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PROF. Dr. SIGM. FREUD
DREI TEILE:
FEHLLEISTUNGEN
TRAUM
ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE
MIT EINEM SACHREGISTER
DRITTE, DURCHGESEHENE AUFLAGE
320
INTERNATIONALER PSYCHOANALYTISCHER VERLAG G.M.B.H.
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VORWORT.
Was ich hier als „Einführung in die Psychoanalyse“ der
Öffentlichkeit übergebe, will auf keine Weise in Wettbewerb
mit den bereits vorliegenden Gesamtdarstellungen dieses Wissens-
gebietes treten. (Pfister, Die psychoanalytische Methode, 1913;
Leo Kaplan, Grundzüge der Psychoanalyse, 1914; Regis et
Hesnard, La Psychoanalyse des nevroses et des psychoses,
Paris 1914; Adolph F. Meijer, De Behandeling van Zenuwzie-
ken door Psycho-Analyse, Amsterdam 1915.) Es ist die getreue
Wiedergabe von Vorlesungen, die ich in den zwei Winter-
semestern 1915/6 und 1916/7 vor einer aus Ärzten und Laien
und aus beiden Geschlechtern gemischten Zuhörerschaft ge-
halten habe.
Alle Eigentümlichkeiten, durch welche diese Arbeit den
Lesern des Buches auffallen wird, erklären sich aus den Be-
dingungen ihrer Entstehung. Es war nicht möglich, in der Dar-
stellung die kühle Ruhe einer wissenschaftlichen Abhandlung zu
wahren; vielmehr mußte sich der Redner zur Aufgabe machen,
die Aufmerksamkeit der Zuhörer während eines fast zwei-
stündigen Vortrags nicht erlahmen zu lassen. Die Rücksicht
auf die momentane Wirkung machte es unvermeidlich, daß der-
selbe Gegenstand eine wiederholte Behandlung fand, z. B. das
eine Mal im Zusammenhang der Traumdeutung und dann später
in dem der Neurosenprobleme. Die Anordnung des Stoffes brachte
es auch mit sich, daß manche wichtige Themen, wie z. B. das
des Unbewußten, nicht an einer einzigen Stelle erschöpfend ge-
VI VORWORT.
würdigt werden konnten, sondern zu wiederholten Malen auf-
genommen und wieder fallen gelassen wurden, bis sich eine
neue Gelegenheit ergab, etwas zu ihrer Kenntnis hinzuzufügen.
Wer mit der psychoanalytischen Literatur vertraut ist,
wird in dieser „Einführung“ wenig finden, was ihm nicht aus
anderen, weit ausführlicheren Veröffentlichungen bekannt sein
könnte. Doch hat das Bedürfnis nach Abrundung und Zu-
sammenfassung des Stoffes den Verfasser genötigt, in einzelnen
Abschnitten (bei der Ätiologie, der Angst, den hysterischen
Phantasien) auch bisher zurückgehaltenes Material heranzu-
ziehen.
‚Wien, im Frühjahr 1917.
FREUD.
ke
Inhaltsverzeichnis.
Seite
Vorwort „ass ei ent a Le BE SE RE ee V
Erster Teil (l.—IV. Vorlesung):
Einleitung.
E-VoreRuRe a ee re EA EREee 1
Die Fehlleistungen.
ir. Vorlösung: Die. Fehllestunpen "me na seinen 13
III. Vorlesung. Die Fehlleistungen (Fortseizung) - . » 2 I! 22... 31
IV. Vorlesung. Die Fehlleistungen (Schluß) . . ». » 2 2 2 2 2 2.0. 55
Zweiter Teil (V.—XV. Vorlesung):
Der Traum.
V. Vorlesung. Schwierigkeiten und erste Annäherungen . . 81
VI. Vorlesung. Voraussetzungen und Technik der Deutung . ... . 101
VII. Vorlesung. Manifester Trauminhalt und latente Traumgedanken . 117
vıIl. Vorlesung. Kindertrume, 2 5 Sen seen see 188
IX. Vorlesung. Die Traumzensut TE es as 145
X. Vorlesung, Die Symbolik In Traun 7 Tr aeg 160
XI. Vorlesung, Die Traumarbeif\ ae En se: = 22.186
XII. Vorlesung. Analysen von Traumbeispielen. . . 2 2. 2. 2 2 2... 202
XIII. Vorlesung. Archaische Züge und Infantilismus des Traumes .„ „ .„ 221
XIV. Vorlesung. Die Wunscherfüllung . . . 2. 2. 2 2 2 2 2 .0.% re >
XV. Vorlesung. Unsicherheiten und Kritiken 256
Dritter Teil (XVL.—XXVII. Vorlesung):
Allgemeine Neurosenlehre.
XVI. Vorlesung. Psychoanalyse und Psychiatrie . . 2.2.2... Be 271
XVII. Vorlesung. Der Sinn der Symptome. .... 2:22... .. u ..288
XVII. Vorlesung. Die Fixierung an das Trauma. Das Unbewußte „... . 309
2
VII INHALT.
"Seite
XIX. Vorlesung. Widerstand und Verdrängung . . .»..... 325
XX. Vorlesung. Das menschliche Sexualleben.. . . . Behr. Ob
XXI. Vorlesung. Libidoentwicklung und Borualarksnlstionen ne 1.36
XXI. Vorlesung. Gesichtspunkte der ee und Regression.
Ätiologie . . . gr Sc Ne. 5 5 BDO
XXIII. Vorlesung. Die Wege der nombildung.. ee
XXIV. Vorlesung. Die gemeine Nervosität . - » 2 2 2 2 2.2... 0.438
Be een 466
XXVI. Vorlesung. Die Libidotheorie und der Narzißmus . ..... 480
Bar Vorlögune TMa Vbertragung .. : 2. 02 2.2 2 22 e 005. 508
XXVIII. Vorlesung. Die analytische Therapie. - . = 2 2 2 2 2 2 2.2. 526
ERSTER TEIL:
EINLEITUNG
(I)
DIE FEHLLEISTUNGEN
(U—IV)
ERSTE VORLESUNG
EINLEITUNG.
Meine Damen und Herren! Ich weiß nicht, wieviel die
einzelnen von Ihnen aus ihrer Lektüre oder vom Hörensagen
über die Psychoanalyse wissen. Ich bin aber durch den Wort-
laut meiner Ankündigung — Elementare Einführung in die
Psychoanalyse — verpflichtet, Sie so zu behandeln, als wüß-
ten Sie nichts und bedürften einer ersten Unterweisung.
So viel darf ich allerdings voraussetzen, daß Sie wissen,
die Psychoanalyse sei ein Verfahren, wie man nervös Kranke
ärztlich behandelt, und da kann ich Ihnen gleich ein Beispiel
dafür geben, wie auf diesem Gebiet so manches anders, oft
geradezu verkehrt, vor sich geht als sonst in der Medizin.
W‘enn twir sonst einen Kranken einer ihm neuen ärztlichen
Technik unterziehen, so werden wir in der Regel die Be-
schwerden derselben vor ihm herabsetzen und ihm zuversicht-
liche Versprechungen wegen des Erfolges der Behandlung! geben.
Ich meine, wir sind berechtigt dazu, denn wir steigern durch
solches Benehmen die Wahrscheinlichkeit des Erfolges. Wenn
wir aber einen Neurotiker in psychoanalytische Behandlung
nehmen, so verfahren wir anders. Wir halten ihm die Schwie-
rigkeiten der Methode vor, ihre Zeitdauer, die Anstrengungen
und die Opfer, die sie kostet, und was den Erfolg anbelangt,
so sagen wir, wir können ihn nicht sicher versprechen, er hänge
Freud, Vorlesungen. III. 1
9 | I. EINLEITUNG.
von seinem Benehmen ab, von seinem Verständnis, seiner Ge-
fügigkeit, seiner Ausdauer. Wir haben natürlich gute Motive
für ein anscheinend so verkehrtes Benehmen, in welche Sie
vielleicht später einmal Einsicht gewinnen werden.
Seien Sie nun nicht böse, wenn ich Sie zunächst ähnlich
behandle wie diese neurotischen Kranken. Ich rate Ihnen
eigentlich ab, mich ein zweitesmal anzuhören. Ich werde Ihnen
in dieser Absicht vorführen, welche Unvollkommenheiten not-
wendigerweise dem Unterricht in der Psychoanalyse anhaften,
und welche Schwierigkeiten der Erwerbung eines eigenen Ur-
teils entgegenstehen. Ich werde Ihnen zeigen, wie die ganze
Richtung Ihrer Vorbildung und alle Ihre Denkgewohnheiten
Sie unvermeidlich zu Gegnern der Psychoanalyse machen müß-
ten, und wieviel Sie in sich zu überwinden hätten, um dieser
instinktiver Gegnerschaft Herr zu werden. Was Sie an Ver-
ständnis für die Psychoanalyse aus meinen Mitteilungen ge-
winnen werden, kann ich Ihnen natürlich nicht vorhersagen,
aber so viel kann ich Ihnen versprechen, daß Sie durch das
Anhören derselben nicht erlernt haben werden, eine psychoana-
lytische Untersuchung vorzunehmen oder eine solche Behand-
lung durchzuführen. Sollte sich aber gar jemand unter Ihnen
finden, der sich nicht durch eine flüchtige Bekanntschaft mit
der Psychoanalyse befriedigt fühlte, sondern in eine dauernde
Beziehung zu ihr treten möchte, so werde ich ihm nicht nur
abraten, sondern ihn direkt davor warnen. Wie die Dinge derzeit
stehen, würde er sich durch eine solche Berufswahl jede Mög-
lichkeit eines Erfolges an einer Universität zerstören, und wenn
er als ausübender Arzt ins Leben geht, wird er sich in einer
Gesellschaft finden, welche seine Bestrebungen nicht versteht,
ie mißtrauisch und feindselig betrachtet und alle bösen, in
ihr lauernden Geister gegen ihn losläßt. Vielleicht können Sie
SCHWIERIGKEITEN DER PSYCHOANALYSE. 3
gerade aus den Begleiterscheinungen des heute in Europa wü-
tenden Krieges eine ungefähre Schätzung ableiten, wieviele
Legionen das sein mögen. |
Es gibt immerhin Personen genug, für welche etwas, was
ein neues Stück Erkenntnis werden kann, trotz solcher Un-
bequemlichkeiten seine Anziehung behält. Sollten einige von
Ihnen von dieser Art sein und mit Hinwegsetzung über meine
Abmahnungen das nächstemal hier wieder erscheinen, so wer-
den Sie mir willkommen sein. Sie haben aber alle ein Anrecht
darauf, zu erfahren, welches die angedeuteten Schwierigkeiten
der Psychoanalyse sind.
Zunächst die der Unterweisung, des Unterrichts in der
Psychoanalyse. Sie sind im medizinischen Unterricht daran
gewöhnt worden, zu sehen. Sie sehen das anatomische Prä-
parat, den Niederschlag bei der chemischen Reaktion, die Ver-
kürzung des Muskels als Erfolg der Reizung seiner Nerven.
Später zeigt man Ihren Sinnen den Kranken, die Symptome
seines Leidens, die Produkte des krankhaften Prozesses, ja in
zahlreicher Fällen die Erreger der Krankheit in isoliertem
Zustande. In den chirurgischen Fächern warden Sie Zeugen
der Eingriffe, durch welche man dem Kranken Hilfe leistet,
und dürfen die Ausführung derselben selbst versuchen. Selbst
in der Psychiatrie führt Ihnen die Demonstration des Kranken
an seinem veränderten Mienenspiel, seiner Redeweise und seinem
Benehmen eine Fülle von Beobachtungen zu, die Ihnen tief-
gehende Eindrücke hinterlassen. So spielt der medizinische
Lehrer vorwiegend die Rolle eines Führers und Erklärers, der
Sie durck ein Museum begleitet, während Sie eine unmittelbare
Beziehung zu den Objekten gewinnen und sich durch eigene
Wahrnehmung von der Existenz der neuen Tatsachen über-
zeugt zu haben glauben.
1*
I. EINLEITUNG.
Das ist leider alles anders in der Psychoanalyse. In der
analytischen Behandlung geht nichts anderes vor als ein Aus-
tausch von Worten zwischen dem Analysierten und dem Arzt.
Der Patient spricht, erzählt von vergangenen Erlebnissen und
gegenwärtigen Eindrücken, klagt, bekennt seine Wünsche
und Gefühlsregungen. Der Arzt hört zu, sucht die Gedanken-
gänge des Patienten zu dirigieren, mahnt, drängt seine Auf-
merksamkeit nach gewissen Richtungen, gibt ihm Aufklärun-
gen und beobachtet die Reaktionen von Verständnis oder von
Ablehnung, welche er so beim Kranken hervorruft. Die un-
gebildeten Angehörigen unserer Kranken — denen nur Sicht-
bares und Greifbares imponiert, am liebsten Handlungen, wie
man sie im Kinotheater sieht — versäumen es auch nie, ihre
Zweifel zu äußern, wie man „durch bloße Reden etwas gegen
die Krankheit ausrichten kann“. Das ist natürlich ebenso kurz-
sinnig wie inkonsequent gedacht. Es sind ja dieselben Leute,
die so sicher wissen, daß sich die Kranken ihre Symptome
„bloß einbilden“. Worte waren ursprünglich Zauber und das
Wort hat noch heute viel von seiner alten Zauberkraft be-
wahrt. Durch Worte kann ein Mensch den anderen selig
machen oder zur Verzweiflung treiben, durch Worte überträgt
der Lehrer sein Wissen auf die Schüler, durch Worte reißt
der Redner die Versammlung der Zuhörer mit sich fort und be-
stimmt ihre Urteile und Entscheidungen. Worte rufen Affekte
hervor und sind das allgemeine Mittel zur Beeinflussung der
Menschen untereinander. Wir werden also die Verwendung der
Worte in der Psychotherapie nicht geringschätzen und werden
zufrieden sein, wenn wir Zuhörer der Worte sein können, die zwi-
schen dem Analytiker und seinem Patienten gewechselt werden.
Aber auch das können wir nicht. Das Gespräch, in dem
die psychoanalytische Behandlung besteht, verträgt keinen Zu-
UNTERWEISUNG AUS ZWEITER HAND. 15)
hörer; es läßt sich nicht demonstrieren. Man kann natürlich
auch einen Neurastheniker oder Hysteriker in einer psychia-
trischen Vorlesung den Lernenden vorstellen. Er erzählt dann
von seinen Klagen und Symptomen, aber auch von nichts an-
derem. Die Mitteilungen, deren die Analyse bedarf, macht er
nur unter der Bedingung einer besonderen Gefühlsbindung an
den Atzt; er würde verstummen, sobald er einen einzigen,
ihm indifferenten Zeugen bemerkte. Denn diese Mitteilungen
betreffen das Intimste seines Seelenlebens, alles was er als sozial
selbständige Person ‘vor anderen verbergen muß, und im wei-
teren alles, was er als einheitliche Persönlichkeit sich selbst
nicht eingestehen will.
Sie können also eine psychoanalytische Behandlung nicht
mitanhören; Sie können nur von ihr hören und werden die
Psychoanalyse im strengsten Sinne des Wortes nur vom Hören-
sagen kennen lernen. Durch diese Unterweisung gleichsam aur
zweiter Hand kommen Sie in ganz ungewohnte Bedingungen
für eine Urteilbildung. Es hängt offenbar das meiste davon
ab, welchen Glauben Sie dem Gewährsmann schenken können.
Nehmen Sie einmal an, Sie wären nicht in eine psychia-
trische, sondern in eine historische Vorlesung gegangen, und
der Vortragende erzählte Ihnen vom Leben und von den Kriegs-
taten Alexanders des Großen. Was für Motive hätten Sie,
an die Wahrhaftigkeit seiner Mitteilungen zu glauben? Zu-
nächst scheint die Sachlage noch ungünstiger zu sein als im
Falle der Psychoanalyse, denn der Geschichtsprofessor war so
wenig Teilnehmer an den Kriegszügen Alexanders wie Sie;
der Psychoanalytiker berichtet Ihnen doch wenigstens von
Dingen, bei denen er selbst eine Rolle gespielt hat. Aber dann
kommt die Reihe an das, was den Historiker beglaubigt. Er
kann Sie auf die Berichte von alten Schriftstellern verweisen,
die entweder selbst zeitgenössisch waren oder den fraglichen
Ereignissen doch näher standen, also auf die Bücher des
Diodor, Plutarch, Arrian u. a.; er kann Ihnen Abbil-
dungen der erhaltenen Münzen und Statuen des Königs vorlegen
und eine Photographie des pompejanischen Mosaiks der Schlacht
bei Issos durch Ihre Reihen gehen lassen. Strenge genommen
beweisen alle diese Dokumente doch nur, daß schon frühere
Generationen an die Existenz Alexanders und an die Realität
seiner Taten geglaubt haben, und Ihre Kritik dürfte hier von
neuem einsetzen. Sie wird dann finden, daß nicht alles über
Alexander Berichtete glaubwürdig oder in seinen Einzelheiten
sicherzustellen ist, aber ich kann doch nicht annehmen, daß
Sie den Vorlesungssaal als Zweifler an der Realität Alexan-
ders des Großen verlassen werden. Ihre Entscheidung wird
hauptsächlich durch zwei Erwägungen bestimmt werden, erstens,
daß der Vortragende kein denkbares Motiv hat, etwas vor Ihnen
als real auszugeben, was er nicht selbst dafür hält, und zwei-
tens, daß alle erreichbaren Geschichtsbücher die Ereignisse in
ungefähr ähnlicher Art darstellen. Wenn Sie dann auf die
Prüfung der älteren Quellen eingehen, werden Sie dieselben
Momente berücksichtigen, die möglichen Motive der Gewährs-
männer und die Übereinstimmung der Zeugnisse untereinander.
Das Ergebnis der Prüfung wird im Falle Alexanders sicherlich
beruhigend sein, wahrscheinlich anders ausfallen, wenn es sich
um Persönlichkeiten wie Moses oder Nimrod handelt. Welche
Zweifel Sie aber gegen die Glaubwürdigkeit. des psychoana-
Iytischen Berichterstatters erheben können, werden Sie bei
späteren Anlässen deutlich genug erkennen.
Nun werden Sie ein Recht zu der Frage haben: Wenn
es keine objektive Beglaubigung der Psychoanalyse gibt und
keine Möglichkeit, sie zu demonstrieren, wie kann man über-
DIE FRAGE DER GLAUBWÜRDIGKEIT. 7
haupt Psychoanalyse erlernen und sich von der Wahrheit ihrer
Behauptungen überzeugen? Dies Erlernen ist wirklich nicht
leicht, und es haben auch nicht viele Menschen die Psychoanalyse
ordentlich gelernt, aber es gibt natürlich doch einen gangbaren
Weg. Psychoanalyse erlernt man zunächst am eigenen Leib, durch
das Studium der eigenen Persönlichkeit. Es ist das nicht ganz,
was man Selbstbeobachtung heißt, aber man kann es ihr zur
Not subsummieren. Es gibt eine ganze Reihe von sehr häufigen
und allgemein bekannten seelischen Phänomenen, die man nach
einiger Unterweisung in der Technik an sich selbst zu Gregen-
ständen der Analyse machen kann. Dabei holt man sich die
gesuchte Überzeugung von der Realität der Vorgänge, welche
die Psychoanalyse beschreibt, und von der Richtigkeit ihrer
Auffassungen. Allerdings sind dem Fortschritte auf diesem
Wege bestimmte Grenzen gesetzt. Man kommt viel weiter,
wenn man sich selbst von einem kundigen Analytiker ana-
lysieren läßt, die Wirkungen der Analyse am eigenen Ich erlebt
und dabei die Gelegenheit benützt, dem anderen die feinere
Technik des Verfahrens abzulauschen. Dieser ausgezeichnete
Weg ist natürlich immer nur für eine einzelne Person, niemals
für ein ganzes Kolleg auf einmal gangbar.
Für eine zweite Schwierigkeit in Ihrem Verhältnis zur
Psychoanalyse kann ich nicht mehr diese, muß ich Sie selbst,
meine Hörer, verantwortlich machen, wenigstens insoweit Sie
bisher medizinische Studien betrieben haben. Ihre Vorbildung
hat Ihrer Denktätigkeit eine bestimmte Richtung gegeben, die
weit vor. der Psychoanalyse abführt. Sie sind darin geschult
worden, die Funktionen des Organismus und ihre Störungen
anatomisch zu begründen, chemisch und physikalisch zu er-
klären und biologisch zu erfassen, aber kein Anteil Ihres Inter-
esses ist auf das psychische Leben gelenkt worden, in dem
8 I. EINLEITUNG.
doch die Leistung dieses wunderbar komplizierten Organismus
gipfelt. Darum ist Ihnen eine psychologische Denkweise fremd
geblieben, und Sie haben sich gewöhnt, eine solche mißtrauisch
zu betrachten, ihr den Charakter der Wissenschaftlichkeit
abzusprechen und sie den Laien, Dichtern, Naturphilosophen
und Mystikern zu überlassen. Diese Einschränkung ist gewiß
ein Schaden für Ihre ärztliche Tätigkeit, denn der Kranke
wird Ihnen, wie es bei allen menschlichen Beziehungen Regel
ist, zunächst seine seelische Fassade entgegenbringen, und ich
fürchte, Sie werden zur Strafe genötigt sein, einen Anteil des
therapeutischen Einflusses, den Sie anstreben, den von Ihnen
so verachteten Laienärzten, Naturheilkünstlern und Mystikern
zu überlassen.
Ich verkenne nicht, welche Entschuldigung man für die-
sen Mangel Ihrer Vorbildung gelten lassen muß. Es fehlt die
philosophische Hilfswissenschaft, welche für Ihre ärztlichen
Absichten dienstbar gemacht werden könnte. Weder die spe-
kulative Philosophie noch die deskriptive Psychologie oder die
an die Sinnesphysiologie anschließende sogenannte experimen-
telle Psychologie, wie sie in den Schulen gelehrt werden, sind
imstande, Ihnen über die Beziehung zwischen dem Körperli-
chen und dem Seelischen etwas Brauchbares zu sagen, und
Ihnen die Schlüssel zum Verständnis einer möglichen Störung
der seelischen Funktionen in die. Hand zu geben. Innerhalb der
Medizin beschäftigt sich zwar die Psychiatrie damit, die beob-
achteten Seelenstörungen zu beschreiben und zu klinischen
Krankheitsbildern zusammenzustellen, aber in guten Stunden
zweileln die Psychiater selbst daran, ob ihre rein deskriptiven
Aufstellungen den Namen einer Wissenschaft verdienen. Die
Symptome, welche diese Krankheitsbilder zusammensetzen,
sind nach ihrer Herkunft, ihrem Mechanismus und in ihrer
MANGEL EINER PSYCHOLOGISCHEN VORBILDUNG. 9
gegenseitigen Verknüpfung unerkannt; es entsprechen ihnen
entweder keine nachweisbaren Veränderungen des anatomischen
Organs der Seele, oder solche, aus denen sie eine Aufklärung
nicht finden können. Einer therapeutischen Beeinflussung sind
diese Seelenstörungen nur dann zugänglich, wenn sie sich als
Nebenwirkungen einer sonstigen organischen Affektion erkennen
lassen.
Hier ist die Lücke, welche die Psychoanalyse auszufüllen
bestrebt ist. Sie will der Psychiatrie die vermißte psychologi-
sche Grundlage geben, sie hofft den gemeinsamen Boden auf-
zudecken, von dem aus das Zusammentreffen körperlicher mit
seelischer Störung verständlich wird. Zu diesem Zweck muß
sie sicb von jeder ihr fremden Voraussetzung anatomischer,
chemischer oder physiologischer Natur frei halten, durchaus
mit rein psychologischen Hilfsbegriffen arbeiten, und gerade
darum, fürchte ich, wird sie Ihnen zunächst fremdartig er-
scheinen.
An der nächsten Schwierigkeit will ich Sie, Ihre Vor-
bildung kder Einstellung, nicht mitschuldig machen. Mit.
zweien ihrer Aufstellungen beleidigt die Psychoanalyse die
ganze Welt und zieht sich deren Abneigung zu; die eine davon
verstößt gegen ein intellektuelles, die andere gegen ein ästhe-
tisch-moralisches Vorurteil. Lassen Sie uns nicht zu gering
von dieser Vorurteilen denken; es sind machtvolle Dinge,
Niederschläge von nützlichen, ja notwendigen Entwicklungen
der Menschheit. Sie werden durch affektive Kräfte festgehal-
ten und der Kampf gegen sie ist ein schwerer.
Die erste dieser unliebsamen Behauptungen der Psycho-
analyse besagt, daß die seelischen Vorgänge an und für sich
unbewußt sind und die bewußten bloß einzelne Akte und Anteile
des ganzen Seelenlebens. Erinnern Sie sich, daß wir im Gegen-
I. EINLEITUNG.
—_——
10
teile gewöhnt sind, Psychisches und Bewußtes zu identifizieren.
Das Bewußtsein gilt uns geradezu als der definierende Cha-
rakter des Psychischen, Psychologie als die Lehre von den
Inhalten des Bewußtseins. Ja, so selbstverständlich erscheint
uns diese Gleichstellung, daß wir einen Widerspruch gegen
sie als offenkundigen Widersinn zu empfinden glauben, und
doch kann die Psychoanalyse nicht umhin, diesen Widerspruch
zu erheben, sie kann die Identität von Bewußtem und Seeli-
schem nicht annehmen. Ihre Definition des Seelischen lautet,
es seien Vorgänge von der Art des Fühlens, Denkens, Wollens,
und sie muß vertreten, daß es unbewußtes Denken und unge-
wußtes Wollen gibt. Damit hat sie aber von vornherein die
Sympathie aller Freunde nüchterner Wissenschaftlichkeit ver-
scherzt und sich in den Verdacht einer phantastischen Geheim-
lehre gebracht, die im Dunkeln bauen, im Trüben fischen
möchte Sie aber, meine Hörer, können natürlich noch nicht
verstehen, mit welchem Recht ich einen Satz von so abstrakter
Natur wie: „Das Seelische ist das Bewußte“ für ein Vorurteil
ausgeben kann, können auch nicht erraten, welche Entwick-
lung zur Verleugnung des Unbewußten geführt haben kann,
wenn ein solches existieren sollte, und welcher Vorteil sich
bei dieser Verleugnung ergeben haben mag. Es klingt wie
ein leerer Wortstreit, ob man das Psychische mit dem Be-
wußten zusammenfallen lassen oder es darüber hinaus erstrecken
soll, und doch kann ich Ihnen versichern, daß mit der An-
nahme unbewußter Seelenvorgänge eine entscheidende Neu-
orientierung in Welt und Wissenschaft angebahnt ist.
Ebensowenig können Sie ahnen, ein wie inniger Zusammen-
hang diese erste Kühnheit der Psychoanalyse mit der nun zu er-
wähnenden zweiten verknüpft. Dieser andere Satz, den die
Psychoanalyse als eines ihrer Ergebnisse verkündet, enthält
VORURTEILE GEGEN DAS UNBEWUSSTE U. GEGEN DIE SEXUALITÄT. 11
nämlich die Behauptung, daß Triebregungen, welche man nur
als sexuelle im engeren wie im weiteren Sinne bezeichnen kann,
eine ungemein große und bisher nie genug gewürdigte Rolle in
der Verursachung der Nerven- und Geisteskrankheiten spielen. Ja
noch mehr, daß dieselben sexuellen Regungen auch mit nicht zu
unterschätzenden Beiträgen an den höchsten kulturellen, künst-
lerischen und sozialen Schöpfungen des Menschengeistes beteiligt
sind.
Nach meiner Erfahrung ist die Abneigung gegen dieses
Resultat der psychoanalytischen Forschung die bedeutsamste
Quelle des Widerstandes, auf den sie gestoßen ist. Wollen Sie
wissen, wie wir uns das erklären? Wir glauben, die Kultur ist
unter dem Antrieb der Lebensnot auf Kosten der Trieb-
befriedigung geschaffen worden, und sie wird zum großen Teil
immer wieder von neuem erschaffen, indem der Einzelne, der
neu in die menschliche Gemeinschaft eintritt, die Opfer an
Triebbefriedigung zu Gunsten des Ganzen wiederholt. Unter
den so verwendeten Triebkräften spielen die der Sexualregungen
eine bedeutsame Rolle; sie werden dabei sublimiert, d. h. von
ihren sexuellen Zielen abgelenkt und auf sozial höher stehende,
nicht mehr sexuelle, gerichtet. Dieser Aufbau ist aber labil,
die Sexualtriebe sind schlecht gebändigt, es besteht bei jedem
einzelnen, der sich dem Kulturwerk anschließen soll, die Gefahr,
daß sich seine Sexualtriebe dieser Verwendung weigern. Die
Gesellschaft glaubt an keine stärkere Bedrohung ihrer Kultur,
als ihr durch die Befreiung der Sexualtriebe und deren Wieder-
kehr zu ihren ursprünglichen Zielen erwachsen würde. Die
Gesellschaft liebt es also nicht, an dieses heikle Stück ihrer
Begründung gemahnt zu werden, sie hat gar kein Interesse
daran, daß die Stärke der Sexualtriebe anerkannt und die Be-
deutung des Sexuallebens für den einzelnen klar gelegt werde,
sie hat vielmehr in erziehlicher Absicht den Weg eingeschlagen,
die Aufmerksamkeit von diesem ganzen Gebiet abzulenken. Darum
verträgt sie das genannte Forschungsresulfat der Psychoanalyse
nicht, möchte es am liebsten als ästhetisch abstoßend, moralisch
verwerflich oder als gefährlich brandmarken. Aber mit solchen
Einwürfen kann man einem angeblich objektiven Ergebnis wissen-
schaftlicher Arbeit nichts anhaben. Der Widerspruch muß aufs
intellektuelle Gebiet übersetzt werden, wenn er laut werden soll.
Nun liegt es in der menschlichen Natur, daß man geneigt ist,
etwas für unrichtig zu halten, wenn man es nicht mag, und
dann ist es leicht, Argumente dagegen zu finden. Die Gesellschaft
macht also das Unliebsame zum Unrichtigen, bestreitet die Wahr-
heiten der Psychoanalyse mit logischen und sachlichen Ar-
gumenten, aber aus affektiven Quellen, und hält diese Ein-
wendungen als Vorurteile gegen alle Versuche der Wider-
legung fest.
Wir aber dürfen behaupten, meine Damen und Herren, daß
wir bei der Aufstellung jenes beanständeten Satzes überhaupt
keine Tendenz verfolgt haben. Wir wollten nur einer Tatsäch-
lichkeit Ausdruck geben, die wir in mühseliger Arbeit erkannt zu
haben glaubten. Wir nehmen auch jetzt das Recht in Anspruch,
die Einmengung solcher praktischer Rücksichten in die wissen-
schaftliche Arbeit unbedingt zurückzuweisen, auch ehe wir unter-
sucht haben, ob die Befürchtung, welche uns diese Rücksichten
diktieren will, berechtigt ist oder nicht.
Das wären nun einige der Schwierigkeiten, welche Ihrer
Beschäftigung mit der Psychoanalyse entgegenstehen. Es ist
vielleicht mehr als genug für den Anfang. Wenn Sie deren Ein-
druck überwinden können, wollen wir fortsetzen.
ZWEITE VORLESUNG.
DIE FEHLLEISTUNGEN.
Meine Damen und Herren! Wir beginnen nicht mit
Voraussetzungen, sondern mit einer Untersuchung Zu
deren Objekt wählen wir gewisse Phänomene, die sehr
häufig, sehr bekannt und sehr wenig gewürdigt sind, die
insoferne nichts mit Kranksein zu tun haben, als sie bei jedem
Gesunden beobachtet werden können. Es sind dies die sogenannten
Fehlleistungen des Menschen, wie wenn jemand etwas sagen
will und dafür ein anderes Wort sagt, das Versprechen, oder
ihm dasselbe beim Schreiben geschieht, was er entweder bemerken
kann oder nicht; oder wenn jemand im Druck oder in der Schrift
etwas anderes liest, als was da zu lesen ist, das Verlesen;
ebenso wenn er etwas falsch hört, was zu ihm gesagt wird, das
Verhören, natürlich ohne daß eine organische Störung seines
Hörvermögens dabei in Betracht kommt. Eine andere Reihe
solcher Erscheinungen hat ein Vergessen zur Grundlage,
aber kein dauerndes, sondern ein nur zeitweiliges, z. B. wenn
jemand einen Namen nicht finden kann, den er doch kennt
und regelmäßig wiedererkennt, oder wenn er einen Vorsatz
auszuführen vergißt, den er doch später erinnert, also nur für
einen gewissen Zeitpunkt vergessen hatte. In einer dritten Reihe
entfällt diese Bedingung des nur Zeitweiligen, z. B. beim Ver-
legen, wenn jemand einen Gegenstand irgendwo unterbringt
14 II. DIE FEHLLEISTUNGEN.
und ihn nicht mehr aufzufinden weiß, oder beim ganz analogen
Verlieren. Es liegt da ein Vergessen vor, welches man anders
behandelt als anderes Vergessen, über das man sich wundert oder
ärgert, anstatt es begreiflich zu finden. Daran schließen sich
gewisse Irrtümer, bei denen wieder die Zeitweiligkeit zum
Vorschein kommt, indem man eine Zeitlang etwas glaubt, wovon
man doch vorher und später weiß, daß es anders ist, und eine
Anzahl von ähnlichen Erscheinungen unter verschiedenen Namen.
Es sind das alles Vorfälle, deren innere Verwandtschaft
durch die gleiche Bezeichnung mit der Vorsilbe ver zum Aus-
druck kommt, fast alle von unwichtiger Natur, meist von sehr
flüchtigem Bestand, ohne viel Bedeutung im Leben der Menschen.
Nur selten erhebt sich eines davon wie das Verlieren von Gegen-
ständen zu einer gewissen praktischen Wichtigkeit. Sie finden
darum auch nicht viel Aufmerksamkeit, erregen nur schwache
Affekte usw.
Für diese Phänomene will ich also jetzt Ihre Aufmerksam-
keitin Anspruch nehmen. Sie aber werden mir unmutig entgegen-
halten: „Es gibt soviel großartige Rätsel in der weiten Welt
wie in der engeren des Seelenlebens, so viele Wunder auf dem
Gebiet der Seelenstörungen, die Aufklärung fordern und ver-
dienen, daß es wirklich mutwillig scheint, Arbeit und Inter-
esse an solche Kleinigkeiten zu vergeuden. Wenn Sie uns ver-
ständlich machen könnten, wieso ein Mensch mit gesunden Augen
und Ohren bei lichtem Tag Dinge sehen und hören kann, die
es nicht gibt, warum ein anderer sich plötzlich von denen ver-
folgt glaubt, die ihm bisher die liebsten waren, oder mit der
scharfsinnigsten Begründung Wahngebilde vertritt, die jedem
Kinde als unsinnig erscheinen müssen, dann würden wir etwas
von der Psychoanalyse halten, aber wenn sie nichts anderes kann
als uns damit zu beschäftigen, warum ein Festredner einmal ein
DIE GERINGFÜGIGKEIT DIESER PHÄNOMENE. 15
Wort für ein anderes sagt, oder warum eine Hausfrau ihre
Schlüssel verlegt hat und ähnliche Nichtigkeiten, dann werden
auch wir mit unserer Zeit und unserem Interesse etwas Besseres
anzufangen wissen.“
Ich würde Ihnen antworten: Geduld, meine Damen und
Herren! Ich meine, Ihre Kritik ist nicht auf der richtigen Spur.
Es ist wahr, die Psychoanalyse kann nicht von sich rühmen,
daß sie sich nie mit Kleinigkeiten abgegeben hat. Im Gegenteil,
ihr Beobachtungsstoff sind gewöhnlich jene unscheinbaren Vor-
kommnisse, die von den anderen Wissenschaften als allzu gering-
fügig bei Seite geworfen werden, sozusagen der Abhub der Er-
scheinungswelt. Aber verwechseln Sie in Ihrer Kritik nicht die
Großartigkeit der Probleme mit der Auffälligkeit der Anzeichen?
Gibt es nicht sehr bedeutungsvolle Dinge, die sich unter gewissen
Bedingungen und zu gewissen Zeiten nur durch ganz schwache
Anzeichen verraten können? Ich könnte Ihnen mit Leichtigkeit
mehrere solche Situationen anführen. Aus welchen geringfügigen
Anzeichen schließen Sie, die jungen Männer unter Ihnen, dab
Sie die Neigung einer Dame gewonnen haben? Warten Sie dafür
eine ausdrückliche Liebeserklarung, eine stürmische Umarmung
ab, oder reicht Ihnen nicht ein von anderen kaum bemerkter
Blick, eine flüchtige Bewegung, eine Verlängerung des Hände-
drucks um eine Sekunde aus? Und wenn Sie als Kriminalbeamter
an der Untersuchung einer Mordtat beteiligt sind, erwarten Sie
dann wirklich zu finden, daß der Mörder seine Photographie
samt beigefügter Adresse auf dem Tatorte zurückgelassen hat,
oder werden Sie sich nicht notwendigerweise mit schwächeren
und undeutlicheren Spuren der gesuchten Persönlichkeit be-
gnügen? Lassen Sie uns also die kleinen Anzeichen nicht unter-
schätzen; vielleicht gelingt es von ihnen aus Größerem auf die
Spur zu kommen. Und dann, ich denke wie Sie, daß die großen
16 II. DIE FEHLLEISTUNGEN.
Probleme in Welt und Wissenschaft das erste Anrecht an unser
Interesse haben. Aber es nützt meistens nur sehr wenig, wenn
man den lauten Vorsatz faßt, sich jetzt der Erforschung dieses
oder jenes großen Problems zuzuwenden. Man weiß dann oft
nieht, wohin man den nächsten Schritt richten soll. In der
wissenschaftlichen Arbeit ist es aussichtsreicher, das anzugreifen,
was man gerade vor sich hat und zu dessen Erforschung sich
ein Weg ergibt. Macht man das recht gründlich, voraussetzungs-
und erwartungslos und hat man Glück, se kann sich infolge des
Zusammenhanges, der alles mit allem verknüpft, auch das
Kleine mit dem Großen, auch aus so anspruchsloser Arbeit ein
Zugang zum Studium der großen Probleme ergeben.
So würde ich also sprechen, um Ihr Interesse bei der Be-
handlung der anscheinend so nichtigen Fehlleistungen der Ge-
sunden festzuhalten. Wir wollen jetzt irgend jemanden, dem die
Psychoanalyse fremd ist, heranziehen und ihn fragen, wie er
sich das Vorkommen solcher Dinge erklärt. |
Er wird gewiß zuerst antworten: O, das ist keiner Er-
klärung wert; das sind kleine Zufälligkeiten. Was meint der
Mann damit? Will er behaupten, daß es noch so kleine Gescheh-
nisse gibt, die aus der Verkettung des Weltgeschehens heraus-
fallen, die ebensogut nicht sein könnten, wie sie sind? Wenn
jemand so den natürlichen Determinismus an einer einzigen
Stelle durchbricht, hat er die ganze wissenschaftliche Welt-
anschauung über den Haufen geworfen. Man darf ihm dann
vorhalten, um wie vieles konsequenter sich selbst die religiöse
W eltanschauung benimmt, wenn sie nachdrücklich versichert,
es selie kein Sperling vom Dach ohne Gottes besonderen Willen.
Ich meine, IHRE Freund wird die Konsequenz aus seiner ersten
Sa A a ai Be wird EBraken und sagen,
ınge studiere, finde er allerdings Erklärungen
IHRE GEWÖHNLICHE ERKLÄRUNG. 17
für sie. Es handle sieh um kleine Entgleisungen der Funktion,
Ungenauigkeiten der seelischen Leistung, deren Bedingungen
sich angeben ließen. Ein Mensch, der sonst richtig sprechen
kann, mag sich in der Rede versprechen, 1. wenn er leicht
unwohl und ermüdet ist, 2. wenn er aufgeregt, 3. wenn er von
anderen Dingen überstark in Anspruch genommen ist. Es ist
leicht diese Angaben zu bestätigen. Das Versprechen tritt wirk-
lich besonders häufig auf, wenn man ermüdet ist, Kopfschmerzen
hat oder vor einer Migräne steht. Unter denselben Umständen
ereignet sich leicht das Vergessen von Eigennamen. Manche
Personen sind daran gewöhnt, an diesem Entfallen der Eigen-
namen die herannahende Migräne zu erkennen. Auch in der
Aufregung verwechselt man oft die Worte, aber auch die Dinge,
man „vergreift sich“, und das Vergessen von Vorsätzen sowie
eine Menge von anderen unbeabsichtigten Handlungen wird auf-
fällig, wenn man zerstreut, d. h. eigentlich auf etwas anderes
konzentriert ist. Ein bekanntes Beispiel solcher Zerstreutheit
ist der Professor der „Fliegenden Blätter“, der seinen Schirm
stehen läßt und seinen Hut verwechselt, weil er an die Probleme
denkt, die er in seinem nächsten Buch behandeln wird. Bei-
spiele dafür, wie man Vorsätze, die man gefaßt, Versprechungen,
die mar gemacht hat, vergessen kann, weil man inzwischen
etwas erlebt hat, wovon man stark in Anspruch genommen
wurde, kennt jeder von uns aus eigener Erfahrung.
Das klingt so ganz verständig und scheint auch gegen
Widerspruch gefeit zu sein. Es ist vielleicht nicht sehr inter-
essant, nicht so, wie wir es erwartet haben. Fassen wir diese
Erklärungen der Fehlleistungen näher ins Auge. Die Bedin-
gungen, die für das Zustandekommen dieser Phänomene ange-
geben werden, sind unter sich nicht gleichartig. Unwohlsein und
Zirkulationsstörung geben eine physiologische Begründung für
Freud, Vorlesungen. IH, 8
II. DIE FEHLLEISTUNGEN.
18
die Beeinträchtigung der normalen Funktion; Erregung, Er-
müdung, Ablenkung sind Momente anderer Art, die man psycho-
physiologische nennen könnte. Diese letzteren lassen sich leicht
in Theorie übersetzen. Sowohl durch die Ermüdung wie durch
die Ablenkung, vielleicht auch durch die allgemeine Erregung,
wird eine Verteilung der Aufmerksamkeit hervorgerufen, die
zur Folge haben kann, daß sich der betreffenden Leistung zu
wenig Aufmerksamkeit zuwendet. Diese Leistung kann dann be-
sonders leicht gestört, ungenau ausgeführt werden. Leichtes
Kranksein, Abänderungen der Blutversorgung im nervösen
Zentralorgan können dieselbe Wirkung haben, indem sie das
maßgebende Moment, die Verteilung der Aufmerksamkeit in
ähnlicher Weise beeinflussen. Es würde sich also in allen Fällen
um die Effekte einer Aufmerksamkeitsstörung handeln, ent-
weder aus organischen oder aus psychischen Ursachen.
Dabei scheint nicht viel für unser psychoanalytisches Inter-
esse herauszuschauen. Wir könnten uns versucht fühlen, das
Thema wieder aufzugeben. Allerdings, wenn wir näher auf
die Beobachtungen eingehen, stimmt nicht alles zu dieser Auf-
merksamkeitstheorie der Fehlleistungen oder leitet sich wenig-
stens nicht natürlich aus ihr ab. Wir machen die Erfahrung,
daß solche Fehlhandlungen und solches Vergessen auch bei
Personen vorkommen, die nicht ermüdet, zerstreut oder aufge-
regt sind, sondern sich nach jeder Richtung in ihrem Normal-
zustand befinden, es sei denn, man wolle den Betreffenden
gerade wegen der Fehlleistung nachträglich eine Aufgeregtheit
zuschreiben, zu welcher sie sich aber selbst nicht bekennen. Es
Kann auch nicht so einfach zugehen, daß eine Leistung durch
die Steigerung der auf sie gerichteten Aufmerksamkeit garantiert,
durch die Herabsetzung derselben gefährdet wird. Es gibt eine
große Menge von Verrichtungen, die man rein automatisch,
DIE 'ı uEORIE DER AUFMERKSAMKEITSSTÖRUNG. 19
mit sehr geringer Aufmerksamkeit, vollzieht und dabei doch
ganz sicher ausführt. Der Spaziergänger, der kaum weiß, wo
er geht, hält doch den richtigen We g ein und macht am Ziele
halt, ohne sich vergangen zu haben. Wenigstens in der
Regel trifft er es so. Der geübte Klavierspieler greift, ohne
daran zu denken, die richtigen Tasten. Er kann sich natürlich
auch einmal vergreifen, aber wenn das automatische Spielen die
Gefahr des Vergreifens steigerte, müßte gerade der Virtuose,
dessen Spiel durch große Übung ganz und gar automatisch
geworden ist, dieser Gefahr am meisten ausgesetzt sein. Wir
sehen im Gegenteil, daß viele Verrichtungen ganz besonders
sicher geraten, wenn sie nicht Gegenstand einer besonders hohen
Aufmerksamkeit sind, und daß das Mißgeschick der Fehl-
leistung gerade dann auftreten kann, wenn an der richtigen Lei-
stung besonders viel gelegen ist, eine Ablenkung der nötigen
‘ Aufmerksamkeit also sicherlich nicht statt hat. Man kann
dann sagen, das sei der Effekt der „Aufregung“, aber wir ver-
stehen nicht, warum die Aufregung die Zuwendung der
Auimerksamkeit zu dem mit soviel Interesse Beabsichtigten
nicht vielmehr steigert. Wenn jemand in einer wichtigen Rede
oder mündlichen Verhandlung durch ein Versprechen das Gegen-
teil von dem sagt, was er zu sagen beabsichtigt, so ist das
nach der psycho-physiologischen oder Aufmerksamkeitstheorie
kaum zu erklären.
Es gibt auch bei den Fehlleistungen so viele kleine Neben-
erscheinungen, die man nicht versteht, und die uns durch die
bisherigen Aufklärungen nicht näher gebracht werden. Wenn
man z. B. einen Namen zeitweilig vergessen hat, so ärgert man
sich darüber, will ihn durchaus erinnern und kann von der
Aufgabe nicht ablassen. Warum gelingt es dem Geärgerten ss
überaus selten, seine Aufmerksamkeit, wie er doch möchte, auf
ur
II. DIE FEHLLEISTUNGEN.
——
20
das Wort zu lenken, das ihm, wie er sagt, „auf der Zunge
liegt“, und das er sofort erkennt, wenn es vor ihm ausgesprochen
wird? Oder: es kommen Fälle vor, in denen die Fehlleistungen
sich vervielfältigen, sich miteinander verketten, einander er-
setzen. Das erstemal hatte man an ein Rendezvous vergessen ;
das nächstemal, für das man den Vorsatz, ja nicht zu vergessen,
gefaßt hat, stellt es sich heraus, daß man sich irrtümlich eine
andere Stunde gemerkt hat. Man sucht sich auf Umwegen an
ein vergessenes Wort zu besinnen, dabei entfällt einem ein zweiter
Name, der beim Aufsuchen des ersten hätte behilflich sein
können. Geht man jetzt diesem zweiten Namen nach, so entzieht
sich ein dritter usw. Dasselbe kann sich bekanntlich auch bei
Druckfehlern ereignen, die ja als Fehlleistungen des Setzers auf-
zufassen sind. Ein solcher hartnäckiger Druckfehler soll sich
einmal in ein sozialdemokratisches Blatt eingeschlichen haben.
In dem Berichte über eine gewisse Festlichkeit war zu lesen:
Unter den Anwesenden bemerkte man auch seine Hoheit, den
Kornprinzen. Am nächsten Tag wurde eine Korrektur versucht.
Das Blatt entschuldigte sich und schrieb: Es hätte natürlich
heißen sollen: den Knor prinzen. Man spricht in solchen Fällen
gerne vom Druckfehlerteufel, vom Kobold des Setzkastens und
dergleichen, Ausdrücke, die jedenfalls über eine psycho-physio-
logische Theorie des Druckfehlers hinausgehen.
Ich weiß auch nicht, ob Ihnen bekannt ist, daß man das
Versprecher. provozieren, sozusagen durch Suggestion hervor-
rufen kann. Eine Anekdote berichtet hiezu: Als einmal ein
Neuling auf der Bühne mit der wichtigen Rolle betraut war,
in der „Jungfrau von Orleans“ dem König zu melden, daß der
Connötable sein Schwert zurückschickt, machte sich ein Helden-
darsteller den Scherz, während der Probe dem schüchternen An-
fänger wiederholt anstatt dieses Textes vorzusagen: Der Kom.-
DIE EFFEKTE DES VERSPRECHENS. Al
fortabel schickt sein Pferd zurück, und er erreichte seine Ab-
sicht. In der Vorstellung debütierte der Unglückliche wirklich
mit dieser abgeänderten Meldung, obwohl er genug gewarnt
war oder vielleicht gerade darum.
Alle diese kleinen Züge der Behllaatungen werden durch
die Theorie der Aufmerksamkeitsentziehung nicht gerade auf-
geklärt. Aber darum braucht diese Theorie noch nicht falsch
zu sein. Es fehlt ihr vielleicht an etwas, an einer Ergänzung,
damit sie voll befriedigend werde. Aber auch manche der Fehl-
leistungen selbst können noch von einer anderen Seite betrachtet
werden.
Greifen wir als die für unsere Absichten geeignetste unter
den Fehlleistungen das Versprechen heraus. Wir könnten
ebensogut das Verschreiben oder Verlesen wählen. Da müssen
wir uns denn einmal sagen, daß wir bisher nur danach gefragt
haben, wann, unter welchen Bedingungen man sich verspricht,
und auch nur darauf eine Antwort bekommen haben. Man kann
aber auch sein Interesse anders richten und wissen wollen,
warum man sich gerade in dieser Weise verspricht und in
keiner anderen; man kann das in Betracht ziehen, was beim
Versprechen herauskommt. Sie sehen ein, solange man nicht
diese Frage beantwortet, den Effekt des Versprechens aufklärt,
bleibt das Phänomen nach seiner psychologischen Seite eine
Zufälligkeit, mag es auch eine physiologische Erklärung ge-
funden haben. Wenn sich mir ein Versprechen ereignet, könnte
ich mich offenbar in unendlich vielen Weisen versprechen, für
das eine richtige Wort eines von tausend anderen sagen, unge-
zählt viele Entstellungen an dem richtigen Wort vornehmen.
Gibt es nun irgend etwas, was mir im besonderen Falle von
allen möglichen gerade die eine Weise des Versprechens
aufdrängt, oder bleibt das Zufall, Willkür und läßt sich
22 II. DIE FEHLLEISTUNGEN.
zu dieser Frage vielleicht überhaupt nichts Vernünftiges vor-
bringen? | | |
Zwei Autoren Meringer und Mayer (ein Philologe und
ein Psychiater) haben denn auch im Jahre 1895 den Versuch
gemacht, die Frage des Versprechens von dieser Seite her anzu-
greifen. Sie haben Beispiele gesammelt und zunächst nach rein
deskriptiven Gesichtspunkten beschrieben. Das gibt natürlich
noch keine Erklärung, kann aber den Weg zu ihr finden lassen.
Sie unterscheiden die Entstellungen, welche die intendierte Rede
durch das Versprechen erfährt, als: Vertauschungen, Vorklänge,
Nachklänge, Vermengungen (Kontaminationen) und Ersetzungen
(Substitutionen). Ich werde Ihnen von diesen Hauptgruppen der
beiden Autoren Beispiele vorführen. Ein Fall von Vertauschung
ist es, wenn jemand sagt: Die Milo von Venus anstatt: Die
Venus von Milo (Vertauschung in der Reihenfolge der Worte);
ein Vorklang: Es war miraufderSchwest... auf der Brust
so schwer; ein Nachklang wäre der bekannte verunglückte Toast:
Ich fordere Sie auf, auf das Wohl unseres Chefs aufzustoßen.
Diese drei Formen des Versprechens sind nicht gerade häufig.
Weit zahlreicher werden Sie die Beobachtungen finden, in denen
das Versprechen durch eine Zusammenziehung oder Vermengung
entsteht, z. B. wenn ein Herr eine Dame auf der Straße mit
den 'Worten anspricht: Wenn Sie gestatten, mein Fräulein,
möchte ich Sie gerne begleit—digen. In dem Mischwort
steckt außer dem Begleiten offenbar auch das Beleidigen.
(Nebenkei, der junge Mann wird bei der Dame nicht viel Erfolg
gehabt haben.) Als eine Ersetzung führen M. und M. den Fall
an, daß einer sagt: Ich gebe die Präparate in den Briefkasten
anstatt Brütkasten u. dgl.
Der Erklärungsversuch, den die beiden Autoren auf ihre
Sammlung von Beispielen gründen, ist ganz besonders unzu-
DER ERKLÄRUNGSVERSUCH VON MERINGER UND MAYER. 923
länglich. Sie meinen, daß die Laute und Silben eines Wortes
verschiedene Wertigkeit haben, und daß die Innervation des
hochwertigen Elements die der minderwertigen störend 'beein-
flussen kann. Dabei fußen sie offenbar auf den an sich gar nicht
so häufigen Vor- und Nachklängen; für andere Erfolge des
Versprechens kommen diese Lautbevorzugungen, wenn sie über-
haupt existieren, gar nicht in Betracht. Am häufigsten verspricht
man sich doch, indem man-anstatt eines Wortes ein anderes,
ihm sehr ähnliches sagt, und diese Ähnlichkeit genügt vielen
zur Erklärung des Versprechens. Zum Beispiel ein Professor in
seiner Antrittsrede: Ich bin nicht geneigt (geeignet), die Ver-
dienste meines sehr geschätzten Vorgängers zu würdigen. Oder
ein anderer Professor: Beim weiblichen Genitale hat man trotz
vieler Versuchungen... Pardon: Versuche ...
Die gewöhnlichste und auch die auffälligste Art des Ver-
sprechens ist aber die zum genauen Gegenteil dessen, was man
zu sagen beabsichtigt. Dabei kommt man natürlich von den Laut-
beziehungen und Ähnlichkeitswirkungen weit ab und kann sich
zum Ersatz dafür darauf berufen, daß Gegensätze eine starke
begriffliche Verwandtschaft miteinander haben und einander
in der psychologischen Assoziation besonders nahe stehen. Es
gibt historische Beispiele dieser Art: Ein Präsident unseres Ab-
geordnetenhauses eröffnete einmal die Sitzung mit den Worten:
Meine Herren, ich konstatiere die Anwesenheit von .... Mit-
gliedern und erkläre somit die Sitzung für geschlossen.
Ähnlich verführerisch wie die Gegensatzbeziehung wirkt
dann irgend eine andere geläufige Assoziation, die unter Um-
ständen recht unpassend auftauchen kann. So wird z. B. er-
zählt, daß bei einer Festlichkeit zu Ehren der Heirat eines
Kindes von H. Helmholtz mit einem Kinde des bekannten
Entdeckers und Großindustriellen W. Siemens der berühmte
24 II. DIE FEHLLEISTUN? N.
Physiologe Dubois-Reymond die Festrede zu halten hatte.
Er schloß seinen sicherlich glänzenden Toast mit den Worten:
Also es lebe die neue Firma: Siemens und — Halske! Das
war natürlich der Name der alten Firma. Die Zusammenstellung
der beiden Namen mußte dem Berliner ebenso geläufig sein
wie etwa dem Wiener die: Riedel und Beutel.
So müssen wir also zu den Lautbeziehungen und zur Wort-
ähnlichkeit noch den Einfluß der Wortassoziationen hinzu-
nehmen. Aber damit nicht genug. In einer Reihe von Fällen
scheint die Aufklärung des beobachteten Versprechens nicht eher
zu gelingen, als bis wir mit in Betracht gezogen haben, was
einen Satz vorher gesprochen oder auch nur gedacht wurde.
Also wiederum ein Fall von Nachklingen, wie der von Me-
ringer betonte, nur von größerer Ferne her. — Ich muß ge-
stehen, ich habe im ganzen den Eindruck, als wären wir jetzt
einem Verständnis der Fehlleistung des Versprechens ferner ge-
rückt denn je!
Indes, ich hoffe nicht irre zu gehen, wenn ich es ausspreche,
daß wir alle während der eben angestellten Untersuchung einen
neuen Eindruck von den Beispielen des Versprechens bekommen
haben, bei dem zu verweilen sich doch lohnen könnte. Wir hatten
die Bedingungen untersucht, unter denen Versprechen über-
haupt zu stande kommt, dann die Einflüsse, welche die Art der
Entstellung durch das Versprechen bestimmen, aber den Effekt
des Versprechens für sich allein, ohne Rücksicht auf seine Ent-
stehung, haben wir noch gar nicht ins Auge gefaßt. Entschließen
wur uns auch dazu, so müssen wir endlich den Mut finden zu
sagen: In einigen der Beispiele hat ja auch das einen Sinn, was
beim Versprechen zu stande gekommen ist. Was heißt das, es
hat einen Sa? Nun es will sagen, daß der Effekt des Ver-
sprechens vielleicht ein Recht darauf hat, selbst als ein voll-
DER EIGENE SINN DER FEHLLEISTUNG. 2
gültiger psychischer Akt, der auch sein eigenes Ziel verfolgt,
als eine Äußerung von Inhalt und Bedeutung aufgefaßt zu
werden. Wir haben bisher immer von Fehlhandlungen gesprochen,
aber jetzt scheint es, als ob manchmal die Fehlhandlung selbst _
eine ganz ordentliche Handlung wäre, die sich nur an die Stelle
der anderen, erwarteten oder beabsichtigten Handlung gesetzt
hat.
Dieser eigene Sinn der Fehlhandlung scheint ja in einzelnen
Fällen greifbar und unverkennbar zu sein. Wenn der Präsident
die Sitzung des Abgeordnetenhauses mit den ersten Worten
schließt, anstatt sie zu eröffnen, so sind wir infolge unserer
Kenntnis der Verhältnisse, unter denen sich dies Versprechen
vollzog, geneigt, diese Fehlhandlung sinnvoll zu finden. Er er-
wartet sich nichts Gutes von der Sitzung und wäre froh, sie
sofort wieder abbrechen zu können. Das Aufzeigen dieses Sinnes,
also die Deutung dieses Versprechens macht uns gar keine
Schwierigkeiten. Oder wenn eine Dame anscheinend anerkennend
eine andere fragt: Diesen reizenden neuen Hut haben Sie sich
wohl selbst aufgepatzt?, so wird keine Wissenschaftlichkeit
der Welt uns abhalten können, aus diesem Versprechen eine
Äußerung herauszuhören: Dieser Hut ist eine Patzerei. Oder
wenn eine als energisch bekannte Dame erzählt: Mein Mann hat
den Doktor gefragt, welche Diät er einhalten soll. Der Doktor
hat aber gesagt, er braucht keine Diät, er kann essen und trinken,
was ich will, so ist dies Versprechen doch anderseits der unver-
kennbare Ausdruck eines konsequenten Programms.
Meine Damen und Herren, wenn es sich herausstellen sollte,
daß nicht nur einige wenige Fälle von Versprechen und von Fehl-
leistungen überhaupt einen Sinn haben, sondern eine größere
Anzahl von ihnen, so wird unvermeidlich dieser Sinn der Fehl-
leistung, von dem bisher noch nicht die Rede war, für uns das
96 II. DIE FEHLLEISTUNGEN. Fe
Interessanteste werden und alle anderen Gesichtspunkte mit
Recht in den Hintergrund drängen. Wir können dann alle phy-
siologischen oder psycho-physiologischen Momente bei Seite lassen
und dürfen uns rein psychologischen Untersuchungen über den
Sinn, d. i. die Bedeutung, die Absicht der Fehlleistung hingeben.
Wir werden es also nicht verabsäumen, demnächst ein größeres
Beobachtungsmaterial auf diese Erwartung zu prüfen.
Ehe wir aber diesen Vorsatz ausführen, möchte ich Sie eın-
laden, mit mir eine andere Spur zu verfolgen. Es ist wiederholt
vorgekommen, daß ein Dichter sich des Versprechens oder einer
anderen Fehlleistung als eines Mittels der dichterischen Dar-
stellung bedient hat. Diese Tatsache muß uns für sich allein be-
weisen, daß er die Fehlleistung, das Versprechen z. B., für etwas
Sinnvolles hält, denn er produziert es ja absichtlich. Es geht
doch nicht so vor, daß der Dichter sich zufällig verschreibt und
dann sein Verschreiben bei seiner Figur als ein Versprechen
bestehen läßt. Er will uns durch das Versprechen etwas zum
Verständnis bringen, und wir können ja nachsehen, was das
sein mag, ob er uns etwa andeuten will, daß die betreffende
Person zerstreut und ermüdet ist oder eine Migräne zu erwarten
hat. Natürlich wollen wir es nicht überschätzen, wenn das Ver-
sprechen vom Dichter als sinnvoll gebraucht wird. Es könnte
doch in Wirklichkeit sinnlos sein, eine psychische Zufälligkeit
oder nur in ganz seltenen Fällen sinnreich, und der Dichter be-
hielte das Recht, es durch die Ausstattung mit Sinn zu ver-
geistigen, um es für seine Zwecke zu gebrauchen. Zu verwundern
wäre es aber auch nicht, wenn wir über das Versprechen vom
Dichter mehr zu erfahren hätten als vom Philologen und vom
Psychiater.
Ein solches Beispiel von Versprechen findet sich im Wallen-
stein (Piccolomini, erster Aufzug, fünfter Auftritt). Max
EIN VERSPRECHEN BEI SCHILLER. ® 97
Piceolomini hat in der vorhergehenden Szene aufs leidenschaft-
lichste für den Herzog Partei genommen und dabei von den
Segnungen des Friedens geschwärmt, die sich ihm auf seiner
Reise enthüllt, während er die Tochter Wallensteins ins Lager
begleitete. Er läßt seinen Vater und den Abgesandten des Hofes,
Questenberg, in voller Bestürzung zurück. Und nun geht der
fünfte Auftritt weiter:
Questenberg: O weh uns! Steht es so?
Freund, und wir lassen ihn in diesem Wahn
Dahingehen, rufen ihn nicht gleich
Zurück, daß wir die Augen auf der Stelle
Ihm öffnen?
Octavio (aus einem tiefen Nachdenken zu sich kommend):
Mir hat er sie jetzt geöffnet,
Und mehr erblick ich, als mich freut.
Questenberg: Was ist es, Freund?’
Octavio: Fluch über diese Reise!
Questenberg: Wieso? Was ist es?
Octavio: Kommen Sie! Ich muß
Sogleich die unglückselige Spur verfolgen,
Mit meinen Augen sehen — kommen Sie —
(will ihn fortführen).
Questenberg: Was denn? Wohin?
Octavio (pressiert): Zu ihr!
Questenberg: Zu —
Octavico (korrigiert sich): Zum Herzog! Gehen wir! usw.
Octavio wollte sagen: Zu ihm, zum Herzog, verspricht sich
aber und verrät durch seine Worte: Zu ihr uns wenigstens,
98 IT. DIE FEHLLEISTUNGEN.
daß er den Einfluß, welcher den jungen Kriegshelden für den
Frieden schwärmen macht, sehr wohl erkannt hat.
Ein noch eindrucksvolleres Beispiel hat O. Rank bei
Shakespeare entdeckt. Es findet sich im „Kaufmann von
Venedig“ in der berühmten Szene der Wahl des glücklichen
Liebhabers zwischen den drei Kästchen, und ich kann vielleicht
nichts Besseres tun als Ihnen die kurze Darstellung von Rank
hier vorlesen.
„Ein dichterisch überaus fein motiviertes und technisch glän-
zend verwertetes Versprechen, welches wie das von Freud
im Wallenstein aufgezeigte (Zur Psychopathologie des All-
tagslebens, 2. Aufl., S. 48) verrät, daß die Dichter Mechanismus
und Sinn dieser Fehlleistung wohl kennen und deren Verständnis
auch beim Zuhörer voraussetzen, findet sich in Shakespeares
„Kaufmann von Venedig“ (dritter Aufzug, zweite Szene).
Die durch den Willen ihres Vaters an die Wahl eines Gatten
durch das Los gefesselte Porzia ist bisher allen ihren unlieb-
samen Freiern durch das Glück des Zufalls entronnen. Da sie
endlich in Bassanio den Bewerber gefunden hat, dem sie wirklich
zugetan ist, muß sie fürchten, daß auch er das falsche Los ziehen
werde. Sie möchte ihm nun am liebsten sagen, daß er auch in
diesem Falle ihrer Liebe sicher sein könne, ist aber durch ihr
Gelübde daran gehindert. In diesem inneren Zwiespalte läßt sie
der Dichter zu dem willkommenen Freier sagen: ?
Ich bitt Euch, wartet; ein, zwei Tage noch,
Bevor Ihr wagt: denn wählt Ihr falsch, so büße
Ich Euern Umgang ein; darum verzieht.
Ein Etwas sagt mir (doch es ist nicht Liebe),
Ich möcht Euch nicht verlieren; — — —
—— —— —— lch könnt Euch leiten
EIN VERSPRECHEN BEI SHAKESPEARE. 29
Zur rechten Wahl, dann bräch ich meinen Eid;
Das will ich nicht; so könnt Ihr mich verfehlen.
Doch wenn Ihr’s tut, macht Ihr mich sündlich wünschen,
Ich hätt’ ihn nur gebrochen. O, der Augen,
Die mich so übersehn und mich geteilt!
Halb bin ich Euer, die andre Hälfte Euer —
Mein, wolltich sagen; doch wenn mein, dann Euer,
Und so ganz Euer.
(Nach der Übersetzung von Schlegel und Tieck.)
Gerade das, was sie ihm also bloß leise andeuten möchte, weil
sie es eigentlich ihm überhaupt verschweigen sollte, daß sie näm-
lich schon vor der Wahl ganz die Seine sei und ihn liebe, das
läßt der Dichter mit bewundernswertem psychologischen Fein-
gefühl in dem Verspreehen sich offen durchdrängen und weiß
durch diesen Kunstgriff die unerträgliche Ungewißheit des Lie-
benden sowie die gleiehgestimmte Spannung des Zuhörers über
den Ausgang der Wahl zu beruhigen.“
Wollen Sie noch bemerken, wie fein Porzia zwischen den
beiden Aussagen, die in dem Versprechen enthalten sind, am
Ende vermittelt, wie sie den zwischen ihnen bestehenden Wider-
spruch aufhebt und schließlich doch dem Versprechen Recht
gibt:
„Doch, wenn mein, denn Euer,
Und so ganz Euer.“
Gelegentlich hat auch ein der Medizin ferne stehender
Denker den Sinn einer Fehlleistung mit einer Bemerkung auf-
gedeckt und uns die Bemühung um deren Aufklärung vorweg-
genommen. Sie kennen alle den geistreichen Satiriker Lichten-
berg (1742—1799) von dem Goethe gesagt hat: Wo er einen
30 II. DIE FEHLLEISTUNGEN.
Spaß macht, liegt ein Problem verborgen. Nun gelegentlich
kommt durch den Spaß auch die Lösung des Problems zu Tage.
Liehtenberg notiert in seinen witzigen und satirischen
Einfällen den Satz: Er las immer Agamemnon anstatt „ange-
nommen“, so sehr hatte er den Homer gelesen. Das ist wirklich
die Theorie des Verlesens.
Das nächstemal wollen wir prüfen, ob wir in der Auf-
fassung der Fehlleistungen mit den Dichtern gehen können.
T = - me
DRITTE VORLESUNG.
DIE FEHLLEISTUNGEN.
(FORTSETZUNG,)
Meine Damen und Herren! Wir sind das vorigemal auf den
Einfall gekommen, die Fehlleistung nicht im Verhältnis zu der
von ihr gestörten, beabsichtigten Leistung zu betrachten, sondern
an und für sich, haben den Eindruck empfangen, daß sie in
einzelnen Fällen ihren eigenen Sinn zu verraten scheint, und
haben uns gesagt, wenn es in größerem Umfange zu bestätigen
wäre, daß die Fehlleistung einen Sinn hat, so würde uns dieser
Sinn bald interessanter werden als die Untersuchung der Um:
stände, unter denen die Fehlleistung zu stande kommt.
Einigen wir uns noch einmal darüber, was wir unter dem
„Sinn“ eines psychischen Vorganges verstehen wollen. Nichts an-
deres als die Absicht, der er dient, und seine Stellung in einer
psychischen Reihe. Für die meisten unserer Untersuchungen
können wir „Sinn“ auch durch ,„Absicht“, „Tendenz“ ersetzen.
‚War es also nur ein täuschender Schein oder eine poetische Er-
höhung der Fehlleistung, wenn wir in ihr eine Absicht zu er-
kennen glaubten ?
Bleiben wir den Beispielen des Versprechens treu und über-
blicken eine größere Anzahl solcher Beobachtungen. Da finden
wir denn ganze Kategorien von Fällen, in denen die Absicht, der
Sinn des Versprechens klar zu Tage liegt. Vor allem die, in denen
32 III. DIE FEHLLEISTUNGEN.
das Gegenteil an die Stelle des Beabsichtigten tritt. Der Präsident
sagt in der Eröffnungsrede: Ich erkläre die Sitzung für ge-
schlossen. Das ist doch unzweideutig. Sinn und Absicht seiner
Fehlrede ist, daß er die Sitzung schließen will. „Er sagt es ja
selbst“, möchte man dazu zitieren; wir brauchen ihn ja nur
beim Wort zu nehmen. Stören Sie mich jetzt nicht mit der Ein-
rede, daß dies nicht möglich ist, daß wir ja wissen, er wollte
die Sitzung nicht schließen, sondern eröffnen, und daß er selbst,
den wir eben als oberste Instanz anerkannt haben, bestätigen
kann, daß er eröffnen wollte. Sie vergessen dabei, daß wir über-
eingekommen sind, die Fehlleistung zunächst an und für sich
zu betrachten; ihr Verhältnis zur Intention, die sie stört, soll
erst später zur Sprache kommen. Sie machen sich sonst eines
logischen Fehlers schuldig, durch den Sie das in Behandlung
stehende Problem glatt wegeskamotieren, was im Englischen
„begging the question“ heißt.
In anderen Fällen, wo man sich nicht gerade zum Gegen-
teil versprochen hat, kann doch durch das Versprechen ein
gegensätzlicher Sinn zum Ausdruck kommen. „Ich bin nicht ge-
neigt, die Verdienste meines Vorgängers zu würdigen.“ Geneigt
ist nicht das Gegenteil von geeignet, aber es ist ein offenes Ge-
ständnis, in scharfem Gegensatz zur Situation, in welcher der
Redner sprechen soll.
In noch anderen Fällen £ ügt das Versprechen zu dem beab-
Rich Bilgben Sinne einfach einen zweiten hinzu. Der Satz hört
RR; dann an wie eine Zusammenziehung, Verkürzung, Ver-
erzählt hätte: Er ale wi a > a u
hat er denn zu wollen? An seiner Statt ER m re
machen oft den Eindruck solcher Ve n I ae
erkürzungen, z. B. wenn ein
DER SINN DES VERSPRECHENS. 33
Anatomieprofessor nach seinem Vortrag über die Nasenhöhle
fragt, ob die Hörer es auch verstanden haben, und ob der allge-
meinen Bejahung fortsetzt: Ich glaube kaum, denn die Leute,
welche die Nasenhöhle verstehen, kann man selbst in einer
Millionenstadt an einem Finger... Pardon, an den Fin-
gern einer Hand abzählen. Die verkürzte Rede hat auch ihren .
Sinn; sie sagt, es gibt nur einen Menschen, der das versteht.
Diesen Gruppen von Fällen, in denen die Fehlleistung ihren
Sinn selbst zum Vorschein bringt, stehen andere gegenüber, in
denen das Versprechen nichts an sich Sinnreiches geliefert hat,
die also unseren Erwartungen energisch widersprechen. Wenn
jemand durch Versprechen einen Eigennamen verdreht oder unge-
bräuchliche Lautfolgen zusammenstellt, so scheint durch diese
sehr häufigen Vorkommnisse die Frage, ob alle Fehlhandlungen
etwas Sinnreiches leisten, bereits im ablehnenden Sinne ent:
schieden zu sein. Allein bei näherem Eingehen auf solche Bei-
spiele zeigt es sich, daß ein Verständnis dieser Entstellungen
leicht möglich wird, ja daß der Unterschied zwischen diesen
dunkleren und den früheren klaren Fällen gar nicht so groß ist.
Ein Herr, nach dem Befinden seines Pferdes befragt, ant-
wortet: Ja, das draut... Das dauert vielleicht noch einen
Monat. Befragt, was er eigentlich sagen wollte, erklärt er, er
habe gedacht, das sei eine traurige Geschichte, der Zusammen-
stoß von „dauert“ und „traurig“ habe jenes „draut‘“ ergeben.
(Meringer und Mayer.)
Ein anderer erzählt von irgend welchen Vorgängen, die er
beanständet, und setzt fort: Dann aber sind Tatsachen zum
Vorschwein gekommen.... Auf Anfragen bestätigt er, daß
er diese Vorgänge als Schweinereien bezeichnen wollte. „Vor-
schein“ und „Schweinerei‘“ haben mitsammen das sonderbare ‚,Vor-
schwein‘‘ entstehen lassen. (M. u. M.)
Freud, Vorlesungen. III. 3
34 III. DIE FEHLLEISTUNGEN.
Erinnern Sie sich an den Fall des jungen Mannes, der die
ihm unbekannte Dame begleitdigen wollte. Wir hatten uns
die Freiheit genommen, diese Wortbildung in begleiten und
beleidigen zu zerlegen, und fühlten uns dieser Deutung sicher,
ohne Bestätigung für sie zu fordern. Sie ersehen aus diesen Bei-
spielen, daß auch diese dunkleren Fälle des Versprechens sich
durch das Zusammentreffen, die Interferenz, zweier ver-
schiedener Redeabsichten erklären lassen; die Unterschiede ent-
stehen nur dadurch, daß einmal die eine Absicht die andere völlig
ersetzt (substituiert), so bei den Versprechen zum Gegenteil,
während sie sich ein andermal damit begnügen muß, sie zu ent-
stellen oder zu modifizieren, so daß Mischbildungen zu stande
kommen, die an sich mehr oder minder sinnreich erscheinen.
Wir glauben jetzt das Geheimnis einer großen Anzahl von
Versprechen erfaßt zu haben. Halten wir an dieser Einsicht fest,
so werden wir noch andere bisher rätselhafte Gruppen verstehen
können. Beim Namenentstellen können wir z. B. nicht annehmen,
daß es sich immer um die Konkurrenz zweier ähnlicher und
doch verschiedener Namen handelt. Aber die zweite Absicht
ist doch unschwer zu erraten. Die Entstellung eines Namens
kommt außerhalb des Versprechens häufig genug vor; sie ver-
sucht den Namen übelklingend oder an etwas N iedriges an-
klingend zu machen, und ist eine bekannte Art oder Unart der
Schmähung, auf die der gebildete Mensch bald verzichten lernt,
aber nicht gerne verzichtet. Er gestaltet sich dieselbe noch oft
als „Witz“ von allerdings sehr geringer Würde. Um nur ein grelles
und häßliches Beispiel dieser N amensentstellung anzuführen, er-
wähne ich, daß man den Namen des Präsidenten der französischen
Republik, Poincar6, in diesen Zeiten in „Schweinskarre“ umge-
wandelt hat. Es liegt also nahe, auch beim Versprechen eine solche
schmähende Absicht anzunehmen, die sich in der Entstellung
DIE INTERFERENZ ZWEIER ABSICHTEN. 35
des Namens durchsetzt. Ähnliche Aufklärungen drängen sich
uns in Fortführung unserer Auffassung für gewisse Fälle des
Versprechens mit komischem oder absurdem Effekt auf. „Ich
fordere Sie auf, auf das Wohl unseres Chefs auf zustoßen.“
Hier wird eine feierliche Stimmung unerwarteterweise durch
das Eindringen eines Wortes gestört, das eine unappetitliche
Vorstellung erweckt, und wir können nach dem; Vorbild gewisser
Schimpf- und Trutzreden kaum anderes vermuten, als daß sich
eine Tendenz zum Ausdruck bringen will, die der vorgeschobenen
Verehrung energisch widerspricht und etwa sagen will: Glaubt
doch nicht daran, das ist nicht mein Ernst, ich pfeif’ auf den
Kerl u. dgl. Ganz Ähnliches gilt für Versprechen, die aus harm-
losen Worten unanständige und obszöne machen, wie Apopos für
Apropos, oder Eischeißweibehen für Eiweißscheibchen (M. u.M.).
Wir kennen bei vielen Menschen eine solche Tendenz, einem
gewissen Lustgewinn zuliebe harmlose Worte absichtlich in
obszöne zu entstellen; sie gilt für witzig, und in Wirklichkeit
müssen wir bei einem Menschen, von dem wir solches hören, erst
erkunden. ob er es absichtlich als Witz geäußert hat, oder ob
es ihm als Versprechen passiert ist.
Nun, da hätten wir ja mit verhältnismäßig geringer Mühe
das Rätsel der Fehlleistungen gelöst! Sie sind nicht Zufällig-
keiten, sondern ernsthafte seelische Akte, sie haben ihren Sinn,
sie entstehen durch das Zusammenwirken — vielleicht besser:
Gegeneinanderwirken zweier verschiedener Absichten. Aber nun
kann ich auch verstehen, daß Sie mich mit einer Fülle von Fragen
und Zweifeln überschütten wollen, die zu beantworten und zu
erledigen sind, ehe wir uns dieses ersten Resultats unserer Ar-
beit freuen dürfen. Ich will Sie gewiß nicht zu voreiligen Ent-
scheidungen antreiben. Lassen Sie uns alles der Reihe nach, eines
uach dem anderen, in kühle Erwägung ziehen.
ge
III. DIE FEHLLEISTUNGEN.
36
Was wollen Sie mir wohl sagen? Ob ich meine, daß diese
Aufklärung für alle Fälle von Versprechen gilt oder nur FOE
eine gewisse Anzahl? Ob man dieselbe Auffassung auch auf die
vielen anderen Arten von Fehlleistungen ausdehnen darf, auf
das Verlesen, Verschreiben, Vergessen, Vergreifen, Verlegen
usw.? Was denn die Momente der Ermüdung, Erregung, Zer-
streutheit, die Aufmerksamkeitsstörung angesichts der psychı-
schen Natur der Fehlleistungen noch zu bedeuten haben? Ferner,
man sieht ja wohl, daß von den beiden konkurrierenden Ten-
denzen der Fehlleistung die eine immer offenkundig ist, die
andere aber nieht immer. Was man dann tut, um diese letztere
zu erraten, und wenn man glaubt, sie erraten zu haben, wie man
den Nachweis führt, daß sie nicht bloß wahrscheinlich, sondern
die einzig richtige ist? Haben Sie noch etwas zu fragen? Wenn
nicht, so setze ich selbst fort. Ich erinnere Sie daran, daß uns
eigentlich an den Fehlleistungen selbst nicht viel gelegen ist,
daß wir aus ihrem Studium nur etwas für die Psychoanalyse
Verwertbares lernen wollten. Darum stelle ich die Frage auf:
was sind das für Absichten oder Tendenzen, die andere in
solcher Weise stören können, und welche Beziehungen be-
stehen zwischen den störenden Tendenzen und den gestörten? So
fängt unsere Arbeit erst nach der Lösung des Problems von
neuem an.
Also, ob dies die Aufklärung aller Fälle von Versprechen
ist? Ich bin sehr geneigt, dies zu glauben, und zwar darum,
weil sich jedesmal, so oft man einen Fall von Versprechen unter-
sucht, eine derartige Auflösung finden läßt. Aber es läßt sich
auch nicht beweisen, daß ein Versprechen ohne solchen Mechani<-
mus nicht vorfallen kann. Es mag so sein; für uns ist es theore-
tisch gleichgültig, denn die Schlüsse, welche wir für die Ein-
führung in die Psychoanalyse ziehen wollen, bleiben bestehen,
DIE ALLGEMEINE GÜLTIGKEIT DIESER LÖSUNG, 37
—
wenn auch nur, was gewiß nicht der Fall ist, eine Minderzahl
von Fällen des Versprechens unserer Auffassung unterliegen
sollte. Die nächste Frage, ob wir auf die anderen Arten der Fehl-
leistungen das ausdehnen dürfen, was sich uns für das Ver-
sprechen ergeben hat, will ich vorgreifend mit ja beantworten.
Sie werden sich selbst davon überzeugen, wenn wir uns dazu
wenden, Beispiele des Verschreibens, Vergreifens usw. in Unter-
suchung zu ziehen. Ich schlage Ihnen aber aus technischen
Gründen vor, diese Arbeit aufzuschieben, bis wir das Versprechen
selbst noch gründlicher behandelt haben.
Die Frage, was die von den Autoren in den Vordergrund
gerückten Momente der Zirkulationsstörung, Ermüdung, Er-
regung, Zerstreutheit, die Theorie der Aufmerksamkeitsstörung
uns noch bedeuten können, wenn wir den beschriebenen psy-
chischen Mechanismus des Versprechens annehmen, verdient eine
eingehendere Beantwortung. Bemerken Sie wohl, wir bestreiten
diese Momente nicht. Es kommt überhaupt nicht so häufig vor,
daß die Psychoanalyse etwas bestreitet, was von anderer Seite
behauptet wird; sie fügt in der Regel nur etwas Neues hinzu,
und gelegentlich trifft es sich freilich, daß dies bisher Über-
sehene und nun neu Dazugekommene gerade das Wesentliche ist.
Der Einfluß der physiologischen Dispositionen, die durch leichtes
Unwohlsein, Zirkulationsstörungen, Erschöpfungszustände ge-
geben werden, ist für das Zustandekommen des Versprechens ohne
weiteres anzuerkennen; tägliche und persönliche Erfahrung kann
Sie davon überzeugen. Aber wie wenig ist damit erklärt! Vor
allem sind es nicht notwendige Bedingungen der Fehlleistung.
Das Versprechen ist ebensowohl bei voller Gesundheit und nor-
malem Befinden möglich. Diese körperlichen Momente haben
also nur den Wert von Erleichterungen und Begünstigungen für
den eigentümlichen seelischen Mechanismus des Versprechens.
38 1II. DIE FEHLLEISTUNGEN.
Ich habe für diese Beziehung einmal ein Gleichnis gebraucht,
weil ich es durch kein besseres
das ich nun wiederholen werde,
ich ginge in dunkler Nacht-
zu ersetzen weiß. Nehmen Sie an,
stunde an einem einsamen Orte, würde dort von einem Strolch
überfallen, der mir Uhr und Börse wegnimmt, und trüge dann,
weil ich das Gesicht des Räubers nicht deutlich gesehen habe,
meine Klage auf der nächsten Polizeistation mit den Worten
vor: Einsamkeit und Dunkelheit haben mich soeben meiner Kost-
barkeiten beraubt. Der Polizeikommissär kann mir darauf sagen:
Sie scheinen da mit Unrecht einer extrem mechanistischen Auf-
fassung zu huldigen. Stellen wir den Sachverhalt lieber so dar:
Unter dem Schutz der Dunkelheit, von der Einsamkeit begünstigt,
hat Ihnen ein unbekannter Räuber Ihre Wertsachen entrissen.
Die wesentliche Aufgabe an Ihrem Falle scheint mir zu sein,
daß wir den Räuber ausfindig machen. Vielleicht können wir
ihm dann den Raub wieder abnehmen.
Die psychophysiologischen Momente wie Aufregung, Zer-
streutheit, Aufmerksamkeitsstörung leisten uns offenbar sehr
wenig für die Zwecke der Erklärung. Es sind nur Redensarten,
spanische Wände, hinter welche zu gucken wir uns nicht ab-
halten lassen sollen. Es fragt sich vielmehr, was hier die Er-
regung, die besondere Ablenkung der Aufmerksamkeit hervor-
gerufen hat. Die Lauteinflüsse, Wortähnlichkeiten und die von
den Worten auslaufenden gebräuchlichen Assoziationen sind
wiederum als bedeutsam anzuerkennen. Sie erleichtern das Ver-
sprechen, indem sie ihm die Wege weisen, die es wandeln kann.
Aber wenn ich einen Weg vor mir habe, ist damit auch wie
selbstverständlich entschieden, daß ich ihn gehen werde? Es
ne
eg ns a ad auf iss Wege vorwärts
t- und Wortbeziehungen sind also auch nur
SOMATISCHE UND ASSOZIATIVE BEGÜNSTIGUNGEN. 33
wie die körperlichen Dispositionen Begünstigungen des Ver-
sprechens und können seine eigentliche Aufklärung nicht geben.
Denken Sie doch daran, in einer ungeheuern Überzahl von
Fällen wird meine Rede nicht durch den Umstand gestört, daß
die von mir gebrauchten Worte durch Klangähnlichkeit an
andere erinnern, daß sie mit ihren Gegenteilen innig verknüpft
sind, oder daß gebräuchliche Assoziationen von ihnen ausgehen.
Man könnte noch mit dem Philosophen Wundt die Auskunft
finden, daß das Versprechen zu stande kommt, wenn infolge von
körperlicher Erschöpfung die Assoziationsneigungen die Ober-
hand über die sonstige Redeintention gewinnen. Das ließe sich
sehr gut hören, wenn dem nicht die Erfahrung widerspräche, nach
deren Zeugnis in einer Reihe von Fällen die körperlichen, in
einer anderen die Assoziationsbegünstigungen des’ Versprechens
vermißt werden.
Besonders interessant ist mir aber Ihre nächste Frage, auf
welche Weise man die beiden miteinander’ in Interferenz tretenden
Tendenzen feststellt. Sie ahnen wahrscheinlich nicht, wie
folgrenschwer sie ist. Nicht wahr, die eine der beiden, die gestörte
Tendenz, ist immer unzweifelhaft; die Person, welche die Fehl-
leistung begeht, kennt sie und bekennt sich zu ihr. Anlaß zu
Ziweifeln und Bedenken kann nur die andere, die störende,
geben. Nun wir haben schon gehört und Sie haben es gewiß nicht
vergessen, daß in einer Reihe von Fällen diese andere Tendenz
ebenso deutlich ist. Sie wird durch den Effekt des Versprechens
angezeigt, wenn wir nur den Mut haben, diesen Effekt für sich
gelten zu lassen. Der Präsident, der sich zum Gegenteil ver-
spricht — es ist klar, er will die Sitzung eröffnen, aber ebenso
klar, er möchte sie auch schließen. Das ist so deutlich, daß
zum Deuten nichts übrig bleibt. Aber die anderen Fälle, in
denen die störende Tendenz die ursprüngliche nur entstellt, ohne
III. DIE FEHLLEISTUNGEN. er
—
40
sich selbst ganz zum Ausdruck zu bringen, wie errät man
bei ihnen die störende Tendenz aus der Entstellung?
In einer ersten Reihe von Fällen auf sehr einfache und
sichere Weise, auf dieselbe Weise nämlich, wie man die ge-
störte Tendenz feststellt. Diese läßt man sich ja vom Redner
unmittelbar mitteilen; nach dem Versprechen stellt er den ur-
sprünglich beabsichtigten Wortlaut sofort wieder her. „Das
draut, nein, das dauert vielleicht noch einen Monat.“ Nun, die
entstellende Tendenz läßt man gleichfalls von ihm aussprechen.
Man fragt ihn: Ja, warum haben Sie denn zuerst „draut“
gesagt? Er antwortet: Ich wollte sagen: Das ist einetraurige
Geschichte, und im anderen Falle, beim Versprechen „Vor-
schwein“, bestätigt er Ihnen ebenso, daß er zuerst sagen
wollte: Das ist eine Schweinerei, sich aber dann ermäßigte
und in eine andere Aussage einlenkte. Die Feststellung der ent-
stellenden Tendenz ist hier also ebenso sicher gelungen wie
die der entstellten. Ich habe auch nicht ohne Absicht hier
Beispiele herangezogen, deren Mitteilung und Auflösung weder
von mir noch von einem meiner Anhänger herrühren. Doch
war in diesen beiden Fällen ein gewisser Eingriff notwendig,
um die Lösung zu fördern. Man mußte den Redner fragen,
warum er sich so versprochen habe, was er zu dem Versprechen
zu sagen wisse. Sonst wäre er vielleicht an seinem Versprechen
vorbeigegangen, ohne es aufklären zu wollen. Befragt, gab er
aber die Erklärung mit dem ersten Einfall, der ihm kam. Und
nun sehen Sie, dieser kleine Eingriff und sein Erfolg, das
ist bereits eine Psychoanalyse und das Vorbild jeder psycho-
analytischen Untersuchung, die wir im weiteren anstellen
werden.
erg .. en wenn ich vermute, daß in
> ie Psychoanalyse vor Ihnen auftaucht,
DIE FESTSTELLUNG DER STÖRENDEN INTENTION. 41
auch der Widerstand gegen sie bei Ihnen sein Haupt erhebt?
Haben Sie nicht Lust, mir einzuwenden, daß die Auskunft
der befragten Person, die das Versprechen geleistet, nicht
völlig beweiskräftig sei? Er habe natürlich das Bestreben,
meinen Sie, der Aufforderung zu folgen, das Versprechen zu
erklären, und da sage er eben das erste beste, was ihm einfalle,
wenn es ihm zu einer solchen Erklärung tauglich erscheine.
Ein Beweis, daß das Versprechen wirklich so zugegangen, sei
damit nicht gegeben. Ja es könne so sein, aber ebensowohl auch
anders. Es hätte ihm auch etwas anderes einfallen können,
was ebensogut und vielleicht besser gepaßt hätte.
Es ist merkwürdig, wie wenig Respekt Sie im Grunde vor
einer psychischen Tatsache haben! Denken Sie sich, jemand.
habe die chemische Analyse einer gewissen Substanz vorge-
nommen und von einem Bestandteil derselben ein gewisses Ge-
wicht, so und soviel Milligramm, gewonnen. Aus dieser Ge-
wichtsmenge lassen sich bestimmte Schlüsse ziehen. Glauben
Sie nun, daß es je einem Chemiker einfallen wird, diese Schlüsse
mit der Motivierung zu bemängeln: die isolierte Substanz hätte
auch ein anderes Gewicht haben können? Jeder beugt sich vor
der Tatsache, daß es eben dies Gewicht und kein anderes war,
und baut auf ihr zuversichtlich seine weiteren Schlüsse auf.
Nur wenn die psychische Tatsache vorliegt, daß dem Be-
fragten ein bestimmter Einfall gekommen ist, dann lassen Sie
das nicht gelten und sagen, es hätte ihm auch etwas anderes
einfallen können! Sie haben eben die Illusion einer psychischen
Freiheit in sich und mögen auf sie nicht verzichten. Es tut
mir leid, daß ich mich hierin in schärfstem Widerspruch zu
Ihnen befinde.
Nun werden Sie hier abbrechen, aber nur um den Wider-
stand an einer anderen Stelle wiederaufzunehmen. Sie fahren
III. DIE FEHLLEISTUNGEN.
42
‚fort: Wir verstehen, daß es die besondere Technik der Psycho-
analyse ist, sich die Lösung ihrer Probleme von den Analysier-
ten selbst sagen zu lassen. Nun nehmen wir ein anderes Beispiel
her, jenes, in dem der Festredner die Versammlung auffordert,
auf das Wohl des Chefs aufzustoßen. Sie sagen, die störende
Intention ist in diesem Falle die der Schmähung; sie ist es,
die sich dem Ausdruck der Verehrung widersetzt. Aber das
ist bloße Deutung von Ihrer Seite, gestützt auf Beobachtungen
außerhalb des Versprechenss. Wenn Sie in diesem Falle
den Urheber des Versprechens befragen, wird er Ihnen nicht
bestätigen, daß er eine Schmähung beabsichtigte; er wird es
vielmehr energisch in Abrede stellen. Warum geben Sie Ihre
unbeweisbare Deutung nicht gegen diesen klaren Einspruch auf?
Ja, diesmal haben Sie etwas Starkes herausgefunden. Ich
stelle mir den unbekannten Festredner vor; er ist wahrscheinlich
ein Assistent des gefeierten Chefs, vielleicht schon Privat-
dozent, ein junger Mann mit den besten Lebenschaneen. Ich
will in ihn drängen, ob er nicht doch etwas verspürt hat,
was sich der Aufforderung zur Verehrung des Chefs widersetzt
haben mag. Da komme ich aber schön an. Er wird ungeduldig
und fährt plötzlich auf mich los: ‚,‚Sie, jetzt hören’s einmal
auf mit Ihrer Ausfragerei, sonst werd’ ich ungemütlich. Sie
verderben mir noch die ganze Karriere durch Ihre Verdächtigun-
gen. Ich hab’ einfach au fstoßen anstatt anstoßen gesagt, weil
ich im selben Satz schon zweimal vorher a uf ausgesprochen habe.
Das ist das, was der Meringer einen Nachklang heißt, und
weiter ist daran nichts zu deuteln. Verstehen Sie mich? Basta.“
Hm, das ist eine überraschende Reaktion, eine wirklich energische
Ablehnung. Ich sehe, bei dem jungen Mann ist nichts auszu-
richten, denke mir aber auch, er verrät ein starkes persönliches
Interesse daran, daß seine Fehlleistung keinen Sinn haben soll.
IHRE SCHWIERIGKEITEN, 45
Sie werden vielleicht auch finden, es ist nicht recht, daß er
gleich so grob wird bei einer rein theoretischen Untersuchung,
aber schließlich, werden Sie meinen, muß er doch eigentlich
wissen, was er sagen wollte und was nicht.
So, muß er das? Das wäre vielleicht noch die Frage.
