, ist derb anzufühlen, knistert etwas beim
Einschneiden; einzelne Stücke sinken im Wasser nicht auf den Boden, sondern
auf das Niveau des Wassers.
Friedreiclrs Blätter für gerichtliche Medicin. 1880. S. 81.
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lieber <leu Zusammenhang zwischen Trauma und Tuherculose.
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In dem linken Brustfellsack finden sich 2 Esslöffel voll rahmiger Flüssigkeit.
Das Rippenfell ist etwas getrübt, nicht glänzend.
Die linke Lunge ist massig, schwer; röthlich gelb gefärbt, wie Leber, nicht
marmorirt; nur dio oberste Spitze dieser Lunge enthält noch etwas Luft, während
das ganze übrige Lungengewebe fahl und derb anzufühlen ist, nicht knistert, und
auf seinem Durchschnitte aussieht, wie das Gewebe der Leber. Stücke dieser hepa-
tisirten Lunge, in's Wasser geworfen, sinken sofort und rasch auf den Boden des
Gefassos. Diese Hepatisation umfasst die beiden Lungenlappen total und lässt
nur die Lungenspitze frei.
Das Hauptsächlichste des Sectionsbefundes besteht in blutiger Unterlaufung
der Haut unterhalb des rechten Schlüsselbeines, blutiger Infiltration der Brust-
musculatur an jener Stelle. Dazu kommen die Brüche der 2. und 3. Rippe rcch-
terseits, ohne Verletzung des Rippen brustfeiles und der Lunge; keine Entzün¬
dung im rechten Brustfellsack, denn die derben Adhäsionen sind alten Datums;
beginnende Entzündung der rechten Lunge (engouement); endlich totale und fort¬
geschrittene Entzündung der linken Lunge (rothc Hepatisation) mit Entzündung
der Auskleidungen der linken Brusthöhle.
Summarisches Gutachten: Causalnexus zwischen Verletzung und erfolgtem
Tode unwahrscheinlich.
Nach Mittheilung der Acten aber lautete das Schluss-Gutachten anders,
nämlich:
1. Der Tod des St. erfolgte durch Entzündung der Lungen.
2. Die Lungenentzündung wurde veranlasst durch die am 21. Ort ober er¬
littene schwere Gewalteinwirkung auf den Brustkorb.
3. Die beiden Rippenbrüche hätten voraussichtlich an und für sich ohne
Erschütterung der Lungen nur eine Krankheitsdauer von 30 Tagen be¬
wirkt und Folgezustände gemäss § 224 des Strafgesetzbuchs nicht nach
sich gezogen.
4. Die verzögerte Inanspruchnahme ärztlicher Hülfe und der Umstand,
dass das Vorhandensein der Rippenbrüche dem behandelnden Arzte ent¬
ging, war ohne Einfluss auf den Verlauf der Krankheit.
5. Es steht physikalisch der Annahme nichts entgegen, dass diese Gewalt¬
einwirkung durch Werfen mit einem schweren Stein erfolgt ist.
G. Die vorgezeigte Stange mit und ohne Querbrett ist zur Veranlassung
der Verletzung geeignet.
Begründung ad 1—3. Der bis dahin vollständig gesunde M. St. — die Ver¬
wachsung des rechten unteren Lungenlappens und der von Dr. D. früher behan¬
delte Lungenkatarrh sind zu unbedeutende Erscheinungen, als dass sie als eine
erhebliche und dauernde Gesundheitsstörung angesehen werden könnten — klagte
unmittelbar nach der Verletzung über äusserst heftige Beschwerden; diese Be¬
schwerden steigerten sich von Tag zu Tag, bis der Verletzte starb.
Das provisorische Gutachten, welches einen Causalnexus zwischen Verletzung
und Lungenentzündung als unwahrscheinlich bezeichnete, entsprang der An¬
schauung, dass wenn die Lungenentzündung durch eine Verletzung entstanden
wäre, sie zunächst die direct getroffene, also die rechte Lunge hätte befallen
müssen; ich nahm an, dass der Wurf oder Stoss, nachdem er die natürliche Elasti-
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1 >r. G ii <1 e v ,
ciiät der direct geholfenen Kippen überwunden und zwei Rippen zum Brechen ge¬
bracht haue, so abgescliwächt wäre, dass er seine erschütternde Wirkung nicht in
solchem Maasse auf die entgegengesetzte Brustseile fortsetzen könne, um daselbst
eine Entzündung zu veranlassen, indem das Brustbein vorne und die Wirbelsäule
hinten, das Knochengerüste, welches die Brusteingeweide umschliesst, in so präg¬
nanter Weise in zwei gleiche korbartige Hälften iheilt, dass eine von einer Seite
kommende gewaltsame Einwirkung ihren ganzen Effect indirect auf die elastische
Formation der anderen Seite nicht übertragen könne.
Ich wusste damals nicht, dass St. unmittelbar nach der erlittenen Verletzung
grosse Atheinnolh klagte, und wusste ferner nicht, dass jeder Anlass zur Erwer¬
bung einer genuinen Lungenentzündung fehlte. Nachdem dieses Alles jetzt acten-
mässig consfatirt ist, bin ich zu der Annahme gedrängt, dass die Verletzung die
einzige Veranlassung zur Lungenentzündung abgab, und versuche diese An¬
schauung im Folgenden zu erklären:
Die directe Gewalteinwirkung zerkrach die 2. und 3. rechte Rippe, diese
Verletzung allein hätte in 30 Tagen zur vollständigen Heilung gelangen können,
ohne schwere Folgen im Sinne des § 224 zu hinterlassen; sie setzte sich aber
auch auf die Brustorgane der linken Seite fort, indem sie das Gewebe der linken
Lunge in hohem Grade erschütterte, vielleicht auch den Brusttheil des Nervus
vagus der linken Seite in seinen Verzweigungen durch Erschütterung in Mitleiden¬
schaft zog. Die Folge war Athemnoth, Unterbrechung der chemischen Thätigkeit
des Athmungsprocesscs, Stagnation des Blutes in der betroffenen Lunge und Ent¬
zündung derselben. Der Zustand der rothon Hepatisation der linken Lunge ent¬
spricht der Zeit, welche zwischen dem Tage der Verlet zung und dem eingetretenen
Tode liegt. Die beginnende Entzündung in dem unteren rechten Lungenlappen
ist späteren Datums, sie stellt erst im Stadium des Engonement, und dürfte daraus
zu erklären sein, dass die rechte Lunge für die linke functioniren und den ganzen
Blutstrom aufnehmen musste, nachdem die linke fast ganz ausser Thätigkeit ge¬
setzt war; sie konnte diese Aufgabe um so weniger bewältigen, als durch die
Rippenbrüche die respiratorische Thätigkeit des Brustkorbes ganz erheblich beein¬
trächtigt war und verfiel ebenfalls dem Stauungsprocess.
Ad 4. Die Behandlung des Arztes war auf Bekämpfung der Lungenentzün¬
dung gerichtet; die übersehenen Rippenbrüche haben den Lungen keinen directen
Schaden zugefügt, denn sie befinden sich auf der Seile der erst secundär er¬
krankten Lunge; und die Bruchenden haben das Rippenfell nicht durchbohrt,
konnten also die Lunge nicht direct verletzen. Die Erkenntniss des ätiologischen
Momentes der Lungenentzündung, ob traumatisch durch Erschütterung, oder ob
genuin, hätte wohl auf die Behandlung einen wesentlichen Einfluss nicht ausge¬
übt, wenigstens nicht in der Richtung des Erfolges.
Ad 5 und 6 dürfte einer besonderen Begründung nicht bedürfen, nachdem
in der Literatur zahlreiche x ) Fälle verzeichnet sind, in welchen Lungenentzün¬
dungen in Folge äusserer Gewalteinwirkung entstanden, selbst ohne Brüche der
*) Das Gutachten stammt aus dem Jahre 1878. Da Kuby die Literatur
nicht eitirt, so müssen wir hier nur darauf hinweisen, dass uns so zahlreiche Fälle
nicht zugänglich waren.
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Uebcr den Zusammenhang zwischen Trauma und Tuberrulnse.
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Rippen und ohne Zusammenhangslrennung des Lungengewebes, sondern lediglich
durch Erschütterung der Brust und ihrer Organe.
Da sich die Anschauungen des behandelnden Arztes und die des amtlichen
Arztes widersprachen, so wurde am 22. Mai 1879 ein Obergutachten des König).
Medicinalcomites in M. abgegeben:
Der am 27.0ctober 1878 eingetretene Tod war zweifellos durch die erlittene
Verletzung verursacht worden.
Wir erklären diese Behauptung wie folgt: M. St. war vor der bewussten
Verletzung ganz gesund, war auch überhaupt nie mit ernsten Leiden behaftet ge¬
wesen; die auf der rechten Seite gefundene pleuritische Verwachsung ist als ein
ganz abgelaufener Process zu betrachten. Am 21. October bekam er einen sehr
heftigen Stoss auf die rechte Brust, klagte sofort über grosse Athemnoth und viel
Schmerz, legte sich zu Bett und starb am 6. Tage nach erlittener Verletzung. Die
Obduction constatirte Blutunterlaufungen an der rechten Thoraxseite in grossem
Umfange, 2Rippenbrüche auf derselben Seite, ausgebildete Lungenentzündung auf
der linken, beginnende auf der rechten Seite. Der Tod war also durch Lungen-
entzünduug herbeigeführt worden ’).
Wäre bei der Section die rechte Lunge so hepatisirt und impermeabel ge¬
funden worden, wie man dies auf der linken sah, so hätte bei diesem raschen
Krankheitsverlauf wohl nie die geringste Meinungsverschiedenheit Platz gegriffen,
da aber die Lunge auf der Seite der Verletzung weniger erkrankt war, als die
linke, der Verletzung entgegengesetzten Seite, so glaubte man, dass dies den ur¬
sächlichen Zusammenhang von Stoss und tödtlicher Erkrankung bezweifeln lasse.
Allein dieser scheinbare Widerspruch ist längst physikalisch aufgeklärt wor¬
den, und alle Entzündungen und Erkrankungen am menschlichen Körper, welche
durch Commotion entstehen, verlaufen fast ausnahmslos nach diesem Gesetze. Wir
möchten z. B. anführen, dass ein hoher Sprung auf die Fusssohlen durch Com¬
motion viel leichter eine Hirnentzündung, als eine Fusserkrankung bringt, dass
ein Fall auf den Scheitel des Kopfes durch Commotion sehr oft an der Basis cranii
eine grössere Zerstörung bewirkt, als an jenen, dem Scheitelbein zunächst liegen¬
den Hirntheilen. Ebenso ist es nun auch bei Commotionen der Brust nicht selten,
dass die entzündliche Reaction auf der, der Verletzung entgegengesetzten Seite
zuerst eintritt. Man sieht traumatische Entzündung einer Lunge sogar nach Er¬
schütterungen entstehen, welche noch auf weiter entfernten Punkten auftreten,
z. B. auf Commotion des Gesichtes.
Die Erfahrung über derartige Fortpflanzung des Stosses ist eine so reiche,
dass für uns der Zusammenhang von Verletzung und Tod im vorliegenden Falle
ein ganz zweifelloser ist, zumal als für das plötzliche Auftreten des Schmer¬
zes, der Athemnoth und der unmittelbar darauf folgenden tödtlichen Erkrankung
überhaupt jeder andere Anhaltspunkt gänzlich fehlt.
Der Beschuldigte wurde durch das Schwurgericht wegen Körperverletzung
unter mildernden Umständen zu einer halbjährigen Gefängnissstrafe verurtheilt.
Der zweite Fall Kuby’s: „Tod durch Lungenentzündung in Folge gcwalt-
') Anmerkung im Original. Man vergleiche Friedrcich’s Blätter. 18G7.
S. 230 ff.
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l)r. G u d er,
sanier Einwirkung-auf den Brustkorb 44 betraf einen uOjährigen, bis dahin gesunden
Dienstknecht Matthias M., der am 20. August 1870 gegen eine scharfkantige Planke
geworfen wurde, so dass er mit seinem ganzen Körpergewichte und seiner linken
Seite auf die Kante eines Grabengeländers auffiel, worauf er unmittelbar sehr hef¬
tige Schmerzen in der linken Brustseite fiildte und sich niederlegen musste: nach
etwa */ 2 Stunde konnte er aber seinen Weg nach Hause (3 km) allein und ohne
Enterstützung fortsetzen und zurücklegen. Er wurde im Schlaf durch Schmerzen
geweckt und war am anderen Morgen nicht im Stande das Bett zu verlassen.
Am 27. August Abends 4 Uhr findet der Arzt — äussere Verletzungen sind
nicht wahrnehmbar — den Kranken unbeweglich auf dem Rücken liegend und mit
grosser Anstrengung athmend; sein Gesicht ist gerüthet, etwas bläulich, der Ge¬
sichtsausdruck ängstlich, die Augen stier an die Decke gerichtet, der Mund halb
offen, die Zunge trocken mit dünnem Belage. Die Halsmuskeln sind gespannt und
springen deutlich vor, der Brustkorb hebt sich nur wenig, trotz der häufigen
Athemzüge, indem die Athembewegungen mehr schiebend in der Längsrichtung
des Körpers erfolgen. Die Hauttemperatur ist erhöht, die Haut schweissig; der
Puls voll, macht 108 Schläge in der Minute. Die linke Seite des Brustkorbes ist
von den Rippenknorpeln an abgeflacht, bei Berührung sehr empfindlich; die
Schmerzen steigern sich bei jedem Athemzüge oder Hustenstosse, so zwar, dass
der Kranke selbst verweigert zu trinken, um nicht husten zu müssen. Der Herz-
stoss ist 3 Finger breit unter der linken Brustwarze deutlich zu sehen und zu
fühlen. Ungefähr 4 cm nach aussen von der linken Brustwarze findet sich je ein
Querbruch der 3. und 4. Rippe; an den folgenden Rippen können, da der Kranke
wegen zu grosser Schmerzhaftigkeit bei jeder Bewegung nicht genau untersucht
werden kann, Brüche oder Einknickungen zwar nicht mit Bestimmtheit nachge¬
wiesen, jedoch schon aus der vorhandenen, bereits erwähnten Abflachung der
Brustseite vermuthet werden. Die Percussion der vorderen Brustwand ergiebt
überall tympanitischen Ton; dieAuscultation überall grossblasige Rasselgeräusche,
welche sich bis in die Luftröhre erstrecken, in den unteren Lungenpartieen ist
beiderseits Bronchialathmen. Blut wurde nicht ausgeworfen, Auswurf fehlt
gänzlich.
28. August. Die Nacht leidlich, Kranker fühlt sich besser, geringere Athem-
noth, Rasselgeräusche weniger stark, Auswurf fehlt. Puls 90.
29. August. Unruhige Nacht. Respirationsverhältnisse wie gestern. Puls 96,
doppelschlägig.
30. August. Rasseln und Athemnoth geringer. Puls 80, unrythmisch. Un¬
ruhige Nacht, Delirien, Fluchtversuche. Ilauttemperatur sehr hoch, Dyspnoe,
Rasseln zunehmend. Tod Abends 11 Uhr.
Obduction am 1. September: Mitten auf dem Brustbein die Haut in der
Grösse einer Mannesfaust grünlich verfärbt, ausserdem keine sichtbare Verletzung.
Die linke Brustseite ist bei Druck nachgiebig. Bei der Entfernung der Weich-
tlieile an der beschriebenen Stelle etwas ausgetretenes schwärzliches Blut; ebenso
ist an der Aussenseite der linken Hälfte des Brustkorbes die Musculatur an der
3.-5. Rippe mit ausgetretenem Blut durchsetzt.
Nach der Entfernung des Brustbeines mit den Rippenknorpeln findet sich
unter dem Rippenfell des Brustbeines an der 1.—4. Rippe ebenfalls etwas freies
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lieber den Zusammenhang zwischen Trauma und Tuberculoso.
45
Blut. — Die ganze linke Brustseite ist sehr beweglich, die 3. Rippe ist 5 cm, die
4. Rippe 7 cm, vom Knorpelansatz entfernt quer und die letztere weitere 7 cm
vom 1. Bruch noch einmal quer gebrochen, die 5. Rippe ist 9 cm, die 6. Rippe
13 cm und die 7. Rippe 16 cm vom Knorpelansatz abgebrochen. — Die scharfen
Ränder des Bruchstückes der 4. Rippe haben das Rippenfell durchbohrt, und es
findet sich in der linken Brusthöhle etwa ein halber Kaffeelöffel voll dicklichen,
schwärzlichen Blutes; seitlich und hinter dieser Bruchstelle Verwachsungen von
Brust- und Rippenfell, welche jedoch mit der Fingerspitze leicht getrennt werden
können. In der rechten Brusthöhle finden sich derbe Verwachsungen zwischen
Brust- und Rippenfell.
Die linke Lunge ist in ihrem Ueberzugo durchweg und gleichmässig röthlich
schwarz gefärbt; nach ihrer Herausnahme zeigt sich das ganze Rippenfell der
linken Seite blutunterlaufen. Der untere Lappen der linken Lunge derb anzu¬
fühlen, das Gewebe knistert sehr wenig beim Einschneiden; auf der Schnittfläche
schwarzrothe Färbung; einzelne abgeschnittene Stückchen der Lunge sinken, in\s
Wasser geworfen, sofort unter bis auf den Boden des Gefässes. Der obere Lappen
ist mehr grau gefärbt, etwas marmorirt, zusammengefallen, knistert beim Ein¬
schneiden; und es wird bei Druck eine grosse Menge schaumig wässrige, iirs
Röth^phe spielende Flüssigkeit entleert. — Zerrcissungen oder Zusammenhangs¬
trennungen können im Ueberzuge der linken Lunge nicht aufgefunden werden. —
Die Auskleidungen der grossen Luftröhrenäste sind tiefroth gefärbt; aus letzteren
quillt reichlich schaumig-röthliche Flüssigkeit.
Die rechte Lunge fühlt sich in ihrem unteren Lappen ebenfalls derb an und
ist in ihrem Gewebe tiefroth gefärbt, aber nicht so intensiv wie linkerseits. Ein¬
zelne abgeschnittene Stückchen sinken im Wasser unter das Niveau, aber nicht
bis auf den Boden des Gefässes. Der obere Lappen ist lufthaltig, knistert beim
Einschneiden, ist auf seinen Durchschnitten nüissig geröthet und schwimmt, in
das Wasser geworfen.
M. M. starb an Lungenentzündung (Pneumonie) in Folge von Rippenbrüchen
und Contusion der Lunge, veranlasst durch das am 26. August 1877 erlittene ge¬
waltsame Hingeworfenwerden an eine scharfkantige Planke.
Die Begründung dürfte durch den geschilderten Hergang sowie den äusserst
acuten Krankheitsverlauf und den Sectionsbefund gegeben sein.
Der Thäter wurde unter Annahme mildernder Umstände zu 10 Monaten Oe-
fängniss verurtheilt.
Sokolowsky 1 ) hält seinen Fall sowohl in gerichtlich-medicinischer wie in
ätiologischer Hinsicht für interessant. „Es wurde durch gerichtliche Untersuchung
*) Sokolowsky, Kann ein äusseres Körpenrauina zur Pneumonie führen.
Berliner klinische Wochenschrift. 1889. S. 860.
Der 14jährige Junge K. wurde am 1. November 1886 im bewusstlosen Zu¬
stand in’s Krankenhaus gebracht. Nach Aussage der Mutter wurde er vor 2 Tagen
durch 2 ältere Jungen stark auf den Kopf und die Brust geschlagen. Soll danach
das Bewusstsein verloren haben, kam allein nach Hause zurück und klagte über
Kopfschmerzen, besonders in der Gegend des rechten Ohres. An demselben Tage
erbrach er einige Male, am nächsten Tage verschlimmerte sich sein Zustand, er
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Dr. Guder,
nachgewiesen, dass der Kranke von einem hohen Wagen gefallen war und dabei
am Kopf und wahrscheinlich auch am Körper stark verletzt wurde. Ein ätiolo¬
gisches Moment ist also vorhanden in Form eines starken Traumas; an demselben
Tage erbrach der Kranke einige Male, wobei das Bewusstsein noch vorhanden war;
das Erbrechen wiederholte sich zu Hause und im Krankenhause während der ersten
konnte nicht aufstehen, begann zu deliriren, verlor das Bewusstsein und wurde
in diesem Zustande in’s Krankenhaus befördert. Die Untersuchung ergab Folgen¬
des: Mittelmässig genährter Junge liegt fast ganz ohne Bewusstsein und delirirt
laut von Zeit zu Zeit. An den Kopf- und Körperbedeckungen sind keine äusseren
Läsionen wahrnehmbar. Temperatur 39°. Puls 120. In den inneren Organen
keine Veränderung. In Hinsicht auf die anamnestischen Daten diagnosticirte S.
eine acute Hirnhautreizung und stellte später Meningitis acuta in Sicht. Dem
Kranken wurden Blutegel und starke Abführungen auf den Darmkanal verordnet.
Den ganzen Tag dauerte die Bewusstlosigkeit und die Delirien; alle Nahrung und
Arzeneicn wurden erbrochen. Am nächsten Tage war die Temperatur 38°, der
Puls 120. Bewusstlosigkeit, Erbrechen dauerten weiter, Pupillen reagirten normal.
Abends Temperatur 39,8°.
Am 19. November, dem 3. Krankheitstage, Temporatur 39,2°, Puls 12d? Das
Bewusstsein kehrt allmälig zurück, der Kranke klagt über starken Schmerz am
Kopf und an der vorderen Brustseite. Abends Temperatur 40°. Abends und
Nachts hustete der Kranke sehr trocken.
Am 20. November ist der Kranke halb bei Sinnen und giebt sehr starke
Schmerzen in der Gegend des rechten Warzenfortsatzes an. Auf Druck ist diese
Gegend sehr schmerzhaft. Der Thorax wurde wegen des trockenen Hustens unter¬
sucht und in der rechten supraspinalen Gegend ein matter Percussionsschall, bron¬
chiales Athmen, Bronchopneumonie und zahlreiche kleinblasigo feuchte Rasselge¬
räusche vorgefunden, die auf acute Entzündung der rechten Lungenspitze im Sta¬
dium der Hepatisation zu schliessen bevollmächtigten. Auswurf nicht vorhanden.
Die übrigen Lungenpartieen waren normal. Abends Temperatur 40°.
21. November. Der Kranke ist vollkommen bei Sinnen. Temperatur 38,8°.
In der rechten supraspinalen Gegend dieselben physikalischen Erscheinungen wie
gestern. Unter dem rechten Schlüsselbein sind ausserdem trockene Rasselge¬
räusche und fast undeterminirtes Athmen hörbar. Der Kranke wirft nichts aus.
Abends Temperatur 38,2°.
Am 22. November Morgens 38,2\ Nachts delirirte der Kranke stark; in der
rechten Lungenspitze sind vorn und hinten Bronchialathmen und feuchte Rassel¬
geräusche hörbar. Im schleimigen Auswurf, den der Kranke heute in geringer
Menge ausgehustet hat, wurden mikroskopisch Fibrin und schleimig eitrige Zellen
festgestellt. Auch Friedländer’sche sogenannte Pneumoniediplokokken wurden ge¬
funden. Die Diagnose auf fibrinöse Lungenentzündung in der rechten Spitze
wurde damit bewiesen. Abends delirirte der Kranke noch etwas, obgleich kein
Fieber mehr bestand. Am nächsten Tage erlosch das Fieber vollkommen. Die
physikalischen Erscheinungen schwanden eine nach der anderen.
Am 25. November, am 12. Tage nach seiner Ankunft im Krankenhause,
konnte der Kranke in sehr gutem Zustande aus der Cur entlassen werden; bis zu-
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Ueber den Zusammenhang zwischon Trauma und Tuberculose.
47
Tage, dann erst wurde Patient bewusstlos, apathisch und delirirte. Nachdem er
das Bewusstsein wiedergewonnen, klagte er über Kopfschmerzen und die rechte
Warzengegend war auf Druck sehr empfindlich. Diese Symptome können als Ge¬
hirnerschütterung eventuell als Hyperämie der Gehirnhäute in Folge eines starken
Schlages gedeutet werden. Der Mangel äusserer Läsion spricht durchaus nicht
gegen diese Aussage, da uns aus der Klinik sehr gefährliche Gehirnerschütte¬
rungen, selbst Schädelfracturen und intracranielle Hämorrhagieen nach bedeuten¬
den Traumen ohne die geringste Spur äusserer Läsionen wohl bekannt sind.
Die 2. Frage, ob die im Krankenhaus ablaufende Lungenentzündung vom
Trauma abhängig war, kann folgendermassen beantwortet werden: Die physika¬
lischen Symptome, der Verlauf und die Untersuchung des Auswurfes beweisen,
dass der Krankheitsprocess eine acute sogenannte fibrinöse Pneumonie der rechten
Lungenspitze gewesen ist. Diese Localisation ist zwar selten, kommt jedoch vor
und entspricht gerade jener Gegend, wo der Kranke geschlagen wurde und wo
noch bis zuletzt bei Druck bedeutende Empfindlichkeit bestand. — Die physika¬
lischen Erscheinungen wurden erst am 4. Tage des Aufenthaltes im Hospital
wahrnehmbar, sie bestanden in Bronchialathmen und feuchten Rasselgeräuschen.
Der Process währte jedoch zweifellos viel länger und entwickelte sich heimlich im
Lungeninneren, wie bei Spitzenpneunionieen vorzukommen pflegt, denn amnächsten
Tage nach der Wahrnehmung der pneumonischen Symptome trat die Krisis mit
Temperaturabfall bis zu 37° ein.
Währond der ersten 4 Tage betrug die Temperatur 39—40°, was mit den
zwei zu Hause zugebrachten Krankheitstagen zusammen einen für acute Pneumo-
nieen gewöhnlichen Fieberverlauf von (>—7 Tagen liefert. Deshalb kann die Ent¬
wicklung resp. Ansteckung mit Pneumonie im Krankenhause mit Bestimmtheit
ausgeschlossen werden. Das Fieber muss als Symptom der Pneumonie aufgefasst
werden, denn die in Folge der Gehirnerschütterung entstandenen Gehirnsymptomo
erklären das Fieber durchaus nicht, eine Meningitis aber würde weder so schnell
verlaufen, noch so kritisch enden, wie dies bei dem Patienten der Fall ist. Der
Verlauf ist aber für die fibrinöse Pneumonie kennzeichnend.
Nachdem wir also dazu gekommen sind, diesen Fall als Pneumonie in Folge
des Traumas anzusehen, bleibt uns noch übrig, die Meinung anderer Verfasser
über diesen Gegenstand kennen zu lernen.
Die Complication der Kopfverletzung mit entzündlichen Vorgängen in der
Lunge ist der Chirurgie seit lange bekannt. Meistens sind es inetastatisclie Fro-
cesse oder sogenannte Schluckpneumonieen in Folge von Einwanderung fremder
Körper in die Respirationswege, aber ausserdem wurden auch einige Fälle acuter
fibrinöser Entzündungen nach Kopfverletzungen notirt (Protocolle des Berliner
pathologischen Institutes). Es entsteht jedoch die Frage, ob nicht auch eine
andere Erklärung der Fälle möglich wäre, ob statt eines weitläufigen und hypo¬
thetischen Nexus zwischen Kopfverletzung und acuter Pneumonie eine nähere
Ursache, wie z. B. in meinem Fall die beträchtliche Thoraxverletzung, die ver¬
schiedenen Symptome der Lungenentzündung hervorzurufen irn Stande wäre?
letzt blieb die rechte Warzengegend und die vordere obere Thoraxpartie auf Druck
leicht schmerzhaft.
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48
Dr. Guder
Diese Verletzungen sind bei schweren Traumen, wie z. B. Fall aus bedeutender
Höhe, möglich, werden aber nicht beachtet, da das Augenmerk auf das wichtigste
Organ, d. i. den Kopf gelenkt wird“ (Anführung von Litten).
Um nun die 3. Frage zu beantworten, ob wir es in diesem Fall nicht mit
einer acuten Pneumonie in Folge von Erkältung oder Infection in der sogenannten
Gehirn form, bei der von Anfang an Symptome bestehen, zu thun haben, so
müssen wir beherzigen, dass solche Formen meistens bei kleinen Kindern anf-
treien. Bei Erwachsenen kommen die Hirnsymptome nur selten nicht im Anfang,
sondern erst im weiteren Verlauf in Folge hohen Fiebers oder wirklicher Compli-
cation mit Gehirnhautentzündung vor. In unserem Falle dagegen sind die Ge¬
hirnsymptome bald nach dem Unfall eingetreten und, wie ich bereits früher ange¬
geben habe, war weder hohes Fieber, noch besondere auf Meningitis hinweisende
Symptome vorhanden.“
„Auch ätiologisch bietet dieser Fall manches Interessante. Ein infectiöser
Process, für den die Pneumonie jetzt gilt, entsteht in Folge traumatischer Ver¬
letzung des Brustkastens. Daraus ist zu schlicssen, dass durch das gesetzte
Trauma das Lungenparenchym zur Aufnahme des spccifischcn Keimes disponirt
wurde. Dasselbe sehen wir auch in einigen Fällen von Lungenschwind¬
sucht — — . u
II ei man n { ) meint, dass die Frage: „Kann ein äusseres Trauma zu acuter
Pneumonie führen?“ bei der immer grösseren Ausdehnung der freiwilligen und
] ) IIei mann, Berliner klinische Wochenschrift. 1890. S. 920.
Der 56 Jahre alte W., der bis zu dieser Zeit noch nicht erheblich erkrankt
gewesen zu sein angiebt, stürzte am 19. October Abends beim Aufsuchen des Ab¬
ortes in einem fremden Hause eine lOstiegige Treppe herunter und schlug dabei
auf die rechte Seite auf. Er vermochte bald darauf noch den Weg in seine in der
Nähe gelegene Wohnung mit Hülfe eines Führers zu Fuss zurückzulegen. Die
Schmerzen verschlimmerten sich im Laufe der Nacht und konnte ich am folgenden
Tage eine erhebliche Quetschung in der rechten Kreuzbein- und Hiiftgegend sowie
in der rechten Thoraxseile constatiren. Die stärksten Schmerzen bestanden in der
unteren betroffenen Partie. Patient war ausser Stande irgend eine Bewegung in
seinem Bette activ vorzunehmen. Minder stark alTicirt, doch auch auf Druck
empfindlich war die rechte Seile des Brustkorbes in der Gegend zwischen 6. bis
8. Rippe. Fieber war nicht vorhanden.
Während sich bei wiederholten Besuchen am 24.October die Kreuzschmerzen
und die Beweglichkeit der Hüften unter entsprechender Behandlung gebessert
hatten, klagte Patient über vermehrtes Stechen rechts, heftigen Durst und starke
Athemnoth. Temperatur jetzt in der Achselhöhle 40°. Die Percussion ergiebt
R. U. H. bis zur Axillarlinie eine starke, handbreite absolute Dämpfung; aus-
cultaiorisch ist Bronehialatlimen mit einzelnen klingenden Rasselgeräuschen und
starkes pleuritisches Schaben wahrnehmbar. Der übrige Theil der Lunge war
frei, der Auswurf war weiss, intercurrent blutig gefärbt. Leber den zeitlichen
Beginn dieser Erscheinungen, z. B. einen initialen Schüttelfrost, vermag Patient
nichts anzugeben. Dieser Zustand erhielt sich bis zum 2. November, an welchem
Tage die Temperatur zum ersten Male einen grösseren Abfall zeigte, während
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roher den Zusammenhang zwischen Trauma und Tuborculose.
40
zwangsweisen Unfallversicherung öfters von interessier Seite erhoben werden
dürfte und auf Grund eines reichlicheren casuistischen Materiales am ehesten be¬
antwortet werden könne.
„Wenn auch im vorliegenden Falle der Beweis von Friedliinder’schen Pneu¬
moniekokken nicht erbracht wurde, zeigt die Krankengeschichte doch das klassische
Bild einer asthenisch fibrinösen Lungenentzündung, verbunden mit starken pleu-
ritischen Erscheinungen, die auf dem nicht ganz gewöhnlichen Wege einer lang
hinaus gezogenen Lysis ihren Abschluss gefunden hat. Es wäre mehr bequem als
gerechtfertigt, die zeitliche Aufeinanderfolge von Trauma und Pneumonie als Zu¬
fall zu bezeichnen, vielmehr dürfte gerade das stärkere Vorklingen der pleuri-
tischen Erscheinungen am Ort der Läsion auf einen ätiologischen Zusammenhang
nach dieser Richtung hin hinweisen. Sehen wir doch auch nach Traumen, die
ohne äussere Verletzung einen Knochen treffen, osteomyelitische Processe auf-
treten. Es schafft eben in solchen Fällen die locale Erschütterung einen Locus
minoris resistentiae, der dem vorhandenen inficirenden Agens das Eindringen in
dem betroffenen Theil erleichtert.“ *
Dem Verletzten sind auf Grund des Gutachtens von der Genossenschaft zu¬
erst 40 pCt., später dauernd 25 pCt. Rente zuerkannt worden.
Murri’s 1 ) Brief an Tamhurini bezieht sich auf einen Fall, den Mun i
als Uontusionspneumonie im Sinne Litten’s aufgefasst, von anderen Sachver-
Abonds eine Zeit lang noch erhebliche Steigerungen bis zu 39 1 und 39,5° sich
einstellten.
Am 6.November tritt unter Uollapserscheinungen mässiges Lungenödem ein,
das mit Campher gut bekämpft werden konnte.
Am 9. November ist die Dämpfung etwas zurückgegangen, auch nicht mehr
so absolut wie im Anfang, dir klingenden Rasselgeräusche sind reichlicher ge¬
worden. Auf der übrigen Lunge ist das Vesiculärathmen grüsstentheils durch
Schnurren und Pfeifen verdeckt. Die pleuritischen Erscheinungen bestehen in
aller Stärke. Abends noch gelinde Temperatursteigerungen.
Nach dieser Zeit machte die Lösung raschere Fortschritte, in ca. S Tagen
reichlicher Auswurf, der sich dann bald ganz verliert.
Am 7. December klagt Patient noch immer über Athembeschwerden bei
leichten körperlichen Anstrengungen; auf der ganzen Lunge ist der Athcm rein
vesiculär, über der .7. Hippe in der Axillarlinie noch pleuritisches Reihen.
r ) Murri, Di una perizia per pneumon. contusiv. Lettre ad Prof. Tam-
burini. Riv. sperim. XIV. p. SB.
Er betraf einen 37 Jahre alten robusten Facchin, der an einem Uctobertago
in einem geschlossenen Hofe mit Kaffeestossen beschäftigt war, als sein Principal
hinzukam und ihm einen Fusstritt auf den Hintern und einen oder mehrere Hiebe
mit einem Stock auf den Bauch oder auf die Brust versetzte. Der Geschlagene
verliess den Hof, kehrte jedoch bald wieder zurück, um seine Blouse zu holen,
weil er früher schwitzte und ihm nun kalt war. Nach einer Stunde fühlte er sich
abgeschlagen, halte keinen Appetit, musste sich niederlegen, bekam aueh an dem¬
selben Abend Schmerzen auf der Brust, die beim Athnion sich vermehrten, und
Viert*IJalirssclir, f. gor. Metl. Dritte Fol^e. IX. t. 4
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50
Pr. Ci u fl e r.
ständigen, insbesondere Bncclli, nur von einer Verkühlung abgeleitet wurde.
Bacelli erklärte, die Argumentationen Murri’s seien zwar gut für eine Klinik
oder eine Acadomie, aber nicht für das Tribunal, wo die Beweisführung eine
strengere sein müsste. Per Angeklagte wurde freigesprochen.
Litten hat bereits die Lungengangrän als einen ungünstigen
Ausgang der Contusionspneumonie erwähnt. „Indessen ist dieses nicht
die einzige Gelegenheit:, bei welcher wir der Lungengangrän auf dem
Gebiete der traumatischen Affectionen begegnen. So sahen wir Nc-
crose und Gangrän eines Lungenabschnittes eintroten, in welchem das
zuführende Gefäss infolge der einwirkenden Gewalt zerrissen und un¬
wegsam geworden ist. Desgleichen kann eine gequetschte Stelle des
Parenchyms den Ausgang in Necrose und Gangrän nehmen. Die Ge¬
fahr der Gangränescenz necrotiseher Herde liegt nahe wegen des be¬
stehenden Zutrittes der Luft. Eine noch andere Ursache von Lungen¬
gangrän ist die Vereiterung eines central gelegenen grösseren Blut¬
herdes mit Zertrümmerung des Lungengewebes, wie wir dies nach
Quetschungen zwischen Eisenbahnpuffern eintretcn sehen. In solchen
Fällen kann sich schliesslich der Herd abkapseln und unter Bildung
von Pyogenmembran einer Heilung unterliegen.
Abscessbildung der Lunge kommt wohl ausschliesslich vor, wenn
bei traumatischen Fällen Fremdkörper in den Lungen stecken bleiben
(Messerspitzen, Projectile). Als alleinige Folge einer Contusion habe
ich sie niemals beobachtet.“
Leyden 1 ) hat Fälle von Contusionsgangrän der Lunge beob¬
achtet. Nach ihm hat diese Entstehungsweisc der Lungengangrän bis¬
her noch wenig Beachtung 2 ) gefunden, obwohl er sie in seiner Klinik
zeigte schon am nächsten Tage alle Erscheinungen einer rechtsseitigen Pneumonie,
der er am 11. Tage erlag.
Pie erst am 0. Tage vorgenomnione Leichenülfuung ergab keine Verletzungs¬
spuren, dagegen eine croupüse Pneumonie des rechten angewachsenen Interlap¬
pens und zwei missgrosse dunkle Knoten über der Zwerchfellfliichc. Letztere leitet
Murri von einer umschriebenen Laeeration der Lunge her, die hier leichter zu
Stande kommen könne, da die Adhäsionen die freie Bewegung der Lunge hin¬
derten. Dieser Befund und die übrigen Umstände veranlassen Murri einen
ursächlichen Zusammenhang zwischen Pneumonie und Trauma anzunehmen.
') Leyden, Ueber Lungenbrand. Volkmamrs Vorträge. Innere Mcdicin. X.
-1 Ich finde in Stokes' Brustkrankheiten, Bremen IS.TS, S. 54 5, einen Fall,
in dem ein Mann in Folge einer Quetschung der rechten Seite von den Symptomen
einer Pneumonie befallen wurde, hergestellt von einem Karren fiel und dieselbe
Seite verletzte, auf der sich nun Uangrän entwickelte. Stokes bemerkt S. 5ÖO,
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Ueber den Zusammenhang zwischen Trauma und Tuborculnse.
wiederholt zu sehen bekam. Bestimmte Angaben der Kranken führten
ihn dazu, die Aetiologie in einer Contusion der Brust zu suchen. Ein
Kranker, ein robuster Sackträger, gab an, bei einer Prügelei mit der
rechten Schulter gegen eine hölzerne Bank geworfen zu sein, so dass
er 2 Stunden bewusstlos lag. Nach dieser Contusion entwickelte sich
continuirlich Gangrän in der Lungenspitze derselben Seite. Ein An¬
derer hatte einen Stoss mit einer Deichsel in die linke Seite be¬
kommen. An derselben Stelle entwickelte sich ein gangränöser Herd
mit profuser Hämoptoe. Ein Kranker erwarb seine Lungengangrän
durch Tragen schwerer Lasten auf dem Rücken und ein anderer be¬
kam sie, nachdem er einen l'/j Centner schweren Sack mit Eisen
auf der Schulter getragen hatte. „Jedenfalls sind die angeführten
Beobachtungen zahlreich und präcise genug, um die Entstehung der
Lungengangrän durch Contusionen der Brust zu beweisen. Der Herd
entspricht der contundirten Stelle und betraf in solchen Fällen häufig
die Lungenspitze durch Quetschung der Schulter. Bei der Nachgiebig¬
keit der Thoraxwandungen, insbesondere des Schultergürtels, ist es
übrigens nicht schwer begreiflich, dass sich Contusionen bis auf die
Lungen fortpflanzen und in ihnen, ähnlich wie bei einer Contusion
der Haut, blutige Suffusioncn und gangränöse Schorfbildungen erzeugen
können.“
Proust erwähnt, dass der Holländer Rouppe die Gangrän als
einen häufigen Ausgang der traumatischen Pneumonie ansehe. Er
bringt aus der Arbeit von Fourriere, worin dieser die Lungen¬
gangrän infolge von Thoraxeonfusionen studirt hat, eine Beobachtung ')
dass ihm noch andere Fälle bekannt geworden seien, in denen die Gangrän nach
einer Contusion entstand.
■) Proust, 1. c. Beobachtung XIX. Plcuro-pneumonie traumaiique, Ibyer
de gangrene pulmonaire par Carrie (These Fourriere).
Ein 41 jähriger Tischler wurde am 1.1. Juli lSTC in’s Krankenhaus auf¬
genommen. Zwei Tage zuvor wurde ihm die linke Thoraxseile zwischen i Balken
geklemmt. Im Augenblick des Unfalles hatte er ausser dem localen Schmerz weder
Husten, noch Athemstürung, noch Bluthusten. Am folgenden Tage Fieber, Frost,
Husten, beträchtliche Athmungsbehinderung. Bei seiner Aufnahme fanden sich
keine Zeichen der Contusion. Seine Tlmraxwiiiide sind bei Druck schmerzhaft,
aber es besteht weder eine Rippenfraclur, noch ein subculanes Emphysem, last
kein Fieber, die Brust dehnt sich in derselben Weise rechts wie links aus. Bei
der Auscullation pleuritisches Reiben links hinten. Seitenstechen hinten und an
der Basis der linken Lunge. Brechreiz, weissc trockene Zunge. Leichter Icterus
der Lonjunciiva. Am DL Juli: Kein Reiben mehr ausser an einer Stelle in der
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52
Pr. 0 ud er.
und eine von Courtois 1 ), die beide günstig ausgingen. Tn einem
dritten Falle 2 ) sind nach Hayem 2 Hypothesen möglich: Es kann
Mitte. Bis zum 20. keine Störung; die Sputa waren schleimig ohne blutige Strei¬
fen, kein Fieber. Am 20. häufiger Husten, der sich bei der geringsten Bewegung
steigert, (irauweisse, leicht fötideSpula, einige mehr braunroth. Fieber, Dämpfung
links, Reihen an der Lungenbasis, Schleiinrasseln über der ganzen linken Lunge,
besonders in der Fossa infraspinata. Am 24. Bronehialathmen an einem um¬
schriebenen Punkt ein wenig unten und aussen vom Angulus scapulae. Am 25.
Athem und Auswurf sehr lotide: sehr heftiger Husten. Du wo man Bronchial-
athmen hörte Sehleimrasseln, in der Lmgebung leinblasiges Rasseln. Am 2S.
besseres Befinden, Sputa weniger lotid. Am 50. Rasseln besteht an einer be¬
grenzten Stelle. Am ;). August: Seit 2 Tagen waren die Sputa-reichlicher und
haben ihren alten Foolor wieder bekommen. Der Kranke magert ab. In der Nacht
bei einem Husten hat er ein wenig Blut mit Schleim und einige schwärzliche Blut¬
klumpen ausgehustet. Am 0. August findet mau im Spueknapf in der Mitte der
immer sehr reichlichen Sputa einen Fetzen schwärzlichen Gewebes von der Grösse
einer Mandel von grauem Aussehen, an dem eine graue Membran (Bronchial¬
schleimhaut) hängt. Am 7. stinken die Sputa nicht mehr so, aber der Athem
riecht noch. Am 15. ähnlicher Bluthusten wie das erste Mal. --- Während des
September bleibt der Zustand fast derselbe, der Kranke hustete reichlich aus, war
ohne Appetit und magerte ab. Während des Oetober nahm der Husten wie der
Auswurf ab. Rasselgeräusche blieben bis zu seinem Austritt aus dem Kranken¬
haus am 25. Oetober bestehen. Fr hustete noch ein wenig, warf auch noch aus,
hatte al»er sein Gewicht wiedererlangt.
x ) Der folgende Fall wurde Courtois durch Malherbe (Nantes) miige-
tlieilt: Der Patient, hatte einen heftigen Stoss vorn und oben auf der linken Brust¬
seite mit dein Ende einer Wagendeichsel bekommen. Die äusseren Bedeckungen
zeigten keine Spur von Contusion, aber der Kranke äusserte einen tief sitzenden
Schmerz. Man constatirte eine grosse Lndeutliclikeit des Yesiculärathmens, einige
Rasselgeräusche um einen gedämpften Punkt, rüihliche Sputa, die nach Verlauf
einiger Tage eine graue Farbe und einen brandigen Geruch zeigen. Der Auswurf
wurde zu gleicher Zeit reichlicher und nach Verlauf von 12—15 Tagen war es
möglich, die Zeichen einer „Exsudation pnlmonaire u festzustellen. Diese Höhle
verkleinerte sich allmälig und es entwickelte sich ohne Zweifel eine Narbe, denn
nach einigen 'Tagen ging der Kranke geheilt aus dem Hospital, er zeigte mir eine
umschriebene Dämpfung und ein wenig abgeschwächtes AtInnen an dieser Stelle
(Proust, Beobachtung XX).
*') Bulletin Soe. anatom. I-S74. Gangrene de la plevre. Broncho-pneu-
monie.
Ein HSjähriger, früher kräftiger und gesunder Mann ist seit einem Monat
krank in Folge eines so heftigen Sturzes, dass er das Bewusstsein verlor. Als er
2Stuiiden später wieder zu sich kam, hatte er einen sehr heftigen Schmerz in der
rechten Seite. Seit diesem Ln fall hat er nicht aufgehöri zu husten. Bei seiner
Aufnahme hustet er sehleimige, weder zusammenhängende noch gefärbte, fötidc
riechende Massen aus. Starkes Seitenstechen, niemals hat er Frost gehabt, aber
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Ueber «len Zusammenhang zwischen Trauum uml Tiibemdose.
r>3
eine disseeiraide Bronchopneumonie bestanden haben, die sich in die
Pleura eröffuete; oder man kann eine oberflächliche Pneumonie, eine
diffuse subpleurale Phlegmone annehmen, in deren Folge die Pleura
abgelöst wurde.
Schultze') theiltc in der niederrheinischen Gesellschaft für Natur-
uiul Heilkuude in Bonn am 15. Mai 1893 im Anschluss an den V or¬
trag Ungar’s über einen Fall von Pneumonie uaeh Trauma folgenden
Fall mit: Ein junger, vorher gesunder Mann stürzte vom Veloeiped
und erlitt dabei Contusionen der vorgestreckten Hand, des einen
lvniees und der Gegend des linken Jochbeines. 14 Tage nachher
stellte sich, als der Kranke noch im Bett lag, eine Erkrankung ein,
die als Pneumonie aufgefasst werden musste, später schlossen sich
daran Erscheinungen von Lungenbrand an, welche schliesslich zum
Tode führten. Verschiedene Vorgutachter meinten, es sei nicht denk¬
bar, diese Gangrän mit der Contusion in Zusammenhang zu bringen,
zumal ja über Schmerzen in der Brust nach dem Unfälle nicht ge¬
klagt worden wäre. Man muss aber dem gegenüber daran denken,
dass bei einem Trauma oft nur die Haupt schmerzen angegeben werden
und deshalb möglicherweise der Brustschmerz weniger aufficl. In¬
dessen ganz abgesehen davon, musste meiner Meinung nach an eine
er hat ein massiges Fieber. Kein Zeichen einer Blutunterlaufung. Unten ein wenig
Bronehialathmen, etwas höher gross- und kleinblasiges Hasseln. 7 Tage später
hat das Bronehialathmen einen amphorischen Charakter. Man hört beim Schütteln
Plätschergeräusehe. Der Geruch der Sputa war gangränös geworden. Das Seiten¬
stechen nimmt zu. 2 Thoracocentesen, später Empyem. Während der ersten Tage
werden grosse Pleurafetzen mit stinkendem Eiter entleert. An der inneren Seite
dieser Fetzen hängen Stücke von Lungengewebe, die graue Hepatisation zeigen.
Einen Monat später, während der letzten Lebenslage, wurde die aus der Schntit-
öffnung messende Masse blutig. Man sieht Lungentheile abgehen, die sich von
den in den ersten Tagen unterscheiden: Das Lungengewebe ist mit Blut infiltrirt
und gleicht Infaretstiickchen. — Obduction am 1(5. April. Rechts überall ausser
vorn, wo der vordere Rand mit der Thoraxwand adhiirent ist, lässt die Lunge
zwischen ihrer Oberfläche und der Thoraxwand einen Raum von der Dicke einer
Hand; dieser Raum enthält Eiter und eine grosse Menge Lungen- und Pleura¬
fetzen. In der Höhe des Empyems hängt die Lunge an den Rändern des Schnittes
an. Die Pleura parietalis ist mit einer Neomembran bedeckt. Die Lunge ist in
grosser Ausdehnung ganz vollkommen von Pleura entblösst. Sie ist gewisser-
ntassen abgeschält und flottirt in einer Eilennasse. Auf der Oberfläche hängen
eine Menge Zotten. Auf dem Durchschnitt sieht man besonders in den peripheren
Läppchen die Zeichen einer eitrigen Pneumonie.
') Deutscho mediciuische Wochenschrift. 1894. No. 33. S. CG u. G7.
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r>4
I >r. G ii <1 r r.
andere Möglichkeit gedacht werden, nämlich die, dass der Patient bei
seinem Falle mit dem (.iesieht auf die Strasse Entzündungserreger
besonders tief einatlimen könnt«*, die allmalig' zur Lungenentzündung
und (iangrän führten, so dass man die Möglichkeit nicht in Abrede
stellen kann, dass der Fall doch mit der Pneumonie in Verbindung
zu bringen sei. Der Lungenbrand war übrigens durch die Seetion be¬
stätigt worden, tuberculöse Frkrankungsherde fehlten.
„lieber die Frsaehe des primären Lungenkrebses ist nichts
Sicheres bekannt. Für die schon vielfach ausgesprochene Ansicht,
dass traumatische Einflüsse eine Rolle spielen können, spricht am
ehesten der Fall von (leorgi (Berliner klinische Wochenschrift. 1870.
XVI. 413. 433), wo ein Schmied an Lungenkrebs erkrankte, nachdem
ihn ein Jahr zuvor ein 4 kg schweres Stück Eisen gegen die linke
Thoraxhälfte getroffen. Auf dasselbe ätiologische Moment gründete
sich die Behauptung von Seitz (Deutsche Klinik. 1852. IV. S. 115),
dass auch chronische Pleuritiden KrebsentwickJung in der Lunge be¬
günstigen können, ist ja in dem mechanischen Reiz des pleuralen Er¬
gusses gewissermassen ein chronisches Trauma gegeben. Immerhin
ist nicht zu vergessen, dass chronische Pleuritiden eine nicht seltene
Begleiterscheinung des Lungenkrebses bilden und gerade in frühen
Stadien der Krankheit, wo dieselbe der geringen Symptome wegen
meist übersehen wird, aufireten können.
Auch im Anschluss an schwere körperliche Arbeit soll sich Lun¬
genkrebs entwickeln. So beschreibt Ward einen Fall, wo bei einem
25jährigen Matrosen, der sich häufig mit Rudern überanstrengte, die
Lunge krebsig entartete“ ').
„Höchst merkwürdig und bisher tust unbeachtet ist der Einfluss trauma¬
tischer Schädigung der Brustorgane 2 ). Häufig ist dieser Einfluss freilich nicht,
') Arnold Hoffmnnn, Leber maligne Lungengeschwülste. Diss. inaug.
Zürich 1 S‘d.‘L S. 50.
2 j Lebert, Klinik der Brustkrankheiten. 1S74. LI. S. 4«Sö.
1. Ein dbjähriger Mann, welcher ganz gesund war, fiel vor 4 Jahren von
einem Gerüst etwa 10 Kuss herunter und hat von dieser Zeit an mit zeitweisen
Unterbrechungen stets gehustet. Er ist allmälig schwach und marastisch ge¬
worden, hatte alle Zeichen destruirender Bronchopneumonie zuletzt mit Pneumo¬
thorax dargeboten, erlag der Krankheit und hat bei der Obduction die bekannten
Lungenalterationen dargeboten.
2. Ein 2<ijähriger Schlosser war vollkommen gesund, bis er 4 Monate vor
dem Tode einen starken Stos> gegen die rechte Brustseite erlitt. Von dieser Zeit
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Ueber «Ion Zusammenhang zwi>chen Trauma uml Tubeivulose.
O.J
auch spielt wahrscheinlich «lic individuelle Prädisposition uml sonstige frühere
Schädigung der Gesundheit eine Rolle. Ich besitze aber 11 Beobachtungen, in
denen bei vorher vollkommener Abwesenheit aller Zeichen einer Lungenerkrankung
nach einem traumatischen Eingriff sich dieLungenkrankheit entwickelt hat. Höchst
merkwürdig sind die beiden ersten, ein Mädchen von 24 und einen Mann von
36 Jahren betreffend. Beide hatten Stecknadeln verschluckt; einige Zeit darauf
hatte sich eine schleichende Brustkrankheit entwickelt, welche ganz als chronische
Bronchopneumonie und Schwindsucht verlief. Bei der einen Kranken fand sich
die Stecknadel erst bei der Leichenöffnung, mitten unter den destruirenden Alte¬
rationen der Lungen. Beim Anderen war die Nadel mit vielem Eiter kurze Zeit
vor dem Tode ausgehustet worden, aber dennoch erlag der Patient bald darauf
der vorgerückten Lungenerkrankung. Von den übrigen sind 6 Fälle von einem
meiner Schüler (Paul Scholz, Ueber die traumatische Tuberculose. Breslau
1872) im Auszuge in seiner Dissertation bekannt gemacht worden (s. in der An¬
merkung).
Zu diesen 8Fällen könnte ich noch 2, einen ans Zürich und einen aus Paris,
an entwickelten sich alle Zeichen einer Entzündung der Brustorgane, ab und zu
Besserung, dann progressiver Marasmus, Fieber, physikalische Zeichen, besonders
rechts; rascher Verfall der Kräfte; Tod im Collaps. Bei der Obduetion findet sich
bedeutender seröser Erguss rechts, (Jompression der Lunge, welche mit zahlreichen
Knoten durchsetzt ist, die sich auch in der umfangreichen linken Lunge in grosser
Menge finden.
3. Ein 58jähriger Arbeiter war früher vollkommen gesund; Anfangs Januar
1867 wurde er von einem schweren, herabrollenden Fasse gegen die Brust ge¬
schlagen, darauf heftige Schmerzen, tagelang Bluthusten, dann gewöhnlicher
Husten mit Auswurf, Abnahme der Kräfte und des Appetits, habitueller Durch¬
fall, Marasmus, Fieber, blande Delirien, physikalische Zeichen tubcrculöser Bron¬
chopneumonie, Tod nach 9 Monaten. In den Lungen Cavcrnen und zahlreiche
bronchopneumonische Herde, zum Thcil erweicht; das Herz in beginnender Ver¬
fettung, im Leberüberzuge miliare Tuberkeln, im Darm zahlreiche Geschwüre.
4. Ein 4 Tjähriger Fuhrmann hatte Vorjahren einen Beinbruch durch Trauma.
Im Winter 1869 wurde er überfahren und wurden ihm 2 Rippen links gebrochen;
seitdem Husten, Athemnoth, Abmagerung, progressiver Marasmus, Tod noch nicht
ganz nach einem Jahre. Ausser dem Gallus der Rippenbrüche mit festen Ad¬
härenzen finden sich in der linken Lunge Cavernen und bronchopneumonische
Herde, das umgebende Lungengewebe ist grauschwarz und schwielig, ein ähn¬
liches Gewebe schliesst in der linken Lunge Miliarknoten ein; im Darm einzelne
Geschwüre.
5. Ein 40jähriger Viehtreiber wird von einem Ochsen mit grosser Gewalt zu
Boden geschleudert; er liegt 19 Wochen an einer schleichenden Brustfellentzün¬
dung im Hospital, erholt sich wieder, hat nun jahrelang Husten, der sich im
Winter steigert, kommt zu verschiedenen Malen in’s Hospital mit den Zeichen
einer rechtsseitigen chronischen Bronchopneumonie, erholt sich aber immer wieder
und verlässt nach einiger Zeit ausgeruht, aber ungeheilt das Hospital.
6. Diesen Fall siehe unter den penetrirenden Brustverletzungen im 1. TliciL
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J >r. (i u <1 r r,
51)
hinzufügen, ungehl ;iI*<*r aus dem sclmn Mitgetheillen hervor, dass ein
heftiges, auf dir Brust einw irkendesTrauma den Ausgangspunkt einer chronischen,
/um Marasmus und zur Phthise führenden Erkrankung der Lunge bildern kann,
oder dureli eine prolrahirte Pleuritis indireel Tuboreulo.se hervorzurufen im .Stande
ist. Spielt nun wohl individuelle Priidisposition hier eine wichtige Holle, so war
sie doch in einem Falle, bei einem mir sehr nahestehenden <S4jährigen(»reise nicht
vorhanden. Nachdem derselbe (‘inen gewöhnlichen, etwas protrahirten Brustka¬
tarrh durchgcmachl hatte und sich in der |{ecmi\aleseenz befand, liel er sehr
lieft in auf die rechte Brusthöhe: in dieser entwickelte sich nun eine schleichende
Entzündung, welche in nicht ganz 4 Monaten ohne merklichen Erguss mit allen
Zeichen des Marasmus zum Tode führte. Pie Leichenöffnung wurde nicht ge¬
macht.
Interessant ist für diese Gruppe von Fallen noch für meine Anschauung die
Thalsache, dass wohl hauptsächlich durch das Trauma und seine entzündlichen
Folgen ein dystrophischer Zustand des Luugengewehes geschaffen wird, welcher
für tuberculöse Entzündungen und consecutive Phthise den geeignetsten Boden
bietet.“
Teissier 1 ) hat im Jahre 1875 einen Fall von traumatischer Phthise be¬
schrieben. Zwei Jahre später theilte Per rund mit, dass die Schi Her im Rhone-
departemant durch den Gebrauch ihrerKuder ]dithisisch wurden. Sie setzten diese
in der Gegend der Fossa inlVacla\ictilaris ein und dort drücken und siossen sie,
so dass die wiederholten Traumen zur Tuberculöse der Lungenspitze Anlass
geben.
Chaffy 2 ) publicirle im Jahre 1*81 einen Fall und Ghatiffard 3 ) in dem-
1 ) Teissier, Lyon medical. Janvier 1*75. Citirl von Quellen.
Ein o.yjähriger, erblich nicht belasteter, gesunder Bär kor wird von einem
Baum auf der rechten Schulter und der Mitte des Thorax getroffen. Bewusstsein
für einige Augenblicke verloren. Weder eine Fraetur. noch eine Luxation. Hae-
moptoe von 1 Liter. Von da ab IS Monate lang Blutspeien, das später alle drei
Wochen auftrat. Dyspnoe, Husten, Auswurf, Abmagerung, Schweiss. Dämpfung
über der rechten Lungenspitze; Hasseln, verlängertes Kxspirium.
T. schloss daraus, dass wenn die geringste Anlage zu Scrophulo.se oder
r ruberculosc existirt, eine Lungenhlutung oder -Verletzung im Stande ist, durch
die Anwesenheit des Blutes allein oder durch einen Congestivzustand, welcher die
Blutung begleitet, eine Heizung hervorzubringen, die später Lungeninduration,
eitrige Pneumonie oder tuberculöse Pneumonie herbeiführt.
2 ) M. Chaffy, These de Lyon. 1**1. Nach Quellen.
Ein oljährigcr gesunder, nicht belasteter Steinarbeiter, der im Kriege 1870
mehrere Wunden erhalten hatte, wurde von einem eisernen Instrument an der
rechten Brustseite oberhalb der Warze getroffen. Aiisgebreilete Kcchymose. Am
4. Tage Ilaemoptoe, die sich am folgenden Tage wiederholte. Beklemmung,
Husten, Kräfteahnahme. Erscheinungen besonders rechts. Cavernen.
Ghauffard, France inedicale. 1<S*1. XXVII, p. 731. Nach Quellen.
Eine 59jährige, erblich nicht belastete Frau fiel am 14. August 1879 von
einem Stuhl und brach sich das rechte Schlüsselbein, Sternum und 4—5 Rippen
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Ucher den Zusammenhang zwischen Trauma und Tuberculose.
:> i
seihen .Jahre einen neuen. Die Arbeit von Quellen 1 ) folgte 1883. Die Arbeiten
von Potain 2 ) und Jaccoud 3 ) sind mir leider nicht zugänglich gewesen.
In Breilmer'S „Aetiologie der chronischen Lungenschwindsucht 444 ) linde
ich die unten angegebenen Fälle. „Fall 3-5 U , schreibt Brehmer, „betrelTen
eingedrückt. Am folgenden Tage massige Haemoptoe und 5—6 Tage hindurch
Fieber. Nach 6Wochen stark verfallen. Husten, Abmagerung, Kräfteverfall. Nach
3 Monaten deutliche Erscheinungen von Lungenschwindsucht, rechts besonders
stark. Gerade die Entwicklung im Hospital während der Behandlung der Clavi-
culafractur wird hervorgehoben.
f ) Quellen, Du röle etiologiquc des traumatismes de la paroi thoraeique
dans le d6velloppement de la phthisie. Paris. These. 1883.
Ein 45jährigerStallknecht, der in der Jugend scrophulüs gewesen war, sonst
aber kräftig und gesund war, wurde durch einen Hufschlag in der Präcordial-
gegend verletzt. Bewusstseinsverlust. 5 Stunden nachher eine grosse Ecchvmosc
über der ganzen linken vorderen Thoraxpartie. Blutauswurf. Keine Fractur. Dys¬
pnoe, Abmagerung, Kräfte vertust, localisirter Schmerz an der getroffenen Stelle.
6 Monate nachher Atherrmoth, blutig gestreifte Sputa, Emphysem der linken und
des unteren Theils der rechten Lunge. Im linken Oberlappen Dämpfung und
Rasseln.
Quell eirs Schlüsse sind folgende:
1. Les traumatismes de la paroi thoraeique peuvent- etre dans certains cas
la cause de la tuberculisation pulmonaire.
2. II n’est pas necessaire pour cela ejue les malades aient presente des
antecedents diathesiques.
3. L’intermediaire presque constant entre le traumatisme et la phthisie est
une hemoptysie abondante.
4. L’inflammation du parenchyme, de la pneumonie traumatique ne suflit
pas pour expliquer la tuberculisation.
5. L’hypothese de Pinfection du poumon malade par un germe tuberculeux
venu de dehors est dans Fetal actiiel de la Science la seule explication
satisfaisante.
2 ) Potain, Tubercul. pulm. d’origine traumatitpie. Practicien. Paris 1882.
268—270.
8 ) Jaccoud, De la phthisie traumatique. Semaine liuSd. 1881). IX. 177.
4 ) Brehmer, Die Aetiologie der chronischen Lungenschwindsucht vom
Standpunkt der klinischen Erfahrung. Berlin 1885.
1. Beobachtung 12. Seite 182. Ein 37 Jahre alter Schmiedemeister aus ge¬
sunder Familie hat im Alter von 14 Jahren den Typhus überstanden. 18C6 bis
1868 war er Soldat, 1870 machte er einen Patrouillengang, wobei er auf eine
Mauer stieg. Er fiel von dieser herab und schlug mit der Brust auf. Von dem
Tage an verlor er Blut sowohl per os als per anum, so dass angeblich Dysenterie
diagnosticirt wurde. Der Blutverlust per anum dauerte ungefähr 6 Wochen, der
per os hat jedoch über Jahr und Tag gedauert, so dass Patient 1872, besonders
da kurze Zeit nach dem Sturze heftige Herzpalpationen sich eingestellt hatten, als
Invalide, und zwar als herzkrank erklärt wurde. Der blutige Auswurf hat von
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l)r. <Ju(1 er,
ganz gesunde Männer, hei denen als Ursache der Erkrankung resp. Bildung der
Disposition, wenn man das lieber hört, unl)edenklieh nur der Insult auf der Brust
1872—1882 nicht mehr statlgefunden, wohl aI»er ungefärbter Auswurf und die
Herzpalpitationen, die im Invalidenschein auch besonders hervorgehoben sind.
Vor 3 Jahren wurde nach iiberstandener Pleuritis der Auswurf stärker, vor zwei
Jahren massige Hämoptoe.
2. Beobachtung 252. Seite 291. 57 Jahre alter Herr aus gesunder Familie,
ist von 14 Kindern seiner Eltern das schwächlichste gewesen, hat an Scrophulosc
gelitten, excedirtc in venere. Im Alter von 20 Jahren bekam er im hollsteinsehen
Kriege einen Prellschuss an die Brust mit folgender Pleuropneumonie der be¬
treffenden Stelle, obschon eine Verletzung der äusseren Hautdecke nicht bemerk¬
bar war, und hat dabei längere Zeit rothbraunc Sputra ausgeworfen. Seitdem hat
Patient Husten, sogenannten Catarrh. Nach 15 Jahren fühlte sich Patient wieder
recht wohl, — trotz geringen Catarrhs — und heirathete. Husten und Auswurf
nahmen immer mehr zu, so dass sich Patient vor 4 Jahren von jeder Beschäftigung
zurückziehen musste. Der Auswurf ist leicht blutig gefärbt. Die Untersuchung
ergab Caverncn, besonders grosse genau an der Stelle links hinten und unten, wo
vor 31 Jahren die Contusionspncumonie gewesen war. Die unteren Theile der
linken Seite und auch die rechte Spitze sind weniger afficirt. Abmagerung.
3. Beobachtung 448. Seite 393. 31 Jahre alter Mann, in dessen Familie
Phthise vorgekommen ist, der selbst gesund und im 22. Jahr Soldat war, machte
1870 den Feldzug ohne Beschwerden mit. Anfang des Jahres 1873 stürzte Patient
von einer Höhe von 18' und schlug mit der Brust rechts oben auf einen Stein.
Sichtbare Verletzungen irgend einer Art sind dabei nicht vorgekommen, wohl aber
empfand Patient bald darauf Schmerzen in der rechten Brust und nach einigen
Wochen trat Husten, später Auswurf und Heiserkeit ein. Nach einigen Monaten
unbedeutende Hämoptoe. Im folgenden Jahre ziemlich starke Hämoptoe. Da die
Heiserkeit nicht mehr da war, Husten und Auswurf nur unbedeutend waren, die
Aerzte auch nichts finden konnten, so machte Patient später noch die Ucbung
mit, bekam unmittelbar darauf 2 Mal Hämoptoe und so wiederholte sich das Spiel
bis zu diesem Frühjahr, wo eine sehr starke Hämoptoe auftrat und Patient, der
sich schon seit Jahren ohne Appetit befunden halte, sehr matt wurde und über
Nachtschwcisse klagte. Rechts oben Infiltration und Caverncn, linker über¬
lappen infiltrirt.
4. Beobachtung 449. S, 394. Officicr, 58 Jahre alt, hereditär frei, stets
gesund, hat alle Feldzüge milgemacht. Vor ca. 3 Monaten machte Patient einen
Spazierritt, das Pferd scheute und warf ihn ab. Er stürzte mit der rechten oberen
vorderen Brustseite gegen einen Holzpflock. Irgend eine Verletzung der äusseren
Theile konnte nicht constatirt werden, nichtsdestoweniger fühlte Patient sich von
da ab matt und angegriffen. Er hatte am 3. Tage ziemlich starke Hämoptoe
mit folgendem Husten und Auswurf, nach ca. 8 Wochen Fieber, Nachtschwcisse
u. s. w. Nachweisbar: Infiltration mit kleinen Caverncn ira rechten oberen Lungen¬
lappen. Die Sputa enthalten zahlreiche elastische Fasern.
5. Beobachtung 450. S. 394. 46 Jahre alter Landwirth aus gesunderJFa-
milie, selbst gesund, nahm an den Feldzügen 1866 und 1870 71 Theil. V or ca.
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Heber den Zusammenhang zwischen Trauma und Tuberculnse.
59
betrachtet werden kann, also eine chronisch verlaufende Contusionspncumonie.
Unter diesem Gesichtspunkte sind auch heranzuziehen die Fälle 1 und 2, denn
wenn auch bei letzteren Fällen die äusseren Verhältnisse obgewaltet hatten, die
eine Erkrankung an Phthise an sich möglich machen, so waren doch beide Männer
gesund, denn sic standen als Soldaten im Felde und namentlich der ersterc war
nicht freiwillig Soldat geworden, sondern als Landwehrmann vor Paris. Beide
waren bis zu dem Insulte ohne jede Gesundheitsstörung“.
Den nun von Brehmer mitgetheiltcn Fall werden wir unter den forensischen
Fällen im Zusammenhang mittheilen.
„Unter Zugrundelegung der Wigand’schon Theorie, „dass die Bakterien in
der organisirten Substanz selbst und unabhängig von präexistirenden Keimen
spontan entstehen“, führt nun Brehmer die Entstehung der traumatischen Phthise
auf ein durch das Trauma bewirktes Macerationsstadium zurück, in Folge dessen
sich in demselben der Bacillus der Tuberculose entwickelt und weist energisch
jede Einwanderung der Bacillen von aussen her zurück. Mit der Anerkennung
der Wigand’schen Theorie wäre die Existenz der traumatischen Phthise ge¬
sichert; nachdem diese Theorie zur Zeit noch nicht allgemein anerkannt ist, bleibt
jene Kluft, die in der Erklärung der Erscheinungen sich gebildet, noch bestehen
und wird man nach anderen Momenten suchen müssen, mit welchen dann viel¬
leicht eine Ucberbrückung derselben gelingt.
Ohne die Annahme einer gewissen zur Zeit der Einwirkung des Traumas be¬
stehenden individuellen Disposition wäre weder die von Mendelsohn noch die
von Brehmer versuchte Erklärung der im Anschluss an das Trauma folgenden
Erscheinungen verständlich, da ja solche Traumen viele Menschen erleiden, wäh¬
rend sich doch nur bei einer verschwindend kleinen Zahl die erwähnten iibelen
Folgen zeigen und schliesslich bei der Ubkjuität der Tubcrkclbacillen alle der
gleichen Gefahr ausgesetzt sind.“
Mendelsohn 1 ) hat in der Leyden’schen Klinik mehrere Fälle von trau¬
matischer Phthise beobachtet. Die beiden ersten 2 ) betrafen starke kräftige Männer,
2 l 2 Monaten stürzte Patient durch eine Falltluir des Schüttbodens in den unteren
Stock herab, und zwar mit der linken vorderen Brustseito auf einen hölzernen
Gegenstand. Verletzungen waren nicht nachweisbar, auch befand sich Patient
nachher wohl und munter. Nach 14 Tagen fing ein trockener Husten an, dem
bald wenig Auswurf folgte und endlich vor 4 Wochen Fieber bis 38,5°, Appetit¬
losigkeit, Abmagerung, Nachtschweisse und sehr viel Auswurf. In der linken
Lunge Infiltration mit kleinen Cavernen. Die Sputa enthalten massenhaft elastische
Fasern.
Diese beiden letzten Fälle besserten sich in auffälliger Weise in relativ kurzer
Zeit und konnten geheilt entlassen werden.
v ) Mendelsohn, 1. c.
2 ) Beobachtung 1. Ein 25jähriger, nicht belasteter, gesunder Arbeiter ge-
rieth zwischen 2 Wagen und wurde mit der linken Thoraxhälfte eingeklemmt. Be¬
wusstlosigkeit. Hautabschürfungen und Sugillationen. Unruhige Nacht. Morgens
Hämoptoe (Liter), die sich in den beiden folgenden Tagen mehrere Mal wieder¬
holte, so dass er 2 l / 2 Liter Blut verloren zu haben glaubt. Husten und später
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fiO Pr. Ci ml er,
welche hereditär nicht hclastet waren und mitten in vollster Gesundlicit von einem
Unfall betroffen waren, von welchem sie sieh nicht wieder erholen konnten, sie
werden siecli und nach kurzer Zeit schon lassen sich die unzweifelhaften Zeichen
der Phthisis nachweisen. Zumal der 2. Fall ist iiusserst beweisend, ein weit über
das Gewöhnliche grosser und starker Mann, dessen Familienmitglieder das höchste
Alter zu erreichen pflegten, der 14 Jahre lang Soldat war und 3 Feldzüge mit¬
gemacht hat, ist volle 55 Jahre der Kräftigsten Einer. Er stürzte aus beträcht¬
licher Höhe herab auf die Brust und 2 Monate später ist er tuberculös. Diebeiden
Fälle unterscheiden sich dadurch von einander, dass in dem einen bald nach dem
Unfall Hämoptoe sich einstellte, in dem anderen nicht. Für die Entstehung der
Tuberculosc ist dieses ohne Bedeutung.
Die beiden nächsten Beobachtungen (3 und 4) ) thun dar, dass auch ein
Fall zu ebener Erde auf Brust oder Bücken genügt, um zur Tuberculose Anlass
zu geben, w r enn derselbe heftig genug ist, um eine Erschütterung der Brusteinge¬
weide mit ihren Folgeerscheinungen zu veranlassen. Im 4. Fall zumal hat nur
ein anscheinend bedeutungsloses Hinschlagen auf den Bucken stattgefunden, wel¬
ches allerdings, da es mitten im vollen Lauf stattfand, von beträchtlicher Inten¬
sität gewesen ist und nichtsdestoweniger entwickelte sich im Anschluss hieran bei
dem kräftigen Mann, der 15 Jahre Soldat gewesen war, in erstaunlicher Schnelle
die Tuberculose der Lunge.
Die Beobachtung 5 betrifft eine penetrirende Brustwunde bei einem Neger
(conf. 1. Theil), die fi. einen Sturz, der eine Fissur der Beckenknochen veran-
lasste.
Auswurf, zeitweise blutig gefärbt. Nach G Monaten abgemagert, Dyspnoe. Lungen¬
erscheinungen besonders links. Elastische Fasern und Tuberkelbacillen.
Beobachtung 2. Ein 55jähriger Zimrnermann, erblich nicht belastet, stets
gesund, athletisch gebaut, machte 3 Feldzüge mit, fiel 20' von einem Gerüst auf
einen Balken mit der linken Seite. Heftiger Schmerz auf der Brust, keine Wunde.
Anschwellung der Brust. Musste am nächsten Tage die Arbeit wegen Schmerzen
und Stechen in der Brust aufgeben. Husten, der in 3 Wochen zunahm, spärlicher,
,,kleisterartiger“, blutig gestreifter Auswurf. Dann wieder Haemoptoc. Links
Erscheinungen stärker als rechts. Elastische Fasern, Tuberkelbacillen.
*) Beobachtung 3. 22jähriger gesunder Tischlergeselle, ans gesunder Fa¬
milie, schlug mit der Brust auf die Kante einer Treppenstufe von einer schweren
Last niedergedrückt. Schmerzen an demselben Tage. Nach 14 Tagen Fieber und
Stiche in der Brust. 4 Wochen nach dem Unfall Hämoptoe. Blutiger Auswurf.
Beiderseits Dämpfung. Im Sputum elastische Fasern und Tuberkelbacillen.
Beobachtung 4. Ein 31 jähriger Schutzmann fällt auf dem Trottoir auf Ge-
säss und Rücken. Musste aufgehoben werden. Am folgenden Tage Frost, Hitze,
dann Husten und Auswurf. 4 Wochen später verlängertes Exspirium über beiden
Spitzen, links miitelgrossblasiges Rasseln. Tuberkclbacillen.
Beobachtung 5 (s. 1. Theil).
Beobachtung G. Gesunder Lieutenant stürzt vom Pferde auf den Rücken.
Fissur der Beckenknochen. 3 Monate nach dem Sturz Husten zeitweise mit Blut.
Nach 4 Monaten wurde bereits Tuberculose diagnosticirt.
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Ueber den Zusammenhang zwischen Trauma und Tuherculose.
fil
Im 7. Falle ') hatte sich die Lungenaffection unter den Augen der Aorzte
entwickelt. Als die Patientin wegen ihrer Scharlacherkrankung in die Klinik kam,
wurde sie, wie es üblich ist, auf das Genaueste und von verschiedenen Beobach¬
tern untersucht und nicht eine Spur von Lungenerkrankung gefunden. Erst als
sie nach vollkommen abgelaufener Krankheit und nach fast völliger Heilung ihrer
Wunde sich nicht erholen konnte, abmagerte und schliesslich zu husten anfing,
wurde man aufmerksam und constatirte die LungenalTection.
Während alle anderen Fälle Personen betreffen, welche hereditär in keiner
Weise belastet waren und die einzig und allein durch ihren Unfall und in di-
rectem Anschlüsse an denselben erkrankt und tuberculös geworden sind, ist es im
8. Fall nicht so. Die Familie des Patienten ist phthisisch und über seine heredi¬
täre Belastung ist kein Zweifel und nichtsdestoweniger gehört dieserFall nicht nur
hierher, sondern ist sogar einer der prägnantesten und bewegendsten. Trotz seiner
Abstammung von einem tubereulösen Vater ist Patient beinahe 40 Jahre lang
nicht allein vollkommen gesund, sondern auch in aussergewöhnlichein Maasse
stark und kräftig und hat stets ein Bild blühendster Gesundheit dargeboten. Wie
mit einem Schlage ändert sich dieses mit seiner Verunglückung. Unserer Ueber-
zeugung nach würde dieser Riese ohne seinen Unfall heut sicher nicht tuberculös
sein, ob er es später auch ohne jede Gelegenheitsursache geworden wäre, entzieht
sich natürlich der Beurtheilung, ist aber für unseren Zweck ohne Belang: darzu-
thun, dass das Trauma des Brustkorbes als Gelegenheilsursache für den Ausbruch
der Lungentuberculose gewirkt hat. Hat er keine tuberculöse Disposition besessen,
so ist der Unfall einzig und allein die Veranlassung zur Entstehung der Phthise
gewesen, hat er die tuberculöse Disposition jedoch schon längst in sich getragen,
nun so war es das Trauma, welches sich in seiner Wirkung zu dieser gewisser-
massen hinzu addirte, den Becher zum Ueberschäumen brachte und der Einwande¬
rung der Bacillen Thür und Thor öffnete. Jedenfalls wäre es doch immerhin ein
seltenes Spiel des Zufalles, wenn Jemand, selbst wenn er Mitglied einer tuber-
culösen Familie ist, an 40 Jahre lang kräftig und gesund und ohne eine Spur von
iuberculöser Erkrankung ist, dann einen schweren Fall auf die Brust thut, welcher
ihn für mehrere Wochen auf ein Krankenlager wirft, sich von diesem als Phthi¬
siker erhebt und man nichts anderes als Veranlassung für diese tuberculöse Er¬
krankung ansprechen wollte, als den Umstand, dass sein Vater und seine Schwester
*) Beobachtung 7. Ein 22jährigesDienstmädchen schlug im März mit grosser
Gewalt die Brust gegen einen Pfosten, verletzte sich an einem Haken am Arm.
Bewusstlos. Charite. 2 Tage darauf Schüttelfrost und Scharlachexanthem. Nach
3 Monaten im Krankenhaus Husten, Abmagerung, Inliltration der rechten Lungen¬
spitze, elastische Fasern und Bacillen.
Beobachtung 8. Ein 39jähriger Lederzurichter aus phthisischer Familie,
selbst gesund, stürzte 35' herunter und schlug mit der linken Brustseite gegen
die Kante der geöffneten Thür, der 250 Pfund schwere Sack, den er trug, auf ihn.
Er glitt ab und fiel wieder mit der Brust aufs Pilaster. Kopfwunde, Ohnmacht,
Fieber, Schmerz. Am 3. Tage Blntspejen kleiner Mengen, t! Wochen Bettruhe.
10 Monate nach dem Unfall linksseitige Dämpfung, Kassrln, Elastische Fasern
und Tuberkelbacillen. *
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62
Dr. Guder,
gleichfalls an Phthise gelitten haben. Seine hereditäre Disposition hat er stets in
sich gehabt, es ist nur nicht recht klar, warum diese, wenn sie einzig* und allein
wirksam gewesen ist, 40 Jahre lang gerade bis einige Wochen nach dem »Sturz
gewartet haben soll, um hervorzutreten.
Lacher 1 ) citirt in seiner Zusammenstellung noch 3 mir unzugängliche Fälle
aus dem Sanitätsbericht über die deutschen Heere. 1870 71. 1. Theil. S. 396.
Liebermeister 2 ) schreibt: „Wenn bei einem Menschen, der nicht an
Lungentuberculose leidet, aus irgend einem Grunde, z. B. in Folge eines Traumas,
eine Blutung aus den Respirationsorganen erfolgt, so kommt es häufig vor, dass
ein Theil des Blutes durch Aspiration in die Lungenalveolen gelangt, ln den
meisten Fällen entstehen dadurch keine wesentlichen Störungen, indem das Blut
allmälig theils ausgeworfen, theils resorbirt wird; in anderen Fällen aber ent¬
wickelt sich, ähnlich wie nach Aspiration von Speisen oder anderen Fremdkörpern,
eine Pneumonie, die entweder mit Resorption endigt, oder einen chronischen
Charakter annimmt und dann lange als chronische Pneumonie besteht, später viel¬
leicht ganz oder theilweise in Resorption übergeht oder endlich bei Vorwiegen der
interstitiellen Bindegewebswucherung zur Schrumpfung des betreffenden Lungen¬
abschnittes führt; wenn aber das Gift der Tuberculose schon irgendwo im Körper
vorhanden war, oder wenn es gelegentlich in die Lunge eingeführt wird, so kann
auch diese chronische Pneumonie in Tuberculose übergehen. Besonders häufig
kommt auch der folgende Fall vor: Bei einem Menschen besteht an einer Stelle
der Lunge ein beschränkter tuberculöser Herd und es entsteht von diesem aus
eine Hämoptoe: das ergossene Blut wird zum Theil ausgeworfen, aber ein Theil
gelangt an einer bisher gesunden Stelle der Lungen, besonders häufig in einem
unteren Lappen, in die Lungenalveolen und bewirkt dort eine chronisch oder auch
subacut verlaufende Pneumonie; dieselbe kann theilweise oder auch ganz zur Re¬
sorption gelangen, aber nicht selten geschieht es, dass dieselbe ganz oder theil¬
weise in Tuberculose übergeht, und dass nun die vorher nur langsam fortschrei¬
tende Krankheit schnell sich weiter entwickelt und in der Form der Phthisis flo-
rida zum Tode führt.“ „Die älteste Krankengeschichte, welche in der Weise ge-
*) Lacher, Leber Tuberculose in Folge von Traumen in gerichtlich-mcdi-
cinischer Hinsicht. Friedreich’s Blätter. 1891. Seile 321.
1. Grenadier am 30. October 1870 Granatsplitter an die linke Brust. Ein-
senkung mehrerer Rippen bezw. Rippenknorpel. Keine Hautverletzung. Heftiger
Bluthusten. Doppelseitige Brustfellentzündung. Februar 1871 Husten, Auswurf,
Körperschwäche, lieber der rechten Lungenspitze Dämpfung. Verdacht auf be¬
ginnende Tuberculose.
2. Beobachtung 2. Seite 398. Lieutenant. 19. Januar 1871 Granatsplitter
gegen die linke Brust. Bluthusten. 1874 desgl. 1878 wiederum Bluthusten,
Athemnoth, Spitzencatarrh, Lungentuberculose.
3. Beobachtung 5. Seite 498. Fnteroflicier. 16. August 1870 Granatsplitter
gegen die linke Brust ohne Hautverletzung. Sofort Bluthusten. November 1870
Tuberculose der rechten Lungenspitze.
2 ) L i ebermci s t e r, Feber Lungentuberculose, Deutsche med. \\ ochen-
K'hrift. 1888. No. 28. Seite 566.
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Ueber den Zusammenhang zwischen Trauma und Tuberculose.
63
deutet werden kann, dass eine durch Trauma entstandene Hämoptoe zu Lungen-
tuberculose führte, findet sich bei Herodot. Als Xerxes mit seinem Heere von
Sardes auf brach, war der dritte Anführer der Reiterei Parnuches krank zurück¬
geblieben, „denn es war ihm beim Ausmarsch ein schwerer Unfall zugestossen;
als er nämlich ausrückte, lief ein Hund seinem Pferde unter die Beine, das Pferd
sah nicht vor sich, scheute, bäumte sich und warf den Parnuches ab; nach dem
Fall spie er Blut und die Krankheit ging in Schwindsucht über (eg tpiKöiv
TteQttjX&e q vovöog)“*
— In zahlreichen Fällen konnte ich bei Kranken, bei welchen Hämoptoe auf¬
getreten war, in den nächsten Tagen eine mehr oder weniger umfangreiche frische
Infiltration nachweisen, die sich unter Fiebererscheinungen entwickelte. Zuweilen
ging diese Infiltration völlig in Lösung über und es geschah dies in einzelnen
Fällen selbst bei umfangreichen Infiltrationen, welche einen ganzen unteren Lungen¬
lappen umfassten; in anderen Fällen endlich entwickelte sich eine Phthisis florida,
welche unter anhaltendem Fieber zum Tode führte l ). Solche Fälle kommen vor
sowohl bei Individuen, bei denen schon früher eine bisher weniger umfangreiche
phthisische Infiltration bestand, als auch bei solchen, bei welchen vor dem Auf¬
treten der Hämoptoe keine Lungenerkrankung hatte nachgewiesen werden können.
Traumatische Veranlassungen können nicht nur durch Vermittelung der Hä¬
moptoe, sondern auch in mehr directer Weise zu chronischer Pneumonie und zu
Lungenschwindsucht führen, und die Fälle sind nicht ganz selten, in welchen an
eine Verletzung der Lunge durch Stich oder Schuss oder Quetschung oder Rippen¬
bruch eine Infiltration der Lunge sich anschliesst, die früher oder später in tuber-
culöse Phthisis übergeht.
Sokolowsky 2 3 ) schliesst seine Mittheilung eines Falles von Contusions-
pneumonie: „Einige ähnliche Fälle wie Brehmer habe ich selbst während meiner
ärztlichen Thätigkeit in Görbersdorf zu beobachten gehabt. In einem derselben,
den ich sehr scharf in Erinnerung habe, stürzte ein bisher ganz gesunder Oflicier
in dem Manöver mit dem Pferde und sein Brustkasten wurde dabei stark ge¬
quetscht. Ein Blutsturz war sofort die Folge davon, dann begann der Patient zu
husten und allmälig entwickelte sich eine chronische Lungenphthisis. In einem
anderen Fall sprang ein ganz gesunder Landwirth von einem hohen Heuschober
herunter. Er fiel, bekam eine Lungenblutung und wurde hernach schwindsüchtig.
Ein bedeutendes Lungentrauma war in diesen Fällen ebenfalls der Ausgangspunkt
infectiöser Processe (wie hei der Pneumonie), obgleich einer anderen, d. h. tuber-
culöser Natur“. (Anscheinend auch von Brehmer verwerthet.)
Auch Heimann n ), der einen Fall acuter Pneumonie nach einem Trauma
beschrieb, konnte eine Tuberculose nach einem Trauma beobachten: „Ein aus gc-
1 ) Conf. Baeumler, L eber eine besondere, durch Aspiration von Cavernen-
inhalt hervorgerufene Form acuter Bronchopneumonie bei Lungentuberculose.
Deutsche med. Wochenschrift. 1893. No. 1.
2 ) Sokolowsky, Kann ein äusseres Körpertrauma zu einer acuten Pneu¬
monie führen? Berliner klinische Wochenschrift. 1889. No."39. Seite 860.
3 ) Heimann, Kann ein äusseres Trauma zu acuter Pneumonie führen?
Berliner klinische Wochenschrift, 1890. Seite 920,
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f>4
Dr. G u d e r,
sunder Familie stammender seihst gesunder Steinhauer (!) erlitt durch einen auf¬
fallenden Stein eine Quetschung der vorderen linken Brustwand. Bluthusten trat
ein, bald nachher kamen Zeichen beginnender Tuberculose und der Mann endete
nach nicht ganz zwei Jahren durch einen Blutsturz. Solche Erscheinungen fordern
dazu auf, dem ätiologischen Zusammenhang von äusseren Traumen mit infectiösen
Lungenerkrankungen grössere Aufmerksamkeit zuzuwenden“.
Wolff 1 ) schreibt: „Ein Krankheitsverlauf wie folgender ist kein seltener:
„Ein an sich kräftiger junger Mann führt einen leichtsinnigen Lebenswandel und
befindet sich dadurch in einem gewissennassen depotenzirten Zustand, als er bei
einer Velocipedfahrt stürzt und durch den Fall auf den Randstein sich eine Con-
tusion einer Schulter zuzieht. Es wird dabei keine äussere Verletzung constatirt,
doch beginnt der junge Mann nach dem Sturz zu kränkeln und es entwickelt sich
eine Tuberculose der betreffenden Seite. — Dass Leute mit traumatisch durch ihr
Gewerbe afficirten Lungen recht wohl sich die Tuberculose ambulatorisch zuziehen
können ist bekannt“.
Jaruntowsky 2 ) lässt es in solchen Fällen wie dein seinigen unentschieden,
„ob durch ein Trauma Veränderungen in der Lunge hervorgerufen werden, die
für die Ansiedelung der Bacillen günstige Bedingungen schaden (Mendelsohn),
oder ob wir es mit einer latenten Tuberculose zu thun haben, welche erst durch
den durch das Trauma gesetzten Impuls zum Vorschein kommt, wie Rühle be¬
hauptet“.
Forensisch wichtig scheint der Fall von M uzell 3 ), der mir nicht zu¬
gänglich ist, zu sein.
Ferner ist es die Beobachtung!) von Mondeisohn 4 ), an die er folgende Be¬
merk ungen anknüpft: „Zu unserem Bedauern haben wir darauf verzichten müssen,
*) Wolff, Leber Inlectionsgefahr und Erkranken. Münchener medicinische
Wochenschrift. 1892. Seite (585.
-) Jaruntowsky, Xoviny lekarskie April. Referat. Deutsche Medicinal-
zeilung. 1892. No. (59. Seite 799.
Ein 30jähriger, erblich nicht belasteter Mann bekam einen starken Schlag
gegen die obere G(gend des Brustkorbes, worauf sofort eine Lungenblutung und
ein bedeutender Kräfteverfall erfolgten. Nach 4 1 2 Monaten etwas besser. 8 Mo¬
nate nach dem Trauma stellte sich die Hämoptoe wieder ein und gegen Ende des
Jahres unzweifelhafte Erscheinungen von Lungentubereulosc (Bacillen).
T ) Muzell, Von einer durch einen Stoss verursachten Blutstürzung und
darauf erfolgter lethaler Lungenschwindsucht. Med. und chir. Wahrnehmungen.
Berlin 1754. 1. Sammlung 13—15.
4 ) Mendelsohn, Beobachtung 9. Mbjähriger Eisenbahnconducteur aus ge¬
sunder Familie und selbst gesund, stürzte von einem Wagen mit der rechten Seite
auf den Perron. Bewusstlos. Gdcnkbnich am rechten \ orderarm, Quetschung der
rechten ltippeiigeneiid. Schmerzen in der rechten Seile. Seitdem ununterbrochen
leidend. Nach 2 Jahren starke Abmagerung. Nach weiterem 1 Jahr Lungen¬
blutung. Nach weiteren 2 Jahren Kraftlosigkeit, Nach t sch weisse. Rechtsseitige
Lungemuherculose. Als unwahrscheinlich angenommen, dass diese mit der Ver¬
letzung* im Zusammenhang stehe. Ein anderes Gutachten hält den Zusammenhang
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Ueber den Zusammenhang zwischen Trauma und Tubereulöse.
(55
die schier überreiche Zahl von ärztlichen Attesten, die den Processacten beiliegeu
und die der Kranke in stetiger Folge seit seinem Unfall eingeholt hat, in ihrer
Vollständigkeit zum Abdruck zu bringen. Sic geben ein so klares Bild von dem
unabweisbaren Zusammenhänge zwischen dem Unfälle und der LungenalTection,
dass man billig erstaunt sein kann, wie der erste Begutachter hat ein derart ne-
girendes Urtheil fällen können. Die einzelnen Punkte des Verlaufes ergeben sich
aus den angeführten Stellen zur Genüge; nur speciell hervorheben möchten wir
nochmals, dass der Kranke vorher stets gesund gewesen, dass er aus einer völlig
unbelasteten Familie stammt, dass er seit dem Unfall nicht aufgehört hat zu
kränkeln und dass die tubereulöse AITection sich gerade auf derjenigen Seite ent¬
wickelt hat, auf welche er seiner Zeit aufgefallen ist; alles Momente, die laut
genug dafür sprechen, dass einzig und allein dem Sturze die Schuld an der
Lungenerkrankung zuzuschreiben ist. Nebenbei bemerkt sei, dass auch der Ge¬
richtshof zu dieser Ansicht gelangt ist und die Haftpflicht der Eisenbahngesell¬
schaft anerkannt hat.
„Wir haben Kenntniss von noch 2 anderen hierher gehörigen Fällen, können
sie jedoch, da uns die näheren Daten fehlen, nur andeuten. In dem einen war
ein Eisenbahnschalfner bei einem Eisenbahnunfalle an der Brust contusionirt
worden, und im Anschluss daran schwindsüchtig geworden. Derselbe wurde gegen
die Eisenbahngesellschaft klagbar und die drei eingeholten Gutachten dissentirton.
Zwei derselben sprachen sich aus, dass dem Unfall keine Schuld an der Erkran¬
kung beizumessen sei, das dritte jedoch nahm einen ursächlichen Zusammenhang
an, indem es als Analogie die von Leyden beobachteten Fälle von Lungengangrän
nach Verletzungen der Brust anführte. Das Obergutachten entschied sich für die
abweichenden Ansichten, „da zur Zeit sichere Beobachtungen, dass sich nach
Trauma Tubereulöse entwickele, nicht bekannt seien.
„Auch in einem weiteren Falle (mündliche Mittheilung des Herrn Dircetor
Guttmann) handelte es sich um einen Eisenbahnbeamten, der nach einer Uoiii-
pression des Thorax phthisiseh geworden war und bald die unverkennbaren Zeichen
der Tubereulöse darbot. u
Brehmer hat den nachfolgenden Fall in seinen beiden Werken ) besprochen.
Bei den Ausführungen in seiner zweiten Arbeit setzt er die Kenntniss des in der
ersten Arbeit mitgethcilten Falles voraus. Ich werde deshalb mit den Jahreszahlen
andeuten, welche Stellen dem älteren und welche dem späteren Werk entnommen
sind. Da Brehmer nur seine Auflassung verficht und gegen die Ansichten seiner
Gegner, ohne ihre motivirten Gutachten mitzutheilen, stark polemisirt, so lässt
sich schwer ein Auszug aus seinen Ausführungen geben. Da ich mich ferner
überzeugt habe, dass Brehrner’s Arbeiten schon jetzt schwer zu erlangen sind,
theile ich die Ausführungen möglichst im Ganzen mit:
für wahrscheinlich oder doch möglich. Das .Superarbitrium schliesst die Möglich¬
keit keineswegs aus, doch sei der positive Beweis nicht erbracht.
) Brehmer, Die Aetiologie der chronischen Lungenschwindsucht vom
Standpunkt der klinischen Erfahrung. Berlin 1S85.
Brehmer, Die Therapie der chronischen Lungensehwindsucht. Wiesbaden
ISS». S. 170.
Vierteljahr»schr. f. tfer. Med. Dritn* F«d^e. IX. 1.
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66
Dr. Guder,
„Bei den Füllen der traumatischen Phthise verweile ich etwas länger, weil
sie zeigen, wohin man in der medicinischcn Wissenschaft gelangt, wenn man Dc-
ductionen an Stelle der Erfahrung und Beobachtung setzt.“
„Die traumatische Phthise ist ja, da leider nicht jeder Arzt richtig beob¬
achten kann, da sie nicht so häufig wie die gewöhnliche Phthise vorkommt, viel¬
fach übersehen und geleugnet worden, wie nachstehender Processfall ergicbt w (1889).
Eine Frau S. besuchte meine Heilanstalt; sie soll in ihrer Kindheit an scro-
phulöser Driisensehwellung gelitten haben, war dann gesund, war angeblich erst
seit kurzer Zeit krank, nichtsdestoweniger hatte sie rechts oben Cavernen, fieberte
und litt an Xachtschweissen. Der Verlauf war also ausserst rapid; eben so schnell
schritt jedoch auch die Besserung vor. Da nun eine so schnelle Besserung von
mir nur in den Fällen beobachtet worden war, bei denen ein Trauma der Erkran¬
kung vorangegangen war resp. in dem alten Sinne gesprochen, bei denen ein
Trauma, ein Insult auf den Thorax die Erkrankung verursacht hatte, so frug ich
Frau S., ob nicht ein Insult sie rechts oben getroffen habe.
Denn ich konnte auch einen Grund dafür nicht finden, dass die Phthise hier
zuerst rechts statt links begonnen hatte. Da erzählte Frau S., dass allerdings
einige Wochen vorher der Wagen, in dem sie gesessen habe, von den Puffern einer
Locomotive erfasst und zertrümmert worden sei, wobei sie einen Stoss rechts oben
am Thorax erlitten habe. Sic habe darauf nichts gegeben, das Factum auch beim
Krankenexamen nicht erwähnt, weil eine Beschädigung der äusseren Decken oder
irgend eine Verletzung zur Zeit nicht bemerkbar gewesen seien.
Mir war nun dadurch der Fall in seiner Ursache und in seinem Verlauf klar.
]n dem Process, den der Mann der Patientin — ohne mein Wissen -- gegen die
Eisenbahn einleitete, wurde von Sachverständigen meiner vor Entdeckung des
Bacillus abgegebenen Ansicht durchaus widersprochen.
Das erste Gutachten wurde mit abgegeben von einem Leiter einer „Heil¬
anstalt für Lungenkranke und Blutarme 14 . Die 3 Aerzte erklärten: „„Es fragt sich
aber, liegen Thatsaehen vor, welche einen heftigen Stoss gegen den oberen Theil
der rechten Brusthälfte genau der Stelle der entzündeten Lunge gegenüber und
eine Fortsetzung desselben auf das Lungengewebe hinter der Brustwand als wirk¬
lich stattgefunden oder nur als möglich und wahrscheinlich erscheinen lassen.
Selbstverständlich muss ein Stoss, der das Lungengewebe getroffen und ge¬
quetscht, contusionirt haben soll, zuerst die Brustwand getroffen haben. Seine
Wirkung wird in ihr abgeschwächt und muss daher in der Brust wand deutlicher
sein als in den tieferen Geweben (sic! Dr. B.). Aber selbst angenommen, dass
die Brust an dieser Stelle von einem Stoss getroffen worden sei, so ist es nicht
erklärlich, wie ein solcher die Lungenspitze heftig gequetscht haben soll'). Die
Kippen des oberen Theiles des Brustkastens sind so wenig beweglich, durch das
Schlüsselbein und das Schulterblatt, die dicken Brustmuskeln und den Busen einer
v ) Quetschung ist von Niemand behauptet worden, sondern nur, dass der
Stoss auf der betreffenden Thoraxstelle die Pneumonie bedingt habe, wie dies
vielfach beobachtet wurde. Es ist aber keinem der Autoren eingefallen, „Quet¬
schung der Lungenspitze“ dabei zu supponiren, wie diese Herren Experten tluin
(Br eh in er) (188o).
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Ucber den Zusammenhang zwischen Trauma und Tuhorculose.
fi7
jungen Frau geschützt, dass sie eine quetschende (!!) Wirkung eines Stosses auf
die Lunge nicht zulassen; das ist ohne Hippenbruch nur an den unteren beweg¬
lichen falschen Rippen möglich. Das bewegliche, schwammige Gewebe der Lunge
ist im Stande, dem Stoss leicht auszuweichen und ihm nachzugeben, ohne zu
leiden (!!!)“ (1885).
Nicht mit einer Silbe erwähnen die Experten, was Lebert und Andere über
die traumatische Phthise geschrieben haben; sie können also auch nicht versuchen,
die von Lebert angeführten Fälle zu widerlegen: sie setzen einfach ihre Träu¬
mereien über in Thatsachen. Freilich wurden diese „Experten“ gar bald unsanft
aus ihren Phantasieen herausgerüttelt durch die Arbeit von Litten über die Con-
tusionspneumonieen. Diese Arbeit bewies, dass acute Lungenentzündung durch
ein Trauma entsteht ohne Rippenbruch etc. Widerrufen haben diese Experten ihr
Votum aber nicht. Nun beschloss der Gerichtshof auf Grund der Litte naschen
Arbeit die medicinische Facultät der vaterländischen Universität zu hören. Dieses
Gutachten wurde 1883 abgegeben und verwarf meine 1881 entwickelte Ansicht,
dass eine durch Insult des Thorax hervorgerufene Lungenerkrankung auch Phthise
werden kann, als falsch, denn: „„Die Schwindsucht wird durch eine Jn-
fection des Körpers hervorgerufen. Entgegengesetzte Ansichten müssen als
dem heutigen Stande der medicinischen Wissenschaft nicht mehr entsprechend
zurückgewiesen werden.““
Ob die Facultät 1881, zu welcher Zeit, also vor Koch’s Entdeckung, ich
mein Gutachten abgegeben habe, ebenso, oder nicht auch von chronischer Lun¬
genentzündung gesprochen hätte, bezweifle ich sehr (1889).
„„Die Behauptung des Dr. Brehmcr““, fährt die Facultät fort, „„dass
Lungenleiden resp. Lungenschwindsucht bei ganz gesunden Personen durch
hefttigen Stoss oder Schlag oder Sturz auf die Brust erzeugt worden ist, müssen
wir nach unserer Ueberzeugung l ) entschieden für unrichtig erklären. Lungen-
tuberculosc oder Schwindsucht entsteht ausschliesslich durch eine ganz bestimmte
Ursache, niemals durch eine Verletzung. Wenn Dr. B. am 13. September 1882
die Arbeit von Dr. Litten zur Unterstützung seiner Ansicht anzieht, so geschieht
dies durchaus irrthümlicher Weise, denn in der ganzen Arbeit ist von einer Ent¬
stehung von Lungenschwindsucht oder von entzündlichen Erkrankungen, die zur
Lungenschwindsucht führen, keine Rede.““
Die oberflächliche Beurthcilung jener Facultät ist hiermit sehr charakterisirt.
Denn die Litten’sche Arbeit war von mir nicht citirt für die traumatischePhihise,
sondern nur dafür, dass jene Experten unrecht haben, wenn sie behaupten, dass
das Trauma sich in der Brustwand deutlicher beeinträchtigt manifestiren muss als
in den tieferen Geweben, dass womöglich erst die Rippen gebrochen sein müssen,
ehe die Lunge „gequetscht“ werden kann. Diese „Experten“ kannten nur Quet¬
schung, wie es schien, und votirten von unserem jetzigen Standpunkt eigentlich
gegen sich. Denn sie geben dieEntstchung von Lungenentzündung durch Trauma
') „Also auch eine Facultät entscheidet nach ihrer Ueberzeugung, nicht
nach ihrer Erfahrung, obschon bei Beurthcilung von Fällen in der Medicin, als
Erfahrungs-Wissenschaft, die Erfahrung doch allein massgebend sein darf.
Dr. B.“
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68
l)r. Guder,
zu, und wissen auch jetzt, dass bestimmte Mikroorganismen dieLungenentzündung
bedingen; also ganz wie bei der Lungenschwindsucht, wo sie es verneinten!!
Die betreffende Facultät hob wiederholt hervor, dass niemals ein Stoss etc.
die Ursache der Lungenschwindsucht sein könne. Sie verkündete dies, obschon
bald darauf auf der über ein reicheres Material verfügenden Bamberger’schen
Klinik in Wien ein Fall von primärer tuberculüser Pleuritis nacli einem Trauma
demonstrirt worden war. u
Brehmer cilirt dann den .Fall von Lustig und fahrt dann fort: „Jeden¬
falls mahnt der Fall — sagte ich in meiner Aetiologie — überhaupt und speeiell
die wissenschaftlichen (-orporationen, denen nur ein kleines Beobachlungsfeld zu
Gebote sieht, vorsichtig mit ihrem nur auf Deductionen beruhenden Urtheil zu
sein. Befangen in irgend einer theoretischen Ueberzeugung deducirte dieFacultät:
es muss verneint werden, dass Jemals ein Trauma die Ursache der Tuberculo.se
sein kann“, und an einer anderen Universität existirt bereits infolge des grösseren
Krankenmateriales der Fall, der nach ihren wissenschaftlichen Deductionen nicht
existiren kann, als unbestreitbare Thatsache.
Auf Grund dieses Facultäts-Gutachtens ist der Beschädigte kostenpflichtig
abgewiesen worden, und gleichzeitig mit dem Erscheinen meiner Aetiologie 1885,
in der ich auf Grund meiner klinischen Erfahrung für die traumatische Phthise
gegenüber einer Facultät eintrat, erklärte auf dem Chirurgencongress R. Volk¬
mann auf Grund seiner Erfahrungen, dass die grosse Mehrzahl von Knochen-
Tubereulose sicher auf traumatische Anlässe zurückzuführen sind. Und in dem¬
selben Jahre schloss Mendelsohn seinen Aufsatz über die traumatische Phthise,
den er mit Unterstützung Leyden’s geschrieben hat, mit den Worten: „Sich in
derartigen Fällen hinter den Bacillus zu verstecken und zu sagen, er und nicht
das Trauma mache dieTuberculose, ist wohlfeil, aber unzutreffend, — es ist zwar
die Kugel, welche tödtet, die Veranlassung ist jedoch immer der Schütze.“
Eine vernichtendere Kritik konnte die qu. medicinische Facultät und die be¬
treuenden Experten für ihre „Deductionen“ nicht treffen.
Die Erklärung, wie nach einem Trauma die Lungenschwindsucht zu Stande
kommt, ist allerdings schwer zu geben. Mendelsohn macht sich die Sache frei¬
lich leicht: „Wir müssen hier annehmen, dass die Bacillen in die gesunde Lunge
auf den ihnen durch das Trauma geöffneten Wegen eindringen und sich hier nach
dem geeigneten Nährboden amsehen. Dieser dürfte aber zweifellos das Blut sein,
welches das Lungengewebe infiltrirt oder sich innerhalb desselben zu einer grösse¬
ren Masse angesammelt hat.“
Dieser Ansicht ist aus mehreren Gründen nicht beizustimmen. Einmal kann
der Bacillus sieh nicht nach einem geeigneten Nährboden umsehen, dann aber
beweisen die .Schusswunden, die wohl ausnahmslos heilen, ohne Tuberculose
nach sich zu ziehen, dass Verletzung an der Lunge und Bluterguss an sich durch¬
aus nicht ein günstiger Nährboden für den Tuberkelbacillus abgiebt.
Es wird sich beim Trauma der Lunge wohl genau so verhalten wie beim
Trauma der Knochen, von dem Volkmann sagt: „Die grosse Mehrzahl aller
tuberculösen Knochen- und Gelcnkleidcn ist sicher auf traumatische Anlässe zu¬
rückzuführen, indess nicht auf schwere Wunden und Verletzungen, sondern auf
leichte Traumen, Cuntusionen etc. Man muss annehmen, dass nach einem hef-
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Ueber den Zusammenhang zwischen Trauma und Tubercnlosc.
r>n
tigen Trauma (subcutane Fractur, grössere Wunde etc.) die Energie der reaetiven
und reparativen Gewebswucherung eine so bedeutende ist, dass sie die Entwick¬
lung der Tuberkelkeime nicht gestattet, eine Hypothese, für deren Zulässigkeit
das Verhalten der niederen Organismen zahlreiche Analogieen darbietet. Da¬
gegen wird durch leichtere Traumen, die etwa mit Blutergüssen in die
Spongiosa, mit leichteren synovialen Exsudaten und jedenfalls mit gewissen Ver¬
änderungen im Ernährungszustände der betreffenden Gewebe verbunden sind, wie
es scheint, ein günstiger Nährboden für die Entwicklung des Tuberkelbacillus ge¬
schaffen“ ( r I hese 44).
Vielleicht verhält es sich so wie mit derThatsaehe, die Ziemsscn in seinen
Vorträgen mittheilt: „Während der letzten grossen Masernepidemie in München
hatte Bollinger, wie ich einer mündlichen Mittheilung desselben entnehme,
wiederholt Gelegenheit, in den Leichen von Masernkindern Tuberkelbacillen in
den Lymphdrüson, namentlich der Lungenwurzel und des Mediastinums nachzu¬
weisen, obwohl die betreffenden Kinder angeblich vorher gesund und insbesondere
nicht scrophulös gewesen waren. Dieser wichtige Befund stellt die Erfahrungs¬
tatsache, dass nach überstandenen Masern die Kinder so häufig an Tuberculose
erkranken, in einem ganz neuen Lichte dar: die Maserninfection hat die Tuber-
culose nicht veranlasst , sondern die latente Tuberculose nur manifest gemacht“
(1889).
„Unter den Eingangspforten, durch welche das tuhcrculösc Gift in die Ge¬
webe des menschlichen Körpers eintritt, steht in erster Linie die Lunge,“ schreibt
Bollinger (1. c.). „Das Gift gelangt staubförmig mit der Kespirationsluft in die
Lungenbläschen. Die eminente Disposition l ) des Lungengewebes ergiebt sich aus
der Thatsaehe, dass die grosse Mehrzahl der Fälle von menschlicher Tuberculose
in den Lungen beginnt und zwar gesetzmässig in der Lungenspitze, dem Locus
minoris resistentiae. Die Localprädisposition der Lungenspitze für die Aufnahme
und die Vermehrung des tuberculösen Giftes tritt am schärfsten zu Tage bei jenen
zahlreichen Fällen von geheilter oder in Heilung begriffener Spitzentuberculuse
bei Menschen fast jeden Lebensalters, die an anderweitigen Processen zu Grunde
gehen. Wenn wir auf der einen Seite beobachten, dass die Lungentubcrculosc
wenigstens bei Erwachsenen fast regelmässig in der Lungenspitze beginnt, wäh¬
rend andererseits bei dem Eindringen des offenbar in der Inspirationslufi gleirh-
mässig vertheilten staubförmigen Tuberkelgiftes alle Lungenpartieen ungefähr die
gleichen Giftmengen aufnehmen müssen, so lässt sich der Schluss daraus ziehen,
dass die weitaus grösste Mehrzahl der in die Lungen eindringenden Tuberkel¬
keime von den physiologischen Kräften des Organismus vernichtet werde und ent¬
weder im Lungenparenchym selbst oder innerhalb der Lymphbahnen dem Unter¬
gang anheimfällt. Von vielen Tausenden von Tuberkelkeimen, die staubförmig in
die Lungen eindringen, werden demnach nur einzelne zum Haften und zur Ver¬
mehrung gelangen können. Die locale Prädisposition der Lungenspitze für die
! ) Organdisposition. 1) Lunge, 2) Lymphdriisen, 3) Darmsehloinihaul,
4) seröseHäute, 5) Kehlkopf, (>) Milz, 7) Gelenke, 8) Knochen, 9) Leber, 10) Niere,
11) Genitalien, 12) äussere Haut, 13) Gehirn und Rückenmark, 14) Muskeln,
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70
Dr. Guder,
Aufnahme und Vermehrung. des tuberculösen Giftes beruht wahrscheinlich auf
mehreren Factoren, wobei die mangelhafte Function dieses Lungentheiles und
wahrscheinlich auch koniotische Reizzustände eine wesentliche Rolle spielen. Die
fortgesetzte Inhalation mancher Staubarbeiten, besonders mineralischen und metal¬
lischen Staubes, macht die Lunge in hohem Grade disponirt zur tuberculösen In-
fcction ebenso wie gewisse constitutioneile Einflüsse, z. B. Anämie, Diabetes,
chronische Verdauungsstörungen, Gefangenschaft etc. Das tuberculöse Gift vei-
mag (namentlich bei Kindern und jüngeren Individuen) das intacte Lungengewebe
zu passiren, um in den intralhoracischen Lymplulrüsen sich festzusetzen und zu
vermehren. Von den Bronchialdriisen und mediastinalen Drüsen aus findet dann
öfters eine regionäre Verschleppung des Giftes auf die benachbarten Drüsen, wie
auch auf die centralen Tlieile der Lungen, auf die Pleuren und das Pericard statt.
Bei einigermassen widerstandsfähigen Individuen zeigt sowohl die locale Spitzen-
tuberculose, wie auch die der intrathoraeischen Lymphdrüsen eine ausgesprochene
Neigung zu langsamem Fortschreiten, zum chronischen Verlauf, zur Obsolescenz
und Verödung mit Bildung bindegewebiger, schiefrig schwieliger Narben, Verkal¬
kung und schliesslich zu vollständiger Heilung. Jede suspecte Spitzenaffection
der Lunge und wahrscheinlich auch jede analoge der Lymphdrüsen ist als infectiös
und nicht geheilt anzusehen, so lange noch käsige oder käsig kalkige Producte
vorhanden sind. Als vollständig geheilt sind nur jene Fälle anzusehen, die als
einfache narbige Schwielen mit oder ohne kalkige Einlagerungen angetroffen
werden.
Eine allgemeine Disposition der Lungen für die Ansiedelung, Vermehrung
und den Durchtritt des tuberculösen Giftes ähnlich derjenigen der Lymphdrüsen
und der Milz zeigt sich weiterhin auch in dem Auftreten der metastatischen Tuber-
culose der Lungen, wobei das Gift von beliebigen Organen (Verdauungstractus,
Peritoneum, Subcutis) aus in den Körper eingedrungen sein kann. Wenn daher
der Ort der Erkrankung nicht immer abhängig ist von der Eintrittspforte des Tu¬
berkelvirus, so muss nicht jede Tuberculöse der Lunge auf Inhalationsinfection
zurückgeführt werden (disseminirte subacute Lungentuberculose der Kinder)“.
Kommen wir nun zu der Betrachtung der Bedeutung des Traumas
für die Entstehung der Lungentuberculose. „In der That“, so schreibt
Mendelsohn, „scheint diese Actiologie keine so seltene zu sein, wie
die relativ grosse Zahl von Fällen der wenigen Autoren, die ihr Be¬
achtung geschenkt haben, beweist und auch unsere eigenen Fälle
haben wir in verhältnissmässig sehr kurzer Zeit zu sehen bekommen.
Ihren Grund wird diese Vernachlässigung der traumatischen Phthise
wohl darin haben, dass die Kranken nach dem Unfall sofort auf die
chirurgische Station gebracht werden, von wo sie, sobald die unmittel¬
baren Folgen des Traumas (Blutung, Verletzung etc.) geheilt sind,
entlassen werden. Später aber, wenn die Tuberculöse sich entwickelt,
denken sie nicht mehr an ihren Unfall oder schreiben ihm doch keine
Schuld zu. Und wie häutig werden sie nicht einmal auf die Ursache
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Uchor üon Zusammenhang zwischen Trauma und Tuherculnse.
71
ihrer Erkrankung gefragt — kennen wir doch ein grosses, vorzüglich
geleitetes Hospital, in welchem über die Phthisen als einer uninter¬
essanten Krankheitsform nicht einmal Krankenjournale geführt werden“.
Weiter fragt es sich dann, auf welche Weise die Einwanderung und
Fortentwickelung der Tuberkelbacillcn erfolgt.
Zunächst kommen in Betracht Verletzungen der Lunge selbst,
und zwar können diese verschiedene Grade haben. Es können Ver¬
letzungen der Lunge, und zwar beträchtliche, durch Contusionen ver¬
anlasst werden, welche äusserlich keine Spur einer Verletzung schaffen.
Geringfügige Zerreissungen des Lungengewebes sind sicherlich in jedem
Fall vorgekommen und in den mit unmittelbar sich anschliessender
Hämoptoe complicirten Fällen sogar beträchtlichere. Durch diese
Wunden der Lunge ist also das Thor geöffnet, durch das die Bacillen
eindringen können. Zu diesen Wunden kommt dann die Blutung, die
von geringfügigen Ecchymoscn bis zu grossen Blutergüssen vorhanden
sein können. Zwar kann sich das Blut zum Theil nach aussen er-
giessen (Hämoptoe, die wohl zu unterscheiden ist von der initialen
Hämoptoe der Phthisiker), es kann aber auch nur eine Infiltration
des Lungengewebes oder eine Ansammlung in zerstörten Partien bilden.
Diese Blutansammlungen geben aber für die Bacillen den besten Nähr¬
boden. Ferner finden sich nach Traumen der Brust Entzündungen,
wie sic als Pleuritis, Pneumonie, Gangrän bekannt sind. Und auch
bei diesen und anderen entzündlichen Zuständen findet der Bacillus
seinen Nährboden durch die Hyperämie. Sie wirkt vielleicht in der¬
selben Weise wie die durch organische Herzfehler bedingte Blutstau¬
ung, deren häufige Coincidenz mit Lungenphthise schon Traube und
Lebert festgestellt haben.
Begünstigend für die Entwickelung der Bacillen kommt hinzu,
dass wegen des meist vorhandenen Schmerzes, vielleicht auch durch
spätere Adhäsionen die Thoraxpartien wenig ausgiebig bewegt werden,
wenig gehustet wird, und so die Secrete weniger hinausbefördert
werden. So hat der Bacillus auch die nöthige Ruhe und Zeit , sich
weiter zu entwickeln.
So sehen wir denn, dass die Contusion der Lunge alle Bedin¬
gungen für die Einwanderung und Entwickelung der Bacillen günstig
darbietet.
„Hieraus ist“, wie Mendelsohn treffend hervorhebt, „die wich¬
tige hygienische Gonsequenz zu ziehen, dass jedes Individuum, welches
eine Verletzung seiner Lungen erlitten hat, ängstlich aus dem Be-
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l>r. fl ii der.
reiche einer Tuberkelbaeillonatmosphäre fern gehalten werden muss.
Vor Allem darf er nicht in’s Hospital gebracht werden. Wer kann
es feststellen, ob nicht eine Anzahl von unseren Kranken, die fast
ausnahmslos unmittelbar nach ihrem Unfall in Krankenhäuser gebracht
sind, sich gerade in diesem mit den mörderischen Bacillen inficirt
hat? Dass eine derartige Infeelion im Hospital nicht gerade unmög¬
lich ist, haben wir selbst gesehen. Niemals sollte man einen Pa¬
tienten mit verwundeter Lunge in der Nähe eines Phthisikers lassen.
„Aber noch eine andere Bedeutung hat die traumatische Phthise,
eine forensische. Diese liegt auf der Hand. Ist erst einmal durch
eine zureichende Erfahrung die Existenz einer traumatischen Phthise
erwiesen, sind erst einmal Fälle in geeigneter Anzahl bekannt, dann
wird ('s nicht mehr möglich sein, dass die Gutachten von Sachver¬
ständigen so wesentlich differiren, wie sie es in den letzten der von
uns publicirten Fälle thun, und wie sie es — wir wissen es — häufig
genug gethan haben. Sich in derartigen Fällen hinter den Bacillus
zu verstecken und zu sagen, er und nicht das Trauma mache die
Tubereulose, ist wohlfeil, aber unzutreffend — es ist zwar die Kugel,
welche tödtet, die Veranlassung ist jedoch immer der Schütze.“
„Diese doppelte Bedeutung aber der traumatischen Phthise macht
es wünschenswert!), dass die Aufmerksamkeit der Aerzte sich mehr
auf dieselbe richte, als es bisher geschehen, damit der Satz, mit wel¬
chem Lebert den kurzen Abschnitt einleitet, welchen er der trau¬
matischen Phthise in seinem Lehrbuch gewidmet hat, aufhört die Be¬
deutung zu haben, die er bisher bedauerlicher Weise noch heute hat:
Le traumatisme comme cause de la phthise cst loin d’etre rare, et
Fon a le droit de s’etonner, ipi’il ait si peu attire Pattention des
medecins.“
Nun weiss ich sehr wohl, dass viele Autoritäten zu der Auf¬
fassung, dass die Einwanderung der Bacillen wirklich erst nach dem
Trauma erfolgt ist, den Kopf schütteln und diese Möglichkeit als eine
nicht bewiesene und sehr unwahrscheinliche ansehen. „Der alte, viel¬
leicht nicht, nachgewiesene Herd“ spielt in den Einwänden eine grosse
Rolle. Mendelsohn und die früheren Autoren haben diesen Punkt
nicht besonders hervorgehoben. Bei der Beurtheilung von Unfall¬
verletzten muss man aber gerade mit diesem Einwurf von vornherein
rechnen. Ich glaube für diesen Punkt keine bessere Autorität in’s
Feld führen zu können als Frölich, der sich in seinem Aufsatz
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1 "eher den Zusammenhang' zwischen Trauma und Tulterculnse.
73
über Militärinvalidität und Lungenschwindsucht folgendermassen aus¬
spricht ):
„Die dritte Voraussetzung der Invalidirung eines dienstunfähig
gewordenen Mannes ist der ärztlich zu führende Beweis, dass die vor¬
handene Dienstuntauglichkeit sicherlich oder wenigstens wahrschein¬
lich durch die im Dienstbcsehädigungszeugnisse bescheinigte Thatsache
verursacht worden ist.
„Emst ist der Anblick der Nothwendigkeit“. Denn die Beweis¬
führung ist für viele innere Krankheiten, insbesondere auch für die
Lungenschwindsucht, oft ein schweres Stück Arbeit, welche einen guten
Theil ihrer Schwierigkeiten verlieren würde, wenn es sich nicht min¬
destens um den Wahrscheinlichkeitsbeweis handelte, und schon die
Möglichkeit genügte. In der That giebt es Verfechter der Meinung,
dass es die Menschlichkrit gebiete, die dienstliche Entstehung einer
Dienstuntauglichkeit immer dann gelten zu lassen, wenn das Gegen-
theil, d. h. die ausserdienstliche Entstehungsweise, nicht behauptet
werden könne. Allein dieser Standpunkt ist in Wirklichkeit unhalt¬
bar. Der begutachtende Arzt hat bei seiner technischen Begutach¬
tung die Menschlichkeit ganz ausser Acht zu lassen, so hart dies
auch klingen mag. —
Die Möglichkeit sohiiesst. die Unwahrscheinlichkeit ein, und so
müssten dann die unwahrscheinlichsten Angaben über die Entstehungs¬
weise einer Krankheit die Grundlage der Invalidirung bilden dürfen.
So sehr ich deshalb am Wahrscheinlichkeitsbeweise festhalten
möchte, so nachgiebig stehe ich dem Begriffe „causal“ gegenüber.
Für die Versorgungsberechtigung kommt es, scheint mir, nicht allein
darauf an, dass eine Krankheit durch eine dienstliche Thatsache er¬
zeugt sein muss, sondern mit gleichem Rechte dürfte Invalidität auch
dann anzunehmen sein, wenn die Krankheit durch dienstliche Um¬
stände bis zu demjenigen Grade, welcher die Dienstfähigkeit auf un¬
berechenbare Zeit ausscldiesst, verschlimmert worden ist. Möge
also auch z. B. eine frühere, vielleicht örtliche Anlage zur Lungen¬
sucht, möge auch vielleicht der wirkliche Beginn dieser Krankheit in
die vor dem Dienstantritt gelegene Zeit zurückzuverlegen sein, —
nichts darf abhalten, die mit der Lungensucht verbundene Dienst-
') Frölich, Deutsche medicinische Wochenschrift, 1S0.H. No. 0, 10, 12,
14, 15, 10.
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74
Dr. G u d e r.
unfähigkeil als Invalidität anzusprechen, falls mit Wahrscheinlichkeit
anzunehmen ist, dass dienstliche Umstände die Krankheit zum Aus¬
bruch gebracht und bis zur Dienstuntauglichkeit entwickelt haben.
Eine andere Causalitätsfrage ist die: Welches Gewicht ist mit¬
wirkenden Nehenursachcn zuzuerkennen? Welchen Ursachen ist
das Ucbcrgewicht zuzusprechen, wenn solche gemischt, als dienstlich
und ausserdienstlich, vereint und gleichzeitig, oder nach einander mit¬
gewirkt haben?
Die dienstliche Entstehung der Dienstunfähigkeit ist meines Er¬
achtens auch dann anzunehmen, wenn jene Nebenursachen zur Ent¬
stehung der Dienst Unfähigkeit so weit wirksam gewesen sind, dass
ohne sie die Dienstunfähigkeit nicht in die Wirklichkeit getreten sein
würde. Eine ausserdienstlich entstandene Lungensucht kann danach
zur Invalidität führen, wenn sie durch den Militärdienst gefördert
worden ist.“
Ich habe das vorhandene Material in möglichster Vollständigkeit
zusammenzutragen versucht. Ich hege die Hoffnung, dass cs für die
Abfassung von ähnlichen Gutachten in Unfallsachen, wie dem ineinigen,
von Nutzen sein wird. Der geringe Umfang der vorhandenen Ca-
suislik wird den Wunsch nach Veröffentlichung möglichst vieler gut
beobachteter Krankheitsfälle und Gutachten als berechtigt erscheinen
lassen.
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Zur Lehre von der forensischen Bedeutung der
Gonokokkenbefünde in alten Flecken.
Von
Dr. Leo Wachholz, und Dr. Julius Nowak,
Dncent für gerichtliche Mcdicin. Assistent am pathnl.-anatomischen Institute der
k. k. Jag. Universität in Krakau.
Die Untersuchungen, über deren Ergebnisse wir an dieser Stelle
zu berichten bestrebt sind, wurden aus Anlass eines gerichtlichen
Falles ausgeführt, dessen Entscheidung einem von uns aufgegeben
wurde.
Bevor wir uns aber unserer Frage nähern werden, erscheint uns
von Belang, in gedrängter Kürze den bisherigen Forschungsergeb¬
nissen auf dem Gebiete der Biologie des Gonokokkus Neisser Rech¬
nung zu tragen, um so mehr als unsere Untersuchungen auf denselben
nöthigen Falls basiren.
Nachdem im Jahre 1879 von Neisser der Gonokokkus entdeckt
wurde, gerieth seine diagnostische Bedeutung bald in Zweifel 1 ) und cs
vermochten kaum die Forschungen Bockhart’s und Bumm’s den¬
selben zu beseitigen; wurde doch der Gonokokkus von einigen For¬
schern, wie z. B. Martin, Fordyce 2 ) u. s. w., auch in anderen patho¬
logischen aber nicht gonorrhoischen Secreten gefunden. Ja, es wurde
sogar von Seiten Lustgartcn’s und Mannaberg’s 3 ) von dem Vor¬
kommen eines dem Gonokokkus täuschend ähnlichen Diplokokkus in
normalen männlichen Harnröhren berichtet.
*) Die ascendirende Gonorrhoe beim Weibe von Dr. E. Wertheim. Archiv
für Gynäkologie. 42. Bd. Berlin 1802.
*) und 3 ) Ueber die praktische Bedeutung der Gonokokken von Dr. Ober»
1 ander, Berliner Klinik. H. 5,
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7(5 l>r. W'jirliliolz und Dr. \owak,
• _ J
Es in*l>iihr( Wort lioini 1 ) der namhafte Verdienst, mit seinem in
der Ausführung leichtem) und im Erfolge sichereren Platten verfahren
den Stroit geschlichtet zu liahon. Die hupft'ersuche, welche Wert¬
heim mit positivem Erfolg an Menschen zu Stande bringen konnte,
sicherten dem Gonokokkus vollkommen die souveräne Stellung in der
alltags an Zahl zunehmenden Sehaar der pathogenen Mikroorganismen.
Wie bedeutend die Vorzüge des AYertheim’schen Verfahrens sind,
konnten wir uns alltäglich bei unseren Culturversuchen in zufriedenster
Weise überzeugen. Dies Verfahren wurde in letzterer Zeit von Finger-)
insofern modilioirt, als er, die Ueberzeugung gewinnend, dass Gono¬
kokken auf saurem Nährboden gut gedeihen, anstatt des etwas un¬
bequemen Blutserum, Harn mit Agar im Yerhältniss 1:2 als Nähr¬
material für Culturen angewandt hatte. Die Eigenschaft, dass die
Gonokokken auch auf saurem Nährboden gut gedeihen, hebt auch
Turro 3 ) in seiner vorläufigen Mittheilung hervor, ausserdem bringt er
sein noch nicht genug erprobtes Isolirungsvcrfahren für Gonokokken
stimmt der Angabe eines neuen Nährmaterialgemisches (neutrales
Fleischinfus, 10 pOt. nicht neutralisirte Gelatine und V 2 —1 pCt.
Pepton). Turro (heilt mit, dass er durch FÜbertragung der Gono-
kokkencultur unter die Vorhaut bei Hunden in 1—2 Tagen einen
typischen riarnröhreniripper hervorzurufen im Stande war.
Die Kenntniss dii'ser Arbeiten, zumeist aber der Arbeit Wert¬
heim’s, bildet.«* für uns die Stütze in allen Untersuchungen.
Den Ausgangspunkt dieser bildete, wie schon Anfangs hervor¬
gehoben wurde, eine vom hiesigen k. k. Landesstrafgericht an einen
von uns ergangene Vorladung, am Untcrrock eines Dorfmädchens
Flecke zu untersuchen, ob sie eventuell von ergossenem männlichen
Samen herstammen. Di«* Anamnese dieses Falles, von der wir erst
später, schon nach Vollendung der Expertise, Kenntniss erhielten,
lautet: Im jüngst vergangenen Sommer traf Agnes K., eine Bauer¬
frau aus B., an einer Wiese den 21jährigen Hirten Peter D. mit der
10 Jahre allen Hirtin Barbara D. den Beischlaf ausübend. Das miss¬
handelte Mädchen erzählte nun sowohl vor seiner Mutter, wie auch
vor dem Untersuchungsrichter, «lass es schon zum sechsten Mal der
Drohungen wogen dem Peter sich hingeben musste.
*) Siehe suli ') auf voriger Seite.
-) Yerhandl. der k. k. Gesellschaft der Aerzie in Wien am 11. Mai 18Ü4.
"’i (ionokokkenziieliiung und künstlicher Tripper. Centralblatt für Bakterio¬
logie. XVI. Bd. 1. II,
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Bedeutung der GonokoKkcnbefumle in alten Flecken.
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Der als Corpus delicti uns überlassene Lcjnwandunlcrrnck zeigte
zahlreiche Flecke; auf der dem Körper zugekehrten Soite fanden sich
drei mit landkartenartigen Contouren versehene, grau gefärbte, wie
gestärkte Flecke, in denen man mittelst des üblichen Verfahrens gut
erhaltene Spermatozoiden auflinden konnte. In nächster Nachbarschaft
mit diesen Flecken befand sich ein vierter, der aus gelblichen, ver¬
trockneten, leicht abzuschabenden Schüppchen zusammengesetzt war.
Die in destillirtem Wasser aufgeweichten Schüppchen zeigten unter
dem Mikroskop zahlreiche Eiterkörperchen nebst in Zerfall begriffenen
Plattenepithelien. Da dieser Befund den Verdacht erregen musste,
dass es sich hier vielleicht um ergossenen Trippereiter handele, wur¬
den einige Schüppchen auf Deckgläsern mit sterilisirtem Wasser auf¬
geweicht, sodann in dünner Schicht ausgehreitet und gefärbt. Einige
Präparate wurden mit wässriger Methylenblaulösung, andere in
der von Lanz 1 ) angegebenen Weise, andere endlich nach Gram ge¬
färbt (Nachfärben mit wässriger Fuchsinlösung). In allen diesen Prä¬
paraten hatte man zahlreiche, den Gonokokken vollkommen ent¬
sprechende, in Häufchen theils frei, theils im Binnenraume der Zellen
liegende Diplokokken gefunden. In den nach Lanz gefärbten Prä¬
paraten gewann das mikroskopische. Bild an Schärfe und Deutlich¬
keit. Die Färbung nach Gram hatte gezeigt, dass es sich in den
Präparaten um verschiedene Diplokokken handelt und zwar: die in
dem Protoplasma der Zellen ruhenden Diplokokken entfärbten sich
nach Gram vollständig (waren durch Fuchsin roth gefärbt), hingegen
Diplokokken und Kokken, welche mehr frei lagen, behielten die Ehr¬
lich - K o ch ’sche Gentianaviolett-Tinction.
Ohne die Anamnese des vorliegenden Falles zu kennen (die
Untersuchung war im Requisitionswege beantragt), nur auf dem Er¬
gebnisse der mikroskopischen Untersuchung hasirend, lautete das
Gutachten:
1. Die sub No. x im Protokoll beschriebenen Gebilde sind Sper¬
matozoiden, die sich nur im männlichen Samen vorlinden
und deswegen sein allein charakteristisches Merkmal bilden.
Nun unterliegt es keinem Zweifel, dass Flecke, in denen man
Spermatozoi'den gefunden hat, von Samenerguss herrühren.
2. Die sub No. y beschriebenen Gebilde entsprechen am wahr¬
scheinlichsten sogenannten Gonokokken, das ist Mikroorga-
’) Deutsche mediciniselie Wochenschrift. No. 0. Is'.l4.
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[>r. Wach hol z und Dr. Nowak,
nismen, welche die Trippererkrankung verursachen; der Fleck,
aus welchem diese gonokokkenartigen Gebilde gewonnen wur¬
den, stammt vom Eiter und zwar wahrscheinlich vom Tripper-
eiter.
3. Wenn die gerichtsärztliche Untersuchung bei dem Angeklagten,
der Misshandelten oder bei ihnen beiden einen eitrigen Aus¬
fluss aus den Genitalien eonstatiren wird, so wird es der
Wahrheit am meisten entsprechen, die Affeetion ihrer Geni¬
talien als Tripper zu erklären.
Wiewohl alle Untersuchungsergebnisse die Annahme der eigent¬
lichen Trippererreger zu bekräftigen schienen, konnte aus leicht zu
begreifenden Gründen das Gutachten nicht endgültig ausfallen; hatte
doch bis nun die Wissenschaft nicht genug Beweise geliefert, auf
Grund des rein morphologischen Bildes Gonokokken sicher diagnosti-
ciren zu können.
Trotzdem Wortheim 1 ) und Finger 2 ) die Thatsache hervor¬
hoben, dass Gonokokken zu den wenig widerstandsfähigen Mikroorga¬
nismen gehören, dass sie durch Austrocknen ihrer Culturen voll¬
kommen ihre Virulenz cinbiissen und weiter nicht gezüchtet werden
können, wurden dennoch einzelne Schüppchen vom oben erwähnten
Fleck mit Blutserum vermengt, sodann nach der Vorschrift von
Wertheim mit Agar in Petri’sohcn Schalen ausgegossen.
Indem wir von der Beschreibung der Einzelheiten der von uns
vorgenommenen Culturversuche Abstand nehmen, heben wir hervor,
dass einzelne gelungene Coloniecn in jeder Hinsicht den von Wert¬
heim beschriebenen Gonokokkencolonieen entsprachen. Die Coloniecn
lagen anfänglich meist tief im Nährboden, nach 48 Stunden (im Brut¬
ofen -j-36° C.) entsprach ihr Aussehen dem einer Brombeere, im
durchfallcnden Lichte waren sie gelbbraun, im reflectirten Licht weiss¬
grau gefärbt. Die auf schräg in Röhrchen erstarrtes Serumagar über¬
impften Coloniecn gediehen innerhalb 24 Stunden im Brutofen üppig;
die Culturen waren von grauweisser Farbe, klebrig und zäh. In den
aus diesen Coloniecn hergestellten, mit Methylenblau gefärbten Prä¬
paraten waren gonokokkenartige Diplokokken ersichtlich. Dieselben
zeigten schön ausgewachsene Formen und färbten sich genau, wenn
man Präparate aus frischer Cultur ausführte; in Präparaten, die aus
*) L.
2 ) b.
( 5 .
c.
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Bedeutung der Gonokokkenbefunde in alten Flocken.
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älteren Culturen vorbereitet waren, konnte man deutliche, als Krü¬
mel sich vorstellende, kaum gefärbte Involutionsfonnen wahrnehmen.
Um sich vollkommen zu überzeugen, dass die gewonnenen Cul¬
turen wirklich Gonokokkenculturcn bildeten, schritt man: 1. zum
Impfversuch durch Uebertragung dritter Culturgeneration auf mensch¬
liche Harnröhren, 2. zur Verfertigung von Präparaten aus denselben
Culturen mit Benützung der Gram'sehen Färbungsmethode, endlich
3. zur Stichcultur in gewöhnlicher Nährgelatine, in welcher, wie be¬
kannt, in gewöhnlicher Zimmertemperatur (sic betrug bei uns -J- 21° C.)
die echten Gonokokken nicht aufkommen. Es wurde nun mit stori-
lisirtcr Platinöse ein Theil einer üppigen, dritten Culturgeneration in
die Harnröhre zweier Paralytiker (nach von Seiten des Herrn Primar¬
arztes und Docenten v. Zulawski grätigst- uns ertheilten Erlaubnis,
wofür wir an dieser Stelle uns verpflichtet sehen, ihm unseren ver¬
bindlichsten Dank auszudrücken) eingebracht und gut an den Wänden
abgestreift. Leider blieben diese Versuche erfolglos. In den nach
Gram gefärbten Präparaten konnte man keine Entfärbung wahr¬
nehmen; alle der Form nach den Gonokokken täuschend ähnliche
Diplokokken behielten ihre durch Gentianaviolett (nach Ehrlich-
Koch) erlangte Färbung. Endlich, was die in Nährgelatine angelegte
Stichcultur anbelangt, konnten wir in derselben ein sehr spärliches
und langsames Wachsthum beobachten. Wir überzeugten uns des
Weiteren, dass die von uns gewonnenen Diplokokken auch auf ge¬
wöhnlichem oder auf Glycerinagar im Brutofen (-f~ 36° C.) gut ge¬
diehen und dass zwischen diesen und den auf Serumagar gezüchteten
Culturen kein Unterschied zu sehen war. Somit war es klar, dass
wir keine Gonokokkencultur erhielten, sondern Culturen von Diplo¬
kokken, welche ersteren täuschend, was das morphologische Bild an¬
belangt, ähnelten. Das ganze biologische Verhalten unserer Diplo¬
kokkenart entspricht am meisten dem mehrmals aus Hamröhreneiter
von Bumm gezüchteten Diplococcus albicans tardissimus, zumal
unsere Diplokokken auf Nährgelatine, ohne das Nährsubstrat zu ver¬
flüssigen, aufkamen.
Ausser diesen schon genannten Diplokokkencolonien bekamen wir
auf den mit den Eiterschüppchen beschickten Platten einzelne Colo-
nien, die anfänglich tief lagen und weisslieh im reflectirtcn Licht ge¬
färbt erschienen, die aber späterhin auf der Oberfläche ihre Farbe
') Die Mikroorganismen von Dr. Flügge. Leipzig lSSIi.
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Dr. Wach holz und I>r. Nowak,
zuerst in’s hellgelbe, später in’s ockergelbe änderten. Sie wuchsen
sowohl auf Serumagar, wie auch auf gewöhnlichem und auf Glycerin¬
agar gut und üppig Anfangs in Form kleiner punktförmiger weisslieher
Colonien, welche späterhin sich vereinigten und hellgelbe beziehungs¬
weise ockergelbe Färbung annahmen. Dieselben konnten wir auch
auf Nährgelatine als Stichculturcn gedeihen sehen; aber im Vergleich
mit der zuerst beschriebenen Art verflüssigten diese das Nährsubstrat,
blieben aber stets auf die Mitte des Verflüssigungsbereiches beschränkt,
ohne secundäre Ringe in der Umgebung zu bilden l ). In den aus
diesen Culturen verfertigten Präparaten wurden ziemlich grosse, mor¬
phologisch den Gonokokken vollkommen ähnliche Diplokokken eon-
statirt, die sich aber nach Gram nicht entfärbten. Dem Gesagten
zufolge schien uns diese Art der Diplokokken am meisten mit dem
zuerst aus Loehialsecret von Bumm 2 ) gezüchteten, später auch aus
dem Harn einiger Cvstitiskranken, aus dem Inhalte der Pemphigus¬
blasen, ja sogar aus dem Vaginalsccret der an einer nicht gonorrhoi¬
schen Colpitis leidenden Kinder gewonnenen Mierococcus subflavus
identisch zu sein.
Dass wir bei unseren Culturversuchen keine Gonokokkencultur
erhielten, kann nicht Wunder nehmen, wenn wir die von Wertheim
und Finger dargebrachte Thatsaehc in’s Auge fassen, das echte
Gonokokken durch Austrocknen vollkommen ihr Fortpflanzungs¬
vermögen einbüssen. Nichtsdestoweniger fand durch diese Cultur-
vcrsuche die Annahme der Anwesenheit von echten Gonokokken in
den Eiterschuppen des erwähnten Fleckes eine Bestätigung, denn
während in den nach Gram gefärbten aus den Eiterschuppen her-
gestellten Präparaten sich gonokokkenähnliche Mikroorganismen be¬
fanden, die sich vollkommen dabei entfärbten, vermochten wir in den
aus denselben Schuppen gewonnenen Culturen keine Diplokokken zu
linden, die ein gleiches mikrochemisches Verhalten (Entfärbung nach
Gram) zeigen möchten. Es widerspricht somit nichts der Annahme,
dass die in dem Schuppen, im Zellplasma gefundenen gonokokken¬
artigen, nach Gram sich entfärbenden Diplokokken in unseren Cultur¬
versuchen nicht ged’ehen worden sind, dass es somit echte Gono¬
kokken waren.
Um den Waehsthumsuntcrschied zwischen echten Gonokokken
;> b. v.
2 ) lm|»l\ ersuche auf männliche Harnröhre blieben ebenfalls erlolirlns.
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Bfilciitim» <1it (i<>11 < >k<>kki-11 1 >i-Tuiul«' in nlirn l'lcclu'ii.
und don von uns gezüchteten Diplokokken zu studircn, haben wir
einige Platten, die mit friseliem Trippereiter versetzt wurden, aus¬
gegossen. Nun bekamen wir in diesen Platten typische Gono-
kokkencolonien nebst Colonien von Diploeoecus albicans tar-
dissimus.
Der Unterschied zwischen diesen beiden war kein merklicher,
indem die Diplocoeeuscolonien nur etwas an l'eppigkeit des AVaehs-
thumes die echten Gonokokken übertrafen. Natürlich entfärbten sich
die echten Gonokokken nach Gram vollständig. Nebenbei erscheint
uns von Interesse, hierorts zu erwähnen, dass wir mit einem weissen,
dickflüssigen, aus den Tuben der Leiche einer 23jährigen Frau (die
sich durch Phosphorvergiftung das Leben nahm, bei welcher anatomisch
Cystitis, Colpitis, Endometritis et Salpingitis mit reichlichem dick¬
flüssigem weissein Secret constatirt wurde) entnommenem Secrct Züch¬
tungsversuche auf Serumagarplatten ausgeführt, aber keine Gono-
kokkencolonien, nur Colonien von Stre[)tococcus, ausserdem von Diplo-
coccus albicans tard. und Micrococcus subflavus neben anderweitigen
saprophytischen Verunreinigungen bekommen haben. Die mikro¬
skopische Untersuchung dieses Tubenseeretes zeigte massenhaft de-
squamirte Flimmerepithelien und sehr spärliche weissc Zellen.
Aber kehren wir zu unserem Thema zurück. Trotz allen diesen
mühsamen Untersuchungen, die wir unternahmen, harrten wir in banger
Ungeduld der von Gerichtswegen zu erledigenden Frage entgegen, ob
der in Rede stehende Fleck am Unterrock wirklich von Tripperei (er
herrührte.
Es war für uns eine peinliche Ueberraschung zu erfahren, dass
sowohl bei der ersten gerichtsärztlichen Besichtigung des Angeklagten
und der Misshandelten, sowie auch bei der zweiten aus Anlass unseres
Gutachtens vorgenommenen, die Genitalien beider in zufriedenstellend
gesundem Zustande befunden wurden sind. Nur am linken Ober¬
schenkel des Angeklagten fanden die vorgeladenen Gerichtsärzte ein
mit eitrigem Belag versehenes Geschwür. Von der Richtigkeit dieses
Befundes konnte sich einer von uns persönlich überzeugen.
Nun, bevor wir zu Ende dieses Berichtes unsere Schlussfolge¬
rungen betreffs der gerichtsärztlichen Bedeutung der Gonokokkenbefunde
in alten Flecken niederlegen werden, erachten wir es als angezeigt,
der von einigen forensischen Autoren mitgetheillen Anschauungen über
obiges Thema zu gedenken.
Viorteljahrssrhr. f. 'gor. M«il. Drittt» Fulgo. IX. 1. 6
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Dr. Wach hol z mul Dr. Nowak,
So gelangt Kratter*) auf Grund von Untersuchungen, die unter
seiner Leitung Ipsen und Kühn ausgeführt haben, zum Schluss, dass
die Gonokokken durch ihr morphologisches Bild sowohl im frischen
Secret, wie auch in damit erzeugten Flecken als solche erkennbar
sind und deswegen volle forensische Bedeutung verdienen. Hofmann 2 )
lässt diese Frage unentschieden.
Entgegengesetzter Meinung wie Kratter, sind französische Autoren
wie Vibert, Bordas 3 ) und in letzterer Zeit Bose 4 ). Vibert 5 )
äusserte sich in seinem Referate über die Arbeit von Bose aus Mont¬
pellier, indem er sagte, Verfasser sei zu demselben Schluss über die
Verwerthbarkeit der Gonokokkenbefunde für forensische Zwecke ge¬
langt, welchen er sammt Bordas vor drei Jahren mitgctheilt habe.
Wir lassen Vibert sprechen: peut-etre vous rappelez-vous, messieurs?
qu’ il y a trois ans, nous vous avons communique, M. Bordas et
raoi, un travail, oft nous exprimions l’opinion que le moment n’etait
pas encore venu de faire intervenire la nature du gonocoque dans la
pratique de la medecine legale“. Vibert schloss sein Referat mit
den Worten: „cettc opinion (die oben wörtlich citirte) est encore la
untre aujourd ’hui.“ Nun können wir auf Grund unserer Erfahrung
die letzt citirten Worte von Vibert, auf uns Bezug nehmend, wieder¬
holen: cette opinion est encore la nötre aujourd ’hui.
Auf Grund dieser unangenehmen Erfahrung (es bewährt sich immer
der Satz: errando discimus) können wir unsere Meinung in nachstehen¬
den Thesen zusammenfassen:
1. Man ist bis nun zu keineswegs berechtigt, in forensischen Fällen,
die, sowohl im Harnröhren- bezugsweise Vaginalsekret wie auch in
den von denselben herstammenden Flecken gonokokkenähnliche Mikro¬
organismen als echte Gonokokken anzusehen, denn man kann leicht
einer Täuschung unterliegen und den Gonokokken morphologisch ähn¬
liche Diplokokken wie Diplococcus albicans tard., Micrococcus sub-
llavus, ja sogar solche, die auch mikrochemische (Entfärbung nach
') lieber die Yerwcrlhbarkeit der Gonokokken, besonders für die gerichtliche
Medioin. Berliner klinische Wochenschrift. No. 42. 1890.
') Wir konnten keinen Bericht über den von Prof. Kratter jüngst in Rom
gehaltenen Vortrag: „Ucber Gonokokkennachweis in alten Flecken“ erhalten.
2 ) Lehrbuch der gerichtlichen Medicin. Wien u. Leipzig 1893.
s j Du gonocoque en med. l£g. Annal. d’hyg. 1891.
4 ) Le Gonocoque u. s. w. These. Montpellier 1894.
6 ) Annal. d’hyg. publ. et de med. leg. 1894. Juin.
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Bedeut uny; der (iimokokkentteliindc in ulten Klecken.
S3
Gram) Eigenschaften mit dein echten Trippererreger (heilen, für letz¬
teren ansehen.
Der von uns in den vom Eiterfleek hergestellten Präparaten ge¬
fundene Diplokokkus war ja in jeder, sowohl in morphologischer, wie
in mikrochemischer Hinsicht dem echten Gonokokkus täuschend ähn¬
lich, trotzdem war er doch kein echter Gonokokkus, da ihm keine
specifische Wirkung zu Grunde lag. Leider waren wir nicht im Stande,
seine näheren biologischen Eigeschaften zu ergründen, indem er in den
Kulturen nicht gediehen ist.
2. Man ist nicht berechtigt, den Gonokokkus mit solchen Mikro¬
organismen zu vergleichen, welche, wie z. B. der Tuberkelbacillus,
schon durch ihr mikrochemisches Verhalten als solche zu erkennen sind.
3. Vielmehr, — will man zur Ueberzeugung gelangen, dass, in
einem Sekret, welches man für ein Trippersekret zu halten glaubt,
wirklich specifische Krankheitserreger sich finden, so sei man immer
bemüht, ausser Bereitung der nach Gram gefärbten Präparate, von
dem zu untersuchenden Sekret reine Kulturen und Impfversuche an¬
zustellen. Was die Uebertragungs versuche an belangt , so werden die¬
selben leicht anzustreben sein, wenn die Erfahrung Turrös, dass
Tripper auch in der Harnröhre der Hunde künstlich erzeugt werden kann,
sich bewähren wird. Ohne Cultur und positive Uebertraguugserfolge
ist es gewagt, nur dem morphologischen Bilde nach, verdächtige Mikro¬
organismen als echte Gonokokken zu erklären.
4. Trotzdem, Dank den verdienstvollen Arbeiten Wertheim’s
und Finger’s, der Gonokokkus heut zu Tage leichter zu handhaben
ist, so muss man dennoch mit Vibert übereinstimmen, dass für diese
Untersuchungen viel bakteriologische Gewandheit, viel Aufmerksamkeit
erforderlich ist, •— „ces precautions sont delicates et difficiles ä
realiser dans la pratique“.
5. Indem einerseits, wie bekannt, die Gonokokken durch Aus¬
trocknen ihr Fortpflanzungsvermögen einbüssen, andererseits, wie her¬
vorgehoben wurde, man keineswegs auf Grund morphologischer und
mikrochemischer Eigenschaften berechtigt ist, Gonokokken zu diagnosti-
eiren, somit sind Bestrebungen, in alten Flecken Gonokokken unwider¬
leglich festzustellen, aussichts- und bedeutungslos.
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Zur Diagnose der Erstickung 1 ).
Von
Prot. Dr. J. Kratter in Graz.
Die Pathologie dos Erstickungstodes ist, so häutig diese Todes¬
art. aucli zur Beobachtung kommt, noch immer nicht derart sicher-
gestellt, dass man aus den Leichenbefunden allein, also ohne Kennt-
niss oder Berücksichtigung der äusseren Umstände ausnahmslos im
Stande wäre, mit der für forensische Zwecke unbedingt nötliigen Sicher¬
heit die Diagnose zu stellen. Diese Unsicherheit wird in gar man¬
chem Falle peinlich genug empfunden, wie jeder beschäftigte Cieriehts-
anatom aus eigener Erfahrung zu bestätigen in der Lage sein dürfte.
Dem vorhandenen und gefühlten Bedürfnisse entsprang das Be¬
streben nach Erweiterung unserer bisherigen Kenntnisse, und so sehen
wir gerade in neuerer Zeit Fachmänner mit Erfolg bemüht um den
Ausbau der Lehre von der Erstickung. Ich erinnere hier nur an die
werthvolle Bereicherung, welche die Diagnostik der mechanischen Er¬
st ickungsarlen durch die bekannten trefflichen Untersuchungen und
Beobachtungen von Arnold Baitauf 1 und Fagerlnnd 2 , sowie durch
die naturwahren Schilderungen Ed. v. Ilofmantrs 3 erfahren hat, und
an den dankenswert hon Zuwachs von Erkenntniss gewisser grund¬
legender Vorgänge bei der Athmung und Erstickung durch die schönen
Experimentaluntersuchungen von Dondors*, Ackermann 3 , llögyes' 5 ,
Stricker 7 , Tammasia 8 , Misuraea 0 , Ungar 10 , Corin" u. A.
1 ) Zuerst mit^etlieilt auf der (>(>. Versammlung deutscher Naturforscher mul
Aerzie zu Wien am 25. September 1S ( A4 ; n der Abtludlmi^ für «rorirht 1 iche
Mcdicin.
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Zur Diagnose der Erstickung.
85
Auch ich habe seit, einer Reihe von Jahren mit besonderer Auf¬
merksamkeit die Veränderungen beobachtet, welche durcli die Er¬
stickung erzeugt werden und nach zuverlässigen diagnostischen Merk¬
malen an zahlreichen Leichen Erstickter Ausschau gehalten. Ich
glaube bei diesen fortlaufenden Beobachtungen einen Befund auf-
gedeckt zu haben, den ich nach meinen gesammelten Erfahrun¬
gen für ein sehr werthvoll es allgemeines Kennzeichen des
Erstickungstodes ansehen muss.
Bekanntlich sind es drei Veränderungen, welche allen Arten der
Erstickung zukommen, die man daher auch als allgemeine Erstickungs¬
befunde bezeichnet hat: die dunkel flüssige Beschaffenheit des Blutes,
die venösen Stauungen und die als Eeehymosen bezeiehncten Blut-
austretungen. Nur von gewissen bei der Erstickung vorkommenden
Blutaustrit ten werde ich zu sprechen haben.
Die Eeehymosen sind, seit vor beinahe 150 Jahren (1758) Rü¬
derer 12 sie zuerst beschrieben hat, von zahlreichen Forschern auf
dem Gebiete der gerichtlichen ' Mediein zum Theile in besonderen
Arbeiten nach ihrem Vorkommen und diagnostischen Werthe abge¬
handelt worden, so von Bernt 13 und Weber, Bayard und Oausse,
Elsässer, Hecker und Hoogeweg, Tardieu 14 , ('asper' 3 , Li-
man IB , v. Maschka n , Schwarz 1 ®, Skrzeczka 19 , Ogsron 20 ,
Szabinsky 2 ', Lukowsky 22 , Demmes 2 \ Nobiling 21 und Ra¬
te n k o 25 .