Jetzt glauben Sie mich aber in der Hand zu haben. Das |
ist also Ihre Technik, höre ich Sie sagen. Wenn der Betreffende,
der ein Versprechen von sich gegeben hat, etwas dazu sagt,
was Ihnen paßt, dann erklären Sie ihn für die letzte entschei-
dende Autorität darüber. „Er sagt es ja selbst!“ Wenn Ihnen
aber das, was er sagt, nicht in Ihren Kram paßt, dann behaupten
Sie auf einmal, der gilt nichts, dem braucht man nicht zu glauben.
Das stimmt allerdings. Ich kann Ihnen aber einen ähnlichen
Fall vorstellen, in dem es ebenso ungeheuerlich zugeht. Wenn
ein Angeklagter vor dem Richter sich zu einer Tat bekennt,
so glaubt der Richter dem Geständnis; wenn er aber leugnet, so
glaubt ihm der Richter nicht. Wäre es anders, so gäbe es keine
Rechtspflege, und trotz gelegentlicher Irrtümer müssen Sie
dieses System doch wohl gelten lassen.
Ja, sind Sie denn der Richter, und der, welcher ein Ver-
sprechen begangen hat, ein vor Ihnen Angeklagter? Ist denn
ein Versprechen ein Vergehen?
Vielleicht brauchen wir selbst diesen Vergleich nicht ab-
zulehnen. Aber sehen Sie nur, zu welchen tiefgreifenden Dif-
ferenzen wir bei einiger Vertiefung in die scheinbar so harm-
losen Probleme der Fehlleistungen gekommen sind. Differen-
zen, die wir derzeit noch gar nicht auszugleichen verstehen.
Ich biete Ihnen ein vorläufiges Kompromiß an auf Grund des
Gleichnissess vom Richter und vom Angeklagten. Sie sollen
mir zugeben, daß der Sinn einer Fehlleistung keinen Zweifel
zuläßt, wenn der Analysierte ihn selbst zugibt. Ich will Ihnen,
44 III. DIE FEHLLEISTUNGEN,
dafür zugestehen, daß ein direkter Beweis des vermuteten Sinnes
nicht zu erreichen ist, wenn der Analysierte die Auskunft ver-
weigert, natürlich ebenso, wenn er nicht zur Hand ist, um uns
Auskunft zu geben. Wir sind dann, wie im Falle der Rechtspflege,
auf Indizien angewiesen, welche uns eine Entscheidung einmal
mehr, ein andermal weniger wahrscheinlich machen können.
Bei Gericht muß man aus praktischen Gründen auch auf
Indizienbeweise hin schuldig sprechen. Für uns besteht eine
solche Nötigung nicht; wir sind aber auch nicht gezwungen,
aul die Verwertung soleher Indizien zu verzichten. Es wäre
ein Irrtum zu glauben, daß eine Wissenschaft aus lauter streng
bewiesenen Lehrsätzen besteht, und ein Unrecht, solches zu
fordern. Diese Forderung erhebt nur ein autoritätsüchtiges
Gemüt, welches das Bedürfnis hat, seinen religiösen Katechis-
mus durch einen anderen, wenn auch wissenschaftlichen, zu
ersetzen. Die Wissenschaft hat in ihrem Katechismus nur
wenige apodiktische Sätze, sonst Behauptungen, die sie bis zu
gewissen Stufengraden von Wahrscheinlichkeit gefördert hat.
Es ist geradezu ein Zeichen von wissenschaftlicher Denkungs-
art, wenn man an diesen Annäherungen an die Gewißheit sein
‚Genüge finden und die konstruktive Arbeit trotz der mangeln-
den letzten Bekräftigungen fortsetzen kann.
Woher nehmen wir aber die Anhaltspunkte für unsere
Deutungen, die Indizien für unseren Beweis im Falle, daß die
Aussage des Analysierten den Sinn der Fehlleistung nicht selbst
SUFRBREN: Non verschiedenen Seiten her. Zunächst aus der
En on mit Phänomenen außerhalb der Fehlleistungen, z. B.
en y en er eeeselien als Versprechen
verdrehen. Sodann aber aus der ps ER a een Be
‚cher sich die Fehlleistung erei nu. rem ir =
; ereignet, aus unserer Kenntnis des
DER INDIZIENBEWEIS. 45
Charakters der Person, welche die Fehlhandlung begeht, und
der Eindrücke, welche diese Person vor der Fehlleistung be-
troffen haben, auf die sie möglicherweise mit dieser Fehlleistung
reagiert. In der Regel geht es so vor sich, daß wir nach allge-
meinen Grundsätzen die Deutung der Fehlleistung vollziehen,
die also zunächst nur eine Vermutung, ein Vorschlag zur
Deutung ist, und uns dann die Bestätigung aus der Untersuchung
der psychischen Situation holen. Manchmal müssen wir auch
kommende Ereignisse abwarten, welche sich durch die Fehl-
leistung gleichsam angekündigt haben, um unsere Vermutung
bekräftigt zu finden. | |
Ich kann Ihnen die Belege hiezu nicht leicht erbringen,
wenn ich mich auf das Gebiet des Versprechens einschränken
soll, obwohl sich auch hier einzelne gute Beispiele ergeben.
Der junge Mann, der‘eine Dame begleitdigen möchte, ist
gewiß ein Schüchterner; die Dame, deren Mann essen und trinken
darf, was sie will, kenne ich als eine der energischen Frauen,
die das Regiment im Hause zu führen verstehen. Oder nehmen
Sie folgenden Fall: In einer Generalversammlung der „Con-
cordia“ hält ein junges Mitglied eine heftige Oppositionsrede,
in deren Verlauf er die Vereinsleitung als die Herren „Vor-
seh u B mitglieder“ anredet, was aus Vorstand und Ausschuß
zusammengesetzt erscheint. Wir werden vermuten, daß sich
bei ihm eine störende Tendenz gegen seine Opposition regte,
die sich auf etwas, was mit einem Vorschuß zu tun hatte,
stützen konnte. In der Tat erfahren wir von unserem Gewährs-
mann, daß der Redner in steten Geldnöten war und gerade damals
ein Darlehensgesuch eingebracht hatte. Als störende Intention
ist also wirklich der Gedanke einzusetzen: mäßige dich in
deiner Opposition; es sind dieselben Leute, die dir den Vorschuß
bewilligen sollen.
46 {II. DIE FEHLLEISTUNGEN.
Ich kann Ihnen aber eine reiche Auswahl solcher Indizien-
beweise vorlegen, wenn ich auf das weite Gebiet der anderen Fehl-
leistungen übergreife.
Wenn jemand einen ihm sonst vertrauten Eigennamen ver-
gißt oder ihn trotz aller Mühe, nur schwer behalten kann, s»
liegt. uns die Annahme nahe, daß er etwas gegen den Träger
dieses Namens hat, so daß er nicht gerne an ihn denken mag;
nehmen Sie die nachstehenden Aufdeckungen der psychischen
Situation, in welcher diese Fehlleistung eintrat, hiezu:
„Bin Herr Y verliebte sich erfolglos in eine Dame, welche
bald darauf einen Herrn X heiratete. Trotzdem nun Herr Y den
Herrn X schon seit geraumer Zeit kennt und sogar in geschäft-
lichen Verbindungen mit ihm steht, vergißt er immer und immer
wieder dessen Namen, so daß er sich mehrere Male bei anderen
Leuten danach erkundigen mußte, als er mit Herrn X korre-
spondieren wollte.‘‘*)
Herr Y: will offenbar nichts von seinem glücklichen Riva-
len wissen. „Nicht gedacht soll seiner werden.“
Oder: Eine Dame erkundigt sich bei dem Arzt nach einer
gemeinsamen Bekannten, nennt sie aber bei ihrem Mädchen-
namen. Den in der Heirat angenommenen Namen hat sie ver-
gessen. Sie gesteht dann zu, daß sie mit dieser Heirat sehr unzu-
frieden war und den Mann dieser Freundin nicht leiden mochte. er
Wir werden vom N amenvergessen noch in anderen Hin-
sichten manches zu sagen haben; jetzt interessiert uns vorwie-
gend die psychische Situation, in welche das V ergessen fällt.
Das Vergessen von Vorsätzen läßt sich ganz allgemein auf
eine gegensätzliche Strömung zurückführen, welche den Vor-
*”; Nach C©.G. Jung.
**) Nach A. A. Brill.
DIE PSYCHISCHE SITUATION. 47
satz nicht ausführen will. So denken aber nicht nur wir in
der Psychoanalyse, sondern es ist die allgemeine Auffassung
der Menschen, der sie im Leben alle anhängen, die sie erst in
der 'Theorie verleugnen. Der Gönner, der sich vor seinem
Schützling entschuldigt, er habe an dessen Bitte vergessen,
ist vor ihm nicht gerechtfertigt. Der Schützling denkt sofort:
Dem liegt nichts daran; er hat es zwar versprochen, aber
er will es eigentlich nicht tun. In gewissen Beziehungen ist
daher auch im Leben das Vergessen verpönt, die Differenz
zwischen der populären und der psychoanalytischen Auffas-
sung dieser Fehlleistungen scheint aufgehoben. Stellen Sie sich
eine Hausfrau vor, die den Gast mit den Worten empfängt: Was,
heute kommen Sie? Ich habe ja ganz vergessen, daß ich Sie
für heute eingeladen hatte. Oder den jungen Mann, welcher der
Geliebten gestehen sollte, daß er vergessen hatte, das letzt-
besprochene Rendezvous einzuhalten. Er wird es gewiß
nicht gestehen, lieber aus dem Stegreife die unwahrschein-
lichsten Hindernisse erfinden, die ihn damals abgehalten haben
zu kommen, und es ihm seither unmöglich gemacht haben,
davon Nachricht zu geben. Daß in militärischen Dingen die
Entschuldigung, etwas vergessen zu haben, nichts nützt und
vor keiner Strafe schützt, wissen wir alle und müssen es be-
rechtigt finden. Hier sind mit einem Male alle Menschen darin
einig, daß eine bestimmte Fehlhandlung sinnreich ist, und
welchen Sinn sie hat. Warum sind sie nicht konsequent ge-
nug, diese Einsicht auf die anderen Fehlleistungen auszudehnen
und sich voll zu ihr zu bekennen? Es gibt natürlich auch
hierauf eine Antwort. |
Wenn der Sinn dieses Vergessens von Vorsätzen auch den
Laien so wenig zweifelhaft ist, so werden Sie um so weniger
überrascht sein zu finden, daß Dichter diese Fehlleistung
48 III. DIE FEHLLEISTUNGEN.
in demselben Sinne verwerten. Wer von Ihnen „Cäsar und
Kleopatra“ von B. Shaw gesehen oder gelesen hat, wird sich
erinnern, daß der scheidende Cäsar in der letzten Szene von
der Idee verfolgt wird, er habe sich noch etwas vorgenommen,
woran er aber jetzt vergessen habe. Endlich stellt sich heraus,
was das ist: von der Kleopatra Abschied zu nehmen. Diese
kleine Veranstaltung des Dichters will dem großen Cäsar
eine Überlegenheit zuschreiben, die er nicht besaß und nach
der er gar nicht strebte. Sie können aus den geschichtlichen
Quellen erfahren, daß Cäsar die Kleopatra nach Rom nach-
kommen ließ, und daß sie dort mit ihrem kleinen Cäsarion
weilte, als Cäsar ermordet wurde, worauf sie flüchtend die
Stadt verließ.
Die Fälle des Vergessens von Vorsätzen sind im allgemei-
nen so klar, daß sie für unsere Absicht, Indizien für den, Sinn
der Fehlleistung aus der psychischen Situation abzuleiten,
wenig brauchbar sind. Wenden wir uns darum zu einer be-
sonders vieldeutigen und undurchsichtigen Fehlhandlung, zum
Verlieren und Verlegen. Daß beim Verlieren, einer oft so schmerz-
lich empfundenen Zufälligkeit, wir selbst mit einer Absicht
beteiligt sein sollten, werden Sie gewiß nicht glaubwürdig
finden. Aber es gibt reichlich Beobachtungen, wie diese: Ein
junger Mann verliert seinen Orayon, der ihm sehr lieb gewesen
war. Tags zuvor hatte er einen Brief von seinem Schwager
erhalten, ‘der mit den Worten schloß: Ich habe vorläufig
weder Lust noch Zeit, Deinen Leichtsinn und Deine Faulheit
zu unterstützen.“) Der Bleistift war aber gerade ein Geschenk
dieses Schwagers. Ohne dieses Zusammentreffen könnten wir
natürlich nicht behaupten, daß an diesem Verlieren die Ab-
*), Nach B. Dattner,
BEISPIELE DES VERLIERENS U. VERLEGENS, 49
_———
sicht beteiligt war, sich der Sache zu entledigen. Ähnliche
Fälle sind sehr häufig. Man verliert Gegenstände, wenn man
sich mit dem Geber derselben verfeindet hat und nicht
mehr an ihn erinnert werden will, oder auch, wenn man sie
selbst nicht mehr mag und sich einen Vorwand schaffen will,
sie durch andere und bessere zu ersetzen. Derselben Absicht
gegen einen Gegenstand dient natürlich auch das Fallenlassen,
Zerbrechen, Zerschlagen. Kann man es für zufällig halten,
wenn ein Schulkind gerade vor seinem Greburtstag seine Gre-
brauchsgegenstände verliert, ruiniert, zerbricht, z. B. seine
Schultasche und seine Taschenuhr?
Wer genug oft die Pein erlebt hat, etwas nicht auffinden
zu können, was er selbst weggelegt hat, wird auch an die Ab-
sicht beim Verlegen nicht glauben wollen. Und doch sind die
Beispiele gar nicht selten, in denen die Begleitumstände des
Verlegens auf eine Tendenz hinweisen, den Gegenstand zeit-
weilig oder dauernd zu beseitigen. Vielleicht das schönste Bei-
spiel dieser Art ist folgendes: |
„Ein jüngerer Mann erzählt mir: Es gab vor einigen Jah-
ren Mißverständnisse in meiner Ehe, ich fand meine Frau zu
kühl, und obwohl ich ihre vortrefflichen Eigenschaften gerne
anerkannte, lebten wir ohne Zärtlichkeit nebeneinander. Eines
Tages brachte sie mir von einem Spaziergange ein Buch mit,
das sie gekauft hatte, weil es mich interessieren dürfte. Ich
dankte für dieses Zeichen von „Aufmerksamkeit“, versprach
das Buch zu lesen, legte es mir zurecht und fand es nicht
wieder. Monate vergingen so, in denen ich mich gelegentlich
an dies verschollene Buch erinnerte und es auch vergeblich
aufzufinden versuchte. Etwa ein halbes Jahr später erkrankte
meine, getrennt von uns wohnende, geliebte Mutter. Meine
Frau verließ das Haus, um ihre Schwiegermutter zu pflegen.
Freud, Vorlesungen. IH, 4
50 III. DIE FEHLLEISTUNGEN.
Der Zustand der Kranken wurde ernst und gab meiner Frau
Gelegenheit, sich von ihren besten Seiten zu zeigen. Eines
Abends komme ich begeistert von der Leistung meiner Irau
und dankerfüllt gegen sie nach Hause. Ich trete zu meinem
Schreibtisch, öffne ohne bestimmte Absicht, aber wie mit som-
nambuler Sicherheit eine bestimmte Lade desselben und, zuoberst
in ihr finde ich das so lange vermißte, das verlegte Buch.“
Mit dem Erlöschen des Motivs fand auch das Verlegtsein
des Gegenstandes ein Ende.
Meine Damen und Herren! Ich könnte diese Sammlung
von Beispielen ins Ungemessene vermehren. Ich will es aber
hier nicht tun. In meiner Psychopathologie des Alltagslebens
(1901 zuerst erschienen) finden Sie ohnedies eine überreiche
Kasuistik zum Studium der Fehlleistungen.*) Alle diese Beispiele
ergeben immer wieder das nämliche; sie machen Ihnen wahr.
scheinlich, daß Fehlleistungen einen Sinn haben, und zeigen
Ihnen, wie man diesen Sinn aus den Begleitumständen errät oder
bestätigt. Ich fasse mich heute kürzer, weil wir ung ja auf
die Absicht eingeschränkt haben, aus dem Studium dieser
Phänomene Gewinn für eine Vorbereitung zur Psychoanalyse
zu ziehen. Nur auf zwei Gruppen von Beobachtungen muß
ich hier noch eingehen, auf die gehäuften und kombinierten
Fehlleistungen und auf die Bestätigung unserer Deutungen
durch später eintreffende Ereignisse.
Die gehäuften und kombinierten Fehlleistungen sind ge-
wiß die höchste Blüte ihrer Gattung. Käme es uns nur darauf
an, zu beweisen, daß Fehlleistungen einen Sinn haben können,
so hätten wir uns von vorneherein auf sie beschränkt,
denn bei ihnen ist der Sinn selbst für eine stumpfe Einsicht
*) Ebenso in den Sammlungen von A, Maeder (franz.), A. A. Brill
(engl.), E, Jones (engl.), J. Stärke (holländ.) u. a.
KOMBINIERTE FEHLLEISTUNGEN. 51
unverkennbar und weiß sich dem kritischesten Urteil aufzu-
drängen. Die Häufung der Äußerungen verrät eine Hartnäckig-
keit, wie sie dem Zufall fast niemals zukommt, aber dem Vor-
satz gut ansteht. Endlich die Vertauschung der einzelnen
Arten von Fehlleistung miteinander zeigt uns, was das Wich-
tige und Wesentliche der Fehlleistung ist, nicht die Form
derselben oder die Mittel, deren sie sich bedient, sondern die
Absicht, der sie selbst dient und die auf den verschiedensten
Wegen erreicht werden soll. So will ich Ihnen einen Fall von
wiederholtem Vergessen vorführen: E. Jones erzählt, daß
er einmal aus ihm unbekannten Motiven einen Brief mehrere
Tage lang auf seinem Schreibtisch hatte liegen lassen. Endlich
entschloß er sich dazu, ihn aufzugeben, erhielt ihn aber vom
„Dead letter office“ zurück, denn er hatte vergessen, die Adresse
zu schreiben. Nachdem er ihn adressiert hatte, brachte er ihn
zur Post, aber diesmal ohne Briefmarke. Und nun mußte er
sich die Abneigung, den Brief überhaupt abzusenden, endlich
eingestehen.
In einem anderen Falle kombiniert sich ein Vergreifen,
mit einem Verlegen. Eine Dame reist mit ihrem Schwager,
einem berühmten Künstler, nach Rom. Der Besucher wird
von den in Rom lebenden Deutschen sehr gefeiert und erhält
unter anderem eine goldene Medaille antiker Herkunft zum
Geschenk. Die Dame kränkt sich darüber, daß ihr Schwager
das schöne Stück nicht genug zu schätzen weiß. Nachdem
sie, von ihrer Schwester abgelöst, wieder zu Hause angelangt
ist, entdeckt sie beim Auspacken, daß sie die Medaille — sie
weiß nicht wie — mitgenommen hat. Sie teilt es sofort dem
Schwager brieflich mit und kündigt ihm an, daß sie das Ent-
führte am nächsten Tage nach Rom zurückschicken wird. Am
nächsten Tage aber ist die Medaille so geschickt verlegt, daß
4*
59 III. DIE FEHLLEISTUNGEN. A
BB a a 0,
sie unauffindbar und unabsendbar ist, und dann dämmert der
Dame, was ihre „Zerstreutheit“ bedeute, nämlich, daß sie das
Stück für sich selbst behalten wolle.*)
Ich habe Ihnen schon früher ein Beispiel der Kombina-
tion eines Vergessens mit einem Irrtum berichtet, wie jemand
ein erstesmal ein Rendezvous vergißt und das zweitemal mit
dem Vorsatz, gewiß nicht zu vergessen, zu einer anderen als
der verabredeten Stunde ärscheint. Einen ganz analogen Fall
hat mir aus seinem eigenen Erleben ein Freund erzählt, der
außer wissenschaftlichen auch literarische Interessen verfolgt.
Er sagt: „Ich habe vor einigen Jahren die Wahl in den
Ausschuß einer bestimmten literarischen Vereinigung angenom-
men, weil ich vermutete, die Gesellschaft könnte mir einmal
behilflich sein, eine Aufführung meines Dramas durchzusetzen,
und nahm regelmäßig, wenn auch ohne viel Interesse, an den
jeden Freitag stattfindenden Sitzungen teil. Vor einigen Mo-
naten erhielt ich nun die Zusicherung einer Aufführung am
Theater in F., und seither passierte es mir regelmäßig, daß
ich an die Sitzungen jenes Vereins vergaß. Als ich Ihre
Schrift über diese Dinge las, schämte ich mich meines Ver-
gessens, machte mir Vorwürfe, es sei doch eine Gemeinheit, daß
ich jetzt ausbleibe, nachdem ich die Leute nicht mehr brauche,
und beschloß, nächsten Freitag gewiß nicht zu vergessen. Ich
erinnerte mich an diesen Vorsatz immer wieder, bis ich ihn
ausführte und vor der Tür des Sitzungssaales stand. Zu mei-
nem Erstaunen war sie geschlossen, die Sitzung war schon
vorüber; ich hatte mich nämlich im Tage geirrt; es war schon
Samstag !“
Es wäre reizvoll genug, ähnliche Beobachtungen zu sam-
meln, aber ich gehe weiter; ich will Sie einen Blick auf jene
*) Nach R. Reitler,
u
VORZEICHEN. 53
Fälle werfen lassen, in denen unsere Deutung auf Bestätigung
durch die Zukunft warten muß.
Die Hauptbedingung dieser Fälle ist begreiflicherweise,
daß die gegenwärtige psychische Situation uns unbekannt oder
unserer Erkundigung unzugänglich ist. Dann hat unsere Deu
tung nur den Wert einer Vermutung, der wir selbst nicht
zu viel Gewicht beilegen wollen. Später ereignet sich aber
etwas, was uns zeigt, wie berechtigt unsere Deutung schon
damals war. Einst war ich als Gast bei einem jung verheira-
teten Paare und hörte die junge Frau lachend ihr letztes
Erlebnis erzählen, wie sie am Tage nach der Rückkehr von
der Reise wieder ihre ledige Schwester aufgesucht habe, um
mit ihr, wie ın früheren Zeiten, Einkäufe zu machen, während
der Ehemann seinen Geschäften nachging. Plötzlich sei ihr
ein Herr auf der anderen Seite der Straße aufgefallen, und sie
habe ihre Schwester anstoßend gerufen: Schau, dort geht ja
der Herr L. Sie hatte vergessen, daß dieser Herr seit einigen
Wochen ihr Ehegemahl war: Mich schauerte bei dieser Erzäh-
lung, aber ich getraute mich der Folgerung nicht. Die kleine
Geschichte fiel mir erst Jahre später wieder ein, nachdem
diese Ehe den unglücklichsten Ausgang genommen. hatte.
A. Maeder erzählt von einer Dame, die am Tage vor
ihrer Hochzeit ihr Hochzeitskleid zu probieren vergessen hatte
und sich zur Verzweiflung der Schneiderin erst spät abends
daran erinnerte. Er bringt es in Zusammenhang mit diesem
Vergessen, daß sie bald nachher von ihrem Manne geschieden
war. — Ich kenne eine jetzt von ihrem Manne geschiedene
Dame, die bei der Verwaltung ihres Vermögens Dokumente
häufig mit ihrem Mädchennamen unterzeichnet hat, viele Jahre
vorher, ehe sie diesen wirklich annahm. — Ich weiß von anderen
Frauen, die auf der Hochzeitsreise ihren Ehering verloren
haben, und weiß auch, daß der Verlauf der Ehe diesem Zufall
Sinn verliehen hat. Und nun noch ein grelles Beispiel mit
besserem Ausgang. Man erzählt von einem berühmten deut-
schen Chemiker, daß seine Ehe darum nicht zu stande kam,
weil er die Stunde der Trauung vergessen hatte und anstatt ın
die Kirche ins Laboratorium gegangen war. Er war so klug, es
bei dem einen Versuch bewenden zu lassen, und starb unver-
ehelicht in hohem Alter.
Vielleicht ist Ihnen auch der Einfall gekommen, daß in
diesen Beispielen die Fehlhandlungen an die Stelle der Omina
oder Vorzeichen der Alten getreten sind. Und wirklich ein
Teil der Omina waren nichts anderes als Fehlleistungen, z. B.
wenn jemand stolperte oder niederfiel. Eın anderer Teil trug
allerdings die Charaktere des objektiven Geschehens, nicht die
des subjektiven Tuns. Aber Sie würden nicht glauben, wie
schwer es manchmal wird, bei einem bestimmten Vorkommnis
zu entscheiden, ob es zu der einen oder zu der anderen Gruppe
gehört. Das Tun versteht es so häufig, sich als ein passives
Erleben zu maskieren.
Jeder von uns, der auf längere Lebenserfahrung zurück-
blicken kann, wird sich wahrscheinlich sagen, daß er sich
viele Enttäuschungen und schmerzliche Überraschungen erspart
hätte, wenn er den Mut und Entschluß gefunden, die kleinen
Fehlhandlungen im Verkehr der Menschen als Vorzeichen zu
deuten und als Anzeichen ihrer noch geheimgehaltenen Ab-
sichten zu verwerten. Man wagt es meist nicht; man käme
sich so vor, als würde man auf dem Umwege über die Wissen-
schaft wieder abergläubisch werden. Es treffen ja auch nicht
alle Vorzeichen ein, und Sie werden aus unseren Theorien ver-
stehen, daß sie nicht alle einzutreffen brauchen.
VIERTE VORLESUNG.
DIE FEHLLEISTUNGEN.
(SCHLUSS.)
Meine Damen und Herren! Daß die Fehlleistungen einen
Sinn haben, dürfen wir doch als das Ergebnis unserer bisherigen
Bemühungen hinstellen und zur Grundlage unserer weiteren
Untersuchungen nehmen. Nochmals sei betont, daß wir nicht
behaupten — und für unsere Zwecke der Behauptung nicht
bedürfen —, daß jede einzelne vorkommende Fehlleistung sinn-
reich sei, wiewohl ich das für wahrscheinlich halte. Es genügt
uns, wenn wir einen solchen Sinn relativ häufig bei den ver-
schiedenen Formen der Fehlleistung nachweisen. Diese ver-
schiedenen Formen verhalten sich übrigens in dieser Hinsicht
verschieden. Beim Versprechen, Verschreiben usw. mögen Fälle
mit rein physiologischer Begründung vorkommen, bei den auf
Vergessen beruhenden Arten (Namen- und Vorsatzvergessen,
Verlegen usw.) kann ich an solche nicht glauben, ein Ver-
lieren gibt es sehr wahrscheinlich, das als unbeabsichtigt zu
erkennen ist; die im Leben vorfallenden Irrtümer sind über-
haupt nur zu einem gewissen Anteil unseren Gesichtspunkten
unterworfen. Diese Einschränkungen wollen Sie im Auge be-
halten, wenn wir fortan davon ausgehen, daß Fehlleistungen
psychische Akte sind und durch die Interferenz zweier Ab-
sichten entstehen. |
IV. DIE FEHLLEISTUNGEN.
56
Es ist dies das erste Resultat der Psychoanalyse. Von dem
Vorkommen solcher Interferenzen und der Möglichkeit, daß die-
selben derartige Erscheinungen zur Folge haben, hat die Psycho-
logie bisher nichts gewußt. Wir haben das Gebiet der psychi-
schen Erscheinungswelt um ein ganz ansehnliches Stück er-
weitert und Phänomene für die Psychologie erobert, die ihr
früher nicht zugerechnet wurden.
Verweilen wir noch einen Moment bei der Behauptung,
die Fehlleistungen seien „psychische Akte“. Enthält sie mehr
als unsere sonstige Aussage, sie hätten einen Sinn? Ich glaube
nicht; sie ist vielmehr eher unbestimmter und mißverständlicher.
Alles, was man am Seelenleben beobachten kann, wird man
gelegentlich als seelisches Phänomen bezeichnen. Es wird aber
darauf ankommen, ob die einzelne seelische Äußerung direkt
aus körperlichen, organischen, materiellen Einwirkungen her-
vorgegangen ist, in welchem Falle ihre Untersuchung nicht
der Psychologie zufällt, oder ob sie sich zunächst aus anderen
seelischen Vorgängen ableitet, hinter denen dann irgendwo die
Reihe der organischen Einwirkungen anfängt. Den letzteren
Sachverhalt haben wir im Auge, wenn wir eine Erscheinung
als einen seelischen Vorgang bezeichnen, und darum ist es
zweckmäßiger, unsere Aussage in die Form zu kleiden: Die
Erscheinung sei sinnreich, habe einen Sinn. Unter Sinn ver-
stehen wir Bedeutung, Absicht, Tendenz und Stellung in einer
Reihe peychischer Zusammenhänge.
Es gibt eine Anzahl anderer Erscheinungen, welche den
Feblleistungen sehr nahestehen, auf welche aber dieser N ame
nicht mehr paßt. Wir nennen sie Zufalls- und Symptom-
z a 0 ” n er n. er .. gleichfalls den Charakter des Un-
otıvıerten, Un 1 5 . . k
a
er Ä andlungen unter-
DIE ZUFALLS- UND SYMPTOMHANDLUNGEN. 57
scheidet sie der Wegfall einer anderen Intention, mit der sie
zusammenstoßen, und die durch sie gestömt wird. Sie über-
gehen anderseits ohne Grenze in die Gesten und Bewegungen,
welche wir zum Ausdruck der Gemütsbewegungen rechnen.
Zu diesen Zufallshandlungen gehören alle wie spielend aus-
geführten, anscheinend zwecklosen Verrichtungen an unserer
Kleidung, Teilen unseres Körpers, an Gegenständen, die uns
erreichbar sind, sowie die Unterlassungen derselben, ferner die
Melodien, die wir vor uns hinsummen. Ich vertrete. vor Ihnen
die Behauptung, daß alle diese Phänomene sinnreich und
deutbar sind in derselben Weise wie die Fehlhandlungen, kleine
Anzeichen von anderen wichtigeren seelischen Vorgängen, voll-
gültige psychische Akte. Aber ich gedenke bei dieser neuen
Erweiterung des Gebiets seelischer Erscheinungen nicht zu ver-
weilen, sondern zu den Fehlleistungen zurückzukehren, an denen
sich die für die Psychoanalyse wichtigen Fragestellungen mit
weit größerer Deutlichkeit herausarbeiten lassen.
Die interessantesten Fragen, die wir bei den Fehlleistungen
gestellt und noch nicht beantwortet haben, sind wohl die
folgenden: Wir haben gesagt, daß die Fehlleistungen Ergebnisse
der Interferenz von zwei verschiedenen Intentionen sind, von
denen die eine die gestörte, die andere die störende heißen,
kann. Die gestörten Intentionen geben zu weiteren Fragen
keinen Anlaß, aber von den anderen wollen wir wissen, erstens,
was sind das für Intentionen, die als Störung anderer auftreten,
und zweitens, wie verhalten sich die störenden zu den gestörten?
Gestatten Sie, daß ich wiederum das Versprechen zum
Repräsentanten der ganzen Gattung nehme, und daß ich die
zweite Frage eher beantworte als die erste.
Die störende Intention beim Versprechen kann in inhalt-
licher Beziehung zur. gestörten stehen, dann enthält sie einen
58 IV. DIE FEHLLEISTUNGEN.
‘Widerspruch gegen sie, eine Berichtigung oder Ergänzung
zu ihr. Oder, der dunklere und interessantere Fall, die störende
Intention hat inhaltlich nichts mit der gestörten zu tun.
Belege für die erstere der beiden Beziehungen können wir
in den uns bereits bekannten und in ähnlichen Beispielen mühe-
los finden. Fasi in allen Fällen von Versprechen zum Ge-
genteil drückt die störende Intention den Gegensatz zur ge-
störten aus, ist die Fehlleistung die Darstellung des Konflikts
zwischen zwei unvereinbaren Strebungen. Ich erkläre die
Sitzung für eröffnet, möchte sie aber lieber schon geschlossen
haben, ist der Sinn des Versprechens des Präsidenten. Eine
politische Zeitung, die der Bestechlichkeit beschuldigt worden
ist, verteidigt sich in einem Artikel, der in den Worten gipfeln
soll: Unsere Leser werden uns das Zeugnis ausstellen, daß wir
immer in uneigennützigster Weise für das Wohl der
Allgemeinheit eingetreten sind. Der mit der Abfassung der
Verteidigung betraute Redakteur schreibt aber: in eigen-
nützigster Weise Das heißt, er denkt: So muß ich zwar
schreiben, aber ich weiß es anders. Ein Volksvertreter, der
dazu auffordert, dem Kaiser rückhalt los die Wahrheit
zu sagen, muß eine Stimme in seinem Inneren anhören, die ob
se,ner Kühnheit erschriekt, und durch ein Versprechen das
rückhaltlos in rückgratlos verwandelt.*)
In den Ihnen bekannten Beispielen, die den Eindruck von
Zusammenziehungen und Verkürzungen machen, handelt es sich
um Berichtigungen, Zusätze oder Fortsetzungen, mit denen sich
eine zweite Tendenz neben der ersten zur Geltung bringt. Es
sind da Dinge zum Vorschein gekommen, aber sag’ es
lieber gerad’ heraus, es waren Schweinereien; also: es
sind Dinge zum Vorschwein gekommen. — Die Leute, die
2 m deutschen Reichstag, Nov. 1908,
VERHÄLTNIS DER STÖRENDEN INTENTION ZUR GESTÖRTEN. 59
das verstehen, kann man an den Fingern einer Hand
abzählen; aber nein, es gibt doch eigentlich nur einen, der
das versteht, also: an einem Finger abzählen. — Oder,
mein Mann kann essen und trinken, was er will. Aber Sie
wissen ja, ich dulde es überhaupt nicht, daß er etwas will;
also: er darf essen und trinken, was ich will. In all diesen
Fällen geht also das Versprechen aus dem Inhalt der gehörten
Intention selbst hervor oder es knüpft an ihn an.
Die andere Art der Beziehung zwischen den beiden inter-
ferierenden Intentionen wirkt befremdend. Wenn die störende
Intention nichts mit dem Inhalt der gestörten zu tun hat, woher
kommt sie denn und woher rührt es, daß sie sich gerade an
solcher Stelle als Störung bemerkbar macht? Die Beobachtung,
die hier allein Antwort geben kann, läßt erkennen, daß die
Störung von einem Gedankengang herrührt, der die betreffende
Person kurz vorher beschäftigt hatte, und der nun in solcher
Weise nachwirkt, gleichgültig ob er bereits Ausdruck in der
Rede gefunden hat oder nicht. Sie ist also wirklich als Nach-
klang zu bezeichnen, aber nicht notwendig als Nachklang von
gesprochenen Worten. Es fehlt auch hier nicht an einem
assozlativen Zusammenhang zwischen dem Störenden und dem
Gestörten, aber er ist nicht im Inhalt gegeben, sondern künst-
lich, oft auf sehr gezwungenen Verbindungswegen hergestellt.
Hören Sie ein einfaches Beispiel hiefür an, das ich selbst
beobachtet habe. Ich treffe einmal in unseren schönen Dolomiten
mit zwei Wiener Damen zusammen, die als Touristinnen verklei-
det sind. Ich begleite sie ein Stück weit, und wir besprechen die
Genüsse, aber auch die Beschwerden der touristischen Lebens-
weise. Die eine der Damen gibt zu, daß diese Art den Tag
zu verbringen, manches Unbequeme hat. Es ist wahr, sagt
sie, daß es gar nicht angenehm ist, wenn man so in der Sonns
60 IV. DIE FEHLLEISTUNGEN.
den ganzen Tag marschiert ist, und Bluse und Hemd ganz
durchgeschwitzt sind. In diesem Satze hat sie einmal eine kleine
Stockung zu überwinden. Dann setzt sie fort: Wenn man aber
dann nach Hose kommt und sich umkleiden kann.....
Wir haben dies Versprechen nicht analysiert, aber ich meine,
Sie können es leicht verstehen. Die Dame hatte die Absicht ge-
habt, die Aufzählung vollständiger zu halten und zu sagen:
Bluse, Hemd und Hose. Aus Motiven der Wohlanständigkeit
war die Erwähnung der Hose unterblieben, aber in dem nächsten,
inhaltlich ganz unabhängigen Satz kam das nicht ausgespro-
chene Wort als Verunstaltung des ähnlichen Wortes nach
Hause zum Vorschein.
Nun können wir uns aber der lange aufgesparten Haupt-
frage zuwenden, was für Intentionen es sind, die sich in
ungewöhnlicher Weise als Störungen anderer zum Ausdruck
bringen. Nun selbstverständlich sehr verschiedene, in denen
wir aber das Gemeinsame finden wollen. Untersuchen wir eine
Reihe von Beispielen daraufhin, so werden sie sich uns alsbald
in drei Gruppen sondern. Zur ersten Gruppe gehören die
Fälle, in denen die störende Tendenz dem Redner bekannt ist,
überdies aber vor dem Versprechen von ihm verspürt wurde.
So gibt beim Versprechen „Vorschwein“ der Sprecher nicht
nur zu, daß er das Urteil „Schweinereien“ über die betreffenden
Vorgänge gefällt hat, sondern auch, daß er die Absicht hatte,
von der er später zurücktrat, ihr auch wörtlichen Ausdruck
zu geben. Eine zweite Gruppe bilden andere Fälle, in denen
die störende Tendenz vom Sprecher gleichfalls als die seinige
anerkannt wird,"aber er weiß nichts davon, daß” sie gerade
vor dein Versprechen bei ihm aktiv war. Er akzeptiert also
unsere Deutung seines V. ersprechens, bleibt aber doch in ge-
wissem Maße verwundert über sie. Beispiele für dieses Ver-
DAS GEMEINSAME DER STÖRENDEN INTENTIONEN. 61
halten lassen sich von anderen Fehlleistungen vielleicht leichter
geben als gerade vom Versprechen. In einer dritten Gruppe wirG
die Deutung der störenden Intention vom Sprecher energisch ab-
gelehnt; er bestreitet nicht nur, daß sie sich vor dem Ver-
sprechen in ihm geregt, sondern er will behaupten, daß sie
ihm überhaupt völlig fremd ist. Erinnern Sie sich an das Beispiel
vora „Aufstoßen‘“ und an die geradezu unhöfliche Abweisung,
die ich mir durch die Aufdeckung der störenden Intention von
diesem Sprecher geholt habe. Sie wissen, daß wir in der Auf-
fassung dieser Fälle noch keine Einigung erzielt haben. Ich
würde mir aus dem Widerspruch des Toastredners nichts machen
und unbeirrbar an meiner Deutung festhalten, während Sie,
meine ich, doch unter dem Eindrucke seines Sträubens stehen
und in Erwägung ziehen, ob man nicht auf die Deutung sol-
cher Fehlleistungen verzichten und sie als rein physiologische
Akte im voranalytischen Sinne gelten lassen soll. Ich kann
mir denken, was Sie abschreckt. Meine Deutung schließt die
Annahme ein, daß sich bei dem Sprecher Intentionen äußern
können, von denen er selbst nichts weiß, die ich aber aus Indizien
erschließen kann. Vor einer so neuartigen und folgenschweren
Annahme machen Sie halt. Ich verstehe das und gebe Ihnen
insoweit recht. Aber stellen wir das eine fest: Wenn Sie
die an so vielen Beispielen erhärtete Auffassung der Fehllei-
stungen korsequent durchführen wollen, müssen Sie sich zu
der genannten befremdenden Annahme entschließen. Können
Sie das nicht, so müssen Sie auf das kaum erworbene Ver-
ständnis der Fehlleistungen wiederum verzichten. |
Verweilen wir noch bei dem, was die drei Gruppen einigt,
was den drei Mechanismen des Versprechens gemeinsam ist.
Das ist zum Glück unverkennbar. In den beiden ersten Gruppen
wird die störende Tendenz vom Sprecher anerkannt; in der
—
62 IV. DIE FEHLLEISTUNGEN.
ersten kommt noch hinzu, daß sie sich unmittelbar vor dem
Versprechen gemeldet hat. In beiden Fällen ist sie aber
zurückgedrängt worden. Der Sprecher hat sich
entschlossen, sie niehtin Rede umzusetzen, und
dann passiertihm das Versprechen, d. h. dann setzt
sieh die zurückgedrängte Tendenz gegen seinen
WillenineineÄußerungum,indemsiedenAus druck
der von ihm zugelassenen Intention abändert,
siehmitihm vermengtodersich geradezuan seine
Stelle setzt. Dies ist also der Mechanismus des Ver-
sprechens.
Ich kann von meinem Standpunkt auch den Vorgang in
unserer dritten Gruppe in den schönsten Einklang mit dem
hier beschriebenen Mechanismus bringen. Ich brauche nur an-
zunehmen, daß diese drei Gruppen durch die verschieden weit
reichende Zurückdrängung einer Intention unterschieden werden.
In der ersten ist die Intention vorhanden und macht sich
vor der Äußerung des Sprechers ihm bemerkbar; erst dann
erfährt sie die Zurückweisung, für welche sie sich im Ver-
sprechen entschädigt. In der zweiten Gruppe reicht die Zu-
rückweisung weiter; die Intention wird bereits vor der Rede-
äußerung nicht mehr bemerkbar. Merkwürdig, daß sie dadurch
keineswegs abgehalten wird, sich an der Verursachung des
Versprechens zu beteiligen! Durch dies Verhalten wird uns
aber die Erklärung für den Vorgang bei der dritten Gruppe er-
leichtert. Ich werde so kühn sein, anzunehmen, daß sich in
der Fehlleistung auch noch eine Tendenz äußern kann, welche
seit längerer Zeit, vielleicht seit sehr langer Zeit, zurückgedrängt
ist, nicht bemerkt wird und darum vom Sprecher direkt ver-
augnet werden kann. Aber lassen Sie selbst das Problem der
dritten Gruppe beiseite; Sie müssen aus den Beobachtungen an
DIE STÖRENDE INTENTION VORHER EINE GESTÖRTE. 63
den anderen Fällen den Schluß ziehen, daß die Unter-
drückung der vorhandenen Absicht, etwas zu
sagen, die unerläßliche Bedingung dafür ist, daß
ein Versprechen zu stande kommt.
Wir dürfen nun behaupten, daß wir im Verständnis der
Fehlleistungen weitere Fortschritte gemacht haben. ‚Wir wis-
sen nicht nur, daß sie seelische Akte sind, an denen man Sinn
und Absicht erkennen kann, nicht nur, daß sie durch die Inter-
ferenz von zwei verschiedenen Intentionen entstehen, sondern
außerdem noch, daß die eine dieser Intentionen eine gewisse
Zurückdrängung von der Ausführung erfahren haben muß, um
sich durch die Störung der anderen äußern zu können. Sie
muß selbst erst gestört worden sein, ehe sie zur störenden
werden karn. Eine vollständige Erklärung der Phänomene, die
wir Fehlleistungen nennen, ist damit natürlich noch nicht ge-
wonnen. Wir sehen sofort weitere Fragen auftauchen und
alınen überhaupt, daß sich um so mehr Anlässe zu neuen Fragen
ergeben werden, je weiter wir im Verständnis kommen. Wir
können z. B. fragen, warum es nicht viel einfacher zugeht. Wenn
die Absicht besteht, eine gewisse Tendenz zurückzudrängen an-
statt sie auszuführen, so sollte diese Zurückdrängung so ge-
lingen, daß eben nichts von jener zum Ausdruck kommt, oder
sie könnte auch mißlingen, so daß die zurückgedrängte Ten-
denz sich vollen Ausdruck schafft. Die Fehlleistungen sind
aber Kompromißergebnisse, sie bedeuten ein halbes Gelingen
und ein halbes Mißlingen für jede der beiden Absichten, die
gefährdete Intention wird weder ganz unterdrückt, noch setzt
sie sich — von Einzelfällen abgesehen — ganz unversehrt durch.
Wir können uns denken, daß besondere Bedingungen für das
Zustandekommen solcher Interferenz- oder Kompromißergebnisse
vorhanden sein müssen, aber wir können auch nicht einmal ahnen,
IV. DIE FEHLLEISTUNGEN.
64 EN,
N ——
welcher Art sie sein können. Ich glaube auch nicht, daß wir
unbekannten Verhältnisse durch weitere Vertiefung
diese uns
Es wird
in das Studiun der Fehlleistungen aufdecken könnten.
vieimehr notwendig sein, vorher noch andere dunkle Gebiete
des Seelenlebens zu durchforschen; erst die Analogien, die uns
dort begegnen, können uns den Mut geben, jene Annahmen aufzu-
stellen, die für eine tiefer reichende Aufklärung der Fehlleistun-
gen erforderlich sind. Und noch eines! Auch das Arbeiten mit
kleinen Anzeichen, wie wir es auf diesem Gebiete beständig üben,
bringt seine Gefahren mit sich. Es gibt eine seelische Erkran-
kung, die kombinatorische Paranoia, bei welcher die Verwertung
solcher kleiner Anzeichen in uneingeschränkter Weise be-
trieben wird, und ich werde mich natürlich nicht dafür ein-
setzen, daß die auf dieser Grundlage aufgebauten Schlüsse
durchwegs richtig sind. Vor solchen Gefahren kann uns nur
die breite Basis unserer Beobachtungen bewahren, die Wieder-
holung ähnlicher Eindrücke aus den verschiedensten Gebieten
des Seelenlebens.
Wir werden also die Analyse der Fehlleistungen hier ver-
lassen. An eines darf ich Sie aber noch mahnen; wollen Sie
die Art, wie wir diese Phänomene behandelt haben, als vor-
bildlich im Gedächtnis behalten. Sie können an diesem Bei-
spiel ersehen, welches die Absichten unserer Psychologie sind.
Wir wollen die Erscheinungen nicht bloß beschreiben und
klassifizieren, sondern sie als Anzeichen eines Kräftespiels in
der Seele begreifen, als Äußerung von zielstrebigen Tenden-
zen, die zusammen oder gegeneinander arbeiten. Wir bemühen
uns um eine dynamische Auffassung der seelischen Er-
scheinungen. Die wahrgenommenen Phänomene müssen in un-
ae Auffassung gegen die nur angenommenen Strebungen
zurücktreten.
NACHTRÄGE ZUM VERSPRECHEN. 65
Wir wollen also bei den Fehlleistungen nicht weiter in
die Tiefe gehen, aber wir können noch einen Streifzug durch
die Breite dieses Gebiets unternehmen, auf dem wir Bekanntes
wiederfinden und einiges Neue aufspüren werden. Wir halten
ns dabei an die Einteilung in die bereits eingangs aufgestellten
drei Gruppen des Versprechens mit den beigeordneten Formen
des Verschreibens, Verlesens, Verhörens, des Vergessens mit
seinen Unterteilungen je nach dem vergessenen Objekte (Eigen-
namen, Fremäwerten, Vorsätzen, Eindrücken) und des Ver-
greifens, Verlegens, Verlierens. Die Irrtümer, soweit sie für
uns in Betracht kommen, schließen sich teils dem Vergessen,
teils dem Vergreifen an.
Vom Versprechen haben wir bereits so eingehend gehan-
delt und doch noch einiges hinzuzufügen. Es knüpfen sich an
das Versprechen kleinere affektive Phänomene, die nicht ganz
ohne Interesse sind. Es will niemand sich gerne versprochen
haben; man überhört auch oft das eigene Versprechen, niemals
das eines anderen. Das Versprechen ist auch in gewissem Sinne
ansteckend; es ist gar nicht leicht, über das Versprechen zu
reden, ohne dabei selbst in Versprechen zu verfallen. Die
geringfügigsten Formen des Versprechens, die gerade keine
besonderen Aufklärungen über versteckte seelische Vorgänge
zu geben haben, sind doch in ihrer Motivierung unschwer zu
durchschauen. ‚Wenn jemand z. B. einen langen Vokal kurz
gesprochen hat infolge einer beliebig motivierten, bei diesem
Wort eingetretenen Störung, so dehnt er dafür einen bald darauf
folgenden kurzen Vokal und begeht ein neues Versprechen,
indem er das frühere kompensiert. Dasselbe, wenn ar einen
Doppelvokal unrein und nachlässig ausgesprochen hat, z. B.
ein eu oder oi wie ei; er sucht es gutzumachen, indem er ein
nachfolgendes ei zu eu oder oi verändert. Dabei scheint eine
Freud, Vorlesungen. III. 5
IV. DIE FEHLLEISTUNGEN.
Rücksicht auf den Zuhörer maßgebend zu sein, der nicht glauben
soll, es sei dem Redner gleichgültig, wie er die Muttersprache
behändle. Die zweite kompensierende Entstellung hat geradezu
die Absicht, den Hörer auf die erste aufmerksam zu machen
und ihm zu versichern, daß sie auch dem Redner nicht entgangen
ist. Die häufigsten, einfachsten und geringfügigsten Fälle des
Versprechens bestehen in Zusammenziehungen und Vorklängen,
die sich an unscheinbaren Redeteilen äußern. Man verspricht sich
in einem längeren Satz z. B. derart, daß das letzte Wort der be-
absichtigten Redeintention vorklingt- Das macht den Eindruck
einer gewissen Ungeduld, mit dem Satze fertig zu werden,
und bezeugt im allgemeinen ein gewisses Widerstreben gegen
die Mitteilung dieses Satzes oder gegen die Rede überhaupt.
Wir kommen so zu Grenzfällen, in denen sich die Unterschiede
zwischen der psychoanalytischen und der gemeinen physiolo-
gischen Auffassung des Versprechens vermischen. Wir nehmen
an, daß in diesen Fällen eine die Redeintention störende Tendenz
vorhanden ist; sie kann aber nur anzeigen, daß sie vorhanden
ist, und nicht, was sie selbst beabsichtigt. Die Störung, die sie
hervorruft, folgt dann irgend welchen Lautbeeinflussungen oder
Assoziationsanziehungen und kann als Ablenkung der Auf-
merksamkeit von der Redeintention aufgefaßt werden. Aber
weder diese Aufmerksamkeitsstörung noch die wirksam gewor-
denen Assoziationsneigungen treffen das Wesen des Vorgangs.
Dies bleibt doch der Hinweis auf die Existenz einer die Rede-
' absicht störenden Intention, deren Natur nur diesmal nicht aus
ihren Wirkungen erraten werden kann, wie es in allen besser
ausgeprägten Fällen des Versprechens möglich ist.
Das Verschreiben, zu dem ich nun übergehe, stimmt mit
dem Versprechen soweit überein, daß wir keine neuen Gesichts-
punkte zu erwarten haben. Vielleicht wird uns eine kleine
NACHTRÄGE ZUM VERSCHREIBEN, 67
Nachlese beschieden sein. Die so verbreiteten kleinen Ver-
schreibungen, Zusammenziehungen, Vorwegnahmen späterer,
besonders der letzten Worte deuten wiederum auf eine all-
gemeine Schreibunlust und Ungeduld fertig zu werden; aus-
geprägtere Effekte des Verschreibens lassen Natur und Absicht
der störenden Tendenz erkennen. Im allgemeinen weiß man,
wenn man in einem Brief ein Verschreiben findet, daß beim
Schreiber nicht alles in Ordnung war; was sich bei ihm geregt
hat, kann man nicht immer feststellen. Das Verschreiben wird
häufig von dem, der es begeht, ebensowenig bemerkt wie das
Versprechen. Auffällig ist dann folgende Beobachtung: Es
gibt ja Menschen, welche: die Gewohnheit üben, jeden Brief,
den sie geschrieben haben, vor der Absendung nochmals durch-
zulesen. Andere pflegen dies nicht; wenn sie es aber ausnahms- _
weise einmal tun, haben sie dann immer Gelegenheit, ein auf-
fälliges Verschreiben aufzufinden und zu korrigieren. Wie ist
das zu erklären? Das sieht so aus, als wüßten diese Leute doch,
daß sie sich bei der Abfassung des Briefes verschrieben haben.
Sollen wir das wirklich glauben?
An die praktische Bedeutung des Verschreibens knüpft sich
ein interessantes Problem. Sie erinnern sich vielleicht an den
Fall eines Mörders H., der sich Kulturen von höchst gefähr-
lichen Krankheitserregern von wissenschaftlichen Instituten
zu verschaffen wußte, indem er sich für einen Bakterienforscher
ausgab, der aber diese Kulturen dazu gebrauchte, um ihm
nahestehende Personen auf diese modernste Weise aus dem
Wege zu räumen. Dieser Mann beklagte sich nun einmal bei
der Leitung eines solchen Instituts über die Unwirksamkeit
der ihm geschiekten Kulturen, verschrieb sich aber dabei, und
an Stelle der Worte ‚„bei meinen Versuchen an Mäusen oder
Meerschweinchen“ stand deutlich zu lesen „bei meinen Ver-
5*
68 IV. DIE FEHLLEISTUNGEN. er
suchen an Menschen“. Dies Verschreiben fiel auch den Ärzten
des Instituts auf; sie zogen aber, soviel ich weiß, keine Kon-
sequenz daraus. Nun, was meinen Sie? Hätten die Ärzte nicht
vielmehr das Verschreiben. als Geständnis annehmen und eine
Untersuchung anregen müssen, durch welche dem Mörder
rechtzeitig das Handwerk gelegt worden wäre? Ist in diesem
Falle nicht die Unkenntnis unserer Auffassung der Fehlleistun-
gen die Ursache eines praktisch bedeutsamen Versäumnisses ge-
worden? Nun, ich meine, ein solches Verschreiben erschiene
mir gewiß als sehr verdächtig, aber seiner Verwendung als
Geständnis steht etwas sehr Gewichtiges im Wege. So einfach
ist lie Sache nicht. Das Verschreiben ist sicherlich ein In-
dizium, aber für sich allein. hätte es zur Einleitung einer Un-
tersuchung nicht hingereicht. Daß der Mann von dem Ge-
danken beschäftigt ist, Menschen zu infizieren, das sagt das
Verschreiben allerdings, aber es läßt nicht entscheiden, ob
dieser Gedanke den Wert eines klaren schädlichen Vorsatzes
oder den einer praktisch belanglosen Phantasie hat. Es ist sogar
möglich, daß der Mensch, der sich so verschrieben hat, mit der
besten subjektiven Berechtigung diese Phantasie verleugnen und
sie als etwas ihm gänzlich Fremdes von sich weisen wird. Wenn
wir später den Unterschied zwischen psychischer und mate-
rieller Realität ins Auge fassen, werden Sie diese Möglichkeiten
noch ‘besser verstehen können. Es ist dies aber wieder ein
Fall, in dem eine Fehlleistung nachträglich zu ungeahnter
Bedeutung gekommen ist. |
Beim Verlesen treffen wir auf eine psychische Situation,
die sich von der des Versprechens und Verschreibens deutlich
unterscheidet. Die eine der beiden miteinander konkurrierenden
Tendenzen ist hier durch eine sensorische Anregung ersetzt und
vielleicht darum weniger resistent. Was man zw lesen hat,
ERÖRTERUNG DES VERLESENS. 69
ist ja nicht eine Produktion des eigenen Seelenlebens wie
etwas, was man zu schreiben vorhat. In einer großen Mehrzahl
besteht daher das Verlesen in einer vollen Substitution. Man
ersetzt das zu lesende Wort durch ein anderes, ohne daß eine
inhaltliche Beziehung zwischen dem Text und dem Effekt des
Verlesens zu bestehen braucht, in der Regel in Anlehnung an
eine Wortähnlichkeit. Lichtenbergs Beispiel: Agamem-
non anstatt angenommen ist das beste dieser Gruppe. Will
man die störende, das Verlesen erzeugende Tendenz kennen
lernen, so darf man den verlesenen Text ganz beiseite lassen
und kann die analytische Untersuchung mit den beiden Fragen
einleiten, welcher Einfall sich als der nächste zum Effekt des
Verlesens ergibt und in welcher Situation das Verlesen vor-
gefallen ist. Mitunter reicht die Kenntnis der letzteren für
sich allein zur Aufklärung des Verlesens hin, z. B. wenn
jemand in gewissen Nöten in einer ihm fremden Stadt herum-
wandert und auf einer großen Tafel eines ersten Stockwerkes
das Wort Closethaus liest. Er hat gerade noch Zeit, sich
darüber zu verwundern, daß die Tafel so hoch angebracht ist,
ehe er entdeckt, daß dort streng genommen Corsethaus zu
lesen steht. In anderen Fällen bedarf gerade das vom Inhalt
des Textes unabhän gige Verlesen einer eingehenden Analyse,
die ohne Übung in der psychoanalytischen Technik und ohne
Zutrauen zu ihr nicht durchzuführen ist. Meist ist es aber
leichter, sich die Aufklärung eines Verlesens zu schaffen. Das
substituierte Wort verrät nach dem Beispiel Agamemnon
ohne weiteres den Gedankenkreis, aus welchem die Störung
hervorgeht. In diesen Kriegszeiten ist es z. B. sehr gewöhnlich,
daß man die Namen der Städte und Heerführer und die militä-
rischen Ausdrücke, die einen beständig umschwirren, überall
hineinliest, wo einem ein ähnliches Wortbild entgegenkommt.
70 IV. DIE FEHLLEISTUNGEN.
‚Was seinen interessiert und beschäftigt, das setzt sich so an
Stelle des Fremden und noch Uninteressanten. Die Nachbilder
der Gedanken trüben die neue Wahrnehmung.
Es fehlt auch beim Verlesen nicht an Fällen von anderer
Art, in denen der Text des Gelesenen selbst die störende Tendenz
erweckt, durch welche er dann meist in sein Gegenteil ver-
wandelt wird. Man sollte etwas Unerwünschtes lesen und über-
zeugt sich durch die Analyse, daß ein intensiver Wunsch zur
Ablehnung des Gelesenen für dessen Abänderung verantwortlich
zu machen ist.
Bei den ersterwähnten häufigeren Fällen des Verlesens
kommen zwei Momente zu kurz, denen wir im Mechanismus
der Fehlleistungen eine wichtige Rolle zugeteilt haben: der
Konflikt zweier Tendenzen und die Zurückdrängung der einen,
die sich durch den Effekt der Fehlleistung entschädigt. Nicht
daß beim Verlesen etwas dem Gegensätzliches aufzufinden wäre,
aber die Vordringlichkeit des zum Verlesen führenden Gedanken-
inhalts ist doch weit auffälliger als die Zurückdrängung, die
dieser vorher erfahren haben mag. Gerade diese beiden Momente
treten uns bei den verschiedenen Situationen der Fehlleistun g
durch Vergessen am greifbarsten entgegen.
Das Vergessen von Vorsätzen ist geradezu eindeutig, seine
Deutung wird, wie wir gehört haben, auch vom Laien nicht
bestritten. Die den Vorsatz störende Tendenz ist jedesmal eine
Gegenabsicht, ein Nichtwollen, von dem uns nur zu wissen
erübrigt, warum es sich nicht anders und nicht unverhüllter
zum: Ausdruck bringt. Aber das Vorhandensein dieses Gegen-
willens ist unzweifelhaft. Manchmal gelingt es auch, etwas
von den Motiven zu erraten, die diesen Gegenwillen nötigen
sich zu verbergen, und allemal hat er durch die Fehlleistung
aus dem Verborgenen seine Absicht erreicht, während ihm die
VORSICHTEN IN DER DEUTUNG DES VERGESSENS,
——ono
11
Abweisung sicher wäre, wenn er als offener Widerspruch auf-
träte. Wenn zwischen dem Vorsatz und seiner Ausführung eine
wichtige Veränderung der psychischen Situation ein getreten
ist, derzufolge die Ausführung des Vorsatzes nicht in Frage
käme, dann tritt das Vergessen des Vorsatzes aus dem Rahmen
einer Fehlleistung heraus. Man wundert sich nicht mehr
darüber und sieht ein, daß es überflüssig gewesen wäre, den
Vorsatz zu erinnern; er war dann dauernd oder zeitweilig er-
loschen. Eine Fehlleistung kann das Vergessen des Vorsatzes
nur dann heißen, wenn wir an eine solche Unterbrechung des-
selben nicht glauben können.
Die Fälle von Vorsatzvergessen sind im allgemeinen so
einförmig und durchsichtig, daß sie eben darum für unsere
Untersuchung kein Interesse haben. An zwei Stellen können
wir aber doch aus dem Studium dieser Fehlleistung etwas
Neues lernen. ‚Wir haben gesagt, das Vergessen, also Nicht-
ausführen eines Vorsatzes weist auf einen ihm feindlichen Ge-
genwillen hin. Das bleibt wohl bestehen, aber der Gegenwille
kann nach der Aussage unserer Untersuchungen von zweierlei
Art sein, ein direkter oder ein vermittelter. Was unter dem
letzteren gemeint ist, läßt sich am besten an ein oder zwei Bei-
srielen erläutern. Wenn der Gönner daran vergißt, bei einer
dritten Person ein Fürwort für seinen Schützling einzulegen,
so kann dies geschehen, weil er sich für den Schützling eigent-
lich nicht sehr interessiert und darum auch zur Fürsprache
keine große Lust hat. In diesem Sinne wird jedenfalls der
Schützling das Vergessen des Gönners verstehen. Es kann
aber auch komplizierter zugehen. Der Gegenwille gegen die
Ausführung des Vorsatzes kann beim Gönner von anderer
Seite kommen und an ganz anderer Stelle angreifen. Er braucht
mit dem Schützling nichts zu tun zu haben, sondern richtet
12 IV. DIE FEHLLEISTUNGEN.
re —
sich etwa gegen die dritte Person, bei welcher die Fürsprache
erfolgen soll. Sie sehen also, welche Bedenken auch hier der
praktischen. Verwendung unserer Deutungen entgegenstehen.
Der Schützling gerät trotz der richtigen Deutung des Ver-
gessens in Gefahr, allzu mißtrauisch zu werden und seinem
Gönner schweres Unrecht zu tun. Oder: wenn jemand an das
Rendezvous vergißt, das einzuhalten er dem anderen verspro-
chen und sich selbst vorgenommen hat, so wird die häufigste
Begründung wohl die direkte Abneigung gegen das Zusammen-
treffen mit dieser Person sein. Aber die Analyse könnte hier den
Nachweis erbringen, daß die störende Tendenz nicht der Person
gilt, sondern sich gegen den Platz richtet, an welchem das
Zusammentreffen stattfinden soll, und der infolge einer an ihn
geknüpften peinlichen Erinnerung gemieden wird. Oder: wenn
jemand einen Brief aufzugeben vergißt, so kann sich die Gegen-
tendenz auf den Inhalt des Briefes selbst stützen; es ist aber
keineswegs ausgeschlossen, daß der Brief an sich harmlos ist
und der Gegentendenz nur darum verfällt, weil irgend etwas
an. ihm an einen anderen, früher einmal geschriebenen Brief
erinnert, der dem Gegenwillen allerdings einen direkten An-
griffspunkt geboten hatte. Man kann dann sagen, der Gegen-
wille hat sich hier von. jenem früheren Brief, wo er berechtigt
war, auf den gegenwärtigen übertragen, bei dem er eigentlich
nichts zu wollen hat. Sie sehen also, daß man bei der Ver-
wertung unserer berechtigten Deutungen doch Zurückhaltung
und Vorsicht üben muß; was psychologisch gleichwertig ist,
kann praktisch doch recht vieldeutig sein.
Phänomene wie diese werden Ihnen sehr un gewöhnlich er-
en Vielleicht sind Sie geneigt anzunehmen, daß der
Baurekte! Gegenwille den Vorgang als einen bereits patho-
logischen charakterisiert. Ich kann Ihnen aber versichern, daß
DER INDIREKTE GEGENWILLE. 13
er auch im Rahmen der Norm und der Gesundheit vorkommt.
Mißverstehen Sie mich übrigens nicht. Ich will keineswegs
selbst die Unzuverlässigkeit unserer analytischen Deutungen
zugestehen. Die besprochene Vieldeutigkeit des Vorsatzver-
gessens besteht ja nur, solange wir keine Analyse des Falles
vorgenommen haben und nur auf Grund unserer allgemeinen
Voraussetzungen deuten. Wenn wir die Analyse mit der be-
treffenden Person ausführen, erfahren wir jedesmal mit ge-
nügender Sicherheit, ob es ein direkter u ist, ie
woher er sonst rührt.
Ein zweiter Punkt ist der folgende: Wenn wir in einer
Überzahl von Fällen bestätigt finden, daß das Vergessen eines
Vorsatzes auf einen Gegenwillen zurückgeht, so bekommen wir
Mut, diese Lösung auch auf eine andere Reihe von Fällen aus-
zudehnen, in denen die analysierte Person den von uns er:
schlossenen Gegenwillen nicht bestätigt, sondern verleugnet.
Nehmen Sie als Beispiele 'hiefür die überaus häufigen Vor-
kommnisse, daß man vergißt, Bücher, die man entlehnt ‚hat
zurückzustellen, Rechnungen oder Schulden zu bezahlen. Wir
werden so kühn sein, dem Betreffenden vorzuhalten, daß bei
ihm die Absicht besteht, die Bücher zu behalten und die
Schulden nicht zu bezahlen, während er diese Absicht leugnen,
aber nicht im stande sein wird, uns für sein Benehmen eine
andere Erklärung zu geben. Daraufhin setzen wir fort, er
habe die Absicht, nur wisse er nichts von ihr; es genügt uns
aber, daß sie sich durch den Effekt des Vergessens bei ihm
verrate. Jener kann uns wiederholen, er habe eben daran ver-
gessen. Sie erkennen jetzt die Situation als eine, in welche:
wir uns bereits früher einmal befunden haben. Wenn wir
unsere so vielfältig als berechtigt erwiesenen Deutungen der
Fehlleistungen konsequent fortführen wollen, werden wir un-
IV. DIE FEHLLEISTUNGEN. 55 R
a nen —
74
ausweichlich zu der Annahme gedrängt, daß es Tendenzen beim
Menschen gibt, welche wirksam werden können, ohne daß er
von ihnen weiß. Damit setzen wir uns aber in Widerspruch
zu allen das Leben und die Psychologie beherrschenden An-
schauungen.
Be us,
Das Vergessen von Eigen- und Fremdnamen sowie Fremd-
worten läßt sich in gleicher Weise auf eine Gegenabsicht zu-
rückführen, welche sich entweder direkt oder indirekt gegen
den betreffenden Namen richtet. Von solcher direkter Abnei-
gung habe ich Ihnen bereits früher einmal mehrere Beispiele
vorgeführt. Die indirekte Verursachung ist aber hier besonders
häufig und erfordert meist sorgfältige Analysen zu ihrer Fest-
stellung. So z. B. hat in dieser Kriegszeit, die uns ge-
zwungen hat, so viele unserer früheren Neigungen aufzugeben,
auch die Verfügung über das Erinnern von Eigennamen infolge
der sonderbarsten Verknüpfungen sehr gelitten. Vor kurzem
ist es mir geschehen, daß ich den Namen der harmlosen mäh-
rischen Stadt Bisenz nicht reproduzieren konnte, und die Ana-
lyse ergab, daß keine direkte Verfeindung Schuld daran trug,
sondern der Anklang an den Namen des Palazzo Bisenzi in
Orvieto, in dem ich sonst zu wiederholten Malen gerne gewohnt
hatte. Als Motiv der gegen dies Namenerinnern gerichteten
Tendenz tritt uns hier zum erstenmal ein Prinzip entgegen,
welches uns später seine ganze großartige Bedeutung für die
Verursachung neurotischer Symptome enthüllen wird: Die
Abneigung des Gedächtnisses, etwas zu erinnern, was mit Un-
iustempfindungen verknüpft war und bei der Reproduktion
diese Unlust erneuern würde. Diese Absicht zur Vermeidung
von Unlust aus der Erinnerung oder anderen psychischen Akten,
die psychische Flucht vor der Unlust, dürfen wir als das
letzte wirksame Motiv nicht nur fürs Namenvergessen, sondern
BEGÜNSTIGUNGEN DES NAMENVERGESSENS,. 75
auch für viele andere Fehlleistungen, wie Unterlassungen, Irr-
tümer u. a. anerkennen.
Das Namenvergessen scheint aber psycho-physiologisch
besonders erleichtert zu sein und stellt sich daher auch in
Fällen ein, welche die Einmengung eines Unlustmotivs nicht
bestätigen lassen. Wenn einer einmal zum Namenvergessen neigt,
so können Sie bei ihm durch analytische Untersuchung fest-
stellen, daß ihm nicht nur darum Namen entfallen, weil er sie
selbst nicht mag oder weil sie ihn an Unliebsames mahnen,
sondern auch darum, weil derselbe Name bei ihm einem anderen
Assoziationskreis angehört, zu dem er innigere Beziehungen
hat. ‘Der Name wird dort gleichsam festgehalten und den |
anderen momentan aktivierten Assoziationen verweigert: Wenn
Sie sich an die Kunststücke der Mnemotechnik erinnern, so
werden Sie mit einigem Befremden feststellen, daß man Namen
infolge derselben Zusammenhänge vergißt, die man sonst ab-
sichtlich herstellt, um sie vor dem Vergessen zu schützen. Das
auffälligste Beispiel hiefür geben Eigennamen von Personen,
die begreiflicherweise für verschiedene Leute ganz verschiedene
psychische Wertigkeit besitzen müssen. Nehmen Sie z. B. einen
Vornamen wie Theodor. Dem einen von Ihnen wird er nichts
Besonderes bedeuten; für den anderen ist es der Name seines
Vaters, Bruders, Freundes oder der eigene. Die analytische
Erfahrung wird Ihnen dann zeigen, daß der erstere nicht in
Gefahr ist zu vergessen, daß eine gewisse fremde Person diesen
Namen führt, während die anderen beständig geneigt sein wer-
den, dem Fremden einen Namen vorzuenthalten, der ihnen für
intime Beziehungen reserviert erscheint. Nehmen Sie nun an,
daß diese assoziative Hemmung mit der Wirkung des Unlust-
prinzips und überdies mit einem indirekten Mechanismus zu-
sammentreffen kann, so werden Sie erst im stande sein, sich
ö
76 IV, DIE FEHLLEISTUNGEN.
von der Komplikation der Verursachung des zeitweiligen
Namenvergessens eine zutreffende Vorstellung zu machen. Eine
sachgerechte Analyse deckt Ihnen aber alle diese Verwicklungen
restlos auf.
Das Vergessen von Eindrücken und Erlebnissen zeigt die
Wirkung der Tendenz, Unangenehmes von der Erinnerung fern-
zuhalten, noch viel deutlicher und ausschließlicher als das
Namenvergessen. Es gehört natürlich nicht in seinem vollen
Umfang zu den Fehlleistungen, sondern nur insoferne es uns,
am Maßstabe unserer gewohnten Erfahrung gemessen, auffällig
und unberechtigt erscheint, also z. B. wenn das Vergessen zu
frische oder zu wichtige Eindrücke betrifft, oder solche, deren
Ausfall eine Lücke in einen sonst gut erinnerten Zusammen-
hang reißt. Warum und wieso wir überhaupt vergessen
können, darunter Erlebnisse, welche uns gewiß den tiefsten
Eindruck hinterlassen haben, wie die Ereignisse unserer ersten
Kindheitsjahre, das ist ein ganz anderes Problem, bei welchem
die Abwehr gegen Unlusterregungen eine gewisse Rolle spielt,
aber lange nicht alles erklärt. Daß unangenehme Eindrücke
leicht vergessen werden, ist eine nicht zu bezweifelnde Tatsache.
Verschiedene Psychologen haben sie bemerkt und der große
Darwin empfing einen so starken Eindruck von ihr, daß er
sich die „goldene Regel“ aufstellte, Beobachtungen, welche seiner
Theorie ungünstig schienen, mit besonderer Sorgfalt zu notieren,
da er sich überzeugt hatte, daß gerade sie in seinem Gedächt-
nisse nicht haften wollten.
‚Wer von diesem Prinzip der Abwehr gegen die Erinnerungs-
unlust durch das Vergessen zuerst hört, versäumt selten den
Einwand zu erheben, daß er vielmehr die Erfahrung gemacht
hat, daß gerade Peinliches schwer zu vergessen ist, indem es
gegen den ‘Willen der Person immer wiederkehrt, um sie zu
DIE ABWEHR GEGEN UNLUST AUS DER ERINNERUNG. 17
quälen, z. B. die Erinnerung an Kränkungen und Demütigungen.
Auch diese Tatsache ist richtig, aber der Einwand trifft nicht
zu. Es ist wichtig, daß man rechtzeitig beginne mit der Tat-
sache zu rechnen, das Seelenleben sei ein Kampf- und Tummel-
platz entgegengesetzter Tendenzen, oder nicht dynamisch aus-
gedrückt, es bestehe aus Widersprüchen und Gegensatzpaaren.
Der Nachweis einer bestimmten Tendenz leistet nichts für den
Ausschluß einer ihr gegensätzlichen; es ist Raum für beide
vorhanden. Es kommt nur darauf an, wie sich die Gegensätze
zueinander stellen, welche Wirkungen von dem einen, und
welche von dem anderen ausgehen.
Das Verlieren und Verlegen sind uns besonders interessant
durch ihre Vieldeutigkeit, also durch die Mannigfaltigkeit der
Tendenzen, in deren Dienst diese Fehlleistungen treten können.
Allen Fällen gemeinsam ist, daß man etwas verlieren wollte,
verschieden aber, aus welchem Grund und zu welchem Zweck.
Man verliert eine Sache, wenn sie schadhaft geworden ist,
wenn man die Absicht hat, sie durch eine bessere zu ersetzen,
wenn sie aufgehört hat, einem lieb zu sein, wenn sie von
einer Person herrührt, zu der sich die Beziehungen verschlechtert
haben, oder wenn sie unter Umständen erworben wurde,
deren man nicht mehr gedenken will.e Demselben Zweck
kann auch das Fallenlassen, Beschädigen, Zerbrechen der
Sache dienen. Im Leben der Gesellschaft soll die Erfahrung
gemacht worden sein, daß aufgezwungene und uneheliche
Kinder weit hinfälliger sind als die rechtmäßig empfangenen.
Es bedarf für dies Ergebnis nicht der groben Technik
der sogenannten Engelmacherinnen; ein gewisser Nachlaß in
der Sorgfalt der Kinderpflege soll voll ausreichen. Mit der
Bewahrung der Dinge könnte es ebenso zugehen wie mit der
der Kinder.
18 IV. DIE FEHLLEISTUNGEN.
Dann aber können Dinge zum Verlieren bestimmt werden,
ohne daß sie etwas an ihrem Wert eingebüßt haben, wenn
nämlich die Absicht besteht, etwas dem Schicksal zu opfern,
um einen anderen gefürchteten Verlust abzuwehren. Solche
Schieksalsbeschwörungen sind nach der Aussage der Analyse
unter uns noch sehr häufig, unser Verlieren ist darum oft
ein freiwilliges Opfern. Ebenso kann sich das Verlieren in den
Dienst des Trotzes und der Selbstbestrafung stellen; kurz, die
entfernteren Motivierungen der Tendenz, ein Ding durch Ver-
lieren von sich zu tun, sind unübersehbar.
Das Vergreifen wird wie andere Irrtümer häufig dazu
benützt, um Wünsche zu erfüllen, die man sich versagen soll.
Die Absicht maskiert sich dabei als glücklicher Zufall. So
z. B., wenn man, wie es einem unserer Freunde geschah, unter
deutlichem Gegenwillen einen Besuch mit der Eisenbahn in der
Nähe der Stadt machen soll, und dann in der Umsteigestation
irrtümlich in den Zug einsteigt, der einen wieder zur Stadt
zurückführt, oder wenn man auf der Reise durchaus einen
längeren Aufenthalt in einer Zwischenstation nehmen möchte,
aber wegen bestimmter Verpflichtungen nicht nehmen soll, und
man dann einen gewissen Anschluß übersieht oder versäumt,
so daß man zu der gewünschten Unterbrechung gezwungen
ist. Oder wie es bei einem meiner Patienten zuging, dem ich
untersagt hatte, seine Geliebte telephonisch anzurufen, der aber
„irrtümlich“, „in Gedanken“, eine falsche Nummer aussprach,
alser mit mir telephonieren wollte, so daß er plötzlich mit seiner
Geliebten verbunden war. Ein hübsches, auch praktisch bedeut-
sames Beispiel von direktem Fehlgreifen bringt die Beobachtung
eines Ingenieurs zur Vorgeschichte einer Sachbeschädigung:
„Vor einiger Zeit arbeitete ich mit mehreren Kollegen im
Laboratorium der Hochschule an einer Reihe komplizierter Ela-
VERLIEREN UND VERGREIFEN, 79
stızitätsversuche, eine Arbeit, die wir freiwillig übernommen
hatten, die aber begann, mehr Zeit zu beanspruchen, als wir
erwartet hatten. Als ich eines Tages wieder mit meinem
Kollegen. F. i
ins Laboratorium ging, äußerte dieser, wie un-
angenehm es ihm gerade heute sei, so viel Zeit zu verlieren,
er hätte zu Hause so viel anderes zu tun; ich konnte ihm nur
beistimmen und äußerte noch halb scherzhaft, auf einen Vor-
fall der vergangenen Woche anspielend: „Hoffentlich. wird,
wieder die Maschine versagen, so daß wir die Arbeit abbrechen
und. früher weggehen können !“
„Bei der Arbeitsteilung trifft es sich, daß Kollege F. das
Ventil der Presse zu steuern bekommt, d. h. er hat die Druck-
flüssigkeit aus dem Akkumulator durch vorsichtiges Öffnen
des Ventils langsam in den Zylinder der hydraulischen Presse
einzulassen; der Leiter des Versuches steht beim Manometer
und ruft, wenn der richtige Druck erreicht ist, ein lautes
„Halt“. Auf dieses Kommando faßt F. das Ventil und dreht es
mit aller Kraft — nach links (alle Ventile werden ausnahmslos
nach rechts geschlossen!). Dadurch wird plötzlich der volle
Druck des Akkumulators in der Presse wirksam, worauf die
Rohrleitung nicht eingerichtet ist, so daß sofort eine Rohr-
verbindung platzt — ein ganz harmloser Maschinendefekt, der
uns jedoch zwingt, für heute die Arbeit einzustellen und nach
Hause zu gehen.
Charakteristisch ist übrigens, daß einige Zeit nachher, als
wir diesen Vorfall besprachen, Freund F. sich an! meine von mir
mit Sicherheit erinnerte Äußerung absolut nicht erinnern wollte.“
Von hier können Sie auf die Vermutung kommen, daß
es nicht immer der harmlose Zufall ist, der die Hände Ihres
Dienstpersonals zu so gefährlichen Feinden Ihres Hausbesitzes
macht. Sie können aber auch die Frage aufwerfen, ob es jedes-
rt
80 IV. DIE FEHLLEISTUNGEN,
mal Zufall ist, wenn man sich selbst beschädigt und seine
eigene Integrität in Gefahr bringt. Anregungen, die Sie gele-
gentlich an der Hand der Analyse von Beobachtungen auf
ihren. Wert prüfen mögen.
Meine geehrten Zuhörer! Das ist lange nicht alles, was
über die Fehlleistungen zu sagen wäre. Es gibt da noch viel
zu erforschen und zu diskutieren. Aber ich bin zufrieden, wenn
Sie aus unseren bisherigen Erörterungen darüber eine gewisse
Erschütterung Ihrer bisherigen Anschauungen und einen Grad
von Bereitschaft für die Annahme neuer gewonnen haben. Im
übrigen. bescheide ich mich, Sie vor einer ungeklärten Sach-
lage zu belassen. Wir können aus dem Studium der Fehlleistun-
gen nicht alle unsere Lehrsätze beweisen und sind auch mit
keinem Beweis auf dieses Material allein angewiesen. Der
große Wert der Fehlleistungen für unsere Zwecke liegt darin,
daß es sehr häufige, auch an. der eigenen Person leicht zu beob-
achtende Erscheinungen sind, deren Zustandekommen das Krank-
sein durchaus nicht zur Voraussetzung hat. Nur eine Ihrer
unbeantworteten Fragen möchte ich am Schlusse noch zu Worte
kommen lassen: Wenn die Menschen sich, wie wir’s an vielen
Beispielen gesehen haben, dem Verständnis der Fehlleistungen
so sehr annähern und sich oft so benehmen, als ob sie deren
Sinn durchschauen würden, wie ist es möglich, daß sie die-
selben Phänomene doch ganz allgemein als zufällig, sinn- und
bedeutungslos hinstellen und der psychoanalytischen Auf-
klärung derselben so energisch widerstreben können?
Sie haben recht, das ist auffällig und fordert eine Erklä-
rung. Aber ich werde sie Ihnen nicht geben, sondern Sie langsam
zu den Zusammenhängen hinführen, aus denen sich Ihnen die
Erklärung ohne mein Dazutun auldrängen wird.
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FÜNFTE VORLESUNG,
DER TRAUM.
SCHWIERIGKEITEN UND ERSTE ANNÄHERUNGEN.
Meine Damen und Herren! Eines Tages machte man die
Entdeckung, daß die Leidenssymptome gewisser Nervöser einen
Sinn haben.*) Daraufhin wurde das psychoanalytische Heilver-
fahren begründet. In dieser Behandlung ereignete es sich,
daß die Kranken an Stelle ihrer Symptome auch Träume vor-
brachten Somit entstand die Vermutung, daß auch diese Träume
einen Sinn haben.
Wir werden aber nicht diesen historischen Weg gehen,
sondern den umgekehrten einschlagen. Wir wollen den Sinn
der Träume nachweisen, als Vorbereitung zum Studium der
Neurosen. Diese Verkehrung ist gerechtfertigt, denn das Stu-
dium des Traumes ist nicht nur die beste Vorbereitung für
das der Neurosen, der Traum selbst ist auch ein neurotisches
Symptom, und zwar eines, das den für uns unschätzbaren Vorteil
hat, bei allen Gesunden vorzukommen. Ja, wenn alle Menschen
gesund wären und nur träumen würden, so könnten wir aus
ihren Träumen fast alle die Einsichten gewinnen, zu denen
die Untersuchung der Neurosen geführt hat.
S» wird also der Traum zum Objekt der psychoanalytischen
Forschung. ‘Wieder ein gewöhnliches, geringgeschätztes Phä-
nomen, scheinbar ohne praktischen Wert wie die Fehl-
») Josef Breuer in den Jahren 1880—1882. Vgl. hiezu meine in
Amerika 1909 gehaltenen Vorlesungen über Psychoanalyse.
y
Freud, Vorlesungen. III,
82 V. DER TRAUM.
leistungen, mit denen er ja das Vorkommen bei Gesunden
gemein hat. Aber sonst sind die Bedingungen für unsere Arbeit
eher ungünstiger. Die Fehlleistungen waren nur von der Wis-
senschaft vernachlässigt worden, man hatte sich wenig um
sie bekümmert; aber schließlich war es keine Schande, sich
mit ihnen zu beschäftigen. Man. sagte, es gibt zwar Wichti-
geres, aber vielleicht kann auch dabei etwas herauskommen.
Die Beschäftigung mit dem Traum ist aber nicht bloß un-
praktisch und überflüssig, sondern direkt schimpflich; sie
bringt das Odium der Unwissenschaftlichkeit mit sich, weckt
den Verdacht einer persönlichen Hinneigung zum Moystizis-
mus. Daß ein Mediziner sich mit dem Traume abgeben sollte,
wo es selbst in der Neuropathologie und Psychiatrie soviel
Ernsthafteres gibt: Tumoren bis zu Apfelgröße, die das Organ
des Seelenlebens komprimieren, Blutergüsse, chronische Ent-
zündungen, bei denen man die Veränderungen der Gewebsteile
unter dem Mikroskop demonstrieren kann! Nein, der Traum ist ein
allzu geringfügiges und der Erforschung unwürdiges Objekt.
Noch dazu eines, dessen Beschaffenheit selbst allen An-
forderungen exakter Forschung trotzt. Man ist ja in der Traum- -
forschung: nicht einmal des Objekts sicher. Eine Wahnidee z. B.
tritt einem klar und bestimmt umrissen entgegen. Ich bin der
Kaiser von China, sagt der Kranke laut. Aber der Traum? Er ist
ıneist überhaupt nicht zu erzählen. Wenn jemand einen Traum er-
zählt, hat er eine Garantie, daß er ihn richtig erzählt hat, und
nicht vielmehr während der Erzählung verändert, etwas dazu
erfindet, durch die Unbestimmtheit seiner Erinnerung gezwungen ?
Die We Träume können überhaupt nicht erinnert werden, sind
a res Und at dla Deutung Gi
| e Psychologie oder eine Me-
thode der Behandlung von Kranken begründet werden?
SCHWIERIGKEITEN. 83
Ein gewisses Übermaß in einer Beurteilung darf uns miß-
trauisch machen. Die Einwendungen gegen den Traum als Objekt
der Forschung gehen offenbar zu weit. Mit der Unwichtigkeit
haben wir schon bei den Fehlleistungen zu tun gehabt. Wir haben
uns gesagt, große Dinge können sich auch in kleinen Anzeichen
äußern. Was die Unbestimmtheit des Traumes betrifft, so ist sie
eben ein Charakter wie ein anderer; man kann den Dingen ihren
Charakter nicht vorschreiben. Es gibt übrigens auch klare und
bestimmte Träume. Es gibt auch andere Objekte der psych-
iatrischen Forschung, die an demselben Charakter der Unbestimmt-
heit leiden, z. B. in vielen Fällen die Zwangsvorstellungen, mit
denen sich doch respektable, angesehene Psychiater beschäftigt
haben. Ich will mich an den letzten Fall erinnern, der in meiner
ärztlichen Tätigkeit vorgekommen ist. Die Kranke stellte sich
mir mit den Worten vor: Ich habe ein gewisses Gefühl, alsob ich
ein lebendes Wesen —ein Kind ?—doch nicht, eher einen Hund —
beschädigt hätte oder beschädigen gewollt hätte, vielleicht es
von einer Brücke heruntergestoßen — oder etwas anderes. Dem
Schaden der unsicheren Erinnerung an den Traum können wir
abhelfen, wenn wir festsetzen, eben das, was der Träumer erzählt,
habe als sein Traum zu gelten, ohne Rücksicht auf alles, was
er vergessen oder in der Erinnerung verändert haben mag.
Endlich kann man nicht einmal so allgemein behaupten, daß der
Traum etwas Unwichtiges sei. Es ist uns aus eigener Erfahrung
bekannt, daß die Stimmung, in der man aus einem Traum er-
wacht, sich über den ganzen Tag fortsetzen kann; es sind Fälle
von den Ärzten beobachtet worden, in denen eine Geisteskrank-
heit mit einem Traum beginnt und eine aus diesem Traum
stammende Wahnidee festhält; es wird von historischen Personen
berichtet, daß sie die Anregung zu wichtigen Taten aus Träu-
men! geschöpft haben. Wir werden darum fragen, woher kommt
h*
84 V. DER TRAUM.
eigentlich die Verachtung der wissenschaftlichen Kreise für den
Traum? |
Ich meine, sie ist die Reaktion auf die Überschätzung
früherer Zeiten. Die Rekonstruktion der Vergangenheit ist be-
kanntlich nicht leicht, aber dies dürfen wir mit Sicherheit an-
nehmen — gestatten Sie mir den Scherz —, daß bereits unsere
Vorfahren vor 3000 Jahren und mehr in ähnlicher Weise wie
wir geträumt haben. Soviel wir wissen, haben die alten Völker
alle den Träumen große Bedeutung beigelegt und sie für prak-
tisch verwertbar gehalten. Sie haben ihnen Anzeichen für die
Zukunft entnommen, Vorbedeutungen in ihnen gesucht. Für die
Griechen und andere Orientalen mag zuzeiten ein Feldzug ohne
Traumdeuter so unmöglich gewesen sein wie heutzutage ohne
Fliegeraufklärer. Als Alexander der Große seinen Eroberungs-
zug unternahm, befanden sich die berühmtesten Traumdeuter in
seinem Gefolge. Die Stadt Tyrus, die damals noch auf einer
Insel lag, leistete dem König so heftigen Widerstand, daß er
sich mit dem Gedanken trug, ihre Belagerung aufzugeben. Da
träumte er eines Nachts einen wie im Triumph tanzenden
Satyrn, und als er diesen Traum seinen Traumdeutern vortrug,
erhielt er den Bescheid, es sei ihm der Sieg über die Stadt ver-
kündet worden. Er befahl den Angriff und nahm Tyrus ein.
Bei Etruskern und Römern waren andere Methoden zur Er.
kundung der Zukunft in Gebrauch, aber die Traumdeutung
wurde während der ganzen hellenistisch-römischen Zeit gepflegt
und hochgehalten. Von der damit beschäftigten Literatur ist
uns wenigstens das Hauptwerk erhalten, das Buch des Arte-
midoros aus Daldis, den man in die Lebenszeit des Kaisers
u versetzt. Wie es dann kam, daß die Kunst der Traum-
h !
ER, = der aan > Mißkredit Brest weiß ich
gen. Die Aufklärung kann nicht viel Anteil
ANTIKE UND MODERNE SCHÄTZUNG DER TRÄUME. 85
daran gehabt haben, denn das dunkle Mittelalter hat weit
absurdere Dinge als die antike Traumdeutung getreu bewahrt.
Tatsache ist es, daß das Interesse am Traum allmählich zum
Aberglauben herabsank und sich nur bei den Ungebildeten be-
haupten konnte. Der letzte Mißbrauch der Traumdeutung noch
in unseren Tagen sucht aus den Träumen die Zahlen zu erfahren,
die zur Ziehung im kleinen Lotto prädestiniert sind. Dagegen
hat die exakte Wissenschaft der Jetztzeit sich wiederholt mit
dem. Traume beschäftigt, aber immer nur in der Absicht, ihre
physiologischen Theorien auf ihn anzuwenden. Den Ärzten galt
der Traum natürlich als ein nicht psychischer Akt, als die
Äußerung somatischer Reize im Seelenleben. Binz erklärt
1876 den Traum „für einen körperlichen, in allen Fällen un-
nützen, in vielen Fällen geradezu krankhaften Vorgang, über
welchem Weltseele und Unsterblichkeit so hoch erhaben stehen,
wie der blaue Äther über einer unkrautbewachsenen Sandfläche
in tiefster Niederung“. Maury vergleicht ihn mit den unge-
ordneten Zuckungen des Veitstanzes im Gegensatz zu den
koordinierten Bewegungen des normalen Menschen; ein alter
Vergleich setzt den Inhalt des Traumes in Parallele zu den
Tönen, welche „die zehn Finger eines der Musik unkundigen
Menschen, die über die Tasten des Instruments hinlaufen“, hervor-
bringen würden. |
Deuten heißt einen verborgenen Sinn finden; davon kann
bei dieser Einschätzung der Traumleistung natürlich keine Rede
sein. Sehen Sie die Beschreibung des Traumes bei Wundt, Jodl
und anderen neueren Philosophen nach; sie begnügt sich mit der
Aufzählung der Abweichungen des Traumlebens vom wachen
Denken in einer den Traum herabsetzenden Absicht, hebt den
Zerfall der Assoziationen, die Aufhebung der Kritik, die Aus-
schaltung, alles Wissens und andere Zeichen gemindeter Leistung
86 V. DER TRAUM.
hervor. Der einzig wertvolle Beitrag zur Kenntnis des Traumes,
den wir der exakten ‚Wissenschaft verdanken, bezieht sich auf
den Einfluß körperlicher, während des Schlafes einwirkender
Reize auf den Trauminhalt. Wir besitzen von einem kürzlich ver-
storbenen norwegischen Autor J. Mourly Vold zwei dicke
Bände experimentaler Traumforschungen (1910 und 1912 ins
Deutsche übersetzt), welche sich fast nur mit den Erfolgen der
Stellungsveränderungen der Gliedmaßen beschäftigen. Sie wer-
den uns als Vorbilder der exakten Traumforschung angepriesen.
Können Sie sich nun denken, was die exakte Wissenschaft dazu
sagen würde, wenn sie erführe, daß wir den Versuch machen
wollen, den Sinn der Träume zu finden? Vielleicht, daß sie es
sogar schon gesagt hat. Aber wir wollen uns nicht abschrecken
lassen. Wenn die Fehlleistungen Sinn haben konnten, kann es
der Traum auch, und die Fehlleistungen haben in sehr vielen
Fällen einen Sinn, der der exakten Forschung entgangen ist.
Bekennen wir uns nur zum Vorurteil der Alten und des Volkes
und treten wir in die Fußstapfen der antiken Traumdeuter.
Vor allem müssen wir uns über unsere Auf gabe orientieren,
im Gebiet der Träume Umschau halten. Was ist denn ein Traum?
Es ist das schwer, das in einem Satz zu sagen. Wir wollen aber
doch keine Definition versuchen, wo der Hinweis auf den jedermann
bekannten Stoff genügt. Aber wir sollten das Wesentliche des
Traumes herausheben. Wo ist das zu finden? Es gibt so un ge-
heure Verschiedenheiten innerhalb des Rahmens, der unser Ge-
biet umschließt, Verschiedenheiten nach jeder Richtung. Wesent-
lich wird. wohl sein, was wir als allen Träumen gemeinsam auf-
zeigen können.
Ja, das erste allem Träumen Gemeinsame wäre, daß wir
dabei schlafen. Das Träumen ist offenbar das Seelenleben wäh-
rend des Schlafes, das mit dem des W achens gewisse. Ähnlich-
DIE BEZIEHUNG ZUM SCHLAF. 87
keiten hat und sich durch große Unterschiede dagegen absetzt.