Die Durchsicht dieser Literatur hat mich nun gelehrt, dass eine
von mir recht häutig beobachtete Art und Localisafion von Blutaus-
tretungon bei der Erstickung von den meisten Autoren entweder gar
nicht wahrgenommen oder nicht nach der ihr zukommenden Bedeu¬
tung gewürdigt worden ist.
Nimmt man, wie ich dies regelmässig übe, die Hals- und Brust¬
organe im Ganzen oder auch nach vorheriger Abtrennung des Herzens
und der Lungen aus der Brust heraus, so gewahrt man bei vorliegen¬
der Erstickung als unmittelbarer Todesveranlassug ungemein häutig
grössere und kleinere Bin I aus! ri 1 1 e im lockeren Zellgewebe
des hinteren .Mittelfellraumes um die Aorta und den Oeso¬
phagus herum. Rräparirt man dieses Zellgewebe von der Aorta tho¬
racica deseendens ab und legt dadurch die Adventitia des Gefässes
bloss, so zeigt sich das feine Netzwerk der meist stark injicirtcn Er-
nährungsgcfässchen der Aorta, an deren Verästigungen man u. z. den
Gefässehen direct aufsitzend hirsekor»- bis selbst linsengrosse, scharf-
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Dr. Kraft er,
begrenzte, kreisrunde Blutflecken vorfindet, während die Blutaustritte
im lockeren Zellgewebe des Mediastinums in Bezug auf Form und
Grösse wesentlichen Schwankungen unterworfen sind. Meist sind es
isolirtc Blutflecken von annähernd runder oder ovaler Form in der
Grösse einer Linse bis zu der eines Kreuzers und darüber. Mitunter
confluiren benachbarte Flecken und bilden grössere, dann meist un¬
regelmässig gestaltete, flächenförmig um das ganze Gefässrohr aus¬
gebreitete oder auch streifenförmige Blutergüsse. Stets sind sie an
der hinteren Peripherie des Gcfässrohrs in grösserer Menge und Aus¬
dehnung vorhanden, während sie sich auf der Vorderfläche nur dann
finden, wenn das geschilderte Phänomen überhaupt, sehr intensiv ent¬
wickelt ist. Ist die Blutung eine mässige oder geringe, so ist die
Vorderfläche der Aorta, über welche sich das parietale Blatt der
Pleura hinwegzieht, von jeder Blutung frei, ein Umstand, dem es
wohl zumeist zuzuschreiben ist, dass die geschilderten Veränderungen
bisher oft genug der Beobachtung entgangen sind. Die Blutungen
sitzen stets nur im unteren Antheile der absteigenden Brustaorta und
reichen vom Bauch fei lschlitz im Mittel meist nur 7—8 cm nach auf¬
wärts. Der Aortenbogen und das obere Stück der hinteren Brust¬
aorta sind auch dann in der Regel frei von Blutungen, wenn diese
sehr intensiv sind und die ganze Circumfercnz des Gefässrohres ein¬
nehmen. Unterhalb des Zwerchfells ist das Gefäss stets blass und
frei von Blutaustritten, die Blutungen sind am Zwerchfell wie abge¬
schnitten.
Der scharfen Beobachtung E. v. Hofmann’s ist auch dieser
Befund nicht entgangen. Ich finde seit 1887 bei ihm hierüber folgen¬
des bemerkt: „Auch in der Adventitia der grossen Gefässe innerhalb
des Herzbeutels sind sie (die Ecehymosen) häufig und nicht selten im
Bindegewebe des Mediastinums, insbesondere in dem um die Brust¬
aorta, wo sie theils des lockeren Gewebes, theils der postmortalen
Nachsickerung des Blutes wegen eine beträchtliche, mitunter Suffu-
sionen vortäuschende Grösse erreichen können.“ (Lehrb. 6. Aull.
S. 50.)
Das ist unzweifelhaft derselbe Befund, den ich im Auge habe,
und der mm seit Jahren von mir einer systematischen Betrachtung
unterzogen worden ist. Nur hinsichtlich der Bezeichnung dieser
Blutungen könnte man einer abweichenden Meinung sein. v. Hofmann
reiht sie unter die subsplcuralen Ecehymosen ein. Ihm sind sie offen -
bar eine besondere Loealisation der bekannten Erstiekungsorchymnsen.
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Zur Diagnose der Erstickung.
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Insofern man gewohnt ist, als Eechymosen nur kleine und kleinste,
punktförmige, stecknadelkopf-, hirsekorn- und bis linsengrosse, scharf¬
begrenzte Blutaustretungen von wenigstens annähernd kreisrunder Form
zu bezeichnen und in Berücksichtigung der ganz anderen Entstehungs¬
art, von der ich im Weiteren sprechen werde, möchte ich für diesen
Befund die Bezeichnung „Eechymosen“ überhaupt nicht anwenden.
Da es sich um Blutaustrit te von verschiedener Form und Grösse han¬
delt, die dem Beobachter meist als unregelmässige Flecken erscheinen,
so würde man sie meiner Meinung nach am besten als „Blutflecken“
und mit Rücksicht auf die Oertlichkeit ihres Vorkommens als „retro-
mediastinalc Blutflecken“ oder auch einfach als „retromediasti-
nale Blutungen“ bezeichnen können.
Doch die Bezeichnung eines Befundes ist mehr oder weniger
Nebensache und hängt, die Wahl des Ausdruckes zumeist ab von der
subjectiven Auffassung einer vorliegenden Thatsaehe; das Wesen liegt
in der von mir beobachteten Häufigkeit, ja mit gewissen Ein¬
schränkungen geradezu Co ns tanz des Befundes bei der Er¬
stickung erwachsener Personen und dem dadurch bedingten
Werth des Merkmales für die Diagnose des Erstickungstodes.
ln Bezug auf ihr Vorkommen zeigen diese Blutungen ein
diagnostisch wohl beachtensworthes Verhalten, durch das sie sich auch
von den eigentlichen Eechymosen unterscheiden. Diese finden sich
bekanntlich sehr häufig, ja fast Regelmässig bei Neugeborenen und
Kindern der ersten Lebensperioden, relativ selten dagegen beim Er¬
stick ungstode Erwachsener; unsere Blutungen kommen fast nie bei
Neugeborenen und Kindern vor, fehlen 'dagegen fast niemals bei der
Erstickung erwachsener Personen, auch solcher, die im jugendlichen
Alter von 15- 20 Jahren stehen. Sie sind sehr häufig die einzigen
Blutaustretungen, die in der ganzen Leiche vorgefunden werden und
sind in diesen Fällen namentlich meist, auch keine Eechymosen an
den gewöhnlichen Stellen, der Pleura und im Pericard, vorgefunden
worden. Viel öfter wurden sie mit submucösen Ecchymosirungen,
namentlich solchen am Magengrunde, vergesellschaftet angetroffen.
Sie sind also in Bezug auf ihr Vorkommen nahezu Antagonisten der
subpleuralen und subpericardialen Eechymosen, was allein schon auf
eine andere Entstehungsursache hinzudeuten scheint.
Retromcdiastinalc Blutungen fand ich bisher bei fast
allen Arten der mechanischen Erstickung, sowie auch bei
mehreren Erst ieku ngsa rten aus inneren Ersuchen; ich habe
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Dr. K r a 11 e r,
sie namentlich fast niemals vermisst bei Ertrunkenen und Erhängten,
sowie l>ei Erstickten dureli Aspiration von Fremdkörpern; sie fehlten
dagegen immer bei der Erstickung durch Compression des Thorax.
Von dieser Todesart habe ich in den letzten Jahren 5 Fälle zu be¬
obachten Gelegenheit gehabt; drei Verschüttete, einen durch eine
Steinfuhre und einen durch eine Turbine Zerquetschten. Die Verun¬
glückten waren durchweg kräftige Männer; Blutungen um die Aorta
fehlten vollkommen. Dieser negative Befund wird bei der Besprechung
der Entstehungsursache seine Yerwerthung und Erklärung finden.
Bezüglich des Vorkommens der retromcdiastinalen Blutflecken bei
der Erstickung aus inneren Ursachen kann ich angeben, dass wir sie
gar nicht selten bei plötzlichem Tod durch Herzlähmung gefunden
haben und zwar nur bei jener Form des Herzstillstandes, wo dem
Sistiren der Herzbewegung eine Phase progressiver Herzschwäche mit
Dispnoe und Entwickelung eines Lungenödems vorhergegangen war,
nicht aber bei jener zweiten Form der Herzlähmung, wo der Tod
durch plötzlichen Herzstillstand blitzähnlich erfolgt. Ich habe vor
Kurzem den Nachweis erbracht, dass der Tod durch Einwirkung hoch¬
gespannter elektrischer Ströme im Wesen ein Erstickungstod ist. Es
ist nun gewiss interessant und für die Beurtheilung der in Rede stehen¬
den Veränderungen wichtig, dass in allen drei Fällen elektrischen
Todes beim Menschen, die ich bisher von dieser seltenen Todesart
durch eine besondere Gunst des Zufalles zu beobachten Gelegenheit
hatte, auch die in Rede stehenden retromcdiastinalen Blutaustritte vor¬
handen waren.
Sie wurden endlich noch gefunden bei Tetanus und Tod im epi¬
leptischen Anfalle. Ob sie auch bei der Erstickung durch Giftwirkung
Vorkommen, darüber fehlt mir die Erfahrung.
So viel über das Vorkommen dieser eigenartigen Blutaustritte.
Was die Entstehungsursache dieser Erscheinung anlangt, so
fällt zunächst, wie schon hervorgehoben, die Thatsache auf, dass die
retromcdiastinalen Blutflecken gerade in Fällen Vorkommen, wo die
gewöhnlichen Ecchymoscn fehlen oder selten und dann meist recht
spärlich sind, nämlich beim Erstickungstode • Erwachsener, und umge¬
kehrt, dass sie fehlen, wo die Ecchymoscn fast ausnahmslos vorhan¬
den sind: bei der Erstickung Neugeborener und Kinder in den ersten
Lebensperioden.
Man erklärt das Zustandekommen der Ecchymoscn bekanntlich
auf ~2 fache An. entweder nach der Do n d ers ? .sehen Theorie als Theil-
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80
Zur Diagnose der Erstickung.
erscheinung der besonders in den Brustorganen' meist hochgradigen
venösen Stauung oder nach E. v. Hofmann aus dem auf der Höhe
der Erstickung sich einstellenden vasomotorischen Krampfe, und der
dadurch herbeigeführten enormen ßlutdrucksteigerung. Unsere Blutungen
sind aus diesen Ursachen wohl nicht zu erklären, weil sie sich in
Bezug auf ihr Vorkommen sonst unmöglich gegensätzlich zu den Ecehy-
mosen verhalten könnten. Alles deutet vielmehr auf örtliche Be¬
dingungen der Entstehung der retromediastinalen Blutflecken bei
der Erstickung hin.
Ich glaube nun die Ursache dieser besonderen Lokalisation von
Blutaustritten darin zu finden, dass die Gebilde des hinteren Mittel¬
fellraumes und vor Allem die Aorta bei der Erstickung ganz beson¬
deren mechanischen Einwirkungen ausgesetzt sind. Diese bestehen in
einer beim typischen Erstickungsverlauf unzweifelhaft mächtigen Zer¬
rung und Verschiebung der Brustaorta und zwar wohl zumeist
im ersten Erstickungsstadium, im Stadium der Dyspnoe. Man ver¬
gegenwärtige sich die Topographie des hinteren Mittelfellraumes: Die
Aorta thoracica deseendens ist an zwei Punkten fixirt, oben am linken
Bronchus, auf dem sie reitet, unten am Zwerchfellschlitz, durch den
sie ins Abdomen hinabtritt. An diesen beiden Stellen ist normaler
Weise beim Menschen nur eine geringe Verschiebung des Gefässrohrs
möglich.
In der Dyspnoe werden nun alle, auch die auxiliären Athcm-
muskeln maximal angespannt, das Zwerchfell möglichst tief gestellt
und die obere Brustapertur mit aller Macht erweitert. Bei dieser
extrem-inspiratorischen Stellung wird der linke Bronchus, wie man
sich an zweckentsprechend gefensterten Leichen experimentell über¬
zeugen kann, so bedeutend emporgehoben, dass er nahezu horizontal
gestellt ist. und mit der Trachea fast einen rechten Winkel bildet.
Der hierbei zurückgelegte Weg ist ein Bogen, dessen Radius gleich
ist der Länge des Bronchus, und dem ein Winkel entspricht, welcher
gebildet wird von der normalen und der pathologischen Stellung des
Bronchus. Je gewaltiger die Inspirationsbewegungen sind, -- und be¬
kanntlich sind es inspiratorische Krämpfe, welche im ersten Stadium
der Erstickung aufzutreten pflegen — umso grösser wird der Winkel
und umso länger der Bogen, oder, was dasselbe ist, umso weiter der
Weg, den die auf dem Bronchus aufsitzende Aorta zuriickzulcgen hat.
Diese kann dem Zuge") nicht folgen, da sie am Zwerchfell fixirt
isl, und so muss es zu Verschiebungen des Gefässrohres längs
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Dr. Kratter,
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der Wirbelsäule. zur Zerrung und Zerroissung von Blutgefässen
kommen.
Das Gefässrohr, an der eoneaven Brustwirbelsäule als flacher
Bogen verlaufend, wird überdies bei diesem Vorgänge zur Sehne ge¬
streckt und von den Wirbelkörpern abgehoben. Verschiebungen in
verticaler Richtung eombiniren sich mit gewaltsamen Ortsveränderungen
in der Richtung von hinten nach vorne. Der Effekt dieser rein
mechanischen Einwirkungen besteht in unregelmässigen Blutergüssen,
welche in ihrer Intensität und Zahl abhängen von der Stärke und Zeit
der sie bedingenden Vorgänge.
Fig. 1.
..
.Schematische Darstellung der vertiealen Verschiebung der Aorta thoracica
descendens bei der Erstickung.
Aus dieser Entstehungsart geht wohl auch ihr Aussehen her¬
vor. Sie haben nur selten die Form von Ecchymoscn, sondern
gleichen traumatischen Blutungen, sind, wie schon v. Hof-
maiin bemerkt, „Sultusionen ähnlich^. Oh etwas und wie viel
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UNIVERS1TY OF (OWA
Zur Diagnose <1er Erstickung.
91
dabei auf Rechnung der postmortalen Naehsickerung des Blutes zu
.setzen ist, darüber will ich nicht rechten. Ich halte nur für wichtig,
nachzuweisen, dass sie thatsäehlich auf die eben geschilderte beson¬
dere Art entstehen und daher mit den gewöhnlichen Erstickungs-
eechymosen nichts gemein haben.
Fig. 2.
Schematische Darstellung der horizontalen Verschiebung der Aorta thoracica
descendcns hei der Erstickung.
Meine Erklärung ist aber keineswegs eine rein theoretische Con-
junetur, sondern dieselbe gründet sich auf folgende Beobachtungs-
Thatsachen:
1. Die Blutungen fehlen bei derjenigen Erstickungsart, wo die
Exkursionen des Thorax behindert sind, bei der Erstickung durch
Druck von aussen. (Verschüttung, Einklemmung u. dgl.)
2. Sie fehlen da, wo die Musculatur noch schwach entwickelt
ist, daher der für das Zustandekommen des Befundes maassgebende
Factor nicht genügend wirkt. Deshalb finden wir sie nicht bei der
Erstickung ganz kleiner Kinder.
3. Sie sind auch bei Erwachsenen dann nicht vorhanden,
wenn dnreh besondere Verhältnisse die Verschiebung der
Aorta unmöglich gemacht wird. Sie fehlen nämlich ganz oder sind
höchstens sehr spärlich entwickelt, wenn beide Lungen oder doch die
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Dr. K r a 11 e r,
linke ganz oder mit ihrem Unterlappen an die Umgebung fest ange¬
wachsen sind. Ich habe im Monat Juni d. J. allein vier Fälle zu
beobachten Gelegenheit gehabt, welche dies Verhalten schlagend
illustriren; zweimal bei Erhängten, zweimal bei Ertrunkenen. Es waren
durchwegs muskclkräftige Individuen im Alter von 16, 22, 48 und
49 Jahren. Bei allen waren die Lungen ganz oder wenigstens im
Umfange des linken Unterlappens angewachsen; die Blut Hecken fehlten
in drei Fällen gänzlich, in einem bei lockerer Verwachsung waren sie
spärlich und klein.
Ich habe endlich noch versucht die Sache experimentell zu
begründen. Als Versuchst liiere verwendete ich Kaninchen. Dabei
musste ich die Erfahrung machen, dass nicht alle beim Menschen be¬
obachteten Befunde an jedem beliebigen Versuchsthiere erzeugt wer¬
den können. Bei erstickten Kaninchen wenigstens fand ich diese
Localisation und Form von Blutungen nicht. Dennoch waren mir die
Versuche lehrreich und bestärkten mich in meinen eben entwickelten
Anschauungen. Bei allen Versuchsthieren, die ich durch Drosselung
lödtetc, kam es zur Eeehymosenbildung an der Pleura und am Peri¬
card, in einem Falle, wo die Erstickung über drei Minuten bean¬
sprucht hatte, sogar zu ausgebreiieten Blutungen ins Bindegewebe und
zur Bildung blutigen Schaumes in den Bronchien• und der Trachea; in
keinem Falle jedoch waren Blutaustretungen um die Aorta zu sehen.
Ich muss in diesem Verhalten eine experimentelle Bestätigung
der essentiellen Verschiedenheit der Erstickun'gsecchy-
mosen und der in Rede stehenden retromediasiinalen Blut¬
flecken erblicken. Mit meiner Entstehungstheorie dieser Blutungen
sind aber die negativen Versuchsergebnisse sehr wohl in Einklang zu
bringen, sie erklären sich aus der Verschiedenheit, der anatomischen
Verhältnisse, die in relativ viel grösserer Länge der Brustaorta, in
grösserer Zartheit und Dehnbarkeit des retromediasi .inalen Bindegewebes
und in der grossen Beweglichkeit der Wirbelsäule beim Thiere be¬
stehen.
Nach dem Gesagten muss ich die rotromediastinalen Blut¬
flecken für ein sehr werthvolles allgemeines Kennzeichen der
Erstickung ansprechen. Sie sind deshalb von besonderer diagnosti¬
scher Wichtigkeit, weil sie gerade da vorhanden sind, wo andere ent¬
scheidende Kennzeichen der Erstickung, die subpleuralen und sub-
pericardialen Ecchymosen, in der Regel fehlen, nämlich bei der Er¬
st iekung Erwachsener.
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Zur Diagnose «Irr Erstickung.
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Ivs wäre nur noch zu untersuchen, oh sie dein Erstickungsdmle
ausschliesslich zukommen, oder auch bei anderen Todesarten entstehen.
Ich habe sie bisher nur bei der Erstickung beobachtet ; dennoch kann
ich nicht daran zweifeln, dass von ihnen ganz dasselbe gilt, wie von
den Ecchymosen überhaupt, die ja bekanntermaassen auch mitunter
auf andere Entstehungsursache zurückzuführen sind, welche jedoch
im besonderen Falle meist leicht nachgewiesen werden können (Traumen,
Phosphorvergiftung, Seorhut, Sepsis, Haemophilic). Wenn auch wei¬
tere Beobachtungen, zu denen ich hiermit die Anregung gegeben haben
möchte, diese Annahme bestätigen werden, so behält das besprochene
Phänomen doch noch immer denselben hohen Beweiswerth für die
Diagnose des Erstickungstodes bei Erwachsenen, wie die Ecchymosen
für die Diagnose der Erstickung von Kindern.
L i t e ra t u r.
1) A. Paltauf, Leber den Tod durch Ertrinken. Wien und Leipzig 188S. —
Derselbe, Einige Bemerkungen über den Tod durch Ertrinken. Berliner
klinische Wochenschrift. 189*2. No. 13.
2) Eagerlund, Uebcr das Eindringen von Ertränkungslliissigkeit in die Ge¬
därme. Diese Vierteljahrsschrift. 1890. Bd. 5*2.
3) E. v. Hofmann, Lehrbuch der gerichtlichen Medioin. 0. Auflage. 1893.
S. 499—580.
4) Don ders, Beiträge zum Mechanismus der Respiration und Cireulation im
gesunden und kranken Zustande. Zeitschrift für rat. Medicin. N. F. Bd. 3.
lieft 8. 8. *287IT. — Derselbe, Die Bewegungen des Gehirns und die
Veränderungen der Gefiissfüllung der Pia mater. Nederl. Lnncet. März-
April 1850 und Schmidt's Jahrbücher. 1851. Bd. 09. S. 16.
5) Ackermann, Untersuchungen über den Einiluss der Erstickung auf die
Menge des Blutes im Gehirn und in den Lungen. Ein Beitrag zur Kritik
der gerichtsärztlichen Lehre von der npopleotiscdi-suflucatorisohen Todesart.
Virchow\s Archiv. 1857. Bd. 15.
0) Ilögyes, Leber den Verlauf der Athembewegungen während der Erstickung.
Archiv für experimentelle Pathologie. 1870.
7) Stricker, Vorlesungen über allgemeine und experimentelle Pathologie. 1877.
I. S. 177.
8) Tarnmasia, Deila morte nel vn-do. Rivista sperirn. di med. legale. IV.
S. 451. Vergl. Virehowäs Jahresberichte. 1881. I. S. 500. — Derselbe,
Sulla aslissia da eomprossione sul tnraee. Atti del r. instilut«» Veneto. 189*2.
9) Misuraca, L’aslissia meceaniea c le sue varie forme. Palermo 1SS8. —
Derselbe, Sülle eagmni prnssime di morte nclL appicamcnto. Rivista
sperirn. MV. 1888. S. 200.
10) l r n gar, Ueber die Ateleetasc der Lungen Neuireborenor. Diese V iert ol jahrs-
schiift. XXXIX. 1883. S. 213. — Derselbe. Leber die Bedeutung der
Magendarm-Schwimmprobe. Ebenda. 1887. XLVI. S. 02.
11) Corin, Etüde experimentale de la mort par pendaison. Bull, de TAeademic
royale de medccine de Belgique. 1893.
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hr. K r;i 11«• r.
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12) Rüderer, De infantibus in partu suffocatis observntiones. Göttingen 1753.
13) Bernt-, Systematisches Handbuch der gerichtlichen Arzneikunde. Wien 1828.
14) Tardieu, Etüde medico-legale sur la pendaison. la Strangulation et la suffo-
cation. Paris 1879. -- Derselbe, De la valeur des ecchymoses sous¬
pleurales considerees commc signe de la mort par suffocation. Annales
d’hyg. 1868. Bd. 29. p. 154.
15) Casper, Gerichtliche LeiehenütYnungen. Erstes Hundert. 3. Aull. S. 84.
16) Lim an, Ucber die forensische Bedeutung der punktförmigen Ecchymoscn.
Diese Vierteljahrsschrift. 1861. Bd. 19. S. 73.
17) v. Maschka, Handbuch der gerichtlichen Mediein. 1881. Bd. 1. S. 563ib —
Derselbe, Ueber Ecchvmosen bei Erstickung. Prager Vierteljahrsschrift.
1858. II. S. 99 und 1857. IV. S. 62.
IS) Schwarz, Die vorzeitigen Athembewegungen. Leipzig 1858.
19) Skrzeczka, Zur Lehre vom Erstickungstod. Diese Vierteljahrsschrift. 1867.
Bd. 7. 8. 187. — Derselbe. Leber Erstickung. Caspers Zeitschrift.
Bd. 24. Heft 1.
20) Franc Ogston, Leber punktförmige Ecchvmosen. Brit. med. Journ. 1869
und diese Vierteljahrsschrift. 1869. Bd. i(). S. 378.
21) Szabinsky, Die gerichtlich-medicinische Bedeutung der T ar die u'sehen
Flecken beim SufYocntionstode. Russisches Archiv fiir gerichtliche Mediein.
1865—1 und diese Vierteljahrsschrift. 1867. Bd. 7. S. 146.
22) Lukowskv, Ecchvmosen bei Erstickung. Diese Vierteljahrsschrift. 1871.
Bd. 15. ‘S. 58.
23) Demmes, Capilläre Ecchvmosen an den Hautdecken bei Erstickung.
Deutsche Zeitschrift fiir Staatsarzneikunde. Bd. 25. Heft 2.
24) Nobiling, Aerztliches Intelligonzblatt für Baiern. 1884. No. 38—40.
25) Paten ko, Etüde sur l’asphyxie de cause mecanique moditications de la cir-
culation pulmonaire. Annales d'hvg. et de med.-legale. 1885. 3. Serie.
13. Bd. p. 209.
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(Aus dem Institute für gerichtliche Medicin in Wien):
Einiges über Wasserleichen').
Vom
k. k. Laudosgerichtsarzic Dr. Albin Haberda,
Assistenten am Institute.
Vor zwei Jahren hat Haupt 2 ) aus Anlass eines interessanten
Falles die Frage, ob jeder Ertrinkende im Wasser untersinke, auf¬
geworfen und dahin beantwortet, dass dies thatsächlieh der Fall sei,
weshalb er auch in dem ihm zur Begutachtung vorgelegenen Falle den
Umstand, dass die Leiche eines erst seit wenigen Stunden abgängigen
Knaben schwimmend auf der Oberfläche eines Weihers gefunden
wurde, mit zur Ausschliessung des Ertrinkungstodes heranzog.
Die Frage hat entschieden gerichtsärztliche Bedeutung und es
erscheint mir nicht unpassend, sie zum Gegenstände der Discussion
zu machen.
In den älteren Handbüchern der gerichtlichen Medicin finden sich
vereinzelte Angaben über das Untersinken Ertrinkender. So erwähnt
Siebenhaar 3 ), dass manche Leute langsamer im Wasser untersinken,
„wenn die Liebe zum Leben wieder erwacht oder die Kleider sie
lange über dem Wasser erhalten“. Schürmayer 4 ) sagt: „Der nackte
todte Körper, bei dem sich noch keine Fäulniss entwickelt hat, sinkt,
da er ein specilisches Gewicht von 1,08—1,10 besitzt, im Wasser
') Nach einem Vorträge, gehalten in der Abtheilung für gerichtliche Medicin
der 66. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte in Wien.
2 ) Friedreich’s Blätter für gerichtliche Medicin. 18H2. S. 306 u. IT.
3 ) Handbuch der gerichtlichen Arzneikunde. 1838. Bd. 1. S. 431).
4 ) Gerichtliche Medicin. 1874. S. 202.
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UNIVERSITÄT OF IOWA
bl . II ;i Ix- rd ;i.
1)6
unter, während hei lebend in’s Wasser Gekommenen das l’ntersinkni
oder schwimmende Scliwehen auf oder an und unter dem Wasser¬
spiegel von zufälligen Verhältnissen, wie Kleidungsstücken, Metall¬
körpern in denselben, ruhigem Verhalten oder Bewegungen mit den
Armen, wobei dieselben oberhalb des Wasserspiegels gelangen u. s. w.,
abhängt. Mit der Entwicklung von Gasen im Inneren des Körpers,
etwa um die Zeit vom dritten Tage an, pflegt sich die Leiche zu
heben, wodurch die Auffindung des Leichnams dann begünstigt
wird 1 ).“
Es fehlen mir eigene Erfahrungen über das Versinken Ertrinken¬
der, doch wendete ich mich an zahlreich»“ Laien, welche alle angaben,
dass die Ertrinkenden, die sie gesehen, sämmtlich im Wasser unter¬
gegangen seien.
Dass in jedem Falle von Ertrinken die Dauer des Ankämpfens
nach individuellen Verhältnissen, Körperkraft, Zustand der Respira-
tions- und Circulationsorgane, Fettpolster, Luftgehalt der Organe,
nach der Art der Bekleidung sowie darnach, ob der Betreffende des
Schwimmens kundig oder unkundig ist. und ob er in stehendes oder
stark bewegtes Wasser gerathen ist, eine verschiedene sein werde, ist
wohl auch anzunehmen. Auch ist es bekannt, dass Ertrinkende häufig
mehrmals an die Oberfläche des Wassers auftauchen, ehe sie bleibend
verschwinden, eine Erscheinung, die ich auch bei ertrinkenden Kanin¬
chen mehrmals sah.
Immerhin scheint mir die Annahme, dass diese Regel keine Aus¬
nahme habe, und dass jeder Ertrinkende untersinken müsse, nicht so
feststehend, dass ich daraus in einem speciellen Falle weitgehende
Schlüsse ziehen möchte. Bei Versuchen nämlich, die ich mit jungen
Kaninchen vornahm, sah ich auch wirklich einmal ein Thier so er¬
trinken, dass »“s zwar mit einem grossen Theiie des Körpers, vor
Allem natürlich mit den Respirationsöffnungen, unter Wasser war,
doch knapp unter dem Wasserspiegel schwebend starb.
Am 13. April 1803 ertränkte ich ein 3 1 /., Monate altes Kanin-
’) Hierher gehört auch eine Anhalte vmi .1. N. I'l’eizerus (10,".)). Er saut:
„Erlrunkene, welche auf 'lein Wasser schwimmen, sind inlnl«re von Faulung durch
„Bläste“ aufgetriehen, was elu-nso hei denen der Fall sein kann, welche U>dt
hinein geworfen sind. 44 (Siehe Woltersdorff, „Ein Beitrag zur (iesehichte der
gerichtlichen Mediein“ 4 . L>iese Vierteljahrsschrili. 1S77. X. F. Ihl. 20. S. Bü2.)
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Einiges über Wasserleichen.
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cheii in einem fast 1 m s fassenden, mit HochquelIwasser von etwa
+ 6,5 6 R. Temperatur gefüllten Aquarium.
Das Thier wird aus geringer Höhe mit dem Kopfe voraus
in’s Wasser geworfen. Anfänglich schwimmt es kräftig umher
und versucht sich durch Erklimmen der Seitenwände zu retten.
Nach 4 Minuten zieht es die Füsse ein, schliesst die Augen und
krümmt sich zusammen. Bald schwimmt es wieder umher; dabei
hört man zuweilen schlürfende Geräusche, wenn die Nase unter das
Wasser geräth. Nach 8 Minuten neigt, es sich ennattet zur rechten
Seite, erholt sich wieder, schwimmt neuerdings umher, doch werden
die Bewegungen der Gliedmassen allmälig schwächer, es kommt mit
Mund und Nase öfter unter Wasser, wobei schlürfende Geräusche
wahrnehmbar werden und Luftblasen aufsteigen. Nach 12 Minuten
reisst es das Maul über Wasser weit auf, dann sinkt der Kopf unter
Wasser, die vorderen Gliedmassen werden krampfhaft verschränkt
und reichliche Luftblasen steigen auf. Nach 14 Minuten treten Streck¬
krämpfe der Extremitäten und rasch hinter einander 8 kräftige In¬
spirationen ein. Der Comealreflex ist erloschen. Nim folgen in grösseren
Zwischenräumen noch 7 minder kräftige Inspirationen, verbunden mit
leichten Zuckungen der Extremitätenmusculatur und weitem Aufreissen
des Maules. Nach 14 Minuten ist das Thier regungslos und todt. Es
liegt auf dem Bauche, wenig nach rechts gewendet, die Extremitäten
leicht in allen Gelenken gebeugt. Ein Theil vom Hinterhaupt und
Scheitel sowie ein 3 Querfinger breiter Streifen entlang der Rücken¬
wirbelsäule ist über Wasser, die übrigen Theile des Thiercs unter
Wasser.
Zum Vergleiche schliesse ich die Schilderung des Ablaufes der Erscheinun¬
gen bei einem anderen Thiere an.
Dasselbe wurde um 3 Uhr 2Min. ins Wasser geworfen. Anfänglich schwimmt
es ungemein kräftig umher; nach Q a Minute legt es sich auf den Rücken, zieht
die Extremitäten an und verharrt eine halbe Minute in dieser Stellung, indessen
Nase und Maul über Wasser sind. Dies wiederholt sich zweimal. Danach schwimmt
es wieder kräftig herum, kommt aber schon wiederholt mit Nase und Maul unter
den Wasserspiegel. Nun stellt es sich (3 Uhr 6Min.) mit den Hinterbeinen auf dem
Boden des Gefässes auf und hält sich mit den Vorderbeinen an der Glaswand, so
dass die Nase über Wasser ist; es wird daher Wasser nachgegossen. Uni 3 Uhr
8 Min. sinkt es unter, wobei Luftblasen aufsteigen, doch taucht es nach wenigen
Secundcn auf, um abermals in senkrechter Körperstellung unterzugehen. Vor
dem Maule ist reichlicher weisser Schaum. Um 3 Uhr 11 Min. ist kein Corneal-
Vierteljalirssolir. f. ger. Med. Dritte Fol^e. IX. L. 7
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08
Pr. Häher da,
reflex mehr auszulösen. Das Thier stirbt am Boden des Gefässes, auf der rechten
Seite liegend, unter leichten Krämpfen der Hals- und Extremitätenmuskeln.
Die Section ergab in beiden Fällen Schaum in der Luftröhre, feuchte ballo-
nirte Lungen, wenig Wasser in dem mit Grünfutter gefüllten Magen.
Ob die Ertrinkung auch am Menschen in ähnlicher Weise ablaufen kann, wie
bei dem zuerst angeführten Versuche, ist uns allerdings noch unbekannt.
Was die Lage der Leichen Ertrunkener im Wasser anbe¬
langt, so ist dieselbe wohl sehr von Zufälligkeiten bestimmt, kann
übrigens auch häufig wechseln, besonders im strömenden Wasser.
Wiederholt fiel mir an Wasserleichen, die einige Tage im Wasser ge¬
legen hatten, auf, dass der Rücken einer, häufig auch beider Hände
braunroth vertrocknet war. Diese Eintrocknungen waren stets
reactionslos und dehnten sich manchmal bis auf die Streckseite der
Unterarme hinauf. Offenbar sind hier die obersten Hautschichten im
Wasser abgeschleift worden und die blossliegende Cutis nachher an
der Luft in bekannter Weise vertrocknet. An den Füssen sah ich
Derartiges noch nie, wohl deshalb, weil die meisten der aus der
Donau und dem Wiener-Neustädter Kanäle aufgefangenen Leichen
bekleidet sind. Man kann aus diesem Befunde nicht gut auf die
Lage der ganzen Leiche schliessen, doch beschaute ich in den letzten
Tagen den Leichnam eines Mannes, der ausser an den Handrücken
auch an den Knieen und zwar an letzteren beiderseits thalergrosse
gelbbraune Vertrocknungen hatte und einen zweiten, der auch am
Nasenrücken und an der linken Brustseite braunrothe Hautvertrock¬
nungen aufwies. Bei dem ersteren waren die Kleider an den Knieen
eingerissen. Diese Leichen waren also offenbar auf dem Bauche
liegend im Wasser getrieben worden. Dafür sprach auch, dass bei
dem einen das Hemd über der Vorderseite des Brustkorbes auf¬
gerissen und die Haut des Brustkorbes in dicken Lagen mit
Schlamm, Sand und Pflanzenresten bedeckt war. Auch finde ich in
unseren Protokollen den Befund einer Leiche aus dem Jahre 1892,
die an der rechten Stirnseite und an den Knieen bis auf das Periost
reichende reactionslose Verletzungen aufwies.
Eine merkwürdige Stellung nahm die Leiche eines Man¬
nes ein, die im Juni des vergangenen Jahres an das Institut
eingeliefert wurde.
Am 18. Juni um l / 2 8 Uhr Morgens sah ein Sicherheitswachmann von der
Brücke der Donauuferbahn aus ein Bündel Kleider im Wasser des Winterhafens,
das nur wenig Strömung hat, an der Oberfläche flottiren. Er ging an die Stelle
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UMIVERSITY OF IOWA
Einiges über Wasserleichen.
99
zum Ufer hinab und erblickte nun einen nackten Mann im Wasser, so stehend,
dass über seinem Kopfe noch eine etwa 1 m hohe Wasserschicht sich befand. Der
rechte Arm war erhoben and hielt in der Hand die Kleider, die sich allmälig
loslösten und fortschwammen.
Das Wasser ist an dieser Stelle gegen 4 m tief, den Grand bildet eine fast
1 m hohe Schlammschicht. Mit Hilfe zweier Fisoher zog der Waohmann die Leiche
an das Land. Sie stak bis an die Knie im Schlamme and war vollständig
steif. Bald darauf kam der Polizeiarzt, Herr Dr. Schaumann 1 ), der die Leiche
vollständig todtenstarr und bis auf kleine reactionslose Verletzungen, die beim
Heraufziehen des Leichnams über die Ufersteine entstanden waren, ohne Zeichen
fremder Gewalt vorfand. Die drei Männer versicherten dom Arzte, dass
die Leiche vollständig gerade gestanden sei. Nachher gaben Leute an,
dass sie den Unbekannten wenige Stunden vorher nahe der Stelle seiner Auffin¬
dung am Ufer auf- und abgohen gesehen hätten. Man vermuthete, dass er einen
Uebergang nach Kaiserebersdorf gesucht habe und, die Kleider über Wasser haltend,
das Wasser habe durchschreiten wollen. Die Leiche wurde bald als die des
45 Jahre alten Mechanikers F. R. agnoscirt. Seine Frau meinte, dass er beim
Baden ertrunken sei, da er öfter kalte Flussbäder genommen habe. Geistig soll
er nicht ganz normal gewesen sein.
Die Beschau der Leiche am 19. Juni (v. Hofmann) ergab: Stark gebaute,
todtenstarre Leiche, 170 cm lang, von mässig entwickelter Musculatur, mager.
Gänsehaut wenig entwickelt. Die Todtenflecke am Rücken. Zwischen den Haaren
und an den Händen Sandspuren. Die Bindehäute blassviolett mit vereinzelten
punktförmigen Ecchymosen. Keine Auswässerungserscheinungen an den
Händen und Fiissen. Bauch etwas eingesunken. Am Gesässe, am linken Ellen¬
bogen und am rechten Fusse zerstreute, reactionslose Hautabschürfungen.
Die in der Uebungsstunde am 20. Juni vorgenommene Section zeigte: Im
Rachen mit Sand gemengte wässrige Flüssigkeit, in der Luftröhre weisser
Schaum. Leichtes „Glottisödem“. Die Lungen nach Abnahme des Brust¬
beines vorragend, stellenweise angewachsen, teigig anzufühlen, am Schnitt blut¬
reich und von schaumiger Flüssigkeit geradezu überströmend, überall
lufthaltig. In den Bronchien reichliche schaumige Flüssigkeit. Herz
und Herzbeutel stark fettbewachsen und vorne, sowie links oben mit einander ver¬
wachsen; Herz vergrössert, namentlich in der Länge, in seinen Höhlen flüssiges
Blut. Aorta im aufsteigenden Th eil aneurysmatisch ausgebaucht, Intima stark
atheromatös. Der linke Ventrikel hypertrophirt, Herzfleisch braunroth, fest.
Magen etwas gebläht, in demselben reichliche bräunlich getrübte Flüssigkeit
ohne auffälligen Geruch, Schleimhaut blassgrauviolett. Duodenum zusammen¬
gezogen.
Mit Rücksicht auf den Sectionsbefund und die Umstände des
Falles kann an dem Tode durch Ertrinken nicht gezweifelt werden.
Für die Annahme einer anderen, besonders gewaltsamen Todesart mit nachträg¬
licher Einbringung der todtenstarren Leiche in die Position, in der sie aufgefunden
w r urde, liegt gar kein Anhaltspunkt vor. Es ist vielmehr die Annahme naheliegend,
•) Ihm verdanke ich diese Daten.
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100
Dr. Haberda,
dass der Mann, vielleicht nachdem er im Schlamme stecken geblieben war, auf¬
recht stehend ertrunken sei. Der Leichnam kann nur kurze Zeit in dieser Stellung
geweson sein, da keine Hypostasen an der unteren Körperhälfte waren, die Todten-
llecke vielmehr bei der Beschau ihre gewöhnliche Verthcilung entsprechend der
Rückenlage der Leiche hatten.
Die eigentliümliche Stellung, in der der Leichnam im Wasser verblieben
war, könnte eventuell in einer bestimmten Yertheilung der Luft ihre Ursache
haben, wobei wir annehmen müssten, dass die Füsse im Schlamme feststaken, und
nun, da die Därme luftleer oder aber sehr wenig lufthaltig waren, der Oberkörper
in Folge überwiegender Luftfüllung der Lungen nach oben strebte; oder aber
wir müssen annehmen, dass wir es mit einem Falle von katalep-
tischer Todtenstarre zu thun haben, wobei diese die durch den
letzten Willensimpuls bedingte Stellung fixirte. Durch letztere An¬
nahme findet auch die Stellung des rechten Armes ihre Erklärung.
Es sind wohl heute die Ansichten über die Möglichkeit und das Vorkommen
der kataleptischen Todtenstarre noch nicht völlig geklärt und nichts weniger als
übereinstimmend, immerhin hat dieselbe einige eifrige Vertreter gefunden, die in
den bekannten Experimenten von Schroff und Falk, sowie in den Untersuchun¬
gen von A. Paltauf eine nicht ungewichtige Stütze für ihre Meinung fanden 1 ).
Diese Beobachtung wirft auch ein Streiflicht auf den von Frey er 2 ) publi-
cirten Fall, in dem ein 25jähriges Mädchen 3 1 /, Tage nach seinem Verschwunden
in einer mit Wasser gefüllten Mergelgrube an dem steilen Ufer aufrecht stehend
gefunden wurde, wobei der Kopf 1 Fuss unterhalb des Wasserspiegels sich befand.
Möglicherweise w r ar, wie Frey er annimmt, die Leiche des nicht im Wasser ge¬
storbenen Mädchens todtenstarr in die Grube gestellt worden, so dass sie in
dieser Stellung verharrte, doch pflegen frische Leichen, wie ich mich durch Ver¬
suche, die noch erwähnt werden sollen, überzeugt habe, zumeist andere Lagen im
Wasser einzunehmen, die nur in einem gewissen Grade willkürlich gestaltet werden
können.
Ich würde demnach auch in diesem Falle schon mit Rücksicht auf die von
mir mitgetheilte Beobachtung, abgesehen von dem Sectionsbefunde, nach der Stel¬
lung der Leiche allein den Tod durch Ertrinken und den Selbstmord nicht rund¬
weg in Abrede stellen wollen, zumal mir in dem citirten Falle gegen die von
Frey er angenommene Erdrosselung doch der Mangel von Ecchymosen an den
Schleimhäuten und von Verletzungen, oder zumindest Blutungen, in den tieferen
Halsorganen zu sprechen scheint, wenn auch eine graublaue Linie am Halse war.
Der Leichnam war bekleidet, Kopf und Hals in Tücher gehüllt, vielleicht war da¬
durch die Linie erzeugt worden.
Legt man frische nackte Leichen in’s Wasser ein, so
kann man sich überzeugen, dass eine grosse Zahl derselben mit mehr
’) Siehe auch die Mittheilungen von Schlesinger in der Abtheilung für
gcrichtl. Medicin der 66. Versammlung deutscher Naturforscher u. Aerzte. Wiener
klin. Wochenschr. 1894. S. 799.
2 ) Mord oder Selbstmord? Diese Vierteljahrsschr. 1886. Bd. 45, S. 43.
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Einiges über Wasserleichen.
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weniger grossen Antheilen des Körpers auf oder wenig unter der
Wasseroberfläche schwimmend sich erhält. Nur die Leichen todtge-
borener Kinder gehen begreiflicher Weise immer sofort unter. Auch
stark abgemagerte Leichen sinken häufig unter, es sei denn, dass sich
in ihren Organen, besonders in Magen und Darm, viel Luft findet,
wie dies z. B. bei an Darmkatarrhen zugrunde gegangenen Kindern
nicht selten der Fall ist. Ausser dem Fettpolster ist für das Schwim¬
men oder Untergehen der Leichen natürlich nur der Luftgehalt der
Organe massgebend. Es scheint, dass die Darmblähung hierbei ent¬
scheidender ist, da man nicht selten gerade den Bauch über Wasser,
Brustkorb und Kopf dagegen unter Wasser schwebend sieht, wobei
allerdings das überwiegende Gewicht des Kopfes, besonders bei Kin¬
dern, für die tiefere Lage des Oberkörpers mit verantwortlich zu
machen sein dürfte. Häufig macht sich bei Kindern das grössere Ge¬
wicht der Leber geltend und bedingt rechte Seitenlage des Leichnams.
Keinesfalls bestätigte sich die Angabe von Haupt, dass die
Leichen meist auf dem Bauche schwimmen und in diese Lage wieder
zurückkehren, wenn man sie auf den Rücken legt. Im Gegentheile
schwammen manche Leichen sowohl auf dem Bauche als auf dem
Rücken, eine nur auf letzterem.
Ich führe einige Beispiele an:
1. Leiche eines 5 Wochen alten Mädchens, stark abgemagert. Sie geht
im Wasser jedesmal sofort unter und dreht sich dabei auf die rechte Seite. Die
Section zeigt, dass die Lungen nur massig ausgedehnt, Magen und Därme nur
wenig luftgefüllt sind. Die Leber gross und blutreich.
2. Leiche eines 3 Jahre alten Knaben, wenig genährt, rhachitisch. Die
Leiche sinkt in jeder Lage im Wasser sofort unter.
Bei der Section findet sich Pneumonie im rechten Oberlappen. Die Lungen
angewachsen, der Darm nur wenig gebläht.
3. Leiche eines 2 */ 2 Monate alten Mädchens, 54 cm lang, mässig genährt.
Sie schwimmt nur am Rücken, wobei der Oberkörper nach abwärts hängt. Die
Gegend des Nabels ist über Wasser. Legt man die Leiche im Wasser auf den
Bauch, so dreht sie sich auf den Rücken um.
Bei der Section findet sich: Bauch ziemlich ausgedehnt, Magen und Darm
gebläht, die Lungen in den vorderen Antheilen stark, in den hinteren Antheilen
nur wenig gebläht, dabei blutreicher, in kleinen Bezirken atelcctatisch.
4. Leiche eines 1 Jahr alten Knaben, fettreich, Bauch trommelartig aufge¬
trieben. Sie schwimmt sowohl am Bauche, als auch am Rücken, mit dem Kopfe
stets nach abwärts. Im ersteren Falle sieht der Steiss, im letzteren ein zwei
Handflächen grosses Stück des Bauches mit dem Nabel aus dem Wasser heraus.
Die Section zeigt mässig geblähte Lungen; der Darm ist sehr stark und
gleichmässig gebläht.
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102
Dr. Haberda,
5. Die Leiche eines abgemagerten tuberculösen Mannes von 45 Jahren schwebt
im Wasser sowohl auf dem Bauche als auf dem Rücken, nach rechts geneigt,
wiewohl die nachträgliche Section in beiden Pleurahöhlen etwa */ 2 Liter hämor¬
rhagischen Exsudates, chronische infiltrirte Tuberculose der Lungen zeigt, von
welchen nur das vordere Drittel beiderseits lufthaltig und emphysematos gebläht
erscheint. Der Magen war stark, der Darm nur wenig gebläht. Die Leber eher
klein, die Milz aufs Dreifache vergrössert und amyloid.
6. Die Leiche eines 69 Tage alten stark abgemagerten Kindes schwimmt auf
der rechten Seite, mit dem Kopfe nach abwärts; nur der linke Trochanter und seine
nächste Umgebung über Wasser.
7. Die ziemlich magere Leiche eines 11 Tage alten Kindes schwimmt eben¬
falls auf der rechten Seite mit dem Kopfe nach abwärts; es sieht nur die linke
seitliche Bauchgegend aus dem Wasser hervor.
Die Thatsache, dass frische Leichen im Wasser zu schwimmen
vermögen, scheint mir insofern von Bedeutung, als sie beweist, dass
unter gewissen Umständen auch die Leichen von im Wasser ver¬
storbenen Personen unmittelbar nach dem Tode schwimmend gefunden
werden können. Wollten wir auch zugeben, was übrigens nicht
feststeht, dass jeder in typischer Weise ertrinkende Mensch unter¬
sinke, so bleiben doch bekanntlich noch die Fälle von plötzlichem
Tode beim Gerathen in’s Wasser übrig. Solche Fälle sind jetzt sattsam
bekannt und wurden auch von A. Paltauf in seinen Studien über
den Ertrinkungstod und auch in seiner Arbeit über die Beziehungen
der Thymus zum plötzlichen Tode besprochen. Auch ich secirte einmal
einen solchen Fall von plötzlichem Tode nach dem Gerathen in’s
Wasser. Bei solchen Todesfällen kann es wohl auch Vorkommen,
dass die Leiche auf dem Wasser schwimmen bleibt.
Das Auftauchen von Wasserleichen ist entweder durch
die Strömung bedingt, welche die Leichen an ein Ufer oder
eine seichte Stelle treibt und anschwemmt, oder es ist ein
Effect der Fäulniss, welche durch Gasentwickelung die Lei¬
chen specifisch leichter macht, so dass sie im Wasser schweben
und schliesslich an der Oberfläche erscheinen.
Wir wissen, dass die Leichen im Wasser im Allgemeinen langsamer
faulen als an der Luft, eine Thatsache, die wohl zum Theil in dem Ab¬
schlüsse von den in der Luft lebenden Organismen ihre Ursache hat.
Auch ist es bekannt, dass neben der Reinheit des flüssigen Mediums
die Temperatur desselben und der Umstand, ob es fliessend oder
stehend ist, wesentlichen Einfluss auf die Zeit des Eintrittes und auf
den Verlauf der Fäulniss nehmen. Auch die chemische Zusammen-
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Einiges über Wasserleichen.
10,3
Setzung des Wassers ist von grossem Belange, wie die interessante
Mittheilung von König 1 ) beweist, der 5 Leichen, die durch 41 Jahre
in einem salzreichen Schachtwasser gelegen hatten, in auffallend gut
conservirtem Zustande vorfand. Andererseits scheint das Meerwasser
nach Corre’s 2 ) Mittheilungen die Fäulniss der Leichen zu begünstigen,
doch wie Corre wohl mit Recht annimmt, nur deshalb, da die
Leichen wegen des höheren specifischen Gewichtes des Meerwassers
rascher auftauchen.
Dass im Sommer auch die Leichen Erwachsener oft schon nach
ganz wenigen Tagen auftauchen, dafür habe ich aus eigener Er¬
fahrung Belege, da ich des Oefteren Leichen beschaute, die nach den
bekannten Macerationserscheinungen an den Händen erst einige Tage im
Wasser verweilt haben konnten und dennoch schwimmend aufgefangen
worden waren. Hie und da konnte auch durch die Agnoscirung meine
Zeitschätzung bestätigt w r erden, indem die Angehörigen angaben, dass
der Verstorbene thatsächlich erst seit wenigen Tagen abgängig sei.
Versuche, die ich in diesem Sommer vornahm, zeigten mir auch den wesent¬
lichen Einfluss, den die Temperatur des Wassers auf das Auftauchen des Leich¬
nams nimmt. In einem Aquarium, in dem ich in den Sommermonaten durch spär¬
lichen Zu- und Abfluss von Hochquellwasser meist eine Temperatur des Wassers
von 14 bis 19' 1 C. messen konnte, tauchte der Leichnam eines todtgeborenen
Kindes nach 9, der eines anderen schon nach 7 Tagen auf. Dagegen fand ich
in den Wintermonaten des Jahres 1893 die Leichen, die ich in einem Keller¬
locale in fliessendes Hochquellwasser eingelegt hatte, meist erst nach einem
Monate und darüber aufgestiegen. Die Temperatur des Wassers und der Luft
im Raume war meist nur wenige Grade, im Maximum 4—5° C., über Null.
So tauchte ein Leichnam, den ich am 19. Februar eingelegt hatte, erst am
14. März auf, ein zweiter verblieb vom 3. März bis 1. April, ein dritter vom
18. März bis 14. April, ein weiterer vom 24. März bis 27. April im Wasser,
schliesslich ein Leichnam vom 24. März bis 17. Mai.
Dass hiebei natürlich neben den äusseren Einflüssen auch individuelle, wie Fett¬
entwickelung und Luftgehalt der Lungen und des Darmes 8 ), sich geltend machen,
kann nicht bezweifelt werden; die Leichen, die ich zu den Versuchen verwendet
hatte, waren meist solche von todtgeborenen oder asphyktisch geborenen und
nicht wieder belebten oder von wenige Tage bis Monate alten, zumeist mageren
oder doch nur massig genährten Findelhauskindern.
Die Fäulniss verzögernde Wirkung des kalten Wassers bringt es mit sich,
dass wir zumeist im Frühjahre Leichen in’s Institut eingeliefert bekommen, die ge¬
wiss Wochen und selbst Monate im Wasser gelegen waren. Nicht selten sind die
*) Wiener mediciniscke Blätter. 1892. No. 18.
a ) Arch. d’anthrop. 1892. p. 34.
8 ) Siehe v. Hofmann’s Lehrbuch. VI. Aufl. S. 579.
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104 Dr. II aber da,
Fäulnissverämlerungen trotzdem an ihnen noeli nicht so weit gediehen, dass eine
Agnoscirung unmöglich wäre.
So wurde am 22. Februar 1894 im Winterhafen ein Leichnam an’s Land ge¬
zogen, der, wie die am nächsten Tage im Institute vorgenommene Agnoscirung er¬
gab, einem Manne angehörte, der seit dem 25. December 1893 abgängig war; an
diesem Tage hatte er sich von einem Schiffe der Donaudampfschiffahrt-Gesell¬
schaft in den Fluss gestürzt. Die Hornhäute waren noch vollständig
klar, die braune Farbe der Iris wohl erhalten; doch fehlte die Epidermis des Kör¬
pers schon grösstenthcils.
Bei Abschätzungen der Zeit, wie lange ein Leichnam im Wasser
gelegen hat, müssen selbstverständlich alle die erörterten Verhältnisse
genau erwogen werden. Misslich ist cs hierbei, dass, wie ja bekannt,
die aus dem Wasser gezogenen Leichen wegen ihres Wasserreichthums an
der Luft ungemein rasch, selbst bei niedriger Temperatur, viel schneller
natürlich bei höherer Temperatur faulen, so dass aus dem Fäulniss-
grade nur äusserst vorsichtige Schlüsse auf die Zeit ihres Liegens
im Wasser gezogen werden können, gar wenn die Leichen erst Stunden
oder Tage nach der Auffindung zur Beschau kommen. Die rasche Fäul-
niss beginnt zuerst schon an den nach dem Auftauchen an der Luft
blosslicgenden Theilen, schreitet von hier aus weiter und erreicht, wenn
die Leiche dann ganz an’s Land kommt, im Sommer schon nach ganz
wenigen Stunden jene Grade, die bereits Casper so beredt schilderte.
Doch auch wenn die Leichen noch mit grossen Antheilen unter
Wasser bleiben, schreitet, so bald sie in die oberen, wärmeren, eventuell
der Bestrahlung durch die Sonne ausgesetzten Schichten gelangt sind,
die Fäulniss sehr rasch fort. An den blossliegenden Theilen kommt
es bald zur Ansiedelung von Aasfliegen, die im Sommer in kürzester
Zeit die freien Theile bedecken und bald werden die Körperhölilen
eröffnet, aus welchen sich missfärbige Jauche entleert. Die Rippen¬
bögen liegen bald zu Tage, ebenso die Schädelknochen, einzelne Glie¬
der fallen ab, der Kopf trennt sich vom Halse und statt der Leiche
sieht man schliesslich missfärbige breiige Massen, Epidermisfetzen und
die skeletirten Knochen. Fascien und Knorpel leisten der Zerstörung
natürlich am längsten Widerstand. Wiederholt sah ich, wenn die Ver¬
suchsleiche so w r eit zerstört war, in dem betreffenden Gefässe miss-
färbiges Gewebe an der Oberfläche schwömmen, das sich häufig als
ein Theil der Lunge, nicht selten aber auch als ein Theil der von
Gasen durchsetzten Milz, Niere oder Leber erwies.
Wenn die Fäulniss einen gewissen Grad erreicht hat und die
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Einiges über Wasserleichen.
105
Körperhöhlen eröffnet sind, kommt es häufig' vor, dass ein Theil
der Leiche oder diese als Ganzes wieder tiefer in’s Wasser tritt, ja
vollständig untersinkt. Mehrmals konnte ich an meinen Versuchs¬
leichen eine Erscheinung bestätigen, die Belohradsky*) erwähnt.
War z. B. der Bauch erschienen, wenn die Leiche ursprünglich auf
dem Rücken gelegen hatte, so kamen dann allmälig der Thorax, der
Hals und der Kopf über Wasser. Dabei ereignete es sich nicht selten,
dass, während die übrige Leiche ihre Lage beibehielt, der Kopf selbst
schon nach einem halben oder ein bis zwei Tagen wieder unter den
Wasserspiegel sank. Nach Belohradsky geschieht dies dadurch, dass
die Fäulnissgase, sobald der Kopf über Wasser ist, die Luft aus der
Mund- uud Rachenhöhle austreiben und nun an deren Stelle ein
schwereres Medium, das Wasser, tritt.
Bleibt die Leiche lange im Wasser, was also besonders in der
kälteren Jahreszeit möglich ist, so kommt es an geeigneten Objecten
neben der gewöhnlichen Fäulniss zur Adipocirebildung, welche
speciell in der Donau nicht gerade selten vorzukommen
scheint.
So kamen uns heuer im März und April drei Wasserleichen zu,
an denen sich mehr weniger ausgebreitetes Leichenwachs vorfand.
An der Leiche eines nach dem Befunde in der oberen Humerusepiphyse auf
20 Jahre geschätzten Mannes, der am 3. März 1894 aus dem Donaukanale gezogen
wurde, waren die Schädel- und Gesichtsknochen vielfach blossgelegt, die Hände
und Vorderarme von Weichtheilen entblösst, die Fingergelenke eröffnet. An den
Wangen und an den Armen fanden sich Platten von Adipocire. Die Körperhölilen
waren noch geschlossen.
Am 14. April 1894 wurde aus der Donau ober Wien die Leiche eines gegen
40Jahre alten Mannes gezogen. Die Haut war nur theilweise, wie am Rücken und
an den oberen Extremitäten erhalten, doch der Epidermis beraubt, am Bauche und
an den unteren Extremitäten fehlte sie grösstentheils, so dass das Fettgewebe in
Form einer ziemlich starren, gelblichen, zum Theil grauweissen, deutlich granu-
lirten Masse blosslag. Auch die Wangen zeigten Adipocirebildung. Die Epidermis
der Hände und Füsse sammt den Nägeln war abgängig, die Schädeldecken mehr¬
fach eingerissen, die Körperhöhlen noch geschlossen.
Am 24. April 1894 wurde ein junger, etwa 2Qjähriger, Mann aus dem Donau¬
kanal gezogen. Die Cutis war noch grösstentheils vorhanden, doch zeigte sie an
einzelnen Stellen bis handflächengrosse Defecte, an denen missfärbiges Fettgewebe
blosslag. An beiden Wangen lag das Fettgewebe zu Tage, w r ar feingekörnt, grün¬
gelb, hart, fast kalkartig.
*) Maschka’s Handbuch. I. S. 693.
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Dr. Haberda,
Doch auch im Sommer kommen uns solche Leichen zu. So
untersuchte ich am 19. Juli 1893 den Leichnam eines zwischen
40—50 Jahre alten Mannes, der am 17. Juli Morgens aus dem Donau-
kanale angeschwemmt worden war. Ueberall war die Haut abgängig
und das blossliegende Fett in fest zusammenhängende Platten von Adi-
pocire verwandelt, besonders am Kopfe, der nunmehr im Museum
aufbewahrt wird. An der linken Brustseite fehlten die Weichtheile
vollständig, ebenso an den Vorderarmen, Händen und am rechten
Unterschenkel.
Im Allgemeinen nimmt man wohl mit Recht an, dass die höheren
Grade von Adipocirebildung erst nach monatelangem Verweilen der
Leichen im Wasser entstehen. Bei meinen Versuchen hat sich dies
auch bestätigt. So fand ich die Leiche eines neugeborenen Kindes,
nachdem sie von Februar bis Juli im Wasser gelegen hatte, in ihrem
Fett fast vollständig in Adipocire verwandelt.
Die ersten Anfänge können jedoch schon viel früher
auftreten.
Im heurigen Sommer sah ich an einer Kindcsleiche schon nach
5 Wochen die Extremitäten härtlich werden, nachdem die Haut weg¬
gefault war. Das blossliegende Fett war fein granulirt, graugelblich
und fest und umschloss röhrenförmig den grösstentheils der Musculatur
entblössten Knochen.
Zumeist findet sich das Leichenwachs anKörpertheilen, die bei gutem
Ernährungszustände durch ein grösseres Fettpolster ausgezeichnet sind,
so am Gesässe, am Bauche, an den Oberschenkeln, an den Wangen,
eine Thatsache, die auch meine Versuchsleichen demonstriren.
Durch die Adipocirebildung erhalten sich in bekannter Weise
Details oft sehr lange 1 ). So konnte man an der Leiche eines wohl¬
genährten neugeborenen Kindes, das ich vom Februar bis Juli 1893
in Wasser liegen hatte, nachdem es vollständig in Adipocire ver¬
wandelt und Muskel und Eingeweide theils vollständig verschwunden,
theils in unkenntliche schmierige Massen verwandelt waren, noch das
weibliche Geschlecht von aussen erkennen und auch vermuthen, dass
das Kind ein neugeborenes oder doch nur wenige Tage altes gewesen
sei. Das Fett der grossen Schamlippen war in zwei, eine Spalte ein-
schliessende längliche Wülste erstarrt und die vollständig geschlosse-
’) Siehe Reubold, Berichte der medicinisch-physikalischen Gesellschaft
in Würzburg. 1886.
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Einiges über Wasserleichen.
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nen, in Adipocire verwandelten Bauchdecken zeigten in ihrer Mitte
ein kreisrundes Loch, entsprechend dem noch nicht vernarbt ge¬
wesenen Nabelringe. Der Nabelstrang war natürlich längst weg¬
gefault.
Was die Stellungen anbelangt, in denen Wasserleichen
auftauchen, so sind dieselben gewiss ebenso wechselnde, wie jene,
in denen die Leichen im Wasser liegen. Im stehenden Gewässer
werden erstere mitunter direct von letzteren abhängen. So sah ich
Leichen, die ich auf den Rücken in’s Wasser gelegt hatte, wenn sie
aufgetaucht waren, mit dem Bauche nach oben schwimmen, hatte ich
sie dagegen absichtlich auf den Bauch gelegt, so erschien der Steiss
und Rücken zuerst an der Oberfläche des Wassers. In strömendem
Wasser wird natürlich die ursprüngliche Lage kaum immer beibe¬
halten. Von Augenzeugen wurde mir angegeben, dass man in der
Donau manche Leichen mit dem Steisse über Wasser, andere mit dem
Bauche über Wasser schwimmen sehe. Dabei hängt der Oberkörper
offenbar in’s Wasser hinab, ein Verhältniss, das ich auch an meinen
Versuchsleichen sah und das man überhaupt für die Leichen Ertrun¬
kener als häufig annimmt. Man erklärt ja daraus seit langem die
stärkere blutige Imbibition und nachherige stärkere Fäulniss des
Kopfes und Oberkörpers solcher Leichen, eine Erscheinungsweise der
Fäulniss, die man übrigens nicht selten auch an gewöhnlichen Leichen
beobachten kann.
Uebrigens wird bei dem verschiedenen Gange der Fäulniss in
den einzelnen Körpertheilen auch einmal der eine, ein anderes Mal
der andere Theil des Körpers eher an der Wasseroberfläche erscheinen.
So kommt es vor, dass Leichen zuerst mi’t dem Oberkörper, ja
dass sie senkrecht stehend auftauchen. Einen solchen Fall er¬
wähnt v. Hof mann in seinem Lehrbuche und ich hörte solche Fälle
von Augenzeugen, die mehrmals Leichen im Donauwasser in solcher
Stellung, also mit dem aufrechten Oberkörper über Wasser, treiben
sahen.
Ein aus einer Leiche dem unversehrt gewesenen Eisacko entnommener fünf¬
monatlicher Foetus wird am 7. Juni in ein grosses, mit Wasser gefülltes Gefäss
eingelegt. Er liegt in Rückenlage auf dem Boden des Gefässes. Am 15. Juni früh
sitzt er bei senkrechtem Oberkörper, der grünlich missfärbig erscheint,
auf dem Boden und ist Mittags in gleicher Stellung um einige Centimeter und
Abends schon so weit gehoben, dass der Schädel über Wasser ist. Am nächsten
Tage schwimmt die Leiche auf demBauche, der Rücken ist theilweise überWasser.
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Dr. Haberda,
Bekanntlich verwenden wir die an den Händen und Füssen auf¬
tretende Maceration der Epidermis zur approximativen Bestimmung
der Zeit, durch welche eine Leiche im Wasser lag. Ausser an den
Händen und Füssen sieht man die Maceration nicht selten auch an
der Haut der Kniee, wenn diese, wie besonders bei der dienenden
weiblichen Klasse, verdickt war.
An der schwieligen Haut des Fusses beginnt sic rascher und .
schreitet rascher fort als an den Händen, vorausgesetzt, dass die
Füsse nicht bekleidet waren. Bei Kindern verläuft sie wegen der
dünneren, zarteren Haut immer langsamer als bei Erwachsenen.
Legt man eine abgeschnittene Hand in fliessendes Wasser, so
kann man schon nach wenigen Stunden sehen, dass sich die
Haut der Fingerbeeren etwas runzelt und dass sie bläulich wird.
Nach einem Tage ist häufig auch schon die übrige Haut der
Hohlhand in solcher Weise verändert, nach zwei Tagen ist sie
schon weisslich, erscheint verdickt und stark gequollen. Von der
Volarfläche geht nun die gleiche Veränderung namentlich auf die
ulnare Fläche der Hand und auf die Rückenfläche der Finger über,
welche nach 3—4 Tagen gleichfalls gerunzelt und gebleicht erscheinen.
Unter fortwährender Quellung und Runzelung löst sich schliesslich die
Haut in grösseren Bezirken von der Unterlage ab, so dass man sie
nach 5 — 6 Tagen schon leicht verschieben kann. Nunmehr be¬
ginnen sich auch die Nägel zu lockern und am 10. Tage gelingt es
oft schon mit geringer Gewalt, die Nägel abzuziehen. Ist die Hand
keinen mechanischen Insulten ausgesetzt, so kann man die Epidermis
nicht selten bereits nach 14 Tagen sammt den Nägeln handschuh¬
fingerartig abnehmen, ja oft löst sie sich nach 2—3 Wochen spontan
los und nicht selten sah ich sie dann als vollständigen Hand¬
schuh im Wasser liegen, wie ich dies an Präparaten zu zeigen
vermag.
Neben der Maceration kann in der ersten Zeit auch das
Auftreten gewisser niederer pflanzlicher Organismen, wel¬
che an todten organischen Substanzen im Wasser gedeihen,
zur Bestimmung der Zeit des Verweilens im Wasser ver¬
wendet werden.
Legt man die Leiche eines Kindes in fliessendes Wasser ein, so kann man
am \i,| yi erten Tage an der Haut hie und da einen feinen weiss-
1 ichgrauen Saum bem^ en ‘ 4- — 1 >. Tage sieht man vereinzelte weisse,
aus feinsten Fädchen besteht n ^ e Ballen, die si°h rasc h ausbreiten, so dass am
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Einiges über Wasserleiche».
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6. — 7. Tage schon fast die ganze Oberflüche einen welligen Saum
aufweist, der aus solchen Ballen feiner, fast senkrecht abstehender
und im Wasser flottirender Fäden besteht. Nimmt man die Leichen her¬
aus, so fühlen sich diese Stellen schmierig und schlüpfrig an.
Dieser Saum besteht bei mikroskopischer Untersuchung ans verschiedenen
der Klasse der Phycomyceten oder Algenpilze angehörenden Fäden, zum
grössten Theil aus Beggiatoa- und Saprolegniaceen-Arten, namentlich
Leptomitus, hie und da findet man auch Cladothrix. Dazwischen sieht man
neben reichlichen kurzen dünnen Stäbchen und Zooglaeahaufen auch in lebhafter
Bewegung begriffene Amoeben.
Die Wucherung nimmt nun stetig zu und ist nach 2 Wochen meist
schon so beträchtlich, dass die Leichen ganz plump, ihre Formen fast
unkenntlich werden. Gegen Ende der 3. Woche collabiren die Rasen etwas, es
bildet sich ein weisslicher hautartiger Schleier, in dem man weissliche, wie ge¬
ronnenes Eiweiss aussehende Pünktchen erkennt, die aus runden Schwärmsporen
zusammengesetzt erscheinen.
Geht mit der fortschreitenden Maceration die Epidermis ab, so fallen mit ihr
auch die Algenpilzrasen ab und nun kann an der blossliegenden Cutis von Neuem
die Wucherung beginnen.
An Theilen, die nach dem Aufsteigen des Leichnams über die Wasserfläche
gelangen, fallen die Rasen zusammen und bilden anfänglich einen grauweissen,
wie nasse Watte aussehenden, dicken Belag, der aber bald schmutzigroth und
bräunlich wird.
Zuweilen sieht man auch schon im Wasser das Auftreten einer bräunlichen
Farbe an den Pilzrasen, die offenbar von der Einlagerung von Eisenoxydhydrat
in die Zellen aus dem durch eiserne Zuflussröhren zuströmenden Wasser her¬
rührt.
An Leichen aus der Donau, die 1—2 Wochen im Wasser gelegen waren, ist
der Befund von Algenpilzrasen ein ganz gewöhnlicher. Sie erscheinen zumeist
als brauner oder braunröthlicher schlammartiger Belag, der zumeist mit Sand und
wirklichem Schlamme verunreinigt ist. Mikroskopisch erkennt man in ihm neben
Phycomycetenarten auch wirkliche Algen, namentlich Diatomaceen.
Lagen die Leichen nackt im Wasser, so sind die röthlichbraunen schlamm-
artigen Rasen über den ganzen Körper verbreitet. Stellen dagegen, die von eng
anliegenden Kleidern bedeckt sind, sind von ihnen frei. Man findet sie daher an
unseren Wasserleichen zumeist nur am Kopfe und am Halse, bei Weibern jedoch
auch am Bauche, Gesässe und an den Oberschenkeln. Aus der Vertheilung dieser
Algenpilzbildung kann man auch erschliessen, ob die Leiche überhaupt be¬
kleidet war und welche Theile dauernd von Kleidern gedeckt waren.
Auch zur Bestimmung der Zeit, wie lange eine Leiche im
Wasser lag, kann diese Erscheinung wenigstens in den ersten Wochen
benutzt werden. So wird bei im Sommer aus der Donau gezogenen
Leichen, die rasch in Fäulniss übergehen und missfärbig werden,
leicht die Zeit des Liegens im Wasser überschätzt. Zeigt sich
keine Algcnpilzbildung, so kann man — abgesehen von anderen
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Dr. Fl aber da.
Behelfen zu dieser Schätzung — annehmen, dass die Leiche kaum
mehr als 6—7 Tage im Wasser gelegen habe. Umgekehrt kam es
mir vor, dass bei einer faulen Leiche, die nicht sehr hochgradige Ma-
cerationserscheinungen an den Händen zeigte, der Beschauarzt ange¬
geben hatte, die Leiche sei kaum eine Woche im Wasser gelegen. Ich
fand reichliche Algen im Gesichte, und da die Kleider über der Brust
offen gewesen waren, auch am Thorax und schloss hieraus, dass die
Leiche mehr als eine Woche, wahrscheinlich 12—14 Tage, im Wasser
gelegen habe.
Im Zusammenhalte mit anderen Leichenerscheinungen wird also
diese Algenpilzwucherung gewiss häufig mit zu Zeitbestimmungen be¬
nutzt werden können. Für spätere Perioden, über die 3.—4. Woche
hinaus, kann sie nicht gut herangezogen werden, da einerseits nach
Abgang der Epidermis neue Vegetationen beginnen, und da anderer¬
seits das weitere Wachsthum nnd die Vermehrung in späteren Perioden
auch nicht in sinnfälliger Weise sich kundgeben.
Neben diesen Phycomycetenrasen sah ich an Leichen häufig schon
in den ersten 4—5 Tagen des Verweilens im Wasser verschiedenfarbige,
zumeist violette, Flecke an der Haut auftreten, die aus Colonien des
bekannten Bacillus violaceus bestehen. Man findet sie neben rothen,
bis linsengrossen Flecken nicht selten auch an Donauleichen.
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Zwei im Civilyerfahren abgegebene motivirte
Gutachten über mit dem Strafgesetz in Conllict
gerathene Geisteskranke.
Von
Dr. Alfred Richter,
1. Oberarzt an der Irrenanstalt der Stadt Berlin zu Dalldorf.
(8cbluss.)
II.
Betrifft die Wiederaufhebung der Entmündigung des 0., z. Z.
in der Irrenanstalt der Stadt Berlin zu Dalldorf.
Am 3. Deccmber 1892 fand in der Irrenanstalt der Stadt Berlin zu Dalldorf
in der Sache Wiederaufhebung der Entmündigung des G. ein Termin statt, in
welchem die drei hinzugezogenen Sachverständigen ihr Gutachten gemeinsam
und übereinstimmend dahin abgaben, dass Provocat an geistiger Schwäche leidet,
welche so erheblich ist, dass die Bedingungen zur Aufhebung der Entmündigung
nicht vorliegen und dass er den Gebrauch seines Verstandes nicht wieder erlangt
hat. Das motivirte Gutachten, welches Vorbehalten blieb, wird in Nachfolgendem
ganz ergebenst erstattet.
Vorgeschichte.
Der G. ist geboren zu B., den 17. Mai 1865, ehelich, evangelisch. Sein
Vater war Schlossermeister in B., seine Mutter war nicht mit ihrem Ehemann
verwandt. Beide Eltern sind gestorben und zwar an ein und demselben Tage,
die Mutter, 19 Jahre alt, im Wochenbett sieben Tage nach der Geburt des Prov.,
der Vater, welcher sehr zornig war, 21 Jahre alt, aus Schreck über den Tod
seiner Frau.
Prov. ist von väterlicher und mütterlicher Seite krankhaft belastet.
Ein Bruder des Vaters war Trinker; zwei andere Brüder desselben er¬
schossen sich in Gegenwart des damals 8 Jahre alten Prov. wegen Vermögens-
Verlusten; der vierte war extrem fromm. Der Vater dieser fünf Brüder, also der
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Dr. Richter,
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Crossvater väterlicherseits, stürzte, wahrscheinlich in betrunkenem Zustande —
denn er war ebenfalls Potator — von einem Bau und starb auf diese Weise.
Eine Schwester der Mutter des Prov. war hysterisch, der Vater beider, also
der Grossvater mütterlicherseits, war Trinker und Spieler. Der Stiefbruder
dieses Grossvaters starb an Dementia paralytiea. Die Grossmutter mütterlicher¬
seits war aus guten Ständen; sie starb am Schlaganfall und deren Schwester in
Wahnsinn.
Erwähnt mag noch werden, dass die Vorfahren väterlicherseits „West¬
fälische Freibauern“ gewesen sein sollen, mit 12 Fähnlein im Wappen, weil
sie diese in Kriegszeiten stellen mussten. —
Zu Folge des frühen Todes der Eltern wurde Prov. in seiner Familie umher¬
geworfen und seine Erziehung wie Bildung ermangelt aller Einheitlichkeit.
Bis zum Jahre 1873 lebte er in B. bei den Grosseltern mütterlicherseits,
Schuhmachersleuten, und besuchte zwei Jahre die Gemeindeschule. Um ihm aber
eine gute Erziehung zu Theil werden zu lassen, that man ihn nach E. zu einem
reichen Oheim väterlicherseits. Dort besuchte Prov. das Gymnasium und hätte
Diener, Pferde und Wagen zur Verfügung gehabt. Jedoch schon nach einem
Vierteljahre erschoss sich, wie bereits berührt, jener Onkel und dessen Bruder,
und Prov. ging nun nach S. zu seinem dritten Onkel, der Trinker war. Dort be¬
suchte er die höhere Bürgerschule. Aber bereits nach acht Wochen liess ihn sein
sterbender Grossvater nach B. zurückkommen.
Die Grossmutter schickte nun den Prov wieder zur Gemeindeschule und
zwar bis zum Jahre 1879. Er will in dieser Zeit als Schüler so gut gewesen sein,
dass er, mit den niederen Klassen schnell fertig, drei Jahre in der ersten sass.
Daneben hätte er etwas lateinischen und griechischen Privatunterricht gehabt.
1879 nahm ihn der Vormund in sein Speditionsgeschäft, in dem er jedoch
nur ganz kurze Zeit blieb, denn da seine Grossmutter krank wurde, musste er
abermals B. verlassen und bei seinem vierten Onkel, jenem extrem frommen,
einem Schlosser in N., Unterschlupf suchen. Bei diesem hielt er sich, die nie¬
drigsten Arbeiten verrichtend, nur zehn Wochen auf.
Er kam jetzt — es war immer noch 1879 — wieder zu seinem Onkel in S.
Bei dem lebte er unter allerhand Entbehrungen und Entehrungen bis 1883 und
zwar besuchte er bis 1881 die Rectoratsschule, bis 1882 die Präparandenanstalt
und bis 1884 das Seminar, das er mit der dritten Klasse verliess. Die letzte
Zeit in S. lebte er bei fremden Leuten, einem Architekten, der sich seiner er¬
barmt hatte.
1884 kehrte Prov. nach B. zurück, wohnte bei jenem Stiefbruder des Gross¬
vaters und ertheilte Privatunterricht.
Bereits von 1883 ab trug er sich mit Erfindungsideen, und diese mit be¬
wogen ihn nach B. zu gehen. Von diesem Jahre ab, sagt er December 1892 in
Dalldorf, verwischt sich ihm die Erinnerung etwas.
Bis hierher sind die Angaben von G. selbst und zwar December 1892 ge¬
macht. Von 1885 ab begegnen wir ihm aetenmässig.
Am 3. September 1885 veranlasste nämlich ein Elektrotechniker, dem G.
schwindelhafte Propositionen machte, seine Sistirung. „Ich räume die gegen
mich gerichtete Anzeige ein und bitte um milde Beurtheilung. Ich habe die drei
Urkunden in der Absicht gefälscht, um mir die Vortheile meiner Erfindung (sc.
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Zwei im Givilverfahren abgegebene motivirte Gutachten. 113
G.-Apparate) zu sichern, von der ich mir gewisse pecuniäre Erfolge versprochen.“
Die wiederholten Verhandlungen und der Inhalt der von G. angefertigten Schrift¬
stücke brachten selbst auf den Criminalconunissar den Eindruck hervor, dass G.
nicht im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte sein könnte. Den 5. September kam
er in die Irrenabtheilung der Königlichen Charite, den 6. lehnte es das Kriegs¬
ministerium ab, auf eine Eingabe des G. wegen lenkbarer Luftschiffe einzugehen,
da im Bereiche des Militärressorts z. Z. keine Versuche mit lenkbaren Luft¬
schiffen angestellt würden. Es wurde ihm jedoch anheimgegeben, sich an den
deutschen Verein zur Förderung der Luftschifffahrt zu wenden.
In der Charite ist über ihn journalisirt: Patient, ein schlecht genährter,
mittelgrosser Mann, wird zur Anstalt gebracht, weil er Schriftstücke mit falschem
Namen unterzeichnet hat, die den Verdacht erweckten, dass Pat. an Grössen¬
wahnsinn leide. Er giebt an, er habe stets in sehr unglücklichen Verhältnissen
gelebt, sei nach dem frühen Tode seiner Eltern bald hier, bald dort bei Ver¬
wandten gewesen, habe anfangs Schlosser, später wegen zu schwächlichen Kör¬
perbaues zu ersterem Beruf Lehrer werden sollen und sei schliesslich auf einem
Gymnasium gewesen, wo er durch einen Baumeister erhalten sei. Seit 1 1 / 2 Jahren
sei er in Berlin und habe sich hier anfangs durch Stundengcben ernährt. Seit
3 / 4 Jahren sei er damit beschäftigt einen von ihm erfundenen magneto-elek¬
trischen Motor, dem er ausserordentliche Leistungen nachrühmt, zu verwerthen.
Er habe sich zu diesem Zweck an den Kronprinzen und Kaiser mit mehrfachen
Petitionen gewendet, habe auch anfangs günstigen Bescheid erhalten, sei dann
an das Ministerium verwiesen worden und werde nun fortwährend hingehalten.
Der Kronprinz habe ihn durch einen Eid zu Stillschweigen über seine Erfindung
verpflichtet und habe ihm zu verstehen geben lassen, dass man ihn eventuell
unschädlich machen könnte, wenn er plaudere. Während der Kaiser ihn noch
jetzt protegire, werde er von der „kronprinzlichen Partei 14 verfolgt. Die von ihm
angefertigten Schriftstücke, derentwegen er hier sei, seien Abschriften von wirklich
vorhandenen, die sich in seinem Besitz befanden. Nur sein Eid sei seiner so¬
fortigen Freilassung im Wege. Bei seiner Aufnahme in die Anstalt habe er ge¬
glaubt, man wolle ihn vergiften, deshalb sei er so ängstlich gewesen. Pat., der
einen gebildeten Eindruck macht, war bei seiner Aufnahme sehr ängstlich und
erregt aus oben angegebenen Gründen. Jetzt zeigt er, abgesehen von einem etwas
pedantischen, gespreizten Wesen, bisher durchaus keine psychischen Störungen.
Einen Beweis für die Richtigkeit der gemachten Angaben hat Patient allerdings
bisher nicht beizubringen vermocht. Der Ernährungszustand hat sich bisher sehr
wesentlich gehoben. Schlaf und Appetit gut. 1. October 1885.
Pat. macht bei der heutigen Visite die Angabe, dass er schon als vierzehn¬
jähriger Mensch an „Träumen“ gelitten habe, deren Inhalt mit der factischen
Erfüllung bis aufs Einzelne übereinstimmte. Von seiner Erfindung will er nicht
geträumt haben; er behauptet, dass der Gedanke dazu schon durch den Schul¬
unterricht angeregt sei. Die Beziehungen zum Kaiserhause habe er theilweise
geträumt z. B. einzelne Scenen daraus, Unterredungen etc. 7. October 1885.
Pat. bekennt heute, auf die Beziehungen zum Kaiser, Prinzen etc. hinge¬
wiesen (er sei beim Kaiser gewesen, habe Orden gehabt, Uniform getragen, sei
Grossherzog etc. gewesen), dass er jetzt nicht mehr begriffe, wie er zu solchen
Vierteljahrsschr. f. ger. Med. Dritte Folge. IX. I. 8
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I>r. Richter,
Behauptungen gekommen sei. Nichts destoweniger läge ihm alles noch so klar
und deutlich in der Phantasie, dass er noch jedes Einzelne, was er damals erlebt
und gesehen, genau beschreiben könnte. Pat. ist überhaupt ein Mann, dessen
Phantasie eine sehr lebhafte ist, der sich in seine schon von Jugend an durch
eine falsche, einseitig rigorose Erziehung bedingten sonderbaren Ideen und Vor¬
stellungen so fest hineinarbeiten kann, dass er dieselben für Wirklichkeit zuletzt
hält und danach sein Thun und Handeln einrichtet. Es kostet lange Mühe und
Ueberredungskraft, um ihm allmälig das Thörichte seiner Anschauungen und
Einbildungen klar zu machen. 26. October 1885.
Pat. klärt sich ganz allmälig in Bezug auf die Erinnerung an sein Vorleben
auf: er besinnt sich, dass er im Thiergarten oft einen halben Tag auf einsamen
Plätzen gesessen hat und weite Spaziergänge z. B. nach P. gemacht hat. Am
Besitze der Majestätsbriefe, an die er früher so fest geglaubt hatte, hält er nicht
mehr fest, ebenso giebt er die Erfindung mit dem lenkbaren Luftschiff als Unsinn
zu. Die V 2 cm starken Stahlplatten, welche den Aufenthaltsraum des Luftschiffes
umkleiden, kommen ihm selber illusorisch vor. Er benimmt sich andauernd ver¬
ständig und ruhig, hält sich meist für sich, beschäftigt sich viel mit Anfertigung
von Zeichnungen. Er spricht vorsichtig und überlegt. Verfolgungsideen hat er
nie gehabt. 1. November 1885.
Pat. benimmt sich völlig verständig, besitzt volle Krankheitseinsicht, be¬
schäftigt sich viel mit Schreiben und Zeichnen. 1. December 1885.
Das Verhalten in diesem Monat ist stets ruhig und verständig gewesen.
Grössenideen sind nicht mehr vorhanden. 1. Januar 1886.
Er wird geheilt entlassen. 23. Januar 1886.
G. kehrte nun, wie er jetzt hier erzählt, zu seinem Grossonkel, bei dem er
ja auch vor seiner Aufnahme in die Charite gewohnt hatte, zurück. Er unter¬
richtete tleissig und diese Jahre seien in dieser Beziehung seine Glanzzeit gewesen.
Er hatte in der Gesellschaft deutscher Feinmechaniker Vorträge gehalten und
umsonst im christlichen Verein junger Männer. Er wäre glänzend recensirt worden
und hätte Gelegenheit bekommen einige mnemotechnische Curso zu halten. Er
hätte sich durch seine mnemotechnische Methode eine Menge Zahlen eingepaukt
gehabt, geblendet und auf diese Weise lohnenden Privatunterricht bekommen,
auch bei Officieren. Von jener Erfindung hätte er zunächst keinen Gebrauch
machen können, da er für drei Jahre ein diesbezügliches Versprechen gegeben.
Er miethete, allerdings auf den Namen seines Grossonkels, bei dem jetzt nicht er,
sondern der thatsächlich jetzt mit Familie bei ihm wohnte — denn es sei diesem
zu Folge seiner Krankheit nicht mehr gut gegangen — eine Villa in F. und auch
dahin kamen seine Schüler.
Anders lautet allerdings der Polizeibericht, wenigstens über das Ende dieser
G.’schen Periode. Er wurde nämlich am 30. März 1889 sistirt, am 31. der Staats¬
anwaltschaft wiegen Betruges, sclnverer Urkundenfälschung und Annahme eines
ihm nicht zustehenden Titels vorgeführt. Er war, wie die Polizeiacte meldet,
als Dr. phil. in gute Familie eingeführt werden und verlobte sich mit der Tochter
des Hauses, nachdem er den Betreffenden über seine Einkünfte die verschie¬
densten unwahren Angaben gemacht hatte 11 . A., er erhielte von der Oriminal-
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Zwei im Civilverfahren abgegebene motivirte Gutachten.
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polizei ein Gehalt von 5000 Mark, dann wieder, er sei der Sohn des Fürsten
Reuss j. L. aus einer morganatischen Ehe, er schriftsteilere und habe eine Er¬
findung gemacht, welche ungeheuren Gewinn verspreche. Unter der Angabe
Proben in Gemeinschaft mit dem Dr. D. vornehmen zu wollen und hierzu des
Geldes zu bedürfen, lieh er sich von seinem künftigen Schwiegervater 200 Mark.
Einem Schuhmacher L., welcher gleich ihm nicht im Vollbesitz der Geisteskraft
zu sein scheint, hat er eine gefälschte Anweisung auf die Hauptkasse des Kriegs¬
ministeriums, über 23000 Mark lautend, in Pfand gegeben und daraufhin von
Jenem zur Fertigstellung der von ihm angeblich erfundenen Maschine, welche
gleichzeitig mittelst Electricität heizen und beleuchten sollte, nach und nach
2000 Mark erhalten. Ausserdem hatte G. verschiedene Liebschaften angeknüpft
und unterhielt noch während des Bestehens seiner Verlobung mit jenem Fräulein
Beziehungen zu einer Schauspielerin, damals in M., und einer Kellnerin hier-
selbst. G. hat nie studirt, besitzt aber eine eigene Methode, in der Gedächtniss-
kunde zu unterrichten und hat auf diese Weise Einlass in gute Familien erhalten.
Ein Recht, den Doctortitel zu führen, hat er nicht. —
Da es bereits bei der ersten Vernehmung G.’s in dieser Sache schien, als
ob er einen „Rückfall seines Leidens“ erlitten habe, ersuchte am 9. April 18*9
der Untersuchungsrichter den Dr. W. um Begutachtung desselben.
Dieses Gutachten (vom 9. Mai 1889) erwähnt einen Brief jenes bereits be¬
rührten Archiiecten, nach dem G. im Jahre 1883 Präparand des Seminars zu S.
war. Er zeigte ein kriechendes, heuchlerisches Wesen, erregte jedoch das Mitleid.
Da G. renommirte er könne jeden Tag das Abiturientenexamen machen, unter¬
zog man ihn nach längerem Sträuben seinerseits, einer Vorprüfung, die jedoch
ein völlig negatives Resultat ergab, so dass sein Abgang vom Seminar bedauert
werden musste. Schon damals schwindelte er von einer Erfindung für militärische
Zwecke, welche ihn in fürstliche Verhältnisse zu setzen geeignet sei, nur bedürfe
er zur Ausbeutung des Geldes. Es wurden Stempel gefälscht, Telegramme und
Briefe fabricirt, eine Sendung an den Kaiser wirklich abgeschickt. Es gelang S.
auf diese Weise Alle zu dupiren. Einem armen Bautechniker, dem er Schweigen
anbefohlen hatte, nahm er auf diese Weise 1500 Mark, einem Fräulein, dessen
Haus er mit verhältnissmässig geringen Kosten clectrisch zu heizen und zu be¬
leuchten versprach, 2000 Mark ab. Das Geld soll er auf die unsinnigste Art ver¬
geudet und dabei noch seine Wohlthäter mit Schmutz beworfen haben durch
allerlei Verleumdungen und Ränke. —
In dem W.’schen Gutachten ist weiter gesagt, dass G. mit der Adoptiv¬
tochter des erwähnten Grossonkels wahrscheinlich ein Liebesverhältniss unter¬
halte, dass er im Jahre 1884 die Tochter eines anderen Grossonkels durch
Liebesbetheuerungen bethört, diesem selbst allerhand von seiner Erfindung vor¬
geschwindelt hätte und von ihm aus dem Hause gewiesen sei, dass er aber die
Wirtschaft des erst erwähnten Grossonkels mit einer Summe von jährlich
6000 Mark erhalte. Ferner, dass ihn jener Dr. D. verleugneh, dass er sic aber
nach seiner Entlassung aus der Charite in aristokratische Kreise einzuschmeicheln
wusste. Ferner, dass er zahlreiche Liebesbriefe einer Fürstin R. fingirte und sie im
Hause seines zukünftigen Schwiegervaters vorlas, während er das wirkliche Liehes-
verhältniss mit jener Schauspielerin, für welches fünfzig aufgefundene echte Briefe
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l>r. Richter,
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zeugten, in Abrede stellte, dass er, um glaubhaft zu machen, seine Mutter sei die
1863 rechtmassig angetraute Frau des Bruders des jetzt regierenden Fürstenlleuss,
Briefe fälschte, welche durch seine Verwandten seinem künftigen Schwiegervater
in die Hände gespielt werden mussten. Nach diesem Gutachten standen G.’s
rechte Gesichtsfalten tiefer als die linken und der linke Mundwinkel wurde beim
Sprechen im AfTeet oder beim Lächeln in die Höhe gezogen. Die linke Augen¬
lidspalte war erheblich kleiner als die rechte und die rechte Pupille erschien vor¬
übergehend etwas erweitert. Die Zunge wurde ein wenig nach rechts herausge¬
streckt und die Hände zitterten stark. Er empfand öfters einen Druck in den
Schläfengegenden. Es müsse dahingestellt bleiben und sei sogar sehr unwahr¬
scheinlich, dass er bei seiner Entlassung aus der Charite im Februar 1886 von
seinem Wahn völlig frei gewesen sei. Seine gefälschten Urkunden trügen schon
nach Form und Inhalt den Stempel des Schwachsinns an sich. —
So kam G. am 26. Juni 1881» zum zweiten Mal nach der Irrenabtheilung der
Charite:
Pat. kommt ruhig, erzählt, dass er seit März in Haft in M. gewesen sei, da
er des Betruges und der Urkundenfälschung angeschuldigt sei. Nach seiner Ent¬
lassung aus der Charite (Januar 1886) sei er erst bei Freunden gewesen, dann
habe er viele Privatstunden gegeben und davon noch seine Anverwandten unter¬
stützt. Einige Wochen nach seiner Einlassung sei er brieflich in’s Kriegsministe¬
rium bestellt, von D. habe wieder mit ihm unterhandelt wegen der Aufstellung
neuer Apparate. Doch kamen die Verhandlungen nicht zum Abschlüsse. Er habe
dann viele Privatstunden gegeben, sei dadurch mit Offieieren in Verkehr und somit
auch mit von D. wieder zusammengekommen. Er sei nun zu dem Anschlüsse ge¬
kommen seine Erfindung privatim auszunützen, habe sich zu dem Zwecke mit
einem Kaufmann L. in Verbindung gesetzt; mit diesem habe jedoch das Kriegs¬
ministerium nicht unterhandeln wollen. Zufällig habe er in F. einen Herren
kennen gelernt. Dieser habe ihn in etwas auffälliger Weise in sein Haus einge¬
laden, und er habe dann auf dessen Bitte den Unterricht der 15jährigen Tochter
und der jüngeren Söhne übernommen. Der Herr habe es dann so zu machen
gewusst, dass er, G., sich mit der Tochter desselben verlobte (kurz vor Weih-
uachten 1888). Seitdem habe der Herr ihn zu isoliren gesucht, so dass er sich
genöthigt gesehen seinen Verkehr mit L. durch Ausreden zu verheimlichen. Das
Geld, welches ihm der Herr geliehen, habe er ihm wirklich aufgedrängt. Auch
seien die Familienverhältnisse sehr unangenehm gewesen. Die ihm gerichtlich
zur Last gelegten Vergehen stellt Pat. ausser der Urkundenfälschung in Abrede.
Pat. verhält sich andauernd ruhig, zeichnet anfangs mit Geschick Gehirnzeich-
nungen in vergrössertem Massstabe aus einem Buche ab. Bald aber erlahmt er;
er verspricht eine etwas grössere Zeichnung in zwei Tagen fertig zu machen, hat
sie aber nach einer Woche noch nicht beendet und lässt sie schliesslich ganz
liegen. Ebenso verspricht er, um eine Probe von seinen mnemotechnischen Fähig¬
keiten zu geben, ein anatomisches Werk innerhalb vier 'Pagen wörtlich auswendig
zu lernen; er verschiebt die Prüfung dann unter allerlei Ausreden von einem Tag
auf den anderen und giebt die Sache schliesslich ganz auf. Er erzählt er könne
54 Sprachen, er könne Japanisch so fliessend wie Deutsch — ohne jedoch eine
Probe zu geben. 26. Juni 1889.
Unverändert. 1. August 1889.
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Zwei im Civilverfahren abgegebene motivirte Gutachten.
Pat. scheint allmälig etwas von den übertriebenen Vorstellungen von seiner
Leistungsfähigkeit, von seinen Kenntnissen zurückzukommen; hat sich aber sehr
fleissig beschäftigt. 1. September 1889.
Das Benehmen des Kranken ist unverändert. Die Krankheitseinsicht ist eine
mehr und mehr vollkommene geworden. Von seinem Erfindungswahn ist er gänz¬
lich zurückgekommen. Bezüglich seiner früheren phantastischen Angaben giebt er
an, dass ihm Traum und Wirklichkeit durcheinander gehe; er glaube aus seinen
immer sehr lebhaften Träumen vieles als wirklich erlebt erzählt zu haben, schliess¬
lich in dem Glauben, dass es thatsächlich passirt sei, bezw. passiren werde.
Eigentliche Sinnestäuschungen will er nicht gehabt haben. Pat. zeigt sich im
Anfertigen grosser Zeichnungen nach kleineren Vorlagen sehr geschickt und
fleissig. Sein Wesen ist ein gesucht, mitunter fast etwas kriechend höfliches. Von
etwaigen abnormen Fähigkeiten spricht er garnicht mehr, ist vom Glauben an die
eingangs erwähnten zurückgekommen. 1. November 1889.
Die Besserung hat immer weitere Fortschritte gemacht, so dass er ganz klare
Einsicht von der Krankhaftigkeit seines früheren Zustandes hat. Er hat sich an¬
dauernd mit Zeichnen beschäftigt. Pat. war drei Mal auf Urlaub um sich für
seine Entlassung die Verhältnisse zu ordnen. Er hat das in ihn gesetzte Ver¬
trauen gerechtfertigt insofern als er stets zur rechten Zeit zurückgekehrt ist. Er
giebt noch an, dass er stets sehr lebhaft geträumt habe und es ihm schwer falle
das Geträumte von der Wirklichkeit zu unterscheiden. Am 27. November 1889
gebessert entlassen.
Erwähnt mag noch werden, dass unter dem 13. September 1889 ein Rechts¬
anwalt in W. an die Charite-Direction schrieb, dass er im Aufträge eines Wein¬
händlers eine Forderung an G. einziehen sollte. —
Bei seinem Weggange von der Charite hatte G. gesagt, er würde sich nach
der K.-Strasse zu Dr. A. begeben. Unter dem 14. December wurde aber polizei¬
lich festgestellt, dass daselbst weder Dr. A. noch G. wohnhaft waren und es
konnte auch über den Verbleib des G. nichts ermittelt werden. Hier sagt G. jetzt
aus, dass er damals allerdings zu Dr. A. gehen wollte, dass er sich aber schliess¬
lich doch wieder zu seinem Grossonkel wendete. Er hätte übrigens damals nur
noch seine Erfindung im Kopfe gehabt. —
Nach noch nicht einem halben Jahre, sc. am 18. April 1890, wurde G. zum
dritten Male sistirt, und zwar diesmal wegen schwerer Urkundenfälschung in min¬
destens 18 Fällen. Er hatte sich seit Mitte März 1890 durch Vermittlung seiner
„Braut“, diesmal einer Näherin, die er als Kranke in der Charite kennen lernte,
an einen unbegreiflich leichtgläubigen Herrn herangemacht, sich als Dr. G., Pri¬
vatlehrer von über 50 Sprachen, vorgestellt und ihm verschiedene Schreiben,
unterzeichnet „Commando des Gardecorps“ und „von G.“, vorgelegt, nach denen
er zu Folge der Erfindung einer Kriegsmaschine die Titel „Geheimer Kriegs- und
Hofrath, Abtheilungschef im Königlichen Kriegscabinet und Ministerium“ erhalten
hätte. Im weiteren Verlaufe der Bekanntschaft hatte G. diesem Herrn andere der¬
artige Schreiben vorgelegt, nach denen dem Sohn jenes Herrn für ein durch G.
überbrachtes Patent auf einen mit der Kriegsmaschine im Zusammenhang stehen¬
den Beleuchtungsapparat 12000 Mark, dem G. selbst aber 250000 Mark zugebilligt
seien. Schliesslich hatte er ein „eigenhändiges“ Schreiben Sr. Majestät des Kaisers
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Dr. Riehter,
gebracht, welches dies alles bestätigte. Auf diese Weise lockte er jenem Herrn
600 Mark baar und 600 Mark für sonstige Leistungen ab. — Bei der Verhandlung
am 19. April machte G. wiederum auf die bei derselben betheiligten Personen den
Eindruck geistiger Gestörtheit und trug ein ängstlich befangenes Wesen zur Schau,
so dass Simulation für entschieden ausgeschlossen galt.
Unter dem 2. Mai 1890 wurde von Dr. L. dahin begutachtet, dass G. bei
all’ seinen Machinationen erheblichen Schwachsinn bekunde, dass sein ganzes
Verhalten so widersinnig wie nur möglich sei und darum eine Simulation, wie
früher schon, ausschliesse und dass er zur Zeit der Begehung der Handlungen
sich etc.
Unter dem 8. Mai 1890 kam er deshalb zum dritten Male nach der Irrenab-
theilung der Charit6:
Pat., der schon zwei Mal wegen seines Leidens in der Charitö war, kommt
ruhig und erzählt, dass er ans M. komme, wo er seit dem 15. März gewesen.
Nach seiner Entlassung aus der Charitä habe er zunächst als Hauslehrer versucht
sich Geld zu verdienen. Als ihm dieses nicht gelang, verschaffte er sich von
einem Kaufmann durch Fälschung von Schriftstücken mit der Unterschrift des
Kriegsministers auf betrügerische Weise Geld in der Absicht mit diesem Gelde
die von ihm erfundene Maschine zu bauen und vor den Kaiser zu treten. Sollte
ihm das nicht gelingen, so wollte er wenigstens mit seinem Betrüge erreichen,
dass er vom Richter verurtheilt würde und so wenigstens vor der Welt nicht mehr
als geisteskrank dastehe. Er ist von Neuem fest der Ansicht eine sehr werthvolle
Maschine erfunden zu haben, deren Modell schon im Kriegsministerium stehe. Er
verhält sich andauernd ruhig und wird als unheilbar nach Dalldorf entlassen.
27. Mai 1890.
Eigene Beobachtung.
Bald nach seiner Aufnahme in Dalldorf erzählte jene Adoptivtochter des
Grossonkels bei einem Besuche, dass er manchmal Krämpfe gehabt hätte; er fiel
auf dem Sopha zurück, blieb ganz steif, ballte die Hände, wurde blau im Gesicht
und bewusstlos. Dies hatte er 1885 zwei Mal gehabt, später nicht wieder; er sass
oft still für sich und stierte vor sich hin; ob er diese Zustände schon als Kind
gehabt wusste Referentin nicht anzugeben. Bettnässen und Fallen aus dem Bett
sei nicht vorgekommen. Er hätte nicht viel gearbeitet aber viel in Bierstuben ge¬
sessen. Er hätte seinen Verwandten viel Geld gekostet; dieselben seien durch ihn
an den Bettelstab gebracht. Referentin glaubt nicht, dass er durch Stundengeben
Geld verdient hat; er hätte sich überall Geld erschwindelt. Er sei draussen oft
sehr grob und heftig gewesen. Er hätte sehr viel getrunken, besonders viel Cham¬
pagner. Sein Vater soll am Schlag gestorben sein; seine Mutter sei im Wochen¬
bett gestorben. Ein Onkel väterlicher Seits soll sich erschossen haben.
Prov. selbst erzählte unter dem 29. Mai 1890 in Dalldorf, dass er als Kind
immer gesund gewesen sei. Er solle zwei Jahre lang an Diarrhoe gelitten haben.
Er hätte nie Krämpfe gehabt. Seine Mutter sei im Kindbett gestorben, sein Vater
am Schlaganfall; die Leute hätten damals erzählt, sein Vater hätte sich das Leben
genommen. Durch die Verwandten mütterlicher Seits sei er belastet; der Gross¬
vater väterlicher Seits sei Potator gewesen. Er hätte in der Schule sehr gut ge-
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Zwei im Civilverfahren abgegebene motivirte Gutachten.
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lernt, hätte erst die Gemeindeschule besucht, dann das Gymnasium. Ging dann
ab, sei erst Kaufmann geworden, dann Schlosser, dann sei er auf das Seminar
gegangen. Dies hätte er absolvirt. Er wollte studiren, machte nachträglich das
Abiturientenexamen auf einem Gymnasium, studirte in B., musste durch Stunden¬
geben Geld verdienen. Ertheilte Französisch, Englisch, Italienisch und Mathe¬
matik. 1885 kam er zur Charite. Hatte behauptet eine Erfindung gemacht zu
haben und diese dem Kriegsministerium eingereicht etc. So stände es wenigstens
in den Acten. Er sei vollkommen im Unklaren, wisse nicht ob er sich an das
Kriegsministerium gewendet und ob er überhaupt die in den Acten angegebenen
Schritte gethan habe. Er weiss jedoch genau, dass er diese Sachen vernichtet
habe. Behauptet auch, dass diese Erfindung brauchbar gewesen sei. Hält seine
damaligen Ideen für krankhaft. Giebt selbst zu im April dieses Jahres Urkunden
gefälscht zu haben, durch Nahrungssorgen dazu veranlasst. Fertigte Schriftstücke
an, die vom Kriegsministerium unterzeichnet waren, wodurch er sich von einem
Herrn 92 Mark erschwindelte. Krankhaft hält er diese Handlungsweise nicht. Sei
sich bewusst gewesen, dass es eine Fälschung ist. Hätte geglaubt es wieder gut
machen zu können dadurch, dass er die Erfindung durchfülirte. Wundere sich,
dass man den angefertigten Schriftstücken geglaubt hätte. Erzählte dem betreffen¬
den Herrn, dass er zum Kriegsrath etc. ernannt worden sei. Dies seien alles be¬
wusste Lügen gewesen. Die Grössenideen, die er damals geäussert, bezeichnet er
jetzt als Lügen, es sei nicht krankhaft gewesen. Wurde dann verhaftet als die
Sache als Schwindel erkannt war. Sass 16 Tage im Untersuchungsgefängniss.
Die Intelligenz des Patienten ist nicht nachweisbar herabgesetzt. Giebt prä-
cise Antworten. Hallucinationen irgend welcher Art in Abrede gestellt. Früher
viel geträumt; hätte sich eingebildet das, was ihm passirte, vorher geträumt zu
haben. Hält diese Idee jetzt für krankhaft.
1. Juni 1890. Um eine Probe seiner mnemotechnischen Fälligkeit zu geben,
werden ihm von anderen Patienten 100 Worte, meist sinnlose, aufgeschrieben,
welche er in fünf Minuten auswendig lernt. Noch am nächsten Tage kennt er alle
Worte, auch ausser der Reihe.
5. Juni 1890. Fertigt Zeichnungen an. Mit Schreiben beschäftigt. Im Garten
geht er, stets mit einem Buche in der Hand, feierlich umher.
21. August 1890. Aeusserst schwachsinnig, sehr weitschweifig, doch willig
und fleissig.
15. September 1890. Kettete, jedenfalls in der Hoffnung demnächst im Ter¬
min für nicht krank erklärt, bald die Anstalt verlassen zu können, einen einfäl¬
tigen Wärter schon seit Juli des Jahres an sich und borgte ihn an; er hat zu
diesem Behufe eine grosse Anzahl Briefe gefälscht, in denen er auch sein Verhält-
niss zum Kriegsministerium anzieht.
29. September 1890. Erster Explorationstermin, Dr. L. erklärte ihn für des
Vermögens ermangelnd etc. (motivirtes Gutachten vom 15. October 1890). Durch
Beschluss des Königlichen Amtsgerichts Berlin vom 29. October 1890 entmündigt.
25. November 1890. Bittet de- und wehmüthig um Verzeihung für die sub
15. September geschilderten Schwindeleien.
17. Februar 1891. Beschäftigt sich mit der Erfindung einer sprechenden Uhr.
25. März 1891. Beschäftigt sich mit dem Problem einer Rechenmaschine.
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120
Dr. Richter,
23. Juni 1891. Beschäftigt sich mit Jen Durchmessern des Idealschädels sc.
des Christusschädels.
27. September 1891. Brief: „Ich weiss, dass ich nie vordem so weit ge¬
nesen war, wie ich es heule bin. w „Wie schrecklich ist die Pein, Fehler, Misse-
thaten, die man begangen, nach und nach in ihrer ganzen Grösse erkennen zu
lernen, die Entschuldigungsgründe, die eine kranke Phantasie für bewusst voll¬
brachte Schlechtigkeiten sich geschaffen, in ihrer ganzen Verwerflichkeit betrachten
zu müssen.“ „Ich will geachtet sein — ich will von Ihnen geachtet sein.“ „Vor
einem Jahr war ich noch von dem Wahn beherrscht, dass mir ein schweres Un¬
recht geschehen sei seitens einer Behörde, und dass dieses Unrecht mir erlaubte,
zu jedem Mittel zu greifen, mich dem bösen Einfluss dieser Behörde zu entziehen.
Das ist der Gedanke, von welchem ausgehend meine Handlungsweise nicht zu ver¬
zeihen, aber vielleicht zu verstellen ist, wenn man hinzunimmt, dass ich damals
noch mich so gross und erhaben dachte, dass ich heimlich fest darauf rechnete,
in allernächster Zeit würde ein Tag erscheinen, an welchem alles, was mich be¬
leidigt, zu meinen Füssen liegen müsste.“ „Wer, wie ich, den ganzen Umfang
seiner Schuld erkannt hat, wem, wie mir, all’ das, was er Böses gethan, zum
Ekel ist, der will auch sich corrigiren und wird nicht rückfällig sein.“
20. November 1891. Brief an den Stationsarzt: „Meine Geisteskrankheit
kann ich zuerst in Handlungen constatiren, die hier nie zur Sprache gekommen
sind, vor keinem Arzt und welche bis in mein achtzehntes Lebensjahr zurück¬
reichen. Sie steigert sich, ganz unabhängig von den beiden Charite-Aufenthalten,
bis zum December 1889, wird dann zum ersten Mal eingeengt durch eine plötz¬
liche blitzartige Erkenntniss, dass es Wahnsinn sein muss, wenn ich, wie es
damals tagtäglich geschah, Gott anflehe, er, der doch Wunder thun könne, möge
doch eine soeben von mir ausgesprochene Lüge bestätigen, indem er mir zu all
dem schnell verhilft, was ich vorgeblich bin und besitze . . . ., dass es Wahnsinn
sein müsse, wenn ich, was ebenso oft geschah, auf die Erhörung solcher Gebete
gläubig wartete! Diese damalige Erkenntniss geht dann aber schnell zum grössten
Tlieil wieder verloren und es kommen Stunden, wo ich — immer im Zweifel, wie¬
viel von den mir angemassten Würden und Ehren mir thatsächlich zukomme —
ich möchte sagen, „krampfhaft“ mir einrede, dass ich Recht habe, dass ich grosse
Ansprüche an Kaiser und Reich stellen darf, dass mir scheussliches Unrecht ge¬
schehen sei u.s.w.; es kommen Stunden, ganze Nächte, wo ich, die Hände gegen
die Schläfen gepresst, fortwährend, sogar die Lippen bewegend, also in w’ohlge-
ordneton Sätzen (?) mich begeistere zum Kampf für mein Recht mit jedem mir
zu Gebote stehenden Mittel: ich wusste, dass ich Fälschungen beging, das war
aber nur „Rache“, ich wusste, dass ich die Kaiser nie gesprochen hatte — gerade
hatte ich sie gesprochen — erinnerte ich mich denn nicht daran?! Und wenn
nicht, nun um so schlimmer, verdient hatte ich’s doch tausend Mal. „Du thust
kein Unrecht, wenn du sagst, sie haben dir bereits verliehen, was dir zukommt,
du nimmst sie damit höchstens gegen die Ungerechtigkeit in Schutz, die sie dir
thatsächlich erwiesen haben!“ Können Sie sich hineindenken in diese unglaub¬
liche Zerrissenheit, 'kann ein Mensch nachfühlen, wie unglücklich ich mich dabei
gefühlt habe? — Dieser Zustand reicht bis in den Anfang dieses Jahres hinein,
wo er endgiltig aufgehört hat zu existiren.“
1. Januar 1892. Brief: „Es war mein Vorsatz, nicht in das Jahr 1892 hin-
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Zwei im Civilverfahren abgegebene motivirte Gutachten.
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überzugehen, ohne in umfassendem Bericht alles niedergelegt zu haben, was mit
schwerem Druck auf dem Herzen ruht: eine Generalbeichle wmllte ich thun, lang¬
sam, Schritt für Schritt wollte ich mein Leben durchforschen, Auge in Auge
wollte ich meinen Fehlern, meinen Vergehungen, meiner Krankheit gegenüber¬
stehen, nichts, keinen Umstand wollte ich unberührt lassen, der bestimmend auf
meine Handlungen eingewirkt: ich wollte gründliche Abrechnung halten mit mei¬
nem vorigen Leben, um eine neue, reine Basis für die Zukunft zu gewinnen.“ (In
dieser übrigens kurzen Vita meint er auch, durch Furcht vor der allzugrossen
Strenge seines S.’er Onkels zum Schwindeln getrieben worden zu sein.)
Berechnungen, welche er in dieser Zeit für den Oberarzt ausführte, lieferte
er nie zur versprochenen Zeit ab; dieselben waren, obschon einfach, doch nicht
ganz zuverlässig. In einfältiger Weise redigirte er, trotz wiederholten Verbotes,
ihm vom Oberarzt zur Abschrift anvertraute Arbeiten. Er war auch in anderer
Beziehung geradezu dreist-ungehorsam, trotz schonungslosester Zurechtsetzung.
18. Februar 1892. Gelegentliche Prüfungen des Pat. hinsichtlich seiner be¬
haupteten Sprachkenntnisse ergeben, dass er nach seiner Manier stark übertreibt.
So behauptete er auch etwas Russisch zu verstehen. Thatsächlich ergiebt sich,
dass er nicht einmal die Buchstaben des russischen Alphabets zu lesen vermag!
Nachdem Voriges bezüglich des Russischen festgestellt war, verzichtet G. jetzt
darauf seine anderen Sprachkenntnisse zum Besten zu geben (Englisch und Fran¬
zösisch versteht er etwas). Als er nämlich heute aufgefordert w'urde einige Fragen
auf Englisch an eine Englisch redende Kranke zu richten, machte er zunächst
keine Miene irgend etwas zu sagen. Auf abermalige Aufforderung bleibt er eben¬
falls stumm. Nun gefragt, weshalb er denn nicht auf Englisch frage, sagt er in
Begründung seines Schweigens wörtlich Folgendes: „Ich habe mir vorgenommen
nicht mehr weiter zu gehen, als ich überhaupt darf und kann in allen Dingen
und habe mich darauf seit längerer Zeit schon sehr ernst dressirt!“
16. März 1892. G. kann die Versuche nicht unterlassen, in unerlaubter
Weise Wärtern Aufträge zu ertheilen. Selbst bei Commissionen ganz harmloser
Art, bei denen die Heimlichkeit absolut nicht nothwendig ist, benutzt er solche
Hinterthüren.
10. April 1892. Brief: „. . . mein Kummer dieserhalb ist um so grösser,
als ich die Zeit nun doch schon seit Monaten rechnen kann, wo ich keinen Augen¬
blick ausser Augen gelassen habe, dass ich mich der Theilnahme meines Herrn
Oberarztes würdig zeigen muss und wo ich keinen Tag ohne den heissen Wunsch
erwacht bin, es möchte mir doch Gelegenheit werden, Ihnen meine Dankbarkeit
beweisen zu dürfen durch Thaten. Ich wollte, der Herr Oberarzt würden mir eine
recht, recht schwere Probe auferlegen: Meine Treue sollte sich bewähren trotz
meiner sonstigen Unbeständigkeit.“
4. Mai 1892. G.’s Neigung zu Unerlaubtem und Lügereien besteht unver¬
ändert fort. In seinem Zimmer sieht es liederlich aus und er selbst ist nicht immer
der Sauberste. Er sucht sich um die Hausordnung zu drücken wo er nur kann.
15. Juli 1892. Verspricht eine Arbeit bis zu einem bestimmten Termin,
fängt sie bis dahin garnicht an, behauptet jedoch sie begonnen zu haben. Von
seiner Lüge überführt, beträgt er sich wie ein Schuljunge, der in Folge einer be¬
gangenen Dummheit seiner Strafe entgegeusieht.
13. September 1892. Zweiter Explorationstermin. Sachverständiger wieder
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Dr. Richter,
Dr. L. Prov. ermangelt noch des Vermögens ei«, und hat nocli nicht den völlig
freien Gebrauch seines Verstandes wiedererlangt (inotivirtes Gutachten vom 7.0c-
toher 1892). Dem Amtsgericht ist die Sache überaus zweifelhaft. Es könnte sich
fragen, ob nicht noch ein oder zwei Sachverständige zu hören seien.
27. September 1892. Hat sich in der Absicht für den Fall seiner Entlassung
eine Beschäftigung zu gewinnen, hinter dem Rücken seiner Aerzte an die Familie
eines zu entlassenden Kranken gemacht, aber immer weiss er sich rein zu
waschen.
24. October 1892. Hat hinter unserem Rücken seinem Vormund gegenüber
betreffs seiner Entlassung geschwindelt. Bei Gelegenheit dieser Correspondenz
lässt jene Adoptivtochter des Grossonkels, welche er, wie er sagt, heirathen sollte,
ihm mittheilen, dass seine Briefe sofort in’s Feuer wandern. Diese hätte übrigens,
sagt Pat., mit dem „Bringen an den Bettelstab“ gemeint, dass er sie „durch seine
Krankheit“ an den Bettelstab gebracht hätte!
10. November 1892. Hätte hinter unserem Rücken eine schriftstellerische
Arbeit aus der Anstalt gebracht und für dieselbe 30 Mark erhalten, bringt jedoch
nie den versprochenen Separatabdruck. Für die 30 Mark hätte er sich zu seiner
bevorstehenden Entlassung Wäsche kaufen lassen! Jener Kranke (27. September
1892), der übrigens ein den Berliner Gerichtsärzten wohlbekannter Päderast ist,
sucht jede Gelegenheit auf, G. zu besuchen. G. sprach von diesen Besuchen nie.
3. December 1892. Dritter Eplorationstermin. Drei Experte. Der Ter¬
min begann mit dem Verlesen eines Schriftstückes durch den Prov. Den
Tag vorher hatte nämlich ein Wärter, welchen G. seit seinem zweiten Termin
am 13. September 1892 unter Zuhülfenahme verschiedener gefälschter Briefe be¬
schwindelt hatte, diese Betrügereien gemeldet. Prov. stellte es nun in diesem
Schriftstücke so dar, als ob er das gethan hätte in der Hoffnung die Sache würde
erst nach seiner Entlassung offenbar, er würde bestraft werden und könnte dann
vom Gefängniss unter günstigeren Bedingungen als von der Irrenanstalt aus in
dasLeben zurücktreten. — Der Vorfall ist in seinem Entwurf und in seinemVerlauf
bezeichnend für den Prov. und es wird in dem eigentlichen Gutachten auf ihn
zurückgegriffen werden.
Gutachten.
Dass G. krank gewesen ist hat nie Jemand bezweifelt und geht
aus seiner Vorgeschichte so deutlich hervor, dass es nicht nötkig er¬
scheint darauf zurückzukommen. Es sei jetzt nur auf die Entstehung
seiner Krankheit und deren Wesen etwas eingegangen.
G. ist nach beiden Seiten erblich so schwer belastet, dass man
zu der Annahme berechtigt ist, seine Eltern hätten, länger am Leben
geblieben, wohl die Fortsetzung jenes pathologischen Stammbaumes
gebildet und G. selbst würde als Mitglied einer solchen Familie ohne
Erkrankung des Centralnervensystems eine Ausnahme gebildet haben.
Und für die Richtigkeit letzterer Annahme liefern denn alsbald seine
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Zwei im Civilverfahren abgegebene motivirte Gutachten.
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epileptischen Krämpfe im Jahre 1885 den Beweis. Sie sind zwar
späterhin nicht mehr beobachtet worden und werden von ihm über¬
haupt in Abrede gestellt, aber ausser ihnen machen sich noch andere
verhängnissvolle Krankheitszeichen bemerklich.
G. litt nämlich, wie er glaubhaft erzählt, stets an so lebhaften
Träumen, dass er ihren Inhalt für wirklich Erlebtes hielt. Es ist dies
ein nicht zu seltenes Vorkommniss bei Geisteskranken, und diese
Kritiklosigkeit, dies Unvermögen, wenn auch nur im Traum Gedach¬
tes, von wirklich Erlebtem unterscheiden zu können, ist gleichwerthig
mit Sinnestäuschungen. Was bei letzteren im Einzelnen vor sich geht,
vollzieht sich bei erstcren im Ganzen.
Der Ausfluss vielleicht des gleichen psychischen Defccts ist seine
allzu lebhafte Phantasie: G. hatte zu Folge derselben in seinen er¬
regten Zeiten Visionen, und ging ihm vorhin Traum und Wirklichkeit
durcheinander, so verwebt er jetzt Einbildung und Wirklichkeit und
es wird verständlich, warum er gerade obige Delicte beging und
keine anderen und wie ihm die „Lust zum Fabuliren“ bis heute inne¬
wohnt.
Zu Folge dieser Entstehung und dieses Wesens seiner Krankheit
verhielt er sich seinen Delicten gegenüber auch ganz besonders. Seine
lebhafte Phantasie hatte ihn zum Erfinder gemacht und darum fälschte
er vor seiner ersten Aufnahme in die Charite (1885) „im guten
Recht“; musste er sich doch die Vortheile seiner Erfindung sichern
(Polizeibericht). Und vor seiner zweiten Aufnahme in die Charite
(1889) wendete er sich an den p. L. auch nur „um seine Erfindung
privatim auszunutzen“. Und vor seiner dritten Aufnahme dahin fälschte
er nur in der Absicht mit dem erschwindelten Geldc die von ihm
erfundene Maschine zu bauen und „vor den Kaiser zu treten“, denn
dadurch, dass er die Erfindung durchführte, glaubte er seine Fäl¬
schungen wieder gut machen zu können. Je mehr aber mit der län¬
geren Intemirung in Dalldorf sich seine krankhafte Phantasie be¬
ruhigte, um so mehr trat auch bei seinen Fälschungen das krank¬
hafte Ideal der Erfindung zurück und schliesslich fälschte er nur
noch in seine Tasche.
Lässt sich hierin ein psychologischer Faden durch seine Krank¬
heit hindurch verfolgen, ein zweiter ist gleichfalls unschwer heraus¬
zufinden.
Als er nämlich zweimal, in die Irrenanstalt detenirt, mit seiner
Erfindung Fiasco gemacht hatte, sagte er bei seiner dritten Verbrin-
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124
Dr. Richter,
gung dahin, er hätte mit seinem Bet nitre erreichen wollen, dass er
verurtheilt würde, um so wenigstens vor der Welt nicht mehr als
geisteskrank dazustehen. Und zu seinen letzten Fälschungen in Dall¬
dorf giebt er dies ebenfalls als Motiv an. Es gehört hierher auch,
dass er nach seiner Aufnahme in Dalldorf sagte, er hielte die Fäl¬
schungen vor seiner dritten Verbringung nach der Charite nicht für
krankhaft, er sei sich bewusst gewesen, dass es Fälschungen
waren und er hätte bewusst gelogen; dass er weiter September 1891
seine Schlechtigkeiten bewusst vollbracht nennt, die Entschuldigungs¬
gründe derselben jedoch verwerflich und von einer krankhaften Phan-
thasie geschaffen; und dass er endlich auch im Termin Decemhcr
1892 verliest: ich handelte vollkommen überlegt mit aller Einsicht
und war mir der Schlechtigkeit des Schrittes bewusst.
Im Uebrigen darf man hierbei nicht vergessen, dass G. einmal
allerdings bewusst lügt, sodann aber, dass ihm das Urtheil über seine
Krankheit doch ebenfalls durch jene lebhafte Phantasie beeinflusst
wurde und dass ihm ja von 1883 ab die Erinnerung etwas ver¬
wischt sei.
G.’s im November 1891 in Dalldorf geschriebene Vita führt den
Anfang seiner Erkrankung bis auf sein achtzehntes Lebensjahr zurück
und in der That ist es möglich, dass geistige und körperliche Miss¬
handlungen des Grades, wie sic G. in jener für schwache Geister
kritischen Lebensepoche zu erdulden hatte, sein krankes Seelenleben
vollends in’s Wanken brachten. Für den weiteren Verlauf seiner
Krankheit ist es aber wichtig und in Bezug auf die Heredität des
Provocaten interessant, dass er auch trank — sodass später Krank¬
heit und Laster einander bedingten.
War aber G. unter solchen Anteccdentien bei seiner ersten Ent¬
lassung aus der Charite wirklich geheilt? Die Frage wird schon in
dem Gutachten, welches seiner zweiten Verbringung nach der Charite
vorausging, aufgeworfen. AVas mit dieser Heilung verstanden war, ist
im Charite-Journal angeführt und w r enn G. sogar selbst von seiner
damaligen Heilung nichts wissen will: jedenfalls war er beruhigt, ob¬
schon nicht für die Dauer.
Aber es ist bemerkenswerth, dass Leute vom Schlage G.’s so
oft Menschen finden, denen sie ihre Flausen mit Erfolg aufbinden,
so dass man sich dabei weniger über die Schlauheit solcher Kranken
als über die Harmlosigkeit ihrer Opfer wundern möchte; verständlich
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Zwei im Civil verfahren abgegebene motivirte Gutachten. 125
indess sind diese Erfolge bei der Dreistigkeit, Rede- und Sehreibge¬
wandtheit jener Schwindler immerhin.
Was nun die letzte Fälschung G.’s anbelangt, so behauptet er
allerdings, sie begangen zu haben, um in’s Gefängniss zu kommen.
Dagegen spricht jedoch Vieles: Wenn er das wirklich wollte, musste
er etwas ganz anderes fälschen. Und wollte er wirklich nicht auf
freien Fuss? Weshalb ging ihm denn ein Wäschekauf im Kopf herum
und weshalb that er sich nach Stellungen um? Und warum „ver¬
legte“ er denn jenen von ihm selbst für den Wärter an Herrn Dr. V.
geschriebenen Brief, in welchem Letzterer, da jene Schwindeleien ihn
erwähnten, von Erstcrem um Aufklärung gebeten wird und den G.
bis zu einem geeigneten Moment aufheben sollte? G. fand diesen
Brief absichtlich nicht, und obschon er dem Wärter einen anderen
schrieb, vermochte er ihn doch nicht mehr genügend hinzuhalten, um
die Entdeckung zu verhindern. Dass G. gleich nach seinem zweiten
Termin begann jenen Wärter zu beschwindeln, ist allerdings wahr;
aber er that es nicht in der Absicht entdeckt zu werden, sondern
wiederum in der Hoffnung gleich bei seiner vermeintlichen Entlassung
ein geeignetes Opfer zu haben. G. wurde also bereits rückfällig ehe
er noch entlassen war.
Aber wie kam es, dass dieser G. am 26. Juli 1892 von hier
aus als wesentlich gebessert bezeichnet werden konnte? Hierauf ist
zu erwiedern, dass G. von der lebhafteren Erscheinungsweise seiner
Krankheit, die er noch im Anfang seines hiesigen Aufenthaltes dar¬
bot, thatsächlich auch hier geheilt war, so dass es im Interesse Ver¬
schiedener lag, w r enn dieser immerhin nicht landläufige Krankheitsfall
nochmals gerichtlich explorirt wurde.
G. muss aber thatsächlich als noch jetzt geisteskrank bezeichnet
werden und zwar, weil er nicht geheilt ist. Er schreibt allerdings im
November 1891, nur bis in den Anfang des Jahres 1891 sei er krank
gewesen, von da ab aber gesund. Es ist aber von seiner Krankheit
noch genug zurückgeblieben. Rechnet man ihm die Erfindungen seiner
sprechenden Uhr, seiner Rechenmaschine und seines Idealschädels
auch nicht zu ungünstig an, obschon sie alle drei noch in die erste
Hälfte des Jahres 1891 fallen: Von seiner Willenlosigkeit und Schwäche
dem ihm innewohnenden krankhaften Trieb zu plumpen albernen Fäl¬
schungen gegenüber — und das gilt namentlich auch von der letzten
— ist er jedenfalls nicht geheilt. Und hat er denn wirklich selbst
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Dr. Richter,
das Gefühl der Genesung? Zwang er sich nicht in seinem Schreiben
vom November 1891 die Erkenntniss seines krankhaften Zustandes
förmlich aus seinen Handlungen auf? Und hätte er denn wieder
fälschen können, wenn er von jener Krankheit genesen war, in der
er so viele strafbare Handlungen gleicher Art beging? Und spricht
es denn für eine Wandlung seines Innern, wenn er jene zweideutigen
Besuche willkommen heisst? Also auch in ethischer Beziehung ist er
nicht vorwärts gekommen.
Was dann seine geistige Schwäche betrifft, so wurde dieselbe
bereits vor seiner zweiten und dritten Aufnahme in die Charite her¬
vorgerufen, und wenn G. die ersten Wochen in Dalldorf zu der Stelle
im Attest vom 11. Juli 1890 verleitete: „Er verfügt jedenfalls über
hervorragende geistige Fähigkeiten“, so war wohl bis dahin die Zeit
zu kurz gewesen, um ihm gründlich auf den Zahn zu fühlen. Aber
wie angedeutet, liegt gerade in der Art und Weise jener Schwinde¬
leien seine grosse geistige Schwäche: Sie müssen entdeckt werden!
Oder rechnete dieser Schwachkopf bei Begehung seiner Streiche viel¬
leicht wirklich darauf nach der Irrenanstalt zu kommen? Man
hat Beispiele davon. Und war das Unterfangen, die letzten Fäl¬
schungen in seiner Weise zu interpretiren, nicht auch ein Zeichen
seiner geistigen Schwäche? Kam er denn besser dabei weg, wenn
er dieses nutzlose Weiterschwindeln einem offenen Geständniss vor¬
zog? Und hätte er sich denn überhaupt mit diesen gefälschten
Briefen, die noch Niemandem geschadet hatten, in’s Gefängniss brin¬
gen können, er als Insasse einer Irrenanstalt?
Und wie steht es mit seinem positiven Wissen? Seine Haupt-
force, die Mnemotechnik, lässt ihn jetzt vollkommen im Stiche: Eine
diesbezügliche ihm in den letzten Tagen gestellte Aufgabe erklärte
er selbst nicht lösen zu können, da sein Gedächtniss zu schlecht ge¬
worden sei. Und die Geschichte: Er wusste weniger als ein Quar¬
taner. Und schliesslich die Mathematik: Er sagte mir noch vor
Kurzem: „Was im Reis steht, weiss ich Alles“. Ich stellte ihm drei
Aufgaben betreffend Berechnnng der Stärke des elektrischen Stromes,
das war ja sein Kapitel: Er konnte nicht eine lösen. Also auch hier
Unwissenheit, Dreistigkeit und Einfalt; denn der Gedanke, dass ich
ihn auch hierin prüfen würde, lag doch nahe.
Aber eigen ist ihm eine nicht ungewandte Stilistik. Seine Aus-
drueksweise ist ja nicht selten phrasenhaft, erhebt sich aber doch
manchmal zu guter Wirkung. Und diesem Talent hat er es nament-
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Zwei im Civil verfahren abgegebene motivirie Gutachten.
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lieh mit zu verdanken, wenn er „auf seinem Gebiet“ etwas er¬
reichte.
Augenblicklich macht er zu Folge seines moralischen Bankerotte
einen recht kläglichen Eindruck und fordert das Mitleiden besonders
heraus. Er beschäftigt sich aber.
Er hat eine Körperlänge von 1,71 m. Sein Haar ist blondroth,
auf dor Schädelhöhe sehr dünn, er trägt einen rothen Vollbart. Sein
Schädel ist symmetrisch gebaut und zeigt die gewöhnlichen Dimen¬
sionen; entsprechend der hinteren Fontanelle ist er flach, der Hinter¬
hauptshöcker ist sehr entwickelt. Kopfschmerzen stellt er in Abrede,
sein Schlaf sei gut. Das Beklopfen des Schädels schmerzt ihn nicht,
wie er sagt, ruft auch keine sichtbare Reaction hervor. Patient ist
Myop. Sehfelddefecte sind nicht nachweisbar. Die rechte Pupille ist
grösser als die linke, beide reagiren. (Alle G.’s, sein Vater sowie
dessen sämmtliche Brüder und sein Grossvater väterlicher Seits hätten
weitere rechte Pupillen gehabt.) Geruch, Geschmack, Gehör in Ord¬
nung. Ohrmuscheln richtig gebildet. Die Zähne sind richtig ent¬
wickelt, der harte Gaumen auch. Die Zunge zittert etwas, wird nicht
immer ganz gerade hervorgestreckt. Reiz der Schleimhaut der Nase
und des Mundes ruft lebhafte Reaction hervor. Beim Beklopfen der
Triceps- und Gastrocnemius-Sehnen tritt zwar nur der gewöhnliche
Reflex ein, aber um so lebhafter ist er beim Beklopfen der Vorder¬
armknochen, und beim Versuch den Fussclonus auszulösen, tritt eben¬
falls ein lebhafter Reflex in der betreffenden Extremität ein. Auch
ist die Haut des ganzen Körpers gegen Nadelstiche ausserordentlich
empfindlich; Prov. wird bei der betreffenden Untersuchung ängstlich,
und das ist ihm auch bewusst. Sein Körperbau ist schlank und der
Ernährungszustand ein mässiger. Der Brustumfang beträgt 80 bis
89 cm. Der Herzstoss erfolgt an der richtigen Stelle, die Herztöne
sind rein und der Puls 84 pro Minute. An den Lungen ist etwas
Krankhaftes nicht zu constatiren. Die Leber zeigt die gewöhnlichen
Grössenverhältnisse und auch die sonstigen Organe des Unterleibes
erscheinen nicht krank, nur sei bemerkt, dass Pat. soeben eine Band-
wurmeur durchgemacht hat. Beim Stehen mit geschlossenen Augen
tritt kein Wanken ein. Zwerchfell-, Bauchdecken- und Cremaster-
reflexc auszulösen. Patellarreflex sehr lebhaft. Auch bei blosser Be¬
rührung der Fusssohlen erfolgt bereits ein lebhaftes Zurückziehen. Tn
den Inguinalfalten sind Drüsen fühlbar. Die Eichel ist von der Vor¬
haut bedeckt, letztere reponibel. Die Oeffnung der Harnröhre steht
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Pr. Richter.
an der richtigen Stelle. Die Flusse sind richtig gebaut, etwas gross.
Die Ballen der grossen Zehen vorspringend. Degenerationszeichen
weist also Pat., trotz der schweren Heredität, nicht auf.
Das Gutachten ist dahin zusammenzufassen, dass Prov. erblich
schwer belastet und früher an Krämpfen und in krankhafter Weise
an Träumen leidend, seit Jahren von einer Geistesgestörtheit ergriffen
ist, welche unter Schwankungen verlief und eine erhebliche geistige
Schwäche gesetzt hat, die ihm jetzt selbst in der Abnahme seines
Gedächtnisses zum Bewusstsein kommt. Letztere, sowie früher die
Krämpfe, dann die Lähmungserscheinungen im Jahre 1889 (W.’sches
Gutachten) und jetzt die Steigerung der Reflexe und der Empfindlich¬
keit, sowie die Pupillendifferenz, liefern den Beweis eingetretener cen¬
traler Veränderungen. Die geistige Schwäche ist zu Folge des oben
Geschilderten, und wie bereits im Termin gesagt, so erheblich, dass
die Bedingungen zur Aufhebung der Entmündigung nicht vorliegen
und er den Gebrauch seines Verstandes nicht wieder erlangt hat.
Das Gutachten nach bestem Wissen und Gewissen etc.
Die Wiederaufhebung der Entmündigung wurde vom Amtsgericht
abgelehnt.
Jetzt stellt G. sein Benehmen vor dem letzten Termin so dar:
Er hätte vor seinem dritten Termin von einer Dame, einer früheren
Schülerin, die ihm alsdann Liebeserklärungen schrieb, Briefe erhalten
des Inhalts, dass der Vater der ehemaligen Braut G.’s, welcher von der
eventuellen Entlassung desselben Nachricht erhielt, die Familie seiner
früheren Schülerin zu gemeinsamen Schritten gegen G. aufsuchen
wollte. Die Briefe dieser seiner Schülerin hätte G. in seiner dama¬
ligen Erregung dem Vater seiner ehemaligen Braut selbst mit über¬
geben gehabt. Seine frühere Schülerin sei nun um so melir in Ver¬
zweiflung gerathen, als sie sich inzwischen dauernd gebunden. Darum
hätte er sich also damals mit seinen Schwindeleien in’s Gefängniss
bringen und auf die Freiheit vorläufig verzichten wollen!?
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i
Spontaner Schlagfluss oder Gehirnblutung in Folge
von Schlägen?
Formell und materiell interessanter geriehtlieh-medieiniseher Fall
aus eigener Praxis mitgetheilt
vom
Künigl. Kreiswundarzt Sanitätsrath Dr. Kob in Stolp in Pommern.
Die Arbeiter D.’schen Eheleute lebien von jeher in fast ständigem Unfrieden
mit einander. Die Frau war schon als Mädchen noch vor ihrem 20. Lebensjahre
dem Trünke stark ergeben, und ein sehr zänkisches Wesen, wie grosse Unordlich-
keit und Unwirthschaftlichkeit blieb ihr eigen. Hierzu kam, «lass sie in den letzten
.fahren wiederholt körperlich leidend war, namentlich vor 1 1 / 2 .Fahren lange an
heftigen Kopfschmerzen und später während ihrer letzten erst im verflossenen
Winter beendeten Schwangerschaft an auflallender Schwäche und an Schmerzen
beider Beine und des Unterleibes gelitten hat.
Hierdurch wurde der Mann, Arbeiter 1)., ein vielleicht kaum 1,08 m grosser,
schwächlich aussehender Mensch, welchem im Allgemeinen kein ungiistiges Sitten-
zeugniss ausgestellt wurde, sehr oft recht aufgeregt: er trank dann auch über Ge¬
bühr und zeigte Neigung zuGewaltthäligkeit: mit dem Strafgesetz aber war er auf
diese Weise nur einmal in Conflikt gekommen, indem er wegen Hausfriedensbruchs
bestraft werden musste.
Sehr oft dagegen liess der D. sich zu Hause zu Zornausbrüchen gegen seine
Frau hinreisson, welche er dann misshandelte, wobei er sich aber regelmässig
keiner anderen Instrumente, als seiner eigenen Fäuste zu bedienen pflegte.
Eine solche Familienscene ereignete sich im D.’schen llause auch am
12. März 1893. Diesmal bediente sich der 1). einer Schöpfkelle, eines nicht
schweren und nicht langen hölzernen Löffels, zurZüchtigung, indem er mit diesem
Instrumente seiner Frau, nachdem er sie „ühergezogen u hatte, mehrere Schläge
auf die Schulter hieb. Dass er ihr kurz vor diesen Hieben bei demselben Zank
noch mehrere Faustschläge gegen den Kopf versetzt hätte, ist nur einer Zeugin
von Frau D. gesagt worden.
Nach jenen Hieben, steht weiter fest, vom Manne losgelassen, begiebt sich
Frau D. sofort aus der Stube und an ihre Arbeit, welche sic nun bis zum
ViertelJttUrsKclir. f. gor. Mod. Drille Fol^e. IX. 1 . 9
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Dr. Kob,
23. März 1893, also volle 11 Tage lang in gewohnter Weise verrichtet: sie geht
auch während dieser Zeit ausserhalb ihrer Wohnung zu anderen Dorfbewohnern,
während sie äussere Merkmale der erlittenen Schläge an keinem Körpertheile da¬
von getragen hatte, sondern nur zu erzählen wusste, dass sie 3 Tage lang
nach den Schlägen zu Bett habe liegen müssen, und seitdem über gesteigerte
Kopfschmerzen, sowie über Schmerzen im rechten Arm klagte. Endlich früh
am 23. März 1893 bekommt sie Erbrechen, verliert den Appetit, bleibt im Bett
liegen, in welchem sie bereits um 7 Uhr röchelnd und bewusstlos und um 10 Uhr
Vormittags todt vorgefunden wird.
Es lag nun sehr nahe, dass unter den Dorfbewohnern zu W. sich das Gc-
rücht verbreitete, die Frau D. sei lediglich in Folge der seitens ihres Mannes am
12. März 1893 ihr zugefügten Schläge gestorben; und so kam es, dass auf die An¬
zeige des Pfarramts die gerichtliche Section ihrer Leiche von der Königlichen
Staatsanwaltschaft beantragt, vom Amtsgericht verfügt und von mir am 28. März
1893 verrichtet wurde. Aus dem dabei niedergelegten Sectionsprotokoll seien
hier folgende für die Beurtheilung der Sache wesentliche Nummern entnommen:
1) Die Leiche des etwa 30- 35 Jahre alten Weibes ist 153 cm lang, kräftig
gebaut, zeigt gutes Fettpolster und gute Muskulatur.
5) Der Kopf ist mit 50 cm langen hellblonden Haaren besetzt. Spuren
von Verletzungen nicht vorhanden.
14) Die weichen Kopfbedeckungen werden mittelst eines vom linken zum
rechten Ohre mitten über den Schädel geführten Schnittes durehtrennt und nach
vorn und hinten abgezogen. Sie sind von blasser Farbe, auch in der
hinteren Partie tritt Blut nicht aus.
15) Die Bein haut des Schädels ist blass.
16) Der Schädel ist gut gewölbt und breit und zeigt keine Spuren von
Verletzungen. Er sägt siel) schwer. Auch die Innenfläche der Schädel¬
decke ist blass und ohne Spur von Verletzungen.
17) Die harte Hirnhaut ist ebenfalls sehr blass. Ihre Gefässe
noch nicht bis zur halben Rundung gefüllt. Der Längsblutlciter
ist leer. Die Innenfläche der harten Hirnhaut ist glatt und glän¬
zend blass.
18) Die weiche Hirnhaut ist zart und leicht abziehbar. Ihre Gefässe sind
glatt. In ihrem rechten hinteren Abschnitt ist sie in einer Breite von 5 cm und
einer Länge von 12 cm gleichmässig hellroth gefärbt. Ausserhalb der Ge¬
fässe befindliches Blut ist nicht vorhanden. Nachdem die weiche
II im haut abgezogen ist, zeigt sich das Gehirn vollständig intact.
19) Im Schädelgrunde kein fremder Inhalt.
22) Das grosse Gehirn ist symmetrisch gebaut und misst 18 bezw. 13 bezw.
9 cm. Die ganze rechte Seitenhirnhöhle ist mit einem festen hühner¬
eigrossen Blutgerinnsel angefüllt, das fast schwarzroth gefärbt
ist. Das Gewebe des Gehirns ist in der Umgebung zertrümmert. Die
linke grosse Hirnhöhle ist leer. Das Gewebe des Gehirns ist trocken und
ziemlich fest. Auf der Schnittfläche sind sehr kleine spärliche Blutpünktchen
sichtbar.
23) Seh- und Streifenhügel sind fest und feucht glänzend mit etwas
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Spontaner Schlafffluss oder Gehirnblutung in Folge von Schlägen? 131
zahlreicheren Blutpunkten, als in den grossen Hirnhalbkugeln. Die Vierhügel
zeigen dasselbe Verhalten.
24) In der dritten Hirnhöhle findet sich ein 4 cm langes 1 bis
2 cm breites Blutgerinnsel.
25) Die Adergeflechte sind grauroth und zeigen sehr spärlich gefüllte
Ge fasse.
26) Das Kleinhirn ist fest, feucht und glänzend und zeigt sehr spär¬
liche Blutpünktchen.
28) Nunmehr wird die harte Hirnhaut vom .Schädelgrunde abgezogen.
Letzterer ist unverletzt.
29) Nunmehr wird die Grundarterie noch einer besonderen Un¬
tersuchung unterzogen. Sie fühlt sich weich, elastisch, nicht hart
an und ist von bläulich rother Farbe. Ihre Wandungen zeigen keine
Abweichugen von der Norm.
30) Durch einen Schnitt vom Kinn bis zur Schamfuge links vom Nabel vor¬
bei wird die Haut vorsehriftsmässig gespalten. Das Fettpolster ist ziemlich er¬
heblich, die Muskulatur braunroth und dünn.
34) Das Mittelfell ist gelbwciss und stark mit Fett bewachsen.
Die grossen, ausserhalb des Herzbeutels belegenen Gelasse sind zusammenge¬
fallen.
36) Das Herz fühlt sich äussert schlaff an und ist in seiner
rechten Hälfte faltig zusammengefallen, hat die Grösse der Faust
der Leiche und ist mit Fett bewachsen. Die Vorkammeröffnungen sind
jederseits für 2 Finger durchgängig. Sämmtliche Herzhöhlen sind leer. In den
arteriellen Öffnungen eingegossenes Wasser stellt. Die Farbe des Muskel-
fleisches ist gelbbraun. Letzteres fühlt sich mürbe an. Die Klappen
sind völlig intact.
38) Die linke Lunge ist braunroth, besonders in ihrer unteren Partie. Das
Gewebe fühlt sich elastisch au und ist auffallend trocken. Auf die braunrothe
Schnittfläche tritt sehr wenig trübe braunrothe Flüssigkeit. Kiuzelne Partien sind
zusammengefallen. Die Luftröhrenverzweigungen zeigen eine braunrothe Schleim¬
haut und sind leer.
39) Die rechte Lunge zeigt dasselbe Verhalten wie die linke.
Im Allgemeinen sei in Betreff des Sectionsbefundes noch bemerkt, dass durch
die Verwesung der Werth des Befundes allgemeiner Blutleere der Gelasse und
Organe, sowie auch der der trüben Schwellung mancher Gewebe, namentlich der
der Leber und Nieren, aus welchen auf Verfettung dieser Gewebe geschlossen
werden konnte, erheblich vermindert war. Hervorgehoben aber sei noch, dass
Magen, Dünn- und Dickdarm, also der ganze Nahrungscanal, ganz leer war.
Als wir nach Schluss der Setdion mit Rücksicht auf den Befund
der letzteren und mit Rücksicht auf die meist uns schon bekannt ge¬
wordenen oben geschilderten Vorgänge, sowie nach Besichtigung der
dort gedachten Schöpfkelle, mit welcher die Verstorbene geschlagen
worden war, unser vorläufiges Gutachten abgeben sollten, tag es für
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132
Dr. Koh,
uns auf der Hand, dass wir sagen mussten: die Frau T). ist an
Schlagfluss gestorben. Es konnte aber aueb alsbald eine Einigung
dahin erzielt werden, dass hinzugefügt wurde: es bat sieh nicht er¬
geben, dass dieser Schlaglluss die Folge einer äusseren Verletzung
gewesen ist.
Obwohl dieses Gutachten einmüthig und bestimmt abgegeben war,
so kam es dennoch später zur Abgabe von Separatgutachten. Das
von mir auf Requisition, des Amtsgerichts qu. mit Benutzung des
ganzen Actenmaleriais erstattete kam zu demselben Schluss wie jenes
uud hatte im Anschluss an die Geschiehtserzählung folgenden Verlauf.
1. An welcher Krankheit starb Frau I).?
Nach dem, was wir über das klinische Krankheitsbild erfahren
haben, und nach dem Ergebniss der Obduclion kann es keinem Zweifel
unterliegen, dass Frau D. an Hirnapoplexie, d. h. an Gehirnblutung
verstorben ist. Denn das Gehirn derselben war das einzige Organ,
welches bei der Section (22 und 24) in solchem Grade krankhaft
verändert und zerstört gefunden wurde, dass das Leben erlöschen
musste. Bilden schon die Stellen des Gehirns, welche der Sitz der
Blutung gewesen, die Umgebung des rechten Seiten- und des dritten
Hirnventrikels, also räumlich die Vlitte des ganzen Gehirn, zugleich
das Centrum der allerwichtigsten Lebensvorgänge des menschlichen
Leibes, wie der Thätigkeit der Sinne, der Athmung etc., so war die
Menge des in die Substanz des Gehirns ausgetretenen Blutes im Be¬
trage vom Umfange eines Hühnereies bezw. von 4 cm Länge und
2 cm Breite eine ungewöhnlich grosse, jedenfalls so gross, dass da¬
bei das Leben der Frau D. nicht bloss gefährdet, sondern vernichtet
werden musste. Zwar nämlich hatte sich das aus den Gehirngefässen
ausgetretene Blut in die rechte Seiten- und 3. Hirn höhle ergossen,
doch muss man sich daran erinnern, dass diese Höhlen im normalen
Leben eigentlich keine Hohlräume, sondern gleichsam wie die mensch¬
liche Speiseröhre oder die Brusthöhle eine geometrische Fläche bilden,
in welcher ganz getrennte Hirntheile dicht zusammenstossen. Ergiesst
sich in diese eigentlich nur virtuelle Höhle Blut, so müssen jene an
einander liegenden Hirntheile zu den Seiten weichen, werden mehr
oder weniger gedrückt und dadurch alsbald das ganze Gehirn in seinen
Functionen beengt und gestört; und nun war dieser auf die Gehirn¬
masse ausgeübte Druck in Folge der grossen Menge des ergossenen
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Spontaner Schlafrtluss oder GeliirnMutu»»' in Folge von Sehlägen? 133
Blutes ein so grosser, dass die näehstgelegene llirnsehieht rundum
überall zerrissen wurde, woraus sieh schon ergiebt, dass das Lehen
erlöschen musste.
Und zwar musste der Tod der Frau D. unter diesen Umständen
schnell und plötzlich erfolgen, wie ja auch ein apoplektischer Anfall
in der Regel getreu seinem Namen (Apoplexia von anonlijxtiv, hin¬
schlagen, Sehlagbcrührungj sich plötzlich abzuspielen pflegt.
Ob der Befund völliger Leere der Luftwege (38 und 39), welche
letztere bei längerem Todeskampf nach Schlagfluss mit Schleimmassen
angefüllt sind, hier als ein besonderer Beweis dafür passiren könne,
dass die Krankheit nicht lange, nicht etwa schon seit dem 12. März
1893 gedauert habe, sondern nur einen kurzen Verlauf gehabt habe,
lasse ich dahingestellt sein, weil die Verwesung möglicherweise hier
schon zur Verdunstung solcher Schleimmassen geführt halten könnte.
Aber jener Regel entspricht auch das klinische Bild, d. h. der faotisrlie
Verlauf der letzten Krankheit, über welche die Acten zwar nur ein
geringes Material, immerhin aber so viel ergeben, dass Frau D. bis
zum 23. März 1893 relativ gesund und arbeitsfähig war und erst am
Tage ihres Todes früh 7 Uhr bewusstlos, röchend und fast sterbend
vorgefunden wurde und bereits um 10 Uhr Vormittags unter diesen
Erscheinungen des Schlagflusses verschied.
2. Ist die lödtliche Apoplexie eine Folge der incriminirten
Thal oder spontan entstanden gewesen?
Das Königliche Amtsgericht will nun aber unzweifelhaft wissen,
wodurch diese tödtlich gewordene Apoplexie der Frau D. entstanden
ist, und namentlich, ob diese Krankheit durch die Schläge, welche ihr
der Angeklagte am 12. März 1893 versetzt hat, oder wodurch sonst
sie entstanden ist.
a) Die Schöpfkelle ist jedenfalls ein dazu ungeeignetes
Werkzeug gewesen.
Dass Schlagen mit der vorliegenden hölzernen Schöpfkelle, seihst
wenn diese den Kopf der Frau D. getroffen haben sollte, wovon zur
/eit der Obduction allein die Rede war, für dieselbe den Sehlaglluss
zur Folge gehabt, erschien dem Unterzeichneten schon damals nicht
annehmbar, und auch heute kann ich nicht anderer Ansicht sein: denn
weder am Kopfe, noch sonst wo am Körper der Frau D. war irgend
(>ine Spur äusserer Verletzungen, sei es Wunde, sei es Blutunter-
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134
Dr. Kob,
Lautung vorhanden, die doch .sicher das erste gewesen wäre, was das
Schlagen mit gedachter Schöpfkelle bewirkt hätte, wenn es bis zur
Erzeugung eines Sehlagflusscs gebraucht worden wäre; dabei wäre
überdies dieses winzige Werkzeug in Trümmer gegangen, was aber
nach dem Inhalt der Acten durchaus nicht der Fall gewesen ist.
Dass Knochen der Glieder brechen können, ohne dass letztere
äusscrlich irgend eine Wunde oder Quetschung der über dem Knochen¬
bruch gelegenen Weichtheilc aufzuweisen haben, ist zwar an sich
richtig, kann aber hier gleichwohl nicht als Einwand dienen: denn in
solchen Fällen wird der Knochenbruch stets nur ein solcher sein, der
nicht direeten Stüssen gegen oder Schlägen mit Gegenständen, wie
hier in Frage sieben, sondern einer indirecten Gewalt von über¬
mässigem Biegen, bei Fehltritten oder beim Fall mit schwerer Last
seine Entstehung verdankt. Auch wäre es ein Einwand, der wenig
aus dem Leben gegriffen erschiene, wenn man sagen wollte, dass es
an äusseren Verletzungsspuren nach den Schlägen in der That auch
nicht gefehlt haben werde, dass solche aber wahrscheinlich in der seit
dem 12. März 1893 bis zur Zeit der Obduction verflossenen Zeit
wieder verschwunden seien; denn wem sollte es wohl zweifelhaft sein,
dass von den zahlreichen Belastungszeugen jede kleinste Excoriation
oder Blutunterlaufung, wenn solche wirklich vorhanden gewesen wäre,
sorgsam regislrirt und aufgebauscht worden wäre.
b) Auch die Faustschläge waren bedeutungslos.
Nun ist inzwischen aber aetemuässig festgestellt, dass die Schöpf¬
kelle nur gegen die Schulter der Frau D. zur Anwendung kam, da¬
gegen ihr Kopf mit der Faust ihres Mannes bearbeitet worden war.
Während wir die Schöpfkelle daher um so mehr ausser Betracht zu
setzen haben, als auch an den Schultern der Leiche keinerlei Spur
der Wirkung dieses Werkzeuges gefunden wurde, so kommen jetzt die
Fäuste des Angeklagten als Werkzeug in Frage.
Ich will nicht bestreiten, dass wuchtige Faustschläge eines
kräftigen Mannes gegen den Kopf eines Andern diesen viel eher in
folgenschwerer Weise erschüttern können, als Hiebe mit der heregten
Schöpfkelle, aber ich muss darauf hin weisen, wie schon namhafte
Aerzte tödfliehe Krankheilszustände der Art, wie sie die Section der
Frau D. ergeben hat, als Folge von Faustschlägen nicht anerkennen
wollten. Vor mir liegt namentlich ein Gutachten der medicinisehen
wissenschaftlichen Deputation (Band XIV, 1 und 2 der Eulenburg’-
schen Vierteljahrschrift. Referent Bar de leben) über den Fall eines
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Spontaner Schlagfluss oder Gehirnblutung in Folge von Schlägen? 135
Mannes, an dessen Leiche neben einigen äusseren Kopfverletzungen
Bluterguss zwischen Schädel und harter Hirnhaut gefunden wurde; in
diesem Gutachten wird die Frage, ob der lödtliehe Schlagfluss durch
Hiebe mit geballter Faust, in welcher eine Messerschale eingeschlossen
gewesen, hervorgerufen sein könne, mit Bestimmtheit verneint. Um
wie viel weniger sollte man geneigt sein zu glauben, dass einige
Schläge mit der unbewaffneten Faust eines nicht einmal kräftigen
Mannes, wie der Angeklagte war, einen apoplcktisehen Erguss in die
Mitte des Gehirns hervorgebracht haben? Befindet sieh doch auch
unter all den zahlreichen Fällen meiner Praxis, in welchen eine
schwere stumpfe Gewalt den Schädel getroffen und Schlagfluss zur
Folge gehabt hatte, auch nicht ein einziger Fall, in welcher der Blut¬
erguss isolirt in dem Cent rum des Gehirns st at t gehabt, wie in diesem
Falle.
e) Die Zeit der Schläge stimmt nicht mit der Zeit der
Entstehung des Schlagflusses.
Wäre es ferner der Fall, dass die Faustschläge den Schlagfluss
bewirkt hätten, so wäre unzweifelhaft der Ausbruch des letzteren nicht
erst am 23. März 181)3, sondern viel früher, nämlich bereits am
12. März 1893 erfolgt. Dass dies nicht der Fall gewesen, kam be¬
reits sub 1 dieses Gutachtens zur Sprache, und es sei hier noch aus¬
drücklich hervorgehoben, wie wenig glaubhaft es ist, dass eine Kranke
unmittelbar nach Schlägen so bedeutender Art, dass sie Schlagfluss
zur Folge haben, gleich ihre Wohnung zu verlassen und ihre ge¬
wohnten Arbeiten in gewohnter Weise sollte zu verrichten im Stande
gewesen sein, wie es Frau D. in diesem Falle gef hau. Dass die von
ihr erlittene Misshandlung überhaupt irgend eine unmittelbare Folge
gehabt, die allenfalls auch nur als Vorläufer des Schlagflusses ange¬
sehen werden könnte, haben überdies nur 2 Zeugen aus dem Munde
der Frau D. selbst gehört, und dass wenig Gewicht auf ihre Aussage
darüber zu legen gewesen, ist leicht zu erweisen: sie klagte angeblich
in jener Zeit über Kopfschmerzen, doch hat sie solche, was acten-
mässig feststeht, öfters schon früher gehabt; sieklagt über Schmerzen
im rechten Arm, doch können diese als Vorläufer vom Schlagfluss
unmöglich gedeutet werden, weil, wenn diese Deutung eine richtige
sein sollte, diese Schmerzen nicht im rechten, sondern im linken
Arm empfunden worden wären, indem der Bluterguss in der rechten
Hirnhälfte lag (Gesetz der Nervenkreuzung); auch endlich ihre Aus¬
sage, dass sie 3 Tage lang nach den Schlägen hätte das Bett hüten
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I>r. Kol>,
136
müssen, ist wort lilos. da, wenn dies mit dom bevorstehenden Hirn¬
sehlage im Zusammenhänge gestanden hätte, es um so schwerer zu
erklären wäre, wie Frau I). dennoch volle 8 Tage darauf hätte wieder
arbeiten können. Fs wäre dies gewiss auch dann nicht der Fall ge¬
wesen, wenn man sich denken wollte und könnte, dass der Blutaus-
tritt in’s Gehirn nicht plötzlich, sondern seit dem 12. anfangend lang¬
sam und allmälig erfolgt und erst am 23. März 1803 zur vollen Aus¬
bildung gelangt wäre.
Und dass der Schlaglluss in der Thal erst am 23. März 1803
erfolgte, lehrt die Beschaffenheit des gefundenen Blutextravasats. Das¬
selbe bestand lediglich aus einer sehwarzrothgefärbten Blutmasse, aus
der sich noch nicht der hellgefärbte Faserstoff und das Serum ge¬
trennt hatten, wodurch sich das Extravasat als ein ganz frisch ent¬
standenes hinlänglich kennzeichnete. Fs fand sich eben nur dickes
Blut (Cruor) in den Hirnhöhlen ohne Spur von Flüssigkeit; die un¬
mittelbar angrenzenden Hirntheile sahen nur zerfetzt aus, waren zer¬
trümmert (22, wo die Beschreibung allerdings recht dürftig ausgefallen
ist). Fs fehlte auch sonst jede Spur von reactiven Erscheinungen im
Bereiche des Gehirns, da der Befund von theilweiser Hyperämie der
weichen Hirnhaut (18) wohl nicht als solche reactive Erscheinung,
sondern als einfache locale Stauungshyperämie, herrührend von dem
durch das Blutextravasat bedingten Drucke anzusehen ist, da im
Uehrigen vielmehr in den Häuten, Adergeflechten und in der Substanz
des Gehirns ausgesprochenen Blutleere sich vorfand (17, 22, 23, 25,
26). Wäre der Bluterguss auch nur einige Tage früher entstanden,
man hätte wenigstens in einiger Nähe desselben ausgesprochenere In¬
ject ion der Gelasse, selbst schon Spuren von Ausschwitzung sicher
nicht so gänzlich vermisst.
d) Fs bleibt nur die Möglichkeit übrig, dass der Schlag¬
fluss spontan entstanden war.
Man könnte nun fragen, oh die am 12. März stattgehabte Misshand¬
lung mit der damit verbundenen physischen Erregung der Frau D. diese
nicht ungünstig disponirt, den Schlagfluss vorbereitet und so indirect
denselben mitbewirkt habe. Selbst diese Frage unbedingt zu bejahen,
fällt cinigermaassen schwer, da wir oben sahen, dass Frau D. an
solche Misshandlungen und Aufregungen sehr gewöhnt und keineswegs
sehr zart besaitet war. Jedenfalls kann dieses ätiologische Moment für
den Schlagfluss nicht genügen, und wir müssen ein solches durchaus
anderswo suchen. Eine neue andersartige Misshandlung der Frau D.
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Spontaner .Srhlairlluss oder Geliimülutung in Fol irr von Schlägen? 137
hat seit dom 12. März 181)3 nicht statigefunden, und da fragt cs
sich .schliesslich, ob der Schlagfluss nicht etwa spontan entstanden
sei, und in der Thal spricht mancherlei dafür. Zuvörderst ist die¬
jenige Stelle des Gehirns, der Seiten- und der 3. Ventrikel, wo das
Blutextravasat 1*1 atz gegriffen hatte (22), die Prädileetionsstelle spon¬
taner Ilirnapoplexien, während die durch Schädelverletzungen ent¬
standenen Hirnblutungen so regelmässig in die peripherischen Theile
des Gehirns stattzufinden pflegen, dass, wie schon oben bemerkt
worden ist, central gelegene traumatische Apoplexien dem Unterzeich¬
neten niemals vorgekommen, und auch aus der Literatur nur sehr
vereinzelt, aber ebenfalls niemals in solcher Grösse bekannt geworden
sind, wie in unserem Falle. Nun heisst es zwar (siehe Vorlesungen
über specielle Pathologie und Therapie. Liebermeister II. Band
und Virchow’s Pathologie und Therapie IV. Band, Abth. 1), dass
spontane Apoplexien meist nur Einen Herd bilden, und in unserem
Falle findet sich sowohl im rechten Seitenventrikel, als auch im
3. Ventrikel ein grosses Extravasat (22 und 24), aber einen ernsten
Einwand wird dieses hier nicht ausmachen können, da es doch klar
ist, dass der rechte Seiten- und der 3. Ventrikel eigentlich nicht von
einander getrennte Stellen sind, vielmehr in unserem Falle das extra-
vasirte Blut aus dem Seitenventrikel in den 3. Ventrikel und umge¬
kehrt durch das Mo uro’sehe Loch, durch welches diese beiden Ven¬
trikel communiciren, sich ergiessen konnte.
Auch berechtigt das Ergebniss der Section sowohl, als auch das
übrige Actenmaterial zur starken Vermuthung, dass die Frau D.
keineswegs körperlich so gesund und kräftig war, wie einige Zeugen
behaupten, dass dieselbe vielmehr durch einen krankhaften Zustand
ihres Gcfässsystems zum Schlagfluss körperlich prädisponirt war.
Die Krankheit zwar, welche man eigentlich Gefässbrüchigkeit
(Arteriosclerosis) nennt, hat sich bei der Section nicht gefunden, sie
war bei dem noch jugendlichen Alter der Frau D. auch nicht zu er¬
warten; aber mannigfache Verfettungszustande, welche zu jener Krank¬
heit oftmals führen oder mit ihr sich verbinden, sind verzeichnet
worden. Nicht bloss im Allgemeinen war das Fettpolster gut (T),
sondern Fett überwog auch meist, das Muskelgewebe, welches dagegen
wie verdünnt erschien (30, 34); das Herz (36) war äusserst schlaff
und fettreich, sein Muskelfleisch gelbbraun, fühlte sich mürbe an; das
Netz und Gekröse (43, 56) war sehr fettreich. Ob auch die bei
Durchselmeidung der Leber und der Nieren hervorgetretene trübe
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13S
I)r. Kob.
Schwellung d(‘s Gewebes schon als Zeichen einer krankhaften Ver¬
fettung mit Sicherheit anzusprechen war, mag dahingestellt bleiben,
aber alle diese Befunde, zu denen noch die vollkommene Lehrheit des
Nahrungscanals kommt, die darauf sehliesscn lässt, dass bei der Verstor¬
benen der Appetit und die Verdauung völlig darniederlag, sind doch mit
Rücksicht auf das Alter der Frau D. von 30 Jahren recht auffallend;
hinzu kommt der wohl verbürgte Ruf, dass sie schon als Mädchen,
kaum 20 Jahre, dem Trünke stark ergeben war, — und wir werden
uns daher von der Wahrheit wohl schwerlich entfernen, wenn wir an¬
nehmen, dass man es in der Frau D. mit einer echten Alkoholistin
zu tliun hatte, woraus auch ihr zänkisches, unordentliches Wesen ent¬
sprungen sein mochte; und dass sie, wie mehrere Zeugen bekunden,
nicht bloss in der Zeit vom 12. bis 23. März 1893, sondern schon
früher wiederholt, oft und mehr oder weniger stark an Kopf¬
schmerzen, auch ebenso an Schmerzen im Leibe und in den Beinen
gelitten, ist wohl mit Sicherheit anzunehmen. Jedenfalls kann nicht
behauptet werden, dass Frau D. bis zum 12. März 1893 gesund ge¬
wesen ist, vielmehr ist es wahrscheinlich, dass sie schon vorher an
Säuferdyskrasie (Siechthum in Folge von Trunksucht) gelitten hat und
durch diese Krankheit zu einem plötzlichen und tödtlichen Schlagfluss
prädisponirt war.
Ich musste daher das von mir verlangte definitive Gutachten da¬
hin zusammenfassen:
1. Frau D. ist an Gehirnschlagfluss gestorben.
2. Fs ist wenig oder garnicht wahrscheinlich, dass dieser
Schlagfluss die Folge der von Frau D. am 12. März 1893
erlittenen Misshandlung gewesen ist; sehr wahrscheinlich
ist er vielmehr spontan entstanden, und zwar möglicher¬
weise in Folge von Alkoholmissbrauch.
Nachdem hierauf noch von dem zuständigen Medieinaleollegium
ein Obergutachten eingefordert und erstattet worden war, gelangte die
Sache sehr bald zu einem milden Abschluss. Ich selbst wurde mit
ihr nicht mehr belässt; denn, wie mir der Staatsanwalt mittheilte,
wurde die Sache dem zuständigen Schöffengerichte überwiesen, welche
den pp. D. zu mehreren Monaten Gelangniss wegen einfacher Körper-
ve ri et zu n g voru rt h ei 11 e.
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Die Verschwiegenheit des Arztes und der Zwang
zum Zeugniss 1 ).
Von
Dr. Kühner,
Arzt und Gcrichttarst in Frankfurt a. M.
Die .Stellung der Aerzte vor dem Strafgesetz in verschiedenen
Ländern und zu verschiedenen Zeiten entspricht dem jeweiligen Stand
der Cultur der Völker. Zur Zeit der Folter und des Faustrechts
machten sich auch in dieser Beziehung ganz andere Forderungen
geltend, als in unserem Zeitalter der Humanität. Einen Anthoil jener
Stellung vor dem Strafgesetz, die Zurechnung der Aerzte wegen vor¬
geblicher oder wirklicher Yerstösse gegen gewisse Regeln der Heil¬
kunde, habe ich in Sammelwerken, Sonderschriften und Beiträgen von
Fachblättern zu fixiren gesucht. Bei dieser Aufgabe war es mein
Bestreben, die gesetzlichen Bestimmungen in Betreff ärztlicher Zu¬
rechnung je nach den verschiedenen Rechten civilisirter Staaten zu
differenziren, da gerade diese Differenzirung die Feinheiten ergiebt,
welche der Gesetzgeber zur Fassung von Rechtsgrundsätzen in Rück¬
sicht zu ziehen hat.
Ein anderer Antheil jener Pflichten, welche das Gesetz der ver¬
schiedenen Staaten von den Aerztcn fordert und deren Nichterfüllung
dasselbe mit schwerer Strafe bedroht, soll hier eine Besprechung finden.
Ich meine die Verschwiegenheit des Arztes und dessen Zwang
') Wenn der Leser unter ähnlichem Titel in einem anderen Blatte eine gleich¬
artige Abhandlung des Verfassers finden sollte, so wird eine nähere Prüfung lehren,
dass 7.war derselbe Gegenstand, aber unter anderen Gesichtspunkten betrachtet
worden ist.
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140
Pr. Kühner,
/um Zeilen iss. Audi bezüglich dieser Forderung ist es ungemein
belehrend, einen historisdien Ueberblick zu geben über die Fassung
gesetzlicher Bsstimmungen zu verschiedenen Zeiten und an verschie¬
denen Orten, zu sehen, wie schon in den Trümmern längst entschwun¬
dener Zeiten, schon im Anbeginne menschlicher Culturentwickelung
charakteristische Spuren einer gesetzlichen Fassung der Geheimhaltung
gewisser zur Kenntniss der Aerztc gelangter Offenbarungen zu finden,
zu ersehen, dass die betreffenden Bestimmungen in den einzelnen
Staaten erheblich von einander abwcichcn, bald Verschärfungen, bald
Herabminderung der bezüglichen Strafen enthalten. Eine Differential¬
diagnose des Rechtsverhältnisses des Arztes in den verschiedenen
Staaten bietet für diesen und gewiss nicht weniger für den Juristen
eine Aufgabe von grossem Interesse. Was die Verschwiegenheit des
Arztes und den Zwang zum Zeugniss betrifft, so ist neuerdings
Plaezek 1 ) unter Anleitung und Unterstützung eines Juristen an die
schwierige Aufgabe der Differenzirung der verschiedenen Rechte hcran-
getreten, indem diese das Interesse des Arztes wohl gleichermassen
wie des Juristen im hohen Grade erweckende und erhaltende Schrift
die Vorzüge und Mängel der Fassung der gesetzlichen Bestimmungen
in den einzelnen Staaten theoretisch und praktisch durch casuistisehc
Belege hervorhebt, eine Aufgabe, welche den Feinheiten, mit denen
das ganze Thema ausgearbeitet und ausgestattet worden, besonderen
Ausdruck verleiht. Wir verweisen zu diesem Zweck auf die dort ge¬
gebenen Ausführungen. Dass die Fassung der gesetzlichen Bestim¬
mungen ganz verschieden seihst in benachbarten Culturstaaten, ergiebt
sich aus der Thatsaehe, dass nach dem Strafgesetzbuch für das deutsche
Reich 2 ) Zuwiderhandlungen gegen die gesetzlichen Bestimmungen mit
') Das Berufsgeheimnis« des Arztes. Von D. S. Placzek, Nervenarzt in
Berlin. Leipzig, Verlag von Gg. Thieine. 1893.
2 ) Folgende Bestimmungen treten im deutschen Reich nach § 300 des Straf¬
gesetzbuches in Kraft, welchem wir die Motive nach Oppenhof’s Commentar
zum Strafgesetzbuch (in Klammern) beifügen.
* Strafgesetzbuch § 300.
Rechtsanwälte, Advocaten, Notare, Vertheidiger in Strafsachen, Aerztc, Wund¬
ärzte, Hebammen, Apotheker, sowie die Gehülfen dieser Personen werden, wenn
sie unbefugt Privatgeheimnisse offenbaren, die ihnen kraft ihres Amtes, Standes
oder Gewerbes anvertraut sind, mit Geldstrafe bis zu 1500 Mark oder mit Gefäng¬
nis« bis zu drei Monaten bestraft.
Die Verfolgung tritt nur auf Antrag ein.
(Anm.: Den aufgezählten Personen ist ein „Privatgeheimniss anvertraut“,
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Die Verschwiegenheit des Arztes und der Zwang zum Zeutrniss.
141
„Gehlstrafo bis zu 1500 Mark oder mit Gofängniss bis zu drei Mo¬
naten bestraft werden“, während nach dem österreiehisehen Strafgesetz
('ine solche „(Jobortretung das erste Mal mit Untersagung der Praxis
auf drei Monate, das zweite Mal auf ein Jahr, das dritte Mal für
immer bestraft“ wird, eine Fassung, welche aus äusseren und inneren
Gründen ohne Zweifel eine viel schärfere Bestrafung verhängt.
Sofort wird auch nach dem Inhalte der dies- und jenseitigen
Strafbestimmungen einleuchtend, dass die österreichische präciser die
Geheimhaltung fasst, indem sie die Entdeckung nur an jemand an¬
deren, als die amtlich anfragende Person bestraft wissen will.
Auch das deutsche Strafgesetzbuch unterscheidet die unbefugte
Offenbarung von „Privatgeheimnissen“, stellt aber die Entschei¬
dung der Offenbarung gegenüber dem Staate, der Behörde dem Arzte
anheim, der das Zeugniss verweigern wird, falls ihn sein pflicht-
massiges Erachten nicht zum Gegenthcil zwingt.
In praxi gestaltet sich die Stellung des Arztes dem genannten
Paragraphen gegenüber sehr verschieden, je nachdem es sich handelt
um Privatpersonen, Verwaltungsbehörden oder Gerichte.
Was zunächst die Stellung gegenüber Privat personell betrifft,
so ist die unbefugte Offenbarung eines Privatgeheimnisses
strafbar. Als solches ist jede dem Arzte als solchem gemachte Mit¬
theilung anzusehen, welche mit dem ausdrücklichen Auftrag, sie
geheim zu halten, geschieht. Diese juristische Begrenzung 1 ) des
sobald dasselbe ihnen aus Veranlassung ihrer Stellung und Thätigkeil und in Be¬
treff eines Gegenstandes, auf welchen sich diese Thätigkeit bezog, somit aus Ver¬
anlassung des dabei in sie gesetzten Vertrauens bekannt geworden ist. —
Eine strafbare Absicht [zu schaden oder Gewinn zu erzielen etc.] wird nicht er¬
fordert; auch der leichtsinnige Vertrauensbruch wird bestraft. - Der Um¬
stand, dass die Veröffentlichung zu wissenschaftlichen Zwecken [z. B. die
Darstellung eines Krankheitszustandes durch den behandelnden Arzt] erfolgte,
schliesst die Bestrafung nicht aus; kann der wissenschaftliche Zweck nicht ohne
Offenbarung des fremden Geheimnisses erreicht werden, so ist die Statthaftigkeit
der letzteren durch die Zustimmung des Betheiligten bedingt. — Antrags¬
berechtigt ist derjenige, welchem zur Zeit die Befugniss zusteht, über die Offen¬
barung des Geheimnisses Bestimmung zu treffen ; eventuell auch der Rechtsnach¬
folger der Partei. — Die Frage, inwiefern Jemand angehalten werden könne, über
die ihm als Geheimniss anvertrauten Thatsachen ein Zeugniss abzulegen, kann
ihre Lösung nicht aus § 300 finden, da dieser nur von einem „unbefugten“ Offen¬
baren spricht, ein vom Richter erzwungenes Zeugniss also nicht strafbar sein
kann.)
’) Vergl. Placzek a. a. 0. S. 4.
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142
I)r. Kühner,
Begriffes der Offenbarung wird die Stellung des Arztes vorkommenden
Falles vielfach sichern.
„Unbefugt“ ist hei selhsthestiinmungsfähigen und -berechtigten
Kranken die Mittheilung stets, wenn sic Privatpersonen gegenüber ge¬
schieht. Dass bezüglich solcher Mittheilungen der Arzt alltäglich
durch die verschiedensten Combinationen und Complicationen mit sich
und dem öffentlichen Wohle in Contlict kommen kann, hat Placzek
an der Hand einer reichen Casuistik erwiesen.
Die Entschliessung zur Verheirathung, die Ehe, die Alltagspraxis
wird jeden erfahrenen Arzt in dieser Hinsicht schon in Verlegenheit
gebracht haben. Hervorgehoben werden muss in dieser Beziehung,
dass als Privatpersonen auch die Angehörigen oder Eltern des Kran¬
ken zu betrachten sind. v. Zicmssen und Posselt haben in dieser
Beziehung die Aussage in einem Ehescheidungsproccss verweigert, in
welchem die luetische Erkrankung des Ehegatten behauptet wurde.
Personen, in deren patris potestas die Kranken stehen, sind zur Ent¬
gegennahme der ärztlichen Aussage berechtigt. Dies ist der Fall
bei minderjährigen Kindern und bei Dienstboten; in Bayern durch eine
besondere gesetzliche Bestimmung (Art. 66 des Bayr. Strafgesetzb.)
auch bei Fabrikarbeitern ). Zu der Aussage diesen Personen gegen¬
über ist der Arzt zwar berechtigt, nicht aber verpflichtet.
Die breiteste Grundlage für Offenbarung von Privatgeheimnissen
findet der Arzt gegenüber den Verwaltungsbehörden. Dass der
Amtsarzt der als Techniker beigegebenen Verwaltung Privatgeheim¬
nisse offenbaren kann und muss, die als unbefugt nicht erachtet
werden, da er ad hoc bestellt worden, erhellt. Auch der Privat¬
arzt ist für gewisse Fälle zu derartiger Offenbarung gesetzlich ver¬
pflichtet. Hierher gehört die Anzeigepflicht bei Infectionskrankheiten
(Regulativ vom 8. August 1835, sowie die Ergänzungsbestimmungen)
sowie von Impfschädigungen (Verf. des Reichskanzlers vom 5. Oet.
1888), ferner bei Geburten (§ 18 des Gesetzes vom 6. Februar 1875
über die Beurkundung des Personenstandes).
Auch im Uebrigcn wird der Arzt, berufen von der.Verwaltungs¬
behörde, oftmals in die Lage kommen, die vermöge seines Berufes
unbedingt erforderliche Mitwirkung an der Förderung des öffentlichen
*) Vergl. Grass 1, Die Verschwiegenheit und der Zwang zum Zeugniss und
sachverständigen Gutachten bei den die Heilkunde ausübenden IVrsonen in Kried-
rcieh's Blätter f. geriohtl. Medicin, 18SX).
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Die Verschwiegenheit des Arztes und der Zwang zum Zeugniss.
143
Wohles, sowie zur Aufklärung* zweifelhafter Thatfragen höher zu
stellen, als die gebotene unverbrüchliche Wahrung des anvertrauten
Geheimnisses. Die Vorsicht kann es hierbei fordern, dass er sieh
zuvor von der Wahrung des Berufsgeheimnisses durch die anvertrauende
Behörde entbinden lässt.
Dem Richter gegenüber hat der Arzt zu befinden, ob ('s sieh
um eine Civilprocesssaehe oder eine strafrechtliche Verfolgung handelt.
Im Civilproccss sind Aerzte zur Aussage vor Gericht nicht
gezwungen. Dieses Recht der ZeugnissVerweigerung stützt sich auf
folgende Bestimmung.
Civilprocessordnuitg. § 348. Zur Verweigerung des Zeugnisses sind
berechtigt .... Personen l ), welchen kraft ihres Amtes, Standes oder Gewerbes
Thatsachcn anvertraut sind, deren Geheimhaltung durch die Natur derselben oder
durch gesetzliche Vorschrift geboten ist, in Betreff der Thatsachen, auf welche die
Verpflichtung zur Verschwiegenheit sich bezieht. u
Derselbe Paragraph weist auch den Richter ausdrück¬
lich an:
„die Vernehmung, auch wenn das Zeugniss nicht verweigert wird, auf That¬
sachen nicht zu richten, in Ansehung welcher erhellt, dass ohne Verletzung der
Verpflichtung zur Verschwiegenheit ein Zeugniss nicht abgelegt werden kann.“
Ibid. § 351. Der Zeuge, welcher das Zeugniss verweigert, hat vor dem zu
seiner Vernehmung bestimmten Termine schriftlich oder zum Protokoll des Ge¬
richtsschreibers oder in diesem Termine die Thatsachen, auf welche er die Wei¬
gerung gründet, anzugeben und glaubhaft zu machen 2 ) ....
Hat der Zeuge seine Weigerung schriftlich oder zum Protokoll des Gerichts-
schreibers erklärt, so ist er nicht verpflichtet, in dem zu seiner Vernehmung be¬
stimmten Termine zu erscheinen.
Strafprocessordn. § 76. Dieselben Gründe, welche einen Zeugen berechti¬
gen, das Zeugniss zu verweigern, berechtigen einen Sachverständigen zur Verwei¬
gerung des Gutachtens.
Ibid. § 52. Zur Verweigerung des Zeugnisses sind . . . berechtigt . . .
Aerzte in Ansehung dessen, was ihnen bei Ausübung ihres Berufes anvertraut ist.
Dagegen bestimmt derselbe Paragraph: Aerzte.
„dürfen das Zeugniss nicht verweigern, wenn sie von der Verpflichtung der
Verschwiegenheit entbunden sind. 44
Von besonderer Wichtigkeit ist noch:
*) Zu diesen Personen gehören . . . Aerzte, Wundärzte . . . sowie Ge¬
holfen dieser Personen.
2 ) Die Thatsache kann auch glaubhaft gemacht werden gemäss § 266: Wer
eine thatsächliche Behauptung glaubhaft zu machen hat, kann . . . zur eidlichen
Versicherung der Wahrheit der Behauptung zugclasscn werden..
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144
l)r. Kühner,
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$ 370. Civilprocessordn. Insoweit znni Beweise vergangener Thatsachen
oder Zustände, zu deren Wahrnehmung eine hesondere .Sachkunde erforderlich
war, sachkundige Personen zu vernehmen sind, kommen die Vorschriften über den
Zeugenbeweis zur Anwendung.
Dieser Paragraph eiablirt nämlich den Begriff des
„sachverständigen Zeugen“, und es ist vielfach vorgekom-
men, dass Aerzte über Thatsachen, welche sie naturgemäss
als wahrt' Sachverständige hätten begutachten sollen, vom
Richter als Zeugen vernommen wurden, nun aber auch
wiederum nicht als reine Zeugen befragt, sondern gleich¬
zeitig zur Beurtheilung der Sachlage gezwungen wurden,
was in keinem Falle Aufgabe des gerichtlichen Zeugen ist.
Diese offenbar gezwungene Interpretation des § 3711
hat denn auch dem 17. Deutschen Aerztetage (1889) Veran¬
lassung geboten, eine Richtschnur für die Aerzte bei derartigen
Conflieten aufzustellen, Ausführungen, welche hier wiederzugeben
die uns gesteckten (Benzen nicht gestatten ').
Im Stralprocess ist es lediglich der Entscheidung des Arztes
anheimgeslcllt, ob er aussagen will oder nicht, wobei die oben erör¬
terten Grundsätze hetr. das öffentliche Wohl und die Rücksicht auf
die Wahrung des Berufsgeheimnisses die Wahl bestimmen werden. In
Betracht kommt hier § 52 der Strafprocessordnunir.
„Zur Verweigerung »los Zeugnisses sind ferner berechtigt: 3. Rechts¬
anwälte und Aerzte in Anschauung dessen, was ihnen zur Ausübung ihres Berufes
anvertraut worden ist.“
Nicht zu unterlassen ist ferner, dass bei der vorstehend erörter¬
ten Frage noch § 139 des Strafgesetzbuches in Erwägung kommt.
§ 139. „Wer von dem Vorhaben eines llocliverralhs, l.andcsverraths, Münz-
verbrechens, Mordes, Raubes, Menschenraubes oder eines gemeingefährlichen Ver¬
brechens zu einer Zeit, in welcher die Verhütung des Verbrechens möglich ist,
glaubhafte Kcmitniss erhält und es unterlässt, hiervon der Behörde oder der durch
das Verbrechen bedrohten Person zur rechten Zeit Anzeige zu machen, ist, wenn
das Verbrechen oder ein strafbarer Versuch desselben begangen worden ist, mit
Gcfängniss zu bestrafen.“
') Wir verweisen zu diesem Zweck auf L>r. (i. Gadow, Rechts-Vademecum
für den praktischen Arzt. Zusammenstellung aller den nichtbeamteten Arzt an¬
gehenden Gesetze und Verordnungen Preusscns mit Berücksichtigung der Reielis-
gesetzgebung. Verlag von Preuss u. .Jünger. Breslau INI 12.
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II. Oeffentliehes Sanitätsweson.
1 .
lieber die Kohlenoxydvergiftung vom medicinal-
und sanitätspolizeiliclien Standpunkte.
Von
Dr. mcd. Robert Stoermer, Arzt in Berlin.
E i n 1 eit uii g.
Obwohl nach der Schilderung von Sieben haar und Lehmann 1 )
bereits die Amte zur Zeit des Claudius Galenits (131—201 p.
Chr. n.) die Gefährlichkeit des Kohlendunstes kannten, waren sie über
die giftigen Bestandtheile desselben und deren Wirkungsweise doch
völlig im Unklaren. Bis in unser Jahrhundert hinein hat ns gedauert,
ehe man an die Erforschung des Wesens der Kohlendunstvergiftung
auf experimentellem Wege ging, und noch am Anfänge der sechziger
Jahre hatte man auf viele, diese Vergiftung betreffende'. Fragen nur
ein „non liquet“ als Antwort.
Wie schlecht es noch 1864 um die Deutung einzelner Symptome
der CO-Vergiftung bestellt war, lehrt zur Evidenz der berühmte Glo-
gauer Kohlendampfprocess a ), bei dessen Begutachtung durch die be¬
deutendsten Gerichtsärzte der damaligen Zeit mannigfache Irrthiimer
unterliefen. Seit jener Zeit indessen ist durch zahlreiche exacte Ex-
*) S iebenhaar und Lehmann, Die Kohlendunstvergiftnng, ihre Krkonnt-
niss, Verhütung und Behandlung. Dresden 1858.
2 ) Maschka, Der Glogauer Kohlendampfprocess. Prager Vierteljahrsselirilt
für die praktische Heilkunde. Bd. 3. S. 115.
Vierteljahrsschr. f. ger. Med. Dritte Folge. IX. 1. KJ
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146
Dr. Sioe rmc i',
ponnionte und genau«' Beobachtungen bei den betreffenden Sectionen
die CO-Vergiftung in all ihren Einzelheiten so eingehend studirt wor¬
den, dass die Behauptung, sie gehöre nunmehr zu den bestbekannten
Vergiftungen überhaupt, wohl nicht übertrieben sein dürfte. Diesen
Fortschritt verdankt die Wissenschaft namentlich den sorgfältigen
Forschungen von Siebenhaar und Lehmann, Lothar Meyer, Po-
krowsky, Klebs, Friedberg, Eulenberg, Jäderholm, Welzel,
v. Fodor u. A. m., vor Allem aber Hoppe-Sevier.
Die CO-haltigen Gasgemische.
Wenn man in praxi schlechtweg von einer Vergiftung durch Kohlenoxyd
spricht, so versteht man darunter am wenigsten die Vergiftung durch reines
Kohlenoxydgas; denn eine solche mit letalem Ansgang ist, soviel ich weiss, hei
Menschen bisher überhaupt noch nie beobachtet worden; vielmehr sind es immer
nur CO-haltige Gasgemische, welche die betreffende Vergiftung veranlassen,
nämlich:
1. der Kohlendunst,
2. das Leuchtgas,
das Wassergas und seine Abarten,
4. gewisse Grubengase und Minengase.
So verschieden auch im Einzelnen diese Gasgemische zusammengesetzt sind,
ist ihnen doch eins gemeinsam: der mehr oder minder beträchtliche Gehalt an
CO und CÜ 2 .
Von diesen beiden Gasen ist das ungleich gefährlichere und eigentlich tod¬
bringende das CO: es erhellt dies evident aus den Versuchen von Biefel und
Poleck 1 ), die experimentell lesisiellten, einen wie grossen Antheil an der Ver¬
giftung jedes einzelne der in den genannten Gasgemengen enthaltenen Gase habe.
Dir CO, ist nur insofern von Bedeutung, als sie unterstützend wirkt; dann er¬
eignet es sieli bisweilen, dass sowohl das Krankheitsbild der ursprünglichen CO-
Vergiflung wie auch die Leirhenersrheinungen in so hohem Grade getrübt werden,
dass die richtige Deutung derartiger Fälle eine der schwereren Aufgaben in der
gerichtsärztlichen Praxis werden kann.
Betrachtung (1er Eigenschaften des CO im Allgemeinen.
Das Kohlenoxydgas, auch Carbonyl genannt, CO, ist in reinem Zustande ein
völlig tarh- und geruchloses Gas von 0,%9 spec. Gewicht, sehr schwer conden-
sirbar, mit nicht leuchtender, blassblauer Flamme zu CO., verbrennbar, in Wasser
! ) Biofel und Pol eck, Feber Kolilendunst- und Leuchtgasvergiftung.
Separatabdruek aus der Zeitschrift für Biologie. XYL 3,
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Leber d. Kohhmoxydvergift. v. medirinal- u. >aniiiils|iolizi^il. Standpunkte. 147
niu* weni^r löslich; 100 Vol. Wasser lösen nach Dragon dorff’s r ) Angaben hoi
0° 3,287 Vol. CO. Im Laboratorium, zum Zwecke des Experimentes, stellt man
es nach Pinner 2 ) gewöhnlich durch Erwärmen von Oxalsäure oder gelbem Blut-
laugcnsalz mit eoneentrirter Schwefelsäure dar; auch entsteht es gemäss der For¬
mel CO, -f- C = 2 CO, wenn C0 2 über glühende Kohlen geleitet wird.
Von grösster praktischer Wichtigkeit ist es, zu wissen, dass es sich überall
da bildet, wo C-ha.lt ige Körper bei behindertem Luftzutritt, also nur unvollkommen
verbrennen (glimmen, schwelen); denn das Product einer vollkommenen Verbren¬
nung ist CO,.
Besonders hervorgehoben sei, dass also nicht nur die eigentlichen Brenn¬
materialien (Kohle, Holz, Coaks, Torf etc.) CO liefern, sondern dass alle C-hal-
tigen Körper (praktisch kommen z. B. bei Stubenbränden 3 ) namentlich Federn in
Betten, Kleidungsstücke, Papier, Wolle in Betracht) bei unvollkommener Verbren¬
nung CO produeiren. Da das CO bei starker Hitze (in Rothgluth) energische Re-
ductionskraft entfaltet, so wird es in der Technik als geschätztes, weil wohlfeiles,
Mittel in ausgedehntem Maasse zur Gewinnung der regulinischen Metalle ange¬
wendet; bestimmte Industriezweige liefern deshalb, wie später noch genauer er¬
örtert werden soll, ein beträchtliches Contingent von CO-Vergifteten.
}fach dieser ganz allgemeinen Schilderung der Eigenschaften des reinen CO
wollen wir zur
Betrachtung der CO-haltigen Gasgemische im Einzelnen
übergehen.
I. Dor Kohlcnduiiät.
Analyse des Kohlend uns tes.
Wenn hinsichtlich der Analyse des Kohlendunstes Eulenherg 4 ) einerseits
und Biefel und Poleck 5 ) andererseits zu so auffallend verschiedenen Resultaten
gelangen, so liegt der Grund dafür in der verschiedenen Definition dos Begriffs
„Kohlendunsf 4 . Während die letzteren nach S. 5 der citirten Abhandlung unter
Kohlendun^t „die durch unvollkommene Verbrennung von Kohlen veränderte Zu-
*) G. DragendorlT, Die gerichtlich-chemische Ermittlung von Giften etc.
St. Petersburg 1868. 381 S. s<p(.
2 ) A. Pinner, Repetitorium der anorganischen Chemie. 5. Auflage. 18<S3.
S. 166.
3 ) Solcher Fall z. B. mitgetheilt von Friedberg, Gerichtsärztliche Gut¬
achten. 1. Reihe. Braunschweig 1875. S. 287 sqq.; desgleichen von Schauen¬
burg, S. 40 sq(|. im XVI. Bd. dieser Vierteljahrsschrift. N. F. 1872.
4 ) H. Eulenherg, Die Lehre von den schädlichen und giftigen Gasen.
Braunschweig 1865. S. 106 ff.
3 j Biefel und Poleck, Leber Kohlendunst- und Leuchlgasvergiftung.
Separaiabdrurk aus der Zeitschrift für Biologie. XVI, 3.
1U *
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148
Di*. Sioermer,
sammensetzung der atmosphärischen Luft eines abgeschlossenen Raumes“ ver¬
stehen, definirt offenbar Eulenberg, wie sich aus seiner Versuchsanordnung er¬
gebt, den Kohlendunst als die Gesammtheit nur der Gase, die er über einem
offenen Becken, worin Holzkohlen bei behindertem Luftzutritt verbrannten, wäh¬
rend der Verbrennung auffangen konnte. Eulenberg untersuchte also den
Kohlendunst in unmittelbarer Nähe seiner Quelle, Biefel und Poleck analysirten
indessen die durch Beimengung von Kohlendunst veränderte Luft in einem abge¬
schlossenen Raume, ln praxi ist die Kenntniss beider Analysen von grossem
Werthe: denn während für die Beurtheilung der meisten zufälligen CO-Vergif-
tungen die Biefe'l-Poleck’sche Analyse in Betracht kommen dürfte, wird für
die richtige Auffassung vieler gewaltsamer CO-Vergiftungen, bei denen wohl
immer die Einathmung eines möglichst concentrirten Kohlendunstes erstrebt wer¬
den wird, die Eulenberg’sche Analyse zu Grunde gelegt werden müssen; z. B.
setzte sich in dem von Casper-Liman l ) erwähnten Falle Ullrich die Mutter
mit ihrem Kinde ganz dicht an den Ofen, um möglichst schnell und sicher den
Tod zu finden; auch in dem von Siebenhaar und Lehmann 2 ) berichteten
Falle Amouroux fand das Kohlenbecken dicht neben dem Bette der Eheleute
seinen Platz.
Holzkohlen dunst -Analyse
nach Eulenberg nach Biefel und Poleck
Es enthielten 100 Vol.-Theile des Gasgemisches bei 8 Analysen
co,
CO
CO a
CO
19,01
2,59
7,09
0,18
97,20
1,84
6.98
0,44
11,34
0,52
7,41
0,62
92,00
1,40
9,65
0,56
14,10
5,40
5,29
0,19
27,00
9,84
5,05
0,30
99,90
1,20
5’16
0,16
22,94
4,08
7,46
0,26
also im Mittel
24,68
2,54
6,75
0,34
Dass in dem von Eulenberg untersuchten Kohlendunst kein Sauerstoff
enthalten sein konnte, ist bei seiner Versuchsanordnung ohne Weiteres klar; in
den Versuchen von Biefel und Poleck war seine Menge gegen die Norm erheb¬
lich vermindert; der Stickstoffgehalt war nahezu unverändert.
1 ) Casper-Liman, Handbuch der gerichtlichen Medicin. VIII. Auflage.
11. Bd. S. 614.
2 ) Sieben haar und Lehmann, Die Kohlendunstvergiftung etc. Dresden
1858. S. 136.
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Leber d. Kohlenoxydvergift. v. medizinal- 11 . sanitäispolizeil. Standpunkte. 14!)
Zufällige Beimischungen zum Kohlendunst.
Ausser dem CO und der C0 2 enthält nach Eulenberg’s l ) Untersuchungen
der Kohlendunst häufig noch allerhand zufällige und ganz nach dem angewen¬
deten Material variirende Beimischungen anderer schädlicher Gase, z. B. Schwefel¬
wasserstoff, schweflige Säure, Ammoniak, Arsen, Cyangas etc.; von der Würdi¬
gung dieser obendrein inconstanten Bestandtheile des Kohlendunstes sehen wir in
unserer Betrachtung völlig ab.
Verhalten der einzelnen Brennmaterialien in Bezug auf die
Bildung von Kohlendunst.
Das CO-Gas entwickelt sich bei der Verwendung* der verschiedenartigsten
Brennmaterialien; doch variirt je nach der Beschaffenheit derselben der CO-Gehalt
im Kohlendunste ganz beträchtlich; hierauf bezügliche Versuche Eulenberg’s 2 )
ergaben, dass Holz-, Braun-, Steinkohlen, Torfcoaks und gewöhnlicher Coaks
einen an CO ganz verschieden gehaltreichen Dampf lieferten. Für den gefähr¬
lichsten Kohlendampf hält Eulenberg denjenigen, der sich aus dem gewöhn¬
lichen Coaks, zumal bei bedecktem Feuer entwickelt.
Besondere Gefahren bei Coaksheizung.
Dieser letzte Zusatz ist von grosser Bedeutung; denn neben dem Brennmate¬
rial ist der mehr oder weniger beschränkte Zutritt von atmosphärischer Luft von
dem allergrössten Einflüsse auf die Menge des sich bei der Verbrennung ent¬
wickelnden CO; je vollständiger die Verbrennung, desto weniger CO. desto mehr
C0 2 wird dabei gebildet. Vielleicht hat demnach die Gefährlichkeit des Coaks als
Brennmaterial darin ihren Grund, dass dieser, um bei seinem hohen Kohlenstoff¬
gehalt vollständig zu verbrennen, besonders reichliehen Zutritts der Luft, also
sehr gut „ziehender“ Oefen bedarf. Nun ist aber der Coaks, weil er einerseits an
den meisten Orten billiger als andere HeizsiolVe, andererseits im Wanneeffect er¬
giebiger wie die meisten gewöhnlichen Brennstoffe ist (wie aus Ruhner’s 3 ) Zu¬
sammenstellung über die Wärmeeffecle der einzelnen Brennstoffe hervorgeh tu das
gerade von den sogenannten „kleinen Leuten“ bevorzugte Brennmaterial; es er¬
klärt sich durch Berücksichtigung aller dieser Verhältnisse wohl ganz unge¬
zwungen die Häufigkeit der öconomisehen CO-Vergifiung in den ärmeren Volks¬
schichten; Sorglosigkeit und Unkenntniss, die in diesen Kreisen herrsehen, mögen
freilich das ihrige dazu beitragen. Zudem entwickelt der Coaks hei der Verbren¬
nung auch einen weniger qualmenden Rauch als andere Heizstoffe: ein Austritt
von Coaksrauch in’s Zimmer wird also weniger leicht wahrgenommen werden
können.
Mögliche Modi fi cation en des Kohlen dun st es; bisweilen ist er
geruchlos.
Da die beiden Hauptoomponenteii des Kohlendunstes, CO und C0 2 , völlig
färb- und geruchlos sind, so hat reiner Kohlendunst gleichfalls diese Eigenschaft:
er entzieht sich also der Wahrnehmbarkeit durch unsere Sinnesorgane; mit Recht
*) und 2) II. Eulonberg, Handbuch der Gowerbchygiene. Berlin 1876.
S. 345.
*) M. Ru Im er, Lehrbuch der Hygiene. IV. Auflage. S. 139.
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150
Dr. St norme i\
nennen ihn deshalb Kühner 1 ) mnl v. Fodor 2 ) oin heinitürkisch wirkendes Gift.
Zum Glück indessen verrat!) sich doch oft •remis: seine Anwesenheit durch gleich¬
zeitige Beimischung von Hauch und sogenannten empyreumatischen Stoffen, welche
brennzlioh, kreosotähnlich riechen, Augenbrennen und Hustenreiz hervorrufen und
dadurch schon meist die gefährdeten Insassen CO-erfüllter Käume zum Verlassen
derselben resp. zum Lüften zwingen; übrigens bildet sich nach Maschka 3 )
ein völlig geruchloser, nur aus CO und C0 2 bestehender Kohlendunst erst dann,
wenn, nachdem die Kohlen vollständig durchgeglüht sind, der Luftzutritt ge¬
hindert wird.
Fs ist dies eine für den Gerichtsarzt äusserst belangreiche Thatsaohe; denn
es kommt vor, dass bei Gerichtsverhandlungen durch Zeugenaussagen sicher con-
statirt wird, dass mail zwar Qualm im Zimmer bemerkt hat, aber sofort durch
OefTnen der Fenster demselben Abzug verschaffte. Dennoch entfaltete der Kohlen¬
dunst nach wie vor seine Wirkung, nur mit dem Unterschiede, dass er im weiteren
Verlaufe des Heizens geruchlos geworden war.
Spec i e 11 e Betracht ung derjen igen V erhältn isse von offen11 i ehern
Interesse, bei denen CO sich bildet.
Der Kohlendunst in seinen verschiedenen Formen verschuldet die weitaus
grösste Zahl der CO-Vergiftungen.
1. Ofenklappen.
Zur Entstehung des Kohlendunstes giebt bei uns am häufigsten das vor¬
zeitige Schlüssen der sogenannten Ofenklappe, einer im Abzugsrohr angebrachten
Verschlussvorrichtung, die Veranlassung, indem die Verbrennungsgase, welche bei
nicht geschlossener Klappe nach physikalischen Gesetzen durch den Schornstein
entweichen würden, bei geschlossener Klappe sich einen anderen Ausweg zu
suchen gezwungen sind ; gar zu leicht finden sie ihn durch kleine Risse der Wand,
durch die ITigen oder die nicht genügend dicht schliessende Thür. Wegen der
Häufigkeit der durch zu frühes Scliliessen der Ofenklappe hervorgerufeuenKohlen¬
dunstvergiftungen erliess das Berliner Polizeipräsidium am 29. November 1877
eine Verordnung (für Berlin), in welcher die Anbringung von Ofenklappen bei der
Neuanlage von OelVn in Wohn- und Schlafriuimeii ganz verboten und die Ent¬
fernung vorhandener beim Umsetzen der betreffenden Oefen gefordert wurde.
Wie grossen Nutzen diese Verordnung gestiftet hat, ergiebt ein Blick auf
die Tabelle No. 9; daraus geht hervor, dass seit 1878 in 'Berlin die Zahl
der CO-Vergiftungen doch successive wesentlich abgenommen hat. Von Neuem
wurde das Anbringen von Verschlussvorrichtungen in den Abzugskanälen der
Feuergase durch den § 17 der Bauordnung für Berlin verboten.
•Weniger durchgreifende Polizeiverordnungen, die die Verhütung der CO-Ver¬
giftungen betreffen, datiren bereits vom 28. October 1846 und 4. Sepember 1847.
! ) M. llubner, cf. vorige Seite. S. 143.
2 ) J. v. Fodor, Das Kohlenoxyd in seinen Beziehungen zur Gesundheit.
Deutsche Vierteljahrsschrift für öffentliche Gesundheitspflege. XII. Band. 1880.
S. 377 Sqq.
s ) Cf. S. 145, Anmerkung 2. S. 123.
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Leber d. Kohlenoxydvergift. v r . meilieinal- u. sanitiitspolizeil. Standpunkte. 151
Die diesbezüglichen, in anderen Staaten erlassenen sanitätspolizeilichen Ver¬
ordnungen referiren eingehend Siebenhaar und Lehmann 1 ) und namentlich
Becker 2 ).
2. Verstopfung des Rauchrohres durch Russ etc.
Auch jeder andere, irgendwie bewirkte Verschluss des Abzugsrohres hat den¬
selben Effect wie der Verschluss durch die Klappe. Bisweilen ist das Rohr durch
grosse Quantitäten Russ verstopft, oder man vergass beim erstmaligen Heizen im
Herbst einen Lappen oder dergl., womit man während des Sommers das Zugrohr
verstopft hatte, zu entfernen.
3. Rücktritt der Heizgase in’s Zimmer bei starkem Wind.
Endlich kommt es bisweilen vor, dass auch bei offener Klappe CO in Wohn-
räume austriit; das passirt namentlich bei stürmischem Wetter, wenn durch den
Wind die schon in den Schornstein ausgetretenen Verbrennungsgase in den Ofen
zurückgetrieben und in’s Zimmer gedrückt werden.
4. D i e B e z i e h u n g d e r e i s e r n e n 0 e f e n z u r K o li 1 e n o \ y d h i 1 d u n g.
Die wichtige Krage, ob wohl durch die rothglühendo Wand gusseiserner
Gelen Kohlenoxyd austreten könne, beantwortete in neuerer Zeit v. Fodor 3 ) auf
Grund eingehender Erwägung alles pro et contra Publicirten und auf Grund
eigener Versuche dahin, dass unter gewöhnlichen Verhältnissen das CO durch die
Wandung eiserner Oefen nicht dilTundire. Indessen giebt er die Möglichkeit der
CO-Entstehung unter besonderen Verhältnissen zu, nämlich dann, wenn viel orga¬
nische Staubpartikelchen den Wandungen anhaften und mit zunehmender Er¬
hitzung dieser allmälig verkohlen. Uebrigens weist Hühner 4 ) ausserdem darauf
hin, dass schon aus physikalischen Gründen ein Durchtritt von CO durch die
Wandung der Oefen wegen fehlenden Druckes nicht wohl möglich sei.
5. 0 f f e n e K o h I e n b e c k e n.
Recht verderblich wird bei uns auch ein leider noch vielfach gebrauchtes
(Hilfsmittel zum Austrocknen von Neubauten, das sogenannte \usheizen u , wel¬
ches darin besieht, dass offene Becken, die meist mit Conks beschickt sind, ange-
ziindet im Neubau aufgestellt werden. Dabei entwickelt sich in Folge des iiusserst
mangelhaften Luftzutritts zu den lieferen Schichten eine gewaltige Menge (*0: die
in der Nähe dieser Wärmequelle ihre Mittagsruhe haltenden Arbeiter werden recht
häufig Opfer desselben. Wie ich bei Ruinier 5 6 ) lese, dienen auch in Italien,
Spanien und im südlichen Frankreich ähnliche offene Kohlenbecken zur Zimmer¬
heizung; es wäre interessant, die Häufigkeit der CO- Vergiftung in diesen Ländern
zu ermitteln. 1 in Orient, wo nach Kadner\s r> ) Angabe gleichfalls offene Becken,
1 ) Siebenhaar und Lehmann, I. c. S. 122 sqq.
2 ) E. Becker, Die Kohlenoxydvergiftung und die zu deren Verhütung ge¬
eigneten sanitätspolizeilichen Massregeln. Diese Vierteljahrsschrift. BStfh Dritte
Folge. V. Bd. S. sqq.
3 ) J. v. Fodor, I. c. S. o7B.
4 ) M. Rubner, I. c. S. 151.
5 ) M. Rubner, 1. c. S. 152.
6 ) Kadner, citirt nach S i ehe n h a a r und Lehmann, Die kohlemlun<i-
vergiflung. Dresden 1S5<S. S. 112.
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[>l\ St nenne r.
152
sogenannte Manuals, zur Erwärmung 1 der Zimmer allgemein in Gebrauch sind,
werden in der That die ersten Symptome der CO-Vergiftung überaus häufig beob¬
achtet. Auch im Haushalt bedient man sich gelegent lich der offenen Kohlenbecken
zum Erhitzen der Plätibolzcn; auf die kleinen Mengen CO, die von den Plätte¬
rinnen (und Köchinnen) bei ihrer Beschäftigung wiederholt eingeathmet werden,
führt v. Fodor 1 ) die bei diesen häufig vorkommende, lang dauernde Anämie
zurück.
6. Carbon n atro n öfe n.
Von den ganz ollenen Becken nicht viel verschieden sind die Carbonnatron-
öfen, Fabrikate der Firma Alwin Xieske- Dresden. R. Koch 2 ) stellte bei einer
sorgfältigen Prüfung dieser Oefen fest, dass sich in ihnen viel CO entwickle und
dass der nur lose aufsitzende Deckel dieses Gas leicht entweichen lasse. Auch
Pfeiffer 3 ) und Petri 4 ) bewiesen aufs Evidenteste die grosse Gefährlichkeit
dieser Oefen. In Folge dessen wurde vor der Verwendung derselben durch Cir¬
cularerlass des Ministers vom 2. Ortober 1888 gewarnt.
7. Füll Öfen.
Von anderen Heizanlagen, die bisweilen zu CO-Vergiftung führen sollen, er¬
wähnt Meidinger 5 ) noch die sogenannten Füllöfen; ihre Gefahr soll darin be¬
stellen, dass in Folge der besonderen Conslrurtion dieser Oefen die Verbrennung
nur langsam vor sich geht, die Heizgase also auch nur langsam und wenig ener¬
gisch in den Schornstein abziehen können und bei besonderem Missverhältnis
zwischen der Kamin- und Stubentemperatur sogar anstatt von dem Schornstein
von der wärmeren Stubenluft angesogen werden. Doch scheint uns die von dieser
Art Oefen drohende Gefahr nieht allzu gross: denn einerseits wird nach Rubner 6 )
in ihnen der Brennstoff vollständig zu C0 2 verbrannt, andererseits beweisen die
im Verhältnis zu der Verbreitung der Fiillöfon nur überaus selten durch sie ver-
anlasslen \ergifl ungen ihre relative l ngel'iihrlichkeil. Ob auch von Luftheizungs¬
anlagen aus CO in die Atmosphäre der Wohnungen gelangen kann, ist eine heute
noch nicht mit Sicherheit entschiedene Frage.
8. Mög 1 ichkeit eincr C0-\ ergiftnng im ungeheizten Raume.
Eine für den ersten Moment etwas rätliselhafte Erscheinung, übrigens vom
höchsten gerichtsärztlichen Interesse, ist die Möglichkeit einer CO-Vergiftung in
ungeheizten und überhaupt nicht heizbaren Räumen. In solchen Fällen, wie sie
z. B. Casper-Lima n 1 ) und Friedherg s ) miuheilen, handelt es sich stets um
das Eindringen von CO aus Xachbarräumen. Dabei kann es sich ereignen, dass
*) J. v. Fodor, 1. c. S. 388.
2 ) liefernd in dieser Vieneijahrsschrift. X. F. 51. Bd. 1885b S. 238.
3 ) und 4 ) Bei Becker, in dieser Vierteljahrsschrift. III. Folge. Berlin 18513.
S. 119.
* 5 ) cf. Jaeobsen’s Industrieblätter von 1882. S. 84 (Koblenoxydvergiftung
einer grossen Anzahl von Stubenvögeln durch einen Füllofen).
c ) M. Rubner, 1. c. S. 152.
7 ) Casper-L irna u , 1. c. S. ()07.
9 ) H. Friedberg, Die Vergiftung durch Kohlendunst. Berlin 18GG. S. 3
und 4.
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Ueber d. Kohlenoxydvergift. v. medicinal- u. sanitälspolizeil. Standpunkte. 158
das Gas in dem Räume selbst, wo es entstand, keinen Schaden anrichtet, vielmehr
in den benachbarten Raum oder auch in eine höhere oder tiefere Etage austriit,
ja sogar mit Ueberspringen einzelner Raume erst in einem entfernteren einen Aus¬
weg findet.
9. Verborgene Balken brande.
Am lehrreichsten in dieser Beziehung linde ich den von Tardieu beob¬
achteten, von Siebenhaar und Lehmann 1 ) mittet heilten Fall, in welchem bei
einem Dielenbalkenbrand das CO, dem Verlaufe dieses Balkens folgend, unter dem
Fussboden zweier Zimmer, ohne Schaden anzurichten, seinen Weg nahm und erst
im dritten Raume die Vergiftung zweier Menschen bewirkte. Auch Berthold 2 )
berichtet einen Fall, wo Kohlenoxydgas in Folge eines verborgenen Balkenbrandes
Tage lang in bewohnten Räumen seine deletäre Wirkung entfaltete, ohne dass
auch nur im geringsten die Vermuthung dieser Vergiftung bestand.
10. C 0 -E n 1 s t eh u n g be i Feuer sb r ii n s t e n.
Sowie bei diesen verborgenen Bränden entwickelt sich reichlich CO auch bei
jedem offenen Brande: ein hoher Procentsatz der bei Feuersbrünsten Verun¬
glückenden findet seinen Tod durch Vergiftung im kohlenoxydreichen Qualm.
Diese bereits seit Mitte der sechziger Jahre (als man allgemein die Spectralanalvse
zur Untersuchung des Blutes zu verwenden begann) bekannte Thalsache hat
neuerdings wieder Zillner 3 ) durch zahlreiche Untersuchungen des Blutes der
beim Ringtheaterbrande in Wien Verunglückten im vollsten Umfange bestätigen
können.
11. Blakende Lampen.
Der Vollständigkeit wegen sei endlich noch erwähnt, dass nach Lesser 4 )
auch durch blakende Lampen schon CO-Vergiftungen zu Stande gekommen sind.
12. CO-Vergiftungen in verschiedenen Gewerben.
Ausser den CO-Vergiftungen im häuslichen Betriebe ereignen sich solche oft
auch in den verschiedenen Industriezweigen. In Folge der Fähigkeit des CO, Me¬
talloxyde in der Rothgluth zu reduciren, bedient man sich desselben in der Me¬
tallindustrie zur Gewinnung der Reinmetalle in ausgiebiger Weise.
a) Hüttenwerke.
Hüttenwerke, Schmelzereien, Giessereien etc. sind es deshalb, die ein nicht
unbeträchtliches Contingent an CO-Vergifteten stellen. Als Beleg hierfür führe ich
die den Sanitätsberichten des oberschlesischen Knappschaftsvereins von 18(37 bis
1882 entnommenen Daten über die Häufigkeit der Erkrankungen durch
IIüttendämpfe an (leider sind darin auch die Vergiftungen durch die Dämpfe
von Blei, schwelliger Säure u. a. inbegriffen). Erkranken durch Hüttendämpfe
kamen vor:
! ) Sieben haar und Lehmann, I. c. S. 18 u. 19.
a ) Berthold, Zeitschrift für Staatsarzneikunde. 1830. X. S. 94; eitirt
nach v. Hofmann, Lehrbuch der gerichtl. Medicin. VI. Aull. S. (387.
3 ) E. Zillner, Beitrag zur Lehre von der Verbrennung; in dieser Viertel¬
jahrsschrift 1882. XXXVII. Bd. S. 242.
4 ) Lesser, Atlas der gerichtlichen Medicin. S. 141.
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154
Dr. Stoermor,
18(17 1868 1869 1870 1871 1872 1873 1874 1875 1876
23 57 49 78 56 28 46 66 99 108
1878 1881 1882
198 225 306
(Angaben für 1877, 1879 und 1880 waren nicht zu ermitteln; die scheinbar grosse
Zunahme erklärt sich durch die stetig zunehmende Mitgliederzahl des betreffenden
Vereins.) Am meisten betroffen waren, wie sich ebenfalls aus den genannten, sehr
instruciiven »Sanitätsberichten ergiebt, die eigentlichen Arbeiter (Schmelzer, Auf¬
träger, Köster, Hüttenburschen und Feuerleute).
Ferner müssen hier die beim Hochofenbetrieb entstehenden sogenannten
„Gichtgase 44 angeführt werden, d. h. Gasgemische, in denen neben zahlreichen
anderen Gasarten namentlich soviel CO enthalten ist, dass die durch sie veran-
lassten Erkrankungen gewiss zum allergrössten Theile auf Kcchnung des CO ge¬
setzt werden müssen. I m die Häufigkeit dieser Cngliieksfälle herabzusetzen, hilft
man sich jetzt durch ein ebenso einfaches wie praktisches Verfahren: man leitet
die „Gichtgase“ unter die Feuerung, macht sie also durch Verbrennen unschäd¬
lich und gleichzeitig durch Verwerthung ihrer hohen Ileizkraft nutzbar; 1 g CO
liefert nach Rubner 1 ) 2,481 Calorien.
b) Kohlenmeiler.
Auch bei der Bereitung der Holzkohlen wird viel CO gebildet ; dass dennoch
in diesem Zweige der Industrie nur sehr wenig CO-Vergiftungen beobachtet wer¬
den, hat darin seinen Grund, dass, da die zur Gewinnung der Holzkohle dienenden
Kohlenmeiler im Freien angelegt sind, die gefährlichen Gase gleich genügend
durch die atmosphärische Luft verdünnt, also unschädlich werden. Den bei der
Holzkohlengewinnung beobachteten Cnglüoksfällen liegen meist grobe Nachlässig¬
keiten seitens der dabei beschäftigten Arbeiter zu Grunde.
c) S c li in i e d e w e r k s i ä 11 e n , K1 e m ]»n e r e i e n.
Bisweilen giebt der Hnlzkohlendunst auch in SchmicdewerkstäUen und
Klempnereien, in denen speoiell Holzkohlen viel \erwendet werden, zur Entstehung
leichter CO-lnioxicatioinMi Veranlassung, nämlich dann, wenn in einem nicht ge¬
nügend ventilirlen Raume die offnenen. die glühenden Kohlen (Mithaltenden trans¬
portablen Gelen zu* lange belassen werden oder wenn die Arbeiter bei ihren
mannigfachen Verrichtungen längere Zeit in der Nähe der glühenden Holzkohlen
verweilen, namentlich sich, wie es oft ihre Beschäftigung erfordert, mit dem
Rumpfe über das Holzkohlenfeuer weg beugen.
d) Kalk- und Ziegelöfen.
Kalk- und Ziegelöfen sind es ausserdem, deren Bedienungsmannschaften
häutig der (JO-Vergiftung zum Opfer fallen. Unglücksfiille entstehen bei diesen
Betrieben meist im zeitigen Frühjahr oder im Spätherbst, wenn die Arbeiter, denen
um diese Jahreszeit dauernd erwärmte Räume noch nicht zur Verfügung stehen,
um sich vorübergehend zu erwärmen, lange in der Nähe dieser Ocfen verweilen
oder gar *chlalVn.
*) M. Rubner, 1. c. S. 138.
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Hoher d. Kohlenoxydvergift. v. medieinal- u. sanitatspolizoil. Standpunkte. 155
e) Anili n farben - Fabri kal ion.
Auch muss an dieser Stelle der Anilinfarhen-Industrie gedacht werden, wo¬
bei die nach Lewin’s 1 ) Angabe zur Bereitung von Corallin (auch Päonin ge¬
nannt) erforderliche Rosolsäure durch Erwärmen von Phenol mit, Oxalsäure und
H 2 S0 4 erzeugt wird; dabei entstellt gleichzeitig massenhaft CO. ft ach Eulen-
herg 2 ) soll auch bei dm* Darstellung anderer (blauer und violetter) Farbstoffe CO
sich bilden. Dass die Gefahr seitens des CO in diesem Zweige der Industrie je¬
doch keine sehr grosse sein kann, erhellt aus der Arbeit von Grandhomme 3 ),
der in seiner, die sanitäre Seite der Theerfarbenfabrikation alleitig berücksichti¬
genden Betrachtung das Vorkommen von CO-Vergiftung mit. keinem Worte er¬
wähnt.
f) Russfabrikation.
Ferner ist nach Rubner 4 ) das CO eines der Nebenproducte bei der Russ¬
fabrikation.
g) Aceton bereit u n g.
Viel CO bildet sich nach Eulenberg’s 5 ) Angaben — dies sei der Voll¬
ständigkeit wegen erwähnt - stets bei einer bestimmten Herstellungsweise des
Acetons („aus essigsaurem Calcium oder Natrium unter Zusatz einer geringen
Menge Kalks, sowie aus einer Mischung von Bleizucker und Kalk“).
h) Endlich sind auch die bei der Theerdestillation, in Sodafabriken, Coke-
reien und Lumpenreinigungsanstalteil beschäftigten Arbeiter in hohem Grade der
Vergiftung durch Kohlenoxydgas ausgesetzt.
II. Das Leuchtgas.
Auch im Leuchtgase ist von all den verschiedenen darin enthaltenen Gasen
das für den Gerichtsarzt wichtigste das Kohlenoxyd; die zahlreichen anderen
schädlichen Componenten desselben, wie z. B. das Grubengas, Schwefelwasser¬
stoff, Ammoniak u. a. sind meist nur in so geringer Menge darin vorhanden, dass
sie in toxicologischer Beziehung eine nur untergeordnete Rolle spielen. Wohl
können sie ihrerseits auch einzelne Krankheitssymptome hervorrufen, indessen
nicht den Tod herbeiführen.
Das todtbringende Gas bei der Leuchtgasvergiftung ist das
Kohlenoxyd; eine Leuchtgasvergiftung ist also im wesentlichen eine CO-Ver¬
giftung. Deshalb wird die Giftigkeit der einzelnen Leuch tgassorten am besten
durch Angabe des CO-Gehalts derselben charakterisirt.
*) L. Lewin, Artikel „ Anilinfarben“ in Eulen bürg’ s Real-Encyclopädie
der gesammten Heilkunde. Bd. J. S. 474. 1885.
2 ) Eulenberg, Gewerbehygiene. S. 852.
3 ) Grandhomme, Die Theerfarbenfabrikcn zu Höchst a.M. im XXXlI.Bd.
dieser Vierteljahrsschrift. Berlin 1880. S. 120 sqq.
4 ) M. Rubner, 1. c. S. 790.
5 ) Eulenberg, Gewerbohvgiene. S. 352.
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156
Pr. Stoermer,
Analysen von Leuchtgas.
l)er CO-Gehalt darin ist kein constanter; das beweisen die Analysen des
verschiedener Städte.
Es enthält z. B. nach Wagner 1 ):
das Steinkohlengas von Heidelberg in 100 Raunitheilen 5,56—5,73 Rth. CO,
„ Gas in Bonn.„ 100 „ 4,66 „ „
„ r Chemnitz.„ 100 „ 4,45—5,02 „ „
,«i ,, London •.••••. ,, 100 ,, 6,3 6^ ^
„ „ Göttingen nach Hirt 2 ) „ 1(M) „ ca. 10 „ „
Auch hier gilt das oben vom Kohlendunst Gesagte; es richtet sich der
CO-Gehalt ganz nach dem verwendeten Rohmaterial. Zum Beweis
hierfür sei angeführt, dass nach Rubner 3 )
gereinigtes Holzgas
in 100 Th eilen
37,6 Th eile
CO
Torfgas.
n 100
71
20,3
77
77
Steinkohlengas . .
100
77
9,1
11
77
Petroleumgas . . .
.. 100
11
17,5
11
77
Schieferölgas . . .
„ 100
11
6,6
11
77
enthält.
Umehe des seltenerei Varkaameas ft« Leachtgasvergiftaagea: Dass
Leuchtgasvergiftungen (cf. die späteren Tabellen) so ungleich viel seltener als
andere CO-Vergiftungen passircn, dürfte namentlich wohl dem penetranten
Geruch desselben, der die Gefahr rechtzeitig erkennen lässt, zu verdanken
sein. Besitzen wir doch in unserem Geruchsvermögen das feinste Reagens
auf dieses Gasgemisch; denn mit Hilfe des Geruchs vermag man nach Rubner 4 5 )
0,01—0,02 pCt. Leuchtgas noch wahrzunehmen, während ein empfindliches che¬
misches Reagens, Pallad iiimehlorür, erst einen Leuchtgasgehalt der Luft dann an¬
zeigt, wenn er 0,05 pCt. erreicht.
Leaehtgas kaaa aater gewisse* Umtaaden gaai geraehUs werde*, aber
giftig bleibea. Es giebt besondere Verhältnisse, unter denen das Leuchtgas seinen
eigentümlichen Geruch zwar verliert, aber trotzdem an Giftigkeit nichts einbüsst.
Diese Modification erleidet das Gas nämlich nach dem Durchströmen durch den
Erdboden, wobei ein grosser Theil der Kohlenwasserstoffe, welche gemeinsam mit
einigen Verunreinigungen dein Leuchtgase den charakteristischen Geruch ver¬
leihen, vom Boden absorbirt wird. Eine wie grosse Veränderung in der Zu¬
sammensetzung des Gases hierdurch bewirkt wird, zeigt ein Vergleich folgender
beiden, der Arbeit von Biefel und Pol eck 3 ) entlehnten Analysen.
1 ) Wagner, citirt in v. Hofmann’s Lehrbuch der gerichtlichen Medicin.
V. Aufl. Wien 1891. S. 689.
2 ) Hirt/citirt nach Becker, 1. c. S. 122.
3 ) Rubner, 1. c. S. 223.
4 ) M. Rubner, 1. c. S. 224.
5 ) Biefel und Poleck, 1. c. S. 35.
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IVber d. Kohlenoxydvergift, v. medicinal- u. sanitätspolizeil. Standpunkte. 157
Es enthielten 100 Theile
Leuchtgas
Dasselbe Gas,
nachdem es
langsam durch
eine 2,35 m
lange u. 5 cm
weite m. Boden
gefüllte Röhre
geströmt w&r.
Kohlensäure.
3,06
2,23
schwere Kohlenwasserstoffe
4,66
0,69
Sumpfgas.
31,24
17,76
Wasserstoff.
40,44
47,13
Kohlenoxyd.
10,52
13,93
Sauerstoff.
0,00
6,55
Stickstoff.
1,08
11,71
100,00
100,00
Man sieht hieraus, dass nach dem Passiren der Erdschicht die schweren
Kohlenwasserstoffe und das Sumpfgas an Menge bedeutend abgenommen, der
Kohlenoxydgehalt aber erheblich zugenommen hat. Die Gefahr ist also in zwei¬
facher Weise gesteigert: 1. indem das Gas geruchlos, also weniger leicht erkenn¬
bar geworden ist, 2. indem das ausströmende Gasgemisch noch mehr CO als vor¬
her enthält.
Bedenkt man zudem noch, dass das Gas unter einem andauernden Druck
ausströmt und immer neue Mengen folgen, so erhellt ohne Weiteres die enorme
Gefährlichkeit dieser Art von Gasausströmungen. Uebrigens genügt, wie es
scheint, schon eine massige Dicke der Schicht, welche das Gas durchströmt, um
dessen Riechstoffe zu absorbiren; wenigstens hat in einem von Wolffhügel 1 )
berichteten Falle, wo aus dein undichten Kugelgelenk eines Kronenleuchters Gas
in ein darüber gelegenes Zimmer ausgeströmt war, schon das Füllmaterial der
Zwischendecke das Gas seiner Riechstoffe zu berauben vermocht.
Obwohl es als Regel bezeichnet werden kann, dass Gas, welches durch den
Erdboden geströmt ist, geruchlos wird, ist doch zu beachten, dass es trotzdem
unter gewissen Bedingungen seinen Geruch behält, nämlich wenn es unter hohem
Drucke, also schnell ausströmt und wenn die porösen Erdschichten mit den Riech¬
stoffen des Gases sich bereits gesättigt haben.
Leuchtgasausströmungen dieser Art ereignen sieh am häufigsten in der
kalten Jahreszeit in Folge von unterirdischen, irgendwie entstandenen Rohr-
bniehen, wobei das ansströmende Gas, welches bei dem undurchlässigen, vereisten
Erdboden den nächstliegenden Weg nach aufwärts durch das Strassenpllastcr etc.
nicht nehmen kann, oft lange Strecken seitwärts in den tieferen Erdschichten zu¬
rücklegen muss, ehe es Gelegenheit zum Entweichen findet.
*) Wolffhügel, cilirt nach Becker, 1. e. S. 124.
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Dr. Stoorriicr,
l')8
Hie warne La ft in Hausern wirkt ansaigend a«f das in den Erdbtdew
ansgeströmte das. Diese Gelegenheit bietet sich dar, wenn einerseits der Erd¬
boden genügend locker und porös wird, andererseits aber namentlich, wenn der
Druck, unter dem das Gas im Erdboden strömte, noch durch &ug, durch Aus¬
saugen unterstütz! wird. Solche kräftige Saugwirkung (ihm nach Pettenkofer *)
und Welitschkowsky 1 2 ) sehr häufig geheizte Wohn räume aus; die warme Luft
in ihnen wirkt ahsaugend auf die das (las enthaltende Grundluft. So allein werden
jene Fälle verständlich, in denen eine Leuchtgasvergiftung in Häusern beobachtet
wird, in denen eine Gasleitung überhaupt nicht, vorhanden ist. Fälle dieser Art
erzählen u. a. Biefel und Poleck 3 ), Jacobs 4 5 ), Becker 3 ).
Ein wie grosses gerichtsärztliches Interesse sie gewinnen können, zeigt z. B.
der Fall des Castellan Figura (Biefel und Poleck, 1. c. S. 37), in welchem
Krankheit und Todesursache sogar ärztlicherseits bereits verkannt war und die
wahre Todesursache sicher für immer uuermittelt geblieben wäre, wenn nicht die
Massenerkrankung seiner Angehörigen Veranlassung zu weiteren Nachforschungen
gegeben hätte. Ferner theilte Wallichs 6 ) einen Fall mit, in dem man den thal-
sächlich durch Leuchtgasvergiftung herbeigeführten Tod auf eine Kopfverletzung
zurückführte, und Pettenkofer 1 * ) erzählt, dass ein Mann, bei dem es sich eben¬
falls um Leuchtgasvergiftung handelte, für einen Typhuskranken gehalten wurde.
Olt legt das Gas im Erdboden erstaunlich lange Strecken zurück; in den
von Biefel und Poleck mitgetheilten Fällen befand sich die Rohrbruchstelle
10 27 m weit (Lewin 9 ) spricht sogar von SO m) von den betreffenden Häusern
entfernt, in denen die Vergiftungen zu Stande kamen. [Fnterstützend wirkte sowohl
in diesen Fällen wie auch in dem von Wesche 9 ) in Bernburg beobachteten ein
lockerer Baugrund und undichter Fussboden (Mauerschutt).
Einfluss der Jahreszeit auf Leuchtgasvergiftungen.
Leicht erklärlich ist es, dass derartige Leuchtgasvergiftungen am häufigsten
in der Winterszeit und bei Nacht passimi; denn alsdann pflegt einerseits die
1 ) Pettenkofer, Feber Vergiftung mit Leuchtgas. „Nord und Süd. u Ja¬
nuar 1884.
2 ) Welitschkowsky, Experimentelle Untersuchungen über die Verbreitung
des Leuchtgases und CO im Erdboden. Archiv für Hygiene. I. Bd. S. 210.
3 ) Biefel und Fol eck, 1. c. S. 37 s<|<j.
4 j Jacobs, Vergiftung durch Leuchtgas. Köln 1873 (bei du Mont-Scliau-
b urg).
5 j Becker, in der deutschen medieinisclien Wochenschrift. No. 20—28.
1880. Auch Beutzen (V i rc how-Hirsch’s Jahresbericht 1884. 1. S. 308) theilt
aus Chrisiinnia einen Fall von Leuchtgasvergiftung mit, die sämmtlichc Bewohner
eines 3stöckigen Hauses (ohne Gasleitung) betraf.
S Wallichs, Deutsche Klinik. 1808. S. 128.
■*) Pettenkofer, citirt nach v. Hofmann, Lehrbuch der gerichtlichen
Medicin. VJ. Aull. 1893. S. 089.
h ) L. Lewin, Lehrbuch der Toxikologie. Wien 1885. S. 30.
9 ) W (*sc h e, Feber Leuchtgasvergifumg und CO-Blut, im 25. Bd. der neuen
Folge dieser Vierteljahrsschrift. 1870. S. 580.
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Leber (I. Kohlenoxydvergift. v. medicinal- 11 . sanitätspolizeil. Standpunkte. 159
Ventilation der bewohnten Räume eine weniger gründliche zu sein, andererseits
ist wegen der grösseren TemperaturditTerenz zwischen der äusseren Luit, und der¬
jenigen in geheizten Räumen die ansaugende Wirkung derselben eine grössere als
zu anderen Zeiten; endlich ist im Winter der Durchtritt des (iases durch den
Erdboden besonders erschwert, da nach vorhergegangener Durchtränkung des
Bodens mit Wasser bei Frost die oberen Erdschichten zu einer nahezu undurch¬
dringlichen Masse vereisen; letzteres namentlich begünstigt das Entweichen des
(iases in seitlicher Richtung, da nach Rubner 1 ) ein nur mit Luft gelullter ge¬
frorener Boden den Durchtritt der Gase nicht hindert.
Unter den anderen Ursachen der Leuchtgasvergiftung sind besonders un¬
dichte Stellen in den Leitungen, wie sie sich namentlich an den Verbindungs¬
stellen der einzelnen Rohre finden, zu nennen.
Auch zufällge Verletzungen der Gasleitungen haben schon zu Gasvergiftungen
Veranlassung gegeben, so z. B. in den von v. Ilofmann 2 ) und Eulenberg 3 )
angeführten Fällen, in denen beim Einschlagen eines Nagels zufällig das aus Blei
angefertigte Gasrohr eröffnet, wurde.
Viele Leuchtgasvergiftungen geschehen durch Nachlässigkeit, wenn die Gas¬
hähne nicht fest genug zugedreht werden oder gar ein Unerfahrener die Flamme
durch Ausblasen auslöschte.
Endlich sind einzelne Fälle bekannt geworden einen solchen theilt z. B.
Becker 4 ) mit —in denen Arbeiter in Gasanstalten bei unvorsichtiger Ausübung
ihrer Arbeit sich eine Leuchtgasvergiftung zuzogen.
Schliesslich verdient noch die Thatsache, welche Gärtner 5 ) anführt, Be¬
achtung, dass nämlich auch ohne Schuld einer Person Defecte in den Leitungs¬
röhren durch Arrosionen in Folge von Rost entstehen und auf diese Weise Leucht¬
gasvergiftung, namentlich ganz chronisch verlaufende, Vorkommen kann. Audi
durch Chemikalien und sogar durch Holzwürmer können bleierne Gasröhren zer¬
stört werden; ein durch Holzwürmer zernagtes Bleirohr befindet sich im hiesigen
Museum für Hygiene.
! ) M. Rubner, 1. c. S. 224.
2 ) E. v. Ilofmann, Lehrbuch der gerichtlichen Medicin. V. Aull. 1891.
S. H90.
3 ) H. Eulenberg, Die Lehre von den schädlichen und giftigen Gasen.
Brauschweig 18<>5. S. 18(>.
4 ) E. Becker, Ueber Nachkrankheiten der CO-Vergiftung etc. in No. 2t> der
deutschen medicinischen Wochenschrift. 18S9. 27. Juni.
5 ) A. Gärtner, Leitfaden der Hygiene. Berlin 1892. S. 178.
(Fortsetzung und Schluss folgt.)
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2 .
Beiträge zur 'öffentlichen Gesundheitspflege
deutscher Städte im Mittelalter.
Zusammen gestellt von
Dr. J. Köhler in Berlin.
Entgegen der Ansicht unserer jetzigen Hygieniker, die allein die
Fortschritte der öffentlichen Gesundheitspflege unserer Zeit gelten
lassen wollen, die Vergangenheit auf diesem Gebiete indess schwarz
in schwarz zu malen belieben — cfr. Finklenburg, „Entwicklung
und Organisation der öffentlichen Gesundheitspflege“ im Handbuch
der Hygiene von Weyl; Rubncr, „Hygiene“; lläser, „Geschichte
der Medicin“ u. A. m. —, finden sich bei den Geschichtsschreibern,
besonders des mittelalterlichen Städtewesens in Deutschland, eine An¬
zahl von Quellenangaben, die uns eines Besseren belehren können.
Hiillmann 1 ), v. Maurer 2 ) geben uns in ihren Werken eine nähere
Beschreibung von der Fürsorge, welche hauptsächlich die Städte der
Erhaltung der Gesundheit ihrer Bürger zugewandt haben.
Wenn man allerdings die Anordnungen berücksichtigt, welche
von Reichs wegen, zumal in Pestläuften, zum Wohlc der Gesammt-
heit getroffen gewesen in Ansegisi 3 ) Capitul. Lib. I vom Jahre
829 ungefähr heisst es: De fame, clade et pestilentia si venerit: de
hoc, si venerit famos, clades, pestilentia et inaequalitas aöris vel
alia qualiseumque tribulatio, ut non exspectetur edictum nostrum,
sed statim deprceetur dei misericordia — oder die Verordnung Karls
‘) llülhnann, .Städtewesen im Mittelalter. Bonn 182(1-29.
2 ) v. Maurer, Geschichte der Stiidlcverfussung. Erlangen 1870.
3 j Monumenta Gcrmaniac. Ed. Bert/..
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Oeffentliohe fie^uiullieitsptleirf deutscher Städte im Mittelalter.
161
des Grossen über die Aussätzigen erwähnen will — C’aroli magni
Capitularia 1 ). Duplex legationis edictum vom 23. März 780. De
leprosis: ut sc non intermisceant alio populo — so kann von einer
irgend wie gesetzlichen Regelung zur Verhütung und Beseitigung von
Krankheiten im Mittelalter thatsächlich keine Rede sein. Doch sind
die Gründe hierfür ebenso sehr in der llnkenntniss von den Ursachen
und dem Wesen der Seuchen überhaupt — trotz der Kenntniss von
der Contagiosität der Pest 2 ) —, wie in der religiösen Anschauung zu
suchen, woran selbst der hohe Aufschwung der Cultur, besonders in
den Städten im späteren Mittelalter, nichts geändert hat.
Die deutschen Städte nun haben es sich seit ihrer frühesten
Kindheit, nach dem Vorbilde ihrer italischen Schwestern 3 ), nicht
nehmen lassen, das leibliche Wohl ihrer Bürger nach bestem Wissen
und Können zu fördern. So sagt z. B. v. Maurer 4 ): „Eine Haupt¬
angelegenheit der Stadtgenieinden war auch die Marktpolizei und die
damit verbundene Aufsicht über alle jene Gewerbe, welche die Lebens¬
mittel zu bereiten oder zu beschaffen hatten, die sogenannte Victualien-
polizei (quae pertinent ad uictualia — Stadtrecht von Medebach von
1165. §20 bei Seibertz, II). Daher findet man allenthalben schon
seit dem 12., 13., 14. Jahrhundert Rechtsordnungen über die Beauf¬
sichtigung der Bäcker, Metzger, Müller, Mehlhändler oder Melber,
Fischer, Brauer etc.“ Daneben fehlt es nicht an Vorschriften die
Bauordnung betreffend, Anlage von Strassen und deren Pflasterung
sowie Reinigung, mangelt es nicht an Verordnungen gegen die Ver¬
unreinigung der Flussläufe, nicht der Sorge für die Beschaffung guten
Trinkwassers, wenn auch, mit ganz geringen Ausnahmen, für die An¬
lage von Wasserleitungen die italischen Städte nicht zum Muster ge¬
nommen worden sind.
Was vorerst die Bauordnungen betrifft, Ulm 3 ) hatte eine solche bereits
im 14. Jahrhundert, ebenso Regensburg im Jahre 1307 6 ), so war deren Aut'mcrk-
') Monumenta Germaniae. Kd. Pertz.
2 ) Käser, Geschichte der Medicin. Bd. 3. S. 05IT.
3 ) I)ie Gesetze Bolognas (Statuta Bononiae), Mailands (Statuta Mediolani)
etc. werden später an den betreffenden Punkten angeführt werden.
4 ) L. c. Bd. 3. S. 22.
3 ) Jäger, Ulms Verfassung im Mittelalter (Heilbr. 1*31). S. 347.
6 ) Gemeiner, Reichsstadt regensburgische Chronik. Regensburg 1800.
Bd. 1. S. 4(14.
Vierleljalirssclir. f. ger. Med. Dritte Kolxe. tX. 1. 11
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162
Dr. Köhler,
samkefi weniger darauf gerichtet, Häuser crrichtenzu lassen, die neben ihrer Bestim¬
mung zum Bewohntwerden auch den damaligen Anforderungen der Gesundheitspflege
entsprachen, als sie in möglichst feuersichererWeise herzustellen. Wir finden Be¬
stimmungen, dass nur steinerne Häuser erbaut werden, dass die Dächer mit Zie¬
geln gedeckt werden sollen, wir finden aber auch Ermahnungen, sie nicht zu weit
nach der Strasse mit ihren Kellerhälsen vorzubauen, um den Verkehr nicht zu be¬
schränken, sowie die Anordnung, vor der Errichtung von Umbauten u. s. w. des
Käthes Erlaubnis» einzuholen. Es wird ferner z. B. im Jahre 1307 in Regens¬
burg *) bestimmt, „es soll jeder, der bauet, seinen Nachbarn nicht überschütten,
noch die Schütte irgend hinschütten, als wo es der Wachtmeister erlaubt. Und
soll niemand etwas in die Donau schütten, weder bei Tag noch bei Nacht bei
einem Pfund Pfennig“. Einige andere Verordnungen finden wir zu Nürnberg im
14. Jahrhundert 2 ): „Auch sol der sweren, der dez pflasters wartet, wo er seh
zimmer oder steine liegen daz lenger gelegen sey, dann ein vierteyl Jars und daz
man davon nicht pawet daz sol einen fraget* zu wizzen tun bey seinem eyde.
Ez sol auch ein jeglicher der da pawet oder der sust erden oder Horb für
sein Hawse schütet, daz in 14 tagen auzfuren.“
Im engen Zusammenhänge mit dem Bauwesen stehen natürlich die öffent¬
lichen Wege und Strassen, von denen wir schon im Mühldorfer 3 ) Stadtrecht
1367 lesen: Von der strazz und von den wegen. „Swer strazz und weg enger
macht innerhalben der stat oder auzzerhalb in dem purchrecht, der sol daz puzzen
bei 1 Pfd. dn.“
„Von dem mist, der nicht sol länger auf dem marcht ligen, den 14 tag,
darnach langer mit Urlaub der purger und dez richter pei 72 dn.“
In Nürnberg 4 ): „Von den Vazzen“. „Auch ist gesetzet, dass niemant weder
pütner noch burger kein vaz stillen setzen an diestrazzen lenger dannen zwen tag
und zwenn nacht wer daz fürbaz überfür der müaste von jeden vazze geben zwen
schillinger heller“.
„Ez sol auch jedermann, er sey Burger oder Gast den mist, den man in die
gazzen strewet, in sechs tagen, wieder aufheben und auzfuren, wer daz nicht tut,
so sol der, der dez pflasters wartet, denselben mist verkauffen und sol daz Geld
sein sein und sol fürbaz niemant dliein und liier darnach haben“ (14. Jahr¬
hundert).
Die alten mailändischen 5 ) Gesetze, die Vorläufer der oben aufgezählten,
stammen bereits aus dem 13. Jahrhundert. Sie lauten:
De cloaeis et magolciis removondis.
„Cum cloacae et magolcia in civitäte Mediolani pestilentiam reddant
aerein . . . .“
Quod nullus eiieiat aliquod turpe de domo.
*) Gemeiner, 1. <\ Bd. 1. S. 464.
-) Siebenkees, Materialien zur nürnbergischen Geschichte. 4. Bd. Nürn¬
berg 1792/5)5. S. 730.
3 ) Chronik deutscher Städte: Bayerische Städte. S. 398.
4 ) Siebenkees, 1. c. Bd. 2. S. 676.
r> ) Statuta Mediolani. Herausgegeben von Garpani. Bd. II. S. 46.
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OeflVntliche (irsu-fwllioits|deutscher Städte im Mittelalter.
163
„Si de domo aliquod turpc deioctum fuerit vel efTusum in viis publicis,
qui habitat in ea domo condemneiur . . . u
Pro rebus foetidis ducendis extra civitatem.
„Paltanum nec aliquod foetidum, non deferatur in stratis nec locis
publicis, infra civitatem, sub poena pracdicta applicanda, ut supra, sed
extra civitatem sunt loca ad hoc apta, ubi res loetidae, condueantur.
Et hoc expediatur per officium stratorum.“
Dass es viel besser mit der Sauberkeit auf den Strassen selbst am Ende des
IG. Jahrhunderts nicht gestanden haben mag*, ersehen wir z. B. aus den Statuta
und Wilkör der Stadt W ilsnack vom Jahre 1589 *). § 48. „Dass auch Niemand!
solle Mistekauen halten oder bauen lassen uff den Strassen vor seiner Thure oder
beiseits an den Häusern b. d. St. b. u
Einen bedeutenden Fortschritt im Strassenwesen bekundete die Pflasterung
dieser Hauptverkehrsadern. Prag war bereits im Jahre 133.1 gepflastert, Nürnberg
folgte 1368 1 2 ), und von Augsburg 3 ) lesen wir in der Chronik des Burkardt Zink
vom Jahre 141G: „Item in demselben jar am Hörbst liess Hans Gewerlich vor
seinem Haus, das gelegen ist an dem rindermarkt, pflastern, und ist zu wissen,
dass sicher ain grosse notturft was, dass man pflastert, denn es war zu aller Zeit
kottig überall in der stat u. s. w. u , während Gemeiner 4 ) von Regensburg er¬
zählt, dass bereits im Jahre 1403 die Hauptstrassen der Stadt mit Steinpflaster
versehen worden sind, „folglich früher, als in mancher anderen grossen be¬
rühmten Stadt“.
Dass es auch an einer gesetzlichen Regelung dieser städtischen Einrichtung
nicht gefehlt hat, ergiebt sich aus einer Polizeiverordnung des nürnbergischen
Käthes 5 ). „Es gepicten die burger vom rat, daz jedennan das Pflaster vor seinem
Hawse und umb sein Ifawse bezzern und machen sol biz in die rinnen in den weg
und waz daz kostet daz wil die Stat halbs geben, so sol ez jener lialbs geben.“
Wie man für wegsame Strassen im Interesse des Verkehrs und der Gesund¬
heit sorgte, so war man sich ebenfalls klar darüber, dass freie Plätze inmitten
der Stadt wohl geeignet wären, letztere schöner und gesünder zu gestalten.
1408 hatte der Rath von Regensburg 6 ) „ein Haus vor dem Domstift gekauft,
niedergerissen und abgetragen und auf solche Weise die Strasse und den Platz
erweitert und vergrüssert. Das Capitel verschrieb sich dagegen, dass der Platz,
worauf das Haus gestanden, ein freier Platz bleiben und von keinem Theil ein
Haus darauf gebaut werden sollte. - Rautinger war gestorben, es war ihm nicht
genug gewesen, auch in den minder bewohnten, abgelegenen Theilen die Stadt
mit Pflaster versehen zu haben, er wollte sie auch mit grossen und ansehnlichen
Plätzen versehen, und seiner Vaterstadt den Namen einer schönen Stadt er¬
werben“.
1 ) Riedel, Codex diplomaticus Brandenburgensis. Bd. 2. S. 176.
2 ) v. Maurer, 1. c. Bd. II. S. 41.
3 ) Chronik deutscher Städte. Augsburg. Bd. 11. S. 14G.
4 ) L. c. H. S. 358.
5 ) Siebenkees, 1. c. Bd. IV. S. 730 flf.
6 ) Gemeiner, 1. c. Bd. III.
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Wunderbar muss es uns erscheinen, dass, während die italischen Städte es
sich angelegen sein Hessen, schon im 12. und 13. Jahrhundert durch Wiederher¬
stellung resp. Neuanlage ven Wasserleitungen —- Mailand Beginn 1179, Dauer
80 Jahre, Siena 1193; im 13. Jahrhundert: Cremona 1235, Modena 1259, Parma
1283, Bologna, Verona etc. r ) ihren Einwohnern ein gutes Trinkwasser zu
bieten, die deutschen Städte ganz und gar zurückgeblieben sind, ja „Köln 1 2 ) liess
sogar die alte römische Wasserleitung, welche vortreffliches Wasser aus dem Eiffel-
gebirgc zuführte, verfallen, ohne jemals Ersatz dafür zu suchen 14 . Einzig Augs¬
burg lässt in dieser Beziehung etwas von sich hören. In der Chronik des Hector
Mühlich 3 ) berichtet der Verfasser unter dem Jahre 1412: „nach Christi gepurt.
1412 jar do hub man an die ersten rörprunnen zu machen etc. u , und in der
Chronik des Burckard Zink 4 ) liest man über denselben Gegenstand unter dem
Jahre 1433: „Item in dem jar kam ein Zimmermann von Elm gen Augsburg, ge¬
nant maister Hans Eclber, und hueb ainem rat für, weit man sich kosten lassen,
so wolt er ander rörbrunen machen, die köstlich nutz und guct weren und auch
wahrhaftig und ist zu wissen, dass man ain turn macht in dem graben underhalb
hausstelter tor und ain Kasten darauf, der das wasser in sieh faszet, und darnach
auf der stalmauer biss zu dem Oeser, dem Turn, und wider ob der mauer und
darnach in die rorkasten in ainem nach dem andern, und als sie dann auch noch
auf das 62 jar aufpaut“.
Erfreulicher als mit der Wasserversorgung finden wir die Verhältnisse be¬
züglich der Reinhaltung der Flussläufe. Eine besondere Fürsorge traf hier¬
für der Rath von Nürnberg, indem er anno domini post Laurentii 1385 folgende
Verordnung erliess 5 ): „N on dem fisbach.“ „Ez haben auch unser Herren die
burger gesetzet, dass man den lisbach sulle raine behalten auzzerhalb der Stat
und innerhalben derselben. Als verdo vutz er körnt an spitalertor, da er sol geu
in den spital.
Ez sol auch nicman Kain priuet haben bei dem (isbach denne zehen schuhe
davon. Swer daz bricht, der gibt in jeder wachen ain pfunt lialler, ez sei denne
ain man der soweit nicht hat von dem fisbach daz er zehen schuhe davon sein
priuet möge gesetzen. Der sol in vierzehen tagen machen sein jiriuet nach der
pawmaister rate.
Ez sol auch dheine pader seinen untlat dar ein giezzen noch weisen alle
wachen bei ainem pfunde.
Ez sol auch kaine lederer kaine Haut darein haben (hängen), wer daz bricht
der gibt in von der Haut schtzik lialler.
Ez sol auch nieman kamen untlat darein werfen noch giezzen noch kam
c-lait dar innc waschen. Swcv daz brich et, der gibt zwene Schillinge lialler.
Und swenne der Fisbach her ein kommt von dem spitale so mögen die
1 ) Hüllmann, 1. c. Bd. IV.
2 ) Finklenburg, I. c. S. 4.
n ) Chronik deutscher Städte. Augsburg. Bd. 111.
4 ) Chronik deutscher Städte. Augsburg. Bd. II. S. 146.
5 J Sieben ko es, 1. <*. Bd. II. S. 676.lT.
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Oeffentliche Gesundheitspflege deutscher Städte im Mittelaller.
165
ledcrer wol ir heute dar ein haben also daz der lisbach seinen Gank gchaben
möge. Daz er den mülen nicht schade sei.
Ez gebieten die Burger vom Rat, daz fiirbaz niemant dlieinen unllat wie der
genant ist in der Stat und vor der Stat in den Yischpach werfen noch giezzen
sol, wer daz überfür und daz man daz mit zweyn oder dreyn beweysen möcht, der
muss je als offt geben, als olTt gerügt wurd 1 Pfund ncvcr Haller.
Auch gebieten sie, dass jedermari denVischpach vor seiner tur rawenen und
vegen sol und sol auch denselben unflat selber auzfuren lazzen nach dem tag alle
tag bey 1 Pfund never haller.“
Eine kurze Notiz über die Reinhaltung der fliessenden Gewässer bringt auch
Gemeiner 1 ) in seiner Geschichte der Stadt Regensburg, indem er unter dem
Jahre 1453 bemerkt, dass den Färbern das Waschen und Farbausschiitten in den
Bach verboten worden war. Desgleichen enthalten die bereits erwähnten Statuta und
Wilkör der Stadt Wilsnack 2 ) als §50 die Bestimmung, „dass nass sulle man ausser
den zeunen fuhren lassen, undt nicht in das wasser werffen, weder Inner noch
ausser der Stadt w . Wittstock 3 ) ordnet in seinem Stadtreglement vom Jahre 1523
an, „das aass und das Deck sull man aus den Zeunen fuhren b. d. St. b., und
auch nicht werffen in der Herren Wasser, auch nicht bey die mauren oder in die
Strafe b. d. St. b.“
Wenn schon unter einem anderen Titel, so war doch bereits in den Consti-
tutiones regni siculi 4 ) Friedrich II. im Anfänge des 13. Jahrhunderts auf etwaige
Vergiftung des Flusswassers beim Fischfang Rücksicht genommen worden. Im
Tit. 41 finden wir unter anderen: „Taxum etiam, vel herbas eiusmodi, de quibus
pisces mortificantur aut moriuntur, a piscatoribus in aqua proiici vetamus propter
quod etenim et ipsi pisces redduntur infecti, et aquae, de quibus homines et
bestiae interdum, si saepius potuin adsumunt, noscivae redduntur. Quod si fecerit,
[>er annum cum ferris operibus publicis deputetuiv 1
Diese Sieilischen Bestimmungen führen uns zugleich zu einem
zweiten Theilo der öffentlichen Gesundheitspflege über, der Beaufsich¬
tigung der nothwendigsten Nahrungs- und Genussmittel von
Staats- resp. Stadt wegen. Die erwähnten Constitutiones 5 ) siculae be-
4 ) L. c. Bd. III. S. 216.
2 ) Codex diplom. Brandenburg. Bd. II. 8. 176.
3 ) Codex diplom. Brandenburg. Bd. I. S. 430.
4 ) Constitutiones regni siculi. Tit. 41. De veneficis. Citirt von Chaulant:
Historisch-literarische Jahrbücher für die deutsche Mediein. 8. 143.
5 ) Lindenbrog, Codex legum antiquarum. Francf. 1613. Constitutionum
Ncapolitarum sive sicularum libri trcs (anno MCCXXl). p. 309. Tit. 36. De fule
mercatorum. Bozerios autem et. piscium venditores, qui vitae lniins modi
necessaria subministrant, ex quonun fraudibus inagnum possit non rebus, sed
personis etiam damnum inferri, in eorum mercibus ct mercationibus volumus esse
fideles, videlicet, ut scrophas pro porcis vel carnes morticinas, aut ab uno die in
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I>r. Köhler.
16«
handeln diese Seite der Hygiene- ziemlich kurz, ausführlicher sprechen
sich die Bestimmungen der deutschen Städte aus über den Handel
mit Fleisch, Brod, Wein etc. Die Nürnberger Polizeigesetze aus dem
14. Jahrhundert 1 ) z. B. sprechen „von rewdigen schaden und vieh
das erstickt ist“.
„Es gebieten die Burger vom Rath, daz chein Fleischakker (oder jemant
ander er sey Burger oder gast) dhcin rewdisch schof herein trcyben, kauften oder
stechen sol, wer daz überfuert der musz geben fünf pfunt never haller und muzz
drey Jar und fünf rneyl hindan von der Stat sein on gnad. u
„Und welcher Knecht dheine rewdisch schof herein scliikt, oder abstech
oder sie verkauft, der muss vier Wochen in den turn ligen und einen tag in dem
pranger sten und muss darnach fünf jar und fünf meyl von der stat seyn
on gnad.“
„In gleicher wais umb das vihc das ersticket ee man es abstichet das sol
man fürbas herein nicht bringen noch veil haben bey der vorgenanten puzz als
auf die rewdigen schof gesetzt ist.“
In Regensburg 2 ) ward bereits 1320 verordnet, dass pfinniges Fleisch nur
beim Schlachthause, nicht in den Bänken verkauft werden durfte 3 ). 1376 wurde
den regensburger Fleischhauern verboten 4 ), ausser dem Schlachthause klein und
grosses Vieh zu schlagen. Die Fleischhauer durften auch nicht Nachts, wenn die
grosse Uhr ausgeschlagen hatte, Vieh schlachten. Finniges Fleisch wurde weg¬
genommen.
Im Jahre 1378 Revision dieser Ordnungen und Neueinschärfung derselben.
Gesetze und Ordnungen, die die Metzger eigenmächtig sich selbst gegeben hatten,
wurden abrogirt und für ungültig erklärt.
Die häufige Wiederholung dieser Bestimmungen war sicherlich berechtigt,
und ebenso die Energie erforderlich, mit welcher bei neuen Erlassen gegen die
Uebertreter derselben vorgegangen wurde. So wurde den Metzgern im Jahre
1387 5 ) die Vorschrift gegeben, bis nächsten kommenden Georgi keinen Schafs¬
bauch anders als mit dem Fell und dem daran hängenden Haupt, und das Kuh-
undKalbfleisch mit dem daranhängenden Herzgerippe auf dem Markt auszuhängen,
damit die Meister sehen, ob das Fleisch gesund sei, widrigenfalls dasselbe in die
alium reservatas, si hoc emptoribus non praedixerint, seu cpialiter cumque cor-
ruptas vel infcctas in damnum et deccptionem emptorum vendere non praesumant.
Yenditores etiam piscium in corruptis piseibus non vendendis, et ab uno die in
alium sine praedictione similiter reservatis, fidem praccipimus observare. . . .
! ) Siebenkees, 1. c.
2 ) Gemeiner, 1. c. Bd. I. S. 509.
*) Aehnliche Bestimmungen von Erfurt führt Loth an: „Die Fleischbeschau
von Erfurt vom 13.—19. Jahrhundert 14 . Correspondcnzblatt der allgemeinen ärzt¬
lichen Vereine von Thüringen. 1892. No. 1.
4 ) Gemeiner, 1. c. Bd. II. S. 181, 190.
r> ) Gemeiner, 1. e. Bd. II. S. 181, 190.
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Oeffentlichc Gesundheitspflege deutscher Städte im Mittelaller. 167
Donau geworfen wurde. Der junge Rock, ein Metzger, der gegen dieses Gesetz
gehandelt und eine schemliche Kuh und böse Kalbsbäuche gekauft, und andere
Metzger, die finnige Farche — Färkel — eine Sau mit Tutten und einen „tre-
fanten“ Ochsen zu schlagen Willens gewesen, kamen zur Strafe in den Thurm.
Die Neuordnung dieser Polizeigesetze führt unter anderem an: „Es soll auch
ein jeder Gast (fremder Metzger) Kalbs- und Schafbäuch, und was solches Fleisch
ist, in den Häuten hereinführen, und Haupt und Ingeräusch daran lassen, dass
man gesehen mag, was rein und unrein sey; und wo man unrein Fleisch findet,
das soll man zerhacken und in die Tunau werfen, nach alter Gewohnheit, schwei¬
nernes oder rindernes, oder welcherley Fleisch es sey.“
Das schon erwähnte Miihldorfer Stadtrecht vom Jahre 1367 spricht sich im
Punkte des Fleisches folgondermassen aus: „Von den flcischhachkärn.“ „Pfinichs
flaisch, wolfpaizzichs flaiseh und swaz der jüd ersucht, daz sollen die flaischacher
fail haben vor iren penchen und swer dasz flaisch von in chaufe, ez sei gast oder
purger, dem sol er ez sagen, wie ez um daz flaisch ste, pei 72 dn.“
„Ez sol chain gast flaisch vail haben oder verchauflen, er pring ez dannen
lebentigs in die stat, ob ez rain sei, an getignes flaisch.“
„Ez sol auch lemper, chelber uiemant vail haben hinder viertzehn tagon, da
sie an dem alter habent pei 72 dn.“
„Si sullcn ir rinder und ander ir viel» slahen bei dem wazzer, daz die stat
da von icht geunsawert werd pei 72 dn.“
Noch eines regensburger Gesetzes vom Jahre 1306') wollen wir hier Erwäh¬
nung thun, das sicherlich zum Schutze der Fische erlassen worden ist. „Es soll
niemand Krapfen bachen hier in der Stadt und in dem Burgfried, ausser zu den
vier hohen Zeiten, nämlich z. S. Pertersmess, an S. Veitshochzeit, 8. Görgenhoch¬
zeit, zu S. Ileimeramsmesse, zu jeglicher der genannten hohen Zeiten drei Tage
vor und hernach.“ „Und wer dergleichen hereinträgt, die zu anderen Zeiten ge-
bachen sind, dem thut niemand nichts darum, wenn er sie nimmt. Und soll nie¬
mand Krapfen bachen, er komme denn vor meine Herrn, und vergewissere diese,
dass er rein bache.“
Weniger zahlreich sind die Gebote, die sich mit der Thätigkeit der Bäcker
beschäftigen. Hier war es in der Hauptsache darauf abgesehen, dass richtiges Ge¬
wicht zu richtigem Preise geliefert wurde. Zugleich war es auch Aufgabe des
Raths, dafür zu sorgen, dass stets hinreichend Backwaure vorhanden war; ja er
liess es sich nicht nehmen, für bestimmte Tage, namentlich Feiertage, ein be¬
stimmtes Gebäck vorzuschreiben. Besonders aber wurde darauf gehalten, dass
ein reines Mehl, kein gemischtes zum Backen genommen wurde, oder der Käufer
musste darauf hingewiesen werden. „Den Becken geboten meine Herren, dass sie
alles Gctreid, Rocken, Waizzen, Gersten und Haber besonders bachen, und nicht
mischen bey 1 Pfund jedesmaliger Strafe“, lesen wir in der letzthin angeführten
Verordnung des regensburger Käthes.
Bei dem Titel „Um die Becken“ heisst es in dcrOrdnung von Frankfurt a.M. 2 )
*) Gemeiner, 1. c. Bd. I. S. 461.
2 ) Senkenberg, Selecta iuris et historiarum tum aneedota tum jam edita,
sed rariora. Franctfurt a. M. 1734. Bd. I. p. 6 und 41.
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Dr. K öli 1 er.
ION
\oiti .lallre 1352: „Auch sullen die Burgemystere zweems kysen, die je in der
Wochen egnrn tag adir ine das Brod hesehen w\zil syz dumkit, daz es füge habe
nin wille zit sy daz sümeten. . . . Auch sollen sie das brod das andirwo her
ingefurt wirt, also woll besehen. Also das Brod in der Stad das ez unge-
misduit sy.“
„Item: Die Becken sollen machen zwey wissebrod anenander und nicht me.
Ein wissebrod um zweene junge heller.“
Ein Ruckenbrod um dry aide heller.
Ein gemengitbrod, halb wys und halb rucken, umb dry aide Hellern. s.w.“
Von den Getränken, die einer strengen städtischen Controle unterstanden,
ist im Wesentlichen der Wein zu nennen. Allerdings fehlt es auch nicht an Vor¬
schriften für die Brauer, doch finden sich wenig Bestimmungen, die auf eine
directc Fälschung dieses edlen Stoffes hindeuten. Der Wein resp. seine Behand¬
lung dagegen hat im späteren Mittelalter sowohl als auch im Beginne der Neuzeit
des Oefteren eine Stelle in den Abschieden der deutschen Reichstage gefunden,
während man im Febrigen solche Artikel, welche sich auf Medicinal- und Sani¬
tätswesen beziehen, als Berat hungsgegensiände auf den hohen Reichs Versamm¬
lungen nicht allzu häufig anzutreffen gewohnt ist. Vom Weine heisst es u. a. im
Reichsabschiede von Freyburg 1498 *): „Die Weinbeer soll ohne Alles Gemacht
und Zusatz ausgepresst werden. Die Moste sollen vollkommentlich und genzlich
ihre Verjerung haben. Schiff- und Fuhrleute sollen kein Wasser darunter giessen.
Obrigkeit soll auf die Gemacht der Weine fleissig Aufsehen haben. Alant, Salvey
und andere Würzweine sollen gebraucht werden, wie sich geziempt und von Alters
her kommen ist. ln die getreberten und gesortnen Wein soll keinerlcv schädlich
noch bös Gewechse, oder Zusatz gethan werden, bei der höchsten Busse.“
Sehr kurz und bündig drücken sich die Statuti di Bologna 2 ) in diesem Falle
aus: „Quod nullus vendat vinum merelluin pro puro“. Aehnlich verhält es sich
mit dem MiihldorferStadtrecht: „Ez sol niemant seinen wein felsehen mit anderem
wein, er tu ez denn mit rechtem Gewizzen pei dem pfuntc.“
Schon weiter geht die Frankfurter Satzung 3 ): „Ez ensul nyman keynen wyn
machen mit gehrantem wyne 4 ) noch mit keinerlei andir stücke un allis geverde.
Haut abir yniant iczund wyne die mit sehedliehen Dingen gemacht sint, wo man
das gewar wurde, das sehe der Rat zu dme und wer dys breche an den wynen
auch nicht enhilde, als es hy gekündet ist der virlewre wyne adir sulde der Stad
also vclc geldes darfur gebin alse der wyn hat geguldin (1350).“
Sicbenkces 5 ) veröffentlicht in den alten Nürnbergischen Gesetzen vom
Weinhandel und Weinschank aus dem Jahre 1399 folgende: „Auch haben die
Burger gesetzt, daz fürbaz niemant dheinen Wein mit dheinem Geineht nicht
anders machen sol, dann mit Ayren an die schalen mit milch mit rohem saltz daz
] ) Delhis, Entwurf einer Erläuterung der teutschen Gesetze besonders der
Reichsabschiede aus der Arzeneygelahrheit und Naturlehre. Erlangen 1753.
2 ) Statuti di Bologna 1245 -1207. Lib. 8. No. 40.
3 ) Senckenberg, 1. c. S. 39/44.
4 ) Erste Erwähnung des Brantweins in Deutschland.
s ) Siebenkees, 1. c. Bd. IV. S. 718 ff.
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Oeffentliche Gesundheitspflege deutscher Städte im Mittelalter. 1 (iS)
ungeprant sev mit wazzer mit Griz mit Kyssliugen (Kieselsteinen) mit Laym
(Leim) mit Dahen (Thon) mit Weinstein und Kemme (die von Beeren entblössien
W eintrauben) mag man wol in ein vas tun, wer daz überlur daz wil man für einen
valsch haben und den wollten die Burger straffen an Leib und an Gut darnach
und sie zu rat werden. 44
„Ez gepieten auch unser Herren die Burger vom Käthe daz alle die die wein
uff den marcht her füreu, dhein wazzer, milch noch Laym in den W ein nicht
sullen füllen noch stillen dhein Nessel noch Nesselwurz nicht darein legen. Und
daz sullen auch alle die sweren, die wein her uff den marcht füren, welch daz
nicht taten, die sullen dheinen Wein nicht her uff den marcht füren, noch vayl
haben. Auch sul niemant der also wein uff den marckt furt oder vayl hat, dheinen
waytaschen darein nicht tun. 44
Die Regensburger verordnen in einem Artikel der neuen Gesetzgebung von
1418 *), „dass weder Herren noch W einschenken W r ein abziehen oder mischen sollen
mit anderem Weine, der seines W eines noch Landes nicht ist, noch mit W r aidasehe
und anderen schädlichen Dingen. 44
Den Ausschank des Weines und Bieres regeln ebenfalls die Polizeigesetze:
„Auch haben die Burger gesetzt, wer der ist, der schenkt, ez sey wein oder pier
und der ein Haws dazu bestet, daz selbe Hawsc sol haben einen Keler zehen
Schuch tieff und Scchtzehen schuch weit vorn gen der strazzen und dazu einen
tennen der sechtzehen weit hab und ein stuben darzu . . . 442 ).
„Man ist uff dem Rade überkommen, dass nyman zweyerley wyn in eynem
Keller sol gebin, denn wissen und roden wyn, wer darubir tede, der verlaset evn
phund phenn zu pene“, laut Beschluss vom Jahre 1350 zu Frankfurt a. M. 1 2 3 ).
Nicht schliessen möchten wir dieses Capitel, ohne einer Begebenheit Er¬
wähnung zu thun, die bezeugen soll, wie man in der heiligen Stadt Coeln mit den
W r einfälschern in dieser Zeit umging 4 ): „Datum anno domini 1427 jar zu chrisi-
nacht waren zu Coelln körnen Zveen man vom der Ner mit winen und hadden ir
wine gemacht und gevelschet uz den brunst und uz de varve, und sie bedrogen
damit, und man wart es wis und vaink die zweene man mit desselben wine mail
7 stücke; umb beden willen der Herrn lies man in dat lif, und man brante sie zo
beiden Backen und auch in dem nacken und man strich sie mit roden zo der stat
us und man richde over den wein. 44
Bei unserer Aufzählung sei auch eines Gewürzes gedacht, das im Alterthum
in der Medicin wie im wirtschaftlichen Betriebe bereits eine grosse Rolle gespielt
hat sowohl als Arzneimittel, wie als Gewürz oder Farbmaterial, wir meinen den
Saffran (Crocus). Er galt im Alterthum als König der Pflanzen und behielt diese
Bedeutung während des ganzen Mittelalters bei. Eine eigene Rubrik ist ihm u. a.
in dem Bononischen Gesetzbuche eingeräumt* 5 ), „de croco falso non vendendo“
betitelt sich dieser Passus. „Es soll niemand falschen Saffran kaufen oder ver-
1 ) Gemeiner, 1. c.
2 ) Siebenkees, Nürnberg, 1. c.
3 ) Senckenberg, 1. c.
4 ) Chronik deutscher Städte: Coeln. Bd. II. S. 157.
3 ) Statuti di Bologna, 1. c.
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170
Dr. Kühler,
kaufen an jemand, der denselben hier verbraucht oder wieder hingiebt bey zehen
Pfund; und dazu solle man den falschen Saffran verbrennen. Und sollen die
Crämer die der Rath darüber gesetzt, nicht bei den Bürgern, sondern bei den
Fremden, die den Saffran herbringen, fleissig nachscliauen, und den falschen nicht
verkaufen lassen. Der Gast soll ihn gleich weiterführen oder inan verbrennt den¬
selben/ 4 So bestimmte Regensburg im Jahre 1306 l ).
„Um eine wachsame Gewerbepolizei zu haben, auch zur Beförderung anderer
gemeinnütziger Anstalten, hatten die Städte Regensburg und Nürnberg 2 ) einen
regen Briefwechsel mit einander unterhalten. Es war hierorts (Regensburg) eine
grosse Fälscherei mit Saffran entdeckt worden, die ein Nürnberger Kramer und
Abenteurer, Hans Müller, getrieben hatte. Die Verfälschung war mit Ingwer und
anderen Zuthaten bewerkstelligt worden 3 ). Mit dem Hüttenrauch mögen ähnliche
Betrügereien vorgekommen sein, indem der Rath von Regensburg veranlasst wor¬
den war, den Verkauf dieses Rauchs durch eigene Verordnung den Apothekern
ausschliesslich beizulegen.
Nächst dieser Fürsorge zur Erhaltung der Gesundheit, lag es
den Städten ob, sich der Erkrankten anzunehmen, ihnen die nöthige
Hülfe und Pflege angedeihen zu lassen, und das Umsichgreifen von
Krankheiten za verhüten. In erster Reihe sei hier des Heilperso¬
nals gedacht. Die Verhältnisse dieses Standes hatten dadurch, dass
die von Friedrich II. für die Universität von Salerno gegebene Medi¬
ci nalordnung 4 ) (ungefähr 1241), durch welche der Studiengang, die
Rechte und Pflichten der Mediciner, Chirurgen und Apotheker geregelt
wurden, von vielen Städten Italiens, namentlich solchen mit Univer¬
sitäten, und Deutschlands sich zu eigen gemacht wurden, eine feste
Form gewonnen. Den Deutschen voran gingen hierin wieder die ita-
! ) Gemeiner, 1. c. Bd. I. S. 461.
T ) Ibidem. Bd. 111. S. 253. Anno 1456.
3 ) Die Saffranbeschauer in Nürnberg haben über die Bestandtheile des bei
den eiugezogencn Personen Vorgefundenen falschen Saffrans folgendes Gutachten
erstattet: „In dem einen Scharmützelein ist parassrot oder Scharlachtlocken, wie
man das nennt, in dem andern ist parassrot und priselig durcheinander gemengt,
in dem dritten ist Brod gepulvert, in dem vierten ist Sand, das man nennt Stein-
farbe gepulvert auf das Kleinste, in dem fünften ist prisslig grob gestossen; in
dem sechsten ist Pulver oder Gestipp gemengt mit gutem und wildem Saffran und
anderen Zusätzen, die man eigentlich nicht erkennen mag, wann man muss es an
dem lernen, der es dann bereitet hat: Item man mag auch der jeglichs und Alle
gebrauchen der bösen Sachen; das steht die darumb zu verhören, der es gewesen
ist, wozu sie cs brauchen oder gebraucht haben. — Wir die Saffran Geschaur. 44
(Das Schreiben der Stadt Nürnberg de feria tercia penthecostes 1456 nebst dieser
Beilage findet sich im Copialbuch. Fol. 59.)
4 ) Lindenbrog, 1. c. Constitutiones regni ....
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<öffentliche Gesundheitspflege deutscher Städte im Mittelalter.
171
lischen Städte, wie Venedig, das bereits 1258 die Verpflichtungen der
Aerzte und Apotheker durch das Gesetz geregelt hatte *). Jirsi
100 Jahre später folgte, soweit bis jetzt bekannt, Deutschland, wie
aus dem in den Jahren 1353 und folgenden geschriebenen, die Lan¬
desordnung betreffenden dicken Notizbuche des Kanzlers des Fürsten-
thums Breslau, Friedrich von Meckenbach, zu ersehen ist 2 ).
Einzelne hierunter daraus angeführte Paragraphen werden uns zeigen, dass
diese Ordnung sich ebenso in den Bahnen der Humanität, wie eines wohlverstan¬
denen Interesses für die Ausübung des Heilkunde bewegt. Es heisst da:
„Was der arczt schreibet in dy apotheke an der wage und an dem mosse
das sol der syche geldin nach dem als das gesaczt ist.
Ouch sai kein aptheker dem arczte teil gehin noch der arczt dem aptekcr
des gewynnes.
Ouch mag ein iczlich sychcr nemen in welchir Apotheken er wil do von sal
in der arczt nicht werfen is en sy denne des sychen unhetwingen wille.
Ouch sal kein apotheker einen arczt an syner kost non in synem huze
haldin.
Ouch sal kein apotheker heymelich noch offinbar kunst arcztye noch wund-
arcztve ubin.
Ouch sal kein kunstinarczt noch wundarcyt apthekerye ubin.
Ouch sal ein kunstarczt do bey sin das der aptheker den sychen noch ge-
heyse dy confect rechte lege und mache.
Ouch mag ein kunstarczt nemen von synic sichen vil adir wennig noch
demals man im gibt wer abir dan ein gedinge undir in geschege das sal der arczt
nicht steygen ubir eine halbe mark dy woche noch ouch ein wundarczt ubir einen
virdung.
Ouch sal kein aptheker syne apothekerye miteteilen eiine arczte her enhabe
denne e gesworn vor den Rathmannen alle dyse gesec-zc czu haidine.
Ouch sal kein kunstarczt Practicyren her enwerde denne von den andire
erczten versucht an lesen eine lekcze dy do künstlich ist in der physiczien anc
hülfe der argument us der philosophic und der Logken.
Ouch sallen dy vrouen abegen dy do wassir bcseen und ercztye ubin und
apothekerye verkeufen deine selben alle partyrer.
Ouch sullen czene kunsterczte dy dorczu gekorin werden alle mamlen und
beseen in der apotheken alle confect und ding dy dorczu gehorin das dy recht¬
wertig creftig und gut sint wo das andirs wunden werde der sullen dy Rathmane
ein mandit nemen nach ireni wille.
Ouch sullen dy Rathman den erczten und apthekcrn czu alle den vorbe-
benanten stucken und geseczen helfin onuerczoginlich das in beydo Ion und schult
vergoldin werde ane gerichte.
! ) Haeser, 1. c. Bd. I. 8. 808.
2 ) Beiträge zur Geschichte des Medicinalwesens des 14. Jahrhunderts.
Klose, Henke’s Zeitschrift für die Staatsarzneikunde. 13. Jahrg. Heft 1830.
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UMIVERSITY OF IOWA
172
Dr. Köhler,
Oucli sal kein kunstarczt wundarczt und aptheker syne kirnst ubin her en
sv ilenne des wirdig und habe ge^worn vor den Kathinan das her dyse geseeze
haldin wolle. Wer andir den obgenannten kunsterezten wunderczten adir apthekern
dyse gesecze nicht enhilde das sullen de Kathinan vor im gebessirt neinen alb
einen meineit nach irem willen etc. u
Die Städter ordneten in solcher Weise nicht nur die Verhältnisse ihres Heil¬
personals (auf die Entwicklung der Wundarzneikunst und ihre Trennung von der
reinen Medicin wollen wir hier nicht eingehen), sie waren vor Allem darauf be¬
dacht, sich ein gutes Material zu verschallen. Man gab damals wenig auf Brief
und Siegel, das Diplom irgend einer, ja selbst bekannter Universitäten war nicht
unanfechtbar, und daher die Vorsicht vor der Aufnahme in das Aerztecollegium.
Wer Praxis ausüben wollte, musste sich noch einer besonderen Prüfung des Col¬
legiums der Stadt, in der er sich niederlassen wollte, aussetzen. Auch darin
waren die italischen Städte den deutschen voraus gewesen. Die Mailänder Sta¬
tuten z. B. *) bestimmen: „t^uod nullus medicus Chvrurgus possit mederi nisi sit
receptus in suo collegio“ und „de medicis Physicae examinandis, ante quam reci-
piantur in eorum collegium . . .“
Ebenso wenig scheute man Geld, um die bekanntesten und berühmtesten
Aerzte in die Dienste der Stadt als Stadtärzte zu ziehen 1 2 ). Regensburg 3 ) gab
verschiedentliche Gehälter den Stadtärzten im 15. Jahrhundert, 50, 60, 80 bis
100fl. Rheinisch, je nach Bedeutung des Arztes und den Zeitläuften entsprechend,
ln Frankfurt a. M. 4 5 ) wurde im Jahre 1385 der griechische Geistliche (presbyter
conjugatus) Jacob von Armenien mit dem für jene Zeit hohen Jahresgehalt von
1(X) rh. Goldgulden (ca. 1000Mark) und mit einer Summe Geldes für zwei Kleider
als Stadtarzt angestellt.
Aus den Aufzeichnungen der beiden erwähnten Städte lässt sich folgern,
dass die Aerzte des Collegiums in der Verwaltung der oder des Stadtphysicats ab¬
wechselten. ln Frankfurt a.M. ist ein 2—3jähriger Turnus erkennbar, noch länger
hielt dieser in Regensluirg zeitweise an.
Die wissenschaftliche Bedeutung dieser Stadtärzte erkennt man daraus, dass
man ihre Titulatur berücksichtigt: wir haben in Regensburg verschiedene Herren,
welche sich als Meister der 7 Künste und Lehrer der Arznei bezeichnen, andere
sind Doctores in medieinis - - wahrscheinlich in Chirurgie geprüft, ohne dieselbe
indess, entsprechend den damaligen Anschauungen, praktisch auszuüben - 3 );
ebensowenig fehlen solche, die nur Wundärzte genannt werden, und von denen
1 ) Statut. Mediol. Carpom. edit. Bd. II. p. 202.
2 ) Schon lange vor dem Imkannten Erlass Kaiser Sigismund’* 1426 zu
Basel, dass in jeder Stadt ein Meister-Arzt besoldet werden solle.
*) Gemeiner, 1. c. Bd. II. S. 442/43.
4 ) Kriegk, Aerzte, Heilanstalten etc. Frankfurt a. M.
5 ) Jaeger in seiner Geschichte der Stadt Ulm (S. 445) führt zwei Beispiele
dafür an, dass die Medicin in Verbindung mit der Chirurgie praktisch ausgeübl
wurde. Es wird dort nämlich erwähnt, der betreffende Arzt diene den Leuten zu¬
gleich mit innerer und äusserer Arznei.
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Oeffentliche Gesundheitspflege deutscher Städte im Miuelahor.
173
man annehmen kann, dass sie in gerichtlichen Füllen — auch bei Folter etc.
als Sachverständige zu fungiren hatten.
Eine Hauptthätigkeit dieser Stadtärzte, in Gemeinschart mit dem ärztlichen
Collegium der Stadt, bestand nun neben der Behandlung der armen Kranken,
Siechenschau u. s. w. in der Revision der Apotheken. Apotheken linden sich in
Deutschland schon zu Anfang des 13. Jahrhunderts, *) z. B. 1233 in W etzlar, 1248
in Schweidnitz, 1276 in Würzburg, 1285 in Augsburg u. s. w. Die Verhältnisse
der Apotheken wurden, wie bereits erwähnt, in der für Salerno gültigen Consti¬
tution Friedrich’s II. im Jahre 1241 ungefähr das erste Mal gesetzlich geregelt.
Eine Deutsche Apothekerordnung, die die Beziehungen zwischen Arzt und Apo¬
theker, zwischen dem heilenden Stande und dem Publicum festsetzt, ist die im
Jahre 1353 niedergeschriebene und weiter oben veröffentlichte des Kanzlers
Meckenbach von Breslau. 2 ) Hieran schliesst sich dann die Erwähnung einer
erneuten Apotheken-Ordnung zu Regensburg im Jahre 1397 3 ) es muss also
schon früher daselbst eine solche bestanden haben - , die, ,.als ein fremder Arzt
dorthin gekommen war, welcher entweder auf Verlangen oder aus freien Stücken
die dortigen Medicinalanstalten untersucht hatte, verfertigt worden war 14 ). „Ein
Apotekär der soll einen gesteten Aid sweren, dass er sein Antitariuni wohl könne
und kein ding, das zu der Arznei gehört, nicht anders mache, denn das vorgenant
Buch sagt, und ob das wäre, dass derselbe Apothekär einem Arzt vaint war oder
einem Siechen, der krank wäre, so sol er die Erznei nicht anders handeln noch
machen, denn als ihm der Arzt beschrieben giebt. Und ob derselb Apotekär eines
Stückes oder zweyer nicht enhielt als ihm der Arzt verschrieben hat, so soll er
keinerlei Materien nicht darunter tun olm des Arztes wissen und Rath. Es ist
Ä ) Haeser, 1. c. Bd. 1. S. 848.
2 ) Haeser, 1. c., bemerkt hierzu: Einer ärztlichen Ueberwachung deutscher
Apotheken geschieht zuerst im Jahre 1426 in Ulm Erwähnung, dann in Frank¬
furt a. M. (tun 1461).
3 ) Gemeiner, 1. c. Bd. 11. S. 336.
4 ) Gemeiner, 1. c. Der Bericht der Meister Johannes verdient hier auch
eine Stelle, weil er auf Gebrechen aufmerksam macht, die noch heut zu Tage
nicht gehoben sind. Er lautet, wie folgt: „Lieben Herrn, ich las Euer Gnad und
Weisheit wissen, dass ich eigentlich verstehe und empfinde gros>en merklichen
Schaden und Irsal, die hier in Euer Stadt sind in Arzney und in Apotheken. Zum
ersten, so sind Aerztc und Aerztinnen, Fristen und Juden, die sich für Aerzte
ausgeben und doch nicht sind. Den soll man auch billig die Erzney verbieten,
wann gross Schaden davon kommt. Das andere, was ein Arzt will seyn und sich
für einen Arzt hielt und Erzney treiben wolte, Ger sol sein Recept nehmen und
schreiben in die offen Apotheken. So erkennt man, ob er ein rechter Arzt wiir
oder nicht. Man erkennt auch dann, ob chein Gebrech an der Apoieken wär. Das
dritt: es sey ein ander heimlich Apotecken hier, da die ungelarten und dieLaiclinr
der Erzeney nennen, da auch grosser merklicher Schad und Irsal vonkömmi, ob
das euer Weisheit nicht untersteht.“ Gemeiner fügt hinzu: Tont conime chez
nous. Unsere Aerzte klagen noch immer fort über Pfuscher und (Quacksalber etc.
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174
Dr. Köhler,
auch zu mirken, dass er kein *riftig ding keinem Weib nicht verkaufen soll, er wiss
denn kundlich wohl, wo es hin gehört. Er soll auch alle Ding jährlich erneuern,
die nicht übers .Jar nuz sind, das ein jeglicher meist er wohl weis, und er soll kein
alt Stück behalten, als Balsam und Arnbergrisii und Lignum albis und derselben
Stücke vierzigerlei sind. Wenn ein Arzt dieselben Stücke meint zu sehen, so soll
er sie ihm nicht vor verbergen, er soll sie ihm zeigen und weisen, und soll der-
selb Apoteker bei sein treuen und geschworen Eid, die obgenannten Stück zu
halten, treulich an gewär, dass er die weder minner noch mehr machen, denn als
sie ihm der Arzt beschriben gibt.“
Im .fahre 1453 findet in Regensburg eine Erneuerung der Medicinal-
gesetze statt 1 ). „Es war, vermuthlich, um sich Raths zu holen an Doctor
Sehwendt in Heidelberg abgeordnet und auch von Nürnberg ein Arzt dorthin be¬
rufen, und das .fahr darauf ein Pflichtformular dieses Inhalts den Apothekern vor¬
gehalten worden. (Im grossen Rathsbuche fol. 7a). u
„Ein Apotheker solle alle Erzeney, gemachte und ungemachte in rechter Gut-
heit haben, keine veraltete oder verdorbene, verglasste oder versteife, verkaufen
oder unter andere mischen; er soll alle machen, als die bewährten Lehrer der
Erzenei schreiben, nichts davon oder dazu thun ohne Geheiss der Meister; er soll
emsig seyn, dass niemand durch sein Versäumniss verkürzt werde; er soll nie¬
mand giftige, kindvertreibende Erznei, oder da einiger Zweifel bey ist, verkaufen;
die grossen, schweren Arzneien, Thiriaca, AureaAlexandri., dergleichen, die lang
v orgehören (gähren) müssen, und daran gross liegt, nicht vermischen, es hab denn
ein Doctor alle die Stücke, ehe sie vermischt sind, vorher gesehen; er solle umb
sein Erznei ein ziemlich fordern und nehmen, dass niemand über ehrbare, ehrsame
Ziemlichkeit beschwert werde: er solle in Dingen, die die Apotheke angehen, in
keine Gemeinschaft mit einem Arzt stehen und in Erzneien niemand practicieren.“
Als Meister Niclas Rem ein paar Jahre später zum Apotheker angenommen
worden, wurden einige Artikel der Verpflichtung solcher Gestalt abgeiindert: „Der
Apotheker soll alle Erznei geben nach Ausweisung der Tafel von Nürnberg her¬
gebracht: wenn er auch Erznei macht, die in der Tafel nicht stehe, so soll er die
Bezahlung nehmen nach gleichem Anschlag anderer Receptc in der Tafel; er soll
keinen Kranken säumen, sondern förderlich ausrichten, und sich nicht irren Lassen
ander Kirchgang, Schlafen, Essen, Trinken, Feiertage noch ander Arbeit, wenn
der Kranke nicht wohl gepeilten (warten) mag. In der Apotheke sei ein Register
nach Nürnberger Gewohnheit, darin dieAerzte die Recepte nach wälscher Sitte
schreiben, was sie geben, daraus folgt etwas viel Nutzes; denn man sieht darin,
worin man dem oder diesem vor geholfen hat, wie theuer jeglichs zalt solt wer¬
den. Der Apotheker soll nicht practiciren, der Apotheke alle weg warten, dass
man ir einen finden, um den Lohn sich nicht zerkriegen, sondern die Entscheidung
an den Stadtarzt weisen“.
rehergehend zu dem weiblichen Heilpersonal - weibliche Aerzte, abgesehen
von den lieh cum nie n, hat es, wie bekannt, sowohl im Alterthum als im Mittel-
aller gegeben so ist noch die Regensburger 2 ) llebeammenordnung vom Jahre 1452
1 ) Gemeiner, 1. c.
2 ) Gemeiner, 1. c. Bd. 111. S. 207.
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Oeffentliche fiesum11 1 eitsplle«i^ deutscher Städte im Mittelalter.
175
erwähnenswert!!. Nach Schröder 1 ) wären die ersten Ilebeammenordnungen erst
Ende des 16. Jahrhunderts erschienen, Haescr 2 ) führt eine solche überhaupt
nicht an.
Die Regensburger Ilebeammcnordming macht im ersten Artikel den Hebe¬
ammen zur Pflicht, „ohne Eintrag und Widerwille zu jeder schwangeren Frau in
die Stadt zu kommen, zu welcher sie gerufen würden. „Nur allein zu keiner
Jydinn“, heisst es in der Ordnnng, „stillen sie nit kommen 14 . „Diese Ilebeammen-
ordnung ist übrigens ein rühmliches Denkmal der obrigkeitlichen Fürsorge für das
Wohl der Einwohner der Stadt. Bei der Verfertigung hatte man eine „Ileiang“
aus Nürnberg zu Rathe gezogen, die man, wie es scheint, dieserhalb eigens ein
Jahr zuvor hierher hatte kommen lassen. Das beschränkte Maass von Kenntnissen
jener Zeit verräth sich jedoch aus dem mangelhaften Inhalt derselben, so zweck¬
mässig mancher Punkt der Verordnung gewesen ist. Den sämmtlichen Hebeammen
waren ehrsame Frauen vorgesetzt, die um Gottes willen, und um der Obrigkeit zu
gefallen, eine Aufsicht über dieselben übernommen hatten. Weun ich mich nicht
irre, sagt Gemeiner, so hatten sich diese Frauen unter der charakteristischen
Benennung weiser Frauen bis in die Milte des verflossenen Jahrhunderts erhalten.
In älteren Zeiten wurden sie in schwierigen Fällen selbst von der Obrigkeit zu
Rathe gezogen und ihre Meinung wie ein Gutachten sachverständiger Personen
berücksichtigt. An die Zuziehung eines Geburtshelfers wurde nicht gedacht. Die
Ordnung befiehlt zu misslichen Geburtsfällen so viele Hebeammen zu Hülfe zu
rufen, als man haben könne, und wenn aller vereinter Rath nichts half, so wurde
endlich den Weibern überlassen, der Seele des Kindes mit dem Schnitt zu Hülfe
zu kommen“.
Trotz des Schutzes, den diese Mcdicinalpersonen von Seiten der
Behörden genossen, stand die Quacksalberei und Kurpfuscherei
im Mittelalter in höchster Blütlic. Selbst die härtesten Strafen 3 )
konnten dagegen nichts ausrieh teil, wie die zahlreichen Processe gegen
Quacksalberei beweisen. Um sich ein Bild von der Art und Weise
zu machen, wie es die Pfuscher im Mittelalter unter anderm getrieben,
wollen wir eine Zeugenaussage aus einem solchen Processe zu Strass¬
burg i. E. ira Jahre 1409 4 ) hier an führen. „Dis ist die kuntschaft
die von meister und rates wegen verhört ist, in welcher massen hein-
*) Haeser, 1. c.
2 ) Karl Schröder’s Lehrbuch der Geburtshülfe. Olshausen - Veit.
1893. Bonn.
3 ) Die Wiener Facultät trieb die Verfolgung der Empiriker mitunter bis zur
Erwirkung des Kirchenbanns. Am härtesten war, dass kein Licentiat oder Doctor
derartige Lebelthäter, wenn sie erkrankten, behandeln durfte. Haescr, 1. c.
Bd. I. S. 844.
4 ) Chronik deutscher Städte. Strassburg. Beilage S. 1026.
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Dr. Köhler.
17fi
rieh Lindenast und sin gemeiner die sieh ussdünt viir arezeie, wie
und in welcher inosse sü die liitc gearczent haut etc. u
Aussagen über die Quacksalber, aus welchen nur eine beispielsweise hier
hervorgehoben wird:
„Item vur Ennelin von Pforzheim, Ulin Aptes frown hat geseit: Daz sü Ulin
Appel mit sine Harne schichte zu Meister Johanse von Sahsen dem arezot, und
als sü kam bicz in Bredigergasse, so bekumbet ir Johans Judas Geschwihe und
fragete sü, war sü wollte. Do sprach die egen an t vur Innelin, sii wolle mit Ulin
Aptes ires mannes Ilarn zu rneister Johan von Sahsen gen. Do sprach Judas
Hansemanns Geschwihe zu ir: Do were ein guter arezot in Spittelgasse gesessen,
und den meinde man, dass er der beste arezot war, der nüzemol in der stat wer.
Also gung sü in Spittelgasse und fragete nach irno: do wart ir geseit, daz er in
Stadelgasse sesse, also ging sü zu im in Stadelgasse und zeugete im des egenant
Ulin Aptes irs manns Harn. Do sprach derselbe arezot: obe daz wasser ir were?
Do sprach vur Ennelin, nein, es were eine andern personen denne ir. Do sprach
der vorgenant arezot zu Ulins frowen: Die frown der daz wasser war, die were
noch unter iren 40 jaren und wer eine semliche frown, daz sie allemal empfinge,
und möchte doch die nature nit viirgang haben, wenne daz sehe man daran wol,
die nature lege in dem Harn und gewinne doch nit viirgang. Do er also rette,
auch uf der rede bleiz, als vorgeschriben stat, do sprach die vur Ennelin zu dem¬
selben arezot: er hotte daz wasser nit reht besehen, wenne es were eines mannes
wasser gesin und bat in aber daz er es reht beschrieve. Do sprach derselbe
arezot: ist es denne eins jungen bocks? Da sprach die egenant vur Ennelin, es
were eines guten gesellen, der sich auch gerne beging. Do bleiz er Alles daruf,
daz daz selbe wasser einre frowen were, und erschrack domitte und hiess die
selbe persone ampliren safT und anders trincken. Also gep ime die vorgenante
vur Ennelin 2 d. Do gung sü mit dem Harne in rneister Johanses huse von
Sahsen und zeugete denne auch ires mannes Harne. Do seite ir zu stiint rneister
dohans von Sahsen, daz der Harne eines mannes war und were bey den 40 jaren,
und der hate eine böse Leber und steckete voll Geblütes umbe das Hercze. Das
war auch war.“
Hand in 11 and mit diesen Anordnungen ging die Fürsorge für
die Pflege der Kranken durch Gründung von Kranken- und Sie-
* V.
ohenhäusern etc., Bildung’von Mönchs-, Ritter- und anderen Ordens¬
gemeinschaften, z. B. der Kalandsbriider (abgeleitet von Kalenden, an
denen sich die Brüder zu ihren Sitzungen zu vereinigen pflegten).
Selbst, an ofliciellen Stiftungen zu Gunsten armer Wöchnerinnen fehlte
es nicht 1 ). „Verschreibung der Stadt Nürnberg wegen 15 fl. ewigen
Geldes zu dem Almosen der armen Kindbetterinnen“ (1461). Endlich
wurde auch für die armen Waisen und für die Findelkinder früh
') Siebenkees, 1. c. ßd. iS. S. 9i>.
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OelTemliche CJ osiiih! lieii<!eutx'lior 8iiidle im Mittelalter.
177
schon in den Städten gesorgt. Der Sladtraih von Basel nahm sieh
bereits seit dem 14. und 15. Jahrhundert, der llevelkinder und Waisen
an. Die Waisen wurden bei Hausmüttern und die Kindelkinder auf
Kosten der Stadl theils bei Frauen in der Stadt, welche man Firnl-
lerinnen nannte, theils im Spital unlergehracht, wo eine eigene Kindl-
niuiter für sie zu sorgen hatte'). In I lm kennt man bereits seit dem
Jahre 1386 ein eigenes Findelhaus, an dessen Spitze zwei von dem
Stadtrath gesetzte Pfleger (Findelkinderpllegor) standen 2 ). Nur für
die Geisteskranken wurde noch nicht gesorgt. In Basel behandelte
man die tobsüchtigen Narren noch im 14. Jahrhundert als vom bösen
Geist besessene Leute und Hess sic sogar von dem Scharfrichter aus¬
peitschen 3 ). Nicht viel besser erging es den armen Unglücklichen in
Frankfurt a. M. 4 ); selbst wenn sie, wie es dort geschah, in ein Kran¬
kenhaus aufgenommen wurden, so war von ärztlicher Behandlung und
Beaufsichtigung noch keine Rede.
Ganz anders heimelt uns dagegen die Fürsorge um die Säug¬
linge an, welche Bestimmungen iirs Iahen rief, die zum Tlieil dann
in die spätere Gesetzgebung deutscher Finzelstaaten übergegangen
sind. Eine Kirchenversammlung dos bisehhölliehen Sprengels von Tre-
guier in Bretagne erlicss 1365 den Befehl, es sollte Niemand bei
Strafe des Kirchenbanns Kinder unter zwei Jahren des Nachts in's
Bette nehmen, um sie nicht zu erdrücken 5 ). Auch das Parlament,
von Toulouse fällte im Jahre 1566 ein scharfes Urtheil gegen eine
Sätigammc, die aus eigener Schuld und Nachlässigkeit einen ihr an-
vertrauten Säugling erstickt hatte 6 ).
Die Bononischc 1 ) Oberbehörde zog unter ihre Aufsicht sogar die
Säugammen, und bedrohte sie mit Geld- oder Gefängnissstrafe, wenn
sie die Kinder vernachlässigten, ihnen zu wenig Milch reichten, ihrer
mehr als eins übernahmen und verschwiegen, wenn sie wieder schwan¬
ger geworden.
*) Basel im 14. Jahrhundert. 8. 33. — Ochs, Basel etc. V. 175 176.
(,'itirl von v. Maurer.
2 ) Jaeger, Ulm. L. c. 8. 4S5 87.
3 ) Basel im 14. Jahrhundert. S. 32.33. t'ilirt von v. Maurer.
*) Kriegk, 1. e,
5 ) Cfr. llüllmann. Bd. IN. 8. 58 5t>.
6 ) Joh. Peter Frank, System etc. Bd. II. 8. 2<M>.
2 ) Statut. Bonon. Citirt von llüllmann, I. c. Bd. III. 8. 58 5‘d.
ViftrtcIJaWrswhr. f. ger. Med. Dritte I*'<dg<\ IX. I.
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178
I)r. Köhler,
Zur Verhütung von ansteckenden Krankheiten ist im Mittel-
alter, wie bereits im Anfänge angedeutet, recht wenig, ja beinahe gar-
nichts geschehen. Die Pestordnungen, Quarantäne etc. sind erst im
Anfänge des 16. Jahrhunderts in’s Leben gerufen worden.
Vor den endemischen Krankheiten, in der Hauptsache dem Aussatz, suchte
man sich durch die bekannte Isolirung der damit Behafteten zu schützen. Bereits
im 6. Jahrhundert soll es in Gallien Leproserien gegeben haben l ). Der alt¬
deutschen Bestimmung, dass die Aussätzigen sich vom anderen Volke fern halten
sollen, ist bereits in der Einleitung gedacht worden. Aehnliche Formulirungen
finden sich in den Bononischen Statuten 2 ): „Quod leprosi non possint stare in
campo fori.“ — „De leprosis ponendis in aliqua domo leprosorum.“ Die Regens¬
burger machten im Jahre 1306 3 ) kurzen Process: „Allen Aussiechen (fremden
presshaften Leuten) verboten meine Herren, dass sie nicht herein gehen sollten,
der Thorhüter sollte es ihnen wehren.“
In den schweren Zeiten der Noth, die gar häufig mit dem Gespenst des
schwarzen Todes einzogen, wurden einige Gesetze über die Beerdigung theils er¬
neuert, theils neu erlassen. Von Strassburg i. El. 4 ) heisst es in Pritsche Clo-
sener’s Chronik vom Jahre 1349: „In den Ziten ward auch verholten, daz man
keinen toten solte in die Kirchen zu begrebde tragen, noch solte (man) sie über
naht nit in den hüsern lossen, wände zehant sii gestürbent, so solt man sü be¬
graben.“ — Das Begraben der Todtcn in den Kirchen war bereits durch alte
deutsche Gesetze untersagt, wohl nicht aus gesundheitsschädlichen Rücksichten,
sondern in der Absicht, diese geheiligten Orte der hohen Geistlichkeit und hoch-
gestellten weltlichen Todtcn zu reserviren. In Caroli magni Capitul. 5 ) vom Jahre
813 wird befohlen: „Ut mortui in ecclesia non sepeliantur, nisiepiscopi aut abbati
vel fideles et boni presbiteri.“
Ferner findet sich diese Bestimmung unter den Gesetzen Ludwig des From¬
men vom Jahre 826 oder 27 6 ), „ut de sepeliendis in basilicis mortuis illa consti-
tutio servetur quae ab antiquis constituta est“. Ebenso in den Capitul. Ansegisi 1 ):
„De sepultura, ubi non fiat.“ „Ut nullus deinceps in ecclesia mortuum sepeliat.“
Verschiedene Anordnungen betreffs der Bestattungen sind uns vom Nürn¬
berger Rath erhalten 8 ). 1386: Ez haben auch verboten rechtiglich unser Herrn
der Schultheiss und die Burger gemeiniglich vom Rat, daz man in chainen kyrchen
es sei pfarre oder dosier sie ligen in der Stat oder in den vorsteten, chainen
Burger noch Bürgerin, noch chain ir kint noch dynar nicht begraben sol. Wer
*) Haeser, 1. c.
2 ) Statuti di Bologna. 1245.
3 ) Gemeiner, 1. c. Bd. 1. S. 461.
4 ) Chronik deutscher Städte. Strassburg i. E. S. 121.
5 ) Monumenta Germaniae.
6 ) Ibidem.
1 ) Ibidem.
s ) Siebenkees, Nürnberg. Bd. J. S. 207.
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Oeffentliche Gesundheitspflege deutscher Städte im Mittelalter.
179
dar über chein leich dar ein begrübe, der muz geben den bürgern an die stat
XXX phunt vun geste di mag man wol dar ein graben.
So 1437 *): „Item der rat pot, das man kein grub lenger ofTen lis den an
drei Tag von pos Gestanks wegen.“ Jn demselben Jahr an anderer Stelle: „Item
1437 jar war der grosse sterb zu Nürnberg; darnach über fünf und zwanzig jar
kam ein ander grosser sterb, daz war do man zeit 1462 . . . item wars auch ver-
poten, dass man keinen toten der ausserhalb der stat sturb in die stat liess furen,
er war burger oder Gast, wer aber wult 40 Gulden geben in die losung Stuben,
dem wolt man vergunnen in die stat zu legen. u
Strenge und practische Massregeln waren dagegen gegen die üppig wu¬
chernde Prostitution in den Städten getroffen. In fast allen Orten nöthigte man
die öffentlichen Frauen in Frauenhäusern beisammen zu wohnen und verlegte diese
in entlegene Theile der Stadt, z. B. in Frankfurt a. M. und in Nürnberg 2 ). Die
öffentlichen Mädchen und diejenigen, welche ihnen Herberge gewährten, waren
bestimmten Satzungen unterworfen. Zum Schutze der ehrsamen Bürgerfrauen
und -Mädchen mussten die Freudenmädchen bekanntlich eine rothe Masche als
Unterscheidungszeichen auf ihrer linken Schulter tragen. Wie in vielen hygieni¬
schen Anordnungen ging auch hierin wieder Italien vorn weg. So kennen wir als
erstes Gesetz, das die Prostitution regelt, die Polizeiverordnung der Königin
Johanna von Neapel vom S. August 1347 3 ). Besonders erwähnenswerth ist aus
dieser Verordnung, dass auf jedem Samstag die Vorsteherin und ein vom Rath
erwählter Wundarzt jedes Mädchen im Hause untersuchen sollen; fände sich, dass
eine oder die andere Person mit einem aus dem Beisehlafc entsprungenen Uebel
behaftet sei, so sollte sie von den übrigen abgesondert und allein gehalten wer¬
den, damit sie sich nicht vergesse und damit der Ansteckung der Jugend vorge¬
beugt werden.
Die genauere Kenntniss der syphilitischen Infection beginnt erst um das
Ende des 15. Jahrhunderts, so dass hier wohl nur die anderen venerischen Er¬
krankungen in Betracht zu ziehen sind. Ferner, „wenn eine dieser Weibsper¬
sonen schwanger würde, so solle die Vorsteherin sorgen, dass der Leibesfrucht
nichts zu Leid gethan werde; und solle sie es den Käthen anzeigen, damit von
diesen dem Kinde alles Nöthige angeschafft werden möge; die Vorsteherin sei alle
Jahre durch den Stadtrath von Neuem zu wählen. Nürnberg 4 ) hatte einen Thoil
dieser Vorschriften adoptirt, wie aus dem Edict. „Dy gemein Töchtern antreffend“
er. anno 1470 zu ersehen ist. „Ez sol auch fürbass der frawemvirt oder sein ge-
walt kein frawe in seinem Hawse wonnen dy do swanger oder zu zyten so sie mit
iren weippliehen Rechten (menstruis) beladen, noch auch sust zu keiner andren
Zyt, so sie ungeschickt were, oder sich von den sünden enthalten wolt zu keinem
manne noch süntlichen worken nicht noten, dringen noch dazu halten. In kein
weyss. u
Mit unnachsichtlicher Strenge verfuhr man gegen leichtfertige und absicht-
] ) Chronik deutscher Städte. Nürnberg.
2 ) v. Maurer, 1. c.
3 ) Joh. Peter Frank, System. Bd. II. S. 42.
4 ) Siebenkees, Nürnberg. Bd. I. S. 5 ( J«S.
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1 Hü
Dr. Kühl e r.
liehe 1 ) Verhreitumr :msterkonder Krankheiten, von der hier noch ein Beispiel an¬
geführt werden tnait'. In Ket*en>hurg- machte im Jahre l.)00 eine grobe, unehr¬
bare. Handlung nicht ^eriimen Kindruck auf Jen grossen Haufen. „Jorg Winkler
ein Obs er oder Oebstler, der mit der schweren Krankheit Malfranzos behaftet ge¬
wesen war, war angegeben und von Zeugen überwiesen, dass er den Schorf oder
die Blattern seiner venerischen Krankheit abzubrechen und unter das Obst, das er
unter dem Thurm verkaufte, zu weilen pflege. Dadurch, schien man zu glauben,
habe der Schadenfrohe dieses l ebel zu verbreiten beabsichtigt und allgemeiner
l’nwille lastete auf dem Menschen. Kr sollte nach Verdienst bestraft werden. Auf
Fürbitte und in Anbetracht seines körperlichen Zustandes wurde er jedoch mit
der Leibesstrafe verschont, auf dem Pranger ausgestellt und der Stadt ewig ver¬
wiesen.“
Zum Schluss noch eine kurze Mitihoilung darüber, wie man von
Siadtwegen für die Verwundeten in den mannigfachen Fehden sorgte.
Zog ein Kriegshanfe ans. so ging für gewöhnlich ein Chirurg mit,
war eine Belagerung zu erwarten, so wurden hierfür die geeigneten
Aerzte der Stadl bestellt. So steht, in der Chronik von Nürnberg 2 )
„von den stat erzton im Krieg“. „Item unsere Herrn vom rate hatten
bestell zwen ertzt, die die lout punden und heilten“ (1450 Nürnbergs
Fehde gegen Albrecht von Brandenburg). Cnd von der Verpflegung
der Verwundeten losen wir weiter: „Item mer speiset man alle wunt
lout. also: jeder, der wunt ward, der muss von dem arezt der in
pant, ain zaiehen bringen auf aim papir zu derkuehen; do nam man
ims denn und gab im von pleeh gemacht 1 zaiehen, duz saut er all
tag mach der speis, und die kuehenmaister gingen alle 14 tag oder
3 Wochen zu den erczlen und nameti der wunten namen goschribon;
und (von) welchem der arezt sprach, der der Kost nit mer not dürftig
wer und geheilt was, demselben nam man denn daz zaiehen in der
kuchen und gab im der speis nit mer.“
*) Gemeiner, 1. c. B<i. IV. S. 49.
2 j Chronik deutscher Städte. Nürnberg. Bd. II. S. IV,\ 9.
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III, Kleinere Mittheilungen, Referat»*,
Literaturnotizen.
a) Sammelwerke, Hand- und Lehrbücher.
l>r. A. Weraiek und Dr. R. Wehner, Lehrbuch des öffentlichen Ge>und-
lieitsWesens. Stuttgart. Verlag von F. Enke. Bibliothek des Arztes, gr. N.
1894. 788 S.