Das war schon die Definition des Aristoteles. Vielleicht be-
stehen zwischen Traum und Schlaf noch nähere Beziehungen.
Man kann durch einen Traum geweckt werden, man hat sehr oft
einen Traum, wenn man spontan erwacht oder wenn man gewalt-
sam aus dem Schlafe gestört wird. Der Traum scheint also ein
Zwischenzustand zwischen Schlafen und Wachen zu sein. So
werden wir auf den Schlaf hingewiesen. Was ist nun der Schlaf?
Das ist ein physiologisches oder biologisches Problem, an
dem noch vieles strittig ist. Wir können da nichts entscheiden,
aber ich meine, wir dürfen eine psychologische Charakteristik des
Schlafes versuchen. Der Schlaf ist ein Zustand, in welchem ich
nichts von der äußeren Welt wissen will, mein Interesse von ihr ab-
gezogen habe. Ich versetze mich in den Schlaf, indem ich mich von
ihr zurückziehe und ihre Reize von mir abhalte. Ich schlafe auch
ein, wenn ich von ihr ermüdet bin. Beim Einschlafen sage ich
also zur Außenwelt: Laß mich in Ruhe, denn ich will schlafen.
Umgekehrt sagt das Kind: Ich geh’ noch nicht schlafen, ich bin
nicht müde, will noch etwas erleben. Die biologische Tendenz des
Schlafes scheint also die Erholung zu sein, sein psychologischer
Charakter das Aussetzen des Interesses an der Welt. Unser Ver-
hältnis zur Welt, in die wir so ungern gekommen sind, scheint
es mit sich zu bringen, daß wir sie nicht ohne Unterbrechung
aushalten. Wir ziehen uns darum zeitweise in den vorweltlichen
Zustand zurück, in die Mutterleibsexistenz also. Wir schaffen
uns wenigstens ganz ähnliche Verhältnisse, wıe sie damals be-
standen: warm, dunkel und reizlos. Einige von uns rollen sich
noch zu einem engen Paket zusammen und nehmen zum Schlafen
eine ganz ähnliche Körperhaltung wie im Mutterleibe ein. Es
sieht so aus, als hätte die Welt auch uns Erwachsene nicht
ganz, nur zu zwei Dritteilen; zu einem Drittel sind wir über-
38 V. DER TRAUM.
haupt noch ungeboren. Jedes Erwachen am Morgen ist dann wie
eine neue Geburt. Wir sprechen auch vom Zustand nach dem
Schlaf mit den Worten: wir sind wie neugeboren, wobei wir
über das Allgemeingefühl des Neugeborenen eine wahrscheinlich
sehr falsche Voraussetzung machen. Es ist anzunehmen, daß
dieser sich vielmehr sehr unbehaglich fühlt. Wir sagen auch
vom Geborenwerden: das Licht der Welt erblicken.
Wenn das der Schlaf ist, so steht der Traum überhaupt nicht
auf seinem Programm, scheint vielmehr eine unwillkommene
Zutat. Wir meinen auch, daß der traumlose Schlaf der beste,
der einzig richtige ist. Es soll keine seelische Tätigkeit im Schlaf
geben; rührt sich diese doch, so ist uns eben die Herstellung des
fötalen Ruhezustandes nicht gelungen; Reste von Seelen-
tätigkeit haben sich nicht ganz vermeiden lassen. Diese Reste,
das wäre das Träumen. Dann scheint es aber wirklich, daß der
Traum keinen Sinn zu haben braucht. Bei den Fehlleistungen
lag es anders; es waren doch Tätigkeiten während des Wachens.
Aber wenn ich schlafe, die seelische Tätigkeit ganz eingestellt
habe und nur gewisse Reste derselben nicht unterdrücken konnte,
so ist es gar nicht notwendig, daß diese Reste einen Sinn haben.
Ich kann diesen Sinn sogar nicht brauchen, da ja das übrige
meines Seelenlebens schläft. Es kann sich da wirklich nur um
zuckungsartige Reaktionen handeln, nur um solche seelische
Phänomene, die direkt auf somatischen Anreiz hin erfolgen. Die
Träume wären also die den Schlaf störenden Reste der. seelischen
Tätigkeit des Wachens, und wir dürfen den Vorsatz fassen,
das für die Psychoanalyse ungeeignete Thema alsbald wieder zu
verlassen.
Indes, wenn der Traum auch überflüssig ist, er existiert
doch, und wir können versuchen, uns von dieser Existenz Rechen-
schaft zu geben. Warum schläft das Seelenleben nicht ein?
DAS ALLEN TRÄUMEN GEMEINSAME. 89
Wahrscheinlich, weil etwas der Seele keine Ruhe läßt. Es wir-
ken Reize auf sie ein, und sie muß darauf reagieren. Der Traum
ist also die Art, wie die Seele auf die im Schlafzustand einwirken-
den Reize reagiert. Wir merken hier einen Zugang zum Ver-
ständnis des Traumes. Wir können nun bei verschiedenen Träumen
danach suchen, welches die Reize sind, die den Schlaf stören
wollen, und auf die mit Träumen reagiert wird. Soweit hätten
wir das erste Gemeinsame aller Träume aufgearbeitet.
Gibt es noch ein anderes Gemeinsames? Ja, es ist unver-
kennbar, aber viel schwieriger zu erfassen und zu beschreiben.
Die seelischen Vorgänge im Schlaf haben auch einen ganz
anderen Charakter als die des Wachens. Man erlebt vielerlei
im Traum und glaubt daran, während man doch nichts erlebt
als vielleicht den einen störenden Reiz. Man erlebt es vor-
wiegend in visuellen Bildern; es können auch Gefühle dabei sein,
auch Gedanken mittendurch, es können auch die anderen Sinne
etwas erleben, aber vorwiegend sind es doch Bilder. Ein Teil
der Schwierigkeit des Traumerzählens kommt daher, daß wir
diese Bilder in Worte zu übersetzen haben. Ich könnte es zeichnen,
sagt uns der Träumer oft, aber ich weiß nicht, wie ich es sagen
soll. Das ist nun eigentlich keine reduzierte seelische Tätigkeit
wie die des Schwachsinnigen im Vergleich zum Genialen; es ist
etwas qualitativ anderes, aber schwer zu sagen, worin der Unter-
schied liegt. G. Th. Fechner äußert einmal die Vermutung,
der Schauplatz, auf dem sich die Träume (in der Seele) abspielen,
sei ein anderer als der des wachen Vorstellungslebens. Das
verstehen wir zwar nicht, wissen nicht, was wir uns dabei
denken sollen, aber den Eindruck der Fremdartigkeit, den uns
die meisten Träume machen, gibt es wirklich wieder. Auch der
Vergleich der Traumtätigkeit mit den Leistungen einer un-
musikalischen Hand versagt hier. Das Klavier wird doch jeden-
V. DER TRAUM.
—
90
falls mit denselben Tönen antworten, wenn auch nicht mit Melo-
dien, sobald der Zufall über seine Tasten fährt. Diese zweite Ge-
meinsamkeit aller Träume wollen wir, wenn sie auch unver-
standen sein mag, sorgfältig im Auge behalten.
Gibtes noch weitere Gemeinsamkeiten ? Ich finde keine, sehe
überall nur Verschiedenheiten, und zwar in allen Hinsichten.
Sowohl was die scheinbare Dauer, als auch was die Deutlichkeit,
die Affektbeteiligung, die Haltbarkeit u. a. betrifft. Das alles
ist eigentlich nicht so, wie wir es bei der notgedrungenen, dürf-
tigen, zuckungsartigen Abwehr eines Reizes erwarten könnten.
‚Was die Dimension der Träume anbelangt, so gibt es sehr kurze,
die nur ein Bild oder wenige, einen Gedanken, ja nur ein Wort
enthalten; andere, die ungemein reich an Inhalt sind, ganze
Romane aufführen und sehr lange zu dauern scheinen. Es gibt
Träume, die so deutlich sind wie das Erleben, so deutlich, daß
wir sie eine Zeitlang nach dem Erwachen noch nicht als Träume
erkennen; andere, die unsäglich schwach sind, schattenhaft und
verschwommen; ja in einem und demselben Traum können die
überstarken und die kaum faßbar undeutlichen Partien mitein-
ander abwechseln. Träume können ganz sinnvoll sein oder wenig-
stens kohärent, ja sogar geistreich, phantastisch schön; andere
wiederum sind verworren, wie schwachsinnig, absurd, oft
geradezu toll. Es gibt Träume, die uns ganz kalt lassen, andere,
in denen alle Affekte laut werden, ein Schmerz bis zum Weinen,
eine Angst bis zum Erwachen, Verwunderung, Entzücken usw
Träume werden meist nach dem Erwachen rasch vergessen, oder
sie halten sich einen Tag lang in der Weise, daß sie bis zum
Abend immer mehr blaß und lückenhaft erinnert werden ; andere
erhalten sich so gut, z. B. Kindheitsträume, daß sie 30 Jahre
später wie frisches Erleben vor dem Gedächtnis stahen. Träume
können wie die Individuen ein einziges Mal auftreten, niemals
ui Me Me
%
DIE MANNIGFALTIGKEITEN DER TRÄUME. 91
wieder, oder sie wiederholen. sich bei derselben Person unver-
ändert oder mit kleinen Abweichungen. Kurz, dies bißchen nächt-
liche Seelentätigkeit verfügt über ein riesiges Repertoire, kann
eigentlich noch alles, was die Seele bei Tag schafft, aber es ist
doch nie dasselbe.
Man könnte versuchen, von diesen Mannigfaltigkeiten des
'Traumes Rechenschaft zu geben, indem man annimmt, sie ent-
sprechen verschiedenen Zwischenstadien zwischen dem Schlafen.
und dem Wachen, verschiedenen Stufen des unvollständigen
Schlafes. Ja, aber dann müßte mit Wert, Inhalt und Deutlichkeit
der Traumleistung auch die Klarheit, daß es ein Traum ist, zu-
nehmen, da sich die Seele bei solchem Träumen dem Erwachen
nähert, und es dürfte nicht vorkommen, daß unmittelbar neben
ein deutliches und vernünftiges Traumstückcehen ein unsinniges
oder undeutliches gesetzt wird, worauf dann wieder ein gutes
Stück Arbeit folgt. So rasch könnte die Seele ihre Schlaftiefe
gewiß nicht wechseln. Diese Erklärung leistet; also nichts; es
geht überhaupt nicht kurzerhand.
‚Wir wollen vorläufig auf den „Sinn“ des Traumes verzichten
und dafür versuchen, uns von dem Gemeinsamen der Träume
aus einen Weg zum besseren Verständnis derselben zu bahnen.
Aus der Beziehung der Träume zum Schlafzustand haben wir
geschlossen, daß der Traum die Reaktion auf einen den Schlaf
störenden Reiz ist. (Wie wir gehört haben, ist dies auch der
einzige Punkt, an dem uns die exakte experimentelle Psychologie
zu Hilfe kommen kann; sie erbringt den Nachweis, daß während
des Schlafes zugeführte Reize im Traume erscheinen. Es sind viele
solehe Untersuchungen bis auf die des bereits genannten Mourly
Vold angestellt worden; jeder von uns ist auch wohl selbst in
die Lage gekommen, dies Ergebnis durch gelegentliche persönliche
Beobachtung zu bestätigen. Ich will zur, Mitteilung einige ältere
09 V. DER TRAUM,
Experimente auswählen. Maury ließ solche Versuche an seiner
eigenen Person ausführen. Man lieb ihn im Traum Kölnerwasser
riechen. Er träumte, daß er in Kairo im Laden von Johann
Marina Farina sei, und daran schlossen sich weitere tolle Aben-
teuer. Oder: man kneifte ihn leicht in den Nacken; er träumte
von einem aufgelegten Blasenpflaster und von einem Arzt, der
ihn in seiner Kindheit behandelt hatte. Oder: man goß ihm
einen Tropfen Wasser auf die Stirne. Er war dann in Italien,
schwitzte heftig und trank den weißen Wein von Orvieto.
Was uns an diesen experimentell erzeugten Träumen auf-
f311#, werden wir vielleicht noch deutlicher an einer anderen Reihe
von Reizträumen erfassen können. Es sind drei Träume, von
einem geistreichen Beobachter, Hildebrandt, mitgeteilt, sämt-
lich Reaktionen auf den Lärm eines ‚Weckers:
„Also ich gehe an einem Frühlingsmorgen spazieren und
schlendre durch die grünenden Felder weiter bis zu einem benach-
barten Dorfe, dort sehe ich die Bewohner in Feierkleidern, das
Gesangbuch unter dem Arme, zahlreich der Kirche zuwandern.
Richtig! es ist ja Sonntag und der Frühgottesdienst wird bald
beginnen. Ich beschließe, an diesem teilzunehmen, zuvor aber,
weil ich etwas echauffiert bin, auf dem die Kirche umgebenden
Friedhofe mich abzukühlen. Während ich hier verschiedene Grab-
schriften lese, höre ich den Glöckner den Turm hinansteigen und
sehe nun in der Höhe des letzteren die kleine Dorfglocke, die das
Zeichen zum Beginn der Andacht geben wird. Noch eine ganze
Weile hängt sie bewegungslos da, dann fängt sie an zu schwingen
— und plötzlich ertönen ihre Schläge hell und durchdringend —
so hell und durchdringend, daß sie meinem Schlafe ein Ende
machen. Die Glockentöne aber kommen von dem Wecker.“
„Eine zweite Kombination. Es ist heller Wintertag; die
Straßen sind hoch mit Schnee bedeckt. Ich habe meine Teil-
nn nn mn nn
MEHRERE WECKTRÄUME. 95
nahme an einer Schlittenfahrt zugesagt, muß aber lange warten,
bis die Meldung erfolgt, der Schlitten stehe vor der Tür. Jetzt
erfolgen die Vorbereitungen zum Einsteigen — der Pelz wird
angelegt, der Fußsack hervorgeholt — und endlich sitze ich auf
meinem Platze. Aber noch verzögert sich die Abfahrt, bis die
Zäügel den harrenden Rossen das fühlbare Zeichen geben. Nun
ziehen diese an; die kräftig geschüttelten Schellen beginnen ihre
wohlbekannte Janitscharenmusik mit einer Mächtigkeit, die
augenblicklich das Spinngewebe des Traumes zerreißt. Wieder
ist’s nichts anderes als der schrille Ton der Weckerglocke.“
„Noch das dritte Beispiel! Ich sehe ein Küchenmädchen
mit einigen Dutzend aufgetürmter Teller den Korridor entlang
zum Speisezimmer schreiten. Die Porzellansäule in ihren Armen
scheint mir in Gefahr, das Gleichgewicht zu verlieren. ‚Nimm
dich in acht,‘ warne ich, ‚die ganze Ladung wird zur Erde fallen.‘
Natürlich bleibt der obligate Widerspruch nicht aus: man sei
dergleichen schon gewohnt usw., währenddessen ich noch immer
mit Blicken der Besorgnis die Wandelnde begleite. Richtig, an
der Türschwelle erfolgt ein Straucheln — das zerbrechliche Ge-
schirr fällt und rasselt und prasselt in hundert Scherben auf
dem Fußboden umher. Aber — das endlos sich fortsetzende Ge-
tön ist doch, wie ich bald merke, kein eigentliches Rasseln, sondern
ein richtiges Klingeln; — und mit diesem Klingeln hat, wie
nunmehr der Erwachende erkennt, nur der Wecker seine Schuldig-
keit getan.“
Diese Träume sind recht hübsch, ganz sinnvoll, gar nicht
so inkohärent, wie Träume sonst zu sein pflegen. Wir wollen sie
deswegen nicht beanständen. Das Gemeinsame an ihnen ist, daß
die Situation jedesmal in einen Lärm ausgeht, den man beim
Erwachen als das Geräusch des Weckers agnosziert. Wir sehen
also hier, wie ein Traum erzeugt wird, aber erfahren auch noch
V. DER TRAUM.
94 20 a
etwas anderes. Der Traum erkennt den Wecker nicht, — dieser
kommt auch im Traum nicht vor —, sondern er ersetzt das
Weckergeräusch durch ein anderes, er deutet den Reiz, der den
Schlaf aufhebt, deutet ihn aber jedesmal in einer anderen Weise.
Warum: das? Darauf gibt es keine Antwort, das scheint willkür-
lich zu sein. Den Traum verstehen, hieße aber angeben können,
warum er gerade diesen Lärm und keinen anderen zur Deutung
des Weckerreizes gewählt hat. In ganz analoger Weise muß man
gegen die Mauryschen Experimente einwenden, man sehe wohl,
daß der zugeführte Reiz im Traume auftritt, aber warum gerade
in dieser Form, das erfahre man nicht, und das scheint aus der
Natur des schlafstörenden Reizes gar nicht zu folgen. Auch
schließt in den Mauryschen Versuchen an den direkten Reiz-
erfolg meist eine Unmenge von anderem Traummaterial an, z. B.
die tollen Abenteuer im Kölnerwassertraum, für die man keine
Rechenschaft zu geben weib.
Nun wollen Sie bedenken, daß die Weckträume noch die
besten Chancen bieten, den Einfluß äußerer schlafstörender Reize
festzustellen. In den meisten anderen Fällen wird es schwieriger
werden. Man wacht nicht aus allen Träumen auf, und wenn
man des Morgens einen Traum der Nacht erinnert, wie soll man
dann einen störenden Reiz auffinden, der vielleicht zur Nachtzeit
eingewirkt hat? Mir gelang es einmal, einen solchen Schallreiz
nachträglich zu konstatieren, natürlich nur infolge besonderer
Umstände. Ich erwachte eines Morgens in einem Tiroler Höhen-
ort mit dem Wissen, ich habe geträumt, der Papst ist gestorben.
Ich konnte mir den Traum nicht erklären, aber dann fragte mich
meine Frau: Hast du heute gegen Morgen das entsetzliche
Glockengeläute gehört, das von allen Kirchen und Kapellen los-
gelassen wurde? Nein, ich hatte nichts gehört, mein Schlaf
ist resistenter, aber ich verstand dank dieser Mitteilung meinen
DIE REAKTION AUF SCHLAFSTÖRENDE ÄUSSERE REIZE 095
Traum. Wie oft mögen solche Reizungen den Schläfer zum
Träumen anregen, ohne daß er nachträgliche Kunde von ihnen
erhält? Vielleicht sehr oit, vielleicht auch nicht. Wenn der Reiz
nicht mehr nachweisbar ist, läßt sich auch keine Überzeugung
davon gewinnen. Wir sind ohnedies von der Schätzung der schlaf-
störenden äußeren Reize zurückgekommen, seitdem wir wissen,
daß sie uns nur ein Stückchen des Traumes und nicht die ganze
Traumreaktion erklären können.
‘Wir brauchen darum diese Theorie nicht ganz aufzugeben.
Sie ist außerdem einer Fortführung fähig. Es ist offenbar gleich-
gültig, wodurch der Schlaf gestört und die Seele zum Träumen
angeregt werden soll. Wenn es nicht jedesmal ein von außen
kommender Sinnesreiz sein kann, so mag dafür ein von den
inneren Organen ausgehender, sogenannter Leibreiz eintreten.
Diese Vermutung liegt sehr nahe, sie entspricht auch der popu-
lärsten Ansicht über die Entstehung der Träume. Träume kom-
men vom Magen, hört man oft sagen. Leider wird auch hier
der Fall als häufig zu vermuten sein, daß ein Leibreiz, der zur
Nachtzeit eingewirkt hat, nach dem Erwachen nicht mehr nach-
weisbar und somit unbeweisbar geworden ist, Aber wir wollen nicht
übersehen, wieviel gute Erfahrungen die Ableitung der Träume
vom’ Leibreiz unterstützen. Es ist im allgemeinen unzweifelhaft,
daß der Zustand der inneren Organe den Traum beeinflussen
kann. Die Beziehung manches Trauminhalts zu einer Überfüllung
der Harnblase oder zu einem Erregungszustand der Geschlechts-
organe ist so deutlich, daß sie nieht verkannt werden kann. Von
diesen durchsiehtigen Fällen her kommt man zu anderen, in denen
sich aus dem Inhalt der Träume wenigstens eine berechtigte Ver-
mutung ableiten läßt, daß solche Leibreize eingewirkt haben,
indem sich in diesem Inhalt etwas findet, was als Verarbeitung,
Darstellung, Deutung dieser Reize aufgefaßt werden kann. Der
95 V. DER TRAUM.
Traumforscher Scherner (1861) hat die Herleitung des Trau-
mes von Organreizen besonders nachdrücklich vertreten und
einige schöne Beispiele für sie erbracht. Wenn er z. B. in einem
Traum „zwei Reihen schöner Knaben blonden Haares und zarter
Gesichtsfarbe, in Kampflust einander gegenüberstehen, auf
einander losgehen, sich gegenseitig greifen, voneinander wieder
loslassen, die alte Stellung wieder einnehmen und den ganzen
Vorgang von neuem machen“ sieht, so ist die Deutung dieser
Knabenreihen als der Zähne an und für 'sich ansprechend, und
sie scheint ihre volle Bekräftigung zu finden, wenn nach dieser
Szene der Träumer „sich einen langen Zahn aus dem Kiefer
herauszieht“. Auch die Deutung von „langen, schmalen, gewun-
denen Gängen“ auf Darmreiz, scheint stichhältig und bestätigt
die Aufstellung von Scherner, daß der Traum vor allem das
den Reiz ausschickende Organ durch ihm ähnliche Gegenstände
darzustellen sucht.
‚Wir müssen also bereit sein zuzugeben, daß innere Reize für
den Traum dieselbe Rolle spielen können wie äußere. Leider unter-
liegt ihre Schätzung auch denselben Einwendungen. In einer
großen Anzahl von Fällen bleibt die Deutung auf Leibreiz un-
sicher oder unbeweisbar; nicht alle Träume, sondern ‘nur ein
gewisser Anteil derselben erweckt den Verdacht, daß innere
Organreize bei ihrer Entstehung beteiligt waren, und endlich
wird der innere Leibreiz so wenig wie der äußere Sinnesreiz im
stande sein vom Traum mehr zu erklären, als was der direkten
Reaktion auf den Reiz entspricht. Woher dann das Übrige des
Traumes kommt, bleibt dunkel. ‘
Merken wir uns aber eine Eigentümlichkeit des Traum-
lebens an, die bei dem Studium dieser Reizeinwirkungen zum Vor-
schein kommt. Der Traum bringt den Reiz nicht einfach wie-
der, sondern er verarbeitet ihn, er spielt auf ihn an, reibt ihn in
DIE REAKTION AUF STÖRENDE INNERE REIZE. 97
einen Zusammenhang ein, ersetzt ihn durch etwas anderes. Das
ist eine Seite der Traumarbeit, die uns interessieren muß, weil
sie vielleicht näher an das Wesen des Traumes heranführt.
Wenn jemand auf eine Anregung hin etwas macht, so braucht
diese Anregung darum das Werk nicht zu erschöpfen. Der
Macbeth Shakespeares z. B. ist ein Gelegenheitsstück,
zur Thronbesteigung des Königs gedichtet, der zuerst dig Kronen
der drei Länder auf seinem Haupte vereinigte. Aber deckt diese
historische Veranlassung den Inhalt des Dramas, erklärt sie
uns dessen Größen und Rätsel? Vielleicht sind die auf den Schla-
fenden wirkenden Außen- und Innenreize auch nur die Anreger
des Traumes, von dessen Wesen uns damit nichts verraten wird.
Das andere Gemeinsame des Traumes, seine psychische Be-
sonderheit, ist einerseits schwer faßbar und gibt anderseits keinen
Anhaltspunkt zur weiteren Verfolgung. Im Traum erleben wir
zumeist etwas in visuellen Formen. Können dafür die Reize einen
Aufschluß geben? Ist es in Wirklichkeit der Reiz, den wir er-
leben? Warum ist dann das Erleben visuell, wenn Augenreizung
nur in den seltensten Fällen den Traum angeregt; hat? Oder läßt
sich, wenn wir Reden träumen, nachweisen, daß während des
Schlafes ein Gespräch oder ihm ähnliche Geräusche an unser Ohr
gedrungen sind? Diese Möglichkeit getraue ich mich mit Ent-
schiedenheit abzuweisen. |
‚Wenn wir von den Gemeinsamkeiten der Träume nicht
weiter kommen, so wollen wir’s vielleicht mit ihren: Verschieden-
heiten versuchen. Die Träume sind ja oft sinnlos, verworren,
absurd; aber es gibt sinnvolle, nüchterne, vernünftige. Sehen, wir
zu, ob uns die letzteren, sinnvollen, etwas Aufschluß über die
unsinnigen geben können. Ich teile Ihnen den letzten vernünftigen
Traum mit, der mir erzählt worden ist, den Traum eines jungen
Mannes: „Ich bin in der Kärntnerstraße spazieren gegangen,
Freud, Vorlesungen. III. 7
98 V. DER TRAUM. Be
habe dort den Herrn X. getroffen, dem ich mich für eine Weile
angeschlossen habe, dann bin ich ins Restaurant gegangen. Zwei
Damen und ein Herr haben sich an meinen Tisch gesetzt. Ich
habe mich zuerst darüber geärgert und wollte sie nicht an-
schauen. Dann habe ich hingeschaut und gefunden, daß sıe ganz
nett sind.“ Der Träumer bemerkt dazu, daß er am Abend vor
dem Traum wirklich in der Kärntnerstraße gegangen, was sein
gewohnter Weg ist, und dort den Herrn X. getroffen hat. Der
andere Teil des T'raumes ist keine direkte Reminiszenz, sondern
hat nur eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Erlebnis vor längerer
Zeit. Oder ein anderer nüchterner Traum, der einer Dame: ‚Ihr
Mann fragt: Soll man das Klavier nicht stimmen lassen? Sıe:
Es lohnt nicht, es muß ohnedies neu beledert werden.“ Dieser
Traum wiederholt ein Gespräch, welches sich ohne viel Ver-
änderung am Tage vor dem Traum zwischen ihrem Mann und
ihr abgespielt hat. Was lernen wir aus diesen beiden nüchternen
Träumen? Nichts anderes, als daß sich Wiederholungen aus dem
Leben des Tages oder Anknüpfungen an dasselbe in ihnen finden.
Das wäre schon etwas, wenn es sich von den Träumen allgemein
aussagen ließe. Aber davon ist keine Rede, auch dies gilt nur
für eine Minderzahl; in den meisten Träumen ist von einer An-
knüpfung an den Vortag nichts zu finden, und auf die un.
sinnigen und absurden Träume fällt von hier aus kein Licht.
Wir wissen nur, daß wir auf eine neue Aufgabe gestoßen sind.
‚Wir wollen nicht nur wissen, was ein Traum sagt, sondern wenn
er es, wie in unseren Beispielen, deutlich sagt, wollen wir auch
wissen, warum und wozu man dies Bekannte, erst kürzlich Er.
lebte, im Traum wiederholt.
Ich glaube, Sie werden wie ich müde sein, Versuche wie
unsere bisherigen fortzusetzen. Wir sehen eben, alles Interesse
für ein Problem ist unzureichend, wenn man nicht auch einen
DAS TAGTRÄUMEN.
99
‚Weg kennt, den man einschlagen kann, daß er zur Lösung hin-
führe. Wir haben diesen Weg bis jetzt nicht. Die experimentelle
Psychologie hat uns nichts gebracht als einige sehr schätzbare
Angaben über die Bedeutung der Reize als Traumanreger. Von
der Philosophie haben wir nichts zu erwarten, als daß sie uns
neuerdings hochmütig die intellektuelle Minderwertigkeit unseres
Objekts vorhalte; bei den okkulten Wissenschaften wollen wir
doch keine Anleihe machen. Geschichte und Volksmeinung sagen
uns, der Traum sei sinnreich und bedeutungsvoll, er blicke in
die Zukunft; das ist doch schwer anzunehmen und gewiß nicht
beweisbar. So läuft unsere erste Bemühung in volle Ratlosig-
keit aus.
Unerwarteterweise kommt uns ein Wink von einer Seite zu,
nach der wir bisher nicht geblickt haben. Der Sprachgebrauch,
der ja nichts Zufälliges, sondern der Niederschlag alter Erkennt-
nis ist, der freilich nicht ohne Vorsicht verwertet werden darf —
unsere Sprache also kennt etwas, was sie merkwürdigerweise
„Tagträumen“ heißt, Tagträume sind Phantasien (Produktionen
der, Phantasie); es sind sehr allgemeine Phänomene, wiederum bei
(resunden ebenso zu beobachten wie bei Kranken und bei der
eigenen Person dem Studium leicht zugänglich. Das Auffälligste
an diesen phantastischen Bildungen ist, daß sie den Namen
„Tagträume“ erhalten haben, denn von beiden Gemeinsamen
der Träume haben sie nichts an sich. Der Beziehung zum Schlaf-
zustande widerspricht schon ihr Name, und was das zweite Ge-
meinsame betrifft, so erlebt, halluziniert man in ihnen nichts,
sondern stellt sich etwas vor; man weiß, daß man phantasiert,
sieht nicht, sondern denkt. Diese Tagträume treten in der
Vorpubertät, oft schon in der späteren Kinderzeit, auf, halten
bis in die Jahre der Reife an, werden dann entweder aufgegeben
oder bis ins späteste Alter festgehalten. Der Inhalt dieser Phan-
7*
100 V. DER TRAUM.
tasien wird von einer sehr durchsichtigen Motivierung beherrscht.
Es sind Szenen und Begebenheiten, in denen die egoistischen, Ehr-
geiz- und Machtbedürfnisse, oder die erotischen Wünsche der
Person Befriedigung finden. Bei jungen Männern stehen meist die
ehrgeizigen Phantasien voran, bei den Frauen, die ihren Ehr-
geiz auf Liebeserfolge geworfen haben, die erotischen. Aber oft
genug zeigt sich auch bei den Männern die erotische Bedürftig-
keit im Hintergrunde; alle Heldentaten und Erfolge sollen doch
nur um die Bewunderung und Gunst der Frauen werben. Sonst
sind diese Tagträume sehr mannigfaltig und erfahren wechsel-
volle Schicksale. Sie werden entweder, ein jeder von ihnen, nach
kurzer Zeit fallen gelassen und durch einen neuen ersetzt, oder
sie werden festgehalten, zu langen Geschichten ausgesponnen
und. passen sich den Veränderungen der Lebensverhältnisse an. Sie
gehen sozusagen mit der Zeit und empfangen von ihr eine „Zeit-
marke‘, die den Einfluß der neuen Situation bezeugt. Sie sind
das Rohmaterial der poetischen Produktion, denn aus seinen
Tagträumen macht der Dichter durch gewisse Umformungen, Ver-
kleidungen und Verzichte die Situationen, die er in seine No-
vellen, Romane, Theaterstücke einsetzt. Der Held der Tag-
träume ist aber immer die eigene Person, entweder direkt oder in
einer durchsichtigen Identifizierung mit einem anderen.
Vielleicht tragen die Tagträume diesen Namen wegen der
gleichen Beziehung zur Wirklichkeit, um anzudeuten, daß ihr
Inhalt ebensowenig real zu nehmen sei wie der der Träume. Viel-
leicht aber ruht diese Namensgemeinschaft doch auf einem uns
noch unbekannten psychischen Charakter des Traumes, einem
der von uns gesuchten. Es ist auch möglich, daß wir über-
haupt unrecht tun, wenn wir diese Gleichheit der Bezeichnung
als bedeutungsvoll verwerten wollen. Das kann ja erst später
geklärt werden.
SECHSTE VORLESUNG,
DER TRAUM.
VORAUSSETZUNGEN UND TECHNIK DER DEUTUNG.
Meine Damen und Herren! Also wir bedürfen eines neuen
‚Weges, einer Methode, um in der Erforschung des Traumes von
der Stelle zu kommen. Ich mache Ihnen nun einen nahe liegenden
Vorschlag. Nehmen wir als Voraussetzung für alles Weitere an,
daß der Traum kein somatisches, sondern ein psy-
chisches Phänomen ist. Was das bedeutet, wissen Sie, aber
was berechtigt uns zu dieser Annahme? Nichts, aber wir sind
auch nicht gehindert, sie zu machen. Die Sache liegt so: Wenn
der Traum ein somatisches Phänomen ist, geht er uns nichts
an;er kann uns nur unter der Voraussetzung, daß er ein seelisches
Phänomen ist, interessieren. Wir arbeiten also unter der Voraus-
setzung, er sei es wirklich, um zu sehen, was dabei herauskommt.
Das Ergebnis unserer Arbeit wird darüber ‘entscheiden, ob wir
an der Annahme festhalten und sie nun ihrerseits als ein Resultat
vertreten dürfen. Was wollen wir denn eigentlich erreichen, wozu
arbeiten wir? Wir wollen, was man in der Wissenschaft über-
haupt anstrebt, ein Verständnis der Phänomene, die Herstellung
eines Zusammenhanges zwischen ihnen, und in letzter Ferne, wo
es möglich ist, eine Erweiterung unserer Macht über sie.
Wir setzen also die Arbeit unter der Annahme fort, daß
der Traum ein psychisches Phänomen ist. Dann ist er eine Lei-
stung und Äußerung des Träumers, aber eine solche, die uns
nichts sagt, die wir nicht verstehen. Was tun Sie nun in dem
Falle, daß ich eine Ihnen unverständliche Äußerung von mir
gebe? Mich fragen, nicht wahr? Warum sollen wir nicht das-
VI, DER TRAUM.
102
selbe tun dürfen, den Träumer befragen, was sein
Traum bedeutet?
Erinnern Sie sich, wir befanden uns schon einmal in dieser
Situation. Es war bei der Untersuchung gewisser Fehlleistungen,
eines Falles von Versprechen. Jemand hatte gesagt: Da sind
Dinge zum Vorschwein gekommen, und darauf fragten wir —
nein, zum Glück nicht wir, sondern andere, die der Psycho-
analyse ganz ferne stehen, da fragten ihn diese anderen, was er
mit dieser unverständlichen Rede wolle. Er antwortete sofort, daß
er die Absicht gehabt hatte zu sagen: Das waren Schweinereien,
dab er aber diese Absicht zurückgedrängt gegen die andere, ge-
milderte: Da sind Dinge zum Vorschein gekommen. Ich erklärte
Ihnen schon damals, diese Erkundigung sei das Vorbild jeder
psychoanalytischen Untersuchung, und Sie verstehen jetzt, daß
die Psychoanalyse die Tiechnik befolgt, sich, soweit es nur an-
geht, die Lösung ihrer Rätsel von den Untersuchten selbst sagen
zu lassen. So soll uns auch der Träumer selbst sagen, was sein
Traum bedeutet.
Aberso einfach geht das bekanntlich beim Traum nicht. Bei
den Fehlleistungen ging es in einer Anzahl von Fällen: dann
kamen wir zu anderen, in denen der Befragte nichts sagen
wollte, ja sogar die Antwort, die wir ihm nahe legten, ent-
rüstet zurückwies. Beim Traum fehlen uns die Fälle der ersten
Art völlig; der Träumer sagt immer, er weiß nichts. Zurück-
weisen kann er unsere Deutung nicht, da wir ihm keine vorzu-
legen haben. So sollten wir also unseren Versuch wieder auf-
geben? Da er nichts weiß und wir nichts wissen und ein Dritter
erst recht nichts wissen kann, gibt’s wohl keine Aussicht, es zu
erfahren. Ja, wenn Sie wollen, geben Sie den Versuch auf. Wenn
Sie aber anders wollen, so können Sie den Weg mit mir fort-
setzen. Ich sage Ihnen nämlich, es ist doch sehr wohl möglich,
DIE BEFRAGUNG DES TRÄUMERS,. 103
ja sehr wahrscheinlich, daß der Träumer es doch weiß, was sein
Traum bedeutet, nur weiß er nicht, daß er es weiß, und
glaubt darum, daß eres nicht weiß.
Sie werden mich aufmerksam machen, daß ich da wiederum
eine Annahme einführe, schon die zweite in diesem kurzen Zu-
sammenhange, und den Anspruch meines Verfahrens auf Glaub-
würdigkeit enorm herabsetze. Unter der Voraussetzung, daß der
Traum ein psychisches Phänomen ist, unter der weiteren Voraus-
setzung, daß es seelische Dinge im Menschen gibt, die er weiß,
ohne zu wissen, daß er sie weiß usw. Dann braucht man nur die
innere Unwahrscheinlichkeit jeder dieser beiden Voraussetzungen
ins Auge zu fassen, um beruhigt sein Interesse von den Schlüssen
aus ihnen abzuwenden.
Ja, meine Damen und Herren, ich habe Sie nicht hieher
kommen lassen, um Ihnen etwas vorzuspiegeln oder zu ver-
hehlen. Ich habe zwar „Elementare Vorlesungen zur Einführung
in die Psychoanalyse“ angekündigt, aber damit habe ich keine
Darstellung in usum delphini beabsichtigt, die Ihnen einen glat-
ten Zusammenhang zeigen soll mit sorgfältigem Verstecken aller
Schwierigkeiten, Ausfüllung der Lücken, Übermalen der Zweifel,
damit Sie ruhigen Gemüts glauben sollen, Sie haben etwas Neues
gelernt. Nein, gerade darum, weil Sie Anfänger sind, wollte ich
Ihnen unsere Wissenschaft zeigen, wie sie ist, mit ihren Un-
ebenheiten und Härten, Anforderungen und Bedenken. Ich weiß
nämlich, daß es in keiner Wissenschaft anders ist und besonders
in ihren Anfängen gar nicht anders sein kann. Ich weiß auch,
daß der Unterricht sich sonst bemüht, diese Schwierigkeiten und
Unvollkommenheiten. dem Lernenden zunächst zu verbergen.
Aber das geht bei der Psychoanalyse nicht. Ich habe also wirk-
lich zwei Voraussetzungen gemacht, die eine innerhalb der
anderen, und wem das Ganze zu mühselig und zu unsicher ist,
104 VI. DER TRAUM.
oder wer an höhere Sicherheiten und elegantere Ableitungen ge-
wöhnt ist, der braucht nicht weiter mitzugehen. Ich meine nur,
der soll psychologische Probleme überhaupt in Ruhe lassen, denn
esist zu besorgen, daß er die exakten und sicheren Wege, die er
zu begehen bereit ist, hier nicht gangbar findet. Es ist auch
ganz überflüssig, daß eine Wissenschaft, die etwas zu bieten
hat, um Gehör und um Anhänger werbe. Ihre Ergebnisse müssen
für sie Stimmung machen, und sie kann abwarten, bis diese sich
Aufmerksamkeit erzwungen haben.
Diejenigen von Ihnen aber, die bei der Sache verbleiben
wollen, kann ich daran mahnen, daß meine beiden Annahmen
nicht gleichwertig sind. Die erste, der Traum, sei ein seelisches
Phänomen, ist die Voraussetzung, die wir durch’den Erfolz
unserer Arbeit erweisen wollen; die andere ist bereits auf einem
anderen Gebiete erwiesen, und ich nehme mir bloß die Freiheit,
sie von dorther auf unsere Probleme zu übertragen.
‚Wo, auf welchem Gebiet sollte der Beweis erbracht worden
sein, daß es ein Wissen gibt, von dem der Mensch doch nichts
weiß, wie wir es hier für den Träumer annehmen wollen ? Das wäre
doch eine merkwürdige, überraschende, unsere Auffassung des
Seelenlebens verändernde Tatsache, die sich nicht zu verbergen
brauchte. Nebenbei eine Tatsache, die sich in ihrer Benennung
selbst aufhebt und doch etwas Wirkliches sein will, eine contra-
dietio in adjecto. Nun sie verbirgt sich auch gar nicht. Es liegt
nicht an ihr, wenn man nichts von ihr weiß oder sich nicht
genügend um sie kümmert. So wenig, wie es unsere Schuld ist,
daß alle diese psychologischen Probleme von Personen abgeurteilt
werden, die sich von all den hiefür entscheidenden Beobachtun«.n
und Erfahrungen ferne gehalten haben. ”
Der Beweis ist auf dem Gebiet der hypnotischen Fr-
scheinungen erbracht worden. Als ich im Jahre 1889 die un-
DAS UNBEWUSSTE WISSEN. 105
gemein eindrucksvollen Demonstrationen von Liebault und
Bernheim in Naney mitansah, war ich auch Zeuge des fol-
genden Versuches. Wenn man einen Mann in den somnambulen
Zustand versetzt hatte, ihn in diesem alles mögliche halluzina-
torisch erleben ließ und ihn dann aufweckte, so schien er zunächst
von den Vorgängen während seines hypnotischen Schlafes nichts
zu wissen. Bernheim forderte ihn dann direkt auf zu erzählen,
wag sich mit ihm während der Hypnose zugetragen. Er be-
hauptete, er wisse sich an nichts zu erinnern. Aber Bernheim
bestand darauf, er drang in den Mann, versicherte ihm, er wisse
es, müsse sich daran erinnern, und siehe da, der Mann wurde
schwankend, begann sich zu besinnen, erinnerte zuerst wie
schattenhaft eines der ihm suggerierten Erlebnisse, dann ein
anderes Stück, die Erinnerung wurde immer deutlicher, immer
vollständiger und endlich war sie lückenlos zu Tage gefördert.
Da er es aber nachher wußte und inzwischen: von keiner anderen
Seite etwas erfahren hatte, ist der Schluß berechtigt, daß er
um diese Erinnerungen auch vorher gewußt hat. Sie waren ihm
nur unzugänglich, er wußte nicht, daß er sie wisse, er glaubte,
daß er sie nicht wisse. Also ganz der Fall, den wir beim Träumer
vermuten. e
Ich hoffe, Sie werden von der Feststellung dieser Tatsache
überrascht sein und mich fragen: Warum haben Sie sich auf
diesen Beweis nicht schon früher, bei den Fehlleistungen be-
rufen, als wir dazu kamen, dem Mann, der sich versprochen
hatte, Redeabsichten zuzuschreiben, von denen er nichts wußte
und (die er verleugnete? Wenn jemand von Erlebnissen nichts zu
wissen glaubt, deren Erinnerung er doch in sich trägt, so ist es
nicht mehr so unwahrscheinlich, daß er auch von anderen see-
lischen Vorgängen in seinem Innern nichts weiß. Dies Argument
hätte uns gewiß Eindruck gemacht und uns im Verständnis der
VI. DER TRAUM.
m —————
106
.,——
Fehlleistungen gefördert. Gewiß hätte ich mich schon damals
darauf berufen können, aber ich sparte es auf bis zu einer anderen
Stelle, an der es notwendiger wäre. Die Fehlleistungen haben sich
zum Teil selbst aufgeklärt, zum anderen Teil hinterließen sie
uns die Mahnung, dem Zusammenhang der Erscheinungen zu-
liebe die Existenz solcher seelischer Vorgänge, von denen man
nichts weiß, doch anzunehmen. Beim Traum sind wir gezwungen,
Erklärungen von anderswoher heranzuziehen, und überdies rechne
ich damit, daß Sie hier eine Übertragung von der Hypnose her
leichter zulassen werden. Der Zustand, in dem wir eine Fehl-
leistung vollziehen, muß Ihnen als der normale erscheinen, er
hat mit dem hypnotischen keine Ähnlichkeit. Dagegen besteht
eine deutliche Verwandtschaft zwischen dem hypnotischen Zu-
stand und dem Schlafzustand, welcher die Bedingung des Träu-
mens ist. Die Hypnose heißt ja ein künstlicher Schlaf; wir sagen
der Person, die wir hypnotisieren: Schlafen Sie, und die Sug-
gestionen, die wir ihr erteilen, sind den Träumen des natür-
lichen Schlafes vergleichbar. Die psychischen Situationen sind
in beiden Fällen wirklich analoge. Im natürlichen Schlaf ziehen
wir unser Interesse von der ganzen Außenwelt zurück, im
hypnotischen wiederum von der ganzen Welt, aber mit Ausnahme
der einen Person, die uns hypnotisiert hat, mit welcher wir im
Rapport bleiben. Übrigens ist der sogenannte Ammenschlaf, bei
dem die Amme im Rapport mit dem Kind bleibt und nur von
diesem zu erwecken ist, ein normales Seitenstück zum hypno-
tischen. Die Übertragung eines Verhältnisses von der Hypnose
auf den natürlichen Schlaf scheint also kein so kühnes Wagnis.
Die Annahme, daß auch beim Träumer ein Wissen um seinen
Traum vorhanden ist, das ihm nur unzugänglich ist, so daß er
es selbst nicht glaubt, ist nicht völlig aus der Luft gegriffen.
Merken wir uns übrigens, daß sich an dieser Stelle ein dritter
DIE LEHREN DER HYPNOTISCHEN SUGGESTION. 107
a I 0 Ve 1 in) 0 NE EEE
Zugang zum Studium des Traumes eröffnet; von den schlaf-
störenden Reizen aus, von den Tagträumen und jetzt noch von
den suggerierten Träumen des hypnotischen Zustandes.
Nun kehren wir vielleicht mit gesteigertem Zutrauen zu
unserer Aufgabe zurück. Es ist also sehr wahrscheinlich, daß
der Träumer um seinen Traum weiß; es handelt sich nur darum,
ihm möglich zu machen, daß er sein Wissen auffindet und es
uns mitteilt. Wir verlangen nicht, daß er uns sofort den Sinn
seines, Traumes sage, aber die Herkunft desselben, den Gedanken-
und Interessenkreis, aus dem er stammt, wird er auffinden können.
Im Falle der Fehlleistung, erinnern Sie sich, wurde er gefragt,
wie er zu dem Fehlwort „Vorschwein“ gekommen war, und
sein nächster Einfall gab uns die Aufklärung. Unsere Technik
beim Traume ist nun eine sehr einfache, diesem Beispiel nach-
geahmte. Wir werden ihn wiederum fragen, wie er zu dem
Traume gekommen ist, und seine nächste Aussage soll wieder
als Aufklärung angesehen werden. Wir setzen uns also über den
Unterschied, ob er etwas zu wissen glaubt oder nicht glaubt,
hinaus und behandeln beide Fälle wie einen einzigen.
Diese Technik ist doch gewiß sehr einfach, aber ich fürchte,
sie wird Ihre schärfste Opposition hervorrufen. Sie werden sagen:
Eine neue Annahme, die dritte! Und die unwahrscheinlichste von
allen! Wenn ich den Träumer frage, was ihm zum Traum ein-
fällt, soll gerade sein nächster Einfall die gewünschte Aufklärung
bringen? Aber es braucht ihm ja gar nichts einzufallen, oder es
kann ihm Gott weiß was einfallen. Wir können nicht einsehen,
worauf sich eine solche Erwartung stützt. Das heißt wirklich
zuviel Gottvertrauen zeigen an einer Stelle, wo etwas mehr Kritik
besser passen würde. Überdies ist ja ein Traum nicht ein einzelnes
Fehlwort, sondern besteht aus vielen Elementen. An welchen Ein-
fall soll man sich da halten?
Sie haben in allem Nebensächlichen recht. Ein Traum
unterscheidet sich von einem Versprechen auch in der Vielheit
seiner Elemente. Dem muß die Technik Rechnung tragen. Ich
schlage Ihnen also vor, daß wir den Traum in seine Elemente zer-
teilen und die Untersuchung für jedes Element gesondert an-
stellen; dann ist die Analogie mit dem Versprechen wieder her-
gestellt. Auch darin haben Sie recht, daß der zu den einzelnen
Traumelementen Befragte antworten kann, es falle ihm nichts
ein. Es gibt Fälle, in denen wir diese Antwort gelten lassen, und
Sie werden später hören, welche. Es sind bemerkenswerterweise
solche Fälle, in denen wir selbst bestimmte Einfälle haben können.
Aber im allgemeinen werden wir dem Träumer, wenn er keinen
Einfall zu haben behauptet, widersprechen, wir werden in ihn
drängen, werden ihm versichern, daß er einen Einfall haben
müsse und — werden Recht bekommen. Er wird einen Einfall
dazu bringen, irgend einen, uns gleichgültig, welchen. Gewisse
Auskünfte, die man historische nennen kann, wird er besonders
leicht erteilen. Er wird sagen: Das ist etwas, was gestern Vor-
gefallen ist (wie in den beiden uns bekannt gewordenen „nüch-
ternen“ Träumen), oder: Das erinnert mich an etwas, was sich
vor kurzer Zeit ereignet hat, und auf diese Art werden wir be-
merken, daß die Anknüpfungen der Träume an Eindrücke der
letzten Tage weit häufiger sind, als wir zuerst geglaubt haben.
Endlich wird er sich auch vom Traum aus an ferner liegende,
eventuell sogar an weit zurückliegende Begebenheiten erinnern.
In der Hauptsache aber haben Sie unrecht. Wenn Sie
meinen, es sei willkürlich anzunehmen, daß der nächste Einfall
des Träumers gerade das Gesuchte bringen oder zu ihm führen
müsse, der Einfall könne vielmehr ganz beliebig und außer Zu-
sammenhang': mit dem Gesuchten sein, es sei nur eine Äußerung
meines Gottvertrauens, wenn ich es anders erwarte, so irren Sie
DIEFREIE ASSOZIATION. 109
groß. Ich habe mir schon einmal die Freiheit genommen, Ihnen
vorzuhalten, daß ein tief wurzelnder Glaube an psychische Frei-
heitund Willkürlichkeit in Ihnen steckt, der aber ganz unwissen-
schaftlich ist und vor der Anforderung eines auch das Seelen-
leben beherrschenden Determinismus die Segel streichen muß.
Ich bitte Sie, es als eine Tatsache zu respektieren, daß dem Ge-
fragten dies eine eingefallen ist und nichts anderes. Aber ich
setze nicht dem einen Glauben einen anderen entgegen. Es läßt
sich beweisen, daß der Einfall, den der Gefragte produziert, nicht
willkürlich, nicht unbestimmbar ist, nicht außer Zusammenhang
mit dem von uns Gesuchten steht. Ja, ich habe unlängst erfahren,
— ohne übrigens zuviel Wert darauf zu legen — daß auch die
experimentelle Psychologie solehe Beweise vorgebracht hat.
Bei der Bedeutung des Gegenstandes bitte ich um Ihre be-
sondere Aufmerksamkeit. Wenn ich jemand auffordere zu sagen,
was ihm zu einem bestimmten Element des Traumes einfällt, so
verlange ich von ihm, daß er sich der freien Assoziation unter
Festhaltungeiner Ausgangsvorstellung überlasse.
Dies erfordert eine besondere Einstellung der Aufmerksamkeit,
die ganz anders ist.als beim Nachdenken und das Nachdenken aus-
schließt. Manche treffen eine solche Einstellung leicht; andere
zeigen bei dem Versuch ein unglaublich hohes Maß von Unge-
schicklichkeit. Es gibt nun einen höheren Grad von Freiheit
der Assoziation, wenn ich nämlich auch diese Auspangsvorstel-
lung fallen lasse und etwa nur Art und Gattung des Einfalles fest-
lege, z.B. bestimme, daß man sich einen Eigennamen oder eine
Zahl frei einfallen lassen solle. Dieser Einfall müßte noch will-
kürlicher, noch unberechenbarer sein als der bei unserer Technik
verwendete. Es läßt sich aber zeigen, daß er jedesmal strenge
determiniert wird durch wichtige innere Einstellungen, die im
Moment, da sie wirken, uns nicht bekannt sind, ebensowenig be-
110 VI. DER TRAUM.
kannt wie die störenden Tendenzen der Fehlleistungen und die
provozierenden der Zufallshandlungen.
Ich und viele andere nach mir haben wiederholt solche Unter-
suchungen für Namen und Zahlen, die man sich ohne jeden
Anhalt einfallen läßt, angestellt, einige derselben auch ver-
öffentlicht. Man verfährt dabei in der Weise, daß man zu dem
aufoetauchten Namen fortlaufende Assoziationen weckt, die also
nicht mehr ganz frei, sondern wie die Einfälle zu den Traum-
elementen einmal gebunden sind, und dies so lange, bis man den
Antrieb dazu erschöpft findet. Dann hat man aber auch Moti-
vierung und Bedeutung des freien Nameneinfalls aufgeklärt. Die
Versuche ergeben immer wieder das nämliche, ihre Mitteilung er-
streckt sich oft über reiches Material und macht weitläufige Aus-
führungen notwendig. Die Assoziationen zu frei aufgetauchten
Zahlen sind vielleicht die beweisendsten; sie laufen so schnell
ab und gehen mit so unbegreiflicher Sicherheit auf ein verhülltes
Ziel los, daß sie wirklich verblüffend wirken. Ich will Ihnen
nur ein Beispiel einer solchen Namenanalyse mitteilen, weil es
sich günstigerweise mit wenig Material erledigen läßt.
Im Verlaufe der Behandlung eines jungen Mannes komme
ich auf dieses Thema zu sprechen und erwähne den Satz, daß
man sich trotz der anscheinenden Willkür doch keinen Namen
einfallen lassen kann, der sich nicht als enge bedingt durch die
nächstliegenden Verhältnisse, die Eigentümlichkeiten der Ver-
suchsperson und ihre momentane Situation erwiese. Da er zwei-
felt, schlage ich ihm vor, ohne Aufschub selbst einen solchen
Versuch zu machen. Ich weiß, daß er besonders zahlreiche Be-
ziehungen jeder Art zu Frauen und Mädchen unterhält, und
meine darum, er werde eine besonders große Auswahl haben,
wenn er sich gerade einen Frauennamen einfallen lasse. Er ist
damit einverstanden. Zu meinem, oder vielleicht eher zu seinem
DIE DETERMINIERUNG DER FREIEN ASSOZIATION. 111
Erstaunen, bricht aber jetzt keineswegs eine Lawine von Frauen-
namen über mich los, sondern er bleibt eine Weile stumm und
gesteht dann, daß ihm ein einziger Name in den Sinn gekommen
sei, kein anderer daneben: Albine. — Wie merkwürdig, aber
was knüpft sich für Sie an diesen Namen? Wieviel Albinen
kennen Sie? — Sonderbar, er kannte keine Albine, und es fiel
ihm zu diesem Namen auch weiter nichts ein. So konnte man
annehmen, die Analyse sei mißlungen; aber nein, sie war nur
bereits vollendet, es war kein weiterer Einfall erforderlich. Der
Mann hatte selbst ungewöhnlich helle Farben, in den Gesprächen
der Kur hatte ich ihn wiederholt scherzhaft einen Albino ge-
nannt; wir waren eben damit beschäftigt, den weiblichen An-
teil an seiner Konstitution festzustellen. Er war also selbst diese
Albine, das derzeit für ihn interessanteste Frauenzimmer.
Ebenso erweisen sich Melodien, die einem unvermittelt ein-
fallen, als bedingt durch-und zugehörig zu einem Gedankenzug,
der ein Recht hat, einen zu beschäftigen, ohne daß man um diese
Aktivität weiß. Es ist dann leicht zu zeigen, daß die Beziehung
zur Melodie an deren Text oder an ihre Herkunft anknüpft; ich
muß aber so vorsichtig sein, diese Behauptung nicht auf wirklich
musikalische Menschen auszudehnen, über die ich zufällig keine
Erfahrung habe. Bei solchen mag der musikalische Gehalt der
Melodie für ihr Auftauchen maßgebend sein. Häufiger ist ge-
wiß der erstere Fall. So weiß ich von einem jungen Manne, der
von der allerdings reizenden Melodie des Parisliedes aus der
„Schönen Helena“ eine Zeitlang geradezu verfolgt wurde, bis
ihn die Analyse auf die derzeitige Konkurrenz einer „Ida“ mit
einer „Helene“ in seinem Interesse aufmerksam machte.
Wenn also die ganz frei auftauchenden Einfälle in solcher
Weise bedingt und in einen bestimmten Zusammenhang einge-
ordnet sind, so werden wir wohl mit Recht schließen, daß Ein-
VI. DER TRAUM.
—
112
fälle mit einer einzigen Gebundenheit, der an eine Ausgangs-
Vorstellung, nicht minder bedingt sein können. Die Unter-
suchung zeigt wirklich, daß sie außer der Gebundenheit, die wir
ihnen durch die Ausgangsvorstellung mitgegeben haben, eine
zweite Abhängigkeit von affektmächtigen Gedanken- und Inter-
essenkreisen, Komplexen, erkennen lassen, deren Mitwirkung
im Moment nicht bekannt, also unbewußt ist.
Einfälle von solcher Gebundenheit sind Gegenstand sehr
lehrreicher experimenteller Untersuchungen gewesen, die in der
Geschichte der Psychoanalyse eine bemerkenswerte Rolle gespielt
‘haben. Die Wundtsche Schule hatte das sogenannte Asso-
ziationsexperiment angegeben, bei welchem der Versuchsperson
der Auftrag erteilt wird, auf ein ihr zugerufenes Reizwort
möglichst rasch mit einer beliebigen Reaktion zu antworten.
Man kann dann das Intervall studieren, das zwischen Reiz und
Reaktion verläuft, die Natur der als Reaktion gegebenen Ant-
wort, den etwaigen Irrtum bei einer späteren Wiederholung des-
selben Versuches und ähnliches. Die Züricher Schule unter der
Führung von Bleuler und Jung hat die Erklärung der beim
Assoziationsexperiment erfolgenden Reaktionen gegeben, indem
sie die Versuchsperson aufforderte, die von ihr erhaltenen Reak-
tionen durch nachträgliche Assoziationen zu erläutern, wenn sie
etwas Auffälliges an sich trugen. Es stellte sich dann heraus,
daß diese auffälligen Reaktionen in der schärfsten Weise durch
die Komplexe der Versuchsperson determiniert waren. Bleuler
und Jung hatten damit die erste Brücke von der Experimental-
psychologie zur Psychoanalyse geschlagen.
In solcher Weise belehrt, werden Sie sagen können: Wir an-
erkennen jetzt, daß freie Einfälle determiniert sind, nicht will-
kürlich, wie wir geglaubt haben. Wir geben dies auch für die
Einfälle zu den Elementen des Traumes zu. Aber das ist es
DAS ASSOZIATIONSEXPERIMENT.
— 0.
11
ja nicht, worauf es uns ankommt. Sie behaupten ja, daß der
Einfall zum Traumelement durch den uns nicht bekannten psy-
chischen Hintergrund eben dieses Elements determiniert sein
wird. Das scheint uns nicht erwiesen. Wir erwarten schon, daß
sich der Einfall zum Traumelement durch einen der Komplexe
des Träumers bestimmt zeigen wird, aber was nützt uns das? Das
führt uns nicht zum Verständnis des Traumes, sondern wie das
Assoziationsexperiment zur Kenntnis dieser sogenannten Kom-
plexe. Was haben diese aber mit dem Traum zu tun?
Sie haben recht, aber Sie übersehen ein Moment. Übrigens
gerade jenes, wegen dessen ich das Assoziationsexperiment nicht
zum Ausgangspunkt für diese Darstellung gewählt habe. Bei
diesem Experiment wird die eine Determinante der Reaktion,
nämlich das Reizwort, von uns willkürlich gewählt. Die Reaktion
ist dann eine Vermittlung zwischen diesem Reizwort und dem
eben geweckten Komplex der Versuchsperson. Beim Traum ist
das Reizwort ersetzt durch etwas, was selbst aus dem Seelen-
leben des Träumers, aus ihm unbekannten Quellen, stammt, also
sehr leicht selbst ein „Komplexabkömmling“ sein könnte. Es ist
darum die Erwartung nicht gerade phantastisch, daß auch die
an die Traumelemente angeknüpften weiteren Einfälle durch
keinen anderen Komplex als den des Elements selbst bestimmt
sein und auch zu dessen Aufdeckung führen werden.
Lassen Sie mich an einem anderen Falle zeigen, daß es tat-
sächlich so ist, wie wir es für unseren Fall erwarten. Das Ent-
fallen von Eigennamen ist eigentlich ein ausgezeichnetes Vor-
bild für den Fall der Traumanalyse; nur ist hier in einer Person
beisammen, was bei der Traumdeutung auf zwei Personen ver-
teilt ist. Wenn ich einen Namen zeitweilig vergessen habe, so
habe ich doch die Sicherheit in mir, daß ich den Namen weiß;
jene Sicherheit, die wir uns für den Träumer erst auf dem Um-
Freud, Vorlesungen. III. 3
114 VI. DER TRAUM.
— 2
wege über das Bernheimsche Experiment aneignen konnten.
Der vergessene und doch gewußte Name ist mir aber nicht zu-
gänglich. Nachdenken, wenn auch noch so angestrengtes, hilft
dabei nichts; das sagt mir bald die Erfahrung. Ich kann mir
aber jedesmal an Stelle des vergessenen Namens einen oder
mehrere Ersatznamen einfallen lassen. Wenn mir ein solcher
Ersatzname spontan eingefallen ist, dann wird erst die Über-
einstimmung dieser Situation mit der der Traumanalyse evident.
Das Traumelement ist ja auch nicht das Richtige, nur ein Er-
satz für etwas anderes, für das Eigentliche, das ich nicht kenne
und durch die Traumanalyse auffinden soll. Der Unterschied liegt
wiederum nur darin, daß ich beim Namenvergessen den Ersatz
unbedenklich als das Uneigentliche erkenne, während wir diese
Auffassung für das Traumelement erst mühselig erwerben muß-
ten. Nun gibt es auch beim Namenvergessen einen Weg, vom Er-
satz zum unbewußten Eigentlichen, zum vergessenen Namen zu
kommen. Wenn ich meine Aufmerksamkeit auf diese Ersatz-
namen richte und weitere Einfälle zu ihnen kommen lasse, so
gelange ich nach kürzeren oder längeren Umwegen zum ver-
gessenen Namen und finde dabei, daß die spontanen Ersatznamen
wie die von mir hervorgerufenen mit dem vergessenen in Be-
ziehung standen, durch ihn determiniert waren.
Ich will Ihnen eine Analyse dieser Art vorführen: Eines
Tages bemerke ich, daß ich über den Namen jenes Ländchens an
der Riviera, dessen Hauptort Monte Carlo ist, nicht verfüge. Es
ist zu ärgerlich, aber es ist so. Ich versenke mich in all mein
Wissen um dieses Land, denke an den Fürsten Albert aus dem
Hause Lusignan, an seine Ehen, seine Vorliebe für Tiefsee-
forschungen, und was ich sonst zusammentragen kann, aber es
hilft mir nichts. Ich gebe also das Nachdenken auf und lasse
mir an Stelle des verlorenen Ersatznamen einfallen. Sie kommen
RECHTFERTIGUNG DER DEUTUNGSTECHNIK. 115
rasch. Monte Carlo selbst, dann Piemont, Albanien,
Montevideo, Colico. Albanien fällt mir in dieser Reihe
zuerst auf, es ersetzt sich alsbald durch Montenegro, wohl
nach dem Gegensatze von Weiß und Schwarz. Dann sehe ich,
daß vier dieser Ersatznamen die nämliche Silbe mon enthalten ;
ich habe plötzlich das vergessene Wort und rufe laut:.Monaco.
Die Ersatznamen sind also wirklich vom vergessenen ausge-
gangen, die vier ersten von der ersten Silbe, der letzte bringt
die Silbenfolge und die ganze Endsilbe wieder. Nebenbei kann
ich auch leicht finden, was mir den Namen für eine Zeit weg-
genommen hat. Monaco gehört auch zu München als dessen
italienischer Name; diese Stadt hat den hemmenden Einfluß aus-
geübt. | |
Das Beispiel ist gewiß schön, aber zu einfach. In anderen
Fällen müßte man zu den ersten Ersatznamen eine größere Reihe
von Einfällen nehmen, dann wäre die Analogie mit der Traum-
analyse deutlicher. Ich habe auch solche Erfahrungen gemacht.
Als mich einmal ein Fremder einlud, italienischen Wein mit ihm
zutrinken, ergab es sich im Wirtshause, daß er den Namen jenes
Weines vergessen hatte, den er zu bestellen beabsichtigte, weil
er ihm im besten Gedenken geblieben war. Aus einer Fülle von
disparaten Ersatzeinfällen, die dem Anderen an Stelle des ver-
gessenen Namens kamen, konnte ich den Schluß ziehen, daß die
Rücksicht auf irgend eine Hedwig ihm den Namen des Weines
weggenommen hatte, und wirklich bestätigte er nicht nur, daß
er diesen Wein zuerst in Gesellschaft einer Hedwig verkostet,
sondern fand auch durch diese Aufdeckung seinen Namen wieder.
Er war zu der Zeit glücklich verheiratet, und jene Hedwig ge-
hörte früheren, nicht gerne erinnerten Zeiten an.
Was beim Namenvergessen möglich ist, muß auch in der
Traumdeutung gelingen können, vom Ersatz aus durch an-
83
116 VI. DER TRAUM.
knüpfende Assoziationen das verhaltene Eigentliche zugänglich
zu machen. Von den Assoziationen zum Traumelement dürfen wir
nach dem Beispiel des Namenvergessens annehmen, daß sie so-
wohl durch das Traumelement als durch das unbewußte Eigent-
liche desselben determiniert sein werden. Somit hätten wir einiges
zur Rechtfertigung unserer Technik vorgebracht.
SIEBENTE VORLESUNG.
DER TRAUM. |
MANIFESTER TRAUMINHALT U. LATENTE TRAUMGEDANKEN.
Meine Damen und Herren! Sie sehen, wir haben die Fehl-
leistungen nicht ohne Nutzen studiert. Dank diesen Bemühungen
haben wir — unter den Ihnen bekannten Voraussetzungen —
zweierlei erworben, eine Auffassung des Traumelements und
eine Technik der Traumdeutung. Die Auffassung des Traum-
elements geht dahin, es sei ein Uneigentliches, ein Ersatz für etwas
anderes, dem Träumer Unbekanntes, ähnlich wie die Tendenz der
Fehlleistung, ein Ersatz für etwas, wovon das ‚Wissen im Träu-
mer vorhanden, aber ihm unzugänglich ist. ‚Wir hoffen, die-
selbe Auffassung auf den ganzen Traum, der aus solchen Ele-
menten besteht, übertragen zu können. Unsere Technik besteht
darin, durch freie Assoziation zu diesen Elementen andere Ersatz-
bildungen auftauchen zu lassen, aus denen wir das Verborgene
erraten können. |
Ich schlage Ihnen jetzt vor, eine Abänderung unserer Nomen-
klatur eintreten zu lassen, die unsere Beweglichkeit erleichtern
soll. Anstatt verborgen, unzugänglich, uneigentlich sagen wir,
indem wir die richtige Beschreibung geben, dem Bewußtsein des
Träumers unzugänglich oderunbewußt. Wir meinen damit nichts
anderes, als was Ihnen die Beziehung auf das entiallene Wort
oder auf die störende Tendenz der Fehlleistung vorhalten kann,
nämlichderzeitunbewußt. Natürlich dürfen wir im Gegen-
satz hiezu die Traumelemente selbst und die durch Assoziation
neu gewonnenen Ersatzvorstellun gen bewußte heißen. Irgend
eine theoretische Konstruktion ist mit dieser Namengebung noch
nicht verbunden. Der Gebrauch des Wortes unbewußt als einer
zutreffenden und leicht verständlichen Beschreibung ist tadellos.
Übertragen wir unsere Auffassung vom einzelnen Element
auf den ganzen Traum, so ergibt sich also, daß der Traum als
Ganzes der entstellte Ersatz für etwas anderes, Unbewußtes, ist,
und als die Aufgabe der Traumdeutung, dieses Unbewußte zu
finden. Daraus leiten sich aber sofort drei wichtige Regeln ab,
die wir während der Arbeit an der Traumdeutung befolgen sollen:
1. Man kümmere sich nicht um das, was der Traum zu be-
sagen, scheint, sei er verständig oder absurd, klar oder verworren,
da es doch auf keinen Fall das von uns gesuchte Unbewußte
ist, (eine nahe liegende Einschränkung dieser Regel wird sich
uns später aufdrängen); 2. man beschränke die Arbeit darauf,
zu jedem Element die Ersatzvorstellungen zu erwecken, denke
nicht über sie nach, prüfe sie nicht, ob sie etwas Passendes ent-
halten, kümmere sich nicht darum, wie weit sie vom Traum-
element abführen ; 3. man warte ab, bis sich das verborgene, ge-
suchte Unbewußte von selbst einstellt, genau so wie das ent-
fallene Wort: Monaco bei dem beschriebenen Versuch.
Wir verstehen jetzt auch, inwiefern ıs gleichgültig ist, wie-
viel, wie wenig, vor allem aber wie getreu oder wie unsicher
man den Traum erinnert. Der erinnerte Traum ist ja doch nicht
das Eigentliche, sondern ein entstellter Ersatz dafür, der uns
dazu verhelfen soll, durch Erweckung von anderen Ersatz-
bildungen dem Eigentlichen näher zu kommen, das Unbewußte
des Traumes bewußt zu machen. War also unsere Erinnerung un-
getreu, so hat sie einfach an diesem Ersatz eine weitere Entstel-
lung vorgenommen, die übrigens auch nicht unmotiviert sein kann.
Man kann die Deutungsarbeit an eigenen Träumen wie an
denen anderer vollziehen. An eigenen lernt man sogar mehr, der
REGELN BEI DER TRAUMDEUTUNG. 119
Vorgang fällt beweisender aus. Versucht man dies also, so be-
merkt man, daß etwas sich der Arbeit widersetzt. Man bekommt
zwar Einfälle, läßt sie aber nicht alle gewähren. Es machen sich
prüfende und auswählende Einflüsse geltend. Bei dem einen
Einfall sagt man sich: Nein, das paßt nicht dazu, gehört nicht
hieher, bei einem anderen: das ist zu unsinnig, bei einem dritten:
das ist ganz nebensächlich, und man kann ferner beobachten, wie
man mit solehen Einwendungen die Einfälle, noch ehe sie ganz
klar geworden sind, erstickt und endlich auch vertreibt. Also
einerseits hängt man sich zu sehr an die Ausgangsvorstellung,
ans Traumelement selbst, anderseits stört man durch eine Aus-
wahl das Ergebnis der freien Assoziation. Ist man bei der Traum-
deutung nicht allein, läßt man seinen Traum von einem anderen
deuten, so wird man sehr deutlich noch ein anderes Motiv be-
merken, welches man für diese unerlaubte Auswahl verwendet.
Man sagt sich dann gelegentlich: Nein, dieser Einfall ist zu un-
angenehm, den will oder kann ich nicht mitteilen.
Diese Einwendungen drohen offenbar den Erfolg unserer
Arbeit zu stören. Man muß sich gegen sie schützen, und man
tut dies bei der eigenen Person durch den festen Vorsatz, ihnen
nicht nachzugeben; wenn man den Traum eines anderen deutet,
indem man ihm als unverbrüchliche Regel angibt, er dürfe
keinen Einfall von der Mitteilung ausschließen, auch wenn sich
eine der vier Einwendungen gegen ihn erhebe: er sei zu un-
wichtig, zu unsinnig, gehöre nicht hieher, oder er sei zu peinlich
für die Mitteilung. Er verspricht diese Regel zu befolgen, und
man darf sich dann darüber ärgern, wie schlecht er vorkommen-
denfalls dies Versprechen hält. Man wird sich dafür zuerst die
Erklärung geben, daß ihm trotz der autoritativen Versicherung
die Berechtigung der freien Assoziation nicht eingeleuchtet hat,
und wird vielleicht daran denken, ihn zuerst theoretisch zu
VII. DER TRAUM.
120
gewinnen, indem man ihm Schriften zu lesen gibt oder ilın in
Vorlesungen schickt, durch welche er zum Anhänger unserer
Anschauungen über die freie Assoziation umgewandelt werden
kann. Aber von solchen Mißgriffen wird man durch die Beob-
achtung abgehalten, daß bei der eigenen Person, deren Über-
zeugung man doch sicher sein darf, die nämlichen kritischen Ein-
wendungen gegen gewisse Einfälle auftauchen, die erst nach-
träglich, gewissermaßen in zweiter Instanz, beseitigt werden.
Anstatt sich über den Ungehorsam des Träumers zu ärgern,
kann man diese Erfahrungen verwerten, um etwas Neues aus
ihnen zu lernen, etwas was um so wichtiger ist, je weniger man
darauf vorbereitet war. Man versteht, die Arbeit der Traum-
deutung vollzieht sich gegen einen Widerstand, der ihr
entgegengesetzt wird, und dessen Äußerungen jene kritischen
Einwendungen sind. Dieser Widerstand ist unabhängig von der
theoretischen Überzeugung des Träumers. Ja man lernt noch
mehr. Man macht die Erfahrung, daß eine solche kritische Ein-
wendung niemals Recht behält. Im Gegenteile, die Einfälle, die
man so unterdrücken möchte, erweisen sich ausnahmslos als die
wichtigsten, für das Auffinden des Unbewußten entscheidenden.
Es ist geradezu eine Auszeichnung, wenn ein Einfall von einer
solchen Einwendung begleitet wird.
Dieser Widerstand ist etwas völlig Neues, ein Phänomen,
welches wir auf Grund unserer Voraussetzungen gefunden haben,
ohne daß es in diesen enthalten gewesen wäre. Wir sind von
diesem neuen Faktor in unserer Rechnung nicht gerade ange-
nehm überrascht. Wir ahnen schon, er wird unsere Arbeit nicht
erleichtern. Er könnte uns dazu verführen, die ganze Bemühung
um den Traum stehen zu lassen. Etwas so Unwichtiges wie der
Traum und dazu solche Schwierigkeiten anstatt einer glatten
Technik! Aber anderseits könnten uns gerade diese Schwierig-
WIDERSTÄNDE BEI DER TRAUMDFEUTUNG. 191
keiten reizen und vermuten lassen, daß die Arbeit der Mühe
‚wert sein: wird. Wir stoßen regelmäßig auf Widerstände, wenn
wir vom Ersatz, den das Traumelement bedeutet, zu seinem
versteckten Unbewußten vordringen wollen. Also dürfen wir
denken, es muß hinter dem Ersatz etwas Bedeutsames versteckt
sein. Wozu sonst die Schwierigkeiten, die das Verbergen aufrecht
erhalten wollen? Wenn ein Kind die geballte Hand nicht auf-
machen will, um zu zeigen, was es in ihr hat, dann ist rs
gewiß etwas Unrechtes, was es nicht haben soll.
Im Augenblick, da wir die dynamische Vorstellung eines
Widerstandes in unseren Sachverhalt einführen, müssen wir auch
daran denken, daß dieses Moment etwas quantitativ Variables ist.
Es kann größere und kleinere Widerstände geben, und wir sind
darauf vorbereitet, daß sich diese - Unterschiede auch während
unserer Arbeit zeigen werden. Vielleicht bringen wir damit eine
andere Erfahrung zusammen, die wir auch bei der Arbeit der
Traumdeutung machen. Es bedarf nämlich manchmal nur eines
einzigen \oder einiger weniger Einfälle, um uns vom Traum-
element zu seinem Unbewußten zu bringen, während andere Male
lange Ketten von Assoziationen und die Überwindung vielen kri-
tischer Einwendungen dazu erfordert wird. Wir werden uns
sagen, diese Verschiedenheiten hängen mit den wechselnden
Größen des Widerstandes zusammen, und werden wahrscheinlich
Recht behalten. Wenn der Widerstand gering ist, so ist auch
der Ersatz vom Unbewußten nicht weit entfernt; ein großer Wider-
stand bringt aber große Entstellungen des Unbewußten und da-
mit einen langen Rückzug vom Ersatz zum Unbewußten mit sich,
Jetzt wäre es vielleicht an der Zeit, einen Traum herzu-
nehmen und unsere Technik an ihm zu versuchen, ob sich unsere
an sie geknüpften Erwartungen bestätigen. Ja, aber welchen
Traum sollen wir dazu wählen? Sie glauben nicht, wie schwer
122 YIL DER TRAUM.
mir diese Entscheidung fällt, und ich kann Ihnen auch noch
nicht begreiflich machen, worin die Schwierigkeiten liegen. Es
muß offenbar Träume geben, die im ganzen wenig Entstellung
erfahren haben, und es wäre das Beste, mit solchen anzufangen.
-Aber welche Träume sind die am wenigsten entstellten? Die ver-
ständigen und nicht verworrenen, von denen ich Ihnen bereits
zwei Beispiele vorgelegt habe? Da würden wir sehr irre gehen.
Die Untersuchung zeigt, daß diese Träume einen außerordentlich
hohen Grad von Entstellung erfahren haben. Wenn ich aber unter
Verzicht auf eine besondere Bedingung einen beliebigen Traum °
herausgreife, so werden Sie wahrscheinlich sehr enttäuscht wer-
den. Es kann sein, daß wir eine solche Fülle von Einfällen zu den
einzelnen Traumelementen zu merken oder zu verzeichnen haben,
daß die Arbeit vollkommen unübersichtlich wird. Schreiben
wir uns den Traum nieder und halten die Niederschrift aller dazu
sich ergebenden Einfälle dagegen, so können diese leicht ein Viel-
faches des Traumtextes ausmachen. Am zweckmäßigsten schiene
es also, mehrere kurze Träume zur Analyse auszusuchen, von
denen jeder uns wenigstens etwas sagen oder bestätigen kann.
Dazu werden wir uns auch entschließen, wenn die Erfahrung
uns nicht etwa anzeigen sollte, wo wir die wenig entstellten
Träume wirklich finden können.
Ich weiß aber noch eine andere Erleichterung, die über-
dies auf unserem ‚Wege liegt. Anstatt die Deutung ganzer
Träume in Angriff zu nehmen, wollen wir uns auf einzelne
Traumelemente beschränken und an einer Reihe von Beispielen
verfolgen, wie diese durch die Anwendung unserer Technik Auf-
klärung finden.
a) Eine Dame erzählt, sie habe als Kind sehr oft geträumt,
der liebe Gott habe einen spitzen Papierhut awf
dem Kopf. Wie wollen Sie das ohne die Hilfe der Träumerin
DEUTUNG EINZELNER TRAUMELEMENTE. 193
verstehen? Es klingt ja ganz unsinnig. Es ist nicht mehr un-
sinnig, wenn uns die Dame berichtet, daß man ihr als Kind
bei Tische einen solchen Hut aufzusetzen pflegte, weil sie es
nicht unterlassen konnte, auf die Teller der Geschwister zu
schielen, ob eines von ihnen mehr bekommen habe als sie. Der
Hut sollte also wie ein Scheuleder wirken. Übrigens eine histo-
rische Auskunft und ohne jede Schwierigkeit gegeben. Die Deu-
tung dieses Elements und damit des ganzen kurzen Traumes er-
gibt sich leicht mit Hilfe eines weiteren Einfalls der Träumerin.
„Da ich gehört hatte, der liebe Gott sei allwissend und sehe alles,
sagt sie, so kann der Traum nur bedeuten, daß ich alles weiß und
alles sehe wie der liebe Gott, auch wenn man mich daran hin-
dern will.“ Dieses Beispiel ist vielleicht zu einfach.
b) Eine skeptische Patientin hat einen längeren Traum, in
dem es vorkommt, daß ihr gewisse Personen von meinem Buch
über den „Witz“ erzählen und es sehr loben. Dann wird etwas er-
wähnt von einem „Kanal“, vielleichteinanderes Buch,
indem Kanal vorkommt, oder sonst etwas mit Ka-
nal...sie weißesnicht...esist ganz unklar.
Nun werden Sie gewiß zu glauben geneigt sein, daß das
Element „Kanal“ sich der Deutung entziehen wird, weil es selbst
so unbestimmt ist. Sie haben mit der vermuteten Schwierigkeit
recht, aber es ist nicht darum schwer, weil es undeutlich ist,
sondern es ist undeutlich aus einem anderen Grund, demselben,
der auch die Deutung schwer macht. Der Träumerin fällt zu
Kanal nichts ein; ich weiß natürlich auch nichts zu sagen. Eine
Weile später, in Wahrheit am nächsten Tage, erzählt sie, es
sei ihr etwas eingefallen, was vielleieht dazu gehört. Auch
ein Witz nämlich, den sie erzählen gehört hat. Auf einem
Schiff zwischen Dover und Calais unterhält sich ein bekannter
Schriftsteller mit einem Engländer, welcher in einem gewissen
124 VII. DER TRAUM.
—
Zusammenhänge den Satz zitiert: Du sublime au ridicule il
n’y a qu’un pas. Der Schriftsteller antwortet: Oui, le pas de
Calais, womit er sagen will, daß er Frankreich großartig und
England lächerlich findet. Der Pas de Calais ist aber doch ein
Kanal, der Ärmelkanal nämlich, Canal la Manche. Ob ich meine,
daß dieser Einfall etwas mit dem Traum zu tun hat? Gewiß,
meine ich, er gibt wirklich die Lösung des rätselhaften Traum-
elements. Oder wollen Sie bezweifeln, daß dieser Witz bereits vor
dem Traum als das Unbewußte des Elements „Kanal“ vorhanden
war, können Sie annehmen, daß er nachträglich hinzugefunden
wurde? Der Einfall bezeugt nämlich die Skepsis, die sich bei
ihr hinter aufdringlicher Bewunderung: verbirgt, und der ‚Wider-
stand ist wohl der gemeinsame Grund für beides, sowohl, daß
ihr der Einfall so zögernd gekommen, als auch dafür, daß das
entsprechende Traumelement so unbestimmt ausgefallen ist.
Blicken Sie hier auf das Verhältnis des Traumelements zu seinem
Unbewußten. Es ist wie ein Stückchen dieses Unbewußten, wie
eine Anspielung darauf; durch seine Isolierung ist es ganz un-
verständlich geworden.
c) Ein Patient träumt in längerem Zusaminenhan ge: Um
einen Tisch von besonderer Form sitzen mehrere
Mitglieder seiner Familie usw. Zu diesem Tisch fällt
ihm ein, daß er ein solches Möbelstück bei einem Besuch bei
einer bestimmten Familie gesehen hat. Dann: setzen sich seine
Gedanken fort: In dieser Familie hat es ein besonderes Verhält-
nis zwischen Vater und Sohn gegeben, und bald setzt er hinzu,
daß es eigentlich zwischen ihm und seinem Vater ebenso steht.
Der Tisch ist also in den Traum aufgenommen, um diese Par-
allele zu bezeichnen.
Dieser Träumer war mit den Anforderungen der Traum-
deutung längst vertraut. Ein anderer hätte vielleicht Anstoß
DEUTUNG EINZELNER TRAUMELEMENTE. 195
daran genommen, daß ein so geringfügiges Detail wie die Form
eines Tisches zum Objekt der Nachforschung genommen wird.
‚Wir erklären wirklich nichts im Traum für zufällig oder gleich-
gültig und erwarten uns Aufschluß gerade von der Auf-
klärung so geringfügiger unmotivierter Details. Sie werden sich
vielleicht noch darüber verwundern, daß die Traumarbeit den
Gedanken: Bei uns geht es ebenso zu wie bei denen, gerade
durch die Auswahl des Tisches zum Ausdruck bringt. Aber auch
das erklärt sich, wenn Sie hören, daß die betreffende Familie den
Namen: Tischler trägt. Indem der Träumer seine Angehörigen
an diesem Tisch Platz nehmen läßt, sagt er, sie seien auch
Tischler. Bemerken Sie übrigens, wie man notgedrungen beı
der Mitteilung solcher Traumdeutungen indiskret werden muß.
Sie haben damit eine der Ihnen angedeuteten Schwierigkeiten in
der Auswahl von Beispielen erraten. Ich hätte dieses Beispiel
leicht durch ein anderes ersetzen können, aber wahrscheinlich
hätte ich diese Indiskretion nur um den Preis vermieden, daß
ich an ihrer Statt eine andere begehe.
Es scheint mir an der Zeit, zwei Termini einen die wir
längst hätten verwenden können. ‚Wir wollen das, was der
Traun erzählt, den manifesten Trauminhalt nennen,
das Verborgene, zu dem wir durch die Verfolgung der Einfälle
kommen sollen, die latenten Traumgedanken. Wir achten
dann auf die Beziehungen zwischen manifestem Trauminhalt und
latenten Traumgedanken, wie sie sich in diesen Beispielen zeigen.
Es können sehr verschiedene solche Beziehungen bestehen. In
den Beispielen a und 5 ist das manifeste Element auch ein Be-
standteil der latenten Gedanken, aber nur ein kleines Stück
davon. Von einem großen zusammengesetzten psychischen Ge-
bilde in den unbewußten Traumgedanken ist ein Stückchen auch
in den manifesten Traum gelangt, wie ein Fragment davon oder
126 | VII. DER TRAUM.
in anderen Fällen wie eine Anspielung darauf, wie ein Stich-
wort, eine Verkürzung im Telegraphenstil. Die Deutungsarbeit
hat diesen Brocken oder diese Andeutung zum Ganzen zu ver-
vollständigen, wie es besonders schön im Beispiel b gelungen
ist. Die eine Art der Entstellung, in welcher die Traumarbeit
besteht, ist also der Ersatz durch ein Bruchstück oder eine An-
spielung. In ce ist überdies ein anderes Verhältnis zu erkennen,
welches wir in den nachfolgenden Beispielen reiner und deut-
licher ausgedrückt sehen.
d) Der Träumer zieht eine bestimmte, ihm bekannte
Dame hinter dem Bett hervor. Er findet selbst durch
den ersten Einfall den Sinn. dieses Traumelements. Es heißt:
er gibt dieser Dame den Vorzug.
e) Ein anderer träumt, sein Bruder steeckeineinem
Kasten. Der erste Einfall ersetzt Kasten durch Schrank,
und der zweite gibt darauf die Deutung: der Bruder schränkt
sich ein.
7) Der Träumer steigt aufeinen Berg, von demer
eine außerordentliche weite Aussicht hat. Das
klingt ja ganz rationell, es ist vielleicht nichts zu deuten daran,
sondern nur zu erkunden, an welche Reminiszenz der Traum
rührt, und aus welchem Motiv sie hier geweckt wurde. Allein
Sie irren; es zeigt sich, daß dieser Traum gerade so deutungs-
bedürftig war wie irgend ein anderer, verworrener. Dem Träu-
mer fällt dazu nämlich nichts von eigenen Bergbesteigungen ein,
sondern er gedenkt des Umstandes, daß ein Bekannter von ihm
eıne „Rundschau“ herausgibt, die sich mit unseren Be-
ziehungen zu den fernsten Erdteilen beschäftigt. Der latente
Traumgedanke ist also hier eine Identifizierung des Träumers
mit dem „Rundschauer“.
TEIL FÜR GANZES, ANSPIELUNG, VERBILDLICHUNG, 127
Sie finden hier einen neuen Typus der Beziehung zwischen
manıfestem und latentem Traumelement. Das erstere ist nicht so
sehr; eine Entstellung des letzteren als eine Darstellung desselben,
eine plastische, konkrete Verbildlichung, die ihren Ausgang vom
Wortlaute nimmt. Allerdings gerade dadurch wieder eine Ent-
stellung, denn wir haben beim Wort längst darauf vergessen,
aus welchem konkreten Bild es hervorgegangen ist, und er-
kennen es darum in seiner Ersetzung durch das Bild nicht
wieder. Wenn Sie daran denken, daß der manifeste Traum vor-
wiegend aus visuellen Bildern, seltener aus Gedanken und Wor-
ten besteht, können Sie erraten, daß dieser Art der Beziehung
eine besondere Bedeutung für die Traumbildung zukommt. Sie
sehen auch, daß es auf diesem Wege möglich wird, für eine
große Reihe abstrakter Gedanken Ersatzbilder im manifesten
Traum zu schaffen, die doch der Absicht des Verbergens dienen.
Es ist dies die Technik unseres Bilderrätsels. Woher der An-
schein des Witzigen kommt, den solche Darstellungen an sich
tragen, das ist eine besondere Frage, die wir hier nicht zu be-
rühren brauchen.
Eine vierte Art der Beziehung zwischen manifestem und
latentem Element muß ich Ihnen noch verschweigen, bis ihr
Stichwort in der Technik gefallen ist. Ich werde Ihnen auch
dann keine vollständige Aufzählung gegeben haben, aber es
reicht so für unsere Zwecke aus.
Haben Sie nun den Mut, die Deutung eines ganzen Traumes
zu wagen? Machen wir den Versuch, ob wir für diese Aufgabe gut
genug ausgerüstet sind. Ich werde natürlich keinen der dunkelsten
wählen, aber doch einen, der die Eigenschaften eines Traumes in
guter Ausprägung: zeigt.
Also eine junge, aber schon seit vielen Jahren verheiratete
Dame träumt: Sie sitzt mit ihrem Manne im Theater,
128 Yu. DER TRAUM.
eine Seite des Parketts ist ganz unbesetzt. IhnrMann
erzählt ihr, Elise L. und ihr Bräutigam hätten
auch gehen wollen, hätten aber nur schlechte
Sitze bekommen, 3 für 1 fl. 50 kr, und die konnten
sie ja nicht nehmen. Sie meint, es wäre auch kein
Unglück gewesen.
Das erste, was uns die Träumerin berichtet, ist, daß der
Anlaß zum Traum im manifesten Inhalt desselben berührt wird.
Ihr Mann hatte ihr wirklich erzählt, daß Elise:L., eine ungefähr
gleichalterige Bekannte, sich jetzt verlobt hat. Der Traum ist
die Reaktion auf diese Mitteilung. Wir wissen bereits, daß es
für viele Träume leicht wird, einen solehen Anlaß vom Vortag
für sie nachzuweisen, und daß diese Herleitungen vom Träumer
oft ohne Schwierigkeiten angegeben werden. Auskünfte der-
selben Art stellt uns die Träumerin auch für andere Elemente
des manifesten Traumes zur Verfügung. Woher das Detail, daß
eine Seite des Parketts unbesetzt ist? Es ist/eine Anspielung auf
eine reale Begebenheit der vorigen Woche. Sie hatte sich vor-
genommen, in eine gewisse Theatervorstellung zu gehen, und
darum frühzeitig Karten genommen, so früh, daß sie Vor-
verkaufsgebühr zahlen: mußte. Als sie ins Theater kamen, zeigte
es sich, wie überflüssig ihre Sorge gewesen: war, denn eine
Seite des Parketts war fast leer. Es wäre Zeit gewesen,
wenn sie die Karten am Tage der Vorstellung selbst gekauft
hätte. Ihr Mann unterließ es auch nicht, sie wegen dieser V or-
eiligkeit zu necken. — Woher die 1f1.50kr.? Aus einem ganz
anderen Zusammenhange, der mit dem vorigen nichts zu tun
hat, aber gleichfalls auf eine Nachricht vom letzten Tage an-
spielt. Ihre Schwägerin hatte von ihrem Mann die Summe von
150 fl. zum Geschenk bekommen und hatte nichts Eiligeres zu
tun, die dumme Gans, als zum Juwelier zu laufen und das Geld
VERSUCH EINER TRAUMANALYSE. 129
gegen ein Schmuckstück einzutauschen. — Woher die 3? Dazu
weiß sie nichts, wenn man nicht etwa den Einfall gelten lassen
will, daß die Braut, Elise L., nur um 3 Monate jünger ist als
sie, die seit fast zehn Jahren verheiratete Frau. Und der Unsinn,
daß man 3 Karten nimmt, wenn man nur zu zweien ist? Dazu
sagt sie nichts, verweigert überhaupt alle weiteren Einfälle und
Auskünfte.
Sie hat uns aber doch soviel Material in ihren wenigen
Einfällen zugetragen, daß daraus das Erraten der latenten Traum-
gedanken möglich wird. Es muß uns auffallen, daß in ihren Mit-
teilungen zum Traum an mehreren Stellen Zeitbestimmungen
hervortreten, die eine Gemeinsamkeit zwischen verschiedenen
Partien dieses Materials begründen. Sie hat die Eintrittskarten
ins Theater zu früh besorgt, voreilig genommen, so daß sie
sie überzahlen mußte; die Schwägerin hat sich in ähnlicher
Weise beeilt, ihr Geld zum Juwelier zu tragen, um sich einen
Schmuck dafür zu kaufen, als ob siees versäumen würde. Neh-
men wir zu dem so betonten „zu früh“, „voreilig“, die Ver-
anlassung des Traumes hinzu, die Nachricht, daß die nur um
3 Monate jüngere Freundin jetzt doch einen tüchtigen Mann
bekommen hat, und die in dem Schimpf auf die Schwägerin aus-
gedrückte Kritik: es sei unsinnig, sich so zu übereilen, so tritt
uns wie spontan folgende Konstruktion der latenten Traum-
gedanken entgegen,. für welche der manifeste Traum ein arg
entstellter Ersatz ist:
„Es war doch ein Unsinn von mir, mich mit der Heirat
so zu beeilen! An dem Beispiel der Elise sehe ich, daß ich auch
noch später einen Mann bekommen hätte.“ (Die Übereilung dar-
gestellt durch ıhr Benehmen beim Kartenkauf und das der
Schwägerin beim Schmuckeinkauf. Für das Heiraten tritt als Er-
satz das Instheatergehen ein.) Das wäre der Hauptgedanke;
Freud, Vorlesungen. III. 9
130 VII. DER TRAUM.
vielleicht können wir fortsetzen, obwohl mit geringerer Sicher-
heit, weil die Analyse an diesen Stellen auf Äußerungen der
Träumerin nicht hätte verzichten sollen: „Und einen 100mal
besseren hätte ich für das Geld bekommen!“ (150 fl. ist 100mal
mehr als 1 fl. 50.) Wenn wir für das Geld die Mitgift einsetzen
dürften, so hieße es, daß man sich den Mann durch die Mitgift
erkauft; sowohl der Schmuck wie auch die schlechten Karten
stünden an Stelle des Mannes. Noch erwünschter wäre es, wenn
gerade das Element „3 Karten‘ etwas mit einem Mann zu tun
hätte. Aber soweit reicht unser Verständnis noch nicht. Wir
haben, nur erraten, der Traum drückt die Geringschätzung
ihres eigenen Mannes und das Bedauern, so früh geheiratet
zu haben, aus.