Es ist ein gewagtes Unternehmen, das weite Gebiet des öffentlichen Gesund¬
heitswesens in couipendiüser Form erschöpfend abhandeln zu wollen. Die Schwie¬
rigkeiten, welche sich einer solchen Aufgabe entgegen stellen sind ungemein gross,
und zu ihrer Bewältigung bedarf es hervorragend gewandter, in der hygienischen
Materie ebenso wie in der Verwaltungspraxis ausnehmend erfahrener mediciniseher
Schriftsteller. Es ist der Verlagshandlung von Enke gelungen, in den beiden
Modicinalralhen Wern ich und Wehm er die hierzu besonders geeigneten Kräfte
zu gewinnen, und diese haben es mit grossem Geschick und, wo nüthig, unter
Auferlegung weiser Besehränzung verstanden, den gewaltigen Umfang des Mate¬
rials auf den relativ knappen Kaum eines einzigen Bandes von ca. ;><) Druckbogen
zusammenzudrängen, ohne dass die l ebersicht lieh keil und Klarheit hierdurch
irgendwie gelitten hätten, ohne dass Erhebliches und Wichtiges übergangen wor¬
den wäre. Es ist aber nur dadurch möglich geworden, das Vorgesetzte Ziel in der
Vollkommenheit, wie geschehen, zu erreichen, dass feststehende Gebiete in kurzer
Zeit, z. Th. nach Art mathematischer Lehrsätze vorgetragen werden und der
Apparat einer besonderen Beweisführung nur da Platz greift, wo es sich um noch
lebhaft umstrittene Ansichten und Meinungen handelt. Unterstützend tritt die
eigenthiimliche formelle Art der Behandlung des Stoffes hinzu, eigenthümlich
insofern, als neben dem Texte l ; u>snoten in fortlaufendem besonderen Drucke ein¬
hergehen, welche nach der Absicht der Verfasser eigentlich ein abgekürztes Hand¬
buch abgeben sollen: eine Darstellung der Materialien, mit deren Hülfe der Text
zu seinen Schlüssen und Ergebnissen gelangt ist. Der Leser befreundet sich
schnell mit dieser allerdings etwas ungewohnten Darstellungsweise, nur anfangs
wird die Aufmerksamkeit von dem eigentlichen Thema dein Texte leicht ab- und
den Fussnoten zugelenkt.
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Kleinere Miltheilimgen, Referate, Litoraturnotizen.
Es kann nicht in dem Rahmen dieser Besprechung liegen, auf Einzelheiten
des Werkes, wenn auch nur kurz, einzugehen; eine gedrängte Inhaltsübersicht
mag genügen. Das Werk zerfällt in vier Bücher. Nach einer nicht ganz leicht zu
lesenden Einleitung wird in dem ersten Buche „Die Hebung der allgemeinen
Lebensbedingungen“ abgehandelt. Es werden zunächst die Aufgaben des Gesund¬
heitswesens in Bezug auf das Wohnen erörtert, und hierunter die allgemeine und
specielle Wohnungshygiene — Bau-, Feuer-Polizei, Kellerwohnungen, öffentliche
Versammlungsräume, Heizung, Ventilation, Beleuchtung, ferner Luft-, Boden-,
Wasser-Verunreinigung, sowie die Mittel zu ihrer Abstellung zusammengefasst.
Drei Anhänge bringen dann die natürlichen Mineralwässer, Badeorte, Gesund¬
heitsschädlichkeit des Eises. Der zweite Abschnitt des ersten Buches umfasst die
Nahrungs- und Genussmittel, der dritte die Apotheken, den Droguenhandel, Gift¬
polizei, Geheimmittel, endlich die Bekleidung und die Muskelpflege. Das zweite
Buch beschäftigt sich mit dem „Schutze gegen schädliche Einwirkungen von
Zwangslagen“. Es beginnt mit der Fürsorge für die Neugeborenen — Kindersterb¬
lichkeit, Findelwesen, Krippen, Ammen ---, um dann auf das wichtige Kapitel der
Schulhygiene, weiterhin auf den Arbeiterstand mit seinen Ansprüchen auf das
öffentliche Gesundheitswesen — Unfall, Arbeiter-Wohnungen und -Ernährung,
Arbeitszeit —, auf die Fürsorge für Invaliden, Sieche und Arme überzugehen.
Hieran schliessen sich die öffentlichen Veranstaltungen zum Abwenden von Un¬
fällen — ärztliche Hülfe zur Nachtzeit, erste Hülfe durch Laien, Rettungsapparate
und Rettungsstationen, Scheintod, Ertrinken, Ersticken u. s. w. — der Gesund¬
heitsschutz der Reisenden zu Lande und zu Schiffe, die Hygiene der Gefangenen,
die öffentliche Fürsorge für Erkrankte — Aerzte, Hebammen, Heildiener, Kranken-
und Irrenhäuser —. Das dritte Buch behandelt die Abwehr der einzelnen ver¬
meidbaren Krankheiten, das vierte die Verwaltungsorganisation — Anzeigepflicht,
Leichenschau, Seuchengesetze, Desinfection etc.
Diese kurze Inhaltsangabe gewährt einen Einblick in die Fülle des Gebo¬
tenen. Es ist aber nicht bloss die die Materie erschöpfende Vollständigkeit, welche
den Vorzug des Buches bedingt, sondern fast mehr noch die Art und Weise, wie
die Behandlung des Stoffes durchgeführt worden ist. Das Werk ist nach einheit¬
lichen Gesichtspunkten bearbeitet, trotz zweier Autoren wie aus einem Guss auf-
gebaut, klar, durchsichtig, meistens leicht verständlich, oft in scharf pointirter
Ausdrucksweise geschrieben. Jedes Kapitel hat seine besonderen Vorzüge, als am
besten gelungen aber halte ich die Abschnitte über die Aufgaben des Gesund¬
heitswesens in Bezug auf das Wohnen, die Schulhygiene, die Infectionskrank-
heiten.
Alles in Allem genommen ist die Fachliteratur um ein vortreffliches Buch
reicher geworden, von dem zu wünschen ist, dass es eine weite Verbreitung finden
möge nicht nur unter den beamteten Aerzten, welche in ihm über fast jede Frage
ihrer vielgestaltigen Berufstätigkeit Rath und Aufschluss erhalten, sondern auch
unter den praktischen Aerzte, in deren Kreisen z.Th. noch recht wenig geläuterte
Anschauungen über die Forderungen des öffentlichen Gesundheitswesens herrschen.
Medicinalrath Dr. Rost-Rudolstadt.
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Kleinero Mittheilungen, Referate, Liieraturnoiizen.
183
Pr. Rax Rabier, 0. ö. Professor der Hygiene an der Universität und Director der
hygienischen Institute zu Berlin, Lehrbuch der Hygiene, Systematische
Darstellung der Hygiene und ihrer wichtigsten Untersuchungsmethoden. Zum
Gebrauche für Studirende der Medicin, Physikatseandidaten, Sanitätsbeamte,
Aerzte, Verwaltungsbeamte. Mit 273 Abbildungen. 5. Auflage. Leipzig und
Wien, Franz Deuticke. 1895. IX und 983 Seiten.
Das früher Nowak’sche, jetzt Rubner’sche Buch hat seinen grossen
Freundes- und Interessentenkreis: 1890 musste sich der gegenwärtige Verfasser
der Bearbeitung einer dritten Auflage unterziehen, welche nahezu eine vollkom¬
mene Neudarstellung bedeutete; 1892 wurde die vierte, Ende des laufenden Jahres
die fünfte Auflage fertig. Auch diese letztere Aufgabe war nur in der Weise zu
fördern, dass neben den nothwendigen zeitgemässen Ergänzungen auch darauf
Bedacht genommen wurde, erhebliche Theile des Buches neu zu bearbeiten und
dort, wo es geboten erschien, den Text durch neue Abbildungen zu erläutern.
Die Eintheilung in 16 Hauptabschnitte nimmt folgenden Gedankengang:
Atmosphäre, Warme, Boden, Klima, Wohnhaus, Städteanlagen, Ernährung, Nah¬
rungs- und* Genussmittel, Hygienisch wichtige Lebensverhältnisse, Gewerbehy¬
giene, Morphologie und Biologie der Parasiten des Menschen, die Verbreitungs¬
weise einiger Volkskrankheiten, Uebertragbare Thierkrankheiten, Mittel zur Be¬
kämpfung der Volkskrankheiten, die Schutzimpfung, die Organisation der öffent¬
lichen Gesundheitspflege. (Es sind in diesem letzten Kapitel Deutschland,
Oesterreich, England und Frankreich in Frage gekommen.)
Eine Fülle reifen Wissens und viele originelle Anschauungen sind in dem
Werke zum Ausdruck gelangt.
Dr. W. Pranssniti, Professor der Hygiene an der Universität Graz, Grundzüge
der Hygiene. Für Studirende an Universitäten, technischen Hochschulen,
Aerzte, Architekten, Ingenieure und Verwaltungsbeamte. Zweite erweiterte
und vennehrte Auflage. Mit 192 Abbildungen. München u. Leipzig, J. F. Leh¬
mann. 1895. 473 und X. Seiten.
Die von Pr. auch in der zweiten Auflage seiner „Grundzüge“ festgehaltene
Eintheilung des Stoffes hebt mit „Mikroorganismen“ an. Dann folgen als gleich¬
wertige Abschnitte: Luft, Kleidung, Bäder, Boden, Wasser, Wohnung, Heizung,
Ventilation, Beleuchtung, Abfallstoffe, Leichenbestattung, Krankenhäuser, Schul¬
hygiene, Ernährung, Infeetionskrankheiten, Gewerbehygiene. — Auch bei der
gegenwärtigen Bearbeitung hat der Vf. und die Verlagshandlung ihre besondere
Sorgfalt den Abbildungen zugewandt. Obwohl man Hygiene ja unmöglich aus
einem Buche lernen kann, obwohl die hygienischen Untersuchungsmethoden nicht
allein einmal gesehen, sondern auch mehrmals vom Lernenden ausgeführt sein
müssen, können doch charakteristische Abbildungen Vieles dazu beitragen, dem
angehenden Hygieniker die Anschauung und das Gedächtniss zu stärken.
Als einen Vorzug der neuen Auflage darf man es bezeichnen, dass für die
Haupttypen der wichtigsten hygienisch-technischen Einrichtungen (Wasserversor¬
gung, Beseitigung der Abfallstoffe, Canalisation, Rieselfelder etc.) Uebersichts-
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Kleinere Miiiheihingen, Keferate, Literat urnotizen.
I»i 1 <Ier angefertigt wurden, auf welchen mit wenigen Strichen bewährte Einrich¬
tungen grösserer Städte eingezeichnet wurden. Die Gesetzgebung hat naturge-
mäss nur nebenher Berücksichtigung linden können.
Prof. Pr. C. Naiwerek, I. A>sistenten am pathologichen Institut zu Königsberg
i. Pr., Sectionstechnik für Studirendo und Aorzte. Zweite vermehrte
Aullage. Jena, G. Fischer. 1X14. Mil und 159 Seilen 51 Abbildungen.
Gegenüber der nicht ganz geringen Büchererzeugung auf dem Felde der
Sectionstechnik hat Na u werck’s Leitfaden schon seit seinem ersten Erscheinen
seine Ebenbürtigkeit erwiesen und behauptet. Die der zweiten Auflage mitge¬
gebenen Bereicherungen entsprechen dem seit 1X91 erkannten Bedürfniss. Es sind
einige zweckmässige Veranschaulichungen durch neue Figuren (gez. vom Maler
Braune) hinzugekommen, so: „Section der rechten Lunge“ — „Section der Hals-
organe“ — „Section der Niere“ „Section der männlichen (auch der weiblichen)
Beckenorgane“ — „Section der Leber“, die sich schnell unter den Gerichtsärzten
Beachtung und Anerkennung erwerben dürften.
Auch das Kapitel „Angabe des Sectionsbefundes“ (es soll auf die wesent¬
lichen Gesichtspunkte bei der Leichenuntersuchung hinweisen, ohne die einzelnen
Krankheitsformen zu besprechen) ist neu. Die Literatur aus den 90ger Jahren ist
vollständig berücksichtigt, so Zahn, Orth, Fiittercr, Müller, Weigert,
Harke. Bereits 1892 ist eine italienische Lebersetzung des nützlichen Buches in
Turin erschienen.
Dr. K. J. Seydelj a. o. Professor an der Universität und gerichtlicher Physikus in
Königsberg i. Pr., Leitfaden der gerichtlichen Medicin für St udirende
und Aerzte. Berlin, 189.). S. Karger. 296 S.
Unser geehrter Mitarbeiter führt seinen neuen Leitladen, die Frucht einer
langjährigen forensischen Praxis und eines sehr kritischen, ruhigenBeobachtungs-
talentes in einer wohl allzu bescheidenen Vorrede ein. Dass im engen Rahmen
eines Leitfadens viele Abschnitte sich an ausführliche Lehrbücher anlehnen müssen
— der Verfasser hat für seinen Zweck am meisten das Werk v. Hofmann’s be¬
vorzugt dass man nicht ein Aussiattungsniaterial wie bei dem Lesser’schen
Tafelwerk beanspruchen kann, wird ja dem Käufer und Leser des vorliegenden
Buches von vornherein einleuchten. Er findet indess darin wichtige und noch
viel umstrittene Kapitel (wie die Vergiftungen, den Kindesmord, den Erstickungs¬
tod etc.) in einer höchst belehrenden und die Leiehenerscheinungen reell und er¬
schöpfend verwerthenden Methode behandelt: besonders wird auch der 1. Ab¬
schnitt „Formeller Theil“, der einer langjährigen Beobachtung des praktischen
Bedürfnisses entsprungen ist, sich bald Freunde erwerben.
Die Logik der Zusammenhänge, wie sie das Inhaltsverzeichnis darbietet,
ist eine recht originelle; fongeblieben ist Nichts, was dem Praktiker je einmal
von Werth sein könnte.
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Meiin*rr Miulieilmiijen, Kefernle, Uteraturnoii/en.
1SÖ
b) Medicinalstatistik.
WeitoNeyer, M. f Münchener Tuberculose - Mortalität in den Jahren
1814—1888. Ein Beitrag zur Aetiologie der Tul)erculose. Münchener Wochen¬
schrift. 1898. 26. 27.
Seinen Forschungen übm- Tu herr u lose-Morl a I it ii-t in München halte
Weitemeycr den Ausgangspunkt gesetzt, den nahe an 100 Bezeichnungen, welche*
dort für den Ausgang der Schwindsucht als Todesursache gebräuchlich sind,
näher nachzugehen und schliesslich von 829862 Sterbefällen der Jahre 1814 bis
1888 47282 (das sind 14,88 pUt. sänimtlicher Todesfälle) der Tuberculose zuzu-
tlieilen. Das höchste ITocentverliältniss der Tuberculose-Sterblichkeit zur Ge-
sainintniortalitiit wurde 1818 mit 18,60 pCt. erreicht; diesem Jahre stehen noch
nahe: 1844 mit 18,82, 1887 mit 18,18, - 1848 mit 17,68, 1824 mit 17,05,
— 187)2 mit 17,02pCt. Einen ganz ausnahmsweise niedrigen Standpunkt erreichte
die Schwindsuchtsmortalität im Jahre 1854 mit 8,76 vom Hundert. Im l’ehrigen
sind die Schwankungen nicht gross — und rechnet man von den 75Jahren immer
je 25 Jahre zusammen, so ergaben sich:
eine Gesammt- eine Schwinds.
Mortalität Mortalität
ein Yerhähni SS
IS 14—1888 = 58599 = 8998 = 15,34 pCt.
1889 1868 = 87042 = 13018 = 14,95 „
1864- 1888 = 184221 = 25271 = 13,71 „
Sonach hat sich das Verhältnis der Tuberculose-Sterblichkeit
zur Gesammtmortalität vom ersten Vierteljahrhundert zum zweiten um 0,39,
vom zweiten zum dritten um 1,24 vermindert. Berechnet man, um hier keinem
Trugschluss anheimzufallen, die Tuberculose-Sterblichkeit im Yerhältniss zur Ein¬
wohnerzahl und deren Schwankungen, so stellt sich das Resultat anders. Es
würden dann auf jedes Tausend der Einwohner fallen
1889—1848 : 4,6 pM. Schwindsuchtsausgänge,
1849 1858: 4,8 „
1859—1868: 4,6 „
1869—1878: 5,3 „
1879—1888: 4,7 ..
Eiir die hohe Schwindsuchtssterblichkeit der Jahre 1871, 1872, 1878 weiss
Weitemeyer eine bestimmte Ursache nicht anzugeben.
Werden diese 8Jahre ausgeschaltet, so zeigt auch das achte Dominium eine
Tuberculose-Sterblichkeit von 4,7 pro Mille, und man muss bekennen, dass die so
erheblichen hygienischen Verbesserungen diesen Factor der allgemeinen Mortalität
nicht haben verkleinern können: Die Tuberculose mit ihren so verschiedenen Aus¬
gängen fordert in München von je 1001X) Einwohnern „mit unheimlicher Regel¬
mässigkeit“ ihre 46, 47, 48 Opfer noch in den letzten — wie vor 7)0 — Jahren.
Unter den atmosphärischen Verhältnissen des Ortes möchte W. die Schwankungen
in der Temperatur ätiologisch heranziehen. Was die jahreszeitlichen Unterschiede
anlangt, so steigt die Curve der Monatsmittel des 75jährigen Durchschnitts vom
Minimum im September und Oc-tober allmälig in 6 Monaten bis zum Maximum im
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Kleinere Mittheilungon, Referate, Lileraturnotizen.
18B
April und Mai; von da fallt sie wieder in 4 Monaten zum Minimum herab. Ver¬
gleiche zwisehen den Curven der monatlichen Temperatur-Mittelzahlen und den
eben besprochenen führen dazu, dieselben als nahezu gleichlaufend zu finden,
wenn man die ersteren um 5 Monate vorrückt. Unter Hinzunahme eines Ansatzes
für die durchschnittlichen Anfänge des Krankheitsprocesses möchte \Y. dem
Schlüsse zuneigen, dass je kälter die Jahreszeit, desto bedenklicher sie ist für
Alle, die an Tubereulose kranken. Dem Strassenstaube und seinem Bacillenge¬
halt, dem Detritus von W änden solcher Räume, die Schwindsüchtige beherbergten,
der (’ontact-Infection von Mensch zu Mensch, der Uebertragung durch Milch tuber-
culöser Kühe wird naher nachgegangen und ausgeführt, dass neben dem Wctter-
einlluss wolil am vorwiegendsten der andauernde Aufenthalt der Menschen in ge¬
schlossenen Räumen seinen disponirenden Einfluss geltend macht. Je andauernder
die Bevölkerungen (Land-, Nomaden- etc. -Bevölkerung) im Freien zubringen,
desto seltener wird unter ihnen die Erkninkungs- und Sterbeziffer derTuberculo.se,
c) Forensisches und Psychiatrie.
Vom 1. Januar 1895 ab wird im Verlage von R. Schötz (früher Ph. Ch. J.
Enslin) eine „ärztliche Sach verständigen-Zeitung“, Organ für die gesammte
Sachverständigenthätigkeit dos praktischen Arztes erscheinen. Herausgeber sind
die Herren Physikus Sanitätsrath Dr. Becker und Dr. A. Leppmann.
„Die Aerztliche Sachverständigen - Zeitung wird auf dem Gebiete der
socialpolitischen Gesetzgebung der Gesammtheit der praktischen Aerzte
die Kenntniss der Kranken-, Unfall- und Invaliditäts-Versicherungsgesetze, und
insbesondere die Kenntniss und Hebung in der formgerechten Behandlung der
einschlägigen Fragen vermitteln; aber sie wird auch in derselben W r eise alle
anderen von Behörden und Privaten aufzustellenden Anforderungen
an die gutachtliche Thätigkeit des praktischen Arztes, sie wird das
ganze Gebiet gerich11 ich-medicinischer Thätigkeit einschliesslich der
Begutachtung von Seelenstörungen, wie sie auch von jedem nichtbeam¬
teten Arzt gefordert werden kann, ferner die Beziehungen zu den Lebensver¬
sicherungsgesellschaften, auch die öffentliche und private Gesundheits¬
pflege, soweit dem praktischen Arzte daraus Sachverstiindigenaufgaben er¬
wachsen, und das Gebührenwesen in den Kreis ihrer Besprechungen ziehen.
Sie wird sich endlich bemühen die Aufmerksamkeit auf gesetzgeberische
Pläne zu lenken, soweit dieselben für die Sachverständigenthätigkeit des Arztes
in Betracht kommen könnten.“
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Kleinen* Miiihoilungon, Referate, Literaturnotizen.
187
Pr. IlsnddCk RHin (Autorisirte vielfach verbesserte, deutsche Ausgabe von Dr. Hans
Kurella), Verbrecher und Verbrechen. Mil 7 Tafeln und Text-Illustra¬
tionen. Leipzig, G. H. Wigand. 1894. 342 S.
In England war vor 5 Jahren, als Ellis seine Schrift für das englische
Publikum verfasste, noch kein zusammenfassendes Werk über criminelle Anthro¬
pologie bekannt geworden. Der Verf. suchte mit einer unparteiischen Zeichnung
des Bildes der Verbrecher-Ligenthümlichkeiten, wie sie damals unter Führung
Lombroso’s dem grösseren continentalen Leserkreise bekannt und iheilweise
bereits ein Gegenstand der Discussion wurden, noch einen weiteren Ausblick zu
verbinden: nämlich gewisse sociale Erscheinungen in seine Betrachtung mit ein¬
zubeziehen, auch der rationellen Behandlung des Verbrechers eine schärfere Be¬
tonung zu Theil werden zu lassen. Derartige Ausblicke für deutsche Leser und
auf deutsche Verhältnisse zu eröffnen, machte manche Abänderungen nöthig, die
der Autor mit eigener Hand begann und die der auf diesem Felde bewanderte
Uebersetzer gleichfalls nach der Seite zuspitzte, das Buch auf die Höhe des heu¬
tigen Standes der Hauptprobleme zu bringen.
Auch wenn man den geborenen Verbrecher nicht im Sinne Kurella’s
gelten lässt, wird man besonders in den Kapiteln V—VII (Resultate der crimi¬
nellen Anthropologie, — Die Behandlung des Verbrechers, — Verbrechercultus,
Contagion des Verbrechens, Zurechnung, irre Verbrecher, das Verbrechen als
sociale Erscheinung) eine Fülle geistvoller Anregungen finden.
Prof. B. ftn ItfnaM, Ueber Aneurysmen der Basilar-Arterien und
deren Ruptur als Ursache des plötzlichen Todes. Vorgetragen in
der Section für gerichtliche Medicin der 66. Naturforscher-Versammlung in
Wien. Sep.-Abdr. 11 S. Fol.
In seiner 20jährigen Wiener forensischen Thätigkeit hatte v. H. zur Secirung
von 78 Fällen der durch die Ueberschrift charakterisirten Todesfällen Gelegenheit;
75 dieser Beobachtungen sind in einer Tabelle zusammengestellt, welche über Ge¬
schlecht und Alter der betroffenen Individuen, über den Eintritt des Todes (Zeit),
über die Todesursache im engeren Sinne, über Sitz und Grösse der Aneurysmen,
die der Ruptur, bezw. dem tödtlichcn Ausgange voraufgegangenen Krankheitser¬
scheinungen, auch über die beobachteten Complicationen jede erwünschte Auskunft
darbietet.
Es sind die oft nicht wenig verborgenen anatomischen Eigenheiten des Basi-
lar-Arterien-Gebietes, welche die Hauptschwierigkeit der hier zu lösenden Aufgabe
ausmachen. Auf die Würdigung derselben für das Zustandekommen der Basilar-
Aneurysmen, auf die feineren pathologischen Vorgänge bei diesem Werdcprocess,
auf die forensisch so wichtige Frage, ob grade diese Art von Aneurysmen auch
durch Traumen veranlasst werden könne, richten sich die scharfsinnigen Erwä¬
gungen, welche Verf. über das wichtige Thema angestellt hat.
Ein Special-Kapitel bietet die Differential-Diagnose dem Vergiftungs-Verdacht
gegenüber, wie er in Laienkreisen bei der Plötzlichkeit dieser Todesfälle sich zu
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Kleinere Mittheilungen, Referate, Literaturnotizen.
bilden pflegt. Auch die Uomplication, welche die postmortalen Verletzungen (Ifin-
abstürzen) bei dieser Todesart herbei führen, gelangt zur eingehenden Würdigung.
Dr. med. •U* ••»Math, Director der Provinzial-Pflegeanstalt in Freiburgi.Schl.,
Compendium der Psychiatrie für Studirende und Aerzte. Leipzig,
Veit u. Comp. 1894. 270 S., Abbildungen im Text und 2 Tafeln.
1). hat für das Bedürfniss des Praktikers gearbeitet und sein Ziel dahin ge¬
stellt, durch sein wirklich im besten Sinne compendiösesWerkchen die wichtigsten
Erscheinungen des psychiatrischen Gebiets durch knappe und möglichst klare
Schilderungen zu beleuchten und letztere durch Krankengeschichten, die der
Praxis entnommen sind, in allen wünschenswerthen Einzelheiten zu ergänzen.
Die Kintheilung bietet nichts Ungewöhnliches, indem sie bei Kapitel I mit
einer Einleitung, Kapitel 11 geschichtlichem Ueberblick, Kapitel III Ursachen der
Geistesstörungen anhebt — und mit den letzten 5 Kapiteln bestimmte ätiologische
Provenienzen des Irreseins zu Ausgangspunkten nimmt (das letzte und 24. Kapitel
behandelt die Geistesstörungen durch Gehirnsyphilis).
Die Abbildungen sind zweckentsprechend ausgewählt und vorzüglich zur
Ausführung gebracht, die sprachliche Darstellung erstrebt mit Erfolg Natürlich¬
keit, Klarheit und präeise Kürze. Mancher unserer Leser wird in dem „Com¬
pendium“ ein Hülfsmittel finden, das er bis jetzt vermisste.
Dr. ftp# Sehtlx (Bremen), Ueber Fortschritte in der Irrenpflege. Leipzig,
Ed. FL Mayer. 1894. «3 S.
Der vortheilhafi bekannte Verfasser bezieht sich für die Entstehung der
Schrift auf seine voraufgegangenen Arbeiten „Ueber Wachabtheilungen in Irren¬
anstalten“, — „Was kann der Arzt für unheilbare Geisteskranke tliun?“ — auch
„Die nächste Aufgabe der Irrenpflege“ zurück. Jene grosse Kluft, welche uns be¬
züglich der Lösung der aufgeworfenen Fragen von den ersten 3 Jahrzehnten noch
unseres Jahrhunderts trennt, wird in lebhafter, formvollendeter Sprache geschil¬
dert, dann auf das coloniale »System, die freien Verpflegungsformen, das Open-
Door-System eingegangen. Es folgt die Bettbehandlung und Wachabtheilung: die
Behandlung Tobsüchtiger, wobei besonders auch die Nützlichkeit der Bäder¬
therapie ihre ausführliche Erörterung erfährt.
Tobzelle und Isolirung sind im dritten Abschnitt behandelt- und im Vergleich
mit den Einwicklungen und Dauerbädern genauer betrachtet. Der Polsterzelle als
„Matratzengruft“ wird die Bett behandln ng vergleichsweise gegenüber gestellt.
Tobzelle und Isolirung führen zum Schlendrian. --- Die bauliche Einrichtung der
Irrenanstalten soll darnach streben, ihm den kloster- und gefängnissartigen Cha¬
rakter zu nehmen. „Schallen wir mehr Luft und Licht in die Anstalten!“ „Klären
wir auch das Publikum auf und gestatten ihm Zutritt in alle Räume!“ — Der
Schlussabschnitt beschäftigt sich mit dem Pflegepersonal.
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Kleinere Mitihoihmgen, Referate, Liferaturnotizen.
1 81)
d) Tagesfragen, Nahrungshygieiie.
L)r. Jos. Hydrat, Die Salubritätsind icatoren. Ein Bei trau: zur Salubritäts-
taxation der Städte. Prag, II. Dominicas. 1894. f>() S.
Lebhaft angeregt durch die ungünstige Stellung, welche nach der durch-
gehends üblichen Berechnung der Mortalitätsziffer, neben anderen Slädten mit star¬
kem Bevölkerung^zuzug auch dorStadt Prag angewiesen wird, legt Vf. Abänderungs¬
vorschläge für die in Frage kommenden Rechenmethoden vor. Er erörtert, dass
weder die nach den Beschlüssen des internationalen statistischen Instituts, noch
nach einem Plane von seinem Gegner Presl oonstruirten MortalitälszifTern den
„Salubritätsgrad“ der fraglichen Städte richtig anzeigen würden und kommt
dahin, dass sich als Salubritätsindicator eines Ortes am besten die Mortalitäts-
zifTer der Civilbevölkerung mit ständigem Wohnsitz (d. i. der Wohnbevölkerung)
eignet, welche aus der Einwohnerzahl und der Mortalität der Wohnbevölkerung
zu construireu wäre. Neben den Ausweisen über Geburten und Sterbelalle der
laotischen Bevölkerung, müssten nach It.’s Vorschläge, auch die Ausweise über
Geburten und Sterbefälle der Wohnbevölkerung in allen Rubriken (also auch be¬
treffs der Gehurlsziffer) publicirt werden.
Dr. ferdinand Bahr, I iCitender Arzt des Reconvalescentenliauses Hannover, Zur
allgemeinen Beurt heilun g von Un fa 11 v e r 1 et zungen und i hre n
Folgen. Sep.-Abdr.
Verf. skizzirt auf Grund eines zahlreichen Materials von circa KHK) Fällen
klinischer Beobachtung und einer grossen Anzahl anderweitig verfolgter Unfall¬
verletzungen einzelne für die allgemeine Beurtheilung von Erwerbsstörungen be¬
sonders wichtige Punkte. — Die sog. Inactivitätsatrophic sei nicht immer eine
reine Folge des Nichtgebrauches; es wirkten dazu noch andere Umstände mit,
Hemmungen des localen Blutverkehrs, trophische Störungen und nervöse Ein¬
flüsse. Ausser der als objectivcs Krankheitssymptom gut zu verwcrthenden mess¬
baren Atrophie der Musculatur kommt die Consistenz derselben in Betracht und
die Herabsetzung der elektrischen Erregbarkeit. Aber selbst wenn diese Symptome
fehlten, so könne doch auch noch in einzelnen Fällen eine Insufficienz der Inner¬
vation vom Centrum aus vorliegen. B. weist darauf hin, dass in den Muskeln
verletzter Extremitäten, wenn dieselben eine Zeit lang ausser Function gesetzt
sind, eine Disposition zu rheumatischen MuskelalTectionen bleibt, welche mit dem
Alter zunimmt. - Ferner erwähnt er die Coniraciurstelhingen der Gelenke, wie
sie nach längeren Verbänden durch eine Verkürzung der Musculatur bedingt
werden; besonders sei dies beim Schultergelenk der Fall, und doch sei dieser
Schaden sehr wohl durch passende Lagerung, häufigen Wechsel derselben, durch
geeignetere Verbandarten, vor Allem aber durch besseres Ueberwachen zu ver¬
meiden. — Es wird dann weiter besprochen die Bedeutung der Reibegeräusche
an den Gelenken, die nach Heilung von Knochenbrüchen zurückbleibende
Schwache der Glieder, die Schmerzen bei Witterungswechsel, die Circulations-
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Kleinere Mittheilungen, Referate, Literaturnotizen.
190
Störungen, die (Vunplication von Verletzungen mit Unterschenkelvariccn. Bei der
Besprechung der Simulation bemerkt er sehr richtig, dass das Gros der Aerzte
sich nach zwei Richtungen theile, von denen die eine den humaneren, die andere
den schrofferen Standpunkt den Verletzten gegenüber einnimmt, und auf beiden
Seiten stehen gleichwertige Autoritäten. Die zu starke Betonung des Vorkommens
der Simulation hat vielfach nur zu einer mangelhaften Würdigung von Verletzungen
geführt, und ist sehr oft die ultima ratio gegenüber einer nicht aufzuklärenden
Diagnose. — Bei älteren Leuten käme oft Invalidität, bedingt durch Alters¬
schwäche und Invalidität zusammen vor. Wenn ältere Leute auch zur Uebertrei-
bung neigen, so müsse doch auch darauf hingewiesen werden, dass bei älteren
Verletzten bisweilen schwere hypochondrische Verstimmungen eintreten im An¬
schluss an den Unfall, und dass man dieser Thatsache Rechnung tragen müsse.
— Im Weiteren bespricht B. das Verfahren der Entschädigung und rügt die über¬
mässige Berücksichtigung der beruflichen Arbeit der Verletzten seitens derSehieds-
gerichte und des Reichs-Versicherungsamtes; er verlangt bei der Entschädigungs¬
feststellung für die Aerzte beim Schiedsgericht und Reichs-Versicherungsamt be-
rathende und beschliessende Stimme. — Schliesslich erwähnt B. die ärztlichen
Gutachten und verlangt von ihnen besonders, dass sie sachlich seien und klar;
und endlich macht er die auch anderweitig aufgestellte Forderung geltend, dass
die Berufsgenossenschaften möglichst frühzeitig ausführliche Gutachten von den
behandelnden Aerzten sich verschaffen sollten. Becker-Berlin.
Dr. 1 . BlagaiS, Professor der Augenheilkunde in Breslau, Leitfaden für Be¬
gutachtung und Berechnung von U n fall beschädig un gen der Augen.
Mit 4 Tafeln. Breslau, Kern. 1894.
Verf. will in der vorliegenden Arbeit speciell dem Augenarzt eine Anleitung
bieten, welche ihm eine exaet mathematische Berechnungsmethode der Augenbe¬
schädigungen ermöglichen soll; er giebt in seinem Vorwort an, dass er für die
Klarlegung und Entwickelung des zum Theil recht schwierigen mathematischen
Theils seiner Arbeit in einem Mathematiker von Fach Unterstützung gefunden
habe. In Folge dessen stellt die Schrift demjenigen, welcher mit mathematischen
Formeln nicht gut Bescheid weiss, eine etwas schwierige Aufgabe.
Im allgemeinen Theil seiner Arbeit bespricht der Verf. nach der vom Reichs-
Versicherungsamt aufgestellten Definition der Erwerbsfähigkeit den Begriff der¬
selben, welche er eine zusammengesetzte Grösse nennt, deren Bestandtheile sind:
1) die ungeschmälerte Functionsfähigkeit der körperlichen Organe, 2) die tech¬
nischen Fertigkeiten oder Kenntnisse, welche zur Ausübung des betreffenden Be¬
rufes erforderlich sind und vom Individuum erworben werden müssen, 3) die C'on-
currenzfähigkeit des Individuum auf dem Arbeitsmarkt. — Er bespricht dann
weiter den Werth der Zehender’schen Berechnungsmethode und erklärt, dass
der Zehender’schen Formel in wissenschaftlich-mathematischer, sowie in prak¬
tisch-rechnerischer Beziehung so grosse Bedenken entgegenstehen, dass er von
der Benutzung derselben auf das Entschiedenste abrathen müsse. M. schlägt viel¬
mehr für die Bestimmung der Erwerbsfähigkeit eine eigene Berechnungsmethode
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Original ffom
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Kleinere Mittlieilungen, Referate. Literat urnotizen. 191
vor, bei welcher er die oben genannten beiden ersten Bestandtheilo der Erwerbs¬
fähigkeit als volle Werthe mit F und V, und die Uoncurrenzfähigkeit durch einen
Wurzelwerth — bezeichnet, und diese Werthe mit einander niultiplicirt. —
Der Sehact unter normalen Verhältnissen setze sich zusammen aus einer Reihe
von recht verschiedenen Functionen: die centrale Sehschärfe, das periphere Sehen,
der Licht- und Farbensinn, das Adaptionsvermögen, die Muskelthätigkeit und end¬
lich die centralen Vorgänge: sie alle wirkten im Verein bei dem Zustandekommen
des normalen Sehacts mit. In erwerblicher Hinsicht treten die anderen Functionen
mehr zurück, fielen auch niemals allein für sich aus, und es genügt für das ge¬
werbliche Sehen allein die centrale Sehschärfe, das periphere Sehen und die Mus-
kelthätigkeit (besonders mit Bezug auf das binoculare Sehen) als Werthe in die
Formeln zur Berechnung einzustellen.
Im speciellen Theile bespricht M. nun die Berechnung der Erwerbsbeschädi¬
gung bei den verschiedenen Unfallsbeschädigungen der Augen; er gellt hierbei
davon aus, dass die Berechnung des Unfallsehenden den Zustand der Augen in
Betracht zu ziehen habe, wie er vor dem Unfall gewesen ist, denn wenn ein mit
2 gesunden Augen versehener Mensch eine Herabsetzung der optischen Leistungs¬
fähigkeit erleidet, so bedeute dies für ihn eine ganz andere Schadengrösse, als
wenn ein Einäugiger oder ein Schwachsichtiger überhaupt eine Herabminderung
seiner Sehfähigkeit zu erdulden hat. Dementsprechend theilt er die optischen
Unfallbeschädigungen in 3 Gruppen ein, und giebt im 1. Abschnitt die Berech¬
nung der Unfallbeschädigung für alle die Fälle, in denen beide Augen vor dem
sie betreffenden Unfall erwerblich normale centrale Sehschärfe gehabt haben, im
2. Abschnitt die Berechnung der Unfallbeschädigung für alle die Fälle, in denen
nur ein sehfähiges erwerblich brauchbares Auge vor dem Unfall vorhanden ge¬
wesen ist, im 3. Abschnitt die Berechnung der Unfallbeschädigung für alle die
Fälle, in denen eines oder beide vor dem Unfall erwerblich nicht normale centrale
Sehschärfe gehabt haben. Der 4. Abschnitt enthält dann gesondert noch solche
optische Beschädigungsformen, welche für ihre Berechnung gewisse individuelle
Rücksichtnahmen unbedingt verlangen müssen, dazu gehören: Beschädigungen
der Linse, Beschädigungen der Lider und der Conjunctiva, ferner die Gefahr einer
sympathischen Augenentzündung des anderen Auges, inwiefern sie für die Beur-
theilung der Erwerbsbeschädigung Berücksichtigung zu finden hat, und endlich
die Verletzung des Auges durch Eisensplitter.
Dem auch sonst wohlausgestatteten Werke sind schöne Tafeln zur Verdeut¬
lichung der Gesichtsfeldgrenzen beigegeben. Becker-Berlin.
Dr. Erleb Pelper, a. o. Professor an der Universität Greifswald, Die Verbrei¬
tung der Echinococcenkrankheit in Vorpommern. Mit einer Karte.
Stuttgart, Enke. 1894. 53 S.
Seit dem Jahre 1860 wurden 180 Fälle sicher constatirter Echinococcen-
krankheit in Vorpommern gesammelt, darunter 125 in Greifswalder klinischen
Instituten oder von Greifswalder Aetzten beobachtete. Der Herstammung nach
waren 150 aus vorpommerschen, 30 aus hinterpommerschen, mecklenburgischen,
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192
Kleinere Mitiheihmgen. Referate, Literaturnotizen.
märkischen Orlen zugegangen. Die pathologisch-anatomische Forschung ergab auf
l>(),4 Scctionen je einen am Leicheniisch erhobenen KchinococcenbcfumL Mit
Mecklenburg rangirt Vorpommern mit am höchsten unter den Hauptheerden der
Kcliinococcenkranklieit. Dass letztere, wo sie unter den Bewohnern eines Landes
häufiger vorkommt, im proeentualen Yerhältniss zu der Verbreitung der Echino-
eocrenseurhe unter den llausthieren sieht: dass in der Anamnese der Erkrankten
der Verkehr mit Hunden vielfach angegeben wird, ergiebt sich leicht. Sitten, Ge¬
wohnheiten, Beruf, Stand, Lebensführung (Stadt, Land) der vorpnmmerschen Be¬
völkerung haben dem Yerf. neue ätiologische Gesichtspunkte nicht geliefert.
Doch stimmt er mit den anderweit aufrecht erhaltenen Massnahmen gegen
die Intimität mit Hunden und hinsichtlich der Durchführung der Fleischschau auf
dem Lande mit anderen Sachkundigen überein.
e) Infectionskrankheiten und Bezügliches.
Prof. Fr. Müller (Marburg), Die Schlammfieber-Epidemie in Schlesien
im Jahre 1891. Münchener medicinische Wochenschrift. 1894. No. 40/41.
Im 5.Bande ihrer IH.Folge hat unsere Yierleljahrssehrift das Superarbitrium
über die überschriftlich namhaft gemachte Seuche aus der Feiler der Herren Ger¬
hardtund Rubner gebracht. Professor Müller hatte Gelegenheit, über die
Schlammüebercpidemie von zahlreichen schlesischen Aerzten Mittheilungen zu er¬
halten und hat sein Material im Dienst der wichtigen Frage der Veränderlichkeit
der Infectionskranhheiten zu einer sehr dankenswerthen Darlegung zusammenge¬
stellt. Dass sich die Schlammkrankheit im Odergebiet localisirte und dass sie
mehrere Monate nach den Frühjahrsüberschwemmungen ihre grösste Extensität
und Intensität in den ländlichen Orten um Raubor, Cosel, Oppeln, Brieg, Ohlau,
Glogau erreichte, wird bestätigt. Die ersten Fälle brachen in der Stadt Neisse
beim Militär aus. Jüngere kräftige Leute, auch Kinder waren die vorzugs¬
weise befallenen Opfer. Die Erscheinungen bestanden in Schmerz in der Magen¬
gegend: Erbrechen (selten); unruhigen Schlaf; lnjection der Conjimctiva Bulbi;
Röthung des Pharynx und der Mandeln; Schwellung der Drüsen im Kieferwinke],
auch im Nacken; Milzvergrösserung; Lebervergrüsserung (selten); das Fieber
konnte 41,8 erreichen. Das Exanthem hatte mit dem der Masern am meisten
Aehnlichkeii. Kritische Temperaturabfälle und Nachlieber waren nicht selten.
Als eine häufige Erscheinung trat Haarausfall, wie nach Abdominaltyphus, auf.
Todesfälle sind nur vereinzelt vorgekommen.
Als ganz besonders lesenswerte sind in der MüllerCsohen Arbeit die dilfe-
rentialdiagnostischen Erörterungen (Flecktyphus, Denguefieber, Flusskrankheit
von Globig beschrieben, Weil’sche Krankheit) und einige feinbeobachtete Kran¬
kengeschichten hervorzu heben.
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Kleinere Mitlheilungen, Referate, Literaturnotizen.
1J)3
Pall Bottger, Regierungs- und Baurath im Ministerium der öffentlichen Arbeiten
in Berlin, Grundsätze für den Bau von Krankenhäusern. Vortrag de.
mit Kd Abbildungen. Berlin, Ernst und »Sohn. 181)4. 13 S.
B. legt seinem instructiven Vortrage thatsächliche Lösungen des Problems
vom Krankenhausbau zu Grunde, wie sie ihm im neuen ILamburg-EppendorferBau,
im Urban-Krankenhause, im Institut für Jnfect ionskrankheilen für alleTheil-
fragen zu Gebote standen. Besonders <1 ie Fragen der Unterkellerung, der Lüftung,
Heizung und Wasserversorgung finden sich ohne den sonstigen Aufgaben Ah-
trag zu thun in der Broschüre eingehend und klar dargelegt. Was auf be¬
stimmte Planmuster zurückgeführt werden kann, wird dem Leser verdeutlicht,
dabei aber stets berücksichtigt, wie mannigfaltig sich die wechselnden örtlichen
Bedürfnisse in die schliessliehe Gestaltung der Einzeltheile einmischen und wie
auf die endliche Entsehliessnng der Vergleich zwischen den zahlreichen Veröffent¬
lichungen gerade über derartige Bauten von Einfluss sein muss.
S. W. Abbttt, M. I)., Secretarv of the Board (sc. the B. of h. of Massachusetts),
Isolation hospitals for infections diseases. Sep.-Abdr. State hoard
of h. Pub. Vol. 34.
Ein warmes Wort für den Nutzen von Isolirspitiilern in mittelgrossen Städten,
von denen sich A. einen Schutz dm* armen Bevölkerung, einen günstigen Einfluss
auf die »Schulkrankheiten, eine Abkürzung aller Epidemieausbrüche und eine
grosse Beruhigung der Bevölkerung heim ersten Entstehen von Seuchen erhofft.
Ein Anhang bringt Auskünfte über die betreffenden Errungenschaften europäischer
Gressstädte übrigens in allzu inniger Anlehnung an Palmbcrg’s Reisewerk:
„Traite de Phygiene publique d'apres ses application> dans differenis pays d\Eu-
rope“, so dass dem Verf. gar zu viele der Erwähnung sein* werth gewesene Insti¬
tute entgehen mussten.
Vlerteljalirssrlir. f. ^<t. McmI. Dritt»* F« IX. I.
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IV, Amtliche Verfügungen.
Allerhöchste Ordre vom 30. Juni 1894 an das Staatsministerinm, betreffend
Einführung der Personalconeession für alle neuen Apothekcneoncessionen.
Auf den Bericht vom 23. d. M. genehmige Ich unter entsprechender Abände¬
rung der Königlichen Erlasse vom 5. October 1840 und 7. Juli 1886, dass bis zur
anderweiten gesetzlichen Regelung des Apothekenwesens denjenigen Apothekern,
welchen in Zukunft neue Concessionen zur Errichtung von Apotheken verliehen
werden, die Präsentation von Gesehäftsnachlblgern überhaupt nicht mehr zu ge¬
statten ist, die Concession vielmehr beim Ausscheiden eines Apothekers aus sei¬
nem Geschäft zur anderweiten Verleihung in allen Fällen an den Staat zurück¬
fällt. Den Wittwen und Waisen der neuen Concessionare sollen jedoch die im
§ 4 Titel I der revidirten Apothekerordnung vom 11. October 1801 bezeiehnelen
Vergünstigungen zu Theil werden. Ich ermächtige das Staatsministerium, hier¬
nach das Weitere zu veranlassen.
An Bord M. V. „Hohenzollern“, Kiel, den 30. Juni 1804.
W i 1 h e 1 m R.
Graf zu Eulenburg. von Boetticher. von Schölling.
Freiherr von Berlepsch. Graf von Capri vi.
Miquel. von Heyden. Thielen. Bosse.
B r o n s a r t von S c hellen d o r f f.
An das Staatsministerium.
Berlin, den 3. Juli 1804.
Seine Majestät der König haben durch die in der Anlage fs. o.) ab¬
schriftlich beigefügte Allerhöchste Ordre vom 30.Juni 1894 auf Antrag des König¬
lichen Staaisministeriums zu genehmigen geruht, dass bis zur anderweiten Rege¬
lung des Apothekenwesens denjenigen Apothekern, welchen in Zukunft die Con¬
cession zur Errichtung einer neuen Apotheke verliehen wird, die Präsentation
eines Geschäftsnachfolgers überhaupt nicht mehr zu gestatten ist.
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Amtliche Verfügungen.
195
In Ausführung dieser Allerhöchsten Ordre bestimme ich hierdurch unter
Abänderung der Erlasse vom 21. October 184(1 und 21. Juli 1886 („Min-Bl. f. d.
i. V. 44 1848, S. .209 und 1886, S. 900), dass, von dein Tage der Veröffentlichung
dieses Erlasses im „Reichs- und .Staatsanzeiger 4 an, Concessionen zur Errichtung
neuer Apotheken oder Weiterverleihungen von an den Staat zurückgefallenen
Apothekengerechiigkeiten nur mit dem Zusatz ertheilt werden dürfen, dass dem
Inhaber die Präsentation eines Geschäftsnachfolgers in Gemässheit der Aller¬
höchsten Ordre vom 60. Juni 1894 nicht gestattet sei.
In den Wettbewerb-Bokanntmaehungen ist auf diese Bestimmung hinzu¬
weisen.
Den Wittwen und Waisen eines Apothekers, welcher eine solche unver¬
äusserliche und unvererbliche Concession erhalten hat, soll es erlaubt sein, die
Apotheke nach Massgabe des §4 der revidirten Apothekerordnung vom 11.October
1801 verwalten zu lassen.
Ew.Excellenz ersuche ich ganz ergebenst, diesen Erlass nebst Anlage durch
die Amtsblätter gefälligst zu veröffentlichen und die nachgeordneten Behörden auf
denselben hinzuweisen.
Rund erlass des Ministers der n. s. w. Medicinalangelegenheiten vom 22. Juni 1894
betreffend Penersieherheit der Apothekenlaboratorien.
Ew. Hochwohlgeborcn theilo ich hicrneben Abschrift eines Bescheides, wel¬
tdien ich einer Anzahl von Apothekern aus den Regierungsbezirken Erfurt, Merse¬
burg und Hildesheim hinsichtlieh der Forderungen an die Feuersicherheit der Apo-
ihekenlaboratorien (§21 des Erlasses vom 16.Mai 1896, betreffend die Einrichtung
und den Betrieb der Apotheken') unterm heutigen Tage ertheilt habe, zur gefäl¬
ligen Kenntnissnahme und event. Beachtung lud den Revisionen ergebenst mit.
Ew. Wohlgeboren erwidere ich auf die in Gemeinschaft mit einer Anzahl von
Apothekern aus dem dortigen und den Regierungsbezirken Merseburg und Hildes-
heim an mich gerichtete Anfrage vom 22. Mai d. J., dass der § 21 des Erlasses
vom 16. December 1896, die Einrichtung und den Betrieb der Apotheken betref¬
fend, einen Unterschied zwischen feuersicher und feuerfest macht, indem er
vorschreibt, dass das Laboratorium überhaupt feuersicher, die Decke aber feuerfest
sein soll. Danach genügt es, dass in den Wänden etwa vorhandene Holztheilc be¬
rührt und mit einer 2 cm starken Kalk- oder Cementschiclu überputzt sind. Da¬
gegen muss von einer feuerfesten Decke verlangt werden, dass sie entweder ganz
gemauert, also gewölbt oder durch einen Mantel von Wellblech geschützt sei, wel¬
cher letztere an den Deekcntheilen befestigt sein kann.
Mit Rücksicht darauf jedoch, dass explosive oder feuergefährliche Stoffe in
den Apothekenlaboratorien heutzutage kaum noch zur Verarbeitung gelangen, will
ich es bei den bestehenden Apotheken als genügend ansvhen, wenn die Decke
keine freien Holztheilc zeigt, sondern wenn diese, soweit sie vorhanden sind, in
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Amtliche Verfügungen.
1 1 er vorgedachten Weise durch eine Kalk- oder Gipsschicht von mindestens 2 cm
Stärke bekleidet sind.
Bei Neuanlagen von Laboratorien aber muss es jedenfalls bei der Forderung
einer feuerfesten Decke verbleiben.
gez. I. A. Skrzeczka.
An sänuntliehe König). Regierungspräsidenten.
Runderlass des Ministers der u. s. w. Medicinalangelegenheit vom 5. Sep¬
tember 1894 betreffend Apothekengerechtigkeiten heimgefallener oder verlegter
Apotheken.
Im Anschluss an den Erlass vom 5. Juli d. J., betreffend die Einführung der
PersonalconeesMon für Apothekengereohtigkeiten, weise ich zur Beseitigung von
Zweifeln, welche inzwischen in derFachpresse laut geworden sind, ganz ergebenst
darauf hin, dass auch die von dem bisherigen Inhaber an den Staat zurückge¬
gebenen Gerechtigkeiten ( Erlass vom 17. November 181)3, Ziffer 2 und 4) und
solche ( oncessionen, welche während der zehnjährigen I nverkäuilichkeit (Erlass
vom 21. Juli ISN«, Min.-Bl. für die innere Yerw., S. 100) an den Staat zurück¬
fallen, in (iemiissheit der Allerhöchsten Ordre vom 30. Juni d. J. und des Ein¬
gangs bezeiehneten Erlasses zu behandeln sind.
Solche Apothekengerechtigkeiten sind daher jederzeit in der bei Apotheken¬
neuanlagen üblichen Weise auszuschreiben und zu verleihen: dem neuen Con-
eessionar darf in Anwendung der Allerhöchsten Ordre vom 8. März 1842 (G.-S.,
S. 111) und des dazu ergangenen Erlasses vom 13. August 1842 (Eulenberg,
Medieinalwesen, S. 475) nur die Verpflichtung auferlegt werden, die Apotheken¬
einrichtung und die bei der Gesehäftsübcrnahme vorhandenen Waarenbestände
gegen einen dem wahren zeitigen Werth entsprechenden Preis zu übernehmen,
welcher eventuell durch Sachverständige festzusetzen ist. Die Abschätzungskosten
tragen Käufer und Verkäufer zu gleichen Theilen.
Zur Uebernahme des Apothekengrundstückes ist der Geschäftsnachfolger
nicht verpflichtet: will er dasselbe jedoch erwerben, so ist behufs Vermeidung der
Entstehung neuer Jdealwerthe darauf zu halten, dass es nicht zu einem höheren
Preise, als sein zeitiger Werth beträgt, in Rechnung gestellt werde.
Bei der Verlegung von Apotheken (Erlass vom 24. Februar 1802) ist nach
Massgabe meines Eingangs angezogenen Erlasses zu verfahren, wenn durch die
Verlegung dem Inhaber der Gerechtigkeit linancielle Vortheile erwachsen oder
wenn durch die Verlegung die Errichtung einer neuen Apotheke verhindert oder
verzögert wird.
Ew. Exeellenz ersuche ich ganz ergebenst, die Herren Regierungspräsidenten
in entsprechender Weise gefälligst zu verständigen.
gez.: v. Bartsch.
An summt liehe Oberpräsidenten.
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Amtliche Verfügungen.
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Uunderlass den Justizministers vom 8. August 1894 betreffend Mittheilung der
Entmündigungssachen über die Vernehmung des zu Entmündigenden aulge¬
nommenen Protokolle an die Regierungspräsidenten.
Nach einer Mittheilung des Herrn Ministers der geistlichen, Unterrichts- und
Medudnalangelegenheiten haben die Gerichte auf Grund des Schlusssatzes der
Allgemeinen Verfügung vom 10. Mai 1887, das Entmündigungtverfahren bet rollend
(.lust.-Minist.'-Bl. S. 120), in denjenigen Fällen, in welchen eine persönliche Ver¬
nehmung des zu Entmündigenden erfolgte, bisher schon vielfach ausser der Ab¬
schrift des ärztlichen Gutachtens zugleich auch eine Abschrift des Vernehmungs¬
protokolls dem zuständigen Regierungspräsidenten eingesandt. Wie der genannte
Herr Minister hervorhebt, ist hierdurch eine werthvolle, in manchen Fällen sogar
unentbehrliche Unterlage für die wissenschaftliche Beurtheilung der Gutachten
durch die Provinzialineilicinaleollegien geschallen worden. In Erweiterung der
eitirten Allgemeinen Verfügung bestimme ich daher, dass den Miüheilungen der
ärztlichen Gutachten an die Regierungspräsidenten in Zukunft stets eine Abschrift
des über die persönliche Vernehmung des zu Entmündigenden aufgenommenen
Protokolls beizufügen ist. Hat eine solche Vernehmung nicht stattgefunden, so
ist dies unter Angabe der Gründe, welche hierfür massgebend gewesen sind, in
dem Uebersendungsschreiben ausdrücklich zu vermerken.
gez. 1. V. von Nobe-Pflugstadt.
An sämmtliehe Justizbehörden.
Runderlass der Minister des Innern, der Finanzen nnd der u. 8. w. Medicinal-
angelegenheitcn vom 7. Mai 1894 betreffend Begriff „Befundattest nnd Befund¬
sehein“. Unentgeltliche Ausstellung derselben über den Gesundheitszustand
Königlicher Beamter.
Ew. Hochwohlgeboren erwidern wir auf die gefälligen Berichte vom 11. Oe-
tober und 26. November vorigen Jahres, betreffend das Gesuch des Kreisphysikus
Dr. W. in Geestemünde vom 7. September v. J. um Zahlbarmachung einer
Liquidation von Gebühren für die Untersuchung des Schutzmanns G. ergebenst
das Nachstehende.
Die Verfügung vom 8. Juli 1874 (M.-Bl. f. d. i. V. Seite 168) spricht sich
allerdings dahin ans, dass die nach Erlass der Ministcrialverfügung vom 16. Fe¬
bruar 1844 (Eulenberg, Medicinalwesen in Preussen Seite 571) angestelhen
Kreismedicinalbearaten für die ihnen im Interesse des Dienstes von Staatsbehörden
aufgegebene Untersuchung des Gesundheitszustandes Königlicher oder Kaiserlicher
Beamten am Wohnorte des Mcdieinalbeamten weder berechtigt sind, Fuhrkasteu
gemäss § 1 des Gesetzes vom 9. März 1872 (Ges.-S. S. 265), noch Gebühren für
das Attest zu liquidiren, und weist darauf hin, dass die Verpflichtung, derartige
Untersuchungen unentgeltlich vorzunehmen, durch die Eingangsvorschrift des § 5
desselben Gesetzes ausdrücklich aufrecht erhalten worden ist, im Ucbrigen aber
eine solche Untersuchung auch nicht zu den medicinal- oder sanilätspolizeilichen
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\ in 11 i c h e V erfügun gen.
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Verrichtungen gehört, somit weder § 1, noch § 3 Ziffer (> des Gesetzes zur An¬
wendung kommen.
Die oben erwähnte Verfügung vom 1(>. Februar 1844 le«*t jedoch den Kreis-
medicinalbeamten lediglich die unentgeltliche Untersuchung des Gesundheitszu¬
standes von Beamten und die unentgeltliche Ausstellung eines „Befun d ältest es“
auf. Der Ausdruck „Befundattest“ kommt in dem Gesetze vom 9. März 1872 über¬
haupt nicht vor, sondern nur die Bezeichnung „Befundschein“ und es wird im
§ 3 Ziffer 7 für die „Ausstellung eines Befundscheines ohne nähere gutachtliche
Ausführung“ eine Gebühr von 3 Mark ausgeworfen.
Unter einem „Befundattest“ wird jedoch ein Mehreres zu verstehen sein, als
unter einem „Befundschein“.
Beiden gemeinsam ist, dass die gutachtliche Aeusserung auf Grund des bei
der voraufgegangenen Untersuchung des Gesundheitszustandes festgestellten Be¬
fundes zu erfolgen hat; der Unterschied zwischen beiden liegt in dem Maasse der
geforderten oder der Natur des Falles nach nothwendigen Ausführlichkeit in der
Begründung der gutachtlichen Aeusserung. Ks ergiebt sich dies aus den Bestim¬
mungen der Verfügung vom 20. Januar 1853 (Ejilenberg, Medicinalwesen in
Preussen, Seite 268j, betreffend die Form der Ausstellung von Attesten durch
Aerzto und Mcdicinalbeamte, in welcher unter Ziffer5 ausdrücklich ein „thaisäch¬
lich und wissenschaftlich motivirtes Urtheil gefordert wird.“
Diese Verfügung bezieht sich allerdings zunächst auf die zum Gebrauch bei
den Gerichten auszustellenden Atteste und lässt die „Befundatteste“ unberück¬
sichtigt, berechtigt jedoch zu der Forderung, dass auch dieBefundatteste eine ein¬
gehendere wissenschaftliche Begründung zu geben haben, als die Befundscheine,
bei denen eine nähere gutachtliche Ausführung nach § 3 No. 7 des Gesetzes vom
9. März 1872 ausgeschlossen ist.
Nicht alle Gutachten aber, welche ein Kroismedicinalbeamter im Aufträge
einer Königlichen Behörde über den Gesundheitszustand eines Beamten abzugeben
hat, werden als „Befundatteste“ anzusehen sein.
Indem die Verfügung vom 16. Februar 1844 von Gutachten überhaupt nicht
spricht, hat sie augenscheinlich der besonderen Bezeichnung „Befundatteste“ eine
gewisse einschränkende Bedeutung bezüglich der geforderten Ausführlichkeit bei
der Erörterung des zu bouriheilcuden Falles und insbesondere bei der Begründung
der gutachtlichen Aeusserung heilegen wollen.
Allerdings wird sich eine feste Grenze zwischen einem „Befundattest“ und
einem Gutachten mit ausführlicher wissenschaftlicher Begründung durch be¬
stimmte, für alle Fälle massgebende Kriterien nicht ziehen lassen, und dem
billigen Ermessen wird im Einzelfalle ein gewisser Spielraum gelassen werden
müssen. Jm Allgemeinen wird es dabei auf die Natur des Krankheitszustandes
und die zu begutachtende Frage ankommen, aus welcher sich die grössere oder
geringere Schwierigkeit der Beurtheilung und damit das Maass der erforderlichen
B e gr ii n d u n g e rgi eb t.
Es wird jedoch daran festzuhalten sein, dass die Abgabe eines wissenschaft¬
lich begründeten I rtheils über den Gesundheitszustand eines Beamten in der
Form des Befundattestes regelmässig dem dienstlichen Interesse genügt, und es
wird die ersuchende Behörde ausdrücklich ein ausführliches Gutachten zu erfor-
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Amtliche Verfügungen.
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dem haben, wenn sie ausnahmsweise ein solches für nothwendig halt. Sollte der
ersuchte Medieinalbeamte seinerseits ein derartiges Gutachten für geboten halten,
ohne dass es verlangt wurde, so wird er sich vor dessen Erstattung mit der er¬
suchenden Behörde dieserhalb zu verständigen haben. Eine gutachtliche Aeusse-
rung mit ausführlicher wissenschaftlicher Begründung wird im Wesentlichen nur
dann erforderlich sein, wenn es sich um die Feststellung zweifelhafter Geisteszu¬
stände, den Nachweis der Simulation oder ähnliche mit Schwierigkeiten für die
ßeurtheilung verbundene Fälle handelt, wo das Gutachten sich meist auf wieder¬
holte Beobachtungen und Untersuchungen oder ein ausgedehnteres Artenmaterial
stützt und deshalb eine ausführlichere Begründung erheischt. Nur in Fällen dieser
Art sind daher die Medieinalbeamten auf Grund des Gesetzes vom 9. März 1872
Gebühren zu beanspruchen berechtigt.
Ew. Hochwohlgeboren ersuchen wir ergebenst, nach Maassgabe der vor¬
stehenden Ausführungen den vorliegenden Fall zu erledigen und demgemäss auch
künftige Fälle der Art zu behandeln l ).
gez. 1. A. Haase. gez. I. V. ei necke,
gez. Bosse.
Sämmtlichen künigl. Regierungspräsidenten zur gell.
Kenntnisnahme mitgetheilt.
Rechtsprechung.
Erkenntnis des Reichsgerichts, III. Civilsenats, vom 6. April 1894 betreffend
Belästigung der Nachbarn durch Ranch, Geräusch n. s. w.
Vom Berufungsrichter ist irrthümlich ausser Acht gelassen, dass nach den
Grundsätzen des Nachbarrechts diejenige Belästigung durch Rauch, Geräusch oder
in anderer Weise geduldet werden muss, die durch das Zusammenleben von Men¬
schen an einem Orte gegeben und durch den regelmässigen und ordnungsmässigen
Gebrauch der Nachbargrundstücke bedingt ist, so dass mit der actio negatoria nur
die Störung abgewehrt werden kann, welche als übermässige, das Maass des Er¬
träglichen übersteigende, anzusehen ist. Dieser Grundsatz beherrscht gleicher-
massen alle einschlagenden Rechtsverhältnisse, wenngleich sich seine Anwendung
in der Praxis des Lebens verschieden gestaltet, da stets auf die örtlichen Verhält¬
nisse und concrctcn Umstände Rücksicht zu nehmen ist, um im Einzelfalle be¬
stimmen zu können, ob eine zur Beschwerde gezogene Belästigung als übermässig
zu gelten hat oder als unvermeidliche und zu duldende Folge der Lebens- und
l ) In Folge dieses Erlasses sind von sä mm lli dien Ministerien die
nacligeordneten Behörden angewiesen, bei einer etwaigen Requisition von Kreis-
medicinalbeamten behufs Untersuchung des Gesundheitszustandes Königlicher Be¬
amten stets zum Ausdruck zu bringen, ob die Ausstellung eines Befund-
attestes genügt oder ob es der Erstattung eines mit wissenschaftlichen
(1 r ü n d e n u n t e r s t ii t z t e n G u t a c h t e n s bedarf.
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*200
Amt liehe Verfügungen.
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Yerkehrsverhältnisso des einzelnen Ortes, z. 13. einer Fahrikstadt. Hiernach würde
eine nach den örtlichen Zuständen von N. als geringfügig' oder massig anzu-
seliende Rauchbelästigung die Klage nicht begründen können, auch kann der
durch die actio negatoria gegebene Rechtsschutz nur dahin Ausdruck finden, dass
dem störenden Nachbar eine übermässige Belästigung des Klägers verboten, oder
aufgegeben wird, solche Einrichtungen zu trollen, durch welche das Maass des
Erträglichen übersteigende Belästigung abgestellt wird. Die Einführung be¬
stimmter Erfindungen kann ihm im Rechtswege so wenig zur Pflicht gemacht
werden, wie die Anlage von Vorrichtungen, durch welche alle und jede Belästi¬
gung des Nachbarn bestätigt wird.
Urtheil des Preussisdien Oberverwaltungsgeriehts (II. Senats) vom 27. Juni 1894
betreffend eine Miethswohnung, welche in Folge einer schädlichen Gebranchs¬
art durch den Mielher g^nndheitssehädlich geworden und sich dnreh eine
zweckmässige Aendernng der Gebraachsart wieder zum Wohnen geeignet
machen lässt. Eine solche kann von der Polizeibehörde ebensowenig als zum
Bewohnen nnbranchbar erklärt werden, wie eine anscheinend feuchte und des¬
halb gesundheitsschädliche Wohnung, die durch Reinigen, Lüften nnd ein¬
maliges Heizen wieder in einen normalen, bewohnbaren Zustand versetzt
werden kann.
Der Fleischermeister M. zu B. halte eine Miethswohntmg, bestellend aus
einem Baden und einer Stube mit Cabinei, seit dem Oetober IS!*2 inne. Auf die
Veranlassung des M. untersuchte der Polizei-Siadtphysikus Dr. am 27. Sep¬
tember iSdiese Wohnung, und bescheinigte dem 11., dass die Wohnung
als gesundheitsschädlich geräumt werden müsste, da die Tapeten der Stube in
ausgedehntem Maasse mit Schimmelpilzrasen belegt wären und die hier aufbe¬
wahrten Kleider zahlreiche Stockflecken hätten. Hierauf verliess M. mit seinen
Mobilien die Wohnung und beantragte unter Einreichung des Gutachtens desDr. X.
beim Polizeipräsidium, ihm die Unbrauchbarkeit der Wohnung zu bescheinigen,
um sich dieser Bescheinigung gegen eine Miethsentschädigungsklage des Ilaus-
eigenthüincrs zu bedienen; denn II. hatte die Wohnung entgegen dem noch weiter¬
laufenden Micthsv'ertrag ohne Zustimmung des Yermiethers verlassen. Am 4. ()c-
tober 1808 eröffnete demzufolge das Polizeipräsidium dem Ilauseigenthümer, dass
dieWohnung für unbrauchbar erklärt werde und dass ohne polizeiliche vorgängige
Genehmigung die Wohnung nicht wieder bezogen werden dürfe. Diese Verfügung
wurde dem M. abschriftlich znr Kennlnissnalmic mitgetheilt. DerHauseigenthümer
erhob Klage gegen den Polizeipräsidenten auf Aufhebung der Verfügung, mit der
Behauptung, dass die Wohnung niemals und so auch nicht während der sieben
Jahre, in welchen sie von dem Fleischermeister S. unmittelbar vor dem Einzug
des M. bewohnt gewe>en war, zu Klagen über Feuchtigkeit Anlass gegeben hätte.
Der M. habe jedoch, weil es ihm geschäftlich nicht nach Wunsch gegangen sei,
vom Miethsvertraga entbunden werden wollen, und als ihm dies nicht gelungen,
habe er die Wohnung ungesund gemacht, indem er sie nicht allein nicht gelüftet,
sondern auch Wurst in derselben gekocht hätte, so dass die Dämpfe Feuchtigkeit
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Amtliche Verfügungen.
201
an den Wänden absetzten. So sei ihm die Täuschung des Polizeiphysikus Dr. X.
gelungen. Kläger brachte zur Begründung Bescheinigungen des gerichtlichen
Stadtphysikus Dr. S. vom t>. Oetober, sowie zweier Maurer- und eines Zimmer¬
meisters vom 7., 30. und 31. Oetober 1893 bei, welche sämmtlieh bekundeten,
dass die Wohnung trotz einzelner Stockflecke gesund und sehr wohl zum Aufent¬
halt von Menschen geeignet sei. Dr. S. hat insbesondere bekundet, dass die Woh¬
nung in keiner Weise beanstandet werden könnte, sie sei über einem völlig
trockenen Keller gelegen und gehörig cemenlirt; die anscheinend auf Leinwand
geklebten Tapeten zeigten zwar vielfach Spuren von Vernachlässigung, z. B. grosse
Blutflecken, seien aber mit Ausnahme einiger kleinen Stellen am Fussboden unter
den Fenstern durchaus trocken und ohne Schimmelpilze; auch der Wand putz sei,
von kleinen Stellen der Aussenwand abgesehen, absolut trocken.
Nach Kenntnissnahme dieser Gutachten veranlasste der Polizeipräsident den
Polizeiphysikus Dr. X. zu einer erneuten Besichtigung der Wohnung, welche am
15. November 1893 im Beisein des Hauseigenthümers stattfand. Auf Grund der¬
selben bescheinigte Dr. X. die nunmehrige Bewohnbarkeit der Wohnung, er liess
aber dabei dahingestellt, ob dies etwa auf den Fortfall der von M. geschaffenen
Zustände zurückzuführen sei. Ausser Streit war, dass die Wohnung bis zum
15. November, zu welcher Zeit sie von Dr. X. für bewohnbar befunden wurde,
seitens des Klägers nur gereinigt, gelüftet und einmal geheizt worden war. — Der
Polizeipräsident beantragte die Abweisung der Klage, mit der Begründung, dass
die Wohnung zwar gegenwärtig, nicht aber auch bei Erlass seiner angegriffenen
Verfügung sich in bewohnbarem Zustande befunden hätte und dass es nicht darauf
ankäme, ob der gesundheitsschädliche Zustand durch den Miether M. herbeige¬
führt gewesen sei. Der Bezirksausschuss wies die Klage ab. Auf die Berufung
des Klägers änderte das Oberverwaltungsgericht diese Entscheidung dahin ab,
dass die Verfügung des Polizeipräsidenten vom 4. Oetober LS93 aufzuheben sei,
indem es begründend ausführte: .... „Für die Massnahmen zur Verhütung der
aus dem Zustand einer Wohnung zu befürchtenden Gefahr macht es doch einen
Unterschied aus, ob solcher Zustand in der Beschaffenheit des Gebäudes beruht
und also so lange andauert, als das Gebäude nicht geändert ist, oder ob lediglich
eine mangelhafte Gebrauchsart die Ursache ist, so dass dem vorhandenen Uebel-
stande ohne Weiteres durch eine sachgemässe Behandlung und Benutzung der
Wohnung abzuhelfen ist. Lctzterenfalls hat die Polizeibehörde sich so lange auf
das Verbot einer schädlichen Gebrauchsart zu beschränken, als nicht etwa zwin¬
gender Anlass zu der Annahme vorliegt, dass eine Aenderung der Gebrauchsart
allein nicht genügt, um die Bewohner der Wohnung vor Gefahren zu schützen.
Wie die streitige Verfügung lautet, konnte sic vom Kläger füglich nicht anders
verstanden werden, als dass ihm irgend welche bauliche Aenderungen zur Be¬
hebung des vermeintlich gesundheitsschädlichen Zustandes zugemuthet werden,
und dass nach Annahme des Beklagten nicht schon eine Aenderung der vom
Miether M. bethätigten Gebrauchsart genügte. Andernfalls hätte Beklagter es auch
dabei bewenden lassen können, dem M. zu eröffnen, dass die von ihm vorzeitig
verlassene Wohnung durch eine zweckmässigen' Gebrauchsart in einen ungefähr¬
lichen Zustand hätte versetzt werden können. Nach der Sachlage konnte aber
dem Vorderrichter nicht darin beigetreten werden, dass Beklagter ausreichenden
Anlass hatte, die Wohnung für unbrauchbar zu erklären, und an Kläger, wie ge-
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202
Amtliche Verfügungen.
schehen, zu verfügen. — Selbst angenommen, dass der Physikus Dr.X. die Woh¬
nung am 27. September aus zutreffenden Gründen für damals gesundheitsschäd¬
lich erachten durfte, so ist doch ausser Streit, dass die Wohnung bis zum 15. No¬
vember, zu welcher Zeit sie von Dr. X. für bewohnbar befunden wurde, seitens
des Klägers nur gereinigt, gelüftet und einmal geheizt ist. Genügte aber dies
schon, um den gesundheitsschädlichen Zustand im November abzustellen, so
leuchtet ohne Weiteres ein, dass Ende September die Wohnung nicht in einen»
solchen Zustande gewesen sein kann, dass sie auch für den Fall einer normalen
wirtschaftlichen Gebrauchsart für unbewohnbar erklärt werden durfte. Abor
selbst schon am 6. October war sie nach dem glaubwürdigen Gutachten des Phy¬
sikus Dr. S. in einem normalen Zustand. Wenn dies ohne anderweite Mittel als
Reinigen, Lüften und vielleicht auch einmaliges Heizen, in etwa acht Tagen zu
erreichen möglich war, dann konnte Beklagter, sofern er sich zu dem Antrag des
M. nicht völlig ablehnend verhalten wollte, sich ebenso darauf beschränken, dem
Kläger die Anwendung jener Mittel anzuempfehlen. Zu dem Ausspruch, dass die
Wohnung unbrauchbar sei, j^g nach Ueberzeugung des Gerichtshofes kein zu¬
reichender Anlass vor.“
Gedruckt bei L. Schumacher in Berlin.
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I. Gerichtliche Medicin.
l.
Uefoer Geburtsverletzungen des Neugeborenen und
deren forensische Bedeutung. 1 )
Von
Prof. Dr. Pani Dittrich in Prag.
(Mit 2 Abbildungen mf Tafel 1 und 11 Abbildungen im Text.)
Der Begriff „Geburts Verletzungen“ ist sehr dehnbar. Im engsten
Sinne des Wortes wären dahin nur jene Verletzungen zu rechnen,
welche vor oder bei der Geburt durch Druck seitens der Geburtswege
der Mutter zu Stande kommen. Im weitesten Sinne des Wortes
möchte ich aber dahin alle Verletzungen einreihen, welche bei neu¬
geborenen Kindern Vorkommen, ohne dass eine strafbare Handlung
vorläge, gleichgültig, ob es sich um spontane oder durch Kunsthilfe
beendete Geburten handelt.
Mag sachlich auch eine derartige Verallgemeinerung des Begriffes
dem Ausdrucke „Geburtsverletzungen“ nicht vollends angepasst sein,
so thut dies für gerichtsärztliche Zwecke nichts zur Sache, indem
sowohl den durch Druck seitens des mütterlichen Organismus wie auch
zum Theil den durch Kunsthilfe entstandenen Verletzungen, endlich
aber auch denjenigen Verletzungen, welche als Folge gewisser zufäl¬
liger oder aber absichtlicher und indirecter Proeeduren, die mit dem
kindlichen Körper während oder nach der Geburt vorgenommen werden,
1 ) ln Kürze mit Demonstration der einschlägigen Präparate vorgetragen
gelegentlich der 66. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte zu Wien
im September 1894.
Vierteljalirsschr. f. ger. Med. Dritte Folge. IX. 2 . 14
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204
Di 11 ri clt.
uni er Umständen eine hoho Bedeutung für die gerichtsärztliche Be-
urtheilung und Begutachtung bestimmter Fälle zukommen kann.
Die forensische Bedeutung von „Geburtsverletzungen“ in des
Wortes weitestem Sinne kann in verschiedenen Momenten gelegen
sein, welche theiJs thatsächlich wiederholt in Betracht gekommen
sind, t.heils als möglich hingestellt werden müssen. Besonders bei
Verdacht auf gewisse Arten von Kindesmord, bei vermeintlicher
mechanischer Fruchtabtreibung, in Fällen von wirklicher oder angeb¬
licher „Selbsthilfe“ der Mutter und bei fraglichen oder wirklichen
Kunstfehlern können derartige Verletzungen in Frage kommen und es
kann für den Gerichtsarzt zuweilen recht schwierig, ja selbst unmög¬
lich werden, eine sichere Entscheidung zu treffen, auf welche Weist*
derartige Verletzungen zu Stande gekommen sind.
Ein Theil von intrauterinen Geburtsverletzungen hat bereits von
verschiedener Seite eingehende Würdigung erfahren. Es sind dies
namentlich schwere Knochenveränderungen, wie solche besonders an
den Schädelknochen und an den langen Röhrenknochen gelegentlich
beobachtet werden.
Der forensische Standpunkt, von dem aus Geburtsverletzungen
eine Bedeutung zukommen kann, ist ein verschiedener.
Zunächst ist es äusserst wichtig, zu wissen, dass verschieden¬
artige Verletzungen bei spontan geborenen Kindern Vorkommen
können, was namentlich für verheimlichte oder doch wenigstens für
solche Geburten von Bedeutung sein kann, welche ohne Beisein eines
.Arztes oder einer Hebamme vor sich gehen. Solche Verletzungen
können entweder die Weichtheile oder das Knochensystem, oder end¬
lich beide zugleich betreffen.
Aber auch jenen Verletzungen, welche durch manuelle oder instru¬
menteile Hilfe bei der Geburt oder bei gewissen Manipulationen,
welche nach der Geburt mit dem Kindeskörper vorgenommen werden,
wie zum Beispiel bei der Vornahme Schultzc’scher Schwingungen
und anderen Wiederbelebungsversuchen, entstehen, kann zuweilen eine
forensische Bedeutung zukommen und zwar hauptsächlich deswegen,
weil oft geringfügige Verletzungen, beispielsweise namentlich Excoria-
tionen der äusseren Haut und Stellen der letzteren, die einem stär¬
keren Drucke ausgesetzt waren, während des Lebens oder an der
frischen Kindesleiche wegen unauffälliger Beschaffenheit übersehen
weiden, jedoch nachträglich durch postmortale Vertrocknung deutlich
zu Tage treten können. Ausserdem sind es aber auch Blutungen in
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IVher Oohiirtsvorlotzimünii fl. Neuin'linirnon u. Heren l'nrens. Rorlontim«j
J. 200
(len tieferen Gcwebsschichten, welche bei oder bald nach der Geburt
ohne absichtliche oder verbrecherische Handlung: entstehen, jedoch vor
der Obduction unbeachtet bleiben können.
Die grösste forensische Bedeutung kommt jedenfalls denjenigen
Verletzungen zu, die sich bei spontan geborenen Kindern vorfinden.
In einschlägigen Fällen müssen wir es uns zur Aufgabe machen, vom
medicinischen Standpunkte zu entscheiden, ob gewisse Vorgefundene
Verletzungen auf den Geburtsact oder auf irgend welche mit dem
letzteren zusammenhängende Froecduren zurückgeführt werden können
oder ob die Entstehung der Verletzungen mit Angaben, welche von
der Mutter oder von anderen betheiligten Personen diesbezüglich ge¬
macht werden, in Einklang gebracht werden kann. Denn sonst ist
es kaum zu vermeiden, dass die Quelle solcher Verletzungen zuweilen
in verbrecherischen Handlungen gesucht wird, ohne dass solche vor¬
liegen.
Wirkliche Wunden kommen ebenfalls gelegentlich vor und be¬
treffen theils die Weichtheile, theils die Knochen.
Alle die genannten Veränderungen bedürfen je nach der Ver¬
schiedenheit der Fälle mehr oder weniger reichlicher Erfahrung, ein¬
gehender Aufnahme und Würdigung des objectiven Befundes und
gründlicher Beachtung der näheren Umstände des Falles, wenn man
falsche Beurtheilung vermeiden will.
Den Herren Collegen, welche die Freundlichkeit hatten, mir ge¬
eignetes Untersuehungsraaterial zukommen zu lassen, spreche ich hier¬
für meinen besten Dank aus, so insbesondere den Herren Professoren
H. Chiari und v. Rosthorn, sowie den Assistenten an der deutschen Ge¬
bärklinik Dr. Kleinhans und Dr. Schwertassek in Prag - , ferner Herrn
Hofrath Professor R. v. Hofmann, Professor Kolisko, Dr. Haberda,
Assistenten am gerichtlich-medicinischen Institute, sowie den Herren
Assistenten der Chrobak’schen, Sehauta’sehen und G. Braun’schen
Gebärkliniken in Wien.
Die Veränderungen, welche ich im Allgemeinen unter die „Geburts¬
verletzungen“ einreihen möchte, können wir in folgende Gruppen ein-
theilen:
1. Vertrocknungen und Excoriationen an der Körper¬
oberfläche; •
2. B1 u t u n t e r 1 a u f u n g e n;
14*
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[)i 1tricli.
20«
3. Wunden der Wo ich (heile;
4. Deformitäten und Verletzungen des Knochen¬
systems;
5. Rupturen innerer Organe;
6. Abreissungen ganzer Körpertheile.
1. Vertrocknungen und Exeoriat ionen an der Körper-
oberflächc.
Hautvertrocknungen können postmortal, ohne dass die Haut ex-
coriirt wäre, an solchen Stellen entstehen, welche einem starken Drucke
von aussen ausgesetzt waren. Der Grad der Vertrocknung hängt ab
von der Intensität und der Dauer des Druckes, indem mit- der Zu¬
nahme beider auch die Verdrängung der Gewebsflüssigkeit sich steigert,
wodurch die betreffenden Körperstellen, falls die todten Gewebe dem
Einflüsse der atmosphärischen Luft ausgesetzt werden, ceteris paribus
rascher vertrocknen als solche, wo Intensität und Dauer der Druck¬
wirkung nur gering waren. Ausserdem wird aber der Grad der post¬
mortalen Hautvertrocknung noch einerseits von dem Flüssigkeitsgehalte
der von dem Drucke betroffenen Körperstellen, andererseits von dem
jeweiligen Feuchtigkeitsgehalte der umgebenden Atmosphäre abhängen.
Je nach der Verschiedenheit der hier in Betracht kommenden
Factoren im einzelnen Falle ist auch das Aussehen solcher post¬
mortal vertrockneter Hautstellen ein verschiedenes. Unter günstigen
Bedingungen sehen dieselben an der Leiche dunkelbraun aus, während
sie dann, wenn die Druckwirkung nicht sehr stark und von nicht
allzu langer Dauer war, kaum wahrnehmbar sind und nur bei sehr
sorgfältiger Untersuchung durch ihre äusserst blasse, bräunliche oder
mit einem Stich in’s Rothe versehene Farbe hervortreten.
Für den Gerichtsarzt können derartige Befunde in verschiedener Rich¬
tung eine Bedeutung erlangen. Zunächst kann es Vorkommen, dass solche
vertrocknete Hautpartien auf anderweitige Einwirkungen zurückgeführt
werden. So ist mir ein Fall vorgekommen, wo die nach Schultze¬
schen Schwingungen zurückgebliebenen Druckspuren am Thorax eines
neugeborenen Kindes (Fig. 1) als Effect einer Verbrennung angesehen
wurden.
Ich habe diese durch Fingerdruck bei Schultze’schen Schwingungen
entstandenen Druckspuren deutlich nur zweimal, und zwar das eine Mal sehr stark,
das andere Mal schwächer ausgeprägt an Kindesleichen gesehen. Dieselben präsentir-
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l'cbcr Gcburtsvcrletzungen d. Neugeborenen u. deren forens. Bedeutung. 207
ten sich als trockene, dunkelbraune beziehungsweise blassbräunliche, unregelmässige
oder rundliche, umschriebene, bis überbohncngrosse Stellen, welche in beiden
Fällen eine analoge Lage hatten. Sie fanden sich an der vorderen Brustfläche in
der Umgebung der Brustwarzen und in der Brustbeingegend, in dem ersten Falle
auch in der Axillarlinie der einen Seite, also eben an jenen Stellen, welche bei den
Schultze’schen Schwingungen einen stärkeren Druck erfahren können, ln dem
Falle, in welchem die Veränderungen der Brusthaut geringer waren, w r aren die
Schwingungen 1 ‘A> Stunden lang fortgesetzt worden. Das Kind lebte noch
9 Stunden. Gewiss ist hier die Annahme gerechtfertigt, dass die Haut Vertrock¬
nungen einen höheren Grad erreicht hätten, wenn das Kind nicht so lange nach
der Geburt gelebt hätte.
In beiden Fällen blieben diese Hautverändorungen den Aerzten, welche die
Schwingungen vorgenommen hatten, bis zur Obduction verborgen.
Fig. 1.
Noch mehr können aber solche Befunde in die Wagschale fallen,
wenn cs sich um die Frage einer strafbaren Gewalteinwirkung han¬
delt und vermöge einer besonderen Lagerung der Hautvertrocknungen
der etwaige Zusammenhang des Todes mit irgendwelchen Gewalt -
thätigkeiten in Frage kommt.
Solche Hautvertrocknungen mit oder ohne Exeoriationen findet
man bei Neugeborenen gar nicht selten. Dieselben können auf ver¬
schiedene Weise entstehen.
Gelegentlich können sich Hautaufschürfungen bei spontan ge¬
borenen Kindern vorfinden; in manchen Fällen sind dieselben wohl
auf einen Druck seitens der Geburtswege der Mutter zu beziehen.
Namentlich bei schwierigeren Geburten könnte dies der Fall sein.
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20H
D it l r i < ■ li,
So sahen wir jüngst bei der Seotion eines heiiniicli geborenen, .bald nach
der Geburt verstorbenen Kindes drei nahe an einander liegende, braune, vertrock¬
nete Hautaufschürfungen am Scheitel desselben. Die eine war linear, 9 mm lang
und 2 nun breit, die zweite rundlich, halblinsongross, die dritte etwa linsengross.
Eine nur ganz geringfügige Blutunterlaufung entsprechend einer dieser Hautauf¬
schürfungen bei vollständigem Fehlen irgendwelcher anderer Verletzungen an dem
Kinde Hessen bei den Umständen des Falles die Excoriationen als zufällig ent¬
standen ansehen und zwar musste man der Auffassung Raum geben, dass die¬
selben durch Druck seitens der mütterlichen Geburtswege zu Stande gekommen
und daher den „Druckmarken“ gleichzustellen sind.
Solche „Druckmarken 11 findet man ja nicht selten in der
Kopfhaut Neugeborener bei länger dauerndem Drucke einer umschrie¬
benen Stelle des mütterlichen Beckens besonders des Promontoriums
auf den Kopf des Kindes. Dieselben präsentiren sich je nach der
Configuration des Beckens als streifenförmige oder rundliche, einzelne
oder multiple Röthungen der dabei zuweilen oberflächlich exeoriirten
Haut, welche an der Leiche bräunlich und trocken erscheinen
können 1 ).
Ferner finden wir bei manueller Hülfe, beispielsweise nach Wen¬
dungen und Extractionen nicht selten mehr weniger ausgebreitete
pergamentartige Hautvertrocknungen an den unteren Extremitäten,
namentlich in der Gegend der Malleolcn oder höher oben am Unter¬
schenkel.
An solchen Stellen wird Hautvertrocknungen wohl kaum jemals
irgendwelche wesentlichere forensische Bedeutung zukommen.
Anders dagegen verhält es sich in dieser Richtung, wenn der¬
artige Befunde an anderen Körperstellen, z. B. im Gesichte, am Halse
oder am Brustkörbe wahrgenommen werden, da gerade an derartigen
Stellen Hautvertrocknungen und Excoriationen auch bei gewissen Arten
von Kindesmord sich vorfinden, welche in einem behufs gewaltsamer
Behinderung der Respiration von aussen her ausgeübten Drucke
wurzeln.
Tn grösseren Partien erscheint die Epidennis im Gesichte nicht
selten an Leichen in Gesichtslagc geborener Kinder abgelöst. Dabei
ist die Haut in der Regel ödematös, wohl auch blutig durchtränkt,
wodurch offenbar eine Lockerung der Epidermis bewirkt wird, welche
dadurch schon auf relative geringe Traumen hin, wie dieselben durch
') Sehr instruotive Abbildungen über ,, Druckinarken “ finden sich bei
Kiistner in P. Müllers Handbuch der Geburtshilfe (Band III, S. 284).
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lieber Geburisverletzungen d. Neugeborenen u. deren forens. Bedeutung. 20D
den Geburt säet selbst bedingt sein können, abgehoben werden kann.
Ausserdem kommt in manchen Fällen wohl auch noch der Umstand
in Betracht, dass gerade bei Gesichtslagen im Allgemeinen häufiger
touchirt wird, wobei eben auch durch die directe Einwirkung des
untersuchenden Fingers Ablösungen der gelockerten Epidennis an den
vorliegenden Theilen zu Stande kommen können.
Wir sahen bei der Section eines in Gesichtlage geborenen Kindes, bei wel¬
chem die Stirnhaut serös und blutig infiltrirt, die Epidermis daselbst etwas auf¬
gelockert war, über der Nasenwurzel mehrere lineare, kratzerartige, vertrocknete,
in verschiedener Richtung verlaufende, auf forcirte Digitaluntersuchung der
Schwangeren zu beziehende Hautaufschiirfungen (vide Fig. 2), welche von den
Klinikern am lebenden Kinde nicht wahrgenommen worden waren.
Ferner hat Dohm 1 ) einen Fall mitgetheilt, in welchem sich bei
einem neugeborenen Kinde eine Excoriation an der linken Stirnhälfte
vorfand. Die Geburt war normal, rasch und glatt verlaufen. An der
Excoriation, welche von zwei gekreuzten Streifen gebildet wurde,
deren Enden in lineare Narben ausliefen und deren grösserer schräg
von oben innen nach aussen unten verlaufender 1 cm lang war, nahm
man bereits Anfänge von Heilung durch Granulation wahr. Das Zu-
] ) Dohm, Excoriation der Stirnhaut bei einem Neugeborenen. Zeitschrift
für Geburtshilfe. XIV, ,S. 3<>6.
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“210
L) i l i r i c li .
sutmlekommni dieser Exeoriatiou erklärt Do lim dadurch, dass die
Schwangere zwei Tage vor ihrer Niederkunft von 15 Anfängern in
der Geburtshilfe untersucht worden war, wobei einer von ihnen in
seinem Untersuchungseifer dem Kinde diese Excoriation mit scharfem
Nagel beigebracht haben müsse.
Dass durch directe Einwirkung von Instrumenten, namentlich
der Zange, und hier wieder bei mehrfachen Extractionsversuchen, an
multiplen und ausgebreiteten Stellen Excoriationen entstehen können,
ist ebenso begreiflich, wie der Umstand, dass dieselben am lebenden
Kinde gelegentlich unbeachtet bleiben können. Auch ist ja wohl meist
kein Grund vorhanden, solchen durch Instrnmente erzeugten Excoria¬
tionen von vorneherein irgendwelche Bedeutung vom gerichtsärztlichen
Standpunkte beizulegen.
Je nach der Art der Zangenanlegung können die dabei ent¬
stehenden Excoriationen in der Haut des behaarten Kopfes oder des
Gesichtes, ja selbst am Halse gelegen sein, also u. a. gerade auch
an solchen Stellen, an denen die Excoriationen an Kindesleichen nicht
selten von grösster Wichtigkeit sind. Kommen durch Zangeneinwir¬
kung relativ oft Hautaufschürfungen zu Stande, so können dabei offen¬
bar auch Beckenverengeningen der Mutter als unterstützendes Moment
mit wirken.
Zahlreiche Excoriationen fanden wir in einem Falle von Zangengeburt, in
welchem der Kopf nach 15 sehr kräftigen Traotionen entwickelt worden war. Per
Fall betraf das 52 cm lange, 3390 g schwere Kind einer eklamptischen Primipara
von der Klinik v. Rosthorn inPrag. 2.Hinterhauptslage. Hohe Zange, schwierig
wegen Straffheit der Scheide.
Die Excoriationen (vide Fig. 3) waren folgendennassen vertheilt:
Bei a eine circa 3 cm lange, bei a fast 1 cm breite, dunkelbraun ver¬
trocknete Excoriation;
bei b mehrere rundliche, bis stecknadelkopfgrosse dunkle Hautauf-
sehürfungen;
bei c und d je eine linsengrosse, vertrocknete Excoriation;
bei e eine unregelmässig begrenzte, längliche, 1 cm lange, bis 4 mm
breite, vertrocknete Excoriation;
bei f eine stecknadelkopfgrosse, vertrocknete Excoriation;
bei g einige dicht stehende, zu einander parallele, kratzerartige, leicht
nach links hin bogenförmig verlaufende, lineare, circa 1 cm lange,
vertrocknete Excoriationen der Haut.
In einem anderen Falle, in welchem bei einer Primipara auf der Klinik
v. Rosthorn die Zange angelegt wurde, sah ich bei dom Kinde etwa eine
Woche nach der Geburt (vide Fig. 4) an der linken Wange nebst einer klei¬
nen Gruppe stecknadelkopfgrosser Eiterbläschen (c), die als in Suppuration
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Ieher Geburtsverletzuniren d. Neugeborenen u. deren fnrens. Bedeutung. 211
befindliche Exeoriationen zu deuten waren, eine stecknadclkopfgrosse dunkelbraun
vertrocknete (d) und eine bohnengrosse, gelbbraun vertrocknete Hautaufschürfung
(e). Bei a und f fanden sich ausserdem Hämatome vor, in deren Mitte es zur
Eiterung kam, aus welchem Grunde bei b und g incidirt wurde.
Ein weiterer Fall betraf ein 2 Tage nach der Geburt verstorbenes Kind von
der Klinik \\ Rosthorn.
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21-2
[) i 11 r i c h,
Ausserhalb der Klinik seitens eines Arztes zwei erfolglose Zangenversurhe.
Auf der Klinik wurde der Kopf nach 4 kräftigen Tractionen entwickelt.
Bei der Section des 50 cm langen und 2900 g schweren Kindes fand sich
u. a. (vide Fig. 5 und 6) auf der Stirne 1 cm oberhalb der linken Augenbraue
eine rundliche Excoriation (e) von 2 bis 3 mm Durchmesser; hinter dem linken
iiusseren Augenwinkel eine spitzwinkelige nach oben offene Hautaufschürfung
(d), deren jeder Schenkel etwa 3 mm lang war, und am Nacken, rechts von der
Mittellinie, eine schräg gestellte, 0,5 cm lange, strichförmige Excoriation der
Haut (i).
Alle d iese Hautaufschürfungen waren vertrocknet.
Ein anderer Fall betraf ein Kind, bei welchem auf der Klinik v. Kosthorn
die Entwickelung des hochstehenden Kopfes mittelst Achsenzugzange geschah,
der Kopf sehr langsam folgte und mit 9 kräftigen Tractionen geboren wurde. Das
Kind war 53cm lang und 3580g schwer, zeigte rechts periphere Facialislähmung.
Becken der Mutter allgemein verengt.
Am Kopfe des Kindes wurden folgende Veränderungen constatirt (vide Fig. 7
und 8):
Entsprechend dem linken Seitenrand des rechten Stirnbeins und zwar in der
Höhe der vorderen Grenze der grossen Fontanelle fand sich eine schräg von links
hinten nach rechts vorn verlaufende, lineare, 5 mm lange, nicht einmal 1 mm
breite, mit einer blassbraunen Kruste bedeckte Excoriation (g).
Etwa 4 mm oberhalb des rechten äusseren Augenwinkels zwei kleine,
lineare, mit einer braunen Borke bedeckte Excoriationen (h und i); eine
ebensolche, ovale, ebenfalls lineare Excoriation mit dunkelbrauner Borke am
Nasenrücken, entsprechend der breitesten Stelle desselben (e); eine bogenför¬
mige, nach oben convexe, circa 1 cm lange, lineare, dunkelbraun vertrocknete
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I pl»'!' (ii‘lMir(svcrk , iziiim'Pii «I. Neugeborenen u. «leien Inrons. Bedeutung. 213
Fig. 7. Fig. 8.
Ilautaiifscliürfung (k) fand sic!) nach oben und hinten vom recliten äusseren
Augenwinkel.
An der linken Halsseite etwa lcm nach hinten vom linken Unterkieferwinkel
und etwas tiefer als der letztere eine halblinsengrosse, halbmondförmige, mit der
Convexität nach abwärts gerichtete und mit einer dunkelbraunen, fest haftenden,
trockenen Borke bedeckte Hautaufschürfung (c); rückwärts am Halse, links von der
Wirbelsäule eine etwa 4cm lange, lineare, dunkelbraun vertrocknete Excoriation (d).
Entsprechend dem linken Scheitelbeinhöcker lag der Haut eine trockene,
blassbraune, bei leiser Berührung abfallende Borke auf.
Klinisch haben derartige Excoriationcn keine wesentlichere Be¬
deutung und werden daher, wenn nicht etwa secundäre Proccsse, wie
z. B. von solchen Stellen ausgehende Infectionen, hinzutreten, mehr
weniger unbeachtet bleiben.
Bei einiger Ueberlegung wird seitens des Gerichtsarztes ein
Irrthum hinsichtlich der Deutung solcher Excoriationen bei Zangen¬
geburten ausgeschlossen sein. Der Umstand, ob die Zangengeburt
leicht oder schwer vor sich ging, die Lage und Vertheilung der Ex¬
coriationen unter Berücksichtignng der Art der Anlegung der Zangen¬
löffel — in allen oben angeführten Fällen waren die Excoriationen
mehr weniger vollkommen entsprechend der Lage eines oder des an¬
deren Zangenlöffels situirt —, dann aber nicht selten auch der Be¬
fund anderer, durch Zangenwirkung entstandener Veränderungen, auf
welche ich später zu sprechen komme, wird, wenn sich einmal ein
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214
l> i 11 rieh,
Grund für (‘ine gerichtsärzlliche Untersuchung in einem solchen Falle
ergiebt, vor einer irrigen Deutung derartiger Excoriationen schützen.
Dass durch „Selbsthilfe“ hei der Geburt, welche mit einem
mehr weniger kräftigen, mit den Händen der Gebärenden ausgeübten
Drucke einhergeht, Verletzungen der Haut und unter diesen nament¬
lich Excoriationen auftreten können, unterliegt keinem Zweifel. Die
forensische Bedeutung dieses Umstandes liegt darin, dass dem Ge¬
richtsarzte nicht gerade selten die Beurtheilung solcher Fälle bei ver¬
meintlichem oder wirklichem Kindesmorde zufällt. Denn es lehrt die
Erfahrung, dass beispielsweise Kindesmörderinnen, welche ihr Kind
erwürgen oder auch auf irgend eine andere Art durch mechanische
Gewalt tödten, dem Gerichtsarzte angeben, dass sic, „da die Geburt
nicht recht von Statten ging“, den bereits geborenen Kindestheil er¬
fasst haben, in der Absicht, auf diese Weise die Geburt rascher zu
beenden. In solchen Fällen kann man dann an verschiedenen Stellen
Druckspuren vorfinden. Der Gerichtsarzt wird hier nach Aushören
der Mutter über den Geburtsverlauf nur entscheiden können, ob die
Vorgefundenen Excoriationen durch die in einer bestimmten Weise von
der Mutter angegebene Selbsthilfe erzeugt worden sein konnten
oder nicht. Den gerichtlichen Zwecken wird dadurch meistens Ge¬
nüge geleistet werden und es sollte über die Bestimmung der Mög¬
lichkeit oder Unmöglichkeit, dass Excoriationen an Neugeborenen in
einem concreten Falle auf Selbsthilfe der Mutter zu beziehen sind,
seitens der Gerichtsärzte nicht hinausgegangen werden.
In vielen solchen Fällen ist es kaum möglich, ein anderes als
ein unbestimmtes Gutachten abzugeben; denn der objeetive Befund
allein wird uns keinen Aufschluss geben können. Vielmehr fallen
gerade hier nebst diesem die Umstände des Falles wesentlich in die
Wagschale.
Ich erinnere hier an einen im Jahre 1881 von Kornfeld 1 ) mit-
getheilten Fall.
Bei der Obduction eines neugeborenen Kindes, welches an Er¬
stickung gestorben war, fand sich „auf der rechten Seite des Halses
vorne, entsprechend einer senkrechten Linie unter dem Winkel des
Unterkiefers anfangend, etwas unter dem Niveau des Schildknorpels,
eine quer verlaufende Vertrocknung der Haut, welche etwas unregel-
*) Kornfeld, Kindesinord oder .Selbsthilfe. Friedreioli’s Blätter für ge¬
richtliche Medicin. Bd. 32. S. 123.
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l T el>er Geburtsvorletzmu»on <]. Neuffflhorencn u. floren forons. Redoutun^. 215
massig gestaltete Ränder hatte, und zwar so, dass sie der Gestalt
einer Fingerkuppe entsprach; sie war nämlich halbmondförmig ge¬
staltet mit der Convexität nach oben . ... “ Für einen intravital
stattgefundenen Druck sprach der Befund von Blutaustritten unter der
Halshaut.
Die Mutter des Kindes gab an, sie habe sich bemüht, nach Her¬
austreten des Kopfes das Kind bald mit der einen, bald mit der an¬
deren Hand herauszuziehen.
Kornfeld hat sich in seinem motivirten Gutachten folgcnder-
massen ausgesprochen: „Dass die Angeschuldigte erst mit der einen,
dann mit der anderen Hand um den Hals des Kindes her umgriff uud
mit Gewalt den übrigen Kindeskörper herauszog, kann ganz gut mög¬
lich sein; wenigstens widerspricht die Form des Fingereindruckes die¬
ser Angabe nicht, sondern unterstützt dieselbe sogar, denn der Ein¬
druck würde bei einer Erwürgung voraussichtlich nach der Seite oder
nach unten zu sich befunden haben, auch wohl nicht über, sondern
zwischen oder unter der Höhe der ihm auf der gegenüberliegenden
Seite entsprechenden Druckstellen zu sehen gewesen sein.“
Und ferner sagte Kornfeld, dass „der Tod des Kindes mit
Wahrscheinlichkeit durch den von der Angeschuldigten behufs Voll¬
endung der Geburt ausgeübten Druck am Halse des Kindes zu Stande
gekommen ist ... u
v. Hofmann 1 ) spricht in einem Referate über diesen Fall die
Meinung aus, es liege die Annahme einer Erwürgung ungleich näher;
dafür spräche insbesondere der Umstand, dass die Convexität des
Nageleindruckes nach oben gekehrt war.
Auch in seinem Lehrbuche 2 ) erwähnt v. Hofmann, dass in den
von ihm untersuchten Fällen von Ermordung durch Erwürgen sich
jedesmal ausser verschiedenen unregelmässigen Hautaufschürfungen
auch solche erkennen Hessen, die nach oben zu scharf begrenzt mit
einem nach aufwärts convexen Bogen begannen und nach unten und
innen zu wie verwischt endeten, sowie auch halbmondförmige, nach
oben convexe Hautkratzer, die deutUch dem Abdruck von Finger¬
nägeln entsprachen.
Maschka 3 ) theilte im Jahre 1862 einen Fall mit, in welchem
J ) Virchow-Hirsch’s Jahresbericht pro 1881.
-) 6. Auflage. S. 561.
3 ) Diese Vierteljuhrsschrift. 1862. 136. 21. S. .'».'Ci.
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sich bei einem neugeborenen, an Erstickung gestorbenen Kinde zahl¬
reiche Hautritze mit Blutaustretungen im Unterhautzellgewebe und in
der Musculatur am Halse, der Brust, dem Nacken und anderen Kör-
pertheilen vorfanden. Die halbmondförmige Gestalt vieler deutete auf
einen Druck mit den Fingernägeln.
Den Hautritzen in der Gegend des Kehlkopfs entsprechend, fand
man Blutaustretungen an der Unterkieferdrüse, dem Kehlkopf und
dem Kopfnicker. Dass die Erstickung in Folge des auf die oberen
Luftwege ausgeübten Druckes aufgetreten war, unterlag keinem
Zweifel.
Die Mutter hat. die Aussage gemacht, sie hätte, um sich bald¬
möglichst von den Schmerzen zu befreien und den Geburtsact zu
beenden, mit beiden Händen zuerst den Kopf und Hals,' später die
Brust des Kindes ergriffen und dieses sammt. dem Mutterkuchen
hervorgezogen.
Maschka sagte in seinem Gutachten u. a.: „Ob die Mutter den
Druck auf die Körperstellen in der Absicht, das Kind zu tödten, un¬
ternommen hat, oder ob die Hautaufschürfungen sammt ihren Folge¬
zuständen nur die Folgen einer rohen und ungeschickten Selbsthilfe
behufs Beendigung der Geburt waren, lässt sich nicht entscheiden,
indem die Geburt zufolge des vorhandenen Einrisses im Mittelfleisehe,
jedenfalls schwieriger gewesen sein dürfte und es immerhin möglich
ist, dass die Mutter das Kind zuerst beim Halse und dann beim
Brustkörbe packte, um es hervorzuziehen, wobei sowohl die Hautritze
entstehen, als der Druck ausgeübt werden konnten.“
Schwieriger kann eine Entscheidung werden, wenn die Excoria¬
tionen nicht so zerstreut, sondern auf umschriebene Gebiete beschränkt
sind. Es ist aber wohl begreiflich, dass auch bei angewendeter „Selbst¬
hilfe“ Excoriationen bloss im Gesichte oder bloss am Halse oder an
beiden zu Stande kommen können, ohne dass solche Befunde sich
auch am übrigen Körper zeigen. Dies könnte dann der Fall sein,
wenn ein einziger Zug an dem bereits geborenen Kopfe ausreicht, um
die zögernde Geburt rasch zu beendigen. Doch ist es unwahrschein¬
lich, dass auf diese Weise zahlreiche und ausgebreitete Excoriationen
entstehen, da durch einen einzigen Zug an dem mit der Hand ge¬
fassten Kopfe von der Mutter — namentlich von einer Mehrgebä¬
renden — nur eine an und für sich leichte Geburt beendet werden
dürfte.
Dass die Angaben vieler Mütter über geleistete Selbsthilfe richtig
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Pober fiobmlsverlelzun^reii il. Ncujrohoiviii'n u. deren l'nrens. lledentimn. *217
und in nicht wenigen Fällen Excoriationen am Kinde auf eine solche
zurückzuführen sind, ist nicht zu bezweifeln. Ebenso stellt es aber
fest, dass in zahlreichen Fällen solche ursprünglich gemachte Angaben
unwahr sind, wie sich dies ja nicht seilen aus dem schliesslichcn Ge¬
ständnisse von Kindesmörderinnen ergiebt.
Was die Localisation dieser möglicherweise bei der Selbsthilfe auf¬
tretenden Hautaufschürfungen an belang!., so werden sich dieselben bei
Kopflagen namentlich im Gesichte und am Halse, also gerade an Stellen,
an denen sie auch bei Kindesmord durch Verschluss der Respirationsöff-
nungen oder der oberen Respirationswege von aussen beobachtet werden.
Daraus können sich für den Gerichtsarzt in solchen Fällen unter
Umständen erhebliche Schwierigkeiten für die Beurtheilung der Frage,
auf welche Weise die Excoriationcn entstanden sind, ergeben, und
es werden dann oft andere als bloss medicinische Momente zur
Eruirung des wirklichen Thatbestandes herbeigezogen werden müssen.
Allgemeine Gesichtspunkte lassen sich für die Beurtheilung sol¬
cher Befunde nicht, aufstellen. Vielmehr erscheint es nothwendig, in
derartigen Fällen zunächst die diesbezüglichen spontanen Angaben
der Mutter unter Berücksichtigung des Resultates der Untersuchung
der Gcbuifswege der Mutter und des Kindeskörpers zu prüfen und
unter Umständen zu bemessen, ob, falls wirklich eine Selbsthilfe sei¬
tens der Mutter vorgenommen worden sein sollte, die Hautverletzun¬
gen beziehungsweise die Kraft, welche zur Entwickelung des Kindes
verwendet wurde, mit dem Grade der Schwere der Geburt halbwegs
in Einklang gebracht werden kann. Immerhin muss aber hervor¬
gehoben werden, dass selbst in Fällen, in denen die Angaben der
Mütter über Selbsthilfe bei der Geburt glaubwürdig erscheinen, zu
berücksichtigen ist, dass zuweilen eine übermässige Kraftanwendung,
beziehungsweise Gewalteinwirkung seitens der Mütter bei der Selbst¬
hilfe stattfinden kann, ohne dass eine Nothwendigkeit hierfür Vorge¬
legen hätte.
Es ist begreiflich, dass die Vertheidiger sich bei Verhandlungen
in Fällen von Kindesmord speciell durch Erwürgen der ärztlichen Er¬
fahrungen über die durch Selbsthilfe erzeugten Hautverletzungen für
ihre Zwecke gerne bemächtigen. Ich möchte aber davor warnen,
dass der Gerichtsarzt derartigen Auffassungen einen zu grossen Spiel¬
raum lasse. Eine solche Deutung von Würgespuren vernahm ich ein¬
mal bei einer Schwurgerichtsverhandlung seitens eines Vertheidigers
in einem unzweifelhaften Falle von Kindesmord. Die Geschworenen
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T> i 11 r i c li,
allerdings neigen sich, wie es auch damals der Fall war, in solchen
Fällen erfahrungsgemäß häufiger den Ausführungen des Vertheidigers
zu. Es ist aber nothwendig, dass der Gerichtsarzt hier seinen Stand¬
punkt mit aller Entschiedenheit wahre.
2. Blutunterlaufungen.
Die forensische Bedeutung von Blutunterlaufungen in der Haut
und von Blutungen in den tieferen Gewebsschichten steht hinter der
Bedeutung von Excoriationen und postmortalen Vertrocknungen der
Haut, die man an Kindesleichen findet, jedenfalls nicht zurück. Ganz
abgesehen von ihrer Bedeutung als vitale Reactionscrscheinungen bei
sonstigen mehr weniger bedeutenden Verletzungen kommt ihnen auch,
ohne dass letztere sich fänden, unter verschiedenen Umständen schon
an und für sich eine hohe forensische Bedeutung zu. Blutungen
können in den verschiedenen Gewebsschichten durch direete oder in-
dirccte Gewalt entstehen.
Ebenso wie Excoriationen können Blutunterlaufungen der Haut
zunächst durch Zangendruck zustande kommen und sind dann als
entsprechend der Lage der Zangenlöffel situirte, mehr weniger bogen¬
förmig verlaufende, blaue, oft hie und da unterbrochene Streifen in
der Haut kenntlich (vide Fig. 5c und c x und Fig. 7f und fj). Eine Ver¬
wechselung der auf diese Weise entstandenen Blutunterlaufungen mit
anderweitig zu Stande gekommenen dürfte bei sorgfältiger Beachtung
der speeiellen Verhältnisse kaum jemals Vorkommen.
Eine hohe Bedeutung erhalten Blutungen in der Haut in Fällen
von „Selbsthilfe“ der Gebärenden, namentlich dann, wenn die¬
selben mit dem Tode des Kindes in Zusammenhang stehen oder wenig¬
stens ein solcher nicht vollends ausgeschlossen werden kann, also beson¬
ders vermöge ihrer Localisation beispielsweise int Gesichte, am Halse
oder am Brustkörbe.
Die Literatur hierüber ist ziemlich umfangreich, doch sind die
betreffenden Angaben in der Literatur vielfach zerstreut und es er¬
scheint mir daher zweckmässig, wenigstens auf einzelne hierher ge¬
hörige Fälle hinzuweisen 1 ).
x ) Lima» (diese Vierteljahrsschrift. N. F. I. S. 74) fand bei einem neu¬
geborenen Kinde in der Halshaut mehrere schmutzig bläuliche, halbmondförmige
Streifelien, ebenso an dem einen unteren Augenlido. an einem äusseren Augen-
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Feber Gcburtsverlelzungen d. Neugeborenen u. deren forens. Bedeutung. 215)
Fraenkel 1 ) fand am Halse eines neugeborenen Kindes genau
unter den Unterkieferwinkeln 2 dunkelbraune bohnengrosse Flecke
ohne Exeoriation, einen ebensolchen am Nacken. Ausserdem fand
sich unter der rechten Brustwarze eine kleine Sugillation. Nacli Zu¬
rückschlagen der Halshaut erschien die ganze vordere Halspartie von
einer Blutschichte bedeckt. Die Mutter des Kindes gab selbst an,
das Kind sei aus den Geburtswegen hervorgetreten und sie habe
durch Zufassen nach dem Halse des Kindes die Geburt desselben be¬
schleunigt, Angaben, welche Fraenkcl als glaubwürdig und richtig
annahm.
Mit Recht wird seil langer Zeit auf die forensische Bedeutung
der Extravasate an den Kopfnickern neugeborener Kinder, des sogen.
Haeinatoms des Sternocleidoraastoideiis hingewiesen. Die Ex¬
travasate waren in den mitgetheilten Fällen nirgends scharf begrenzt,
sondern verloren sich, allmälig dünner werdend, mit verwaschenen
Rändern. Die Muskelfasern waren dort, wo sie mit dem Extravasat
bedeckt waren, blutig imbibirt. Im subcutanen Zellgewebe des Hal¬
ses waren nirgends Blutunterlaufungen wahrzunehmen. So theilte
Skrzeezka 2 ) zwei Fälle mit, in welchen er bei Neugeborenen Ex¬
travasate unter der Muskelscheide des Sternocleidomastoideus gefun¬
den hat. Zur Beurtheilung dieser Veränderungen konnte liier bloss
der Obduetionsbefund verwendet werden, weil die Mütter dieser Kin¬
der niemals ermittelt wurden und daher Angaben über den Verlauf der
Geburt fehlten. In dem einen von Skrzeezka selbst untersuchten
und begutachteten Falle fanden sich ausserdem mehrere bis fast erbsen-
grosse Extravasate, sowie einige, z. Th. halbmondförmige, vertrock¬
nete Excoriationcn in der Haut auf beiden Seiten des Halses.
Skrzeezka gelangte unter Berücksichtigung der Vertheilung der
äusseren Druckverletzungen der Halshaut im Zusammenhalte mit der
Kindeslage — es wurde aus der Lage der Kopfgeschwulst auf Hinter¬
hauptslage geschlossen — zu dem Wahrscheinlichkeitsschlusse, dass
diese Verletzungen durch Selbsthilfe bei der Geburt entstanden sind.
winket, auf der einen Backe, sämmtlich ohne Blutunterlaufung, und bemerkte in
dein Gutachten, dass diese Streifen auf Selbsthilfe der Kreissenden im Gebäracte
schliessen lassen. Welcher Natur diese Streifchen waren, beziehungsweise als was
sie anatomisch anzuseheu sind, geht aus Liman’s Ausführungen nicht hervor.
r ) Diese Vierteljahrsschrift. XXII. S. dd8.
2 ) Skrzeezka: Extravasate an den Kopfnickern bei Neugeborenen als
Folge von Selbsthilfe bei der Geburt. Diese Vierteljahrsschrift. N. F. X. S. 121).
VicrteljAhrsiSchr. f. ger. Med. Dritte Folge. IX. 2. \~j
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I > i 11 rieh
Dagegen, dass die Extravasate an den Kopfnickern durch äusseren
Druck entstanden wären, sprach unter Anderem die Abwesenheit jeg¬
lichen Blutergusses unter der Haut oder in dem Zellgewebe zwischen
den Halsmuskeln an dieser Stelle und die Beschränkung der Extravasate
auf die Kopfnicker allein. Per exelusionem gelangte Skrzeczka zu der
Anschauung, dass diese Extravasate durch Dehnung resp. Streckung
entstanden und Effecte der Selbsthilfe bei der Geburt sind.
Analog ist der zweite von Skrzeczka mitgetheilte Fall, welchen
Li man obducirt hatte.
Petersen l ) hebt hervor, dass, wenn sich nach einer künstlichen
Entbindung ein Kopfnickerhaematom zeigt, der Geburtshelfer keines¬
wegs nothwendig die Schuld trägt. Er sah das Hacmatom nach voll¬
ständig normalen, ohne jede Kunsthilfe beendeten Geburten und zwar
sowohl nach Kopfgeburten wie nach Stcissgeburten.
Der Ansicht, dass die Haematome des Sternoclcidomastoideus
einzig und allein durch Dehnung beziehungsweise Streckung des Halses,
z. B. bei schweren Extractionen und dergleichen entstehen, ist im
Jahre 1886 Küstner 2 ) in entschiedener Weise entgegengetreten, ein
Umstand, welcher forensisch von der grössten Wichtigkeit ist, da
durch die von Küstner angenommene Art der Entstehung dieser
Veränderungen sich auch jene Fälle ungezwungen erklären lassen, in
denen solche Befunde nach spontaner und leichter Geburt beob¬
achtet werden. Einen solchen Fall theilte Stadtfeld 3 ) mit, einen
anderen a. a. 0. Küstner, welcher betont, dass in seinem Falle
(Bcckcnendlage) am Kinde nicht der geringste Zug ausgeübt worden
war. Nach Küstner’s. Ansicht können solche Dehnungen, bei denen
Gefässzerreissungen oder Rupturen umfänglicherer Partien der Kopf¬
nicker zu Stande kommen, nur durch Torsionen des Halses und zwar
nur durch Torsionen des Gesichtes nach der gleichnamigen Seite be¬
wirkt werden. Da nun starke Torsionen des Halses auch bei spon¬
tanen Geburten Vorkommen, so kann das Haematom auch bei spon¬
tanen Geburten entstehen und zwar sowohl bei den in Beckenendlage,
als in Kopflage verlaufenden. Daher darf man aus dem Befunde
eines Haematoms des Sternocleidomastoideus niemals schliessen, dass
1 j Petersen, Zur Frage dos Kopfnickerhiimatoms Fei Neugeborenen. Cen¬
tralblatt für Gynäkologie. 1886. No. 48.
2 ) Küstner, Die forensische Bedeutung des Hämatoms des Sternocleido¬
mastoideus am neugeborenen Kinde. Centralblatt für Gynäkologie. 1886. No. 9.
Rci'er. in Vircliow-IIirsch’s Jahresberichte. 1868. 11. S. 663.
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Uclter Geburt?^Verletzungen <1. Neugeborenen u. deren forens. Bedeutung. 221
bei der Geburt, manuelle oder instrumentuelle Nachhilfe angewendet
worden sei. Durch blossen Zug am Halse können, wie Küstner
meint, Verletzungen des Sternocleidomastoideus nicht entstehen, ausser,
w r enn bereits die Wirbelsäule zerrissen ist. Dasselbe gilt auch von
den blossen Tractionen am geborenen Kopfe, wenn der Rumpf noch
in den Genitalien steckt. Natürlich ist hier von der Möglichkeit, dass
ein solches Haematom durch eine den Muskel direct treffende, quet¬
schende Gewalt bewirkt werden kann, abgesehen, in welchem Falle
man übrigens auch anderweite Druckspuren erwarten darf.
Bayerl 1 ) scheint der Ansicht zu sein, dass das Haematom des
Sternocleidomastoideus nur bei manueller Hilfeleistung vorkomme.
Qvisling 2 ) scheint diese von Küstner ausgesprochene, auch auf
experimenteller Basis beruhende Erklärungsweisc des Hacmatoms des
Kopfnickers bei spontanen Geburten unbekannt geblieben zu sein, in¬
dem er in einer Publication aus dem Jahre 1891 betont, dass sich
für die Fälle bei spontanen Geburten keine ausreichende Erklärung
findet. Dagegen hat v. Hofmann in seinem Lehrbuche 3 ) diese Er¬
klärung Küstner’s aufgenommen.
Wir sahen jüngst bei einem 3 l / 4 Stunde nach der in Gesichts¬
lage erfolgten Geburt verstorbenen Kinde, bei welchem angeblich drei
Schultze’sche Schwingungen vorgenommen worden waren, nebst starkem
Caput succedaneum mit Verschiebung der auffallend dicken Knochen des
Schädels und intermeningealer Haemorrhagie die Haut an der Vorder-
und Rückseite des Thorax blauroth, vielfach vertrocknet, in der Thorax-
musculatur zahlreiche Blutaustritte, den linken Kopfnickcr stark blutig
suffundirt.
Auch den durch directe äussere Gewalt ohne verbrecherische
Absicht entstehenden Blutunterlaufungen kommt selbstverständlich
häufig eine hohe forensische Bedeutung zu, namentlich, wenn es sich
um heimliche Geburten handelt. Auch hier wird, je nach der Loca-
lisation der Blutunterlaufungen, ihre Bedeutung verschieden sein. Doch
muss hervorgehoben werden, dass bei der Selbsthilfe der Gebärenden
an den verschiedensten Stellen der Körperoberfläche Blutunterlaufungen
*) Bayerl, lieber intrauterine Verletzungen der Frucht. Friedreich’s Blätter
für gerichtliche Medicin. 1887. Bd. 38. S. 422.
2 ) Qvisling, Indnratio musc. stemocleidomastoidei neonatorum (Myositis
stemocleidomastoidei neonatorum). Archiv für Kinderheilkunde. 1891. Bd. 12.
S. 321.
3 ) 6. Aullage. 1893. S. 582. Anmerkung.
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sich vorfinden können, dass aber natürlich im Allgemeinen jedenfalls
denjenigen im Gesichte und am Halse die grösste forensische Bedeu¬
tung zukommen wird.
Von grösster Wichtigkeit ist forensisch der Umstand, dass Blu¬
tungen au verschiedenen Körperstellen auch bei spontanen Ge¬
burten Vorkommen können, bei denen durch klinische Beobachtung
und genaue Controle jeglicher bedeutendere mechanische Eingriff
auf den Kindeskörper vor, während und nach der Geburt ausgeschlos¬
sen ist.
In einem auf der Klinik des Prof. Chrobak in Wien vorgekommenen Falle
von Frühgeburt, in welchem die im 8. Lunarmonate befindliche Frucht asphyktisch
geboren wurde, fanden sich gleich bei der spontan erfolgten Geburt am
Halse punktförmige Ecchymosen sowie eine bläuliche Verfärbung der Haut um
beide Augen herum. Schult ze'sche Schwingungen. Nach der Geburt hatte das
Kind Herzschlag und machte einzelne schnappende Bewegungen. Tod 15 Minuten
nach der Geburt.
Nebst den bereits erwähnten Veränderungen fand Haberda bei der Ob-
duction die Musculatur des Halses in ihrer ganzen Ausdehnung von dünnen
Schichten in das Zellgewebe ergossenen Blutes durchzogen (vide Tafel I Fig. 9). Auch
zwischen Trachea und Oesophagus sowie unter die Pharynxschleimhaut war Blut
ausgetreten. Das Zellgewebe über dem Manubrium sterni war sufTundirt. In beiden
Musculi pectorales fanden sich halbkreuzergrosse dünne Blutaustritte. Bei unver¬
letzten Schädelknochen und schwach entwickelter Geburtsgeschwulst am Kopfe
die beiden Schläfemuskeln in ihrer ganzen Ausdehnung und Dicke sufTundirt.
Wenn aucli die Geburt selbst spontan vor sieh gegangen war, so
dürfen wir doch die vielen Blutextravasate, die sich hier vorfanden,
nicht sämmtlieh auf den Geburtsact allein beziehen. Für die Erui-
rung dessen, auf welche Weise im gegebenen Falle solche Blutungen
zu Stande gekommen sind, müssen wir, wenn sich’s auch erwiesener-
massen um spontane, ohne jeglichen wesentlicheren Eingriff beendet«'
Geburten handelt, die Fälle, in denen Schultze’sche Schwingungen
vorgenommen worden sind, trennen. Denn dass durch letztere, auch
wenn sie von erfahrenen Geburtshelfern, also wohl kunstgerecht er¬
folgen, Lacsionen am Kindeskörper au ('treten können, ist gegenwärtig
nicht zu bezweifeln.
Ebenso wie in diesem Falle fanden wir wiederholt in Fällen, in
denen Schultze’sche Schwingungen vorgenommen worden waren, der¬
artige Blutaustritte in den Musculi pectorales, wie solche von v. Sassen 1 )
1 ) Otto v. Sassen, Heber Verletzungen des Kindes durch die Wendung
und Extraction oder Expression bei Beckenendlagen. Inaug.-Dissert. Berlin 1874.
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lieber Geburtsverletzungen d. Neugeborenen n. deren forens. Bedeutung. 223
in Fällen von Wendung mit Extraction erwähnt werden, während
sonst ähnliche Befunde am übrigen Körper nicht zu eonstatiren
waren, so dass wir den directen Druck, welcher offenbar bei den Schwin¬
gungen auf die seitliche Thoraxpartie ausgeübt wurde, als die Ursache
dieser Blutaustritte ansehen mussten. Ich nehme keinen Anstand, auch
im vorliegenden Falle die Blutaustritte in den Pectorales auf Rechnung
der Schultze’schen Schwingungen zu setzen.Ebenso plausibel erscheint
aber diese Erklärung für die Suffusion über dem Manubrium sterni und
für die Suffusionen in den beiden Schläfenmuskeln, die man sich durch
die bei der Vornahme der Schwingungen stattgefundenen Reibungen
an diesen Stellen erklären kann. Es sei hier auf eine Mittheilung
Hueter’s') hingewiesen, welcher ein durch starkes Reiben des Kopfes
eines Neugeborenen seitens einer Hebamme entstandenes Cephalhae-
matom beobachtete. Ob die Blutaustritte in den tieferen Schichten
des Halses im vorliegenden Falle vor, während oder nach der Ge¬
burt entstanden sind, wage ich nicht zu entscheiden, ebensowenig
die Frage, ob derartige Blutungen am Halse durch die Manipulationen
bei der Vornahme Schultze’scher Schwingungen hervorgebracht
werden können oder nicht. Aus dem Geburtsverlaufe ergiebt sich
für die Blutaustritte in den tieferen Halsschichten keine ausreichende
Erklärung 2 ).
Nur von den Ecchymosen in der Haut, des Halses ist in diesem Falle
durch die klinische Beobachtung erwiesen, dass dieselben bereits gleich
bei der Geburt vorhanden waren. Auch hier kann ich nur den Befund
registriren, ohne etwas Bestimmtes über die Entstehung dieser Ec¬
chymosen anzugeben. Skrzeczka, welcher in dem oben erwähnten
Falle ebenfalls am Halse des Kindes punktförmige Ecchymosen wahr-
x ) Berliner klinische Wochenschrift. 1892. No. 3.
2 ) Herr Geheimrath Prof. B. S. Schultze in Jena hatte die Freundlich¬
keit mir brieflich Mittheilung betreffs seiner eigenen Erfahrungen über Gewebs-
läsionen in Folge von Schwingungen zu machen. Ich führe hier einige seiner Be¬
merkungen an. So schreibt er u. A.: „Verletzungen durch Schwingungen scheiti-
todter Neugeborener sind mir aus eigener Erfahrung nicht bekannt, weder von
erfolgreichem Schwingen an den lebenden Neugeborenen, noch aus Sectionsbc-
funden vergeblich geschwungener Kinder. Wenn ich an frischen Kindesleichen die
Praktikanten und Hebammenschülerinnen das Schwingen einüben lasse, giebt es
natürlich künstliche Hautverletzungen. Durch ungeschicktes Schwingen können
auch schwerere Verletzungen gemacht werden.“ Und ferner: „Verletzungen in der
Musculatur des Halses könnten beim Schwingen nur durch ganz besonders unge¬
schickte Hantirung entstehen.“
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Dittrich,
genommen hat, führte dieselben mit grösster Wahrscheinlichkeit auf
eine Umschlingung der Nabelschnur um den Hals zurück.
Bei der Obduction eines spontan in Schädellage geborenen, 15 Stunden
nach der Geburt plötzlich gestorbenen Kindes fanden wir unmittelbar unter der
Mitte der rechten Unterkieferhälfte, ferner links vom Larynx über der Schilddrüse
und in der Mittellinie des Nackens je einen möglicherweise bei der Geburt ent¬
standenen hanfkorngrossen, blauen, beim Einschneiden in gleichem Umfange im
Unterhautzellgewebe mit geronnenem Blute unterlaufenen Fleck.
Bei einem am 11. August 1893 auf der Klinik des Hofrathes Prof. Gnstav
Braun in Wien in erster Schädellage spontan ohne jeglichen Eingriff todtge-
borenen Kinde fand sich das Zellgewebe über der oberen Brustapertur in kreuzer¬
grossem Umfange mit geronnenem Blute unterlaufen. Kleine Suffusioncn fand man
unter beiden Unterkieferwinkeln und hinter dem rechten Schilddrüsenlappen.
Unter der Schleimhaut des Pharynx gerade hinter dem Kehlkopfe fanden sich
mehrere kleinste und ein linsengrosser dünner Blutaustritt vor.
Auch hei Manualhilfe entstehen nicht selten Blutextravasate.
So fand man bei einem auf der Gebärklinik des Professor Schauta in Wien
todtgeborenen, an fötaler Erstickung gestorbenen Kinde einer Erstgebärenden die
Scheide der Halsgefässe beiderseits mit geronnenem Blute unterlaufen, und auch
im Zellgewebe über dem Jugulum fanden sich Suffusionen vor.
Es hatte sich um eine Steisslage II. Position gehandelt. Vorzeitiger Blasen-
sprung. Herabholen eines Fusses. Manualhilfe.
Bei Extractionen können am Rumpfe Quetschungen und Suffu-
sionen am Rücken, besonders im Latissimus dorsi, dann am Kreuz¬
beine und an den Hüften entstehen; an letzteren sind sie in der Regel
Folge der Steissextration.
Erwähnen möchte ich noch das gelegentliche Vorkommen von
mit Quetschungen des Gewebes verbundenen Blutaustritten an der
Zunge, welche bereits früher in der Literatur in vereinzelten Fällen
Erwähnung gefunden haben.
So fanden wir in dem oben erwähnten Falle, der einen im 8. Lunarmonate
geborenen Fötus betraf, fast den ganzen rechten • Zungenrand gequetscht und
stark blutunterlaufen (vide Tafel I Fig. 9). Ebenso fand sich in einem Falle von
Zangengeburt von der Klinik Schauta, in weichem Schultze’sche Schwin¬
gungen vorgenommen worden waren, u. a. die vordere Mundsehleimhaut rechts
an der Umschlagstelle zum Unterkiefer, sowie die Schleimhaut rechts an der Zun¬
genspitze und unter derselben in halbkreuzergrossem Umfange bläulich durch¬
scheinend und mit geronnenem Blute sulTundirt; die Wangen blauroth, in allen
Schichten bis tief in die Musculatur mit geronnenem Blute unterlaufen.
Die Quetschung des Zungenrandes ist offenbar hier durch den
Druck seitens des zur Leitung des Larynxcatheters cingeführten Fin¬
gers entstanden, bei einem Verfahren also, welches bei aspliykrisch
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(Jeher Geburtsverlet-zungen <1. Neugeborenen u. deren forens. Bedeutung. 225
geborenen Kindern behufs Entfernung des Fruchtwassers aus der
Trachea Anwendung findet.
Im Allgemeinen wird die Beurtheilung von Suffusionen bei sorg¬
fältiger Beachtung der Verhältnisse in jedem einzelnen Falle keinen
wesentlichen Schwierigkeiten unterliegen, wenn man vorerst den
Mechanismus feststellen will, durch welchen sie entstanden sind.
Schwierig kann sich die Sache dagegen dann gestalten, wenn beispiels¬
weise in einem speciellen Falle die Frage entsteht, ob etwa Suffusionen
am Halse als zufällig bei der von der Mutter angegebenen Selbsthilfe
entstanden anzusehen oder auf einen Kindesmord zu beziehen sind;
schwierig deswegen, weil gelegentlich Befunde sich ergeben können,
die man auf beides zurückführen könnte, indem sich bei der Selbst¬
hilfe ebenso wie bei gewissen Arten von Kindesmord auch Blutaus¬
tritte in und unter der Haut vorfinden können, welche auf einen von
aussen her einwirkenden Druck hinweisen. Ein solcher könnte aber von
Unerfahrenen auch in jenen Fällen angenommen werden, wo zwar in
der Tiefe, beispielsweise in der Halsmusculatur, Blutungen sich vor¬
finden, die Haut aber von solchen vollkommen frei ist. Gerade in
diesen Fällen wird man aber zunächst an eine spontane Entstehung
der Blutungen in der Halsmusculatur bei der Geburt zu denken haben.
3. Wunden der Weichthcile.
Von den auf Grund geburtshilflicher Imlicationen vom Arzte ab¬
sichtlich zugefügten Verletzungen kann ich hier absehen, da solche
ohne gleichzeitige Knochenverletzungen bei kunstgerechter Hilfeleistung
kaum jemals entstehen und in Fällen von Perforation und dergleichen
nicht die gesetzte Verletzung als solche Gegenstand gerichtsärztlicher
Untersuchung, sondern höchstens die Frage zu entscheiden sein wird,
ob der Vorgang des Arztes als solcher gerechtfertigt war.
Auch den durch die Zange gesetzten Verletzungen, welche wir
zweimal, und zwar das eine Mal als Rissquetschwunde der Haut in
der Gegend des rechten äusseren Augenwinkels (vide Fig. 10) mit
gleichzeitiger ßulbusenucleation bei nicht vollkommen kunstgerechter
Anlegung der Zange, das andere Mal als Rissquetschwunde des einen
Mundwinkels zu beobachten Gelegenheit hatten, wird keine wesent¬
lichere forensische Bedeutung zukommen.
Dagegen findet man zuweilen Substanzverluste der behaarten
Kopfhaut, welche unter Umständen den Verdacht eines zu verbreche-
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D i tt r ich,
22ß
Fig. 10.
rischen Zwecken vorgenommenen mechanischen Eingriffes, etwa den
Verdacht eines mechanischen Fruchtabtreibungsversuches erwecken
könnten, da eine Verwechselung derselben mit Stichverletzungen nicht
absolut ausgeschlossen erscheint. Ich verfüge über zwei derartige
Fälle, welche während der ganzen Geburtsdauer klinischer Controle
unterworfen waren und in denen jeglicher mechanische Eingriff vorher
mit Bestimmtheit ausgeschlossen werden konnte.
in dem einem Fall handelte es sich um ein auf der Klinik v. Rost hör n in
1. Hinterhauptslage spontan geborenes Kind. Die Geburt war leicht vor sich ge¬
gangen. Die Kopfknochen des Kindes waren sehr hart, der Kopf wenig configu-
rabel. Hinter dem rechten Ohre fand sich beiläufig entsprechend dem rechten
Lambdanahtrande der Hinterhauptsschuppe nahe der Warzen Fontanelle eine von
vorne nach hinten verlaufende, elliptische, nach Aneinanderlegung der Ränder
7 mm lange, nach Auslassen derselben auf 3 mm klaffende, bis aufs Periost rei¬
chende schlitzförmige Weichtheilwunde, in deren Umgebung die Haut in der Aus¬
dehnung eines Guldenstückes geröthet und an einigen stecknadelkopfgrossen
Stellen exeoriirt war. Eine Knochenimpression war hier nicht zu constatiren.
Eine nachträgliche Untersuchung des Beckens der Mutter ergab, dass die
Symphyse nach innen als leichter Vorsprung aus der Linea innominata her¬
vortritt.
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lieber Geburtsverlel/.ungon fl. NVugebnivnen n. floren forens. Bedeutung. 227
Beckendurchmesser der Mutter:
Spinae.
. 28
cm
(’ristae.
. 27
r
Tiochant. . . .
. 80
?i
Diakon.
. 11
?i
Baudelocque . .
. 18
n
Das Kind war 5(5 cm lang, 8850 g schwer.
Kopfmansse des Kindes:
Circumf.
(ICC.
84,5
cm
mcnto-oec. .
80,5
r
oec.-ljivü'm.
x\
11
Diameicr fronto-occ..
. 12
cm
r
menio-occ.
. 14
r
V
oec.-breirni.
. 10
n
77
hitemp. . .
8
11
hipariet. . .
9
71
lm 2. Falle handelte es sich um eine spontane, lang dauernde Geburt bei
stark verengtem, rhaohitisehem Becken mit scharfem Promontorium. Der Schädel
war lange in der engsten Stelle des Beckens gesteckt. Da das Befinden der Mutter
und des Kindes gut war, wurde keine Kunsthilfe angewendet.
Am Kopfe des Kindes fand sich entsprechend dem linken Scheitelbeinhöcker
ein rhombischer, 2 cm langer und 7 mm breiter Decubitus der Haut, welcher bei
der 14 Tage nach der Geburt erfolgten l ebergabe des Kindes an die Findelklinik
rein, demarkirt und mit einem feuchten Schorfe versehen war.
Als ich das Kind etwa eine Woche später sah, fand ich eine rundliche, ziem¬
lich stark seeernirende, granuliremle, mässiy tiefe Wunde, welche im weiteren
Verlaufe in normaler Weise ausheilte.
Wir müssen die Substanzverluste in beiden Fällen auf einen intra¬
uterinen Druck seitens des Beckens der Mutter an einer umschrie¬
benen Stelle zurückführen, also als Decubitus autfassen. Abgesehen
von der klinischen Erfahrung, finden wir im zweiten Falle die Angabe
über die Demarcation des Schorfes, welche 14 Tage nach der Geburt
des Kindes erfolgt war, sowie die Angabe über den ganzen Verlauf
dieser Aflfection der Schädeldecken, wodurch hinsichtlich des Charakters
der letzteren jeglicher Zweifel ausgeschlossen erscheint.
lm ersten Falle war es bereits zur vollständigen Abstossung des
Schorfes gekommen, bevor das Kind zur Welt kam. Gerade in einem
solchen Falle, in welchem man dann, wie es hier der Fall war, eine
scharfrandige, schlitzförmige Wunde vorfinden kann, wäre aber eine
Verwechselung einer solchen mit. einer Stichverletzung durch weniger
Geübte nicht absolut ausgeschlossen. Namentlich in Fällen, in denen
die Geburt heimlich vor sich gegangen ist oder ungenügende Angaben
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Dit tri cli,
über den Geburtsverlauf vorliegen, läge die Gefahr eines solchen Irr¬
thums nahe. Uebrigens bilden ja hier auch die Röthung der umgeben¬
den Haut sowie das Vorhandensein von Exeoriationen an dieser Stelle
Befunde, welche geeignet sind, zur richtigen Deutung des Substanz¬
verlustes mitbeizutragen, beziehungsweise auf die Einwirkung einer
stumpfen Gewalt hinzudeuten.
Salomon 1 ) bezeichnet, abgesehen von künstlichen Laesionen,
ein verengtes Becken als Ursache der Entstehung von Druckmarken,
welche je nach der Stärke und Dauer des Druckes das Bild der
einfachen Hyperaemie, der Entzündung oder der Gangrän darbieten.
Er theilt einen Fall mit, wo bei normalen Grössenverhältnissen
des Beckens und des Kindeskopfes umschriebene Gangrän der Kopf¬
haut des Kindes in Folge von Druck seitens des Promontoriums sich
vorfand. Etwas nach vorn vom linken Scheitelbeinhöcker befand sich
eine markstückgrosse suffundirte und etwas bräunlich verfärbte, von
einem rothen Hofe umgebene Stelle. Die Haut an der Druckstelle
war trocken, necrotisch und stiess sich in den nächsten Tagen ab.
Es blieb eine zehnpfennigstückgrosse Gcschwürsstellc, die allmälig
vernarbte, zurück.
Forensisch bietet der Fall insofern nicht geringes Interesse dar.
als er beweist, dass selbst eine bedeutende Drucknecrose auch bei
normalem Becken ohne jede Gewalteinwirkung lediglich durch den
Geburtsact entstehen kann. Allerdings wird vor Allem ein protra-
hirter Geburtsverlauf zur Entstehung von Druckstellen führen, wie die
meisten Autoren meinen; doch fehlt es nicht an Beispielen, welche
zeigen, dass auch bei normaler oder mindestens nicht abnorm langer
Geburtsdauer solche vorgefunden werden.
In dem von Salomon mitgetheilten Falle hatte sich die Geburt
auf einen Zeitraum von drei Tagen ausgedehnt. Bereits während des
ersten Tages war der Uterus etwas gespannt, doch kamen in regelmässi¬
gen Intervallen noch deutliche Wehen. Am zweiten Tage trat ein per¬
manenter Oontractionszustand ein, welcher sich bis kurz vor Beendi¬
gung der Geburt zu einem sehr hohen Grade steigerte. Mit Recht
schreibt Salomon diesem Zustande des Uterus eine wesentliche Rolle
hinsichtlich der Entstehung der Drucknecrose in diesem Falle zu.
Zu erwähnen sind hier ferner die sogenannten Dehnungsstreifen;
*) Hob. Salomon, Zur Aetiologie der Drucknecrosen am Schädel Neuge¬
borener. Inaug.-Dissert. Würzburg - 1SS7.
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lieber Geburtsverletzungen d. Neugeborenen u. deren forens. Bedeutung. 229
das sind eigenthümliche rothe, quer verlaufende Streifen am Vorder-
und Hinterhals, welche den Schwangerschaftsstreifen ähneln sollen.
Kaltenbach 1 ) sah dieselben in zwei Fällen in Folge stärkster Deh¬
nung der Haut. In dem einen Falle war der Kopf in maximaler
Beugung, im anderen in maximaler Streckung geboren worden. Die
Streifen fanden sich an jenen Stellen, an denen die stärkste Beugung
beziehungsweise Streckung erfolgt war. Ich habe Aehnliches niemals
gesehen und ebensowenig ist mir hierüber irgend eine Mittheilung
seitens eines andern Autors bekannt. Kaltenbach meint, am Vorder¬
hals könnten diese Dehnungsstreifen einem mit diesem Phänomen
nicht vertrauten Arzte als Strangulationsmarken resp. als Folgen „äus¬
serer Gewalteinwirkung“ erscheinen.
Auch ausgedehnte Verletzungen der Haut und der tiefer liegenden
Weichtheile können gelegentlich bei Kunsthilfe während der Geburt
entstehen.
Hierher gehört ein Fall von Halsverletzung von der Klinik
v. Rosthorn (s. Tafel I Fig. 11).
Dieser Fall, in welchem eine rasche manuelle Entbindung notlnvcndig
wurde, betraf einen weiblichen Fötus etwa aus dem Anfang des 6. Monates. Herz¬
töne waren nicht zu hören, weshalb bei der Entbindung seitens des Arztes be¬
greiflicherweise auf den Fötus keine weitere Rücksicht genommen wurde. Der
Kopf des in Beckenendlage befindlichen Fötus war vom Muttermunde umschnürt,
ist etwas schwieriger durchgegangen, da der Muttermund nicht hinreichend er¬
weitert war. Der Kopf wurde mit der eingeführten Hand gelöst.
Nach Ansicht des klinischen Assistenten, Herrn Dr. Kleinhans, dürfte die
Verletzung bereits vor der Lösung des Kopfes durch starken Zug am Rumpfe ent¬
standen sein.
Herr College H. Chiari hatte die Freundlichkeit, mir den Fötus behufs
weiterer Untersuchung zu überlassen.
Die am 29. Januar 1. J. vorgenommene Section ergab im Wesentlichen
Folgendes:
Am Vorderhals eine weit klaffende, quer verlaufende, rechts bis einen
Querfinger hinter die rechte Ohrmuschel, links bis zum linken Schulterblatt auf
den Rücken hin reichende Wunde der Haut. Die Hautränder dieser Wunde weit
von einander entfernt, nur durch eine von dem linken Sternoclaviculargelenke
schräg nach oben und hinten aufsteigende ganz schmale, erhaltene Hautbrücke
mit einander verbunden; der obere Wundrand befand sich in der Höhe des Kehl¬
kopfes, der untere reichte in der rechten Wundhälfte bis knapp über das rechte
Schlüsselbein, in der Mitte bis zur Incisura jugularis sterni und in der linken
1 ) Kaltenbach, Dehnungsstreifen in der Halshaut des Fötus. Centralblatt
für Oynäkolügie. 1888. No. öl.
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•230
1) i 11 r i c h,
Wundhälfte bis etwa 0,5 cm unter das linke Schlüsselbein. Die Ränder der
Wunde waren im Allgemeinen ziemlich scharfrandig, nur an einzelnen Stellen ge¬
zackt, etwas unregelmässig. Im Bereiche der linken Wundhälfte war der untere
Wundrand stark abgeschrägt. Im Grunde dieser Wunde waren die grossen Hals-
gefässe beiderseits wie freipräparirt, blossliegend und unverletzt. Die Trachea
lag ebenfalls bloss und zeigte beiläufig in der Mitte ihrer linken Wand ein etwa
stecknadelkopfgrosses Loch, welches die ganze Dicke der Luftröhrenwand betraf.
Die Halsmusculatur und Nervenzweige des Plexus cervicalis waren beiderseits
zum Thcile zerrissen. In der oberflächlichen Halsmusculatur war stellenweise ge¬
ringe Blutunterlaufung wahrzunehmen.
Ausserdem fand sich an der Beugeseite des linken Vorderarmes im Bereiche
seines unteren Drittels eine oberflächliche, etwa 1 qcm grosse Lappenwunde und
an der Innenfläche des linken Unterschenkels eine quer verlaufende 1 cm lange,
oberflächliche Risswunde der Haut, beide ohne Rcaction. Die ziemlich blut¬
reichen Schädeldecken waren an einzelnen Stellen leicht suffundirt und von
Ecchymosen durchsetzt. An der Oberfläche der Unterlappen beider Lungen fanden
sich reichliche kleine Blutaustritte.
Die Möglichkeit, dass bei der Selbsthilfe Gebärender unter ge¬
wissen Verhältnissen ausgebreitete Verletzungen am Kopfe, specicll in
der Umgebung des Mundes und im Munde selbst entstehen können,
muss zugegeben werden. Die Frage, welche der Gerichtsarzt in einem
solchen Falle zu beantworten haben wird, kann auch hier natürlich
wieder nur dahin lauten, ob die Verletzungen durch Selbsthilfe entstehen
konnten, da für die Entscheidung der Frage, ob eine solche thatsäch-
lich stattgefunden hat, andere Momente, namentlich die Erwägung, in
wie weit die Angaben der Mutter glaubwürdig sind, in Betracht kommen.
Kob x ) theilt einen Fall mit, in welchem seiner Ansicht nach
die an einem neugeborenen Kinde Vorgefundenen erheblichen Ver¬
letzungen des Mundes dadurch veranlasst wurden, dass, als der Kindes¬
kopf zur Hälfte aus dem Körper der Mutter herausgewesen, sie den¬
selben umfasst und so das Kind mit einem Ruck aus ihrem Leibe
herausgerissen hatte. ■
Aus dem Obductionsbefunde sei Folgendes hervorgehoben: Es
verlief vom Unken Ohre, 2 cm hinter dem Ohrläppchen beginnend,
eine Trennung des Zusammenhanges in ziemlich horizontaler Richtung,
6 l / 2 cm lang, bis genau in den linken Mundwinkel hinein, setzte sich
genau vom rechten Mundwinkel ein wenig schräg nach unten 2 cm
und von hier aufsteigend nach dem Jochbeine zu ebenfalls 2 cm weit
0 Kob, Fall von merk würdiger Selbsthilfe einer Gebärenden. Diese Yiertel-
jalirsselirift. N. F. Bd. 45. S. 87.
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I'eher Gcburlsvcrlei/.uiifren <1. Neugeborenen u. deren i’orens. Bedeutung. ‘231
fori. Diese Zusammenhangstrennung betraf die äussere Haut Und die
ganze darunter liegende Musculatur, hatte in der Haut ziemlich scharfe,
in den Muskeln mehr gerissene Ränder. Die Wundfläche war mit
geronnenem dunkelrothem Blute bedeckt, nach dessen Entfernung sie
eine hellrothe Farbe zeigte. Die Weiehtheile waren vom Unterkiefer
ganz getrennt, dieser genau in seiner Mitte geradlinig, etwas gezähnt,
ebenfalls auseinandergetrennt, so dass seine zwei Stücke lose nach
unten herabhingen und die ganze Mundhöhle offen dalag. ln der
Mitte derselben ragte die oben vollständig erhaltene blassrothc Zunge
hervor, deren unterer Tlieil fast ganz zerrissen war, so dass die
Zungen musculatur nur in kleinen braunen Fetzen hervorragte. Im
Schlunde zeigte sich die Schleimhaut mit den daruntcrliegenden Thcilcn
ebenfalls in Form von kleinen braunrothen Fetzen.
In der Mitte des Halses verlief eine Hautabschürfung in senk¬
rechter Richtung, auf der rechten Halsseite eine ebensolche 2 1 / a cm,
auf der linken eine gleiche 1 cm lange Hautabschürfung, alle je 1 mm
breit. An diesen Stellen erschien die Oberhaut ganz entfernt, der
Grund blassroth und blutig.
Kob äusserte die Ansicht, dass es sich hier nicht um Kindes¬
mord, sondern um Verletzungen durch Selbsthilfe gehandelt habe,
indem er sich vorstellte, die Mutter konnte, als sie sah, dass die
Geburt nach Austritt des Kopfes zögere, bei der Selbsthilfe mit den
Fingern vom Munde aus die tödtlichen Verletzungen beigebracht haben.
Sic griff, so meinte Kob, um eine Handhabe zum Ziehen zu gewinnen,
wahrscheinlich in den Mund des Kindes, hakte die Finger gegen die
Wangen, erfasste, als letztere rissen, den Unterkiefer und zog an
diesem so lange, bis sich alle an ihm befindlichen Muskclansätze ab¬
lösten und er selbst zerbrach. An den zwei nunmehr wie abprä-
parirten Kiefertheilen hatte sie keinen Halt mehr; sie umfasste
die Zunge und mochte noch versucht haben, an dieser das Kind
herauszuziehen, wobei nothwendig jene tiefen Einrisse aller Verbin¬
dungen der Zunge mit dem Schlunde bis tief in die Speiseröhre hinab
erfolgten.
Mit Bestimmtheit erklärte Kob, dass diese Verletzungen des
Kindes durch Anstrengung seitens der Mutter, den Geburtsact zu
fördeni, herbeigeführt worden sein konnten, ja, dass dieser Vorgang
die grösste Wahrscheinlichkeit für sich hat.
Aeusserst wichtig sind in derartigen Fällen die Angaben der
Mutter, welche, wie dies auch Haberda mit Recht hervorhebt, von
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232
Di tt rieh,
Kob nicht genügend beachtet worden sind 1 ). Die Mutter gab nämlich
an, sie hätte den zur Hälfte geborenen Kopf erfasst und so das Kind
mit einem Ruck herausgerissen; Manipulationen, die mit der von Kob
geäusserten Auffassung in Einklang gebracht werden könnten, hat sie je¬
doch nicht angeführt. Jedenfalls ist dies ein für Kob’sFall gewich¬
tiges Moment. Dabei soll jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass
gelegentlich durch Selbsthilfe einer Gebärenden derartige Mund- und
Rachen Verletzungen dem Kinde zugefügt werden können.
Von einer Selbsthilfe bei Gebärenden, welche in den ersten Mo¬
naten der Schwangerschaft niederkommen, werden ausgebreitete und
tiefgehende Weichtheilwunden kaum jemals herzuleiten sein, da doch
der Abortus in solchen Fällen, was den Durchtritt des Fötus anbe¬
langt, fast immer leicht von Statten gehen wird. Uebrigetis ist zu be¬
rücksichtigen, dass bei Früchten in den ersten Monaten der Entwicke¬
lung Weichtheilverletzungen wegen der Zartheit der Gewebe durch ver-
hältnissmässig geringfügigere Gewalteinwirkungcn zu Stande kommen
können. Ich stimme deswegen der Ansicht Kratter’s 2 ) nicht bei,
wenn er Verletzungen, die sich an einer 15 cm langen Frucht aus
der Mitte des vierten Schwangerschaftsmonates vorfanden, und in Auf¬
schürfungen der Haut über dem Hinterhaupte, in Lostrennungen der¬
selben über dem Kreuzbein und in der Lendengegend mit Eröffnung
der Bauchhöhle bestanden, kurzweg auf „ungeschickte Manipulationen“
während 'der Hilfeleistung beziehen will, aber auch die Möglichkeit
zugiebt, dass vielleicht die Gebärende selbst in der Absicht, die Geburt
zu beendigen, die Verletzungen der Frucht beigebracht habe.
Ausgedehnte Weichtheilwunden können ferner auch dadurch zu
Stande kommen, dass eine Schwangere von einem Trauma ge¬
troffen wird, wobei sie selbst gar keine schweren Folgen davonzutragen
braucht. Unser Institut besitzt das Präparat von einem derartigen
Falle 3 ), welcher kürzlich von Paul in No. 35 des Jahrganges 1894
der Prager mcdicinischen Wochenschrift ausführlich mitgetheilt wurde.
Eine 32jährige Schwangere glitt 2 Tage vor ihrer Entbindung aus,
*) Haberda, Die gerichtsärztliche Bedeutung von Rachenverletzungen in
Leichen Neugeborener. Wiener klinische Wochenschrift. 1893. No. 45, 46, 47.
2 ) Erwähnt von Ipsen, L'cber die postmortalen Gewichtsverluste bei mensch¬
lichen Früchten. Diese Vierteljahrsschrift. 1894. 3. Folge. Bd. VII. S. 313.
3 ) Das Präparat verdanken wir der Freundlichkeit des Herrn Collegen
11. Cliiari, welchem dasselbe von dem k. k. Bezirksarzte in Aussig, Herrn
Dr. Gustav Paul eingeschickt wurde.
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I’ebor (iehiirisveilelzun«:»'» d. NeHgcBorencn u. deren forens. Bedeutung. 233
fiel mit voller Wucht mit dem Unterleib auf die Kante einer steinernen
Stufe auf, ohne dass sie selbst ausser heftigem Schmerze irgend
welche üble Folgen, speciell Verletzungen davongetragen hätte. Die
Kindsbewegungen hielten nach Angabe der Frau bis zu dem Falle an;
von da ab fehlten sie vollständig. Am nächsten Tage setzten die
Geburtswehen ein; die Geburt des todten Kindes erfolgte spontan.