Mein Urteil ist, daß wir von dem Ergebnis dieser ersten
Traumdeutung mehr überrascht und verwirrt als befriedigt sein
werden. Zuviel auf einmal dringt da auf uns ein, mehr, als wir
bis jetzt bewältigen können. Wir merken schon, daß wir die
Lehren dieser Traumdeutung nicht erschöpfen werden. Beeilen
wir uns herauszugreifen, was wir als gesicherte neue Einsicht
erkennen. |
Erstens: Es ist merkwürdig‘, in den latenten Gedanken fällt
der Hauptakzent auf das Element der Voreiligkeit ; im manifesten
Traum ist gerade davon nichts zu finden. Ohne die Analyse
hätten wir keine Ahnung haben können, daß dieses Moment
irgend eine Rolle spielt. Es scheint also möglich, daß gerade die
Hauptsache, das Zentrale der unbewußten Gedanken, im mani-
festen Traum ausbleibt. Dadurch muß der Eindruck des ganzen
Traumes gründlich verwandelt werden. Zweitens: Im Traum
findet sich eine unsinnige Zusammenstellung, 3 für 1 fl. 50; in
den Traumgedanken erraten wir den Satz: Es war ein Unsinn
(so früh zu heiraten). Kann man es abweisen, daß dieser Ge-
ERGEBNIS DER ERSTEN TRAUMANALYSE. 131
danke: Es war ein Unsinn, gerade durch die Aufnahme eines
absurden Elements in den manifesten Traum dargestellt wird?
Drittens: Ein vergleichender Blick lehrt, daß die Beziehung zwi-
schen manifesten und latenten Elementen keine einfache ist,
keinesfalls von der Art, daß immer ein manifestes Element ein
latentes ersetzt. Es muß vielmehr eine Massenbeziehung zwi-
schen beiden Lagern sein, innerhalb deren ein manifestes Element
mehrere latente vertreten oder ein latentes durch mehrere mani-
feste ersetzt sein kann. |
Was den Sinn des Traumes und das Verhalten der Träu-
merin zu ihm betrifft, wäre gleichfalls viel Überraschendes zu
sagen. Sie anerkennt wohl die Deutung, aber sie wundert sich
über sie. Sie hat nicht gewußt, daß sie ihren Mann so gering-
schätzt; sie weiß auch nicht, warum sie ihn so geringschätzen
sollie. Daran ist also noch vieles unverständlich. Ich glaube
wirklich, wir sind noch nicht für eine Traumdeutung ausgerüstet
und müssen uns erst weitere Unterweisung und Vorbereitung
holen.
N.
ACHTE VORLESUNG,
DER TRAUM.
KINDERTRÄUME.
Meine Damen und Herren! Wir stehen unter dem Eindrucke,
daß wir zu rasch vorgegangen sind. Greifen wir um ein Stück
zurück. Ehe wir den letzten Versuch unternahmen, die Schwierig-
keit der Traumentstellung durch unsere Technik zu bewältigen,
hatten, wir uns gesagt, es wäre das Beste, sie zu umgehen, indem
wir uns an Träume halten, bei denen die Entstellung weggefallen
oder sehr geringfügig ausgefallen ist, wenn es solche gibt. Wir
weichen dabei wiederum von der Entwicklungsgeschichte unserer
Erkenntnis ab, denn in Wirklichkeit ist man erst nach konse-
quenter Anwendung der Deutungstechnik und nach vollzogener
Analyse der entstellten Träume auf die Existenz solcher von Ent-
stellung freier aufmerksam geworden.
Die Träume, die wir suchen, finden sich bei Kindern. Sie
sind kurz, klar, kohärent, leicht zu verstehen, unzweideutig
und doch unzweifelhafte Träume. Glauben Sie aber nicht, daß
alle Träume von Kindern dieser Art sind. Auch die Traum-
entstellung setzt sehr früh im Kindesalter ein, und es sind
Träume von fünf- bis achtjährigen Kindern verzeichnet worden,
die bereits alle Charaktere der späteren an sich tragen. Wenn
Sie sich aber auf das Alter vom Beginn der kenntlichen seelischen
Tätigkeit bis zum vierten oder fünften Jahr beschränken, wer-
den Sie eine Reihe von Träumen aufbringen, die den infantil zu
nennenden Charakter haben, und dann in späteren Kinderjahren
einzelne derselben Art finden können. Ja. auch bei erwachsenen
Personen fallen unter gewissen Bedingungen Träume vor, die
ganz den typisch infantilen gleichen.
An diesen Kinderträumen können wir nun, mit großer Leich-
tigkeit und Sicherheit Aufschlüsse über das Wesen des Traumes
gewinnen, von denen wir hoffen wollen, daß sie sich als ent-
scheidend und allgemein gültig erweisen werden.
1. Man bedarf zum Verständnis dieser Träume keiner
Änalyse, keiner Anwendung einer Technik. Man braucht das
Kind, welches seinen Traum erzählt, nicht zu befragen. Aber
man muß ein Stück Erzählung aus dem Leben des Kindes dazu
geben. Es gibt jedesmal ein Erlebnis vom Tage vorher, welches
uns den Traum erklärt. Der Traum ist die Reaktion des Seelen-
lebens im Schlafe auf dieses Erlebnis des Tages.
‘Wir wollen uns einige Beispiele anhören, um unsere wei-
teren: Schlüsse an sie anzulehnen.
a) Ein Knabe von 22 Monaten soll als Gratulant einen Korb
mit Kirschen verschenken. Er tut es offenbar sehr ungern, ob-
wohl man ihm verspricht, daß er einige davon selbst bekommen
wird. Am nächsten Morgen erzählt er als seinen Traum: He(r)-
mann alle Kirschen aufgessen.
b) Ein Mädchen von 31/, Jahren wird zum erstenmal über
den: See gefahren. Beim Aussteigen will sie das Boot nicht ver-
lassen und weint bitterlich. Die Zeit der Seefahrt scheint ihr
zu rasch vergangen zu sein. Am nächsten Morgen: Heute
nachts binich auf dem See gefahren. Wir dürfen wohl
ergänzen, daß diese Fahrt länger angedauert hat.
c) Ein 51/,jähriger Knabe wird auf einen Ausflug ins
Escherntal bei Hallstatt mitgenommen. Er hatte ge-
hört, Hallstatt liege am Fuße des Dachsteins.. Für diesen
Berg hatte er viel Interesse bezeugt. Von der Wohnung in Aussee
war der Dachstein schön zu sehen und mit dem Fernrohr konnte
134 | VIII. DER TRAUM.
man die Simonyhütte auf demselben ausnehmen. Das Kind
hatte sich wiederholt bemüht, sie durchs Fernrohr zu erblicken;
es war unbekannt geblieben, mit welchem Erfolge. Der Aus-
flug begann in erwartungsvoll heiterer Stimmung. So oft ein
neuer Berg in Sicht kam, fragte der Knabe: Ist das der Dach-
stein? Er würde immer mehr verstimmt, je öfter man ihm diese
Frage verneint hatte, verstummte später ganz und wollte einen
kleinen Steig zum Wasserfall nicht mitmachen. Man hielt ilın
für übermüdet, aber am nächsten Morgen erzählte er ganz selig:
Heute nacht habe ich geträumt, daß wir auf der Simony-
hütte gewesen sind. In dieser Erwartung hatte er sich
also an dem Ausflug beteiligt. Von Einzelheiten gab er nur an,
wäs er vorher gehört hatte: Man geht sechs Stunden lang auf
Stufen hinauf.
Diese drei Träume werden für alle gewünschten Auskünfte
hinreichen.
2. Wir sehen, diese Kinderträume sind nicht sinnlos; es sind
verständliche, vollgültige seelische Akte. Eı-
innern Sie sich an das, was ich Ihnen als das medizinische Urteil
über den Traum vorgestellt habe, an das Gleichnis von den
musikunkundigen Fingern, die über die Tasten des Klaviers hin-
fahren. Es wird Ihnen nicht entgehen, wie scharf sich diese
Kinderträume dieser Auffassung widersetzen. Es wäre aber auch
zu sonderbar, wenn gerade das Kind im Schlafe volle seelische
Leistungen zu stande brächte, wo sich der Erwachsene im glei-
chen Falle mit zuckungsartigen Reaktionen begnügt. Wir haben
auch allen Grund, dem Kinde den besseren und tieferen Schlaf
zuzutrauen.
8. Diese Träume entbehren der Traumentstellung; bedürfen
darum auch keiner Deutungsarbeit. Manifester und latenter
Traum fallen hier zusammen. Die Traumentstellung ge-
CHARAKTERE DER KINDERTRÄUME. 135
hörtalsoniehtzum Wesen des Traumes. Ich darf an-
nehmen, daß Ihnen damit ein Stein vom Herzen fällt. Aber ein
Stückchen Traumentstellung, eine gewisse Differenz zwischen dem
manifesten Trauminhalt und den latenten Traumgedanken werden
wir bei näherer Überlegung auch diesen Träumen zugestehen.
4. Der Kindertraum ist die Reaktion auf ein Erlebnis des
Tages, welches ein Bedauern, eine Sehnsucht, einen unerledigten
Wunsch zurückgelassen hat. Der Traum bringt die di-
rekte, unverhüllte Erfüllung dieses Wunsches.
Denken Sie nun an unsere Erörterungen über die Rolle körper-
licher Reize von außen oder von innen als Schlafstörer und An-
reger der Träume. Wir sind mit ganz sicheren Tatsachen darüber
bekannt geworden, konnten uns aber nur eine kleine Anzahl
von Träumen auf solche Art erklären. In diesen Kinderträumen
deutet nichts auf die Einwirkung solcher somatischer Reize; wir
können darin nicht irre gehen, denn die Träume sind voll ver-
ständlich und leicht zu übersehen. Aber darum brauchen wir
die Reizätiologie des Traumes nicht aufzugeben. Wir können nur
iragen, warum haben wir von Anfang an vergessen, daß es
außer den körperlichen auch seelische schlafstörende Reize gibt?
‚Wir wissen doch, daß es diese Erregungen sind, welche die Schlaf-
störung der Erwachsenen zumeist verschulden, indem sie ihn
daran verhindern, die seelische Verfassung des Einschlafens, die
Abziehung des Interesses von der Welt, bei sich herzustellen.
Er möchte das Leben nicht unterbrechen, sondern lieber die Ar-
beit an den Dingen, die ihn beschäftigen, fortsetzen, und darum
schläft er nicht. Ein solcher seelischer, den Schlaf störender
Reiz ist also für das-Kind der unerledigte Wunsch, auf welchen
es mit dem Traum reagiert.
5. Von hier erhalten wir auf dem kürzesten Wege Auf-
schluß über die Funktion des Traumes. Der Traum als Reaktion
156 VIII. DER TRAUM.
auf den psychischen Reiz muß den Wert einer Erledigung dieses
Reizes haben, so daß er beseitigt ist und der Schlaf fortgesetzt
werden kann. Wie diese Erledigung durch den Traum dynamisch
ermöglicht wird, wissen wir noch nicht, aber wir merken be-
reits, daß der Traum nicht der Schlafstörer ist, als
den man ihn schilt, sondern der Schlafhüter, der Be-
seitiger von Schlafstörungen. Wir finden zwar, wir
hätten besser geschlafen, wenn nicht der Traum gewesen wäre,
aber wir haben unrecht; in Wirklichkeit hätten wir ohne die
Hilfe des Traumes überhaupt nicht geschlafen. Es ist sein Ver-
dienst, daß wir soweit gut geschlafen haben. Er konnte es
nicht vermeiden, uns etwas zu stören, sowie der Nachtwächter
oft nicht umhin kann, einigen Lärm zu machen, während er die
Ruhestörer verjagt, die uns durch den Lärm wecken wollen.
6. Daß ein Wunsch der Erreger des Traumes ist, die Er-
füllung dieses Wunsches der Inhalt des Traumes, das ist der
eine Hauptcharakter des Traumes. Der andere ebenso konstante
ist, daß der Traum nicht einfach einen Gedanken zum Ausdruck
bringt, sondern als halluzinatorisches Erlebnis diesen Wunsch
als erfüllt darstellt. Ich möchte auf dem See fahren,
lautet der Wunsch, der den Traum anregt; der Traum selbst hat
zum Inhalt: ich fahre auf dem See. Ein Unterschied zwi-
schen latentem und manifestem Traum, eine Entstellung des la.
tenten Traumgedankens bleibt also auch für diese einfachen
- Kinderträume bestehen, die Umsetzung des Gedankens
in Erlebnis. Bei der Deutung des Traumes muß vor allem
dieses Stück Veränderung rückgängig gemacht werden. Wenn
sich dies als ein allgemeinster Charakter des Traumes heraus-
stellen sollte, dann ist das vorhin mitgeteilte Traumfragment:
Ich sehe meinen Bruderin einem Kasten, also nicht
zu übersetzen: mein Bruder schränkt sich ein, sondern: ich
DER TRAUM EINE WUNSCHERFULLUNG. 137
nennen njiw ne ehrserisgeRenprume an risahpÄnureasser seen Sun öegeparieni ce drop en rein
möchte, daß mein Bruder sich einschränke, mein Bruder
sollsieheinschränken. Von den beiden hier aufgeführten
allgemeinen Charakteren des Traumes hat offenbar der zweite
mehr Aussicht auf Anerkennung ohne Widerspruch als der
erstere. Wir werden erst durch weitausgreifende Untersuchungen
‘sicherstellen können, daß der Erreger des Traumes immer ein
Wunsch sein muß, und nicht auch eine Besorgnis, ein Vorsatz
oder Vorwurf sein kann, aber davon wird der andere Charakter
unberührt bleiben, daß der Traum diesen Reiz nicht einfach
wiedergibt, sondern ihn durch eine Art von Erleben aufhebt, be-
seitigt, erledigt. |
7. In Anknüpfung an diese Oharaktere des Traumes können
wir auch die Vergleichung des Traumes mit der Fehlleistung
wieder aufnehmen. Bei letzterer unterscheiden wir eine störende
Tendenz und eine gestörte, und die Fehlleistung war ein Kom-
promiß zwischen beiden. In dasselbe Schema fügt sich auch der
Traum. Die gestörte Tendenz kann bei ihm keine andere sein als
die zu schlafen. Die störende ersetzen wir durch den psychischen
Reiz, sagen wir also durch den Wunsch, der auf seine Er-
ledigung dringt, weil wir bisher keinen anderen schlafstörenden
seelischen Reiz kennen gelernt haben. Der Traum ist auch hier
ein Kompromißergebnis. Man schläft, aber man erlebt doch die
Aufhebung eines Wunsches; man befriedigt einen Wunsch, setzt
dabei aber den Schlaf fort. Beides ist zum Teil durchgesetzt und
zum Teil aufgegeben.
8. Erinnern Sie sich, wir erhofften uns einmal einen Zugang
zum. Verständnis der Traumprobleme aus der Tatsache, daß ge-
wisse für uns sehr durchsichtige Phantasiebildungen „Tag-
träume‘ genannt werden, Diese Tagträume sind nun wirk-
lich Wunscherfüllungen, Erfüllungen von ehrgeizigen und ero-
tischen Wünschen, die uns wohlbekannt sind, aber es sind ge-
138 - vYII. DER TRAUM.
eg
—
dachte, wenn auch lebhaft vorgestellte, niemals halluzinatorisch
erlebte. Von den beiden Hauptcharakteren des Traumes wird
also hier der minder gesicherte festgehalten, während der andere
als vom Schlafzustand abhängig und im Wachleben nicht reali-
sierbar ganz entfällt. Im Sprachgebrauch liegt also eine Ahnung
davon, daß die Wunscherfüllung ein Hauptcharakter des Trau-
mes ist. Nebenbei, wenn das Erleben im Traum nur ein durch
die Bedingungen des Schlafzustandes ermöglichtes, umgewan-
deltes Vorstellen ist, also ein „nächtliches Tagträumen“ ist, so
verstehen wir bereits, daß der Vorgang der Traumbildung den
nächtlichen Reiz aufheben und Befriedigung bringen kann, denn
auch das Tagträumen ist eine mit Befriedigung verbundene Tätig-
keit und wird ja nur dieser wegen gepflegt.
Aber nieht nur dieser, auch anderer Sprachgebrauch äußert
sich in demselben Sinne. Bekannte Sprichwörter sagen: Das
Schwein träumt von Eicheln, die Gans vom Mais, oder fragen:
Wovon träumt das Huhn? Von Hirse.. Das Sprichwort steigt
also noch weiter herab als wır, vom Kind zum Tier, und be-
hauptet, der Inhalt des Traumes sei die Befriedigung eines
Bedürfnisses. So viele Redewendungen scheinen dasselbe anzu-
deuten wie: „traumhaft schön“, „das wäre mir im Traum nicht
eingefallen“, „das habe ich mir in meinen kühnsten Träumen
nicht vorgestellt.“ Es liegt da eine offenbare Parteinahme des
Sprachgebrauchs vor. Es gibt ja auch Angstträume und Träume
mit peinlichem oder indifferentem Inhalt, aber sie haben den
Sprachgebrauch nicht angeregt. Er kennt zwar „böse“ Träume,
aber der Traum schlechtweg ist ihm doch nur die holde Wunsch
erfüllung. Es gibt auch kein Sprichwort, das uns versichern würde,
das Schwein oder die Gans träumen vom Geschlachtetwerden.
Es ist natürlich undenkbar, daß der wunscherfüllende Cha-
rakter des Traumes von den Autoren über den Traum nicht be-
DIE ZWEI HAUPTCHARAKTERE DES TRAUMES. 139
merkt worden wäre. Dies ist vielmehr sehr oft der Fall ge-
wesen, aber es ist keinem von ihnen eingefallen, diesen Charakter
als allgemeinen anzuerkennen und zum Angelpunkt der Traum-
erklärung zu nehmen. Wir können uns wohl denken und werden
auch darauf eingehen, was sie davon abgehalten haben mag.
Sehen Sie nun aber, welche Fülle von Aufklärungen wir
aus der Würdigung der Kinderträume gewonnen haben, und
dies fast mühelos! Die Funktion des Traumes als Hüter des
Schlafes, seine Entstehung aus zwei konkurrierenden Tendenzen,
von denen die eine konstant bleibt, das Schlafverlangen, die
andere einen psychischen Reiz zu befriedigen strebt, der Beweis,
daß der Traum ein sinnreicher, psychischer Akt ist, seine beiden
Hauptcharaktere: Wunscherfüllung und halluzinatorisches Er-
leben. Und dabei konnten wir fast vergessen, daß wir Psycho-
analyse treiben. Außer der Anknüpfung an die Fehlleistungen
hatte unsere Arbeit kein spezifisches Gepräge. Jeder Psychologe,
der von den Voraussetzungen der Psychoanalyse nichts weiß,
hätte diese Aufklärung der Kinderträume geben können. Warum
hat es keiner getan?
Gäbe es nur solche Träume wie die infantilen, so wäre das
Problem gelöst, unsere Aufgabe erledigt, und zwar ohne den
Träumer auszufragen, ohne das Unbewußte heranzuziehen und
ohne die freie Assoziation in Anspruch zu nehmen. Nun hier
liegt offenbar die Fortsetzung unserer Aufgabe. Wir haben
schon wiederholt die Erfahrung gemacht, daß Charaktere, die
für allgemein gültig ausgegeben waren, sich dann nur für eine
gewisse Art und Anzahl von Träumen bestätigt haben. Es han-
delt sich also für uns darum, ob die aus den Kinderträumen er-
schlossenen allgemeinen Charaktere haltbarer sind, ob sie auch
für jene Träume gelten, die nicht durchsichtig sind, deren mani-
fester Inhalt keine Beziehung zu einem erübrigten Tageswunsch
140 VIll. DER TRAUM.
Te y
erkennen läßt. Wir haben die Auffassung, daß diese anderen
Träume eine weitgehende Entstellung erfahren haben und darum
zunächst nicht zu beurteilen sind. Wir ahnen auch, zur Auf-
klärung dieser Entstellung werden wir der psychoanalytischen
Technik bedürfen, die wir für das eben gewonnene Verständnis
der Kinderträume entbehren konnten.
Es gibt jedenfalls noch eine Klasse von Träumen, die un-
entstellt sind und sich wie die Kinderträume leicht als Wunsch-
erfüllungen erkennen lassen. Es sind jene, die das ganze Leben
hindurch durch die imperativen Körperbedürfnisse hervor-
serufen werden, den Hunger, den Durst, das Sexualbedürfnis,
also Wunscherfüllungen als Reaktionen auf innere Körperreize.
So habe ich von einem 19 Monate alten Mädchen einen Traum
notiert, der aus einem Menü unter Hinzufügung ihres Namens
bestand (Anna F...., Er(d)beer, Hochbeer, Eier(s)peis,
Papp) als Reaktion auf einen Hungertag wegen gestörter Ver-
dauung, welche Erkrankung gerade auf die im Traum zweimal
auftretende Frucht zurückgeführt worden war. Gleichzeitig
mußte auch die Großmutter, deren Alter das der Enkelin eben
zu siebzig ergänzte, infolge der Unruhe ihrer Wanderniere einen
Tag lang fasten, und sie träumte in derselben Nacht, daß sie
ausgebeten (zu Gaste) sei und die besten Leckerbissen vorgesetzt
erhalte. Beobachtungen an Gefangenen, die man hungern läßt,
und an Personen, die auf Reisen und Expeditionen. Eintbehrungen
zu ertragen haben, lehren, daß unter diesen Bedingungen regel-
mäßig von der Befriedigung dieser Bedürfnisse geträumt wird. So
berichtet Otto Nordenskjöld in seinem Buche „Antarctie“ 1904
über die mit ihm überwinterte Mannschaft (Bd. I, p. 336): „Sehr
bezeichnend für die Richtung unserer innersten Gedanken waren
unsere Träume, die nie lebhafter und zahlreicher waren als gerade
jetzt. Selbst diejenigen unserer Kameraden, die sonst nur aus-
TRAUME ALS BEFRIEDIGUNG DER GROSSEN BEDÜRFNISSE. 141
nahmsweise träumten, hatten jetzt des Morgens, wenn wir unsere
letzten Erfahrungen aus dieser Phantasiewelt miteinander aus-
tauschten, lange Geschichten zu erzählen. Alle handelten sie von
jener äußeren Welt, die uns jetzt so fern lag, waren ee oft
unseren jetzigen Verhältnissen angepaßt... Essen und Trinken
waren übrigens die Mittelpunkte, um die sich unsere Träume
am häufigsten drehten. Einer von uns, der nächtlicherweise
darin exzellierte, auf große Mittagsgesellschaften zu gehen, war
seelenfroh, wenn er des Morgens berichten konnte, ‚daß er ein
Diner von drei Gängen eingenommen habe‘; ein anderer träumte
von Tabak, von ganzen Bergen Tabak; wieder andere von dem
Schiff, das mit vollen Segeln auf dem offenen Wasser daherkam.
Noch ein anderer Traum verdient der Erwähnung: Der Brief-
träger kommt mit der Post und gibt eine lange Erklärung, warum
diese so lange habe auf sich warten lassen, er habe sie verkehrt
abgeliefert und erst nach großer Mühe sei es ihm gelungen, sie
wieder zu erlangen. Natürlich beschäftigte man sich im Schlaf
mit noch unmöglicheren Dingen, aber der Mangel an Phantasie
in fast allen Träumen, die ich selbst träumte oder erzählen hörte,
war ganz auffallend. Es würde sicher von großem psychologi-
schen Interesse sein, wenn alle diese Träume aufgezeichnet
würden. Man wird aber leicht verstehen können, wie ersehnt der
Schlaf war, da er uns alles bieten konnte, wag ein jeder von uns
am glühendsten begehrte.“ Nach Du Prel zitiere ich noch:
„Mungo Park, auf einer Reise in Afrika dem Verschmachten
nahe, träumte ohne Aufhören von wasserreichen Tälern und Auen
seiner Heimat. So sah sich auch der von Hunger gequälte Trenck
in der Sternschanze zu Magdeburg von üppigen Mahlzeiten um-
geben, und George Back, Teilnehmer der ersten Expedition
Franklins, alser infolge furehtbarer Entbehrungen dem Hunger-
tode nahe war, träumte stets und gleichmäßig von reichen Mahl-
zeiten.“
142 VIII. DER TRAUM.
EZ — mm
DE EEE EEE LEE En nn nenn
Wer sich durch den Genuß scharf gewürzter Speisen zur
Abendmahlzeit nächtlichen Durst erzeugt, der träumt dann
leicht, daß er trinke. Es ist natürlich unmöglich, ein stärkeres
Eß- oder Trinkbedürfnis durch den Traum zu erledigen; man
wacht aus solchen Träumen durstig auf und muß nun reales
‚Wasser zu sich nehmen. Die Leistung des Traumes ist in diesem
Falle praktisch geringfügig, aber es ist nicht minder klar, daß
sie zu dem Zweck aufgeboten wurde, den Schlaf gegen den zum
Erwachen und zur Handlung drängenden Reiz festzuhalten. Über
geringere Intensitäten dieser Bedürfnisse helfen die Be-
friedigungsträume oftmals hinweg. - BR
Ebenso schafft der Traum unter dem Einfluß der Sexual-
reize Befriedigungen, die aber erwähnenswerte Besonderheiten
zeigen. Infolge der Eigenschaft des Sexualtriebs, von seinem
Objekt um einen Grad weniger abhängig zu sein als Hun-
ger und Durst, kann die Befriedigung im Pollutionstraum eine
reale sein, und infolge gewisser später zu erwähnender Schwie-
rigkeiten in der Beziehung zum Objekt kommt es besonders
häufig vor, daß sich die reale Befriedigung doch mit einem
undeutlichen oder entstellten Trauminhalt verbindet. Diese
Eigentümlichkeit der Pollutionsträume macht sie, wie
OÖ. Rank bemerkt hat, zu günstigen Objekten für das Studium
der Traumentstellung. Alle Bedürfnisträume Erwachsener pfle-
gen übrigens außer der Befriedigung noch anderes zu ent-
halten, was rein psychischen Reizquellen entstammt und zu
seinem Verständnis der Deutung bedarf.
‘» , Wir wollen übrigens nicht behaupten, daß die nach in-
fantiler Art gebildeten Wunscherfüllungsträume der Er-
wachsenen nur als Reaktionen auf die genannten imperativen
Bedürfnisse vorkommen. ‚Wir kennen ebensowohl kurze und
klare Träume dieser Art unter dem Einfluß gewisser domi-
ANDERE TRÄUME VOM INFANTILEN TYPUS. 143
nierender Situationen, die aus unzweifelhaft psychischen Reiz-
quellen herrühren. So z. B. die Ungeduldsträume, wenn je-
mand die Vorbereitungen zu einer Reise, zu einer für ihn be-
deutsamen Schaustellung, zu einem Vortrag, Besuch getroffen
hat und nun die verfrühte Erfüllung seiner Erwartung träumt,
sich also in der Nacht vor dem Erlebnis an seinem Ziel an-
gekommen, im Theater, im Gespräch mit dem Besuchten sieht.
Oder, die mit Recht so genannten Bequemlichkeitsträume, wenn
jemand, der gerne den Schlaf verlängert, träumt, daß er bereits
aufgestanden ist, sich wäscht oder sich in der Schule befindet,
während er in Wirklichkeit weiterschläft, also lieber im Traum
aufsteht als in Wirklichkeit. Der Wunsch zu schlafen, den wir
als regelmäßig an der Traumbildung beteiligt erkannt haben,
wird in diesen Träumen laut und zeigt sich in ihnen als der
wesentliche Traumbildner. Das Bedürfnis zu schlafen stellt sich
mit gutem Recht den anderen großen körperlichen Bedürfnissen
zur Seite. .
Ich zeige Ihnen hier an der Reproduktion eines Schwind-
schen. Bildes aus der Schackgalerie in München, wie richtig der
Maler die Entstehung eines Traumes aus einer dominierenden
Situation erfaßt hat.*) Es ist der „Traum eines Gefangenen“, der
nichts anderes als seine Befreiung zum Inhalt haben kann. Es
ist sehr hübsch, daß die Befreiung durch das Fenster erfolgen
soll, denn durch das Fenster ist der Lichtreiz eingedrungen, der
dem Schlaf des Gefangenen ein Ende macht. Die übereinander
stehenden Gnomen repräsentieren wohl die eigenen sukzessiven
Stellungen, die er beim Emporklettern zur Höhe des Fensters
“einzunehmen hätte, und irre ich nicht, lege ich dem Künstler
dabei nicht zuviel Absichtlichkeit unter, so trägt der oberste der
——— 1
*) S. die Beilage.
144 VIII. DER TRAUM.
Gnomen, welcher das Gitter durchsägt, also das tut, was der
Gefangene selbst möchte, die nämlichen Züge wie er selbst.
Bei allen anderen Träumen außer den Kinderträumen und
diesen vom infantilen Typus tritt uns, wie gesagt, die Traum-
entstellung hindernd in den Weg. Wir können zunächst nicht
sagen, ob auch sie Wunscherfüllungen sind, wie wir vermuten;
wir erraten aus ihrem manifesten Inhalt nicht, welchem psy-
chischen Reiz sie ihren Ursprung verdanken, und wir können
nicht erweisen, daß sie sich gleichfalls um die Wegschaffung oder
Erledigung dieses Reizes bemühen. Sie müssen wohl gedeutet,
d. h. übersetzt werden, ihre Entstellung rückgängig gemacht, ihr
manifester Inhalt durch den latenten ersetzt, ehe wir ein Urteil
darüber fällen können, ob das an den infantilen Träumen ge-
fundene für alle Träume Gültigkeit beanspruchen darf.
NEUNTE VORLESUNG.
DER TRAUM.
DIE TRAUMZENSUR.
Meine Damen und Herren! Entstehung, Wesen und Funktion
des Traumes haben wir aus dem Studium der Kinderträume
kennen gelernt. DieTräumesindBeseitigungenschlaf-
störender (psychischer) Reize auf dem Wege der
halluzinierten Befriedigung. Von den Träumen der Er-
wachsenen haben wir allerdings nur eine Gruppe aufklären
können, jene, die wir als Träume von infantilem Typus bezeichnet
haben. Was es mit den anderen ist, wissen wir noch nicht, aber
wir verstehen sie auch nicht. Wir haben vorläufig ein Resultat
gewonnen, dessen Bedeutung wir nicht unterschätzen wollen.
Jedesmal, wenn uns ein Traum voll verständlich ist, erweist er
sich als eine halluzinierte Wunscherfüllung. Dies Zusammen-
treffen kann nicht zufällig und nicht gleichgültig sein.
Von einem Traum anderer Art nehmen wir auf Grund ver-
schiedener Überlegungen und in Analogie zur Auffassung der
Fehlleistungen an, daß er ein entstellter Ersatz für einen unbe-
kannten Inhalt ist und erst auf diesen zurückgeführt werden
ınuß. Die Untersuchung, das Verständnis dieser Traument-
stellung ist nun unsere nächste Aufgabe.
Die Traumentstellung ist dasjenige, was uns den Traum
fremdartig und unverständlich erscheinen läßt. Wir wollen
mehrerlei von ihr wissen: erstens, wovon sie herrührt, ihren
Dynamismus, zweitens, was sie macht, und endlich, wie sie es
macht. Wir können auch sagen, die Traumentstellung ist das
Freud, Vorlesungen, III, 10
146 IX. DER TRAUM,
Werk der Traumarbeit. Wir wollen die Traumarbeit beschreiben
und auf die in ihr wirkenden Kräfte zurückführen.
Und nun hören Sie folgenden Traum an. Er ist von einer
Dame unseres Kreises*) verzeichnet worden, stammt nach ihrer
Auskunft von einer hochangesehenen, feingebildeten, älteren
Dame her. Eine Analyse dieses Traumes ist nicht angestellt wor-
den. Unsere Referentin bemerkt, daß es für Psychoanalytiker
keiner Deutung bedürfe. Die Träumerin selbst hat ihn auch nicht
gedeutet, aber sie hat ihn beurteilt und so verurteilt, als ob sie
ihn zu deuten verstünde. Denn sie äußerte über ihn: Und solches
abscheuliche, dumme Zeug träumt eine Frau von 50 Jahren,
die Tag und Nacht keinen anderen Gedanken hat als die Sorge
um ihr Kind!
Und nun der Traum von den „Liebesdiensten“. „Sie
geht ins Garnisonsspital Nr. 1 und sagt dem Posten beim Tor,
sie müsse den Oberarzt ..... (sie nennt einen ihr unbekannten
Namen) sprechen, da sie im Spitale Dienst tun wolle. Dabei be-
tont sie das Wort ‚Dienst“ so, daß der Unteroffizier sofort merkt,
es handle sich um: ‚Liebes‘dienste. Da sie eine alte Frau ist,
läßt er sie nach einigem Zögern passieren. Statt aber zum Ober-
arzt zu kommen, gelangt sie in ein großes, düsteres Zimmer, in
dem viele Offiziere und Militärärzte an einem langen Tisch
stehen und sitzen. Sie wendet sich mit ihrem Antrag an einen
Stabsarzt, der sie nach wenigen Worten schon versteht. Der Wort-
laut ihrer Rede im Traum ist: ‚Ich und zahlreiche andere Frauen
und junge Mädchen Wiens sind bereit, den Soldaten, Mannschaft
und Offiziere ohne Unterschied, ...‘ Hier folgt im Traum ein
Gemurmel. Daß dasselbe aber von allen Anwesenden richtig ver-
standen wird, zeigen ihr die teils verlegenen, teils hämischen
*) Frau Dr. v. Hug-Hellmuth,
ch nn nn
DER TRAUM VON DEN „LIEBESDIENSTEN“, 147
Mienen der Offiziere. Die Dame fährt fort: „Ich weiß, daß unser
Entschluß befremdend klingt, aber es ist uns bitterernst. Der
Soldat im Feld wird auch nicht gefragt, ob er sterben will oder
nicht.“ Ein minutenlanges peinliches Schweigen folgt. Der Stabs-
arzt legt ihr den Arm um die Mitte und sagt: ‚Gnädige Frau,
nehmen Sie den Fall, es würde tatsächlich dazu kommen, . .*
(Gemurmel). Sie entzieht sich seinem Arm mit dem Gedanken:
Es ist doch einer wie der andere, und erwidert: ‚Mein Gott, ich
bin eine alte Frau und werde vielleicht gar nicht in die Lage
kommen. Übrigens eine Bedingung müßte eingehalten werden:
die Berücksichtigung des Alters; daß nicht eine ältere Frau
einem ganz jungen Burschen .... (Gemurmel); das wäre ent-
setzlich. — Der Stabsarzt: „Ich verstehe vollkommen.“ Einige
Offiziere, darunter einer, der sich in jungen Jahren um sie be-
worben hatte, lachen hell auf, und die Dame wünscht zu dem ihr
bekannten Oberarzt geführt zu werden, damit alles ins Reine
gebracht werde. Dabei fällt ihr zur größten Bestürzung ein, daß
sie seinen Namen nicht kennt. Der Stabsarzt weist sie trotzdem
sehr höflich und respektvoll an, über eine sehr schmale eiserne
Wendeltreppe, die direkt von dem Zimmer aus in die oberen
Stockwerke führt, in den zweiten Stock zu gehen. Im: Hinauf-
steigen hört sie einen Offizier sagen: ‚Das ist ein kolossaler Ent-
schluß, gleichgültig, ob eine jung oder alt ist; alle Achtung!‘
Mit dem Gefühle, einfach ihre Pflicht zu tun, geht sie eine
endlose Treppe hinauf.
Dieser Traum wiederholt sich innerhalb weniger Wochen
noch zweimal mit — wie die Dame bemerkt — ganz unbedeuten-
den und recht sinnlosen Abänderungen.“ |
Der Traum entspricht in seinem Fortlauf einer Tages-
phantasie ; er hat nur wenige Bruchstellen, und manche Einzelheit
in seinem Inhalt hätte durch Erkundigung geklärt werden
10"
148 IX. DEK TRAUM.
können, was, wie Sie wissen, unterblieben ist. Das Auffällige
"und für uns Interessante ist aber, daß der Traum mehrere Lücken
zeigt, Lücken nicht der Erinnerung, sondern des Inhalts. An drei
Stellen ist der Inhalt wie ausgelöscht; die Reden, in denen diese
Lücken angebracht sind, werden durch ein Gemurmel unter-
brochen. Da wir keine Analyse angestellt haben, steht uns
strenge genommen auch kein Recht zu, etwas über den Sinn
des Traumes zu äußern. Allein es sind Andeutungen gegeben,
aus denen sich etwas folgern läßt, z. B. im Worte „Liebesdienste“,
und vor allem nötigen die Stücke der Reden, welche dem Ge-
mürmel unmittelbar vorhergehen, zu Ergänzungen, welche nicht
anders als eindeutig ausfallen können. Setzen wir diese ein, so
ergibt sich eine Phantasie des Inhalts, daß die Träumerin be-
reit ist, in Erfüllung einer patriotischen Pflicht, ihre Person
zur Befriedigung der Liebesbedürfnisse des Militärs, Offiziere
wie Mannschaft, zur Verfügung zu stellen. Das ist gewiß höchst
anstößig, ein Muster einer frech libidinösen Phantasie, aber —
es kommt im Traume gar nicht vor. Gerade dort, wo der Zu-
sammenhang dieses Bekenntnis fördern würde, findet sich im
manifesten Traume ein undeutliches Gemurmel, ist etwas ver-
loren gegangen oder unterdrückt worden. |
Ich hoffe, Sie erkennen es als öliesend, daß eben die
Anstößigkeit dieser Stellen das Motiv zu ihrer Unterdrückung
war. Wo finden Sie aber eine Parallele zu diesem Vorkommnis?
Sie brauchen in unseren Tagen nicht weit zu suchen. Nehmen
Sie irgend eine politische Zeitung zur Hand, Sie werden fin-
den, daß von Stelle zu Stelle der Text weggeblieben ist und an
seiner Statt die Weiße des Papiers schimmert. Sie wissen, das
ist das Werk der Zeitungszensur. An diesen leer gewordenen Stel-
len stand etwas, was der hohen Zensurbehörde mißliebig war,
und darum wurde es entfernt. Sie meinen, es ist Schade darum.
DIE WIRKUNGEN DER ZENSUR IM TRAUME. 149
es wird wohl das Interessanteste gewesen sein, es war „die beste
Stelle“.
Andere Male hat die Zensur nicht auf den fertigen Satz ge-
wirkt. Der Autor hat vorhergesehen, welche Stellen die Be-
anständung durch die Zensur zu erwarten haben, und hat sie
darum vorbeugend gemildert, leicht modifiziert, oder sich mit
Annäherungen und Anspielungen an das, was ihm eigentlich
aus der Feder fließen wollte, begnügt. Dann hat auch das Blatt
keine leeren Stellen, aber aus gewissen Umschweifen und Dunkel-
heiten des Ausdrucks werden Sie die im vorhinein geübte Rück-
sicht auf die Zensur erraten können.
Nun wir halten diese Parallele fest. Wir sagen, auch die
ausgelassenen, durch ein Gemurmel verhüllten, Traumreden sind
einer Zensur zum Opfer gebracht worden. Wir sprechen direkt
von einer Traumzensur, der ein Stück Anteil an der Traum-
entstellung zuzuschreiben ist. Überall, wo Lücken im manifesten
Traum sind, hat die Traumzensur sie verschuldet. Wir sollten
auch weiter gehen und eine Äußerung der Zensur jedesmal dort
erkennen, wo ein Traumelement besonders schwach, unbestimmt
und zweifelhaft, unter anderen deutlicher ausgebildeten erinnert
wird. Aber nur selten äußert sich diese Zensur so unverhohlen,
so naiv, möchte man sagen, wie in dem Beispiel des Traumes
von den „Liebesdiensten“. Weit öfter bringt sich die Zensur
nach dem zweiten Typus zur Geltung, durch die Produktion
von Abschwächungen, Annäherungen, Anspielungen an Stelle
des Eigentlichen. |
Für eine dritte Wirkungsweise der Traumzensur weiß ich
keine Parallele aus dem Walten der Zeitungszensur; ich kann
aber gerade diese an dem einzigen bisher analysierten Traum-
beispiel demonstrieren. Sie erinnern sich an den Traum von den
„drei schlechten Theaterkarten für 1 fl. 50“. In den latenten Ge-
u — TT—— ————
150 IX. DER TRAUM.
danken dieses Traumes stand das Element „voreilig, zu früh‘
im Vordergrunde. Es hieß: Es war ein Unsinn, so früh zu
heiraten, — es war auch unsinnig, sich so früh Theaterkarten
zu besorgen, — es war lächerlich von der Schwägerin, ihr Geld
so eilig auszugeben, um sich dafür einen Schmuck zu kaufen.
Von diesem zentralen Element der Traumgedanken ist nichts in
den manifesten Traum übergegangen; hier ist das Ins-Theater-
Gehen und Karten-Bekommen in den Mittelpunkt gerückt. Durch
diese Verschiebung des Akzents, diese Umgruppierung der
Inhaltselemente, wird der manifeste Traum den latenten Traum-
gedanken so unähnlich, daß niemand diese letzteren hinter dem
ersteren . vermuten würde. Diese Akzentverschiebung ist ein
Hauptmittel der Traumentstellung und gibt dem Traum jene
Fremdartigkeit, deren wegen ihn der Träumer selbst nicht als
seine eigene Produktion anerkennen möchte.
Auslassung, Modifikation, Umgruppierung des Materials
sind also die Wirkungen der Traumzensur und die Mittel der
Traumentstellung. Die Traumzensur selbst ist der Urheber oder
einer der Urheber der Traumentstellung, deren Untersuchung uns
jetzt beschäftigt. Modifikation und Umordnung sind wir auch
gewohnt als „Verschiebung“ zusammenzufassen.
Nach diesen Bemerkungen über die Wirkungen der Traum-
zensur wenden wir uns nun ihrem Dynamismus zu. Ich hoffe,
Sie nehmen den Ausdruck nicht allzu anthropomorph und stellen
sich unter dem Traumzensor nicht ein kleines gestrenges Männ-
lein oder einen Geist vor, der in einem Gehirnkämmerlein wohnt
und dort seines Amtes waltet, aber auch nicht allzu lokalisa-
torisch, so daß Sie an ein „Gehirnzentrum“ denken, von dem ein
solcher zensurierender Einfluß ausgeht, welcher mit der Be-
schädigung oder Entfernung dieses Zentrums aufgehoben wäre.
Es ist vorläufig nichts weiter als ein gut brauchbarer Terminus
>
ZENSUR UND WIDERSTAND. 151
ee
—
für eine dynamische Beziehung. Dieses Wort hindert uns nicht
zu fragen, von welchen Tendenzen solcher Einfluß geübt wird
und auf welche; wir werden auch nicht überrascht sein zu er-
fahren, daß wir schon früher einmal auf die Traumzensur ge-
stoßen sind, vielleicht ohne sie zu erkennen.
Das ist nämlich wirklich der Fall gewesen. Erinnern ®ie
sich, daß wir eine überraschende Erfahrung machten, als wir
unsere Technik der freien Assoziation anzuwenden begannen.
Wir bekamen da zu spüren, daß sich unseren Bemühungen, vom
Traumelement zum unbewußten Element zu gelangen, dessen
Ersatz es ist, ein Widerstand entgegenstellte. Dieser Wider-
stand, sagten wir, kann verschieden groß sein, das eine Mal
riesig, das andere Mal recht geringfügig. Im letzteren Falle
brauchen wir für unsere Deutungsarbeit nur wenige Zwischen-
glieder zu passieren; wenn er aber groß ist, dann haben wir lange
Assoziationsketten vom Element her zu durchmessen, werden weit
von diesem weggeführt und müssen unterwegs alle die Schwierig-
keiten überwinden, die sich als kritische Einwendungen gegen
den Einfall ausgeben. Was uns bei der Deutungsarbeit als Wider-
stand entgegentritt, das müssen wir nun als Traumzensur in
die Traumarbeit eintragen. Der Deutungswiderstand ist nur die
Objektivierung der Traumzensur. Er beweist uns auch, daß die
Kraft der Zensur sich nicht damit erschöpft hat, die Traum-
entstellung herbeizuführen, und seither erloschen ist, sondern,
daß diese Zensur als dauernde Institution mit der Absicht, die
Entstellung aufrecht zu halten, fortbesteht. Übrigens wie der
Widerstand bei der Deutung für jedes Element in seiner Stärke
wechselte, so ist auch die durch Zensur herbeigeführte Ent-
stellung in demselben Traume für jedes Element verschieden
groß ausgefallen. Vergleicht man manifesten und latenten Traum,
so sieht man, einzelne latente Elemente sind völlig eliminiert
152
IX. DER TRAUM.
worden, andere mehr oder weniger modifiziert, und noch andere
sind unverändert, ja vielleicht verstärkt in den manifesten
Trauminhalt hinübergenommen worden.
‘Wir wollten aber untersuchen, welche Tendenzen die Zen-
sur ausüben und gegen welche. Nun diese für das Verständnis des
Traumes, ja vielleicht des Menschenlebens, fundamentale Frage
ist, wenn wir die Reihe der zur Deutung gelangten Träume
überblicken, leicht zu beantworten. Die Tendenzen, welche die
Zensur ausüben, sind solche, welche vom wachen Urteilen des
Träumers anerkannt werden, mit denen er sich einig fühlt. Seien
Sie versichert, wenn Sie eine korrekt durchgeführte Deutung
eines eigenen Traumes ablehnen, so tun Sie es aus denselben
Motiven, mit denen die Traumzensur geübt, die Traumentstel-
lung produziert und die Deutung notwendig gemacht wurde.
Denken Sie an den Traum unserer 50jährigen Dame. Sie findet
ihren Traum, ohne ihn gedeutet zu haben, abscheulich, würde
noch entrüsteter gewesen sein, wenn ihr Frau Dr. v. Hug etwas
von der unerläßlichen Deutung mitgeteilt hätte, und eben dieser
Verurteilung wegen haben sich in ihrem Traum die anstößigsten
Stellen durch ein Gemurmel ersetzt.
Die Tendenzen aber, gegen welche sich die Traumzensur
richtet, muß man zunächst vom Standpunkt dieser Instanz selbst
beschreiben. Dann kann man nur sagen, sie seien durchaus ver-
werflicher Natur, anstößig in ethischer, ästhetischer, sozialer
Hinsicht, Dinge, an die man gar nicht zu denken wagt oder nur
mit Abscheu denkt. Vor allem sind diese zensurierten und im
Traum zu einem entstellten Ausdruck gelangten Wünsche
Äußerungen eines schranken- und rücksichtslosen Egoismus. Und
zwar kommt das eigene Ich in jedem Traum vor und spielt in
jedem die Hauptrolle, auch wenn es sich für den manifesten
Inhalt gut zu verbergen weiß. Dieser „sacro egoismo“ des Traumes
-DIE ZENSURIERTEN TRAUMWÜNSCHE. 153
ist gewiß nicht außer Zusammenhang mit der Einstellung zum
Schlafen, die ja in der Abziehung des Interesses von der ganzen
Außenwelt besteht.
Das aller ethischer Fesseln entledigte Ich weiß sich auch
einig mit allen Ansprüchen des Sexualstrebens, solchen, die längst
von unserer ästhetischen Erziehung verurteilt worden sind, und
solchen, die allen sittlichen Beschränkungsforderungen wider-
sprechen. Das Lustbestreben — die Libido, wie wir sagen —
wählt ihre Objekte hemmungslos, und zwar die verbotenen am
liebsten. Nicht nur das Weib des anderen, sondern vor allem
inzestuöse, durch menschliche Übereinkunft geheiligte Objekte,
die Mutter und die Schwester beim Manne, den Vater und den
Bruder beim Weibe. (Auch der Traum unserer 50jährigen Dame
ist ein inzestuöser, seine Libido unverkennbar auf den Sohn ge-
richtet.) Gelüste, die wir ferne von der menschlichen Natur
glauben, zeigen sich stark genug, Träume zu erregen. Auch der
Haß tobt sich schrankenlos aus. Rache- und Tlodeswünsche gegen
die nächststehenden, im Leben geliebtesten Personen, die Eltern,
Geschwister, den Ehepartner, die eigenen Kinder sind nichts Un-
gewöhnliches. Diese zensurierten Wünsche scheinen aus einer
wahren Hölle aufzusteigen; keine Zensur scheint uns nach der
Deutung im Wachen hart genug gegen sie zu sein.
Machen Sie aber aus diesem bösen Inhalt dem Traum selbst
keinen Vorwürf. Sie vergessen doch nicht, daß er die harm-
lose, ja nützliche Funktion hat, den Schlaf vor Störung zu be-
wahren. Solche Schlechtigkeit liegt nicht im Wesen des Traumes.
Sie wissen ja auch, daß es Träume gibt, die sich als Befriedigung
berechtigter Wünsche und dringender körperlicher Bedürfnisse
erkennen lassen. Diese haben allerdings keine Traumentstellung;
sie brauchen sie aber auch nicht, sie können ihrer Funktion
genügen, ohne die ethischen und ästhetischen Tendenzen des Ichs
154 IX. DER TRAUM.
zu beleidigen. Auch halten Sie sich vor, daß die Traumentstellung
zweien Faktoren proportional ist. Einerseits wird sie um so
größer, je ärger der zu zensurierende Wunsch ist, anderseits aber
auch, je strenger derzeit die Anforderungen der Zensur auf-
treten. Ein junges, strenge erzogenes und sprödes Mädchen wird
darum mit unerbittlicher Zensur Traumregungen entstellen,
welche wir Ärzte z. B. als sestattete, harmlos libidinöse Wünsche
anerkennen müßten, und die die Träumerin selbst ein Dezennium
später so beurteilen wird.
Im übrigen sind wir noch lange nicht so weit, uns über
dies Ergebnis unserer Deutungsarbeit entrüsten zu dürfen. Ich
olaube, daß wir es noch nicht recht verstehen; vor allem aber
obliegt uns die Aufgabe, es gegen gewisse Anfechtungen sicher-
zustellen: Es ist gar nicht schwer, einen Haken daran zu finden.
Unsere Traumdeutungen sind unter den Voraussetzungen ge-
wacht, die wir vorhin einbekannt haben, daß der Traum über-
haupt einen Sinn habe, daß man die Existenz derzeit unbe-
wußter seelischer Vorgänge vom hypnotischen auf den normalen
Schlaf übertragen dürfe und daß alle Einfälle determiniert seien.
‚Wären wir auf Grund dieser Voraussetzungen zu plausibeln
Resultaten der Traumdeutung gekommen, so hätten wir mit
Recht geschlossen, diese Voraussetzungen seien richtig gewesen.
Wie aber, wenn diese Ergebnisse so aussehen, wie ich es eben
geschildert habe? Dann liegt es doch nahe zu sagen: Es sind
unmögliche, unsinnige, zum mindesten sehr unwahrscheinliche
Resultate, also war etwas an den Voraussetzungen falsch. Ent-
weder ist der Traum doch kein psychisches Phänomen, oder es
gibt nichts Unbewußtes im Normalzustand, oder unsere Technik
hat irgendwo ein Leck. Ist das nicht einfacher und befriedigender
anzunehmen als alle die Scheußlichkeiten, die wir auf Grund
unserer Voraussetzungen angeblich aufgedeckt haben?
DIE BEWUSSTE VERLEUGNUNG DIESER WÜNSCHE. 155
Beides! Sowohl einfacher als auch befriedigender, aber
darum nicht notwendig richtiger. Lassen wir uns Zeit, die Sache
ist noch nicht spruchreif. Vor allem können wir die Kritik
gegen unsere Traumdeutungen noch verstärken. Daß die Er-
gebnisse derselben so unerfreulien und unappetitlich sind, fiele
vielleicht nicht so schwer ins Gewicht. Ein stärkeres Argument
ist es, daß die Träumer, denen wir aus der Deutung ihrer Träume
solche Wunschtendenzen zuschieben, diese aufs nachdrücklichste
und mit guten Gründen von sich weisen. Was? sagt der Eine.
Sie wollen mir aus dem Traume nachweisen, daß es mir leid um
.
die Summen tut, die ich für die Ausstattung meiner Schwester _
und die Erziehung meines Bruders aufgewendet habe? Aber das
kann ja nicht sein; ich arbeite ja nur für meine Geschwister,
ich habe kein anderes Interesse im Leben, als meine Pflichten
gegen sie zu erfüllen, wie ich es als Ältester unserer seligen
Mutter versprochen habe. Oder eine Träumerin sagt: Ich soll
meinem Manne den Tod wünschen. Das ist ja ein empörender Un-
sinn! Nicht nur, daß wir in der glücklichsten Ehe leben, das wer-
den Sie mir wahrscheinlich nicht glauben. Sein Tod würde mich
auch um alles bringen, was ich sonst in der Welt besitze. Oder
ein anderer wird uns erwidern: Ich soll sinnliche Wünsche auf
meine Schwester richten? Das ist lächerlich; ich mache mir gar
nichts aus ihr; wir stehen schlecht miteinander und ich habe
seit Jahren kein Wort mit ihr gewechselt. Wir würden es viel-
leicht noch leicht nehmen, wenn diese Träumer die ihnen zu-
gedeuteten Tendenzen nicht bestätigten oder verleugneten; wir
könnten sagen, das sind eben Dinge, die sie von sich nicht
wissen. Aber daß sie das genaue Gegenteil eines solchen ge-
deuteten Wunsches in sich verspüren und uns die Vorherrschaft
dieses Ghegensatzes durch ihre Lebensführung beweisen können,
das muß uns doch endlich stutzig machen. Wäre es jetzt nicht
156 IX. DER TRAUM.
—
an der Zeit, die ganze Arbeit an der Traumdeutung als etwas,
was durch seine Resultate ad absurdum geführt ist, bei Seite zu
werfen?
Nein, noch immer nicht. Auch dieses stärkere Argument
zerbricht, wenn wir es kritisch angreifen. Vorausgesetzt, daß es
unbewußte Tendenzen im Seelenleben gibt, so hat es gar keine
Beweiskraft, wenn die ihnen entgegengesetzten im bewußten
Leben als herrschend nachgewiesen werden. Vielleicht gibt es
im Seelenleben auch Raum für gegensätzliche Tendenzen, für
‚Widersprüche, die nebeneinander bestehen; ja möglicherweise
ist gerade die Vorherrschaft der einen Regung eine Bedingung
für das Unbewußtsein ihres Gegensatzes. Es bleibt also doch
bei den zuerst erhobenen Einwendungen, die Resultate der
Traumdeutung seien nicht einfach und sehr unerfreulich. Aufs
erste ist zu erwidern, daß Sie mit aller Schwärmerei für das
Einfache nicht eines der Traumprobleme lösen können; Sie
müssen sich da schon zur Annahme komplizierter Verhältnisse
bequemen. Und zum zweiten, daß Sie offenbar unrecht daran
tun, ein Wohlgefallen oder eine Abstoßung, die Sie verspüren,
als Motiv für ein wissenschaftliches Urteil zu verwenden. Was
macht es, daß Ihnen die Resultate der Traumdeutung unerfreu-
lich, ja beschämend und widerwärtig erscheinen? Qa n’empäche
pas d’exister, habe ich als junger Doktor meinen Meister Char-
cot in ähnlichem Falle sagen gehört. Es heißt demütig sein, seine
Sympathien und Antipathien fein zurückstellen, wenn man er-
fahren will, was in dieser Welt real ist. Wenn Ihnen ein Phy-
siker beweisen kann, daß das organische Leben dieser Erde binnen
kurzer Frist einer völligen Erstarrung weichen muß, getrauen
Sie sich auch ihm zu entgegnen: Das kann nicht sein; diese Aus-
sieht ist zu unerfreulich ? Ich meine, Sie werden schweigen, bis ein
anderer Physiker kommt und dem ersten einen Fehler in seinen
DAS WIDERWÄRTIGE DER TRAUMWÜNSCHE. 157
Voraussetzungen oder Berechnungen nachweist. Wenn Sie von
sich weisen, was Ihnen unangenehm ist, so wiederholen Sie viel-
mehr den Mechanismus der Traumbildung, anstatt ihn zu ver-
stehen und ihn zu überwinden.
Sie versprechen: dann vielleicht, von dem abstoßenden COha-
rakter der zensurierten Traumwünsche abzusehen, und ziehen
sich auf das Argument zurück, es sei doch unwahrscheinlich, daß
man dem Bösen in der Konstitution des Menschen einen so breiten
Raum zugestehen solle. Aber berechtigen Sie Ihre eigenen Er-
fahrungen dazu, das zu sagen? Ich will nicht davon sprechen,
wie Die sich selbst erscheinen mögen, aber haben Sie so viel Wohl-
wollen bei Ihren Vorgesetzten und Konkurrenten gefunden, so
viel Ritterlichkeit bei Ihren Feinden, und so wenig Neid in Ihrer
Gesellschaft, daß Sie sich verpflichtet fühlen! müssen, gegen den
Anteil des egoistisch Bösen an der menschlichen Natur aufzu-
treten? Ist Ihnen nicht bekannt, wie unbeherrscht und unzuver-
lässig der Durchschnitt der Menschen in allen Angelegenheiten
des -Sexuallebens ist? Oder wissen Sie nicht, daß alle Über-
griffe und Ausschreitungen, von denen wir nächtlich träumen,
alltäglich von wachen Menschen als Verbrechen wirklich be-
gangen werden. Was tut die Psychoanalyse hier anders als das
alte Wort von Plato bestätigen, daß die Guten diejenigen sind,
welche sich begnügen, von dem zu träumen, was die anderen,
die Bösen, wirklich tun?
Und nun blicken Sie vom Individuellen weg auf! den großen
Krieg, der noch immer Europa verheert, denken Sie an das Un-
maß von Brutalität, Grausamkeit und Verlogenheit, das sich
jetzt in der Kulturwelt breitmachen darf. Glauben Sie wirklich,
daß es einer Handvoll gewissenloser Streber und Verführer ge-
slückt wäre, all diese bösen Geister zu entfesseln, wenn die
Millionen von Geführten nicht mitschuldig wären? Getrauen
158 IX. DER TRAUM.
m nn nn nn mn mn mn nn
Sie sich auch unter Jiesen Verhältnissen, für den Ausschluß des Bö-
sen aus der seelischen Konstitution des Menschen eine Lanze zu
brechen ?
Sie werden mir vorhalten, ich beurteile den Krieg einseitig;
er habe auch das Schönste und Edelste der Menschen zum Vor-
schein gebracht, ihren Heldenmut, ihre Selbstaufopferung, ihr
soziales Fühlen. Gewiß, aber machen Sie sich hier nicht mit-
schuldig an der Ungerechtigkeit, die man so oft an der Psycho-
analyse begangen hat, indem man ihr vorgeworfen, das eine zu
leugnen, weil sie das andere behauptet. Es ist nicht unsere
Absicht, die edlen Strebungen der menschlichen Natur abzu-
leugnen, noch haben wir je etwas dazu getan, sie in ihrem
Wert herabzusetzen. Im Gegenteile; ich zeige Ihnen nicht nur
die zensurierten bösen Traumwünsche, sondern auch die Zensur,
welche sie unterdrückt und unkenntlich macht. Bei dem Bösen
im Menschen verweilen wir nur darum mit stärkerem Nachdruck,
weil die anderen es verleugnen, wodurch das menschliche Seelen-
leben zwar nicht besser, aber unverständlich wird. Wenn wir
dann die einseitig ethische Wertung aufgeben, werden wir für
das Verhältnis des Bösen zum Guten in der menschlichen Natur
gewiß die richtigere Formel finden können.
Es bleibt also dabei. Wir brauchen die Ergebnisse unserer
Arbeit an der Traumdeutung nicht aufzugeben, wenn wir sie
auch befremdend finden müssen. Vielleicht können wir uns später
auf anderem Wege ihrem Verständnis nähern. Vorläufig halten
wir fest: Die Traumentstellung ist eine Folge der Zensur, welche
von anerkannten Tendenzen des Ichs gegen irgendwie anstößige
‚Wunschregungen ausgeübt wird, die sich nächtlicherweile, wäh-
rend des Schlafes, in uns rühren. Freilich, warum gerade
nächtlicherweile, und woher diese verwerflichen Wünsche stam-
men, daran bleibt noch viel zu fragen und zu erforschen.
UND DAS BÖSE IN DER MENSCHENNATUR. 159
Es wäre aber Unrecht, wenn wir jetzt versäumten, ein an-
deres Ergebnis dieser Untersuchungen gebührend hervorheben.
Die Traumwünsche, die uns im Schlafe stören wollen, sind uns
unbekannt, wir erfahren von ihnen ja erst durch die Traum-
deutung; sie sind also ‚als derzeit unbewußte im besprochenen
Sinne zu bezeichnen. Aber wir müssen uns sagen, sie sind auch
mehr als derzeit unbewußt. Der Träumer verleugnet sie ja auch,
wie wir in so vielen Fällen erfahren haben, nachdem er sie durch
die Deutung des Traumes kennen gelernt hat. Es wiederholt sich
dann der Fall, dem wir zuerst bei der Deutung des Versprechens
„Aufstoßen“ begegnet sind, als der Tioastredner empört ver-
sicherte, daß ihm weder damals noch je zuvor eine unehrerbietige
Regung gegen seinen Chef bewußt geworden. Wir hatten schon
damals an dem Wert einer solchen Versicherung gezweifelt und
dieselbe durch die Annahme ersetzt, daß der Redner dauernd
nichts von dieser in ihm vorhandenen Regung weiß. Solches
wiederholt sich nun bei jeder Deutung eines stark entstellten
Traumes und gewinnt somit an Bedeutung für unsere Auf-
fassung. Wir sind nun bereit anzunehmen, daß es im Seelen-
leben Vorgänge, Tendenzen gibt, von denen man überhaupt nichts
weiß, seit langer Zeit nichts weiß, vielleicht sogar niemals
etwas gewußt hat. Das Unbewußte erhält damit für uns einen
neuen Sinn; das „derzeit“ oder „zeitweilig“ schwindet aus seinem
Wesen, es kann auch dauernd unbewußt bedeuten, nicht bloß
„derzeit latent“. Natürlich werden wir auch darüber ein anderes
Mal mehr hören müssen.
ZEHNTE VORLESUNG.
DER TRAUM.
DIE SYMBOLIK IM TRAUM.
Meine Damen und Herren! Wir haben gefunden, daß die
Traumentstellung, welche uns im Verständnis des Traumes stört,
Folge einer zensurierenden Tätigkeit ist, die sich gegen die
unannehmbaren, unbewußten Wunschregungen richtet. Aber wir
haben natürlich nicht behauptet, daß die Zensur der einzige
Faktor ist, der die Traumentstellung verschuldet, und wirklich
können wir bei weiterem Studium des Traumes die Entdeckung
machen, daß an diesem Effekt noch andere Momente beteiligt
sind. Das ist soviel, als sagten wir, auch wenn die Traumzensur
ausgeschaltet wäre, wären wir doch nicht im stande, die Träume
zu verstehen, wäre der manifeste Traum noch nicht mit den
latenten Traumgedanken identisch.
Dieses andere Moment, das den Traum undurchsichtig macht,
diesen neuen Beitrag zur Traumentstellung entdecken wir, indem
wir auf eine Lücke in unserer Technik aufmerksam werden. Ich
habe Ihnen schon zugestanden, daß den Analysierten zu einzelnen
Elementen des Traumes mitunter wirklich nichts einfällt. Freilich
geschieht dies nicht so oft, wie diese es behaupten; in sehr vielen
Fällen läßt sich der Einfall doch noch durch Beharrlichkeit er-
zwingen. Aber es bleiben doch Fälle übrig, in denen die Assozia-
tion versagt, oder, wenn erzwungen, nicht liefert, was wir von
ihr erwarten. Geschieht dies während einer psychoanalytischen
Behandlung, so kommt ihm eine besondere Bedeutung zu, mit
EINE LÜCKE IN DER TECHNIK DER TRAUMDEUTUNG. 161
welcher wir es hier nicht zu tun haben. Es ereignet sich aber auch
bei der Traumdeutung mit normalen Personen oder bei der Deu-
tung eigener Träume. Überzeugt man sich, daß in solchen Fäl-
len alles Drängen nichts nützt, so macht man endlich die Ent-
deckung, daß der unerwünschte Zufall regelmäßig bei bestimm-
ten Traumelementen eintrifft, und fängt an, eine neue Gresetz-
mäßigkeit dort zu erkennen, wo man zuerst nur ein ausnahms-
weises Versagen der Technik zu erfahren glaubte.
Man kommt auf solche Weise zur Versuchung, diese „stum-
men“ Traumelemente selbst zu deuten, aus eigenen Mitteln eine
Übersetzung derselben vorzunehmen. Es drängt sich einem auf,
daß man jedesmal einen befriedigenden Sinn erhält, wenn man
sich dieser Ersetzung getraut, während der Traum sinnlos bleibt
und der Zusammenhang unterbrochen ist, solange man sich zu
solchem Eingriff nicht entschließt. Die Häufung vieler durchaus
ähnlicher Fälle übernimmt es dann, unserem zunächst schüch-
ternen Versuch die geforderte Sicherheit zu geben.
Ich stelle das alles ein bißchen schematisch dar, aber zu
Unterrichtszwecken ist es doch gestattet, und es ist auch nicht
verfälscht, sondern bloß vereinfacht.
Auf diese Weise erhält man für eine Reihe von Traum-
elementen konstante Übersetzungen, also ganz ähnlich, wie man
es in unseren populären Traumbüchern für alle geträumten Dinge
findet. Sie vergessen doch nicht, daß bei unserer Assoziations-
technik niemals konstante Ersetzungen der Traumelemente zu
Tage kommen.
Sie werden nun sofort sagen, dieser Weg zur Deutung er-
scheine Ihnen noch weit unsicherer und angreifbarer als der
frühere mittels der freien Einfälle. Aber es kommt doch noch
etwas anderes hinzu. Wenn man nämlich durch die Erfahrung
genug solcher konstanter Ersetzungen gesammelt hat, dann sagt
Freud, Vorlesungen. III. 11
162 X. DER TRAUM.
man sich einmal, daß man diese Stücke der Traumdeutung tat-
sächlich aus eigener Kenntnis hätte bestreiten sollen, daß sie
wirklich ohne die Einfälle des Träumers verständlich sein
konnten. Woher man ihre Bedeutung kennen müßte, das wird
sich in der zweiten Hälfte unserer Auseinandersetzung ergeben.
Eine solche konstante Beziehung zwischen einem Traum-
element und seiner Übersetzung heißen wir eine symbolische,
das Traumelement selbst ein Symbol des unbewußten Traum-
gedankens. Sie erinnern sich, daß ich früher, bei der Unter-
suchung der Beziehungen zwischen Traumelementen und ihren
Eigentlichen drei solcher Beziehungen unterschieden habe, die des
Teils vom Ganzen, die der Anspielung und die der Verbildlichung.
Eine vierte habe ich Ihnen damals angekündigt, aker nicht ge-
nannt. Diese vierte ist nun die hier eingeführte symbolische. An
sie knüpfen sich sehr interessante Diskussionen, denen wir uns
zuwenden wollen, ehe wir unsere speziellen Beobachtungen über
Symbolik darlegen. Die Symbolik ist vielleicht das mark-
würdigste Kapitel der Traumlehre..
Vor allem: Indem die Symbole feststehende Übersetzungen
sind, realisieren sie im gewissen Ausmaße das Ideal der antiken
wie der populären Traumdeutung, von dem wir uns durch unsere
Technik. weit entfernt hatten. Sie gestatten uns unter Um-
ständen, einen Traum zu deuten, ohne den Träumer zu befragen,
der ja zum Symbol ohnedies nichts zu sagen weiß. Kennt man
die gebräuchlichen Traumsymbole und dazu die Person des Träu-
mers, die Verhältnisse, unter denen er lebt, und die Eindrücke,
nach welchen der Traum vorgefallen ist, so ist man oft in der
Lage, einen Traum ohne weiteres zu deuten, ihn gleichsam vom
Blatt weg zu übersetzen. Ein solches Kunststück schmeichelt dem
Traumdeuter und imponiert dem Träumer; es sticht wohltuend
von der mühseligen Arbeit beim Ausfragen des Träumers ab.
WAS SIND SYMBOLE? 163
Lassen Sie sich aber hiedurch nicht verführen. Es ist nicht
unsere Aufgabe, Kunststücke zu machen. Die auf Symbolkennt-
nis beruhende Deutung ist keine Technik, welche die assoziative
ersetzen oder sich mit ihr messen kann. Sie ist eine Ergänzung
zu ihr und liefert nur in sie eingefügt brauchbare Resultate.
Was aber die Kenntnis der psychischen Situation des Träumers
betrifft, so wollen Sie erwägen, daß Sie nicht nur Träume von
gut Bekannten zur Deutung bekommen, daß Sie in der Regel
die Tagesereignisse, welche die Traumerreger sind, nicht kennen,
und daß die Einfälle des Analysierten Ihnen gerade die Kenntnis
dessen, was man die psychische Situation heißt, zutragen.
Es ist ferner ganz besonders merkwürdig, auch mit Rück-
sicht auf später zu erwähnende Zusammenhänge, daß gegen die
Existenz der Symbolbeziehung zwischen Traum und Unbewußtem
wiederum die heftigsten Widerstände laut geworden sind. Selbst
Personen von Urteil und Ansehen, die sonst ein weites Stück
Weges mit der Psychoanalyse gegangen sind, haben hier die
Gefolgschaft versagt. Um so merkwürdiger aber ist dies Ver-
halten, als erstens die Symbolik nicht allein dem Traum eigen-
tümlich oder für ihn charakteristisch ist, und zweitens die Sym-
bolik im Traume gar nicht von der Psychoanalyse entdeckt wurde,
wiewohl diese sonst nicht arm an überraschenden Entdeckungen
ist. Als Entdecker der Traumsymbolik ist, wenn man ihr über-
haupt einen Anfang in modernen Zeiten zuschreiben will, der
Philosoph K. A.Scherner (1861) zu nennen. Die Psychoanalyse
hat die Funde Scherners bestätigt und in allerdings ein-
schneidender Weise modifiziert.
Nun werden Sie etwas vom Wesen der Traumsymbolik und
Beispiele für sie hören wollen. Ich will Ihnen gerne mitteilen,
was ich weiß, aber ich gestehe Ihnen, daß unser Verständnis
nicht so weit reicht, wie wir gerne möchten.
Ar,
164 X. DER TRAUM.
Das Wesen der Symbolbeziehung ist ein Vergleich, aber
nicht ein beliebiger. Man ahnt für diesen Vergleich eine be-
sondere Bedingtheit, kann aber nicht sagen, worin diese besteht.
Nicht alles, womit wir einen Gegenstand oder einen Vorgang
vergleichen können, tritt auch im Traum als Symbol dafür auf.
Anderseits symbolisiert der Traum auch nicht alles Beliebige,
sondern nur bestimmte Elemente der latenten Traumgedanken.
Es gibt also hier Beschränkungen nach beiden Seiten hin. Man
muß auch zugeben, daß der Begriff des Symbols derzeit nicht
scharf abzugrenzen ist, er verschwimmt gegen die Ersetzung,
Darstellung u. dgl., nähert sich selbst der Anspielung. Bei einer
Reihe von Symbolen ist der zu Grunde liegende Vergleich sinn-
fällig. Daneben gibt es andere Symbole, bei denen wir uns die
Frage stellen müssen, wo denn das Gemeinsame, das Tertium
comparationis dieses vermutlichen Vergleichs zu suchen sei. Dann
mögen wir es bei näherer Überlegung auffinden, oder es kann
uns wirklich verborgen bleiben. Es ist ferner sonderbar, wenn das
Symbol eine Vergleichung ist, daß dieser Vergleich sich nicht
durch die Assoziation bloßlegen läßt, auch daß der Träumer
den Vergleich nicht kennt, sich seiner bedient, ohne um ihn zu
wissen. Ja noch mehr, daß der Träumer nicht einmal Lust hat,
diesen. Vergleich anzuerkennen, nachdem er ihm vorgeführt wor-
den ist. Sie sehen also, eine Symbolbeziehung ist eine Vergleichung
von ganz besonderer Art, deren Begründung von uns noch nicht
klar erfaßt wird. Vielleicht lassen sich später Hinweise auf
dieses Unbekannte finden.
Der Umfang der Dinge, die im 'Iraume symbolische Dar-
stellung finden, ist nicht groß. Der menschliche Leib als Ganzes,
die Eltern, Kinder, Geschwister, Geburt, Tod, Nacktheit — und
dann noch eines. Die einzig typische, d. h. regelmäßige Darstel-
lung der menschlichen Person als Ganzes ist die als Haus wie
AUFZÄHLUNG VON TRAUMSYMBOLEN. 165
Scherner erkannt hat, der diesem Symbol sogar eine über-
ragende Bedeutung, die ihm nicht zukommt, zuteilen wollte. Es
kommt im Traume vor, daß man, bald lustvoll, bald ängstlich von
Häuserfassaden herabklettert. Die mit ganz glatten Mauern sind
Männer; die aber mit Vorsprüngen und Balkonen versehen sind,
an welchen man sich anhalten kann, das sind Frauen. Die Eltern
erscheinen im Traum als Kaiser und Kaiserin, König und
Königin oder als andere Respektspersonen; der Traum ist also
hier sehr pietätsvoll. Minder zärtlich verfährt er gegen Kinder
und Geschwister ; diese werden als kleine Tiere, Ungeziefer
symbolisiert. Die Geburt findet fast regelmäßig eine Darstel-
lung durch eine Beziehung zum Wasser; entweder man stürzt
ins Wasser oder man steigt aus ihm heraus, man rettet eine Per-
son aus dem Wasser oder wird von ihr gerettet, d. h. man hat
eine mütterliche Beziehung zu ihr. Das Sterben wird im Traum
durch Abreisen, mit der Eisenbahn Fahren ersetzt, das
Totsein durch verschiedene dunkle, wie zaghafte Andeutungen,
die Nacktheit durch Kleider und Uniformen. Sie sehen,
wie hier d+e Grenzen zwischen symbolischer und anspielungs-
artiger Darstellung verschwimmen.
Im Vergleich zur Armseligkeit dieser Aufzählung muß es
auffallen, daß Objekte und Inhalte eines anderen Kreises durch
eine außerordentlich reichhaltige Symbolik dargestellt werden.
Es ist dies der Kreis des Sexuallebens, der Genitalien, der Ge-
schlechtsvorgänge, des Geschlechtsverkehrs. Die übergroße Mehr-
zahl der Symbole im Traum sind Sexualsymbole. Es stellt sich
dabei ein merkwürdißges Mißverhältnis heraus. Der bezeichneten
Inhalte sind nur wenige, der Symbole für sie ungemein viele, so
daß jedes dieser Dinge durch zahlreiche, nahezu gleichwertige
Symbole ausgedrückt werden kann. Bei der Deutung ergibt sich
dann etwas, was allgemein Anstoß erregt. Die Symboldeutungen
sind im Gegensatz zur Mannigfaltigkeit der Traumdarstellungen
sehr monoton. Das mißfällt jedem, der davon erfährt; aber was
ist dagegen zu tun?
Da es das erstemal ist, daß in dieser Vorlesung von In-
halten des Sexuallebens gesprochen wird, bin ich Ihnen Rechen-
schaft über die Art schuldig, wie ich dieses Thema zu behan-
deln gedenke. Die Psychoanalyse findet keinen Anlaß zu Ver-
hüllungen und Andeutungen, hält es nicht für nötig, sich der
Beschäftigung mit diesem wichtigen Stoff zu schämen, meint,
es sei korrekt und anständig, alles bei seinem richtigen Namen
zu nennen. und hofft, auf solche Weise störende Nebengedanken
am ehesten ferne zu halten. Daran kann der Umstand, daß man
vor einem aus beiden Geschlechtern gemischten Zuhörerkreis
spricht, nichts ändern. So wie es keine Wissenschaft in usum
delphini gibt, so auch keine für Backfischehen, und die Damen
unter Ihnen haben durch ihr Erscheinen in diesem Hörsaal zu
verstehen gegeben, daß sie den Männern gleichgestellt werden
wollen.
Für das männliche Genitale also hat der Traum eine An-
zahl von symbolisch zu nennenden Darstellungen, bei denen das
Gemeinsame der Vergleichung meist sehr einleuchtend ist. Vor
allem ist für das männliche Genitale im Ganzen die heilige
Zahl 3 symbolisch bedeutsam. Der auffälligere und beiden Ge-
schlechtern interessantere Bestandteil des Genitales, das männ-
liche Glied, findet symbolischen Ersatz erstens durch Dinge,
die ihm in der Form ähnlich, also lang und hochragend sind, wie:
Stöcke, Schirme, Stangen, Bäume u. dgl. Ferner durch
Gegenstände, die die Eigenschaft des In-den-Körper-Eindringens
und Verletzens mit dem Bezeichneten gemein haben, also spitzige
Waffen jeder Art, Messer, Dolche, Lanzen, Säbel, aber
ebenso durch Schießwaffen: Gewehre, Pistolen und den
SYMBOLE DES MÄNNLICHEN GENITALES. 167
dürch seine Form so sehr dazu tauglichen Revolver. In den
ängstlichen Träumen der Mädchen spielt die Verfolgung durch
einen Mann mit einem Messer oder einer Schußwaffe eine große
Rolle. Es ist dies der vielleicht häufigste Fall der Traum-
symbolik, den Sie sich nun leicht übersetzen können. Ohne wei-
teres verständlich !st auch der Ersatz des männlichen Gliedes
durch Gegenstände, aus denen Wasser fließt: Wasserhähne,
Gießkannen, Springbrunnen, und durch andere Objekte,
die einer Verlängerung fähig sind, wie Hängelampen, vor-
schiebbare Bleistifte usw. Daß Bleistifte, Feder-
stiele, Nägelfeilen, Hämmer und andere Instrumente
unzweifelhafte männliche Sexualsymbole sind, hängt mit einer
gleichfalls nicht ferne liegenden Auffassung des Organs zu-
sammen.
Die merkwürdige Eigenschaft des Gliedes, sich gegen die
Schwerkraft aufrichten zu können, eine Teilerscheinung der
Erektion, führt zur Symboldarstellung durch Luftballone,
Flugmaschinen und neuesten Datums durch das Zeppe-
linscheLuftschiff. Der Traum kennt aber noch eine andere,
weit eindrucksvollere Art, die Erektion zu symbolisieren. Er
macht das Geschlechtsglied zum Wesentlichen der ganzen Per-
son. und läßt diese selbst fliegen. Lassen Sie sich’s nicht nahe
gehen, daß die oft so schönen Flugträume, die wir alle kennen,
als Träume von allgemeiner sexueller Erregung, als Erektions-
träume gedeutet werden müssen. Unter den psychoanalytischen
Forschern hat P. Federn diese Deutung gegen jeden Zweifel
sichergestellt, aber auch der für seine Nüchternheit vielbelobte
Mourly Vold, der jene Traumexperimente mit künstlichen
Stellungen der Arme und Beine durchgeführt hat, und der der
Psychoanalyse wirklich ferne stand, vielleicht nichts von ihr
wußte, ist durch seine Untersuchungen zu demselben Schluß
168 X. DER TRAUM.
ea SR
gekommen. Machen Sie auch keinen Einwand daraus, daß Frauen
dieselben Flugträume haben können. Erinnern Sie sich vielmehr
daran, daß unsere Träume Wunscherfüllungen sein wollen, und
daß der Wunsch, ein Mann zu sein, sich bei der Frau so häufig,
bewußt oder unbewußt, findet. Auch daß es der Frau möglich
ist, diesen Wunsch durch dieselben Sensationen wie der Mann
zu realisieren, wird keinen der Anatomie Kundigen irremachen
können. Das Weib besitzt in seinen Genitalien eben auch ein
kleines Glied in der Ähnlichkeit des männlichen, und dieses
kleine Glied, die Clitoris, spielt sogar im Kindesalter und im
Alter vor dem Geschlechtsverkehr die nämliche Rolle wie das
große Glied des Mannes.
Zu den weniger gut verständlichen männlichen Sexual-
symbolen gehören gewisse Reptilien und Fische, vor allem
das berühmte Symbol der Schlange. Warum Hut und Man-
tel dieselbe Verwendung gefunden haben, ist gewiß nicht leicht
zu erraten, aber deren Symbolbedeutung ist ganz unzweifelhaft.
Endlich kann man sich noch fragen, ob man den Ersatz des
männlichen Gliedes durch ein anderes Glied, den Fuß oder die
‚Hand, als einen symbolischen bezeichnen darf. Ich glaube, man
wird durch den Zusammenhang und durch die weiblichen Gegen-
stücke dazu genötigt.
Das weibliche Genitale wird symbolisch dargestellt durch
alle jene Objekte, die seine Eigenschaft teilen, einen Hohlraum
einzuschließen, der etwas in sich aufnehmen kann. Also durch
Schachte, Gruben und Höhlen, durch Gefäße und Fla-
schen, durch Schachteln, Dosen, Koffer, Büchsen,
Kisten, Taschen usw. Auch das Schiff gehört in diese
Reihe. Manche Symbole haben mehr Beziehung auf den Mutter-
leib als auf das Genitale des Weibes, so: Schrän ke, Öfen und
vor allem das Zimmer. Die Zimmersymbolik stößt hier an
WEIBLICHE GENITALSYMBOLE. 169
die Haussymbolik, Türe und Tor werden wiederum zu Sym-
bolen der Genitalöffnung. Aber auch Stoffe sind Symbole des
‚Weibes, das Holz, das Papier, und Gegenstände, die aus die-
sen Stoffen bestehen, wie der Tisch und das Buch. Von Tieren
sind wenigstens Schnecke und Muschel als unverkennpare
weibliche Symbole anzuführen;; von Körperteilen der Mund zur
Vertretung der Genitalöffnung, von Bauwerken Kirche und
Kapelle. Wie Sie sehen, sind nicht alle diese Symbole gleich
gut verständlich.
Zu den Genitalien müssen die Brüste gerechnet werden, die
wie die größeren Hemisphären des weiblichen Körpers ihre Dar-
stellung finden in Äpfeln, Pfirsichen, Früchten über-
haupt. Die Genitalbehaarung beider Geschlechter beschreibt der
Traum als Wald und Gebüsch. Die komplizierte Topographie
der weiblichen Geschlechtsteile macht es begreiflich, daß diese
sehr häufig als Landschaft mit Fels, Wald und Wasser dar-
gestellt werden, während der imposante Mechanismus des männ-
lichen Geschlechtsapparates dazu führt, daß alle Arten von
schwer zu beschreibenden komplizierten Maschinen Symbole
desselben werden. |
Ein erwähnenswertes Symbol des weiblichen Genitales ist
noch das Schmuckkästchen; Schmuck und Schatz sind
Bezeichnungen der geliebten Person auch im Traume; Süßig-
keiten eine häufige Darstellung des Geschlechtsgenusses. Die
Befriedigung am eigenen Genitale wird durch jede Art von
Spielen angedeutet, auch durch das Klavierspiel. Exquisit
symbolische Darstellungen der Onanie sind das Gleiten und
Rutschen sowie dass Abreißen eines Astes. Ein beson-
ders merkwürdiges Traumsymbol ist der Zahnausfall oder
das Zahnausziehen. Es bedeutet sicherlich zunächst die
Kastration als Bestrafung für die Onanie. Besondere Darstel-
170 X. DER TRAUM.
lungen für den Verkehr der Geschlechter findet man im Traume
weniger zahlreich, als man nach den bisherigen Mitteilungen er-
warten konnte. Rhythmische Tätigkeiten wie Tanzen, Rei-
ten und Steigen sind hier zu nennen, auch gewaltsame Er-
lebnisse wie das Überfahrenwerden. Dazu gewisse Hand-
werkstätigkeiten und natürlich die Bedrohung mit
Waffen.
Sie müssen sich die Verwendung wie die Übersetzung
dieser Symbole nicht ganz einfach vorstellen. Es kommt dabei
allerlei vor, was unserer Erwartung widerspricht. So scheint
es zum Beispiel kaum glaublich, daß in diesen symbolischen Dar-
stellungen die Geschlechtsunterschiede oft nicht scharf aus-
einander gehalten werden. Manche Symbole bedeuten ein Ge-
nitale überhaupt, gleichgültig ob ein männliches oder weibliches,
z. B. das kleine Kind, der kleine Sohn oder die kleine Tochter.
Ein andermal kann ein vorwiegend männliches Symbol für ein
weibliches Genitale gebraucht werden oder umgekehrt. Man ver-
steht das nicht, ehe man Einsicht in die Entwicklung der Sexual-
vorstellungen der Menschen gewonnen hat. In manchen Fällen
mag diese Zweideutigkeit der Symbole eine nur scheinbare sein;
die eklatantesten unter den Symbolen wie Waffe, Tasche,
Kiste sind auch von dieser bisexuellen Verwendung ausge-
nommen.
Ich will nun nicht von dem Dargestellten, sondern vom Sym-
bol ausgehen, eine Übersicht geben, aus welchen Gebieten die
Sexualsymbole zumeist entnommen werden, und einige Nachträge
anfügen mit besonderer Rücksicht auf die Symbole mit unver-
standenem Gemeinsamen. Solch ein dunkles Symbol ist der Hut,
vielleicht die Kopfbedeckung überhaupt, in der Regel mit männ-
licher Bedeutung, doch auch der weiblichen fähig. Ebenso be-
deutet der Mantel einen Mann, vielleicht nicht immer mit
DIE GEBIETE DER SEXUALSYMBOLIK. 171
Genitalbeziehung. Es steht Ihnen frei zu fragen, warum. Die
herabhängende und vom Weib nicht getragene Krawatte ist
ein deutlich männliches Symbol. Weiße Wäsche, Leinen
überhaupt ist weiblich; Kleider, Uniformen sind, wie wir
schon gehört haben, Ersatz für Nacktheit, Körperformen; der
Schuh, Pantoffel, ein weibliches Genitale. Tisch und
Holz wurden als rätselhafte, aber sicherlich weibliche Sym-
bole bereits erwähnt. Leiter, Stiege, Treppe respektive
das Gehen auf ihnen, sind sichere Symbole des Geschlechts-
verkehres. Bei näherer Überlegung wird uns die Rhythmik
dieses Gehens als Gemeinsames auffallen, vielleicht auch das
Anwachsen der Erregung; Atemnot, je höher man steigt.
Die Landschaft haben wir als Darstellung des weiblichen
Genitales schon gewürdigt. Berg und Fels sind Symbole des
männlichen Gliedes; der Garten ein häufiges Symbol des weib-
lichen Genitales. Die Frucht steht nicht für das Kind, son-
dern für die Brüste. Wilde Tiere bedeuten sinnlich erregte
Menschen, des weiteren böse Triebe, Leidenschaften. Blüten
und Blumen bezeichnen das Genitale des Weibes oder spezieller
die Jungfräulichkeit. Sie vergessen nicht daran, daß die Blü-
ten wirklich die Genitalien der Pflanzen sind.
Das Zimmer kennen wir bereits als Symbol. Die Dar-
stellung kann sich hier fortsetzen, indem die Fenster, Ein- und
Ausgänge des Zimmers .die Bedeutung der Körperöffnungen
übernehmen. Auch das Offen- oder Verschlossensein des
Zimmers fügt sich dieser Symbolik, und der Schlüssel, der
öffnet, ist ein sicheres männliches Symbol.
Das’ wäre nun Material zur Traumsymbolik. Es ist nicht
vollständig und könnte sowohl vertieft als auch verbreitert wer-
den. Aber ich meine, es wird Ihnen mehr als genug scheinen,
vielleicht Sie unwillig machen. Sie werden fragen: Lebe ich
172 | X. DER TRAUM.
also wirklich inmitten von Sexualsymbolen? Sind alle Gegen-
stände, die mich umgeben, alle Kleider, die ich anlege, alle
Dinge, die ich in die Hand nehme, immer wieder Sexualsymbole
und nichts anderes? Es gibt wirklich Anlaß genug zu verwun-
derten Fragen, und die erste derselben lautet: Woher wir denn
eigentlich die Bedeutung dieser Traumsymbole kennen sollen,
zu denen uns der Träumer selbst keine oder nur unzureichende
Auskunft gibt?
Ich antworte: aus sehr verschiedenen Quellen, aus den Mär-
chen und Mythen, Schwänken und Witzen, aus dem, Folklore, d. i.
der Kunde von den Sitten, Gebräuchen, Sprüchen und Liedern
der Völker, aus dem poetischen und dem gemeinen Sprach-
gebrauch. Überall hier findet sich dieselbe Symbolik vor, und
an manchen dieser Stellen verstehen wir sie ohne weitere Unter-
weisung. Wenn wir diesen Quellen im einzelnen nachgehen,
werden wir so viele Parallelen zur Traumsymbolik finden, daß
wir unserer Deutungen sicher werden müssen.
Der menschliche Leib, sagten wir, findet nach Scherner
im Traum häufig eine Darstellung durch das Symbol des
Hauses. In der Fortführung dieser Darstellung sind dann Fen-
ster, Türen und Tore, die Eingänge in die Körperhöhlen, die
Fassaden glatt oder mit Balkonen und Vorsprüngen zum An-
halten versehen. Dieselbe Symbolik findet sich aber in unserem
Sprachgebrauch, wenn wir einen gut Bekannten vertraulich als
„altes Haus“ begrüßen, wenn wir davon sprechen, einem eins
aufs Dachl zu geben, oder von einem anderen behaupten, es
sei bei ihm nicht richtig im Oberstübchen. In der Anatomie
heißen die Körperöffnungen direkt die Leibespforten.
Daß wir die Eltern im Traume als kaiserliche und königliche
Paare antreffen, ist ja zunächst überraschend. Aber es findet
seine Parallele in den Märchen. Dämmert uns nicht die Ein-
NACHWEIS DER TRAUMSYMBOLE AN ANDEREN ORTEN. 173
sicht, daß die vielen Märchen, die anheben: Es war einmal ein
Königundeine Königin, nichts anderes sagen wollen als:
Es waren einmal ein Vater und eine Mutter? In der Familie
heißen wir die Kinder scherzhaft Prinzen, den ältesten aber
den Kronprinzen. Der König selbst nennt sich Landesvater.
Kleine Kinder bezeichnen wir scherzhaft als Würmer und sa-
gen mitleidig: dasarme Wurm.
Kehren wir zur Haussymbolik zurück. Wenn wir die Vor-
sprünge der Häuser im Traume zum Anhalten benützen, mahnt
das nicht an die bekannte Volksrede auf einen stark entwickelten
Busen: Die hat etwas zum Anhalten? Das Volk äußert sich
ın solchem Falle noch anders, es sagt: Die hat viel Holz vor
dem Haus, als wollte es unserer Deutung zu Hilfe kommen, daß
Holz ein weibliches, mütterliches Symbol ist.
Zu Holz noch anderes. Wir werden nicht verstehen, wie
dieser Stoff zur Vertretung des Mütterlichen, 'Weiblichen, ge-
langt ist. Da mag uns die Sprachvergleichung an die Hand
gehen. Unser deutsches Wort Holz soll gleichen Stammes sein
wie das griechische öAn, was Stoff, Rohstoff bedeutet. Es würde
da der nicht gerade seltene Fall vorliegen, daß ein allgemeiner
Stoffname schließlich für einen besonderen Stoff reserviert wor-
den ist. Nun gibt es eine Insel im Ozean, die den Namen Ma-
deira führt. Diesen Namen haben ihr die Portugiesen bei der
Entdeckung gegeben, weil sie damals über und über bewaldet
war. Madeira heißt nämlich in der Sprache der Portugiesen:
Holz. Sie erkennen aber, daß madeira nichts anderes ist als das
wenig veränderte lateinische Wort materia, das wiederum
Stoff im allgemeinen bedeutet. Materia ist nun von mater, Mut-
ter, abgeleitet. Der Stoff, aus dem etwas besteht, ist gleichsam
sein mütterlicher Anteil. In dem symbolischen Gebrauch von
Holz für Weib, Mutter, lebt also diese alte Auffassung fort.
Die Geburt wird im Traume regelmäßig durch eine Be-
ziehung zum Wasser ausgedrückt; man stürzt ins Wasser oder
kommt aus dem Wasser, das heißt: man gebärt oder man wird
geboren. Nun vergessen wir nicht, dab sich dies Symbol in
zweifacher Weise auf entwicklungsgeschichtliche Wahrheit be-
rufen kann. Nicht nur, daß alle Landsäugetiere, auch die Vor-
ahnen des Menschen, aus Wassertieren hervorgegangen sind, —
das wäre die ferner liegende Tatsache — auch jedes einzelne Däuge-
tier, jeder Mensch, hat die erste Phase seiner Existenz im Wasser
zugebracht, nämlich als Embryo im Fruchtwasser im Leib seiner
Mutter gelebt und ist mit der Geburt aus dem Wasser gekommen.
Ich will nicht behaupten, daß der Träumer dies weiß, dagegen
vertrete ich, daß er es nicht zu wissen braucht. Etwas anderes
weiß der Träumer wahrscheinlich daher, daß man es ıhm in
seiner Kindheit gesagt hat, und selbst dafür wıll ich behaupten,
daß ihm dies Wissen nichts zur Symbolbildung beigetragen hat.