Aus dem Protokolle über die am 23. Januar 1. J. von H. Chiari
vorgenommene Obduetion des 3100 g schweren, 50 cm langen Kindes
sei Folgendes hervorgehoben:
Leichte Maceration. Congenitale Syphilis mit diffuser intersti¬
tieller Hepatitis und Lebericterus, Milztumor, diffuser interstitieller
Nephritis, universellem Hydrops und multiplen Ecehymosen als Theil-
erscheinungen, ferner Encephalitis neonatorum und Fettdegeneration
beider Nebennieren.
Bezüglich der Verletzung des Kindes besagt das Pro¬
tokoll Folgendes:
„Der Unterleib eingesunken. In seiner vorderen Wand unterhalb
des Nabels eine quer verlaufende, von der einen Spina anterior Supe¬
rior ilei bis zur anderen sich erstreckende, in die Bauchhöhle pene-
trirende Ruptur, die sich aber durch Adaptirung der Hautränder voll¬
kommen schliessen lässt, wobei sich zeigt, dass die Continuitäts-
trennung in der Haut bogenförmig von der einen Spina anterior
superior ilei entlang dem betreffenden Ligamentum Poupartii durch
den Mons Veneris über das andere Ligamentum Poupartii bis zur
anderen Spina anterior superior ilei verläuft, während die Continuitäts-
trennung in der Museulatur und dem Peritoneum der vorderen Bauch¬
wand 2 cm über dem oberen Rande der Symphyse eine quere ist.
Tn der Umgebung der Ruptur im subperitonealen Zellgewebe, nament¬
lich nach oben zu, haemorrhagische Infiltration. An der Museulatur
und in der Haut, der Rupturstelle nur einzelne kleinere Ecehymosen.
Solche punktförmige Ecehymosen übrigens auch in der Haut des
ganzen Körpers zerstreut. Die Epidermis der Rupturränder in stär¬
kerer Maceration.“
Der Tod der Frucht war im Uterus durch universelle Anacmie
in Folge der Verletzung des Unterleibes erfolgt. Dass diese Ver¬
letzung, für deren Zustandekommen die durch den Hydrops gespann¬
ten und morsch gewordenen Bauchdecken disponirt waren, nicht etwa
erst während der Geburt entstanden ist, dafür sprach die hier beson¬
ders wichtige Beschaffenheit der Fruchtwässer, welche nach Angabe
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234
L> i H r i r li,
der Hebamme offenbar in Folge des aus der Wunde ergossenen, bcreiis
veränderten Blutes „braun wie Mistjauche“ waren.
Die Möglichkeit, dass beispielsweise bei einem macerirten Fötus
die Bauchdecken auch spontan während des Durchtrittes des Kin¬
des durch den Geburtsact selbst eine derartige Verletzung bewirkt
werden könnte, kann nicht absolut negirt werden. Dem widerspricht
aber hier eben die Angabe über die Beschaffenheit der Fruchtwässer,
welche offenbar in dem Falle, als diese Verletzung erst intra partum
entstanden wäre, ein normales Aussehen dargeboten hätten.
Das Wiener gerichtl.-medic. Institut besitzt ein Präparat von bei
der Wendung entstandener partieller Zerrcissung des Perineums
bei einem Mädchen. Die Haut zeigte einen ihre ganze Dicke be¬
treffenden kreuzergrossen, länglich ovalen Riss.
Bei einem anderen, jüngst (15. Sept. 1894) im Wiener pathol.-
anatomischen Institute zur Obduction gekommenen in Steisslage todt
geborenen Kinde fand sich, nachdem ausserhalb der Gebärklinik die
Mutter von zwei Acrzten untersucht und durch 1 1 / 2 Stunden Entbin-
dungsversuchc vorgenommen worden waren, das Perineum förmlich
zerwühlt, und an seiner Stelle eine bis ins subcutane Zellgewebe rei¬
chende frische, auf das linke kleine Labium übergreifende Wunde
Fig. 12.
(vide Fig. 12), die bereits bei der klinischen Aufnahme constatirt
worden war. Das Septum recto-vaginale war nicht zerrissen.
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I'clicr fiHuirlsvorlolzunffi'n d. Neugvliorcnon u. deren fm-ens. Be<l<nilimg. 235
Die Zcrreissung des Perineums im ersten Falle muss man sieh
wohl in der Weise erklären, dass die Wendung auf einen Fuss ge¬
macht und an dem letzteren ein starker Zug ausgeübt wurde, ohne
dass der andere Fuss entsprechend nachfolgte, wodurch es zunächst
zu einer starken Dehnung und schliesslich zur Zerreissung des Peri¬
neums gekommen ist.
Im zweiten Falle muss man der Ansicht der Geburtshelfer bei¬
pflichten, dass die Verletzung durch unzweckmässige Digital Unter¬
suchung vor der Aufnahme auf die Klinik entstanden ist.
Einen interessanten Fall von durch unzweckmässiges Touchiren
entstandener Verletzung des Kopfes eines Fötus theilte mir gelegent¬
lich der Naturforscherversammlung Herr College Dr. Hermann Lin-
hart, k. k. Bezirksarzt in Gottschee (Krain) mit. In der Ort¬
schaft Graflinden in Gottschee kam am 14. Mai 1892 eine Geburt
mit folgendem Verlaufe vor: Einer 24jährigen erstgebärenden Bäuerin
half bei der Entbindung eine Afterhebamme. Als die Geburt so weit
vorgeschritten war, dass der Kindeskopf in der Schamspalte sichtbar
wurde, glaubte die Hebamme in der gefalteten Kopfhaut die Frucht¬
blase zu erkennen, welche gesprengt werden müsse. Nach längerem
Bohren mit dem Fingernagel wurde eine Oeffnung in der Kopfhaut
erzeugt, die durch den hakenförmig gekrümmten Finger erweitert
wurde. Das Kind wurde lebend geboren, doch war es fast vollstän¬
dig skalpirt, indem die Kopfhaut in grossem Umfange abgelöst war
und nur noch durch eine 6 cm breite Brücke mit der übrigen Kopf¬
haut zusammenhing. Die Ablösung erstreckte sich links neben (lei-
kleinen Fontanelle beginnend in horizontaler Richtung über das linke
Scheitelbein nach vorne über das Stirnbein bis hinter den rechten
Schcitelbeinhöcker. Die Wundränder waren unregelmässig zerrissen,
die abgelöste Kopfhaut stark zusammengeschrumpft. In Folge zweck¬
entsprechender chirurgischer Behandlung blieb das Kind am Leben.
Wenn nun auch so ausgebreitete zufällig entstandene Verletzun¬
gen bei Neugeborenen nicht gar häufig zur Beobachtung kommen, so
ist deren Kenntniss doch nothwendig, da gelegentlich in solchen Fällen
der Verdacht einer in verbrecherischer Absicht erfolgten Gewalteinwir¬
kung aufkommen könnte.
4. Deformitäten und Verletzungen des Knochensystems.
Diese Knochenveränderungen haben unter sömmtliehen „Geburts-
Verletzungen“ die weitgehendste Würdigung und l»earbeitum: seitens
Yicrteljalirssdir. I‘. ger. Dritte Folge. IX. 2. j (
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T* i 11 ric.li.
23(5
verschiedener Autoren gefunden, offenbar deswegen, weil sie meistens
auffällig sind, nicht selten in Folge der mit ihnen verbundenen Er¬
scheinungen die Aufmerksamkeit der Umgehung und des Arztes auf
sich ziehen und endlich, wenn man sie an Kindesleichen findet,
leicht als Effect einer verbrecherischen Handlung angesehen werden
können.
Namentlich die durch den Geburtsaet bedingten Veränderungen
des kindlichen Schädels sind halbwegs erfahrenen Gerichtsärzten hin¬
länglich bekannt. Und doch erinnere ich mich eines Falles, in wel¬
chem vor zwei Jahren kurze Zeit nach meiner Publication über diesen
Gegenstand 1 ) von der Wiener medicinischen Facultät ein Gutachten
abverlangt wurde, da zwei Gerichtsärzte die bei einem neugeborenen
Kinde Vorgefundene, ohne Zweifel auf einen Drnck seitens des mütter¬
lichen Beckens zu beziehende Impression eines Schädelknochens als
Folge von Schlägen, die ihrer Meinung nach gegen den Kindeskopf
geführt worden sein mussten, aufgefasst hatten, während zwei an¬
dere Gerichtsärzte correcterweise diese Impression als intrauterin ent¬
standen deuteten.
Erfährt der Kopf eines Kindes während der Schwangerschaft oder
bei der Geburt einen abnorm hohen, eine gewisse Zeit hindurch dau¬
ernden Druck, so treten an den Schädelknochen Veränderungen auf,
welche je nach der Dicke und Festigkeit bezw. Nachgiebigkeit der
Knochen verschieden sein können.
Die Grenzen der Configurabilität des Kopfes sind namentlich
durch die Breite der die Schädelknochen zusammenhaltenden Jnter-
stitialmembranen gesetzt.
Die geringste Veränderung, welche der kindliche Schädel durch
den Druck seitens des mütterlichen Organismus erfährt, besteht in
j einer Verschiebung der Schädelknochen gegen beziehungsweise
über einander. Typisch ist dabei die Unterschiebung der Stirnbeine
und der Hinterhauptsschuppe unter die beiden Scheitelbeine, während
die Verschiebung der letzteren gegen einander beliebig sein kann.
Bei einer ad maximum gediehenen Ucbercinanderschiebung der Scheitel¬
beine kann es durch Ruptur der von der Pia zum Sinus falciformis
major, gelegentlich auch durch Ruptur des letzteren selbst zu mehr
weniger hochgradigen intermcningealen Blutextravasaten kommen.
Genügt, die auf die genannte Weise erfolgte Verkleinerung des
1 1 Wiener Minisrlie \\ ochensclirift. 1 s!H. \i>. H. r >.
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I'fltoi - <"«ol>urtsv**rl«‘tzu«I. Nimi^oIkuciioii ii. •I< , n'n l’<nvn>. iiiii*'. 237
Kopfes nicht für den Durch tri f.t des Kindes, so können in Folge des
kräftigen Andrückens umschriebener Partien der Schädel Oberfläche, näm¬
lich insbesondere eines Scheitelbeins oder eines Stirnbeins gegen best immte
Punkte des mütterlichen Beckens, namentlich gegen das Promon¬
torium, gegen die Symphyse oder in einzelnen Fällen gegen aus pa¬
thologischer Ursache nach innen zu vorspringende Stellen des Beckens,
zuweilen mit Infraetionen combinirte Impressionen an den erwähn¬
ten Schädelknochen entstehen. Zwei Typen findet man da vertreten, *
die sogenannten rinnenförmigen und die löffelförmigen Impressionen,
zwischen denen die verschiedensten Uebergänge beobachtet werden.
Soche Impressionen lassen sich häufig sehr leicht durch massigen
oder stärkeren Fingerdmck an Schädeln von Kindesleichen erzeugen.
Es giebt aber auch Schädeldächer, an denen dies nicht gelingt; es
sind dies solche, deren Knochen äussorsi hart und fest sind, ohne
dabei etwa dicker sein zu müssen, als jene, an denen sich Impressionen
leicht erzeugen lassen.
Solche Impressionen können entweder nur an einer Stelle oder
an zwei gegenüberliegenden Stellen, bei Verschiebung des Kopfes in¬
nerhalb des Beckens auch an vier Stellen sich vorfinden, in welch’
letzterem Falle je 2 Impressionen an diametral gegenüberliegenden
Stellen gelegen sind. Kinder, welche derartige Schädelimpressionen
tragen, brauchen gar keine wesentlichen Folgen davon zu erleiden
und es gleichen sich, soweit meine Erfahrung reicht, massige Knochen-
cindriicke nach kurzer Zeit, oft schon nach einem bis zwei Tagen
vollständig aus. Kleine Impressionen bleiben gewiss häufig vollständig
verborgen.
Früher hat man in Fällen von Zangengeburt diese Impressionen
als Effect des durch Zangenlöffel ausgeübten Druckes angesehen. Es
ist zwar leicht begreiflich, dass, wenn beispielsweise bei hochstehen¬
dem Kopfe die Zange angelegt wird oder bei Kopflagen die Zange
ratscht, durch die Spitzen der Zangenlöffel Impressionen entstehen
können; ich habe mich aber wiederholt überzeugt, dass sehr häufig
die Impressionen einen mit der Lage der Zange nicht correspondircn-
den Sitz haben. Ucbrigens zeigen ja die Impressionen der Schädel-
knochen bei spontan geborenen Kindern, dass einzig und allein durch
Druck seitens des mütterlichen Beckens auch tiefe Knoehencindriicke
entstehen können.
Es unterliegt wohl keinem Zweifel, dass die intrauterin ent¬
stehenden Impressionen kindlicher Schädelk midien unter ( msländen
10 *
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288
Dit I rieh,
einen günstigen Einfluss auf den Verlauf einer Geburt, ausüben, indem
auf diese Weise ein Missverhältmiss zwischen Kindesschädel und müt¬
terlichem Becken insoweit ausgeglichen werden kann, dass dadurch
ein sonst in diesem Missverhältnis gelegenes Hindernis für eine
spontane Geburt beseitigt wird.
Unter Umständen können nun die Impressionen der Schädel¬
knochen bei Kindern eine wesentliche forensische Bedeutung erhalten,
indem einerseits solche intrauterin entstandene Impressionen als Folge
einer post partum erfolgten Gewaltthätigkeit angesehen, andererseits
aber thatsächlich durch letztere Impressionen entstehen können, welche,
wie dies auch experimentell nachgewiesen ist, ein den intrauterin
entstandenen analoges Aussehen darbieten. Es ist eben nothwendig,
dass wir in solchen Fällen ausser dem objectivcn Befunde am Kinde
, auch die sonstigen, auf die Geburt bezüglichen Umstände berücksich¬
tigen, so namentlich das Grösscnverhältniss zwischen Kopf des Kindes
und Becken der Mutter, sowie etwaige Anomalien während der
Schwangerschaft beziehungsweise während der Geburt. So hat v. Hof¬
mann 1 ) in einem letal abgelaufenen Fall die intrauterine Entstehung
eines löffelförmigen Eindruckes des einen Scheitelbeins, der sich neben
einem Sprung des anderen Scheitelbeins vorfand, wegen der relativen
Kleinheit des Kopfes bei normal weitem Becken der Mutter ausge¬
schlossen.
Wichtiger sind in forensischer Hinsicht die Fälle, in denen vor
oder bei der Geburt bei Kindern Continuitätstrennungcn — meist
einfache, mehr weniger ausgedehnte Fissuren — entstehen. Die Be¬
deutung liegt darin, dass einerseits von mancher Seite trotz unwider¬
leglicher Beweise auch jetzt noch das Entstehen derartiger Fissuren
einzig und allein durch Druck seitens des mütterlichen Organismus
in Abrede gestellt wird, und dass andererseits Fissuren zu tödtlichen
Blutungen und Läsionen der Hirnhäute führen und daher eher Gegen¬
stand genchtsärztlieher Untersuchung werden können.
Leber einen Fall von Schädel Verletzungen bei einem spontan geborenen
Knaben, welcher im Januar 1892 beobachtet wurde, linden sich in unserem Insti¬
tute folgende Angaben:
82jährige Dritigebärende.
Erste Entbindung vor G Jahren leicht. Todtes ausgetragenes Kind.
Zweite Entbindung in der Gebäranstalt. Becken platt rhachitisch.
8p. 25,0, Cr. 80,0, Tr. 82, 1)B. 19,5, CD. 10,5, ('. v. 7,8 (Skutsch), 'I' i. 9,5,
*) Wiener medicinische Presse. 18s5. No. 21.
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Feber Goburtsverletzungen d. Neugeborenen u. deren forens. Bedeutung. 239
querer Durchm. 12,8 cm (Skutsch). Höhe der Symphyse 5 cm. Promontorium
stark vorspringend. Becken in querer Richtung nicht verengt.
Am 18. Mai 1890 in die Gebäranstalt aufgenommen, dabei constatirt: Blase
gesprungen, II. Hinterhauptsiage.
Am 20. Mai um 1 Uhr früh schwache Wehen, Muttermund für 3 Querfinger
durchgängig. Kopf hoch im Beckeneingang, beweglich.
Am 21. Mai um 9^4 Uhr früh Geburt des Kindes. Unter starken Wehen und
kräftigem Mitwirken der Bauchpresse. Der Kopf rückt unter immer anwachsender
Kopfgeschwulst am linken Scheitelbein tiefer. Die Leitung übernimmt die kleine
Fontanelle und nach überwundenem Beckeneingang erfolgt die Geburt sehr schnell,
indem der Kopf etwas schräg mit dem Gesichte über den Damm gleitet.
Der Knabe, 50 cm lang, 3000 g schwer.
Kopfmaasse: Fronto-occip. . . 10,4 cm,
Mento-oceip. . . 12,0 „
Bitemp.8,0 „
Bipariet. 9,2 ,,
horiz. Umfang . 34,5 „
Fausigrosse Kopfgeschwulst am linken Scheitelbein, daselbst Sugillationen
unter der Haut. Am rechten Scheitelbein eine 4 cm lange, 3 cm breite ovoide
Impression, die knapp vor dem Scheitelbeinhöcker liegt und nach hinten tiefer
wird, wo dann die angrenzenden Parti een einen starken Wall bilden. Nach vorn
wird sie seichter und es findet sich hier, an die Coronarnaht anschliessend, 4 i; 2 cm
von der grossen Fontanelle entfernt, eine Fissur des Knochens; besonders ein
Splitter durch die Haut deutlich durchzufühlen. Die Haut über der Impression
roth. Nach 7 Tagen die Impression zum Theil ausgeglichen, aber immer noch
sichtbar und tastbar.
Dritte Entbindung in der Gebäranstalt.
Aufgenommen am 29. December 1891. I. Schädellage.
Am 1. Februar 1892 um 6 1 2 Uhr früh Wehen. Blusensprung. Muttermund
b cm im Durchmesser. Kopf hoch, ballotirend auf dem Beckeneingang. Unmit¬
telbar hinter der Symphyse eine quer verlaufende Naht, welche rechts in eine
grosse (?) Fontanelle übergeht.
V 29 Uhr früh Muttermund handtellergross. Kopf hoch und beweglich, wird
in den Wehen in den Beckeneingang imprimirt. Kopfgeschwulst. Grosse Fonta¬
nelle rechts hinter der Symphyse. 1. Lage.
10* 4 Uhr früh Kopfgeschwulst grösser. Herztöne bis auf 80 verlangsamt.
Sonst Status idem.
K> 3 4 Uhr früh Narcose. Das vordere Scheitelbein unter das hintere ge¬
schoben. Pfeilnaht unmittelbar hinter der Symphyse verlaufend.
Die Kopfgeschwulst wird immer grösser. Kopf, von vorn her comprimirt,
noch im Beckeneingang stehend.
12 V4 Uhr Nachmittags nach kurzer Geburtsthätigkeit spontane Geburt
eines Knaben. Das Kind tief asphyktisch; durch Schultze’sche Schwingungen
volles Leben. Nach 38 Stunden unter allmüligem Uollaps Exitus letalis.
Die in II. Chiari’s Institut vorgenommene Obduction des Kindes ergab
im Wesentlichen Folgendes;
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Original ffom
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I> i 11 r ir li.
•240
Kölpt*r j 1 rill hm«r, 2(uO *r Srliwrr.
Haut über ilcm roclitiMi Solmitolbiön mul .Schläfrnboin s^rotluM. Im rechten
Srbriirlbrin rinr klaUVmle. ca. f> rm lamrr Spalte durch die Haut zu tasten. Die
weichen Srhiidelderkeii alleiiibalben 1>1 uti«r durcbtränkl. Das Periost des Schädels
au mehreren Stellen durch Hlutexlravasate abgehoben. Im rechten Scheitelbein
eine ca. 4 cm lam»«-, median etwas vor der Mitte der Sagittalnaht beginnende,
weiter mit der (/oronarnaht parallel verlaufende Fraeiur; darüber das Periost ein¬
ige rissen. Am rechten Sclieitell>ein in der Mitte des vorderen Randes eine 1 •» cm
lange Fissur, luter dem rechten Sclieitidbeinhöcker eine ganz seichte Impression.
In der Milte der Sagitialnaht ein mit dem vorderen Kn de genau bis zum oberen
Rande der (dntinuitätstronnung im rechten Scheitelbein reichender, 8 cm langer
Riss, dessen rechttu' Rami sich auf f) mm weit abliehen lässt. Der Sinus falci-
formis hier nicht verletzt. Die Dura, sowie die inneren Meningen blutig siilTun-
dirt. Die Schädelknochen vmi gewöhnlicher Dicke und Resistenz.
Vcrhältmssmässig leicht und durch relativ geringe Gewalt können
derartige Fissuren bei Kindern entstehen, deren Schädeldach zufolge
mangelhafter Ossilication an umschriebenen Stollen auffallend dünn
erscheint-, ein Befund, auf welchen stets hei Abgabe des Gutachtens
als auf ein für traumatische Continuitätstnmnimgen prädisponirendes
Moment hinzu weisen ist.
Auch an festen und normal dicken Knochen können sowohl hoi
spontaner Gehurt, als auch bei schwereren Extractionen und bei
Zangengeburten Fissuren Vorkommen; ja es hat sogar den Anschein,
dass an festen Sehädelknochen, welche äusserer Gewalt nicht leicht nach¬
gehen, durch starken Druck bei der Geburt eher Fissuren als Im¬
pressionen entstehen. Die Fissuren haben einen typischen Verlauf,
ziehen regelmässig parallel mit den Ussilicationsstrahlcn. Sie haben
ihren Sitz in der Regel an einem der beiden Scheitelbeine, sind ent¬
weder einfach und verlaufen dann vom Tuber parietale zum Sagittal-
oder Kranznahtrande oder aber es finden sich 2 Fissuren, welche
in direeter Verbindung mit einander stehen und meistens in einem
Winkel zusammenstosseu, dessen scharfer oder abgerundeter Scheitel
am Scheitelbeinhöcker gelegen ist und dessen beide Schenkel von
diesem Punkte ans zu je einem Rande der beiden genannten Nähte
verlaufen. Dies ist wohl der typische Verlauf derartiger Fissuren;
doch will ich die Möglichkeit eines gelegentlich anderen Verlaufes nicht
in Abrede stellen.
Kirn.* analoge Verletzung der .Scliädelknoelien einer 7monatlichen Frucht
^alien wir kürzlich in einem Falle, der eine Schwangere betraf, welche aus einem
2. Stockwerke herabgestürzt und den hierbei erlittenen multiplen Verletzungen
momentan erlegen ist.
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Original frorn
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I eher Ciehuri>vi*rletzuniceii d. Neugeborenen u. «leren forens. Bedeutung. 241
Trotzdem der gravide Uterus unverletzt gehliehen war, fand sich am Fötus in
jedem der beiden Scheitelbeine ein bogenförmiger, mit der Convexität nach oben ge¬
kehrter, fein gezackter Knochenbruch, dessen Scheitel entsprechend dem Tuber
parietale gelegen war und dessen beide Schenkel einen gegen die Mitte zu offenen,
stumpfen Winkel bildeten (vide Fig. 13).
Der Verlauf des Knochenbruches war auf beiden Seiten gleich.
Fig. 13.
Relativ selten sind Verletzungen der Hinterhauptschuppe.
v. Sassen 1 ) theilt einen Fall von Wendung mit Extraction hei
einer Sechstgebärenden mit stark verengtem Becken mit. Das Kind
war 52 cm lang, 3537 g schwer und lebte nach der Geburt 4 Stunden.
Bei der Section des Kindes fand man u. a. zwei Fracturen der
Hinterhauptschuppe und zwei Infractionen des rechten Schläfenbeins.
Einen Fall von Impression des Hinterhauptbeines sahen
wir kürzlich in Wien.
Derselbe betraf eine 25jährige Sechstgebärende von der Klinik des Prof.
Srhauta in Wien. Bereits ausserhalb der Klinik waren von einem Arzte zwei
vergebliche Zangenextractionsversuche vorgenommen worden. Die Zange war
jedesmal abgeglitten. II. Schädellage. Bei der inneren Untersuchung wurde am
S. Juli 1894 auf der Klinik an der linken Seite ein bis in’s Scheidengewölbe rei¬
chender Cervixriss mit unebenen zerfetzten Rändern gefunden. Beiderseits in der
Vagina nahe dem Scheidengewölbe ein dieselbe schräg durchsetzender, etwa 8 cm
langer Riss, von dem aus man beiderseits etwa 2 cm weit in das unterwühlte,
paravaginale und paracervicale Zellgewebe gelangen kann. Zwischen Becken der
Mutter und Schädel des Kindes bestand kein räumliches Missverhältnis. Am
Kopfe des Kindes constatirte man eine tiefe Impression an der Squama occipitis.
*) L. c.
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I) i I I r i c I).
•24 2
Wegen l»<‘ liihrliolur Bluumg wurde sofort /or Entbindung geschritten. In
Xareose wurde die rechte Cervixwand etwa 3 cm weit incidirt, der Schädel mit
der Achsenzugzange gefasst und sehr leicht extrahirt.
Nach Ansicht der Geburtshelfer hatte ollenhar der Arzt ausserhalb der An¬
stalt bei vollkommen unvorbereiteten Geburtswegen und noch hoch stehendem
Schädel die Zange das erste Mal so angelegt, dass ein Blatt durch den engen
Muttermund zwischen Schädel und Cervix, das andere aussen zwischen Cervix
und Vagina zu liegen kam. Die Zange konnte nicht sehliessen, die Griffe wurden
wahrscheinlich fest zusammengedrückt, dadurch die Schädelverletzung erzeugt
und sehr energisch gezogen, wodurch es zum Zerreissen des Cervix und zum Ab¬
gleiten der Zange kam. Bei der zweiten Zangenanlegung dürften beiderseits die
Branchen nach Durchstossung der Vagina im paravaginalen und paracervicalen
Gewebe gelegen und beim Zttge ebenfalls abgerutseht sein.
Am Kopfe des Kindes fand sich ein Zangenahdruck entsprechend der rechten
Coronarnaht, ein zweiter an der Grenze zwischen Squama und Corpus des Hinter¬
hauptbeins.
Bei der am 11. Juli I. J. vorgenommenen Section des 51 cm langen, 3080 g
.schweren, kräftigen Kindes fand sich nebst mehrfachen Druckmarken in der Kopf¬
haut und Hautvertrocknungen an der linken Wange, vorne an der unteren Grenze
des Halses, in beiden Achselhöhlen und über der linken Brustseite, das Hinter¬
hauptbein tief eingedrückt. Die Hinterhauptschuppe war in ihrem rechten An-
theile tief eingedrückt; die tiefste Stelle zog diagonal unter dem Tuber occipitale
gegen den obersten Amheil des rechten Lambdanahtschenkels, war aussen nicht
gebrochen, innen deutlich gesplittert und eingebrochen und mit geronnenem
Blute, welches zwischen Knochen und Dura mater lagerte, bedeckt. Der Kopf¬
nicker war auf beiden Seiten stark blutig suffundirt.
Die grösste Bedeutung können zufällig bei der Section neugebo¬
rener Kinder Vorgefundene Fissuren von SchädeJknochcn dann be¬
kommen, wenn es sich um heimliche Geburten handelt. Handelt es
sieh etwa um ausgebreitete multiple Fraeturen oder um vollständige
Zertrümmerung eines Theils der Schädelknochen, so wird man begreif¬
licherweise die Möglichkeit einer spontanen Entstehung derselben vor
oder während der Geburt aussehliessen müssen. Handelt es sich da¬
gegen um einfache Fissuren, so möchte ich den Gerichtsärzten dringend
empfehlen, jener Fälle zu gedenken, in denen solche Fissuren bei
spontanen Geburten beobachtet worden sind und im einzelnen Falle
sorgfältig jene Momente abzuwägen, welche etwa die intrauterine Ent-
slehung solcher Fissuren möglich erscheinen lassen. Eine sorgfältige
Erwägung des Geburtsverlaufes beziehungsweise der diesbezüglichen
Angaben seitens der Mutter, eine genaue Untersuchung der Becken¬
weite der Mutter und ein Vergleich des diesbezüglichen Resultates mit
den Kopfmaasscn des Kindes wird, wenn auch keinen directen Aus-
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(Jeher Geburisverletzim<ren d. Neugeborenen u. deren fnrens. Bedeutung. 243
spruch, so doch nicht selten eine Entscheidung darüber ermöglichen,
ob im gegebenen Falle die Fissur durch Druck seitens des mütter¬
lichen Organismus entstanden sein konnte oder nicht.
Dass übrigens, auch ohne dass ein räumliches Missverhältnis
zwischen Becken der Mutter und Kopf des Kindes bestünde, durch
anderweitige besondere Umstände Schädelverletzungen bewirkt werden
können, zeigt ein von Veit 1 ) mitgetheilter Fall. Derselbe betraf eine
Primipara, welche sich am normalen Ende der Schwangerschaft be¬
fand und welche ausserhalb der Klinik wiederholt Secale cornutum
— mindestens 4 g, wahrscheinlich 7 g — erhalten hatte.
Als die Frau auf die Klinik kam, fand Veit den Uterus lest
contrahirt; derselbe erschlaffte trotz Zuwartens nicht. Die Becken¬
verhältnisse waren annähernd normal. Durch Expression wurde die
Geburt leicht beendet.
Am Thorax des Kindes fand man bei der Scction eine Druck¬
marke, welche einen Abdruck des contrahirten inneren Muttermundes
darstellte.
Die Schädelknochen waren unter einander stark verschieblich;
das rechte Scheitelbein überragte das linke; unterhalb des linken
Tuber fand sich eine leichte Depression des Knochens. Ueber dem
rechten Scheitelbein war das Pericranium in grösster Ausdehnung,
über dem linken zur Hälfte abgehoben, unter ihm beiderseits frisches
Blut ergossen. Durch die Abhebung der Knochenhaut war das rechte
Scheitelbein in der Sutura lambdoidea und sagittalis vollständig, in
der Sutura squamosa und coronaria fast vollständig gelöst; nur im
vorderen äusseren Winkel hing cs mit seiner Umgebung noch zu¬
sammen. An dem sonst normalen Scheitelbeine rechts zwei Fissuren,
eine 3 cm lange, welche von der grossen Fontanelle zum Tuber ging
und eine 2 cm lange, die vom vorderen Drittel der Sagittalnaht
ausging. Die Hinterhauptschuppe war von den Gelenktheilen abge¬
sprengt.
Nach Veit’s Ansicht bewirkte die lange dauernde, stets gleieh-
mässig feste Zusammenziehung des Uterus jedenfalls beim Durchtritt
durch den engen Muttermund die Schädelfractur, eine Auffassung, die
vollkommen begründet erscheint.
Von geringer forensischer Bedeutung sind die zuweilen neben
*) J. Veit, Scliiidellissur Ihm normalem Becken durch Darreichung von
Secale cornutum. Zeitschrift für Geburtshilfe. III. Bd. S. 252 .
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•244
I) i 11 r i c li.
anderweitigen WeieJitheil- und Knochenverletzungen, aller auch isolirl
vorkonnnendeu Sprünge im Orhitaldaehe. Wir sahen eine solche hei
einer schweren Zangengelmrt neben anderweitigen Knochenverletzungen.
Ebenso dürfte die selten vorkommende Epiphysentrennung zwi¬
schen Squama occipitis und lhirs basilaris, wie sie nach Wendung mit
Extraction gelegentlich beobachtet wurde, kaum jemals forensische Be¬
deutung erlangen, da über ihren Charakter als Geburtsverletzung kein
Zweifel obwalten dürfte.
Auch den gelegentlich sich vorfindenden Fraeturen des Unter¬
kiefers, welche wir in einem später zu erwähnenden Falle neben an¬
derweitigen Verletzungen fanden, dürfte nur äussersi selten eine foren¬
sische Bedeutung zukommen. Eine solche könnte gelegentlich durch
Selbsthilfe bei der Geburt seitens der Gebärenden erzeugt werden.
So wurde von Bl ax ton Hieks ein Bruch des Unterkiefers auf
einer Seite mit Zerrcissung der benachbarten Weichtheile bei einem
heimlich geborenen Kinde auf Selbsthilfe der Gebärenden zurück¬
geführt 1 ).
Gar nicht selten entstehen bei Geburten Fraeturen der Cla-
vieula. Auf die Häufigkeit derselben wies Küstner bereits im
Jahre 1879 hin. Ueherhaupt haben Clavicularfracturen bei Neugebo¬
renen seitens der Geburtshelfer volle Beachtung erfahren. Meist er¬
folgen sie indirert, können aber auch durch directe Gewalt bewirkt
werden. Allerdings fehlt bisher der Beweis dafür und es ist ja von
vornehorein auch nicht wahrscheinlich, dass bei spontanen und leich¬
ten Geburten Clavicularfracturen entstehen. Dagegen sieht man sie
bei Zangengeburten, hei schwereren Extractionen, nach schwieriger
Armlösung.
Im August 1893 wurde auf der Klinik des Hofralhes Prof, (jiuslav Braun
ein asphyktisches Kind einer Zweitgebärenden mit allgemein verengtem Becken
mittelst Zange geboren; bei der Obduction desselben wurde nebst intermeningcalen
Hämorrhagica beiderseitigeClavicularfractur vorgefunden. Nach Entwicke¬
lung des Kopfes waren die Schultern stecken geblieben und gingen erst nach
kräftigem Zuge „unter Krachen“ durch. Das Kind war ö4 cm lang und 4000 g
schwer.
Wir halten vor einiger Zeit einen Fall von Clavieularfractur
forensisch zu begutachten. Dieselbe bildete einen zufälligen Befund
hei der Section und gelangte der Fall erst nachträglich, nachdem die
1 Kefer. in Yirchow-Hirsch’s Jahresbericht. 1885. 1. S. 498,
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I eher (ii-lmri>vcrletzuiigni il. Neugeborenen u. deren furens. Bedeutung.. 243
Sektion bereits anderweitig gemacht worden war, aus dem Grunde
zur gerichtlichen Leichcnbesrhau, weil sieh ausserdem eine schwere 1
tödtliche Magendarmblut ung Vorland und hinsiehtli(*h der Entstehung
beider AfTeetionen si*ii«*ns der Kliniker fremdes Yersrhulden nicht aus¬
geschlossen wurde.
Es handelte sich um die Leiche eines 7 Tage alten Kindes \on der Klinik
des Cullegen v. Posthorn; dasselbe war mit der klinischen Diagnose „Gastro¬
enteritis acuta haemorrhagica, Pneumonia lobularis u eingebraoht worden.
Aus den Acten und der den letzteren beiliegenden klinischen Geburt >ge-
schiehte ergab sich Folgendes:
K. V., 29 Jahre alt. Aufgemmnnen 13. November 1893. 2. Schwangerschaft.
Das erste Mal zu Hause ein lebendes, ausgetragenes Kind leicht geboren. Becken-
maasse: Sp. 23, Gr. 28, T. 29 ;t 4 , DB. 19* 4 cm.
Chronische Col|dlis in Folge eines Scheidencatarrhs. Sonstige Verhältnisse
am Unterleib und an den Geschleehistheilen normal. Wehenbeginn 18. November
3 1 4 Uhr früh.
Eintritt in den Krei>»aal 3 1 4 Uhr früh.
Befund: Kopf mit einem kleinen Segment eingetreten. Kücken der Frucht
rechts, kleine Theile links. Cervix verstrichen, Muttermund für 3 yuerfinger
durchgängig. Blase steht. Kopf noch beweglich. Wehen von massiger Intensität.
13 lasen Sprung 8 : ‘4 Uhr früh.
Muttermund für 4 Finger leicht durchgängig. Kopf lixirt. Pfeilnahl dem
zweiten schrägen Durchmesser sich nähernd. Kleine Fontanelle rechts.
Geburt 18. November 11 1 1 * Uhr Vormittags, spontan und leicht in
2. Hinterhauptslage und normaler Rotation. Abgang der Nachgeburt um 12 Uhr
Mittags vollständig. Die Dienstleistung bei der Geburt wurde in der üblichen
Weise ordnungsgemäss ausgeführt.
Wochenbett normal.
Das Kind wog bei der Geburt 3920 g und hatte eine Länge von 33 cm. Ge¬
burtsverletzungen wurden auf der Klinik nicht constaiirt.
In den folgenden Tagen würfle über das Kind Nachfolgendes \ erzeichnel:
21. November: Leichte gelbliche Verfärbung der Haut. Tagsüber 4 Stühle, dünn¬
flüssig, gelb.
22. Noxember: Gewicht 3220 g. Das Kind sieht welk aus. Tagsüber 3 Stühle
dünnflüssig, gelblich, mit Flocken vermischt.
23. November: Gewicht 3090 g. 4 Stühle wie am 22. November.
24. November: Gewicht 300(3 g. 5 dunkle, sehr übelriechende Stühle.
23. November: Morgens blutiger Stuhl. Kein Erbrechen. Sch werat Innigkeit.
Hochgradige Blässe und welkes Aussehen. Athmung sehr ober¬
flächlich. Tod 9 l 2 Uhr Vormittags.
Unter Benützung des in H. Chiarrs Institute abgefassten Protokolls con-
stalirten wir bei der n ao h t rägl i c h e n ge ri ch 11 i e h e 11 L e i c h e n b e s c h a u
Folgendes:
Die Leiche 34 cm lang, 2100 g schwer.
Hautdecken blass; rückwärts ausgebreitete blasse Todtenfleckc. Todlen-
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UMIVERSITY OF IOWA
•24fi
Dittrieh ,
starre deutlich vorhaiuten. Kopfgeschwillst entsprechend den Scheitelbeinen
und dem Hinterhauptsbeine.
Magen stark ausgedehnt, mit schwarzen, theerartigen Blutmassen gefüllt;
seine Schleimhaut geröthet.
Der ganze Darm mit ebensolchen schwarzen Blutmassen, wie sie im Magen
enthalten waren, gefüllt.
Im unteren Abschnitte der Speiseröhre gleichfalls theerartige Blutmassen.
In der Umgebung des Brustbeinabschnittes des rechten Schlüsselbeins
fand sich ein etwa haselnussgrosser Blutungsherd von dunkler Farbe. Das
Schlüsselbein selbst war nahe seiner Gelenkverbindung mit dem Brustbeine in
schräger Richtung vollständig gebrochen; die Bruchflächen waren sehr seharf-
randig.
Im Gutachten sprach ich mich nun unter anderem dahin aus, das Kind
sei in Folge einer hochgradigen Magendarmblutung gestorben. Eine Erkran¬
kung des Magendarmcanals als etwaige Ursache der hochgradigen Blutung konnte
bei der Obduction nicht aufgefunden werden.
Nachdem die Geburt nach Aussage der Kliniker leicht und vollständig nor¬
mal gewesen ist, schloss ich die Möglichkeit der Entstehung des Schlüsselbein-
bruches bei einem Kinde mit normal beschaffenen Knochen aus und sagte weiter:
„Das eigentümliche Zusammentreffen der hochgradigen Magendarmblutung
mit dem Befunde eines Sehlüsselbeinbruches legt unter den erwähnten Verhält¬
nissen die Vermutung nahe und lässt fast mit voller Bestimmtheit den Schluss
zu, dass beide Affectionen auf eine gemeinschaftliche Ursache und zwar auf eine
Gewalteinwirkung zurückzuführen sind, welche erst nach der Geburt — zu welcher
Zeit, lässt sich nicht angeben — eingewirkt haben konnte. Sowohl die Magen¬
darmblutung als auch der .Schlüsselbeinbruch können zum Beispiel entweder durch
einen direeten stärkeren Druck oder aber dadurch entstanden sein, dass das Kind
fallen gelassen wurde.“
Der zweite Gericlusarzt, Herr Dr. Lilienfeld, stimmte meiner Ansicht
nicht bei und gab daher ein abgesondertes Gutachten ab, welches in mehreren
wesentlichen Punkten von meinem Gutachten abwich. Herr Dr. Lilienfeld
äusserte sich darin unter anderem folgendcrmassen:
„Nachdem laut Sectionsbelund die Blutmassen eine schwarze theerartige
Beschaffenheit hatten, so lässt sich unzweifelhaft annehmen, dass die Blutung
nicht unmittelbar vor dem eingetretenen Tode, sondern schon einige Zeit früher
stattgefunden hat.“ 1 )
„Nachdem bei der Obduction keine Ursache dieser Magendarmblutung nach¬
gewiesen wurde, so lässt sich schliessen, dass dieselbe durch eine mechanische
Einwirkung von aussen veranlasst wurde.“
„Obwohl es nicht ausgeschlossen werden kann, dass diese Blutung durch
r ) Ich möchte hier nur bemerken, dass ich keineswegs etwa in meinem Gut¬
achten behauptet habe, die Blutung sei erst unmittelbar vor dem Tode eingetreten.
Vielmehr habe ich die Frage, in welchem Zeitpunkte während des siebentägigen
Lebens des Kindes Clavieularfraetur und Magendarmblutung entstanden sind,
überhaupt nicht berührt.
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Uebor Goburtsvorleizungen d. Neugeborenen u. deren forens. Bedeutung. 247
einen von aussen nach der Geburt ausgeübten Druck oder durch einen Fall des
Kindes entstanden sein konnte, muss doch in diesem Falle die Möglichkeit zuge¬
geben werden, dass auch durch einen bei dem Geburtsact zufällig auf den
Unterleib stattgefundenen Druck die Veranlassung zu der eingetretenen Blutung
gegeben sein konnte, welche successive zugenommen und schliesslich nach sieben
Tagen unter zunehmender Schwäche und Abnahme des Körpergewichtes in Folge
der Verblutung den Tod herbeigeführt hat, wofür auch der Umstand sprechen
dürfte, dass die Wärterin bestätigt, dass das Kind vom Tage der Geburt unauf¬
hörlich geschrien hat 1 ). 44
„Auch der Vorgefundene Schlüsselbeinbruch, mit dem der Tod des Kindes
in keinem Zusammenhänge steht, ist ebenfalls wahrscheinlich nicht kurz vor dem
Tode, sondern möglicherweise früher entstanden. Auch dieser Schlüsselbeinbruch
lässt, im Allgemeinen betrachtet, auf eine mechanische Einwirkung schliessen,
doch ist es möglich, dass derselbe gleichfalls bei dem Geburtsacte durch eine zu¬
fällige Zerrung oder durch einen Druck auf die Schlüsselbeingegend und somit
gleichzeitig mit der Blutung im Magen entstanden sein konnte. 14
Eine Beseitigung der Differenzen wurde in principieller Hinsicht auch bei
einer mündlichen Besprechung vor dem Untersuchungsrichter nicht erzielt. Doch
wurde schliesslich die weitere strafrechtliche Verfolgung des Falles eingestellt, da
ich mich zu dem protokollarisch aufzunehmenden allgemeinen Ausspruche bereit
erklärte, dass sowohl der Bruch des rechten Schlüsselbeins wie auch die Magen¬
darmblutung bei der Geburt entstanden sein konnte, aber nicht etwa durch den
Druck seitens des mütterlichen Organismus, sondern einzig und allein durch
einen mit den Händen ausgeübten, bei der Leichtigkeit, mit wel¬
cher die Geburt hier vor sich gegangen war, Vollständig unge¬
rechtfertigten dirccten Druck.
Meine Nachgiebigkeit in diesem Falle möchte ich nicht etwa dahin ge¬
deutet wissen, als ob ich von meiner ursprünglichen Meinung abgekommen wäre.
Vielmehr bewog mich zu dieser Erklärung nur der Umstand, dass mir vom Unter¬
suchungsrichter mitgetheilt wurde, es würde die Mutter des Kindes in Unter¬
suchungshaft bleiben, falls ich eine derartige Erklärung nicht abgeben wollte.
Nun bestand aber nach den Vorerhebungen keine Veranlassung, der Mutter eine
Schuld an dem Zustandekommen der Verletzungen beizumessen. Ob es meiner¬
seits gerechtfertigt war, hier diese Rücksicht walten zu lassen, hierüber dürfte das
Urtheil verschieden lauten und muss ich dasselbe denn auch dem subjectiven
Ermessen des Lesers überlassen. Dass derartige Verletzungen bei schwierigen
Geburten oder unter irgend welchen besonderen Umständen durch einen zufälligen
Druck bei der Geburt entstehen können, bezweifele ich nicht. Berücksichtige ich
aber die näheren Umstände dieses Falles, welche oft von den Gerichtsärzten
nicht hinreichend gewürdigt werden, so muss ich gestehen, dass ich auch jetzt
der Ansicht bin, dass im vorliegenden Falle die Clavicularfractur, sowie die
Blutung im Verdauungstractus nicht als „Geburtsverletzungen 44 gedeutet werden
können, da nach Aussage der Kliniker die Geburt spontan und leicht vor sich
*) Die Ansicht, dass man aus dem Schreien des Kindes einen derartigen
Schluss ziehen darf f (heile ich nicht.
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irctrangen und von einer geschulten und vollkommen verlässlichen Hebamme ge¬
leitet worden war, von welcher nicht anzunehmen ist. dass sie bei einer leichten
Geburt in einer Weise vorgeht, auf welche die ernannten Veränderungen bezogen
werden könnten.
Am Oberarm können durch Manipulationen, welche zum Be¬
hüte der Armiösung vorgonommen werden, Brüche des Oberarmkno-
e.hens entstehen. Relativ häufig scheint es unter solchen Umständen
nicht zu einem wirklichen Knochenbruch, sondern ztt einer Ablösung
der Epiphyse des Oberarmkopfes von der Diaphvse zu kommen.*
So sahen wir jüngst einen derartigen Befund bei einem sehr kräftigen, 58 cm
langen und 4250 g schweren Kinde, welches 10 Minuten nach der Geburt gestor¬
ben war. Es handelte sich um eine erste dorsoanteriore Querlage, ln der Scheide
war der rechte Ellbogen vorgefallen. Die in Narcose vorgenommene Wendung
auf den rechten Fuss mit Extraction gelang leicht. Bei der Section fand sich als
zufälliger Befund haernorrhagische Infiltration des Fnterhautzellgewebes und der
Musculatur in der Nähe der Epiphysenfuge des rechten Oberarmes. Das Caput
hutneri war von der Diaphvse an der Epiphysenfuge abgelöst und zwar handelte
es sich um eine reine Ablösung an der Grenze zwischen Knorpel und Knochen
ohne jegliche Verletzung des letzteren.
Auch au allen anderen Knochen dos Schultergürtels sind Epi¬
physentrennungen bei Neugeborenen beobachtet worden r ).
Multiple Knochenverletzungen werden ebenfalls beobachtet.
So berichtet Seeligmüller 1 2 ) über einen Fall von geburtshilflicher
Lähmung eines Armes, complicirt mit einer Fraotur der Scapula und
der Clavicula. Volkmann 3 ) sah einen Fall von mehrfachen, inter
partum acquirirten Fracturen. Bei einem in Beckenendlage geborenen
Kinde mussten nach Entwickelung des Rumpfes beide Arme gelöst
werden. Der rechte Arm ragte gestreckt am Kopfe vorbei in die
(tebärmutterhöhle hinein, während der linke fleetirt um den Nacken
der Frucht geschlungen war. Nach der Geburt wurde eine Ablösung
der rechten oberen Humerusepiphvse von der Diaphvse, eine Fractur
der linken Clavicula und eine Subluxation der letzteren in ihrer
Sternalverbindung oonstatirt. Das Kind starb 5 Tage nach der Ue-
1 ) Yergl. hierüber Kiistnor, Feber die Verletzimg(*n der Extremitäten des
Kindes bei der Geburt. Yolkmanivs Sammlung klinischer Vorträge. 1870.
No. 167.
2 ) Seligmüller, Feber Lähmungen, welche Kinder inter partum aequi-
riren. Berliner klinische Wochenschrift. 1874. No. 40.
: *i \ ulkmann. Beitrüge zur Chirurgie, Leipzig 1875. S. 72.
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1'cbcr flrbnrlsverlHzungen fl; Neugeborenen u. iIitoii forens. I’eiloulung. *2411
hurt. Bei der Section zeigte sich, dass die Ablösung der rechten
Humerusepiphyse ungewöhnlich rein in der Grenze zwischen Knorpel
und Knochen erfolgt war; nur an der inneren Seite verlief der Bruch
etwas durch den Knochen. — In einem anderen Falle sah Volk-
mann gleichzeitig Clavicula, Collum scapulae und Collum Immcri ge¬
brochen.
Fractur des einen lleosacralgelenkes sah v. Sassen 1 ) in
2 Fällen nach Wendung mit Extraction bei normal ausgetragenen Kin¬
dern. Bei beiden Müttern war die Conjugata erheblich verkürzt.
An der unteren Extremität können bei Neugeborenen eben¬
falls und zwar sowohl am Oberschenkel wie auch am Unterschenkel
Fracturcn Vorkommen. Bei der Geburt werden dieselben gelegentlich
in Fällen von Wendung mit Extraction beobachtet.
Wir sahen jüngst eine Fractur des linken Oberschenkelknochens an der
Grenze zwischen dem oberen und mittleren Drittel mit bedeutender Bl ulextra va-
sation und Zerreissung des Periostes bis auf einen schmalen Streifen an der Innen¬
seite in einem Falle von Wendung auf den linken Fass. Die Fractur war nach
Angabe der Kliniker beim Herabziehen des letzteren entstanden.
Bemerkenswerth ist eine Mittheilung von Meyer 2 ) über 2 Fälle
von beiderseitiger Oberschenkelfractur bei Neugeborenen, ln dem
einen Falle waren beide Oberschenkel frisch gebrochen, im anderen
war der eine frisch geltrochen, der andere in seiner Mitte durch Cal-
lus verdickt. Beide Geburten waren ohne Kunsthilfe abgelaufen.
Rhachitis foetalis fand sich nicht. Die ältere Fractur war vielleicht
durch ein Trauma von aussen her bewirkt worden, da die Mutter
3 Wochen vor der Entbindung mit ihrem Unterteilte stark gegen die
scharfe Kante eines Tisches angestossen war.
v. Büngner 3 ) beobachtete mehrere intra partum entstandene
Unterschcnkelfractmen. Dieselben sind meist so entstanden, dass bei
forcirter Extraction an den Füssen Tibia und Fibula in der unteren
Diaphysenhälfte brachen. Offenbar wurde dabei nach Ansicht v.
Büngner’s regelwidrig ein mit dem Zuge verbundener Druck aus-
geübt.
Von forensischem Interesse können unter Umständen Yerletzun-
o L. c.
2 ) Refer. in Virchow-Hirsch’s Jahresbericht. 1884. II. S. 654.
3 ) v. Büngner, Ueber intra partum entstandene l nterschenkelfracturen.
I.angenbeck’s Archiv. IM. 41. S. 174.
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1 > i 11 r i c li,
fron der Wirbelsäule sein, die nicht gerade selten als „Geburtsver¬
letzungen 44 Vorkommen. Am häufigsten erfolgen dieselben bei schweren
Extractionen.
Wir sahen jüngst einen Fall, in welchem bei einer Frauensperson, die zum
vierten Mal schwanger war, im siebenten Monate der Schwangerschaft in der
Gebäranstalt die künstliche Frühgeburt eingeleitet wurde. Nach Abgang der
Fruchtwasser constatirte man Querlage mit Vorfall der linken Hand. Wendung
und Extraction. Die Operation nahm längere Zeit in Anspruch, weil die Einfüh¬
rung der Hand durch den Beckeneingang wegen Verkürzung des geraden Durch¬
messers (7,5 cm) sehr schwer war.
Das Kind wurde asphyktisch geboren; es gelang nicht, dasselbe wiederzu¬
beleben.
Die Section der 1700 g schweren, 47 cm langen Frucht ergab nebst stellen¬
weise blutiger Suffusion der weichen Schädeldecken, totaler Lungenatelectase mit
Ecchymosenbildung an der Oberfläche der Lungen und des Herzens ziemlich reich¬
liche Blutaustritte im perioesophagealen Bindegewebe in der Höhe des vierten
Brustwirbels, welche als Reactionserscheinung bei einer Verletzung der Wirbel¬
säule anzusehen war. Es war nämlich zwischen dem dritten und vierten Brust^
wirbel die Wirbelsäule vorn eingerissen, so zwar, dass die untere Epiphyse des
dritten Brustwirbels von dem Körper des letzteren grösstentheils abgelöst erschien.
Das Zustandekommen der Wirbelsäulenverletzung erklärte sich hier aus der
Schwierigkeit, welche durch die Kürze der Conjugata bei der Extraction verursacht
worden ist.
In einem andern Falle 1 ), welcher ein neugeborenes, reifes, durch Manual¬
hilfe entwickeltes Kind betraf, zeigte sich bei der Section eine Abreissung der
Bandscheibe zwischen dem sechsten und siebenten Halswirbel mit Suffusionen in
der Umgebung der Wirbelsäule und geringer interrneningealer Blutung an der ent¬
sprechenden Stelle des Rückenmarkes. Stärkere Suffusion fand sich ausserdem im
Nacken in der Tiefe zwischen Hinterhaupt und Atlas.
Jm Allgemeinen finden sich als Effect schwieriger Extractionen
nicht etwa wirkliche Fracturen der Wirbelkörper, sondern Zerreissun-
gen der Bandscheiben zwischen 2 Wirbeln beziehungsweise Abreissun¬
gen der Epiphysen von den Wirbelkörpern, in welch’ letzterem Falle
auch eine Zerstörung eines Theiles der dieser Epiphyse unmittelbar
anliegenden Knochensubstanz zu Stande kommen kann.
Zu erwähnen wären endlich die Fälle von intrauterinen Knochen¬
brüchen bei mangelhafter Bildung des ganzen Knochengerüstes Neu¬
geborener. In diese Gruppe wäre ein von v. Hofmann in seinem
Lehrbuche 2 ) abgebildeter Fall von Fractur des Beckens, des Ober-
*) Die Mittheilung dieses Falles verdanke ich Hm. Dr. Störc-k, Assistenten
om pathologisch-anatomischen Institut in Wien.
2 ) fi. Aull. S. 797.
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roher Gehurtsverletzunßcn d. Neugeborenen u. deren forens. Bedeutung. 251
und Unterschenkels bei fötaler Rhachitis cinzureihen. Auch Linck 1 )
beschreibt einen Fall von Osteogenesis imperfecta mit multiplen In-
fractionen, Einbiegungen und Fracturen an den Extremitäten, Rippen
und an der Clavicula. Ebenso gehört hieher offenbar ein von Kidd 2 )
mitgetheilter Fall, in welchem bei einem nicht ganz ausgetragenen,
9 Tage nach der Geburt verstorbenen Kinde 54 Knochenfracturen ge¬
funden wurden, von denen einzelne durch Callus geheilt waren.
5. Rupturen innerer Organe.
Da auch bei „spontanen“ Geburten, welche von Aerzten oder
Hebammen geleitet werden, gewisse Manipulationen vorgenommen
werden, die als fast regelmässige Hilfeleistung bei Geburten anzu¬
sehen sind und bei denen der Kindeskörper mit den Händen erfasst
wird, so lässt es sich nicht bestimmt behaupten, dass Rupturen in¬
nerer Organe bei Geburten entstehen können, bei denen jegliche
äussere mechanische Einwirkung auf den Kindeskörper ausser jener
seitens des mütterlichen Organismus ausgeschlossen werden kann.
Mir wenigstens sind keine Fälle bekannt, in denen Rupturen innerer
Organe gefunden worden wären, falls ein Anfassen des Kindes bei der
Geburt mit Bestimmtheit ausgeschlossen werden konnte.
Von den inneren Organen sind cs nur wenige, welche ohne gleich¬
zeitige Verletzung anliegender Knochen, durch einen Druck von ge¬
wisser Stärke eingerissen werden können. Unter diesen Organen sind
in erster Linie die Leber und die Milz zu nennen. Disponirt erschei¬
nen dieselben für derartige „Geburtsverletzungen“ vermöge ihres unter
Umständen lockeren Gefüges und vermöge ihrer ausgesetzten Lage.
Die geringsten hierher gehörigen Veränderungen sind Abhebungen
der Kapsel ohne Zerreissung derselben, welche wir an der vorderen
Leberoberfläche bei Neugeborenen wiederholt gesehen haben. Man
findet in solchen Fällen den Peritonealüberzug in Fonn einer kuge¬
ligen oder eiförmigen, mit Blut erfüllten, mehr weniger prall ge¬
spannten Blase abgehoben, welche in unseren beiden Fällen etwa halb¬
haselnussgross war 3 ). Gewiss brauchen derartige subcapsuläre Blut-
1 ) Linck, Ein Fall von zahlreichen intrauterinen Knochenbrüchen. Archiv
für Gynäkologie. Bd. 30. S. 264.
-) Ref. in Virchow-Hirsch Jahresber. pro 1868. 11. S. 631.
3 ) B. S. Schul tze ist der Ansicht, dass Hämatome der Leber bei asphyktisch
geborenen Kindern auf die Asphyxie zu hezielien sind. (Briefliche Mittheilung.)
Vierteljmhrsachr. f. ger. Med. Dritte Folge. JX. 2. 17
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Di tt rieh
extravasate keinerlei Gefahr für das Kind zu bedingen, sondern können
resorbirt werden.
In anderen Fällen kommt es zu einer auf umschriebene Gebiete
beschränkten Zerreissung der Leber- und Milzkapsel mit geringerer
oder stärkerer Blutung in die freie Bauchhöhle, wie wir dies bereits
wiederholt beobachtet haben.
Jüngst erst sahen wir bei einem sehr kräftigen, in Querlage mit Vorfall des
rechten Armes befindlichen, mittelst Wendung und Extraction entwickelten Kinde,
welches 10 Minuten nach der Geburt gestorben war, nebst blutiger Infiltration
der Capsula adiposa der rechten Niere an der unteren Leberfläche mehrere bis
2 qcm grosse oberflächliche Rupturen der Leber, aus welchen sich etwa 3 Ess¬
löffel dunklen Blutes in die freie Bauchhöhle ergossen hatten.
Körb er 1 ) bezieht die bei einem asphyktisch geborenen, 10 Mi¬
nuten nach der leicht erfolgten Geburt verstorbenen Kinde Vorgefun¬
denen Leberrupturen mit tödtlicher Blutung in die freie Bauchhöhle
auf die in diesem Falle vorgenommenen Schultze’schen Schwingungen.
Auch Milzrupturen haben wir einige Male bei Neugeborenen ge¬
sehen. In dem einen Falle war es aus dem Risse in der Milz zu
einer sehr starken Blutung in die Bauchhöhle mit conseeutiver hoch¬
gradiger Anämie des ganzen Körpers gekommen.
In manchen Fällen kann nur der Grad der Blutung in die Bauch¬
höhle beziehungsweise der Grad der Anämie in den parenchymatösen
Organen Aufschluss über die Frage der intravitalen oder postmortalen
Entstehung der Ruptur innerer Organe geben. An abgestorbenen
Früchten kommen solche Rupturen um so leichter zu Stande, je
weicher die betreffenden Organe sind. An Früchten, welche intra
uterum abgestorben sind, wird also eine Ruptur um so eher entstehen,
je länger innerhalb gewisser Grenzen die Frucht noch im Uterus zu¬
rückgehalten wurde.
So sahen wir jüngst bei einem todtgeborenen Kinde mit geringen Macera-
tionscrscheinungen an der Haut multiple Leberrupturen und subcapsuläre Blu¬
tungen der Leberoberfläche, sowie eine Zerreissung der rechten Nebenniere, deren
Entstehung wir uns dahin erklärten, dass die ziemlich weichen Organe bei der nor¬
malen Geburt einen vielleicht relativ nur ganz geringen Druck erfuhren, welcher
vermuthlich bei einem lebend geborenen normalen Kinde gar keine Verletzung
gesetzt hätte.
Zerreissungcn innerer Organe können bei Neugeborenen aber auch
durch Knochenfragmente erzeugt werden.
x ) Körb er, Schultze’sche Schwingungen. — Tod des Kindes. St. Peters¬
burger medicinische Wochenschrift. 18Ü2. No. 51.
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lieber Gcburtsverletzungen d. Neugeborenen u. deren forens. Bedeutung. 2.')3
Uebcr einen derartigen Fall berichtet Heydrich 1 ). Es handelte
sich um eine vollkommene Fusslage. Keine Wehen. Nabelschnur
mit einer grossen Schlinge vorgefallen. Sofortige Extraction. Die
Lösung des einen am Hinterhaupte in die Höhe geschlagenen Armes
gelang. Es wurden 3 Schultze’sche Schwingungen vorgenommen. Am
nächsten Tage war das Kind todt.
Die Section ergab hochgradiges subcutanes Emphysem am Halse,
welches nach oben bis zur Oberkiefergegend, nach unten bis zur
8. Rippe reichte. Rechts an der Pleura pulmonalis fand sich eine
halblinscngrossc, schwach blutunterlaufene Stelle, inmitten derselben
ein kaum 1 mm langer spaltförmiger Schlitz, durch welchen Luft aus
den Lungen in den rechten Pleuraraum ausgetreten war; der letztere
war prall mit Luft gefüllt. Bei künstlich aufgeblähter (jetzt atelek-
tatischer) Lunge lag der Schlitz gerade vorne entsprechend der Ma-
millarlinie ungefähr in der Mitte des oberen Lungenlappens. Der
kleinen blutunterlaufenen Stelle an der Pleura pulmonalis entsprechend
befand sich an der Pleura costalis eine ganz ähnliche, nur sehr wenig
grössere Stelle in der Mamillarlinic zwischen der 1. und 2. Rippe.
Der 1 mm lange Schlitz in derselben klaffte ein wenig. Bei vorsich¬
tiger Sondirung gelangte man nach der oberen Sehlüssclbcingegend.
Der Wundcanal in der Intercostalrausculatur zeigte nur geringe Blut¬
infiltration der Wandungen. Muskeln und Zellgewebe um das rechte
Schlüsselbein waren in geringer Ausdehnung von Blutungen durch¬
setzt. Die Clavicula selbst war im inneren Drittel gebrochen. Das
distale Fracturende Hess sich in den 1. Intcrcostalraum hinabdrücken
und traf so genau auf die Verletzung der Pleura costalis.
Es hatte sonach das eine Fracturende der Clavicula die Pleura
costalis und pulmonalis angespiesst. Heydrich meint, dass die Ver¬
letzung der Pleura bei der Armlösung erfolgt sei. Die Clavieular-
fractur wurde erst bei der Scction constatirt.
Leop. Meyer 2 ) weist auf die SchädHchkeiten der Schultze’sclien
Schwingungen für den Fall als eine Verletzung des Kindes, beson¬
ders Clavicular- oder Oberarmbruch, vorhanden ist, hin und ist der
Ansicht, dass in Heydrich’s Falle die Schwingungen an der Läsion
der Lunge Schuld sind.
0 Heydrich, Eine seltene Verletzung des Kindes bei der Geburt. Central¬
blatt für Gynäkologie. 1890. No. 7.
2 ) Leop. Meyer, Die Schultze’schen Schwingungen bei Verletzungen des
Kindes. Centralblatt für Gynäkologie. 1890. No. 10.
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Dittrirh,
Bezüglich des Vorkommens von Dickdarmrupturen bei Neu¬
geborenen verweise ich auf zwei forensisch sehr wichtige Publicationen
von Zillner') und Arnold Paltauf 2 ). Die Rupturen betrafen die
Flexura sigmoidea, in anderen Fällen das Colon transversum. Wäh¬
rend nun Zillner diese Befunde auf einen während der Geburt auf
den Kindeskörper ausgeübten Druck zurückführen wollte, gelangte
Arnold Pal tauf auf Grund eingehender mikroskopischer Unter¬
suchung zu dem Schlüsse, dass diese Berstungen spontan beziehungs¬
weise durch eine allzureichliehe Erfüllung des Dickdarmes mit Meco-
nium bewirkt werden.
Auch eine Verletzung des Mastdarmes mit Verjauchung in
der Umgebung und eonsecutiver tödtlicher Peritonitis musste einmal
als GeburtsVerletzung aufgefasst werden. Der Fall wurde während
meiner Assistentenzeit in Wien am 16. März 1892 von v. Hofmann
gerichtlich obducirt.
Es handelte sich um ein 14 Tage altes Mädchen, dessen gerichtliche Ob-
duction angeordnet worden war, weil angeblich die Verletzung durch ein Klysma
seitens einer Hebamme gesetzt worden war. Bei der Einvernahme gab jedoch die
Hebamme an, sie hätte gleich bei der Geburt bemerkt, dass das Kind am Hinter-
theile beim Steiss in der linken Afterhälfte eine beinahe eigrosse Geschwulst von
schwarzer Farbe habe und dass der Mastdarm weit auseinanderstehe, der Schliess-
mnskel nicht fnnctionire und das Kindspech frei abgehe. Sie badete das Kind,
gab jedoch kein Klysma, weil das Kindspech ohnedies austrat. Das Kindspech
kam aus dem After heraus, während sich aus der Scheide kein Ausfluss zeigte.
Erst am nächsten Tage, an welchem Mastdann und Scheide auch von ärztlicher
Seite mit dem Finger untersucht worden waren, entleerte sich Kindspech auch
aus der Scheide des Kindes. Das Kind gelangte nun in Spitalsbehandlung. Es
kam zu einer Phlegmone, die gespalten wurde. Trotzdem entwickelte sich eine
Peritonitis mit letalem Ausgange.
Aus dem Sectionsprotocolle sei Folgendes hervorgehoben:
„Die Haut am Schamberg, in beiden Leistengegenden und von da auf das
Gesäss und auf das obere Drittel beider Oberschenkel übergreifend, geschwellt,
theils röthlich, theils schmutzigviolett verfärbt, teigig anzufühlen. Die Oberhaut
an zerstreuten, bis bohnengrossen Stellen fetzig abgelöst, an anderen Stellen in
Form von bis erbsengrossen und mit blutiger, trüber Flüssigkeit gefüllten Blasen
abgehoben, überall etwas gerunzelt und leicht verdickt und ebenso wie das Unter¬
hautzellgewebe leicht serös infiltrirt. Die grossen Schamlippen, besonders in den
hinteren Partieen, leicht ödematös und etwas missfärbig, an» Schnitte spärliche
J ) Zillner, Ruptura flexurae sigmoideae inter partum. Virchow’s Archiv.
Bd. 96. S. 307.
2 ) A. Paltauf, Die spontane Dickdarmruptur der Neugeborenen. Virchow’s
Archiv. Bd. 111. S. 461.
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lieber Geburtsverletzungen d. Neugeborenen u. deren forens. Bedeutung. 255
trübe Flüssigkeit entleerend, welche etwas gelblich verfärbt ist. Die klei¬
nen Schamlippen beträchtlich geschwellt und geröthet. Scheideneingang und
Scheide von vorn aufgeschnitten. Entsprechend der schiffförmigen Grube, eine
fast bohnengrosse, undeutlich schlitzförmige, quergestellte Oeffnung, von welcher
ein etwa 1 cm langer, nach oben sich etwas verschmälernder Canal nach aufwärts
hinter der Schleimhaut der Scheide hinaufzieht. Der Rand der Oeffnung hat in
den vorderen Partieen und an den Seiten einen schleimhautartigen Charakter,
während in den hinteren Partieen derselbe nicht deutlich zu erkennen ist.
Die ganze Auskleidung der Oeffnung erscheint geröthet und geschwellt, in der
hinteren Partie leicht gelblich belegt. Die Auskleidung des von der Oeffnung
ausgehenden Canals lässt, wenigstens am Anfänge und in den oberen Partien,
den schleimhautartigen Charakter erkennen. Etwa 3—4 mm oberhalb der Oeff¬
nung ist an der Hinterwand des Canals eine missfarbige, unregelmässige, halb¬
linsengrosse Oeffnung zu erkennen, durch welche man einerseits in eine rundliche,
1 cm im Durchmesser haltende Oeffnung in den Mastdarm, andererseits in einen
unregelmässigen, hinter den Mastdarm bis zum Vorberg sich erstreckenden und
l 1 /«—2 cm weiten Canal gelangt, dessen Auskleidung missfarbiges und verjauchtes
Bindegewebe bildet. Die Oeffnung im Mastdarm liegt an der linken Wand des¬
selben und 1 cm über dem After. Die Umrandung derselben wird von gerötheter
und geschwellter Schleimhaut gebildet, welche gegen den erwähnten Jauchecanal
bügelförmig umgestülpt ist. ln der Nachbarschaft erscheint die Schleimhaut eben¬
falls geröthet und verwaschen missfärbig. Der After selbst unverletzt.“
Im Punkte 3 des Gutachtens sprach sich v. Hof mann folgender-
massen aus:
„Bei dem Umstande, als in der linken Wand des Mastdarms sich eine bohnen¬
grosse, rundliche, in der linken Wand der Scheide aber eine linsengrosse Oeffnung
fand, welche mit einer durch Verjauchung des zwischenliegenden Gewebes gebil¬
deten Höhle communicirten, so war allerdings daran zu denken, dass eine künst¬
liche, insbesondere beim Klystiersetzen gemachte Verletzung vorlag, durch welche
jene Vereiterung veranlasst worden ist. Da jedoch nicht blos von der Hebamme,
sondern auch von den Angehörigen in übereinstimmender Weise angegeben wird,
dass das Kind schon mit einer auffälligen Schwellung am Mittelfleische und am
Gesässe zur Welt kam, und dass demselben kein Klystier gegeben worden ist,
und da andererseits schon am anderen Tage bei der ärztlichen Untersuchung eine
auffällige, bereits tiefe Fluctuation zeigende Schwellung der genannten Theile ge¬
funden wurde, welche bald abscedirte und eröffnet werden musste, so wird die
Annahme einer Verletzung beim Klystiersetzen unhaltbar und es bleibt in Erman¬
gelung anderer Anhaltspunkte nur die Annahme, dass jene Schwellung und die
consecutive Vereiterung resp. Verjauchung durch angeborene, aber anomale Ver¬
hältnisse bedingt war, welche Annahme auch dadurch unterstützt wird, dass die
vordere Partie der Scheide eine abnorme Aussackung zeigte, in deren Hinterwand
die kleinere der erwähnten Oeffnungen lag, welche erst secundär durch die Ver¬
eiterung entstanden sein konnte. Jedenfalls ist es möglich, dass es sich um eine
abnorm verdünnte Stelle der Darmwand handelte, welche wahrscheinlich zur Bcr-
stung kam, wo durch Austritt von Kindspech in das umgebende Zellgewebe und
so die übrigen Erscheinungen veranlasst wurden.“
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256
D i 11 r i c h,
6. Abreissungen ganzer Körpertheile.
Abreissungen grösserer Körpertheile können als „GeburtsVerletzun¬
gen u begreiflicherweise nur bei solchen Geburten Vorkommen, bei denen
an einem vorgefallenen beziehungsweise bereits geborenen Kindes-
theile ein kräftiger Zug ausgeübt wird, während sich der Beendigung
der Geburt durch Extraction Schwierigkeiten durch die Lage oder
Grösse der noch im Uterus befindlichen Abschnitte des Kindeskörpers
entgegenstellen.
Im Museum des Wiener gerichtl.-medic. Institutes befindet sich
der bei der Geburt abgerissene rechte Fuss einer ausgetragenen, unge¬
wöhnlich stark entwickelten Frucht, welche 60 cm lang und 5060 g
schwer war. Dieselbe war durch einen Riss des Cervix uteri, wel¬
cher den Tod der Mutter (7. Schwangerschaft) durch Verblutung be¬
wirkte, in die Bauchhöhle ausgetreten. Ob die Uterusruptur spon¬
tan oder in Folge der Extractionsversuche entstanden war, liess sich
nicht entscheiden. Jedenfalls wurde ihre Entstehung durch die Grösse
des Kindes begünstigt. Das Becken der Mutter zeigte normale Durch¬
messer. Bei Vornahme der Extractionsversuche war das Kind wahr¬
scheinlich schon todt.
Die Haut war unter dem rechten Knie circulär durchgerissen
und sammt dem Fettpolster in Form einer umschlagbaren, 2—3 cm
breiten Manschette abgelöst, aus welcher das unverletzte Kniegelenk
und der von der Haut entblösste Unterschenkel, von welchem der
Fuss sammt dem unteren Ansatzknorpel des Schienbeins abgerissen
war, herausragte. Der linke Unterschenkel war über dem Fussgelenke
abnorm beweglich.
Des Oefteren ist ferner meines Wissens nur bei Beckenendlagen
Abreissung des bereits geborenen Rumpfes vom Kopfe im Falle eines
räumlichen Missverhältnisses zwischen letzterem und dem mütterlichen
Becken beobachtet worden. Wir sahen einen solchen Fall vor eini¬
ger Zeit.
Am 5. November v. .T. waren bei einer Schwangeren Wehen eingetreten;
bald darauf Wasserabfluss. Bis zum 9. November Nachmittags schwache Wehen-
thätigkeit. Als die Wehen stärker wurden, liess die Frau eine Hebamme kommen,
welche Beckcnendlage constatirte. Die Geburt ging spontan nur bis zum Kopfe
vor sich. Ein herbeigerufener Arzt versuchte, die Geburt durch Extraction zu be¬
enden. riss dabei den Rumpf des Kindes ab und schickte die Frau sodann in die
Gebäranstalt.
Auf der Klinik des Collegen v. Rosthörn wurde am 10. November der
Muttermund für drei (jucrlinger durchgängig gefunden und war leicht zu erweitern.
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lieber Geburtsverletzungen d. Neugeborenen u. deren foiens. Bedeutung. 257
Im demselben tastete man zwei freie längliche Knochen (den getrennten Unter¬
kiefer), rechts die Halswirbelsäule, links oben Nase und Augen; direct über dem
Muttermund gelangte der Finger auf den harten Gaumen.
Der hochgradig hydrocephalische Kopf wurde nach Perforation extrahirt.
Als Effect der letzteren war an dem jetzt collabirtcn Kopfe eine Verletzung in den
weichen Schädeldecken über dem rechten Stirnbeine zu sehen, welche durch
das rechte Stirnbein in die Schädelhöhle führte.
Die Schädeldeckknochen waren grösser, mit Ossilicationsdefecten im Bereiche
der beiden Stirnbeinschuppen versehen. Das Gehirn war zu einem Brei zusammen¬
geflossen.
Mikroskopisch (H. Chiari) zeigte sich im Bereiche der Stirnbeine nach
Härtung und Entkalkung derselben mit Salpetersäure hochgradige lacunäre Re¬
sorption mit Osteoklastenbilduug und stellenweise vollständiger Schwund des
ganzens Knochens. An der Innenfläche der Scheitelbeine war eine sehr geringe
lacunäre Resorption ebenfalls mit Osteoklastenbildung wahrzunehmen.
Ein anderer derartiger Fall kam am 29. März 1886 im Wiener
gerichtl.-medic. Institute zur gerichtlichen Obduction.
Es handelte sich um ein mit Rhachitis congenita behaftetes Kind aus dem
siebenten Monat. Die Hebamme constatirte eine Fusslage und liess einen Arzt
rufen. Da mittlerweile die Wehen immer kräftiger wmrden, so dass das Kind bis
zum Kopfe austrat, übte sie selbst an den Füssen und an den Schultern einen
Zug aus, wobei an dem bereits abgestorbenen Foetus der Kopf vom Rumpfe im
Gelenk zwischen Hinterhauptbein und Atlas getrennt wurde und im Uterus zurück¬
blieb. Hierauf entfernte sie auch den Kopf.
Der ganze Kindeskörper zeigte eine hochgradig matsche Beschaffenheit.
ln dem Gutachten über diesen Fall hob v. Hofmann hervor, dass die Ab-
reissung bei der bereits matschen Beschaffenheit des Körpers und w r egen der man¬
gelhaften Knochenbildung leicht erfolgen konnte und dass daher der Hebamme,
welche überdies rechtzeitig um einen Arzt geschickt hatte, ein Verschulden nicht
angerechnet werden kann.
Ich bin mir dessen wohl bewusst, hier das Gebiet der „Gcburts-
verletzungen“ des Kindes nicht erschöpfend behandelt zu haben.
Einerseits ist die Erfahrung jedes Einzelnen über diesen Gegenstand
eine verschiedene und kommt ja gewiss auch eine grosse Zahl
solcher Fälle nicht zur allgemeinen Kenntniss. Andererseits lassen
sich für die forensische Begutachtung von „Geburtsverletzungen“ keine
allgemeinen Gesichtspunkte aufstellen, da eben fast für jeden ein¬
zelnen Fall besondere, durch verschiedene Momente bedingte Ver¬
hältnisse vorliegen.
Frag, im September 1894.
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Ueber einen ursprünglich als Verletzung ange¬
sehenen congenitalen Cutisdefect am Scheitel eines
neugeborenen Kindes. J )
Von
Prof. Dr. Paul Dittrich in Prag.
(Mit 3 Abbildungen auf Tafel I.)
Es ist für den Gerichtsarzt wichtig zu wissen, dass, wenn auch
relativ sehr selten, doch zuweilen Befunde in der Haut neugeborener
Kinder Vorkommen, welche einigermassen Verletzungen ähnlich sehen,
ohne es zu sein, Befunde, welche nur bei sorgfältigster Erwägung der
makroskopischen Verhältnisse, beziehungsweise in letalen Fällen unter
Umständen bei gleichzeitiger mikroskopischer Untersuchung richtig ge¬
deutet werden können. Es sind dies gewisse angeborene Dcfecte der Cu¬
tis, welche, nach den Angaben in der Literatur zu schliessen, bisher nur
äusserst selten beobachtet worden zu sein scheinen, jedoch in einzelnen
Fällen bereits Gegenstand gerichtsärztlicher Untersuchung geworden sind,
weil sie für Verletzungen gehalten wurden. Ein derartiger Irrthum
kann Mindergeübten leicht unterlaufen; denn es gehört eine ziemliche
Erfahrung und Uebung in der Untersuchung anatomischer Objecte dazu,
einen solchen Befund bei blosser makroskopischer Betrachtung richtig
zu deuten.
Einen einschlägigen Fall hatte ich im März 1. J. zu begutachten
Gelegenheit.
Es handelte sich um das neugeborene Kind einer Mehrgebä¬
renden. Die Geburt war spontan ohne Beisein einer Hebamme oder
J ) Vorgetragen gelegentlich der 6(5. Versammlung deutscher Naturforscher
und Aerzte zu Wien im September 181)4.
bv Google
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Congenitaler Cutisdefeot am Scheitel eines neugeborenen Kindes. 259
eines Arztes im Bette erfolgt.. Erst einige Zeit nach der Entbindung
der Frau kam eine Hebamme hinzu, welche am Kopfe des Kindes
eine „Verletzung“ wahrnahm und einen Arzt holen liess, welcher
beiläufig eine Stunde nach der Geburt des Kindes erschien.
Auf Befragen der Hebamme gab die Mutter des Kindes an, sie
sei während der Geburt ohnmächtig geworden und meinte, es müsse
die Kopfhaut des Kindes bei der Geburt durch Anstossen entweder
an den harten Strohsack oder an den Bettrand abgeschunden wor¬
den sein.
Der Arzt hielt dies für unwahrscheinlich, konnte jedoch die Ur¬
sache der „Verletzung“ nicht feststellen. In seiner an die Behörde
gerichteten Anzeige gab er an, dass ein Stück des Schädeldaches ab¬
geschlagen, die Beinhaut jedoch nicht verletzt sei und dass die „Ver¬
letzung“, als er hinzukam, nicht geblutet habe. Bei dem nachträglich
auf Grund des Scctionsprotokolles und Gutachtens vorgenommenen
Verhör äusserte sich der Arzt vor Gericht dahin, dass derartige Haut-
defecte zuweilen allerdings als angeborene Defecte Vorkommen, je¬
doch in anderen Fällen vorsätzlich mit einem langen, harten, in die
Gebärmutter eingeführten Gegenstände erzeugt werden. Die Möglich¬
keit, dass die Mutter im vorliegenden Falle vielleicht auf die er¬
wähnte Art das Kind tödten wollte, hielt er aufrecht und schöpfte
diesen Verdacht namentlich deswegen, weil die Mutter die Schuld
ohne Grund sofort auf die Hebamme schieben wollte, eine Begrün¬
dung, welche für den Juristen unter Umständen Geltung haben mag,
in einem ärztlichen Gutachten jedoch, meiner Ansicht nach, nicht
am Platze ist.
Die Hebamme machte vor Gericht die Angabe, die „Verletzung“
habe im frischen Zustande eine bläuliche Farbe gezeigt, und es sei
nur die Hirnhaut zu sehen gewesen; die „Verletzung“ habe nur un¬
bedeutend geblutet. Die Hebamme sprach ausserdem bei einem spä¬
teren Verhör die Meinung aus, dass die Haut am Scheitel des Kindes
vielleicht bei etwaiger Selbsthilfe der Mutter oder aber an der Bett¬
kante abgeschunden worden sein konnte.
Einen Tag nach der Geburt starb das Kind an einer Pneumonie.
Die Staatsanwaltschaft ordnete im Hinblick auf das Resultat der
Vorerhebungen die gerichtliche Obduction der Kindesleiche an, nach¬
dem mit Rücksicht auf die Aussagen des Arztes und der Hebamme
die Möglichkeit einer strafbaren Handlung seitens der Mutter nicht
ausgeschlossen werden konnte.
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Di tt ri ch,
Der Sectioflsbefimd war der Hauptsache nach folgender:
48 cm lange und 2025 g schwere Leiche eines Kindes männ¬
lichen Geschlechtes.
In der Mitte des Scheitels eine im Allgemeinen rundliche,
schwärzliche, ganz trockene, haarlose, gegenüber dem Niveau der um¬
gebenden Haut etwas tiefer gelegene Stelle, welche in der Richtung von
vorne nach hinten bis 20 mm, in der Richtung von links nach rechts
bis 17 mm maass. Die Grenze dieser Stelle w r urde von blassröthlieher
Haut gebildet , welche allmälig in die genannte schwärzliche Partie
überging, wodurch der Rand um diese Stelle herum abgerundet er¬
schien. In der ganzen Circumferenz dieser Stelle war die Haut in
einer Breite von 1 / 2 bis fast 1 cm nur mit ganz kurzen lichtblonden
Flaumhaaren bedeckt (vide Tafel I Fig. 1). Erst nach aussen von dieser
Zone fanden sich dichte, blonde, bis über 1 / 2 cm lange Kopfhaare vor.
Von aussen konnte man fühlen, dass die beiden Stirnbeine in ihren
oberen hinteren Antheilen, sowie die Scheitelbeine in der ganzen
Längenausdehnung ihres medialen Randes weit auseinanderstehen, so
zwar, dass sich in einer 8 cm langen und bis 3 cm breiten Partie
der Höhe des behaarten Kopfes kein Knochen befindet 1 ). Die Schädcl-
knochen waren fest.
Beiderseits angeborener Mikrophthalmus 2 ).
x ) Die Ausdehnung der grossen Fontanelle ist in Figur 1 durch die Distanz
zwischen aa x und bbj angedeutet.
2 ) Herr Docent Dr. Herrnheiser, welchem ich die Bulbi behufs weiterer
Untersuchung überlassen habe, theilt mir über den äusseren Augenbefund Fol¬
gendes mit:
Beide Augenhöhlen normal gestaltet, in ihrer Tiefe liegen die auffallend
kleinen Bulbi, so dass die ganz normalen Lider stark eingestülpt sind.
Bei der Enucleation wurde auf die äusseren Augenmuskeln geachtet und
kein abnormes Verhalten derselben constatirt. Das linke Auge ist etwas grösser
als das rechte.
L.
R.
Maasse:
Horizontaler Umfang . . .
30 mm
29 mm
Aequator.
33 „
30 „
Horizontaler Durchmesser .
11 „
0 „
Sagittaler Durchmesser . .
8 „
8 „
Verticaler Durchmesser . .
7,5 „
7,5 „
Die Bulbi erscheinen unten etwas abgeplattet, links ist unten, fast in der
Mittellinie ziehend, eine seichte Rinne, die vom Opticuseintritte bis an den
Aequator reicht.
Die Hornhaut ist beiderseits schräg elliptisch, in verticaler Richtung länger
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Congenitaler Cutisdefect am Scheitel eines neugeborenen Kindes. 261
Im unteren Ansatzknorpel des Oberschenkelknochens fand sich
kein Knochenkern, im Fersenbein ein solcher von etwa 7 mm Durch¬
messer.
Ich zögerte nicht, mich in dem Gutachten sofort ohne mikrosko¬
pische Untersuchung dahin auszusprechen, dass es sich hier um keine
Verletzung in dem vom Arzte angeführten Sinne, sondern um einen
angeborenen Bildungsmangel handle. Denn dagegen, dass hier eine
Verletzung vorliege, sprachen verschiedene Umstände.
Zunächst war die genannte Stelle vollständig glatt und eben, die
Ränder der dieselbe unmittelbar begrenzenden normal aussehenden
Haut gleichmässig abgerundet. 1 ), nirgends gerissen. Auch der Um¬
stand, dass in einer circulären, an allen Stellen annähernd gleich
breiten Zone sich nur kurze Flaumhaare vorfanden, währen die Kopf¬
haare im Uebrigen eine dem Alter des Kindes entsprechende Länge
zeigten, kam hier mit in Betracht. Als unterstützendes Moment be¬
trachtete ich die bedeutende Grösse der grossen Fontanelle be¬
ziehungsweise die mangelhafte Entwickelung der Stirn- und Scheitel¬
beine gegen die Mitte des Scheitels hin. Dass es sich um keine
Knochenverletzung handle, konnte man bereits bei der Betastung von
aussen her daran erkennen, dass die Ränder der Knochen überall
vollkommen glatt waren und der Knochendefect auf beiden Seiten
vollkommen symmetrisch war. Ausserdem sprach die vollständig
normale Beschaffenheit der bedeckenden Weichtheile in der Umgebung
des Defectes, jedoch noch innerhalb der vermeintlichen Knochenver¬
letzung gegen die letztere. Endlich kam auch noch der Umstand
in Betracht, dass die angebliche Verletzung nach Angabe der Heb¬
amme bloss minimal, beim Erscheinen des Arztes aber gar nicht
mehr blutete.
Die mikroskopische Untersuchung eines Streifens, welcher aus
der Mitte der angeblichen Verletzung mit einem Theile der angren-
als in horizontaler, links nach abwärts stark zugespitzt. In der Mitte ist sie beider¬
seits halbdurchsichtig, am Rande deutlich sclerosirt. Wegen der Hornhauttrübung
lässt sich über die tieferen Gebilde nichts aussagen, doch scheint beiderseits ein
nach abwärts gerichtetes Iriscolobom zu bestehen.
Diagnose: Microphthalmus congenitus lateris utriusque.
*) Auch im Wiener gerichtlich-medicinischen Institute befindet sich das
Präparat eines Falles von angeborenem Hautdefect bei einem Neugeborenen, in
welchem der von normaler Haut gebildete Rand vollständig glatt und abge¬
rundet ist.
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D i 11 r i c li.
zenden normalen Haut herausgeschnitten worden war, bestätigte die
auf Grund der makroskopischen Verhältnisse gestelle Diagnose voll¬
kommen.
In dem von normaler Haut gebildeten Rande sah man die ein¬
zelnen Hautschichten vollkommen deutlich ausgebildet. An der Grenze
zwischen der normalen Haut und der abnormen Hautstelle zeigte sich
eine starke Verdünnung des Stratum Malpighii bei vollständigem Man¬
gel von Fettgewebe, Drüsen und Papillen. An dieser Stelle begann
eine Zone mit verdünnter, anscheinend bloss aus Hornschichte und
dem obersten Rete bestehender Epithellage und mit starker Infiltration
der obersten Bindege websschichte sowie der restirenden Epithelschichte
mit verschieden grossen, färbbaren Kernen. Weiter nach innen folgte
eine verdünnte, reichliche Kerne enthaltende Bindegewebsschichte,
welche mit einem Reste von Epithel bedeckt war. Gegen das Cen¬
trum des Defectes hin zeigte sich eine immer schlechter färbbare und
schliesslich eine Zone, die keinen Farbstoff annahm und in welcher noch
Reste von Bindegewebskemen, jedoch kein deutliches Epithel wahrzu¬
nehmen war. Doch kann die Möglichkeit, dass das Epithel, welches offen¬
bar ursprünglich im Bereiche der ganzen abnormen Hautpartie vorhanden
gewesen war, mechanisch abgclöst, die Epidermis also gleichsam ab¬
geschunden worden war, nicht geleugnet werden 1 ). Dies konnte bei
der auffallenden Zartheit der Epidermisgebilde durch den Geburtsact
selbst oder dadurch entstanden sein, dass die erwähnte abnorm ent¬
wickelte Hautstellc gegen eine harte oder rauhe Unterlage anstiess.
An der Peripherie des Defectes fand sich eine mässige Anhäufung
von Rundzellen.
Wenn also mit Rücksicht darauf eine oberflächliche Verletzung
der abnormen Hautstelle als möglich zuzugeben ist, so können wir
unter Bezugnahme auf den mikroskopischen Befund doch aus-
schlicssen, dass es sich etwa um eine Verletzung in der Auffassung
des Arztes oder der Hebamme, d. h. um eine grobe Verletzung nor¬
mal gebildeter Haut gehandelt habe.
Die forensische Bedeutung derartiger Fälle liegt in der Möglich¬
keit eines diagnostischen Irrthums, indem gelegentlich, wie dies auch
der vorliegende Fall zeigt, congenitale Hautdefccte für Verletzungen
x ) Daraus könnte sich der Umstand erklären, dass die Hebamme bloss eine
ganz geringe, der später hinzugekommene Arzt jedoch ül>erhaupt keine BJutuna
an dieser Stelle constatiren konute.
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Congenitaler CutisHcfect am Scheitel eines neugeborenen Kindes. 263
gehalten und letztere auf eine strafbare Handlung bozogen werden
können. Die Tragweite eines derartigen Irrthums bedarf keines wei¬
teren Commentars.
Einen analogen Fall, welcher vor mehreren Jahren an der Klinik
des Prof. Spaeth in Wien beobachtet wurde, theilte H. v. Hebra 1 )
mit. Bei einem reifen, kräftigen, sonst normal entwickelten, 3 Tage
uach der Geburt an Peritonitis verstorbenen Mädchen fanden sich in
beiden Scliläfegegenden ziemlich umfängliche röthlich gelbe, vollstän¬
dig haarlose Stellen mit wallartig erhöhten Rändern. Die mikrosko¬
pische Untersuchung bestätigte die schon auf Grund des makrosko¬
pischen Befundes gestellte Diagnose, dass es sich hier um einen an¬
geborenen Defect in der Haut handle.
v. Hofmann 2 ) hat ausserdem drei derartige angeborene Defecte
der Kopfhaut beobachtet, von denen zwei gleichfalls gerichtsärztlich
untersucht wurden, weil sie vom Todtenbeschauer nicht als solche
erkannt, sondern als Folgen mechanischer Gowalteinwirkung angesehen
worden waren.
In dem einen dieser beiden Fälle, in welchem der Verdacht ge¬
schöpft worden war, es könnte sich um eine bei einem Fruchtabtrei¬
bungsversuch entstandene Verletzung handeln, war der Defect nahe
der Scheitelhöhe, im andoren am Scheitel entsprechend dem Haar¬
wirbel gelegen. Im dritten Falle sass der über thalergrosse Defect
auf der Scheitelhöhe.
Vor einiger Zeit wurde ferner ein analoger Fall im Institute
des Herrn Collegen H. Chiari beobachtot. Chiari hatte die
Freundlichkeit, mir das betreffende Präparat, welches ihm im Juni
1. J. von Dr. Adolf Kukula in Dauba zugesendet worden war, zu
überlassen.
Nebst einer Reihe anderweitiger Bildungsanomalien fand sich der
Mitte der Sutura sagittalis entsprechend ein bis 2 1 / i cm langer, bis
D/o ein breiter, unregelmässig begrenzter Defect in der Haut, welcher
von einem haarlosen, blassrothen, bis 4 cm breiten Saume begrenzt,
war, welch’ letzterer sich allmälig gegen den Defect hin verdünnte
*) II. v. Hebra, Ein Pall von symmetrischem, partiellem, congenitalem
Defect der Cutis. Sep.-Abdr. aus den Mittheilungen des Wiener embryologischen
Institutes. II. Bd. 2.
2 ) E. v. Hofmann, Zur Casuistik der intrauterinen Verletzungen der Frucht
und der Befunde, die dafür gehalten werden können. Wiener medicin. Presse.
1885. No. 18.
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Dittrich.
und noch deutlich Epidermis erkennen licss. Vom vorderen Ende
zog nach rückwärts gegen die Mitte des Defectes ein 1 cm langer
Gewebsstreifcn, welcher über den ebenen und glatten, bräunlich ge¬
färbten Defect prominirte und bis y 2 cm breit war. Nach aussen
von dem erwähnten Saume die Haut normal und mit dichten, normal
langen Haaren besetzt (Tafel I Fig. 2). Zwei analog beschaffene steck¬
nadelkopfgrosse derartige rundliche Defecte fanden sich neben einander
in einer Entfernung von 3 mm und zwar der eine an der Vereini¬
gungsstelle der Lambdanaht mit der Sagittalnaht, der andere nach
links von dieser Stelle.
Auch in diesem Falle wurde aus dem grossen Defecte ein Stück
mit angrenzender normaler Haut mikroskopisch untersucht. Dabei
zeigte sich, dass an der äussersten Grenze das Rete Malpighii in
eine offenbar noch als Epithelschichte zu deutende Zone überging,
deren Elemente gequollenen, mit spärlichen, oben noch färbbaren
Kernen versehenen Zellen glichen. Eine Abgrenzung dieser Schichte
gegenüber dem Corium war hier nicht möglich. Die Homschichte
zeigte stäbchenförmige Kerne und erschien an dieser Stelle in nor¬
maler Dicke. Die erwähnte, aus degenerirtem Epithel bestehende
Schichte überging schliesslich centralwärts in eine Partie, bezüglich
welcher eine Entscheidung darüber, ob man es mit kernlosen Resten
der Epithelschichte oder mit kernlosem, degenerirtem Bindegewebe zu
thun hat, überhaupt nicht mehr möglich war. Im Bereiche des par¬
tiellen Hautdefectes fehlten auch hier Fettgewebe, Drüsen und Pa¬
pillen. ln Folge dessen erschien diese Partie im Ganzen verdünnt.
Prag, im November 1894.
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(Aus der medicinischen Klinik zu Halle):
Tod eines Tracheotomirten durch Erhängen.
Von
Dr. raed. Reinebotl), Assistenzarzt der Klinik.
Am IG. April wurde der Arbeiter Otto Lange aus Grölbzig weden hochgra¬
diger Schluck- und Athembeschwerden in die Königliche medicinische Klinik auf¬
genommen. Die Untersuchung ergab als Ursache derselben zu beiden Seiten des
Halses von der Submaxillaris bis zu den Supraclaviculargruben bis hühnereigrosse,
feste, z. Theil verwachsene Tumoren, die Trachea und Oesophagus comprimirten.
Die Epiglottis war hochgradig oedematös, und die Schleimhaut der hinteren Cir-
cumferenz des Kehlkopfeinganges wölbte sich bei der Exspiration als zitternde,
kugelige Blase in das Lumen des Kehlkopfs vor, während sie sich bei der In¬
spiration auf die Glottis legte. Da jeder Versuch zum Essen resp. Einfüh¬
ren der Sonde einen Erstickungsanfall hervorrief, wurde Patient am 17. April in
der medicinischen Klinik tracheotomirt, wobei die obersten Trachealringe gespal¬
ten wurden. Die Fähigkeit, zu schlucken kehrte nicht wieder und Patient wurde
von nun an mit einer mittelstarken Schlundsonde ernährt. Dies ging gut bis zum
31. Mai. Von da an wurde die Sondirung immer schwieriger, indem die Sonde
in einer Tiefe von 2G bis 30 cm mit der Zeit immer häufiger auf ein Hinderniss
stiess. Seit dem 27. Juni war die Sondirung überhaupt nicht mehr möglich. Es
trat Fieber ein. Unter heftigen llustenstössen wurde ein fingernagelgrosses Stück
braunrothen stinkenden Gewebes entleert, dessen Untersuchung auf elastische
Fasern die Vermuthung eines Durchbruches in die Luftröhre utnl einer sich ent¬
wickelnden Lungengangrän zur Gewissheit machte. Dazu trat links hinten unten
eine über handbreite Dämpfung, in deren Bereiche das Athmungsgeräuseh stark
abgeschwächt und das Exspirium von leicht bronchialem Charakter war. — Die
Athmung war von starken Schmerzen im genannten Bezirk begleitet. Es war
nicht zweifelhaft, dass zur Gangrän ein Exsudat, wahrscheinlich jauchig, hinzu¬
getreten war. Der Puls war wechselnd, theils kräftig, theils klein.
Patient war dabei noch bei verhältnissmässig guten Kräften.
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*266 Dr. Keincboth
Am 31. Juni Nachts gegen 1 42 Uhr wurde mir vom Wärter mitgetheilt,
dass der pp. Lange im Krankensaale fehle und auch sonst nicht zu finden sei.
Die hintere Thür des Blockes, die von innen verschlossen, war geöffnet. Ein
fehlendes Stück starker Jalousieschnur mit daneben liegendem nicht gerade
scharfem Messer Hessen sein Schicksal vermuthen. Nach kurzem Suchen wurde
Patient ganz in der Nähe an der betreffenden Schnur erhängt gefunden.
Die Leiche des mit Hemd, Unterhosen und Strümpfen bekleideten Patienten
stand ziemlich aufrecht an einer jungen, auf abschüssigem Terrain stehenden
Akazie. Die Knie waren gebeugt, die Unterschenkel etwas zurückgeschlagen, so
dass die Dorsalseite des Fusses und der Zehen beiderseits den abhängigen Boden
berührten. Der Strick lag oberhalb der Canüle, d. h. zwischen Kinn
und Canülenöffnung. Die letztere war vollkommen frei.
Das Hemd in der Gegend des Penis war in dem Spalte der Unterhose durch
den etwas voluminöser erscheinenden und infolgedessen etwas mehr vorstehenden,
aber keineswegs erigirten Penis vorgebuchtet. Ein Samenerguss war nicht vor¬
handen. Der Strick war um die niedrigste Astgabel der Akazie geschlungen.
Auf einer vorherstehenden Akazie mit etwas höherer Gabelung lag das Taschen¬
tuch des Patienten. Wahrscheinlich hatte er hier schon einen Versuch gemacht,
hatte aber die Gabelung zu hoch für die Länge des Strickes gefunden. Es war
nach Uhr, als die Leiche abgeschnitten wurde.
Die äussere Untersuchung des Lange ergab palpatorisch und auscultatorisch
keine Lebenszeichen, dagegen schon eine ziemliche Kälte und Steifigkeit.
Nachträgliche Erkundigung ergab, dass Patient sich um V 2 II Uhr aus dem
Krankensaale nach dem Closet entfernt hatte. Derjenige Patient, der dies gesehen,
hatte, obwohl die Bedürfnissgeschirre für den Lange bereitstanden, keinen Ver¬
dacht geschöpft und war kurze Zeit darauf eingeschlafen. Als derselbe Patient
dann zwischen 12 und 1 Uhr das Bett des Lange immer noch leer sah, hatte er
den Wärter wecken lassen, der seinerseits erst allein, dann mit Hilfe des Wächters
und eines Patienten längere Zeit vergeblich gesucht hatte.
Da die Verhältnisse im vorliegenden Falle so lagen, dass die Schuld eines
Dritten am Tode des schon vorher Lebensüberdruss äussernden Patienten ausge¬
schlossen war, wurde die Leiche vom Gericht freigegeben.
Die Section ergab als Unterlage des klinischen Bildes: multiple Carcinome
der Schilddrüse, des Oesophagus, des Pharynx, der Lymphdrüsen des Halses,
Gangrän des Oesophagus und der Trachea an circumscripter Stelle, Gangrän des
linken Unterlappens, fibrinös-jauchige Pleuritis links, beginnende geringe sero-
fibrinöse Pericarditis.
Von besonderem gerichtsärztlichen Interesse waren folgende Befunde:
a) Kopfhöhle. Die Arterien der Basis sind stark gefüllt. Sie sind zart-
wandig, ihr Inhalt besteht aus dunklem Gerinnsel. Die Gefässe der Pia sind da¬
gegen nur wenig mit Blut gefüllt. Hirnsubstanz fest, trocken und von geringem
Blutgehalt. Die Substanz der grossen Ganglien ohne gröbere Veränderungen.
Substanz von Pons undMedulla auffallend blutreich. Es treten auf dem Durchschnitt
dieser Organe viele Blutpunkte hervor, die oft erweiterten Gefässen entsprechen.
Halsmark ohne Veränderung.
b) Hals. Circumferum des Halses vergrössert durch eine Anzahl harter
knolliger, unter der Haut gelegener, an der Tracheotomiewunde mit ihr verwachsener
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Tod eines Tracheotomirieu durch Erhängen.
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Tumoren. Dicht unter den Kiefernwinkeln beginnend und die vorderen Partien
des Halses ringförmig umgebend eine tiefe Strangulationsmarke. Im Verlauf der¬
selben massiger Defect und miissige Eintrocknung der oberen Schichten der zu¬
gehörigen Epidermis. Dieselbe ist zwischen Kinn und Tracheotomiewunde gelegen
und comprimirt einige der erwähnten Tumoren. Muskeln des Halses unversehrt,
ebenso das Zungenbein. Beide äussere Carotiden zeigen an der Abgangsstelle der
Arteria lingualis einen feinen Querriss der Intima. Halswirbelsäule unversehrt.
c) Brusthöhle. Keine Sugillationen der Pleura. Rechte Lunge braunroth,
lufthaltig, unbedeutend oedematös. Das Herz von entsprechender Grösse, massig
fettreich. Kein bemerkbarer Unterschied in der Füllung beider Abschnitte. Ge¬
fasste im Verlauf geschlängelt, ihre Wandungen etwas verdickt. Die venösen Ostien
bequem durchgängig. In der Arteria pulmonalis grösseres .Speckgerinnsel, ln
den Herzhöhlen besonders umfängliche Leichengerinnsel von ziemlich fester Con-
sistenz. Endocard und Klappen zeigen sehr geringe fibröse Verdickung, die Intima
der Aorta sehr leicht sclerotisoh. Coronaria weit, Intima ohne Veränderung.
Herzfleisch gut contrahirt, hellbraun, nur wenig schwielige Veränderungen mäs-
sigen Grades.
d) Bauchhöhle. Leber von mittlerem Blutgehalt, kleinfeldriger aber deutlicher
Zeichnung. Milz von entsprechender Grösse, weicher Consistenz und blasserFarbe.
Niere ohne bemerkenswerthe Veränderungen, ebenso Darm und das Mesenterium.
Der vorliegende Fall ist für die gerichtliche Medicin von hohem
Interesse, bietet er doch, wie ein Versuch in reinster Form, für den
Menschen den Beleg, dass ein Tod durch Erhängen auch ohne Ab¬
schluss resp. Beeinträchtigung der Luftzufuhr durch Compression der
grossen Gefässe und des Vagus möglich ist.
Die schweren Krankheitsprocesse, die den Pat. zum Selbstmord
trieben, mögen wohl dazu beigetragen haben, dass der Tod um so
früher eintrat; der Befund des kräftigen Herzmuskels aber und das
Fehlen jeder pathologischen Unterlage, die einen augenblicklichen Tod
erklärt, wie einer Apoplexie oder Embolie einer Art. ccrebr., pulmon.
oder coronaria, endlich die ziemliche Kraft erfordernden Vorbereitungen
zum Selbstmord, wie das zweimalige Durchschneiden resp. Durch¬
sagen einer über gänsekieldicken, fest gedrehten, aber lose hängenden
Schnur mit einem stumpfen Messer, ferner das Knüpfen dieser Schnur
um die betreffende Astgabel — lassen ein zufälliges Zusammentreffen
des durch die Krankheit bedingten Todes mit dem Moment der Auf¬
hängung unwahrscheinlich erscheinen.
Für die Zeit, welche erforderlich war, den Tod herbeizuführen,
haben wir im vorliegenden Falle keinen sicheren Anhalt. — Pat. ist
um y 2 ll Uhr verschwunden. Die Vorbereitungen müssen bei der
Vorsicht, mit der Pat. zu Werke gehen musste, ziemlich lange Zeit
in Anspruch genommen haben; gegen 12 Uhr will der in der Nähe
Vierteljahrs^-hr. f. ger. Med. Dritte Folge. IX. 2 .
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l)r. Keineliolli,
des späteren Fundortes controlirende Wächter ein Rascheln im Ge¬
büsch gehört haben, dem er aber keine Bedeutung geschenkt hat.
Y 2 2 Uhr wurde die Leiche schon ziemlich kalt gefunden. Ange¬
nommen, der Pat. habe gegen 12 Uhr noch gelebt, und die starke
Abkühlung der leicht bekleideten und frei hängenden Leiche habe nur
eine Stunde in Anspruch genommen, so käme eine Sterbezeit von
30 Minuten in Rechnung. Allerdings ist es nicht ausgeschlossen,
dass das betreffende Geräusch durch die bei dieser Todesart auf¬
tretenden Streckbewegungen, die wir des näheren unten besprechen
werden, verursacht worden ist.
Die Stellung der Leiche war eine solche, dass, wenn Pat . längere
Zeit bei Besinnung gewesen wäre, resp. auch nur solange, um merken
zu können, dass er trotz des Hängens noch athmen könne — ein
Ereigniss, welches sicherlich der Laie für unbedingt unvereinbar mit
dem Strangulationstode hält —, er Gelegenheit gehabt hätte, sich
wieder auf die Füsse zu stellen. — Das Bewusstsein ist also offenbar
ebenso wie beim gewöhnlichen Erhängungstode sofort geschwunden,
ebenso wie bei diesem durch die Compression der grossen Halsge-
l'ässe. Die Stellung der etwas nach hinten gebeugten Unterschenkel
und der Füsse, die mit der Dorsalseite den im Rücken der Leiche
steil abfallenden Boden berührten, erklärt sich einerseits bei der An¬
nahme, dass Pat. nach vorn gegen die Schlinge sich anstemmte, und
dass mit dem Eintritt der Bewusstlosigkeit der Körper gegen den
Stamm der Akazie zurücksank, wodurch die Füsse nach hinten resp.
abwärts geschoben wurden, andererseits ist es nicht ausgeschlossen,
dass bei den oben schon erwähnten Streckbewegungen die Füsse in
diese Stellung gekommen sind.
Bemerkenswerth ist der Hirnbefund: Anämie des Grosshirns,
schwache Füllung der Gelasse der Pia, Blutreichthum von Pons und
Medulla, starke Füllung der Arterien der Basis.
Die mechanischen Verhältnisse des Kreislaufes für der» Kopf resp.
das Gehirn sind bei dem Erhängen mit und ohne Abschluss der Luft
dieselben.
Anämie des Gehirns ist nach Ackermann (Virchow’s Archiv,
Bd. XV) ein für die Strangulation charakteristischer Befund; nur
dürfen wir diesen für unseren Fall nicht ohne weiteres in Anspruch
nehmen, da ausser der Hirnanämie die beim gewöhnlichen Erhängen
durch den Luftabschluss verursachte Aenderung des der Medulla zu¬
geführten Blutes sicherlich auch einen Einfluss auf den Grad der Er-
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Tod eines Tracheolomirten durch Erhängen.
2(i!>
reguiig des vasomotorischen Centruins iiben wird. — Eher er¬
klärlich ist die stärkere Füllung der Arterien der Basis. Mit dem
Zuziehen der Schlinge wird das Gefässgebiet der Carotis int. abge¬
schnürt; in den von ihr versorgten Gebieten stagnirt nach Aus¬
gleichung des Ueberdruckcs im arteriellen System die Blutsäule. Die
Vertebralis wirft weiter Blut in ihre Endbahnen, desgleichen auch
durch die Communicans post, in das stagnirende unvergleichlich
grössere Stromgebiet der Carotis int., deren Blutsäule durch den ver-
hältnissmässig schwachen Strom nicht in Trieb gebracht, resp. ge¬
halten werden kann, wodurch zunächst nur eine stärkere Füllung der
Theilc an der Mündungsstelle hervorgerufen wird. Dazu wirkt viel¬
leicht begünstigend die mit einer Lähmung des Vasomotorencentrums
eintretende Erschlaffung der Gefässwände, die an den grossen basalen
Gelassen die stärkere Füllung am ehesten begünstigt und am deut¬
lichsten hervortreten lässt. — Die Ursache, warum dieselben Erschei¬
nungen beim gewöhnlichen, dieselben Kreislaufverhältnisse bietenden
Erhängen nicht zu Stande kommen, liegt vielleicht daran, dass sie bei der
Schnelligkeit dieses Todes nicht Zeit haben, sich genügend auszubilden.
Für den Blutreichthum der Pons und der Medulla fehlt die Erklärung.
Die grossen und zahlreichen Tumoren des Halses, von denen
einige durch den Strick comprimirt wurden, haben im vorliegenden
Falle (conf. v. Hofmann, S. 520) eine starke Compression der grossen
Gefässe nicht zu hindern vermocht.
Auf den serösen Häuten der Brusthöhle verdient das Fehlen der
Ecchymosen Beachtung; sonst sind die Brustbefunde zu sehr durch
complicirende Erkrankungen verändert, als dass ihr Befund eine Be¬
sprechung verdiente.
Die Bauchorgane zeigen keine besondere Hyperämie.
Am nächsten kommt diesem Falle ein von Mahon (Medecine legale et po-
lice medicalc. Tome II. 1801.) erwähntes und von Baron (Le mecanisme de la
mort dans la pendaison. Etüde historique et experimentale. Paris, 1893.) citirtes
Vorkommniss: Ein 30jähriger Fleischer, der mehrfach Strassen raub begangen,
wird in London zum Tode verurtheilt. Er bietet Alles auf, sein Leben zu retten.
Ein junger Chirurg erbietet sicli dazu. Er macht ihm gelegentlich eines Besuches
eine kleine Incision in die Trachea und schiebt ihm eine kleine Canüle ein. Das
bei der Operation vergossene Blut hält man fiir Blut von einem Selbstmordversuch.
Er wurde aufgehängt und blieb einige Zeit hängen. Die Leiche liefert man seinen
Angehörigen aus, die sie eiligst zu dem betreffenden Chirurgen schaffen. Er
öffnet ihm die Jugularvene und nimmt andere Wiederbelebungsversuche vor. Der
Hingerichtete öffnet die Augen, stösst einen tiefen Seufzer aus, Fällt wieder in
Ohnmacht und stirbt. Dieser Fall enthält mehr als genug des Unwahrscheinlichen,
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I)r. Keineboth .
um sich länger dabei aufzuhalten, obwohl es an und für sich nicht ausgeschlos¬
sen ist, dass nach regelrechter Tracheotomie und Abnahme nach der für die Er¬
stickung sonst gewöhnlichen Zeit eine Wiederbelebung möglich märe.
Einen zweiten wegen seiner Unvollständigkeit nur als Notiz wiedergegebenen
Fall finde ich in einer angezogenen Stelle Baron’s, die einer Arbeit eines
Dr. L 6vy (Contribution ä l’etude des causes de la mort par pendaison. 1879.)
entnommen ist: „Le cas de ce genre, que le professeur Taylor emprunte ä la
medecine legale de Smith, montre un supplicie, chez qui l’ouverture de la tra-
chee ne prolongea pas la vie au dela de trois quarts cl’heure.“
Näheres über diese wunderbare Hinrichtung habe ich in der mir zugäng¬
lichen Literatur nicht finden können.
Einen Fall von Tod durch Erhängen, nicht nach Tracheotomie, aber ohne
Compression der Luftwege, theilt Deininger mit (Friedreich’s Blätter f. gericht¬
liche Modicin. 1884. S. 47.). Die Schlinge umfing den Nacken dicht unter der
Haargrenze. Der Knoten der Schlinge, die eine geschlossene war, lag direct unter
dem Kinn, welches durch die straff angespannte Schnur nach rückwärts gedrängt
war. Der Körper befand sich in halb liegender, halb hockender Stellung, mit dem
Gesassc handbreit vom Boden entfernt, die Fiisse berührten mit der Ferse den
Boden, die herabhängenden Arme nur wenig von demselben entfernt. Eine Com¬
pression der Trachea war vollständig ausgeschlossen, wie Versuche Deininger’s
zeigen, dagegen eine Compression der Halsgefässe wohl möglich.
Ein ähnlicher Mechanismus liegt in einem von Erik Holst (Mittheilungen
aus der gerichtsärztlichen Praxis) veröffentlichten, in Schmidt’s Jahrbüchern,
Bd. 190. 186. besprochenen Selbstmord vor. Die Schlinge lag um den Nacken,
nach dem rechten Ohr zu. An der Vorderfiäche des Kehlkopfes bis zum rechten
Ohr keine Strangrinne. Das Gesäss war nur wenig vom Boden entfernt, die Beine
ausgestreckt, der Kopf nach hinten übergebeugt. „Nach Verlauf der Strangrinne
scheint es unzweifelhaft, dass der Luftdurchgang durch die Luftwege nicht ge¬
hindert gewesen sein und dass auch ein Verschluss durch Aufwärts- und Zu¬
sammendrücken der Weichtheile über dem Kehlkopfeingang nicht stattgefunden
haben kann.“
Dass dies letztere bei einer Lage des Strickes, die eine Compression
der Luftwege direct auszuschliessen scheint, wohl möglich ist, beweist der in
Schmidt’s Jahrbüchern, Bd. 85, citirte Selbstmord, indem die nach hinten ge¬
zogene Zunge mit ihrer Btisis Pharynx und Larynx verschloss.
Um die Art des Todes durch Erhängen bei uunbehindertem Luft¬
zutritt kennen zu lernen, habe ich fünf Kaninchen ohne, fünf mit
Tracheotomie aufgehängt. In der Literatur sind eine Reihe Thier¬
experimente letzterer Art verstreut. Dasselbe gelingt nicht immer,
d. h. das tracheot.omirte Thier stirbt nicht, und zwar scheint dabei
die Wahl der Art von Einfluss zu sein.
E. Schwenninger (Bayr. ärztl. Intelligenzblatt. 1876. 31.) experimentirte
mit Kaninchen und Katzen. Er unterband die.Gefdsse am Halse, machte die Tra¬
cheotomie und hing dann die Thiere so auf, dass der Strang über dem Tracheal-
schnitt lag. Hierbei lebten die Thiere ruhig weiter.
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Tod eines Tracheotomirten durch Erhängen.
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Paul Baron (conf. oben) benutzte Hunde zu seinen Versuchen (Observat.
XIII. XIV. XV.). Die Thiere starben nicht: das eine wurde nach drei Stunden,
das andere nech 2 Stunden durch nachträglichen Verschluss der Trachea getödtet.
Bemerkenswerth ist, dass die Thiere anfänglich ruhig hängen und athrnen, »lass
nach einer gewissen Zeit Krämpfe eintreten, die sich wiederholen, und dass das
eine Auge seinen Cornealreflex behält, während ihn das andere verliert, dass das¬
selbe Auge dann seinen Reflex wiedererhält, dass endlich die Besinnung nicht
verloren geht. Das Thier verfolgt die Bewegungen mit dem Auge und wedelt mit
dem Schweife.
Gleiche Versuche mit gleichem Resultate sollen nach Baron von Mahon
und von Rodrig in Fonseco gemacht worden sein.
Um zu constatiren, welche Bedeutung dem Luftabschluss, der Compression
der Gcfässe und des Vagus bei dem Strangulationstode zuzumessen sei, hat Ta-
massia (ref. in Virchow und Hirsch. 1881. 1. 560.) eine grosse Reihe von
Thierversuchen gemacht, indem er Trachea, Halsgefässe, Vagus in der verschie¬
densten Weise unterband. Dabei hat er auch Thieren — welchen, ist aus »lein
Referat nicht zu ersehen — die Halsgefässe und den Vagus unterbunden, andere
bei eröffneter Trachea aufgehängt. Die Arbeit ist mir leider nur im Referate zu¬
gänglich, die einzelnen Versuche sind in demselben nicht ausgeführt, sondern nur
die Resultate derselben. V on diesen interessirt uns hier nur der Satz, dass nach
Compression der Halsgefässe, combinirt mit jener der V agi, kein plötzlicher Tod
eintritt.
Ebenfalls nur im Resultat zugänglich ist mir die Arbeit von Misuraca
(Virchow und Hirsch. 1888. I. 478.), der zur Beantwortung derselben Frage
dieselben Experimente in ungefähr dergleichen Anordnung wie Tamassia aus¬
führte. Er benutzte Hunde, von denen er eine Anzahl nach gemachter Tracheo¬
tomie aufhing. Ihm glückte es, die Thiere auf diese Weise zu tödten. Er kommt
zu dem Schlüsse: die Tracheotomie rettet die darnach erhängten Thiere vor dem
Tode nicht, doch dauert es lange, bevor dieser eintritt und die Erscheinungen in
vivo sowohl als post mortem sind nicht solche wie nach gewöhnlichem Erhängen.
Meinen Versuchen am nächsten stehen zwei des schon oben er¬
wähnten Dr. L 6 vy, welcher unter Brouardel experimentirte: er hing
zwei Kaninchen zu gleicher Zeit, eins gewöhnlich, eins nach Tracheo¬
tomie. Die beiden Kaninchen starben, das erste nach Ablauf von
6 Minuten, das zweite nach Ablauf von 20 Minuten; beide boten die¬
selben Symptome, nur intensiver und näher zusammengedrängt bei
dem ersten als bei dem zweiten; beide zeigten bei der Autopsie eine
Anämie des Gehirns.
Ich habe auch Kaninchen verwendet. Die Tracheotomie wurde
in Pentalnarcose vorgenommen. In der Mitte zwischen den kleinen
Halsmuskeln wurde die Luftröhre möglichst nahe dem Sternum frei¬
gelegt und mit der Scheere quer angeschnitten. In die Luftröhre
wurde dann eine ziemlich anschliessende Canüle, die am freien Ende
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Dr. R ei n obolli.
etwas gebogen war, eingeführt nncl durch ein Bauet Befestigt, so dass
tlie Oeffnung der Canüle zur Seite des Halses lag. Es kann so bei
der Strangulation weniger leicht ein Verschluss der Oeffnung durch
den Kopf eintreten. — Die Pentalnarcose dauerte nur wenige Minuten.
Mit der Strangulation wurde dann solange gewartet, bis das Thier
wieder vollständig bei Bewusstsein war und lief. Nach Eintritt des
Todes wurde das Kaninchen im Durchschnitt fünf Minuten hängen
gelassen, dann, nachdem es 10 Minuten in Rücken- oder Seitenlage
gelegen, die Section vorgenommen. Vor Abnahme des Thieres wurde
die Schlinge durch einen fest umschnürenden, geknoteten Strick
ersetzt. —
Da der Luftabschluss in dem einen, die freie Luftzufuhr im an¬
deren Falle einen unbedingten Unterschied in der Blutzusammen¬
setzung vermuthen liess, habe ich mit Ausnahme eines misslingenden
Versuches das Blut auf sein Verhältniss zum Sauerstoff untersucht.
Die spektroskopische Untersuchung wurde in der Weise angestellt,
dass nach Ablauf der 15 Minuten post mortem zunächst die Brust¬
höhle unter Vermeidung der Verletzung grösserer Gefässe geöffnet,
der Herzbeutel geschlitzt, die Füllung des Herzens beurtheilt wurde.
Das Blut wurde aus dem linken Ventrikel resp. Vorhof entnommen
und zwar im Allgemeinen nach den von Gwosdew (Bemerkungen
über die spektroskopische Untersuchung des Blutes bei Erstickten.
Reichert und Dubois, Archiv für Anatomie u. Physiologie, 1867)
angegebenen Regeln. In einem Reagensrohr wurde neutrales Glycerin,
in einem anderen Oel längere Zeit im Wasserbade gekocht. Dann
wurde das Oel auf das ausgekochte Glycerin aufgegossen und beides
abgekühlt. In einer Punctionsspritze wurde zunächst von dem Oel, dann
unter Tiefersenken derselben von dem Glycerin entnommen. Eine dicht-
schliessende Canüle wurde vorn aufgesetzt, durch Druck auf den Stem¬
pel mit dem in der Spritze befindlichen Glycerin gefüllt, in die 1. Herz¬
hälfte eingestochen; der Stempel wurde langsam angezogen und, wenn
eine genügende Menge Blutes, das mit dem Glycerin sich schwer
mischt, an der Wand der Glascaniile langsam emporstieg, wurde die
herausgezogene Spritze vor das Spektroskop gehalten, so dass die
dem emporsteigenden Blute nachziehenden dünnen Streifen der Be¬
sichtigung unterworfen wurden. — Durch Schiefhalten der Spritze
und Wiederaufrichten konnte man sich zu wiederholten Malen diese
dünnere Blutschicht herstellen, ohne dass die über dem Oele befind¬
liche Luftperle, die Üclsehieht durchdringend, mit dem Glycerin in
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Gck gle
Original frnm
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Tori eines Tracheotomirten durch Erhängen.
‘273
Berührung kam. — In einigen dieser Untersuchungen wurde statt-
neutralem versehentlich saures Glycerin verwendet. Controlversuche
ergaben jedoch, dass das ebenso wie das neutrale behandelte saure
Glycerin angesaugtes Oxyhaemoglobinblut nicht verändert, sondern die
zwei Absorptionsstreifen des Oxyhaemoglobin bestehen lässt.
Zur exacten Bestimmung der Blutzusammensetzung wäre es na¬
türlich nöthig gewesen, Blutproben während des Sterbens selbst zu
entnehmen und vor Allem die Blutgase zu bestimmen. Die Schwie¬
rigkeit dieser Untersuchung, die grosse Uebung voraussetzt, hat mich
davon abgehalten. Jedenfalls aber können die Versuche, von denen
die einen an Thieren vorgenommen wurden, die durch Luftmangel zu
Grunde gingen, die anderen an solchen, denen die Sauerstoffzufuhr
bis zuletzt gesichert war, einer an einem durch Schlag getödteten
Thiere, dazu dienen, einen weiteren Beitrag zur Frage des Verhält¬
nisses des 0 zum Haemoglobin in der Leiche überhaupt zu liefern
und zwar nicht an alten Leichen, sondern 15 Minuten post mortem.
Der vollständigen Section der Brust ging jezt zunächst die Kopf-
section voraus. Durch einen Sägeschnitt vom hinteren Orbitalrand
der einen Seite zu dem der anderen Seite und einen in diesen recht¬
winklig mündenden vertiealen wurde die Schädeldecke durchsägt
und mit dem Meissei abgehoben. Das Gehirn, welches dabei voll¬
ständig unversehrt bleibt, wird dann nach Trennung der Optici vorn
emporgehoben resp. zurückgeklappt und vor Eröffnung der basalen
Gcfässe die Blutfüllung beurtheilt.
Die Beobachtung, dass die Leiche der einfach strangulirten Thiere
bei der Section viel wärmer war als die der tracheotomirten, führte
mich dazu, bei den folgenden Versuchen zugleich Temperaturmessun¬
gen vorzunehmen. Nur sind sie leider nicht alle in der gleichen
Weise ausgeführt worden. Wie sie im einzelnen Falle vorgenommen
wurden, ist besonders angegeben. Die Hinterbeine der Thiere mussten
bei der Messung im After (Minutenmaximumthermometer) durch die
Hand fixirt werden.
A. Einfache Strangulation.
1. Gewicht 1800 g.
0.0
Kurzer Athmungsstillstand. Thier bewegungslos.
20 Inspirationsbewegung, allmiüig sich vertiefend, mit .jeder derselben
Schnappen des Maules.
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2U
Dr. Reineboth,
1.0 Kurzer Athmungsstillstand. 4 kurze Streckkrampfanfälle, welche zu¬
sammen ca. 40 Secunden in Anspruch nehmen.
2.0 Stillstand der Athembewegungen. Herz schlägt weiter.
2.30 Abgang von Koth, Pupillen stark erweitert. Cornea reactionslos.
3.30 Aussetzen des Herzschlags.
5.30 Pupillen werden wieder enger. Abgang von Harn.
Section: a) In der Pia nur vereinzelte, sehr feine, wenig verzweigte Gefäss-
chen längs der grösseren Furchen sichtbar. Die Arterien der Basis
ebenfalls dünn, nur die stärkeren als rothe Streifen von dem sonst
bleichen Gehirn sich abhebend.
b) Pleura hellgrauroth, in’s Gelbliche, beiderseits dicht mit Ecchy-
mosen besetzt. Parenchym vorn gelblichroth, hinten bräunlich-
roth, unbedeutend ödematös. — Rechter Vorhof stärker gefüllt.
Eine einzelne Sugillation über der Spitze. Unbedeutende Leichen¬
gerinnsel neben dunklem, flüssigen Blut in beiden Herzab¬
schnitten.
Streifen des reducirten Haemoglobins.
c) Leber blutreich, Milz weniger. Gefässe des Darms und des Mes¬
enteriums stark gefüllt. Nieren: Rinde bräunlichroth, Mark peri¬
pher blauroth.
2. Gewicht 1200 g.
0.0
Athemstillstand, der die ganze 1. Minute ausfüllt.
1.0
16 Athembewegungen. Cornea reagirt.
1.45 Streckkrämpfe, 15 Secunden dauernd.
2.0 Cornealreflex erloschen. Stillstand der Athembewegungen. Pupillen
beginnen sich zu erweitern. Herz schlägt weiter.
3.30 Herzstillstand.
5.30 Pupillen beginnen wieder enger zu werden. Abgang von Urin und Koth.
Sofort nach Aufhören des Herzschlags wird ein Minutenmaximum¬
thermometer in die nur wenig eröffnete Bauchhöhle gesteckt. Tempe¬
ratur 39,2°.
Section: a) Nur vereinzelte, sehr feine, wenig verzweigte hellrothe Gefässe
in der Pia längs der grösseren Furchen sichtbar, ebenso die Ar¬
terien der Basis nur sehr schwach gefüllt. Hirnsubstanz bleich,
b) Pleura beiderseits hellgrauroth bis gelblichroth, hinten etwas
dunkler, mit zahlreichen Ecchymosen besetzt. Lunge hellbräun-
lichroth, in den hinteren Partien etwas dunkler, unbedeutend
ödematös. — Rechter Ventrikel stärker gefüllt als der linke; in
der Füllung der Vorhöfe kein deutlicher Unterschied. Grossen
Venen stark gefüllt. Epicard ohne Ecchymosen. Umfängliche
Blutgerinnsel in beiden Herzabschnitten, nur wenig dunkles flüssi¬
ges Blut. Streifen des reducirten Haemoglobins.
cj Leber blutreich, Milz weniger. Die Gefässe des Darmes stark ge¬
füllt. Peripherie des Markes der Niere blauroth.
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Gck igle
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Tod eines Tracheotomirten durch Erhängen.
275
3. Gewicht 12(X) g. Temp. im Rectum 37°.
0.0
Kurzer Athmungsstillstand. Pupillen etwas enger geworden.
16 regelmässige Inspirationsversuche. Cornea reagirt.
0.45 Temp. 38°. Kurz dauernde Streckkrämpfe, die sich in kurzen Pausen
3mal wiederholen. Dauer derselben 55 Secunden.
1.0 Temp. 38,7°.
1.30 Temp. 39°.
1.40 Stillstand der Athembewegungen. Pupillen werden weit. Cornea reac-
tionslos. Herz schlägt weiter.
2.45 Herzstillstand.
7.0 Temp. 39,8°. Pupillen haben sich wieder verengert.
Section: a) Hirnbefund wie bei 1. und 2.
b) Pleura röthlichgelb, stark mit Ecchymosen besetzt. Lunge hell-
bräunlichroth, stark ödematös. — Rechte Herzhälfte entschieden
stärker gefüllt als die linke. Epicard ohne Ecchymoson. In bei¬
den Herzabschnitten hauptsächlich dunkles flüssiges Blut neben
halblinsengrossen Leichengerinnseln.
Streifen des reducirten Haemoglobins.
c) Leber blutreich, weniger die Milz. Gefässe des Darmes und Me¬
senteriums weniger gefüllt. Das Mark der Niere zeigt peripher
einen schmalen blauen Saum.
4. Gewicht 1090 g. Temp. im Rectnm 38,3°.
0.0
Athemstillstand. Pupillen etwas enger.
0.15 Beginn regelmässiger, angestrengter Inspirationsbewegungen.
0 35
q‘^ 1 Streckkrämpfe; zwischen diesen ist die Athmung vorhanden, sehr ange-
j’q J strengt und regelmässig.
1.10 Athembewegungen sistiren. Pupillen werden weit und reaetionslos.
1.15 Temperatur 39,8°.
1.30 Temperatur 40°.
1.45 Schnappen mit dem Maule ohne sichtbare Inspirationsbewegungen; das¬
selbe wiederholt sich öfter.
2.22 Letztes Schnappen.
2.45 Abgang von Urin.
3.10 Herzstillstand. Temperatur 40,1 °.
7.25 Temperatur 40,25°.
Section: a) Himbefund wie bei 1—3.
b) Pleura röthlich-gelb; eine grössere Anzahl stecknadelknopfgrosser
Ecchymosen besonders in der hinteren Circumferenz. Lunge hell-
bräunlich-roth, lufthaltig, etwas ödematös. — Rechtes Herz in
beiden Abschnitten entschieden stärker gefüllt als linkes, Epicard
ohne Ecchymosen. In beiden Herzabschnitten hauptsächlich
dunkles flüssiges Blut neben sehr wenig Gerinnsel.
Streifen des reducirten Haemoglobins.
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276
Dr. Reinehoth.
(5
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c) Leber weniger blutreich wie sonst; Milz blutreicher. Die Gefässe
des Mesenteriums und Darms weniger gefüllt. Schmaler blauer
Saum der Peripherie des Markes der Niere.
Gewicht 1875 g. Temperatur im Rectum 88,3°.
0.0
Athemstillstand.
0.30 Angestrengte Inspirationsbewegungen.
0.15 Temperatur 38,8°.
1.30 Streckkrämpfe.
1.45 Cornea wird reactionslos. Pupille weit.
2.0 Temperatur 38,9°. Urinabgang.
2.30—2.45 5 vereinzelte, sehr angestrengte Athemzüge.
3.10 Herzstillstand. Temperatur 40°.
Urinabgang. Pupillen werden wieder eng.
8.10 Temperatur 39,2°.
Section: a) Hirnbefund wie bei 1—4.
b) Pleura hellröthlich-gelb, besonders an der Hinterfläche des Unter¬
lappens mit zahlreichen Ecchymosen besetzt. Lunge liellbraun-
roth, lufthaltig, ödematös. Rechter Vorhof entschieden stärker
gefüllt als der linke, beide Herzhälften sonst ziemlich gleich.
Keine Ecchymosen. Im linken Herzen wenig, im rechten Herzen
mehr dunkles, locker geronnenes Leichengerinnsel neben dunklem
flüssigen Blut.
Streifen des reducirten Haemoglobins.
c) Leber blutreich, Milz nicht. Gefässe des Mesenteriums nur
mittel gefüllt. Blaurother Saum des Markes der Nieren.
B. Strangulation nach Tracheotomie.
Gewicht 2250 g.
0.0
Nach kurzem Athmungsstillstand 17 langsame, durch Pausen, die all -
mählig kürzer werden, getrennte Athembewegungen. Von da an 89 regel¬
mässige, nicht durch Pausen getrennte Athembewegungen (17—100).
Das Thier hängt ruhig, Cornealreflex vorhanden, Pupillen sind nicht
erweitert.
6.15 45 Secunden dauernde Streckkrämpfe.
7.00 30 regelmässige Athemzüge.
8.00 20 Secunden dauernde Streckkrämpfe. Pupillen weit, reactionslos.
8.20 6 langsame vereinzelte Athemzüge, durch unregelmässige Pausen ge¬
trennt.
9.00 Stillstand der Athembewegungen.
10.30 Herzstilland.
12.00 Pupillen werden allmälig wieder enger. Abgang von Koth und Urin.
Section: a) In der Pia im Verhältniss zu dem Befunde der einfach strangu-
lirten Thiere unvergleichlich zahlreiche, vielverzweigte, bis zu
Gck igle
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Tori eines Traoheotnmirten dureh Erhängen.
277
den kleinsten Aestclien gefüllte Gefässe sichtbar; die Arterien
der Basis stark gefüllt, selbst die kleinsten Verzweigungen als
rothe Linien sichtbar.
b) Die Pleura mit Ausnahme einiger kleiner bronehopneumonischer
Herde bleich, in den hinteren Partien des Unterlappens mit ver¬
einzelten feinen Ecchymosen besetzt. Die Ecchymosen liegen
nicht im Gebiete der Bronchopneumonien. Die Lungen selbst
grau-gelblich bis hellbraun-roth, lufthaltig. Beide Herzhälften
annähernd gleich gefüllt. Herzgefässe strotzend. Epicard ohne
Ecchymosen. In beiden Herzabschnitten dunkles flüssiges Blut
neben einem unbedeutenden Leichengerinnsel.
Streifen des reducirten Haemoglobins.
c) Leber blutreich, Milz weniger. Die Gefässe des Darms und
Mesenteriums stark gefüllt. Nieren: Mark peripher blauroth.
7. Gewicht 1920 g. Temperatur *17,7.
0.0
Nach kurzem AthemstilIsland 13 Athemziige, nach diesen eine kleine
Pause, dann fortgesetzt regelmässige Athmung.
1.20 Streekkrämpfe. Dieselben wiederholen sich im Verlauf von 30 Minuten
mehrere Mal. — Dabei ist die Athmung ruhig, die Pupillen sind mittel¬
weit. Cornealreflex prompt, im Anfang des Versuchs deutliche Augen¬
bewegungen. — Der Herzschlag dabei im Ganzen regelmässig, nur ab
und zu beschleunigt.
30.0 Abnahme. Temperatur 37°. Das Thier steht sogleich auf den gespreizten
Beinen und macht Fluchtversuche. Das linke Hinterbein ist gelähmt,
sonst kräftige Bewegungen aller Extremitäten, aber vorwiegend Streck¬
bewegungen der Beine ohne genügende Beugebewegungen, welche er¬
schwert zu sein scheinen. Abtödtung durch Schlag. Der Strick hat gut
gelegen; er war um das Dreifache dicker als die vorigen.
Section: a) Schwache Füllung der Hirugefässe. Starke Blutextravasate
der Pia.
b) Pleura beider Überlappen hellroth mit vereinzelten Ecchymosen
besetzt, die der Unterlappen grösstentheils blauroth bis blau¬
schwarz, fast nur eine einzige Sugillation aufweisend. Parenchym
braunroth, lufthaltig, stark ödematös. Beide Ventrikel stark ge¬
füllt. Epicard ohne Ecchymosen.
Spectroscop. Untersuchung misslingt.
c) Leber wenig blutreich, ebenso die Niere. Keine Stauungsniere.
8. Gewicht 1170 g. Temp. 38,3°.
0.0
Nach kurzem Athemstillstand 1 Athmung, darauf wieder Athemstill-
stand.
1.40 beginnen regelmässige Athemzüge, die sich vertiefen und von zu¬
nehmenden Schnappen des Maules begleitet sind.
G.O Athemfrequenz pro Minute 30.
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278
Dr. R © i n e h o t li,
7.30 Athemfrequenz pro Minute 40. Athmung angestrengt. Cornealreflex
erhalten. Pupillen raittelweit. Auge wird bewegt.
8.45 Streckkrämpfe von nur kurzer Dauer.
8.50 Pupillen werden weit, Cornea reactionslos. Die regelmässigen Atheni-
bewegungen stocken. Nur noch vereinzelte tiefe Athemzüge.
9.35 Athmung sistirt. Kothabgang.
10.15 Herzstillstand.
Sofort nach Aufhören des Herzschlages Einführen eines Thermometers
in die Bauchhöhle. Temp. 39,3°.
Section: a) Die Gefässe der Pia über Basis und Temporallappen stark und
bis in die kleineren Aesto gefüllt, auf der Convcxität sonst nur
wenige und wenig verzweigte Gefässe sichtbar. Arterien der
Basis entschieden stark gefüllt.
h) Pleura allenthalben gelblichroth, vereinzelte Ecchymosen. Eine
erbsengrosse an der hinteren Circumferenz des rechten Unter¬
lappens. Lunge hellgelbliehroth, lufthaltig. Bronchien und Tra¬
chea bläulichroth. Rechte Vorkammer und Kammer stärker ge¬
füllt, Gefässe des Herzens strotzend. Keine Sugillation. Im
rechten Herzen dunkles, flüsiges Blut, im linken ein linsengrossos
Leichengerinnsel neben dunklem flüssigen Blute.
Streifen des reducirten Hämoglobins,
c) Leber blutreich, Milz weniger. Darmschlingen und Mesenterium
injicirt. Mässiger blauer Saum des Markes der Nieren.
9. Gewicht 1230 g. Temp. 38,2 °.
0.0
0.10 Pupillen etwas enger.
0.20 1. Athemzug.
1.0 Athmung regelmässig. Temp. 38,2°.
1.25 Athmung sistirt. Cornealreflex vorhanden.
2.45 Athmet wieder, aber schwach.
3.0 Athmung regelmässig.
4.0 Athmung für kurze Zeit wieder unregelmässig. Cornealreflex erloschen.
Temp. 38,2°.
5.0 Athmung deutlich, regelmässig. Cornealreflex vorhanden. Temp. 38,2°.
(5.30 Streckkrämpfe. Athmung regelmässig. Cornealreflex vorhanden.
9.0 Streckkrämpfe. Pupille ist etwas weiter geworden. Cornea reagirt.
Athmet regelmässig.
10.15 Cornea reagirt. Temp. 38,2°.
10.45 Athmung angestrengt. Streckkrämpfe.
11.45 Pupille weit, Cornea reagirt noch.
12.0 Abgang von Koth.
13.15 Cornealreflex vorhanden. Temp. 38,2°.
14.0 Athmung sistirt für einige Zeit.
15.20 Vereinzelte, durch Pausen getrennte Athemzüge. Pupillen ganz weit.
Cornea reactionslos. Herzschlag sehr beschleunigt.
16.0 Athmung wieder frequenter, abwechselnd bald stärker, bald schwächer.
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Toil eines Tracheotomirtcn durch Erhängen.
279
17.45 Athmung wieder frequenter, abwechselnd bald stärker, bald schwächer.
18.35 Athmungsstillstand.
19.15 Herzstillstand.
25.0 Temp. 38,5°.
Section: a) Die Gefasse der Pia sehr zahlreich, bis in den kleinsten Aestchen
stark gefüllt. Die Gefässe der Basis sehr stark gefüllt, auffallend
stark gegenüber der Füllung bei einfach gehängten Thieren.
b) Pleura blassgelb, mit einer Anzahl stecknadelkopfgrosser Ecchy-
mosen besetzt. Lunge hellbräunlichroth, lufthaltig, etwas oede-
matös. Rechter Ventrikel entschieden stärker gefüllt als der
linke; in der Füllung der Vorhöfe kein wesentlicher Unterschied.
Auf der Vorderfläche des linken Ventrikels eine linsengrosse
Ecchymose. In beiden Herzabschnitten dunkles flüssiges Blut
neben sehr wenig festem Leichengerinnsel.
Streifen des reducirten Haemoglobins.
c) Leber blutreich. Milz weniger. Die Gedärme und das Mesente-
terium nicht auffällig injieirt. Nieren zeigen nur einen schmalen
bläulichen Saum des Markes.
Der Strick hat etwas hoch gesessen.
10. Gewicht 1920 g. Temperatur 36,9 °, nach der Tracheotomie 37,2°.
0.0
Athemstillstand. Pupillen werden etwas enger.
0.20 1. Athemzug. Schwache Pupillenreaction.
0.45 Unregelmässige, zappelnde Bewegungen.
1.15 Rechte Cornea reactionslos, linke leider nicht geprüft.
1.35 Beide Hinterbeine werden gehoben.
2.00 Athmungspause. Dann unregelmässige Athmung. Die Athemzüge sind
verschieden tief und frequent.
2.20 Vereinzelte Athemzüge.
2.45 Schriller Pfiff in der Nähe. Spitzt die Ohren. Herzschlag regelmässig.
3.20 Athmungspause. Die Athembewegungen beginnen nach einer Zeit
wieder.
4.15 Herzschlag regelmässig. Athembewegungen.
4.40 Rechte Cornea reagirt wieder, linke reagirt ebenfalls.
5.00 Temperatur 37,6. Cornealreflex beiderseits vorhanden.
5.30 Athmung deutlich hörbar.
6.15 Heftige, 15 Secunden währende Streckbewegungen. Während derselben
dreht sich das freischwebende Thier an der Strangulationsschnur um
seine Längsachse. Noch vor Aufhören der Streckbewegungen wird das
Thier
6.30 abgeschabten, so dass die Schlinge sich löst.
Auf den Boden gelegt, dreht sich das Thier mit ausgestreckten Hinter¬
beinen und nach hinten gebogenem Kopfe wieder einige Secunden um
seine Längsachse. Dann liegt es auf der Seite mit etwas erhobenem
Kopfe, athmet stark angestrengt. Nach kurzer Zeit setzt es sich auf.
- Abtödtung durch Schlag.
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‘280
L)r. Reinei > 0 lli.
Sectio»: a) Hirn blutreich. Blutaustritte in die blutreiche Pia.
h) Pleura blassgelb, mehrfach sugillirt; Lungen gelblichroth. Herz
stark gefüllt, rechts mehr als links. Keine Ecchymosen. In
beiden Herzabschnitten neben Leichengerinnseln dunkles flüssi¬
ges Blut.
Streifen des reducirten llaemoglobins.
<•) Leber auffallend wenig blutreich.
Die Symptomatologie des Todes durch einfache Strangulation
stellte sich in den vorliegenden Fällen so: Gleich nach der Suspen¬
sion tritt ein Athmungsstillstand ein, die Pupillen werden etwas enger.
Dann folgen regelmässige angestrengte Athembewegungen mit vorwie¬
gend inspiratorischem Charakter. Einen folgenden exspiratorisehen
konnten wir nicht beobachten. - - Nach verschiedener Dauer dieser
Athembewegungen treten durch lange Pausen getrennte wilde Streck¬
krämpfe auf. Mit deren Beendigung fällt eine ziemlich plötzliche
maximale Erweiterung der Pupille zusammen, die Cornea reagirt nicht
mehr, die Athembewegungen sistiren. ln einem Falle folgt (Versuch 4)
des öftern ein Schnappen des Maules, wie es die Inspirationsbewe¬
gungen begleiten kann, ohne dass letztere wahrnehmbar waren, in
einem anderen (5) 5 vereinzelte angestrengte, wirkliche Inspirations¬
bewegungen. Diese entsprechen den sog. terminalen Athembewegun¬
gen, wie sie (cf. Ueber den Tod durch Erhängen. Prof. v. Hofmann,
ref. Schmidt’s Jahrbücher. 177, 50) beim Erhängen sonst nicht vor¬
zukommen pflegen. Die Athembewegungen werden überlebt von den
Herzpulsationcn. Das Herz schlägt noch bis 1.30 Minuten weiter.
Der Tod erfolgt in wenigen Minuten, die längste beobachtete Zeit
beträgt 3.30 Minuten. Nach demselben tritt eine langsame Verenge¬
rung der Pupillen ein. Mit der Strangulation ist eine starke Tem¬
peratursteigerung verbunden, die im Augenblicke des Todes ca. 40°
beträgt. Diese Temperatursteigerung ist eine praemortale.
Die Symptomatologie des Todes der nach Tracheotomie strangu-
Jirten Thiere ist am wesentlichsten von jener durch die Länge der
Sterbezeit unterschieden: dieselbe betrug 10.30, 10.15, im letzten
Falle sogar 19.15 Minuten, also mindestens das Dreifache der vorher
gefundenen Zeiten. Bemerkenswerth ist, dass die Herzpulsationen
auch in diesem Falle das Athmungscentrum nur um dieselbe kurze
Zeit: um l ] / 2 Minuten überleben. Die terminalen Athembewegungen.
d. h. die nach Aufhören der Streckkrämpfe mit Eintritt der Pupillen-
erweiterung und Erlöschen des Corncalreflexes auftretenden, durch
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281
Tod eines Truclieolouiirlen durch Erhängen.
Pausen getrennten Athemzüge sind in den traeheotomirten 3 Fällen
regelmässig eingetreten.
Das Verhalten der einfach strangulirten Thiere spricht für Be¬
wusstlosigkeit derselben.
Ob die traeheotomirten Kaninchen bewusstlos sind, lässt sich
schwer entscheiden. Das eine Thier spitzt nach 2% Minuten langer
Suspension auf einen schrillen Pfiff die Ohren (10), das andere (8)
bewegt nach 7'/ 2 Minuten Dauer das Auge. Ersieres kann Reflex¬
bewegung sein, weniger das Bewegen des Auges. Baron’s Hunde
waren bei Bewusstsein, sie wedelten bei Annäherung mit dem Schweife.
Sicher ist aber das Bewusstsein, wenn es vorhanden, nicht die ganze Zeit
erhalten. Dafür spricht die Prüfung des Cornealreflexes. Derselbe
ist in 2 Fällen (0 und 10) eine Zeit lang vollständig erloschen, die¬
selbe Cornea roagirt prompt wieder nach 1 resp. 3.25 Minuten.
Eine ähnliche Erscheinung beschreibt Baron bei seinen Hunden: er
beobachtet aber, dass nur eine Cornea reactionslos wird, während die
andere ihren Reflex behält.
Auch die Beobachtung der Athmung: das auffällige Schwanken
der Grösse und Zahl der Athembewegungen spricht für eine wech¬
selnde Erregung eines anderen cerebralen Centrums: des Athmungs-
centruins.
Um zu sehen, ob die aul’iretenden Streckbewegungen wirkliche
Krämpfe sind, habe ich das letzte Thier inmitten des ersten heftigen
Anfalles abgeschnitten und von der Schlinge befreit. Es wälzte sich
wild mit nach hinten gestrecktem Kopfe und Beinen G—7 mal um
seine Längsachse, blieb dann kurze Zeit mit etwas erhobenem Kopfe
auf der Seite liegen und setzte sieh dann auf. Es ist mir unwahr¬
scheinlich, dass diese wilden Rollbewegungen mit ausgestreckten Beinen
und rückwärts gebogenem Kopfe die Folge mehrerer während der
Streckbewegungen am Strick eingetretener Drehungen um die Längs¬
achse waren. — Auch Baron bezeichnet diese Streckbewegungen als
wirkliche Krämpfe.
Sehr charakteristisch unterscheidet sich die Temperatur bei dieser
Todesart von der rapid in 3 Minuten auf ca. 40° ansteigenden bei
einfacher Strangulation. Beim ersten Versuch, bei dem sie gemessen
wurde, stieg dieselbe von 38,3 auf 39,3°. Letztere Temperatur ist
direct in der Bauchhöhle gemessen und zwar erst nach dem Tode.
— Bei Versuch 9 stieg die Temperatur (38,2°) während der ganzen
19 Minuten währenden Suspension bis zum Tode nicht um 0,1°, erst
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282
Dr. Reineboth.
nach dem Tode ging sie um 0,3° in die Höhe, und im Versuch 10
von 37,2 in 5 Minuten auf nur 37,6°.
Das Missglücken des 7. Versuches scheint mir durch die Dicke
des Strickes und den hohen Sitz desselben, die lange Dauer im 9. Falle
durch letzteres allein verursacht worden zu sein.
Der Himbefund der einfach strangulirten Thiere ist immer der
gleiche: nur vereinzelte, sehr feine, wenig verzweigte Gefässe in der
Pia längs der grösseren Furchen sichtbar, die grossen Gefässe der
Basis sehr schwach gefüllt, Himsubstanz bleich. Anders bei den
tracheotomirten Thieren: in der ganzen Pia — einmal Stirn- und
Scheitellappcn ausgenommen — sind unvergleichlich zahlreichere, viel
verzweigte, bis zu den kleinsten Aestchen gefüllte Gefässe sichtbar;
die Arterien der Basis sind in allen 3 Fällen bis zu den kleinsten
Aestchen stark gefüllt. Brouardcl ist bei seinen 2 Kaninchenver¬
suchen ein derartiger Unterschied nicht aufgefallen: bei den meinigen
war er so auffallend, dass er nicht' zu übersehen war.
Die Pleura zeigt in der ersten Versuchsreihe zahlreiche Ecchy-
mosen, bei den tracheotomirten Thieren dagegen nur vereinzelte oder
eine geringe Anzahl. Da bei letzterer Versuchsanordnung der aspira-
torische Zug des Thorax, der bei verschlossenen Luftwegen für die
Entstellung der Sugillationen sicher eine Rolle spielt, ebenso wie eine
Stauung im Kreisläufe entfällt, so sind sie allein auf Rechnung eines
vasomotorischen Krampfes zu setzen. — Von einer Hyperaemie der
Lunge war bei den letzteren ebensowenig etwas zu bemerken, wie bei
den ersteren. Ecchymosen auf dem Herzbeutel sind in beiden Fällen
nur einmal erwähnt. Die einfach strangulirten Thiere zeigen constant
eine stärkere Füllung entweder des rechten Vorhofs oder der rechten
Kammer oder beider zugleich. — Die Consistenz des Herzblutes ist
in beiderlei Versuchen verschieden; es überwiegt in beiden Fällen die
flüssige Beschaffenheit desselben. — Die Leber ist immer blutreich,
Blutgehalt der Milz und des Darmes wechselnd, die Niere zeigt con¬
stant einen mehr oder minder blaurothen Saum des Markes.
In dem Verhältniss des Blutes zum Sauerstoff zeigt sich in allen
9 Versuchen das gleiche Resultat: das Herzblut des linken Ventrikels
resp. Vorhofs zeigt in beiden Fällen, ebenso nach Abtödtung durch
Schlag nur einen Absorptionsstreifen: den des reducirten Haemoglo-
bins. — Es bestätigt sich so der Befund von Kotelewski, dass das
Leichenblut überhaupt nur reducirtes Hacmoglobin enthält. — Wir
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Tod eines Tracheolomirlen durch Erhängen. 283
haben gesehen, dass es schon 15 Minuten post mortem in der Leiche
sich findet.
Die vorstehenden Versuche führen uns zu dem Resultate Misu-
raca’s: „Die Tracheotomie rettet die darnach erhängten Thiere — in
unserem Falle Kaninchen — vor dem Tode nicht, doch dauert es
lange — wir müssen sagen: erheblich länger —, bevor dieser ein-
tritt, und die Erscheinungen in vivo sowohl als post mortem sind
nicht solche — d. h. nicht die gleichen —, wie nach gewöhnlichem
Erhängen.“
Wenn auch die vorstehenden Versuche nicht zahlreich sind, so
halte ich sie 'doch für hinreichend, die Todesart im Allgemeinen
kennen zu lernen und uns den nicht beobachteten Theil unseres
Falles — nämlich das Sterben selbst — auf diese Art zu er¬
gänzen.
Die Beobachtung der zeitlichen Verhältnisse der Athmung und
Herzthätigkeit lassen uns auch für den vorliegenden Fall eine längere
Sterbezeit ohne Weiteres in Anspruch nehmen. — Anders verhält es
sich mit dem Bewusstsein. Während für die tracheotorairten Thiere der
Grad und die Dauer des Bewusstseins zweifelhaft geblieben ist, müssen
wir aus den oben angeführten Gründen für den Menschen den sofor¬
tigen und fortwährenden Verlust des Bewusstseins annehmen. Für
die Stellung der unteren Extremitäten der Leiche haben wir in den
dieser Todesart eigenen Streckkrämpfen eine Erklärung gefunden und
in den Temperaturverhältnissen einen Anhalt für das rasche Erkalten
der Leiche gegeben.
Von den Sectionsbefunden fordert der Hirnbefund zum Vergleiche
auf. In unserem Todesfälle sowohl als im Thierexperiment findet sich
ein vom gewöhnlichen Zustand bei einfacher Strangulation abweichen¬
der Befund in der Blutfüllung der Hirngefässe; während wir aber
beim Menschen nur eine isolirte auffällig starke Füllung der Arterien
der Basis haben, finden wir beim Thier zugleich mit der starken
Füllung der basalen Arterien auch die Gefässe der Pia stark gefüllt.
Eine Vereinigung beider Befunde unter einem Gesichtspunkte ist am
ungezwungensten bei der Annahme einer längeren Sterbedauer resp.
Herzarbeit und eines unvergleichlich grösseren Calibers der Arteria
vertebralis im Verhältniss zu den Carotiden, so dass die Füllung des
ganzen abgeschnürten Gefässgcbietes sowohl in seinem arteriellen als
Vierteljahreschr. f. ger. Med. Dritte Folge. IX. 2. 19
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venösen Theil schneller möglich wird. Vielleicht liegt in der stär¬
keren Entwickelung der Vertebralis auch der Grund für das verschie¬
dene Verhalten des Bewusstseins beim Menschen und beim Thier.
Ein näheres Eingehen auf den vorstehender Arbeit zu Grunde
liegenden Fall schien mir einerseits wegen der Seltenheit desselben,
andererseits wegen der spärlichen speciell deutschen Mittheilungen
über eine derartige Todesart im Allgemeinen gerechtfertigt.
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4.
Tod durch Aspirationserstickung im bewusstlosen
Zustande.
VOD
Dr. C. Seydel,
Ausserordeutl. Professor und gerichtl. Stadtphjrsikus xu Königsberg i. Pr.