Man hat ihm in der Kinderstube erzählt, daß der Storch die Kin-
der bringt, aber woher holt er sie? Aus dem Teich, aus dem
Brunnen, also wiederum aus dem Wasser. Einer meiner Pa-
tienten, dem diese Auskunft gegeben worden war, damals ein
kleines Gräflein, war hernach einen ganzen Nachmittag lang
verschollen. Man fand ihn endlich am Rande des Schloßteichs
liegend, das Gesichtehen über den Wasserspiegel gebeugt und
eifrig spähend, ob er die Kindlein auf dem Grunde des Wassers
erschauen könnte.
In den Mythen von der Geburt des Helden, die O. Rank
einer vergleichenden Untersuchung unterzogen hat, — der älteste
ist der des Königs Sargon von Agade, etwa 2800 v. Ohr. —
spielt die Aussetzung ins Wasser und die Rettung aus dem Was-
ser eine überwiegende Rolle Rank hat erkannt, daß dies Dar-
stellungen der Geburt sind, analog der im Traume üblichen.
PARALLELEN ZUR TRAUMSYMBOLIK, 175
Wenn man im Traum eine Person aus dem Wasser rettet, macht
man sie zu seiner Mutter oder zur Mutter schlechtweg; im My-
thus bekennt sich eine Person, die ein Kind aus dem Wasser
rettet, als die richtige Mutter des Kindes. In einem bekannten
Scherz wird der intelligente Judenknabe gefragt, wer denn die
Mutter des Moses war. Er antwortet unbedenklich: die Prin-
zessin. Aber nein, wird ihm vorgehalten, die hat ihn ja nur
aus dem Wasser gezogen. So sagt sie, repliziert er und beweist
damit, daß er die richtige Deutung des Mythus gefunden hat.
Das Abreisen bedeutet im Traume Sterben. Es ist auch der
Brauch der Kinderstube, wenn sich das Kind nach dem Ver-
bleib eines Verstorbenen erkundigt, den es vermißt, ihm zu sa-
gen, er sei verreist. Wiederum möchte ich dem Glauben wider-
sprechen, daß das Traumsymbol von dieser gegen das Kind ge-
brauchten Ausrede stammt. Der Dichter bedient sich derselben
Symbolbeziehung, wenn er vom Jenseits als vom unentdeckten
Land spricht, von dessen Bezirk kein Reisender (no travel-
ler) wiederkehrt. Auch im Alltag ist es uns durchaus gebräuch-
lich, von der letzten Reise zu sprechen. Jeder Kenner des alten
Ritus weiß, wie ernst z. B. im altägyptischen Glauben die Vor-
stellung von einer Reise ins Land des Todes genommen wurde.
In vielen Exemplaren ist uns das Totenbuch erhalten, welches
wie ein Bädeker der Mumie auf diese Reise mitgegeben wurde.
Seitdem die Begräbnisstätten von den Wohnstätten abgesondert
worden sind, ist ja auch die letzte Reise des Verstorbenen eine
Realität geworden.
Ebensowenig ist etwa die Genitalsymbolik etwas, was dem
Traume allein zukommt. Jeder von Ihnen wird wohl einmal so
unhöflich gewesen zu sein, eine Frau eine „alte Schachtel“
zu nennen, vielleicht ohne zu wissen, daß er sich dabei eineg
Genitalsymbols bedient. Im Neuen Testament heißt es: Das Weib
176 X. DER TRAUM.
ist ein schwaches Gefäß. Die heiligen Schriften der Juden
sind in. ihrem dem poetischen so angenäherten Stil erfüllt von
sexualsymbolischen Ausdrücken, die nicht immer richtig ver-
standen worden sind, und deren Auslegung z. B. im Hohen
Lied zu manchen Mißverständnissen geführt hat. In der spä-
teren hebräischen Literatur ist die Darstellung des Weibes als
Haus, wo man die Tür die Geschlechtsöffnung vertritt, eine
sehr verbreitete. Der Mann beklagt sich z. B. im Falle der feh-
lenden Jungfräulichkeit, daß er die Tür geöffnet gefunden
hat. Auch das Symbol Tisch für Weib ist in dieser Literatur be-
kannt. Die Frau sagt von ihrem Manne: Ich ordnete ihm den
Tisch, er aber wendete ihn um. Lahme Kinder sollen da-
durch entstehen, daß der Mann den Tisch umwendet. Ich
entnehme diese Belege einer Abhandlung von L. Levy in
Brünn: Die Sexualsymbolik der Bibel und des Talmuds.
Daß auch die Schiffe des Traumes Weiber bedeuten, machen
uns die Etymologen glaubwürdig, die behaupten, Schiff sei ur-
sprünglich der Name eines tönernen Gefäßes gewesen und sei
dasselbe Wort wie Schaff. Daß der Ofen ein Weib und Mutter-
leib ist, wird uns durch die griechische Sage von Periander
von Korinth und seiner Frau Melissa bestätigt. Als nach
Herodots Bericht der Tyrann den Schatten seiner heißgelieb-
ten, aber aus Eifersucht von ihm ermordeten Gemahlin beschwor,
um eine Auskunft von ihr zu bekommen, beglaubigte sich die
Tote durch die Mahnung, daß er, Periander, sein Brot in
einen kalten Ofen geschoben, als Verhüllung eines Vor-
ganges, der keiner anderen Person bekannt sein konnte. In der
von F. S. Krauß herausgegebenen Anthropophyteia,
einem unersetzlichen Quellenwerk für alles, was das Geschlechts-
leben der Völker betrifft, lesen wir, daß man in einer bestimm-
ten deutschen Landschaft von einer Frau, die entbunden hat,
PARALLELEN ZUR SEXUALSYMBOLIK, 17%
sagt: Der Ofen ist beiihr zusammengebrochen. Die
Feuerbereitung und alles, was mit ihr zusammenhängt, ist auf
das innigste von Sexualsymbolik durchsetzt. Stets ist die
Flamme ein männliches Genitale, und die Feuerstelle, der Herd,
ein weiblicher Schoß.
Wenn Sie sich vielleicht darüber verwundert haben, wie
häufig Landschaften im Traum zur Darstellung des weiblichen
Genitales verwendet werden, so lassen Sie sich von den Mytho-
logen belehren, welche Rolle Mutter Erde in den Vorstellungen
und Kulten der alten Zeiten gespielt hat, und wie die Auffassung
des Ackerbaues von dieser Symbolik bestimmt wurde. Daß das
Zimmer im Traum ein Frauenzimmer vorstellt, werden Sie ge-
neigt sein aus unserem Sprachgebrauche abzuleiten, der Frauen-
zimmer anstatt Frau setzt, also die menschliche Person durch
die sie für sie bestimmte Räumlichkeit vertreten werden läßt.
So ähnlich sprechen wir von der „Hohen Pforte“ und meinen
damit den Sultan und seine Regierung; auch der Name des alt-
ägyptischen Herrschers Pharao bedeutete nichts anderes als
„großer Hofraum“. (Im alten Orient sind die Höfe zwischen den
Doppeltoren der Stadt Orte der Zusammenkunft wie in der
klassischen Welt der Marktplatz.) Allein ich meine, diese Ab-
leitung ist eine allzu oberflächliche. Es ist mir wahrscheinlicher,
daß das Zimmer als der den Menschen umschließende Raum
zum Symbol des Weibes geworden ist. Das Haus kennen wir ja
schon in solcher Bedeutung; aus der Mythologie und aus dem
poetischen Stil dürfen wir Stadt, Burg, Schloß, Festung
als weitere Symbole für das Weib hinzunehmen. Die Frage
wäre an Träumen solcher Personen, die nicht Deutsch sprechen
und es nicht verstehen, leicht zu entscheiden. Ich habe in den
letzten Jahren vorwiegend fremdsprachige Patienten behandelt
und glaube mich zu erinnern, daß in deren Träumen das Zim-
Freud, Vorlesungen. III. 12
178 X. DER TRAUM.
mer gleichfalls ein Frauenzimmer bedeutete, obwohl sie keinen
analogen Sprachgebrauch in ihren Sprachen hatten. Es sind
noch andere Anzeichen dafür vorhanden, daß die Symbol-
beziehung über die Sprachgrenzen hinausgehen kann, was
übrigens schon der alte Traumforscher Schubert (1862)
behauptet hat. Indes keiner meiner Tränmer war des
Deutschen völlig unkundig, so daß ich diese Unterscheidung
jenen Psychoanalytikern überlassen muß, die in anderen
Ländern an einsprachigen Personen Erfahrungen sammeln
können.
Unter den Symboldarstellungen des männlichen Genitales
ist kaum eine, die nicht im scherzhaften, vulgären oder im poeti-
schen Sprachgebrauch, zumal bei den altklassischen Dichtern,
wiederkehrte. Es kommen hiefür aber nicht nur die im Traume
auftretenden Symbole in Betracht, sondern auch neue, z. B. die
Werkzeuge verschiedener Verrichtungen, in erster Reihe der
Pflug. Im übrigen nahen wir mit der Symboldarstellung des
Männlichen einem sehr ausgedehnten und vielumstrittenen
Gebiet, von dem wir uns aus ökonomischen Motiven ferne halten
wollen. Nur dem einen gleichsam aus der Reihe fallenden Sym-
bol der 3 möchte ich einige Bemerkungen widmen. Ob diese Zahl
nicht etwa ihre Heiligkeit dieser Symbolbeziehung verdankt,
bleibe dahingestellt. Gesichert scheint aber, daß manche in der
Natur vorkommende dreiteilige Dinge ihre Verwendung zu Wap-
pen und Emblemen von solcher Symbolbedeutung ableiten, z. B.
das Kleeblatt. Auch die dreiteilige sogenannte französische Lilie
und das sonderbare Wappen zweier so weit voneinander ent-
fernten Inseln wie Sizilien und die Isleof Man, das Triskeles
(drei halbgebeugte Beine von einem Mittelpunkt ausgehend) sol-
len nur Umstilisierungen eines männlichen Genitales sein. Eben-
bilder des männlichen Gliedes galten im Altertum als die kräftig-
PARALLELEN ZUR GENITALSYMBOLIK. 179
sten Abwehrmittel (Apotropaea) gegen böse Einflüsse, und es
steht im Zusammenhange damit, daß die glückbringenden Amu-
lette unserer Zeit sämtlich leicht als Genital- oder Sexual-
symbole zu erkennen sind. Betrachten wir eine solche Sammlung,
wie sie etwa in Form kleiner silberner Anhängsel getragen wird:
ein vierblättriges Kleeblatt, ein Schwein, ein Pilz, ein Huf-
eisen, eine Leiter, ein Rauchfangkehrer. Das vierblättrige Klee-
blatt ist an die Stelle des eigentlich zum Symbol geeigneten
dreiblättrigen getreten ; das Schwein ist ein altes Fruchtbarkeits-
symbol; der Pilz ist ein unzweifelhaftes Penissymbol, es gibt
Pilze, die ihrer unverkennbaren Ähnlichkeit mit dem männ-
lichen Glied ihren systematischen Namen verdanken (Phallus
impudicus); das Hufeisen wiederholt den Umriß der weiblichen
Geschlechtsöffnung, und der Rauchfangkehrer, der die Leiter
trägt, taugt in diese Gemeinschaft, weil,er eine jener Han-
tierungen übt, mit denen der Geschlechtsverkehr vulgärerweise
verglichen wird. (S. die Anthropophyteia.) Seine Leiter haben wir
im Traume als Sexualsymbol kennen gelernt; der deutsche
Sprachgebrauch kommt uns hier zu Hilfe, der uns zeigt, wie
das Wort „steigen“ in exquisit sexuellem Sinn angewendet wird.
Man sagt: „Den Frauen nachsteigen“ und „ein alter
Steiger“. Im Französischen, wo die Stufe la marche heißt, fin-
den wir ganz analog für einen alten Lebemann den Ausdruck
„un vieux marcheur“. Daß der Geschlechtsverkehr vieler
großer Tiere ein Steigen, Besteigen des Weibchens, zur
Voraussetzung hat, ist diesem Zusammenhange wahrscheinlich
nicht fremd.
Das Abreißen eines Astes als symbolische Darstellung der
Onanie stimmt nicht nur zu vulgären Bezeichnungen des onani-
stischen Aktes, sondern hat auch weitgehende mythologische Par-
allelen. Besonders merkwürdig ist aber die Darstellung der
12*
130 X. DER TRAUM.
Onanie oder besser der Strafe dafür, der Kastration, durch Zahn-
ausfall und Zahnausreißen, weil sich dazu ein Gegenstück aus
der Völkerkunde findet, das den wenigsten Träumern bekannt
sein dürfte. Es scheint mir nicht zweifelhaft, daß die bei so
vielen Völkern geübte Beschneidung ein Äquivalent und eine
Ablösung der Kastration ist. Und nun wird uns berichtet, daß
in Australien gewisse primitive Stämme die Beschneidung als
Pubertätsritus ausführen (zur Mannbarkeitsfeier der Jugend),
während andere, ganz nahe wohnende, an Stelle dieses Aktes das
Ausschlagen eines Zahnes gesetzt haben.
Ich beende meine Darstellung mit diesen Proben. Es sind
nur Proben; wir wissen mehr darüber, und Sie mögen sich vor-
stellen, um wie viel reichhaltiger und interessanter eine derartige
Sammlung ausfallen würde, die nicht von Dilettanten wie wir,
sondern von den richtigen Fachleuten in der Mythologie, An-
thropologie, Sprachwissenschaft, im Folklore angestellt wäre. Es
drängt uns zu einigen Folgerungen, die nicht erschöpfend sein
können, aber uns viel zu denken geben werden.
Fürs erste sind wir vor die Tatsache gestellt, daß dem
Träumer die symbolische Ausdrucksweise zu Gebote steht, die
er im Wachen nicht kennt und nicht wiedererkennt. Das ist so
verwunderlich, wie wenn Sie die Entdeckung machen würden,
daß Ihr Stubenmädchen Sanskrit versteht, obwohl Sie wissen,
daß sie in einem böhmischen Dorf geboren ist und es nie gelernt
hat. Es ist nicht leicht, diese Tatsache mit unseren psychologi-
schen Anschauungen zu bewältigen. Wir können nur sagen, die
Kenntnis der Symbolik ist dem Träumer unbewußt, sie gehört
seinem unbewußten Geistesleben an. Wir kommen aber auch mit
Jlieser Annahme nicht nach. Bisher hatten wir nur notwendig,
unbewußte Strebungen anzunehmen, solche, von denen man zeit-
weilix oder dauernd nichts weiß. Jetzt aber handelt es sich
FOLGERUNGEN AUS DER SYMBOLIK. 181
m
— oo
um mehr, geradezu um unbewußte Kenntnisse, um Denkbeziehun-
gen, Vergleichungen zwischen verschiedenen Objekten, die dazu
führen, daß das eine konstant an Stelle des anderen gesetzt
werden kann. Diese Vergleichungen werden nicht jedesmal neu
angestellt, sondern sie liegen bereit, sie sind ein- für allemal
fertig; das geht ja aus ihrer Übereinstimmung bei verschiedenen
Personen, ja vielleicht Übereinstimmung trotz der Sprach-
verschiedenheit, hervor.
Woher soll die Kenntnis dieser Symbolbeziehungen kommen ?
Der Sprachgebrauch deckt nur einen kleinen Teil derselben. Die
vielfältigen Parallelen aus anderen Gebieten sind dem Träumer
zumeist unbekannt; auch wir mußten sie erst mühsam zusammen-
suchen.
Zweitens sind diese Symbolbeziehungen nichts, was dem
Träumer oder der Traumarbeit, durch die sie zum Ausdruck
kommen, eigentümlich wäre. Wir haben ja erfahren, derselben
Symbolik bedienen sich Mythen und Märchen, das Volk in seinen
Sprüchen und Liedern, der gemeine Sprachgebrauch und die
dichterische Phantasie. Das Gebiet der Symbolik ist ein un-
gemein großes, die Traumsymbolik ist nur ein kleiner Teil
davon; es ist nicht einmal zweckmäßig, das ganze Problem
vom Traum aus in Angriff zu nehmen. Viele der anderswo
gebräuchlichen Symbole kommen im Traum nicht oder nur sehr
selten vor; manche der Traumsymbole finden sich nicht auf
allen anderen Gebieten wieder, sondern, wie Sie gesehen haben,
nur hier oder dort. Man bekommt den Eindruck, daß hier eine
alte, aber untergegangene Ausdrucksweise vorliegt, von welcher
sich auf verschiedenen Gebieten verschiedenes erhalten hat, das
eine nur hier, das andere nur dort, eim drittes vielleicht in leicht
veränderten Formen auf mehreren Gebieten. Ich muß hier der
Phantasie eines interessanten Geisteskranken gedenken, welcher
182 X. DER TRAUM.
eine „arundsprache“ imaginiert hatte, von welcher all diese
Symbolbeziehungen die Überreste wären.
Drittens muß Ihnen auffallen, daß die Symbolik auf den
genannten anderen Gebieten keineswegs nur Sexualsymbolik ist,
während im Traume die Symbole fast ausschließend zum Aus-
druck sexueller Objekte und Beziehungen verwendet werden.
Auch das ist nicht leicht erklärlich. Sollten ursprünglich sexuell
bedeutsame Symbole später eine andere Anwendung erhalten
haben, und hinge damit etwa noch die Abschwächung von der
symbolischen zur andersartigen Darstellung zusammen? Diese
Fragen sind offenbar nicht zu beantworten, wenn man sich
nur mit der Traumsymbolik beschäftigt hat. Man darf nur an
der Vermutung festhalten, daß eine besonders innige Beziehung
zwischen den richtigen Symbolen und dem Sexuellen besteht.
Ein wichtiger Fingerzeig ist uns hier in den letzten Jah-
ren gegeben worden. Ein Sprachforscher, H.Sperber (Upsala),
der unabhängig von der Psychoanalyse arbeitet, hat die Be-
hauptung aufgestellt, daß sexuelle Bedürfnisse an der Ent-
stehung und Weiterbildung der Sprache den größten Anteil
gehabt haben. Die anfänglichen Sprachlaute haben der Mit-
teilung gedient und den sexuellen Partner herbeigerufen; die
weitere Entwicklung der Sprachwurzeln habe die Arbeits-
verrichtungen der Urmenschen begleitet. Diese Arbeiten seien
gemeinsame gewesen und unter rhythmisch wiederholten Sprach-
äußerungen vor sich gegangen. Dabei sei ein sexuelles Interesse
auf die Arbeit verlegt worden. Der Urmensch habe sich gleich-
sam die Arbeit annehmbar gemacht, indem er sie als Äquivalent
und Ersatz der Geschlechtstätigkeit behandelte. Das bei der
gemeinsamen Arbeit hervorgestoßene Wort habe so zwei Be-
deutungen gehabt, den Geschlechtsakt bezeichnet wie die ihm
gleichgesetzte Arbeitstätigkeit. Mit der Zeit habe sich das Wort
DIE »GRUNDSPRACHE« UND DIE SPRACHENTWICKLUNG. 183
von der sexuellen Bedeutung losgelöst und an diese Arbeit fixiert.
Generationen später sei es mit einem neuen Wort, das nun die
Sexualbedeutung hatte und auf eine neue Art von Arbeit an-
gewendet wurde, ebenso ergangen. Auf solche Weise hätte sich
eine Anzahl von Sprachwurzeln gebildet, die alle sexueller Her-
kunft waren und ihre sexuelle Bedeutung abgegeben hatten.
Wenn die hier skizzierte Aufstellung das Richtige trifft, er-
öffnet sich uns allerdings eine Möglichkeit des Verständnisses
für die Traumsymbolik. Wir würden begreifen, warum es im
Traum, der etwas von diesen ältesten Verhältnissen bewahrt, so
außerordentlich viele Symbole für das Geschlechtliche gibt,
warum allgemein Waffen und Werkzeuge immer für das Männ-
liche, die Stoffe und das Bearbeitete fürs Weibliche stehen. Die
Symbolbeziehung wäre der Überrest der alten Wortidentität;
Dinge, die einmal gleich geheißen haben wie das Genitale, könn-
ten jetzt im Traum als Symbole für dasselbe eintreten.
Aus unseren Parallelen zur Traumsymbolik können Sie
aber auch Schätzung für den Charakter der Psychoanalyse ge-
winnen, der sie befähigt, Gegenstand des allgemeinen Interesses
zu werden, wie weder die Psychologie noch die Psychiatrie es
konnten. Es spinnen sich bei der psychoanalytischen Arbeit Be-
ziehungen zu so vielen anderen Geisteswissenschaften an, deren
Untersuchung die wertvollsten Aufschlüsse verspricht, zur
Mythologie wie zur Sprachwissenschaft, zum Folklore, zur
Völkerpsychologie und zur Religionslehre. Sie werden es ver-
ständlich finden, daß auf psychoanalytischem Boden eine Zeit-
schrift erwachsen ist, welche sich die Pflege dieser Beziehungen
zur ausschließlichen Aufgabe gemacht hat, die 1912 gegründete.
von Hanns Sachs und Otto Rank geleitete „Imago“. In all
diesen Beziehungen ist die Psychoanalyse zunächst der gebende,
weniger der empfangende Teil. Sie hat zwar den Vorteil davon,
184 | X. DER TRAUM.
daß uns ihre fremdartigen Ergebnisse durch das Wiederfinden
auf anderen Gebieten vertrauter werden, aber im ganzen ist es
die Psychoanalyse, welche die technischen Methoden und die
Gesichtspunkte beistellt, deren Anwendung sich auf jenen
anderen Gebieten fruchtbar erweisen soll. Das seelische Leben
des menschlichen Einzelwesens ergibt uns bei psychoanalytischer
Untersuchung die Aufklärungen, mit denen wir manches Rätsel
im Leben der Menschenmassen lösen oder doch ins rechte Licht
rücken können.
Übrigens habe ich Ihnen noch gar nicht gesagt, unter wel-
chen Umständen wir die tiefste Einsicht in jene supponierte
„Grundsprache‘“ nehmen können, auf welchem Gebiet am mei-
sten von ihr erhalten ist. Solange Sie dies nicht wissen, können
Sie auch die ganze Bedeutung des Gegenstandes nicht würdigen.
Dies Gebiet ist nämlich die Neurotik, sein Material. die Sym-
ptome und anderen Äußerungen der Nervösen, zu deren Auf-
klärung und Behandlung ja die Psychoanalyse geschaffen
worden ist.
Mein vierter Gesichtspunkt kehrt nun wieder zu unserem
Ausgang zurück und lenkt in die uns vorgezeichnete Bahn ein.
Wir sagten, auch wenn es keine Traumzensur gäbe, würde der
Traum uns doch noch nicht leicht verständlich sein, denn dann
fänden wir uns vor der Aufgabe, die Symbolsprache des Trau-
mes in die unseres wachen Denkens zu übersetzen. Die Sym-
bolik ist also ein zweites und unabhängiges Moment der Traum-
entstellung neben der Traumzensur. Es liegt aber nahe anzu-
nehmen, daß es der Traumzensur bequem ist, sich der Symbolik
zu bedienen, da diese zu demselben Ende, zur Fremdartigkeit und
Unverständlichkeit des Traumes, führt.
Ob wir bei weiterem Studium des Traumes nicht auf ein
neues Moment, welches zur Traumentstellung beiträgt, stoßen
%
DIE VIELSEITIGEN BEZIEHUNGEN DER PSYCHOANALYSE. 185
werden, muß sich ja alsbald zeigen. Das Thema der Traum-
symbolik möchte ich aber nicht verlassen, ohne nochmals das
Rätsel zu berühren, daß sie auf so heftigen Widerstand bei den
Gebildeten stoßen konnte, wo die Verbreitung der Symbolik in
Mythus, Religion, Kunst und Sprache so unzweifelhaft ist. Ob
nicht wiederum die Beziehung zur Sexualität die Schuld daran
trägt?
|— nm - _ on on
ELFTE VORLESUNG.
DER TRAUM.
DIE TRAUMARBEIT.
Meine Damen und Herren! Wenn Sie die Traumzensur und
die Symboldarstellung bewältigt haben, haben Sie die Traum-
entstellung zwar noch nicht gänzlich überwunden, aber Sie sind
doch im stande, die meisten Träume zu verstehen. Sie bedienen
sich dabei der beiden einander ergänzenden Techniken, rufen
Einfälle des Träumers auf, bis Sie vom Ersatz zum Eigentlichen
vorgedrungen sind, und setzen für die Symbole deren Bedeutung
aus eigener Kenntnis ein. Von gewissen Unsicherheiten, die sich
dabei ergeben, werden wir später handeln.
Wir können nun eine Arbeit wieder aufnehmen, die wir seiner-
zeit mit unzureichenden Mitteln versuchten, als wir die Be-
ziehungen zwischen den Traumelementen und ihren Eigentlichen
studierten und dabei vier solcher Hauptbeziehungen feststellten,
die des Teils vum Ganzen, die der Annäherung oder Anspielung,
die symbolische Beziehung und die plastische Wortdarstellung.
Dasselbe wollen wir im größeren Maßstabe unternehmen, in-
dem wir den manifesten Trauminhalt im ganzen mit dem durch
Deutung gefundenen latenten Traum vergleichen.
Ich hoffe, Sie werden diese beiden nie wieder miteinander
verwechseln. Wenn Sie das zu stande bringen, haben Sie im Ver-
ständnis des Traumes mehr erreicht als wahrscheinlich die mei-
sten Leser meiner „Traumdeutung“. Lassen Sie sich auch noch
TRAUMENTSTELLUNG UND TRAUMARBEIT. 187
—- -
einmal vorhalten, daß jene Arbeit, welche den latenten Traum
in den manifesten umsetzt, de Traumarbeit heißt. Die in
entgegengesetzter Richtung fortschreitende Arbeit, welche vom
manıfesten Traum zum latenten gelangen will, ist unsere
Deutungsarbeit. Die Deutungsarbeit will die Traumarbeit
aufheben. Die als evidente Wunscherfüllungen erkannten Träume
vom infantilen Typus haben doch ein Stück der Traumarbeit an
sich erfahren, nämlich die Umsetzung der Wunschform in die
Realität und zumeist auch die der Gedanken in visuelle Bilder.
Hier bedarf es keiner Deutung, nur der Rückbildung dieser beiden
Umsetzungen. Was bei den anderen Träumen an Traumarbeit
noch hinzugekommen ist, das heißen wir die Traumentstel-
lung, und diese ist durch unsere Deutungsarbeit rückgängig zu
machen.
Durch die Vergleichung vieler Traumdeutungen bin ich in
die Lage versetzt, Ihnen in zusammenfassender Darstellung an-
zugeben, was die Traumarbeit mit dem Material der latenten
Traumgedanken macht. Ich bitte Sie aber, davon nicht zuviel
verstehen zu wollen. Es ist ein Stück Deskription, welches mit
ruhiger Aufmerksamkeit angehört werden soll.
Die erste Leistung der Traumarbeit ist die Verdichtung.
‚Wir verstehen darunter die Tatsache, daß der manifeste Traum
weniger Inhalt hat als der latente, also eine Art von abgekürzter
Übersetzung des letzteren ist. Die Verdichtung kann eventuell
einmal fehlen, sie ist in der Regel vorhanden, sehr häufig enorm.
Sie schlägt niemals ins Gegenteil um, d. h. es kommt nicht vor,
daß der manifeste Traum umfang- und inhaltsreicher ist als der
latente. Die Verdichtung kommt dadurch zu stande, daß 1. ge-
wisse latente Elemente überhaupt ausgelassen werden, 2. daß
von manchen Komplexen des latenten Traumes nur ein Brocken
in den manifesten übergeht, 3. daß latente Elemente, die etwas
188 XI. DER TRAUM.
Gemeinsames haben, für den manifesten Traum zusammengelegt,
zu einer Einheit verschmolzen werden.
Wenn Sie wollen, können Sie den Namen „Verdichtung“
für diesen letzten Vorgang allein reservieren. Seine Effekte sind
besonders leicht zu demonstrieren. Aus Ihren eigenen Träumen
werden Sie sich mühelos an die Verdichtung verschiedener Per-
sonen zu einer einzigen erinnern. Eine solche Mischperson sieht
etwa aus wie A, ist aber gekleidet wie B, tut eine Verrichtung,
wie man sie von Ü erinnert, und dabei ist noch ein Wissen,
daß es die Person D ist. Durch diese Mischbildung wird natürlich
etwas den vier Personen Gemeinsames besonders hervorgehoben.
Ebenso wie aus Personen kann man aus Gegenständen oder aus
Örtlichkeiten eine Mischbildung herstellen, wenn die Bedingung
erfüllt ist, daß die einzelnen Gegenstände und Örtlichkeiten
etwas, was der latente Traum betont, miteinander gemein haben.
Es ist das wie eine neue und flüchtige Begriffsbildung mit die-
sem Gemeinsamen als Kern. Durch das Übereinanderfallen der
miteinander verdichteten Einzelnen entsteht in der Regel ein
unscharfes, verschwommenes Bild, so ähnlich, wie wenn Sie
mehrere Aufnahmen auf die nämliche Platte bringen.
Der Traumarbeit muß an der Herstellung solcher Misch-
bildungen viel gelegen sein, denn wir können nachweisen, daß
die hiezu erforderten Gemeinsamkeiten absichtlich hergestellt
werden, wo sie zunächst vermißt wurden, z. B. durch die Wahl
des wörtlichen Ausdrucks für einen Gedanken. Wir haben solche
Verdichtungen und Mischbildungen schon kennen gelernt; sie
spielten in der Entstehung mancher Fälle von Versprechen eine
Rolle. Erinnern Sie sich an den jungen Mann, der eine Dame
begleitdigen wollte. Außerdem gibt es Witze, deren Technik
sich auf eine solche Verdichtung zurückführt. Davon abgesehen,
darf man aber behaupten, daß dieser Vorgang etwas ganz Un-
DIE VERDICHTUNG. 189
gewöhnliches und Befremdliches ist. Die Bildung der Misch-
personen des Traumes findet zwar Gegenstücke in manchen
Schöpfungen unserer Phantasie, die leicht Bestandteile, welche
in der Erfahrung nicht zusammengehören, zu einer Einheit zu-
sammensetzt, also z. B. in den Centauren und Fabeltieren der
alten Mythologie oder der Böeklinschen Bilder. Die ‚„‚schöp-
ferische“ Phantasie kann ja überhaupt nichts erfinden, sondern
nur einander fremde Bestandteile zusammensetzen. Aber das
Sonderbare an dem Verfahren der Traumarbeit ist folgendes:
Das Material, das der Traumarbeit vorliegt, sind ja Gedanken, Ge-
danken, von denen einige anstößig und unannehmbar sein mögen,
die aber korrekt gebildet und ausgedrückt sind. Diese Gedanken
werden durch die Traumarbeit in eine andere Form übergeführt,
und es ist merkwürdig und unverständlich, daß bei dieser Über-
setzung, Übertragung wie in eine andere Schrift oder Sprache,
die Mittel der Verschmelzung und Kombination Anwendung
finden. Eine Übersetzung ist doch sonst bestrebt, die im Text
gegebenen Sonderungen zu achten und gerade Ähnlichkeiten aus-
einander zu halten. Die Traumarbeit bemüht sich ganz im Gegen-
teile, zwei verschiedene Gedanken dadurch zu verdichten, daß
sie ähnlich wie der Witz ein mehrdeutiges Wort heraussucht,
in dem sich die beiden Gedanken treffen können. Man muß
diesen Zug nicht sofort verstehen wollen, aber er kann für die
Auffassung der Traumarbeit bedeutungsvoll werden.
Obwohl die Verdichtung den Traum undurchsichtig macht,
bekommt man doch nicht den Eindruck, daß sie eine Wirkung
der Traumzensur sei. Eher möchte man sie auf mechanische
oder ökonomische Momente zurückführen ; aber die Zensur findet
jedenfalls ihre Rechnung dabei. |
Die Leistungen der Verdichtung können ganz außerordent-
liche sein. Mit ihrer Hilfe wird es gelegentlich möglich, zwei
190 XI. DER TRAUM. j
ganz verschiedene latente Gedankengänge in einem manifesten
Traum zu vereinigen, so daß man eine anscheinend zureichende
Deutung eines Traumes erhalten und dabei doch eine mögliche
Überdeutung übersehen kann.
Die Verdichtung hat auch für das Verhältnis zwischen dem
latenten und dem manifesten Traum die Folge, daß keine ein-
fache Beziehung zwischen den Elementen hier und dort bestehen
bleibt. Ein manifestes Element entspricht gleichzeitig mehreren
3atenten, und umgekehrt kann ein latentes Element an mehreren
manifesten beteiligt sein, also nach Art einer Verschränkung.
Bei der Deutung des Traumes zeigt es sich auch, daß die Ein-
fälle zu einem einzelnen manifesten Element nicht der Reihe
nach zu kommen brauchen. Man muß oft abwarten, bis der ganze
Traum gedeutet ist.
Die Traumarbeit besorgt also eine sehr ungewöhnliche Art
von Transkription der Traumgedanken, nicht eine Übersetzung
Wort für Wort oder Zeichen für Zeichen, auch nicht eine Aus-
wahl nach bestimmter Regel, wie wenn nur die Konsonanten
eines Wortes wiedergegeben, die Vokale aber ausgelassen wür-
den, auch nicht, was man eine Vertretung heißen könnte, daß
immer ein Element an Stelle mehrerer herausgegriffen wird,
sondern etwas anderes und weit Komplizierteres.
Die zweite Leistung der Traumarbeit ist die Ver-
schiebung. Für diese haben wir zum Glück schon vorge-
arbeitet; wir wissen ja, sie ist ganz das Werk der Traum-
zensur. Ihre beiden Äußerungen sind erstens, daß ein latentes
Element nicht durch einen eigenen Bestandteil, sondern durch
etwas Entfernteres, also durch eine Anspielung ersetzt wird,
und zweitens, daß der psychische Akzent von einem wichtigen
Element auf ein anderes, unwichtiges übergeht, so daß der Traum
anders zentriert und fremdartig erscheint. N
DIE VERSCHIEBUNG. 191
Die Ersetzung durch eine Anspielung ist auch in unserem
wachen Denken bekannt, aber es ist ein Unterschied dabei. Im
wachen Denken muß die Anspielung eine leicht verständliche
sein, und der Ersatz muß in inhaltlicher Beziehung zu seinem
Eigentlichen stehen. Auch der Witz bedient sich häufig der
Anspielung, er läßt die Bedingung der inhaltlichen Assoziation
fallen und ersetzt diese durch ungewohnte äußerliche Assozia-
tionen wie Gleichklang und Wortvieldeutigkeit u. a. Die Be-
dingung der Verständlichkeit hält er aber fest; der Witz käme
um jede Wirkung, wenn der Rückweg von der Anspielung zum
Eigentlichen sich nicht mühelos ergeben würde. Von beiden Ein-
schränkungen hat sich aber die Verschiebungsanspielung des
Traumes frei gemacht. Sie hängt durch die äußerlichsten und
entlegensten Beziehungen mit dem Element, das sie ersetzt, zu-
sammen, ist darum unverständlich, und wenn sie rückgängig
gemacht wird, macht ihre Deutung den Eindruck eines mib-
ratenen Witzes oder einer gewaltsamen. gezwungenen, an den Haa-
ren herbeigezogenen Auslegung. Die Traumzensur hat eben nur
dann ihr Ziel erreicht, wenn es ihr gelungen ist, den Rück-
weg von der Anspielung’ zum Eigentlichen unauffindbar zu
machen.
Die Akzentverschiebung ist als Mittel des Gedanken-
ausdrucks unerhört. Wir lassen sie im wachen Denken manchmal
zu, um einen komischen Effekt zu erzielen. Den Eindruck der
Verirrung, den sie macht, kann ich etwa bei Ihnen hervorrufen,
wenn ich Sie an die Anekdote erinnere, daß es in einem Dorf
einen Schmied gab, der sich eines todeswürdigen Verbrechens
schuldig gemacht hatte. Der Gerichtshof beschloß, daß die Schuld
gesühnt werde, aber da der Schmied allein im Dorfe und un-
entbehrlich war, dagegen drei Schneider im Dorfe wohnten,
wurde einer dieser drei an seiner Statt gehängt.
192 XI. DER TRAUM.
Die dritte Leistung der Traumarbeit ist die psychologisch
interessanteste. Sie besteht in der Umsetzung von Gedanken in
visuelle Bilder. Halten wir fest, daß nicht alles in den Traum-
gedanken diese Umsetzung erfährt; manches behält seine Form
und erscheint auch im manifesten Traum als Gedanke oder als
Wissen; auch sind visuelle Bilder nicht die einzige Form, ın
welche die Gedanken umgesetzt werden. Aber sie sind doch das
‚Wesentliche an der Traumbildung; dieses Stück der Traum-
arbeit ist das zweitkonstanteste, wie wir schon wissen, und für
einzelne Traumelemente haben wir die „plastische ‚Wortdarstel-
lung“ bereits kennen gelernt.
Es ist klar, daß diese Leistung keine leichte ist. Um sich
einen Begriff von ihren Schwierigkeiten zu machen, müssen Sie
sich vorstellen, Sie hätten die Aufgabe übernommen, einen poli-
tischen Leitartikel einer Zeitung durch eine Reihe von Illustra-
tionen zu ersetzen, Sie wären also von der Buchstabenschrift zur
Bilderschrift zurückgeworfen. Was in diesem Artikel von Per-
sonen und konkreten Gegenständen genannt wird, das werden
Sıe leicht und vielleicht selbst mit Vorteil durch Bilder ersetzen,
aber die Schwierigkeiten erwarten Sie bei der Darstellung aller
abstrakten Worte und aller Redeteile, die Denkbeziehungen an-
zeigen wie der Partikeln, Konjunktionen u. dgl. Bei den ab-
strakten Worten werden Sie sich durch allerlei Kunstgriffe
helfen können. Sie werden z. B. bemüht sein, den Text des Ar-
tikels in anderen Wortlaut umzusetzen, der vielleicht ungewohn-
ter klingt, aber mehr konkrete und der Darstellung fähige Be-
standteile enthält. Dann werden Sie sich erinnern, daß die mei-
sten abstrakten Worte abgeblaßte konkrete sind, und werden
darum, so oft Sie können, auf die ursprüngliche konkrete Be-
deutung dieser Worte zurückgreifen. Sie werden also froh sein,
daß Sie ein „Besitzen“ eines Objekts als ein wirkliches körper-
DIE PLASTISCHE DARSTELLUNG. 133
liches Daraufsitzen darstellen können. So macht es auch die
Traumarbeit. Große Ansprüche an die Genauigkeit der Dar-
stellung werden Sie unter solchen Umständen kaum machen
können. Sie werden es also auch der Traumarbeit hingehen las-
sen, dab sie z. B. ein so schwer bildlich zu bewältigendes Element
wie .Ehebruch durch einen anderen Bruch, einen Beinbruch, er-
setzt.*) Auf solche Weise werden Sie es dazu bringen, die Unge-
schicklichkeiten der Bilderschrift, wenn sie die Buchstabenschrift
ersetzen soll, einigermaßen auszugleichen.
*) Der Zufall führt mir während der Korrektur dieser Bogen eine
Zeitungsnotiz zu, die ich als unerwartete Erläuterung zu den obigen Sätzen
‚ hier abdrucke:
DIE STRAFE GOTTES.
Armbruch für Ehebruch.
Frau Anna M., die Gattin eines Landstürmers, klagte die Frau Kle-
mentine K. wegen Ehebruches. In der Klage heißt es, daß die K. mit
Karl M, ein strafbares Verhältnis gepflogen habe, während ihr eigener
Mann im Felde steht, von wo er ihr sogar siebzig Kronen monatlich schickt.
Die K. habe von dem Gatten der Klägerin schon ziemlich viel Geld
erhalten, während sie mit ihrem Kinde in Hunger und Elend leben
müsse. Kameraden ihres Mannes hatten ihr hinterbracht, daß die K. mit
M. Weinstuben besucht und dort bis in die späte Nacht hinein gezecht habe,
Einmal habe die Angeklagte den Mann der Klägerin vor mehreren Infan-
teristen sogar gefragt, ob er sich denn nicht von seiner »Alten« schon bald
scheiden lasse, um zu ihr zu ziehen. Auch die Hausbesorgerin der K. habe
den Mann der Klägerin wiederholt im tiefsten Negligee in der Wohnung der
K. gesehen.
Die K. leugnete gestern vor einem Richter der Leopoldstadt, den
M. zu kennen, von intimen Beziehungen könne schon gar keine Rede sein,
Die Zeugin Albertine M. gab jedoch an, daß die K. den Gatten der
Klägeriu geküßt habe und dabei von ihr überrascht wurde.
Der schon in einer früberen Verhandlung als Zeuge vernommene
M. hatte damals die intimen Beziehungen zur Angeklagten in Abrede ge-
stellt. Gestern lag dem Richter ein Brief vor, worin der Zeuge seine in
der ersten Verhandlung gemachten Aussagen widerrief und zugibt, bis vorigen
Juni mit der K. ein Liebesverhältnis unterhalten zu haben. Er habe in der
früheren Verhandlung seine Beziehungen zur Beschuldigten bloß deswegen
Fr:ud, Vorlesungen. III. 13
194 XI. DER TRAUM.
Bei der Darstellung der Redeteile, welche Denkrelationen
anzeigen, des: weil, darum, aber usw., haben Sie keine derartigen
Hilfsmittel; diese Bestandteile des Textes werden also für Ihre
Umsetzung in Bilder verloren gehen. Ebenso wird durch die
Traumarbeit der Inhalt der Traumgedanken in sein Rohmaterial
von Objekten und Tätigkeiten aufgelöst. Sie können zufrieden
sein, wenn sich Ihnen die Möglichkeit ergibt, gewisse an sich
nicht darstellbare Relationen in der feineren Ausprägung der
Bilder irgendwie anzudeuten. Ganz so gelingt es der Traum-
arbeit, manches vom Inhalt der latenten Traumgedanken in for-
malen Eigentümlichkeiten des manifesten Traumes auszudrücken,
in der Klarheit oder Dunkelheit desselben, in seiner Zerteilung
in mehrere Stücke u. ä. Die Anzahl der Partialträume, in welche
ein Traum zerlegt ist, korrespondiert in der Regel mit der An-
zahl der Hauptthemen, der Gedankenreihen im latenten Traum;
ein kurzer Vortraum steht zum nachfolgenden ausführlichen
Haupttraum oft in der Beziehung einer Einleitung oder einer
Motivierung; ein Nebensatz in den Traumgedanken wird durch
einen eingeschalteten Szenenwechsel im manifesten Traum er-
setzt usw. Die Form der Träume ist also an sich keineswegs
bedeutungslos und fordert selbst zur Deutung heraus. Mehrfache
Träume derselben Nacht haben oft die nämliche Bedeutung
und zeigen die Bemühung an, einen Reiz von ansteigender Dring-
lichkeit immer besser zu bewältigen. Im einzelnen Traum selbst
in Abrede gestellt, weil diese vor der Verhandlung bei ihm erschienen sei
und ihn kniefällig gebeten habe, er möge sie doch retten und nichts
aussagen. »Heute« — schrieb der Zeuge — »fühle ich mich dazu gedrängt,
dem Gerichte ein volles Geständnis abzulegen, da ich meinen linken Arm
gebrochen habe und mir dies als eine Strafe Gottes für mein Vergehen
erscheint.«
Der Richter stellte fest, daß die strafbare Handlung bereits verjährt
ist, worauf die Klägerin ihre Klage zurückzog und der Freispruch der
Angeklagten erfolgte.
DARSTELLUNG DER RELATIONEN. 195
kann ein besonders schwieriges Element eine Darstellung durch
„Doubletten“, mehrfache Symbole, finden.
Bei fortgesetzten Vergleichungen der Traumgedanken mit
den sie ersetzenden manifesten Träumen erfahren wir allerlei,
worauf wir nicht vorbereitet sein konnten, z. B. daß auch der
Unsinn und die Absurdität der Träume ihre Bedeutung haben.
Ja, in diesem Punkte spitzt sich der Gegensatz der medizinischen
und der psychoanalytischen Auffassung des Traumes zu einer
sonst nicht erreichten Schärfe zu. Nach ersterer ist der Traum
unsinnig, weil die träumende Seelentätigkeit jede Kritik ein-
gebüßt hat; nach unserer dagegen wird der Traum dann un-
sinnig, wenn eine in den Traumgedanken enthaltene Kritik,
das Urteil: Es ist unsinnig, zur Darstellung gebracht werden
soll. Der Ihnen bekannte Traum vom Theaterbesuch (drei Kar-
ten für 1 fl. 50) ist ein gutes Beispiel dafür. Das so ausge-
drückte Urteil lautet: Es war ein Unsinn, so früh zu heiraten.
Ebenso erfahren wir bei der Deutungsarbeit, was den so
häufig vom Träumer mitgeteilten Zweifeln und Unsicherheiten
entspricht, ob ein gewisses Element im Traume vorgekommen,
ob es dies oder nicht vielmehr etwas anderes gewesen sei. Die-
sen Zweifeln und Unsicherheiten entspricht in der Regel in
den latenten Traumgedanken nichts; sie rühren durchweg von
der Wirkung der Traumzensur her und sind einer versuchten,
nicht voll gelungenen, Ausmerzung gleichzusetzen.
Zu den überraschendsten Funden gehört die Art, wie die
Traumarbeit Gegensätzlichkeiten des latenten Traumes behan-
delt. Wir wissen schon, daß Übereinstimmungen in latentem
Material durch Verdichtungen im manifesten Traum ersetzt
werden. Nun Gegensätze werden ebenso behandelt wie Über-
einstimmungen, mit besonderer Vorliebe durch das nämliche
manifeste Element ausgedrückt. Ein Element im manifesten
13*
196 XI. DER TRAUM.
Traum, welches eines Gegensatzes fähig ist, kann also ebensowohl
sich selbst bedeuten wie seinen Gegensatz oder beides zugleich;
erst der Sinn kann darüber entscheiden, welche Übersetzung
zu wählen ist. Damit hängt es dann zusammen, daß eine Dar-
stellung des „Nein“ im Traume nicht zu finden ist, wenigstens
keine unzweideutige.
Eine willkommene Analogie für dies befremdende Benehmen
der Traumarbeit hat uns die Sprachentwicklung geliefert. Manche
Sprachforscher haben die Behauptung aufgestellt, daß in den
ältesten Sprachen Gegensätze wie stark—schwach, licht—dunkel,
&roß—klein durch das nämliche Wurzelwort ausgedrückt wur-
den. („Der Gegensinn der Urworte.‘“) So hieß im Altägyptischen
ken ursprünglich stark und schwach. In der Rede schützte man
. sich vor Mißverständnissen beim Gebrauch so ambivalenter
‘Worte durch den Ton und die beigefügte Geste, in der Schrift
durch die Hinzufügung eines sogenannten Determinativs, d. h.
eines Bildes, das selbst nicht zur Aussprache bestimmt war. Ken —
stark wurde also geschrieben, indem nach den Buchstabenzeichen
das Bild eines aufrechten Männchens hingesetzt wurde; wenn
ken — schwach gemeint war, so folgte das Bild eines nachlässig
hockenden Mannes nach. Erst später wurden durch leichte Modifi-
kationen des gleichlautenden Urwortes zwei Bezeichnungen für
die darin enthaltenen Gegensätze gewonnen. So entstand aus
ken stark—schwach, ein ken stark und ein kan schwach. Nicht
nur die ältesten Sprachen in ihren letzten Entwicklungen, son-
dern auch weit jüngere und selbst heute noch lebende Sprachen
sollen reichlich Überreste dieses alten Gegensinnes bewahrt ha-
‚ben. Ich will Ihnen einige Belege hiefür nach ©. Abel (1884) mit-
teilen.
Im Lateinischen sind solche immer noch ambivalente Worte:
altus (hoch—tief) und sacer (heilig—verrucht).
DER GEGENSINN DER URWORTE. 197
Als Beispiele von Modifikationen derselben Wurzel er-
wähne ich:
elamare — schreien, clam — leise, still, geheim;
sieeus — trocken, sucdus — Saft.
Dazu aus dem Deutschen: Stimme — stumm.
Bezieht man verwandte Sprachen aufeinander, so ergeben
sich reichliche Beispiele: |
Englisch: loek — schließen; Deutsch: Loch, Lücke;
Englisch: eleave — spalten; Deutsch: kleben.
Das englische without eigentlich mit—ohne wird heute
für ohne verwendet; daß with außer seiner zuteilenden auch
eine entziehende Bedeutung hatte, geht noch aus den Zusam-
mensetzungen: withdraw, withhold hervor. Ähnlich das
deutsche wieder.
Noch eine andere Eigentümlichkeit der Traumarbeit findet
in der Sprachentwicklung ihr Gegenstück. In der altägyptischen
kam es wie in anderen späteren Sprachen vor, daß die Lautfolge
der Worte für denselben Sinn umgekehrt wurde. Solche Bei-
spiele zwischen dem Englischen und dem Deutschen sind:
Topf — pot; boat — tub; hurry (eilen) — Ruhe;
Balken — Kloben, elub; wait (warten) — täuwen.
Zwischen dem Lateinischen und dem Deutschen
capere — packen; ren — Niere.
Solche Umkehrungen, wie sie hier am einzelnen Wort vor-
genommen werden, kommen durch die Traumarbeit in sehr ver-
schiedener Weise zu stande. Die Umkehrung des Sinnes, Er-
setzung durch das Gegenteil, kennen wir bereits. Außerdem fin-
den sich in Träumen Umkehrungen der Situation, der Beziehung
zwischen zwei Personen, also wie in der „verkehrten Welt“.
Im Traum schießt häufig genug der Hase auf den Jäger. Fer-
ner Umkehrung in der Reihenfolge der Begebenheiten, so daß
198 XI. DER TRAUM.
die kausal vorangehende der ihr nachfolgenden im Traume nach-
gesetzt wird. Das ist dann wie in der Aufführung eines Stückes
in einer schlechten Schmiere, wo zuerst der Held hinfällt und
erst nachher aus der Kulisse der Schuß abgefeuert wird, der
ihn tötet. Oder es gibt Träume, in denen die ganze Ordnung
der Elemente verkehrt ist, so daß man in der Deutung ihr letz-
tes zuerst und ihr erstes zuletzt nehmen muß, um einen Sinn
herauszubekommen. Sie erinnern sich auch aus unseren Studien
über die Traumsymbolik, daß ins Wasser gehen oder fallen das-
selbe bedeutet wie aus dem Wasser kommen, nämlich gebären
oder geboren werden, und daß eine Treppe, Leiter, hinaufsteigen
dasselbe ist wie sie heruntergehen. Es ist unverkennbar, welchen
Vorteil die Traumentstellung aus solcher Darstellungsfreiheit
ziehen kann.
Diese Züge der Traumarbeit darf man als archaische be-
zeichnen. Sie haften ebenso den alten Ausdruckssystemen, Spra-
chen und Schriften an und bringen dieselben Erschwerungen mit
sich, von denen in einem kritischen Zusammenhange noch die
Rede sein wird.
Nun noch einige andere Gesichtspunkte. Bei der Traum-
arbeit handelt es sich offenbar darum, die in Worte gefaßten
latenten Gedanken in sinnliche Bilder, meist visueller Natur,
umzusetzen. Nun sind unsere Gedanken aus solchen Sinnes-
bildern hervorgegangen; ihr erstes Material und ihre Vorstufen
waren Sinneseindrücke, richtiger gesagt, die Erinnerungsbilder
von solchen. An diese wurden erst später Worte geknüpft und
diese dann zu Gedanken verbunden. Die Traumarbeit läßt also
die Gedanken eine regressive Behandlung erfahren, macht
deren Entwicklung rückgängig, und bei dieser Regression muß
all das wegfallen, was bei der Fortentwicklung der Erinnerungs-
bilder zu Gedanken als neuer Erwerb dazugekommen ist.
ARCHAISCHE ZÜGE DER TRAUMARBEIT. 199
Dies wäre also die Traumarbeit. Gegen die Vorgänge, die
wir bei ıhr kennen gelernt haben, mußte das Interesse am mani-
festen Traum weit zurücktreten. Ich will aber diesem letzteren,
der doch das einzige uns unmittelbar bekannte ist, noch einige
Bemerkungen widmen. |
Es ist natürlich, daß der manifeste Traum für uns an
Bedeutung verliert. Es muß uns gleichgültig erscheinen, ob er
gut komponiert oder in eine Reihe von Einzelbildern ohne Zu-
sammenhang aufgelöst ist. Selbst wenn er eine anscheinend sinn-
volle Außenseite hat, wissen wir doch, daß diese durch Traum-
entstellung entstanden sein und zum inneren Gehalt des Trau-
mes so wenig organische Beziehung haben kann wie die Fassade
einer italienischen Kirche zu deren Struktur und Grundriß.
Andere Male hat auch diese Fassade des Traumes ihre Be-
deutung, indem sie einen wichtigen Bestandteil der latenten
Traumgedanken wenig oder gar nicht entstellt wiederbringt.
Aber wir können das nicht wissen, ehe wir den Traum der Deu-
tung unterzogen und dadurch ein Urteil gewonnen haben, wel-
ches Maß von Entstellung Platz gegriffen hat. Ein ähnlicher
Zweifel gilt für den Fall, daß zwei Elemente im Traum in nahe
Beziehung zueinander gebracht scheinen. Es kann darin ein
wertvoller Wink enthalten sein, daß man auch das diesen Elemen-
ten im latenten Traum Entsprechende zusammenfügen darf, aber
andere Male kann man sich überzeugen, daß, was in Gedanken
zusammengehört, im Traum auseinandergerissen worden ist.
Im allgemeinen muß man sich dessen enthalten, einen Teil
des manifesten Traumes aus einem anderen erklären zu wollen,
als ob der Traum kohärent konzipiert und eine pragmatische
Darstellung wäre. Er ist vielmehr zumeist einem Breceiagestein
vergleichbar, aus verschiedenen Gesteinsbrocken mit Hilfe eines
Bindemittels hergestellt, so daß die Zeichnungen, die sich dabei
200 XI. DER TRAUM.
ergeben, nicht den ursprünglichen Gesteinseinschlüssen ange-
hören. Es gibt wirklich ein Stück der Traumarbeit, die sogenannte
sekundäre Bearbeitung, dem daran gelegen ist, aus den näch-
sten Ergebnissen der Traumarbeit etwas Ganzes, ungefähr Zu-
sammenpassendes herzustellen. Dabei wird das Material nach
einem oft ganz mißverständlichen Sinn angeordnet und, wo es
nötig scheint, Einschübe vorgenommen.
Anderseits darf man auch die Traumarbeit nicht über-
schätzen, ihr nicht zuviel zutrauen. Mit den aufgezählten Lei-
stungen ist ihre Tätigkeit erschöpft; mehr als verdichten, ver-
schieben, plastisch darstellen und das Ganze dann einer sekun-
dären Bearbeitung unterziehen, kann sie nicht. Was sich im
Traum von Urteilsäußerungen, von Kritik, Verwunderung, Fol-
gerung: findet, das sind nicht Leistungen der Traumarbeit, nur
sehr selten Äußerungen des Nachdenkens über den Traum, son-
dern zumeist Stücke der latenten Traumgedanken, die mehr
oder weniger modifiziert und dem Zusammenhange angepaßt in
den manifesten Traum übergetreten sind. Auch Reden kom-
ponieren kann die Traumarbeit nicht. Bis auf wenige angebbare
Ausnahmen sind die Traumreden Nachbildungen und Zusammen-
setzungen von Reden, die man am Traumtag gehört oder selbst
gehalten hat, und die als Material oder als Traumanreger in die
latenten Gedanken eingetragen worden sind. Ebensowenig kann
die Traumarbeit Rechnungen anstellen; was sich davon im mani-
festen Traum findet, sind zumeist Zusammenstellungen von Zah-
len, Scheinrechnungen, als Rechnungen ganz unsinnig und
wiederum nur Kopien von Rechnungen in den latenten Traum-
gedanken. Bei diesen Verhältnissen ist es auch nicht zu verwun-
dern, daß das Interesse, welches sich der Traumarbeit zugewendet
hat, bald von ihr weg. zu den latenten Traumgedanken strebt,
die sich mehr oder weniger entstellt durch den manifesten Traum
DER MANIFESTE TRAUMINHALT. 201
verraten. Es ist aber nicht zu rechtfertigen, wenn dieser Wan-
del so weit geht, daß man in der theoretischen Betrachtung die
latenten Traumgedanken an Stelle des Traumes überhaupt setzt
und von letzterem etwas aussagt, was nur für die ersteren gel-
ten kann. Es ist sonderbar, daß die Ergebnisse der Psycho-
analyse für eine solche Verwechslung mißbraucht werden konn-
ten. „Iraum‘“ kann man nichts anderes nennen als das Ergebnis
der Traumarbeit, d. h. also die Form, in welche die latenten Ge-
danken durch die Traumarbeit überführt worden sind.
Die Traumarbeit ist ein Vorgang ganz singulärer Art, dessen-
gleichen bisher im Seelenleben nicht bekannt worden ist. Der-
artige Verdichtungen, Verschiebungen, regressive Umsetzungen
von Gedanken in Bilder sind Neuheiten, deren Erkenntnis die
psychoanalytischen Bemühungen bereits reichlich belohnt. Sie
entnehmen auch wiederum aus den Parallelen zur Traumarbeit,
welche Zusammenhänge der psychoanalytischen Studien mit an-
deren Gebieten, speziell mit der Sprach- und Denkentwicklung,
aufgedeckt werden. Die weitere Bedeutung dieser Einsichten
können Sie erst ahnen, wenn Sie erfahren, daß die Mechanismen
der Traumbildung vorbildlich für die Entstehungsweise der
neurotischen Symptome sind.
Ich weiß auch, daß wir den ganzen Neuerwerb, der aus
diesen Arbeiten für die Psychologie resultiert, noch nicht über-
sehen können. Wir wollen nur darauf hinweisen, welche neuen
Beweise sich für die Existenz unbewußter seelischer Akte —
das sind ja die latenten Traumgedanken — ergeben haben, und
wie uns die Traumdeutung einen ungeahnt breiten Zugang zur
Kenntnis des unbewußten Seelenlebens verspricht.
Nun wird es aber wohl an der Zeit sein, daß ich Ihnen an
verschiedenen kleinen Traumbeispielen einzeln vorführe, worauf
ich Sie im Zusammenhange vorbereitet habe.
ZWÖLFTE VORLESUNG.
DER TRAUM.
ANALYSEN VON TRAUMBEISPIELEN.
Meine Damen und Herren! Seien Sie nun nicht enttäuscht,
wenn ich Ihnen wiederum Bruchstücke von Traumdeutungen vor-
lege, anstatt Sie zur Teilnahme an der Deutung eines schönen
großen Traumes einzuladen. Sie werden sagen, nach sovielen
Vorbereitungen hätten Sie ein Recht darauf, und werden Ihrer
Überzeugung Ausdruck geben, daß es nach. gelungener Deu-
tung von soviel tausend Träumen längst hätte möglich wer-
den müssen, eine Sammlung von ausgezeichneten Traumbeispielen
zusammenzutragen, an welcher sich alle unsere Behauptungen
über Traumarbeit und Traumgedanken demonstrieren ließen. Ja,
aber der Schwierigkeiten, welche der Erfüllung Ihres Wunsches
im.Wege stehen, sind zu viele. |
Vor allem muß ich Ihnen gestehen, daß es niemand gibt,
der die Traumdeutung als seine Hauptbeschäftigung betreibt.
Wann kommt man denn dazu, Träume zu deuten? Gelegentlich
kann man sich ohne besondere Absicht mit den Träumen einer
befreundeten Person beschäftigen, oder man arbeitet eine Zeit-
lang seine eigenen Träume durch, um sich für psychoanalytische
Arbeit zu schulen; zumeist hat man es aber mit den Träumen
nervöser Personen zu tun, die in analytischer Behandlung stehen.
Diese letzteren Träume sind ausgezeichnetes Material und stehen '
in keiner Weise hinter denen Gesunder zurück, aber man ist
durch die Technik der Behandlung genötigt, die Traumdeutung
SCHWIERIGKEITEN DER AUSWAHL. 203
den therapeutischen Absichten unterzuordnen und eine ganze
Anzahl von Träumen stehen zu lassen, nachdem man ihnen etwas
für die Behandlung Brauchbares entnommen hat. Manche Träume,
die in den Kuren vorfallen, entziehen sich überhaupt einer voll-
ständigen Deutung. Da sie aus der Gesamtmenge des uns noch
unbekannten psychischen Materials erwachsen sind, wird ihr
Verständnis erst nach Abschluß der Kur möglich. Die Mitteilung
solcher Träume würde auch die Aufdeckung aller Geheimnisse
einer Neurose notwendig machen; das geht also nicht bei uns,
die wir den Traum als Vorbereitung für das Studium der
Neurosen in Angriff genommen haben.
Nun würden Sie gerne auf dies Material verzichten und
wollten lieber Träume von gesunden Menschen oder eigene
Träume erläutert hören. Das geht aber wegen des Inhalts dieser
Träume nicht an. Man kann weder sich selbst noch einen an-
deren, dessen Vertrauen man in Anspruch genommen hat, so
rücksichtslos bloßstellen, wie es die eingehende Deutung seiner
Träume mit sich brächte, die, wie Sie bereits wissen, das Intimste
seiner Persönlichkeit betreffen. Außer dieser Schwierigkeit der
Materialbeschaffung kommt für die Mitteilung eine andere in
Betracht. Sie wissen, der Traum erscheint dem Träumer selbst
fremdartig, geschweige denn einem anderen, dem die Person des
Träumers unbekannt ist. Unsere Literatur ist nicht arm an guten
und ausführlichen Traumanalysen; ich selbst habe einige im
Rahmen von Krankengeschichten veröffentlicht; vielleicht das
schönste Beispiel einer Traumdeutung ist das von O. Rank mit-
geteilte, zwei aufeinander bezügliche Träume eines jungen Mäd-
chens, die im Druck etwa zwei Seiten einnehmen; die Analyse
dazu umfaßt aber 76 Seiten. Ich brauchte etwa ein ganzes Se-
mester, um Sie durch eine solche Arbeit hindurch zu geleiten.
Wenn man einen irgend längeren und stärker entstellten Traum
204 XII. DER TRAUM.
vornimmt, so muß man soviel Aufklärungen dazugeben, soviel
Material von Einfällen und Erinnerungen heranziehen, auf so
viele Seitenwege eingehen, daß ein Vortrag darüber ganz un-
übersichtlich und unbefriedigend ausfallen würde. Ich muß Sie
also bitten, sich mit dem zu begnügen, was leichter zu haben
ist, mit der Mitteilung von kleinen Stücken aus Träumen von
neurotischen Personen, an denen man dies oder jenes isoliert
erkennen kann. Am leichtesten lassen sich die Traumsymbole
demonstrieren, dann noch gewisse Eigentümlichkeiten der re-
gressiven Traumdarstellung. Ich werde Ihnen von jedem der
nun folgenden Träume angeben, weshalb ich ihn für mitteilens-
wert erachtet habe.
1. Ein Traum besteht nur aus zwei kurzen Bildern: Sein
Onkel raucht eine Zigarette, obwohles Samstag
ist. — Eine Frau streichelt und liebkost ihn wie
ihr Kind.
Zum ersten Bild bemerkt der Träumer (Jude), sein Onkel
sei ein frommer Mann, der etwas derart Sündhaftes nie getan
hat und nie tun würde. Zur Frau im zweiten Bild fällt ihm
nichts anderes ein als seine Mutter. Diese beiden Bilder oder
Gedanken sind offenbar in Beziehung zu einander zu setzen. Aber
wie? Da er die Realität für das Tun des Onkels ausdrücklich av
gestritten hat, so liegt es nahe, ein „Wenn“ einzufügen. „Wenn
mein Onkel, der heilige Mann, am Samstag eine Zigarette rau-
chen würde, dann dürfte ich mich auch von der Mutter lieb-
kosen lassen.“ Das heißt offenbar, das Kosen mit der Mutter sei
auch etwas Unerlaubtes wie das Rauchen am Samstag für den
frommen Juden. Sie erinnern sich, daß ich Ihnen sagte, bei der
Traumarbeit fielen alle Relationen zwischen den Traumgedanken
weg, diese werden inihr Rohmaterial aufgelöst, und es ist Aufgabe
der Deutung, die weggelassenen Beziehungen wieder einzusetzen.
TRAUMBEISPIELE. 205
2. Durch meine Veröffentlichungen über den Traum bin ich
in gewisser Hinsicht öffentlicher Konsulent für Traumangelegen-
heiten geworden und erhalte seit vielen Jahren Zuschriften von
den verschiedensten Seiten, in denen mir Träume mitgeteilt oder
zur Beurteilung vorgelegt werden. Ich bin natürlich allen jenen
dankbar, die zum Traum soviel Material hinzufügen, daß eine
Deutung möglich wird, oder die selbst eine solche Deutung geben.
In diese Kategorie gehört nun der folgende Traum eines Medi-
ziners aus München vom Jahre 1910. Ich bringe ihn vor, weil
er Ihnen beweisen kann, wie unzugänglich im allgemeinen ein
Traum dem Verständnis ist, ehe der Träumer uns seine Äus-
künfte dazu gegeben hat. Ich vermute nämlich, daß Sie im
Grunde die Traumdeutung durch Einsetzen der Symbolbedeutung
für die ideale halten, die Technik der Assoziation zum Traum
aber beiseite schieben möchten, und will Sie von diesem schäd-
lichen Irrtum frei machen. |
13. Juli 1910: Gegen morgen träume ich: Ich fahre mit
demRadin Tübingen die Straße herunter, alsein
brauner Dachshund hinter mir drein rast und
mich aneiner Ferse faßt. Ein Stück weiter steige
ich ab, setze mich auf eine Staffel und fange an,
auf das Vieh loszutrommeln, das sich fest ver-
bissen hat. (Unangenehme Gefühle habe ich von dem Beißen
und der ganzen Szene nicht.) Gegenüber sitzen ein paar
ältere Damen, die mir grinsend zusehen. Dann
wache ich auf und wie schon öfter, ist mir in
diesem Moment des Übergangs zum Wachen der
ganze Traum klar.
Mit Symbolen ist hier wenig auszurichten. Der Träumer
berichtet uns aber: ‚Ich habe mich in der letzten Zeit in
ein Mädchen verliebt, nur so vom Sehen auf der Straße, habe
206 XII. DER TRAUM.
aber keinerlei Anknüpfungspunkte gehabt. Dieser Anknüpfungs-
punkt hätte für mich am angenehmsten der Dachshund sein
können, zumal ich ein großer Tierfreund bin und diese Eigen-
schaft; auch bei dem Mädchen sympathisch empfunden habe.“ Er
fügt auch hinzu, daß er wiederholt mit großem Geschick und
oft zum Erstaunen der Zuschauer in die Kämpfe miteinander
raufender Hunde eingegriffen habe. Wir erfahren also, daß das
Mädchen, welches ihm gefiel, stets in Begleitung dieses beson-
deren Hundes zu sehen war. Dies Mädchen ist aber für den
manifesten Traum beseitigt worden, nur der mit ihr assoziierte
Hund ist geblieben. Vielleicht sind die älteren Damen, die ihn
angrinsen, an die Stelle des Mädchens getreten. Was er sonst
noch mitteilt, reicht zur Aufklärung dieses Punktes nicht aus.
Daß er im Traume auf dem Rade fährt, ist direkte Wiederholung
der erinnerten Situation. Er war dem Mädchen mit dem Hunde
immer nur, wenn er zu Rade war, begegnet.
3. Wenn jemand einen seiner teueren Angehörigen verloren
hat, so produziert er durch längere Zeit nachher Träume von
besonderer Art, in denen das Wissen um den Tod mit dem Be-
dürfnis, den Toten wiederzubeleben, die merkwürdigsten Kom-
promisse abschließt. Bald ist der Verstorbene tot und lebt dabei
doch weiter, weil er nicht weiß, daß er tot ist, und wenn er es
wüßte, stürbe er erst ganz; bald ist er halb tot und halb lebendig,
und jeder dieser Zustände hat seine besonderen Anzeichen. Man
darf diese Träume nicht einfach unsinnige nennen, denn das
Wiederbelebtwerden ist für den Traum nicht unannehmbarer als
z. B. für das Märchen, in dem es als ein sehr gewöhnliches Schick-
sal vorkommt. Soweit ich solche Träume analysieren konnte,
ergab es sich, daß sie einer vernünftigen Lösung fähig sind, aber
daß der pietätvolle Wunsch, den Toten ins Leben zurückzurufen,
mit den seltsamsten Mitteln zu arbeiten versteht. Ich lege Ihnen
EIN TRAUM VOM TOTEN VATER. 207
hier einen solchen Traum vor, der sonderbar und unsinnig genug
klingt, und dessen Analyse Ihnen vieles von dem vorführen wird,
worauf Sie durch unsere theoretischen Ausführungen vorbereitet
sind. Der Traum eines Mannes, der seinen Vater vor mehreren
Jahren verloren hatte:
Der Vater ist gestorben, aber exhumiert wor-
den und sieht schlecht aus. Er lebt seitdem fort,
undderTräumertutalles, damiteresnicht merkt.
(Dann übergeht der Traum auf andere, scheinbar sehr fern-
liegende Dinge.)
Der Vater ist gestorben, das wissen wir. Daß er
exhumiert worden, entspricht nicht der Wirklichkeit, die
ja auch für alles weitere nicht in Betracht kommt. Aber der
Träumer erzählt: Nachdem er vom Begräbnis des Vaters zurück-
gekommen war, begann ihn ein Zahn zu schmerzen. Er wollte
diesen Zahn nach der Vorschrift der jüdischen Lehre behandeln:
Wenn dich dein Zahn ärgert, so reiße ihn aus, und begab sich
zum Zahnarzt. Der aber sagte: Einen Zahn reißt man nicht,
man muß Geduld mit ihm haben. Ich werde etwas einlegen, um
ihn zu töten; nach drei Tagen kommen Sie wieder, dann werde
ich’s herausnehmen.
Dies „Herausnehmen“, sagt der Träumer plötzlich, das ist
das Exhumieren.
Sollte der Träumer Recht haben? Es stimmt zwar nicht
ganz, nur so ungefähr, denn der Zahn wird ja nicht heraus-
genommen, sondern etwas, das Abgestorbene, aus ihm. Aber der-
gleichen Ungenauigkeiten darf man der Traumarbeit nach an-
deren Erfahrungen wohl zutrauen. Dann hätte der Träumer den
verstorbenen Vater mit dem getöteten und doch erhaltenen Zahn
verdichtet, zu einer Einheit verschmolzen. Kein Wunder dann,
daß im manifesten Traum etwas Sinnloses zu stande kommt,
208 XII. DER TRAUM.
denn es kann doch nicht alles auf den Vater passen, was vom
Zahn gesagt wird. Wo wäre überhaupt das Tertium compara-
tionis zwischen Zahn und Vater, welches diese Verdichtung er-
möglicht?
Es muß aber doch wohl so sein, denn der Träumer fährt fort,
es sei ihm bekannt, wenn man von einem ausgefallenen Zahn
träumt, so bedeutet es, daß man ein Familienmitglied verlieren
werde.
Wir wissen, daß diese populäre Deutung unrichtig oder
wenigstens nur in einem skurrilen Sinne richtig ist. Um so mehr
wird es uns überraschen, das so angeschlagene Thema doch hin-
ter den anderen Stücken des Trauminhalts aufzufinden.
Ohne weitere Aufforderung beginnt nun der Träumer von
der Krankheit und dem Tode des Vaters sowie von seinem Ver-
hältnis zu ihm zu erzählen. Der Vater war lange krank, die
Pflege und Behandlung des Kranken kostete ihn, den Sohn, viel
Greld. Und doch war es ihm nie zuviel, er wurde nie ungeduldig,
hatte nie den Wunsch, es möge doch schon zu Ende sein. Er rühmt
sich echt jüdischer Pietät gegen den Vater, der strengen Be-
folgung des jüdischen Gesetzes. Fällt uns da nicht ein Wider-
spruch in den zum Traum gehörigen Gedanken auf? Er hatte
Zahn und Vater identifiziert. Gegen den Zahn wollte er nach
dem jüdischen Gesetz verfahren, welches das Urteil mit sich
brachte, ihn auszureißen, wenn er Schmerz und Ärgernis be-
reitete. Auch gegen den Vater wollte er nach der Vorschrift des
Gesetzes verfahren sein, welches aber hier lautet, Aufwand und
Ärgernis nicht zu achten, alles Schwere auf sich zu nehmen und
keine feindliche Absicht gegen das Schmerz bereitende Objekt
aufkommen zu lassen. Wäre die Übereinstimmung nicht weit
zwingender, wenn er wirklich gegen den kranken Vater ähn-
liche Gefühle entwickelt hätte wie gegen den kranken Zahn,
EIN TRAUM VOM TOTEN VATER. 209
d. h. gewünscht hätte, ein baldiger Tod möge seiner überflüssigen,
schmerzlichen und kostspieligen Existenz ein Ende setzen?
Ich zweifle nicht, daß dies wirklich seine Einstellung gegen
den Vater während dessen langwieriger Krankheit war, und
daß die prahlerischen Versicherungen seiner frommen Pietät
dazu bestimmt sind, von diesen Erinnerungen abzulenken. Unter
solchen Bedingungen pflegt der Todeswunsch gegen den Er-
zeuger rege zu werden und sich mit der Maske einer mitleidigen
Erwägung wie: es wäre nur eine Erlösung für ihn, zu decken.
Bemerken Sie aber wohl, daß wir hier in den latenten Traum-
gedanken selbst eine Schranke überschritten haben. Der erste
Anteil derselben war gewiß nur zeitweilig, d. h. während der
Traumbildung unbewußt, die feindseligen Regungen gegen den
Vater dürften aber dauernd unbewußt gewesen sein, vielleicht
aus Kinderzeiten stammen und sich während der Krankheit des
Vaters gelegentlich schüchtern und verkleidet ins Bewußtsein
geschlichen haben. Mit noch größerer Sicherheit können wir dies
von anderen latenten Gedanken behaupten, die unverkennbare
Beiträge an den Trauminhalt abgegeben haben. Von den feind-
seligen Regungen gegen den Vater ist ja nichts im Traum zu
entdecken. Indem wir aber der Wurzel solcher Feindseligkeit
gegen den Vater im Kinderleben nachforschen, erinnern wir uns,
daß sich die Furcht vor dem Vater herstellt, weil dieser sich schon
in frühesten Jahren der Sexualbetätigung des Knaben entgegen-
setzt, wie er es in der Regieel im Alter nach der Pubertät aus
sozialen Motiven wiederholen muß. Diese Beziehung zum Vater
trifft auch für unseren Träumer zu; seiner Liebe zu ihm war
genug Respekt und Angst beigemengt gewesen, die aus der Quelle
der frühzeitigen Sexualeinschüchterung geflossen waren.
Aus dem Onaniekomplex erklären sich nun die weiteren Sätze
des manifesten Traumes: Er siehtschlecht aus, spielt zwar
Freud, Vorlesungen III. 14
210 XII. DER TRAUM.
auf eine weitere Rede des Zahnarztes an, daß es schlecht aussieht,
wenn man einen Zahn an dieser Stelle eingebüßt hat; es bezieht
sich aber gleichzeitig. auf das schlechte Aussehen, durch welches
der junge Mann in der Pubertät seine übermäßige Sexual-
betätigung verrät oder zu verraten fürchtet. Nicht ohne eigene
Erleichterung hat der Träumer im manifesten Inhalt das
schlechte Aussehen von sich weg auf den Vater geschoben, eine
der Ihnen bekannten Umkehrungen der Traumarbeit. „Er lebt
seitdem fort“, deckt sich mit dem Wiederbelebungswunsch
wie mit dem Versprechen des Zahnarztes, daß der Zahn erhalten
bleiben wird. Ganz raffiniert ist aber der Satz: der Träumer
tut alles, damiter (der Vater) es nicht merkt, darauf
hergerichtet, uns zur Ergänzung zu verleiten, daß er gestorben
ist. Die einzig sinnreiche Ergänzung ergibt sich aber wieder aus
dem Onaniekomplex, wo es selbstverständlich ist, daß der Jüng-
ling alles tut, um sein Sexualleben vor dem Vater zu verbergen.
Erinnern Sie sich nun zum Schluß, daß wir die sogenannten
Zahnreizträume stets auf Onanie und auf die gefürchtete Be-
strafung für sie deuten mußten.
Sie sehen nun, wie dieser unverständliche Traum zu stande
gekommen ist. Durch die Herstellung einer sonderbaren und irre-
führenden Verdichtung, durch die Übergehung aller Gedanken
aus der Mitte des latenten Gedankenganges, und durch die Schaf-
fung von mehrdeutigen Ersatzbildungen für die tiefsten und
zeitlich entlegensten dieser Gedanken.
4. Wir haben schon wiederholt versucht, jenen nüchternen
und banalen Träumen beizukommen, die nichts Unsinniges oder
Befremdendes an sich tragen, bei denen sich aber die Frage er-
hebt: Wozu träumt man so gleichgültiges Zeug? Ich will also
ein neues Beispiel dieser Art vorlegen, drei zusammengehörige, in
einer Nacht vorgefallene Träume einer jungen Dame.
» BEISPIELE VON LÖSUNG DURCH SYMBOLIK. 11
a) Sie geht durch die Halle ihres Hauses und
stößt sich den Kopf blutig an dem tiei herabhän-
genden Luster.
Keine Reminiszenz, nichts, was wirklich vorgefallen ist. Ihre
Auskunft dazu leitet auf ganz andere Wege. „Sie wissen, wie
stark mir die Haare ausgehen. Kind, hat die Mutter gestern zu
mir gesagt, wenn das so weiter geht, wirst du einen Kopf be-
kommen wie einen Popo.“ Der Kopf steht also hier für das an-
dere Körperende. Den Luster können wir ohne Nachhilfe sym-
bolisch verstehen; alle der Verlängerung fähigen Gegenstände
sind Symbole des männlichen Gliedes. Also handelt es sich um
eine Blutung am unteren Körperende, die durch den Zusammen-
stoß mit dem Penis entsteht. Das könnte noch mehrdeutig sein;
ihre weiteren Einfälle zeigen, daß es sich um den Glauben han-'
delt, die Menstruationsblutung entstehe durch den Geschlechts-
verkehr mit dem Mann, ein Stück der Sexualtheorie, das viele
Gläubige unter den unreifen Mädchen hat.
b) Sie sieht im Weingarten eine tiefe Grube,
von der sie weiß, daß siedurch Ausreißen eines
Baumesentstandenist. Dazu ihre Bemerkung, der Baum
fehleihr dabei. Sie meint, sie habe im Traum den Baum nicht
gesehen, aber derselbe Wortlaut dient dem Ausdruck eines an-
deren Gedankens, der nun die symbolische Deutung vollends
sicherstellt. Der Traum bezieht sich auf ein anderes Stück der
infantilen Sexualtheorien, auf den Glauben, daß die Mädchen
ursprünglich dasselbe Genitale hatten wie die Knaben, und dab
dessen spätere Gestaltung durch Kastration (Ausreißen eines
Baumes) entstanden ist.
c) Siesteht vorihrer Schreibtischlade in der
siesich so gut auskennt, daß sie sofort weiß, wenn
jemand darüber gekommen ist. Die Schreibtischlade ist
14*
»
212. XII. DER TRAUM.
wie jede Lade, Kiste, Schachtel, ein weibliches Genitale. Sie weiß,
daß man die Anzeichen des Sexualverkehrs (wie sie meint,
auch der Berührung) am Genitale erkennen kann, und hat sich
lange vor solcher Überführung gefürchtet. Ich meine, der Akzent
ist all diesen drei Träumen auf das Wissen zu legen. Sie ge-
denkt der Zeit ihrer kindlichen Sexualforschung, auf deren Er-
gebnisse sie damals recht stolz war.
5. Wiederum ein Stückchen Symbolik. Aber diesmal muß ich
die psychische Situation in einem kurzen Vorbericht voranstellen.
Ein Herr, der mit einer Frau eine Liebesnacht verbracht hat,
schildert seine Partnerin als eine jener mütterlichen Naturen,
bei denen im Liebesverkehr mit dem Manne der Wunsch nach
dem Kinde unwiderstehlich durchdringt. Die Verhältnisse jenes
Zusammentreffens nötigten aber zu einer Vorsicht, durch welche
der befruchtende Samenerguß vom weiblichen Schoß ferngehalten
wird. Beim Erwachen aus dieser Nacht erzählt die Frau nach-
stehenden Traum:
Ein Offizier mit einer roten Kappe läuft ihr
auf der Straße nach. Sie flieht vor ihm, läuftcdie
Stiegehinauf,erimmernach. Atemloserreichtsie
ihre Wohnung und wirft die Türe hinter sichins
Schloß. Er bleibt draußen, und wie sie durchs
Guckloch schaut, sitzter draußen aufeiner Bank
und weint.
Sie erkennen wohl in der Verfolgung durch den Offizier mit
der roten Kappe und in dem atemlosen Steigen die Darstellung
des Geschlechtsaktes. Daß die Träumerin sich vor dem Ver-
folger verschließt, mag Ihnen als Beispiel der im Traum so
häufig angewendeten Umkehrungen gelten, denn in Wirklich-
keit hatte sich ja der Mann der Beendigung des Liebesaktes
entzogen. Ebenso ist ihre Trauer auf den Partner verschoben,
DER SEXUELLE INHALT DER TRÄUME. 913
er ist es ja, der im Traume weint, womit gleichzeitig der Samen-
erguß angedeutet ist.
Sie werden gewiß einmal gehört haben, in der Psychoanalyse
werde behauptet, daß alle Träume sexuelle Bedeutung haben.
Nun Sie sind selbst in die Lage gekommen, sich über die Un-
korrektheit dieses Vorwurfs ein Urteil zu bilden. Sie haben die
Wunschträume kennen gelernt, die von der Befriedigung der
klarliegendsten Bedürfnisse, des Hungers, des Durstes, der Sehn-
sucht nach Freiheit handeln, die Bequemlichkeits- und Ungedulds-
träume und ebenso rein habsüchtige und egoistische. Aber daß
die stark entstellten Träume vorwiegend — wiederum nicht aus-
schließlich — sexuellen Wünschen Ausdruck geben, dürfen Sie
allerdings als Ergebnis der psychoanalytischen Forschung im
Gedächtnis behalten.
6. Ich habe ein besonderes Motiv, die Beispiele für die
Symbolverwendung im Traume zu häufen. Ich habe mich bei
unserem ersten Zusammentreffen darüber beklagt, wie schwierig
die Demonstration und damit das Erwecken von Überzeugungen
in der Unterweisung der Psychoanalyse sei, und Sie haben mir
seither gewiß beigestimmt. Nun hängen aber die einzelnen Be-
hauptungen der Psychoanalyse doch so innig zusammen, daß die
Überzeugung sich leicht von einem Punkt her auf einen größeren
Teil des Ganzen fortsetzen kann. Man könnte von der Psycho-
analyse sagen, wer ihr den kleinen Finger gibt, den hält sie
schon bei der ganzen Hand. Schon wem die Aufklärung der
Fehlleistungen eingeleuchtet hat, der kann sich logischerweise
dem Glauben an alles andere nicht mehr entziehen. Eine zweite
ebenso zugängliche Stelle ist in der Traumsymbolik gegeben.
Ich werde Ihnen den bereits publizierten Traum einer Frau aus
dem Volke vorlegen, deren Mann Wachmann ist, und die ge-.
wiß niemals etwas von Traumsymbolik und Psychoanalyse ge-
214 X1I. DER TRAUM.
hört hat. Urteilen Sie dann selbst, ob dessen Auslegung mit
Hilfe von Sexualsymbolen willkürlich und gezwungen genannt
werden kann.
».... Dann sei jemand in die Wohnung einge-
brochenundsiehabeangstvollnacheinem Wach-
manngerufen. Dieseraberseimitzwei,„Pülchern“
einträchtigineine Kirche gegangen, zu der meh-
rere Stufenemporführten. Hinter der Kirche seı
ein Berg gewesen und oben ein dichter Wald. Der
Wachmann sei mit einem Helm, Ringkragen und
Mantel versehen gewesen. Er habe einen braunen
Vollbart gehabt. Die beiden Vaganten, die fried-
lich mit dem Wachmann gegangen seien, hätten
sackartigaufgebundene Schürzen um die Lenden
geschlungen gehabt. Von der Kirche habe zum
Bergeein Weg geführt. Dieser sei beiderseits mit
GrasundGestrüppverwachsengewesen, dasimmer
dichter wurde und auf der Höhe des Berges ein
ordentlicher Wald geworden sei“
- Die verwendeten Symbole erkennen Sie ohne Mühe. Das
männliche Genitale ist durch eine Dreiheit von Personen dar-
gestellt, das weibliche durch eine Landschaft mit Kapelle, Berg
und Wald. Wiederum begegnen Sie den Stufen als Symbol des
' Bexualaktes. Was im Traume ein Berg genannt wird, heißt auch
in der Anatomie so, nämlich Mons veneris, Schamberg.
7. Wiederum ein mittels Symboleinsetzung zu lösender
Traum, dadurch bemerkenswert und beweiskräftig, daß der
Träumer selbst alle Symbole übersetzt hat, obwohl er keinerlei
theoretische Vorkenntnisse für die Traumdeutung mitbrachte.
Dies Verhalten ist recht ungewöhnlich, und die Bedingungen
dafür sind nicht genau bekannt.
VOM TRÄUMER SELBST GEDEUTETE SYMBOLE., 215
„Ergehtmitseinem Vateraneinem Ortspazie-
ren, der gewiß der Prater ist, denn man sieht die
Rotunde, vor dieser einen kleineren Vorbau, an
dem ein Fesselballon angebracht ist, der aber
ziemlich schlaff scheint. Sein Vater fragt ihn,
wozu das alles ist; er wundert sich darüber, er-
klärtesihm aber. Dann kommen sie ineinen Hof,
indem eine große Platte von Blech ausgebreitet
liegt. Sein Vater willsich ein großes Stück davon
abreißen, sieht sich aber vorher um, ob es nicht
jemand bemerken kann. Er sagt ihm, er braucht
es doch nur dem Aufseher zu sagen, dann kann
ersich ohne weiteres davon nehmen. Aus diesem
Hofführteine Treppeineinen Schacht herunter,
dessen Wände weich ausgepolstert sind, etwa wie
ein Lederfauteuil. Am Ende dieses Schachtesist
eine längere Plattform und dann beginnt ein
neuer Schacht...“
Der Träumer deutet selbst: Die Rotunde ist mein Genitale,
der Fesselballon davor mein Penis, über dessen Schlaffheit ich zu
klagen habe. Man darf also eingehender übersetzen, die Rotunde
sei das — vom Kind regelmäßig zum Genitale gerechnete —
Gesäß, der kleinere Vorbau der Hodensack. Im Traum fragt ıhn
der Vater, was das alles ist, d. h. nach Zweck und Verrichtung
der Genitalien. Es liegt nahe, diesen Sachverhalt umzukehren,
so daß er der fragende Teil wird. Da eine solche Befragung des
Vaters in Wirklichkeit nie stattgefunden hat, muß man den
Traumgedanken als Wunsch auffassen oder ihn etwa kondi-
tionell nehmen: „Wenn ich den Vater um sexuelle Aufklärung
gebeten hätte.“ Die Fortsetzung dieses Gedankens werden wir
bald an anderer Stelle finden.
216 XII. DER TRAUM.
Der Hof,'in dem das Blech ausgebreitet liegt, ist nicht in
erster Linie symbolisch zu fassen, sondern stammt aus dem Ge-
schäftslokal des Vaters. Aus Gründen der Diskretion habe ich
das „Blech“ für das andere Material, mit dem der Vater handelt,
eingesetzt, ohne sonst etwas am Wortlaut des Traumes zu än-
dern. Der Träumer ist in das Geschäft des Vaters eingetreten
und hat an den eher unkorrekten Praktiken, auf denen der Ge-
winn zum guten Teil beruht, gewaltigen Anstoß genommen.
Daher dürfte die Fortsetzung des obigen Traumgedankens lauten:
(„Wenn ich ihn gefragt hätte), würde er mich betrogen haben,
wie er seine Kunden betrügt.“ Für das Abreißen, welches der -
Darstellung der geschäftlichen Unredlichkeit dient, gibt der
Träumer selbst die zweite Erklärung, es bedeute die Onanie. Dies
ist uns nicht nur längst bekannt, sondern stimmt auch sehr gut
dazu, daß das Geheimnis der Onanie durch das Gegenteil aus-
gedrückt ist (man darf es ja offen tun). Es entspricht dann allen
Erwartungen, daß die onanistische Tätigkeit wieder dem Vater
zugeschoben wird, wie die Befragung in der ersten Traumszene.
Den Schacht deutet er sofort unter Berufung auf die weiche
Polsterung der Wände als Vagina. Daß das Herabsteigen wie
sonst das Aufsteigen den Koitusverkehr in der Vagina be-
schreiben will, setze ich eigenmächtig ein.
Die Einzelheiten, daß auf den ersten Schacht eine längere
Plattform folgt und dann ein neuer Schacht, erklärt er selbst
biographisch. Er hat eine Zeitlang koitiert, dann den Verkehr
infolge von Hemmungen aufgegeben und hofft ihn jetzt mit
Hilfe der Kur wieder aufnehmen zu können.
8. Die beiden nachstehenden Träume eines Fremden mit sehr
poiygamer Veranlagung teile ich Ihnen als Beleg für die Behaup-
tung mit, daß das eigene Ich in jedem Traume vorkommt, auch
wo es sich für den manifesten Inhalt verborgen hat. Die Koffer
in den Träumen sind Weibsymbole.
DAS ICH IM TRAUM. 217
a) Er reist ab, sein Gepäck wird aufeinem Wa-
gen zur Bahn gebracht, viele Koffer aufgehäuft,
darunter zweigroßeschwarze, wie Musterkoffer.
Ersagttröstend zujemand: Nundiefahrenjanur
bıszum Bahnhof mit.
Er reist in Wirklichkeit mit sehr viel Gepäck, bringt aber
auch sehr viel Geschichten von Frauen mit in die Behandlung.
Die zwei schwarzen Koffer entsprechen zwei schwarzen Frauen,
die gegenwärtig in seinem Leben die Hauptrolle spielen. Eine
von ihnen wollte ihm nach Wien nachreisen; er hätte ihr auf
meinen Rat telegraphisch abgesagt.
b) Eine Szene bei der Douane: Ein Mitreisender
macht seinen Koffer auf und sagt, gleichgültig
eine Zigarette rauchend: Da ist nichts drin. Der
Zollbeamte scheint ihm zu glauben, greift aber
nocheinmalhinein und findet etwas ganz beson-
ders Verbotenes. Der Reisende sagt dann resi-
gniert: Da ist nichts zu machen. Er ist selbst der
Reisende, ich der Zollbeamte. Er ist sonst sehr aufrichtig in
seinen Bekenntnissen, hatte sich aber vorgenommen, mir eine
neu angeknüpfte Beziehung zu einer Dame zu verschweigen,
weil er mit Recht annehmen konnte, daß sie mir nicht unbe-
kannt sei. Die peinliche Situation des Überführtwerdens ver-
schiebt er auf eine fremde Person, so daß er selbst in diesem
Traum nicht vorzukommen scheint.
9. Hier ein Beispiel für ein Symbol, das ich noch nicht er-
wähnt habe:
Er begegnet seiner Schwester in Begleitung
vonzweiFreundinnen,dieselbst Schwestern sind.
Er gibt beiden die Hand, der Schwester aber
nicht.
218 XII. DER TRAUM.
Keine Anknüpfung an eine wirkliche Begebenheit. Seine Ge-
danken führen ihn vielmehr in eine Zeit, zu welcher ihm die
Beobachtung zu denken gab, daß sich der Busen der Mädchen
so spät entwickelt. Die beiden Schwestern sind also die Brüste, er
möchte sie gerne mit der Hand begreifen, wenn es nur nicht seine
Schwester wäre.
10. Hier ein Beispiel für die Todessymbolik im Traum:
Er geht mit zwei Personen, deren Namen er
weiß, aber beim Erwachen vergessen hat, über
einensehr hohen, steilen eisernen Steg. Plötzlich
sind die beiden weg und er sieht einen gespen-
stischenMannmitKappeundim Leinenanzug. Er
‚{ragtihn, ober der Telegraphenboteist... Nein.
OberderFuhrmannist’ Nein. Ergehtdann weiter,
hat noch im Traume große Angst und setzt den Traum nach
dem Erwachen mit der Phantasie fort, daß die eiserne Brücke
plötzlich abbricht und er in den Abgrund stürzt.
Personen, bei denen man betont, daß sie unbekannt sind, daß
man ihre Namen vergessen hat, sind meist sehr nahe Stehende.