Zu den interessantesten und darum auch vielfältig studirten Ka¬
piteln der gerichtlichen Medicin gehört der Ertrinkungstod, d. i. die
Erstickung durch Aspiration flüssiger Medien. Schon konnte der un¬
vergessliche Pal tauf, als er im Jahre 1889 einen schönen Beitrag
zum Ertrinkungstode lieferte und das Eindringen der Ertrinkungs¬
flüssigkeit in die Lungen und den kleinen Kreislauf unzweifelhaft
feststellte, auf eine Reihe von gegen 150 Aufsätzen zurückblicken
und auch später hat sich das Interesse unserer Fachcollegen diesem
Thema immer wieder zugewandt, denn es giebt eine Menge Erschei¬
nungen bei Ertrunkenen, die dem aufmerksamen Beobachter nicht
immer erklärlich und neu erscheinen. Hierher gehört zweifellos die
Erscheinung in den Lungen von Personen, die im bewusstlosen Zu¬
stande durch Aspiration flüssiger Medien zu Grunde gehen. Ich denke
hierbei in erster Linie an Menschen, die durch Kopfverletzungen be¬
täubt auf dem Rücken liegend das in die Respirationswege gelangte
Blut in die Lungen bringen, dann auch an Berauschte, die Erbroche¬
nes im bewusstlosen Zustande aspiriren. Es wird bei solchen Leichen
stets die verhältnissmässig eolossale Menge aspirirter Medien in den
Bronchien und theilweise im Lungengewebe auffallen. Schon in dem
oben citirten Aufsatze hat Paltauf das Eindringen von Blut tief in
das Lungengewebe durch Aspiration beschrieben und die mikrosko¬
pischen Bilder abgebildet, eine ähnliche Abbildung giebt Lesser in
seinem Atlas der gerichtlichen Medicin.
iy*
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286
I)r. S »* v d p 1,
Beide beweisen, dass das aspirirte Blut nicht allein tief bis in
die feinsten Luftröhrenverzweigungen, sondern auch in das Lungen¬
gewebe durch die Spaltbildungen im Epithelialüberzuge und längs der
Kittleisten eindringen können.
Um dieser Frage auf experimentellem Wege näher treten zu
können, habe ich eine Reihe von Versuchen angestellt, deren Resultat
ich in kurzen ProtocoUen hier anzuführen mir erlaube.
Bekanntlich unterscheidet man beim Ertrinkungs- ebenso wie
beim Erstickungstode verschiedene Stadien: 1. das der Respirations¬
hemmung, 2. das der Dyspnoe, 3. das der Asphyxie. Das Einhalten
des Athems im ersten Stadium geschieht meistens instinctiv und
scheint sich besonders beim Eintauchen in kalte Flüssigkeit, mit¬
bedingt durch den Hautreiz, bemerkbar zu machen. Es scheint nach
den Beobachtungen von F. Falk in seltenen Fällen bei Erschöpfung,
körperlicher Ermattung, psychischer Aufregung oder bei Neugeborenen
dieses Stadium des Athemstillstandes direct in dauernden Respira-
lionsstillstand und den Tod übergehen zu können. Ein prägnantes
Beispiel hierzu bot ein Fall, der einem sehr tüchtigen und gewissen¬
haften Physicus in Ostpreussen viel Kopfzerbrechen machte. Eine
unehelich Geschwängerte ging, als sie Geburtswehen merkte, in der
Nähe des Memelstromes zweifellos in der Absicht, ihr Neugeborenes
zu beseitigen. Sie gebar hinter einem Weidenbusche sitzend wenige
Schritte vom Wasser, trug das Neugeborene in ihrer Schürze bis an
den Strom und legte es in die flachen Ausläufer desselben in das
Schilf. Sie wurde hierbei von einem Arbeiter, der in der Nähe sich
befand, beobachtet. Dieser ging sehr bald, nachdem die Person die
betr. Stelle verlassen, um zu sehen, was diese da hingelegt hätte.
Er fand mit dem Gesichte unter Wasser liegend das Neugeborene
todt; da es im kalten November war, wickelte er die Leiche in eine
Hülle und brachte sie in das nächste Gehöft. Die Mutter gab an,
das Kind habe sich nach der Geburt bewegt, auch etwas „gequarrt“,
es war demnach zweifellos lebend in das kalte Wasser gekommen.
Bei der Section, die in der kühlen Jahreszeit eine noch wohl erhal¬
tene Leiche zeigte, fand man im Munde einige kleine schwärzliche
Partikel von amorpher Structur (Erde oder Schlamm), in den Lungen
ausser etwas stärkerem Luftgehalt keine Ertrinkungsflüssigkeit, so dass
aus dem Lungenbefunde der Ertrinkungstod sich in keiner Weise er¬
kennen liess.
Nach dieser kleinen Abschweifung kehre ich zu meinem Thema
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Tod durch Aspirationserstickung im bewusstlosen Zustande.
287
zurück. Die Reihe der experimentellen Untersuchungen erstreckt sich
auf 19 Kaninchen, die zum Theil in jugendlichem Alter, etwa 8 bis
12 Wochen alt, theils als erwachsene Thiere ertränkt wurden. Die
Nareose wurde auf Vorschlag von Geh. Rath Jap he durch eine In-
jection einer 50proc. Urethanlösung versucht, aber nur bei jüngeren
Thieren, die 1 / 2 —1 g subcutan injicirt erhielten und auch nur unvoll¬
kommen erreicht, während ausgewachsene Thiere nur sehr geringen
Einfluss des Narcoticums erkennen Hessen. Nachdem der Tod durch
Erweiterung der Pupille und über eine Minute dauernden Athemstill-
stand festgestellt war, wurden die Thiere an den Ohren aus der Er-
tränkungsflüssigkeit herausgenommen, mit erhöhtem Kopfe so gelegt,
dass ein stärkeres Hinausfliessen des Lungeninhaltes ausgeschlossen
war. Bei der Scction wurde stets nach dem Hautschnitte eine Liga¬
tur um die Trachea gelegt und dann die Eröffnung des Thorax vor¬
genommen. Die Seetioncn wurden in einer Reihe sehr bald nach dem
Tode, noch vor Eintritt der Todtcnstarre, aber nach deutlich consta-
tirtem Herzstillstände, in den anderen Serien 9 Stunden nach dem
Tode vorgenommen. Ich lasse nun die Protoeolle in gedrängter Kürze
folgen.
I. Serie.
Zunächst wurde in einer Reihe in der Wasserleitung entnommenem etwa
15° li. warmem Wasser der Unterschied von Ertrinken in und ohne leichte durch
Urethan bedingte Nareose untersucht. Diese Nareose stellt sich gewöhnlich 5 bis
8 Minuten nach der subcutanen Injcclion von 0,5—0,6 Urethan in wässriger Lö¬
sung ein. Die Thiere sind äusserlich unverändert, haben weit offenstehende, gut
reagirende Augen, respiriren regelmässig, sind nur in ihren Bewegungen etwas
behindert und langsam und lallen auch wohl zu Bewegungen veranlasst auf die
Seite, verhalten sich also ungefähr so wie im Alkoholrausche mittleren Grades.
Diese Versuchsreihe wurde mit nicht ganz ausgewachsenen Kaninchen, son¬
dern etwa 10—12 Wochen alten, welche gegen die Einwirkung des Mittels sich
wesentlich empfänglicher zeigten als ausgewachsene, angestellt nnd die Thiere,
wenn sie in das Stadium der behinderten Beweglichkeit eingetreten waren, in die
Flüssigkeit eingetaucht.
Die Wägungen der Thiere wurden auf einer zu diesem Zwecke im pharrna-
cologischen Institute vorhandenen feinen Decimalwage, die der Organe, spccicll
der Lungen auf einer feinen Apothekerhandwage, die gegen 100 mg ausserordent¬
lich empfindlich und vorher genau tarirt war, vorgenommen.
No. 1. 10 Wochen altes 550 g schweres Kaninchen erhält eine Injection von
0,5 Urethan, nach lOMinuten, nachdem sich die Zeichen der Schwerbeweglichkeit
eiugestelllt, wird es bei den Ohren und den Hinterfüssen gefasst und etwa 15 cm
unter den Wasserspiegel in einer tiefen Schale, die mit 12° R. warmem Wasser
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Pr. Seydel,
•288
gefüllt ist, getaucht. Es erfolgt nach kurzem rcflectorischem Athemstillstand unter
dyspnoetischen Athembewegungen anfangs ein Aufsteigen zahlreicher grösserer
Luftblasen etwa V2 Minute lang, dann erneuter V2 Minute dauernder Athemstill¬
stand, dann unter heftigen fast convulsivischen allmälig schwächer werdenden
Respirationen eine Menge feinblasigen Schaumes. Dies dauert wieder V2 Minute
lang, dann stellen sich einige erfolglose schnappende terminale Athembewegungen
und dann in 2 V 2 Minuten nach dem Eintauchen definitiver Athemstillstand und
Pupillenveränderung, die für den Tod spricht, ein. Die Herzaction ist durch Auf¬
legen mit dem Finger nicht mehr nachweisbar. Die Section wurde bei der ersten
Serie sehr bald nach dem Tode, etwa V 2 Stunde noch vor Eintritt der Todten-
starre vorgenommen, um die Veränderungen in den Organen möglichst frisch
untersuchen zu können. Die Lungen wurden nach Abtrennung der Thymus und
des Herzens mit der unterbundenen Trachea und dem stets gleich langen zur
Unterbindung gebrauchten Seidenfaden zusammen gewogen und ergaben in diesem
Falle ein Gewicht von 8,6 g, enthielten in den Bronchien sowie in der Trachea
(»ine Menge röthlichen Schaum, zeigten auf den Oberflächen, besonders an den
Unterlappen ausgedehnte blutige Suffusionen, auf Schnittflächen entleerte sich auf
Druck eine Menge röthlichen Schaumes. Die Infiltration damit Hess sich in allen
Theilen des Lungengewebes, besonders in den blutig suffundirten Stellen deut¬
lich nachweisen. Herz in allen seinen Theilen, besonders dem Vorhofe, gefüllt
mit dunkelflüssigem Blute. Im Magen, dessen Kranzgefässe sehr gefüllt, keine Er-
tränkungsfliissigkeit, Nieren sehr blutreich.
No. 2. 10 Wochen altes Kaninchen 445 g schwer, nach einer Injection mit
Urethan, die etwas deutlichere Folgen zeigt, in derselben Weise behandelt. Die
Erscheinungen beim Ertrinken fast ganz gleich wie im Falle 1. Section etwa
l, 2 Stunde nach dem Tode gemacht unter Beobachtung derselben Vorschriften
ergiebt ein Gewicht der Lungen von 9,6 g. In Trachea, Bronchien und Lungen¬
gewebe reichlich weissliche schaumige Flüssigkeit. Das Herz stark mit dunklem
flüssigem Blute gefüllt. Die Nieren sehr blutreich, so dass sich Mark- und Rinden¬
substanz deutlich von einander abheben. Die Kranzgefässe des Magens ziemlich
stark gefüllt, in demselben neben reichlichem Speisebrei wohl etwas Ertränkungs-
flüssigkeit.
No. 3. Etwas jüngeres Kaninchen, 400 g schwer, erhält eine Pravazspritze
voll also 0,5 g Urethan. Es wird beim Ertränken so fixirt, dass die Schnauze
nach oben gerichtet war: die Erscheinungen beim Ertränken beinahe dieselben,
wie in Fall 1 und 2. Die Lungen wogen 10 zeigten im Uebrigen denselben
Befund wie Fall 1 und 2, nur keine blutige Suffusion des Lungengewebes. Der
in Trachea, Bronchien und Lungengewebe enthaltene Schaum zart weiss. Das
Herz in allen Abschnitten sehr stark mit dunkelem flüssigem Blute gefüllt, die
Nieren blutreich, im Magen keine Ertränkungsflüssigkeit. Unterleibsorgane eben¬
falls blutreich.
No. 4. Etwas jüngeres Kaninchen, 390 g schwer, wird ohne Urethaninjection
in kaltes Wasser von 15° R. getaucht. Auch bei ihm ist der Ablauf der Ertrin¬
kungserscheinungen ziemlich gleich mit den vorhergehenden. Erst Athemstillstand
von 1 4 Minute, dann unter Aufsteigen grösserer Luftblasen kurze dyspnoetische
Athembewegungen etwa ^Minute lang, dann Athemstillstand von einigen Secun-
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Tod durch Aspirationserstickung im bewusstlosen Zustande. 2811
den, hierauf feinblasiger Schaum etwa 1 4 Minute lang, so dass der definitive
Athemstillstand ohne terminale Athembewegungen in IV 2 Minuten unter schwacher
Herzbewegung sich einstellte. Nachdem das Thier 3 Minuten nach dem Eintauchen
herausgenommen und wie die vorigen gelagert war, wurde die Section V 2 Stunde
nach dem Herausnehmen aus dem Wasser ausgeführt. Die Lungen wogen 5,6 g,
das Lungengewebe nicht blutig suffundirt, der weissliche Schaum in Trachea,
Bronchien und Lungensubstanz ziemlich reich, Herz in allen Abschnitten stark
mit dunkelem flüssigem Blute gefüllt, Nieren blutreich, Magenwand blutreich, im
Inhalte keine Ertränkungsflüssigkeit, ein flacher subperitonealer Bluterguss in der
Nierengegend von etwas über Linsengrösse enthielt geronnenes Blut und war wohl
durch ein zufälliges Trauma beim Einfangen des Thieres entstanden. Der be¬
treffende Wärter ergriff nämlich unzweckmässigerweise anstatt an den Ohren, die
Thiere am Rücken.
JI. Serie.
Hierbei wurde klares Wasser von Blutwärme zum Ertränken der Thiere ver¬
wandt. Die Thiere wurden dabei theils mit Chloroform, theils mit Urethan
schwerer und leichter narcotisirt.
No. 5. Gesundes 458 g schweres Kaninchen wird mit Chloroform nicht bis
zur vollständigen Gefühllosigkeit narcotisirt und mit noch deutlich vorhandenem
Cornealreflex in das Wasser von 33° R. eingetaucht. Die vorher regelmässige,
wenn auch etwas frequenter gewordene Athmung sistirt kurze Zeit, dann treten
regelmässige ziemlich angestrengte Athemzüge unter massenweisem Aufsteigen
freier Schaumblasen aus den Respirationsöffnungen auf (das Aufsteigen grösserer
Luftblasen im Anfänge des Ertrinkens bleibt ganz aus); da sich nach l 1 2 Minuten
anscheinend vollständiger Athemstillstand eingestellt hatte, wurde das Thier aus
der Flüssigkeit herausgehoben und machte noch einige oberflächliche Inspirations¬
bewegungen in der Luft, sofort wieder eingetaucht, zeigte es dauernden Athem¬
stillstand und wurde 3 Minuten nach dem Eintauchen herausgehoben und in der
oben beschriebenen Weise gelagert.
Die Section fand in derselben Weise wie bei den früheren Fällen statt, aller¬
dings 8 Stunden nach dem Tode, und zeigte das Gewicht der Lungen 6,4 g. Das
Herz stark mit dunkelem locker geronnenem Blute gefüllt. Die Lungen an der
Oberfläche nur wenig und inselförmig suffundirt. In der Trachea, den Bronchien
und dem Lungengewebe eine Menge weisslichen Schaumes, der nur an einzelnen
Stellen eine röthliche Färbung zeigt. Die Nieren blutreich, der Magen ohne Er¬
tränkungsflüssigkeit.
No. 6 . Gesundes 450 g schweres Kaninchen erhält eine subcutane Injection
von 0,5 g Urethan, wonach sich in etwa 5 Minuten die ersten Zeichen einer leich¬
ten Narcose zeigen. Es wird in Wasser von Blutwärme eingetaucht, nach sehr
kurzem Athemstillstand entleert es unter lebhaften Abwehrbewegungen eine Menge
grossblasigen, dann feinblasigen Schaum etwa2Minuten lang, hierauf derFlüssig-
keit entnommen, macht es in der Luft eine Inspirationsbewegung, hierauf wieder
eingetaucht, entleert es eine Menge mittlerer und feiner Luftbläschen bei sehr
schwachen Athembewegungen, die vom Beginn des Eintauchens etwa 3 Minuten
lang anhalten. 5Minuten nach dem ersten Eintauchen wird das Thier vollständig
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I)r. Seydel,
290
lodt herausgenommen. Die Section 8 Stunden p. m. ausgeführt. Die Lungen
wogen 9,6 g, waren auf den unteren Lappen theils in grösseren Flächen, theils
inselförmig blutig suffundirt. In Trachea, Bronchien und Lungengewebe eine
Menge röthlichen Schaumes. Das Herz stark gefüllt mit locker geronnenem dun-
kelem Blute, Nieren sowie die übrigen Unterleibsorgane blutreich, im Magen keine
Ertränkungsflüssigkeit.
No. 7. Kräftiges junges Kaninchen, 630 g schwer, wird in Wasser von Blut¬
wärme eingetaucht. Die Urethanwirkung ist bei demselben stark ausgesprochen,
so dass es nicht mehr zu sitzen im Stande ist und auf die Seite fällt, wo es liegen
bleibt, die Augen sind dabei unverändert und die Respiration regelmässig. Nach
sehr kurzer Athempause treten anfangs mittelgrosse, dann ohne Athemstillstand
sofort feine Luftbläschen in reichlicher Menge auf. Nach 2 Minuten aus dem
Wasser genommen, macht das Thier eine tiefe Inspiration und wird bis zu fünf
Minuten unter dem Wasser gehalten, wobei eine Menge mittlerer und feiner Luft¬
bläschen aufsteigen. Der Tod tritt in etwa 3 Minuten ein.
Section 8 Stunden p. m. Die Lungen sind 8 g schwer, im linken unteren
Lappen auf der Oberfläche blutig sufTundirt. In der Trachea wenig, in den Bron¬
chien und dem Lungengewebe eine Menge röthlichen und weisslichen Schaumes,
aus den Schnittflächen der Lungen entleert sich eine Menge dunkelen Blutes, im
Herzen locker geronnenes dunkles Blut, Nieren blutreich. Im Magen nicht auf¬
fallend viel Ertränkungsflüssigkeit, obgleich das Thier, um den Magen weniger
voll zu machen, 12 Stunden keine feste Nahrung erhalten hatte.
No. 8. Junges 468 g schweres Kaninchen zeigt nach Injection von 0,5 g
Urethan eine leichte Narrose und wird in Wasser von Blutwärino getaucht. Es
treten nach sehr kurzer Athempause anfangs ziemlich viel, später spärliche
grössere Luftblasen empor, nach 1 L > Minute kurzer Athemstillstand, später eine
Menge weisslicher Schaum, Tod in 3 Minuten.
Section 9 Stunden p. m.: Lungen, 13,6 g schwer, sind auf der Oberfläche
ziemlich ausgedehnt blutig suffundirt. In den Bronchien und dein Gewebe reich¬
lich röthlicher Schaum. Nieren sehr blutreich, Herz mit dunklem locker geron¬
nenem Blute gefüllt. Unterleibsorgane blutreich, im Magen, trotzdem das Thier
12 Stunden gefastet, keine Ertränkungsflüssigkeit, Harnblase ebenso wie bei No. 7
auffallend stark gefüllt.
No. 9. Junges kräftiges 508 g schweres Kaninchen ohne Narcose in blut¬
warmes Wasser eingetaucht; Anfangs starke Abwehrbewegungen mit grösseren
Blasen, die aus den Athemöffnungen aufsteigen, dann Athemstillstand mit hefti¬
gen, z. Th. krampfhaften Abwehrbewegungen. 1 Minute nach dem Eintauchen
Aufsteigen feinblasigen Schaumes ohne Bewegung, danach kräftige schnappende
terminale Athembewegungen. Jod in 3 Minuten, Entfernung aus dem Wasser in
5Minuten. Lungen bei der 9Stunden p. m. ausgeführten Section in allen Theilen
stark blutig suffundirt, wiegen 10,5 g. In den Bronchien und im Lungengewebc
sehr reichlich, in der Trachea wenig röthlicher Schaum. Nieren blutreich, im
Magen keine Flüssigkeit. Herz stark gefüllt mit locker geronnenem dunklem Blut.
No. 10. Junges kräftiges 520 g schweres Kaninchen mit Aether soweit nar-
cotisirt, dass die Bewegungen alle ausbleiben, das Thier mit geschlossenen Augen
aber etwas beschleunigt, im Uebrigen regelmässig respirirt, wird in blutwarmes
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Tod durch Aspirationserstickimg im bewusstloson Zustande.
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Wasser getaucht. Es tritt unmittelbar fast V 2 Minute lang Athempause, dann Auf¬
steigen grossblasigen Schaumes unter schwachen Athembewegungen, nach V 2 Mi¬
nute schwache Abwehrbewegungen mit Austritt weissen Schaumes. Tod in 2 Mi¬
nuten. Entfernung aus dem Wasser in 4 Minuten.
Section 9 Stunden p. m. Lungen 9,6 g schwer, auf der Oberfläche theil-
weise blutig suffundirt, daneben inselförmige subpleurale Sugillationen. In den
Bronchien und dem Lungengewebe eine Menge theils röthlichen, theils weisslichen
Schaumes, im Magen keine ErtränkungsfHissigkeit, Nieren sowie alle Unterleibs¬
organe sehr blutreich.
No. 11. Junges kräftiges Kaninchen, 472 g schwer, in leichter Aethernar-
cose in kühles (15° R.) Wasser getaucht. Eine Minute lang Aufsteigen grösserer
Blasen unter massig starken Abwehrbewegungen, dann nach einer Minute dys¬
pnoetische Athembewegungen mit Aufsteigen von anfangs weisslichem, später
blutigem Schaum aus der Naso. Tod in 3 Minuten. Entfernung aus dem Wasser
in 4 Minuten. Section 9 Stunden p. m. Lungen 11,4 g schwer, sehr stark blutig
suffundirt in allen Theilen. In Bronchien und Lungen sehr viel röthlicher Schaum,
auch im Gewebe mehrere kleine Blutaustritte. Herz stark mit locker geronnenem
Blute gefüllt, Nieren sehr blutreich, ebenso die übrigen Unterleibsorgane, im
Magen keine Ertränkungsflüssigkeit.
No. 12. Junges kräftiges 510 g schweres Kaninchen wird ohne jede Narco-
tisirung in kühles Wasser getaucht. Sehr geringe Athempause, dann V 2 Minute
lang kräftige Abwehrbewegungen mit Aufsteigen von grösseren Blasen, dann
Athemstillstand V2 Minute lang, dann Aufsteigen weisslichen Schaumes V2 Minute
lang. Tod in 3 Minuten. Aus dem Wasser gehoben wird das Thier in 4 Minuten.
Section 9 Stunden p. m. Lungen 9,1 g schwer, auf der Oberfläche stark
blutig suffundirt, in den Bronchien und der Lungensubstanz eine Menge röth¬
lichen Schaumes. Herz mit locker geronnenem Blute stark gefüllt, Nieren und
übrige Unterleibsorgane stark blutreich, im Magen keine Ertränkungsflüssigkeit.
III. Serie.
Versuche mit dicklicher, kleine Fremdkörper enthaltender Ertränkungs-
(lüssigkeit von Blutwärme (Kleienmischung, gehörig durchgerührt).
No. 13. Ausgewachsenes Kaninchen, 1410 g schwer, wird in eine blutwarme
Kleienmischung getaucht, ohne vorher narcotisirt zu sein. Eine 1 / 2 Minute lange
Athempause geht in heftige Dyspnoe mit Abwehrbewegungen und Aufsteigen
grösserer Luftblasen aus der Nase bis zum Ende der 2. Minute über. V 2 Minute
später Aufsteigen feinblasigen Schaumes und dann schnappende terminale Athem¬
bewegungen. Am Ende der 3. Minute hören alle Athembewegungen und Herz-
aotion auf. Das Thier wird am Ende der 5. Minute aus dem schleimigen Medium
entnommen.
Section 9 Stunden p. ra. Die Lungen in der oben angegebenen Weise vor¬
bereitet ergeben ein Gewicht von 25,2 g, sind auf der Oberfläche stark blutig an
allen Theilen suffundirt, auch im Gewebe deutliche Blutaustretungen. ln Trachea,
Bronchien und Lungensubstanz ziemlich viel trübe, schleimige, z. Th. röthlich
gefärbte Flüssigkeit, gröbere Partikelchen von Kleie lassen sich nirgend nach-
weisen. Die röthlichen Partien des Schaums sind besonders in der Lungensub-
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292
Dr. Seydo],
stanz nachweisbar. Im Magen anscheinend etwas Ertränkungsflüssigkeit, die sich
aber von dem Futterbrei schwer unterscheiden lässt. Herz mit locker geronnenem
Blute stark in allen Theilen gefüllt. Nieren und übrigen Unterleibsorgane sehr
blutreich.
No. 14. Ausgewachsenes 1080g schweres Kaninchen wird in eine blutwarme
Kleiemischung eingetaucht, nachdem es vorher leicht durch Aether narcotisirt ist,
so dass die Bewegungen zwar ziemlich aufgehoben, das Thier aber mit offenen
Augen und rcglmassiger Respiration daliegt. Eine Athempause unmittelbar nach
dem Untertauchen wird nicht bemerkt, es tritt unter anscheinend etwas flachen
Respirationen IV 2 Minuten lang eine Menge mittelgrosser Luftblasen aus der Nase,
dann treten terminale Athembewegungen auf, das Aufsteigen feinen Schaumes
lässt sich bei der Trübheit und der schaumigen Oberfläche derErtränkungsflüssig-
keit nicht erkennen. Nach 3 Minuten vollständiger Athem- und Herzstillstand.
Entnahme des Thieres aus der Flüssigkeit nach 5 Minuten.
Section 9 Stunden p. m. Die Lungen wiegen 18,5 g, sind auf der Ober¬
fläche nur an einzelnen Stellen, auf Durchschnitten gar nicht blutig suffundirt.
Sie enthalten in Trachea und Bronchien nur wenig schleimige Flüssigkeit, grö¬
bere Partikelchen der Kleie nicht zu finden. Auf den Durchschnitten entleeren
die Lungen ziemlich viel weissliche und röthliche schaumige Flüssigkeit. Im
Verdauungscanal keine Ertränkungsfliissigkeit, seine Venen stark blutgefüllt,
ebenso die Nieren. Das Herz enthält reichlich dunkeles locker geronnenes Blut.
No. 15. Starkes ausgewachsenes Kaninchen, 1960 g schwer, wird ziemlich
tief mit Aether narcotisirt , so dass es mit etwas beschleunigter, aber regelmässiger
Respiration und geschlossenen Augen, ohne Abwehrbewegungen zu machen, da¬
liegt. Es wird in fast blutwarmes Kleiegemisch eingetaucht. Unter sehr geringen
Abwehrbewegungen sieht man fast 3 Minuten lang bei relativ flacher Respiration
mittlere Luftblasen aufsteigen. Nach 3 Minuten keine Athembewegungen mehr,
das Thier wird 5,40 Minuten nach dem Eintauchen aus der Flüssigkeit ent¬
nommen.
Section 9Stunden p. m. Nach Abtragung des Herzens und der dunkelrothen
Thymus in der oben angegebenen Weise wiegen die Lungen 36g, erscheinen hell-
rosaroth, sehr gebläht, derb, an einzelnen Stellen auf der Oberfläche suffundirt.
In der Trachea und den Bronchien eine wenig trübe, schleimige Flüssigkeit, die
sich in den Bronchiolen und im Lungengewebe massenweise nachweisen lässt, so
dass letzteres vollständig starr und brüchig erscheint. Das Herz stark mit dun-
kelem locker geronnenem Blute gefüllt. Nieren sehr blutreich. Im Magen keine
Ertränkungsflüssigkeit.
No. 16. Ausgewachsenes Kaninchen, 1290 g schwer, wird ohne Narcose in
kühles 13° R. warmes Wasser getaucht. Eine Athempause nicht deutlich zu er¬
kennen, es treten sofort Abwehrbewegungen mit Aufsteigen inittelgrosser Luft¬
blasen ein etwa 1 Minute lang, danach treten feinblasige Schaummassen unter
schwachen Abwehrbewegungen ein, die etwa bis 2 Minuten nach dem Eintauchen
dauern: terminale Athembewegungen sind nicht deutlich ausgesprochen. 2 V 2 Mi¬
nute nach dem Eintauchen vollständiger Athemstillstand, der in den Tod über¬
geht. Das Thier wird 6 Minuten nach dem Eintauchen der Flüssigkeit ent¬
nommen.
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Tod durch Aspirationserstiekung im bewusstlosen Zustande. 293
Section OStunden p. in. Aus den Nasenlöchern entleert sich, wie dies auch
bei anderen, besonders den Thieren beobachtet wurde, deren Lungen starke blu¬
tige Suffusionen zeigten, röthliche Flüssigkeit, trotzdem der Kopf möglichst hoch
gelagert war. Die Lungen wogen 18,8 g, auf der Oberfläche stark blutig suffun-
dirt. Entleeren auf Durchschnitten eine Menge röthlichen Schaumes, derselbe
findet sich auch in der Trachea und den Bronchien aller Ordnung reichlich. Das
Herz stark mit locker geronnenem Blute gefüllt. Nieren sowie übrige Unterleibs¬
organe sehr blutreich. Im Magen ziemlich dicker Speisebrei, anscheinend ohne
Beimengung von Ertränkungsflüssigkeit.
No. 17. Ausgewachsenes 1480 g schweres Kaninchen wird nach einer sub-
cutanen Injection von etwa 1 g Urethan (2 Fravazspritzen ä g mit oOprocentiger
Lösung) in blutwarmes Wasser getaucht. Nach kurzer Atbeinpausc verläuft der
Ertrinkungstod unter den gewöhnlichen bisher beobachteten Erscheinungen, so
dass nach 2 V 2 Minuten nach reichlichem Aufsteigen von feinblasigem Schaum und
einigen krampfhaft schnappenden terminalen Athembewegungen der Tod einge¬
treten ist. Fünf Minuten nach dem Eintauchen wird das Thier aus der Flüssig¬
keit entfernt, die Section 9 Stunden p. in. vorgenommen: Die Lungen wiegen
24 g, die übrigen Erscheinungen stimmen mit den in den übrigen Fällen im
Ganzen überein, Lunge an der Oberfläche massig suffundirt, in Trachea wenig,
in den Bronchien und im Lungengewebe eine Menge tlieils röthlichen, theils weiss-
lichen Schaumes.
Ueberblicken wir nun das Gesammtergebniss der Versuche, so
lässt sich nicht verkennen, dass die Lungen der in mehr oder weni¬
ger ausgesprochener Narcosc ertränkten Thiere mehr von der Er¬
tränkungsflüssigkeit aufgenommen haben, als die nicht narcotisirten.
Das Verhältnis des Lungen ge wichtes zu dem Körpergewichte stellt
sich bei den narcotisirten Thieren auf 1 : 56,5, bei den nicht, narcoti¬
sirten auf 1 : 58,2. Dieser Unterschied zeigt sich in einzelnen präg¬
nanten Fällen noch viel deutlicher ausgesprochen, so stellt sich bei
dem tief narcotisirten Thiere No. 15 das Verhältniss auf 1 : 54, wäh¬
rend es bei No. 4, dem in kühlem Wasser ohne Narcose ertränkten
jungen Kaninchen, auf 1 : 70 sich berechnen lässt. Die Aufnahme
von Ertränkungsflüssigkeit ist also, ein gleiches Gewichtsverhältniss
zwischen Lungen und Körper bei den verschiedenen Thieren ange¬
nommen, eine sehr differente. Der Unterschied bei nicht narcoti¬
sirten Thieren, je nachdem sie in kühler oder blutwarmer Flüssig¬
keit ertränkt wurden, ist ebenfalls ein sehr deutlicher, wie dies
No. 13 mit einem Verhältniss von 1 : 56 und No. 16 mit 1 :68
zeigen.
Ueber die Ursachen dieser Erscheinungen werden genauere Stu¬
dien wohl noch vorzunehmen sein; die Thatsachen, dass diese Er-
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294
I)r. S e y de],
schein»n^en sich beim Kaninchen deutlich wiederholen, können an
der Hand der oben angeführten Protocolle w r ohl kaum bezweifelt
werden.
Wenn auch vorläufig nur durch Vermuthungen, die durch die
Erfahrung wohl genügend gestützt erscheinen, dürfte man die That-
sache, dass bei narcotisirten Warmblütern im Ertrinkungstode eine
grössere Menge von Flüssigkeit durch die Aspiration in die Lungen
gelangt, folgender Weise erklären: Der Verschluss der Stimmritze, der
namentlich bei kühler Ertränkungsfltissigkeit reflectorisch im Augen¬
blicke des Eintauchens w r ohl stets ein tritt und sich in der an den
Thiereil bemerkbaren initialen Athempause deutlich erkennen lässt,
fällt weg, sobald die reflectorische Nervenrcizung durch das Narco-
ticum aufgehoben oder wenigstens abgestumpft ist. Am deutlichsten
liess sich dies bei No. 15, dem tief durch Aether narcotisirten Thierc,
erkennen, dessen Lungen bei der Section durch ihr verhältnissmässi-
ges Gewicht und die übrigen Befunde eine beträchtliche Aufnahme
von Ertränkungstlüssigkeit erkennen liessen und ein Verhältniss zum
Körpergewicht wie 1 : 54 darboten. Weniger deutlich ausgesprochen
war das Ausbleiben der initialen Athempause bei den schwach nar¬
cotisirten Thieren, bei denen aber sehr häufig ein Athemstillstand vor
der durch Schaumaufsteigen charakt erisirten Dypnoe eintrat. Dieser
Athemstillstand wurde bei der Ertränkung in kühlem Wasser am
längsten und häufigsten beobachtet, während er beim Ertrinken in
blutwarmer Flüssigkeit weniger deutlich ausgesprochen war.
Naeh den Ergebnissen der vorliegenden Versuchsreihe wird man
zunächst die von Falk aufgestellte Behauptung, dass bei jugendlichen,
sehr schwachen oder erschöpften Individuen die erste Athempause
direct in den Tod übergehen kann, in gewissem Sinne durch No. 4
bestätigt finden. Eigentümlich Ist bei Kaninchen in unserer Ver¬
suchsreihe die Erscheinung der blutigen Suffusion in den Lungen, die
man in dieser Ausdehnung bei ertrunkenen Menschen wohl nie findet.
Hierdurch wird das Gewicht der Lungen wohl etw'as erhöht. In ein¬
zelnen Fällen war diese Veränderung mehr ausgesprochen, in anderen
weniger, doch blieb sie sich im Grossen und Ganzen in der Mehrzahl
der Fälle gleich. Eigentümlich war ferner die Erscheinung, dass
von den festeren Partikeln der mit Kleie gemischten Ertränkungs-
flüssigkeit keine Spur in den tieferen Luftwegen der Thierc zu finden
war, selbst bei dem tief narcotisirten Thiere No. 15 nicht. Diese
wird wohl durch die Enge der Glottis bei Kaninchen zu erklären sein.
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Tod durch Aspirationserstiekung im bewusstlosen Zustande.
295
Sie fehlt bekanntlich bei in Abortjauchc ertrunkenen Menschen, na¬
mentlich bei Neugeborenen, nie.
Der Vergleich von den beiden ohne Narcose ertränkten Gruppen,
je nachdem dies in blutwarmem oder in kühlem Wasser geschehen
war, lässt ebenfalls einen recht deutlichen Unterschied in Bezug auf
das durch die aspirirte Flüssigkeitsmenge bedingte Lungengewicht er¬
kennen. Während die drei in kühlem Wasser ertränkten Thiere ein
Verhältniss des Lungengewichtes zum Körpergewicht wie 1 : 63 er¬
kennen Hessen, stellte sich dies bei den in blutwarmer Flüssigkeit
ertränkten Thieren 1 : 53, also eine bedeutende Zunahme des Lungen¬
gewichtes im letzteren Falle.
Es muss zwar zugegeben werden, dass die Versuchsreihen relativ
kleine sind und stets von der Voraussetzung ausgehen, dass bei den
verschiedenen Thieren ein constant.es Verhältniss zwischen Köper- und
Lungengewicht besteht. Diese Voraussetzung wird man aber, da es
sich durchweg um gesunde Thiere handelte, deren Lungen auch bei
der Section ausser den Läsionen durch den Ertränkungstod keine
krankhaften Veränderungen zeigten, als richtig festhalten dürfen, um
so mehr, als der Versuch von allerdings nur zwei Fällen in dieser
Hinsicht eine gewisse Constanz zeigte.
Bei zwei Kaninchen von nahezu 2000 g Körpergewicht wurde
durch Nackenschlag und in einem Falle durch Eröffnung der Carotis,
die auch im anderen Falle gemacht wurde, um gleiche Verhältnisse
zu haben ,Tod herbeigeführt. Im Falll wurde bei der Eröffnung der Carotis
die Trachea verletzt und von dem Thiere etwas Blut aspirirt, das
sich in inselförmigcn Flecken am unteren Rande der Lunge zeigte;
die Lungen wogen 11g, beim anderen Thiere, das kein Blut aspirirt
hatte, wogen die Lungen 9,25 g. Die Section fand l j. 2 Stunde post
mortem statt.
Um das durch die Futteraufnahme bei Herbivorcn mitunter
stark beeinflusste Körpergewicht möglichst gleich zu gestalten, wur¬
den die Kaninchen bis zu ihrem Tode in kräftiger Ernährung ge¬
halten.
Nach diesen Versuchen ist man meines Erachtens berechtigt an-
zunehraen, dass die durch Aspiration beim Ertrinkungstode in die
Lunge gelangten Flüssigkeitsmengen sich unter verschiedenen Verhält¬
nissen sehr different verhalten. Es scheint durch die Versuche fest-
gestellt, dass narcotisirte resp. durch andere Einflüsse in ihrer reflec-
torischen Nervenreizbarkeit herabgesetzte Thiere wegen unvollständigen
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296
Dr. Seytlel.
oder mangelnden Glottisverschlusses eine grössere Menge von Flüssig¬
keit beim Ertrinken in die Lungen aspiriren, als ohne Narcose oder
Betäubung ertrinkende. Ferner ist es zweifellos, dass den reflectori-
schen Glottisverschluss kühle Ertränkungsflüssigkeit viel deutlicher
und ausgiebiger bewirkt, als wanne Flüssigkeit. Es scheint sogar bei
warmer Ertränkungsflüssigkeit die aspirirte Menge ziemlich gleich bei
narcotisirten und nicht narcotisirten Thieren zu sein. Oh das Ein¬
dringen wanner Flüssigkeit in das Lungengewebe durch die Spalt¬
räume etc. günstigere Verhältnisse findet als kühle, müsste erst durch
mikroskopische Untersuchung noch festgestellt werden, scheint aber
nach dem makroskopischen Befunde höchst wahrscheinlich. Beim
Menschen finden wir diese Verhältnisse besonders ausgesprochen bei
Blutaspiration Bewusstloser, die auf dem Rücken liegen oder auf an¬
dere Weise flüssiges Blut in ihre Luftwege erhalten. Bei Neugebo¬
renen, deren Ertrinken im Fruchtwasser und anderen Geburtsflüssig¬
keiten oft enorme Mengen von aspirirten flüssigen und corpusculären
Massen im Lungengewebe erkennen lässt, existiren ähnliche Verhält¬
nisse, wie bei narcotisirten und in warmer Flüssigkeit ertränkten
Thieren. Daher werden wir bei denselben jedenfalls eine bedeutende
Vermehrung des Lungengewichtes durch aspirirte Flüssigkeit beson¬
ders gegenüber von den Lungen Neugeborener finden, die unmittelbar
nach der Geburt in kühlem Wasser ertränkt werden. Eine verglei¬
chende Wägung wird hierbei zwar grosse Schwierigkeit haben, doch
dürfte der Gesammteindruck, den solche Lungen in dem einen oder
anderen Falle hervorbringen, für den geübten Beobachter schon
hinlänglich verschieden sein, um den oben ausgesprochenen Satz
zu rechtfertigen. Natürlich müsste es sich in solchen Fällen
nur um Lungen handeln, die von jeder krankhaften Veränderung
frei sind.
Zum Schlüsse dürften sich die Ergebnisse meiner Untersuchungen
wohl dahin zusammenfassen lassen:
1. Es tritt bei narcotisirten oder auf andere Weise bewusst¬
los gewordenen Thieren eine grössere Menge von Er¬
tränkungsflüssigkeit durch Aspiration in die Lungen, als
bei mit vollständigem Bewusstsein und reflectorischer
Nerven-Erregbarkeit in die Ertränkungsflüssigkeit ge¬
brachten.
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Tod durch Aspirationscrstickmijr im heu lustlosen Zustande.
207
2. Es ist in Bezug auf die Menge der beim Ertrinken aspi-
rirten Flüssigkeit von Wichtigkeit, ob die betr. Flüssig¬
keit Blutwärme hat oder kühl ist.
3. Wahrscheinlich durch reflectorischen Glottis - Verschluss
dringt von kühler Flüssigkeit durch Aspiration bedeutend
weniger Flüssigkeit in die Lungen resp. Lungengew r ebe,
als von blutwarmer.
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5.
Mord oder Todtschlag?
Aus der gerichtsärztlichen Praxis
von
Dr. Wahnes«, Pbvsikus in Hamburg.
Am 10. October 1893 wurde hier in der S.-Str. in einer leerstehenden Par¬
terrewohnung, die wegen eines einige Tage vorher im Nebenhause erfolgten Ein¬
bruchsdiebstahls vom Eigenthümer revidirt wurde, im Closet die gänzlich ent¬
kleidete Leiche eines 5jährigen Mädchens aufgefunden. Der Kopf stand nach
unten im Closettrichter, die Oberarme waren an den in die Closetöffnung einge¬
pressten und zusammengedrückten Oberkörper angeklemmt, das Gesäss war nach
vorn gekehrt, die Beine standen in schräger Richtung gegen die Rückwand des
Gemaches. Die Leiche wurde alsbald als diejenige der seit 2 Tagen vermissten
Elsa T. recognoscirt.
Bei der polizeiärztlichen Besichtigung wurden Fingereindrücke und Ab¬
schürfungen am Halse sowie Blutspuren an den Geschlechtstheilen constatirt,
worauf angenommen wurde, dass ein Unzuchtsverbrechen an dem Kinde begangen
und dasselbe erwürgt sei. Der Verdacht der Thäterschaft richtete sich sogleich
auf einen gewissen B., einen 17jährigen Burschen, der einige Male in der Nähe
der Wohnung herumlungernd gesehen war. Derselbe wurde am nächsten Tage
bereits verhaftet und legte gleich bei seiner ersten Vernehmung ein Geständniss
ab des Inhalts, dass er am Sonntag Abend die kleine T., welche er bis dahin
nicht gekannt hätte, auf der Strasse an sich gelockt habe, um sie mitzunehmen
und zu tödten, da er Lust am Morden verspürt habe. Später wiederrief er das
Geständniss, wie wir sehen werden.
Bei der am 12. October vorgenommenen Obduciion wurde im Wesentlichen
Folgendes gefunden:
Die Leiche ist kräftig und regelmässig gebaut, von guter Musculatur und
mittlerem Fettpolster. Die Hautfarbe ist hellbläulichroth, am Unterleibe grünlich.
An den Unterkiefermuskeln ist Todtenstarre vorhanden. Das Gesicht ist mit Staub
und*bräunlichem Schmutz besudelt. Die Augenlider sind geschlossen, die Horn¬
häute trübe, die Pupillen gleich, über mittelweit, die Bindehäute bläulichroth.
Die Nasenlöcher mit grünlichem Schleim gefüllt, welcher sich auch in der Um-
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Mord oder Todtsclilag?
2J>!)
gcbung von Nase und Mund befindet, letzterer steht offen. Die Lippen und die
zwischen den Zahnreihen liegende Zunge sind bläulichroth. Der linke Mund¬
winkel ist mit schmierigem bräunlichen, mit Resten von Strohhalmen gemischten
Schmutz ausgefüllt. Ohröffnungen leer. Zu beiden Seiten des Halses finden sich,
2 cm unterhalb des Kieferwinkels beginnend, über dem Kopfnicker zahlreiche
bräunliche, bis linsengrosse, theilweise deutlich halbmondförmige Hautabschür¬
fungen; sie schneiden sich etwas hartlich und lassen dabei ausgedehnte, bis zu
Thalergrösse zusammenfliessende Blutunterlaufungen des Unterhautgewebes er¬
kennen; eine ebensolche Hautabschürfung, mit blutunterlaufenem Grunde befindet
sich in der Mittellinie des Halses unmittelbar unterhalb des Kehlkopfes. Der Leib
ist etwas aufgetrieben, auf ihm ist eine 1 cm rechts von der Spitze des Schwert¬
fortsatzes des Brustbeins beginnende 19 cm lange, gerade nach unten laufende,
kaum 1 mm breite bräunliche oberflächliche Hautschramme sichtbar, deren Grund
sich beim Einschneiden nicht als blutunterlaufen erweist. Zwei ähnliche eben¬
falls nicht blutunterlaufene Hautschrammen in der rechten Schenkelbeuge und am
rechten Oberschenkel, deren Maasse hier nicht von Bedeutung. Auf dem Scham¬
hügel am Beginn der Schamspalte eine geringe Menge angetrockneten Blutes.
Kitzler und kleine Schamlippen dunkelbläulich; zwischen Kitzler und Harnröhren¬
mündung ist die Schleimhaut blutunterlaufen, ebenso die Basis des Jungfernhäut¬
chens. Letzteres ist von der hinteren Scheiden wand in einer Länge von fast 3 mm
abgerissen. Scharalippenbändchen eingerissen und blutunterlaufen. Oberhalb der¬
selben mehrere punktförmige Blutergüsse in der Schleimhaut. Im ganzen Umfang
der klaffenden Afteröffnung zeigt die Schleimhaut ungefähr 1 cm nach innen sich
erstreckende unregelmässig geformte, wie ausgenagt aussehende Substanzverluste,
deren Grund und Umgebung, wie überhaupt der ganze After, keinerlei Blutaus-
tretungen erkennen lassen.
Aus der inneren Besichtigung ist Folgendes anzuführen:
Die Kopfschwarte zeigt über beiden Stirnbeinhöckern sowie über dem Hinter¬
hauptshöcker je eine 10-Pfennigstück grosse Blutunterlaufung, über dem Hinter¬
haupt ausserdem noch mehrere solche von Erbsengrösse. Schädeldach dick und
fest. Harte Hirnhaut bläulich glänzend, straff, ihre Gefässe mit dunklem Blut ge¬
füllt. Im grossen Längsblutleiter dunkles flüssiges Blut. Beim Herausnehmen des
Gehirns entleeren sich aus den Blutleitern der Schädelgrundfläche ungefähr zwei
Esslöffel voll flüssigen Blutes. Weiche Hirnhaut zart und durchsichtig, ihre Ge¬
fässe bis in die feinsten Verzweigungen strotzend mit Blut gefüllt. Hirnrinde und
grosse Ganglien rosaroth. Auf den Schnittflächen der weichen feuchtglänzenden
Hirnsubstanz zahlloseBlutpünktchen. Gefässvorhänge und Seitengeflechte strotzend
mit Blut gefüllt.
Im Unterhautgewebe des Halses, zu beiden Seiten des Kopfnickers und in
seiner Scheide beiderseits, ausgedehnte Blutergüsse, den oben beschriebenen Haut¬
abschürfungen entsprechend. Lungen ausgedehnt vorliegend, bläulichroth. Auf
ihrer Oberfläche, sowie auf dem Ueberzug der inneren Brustdrüse und dem des
Herzens vereinzelte bis hirsekorngrosse Blutungen. Im Herzbeutel ein Esslöffel
voll klarer röthlicher Flüssigkeit. In der linken Herzkammer ca. 3 ccm dunklen
flüssigen Blutes, das übrige Herz leer. Klappenapparat und innere Haut des Her¬
zens unversehrt. Das Herzfleisch bereits bräunlich durchtränkt durch Fäulniss.
Viert«ljalixsBchr. f. ger. Med. Dritte Folge. IX. Ü. 20
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300
Dr. Wahn rau,
Schilddrüse bläulirhroth, prall-elastisch. Im Gewebe neben dem Schildknorpel
rechts ein bohnengrosser Bluterguss. Schleimhaut des Mundes und des Rachens
dunkelgrünlichroth. Kehlkopfschleimhaut dunkelbräunliehroth. Kehldeckel blut¬
unterlaufen im Zusammenhänge mit dem neben dem Schildknorpel befindlichen
Bluterguss. Schleimhaut der Luftröhre rosaroth, lässt ein feines prall gefülltes
Gefässnetz deutlich erkennen. Lungen gross, schwer, bläulichroth, Oberfläche
theilweise bucklig, an letzteren Stellen Anhäufungen feinster Luftbläschen unter
der Pleura. Auf die dunkelrothen Schnittflächen treten bei Druck auf das überall
lufthaltige Gewebe reichlich Schaum und grosse dunkle Blutstropfen. Die Drossel¬
venen enthalten dunkles flüssiges Blut. Halsschlagadern unverletzt.
Im Magen dünner brauner Speisebrei mit Resten von Brod und Korinthen.
Milz, Nieren und Leber zeigen bei normaler Structur einen grossen Blutreichthum,
indem bei Druck grosse Tropfen dunklen, flüssigen Blutes auf die Schnittflächen
treten und zusammenfliessen. Am Mastdarm ausser den oben erwähnten am After
keine weiteren Verletzungen. Nachdem die Scheide aufgeschnitten, wird noch am
Hymen oberhalb der Harnröhrenmündung ein 3 mm langer, der Basis parallel
laufender Riss bemerkt, dessen Grund zwar geröthet ist, eine deutliche Blutunter¬
laufung beim Einschneiden jedoch nicht erkennen lässt. Bei der mikroskopischen
Untersuchung des Scheidenschleims werden Samenfaden nicht gefunden.
Das summarische Gutachten wurde von uns dahin abgegeben, dass der Tod
des Kindes durch Ersticken in Folge Würgens am Halse verursacht wurde und
dass die Verletzungen der Geschlechtstheile zum Theil sicher während des Lebens,
die Verletzungen am After nach dem Tode entstanden seien.
Unterdessen hatte der Thäter B. sein erstes Geständniss widerrufen und bei
einer späteren polizeilichen Vernehmung zugegeben, dass er das Kind zunächst
mitgenommen habe, um es geschlechtlich zu brauchen und dass er es dann, weil
es geschrieen, am Halse gewürgt und später, um nicht von ihm verrathen zu
werden, das noch lebende Kind durch Einstopfen in das Closet getödtet habe.
Da dem Herrn Untersuchungsrichter Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit des B.
aufgestiegen waren, so wurde ich beauftragt, den B. auf seinen Geisteszustand zu
untersuchen. Ich habe dabei über sein Vorleben, seine Entwicklung und den Ver¬
lauf des Verbrechens aus seinen Angaben und denen seiner Angehörigen, sowie
aus den in den Acten enthaltenen Daten, Aussagen und Geständnissen Folgendes
entnehmen können.
B. wurde am 27. Februar 1876 als »Sohn eines Tischlers und als drittes von
zehn noch lebenden Geschwistern nach Angabe der Mutter leicht und ohne Kunst¬
hilfe geboren. Seine Eltern und Grosseltern sind stets gesund gewesen und leben
sämmtlich noch ausser dem Grossvater mütterlicherseits, der an Schwindsucht
gestorben ist. Geisteskrankheiten, Krämpfe und Nervenleiden sind in der Familie
nie vorgekommen, auch soll dieselbe, wie die Mutter bestimmt behauptet, nie mit
der Polizei und dem Gesetz in Conflict gerathen sein. Die Geschwister des B.
sind alle gesund und geistig normal. Er selbst entwickelte sich regelmässig bis
auf die Sprache, deren Anfänge er erst mit drei Jahren lernte. Er litt als Kind
an Augenentzündung und einmal an einer fieberhaften mit Leibschmerzen ver¬
bundenen Krankheit, die ohne ärztliche Hilfe heilte. Er besuchte die Volksschule,
aus deren zweiter Klasse er im Alter von 14 Jahren entlassen wurde. Der Hanpt-
lehrer bekundete später im Termin, dass B. durch sein Betragen weder im guten
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Mord oder Todtschlag?
301
noch im schlechten Sinne aufgefallen, aber oft träge und in seinen Leistungen
schwach gewesen sei. Sein letztes Schulzeugniss für die Zeit vom 1. Januar bis
31. März 1890 bezeichnet sein Betragen als „sehr gut“, seine Fortschritte als
„kaum genügend“. Aehnlich lauten die Zeugnisse aus der vorhergehenden Zeit.
Wie die Mutter erzählt, war er als Kind verschlossen und einsilbig, spielte aber
mit anderen Kindern und hatte auch eine Sammlung von Etiquetten; er war fried¬
lich und verträglich, nicht zank- und streitsüchtig, soll niemals ein Thier gequält
haben, nur wenn er gereizt und geneckt wurde, soll er heftig geworden sein und
seine Peiniger geschlagen haben. Der Geistliche, welcher ihn confirmirte, hält
ihn für etwas träge und beschränkt, kann aber über seine sittliche Führung nicht
klagen. Eine Frau, welcher er in seinen letzten Schuyahren Zeitungen austragen
half, nennt ihn willig, ehrlich und etwas beschränkt. Da er ein Handwerk er¬
lernen wollte, kam er nach seiner Conürmation zu einem Tapezier in die Lehre,
verliess diese Stelle aber schon nach 8 Tagen, da sie ihm nicht gefiel und wurde
Laufbursche. Als solcher hat er seine Stellen häufig gewechselt. Die Dienst¬
herren sind säinmtlich über seine damalige Führung vernommen worden und
halten ihn übereinstimmend für „etwas dumm und beschränkt“, einzelne auch für
„vergesslich und tölpelhaft“. Bei einem derselben entfernte er sich nach Unter¬
schlagung von 13 Mark, die er von Kunden einkassirt hatte, und trieb sich einige
Tage in der Nähe seiner elterlichen Wohnung umher. Das Geld wurde von den
Eltern ersetzt und B. nicht weiter bestraft.
Seit August 1893 war er bei einem Bäcker Brotausträger. Er hat hier ein
körperlich recht anstrengendes Leben geführt und war den ganzen Tag mit ge¬
ringen Pausen mit Brotaustragen beschäftigt. Abends musste er das Feuer im
Backofen anlegen und dann noch Geschäftsgänge machen. Nach seiner Rückkehr
hat er regelmässig bis tief in die Nacht hinein Geschichten und Romane gelesen,
die er sich theils selbst verschaffte, theils von den Bäckergesellen lieh. Bei den
Acten finden sich von diesen literarischen Machwerken „Das Brillantkreuz der
Gräfin Markoff“, ein Criminalroman, welcher von einem Doppelmord und dessen
Entdeckung handelt, „Ein Kampf um’s Recht“ oder „Wie ein geistig Gesunder
für einen Irrsinnigen erklärt wurde“, der „Geist des Verstorbenen“ und der
„schwarze Ritter“ mit der Abbildung eines Erschlagenen auf dem Titelblatte,
„Die Mörderschlucht“, eine wahrhaft entsetzenerregende Indianergeschichte. Die
Bücher sind ihm mehrfach weggenommen, weil er am Tage müde und schlaff
war, schliesslich wurde ihm wegen seines anhaltenden Lesens die Entlassung an¬
gedroht. Bei dem Bäcker befanden sich auch zwei Dienstmädchen, mit welchen
die Bäckergesellen nach Angabe des B. häufig in unzüchtiger handgreiflicher
Weise gescherzt haben sollen, was dieselben in der Ilauptverhandlung theilweise
Zugaben. Er selbst will dies, obwohl er Lust dazu verspürt, doch unterlassen
haben, weil er annahm, dass die Mädchen von ihm sich doch nichts würden ge¬
fallen lassen, da er ihnen zu jung gewesen sei.
Durch den Anblick des unzüchtigen Treibens der Gesellen sei er geschlecht¬
lich sehr erregt. Früher habe er überhaupt noch nie mit Mädchen zu thun ge¬
habt, wennschon er beim Passiren der Gänge, in denen die lüderlichen Dirnen
sich an Fenstern und Thüren gezeigt, Trieb dazu empfunden habe; es habe ihm
an Geld gefehlt, sich diesen geschlechtlichen Genuss zu verschaffen.
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Dr. Wall n rau.
Am frühen Morgen des 6. October hat er sich wie gewöhnlich auf den Weg
gemacht, um die Kunden zu besorgen, aber um 5 Uhr seine Karre mit dem Brod
auf der Strasse stehen lassen, weil er sich über die schlechte Behandlung bei dem
Bäcker, wo er weder einen freien Sonntag noch genügend Schlaf habe, geärgert
haben will. Schon um 7 Uhr hat es ihm nach seiner Angabe leid gethan, diese
Pflichtwidrigkeit begangen zu haben, er kehrte zu dem Platz, wo er die Karre ge¬
lassen hatte, zurück, fand die Karre aber nicht mehr vor und gab nun aus Angst
vor den Folgen seine Absicht, in die Bäckerei zurückzukehren, auf. Strafe fürch¬
tend, ging er auch nicht zu seinen Eltern, sondern trieb sich umher. Die Nacht
vom 6. auf den 7. und vom 7. auf den 8. October brachte er in einer leerstehen¬
den Keller- und Parterrewohnung in der S.-Strasse zu und zwar die erste Nacht
auf der Kellertreppe, die folgenden in der Parterrewohnung, wo er sich aus Stroh
und Sackleinen ein Lager herrichtete. Von diesem Schlupfwinkel aus entwendete
er aus dem benachbarten Keller eines Colonialwaarenhändlers drei Flaschen Bier
und ein Glas mit eingemachten Kirschen. Hiermit und mit einigen ihm täglich
von seinem Nachfolger in seiner Stellung, den er auf der Strasse traf, zugesteck¬
ten Rundstücken (Weissbrödchen) fristete er sein Leben.
Am Abend des 8. October trieb er sich zwecklos auf der Strasse umher; er
will an diesem Abend viel an seine aufregende Romanlectüre und an die unzüch¬
tigen Spässe der Bäckergesellen gedacht haben und dabei überfiel ihn, wie er
angiebt, der Drang narh geschlechtlichem Verkehr mit einem Mädchen. An Er¬
wachsene wagte er sich nicht heran, er lockte daher, um seinen Zweck zu errei¬
chen, die bei einem Orgeldreher auf der Strasse stehende fünfjährige Else T. an
sich und veranlasst^ sie durch das Versprechen, ihr Bonbons zu geben, ihn in
sein Versteck in der S.-Strasse zu begleiten, wo er sich mit dem Kinde in die in
der Parterrewohnung belegene Küche begab. Dort verlangte das ängstlich ge¬
wordene Kind nach Bonbons Und fing an zu weinen. Um dasselbe zu beruhigen,
damit nicht durch das Geschrei Leute herbeigelockt würden, nahm er es, während
er sich auf einen schon früher von dem Corridor in die Küche geholten Stuhl
setzte, auf den Schooss, legte den linken Arm um das Kind und drückte ihm mit
der rechten Hand die Kehle so lange zu, bis es aufhörte, Hände und Arme zu
bewegen und genz ruhig wurde. Dann legte er es auf das Stroh, um seine ge¬
schlechtliche Lust an ihm zu befriedigen, schlug die Kleider zurück, entblösste
sein erigirtes Glied und brachte dasselbe an die Geschlechtsteile des Kindes,
nachdem er sich auf dieses gelegt. Sein Versuch mit seinem Gliede in die Scheide
des Mädchens zu dringen, sei nicht gelungen, er sei, ohne Samenerguss gehabt
zu haben, bald wieder aufgestanden und habe das Kind auf dem Stroh liegen
lassen. Es habe noch geathmet, sich aber nicht bewegt. „Sie war noch ganz
warm, ihre Brust bewegte sich auf und nieder/ 4 Nunmehr habe er beschlossen,
damit seine unzüchtige Handlung nicht verrathen würde, das Kind zu tödten. Er
habe es entkleidet und in das Closet getragen, dessen Einrichtung ihm von einem
früheren Besuche her bekannt gewesen, dort mit dem Kopfe voran in den Trichter
gesteckt und das Wasser laufen lassen. Es sei dann im Closet, seiner Meinung
nach, gleich todt gewesen und habe nicht mehr geathmet, nachdem er das Wasser
habe laufen lassen. Er habe noch versucht, den Abort zu schlossen, was aber
nicht gelang, da der Schlüssel sich nicht im Schloss herumdrehte, und darauf das
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Mord oder Todtschlag? 303
Haus verlassen. Die Entkleidung habe er vorgenommen, um die Wiedererkennung
zu erschweren.
Die Nacht über und am folgenden Morgen trieb er sich umher, half auch
seinem Nachfolger, den er auf der Strasse traf, beim Brodaustragen, wofür der¬
selbe ihm, wie oben erwähnt, einige Rundstücke zusteckte, welche seine einzige
Nahrung bildeten. Am Nachmittag begab er sich wieder in seinen Schlupfwinkel,
überzeugte sich, dass die Leiche noch an demselben Platze war und verbrannte nun¬
mehr die Kleider auf dem Küchenherde. Dann bummelte er bis zu seiner Ver¬
haftung umher und nächtigte auf verschiedenen Hausfluren. Kurz vor der Ver¬
haftung hatte er sich mit einem Unbekannten verabredet, in der Richtung nach
Bremen auszuwandern.
Die ärztliche Untersuchung ergab folgenden Befund:
B. ist von mittlerer Grösse (163 cm), schlank und schmächtig, von blassem,
doch gesundem Aussehen. Der Kopf ist regelmässig gebildet, sein Umfang be¬
trägt 53,5 cm, der Längsdurchmesser 19 cm, der Breitendurchmesser 15 cm. Das
Gesicht ist schmal und länglich, die unteren Gesichtspartien treten nicht auffal¬
lend hervor. Die Stirn ist niedrig und von massiger Breite. Das linke obere
Augenlid ist, wohl in Folge früherer Entzündungen, etwas verdickt, wodurch die
linke Lidspalte eine Spur schmaler erscheint als die rechte. Die Pupillen sind
gleich weit und reagiren prompt. Das Sehvermögen ist gut. Die Ohren sind
gross und wohlgeformt. Der Mund sinnlich. Der körperliche Befund ist durch¬
weg ein normaler, Beschwerden irgend welcher Art sind nicht vorhanden. Die
Haltung ist schlaff, die Bewegungen ruhig, der Gang Lässig, der Gesichtsausdruck
meist gleichgiltig, nur beim Sprechen beleben sich die Züge, wobei zugleich
leichte Zuckungen der Stimmuskeln nnd der Nasenflügel bemerklich sind. Das
Sprechen ist ihm unbequem, die Antworten müssen förmlich aus ihm heraus¬
geholt werden. Dabei öffnet er den Mund nur wenig und spricht durch die Zähne,
wodurch die Sprache etwas undeutlich wird. Der Blick ist ruhig, zeitweise ängst¬
lich und forschend. Seine Stimmung ist ruhig und gefasst, bisweilen schien er
mir traurig, doch nur vorübergehend. Er hat volle Einsicht in die Schwere
seines Verbrechens, bereut dasselbe und hofft, dass er es wieder gut machen könne,
wenn er seine Strafe verbüsst haben werde. Auf meine Frage, wie er sich das
dächte, meint er: „er wolle fleissig werden und keine Streiche mehr machen“.
Angst vor der ihm bevorstehenden Strafe hat er nicht, da er weiss, dass er nicht
mit dem Tode bestraft werden kann: „die Polizeibeamten hätten ihm gesagt, er
sei noch zu jung.“ Auch nach der That will er keine Angst gehabt haben, da er
die Leiche gut versteckt glaubte. Er bringt dies alles stossweise und gleich-
müthig heraus, einzelne Fragen beantwortet er erst auf wiederholtes Eindringen
und nach längerem Besinnen, doch stets antwortet er dem Sinne der Frage ent¬
sprechend und mit gleichbleibender Bestimmtheit. Sein Gedäehtniss ist gut. Er
erinnert sich an die Einzelheiten seines Vorlebens, sowie an die Umstände seines
Verbrechens ganz genau und vermag über alles darauf Bezügliche genau Auskunft
zu geben. Er kann schreiben, lesen und leichtere Rechnenexempel aus dem Kopfe
richtig lösen. Von Sinnestäuschungen und Wahnideen ist keine Spur zu ent¬
decken und nichts deutet auf ihr früheres Vorhandensein. Seitdem er im Gefäng-
niss ist, hat er einen sehr starken Appetit entwickelt, hält sich ordentlich und
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304
Dr. Wahncau,
reinlich, erledigt seine Gefangenenarbeit — Kaffeebohnen auslesen — fleissig und
verrichtet sogar—nach Angabe des Gefängnispersonals — regelmässig sein Nacht¬
gebet. Er behauptet schlecht zu schlafen und viel zu träumen, kann nicht ein-
schlafen, „da er immer an die That denken müsse“. Er liest auch fleissig im Ge¬
betbuch und populärwissenschaftlichen Büchern. Er leugnet, je Onanie getrieben
zu haben, giebt aber zu, dass er „manchmal an seine Geschlechtstheile gefasst
habe“! Letztere sind normal entwickelt.
Aus meinem auf Grund meiner Beobachtungen und unter Berück¬
sichtigung des gesammten Actenmaterials abgegebenen Gutachten hebe
ich nur die Schlusssätze hervor. Ueberblickt man, so führte ich aus,
sein Vorleben, sein Verhalten vor, während und nach der That und
berücksichtigt man auch seinen gegenwärtigen körperlichen und
Geisteszustand, so finden sich m. E. nirgends genügend Anhalts¬
punkte dafür, dass B. für geisteskrank bezw. schwachsinnig gehalten
werden müsste. Seine sittliche Reife und seine intellectuelle Leistungs¬
fähigkeit entsprechen vielleicht in einzelnen Punkten nicht völlig der
geistigen Entwicklungsstufe, auf welcher sich ein fast achtzehnjähriger
Mensch durchschnittlich befindet, sein Wesen ist vielmehr theilweise
noch kindlich unentwickelt und da eben seine Intelligenz eine mässige
ist, erklärt es sich, dass seine früheren Dienstherren und seine Ge¬
nossen ihn alle mehr oder weniger für „dumm, beschränkt, tölpel¬
haft, dämlich“ gehalten haben, aber in Bezug auf sein Verbrechen
kann es doch nicht fraglich erscheinen, dass ein genügendes, seinem
jugendlichen Entwicklungszustande entsprechendes Unterscheidungs¬
vermögen und Einsicht in die Strafbarkeit seines Vorgehens, also
volle Verantwortlichkeit und Zurechnungsfähigkeit bezüglich desselben
bei ihm angenommen werden muss. Er verräth durch sein Verhalten
vor und nach der That nicht nur die Fähigkeit, die That als ver¬
brecherisch und strafbar zu erkennen und ihre Folgen zu erwägen,
sondern er entscheidet sich auch für ihre Ausführung erst auf Grund
vorangestellter Ueberlegung.
Da B. bei allen Verhören und Unterredungen während der Vor¬
untersuchung eingehend und mit gleichbleibender Bestimmtheit schil¬
derte, dass das Kind nach dem Würgen noch gelebt habe, dass es
geathmet, dass sich die Brust auf und nieder bewegt habe, und dass
er es demnächst in das Closet gesteckt und das Wasser habe laufen
lassen, um ihm nunmehr erst das Leben zu nehmen und dadurch die
Entdeckung seines bisherigen Thuns zu verhindern, und da mit die¬
sem Geständniss auch der Obduetionsbefund insofern übereinstimmt,
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305
Mord oder Todtschlag?
als nach unserem summarischen Gutachten die Verletzungen der Ge-
schlechtstheile zum Theil sicher während des Lebens zugefügt sind,'
B. aber erst nach dem Würgen am Halse zur Vornahme der unzüch¬
tigen Handlungen geschritten ist, durch welche die Verletzungen her¬
vorgerufen wurden, so mussten wir nunmehr nach den übrigen Ergeb¬
nissen der Voruntersuchung unser ursprüngliches summarisches Gutach¬
ten in einem Berichte an die Staatsanwaltschaft dahin modificiren,
dass der Obductionsbefund in Uebereinstimmung mit den Aussagen
des B. auch die Deutung zulasse, dass der Erstickungstod des Kindes
nicht schon in Folge des Würgcns am Halse cingetreten ist, sondern
erst dadurch, dass B. das zwar betäubte, aber noch lebende Kind
mit dem Kopfe voran in das Closet stopfte. Die blutunterlaufenen
Verletzungen an den Genitalien des Kindes konnten nur während des
Lebens entstanden sein und da der Angeklagte nach seiner Angabe
vor den Beruhigungsversuchen eine Berührung der Geschlechtstheile
gar nicht vorgenommen hat, auf welche die bei der Obduction wahr¬
genommenen Erscheinungen zurückgeführt werden könnten, sondern
erst nach dem Würgen, so muss das Kind nach dem Würgen noch
gelebt haben. Auch die an der Stirn und am Hinterhaupt constatir-
ten Blutunterlaufungen, die der ganzen Sachlage nach nur beim Hin-
einstossen des Kopfes in den Closettrichter entstanden sein können,
sind beweisend für diese Annahme. Bei der Frage, in welcher Weise
schliesslich der Tod des Kindes erfolgt ist, scheidet die Möglichkeit,
dass die letzte Todesursache das Ucberströmen des Kopfes mit dem
Wasser der Leitung war, aus, weil der Wasserzufluss ein ganz un¬
erheblicher gewesen sein muss. Dies ist aus dem Umstande zu fol¬
gern, dass bei der ersten polizeiärztlichen Besichtigung des Thatortes
und der Leiche in dem mit nach hinten gebogener Oeffnung ver¬
sehenen Closet ein grösseres Stück Koth und Papierstücke gefunden
sind, welche Gegenstände bei einer irgendwie erheblicher Wasserspü¬
lung gewiss fortgeschwemmt sein würden. Als Todesursache muss
vielmehr das Einpressen des durch das Drücken am Halse sehr ge¬
schwächten und dem Tode schon nahe gebrachten Körpers und die
dadurch bedingte mechanische Behinderung der Athembewegungen er¬
achtet werden. Die im Obductionsprotocoll erwähnten Substanzver-
verluste der Afterschleimhaut, welche keinerlei Blutunterlaufung zeig¬
ten und wie angenagt aussahen, dürften in der That von Rattenbissen
herrühren, wie ja die Ratten — die in jenem Keller notorisch nisten
sollen — bei entkleideten Leichen mit Vorliebe Mund oder After zu-
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Dr. Wahnca«,
erst benagen. Die oberflächlichen Hautschrammen auf Bauch und
Oberschenkel können beim hastigen Auskleiden des Kindes seitens
des Angeklagten und beim Hineinstopfen in den Closettrichter ent¬
standen sein. B. selbst vermag über die Entstehung der Afterver¬
letzungen und der Hautschrammen keinerlei Auskunft geben.
Bei der Hauptverhandlung vor der I. Strafkammer des Land¬
gerichts machte B. erheblich abweichende Angaben. Er behauptete
nämlich, er habe das Kind, nachdem er es durch den Druck am
Halse beruhigt, so dass es sich nicht mehr bewegte, und seine ge¬
schlechtliche Lust an ihm befriedigt hatte, ruhig auf dem Stroh liegen
lassen und sei fortgegangen in eine Wirtschaft. Nach einiger Zeit
sei er in seinen Schlupfwinkel zurückgekehrt und habe das Kind in
derselben Lage vorgefunden, wie er es verlassen. Er habe nun die
schon erkaltete Leiche verbergen und demnächst ihre Kleider ver¬
brennen wollen, um die Wiedererkennung zu erschweren. Dann habe
er es in das Closet gesteckt und, ohne angeben zu können, weshalb,
das Wasser spielen lassen und das Haus verlassen. Das Gericht
schenkte jedoch diesen Behauptungen keinen Glauben, sondern erach¬
tete, wie die Urtheilsgründe ausführen, die früher von B. gemachten
Angaben für wahr, welche auch die innere Wahrscheinlichkeit für sich
haben, denn wenn er nur den Leichnam verstecken wollte, so war
dazu die Oeffnung des durch einen Trichter geschlossenen Closets ein
ungeeigneter Ort, und das Spielenlassen des Wassers, das von ihm
auch jetzt noch zugegeben wurde, bleibt völlig unerklärlich. Es ist
vielmehi - anzunehmen, dass B., der eine spätere Recognition durch
das Kind befürchten konnte, nachdem es nach dem Pressen des Halses
noch Lebenszeichen gezeigt und er daraus entnommen, dass ein Wür¬
gen nicht so leicht zum Ziele führe, eine Tödtung auf andere ihm
sicher erscheinende Weise versuchen wollte. Wenn es ihm lediglich
darauf ankam, das Corpus delicti zu entfernen, so würde er
gewiss auch die Kleider schon gleich nach der That vernichtet
und nicht mit dem Verbrennen derselben bis zum folgenden Tage,
an welchem er sich wieder an den Thatort. begab, gewartet
haben.
Betreffs der Zurechnungsfähigkeit des B. scliloss das Gericht sieh
der übereinstimmenden Ansicht der Sachverständigen an, dass nicht
das geringste Moment vorläge, welches die Annahme wahrscheinlich
machte, dass ß. sich zur Zeit der Begehung der Handlung in einem
Zustande von Bewusstlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistes-
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Mord oder Todtschlag?
307
thätigkeit befunden habe, durch welche seine freie Willensbestimmung
ausgeschlossen war. Es nahm ferner an „nach dem Eindruck, den
er in der Hauptverhandlung machte“, dass er völlig auf dem geisti¬
gen Niveau eines normalen 17—18jährigen Menschen sich befinde
und dass er die zur Erkenntniss der Strafbarkeit der beiden von ihm
begangenen und zur Aburtheilung stehenden Handlungen erforderliche
Einsicht zur Zeit der Begehung derselben besessen habe.
B. wurde, weil er 1. mit Gewalt unzüchtige Handlungen an der
5jährigen Elsa T. vorgenommen, 2. vorsätzlich die Elsa T. getödtet,
nicht aber die Tödtung mit lleberlegung ausgeführt hat, zu einer Ge-
fängnissstrafe von 12 Jahren verurthcilt.
Geber den zweiten Punkt, den Todtschlag betreffend, besagen
die Grtheilsgründe Folgendes:
In Betreff der Tödtung des Kindes ist die Annahme ausge¬
schlossen, dass der Angeklagte durch Fahrlässigkeit, bei Gelegenheit
der angeblichen Beruhigungsversuchc den Tod verschuldet hat 1 ). Aus
den für glaubhaft erachteten früheren Angaben des Angeklagten er-
giebt sich vielmehr sein Vorsatz, das Kind im Closet zu tödten. Es
ist dagegen nicht für erwiesen erachtet, dass der Angeklagte die Thai
mit Ucberlegung ausgeführt hat.
Für die Ausführung mit Geberlegung würde die Angabe des B.
bei seiner ersten polizeilichen Vernehmung sprechen, dass er Lust am
Morden verspürt und das Kind an sich gelockt habe, um es zu tödten.
Wenn nun der betreffende Polizeicommissär auch bekundet, dass der
Angeklagte diese Angabe ganz spontan, ohne dazu durch eine Sug¬
gestivfrage veranlasst zu sein, gemacht hat, so ist doch auffallend,
dass der Angeklagte später immer nur als Motiv angegeben hat, er
habe das Mädchen gebrauchen wollen. Das Gericht hält daher für
nicht ausgeschlossen, dass der Angeklagte, der nach Begehung der
That in der Zeit vor seiner Verhaftung viel von dem begangenen
„Lustmord“ gehört haben mag, diese Bezeichnung lediglich in der
Absicht, ein volles Geständniss abzulegen, ohne rechtes Verständniss
sich angeeignet, und erst bei seinen späteren Vernehmungen mit der
Angabe des wahren Motivs hervorgetreten ist.
Das Gericht erachtet aber auch deshalb die That für nicht mit
Geberlegung ausgeführt, weil die einzelnen Handlungen, nämlich das
Würgen des Kindes, die Vornahme der unzüchtigen Handlung an dem-
*) Wie die Vertheidigung annalun. Am», d. Vf.
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Dr. Wah neau.
selben, die Entkleidung, das Forttragen in den Abort und das Hinein¬
stecken des Körpers in das Closet, sich nach der früheren glaub¬
haften Angabe des Angeklagten sehr rasch gefolgt sind. Im Anschluss
an die bei der unzüchtigen Behandlung des Kindes eingetretene ge¬
schlechtliche Erregung ist die Fortdauer eines solchen Affects sehr
wohl glaubhaft, dass dadurch keineswegs der Vorsatz, wohl aber die
Ueberlegung ausgeschlossen wird.
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Die Geistesstörungen der Epileptiker.
Von
Dr. Feige in Nieskv.
„L’öpilepsie ost unc maladie cerebrale, qui entraine frequemment
a sa suite des troubles intellectuelles“ beginnt die meisterhafte Studie
Falret’s über den Geisteszustand der Epileptiker 1 ). Was dieser
Satz besagen will, kann man ermessen, wenn man sieh die geradezu
ungeheure Anzahl der Epileptiker vergegenwärtigt. Herpin 2 ) rechnet
auf 1000 Individuen vier Epileptiker, Briere de Boismont 3 ) zählte
in Frankreich allein 38000 Epileptiker. Esquirol 4 ) fand unter
332 Epileptikern 209, das heisst 4 / 5 mehr oder weniger geisteskrank,
nur V 5 hatte den Gebrauch des Verstandes bewahrt, und welchen
Verstandes! Leidesdorf 3 ) dagegen giebt an, 40 Procent Epileptiker
seien von jeder psychischen Störung frei, und nur 60 Procent seien
psychisch krank. Zu fast demselben Resultat kommt Althaus 5 );
von 250 Epileptikern zeigten 35,6 pCt. keinerlei psychische Störung,
64,4 pCt. vorübergehende oder bleibende psychische Veränderungen.
Von 2180 3 ) innerhalb 26 Monaten aufgenommenen Geisteskranken
litten allein 128, also beinahe 6 pCt., an epileptischer Psychose.
Walter 6 ) nimmt infolge dessen an, Epilepsie disponire zu gei-
J ) Sr hüte, S. 407.
2 ) Leidesdorf, S. lös.
3 ) Leidesdorf, S. 158.
4 ) Li in an, Zweifelhafte Geisteszustände. S. 25.
5 ) Binswanger, S. 433.
«) S. 292.
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Dr. Feige,
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stigen Erkrankungen, doch ist cs wohl richtiger, mit den meisten
Autoritäten auf dem Gebiet der Psychiatrie anzunehmen, dass die
Geistesstörungen der Epileptiker nicht sich auf dem Grunde der Epi¬
lepsie aufbauen, also nicht eine Folge oder Komplikation der Epilepsie
darstellen, sondern vielmehr, dass die Epilepsie je nach dem Sitz der
Gehirnaffektion entweder nur auf motorischem Gebiet in Erscheinung
tritt, oder zweitens sich auf motorischem und psychischem Gebiet be¬
merkbar macht, oder drittens, dass sie nur als Geistesstörung auf-
tritt; im letzteren Falle sind motorische Erscheinungen entweder gar
nicht vorhanden oder doch nur in so unbedeutendem Grade, dass sie
leicht übersehen werden können. Nach Flemming 1 ) sind Epilepsie
und Seelenstörung zwei Krankheitszuständc von äusserst naher Ver¬
wandtschaft, ja sie sind die gleichen pathischen Zustände in zwei
verschiedenen Bereichen des Nervensystems.
Wenden wir uns nun zu den Geistesstörungen der Epileptiker, so
finden wir bleibende und vorübergehende. Zu den bleibenden gehört
der sogenannte epileptische Charakter und der durch Epilepsie be¬
dingte Blödsinn. Hier laufen Epilepsie und Seelenstörung neben ein¬
ander fort 2 ), indem die konvulsivischen Anfälle von Zeit zu Zeit zum
Irresein hinzutreten. Im Gegensatz zu den vorübergehenden sind die
bleibenden Geistesstörungen die Folge der Epilepsie, indem die durch
die lange wiederholten Anfälle gesetzten Erschütterungen der Central¬
organe auch das sensorische Nervensystem so beschädigen, dass seine
Verrichtungen dauernde Störungen erleiden.
Die vorübergehenden Geistesstörungen treten auf als Vorläufer
des epileptischen Anfalls, oder sie folgen demselben nach, oder end¬
lich sie treten ganz unabhängig von demselben gewissermassen als
Ersatz ödes als Actjui valent des konvulsiven Anfalls auf 3 ).
Der epileptische Charakter findet sich fast stets hei Individuen, die längere
Zeit an den sogenannten klassischen epileptischen Anfällen leiden. Die Kranken
werden traurig, trübe gestimmt, gereizt, bei dem geringsten Anlass äusserst jäh¬
zornig und heftig. Manche fühlen, dass sie stark auf der Grenze zum Irrenhause
stehen, nehmen sich aber äusserlich oft sehr gut zusammen. Man findet häufig
ein unbezwingliches Auftreten gehässiger .Stimmung gegen die nächsten Ange¬
hörigen, tiefsten Aerger über Kleinigkeiten, überströmende Wehmuth ohne Grund;
1 ) S. 118.
2 ) Flemming, S. 119.
3 ) II offmann, S. 371.
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Die Geistesstörungen der Epileptiker.
311
hin und wieder tritt ein Gefühl auf, als ob alle Leute etwas gegen den Kranken
hätten, aber auch, als sei der Kranke selbst an seinem Leiden schuld. Viele
müssen ihre Beschäftigung oder ihren Beruf aufgeben, weil es ihnen unmöglich
ist, auch nur eine Viertelstunde still zu sitzen, ohne dass sie einen Grund dafür
anzugeben wissen. Wollen sich die Patienten bezwingen, so treten allerlei unan¬
genehme Sensationen, ja eine an Verwirrung grenzende Unsicherheit des Denkens
auf 1 ). Dabei sind sie äusserst misstrauisch, zugleich rachsüchtig und listig ver¬
schlagen. von Krafft-Ebing 2 ) erzählt einen Fall, wo ein epileptischer Kohlen¬
arbeiter in einem Zustand momentaner Geistesabwesenheit in ein zur Aufbewah¬
rung des Trinkwassers dienendes Gefäss urinirte. Darüber zur Hede gestellt,
leugnet er die That und wird über die seiner Meinung nach ungerechte Beschul¬
digung so wüthend, dass er blind auf seinen Ankläger losstürzt und ihn ersticht.
Die Kranken fühlen, dass ihr Zustand nicht nur Mitleid, sondern auch
Furcht erweckt, sie suchen daher — und zwar nur aus Egoismus — ihrer Um¬
gebung unzählige kleine Gefälligkeiten zu erweisen, sind sehr süsslich, gebrauchen
mit Vorliebe Diminutiva und in der Anrede das Wort „lieb u . Natürlich verlangen
sie dann auch die grösste Rücksichtnahme auf sich selbst, und sind sie einmal
zurückgesetzt oder glauben sie es auch nur zu sein, so zeigen sie die ihnen trotz
ihrer anscheinenden Güte und Harmlosigkeit innewohnende Heimtücke und
schimpfen in der allergemeinsten Weise, ja sie lassen sich sogar zu Thätlich-
keiten hinreissen. Die Epileptiker verleumden und denunciren unter dem An¬
schein der grössten Harmlosigkeit ihre Umgebung, sie verfolgen aufmerksam jedes
Wort, jede Bewegung derselben, sie sind die Aufpasser und geheimen Agenten
von Beruf.
Das Gedächtniss nimmt, hauptsächlich für die zunächst liegenden Ereig¬
nisse, mehr und mehr ab; so kommt es vor, dass ein Epileptiker in einer halben
Stunde seine Umgebung mehrere Mal nach dem Befinden fragt, ohne zu wissen,
dass er es schon gethan hat; kommt dann der Gefragte der erneuten Erkundigung
durch seine Antwort zuvor, so wundert sich der Kranke: „Sie wissen aber auch
alles, Sie können sogar meine Gedanken errathen“ 3 ).
Es giebt unzweifelhaft Epileptiker, die geistig völlig frei sind, ja sogar
einige, die historisch berühmt geworden sind, wie Cäsar, Napoleon, Mohamed,
Petrarca u. A., doch ist es bei diesen fraglich, wieviel von ihren Leistungen auf
Rechnung eines krankhaften Exaltationszustandes und wieviel auf die eines nor¬
mal und unauffällig functionirenden Geisteszustandes zu setzen ist 4 ).
Stark 5 ) berichtet von einer Patientin, die vor dem Ausbruch der Epilepsie
furchtsam, nüchtern, keusch, bescheiden, gewissenhaft und verschwiegen war,
bald nach dem Beginn der Krankheit jedoch frech, verschwenderisch, flatterhaft,
stolz, gefühllos und schwatzhaft wurde. Griesinger 6 ) sagt von diesen Kranken:
1 ) Griesinger, Archiv für Psychiatrie. I. Bd. S. 327ff.
2 ) Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie. 37. Bd. S. 40.
3 ) Sommer, S. 553.
4 ) Weiss, Wiener Klinik. X. S. 105.
5 ) S. 323.
6 ) Psychische Krankheiten, S. 413.
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Dr. Feige
„Das Gedächtniss nimmt ab, die Phantasie verliert ihren Farbenreichthum, ihre
Innigkeit und Wärme, und das Gemüth vertrocknet.“
Oft mischt sich in die Aeusserungen des Epileptikers ein sehr hervortreten¬
der religiöser Zug 1 ) und eine Neigung zu Askese. Alles, was Menschen, Kunst
und Menschenwissen leisten konnte, ist zur Heilung des Kranken gethan worden,
seine einzige Zuflucht, seine einzige Hülfe und Rettung ist nur noch die göttliche
Allmacht. Daher vermengen die Kranken den lieben Gott mit ihren Reden, es
bildet sich immer mehr ein frömmelnder Zug bei ihnen aus, sie glauben endlich
selbst, dass sie so fromm sind, wie es ihren Reden nach den Anschein hat, und
glauben dadurch schliesslich einen Anspruch zu haben auf Mitleid bei ihren Mit¬
menschen und auf Mitleid und Hülfe von oben. Sie spielen die lammfrommsten
Dulder, sie knieen hin und beschwören ihre engelreine Unschuld. Ihr Gesichts¬
ausdruck nimmt allmälig den eines Märtyrers an, und doch stehlen, schimpfen
und schlagen sie in der allergemeinsten Weise. Samt 2 ) sagt von ihnen, dass sie
„das Gebetbuch in der Tasche, den lieben Gott auf der Zunge, aber den Ausbund
von Kanaillerie im ganzen Leibe haben.“
Hierzu kommt noch das sogenannte „F'amilienlobreden“. Nach ihrer Familie
gefragt, erklären sie, der Vater wäre der bravste Mann im ganzen Dorfe, ihre Fa¬
milie kei die allerangesehenste, die Kinder seien wahre Engel, unvergleichlich
schön, gut und brav u. s. w. 8 )
Diese epileptischen Charaktereigentlnimlichkeiten steigern sich in
vielen Fällen zu einem ganz bedeutenden Intelligenzdefect, der schliess¬
lich zum vollendetsten terminalen Blödsinn führen kann und als solcher
keine für Epilepsie charakteristischen Symptome mehr hat.
Zu allererst findet man meist die Perception erschwert. Die Eindrücke der
Aussenwelt werden zwar in normaler Weise von den Sinnesorganen aufgenommen,
aber bei der fortwährenden Erregung des ganzen Nervensystems ist ein relativ
stärkerer Reiz nöthig, um diese Eindrücke dem Gedächtniss einzuverleiben; das
Bild wird daher nur unklar und undeutlich im Gedächtniss haften und bei einer
etwaigen Reproduction auch nur ebenso verschwommen wiedergegeben werden
können. So muss ein Epileptiker oft einen einfachen Satz zehn- und mehrmal
lesen, um ihn zu verstehen, uad er missversteht ihn doch noch oft genug.
Sommer 4 ) berichtet von einem Theologen, der trotz seines schon ziemlich ge¬
schwächten Auffassungsvermögens ileissig weiter Griechisch und Hebräisch stu-
dirte, trotzdem er fast jedes Wort im Lexikon nachschlagen musste. Ja er musste
sogar, um sich zu merken, wo er bei der Lectüre stehen geblieben war, sich das
letzte Wort durch Papierstückchen anmerken. Er begriff sehr wohl das Lang¬
weilige dieser Arbeit, schob dasselbe aber auf die Schwierigkeit des Studiums und
hoffte trotz Allem noch auf glückliches Bestehen seines Examens, obwohl er diese
*) Sommer, S. 558.
2 ) VI. Bd. S. 147.
3 ) Samt, VI. Bd. S. 213.
4 ) S. 552.
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Die Geistesstörungen der Epileptiker.
313
Arbeit schon seit 10 Jahren und länger in der angegebenen Weise trieb. Die
Schwerfälligkeit erneuter Auffassung ist oft schon recht bedeutend, während der
Kranke früher Erlerntes tadellos zu reproduciren imstande ist. So können manche
kein Musikstück mehr vom Blatte spielen, während sie ein solches, das sie vor
der Erkrankung bereits gespielt hatten, auch jetzt noch der Form nach richtig,
wenn auch ohne Gefühl wiederzugeben vermögen; so spielen manche vorzüglich
Schach, lösen schwere mathematische Aufgaben mit mehreren Unbekannten 1 ),
können aber nicht mehr den Sinn des einfachsten Satzes erfassen.
Dabei sind sie hochmüthig, dünken sich besser als Andere, verlangen bessere
Kleidung 2 ), und verrathen eine dünkelhafte Selbstüberschätzung ihrer wissen¬
schaftlichen Bestrebungen 3 ).
Nach und nach gehen dem Epileptiker nicht die Vorstellungen in ihrer Ge-
sammtheit, sondern nur einzelne Ausdrücke verloren; in Aeusserungen undBriefen
findet man oft die merkwürdigsten Umschreibungen für einzelne Begriffe, die dem
Kranken nicht mehr geläufig sind. Mehr noch als in Briefen, wo der Schreiber ja
mehr Zeit zur Ueberlegung hat, fällt dies auf im Gespräch. Man hält den Kranken
oft seinen Aeusserungen nach für viel schwachsinniger, als er es in Wirklichkeit
ist; sorgfältige Ueberlegung dagegen führt oft noch zum Verständniss. Der Inhalt
eines von einem solchen Patienten etwa noch geschriebenen Briefes ist mitunter
allerdings der reinste Blödsinn, während die Handschrift fast kalligraphisch schön
zu nennen ist, als Zeichen, dass der Epileptiker auch in der grössten Demenz
noch die Fähigkeit hat, früher Erlerntes noch längere Zeit zu verwerthen.
Viele Epileptiker neigen in diesem Stadium zu geschlechtlichen Ausschwei¬
fungen aller Art infolge Anregung des Geschlechtstriebes. Sehr vielfach findet
man Onanie, obscöne Reden und Handlungen 4 ). Ja sie trauen auch Anderen un¬
züchtige und gemeine Handlungen zu; in einem Fall von Kirn 6 ) wird ein Offi-
cier ohne den geringsten Grund eifersüchtig gegen seine Frau, wirft ihr intimen
Verkehr mit seinen Freunden und angesehenen Personen seiner Bekanntschaft vor
und glaubt, dass sie ihn durch Gift aus dem Wege räumen will. Bei Pürck-
hauer 6 ) verleitet ein 16jähriges Mädchen zwei kleine Jungen, mit einem 972jäh-
rigen Mädchen, das sie inzwischen festhielt, den Beischlaf zu vollziehen; und so
giebt es noch unzählige Beispiele hierfür.
Auch findet sich bei diesen Kranken in ganz hervorragender Weise eine
Stehlsucht, die alles Erreichbare zusammenrafft, um es dann wieder wegzuwerfen
oder zu verschenken. Diese Diebstähle werden oft in ganz raffinirter Weise aus¬
geführt, wie man sie bei der bestehenden Abnahme der Geisteskräfte oft für ganz
unmöglich halten möchte. Ueberhaupt zeigt sich hier grosse Aehnlichkeit mit der
Moral insanity, von der Westphal sagt 7 ): „Durch die verkehrten Handlungen,
J ) Sommer, S. 595.
2 ) Stark, S. 314.
3 ) Sommer, S. 591.
4 ) Stark, S. 301.
5 ) S. 146.
«) S. 36*.
7 ) Fischer, Archiv für Psychiatrie. XV. S. 742.
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Pr. Feige.
die sie auf Grund dieser Defecte begehen, erscheinen die Patienten oft bösartig,
leidenschaftlich, während sie einer eigentlichen Leidenschaft gar nicht fähig sind.
Was als Leidenschaft erscheint, sind einzelne Antriebe und Impulse, denen so¬
fort nachgegeben wird.“ Viele Epileptiker werden zu Brandstiftern oder begehen
die scheusslichsten Mordtliaten; als Grund dafür geben sie an, es hätte sie mit
einem Mal gepackt, eine innere Stimme hätte ihnen den Befehl zugetlüstert, dem
sie nicht hätten widerstehen können.
Mit der Zeit geht dieser Schwachsinn immer weiter: die Kranken sprechen
stets mit weinerlicher Stimme, verlernen das Nähen, das Stricken, ja schliesslich
selbst das Schreiben und Lesen, sie werden unreinlich und lassen Koth und Urin
unter sich gehen, sie erkennen ihre nächsten Anverwandten nicht mehr und sind
zu keiner Art von Beschäftigung mehr zu gebrauchen. Der tiefe geistige Verfall
ist ihnen auch äusserlich anzumerken: der Gesichtsausdruck ist stupid, dumm-
freundlich lächelnd, mitunter auch unheimlich gereizt, manchmal wie erstaunt.
Pie Kranken antworten in diesem Zustand entweder gar nicht mehr auf Fragen,
weil sie den Sinn derselben nicht mehr zu erfassen vermögen, oder wenn sie es
doch thun, dann nur sehr zögernd und langsam, meist auch unrichtig. Sie wissen
kaum noch ihren Namen, das Jahr und Datum ihrer Geburt und die laufende
Jahreszahl anzugeben. Die Gesichtszüge werden plump und bieten das Gepräge
frühzeitigen Alters dar 1 ), der Kranke bekommt dicke Lippen, grobe Züge lind
einen hässlichen Gesichtsausdruck 2 ). Zwischen den dicken Lippen heraus fliesst
unaufhörlich zäher Speichel. Oft sinken die Patienten so weit auf die thierische
Stufe herab, dass sie gefüttert werden müssen 3 ).
Hierzu treten oft noch motorische Störungen: ein eigenthümliches anhalten¬
des Muskelzittern, Paresen und Lähmungen. Der Gang ist unsicher, nach der
einen oder anderen Seite schwankend, mehr fallend. Eine Patientin von Wiede¬
meister 4 ) konnte auch in einem ganz bequemen Stuhl nicht mehr sitzen, sie
sank in demselben zusammen oder fiel heraus.
Homberg 5 6 ) berichtet von einer Patientin, die an einer unvollkommenen
Lähmung der unteren Extremitäten litt; sie war unvermögend, vom Stuhl aufzu¬
stehen und hatte kaum die Kraft, auf zwei Personen gestützt ein paar Mal auf
und ab zu gehen. In den hin und wieder auftretenden eonvulsiven Anfällen je¬
doch ist diese Paraplegia incompleta merkwürdigerweise verschwunden, dieKranke
kann jede Bewegung vornehmen, gehen, stehen, arbeiten; wenn sie sitzt und ihre
Füsse den Boden berühren, so entsteht ein so heftiges Zittern und Stampfen der¬
selben, dass der stärkste Mann durch Druck auf die Knie diese Tremulation nicht
unterdrücken kann. Zuweilen gesellen sich zu diesem Krankheitsbild ab und zu
Zwangsvorstellungen, Verfolgungsdelirien, schreckhafte Hallucinationen, Angst¬
anfälle, impulsive Acte* 1 ), und es kommt nicht selten vor, dass solche Schwach-
1 ) Romberg, S. 587.
2 ) Griesinger, Psychische Krankheiten. S. 413.
3 ) Wiedemeister, S. 574.
4 ) S. 574.
ß ) S. 584.
6 ) v. Kra-fft-Ebing, Lehrbuch. 11. S. 105.
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Die Geistesstörungen der Epileptiker.
315
sinnige infolge der so überaus ängstlichen Delirien in der schrecklichsten Weise
Selbstmordversuche begehen, wenn sie nicht psychisch bereits zu tief degenerirt
sind. Es macht häufig den Eindruck, als ob die Epileptiker auch in dem aller-
tiefsten Grad des terminalen Blödsinns doch immer noch allerlei Delirien und
Hallucinationen haben, wie oft aus einzelnen abgerissenen Aeusserungen, aus
ihren feindseligen, völlig unmotivirten Angriffen auf die Umgebung hervorgeht.
Bisweilen wird ein solcher Epileptiker bei jeder, auch der freundlichsten Anrede
wiithend und thätlich, heisst und schlägt nach seiner Umgebung, andere sind
enorm geschwätzig, reden fortwährend das confuseste und incohärenteste Zeug
durch einander und werden zornig und aggressiv, wenn man ihnen nicht zuhört.
All diese Zustände finden sich als sogenannte intervallärc Sym¬
ptome, sie werden mitunter durch einen klassischen epileptischen
Anfall unterbrochen, um nachher mit grösserer Heftigkeit wieder auf¬
zutreten.
Ausserdem zeigen sich Geistesstörungen noch bei Epileptikern,
die in den Intervallen völlig normal und geistig gesund erscheinen,
und bei denen psychische Störungen nur im unmittelbaren Zusammen¬
hang mit einem konvulsiven Anfall auftreten. Die Geistesstörung
kann hier, wie schon erwähnt, dem Anfall vorausgehen als längere
und nur auf das psychische Gebiet beschränkte Aura, oder sie folgt
dem Anfall als postepileptisches Irresein.
Bekanntlich geht dem in klonischen und tonischen Krämpfen
bestehenden epileptischen Insult stets oder doch meist irgend eine
Sensation vorher, die als von den Extremitäten oder vom Unterleib
oder Magen nach dem Gehirn aufsteigend beschrieben wird und bald
als Hauch, als Kriebeln, als Ameisenlaufen und dergleichen bezeichnet
wird. Man hat diese sensiblen Erscheinungen „Aura“ genannt, da
man anfangs nur den „Hauch“ als Anzeichen eines beginnenden epi¬
leptischen Anfalls kannte. Diese meist in der sensiblen Sphäre auf¬
tretenden Sensationen können nun aber gleichzeitig oder ausschliess¬
lich auf psychischem Gebiet in Erscheinung treten, oder sic können,
ehe die Konvulsionen beginnen, direkt zu einem präparoxysmellen,
länger als die gewöhnliche Aura dauernden Irresein sich ausbilden,
das dann plötzlich und jäh von dem Krampfanfall unterbrochen wird.
Diese dem epileptischen Anfall voraufgehende Geistesstörung
dauert mitunter nur einige Minuten, kann sich aber auch auch über
2 bis 4 Tage J ) erstrecken und hat dann die Bedeutung eines Inkuba-
tions- oder Prodromalstadiums. Es zeigt sich hierbei eine grosse
x ) Not Image!, S. 214.
Vierteljahrsschr. f. ger. Med. Dritte Folge. IX. L*. 21
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3 11> L)r. F <* i ir <*.
Mannigfaltigkeit, von den leichtesten und unbedeutendsten »Sensationen
bis zu den schwersten Tobsuchts- und Wuthanfällen.
Die geringste Störung 1 ) besteht in einem. Zustand von Scliwer-
besinnliehkeit, in einer Neigung zum Schlaf bis zur völligen Betäu¬
bung. Ein elfjähriger Knabe 2 ) entfernte sich eines Tages plötzlich
auf dem Weg zum Turnunterricht von den anderen Kindern, er kommt
in eine ganz andere Stadtgegend und fällt schliesslich vor einem
Laden bewusstlos unter Krämpfen nieder.
In anderen Fällen macht sich ein Zustand von Unruhe bemerk¬
bar; die Kranken klagen über allerlei unangenehme Sensationen, über
»Schwindel und immer heftiger werdenden Kopfschmerz, es tritt Prä¬
kordialangst auf mit unerträglichen Schmerzen und Oppressionsgefühl.
Vielfach machen sie der dadurch verursachten heftigen Erregung Luft
in Ausrufen, wie: „Helft mir, ich muss ersticken, ich muss sterben,
es erdrückt mich!“ In diesem Zustand sind die Epileptiker nicht im
Stande, ruhig sitzen zu bleiben; wie von unsichtbaren Gewalten ge¬
trieben, sind sie gezwungen, fortwährend hin und her zu laufen, sie
befinden sich in einer noch mürrischeren und reizbareren Stimmung
als wie sonst im Intervall, durch den leichtesten Widerspruch werden
sic zu den lebhaftesten Zornesausbrücken gereizt.
In einem Fall 3 ), wo eine Frau wegen Mord angeklagt war, weil
sie in einem Krampfanfall ihr Kind hatte ins Wasser fallen lassen,
so dass es ertrank, war dieselbe ohne Grund, ohne Zweck und Ziel
ganz planlos von Hause weggelaufen mit dem Kind auf dem Arm,
war stundenlang im Walde umhergeirrt und hatte sich an einen
Graben gesetzt, an dem sie von Krämpfen befallen wurde, so dass
das Kind in das Wasser glitt.
Auch merkwürdige »Sensationen kommen vor. »So hatte ein
Kranker 4 ) das Gefühl, „als ob im linken Testikcl Luft wäre und als
wenn Luft vom Bauch nach dem Gemacht durchziehe.“
Meist bestehen daneben vage »Schmerzen in den Extremitäten und
heftiges Angstgefühl; dies beides ist neben vielfachen Hallucinationen
wohl der Grund zu der verdriesslichen Stimmung und den Angriffen
auf die Umgebung. Der Patient merkt meist, dass es ihm nicht
U Mendel, S. f>4<.).
2 ) Rosen bäum, S. 144.
3 ) »Schilling, »S. 180.
4 ) Samt, VI. Bd. »S. 110.
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UNIVERSUM OF IOWA
Die (■ieisu*sstürungt. , n der Epileptiker.
317
richtig im Kopf .sei; es ist ein fast rauschartiger Zustand: alle mög¬
lichen Gedanken gehen ihm durch den Kopf, aber nur andeutungs-
und bruchstückweise, und rufen daher grosse Verworrenheit in seinen
Ideen hervor. Er kann zwar einfache Fragen noch beantworten, soll
er aber selbstständig eine irgendwie längere Vorstellungsreihe produ-
circn, so wird er inkohärent. Die getrübte Auffassungskraft lässt
ihm alles anders erscheinen; er sieht zwar alles genau und deutlich,
aber es kommt ihm alles verändert vor, er erkennt zwar die Personen,
aber sie lachen ihn aus oder strecken ihm die Zunge heraus oder
tragen Hörner auf dem Kopf. Er merkt, dass diese Erscheinungen
krankhaft sind, aber er wundert sich darüber, da ihn alle Erklärungs¬
versuche im Stich lassen, und er wird dadurch immer verwirrter in
seinen Gedanken.
Mitunter sind die Kranken aber auch echt maniakaliseh aufge¬
regt, sie schwatzen, gestikuliren und reden das tollste Zeug unter
einander, predigen wie ein Geistlicher, klatschen stundenlang in die
Hände, zwicken und kratzen an sich herum, laufen zwecklos umher,
benehmen sich unglaublich albern und ungereimt, ziehen sich nackt
aus, fassen alle ihnen im Wege -stehenden Gegenstände an, klopfen
und kratzen unermüdlich daran herum, bis ihnen ein anderer Gegen¬
stand auffällt, mit dem sie sich dann weiter zu schaffen machen.
Oder sie steigen zu Pferd und reiten über alles ihnen im Wege
stehende, Gräber, Zäune und Hecken hinweg, um Freund oder Feind
hoch zu Ross zu besuchen, oder sic klettern auf Bäume und Dächer
und unternehmen die gefahrvollsten Wagnisse, ohne sich der Gefahr
im Geringsten bewusst zu sein. Oft auch unternimmt ein solcher
Epileptiker eine ganz zwecklose weite Reise, um sich dann, wenn der
konvulsive Anfall die Geistesstörung unterbricht, zu seinem Erstaunen
in einem ganz fremden Orte zu linden, ohne dass er anzugeben wüsste,
wie er dahin gekommen oder warum er den Ort aufgesucht hätte.
In diesem Zustande begehen die Kranken oft Verbrechen, Dieb¬
stahl, Raub, Mord, Brandstiftung, auch Selbstmord kommt nicht selten
vor, veranlasst durch die so ungemein quälenden und lästigen Ge¬
danken und Empfindungen, zu denen noch Delirien und Hallucinationcn
kommen. Leidesdorf 1 ) führt eine grössere Anzahl von solchen
Beobachtungen an. So sah ein Epileptiker jedesmal vor dem Anfall
ein rotlies Gespenst mit einem Stock in der Hand auf sich losgehen,
*) S. 162.
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UNiVERSUY OF IOWA
31 S L)r.
ein anderer sah einen Mann mit einem grossen Messer in der Nähe
stellen, der ihn ermorden wollte; ein Knabe sieht vorher rothe Ge¬
stalten an der Wand. Sommer 1 ) erwähnt einen Kranken, dem vor
dem Anfall jedesmal eine ihm aus der Erinnerung nicht bekannte
Landschaft mit einem Berge und einer Windmühle darauf erschien;
sobald die Windmühlflügel anfingen, sich zu drehen, trat Bewusst¬
losigkeit ein. Ein Mann 2 bekam im Kriege vor Schreck epileptische
Krämpfe, als plötzlich aus einem Wäldchen in seiner unmittelbarsten
Nähe die Feinde unter lebhaftem Gewehrfeuer hervorbrachen; seitdem
hatte er stets vor dem Anfall die Erscheinung eines Wäldchens und
der aus ihm unter Gewehrfeuer heranstürmenden Feinde. Ein Kind
wurde vor Schreck über einen plötzlich auf dasselbe einspringenden
Hund epileptisch; seitdem sah es jedesmal vor dem Anfall einen
grossen schwarzen Hund auf sich loskommen. Bei einem Lehrer 3 )
begann die präparoxysmelle Störung in der Weise, dass er, eines
Sonntags aus der Kircbe kommend, seiner Frau voller Wuth erzählte,
der Pastor hätte über ihn gepredigt, so dass ihn alle Leute ausge¬
lacht hätten. Diese Gehörstäuschung, die er für Thatsache hielt,
nahm er sich so zu Herzen, dass er sich vornahm, gemeinsam mit
seiner Frau sterben zu wollen; während seine Frau nach Hülfe lief,
trat der epileptische Anfall auf. Ein Schuster 4 ), der in einem An¬
fall epileptischer Geistesstörung einen Selbstmordversuch unternahm,
sah in den letzten Nächten vor der That völlig wachend bei offenen
Augen und dunkler Stube Reiter, die durchaus roth ohne anders ge¬
färbten Fleck waren. Ein anderer 5 ) hört plötzlich Lärm und Schüsse
fallen; so wie er sich getroffen glaubt und zusammensinkt, beginnt
der Anfall. Einem Schnapstrinker 6 ) drängte sich plötzlich der Ge¬
danke auf, er müsse seine fünf Kinder umbringen; ehe er zur Aus¬
führung dieser durch Zwangsvorstellung bedingten Handlung schritt,
stieg es ihm wie Schaum im Kopfe auf; es fuhr durch die Stube wie
ein Schuss oder heftiger Windstoss, ein starker Geruch nach Majoran
erfüllte das Zimmer und honahm ihm die Sinne, die Gedanken
!) 8. 573.
2 ) Fischer, Berliner klinische Wochenschrift. XXL 8. 57.
:l ) Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie. XXXI. 8. 421.
4 ) Griesinger, Archiv für Psychiatrie. I. S. 155.
: ’j v. Kraffl-Lbing, Allgemeine Zeitschrift f. Psychiatrie. XXIII. 8.114.
Griesinger, Gesammelte Abhandlungen. 8. 110.
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Die Geistesstörungen »1er Epileptiker.
319
schwanden, so dass er niedersank. Ein Patient von Kiernan 1 ) sah
plötzlich ein schönes Weib in lasciven Stellungen vor sich, es erfolgte
eine Ejakulation und sofort hinterher der Anfall; als er eine Zeit
lang Bromkali genommen hatte, zeigte sich ihm vor dem Anfall
regelmässig eine Teufelsgestalt, die mit einem Dreizack die Stirn des
Patienten in dem Augenblick berührte, in dem die Bewusstlosigkeit
ausbrach. Ein Soldat 2 ) hallucinirte, dass seine Kameraden ihn aus¬
lachten und sich über ihn moquirten, weil er am Abend vorher ge¬
tanzt habe und doch nicht tanzen könne; er sei ein Simpel, weil er
sich Geld gespart habe, auch habe er Nähnadeln, Fusslappen und ein
Messer gestohlen und ein Mädchen gebraucht. Am Tag darauf sah
er, wie die Stube bald hell, bald dunkel wurde, als wenn Streich¬
hölzer angesteckt würden, es roch intensiv nach Schwefel. Ein an¬
derer 8 ) sah vor dem Anfall Todte, glaubte von Räubern überfallen,
von Maschinen erdrückt zu werden.
Ein andermal 4 ) sind die Vorläufer Visionen feindlicher drohender
Gestalten: die Kranken hören ihr Leben bedrohen oder sich be¬
schimpfen, oder sie sehen Flammen in ihrer unmittelbaren Nähe her¬
vorbrechen und glauben, das Gebäude stürze über ihnen zusammen;
andere nehmen unangenehme Gerüche wahr, wie nach Schwefel, und
verbinden damit die Wahnvorstellung eines grossen Brandes, oder sie
hören dumpfes Getöse in den Ohren. An diese Hallucinationen
schliessen sich mit der Vehemenz von Reflexbewegungen die entspre¬
chenden Abwehrbewegungen, und es kommt oft genug zu Mord und
Selbstmord. Hierbei kann vollständige Tobsucht ausbrcchen 5 ); die
Patienten gestikuliren heftig, verfluchen die schlechten Menschen, zer¬
schlagen Fensterscheiben, werfen das Hausgeräth zum Fenster heraus
und klettern auf Dächer. Einem vierzigjährigen Manne 6 ), fleissigen
Schnapstrinker, hatte seine Frau angeblich gesagt, es wäre am besten,
wenn sie ihn zeitlebens einsperrten, dann könnte er keinen Schnaps
mehr trinken. Er überlegte sich diese Aeusserung und zündete end¬
lich, um ins Zuchthaus zu kommen, das Haus an; unmittelbar darauf
erfolgte der epileptische Anfall. Ein Mann, der an periodischer Tob-
!) s. m.
2 ) Samt, VI. Bd. S. 175.
3 ) v. Krafft-Ebing, Allgemeine Zeitsclir. f. Psychiatrie. XXXIII. S. 115.
4 ) Ebenda. S. 113.
5 ) Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie. XXXIII. S. 257.
«) Mendel, S. 550.
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UNIVERSUM OF IOWA
320
Dr. Fei ire,
sucht litt 1 ), wirft sich auf die • Knie, singt und betet mit laut er
Stimme und geräth in die heftigste Aufregung und tödtet in einem
solchen Anfall seine Frau, während sie das Essen aufträgt.
In seltenen Fällen zeigt sich als Vorläufer des epileptischen An¬
falls die als Doppelwahrnehmung 2 ) beschriebene Bewusstseinsstörung.
Der Kranke hat die Empfindung, als ob er alles um sich her, auch
wenn er in völlig neue Verhältnisse kommt, bereits einmal gesehen
hätte, als hätte der vor ihm stehende Arzt schon einmal so dage¬
standen, und als wüsste er, was nun kommen soll. Unmittelbar
darauf erfolgt dann der Anfall.
Auch Zustände äusserstcr Euphorie finden sich; es ist dem
Kranken so wohl, so schön, als wenn er im Himmel, bei Gott wäre.
Küthe 8 ) erwähnt einen epileptischen Kopisten, der vor dem An¬
fall als Prodrom Agraphie zeigt. Die Handschrift ist der normalen
völlig ähnlich, aber der Inhalt des Geschriebenen ist ungehörig: ein¬
zelne Posten sind überschlagen, andere nicht in die gehörige Reihen¬
folge gestellt, einzelne Silben sind mehrfach hintereinander schriftlich
reproducirt, in ganz gleicher Weise, wie bei der epileptischen Aphasie,
bei den vergeblichen Versuchen, die der Epileptiker macht, das Wort
richtig auszusprechen.
All diesen Arten von präparoxysmeller Geistesstörung ist ge¬
meinsam ihr plötzlicher Eintritt, die kurze Dauer und die völlige
Gleichheit bei- den Anfällen desselben Individuums.
Wir finden also als charakteristisch für die präparoxysmellen
Geistesstörungen entweder ein mürrisches, verdriessliches, zu Zomcs-
ausbriiehen geneigtes Wesen, wobei nicht selten Neigung zum Selbst¬
mord auftritt, oder einen Zustand von grosser Unruhe, in dem der
Kranke allerlei dumme Streiche macht, und der sich bis zur völlig
ausgebildeten Tobsucht steigern kann; schliesslich Delirien und Hallu-
cinationen, die mit Zwangsvorstellungen und verbrecherischen Hand¬
lungen verbunden sind.
In manchen Zügen sehr ähnlich, in anderen aber wieder ganz
und gar verschieden hiervon treten die postparoxysmellen Geistes¬
störungen auf.
Am Ende eines konvulsiven epileptischen Anfalls kehrt der
!) Leides dort, S. 163.
2 ) Sommer, S. 588; .lensen, S. 59.
3 ) S. 257.
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Pie Geistesstörungen der K|*il«*|»tik<»r.
321
Kranke nach einem kürzeren oder längeren tiefen Schlaf zur Norm
zurück, nach leichteren Anfällen sogar öfters überraschend schnell 1 ).
Oefters indes geht der Paroxysmus in eine Geistesstörung über, die
mitunter bereits nach einigen Stunden, zuweilen aber auch erst nach
2 bis 3 Tagen auftritt. Diese Geistesstörung besteht meist der Haupt¬
sache nach in Manie oder Melancholie; an beide kann sich völlige
Tobsucht mit gewaltsamen Handlungen anschliessen, die gewisser-
massen in Delirien und Hallucinationen wurzeln, aber durch sie nicht
motivirt werden, sondern mehr triebartig erfolgen 2 ). Nach Weiss 3 )
giebt es kaum ein psychotisches Symptom oder eine psychotische
Symptomengruppe, die sich nicht nach einem oder nach gehäuften
Krampfanfällen vorübergehend etabliren könnte. Betrachtet man die
ganzen Zustände jedoch eingehender, so lassen sich sehr wohl ganz
bestimmte Symptome und Erscheinungen unterscheiden, die allerdings
sehr mannigfaltig sind und häufig völlig ineinander übergehen.
Die Grundlage jeder postparoxysmellen Geistesstörung ist eine
einfache Umwölkung der Apperception und der Kritik, die allerdings
in ihrer Intensität ganz bedeutend schwankt 4 5 ). Die geringsten Stö¬
rungen bestehen in allerlei abnormen Sensationen; ein Patient hat
stets nach dem Anfall stundenlang eine eigentümliche Empfindung,
als ob der Kehlkopf gebrochen sei, kommt zum Arzt und lässt sich
jedesmal von demselben genau untersuchen; ein anderer hat das Ge¬
fühl, als sei sein Rectum zu einem weiten Schlauch ausgedehnt,
andere wieder haben die Empfindung rapiden Wachsthums der einzelnen
Extremitäten, oder als läge eine beträchtliche Luftschicht zwischen
Haut und Muskulatur, als sei der Kopf, in dem ein Gefühl von
Wüstigkeit herrscht, wie ein Eimer so dick angeschwollcn.
Bei anderen tritt nach dem Anfall ein Dämmerzustand ein; in
dem sic allerhand unzweckmässige Handlungen verrichten. Sie sind
dabei mehr oder weniger tief benommen, taumeln wie schlaftrunken
umher, der Blick ist eigenthümlich starr und leer 6 ), nicht besonders
ängstlich, eher wie erstaunt, lächelnd; auf Anrede geben sie keine
Antwort, sensible Reize rufen gar keine oder stark verspätete moto-
1 ) Noili n a lt <• 1. ,S. 235.
2 ) Samt, V. Bd. S. 405.
3 ) Wiener Klinik. X. S. 93.
4 ) Sommer, S. 569.
5 ) Sommer, S. 575.
r, j Weiss, Wiener Klinik. X. S. 91 IT.
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822
L)r. F o i g e,
rische Reaction hervor. In diesem Zustand nun läuft oft eine Reihe
von Bewegungen ab, die bestimmten, häufig geübten Zweckbewegungen
entsprechen. Während der Ausführung derselben beachten sie ihre
Umgebung in keiner Weise. Die Handlungen bestehen darin, dass die
Epileptiker die Kleider ablegen oder an ihnen herumnesteln, die Be¬
wegung des Waschens machen, herumgehen und Geräthe anfassen oder
sie einer verkehrten Benutzung zuführen. Sie ziehen Schuhe und
Strümpfe über die Hände oder den Rock verkehrt an; ein Patient
steigt, aus dem Bett, um sein Hosenbein zu holen 1 )- In diesem Zu¬
stand tiefen Stupors fehlt fast nie die besonders von Samt hervor¬
gehobene, für Epilepsie so äusserst. charakteristische sprachliche
Reaktion. Die Kranken verhalten sich spontan meist ganz stumm,
auf Fragen nach dem Namen und Stand, nach Monat und Jahreszahl,
nach dem Aufenthaltsort antworten sie entweder gar nicht oder un¬
richtig; so giebt der eine als Jahreszahl 1700, ein anderer 2148 an;
einer antwortet auf die Frage nach dem Datum: „Todestag von
Lassalle“ 2 ). Nach dem Aufenthaltsort gefragt, giebt der eine an, er
sei in seiner Werkstätte, ein anderer auf dem Kirchhof, im Waisen¬
haus, im Himmel oder beim lieben Gott. Oder sie antworten gar
nicht auf die an sie gerichtete Frage, sondern auf die Frage nach
dem Monat: „Ihr Vater ist in Potsdam“ 3 ) oder; „Wir wollen nach
Danzig fahren“. Ein Epileptiker, der unverständliche Wortcombi-
nationen aussprach, in denen öfters das Wort „Angst“ vorkam, ant¬
wortete auf die Frage danach: „Angst in meinem Leben nicht“ 4 ).
Andererseits wieder kommt es vor, dass ein Patient die Anamnese,
seinen Namen, den Ort u. dergl. richtig angiebt, die Zeit dagegen
nicht weiss, und umgekehrt.
Eine andere Form ist der Stupor mit Verbigeration s ).
Ein Patient, der sein Nationale nicht richtig anzugeben vermochte, schrie
von Zeit zu Zeit aus Leibeskräften einzelne Worte, meist Namen oder kurze, ab¬
gerissene, ganz unverständliche Sätze, z. B. „Napoleon“, „Grimme“, „Schlüssel¬
haken“, „Schlesisch Thor“, „ich habe weiter nichts als Hände“ u. dergl.
Dabei besteht meist eine blinde Gewaltthätigkeii. Ein Patient spuckt melir-
J ) Samt, VI. i3d., S. 12(i.
2 ) Ebenda. S. US.
3 ) Ebenda. S. 11t).
4 ) Ebenda. S. 112.
5 ) Ebenda. S. 127.
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UNIVERSITÄT OF IOWA
Die Geistesstörungen der Epileptiker. 323
mals in’s Bett; als ihn der Wärter daran hindern will, schlägt er ihn in’s
Gesicht 1 ).
Mitunter besteht nach dem Anfall nur ein Zustand der tiefsten Benommen¬
heit, des tiefsten Sopors, und der Kranke zeigt die Erscheinungen der Flexibilitas
eerea 2 ), jenes eigenthümlichen Zustandes, in dem die Glieder die Lage oder Stel¬
lung, die man ihnen willkürlich gegeben hat, längere oder kürzere Zeit beibe¬
halten, bis sie, dem Gesetz der Schwere folgend, in ihre natürliche Lage zurück¬
sinken.
Aus dieser Benommenheit erwachen die Kranken entweder direct nach einem
24- bis 48stündigen Schlaf, oder es schliesst sich daran eine plötzlich eintretende
und ebenso plötzlich wieder verschwindende Geistesstörung, die in ganz kurzer
Zeit ihre Akme erreicht, was bei keiner anderen, sonst die gleichen Erscheinungen
zeigenden Psychose vorkommt.
In erster Linie treten dann zu dem geschilderten Stupor melancholische und
depressive Gedanken 3 ). Der Patient fühlt sich trotz der Verworrenheit der Ge¬
danken unendlich müde, elend und zerschlagen, er empfindet heftigen Kopf¬
schmerz, vage Schmerzen im ganzen Körper, auf der Brust, in den Gliedern, in
den Knochen; er ist körperlich und geistig wie zerschmettert und wird dadurch
unzufrieden und lebensüberdrüssig. Er hatte, wenn auch nur leise für sich, ge¬
hofft, dass seine schreckliche Krankheit endlich doch beseitigt wäre, eine längere
Pause hatte ihn vielleicht noch sicherer gemacht, — da holt die Epilepsie die
verlorene Zeit nach und tritt heftiger als je sonst wieder auf. Diese schmerzlichen
Gefühle gewinnen schliesslich die Oberhand über seine Intelligenz und Willens¬
kraft, er fühlt, er ist der zum Sterben kranke Mensch, er hat aber durch seinen
Lebenswandel sein entsetzliches Geschick verdient. Ein leichtes Geräusch wird
in seinen Gedanken zur Donnerstimme, die ihm seine Verurtheilung verkündet,
und er lässt im tiefsten Schuldbewusstsein Alles über sich ergehen. Seine Sünden
und Verbrechen sind so schrecklich, dass er die schwerste Strafe dafür verdient,
dass der Kaiser, ja Gott selbst seine energische und strenge Bestrafung anordnet,
so sehr hat der Kranke gegen seine Familie, die Armee, sein Vaterland, ja gegen
die ganze Welt gefehlt. In dieser Stimmung dichten sich die Epileptiker die
schwersten Verbrechen an, an die sie in gesunden Tagen nicht im Traume ge¬
dacht haben. So marschiert ein Patient 4 ) in militärisch strammer Haltung auf
den Arzt zu, meldet sich zur Haft und giebt an, er sei Päderast, er sei auf Befehl
Seiner Mjgestät hergeschickt worden, um an Unterleib und Genitalien aufge¬
schnitten und untersucht zu werden. Als ihm gesagt wurde, man traue ihm ein
solches Verbrechen nicht zu, erzählte er ganz genau den Hergang, wie sich die
allerdings nur einmal ausgeführte Handlung zugetragen habe. Im weiteren Ver¬
lauf behauptete er, auch seine Eltern seien von Ostpreussen hergekommen, um
gleichfalls abgeurtheilt zu werden, sein Vater sei an einer Geschlechtskrankheit
gestorben, sein Bruder sei auch geschlechtskrank und dem Tode nah, das Gericht
1 ) Samt, VI. Bd. S. MC.
-) Gnauck, S. 346.
3 ) Sommer, S. 57G.
4 ) Samt, VI. Bd. S. 138.
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UNIVERSUM OF IOWA
324
Dr. Feige,
verhandele selion darüber, sein ganzes Geschlecht- zu vernichten. Zu Zeiten
wusste er, dass diese Gedanken krankhaft seien, trotzdem aber stand es bei ihm
positiv fest, dass er verurtheilt sei. Ein anderer 1 ) erzählt, er und seine ganze
Familie hätten gestohlen, Geld, Hafer und für 40000 Thaler Pflaumen: auch
dieser hält sein vermeintliches Verbrechen für so schwer, dass nur der Kaiser
selbst ihn aburtheilen könne. Ein anderer 2 ) erzählt, er hätte soviel Sünden, dass
die Acten gar nicht in das Zimmer gingen, er hätte Nähnadeln, Zwirn und Fuss-
lappen gestohlen. Dabei zeigen sie oft die heftigste Angst 8 ), wollen nicht im
Zimmer bleiben, poltern und rütteln an den Thiiren, beissen und schlagen bei der
Abwehr um sich; sie wollen aus der Anstalt heraus, sie seien nicht krank, hätten
Frau und Kinder zu ernähren: sie seien gar nicht in einer Anstalt, das sei ganz
etwas anderes, das sei ein Gefängniss, ja schlimmer als ein Gefängniss: wenn sie
hier festgehalten würden, müssten sie durch’s Fenster gehen.
Im Anschluss daran sehen sie dann grosse Menschenmengen um sich, die
sie zum Gericht schleppen wollen, sie sehen lange Leichenzüge an sich vorüber¬
ziehen oder hören die Zurüstungen zu ihrer grausamen Execution, da winken ihm
die längst verstorbenen Eltern: „Komm zu mir und ende Deine Qual!“ Und so
ist es denn verständlich, dass es oft genug zum Selbstmord oder wenigstens zum
Versuch dazu kommt, und zwar führen die Epileptiker denselben meist in ganz
grauenvoller Weise aus.
Im schroffsten Gegensatz zu diesen peinigenden Gedanken steht der Ge¬
sichtsausdruck, der, weit entfernt, ängstlich, deprimirt oder furchtsam wegen der
zu erwartenden schweren Strafe zu sein, meist freundlich lächelnd ist. Ein Me¬
lancholiker, der ja dieselben Vorstellungen haben und äussern kann, wird stets
dabei sich äusserst zerknirscht, reuevoll und angsterfüllt zeigen, während der
Epileptiker mit lächelndem Angesicht die schauderhaftesten Beschuldigungen
gegen sich Vorbringen und die grässlichsten an sich zu vollziehenden Strafen
schildern kann. So erzählt ein Patient 4 ) im schreiendsten Contrast zu dem Inhalt
seiner Aeusserung mit eigentümlich lächelndem Gesicht, er sehe schon, es würde
hier doch keine Ruhe, bis es fertig wäre, da müsste er verrückt sein, wenn er nicht
sähe, dass seine letzte Stunde jetzt geschlagen habe.
Sucht der Epileptiker die Schuld an den nach dem Anfall ihn peinigenden
unangenehmen Erscheinungen nicht in sich selbst, so sieht er in seiner ganzen
Umgebung nicht nur, sondern auch in jedem ihm begegnenden Menschen seine
ärgsten Feinde, er sieht in den ihn bedrückenden Kopfschmerzen, in dem Op-
pressionsgefühl die Folgen objectiver, von aussen an ihn herangetretener Schäd¬
lichkeiten. Er macht nun die Aussenwelt für seine Empfindungen verantwortlich,
glaubt, seine Angehörigen wollten ihn aus dem Wege räumen, um ihn beerben zu
zu können; er sieht in allen Speisen Gift, die Menschen sind Mörder, die ihn über¬
fallen wollen, in jeder Ecke lauert ihm ein Mensch auf, um sich auf ihn zu
stürzen. Da sieht er überall Blut und Stechen und Morden, die Wärter hantiren
*) Samt, VI. Bd. S. 180.
2 ) Ebenda. S. 174.
8 ) Ebenda. S. 128.
4 ) Ebenda. S. 131.
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UNIVERSUM OF IOWA
Die Geistesstörungen der Epileptiker.
325
mit Maschinerien, um den Leuten das Blut abzulassen; unter dem Bett liegt ein
Mensch, der ihn mit Messern in’s Kreuz sticht. Er verweigert schliesslich völlig
Speise und Trank; er klagt die Umgebung aller möglicher gegen ihn verübter
Schändlichkeiten an. Da wird dem einen der Arm abgeschnitten 1 ); ein anderer 2 ),
der mit einem Schlüsselbeinbruch in die Anstalt aufgenommen wurde, schimpfte,
das seien hier schöne Aerztc, das sei ja schlimmer als im Gefängniss, das
Schlüsselbein sei ihm hier zerschlagen worden. Ein anderer schimpft 3 ), „er sei
in der Anstalt entsetzlich malträtirt worden, wie die Hyänen seien sie über ihn
hergefallen, er sei auf alle Weise gepisackt worden, so wie er sich umgedreht
hätte, hätten sie ihn quitschnass angespritzt“. Es ist dies Samt’s postepilep¬
tischer Angstzustand mit räsonnirendem Delirium und grosser Erregung 4 ).
Andere wieder zeigen in diesen persecutorischen Wahnvorstellungen 5 ) ein
supernaturalistisches Gepräge. Die Menschen als solche nämlich können ihm
nichts anhaben. wohl aber andere Wesen, wenn sie überirdisch sind. Alte Weiber,
Hexen, Zauberer haben im Namen der Verwandten heimliche Künste ausgeübt,
sie haben ihm die schreckliche Krankheit auferlegt, haben ihm sein Blut ver¬
giftet, haben ihn verhext 6 ), oder der Teufel selbst ist in ihn gefahren. Dem
einen ist „der Böse“ 7 ) als grauer Schatten erschienen und hat ihm befohlen, sich
umzubringen, hat ihm verboten zu essen.
1 ) Samt, Bd. VI. S. 126.
2 ) Ebenda. S. 135.
») Ebenda. S. 134.
4 ) Ebenda. S. 128.
ß ) Sommer, S. 578.
6 ) Samt, Bd. VI, S. 169.
7 ) Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie. XXXI. S. 422.
(Schluss folgt.)
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Gutachten über einen reinen Fall von Irresein mit
Zwangsvorstellungen und Zwangshandlungen.
Von
Director Dr. C. Werner in Owinsk.
H. B. aus A., 24 Jahre alt, hatte anfangs die höhere Bürgerschule besucht,
ging aber dann, weil ihm das Lernen in der Schule nicht mehr gefiel, als Kauf¬
mann in die Lehre. In seiner frühesten Jugend soll er stets gesund gewesen sein,
im 15. Lebensjahre einmal auf den Kopf gefallen sein und davon noch heute eine
Kopfnarbe zurückbehalten haben. Als Schuljunge giebt er zu, hin und wieder
inasturbirt zu haben, später als Lehrling viel mit Frauenzimmern verkehrt und
wiederholentiich an Tripper und Hodenentzündung gelitten zu haben, will aber
niemals luetisch gewesen sein. Sein Vater war Sattler und ist im März 1890 als
Geisteskranker in einer Irrenanstalt gestorben; seine Mutter lebt angeblich gesund
mit ihrer Tochter in A., doch sollen zwei noch am Leben befindliche Brüder sei¬
nes Vaters vorübergehend an Anfällen geistiger Gestörtheit gelitten haben. Die
Krankheit und der Tod seines Vaters, sowie das plötzliche Ableben eines Onkels
(mütterlicherseits) wirkten ausserordentlich deprimirend auf ihn ein, so dass er
seitdem eigentlich nie mehr recht lustig und vergnügt wurde, stets gedankenlos
und grübelnd umherlief. Als er hörte, dass sein Vater gestorben sei, hielt er sich
nicht für kräftig genug, zum Begräbniss zu reisen und daselbst das Erforderliche
zu besorgen, reiste jedoch bald nachher zu seiner Mutter und fiel dort sehr bald
durch sein zurückhaltendes, zuweilen hastiges Wesen auf, weshalb er sich auf den
ausdrücklichen Wunsch seiner Mutter endlich ärztlich untersuchen liess. Der ärzt¬
liche Rath lautete, sich für das laufende Halbjahr wegen Nervenleidens aller Ge¬
schäfte völlig zu enthalten und einen Landaufenthalt zu nehmen. Doch gegen den
Rath des Arztes und den Wunsch seiner Mutter nahm er eine Stelle als Verkäufer
in G. an, wo er sofort durch seine geringe Umgänglichkeit, ganz besonders aber
durch seinen Geiz auffiel; denn nach Angabe seines Principals und dessen Per¬
sonal soll er Wochen lang nicht warm zu Mittag gegessen, sondern sich mit einem
Stück Brot und etwas Wurst begnügt haben. In seiner Eigenschaft als Verkäufer
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Fall von Irresein mit Zwangsvorstellungen und Zwangshandlungen. 327
hatte er beim Verkauf einer Waare den Kaufpreis auf einen Zettel zu schreiben
und dann den Käufer, mit diesem Zettel als Beleg, an die Kasse zu schickon, der
dort den notirten Betrag zu zahlen hatte. Von diesen Zetteln hat nun B. innerhalb
6 Wochen 38 Stück gefälscht resp. unterschlagen, indem er entweder die Beträge
in niedrigere umänderte und die differirende Summe aus der Ladenkasse stahl
oder indem er direct vom Käufer das Geld in Empfang nahm und dies sammt Be¬
legzettel gar nicht erst ablieferte. Ausserdem wurden in seiner Wohnung eine
grosse Anzahl Shlipse, seidene Tücher, Kattun, eine seidene Schürze, Seidenstoff,
Sammt im Gesammtwerthe von 160 Mark 50 Pf. vorgefunden, ferner Briefmarken,
von denen er ebenfalls den grössten Theil aus einem offenen Ladenpult entwendet
hatte. Alle diese Gegenstände waren sorgfältig geordnet mit Angabe des Preises
und des Tages der Entwendung in einem Buch notirt, das gestohlene baare Geld
war ebenfalls Posten für Posten aufgezeichnet und wurde in Häufchen gelegt in
seiner Wohnung vorgefunden. Daraufhin wurde er wegen Urkundenfälschung,
Diebstahls und Unterschlagung verhaftet und in Untersuchung gezogen und
schliesslich auf ärztlichen Antrag zur Beobachtung seines geistigen Zustandes
und Vorbereitung eines motivirten Gutachtens der hiesigen Irrenanstalt übergeben.
Nach den Angaben seiner Schwester, die dieselben gelegentlich eines Besuchs in
hiesiger Anstalt machte und die in den Untersuchungsacten fehlten, soll B.’s
erster Chef, bei dem er lernte, ihm ein ausgezeichnetes Zeugniss ausgestellt haben
und auch sein zweiter Principal konnte ihn wegen seiner Emsigkeit und Zuver¬
lässigkeit nur loben. Dagegen soll B. bereits in seiner dritten Stellung, ehe er
nach Hause zur Mutter zurückkehrte, Couverts mit aufgedruckter Firma, alte
Scheeren, Kindermützchen u. Aehnl. entwendet haben und nur die Coulanz seines
Chefs, infolge der sofortigen Deckung des Schadens seitens der Angehörigen, habe
ihn vor der Verhaftung bewahrt.
B. ist ziemlich klein, blass aussehend mit gut entwickelter Musculatur und
massigem Fettpolster. Seine Haltung ist aufrecht, sein Gang sicher, Appetit und
sonstige vegetative Functionen sind in Ordnung; sein Schlaf oft durch unruhige,
„hässliche 1 * Träume gestört. Auf dem linken Scheitelbein befindet sich eine circa
1 1 2 cm lange querverlaufende, nicht adhärente und auf Druck nicht schmerzhafte
Narbe. Schädel ist symmetrisch, Lähmungserscheinungen seitens der Gehirn¬
nerven sind nirgends nachweisbar, wie auch sonst keinerlei organische Störungen
ärztlich zu constatiren sind. Mit gebeugtem Kopfe, sinnend und grübelnd, sitzt
er im Bette, klagt über Schwindel und heftiges Kopfweh (Stirn- und Hinterhaupt¬
schmerzen), daneben über zeitweilige Rückenschmerzen und eigenthümliches Ge¬
fühl in den Zehen und Beinen. Er spricht nur, wenn er gefragt wird, giebt auf
alle ihm vorgclegten Fragen richtigen und sachlichen Bescheid, doch kommen die
Antworten stets stossweise und mitunter abgebrochen heraus. Nach seiner straf¬
baren Handlung gefragt macht er ungefähr dieselben Angaben, wie bereits früher
beim gerichtlichen, als auch ärztlichen Verhör, woselbst er erklärte, dass er seit
längerer Zeit schwach im Kopfe gewesen sei und durch einen unwiderstehlichen
inneren Drang zu den Diebereien gezwungen worden sei. Die Sachen, erzählt er
ruhig und gelassen, habe er „zum Vergnügen** entwendet, er habe sich sehr
darüber gefreut und dabei nicht geglaubt, dass „es solche Gefahr damit habe“.
„Es war mir oft so, als ob ich etwas mitnehmen müsse, und nachdem dann einige
Tage vergangen waren, kam diese Sucht wieder und ich war dann schon zu-
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UMIVERSITY OF IOWA
328
Kr. Werner,
frieden, wenn ich einen einfachen Shlips gestohlen hatte“. Gefragt, ob er durch
Stimmen dazu aufgefordert worden wäre, erwidert er: „Eine wirkliche Stimme
habe ich nicht gehört, aber wenn ich Abends im Bette lag, ging mir Alles durch
den Kopf, ich hörte verschwommene Hinge, zitterte vor Angst am ganzen Körper
und wurde erst wieder ruhig, wenn ich um nächsten Tage gestohlen hatte“. Er
habe auch das Geld und die anderen entwendeten Sachen entweder selbst oder
durch seine Mutter zurückgeben wollen, zu der er in der allernächsten Zeit zu
reisen beabsichtigte, deshalb sich alles so genau notirt. und geordnet. Hier in der
Anstalt will er wieder ganz gesund werden, er fühle sich sehr elend und am
ganzen Körper krank, aber nicht geistesgestört. — Während seines hiesigen Auf¬
enthaltes ist sich der Zustand, wie er eben geschildert wurde, ziemlich gleich ge¬
blieben. B. verhielt sich ruhig, war bescheiden, bat, das Bett ganz hüten oder
wenigstens Stunden lang im Bett bleiben zu dürfen, nur einmal, in einer Nacht,
will er die* Stimme seiner Mutter gehört haben, sprang daher aus dem Bette,
öffnete das Fenster und lauschte eine Zeit lang. Seine Stimmung ist stets eine
gedrückte, er hält sich am liebsten allein, grübelt viel, schreibt einmal einen Brief
an seine Mutter, worin er seiner Verwunderung Ausdruck giebt, dass er noch
keine Nachricht und keinen Besuch von seinen Angehörigen empfangen habe,
worauf er dann fortfährt: „Lieber wäre es mir, wenn ich, wie im vorigen Jahre,
auf die Hühnerjagd mitgehen könnte, jedenfalls sind unsere Hunde auch noch
alle munter! Zugleich kann ich Euch noch mittheilen, dass die Insel Helgoland
zu Deutschland übergegangen ist, welches Ihr auch wohl in der Magdeburger
Zeitung gelesen habt.“ Sein Appetit ist stets gut, in der letzten Zeit will er auch
weniger unruhig geschlafen haben.
Gutachten.
B. ist hereditär schwer belastet: sein Vater ist als Geisteskranker
in der Irrenanstalt verstorben, zwei Onkel sind sehr aufgeregie Na¬
turen und vorübergehend geistesgestört. Er selbst ist nicht über¬
mässig kräftig gebaut, blutarm, widerstandsunfähig gegen unerwartete
äussere Eindrücke. Der plötzliche Tod seines Onkels, die schwere
geistige Erkrankung seines Vaters bringen eine Aenderung in seinem
ganzen Wesen hervor, er wird still, grübelnd, verdrossen und als ihn
die Nachricht von dem Tode seines Vaters trifl’t, ist er nicht im
Stande, die Reise zum Begräbnis» seines Vaters zu unternehmen.
Gelegentlich eines Besuchs fällt sein verändertes Wesen seinen An¬
gehörigen auf, er lässt sich auch ärztlich untersuchen, wird für nerven¬
leidend und einer längeren absoluten Schonung bedürftig erklärt. Statt
dessen geht er wiederum in Stellung, erregt auch sehr bald bei sei¬
nem neuen Principal und seinen Collegen den Eindruck eines sonder¬
baren, verschlossenen, selbst geizigen Menschen, der wenig umgäng¬
lich, am liebsten allein ist. Nun folgt die Entdeckung der wunder-
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Fall von Irresein mit Zwangsvorstellungen mul Zwangshandlungen. 3'21)
baren Diebereien, die er auch sofort eingesteht und in derselben Weise,
wie bei seinem ersten Verhör, noch heute in ihren Details angiebt.
Schon in seiner früheren Stellung hat er Diebstähle vollführt, da stahl
er Couverts mit Firmadruck, alte Scheeren, Kinderraützchen; in G.
vergreift er sich vor Allem an Shlipsen, Seidenstoffen u. s. w. Dabei
fällt zuerst die Auswahl der gestohlenen Gegenstände auf und damit
verbunden die Zwecklosigkeit des Verbrechens, der gänzliche Mangel
an Zusammenhang zwischen dem Diebstahl und dem vermuthlich be¬
absichtigten Zwecke. Was können ihm die Couverts, auf denen die
Firma gedruckt ist, nützen, was Kindermützchen, Seidenstoff, alte
Scheeren? Ein gewöhnlicher Dieb greift nach Sachen, die ihm ent¬
weder Geld einbringen oder durch den Gebrauch irgend welchen
Nutzen gewähren. Weiter ist nicht unerwähnt zu lassen, wie alle
diese Sachen später in seiner Behausung aufgefunden wurden. Gut
geordnet, genau notirt mit Angabe der Zeit, wann er cs entwendete
und dem Preise der betr. Waare, das Geld in Häufchen gelegt und
ebenfalls gebucht, so wurde Alles vorgefunden, nichts fehlte. Ich
kann mir nicht denken, dass ein gemeiner Dieb und Betrüger des¬
wegen die That begeht, um nur an dem Geraubten seine Augenweide
zu haben, habe beispielsweise noch niemals gehört, dass Jemand
Geld stiehlt, um es daheim zu häufeln und sich täglich daran zu er¬
götzen, ohne sich sonst irgend welchen persönlichen Nutzen und Vor¬
theil damit zu verschaffen. Die Ausführung des Verbrechens und die
Auswahl der gestohlenen Gegenstände dürfte mit vollem Rechte bei
einem erblich so schwer belasteten und seit längerer Zeit wegen
seines sonderbaren Wesens auffälligem Individuum den Verdacht er¬
regen, dass cs sich dabei um einen geistig nicht normalen Menschen
handeln könne. Und in der That giebt es eine wissenschaftlich er¬
wiesene und wiederholentlich literarisch beschriebene Form der geisti¬
gen Erkrankung, die man (instinktives) Irresein mit Zwangsvorstellungen
und Zwangshandlungen genannt hat und deren Erkennen in forensi¬
scher Hinsicht von grosser Bedeutung ist. Derartige Patienten er¬
scheinen dem unsachverständigen Beobachter häufig völlig normal,
keine krankhafte Erscheinung ist an ihnen wahrnehmbar und nur die
auffällige That erweckt vielleicht die Vennuthung einer möglicherweise
gestörten Seelenthätigkeit. Zunächst betrifft es in der Mehrzahl der
Fälle erblich schwer belastete, körperlich vielfach nicht ganz rüstige
Personen. Ein übermächtiger Drang, ein überwältigender Zwang be¬
mächtigt sich solcher Menschen und lässt ihnen nicht eher Ruhe, bis
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330
Dr. W o r n e r.
das Gewollte zur Tliat unigesetzt ist. Gewöhnlich geht eine krank¬
hafte Vorstellung voraus, dieselbe kann kürzere oder längere Zeit be¬
stehen, allmälig oder blitzartig auftreten und mit ihr verbindet sich
dann Schlaflosigkeit, Reizbarkeit, vor allem aber ein Angstgefühl, das
sich bis zur höchsten Beklemmung steigern kann. Die Dauer dieser
Anfälle ist recht verschieden, bald kurz, bald Tage, ja Wochen lang
und ist dabei die Periodicität mit unregelmässigen Intervallen höchst
charakteristisch. Ist aber die Tliat vollbracht, hört das Angstgefühl,
die Beklemmung auf, es tritt eine gewisse Erleichterung ein und erst
nach längerer Zeit, auf wiederholtes Vorhalten zeigt sich eine klare
Erkenntniss des Geschehenen, mitunter sogar Reue. Ganz so verhält
es sich im vorliegenden Falle: B. ist, wie schon mehrmals hervorge¬
hoben, ein erblich stark belasteter Mensch, seit längerer Zeit ist bei
ihm verändertes Wesen, Reizbarkeit, Abgeschlossenheit wahrgenommen
worden. Ohne Krankheitseinsicht erzählt er gleichgiltig den Vorgang
und giebt als Grund seines Handelns an, dass er „zum Vergnügen,
weil er so grosse Freude an diesen Sachen gehabt habe und weil er
stehlen müsste“, dies Alles entwendet habe. Ganz genau beschreibt
er dann, wie die krankhafte Vorstellung in ihm auftrat, eine furcht¬
bare Angst sich seiner bemächtigte und er nicht eher Ruhe fand, bis
er „und wenn es nur ein lumpiger Shlips war“ gestohlen hatte. Und
nicht einmal, in unregelmässigen Perioden, begeht er dieselbe That,
nachdem er in einer seiner früheren Stellungen bereits angefangen
hatte und nur durch die Rücksichtnahme seines Prinzipals der Ver¬
haftung entgangen war. Doch schon äusserlich, in seinem Gesichts-
ausdruck, seinem ganzen Wesen und Verhalten zeigt sich eine unver¬
kennbar geistige Abnormität, was ja auch im Wesentlichen schon
früher ärztlich bescheinigt wurde. Schläfrig und gleichgültig bringt er
den Tag, am liebsten im Bett liegend, hin; allein für sich, zuweilen
leise vor sich hin murmelnd, geht er auf und ab, ohne Verlangen,
sich mit Jemandem zu unterhalten, ohne Interesse für seine Zukunft .
Dabei klagt er über beständige Kopfschmerzen, eigenthümlichc Em¬
pfindungen in den Gliedern, Schlaflosigkeit, achtet heimlich auf jede
Stelle an seinem Körper, stellt aber energisch in Abrede, dass er
geistesgestört sei; besondere Wahnideen werden nicht geäussert. Alle
diese Beobachtungen deuten auf eine psychische Degeneration hin und
genügen in Verbindung mit seiner hereditären Anlage, um die in
Frage stehenden Handlungen als auf krankhafter Basis beruhend, zu
erklären.
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Kall von Irrost'in mii Zwannsvorsiollunfrfn um! Zwanjrshanülunfjpn. 881
Ich fasse daher mein (nitachten nochmals dahin zusammen: p. B.
hat die oben angeführten Handlungen in einem Zustande geistiger
Abnormität auf Grund von Zwangsvorstellungen, wodurch die freie
Willensbestimmung ausgeschlossen war, vollführt und ist noch jetzt
als geisteskrank zu erachten.
Unterdessen sind mehr als drei Jahre vergangen. Nach den
neuesten eingeholten Erkundigungen giebt der Gemeindevorsteher seines
Heimathsortes an, dass B. ein eigenes Geschäft in A. gegründet hat
und es ihm auch „einigermassen“ geht. „Zuweilen beobachtet man
an ihm zwar einen stieren Blick, im Uebrigen benimmt er sich aber
ganz anständig.“
Roda (Genesungshaus) im Februar 185)4.
Vierteljahrs,-sehr. f. jjer. Mod. Dritte Fol^e. IX. *«?.
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8 .
Ueber die Ecchymosen hinter der Brustaorta.
Von
Prof. E. v. Hofmann in Wien.
Das von mir seit 1887 hervorgehobene Vorkommen von Ecchy-
mosen im hinteren Mediastinalraum bei Erstickten und anderen mit
Krämpfen verbundenen plötzlichen Todesarten, sowie nach subacuter
Vergiftung mit Phosphor u. dgl. hat in neuester Zeit insofeme eine
unerwartete Bedeutung durch die Mittheilung Prof. Kratter’s 1 ) er¬
langt, dass in diesem Befunde ein sehr werthvolles allgemeines Kenn¬
zeichen des Erstickungstodes gesehen werden muss.
Kratter trennt diese Befunde wegen ihrer Grösse, ihrer unregel¬
mässigen Form, insbesondere aber wegen ihrer ganz anderen Ent¬
stehungsweise von den gewöhnlichen Erstickungsecchymosen, glaubt,
dass man sie am besten als „retromediastinale Blutungen“ bezeichnen
könnte, und legt das Hauptgewicht auf die von ihm beobachtete
Häufigkeit, ja mit gewissen Einschränkungen geradezu Constanz
des Befundes bei der Erstickung erwachsener Personen.
Kratter fand diese Blutungen bisher bei fast allen Arten der
mechanischen Erstickung, insbesondere bei Ertrunkenen, Erhängten,
sowie bei Erstickten durch Aspiration von Fremdkörpern; sie fehlten
dagegen immer bei der Erstickung durch Compression des Thorax.
Auch hat er sie bei mehreren Erstickungsarten aus inneren Ursachen,
nach Tetanus und nach Tod im epileptischen Anfalle sowie nach
elektrischem Tod beobachtet.
r l Tagblatt der Wiener Naturforsclierversammlung. 1894. S.244: und diese
Vierteljahrsschrift. 3. Folge. IX. 1.
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Ueber die» Ecrhymosen hinter der Brustaorta. 333
Schliesslich bemerkt er, dass diese Blutungen fast nie bei Neu¬
geborenen und Kindern Vorkommen, dagegen fast niemals bei der Er¬
stickung Erwachsener, auch solcher Personen fehlen, die im jugend¬
lichen Alter von 15—20 Jahren stehen, und sie sind demnach, sagt
er, da subpleurale und subpericardiale Ecchymosen bei Kindern fast
regelmässig, bei Erwachsenen dagegen relativ selten sich finden, in
Bezug auf ihr Vorkommen nahezu Antagonisten der subpleuralen und
subperieardialen Ecchymosen, was allein schon auf eine andere Ent¬
stehungsursache hinzudeuten scheint.
Dieses merkwürdige Vorkommen und die Entstehung dieser Blu¬
tungen erklärt sich Kratter aus einer Zerrung und Verschiebung der
am oberen Ende am linken Bronchus und unten am Zwerchfell fixirten
Brustaorta durch die gewaltigen Inspirationsbewegungen während der
Dyspnoe und die dabei erfolgende Zerreissung von Blutgefässen, wo¬
raus sich zugleich erkläre, warum diese Blutungen bei Erstickungen
dann fehlen, wenn 1) die Excursionen des Thorax behindert sind
(Verschüttung, Einklemmung u. dgl.); 2) wenn die Muskulatur, wie
bei ganz kleinen Kindern, schwach entwickelt ist, und 3) wenn bei
Erwachsenen besondere Verhältnisse, z. B. feste Anwachsung der
Lungen, die Verschiebung der Aorta unmöglich gemacht haben.
Diese Angaben Kratter’s und der hohe Beweiswerth, welchen
derselbe dem besprochenen Phänomen für die Diagnose des Er¬
stickungstodes bei Erwachsenen zuschreibt und der, wenn sich die
Sache verhalten sollte, wie Kratter ausführt, in der That als ein
sehr hoher bezeichnet werden müsste, haben mich veranlasst auch
meinerseits und an der Hand des mir zur Verfügung stehenden grossen
Leichenmaterials das Vorkommen und die Entstehungsweise der retro-
mediastinalen Ecchymosen genauer zu verfolgen, zu welchem Behufc
sämmtliche seit der Mittheilung Kratter’s bei der Wiener Natur¬
forscherversammlung vorgekommenen Leichen plötzlich eines natür¬
lichen oder gewaltsamen Todes Verstorbener in der von Kratter an¬
gegebenen Weise untersucht worden sind 1 ).
Leider führten diese Untersuchungen zu einem anderen Resultat.
Zunächst ergab sich allerdings, dass Blutungen in dem hinter
der Brustaorta gelegenen Zellgewebe bei erstickten Erwachsenen zu
den fast constanten Befunden gehören und dass sie auch nach soge-
!) Vom 1. October 1894 bis 20. Januar 1895 257 sauitätspolizciliche mul
44 gerichtliche, somit im Ganzen 301 Leichen.
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K. v. Hof mann.
nanuter innerer Erstickung regelmässig verkommen, dass sic aber
auch bei Neugeborenen und kleinen Kindern ganz gewöhnlich und in
gleicher Localisation sich finden und von jenen der Erwachsenen nur
durch ihre verhältnissmässige Kleinheit sich unterscheiden. Ferner
ergab sich, dass auch der Tod durch Erdrücken keine Ausnahme
macht, indem sich diese Ecchymosen nicht bloss bei Säuglingen, die
wahrscheinlich im Bette erdrückt worden sind, sondern auch bei
einem kräftigen und vollkommen mannbaren 15jährigen Burschen
landen, der von einer grossen Erdmasse verschüttet worden und, da
keine Spur von Verletzungen und keine Spur von aspirirten Erdtheil-
chen gefunden wurde, offenbar nur infolge der Behinderung der Ex¬
tensionsfähigkeit des Thorax an Erstickung gestorben war.
Schliesslich ergab sich, dass diese Blutungen in mehr weniger
deutlicher Ausbildung bei allen möglichen plötzlichen Todesarten sich
finden und dass sie auch bei solchen nicht ganz fehlen, wo der Tod
nach längerer Agonie eingetreten ist.
Bei näherer Untersuchung dieser Blutungen wurde fast ausnahms¬
los constatirt, dass sie meist nur aus flüssigem oder höchstens nur
locker geronnenem Blut bestanden und dass sich dieses Blut, wenn
die Untersuchung sofort vorgenommen wurde, entweder ohne
Weiteres leicht abspiilen oder, besonders wenn die Ecchymose einge¬
schnitten wurde, leicht bis zum vollständigen Verschwinden ausstreifen
liess. Weiter liess sich constatiren, dass gerade die grösseren Blu¬
tungen, auf welche Knitter das Hauptgewicht legt, an der Hinter¬
wand der Aorta meist ganz regelmässig und häufig paarig angeordnet
sind und dass man diese sow r ohl als die kleineren Ecchymosen, wenn
man mit der Extraction der Brusteingeweide rasch verfährt, unter den
Augen entstehen sieht und sogar durch Druck auf die Aorta ver-
grössern kann.