Der Träumer hat zwei Geschwister; wenn er diesen beiden den
Tod gewünscht haben sollte, so wäre es nur gerecht, wenn ihn
dafür die Todesangst heimsuchte. Zum Telegraphenboten bemerkt
er, daß solche Leute immer Unheilsposten bringen. Es könnte auch
nach der Uniform ein Laternanzünder gewesen sein, der aber
auch die Laternen auslöscht, also wie der Genius des Todes die
Fackel verlöscht. Zum Fuhrmann assoziiert er das Uhlandsche
Gedicht von König Karls Meerfahrt und erinnert an eine gefahr-
volle Seefahrt mit zwei Genossen, auf welcher er die Rolle des
Königs im Gedicht spielte. Zur Eisenbrücke fällt ihm ein Unfall
der letzten Zeit ein und die dumme Redensart: Das Leben ist
<ine Kettenbrück’. |
TODESSYMBOLIK. EIN TRAUM EINES ZWANGSKRANKEN. 919
11. Als anderes Beispiel der Todesdarstellung mag der Traum
gelten: Ein unbekannter Herr gibt eine schwarz-
geränderte Visitkarte fürihn ab.
12. In mehrfacher Hinsicht wird Sie der folgende Traum
interessieren, zu dessen Voraussetzungen allerdings auch ein
neurotischer Zustand gehört.
Er fährt im Eisenbahnzug Der Zus hält
auf offenem Felde Er meint, es steht ein
Unfall bevor, man muß daran denken, sich zu
flüchten, geht durch alle Abteile des Zuges und
erschlägt alle, die ihm begegnen, Schaffner, Lo-
komotivführer usw.
Dazu die Erinnerung an die Erzählung eines Freundes. Auf
einer Strecke in Italien wurde ein Wahnsinniger in einem Halb-
coupe transportiert, aber aus Versehen ein Reisender zu ihm ein-
gelassen. Der Verrückte erschlug den Mitreisenden. Er identi-
fiziert sich also mit diesem Verrückten und begründet sein An-
recht darauf mit der Zwangsvorstellung, die ihn zeitweilig quält,
daß er alle „Mitwisser beseitigen“ müsse. Dann findet er aber
selbst eine bessere Motivierung, die zum Anlaß des Traumes
führt. Er hat gestern im Theater das Mädchen wiedergesehen,
das er heiraten wollte, von der er sich aber, weil sie ihm Grund
zur Eifersucht gegeben, zurückgezogen hat. Bei der Intensität, zu
welcher die Eifersucht bei ihm ansteigt, wäre er wirklich ver-.
rückt, wenn er die heiraten wollte. Das heißt: Er hält sie für
so unverläßlich, daß er alle Leute, die ihm in den Weg kommen,
aus Eifersucht erschlagen müßte. Das Gehen durch eine Reihe
von Zimmern; hier von Abteilen, haben wir als Symbol des Ver-
heiratetseins (Gegensatz zur Einehe) bereits kennen gelernt.
Zum Halten des Zuges auf offenem Felde und zur Befürch-
tung eines Unfalls erzählt er: Als sich einmal auf einer Eisen-
220 XII. DER TRAUM.
bahnfahrt ein solches plötzliches Stehenbleiben außerhalb einer
Station ereignete, erklärte eine mitreisende junge Dame, es stehe
vielleicht ein Zusammenstoß bevor, und da sei die zweckmäßigste
Vorsicht, die Beine hoch zu geben. Dieses „die Beine hoch“ hatte
aber auch eine Rolle in den vielen Spaziergängen und Ausflügen
in die freie Natur gespielt, die er in der glücklichen ersten
Liebeszeit mit jenem Mädchen unternommen hatte. Ein neues
Argument dafür, daß er verrückt sein müßte, um sie jetzt zu
heiraten. Daß ein Wunsch, so verrückt zu sein, bei ihm dennoch
bestand, durfte ich nach meiner Kenntnis der Situation als ge-
sichert annehmen.
DREIZEHNTE VORLESUNG.
DER TRAUM.
ARCHAISCHE ZÜGE UND INFANTILISMUS DES TRAUMES.
Meine Damen und Herren! Lassen Sie uns wieder an unser
Resultat anknüpfen, daß die Traumarbeit die latenten Traum-
gedanken unter dem Einfluß der Traumzensur in eine andere
Ausdrucksweise überführt. Die latenten Gedanken sind nicht an-
ders als die uns bekannten bewußten Gedanken unseres Wach-
lebens; die neue Ausdrucksweise ist uns durch vielfältige Züge
unverständlich. Wir haben gesagt, daß sie auf Zustände unserer
intellektuellen Entwicklung zurückgreift, die wir längst über-
wunden haben, auf die Bildersprache, die Symbolbeziehung, viel-
leicht auf Verhältnisse, die vor der Entwicklung unserer Denk-
sprache bestanden haben. Wir nannten die Ausdrucksweise der
Traumarbeit darum eine archäische oder regressive.
Sie können daraus den Schluß ableiten, daß es durch das ver-
tieftere Studium der Traumarbeit gelingen müßte, wertvolle Auf-
schlüsse über die nicht gut gekannten Anfänge unserer intellek-
tuellen Entwicklung zu gewinnen. Ich hoffe, es wird so sein,
aber diese Arbeit ist bisher noch nicht in Angriff genommen
worden. Die Vorzeit, in welche die Traumarbeit uns zurückführt,
ist eine zweifache, erstens die individuelle Vorzeit, die Kind-
heit, anderseits, insoferne jedes Individuum in seiner Kindheit
die ganze Entwicklung der Menschenart irgendwie abgekürzt
wiederholt, auch diese Vorzeit, die phylogenetische. Ob es ge-
2922 Xl11I. DER TRAUM.
lingen wird zu unterscheiden, welcher Anteil der latenten see-
lischen Vorgänge aus der individuellen, und welcher aus der
phylogenetischen Urzeit stammt, ich halte es nicht für un-
möglich. So scheint mir z. B. die Symbolbeziehung, die der
Einzelne niemals erlernt hat, zum Anspruch berechtigt, als phylo-
genetisches Erbe betrachtet zu werden.
Indes ist dies nicht der einzige archaische Charakter des
Traumes. Sie kennen alle wohl aus der Erfahrung an sich die
merkwürdige Amnesie der Kindheit. Ich meine die Tatsache,
daß die ersten Lebensjahre, bis zum fünften, sechsten oder ach-
ten, nicht die Spuren im Gedächtnis hinterlassen haben wie
das spätere Erleben. Man trifft zwar auf einzelne Menschen,
welche sich einer kontinuierlichen Erinnerung vom frühen An-
fang bis auf den heutigen Tag rühmen können, aber das andere
Verhalten, das der Gedächtnislücke, ist das ungleich häufigere.
Ich meine, über diese Tatsache hat man sich nicht genug ver-
wundert. Das Kind kann mit zwei Jahren gut sprechen, es zeigt
bald, daß es sich in komplizierten seelischen Situationen zurecht-
findet, und gibt Äußerungen von sich, die ihm viele Jahre später
wiedererzählt werden, die es selbst aber vergessen hat. Und
dabei ist das Gedächtnis in frühen Jahren leistungsfähiger, weil
weniger überladen als in späteren. Auch liegt kein Anlaß vor,
die Gedächtnisfunktion für eine besonders hohe oder schwierige
Seelenleistung zu halten; man kann im Gegenteile ein gutes
Gedächtnis noch bei Personen finden, die intellektuell sehr
niedrig stehen.
Als zweite Merkwürdigkeit, die dieser ersten aufgesetzt ist,
muß ich aber anführen, daß aus der Erinnerungsleere, welche
die ersten Kindheitsjahre umfaßt, sich einzelne gut erhaltene,
meist plastisch empfundene Erinnerungen herausheben, welche
diese Erhaltung nicht rechtfertigen können. Mit dem Material
INDIVIDUELLE UND PHYLOGENETISCHE VORZEIT. 223
von Eindrücken, welche uns im späteren Leben treffen, verfährt
unser Gedächtnis so, daß es eine Auslese vornimmt. Es behält
das irgend Wichtige und läßt Unwichtiges fallen. Mit den er-
haltenen Kindheitserinnerungen ist es anders. Sie entsprechen
nicht notwendig wichtigen Erlebnissen der Kinderjahre, nicht
einmal solchen, die vom Standpunkt des Kindes hätten wichtig
erscheinen müssen. Sie sind oft so banal und an sich bedeutungs-
los, daß wir uns nur verwundert fragen, warum gerade diese
Einzelheit dem Vergessen entgangen ist. Ich habe seinerzeit ver-
sucht, das Rätsel der Kindheitsamnesie und der sie unterbrechen-
den Erinnerungsreste mit Hilfe der Analyse anzugreifen, und bin
zu dem Ergebnis gekommen, daß doch auch beim Kinde nur
das Wichtige in der Erinnerung übrig geblieben ist. Nur daß
durch die Ihnen bereits bekannten Prozesse der Verdichtung und
ganz besonders der Verschiebung dies Wichtige durch anderes,
was unwichtig erscheint, in der Erinnerung vertreten ist. Ich
habe diese Kindheitserinnerungen darum Deckerinnerun-
gen genannt; man kann durch gründliche Analyse alles Ver-
gessene aus ihnen entwickeln. |
In den psychoanalytischen Behandlungen ist ganz regelmäßig
die Aufgabe gestellt, die infantile Erinnerungslücke auszufüllen,
und insoferne die Kur überhaupt einigermaßen gelingt, also
überaus häufig, bringen wir es auch zu stande, den Inhalt jener
vom Vergessen bedeckten Kindheitsjahre wieder ans Licht zu zie-
hen. Diese Eindrücke sind niemals wirklich vergessen gewesen, sie
waren nur unzugänglich, latent, haben dem Unbewußten angehört.
Es kommt aber auch spontan vor, daß sie aus dem Unbewußten
auftauchen, und zwar geschieht es im Anschluß an Träume.
Es zeigt sich, daß das Traumleben den Zugang zu diesen la-
tenten, infantilen Erlebnissen zu finden weiß. Es sind schöne
Beispiele hiefür in der Literatur verzeichnet und ich selbst habe
224 XIII. DER TRAUM.
einen solchen Beitrag leisten können. Ich träumte einmal in einem
gewissen Zusammenhange von einer Person, die mir einen Dienst
geleistet haben mußte, und die ich deutlich vor mir sah. Es
war ein einäugiger Mann von kleiner Gestalt, diek, den Kopf
tief in den Schultern steckend. Ich entnahm aus dem Zusammen-
hang, daß er ein Arzt war. Zum Glück konnte ich meine noch
lebende Mutter befragen, wie der Arzt meines Geburtsortes,
.den ich mit drei Jahren verlassen, ausgesehen, und erfuhr von
ihr, daß er einäugig war, kurz, dick, den Kopf tief in den Schul-
tern steckend, lernte auch, bei welchem von mir vergessenen Un-
fall er mir Hilfe geleistet hatte. Diese Verfügung über das ver-
gessene Material der ersten Kindheitsjahre ist also ein weiterer
archäischer Zug des Traumes.
Dieselbe Auskunft setzt sich nun auf ein anderes der Rätsel,
auf die wir bisher gestoßen sind, fort. Sie erinnern sich, mit
welchem Staunen es aufgenommen wurde, als wir zur Einsicht
kamen, die Erreger der Träume seien energisch böse und aus-
schweifend sexuelle Wünsche, welche Traumzensur und Traum-
entstellung notwendig gemacht haben. Wenn wir einen solchen
Traum dem Träumer gedeutet haben und er im günstigsten Falle
die Deutung selbst nicht angreift, so stellt er doch regelmäßig -
die Frage, woher ihm ein solcher Wunsch komme, da er ihn doch
als fremd empfinde und sich des Gegenteils davon bewußt sei.
Wir brauchen nicht zu verzagen, diese Herkunft nachzuweisen.
Diese bösen Wunschregungen stammen aus der Vergangenheit, oft
aus einer Vergangenheit, die nicht allzuweit zurückliegt. Es
läßt sich zeigen, daß sie einmal bekannt und bewußt waren,
wenn sie es auch heute nicht mehr sind. Die Frau, deren Traum
bedeutet, daß sie ihre einzige, jetzt 17jährige Tochter tot vor
sich sehen möchte, findet unter unserer Anleitung, daß sie diesen
Todeswunsch doch zu einer Zeit genährt hat. Das Kind ist die
HERKUNFT D. TRAUMWÜNSCHE AUS D. VERGANGENHEIT. 295
Frucht einer verunglückten, bald getrennten Ehe. Als sie die
Tochter noch im Mutterleibe trug, schlug sie einmal nach einer
heftigen Szene mit ihrem Manne im Wutanfall mit den Fäusten
auf ihren Leib los, um das Kind darin zu töten. Wie viele
Mütter, die ihre Kinder heute zärtlich, vielleicht überzärtlich
lieben, haben sie doch ungerne empfangen und damals gewünscht,
das Leben in ihnen möge sich nicht weiter entwickeln; ja sie
haben auch diesen Wunsch in verschiedene, zum Glück unschäd-
liche Handlungen umgesetzt. Der später so rätselhafte Todes-
wunsch gegen die geliebte Person stammt also aus der Frühzeit
der Beziehung zu ihr.
Der Vater, dessen Traum zur Deutung berechtigt, er wünsche
den Tod seines bevorzugten ältesten Kindes, muß sich ebenso
daran erinnern lassen, daß ihm dieser Wunsch einmal nicht
fremd war. Als dieses Kind noch Säugling war, dachte der
mit seiner Ehewahl unzufriedene Mann oft, wenn das kleine We-
sen, das ihm nichts bedeute, sterben sollte, dann wäre er wieder
frei und würde von seiner Freiheit einen besseren Gebrauch ma-
chen. Die gleiche Herkunft läßt sich für eine große Anzahl
ähnlicher Haßregungen erweisen ; sie sind Erinnerungen an etwas,
was der Vergangenheit angehörte, einmal bewußt war und seine
Rolle im Seelenleben spielte. Sie werden daraus den Schluß
ziehen wollen, daß es solche Wünsche und solche Träume nicht
geben darf, wenn derartige Wandlungen im Verhältnis zu einer
Person nicht vorgekommen sind, wenn dies Verhältnis von An-
fang an gleichsinnig war. Ich bin bereit, Ihnen diese Folgerung
zuzugeben, will Sie nur daran mahnen, daß Sie nicht den Wort-
laut des Traumes, sondern den Sinn desselben nach seiner Deu-
tung in Betracht ziehen. Es kann vorkommen, daß der manifeste
Traum vom Tode einer geliebten Person nur eine schreckhafte
Maske vorgenommen hat, aber etwas ganz anderes bedeutet, oder
Freud, Vorlesungen. III. 15
226 XIII. DER TRAUM.
daß die geliebte Person zum täuschenden Ersatz für eine andere
bestimmt ist. | AL RN
Derselbe Sachverhalt wird aber eine andere, weit ernsthaftere
Frage bei Ihnen wecken. Sie werden sagen: ‚Wenn dieser Todes-
wunsch auch einmal vorhanden war und von der Erinnerung be-
stätigt wird, so ist das doch keine Erklärung. Er ist doch längst
überwunden, er kann heute doch nur als bloße affektlose Er-
innerung im Unbewußten vorhanden sein, aber nicht als kräftige
Regung. Für letzteres spricht doch nichts. Wozu wird er also
überhaupt vom Traume erinnert? Diese Frage ist wirklich be-
rechtigt; der Versuch, sie zu beantworten, würde uns weit führen
und zur Stellungnahme in einem der bedeutsamsten Punkte der
Traumlehre nötigen. Aber ich bin genötigt, im Rahmen unserer
Erörterungen zu bleiben und Enthaltung zu üben. Bereiten Sie
sich auf den einstweiligen Verzicht vor. Begnügen wir uns
mit dem tatsächlichen Nachweis, daß dieser überwundene Wunsch
als Traumerreger nachweisbar ist und setzen wir die Unter-
suchung fort, ob auch andere böse Wünsche dieselbe Ableitung
aus der Vergangenheit zulassen.
Bleiben wir bei den Beseitigungswünschen, die wir ja zu-
meist auf den uneingeschränkten Egoismus des Träumers zurück-
führen dürfen. Ein solcher ‚Wunsch ist als Traumbildner sehr
häufig nachzuweisen. So oft uns irgend jemand im Leben in den
‚Weg getreten ist, und wie häufig muß dies bei der Kompli-
kation der Lebensbeziehungen der Fall sein, sofort ist der Traum
bereit, ihn totzumachen, sei er auch der Vater, die Mutter, ein
Geschwister, ein Ehepartner u. dgl. ‚Wir hatten uns über diese
Schlechtigkeit der menschlichen Natur genug verwundert und
waren gewiß nicht geneigt, die Richtigkeit dieses Ergebnisses
der Traumdeutung ohne weiteres anzunehmen. Wenn wir aber
einmal darauf gewiesen werden, den Ursprung solcher Wünsche
HERKUNFT DER BESEITIGUNGSWÜNSCHE. 227
nn
in der Vergangenheit zu suchen, so entdecken wir alsbald die
Periode der individuellen Vergangenheit, in welcher solcher
Egoismus und solche Wunschregungen auch gegen die Nächsten
nichts Befremdendes mehr haben. Es ist das Kind gerade in
jenen ersten Jahren, welche später von der Amnesie verhüllt
werden, das diesen Egoismus häufig in extremer Ausprägung
zeigt, regelmäßig aber deutliche Ansätze dazu oder richtiger
Überreste davon erkennen läßt. Das Kind liebt eben sich selbst
zuerst und lernt erst später andere lieben, von seinem Ich etwas
an andere opfern. Auch die Personen, die es von Anfang an zu
lieben scheint, liebt es zuerst darum, weil es sie braucht, sie
nicht entbehren kann, also wiederum aus egoistischen Motiven.
Erst später macht sich die Liebesregung vom Egoismus unab-
hängig. Es hat tatsächlich am Egoismus lieben gelernt.
Es wird in dieser Beziehung lehrreich sein, die Einstellung
des Kindes gegen seine Geschwister mit der gegen seine Eltern
zu vergleichen. Seine Geschwister liebt das kleine Kind nicht
notwendigerweise, oft offenkundig nicht. Es ist unzweifelhaft,
daß es in ihnen seine Konkurrenten haßt, und es ist bekannt,
wıe häufig diese Einstellung durch lange Jahre bis zur Zeit
der Reife, ja noch späterhin ohne Unterbrechung anhält. Sie
wird ja häufig genug durch eine zärtlichere abgelöst oder sagen
wir lieber: überlagert, aber die feindselige scheint sehr regel-
mäßig die frühere zu sein. Am leichtesten kann man sie an
Kindern von 2t/, bis 4 und 5 Jahren beobachten, wenn ein neues
Geschwisterchen dazukommt. Das hat meist einen sehr unfreund-
lichen Empfang. Äußerungen wie: ich mag es nicht, der Storch
soll es wieder mitnehmen, sind recht gewöhnlich. In der Folge
wird jede Gelegenheit benützt, um den Ankömmling herabzu-
setzen, und selbst Versuche es zu schädigen, direkte Attentate,
sind nichts Unerhörtes. Ist die Altersdifferenz geringer, so findet
15*
298 XIII. DER TRAUM.
das Kind beim Erwachen intensiverer Seelentätigkeit den Kon-
kurrenten bereits vor und richtet sich mit ihm ein. Ist sie größer,
so kann das neue Kind von Anfang an als ein interessantes
Objekt, als eine Art von lebender Puppe, gewisse Sympathien
erwecken, und bei einem Altersunterschied von acht Jahren
und mehr können bereits, besonders bei den Mädchen, vorsorgliche,
mütterliche, Regungen ins Spiel treten. Aber aufrichtig gesagt,
wenn man den Wunsch nach dem Tode der Geschwister hinter
einem Traume aufdeckt, braucht man ihn selten rätselhaft zu
finden und weist sein Vorbild mühelos im frühen Kindesalter, oft
genug auch in späteren Jahren des Beisammenseins nach.
Es gibt wahrscheinlich keine Kinderstube ohne heftige Kon-
flikte zwischen deren Einwohnern. Motive sind die Konkurrenz
um die Liebe der Eltern, um den gemeinsamen Besitz, um den
‚Wohnraum. Die feindseligen Regungen richten sich gegen äl-
tere wie gegen jüngere Geschwister. Ich glaube, es war Bernard
Shaw, der das Wort ausgesprochen hat: Wenn es jemand gibt,
den eine junge englische Dame mehr haßt als ihre Mutter, so
ist es ihre ältere Schwester. An diesem Ausspruch ist aber etwas,
was uns befremdet. Geschwisterhaß und Konkurrenz fänden wir
zur Not begreiflich, aber wie sollen sich Haßempfindungen in
das Verhältnis zwischen Tochter und Mutter, Eltern und Kin-
der, eindrängen können’?
Dies Verhältnis ist ohne Zweifel auch von Seite der Kin-
der betrachtet das günstigere. So fordert es auch unsere Er-
wartung; wir finden es weit anstößiger, wenn die Liebe zwi-
schen Eltern und Kindern, als wenn sie zwischen Geschwistern
mangelt. Wir haben sozusagen im ersten Falle etwas geheiligt,
was wir im anderen Falle profan gelass:n haben. Doch kann uns
die tägliche Beobachtung zeigen, wie häufig die Gefühls-
beziehungen zwischen Eltern und erwachsenen Kindern hinter
dem von der Gesellschaft aufgestellten Ideal zurückbleiben, wie-
viel Feindseligkeit da bereit liegt und sich äußern würde, wenn
nicht Zusätze von Pietät und von zärtlichen Regungen sie
zurückhielten. Die Motive hiefür sind allgemein bekannt und
zeigen eine Tendenz, die gleichen Geschlechter von einander
zu trennen, die Tochter von der Mutter, den Vater vom Sohn.
Die Tochter findet in der Mutter die Autorität, welche ihren
Willen beschränkt und mit der Aufgabe betraut ist, den von
der Gesellschaft geforderten Verzicht auf Sexualfreiheit bei
ihr durchzusetzen, in einzelnen Fällen auch noch die Konkurren-
tin, die der Verdrängung widerstrebt. Dasselbe wiederholt sich
in noch grellerer Weise zwischen Sohn und Vater. Für den Sohn
verkörpert sich im Vater jeder widerwillig ertragene soziale
Zwang; der Vater versperrt ihm den Zugang zur Willens-
betätigung, zum frühzeitigen Sexualgenuß, und wo ‚gemeinsame
Familiengüter bestehen, zum Genuß derselben. Das Lauern auf
den Tod des Vaters wächst im Falle des Thronfolgers zu einer
das Tragische streifenden Höhe. Minder gefährdet erscheint das
Verhältnis zwischen Vater und Tochter, Mutter und Sokn. Das
letztere gibt die reinsten Beispiele einer durch keinerlei ego-
istische Rücksicht gestörten, unwandelbaren Zärtlichkeit.
Wozu ich von diesen Dingen spreche, die doch banal und
allgemein bekannt sind? Weil eine unverkennbare Neigung be-
steht, ihre Bedeutung im Leben zu verleugnen und das sozial
geforderte Ideal weit öfter für erfüllt auszugeben, als es wirk-
lich erfüllt wird. Es ist aber besser, daß der Psychologe die
Wahrheit sagt, als daß diese Aufgabe dem Zyniker überlassen
bleibt. Allerdings bezieht sich diese Verleugnung nur auf das
reale Leben. Der Kunst der erzählenden und der dramatischen
Dichtung bleibt es freigestellt, sich der Motive zu bedienen,
die aus der Störung dieses Ideals hervorgehen.
230 XIII. DER TRAUM.
Bei einer großen Anzahl von Menschen brauchen wir uns
also nicht zu verwundern, wenn der Traum ihren Wunsch nach
Beseitigung der Eltern, speziell des gleichgeschlechtlichen Eltern-
teiles, aufdeckt. Wir dürfen annehmen, er ist auch im Wach-
leben vorhanden und wird sogar manchmal bewußt, wenn er
sich durch ein anderes Motiv maskieren kann, wie im Falle
unseres Träumers im Beispiele 3 durch das Mitleid mit dem un-
nützen Leiden des Vaters. Selten beherrscht die Feindseligkeit
das Verhältnis allein, weit häufiger tritt sie hinter zärtlicheren
Regungen zurück, von denen sie unterdrückt wird, und muß
warten, bis ein Traum sie gleichsam isoliert. Was uns der
Traum infolge solcher Isolierung übergroß zeigt, das schrumpft
dann wieder zusammen, wenn es nach der Deutung von uns
in den Zusammenhang des Lebens eingereiht wird. (H. Sachs.)
Wir finden diesen Traumwunsch aber auch dort, wo er im Leben
keinen Anhalt hat, und wo der Erwachsene sich im Wachen
nie zu ihm bekennen müßte. Dies hat seinen Grund darin, daß
das tiefste und regelmäßigste Motiv zur Entfremdung, besonders
zwischen den gleichgeschlechtlichen Personen, sich bereits im
frühen Kindesalter geltend gemacht hat.
Ich meine die Liebeskonkurrenz mit deutlicher Betonung
des Geschlechtscharakters. Der Sohn beginnt schon als kleines
Kind eine besondere Zärtlichkeit für die Mutter zu entwickeln,
die er als sein eigen betrachtet, und den Vater als Konkurrenten
zu empfinden, der ihm diesen Alleinbesitz streitig macht, und
ebenso sieht die kleine Tochter in der Mutter eine Person, die ihre
zärtliche Beziehung zum Vater stört und einen Platz einnimmt,
den sie sehr gut selbst ausfüllen könnte. Man muß aus den
Beobachtungen erfahren, in wie frühe Jahre diese Einstellungen
zurückreichen, die wir als Ödipuskomplex bezeichnen,
weil diese Sage die beiden extremen Wünsche, welche sich aus
DER ÖDIPUSKOMPLEX, 231
der Situation des Sohnes ergeben, den Vater zu töten und die
Mutter zum Weib zu nehmen, mit einer ganz geringfügigen Ab-
schwächung realisiert. Ich will nicht behaupten, daß der Ödipus-
komplex die Beziehung der Kinder zu den Eltern erschöpft; diese
kann leicht viel komplizierter sein. Auch ist der Ödipus-
komplex mehr oder weniger stark ausgebildet, er kann selbst eine
Umkehrung erfahren, aber er ist ein regelmäßiger und sehr be-
deutsamer Faktor des kindlichen Seelenlebens, und man läuft
eher Gefahr, seinen Einfluß und den der aus ihm hervorgehenden
Entwicklungen zu unterschätzen, als ihn zu überschätzen.
Übrigens reagieren die Kinder mit der Ödipuseinstellung häufig
auf eine Anregung der Eltern, die sich in ihrer Liebeswahl oft
genug vom Geschlechtsunterschied leiten lassen, so daß der Va-
ter die Tochter, die Mutter den Sohn bevorzugt oder im Falle
von Erkaltung in der Ehe zum Ersatz für das entwertete Liebes-
objekt nimmt.
Man kann nicht behaupten, daß die Welt der psychoanaly-
tischen Forschung für die Aufdeckung des Ödipuskomplexes
sehr dankbar gewesen ist. Diese hat im Gegenteile das heftigste
Sträuben der Erwachsenen . hervorgerufen, und Personen, die
es versäumt hatten, an der Ableugnung dieser verpönten oder
tabuierten Gefühlsbeziehung teilzunehmen, haben ihr Verschul-
den später gutgemacht, indem sie dem Komplex durch Um-
deutungen seinen ‚Wert entzogen. Nach meiner unveränderten
Überzeugung ist dahier nichts zu verleugnen und nichts zu be-
schönigen. Man befreunde sich mit der Tatsache, die von der
griechischen Sage selbst als unabwendbares Verhängnis aner-
kannt wird. Interessant ist es wiederum, daß der aus dem Leben
herausgeworfene Ödipuskomplex der Dichtung überlassen,
gleichsam zur freien Verfügung abgetreten wurde. O. Rank
hat in einer sorgfältigen Studie gezeigt, wie gerade der Ödipus-
232 XIII. DER TRAUM.
—— en mu
komplex der dramatischen Dichtung reiche Motive in unend-
lichen Abänderungen, Abschwächungen und Verkleidungen ge-
liefert hat, in solchen Entstellungen also, wie wir sie bereits
als Werk einer Zensur erkennen. Diesen Ödipuskomplex dürfen
wir also auch jenen Träumern zuschreiben, die so glücklich wa-
ren, im späteren Leben den Konflikten mit ihren Eltern zu ent-
gehen, und an ihn innig geknüpft finden wir, was wir den
Kastrationskomplex heißen, die Reaktion auf die dem
Vater zugeschriebene Sexualeinschüchterung oder Eindämmung
der frühinfantilen Sexualtätigkeit.
Durch die bisherigen Ermittlungen auf das Studium des
kindlichen Seelenlebens verwiesen, dürfen wir nun auch die Er-
wartung hegen, daß die Herkunft des anderen Anteils der ver-
botenen Traumwünsche, der exzessiven Sexualregungen, auf ähn-
liche Weise Aufklärung finden wird. Wir empfangen also den
Antrieb, auch die Entwicklung des kindlichen Sexuallebens zu
studieren und erfahren hiebei aus mehreren Quellen folgendes:
Es ist vor allem ein unhaltbarer Irrtum, dem Kind ein Sexual-
leben abzusprechen und anzunehmen, daß die Sexualität erst
zur Zeit der Pubertät mit der Reifung der Genitalien einsetze.
Das Kind hat im Gegenteile von allem Anfang an ein reich-
haltiges Sexualleben, welches sich von dem später als normal
geltenden in vielen Punkten unterscheidet. Was wir im Leben
der Erwachsenen ‚pervers‘ nennen, weicht vom Normalen in
folgenden Stücken ab: Erstens durch das Hinwegsetzen über die
Artschranke (die Kluft zwischen Mensch und Tier), zweitens
. durch die Überschreitung der Ekelschranke, drittens der Inzest-
schranke (des Verbots, Sexualbefriedigung an nahen Bluts-
verwandten zu suchen), viertens. der Gleichgeschlechtlichkeit, und
fünftens durch die Übertragung der Genitalrolle an andere Or-
gane und Körperstellen. Alle diese Schranken bestehen nicht von
INFANTILE HERKUNFT DER PERVERSEN TRAUMWÜNSCHE. 233
Anfang an, sondern werden erst allmählich im Laufe der Ent-
wicklung und der Erziehung aufgebaut. Das kleine Kind ist
frei von ihnen. Es kennt noch keine arge Kluft zwischen Mensch
und Tier; der Hochmut, mit dem sich der Mensch vom Tier
absondert, wächst ihm erst später zu. Es zeigt anfänglich keinen
Ekel vor dem Exkrementellen, sondern erlernt diesen langsam
unter dem Nachdruck der Erziehung; es legt keinen besonderen
Wert auf den Unterschied der Geschlechter, mutet vielmehr
beiden die gleiche Genitalbildung zu; es richtet seine ersten
sexuellen Gelüste und seine Neugierde auf die ihm nächsten
und aus anderen Gründen liebsten Personen, Eltern, Geschwister,
Pflegepersonen, und endlich zeigt es sich bei ihm, was späterhin
auf der Höhe einer Liebesbeziehung wieder durchbricht, daß es
nicht nur von den Geschlechtsteilen Lust erwartet sondern, daß
viele andere Körperstellen dieselbe Empfindlichkeit für sich in
Anspruch nehmen, analoge Lustempfindungen vermitteln und
somit die Rolle von Genitalien spielen können. Das Kind kann
also „polymorph pervers“ genannt werden, und wenn es alle diese
Regungen nur spurweise betätigt, so kommt dies einerseits von
deren geringer Intensität im Vergleiche zu späteren Lebens-
zeiten, anderseits daher, daß die Erziehung alle sexuellen
Äußerungen des Kindes sofort energisch unterdrückt. Diese
Unterdrückung setzt sich sozusagen in die Theorie fort, indem
die Erwachsenen sich bemühen, einen Anteil der kindlichen
Sexualäußerungen zu übersehen und einen anderen durch Um-
deutung seiner sexuellen Natur zu entkleiden, bis sie dann das
Ganze ableugnen können. Es sind oft dieselben Leute, die erst
ın der Kinderstube hart gegen alle sexuellen Unarten der Kinder
wüten und dann am Schreibtisch die sexuelle Reinheit der-
selben Kinder verteidigen. Wo Kinder sich selbst überlassen
werden oder unter dem Einfluß der Verführung, bringen sie
3. WOMEN Ai nz 2 MEET nn
oft ganz ansehnliche Leistungen perverser Sexualbetätigung zu
stande. Natürlich haben die Erwachsenen recht, dies als „Kin-
derei“ und „Spielerei“ nicht schwer zu nehmen, denn das Kind
ist weder vor dem Richterstuhl der Sitte noch. vor dem Gesetz
als vollwertig und verantwortlich zu beurteilen, aber diese Dinge
existieren doch, sie haben ihre Bedeutung sowohl als Anzeichen
mitgebrachter Konstitution sowie als Ursachen und Förderungen
späterer Entwicklungen, sie geben uns Aufschlüsse über das kind-
liche Sexualleben und somit über das menschliche Sexualleben
überhaupt. Wenn wir also hinter unseren entstellten Träumen
alle diese perversen Wunschregungen wiederfinden, so bedeutet
es nur, daß der Traum auch auf diesem Gebiet den Rückschritt
zum infantilen Zustand vollzogen hat.
Eine besondere Hervorhebung unter diesen verbotenen Wün-
"schen verdienen noch die inzestuösen, d. h. die auf Geschlechts-
verkehr mit Eltern und Geschwistern gerichteten. Sie wissen,
welcher Abscheu in der menschlichen Gemeinschaft gegen sol
chen Verkehr verspürt oder wenigstens vorgegeben wird, und
welcher Nachdruck auf den dagegen gerichteten Verboten ruht.
Es sind die ungeheuerlichsten Anstrengungen gemacht worden,
diese Inzestscheu zu erklären. Die einen haben angenommen, daß
es Züchtungsrücksichten der Natur sind, welche sich psychisch
durch dieses Verbot repräsentieren lassen, weil Inzucht die
Rassencharaktere verschlechtern würde, die anderen haben be-
hauptet, daß durch das Zusammenleben von früher Kindheit
an die sexuelle Begierde von den in Betracht kommenden Per-
sonen abgelenkt wird. In beiden Fällen wäre übrigens die Inzest-
vermeidung automatisch gesichert, und man verstünde nicht,
wozu es der strengen Verbote bedürfte, die eher auf das Vor-
handensein eines starken Begehrens deuten. Die psychoanaly-
tischen Untersuchungen haben unzweideutig ergeben, daß die
DER VOLLE INFANTILISMUS DES TRAUMLEBENS. 235
LS TRETEN RUN EARRRREEIEEZ EREREDDR NDENO META STE ER Pe Eee
inzestuöse Liebeswahl vielmehr die erste und die regelmäßige
ist, und daß erst später ein Widerstand gegen sie einsetzt, dessen
Herleitung aus der individuellen Psychologie wohl abzu-
lehnen ist.
Stellen wir zusammen, was uns die Vertiefung in die Kinder-
psychologie für das Verständnis des Traumes gebracht hat. Wir
fanden nicht nur, daß das Material der vergessenen Kindererleb-
nisse dem Traum zugänglich ist, sondern wir sahen auch, daß
das Seelenleben der Kinder mit all seinen Eigenheiten, seinem
Egoismus, seiner inzestuösen Liebeswahl usw. für den Traum,
also im Unbewußten, noch fortbesteht, und daß uns der Traum
allnächtlich auf diese infantile Stufe zurückführt. Es wird
uns so bekräftigt, daß das Unbewußte des Seelen-
lebens das Infantile ist. Der befremdende Eindruck,
daß soviel Böses im Menschen steckt, beginnt nachzulassen. Dieses
entsetzlich Böse ist einfach das Anfängliche, Primitive, Infantile
des Seelenlebens, das wir beim Kinde in Wirksamkeit finden
können, das wir aber bei ihm zum Teil wegen seiner kleinen
Dimensionen übersehen, zum Teil nicht schwer nehmen, weil
wir vom Kinde keine ethische Höhe fordern. Indem der Traum
auf diese Stufe regrediert, erweckt er den Anschein, als habe er
das Böse in uns zum Vorschein gebracht. Es ist aber nur ein
täuschender Schein, von dem wir uns haben schrecken lassen. Wir
sind nicht so böse, wie wir nach der Deutung der Träume an-
nehmen wollten.
Wenn die bösen Regungen der Träume nur Infantilismen
sind, eine Rückkehr zu den Anfängen unserer ethischen Ent-
wicklung, indem der Traum uns einfach wieder zu Kindern
im Denken und Fühlen macht, so brauchen wir uns vernünftiger-
weise dieser bösen Träume nicht zu schämen. Allein das Ver-
nünftige ist nur ein Anteil des Seelenlebens, es geht außerdem
u
in der Seele noch mancherlei vor, was nicht vernünftig ist, und
so geschieht es, daß wir uns unvernünftigerweise doch solcher
Träume schämen. Wir unterwerfen sie der Traumzensur, schämen
und ärgern uns, wenn es einem dieser Wünsche ausnahmsweise
selungen ist, in so unentstellter Form zum Bewußtsein zu drin-
gen, daß wir ihn erkennen müssen, ja wir schämen uns gelegent-
lich der entstellten Träume genau so, als ob wir sie verstehen
würden. Denken Sie nur an das entrüstete Urteil jener braven
alten Dame über ihren nicht gedeuteten Traum von’ den „Liebes-
diensten“. Das Problem ist also noch nicht erledigt, und es
bleibt möglich, daß wir bei weiterer Beschäftigung mit dem
Bösen im Traum zu einem anderen Urteil und zu einer anderen
Schätzung der menschlichen Natur gelangen.
Als Ergebnis der ganzen Untersuchung erfassen wir zwei
‚Einsichten, die aber nur den Anfang von neuen Rätseln, neuen
Zweifeln bedeuten. Erstens: Die Regression der Traumarbeit ist
nicht nur eine formale, sondern auch eine materielle. Sie über-
setzt nicht nur unsere Gedanken in eine primitive Ausdrucks-
form, sondern sie weckt auch die Eigentümlichkeiten unseres
primitiven Seelenlebens wieder auf, die alte Übermacht des’ Ichs,
die anfänglichen Regungen unseres Sexuallebens, ja selbst unseren
alten. intellektuellen Besitz, wenn wir die Symbolbeziehung als
solchen auffassen dürfen. Und zweitens: All dies alte Infantile,
was einmal herrschend und alleinherrschend war, müssen wir
heute dem Unbewußten zurechnen, von dem unsere Vorstellungen
sich nun verändern und erweitern. Unbewußt ist nicht mehr
ein Name für.das derzeit Latente, das Unbewußte ist ein beson-
deres seelisches Reich mit eigenen Wunschregungen, eigener
Ausdrucksweise und ihm eigentümlichen seelischen Mechanismen,
die sonst nicht in Kraft sind. Aber die latenten Traumgedanken,
die wir durch die Traumdeutung erraten haben, sind doch nicht
von diesem Reich; sie sind vielmehr so, wie wir sie auch im
Wachen hätten denken können. Unbewußt sind sie aber doch;
wie löst sich also dieser Widerspruch? Wir beginnen zu ahnen,
daß hier eine Sonderung vorzunehmen ist. Etwas, was aus un-
serem bewußten Leben stammt und dessen Charaktere teilt —
wir heißen es: die Tagesreste — tritt mit etwas anderem aus
jenem Reich des Unbewußten zur Traumbildung zusammen. Zwi-
schen diesen beiden Anteilen vollzieht sich die Traumarbeit. Die
Beeinflussung der Tagesreste durch das hinzutretende Unbe-
wußte enthält wohl die Bedingung für die Regression. Es ist
dies die tiefste Einsicht über das Wesen des Traumes, zu wel-
cher wir hier, ehe wir weitere seelische Gebiete durchforscht
haben, gelangen können. Es wird aber: bald an der Zeit sein,
den unbewußten Charakter der latenten Traumgedanken mit
einem anderen Namen zu belegen, der es von dem Unbewußten
aus jenem Reich des Infantilen unterscheiden soll. |
Wir können natürlich auch die Frage aufwerfen: Was nö-
tigt die psychische Tätigkeit während des Schlafens zu solcher
Regression? Warum erledigt sie die schlafstörenden seelischen
Reize nicht ohne diese? Und wenn sie aus Motiven der Traum-
zensur sich der Verkleidung durch die alte, jetzt unverständ-
liche Ausdrucksform bedienen muß, wozu dient ihr die Wieder-
belebung der alten, jetzt überwundenen Seelenregungen, Wünsche
und Charakterzüge, also die materielle Regression, die zu der
formalen hinzukommt? Die einzige Antwort, die uns befriedigen
würde, wäre, daß nur auf solche Weise ein Traum gebildet
werden kann, daß dynamisch die Aufhebung des Traumreizes
nicht anders möglich ist. Aber wir haben vorläufig nicht das
Recht, eine solche Antwort zu geben.
VIERZEHNTE VORLESUNG,
DER TRAUM.
DIE WUNSCHERFÜLLUNG.
Meine Damen und Herren! Soll ich Ihnen nochmals vor-
halten, welchen Weg wir bisher zurückgelegt haben? Wie wir
bei der Anwendung unserer Technik auf die Traumentstellung
sestoßen sind, uns besonnen haben, ihr zunächst auszuweichen,
und uns die entscheidenden Auskünfte über das Wesen des
Traumes an den infantilen Träumen geholt haben? Wie wir
dann, mit den Ergebnissen dieser Untersuchung ausgerüstet, die
Traumentstellung direkt angegriffen und sie, ich hoffe es, auch
schrittweise überwunden haben? Nun aber müssen wir uns sa-
gen, was wir auf dem einen und auf dem anderen Weg ge-
funden, trifft nicht ganz zusammen. Es wird uns zur Aufgabe,
beiderlei Ergebnisse zusammenzusetzen und gegeneinander aus-
zugleichen.
‚Von beiden Seiten her hat sich uns ergeben, die Traumarbeit
bestehe wesentlich in der Umsetzung von Gedanken in ein hallu-
zinatorisches Erleben. Wie das geschehen kann, ist rätselhaft
genug, aber es ist ein Problem der allgemeinen Psychologie, das
uns hier nicht beschäftigen soll. Aus den Kinderträumen haben
wir erfahren, die Traumarbeit beabsichtige die Beseitigung eines
den Schlaf störenden seelischen Reizes durch eine Wunscherfül-
lung. Von den entstellten Träumen konnten wir nichts Ähnliches
aussagen, ehe wir sie zu deuten verstanden. Unsere Erwartung
ging aber von Anfang an dahin, die entstellten Träume unter
WO BLEIBT DIE WUNSCHERFÜLLUNG? 939
dieselben Gesichtspunkte bringen zu können wie die infantilen.
Die erste Erfüllung dieser Erwartung brachte uns die Einsicht,
daß eigentlich alle Träume — die Träume von Kindern sind, mit
dem infantilen Material, den kindlichen Seelenregungen und
Mechanismen arbeiten. Nachdem wir die Traumentstellung für
überwunden halten, müssen wir an die Untersuchung gehen, ob
die Auffassung als Wunscherfüllungen auch für die entstellten
Träume Geltung hat.
Wir haben erst kürzlich eine Reihe von Träumen der Deu-
tung unterzogen, aber die Wunscherfüllung ganz außer Betracht
gelassen. Ich bin überzeugt, daß sich Ihnen dabei wiederholt die
Frage aufgedrängt hat: Wo bleibt denn die Wunscherfüllung,
die angeblich das Ziel der Traumarbeit ist? Diese Frage ist be-
deutsam; sie ist nämlich die Frage unserer Laienkritiker ge-
worden. Wie Sie wissen, hat die Menschheit ein instinktives Ab-
wehrbestreben gegen intellektuelle Neuheiten. Zu den Äußerun-
gen desselben gehört, daß eine solche Neuheit sofort auf den
geringsten Umfang reduziert, womöglich in ein Schlagwort kom-
primiert wird. Für die neue Traumlehre ist die Wunscherfüllung
dies Schlagwort geworden. Der Laie stellt die Frage: Wo ist
die Wunscherfüllung? Sofort, nachdem er gehört hat, daß der
Traum eine Wunscherfüllung sein soll, und indem er sie stellt,
beantwortet er sie ablehnend. Es fallen ihm sofort ungezählte
eigene Traumerfahrungen ein, in denen sich Unlust bis zu
schwerer Angst an das Träumen geknüpft hat, so daß ihm die
Behauptung der psychoanalytischen Traumlehre recht unwahr-
scheinlich wird. Wir haben es leicht, ihm zu antworten, daß bei
den entstellten Träumen die Wunscherfüllung nicht offenkundig
sein kann, sondern erst gesucht werden muß, so daß sie vor der
Deutung des Traumes nicht anzugeben ist. Wir wissen auch,
daß die Wünsche dieser entstellten Träume verbotene, von der
240 XIV. DER TRAUM.
Zensur abgewiesene Wünsche sind, deren Existenz eben die Ür-
sache der Traumentstellung, das Motiv für das Eingreifen der
'raumzensur geworden ist. Aber dem Laienkritiker ist es schwer
beizubringen, daß man vor der Deutung des Traumes nicht
nach dessen Wunscherfüllung fragen darf. Es wird doch immer
wieder daran vergessen. Seine ablehnende Haltung gegen die
Theorie der Wunscherfüllung ist eigentlich nichts anderes als
eine Konsequenz der Traumzensur, ein Ersatz und ein Aus-
{luß der Ablehnung dieser zensurierten Traumwünsche.
Natürlich werden auch wir das Bedürfnis haben, uns zu
erklären, daß es so viele Träume mit peinlichem Inhalt und be-
sonders, daß es Angstträume gibt. Wir stoßen dabei zum ersten-
mal auf das Problem der Affekte im Traum, welches ein Stu-
dium für sich verdiente, uns aber leider nicht beschäftigen darf.
Wenn der Traum eine Wunscherfüllung ist, so sollten pein-
liche Empfindungen im Traume unmöglich sein; darin scheinen
die Laienkritiker recht zu haben. Es kommen aber dreierlei
Komplikationen in Betracht, an welche diese nicht gedacht
haben.
Erstens: es kann sein, daß es der Traumarbeit nicht voll
gelungen ist, eine Wunscherfüllung zu schaffen, so daß von
dem peinlichen Affekt der Traumgedanken ein Anteil für den
manifesten Traum erübrigt wird. Die Analyse müßte dann zeigen,
daß diese Traumgedanken noch weit peinlicher waren als der
aus ihnen gestaltete Traum. Soviel läßt sich auch jedesmal nach-
weisen. Wir geben dann zu, die Traumarbeit hat ihren Zweck
nicht erreicht, so wenig wie der Trinktraum auf den Durstreiz
seine Absicht erreicht, den Durst zu löschen. Man bleibt durstig
und muß erwachen, um zu trinken. Aber es war doch ein rich-
tiger Traum, er hatte nichts von seinem Wesen aufgegeben. Wir
müssen sagen: Ut desint vires, tamen est laudanda voluntas.
MISSGLÜCKTE WUNSCHERFÜLLUNGEN. 941
Die klar zu erkennende Absicht wenigstens bleibt lobenswert.
Solche Fälle des Mißlingens sind kein seltenes Vorkommnis. Es
wirkt dazu mit, daß es der Traumarbeit soviel schwerer gelingt,
Affekte als Inhalte in ihrem Sinne zu verändern; die Affekte
sind manchmal sehr resistent. So geschieht es denn, daß die
Traumarbeit den peinlichen Inhalt der Traumgedanken zu einer
‚Wunscherfüllung umgearbeitet hat, während sich der peinliche
Affekt noch unverändert durchsetzt. In solchen Träumen paßt
der Affekt dann gar nicht zum Inhalt, und unsere Kritiker
können sagen, der Traum sei so wenig eine Wunscherfüllung,
daß in ihm selbst ein harmloser Inhalt peinlich empfunden wer-
den kann. Wir werden gegen diese unverständige Bemerkung
einwenden, daß die Wunscherfüllungstendenz der Traumarbeit
gerade an solchen Träumen am deutlichsten, weil isoliert, zum
Vorschein kommt. Der Irrtum kommt daher, daß, wer die
Neurosen nicht kennt, sich die Verknüpfung von Inhalt und
Affekt als eine zu innige vorstellt und darum nicht fassen kann,
daß ein Inhalt abgeändert wird, ohne daß die dazu gehörige
Affektäußerung mitverändert werde
Ein zweites, weit wichtigeres und tiefer reichendes Moment,
welches der Laie gleichfalls vernachlässigt, ist das folgende.
Eine Wunscherfüllung müßte gewiß Lust bringen, aber es fragt
sich auch, wem? Natürlich dem, der den Wunsch hat. Vom
Träumer ist uns aber bekannt, daß er zu seinen Wünschen ein
ganz besonderes Verhältnis unterhält. Er verwirft sie, zensuriert
sie, kurz er mag sie nicht. Eine Erfüllung derselben kann ihm
also keine Lust bringen, sondern nur das Gegenteil davon. Die
Erfahrung zeigt dann, daß dieses Gegenteil, was noch zu er-
klären ist, in der Form der Angst auftritt. Der Träumer kann
also in seinem Verhältnis zu seinen Traumwünschen nur einer
Summation von zwei Personen gleichgestellt werden, die doch!
16
Freud, Vorlesungen, III,
-
nn en nn
249 XIV. DER TRAUM.
durch eine starke Gemeinsamkeit verbunden sind. Anstatt aller
weiteren Ausführungen biete ich Ihnen ein bekanntes Märchen,
in welchem Sie die nämlichen Beziehungen wiederfinden werden.
Eine gute Fee verspricht einem armen Menschenpaar, Mann und
Frau, die Erfüllung ihrer drei ersten Wünsche. Sie sind selig
und nehmen sich vor, diese drei Wünsche sorgfältig auszuwählen.
Die Frau läßt sich aber durch den Duft von Bratwürstchen aus
der nächsten Hütte verleiten, sich ein solches Paar Würstchen
herzuwünschen. Flugs sind sie auch da; das ist die erste Wunsch-
erfüllung. Nun wird der Mann böse und wünscht in seiner Er-
bitterung, daß die Würste der Frau an der Nase hängen mögen.
Das vollzieht sich auch, und die Würste sind von ihrem neuen
Standort nicht wegzubringen, das ist nun die zweite Wunsch-
erfüllung, aber der Wunsch ist der des Mannes; der Frau ist
diese Wunscherfüllung sehr unangenehm. Sie wissen, wie es im
Märchen weitergeht. Da die beiden im Grunde doch eines sind,
Mann und Frau, muß der dritte Wunsch lauten, daß die Würst-
chen von der Nase der Frau weggehen mögen. Wir könnten
dieses Märchen noch mehrmals in anderem Zusammenhange ver-
werten; hier diene es uns nur als Illustration der Möglichkeit,
daß die Wunscherfüllung des einen zur Unlust für den anderen
führen kann, wenn die beiden miteinander nicht einig sind.
Es wird uns nun nicht schwer werden, zu einem noch
besseren Verständnis der Angstträume zu kommen. Wir wer-
den nur noch eine Beobachtung verwerten und uns dann zu einer
Annahme entschließen, für die sich mancherlei anführen läßt.
Die Beobachtung ist, daß die Angstträume häufig einen Inhalt
haben, welcher der Entstellung völlig entbehrt, sozusagen der
Zensur entgangen ist. Der Angsttraum ist oft eine unverhüllte
Wunseherfüllung, natürlich nicht die eines genehmen, sondern
‚eınes verworfenen Wunsches. An Stelle der Zensur ist die Angst-
ENTSTEHUNG: DER ANGSTTRÄUME AUS DEM KONFLIKT. 9243
entwicklung getreten. Während man vom infantilen Traum aus-
sagen kann, er sei die offene Erfüllung eines zugelassenen Wun-
sches, vom gemeinen entstellten Traum, er sei die verkappte Er-
füllung eines verdrängten Wunsches, taugt für den Angsttraum
nur die Formel, daß er die offene Erfüllung eines verdrängten
Wunsches sei. Die Angst ist das Anzeichen dafür, daß der ver-
drängte Wunsch sich stärker gezeigt hat als die Zensur, daß
er seine Wunscherfüllung gegen dieselbe durchgesetzt hat oder
durchzusetzen im Begriffe war. Wir begreifen, daß, was für
ihn Wunscherfüllung ist, für uns, die wir auf der Seite der
Traumzensur stehen, nur Anlaß zu peinlichen Empfindungen und
zur Abwehr sein kann. Die dabei im Traum auftretende Angst
ist, wenn Sie so wollen, Angst vor der Stärke dieser sonst nieder-
gehaltenen Wünsche. Warum diese Abwehr in der Form der
Angst auftritt, das kann man aus dem Studium des Traumes
allein nicht erraten; man muß die Angst offenbar an anderen
Stellen studieren.
Dasselbe, was für die unentstellten Angstträume gilt, dürfen
wir auch für diejenigen annehmen, die ein Teil Entstellung er-
fahren haben, und für die sonstigen Unlustträume, deren pein-
liche Empfindungen wahrscheinlich Annäherungen an die Angst
entsprechen. Der Angsttraum ist gewöhnlich auch ein Weck-
traum; wir pflegen den Schlaf zu unterbrechen, ehe der ver-
drängte Wunsch des Traumes seine volle Erfüllung gegen die
Zensur durchgesetzt hat. In diesem Falle ist die Leistung des
Traumes mißglückt, aber sein Wesen ist darum nicht verändert.
Wir haben den Traum mit dem Nachtwächter oder Schlafwächter
verglichen, der unseren Schlaf vor Störung behüten will. Auch
der Nachtwächter kommt in die Lage, die Schlafenden zu wecken,
wenn er sich nämlich zu schwach fühlt, die Störung oder Ge-
fahr allein zu verscheuchen. Dennoch gelingt es uns manchmal,
ü 16*
244 XIV. DER TRAUM.
den Schlaf festzuhalten, selbst wenn der Traum bedenklich zu
_ werden und sich zur Angst zu wenden beginnt. Wir sagen uns
im Schlaf: Es ist doch nur ein Traum, und schlafen weiter.
‘Wann sollte es geschehen, daß der Traumwunsch in die Lage
kommt, die Zensur zu überwältigen? Die Bedingung hiefür kann
ebensowohl von Seiten des Traumwunsches wie der Traumzensur
erfüllt werden. Der Wunsch mag aus unbekannten Gründen
einmal überstark werden; aber man gewinnt den Eindruck, daß
häufiger das Verhalten der Traumzensur die Schuld an dieser
Verschiebung des Kräfteverhältnisses trägt. Wir haben schon
gehört, daß die Zensur in jedem einzelnen Falle mit verschiedener
Intensität arbeitet, jedes Element mit einem anderen Grade von
Strenge behandelt; jetzt möchten wir die Annahme hinzufügen,
daß sie überhaupt recht variabel ist und gegen das nämliche
anstößige Element nicht jedesmal die gleiche Strenge anwendet.
Hat es sich so gefügt, daß sie sich einmal ohnmächtig gegen
einen Traumwunsch fühlt, der sie zu überrumpeln droht, so be-
dient sie sich anstatt der Entstellung des letzten Mittels, das
ihr bleibt, den Schlafzustand unter Angstentwicklung
aufzugeben.
Dabei fällt uns auf, daß wir ja überhaupt noch nicht wis-
sen, warum diese bösen, verworfenen Wünsche sich gerade zur
Nachtzeit regen, um uns im Schlafe zu stören. Die Antwort kann
kaum anders als in einer Annahme bestehen, die auf die Natur
des Schlafzustandes zurückgreift. Bei Tage lastet der schwere
Druck einer Zensur auf diesen Wünschen, der es ihnen in der
Regel unmöglich macht, sich durch irgend eine Wirkung zu
äußern. Zur Nachtzeit wird diese Zensur wahrscheinlich wie
alle anderen Interessen des seelischen Lebens zu Gunsten das
einzigen Schlafwunsches eingezogen oder wenigstens stark herab-
gesetzt. Diese Herabsetzung der Zensur zur Nachtzeit ist es
DIE NÄCHTLICHE HERABSETZUNG DER ZENSUR. 245
dann, der die verbotenen Wünsche es verdanken, daß sie sich
wiederum regen dürfen. Es gibt schlaflose Nervöse, die uns ge-
stehen, daß ihre Schlaflosigkeit anfänglich eine gewollte war.
Sie getrauten sich nicht einzuschlafen, weil sie sich vor ihren
Träumen, also vor den Folgen dieser Verminderung der Zensur
fürchteten. Daß diese Einziehung der Zensur darum doch keine
grobe Unvorsichtigkeit bedeutet, sehen Sie wohl mit Leichtig-
keit ein. Der Schlafzustand lähmt unsere Motilität; unsere
bösen Absichten können, wenn sie sich auch zu rühren beginnen,
doch nichts anderes machen als eben einen Traum, der praktisch
unschädlich ist, und an diesen beruhigenden Sachverhalt mahnt
die höchst vernünftige, zwar der Nacht, aber doch nicht dem
Traumleben angehörige Bemerkung des Schläfers: Es ist ja
nur ein Traum. Also lassen wir ihn gewähren und schlafen wir
weiter. | Ä
Wenn Sie drittens sich an die Auffassung erinnern, daß der
gegen seine Wünsche sich sträubende Träumer gleichzusetzen
ist einer Summation von zwei gesonderten, aber irgendwie innig
verbundenen Personen, so werden Sie eine andere Möglichkeit
begreiflich finden, wie durch Wunscherfüllung etwas zu stande
kommen kann, was höchst unlustig ist, nämlich eine Bestrafung.
Hier kann uns wiederum das Märchen von den drei Wünschen
zur Erläuterung dienen: die Bratwürstchen auf dem Teller sind
die direkte ‚Wunscherfüllung der ersten Person, der Frau;
die Würstchen an ihrer Nase sind die Wunscherfüllung
der zweiten Person, des Mannes, aber gleichzeitig auch die
Strafe für den törichten Wunsch der Frau. Bei den Neurosen
werden wir dann die Motivierung des dritten Wunsches, der im
Märchen allein noch übrig bleibt, wiederfinden. Solcher Straf-
tendenzen gibt es nun viele im Seelenleben des Menschen; sie
sind sehr stark, und man darf sie für einen Anteil der peinlichen
246 . XIV. DER TRAUM.
Träume verantwortlich machen. Vielleicht sagen Sie jetzt, auf
diese Weise bleibt von der gerühmten Wunscherfüllung nicht
viel übrig. Aber bei näherem Zusehen werden Sie zugeben, daß
Sie unrecht haben. Entgegen der später anzuführenden Mannig-
faltigkeit dessen, was der Traum sein könnte — und nach man-
chen Autoren auch ist —, ist die Lösung: Wunscherfüllung,
Angsterfüllung, Straferfüllung doch eine recht eingeengte. Dazu
kommt, daß die Angst der direkte Gegensatz des ‚Wunsches
ist, daß Gegensätze einander in der Assoziation besonders nahe
stehen und im Unbewußten, wie wir gehört haben, zusammen-
fallen. Ferner, daß die Strafe auch eine Wunscherfüllung ist, die
der anderen, zensurierenden Person.
Im ganzen habe ich also Ihrem Einspruch gegen die Theorie
der Wunscherfüllung keine Konzession gemacht. Wir sind aber
verpflichtet, an jedem beliebigen entstellten Traum die Wunsch-
‚erfüllung nachzuweisen, und wollen uns dieser Aufgabe gewiß
nicht entziehen. Greifen wir auf jenen bereits gedeuteten Traum
von den drei schlechten Theaterkarten für 1 fl. 50 zurück, an
dem wir schon so manches gelernt haben. Ich hoffe, Sie erinnern
‚sich noch an ihn. Eine Dame, der ihr Mann am Tage mitgeteilt,
daß ihre nur um drei Monate jüngere Freundin Elise sich ver-
lobt hat, träumt, daß sie mit ihrem Manne im Theater sitzt.
Eine Seite des Parketts ist fast leer. Ihr Mann sagt ihr, die Elise
und ihr Bräutigam hätten auch ins Theater gehen wollen, konnten
aber nicht, da sie nur schlechte Karten bekamen, drei um einen
Gulden fünfzig. Sie meint, es wäre auch kein Unglück gewesen.
‚Wir hatten erraten, daß sich die Traumgedanken auf den Ärger,
so früh geheiratet zu haben und auf die Unzufriedenheit mit
ihrem Mann beziehen. Wir dürfen neugierig sein, wie diese trü-
ben Gedanken zu einer Wunscherfüllung umgearbeitet worden
sind, und wo sich deren Spur im manifesten Inhalt findet. Nun
STRAFTENDENZEN. VOLLENDUNG EINER TRAUMDEUTUNG, 947
—
wissen wir schon, daß das Element „zu früh, voreilig“ durch
die Zensur aus dem Traum eliminiert wurde. Das leere Parkett
ist eine Anspielung darauf. Das rätselhafte „3 um einen Gulden
fünfzig“ wird uns jetzt mit Hilfe der Symbolik, die wir seither
gelernt haben, besser verständlich.*) Die 3 bedeutet wirklich einen
Mann und das manifeste Element ist leicht zu übersetzen: sich
einen Mann für die Mitgift kaufen. („Einen zehnmal besseren
hätte ich mir für meine Mitgift kaufen können.‘“) Das Heiraten
ist offenbar ersetzt durch das Ins-Theater-Gehen. Das ‚zu früh
Theaterkarten besorgen“ steht ja direkt an Stelle des zu früh
Heiratens. Diese Ersetzung ist aber das Werk der Wunsch-
erfüllung. Unsere Träumerin war nicht immer so unzufrieden
mit ihrer frühen Heirat wie am Tage, da sie die Nachricht
von der Verlobung ihrer Freundin erhielt. Sie war seinerzeit stolz
darauf und fand sich vor der Freundin bevorzugt. Naive Mädchen
sollen häufig nach ikrer Verlobung ihre Freude darüber ver-
raten haben, daß sie nun bald zu allen bisher verbotenen Stücken
ins Theater gehen, alles mitansehen dürfen. Das Stück Schau-
lust oder Neugierde, das hier zum Vorschein kommt, war gewiß
anfänglich sexuelle Schaulust, dem Geschlechtsleben, besonders
der Eltern, zugewendet, und wurde dann zu einem starken Motiv,
das die Mädchen zum frühen Heiraten drängte. Auf solche Art
wird der Theaterbesuch zu einem naheliegenden Andeutungs-
ersatz für das Verheiratetsein. In dem gegenwärtigen Ärger
über ihre frühe Heirat greift sie also auf jene Zeit zurück, in
welcher ihr die frühe Heirat Wunscherfüllung war, weil sie ihre
Schaulust befriedigte, und ersetzt von dieser alten Wunschregung
geleitet das Heiraten durch das Ins-Theater-Gehen.
*) Eine andere naheliegende Deutung dieser 3 bei der kinderlosen Frau
erwähne ich nicht, weil diese Analyse kein Material hiefür brachte.
248 XIV. DER TRAUM.
nn
Wir können sagen, daß wir uns für den Nachweis einer ver-
arkten Wunscherfüllung nicht gerade das bequemste Beispiel
herausgesucht haben. In analoger Weise müßten wir bei anderen
entstellten Träumen verfahren. Ich kann das vor Ihnen nicht
tun und will bloß die Überzeugung aussprechen, daß es überall
gelingen wird. Aber ich will bei diesem Punkte der Theorie
noch länger verweilen. Die Erfahrung hat mich belehrt, daß
er einer der gefährdetsten der ganzen Traumlehre ist, und daß
viele Widersprüche und Mißverständnisse an ihn anknüpfen.
Außerdem werden Sie vielleicht noch unter dem Eindruck stehen,
daß ich bereits ein Stück meiner Behauptung zurückgenommen,
indem ich äußerte, der Traum sei ein erfüllter Wunsch oder das
Gegenteil davon, eine verwirklichte Angst oder Bestrafung, und
werden meinen, es sei die Gelegenheit, mir weitere Einschrän-
kungen abzunötigen. Ich habe auch den Vorwurf gehört, dab
ich Dinge, die mir selbst evident scheinen, zu knapp und darum
nicht überzeugend genug darstelle.
‚Wenn jemand in der Traumdeutung so weit mit uns ge-
gangen ist und alles angenommen hat, was sie bisher gebracht,
so macht er nicht selten bei der Wunscherfüllung halt und fragt:
Zugegeben, daß der Traum jedesmal einen Sinn hat, und daß
dieser Sinn durch die psychoanalytische Technik aufgedeckt
werden kann, warum muß dieser Traum aller Evidenz zu Trotze
immer wieder in die Formel der Wunscherfüllung gepreßt wer-
den? Warum soll der Sinn dieses nächtlichen Denkens nicht so
mannigfaltig sein können wie der des Denkens bei Tage, also
der Traum das eine Mal einem erfüllten Wunsch entsprechen,
das andere Mal, wie Sie selbst sagen, dem Gegenteil davon, einer
verwirklichten Befürchtung, dann aber auch einen Vorsatz aus-
drücken können, eine Warnung, eine Überlegung mit ihrem
Für und Wider, oder einen Vorwurf, eine Gewissensmahnung,
IST DER TRAUM IMMER NUR WUNSCHERFÜLLUNG? 249
nn mn nn
einen Versuch, sich für eine bevorstehende Leistung vorzubereiten
usw.? Warum gerade immer nur einen Wunsch oder höchstens
noch sein Gegenteil?
Man könnte meinen, eine Differenz in diesem Punkte sei
nicht wichtig, wenn man sonst einig ist. Genug, daß wir den Sinn
des Traumes und die Wege, ihn zu erkennen, aufgefunden; es
tritt dagegen zurück, wenn wir diesen Sinn zu enge bestimmt
haben sollten; aber es ist nicht so. Ein Mißverständnis in diesem
Punkte trifft das Wesen unserer Erkenntnis vom Traum und
gefährdet dessen Wert für das Verständnis der Neurose. Auch
ist jene Art von Entgegenkommen, die im kaufmännischen Leben
als „Kulanz“ geschätzt wird, im wissenschaftlichen Betrieb
nicht an ihrem Platze und eher schädlich.
Meine erste Antwort auf die Frage, warum der Traum nicht
ım angegebenen Sinne vieldeutig sein soll, lautet wie gewöhn-
lich in solchen Fällen: Ich weiß nicht, warum es nicht so sein
soll. Ich hätte nichts dagegen. Meinetwegen sei es so. Nur eine
Kleinigkeit widersetzt sich dieser breiteren und bequemeren Auf-
fassung des Traumes, daß es nämlich in Wirklichkeit nicht so
ist. Meine zweite Antwort wird betonen, daß die Annahme, der
Traum entspreche mannigfaltigen Denkformen und intellektuel-
len Operationen, mir selbst nicht fremd ist. Ich habe einmal
in einer Krankengeschichte einen Traum berichtet, der drei
Nächte hintereinander auftrat und dann nicht mehr, und habe
dies Verhalten damit erklärt, daß der Traum einem Vorsatz
entsprach, der nicht wiederzukehren brauchte, nachdem er aus-
geführt worden war. Später habe ich einen Traum veröffentlicht,
der einem Geständnis entsprach. Wie kann ich also doch wider-
sprechen und behaupten, daß der Traum immer nur ein erfüllter
Wunsch sei?
Ich tue das, weil ich ein einfältiges Mißverständnis nicht
zulassen will, welches uns die Frucht unserer Bemühung um
250 XIV. DER TRAUM.
en nn ee ä.
den Traum kosten kann, ein Mißverständnis, das den Traum
mit den latenten Traumgedanken verwechselt und von ihm
etwas aussagt, was einzig und allein zu den letzteren gehört.
Es ist nämlich ganz richtig, daß der Traum all das vertreten
und durch das ersetzt werden kann, was wir vorhin aufgezählt
haben: einen Vorsatz, eine Warnung, Überlegung, Vorbereitung,
einen Lösungsversuch einer Aufgabe usw. Aber wenn Sie richtig
zusehen, erkennen Sie, daß dies alles nur von den latenten Traum-
gedanken gilt, die in den Traum umgewandelt worden sind. Sie
erfahren aus den Deutungen der Träume, daß das unbewußte
Denken der Menschen sich mit solchen Vorsätzen, Vorbereitun-
gen, Überlegungen usw. beschäftigt, aus denen dann die Traum-
arbeit die Träume macht. Wenn Sie sich für die Traumarbeit
derzeit nicht interessieren, für die unbewußte Denkarbeit des
Menschen aber sehr interessieren, dann eliminieren Sie die Traum-
arbeit und sagen von dem Traum praktisch ganz richtig aus,
er entspreche einer Warnung, einem Vorsatz u. dgl. In der
psychoanalytischen Tätigkeit trifft dieser Fall oft zu. Man
strebt meist nur danach, die Traumform wieder zu zerstören
und die latenten Gedanken, aus denen der Traum geworden ist,
an seiner statt in den Zusammenhang einzufügen.
So ganz nebenbei erfahren wir also aus der Würdigung
der latenten Traumgedanken, daß alle die genannten, hoch kom-
plizierten seelischen Akte unbewußt vor sich gehen können, ein
ebenso großartiges wie verwirrendes Resultat!
Aber um zurückzukehren, Sie haben nur recht, wenn Sie
sich klarmachen, daß Sie sich einer abgekürzten Redeweise be-
dient haben, und wenn Sie nicht glauben, daß Sie jene ange-
führte Mannigfaltigkeit auf das Wesen des Traumes beziehen
müssen. Wenn Sie vom „Traum“ sprechen, so müssen Sie ent-
weder den manifesten Traum meinen, d.i. das Produkt der
VERWECHSLUNG D. TRAUMES M. D. LATENTEN GEDANKEN. 251
Traumarbeit, oder höchstens noch die Traumarbeit selbst, d. i.
jenen psychischen Vorgang, der aus den latenten Traumgedanken
den manifesten Traum formt. Jede andere Verwendung des Wortes
ist Begriffsverwirrung, die nur Unheil stiften kann. Zielen
Sie mit Ihren Behauptungen auf die latenten Gedanken hinter
dem Traum, so sagen Sie es direkt und verhüllen Sie nicht das
Problem des Traumes durch die lockere Ausdrucksweise, deren
Sie sich bedienen. Die latenten Traumgedanken sind der Stoff,
den die Traumarbeit zum manifesten Traum umbildet. Warum
wollen Sie durchaus den Stoff mit der Arbeit verwechseln,
die ihn formt? Haben Sie dann etwas vor jenen voraus, die nur
das Produkt dieser Arbeit kannten und sich nicht erklären
konnten, woher es stammt und wie es gemacht wird?
Das einzig Wesentliche am Traum ist die Traumarbeit, die
auf den Gedankenstoff eingewirkt hat. Wir haben kein Recht,
uns in der Theorie über sie hinwegzusetzen, wenn wir sie auch
in gewissen praktischen Situationen vernachlässigen dürfen.
Die analytische Beobachtung zeigt denn auch, daß die Traum-
arbeit sich nie darauf beschränkt, diese Gedanken in die Ihnen
bekannte archaische oder regressive Ausdrucksweise zu über-
setzen. Sondern sie nimmt regelmäßig etwas hinzu, was nicht
zu den latenten Gedanken des Tages gehört, was aber der
eigentliche Motor der Traumbildung ist. Diese unentbehrliche
Zutat ist der gleichfalls unbewußte Wunsch, zu dessen Erfüllung |
der Trauminhalt umgebildet wird. Der Traum mag also alles
mögliche sein, insoweit Sie nur die durch ihn vertretenen Ge-
danken berücksichtigen, Warnung, Vorsatz, Vorbereitung usw.;
er ist immer auch die Erfüllung‘ eines unbewußten Wunsches,
und er ist nur dies, wenn Sie ihn als Ergebnis der Traumarbeit
betrachten. Ein Traum ist also auch nie ein Vorsatz, eine
Warnung schlechtweg, sondern stets ein Vorsatz u. dgl., mit
252 XIV. DER TRAUM.
—
a
Hilfe eines unbewußten Wunsches in die archaische Ausdrucks-
weise übersetzt und zur Erfüllung dieser Wünsche umgestaltet.
Der eine Charakter, die Wunscherfüllung, ist der konstante;
der andere mag variieren; er kann seinerseits auch ein Wunsch
sein, so daß der Traum einen latenten Wunsch vom Tage mit
Hilfe eines unbewußten Wunsches als erfüllt darstellt.
Ich verstehe das alles sehr gut, aber ich weiß nicht, ob
es mir gelungen ist, es auch für Sie verständlich zu machen.
Auch habe ich Schwierigkeiten, es Ihnen zu beweisen. Das
geht einerseits nicht ohne die sorgfältige Analyse vieler Träume,
und anderseits ist dieser heikelste und bedeutsamste Punkt un-
serer Auffassung des Traumes nicht ohne Beziehung auf Spä-
teres überzeugend darzustellen. Können Sie es überhaupt
glauben, daß man bei dem innigen Zusammenhang aller Dinge
sehr tief in die Natur des einen eindringen kann, ohne sich
um andere Dinge von ähnlicher Natur bekümmert zu haben?
Da wir von den nächsten Verwandten des Traumes, von den
neurotischen Symptomen, noch nichts wissen, müssen wir uns auch
hier bei dem Erreichten bescheiden. Ich will nur noch ein Beispiel
vor Ihnen erläutern und eine neue Betrachtung anstellen.
Nehmen wir wieder jenen Traum vor, zu dem wir schon
. mehrmals zurückgekehrt sind, den Traum von den 3 Theater-
karten für 1£l. 50. Ich kann Ihnen versichern, daß ich ihn
zuerst absichtslos als Beispiel aufgegriffen habe. Die latenten
Traumgedanken kennen Sie. Ärger, daß sie sich mit dem Heira-
ten so beeilt hatte bei der Nachricht, daß ihre Freundin sich
erst jetzt verlobt hat; Geringschätzung ihres Mannes, die Idee,
daß sie einen besseren bekommen, wenn sie nur gewartet hätte.
Den Wunsch, der aus diesen Gedanken einen Traum gemacht
hat, kennen wir auch bereits, es ist die Schaulust, ins Theater
ERWEIS DES 1INFANTILEN TRAUMWUNSCHES., 253
gehen zu können, sehr wahrscheinlich eine Abzweigung der
alten Neugierde, endlich einmal zu erfahren, was denn vorgeht,
wenn man verheiratet ist. Diese Neugierde richtet sich bei
Kindern bekanntlich regelmäßig auf das Sexualleben der Eltern,
ist also eine infantile, und soweit sie später noch vorhanden
ist, eine mit ihren Wurzeln ins Infantile reichende Triebregung.
Aber zur Erweckung dieser Schaulust gab die Nachricht vom
Tage keinen Anlaß, bloß zum Ärger und zur Reue Zu den
latenten Traumgedanken gehörte diese Wunschregung zunächst
nicht, und wir konnten das Ergebnis der Traumdeutung in die
Analyse einreihen, ohne auf sie Rücksicht zu nehmen. Der
Ärger war aber ‚auch an sich nicht traumfähig; ein Traum
konnte aus den Gedanken: Es war ein Unsinn, so früh zu
heiraten, nicht eher werden, als bis von ihnen aus der alte
Wunsch, endlich einmal zu sehen, was beim Heiraten vorgeht,
erweckt worden war. Dann formte dieser Wunsch den Traum-
inhalt, indem er das Heiraten durch Ins-Theater-Gehen ersetzte,
und gab ihm die Form einer früheren Wunscherfüllung: So,
ich darf ins Theater gehen und alles Verbotene ansehen und
du darfst es nicht. Ich bin verheiratet und du must warten.
Auf solche Weise wurde die gegenwärtige Situation in ihr
Gegenteil verwandelt, ein alter Triumph an die Stelle der
rezenten Niederlage gesetzt. Nebenbei eine Schaulustbefriedi-
gung mit einer egoistischen Konkurrenzbefriedigung verquickt.
Diese Befriedigung bestimmt nun den manifesten Trauminhalt,
in dem es wirklich heißt, daß sie im Theater sitzt, während die
Freundin nicht Einlaß finden konnte. Als unpassende und un-
verständliche Modifikationen sind dieser Befriedigungssituation
jene Stücke des Trauminhalts aufgesetzt, hinter welchen sich
die latenten Traumgedanken noch verbergen. Die Traumdeutung
hat von allem abzusehen, was zur Darstellung der Wunsch-
254 XIV. DER TRAUM.
— nn
erfüllung dient, und aus jenen Andeutungen die peinlichen
latenten Traumgedanken wiederherzustellen.
Die eine Betrachtung, die ich vorbringen will, soll Ihre
Aufmerksamkeit auf die jetzt in den Vordergrund gerückten
latenten Traumgedanken einstellen. Ich bitte Sie, nicht daran
zu vergessen, daß sie erstens dem Träumer unbewußt, zweitens
vollkommen verständig und zusammenhängend sind, so dab sie
sich als begreifliche Reaktionen auf den Traumanlaß verstehen
lassen, drittens, daß sie den Wert einer beliebigen seelischen
Regung oder intellektuellen Operation haben können. Ich werde
diese Gedanken jetzt strenger als vorhin „Tagesreste“ heißen,
der Träumer mag sich zu ihnen bekennen oder nicht. Ich son-
dere jetzt Tagesreste und latente Traumgedanken, indem ich
im Einklang mit unserem früheren Gebrauch als latente Traum-
gedanken alles bezeichne, was wir bei der Deutung des Traumes
erfahren, während die Tagesreste nur ein Teil der latenten
Traumgedanken sind. Dann geht unsere Auffassung eben dahin,
zu den Tagesresten ist etwas hinzugekommen, etwas, was auch
dem Unbewußten angehörte, eine starke, aber verdrängte Wunsch-
regung, und diese allein ist es, die die Traumbildung ermöglicht
hat. Die Einwirkung dieser Wunschregung auf die Tagesreste
schafft den weiteren Anteil der latenten Traumgedanken, jenen,
der nicht mehr rationell und aus dem Wachleben begreiflich
erscheinen muß.
Für das Verhältnis der Tagesreste zu dem unbewußten
‚Wunsch habe ich mich eines Vergleiches bedient, den ich hier
nur wiederholen kann. Bei jeder Unternehmung bedarf es eines
Kapitalisten, der den Aufwand bestreitet, und eines Unterneh-
mers, der die Idee hat und sie auszuführen versteht. Die Rolle
des Kapitalisten spielt für die Traumbildung immer nur der
unbewußte Wunsch ; er gibt die psychische Energie für die
Traumbildung ab; der Unternehmer ist der Tagesrest, der über
DIE TAGESRESTE. 255
die Verwendung dieses Aufwandes entscheidet. Nun kann der
Kapitalist selbst die Idee und die Sachkenntnis haben oder
der Unternehmer selbst Kapital besitzen. Das vereinfacht die
praktische Situation, erschwert aber ihr theoretisches Verständ-
nis. In der Volkswirtschaft wird man immer wieder die eine
Person in ihre beiden Aspekte als Kapitalist und ais Unterneh-
mer zerlegen und somit die Grundsituation, von der unser Ver-
gleich ausgegangen ist, wiederherstellen. Bei der Traumbildung
kommen dieselben Variationen vor, deren weitere Verfolgung
ich Ihnen überlasse.
Weiter können wir hier nicht gehen, denn Sie sind wahr-
scheinlich schon längst durch ein Bedenken gestört worden,
das angehört zu werden verdient. Sind die Tagesreste, fragen
Sie, wirklich in demselben Sinne unbewußt wie der unbewußte
Wunsch, der hinzukommen muß, um sie traumfähig zu machen?
Sie ahnen richtig. Hier liegt der springende Punkt der ganzen
Sache. Sie sind nicht unbewußt in demselben Sinne. Der Traum-
wunsch gehört einem anderen Unbewußten an, jenem, das wir
als infantiler Herkunft, mit besonderen Mechanismen ausge-
stattet, erkannt haben. Es wäre durchaus angebracht, diese
beiden Weisen des Unbewußten durch verschiedene Bezeichnun-
gen voneinander zu sondern. Aber wir wollen doch lieber damit
warten, bis wir uns mit dem Erscheinungsgebiet der Neurosen.
vertraut gemacht haben. Hält man uns doch das eine Unbe-
wußte als phantastisch vor; was wird man erst sagen, wenn
wir bekennen, daß wir erst bei zweierlei Unbewußtem unser
Auslangen finden?
Brechen wir hier ab. Sie haben wiederum nur Unvollstän-
diges gehört; aber ist es nicht hoffnungsvoll zu denken, daß
dieses Wissen eine Fortsetzung hat, die entweder wir selbst
oder andere nach uns zu Tage fördern werden? Und haben wir
selbst nicht Neues und Überraschendes genug erfahren?
FÜNFZEHNTE VORLESUNG.
DER TRAUM.
UNSICHERHEITEN UND KRITIKEN.
Meine Damen und Herren! Wir wollen das Gebiet des
Traumes doch nicht verlassen, ohne die gewöhnlichsten Zweifel
und Unsicherheiten zu behandeln, die sich an unsere bisherigen
Neuheiten und Auffassungen geknüpft haben. Einiges Material
hiezu werden aufmerksame Hörer unter Ihnen bei sich selbst
zusammengetragen haben.
1. Es mag Ihr Eindruck geworden sein, daß die Resultate
unserer Deutungsarbeit am Traume trotz korrekter Einhaltung
der Technik so viel Unbestimmtheiten zulassen, daß dadurch
eine sichere Übersetzung des manifesten Traumes in die laten-
ten Traumgedanken doch vereitelt wird. Sie werden dafür an-
führen, daß man erstens nie weiß, ob ein bestimmtes Element
des Traumes im eigentlichen Sinne oder symbolisch zu verstehen
ist, denn die als Symbole verwendeten Dinge hören darum doch
nicht auf, sie selbst zu sein. Hat man aber keinen objektiven
Anhalt, um dies zu entscheiden, so bleibt die Deutung in diesem
Punkte der Willkür des Traumdeuters überlassen. Ferner ist
es infolge des Zusammenfallens von Gegensätzen bei der Traum-
arbeit jederzeit unbestimmt gelassen, ob ein gewisses Traum-
element im positiven oder im negativen Sinne, als es selbst
oder als sein Gegenteil verstanden werden soll. Eine neue Gele-
genheit zur Betätigung der Willkür des Deutenden. Drittens
steht es dem Traumdeuter infolge der im Traume so beliebten
DIE WILLKÜR DES TRAUMDEUTERS. 257
—
Umkehrungen jeder Art frei, an ihm beliebigen Stellen des
Traumes eine solche Umkehrung vorzunehmen. Endlich werden
Sie sich darauf berufen, gehört zu haben, daß man selten sicher
ist, die gefundene Deutung des Traumes sei die einzig mögliche.
Man läuft Gefahr, eine durchaus zulässige Überdeutung des-
selben Traumes zu übersehen. Unter diesen Umständen, werden
Sie schließen, bleibt der Willkür des Deuters ein Spielraum
eingeräumt, dessen Weite mit der objektiven Sicherheit der
Resultate unverträglich scheint. Oder Sie können auch anneh-
men, der Fehler liege nicht am Traume, sondern die Unzuläng-
lichkeiten unserer Traumdeutung ließen sich auf Unrichtigkeiten
unserer Auffassungen und Voraussetzungen zurückführen.
All Ihr Material ist untadelig gut, aber ich glaube, es
rechtfertigt nicht Ihre Schlüsse nach den beiden Richtungen,
daß die Traumdeutung, wie wir sie betreiben, der Willkür
preisgegeben ist, und daß die Mängel der Ergebnisse die Berech-
tigung unseres Verfahrens in Frage stellen. Wenn Sie anstatt
der Willkür des Deuters einsetzen wollen: der Geschicklichkeit,
der Erfahrung, dem Verständnis derselben, so pflichte ich Ihnen
bei. Ein solches persönliches Moment werden wir freilich nicht
entbehren können, zumal nicht bei schwierigeren Aufgaben der
Traumdeutung. Das ist aber bei anderen wissenschaftlichen Be-
trieben auch nicht anders. Es gibt kein Mittel, um hintanzu-
halten, daß der eine eine gewisse Technik nicht schlechter hand-
habe oder nicht besser ausnütze als ein anderer. Was sonst,
z. B. bei der Deutung der Symbole als Willkür imponiert, das
wird dadurch beseitigt, daß in der Regel der Zusammenhang
der Traumgedanken untereinander, der des Traumes mit dem
Leben des Träumers und die ganze psychische Situation, in
welche der Traum fällt, von den gegebenen Deutungsmöglich-
keiten die eine auswählt, die anderen als unbrauchbar zurück-
Freud, Vorlesungen. III. 17
258 XV, DER TRAUM.
weist. Der Schluß aus den Unvollkommenheiten der Traumdeu-
tung auf die Unriehtigkeit unserer Aufstellungen wird aber
durch eine Bemerkung entkräftet, welche die Mehrdeutigkeit
oder Unbestimmtheit des Traumes vielmehr als eine notwendig
zu erwartende Eigenschaft desselben erweist.
'Erinnern wir uns daran, daß wir gesagt haben, die Traum-
arbeit nehme eine Übersetzung der Traumgedanken in eine pri-
mitive, der Bilderschrift analoge Ausdrucksweise vor. Alle
diese primitiven Ausdruckssysteme sind aber mit solchen Un-
bestimmtheiten und Zweideutigkeiten behaftet, ohne daß wir
darum ein Recht hätten, deren Gebrauchsfähigkeit anzuzweifeln.
Sie wissen, das Zusammenfallen der Gegensätze bei der Traum-
arbeit ist analog dem sogenannten „Gegensinn der Urworter‘
in den ältesten Sprachen. Der Sprachforscher R. Abel, dem
wir diesen Gesichtspunkt verdanken (1884), ersucht uns, ja
nicht zu glauben, daß die Mitteilung, welche eine Person der
anderen mit Hilfe so ambivalenter Worte machte, darum eine
zweideutige gewesen sei. Ton und Geste müssen es vielmehr
im Zusammenhang der Rede ganz unzweifelhaft gemacht haben,
welchen der beiden Gegensätze der Sprecher zur Mitteilung
im Sinne hatte. In der Schrift, wo die Geste entfällt, wurde
sie durch ein hinzugesetztes, zur Aussprache nicht bestimmtes
Bildzeichen ersetzt, z. B. durch das Bild eines lässig hockenden
oder eines stramm dastehenden Männchens, je nachdem das
zweideutige ken der Hieroglyphenschrift „schwach“ oder „stark“
bedeuten sollte. So wurde trotz der Mehrdeutigkeit der Laute
und der Zeichen das Mißverständnis vermieden.
Die alten Ausdruckssysteme, z. B. die Schriften jener älte-
sten Sprachen, lassen uns eine Anzahl von Unbestimmtheiten
erkennen, die wir in unserer heutigen Schrift nicht dulden
würden. So werden in manchen semitischen Schriften nur die
DIE NOTWENDIGEN UNBESTIMMTHEITEN DES TRAUMES. 959
—
Konsonanten der Worte bezeichnet. Die weggelassenen Vokale
hat der Leser nach seiner Kenntnis und nach dem Zusammen-
hange einzusetzen. Nicht ganz so, aber recht ähnlich verfährt
die Hieroglyphenschrift, weshalb uns die Aussprache des Alt-
ägyptischen unbekannt geblieben ist. Die heilige Schrift der
Ägypter kennt noch andere Unbestimmtheiten. So ist es z. B.
der Willkür des Schreibers überlassen, ob er die Bilder von
rechts nach links oder von links nach rechts aneinanderreihen
will. Um lesen zu können, muß man sich an die Vorschrift
halten, daß man auf die Gesichter der Figuren, Vögel u. dgl.
hin zu lesen hat. Der Schreiber konnte aber auch die Bilder-
zeichen in: Vertikalreihen anordnen, und bei Inschriften an klei-
neren: Objekten ließ er sich durch Rücksichten der Gefälligkeit
und der Raumausfüllung bestimmen, die Folge der Zeichen
noch anders abzuändern. Das Störendste an der Hieroglyphen-
schrift ist wohl, daß sie eine Worttrennung nicht kennt.
Die Bilder laufen in gleichen Abständen von einander über die
Seite, und man kann im allgemeinen nicht wissen, ob ein Zeichen
noch zum vorstehenden gehört oder den Anfang eines neuen
Wortes macht. In der persischen Keilschrift dient dagegen ein
schräger Keil als „Wortteiler“.
Eine überaus alte, aber heute noch von 400 Millionen ge-
brauchte Sprache und Schrift ist die chinesische. Nehmen Sie
nicht an, daß ich etwas von ihr verstehe; ich habe mich nur
über sie instruiert, weil ich Analogien zu den Unbestimmtheiten
des Traumes zu finden hoffte. Meine Erwartung ist auch nicht
getäuscht worden. Die chinesische Sprache ist voll von solchen
Unbestimmtheiten, die uns Schrecken einjagen können. Sie be-
steht bekanntlich aus einer Anzahl von Silbenlauten, die für
sich allein oder zu zweien kombiniert gesprochen werden. Einer
der Hauptdialekte hat etwa 400 solcher Laute. Da nun der
17*
260 XV. DER TRAUM.
Wortschatz dieses Dialekts auf etwa 4000 Worte berechnet wird,
ergibt sich, daß jeder Laut im Durchschnitt zehn verschiedene
Bedeutungen hat, einige davon weniger, aber andere dafür um
so mehr. Es gibt dann eine ganze Anzahl von Mitteln, um
der Vieldeutigkeit zu entgehön, da man nicht aus dem Zusam-
menhang allein erraten kann, welche der zehn Bedeutungen des
Silbenlautes der Sprecher beim Hörer zu erwecken beabsichtigt.
Darunter ist die Verbindung zweier Laute zu einem zusammen-
gesetzten Wort und die Verwendung von vier verschiedenen
„Tönen“, mit denen diese Silben gesprochen werden. Für un-
sere Vergleichung ist der Umstand noch interessanter, daß es
in dieser Sprache so gut wie keine Grammatik gibt. Man kann
von keinem der einsilbigen Worte sagen, ob es Haupt-, Zeit-,
Bigenschaftswort ist, und es fehlen alle Abänderungen der
Worte, durch welche man Geschlecht, Zahl, Endung, Zeit oder
Modus erkennen könnte. Die Sprache besteht also sozusagen
nur aus dem Rohmaterial, ähnlich wie unsere Denksprache durch
die Traumarbeit in ihr Rohmaterial unter Hinweglassung des
Ausdrucks der Relationen aufgelöst wird. Im Chinesischen wird
in allen Fällen von Unbestimmtheit die Entscheidung dem
Verständnis des Hörers überlassen, der sich dabei vom Zusam-
menhange leiten läßt. Ich habe mir ein Beispiel eines chinesischen
Sprichwortes notiert, das wörtlich übersetzt lautet:
Wenig was sehen viel was wunderbar.
Das ist nicht schwer zu verstehen. Es mag heißen: Je weniger
einer gesehen hat, desto mehr findet er zu bewundern, oder: Vieles
gibt’s zu bewundern für den, der wenig gesehen hat. Eine Ent-
scheidung zwischen diesen nur grammatikalisch verschiedenen
Übersetzungen kommt natürlich nicht in Betracht. Trotz dieser
Unbestimmtheiten, wird uns versichert, ist die chinesische
Sprache ein ganz ausgezeichnetes Mittel des Gedankenausdrucks.
DIE MÖGLICHE VIELDEUTIGKEIT DES TRAUMES, 261
Die Unbestimmtheit muß also nicht notwendig zur Vieldeutig-
keit führen. |
Nun müssen wir freilich zugestehen, daß die Sachlage für
das Ausdruckssystem des Traumes weit ungünstiger liegt als
für alle diese alten Sprachen und Schriften. Denn diese sind
doch im Grunde zur Mitteilung bestimmt, d. h. darauf berechnet,
auf welchen Wegen und mit welchen Hilfsmitteln immer ver-
standen zu werden. Gerade dieser Charakter geht aber dem
Traume ab. Der Traum will niemandem etwas sagen, er ist
kein Vehikel der Mitteilung, er ist im Gegenteile darauf an-
gelegt, unverstanden zu bleiben. Darum dürften wir uns nicht
verwumdern und nicht irre werden, wenn sich herausstellen
sollte, daß eine Anzahl von Vieldeutigkeiten und Unbestimmt-
heiten ‘des Traumes der Entscheidung entzogen bleibt. Als
sicherer Gewinn unserer Vergleichung bleibt uns nur die Ein-
sicht, daß solche Unbestimmtheiten, wie man sie als Einwand
gegen die Triftigkeit unserer Traumdeutungen verwerten wollte,
vielmehr regelmäßige Charaktere aller primitiven Ausdrucks-
systeme sind.
Wie weit die Verständlichkeit des Traumes in Wirklichkeit
reicht, läßt sich nur durch Übung und Erfahrung feststellen.
Ich meine, sehr weit, und die Vergleichung der Resultate, welche
sich korrekt geschulten Analytikern ergeben, bestätigt meine
Ansicht. Das Laienpublikum, auch das wissenschaftliche Laien-
publikum, gefällt sich bekanntlich darin, angesichts der Schwie-
rigkeiten und Unsicherheiten einer wissenschaftlichen Leistung
mit überlegener Skepsis zu prunken. Ich meine mit Unrecht.
Es ist Ihnen vielleicht nicht allen bekannt, daß sich eine ähnliche
Situation in der Geschichte der Entzifferung der babylonisch-
assyrischen Inschriften ergeben hat. Da gab es eine Zeit, zu
welcher die öffentliche Meinung weit darin ging, die Keilschrift-
entzifferer für Phantasten und diese ganze Forschung für
_ einen „Schwindel“ zu erklären. Im Jahre 1857 machte aber
die Royal Asiatie Society eine entscheidende Probe. Sie for-
derte vier der angesehensten Keilschriftforscher, Rawlinson,
Hincks, Fox Talbot und Op pert, auf, ihr von einer neu-
gefundenen Inschrift unabhängige Übersetzungen im versiegel-
ten Kuvert einzusenden, und konnte nach der Vergleichung
der vier Lesungen verkünden, die Übereinstimmung derselben
gehe weit genug, um das Zutrauen in das bisher Erreichte und
die Zuversicht auf weitere Fortschritte zu rechtfertigen. Der
Spott der gelehrten Laienwelt nahm dann allmählich ein Ende,
und die Sicherheit in der Lesung der Keilschriftdokumente ist
seither außerordentlich gewachsen.