Mit einem Worte es ergab sich, dass die betreffenden Blutungen
fast immer nur Artefacte sind, welche erst bei der Section resp. bei
der Ablösung der Brustaorta von der Wirbelsäule entstehen und aus
den dabei zerrissenen oder abgeschnittenen Gefässen des Zellgewebes
hinter der Aorta, insbesondere aber aus den centralen Stümpfen der
Intereostal- und hinteren Bronchialarterien häufig auch der Vena
azygos und hemiazygos stammen, aus welchen sich das in diesen
enthaltene und hypostatisch angehäufte Blut in die Gefässscheiden
und das umgebende Zellgewebe ergiesst und durch Eindringen in die
Maschen des letzteren Suffusionen vortäuscht. Solche Blutungen finden
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Ober die Eechymosen hinter der ßrustaorta.
335
sich auch hinten an der Hinterwand des Oesophagus, besonders an
der oberen Brustappertur, sowie entsprechend den Subclavicular-
gefässen, wo sie fast eonstant und besonders ausgedehnt sich
bilden.
Ob und in welcher Ausdehnung sich diese Blutungen bilden,
hängt vom Caliber und vom Blutgehalt der Aorta resp. der Inter-
costalarterien und der sonstigen zerrissenen Gefässe ab, ferner von
der Beschaffenheit des Blutes und auch von der Art und Weise, wie
die Brustaorta herausgenoramen wird.
Die Grösse der Blutung ist unter sonst gleichen Verhältnissen
proportional mit dem Caliber der betreffenden Gefässe, insbesondere
der Jntercostalarterien, woraus sich ungezwungen erklärt, warum bei
Neugeborenen und ganz kleinen Kindern diese Blutungen ungleich
schwächer und unscheinbarer ausfallen und daher der Beobachtung
entgehen können. Sie ist ferner begreiflicher Weise desto stärker, je
mehr Blut die Brustaorta enthält. Der Blutgehalt hängt aber von
der Todesart ab und ist gerade bei der Erstickung und bei anderen
acuten gewaltsamen Todesarten mit Ausnahme der durch Verblutung,
sowie auch in den meisten Formen des plötzlichen natürlichen Todes
ein reichlicher, was natürlich die Entstehung der hier besprochenen
Blutungen begünstigt. Hierbei muss die noch immer allgemein ver-
I
breitete Ansicht, dass die Aorta an der Leiche gewöhnlich leer sei,
dahin berichtigt werden, dass die Aorta beim Erstickungstode und
analogen Todesarten meistens reichlich Blut enthält, dass aber dieses
gewöhnlich in dem Gefässrohr deshalb sich nicht findet, weil die
Aorta, speciell die absteigende, nicht in situ, sondern erst nach der
Herausnahme untersucht wird, wobei man übersieht, dass das darin
enthalten gewesene flüssige Blut aus den durchschnittenen Enden und
Aesten der Aorta und durch die vorgenommenen Manipulationen ab¬
geflossen ist.
Wie die dem Erstickungstode und den meisten Formen plötz¬
lichen Todes überhaupt zukoramende flüssige Beschaffenheit des Blutes
die Bildung jener artifieiellcn Blutungen begünstigt, bedarf keiner wei¬
teren Begründung. Da aber auch bei protrahirteren Todesfällen resp.
nach gewöhnlichen Erkrankungen ausser geronnenem auch flüssiges
Blut häufig in der Aorta sich findet, so ist cs begreiflich, dass sich
Blutungen der bezeichneteu Art auch nach solchen Todesarten er¬
geben können, ebenso in jenen nicht seltenen Fällen, wo das Blut
nur locker geronnen oder nur wie eingedickt ist, wodurch dann die
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336
E. v. Hof mann,
artificiell erzeugten Ecehymosen eine noch täuschendere Aehnlichkeit
mit solchen erhalten, die in vivo entstanden sind.
Was schliesslich die Art der Herausnahme der Brustaorta anbe¬
langt, so geht die Beeinflussung der betreffenden Blutungen durch
diese schon aus dem oben Gesagten hervor, da die Blutungen desto
stärker sich bilden werden, je vollständiger das Blut zur Zeit der
Herausnahme der Brustaorta in dieser geblieben war. Wenn man
daher, wie ich es, um mich von dieser Thatsache zu überzeugen,
wiederholt gethan habe, die absteigende Aorta in situ von vorne er¬
öffnet, das Blut entleert und auch das in den Intercöstalarterien be¬
findliche entweder ausdrückt oder durch Eröffnung dieser an ausser¬
halb des Mittelfellraumes gelegenen Stellen ablaufen lässt und nun
erst die Aorta von der Wirbelsäule ablöst, so findet man selbst in
solchen Fällen von typischem Erstickungstod, wo sie, wie Kratter
sagt, und ich bestätigen kann, constant Vorkommen, keine oder nur
ganz unbedeutende von den zerrissenen Zellgewebsgefässchen her¬
rührende Ecehymosen.
Ausserdem ergiebt sich eine Verschiedenheit, je nachdem die
Aorta von der Wirbelsäule abgerissen oder abgeschnitten wird, da im
ersteren Falle die Blutungen insofern stärker ausfallen, als das aus¬
tretende Blut in das zerrissene und die Stümpfe der durchtrennten
Gefässe verdeckende Zellgewebe leichter und tiefer eindringt, als wenn
die Trennung durch Schnitt geschah.
Auch die Stelle, wo die Intercöstalarterien reissen, ist von Ein¬
fluss, insofern als die abgerissenen Enden der Stümpfe desto mehr
vom Zellgewebe verdeckt sind, je kürzer sie sind. Deshalb bilden
sich auch die Blutungen dann am intensivsten, wenn diese Arterien
aus der Aortawand herausgerissen wurden, oder wenn Risse in der
Aorta selbst entstanden, wodurch dann dem Aneurysma dissecans
ähnliche Befunde entstehen können.
Endlich ist es nicht gleichgiltig, ob die Brustaorta parallel mit
der Wirbelsäute abgehoben oder vom vorderen Ende aus abgelöst
und so am Zwerchfellschlitz geknickt wird, da im ersteren Falle,
weil das Blut gleichmässig aus den durchtrennten Intercöstalarterien
austritt, die Blutungen über die ganze Hinterwand der Aorta gleich¬
mässig sich vertheilen, im zweiten Falle aber nur an der unteren
Partie derselben, d. h. über der am Zwerchfell geknickten Stelle,
wohin das Blut sich gesenkt hat und nun beim weiteren Heben des
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Uehor die Ecehymosen hinter der Brustaorta.
337
Gefässrohres comprimirt und daher auch in grösserer Menge aus den
betreffenden Arterienstümpfen ausgetrieben wird.
Was nun die von Kratter angenommene „beim typischen Er¬
stickungsverlauf unzweifelhaft mächtige Zerrung und Verschiebung der
ßrustaorta besonders im Stadium der Dyspnoe“ anbelangt, so will
ich unentschieden lassen, ob die Aorta thoracica wirklich am linken
Bronchus und am Zwerchfellschlitz so fixirt ist, dass an diesen Stellen
nur eine geringe Verschiebung des Gefässrohres stattfinden kann.
Was aber die Verschiebbarkeit der Brustaorta selbst, auf die es doch
mit ankommt, betrifft, so ist dieselbe eine äusserst geringe und eine
„Streckung derselben zur Sehne und eine Abhebung von den Wirbel-
körpem“ meiner Ansicht nach nicht gut möglich. Wenn man die
Brustaorta sammt den Brustorganen abzuheben versucht, erhält man
allerdings den Eindruck, wie wenn die Aorta sich mitbewege, wenn
man aber nach Entfernung der übrigen Brusteingeweide die Aorta in
situ prüft, so bemerkt man sofort, dass diese Beweglichkeit nur eine
Täuschung ist und dieses wird noch deutlicher, wenn man die Aorta
von vorne aufschlitzt, da man dann sieht, dass die Hinterwand der
Aorta sowohl durch die Pleura und die von Hyrtl beschriebene,
nach Luschka auch auf die Zellhaut der absteigenden Aorta sich
fortsetzende Fascia endothoracica, insbesondere aber durch die 9 oder
10 Paar Intercostalarterien wie durch ebensoviele Spangenpaare der¬
art fixirt ist, dass man selbst bei stärkerem Zuge keine nennens-
werthe Verschiebung dieser Aortenwand erzielen kann, jedenfalls aber
keine solche, durch welche eine Zerreissung der Intercostalarterien
oder anderer grösserer Gefässe entstehen könnte. Wenn man zudem
bedenkt, welche Gewalt, selbst nachdem die Hals- und Subclavicular-
gefässe durchschnitten wurden, nothwendig ist, um die Brustaorta von
der Wirbelsäule abzuziehen, so wird man wohl die Ueberzeugung ge¬
winnen müssen, dass, selbst wenn während einer heftigen Dyspnoe
wirklich eine Zerrung der Enden der Brustaorta stattfände, wie
Kratter annimmt, dies auf das Gefässrohr selbst resp. auf die von
der Hinterwand desselben abgehenden Gefässe von keinem wesent¬
lichen Einfluss sein würde.
Auch ist es klar, dass, wenn „der flache Bogen der Brustaorta“,
wie Kratter angiebt, „durch Zug an den Enden desselben zur Sehne
gestreckt und von der Wirbelsäule abgehoben würde“, die Gefässzer-
rungen und Zerreissungen, somit also auch die Blutungen, Vorzugs-
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E. v. Hof mann ,
weise an dem am meisten convexen mittleren Theil dieses Bogens
entstehen müssten, während Kratter selbst angiebt, dass „die Blu¬
tungen stets nur im unteren Antheile der Brustaorta sitzen und vom
Zwerchfellschlitz im Mittel meist nur 7—8 cm nach aufwärts reichen“.
Ich glaube somit, dass sich auch die von Kratter angeführte
Entstehungsweise der betreffenden Blutungen, so plausibel sie auf den
ersten Blick zu sein scheint, nicht aufrecht erhalten lässt.
Zu dem bisher Gesagten kommt noch der Umstand, dass man
vor der Ablösung der Brustaorta von der Wirbelsäule die Blutungen
nicht durch die Pleura sieht, was doch bei zweifellos während des
Lebens im hinteren Mediastinalraum entstandenen grösseren Ecehy-
mosen, z. B. bei den so häufigen nach subacuter Phosphorvergiftung
immer der Fall ist und auch bei den von Kratter beschriebenen
wenigstens linkerseits, wo die Aorta oberflächlich unter der Pleura
liegt, der Fall sein müsste, da die Ecchymosen bis Kreuzergrösse und
darüber erreichen und durch Confluenz ausgebreitete Blutaustritte bil¬
den können. Kratter selbst deutet diesen Umstand an und hält ihn,
wenn ich recht verstehe, für die Ursache, dass die geschilderten Blu¬
tungen bisher oft genug der Beobachtung entgangen sind.
Auch ich erinnere mich nicht, dass ich früher bei Erstickten
schon äusserlich so grosse Ecchymosen des hinteren Mediastinalraums
gesehen hätte und es sind mir auch in den letzten Monaten, seitdem
ich auf dieses Verhalten genauer achte, nur 3 Fälle vorgekommen,
wo solche Blutungen schon durch die Pleura hindurch zu erkennen
gewesen wären.
Der eine (Section 8. Januar) betraf einen 30j;ilirigen Mann, der am 19. De-
eeinber 3 Hiebe mit einem Zimmermannsbeil über den Kopf erhalten hatte und am
(!. Januar an Meningitis, Himabscess und hypostatiseher Pneumonie gestorben
war. Einen Tag vor dem Tode waren (Konvulsionen aufgetreten. Es fanden sich
punktförmige Ecchymosen an der vorderen und etwas grössere an der hinteren
Heizfläche und zahlreiche bis linsengrosse Ecchymosen mit fest geronnenem Blut
am Anfangsstück der Aorta, welche durch die linke Pleura durchschimmerten,
aber nicht hinter der Aorta, sondern an der linken Seitenfläche, insbesondere
unterhalb des Abganges der A. subclavia sassen.
Im zweiten Falle (Section 14. .Januar) handelte es sich um eine 46jährige
Pfründnerin, welche herzleidend gewesen sein soll und plötzlich gestorben war.
Die Obduetion ergab eine grosso frische Hämorrhagie in der Gegend des linken
Linsenkerns und mehrere kleinere in der Varolsbrücke, Hypertrophie des Herzens,
Endarteriitis deformans und hochgradige Nierenschrumpfung. Unter der hinteren
Uebergangsfalte der linken Pleura, beiläufig in der Mitte der Aorta, war eine
kreuzergrosse aus mehreren kleineren sich zusammensetzende Ecchymose zu sehen,
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lieber die Ecchymosen hinter der Brustanrta.
339
welche aus fest geronnenem Blute bestehend sich erwies. Nach der Herausnahme
der Aorta fanden sich mehrere andere bis linsengrosse fest geronnene Ecchymosen
am oberen Antheil der Brustaorta in der daselbst stark injicirten Adventitia, doch
alle nur vorn oder seitlich, während an der Hinterflächo nur artificielle, leicht ab¬
streifbare Blutaustritte sich fanden.
Der dritte Fall war ein 32 Jahre alter Ziegeldecker, welcher am 16.Januar
an Peritonitis in Folge einer am 15. Januar durch einen Sturz vom Dache erlit¬
tenen Darmruptur gestorben war. Unter der rechten Pleura, eine Hand breit über
dem Zwerchfell, war eine über bohnengrosse Ecehymose an der Seitenwand der
Aorta bemerkbar, welche aus fest geronnenem Blut bestand, während an der Hin¬
terwand erst nach dem Ablösen der Aorta ausgebreitete den Stümpfen der Intor-
costalarterien entsprechende Blutaustritte sich fanden, die unter den Augen des
Obducenten entstanden waren und sich leicht und vollständig durch Ausspülen
und Ausstreifen entfernen liossen.
Wenn ich nun alle diese Ausführungen zusammenfasse und noch
hinzufüge, dass sich derartige Blutungen auffallender Weise immer nur
in der mit der Aorta herausgenommenen, fast niemals aber in der an
der Wirbelsäule zurückgebliebenen Schichte des retromediastinalen
Zellgewebes finden, so komme ich zum Schlüsse, dass es sich auch
bei den von Krattcr geschilderten retromediastinalen grösseren Blu¬
tungen um Artefacte gehandelt habe, zumal das von ihm beschriebene
Verhalten derselben in den meisten Punkten dem von mir gefundenen
entspricht, da ferner nirgends der Beweis erbracht wird, dass zweifel¬
los vital entstandene Blutungen Vorlagen und da auch bei den in den
letzten Monaten von mir untersuchten Fällen nur ganz ausnahms¬
weise solche vorkamen, wo ich in den betreffenden Ecchymosen fest
geronnenes Blut zu constatiren und daher dieselben mit Bestimmtheit
als vital entstanden zu erklären vermochte.
Einer solchen Täuschung kann man leicht verfallen, und da ich
ihr früher offenbar selbst verfallen bin, bin ich weit entfernt, sie
Jemandem anderen, speciell meinem verehrten Collegen Kratter zu
verübeln, denn es ist erstaunlich, mit welcher Raschheit das aus den
durchtrennten Gefässen austretende Blut in das umgebende lockere
Zellgewebe eindringt, in den Maschen desselben sich festsetzt und
sich derart ausbreitet, dass die im ersten Moment deutliche Prove¬
nienz der Blutung in wenigen Augenblicken verwischt wird, so dass
letztere nur schwer von einer wirklichen vital entstandenen Suffusion
zu unterscheiden ist.
Wenn ich daher auch die Vermuthung Kratter’s, in den retro¬
mediastinalen Blutungen ein werthvolles Zeichen für die Diagnose des
Erstickungstodes bei Erwachsenen gefunden zu haben, leider nicht be-
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340
E. v. Hof mann,
stätigen kann, so muss ich doch lebhaft begrüssen, dass er dem Vor¬
kommen dieser Blutungen näher getreten ist und zur Klarstellung der
Entstehungsweise derselben die Anregung gegeben hat, was ihm um¬
somehr als Verdienst angerechnet werden muss, als das für uns so
wichtige Kapitel der „Leichenerscheinungen“ noch lange nicht er¬
schöpft ist und weil nirgends der Satz: errando discimus eine solche
Bedeutung hat, wie in der gerichtlichen Medicin.
Mit den vorgebrachten Erörterungen will ich keineswegs sagen,
dass alle im hinteren Mittelfellraum bei plötzlich, insbesondere unter
Erstickungserscheinungen (Convulsionen), oder anderweitig Gestorbenen
vorkommenden Ecchymosen artificiellen Ursprungs sind. Zweifellos
giebt es, wie schon die drei oben erwähnten Fälle beweisen, auch
solche Ecchymosen, an deren vitaler Entstehung nicht gezweifelt
werden kann, doch finden sich diese nur ausnahmsweise und keines¬
wegs in solcher Häufigkeit und Symmetrie, wie dies bei den post¬
mortalen der Fall ist. Namentlich aber scheinen die kleinen Ecchy¬
mosen, welche in den die Adventitia der Brustaorta umspinnen¬
den feinen Gefässnetzen besonders im obersten Antheil des Gefäss-
rohres sitzen, häufig vitalen Ursprungs zu sein, da man ihnen auch
in der Vorderwand der Brustaorta begegnet und da auch an anderen
Orten die Zellscheidcn der Arterien, z. B. der Carotiden, einen häu¬
figen Sitz der Erstickungsecchymosen bilden. Jedenfalls muss man
bei der Untersuchung des hinteren Mediastinums darauf gefasst sein,
beide Arten von Ecchymosen anzutreffen und trachten, beide von ein¬
ander zu unterscheiden. Schnelle Untersuchung, Erwägung der Loca-
lisation und insbesondere Constatirung, ob der Ecchymose wirklich
fest geronnenes oder bloss flüssiges oder locker geronnenes, aber
leicht ausstreifbarcs Blut zu Grunde liegt, wird für die Differential¬
diagnose herangezogen werden müssen, die, wie ich nochmals betone,
keineswegs immer leicht ist.
Dass vital entstandene Ecchymosen mit postmortal resp. artifi-
ciell erzeugten gleichzeitig Vorkommen können, zeigt die Kopfschwarte,
wo man nach vielen Erstickungen und analogen Todesarten verhält-
nissmässig häufig meist linsengrossen, aber auch grösseren, aus fest
geronnenem Blute bestehenden Ecchymosen begegnet neben solchen,
die unter den Augen des Beobachters aus den zerrissenen Gefässen
des Zellgewebes unter der Galea sich gebildet haben und die desto
zahlreicher sind, je bluthältiger dieses gewesen ist. Der grösste Theil
der Blutaustritte letzterer Art lässt sich einfach abspülen, ein anderer
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lieber die Ecchymosen hinter der Brustaorta.
341
bleibt und verschwindet erst, wenn man die Ecchyraose einschneidet
und entweder abspült oder ausstreift. Thut man dies nicht rasch, so
wird die anfangs leichte Diflferentialdiagno.se immer schwieriger.
Unsere Kenntnisse über das Vorkommen und die Bildung der
Ecchymosen, speciell der Erstickungsecchymosen sind noch in vielen
Beziehungen unvollständig und einschlägige Studien sind nicht bloss
sehr erwünscht, sondern bilden auch ein dankbares Kapitel für die
experimentelle Forschung. Neuestens hat Corin 1 ) diesen Weg betreten
und den Mechanismus der Entstehung der subpleuralen Ecchymosen
studirt, wobei er fand, dass sich dieselben zu der Zeit bilden, wo die
Erhöhung des Blutdruckes in den Pulmonalarterien mit Stillstand der
Respiration und Immobilisirung der Lungen zusammenfällt.
Ich möchte aus diesem Anlass darauf aufmerksam machen, dass
auch geprüft werden sollte, ob nicht das Zwerchfell bei der Ent¬
stehung der Erstickungsecchymosen eine Rolle spielt, indem ich mir
vorstelle, dass auf der Höhe der Erstickung die Erstickungskrämpfe
auch das Zwerchfell befallen, wobei die durch den Schlitz desselben
durchtretende Aorta, welche daselbst durch die inneren Schenkel der
Lendenportion wie von einer Zwinge umgeben wird, durch die krampf¬
hafte Contraction dieser so comprimirt wird, dass eine Rückstauung
des Blutes über dieser Stelle in der Aorta stattfindet, wodurch cs
zur Bildung der genannten Ecchymosen kommt.
Diese Möglichkeit erscheint mir um so plausibler, als ganz gleiche
Ecchymosen auch durch mechanische Compression der Aorta von
Aussen, z. B. durch Ucberfahren, sich bilden und cs Hessen sich
durch einen solchen Vorgang auch die Ecchymosen nach Tetanus,
Epilepsie und selbst nach heftigen Hustenanfällen erklären, die sich
in Form und Vertheilung ganz ähnlich verhalten, wie die nach typi¬
scher Erstickung.
*) „Sur le mt'canisnic de la production des Ecchymoses sous-pleuralcs dans
l’asphyxie aigue“. Arch. de physiol. norm, et path. Janvier 1804.
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II. Oeffentliches Sanitätswesen.
1 .
Ist Krebs des Magens und der Unterleibsorgane die
mittelbare Folge einer Contusion, eines Betriebs¬
unfalls?
Gutachten, erstattet für das Reichs-Vci\sicherungsamt
von
Sanitätsrath Dr. Litthaner, Bezirksphysikus in Berlin.
Das Kaiserliche Versicherungsamt beauftragte mich in der Unfall¬
versicherungssache der Hinterbliebenen des Pferdebahnkutschers L.
die in dem Verhandlungstermine am 6. März 1894 in Aussicht ge¬
stellte, nähere wissenschaftliche Begründung des unterm 17. Februar
1894 erstatteten Gutachtens zu bewirken.
Diesem Aufträge beehre ich mich in Folgendem nach dem ein-
gehendee Studium der Acten nachzukommen
Ci e s c h i c h t s e r z äh 1 u n g.
L. war Kutscher eines Pferdebahnwagens.
Am 1. September 1887 Nachmittags 5 Uhr 38 Minuten auf der Fahrt von
Moabit nach dem Rosenthaler Thor auf der Sandkrugbrücke fuhr ein Bierwagen
in vollem Trabe gegen den Vorderperron des Pferdebahnwagens. L. führte den
Wagen. Der Zusammenstoss der beiden Wagen war ein so heftiger, dass die
Bremse gegen die Brust des L. geschleudert wurde und dieser sofort vom Perron
hinunterfiel. Es traten heftige Schmerzen in der Brust ein sowie ein kribbelndes
Gefühl in den Füssen und in der rechten Hand. L. wurde unmittelbar nach dem
Ereigniss in das Krankenhaus Moabit aufgenommen. Die Stelle, welche von der
Bremse getroffen wurde, wurde nicht genauer beschrieben. Objectiv wurde an L.
äusserlich keine Verletzung festgestellt; dagegen war das Corpus Storni spontan
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Ist Krebsd. Malens u. d. Unierleibsorganed. iniiielbare Folge einer(Vmtusion ? 343
sowie auf Druck äusserst schmerzhaft, desgleichen die rechten Hippen, besonders
zwischen „Mammillar-“ das heisst, der durch die Brustwarze gedachten, senk¬
rechten und „Sternallinie“ (Mittellinie des Körpers), und endlich verursachte
Druck auf die Lendenwirbelsäule erhebliche Schmerzen. Die Ordination war Eis¬
blase. Am 7. September wurde L. „gebessert“ aus dem Krankenhause entlassen.
L. blieb krank.
Am 30. November 1887 stellte der Bahnarzt Dr. W. ein Attest aus, in
welchem er anführt, dass L. durch den Unfall eine Contusion des Brustkastens
und dabei eine Erschütterung des gestimmten Nervensystems erlitten habe, und
dass er nach seiner Entlassung aus dem Krankenhause von den Professoren
Mendel und Eulen bürg behandelt worden sei.
ln einem zweiten Attest vom 2. August 1888 erwähnte Dr. W., dass L.
einen unsicheren Gang, eine langsame, unsichere Sprache habe, dass er schwer¬
fällig in seinem ganzen Wesen, dass der Gesichtsausdruck ein blöder sei. L. sei
unfähig, etwas zu unternehmen. Ausserdem bestehe ein chronischer Magen¬
catarrh, und die Lunge habe durch die Contusion gelitten.
Dr. W. verordnete Aufenthalt in Oeynhausen. L. ist vom 14. August bis
zum 10. September 1888 in Oeynhausen gewesen und hat 20 Thermalbäder ge¬
nommen. Am 21. September 1888 constatirte Dr. \V. Spitzencatarrh der Lun¬
gen, chronischen Magencatarrh, ein Leiden des Centralnervensystems. Am 1. De-
cember 1888 berichtet Dr. \V., dass der Zustand sich wenig geändert habe, dass
zeitweise derselbe ein besserer, dass die Besserung jedoch keine dauernde sei.
Dr. W. empfiehlt die Aufnahme in die Charite. L. verblieb in der letzteren vom
7. Januar 1889 bis zum 9. März 1890.
Dr. 0. bescheinigt am 3. März, dass L. während seines Aufenthaltes in der
Charit^ die Symptome eines chronischen Nervenleidens, das sich besonders durch
psychische Störungen, Anomalien des Hautgefühls, der Sinnesfunctionen und der
Sprache sowie durch Verdauungsbeschwerden kennzeichnete, dargeboten habe,
und dass die Krankheit als die schwerste Form der hypochondrischen Neur¬
asthenie zu bezeichnen sei. Dr. 0. bezeichnet es als durchaus unwahrscheinlich,
dass L. in absehbarer Zeit völlig geheilt werden werde.
Am 8. Mai 1889 untersuchte Dr. L. den Kranken. Dr. L. constatirte chro¬
nischen Lungen- und Magencatarrh, lähmungsartige Schwäche des ganzen Kör¬
pers und äusserte sich gutachtlich dahin, dass es nach den Acten und den in
denselben befindlichen Attesten unzweifelhaft erscheine, dass diese Leiden durch
den Unfall bedingt worden seien. Auf Veranlassung des Dr. L. wurde L. in ein
Ostseebad geschickt. Dr. W. aus Treptow an der Rega bestätigte die Diagnose
und bemerkte, dass die Aussichten auf Heilung mit der Besserung, beziehungs¬
weise Verschlechterung des Verdauungsapparates steigen und fallen.
Am 24. September 1889 constatirt Dr.'L., dass eine bedeutende Besserung
des Zustandes des L. eingetreten, dass der Lungencatarrh vollständig beseitigt
sei, dass der Magencatarrh, wenn auch in milderem Grade, fortbestehe, dass die
Zunge belegt und die Magengegend, welche „unzweifelhaft bei dem Unfall am
meisten gelitten habe, immer noch sehr empfindlich sei“. Dr. L. hält L. für fähig
zu leichten Arbeiten, er räth zu einer in dem Berliner mcdico-mcehanisehen In¬
stitut einzuleitenden Behandlung. Diese Behandlung wurde am 3. October 1889
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344
I)r. L i 11 h a u e r,
begonnen und bis zum 3. December 1889 fortgesetzt. Dr. Sch., der ärztliche
Leiter des Instituts, bestätigte am 3. October 1839 die von Dr. 0. auf hypo¬
chondrische Neurasthenie gestellte Diagnose und gab sein Gutachten dahin ab,
dass die Heilung des Patienten in absehbarer Zeit sehr unwahrscheinlich sei.
Am 3. December 1889 bescheinigt Dr. Sch., dass L. das Institut regel¬
mässig besucht habe, dass der Zustand unverändert geblieben sei, dass der Appetit
sich zwar in der ersten Zeit gehoben habe, dass er aber — nach der Angabe des
Patienten — ein sehr wechselnder sei, dass nach Nahrungsaufnahme sich Druck¬
gefühl in der Magengegend einstelle. Die hauptsächlichsten Klagen des Patienten
seien: schlechter Schlaf, Mattigkeit, Erbrechen von Schleim bei Rückenlage, wei¬
nerliche Stimmung.
Am 16. Januar 1890 bescheinigt Dr. L., dass der früher bestandene Lun-
gcncatarrh dauernd beseitigt erscheine, dass L. aber trotzdem wegen des allge¬
meinen Schwächezustandes und der vorhandenen hochgradigen Verdauungs- und
Ernährungsstörungen völlig erwerbsunfähig sei.
L. wird von Dr. L. ärztlich behandelt und erhält verschiedene Arzeneien zur
Beschwichtigung seiner Magenbeschwerden. L. ist auf das Land nach Schöner¬
linde übergesiedelt, Dr. L. fand daher keine Veranlassung, wie er am 31. Juli
1890 bescheinigt, einen entfernter gelegenen Landaufenthalt zu empfehlen oder
anderweitige therapeutische Massnahmen anzuordnen.
Im October 1890 verordnete Dr. L. eine gegen das Magenleiden gerichtete
Arzenei.
Am 20. December 1891 bescheinigte Dr.L., dass der Zustand des zur Zeit
in Französisch-Buchholz wohnenden L. im Ganzen derselbe sei, wie der in frühe¬
ren Attesten beschriebene, dass L. blutarm, schlecht genährt, und dass die Magen¬
gegend druckempfindlich sei, dass die physikalische Untersuchung das Wiedervor¬
handensein eines ausgedehnten Lungencatarrhs ergeben habe. Dr.L. hält, obwohl
die Hoffnung auf eine durchgreifende Besserung beziehungsweise Heilung des Lei¬
dens nur eine sehr geringe sei, es doch für möglich, dass durch eine streng durch¬
geführte diätetische Behandlung event. mit zeitweiser Auspumpung des Magens
eine Besserung erzielt und L. wenigstens für leichtere Arbeit tauglich gemacht wer¬
den könne und räth, L. in ein Krankenhaus (Augustahospital) aufnehmen zu lassen.
L. wurde am 18. Januar 1892 in das Augustahospital aufgenommen und
verblieb in demselben bis zum 22. März 1892. In dem Entlassungsschein wurde
attestirt, dass L. an einem chronischen Magenleiden gelitten habe und gebessert
entlassen worden sei.
Am 18. April 1892 bescheinigt dagegen Professor Ewald, dass eine Besse¬
rung des Leidens des L. im Augustahospital nicht erzielt worden sei, dass trotz
sorgfältigster Behandlung L. das Krankenhaus mit denselben Klagen wie bei sei¬
ner Aufnahme verlassen habe. Dagegen bescheinigt Dr. L. am 4. Mai 1892, dass
eine wesentliche Besserung eingetreten, dass die Gesichtsfarbe eine gesunde und
der Lungencatarrh beseitigt, dass der Kräftezustand ein besserer und die Zunge
rein sei, dass mit diesem objectiven Befunde die subjectiven Klagen über heftige
Schmerzen im Magen, gestörte Verdauung, grosse Schwäche im Widerspruche
stehen. Dr. L. hegt den Verdacht auf Simulation oder starke Uebertreibung; er
hält L. für fähig, leichte Haus- und Feldarbeiten zu verrichten.
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Ist Krebs d. Magens u. d. Unterleibsorgane d. mit telbare Folgeeiner Contusion? 345
Im Widerspruch mit Dr. L. bescheinigt Dr. Gr. am 6. August 1892, dass
L. ein völlig gebrochener Mann sei, dass die Ernährung eine elende, die Haut¬
farbe eine fahle sei. Er constatirt grosse Mattigkeit, chronischen Lungen-, chro¬
nischen Magencatarrh, welcher letzterer sehr grosse Beschwerden verursache und
„offenbar auf nervösem Wege“ unterhalten werde. Dr. Gr. constatirt ferner schlep¬
penden Gang, Hyperästhesie der Haut, psychische Störungen deprimirenden Cha¬
rakters. Dr. Gr. hält L. für völlig arbeitsunfähig.
Am 9. September 1892 begab sich L. von Neuem in das Augustahospital
und verblieb in demselben bis zum 20. September 1892. Der Assistenzarzt
Dr. J. bescheinigt, dass die Klagen des L. sich auf heftige Schmerzen in der
Magengegend und im Kreuz sowie auf grosse Schlaflosigkeit bezogen haben.
Am 11. November 1892 macht Dr. Gr. die Anzeige, dass in dem Befinden
des L. seit längerer Zeit eine Verschlimmerung eingetreten sei, dass sicli nämlich
eine bösartige Neubildung im Dann entwickelt habe, die offenbar als Krebs anzu¬
sprechen sei, und dass der Kranke voraussichtlich nur noch ganz kurze Zeit leben
werde.
Am 28. November 1892 bescheinigt Dr. Gr., dass die Krebserkrankung als
in keinem directen ursächlichen Zusammenhang mit dem Unfall des L. vom
1. September 1887 stehend anzusehen sei.
Am 29. November 1892 ist L. seinem Leiden erlegen.
Am 30. November 1892 macht der verstorbene Krankenhausdirector Dr. G.
die Section des L. Durch die Section wurden folgende wesentliche Befunde fest¬
gestellt.
1) Schwund des Fettgewebes des Herzens, bräunlich rothes Muskellleisch
desselben, weissliche Trübung des Endocard des linken Ventrikels.
2) Rechte Lunge: Oberlappen lufthaltig, am Rande emphysematisch.
3) Im Beckenraum vier Liter seröse Flüssigkeit. Zahlreiche grosse Krebs¬
knoten auf dem Bauchfell.
Rechte Niere mit der Nachbarschaft durch chronische Entzündung resp.
durch Krebsgeschwülste verwachsen. Niere normal gross. Pyramide zum Theil
zu Grunde gegangen, so dass Ausbuchtungen an ihrer Stelle entstanden sind
(Hydronephrose).
Sämmtliche übrigen Unierleibsorgane mehr oder minder stark durch Krebs¬
geschwülste mit einander verwachsen.
Zwerchfell durch und durch in Krebs verwandelt und bildet eine etwa 1 cm
dicke, allseitig mit der Leber verwachsene Membran.
Magen. Hohlraum desselben stark verkleinert. Am Pförtner und in der
Gegend der Curvatura major völlig krebsige Entartung. In der hinteren Magen¬
wand grosse, eine ganze Fläche einnehmende Krebsgeschwülste des Bauchfells,
welche mit der hinteren Magenwand verwachsen sind.
Bauchspeicheldrüse ist ebenfalls zum Theil durch krebsige Infiltration
entartet.
Auf den Därmen finden sich zahlreiche Krebsgeschwülste der verschieden¬
sten Grösse.
Im Mesenterium (Theil des Bauchfells) sind grosse Krebsgeschwülste.
Im grossen Netz zahllose bis wallnussgrossc Krebsgeschwülste,
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I>r. Litthauer,
346
Kectum. Unterster Theil des Mastdarms ist in der Ausdehnung von 10 ent
krebsig verdickt, so dass er eine feste Geschwulst bildet.
Die anatomische Diagnose des Dr. G. lautet:
Verbreitete krebsige Entartung in der ganzen Unterleibshöhle, resp. Krebs
des Zwerchfells, Krebs der Leber, Krebs des Magens, Krebs der Bauchspeichel¬
drüse, Krebs des Bauchfells, Krebs des Mastdarms.
Da Krebs vom ersten Beginn bis zum Tode längstens zwei Jahre währt, so
kann die Krankheit im vorliegenden Falle frühestens 1891 begonnen haben, wahr¬
scheinlich viel später.
Ein Zusammenhang mit dem 1887 erlittenen Unfall ist absolut ausge¬
schlossen.
In dem Gutachten, das Dr. G. erstattete, drückt er sich wie folgt aus:
„Von welchem Unterleibsorgane die krebsige Erkrankung ausging, ist für
das abzugebende Urtheil gleichgültig, es ist aber nicht unwahrscheinlich, dass im
Mastdarm der primäre Erkrankungsherd entstand. Diese Krebskrankheit ist die
Todesursache. Auf die zweite Frage, ob diese Todesursache in einem Zusammen¬
hänge mit dem erlittenen Unfälle steht, antworte ich: nein. Ein solcher Zusam¬
menhang ist absolut ausgeschlossen. Die Krebskrankheit kennen wir zwar in ihrer
Ursache bis jetzt nicht, das aber wissen wir, dass sie äusseren Ursachen niemals
ihre Entstehung verdankt, es sind eben innere, uns unbekannte Ursachen, welche
die Krankheit erzeugen und in sehr vielen Fällen von einem Organe auf die be¬
nachbarten Organe und Gewebe übertragen.
Wir wissen mit voller Sicherheit, dass die Krebskrankheit vom ersten Beginn
der Krankheitserscheinungen bis zu dem Tode, der ausnahmslos eintritt, höchstens
zwei Jahre dauert.
Es hat also der vor mehr als 5 Jahren erlittene Unfall weder die Krebs¬
krankheit, an welcher L. gestorben ist, hervorgerufen, noch hat er in irgend einer
Weise dazu beigetragen, dass das Leben abgekürzt worden ist. w
Am 13. D ecemb er 1893 ersuchte das Reichs-Versicherungsamt den Pro¬
fessor F., sich in begründeter Weise darüber gutachtlich zu äussern,
1) ob thatsächlicher Anhalt dafür vorliegt, dass die von L. am 1. Sep¬
tember 1887 erlittenen Verletzungen und Contusionen das zum Tode
führende Krebsleiden unmittelbar veranlasst haben,
2) ob die durch den Unfall vom 1. September 1887 verursachten Leiden
und der von diesen Leiden bedingte - offenbar weitgehende — Kräfte¬
verfall die Vorbedingungen für die organische Entstehung des zum Tode
des L. führenden Krebsleidens geschaffen haben können und deshalb
ein mittelbarer ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Unfall vom
1. September 1887 und dem Tode des L. vom ärztlichen Standpunkte
aus anerkannt werden kann und zwar unter eventueller Hervorhebung
des Grades der Wahrscheinlichkeit für einen solchen Zusammenhang,
3) ob anzunehmen ist - und eventuell mit welcher Wahrscheinlichkeit an¬
zunehmen ist —, dass ein unabhängig von den Folgen des Unfalls vom
1. September 1887 entstandenes Krebsleiden des L. durch die Folgen
des Unfalls in seinem Verlaufe so sehr beeinflusst, beziehungsweise in
seinen Wirkungen so sehr verschlimmert worden ist, dass der Tod des
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Ist Krebsd. Magens n. d. Unterleibsorganed. mittelbare Folge einer Uontusion ? 347
!,. erheblich früher ein treten musste, als er beim Fehlen der Folgen des
Unfalls vom 1. September 1887 durch das Krebsleiden allein herbeige-
führt sein würde.
Professor F. spricht sich in seinem Gutachten dahin aus, dass bis Kn de
188!*, also für die ersten zwei Jahre nach dem Unfall, die nervösen Erscheinungen
einer sogenannten traumatischen Neurose so gut wie ausschliesslich das Krank¬
heitsbild zusammensetzten. Wohl sei in dieser Zeit die Rede von Verdauungsbe¬
schwerden und Magencatarrh, an welchem L. bereits einige Male vor dem Unfälle
behandelt worden war, allein die Intensität der gesetzten Erscheinungen könne,
zumal im Verein mit den intercurrenten erheblichen Besserungen, als solche nicht
gelten, dass bereits zu dieser Zeit an ein schweres, organisches Magen- und Darm¬
leiden gedacht werden dürfe. Vielmehr handele es sich offenbar um gastrische,
beziehungsweise intestinale Begleitsymptome des traumatischen Nervenleidens oder
auch um mehr zufällige Complicationen, da der p. L. zu Magencatarrhen über¬
haupt neigte. Dass es mit den mehrfach hervorgehobenen gleichzeitigen Lungen¬
erscheinungen nichts Wesentliches auf sich gehabt, beziehungsweise der chro¬
nische Lungencatarrh nichts mit dem gewöhnlich unter diesem Begriff verstan¬
denen, schweren Lungenleiden zu schaffen gehabt hatte, lehre der Verlauf und
vor Allem der Sectionsbefund, der nur ein partielles Lungenemphysem erwies.
Er könne daher für die Folge von den Lungencomplicationen ganz absehen.
Ende 1889 habe sich das Krankheitsbild geändert. Nachdem schon im
Herbst dem Dr. L. bei sichtlicher Besserung der durch die Unfallsneurose be¬
dingten Gesundheitsschädigungen der Fortbestand des Magenleidens aufgefallen
sei, erwähne Dr. Sch. im Winter zum ersten Male Schleimerbrechen, das sich als
wichtiges Glied in die Kette der Krankheitserscheinungen eingeschoben. Ein Jahr
später — über die Zwischenzeit verlautet nichts — finde man bereits Siechthum,
wie es das Nervenleiden, dessen Erscheinungen immer mehr zurückgetreten zu
sein scheinen, früher nicht gesetzt hatte. Professor F. lässt es als unwesentlich
dahingestellt, ob wirklich die traumatische Neurose, wie dies nicht selten derFall,
Rückschritte gemacht, oder ob nur das Herannahen der neuen, lebensgefährlichen
Krankheit einem Grübeln über die nervösen Störungen ein Ende gemacht hat. Der
„wesentlichen Besserung“ im Mai 1892, die sogar Dr. L. Veranlassung zum Ver¬
dacht auf Simulation gegeben, ist Professor F. geneigt, eine irrthümliche Auf¬
fassung zu Grunde zu legen. Vielmehr falle in den Sommer 1892 die Entwicke¬
lung eines Symptomencomplexes, wie er dem nur einigermassen erfahrenen Prak¬
tiker als derjenige einer Neubildung auf der Höhe geläufig ist; wenn die letztere
sich auffallend lange der Entdeckung entzogen habe, so mag dies wohl vorwie¬
gend der begreiflichen Neigung zuzuschreiben sein, die einmal nachgewiesene trau¬
matische Neurose für die Weiterentwickelung des Leidens verantwortlich zu
machen, bis der Nachweis einer mit extremem Siechthum einhergehenden Ge¬
schwulst darüber belehrte, dass die Fahndung auf ein zweites Grundübel versäumt
worden ist.
Professor F. verlegt den Beginn des letzteren auf den Winter 1889/90, ver¬
anschlagt somit die Dauer auf etwa 3 Jahre. Der Anschauung des Dr. G., dass
der primäre Herd wahrscheinlich der Mastdarm gewesen sei, könne er sich nicht
anschlicssen, weil der Mastdarmkrebs seine Neigung, über kurz oder lang zu zer-
Vierteljahmehr. f. ger. Med. Dritte Folge. IX. 2. 28
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Pr. Tii 1 i lia uer.
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fallen, nicht verleugnen und überdies eine seit mehr als drei Jahren bestehende,
bösartige Neubildung im Mastdarm sich nicht lediglich unter derForm von Magen-,
und allgemeinen Verdauungsbeschwerden äussern würde. Professor F. schliessi
sich der Anschauung des Dr. G. an, dass über die Entstehungsursachen von bös¬
artigen, den Unterleibsorganen ungehörigen Neubildungen so gut wie nichts be¬
kannt sei, dass wir nur so viel wissen, dass, abgesehen von der Entwickelung von
Geschwüren und einer gewissen Erblichkeit die gewöhnlichen Krankheitsursachen,
wie Erkältung, Ueberanstrengung, nicht in Betracht kommen, dass vollends äussere
Ursachen vom Charakter der Verletzung oder Erschütterung auszuschliessen seien.
Wenn auch hier und da bei Pfeifenrauchern Lippen-, bei Schornsteinfegern Ho¬
densackkrebse sich entwickeln, so können die äusseren Reize doch kaum eine
andere Rolle als die einer gelegentlichen Veranlassung neben anderen Ur¬
sachen spielen. Dass aber bei der Entstehung von Magen- oder Darmkrebsen ähn¬
liche Anlässe in Thätigkeit treten könnten, ist ganz unbekannt. Von einer un¬
mittelbaren Veranlassung des tüdtlichen Krebsleidens des L. durch seinen Unfall
könne also auch aus diesem Grunde keine Rede sein, mag sein Magen auch noch
so sehr durch die Contusion in Mitleidenschaft gezogen worden sein.
Professor F. fährt fort, dass er ebenso wenig einen mittelbaren ursäch¬
lichen Zusammenhang zwischen Unfall und Krebsleiden beziehungsweise Tod ein¬
zuräumen vermöge. Der Magen- und Darmkrebs befalle robuste, lebensfrische,
wohlgenährte Individuen in gleicher Weise, wie decrepide und sieche Personen,
gleichgültig, aus welcher Ursache die Ernährungsstörungen sich herschreiben.
Bei keinem der von ihm beobachteten, nunmehr ein halbes Tausend überschreiten¬
den Fälle haben sich frühere Folgezustände eines Unfalls in der Anamnese ge¬
funden, wie er andererseits unter einer stattlichen Anzahl von Opfern der trauma¬
tischen Neurose keines dem Magenkrebs habe verfallen sehen. Die von dem oder
jenem Arzte vertretene Anschauung, es disponire chronischer Magen ca tarrh, be¬
ziehungsweise ein sehwacher Magen zum Krebs, theile er ebensowenig wie die
Mehrzahl sachverständiger und erfahrener Autoren. Professor F. erwähnt dies be¬
sonders, um der etwaigen Meinung entgegen zu treten, als sei der Krebs die Folge
der durch traumatische Neurose bedingten Magenstörung.
Die dritte von dem ILuchs-Yersicherungsamte gestellte Frage, ob das unab¬
hängig vom Unfall entstandene Krebsleiden durch die Folgen des orsteren in sei¬
nem Verlaufe derart beeinflusst, beziehungsweise in seiner Wirkung so verschlim¬
mert worden ist, dass der Tod früher eintreten musste, verneint Professor F. im
Princip. wenn er auch zugiebt, dass das Krebsleiden sich bei L. entwickelte, als
bereits der Kräfteverfall in Folge des langen Unlällsleidens ein so weitgehender
war. dass die bösartige Neubildung weniger Körpermaterial für ihre Vernichtungs¬
arbeit Vorland, als das der Fall gewesen wäre, wenn die traumatische Neurose
nicht voraufgegangen wäre. Nichtsdestoweniger dürfe die vermuthliehe Zeitdiffe-
renz nicht hoch angeschlagen werden. Sie dürfte sich in den Grenzen von einigen
Monaten hallen.
Im Februar die>e> Jahres wandte sich die Witiwe des verstorbenen L. an
mich, sie zeigte mir einzelne AeieuMücke. unter denen sielt das von Professor F.
erstattete Gutachten befand. Sie selbst gab an. dass sie fest davon überzeugt
wäre, dass ihr Mann au den Folgen de> Unfalls, der ihn am 1. September Ass7
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Ist Krebs <1. Malens n. rl. Unterleibsorganed. mittelbare FolgeeinoiTontusion? 349
betroffen hätte, im Alter von 34 Jahren gestorben wäre. Ihr Mann hätte einen
sehr mächtigen Schlag gegen die Magengegend erhalten, er hätte unmittelbar nach
dem Unfall Blut ausgespieen und gehustet und wäre bis zu seinem Tode ununter¬
brochen magenleidend gewesen. Frau L. ersuchte mich um die Erstattung eines
Gutachtens, das sie dem Kaiserlichen Reichs-Versicherungsamt überreichen wollte.
Frau L. gab mir bezüglich ihres Mannes an, dass er einer Familie ent¬
stamme, in der Krebs nicht vorgekommen, dass er selbst zur Zeit des Unfalls
vollständig gesund gewesen wäre, dass er allerdings bei Gelegenheit einer Er¬
krankung ihres Kindes den Bahnarzt einige Male wegen Appetitlosigkeit consultirt
hätte, dass dieselbe keineswegs eine bedeutende gewesen wäre, und ihr Mann nie
den Bienst versäumt hätte.
Auf Grund der in dem Gutachten des Professor F. mitgetheilten Data habe
ich die an letzteren seitens des Reichs-Versicherungsamts gerichtete zweite Frage
abweichend von ihm in folgender Weise beantwortet:
a) Durch den Betriebsunfall beziehungsweise die Contusion der Brust- be¬
ziehungsweise Magengegend durch einen schweren Gegenstand sind Be¬
dingungen gesetzt worden, unter denen sich im Magen beziehungsweise
in den benachbarten Eingeweiden im Laufe der Zeit Krebs entwickeln
konnte.
b) In der von Herrn Professor F. mitgetheilten Krankengeschichte sind
nicht Vorgänge oder anatomische Veränderungen erwähnt worden, aus
denen auf selbstständige, sogenannte genuine Entstehung des Krebses
geschlossen werden kann.
c) Bei der Continuität der Vorgänge vom Momente des Anschlagens der
Bremse an die vordere Brustwand, an die Magengegend bis zu dem
Tode des L. muss vom ärztlichen Standpunkte aus mit einem hohen
Grade von Wahrscheinlichkeit angenommen werden, dass ein mittel¬
barer, ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Unfall vom 1. Sep¬
tember 1887 und dein Tode des L. obwaltet.
Der Grad der Wahrscheinlichkeit lässt sich nicht bestimmen, doch
muss ich für meine Person sagen, dass diese Wahrscheinlichkeit eine
fast an Gewissheit grenzende ist.
Für dieses Votum hatte ich folgende Gründe.
Ich führte aus, dass die Ursache des Krebses zwar eine dunkle, dass jedoch
Folgendes festgestellt wäre.
1. Der Krebs sei zunächst eine örtliche Krankheit.
2. Üertliche Reizzustände können Krebs bedingen. Pfeifenraucher leiden
verhältnissmässig häufig an Lippenkrebs, und zwar bricht der Krebs
genau an der Stelle aus, an der der Raucher täglich das Mundstück der
Pfeife gehalten hat. Schornsteinfeger leiden verhältnissmässig häufig
an Hodensackkrebs.
Freilich entstehe der Krebs des Magens und der anderen Organe auch, ohne
dass nachweisbare örtliche Schädlichkeiten einwirken, so entstehe der Krebs im
Allgemeinen und der Magenkrebs im Besonderen im vorgerückten Lebensalter,
und dann scheine eine erbliche Anlage zur Krebsbildung in gewissen Familien
obzuwalten (Familie Napoleon).
23 *
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350
Th. Litt hau er.
Allein wir können den Einfluss des Alters und der Familienanlage nicht
anders deuten, als dass durch denselben gewisse, allerdings noch nicht festge-
stelltc Veränderungen der Schleimhaut etc. bedingt werden, welche die Krebsbil-
düng, eine atypische Epithelwucherung, veranlassen. Für die Bedeutung des ört¬
lichen Reizes für die Entwickelung des Krebses spreche endlich der Umstand,
dass diejenigen Organe, welche für die normalen Functionen ganz besonders häufig
beansprucht werden, ganz besonders häufig den Sitz der Krebskrankheit bilden.
So kommen bei Frauen die Krebserkrankungen in der Gebärmutter oder in den
Brustdrüsen ausserordentlich häufig vor.
Es drängen demnach alle ärztlichen Erfahrungen dahin, anzunehmen, dass
in dem örtlichen andauernden Reiz ein bedeutsames, ursächliches Moment für die
Entwickelung des Krebses zu suchen ist.
Die Umkehr des Satzes, dass, da trotz der dauernden Einwirkung eines Rei¬
zes nur in seltenen Fällen die Krebsentwickelung statt habe, angenommen werden
müsse, dass dem örtlichen Reiz nur ein unbedeutender Einfluss eingeräumt werden
könne, sei nicht statthaft. Es gehören eben ausser dem örtlichen Reiz noch andere
bislang nicht hinreichend bekannte Einflüsse zur Erzeugung des Krebses; allein
es sei unbedingt logisch und den durch die Wissenschaft festgestellten Thatsachen
entsprechend, zu sagen, dass, wenn in einem Organe, das sich in einem dauern¬
den Reizzustande befindet, sich Krebs entwickele, die Krebsbildung durch diesen
Reiz bedingt worden sei. So gut wie es keinem Menschen einfallen würde zu
sagen, dass das Halten des Mundstückes eines Pfeifenrohrs an einer bestimmten
Stelle gleichgültig sei für die Entwickelung des Krebses an dieser Stelle, so gut
wie kein Arzt sagen werde, dass ein Magengeschwür, beziehungsweise der dieses
begrenzende Rand bedeutungslos für die Entwickelung des Magenkrebses sei, so
gut könne auch Niemand sagen, dass, wenn einem chronischen Magencatarrh,
einer chronischen Magenentzündung die Bildung eines Magenkrebses folge, der
chronische Magencatarrh, die chronische Magenentzündung nicht von wesentlichem
Einfluss auf die Entwickelung des Krebses gewesen sei. Man könne dies um so
weniger sagen, als in den ersten Entwickelungsstadien der Krebs sich von einem
entzündlichen Vorgänge kaum unterscheiden lasse.
Man müsse der chronischen Magenentzündung, dem chronischen Magencatarrh
um so mehr Einfluss für die Entwickelung des Krebses einräumen, wenn in dem
Magen sich Vorgänge abgespielt haben, die den bei der Magengeschwürsbildung
sich abwickelnden sehr ähnlich sind. Aehnliche Vorgänge müssen wir aber bei
Contusionen des Magens präsumiren. Es müsste geradezu als ein Wunder ange¬
sehen werden, wenn bei der Contusion, die L. erlitten hat, nicht Zerreissungen
der Magenschleimhaut stattgefunden hätten.
Wenn diese grösseren oder kleineren Wunden nicht unmittelbar heilen, dann
haben wir Verhältnisse wie beim Magengeschwür. Wenn demnach ein Mann eine
Contusion des Magens erlitten, wenn er im unmittelbaren Anschluss an dieselbe
einen chronischen Magencatarrh bekommen habe und dann schliesslich einem
Magenkrebs erlegen sei, so müsse man sagen, dass der Krebs durch diese Contu¬
sion mittelbar bedingt worden sei. Man sehe, dass bei dieser Art derBetirtheilung
des Falles es gleichgültig sei, wie lange der Krebs bestanden habe, ob er zwei,
drei, vier, fünf Monate oder eben so viel Jahre bestanden habe. Es sei ja richtig,
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Ist Krebs <1. Magens u. d. Fntorloibsorganed. mittelbare Folge einer Contusion? 351
dass eine längere Dauer als drei Jahre ein Individuum nach der Feststellung der
Diagnose „Magenkrebs“ nicht gelebt habe, allein alle diese Bestimmungen haben,
wie der englische Autor Brinton und Laube annehmen, nur beschränkten
Werth, denn wie weit solle man den Beginn des Krebses zurück verlegen? Die
ganzen Betrachtungen seien aber für unseren Fall bedeutungslos, denn es werde
ja die Annahme zurückgewiesen, dass die Contusion unmittelbar den Magenkrebs
bedingt habe, es werde vielmehr angenommen, dass die durch die Contusion be¬
wirkten SchleimhautzeiTeissungen oder wenigstens der durch dieselbe bewirkte
chronische Magencatarrh zur Krebsbildung wesentlich beigetragen habe.
Dass Herr Professor F. unter den sehr zahlreichen Fällen nicht einmal beob¬
achtet habe, dass der Krebsbildung vor längerer oder kürzerer Zeit eine Contusion
vorausgegangen sei, beweise nichts. Generationen von Aerzten können vorüber¬
gehen, ohne dass eine derartige Contusion des Magens wie bei L. beobachtet
werde. Wenn auch derartige Contusionen beobachtet worden sein sollten, so wür¬
den die negativen Fälle — bezüglich des Magencarcinoms — nichts beweisen,
denn nur ein minimaler Bruchtheil der Fälle würde in Krebs übergehen, ebenso
wie nur ein minimaler Bruchtheil der Magengeschwüre in Magenkrebs übergehe.
Allein man müsse, wie in dem letzteren Falle ein ursächlicher Zusammenhang
zwischen dem Magengeschwür und dem Magenkrebs angenommen werden müsse,
auch in dem vorliegenden Falle sagen, dass ein solcher zwischen dem chronischen,
durch die Contusion bedingten Magenleiden und dem Magenkrebs bestehe. — Ich
fuhr in dem Gutachten fort: „Drehen wir einmal die Frage um. Würde der
Magenkrebs sich bei L. jetzt — also im Alter von 29 bis 34 Jahren — ausgebildet
haben, wenn er nicht die Contusion des Magens erlitten hätte? Zu dieser An¬
nahme liege auch nicht die geringste Veranlassung vor. L. stamme angeblich aus
einer Familie, in der Krebs nicht vorgekommen sei und habe sich doch zur Zeit
des Todes noch in einem jugendlichen Alter befunden.
Dem Umstande, dass L. angeblich einige Male an Magencatarrh behandelt
worden sei, könne man nicht eine wesentliche Bedeutung beimessen, da er nur
kurze Zeit unwohl gewesen sei und nicht einmal seine Arbeit unterbrochen habe.
Zur Zeit des Unfalls oder vier Wochen vorher habe L. gut gegessen und sei wohl
gewesen.
Bezüglich des Einflusses des Siechthums auf die Entwickelung des Krebses
könne ich mich mit den Ausführungen des Professor F. einverstanden erklären.
Das von mir erstattete Gutachten wurde Herrn Professor F. zur Kenntnis¬
nahme übersandt und dieser äusserte sich gutachtlich dahin, dass der Magenkrebs
sich überhaupt auf „selbstständige, genuine“ Art ohne nachweisbare Vorbedingung
zu entwickeln pflege, und noch nicht ein beweiskräftiger Fall beobachtet worden
sei, in welchem eine Verletzung des Magens zur Krebsbildung geführt habe. Hier
liegen eben die Verhältnisse ganz anders, wie beim „äusseren“ Krebs der Haut,
Brust und dergleichen. Unter solchen Umständen müsse er die umgekehrte Frage
bejahen.
Die praktische Erfahrung stellt sich hier über alle theoretische und acade-
mische Erörterungen.
Am 6. März vorigen Jahres hatte ich einen Termin vor dem Reichs-Versiche¬
rungsamte. Ich gab in demselben ein mit dem schriftlich niedergelegten gleicli-
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352
Pr. [jitihauer,
lautendes Gutachten ab, motivirte dasselbe genauer, indem ich auf einige Autoren
hinwies, deren Auffassung über die Natur und die Entstehung des Krebses meinen
Auseinandersetzungen zu Grunde lag. Ich erklärte mich bereit, diese auch schrift¬
lich in einem Gutachten niederzulegen. Das Reichs-Versicherungsamt erachtete
es mit Rücksicht auf die Verschiedenartigkeit der Auffassung des Einflusses des
Unfalls, den L. am 1. September 1887 erlitten hat, auf die durch die Section fest-
gestellte Todesursache seitens des Professor F. und meinerseits zur Aufklärung
des Falles für nothwendig, ein Obergutachten von der mcdicinischen Facultät in
Würzburg einzuholen, nachdem ich meine gutachtlichen Bekundungen schriftlich
nicdergelegt haben werde.
G u t, a c h t e n.
Meine Anschauungen weichen nur bezüglich der Frage II der von
dem Reichs-Versicherungsamte formulirten Fragen von denen des Herrn
Professor F. ab. Während dieser Arzt nicht nur einen unmittel¬
baren Zusammenhang zwischen dem Unfall, den L. erlitten hat, und
dem Tode desselben leugnet, sondern auch bestreitet, dass ein mit¬
telbarer Zusammenhang zwischen dem fraglichen Unfall und dem
Tode des L. besteht, glaubte ich auf Grund des jetzigen Standes
unserer Kenntnisse von der Entwickelung des Krebses und des Ver¬
laufes der Krankheit des L. einen mittelbaren Zusammenhang an¬
nehmen zu müssen. Ich musste allerdings zugeben, dass die eigent¬
liche Ursache des Krebses trotz der eifrigsten auf diesen Gegenstand
gerichteten Forschungen nicht bekannt ist, ich konnte aber hervor¬
heben, dass eine ganze Reihe von Bedingungen, unter denen der Krebs
sich entwickelt, bekannt sind. Ich hielt es für nothwendig darauf
aufmerksam zu machen, dass eine der wichtigsten Thatsachen, die
ganz besonders auf das Heilverfahren den allergrössten Einfluss aus¬
geübt hat, die ist, dass der Krebs bei seinem ersten Auftreten eine
örtliche Krankheit ist, und dass der Krebs erst dann zu einer allge¬
meinen Krankheit wird, wenn von dem ersten Krankheitsherde aus
die diesem benachbarten Stellen desselben Organes oder weitere Or¬
gane in Mitleidenschaft gezogen worden sind.
Wenn wir auch genöthigt sind, gewisse allgemeine Bedingungen
anzunehmen, wie das vorgerückte Alter, eine gewisse Familienanlage,
unter deren Einfluss sich Krebs an irgend einem Organe entwickelt,
so kann dieser Einfluss doch nur ein solcher sein, dass er eine ge¬
wisse örtliche Veränderung der Gewebe bedingt, welche der Krebs¬
entwickelung günstig ist. Dieser localistischen Auffassung von der
Entstehung des Krebses folgend, halten die Aerzte der Neuzeit es für
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Ist Krebs <1. Magens u. d. rnterleihsorgane d. mil lei ha re Folge einer Cnntusion? 353
nothwendig, dass so früh wie möglich der Krebs und /war vollständig
entfernt wird, damit eine weitere Verbreitung des Krebses auf die
Nachbarschaft des ursprünglichen Herdes und eine Infeetion des Kör¬
pers durch den Saftstrom verhütet werde. Diese frühzeitige Entfer¬
nung des Krebses wird für nothwendig erachtet, gleichviel, welches
Organ von dem Krebse ergriffen wird, ob derselbe in einem äusseren
Organe, den Lippen, der Brustdrüse, oder in einem inneren Organe,
dem Gebärmutterhalse, der Gebärmutter, dem Kehlkopf, dem Magen
seinen Sitz aufgeschlagen hat.
Diesem Grundsatz huldigen auch die wenigen Aerzte und For¬
scher, welche von der Voraussetzung ausgehen, dass eine gewisse
noch nicht bekannte Blutentmischung (Dyskrasie), oder eine Keiman¬
lage die eigentliche Ursache der Krebsentwickelung sind. Auch diese
letzteren, soweit sie ernst zu nehmen sind, huldigen der frühzeitigen
vollständigen Entfernung der Krebsgeschwülste und sind von der
Ueberzeugimg erfüllt, dass neben diesen allgemeinen Ursachen örtliche
Bedingungen für die Entwickelung des Krebses obwalten, und dass
nach Eliminirung des letzteren das Leben der Kranken, das ohne
Operation schnell dem Tode verfallen wäre, für mehr oder minder
lange Zeit, für Jahre, ja in seltenen Fällen für ein bis zwei Jahr¬
zehnte erhalten werden kann. Der Zufall wollte es, dass gerade der
genialste Vertreter der Lehre (Krasenlehre), dass allgemeine Ursachen
die Krebsbildung bewirken, der verstorbene Professor Billroth, die
ersten Operationen bei Krebsen im Kehlkopf und im Magen gemacht
und sich durch 'diese ein unsterbliches Verdienst um die leidende
Menschheit erworben hat. Angesichts dieses Standes der Krebsfrage
wird es unsere Pflicht sein, der Frage näher zu treten, ob wir Kcnnt-
niss haben von den Bedingungen, unter welchen sich Krebs bildet,
und ob derartige Bedingungen, welche im Allgemeinen von Einfluss
auf die Entwickelung des Krebses sind, durch den Unfall, den L. er¬
litten hat, gesetzt w r orden sind, so dass sich thatsächlich unter ihrem
Einfluss der Magen- etc. Krebs bei L. entwickelt hat.
Nach dieser Richtung lehrt die ärztliche Erfahrung, dass der dauernde auf
ein Organ, beziehungsweise auf einen Tlieil desselben wirkende Reiz ein bedeut¬
sames ursächliches Moment für die Bildung des Krebses ist 1 ), „namentlich sind
es voraufgegangene entzündliche Störungen, Geschwürsbildungen und Narben,
fortgesetzte und oft wiederholte Reizungen, traumatische Einwirkungen, auf die
1 ) Langerhans, Compendium der pathologischen Anatomie. 1891. S. 14Ö.
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Dr. Litt hau er,
sich in vielen Fällen Her irritative Beginn des Carcinoms zurückführen lässt“. Es
ist wiederholt beobachtet worden, dass aus einer Narbe, welche schädlichen Ein¬
wirkungen besonders ausgesetzt ist, oder aus einem alten Unterschenkelgeschwür
oder einem chronischen Magengeschwür Krebs sich entwickelt hat, dass Lippen¬
krebse vorwiegend bei Männern Vorkommen, welche die Gewohnheit haben, Pfeife
zu rauchen, dass der sogenannte Schornsteinfegerkrebs und der Paraffinarbeiter¬
krebs in gleicher Weise wie der Lippenkrebs auf bestimmte, wiederholte chro¬
nische und mechanische Insulte entsteht“, und dass zum Beispiel im Verdauungs-
canal gerade die verschmälerten Abschnitte ausschliesslich erkranken, dass die
U ebergangssteilen der Schleimhäute mit Vorliebe ergriffen werden 1 ), „wohl vor¬
nehmlich deshalb, weil an solchen Stellen in der Regel irgend eine, wenn auch
physiologisch berechtigte, mechanische Insultation hinzukommt“.
Es sei noch gestattet, auf einige resiimirende Bemerkungen Waldeyer’s,
des hervorragenden Forschers auf dem Gebiete der Lehre von den Geschwülsten,
hinzuweisen. Er drückt sich wie folgt aus 2 ):
„Endlich möge noch ein Punkt Erwähnung finden, der auf die Aetiologie
und Prophylaxis des Krebses hinführt. Es ist mir bei meinen Untersuchungen
immer aufgefallen, dass in den jüngsten Entwickelungszonen der Krebse eine so
reiche Vascularisation (Gefässbildung) des Gewebes mit Anhäufung farbloser Blut¬
körperchen statt hatte, fast wie in einem entzündeten Gewebe. Sollte nicht die so
bewirkte reichlichere Ernährung der Gewebe und die dadurch hervorgerufene
Lockerung des bindegewebigen Substrates der Wucherung und dem Vordringen
der Epithelzellen Vorschub leisten? Sollten nicht auf diese Weise chronische,
entzündliche Processe localer Art, namentlich wiederholte Reizungen, die zu um¬
schriebenen Entzündungen Veranlassung geben, endlich zur carcinomatösen Dege¬
neration überleiten können? Diese Fragen sind gewiss der ernstesten Prüfung
werth, und wir können vielleicht für die Prophylaxis der Krebsgeschwülste einige
heilsame Früchte daraus gewinnen, zumal schon eine Reihe klinischer Erfahrungen
auf einen gewissen Zusammenhang chronisch entzündlicher Reizung und carcino-
matöser Degeneration hinweisen“.
In gleicher Weise wie die Anatomen huldigen auch die wissenschaftlichen
Praktiker der Ansicht, dass dem andauernden örtlichen Reiz eine grosse Bedeu¬
tung in Bezug auf die Entstehung des Krebses zukomme. So sagt der verstorbene
Professor der Chirurgie in Heidelberg, Weber 8 ): „Fassen wir alles Gesagte zu¬
sammen, so sind für uns auch die heterologen Neubildungen“ (Geschwülste) „zu¬
nächst rein örtliche Krankheiten, welche durch wiederholte, nicht sehr intensiv
wirkende Reize, oft freilich, ohne dass wir dieselben mit Sicherheit nachzuweisen
im Stande sind, entstehen“.
Lehrreich sind auch die Aeusscrungen Billroth’s beziehungsweise seines
J ) Rindfleisch, Lehrbuch der pathologischen Gewebelehre. 1873.
S. 337.
2 ) Waldeyer, Ueber den Krebs in Sammlung klinischer Vorträge von Volk¬
mann. 33 (Chirurgie 10). S. 196.
8 ) Handbuch der allgemeinen und speciellenChirurgie, redigirt von v. Pitha
und Billroth. Bd. I. 1. Abtheilung. 1865. S. 297.
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Ist Krebs d. Magens u. d. Untorloibsorgane d. mi Hel bare Folgeeiner Contusinn ? 355
Schülers v. Winiwarter. Diese lauten 1 ): „In den meisten Fällen sind keine
Gelegenhcitsursachen für die Entwickelung der Carcinome bekannt; jedoch existiren
eine ganze Reihe von Beobachtungen, in welchen locale Irritationen dem Auftreten
des Carcinoms voraufgegangen sind, bei denen sich also die Neubildung auf einem
bereits pathologisch veränderten Boden entwickelt. Ich selbst habe bei einer kli¬
nischen Statistik über die Carcinome etwa in 20 pCt. aller Fälle eine locale Rei¬
zung an der Entwickelungsstelle des Krebses notirt“.»nur so viel erwähne
ich, dass Beispiele von Entwickelung des Krebses aus jahrelang eiternden Ulc-e-
rationsflächen, aus Fontanellgeschwüren, aus Fisteln, aus chronisch entzündlichen
Herden“ . . . . u. s. w. „beobachtet worden sind: aber auch einmalige oder wieder¬
holte, traumatische Reize können unter gewissen Umständen den Anstoss zur Car-
cinomentwickelung geben“.
Professor Gusserow — früher in Strassburg im Eisass, jetzt in Berlin —
enthält sich aller theoretischen Betrachtungen, er spricht sich folgendermassen
aus 2 ): „Von grösster Bedeutung könnten verschiedene locale Erkrankungen des
Cervix uteri (Mutterhalses) als prädisponirende Momente für die Krebsentwickelung
erscheinen. In dieser Beziehung hat man von jeher auf lang dauernde Catarrhe
der Cervicalschleimhaut mit Erosionsbildung hingewiesen“.
Bezüglich des Auftretens des Krebses im Kehlkopf sagt Prof. v. Ziemssen 2 ):
„Die Ursachen sind völlig dunkel. Nur in einem Falle von den 96 in der Lite¬
ratur mitgetheilten Fällen sei ein Trauma — Bruch des Schildknorpels durch
einen Erwürgungsversuch entstanden — dem Beginne der Neubildung um mehrere
Monate vorangegangen.
Stöerk 4 ) in Wien theilt einen Fall von Krebs des Kehldeckels bei einem
52 Jahre alten Manne mit und fügt hinzu, dass, was das ätiologische Moment an¬
belange, der Kranke glaube sein Leiden von dem Verschlucken einer Gräte her¬
leiten zu müssen. Die Gräte sei lange stecken geblieben, ohne dass man ihrer
habhaft werden konnte.
Von den Krankheitserscheinungen des Kehlkopfkrebses ist die Heiserkeit die
bei weitem constanteste, früheste und dauerndste. Meist geht nach v. Ziemssen
die Heisorkeit den übrigen Symptomen lange voraus, sogar mehrere Jahre. „In
vier Fällen der Zusammenstellung v. Ziemssen’s bestand Heiserkeit vor Eintritt
der schwereren Symptome 3 Jahre lang, in einem Falle 4, in zwei Fällen 5 Jahre,
und in einem Falle war der Kranke schon 26 Jahre lang heiser. Ein Prodromal¬
stadium von 1 bis 2 Jahren scheint die Regel zu bilden“.
Nöthigen diese Beobachtungen nicht zu der Annahme, dass chronische Ca-
x ) Die allgemeine chirurgische Pathologie und Therapie von Dr. Theodor
Billroth. 11. Auflage. Bearbeitet von Dr. Alexander v. Winiwarter.
S. 895.
2 ) Handbuch der allgemeinen und speciellenChirurgie, redigirt von v. Pitha
und Billroth. Bd. IV. Neubildungen des Uterus. S. 188.
8 ) Handbuch der speciellen Pathologie und Therapie, redigirt von
H. v. Ziemssen, Professor in München. 1876. Bd. IV. 1. Hälfte. S. 400.
4 ) Allgemeine und specielle Chirurgie von Dr, v. Pitha und Dr. Billroth.
Bd. III. 1. Abtheilung. 7. Lieferung. S. 425.
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UMIVERSITY OF IOWA
356
Pr. L i t th a ti o r,
tarrhe <les Kehlkopfes der Krebsbildung vorangegangen sind und diese veranlasst
haben ?
Endlich möchte ich mir noch erlauben, das Facit mitzutheilen, das Pro¬
fessor Luecke 1 ) aus seinen Studien und Beobachtungen zieht. Er sagt Folgen¬
des: „Ich glaube allerdings, dass wir allen Grund haben, den localen Reizen,
welche Geschwülste erzeugen, nachzuforschen. Sie gehören zu den wesentlichsten
ätiologischen Momenten bei der Geschwulstentwickelung; diagnostisch 2 ) können
sie von uns vor der Hand nicht verwerthet werden, was ja nur der Fall sein
würde, wenn bestimmte Reize auch bestimmte Geschwülste hervorrufen könnten,
und dem ist keineswegs so. Sowohl wiederholte wie einmalige Reize, wie Druck,
Reibung, Reizung durch Secrete werden als Ursache für die verschiedensten gut¬
artigen und malignen Geschwülste angegeben. Es wird eventuell das Gewebe,
was gereizt wird, bei einer weiteren allgemeinen Disposition die Geschwulst form
erzeugen, die es seiner Natur nach hervorbringen kann.
Die mitgetheilten Auszüge aus den Abhandlungen hervorragender
medieinischer Schriftsteller lassen keinen anderen Schluss zu, als den,
dass wir genöthigt sind, wie Waldeyer hervorhebt, anzunehmen, dass
sowohl die anatomische Forschung wie die klinischen Erfahrungen auf
einen gewissen Zusammenhang zwischen chronisch entzündlicher Reizung
und krebsiger Entartung hinweisen. Dieser Annahme entgegen betont
Professor F., dass der Magenkrebs sich überhaupt auf „selbstständige,
genuine“ Art ohne nachweisbare Vorbedingungen zu entwickeln pflegt.
Beim Magen liegen die Verhältnisse ganz anders, als beim äusseren
Krebs. Die Worte „selbstständige, genuine“ Entstehung sind meinem
Gutachten entnommen. Ich füge hier hinzu, dass ich die Worte
„selbstständige, genuine Entstehung“ nicht etwa in dem Sinne ge¬
braucht habe, dass ich annehme, der Krebs könne gewissermasscn
spontan ohne jede Veranlassung entstehen, dass ich vielmehr die
Ueberzeugung habe — und ich vertrete hierbei einen Standpunkt, den
auch andere Aerzte haben —, dass auch in diesen scheinbar selbst¬
ständig, genuin sich entwickelnden Krebsen eine örtliche Veranlassung
vorliege, dass diese nur nicht aufgefunden und festgestellt werden
könne.
Professor F. hat Gründe nicht angegeben, weshalb beim Magen die Verhält¬
nisse anders liegen als beim „äusseren“ Krebs der Haut, Brust etc. Die Gründe,
*) Professor Luecke, Die allgemeine chirurgische Diagnostik der Ge¬
schwülste in: Sammlung klinischer Vorträge von Volkmann. No. 97 (Chi¬
rurgie Öl). S. 835.
2 ) Dies ist augenscheinlich so gemeint, dass man nicht aus der Beschaffen¬
heit des Reizes auf die Natur der sich bildenden Geschwulst schliessen kann.
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Ist Krebs <1. Magens u. <1. Unterleihsorgane d. miitelbitre Folge einer Contusion? 357
die Herrn F. zu dieser Annahme veranlasst haben, können daher nicht discutirt
werden. Sehen wir uns einmal um, wie die Verhältnisse bezüglich des Magen¬
krebses liegen.
ProfessorF. sagt: „Der Magen- und Darmkrebs befällt robuste, lebensirische,
wohlgenährte Individuen in gleicher Weise, wie decrepide und sieche Personen,
gleichgültig aus welcher Ursache die Ernährungsstörungen sich herschreiben“....
„Die von dem oder jenem Arzt vertretene Anschauung, es disponire chronischer
Magencatarrh beziehungsweise ein schwacher Magen zum Krebs, theilen wir eben¬
sowenig wie die Mehrzahl sachverständiger und erfahrener Autoren. Wir er¬
wähnen das besonders, um der etwaigen Meinung entgegenzutreten, es sei der
Krebs des p. L. eine mittelbare Folge der durch die traumatische Neurose be¬
dingten Magenstörung. u Ich halte es für meine Pflicht, hervorzuheben, dass Pro¬
fessor F. seine Erfahrungen zu sehr verallgemeinert hat.
Ich kann mich, um das Gutachten nicht zu sehr anschwellen zu lassen, auf
das Citiren einiger Schriftsteller beschränken und zwar solcher, denen Herr F.
Erfahrung und Sachverständigkeit nicht absprechen wird.
Canstatt-IIenoch 1 ) drücken sich wie folgt aus:
„Die Vorläuferperiode des Magenkrebses dauert oft viele Jahre lang. Kranke
dieser Art leiden an Symptomen, wie sie als Charaktere der „Gastritis chronica“
— der chronischen Magenentzündung, des chronischen Magencatarrhs beschrie¬
ben sind. u
Der sehr erfahrene verstorbene Professor Bamberger 2 ) in Wien äussert sich
wie folgt:
„Schon von Boerhave und van Swieten wurde der Magenkrebs aus einer
chronischen Entzündung des Magens abgeleitet.
Es handelt sich also hier nur vorzugsweise darum, ob als Vorläufer der
Krebsentartung gewöhnlich oder auch nur häufig vom klinischen Standpunkte
Symptome zu beobachten sind, die sich auf acute oder chronische Entzündung
der Magenschleimhaut beziehen lassen. Wenn wir hierfür unsere eigenen Erfah¬
rungen zu Käthe ziehen, so müssen wir gestehen, dass dies allerdings in gewissen,
jedoch numerisch den bei weitem geringeren Antheil bildenden Fällen zu beob¬
achten sei. Es kommen in der That Fälle vor, in denen die Symptome des Magen¬
catarrhs durch eine bedeutende Reihe von Jahren der beginnenden Krebsablage¬
rung vorangehen, ja in manchen derselben liess sich der Eintritt der letzteren
durch die fast plötzliche Aenderung des Krankheitsbildes mit hinreichender
Schärfe nachweisen“.
Leube 3 ) giebt Folgendes im Kapitel Aetiologie an:
„Wir sind darnach in ätiologischer Beziehung einigermassen darauf ange-
*) Canstatt’s specielle Pathologie und Therapie. III.Auflage von Dr. lle-
noch. 1856. 3. Bd. S. 329.
2 ) Krankheiten Chylopoetischen Systems, bearbeitet von II. Bamberger.
Seite 306 im Handbuch der speciellen Pathologie und Therapie, redigirt von
Rudolph Virchow.
3 ) Leube, Krankheiten des Magens und Darms in v. Ziemsseivs specielle
Pathologie und Therapie. Bd. VII. 2. Hälfte. S. 125.
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858
Dr. L i I Ui au or,
wiesen, im höheren Alter und in dem Bau, der Lage sowie der Function des Ma¬
gens Momente zu suchen, deren Vorhandensein die Entstehung des Carcinoms
(Krebses) überhaupt und speciell des Magencarcinoms begünstigt“.
Wie oben erwähnt, giebt ferner die Anwesenheit eines Ulcus oder der Narbe
eines solchen anscheinend eine gewisse Prädisposition für die Bildung des Carci¬
noms. Dasselbe galt auch seit langer Zeit von der chronischen Magenentzündung,
welche schon Boerhave (Aphor. § 956) unter Umständen in Scirrhus (Krebs)
ausgehen lässt; man kann auch nicht leugnen, dass Fälle von Magenentzündung
beobachtet werden, welche nach einer Reihe von Jahren schliesslich mit Krebs
enden.
Interessant in dieser Hinsicht ist die Beobachtung Waldeyer’s, „dass in
den jüngsten Entwickelungsphasen eine so reiche Vascularisation (Gefässbildung)
des Gewebes mit Anhäufung farbloser Blutkörperchen statt hatte, fast wie im ent¬
zündeten Gewebe, so dass man daran denken kann, dass in dem reichlicher er¬
nährten Gewebe und dem dadurch lockerer gewordenen Bindegewebe die Epithel¬
zellen leichter zu wuchern vermögen“.
Im Anschluss an diese Bemerkungen sei noch erwähnt, dass Thiersch,
Professor der Chirurgie in Leipzig, der sich um die Lehre vom Krebse sehr grosse
Verdienste erworben hat, ganz unabhängig von Waldeyer und Leube die An¬
sicht ausgesprochen hat, dass „der Schwund des Bindegewebes“, gewissennassen
der Unterbettung des Epithels im Alter die atypische Wucherung der Epithel¬
zellen (Krebs) begünstigt und hierdurch die Prädisposition zur Krebsentwickelung
im Alter bedingt. Muss man im Hinblick auf diese Anschauungen der hervor¬
ragendsten Forscher nicht sagen, dass durch das Alter einer- und die chronische
Entzündung andererseits gleiche Bedingungen für die Entwickelung des Krebses
gesetzt werden? Nun könnte man einwenden, dass man, da der Krebs eben bei
gut und schlecht genährten Personen, bei Personen, die gesund sind oder wenig¬
stens erscheinen, und bei solchen, die an chronischen Magenentzündungen leiden,
vorkomme, nicht behaupten dürfe, dass der chronische Magencatarrh die Ent¬
wickelung des Krebses begünstige. Wenn ich aber bedenke, wie klein trotz der
Häufigkeit des Krebses das Verhältniss der Zahl der Krebse zu der Zahl der ge¬
sunden und auch nur der Menschen im vorgerückten Lebensalter ist, und wie
selten — im Verhältniss zu den gesunden Menschen — doch immerhin der chro¬
nische Magencatarrh ist, so muss ich sagen, dass bei der nicht allzugeringen Zahl
von Beobachtungen der Krebsentwickelung nach chronischen Magoncatarrhen,
chronischen Magenentzündungen, zwischen der chronischen Magenentzündung
(Magencatarrh) und dem Magenkrebs ein gewisser ursächlicher Zusammenhang an¬
genommen werden muss.
Die Verhältnisse liegen demnach in keiner Weise anders heim
Magenkrebs als beim äusseren Krebs, beim Krebs des Kehlkopfes,
der weiblichen Gesehlechtstheile etc. Wie hier muss auch beim Magen¬
krebse angenommen werden, dass Geschwürsbildungen, Narben, Ero¬
sionen, Einrisse, chronische Entzündungen, dauernde Irritationen den
Boden für die Entwickelung des Krebses vorbereiten. Professor F.
erkennt diese ursächlichen Momente für die Entwickelung des Magen-
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Ist Krebs d. Magens u.d. Unterleibsorganed. mittelbar« Folge einerContusion? 359
krcbses an, legt ihnen aber keine wesentliche Bedeutung bei, er meint,
„dass die äusseren Reize doch kaum eine andere Rolle als die einer
gelegentlichen Veranlassung spielen“. Mehr wird aber auch nicht von
mir behauptet.
Wir müssen aber, wie dies bereits die Alten gethan haben, bei
der Erforschung der die Krankheiten erzeugenden (pathogenetischen)
Momente 1) die eigentliche Ursache, causa, oder, um mich modern
auszudrücken, das die Krankheit auslösende Moment — 2) das Gc-
legenheitsmoment, die Occasio, und 3) die Krankheitsanlage, dispo-
sitio, unterscheiden.
Archimedes wollte durch die Hebelwirkung die Erde aus den
Angeln heben, wenn er einen festen Punkt für das Anlegen des He¬
bels hätte. So können auch die Krankheitsursachen nicht ihre Wir¬
kung entfalten, wenn sie in einen widerstandsfähigen Organismus ein-
dringen. Ein Individuum, das tuberculös veranlagt ist, kann unter
günstigen hygienischen Bedingungen gesund bleiben, während es unter
ungünstigen Bedingungen, obwohl dieselben nicht das Eindringen des
Erzeugers der Tuberculose veranlassen, an der Tuberculose erkrankt.
Die Frage nach dem Einflüsse von unblutigen Körperverletzungen auf
die Entstehung von durch specifische Krankheitsursachen bewirkten
Krankheiten ist in Folge des Unfallversicherungsgesetzes eine actuelle
geworden und keineswegs so genau erforscht, als es das öffentliche
Interesse erheischt.
Nun darf man aber die Einwirkung eines Traumas auf die Ent¬
wickelung einer Krankheit nicht abstract erschliessen wollen. Man
muss vielmehr den vorliegenden Fall historisch und genetisch zu stu-
diren suchen. Man kann auch nicht annehmen, dass das Trauma
irgend welche dynamische Einflüsse äussert, sondern man muss sich
vielmehr vorstellen, dass es, wenn auch vielleicht unbedeutende, ana¬
tomische Veränderungen bewirkt. Wenn diese aber nicht beseitigt
werden, sondern dauernd bestehen, dauernde, wenn auch unbedeutende
Wirkungen entfalten, so können durch die Summation der kleinen
Wirkungen Veränderungen gezeitigt werden, welche schliesslich für
den Organismus verderblich werden. Diese Summation kleinster Wir¬
kungen und Veränderungen bedingt unser ganzes Sein, sie bedingt
das Wachsen und Gedeihen, sie bedingt aber auch die Altersverände¬
rungen und schliesslich — abgesehen von allen anderen Krankheits¬
ursachen — den Tod. Sic bewirkt auch die schliesslichen deletären
Folgen des chronischen Alkoholismus, der chronischen Nikotinver-
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3 HO
1 >r. I, i 11 li a u fr,
giftung etc. Wir worden daher im vorliegenden Falle zu untersuchen
haben, ob durch den Unfall Veränderungen gesetzt worden sind,
welche, an sich vielleicht unbedeutend, im Laufe der Zeit nicht gc-
geheilt wurden und durch ihren beständig sich äussernden Einfluss
schliesslich den Boden für die Entwickelung der tödtlichen Krankheit,
des Krebses, vorbereitet haben. Wenn dies aber der Fall ist, dann
müssen wir auch sagen, dass der Unfall mittelbar den Tod bewirkt
hat, wenn auch der Unfall keine andere Rolle als die einer gelegent¬
lichen Veranlassung neben anderen Ursachen gespielt hat.
Von allen Bedenken, die Professor F. erhoben hat, bleibt nur
das Eine bestehen, dass nicht ein beweiskräftiger Fall beobachtet
worden ist, in welchem eine Verletzung des Magens zur Krebsbildung
geführt hat. Ich muss dies zugeben. Ich bin ebenfalls nicht im
Stande gewesen, einen solchen Fall in der Literatur aufzulinden. Ich
bin jedoch nicht in der Lage, diesem Umstande die Beweiskraft ein¬
zuräumen, die ihm Professor F. zuschreibt. Das Unfallversicherungs¬
gesetz hat uns schon vor manches Novum gebracht. Es sind durch
dasselbe schon viele Punkte in den Kreis des Interesses der Aerzte
gerückt worden, die früher ausserhalb desselben gestanden haben.
Wenn auch früher die Frage nach der Abhängigkeit des Magenkrebses
vom Trauma häufig aufgeworfen worden ist, so habe ich doch nir¬
gends vernommen, dass bei den Beobachtungen von Magenkrebs Jahre
lang die Krankheit zurück verfolgt worden ist, um festzustellen, ob
vor Jahren ein Trauma eingewirkt, ob dasselbe eine chronische Magen¬
entzündung, eine Magenerosion, einen Schleimhautriss etc. veranlasst,
und ob der Magenkrebs sich mittelbar an ein Trauma angeschlossen
hat. Jetzt bilden die einen Unfall betreffenden Acten gewissem!assen
einen Kataster, in welchem die Gesundheitsverhältnisse des Unfall¬
beschädigten vom Momente des Unfalls bis zur Genesung oder bis
zum Tode fortgeschrieben werden.
Der Geist des Unfallgesetzes ist nach dieser Richtung hin noch
nicht in die Aerzte hinreichend eingedrungen. Wir finden gerade in
den den Unfall des L. betreffenden Attesten nicht ein einziges Mal
einen genauen Bericht über die thatsächlichen Ergebnisse der ärzt¬
lichen Untersuchung. Alle Atteste — mit Ausnahme des Gutachtens
des Professor F. — haben einen mehr resürairenden Charakter, in
welchem Referat und Votum zusammengeworfen wurden.
Wir können uns unter solchen Umständen gamicht wundern,
dass bislang Fälle noch nicht beobachtet worden sind, in welchen
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Ist krebs d. Malens u. d. Unlerleihsnrganod. milfollmro Folge einer (’ontusion? 361
Krebs nach Verletzungen sich entwickelt hat. Es halte eben bis jetzt.
Niemand ein so weit gehendes Interesse, den Ursprung einer einem
Magenkrebse vorangehenden chronischen Magenentzündung (chronischen
Magencatarrhs) Jahre lang zurück zu verfolgen.
Hierzu kommt, dass eine so circumscripte stumpfe Gewaltein-
wirkung auf die Magengegend an sich sehr selten ist, dass diese
wieder nur ganz ausnahmsweise, wie ein Magengeschwür den Krebs
bedingen würde. Auch von diesem Gesichtspunkte aus kann es uns
garnieht Wunder nehmen, dass ein Magenkrebs nach einem Trauma
oder einem Unfall noch nicht beobachtet worden ist. Es wäre dem¬
nach falsch, aus dem Mangel einer solchen Beobachtung zu schliessen,
dass ein Zusammenhang zwischen einem Unfall und Magenkrebs aus-
zusehliessen ist. — Ich möchte mir die Gegenfrage erlauben, wie oft
denn schon Professor F. einen chronischen Magcncatarrh nach einem
stumpfen Trauma des Magens hat auftrelen sehen. Ich finde in der
mir zugänglichen Literatur nirgends ein solches Trauma als Veran¬
lassung angegeben.
Wenn wir nun auf der Basis der durch die Wissenschaft festge¬
stellten Thatsaehen und der ausführlich entwickelten Grundsätze die
Geschichte des L. studiren, so ergiebt sich Folgendes:
L., ein junger Mann von 29 Jahren, der nur einige Male einige Zeit vor dein
l’nfall gelegentlich einer Consultation seitens seines Kindes den Arzt wegen Yer-
dauungsbeschwerdon befragt hat, die der Arzt als „Magcncatarrh“ bezeichnet hat,
war zur Zeit des Unfalls und einige Wochen vorher gesund, er war noch nach
dem Unfall von gutem Ernährungszustände und war ein mittelgrosser, massig
kräftig gebauter Mann. Dieser gesunde und nach den Angaben der Frau L. aus
einer gesunden, nicht von Krebs heimgesuchten Familie stammende junge Mann
erleidet bei Gelegenheit eines Zusammenstosses eines Bierwagens mit dem Pferde¬
bahnwagen am 1. September 1887 durch die abgebrochene Bremse eine derartige
Contusion der rechten Brusthälfte und zwar in der Parasternallinie (Mitte zwischen
Mittellinie des Körpers und Brustwarzenlinie), dass er, obwohl er als Kutscher
gewohnt ist, sicher zu stehen, von dem Perron hinunterfällt. Frau L. behauptet,
dass ihrem Manne Blut aus Mund und Nase gekommen sei, dass die Blutung noch
lange Zeit angehalten und selbst noch nach der Entlassung des Mannes aus dem
Krankenhause bestanden habe. In den Acten ist dei Blutung nirgends Erwähnung
gethan. L. wurde unmittelbar nach dem Unfall in das Krankenhaus Moabit auf¬
genommen, und hier klagte L. über ein kribbclndes Gefühl in den Füssen, in der
rechten Hand und über heftige Schmerzen in der Brust. Die Untersuchung ergab
ausser einer hochgradigen Druckempfindlichkeit in dem Körper des Brustbeins,
den rechten Rippen zwischen Brustwarzen- und Mittellinie des Körpers, der Len»
denwirbelsäule keine objectiv nachweisbaren Veränderungen. Am 7. September
1887 wird L. „gebessert“ entlassen. Das war ein Irrthum der Krankenhausärzle,
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362
Pr. L i 11 h a uer,
L. war nicht gebrs>erl, viel mehr berichtet** Pr. \Y. am 30. November 18*7, Hass
L. in den Kliniken der Professoren Mendel und Eulenburg behandelt worden
sei und erwähnt, dass eine Lähmung der Sprache und eine lähmungsartige
Schwäche im ganzen Körper bestehe, dass er vor dem Unfall (wie lange vorher
ist nicht erwähnt worden) den p. L. einige Male an Magencatarrh behandelte,
dass erst nach und nach durch den Unfall das jetzige Krankheitsbild entstanden
sei. — Zweifellos hat sich schnell nach dem Unfall die traumatische Neurose aus¬
gebildet.
Des Magencatarrhs hat Dr. W. nicht Erwähnung gethan.
Erst im Berichte vom 2. August 1888 führt Dr. W. an, dass ein chroni¬
scher Magencatarrh bestehe. — Ein chronischer Magencatarrh muss doch
wohl seit vielen Monaten bestehen, und es ist wohl daher anzunehmen, dass neben
der traumatischen Neurose sich infolge des Unfalls auch ein Magencatarrh aus¬
gebildet hat. Im weiteren Verlauf der Krankheit bietet L. die Erscheinungen der
traumatischen Neurose und des Magencatarrhs dar. Die Erscheinungen des Magen¬
catarrhs treten nun mehr in den Vordergrund. Dr. L. erwähnt z. B. am 8. Mai
1889, dass die Krankheit des L., chronischer Magencatarrh und lähmungsartige
Schwäche, durch den Unfall am 1. September 1887 hervorgerufen worden sei,
dass die bei dieser Gelegenheit eingetretene Erschütterung des ganzen Körpers
hauptsächlich das „vegetative sympathische Nervensystem“ getroffen habe.
Der Badearzt Dr. W. berichtet am 29. Juli 1889, dass die Aussichten auf
Heilbarkeit fallen und steigen mit der Besserung, beziehungsweise Verschlimme¬
rung der Erkrankung des Verdauungsapparates.
Am 24. September 1889 berichtet Dr. L., dass die Zunge belegt sei und
„die Magengegend, welche bei dem Unfall unzweifelhaft am meisten gelitten habe,
sehr empfindlich sei u .
Aus den wenigen thatsächlichen Momenten, welche die Kranken¬
geschichte uns liefert, geht nicht hervor, dass der Magencatarrh sich
unmittelbar an die Contusion des Magens angeschlossen hat, man
muss jedoch annehmen, dass dies der Fall gewesen ist, denn die ge¬
nannten Aerzte betrachten dies als selbstverständlich, und auch Dr. 0.
betrachtet die Verdauungsbeschwerden als zum Gesammtbilde der
traumatischen Neurose gehörig und leitet sic demnach ebenfalls vom
Unfall ab.
Ich muss mich ebenfalls dahin aussprechen, dass der Magencatarrh als eine
Folge des Unfalls anzunehmen sei, ich thue dies um so mehr, als Dr. W., der
den L. bereits vor dem Unfall am 1. September 1887 behandelt hat, in einem
Atteste vom 21. September 1888 bescheinigt, dass L., abgesehen von einem
Spitzencatarrh der Lungen und einem chronischen Magencatarrh, infolge
eines Betriebsunfalles an einem Leiden des Centralnervensystems leidet. —
Die Annahme, dass der Magencatarrh eine mehr zufällige Complication der trau¬
matischen Neurose sei, da L. zu Magenstörungen neigte, muss ich als durch keine
thatsächliehe Unterlage begründet zurückweisen. L. ist zur Zeit des Unfalls ge-
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Ist Krebs d. Magensu. d. Unterleibsorganed. mittelbare Folge einer Contusion? 383
sund und arbeitsfähig und von gutem Ernährungszustände gewesen. Eine andere
Frage ist die, ob der chronische Magencatarrh die unmittelbare Folge der Con-
tusion des Brustkastens beziehungsweise der Magengegend gewesen, oder als Be¬
gleiterscheinung der traumatischen Neurose aufzufassen ist.
Ich muss sagen, dass ich persönlich es für höchst wahrscheinlich halte,
dass der Magencatarrh die unmittelbare Folge der Contusion gewesen ist und zwar
wegen der von mehreren Beobachtern erwähnten hochgradigen Druckempfindlich¬
keit der Magengegend und auch wegen der ausserordentlichen Hartnäckigkeit des
Magencatnrrhs. Der Schlag, den L. erlitten hat, könnte auf zweifache Weise den
Magen geschädigt haben, einmal auf dem Wege der Erschütterung und zweitens
durch Contusion im engeren Sinne. Die erstere muss ich eigentlich beim Magen
ausschliessen. Unter Erschütterung versteht man eine durch einen Stoss erzeugte
Molecularbevvegung, wie wir sie bei elastischen Körpern, einem Gummiball, einer
Billardkugel, dem Schädel wahrnehmen. Eine derartige Erschütterung kann sehr
wohl Organe schädigen, wenn die Bewegung der kleinsten Theilchen (Moleküle)
über die Elastieitätsgrenze derselben hinausgeht. Nun ist der Magen ein schlaffer
Sack, derselbe kann zwar gequetscht, gezerrt aber nicht erschüttert werden. Es
wäre zwar denkbar, dass die musculären Elemente des Magens durch einen Stoss
zu einer krampfhaften Contraction veranlasst einen derartigen Verschluss der Ein-
und Ausgangsöffnung des Magens bewirken, dass der Magen einen mehr oder
minder elastischen Körper darstellt, allein diese krampfhafte Zusammenziehung
der musculären Elemente würde zeitlich erst eintreten, nachdem der Stoss den
Magen bereits gedrückt, gequetscht oder gezerrt hat.
Ich muss mich daher dahin aussprechen, dass das Anschlägen der Bremse
an die Magengegend höchst wahrscheinlich eine Quetschung des Magens etc. be¬
wirkt hat. Wenn diese Annahme aber richtig ist, dann sind auch Zerreissungen
der Schleimhaut etc. die fast unvermeidlichen Folgen des Anschlagens der Bremse
an die Magengegend. Der etwaige Einwand, dass das Fehlen von Contusionser-
scheinungen an der Haut unmittelbar nach dem Unfall eine Verletzung der
Schleimhaut aussehliesst, ist nicht stichhaltig, da sehr häufig nach der Einwir¬
kung stumpfer Gewalten Veränderungen an der Haut nicht nachweisbar sind,
während die tiefer liegenden Organe mehr oder minder grosse Einrisse zeigen.
Die Einrisse der Schleimhaut würden aber, wenn sie nicht unmittelbar heilen,
ähnliche Wirkungen wie Erosionen und Geschwüre hervorrufen und schliesslich
die Krebsentwickelung erzeugen können. So würde der Fall auf die einfachste
Weise erklärt werden. Wenn auch der chronische Magencatarrh als eine Begleit¬
erscheinung der traumatischen Neurose aufgefasst werden sollte, müsste trotzdem
der Magenkrebs als die mittelbare Folge des Unfalls angesehen werden, weil man,
wie oben ausführlich auseinandergesetzt wurde, annehmen muss, dass ein chro¬
nischer Magencatarrh, eine chronische Magenentzündung, wie ein chronischer Ca-
tarrh überhaupt den Boden für die Entwickelung des Krebses vorbereitet. Herr F.
beruft sich auch hier wieder auf seine negativen Erfahrungen, allein es muss
auch liier wieder darauf hingewiesen werden, dass man auf Grund mangelnder
Beobachtung nicht so weit gehende Schlussfolgerungen ziehen darf.
Man muss sich immer vergegenwärtigen, dass ich annehme, dass nicht der
Unfall an sich, sei es der directe Stoss an die Magengegend oder durch die trau-
Vierteljahr&schr. f. «er. Med. Dritte Folge. IX. 2 . 24
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Original frn-m
UNIVERS1TY OF1ÖWA
364
Dr. Litt ha iier.
malische Neurose, sondern dass die durch den Unfall bewirkte chronische Ent¬
zündung der Schleimhaut den Boden für die Krebsentwickelung geschaffen hat.
Ich habe mir die Frage vorgelegt, ob bei L. sich zur Zeit der Krebs ent¬
wickelt hätte, wenn er nicht die Contusion des Magens erlitten hätte. Ich sagte,
dass zu dieser Annahme auch nicht der geringste Grund vorliege, da L. angeb¬
lich aus einer gesunden Familie stamme und sich noch zur Zeit des Todes im
jugendlichen Alter befunden habe. Ich sagte nicht, dass L. nicht den Krebs be¬
kommen hätte, sondern dass kein Grund vorliege, dies anzunehmen. Professor F.
bejahte diese Frage, da er es für ausgeschlossen erachtete, dass der Unfall mittel¬
bar den Krebs veranlasst hätte. Dies scheint mir doch ein Circulus vitiosus oder
eine Petitio principii zu sein, wie sie im Buche steht. Man darf doch nicht zur
Widerlegung einer gegentheiligen Ansicht das, was man beweisen will, das Thema
probandum, als bewiesen ansehen und als Beweismittel benutzen. Ich kann mich,
je mehr ich mich in die Einzelheiten des Falles vertiefe, um so weniger zu der
Ansicht bekennen, dass, wenn einer Contusion des Magens eine chronische Magen¬
entzündung und dieser Krebs folgt, es ein reiner Zufall sein soll, dass diese Vor¬
gänge sich so nach einander abgespielt haben.
Ich stelle mich vielmehr bei der Continuität der Vorgänge auf den naiven
Standpunkt eines Laien, der sagen würde, dass der Stoss den Magencatarrh er¬
zeugt habe, und dieser schliesslich in Magenkrebs „ausgeartet“ sei. Dieser naive,
sich Laien und Sachverständigen aufdrängende Standpunkt wird nicht nur nicht
durch die wissenschaftlich festgestellten Thatsachen widerlegt, sondern vielmehr
auf das Festeste gestützt. Hiernach sehe ich mich genöthigt auch jetzt mein
früheres Gutachten aufrecht zu erhalten.
Ich gebe somit mein amtseidliches Gutachten wie folgt ab:
- a) Durch den Betriebsunfall beziehungsweise die Contusion
der Brust- beziehungsweise Magengegend durch einen
schweren Gegenstand, die Bremse, sind Bedingungen ge¬
setzt worden, unter denen sich im Magen, beziehungsweise
in den benachbarten Eingewciden im Laufe der Zeit Krebs
entwickeln konnte.
b) In den Acten ist nicht über Vorgänge oder anatomische
Veränderungen berichtet worden, aus welchen auf selbst¬
ständige, sogenannte genuine Entstehung des Krebses bei
L. geschlossen werden kann.
c) Bei der Continuität der Vorgänge vom Momente des An¬
schlagens der Bremse an die vordere Brustwand, an die
Magengegend, beziehungsweise vom Momente des Unfalls
bis zu dem Tode des L., muss vom ärztlichen Stand¬
punkte aus mit einem hohen Grade von Wahrscheinlich¬
keit angenommen werden, dass ein mittelbarer, ursäch¬
licher Zusammenhang zwischen dem Unfall vom 1. Sep-
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Ist Krohsd. Malens n. «I. I*ul«*rl*-ilisor!*;im><1. millelüare Folgeeinftr f'nnlusion ? 885
temher 1887 und dein Tode dos L. obwaltet. Der Grad
der Wahrscheinlichkeit lässt sich mathematisch nicht be¬
stimmen, doch muss ich für meine Person sagen, dass
diese Wahrscheinlichkeit eine fast an Gewissheit gren¬
zende ist.
Das von der medicinisehen Facultät in Würzburg, vertreten durch
Herrn Geheimen Medicinalrath Professor Dr. Sch., erstattete Gut¬
achten deckte sich inhaltlich mit dem ineinigen.
Das Reichs-Versichcrungsamt hat die Ansprüche der Krbcn des
verstorbenen Kutschers L. anerkannt und dem entsprechend ent-
schieden.
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24*
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UMIVERSITY OF IOWA
2 .
Ueber die Kohleiioxydvergiltuiig vom medicinal
und sanitätspolizeilichen Standpunkte.
Von
Dr. med. Robert Stoermer, Arzt in Berlin.
(Fortsetzung.)
III. Das Wassergas und seine Abarten.
Obwohl bis jetzt, soviel ich weiss, über eine Vergiftung durch Wassergas
oder eins der demselben verwandten Gasgemische in Deutschland noch nicht in
fnro verhandelt worden ist, trage ich doch kein Bedenken, den in diesem Capitel
zu behandelnden Gasen eine hohe forensische Wichtigkeit beizumessen; nur sind
sie in unserem Vaterlamle noch zu wenig eingebürgert, um schon genügend ge¬
würdigt werden zu können. Hauptsächlich sind es Amerika, Belgien, England
und die Schweiz, in denen das Wassergas und seine Abarten viel angewendet
werden; und dort haben sie in der Thal schon ihre deletären Wirkungen entfaltet,
zahlreirheTodesfälle veranlasst (darüber cf. später) und dadurch das Interesse der
Hygieniker und Gerichtsärzte gewerkt. In Folge der Bemühungen der „europäi¬
schen Wassergas-A(*tien-(iesellschalt a zu Dortmund erobert sich nun auch in
Deutschland das Wassergas täglich mehr Terrain, und Geitel 1 ) glaubt die Zeit
nicht allzufern, wo (Juaglios 2 ) Prophezeiung, dass das Wassergas der Brennstoff
der Zukunft sein werde, sich erfüllen wird, ja! er vermuthet sogar, dass es als
Heiz- und Leuchtstoff mit unfehlbarer Sicherheit den Sieg über das Leuchtgas
davontragen werde, dass spätere Geschlechter es mit offenen Annen aufnehmen
werden! Dann kann es nicht ausbleiben, dass das Wassergas auch in Deutsch¬
land bald zu grosser forensischer Bedeutung gelangen wird.
BelaititB dies Wtssergtses.
Man verstellt unter „Wassergas u (watergas. gaz ä Feau) ein an Wasserstoff
J ) M. Geitel, Das Wassergas und seine Verwendung in derTechnik. Sonder¬
abdruck aus Glasers Annalen. Berlin 1890. S. f>l.
2 ) G u a g 1 i o, Das Wassergas als der Brennstoff der Zukunft. Wiesbaden 1880.
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(eher d. Kohlenoxydvergift. v. inediciiml- u. snnitiitspnlizcil. Standpunkte. 3f>7
sehr reiches Gasgemisch, bei welchem die Bildung des Wasserstoffs durch Ein¬
wirkung von Wasserdampf auf glühenden Kohlenstoff in geschlossenen Gefässen
erfolgt. Dabei nimmt der Kohlenstoff den Sauerstoff des Wassers auf; es bildet
sich Kohlensäure, und Wasserstoff wird frei. Es wird aber bei einem Zusammen¬
treffen der entstandenen C0. 2 mit einem Ueberschusse von glühender Kohle die
CO, zu CO redueirt und es resultirt leider ein Gas, welches ungemein reich an
CO ist. Aus diesem Grunde ist das so gewonnene „Wassergas“, so schätzens-
werth es auch in vieler Beziehung (wegen seiner grossen Heizkraft, Billigkeit, Un¬
empfindlichkeit gegen Druck und Kälte etc.) ist, ein höchst gefährliches Product,
erheblich gefährlicher als Kohlendunst und Leuchtgas, da es reicher an CO als
diese beiden ist und seine Anwesenheit in Räumen weder durch einen specifischen
Geruch noch sonstwie verräth.
Zudem besitzt es nach Geitel (I. c. S. 7.) ein ausserordentlich grosses Dif-
fundirungsvermögen, wodurch es in den Stand gesetzt wird, schon bei unerheb¬
lichen Undichtigkeiten der Leitung in grossen Quantitäten auszuströmen. Wenn
ich endlich noch auf die einschläfernde Wirkung des Kohlenoxyds himveise, welche
das Opfer unfähig macht, sich der Gefahr zu entziehen, so glaube ich die Gefähr¬
lichkeit des Wassergases hinlänglich charakterisirt zu haben. — Auch der Kohlen¬
oxydgehalt dieses Gasgemisches wechselt je nach dem verwendeten Rohmaterial
und der Bereitungsweise. Mehr als bei irgend einem anderen Stoffe kommt es
beim Wassergase auf die Construction der zur Herstellung desselben verwendeten
Apparate an. In gerichtlichen Fällen wird daher auf diese stets Bedacht genom¬
men werden müssen; ausführliche Angaben darüber enthält die schon mehrfach
erwähnte Schrift von Geitel. Im Folgenden ist eine Uebersicht gegeben über die
zur Zeit am meisten gebräuchlichen, dem Wassergase im grossen Ganzen analogen
Gasgemische; die Zahlen sind der Uebersicht lieh k^it wegen abgerundet: sie sind
für den Gerichtsarzt trotzdem hinlänglich genau.
(Siehe die Tabelle auf der nächstfolgenden Seite.)
Die stickstoffreichen Gase (Dowson-, Wilson- und Generatorgas) werden
auch, ihrer hauptsächlichen Verwendung entsprechend, als „Motorengase“ oder
als „Halbwassergase“ bezeichnet; letzteren, von Lunge 1 ) eingeführten Namen
verdienen sie in der That; denn man stellt sie dar, indem man die gewöhnlichen
Generatorgase mit Wasserstoff (durch Einführung von Wasser resp. Wasserdampf
in die Generatoren) vermengt.
Die oft wiederholten Versuche, durch gewisse Modifikationen des oben an¬
gegebenen ursprünglichen (von Felice Fon tan a [1730—1805] entdeckten) Ver¬
fahrens der Wassergasbereitung ein erheblich CO-ärmeres Gas zu gewinnen, haben
bis jetzt noch zu keinem befriedigenden Resultate geführt. Der Gerichtsarzt
hat daher festzuhalten, dass die bekannten Wassergasarten alle
ohne Ausnahme sehr CO-reich sind; am wenigsten davon enthalten, wie
umstehende Analysen zeigen, das Gillard’sche Platingas und das auch unter dem
x ) Lunge, Ueber die bei Verwendung des Wassergases zu industriellen
Zwecken nöthigen Vorsichtsmassregeln; citirt nach Becker, 1. c., S. 35ti.
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Namen r gaz mixte“ figurirende Leprinoe-Gas, das in Belgien am meisten Verwen¬
dung findet.
Es enthalten
100 Tbeile
Name
des
o
** a> .
<6
T3
X
O
Methan.
o
o
Wassergases.
Schwere K
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tn
’-P
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£
o
p
cj
Durchschnittliche Zu¬
sammensetzung des
Wassergases nach An¬
gaben von Sedgwick
und Nichols ■).
12
1
1
0.4
27 '
i
i
36
'
1
21
i
3
0.2
Wassergas aus ameri¬
kanisch. Anthrac-it 3 ).
keine
2
35
53
4
4
0,7
Das in Stockholm ver-
suchsw. dargestellte
Wassergas (durch ver¬
schiedenes Mischen
von Coaks, nassem u.
trockenem Torf, Kohle
u. Kohlenstaub 3 ).
keine
3—9
i
33—40
77-
-61*
1x5—
T"*
Lowe-Gas 3 ).
13—25
0.3—4
18—29
24-35
21—26
1,5—4
Spuren
New-Yorker Municipal-
Gas 3 ).
15—18
0,2- 3
25—27
26-28 21—29
1-4,5
0,5
Granger-Wassergas 8 ).
13—15 1
0,2
23—28
35-37
19—21
3—4
Spuren
White-Wassergas 3 ).
11
__
15
47
Leprince-Wassergas *).
9
0,3
6
25
58
Gillards-Platingas 3 ).
1
i 0,5
j
4
94
0,5
Dowson-Gas 3 ).
0-4
5—7
22—24
16—18
| “
q. s. ad 100
—
Siemens-Regenerator-
Gas 2 ).
?
V
30
?
?
y
y
Wilson-Gas 3 ) enthält
5 pCt. Wasserstoff.
—
6
21
8
2
59
—
Generator - Gas aus
Coaks 8 ).
2—6
23—28
1
70
! ) Gitirt aus E. Becker, 1. c. S. 124.
2 ) Nach Angaben von Ingenieur Blass in Hartmann’s Vortrag über die
Gefährlichkeit des Wassergases, cf. später S. 369.
*) Zusammengestellt nach Angaben von M. Geitel.
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Ueber <1. Kohlenoxyd vergilt, v. iimm] ic*i u. sauitiitspolizeil. Standpunkte. 369
Verschiedene Processe, denen das Wassergas, um für gewisse
Zwecke verwendbar zu werden, unterworfen wird, andern an der
Giftigkeit d esselben nichts:
Die Mehrzahl dieser Gase leuchtet wegen ihres grossen Gehalts an Wasser¬
stoff nur wenig; doch können sie auf verschiedene Weise zu Beleuchtungszwecken
verwendbar gemacht werden, nämlich 1) indem man in ihnen andere Körper (Pla¬
tingeflecht, Platin-Iridium-Legirung, Zirkoniumstifte, sogen. „Magnesiakämme“
oder den Auer’schen Glühkörper) zum Weissglühen bringt; das so erzeugte Licht
heisst Incandescenz- oder Wassergasglühlicht — oder 2) indem man das Wasser¬
gas „carburirt“ d. h. es mit leuchtenden Verbindungen (Aethylen, Acetylen, Ben¬
zin-, Naphtholdämpfe oder dergl.) imprägnirt, wodurch es auch einen gewissen
Gasgeruch erhält — oder 3) indem man es dem sogen. Hydrocarbonproeesse unter¬
wirft, d. h. noch über Steinkohlen, welche der trockenen Destillation unterworfen
werden, streichen lässt.
Dass diese verschiedenen Procedurcn mit dem Wassergase vorgenommen
werden, ist für den Gerichtsarzt zu wissen nothwendig; denn er erfährt dadurch,
in wie verschiedener Gestalt ein und dasselbe giftige Gasgemisch im praktischen
Leben verwendet wird.
. Die grossen Vortheile des Wassergaslichtes sind nach Geitel (1. c.,
8. 27) seine Billigkeit, den Augen angenehmes, ruhiges, weisses Licht, rauch-,
rnss- und geruchfreie Verbrennung, keine merkliche Luftverschlechterung, Mög¬
lichkeit einer einfachen Handhabung; zu diesem gesellt sich nach einer brieflichen
Mittheilung des Herrn Pintsch (Vertreter der Wassergasgesellschaft) an mich
noch der, dass es an die Zimmerluft nur halb so viel Wärme ahgiebt als das
Leuchtgas. Wegen dieser vielen Vorzüge wird das Wassergas in Nordamerika,
dem „Wassergaslande“ xcez* QoxiiP, in grossen Umfange zu Beleuchtungszwecken
verwendet, z. B. bedienen sich dort schon sehr viele grössere Städte des Wasser¬
gases zur Strassenbeleuchtung. In Europa jedoch wird trotz aller seiner Vorzüge
das carhurirte Wassergas theils wegen seiner eminenten Giftigkeit, namentlich
aber wegen des hohen Preises der (Jarburirungsmittcl in allen europäischen Län¬
dern (mit Ausnahme des daran reichen Russlands) nur wenig gebraucht; dagegen
scheint das Wassergasglüh licht sich in neuester Zeit stetig ein immer grösseres
Terrain zu erobern.
Verwendung des Wassergases in der fndustrie: Weit ausgedehnter
ist die Verwendung des nicht leuchtenden Wassergases in der Industrie, wo es
— namentlich zur Gewinnung und Bearbeitung der Metalle — wegen seiner
hohen Heizkraft sowie als motorische Kraft verwerthet wird. Wassergas liefert
nach Geitel (l. c., 8. 6) je nach seiner Zusammensetzung 2150—2590 Calorien.
Ueber die industriellen Etablissements, in denen die verschiedenen Wassergase
zur Anwendung gelangen, geben die Arbeiten von Geitel, Becker (1. c., S. 125)
und Hart mann 1 ) detaillirte Auskunft.
Um die grosse Gefährlichkeit des Wassergases herabzusetzen, hat man es
l ) C. Hartmann, Die Gefährlichkeit des Wassergases. Vortrag gehalten in
der IX. Generalversammlung des Vereins für Gesundheitstechnik zu Düssel¬
dorf. 1888.
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370
Dr. Stornier,
mit stark riechenden Stoffen (Mercaptan, Naphthol etc.) impragnirt. Dadurch er¬
reicht man allerdings mit Sicherheit, dass Ausströmungen aus den oberirdischen
Theilen der Leitung leicht erkennbar werden; aber schwerlich wird so auch die
Gefahr, welche aus unterirdischen Röhrenbrüchen erwächst, verkleinert; denn
wahrscheinlich werden wohl auch diese Riechstoffe wie die des Leuchtgases vom
Boden absorbirt werden, wenn das damit imprägnirte Gas dickere Erdschichten
durch strömt.
Zahlreiche weitere Massnahmen, die zur Abwendung gesundheitsschädlicher
Wirkungen der in Rede stehenden Gasarten getroffen werden können, enthält der
Erlass der Minister für Handel und der geistlichen etc. Angelegenheiten vom
2. Juli 1892 (cf. Medicinal-Kalender 1893, II, 15).
Die Bedingungen, unter denen es zur Vergiftung durch Wasser¬
gas kommen kann, sind im Wesentlichen dieselben wie beim Leuchtgase:
Ausströmungen aus zufällig offen gebliebenen Hähnen resp. aus undichten Lei¬
tungen orler aus Oeferi, die damit gespeist werden, ferner ein über die notlnven-
dige Zeit ausgedehnter Aufenthalt in Räumlichkeiten, in denen diese Gase zur
Verwendung kommen, endlich Unvorsichtigkeiten der mit der Darstellung des
(iases beschäftigten Personen (2 Fälle derart berichtet Hartmann [l. c. S. 59])
werden die häufigsten Ursachen dieser Vergiftungen sein.
IV. Gruben- und Minengase.
Die Sanitätsberichte des oberschlesischen Knappschaftsvereins unterscheiden
(von 1883 an) bei Besprechung der durch Grubengase hervorgerufenen Unglücks¬
lalle 5 verschiedene Arten jener, darunter speciell solche (brandige Wetter ge¬
nannt), die vorwiegend durch ihren CO-Gehalt gefährlich werden. Da besondere
Symptome (häufiges Erbrechen etc.), welche oft an den Arbeitern der Glückhilf-
Grube zu Hermsdorf bei Waldenburg in Schlesien beobachtet wurden, auf die An¬
wesenheit dieses Gases hindeuteten, so liess die Verwaltung dieser Grube durch
Po leck 1 ) Analysen der Grubengase vornehmen; dabei fand sich einmal ein Ge¬
halt der Kohlengase (wie sie spontan aus den Kohlenllötzen entweichen) von fast
2 pCt. CO; die Grubenluft enthielt 0,6 pÜt. davon.
Bei wiederholten Controlversuchen wurde überdies der CO-Gehalt auch spec-
tralanalytisch zweifellos sicher erwiesen. Doch sind bis jetzt nur wenige Beobach¬
tungen bekannt, dass sich das Kohlenoxyd spontan aus den Kohlen entwickelt.
Trotz des nicht häufigen Vorkommens verdienen solche Fälle doch alle Aufmerk¬
samkeit auch von Seiten des Gerichtsarztes, weil in Folge des specifischcn Ge¬
wichts solcher Kohlengase (in jenem Falle betrug es 1,065) diese sich in der
Grube ansammeln müssen und bei ungenügender Ventilation zur Ursache von Ver¬
giftungen werden können.
l ) Poleck, Ueber die Zusammensetzung von Grubengasen, schlagenden
Wettern, aus der vereinigten Glückhilf-Grube zu Hermsdorf. Diese Vierteljahrs¬
schrift. N. F. 1885. XLIII. Bd. 2. Heft. S. 358 sqq.
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lieber d. Kohlenoxydvergift. v. medirinaL- n. sanitätspolizeil. Standpunkte. 371
CO-Entstchung bei „Grubenhrandwetlern u : Iläufiger entwickelt
sich das CO »n Bergwerken in Folge sogenannter Grubenbrandwetter d. h. Brand
der Grubenverzimmerung, wegen deren nach Fallenberg 1 ) besonders die ober¬
schlesischen Bergwerke berüchtigt sind. Da in Folge des geringen SauerstofT-
gehaltes der Grubenluft die Verbrennung nur sehr langsam und unvollständig er¬
folgt, bilden sich bei diesen Gelegenheiten meist enorme Mengen von Kohlen¬
oxyd, welches sich in den communicirenden unterirdischen Stollen schnell ver¬
breitet und so die entfernt von dem Feuerherde beschäftigten Bergleute schon
vergiftet, noch ehe sie überhaupt irgend welche Gefahr ahnen.
CO-Entstehung bei Minensprengungen. In noch höherem Grade
als die Bergleute unterliegen die Mineure der Gefahr einer CO-Vergiftung.
Doch während jene ahnungslos von dem heimtückischen Gift überfallen wer¬
den, wissen diese genau, dass die Luft in den Minengängen, wenn eine Spren¬
gung stattgefunden hat, stets CO enthält; dasselbe stammt aus den Pulver-
gasen. Die Mineure sind also stets auf die ihnen drohende eventuelle Ge¬
fahr gefasst und können sich dementsprechend in mannigfacher Weise dagegen
schützen. Dieser Umstand verdient alle Beachtung, da Todesfälle durch Minen¬
gase in Folge dessen nur bei grober Vernachlässigung der nothwendigen Cautelen
entstehen können. Das muss der Gerichtsarzt in foro besonders betonen! Dagegen
ist das Auftreten der ersten Zeichen der CO-Vergiftung bei Mineuren (und den
diesen gleichzuachtenden Arbeitern in Tunnels und Bergwerken), so oft grössere
Sprengungen stattfinden, ein sehr häufiges Vorkommniss. Den Symptomencom-
plex, welchen solche Kranke zeigen, sah man früher als eine eigene'Krankheit,
die Minenkrankheit, an. Für die Ursache derselben hielten ältere Aerzte (Jo¬
seph son und Rawitz) den Schwefelwasserstoff, der sich in den Pulvergasen
stets vorfindet. Jetzt aber nimmt man auf Grund der Untersuchungen von Sch ei-
demann 2 ) und nach den bei den Graudenzer Mineurübungen von 1873 3 ) ge¬
machten Erfahrungen allgemein an, dass die in den Minengasen immer in sehr
grosser Menge vorhandene C0 2 und CO in combinirter Wirkung die Erkrankungen
der Mineure verschulden. Eine wie enorm gefährliche Atmosphäre dieselben uni-
giebt, lehrt ein Blick auf die nachstehenden Analysen der Pulvergase, die, noch
verschlechtert durch die C0 2 -reiche Ausathmungsluft und die Ausdünstungen der
Arbeiter, im Wesentlichen die Luft ausmachen, in welcher die Mineure häufig
arbeiten müssen.
Analysen der Pulvergase. Nach Angaben von Poleck 4 ) bilden sich
bei der Verbrennung verschiedener Sorten von Schiesspulver Gasgemische, welche
in 100 Volumthcilen enthalten (in abgerundeten Zahlen):
{ ) Eulen berg, Gewerbehygiene. S. 354.
2 ) Th. Scheidemann, Die Minenkrankheit, ihre wahre Ursache, Ver¬
hütung und Behandlung. Berlin 1866. S. 25 sqq.
3 ) Commissarischer Bericht über die Erkrankung durch Minengase bei den
Graudenzer Mineurübungen im August 1873. Berlin 1875. S. 52 sqq.
4 ) Th. Poleck, Ueber die chemische Zusammensetzung der Minengase und
ihre Beziehung zur Minenkrankheit. Berlin 1867. S. 235.
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|)r. SI normer,
i
11
III
IV
V
Stickstoff.
41
35
35
38
41
Kohlensäure . . .
5:i
52
49
43
54
bkltMijl . . .
4
4
5
10
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1
2
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1
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2
Schwefelwasserstoff
0,6
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1 0,7
0,9
—
Grubengas ....
3
3
0,2
Stickoxydul....
—
—
—
0,6
Sauerstoff.
0,5
0,04
—
—
—
Daraus ersieht man also, dass der CO-Gehalt bei Anwendung verschiedener
Pulversorten erheblich (von 4 - 10 pCt.) schwankt. Bei gerichtsärztlicher Beur-
theilung eines derartigen Falles wird also auf die verwendete Pulversorte Bedaehl
genommen werden müssen.
Umstände, welche den CO-Gehalt der Pulvergase beeinflussen:
Der CO-Gehalt ist abhängig von dem Mischungsverhältniss von Salpeter,
Schwefel und Kohle, und zwar nimmt nach den Ermittlungen der Graudenzer
Commission (8. 121 des Berichts) mit dem Kohlengehalt des Pulvers die Menge
des Kohlenoxyds in den Pulvergasen zu. Damit stimmt auch die Behauptung
Eulenbergs (Gewerbehygiene 8 . 672) überein, dass „bei Kanonen- und Spreng¬
pulver die Kohle fast nur zu CO verbrennt, weil dasselbe einen grösseren Gehalt
an Kohle und Schwefel besitzt“:
2 KNOg -f S + 6 C = 6 CO -f K 2 S -f 2 N.
Endlich wird der CO-Gehalt noch beeinflusst durch die Art, wie die Ver¬
brennung des Pulvers geschieht, ob an freier Luft oder in einem nur eine be¬
schränkte SauerstofTmenge enthaltenden Raume. Die Mineure nennen einen sol¬
chen mit ihrem Terminus technicus einen „verdammten“ Raum; begreiflicherweise
bildet sich in einem solchen sehr viel CO.
CO-Gehalt in den Verbrennungsgasen anderer Sprengstoffe:
Während nach den Angaben von Soyka 1 ) bei der Verbrennung von Dyna¬
mit resp. Nitroglycerin nur Wasserdampf, C0 2 , 0 und N und kein CO entsteht,
ist wegen des enorm hohen CO-Gehalts das Gasgemisch, welches nach dem Ver¬
puffen von Schiessbaumwolle entsteht, noch gefährlicher als die gewöhnlichen
Pulvergase; es enthält in 100 Volumen
nach Analysen von nach der Analyse von
Sarrau und 1
n'eille 2 )
Muspratt 3 )
Kohlensäure
23-30
Kohlensäure
17
Kikleaujl
36-43
Kikleiuji
47
Wasserstoff
17—19
Wasser
—
Stickstoff
14-16
Stickgas
7
Stickoxyd
20
Kohlenwasserstoff
8
1 ) Soyka im Art. „Bergwerke“ in Eulenburgs Real-Encyclop. Bd.2. S.614.
2 ) Citirt im genannten Artikel. S. 615.
s ) Sh. Muspratt, Encyelopädie der technischen Chemie. II. Bd. S. 1200.
Braunschweig 1858.
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Hoher <1. Kohlcmoxyüvcrgift. v. mcüioiiml- u. similälspolizcil. Standpunkte. 373
Zn diesen Angaben stimmt denn auch vorzüglich das, was Scheidemann
auf S.42 seiner citirten Schrift sagt, dass nämlich nach Anwendung von Schiess¬
baumwolle die Minenkrankheit häufiger und heftiger aufträte.
Die Möglichkeiten, unter denen durch Pulvergase eine C()-Ver-
giftung entstehen kann, sind nun folgende:
1) kann sie erfolgen, wenn unmittelbar nach vollzogener Sprengung die
Mineure, theils um den EtTect zu constatiren (was namentlich beim so¬
genannten Minenkriege von principieller Wichtigkeit ist), theils tun
gleich mit der Anlage neuer Minen zu beginnen, sich in die noch ganz
mit Pulvergasen erfüllten Räume (fachmännisch die Tete der Gallerien
genannt) begehen;
2) auch wenn ein sogenannter Trichter gesprengt worden ist, wobei atmo¬
sphärische Luft durch die gesprengte OelTnung in die Minen gelangt
und die Pulvergase verdünnt, bleibt doch der CO-Gehalt der im Trichter
vorhandenen Luft noch ein zur Vergiftung völlig ausreichender;
3) eine Vergiftung wird auch noch lange nach stattgehabter Sprengung er¬
folgen können, da die Versuche Polecks (1. c., S. 200— 205) beweisen,
dass selbst nach 5 Tagen noch in der Minenluft 0,3 pCt. CO vorhanden
waren (nach 30 Stunden fanden sich 1,28 pCt.);
4) endlich glaubt im Gegensätze zu Poleck Scheidemann (l.c., S. 57),
dass auch bei den Aufräumungsarbeiten CO-Vergiftung eintreten könne,
da das Erdreich, welches zur „Verdämmung“ der Minen dient, viel von
den Pulvergasen absorhirt und diese später langsam wieder entweichen
lässt.
Häufigkeit der CO-Vergiftung.
Rci der beschriebenen Fülle von Möglichkeiten und Gelegen¬
heiten zur Vergiftung durch Kohlenoxydgas kann es uns nicht wun¬
dern, dass sie die bei weitem häufigste von allen Vergiftungen über¬
haupt ist. Nachstehende Zahlen beweisen, das zur Genüge. Von den
während der Jahre 1876 bis 1878 in den grossen Krankenhäusern
und im Institut für Staatsarzneikunde in Berlin überhaupt beobach¬
teten 432 Vergiftungen entfallen auf CO allein 155 d. h. 36 pCt.
Diese und die beiden folgenden Daten sind aus Lesscrs Atlas der
gerichtlichen Medicin entlehnt (cf. S. 1 und 41'desselben). Von diesen
432 Vergiftungsfällen endeten 282 mit dem Tode; 118mal, d. h. in
ca. 42 pCt. aller durch Vergiftung veranlassten Todesfälle überhaupt,
war CO die Todesursache.
Fenier: bei den während der Jahre 1876—1882 im Berliner
Leichenschauhause überhaupt secirtcn 431 Fällen war 185mal (also
in ca. 43 pCt.) CO die Todesursache; diese CO-Todesfälle vertheilen
sich auf die einzelnen Jahre wie folgt:
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374
Dr. Slnormor,
1873 1877 1878 1879 1880 1881 1882
40 33 27 32 27 8 15 Fälle.
Man sieht schon hieraus das allmälige Abnehmen dieser Todes¬
art in Berlin, sicherlich als Wirkung des erwähnten polizeilichen Ver¬
bots der Ofenklappen.
Da weitere detaillirte Angaben über die Häufigkeit der Vergiftung
durch CO bisher nirgends veröffentlicht sind, war ich bemüht, dies-
Tab eile 1
Febersieht über die in den
Berücksichtigung
Krankenhäusern des ganzen preussisehen
der durch Kohlenoxyd- und Leuchtgas be-
Staat und einzelne
Regierungsbezirke
Vergiftungen überhaupt
—
D
a v
0
n
Gasvergiftungen
1889
1890
1891
Kohlenoxyd und
Kohlendunst
Leucht-
1889
1S90
1891
1889
1890
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Spalte 1
2
3
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7
8
9
10
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12
4 *
13 14
15
16
17
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19
20
Im ganzen Staat. . .
162
169
331
131
105
236
!
192452
344
48 24
35
16
48
28
10
4
4
5
Regierungsbezirke:
1. Königsberg . . .
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6
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—
1
2
—
2
2
—
—
—
2. Gumbinnen . . .
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2
1
2
3
—
2
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2
—
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—
3. Danzig.
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4
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2
1
1
4
1
—
—
—
4. Marienwerder . .
2
8
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5
1
6
2
3
5
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2
3
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—
2
—
—
—
5. Stadtkreis Berlin
38
63
101
27
44
71
57
54
111
4
i
6
4
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2
2
6 Potsdam
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8
2
1
2
7. Frankfurt ....
3
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2
—
—
8. Stettin
3
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9 Cöslin.
2
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1
2
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1
1
10. Stralsund ....
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4
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3
4
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1
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—
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11. Posen.
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1
12. Bromberg ....
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1
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—
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i
IJeher d. Kohlenoxyd vergift, v. medicinal- u. sanilälspolizeil. Standpunkte. 375
bezügliches neues Material zu sammeln. Durch die mir von Herrn
Geheimen Oberregierungsrath Blenck gütigst ertheilte Erlaubniss, das
amtliche Material des Königlichen statistischen Bureaus zu Berlin für
meine Arbeit benutzen zu dürfen und durch die dankensvverthe freund¬
liche Unterstützung, die mir in Bezug auf dessen praktische Yer-
werthung Herr Professor Dr. Guttstadt zu Theil werden Hess, bin
ich in der Lage, folgende €0-Vergiftungstatistik aufstellen zu können.
(Krankenhaus-Statistik).
Staates von 188t) — 18t)l beobachteten Vergiftungen mit besonderer
dingten (ohne Berücksichtigung des Ausgangs der Vergiftung).
waren:
durch
gas
i:
zusammen
—
—
Vergiftungen mit
anderen Giften
Vergiftungen ohne
nähere Angabe über
die Art des Giftes
1891
1889
1890
1891
1889
1890
1891
1889
1890
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86
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4
5
3
5
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1
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1
376 I>r. St op rmer,
Staat und einzelne
Regierungsbezirke
Vergiftungen
überhaupt
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Gasvergiftungen
1889
1890
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1889
1890
1891
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—
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15. Oppeln.
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1
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25. Aurich.
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27. Minden.
—
—
—
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—
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28. Arnsberg.
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29. Cassel.
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5
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—
—
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—
30.- Wiesbaden. . . .
4
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31. Koblenz.
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32. Düsseldorf ....
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—
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33. Köln.
3
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1
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—
—
34. Trier.
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—
4
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—
—
—
—
—
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2
2
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3
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—
—
—
—
1
—
—
—
—
36. Sigmaringen . . .
*
1
1
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UMIVERSITY OF IOWA
I
I>her d. Kohlenoxydvergift, v. medieinal- u. sanitätspolizoil. Standpunkte. 377
waren:
durch :
Vergiftungen mit
Vergiftungen ohne
nähere Angabe über
die Art des Giftes
gaus
zusammen
anderen Giften
1891
1889
1890
1891
1889
1890
1891
1889
1890
1891
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1
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32
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41
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1
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1
—
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UMIVERSITY OF IOWA
378
l>r. S I o f r m p r,
T a b c 1 1 c 2 (Todesursaclien-Statislik).
lobcrsichl über die im ganzen preus.sischen Staate im Jahre 181)0
durch Gill veianlassten Todesfälle mit besonderer Berücksichtigung
der durch Kohlenoxyd- und Leuchtgas bedingten.
Staat und einzelne
Regierungsbezirke
Vergilt ungen
überhaupt
Davon war
Gasvergiftungen
durch
eil:
Zu¬
sammen
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5—8
Vergif
mit
anderen
Giften
tungen
ohne
nähere
Angabe
über Art
des Giftes
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oxyd und
Kohlen¬
dunst
Leucht¬
gas
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Regierungsbezirke:
1. Königsberg . . .
10
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2. Gumbinnen . . .
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4. Marienwerder . .
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1
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—
—
11. Posen.
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12. Bromberg ....
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13. Breslau.
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14. Liegnitz.
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15. Oppeln.
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34
25
2
—
—
25
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—
1
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6
1
7
2
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—
2
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17. Merseburg ....
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—
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4
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5
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—
—
19. Schleswig ....
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4
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—
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1
—
1
—
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—
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1
—
—
—
21. Hildesheim. . . .
1
3
4
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—
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1
1
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1
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5
2
7
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3
2
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—
2
—
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2
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2
1
—
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1
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—
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1
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—
—
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—
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—
—
—
—
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—
—
—
—
—
—
—
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2
—
2
1
—
1
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2
—
—
—
—
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—
—
—
—
—
—
—
—
—
—
—
—
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8
1
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—
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1
3
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1
—
1
1
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1
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—
—
—
—
30. Wiesbaden....
1
1
2
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1
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1
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3
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3
—
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—
—
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3
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—
—
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4
1
5
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1
1
—
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1
—
—
—
—
33. Köln.,
5
3
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2
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1
—
3
1
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—
1
34. Trier.
2
1
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1
—
—
1
1
1
—
—
—
85. Aachen.
3
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8
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—
—
36. Sigmaringen . . ,
—
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UNIVERSUM OF IOWA
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lieber d. Kohlenoxydvorgift. v. medicinal- u. sanitätspolizeil. Standpunkte. 37‘.)
Tabelle 3 (Todes ursaohen-Statistik).
Uebersicht über die im ganzen preussischen Staate im Jahre 185)1
durch Gift veranlassten Todesfälle mit besonderer Berücksichtigung
der durch Kohlenoxyd- und Leuchtgas bedingten.
Staat und einzelne
Vergiftungen
Davon war
Gasvergiftungen
durch
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Zu-
Vergif
mit
anderen
Giften
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ohne
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über Art
des Giftes
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Im ganzen Staate . .
217
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116
60
3
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119
61
83
53
15
6
Regierungsbezirke:
1. Königsberg . . .
10
6
16
4
1
—
—
4
1
6
5
—
—
2. Gumbinnen . . .
11
6
17
2
3
—
—
2
3
9
3
—
—
3. Danzig.
3
3
6
3
2
—
—
3
2
—
1
—
—
4. Marienwerder . .
4
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—
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3
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1
1
—
1
5. Stadtkreis Berlin
7
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—
—
3
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3
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—
2
6. Potsdam.
13
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10
5
—
—
10
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1
—
7. Frankfurt ....
2
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3
—
—
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—
4
5
—
1
—
9. Cöslin .
10
1
11
—
1
—
—
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1
—
9
—
10. Stralsund ....
4
3
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—
—
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3
—
—
—
—
11. Posen .
20
19
39
5
4
—
—
5
4
15
15
—
—
12. Bromberg ....
5
8
13
2
4
—
—
2
4
3
4
—
—
13. Breslau.
12
14
26
5
9
—
—
5
9
7
5
—
—
14. Liegnitz.
10
6
16
8
4
—
—
8
4
2
2
—
—
15. Oppeln.
28
7
35
27
6
—
—
27
6
—
—
1
1
16. Magdeburg. . . .
2
1
3
—
—
—
—
—
—
2
1
—
—
17. Merseburg ....
5
3
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2
2
—
—
2
2
3
1
—
—
18. Erfurt.
2
2
4
—
1
—
—
—
1
1
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1
—
19. Schleswig ....
2
5
7
2
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—
—
2
2
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2
—
1
20. Hannover ....
3
1
4
—
—
—
—
—
—
2
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1
—
21. Hildesheim. . . .
3
2
5
3
2
—
—
3
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—
—
—
22. Lüneburg ....
2
—
2
1
—
—
—
1
1
—
—
—
23. Stade .
1
2
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2
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24. Osnabrück ....
1
—
1
—
—
—
—
—
—
1
—
—
—
25. Aurich.
1
—
1
—
—
—
—
—
—
1
—
—
—
26. Münster .
5
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5
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—
—
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—
_
—
27. Minden .
—
—
—
—
—
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—
—
—
—
—
—
28. Arnsberg .
11
1
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29. Cassel .
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31. Koblenz.
6
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1
—
—
—
32. Düsseldorf ....
6
3
9
2
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—
—
2
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4
2
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1
33. Köln.
4
2
6
3
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—
—
3
1
1
1
—
—
34. Trier.
4
—
4
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—
—
—
2
—
2
—
—
—
35. Aachen.
2
—
2
1
—
—
—
1
1 —
1
—
—
—
36. Sigmaringen . . .
1
—
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—
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—
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ViertelJ»hn»bchr. f. ger. Med.
Dritte Folge
IX. 2.
25
Digitized by
Go >gle
Original frnm
UMIVERSITY OF IOWA
380
Dr. Stoermcr,
Aus diesen Tabellen crgiebt sich also, dass das CO im Jahre
1889 in Preussen bei ca. 23 pCt., 1890 bei ca. 25 pCt., 1891 bei
ca. 28 pCt. aller überhaupt durch Gift Erkrankten die Veranlassung
zur Erkrankung war; in Summa erkrankten in diesen 3 Jahren von
911 Vergifteten 243 durch CO, im Durchschnitt also ca. 26 pCt. Bei
den durch Gift überhaupt Verstorbenen war 1890 in ca. 63 pCt.,
1891 in ca. 53 pCt., im Durchschnitt also in ca. 58 pCt. aller Fälle
CO die Todesursache; es starben 1890 und 1891 in Preussen über¬
haupt 610 Personen durch Gift, davon 352 allein durch Kohlen¬
oxyd resp. Leuchtgas. Diese Zahlen sprechen beredter als viele
Worte!
Ucber die Häufigkeit der Wassergas-Vergiftungen liegen bis
jetzt erst wenig brauchbare (und nur amerikanische) Angaben vor,
welche in deutsche Werke übernommen worden sind. Nach Hart-
mann 1 ) starben in Folge von Vergiftung durch Wassergas
in New-York von 1880—1888: 184 Menschen;
1880 1881 1882 1883 1884 1885 1886 1887
14 18 22 20 19 18 35 27
1888 (Januar und Februar)
7
in Baltimore von 1883—1887: 45
1883 1884 1885 1886 1887
6 3 14 13 9
in San Francisco 1887: 11
in Chicago 1886 (October bis December): 4
1887: 7
in Brooklyn von 1881—1883: 10 (Angabe von Geitel, 1. e.,
S. 9).
Wie häufig die weniger CO-haltigen, aber sonst dem Wassergase
analogen Gasgemische, Vergiftungen veranlasst haben, darüber konnte
ich bis jetzt nirgends eine Angabe finden.
Die Häufigkeit der Vergiftungen durch CO-haltige Gruben¬
gase möchte ich durch folgende kleine Tabelle illustriren:
J ) Hartmanns Vortrag über die Gefährlichkeit des Wassergases, gehalten
in der 9. General Versammlung des Vereins für Gesundheitstechnik zu Düsseldorf
am 10. und 11. September 1888. München (R. Oldenbourg).
Digitized by
Gck gle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
lieber d. Kohlenoxydvergift, v. medicinal- u. sanitätspolizcil. Standpunkte. 381
Tabelle 4.
Im Bezirke des oberschlesischen Knappschaftsvereins
Zahl der im ganzen
beobachtete Verunglückungen durch:
preussischen Staate
Im
Jahre
matte,
Sauerstoff-
böse,
schwere,
brandige,
CO-
giftige
Gruben¬
gase, HoS,
S0 2 , nh 3
etc.
schlagende
Wetter
durch Grubengase
entstandenen Un¬
glücksfälle, also der
arme
COo-reichc
haltige
und Nacht-
Gase von Spalte 2—6
Wetter
Wetter
Wetter
Schwaden
zusammen
Sp. 1
2
3
4
5
6
7
1883
—
3
4
—
110
1884
5
—
6
1
—
93
1885
—
—
3
4
—
275
188G
3
—
—
—
—
109
1887
1
—
—
—
—
100
1888
2
—
—
—
—
84
1889
1
—
—
4
—
85
1890
—
—
2
5
—
99
1891
2
—
—
4
—
94
Die Angaben in Spalte 1—6 entstammen den Sanitätsberichten
des oben genannten Vereins; vor 1883 ist eine so präcise Unterschei¬
dung der Gasarten noch nicht durchgeführt worden. Die Angaben in
Spalte 7 sind der Zeitschrift für das Berg- und Hüttenwesen und
Salinenwesen im preussischen Staate, 39. Band, 1891 entnommen.
Ueber die Häufigkeit der Minenkrankheit endlich finde ich
bei Scheidemann (1. c., S. 27) sehr verschiedene Angaben. Man
darf wohl annehmen, dass durchschnittlich ca. 15 pCt. aller Mineure
daran erkranken; detaillirte Angaben darüber enthält auch der Schluss
des erwähnten commissarischen Graudenzer Berichtes 1 ).
Unter den durch CO Erkrankenden und Sterbenden prävalircn
bei weitem die Männer: nämlich
Erkrankte von 1889—1891: 157 M., 86 Fr.;
Todte von 1890—1891: 219 „ 133 „
D Nach dem Sanitätsbericht über die Königl. preussische Armee des XII.
und XIII. Armeecorps passirten (cf. S. 105 desselben) vom 1. April 1889 bis
31. März 1890 überhaupt nur 2 Verunglückungen durch CO, im III. und XI.
Armeecorps je 1 (ob bei Sprengungen?).
25*
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UNIVERSUM OF IOWA
382
I)r. Sloermer,
Dieser Umstand sowie das stellenweise im Staate besonders häu¬
fige Vorkommen gerade dieser Vergiftung (z. B. in den Regierungs¬
bezirken Oppeln und Breslau) finden leicht ihre Erklärung darin, dass
eben viele besonders von Männern ausgeübten Hantirungen in der
Industrie oft zur CO-Vergiftung Veranlassung geben. Hinsichtlich des
Standes der von dieser Vergiftung besonders oft Befallenen kann ich
an der Hand der Zählkarten des Königl. statistischen Bureaus zu
Berlin behaupten, dass namentlich Leute aus den niederen Volks¬
klassen, unter diesen wiederum die rüstigsten, vorwiegend die ehe¬
losen (wie aus socialen Gründen leicht erklärlich), der Kohlenoxyd¬
gasvergiftung zum Opfer fallen. Dazu beitragen mag neben der in
diesen Kreisen gewiss ziemlich hohen Indolenz gegen etwaige Rauch-
belästigung der Umstand, dass in den Wohnungen der „kleinen Leute“
oft nur mangelhaft construirte und schlecht beaufsichtigte Heizanlagen
vorhanden sind, die Ventilation nachlässig gehandhabt wird, endlich
der Billigkeit wegen auch vielfach ein der CO-Entwicklung besonders
förderliches Brennmaterial (z. B. Gries- oder Abfallkohle und Coaks,
dessen Gefährlichkeit ich bereits oben hervorhob) Verwendung findet.
Die meisten 00-Vergiftungen ereignen sich, wie a priori auch anzu-
nchmen, in der kalten Jahreszeit.
Zur Veranschaulichung der eben berührten Verhältnisse mögen
die folgenden Tabellen dienen. No. 5 bis 7 sind aus den oben er¬
wähnten Zählkarten construirt, No. 8 aus den in den betreffenden
Jahrgängen der statistischen Jahrbücher der Stadt Berlin resp. der
Berliner städtischen Jahrbücher für Volkswirthschaft (herausgegeben
von Böckh) enthaltenen Daten.
(Siehe die Tabellen auf der nächstfolgenden Seite.)
Dass auch in unseren Nachbarländern die CO-Vergiftung unge¬
mein häufig ist, will ich nur der Vollständigkeit wegen anführen.
Angaben dieser Art, Schweden und Frankreich betreffend, macht
Jäderholm 1 ), für Russland Siebenhaar und Lehmann (1. c., S. 77).
Die meisten CO-Vergiftungen sind auf Unglücksfälle zurück-
Zufuhren; doch auch Selbstmord und Mord durch CO kommt
vor. Weitaus am häufigsten sind die CO- und Leuchtgasvergiftungen
0 Axel Jäderholm, Die gerichtlich-medicinischc Diagnose der Kohlen¬
oxyd Vergiftung. Berlin 1876. S. 2—3.
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Original frorn
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IVber fl. Kohlenoxyd veruifl. v. medizinal- u. sanitätspnli'/.eil. Standpunkte. 383
Tabelle 5
die Alters Verhältnisse bei CO-Vergiftung beleuchtend.
Es starben
Die von Lesser gesammelten
-
1890
1891
156 Fälle reihen sich so ein:
M. W.
M. W.
Kinder unter 15 Jahren . .
10 16
18
12
Kinder unter 10 Jahren: 17
im Alter von 16—20 Jahren
15 11
17
10
von 11—20: 19
* * * 21-30 „
20 9
27
21
26
y* » v 31 40 „
20 7
20
4
44
» r » 41—50 „
10 8
13
7
22
* * „ 51-60 ,
7 5
13
3
15
» , , 61-70 „
5 9
5
3
9
n v n 30 „
6 4
5
1
2
darüber .
1 —
—
—
2
von unbekanntem Alter . .
3 2
1
—
—
Summa
87 56
101
49
15C
T a b e
; 11 e
6.
Von den
durch CO
in Preussen
Im Jahre
Gestoi
•benen
| waren ehe los
lebten in der Ehe
M.
w.
M. W.
1890
49
40
88 15
1891
63
35
38 14
112
75
76_ 29
| 187
1
105
T a b e
Ile 7.
Es starben über-
Davon waren
Tm ToTipa
haupt an CO-
Arbeiter resp.
I III M(lUlC
Vergiftung in
Arbeiterinnen
Preussen
verschiedener Art
M.
W.
U. W.
1890
87
55
66 36
1891
101
49
77 32
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UMIVERSITY OF IOWA
384
Dr. Stoermer,
Tabelle 8.
Vcrtheilung der Kohlenoxyd- und Leuchtgasvergiftungen
nach Monaten (für Berlin).
(Verunglückungen und Selbstmorde.)
Jahr
Summa
Januar
Februar
März
April
Mai
Juni
Juli
August
September
October
November
December
1876
47
7
6
3
2
_
6
.
i
2
_
6
14
1877
34
6
4
6
1
2
—
—
2
1
2
3
7
1878
43
9
12
2
3
2
—
i
—
—
—
8
6
1879
44
7
2
2
4
6
—
1
3
1
7
11
1880
34
5
3
3
3
—
2
3
1
—
4
3
7
1881
10
—
1
2
1
5
—
—
—
—
1
—
—
1882
6
1
2
—
—
—
—
—
—
—
1
—
2
1883
4
1
—
1
—
1
—
—
—
—
—
—
i
1884
5
1
2
—
—
i
—
—
—
—
—
1
—
1885
12
2
2
2
1
—
—
1
—
—
—
3
1
1886
11
1
2
7
—
—
—
1
—
—
—
—
—
1887
6
1
—
1
—
—
—
—
—
—
2
—
2
1888
10
—
1
1
—
' —
1
—
1
1
3
2
1889
8
2
2
—
1
—
—
—
—
—
1
2
—
1890
9
2
2
2
—
—
—
—
—
—
—
3
auf Unglücksfälle zurückzuführen. Doch ist das CO, da es leicht
erreich- und anwendbar ist, überdies in dem Rufe steht, ein sehr
sicher und schmerzlos wirkendes Gift zu sein, auch ein häufig zum
Selbstmorde verwendetes Mittel; namentlich in Frankreich ist die Zahl
der durch CO bewerkstelligten Selbstmorde nach Angaben von Jäder-
holm (1. c., S. 4) und v. Hofmann (1. c., S. 388, 389 und 390)
eine enorm hohe; in Paris z. B. kamen unter 3385 Selbstmorden
(von 1874—1878) allein 823 (= ca. 24 pCt.) durch CO vor.
Für Preussen kann ich auf Grund des amtlichen Materials des
Königl. statistischen Bureaus zu Berlin und aus den anderen oben
genannten (S. 382) Quellen folgende Angaben machen: 1890 waren
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Ueber d. Kohlenoxydvergift. v. medicinal- 11 . sanitätspolizeil. Standpunkte. 385
unter 230 Selbstvergiftungen 11 durch CO herbeigeführt (8 M., 3 W.),
1891 unter 237 Selbstmorden 8 durch CO (5 M., 3 W.).
Speciell für Berlin gilt Folgendes:
Hier passirten von 1869—1872 und 1874—1876 zusammen
überhaupt 1456 Selbstmorde, davon 42 = ca. 3 pCt. durch CO;
ferner:
Tabelle 9.
Gewaltsame Todesfälle in Berlin überhaupt (d. h. Selbst¬
morde, Morde und Verunglückungen zusammen).
Jahr
Gewalt¬
same
Todesfälle
überhaupt
Davon
durch
Gift
Von diesen wieder durch
Kohlenoxyd- mp. Leuchtgas
Durch andere
Gifte (incl.
Alkohol).
1865
425
31
m.
12
w.
5
zus.
17
14
1866
369
35
7
5
12
23
1867
483
71
29
19
48
23
1868
?>)
?
?
?
?
?
1869
?
?
?
?
.?
?
1870
505
87
31
16
47
40
1871
?
?
?
?
?
?
1872
?
50
6
6
12
38
1873
?
?
7
4
11
?
1874
?
76
?
?
V
?
1875
?
105
?
?
30
75
1876
639
141
?
?
47
94
1877
670
132
18
16
34
98
1878
644
137
27
16
43
94
1879
654
148
22
22
44
104
1880
667
141
11
23
34
107
1881
681
134
7
3
10
124
1882
702
127
2
4
6
121
1883
753
121
?
?
4
117
1884
737
144
4
1
5
139
1885
390
147
?
?
12
135
1886
770
154
?
?
11
143
1887
773
117
?
?
6
111
1888
773
98
?
?
10
88
1889
788
103
V
?
8
95
1890
871
96
6
3
9
87
Aus dieser Tabelle erkennt man vorzüglich die Wirkung des
x ) Zur Ausfüllung der noch vorhandenen Lücken konnte ich leider nirgends
genügend detaillirtes Material auffinden.
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38G Dr. St nenn er,
Verbots der Ofenklappen durch Abnahme der CO-Vergiftungen seit
Ende der siebziger Jahre.
Fälle von einfachem Mord durch CO, ohne dass der Thäter selbst
auch gleichzeitig den Tod suchte, sind bisher nur ganz vereinzelt be¬
kannt geworden. Dr. Szcll 1 ) beobachtete einen solchen Fall, in wel¬
chem der Mörder 3 Menschen durch CO vergiftete, indem er das
Ofenrohr mit einem Lappen verstopfte.
Sehr oft dient das CO zum Selbstmord und gleich¬
zeitiger Todtung der Angehörigen, ein Umstand, der ohne
Weiteres die grosse Zahl jugendlicher Individuen, die durch CO ihren
finden, erklärt (cf. die Tabelle No. 5 auf S. 383). Diese Fälle von
gleichzeitig beabsichtigtem Selbstmord und Mord anderer Personen,
sowie auch die Fälle von zufälliger gemeinsamer Verunglückung
mehrerer Personen durch Kohlenoxydgas sind es namentlich, welche
gerade die CO-Vergiftung zu einer für den Gerichtsarzt so überaus
wichtigen machen; denn es ereignet bei dieser sich nicht selten, dass,
während von mehreren unter den scheinbar ganz gleichen Verhält¬
nissen lebenden Individuen eins oder einige der Wirkung des giftigen
Gases erliegen, andere weniger Schaden leiden, die Angehörigen über¬
leben und dadurch in den Verdacht kommen, nur diese haben um¬
bringen zu wollen. Derartige Fälle jedoch kann der Gerichtsarzt
durchaus klarstellen. Da sie jedoch meist sehr verwickelt sind und
allseitige Kenntniss der Kohlenoxydvergiftung zu ihrem Verständniss
nothwendig gehört, so werden wir sie erst am Schlüsse dieser Arbeit
eingehend erörtern.