2. Eine zweite Reihe von Bedenken hängt tief an dem
Eindruck, von dem wohl auch Sie nicht frei geblieben sind,
daß eine Anzahl von Lösungen der "Traumdeutung, zu denen
wir uns genötigt sehen, gezwungen, erkünstelt, an den Haaren
herbeigezogen, also gewaltsam oder selbst komisch und witzelnd
erscheinen. Diese Äußerungen sind so häufig, daß ich aufs
Geratewohl die letzte, von der mir Kunde geworden ist, heraus-
greifen will. Hören Sie also: In der freien Schweiz ist kürzlich
ein Seminardirektor wegen Beschäftigung mit der- Psychoanalyse
seiner Stellung enthoben worden. Er hat Einspruch erhoben,
und eine Berner Zeitung hat das Gutachten der Schulbehörde
über ihn zur öffentlichen Kenntnis gebracht. Aus diesem Schrift-
stück ziehe ich einige Sätze, die sich auf die Psychoanalyse
beziehen, aus: „Ferner überrascht das Gesuchte und Gekün-
stelte in vielen Beispielen, die sich auch in dem angeführten
Buche von Dr. Pfister in Zürich vorfinden .... Es müßte
‚also eigentlich überraschen, daß ein Seminardirektor alle diese
Behauptungen und Scheinbeweise kritiklos entgegennimmt.“
DAS GEWALTSAME UND GEKÜNSTELTE DER DEUTUNGEN, 963
—mo
Diese Sätze werden als die Entscheidung eines „ruhig Urteilen-
den“ hingestellt. Ich meine vielmehr, diese Ruhe ist „erkün-
stelt.“ Treten wir diesen Äußerungen in der Erwartung näher,
daß etwas Nachdenken und etwas Sachkenntnis auch einem ruhi-
gen Urteil keinen Nachteil bringen kann.
Es ist wahrhaft erfrischend zu sehen, wie rasch und un-
beirrt jemand in einer heiklen Frage der Tiefenpsychologie
nach seinen ersten Eindrücken urteilen kann. Die Deutungen
erscheinen ihm gesucht und gezwungen, sie gefallen ihm nicht,
also sind sie falsch und die ganze Deuterei taugt nichts; nicht
einmal ein flüchtiger Gedanke streift ae die andere Möglich-
keit, daß diese Deutungen "aus guten Gründen so erscheinen
müssen, woran sich die weitere Frage knüpfen würde, welches
diese guten Gründe sind.
Der beurteilte Sachverhalt bezieht sich wesentlich auf die
Ergebnisse der Verschiebung, die Sie als das stärkste Mittel
der Traumzensur kennen gelernt haben. Mit Hilfe der Ver-
schiebung schafft die Traumzensur Ersatzbildungen, die wir
als Anspielungen bezeichnet haben. Es sind aber Anspielun-
gen, die als solche nicht leicht zu erkennen sind, von denen der
Rückweg zum Eigentlichen nicht leicht auffindbar ist, und die
mit diesem Eigentlichen durch die sonderbarsten, ungebräuch-
lichsten, äußerlichen Assoziationen in Verbindung stehen. In
all diesen Fällen handelt es sich aber um Dinge, die versteckt
werden sollen, die zur Verheimlichung bestimmt sind; dies wıll
ja die Traumzensur erreichen. Etwas, das versteckt worden
ist, darf man aber nicht an seinem Orte, an der ihm zukommen-
den Stelle, zu finden erwarten. Die heute amtierenden Grenz-
überwachungskommissionen sind in dieser Hinsicht schlauer als
die Schweizer Schulbehörde. Sie begnügen sich bei der Suche
nach Dokumenten und Aufzeichnungen nicht damit, in Mappen
4° XV. DER TRAUM.
und Brieftaschen nachzusehen, sondern sie ziehen die Möglıch-
keit in Betracht, daß die Spione und Schmuggler solche ver-
pönte Dinge an den verborgensten Stellen ihrer Kleidung tragen
könnten, wo sie entschieden nicht hingehören, wie z. B. zwi-
schen den doppelten Sohlen ihrer Stiefel. Finden sich die ver-
heimlichten Dinge dort, so waren sie allerdings sehr gesucht,
aber auch sehr — gefunden.
Wenn wir die entlegensten, sonderbarsten, bald komisch,
bald witzig erscheinenden Verknüpfungen zwischen einem laten-
ten Traumelement und seinem manifesten Ersatz als möglich
anerkennen, so folgen wir dabei reichlichen Erfahrungen an
Beispielen, deren Auflösung wir in der Regel nicht selbst ge-
funden haben. Es ist oft nicht möglich, solche Deutungen aus
Eigenem zu geben; kein sinniger Mensch könnte die vorliegende
Verknüpfung erraten. Der Träumer gibt uns die Übersetzung
entweder mit einem Schlage durch seinen direkten Einfall —
. er kann es ja, denn bei ihm hat sich diese Ersatzbildung herge-
stellt, — oder er liefert uns soviel Material, daß die Lösung
keinen besonderen Scharfsinn mehr fordert, sondern sich wie not-
wendig aufdrängt. Hilft uns der Träumer nicht auf eine dieser
beiden Weisen, so bleibt uns das betreffende manifeste Element
auch ewig unverständlich. Gestatten Sie, daß ich Ihnen noch
ein solches kürzlich erlebtes Beispiel nachtrage. Eine meiner
Patientinnen hat während der Behandlung ihren Vater ver-
loren. Sie bedient sich seitdem jedes Anlasses, um ihn im Traume
wieder zu beleben. In einem ihrer Träume kommt der Vater
in einem gewissen, weiter nicht verwertbaren Zusammenhange vor
und sagt: Esistein Viertelzwölf, esisthalbzwölf,esist
drei Viertel zwölf. Zur Deutung dieser Sonderbarkeit stellte
sich nur der Einfall ein, daß der Vater es gerne gesehen hatte,
wenn die erwachsenen Kinder die gemeinschaftliche Speise-
TRAUM UND WIT2. 265
stunde pünktlich einhielten. Das hing gewiß mit dem Traum-
element zusammen, gestattete aber keinen Schluß auf dessen
Herkunft. Es bestand ein durch die damalige Situation der
Kur gerechtfertigter Verdacht, daß eine sorgfältig unterdrückte,
kritische Auflehnung gegen den geliebten und verehrten Vater
ihren Anteil an diesem Traum hätte. In weiterer Verfolgung
ihrer Einfälle, anscheinend weit vom Traum entfernt, erzählt
die Träumerin, gestern sei in ihrer Gegenwart viel Psychologi-
sches besprochen worden, und ein Verwandter habe die Äuße-
rung getan: Der Urmensch lebt in uns allen fort. Jetzt
glauben wir zu verstehen. Das gab eine ausgezeichnete Gelegen-
heit für sie, den verstorbenen Vater wieder einmal fortleben
zu lassen. Sie machte ihn also im Traum zum Uhrmenschen,
indem sie ihn die Viertelstunden der Mittagszeit an-
sagen. ließ.
Sie werden an diesem Beispiel die Ähnlichkeit mit einem
Witz nicht von sich weisen können, und es ist wirklich oft genug
vorgekommen, daß man den Witz des Träumers für den des
Deuters gehalten hat. Es gibt noch andere Beispiele, in denen
es gar nicht leicht wird zu entscheiden, ob man es mit einem
Witz oder einem Traum zu tun hat. Sie erinnern sich aber, daß
uns der nämliche Zweifel bei manchen Fehlleistungen des Ver-
sprechens gekommen ist. Ein Mann erzählt als seinen Traum,
sein Onkel habe ihm, während sie in dessen Auto (mobil) saßen, .
einen Kuß gegeben. Er fügt selbst sehr rasch die Deutung hinzu.
Es bedeutet: Autoerotismus (ein Terminus aus der Libido-
lehre, der die Befriedigung ohne fremdes Objekt bezeichnet).
Hat sich nun der Mann einen Scherz mit uns erlaubt und einen
Witz, der ihm eingefallen ist, für einen Traum ausgegeben’? Ich
glaube es nicht; er hat wirklich so geträumt. Woher kommt aber
diese verblüffende Ähnlichkeit? Diese Frage hat mich seinerzeit
266 XV. DER TRAUM.
nn nn nn nn
nn ne nr
ein Stück von meinem Wege abgeführt, indem sie mir die Not-
wendigkeit auferlegte, den Witz selbst einer eingehenden Unter-
suchung zu unterziehen. Es hat sich dabei für die Entstehung
des Witzes ergeben, daß ein vorbewußter Gedankengang für
einen Moment der unbewußten Bearbeitung überlassen wird,
aus welcher er dann als Witz auftaucht. Unter dem Einfluß
des Unbewußten erfährt er die Einwirkung der dort wal-
tenden Mechanismen, der Verdichtung und der Verschiebung,
also derselben Vorgänge, die wir bei der Traumarbeit beteiligt
fanden, und dieser Gemeinsamkeit ist die Ähnlichkeit von Witz
und Traum, wo sie zu stande kommt, zuzuschreiben. Vom Lust-
gewinn des Witzes bringt der unbeabsichtigte „Traumwitz‘“ aber
nichts mit. Warum, mag Sie die Vertiefung in das Studium des
Witzes lehren. Der „Traumwitz“ erscheint uns als schlechter
‚Witz, er macht uns nicht lachen, läßt uns kalt.
Wir treten dabei aber auch in die Fußstapfen der antiken
Traumdeutung, die uns neben vielem Unbrauchbaren manches
gute Beispiel einer Traumdeutung hinterlassen hat, welches wir
selbst nicht zu übertreffen wüßten. Ich erzähle Ihnen nun einen
historisch bedeutsamen Traum, den mit gewissen Abweichungen
Plutarch und Artemidorus aus Daldis von Alexander
dem Großen berichten. Als der König mit der Belagerung der
hartnäckig verteidigten Stadt Tyrus beschäftigt war (322
‘v. Chr.), träumte er einmal, er sehe einen tanzenden Satyr.
Der Traumdeuter Aristandros, der sich beim Heere befand,
deutete ihm diesen Traum, indem er das Wort „Satyros“ in
0% Töpos (dein ist T'yrus) zerlegte und ihm darum den Triumph
über die Stadt versprach. Alexander ließ sich durch diese Deu-
tung bestimmen, die Belagerung fortzusetzen, und nahm end-
lich Tyrus ein. Die Deutung, die gekünstelt genug aussieht,
war unzweifelhaft die richtige.
.‚ABWEISUNGEN VON IRRTÜMERN. 967
ET
3. Ich kann mir vorstellen, daß es Ihnen einen besonderen
Eindruck machen wird zu hören, daß Einwendungen gegen un-
sere Auffassung des Traumes auch von solchen Personen er-
hoben worden sınd, die sich selbst längere Zeit als Psychoana-
lytiker mit der Deutung von Träumen beschäftigt haben. Es
wäre zu ungewöhnlich gewesen, daß ein so reichhaltiger An-
reiz zu. neuen Irrtümern ungenützt geblieben wäre, und so
haben sich durch begriffliche Verwechslungen und unberechtigte
Verallgemeinerungen Behauptungen ergeben, die hinter der medi-
zinischen Auffassung des Traumes an Unrichtigkeit nicht weit
zurückstehen. Die eine davon kennen Sie bereits. Sie sagt
aus, daß sich der Traum mit Änpassungsversuchen an die Ge-
genwart und Lösungsversuchen der Zukunftsaufgaben .beschäf-
tige, also eine „prospektive Tendenz“ verfolge (A. Maeder).
Wir haben bereits angeführt, daß diese Behauptung auf der
Verwechslung des Traumes mit den latenten Traumgedanken
beruht, also das Übersehen der Traumarbeit zur Voraussetzung
hat. Als Charakteristik der unbewußten Geistestätigkeit, der
die latenten Traumgedanken angehören, ist sie einerseits keine
Neuheit, anderseits nicht erschöpfend, denn die unbewußte
Geistestätigkeit beschäftigt sich mit vielem anderen neben der
Vorbereitung der Zukunft. Eine weit ärgere Verwechslung
scheint der Versicherung zu Grunde zu liegen, daß man hinter
jedem Traum die „Todesklausel“ finde. Ich weiß nicht genau,
was diese Formel besagen will, aber ich vermute, hinter ihr steckt
die Verwechslung des Traumes mit der ganzen Persönlichkeit
des Träumers. |
Eine ungerechtfertigte Verallgemeinerung aus wenigen guten
Beispielen liegt in dem Satze, daß jeder Traum zwei Deutungen
zulasse, eine solche, wie wir sie aufgezeigt haben, die sogenannte
psychoanalytische, und eine andere, die sogenannte anagogische,
welche von den Triebregungen absieht und auf eine Darstellung
der höheren Seelenleistungen hinzielt. (V. Silberer.) Es gibt
solche Träume, aber Sie werden diese Auffassung vergeblich
auch nur auf eine Mehrzahl der Träume auszudehnen versuchen.
Ganz unbegreiflich wird Ihnen nach allem, was Sie gehört
haben, die Behauptung erscheinen, daß alle Träume bisexuell
zu deuten seien, als Zusammentreffen einer männlichen mit
einer weiblich zu nennenden Strömung (A. Adler). Es gibt
natürlich auch einzelne solche Träume, und Sie könnten später
erfahren, daß diese so gebaut sind wie gewisse hysterische
Symptome. Ich erwähne alle diese Entdeckungen neuer allge-
meiner Charaktere des Traumes, um Sie vor ihnen zu warnen
oder um Sie wenigstens nicht im Zweifel zu lassen, wie ich
darüber urteile.
4. Eines Tages schien der objektive Wert der 'Traumfor-
schung durch die Beobachtung in Frage gestellt, daß die ana-
lytisch behandelten Patienten den Inhalt ihrer Träume nach
den Lieblingstheorien ihrer Ärzte einrichten, indem die einen
vorwiegend von sexuellen Triebregungen träumen, die anderen
vom Machtstreben und noch andere sogar von der Wiedergeburt
(W. Stekel). Das Gewicht dieser Beobachtung wird durch die
Erwägung verringert, daß die Menschen bereits geträumt haben,
ehe es eine psychoanalytische Behandlung gab, die ihre Träume
lenken konnte, und daß die jetzt in Behandlung Stehenden
auch zur Zeit vor der Behandlung zu träumen pflegten. Das
Tatsächliche dieser Neuheit läßt sich bald als selbstverständ-
lich und für die Theorie des Traumes belanglos erkennen. Die
den Traum anregenden Tagesreste erübrigen von den starken
Interessen des Wachlebens. Wenn die Reden des Arztes und
die Anregungen, die er gibt, für den Analysierten bedeutungs-
voll geworden sind, so treten sie in den Kreis der Tagesreste
DIE OBJEKTIVITÄT DER TRAUMFORSCHUNG. 969
ein, können die psychischen Reize für die Traumbildung
abgeben wie die anderen affektbetonten, unerledigten Interessen
des Tages, und wirken ähnlich wie die somatischen Reize, die
während des Schlafes auf den Schläfer einwirken. Wie diese
anderen Anreger des Traumes können auch die vom Arzt an-
geregten Gedankengänge im manifesten Trauminhalt erscheinen
oder im latenten nachgewiesen werden. Wir wissen ja, daß
man Träume experimentell erzeugen, richtiger gesagt, einen
Teil des Traummatermals in den Traum einführen kann. Der
Analytiker spielt also bei diesen Beeinflussungen seiner Patien-
ten keine andere Rolle als der Experimentator, der wie Mourly
Vold den Gliedern seiner Versuchspersonen gewisse Stellungen
erteilt.
Man kann oftmals den Träumer beeinflussen, worüber
er träumen soll, nie aber darauf einwirken, was er träumen
wird. Der Mechanismus der Traumarbeit und der unbewußte
Traumwunsch sind jedem fremden Einfluß entzogen. Wir
‚haben bereits bei der Würdigung der somatischen Reizträume
erkannt, daß die Eigenart und Selbständigkeit des Traumlebens
sich in der Reaktion erweist, mit welcher der Traum auf die
zugeführten körperlichen oder seelischen Reize antwortet. Der
hier besprochenen Behauptung, welche die Objektivität der
Traumforschung in Zweifel ziehen will, liegt also wiederum
eine Verwechslung, die des Traumes mit dem — Traummaterial
zu Grunde.
Soviel, meine Damen und Herren, wollte ich Ihnen von
den Problemen des Traumes erzählen. Sie ahnen, daß ich vieles
übergangen habe, und haben selbst erfahren, daß ich fast in
allen Punkten unvollständig sein mußte. Das liegt aber am Zu-
sammenhang der Traumphänomene mit denen der Neurosen.
Wir haben den Traum als Einführung in die Neurosenlehre
studiert und das war gewiß richtiger, als wenn wir das Um-
gekehrte getan hätten. Aber wie der Traum für das Ver-
ständnis der Neurosen vorbereitet, so kann anderseits die rich-
tige Würdigung des Traumes erst nach der Kenntnis der neu-
rotischen Erscheinungen gewonnen werden.
Ich weiß nicht, wie Sie darüber denken werden, aber ich muß
versichern, daß ich nicht bereue, soviel von Ihrem Interesse und
von der für uns verfügbaren Zeit für die Probleme des Traumes
in Anspruch genommen zu haben: An keinem anderen Objekt
kann man sich so rasch die Überzeugung von der Richtigkeit der
Behauptungen holen, mit denen die Psychoanalyse steht und
fällt. Es bedarf der angestrengten Arbeit von vielen Monaten
und selbst Jahren, um zu zeigen, daß die Symptome eines Falles
von neurotischer Erkrankung ihren Sinn haben, einer Absicht
dienen und aus den Schicksalen der leidenden Person hervorgehen.
Dagegen kann es einer Bemühung von wenigen Stunden gelingen,
denselben Sachverhalt für eine zunächst unverständlich ver-
worrene Traumleistung zu erweisen und damit alle die Voraus-
setzungen der Psychoanalyse zu bestätigen, die Unbewußtheit
seelischer Vorgänge, die besonderen Mechanismen, denen sie ge-
horchen, und die Triebkräfte, die sich in ihnen äußern. Und
wenn wir die durchgreifende Analogie im Aufbau von Traum
und neurotischem Symptom mit der Raschheit der Verwandlung
zusammenhalten, die aus dem Träumer einen wachen und ver-
nünftigen Menschen macht, gewinnen wir die Sicherheit, daß
auch die Neurose nur auf verändertem Kräftespiel zwischen
den Mächten des Seelenlebens beruht.
111.
ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE
(XVI--XXVII)
SECHZEHNTE VORLESUNG.
ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE,
PSYCHOANALYSE UND PSYCHIATRIE.
Ich freue mich, Sie nach Jahresfrist zur Fortsetzung un-
serer Besprechungen wiederzusehen. Ich habe Ihnen im Vorjahre
die psychoanalytische Behandlung der Fehlleistungen und des
Traumes vorgetragen; ich möchte Sie heuer in das Verständnis
der neurotischen Erscheinungen einführen, die, wie Sie bald
entdecken werden, mit beiden vielerlei Gemeinsames haben. Aber
ich sage es Ihnen vorher, ich kann Ihnen diesmal nicht dieselbe
Stellung mir gegenüber einräumen wie im Vorjahre. Damals
lag mir daran, keinen Schritt zu tun, ohne mit Ihrem Urteil
im Einvernehmen zu bleiben; ich diskutierte viel mit Ihnen,
unterwarf mich Ihren Einwendungen, anerkannte eigentlich Sie
und Ihren „gesunden Menschenverstand‘ als entscheidende In-
stanz. Das geht jetzt nicht länger, und zwar wegen eines ein-
fachen Sachverhaltes. Fehlleistungen und Träume waren Ihnen
als Phänomene nicht fremd; man konnte sagen, Sie besaßen eben-
soviel Erfahrung wie ich oder hatten es leicht, sich ebensoviel
Erfahrung zu verschaffen. Das Erscheinungsgebiet der Neu-
rosen ist Ihnen aber fremd; insoferne Sie nicht selbst Ärzte
sind, haben Sie keinen anderen Zugang dahin als eben meine
Mitteilungen, und was hilft das beste Urteil, wenn die Ver:
trautheit mit dem zu beurteilenden Material nicht mit dabei ist.
Fassen Sie aber meine Ankündigung nicht in der Weise
auf, als ob ich dogmatische Vorträge halten und Ihren un-
Freud, Vorlesungen. III. 18
272 | XVI. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
bedingten Glauben heischen würde. Das Mißverständnis täte
mir grob Unrecht. Ich will keine Überzeugungen erwecken —
ich will Anregungen geben und Vorurteile erschüttern. Wenn
Sie infolge materieller Unkenntnis nicht in der Lage sind zu
urteilen, so sollen Sie weder glauben noch verwerfen. Sie sollen
anhören und auf sich wirken lassen, was ich Ihnen erzähle.
Überzeugungen erwirbt man nicht so leicht, oder wenn man
so mühelos zu ihnen gekommen ist, erweisen sie sich bald als
wertlos und widerstandsunfähig. Ein Anrecht auf Überzeugung
hat erst derjenige, der ähnlich wie ich viele Jahre lang an
demselben Material gearbeitet und dabei dieselben neuen und
überraschenden Erfahrungen selbst erlebt hat. Wozu denn
überhaupt auf intellektuellem Gebiet diese raschen Überzeu-
&ungen, blitzähnlichen Bekehrungen, momentanen Abstoßungen ?
Merken Sie nicht, daß der „coup de foudre“, die Liebe auf
den ersten Blick, von einem ganz verschiedenen, affektiven Ge-
biet hergenommen sind? Wir verlangen nicht einmal von un-
seren Patienten, daß sie eine Überzeugung oder Anhängerschaft
an die Psychoanalyse mitbringen. Das macht sie uns oft ver-
dächtig. Eine wohlwollende Skepsis ist uns die erwünschteste
Einstellung bei ihnen. Versuchen Sie also auch, die psycho-
analytische Auffassung neben der populären oder der psych-
iatrischen ruhig in: sich aufwachsen zu lassen, bis sich die Gele-
genheiten ergeben, bei denen die beiden sich beeinflussen,
sich messen und sich zu einer Entscheidung vereinigen können.
Anderseits sollen Sie aber auch keinen Augenblick meinen,
daß das, was ich Ihnen als psychoanalytische Auffassung vortrage,
ein spekulatives System ist. Es ist vielmehr Erfahrung, ent-
weder direkter Ausdruck der Beobachtung oder Ergebnis einer
Verarbeitung derselben. Ob diese Verarbeitung auf zureichende
und auf berechtigte Weise erfolgt ist, das wird sich im weiteren
DIE EINSTELLUNG ZUR PSYCHOANALYSE. 273
Fortschritt der Wissenschaft herausstellen, und zwar darf ich,
nach Ablauf von fast zweieinhalb Dezennien und im Leben
ziemlich weit vorgerückt, ohne Ruhmredigkeit behaupten, daß
es besonders schwere, intensive und vertiefte Arbeit war, welche
diese Beobachtungen geliefert hat. Ich habe oft den Eindruck
empfangen, als ob unsere Gegner diese Herkunft unserer Be-
hauptungen gar nicht in Rücksicht ziehen wollten, als meinten
sie, eg handle sich um nur subjektiv bestimmte Einfälle, denen
ein anderer sein eigenes Belieben entgegensetzen kann. Ganz
verständlich ist mir dieses gegnerische Benehmen nicht. Viel-
leicht kommt es daher, daß man sich als Arzt sonst so wenig
mit den Nervösen einläßt, so unaufmerksam zuhört, was sie
zu sagen haben, daß man sich der Möglichkeit entfremdet hat,
aus ihren Mitteilungen etwas Wertvolles zu entnehmen, also
an ihnen eingehende Beobachtungen zu machen. Ich yerspreche
Ihnen bei dieser Gelegenheit, daß ich im Verlaufe meiner Vor-
träge wenig polemisieren werde, am wenigsten mit einzelnen
Personen. Ich habe mich von der Wahrheit des Satzes, daß
der Streit der Vater aller Dinge sei, nicht überzeugen können.
Ich glaube, er stammt von der griechischen Sophistik her und
fehlt, wie diese, durch die Überschätzung der Dialektik. Mir
schien. es im Gegenteil, als ob die sogenannte wissenschaftliche
Polemik im ganzen recht unfruchtbar sei, abgesehen davon,
daß sie fast immer höchst persönlich betrieben wird. Bis vor
einigen Jahren konnte ich auch von mir rühmen, daß ich nur
mit einem einzigen Forscher (Löwenfeld in München) ein-
mal einen regelrechten wissenschaftlichen Streit eingegangen
bin. Das Ende war, daß wir Freunde geworden und bis auf
den heutigen Tag so geblieben sind. Aber ich habe den Ver-
such lange nicht wiederholt, weil ich des gleichen Ausganges
nieht sicher war.
18*
274 XVI. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
u.
Sie werden nun gewiß urteilen, daß eine solche Ablehnung
literarischer Diskussion einen besonders hohen Grad von Unzu-
gänglichkeit gegen Einwürfe, von Eigensinn, oder wie man es
in der liebenswürdigen wissenschaftlichen Umgangssprache aus-
drückt, von „Verranntheit‘“ bezeugt. Ich möchte Ihnen ant-
worten, wenn Sie einmal eine Überzeugung mit so schwerer
Arbeit erworben haben werden, wird Ihnen auch ein gewisses
Recht zufallen, mit einiger Zähigkeit an dieser Überzeugung
festzuhalten. Ich kann ferner geltend machen, daß ich im Laufe
meiner Arbeiten meine Ansichten über einige wichtige Punkte
modifiziert, geändert, durch neue ersetzt habe, wovon ich natür-
lich jedesmal öffentlich Mitteilung machte. Und der Erfolg
dieser Aufrichtigkeit? Die einen haben von meinen Selbst-
korrekturen überhaupt nicht Kenntnis genommen und kritisieren
mich noch heute wegen Aufstellungen, die mir längst nicht
mehr dasselbe bedeuten. Die anderen halten mir gerade diese
Wandlungen vor und erklären mich darum für unzuverlässig.
Nicht wahr, wer einigemale seine Ansichten geändert hat, der
verdient überhaupt keinen Glauben, denn er legt es zu nahe,
daß er sich auch mit seinen letzten Behauptungen geirrt haben
kann? Wer aber an dem einmal Geäußerten unbeirrt festhält
oder sich nicht rasch genug davon abbringen läßt, der heißt
eigensinnig und verrannt. Was kann man angesichts dieser
einander entgegengesetzten Einwirkungen der Kritik anderes
tun, als bleiben, wie man ist, und sich benehmen, wie das eigene
Urteil es billigt? Dazu bin ich auch entschlossen und ich’ lasse
mich nicht abhalten, an all meinen Lehren zu modeln und
zurechtzurücken, wie es meine fortschreitende Erfahrung er-
fordert. An den grundlegenden Einsichten habe ich bisher nichts
zu ändern gefunden und hoffe, es wird auch weiterhin so
bleiben.
NOCHMALS EINE SYMPTOMHANDLUNG. 975
Ich soll Ihnen also die psychoanalytische Auffassung der
neurotischen Erscheinungen vorführen. Es liegt mir dabei nahe,
an die bereits behandelten Phänomene anzuknüpfen, sowohl der
Analogie als auch des Kontrastes wegen. Ich greife eine
Symptomhandlung auf, die ich viele Personen in meiner Sprech-
stunde begehen sehe. Mit den Leuten, die uns in der ärztlichen
Ordination besuchen, um in einer Viertelstunde den Jammer
ihres langen Lebens vor uns auszubreiten, weiß ja der Ana-
Iytiker nicht viel anzufangen. Sein tieferes Wissen macht es
ihm schwer, wie 'ein anderer Arzt das Gutachten von sich
zu geben: Es fehlt Ihnen nichts, und den Rat zu erteilen:
Gebrauchen Sie eine leichte Wasserkur. Einer unserer Kollegen
hat denn auch auf die Frage, was er mit seinen Ordinations-
patienten anstelle, achselzuckend geantwortet: Er lege
ihnen eine Mutwillensstrafe von soundsoviel Kronen auf.
Es wird Sie also nicht verwundern zu hören, daß selbst
bei beschäftigten Psychoanalytikern die Sprechstunde nicht
sehr belebt zu sein pflegt. Ich habe die einfache Türe
zwischen meinem ‚Warte- und meinem Behandlungs- und Ordi-
nationszimmer verdoppeln und durch einen Filzüberzug ver-
stärken lassen. Die Absicht dieser kleinen Vorrichtung leidet
ja keinen Zweifel. Nun geschieht es immer wieder, daß Personen,
die ich aus dem Wartezimmer einlasse, es versäumen, die Türa
hinter sich zu schließen, und zwar lassen sie fast immer beide
Türen offen stehen. So wie ich das bemerke, bestehe ich in
ziemlich unfreundlichem Ton darauf, daß der oder die Ein-
tretende zurückgehe, um das Versäumte nachzuholen, mag es
auch ein eleganter Herr oder eine sehr geputzte Dame sein.
Das macht den Eindruck von unangebrachter Pedanterie. Ich
habe mich auch gelegentlich mit solcher Forderung blamiert,
da es sich um Personen handelte, die selbst keine Türklinke
276 | XVI. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
anfassen können und es gern sehen, wenn ihre Begleitung sich
diese Berührung erspart. Aber in der Überzahl der Fälle hatte
ich Recht, denn wer sich so benimmt, wer die Türe vom Warte-
zimmer zum Sprechzimmer des Arztes offen stehen läßt, der
gehört zum Pöbel und verdient, unfreundlich empfangen zu
werden. Nehmen Sie jetzt nicht Partei, ehe Sie auch das
‚Weitere angehört haben. Diese Nachlässigkeit des Patienten
ereignet sich nämlich nur dann, wenn er sich allein im Warte-
zimmer befunden hat und also ein leeres Zimmer hinter sich
zurückläßt, niemals wenn andere, Fremde, mit ihm gewartet
haben. In diesem letzteren Falle versteht er sehr wohl, daß
es in seinem Interesse liegt, nicht belauscht zu werden, während
er mit dem Arzt spricht, und versäumt es nie, beide Türen
sorgfältig zu schließen.
So determiniert ist das Versäumnis des Patienten weder
zufällig noch sinnlos, ja nicht einmal unwichtig, denn wir wer-
den sehen, es beleuchtet das Verhältnis des Eintretenden zum
Arzt. Der Patient ist von der großen Menge jener, die welt-
liche Autorität verlangen, die geblendet, eingeschüchtert werden
wollen. Er hat vielleicht durchs Telephon anfragen lassen, um
welche Zeit er am leichtesten vorkommen kann, er hat sich“
auf ein Gedränge von Hilfesuchenden gefaßt gemacht, etwa
wie vor einer Filiale von Julius Meinl. Nun tritt er in einen
leeren, überdies höchst bescheiden ausgestatteten Warteraum und
ist erschüttert. Er muß es den Arzt entgelten lassen, daß er
ihm einen so überflüssigen Aufwand von Respekt entgegen-
bringen wollte, und da — unterläßt er es, die Türe zwischen
‚Warte- und Ordinationszimmer zu schließen. Er will dem Arzt
damit sagen: Ach, hier ist ja niemand und wahrscheinlich wird
auch, so lange ich hier bin,
niemand kommen. Er würde sich
auch während der Besprechu
"5 ganz unmanierlich und respekt-
ANALYSE DIESER SYMPTOMHANDLUNG. 277
los benehmen, wenn man seine Überhebung nicht gleich an-
fangs durch eine scharfe Zurechtweisung eindämmen würde.
Sie finden an der Analyse dieser kleinen Symptomhandlung
nichts, was Ihnen nicht bereits bekannt wäre: Die Behauptung,
daß sie nicht. zufällig ist, sondern ein Motiv hat, einen Sinn
und eine Absicht, daß sie in einen angebbaren seelischen Zu-
sammenhang gehört, und daß sie als ein kleines Anzeichen von
einem wichtigeren seelischen Vorgang Kunde gibt. Vor allem
anderen aber, daß dieser so angezeigte Vorgang dem Bewußtsein
dessen, der ihn vollzieht, unbekannt ist, denn keiner der Pa-
tienten, welche die beiden Türen offen gelassen haben, würde
zugeben können, daß er mir durch dieses Versäumnis seine
Geringschätzung bezeugen wollte. An eine Regung von Ent-
täuschung beim Betreten des leeren Wartezimmers würde sich
wahrscheinlich mancher besinnen, aber der Zusammenhang zwi-
schen diesem Eindruck und der darauffolgenden Symptom-
handlung ist seinem Bewußtsein sicherlich unerkannt geblieben.
Nun wollen wir dieser kleinen Analyse einer Symptom-
handlung eine Beobachtung an einer Kranken an die Seite
stellen. Ich wähle eine solche, die mir in frischer Erinnerung
ist, auch darum, weil sie sich verhältnismäßig kurz darstellen
läßt. Ein gewisses Maß von Ausführlichkeit ist bei jeder sol-
chen Mitteilung unerläßlich.
Ein auf kurzen Urlaub heimgekehrter junger Offizier
bittet mich, seine Schwiegermutter in Behandlung zu nehmen,
die in den glücklichsten Verhältnissen sich und den Ihrigen
das Leben durch eine unsinnige Idee vergällt. Ich lerne eine
53jährige, wohlerhaltene Dame von freundlichem, einfachem
Wesen kennen, die ohne Widerstreben folgenden Bericht gibt.
Sie lebt in glücklichster Ehe auf dem Lande mit ihrem Manne,
der eine große Fabrik leitet. Sie weiß die liebenswürdige Sorg-
2718 XVI. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
um
falt ihres Mannes nicht genug zu loben. Liebesheirat vor 30
Jahren, seither nie eine Trübung, Zwist oder Anlaß zur Eifer-
sucht. Ihre beiden Kinder gut verheiratet, der Mann und Vater
will sich aus Pflichtgefühl noch nicht zur Ruhe setzen. Vor
einem Jahre ereignete sich das Unglaubliche, ihr selbst Un-
verständliche, daß sie einem anonymen Briefe, welcher ihren
ausgezeichneten Mann des Liebesverhältnisses mit einem jungen
Mädchen bezichtigte, sofortigen Glauben schenkte, und seither
ist ihr Glück zerstört. Der nähere Hergang war etwa der
folgende: sie hatte ein Stubenmädchen, mit dem sie vielleicht
zu oft Intimes besprach. Dieses Mädchen verfolgte ein anderes
mit einer geradezu gehässigen Feindschaft, weil diese es im
Leben soviel weiter gebracht hatte, obwohl sie von nicht besserer
Herkunft war. Anstatt Dienst anzunehmen, hatte das Mädchen
sich eine kommerzielle Ausbildung verschafft, war in die Fabrik
eingetreten und infolge des Personalmangels durch die Einbe-
rufungen von Beamten zu einer guten Stellung vorgerückt.
Sie wohnte jetzt in der Fabrik selbst, verkehrte mit allen
Herren und hieß sogar Fräulein. Die im Leben Zurück-
gebliebene war natürlich bereit, der ehemaligen: Schulkameradin
alles mögliche Böse nachzusagen. Eines Tages unterhielt sich
unsere Dame mit dem Stubenmädchen über einen alten Herrn,
der zu Gast gewesen war, von dem man wußte, daß er nicht
mit seiner Frau lebte, sondern ein Verhältnis mit einer anderen
unterhielt. Sie weiß nicht, wie es kam, daß sie plötzlich
äußerte: Für mich wäre es das Schrecklichste, wenn ich er-
fahren würde, daß mein guter Mann auch ein Verhältnis hat.
Am nächsten Tage erhielt sie von der Post einen anonymen.
Brief, der ihr in verstellter Schrift diese gleichsam heraut-
_ beschworene Mitteilung machte. Sie schloß — wahrscheinlich
mit Recht —, daß der Brief das Werk ihres bösen Stuben-
EIN PSYCHIATRISCHER KRANKHEITSFALL. 279
mädchens sei, denn als Geliebte des Mannes war eben jenes
Fräulein bezeichnet, das die Dienerin mit ihrem Haß verfolgte.
Aber obwohl sie die Intrigue sofort durchschaute und an
ihrem :Wohnorte Beispiele genug erlebt hatte, wie wenig Glau-
ben solche feige Denunziationen verdienten, geschah es, daß
jener Brief sie augenblicklich niederwarf. Sie geriet in eine
schreckliche Aufregung und schickte sofort um ihren Mann,
um ihm die heftigsten Vorwürfe zu machen. Der Mann wies
die Beschuldigung lachend ab und tat das Beste, was zu tun
war. Er ließ den Haus- und Fabriksarzt kommen, der sein
Bemühen dazutat, um die unglückliche Frau zu beruhigen.
Auch das weitere Vorgehen der beiden war durchaus verstän-
dig. Das Stubenmädchen wurde entlassen, die angebliche Neben-
buhlerin aber nicht. Seither will sich die Kranke wiederholt
soweit beruhigt haben, daß sie an den Inhalt des anonymen
Briefes nicht mehr glaubte, aber nie gründlich und nie für
lange Zeit. Es reichte hin, den Namen des Fräuleins aus-
sprechen zu hören oder ihr auf der Straße zu begegnen, um
einen neuen Anfall von Mißtrauen, Schmerz und Vorwürfen
"bei ihr auszulösen.
Das ist nun die Krankengeschichte dieser braven Frau.
Es gehörte nicht viel psychiatrische Erfahrung dazu, um zu
verstehen, daß sie im Gegensatz zu anderen Nervösen ihren
Fall eher zu milde darstellte, also wie wir sagen: dissimulierte,
und daß sie den Glauben an die Beschuldigung des anonymen
Briefes eigentlich niemals überwunden hatte.
‚Welche Stellung nimmt nun der Psychiater zu einem
solchen Krankheitsfalle ein? Wie er sich gegen die Symptom-
handlung des Patienten benehmen würde, der die Türen zum
Wartezimmer nicht schließt, das wissen wir bereits. Er er-
klärt sie für eine Zufälligkeit ohne psychologisches Interesse,
2830 XVI. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
.—
die ihn weiter nichts angeht. Aber dies Verhalten läßt sich
auf den Krankheitsfall der eifersüchtigen Frau nicht fortsetzen.
Die Symptomhandlung scheint etwas Gleichgültiges zu sein,
das Symptom aber drängt sich als etwas Bedeutsames auf. Ls
ist mit intensivem subjektiven Leiden verbunden, es bedroht
objektiv das Zusammenleben einer Familie; es ist also ein un-
abweisbarer Gegenstand des psychiatrischen Interesses. Der
Psychiater versucht zunächst das Symptom durch eine wesent-
liche Eigenschaft zu charakterisieren. Die Idee, mit welcher
diese Frau sich quält, ist nicht an sich unsinnig zu nennen;
es kommt ja vor, daß ältere Ehemänner Liebesbeziehungen zu
jungen Mädchen unterhalten. Aber etwas anderes daran ist un-
sinnig und unbegreiflich. Die Patientin hat gar keinen anderen
Grund daran zu glauben, daß ihr zärtlicher und treuer Gatte
zu dieser sonst nicht so seltenen Kategorie von Eihemännern
gehört, als die Behauptung des anonymen Briefes. Sie weiß,
daß diesem Schriftstück keine Beweiskraft zukommt, sie kann
sich dessen Herkunft befriedigend aufklären; sie sollte sich
also sagen können, daß sie gar keinen Grund für ihre Eifer-
sucht hat, sie sagt es sich auch, aber sie leidet trotzdem ebenso,
als ob sie diese Eifersucht als vollberechtigt anerkennen würde.
Ideen dieser Art, die logischen und aus der Realität geschöpften
Argumenten unzugänglich sind, ist man übereingekommen,
Wahnideen zu heißen. Die gute Dame leidet also an Eifer-
suchtswahn. Das ist wohl die wesentliche Charakteristik
dieses Krankheitsfalles.
Nach dieser ersten Feststellung wird unser psychiatrisches
Interesse sich noch lebhafter regen wollen. Wenn eine Wahn-
idee durch den Bezug auf die Realität nicht abzutun ist,
so wird sie wohl auch nicht aus der Realität stammen. Woher
stammt sie sonst? Es gibt Wahnideen des verschiedenartigsten
EINE WAHNIDEE. 981
Inhaltes; warum ist der Inhalt des Wahnes in unserem Falle
gerade Eifersucht? Bei welchen Personen bilden sich Wahn-
ideen oder besonders Wahnideen der Eifersucht? Hier möchten
wir nun dem Psychiater lauschen, aber hier läßt er uns im
Stiche. Er geht überhaupt nur auf eine einzige unserer Frage-
stellungen ein. Er wird in der Familiengeschichte dieser Frau
nachforschen und uns vielleieht die Antwort bringen: Wahn-
ideen kommen bei solehen Personen vor, in deren Familien ähn-
liche und andere psychische Störungen wiederholt vorgekommen
sind. Mit anderen Worten, wenn diese Frau eine Wahnidee
entwickelt hat, so war sie durch erbliche Übertragung dazu
dieponiert. Das ist gewiß etwas, aber ist das alles, was wir
wissen wollen? Alles, was zur Verursachung dieses Krankheits-
. falles mitgewirkt hat? Sollen wir uns damit begnügen anzu-
nehmen, daß es gleichgültig, willkürlich oder unerklärlich ist,
wenn sich ein Eifersuchtswahn entwickelt hat an Stelle irgend
eines anderen? Und dürfen wir den Satz, der die Vorherrschaft
des erblichen Einflusses verkündet, auch im negativen Sinne
dahin verstehen, es sei gleichgültig, welche Erlebnisse an diese
Seele herangetreten sind, sie war dazu bestimmt, irgend ein-
mal einen Wahn zu produzieren? Sie werden wissen wollen,
warum uns die wissenschaftliche Psychiatrie keine weiteren Auf-
schlüsse geben will. Aber ich antworte Ihnen: Ein Schelm,
wer mehr gibt, als er hat. Der Psychiater kennt eben keinen
‚Weg, der in der Aufklärung eines solchen Falles weiter führt.
Er muß sich mit der Diagnose und einer trotz reichlicher Er-
fahrung unsicheren Prognose des weiteren Verlaufes begnügen.
Kann aber die Psychoanalyse hier mehr leisten? Ja doch;
ich hoffe Ihnen zu zeigen, daß sie selbst in einem so schwer
zugänglichen Falle etwas aufzudecken vermag, was das nächste
Verständnis ermöglicht. Zunächst bitte ich Sie, das unschein-
282 XVI. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
bare Detail zu beachten, daß die Patientin den anonymen Brief,
der nun ihre Wahnidee stützt, geradezu provoziert hat, indem
sie tags zuvor gegen das intriguante Mädchen die Äußerung tat,
es wäre ihr größtes Unglück, wenn ikr Mann ein Liebesverhältnis
mit einem jungen Mädchen hätte. Dadurch brachte sie das
Dienstmädchen erst auf die Idee, ihr den anonymen Brief zu
schicken. Die Wahnidee gewinnt so eine gewisse Unabhängig-
keit von dem Briefe; sie ist schon vorher als Befürchtung —
oder als Wunsch? — in der Kranken vorhanden gewesen. Neh-
men Sie nun weiter hinzu, was nur zwei Stunden Analyse an
weiteren kleinen Anzeichen ergeben haben. Die Patientin ver-
hielt sich zwar sehr ablehnend, als sie aufgefordert wurde,
nach der Erzählung ihrer Geschichte ihre weiteren Gedanken,
Einfälle und Erinnerungen mitzuteilen. Sie behauptete, es fiele
ihr nichts ein, sie habe schon alles gesagt, und nach zwei Stun-
den mußte der Versuch mit ihr wirklich abgebrochen werden,
weil sie verkündet hatte, sie fühle sich bereits gesund und sei
sicher, daß die krankhafte Idee nicht wieder kommen werde.
Das sagte-sie natürlich nur aus ‚Widerstand und aus Angst
vor der Fortsetzung der Analyse. Aber in diesen zwei Stunden
hatte sie doch einige Bemerkungen fallen lassen, die eine be-
stimmte Deutung gestatteten, ja unabweisbar machten, und diese
Deutung wirft ein helles Licht auf die Genese ihres Eifer-
suchtswahnes. Es bestand bei ihr selbst eine intensive Verliebt-
heit in einen jungen Mann, in denselben Schwiegersohn, auf
dessen Drängen sie mich als Patientin aufgesucht hatte. Von
dieser Verliebtheit wußte sie nichts oder vielleicht nur sehr
wenig; bei dem bestehenden Verwandtschaftsverhältnis hatte
diese verliebte Neigung es leicht, sich als harmlose Zärtlichkeit
zu maskieren. Nach all unseren sonstigen Erfahrungen wird
es uns nicht schwer, uns in das Seelenleben dieser anständigen
VERSUCH EINES VERSTÄNDNISSES DER WAHNIDEE. 283
Frau und braven Mutter von 53 Jahren einzufühlen. Eine
solche Verliebtheit konnte als etwas Ungeheuerliches, Unmög-
liches nicht bewußt werden; sie blieb aber bestehen und übte als
unbewußte einen schweren Druck aus. Irgend etwas mußte mit
ihr geschehen, irgend eine Abhilfe gesucht werden, und die
nächste Linderung bot wohl der Verschiebungsmechanismus,
der an der Entstehung der wahnhaften Eifersucht so regel-
mäßige Anteil hat. Wenn nicht nur sie alte Frau in einen
jungen Mann verliebt war, sondern auch ihr alter Mann ein
Liebesverhältnis mit einem jungen Mädchen unterhielt, dann
war sie ja vom Gewissensdruck der Untreue entlastet. Die
Phantasie von der Untreue des Mannes war also ein kühlendes
Pflaster auf ihre brennende Wunde. Ihre eigene Liebe war
ihr nicht bewußt geworden, aber die Spiegelung derselben, die
ihr solehe Vorteile brachte, wurde nun zwangsartig, wahnhaft,
bewußt. Alle Argumente dagegen konnten natürlich nichts
fruchten, denn sie richteten sich nur gegen das Spiegel-, nicht
gegen das Urbild, dem jenes seine Stärke verdankte, und das
unantastbar im Unbewußten geborgen lag.
Stellen wir nun zusammen, was eine kurze und erschwerte
psychoanalytische Bemühung zum Verständnis dieses Krank-
heitsfalles gebracht hat. Vorausgesetzt natürlich, daß unsere
Ermittlungen korrekt zu stande gekommen sind, was ich hier
Ihrem Urteil nicht unterwerfen kann. Fürs erste: Die Wahn-
idee ist nichts Unsinniges oder Unverständliches mehr, sie ist
sinnreich, gut motiviert, gehört in den Zusammenhang eines
affektvollen Erlebnisses der Kranken. Zweitens: Sie ist not-
wendig als Reaktion auf einen aus anderen Anzeichen erratenen
unbewußten seelischen Vorgang und verdankt gerade dieser
Beziehung ihren wahnhaften Charakter, ihre Resistenz gegen
logische und reale Angriffe. Sie ist selbst etwas Erwünschtes,
984 XVI-ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE. >
eine Art von Tröstung. Drittens, es ist durch das Erlebnis
hinter der Erkrankung unzweideutig bestimmt, daß es gerade
sie tags zuvor gegen das intriguante Mädchen die Äußerung tat,
beiden wichtigen Analogien mit der von uns analysierten
Symptomhandlung in der Aufklärung des Sinnes oder der Ab-
sicht und in der Beziehung auf ein in der Situation 'gegebenes
Unbewußtes.
Natürlich sind damit nicht alle Fragen beantwortet, die
wir aus Anlaß dieses Falles stellen durften. Der Krankheits-
fall starrt vielmehr von weiteren Problemen, solchen, die über-
haupt noch nicht lösbar geworden sind, und anderen, die sich
wegen der Ungunst der besonderen Verhältnisse nicht lösen
ließen. Z. B. warum erliegt diese in glücklicher Ehe lebende
Frau einer Verliebtheit in ihren Schwiegersohn, und warum
erfolgt die Erleichterung, die auch auf andere Weise möglich
wäre, in der Form einer solchen Spiegelung, einer Projektion
ihres eigenen Zustandes auf ihren Mann? Glauben Sie nicht,
daß es müßig und mutwillig ist, solche Fragen aufzuwerfen.
Es steht uns bereits manches Material für eine mögliche Be-
antwortung derselben zu Gebote. Die Frau befindet sich in
dem kritischen Alter, das dem weiblichen Sexualbedürfnis eine
unerwünschte plötzliche Steigerung bringt; das mag für sich
allein hinreichen. Oder es mag hinzukommen, daß ihr guter
und treuer Ehemann seit manchen Jahren nicht mehr im Be-
sıtze jener sexuellen Leistungsfähigkeit ist, deren die wohl-
erhaltene Frau zu ihrer Befriedigung bedürfte. Die Erfahrung
hat uns darauf aufmerksam gemacht, daß gerade solche Män-
ner, deren Treue dann selbstverständlich ist, sich durch be-
sondere Zartheit in der Behandlung ihrer Frauen und durch unge-
wöhnliche Nachsicht mit deren nervösen Beschwerden aus-
zeichnen. Oder es ist weiters nicht gleichgültig, daß es gerad:
MÖGLICHKEITEN ZUR ANALYSE DER WAHNIDEE. 285
der junge Ehemann einer Tochter ist, welcher zum Objekt
dieser pathogenen Verliebtheit wurde. Eine starke erotische
Bindung an die Tochter, die im letzten Grunde auf die Sexual-
konstitution der Mutter zurückführt, findet oft den Weg dazu,
sich in solcher Umwandlung fortzusetzen. Ich darf Sie viel-
leicht in diesem Zusammenhange daran erinnern, daß das Ver-
hältnis zwischen Schwiegermutter und Schwiegersohn den
Menschen von jeher als ein besonders heikles gegolten und bei
den Primitiven Anlaß zu sehr mächtigen Tabuvorschriften
und „Vermeidungen“ gegeben hat.*) Es geht häufig nach der
positiven wie nach der negativen Seite über das kulturell er-
wünschte Maß hinaus. Welches dieser drei Momente nun in
unserem Falle zur Wirkung gekommen ist, ob zwei davon, ob
sie alle zusammengetroffen sind, das kann ich Ihnen freilich
nicht sagen, aber nur darum nicht, weil es mir nicht gestattet
war, die Analyse des Falles über die zweite Stunde hinaus
fortzusetzen.
Ich merke jetzt, meine Herren, daß ich von lauter Dingen
gesprochen habe, für die Ihr Verständnis noch nicht vorbe-
reitet ist. Ich tat es, um die Vergleichung der Psychiatrie
mit der Psychoanalyse durchzuführen. Aber eines darf ich
Sie jetzt fragen: Haben Sie irgend etwas von einem Wider-
spruch zwischen den beiden bemerkt? Die Psychiatrie wendet
die technischen Methoden der Psychoanalyse nicht an, sie un-
terläßt es, etwas an den Inhalt der Wahnidee anzuknüpfen, und
sie gibt uns im Hinweis auf. die Heredität eine sehr. allgemeine
und entfernte Ätiologie, anstatt zuerst die speziellere und
näherliegende Verursachung aufzuzeigen. Aber liegt darin ein
Widerspruch, ein Gegensatz? Ist’s nicht vielmehr eine Ver-
*) Vgl, „Totem und Tabu“ 1913.
286 XVI. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
vollständigung? Widerspricht denn das hereditäre Moment der
Bedeutung des Erlebnisses, setzen sich nicht vielmehr beide in
der wirksamsten Weise zusammen? Sie werden mir zugeben,
daß im Wesen der psychiatrischen Arbeit nichts liegt, was
sich gegen die psychoanalytische Forschung sträuben könnte.
Die Psychiater sind’s also, die sich der Psychoanalyse wider-
setzen, nicht die Psychiatrie. Die Psychoanalyse verhält sich
zur Psychiatrie etwa wie die Histologie zur Anatomie; die
eine studiert die äußeren Formen der Organe, die andere den
Aufbau derselben aus den Geweben und Elementarteilen. Ein
‚Widerspruch zwischen diesen beiden Arten des Studiums, von
denen das eine das andere fortsetzt, ist nicht gut denkbar.
Sie wissen, die Anatomie gilt uns heute als die Grundlage
einer wissenschaftlichen Medizin, aber es gab eine Zeit, in der
es ebenso verboten war, menschliche Leichen zu zerlegen, um
den inneren Bau des Körpers kennen zu lernen, wie es heute
verpönt erscheint, Psychoanalyse zu üben, um das innere Ge-
triebe des Seelenlebens zu erkunden. Und voraussichtlich bringt
uns eine nicht zu ferne Zeit die Einsicht, daß eine wissen-
schaftlich vertiefte Psychiatrie nicht möglich ist ohne eine
gute Kenntnis der tieferliegenden, der unbewußten Vorgänge
im Seelenleben.
Vielleicht hat nun die viel befehdete Psychoanalyse auch
Freunde unter Ihnen, welche es gern sähen, wenn sie sich’ auch
von anderer, von der therapeutischen Seite her rechtfertigen
ließe. Sie wissen, daß unsere bisherige psychiatrische Therapie
'Wahnideen nicht zu beeinflussen vermag. Kann es vielleicht
die Psychoanalyse dank ihrer Einsicht in den Mechanismus
dieser Symptome? Nein, meine Herren, sie kann es nicht; sie
ist gegen diese Leiden — vorläufig wenigstens — ebenso ohn-
mächtig wie jede andere Therapie. Wir können zwar verstehen,
THERAPEUTISCHE WÜRDIGUNG. 287
was in dem Kranken vor sich gegangen ist, aber wir haben kein
Mittel, um es den Kranken selbst verstehen zu machen. Sie
haben ja gehört, daß ich die Analyse dieser Wahnidee nicht
über die ersten Ansätze hinaus fördern konnte. Werden Sie
darum behaupten wollen, daß die Analyse solcher Fälle ver-
werflich ist, weil sie unfruchtbar bleibt? Ich glaube doch
nicht. Wir haben das Recht, ja die Pflicht, die Forschung
ohne Rücksicht auf einen unmittelbaren Nutzeffekt zu be-
treıben. Am Ende — wir wissen nicht, wo und wann — wird
sich jedes Stückchen Wissen in Können umsetzen, auch in
therapeutisches Können. Zeigte sich die Psychoanalyse bei
allen anderen Formen nervöser und psychischer Erkrankung
ebenso erfolglos wie bei den Wahnideen, so bliebe sie doch
als unersetzliches Mittel der wissenschaftlichen Forschung voll
gerechtfertigt. Wir würden dann allerdings nicht in die Lage
kommen, sie auszuüben; das Menschenmaterial, an dem wir
lernen wollen, das lebt, seinen eigenen Willen hat und seiner
Motive bedarf, um bei der Arbeit mitzutun, würde sich uns
verweigern. Lassen Sie mich darum für heute mit der Mittei-
lung schließen, daß es umfassende Gruppen von nervösen Stö-
rungen gibt, bei denen sich die Umsetzung unseres besseren
Verstehens in therapeutisches Können tatsächlich erwiesen hat,
und daß wir bei diesen sonst schwer zugänglichen Erkran-
kungen unter gewissen Bedingungen Erfolge erzielen, die hinter
keinen anderen auf dem Gebiete der internen Therapie zurück-
stehen.
nn ————— u
Freud, Vorlesungen. III. 19
SIEBZEHNTE VORLESUNG.
ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
DER SINN DER SYMPTOME.
Meine Damen und Herren! Ich habe Ihnen im vorigen
Vortrag auseinandergesetzt, daß die klinische Psychiatrie sich
um die Erscheinungsform und den Inhalt des einzelnen Symptoms
wenig bekümmert, daß aber die Psychoanalyse gerade hier an-
gesetzt und zunächst festgestellt hat, das Symptom seı sınn-
reich und hänge mit dem Erleben des Kranken zusammen. Der
Sinn der neurotischen Symptome ist zuerst von J. Breuer
aufgedeckt worden durch das Studium und die glückliche Her-
stellung eines seither berühmt gewordenen Falles von Hysterie
(1880—82). Es ist richtig, daß P. Janet unabhängig denselben
Nachweis erbracht hat; dem französischen Forscher gebührt so-
gar die literarische Priorität, denn Breuer hat seine Beob-
achtung erst mehr als ein Dezennium später (1893—95) während
der Mitarbeiterschaft mit mir veröffentlicht. Es mag uns übri-
gens ziemlich gleichgültig sein, von wem diese Entdeckung
herrührt, denn Sie wissen, jede Entdeckung wird mehr als
einmal gemacht, und keine wird auf einmal gemacht, und der
Erfolg geht ohnedies nicht mit dem Verdienst. Amerika heißt
nicht nach Kolumbus. Vor Breuer und Janet hat der
große Psychiater Leuret die Meinung ausgesprochen, selbst
die Delirien der Geisteskranken müßten sich als sinnvoll er-
kennen lassen, wenn wir erst verstünden, sie zu übersetzen.
Ich gestehe, daß ich lange Zeit bereit war, das Verdienst
P. Janets an der Aufklärung der neurotischen Symptome sehr
J. BREUER UND P. JANET. 289
hoch anzuschlagen, weil er sie als Äußerungen von „idees in-
conseientes“ auffaßte, welche die Kranken beherrschten. Aber
Janet hat sich seitdem in übergroßer Zurückhaltung so ge-
äußert, als ob er bekennen wollte, daß das Unbewußte für ihn
weiter nichts gewesen sei als eine Redensart, ein Behelf, „une
facon de parler“; er habe an nichts Reales dabei gedacht. Seit-
her verstehe ich Janets Ausführungen nicht mehr, ich meine
aber, daß er sich überflüssigerweise um viel Verdienst ge-
schädigt hat.
' Die neurotischen Symptome haben also ihren Sinn wie die
Fehlleistungen, wie die Träume, und so wie diese ihren Zu-
sammenhang mit dem Leben der Personen, die sie zeigen. Ich
möchte Ihnen nun diese wichtige Einsicht durch einige
Beispiele näher bringen. Daß es immer und in allen Fällen
‘so ist, kann ich ja nur behaupten, nicht beweisen. Wer selbst
Erfahrungen sucht, wird sich davon die Überzeugung ver-
schaffen. Ich werde aber diese Beispiele aus gewissen Motiven
nicht der Hysterie entnehmen, sondern einer anderen, höchst
merkwürdigen, ihr im Grunde sehr nahestehenden Neurose, von
der ich Ihnen einige einleitende Worte zu sagen habe. Diese,
die sogenannte Zwangsneurose, ist nicht so populär wie die
allbekannte Hysterie; sie ist, wenn ich mich so ausdrücken
darf, nicht so aufdringlich lärmend, benimmt sich mehr wie
eine Privatangelegenheit des Kranken, verzichtet fast völlig
auf Erscheinungen am Körper und schafft alle ihre Symptome
auf seelischem Gebiet. Die Zwangsneurose und die Hysterie
sind diejenigen Formen neurotischer Erkrankung, auf deren
Studium die Psychoanalyse zunächst aufgebaut wurde, in deren
Behandlung unsere Therapie auch ihre Triumphe feiert. Aber
die Zwangsneurose, welcher jener rätselhafte Sprung aus dem
Seelischen ins Körperliche abgeht, ist uns durch die psycho-
290 XVII. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
analytische Bemühung eigentlich durchsichtiger und heim-
licher geworden als die Hysterie, und wir haben erkannt, dab
sie gewisse extreme Charaktere der Neurotik weit greller zur
Erscheinung bringt.
Die Zwangsneurose äußert sich darin, daß die Kranken
von Gedanken beschäftigt werden, für die sie sich eigentlich
nicht interessieren, Impulse in sich verspüren, die ihnen sehr
fremdartig vorkommen, und zu Handlungen veranlaßt werden,
deren Ausführung ihnen zwar kein Vergnügen bereitet, deren
Unterlassung ihnen aber ganz unmöglich ist. Die Gedanken
(Zwangsvorstellungen) können an sich unsinnig sein oder auch
nur für das Individuum gleichgültig, oft sind sie ganz und
gar läppisch, in allen Fällen sind sie der Ausgang einer an-
gestrengten Denktätigkeit, die den Kranken erschöpft, und der
er sich nur sehr ungern hingibt. Er muß gegen seinen Willen
srübeln und spekulieren, als ob es sich um seine wichtigsten
Lebensaufgaben handelte. Die Impulse, die der Kranke in sich
verspürt, können gleichfalls einen kindischen und unsinnigen
Eindruck machen, meist haben sie aber den schreckhaftesten
Inhalt wie Versuchungen zu schweren Verbrechen, so daß der
Kranke sie nicht nur als fremd verleugnet, sondern entsetzt vor
ihnen flieht und sich durch Verbote, Verzichte und Einschrän-
kungen seiner Freiheit vor ihrer Ausführung schützt. Dabei
dringen sie niemals, aber wirklich kein einziges Mal, zur Aus-
führung durch; der Erfolg ist immer, daß die Flucht und die
Vorsicht siegen. Was der Kranke wirklich ausführt — die
sogenannten Zwangshandlungen —, das sind sehr harmlose,
sicherlich geringfügige Dinge, meist Wiederholungen, zere-
moniöse Verzierungen an Tätigkeiten des gewöhnlichen Lebens,
wodurch aber diese notwendigen Verrichtungen, das Zubette-
gehen, das Waschen, Toilettemachen, Spazierengehen zu höchst
EINE SCHILDERUNG DER ZWANGSNEUROSE. 291
-—— EHER ns
langwierigen und kaum lösbaren Aufgaben werden. Die krank-
haften Vorstellungen, Impulse und Handlungen sind in den
einzelnen Formen und Fällen der Zwangsneurose keineswegs
zu gleichen Anteilen vermengt; vielmehr ist es Regel, daß das
eine oder das andere dieser Momente das Bild beherrscht und
der Krankheit den Namen gibt, aber das Gemeinsame all dieser
Formen ist unverkennbar genug.
Das ist doch gewiß ein tolles Leiden. Ich glaube, der aus-
schweifendsten psychiatrischen Phantasie wäre es nicht ge-
lungen, etwas dergleichen zu konstruieren, und wenn man es
nicht alle Tage vor sich sehen könnte, würde man sich nicht
entschließen, daran zu glauben. Nun denken Sie aber nicht,
daß Sie dem Kranken etwas leisten, wenn Sie ihm zureden,
sich abzulenken, sich nicht mit diesen dummen Gedanken zu
beschäftigen und an Stelle seiner Spielereien etwas Vernünftiges
zu tun. Das möchte er selbst, denn er ist vollkommen klar,
teilt Ihr Urteil über seine Zwangssymptome, ja er trägt es
Ihnen entgegen. Er kann nur nicht anders; was sich bei der
Zwangsneurose zur Tat durchsetzt, das wird von einer Energie
‚getragen, für die uns wahrscheinlich der Vergleich aus dem
normalen Seelenleben abgeht. Er kann nur eines: verschieben,
vertauschen, anstatt der einen dummen Idee eine andere, irgend-
wie abgeschwächte setzen, von einer Vorsicht oder Verbot zu
einem anderen fortschreiten, anstatt des einen Zeremoniells ein
anderes ausführen. Er kann den Zwang verschieben, aber nicht
aufheben. Die Verschiebbarkeit aller Symptome, weit von ihrer
ursprünglichen Gestaltung weg, ist ein Hauptcharakter seiner
Krankheit; außerdem fällt es auf, daß die Gegensätze (Pola-
ritäten), von denen das Seelenleben durchzogen ist, in seinem
Zustand besonders scharf gesondert hervortreten. Neben dem
Zwang mit positivem und negativem Inhalt macht sich auf
292 XVII. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
intellektuellem Gebiet der Zweifel geltend, der allmählich auch
das für gewöhnlich Gesichertste annagt. Das Ganze läuft in
eine immer mehr zunehmende Unentschlossenheit, Energie-
"losigkeit, Freiheitsbeschränkung aus. Dabei ist der Zwangs-
neurotiker ursprünglich ein sehr energisch angelegter Charakter
gewesen, oft von außerordentlichem Eigensinn, in der Regel
über das durchschnittliche Maß intellektuell begabt. Er hat
es zumeist zu einer erfreulichen Höhe der ethischen Entwick-
lung gebracht, zeigt sich übergewissenhaft, mehr als gewöhnlich
korrekt. Sie können sich denken, daß ein tüchtiges Stück Arbeit
dazu gehört, bis man sich in diesem widerspruchsvollen En-
semble von Charaktereigenschaften und Krankheitssymptomen
halbwegs zurechtgefunden hat. Wir streben auch vorläufig
gar nichts anderes an, als einige Symptome dieser Krankheit
zu verstehen, deuten zu können.
‚Vielleicht wollen Sie im Hinblick auf unsere Besprechun-
gen vorher wissen, wie sich die gegenwärtige Psychiatrie zu
den Problemen der Zwangsneurose verhält. Das ist aber ein
armseliges Kapitel. Die Psychiatrie gibt den verschiedenen
Zwängen Namen, sagt sonst weiter nichts über sie. Dafür
betont sie, daß die Träger solcher Symptome „Degenerierte“
sind. Das ist wenig Befriedigung, eigentlich ein Werturteil,
eine Verurteilung anstatt einer Erklärung. Wir sollen uns
etwa denken, bei Leuten, die aus der Art geschlagen sind,
kämen eben alle möglichen Sonderbarkeiten vor. Nun glau-
ben wir ja, daß Personen, die solche Symptome entwickeln,
von Natur aus etwas anders sein müssen als andere
Menschen. Aber wir möchten fragen: Sind sie mehr „dege-
neriert“ als andere Nervöse, z. B. die Hysteriker oder als die an
Psychosen Erkrankenden? Die Charakteristik ist offenbar wie-
der zu allgemein. Ja man kann zweifeln, ob sie auch nur be-
DIE PSYCHIATRISCHE BEURTEILUNG DER ZWANGSNEUROSE. 993
rechtigt ist, wenn man erfährt, daß solche Symptome auch
bei ausgezeichneten Menschen von besonders hoher und für die
Allgemeinheit bedeutsamer Leistungsfähigkeit vorkommen. Für
gewöhnlich erfahren wir ja, dank ihrer eigenen Diskretion und
der Verlogenheit ihrer Biographen von unseren vorbildlich
großen Männern wenig Intimes, aber es kommt doch vor, daB
einer ein Wahrheitsfanatiker ist wie Emil Zola, und dann
hören wir von ihm, an wieviel sonderbaren Zwangsgewohnheiten
er sein Leben über gelitten hat.*)
Die Psychiatrie hat sich da die Auskunft geschaffen, von
„Degeneres superieurs“ zu sprechen. Schön — aber durch die
Psychoanalyse haben wir die Erfahrung gemacht, daß man
diese sonderbaren Zwangssymptome wie andere Leiden und wie
bei anderen nicht degenerierten Mensehen dauernd beseitigen
kann. Mir selbst ist solches wiederholt gelungen.
Ich will Ihnen nur zwei Beispiele von Analyse eines
Zwangssymptoms mitteilen, eines aus alter Beobachtung, das
ich durch kein schöneres zu ersetzen weiß, und ein kürzlich
gewonnenes. Ich beschränke mich auf eine so geringe Anzahl,
weil man bei einer solchen Mitteilung sehr weitläufig werden,
in alle Einzelheiten eingehen muB.
Eine nahe an 30 Jahre alte Dame, die an den schwersten
Zwangserscheinungen litt, und der ich vielleicht geholfen hätte,
wenn ein tückischer Zufall nicht meine Arbeit zu nichte ge-
macht hätte — vielleicht erzähle ich Ihnen noch davon —,
führte unter anderen folgende merkwürdige Zwangshandlung
vielmals im Tage aus. Sie lief aus ihrem Zimmer in ein an-
deres nebenan, stellte sich dort an eine bestimmte Stelle bei
dem in der Mitte stehenden Tisch hin, schellte ihrem Stuben-
*) E, Toulouse, Emile Zola. Enquöte medico-psychologique, Paris
1896.
294 XVII ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
nn nn
mädchen, gab ihr einen gleichgültigen Auftrag oder entliel
sie auch ohne solchen und lief dann wieder zurück. Das war
nun gewiß kein schweres Leidenssymptom, aber es durfte doch
die Wißbegierde reizen. Die Aufklärung ergab sich auch auf
die unbedenklichste, einwandfreieste Weise unter Ausschluß je-
des Beitrages von seiten des Arztes. Ich weiß gar nicht, wie
ich zu einer Vermutung über den Sinn dieser Zwangshandlung,
zu einem Vorschlag ihrer Deutung hätte kommen können. So
oft ich die Kranke gefragt hatte: Warum tun Sie das? Was
hat das für einen Sinn ?, hatte sie geantwortet: Ich weiß es nicht.
Aber eines Tages, nachdem es mir gelungen war, ein großes
prinzipielles Bedenken bei ihr niederzukämpfen, wurde sie plötz-
lich wissend und erzählte, was zur Zwangshandlung gehörte.
Sie hatte vor mehr als zehn Jahren einen weitaus älteren
Mann geheiratet, der sich in der Hochzeitsnacht impotent er-
wies. Er war ungezählte Male in dieser Nacht aus seinem
Zimmer in ihres gelaufen, um den Versuch zu wiederholen,
aber jedesmal erfolglos. Am Morgen sagte er ärgerlich: Da
muß man sich ja vor dem Stubenmädchen schämen, wenn sie
das Bett macht, ergriff eine Flasche roter Tinte, die zufällig
im Zimmer war, und goß ihren Inhalt aufs Bettuch, aber nicht
gerade auf eine Stelle, die ein Anrecht auf einen solchen
Flecken gehabt hätte. Ich verstand anfangs nicht, was diese
Erinnerung mit der fraglichen Zwangshandlung zu tun haben
sollte, da ich nur in dem wiederholten aus einem Zimmer in
das andere Laufen eine Übereinstimmung fand und etwa noch
im Auftreten des Stubenmädchens. Da führte mich die Pa-
tientin zu dem Tisch im zweiten Zimmer hin und ließ mich
auf dessen Decke einen großen Fleck entdecken. Sie erklärte
auch, sie stelle sich so zum Tisch hin, daß das zu ihr ge-
rufene Mädchen den Fleck nicht übersehen könne. Nun war
DER SINN EINER ZWANGSHANDLUNG. 295
an der intimen Beziehung zwischen jener Szene nach der Braut-
nacht und ihrer heutigen Zwangshandlung nicht mehr zu zwei-
feln, aber auch noch allerlei daran zu lernen.
Vor allem wird es klar, daß sieh die Patientin mit ihrem
Mann identifiziert; sie spielt ihn ja, indem sie sein Laufen
aus einem Zimmer ins andere nachahmt. Dann müssen wir, um
in der Gleichstellung zu bleiben, wohl zugeben, daß sie das
Bett und Bettuch durch den Tisch und die Tischdecke ersetzt.
Das schiene willkürlich, aber wir sollen nicht ohne Nutzen
Traumsymbolik studiert haben. Im Traum wird gleichfalls sehr
häufig ein Tisch gesehen, der aber als Bett zu deuten ist.
Tisch und Bett machen mitsammen die Ehe aus, da steht dann
leicht eines für das andere.
Der Beweis, daß die Zwangshandlung sinnreich ist, wäre
bereits erbracht; sie scheint eine Darstellung, Wiederholung
jener bedeutungsvollen Szene zu sein. Aber wir sind nicht ge-
nötigt, bei diesem Schein Halt zu machen; wenn wir die Be-
ziehung zwischen den beiden eingehender untersuchen, wer-
den wir wahrscheinlich Aufschluß über etwas Weitergehendes,
über die Absicht der Zwangshandlung erhalten. Der Kern der-
selben ist offenbar das Herbeirufen des Stubenmädchens, dem
sie den Fleck vor Augen führt, im Gegensatz zur Bemerkung
ihres Mannes: Da müßte man sich vor dem Mädchen
schämen. Er — dessen Rolle sie agiert — schämt sich
also nicht vor dem Mädchen, der Fleck ist demnach an
der richtigen Stelle. Wir sehen also, sie hat die Szene nicht
einfach wiederholt, sondern sie fortgesetzt und, dabei korrigiert,
zum Richtigen gewendet. Damit korrigiert sie aber auch das
andere, wag in jener Nacht so peinlich war und jene Aus-
kunft mit der roten Tinte notwendig machte, die Impotenz.
Die Zwangshandlung sagt also: Nein, es ist nicht wahr, er
296 XVII. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
m —————————
ie
hatte sich nicht vor dem Stubenmädceh>n zu schämen, er war
nicht impotent; sie stellt diesen Wunsch nach Art eines Trau-
mes in einer gegenwärtigen Handlung als erfüllt dar, sie dient
der Tendenz, den Mann über sein damaliges Mißgeschiok zu
erheben.
Dazu kommt alles andere, was ich Ihnen von dieser Frau
erzählen könnte; richtiger gesagt: alles, was wir sonst von
ihr wissen, weist uns den Weg zu dieser Deutung der an
sich unbegreiflichen Zwangshandlung. Die Frau lebt seit
Jahren von ihrem Mann getrennt und kämpft mit der Ab-
sicht, ihre Ehe gerichtlich scheiden zu lassen. Es ist aber
keine Rede, daß sie frei von ihm wäre; sie ist gezwungen,
ihm treu zu bleiben, sie zieht sich von aller Welt zurück,
um nicht in Versuchung zu geraten, sie entschuldigt und ver-
größert sein Wesen in ihrer Phantasie. Ja, das tiefste Ge-
heimnis ihrer Krankheit ist, daß sie durch diese ihren Mann
vor übler Nachrede deckt, ihre örtliche Trennung von ihm
rechtfertigt und ihm ein behagliches Sonderleben ermöglicht.
So führt die Analyse einer harmlosen Zwangshandlung auf
geradem ‚Wege zum innersten Kern eines Krankheitsfalles, ver-
rät uns aber gleichzeitig ein nicht unansehnliches Stück des
Geheimnisses der Zwangsneurose überhaupt. Ich lasse Sie gern
bei diesem Beispiel verweilen, denn es vereinigt Bedingungen,
die man billigerweise nicht von allen Fällen fordern wird. Die
Deutung des Symptoms wurde hier von der Kranken mit einem
Schlage gefunden ohne Anleitung oder Einmengung des Ana-
lytikers, und sie erfolgte durch die Beziehung auf ein Er-
lebnis, welches nicht, wie sonst, einer vergessenen Kindheite-
periode angehört hatte, sondern im reifen Leben der Kranken
vorgefallen und unverlöscht in ihrer Erinnerung geblieben war.
Alle die Einwendungen, welche die Kritik sonst gegen unsere
DIE ABSICHT DER ZWANGSHANDLUNG. 297
Symptomdeutungen vorzubringen pflegt, gleiten von diesem
Einzelfalle ab. So gut können wir es freilich nicht immer
haben. |
Und noch eines! Ist es Ihnen nicht aufgefallen, wie uns
diese unscheinbare Zwangshandlung in die Intimitäten der
Patientin eingeführt hat? Eine Frau hat nicht viel Intimeres
zu erzählen als die Geschichte ihrer Hochzeitsnacht, und daß
wir gerade auf Intimitäten des Geschlechtslebens gekommen sind,
sollte das zufällig und ohne weiteren Belang sein? Es könnte
freilich die Folge der Auswahl sein, die ich diesmal getroffen
habe. Urteilen wir nicht zu rasch und wenden wir uns dem
zweiten Beispiel zu, welches von ganz anderer Art ist, ein
Muster einer häufig vorkommenden Gattung, nämlich ein
Schlafzeremoniell.
Ein 19jähriges, üppiges, begabtes Mädchen, das einzige
Kind seiner Eltern, denen es an Bildung und intellektueller
Regsamkeit überlegen ist, war als Kind wild und übermütig
und hat sich im Laufe der letzten Jahre ohne sichtbare äußere
Einwirkung zu einer Nervösen umgewandelt. Sie ist besonders
gegen ihre Mutter sehr reizbar, immer unzufrieden, deprimiert,
neigt zur Unentschlossenheit und zum Zweifel und macht end-
lich das Geständnis, daß sie auf Plätzen und in größeren
Straßen nicht mehr allein gehen kann. Wir werden uns mit
ihrem komplizierten Krankheitszustand, der zum mindesten zwei
Diagnosen erheischt, die einer Agoraphobie und einer Zwangs-
neurose, nicht viel abgeben, sondern nur dabei verweilen, daß
dieses Mädchen auch ein Schlafzeremoniell entwickelt hat, un-
ter dem sie ihre Eltern leiden läßt. Man kann sagen, in ge-
wissem Sinne hat jeder Normale sein Schlafzeremoniell oder
er hält auf die Herstellung von gewissen Bedingungen, deren
Nichterfüllung ihn am Einschlafen stört; er hat den Über-
295 XVII. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
————— ln
—
cang aus dem Wachleben in den Schlafzustand in gewisse For-
men gebracht, die er allabendlich in gleicher Weise wiederholt.
Aber alles, was der Gesunde an Schlafbedingung fordert, läßt
sich rationell verstehen, und wenn die äußeren Umstände eine
Änderung notwendig machen, so fügt er sich leicht und olıne
Zeitaufwand. Das pathologische Zeremoniell ist aber unnach-
giebig, es weiß sich mit den größten Opfern durchzusetzen,
es deekt sich gleichfalls mit einer rationellen Begründung und
scheint sich bei oberflächlicher Betrachtung nur durch eine
gewisse übertriebene Sorgfalt vom Normalen zu entfernen.
‘Sieht man aber näher zu, so kann man bemerken, daß die
Decke zu kurz ist, daß das Zeremoniell Bestimmungen um-
faßt, die weit über die rationelle Begründung hinausgehen, und
andere, die ihr direkt widersprechen. Unsere Patientin schützt
als Motiv ihrer nächtlichen Vorsichten vor, daß sie zum Schla-
fen Ruhe braucht und alle Quellen des Geräusches ausschließen
muß. In dieser Absicht tut sie zweierlei: Die große Uhr ın
ihrem Zimmer wird zum Stehen gebracht, alle anderen Uhren
aus dem Zimmer entfernt, nicht einmal ihre winzige Armband-
uhr wird im Nachtkästehen geduldet. Blumentöpfe und Vasen
werden auf dem Schreibtisch so zusammengestellt, daß sie
nieht zur Nachtzeit herunterfallen, zerbrechen und sie im
Schlafe stören können. Sie weiß, daß diese Maßregeln durch
das Gebot der Ruhe nur eine scheinbare Rechtfertigung finden
können; die kleine Uhr würde man nicht ticken hören, auch
wenn sie auf dem Nachtkästchen liegen bliebe, und wir haben
alle die Erfahrung gemacht, daß das regelmäßige Ticken einer
Pendeluhr niemals eine Schlafstörung macht, sondern eher ein-
schläfernd wirkt. Sie gibt auch zu, daß die Befürchtung,
Blumentöpfe und Vasen könnten, an ihrem Platze gelassen,
zur Nachtzeit von selbst herunterfallen und zerbrechen, jeder
EIN SCHLAFZEREMONIELL, 299
Wahrscheinlichkeit entbehrt. Für andere Bestimmungen des
Zeremoniells wird die Anlehnung an das Ruhegebot fallen ge-
lassen. Ja, die Forderung, daß die Türe zwischen ihrem Zimmer
und dem Schlafzimmer der Eltern halb offen bleibe, deren Er-
füllung sie dadurch sichert, daß sie verschiedene Gegenstände
in die geöffnete Türe rückt, scheint im Gegenteil eine Quelle
von störenden Geräuschen zu aktivieren. Die wichtigsten Be-
stimmungen beziehen sich aber auf das Bett selbst. Das
Polster am Kopfende des Bettes darf die Holzwand des Bettes
nicht berühren. Das kleine Kopfpolsterchen darf auf diesem
großen Polster nicht anders liegen, als indem es eine Raute
bildet; ihren Kopf legt sie dann genau in den Längsdurch-
messer der Raute. Die Federdecke (,Duchent“, wie wir in
Österreich sagen) muß vor dem Zudecken so geschüttelt wer-
den, daß ihr Fußende ganz dick wird; dann aber versäumt
sie es nicht, diese Anhäufung durch Zerdrücken wieder zu
verteilen. |
Lassen Sie mich die ‘anderen, oft sehr kleinlichen Einzel-
heiten dieses Zeremoniells übergehen; sie würden uns nichts
Neues lehren und zuweit von unseren Absichten abführen.
Aber übersehen Sie nicht, daß dies alles sich nicht so glatt
vollzieht. Es ist immer die Sorge dabei, daß nicht alles ordent-
lich gemacht worden ist; es muß nachgeprüft, wiederholt wer-
den. der Zweifel zeichnet bald die eine, bald die andere der
Sicherungen aus, und der Erfolg ist, daß ein bis zwei Stunden
hingebracht werden, während ‚welcher das Mädchen selbst nicht
schlafen kann und die eingeschüchterten Eltern nicht schla-
fen. läßt.
Die Analyse dieser Quälereien ging nicht so einfach von
statten wie die der Zwangshandlung bei unserer früheren Pa-
tientin. Ich mußte dem Mädchen Andeutungen geben und Vor-
300 XVII. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
schläge zur Deutung machen, die von ihr jedesmal mit einem
entschiedenen Nein abgelehnt oder mit geringschätzigem Zwei-
fel aufgenommen wurden. Aber auf diese erste ablehnende
Reaktion folgte eine Zeit, in welcher sie sich selbst mit den
ihr vorgelegten Möglichkeiten beschäftigte, Einfälle zu ihnen
sammelte, Erinnerungen produzierte, Zusammenhänge herstellte,
bis sie alle Deutungen aus eigener Arbeit angenommen hatte.
In dem Maße, als dies geschah, ließ sie auch in der Aus-
führung der Zwangsmaßregeln nach, und noch vor Ende der
Behandlung hatte sie auf das gesamte Zeremoniell verzichtet.
Sie müssen auch wissen, daß die analytische Arbeit, wie wir
sie heute ausführen, die konsequente Bearbeitung des einzelnen
Symptoms, bis man mit dessen Aufhellung zu Ende gekommen
ist, geradezu ausschließt. Sondern man ist genötigt, das eine
Thema immer wieder zu verlassen, und ist sicher, von an-
deren Zusammenhängen her von neuem darauf zurückzukom-
men. Die Symptomdeutung, die ich Ihnen jetzt mitteilen werde,
ist also eine Synthese von Ergebnissen, deren Förderung sich,
von anderen Arbeiten unterbrochen, über die Zeit von ‚Wochen
und Monaten erstreckt hat.
Unsere _ Patientin lernt allmählich verstehen, daß sie
die Uhr als Symbol des weiblichen Genitales aus ihren Zu-
rüstungen für die Nacht verbannt hatte. Die Uhr, für die
wir sonst auch andere Symboldeutungen kennen, gelangt zu
dieser genitalen Rolle durch ihre Beziehung zu periodischen
Vorgängen und gleichen Intervallen. Eine Frau kann etwa
von sich rühmen, ihre Menstruation benehme sich so regelmäßig
wie ein Uhrwerk. Die Angst unserer Patientin richtete sich
aber besonders dagegen, durch das Tieken der Uhr im Schlaf
gestört zu werden. Das Ticken der Uhr ist dem Klopfen der
Klitoris bei sexueller Erregung gleichzusetzen. Durch diese
DIE DEUTUNG DES SCHLAFZEREMONIELLS. 301
ihr nun peinliche Empfindung war sie in der Tat wiederholt
aug dem Schlafe geweckt worden, und jetzt äußerte sich diese
Erektionsangst in dem Gebot, welches gehende Uhren zur
Nachtzeit aus ihrer Nähe entfernen hieß. Blumentöpfe und
Vasen sind wie alle Gefäße gleichfalls weibliche Symbole. Die
Vorsicht, daß sie nicht zur Nachtzeit fallen und zerbrechen,
entbehrt also nicht eines guten Sinnes. Wir kennen die viel-
verbreitete Sitte, daß bei Verlobungen ein Gefäß oder Teller
zerschlagen wird. Jeder der Anwesenden eignet sich ein
Bruchstück an, welches wir als Ablösung seiner Ansprüche an
die Braut auf dem Standpunkt einer Eheordnung vor der Mono-
gamie auffassen dürfen. Zu diesem Stück ihres Zeremoniells
brachte das Mädchen auch eine Erinnerung und mehrere Ein-
fälle. Sie war einmal als Kind mit einem Glas- oder Tongefäß
hingefallen, hatte sich in die Finger geschnitten und heftig
geblutet. Als sie heranwuchs und von den Tatsachen des
Sexualverkehrs Kenntnis bekam, stellte sich die ängstliche Idee
bei ihr ein, sie werde in der Hochzeitsnacht nicht bluten und
sich nicht als Jungfrau erweisen. Ihre Vorsichten gegen das
Zerbrechen der Vasen bedeuten also eine Abweisung des ganzen
Komplexes, der mit der Virginität und dem Bluten beim ersten
Verkehr zusammenhängt, ebensowohl eine Abweisung der Angst
zu bluten wie der entgegengesetzten, nicht zu bluten. Mit
der Geräuschverhütung, welcher sie diese Maßnahmen unter-
ordnete, hatten sie nur entfernt etwas zu tun.
Den zentralen Sinn ihres Zeremoniells erriet sie eines Ta-
ges, als sie plötzlich die Vorschrift, das Polster dürfe die Bett-
wand nicht berühren, verstand. Das Polster sei ihr immer ein
Weib gewesen, sagte sie, die aufrechte Holzwand ein Mann.
Sie wollte also — auf magische Weise, dürfen wir einschalten
— Mann und Weib auseinanderhalten, das heißt die Eltern
302 XVII: ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
EEE
voneinander trennen, nicht zum ehelichen Verkehr kommen
lassen. Dasselbe Ziel hatte sie in früheren Jahren vor der
Einrichtung des Zeremonieils auf direktere Weise zu erreichen
gesucht. Sie hatte Angst simuliert oder eine vorhandene Angst-
neigung dahin ausgebeutet, daß die Verbindungstüre zwischen
dem Schlafzimmer der Eltern und dem Kinderzimmer nicht
| geschlossen werden dürfe. Dies Gebot war ja noch in ihrem
heutigen Zeremoniell erhalten geblieben. Auf solche Art schaffte
sie sich die Gelegenheit, die Eltern zu belauschen, zog sich
aber in der Ausnützung derselben einmal eine durch Monate
anhaltende Schlaflosigkeit zu. Nicht zufrieden mit solcher
Störung der Eltern setzte sie es dann zeitweise durch, daß
sie im Ehebett selbst zwischen Vater und Mutter schlafen
durfte. ‚„Polster‘ und ‚„Holzwand‘ konnten dann wirklich nicht
zusammenkommen. Endlich als sie schon so groß war, daß
ihr Körperliches nicht mehr bequem im Bette zwischen den
Eltern Platz finden konnte, erreichte sie es durch bewußte
Simulation von Angst, daß die Mutter den Schlafplatz mit
ihr tauschte und ihr die eigene Stelle neben dem Vater ab-
trat. Diese Situation war gewiß der Ausgang von Phantasien
geworden, deren Nachwirkung.man im Zeremoniell verspürt.
‚Wenn ein Polster ein Weib war, so hatte auch das
Schütteln der Federdecke, bis alle Federn unten waren und
dort eine Anschwellung hervorriefen, einen Sinn. Es hieß, das
Weib schwanger machen; aber sie versäumte es nicht, diese
Schwangerschaft wieder wegzustreichen, denn sie hatte Jahre
hindurch unter der Furcht gestanden, der Verkehr der Eltern
werde ein anderes Kind zur Folge haben und ihr so 'eine Kon-
kurrenz bescheren. Anderseits, wenn das große Polster ein
Weib, die Mutter, war, so konnte das kleine Kopfpölsterchen
nur die Tochter vorstellen. Warum mußte dieses Polster als
DIE DEUTUNG DES SCHLAFZEREMONIELLS, 303:
tn en en
Raute gelegt werden und ihr Kopf genau in die Mittellinie
derselben kommen? Sie ließ sich leicht daran erinnern, daß
die Raute die an allen Mauern wiederholte Rune des offenen
weiblichen Genitales sei. Sie selbst spielte dann den Mann, den
Vater, und ersetzte durch ihren Kopf das männliche Glied.
(Vgl. Die Symbolik des Köpfens für Kastration.)
‚Wüste Dinge, werden Sie sagen, die da in dem Kopf des
jungfräulichen Mädchens spuken sollen. Ich gebe es zu, aber
vergessen Sie nicht, ich habe diese Dinge nicht gemacht, son-
dern bloß gedeutet. Solch ein Schlafzeremoniell ist auch etwas
Sonderbares, und Sie werden die Entsprechung zwischen dem
Zeremoniell und den Phantasien, die uns die Deutung ergibt,
nicht verkennen dürfen. ‘Wichtiger ist mir aber, daß Sie be-
ınerken, es habe sich da nicht eine einzige Phantasie im Zere-
moniell niedergeschlagen, sondern eine Anzahl von solchen, die
‚allerdings irgendwo ihren Knotenpunkt haben. Auch daß die
Vorschriften des Zeremoniells die sexuellen Wünsche bald po-
sitiv, bald negativ wiedergeben, zum Teil der Vertretung und
zum Teil der Abwehr derselben dienen.
Man könnte auch aus der Analyse dieses Zeremoniells mehr
machen, wenn man es in die richtige Verknüpfung mit den
anderen Symptomen der Kranken brächte. Aber unser Weg
führt uns nicht dahin. Lassen Sie sich die Andeutung genü-
gen, daß dieses Mädcher einer erotischen Bindung an den Vater
verfallen ist, deren Anfänge in frühe Kinderjahre zurückgehen.
Vielleicht benimmt sie sich auch darum so unfreundlich gegen
ihre Mutter. Wir können auch nicht übersehen, daß uns die
Analyse dieses Symptoms wiederum auf das Sexualleben der
Kranken hingeführt hat. Vielleicht werden wir uns darüber
um so weniger verwundern, je öfter wir in «den Sinn und in
die Absicht neurotischer Symptome Einsicht gewinnen.
20
Freud, Vorlesungen. III,
304 XVII. ALLGEMEINE NEUROSENLE HRE.
———.
—
So habe ich Ihnen denn an zwei ausgewählten Beispielen
gezeigt, daß die neurotischen Symptome einen Sinn haben wie
die Fehlleistungen und wie die Träume, und daß sie in intimer Be-
ziehung zum Erleben der Patienten stehen. Kann ich erwarten,
daß Sie mir diesen überaus bedeutsamen Satz auf zwei Bei-
spiele hin glauben? Nein. Aber können Sie von mir verlangen,
daß ich Ihnen soviel weitere Beispiele erzähle, bis Sie sich
für überzeugt erklären? Auch nicht, denn bei der Ausführ-
lichkeit, mit der ich den einzelnen Fall behandle, müßte ich
ein fünfstündiges Semestralkolleg der Erledigung dieses ein-
zelnen Punktes der Neurosenlehre widmen. Ich bescheide mich
also damit, Ihnen eine Probe für meine Behauptung gegeben
zu haben, und verweise Sie im übrigen auf die Mitteilungen
in der Literatur, auf die klassischen Symptomdeutungen im
ersten Falle von Breuer (Hysterie), auf die frappanten Auf-
hellungen ganz dunkler Symptome bei der sogenannten Dementia
praecox durch C. G. Jung aus der Zeit, da dieser Forscher
bloß Psychoanalytiker war und noch nicht Prophet sein wollte,
und auf alle die Arbeiten, die seither unsere Zeitschriften ge-
füllt haben. Wir haben gerade an solchen Untersuchungen
keinen Mangel. Die Analyse, Deutung, Übersetzung der neu-
rotischen Symptome hat die Psychoanalytiker so angezogen,
daß sie zunächst die anderen Probleme der Neurotik dagegen
vernachlässigten.
Wer von Ihnen sich einer solchen Bemühung unterzieht,
der wird gewiß einen starken Findruck von der Fülle des
Beweismaterials empfangen. Aber er wird auch auf eine Schwie-
rigkeit stoßen. Der Sinn eines Symptoms liegt, wie wir er-
fahren haben, in einer Beziehung zum Erleben des Kranken.