Art der Wirkung.
Heutigen Tages nimmt man fast allgemein an, dass das CO ein typisches
Blutgift ist; denn es bewirkt eine Blutdissolution. Es zersetzt das Oxyhämoglobin,
indem es selbst an Stelle des 0 tritt und so aus dem 0-IIb das Kohlenoxyd-Hämo¬
globin bildet; dadurch aber wird die Fähigkeit des Blutes, den Zellen weiter den
Sauerstoff zuzuführen, je nach dem Grade der CO-Vergiftung beeinträchtigt;
schliesslich tritt eine Erstickung ein, der Tod durch Sauerstoffmangel.
Die anderen in Betreff der CO-Wirkung aufgestellten Theorien (von Klebs 2 )
u. A.) übergehe ich hier gänzlich, da die Erörterung derselben nicht zu meinem
Erwähnt im Nachtrag des Aufsatzes von v. Fodor im XU. Bande der
deutschen Vierteljahrsschrift für öffentliche Gesundheitspflege. 1880.
2 ) Klebs, Allgemeine pathologische Morphologie. Jena 1889. S. 28.
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UNIVERSUM OF IOWA
Ueher d. Kohlenoxydvergift. v. medicinal- u. sanitälspolizeil. Standpunkte. 387
Thema gehört. Hier muss ich nur noch erwähnen, dass das CO nach Gcppert 1 )
auch direct auf das Nervensystem wirkt, nach Kobert 2 ) sogar einen direct schäd¬
lichen Einfluss auch auf Muskeln und Drüsen ausübt, Umstände, die mit Bezug
auf die Nachkrankheiten nach überstandener CO-Vergiftung doch von grosser ge¬
richtsärztlicher Bedeutung sind; sie werden bei Besprechung der Nachkrankheiten
nach Verdienst gewürdigt werden.
Die Verdrängung von 0 aus dem O-Hb durch CO erfolgt sehr leicht und
schnell, entsprechend dem von Dreser 3 ) erwähnten Umstande, dass die Affinität
des CO zum Hb 200mal grösser ist, als diejenige von 0 zu Hb. So erklärt sich
leicht sowohl die Schnelligkeit der Einwirkung als auch die grosse Giftigkeit des
CO und der Umstand, dass es selbst noch in grosser Verdünnung gefährlich ist.
Verbleib des Ct eaeh iberstaadeaer Vergiftung. Was wird aus dem
CO im Blute, wenn ein Mensch die Vergiftung überlebt? Diese Frage will
ich, da sie kein grosses gerichtsärztliches Interesse hat, nur ganz kurz
unter Hinweis auf die Arbeiten von Donders 4 ), Zuntz 6 ), Eulenberg 6 ),
Pokrowsky 7 ), Driessen 8 ), Dreser (1. c., S. 126) und Gaglio 9 ) dahin be¬
antworten, dass gewiss nur ein kleiner Theil des CO im Organismus zu C0 2 oxy-
dirt wird, der überwiegende Theil aber als unverändertes CO den Körper wieder
verlässt.
Bedingungen der Giftwirkung.
Bei der Frage nach den Bedingungen, unter welchen das CO nur krank¬
machend oder tödtlich wirkt, müssen wir die Qualität, die Quantität und Concen-
tration des Gases, sowie gewisse Nebenumstände berücksichtigen.
Hinsichtlich der Qualität kann ich unter Hinweis auf die im Vorstehenden
beigebrachten Analysen der verschiedenen, für CO-Vergiftung in Betracht kom-
*) Geppert, Kohlenoxydvergiftung und Erstickung. Deutsche medicinische
Wochenschrift. 1892. 12. Mai. No. 19. S. 418—419.
2 ) Kobert, Lehrbuch der Intoxicationen. Stuttgart 1893. S. 527.
8 ) Dreser, Zur Toxicologie des CO. Archiv für experimentelle Pathologie
und Pharmacologie. 29. Bd. 1.—2. Heft. S. 119 sqq. Leipzig; ausgegeben am
3. Juli 1891.
4 ) Donders, citirt von Dreser; cf. oben. Besprochen wird die Arbeit von
Donders auf S. 127.
6 ) Zuntz, Ist CO-Hb eine feste Verbindung? Ref. in dieser Vierteljahrs¬
schrift. N. F. Bd. XVU. 1872. S. 398.
6 ) Eulenberg, Die Lehre von den schädlichen Gasen. S. 51 und 52.
Braunschweig.
7 ) Pokrowsky, Ueber die Vergiftung mit CO-Gas. Virchow’s Archiv.
30. Bd. 1864. S. 528 sqq.
8 ) Driessen, Ueber die Einwirkung wiederholter CO-Vergiftung etc. Inau-
gural-Dissert. Würzburg 1889.
9 ) G. Gaglio, im Archiv für experimentelle Pathologie und Pharmacologie.
1887. S. 235.
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Go. gle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
388
I)r. Stnermer,
menden Gasgemische mich damit begnügen, anzuführen, dass, da der CO-Gehalt
derselben ein sehr verschiedener sein kann, zur Aufklärung mancher, besonders
verwickelten Fälle von Kohlendunstvergiftung eine Analyse des verwendeten
Brennmaterials nicht zu umgehen sein wird; dass sie ein für die Praxis brauch¬
bares Resultat liefern kann, beweist der von Casper (1. c., S. 614 sqq.) erzählte
Fall Ullrich, in welchem der Gerichtschemiker, Professor Sonnenschein, nach
quantitativer Analyse der beschlagnahmten Kohlenreste berechnen konnte, dass,
wenn das ursprünglich zurVerwendung bestimmte Quantum Kohlen wirklich ganz
zu CO verbrannt wäre, ein Luftgemisch von 4 pCt. CO-Gehalt, also ein absolut
sicher tödtliches, entstanden wäre; doch ist nicht anzunehmen, dass jedesmal die
ganze Menge des Brennmaterials zu CO verbrennt; ein grosser Theil verbrennt
sicher zu C0 2 . Sehr mit Recht sagt deshalb Rubner (1. c., S. 143) bei Be¬
sprechung der Kohlendunstwirkung: „er liefert ein Krankheitsbild, welches in
seinen einzelnen Stadien die combinirte Wirkung der C0 2 , des CO und der brenz¬
lichen Substanzen deutlich erkennen lässt“.
Wieviel CO und wieviel C0 2 sich in einem Falle bilden muss, unterliegt
keinem Gesetz, weshalb man bei Abgabe des Gutachtens sich vorsichtig und unter
Berücksichtigung aller anderen Umstände (Construction des Ofens, Grösse des
Zimmers, mögliche Ventilation etc.) zu äussern gut thun wird.
Auch bei Leuchtgasausströmungen wird man (wenn überhaupt der Sections-
befund noch einer Unterstützung bedürfen sollte) auf die Analyse des Gases recur-
riren müssen, wenn es gilt, zu erfahren, ob der CO-Gehalt desselben so gross ist,
dass ein gewisses ausgeströmtes Quantum den Tod durch CO herbeiführen konnte.
Dasselbe gilt bei Beurtheilung von Verunglückungen durch Wassergas, Dowson-
gas und durch die Gase, welche nach Sprengungen (in Tunnels, Bergwerken und
Minen) entstehen.
iwfo texte» nd ietls letalis« Bei Besprechung der Quantität des CO-
Gases, die zur Vergiftung ausreicht, muss man die Dosis toxica und die Dosis
letalis unterscheiden. Beide kennt man für den Menschen nicht genau, wohl aber
für Thiere verschiedener Klassen.
Wirkssg 4ei C# aaf Tbtere; Wiektigkslt dteser Brirterng fer fo m de-
rtehteunt. Dass ich hier eine längere Erörterung über die Wirkung verschiedener
Mengen von CO auf Thiere einschiebe, geschieht aus dem Grunde, dass bereits in
vielen Fällen der Befund an Thieren, die gleichzeitig zufällig mit Menschen in
demselben Raume vergiftet wurden, wichtige Aufschlüsse resp. Anhaltspunkte in
Betreff des Vorhandenseins und der Dauer einer CO-Vergiftung gegeben haben.
Der hervorragenden Wichtigkeit des Thierbefundes widmet u. a. Casper-Liman
(1. c., S. 601) eine längere Betrachtung. Es ist vorgekommen, dass Menschenblut
bei verinutheter CO-Vergiftung, die erst nach einigen Tagen tödtlich endete, kein
CO-Hb mehr enthielt (weil alles CO wieder ausgeathmet worden war), wohl aber
war dieses Gas im Blute eines in demselben Zimmer gestorbenen Thieres deutlich
nachweisbar, der Sachverhalt somit klargestelit.
Nach Dreser’s (1. c., S. 133) spectrophotometrischen Untersuchungen er¬
folgt der Tod durch CO bereits lange bevor eine völlige Sättigung des Blutes mit
CO eingetreten ist; selbst im ungünstigsten Falle bleibt im Blute das letzte Fünftel
von Oxyhämoglobin doch unzersetzt zurück. Gewöhnlich allerdings tritt der Tod
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Gck igle
Original frnm
UMIVERSITY OF IOWA
Ueber d. Kohlenoxydvergift, v. medicinal- u. sanitätspolizeil. Standpunkte. 389
schon früher ein, nämlich sobald die respiratorische Capacität des Blutes für
Sauerstoff auf durchschnittlich 30 pCt. herabgegangen ist. Nach demselben Autor
beträgt die Dosis letalis für 1 Kilo Kaninchen 0,0115 g CO; unter der Voraus¬
setzung, dass der Mensch in gleichem Grade auf das Gift reagirt, würde demnach
die tödtliche Dosis für einen 70 kg schweren Menschen 0,805 g CO sein. Für
Thiere ist ferner durch Versuche von Pokrowsky (1. c.), Leblanc, Grehant
u. A. (welche sich in v. Fodors Arbeit verzeichnet finden) festgestellt worden,
dass Kaninchen durchschnittlich in 3—4 Stunden sterben, wenn die Athemluft
5 pM. beträgt; ein Sperling starb sofort in 40—50 pM., ein anderer Vogel in
2 Minuten bei 10 pM., ein Hund in 52 Minuten bei 5,4 pM., ein anderer Hund bei
lOpM. in 22 Minuten; es wurden Kaninchen asphyktisch in 4 Minuten bei 50 pM.,
in 15 Minuten bei 40 pM., in 28—45 Minuten bei 20 pM. Die protrahirte CO-Ein-
wirkung auf Thiere studirte v. Fodor (1. c.) experimentell; er gelangte dabei zu
dem beachtenswerthen Resultate, dass ein Kaninchen, bei welchem im Minimum
ein Luftgemisch von 0,52 pM. CO-Gehalt, im Maximum ein solches von 2,8 pM.
7 Tage hindurch angewendet worden war, sich schnell wieder erholte; ebenso ein
Kaninchen, auf welches während 9 Tagen 0,38 pM. im Minimum, 2,1 pM. im
Maximum eingewirkt hatten; dagegen zeigte ein drittes Versuchsthier, welches
9 Tage hindurch 0,23 pM. CO-Atmosphäre im Minimum, 1,3 pM. im Maximum
geathmet hatte, die schwersten Vergiftungssymptome (u. a. Tetanus), v. Fodor
fasst seine Beobachtungen in den Satz zusammen, dass selbst l,5pM. bei längerer
Einwirkung bei Kaninchen noch schwere Symptome hervorrufen.
SjBftiae 4er Ct-Vergtftng bei Thierei. Um gleich im Zusammen¬
hänge Alles zu erwähnen, was überhaupt von forensischem Interesse bei der
Vergiftung von Thieren durch CO sein kann, seien auch die Symptome er¬
wähnt, wie sie nach den Beobachtungen von Lewin (1. c., S. 24), v. Fo¬
dor (1. c.) und Huchzermeier 1 ) die mit CO vergifteten Thiere darbieten:
Das Initialstadium derVergiftung ist das der Gefässerweiterung (besonders an den
Ohren und Schleimhäuten sichtbar); dazu kommt vermehrte Secretion von Thrä-
nen, Speichel und Nasenschleim. Darauf folgt ein Stadium der Lähmung: tau¬
melnder Gang, Lähmung besonders der hinteren Extremitäten. Das dritte Stadium
ist charakterisirt durch Convulsionen und erschwerte Athmung. Den Schluss
bildet das Stadium der Asphyxie (seltene, Anfangs tiefe, später kurze, schnap-
pendo Inspirationen, Anästhesie, Tod unter heftigsten Convulsionen). — Die chro¬
nische CO-Vergiftung verläuft bei Thieren unter folgendem Bilde: Die Thiere
werden schläfrig, sitzen zusammengekauert und apathisch in einer Ecke, sträuben
den Pelz, verschmähen das Futter, wackeln in eigentümlicher Weise mit dem
Kopfe, der Gang wird schwankend (exquisit wahrnehmbar bei einigen Ziegen und
einem Hunde in dem von Wesche 2 ) mitgetheilten Fall), das Athmen erschwert.
Die leichteren Symptome konnte v. Fodor noch beobachten bei Thieren, die wäh¬
rend 24 Stunden in einer 0,5 pM. CO-Luft geathmet hatten. Die Blutbeschaffen-
1 ) Huchzermeier, Ueber Kohlendunstvergiftung. Berliner Dissertation.
1868. S. 10.
2 ) Wesche, bereits auf S. 158 citirt; cf. S. 285 des Aufsatzes von
Wesche.
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Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
390
Dr. Stoermer,
heit und pathologisch-anatomischen Befunde sind bei Thieren im Wesentlichen
dieselben wie bei Menschen. Soviel des forensisch Wichtigen über die Thierver¬
giftung durch CO.
fiiftigkeitsgreue des HeUeaeiyds. Für den Menschen hat man im
Laufe der Zeit ermittelt, dass bei 0,02 pCt. CO in der Luft die Giftigkeits¬
grenze liegt; der Ministerialerlass vom 2. Juli 1892 nimmt 0,03 pCt. an;
bei 0,05 pCt. tritt schon sichere Wirkung ein und ein 1 pCt. CO enthaltende
Luft wirkt nach Kobert (1. c., S. 525) schon rasch giftig, v. Fodor stellte
(1. c., S. 389) den Satz auf, dass ein Luftgemisch schon dann nicht mehr
als ungefährlich zu betrachten sei, wenn es CO in solcher Menge enthält,
dass es aus ihr durch das Blut des lebenden Thieres aufgenommen wird. Die
zur Beantwortung der Frage, bei welcher Verdünnung das CO nun noch durch
das animale Blut aufgenommen werde, ausgeführten Untersuchungen lehrten, dass
bei einem Gehalt von 0,04 pM. CO in der Inhalationsluft noch durch die Palla-
diumchlorür-Reaction (cf. später) im Blute des Thieres CO nachweisbar war, dass
also die Bindefähigkeit des Blutes für CO nicht erst bei einer Grenze beginnt, wo
man es durch das Spectroskop nachzuweisen vermag, sondern bereits bedeutend
früher. Bei forensischen Begutachtungen von Heizanlagen (hinsichtlich der Mög¬
lichkeit der Entstehung von CO-Vergiftung durch sie) verdient diese Thatsache
alle Beachtung. Demgegenüber giebt allerdings Rubner (1. c., S. 143) an, dass
sehr kleine Mengen von CO sehr lange Zeit ohne Schaden geathmet werden
könnten, da unterhalb einer gewissen Verdünnungsgrenze (Tension) eine Sätti¬
gung des Blutfarbstoffs oder eine Aufspeicherung von CO im Blute nicht eintreten
kann. Wenn trotzdem infolge fortgesetzter Einathmung von CO bei Köchinnen,
Plätterinnen etc. chronische Anämie entsteht, so liegt das daran, dass diese Per¬
sonen bei ihrer Beschäftigung täglich eine solche Menge CO einathmen, welche
hinreicht, um eine gewisse Anzahl rother Blutkörperchen ausser Function zu
setzen; es handelt sich also in solchen Fällen um öfters wiederholte, ganz leichte
Schädigungen, die sich aber im Effect schliesslich summiren; eine eigentliche
cumulative Wirkung aber, wie z. B. bei Digitalis, Strychnin etc., findet bei CO
nicht statt.
Gef&hrliekkeitsgreiie dies Leicktgases. Uebertragen wir nun die für
das reine Kohlenoxyd gefundenen Resultate auf das Leuchtgas, so ergiebt
sich, dass, da Leuchtgas durchschnittlich 6—7 pCt. CO enthält und eine
Beimischung von 6—7 pCt. Leuchtgas zu Luft nach Martius-Matzdorff *)
bereits ein explosives Gasgemisch ist, eine Leuchtgasvergiftung schon lange
vorher zu Stande kommen kann, noch ehe das Gasgemisch explosiv geworden
ist 2 ). Diese Berechnung steht in gutem Einklänge mit einer Angabe von
v. Hofmann (1. c., S. 696), nach welchem in einem Process die Möglichkeit
einer Leuchtgasvergiftung darum geleugnet wurde, weil man beim Betreten des
betreffenden Raumes ein Lämpchen in einer Ecke brennend fand; dieses, so argu-
x ) J. Martius - Matzdorff, Ueber explodirende und erstickende Gase.
S. 10. Kreuznach 1871.
2 ) 2 solche Fälle bei Jacobs, Vergiftung durch Leuchtgas. Köln 1875.
S. 1 und 16.
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(Jeher d. Kohlenoxvdvergift. v. medicinal- u. sanitätspolizeil. Standpunkte. 301
mentirten die Beklagten fälschlich, hätte aber, wenn es sich um Leuchtgasaus¬
strömung gehandelt hätte, zur Explosion des Gasgemisches führen müssen. Dass
in der That schon sehr geringe Mengen dieses Gases in praxi Vergiftungen be¬
wirkt haben, lehren uns drei von Pettenkofer 1 ) berichtete Fälle, in welchen
der Berechnung nach der CO-Gchalt der Luft nicht viel mehr als 0,1 pM. betragen
haben kann.
Me toxische ui letale fesis rea Wassergas und seinen Abarten, sowie
auch — um diese hier gleich mit zu erledigen — vaa Orakel- aad fllaeagaaea
ist bei der sehr wechselnden Zusammensetzung dieser Gase überhaupt nicht
in einer für alle Fälle gütigen Weise anzugeben; bei diesen Gasen wird in jedem
einzelnen Falle nur die Analyse von entscheidender Bedeutung sein können.
Schiller 2 ) hat zwar einige allgemeine Regeln in folgende Sätze formulirt: Die
absolut tödtliche Dosis liegt bei 1 pCt. für Wassergas, bei 1,5 pCt. für Dowson-
gas; Wassergas bringt schon in einer Stärke von 1 p.M., Dowsongas bei 3 pM.
Intoxicationserscheinungen hervor; doch beziehen sich seine Angaben nur auf
schweizerisches Wasser- und Dowsongas.
Die für die verschiedenen Gase als letale Dosen angegebenen Mengen sind
es jedoch nur in dem Falle, dass sie in einer bestimmten Zeit dem Körper zuge¬
führt werden, d. h. es muss das Gas in gewisser Concentration ein¬
wirken. Diese ist von grossem Einflüsse auf das Zustandekommen einer Vergif¬
tung überhaupt und speciell auf ihre Intensität. Es verhält sich demnach in
diesem Punkte das CO ähnlich wie z. B. das Chloroform, bei welchem auch nur
eine unvollkommene Wirkung beobachtet wird, wenn nebenher grössere Mengen
atmosphärischer Luft eingeathmet werden. Dieser Umstand verdient von Seiten
des Gerichtsarztes die grösste Würdigung; denn die oben bereits flüchtig ange¬
deuteten Fälle von gleichzeitiger Vergiftung mehrerer Personen durch CO mit un¬
gleichem Ausgange für die einzelnen finden am besten dadurch ihre Erklärung,
dass die verschiedenen Personen das Gas in verschiedener Concentration einge¬
athmet haben.
Diler welchen Vmtiiiei kan bei gleichzeitig Vergifteten es 4eeb in
■■gleiche* Effecte kinntll Zur Beantwortung dieser Frage findet sich weiteres
Material am Schlüsse dieser Arbeit.
Von Wichtigkeit ist in solchen Fällen z. B. die Ermittlung der Entfernung
der einzelnen Lagerstätten von der Quelle des Giftes (dem Ofen, einem verbor¬
genen Balkenbrande oder dergl.). Doch nicht immer verhält es sich so, dass die¬
jenigen Personen am wenigsten afficirt waren, deren Lager am weitesten von
dieser Quelle abstand. Ferner muss beachtet werden, ob vielleicht der eine von
den Ueberlebenden in der Nähe eines offenen, zerbrochenen oder nur angelehnten
Fensters schlief oder in der Nähe einer undicht schliessenden Thür oder an der-
x ) Pettenkofer, die angezogene Stelle findet sich auch in v. Fodors
Arbeit; die betreffende Originalarbeit von v. Pettenkofer konnte ich nicht er¬
halten.
2 ) Schiller, H., Experimentelle Untersuchungen über die Wirkung des
Wassergases auf den thierischen Organismus. Dissertation. S. 61. Zürich 1888.
Leipzig (Veit u. Co.).
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302
Dr. S t o o r m e r,
jenigen Wand, durch welche infolge der zur Zeit des Unglücks herrschenden
Windrichtung die Ventilation am lebhaftesten stattfand. Auch muss ermittelt
werden, ob die Vergifteten alle zu derselben Zeit ihr Lager aufgesucht haben;
denn schon oft hat späteres Nachhausekommen in solcher Unglücksnacht den Be¬
treffenden das Leben gerettet (solcher Fall z. B. von Huber 1 ) mitgetheilt).
Neben den geschilderten Verhältnissen scheint ausserdem noch eine indi¬
viduell verschieden grosse Empfindlichkeit für dieses Gift eine Rolle
zu spielen; denn es giebt Fälle, wo zwei Menschen von anscheinend gleicher Con¬
stitution, die in demselben Bett, also unter genau denselben Verhältnissen der
CO-Vergiftung zum Opfer fielen, in ganz verschiedenem Grade vergiftet wurden
(der eine nur leicht betäubt, der andere todt). Einen solchen Fall berichtet z. B.
v. Samson-Himmelstiern (bei Siebenhaar und Lehmann, S. 133). Sehr
lehrreich ist in dieser Hinsicht auch die Mittheilung von v. Fodor (im Nachtrag
zu seiner Arbeit), wonach 3 Personen, die dieselbe CO-Atmosphäre gleich lange
und überhaupt ceteris paribus geathmet hatten, ungleich grosse Mengen des Gases
aufnahmen, wie v. Fodor durch die quantitative Analyse feststellte; ein 21jähr.
Mann nahm 4,04pCt. CO auf, seine gleichaltrige Frau nur 3,51 pCt., eine 56jähr.
Frau 4,23 pCt.!!
Dass kleine Kinder dem CO leichter erliegen als Erwachsene ist zwar
eine oft aufgestellte Behauptung, deren Richtigkeit jedoch Casper (1. c., S. 622)
nicht zugeben kann. Gnant 2 ) glaubt, dass neben der geringeren Widerstands¬
fähigkeit der lebhaftere Respirationsprocess des jugendlichen Organismus die Ur¬
sache der schnellen und intensiven Wirkung des CO bei Kindern sei.
Man beachte neben dem Alter, der Constitution und den localen
Verhältnissen auch den Gesundheitszustand des Vergifteten zur
Zeit der Vergiftung; z. B. wird auch ein sonst kräftiges Individuum, das zu¬
fällig gerade zur Zeit der Vergiftung eine acute Krankheit (namentlich der Respi¬
rationsorgane) hat, der Vergiftung leichter erliegen als ein anderes; z. B. wurde
ein Arbeiter (nach Sieben haar und Lehmann, S. 134), der mit einem Hcrz-
klappenfehler behaftet war, nach Einathmen von Leuchtgas auffallend schnell vom
Tode ereilt, während andere Leute ohne viel Beschwerden in demselben Raume
arbeiteten.
Die genannten Autoren halten es für nicht unwesentlich, zu ermitteln, ob
Jemand zur Zeit der Vergiftung schlief oder wachend in dem Zimmer verweilte.
Bei der immensen Wichtigkeit der eben berührten Verhältnisse möchte ich
doch einige zur Illustration derselben besonders geeignete Fälle aus dem casuisti-
schen Material heranziehen.
1. Beobachtung Zenkers (Deutsches Archiv für klinische Medicin, Bd.VIII,
S. 52 sqq.): Verdacht auf Mord der Ehefrau seitens des Gatten. Beide hatten
x ) Huber, Allgemeine militärärztliche Zeitung vom 25. April 1865, citirt
nach Büchners Bericht über die Leistungen im Gebiete der gerichtlichen Medicin
im Jahre 1865. Friedreichs Blätter für gerichtliche Medicin. XVH. Jahrgang.
Nürnberg 1866. S. 403 sqq.
2 ) G. Gnant, 2 Fälle von Leuchtgasvergiftung bei Kindern. Münchener
medicinische Abhandlungen. 16, lieft. 1891. II. Reihe, 2. S. 5,
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Feber d. Kohlenoxyd vergift, v. medicinal- u. sanitätspnlizeil. Standpunkte. 393
unter genau denselben Verhältnissen geschlafen; die Frau starb, der Mann kam
mit ganz kurzem Unwohlsein davon.
2. Beobachtung Caspers (1. c., S. 603), wonach ein schwaches Mädchen
in derselben Atmosphäre, worin ihr Bräutigam binnen sehr kurzer Zeit starb, nur
„etwas taumelig“ wurde.
3. Schuhmachers Mittheilung (in Friedreichs Blättern für gerichtliche
Medicin, herausgegeben von Büchner; 1866; Jahrg. XVII, S. 452), wonach in
einem Zimmer Vater und Sohn lebensgefährlich vergiftet wurden, in der Neben¬
kammer, bei offen gelassener Verbindungsthür, ein 12jähriges Mädchen starb,
während die Magd nur so wenig erkrankte (sie schlief mit dem Mädchen zusam¬
men), dass sie Hilfe herbeiholen konnte. Uebrigens war ein Vogel im Käfig nächst
dem Ofen ganz wohl.
4. Fall Lion und Amouroux (bei Siebenhaar und Lehmann, S. 136
sqq.). In beiden Fällen (nach heutigen Anschauungen offenbar irrthümlich) Ver-
urtheilung wegen Mordes!!
5. Beobachtung von Gildemeister (Uebcr Kohlendunstvergiftung, Diss.
1872, Halle, S. 17) betrifft die ganz ungleich starke Vergiftung von 4 anscheinend
gleich kräftigen, gleichaltrigen Leuten.
6. Mittheilung von v. Rokitansky (in der Wiener medicinischen Presse
vom 29. December 1889, No. 52), 2 Mädchen betreffend, von denen die eine sich
bald wieder von der Vergiftung erholt, während die andere am 9. Tage stirbt. Bei
dem Tode concurriren u. a. eine Poliomyelitis acuta, Gehirnödem, lobuläre Pneu¬
monie, Gastroenteritis etc.
7. Beobachtung von Tour des (mitgetheilt von Jacobs, 1. c., S. 7—13);
es handelt sich dabei um gleichzeitige tödtliche Vergiftung von 5 Personen durch
Leuchtgas, das von einer entfernten Quelle her in die Wohnung eindrang; eine
6. Person jedoch, die Hausfrau, kam mit dem Leben davon, obwohl sie am läng¬
sten der Gaswirkung ausgesetzt war.
8. Mittheilung von Maclagan (Edinburgh med. Journ. 1868, p. 585; er¬
wähnt von Jäderholm, Die gerichtlich-medicinische Diagnose der CO-Vcrgif-
tung. Berlin 1876, S. 4 und 5). Zwei Personen wurden wegen Verdacht der Er¬
mordung eines Dritten verhaftet; nur einer von dreien war der CO-Wirkung er¬
legen; Maclagan wies in dessen Blut CO nach.
9. Mittheilung von Blumenstock (im Auszug in Virchow-Hirschs Jahres¬
bericht 1874, I, S. 576): Ein Ehepaar starb plötzlich; ein Mann, der mit dem¬
selben in steter Fehde gelebt hatte, wurde wegen Verdacht des Mordes verhaftet,
aber entlassen, als sich im Blute der Leichen CO fand; der spectroscopisehe und
chemische Nachweis gelang in diesem Falle noch nach 50 Tagen!
10. Mittheilung von H. Schauenburg in dieser Vierteljahrsschrift, N. F.,
XVI. Bd., 1872, S.40 sqq.: Bei Gelegenheit eines Stubenbrandes kamen 2 Kinder
durch Einathmen des bei dem Brande entwickelten CO ums Leben; die vorher
übel beleumundete Mutter derselben kam in Verdacht, die Kinder umgebracht zu
haben; doch im Blute beider wurde CO nachgewiesen.
11. In dem von Dr. Wolff begutachteten Falle (mitgetheih in dieser Viertel¬
jahrsschrift, N. F., 40. Bd., 1884, S. 60) war zu entscheiden, ob der Tod einer
Frau durch gewaltsame Erstickung, durch Alkoholvergiftung oder solche durch
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Dr. Stoen»er.
394
CO erfolgt sei; obwohl CO spectroscopisch nachgewiesen wurde, entschied Dr.W.
doch sich für gewaltsamen Erstickungstod.
Wer mehr solche Fälle sucht, findet sie noch bei Lesser (S. 141 u. 145),
Casper (Fall 253, 258, 259, 263), v. Hofmann (S.692) und Seidel-Maschka
(S. 361).
Die Zeit, in welcher das CO seine Giftwirkung entfalten wird,
muss in Abhängigkeit von so vielen Einflüssen sehr verschieden in den einzelnen
Fällen sein. Lewin (1. c., S. 26) giebt an, dass bis zum Eintritt der Bewusst¬
losigkeit bis zu 3 U Stunden vergehen kann.
Wie wünschenswerth es also auch in einigen gerichtlichen Fällen wäre,
etwas Genaues über die Zeitdauer einer CO-Vergiftung (wie lange Jemand bis zur
Entdeckung des Unglückes schon in einer CO-Atmosphäre gelegen hat) aussagen
zu können, wird uns doch für die meisten Fälle dieser Art nur ein „non liquet“
zu Gebote stehen, da der wichtigste Factor, der Concentrationsgrad des Giftes,
welcher einwirkte, nachträglich in keiner Weise mehr feststellbar ist und oben¬
drein noch andere, gleichfalls unberechenbare Factoren (Ventilation durch Wand,
Thür und Fenster, Zug im Ofen etc.) unsere Bemühungen vereiteln. Für die Er¬
mittlung der Dauer einer CO-Vergiftung werden daher richterliche Erhebungen
mehr als gerichtsärztliche leisten.
(Fortsetzung und 8ohluss folgt.)
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Zur Prophylaxe der Masern. 1 )
Von
Kreisphysikus Dr. Reinhard Caspar in Greifenberg in Pommern.
Bevor ich auf mein Thema näher eingehe, will ich bemerken,
dass es mir nicht etwa gelungen ist, ein specifisehes Prophylacticum
gegen die Masern aufzufinden; auch will ich nicht alle die Vor¬
schriften, wie sie gegen ansteckende Krankheiten im Allgemeinen er¬
lassen worden sind und wie sie sich da auch gegen die Masern vor¬
finden, wiederholen. Sehr w’ohl aber halte ich für zw'eekmässig eine
eingehende Besprechung der Frage: ob unsere Zeit, welche den Kampf
mit den Pocken und mit der Cholera erfolgreich aufgenommen hat
und jetzt auch der Diphtherie den Fedchandschuh zuwirft, berechtigt
ist, gegenüber der Massenverbreitung der Masern die Hände in den
Schooss zu legen — denn die bisherigen Maassnahmen konnten die
Massenverbreitung nicht hindern —, oder ob eine Prophylaxe der
Masern rathsam und unter welchen Umständen sie möglich erscheint.
Damit eine solche Betrachtung nicht in der Luft schwebe und
sich nicht in philosophirende Spcculationen verliere, erschien cs mir
nothwendig, positiv vorliegendes Material darüber zu sammeln. - Es
wurde mir auf mein Ansuchen von dem Herrn Regierungspräsidenten
von Sommerfeld, dem ich hier noch besonders meinen gehorsam¬
sten Dank dafür ausspreche, zur Verfügung gestellt und zwar das
Aktenmaterial aus den Jahren 1882 bis 1893 über die Maassregeln
zur Bekämpfung von Masern und Rötheln. In diesen Akten finden
Vortrag, gehalten am 1U.November 1894 im Verein der Medieinalbeainten
des Regierungsbezirks Stettin.
Vlerleljahrsachr. f. ger. Med. Dritte Folge. IX. 2. •Jf!
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Pr. Caspar.
30 C»
sich die Befundberichte der Kreisphysiker vor, wie sie bei' der Con-
stat.irung des Charakters und Umfanges der Masemepidemieen meist
an Ort und Stelle unter den persönlich und unmittelbar gewonnenen
Eindrücken niedergeschrieben sind.
Als ferneres Material habe ich die Zusammenstellungen in den
Amtsblättern benutzt, wie sie wöchentlich auf Grund der Meldekarten
von der Königlichen Regierung aufgestellt worden sind. Auch diese
Uebersichten reichen in das Jahr 1882 zurück. Gegen ihren statisti¬
schen Werth kann man einwenden, dass gewiss zahlreiche Erkran¬
kungsfälle nicht gemeldet worden sind; das mag für viele vereinzelte
Fälle zutreffen; die grossen ErkrankungszifTem, wie sie bei den Einzel-
epidemieen festgestellt sind, sind in den Meldekarten enthalten. Auch
viele Todesfälle, welche erst nach Ablauf der Masernepidemie auf-
treten, werden nicht als Maserntodesfälle gemeldet. So giebt die
Statistik der Meldekarten ein Material mit nicht ganz positiven, aber
doch guten relativen Werthen.
Was ich von diesem Beutezuge in das statistische und das Akten-
Material heimgetragen habe, will ich zunächst in kurzen Zügen dar¬
stellen.
In den 12 Jahren 1882 bis 1893 sind in dem Regierungsbezirke Stettin
36990 Erkrankungen mit 1090 Todesfällen an Masern gemeldet worden; das er-
giebt einen Procentsatz an Todesfällen von nicht ganz 3 (2,94). Dieser Procent¬
satz unterliegt aber in den einzelnen Jahren erheblichen Schwankungen. Im Jahre
1890 beträgt er 1,2 pCt., im Jahre 1884 dagegen 7,1. Ich meine, dass man bei
7 pCt. Todesfällen die Masern schon garnicht mehr als gutartig bezeichnen kann.
Wenn sich in den Berichten der Physiker aus dem Jahre 1884 trotzdem fast immer
die Krankheit als „gutartig“ geschildert vorfindet, so liegt das an den besonderen
Verhältnissen. Die Constatirung der Krankheit findet nämlich fast immer auf dem
Höhepunkte der Epidemie oder kurz vorher statt; bis dahin sind noch keine To¬
desfälle zu verzeichnen, höchstens ist ein eiiyähriges oder zweijähriges Kind der
Krankheit erlegen. Die Todesfälle treten meist erst auf, wenn die Epidemie ihren
Culminationspunkt überschritten hat. Man thut deshalb gut, mit der Bezeichnung
einer Epidemie als einer gutartigen vorsichtig zu sein. Auch bleibt der Charakter
der Masernepidemie auf ihrem Zuge von Ort zu Ort durchaus nicht mit Sicherheit
ein gleichartiger. Die Epidemie von 1884, welche auch die Södhälfte des Greifen¬
berger Kreises ergriffen hatte, war anfangs gutartig; nachher, in Triglaff und den
umliegenden Ortschaften, war sie wegen der Schwere der Fälle und der hinzu¬
tretenden Complicationen zweifellos als eine schwere zu bezeichnen. So war bei¬
spielsweise auch 1886 die Epidemie in Hökendorf, Kreis Greifenhagen, zuerst gut¬
artig, bis sie plötzlich „recht bösartig“ wurde, d. h. 7 Todesfälle in 14 Tagen
auftraten. Ebenso starben im lahre 1887 in Pflugrade, Kreis Naugard, von
22 Kranken 9, also 40 pCt.
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Zur Prophylaxe der Maseru.
31)7
Diese Thatsaehen beweisen hinlänglich, dass ein laisser aller den
Masern gegenüber nicht angängig ist und unseren heutigen hygieni¬
schen Anforderungen nicht entspricht; sie fordern gebieterisch, dass
auch die Behörden, in erster Linie die Medicinalbeamten, der Pro¬
phylaxe der Masern näher treten.
Die gute alte Zeit, in welcher wir Alle unsere Kinderkrankheiten
durchgemacht haben und welche sich auch jetzt noch bei unserer
Landbevölkerung als „gute alte Zeit“ erhalten hat, wenigstens so weit¬
es ein Verständniss für Hygiene betrifft, legte gesunde Geschwister
eines masemkranken Kindes zu dem masernkranken in’s Bett. Das
hatte zweierlei Vortheile: erstens zogen sich die Erkrankungen in
einer Familie mit vielen Kindern nicht monatelang hin; zweitens er¬
schienen die Kinder durch das einmalige leichte Ueberstehcn der
Krankheit gegen eine spätere, vielleicht schwerere Jnfection geschützt.
Wenn auch diese Immunisirungstheorie auf den ersten Blick
etwas Bestechendes hat, so ist sie doch zweifellos falsch. Niemals,
wenn man, auch bei „gutartigen“ Epidcmieen, ein bisher gesundes
Kind der Infection muthwillig aussetzt, wird mit Gewissheit auch
eine gutartige Krankheit erzielt.
Ich habe begeisterte Gegner der Schutzpockenimpfung gefunden,
welche dem oben geschilderten Immunisirungsprincip bei Masern hul¬
digten. Was würden sie zu einem ziffernmässigen Vergleiche beider
Methoden sagen! Bei der Pockenimpfung laufen wir nach der neuesten
Statistik Gefahr, von 2 Millionen Impflingen 13, also 0,0007 pCt. zu
verlieren; dafür als Entgelt ist die schwere Volkskrankheit fast aus¬
gerottet. Bei der absichtlichen Infection mit Masern laufen wir Ge¬
fahr, 3 bis 7, sogar bis 40 pCt. der bereits mehr herangewachsenen
Kinder zu verlieren. Und was haben wir damit gewonnen? Nichts;
denn die Masernepidemieen können sich nach 10, 7, 5, sogar 3 Jahren
wiederholen. Die bei der absichtlichen Infection mit Masern gebrach¬
ten Opfer stehen in einem schreienden Missverhältnisse zu den er¬
reichten und erreichbaren Erfolgen.
Der Umfang der Masernepidemieen im Regierungsbezirk Stettin war in den
12 Jahren ein sehr erheblicher. Sie traten epidemisch in Ö07 Ortschaften des Be¬
zirks auf. Da diese Verbreitung durch ein Contagium zu Stande kommt, so folgen
sie selbstverständlich dem menschlichen Verkehr, im Allgemeinen aber nicht dem
grossen Handelsverkehr, sondern, weil sic eine Kinderkrankheit sind, dem sich
meist auf wenige Dörfer der Umgegend beschränkenden Kindorverkchr. So kommt
es, dass die Maseru nur seilen auf weitere Kntfernungen hin durch denEisenbahn-
2C *
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Dr. Caspar,
398
verkehr verschleppt werden und «lass die Mascrnepidemieen nur selten grosse
Sprünge machen. Weit häufiger ist das langsame Fortschreiten von Ort zu Ort,
von einem Dorfe zu einem oder mehreren Nachbardörfern. Dieses „Weiterkriechen“
ist an einer Epidemie, welche im Jahre 1887 den Norden des Greifenberger Kreises
in der Richtung von Westen nach Osten durchquerte, besonders schön erkennbar.
Tn einem im Westen des Greifenberger Kreises gelegenen Dorfe, Zirkwitz, traten
im April 1887 die Masern epidemisch auf; darauf mit Fristen von etwa je 4Wochen
in den an der Verkehrsstrasse nach Treptow gelegenen Ortschaften Gross-Zapplin,
Gumtow, Belbuk, schliesslich in Treptow selber; über Treptow hinaus gingen sie
nach Robe, schliesslich nach Wustrow und Camp, wo sie im Februar 1888 er¬
loschen (siehe die untenstehende Specialkarte). Zu diesem Wege von etwas über
3 Meilen haben die Masern eine Zeit von 10 Monaten gebraucht.
Dass sich eine so ausgesprochen rein contagiöse Krankheit, wie
die Masern es sind, so langsam furipflanzt, lieg! hauptsächlich daran,
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Zur Prophylaxe der Masern.
309
dass die Verbreitung vorwiegend, wenn auch nicht ausschliesslich,
durch erkrankte Kinder zu Stande kommt, welche nicht so w'eit ura-
herkommen wie Erwachsene, und zweitens daran, dass die Masern
ein längeres Incubationsstadium haben, was z. ß. bei der Cholera
ganz fortfällt.
Dass hier zu' jeder Jahreszeit die Epidemie gleichmässig
weitergeht; dass Wind und Wetter keinen Einfluss haben; dass, wie
sich mit Bestimmtheit annehmen lässt, auch der Grundwasserstand
keine Bewegung von Westen nach Osten und auch keine Gegenbe¬
wegung gemacht hat — das .Vlies spricht dafür, dass die Masern
eine rein contagiöse Krankheit im Sinne der Koeh’sehen Cholera und
der Behring’schen Diphtherie sind, dass also das v Bettenkofer’s
völlig fehlt.
In vielen Einzelepidemieen ist es gelungen, den Träger der ersten In¬
te ction nachzuweisen. Wenn wir die Fälle ausscheiden, in denen es sich mehr
oder minder uni Vermuthungen über das Zustandekommen der Infection handelt,
so bleiben folgende sicher beobachtete übrig:
1. Clanshagen, Kreis Regenwalde: Die unverehelichte Ortsarme Leddin
zieht mit 2 Kindern, 5 und 1 Jahr alt, von Wangerin nach Claushagen. Die Kin¬
der haben in Wangerin kurz vorher die Masern gehabt. In dem Hause, in wel¬
chem sie untergebracht ist, brechen die Masern aus.
2. Stadt Greifenberg: Zuerst erkrankte der Sohn des Bahnhofsinspectors,
welcher die Masern durch Rückkehr von einer Besuchsreise aus Damm ein¬
schleppte.
3. Steinmocker, Kreis Anklam: Der Tagelöhner Utpatel ist mit seinen an
Ausschlag kranken Kindern von Stolpe nach hier verzogen, und hat sich die
Krankheit von dieser Familie aus auf das ganze Dorf verbreitet.
4. Ganzken-Pribbernow, Kreis Greifenberg: Die Krankheit ist durch einen
Knaben aus Ribbecardt eingeschleppt worden, welcher zu dem Ziegler in Dienst
gezogen ist; die zweite Erkrankung fand in demselben Hause statt.
5. Wendisch-Pribbernow, Kreis Greifenberg: Die Krankheit ist durch den
Kutscher des hiesigen Gutshofes aus Witzmitz eingeschleppt worden, welcher sich
dort auf einer Hochzeit befand und den zuerst hier erkrankten Knaben dorthin
mitgenommen hatte.
6. Lindow, Kreis Greifenhagen: Die Masern sind nach Angabe des Lehrers
durch seine Familie, die vor Kurzem in Stepenitz, Kreis Cammin, zu Besuch ge¬
wesen ist, hier eingeschleppt worden.
7. Ducherow, Kreis Anklam: Der Präparande Duverge kam nach Beendi¬
gung der Ferien von Gollnow her zurück in das Buggenhagenstift in Ducherow
und schleppte die Masern ein; es hatte nämlich eins seiner Geschwister in Goll¬
now die Masern; er selbst erkrankte unmittelbar nach seiner Rückkehr in’s Stift
an derselben Krankheit.
8. Gegensee, Kreis Ueckermünde: Ein Kind aus Prenzlau kam in den
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400
Dr. Ga spar,
städtischen Sommerferien zu dem Colonisten Pietsch zu Besuch und erkrankte
bald nach seiner Ankunft an Masern.
0. Selchow, Kreis Greifenhagen: ln der 28. Jahreswoche waren Hochzeits¬
gäste aus Selchow, wo damals die Masernepidemie auf ihrer Höhe stand, beim
Maurer Eggebrecht einquartiert. In der 30. .Tahreswoche erkrankten zuerst die
Kinder der Familie Eggebrecht.
10. Brusenfelde, Kreis Greifenhagen: Beim Viehhändler Stein in Brusen¬
felde trafen 2Kinder aus Berlin zum Besuch ein und erkrankten sofort an Masern;
ihnen folgten die Kinder des Bauern Ortmann, welche mit dem Stein’schen Be¬
suche während dessen Krankheit verkehrten.
11. Woltersdorf, Kreis Greifenhagen: In Woltersdorf traten die ersten Fälle
bei dem Bauern Littmann auf. Hochzeitsgäste aus Klein-Schönfeld, deren Kinder,
von Masern gerade genesen, mit den Liltmann’schen Kindern in denselben Betten
geschlafen hatten, waren die Vermittler der Ansteckung.
12. Ganschendorf, Kreis Demmin: Da zuerst 3 nach Biggerow, wo die Ma¬
sern herrschten, zum Confirmandenunterricht gehende Kinde erkrankt sind, so ist
anzunehmen, dass die Epidemie von dort übertragen ist.
13. Liibsow, Kreis Greifenberg: Der erste Erkrankungsfall war ein Töeh-
terchen eines Bauern, welches mit ihm nach Woistentin, Kreis Cammin, zu einem
Familienfeste gefahren war. In Woistentin wurde damals gerade an diesem Tage
die Schule wegen Masern geschlossen.
14. Borntin, Kreis Greifenberg: Die ersten Erkrankungen kamen in der Fa¬
milie des Bauern Kasten vor; dieser war mit seinen Kindern nach Liibsow, wo
gerade die Masern herrschten, zu Besuch gefahren.
15. Triglalf, Kreis Greifenberg: Der erste Erkrankungsfall war der Knabe
Zimdars, welcher am 31. Mai erkrankte; er war am Pfingstsonntag (21. Mai) mit
seinen Eltern nach Görke zu Besuch gefahren zu einer Familie, deren Kinder be¬
reits an Masern krank lagen.
16. Coldemanz, Kreis Greifenberg: Im Mai kam hier zu dem Geimundevor¬
steher eine Frau mit einer Tochter aus Köslin, wo die Masern eine grosse Ver¬
breitung erlangt hatten, zu Besuch. Diese Tochter erkrankte unter allgemeinem
Unwohlsein, weshalb die Mutter wieder mit ihr nach Köslin zurückreiste. Am
25. Mai erkrankte die Tochter des Gemeindevorstehers an Masern.
Darüber, «lass in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle die An¬
steckung durch die direete Uebertragung von Person zu Person
erfolgt, kann bei Betrachtung unserer ländlichen Epidemiecn ein
Zweifel nicht entstellen. Eher kann es zweifelhaft sein, ob eine ander¬
weitige Uebertragung, durch dritte Personen oder durch Sachen, über¬
haupt möglich ist. Ich sehe von einer Aufzählung der in der Lite¬
ratur vcrzeichnetcn Fälle ab, da mir ein selbstbeobachteter zur Ver¬
fügung steht. Im Jahre 1883, als im Greifenberger Kreise nirgends
Masern herrschten, erhielt in der Stadt Greifenberg Fräulein K. v. S.,
23 Jahre alt, einen Brief von einer verwandten Familie aus Berlin,
von der ihr mitgcthcilt wurde, dass die Kinder an Masern krank
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Zur Prophylaxe der Masern.
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seien. Fräulein v. 8. verbrannte den Brief sofort, erkrankte aber
selber 12 Tage später an Masern. — Diese Fälle sind ja recht selten;
aber typischer als der geschilderte können sie kaum sein.
Sind wir von solchen Vorkommnissen fest überzeugt, so gelingt
uns auch die Deutung einzelner anderer Epidemieen. Ich habe z. B.
Folgendes beobachtet: In einem Dorfe, Dummadel, herrschten die
Masern, auch in der Familie des Lehrers. In dem Nachbardorfe
Broitz, welches nicht an derselben Verkchrsstrasse liegt, erkranken
die Kinder des Lehrers. Ein persönlicher Verkehr der Lehrerfamilien
hat bestimmt nicht stattgefunden, auch sonst kein Verkehr von Leuten
aus den beiden Dörfern. Handelnde Schlächter, welche ihre Einkäufe
an Schlachtvieh besorgen, haben wohl hin und wieder beide Dörfer
an einem Tage berührt. Eine ganz regelmässige Verbindung besteht
aber zwischen beiden Dörfern durch den Postboten; er überbringt
täglich einen Postbeutel mit Briefschaften von der Posthilfsstelle des
einen Dorfes, d. h. von dem Lehrer, zu der Posthilfsstelle des anderen
Dorfes, d. h. zu dem anderen Lehrer. Ich meine, dass auf diese
Weise sich sehr wohl erklären lässt, dass die Ersterkrankungen an
Masern in dem zweiten Dorfe die Kinder des Lehrers waren.
Ich möchte noch weiter gehen und behaupten, dass das unver-
hältnissmässig häufige Auftreten von Ersterkrankungen an Masern,
Scharlachfieber und Diphtherie gerade in den Familien der Lehrer
und im Schulhause sehr wohl durch diese Art der Uebertragung
zu erklären ist. Man könnte hiergegen einwenden, dass ja dann die
Postbeamten und deren Familien überhaupt ein grosses Contingent an
ansteckenden Krankheiten stellen müssten, was wohl kaum der Fall
ist. Die Verhältnisse liegen jedoch so, dass Erwachsene gerade von
diesen Krankheiten sehr selten befallen werden; dass im städtischen
Postbetriebe die Kinder der Beamten mit den Postsachen garnicht in
Berührung kommen; auf dem Lande hingegen befindet sich das Amts¬
local der Postbehörde in der Wohnstube oder der guten Stube des
Lehrers, und die kleinen Trabanten der Posthilfsstelle begrüssen den
ankommenden Briefträger jubelnd und sind bei der Entleerung der
Brieftasche oder des Postbeutels zugegen, so dass, wenn eine Ueber¬
tragung durch Briefe stattfindet, sie sehr wohl in dieser Weise er¬
folgen kann. Immerhin halte ich es für zweckmässig, aus einem der¬
art gefährdeten Schulhause die Abfertigung der Postsachen für die
Dauer der Ansteckungsgefahr in ein anderes Haus und in eine andere
Familie zu verlegen, welche keine schulpflichtigen Kinder hat. Es
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402
Dr. Caspar.
müsste hierzu ein Modus gefunden werden, welcher in solchem Falle
die besondere Genehmigung der oberen Postbehörde oder gar des
Reichspostamtes nicht erforderlich macht.
Dass durch Bcgräbnissfeierlichkeiten die ansteckenden
Krankheiten häufig verschleppt werden, unterliegt keinem Zweifel.
Dass Hochzeitsfeste ebenso Gelegenheit dazu bieten, haben wir vorher
bei der Einzelaufführung der Fälle gehört; weil zu den Hochzeite¬
iesten fast immer die Kinder mitgenommen werden, scheint durch sie
öfter eine Propagirung der Masern zu Stande zu kommen als durch
Begräbnisse. Auch die Iiiitekinder, welche aus einem Dorfe in ein
anderes verziehen, tragen leicht die Masern weiter. Solche Vorkomm¬
nisse sind mehr oder weniger als Zufälligkeiten zu betrachten, welche
sich nicht immer verhüten lassen. Dahin gehört auch der Landver¬
kehr in den Städten, namentlich behufs Einkauf zu den grösseren
kirchlichen Festen; dieser Verkehr zeigt schon eine grössere Periodi-
cität. Ganz regelmässig kehrt dann aber die Wanderung der um¬
ziehenden Tagelöhner wieder; es ist dabei nicht einmal möglich, den
infieirten Familien den Umzug bis zur Genesung der kranken Kinder
zu untersagen; denn es sind nur so wenig ländliche kleine Wohnungen
vorhanden, dass der Bedarf eben gedeckt ist; deshalb kann man
diesen Familien weder vor noch nach ihrem Umzuge eine mehr¬
wöchige, ja sogar eine mehrtägige Quarantainc auferlegen.
Ferner liegt eine Gefahr der Verschleppung der Masern vor,
sobald Kinder aus zwei oder mehreren Ortschaften eine gemeinsame
Schule besuchen.
Zu einer erheblichen Propagirung trägt ferner ganz besonders der
Confirmandcnunterricht bei. Dabei kommen Kinder aus vielen
bis dahin verschont gebliebenen Dörfern mit erkrankten und infieirten
Kindern in Berührung und werden nun selber Infectionsträger. Dass
dieselben Verhältnisse gelegentlich durch die Confirmation selber ge¬
schaffen werden können, ist offenbar; in den Akten der Königlichen
Regierung findet sich folgender Fall: ln der Ortschaft Rörchen, Kreis
Greifenhagen, herrschten die Masern; in dem Befundberichtc des
Kreisphvsikus sagt dieser wörtlich: „Zugleich mache ich darauf auf¬
merksam, dass auch der Confirmationsunterricht, sowie die am Palm¬
sonntag beabsichtigte Einsegnung — die Kinder aus Jaedersdorf kom¬
men dann mit ihren Angehörigen nach Rörchen — unbedingt (bis
zum Erlöschen der Epidemie) aufgeschoben werden müssten.“ Als
dann in Jaedersdorf die Epidemie auftritt, sagt derselbe Medicinal-
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Zur Prophylaxe der Masern.
408
beamte: „Mit Rücksicht auf die Entstehung der Epidemie ist noeli
interessant, dass die von mir in meinem Gutachten über die Masern¬
epidemie in Rürchen vorgesehlagene Aufschiebung der Einsegnung der
Jaedersdorfer Kinder nicht befolgt worden ist, und dass die massen¬
haften Erkrankungen in Jaedcrsdorf genau 14 Tage nach dem Palm¬
sonntage eingetreten sind.“ — Ich bemerke hierzu, dass in Jaeders-
dorf die Erkrankungen „sehr schwere“ waren, dass der Tod 2 Opfer
forderte, und frage: „Wäre es wirklich so ganz unmöglich gewesen,
die Confirmation auf 3 Wochen zu verschieben?“ Aber bei der Geist¬
lichkeit finden wir häufig den sanitären Rathschlägen gegenüber eine
weitgehende Indolenz. Einfache Indolenz ist es freilich nicht immer,
sondern Anschauungen, die sich wie der Ausdruck festen Gottver¬
trauens ausnehmen und doch weiter nichts sind als der krasseste Fa¬
talismus: „Wenn die Kinder die Krankheit bekommen sollen, so helfen
auch die sanitären Maassrcgeln nichts.“ — Solchen Anschauungen
gegenüber ist ein Wort am Platze, dass dem Muhamed zugeschrieben
wird. Auf einem Zuge durch die Wüste traf er im Nachtlager einen
Mann, welcher sein Kameel nicht angebunden hatte. Muhamed fragte
ihn, warum er es frei umhcrlaufen liesse. „Ich habe es dem Schutze
Allah’s übergeben“, erwiderte jener. Darauf der Prophet: „Zunächst
binde du dein Thier an, mein Sohn, und dann übergieb es dem
Schutze Allah’s“. — Wenn diese Ansicht des Propheten, welche die
Quintessenz aller sanitätspolizeilichen Bestrebungen enthält, noch heute
von seinen Gläubigen getheilt wird, dann muss es eine wahre Freude
sein, bei den Türken Medicinalbeamtcr zu sein.
Fast alle die oben erwähnten Gelegenheitsursachcn zur Verbrei¬
tung der Masern — nämlich: Umzug der Tagelöhner, Vermiethen der
Hütekinder, Confirmation, häufige Hochzeiten, Verkehr der Landlcutc
behufs Einkauf in der Stadt — treffen mit seltener Einmüthigkeit auf
einen bestimmten Termin des Jahres, nämlich zu Ostern, zu¬
sammen. Sind die Masern thatsächlich eine rein contagiöse Krank¬
heit, so muss nach dem Osterfeste eine Steigerung der Frequenz der
Masern auftreten. Ich habe die durchschnittliche Zahl der Erkran¬
kungen in den einzelnen Jahreswochen für die Jahre 1882 bis
1893 in ein Diagramm gebracht; es stellt übersichtlich dar, dass nach
der Osterzeit eine Fluthw'elle für die Masernerkrankungen beginnt,
welche in der 21. Jahreswoche, 8 Wochen nach dem allgemeinen
Umzugstermin und 6 Wochen nach der durchschnittlichen Lage des
Osterfestes, das Jahresmaximum bildet. Dass die Höhe der Curvc
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404
Dr. Caspar,
nicht 14 Tage nach Ostern liegt., was man vielleicht mit Rücksicht
auf die Incubationsdauer erwarten sollte, sondern erst 6 Wochen nach
Umzugstermin der l&iul* Osterfest, nach seiner Lage
liehen Arbeiter. Im Durchschnitt der Jahre 1882—1803.
Ostern, das lässt sich leicht erklären, wenn wir uns die Entwicke¬
lung einer Schulepidemie der Masern vor Augen halten. Zunächst
erkrankt in einer Schule ein Kind; dieses inficirt 4 oder 5 oder 6
andere, welche 14 Tage später erkranken; durch diese wird dann die
ganze Schule inficirt So kommt es, dass bei den Landschulen die
Schule sich meistens 4 Wochen nach Beginn der Ersterkrankung an
Masern leert. Beim Weitergehen der Epidemie, wobei z. B. 4 Dörfer
von dem zuerst durchseuchten Dorfe inficirt werden, liegt der Cul-
minationspunkt der Epidemie natürlich weitere 2 bis 4 Wochen später,
also 6 bis 8 Wochen nach dem eigentlichen Ausgangstermin der Epi¬
demie. Ebenso tritt in den Stadtschulen die Höhe der Epidemie ent¬
sprechend der grösseren Zahl der Klassen und der Schüler später
ein; so finden wir den Höhepunkt in Städten von 4- bis 6000 Ein¬
wohnern 8 bis 10 Wochen nach der Einschleppung; in noch grösseren
Städten schwankt dieser Termin je nach dem Befallensein bestimmter
Stadtviertel und einzelner Schulen.
Nach diesen Schilderungen ergiebt sich die Prophylaxe der
Masern fast von selbst. Wenn wir bei der Cholera dadurch, dass wir
ihre EntstehungsUrsache und die Wege ihrer Verbreitung kennen ge¬
lernt haben, zu bestimmten prophylaktischen Maassregeln gekommen
sind, auf welche wir vertrauen, da sie augenscheinlich von Erfolg ge-
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Zur Prophylaxe der Masern.
405
krönt sind, so müssen wir auch der grossen Verbreitungsfähigkeit der
Masern gegenüber unser Ohnmachtsgefühl abstreifen, namentlich wenn
wir in Betracht ziehen, dass die Infection mit Masern schwerer zu
Stande kommt, als man bei ihrer Massenverbreitung eigentlich an¬
nehmen sollte; dass die lange Incubationszeit eine verhältnissmässig
grosse Frist zum Handeln gewährt; dass die Infectionsträger die Kin¬
der sind, deren Verkehr wir im Gegensätze zu dem allgemeinen Han¬
dels- und Geschäftsverkehr beschränken können; dass der Krankheits¬
erreger der Masern eine zweifellos geringe Lebensfähigkeit ausserhalb
des Körpers und eine Dauerform augenscheinlich nicht besitzt.
Wir haben oben gesehen, dass eine Uebertragung der Masern
durch Sachen (Briefe) möglich ist. Dieses Vorkommniss gehört aber
jedenfalls zu den seltenen Ausnalunen; Tonst würde es bei dem
grossen Umfange der Masernepideraieen viel öfter beobachtet worden
sein. Deshalb wäre es auch bei dem Auftreten eines Masernfalls in
einer Ortschaft ganz verkehrt, von einer Ubiquität des Masernkeims
zu sprechen und die folgenden Erkrankungsfälle hierauf zurückführen
zu wollen; dass die Masern so selten durch dritte Personen, vielmehr
fast nur direct vom Kranken auf den Gesunden übertragen werden,
spricht schon hiergegen. Es steht auch fest, dass die Masern gar-
nicht einen so besonders hohen Grad von Contagiosität besitzen.
Denn wenn ein Kind, welches in seinem Hauptinfeefionsstadium, zur
Zeit der Prodrome, an 3 Tagen in niedrigen .Schulzimmern mit 80
bis 100 Kindern stundenlang zusammengedrängt ist, in dieser Zeit
nur 4 oder 6 andere Kinder zu inficircn vermag, so ist das offenbar
eine niedrige Zahl; es gehört die Bildung von 4 bis 6 neuen Infec-
tionsherden und es gehört der für die Infection besonders günstige
Aufenthalt in der Schule dazu, um weitere 70 bis 90 empfängliche
Kinder zu inficircn. Darum ist es auch garnicht. wahrscheinlich, dass,
was bis jetzt allgemein angenommen wird, es häufig vorkommt, dass
gesunde Kinder auf der Strasse von kranken durch Anhauchen beim
Niesen und Husten inficirt werden; die Vorbedingungen dafür sind
doch gar zu ungünstig, wie aus einem Vergleiche mit der Schul infec¬
tion erhellt.
Als Incubationszeit der Masern gilt eine Zeit von 9 bis
11 Tagen. Hieran reiht sich ein Prodromalstadium von 3 bis 4 Tagen.
Im Allgemeinen kann man 12 bis 14 Tage nach der Infection das
Exanthem erwarten. Die Ansteckungsfähigkeit beginnt mit dem Sta¬
dium prodromorum d. h. mit dein Masemschnupfcn. Es steht ganz
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L)r. Caspar,
40(i
zweifellos fest., dass die häufigste Art der Uebertragung die ist, dass
das erkrankte Kind niest, dadurcli einen feinen Sprühregen, welcher
mit den Krankheitskeimen geschwängert ist, in der Luft zerstäubt,
und dass durch Einathmen dieses Wasserstaubes in Mund und Nase
der Krankheitskeim direct auf die Nasen- und Halsschleimhaut des
bis dahin gesunden Kindes verpflanzt wird. Aehnlich liegen die Ver¬
hältnisse beim Husten, welcher den Eintritt des Exanthems noch zu
überdauern pflegt. Nicht ansteckend ist das Exanthem selber durch
Uebertragung auf gesunde Haut; nicht ansteckend sind die Schuppen
der Haut beim Abheilen des Exanthems.
Nehmen wir nun den gewöhnlichen Fall an: Ein inflcirt.es Kind
besucht die Schule; cs hustet und niest; dadurch werden 4 oder 5
oder 6 andere Kinder inficirt. Verbleiben diese bis in das Stadium
der Prodrome hinein d. h. wieder so lange in der Schule, bis sie
selber zu niesen und zu husten anfangen, dann inficiren sie den Rest
der Schüler, die Epidemie ist nicht aufzuhalten, die Schule leert sich
spontan.
Dieser Vorgang kann aber meiner Ansicht nach eingeschränkt
werden und darauf beruht der wesentlichste Vorschlag zur Prophylaxe
der Masern, den ich Ihnen heute unterbreiten möchte. Ist ein Schul¬
kind, der erste Erkrankungsfall in einer Ortschaft, an Masern er¬
krankt, so ist sofort die Schule zu schliessen; nun ist abzu¬
warten, wie viele Kinder bereits durch das ersterkrankte Kind inficirt
worden sind, und zwar wartet man nicht nur den Eintritt der Pro¬
drome ab; denn ein Masernschnupfen lässt sich natürlich nicht von
einem gewöhnlichen Schnupfen unterscheiden; sondern man lässt ruhig
das Exanthem erscheinen. Erkranken z. B. innerhalb 14 Tagen nach
dem ersten Kinde 4 oder 5 andere Kinder, so sind diese vom Schul¬
besuche zurückzuhalten, Vuid die Schule wird dann also nur von sol¬
chen Kindern besucht, welche nicht masern verdächtig, wenigstens
nicht von jenem ersten Kinde inficirt sind. Es besuchen nun also
keine Kinder mit Masernprodromen mehr die Schule; damit ist der
wichtigste lnfectionsfactor ausgeschaltet.
Bei der Bemessung des Zeitraums wird natürlich die lncubations-
zcit -f- Stadium prodromorum zu berücksichtigen sein.
Gelingt die Isolirung auf diese Weise, so kann die Ortschaft und
ihre Umgebung auf ein weiteres Jahrzehnt und noch länger wieder
vor einer Maserninvasion geschützt sein.
Gelingt diese Isolirung nicht, so ist im ungünstigsten Falle der
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Zur Prophylaxe »ler Masern.
407
versäumte Schulunterricht verloren gegangen. Das wäre insofern un¬
angenehm, als nachher, wenn die gesammte Schule erkrankt, aber¬
mals ein Schulschluss sich nothwendig macht; die Schule schliesst
sich meist von selbst; dann hält der Medicinalbeamte den Schul¬
schluss auf noch weitere 2 oder 3 Wochen oder bis zum Erlöschen
der Epidemie für zweckmässig.
Darüber kann ein Zweifel wohl nicht bestehen, dass dieser Schul¬
schluss, wenn die Hälfte oder eine noch grössere Zahl von Schülern
erkrankt ist, nicht mehr als eine prophylaktische Maassregel gegen
die Weiterverbreitung angesehen werden kann; die Epidemie geht
selbstverständlich unaufhaltsam weiter. Gleichwohl halte ich die Unter¬
brechung des Unterrichts, selbst im Anschluss an einen spontanen
Schulschluss, für völlig richtig. Es ist nicht zweckmässig, dass Kin¬
der, welche den Masernausschlag eben erst verloren haben und fieber¬
frei sind, gleich wieder die Schule besuchen; der Bronchialcatarrh be¬
steht bei vielen noch fort, namentlich die Kinder mit tuberculöscr
Anlage husten noch längere Zeit, so dass durch die Reconvalescenten
die Luft des Schulzimmers verschlechtert wird. Ferner sind die Kin¬
der leicht zu Nachkrankheiten geneigt; man muss deshalb auf den
Weg zur Schule Rücksicht nehmen, der oft eine Viertelmeile beträgt,
der ausserdem im Winter häufig schlecht passirbar ist, so dass auch
gesunde Kinder leicht Gesundheitsschädigungen erleiden können, um
wie viel mehr Reconvalescenten nach einer Ausschlagskrankheit. Drit¬
tens ist von Wichtigkeit, dass die Masern-Reconvalescenten häufig
noch an Conjunctivitis leiden; auch mit Rücksicht auf diese ist ein
frühzeitiger Wiederbeginn des Unterrichts zu verwerfen. Man findet
bei der militärischen Aushebung ganze Jahrgänge, welche Hornhaut¬
flecke haben, die von Masern herrühren. Das sind wohl hinreichende
sanitäre Gründe für einen Schulschluss bei Masern, mag er sich nun
mit den pädagogischen Forderungen decken oder nicht.
Ich finde, der Schulschluss hat auch einen gewissen erziehlichen
Werth. Gerade bei den Masern wird unserer Landbevölkerung, den
Lehrern, den Gemeindevorstehern, am ersten klar, was man unter
einer ansteckenden Krankheit zu verstehen hat. Aus den Scharlach¬
fieber- und Diphtherie-Epidemieen lernen sie es viel weniger, weil
diese weniger typisch verlaufen. Ortschaften, in denen schon einmal
wegen Masern die Schule geschlossen worden ist, sehnen sich beim
Auftreten anderer Infectionskrankheiten nach dem Eintreffen und der
Mitwirkung des Medicinalbeamten. So habe ich es z. B. auch in den
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Pr. 0ns |>ar,
Seebadeorten unseres Kreises gefunden; hier ist durch den Badever¬
kehr ein Einfluss der grossstädtischen Anschauungen über ansteckende
Krankheiten offenbar zu erkennen. Dagegen gilt sonst in Ortschaften,
welche weit von den Centren des Kreises, überhaupt ärztlicher Hülfe
und ärztlichem Rathe ferner liegen, das alte Wort, was für Russland
und den Zaren gilt: „Der Kreis ist gross und der Kreisphysikus ist
weit“.
Es Hesse sich vielleicht annchmen, dass ein Couflict mit der
Schulaufsichtsbehörde entstehen könnte, wenn der Physikus ausser
dem Schulsehlusse auf der Höhe der Epidemie noch einen prophy¬
laktischen Schulschluss fordert. Ich glaube nicht, dass ein solcher
Conflict eintretcn wird; die von den Medicinalbeamten geforderten
Masernferien sind meist überschritten worden; namentlich wenn als
Termin für den Wiederbeginn des Unterrichts „das Erlöschen der Epi¬
demie“ bezeichnet wurde, sind die Ferien ziemlich lang ausgefallen;
man könnte sie auf wenige Wochen abkürzen, selbst wenn dann noch
einige Nachzügler erkranken.
Die Schulbehörden werden auch gewiss zu dem prophylaktischen
Schulsehlusse ihre Zustimmung geben, wenn er hinreichend begrün¬
det- ist.
Die besonderen Verhältnisse, unter denen der Schulschluss Erfolg verspricht,
lassen sich am besten aus folgenden 4 Fällen erkennen:
Von Fall 1 infieirt: Fall 111; frühzeitige Infeoiion, kurze Incubationszeit,
kurze Prodromalzeit.
Von Fall II infieirt: Fall IV; späte Infection, lange Incubationszcit-, lange
Proilromalze.it.
Fall 1.
Fall 111.
Fall 11.
Fall IV.
Prodrome
Infection
24.
Februar
—
VI
Incubation
25.
V
Prodrome
—
V
V
20.
V
---
v
?*
27.
,,
Infection
Exanthem
..
28.
v
Exanthem
Incubation
V
1.
2.
März
V
V
V
3.
V
•-
Prodrome
4.
IS
V
V
V
Exanthem
5.
0.
7.
Q
V
V
V
V
—
O.
9.
10.
11
V
V
SS
Prodrome
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Pall I.
Zur Prophylaxe der Masern.
Fall IV.
Prodrome
401)
Fall III.
11. März
12 . „
Fd. „
14. „
Fall II.
Exanthem
Es sind mithin durchaus günstige Erfolge zu erwarten von einem prophy¬
laktischen Schulschlusse am 1., 2. und 3. Tage nach dem Ausbruche des Exan¬
thems der Ersterkrankung; noch recht günstig werden sie am 4., 5. und 6. Tage
sein, weil ein Fall, wie er als Fall III dargestellt ist, wohl zu den grössten Aus¬
nahmen gehört. Unsicher werden sie am 7. und 8. Tage, ganz unsicher am
9. Tage; dafür hat ein Schulschluss am 9. Tage nach dem Exanthem der Erst¬
erkrankung auch wieder den Vortheil, dass er nur 6 Tage zu dauern braucht.
Aus dieser Uebersicht ergiebt sich demnach ohne Weiteres, wie ein prophylakti¬
scher Schulschluss den Behörden gegenüber zu begründen wäre.
Zu den Vorbedingungen für sein Gelingen gehört ferner, dass
durch Hin- und Herfragen auf dem Instanzenwege keine Zeit verloren
wird, sondern die Ersterkrankung direct dem Medicinalbeamten zu
melden ist. Auch dieser wird von schriftlichen Verfügungen einen
Erfolg sich nicht versprechen dürfen; es bedarf vielmehr seines nach¬
drücklichen persönlichen Eingreifens und eingehender sachgemässcr
Erwägung von Zeit, Ort und Umständen, — eine Aufgabe, welcher
der praktische Arzt sich nur ungern unterziehen wird.
Ich übergehe die sonstigen Maassregeln zur Bekämpfung der Epi-
demieen, die sich auf die Schaustellungen von Leichen, die Leiehen-
feicrlichkeiten, die Desinfection von Schulzimmern, die Anzeigepflicht
u. s. w. beziehen, selbstverständlich ohne mich irgendwie dagegen ab¬
lehnend zu verhalten. Sie werden verschärft zu handhaben sein und
verschiedenen Modificationen unterworfen werden müssen, wenn in
einem von einer Masemepidemie bedrohten Orte Diphtherie, Lungen¬
entzündung oder Keuchhusten epidemisch herrschen.
Bei der Betrachtung der Ucbertragung der Masern drängt sich
unwillkürlich ein Gedanke auf, den ich doch nicht unausgesprochen
lassen möchte. Sind nämlich die feinen Wasserstaubtheilchcn, welche
beim Niesen und Husten in der Luft dispergirt werden, die Träger
der Krankheitskeimc und findet durch sie die Infection statt, so ist
der Versuch gerechtfertigt, diese Athmungsluft zu assaniren. In erster
Linie ist hierbei vielleicht an das Formalin zu denken, das in aus¬
reichender Verdünnung wohl kaum noch giftige Wirkungen entfalten
wird; vielleicht auch an einen Lysolspray, an Essigdämpfc oder an
irgendwelche sonstige Räucherungen, die ja jetzt freilich als meisten-
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410
I>r. Caspar,
theils zwecklos verlassen sind, aber gerade unter den besonderen Ver¬
hältnissen, unter denen die Maserninfeetion zu Stande kommt, doch
von Erfolg sein könnten, wenn sie rationell angewendet werden. Da
der Masernbacillus, falls es einen solchen überhaupt giebt, in der
Wahl seiner Nährböden jedenfalls sehr vorsichtig gewesen ist, da es
bis jetzt nicht gelungen ist, ihn künstlich zu-züchten, so genügt viel¬
leicht schon eine durch Räucherungen mässig alterirte Beschaffenheit
der Athmungsluft oder des Nasensecrets, um seine Weiterentwickelung
zu hemmen.
Schliesslich möge noch die Frage gestellt werden: Was erreichen
wir, wenn wir in einer Ortschaft eine Epidemie verhüten? Ein Blick
auf die Karte des Greifenberger Kreises beweist uns, dass die Epi¬
demie im Jahre 1887, welche die Nordhälfte des Kreises durchzog,
hätte verhütet werden können, wenn es gelungen wäre, in Zirkwitz
die Epidemie zu unterdrücken. Man kann auch nicht sagen, dass
diese Ortschaften nach wenigen Jahren doch zweifellos einer Masern¬
epidemie anheimgefallen wären.
In unserem Regierungsbezirke sind in den 12 Jahren 1882—1893 noch recht
viele Orte von den Masern verschont geblieben. Auch haben die Akten keinen
Anhalt dafür ergeben, dass, je länger Ortschaften von den Masern verschont blei¬
ben, die Masern in ihnen dann um so schwerer auftreten.
Andererseits können sich die Masernepidemien schon innerhalb dieser Frist
wiederholen; es wurden in dieser Zeit zweimal durchseucht
Boeck, Kreis Randow .... nach 10 Jahren
Claushagen, Kreis Regenwalde . . 9 ,,
Wudarge, Kreis Saatzig.'9 „
Stadt Greifenberg.
Crien, Kreis Anklam. „ 7 ,.
Reckow, Kreis Regenwalde ...
Ilackenwalde, Kreis Naugard . . <! „
Nassenheide, Kreis Randow ... ,. 0 „
Mewegen, Kreis Randow.... ,, (• „
Stadt Regenwalde. „ <> „
Ducherow, Kreis Anklam ... „ ä ,,
Gross-Zapplin, Kreis Greifenberg . ,, ö „
Büddenbrock, Kreis Greifenhagen . ,. 3 ,,
Stadt Treptow. „ 3 „
Wegezin, Kreis Anklam .... „ 2 „
Die letzte Masernepidomie in Treptow wich allerdings von der vor 3 Jahren
voraufgegangenen insofern ab, als vorwiegend nur die jüngsten Altersstufen er¬
krankten ; es fehlten in der Kleinkinderschule die Hälfte der Schüler, in den unte¬
ren Klassen der Stadtschule nur wenige, in der Mädchenschule vereinzelte und im
(iynmnsium gar keiner.
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Zur Prophylaxe Her Masern.
411
Die Epidemie in Wegezin ist aber besonders dadurch interessant, dass der
Schulunterricht vom 27. März bis 1. Mai 1891 und vom 17. Januar bis 4. Februar
1893 wegen Masern unterbrochen wurde. Mithin ist es ein schwacher Trost, sogar
ein offenbarer Irrthum, dass eine Ortschaft nach einer Epidemie wieder auf ein
Jahrzehnt gegen Masern durch Immunität geschützt sei.
Von einem hochgeschätzten Collegen wurde mir neulich über einen Herrn
berichtet, welcher die Masern 4 Mal überstanden hatte, zuletzt in seinem 70. Le¬
bensjahre — und da am schwersten.
Fort deshalb mit dem alten Aberglauben, dass wir den Kindern eine Wohl-
that erweisen, wenn wir sie absichtlich mit Masern infieiren! Für die Gefahr, der
wir sie aussetzen, bieten wir ihnen gar keinen Entgelt. Vielmehr sprechen auch
alle diese Verhältnisse für die Nothwendigkeit einer Prophylaxe. Denn es giebl
kein Naturgesetz, nach welchem die Masern nach 7 oder nach 14 oder nach
50 Jahren wiederkommen müssten. Die Masern sind eine vermeidbare Krank¬
heit. Alle beobachteten Epidernieen sind nicht wie ein von oben auf eine Ort¬
schaft fallender Hauch oder wie ein aus dem Erdreich aufsteigender Brodem auf¬
getreten, sondern sie sind sämmtlich von einer oder 2 Einzelerkrankungen ausge¬
gangen, deren Auftreten, wie wir oben gesehen haben, ganz und gar von einem
Zufalle abhängig ist. Diese Einzelerkrankungen lassen sich theils vermeiden,
theils lassen sie sich durch eine geeignete Prophylaxe unschädlich machen. Mit¬
hin fällt die Annahme einer nothwendigen periodischen Wiederkehr der Masern-
epidemieen in sich zusammen.
Ich resumire:
I. Beobachtungen.
1. In dem Regierungsbezirk Stettin sind in den 12 Jahren 1882
bis 1893 36 990 Erkrankungen an Masern mit 1090 Todesfällen (ea.
3 pCt.) gemeldet worden.
2. Der Proccntsatz der Todesfälle schwankte in den einzelnen
Jahren zwischen 1,2 und 7,1; in der Epidemie einer Ortschaft stieg
er auf 40 pCt.
3. Gutartige Maserncpidemieen verändern oft unvorhergesehen
ihren Charakter.
4. Die Masern sind eine eontagiöse Krankheit und folgen als
solche bestimmten Verkehrsstrassen.
5. Die Osterzeit, welche durch die Einkäufe der Landleutc in
den Städten, durch den Umzugstermin der Tagelöhner, durch die Con-
firmation, durch häufige Hochzeiten, durch das Vermiethen der Hüte¬
kinder den Verkehr begünstigt, hat eine Steigerung der Masemfrc-
quenz zur Folge.
Vierteljahrspclir. f. gor. Mo<l. Dritte Fol^o. IX. ^>7
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I>r. C a spar,
6. Von der Höhe der Epidemie in einem Dorfe bis zur Höhe
der Epidemie in einem Nachbardorfe pflegen 4 Wochen zu vergehen;
in den Städten tritt der Höhepunkt später ein.
7. In einer Schule treten die Masern in 3 Etappen auf:
orste Etappe: Ersterkrankung;
zweite Etappe: nach 14 Tagen Erkrankung von etwa 4
bis 6, von der Ersterkrankung inficirten Kindern;
dritte Etappe: nach weiteren 14 Tagen Erkrankung sämmt-
licher oder fast sämmtlicher Schulkinder.
8. Die Uebertragung der Masern findet von Person zu Person
statt und zwar besonders im Prodromalstadium durch Einathmung
der Luft, welche durch Niesen und Husten mit dem Krankheitser¬
reger geschwängert ist.
9. Die Ansteckung kann auch durch den Postverkehr (Briefe)
vermittelt werden.
10. In den einzelnen Ortschaften können sich Masernepidemieen
wiederholen nach 6, 5, 3, ja nach 2 Jahren.
II. Vorschläge.
1. Die absichtliche Infection gesunder Kinder mit Masern ist
durchaus zu verwerfen.
2. Eine geordnete Prophylaxe der Masern ist anzustreben.
3. Der Verkehr der Kinder aus inficirten mit nicht inficirten
Ortschaften ist zu beschränken, besonders ist gemeinsamer Schul-
und Confirmanden-Unterricht, sowie das Verziehen der Hütekinder zu
untersagen.
4. Beim Umzuge der Tagelöhner sind Familien, in denen sich
masemkranke Kinder oder Reconvalescenten nach Masern befinden,
dem neuen Ortsvorsteher als solche zu melden.
5. In Dörfern, denen die Gefahr einer Maserinvasion droht, hat
für die Dauer dieser Gefahr der Postverkehr nicht durch den Lehrer
und nicht im Schulhause stattzufinden.
6. Nach der Ersterkrankung an Masern ist die Schule prophy¬
laktisch zu schliessen, bis sich herausstellt, wie viele Kinder von der
Ersterkrankung inficirt sind; dann sind diese von der Schule zurück¬
zuhalten, so dass nun keine masernverdächtigen Kinder mehr die
Schule besuchen.
7. Gelingt das Beschränken der Epidemie durch den prophy-
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41H
Zur Pmphylaxf' ilor Masrrn.
taktischen Schulschluss nicht, so ist auf der Höhe der Epidemie aber¬
mals ein Schulschluss anzuordnen mit Rücksicht auf die Reconva-
lescenz und die Nachkrankheiten der Kinder.
8. Zum Gelingen eines prophylaktischen Schulschlusses ist eine
Meldung der Ersterkrankung, sowie sofortiges persönliches Eingreifen
des Medicinalbeamten erforderlich.
9. Die sonstigen Maassregeln zur Verhütung einer Weiterver¬
breitung der Masern, wie: allgemeine Anzeigepllicht, Desinfcction des
Schulzimmers, Verbot von Schaustellung der Leichen und Leichen¬
schmaus u. s. w. sind auch ferner sorgfältig zu beachten.
10. Es sind Versuche über die Assanirung der Ausathmungsiuft
Masernkranker anzustellen.
Wenn auch hiermit noch keine Prophylaxe der Masern geschahen
ist, so glaube ich doch, dass diese Betrachtungen als ein Beitrag zur
Prophylaxe der Masern und zur Klärung der Anschauungen über unsere
Masemepidemieen von einigem Werthe sein werden.
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27 *
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HI. Kleinere Mittheilungen, Referate,
Literatumotizen.
a) Sammelwerke; Statistisches; Sanitätsberichte.
Dr. Th. Weyl, Handbuch der Hygiene. .Jena, Gustav Fischer, 1894—95.
Als neue Lieferungen des Weyl’schen Handbuches der Hygiene, über dessen
umsichtige Disposition und vorzügliche Ausführung wir unseren Lesern bereits zu
berichten Gelegenheit hatten, sind 3 neue Lieferungen erschienen und zwar aus
der Feder des Herausgebers selbst die Lieferung 11: Weyl, Die Gebrauchs¬
gegenstände im Anschluss an die Gesetzgebung des Deutschen Reiches und an
die der übrigen Culturstaaten. Demnächst haben die Herren E. Roth (Oppeln)
und Max Kraft (Graz) in Lieferung 12 die Allgemeine Gewerbehygiene und
Fabrikgesetzgebung bearbeitet. Den Text dieser Lieferung 12 illustriren nicht
weniger als 117 vorzüglich ausgewählte Abbildungen. Aehnlich reich ausgestattet
ist die 13. Lieferung: F. W. Bvising und R. Blasius, Die Städtereinigung
mit 97 Illustrationen: eingetheilt in: Einleitung, Abfuhrsysteme, Canalisation.
(Noch während des Druckes sind die Lieferungen 14 und 15 „Allgemeiner
Theil w der „Bau- und Wohnungs-Hygiene“ [Oldendorff, Albrecht,
Weber, Rosenboom] und „Elektrische Licht-und Kraftanlagen 44 zur
Ausgabe gelangt, deren eingehende Besprechung im nächsten Heft folgen wird.)
Wer irgend unter dem mit praktischer Hygiene befassten Lesepublikum auf
Vollständigkeit bei seinen Informationen Gewicht legen muss, wird im „Handbuch
der Hygiene 44 alle seine Ansprüche befriedigt und sich veranlasst sehen, dasselbe
mit Ueberzeugung und Wärme weiter zu empfehlen.
H. Albrecht, Handbuch der praktischen Gewerbehygiene mit beson¬
derer Berücksichtigung der Unfallverhütung. Mit mehreren hundert
Figuren. Berlin, R. Oppenheim 1894, S. 369—560.
In der Mitte Deocmberl894 ausgegebenen dritt en Lieferung des Al brecht-
scheu Handbuches fährt zunächst Regierungsrath Prof. Hartmann in seiner Dar-
bv Google
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Kleinere Mittlmilungen, Referate, Literaturnotizen.
415
Stellung der „Heizung und Lüftung der Arbeitsräume“ fort. Es folgt (im V. Ab¬
schnitt) der Herausgeber mit einer Arbeit betreffend die „Verhütung der Einath-
mung von Staub“, die man mit Recht als eine Monographie über diesen Gegen¬
stand bezeichnen darf, da sie den Quellen der Stauberzeugung in einer bis jetzt
kaum erreichten Vollständigkeit nachzugehen bestrebt ist. Um nicht über der Zahl
solcher Quellen die Übersichtlichkeit zu verlieren, sind nicht die einzelnen Be¬
triebsarten, sondern die Mechanik derselben (Transport, Verpacken, Sortiren, Rei¬
nigen, Mechanische Zerkleinerung, Sieben, Mischen etc. der Materialien) zu Ein-
theilungspunkten gewählt. Zahlreiche Abbildungen sind der Verdeutlichung, be¬
sonders auch der Abhülfevorrichtungen gewidmet. Als Anhang hat Albrecht
die Staubexplosionen abgehandelt.
Aus seiner Feder schliessen sich dann an: Abschnitt VI: „Die zur Fabrik
gehörigen Nebenanlagen“, speciell Aborte und Umkleideräume; Abschnitt VII:
„Persönliche Ausrüstung des Arbeiters“, speciell Arbeitskleidung, Schutz-Brillen
und -Masken, Respiratoren.
Hierauf beginnt in dieser Lieferung der HI. Theil (Hauptabschnitt), dessen
Anfang E. Claussen macht mit dem (VIII.) Abschnitt „Kessel und Motor“. Den
Rest der Lieferung nimmt der IX. Abschnitt „Wellenleitungsanlagen und deren
Theile“ von R. Platz in Anspruch. Auch diese Lieferung bringt den Beweis von
der Güte und Vollständigkeit dieses Handbuchs.
Fünfundzwanzigster Jahresbericht des Landes-Medicinalcollegiums
über das Medicinalwesen im Königreich Sachsen auf das Jahr
1893. Leipzig. Verlag von F. C. W. Vogel. 1894.
Der von Rudolf Günther erstattete Jahresbericht behandelt das öffentliche
Gesundheitswesen Sachsens in drei Abschnitten: Die ärztlichen und pharmaeeu-
tischen Organe der Medicinalverwaltung, die öffentlichen Gesundheitszustände
und die öffentliche Gesundheitspflege, endlich das Heilpersonal und die Heil¬
anstalten.
Von diesen Abschnitten dürfte insbesondere der zweite geeignet sein, über
die Grenzen des Landes hinaus Interesse zu erwecken.
Der Gesundheitszustand des Landes war im Allgemeinen im Berichtsjahre
kein ungünstiger. Einer Geburtenziffer von 41,57 steht eine Sterbeziffer von 26,89
gegenüber, welche in 8 von den 29 Städten mit mehr als 8000 Einwohnern unter
22,5 hinabging, in Hainichen beispielsweise nur 16,6 betrug. An den Todesfällen
war das erste Lebensjahr mit 43 pCt., das Greisenalter von mehr als 70 Jahren
init 10,9 pCt. betheiligt, auf die Lebensjahre 15—70 entfielen 28 pCt. der Todes¬
fälle. Absolut und relativ vermehrt waren die Todesfälle der 2—6 Lebensjahre
durch epidemische Kinderkrankheiten, insbesondere Masern und Scharlach. Für
die im ersten Lebensjahre stehenden Kinder war die Sterblichkeit eine günstigere
als in den Vorjahren: Es starben von den Lebendgeborenen 28,6 pCt. und zwar
im Regierungsbezirk Bautzen 24,0pCt., in Dresden 25,4pCt., in Leipzig 26,7pCt.,
in Zwickau 32,9 pCt. (Nach Silbergleit’s Vortrag im Verein für öffentliches
Gesundheitswesen im December 1894 in Berlin ist die Kindersterblichkeit in den
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41 fi Kleinem Mittlioilunfton, RoOrate, IJtoralumoiizen.
(irossstäüten Sachsens eine hohe und betrug p. a. 1891/93 in Dresden 21,2 pCL,
in Leipzig 24,4 pCt., in Chemnitz 35,4 pCt. bei einem für 200 grössere Städte
Deutschlands berechneten Mittel von 23,7 pCt. Die Höhe der Kindersterblichkeit
in Chemnitz wird auf dem Festlande nur noch von der in Moskau übertroffen.
Referent.)
Die Berechnungen über den Anthcil der Infektionskrankheiten an den Todes¬
ursachen können als ziemlich zuverlässige angesehen werden, da 53,8 pCt. aller
Todtenscheine ärztlich beglaubigt wurden. Von den Todesfällen wurden 8 pCt.
durch Lungentuberculose (25,4 pM. der Lebenden), 4 pCt. durch Diphtherie
(10,4 pM.), 1,4 pCt. durch Keuchhusten (4 pM.), 1,2 pCt. durch Scharlach
(2,4 pM.), 2 pCt. durch Masern (4,8 pM.), 0,27 pCt. durch Unterleibstyphus
(0,7 pM.), 5 pCt. durch Lungenentzündung (13,4 pM.) und 3,2 pGt. durch Neu¬
bildungen (9,8 pM.) herbeigefiihri.
Kino sehr genaue Statistik liefert der Bericht endlich über die Todesfälle im
Wochenbett. Danach starben im Berichtsjahre von 131293 Gebärenden 1014 im
Wochenbett und zwar 097 an Wochenbettskrankheiten, wovon 349 an Kindbett¬
fieber, 120 an Blutverlusten, 13 an inneren Zerrcissungen, 76 an Eklampsie, 10
an Nierenentzündung und Urämie, 2 an Starrkrampf, 61 an Erschöpfung. In
33 pCt. der Fälle von Kindbettfieber war die Geburt durch ärztliche Operationen
beendet worden, in 10 pCt. der Fälle durch Zange. Nur in 20 Fällen Hess sich
eine Weiterverbreitung des Kindbettfiebers durch die Hebamme vermuthen. Die
höchste Zahl der in der Praxis einer Hebamme constatirten Fälle von Kindbett¬
fieber betrug 4 und wurde 4 mal festgestellt.
Erheblichere Fortschritte verzeichnet der Bericht in der Hygiene der Ort¬
schaften, der gewerblichen Anlagen und der Schulen.
Fast in allen Bezirken wurden Erhebungen über den Zustand der Abort¬
gruben angestellt, in vielen wurde die Forderung der Undurchlässigkeit der Gru¬
benwandungen für alle Häuser durchgesetzt und periodische Revisionen unter Lei¬
tung der Bezirksärzte controlirten vielfach das Abfuhrwesen in den Städten und
selbst auf dem Lande. Von dem Stadtbezirksarzte in Dresden und seinen Assi¬
stenten wurden zur Entscheidung der Frage, inwieweit es zulässig sei, tief ge¬
legene Gegenden der Stadt mit Schutt und Asche auszufüllen und aufgeschütteten
Boden zu bebauen, zahlreiche chemische und bakteriologische Untersuchungen
von Proben eines Bodens angestellt, der während der letzten Jahre aufgeschüttet
war. Nicht immer waren die ältesten Schichten am vollständigsten mineralisirt.
Ueberall aber war der Gehalt an organischer Substanz erheblich grösser als im
gewachsenen Boden und „Impfversuche mit Reinculturen der Bodenbakterien führ¬
ten wiederholt zum Tode der Vorsuchsthiere“. Erwähnenswerth ist die Erstickung
eines l^jälirigen Mädchens in Oetsch durch Grubengase. Das Mädchen hatte von
den drei hintereinander liegenden Abtritten des Erdgeschosses den mittleren etwa
eine halbe Stunde, nachdem die allen Abtritten gemeinschaftliche Grube geleert
war, aufgesucht und wurde alsbald todt im Abtritt aufgefunden. — Die seit drei
Jahren in Dresden stattfindende systematische Untersuchung des Elbwassers wurde
im Juli durch eino Expedition erheblich gefordert, welche bei 24° C. Wasser¬
wärme und einem sehr tiefen Stande der Elbe an sechs verschiedenen Stellen des
Stromes Proben entnahm, deren Untersuchung ein so günstiges Resultat ergab,
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Kleinere Müllieihmmm, RelVrale. Lileraturnotizen.
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dass die Einleitung sämmtlicher Selimutzstoffe der Stadt in die Elbe nicht zu den
mindesten Bedenken Anlass bot.
Aus dem Kapitel: Hygiene der Schulen verdient die neue Instruction für
die Schulärzte der Stadt Dresden Beachtung. Die Schulärzte sind dem Bezirksarzt
unterstellt, dem sie über ihre Beobachtungen am Schlüsse jedes Jahres Bericht zu
erstatten und an den sie, von dringenden Fällen abgesehen, ihre Wünsche und
Beschwerden zu richten haben. Ihr Wirkungskreis erstreckt sich nach den Vor¬
schriften des Volksschulgesetzes vom 26. April 1873 auf die Ueberwachung der
Schulgrundstücke und Gebäude und den Gesundheitszustand der Schulkinder. Sie
haben in jedem Monat mindestens einmal jede Schule zu besichtigen und an den
zum Zwecke der Aufstellung des Etats stattfindenden Begehungen des Schulgrund¬
stückes theilzunehmen. Neueintretende Zöglinge werden regelmässig darauf hin
geprüft, ob ihr Gesundheitszustand eine besondere Berücksichtigung beim Unter¬
richt erfordert in der Beschränkung der Unterrichtsstunden, Anweisung eines be¬
sonderen Platzes. Ausserordentliche Untersuchungen von Schulkindern können
vom Director der Anstalt verfügt werden, wenn Schüler ganz oder theihveise vom
Unterricht dispensirt sein wollen oder an ansteckenden Krankheiten leiden.
In Leipzig, wo regelmässige Confercnzen der Schulärzte stattfinden, ist das
Verhalten der Schulärzte boi der Mitwirkung zur Verhütung der Verbreitung an¬
steckender Krankheiten in den Schulen dahin geregelt, dass beim Wegbleiben von
Schulkindern wegen Krankheiten die Eltern gehalten sind, spätestens nach drei
Tagen die Natur der Krankheit anzugeben. Ist die Krankheit eine ansteckende,
so benachrichtigt der Klassenarzt den Director und dieser den Schularzt auf einem
vorgeschriebenen Meldeformular. Nur wenn die Anzeige der Eltern nicht ärztlich
beglaubigt ist, wird das erkrankte Kind vom Schularzt besucht. In dieser Weise
gelangten 1264 Fälle von ansteckender Krankheit zur Anzeige und Elimination.
Der sehr lesenswerthe Bericht liefert auch in den übrigen Abschnitten, auf
welche nicht eingegangen werden kann, den Beweis, dass in Sachsen auf den Ge¬
bieten der Gesundheitspflege und der Medicmalvcrwaltung ein reges Leben
herrscht. Springfeld - Berl i n.
Jahresbericht des chemischen Untersuchungsamtes der Stadt Bres¬
lau für die Zeit vom 1. April 1893 bis 31. März 1894. Breslau.
Ausser den rein auf die internen Verhältnisse (Wechsel des Personals etc.)
bezüglichen Angaben bringt der obengenannte Jahresbericht allgemein inter¬
essante Daten. Im Aufträge des Breslauer Magistrats fanden 844 Untersuchungen
statt (399 Wasser, — 280 Leuchtgas, — 50 Milch, — 43 Brot). Gerichte nnd zu¬
gehörige Behörden Hessen 171 mal untersuchen (53 Wasser, — 29 Leichentheile);
Private 122mal (Wasser, Butter); die Polizeibehörde endlich 1108mal: 735 Nah¬
rungsmittel, — 318 Gebrauchsgegenstande, — 55 Reclamemittel etc. Beanstandet
wurden hierunter 102 Nahrungsmittel, 70 Gebrauchsgegenstände, 23 Reclame¬
mittel. Auf der durch das Polizeikostengesetz herbeigeführten vorübergehenden
Zurückhaltung der Polizeibehörde in ihren Aufträgen beruhte der Rückgang um
2245 Untersuchungen, der aber bereits überwunden sein dürfte.
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Kleinere Mittheilungen, Referate, Literaturnotizen.
Tvventy-fifth Annual Report oft the State Board of healtli of Massa¬
chusetts. Boston 1894. 812 Seiten.
Wie anlässlich früherer Zustellungen der umfänglichen amerikanischen Ge¬
sundheitsberichte nehmen wir auch von dem über 1893/94 handelnden Bericht
über das Sanitätswesen des Staates Massachusetts hiermit Notiz. In beispielge¬
bender Weise werden alle Details der Wasserversorgungs- und Entwässerungs-
Frage abgehandelt (624 engbedruckte Seiten!). Die Wochenstatistik aller Lebens¬
ausgänge in Haupt- und Mittelstädten, die Einzelberichte über die Infections-
krankheiten bilden weitere Kapitel, — Nahrungs- und Arzneimittel-Aufsicht,
allgemeine städtische Gesundheitsverhältnisse schliessen sich an.
Auf den in diesem Sammelwerk veröffentlichten Aufsatz S. W. Abbott’s
über „Isolirspitäler für ansteckende Kranke“ etwas ausführlicher einzugehen, bot
sich bereits im vorigen Hefte unserer Vierteljahrsschrift Gelegenheit (s. S. 193).
Dr. L. Becker und Dr. A. Aerztliche Sachverständigen-Zei-
tung. Berlin, Schötz.
Das neue Organ greift frisch in’s Leben hinein und scheint sich auch vor
einem gelegentlichen Anpacken der Nesseln nicht scheuen zu wollen, wie sie ja
nur allzu üppig auf seinem Specialgebiet aufwuchern. Belehrendes wird reichlich
geboten, und auch die Disposition der bis jetzt herausgekommenen 5 Hefte darf
wohl eine rocht glückliche genannt werden. — Wir worden dem Inhalt der Sach-
verständigen-Zeitung mit Aufmerksamkeit folgen und ihre tüchtigen Bestrebungen
gern unseren Lesern gegenwärtig halten.
b) Forensisches; Oriminalpsychologie.
Dr. Narkufeld und Dr. SteinktM, Todesursachen und Organvcrände-
rungen nach Verbrühungen. Centralblatt für allgemeine Pathologie. 1895.
No. 1.
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit den nach Verbrühung auftreten¬
den Organveränderungen, soweit solche unmittelbar den Tod zur Folge haben.
Als Versuchsthiere dienten Kaninchen, welchen nach der Methode von
Klebs die Ohren allmälig überhitzt wurden.
Bei circa 50° C. erscheinen im Blute Kügelchen von der Farbe der rotlien
Blutzellen, indess vier- bis fünfmal kleiner als diese. Sie entstehen durch Ab¬
trennung von kugeligen Fortsätzen der rothen Blutzellen. Zwischen 50° und
56 bis 66° — bei dieser Temperatur gehen die Thiere zu Grunde — wächst die
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Kleinere Mittheilungen, Referate, Literaturnotizen.
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Zahl der Kügelchen, gleichzeitig erscheinen Mikro- and Poikilocyten and die
rothen Blutzellen fangen an, in zahlreiche Bruchstücke zu zerfallen. Diese Pro-
ducte bedingen im Verein mit Blutplättchen Thromben in zahlreichen Arterien
und Venen der Nieren, der Leber, der Lungen, des Herzens und des Gehirns und
Rückenmarkes, ohne dass erkennbare Veränderungen der Gefässwände Auftreten.
Nur im Hirn- und Rückenmark sind hier und da kleinste Blutextravasate und in
den Nieren Blutcylindcr nachzuweisen.
Wurde die Temperatur des Wassers auf 70 bis 75° erhöht, und zuvor die
Hauptäste der Ohrgefässe unterbunden, so gingen die Thierc nicht zu Grunde,
die Blutveränderungen traten sehr spät, Thrombosen äusserst selten ein.
Mithin war der Tod in den ersten Versuchsreihen die Folge der durch Hitze
bedingten Veränderungen des Blutes der Ohren. Platten (Düsseldorf).
Dr. t. Siry, Professor der gerichtlichen Medicin an der Universität Basel, Das
anthropometrische Signalement von Alphons Bortillon (Chef du
Service de l’Identitc Judiciaire ä la Präfecture de Police ä Paris). Zweite ver¬
mehrte Auflage mit einem Album. Autorisirte deutsche Ausgabe, Leipzig und
Bern, Siebert 1895. 234 Seiten Text und zahlreiche Figuren.
Nicht nur für Verbrecher ist die Bertillonage geschaffen worden, sondern sie
wird auch noch vielen anderen Zwecken dienen können, so zur Identificirung oder
Nichtidentificirung von fälschlich Angeklagten resp. Verhafteten an fremden Orten,
zur Sicherung der Familien oder Behörden bei auswärtigen Erbansprüchen, Er¬
kennung von unbekannten Verstorbenen, Verunglückten, Mördern, Selbstmör¬
dern u. s. w.
Wenn einmal Untersuchungsstationen geschaffen sind, welche die Signale¬
mente an eine Centralstelle einsenden, wird manche grosse Schwierigkeit im.
socialen Verkehr gehoben werden können. Bei der Trefflichkeit und der absoluten
Sicherheit des Systems wird diese Institution nur eine Frage der Zeit sein.
Die Fortführung des Werkes ist bedingt durch eine genügende Anzahl von
Subscriptionen. Der Verlag wendet sich daher an die gesammten Polizeibehörden,
Untersuchungsrichter, Staatsanwaltschaften, kurz an alle Sicherheitsbehörden in
den Ländern deutscher Zunge mit der Bitte, dem Lehrbuche, das für den socialen
Verkehr, wie für die Sicherheit der Staaten gleich bedeutungsvoll ist, thatkräftige
Förderung zu Theil werden zu lassen, — ein Ansuchen, welches der Beistimmung
und Unterstützung aller Betheiligten sicher sein dürfte.
Dr. Mm Kl*« (Breslau), Inwieweit ist der Arzt für Todesfälle in der
Narcose verantwortlich? Separatabdruck aus dem Hamburger Aerztlichen
Central-Anzeiger. 1894. No. 48 u. 49.
Von der Ansicht ausgehend, dass bei einem nicht geringen Theil ärztlicher
Interessenten noch eine bedenkliche Unkenntniss über die Verantwortlichkeit
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Kleinere Milllieilinmvn, Keforaie, Literaturnotizen.
herrscht, welche die Narcose bedingt, hat K. die sich hieran knöpfenden Fragen
für das Bediirfniss des praktischen Arztes gestellt und beantwortet. Eine Bestra¬
fung wegen Todesfalles während der Narcose kann nach des Vf.’s Ansicht den
Arzt nur treffen, wenn „bewiesen ist, 1) dass der Tod wirklich durch das Narko-
ticum veranlasst ist, — 2 ) dass eine Fahrlässigkeit vorliegt, — 3) dass gerade
durch diese Fahrlässigkeit der Tod eingetreten ist“.
Prof. Dr. rned. et ehir. H; Schüller in Berlin, lieber Temperaturdifferenzen
beider Körperhälften in Folge von bestimmten Verletzungen des
Gehirns. Separatabdruck aus dem Wiener ärztlichen Central-Anzeiger. 1894.
No. 32 u. 33.
Zu seinem bereits im Jahre 1876 mitgeiheilten Falle, der am Menschen zu¬
erst die überschriftlich erwähnte pathologische Erscheinung demonstrirte, theilt
Sch. neuerdings den Fall eines durch eine Axt am Kopfe verletzten Maurers mit.
Es hinterblieb auf dem linken Scheitelbeine eine 4 cm lange Narbe und eine Reihe
von Beschwerden, die von verschiedenen Aerzten für simulirt erklärt wurden. Erst
die um mehrere Deeigrade höhere Temperatur der rechten (der Verletzung ent¬
gegengesetzten) Körperhälfte, welche niemals simulirt werden kann, führte auf
den richtigen Sachverhalt.
Einen Selbstmord aus seist seltener Art beschreibt Dr. Karl Aczel,
Operateur und Inspectionsarzt der freiwilligen Rettungsgesellschaft in Budapest.
Denselben vollführte eine 30—40jährige Frau, die ob Verlustes ihres einzigen
Kindes in tiefe Melancholie verfallen war. Sie schnitt sich mit einem gewöhnlichen
Tischmesser den Hals breit durch und exstirpirte sich dann förmlich mit¬
telst wiederholt geführter Schnitte den ganzen Kehlkopf; derselbe lag, als
man die Frau auffand, neben ihr in der Blutlache. Die Blutung war selbstver¬
ständlich eine sehr starke, doch waren die grossen Halsgefässe nicht verletzt. Die
Frau lebte nach vollführter That noch 6— 7 Stunden. (Gyögyäszat 1894. No. 50.
[Autoreferat.])
Professor W. f Flyer* Doctor der Medicin und Philosophie, Ein merkwürdiger
Fall von Fascination. Stuttgart, Enke 1895. 55 S.
„Eine junge reiche, nicht geisteskranke Frau, die ihren Gatten und Sohn
über alles liebt, wird durch den mehrmals effectvoll wiederholten fascinirenden
Blick, dann durch Streicheln der Hand u. a. m. einem Freunde des Ehemannes,
der selbst verheirathet ist, unterthan, so dass sie ihm gegenüber willenlos ist, wie
seine eigene Gattin, bis an die Grenze, wo der physische Ehebruch beginnt. —
Dieses durch seine Leichtgläubigkeit unglückliche Wesen musste buchstäblich
nach der Pfeife des Frauenbezwingers sich bewegen; denn er kam Monate lang
jeden Abeud flötend an ihrem Hause vorüber und die gepfiffenen Melodien hatten
von ihm schriftlich bestimmte Bedeutungen. Eine besagte, er müsse sie in einer
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Klefnoro Mi(Ilieilnniron, Referate, Litcniturnntizen.
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wichtigen Angelegenheit sprechen, eine andere, sie solle um 9 Uhr da oder dort
sein, eine dritte, sie solle ihrem geliebten Mann sagen, dass sie ihn hasse, eine
vierte, sie dürfe nur an ihn (den Unwiderstehlichen) denken. Und sie, zuerst
diesen Befehlen widerstrebend, leistete ihnen doch gegen ihr besseres Wissen
Folge. Sie verhielt sich nach seinen Anordnungen wie eine Marionette. Sie
„konnte nicht anders“. — Im Sommer 1888 unternahm sie mit ihrem Manne eine
Vergnügungsreise. Vor der Abfahrt hatte sie dem „Freunde“, der ebenfalls mit
seiner Frau verreisen wollte, versprechen müssen, an einem bestimmten Tage früh
gegen 6 Uhr nach Ankunft des Zuges in einer süddeutschen Stadt am Gasthofs¬
fenster zu stehen, um ihn vorbeifahren zu sehen. Sie nahm sich fest vor, das
thörichte Versprechen nicht zu halten, stand aber rechtzeitig auf, als wenn sie
eine Weckuhr im Kopfe gehabt hätte, und sah ihn vorbeifahren. Bann legte sie
sich wieder zu Bett. Ihr Mann schlief weiter und erfuhr nichts davon. — Endlich
wurden die Consequenzen der vielen Suggestionen unerträglich. Beide Ehen
mussten geschieden werden und das Paar ging im Ausland, trotzdem die Frau
katholisch ist, eine Scheinehe ein. Dass es dazu nur durch Suggestionen, durch
Fascination und durch betäubendes Küssen und Streichen kommen konnte, ist
merkwürdig genug, der Beweis für das Vorhandensein der Willenlosigkeit ohne
Bewusstlosigkeit übrigens in diesem Fall erbracht. Sie konnte nicht anders und
wusste doch selbst nicht, weshalb sie sich fügen musste, ihr eigenes Glück zer¬
störend“.
So die kurze Wiedergabe des merkwürdigen Falles, der durch ein Ehetren-
nungs-Urtheil seinen vorläufigen Abschluss fand, von dem indess Pr. wünscht
und hofft, dass, weil ehebrecherisches Thun nach seiner Ansicht bestimmt nicht
Vorgelegen habe, er durch eine Rehabilitirung der unglücklichen fascinirten Frau
einen gerechteren Abschluss finden möge. Ihm scheint eine bedenkliche Lücke in
der Gesetzgebung vorzuliegen.
Der Process Czynski. Thatbestand desselben und Gutachten über Willensbe¬
schränkung durch hypnotisch-suggestiven Einfluss, abgegeben vor dem ober-
bayrischen Schwurgericht zu München von Professor Dr. Grashey in Mün¬
chen, Professor Dr. Hirt in Breslau, Dr. Freiherr von Schrenok-Notzing
in München, Prof. Dr, Preyer in Wiesbaden. Stuttgart, Enke 1895. 102 S.
Der Verlagshandlung muss man für die Herausgabe der Meinungsäusserungen
von vier ihren individuellen Standpunkt in ausgeprägter Weise wahrenden Ge¬
lehrten, die schliesslich doch gegenüber der intricaten criminalpsychologisohen
Aflfaire Czynski bis zu einer gewissen Breite convergiren, sehr dankbar 3ein.
Der Gang des Processes wie die Verurtheilung des Angeklagten zu einer
Gesammtstrafe von 3 Jahren Gefängniss und 5 Jahren Ehrverlust sind bekannt;
auch bringen die ersten 44 Seiten der Broschüre die authentischen Verhandlungen
4er vier Processtage. Grashey untersucht vornehmlich, warum und in welchem
Zustande Freiin von Zedlitz dem Czynski zum Opfer fiel. Sie war im kritischen
Moment, nach seinem Dafürhalten, nicht bewusstlos. „Daraus folgt aber keines¬
wegs, dass Freiin von Zedlitz damals auch willensfrei war. Das Gesetz spricht
ausdrücklich von einem willenlosen oder bewusstlosen Zustande und unterscheidet
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Kleinere Mittheilmmen, Referate, Literaturnotizen.
somit zwischen diesen beiden Zuständen. Meines Erachtens war alles Thun und
Lassen der Baronesse, soweit es der Liebe und Ueberzeugung entsprang, welche
ihr Czynski auf hypnotischem Wege beigebracht hatte, ein unfreies. w Hirt wider¬
spricht: „Die Küsse, welche Czynski der Baronin theils in hypnotisirtem, tlieils
in wachem Zustande massenhaft gegeben hat, sind für mich nur ein Mittel, die
Baronin sinnlich zu erregen und lüstern, dem Coitus geneigt zu machen: eine
hypnotisirende Wirkung vermag ich diesen Küssen in keinem anderen Sinne bei¬
zumessen, als die deutsche Sprache dies durch die Bezeichnung ,berauschend 4
ausdrückt. 44 — v. Sehrenk-Notzing wiederum beantwortet die erste ihm vor¬
gelegte Frage, ob Czynski die Baronesse von Zedlitz in willenlosem Zustande ge¬
schlechtlich gemissbraucht hat, mit „Ja u und fahrt fort: „Die hier in Frage kom¬
mende Willenlosigkeit stammt z.Th. aus der natürlichen Prädisposition der Freiin,
ihrer intellectuellen Widerstandsarmuth; sie wurde erst vollständig, nachdem
Czynski durch systematische suggestive und psychische Dressur die Möglichkeit,
moralisch entgegen zu wirken, beseitigt hatte. 44
Preyer führt mit Recht seinen oben mitgetheilten Fall von Fascination
in’s Feld nebst vielen fremden zur Sache gehörigen Erfahrungen — er hebt her¬
vor, wie im vorliegenden Falle die Baronesse schwöre, dass sie bei zwei Gelegen¬
heiten, als Czynski ihr befahl sich hinzulegen, garnicht habe Nein sagen können,
wie sie selbst sage, dass sie sich unter einem Zwange befunden habe. „So stark
war sie beeinflusst, dass in Bezug auf die 38 Jahre lang treu bewahrte weibliche
Ehre ihr Wille erlosch und sein Wille an die Stelle ihres Willens trat. Es war
eine suggerirte Abulie vorhanden. 44
c) Toxicologie; Nahrungsmittelhygiene.
Dr. Kaitwsky, Ueber die Veränderungen in den Herzganglien bei
acuten Mineralsäurevergiftungen. Centralblatt für pathologische Ana¬
tomie. 1894. No. 52.
Verf. untersuchte bei Hunden, welche mit Schwefelsäure, Salpetersäure und
Salzsäure vergiftet waren, die Ganglien im hinteren Theile der Scheidewand der
Vorhöfe. Aus letzterer wurde neben dem Foramen ovale ein keilförmiges Stück
excidirt, so zwar, dass das Fettgewebe mit seinem epicardialen Ueberzug eine
Seite, die Muskelbündel der Vorhöfe die beiden anderen Seiten eines dreikantigen
t Prismas bildeten. Letzteres wurde mehrfach quer zerlegt und seine Stückchen
fixirenden Flüssigkeiten unterworfen. Die angetrolTencn Veränderungen der Gan¬
glien, hinsichtlich derer Einzelheiten auf das Original verwiesen w r erden muss,
bestanden in 1) parenchymatöser Schwellung, 2) Necrose der Zellen, 3) Vacuoli-
sirung der Kerne und in geringerem Grade auch des Protoplasmas, 4) Hydrops
der Kapsel.
Ein Zusammenhang zwischen der Lebensdauer nach der Vergiftung und
dem Grade der Veränderungen der Herzganglien war in sofern vorhanden, als die
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Kleinere Mittheilungon, Referate, Literaturnotizen.
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Zahl der necrotisirten Zellen um so grösser erschien, je kürzere Zeit das Thier
nach der Vergiftung gelebt hatte. Die übrigen Veränderungen zeigten keinerlei
Beziehung zur Ueberlebungsdaucr. Platten (Düsseldorf).
Landgerichtsarzt Dr. Albtn laberilft, Ueber Hautgangrän an den Füssen
bei acuter Vergiftung durch Phosphor. Demonstration auf der fifi. Na¬
turforscherversammlung. Separatabdruck. Wien 1894.
Eine sehr anschauliche farbige Tafel führt den Befund der Ueberschrift vor,
wie er an einer 21jährigen Dienstmagd (nach Abortus) erhoben, und zunächst auf
Mutterkornvergiftung zurückgeführt worden war. Die Section machte mit ihrem
typischen Befunde der acuten Phosphorvergiftung allen Zweifeln ein Ende. Ent¬
lang der grossen Gefasse und Nerven der Unterschenkel fanden sich kleine flache
Austritte geronnenen Blutes. Die Arterien des Fusses erschienen leer, die Venen
sowohl an den Zehen wie in der Fusssohle und innerhalb der gangränös verän¬
derten Hautpartieen vollständig ausgefüllt mit braunrothen nicht haftenden Throm¬
ben. In den letzteren blauviolett verfärbten Bezirken war die Haut etwas ge¬
schwollen und blutig durchtränkt, während die tieferen Gewebe keine Veränderung
aufwiesen.
A. Jaqnet, Privatdocent für experimentelle Pharmacologie, Der Alkohol als
Genuss- und Arzneimittel. Vortrag gehalten am 28. Januar 1894 im
Bemouillianum zu Basel. Basel, Br. Schwabe 1894. 31 S.
Zu den Theorieen der Anhänger der totalen Enthaltsamkeit stellen sich die
von J. vertheidigten Anschauungen an manchen wichtigen Punkten in directen
Widerspruch. Einzig der Missbrauch des Alkohols, dies möchte Vf. beweisen,
bringt die von den Teatotalcrs extremer Observanz dem Wein und Bier zuge¬
schriebenen Schädlichkeiten hervor. Die von jener Seite so oft verfochtene Be¬
hauptung: mit der Temperenz allein sei in der Alkoholfrage garnichts auszu¬
richten — bezweifelt J.; die extremen Consequenzen der einseitigen Tendenz
schrecken gerade aus den gebildeten Kreisen viele Elemente ab, sich an den
Kampf gegen den Alkoholismus in der Form der Ausrottung seines Missbrauchs
zu betheiligen. Diese Ziele aber: die Rettung der Trinker, die Prophylaxe der
Trunksucht sind die nächsten und dringendsten, die in Mitteleuropa anzustreben
wären.
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Kleinere Mittheilungen, Referate, Lileraturnotizen.
d) Hygienische Tagesfragen.
Drei Vorträge aus dem Gebiete der Hygiene gehalten im Sitzungssaal?
des Abgeordnetenhauses von Professor Dr. MaxRubner in Berlin, Professor
Dr. Carl Fraenkel in Marburg, Professor Dr. Dittmar Finkler in Bonn.
Leipzig, Vogel 1895. 130 S.
In unseren Parlamenten begegnen oft gerade hygienische Fragen einem mehr
als lückenhaften Verständniss. Es war eine an sich gesunde Idee, welche Graf
Douglas zur Verwirklichung zu führen gedachte, als er zur Ausfüllung jenes
Mangels Vorträge in Scene setzte und berufene Fachleute gewann, um die nächst-
liegenden Tagesfragen in Vortragsform zu besprechen. Rubner erörterte die
„Leitenden Grundsätze für die Anlage von Krankenhäusern und die nothwendigen
Reformen der Zukunft“, — C. Fränkel „die praktischen Ziele und Aufgaben der
Bakteriologie“, — Finkler „die volkswirtschaftliche Bedeutung der Hygiene“.
Die Vorträge sollen nicht sehr stark besucht gewesen sein; vielleicht wären
noch actuellere Themata zu wählen (Alkoholfrage, Prostitution, Wohnungsauf¬
sicht, Säuglingssterblichkeit — auch einige ausschliesslich der Reichsgesetz¬
gebung vorbehaltene Gebiete); vielleicht eignet sich für manchen Gegenstand die
beliebte Form des einleitenden Referats mit Discussion. Vielleicht aber — dies
Bedenken darf nicht unterdrückt werden — ist die Belebung des nöthigen Inter¬
esses in den parlamentarischen Kreisen deshalb so schwer, weil keine Partei die
hygienischen Goldbarren in Münze umsetzen bann oder mag. Hat sich doch in¬
zwischen das Kokettiren der Socialdemocratie mit Aufgaben der Hygiene und ge-
sundheitsgemässen Lebensführung so vielfach als momentanes Agitationsmittel
und später schnöde Spielgefechterei herausgestellt — und wird doch auch leider
Seitens anderer Parteien ein Gegenstand, über den man zum Fenster hinaus
reden kann, heute mit Begeisterung aufgegriffen und morgen in die Ecke gestellt!
Ueber die Müllverbrennung in England und die in Berlin anzu¬
stellenden Versuche. Reisebericht von Stadtrath Bohm und Königlichen
Regierungsbaumeister Grohn. Berlin 1894.
Während in den Grossstädten die Beseitigung der Fäcalien eine mehr oder
weniger hygienischen Forderungen Rechnung tragende Regelung erfahren hat, ist
die Müllbeseitigung noch überall im Reich ein für Hausbesitzer, Stadtverwaltung,
Polizei und Hygieniker gleich drückendes Kreuz.
Das von Strassen, Marktplätzen und aus den Häusern stammende Müll be¬
steht bekanntlich aus Asche, unvollständig verbrannter Kohle, vegetabilischen und
animalischen Resten, besonders Fischen, Fleischresten, Gemüseresten, aus Papier,
Abfällen der Textilindustrie, Scherben, metallischen Dingen, Stroh (Bettstroh),
Leder, Sand, Bauschutt, Strassendung und anderen Sachen.
Seine Beseitigung, die aus ästhetischen, Strassen- und verkehrspolizeilichen
Gründen schon geboten erscheint, muss von der Hygiene deshalb gefordert wer¬
den, weil die Anhäufung der fäulnissfähigen Stoffe des Mülls den Boden mit der
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Kleinere Miuhoilnnjjen, Kefemte, Liieraturnnlizon.
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Zeit ebenso verunreinigen würde wie die der Fäcalicn und weil das Müll zahl-
reiche virulente Keime, insbesondere dio Erreger der Tubercnlose, Pneumonie,
Diphtherie, Tetanus enthält, conservirt und deren Verbreitung wegen der Trocken¬
heit des Materials durch Verstauben möglich ist.
Wie die Beseitigung am bequemsten, billigsten und am hygienisch zweck-
massigsten zu bewerkstelligen ist, darüber ist eine Klärung der Anschauungen
noch nicht eingetreten.
Wo die Commune die Frage zu lösen versucht hat, hat man Haus- und
Strassenmüll nach demselben System behandelt und Alles der städtischen Abfuhr
überwiesen. Man hat die Hausbesitzer gezwungen, das Müll in Kästen zu sam¬
meln, und diese abfahren lassen nach bestimmten Abladestellen. Hier liess man
die Abfälle compostiren, nachdem die noch verwerthbaren Gegenstände herausge¬
sucht waren und verwandte den Schutt zu Wegebauten oder verkaufte den Com-
post an die Landwirtschaft als Dung. Transport und Abladestellen wurden aber
mit steigender Bewohnungsdichte und der Vergrösserung der Stadt theurer, der
Mülldung fand keine Abnehmer in der Nähe, weil dieLandwirthe dem künstlichen
Dünger den Vorzug gaben und die Hygieniker erhoben immer lauter ihre Stimme
gegen dieses System. Ihre Bedenken richteten sich 1) gegen die Art des Trans¬
portes überhaupt in offenen, undichten Wagen und undesinficirten Kästen, 2) gegen
die Durchsuchung des Mülls auf der Strasse oder der Abladestelle und dem ge¬
wissenlosen Verkauf noch verwendbarer Gegenstände durch die Lumpensammler,
endlich 3) gegen die Belästigung der Nachbarschaft der Abladestelle und die Ge¬
fahren, welche die Anhäufung so grosser Schmutzmassen in der Nähe der Gross¬
stadt mit sich bringen muss.
Später suchte man in der Verwerthung gewisser Stoffe des Mülls noch
weiter zu gehen, indem man entweder durch Siebe von verschiedener Maschen¬
weite die Bestandtheile desselben nach ihrer Grösse und dann durch Wasser nach
ihrer Schwere von einander schied und bei Papierfabriken, Eisengiessereien, Glas¬
bläsereien, Fabriken für künstlichen Dünger Absatz suchte und den Schutt zu
Strassenbauten oder zur Füllung des Fehlbodens verwandte. Offenbar entspricht
diese Methode, welche infectiöses Material undesinficirt abermals in den Umlauf
setzt, keineswegs hygienischen Grundsätzen; sie entspricht aber auch financiellen
nicht, denn viele derartige in Amerika entstandene Unternehmungen haben den
Betrieb einstellen müssen.
In Küstenstädten hatte man seit langer Zeit schon die Gewohnheit, das Müll
in das Meer zu schütten. Hygienische Einwände lassen sich gegen diese Art der
Beseitigung nicht machen. Indessen hat sie, abgesehen von einer nur localen
Anwendbarkeit, auch mancherlei Uebelstände, denn bei Städten, deren Zufahrt im
Winter zufriert, muss der Betrieb häufig eingestellt werden, die kleinen Müllschiffe
sind bei stürmischem Wetter häufig am Auslaufen verhindert, das Müll fängt sich
in den Netzen der Fischer oder wird häufig durch die Fluth wieder auf das Land
geworfen.
Die ersten Versuche, das Müll in besonderen Oefen zu verbrennen, gingen
von England aus. Zwar wurde Berliner Müll offen schon früher verbrannt, doch
ist man von diesem irrationellen, feuergefährlichen und ungenügenden Verfahren
abgekommen. Nachdem 1870 die Firma Meade u. Co. zu Paddington einen schlecht
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42B Kleinere Mittheilungen, Keferate, Literaturnotizen.
fumUionirenden Ofen aufgestellt hatte, gelang es Frver im Jahre 1879 seinen
Destructor zu consiruiren, der mit technischen Abänderungen noch heute die wei¬
teste Verbreitung hat. Beim Gebrauch des Destructors soll eine Durchsuchung
des Mülls nicht mehr stattfinden. Die Verbrennung ist eine vollständige, sowohl
das Entweichen giftiger Gase wie des Rauches (Jones Rauchverzehrer) wie end¬
lich des Staubes wird verhindert, so dass die Anlage auch innerhalb der Stadt
eine concessionsmässige sein könnte. Die Anlagen sind aber theuer. Ausnutzbar
sind bei der Verbrennung 1) Schlacke und Asche = 30 pCt. der Masse zur Fa-
brication von Mörtel, Bau- und Pflastersteinen, Cementplatten, Strassenpflasterung
und 2) die Wärme, durch welche Wasserdampf entwickelt werden kann, welcher
die Dampfmaschinen zur Mörtclfabrication, zur Einstellung von Ventilatoren und
Exhaustoren, zum Betriebe der Dynamomaschinen versorgt. Die Arbeitsleistung
einer der Zellen des Destructors beträgt in 1 Stunde 5—6 P 5, aus 41,7 kg Müll
kann p. h. 1 P 5 entwickelt werden, so dass der Heizwerth des englischen etwa
10 pCt. unvollkommen verbrannter Kohle enthaltenden Mülls etwa V42 — 1 ,30 der
Steinkohle betragen würde. Diesen Einnahmen stehen folgende Ausgaben gegen¬
über. Ausser dem Capital für Grunderwerb, Verzinsung und Amortisation ist
nothwendig Kohle zum Anheizen des Ofens und, sofern das Müll nicht von selbst
brennt, auch zum Unterhalten der Verbrennung. Circa 20 pCt. des Anlagecapitals
sind nothwendig als Aufbesserungskosten, und die Herstellung der Anlage als eine
concessionsmässige, insbesondere die Anlage des Rauchverzehrers von Jones
würde die Verbrennung jeder Tonne Mülls um ca. 30 pCt. vertheuem. Die An¬
lage einer Zelle, deren 6 auf je 50000 Einwohner erforderlich sind, kostet
14000 Mark, die Verbrennung 1 Tonne Müll 1 Mark.
Hamburg und Berlin sind im Begriff dieses System nachzuahmen. Nachdem
Weyl im Jahre 1892 die Ergebnisse seiner Studienreise zur Erforschung dieser
Anlagen dem Magistrat von Berlin unterbreitet hatte, beschloss die Gemeindebe¬
hörde 100000 Mark zu Versuchszwecken auszuwerfen und die obengezeichneten
Verfasser des Buches nach England zum Studium der dortigen Müllverbrennungs¬
anlagen zu entsenden.
Das Ergebnis« dieser Reise ist der vorliegende Bericht, dem im Wesentlichen
die obigen Ausführungen entnommen sind.
Die Verfasser stehen nun dem Project, das englische System auch für Berlin
anzuwenden, im Gegensatz zu Weyl sehr skeptisch gegenüber und weisen insbe¬
sondere darauf hin, dass das kohlenreiche England in seinem Müll stets min¬
destens 10 pCt. unverbrannter Kohle habe, während Berliner Müll davon höch¬
stens 1 pCt. aufwiese und dass infolgedessen das hiesige Müll nicht ohne Zusatz
von Kohle brennen würde. Dazu käme, dass die feine Asche der hier üblichen
Briqueties die Brennbarkeit der übrigen .Stoffe des Müll zu paralysiren im Stande
wäre und somit die Ausnutzung der Wärme und die Rentabilität der Nebenanlagen
sehr fraglich sein würden.
Trotzdem sollen Versuche gemacht werden. Sollte das Müll nicht ohne Zu¬
satz von Kohlen brennen, so soll eine Polizeiverordnung in Anregung gebracht
werden, welche den Haushaltungsvorständen die Sonderung von Asche und Stu¬
benkehricht anbefiehlt, wie eine solche in früheren Jahren hier schon bestanden hat.
Springfeld-Berlin.
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Kleinere Mittheilungen, Referate, Literaturnotizen.
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Dr. L. lecker, L e h rb u c h <1 e r ä r z i 1 i c h e n »S a c li v e r s i ä n d i g o n - T h ii I i g k e i t
für die Unfall- und Invaliditäts-Gesetzgebung*. Berlin 1895. 350 S.
Seitdem im Jahre 1888 Beeker mit seinem ersten Werke über die Beurtei¬
lung der Arbeits- und Erwerbsfähigkoit hervortrat, hat sich ein reiches Material
auf diesem Gebiet angesammelt, und die Motive liegen klar zu Tage, welche die
Metamorphose der „Anleitung zur Beurteilung der Arbeits- und Erwerbsfähig¬
keit“ (in vierter Auflage vergriffen) zu einem completen „Lehrbuch der ärztlichen
Sachverständigen-Thätigkeit für die Unfall- und Invaliditäts-Versicherung“ be¬
wirken mussten. Die zahlreichen Interessentenkreise werden sich gern um den
nunmehr länger als neun Jahre mit dem Gegenstände vertrauten Verfasser grup-
piren und seinen Darlegungen, wie sie sich mit der Gesetzlichen Organisation der
Unfallversicherung in Deutschland, mit dem Unfall im Betriebe, Körperver¬
letzung, — ferner mit der Erwerbsunfähigkeit in verschiedener Höhe und Dauer,
mit dem ursächlichen Verhältniss der Verletzung zu ihren Folgen, mit der Simu¬
lation und dem Acrztlichen Gutachten im Allgemeinen befassen, gern und leicht
folgen. Aber auch der Specielle Theil hält in seiner der Topographie des Körpers
sich anschliessenden Einteilung (Allgemeine Erschütterungen, traumatische Neu¬
rose voran) sich auf der Höhe, welche die Erfahrungen über den umfangreichen
Stoff bedingen. — Für die Invaliditäts-Versicherung wird der Allgemeine
Theil in drei zweckentsprechende Abschnitte zerlegt und der specielle in der
Weise ausgefüllt, dass 20 hervorragende ausgewählte Beispiele dem Leser die
wichtigsten Einzelfälle eindringlich illustriren. — Der Umfang des „Lehrbuchs“
bemisst sich, unter Einschluss eines guten Sachregisters, auf 356 Seiten.
t. Ritter, Die Abschätzung der Unfallbeschädigungen in Beispielen.
Zusammengestellt für Aerzte und Versicherungsbeamte. Jena, G. Fischer 1894.
69 S.
Die Zusammenstellung von 225 Beispielen Unfallverletzter auf total 69Druck¬
seiten bedingte eine sehr kurze Fassung der einzelnen Fälle. Doch waren Aus¬
führlichkeiten bei der Wiedergabe der Krankengeschichten nicht angebracht; ein¬
mal sollte eben nur das Endergebniss zur Darstellung gebracht werden, welches
der Schätzung zu Grunde liegt — auf der anderen Seite mussten auch viele Klei¬
nigkeiten aufgenommen werden. Denn eben diese unbedeutenden Sachen kommen
im Sprechzimmer des Arztes überwiegend vor und fordern die Schätzung heraus.
Auf die grösseren Werke, welche den Gegenstand systematisch und damit
auch die Rentenabschätzungen behaudeln, weist R. gebührend in seiner Ein¬
leitung hin.
Vierteljahrs.se hr. f. ger. Med. Dritte Folge. IX. 2.
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Kleinere Mitthpilungen, Referate, Literaturnotizen.
e) Infectionskrankheiten und deren Bekämpfung.
EmII feer, Aotiologische und klinische Beiträge zur Diphtherie. Aus
dem Kinderspital zu Basel (Annales Suisses des Sciences m<$dicales, I. S.,
Livr. 7). Basel und Leipzig, Carl Sallmann, 1894 (Paris, Masson). S. 517
bis 701.
Die Feer’schen Untersuchungen zerfallen in 3Partieen: I. Bakteriologische
Untersuchungen über Diphtherie; — II. Die Verbreitungsweise der Diphtherie; —
III. Die Tracheotomieen des Kinderspitals zu Basel und ihre Wundcomplicationen,
von 1873 -1892; — Folgezustände der Tracheotomirten im späteren Leben. Das
fiir diese Fragestellungen verwerthete Material muss im Ganzen als ein beschränk¬
tes bezeichnet werden; aber es ist recht umsichtig verwerthet, gut geordnet und
zu vorbedachten, bescheidenen Schlüssen verwandt. Am meisten empfiehlt sich
durch diese Haltung besonders die epidemiologische Studie über die Verbrei¬
tungsweise der Diphtherie; die in der Stadt Basel von 1875 bis 1891 er¬
statteten obligatorischen Anzeigen brachten für diese Frage ein Material von
4240 Fällen zusammen. Ilausepidemieen, Wohnungswechsel, Schulverkehr, Fa¬
miliendisposition, Uebertragung durch abortiv ablaufende Fälle finden hier ihre
zutreffende Würdigung.
ln dem die Tracheotomieen und ihre mittelbaren und späteren Folgen be¬
treffenden (III.) Abschnitt erregen die mit grosser Constanz sich wiederholenden
Resultate bei den einzelnen Gruppen die Aufmerksamkeit. In der Reihe der spä¬
teren Folgezustände sind den Lähmungszuständen, den Knorpelverwachsungen,
den Verhältnissen des subglottischen Raumes, den Stenosen und catarrhalischen
Erscheinungen, auch den Stimmveränderungen besondere Besprechungen gewidmet.
Prof. Dr. Carl Praenkel, Schutzimpfung und Impfschutz. Rede zur Feier
des Geburtstages Sr. Majestät des Kaisers und Königs am 27. Januar 1895 int
Namen der Universität Marburg gehalten. Marburg, Eiwert 1895. 27 S.
Es ist erquicklich, eines der schwierigsten Themata des öffentlichen Gesund¬
heitswesens in knappen Zügen, aber auf nichtsdestoweniger breiten und zuläng¬
lichen wissenschaftlichen Grundlagen in diesem Festvortrage erörtert zu sehen.
Nicht weniger als die unparteiliche Darstellung der sicheren bisher auf dem Ge¬
biete des Impfschutzes erreichten Ergebnisse fesselt auch die Art und Weise den
Leser, in welcher Fr. das schwierige Gebiet der sog. lmmunitätstheorieen be¬
schreitet. Vielleicht hätten die „Retentions-Hypothesen“, Angesichts der gegen¬
wärtig actuellen Phase des Gegenstandes, eine etwas breitere Wiedergabe und
Begründung verdient und ertragen. — Auch Fr. wendet sich gegen die Theorie
von der Giftzerstörung: „zwischen dem Toxin und dem Antitoxin“, so
führt er aus. „vollzieht sich eine lockere Bindung, wie solche auch die chemische
Wissenschaft kennt, die für den Augenblick und unter normalen Bedingungen die
Wirkung der Componenten auf hebt, bei besonderer Gelegenheit aber auch eine
Wiederabspaltung und Auferstehung derselben gestaltet.
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Klemme Miithoilungcn, Referate, Literaturnnlizen.
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Die keimtödtende Wirkung des Torfmulls. Vier Gutachten der Herren
Professor Dr. Stutzer, Director der landwirtschaftlichen Versuchsstation
Bonn; Professor Dr. Frankel, Director des hygienischen Instituts Marburg;
Professor Dr. Gärtner, Director des hygienischen Instituts Jena; Professor
Dr. Löffler, Director des hygienischen Instituts Greifswald. Im Aufträge der
Dünger-Abtheilung zusammengestellt und mit Erläuterungen versehen von
Dr. .). H. Vogel, Geschäftsführer in der deutschen Landwirtschafts-Gesell¬
schaft, Vorsteher des agriculturchemischen Versuchslaboratoriums. 1894. Micck
in Prenzlau.
Die Frage nach der keimtödtenden Wirkung dos Torfmulls steht im
Mittelpunkte der auf die Assanirung der Kleinstadt und des platten
Landes hinzielenden Bestrebungen.
Solange die Landbevölkerung nicht aufgeklärter ist, dass sie den Zusammen¬
hang zwischen Schmutzanhäufung und Krankheit einsieht, solange sie in der
Selbstverwaltung die Macht hat, nach eigenem Willen die localen Verhältnisse zu
regeln, wird die Gesundheitspflege sich mit der schrittweisen Eroberung von Ter¬
rain auf dem Lande begnügen, mit der Eigenart der Landbevölkerung rechnen
müssen und zunächst klug thun, nur auf eine zweckmässige Beseitigung des ge¬
fährlichsten Abfallstofles, der Fäcalien, zu dringen.
Dieses Gebiet ist glücklicherweise ein für Hygieniker und Landwirth derart
gemeinsames, dass beide ihre Ziele, die unschädliche Beseitigung bezw. die Ver-
werthung der Fäcalien mit gleichen Mitteln unter Daransetzung von Concessionen
werden erreichen können.
Der Werth der Excremente vom Menschen und Vieh hat ganz unabhängig
von ästhetischen und hygienischen Rücksichten schon jetzt zu einer sorgfältigen
Magazinirung der Abfallstoffe in geordneten Wirtschaften geführt und der Stick¬
stoffverlust in Composthaufen und durch Einsickern von Jauche in den Boden
hat den Landmann bewogen, die Excremente in undurchlässigen, bedeckten Gru¬
ben zu sammeln, in welche auch Harn und Hausabflüsse vielfach münden. Die
Fäcalien stellen für den kleinen Landwirth ein viel grösseres Werthobject dar, als
man durch Berechnung ihres N-Gehaltes gefunden hat. Ein Ortsstatut, welches
ihm das Verfügungsrecht über die Fäcalien entzieht, wird mit seiner Zustimmung
deshalb nicht zu Stande kommen, er wird vielmehr von allen Systemen der Ab¬
fuhr das Grubensystem mit nicht communaler Entleerung als das einzig annehm¬
bare ansehen und von allen Behandlungsmethoden diejenige, welche den Dung¬
werth der Fäcalien oder ihre Transportfähigkeit nicht verringert. Andererseits
würde er einer hygienischen Behandlungsmethode, welche ihm diese Concession
macht und ausserdem den Dungwerth zu steigern geeignet wäre, s*ch mit Eifer
zuwenden.
Nun ist nicht zu leugnen, dass die Behandlung der Fäcalien mit Torfmull
die meisten Vorzüge und Chancen allgemeiner Verbreitung auf dem Lande hat
und dass sie geeignet wäre die Dorfreinigung einzuleiten.
Wenn man Torf zerkleinert und siebt, so erhält man in den durch die
Maschen gegangenen Bestandtheilen die Torfmull, in den zurückgebliebenen die
Torfstreu.
Erstere hat die Eigenschaft, das Zehnfache an Wasser schnell zu binden
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Kleinere Miltheilungen, Kefernle, Lilernlurnntizen.
und schnell wieder abgeben zu können, ohne «lass seine Theilchen mit einander
zu Brei verkleben, mit Wasser angerührt sauer zu reagiren und das Ammoniak
der alkalischen Gährung sowie Schwefelwasserstoff und Kohlenwasserstoffe zu
binden und dadurch die Fäcalien geruchlos zu machen. Ihre Beimischung zu
Fäcalien erhöht den Dungwerth derselben, indem sie Stickstoffverlusten vorbeugt
und die Transportfähigkeit erleichtert, die Behandlung des Bodens mit Torfmull-
facalion ameliorirt den Boden, macht ihn dunkler, wärmer, wasserhaltiger und
nährstoffreicher. Die Torfstreu ist als weiches und trockenes Lager für Stallvieh
geschätzt und hat sonst ähnliche Eigenschaften wie die Torfmull. Da der Zusatz
von Torfmull das Eindringen von Faulstoffen in den Boden und durch Bindung
von Ammoniak die Zerstörung des Cementpuizes von Gruben beschränkt und die
Fäcalien geruchlos macht, so hat seine Verwendung unstreitig ihre hygienischen
Vorzüge. In der Hauptfrage indessen, wie ein Gemenge von Torfmull und Fäca¬
lien auf die Erreger von Typhus und Cholera wirke, standen die Ansichten der
hygienischen Forscher sich bisher diametral gegenüber, indem die Einen behaup¬
teten, dass darin die Bacillen conservirt und beim Transport verstaubt würden,
die Anderen hinwiesen auf die Einführung des Moostorfes in die chirurgische
Verbandtechnik und dem Torfmull stark dcsinficirende Kraft beimassen.
Wenn nun auch nach den Untersuchungen, welche s. Z. Gaffky anstellte,
die Frage der Nützlichkeit des Torfmulls zu Verbandzwecken verneint worden
war, so musste doch andererseits auch der Glaube an die bakterienconservirende
Eigenschaft der Torfinullfäcalien einen Stoss erleiden durch die Untersuchungen
von R. Schröder in Marburg, der unter Ru bn er’s Leitung nachwies, dass Torf¬
mull im Stande sei, die Erreger von Typhus und Cholera im Wachsthum zg hem¬
men und nach einiger Zeit zu tödten. Diese Resultate wurden erhalten bei Ein¬
wirkung von Torfmull auf Reinculturen und waren einwandfrei. Bei Einwirkung
eines Gemenges von Torfmull und sterilisirten Fäcalien auf Reinculturen erschien
die Schröder’sche Arbeit weniger bestimmt, so dass weitere Untersuchungen noth-
wendig waren.
Hier setzte die Anregung des um die deutsche Landwirthschaft so verdienten
Schulz-Lupitz ein; der zufolge der Ausschuss der Diingerabtheilung der deut¬
schen Landwirthschafts-Gesellschaft beschloss, eine eingehende Prüfung der
Schröder’sehen Arbeit zu veranlassen. Nachdem die oben gezeichneten Ver¬
fasser sich auf Empfehlung des Directors des Reichsgesundheitsamtes, Herrn
Dr. Köhler, zur Erstattung der Gutachten bereit erklärt hatten, wurden ihnen
folgende Fragen vorgelegt:
1. Ist die Zwischonstreu von Torfmull im Stande, die Abtödtung der
in Fäcalien enthaltenen Keime ansteckender Krankheiten, speciell
der Cholera, sicher zu bewirken; unterscheidet sich der Torfmull
diesbezüglich je nach seiner Herkunft und Beschaffenheit?
2. Wird die Sicherheit der Abtödtung dieser Krankheitskeime vermehrt
oder wird die Abtödtung beschleunigt durch einen Zusatz von Stoffen
zum Torfmull, welche dem Wachsthum der Culturpflanzen min¬
destens nicht schädlich, wenn möglich, sogar nützlich sind?
Um bei abweichenden Resultaten der Gutachter den Einwand ausschliessen
zu können, dass mit Material verschiedener Herkunft und Beschaffenheit gearbeitet
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Kleinere Mitllioiluniion, Referate, Litenitiirnntizen.
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worden sei, verabredete l)r. Vogel mit den Untersuchern einen gemeinsamen Ver¬
suchsplan und übersandte allen das gleiche Material Torfmull in 2 Sorten von
verschiedenem Säuregehalt, Kainit, Superphosphat, Schwefelsäure und Schwefel¬
säure-Torfmull.
Die Ergebnisse der sich auf Cholera- und Typhusbacillen erstreckenden,
in dem oben gezeichneten Buche beschriebenen Untersuchungen dürften von er¬
heblicher Bedeutung sein. Sie sind kurz zusammengefasst folgende:
Cholerabacillen sterben schnell ab, sobald der Nährboden eine bestimmte
Höhe der Säurekraft erreicht hat.
Im Torfmull genügt der Gehalt an Huminsäuren in der Regel,
um Reinculturen von Cholera- und Typhusbacillen zu tödten.
Leben die Bacillen in einem Gemisch von Torfmull, Urin und Fäcalien, so
kommt es darauf an, ob dasselbe Ammoniumcarbonat enthält und alkalisch reagirt
oder nicht.
Werden infeetiöse Stühle in schon benutzte Tonnen, Eimer oder Senkgruben
entleert, so ist das Erstere fast stets der Fall, weil die ammoniakbildenden Bak¬
terien der Fäcalien aus dem Harnstoff der alten Fäcalien Ammoniumcarbonat ge¬
bildet und sich vermehrt haben und sehr schnell auch den Harnstoff des frischen
Stuhles so zersetzen. Der Säuregehalt des Torfmulls genügt dann nicht, um
ausser der Abschwächung der Alkalescenz noch die Bakterien der Cholera und
des Typhus in ihrem Wachsthum zu beeinflussen und das um so weniger als der
Torfmull selbst ammoniakbildende Bakterien enthält.
Daher lässt sich in der Regel durch Vermischung von infectiösen Stühlen
mit Torfmull im Closet eine Abtödtung der Keime nicht erzielen.
Das gelingt nur, wenn man entweder die ammoniakbildenden Bakterien ver¬
nichtet oder die Säurekraft des Torfmulls verstärkt.
Die Versuche haben gezeigt, dass auch die Ammoniakbacillen gegen Salz-
und Schwefelsäure empfindlich sind und dass man durch Zusatz dieser Stoffe zum
Torfmull eine Vernichtung der Bacillen erreichen und zugleich dem Stickstoffver¬
lust in Fäcalien Vorbeugen kann.
. Präparate von Schwefelsäure-Torfmull mit einem Gehalt von 2 pCt. Schwe¬
felsäure lassen sich leicht hersteilen, ohne dassder Preis des Torfmulls sich um
mehr als 5 pCt. erhöhte.
Torfmullsorten verschiedener Herkunft sind von gleicher Wirkung, sofern
ihr Säuregehalt gleich ist.
Dieselbe Wirkung liess sich erzielen, w'enn dem Torfmull 20 pCt. Super¬
phosphatgips, welcher Schwefelsäure in freier Form enthält, zugesetzt wurde, da¬
gegen nicht mit Kainit, Superphosphat oder anderen Phosphorpräparaten. Die
Phosphorsäure selbst kommt wegen ihren hohen Preises nicht in Frage.
Bedingung für die Wirkung aber ist, dass 1) die Menge des Torfmulls der
Gesammtmenge der Fäcalien gleich ist und 2) dass eine innige Vermischung des
Torfmulls mit den Fäcalien erzielt wird.
Fragt man nach diesen Resultaten, ob die Hygiene der Landwirtschaft so¬
weit entgegenkommen darf, dass sie in kleinen Städten und auf dem Lande die
Beseitigung der Fäcalien den Haushaltungsvorständen überlässt, wenn diese in
undurchlässige Gruben die Fäcalien mit Torfmull vermischt sammeln, so wird
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432 Kleinere Mittlieilumren, Referate, Literaturnotizen.
man, nachdem Hoffmann, (Jffelmann, Engler u. A. für die Zulässigkeit
von Gruben eingetreten sind, kein Bedenken tragen können, die Frage zu be¬
jahen.
Für die Assanirung des Landes würde die Einführung geeigneter Torfstreu¬
closets, welche durch selbstthätige Vorrichtungen für die innige Vermischung von
Torfmull und Fäcalien Sorge tragen, ein grosser Fortschritt sein. Für die erste
allgemeine Anlage solcher würden vielleicht ärmeren Gemeinden Beihilfen ge¬
währt werden können; der Zustand der Closets müsste indessen regelmässigen
Revisionen etwa durch Mitglieder der Samtätscommissionen unterliegen.
Springfeld-Berlin.
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IY. Amtliche Verfügungen.
Kaiserliche Verordnung vom 81. December 1894, betreffend den Verkehr mit
Diphtherieheilsernm.
Wir Wilhelm, von Gottes Gnaden Deutscher Kaiser, König von
Preussen etc.
verordnen im Namen des Reichs, auf Grund der Bestimmung im §6, Absatz 2 der
Gewerbeordnung (Reichs-Gesetzbl. 1883 S. 177), was folgt:
Zu denjenigen Drogen und chemischen Präparaten, welche nach §2 der Ver¬
ordnung, betreffend den Verkehr mit Arzneimitteln, vom 27. Januar 1890 (Reichs-
Gesetzbl. S. 9) und dem zugehörigen Verzeichnisse B nur in Apotheken feilge¬
halten oder verkauft werden dürfen, tritt hinzu:
Serum antidiphthericum. Diphtherieserum.
Urkundlich unter Unserer Höchsteigenhändigen Unterschrift und beigedruck¬
tem Kaiserlichen Insiegel.
Gegeben Noues Palais, den 31. December 1894.
W i 1 h o 1 in.
von Boetticher.
Runderlass der Minister der n. s. w. Medicinalangelegenheiten und des Innern
vom 30. November 1894, betreffend Benachrichtigungen von der Aufnahme
geisteskranker Niederländer in deutsche Irrenanstalten.
Seitens der Königlich Niederländischen Regierung ist der Wunsch ausge¬
sprochen worden, dass fortan bei den Benachrichtigungen von der Aufnahme
geisteskranker Niederländer in deutsche Irrenanstalten stets auch der Ort, an wel¬
chem der Aufgenommene seinen Wohnsitz in den Niederlanden hat oder innerhalb
der letzten sechs Monate gehabt hat, sowie der Name derjenigen Person mitge-
theilt werde, welche die Aufnahme beantragt hat.
In Erweiterung der Verfügung vom 21. Januar 1841, betreffend die Anzeige
von der Aufnahme nicht preussischer Geisteskranker in die Irrenanstalten an die
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Amtliche Verfügungen.
zuständige Landespolizeibehörde, welche für Privatanstalten unter 2h der Rund-
verfiigung vom 19. Januar 1888 Berücksichtigung gefunden hat, ersuchen wir da¬
her Ew. Exzellenz ganz ergebenst, die Vorstände der öffentlichen, wie der Privat¬
irrenanstalten gefälligst anzuweisen, in Zukunft die Anzeigen über die Aufnahme
geisteskranker Niederländer in der oben angegebenen Richtung zu vervollständigen.
gez. im Auftr.: v. Bartsch. gez. im Auftr.: Haase.
An sämmiliche Königl. Oberpräsidenten.
Rechtsprechung.
Beschluss der Strafkammer des Königlichen Landgerichts zu Münster vom
14. November 1894, betreffend die Erstattung eines selbstständigen, von dem
des anderen Medicinalbeamten abweichenden Obductionsberichtes.
In der Strafsache Str. und Gen. wird die Beschwerde des Kreiswundarztes
Dr. E. zu B. vom 15. October d. J. über die Verfügung des Königlichen Amts¬
gerichts zu B. vom 24. September d. J. für begründet erachtet und letztere Ver¬
fügung aufgehoben.
Gründe.
In obiger Strafsache hatte der Beschwerdeführer für einen Obductionsbericht
18 Mark vom xVmtsgericht B. angewiesen und gezahlt erhalten. Infolge einer Er¬
innerung der Justizhauptkasse hat das Königliche Amtsgericht B. den Beschwerde¬
führer zur Rückzahlung von 9 Mark aufgefordert und Rückeinnahme-Anweisung
erlassen.
Die hierüber eingelegte Beschwerde erscheint begründet. Der § 4 No. 1
Gesetzes vom 9. März 1872, auf welches vom Königlichen Amtsgerichte Bezug ge¬
nommen ist, bezieht sich nur auf gemeinschaftliche Gutachten von zwei Medicinal¬
beamten über den Gemüthszustand eines Menschen. Abgesehen hiervon hat der
Beschwerdeführer einen selbstständigen, von dem des anderen Medicinalbeamten
abweichenden Obductionsbericht eingereicht. Hierfür kann er die volle Gebühr
des § 3 No. 5 des Gesetzes beanspruchen, cf. Al brecht Komm. S. 158.
Demgemäss war die Verfügung des Königlichen Amtsgerichts vom 15. Oc¬
tober d. J. aufzuheben.
Verfügung des Königlichen Regierungspräsidenten in Minden vom 20. December
1894, betreffend rechtzeitige Verwendung des Stempels seitens der Medicinal¬
beamten bei stempelpflichtigen Attesten.
Es ist in der letzten Zeit wiederholt vorgekommen, dass gegen Medicinal-
beamte eine Ordnungsstrafe festgesetzt werden musste, weil sie zu den von ihnen
ausgestellten stempelpflichtigen Attesten einen Stempel nicht rechtzeitig oder gar-
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Amtliche Verfügungen. 43ö
nicht kassirt hatten. Ich nehme daher Veranlassung, nochmals die einschlägigen
Bestimmungen der Allerhöchsten Cabinetsordre vom 28. October 1836 (Gesetz-
Samml. S. 308) in Erinnerung zu bringen, indem ich hierbei ausdrücklich betone,
dass bei Ausstellung stempelpflichtiger Atteste die betreffenden Beamten selbst
für die rechtzeitige Verwendung des Stempels zu sorgen und dementsprechend die
wegen nicht erfolgter oder verspäteter Versteuerung vorgesehene Strafe auch dann
zu gewärtigen haben, wenn sie bei Aushändigung des Ältestes dem Empfänger
ausdrücklich die sofortige Verwendung des vorgeschriebenen Stempels aufgegeben
und einen darauf bezüglichen Vermerk in dem Atteste gemacht haben.
An sämmtliche Medicinalbeamte des Bezirks.
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Am 26. Februar d. J. starb, nach kurzem Kranksein, in
Lüttich der durch eine Reihe tüchtiger forensischer Arbeiten
ausgezeichnete Forscher Dr. Georges Ansiaux im jugend¬
lichen Alter von 28 Jahren. Aus dem dortigen Laboratorium
für Pharmacologie und Staatsarzneikunde hat er auch unserer
Vierteljahrsschrift (dritte Folge, Bd.VII, Heft 1) — im Verein
mit Dr. Gabr. Corin eine bemerkenswerthe Arbeit „Unter¬
suchungen über Phosphorvergiftung“ geliefert. Die deutschen
Fachgenossen werden ihm ein ehrenvolles Andenken treu
bewahren.
Gedruckt bei L. Schumacher in Berlin.
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