Je individueller das Symptom ausgebildet ist, desto eher dürfen
wir erwarten, diesen Zusammenhang herzustellen. Die Aufgabe
DIE HISTORISCHE DEUTUNG DER SYMPTOME. 305
stellt sich dann geradezu, für eine sinnlose Idee und eine zweck-
lose Handlung jene vergangene Situation aufzufinden, in
welcher die Idee gerechtfertigt und die Handlung zweck-
entsprechend war. Die Zwangshandlung unserer Patientin, die
zum Tisch lief und dem Stubenmädchen schellte, ist direkt vor-
bildlich für diese Art von Symptomen. Aber es gibt, und zwar
sehr häufig, Symptome von ganz anderem Charakter. Man muß
sie „typische“ Symptome der Krankheit nennen, sie sind in
allen Fällen ungefähr gleich, die individuellen Unterschiede
verschwinden bei ihnen oder schrumpfen wenigstens so zu-
sammen, daß es schwer fällt, sie mit dem individuellen Er-
leben der Kranken zusammenzubringen und auf einzelne er-
lebte Situationen zu beziehen. Richten wir unseren Blick wie-
derum auf die Zwangsneurose. Schon das Schlafzeremoniell un-
serer zweiten Patientin hat viel Typisches an sich, dabei aller-
dings genug individueller Züge, um die sozusagen historische
Deutung zu ermöglichen. Aber alle diese Zwangskranken haben
die Neigung zu wiederholen, Verrichtungen zu rhythmieren und
von anderen zu isolieren. Die meisten von ihnen waschen zu
viel. Die Kranken, welche an Agoraphobie (Topophobie, Raum-
angst) leiden, was wir nicht mehr zur Zwangsneurose rechnen,
sondern als Angsthysterie bezeichnen, wiederholen in ihren
Krankheitsbildern oft in ermüdender Monotonie dieselben Züge,
sie fürchten geschlossene Räume, große offene Plätze, lange
sich hinziehende Straßen und Alleen. Sie halten sich für ge-
schützt, wenn Bekannte sie begleiten oder wenn ein Wagen
ihnen nachfährt usw. Auf diesem gleichartigen Untergrund
tragen aber doch die einzelnen Kranken ihre individuellen Be-
dingungen, Launen, möchte man sagen, auf, die einander in
den einzelnen Fällen direkt widersprechen. Der eine scheut nur
enge Straßen, der andere nur weite, der eine kann nur gehen,
20*
306 XVII. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
wenn wenig, der andere, wenn viele Menschen aui der Sirabe
sind. Ebenso hat die Hysterie bei allem Reichtum an indi-
viduellen Zügen einen Überfluß an gemeinsamen, typischen,
Symptomen, die einer leichten historischen Zurückführung zu
widerstreben scheinen. Vergessen wir nicht daran, es sind ja
diese typischen Symptome, nach denen wir uns für die Stel-
lung der Diagnose orientieren. Haben wir nun wirklich in
einem Falle von Hysterie ein typisches Symptom auf ein Er-
lebnis oder auf eine Kette von ähnlichen Erlebnissen zurück-
geführt, z. B. ein hysterisches Erbrechen auf eine Folge von
Ekeleindrücken, so werden wir irre, wenn uns die Analyse in
einem anderen Fall von Erbrechen eine durchaus andersartige
Reihe von angeblich wirksamen Erlebnissen aufdeckt. Es sieht
dann bald so aus, als müßten die Hysterischen aus unbekannten
Gründen Erbrechen äußern, und die von der Analyse gelıe-
ferten historischen Anlässe seien nur Vorwände, die von dieser
inneren Notwendigkeit verwendet werden, wenn sie sich zu-
fällig ergeben.
So kommen wir bald zur betrübenden Einsicht, daß wir
zwar den Sinn der individuellen neurotischen Symptome durch
die Beziehung zum Erleben befriedigend aufklären können, daß
uns aber unsere Kunst für die weit häufigeren typischen Sym-
ptome derselben im Stiche läßt. Dazu kommt, daß ich Sie
noch gar nicht mit allen Schwierigkeiten vertraut gemacht habe,
die sich bei der konsequenten Verfolgung der historischen
Symptomdeutung herausstellen. Ich will es auch nicht tun,
denn ich habe zwar die Absicht, Ihnen nichts zu beschönigen
oder zu verhehlen, aber ich darf Sie doch nicht zu Beginn
unserer gemeinsamen Studien ratlos machen und in Verwirrung
bringen. Es ist richtig, daß wir erst den Anfang zu einem
Verständnis der Symptombedeutung gemacht haben, aber wir
DIE SCHWIERIGKEIT DER TYPISCHEN SYMPTOME. 307
wollen an dem Gewonnenen festhalten und uns schrittweise zur
Bewältigung des noch Unverstandenen durchringen. Ich ver-
suche es also, Sie mit der Überlegung zu trösten, daß eine
fundamentale Verschiedenheit zwischen der einen und der an-
deren Art von Symptomen doch kaum anzunehmen ist. Hängen
die individuellen Symptome so unverkennbar vom Erleben des
Kranken ab, so bleibt für die typischen Symptome die Mög-
lichkeit, daß sie auf ein Erleben zurückgehen, was an sich
typisch, allen Menschen gemeinsam ist. Andere in der Neurose
regelmäßig wiederkehrende Züge mögen allgemeine Reaktionen
sein, welche den Kranken durch die Natur der krankhaften
Veränderung aufgezwungen werden, wie das Wiederholen oder
das Zweifeln der Zwangsneurose. Kurz, wir haben keinen Grund
zum vorzeitigen Verzagen; wir werden ja sehen, was sich weiter
ergibt.
Vor einer ganz ähnlichen Schwierigkeit stehen wir auch
in der Traumlehre. Ich konnte sie in unseren früheren Be-
sprechungen über den Traum nicht behandeln. Der manifeste
Inhalt der Träume ist ja ein höchst mannigfaltiger und indi-
viduell verschiedener, und wir haben ausführlich gezeigt, was
man aus diesem Inhalt durch die Analyse gewinnt. Aber da-
neben gibt es Träume, die man gleichfalls „typische“ heißt,
die bei allen Menschen in gleicher Weise vorkommen, Träume
von gleichförmigem Inhalt, welche der Deutung dieselben
Schwierigkeiten entgegensetzen. Es sind dies die Träume vom
Fallen, Fliegen, Schweben, Schwimmen, Gehemmtsein, vom
Nacktsein und andere gewisse Angstträume, die uns bald diese,
bald jene Deutung bei einzelnen Personen ergeben, ohne daß
die Monotonie und das typische Vorkommen derselben dabei
seine Aufklärung fände. Auch bei diesen Träumen beobachten
wir aber, daß ein gemeinsamer Untergrund durch individuell
308 XVII. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
ig,
wechselnde Zutaten belebt wird, und wahrscheinlich werden auch
sie sich in das Verständnis des Traumlebens, das wir an den
anderen Träumen gewonnen haben, ohne Zwang, aber unter Er-
weiterung unserer Einsichten einfügen lassen.
ACHTZEHNTE VORLESUNG.
ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
DIE FIXIERUNG AN DAS TRAUMA, DAS UNBEWUSSTE.
Meine Damen und Herren! Ich sagte das letztemal, wir
wollten die Fortsetzung unserer Arbeit nicht an unsere Zweifel,
sondern an unsere Funde anknüpfen. Zwei der interessantesten
Folgerungen, die sich aus den zwei vorbildlichen Analysen ab-
leiten, haben wir überhaupt noch nicht ausgesprochen.
Fürs erste: Beide Patienten machen uns den Eindruck, als
wären sie an ein bestimmtes Stück ihrer Vergangenheit fixiert,
verständen nicht davon freizukommen, und seien deshalb
der Gegenwart und der Zukunft entfremdet. Sie stecken nun
in ihrer Krankheit, wie man sich in früheren Zeiten in ein
Kloster zurückzuziehen pflegte, um dort ein schweres Lebens-
schicksal auszutragen. Für unsere erste Patientin ist es die
in Wirklichkeit aufgegebene Ehe mit ihrem Manne, die ihr
dieses Verhängnis bereitet hat. Durch ihre Symptome setzt
sie den Prozeß mit ihrem Manne fort; wir haben jene Stimmen
verstehen gelernt, die für ihn plaidieren, die ihn entschuldigen,
erhöhen, seinen Verlust beklagen. Obwohl sie jung und für
andere Männer begehrenswert ist, hat sie alle realen und ima-
ginären (magischen) Vorsichten ergriffen, um ihm die Treue
zu bewahren. Sie zeigt sich nicht vor fremden Augen, ver-
nachlässigt ihre Erscheinung, aber sie vermag es auch nicht,
so bald von einem Sessel aufzustehen, auf dem sie gesessen ist,
und sie verweigert es, ihren Namen zu unterschreiben, kann
310 XVIII. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
_—
keinem ein Geschenk machen mit der Motivierung, es dürfe
niemand etwas von ihr haben.
Bei unserer zweiten Patientin, dem jungen Mädchen, ist
es eine erotische Bindung an den Vater, welche sich in den
Jahren vor der Pubertät hergestellt hatte, die für ihr Leben
dasselbe leistet. Sie hat auch für sich den Schluß gezogen, dab
sie nicht heiraten kann, solange sie so krank ist. Wir dürfen
vermuten, sie ist so krank geworden, um nicht heiraten zu
müssen und um beim Vater zu bleiben. |
Wir dürfen die Frage nicht abweisen, wie, auf welchem
Wege und kraft welcher Motive kommt man in eine so merk-
würdige und so unvorteilhafte Einstellung zum Leben? Vor-
ausgesetzt, daß dieses Verhalten ein allgemeiner Charakter der
Neurose und nicht eine besondere Eigentümlichkeit dieser zwei
Kranken ist. Es ist aber in der Tat ein allgemeiner, prak-
tisch sehr bedeutsamer Zug einer jeden Neurose. Die erste
hysterische Patientin von Breuer war in ähnlicher Weise
an die Zeit fixiert, da sie ihren schwer erkrankten Vater
pflegte. Sie hat trotz ihrer Herstellung seither in gewisser
Hinsicht mit dem Leben abgeschlossen, sie ist zwar gesund
und leistungsfähig geblieben, ist aber dem normalen Frauen-
' schicksal ausgewichen. Bei jedem unserer Kranken können wir
durch die Analyse ersehen, daß er sich in seinen Krankheits-
symptomen und durch die Folgerungen aus ihnen in eine ge-
wisse Periode seiner Vergangenheit zurückversetzt hat. In der
Überzahl der Fälle hat er sogar eine sehr frühe Lebensphase
dazu gewählt, eine Zeit seiner Kindheit, ja so lächerlich es
klingen mag, selbst seiner Säuglingsexistenz.
Die nächste Analogie zu diesem Verhalten unserer Ner-
vösen bieten Erkrankungen, wie sie gerade jetzt der Krieg
in besonderer Häufigkeit entstehen läßt, die sogenannten trau-
DIE TRAUMATISCHEN NEUROSEN. 311
on
|
matischen Neurosen. Es hat solche Fälle nach Eisenbahn-
zusammenstößen und anderen schreckhaften Lebensgefahren
natürlich auch vor dem Kriege gegeben. Die traumatischen
Neurosen sind im Grunde nicht dasselbe wie die spontanen
Neurosen, die wir analytisch zu untersuchen und zu behandeln
pflegen; es ist uns auch noch nicht gelungen, sie unseren Ge-
siehtspunkten zu unterwerfen, und ich hoffe, Ihnen einmal klar-
machen zu können, woran diese Einschränkung liegt. Aber in
dem einen Punkt dürfen wir eine völlige Übereinstimmung her-
vorheben. Die traumatischen Neurosen geben deutliche An-
zeichen dafür, daß ihnen eine Fixierung an den Moment des
traumatischen Unfalles zu Grunde liegt. In ihren Träumen
wiederholen diese Kranken regelmäßig die traumatische Situa-
tion; wo hysteriforme Anfälle vorkommen, die eine Analyse
zulassen, erfährt man, daß der Anfall einer vollen Versetzung
in diese Situation entspricht. Es ist so, als ob diese Kranken
mit der traumatischen Situation nicht fertig geworden wären,
als ob diese noch als unbezwungene aktuelle Aufgabe vor
ihnen stände, und wir nehmen diese Auffassung in allem Ernst
an; sie zeigt uns den Weg zu einer, heißen wir es ökono-
mischen Betrachtung der seelischen Vorgänge. Ja, der Aus-
druck traumatisch hat keinen anderen als einen solchen öko-
nomischen Sinn. Wir nennen so ein Erlebnis, welches dem
Seelenleben innerhalb kurzer Zeit einen so starken Reizzuwachs
bringt, daß die Erledigung oder Aufarbeitung desselben in
normalgewohnter Weise mißglückt, woraus dauernde Störungen
im Energiebetrieb resultieren müssen. |
Diese Analogie muß uns dazu verlocken, auch jene Erleb-
nisse, an welche unsere Nervösen fixiert erscheinen, als trau-
matische zu bezeichnen. Auf solche ‚Weise würde uns eine ein-
fache Bedingung für die neurotische Erkrankung verheißen
312 XVIII. ALLGEMEINE NEUROSENLFHRE,
werden. Die Neurose wäre einer traumatischen Erkrankung
gleichzusetzen und entstünde durch die Unfähigkeit, ein über-
stark affektbetontes Erlebnis zu erledigen. So lautete auch
wirklich die erste Formel, in welcher Breuer und ich 1893/95
theoretische Rechenschaft von unseren neuen Beobachtungen ab-
legten. Ein Fall wie der unserer ersten Patientin, der jungen,
von ihrem Mann getrennten Frau, unterwirft sich dieser Auf-
fassung sehr gut. Sie hat die Undurchführbarkeit ihrer Ehe
nicht verwunden und ist an diesem Trauma hängen geblieben.
Aber schon unser zweiter Fall, das an ihren Vater fixierte
Mädchen, zeigt uns, daß die Formel nicht umfassend genug ist.
Einerseits ist eine solche Kleinmädchenverliebtheit in den Vater
etwas so Gewöhnliches und so häufig Überwundenes, daß die
Bezeichnung ‚„traumatisch“ allen Gehalt verlieren würde, an-
derseits lehrt uns die Geschichte der Kranken, daß diese erste
erotische Fixierung zunächst anscheinend schadlos vorüberging
und erst mehrere Jahre später in den Symptomen der Zwangs-
neurose wieder zum Vorschein kam. Wir sehen da also Kompli-
kationen, eine größere Reichhaltigkeit der Erkrankungsbedin-
gungen voraus, aber wir ahnen auch, der traumatische Ge-
sichtspunkt wird nicht etwa als irrig aufzugeben sein; er wird
sich anderswo einfügen und unterordnen müssen.
Wir brechen hier wieder den Weg ab, den wir einge-
schlagen haben. Er führt zunächst nicht weiter, und wir haben
allerlei anderes zu erfahren, ehe wir seine richtige Fortsetzung
finden können. Bemerken wir noch zum Thema der Fixierung
an eine bestimmte Phase der Vergangenheit, daß ein solches
Vorkommen weit über die Neurose hinausgeht. Jede Neurose
enthält eine solche Fixierung, aber nicht jede Fixierung führt
zur Neurose, fällt mit Neurose zusammen oder stellt sich auf
dem Wege der Neurose her. Ein Mustervorbild einer affek-
DIE FIXIERUNG AN DAS TRAUMA. 313
tiven Fixierung an etwas Vergangenes ist die Trauer, die selbst
die vollste Abwendung von Gegenwart und Zukunft mit sich
bringt. Aber die Trauer scheidet sich selbst für das Laienurteil
scharf von der iNeurose. Dagegen gibt es Neurosen, die
man als eine pathologische Form der Trauer bezeichnen
kann.
Es kommt auch vor, daß Menschen durch ein trauma-
tisches, die bisherigen Grundlagen ihres Lebens erschütterndes
Ereignis so zum Stillstand gebracht werden, daß sie jedes Inter-
esse für Gegenwart und Zukunft aufgeben und dauernd in der
seelischen Beschäftigung mit der Vergangenheit verharren,
aber diese Unglücklichen brauchen dabei nicht neurotisch zu
werden. Wir wollen also diesen einen Zug für die COharakte-
ristik der Neurose nicht überschätzen, so regelmäßig und so
bedeutsam er sonst sein mag.
Nun aber zum zweiten Ergebnis unserer Analysen, für
welches wir eine nachträgliche Einschränkung nicht zu be-
sorgen haben. Wir haben von unserer ersten Patientin mitge-
teilt, welche sinnlose Zwangshandlung sie ausführte und welche
intime Lebenserinnerung sie als dazugehörig erzählte, haben
auch später das Verhältnis zwischen den beiden untersucht und
die Absicht der Zwangshandlung aus dieser Beziehung zur
Erinnerung erraten. Aber ein Moment haben wir völlig bei-
seite gelassen, das unsere ganze Aufmerksamkeit verdient. So-
lange die Patientin auch die Zwangshandlung wiederholte, wußte
sie nichts davon, daß sie mit ihr an jenes Erlebnis an-
knüpfte. Der Zusammenhang zwischen den beiden war ihr
verborgen; sie mußte wahrheitsgemäß antworten, sie wisse
nicht, unter welchen Antrieben sie dies tue. Dann traf es sich
unter dem Einflusse der Kurarbeit plötzlich einmal, daß sie
jenen Zusammenhang auffand und mitteilen konnte. Aber noch
314 XVIIT. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
nen
immer wußte sie von der Absicht nichts, in deren Dienst sie
die Zwangshandlung ausführte, der Absicht, ein peinliches
Stück der Vergangenheit zu korrigieren und den von ihr ge-
liebten Mann auf ein höheres Niveau zu stellen. Es dauerte
ziemlich lange und kostete viel Mühe, bis sie begriffen und
mir zugestanden hatte, daß ein solches Motiv allein die trei-
bende Kraft der Zwangshandlung gewesen sein könnte.
Der Zusammenhang mit der Szene nach der verunglückten
Hochzeitsnacht und das zärtliche Motiv der Kranken ergeben
mitsammen das, was wir den ,„Sinn“ der Zwangshandlung ge-
nannt haben. Aber dieser Sinn war ihr nach beiden Richtungen,
dem „woher‘ wie dem „wozu“ unbekannt gewesen, während sie
die Zwangshandlung ausführte. Es hatten also seelische Vor-
gänge in ihr gewirkt, die Zwangshandlung war eben deren
‚Wirkung; sie hatte die Wirkung in normaler seelischer Ver-
fassung wahrgenommen, aber nichts von den seelischen Vor-
bedingungen dieser Wirkung war zur Kenntnis ihres Bewußt-
seins gekommen. Sie hatte sich ganz ebenso benommen wie ein
Hypnotisierter, dem Bernheim den Auftrag erteilte, fünf
Minuten nach seinem Erwachen im Krankensaal einen Regen-
schirm aufzuspannen, der diesen Auftrag im Wachen zus
führte, aber kein Motiv für sein Tun anzugeben wußte. Einen
solchen Sachverhalt haben wir im Auge, wenn wir von der
Existenz unbewußter seelischer Vorgänge reden. Wir
dürfen alle Welt herausfordern, von diesem Sachverhalt auf
eine korrektere wissenschaftliche Art Rechenschaft zu geben, und
wollen dann gern auf die Annahme unbewußter seelischer Vor-
gänge verzichten. Bis dahin werden wir aber an dieser Annahme
festhalten und wir müssen es mit resigniertem Achselzucken als
‚unbegreiflich abweisen, wenn uns jemand einwenden will, das Un-
bewußte sei hier nichts im Sinne der Wissenschaft Reales, ein
DIE BEDINGUNG DER UNBEWUSSTHEIT. 318
Notbehelf, une facon de parler. Etwas nicht Reales, von dem
so real greifbare Wirkungen ausgehen wie eine Zwangshandlung!
Im Grunde das nämliche treffen wir bei unserer zweiten
Patientin an. Sie hat ein Gebot geschaffen, das Polster dürfe
die Bettwand nicht berühren, und muß dieses Gebot befolgen,
aber sie weiß nicht, woher es stammt, was es bedeutet und
welchen Motiven es seine Macht verdankt. Ob sie es selbst
als indifferent betrachtet oder sich dagegen sträubt, dagegen
wütet, sich vornimmt, es zu übertreten, ist für seine Ausführung
gleichgültig. Es muß befolgt werden, und sie fragt sich ver-
geblich, warum. Man muß doch bekennen, in diesen Symptomen
der Zwangsneurose, diesen Vorstellungen und Impulsen, die auf-
tauchen, man weiß nicht woher, sich so resistent gegen alle
Finflüsse des sonst normalen Seelenlebens benehmen, den Kran-
ken selbst den Eindruck machen, als wären sie übergewaltige
Gäste aus einer fremden Welt, Unsterbliche, die sich in das '
Gewühl der Sterblichen gemengt haben, ist wohl der deutlichste
Hinweis auf einen besonderen, vom übrigen abgeschlossenen. Be-
.zirk des Seelenlebens gegeben. Von ihnen aus führt ein nicht
zu verfehlender Weg zur Überzeugung von der Existenz des
Unbewußten in der Seele, und gerade darum weiß die klinische
Psychiatrie, die nur eine Bewußtseinspsychologie kennt, mit
ihnen nichts anderes anzufangen, als daß sie sie für die An-
zeichen einer besonderen Degenerationsweise ausgibt. Natürlich
sind die Zwangsvorstellungen und Zwangsimpulse nicht selbst
unbewußt, so wenig wie die Ausführung der Zwangshandlungen
der bewußten Wahrnehmung entgeht. Sie wären nicht Sym-
ptome geworden, wenn sie nicht zum Bewußtsein durchgedrun-
gen wären. Aber die psychischen Vörbedingungen, die wir
durch die Analyse für sie erschließen. die Zusammenhänge, in
welche wir sie durch die Deutung einsetzen, sind unbewußte,
316 XVIII. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
nn. ne nn
m —
wenigstens so lange, bis wir sie dem Kranken durch die Arbeit
der Analyse zu bewußten gemacht haben.
Nun nehmen Sie hinzu, daß dieser bei unseren beiden
Fällen festgestellte Sachverhalt sich bei allen Symptomen aller
neurotischen Erkrankungen bestätigt, daß immer und überall
der Sinn der Symptome dem Kranken unbekannt ist, daß die
Analyse regelmäßig zeigt, diese Symptome seien Abkömmlinge
unbewußter Vorgänge, die sich aber unter mannigfaltigen gün-
stigen Bedingungen bewußt machen lassen, so werden Sie ver-
stehen, daß wir in der Psychoanalyse das unbewußte Seelische
nicht entbehren können und gewohnt sind, mit ihm wie mit
etwas sinnlich Greifbarem zu operieren. Sie werden aber viel-
leicht auch begreifen, wie wenig urteilsfähig in dieser Frage
alle anderen sind, die das Unbewußte nur als Begriff kennen,
die nie analysiert, nie Träume gedeutet oder neurotische Sym-
ptome in Sinn und Absicht umgesetzt haben. Um es für unsere
Zwecke nochmals auszusprechen: Die Möglichkeit, den neuro-
tischen Symptomen durch analytische Deutung einen Sinn zu
geben, ist ein unerschütterlicher Beweis für die Existenz — oder,
wenn Sie so lieber wollen, für die Notwendigkeit der Annahme
— unbewußter seelischer Vorgänge.
Das ist aber nicht alles. Dank einer zweiten Entdeckung
von Breuer, die mir sogar als die inhaltsreichere erscheint,
und in welcher er keine Genossen hat, erfahren wir von der
Beziehung zwischen dem Unbewußten und den neurotischen
Symptomen noch mehr. Nicht nur, daß der Sinn der Symptome
regelmäßig unbewußt ist; es besteht auch ein Verhältnis von
Vertretung zwischen dieser Unbewußtheit und der Existenz-
möglichkeit der Symptome. Sie werden mich bald. ver-
stehen. Ich will mit Breuer folgendes behaupten: Jedes-
mal, wenn wir auf ein Symptom stoßen, dürfen wir schließen.
DIE GRUNDLAGE DER PSYCHOANALYTISCHEN THERAPIE. 31 7
— nn
es bestehen bei dem Kranken bestimmte unbewußte Vor-
eänge, die eben den Sinn des Symptoms enthalten. Aber es
ist auch erforderlich, daß dieser Sinn unbewußt sei, da-
mit,das Symptom zu stande komme. Aus bewußten Vor-
gängen werden Symptome nicht gebildet; sowie die betreffenden
unbewußten bewußt geworden sind, muß das Symptom ver-
schwinden. Sie erkennen hier mit einem Male einen Zugang
zur Therapie, einen Weg, Symptome zum Verschwinden zu
bringen. Auf diesem Wege hat Breuer in der Tat seine hyste-
rische Patientin hergestellt, das heißt von ihren Symptomen
befreit; er fand eine Technik, ihr die unbewußten Vorgänge,
die den Sinn des Symptoms enthielten, zum Bewußtsein zu
bringen, und die Symptome verschwanden.
Diese Entdeckung von Breuer war nicht das Ergebnis
einer Spekulation, sondern einer glücklichen, durch das Ent-
gegenkommen des Kranken ermöglichten Beobachtung. Sie
sollen sich jetzt auch nicht damit quälen wollen, sie durch
Zurückführung auf etwas anderes, bereits Bekanntes zu ver-
stehen, sondern sollen eine neue fundamentale Tatsache in ihr
erkennen, mit deren Hilfe vieles andere erklärlich werden wird.
Gestatten Sie mir darum, daß ich Ihnen dasselbe in anderen
Ausdrucksweisen wiederhole.
Die Symptombildung ist ein Ersatz für etwas anderes,
was unterblieben ist. Gewisse seelische Vorgänge hätten sich
normalerweise so weit entwickeln sollen, daß das Bewußtsein
Kunde von ihnen erhielte. Das ist nicht geschehen, und dafür
ist aus den unterbrochenen, irgendwie gestörten Vorgängen, die
unbewußt bleiben mußten, das Symptom hervorgegangen. Es
ist also etwas wie eine Vertauschung vorgefallen; wenn es ge-
lingt, diese rückgängig zu machen, hat die Therapie der neu-
rotischen Symptome ihre Aufgabe gelöst.
318 XVIII. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
Der Breuersche Fund ist noch heute die Grundlage der
psychoanalytischen Therapie. Der Satz, daß die Symptormne
verschwinden, wenn man ihre unbewußten Vorbedingungen be-
wußt gemacht hat, ist durch alle weitere Forschung bestätigt
worden, obgleich man den merkwürdigsten und unerwartetsten
Komplikationen begegnet, wenn man den Versuch seiner prak-
tischen Durchführung unternimmt. Unsere Therapie wirkt da-
durch, daß sie Unbewußtes in Bewußtes verwandelt, und wirkt
nur, insoweit sie in die Lage kommt, diese Verwandlung durch-
zusetzen.
Nun rasch eine kleine Abschweifung, damit Sie nicht in
die Gefahr kommen, sich diese therapeutische Arbeit als zu
leicht vorzustellen. Nach unseren bisherigen Ausführungen
wäre ja die Neurose die Folge einer Art von Unwissen-
heit, des Nichtwissens um seelische Vorgänge, von denen
man wissen sollte. Das würde eine starke Annäherung an
bekannte sokratische Lehren sein, denen zufolge selbst die
Laster auf einer Unwissenheit beruhen. Nun wird es dem in
der Analyse erfahrenen Arzt in der Regel sehr leicht zu er-
raten, welche seelische Regungen bei dem einzelnen Kranken
unbewußt geblieben sind. Es dürfte ihm also auch nicht schwer
fallen, den Kranken herzustellen, indem er ihn durch Mittei-
lung seines Wissens von seiner eigenen Unwissenheit befreit.
Wenigstens der eine Anteil des unbewußten Sinnes der Sym-
ptome wäre auf diese Weise leicht erledigt, vom anderen, vom
Zusammenhang der Symptome mit den Erlebnissen der Kran-
ken kann der Arzt freilich nicht viel erraten, denn er kennt
diese Erlebnisse nicht, er muß warten, bis der Kranke sie er-
innert und ihm erzählt. Aber auch dafür ließe sich in man-
chen Fällen ein Ersatz finden. Man kann sich bei den An-
gehörigen des Kranken nach dessen Erlebnissen erkundigen,
ZWEIERLEI WISSEN. 319
und diese werden häufig in der Lage sein, die traumatisch
wirksamen unter ihnen zu erkennen, vielleicht sogar solche Er-
von denen der Kranke nichts weiß, weil
lebnisse mitzuteilen,
es Lebens gefallen sind. Durch
sie in sehr frühe Jahre sein
eine Vereinigung dieser beiden Verfahren hätte man also Aus-
sicht, der pathogenen Unwissenheit des Kranken in kurzer Zeit
und mit geringer Mühe abzuhelfen.
Ja, wenn das so ginge! Wir haben da Erfahrungen ge-
macht, auf welche wir anfangs nicht vorbereitet waren. Wissen
und Wissen ist nicht dasselbe; es gibt verschiedene Arten von
Wissen, die psychologisch gar nicht gleichwertig sind. Il y a
fagots et fagots, heißt es einmal bei Moliere. Das Wissen
des Arztes ist nicht dasselbe wie das des Kranken und kann
nicht dieselben Wirkungen äußern. Wenn der Arzt sein Wissen
durch Mitteilung auf den Kranken überträgt, so hat dies
keinen Erfolg. Nein, es wäre unrichtig, es so zu sagen. Es
hat nicht den Erfolg, die Symptome aufzuheben, sondern den
anderen, die Analyse in Gang zu bringen, wovon Äußerungen
des Widerspruches häufig die ersten Anzeichen sind. Der
Kranke weiß dann etwas, was er bisher nicht gewußt hat,
den Sinn seines Symptoms, und er weiß ihn doch- ebensowenig
wie vorhin. Wir erfahren so, es gibt mehr als eine Art von
Unwissenheit.. Es wird eine gewisse Vertiefung unserer psy-
chologischen Kenntnisse dazu gehören, um uns zu zeigen, worin
die Unterschiede bestehen. Aber unser Satz, daß die Symptome
mit dem Wissen um ihren Sinn vergehen, bleibt darum doch
richtig. Es kommt nur dazu, daß das Wissen auf einer inneren
Veränderung im Kranken beruhen muß, wie sie nur durch eine
psychische Arbeit mit bestimmtem Ziel hervorgerufen werden
kann. Hier stehen wir vor Problemen, die sich uns bald zu
einer Dynamik der Symptombildung zusammenfassen werden.
Freud, Vorlesungen. III. 21
320 XVIII. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
Meine Herren! Ich muß jetzt die Frage aufwerfen, ist
Ihnen das, was ich Ihnen sage, nicht zu dunkel und kompli-
ziert? Verwirre ich Sie nicht dadurch, daß ich so oft zurück-
nehme und einschränke, Gedankengänge anspinne und dann
fallen lasse? Es sollte mir leid tun, wenn es so wäre. Ich
habe aber eine starke Abneigung gegen Vereinfachungen auf
Kosten der Wahrheitstreue, habe nichts dagegen, wenn Sie
den vollen Eindruck von der Vielseitigkeit und Verwobenheit
des Gegenstandes empfangen, und denke mir auch, es ist kein
Schaden dabei, wenn ich Ihnen zu jedem Punkte mehr sage,
als Sie augenblicklich verwerten können. Ich weiß doch, daß
jeder Hörer und Leser das ihm Dargebotene in Gedanken zu-
richtet, verkürzt, vereinfacht und herauszieht, was er behalten
möchte. Bis zu einem gewissen Maß ist es wohl richtig, daß
um so mehr übrig bleibt, je reichlicher vorhanden war. Lassen
Sie mich hoffen, daß Sie das Wesentliche an meinen Mittei-
lungen, das über den Sinn der Symptome, über das Unbewußte
und die Beziehung zwischen beiden, trotz alles Beiwerkes klar
erfaßt haben. Sie haben wohl auch verstanden, daß unsere
weitere Bemühung nach zwei Richtungen gehen wird, erstens
.um zu erfahren, wie Menschen erkranken, zur Lebenseinstellung
‘der Neurose gelangen können, was ein klinisches Problem ist,
und zweitens, wie sich aus den Bedingungen der Neurose die
'krankhaften Symptome entwickeln, was ein Problem der see-
‚lischen Dynamik bleibt. Für die beiden Probleme muß es auch
‘irgendwo einen Treffpunkt geben.
Ich will auch heute nicht weiter gehen, aber da unsere
Zeit noch nicht um ist, gedenke ich, Ihre Aufmerksamkeit auf
einen anderen Charakter unserer beiden Analysen zu lenken,
dessen volle Würdigung wiederum erst später erfolgen kann,
‚auf die Erinnerungslücken oder Amnesien. Sie haben ge-
WÜRDIGUNG DER AMNESIEN. 321
hört, daß man die Aufgabe der psychoanalytischen DBe-
handlung in die Formel fassen kann, alles pathogene Un-
bewußte in Bewußtes umzusetzen. Nun werden Sie viel-
leicht erstaunt sein zu erfahren, daß man diese Formel
auch durch die andere ersetzen kann, alle Erinnerungslücken
der Kranken auszufüllen, seine Amnesien aufzuheben. Das
käme auf dasselbe hinaus. Den Amnesien des Neurotikers wird
also eine wichtige Beziehung zur Entstehung seiner Symptome
zugeschrieben. Wenn Sie aber den Fall unserer ersten Analyse
in Betracht ziehen, werden Sie diese Einschätzung der Amnesie
nicht berechtigt finden. Die Kranke hat die Szene, an welche
ihre Zwangshandlung anknüpft, nicht vergessen, im Gegenteil
in lebhafter Erinnerung bewahrt, und etwas anderes Verges-
senes ist bei der Entstehung dieses Symptoms auch nicht im
Spiele. Minder deutlich, aber doch im ganzen analog ist die
Sachlage bei unserer zweiten Patientin, dem Mädchen mit dem
Zwangszeremoniell. Auch sie hat das Benehmen ihrer früheren
Jahre, die Tatsachen, daß sie auf der Eröffnung der Türe zwi-
schen dem Schlafzimmer der Eltern und ihrem eigenen be-
stand, und daß sie die Mutter aus ihrer Stelle im Ehebett
vertrieb, eigentlich ‚nicht vergessen; sie erinnert sich daran
sehr deutlich, wenn auch zögernd und ungern. Als auffällig
können wir nur betrachten, daß die erste Patientin, wenn sie
ihre Zwangshandlung ungezählte Male ausführte, nicht einMal
an deren Ähnlichkeit mit dem Erlebnis nach der Hochzeits-
nacht gemahnt wurde, und daß sich diese Erinnerung auch nicht
einstellte, als sie durch direkte Fragen zur Nachforschung über
die Motivierung der Zwangshandlung aufgefordert wurde. Das-
selbe gilt für das Mädchen, bei dem das Zeremoniell und seine
Anlässe überdies. auf die .nämliche, allabendlich wiederholte
Situation bezogen wird. In beiden Fällen besteht keine eigent-
21%
322 XVIII. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
m
liche Amnesie, kein Erinnerungsausfall, aber es ıst ein Zu-
sammenhang unterbrochen, der die Reproduktion, das Wieder-
auftauchen in der Erinnerung, herbeiführen sollte. Eine der-
artige Störung des Gedächtnisses reicht für die Zwangsneurose
hin, bei der Hysterie ist es anders. Diese letztere Neurose
ist meist durch ganz großartige Amnesien ausgezeichnet. In
der Regel wird man bei der Analyse jedes einzelnen hyste-
rischen Symptoms auf eine ganze Kette von Lebenseindrücken
geleitet, die bei ihrer Wiederkehr ausdrücklich als bisher ver-
gessen bezeichnet werden. Diese Kette reicht einerseits bis in
die frühesten Lebensjahre zurück, so daß sich die hysterische
Amnesie als unmittelbare Fortsetzung der infantilen Amnesie
erkennen läßt, die uns Normalen die Anfänge unseres Seelen-
lebens verdeckt. Anderseits erfahren wir mit Erstaunen, daß
auch die jüngsten Erlebnisse der Kranken dem Vergessen ver-
fallen sein können, und daß insbesondere die Anlässe, bei denen
die Krankheit ausgebrochen oder verstärkt worden ist, von der
Amnesie angenagt, wenn nicht ganz verschlungen worden sind.
Regelmäßig sind aus dem Gesamtbild einer solchen rezenten
Erinnerung wichtige Einzelheiten geschwunden oder durch
Erinnerungsfälschungen ersetzt worden. Ja es ereignet sich
wiederum fast regelmäßig, daß erst kurz vor dem Abschluß
einer Analyse gewisse Erinnerungen an frisch Erlebtes auf-
tauchen, die so lange zurückgehalten werden konnten und fühl-
bare Lücken im Zusammenhange gelassen hatten.
‚Solche Beeinträchtigungen des Erinnerungsvermögens sind,
wie gesagt, für die Hysterie charakteristisch, bei welcher ja
auch als Symptome Zustände auftreten (die hysterischen An-
fälle), die in der Erinnerung keine Spur zu hinterlassen brau-
chen. Wenn es bei der Zwangsneurose anders ist, so mögen
Sie daraus schließen, daß es sich bei diesen Amnesien um
DAS WOHER UND DAS WOZU DES SYMPTOMS. 323
einen psychologischen Charakter der hysterischen Veränderung
und nicht um einen allgemeinen Zug der Neurosen überhaupt
handelt. Die Bedeutung dieser Differenz wird durch folgende
Betrachtung eingeschränkt werden. Wir haben als den „Sinn“
eines Symptoms zweierlei zusammengefaßt, sein Woher und
sein Wohin oder Wozu, das heißt die Eindrücke und Erleb-
nisse, von denen es ausgeht, und die Absichten, denen es dient.
Das Woher eines Symptoms löst sich also in Eindrücke auf,
die von außen gekommen sind, die notwendigerweise einmal
bewußt waren und seither durch Vergessen unbewußt geworden
sein mögen. Das Wozu des Symptoms, seine Tendenz, ist aber
jedesmal ein endopsychischer Vorgang, der möglicherweise zu-
erst bewußt geworden ist, aber ebensowohl niemals bewußt war
und von jeher im Unbewußten verblieben ist. Es ist also nicht
sehr wichtig, ob die Amnesie auch das Woher, die Erlebnisse,
auf die sich das Symptom stützt, ergriffen hat, wie es bei
der Hysterie geschieht; das Wohin, die Tendenz des Symptoms,
die von Anfang an unbewußt gewesen sein kann, ist es, die
die Abhängigkeit desselben vom Unbewußten begründet, und
zwar bei der Zwangsneurose nicht weniger fest als bei der
Hysterie.
Mit dieser Hervorhebung des Unbewußten im Seelenleben
haben wir aber die bösesten Geister der Kritik gegen die Psycho-
analyse aufgerufen. Wundern Sie sich darüber nicht und glau-
ben Sie auch nicht, daß der Widerstand gegen uns nur an
der begreiflichen Schwierigkeit des Unbewußten oder an der
relativen Unzugänglichkeit der Erfahrungen gelegen ist, die
es erweisen. Ich meine, er kommt von tiefer her. Zwei große
Kränkungen ihrer naiven Eigenliebe hat die Menschheit im
Laufe der Zeiten von der Wissenschaft erdulden müssen. Die
erste, als sie erfuhr, daß unsere Erde nicht der Mittelpunkt
394 XVIH. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
des Weltalls ist, sondern ein winziges Teilchen eines in seiner
Größe kaum vorstellbaren Weltsystems. Sie knüpft sich für
uns an den Namen Kopernikus, obwohl schon die alexan-
drinische Wissenschaft ähnliches verkündet hatte. Die zweite
dann, als die biologische Forschung das angebliche Schöpfungs-
vorrecht des Menschen zu nichte machte, ihn auf die Abstam-
mung aus dem Tierreich und die Unvertilgbarkeit seiner ani-
malischen Natur verwies. Diese Umwertung hat sich in un-
seren Tagen unter dem Einfluß von Ch. Darwin, Wallace
und ihren Vorgängern nicht ohne das heftigste Sträuben der
Zeitgenossen vollzogen. Die dritte und empfindlichste Krän-
kung aber soll die menschliche Größensucht durch die heutige
psychologische Forschung erfahren, welche dem Ich nachweisen
will, daß es nicht einmal Herr ist im eigenen Hause, sondern
auf kärgliche Nachrichten angewiesen bleibt von dem, was un-
bewußt in seinem Seelenleben vorgeht. Auch diese Mahnung
zur Einkehr haben wir Psychoanalytiker nicht zuerst und nicht
als die einzigen vorgetragen, aber es scheint uns beschieden,
sie am eindringlichsten zu vertreten und durch Erfahrungs-
material, das jedem einzelnen nahe geht, zu erhärten. Daher
die allgemeine Auflehnung gegen unsere Wissenschaft, die Ver-
säumnis aller Rücksichten akademischer Urbanität und die
Entfesselung der Opposition von allen Zügeln unparteiischer
Logik, und dazu kommt noch, daß wir den Frieden dieser Welt
noch auf andere Weise stören mußten, wie Sie bald hören
werden. | .
or
NEUNZEHNTE VORLESTNG.
ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE
WIDERSTAND UND VERDRÄNGUNG.
Meine Damen und Herren! Um im Verständnis der Neurosen
weiter zu kommen, bedürfen wir neuer Erfahrungen, und wir ma-
chen deren zwei. Beide sehr merkwürdig und seinerzeit sehr über-
raschend. Sie sind freilich auf beide durch unsere vorjährigen
Besprechungen vorbereitet.
Erstens: Wenn wir es unternehmen, einen Kranken her-
zustellen, von seinen Leidenssymptomen zu befreien, so setzt
er uns einen heftigen, zähen, über die ganze Dauer der Be-
handlung anhaltenden Widerstand entgegen. Das ist eine so son-
derbare Tatsache, daß wir nicht viel Glauben für sie erwarten
dürfen. Den Angehörigen des Kranken sagen wir am besten
nichts davon, denn diese meinen nie etwas anderes, als es sei
eine Ausrede von uns, um die lange Dauer oder den Mißerfolg
unserer Behandlung zu entschuldigen. Auch der Kranke pro-
duziert alle Phänomene dieses Widerstandes, ohne ihn als
solchen zu erkennen, und es ist bereits ein großer Erfolg, wenn
wir ihn dazu gebracht haben, sich in diese Auffassung zu
finden und mit ihr zu rechnen. Denken Sie doch, der Kranke,
der unter seinen Symptomen so leidet und seine Nächsten dabei
mitleiden läßt, der so viele Opfer an Zeit, Geld, Mühe und
Selbstüberwindung auf sich nehmen will, um von ihnen be-
freit zu werden, der sollte sich im Interesse seines Krankseins
gegen seinen Helfer sträuben. Wie unwahrscheinlich muß diese
Behauptung klingen! Und doch ist es so, und wenn man uns
326 XIX. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
m
diese Unwahrscheinlichkeit vorhält, so brauchen wir nur zu
antworten, es sei nicht ohne seine Analogien, und jeder, der
wegen unerträglicher Zahnschmerzen den Zahnarzt aufgesucht
hat, sei diesem wohl in den Arm gefallen, wenn er sich dem kran-
ken Zahn mit der Zange nähern wollte.
Der Widerstand der Kranken ist sehr mannigfaltig, höchst
raffiniert, oft schwer zu erkennen, wechselt proteusartig die
Form seiner Erscheinung. Es heißt für den Arzt mißtrauisch
sein und auf seiner Hut gegen ihn bleiben. Wir wenden ja
in der psychoanalytischen Therapie die Technik an, die Ihnen
von der Traumdeutung her bekannt ist. Wir legen es dem
Kranken auf, sich in einen Zustand von ruhiger Selbst-
beobachtung ohne Nachdenken zu versetzen und alles mitzu-
teilen, was er dabei an inneren Wahrnehmungen machen kann:
Gefühle, Gedanken, Erinnerungen, in der Reihenfolge, in der
sie in ihm auftauchen. Wir warnen ihn dabei ausdrücklich,
irgend einem Motiv nachzugeben, welches eine Auswahl oder
Ausschließung unter den Einfällen erzielen möchte, möge es
lauten, das ist zu unangenehm oder zu indiskret, um
es zu sagen, oder das ist zu unwichtig, es gehört nicht
hieher, oder das ist unsinnig, braucht nicht gesagt zu wer-
den. Wir schärfen ihm ein, immer nur der Oberfläche seines
Bewußtseins zu folgen, jede wie immer geartete Kritik gegen
das, was er findet, zu unterlassen, und vertrauen ihm an, daß
der Erfolg der Behandlung, vor allem aber die Dauer derselben
von der Gewissenhaftigkeit abhängt, mit der er diese technische
Grundregel der Analyss befolgt. Wir wissen ja von der Tech-
nik der Traumdeutung, daß gerade solche Einfälle, gegen
welche sich die aufgezählten Bedenken und Einwendungen er-
heben, regelmäßig das Material enthalten, welches zur Auf-
deckung des Unbewußten hinführt.
DIE TECHNISCHE GRUNDREGEL. 397
_
._—00
Durch die Aufstellung dieser technischen Grundregel er-
reichen wir zunächst, daß sie zum Angriffspunkt des Wider-
standes wird. Der Kranke sucht sich ihren Bestimmungen auf
jede Art zu entwinden. Bald behauptet er, es fiele ihm
nichts ein, bald, es dränge sich ihm so vieles auf, daß er nichts
zu erfassen vermöge. Dann merken wir mit mißvergnügtem
Erstaunen, daß er bald dieser, bald jener kritischen Ein-
wendung nachgegeben hat; er verrät sich uns nämlich durch
die langen Pausen, die er in seinen Reden eintreten läßt.
Er gesteht dann zu, das könne er wirklich nicht sagen,
er schäme sich, und läßt dieses Motiv gegen sein Ver-
sprechen gelten. Oder es sei ihm etwas eingefallen, aber es
betreffe eine andere Person als ihn selbst und sei darum von
der Mitteilung ausgenommen. Oder, was ihm jetzt eingefallen,
seı wirklich zu unwichtig, zu dumm und zu unsinnig; ich
könne doch nicht gemeint haben, daß er auf solche Gedanken
eingehen solle, und so geht es in unübersehbaren Variationen
weiter, wogegen man zu erklären hat, daß alles sagen wirklich
alles sagen bedeutet.
Man trifft kaum auf einen Kranken, der nicht den Ver-
such machte, irgendein Gebiet für sich zu reservieren, um der
Kur den Zutritt zu demselben zu verwehren. Einer, den ich
zu den Höchstintelligenten zählen mußte, verschwieg so
wochenlang eine intime Liebesbeziehung und verteidigte sich,
wegen der Verletzung der heiligen Regel zur Rede gestellt,
mit dem Argument, er habe geglaubt, diese eine Geschichte sei
seine Privatsache. Natürlich verträgt die analytische Kur ein
solches Asylrecht nicht. Man versuche es etwa in einer Stadt
wie Wien für einen Platz wie der Hohe Markt oder für die
Stephanskirche die Ausnahme zuzulassen, daß dort keine Ver-
haftungen stattfinden dürfen, und mühe sich dann ab, einen
323 XIX. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
bestimmten Missetäter einzufangen. Er wird an keiner anderen
Stelle als an dem Asyl zu finden sein. Ich entschloß mich
einmal, einem Mann, an dessen Leistungsfähigkeit objektiv viel
gelegen war, ein solches Ausnahmsrecht zuzugestehen, denn er
stand unter einem Diensteid, der ihm verbot, von bestimmten
Dingen einem anderen Mitteilung zu machen. Er war aller-
dings mit dem Erfolg zufrieden, aber ich nicht; ich setzte
mir vor, einen Versuch unter solchen Bedingungen nicht zu
wiederholen.
Zwangsneurotiker verstehen es ausgezeichnet, die tech-
Regel fast unbrauchbar zu machen, dadurch, daß sie ihre
Übergewissenhaftigkeit und ihren Zweifel auf sie einstellen.
Angsthysteriker bringen es gelegentlich zu stande, sie ad ab-
surdum zu führen, indem sie nur Einfälle produzieren, die so
weit von dem Gesuchten entfernt sind, daß sie der Analyse
keinen Ertrag bringen. Aber ich beabsichtige nicht, Sie in die
Behandlung dieser technischen Schwierigkeiten einzuführen.
Genug, es gelingt endlich, durch Entschiedenheit und Beharrung
dem Widerstand ein gewisses Ausmaß von Gehorsam gegen
die technische Grundregel abzuringen, und dann wirft er sich
auf ein anderes Gebiet. Er tritt als intellektueller Widerstand
auf, kämpft mit Argumenten, bemächtigt sich der Schwierig-
keiten und Unwahrscheinlichkeiten, welche das normale, aber
nicht unterrichtete Denken an den analytischen Lehren findet.
Wir bekommen dann alle Kritiken und Einwendungen von
dieser einzelnen Stimme zu hören, die uns in der wissenschaft-
lichen Literatur als Chorus umbrausen. Daher uns auch nichts
unbekannt klingt, was man uns von draußen zuruft. Es ist ein
richtiger Sturm im Wasserglas. Doch der Patient läßt mit
sich reden; er will uns gern dazu bewegen, daß wir ihn unter-
richten, belehren, widerlegen, ihn zur, Literatur führen, an
- FORMEN DES WIDERSTANDES. 329
welcher er sich weiterbilden kann. Er ist gern bereit, ein An-
hänger der Psychoanalyse zu werden, unter der Bedingung,
daß die Analyse ihn persönlich verschont. Aber wir erkennen
diese Wißbegierde als Widerstand, als Ablenkung von unseren
speziellen Aufgaben, und weisen sie ab. Bei dem Zwangsneuro-
tiker haben wir eine besondere Taktik des Widerstandes zu
erwarten. Er läßt die Analyse oft ungehemmt ihren Weg
machen, so daß sie eine immer zunehmende Helligkeit über
die Rätsel des Krankheitsfalles verbreiten kann, aber wir wun-
dern uns endlich, daß dieser Aufklärung kein praktischer Fort-
schritt, keine Abschwächung der Symptome entspricht. Dann
können wir entdecken, daß der Widerstand sich auf den Zweifel
der Zwangsneurose zurückgezogen hat und uns in dieser
Position erfolgreich die Spitze. bietet. Der Kranke hat
sich ungefähr gesagt: Das ist ja alles recht schön und inter-
essant. Ich will es auch gern weiter verfolgen. Es würde
meine Krankheit sehr ändern, wenn es wahr wäre. Aber ich
glaube ja gar nicht, daß es wahr ist, und solange ich es
nicht glaube, geht es meine Krankheit nichts an. So kann es
lange fortgehen, bis man endlich an diese reservierte Stellung
selbst herangekommen ist, und nun der entscheidende Kampf
losbricht.
Die intellektuellen Widerstände sind nicht die schlimmsten ;
man bleibt ihnen immer überlegen. Aber der Patient versteht
es auch, indem er im Rahmen der Analyse bleibt, Widerstände
herzustellen, deren Überwindung zu den schwierigsten tech-
nischen Aufgaben gehört. Anstatt sich zu erinnern, wieder-
holt er aus seinem Leben solche Einstellungen und Gefühls-
regungen, die sich mittels der sogenannten „Übertragung“ zum
Widerstand gegen Arzt und Kur verwenden lassen. Er ent
nimmt dieses Material, wenn es ein Mann ist, in der Regel
330 XIX. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
nn
seinem Verhältnis zum Vater, an dessen Stelle er den Arzt
treten läßt, und macht somit Widerstände aus seinem Bestreben
nach Selbständigkeit der Person und des Urteiles, aus seinem
Ehrgeiz, der sein erstes Ziel darin fand, es dem Vater gleich-
zutun oder ihn zu überwinden, aus seinem Unwillen, die Last
der Dankbarkeit ein zweites Mal im Leben auf sich zu laden.
Streckenweise empfängt man so den Eindruck, als hätte beim
Kranken die Absicht, den Arzt ins Unrecht zu setzen, ihn
seine Ohnmacht empfinden zu lassen, über ihn zu triumphieren,
die bessere Absicht, der Krankheit ein Ende zu machen, völlig
ersetzt. Die Frauen verstehen es meisterhaft, eine zärtliche,
erotisch betonte Übertragung auf den Arzt für die Zwecke
des Widerstandes auszubeuten. Bei einer gewissen Höhe dieser
Zuneigung erlischt jedes Interesse für die aktuelle Situation
der Kur, jede der Verpflichtungen, die sie beim Eingehen in
dieselbe auf sich genommen hatten, und die nie ausbleibende
Eifersucht sowie die Erbitterung über die unvermeidliche, wenn
auch schonend vorgebrachte Abweisung müssen dazu dienen,
das persönliche Einvernehmen mit dem Arzt zu verderben und
so eine der mächtigsten Triebkräfte der Analyse auszuschalten.
Die Widerstände dieser Art dürfen nicht einseitig verur-
teilt werden. Sie enthalten so viel von dem wichtigsten Ma-
terial aus der Vergangenheit des Kranken und bringen es ın
so überzeugender Art wieder, daß sie zu den besten Stützen
der Analyse werden, wenn eine geschickte Technik es versteht,
ihnen die richtige Wendung zu geben. Es bleibt nur bemer-
kenswert, daß dieses Material zunächst immer im Dienste des
‘Widerstandes steht und seine der Behandlung feindselige
Fassade voranstellt. Man kann auch sagen, es seien Charakter-
eigenschaften, Einstellungen des Ichs, welche zur Bekämpfung
der angestrebten Veränderungen mobil gemacht werden. Man
v
MITTEL DES WIDERSTANDES. 331
erfährt dabei, wie diese Charaktereigenschaften im Zusammen-
hang mit den Bedingungen der Neurose und in der Reaktion
gegen deren Ansprüche gebildet worden sind, und erkennt Züge
dieses Charakters, die sonst nicht, oder nicht in diesem. Aus-
maße, hervortreten können, die man als latent bezeichnen kann.
Sie sollen auch nicht den Eindruck gewinnen, ‚als erblickten
wir in dem Auftreten dieser Widerstände eine unvorher-
gesehene Gefährdung der analytischen Beeinflussung. Nein,
wir wissen, daß diese Widerstände zum Vorschein kommen
müssen; wir sind nur unzufrieden, wenn wir sie nicht deutlich
genug hervorrufen und dem Kranken nicht klarmachen können.
Ja, wir ‚verstehen endlich, daß die Überwindung dieser Wider-
stände die wesentliche Leistung der Analyse und jenes Stück
der Arbeit ist, welches uns allein zusichert, daß wir etwas
beim Kranken zu stande gebracht haben.
Nehmen Sie noch hinzu, daß der Kranke alle Zufällig-
keiten, die sich während der Behandlung ergeben, im Sinne
einer Störung ausnützt, jedes ablenkende Ereignis außerhalb,
jede Äußerung einer der Analyse feindseligen Autorität in
seinem Kreise, eine zufällige oder die Neurose komplizierende
organische Erkrankung, ja daß er selbst jede Besserung seines
' Zustandes als Motiv für ein Nachlassen seiner Bemühung ver-
wendet, so haben Sie ein ungefähres, noch immer nicht voll-
ständiges Bild der Formen und der Mittel des Widerstandes
gewonnen, unter dessen Bekämpfung jede Analyse verläuft.
Ich habe diesem Punkt eine so ausführliche Behandlung ge-
schenkt, weil ich Ihnen mitzuteilen habe, daß diese unsere Er-
fahrung mit dem Widerstande der Neurotiker gegen -die .Be-
seitigung ihrer Symptome die Grundlage unserer dynamischen
Auffassung der Neurosen geworden ist. Breuer und ich
selbst haben ursprünglich die Psychotherapie mit dem Mittel
332 XIX. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
- -—
der Hypnose betrieben; Breuers erste Patientin ist durch-
wegs im Zustande hypnotischer Beeinflussung behandelt wor-
den; ich bin ihm zunächst darin gefolgt. Ich gestehe, die
Arbeit ging damals leichter und angenehmer, auch in viel
kürzerer Zeit, vor sich. Die Erfolge aber waren launenhaft und
nicht andauernd; darum ließ ich endlich die Hypnose fallen.
Und dann verstand ich, daß eine Einsicht in die Dynamik dieser
Affektionen nicht möglich gewesen war, solange man sich der
Hypnose bedient hatte. Dieser Zustand wußte gerade die Exı-
stenz des Widerstandes der Wahrnehmung des Arztes zu ent-
ziehen. Er schob ihn zurück, machte ein gewisses Gebiet für
die analytische Arbeit frei und staute ihn an den Grenzen
dieses Gebietes so auf, daß er undurchdringlich wurde, ähn-
lich wie es der Zweifel bei der Zwangsneurose tut. Darum
durfte ich auch sagen, die eigentliche Psychoanalyse hat mit
dem Verzicht auf die Hilfe der Hypnose eingesetzt.
Wenn aber die Konstatierung des Widerstandes so be-
deutsam geworden ist, so dürfen wir wohl einem vorsichtigen
Zweifel Raum geben, ob wir nicht allzu leichtfertig in der
Annahme von Widerständen sind. Vielleicht gibt es wirklich
neurotische Fälle, in denen die Assoziationen sich aus anderen
Gründen versagen, vielleicht verdienen die Argumente gegen
unsere Voraussetzungen wirklich eine inhaltliche Würdigung
und wir tun Unrecht daran, die intellektuelle Kritik der Analy-
sierten so bequem als Widerstand beiseite zu schieben. Ja, meine
Herren, wir sind aber nicht leichthin zu diesem Urteil ge-
kommen. Wir haben Gelegenheit gehabt, jeden solchen kri-
tischen Patienten bei dem Auftauchen und nach dem Schwin-
den eines Widerstandes zu beobachten. Der Widerstand wech-
selt nämlich im Laufe einer Behandlung beständig seine Inten-
sıtät; er steigt immer an, wenn man sich einem neuen Thema
7%
DIE AFFEKTIVE INTELLIGENZSCHWÄCHUNG. 335
nähert, ist am stärksten auf der Höhe der Bearbeitung des-
selben und sinkt mit der Erledigung des Themas wieder zu-
sammen. Wir haben es auch niemals, wenn wir nicht be-
sondere technische Ungeschicklichkeiten begangen haben, mit
dem vollen Ausmaß des Widerstandes, den ein Patient leisten
kann, zu tun. Wir konnten uns also überzeugen, daß derselbe
Mann ungezählte Male im Laufe der Analyse seine kritische
Einstellung wegwirft und wieder aufnimmt. Stehen wir da-
vor, ein neues und ihm besonders peinliches Stück des unbe-
wußten Materials zum Bewußtsein zu fördern, so ist er auis
äußerste kritisch; hatte er früher vieles verstanden und ange-
nommen, so sind diese Erwerbungen jetzt wie weggewischt;
er kann in seinem Bestreben nach Opposition um jeden Preis
völlig das Bild eines affektiv Schwachsinnigen ergeben. Ist
es gelungen, ihm zur Überwindung dieses neuen Widerstandes
zu verhelfen, so bekommt er seine Einsicht und sein Verständnis.
wieder. Seine Kritik ist also keine selbständige, als solche
zu respektierende Funktion, sie ist der Handlanger seiner affek-
tıven Einstellungen und wird von seinem Widerstand dirigiert.
Ist ihm etwas nicht recht, so kann er sich sehr scharfsinnig
dagegen wehren und sehr kritisch erscheinen; paßt ihm aber
etwas in seinen Kram, so kann er sich dagegen sehr leicht-
gläubig zeigen. Vielleicht sind wir alle nicht viel anders;
der Analysierte zeigt diese Abhängigkeit des Intellekts vom
Affektleben nur darum so deutlich, weil wir ihn in der Analyse
in so große Bedrängnis bringen.
Auf welche Weise tragen wir nun der Beobachtung Rech-
nung, daß sich der Kranke so energisch gegen die Abstellung
seiner Symptome und die Herstellung eines normalen Ablaufes
in seinen seelischen Vorgängen wehrt? Wir sagen uns, wir
haben da starke Kräfte zu spüren bekommen, die sich einer
Veränderung des Zustandes widersetzen; es müssen dieselben
sein, die seinerzeit diesen Zustand erzwungen haben. Es muß
bei der Symptombildung etwas vor sich gegangen sein, was
wir nun aus unseren Erfahrungen bei der Symptomlösung
rekonstruieren können. Wir wissen schon aus der Breuer-
schen Beobachtung, die Existenz des Symptoms hat zur Vor-
aussetzung, daß irgend ein seelischer Vorgang nicht in nor-
maler Weise zu Ende geführt wurde, so daß er bewußt werden
konnte. Das Symptom ist ein Ersatz für das, was da unter-
blieben ist. Nun wissen wir, an welche Stelle wir die ver-
mutete Kraftwirkung zu versetzen haben. Es muß sich ein
heftiges Sträuben dagegen erhoben haben, daß der fragliche
seelische Vorgang bis zum Bewußtsein vordringe; er blieb
darum unbewußt. Als Unbewußtes hatte er die Macht, ein
Symptom zu bilden. Dasselbe Sträuben widersetzt sich wäh-
rend der analytischen Kur dem Bemühen, das Unbewußte
ins Bewußte überzuführen, von neuem. Dies verspüren wir
als Widerstand. Der pathogene Vorgang, der uns durch den
Widerstand erwiesen wird, soll den Namen Verdrängung
erhalten.
Über diesen Prozeß der Verdrängung müssen wir uns
nun bestimmtere Vorstellungen machen. Er ist die Vorbedin-
gung der Symptombildung, aber er ist auch etwas, wozu wir
nichts Ähnliches kennen. Nehmen wir einen Impuls, einen see-
lischen Vorgang mit dem Bestreben, sich in eine Handlung
umzusetzen, als Vorbild, so wissen wir, daß er einer Abwei-
sung unterliegen kann, die wir Verwerfung oder Verurteilung
heißen. Dabei wird ihm die Energie, über die er verfügt, ent-
zogen, er wird machtlos, aber er kann als Erinnerung be-
‚stehen bleiben. Der ganze Vorgang der Entscheidung über ihn
läuft unter dem Wissen des Ichs ab. Ganz anders, wenn wir
DER PROZESS DER VERDRÄNGUNG. 335
uns denken, daß derselbe Impuls der Verdrängung unterworfen
würde. Dann: behielte er seine Energie und es würde keine
Erinnerung an ihn übrig bleiben; auch würde sich der Vor-
gang der Verdrängung vom Ich unbemerkt vollziehen. Durch
diese Vergleichung kommen wir dem ‚Wesen der Verdrängung
also nicht näher.
Ich will Ihnen auseinandersetzen, welche theoretischen
Vorstellungen sich allein brauchbar erwiesen haben, um den
Begriff der Verdrängung an eine bestimmtere Gestalt zu
binden. Es ist vor allem dazu notwendig, daß wir von dem
rein deskriptiven Sinn des Wortes „unbewußt“ zum systema-
tischen Sinn desselben Wortes fortschreiten, das heißt wir
entschließen uns zu sagen, die Bewußtheit oder Unbewußtheit
eines psychischen Vorganges ist nur eine der Eigenschaften des-
selben und nicht notwendig eine unzweideutige. Wenn ein
solcher Vorgang unbewußt geblieben ist, so ist diese Abhaltung
vom Bewußtsein vielleicht nur ein Anzeichen des Schicksals, das
er erfahren hat, und nicht dieses Schicksal selbst. Um uns ‘dieses
Schicksal zu versinnlichen, nehmen wir an, daß jeder seelische
Vorgang — es muß da eine später zu erwähnende Ausnahme
zugegeben werden — zuerst in einem unbewußten Stadium oder
Phase existiert und erst aus diesem in die bewußte Phase über-
geht, etwa wie ein photographisches Bild zuerst ein Negativ.
ıst und dann durch den Positivprozeß zum Bild wird. Nun
muß aber nicht aus jedem Negativ ein Positiv werden, und
ebensowenig ist es notwendig, daß jeder unbewußte Seelen-
vorgang sich in einen bewußten umwandle Wir drücken
uns mit Vorteil so aus, der einzelne Vorgang gehöre zu-
erst dem psychischen System des Unbewußten an und könne
dann unter Umständen in das System des Bewußten über-
treten.
t9
9
Freud, Vorlesungen. III.
336 XIX. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
Die roheste Vorstellung von diesen Systemen ist die für
uns bequemste; es ist die räumliche: Wir setzen also das
System des Unbewußten einem großen Vorraum gleich, in dem
sich die seelischen Regungen wie Einzelwesen tummeln. An
diesen Vorraum schließe sich ein zweiter, engerer, eine Art
Salon, in welchem auch das Bewußtsein verweilt. Aber an
der Schwelle zwischen beiden Räumlichkeiten walte ein Wächter
seines Amtes, der die einzelnen Seelenregungen mustert, zen-
suriert und sie nicht in den Salon einläßt, wenn sie sein Mib-
fallen erregen. Sie sehen sofort ein, daß es nicht viel Unter-
schied macht, ob der Wächter eine einzelne Regung bereits
von der Schwelle abweist, oder ob er sie wieder über sie
hinausweist, nachdem sie in den Salon eingetreten ist. Es han-
delt sich dabei nur um den Grad seiner Wachsamkeit und um
sein frühzeitiges Erkennen. Das Festhalten an diesem Bilde
gestattet uns nun eine weitere Ausbildung unserer Nomenklatur.
Die Regungen im Vorraum des Unbewußten sind dem Blick
des Bewußtseins, das sich ja im anderen Raum befindet, ent-
zogen; sie müssen zunächst unbewußt bleiben. Wenn sie sich
bereits zur Schwelle vorgedrängt haben und vom Wächter
zurückgewiesen worden sind, dann sind sie bewußtseinunfähig;
wir heißen sie verdrängt. Aber auch die Regungen, welche
der Wächter über die Schwelle gelassen, sind darum nicht
notwendig auch bewußt geworden; sie können es bloß werden,
wenn es ihnen gelingt, die Blicke des Bewußtseins auf sich
zu ziehen. Wir heißen darum diesen zweiten Raum mit gutem
Recht das System des Vorbewußten. Das Bewußtwerden
behält dann seinen rein deskriptiven Sinn. Das Schicksal der
Verdrängung besteht aber für eine einzelne Regung darin, daß
sie vom Wächter nicht aus dem System des Unbewußten in
das des Vorbewußten eingelassen wird. Es ist derselbe Wächter,
UNBEWUSST, VORBEWUSST, BEWUSST. 337
den wir als ‚Widerstand kennen lernen, wenn wir durch die
analytische Behandlung die Verdrängung aufzuheben versuchen.
Nun weiß ich ja, Sie werden sagen, diese Vorstellungen
sind ebenso roh wie phantastisch und in einer wissenschaft-
lichen Darstellung gar nicht zulässig. Ich weiß, daß sie roh
sind; ja noch mehr, wir wissen auch, daß sie unrichtig sind,
und wenn wir nicht sehr irren, so haben wir bereits einen
besseren Ersatz für sie bereit. Ob sie Ihnen dann auch noch so
phantastisch erscheinen werden, weiß ich nicht. Vorläufig sind es
Hilfsvorstellungen wie die vom Ampereschen Männchen, das
im elektrischen Stromkreis schwimmt, und nicht zu verachten,
insofern sie für das Verständnis der Beobachtungen brauchbar
sind. Ich möchte Ihnen versichern, daß diese rohen Annahmen
von den zwei Räumlichkeiten, dem Wächter an der Schwelle
zwischen beiden und dem Bewußtsein als Zuschauer am Ende
des zweiten Saales doch sehr weitgehende Annäherungen an
den wirklichen Sachverhalt bedeuten müssen. Ich möchte auch
von Ihnen das Zugeständnis hören, daß unsere Bezeichnungen:
unbewußt, vorbewußt, bewußt weit weniger präju-
dizieren und leichter zu rechtfertigen sind als andere, diein
Vorschlag oder in Gebrauch gekommen sind, wie: unter-
bewußt, nebenbewußt, binnenbewußt u. dgl.
Bedeutsamer wird es mir darum sein, wenn Sie mich daran
mahnen, daß eine solche Einrichtung des seelischen Apparates,
wie ich sie hier zu Gunsten der Erklärung neurotischer Sym-
ptome angenommen habe, nur eine allgemein gültige sein und
also auch über die normale Funktion Auskunft geben müßte.
Darin haben Sie natürlich recht. Wir können dieser Folgerung
jetzt nicht nachgehen, aber unser Interesse für die Psychologie
der Symptombildung muß eine außerordentliche Steigerung
erfahren, wenn die Aussicht besteht, durch das Studium patho-
22*
logischer Verhältnisse Aufschluß über das so gut verhüllte
normale seelische Geschehen zu bekommen.
Erkennen Sie übrigens nicht, worauf sich unsere Aul-
stellungen von den beiden Systemen, dem Verhältnis zwischen
ihnen und zum Bewußtsein stützen? Der Wächter zwischen
dem Unbewußten und dem Vorbewußten ist doch nichts an-
deres als die Zensur, der wir die Gestaltung des manifesten
Traumes unterworfen fanden. Die Tagesreste, in denen wir
die Anreger des Traumes erkannten, waren vorbewußtes Ma-
terial, welches zur Nachtzeit im Schlafzustande den Einfluß
unbewußter und verdrängter Wunschregungen erfahren hatte
' und in Gemeinschaft mit ihnen, dank ihrer Energie, den latenten
Traum hatte bilden können. Unter der Herrschaft des unbe-
wußten Systems hatte dieses Material eine Verarbeitung ge-
funden — die Verdichtung und Verschiebung —, wie sie im
normalen Seelenleben, das heißt im vorbewußten System, un-
bekannt oder nur ausnahmsweise zulässig ist. Diese Verschie-
denheit der Arbeitsweisen wurde uns zur Charakteristik der
beiden Systeme; das Verhältnis zum Bewußtsein, welches dem
Vorbewußten anhängt, galt uns nur als Zeichen der Zuge-
hörigkeit zu einem der beiden Systeme. Der Traum ist eben
kein pathologisches Phänomen mehr; er kann bei allen Ge-
sunden unter den Bedingungen des Schlafzustandes auftreten.
Jene Annahme über die Struktur des seelischen Apparates,
welche uns in einem die Bildung des Traumes und die der
neurotischen Symptome verstehen läßt, hat einen unabweisbaren _
Anspruch darauf, auch für das normale Seelenleben in Betracht
gezogen zu werden.
Soviel wollen wir jetzt von der Verdrängung sagen. Nie
ist aber nur die Vorbedingung für die Symptombildung. Wir
wissen, das Symptom ist ein Ersatz für etwas, was durch die
DIE ZENSUR ZWISCHEN UBW. UND VBW. 339
Verdrängung verhindert wurde. Aber von der Verdrängung
bis zum Verständnis dieser Ersatzbildung ist noch ein weiter
Weg. Auf der anderen Seite des Problems erheben sich ım
Anschluß an die Konstatierung der Verdrängung die Fragen:
Welche Art von seelischen Regungen unterliegt der Verdrän-
gung, von welchen Kräften wird sie durchgesetzt, aus welchen
Motiven? Dazu ist uns bisher nur eines gegeben. Wir haben
bei der Untersuchung des Widerstandes gehört, daß er von
Kräften des Ichs ausgeht, von bekannten und latenten Oharakter-
eigenschaften. Diese sind es also auch, die die Verdrängung
besorgt haben, oder sie sind wenigstens an ihr beteiligt ge-
wesen. Alles Weitere ist uns noch unbekannt.
Da hilft uns nun die zweite Erfahrung, die ich angekün-
digt hatte, weiter. Wir können aus der’ Analyse ganz allgemein
angeben, was die Absicht der neurotischen Symptome ist. Auch
das wird Ihnen nichts Neues sein. Ich habe es Ihnen an zwei
Fällen von Neurose schon gezeigt. Aber freilich, was bedeuten
zwei Fälle? Sie haben das Recht zu verlangen, daß es Ihnen
zweihundertmal, ungezählte Male gezeigt werde. Nur das eine,
daß ich dies nicht kann. Da muß wieder die eigene Erfahrung
dafür eintreten oder der Glaube, der sich in diesem Punkt auf
die übereinstimmende Angabe aller Psychoanalytiker berufen
kann. |
Sie erinnern sich daran, daß in den zwei Fällen, deren
Symptome wir einer eingehenden Untersuchung unterzogen, die
Analyse uns in das Intimste des Sexuallebens dieser Kranken
einweihte. Im ersten Falle haben wir außerdem die Absicht
oder Tendenz des untersuchten Symptoms besonders deutlich
erkannt; vielleicht war sie im zweiten Falle durch ein später
zu erwähnendes Moment etwas verdeckt. Nun, dasselbe, was
wir an diesen beiden Beispielen gesehen haben, würden uns
340 XIX. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
alle anderen Fälle zeigen, welche wir der Analyse unterziehen.
Jedesmal würden wir durch die Analyse in die sexuellen Er-
lebnisse und Wünsche des Kranken eingeführt werden, und
jedesmal müßten wir feststellen, daß ihre Symptome der glei-
chen Absicht dienen. Als diese Absicht gibt sich uns die
Befriedigung sexueller Wünsche zu erkennen; die Symptome
dienen der Sexualbefriedigung der Kranken, sie sind ein Ersatz
für solche Befriedigung, die sie im Leben entbehren.
Denken Sie an die Zwangshandlung unserer ersten Pa-
tientin. Die Frau entbehrt ihren intensiv geliebten Mann, mit
dem sie wegen seiner Mängel und Schwächen das Leben nicht
teilen kann. Sie muß ihm treu bleiben, sie kann keinen an-
deren an seine Stelle setzen. Ihr Zwangssymptom gibt ihr,
wonach sie sich sehnt, erhöht ihren Mann, verleugnet, korri-
giert seine Schwächen, vor allem seine Impotenz. Dieses Sym-
ptom ist im Grunde eine Wunscherfüllung, ganz wie ein
Traum, und zwar, was der Traum nicht jedesmal ist, eine
erotische Wunscherfüllung. "Bei unserer zweiten Patientin
konnten Sie wenigstens entnehmen, daß ihr Zeremoniell den
Verkehr der Eltern verhindern oder hintanhalten will, daß
aus demselben ein neues Kind hervorgehe. Sie haben wohl
auch erraten, daß es im Grunde dahin strebt, sie selbst an
die Stelle der Mutter zu setzen. Also wiederum Beseitigung
von Störungen in der Sexualbefriedigung und Erfüllung eigener
sexueller Wünsche. Von der angedeuteten Komplikation wird
bald die Rede sein.
Meine Herren! Ich möchte dem vorbeugen, daß ich an
der Allgemeinheit dieser Behauptungen nachträglich Abzüge
anzubringen habe, und mache Sie darum aufmerksam, dab
alles, was ich hier über Verdrängung, Symptombildung und
Symptombedeutung sage, an drei Formen von Neurosen, der
DIE VERDRÄNGUNG BETRIFFT SEXUALREGUNGEN. 341
Angsthysterie, der Konversionshysterie und der Zwangsneurose
gewonnen worden ist und zunächst auch nur für diese Formen
gilt. Diese drei Affektionen, die wir als „Übertragungs-
neurosen“ in einer Gruppe zu vereinigen gewohnt sind, um-
schreiben auch das Gebiet, auf welchem sich die psychoana-
lytische Therapie betätigen kann. Die anderen Neurosen sind
von der Psychoanalyse weit weniger gut studiert worden; bei
einer Gruppe derselben ist wohl die Unmöglichkeit einer thera-
peutischen Beeinflussung ein Grund für die Zurücksetzung ge-
wesen. Vergessen Sie auch nicht, daß die Psychoanalyse eine
noch sehr junge Wissenschaft ist, daß sie viel Mühe und Zeit
zur Vorbereitung erfordert, und daß sie vor gar nicht langer
Zeit noch auf zwei Augen gestanden ist. Doch sind wir
an allen Stellen im Begriffe, in das Verständnis dieser an-
deren Affektionen, die nicht Übertragungsneurosen sind, einzu-
dringen. Ich hoffe, Ihnen noch vorführen zu können, welche
Erweiterungen unsere Annahmen und Ergebnisse bei der An-
passung an dieses neue Material erfahren, und Ihnen zu zeigen,
daß diese weiteren Studien nicht zu Widersprüchen, sondern
zur Herstellung von höheren Einheitlichkeiten geführt haben.
Wenn also jetzt alles, was hier gesagt wird, für die drei
Übertragungsneurosen gilt, so lassen Sie mich zunächst den
Wert der Symptome durch eine neue Mitteilung steigern. Eine
vergleichende Untersuchung über die Anlässe der Erkrankung
ergibt nämlich ein Resultat, welches sich in die Formel fassen
läßt, diese Personen erkranken an der Versagung in irgend
einer Weise, wenn ihnen die Realität die Befriedigung ihrer
sexuellen Wünsche vorenthält. Sie erkennen, wie vortrefflich
diese beiden Ergebnisse miteinander stimmen. Die Symptome
sind dann erst recht als Ersatzbefriedigung für die im Leben
vermißte zu verstehen.
342 | XIX. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
Gewiß sind noch allerlei Einwendungen gegen den Satz,
daß die neurotischen Symptome sexuelle Ersatzbeiriedigungen
sind,‘ möglich. Zwei davon will ich heute noch erörtern. Sie
werden, wenn Sie selbst eine größere Anzahl von Neurotikern
analytisch untersucht haben, mir vielleicht kopfschüttelnd be-
richten: bei einer Reihe von Fällen treffe dies aber gar nicht
zu; die Symptome scheinen da eher die gegenteilige Absicht
zu enthalten, die Sexualbefriedigung auszuschließen oder auf-
zuheben. Ich werde die Richtigkeit Ihrer Deutung nicht be-
streiten. Der psychoanalytische Sachverhalt pflegt gern etwas
komplizierter zu sein, als uns lieb ist. Wenn er so einfach
wäre, hätte es vielleicht nicht der Psychoanalyse bedurft, um
ihn ans Licht zu bringen. Wirklich lassen bereits einige Züge
des Zeremoniells bei unserer zweiten Patientin diesen aske-
tischen, der Sexualbefriedigung feindlichen Charakter erkennen,
z. B. wenn sie die Uhren beseitigt, was den magischen Sinn
hat, nächtliche Erektionen zu vermeiden, oder das Fallen und
Brechen von Gefäßen verhüten will, was einem Schutze ihrer
Jungfräulichkeit gleichkommt. In anderen Fällen von Bett-
zeremoniell, die ich analysieren konnte, war dieser negative
Charakter weit mehr ausgesprochen; das Zeremoniell konnte
durchwegs aus Abwehrmaßregeln gegen sexuelle Erinnerungen
und Versuchungen bestehen. Indessen haben wir schon so oft
in der Psychoanalyse erfahren, daß Gegensätze keinen Wider-
spruch bedeuten. Wir könnten unsere Behauptung dahin er-
weitern, die Symptome beabsichtigen entweder eine sexuelle
Befriedigung oder eine Abwehr derselben, und zwar wiegt bei
der Hysterie der positive, wunscherfüllende, bei der Zwangs-
neurose der negative, asketische Charakter im ganzen vor.
Wenn die Symptome sowohl der Sexualbefriedigung als auch
ihrem Gegensatz dienen können, so hat diese Zweiseitigkeit
SYMPTOME SIND KOMPROMISSERGEBNISSE. 343
oder Polarität eine ausgezeichnete Begründung in einem Stück
ihres Mechanismus, welches wir noch nicht erwähnen konnten.
Sie sind nämlich, wie wir hören werden, Kompromißergebnisse,
aus der Interferenz zweier gegensätzlichen Strebungen hervor-
gegangen, und vertreten ebensowohl das Verdrängte wie das
Verdrängende, das bei ihrer Entstehung mitgewirkt hat. Die
Vertretung kann dann mehr zu Gunsten der einen oder der
anderen Seite geraten, nur selten fällt ein Einfluß völlig aus.
Bei der Hysterie wird zumeist das Zusammentreffen beider
Absichten in dem nämlichen Symptom erreicht. Bei der Zwangs-
neurose fallen beide Anteile oft auseinander; das Symptom wird
dann zweizeitig, es besteht aus zwei Aktionen, einer nach der
anderen, die einander aufheben.
Nicht so leicht werden wir ein zweites Bedenken erle-
digen. Wenn Sie eine größere Reihe von Symptomdeutungen
“überschauen, werden Sie wahrscheinlich zunächst urteilen, daß
der Begriff einer sexuellen Ersatzbefriedigung bei ihnen bis
zu seinen äußersten Grenzen gedehnt worden sei. Sie werden
nicht versäumen zu betonen, daß diese Symptome nichts Reales
an Befriedigung bieten, daß sie sich oft genug auf die Be-
lebung einer Sensation oder die Darstellung einer Phantasie
aus einem sexuellen Komplex beschränken. Ferner, daß die
angebliche Sexualbefriedigung so häufig einen kindischen und
unwürdigen Charakter zeigt, sich etwa einem masturbatorischen
Akt annähert, oder an die schmutzigen Unarten erinnert, die
man schon den Kindern verbietet und abgewöhnt. Und darüber
hinaus werden Sie auch Ihre Verwunderung äußern, daß man
für eine Sexualbefriedigung ausgeben will, was vielleicht als
Befriedigung von grausamen oder gräßlichen, selbst unnatür-
lich zu nennenden Gelüsten beschrieben werden müßte. Über
diese letzteren Punkte, meine Herren, werden wir kein Ein-
344 XIX, ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
vernehmen erzielen, ehe wir nicht das menschliche Sexualleben
einer gründlichen Untersuchung unterzogen und dabei fest-
gestellt haben, was man berechtigt ist, sexuell zu nennen.
ZWANZIGSTE VORLESUNG.
ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
DAS MENSCHLICHE SEXUALLEBEN.
Meine Damen und Herren! Man sollte doch meinen, es sei
nicht zweifelhaft, was man unter dem „Sexuellen‘“ zu verstehen
habe. Vor allem ist doch das Sexuelle das Unanständige, das, von
dem man nicht sprechen darf. Man hat mir erzählt, daß die
Schüler eines berühmten Psychiaters sich einmal die Mühe
nahmen, ihren Meister davon zu überzeugen, daß die Sym-
ptome der Hysterischen so häufig sexuelle Dinge darstellen.
In dieser Absicht führten sie ihn an das Bett einer Hysterika,
deren Anfälle unverkennbar den Vorgang einer Entbindung
mimten. Er aber äußerte abweısend: Nun, eine Entbindung
ist doch nichts Sexuelles. Gewiß, eine Entbindung muß nicht
unter allen Umständen etwas Unanständiges sein.
Ich bemerke, Sie verübeln es mir, daß ich in so ernst-
haften Dingen scherze. Aber es ist nicht so ganz Scherz. Im
Ernst, es ist nicht leicht anzugeben, was den Inhalt des Be-
griffes „sexuell“ ausmacht. Alles, was mit dem Unterschied der
zwei Geschlechter zusammenhängt, wäre vielleicht das einzig
Treffende, aber Sie werden es farblos und zu umfassend finden.
Wenn Sie die Tatsache des Sexualaktes in den Mittelpunkt
stellen, werden Sie vielleicht aussagen, sexuell sei all das,
was sich in der Absicht der Lustgewinnung mit dem Körper,
speziell den Geschlechtsteilen, des anderen Geschlechtes be-
schäftigt und im letzten Sinne auf die Vereinigung der Geni-
346 XX. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
talien und die Ausführung des Geschlechtsaktes hinzielt. Aber
dann sind Sie von der Gleichstellung, das Sexuelle sei das
Unanständige, wirklich nicht weit entfernt, und die Entbindung
gehört wirklich nicht zum Sexuellen. Machen Sie aber die
Fortpflanzungsfunktion zum Kern der Sexualität, so laufen Sie
Gefahr, eine ganze Anzahl von Dingen, die nicht auf die :Fort-
pflanzung zielen und doch sicher sexuell sind, auszuschließen,
wie die Masturbation oder selbst das Küssen. Aber wir sind
ja bereits darauf gefaßt, daß Definitionsversuche immer zu
Schwierigkeiten führen; verzichten wir darauf, es gerade in
diesem Falle besser zu machen. Wir können ahnen, daß in
der Entwicklung des Begriffes „sexuell‘‘ etwas vor sich ge-
gangen ist, was nach einem guten Ausdruck von H. Silberer
einen „Überdeckungsfehler‘“ zur Folge hatte. Im ganzen sind
wir ja nicht ohne Orientierung darüber, was die Menschen
sexuell heißen. |
Etwas, was aus der Berücksichtigung des Gegensatzes der
(reschlechter, des Lustgewinnes, der Fortpflanzungsfunktion
und des Charakters des geheimzuhaltenden Unanständigen zu-
sammengesetzt ist, wird im Leben für alle praktischen Bedürf-
nisse genügen. Aber es genügt nicht mehr in der Wissenschaft.
Denn wir sind durch sorgfältige, gewiß nur durch opferwillige
Selbstüberwindung ermöglichte Untersuchungen mit Gruppen
von menschlichen Individuen bekannt worden, deren ‚„Sexual-
leben“ in der auffälligsten Weise von dem gewohnten Durch-
schnittsbilde abweicht. Die einen von diesen „Perversen‘“ haben
sozusagen die Geschlechtsdifferenz aus ihrem Programm ge-
strichen. Nur das ihnen gleiche Geschlecht kann ihre sexuellen
Wünsche erregen; das andere, zumal die Geschlechtsteile des-
selben, ist ihnen überhaupt kein Geschlechtsobjekt, in extre-
men Fällen ein Gegenstand des Abscheus. Sie haben damit
DIE PERVERSEN. 347
natürlich auch auf jede Beteiligung an der Fortpflanzung ver-
zichtet. Wir nennen solche Personen Homosexuelle oder Inver-
tıierte. Es sind Männer und Frauen, sonst oft — nicht immer
— tadellos gebildet, intellektuell wie ethisch hochentwickelt,
nur mit dieser einen verhängnisvollen Abweichung behaftet.
Sie geben sich durch den Mund ihrer wissenschaftlichen Wort-
führer für eine besondere Varietät der Menschenart, für ein
„drittes Geschlecht“ aus, welches gleichberechtigt neben den
beiden anderen steht. Wir werden vielleicht Gelegenheit haben,
ihre Ansprüche kritisch zu prüfen. Natürlich sind sie nicht,
wie sie auch gern behaupten möchten, eine „Auslese“ der Mensch-
heit, sondern enthalten mindestens ebensoviel minderwertige und
nichtsnutzige Individuen wie die in sexueller Hinsicht anders
Gearteten.
Diese Perversen nehmen mit ihrem Sexualobjekt wenigstens
noch ungefähr dasselbe vor wie die Normalen mit dem ihrigen.
Aber nun folgt eine lange Reihe von Abnormen, deren sexuelle
Betätigung sich immer weiter von dem entfernt, was einem
vernünftigen Menschen begehrenswert erscheint. In ihrer
Mannigfaltigkeit und Sonderbarkeit sind sie nur vergleichbar
den grotesken Mißgestalten, die P. Breughel als Versuchung
des heiligen Antonius gemalt hat, oder den verschollenen Göt-
tern und Gläubigen, die G. Flaubert in langer Prozession an
seinem frommen Büßer vorbeiziehen läßt. Ihr Gewimmel ruft
nach einer Art von Ordnung, wenn es unsere Sinne nicht ver-
wirren solle Wir scheiden sie in solche, bei denen sich, wie
bei den Homosexuellen, das Sexualobjekt gewandelt hat, und
in andere, bei denen in erster Linie das Sexualziel verändert
worden ist. Zur ersten Gruppe gehören die, welche auf die
Vereinigung der beiderseitigen Genitalien verzichtet haben und
bei dem einen Partner im Sexualakt das Genitale durch einen
348 XX. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
anderen Körperteil oder Körperregion ersetzen; sie setzen sich
dabei über die Mängel der organischen Einrichtung wie über
die Abhaltung des Ekels hinweg. (Mund, After an Stelle der
Scheide.) Dann folgen andere, die zwar noch am Genitale fest-
halten, aber nicht wegen seiner sexuellen, sondern wegen an-
derer Funktionen, an denen es aus anatomischen Gründen und
Anlässen der Nachbarschaft beteiligt ist. Wir erkennen an
ihnen, daß die Ausscheidungsfunktionen, die in der Erziehung
des Kindes als unanständig abseits geschafft worden sind, im
stande bleiben, das volle sexuelle Interesse an sich zu reißen.
Dann andere, die das Genitale überhaupt als Objekt aufgegeben
haben, an seiner Statt einen anderen Körperteil zum begehrten
Objekt erheben, die weibliche Brust, den Fuß, den Haarzopt.
In weiterer Folge die, denen auch ein Körperteil nichts be-
deutet, aber ein Kleidungsstück alle Wünsche erfüllt, ein Schuh,
ein Stück weißer Wäsche, die Fetischisten. Weiter im Zuge
die Personen, die zwar das ganze Objekt verlangen, aber ganz
bestimmte, seltsame oder gräßliche, Anforderungen an dasselbe
stellen, auch die, daß es zur wehrlosen Leiche geworden sein
muß, und die es in verbrecherischem Zwang dazu machen, um
es genießen zu können. Genug der Greuel von dieser Seite!
Die andere Schar wird von den Perversen angeführt,
die sich zum Ziele der sexuellen Wünsche gesetzt haben,
'was normalerweise nur einleitende und vorbereitende Hand-
lung ist. Also die das Beschauen und Betasten der an-
deren Person oder das Zuschauen bei intimen Verrichtungen
derselben anstreben, oder die ihre eigenen zu verbergenden
Körperteile entblößen in einer dunkeln Erwartung, durch
eine gleiche Gegenleistung belohnt zu werden. Dann fol-
gen die rätselhaften Sadisten, deren zärtliches Streben kein
anderes Ziel kennt, als ihrem Objekt Schmerzen und Qualen
- EINE REVUE DER PERVERSIONEN. 349
zu bereiten, von Andeutungen der Demütigung bis zu schweren
körperlichen Schädigungen und wie zur Ausgleichung ihre
Gegenstücke, die Masochisten, deren einzige Lust es ist, von
ihrem geliebten Objekt alle Demütigungen und Qualen in sym-
bolischer wie in realer Form zu erleiden. Andere noch, bei
denen mehrere solcher abnormer Bedingungen sich vereinigen
und sich verschränken, und endlich müssen wir noch erfahren,
dab jede dieser Gruppen zweifach vorhanden ist, daß es neben
den einen, die ihre Sexualbefriedigung in der Realität suchen,
noch andere gibt, die sich damit begnügen, sich solche Be-
friedigung bloß vorzustellen, die überhaupt kein wirkliches Ob-
jekt brauchen, sondern es sich durch die Phantasie ersetzen
können.
Dabei kann es nicht den leisesten Zweifel leiden, daß in
diesen Tollheiten, Sonderbarkeiten und Gräßlichkeiten wirklich
die Sexualbetätigung dieser Menschen gegeben ist. Nicht nur,
daß sie es selbst so auffassen und das Ersatzverhältnis ver-
spüren, wir müssen uns auch sagen, es spielt die nämliche Rolle
in ihrem Leben wie die normale Sexualbefriedigung in unserem,
sie bringen dafür die nämlichen, oft übergroßen Opfer, und
es läßt sich im Groben wie im feineren Detail verfolgen, wo
sich diese Abnormitäten an das Normale anlehnen und wo sie
davon abgehen. Auch daß Sie den Charakter des Unanständigen,
welcher der Sexualbetätigung anhaftet, hier wiederfinden, kann
Ihnen nicht entgehen; er ist aber zumeist zum Schändlichen
gesteigert.
Nun, meine Damen und Herren, wie stellen wir uns zu
diesen ungewöhnlichen Arten der Sexualbefriedigung? Mit der
Entrüstung, der Äußerung unseres persönlichen Widerwillens
und der Versicherung, daß wir diese Gelüste nicht teilen, ist
offenbar nichts getan. Danach werden wir ja nicht gefragt.
350 XX. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
-_——
Am Ende ist es ein Erscheinungsgebiet wie ein anderes. Eine
ablehnende Ausflucht wie, es seien ja nur Raritäten und Ku-
riositäten, wäre selbst leicht abzuweisen. Es handelt sich im
Gegenteil um recht häufige, weit verbreitete Phänomene. Wollte
man uns aber sagen, wir brauchten unsere Ansichten über das
Sexualleben durch sie nicht beirren zu lassen, weil sie samt
und sonders Verirrungen und Entgleisungen des Sexualtriebes
darstellen, so wäre eine ernste Antwort am Platze. Wenn wir
diese krankhaften Gestaltungen der Sexualität nicht verstehen
und sie nicht mit dem normalen Sexualleben zusammenbringen
können, so verstehen wir eben auch die normale Sexualität
nicht. Kurz, es bleibt eine unabweisbare Aufgabe, von der
Möglichkeit der genannten Perversionen und von ihrem Zusam-
menhang mit der sogenannt normalen Sexualität volle theore-
tische Rechenschaft zu geben.
Dazu werden uns eine Einsicht und zwei neue Erfahrungen
verhelfen. Die erstere verdanken wir Iwan Bloch; sie berichtigt
die Auffassung all dieser Perversionen als „Degenerations-
zeichen“ durch den Nachweis, daß solche Abirrungen vom
Sexualziel, solche Lockerungen des Verhältnisses zum Sexual-
objekt von jeher, zu allen uns bekannten Zeiten, bei allen,
den primitivsten wie den höchstzivilisierten Völkern vorgekom-
men sind und sich gelegentlich Duldung und allgemeine Geltung
errungen haben. Die beiden Erfahrungen sind bei der psycho-
analytischen Untersuchung der Neurotiker gemacht worden;
sie müssen unsere Auffassung der sexuellen Perversionen in
entscheidender Weise beeinflussen.
Wir haben gesagt, daß die neurotischen Symptome sexuelle
Ersatzbefriedigungen sind, und ich habe Ihnen angedeutet, dab
die Bestätigung dieses Satzes durch die Analyse der Symptome
auf, manche Schwierigkeiten stoßen wird. Er ist nämlich erst
DIE NERVÖSEN SYMPTOME ALS PERVERSE BEFRIEDIGUNGEN. 351
dann berechtigt, wenn wir unter „sexueller Befriedigung“ die
der sogenannten perversen sexuellen Bedürfnisse mit einschließen,
denn eine solche Deutung der Symptome drängt sich uns mit
überraschender Häufigkeit auf. Der Ausnahmsanspruch der
Homosexuellen oder Invertierten sinkt sofort zusammen, wenn
wir erfahren, daß der Nachweis homosexueller Regungen bei
keinem einzigen Neurotiker mißlingt, und daß eine gute An-
zahl von Symptomen dieser latenten Inversion Ausdruck gibt.
Die sich selbst Homosexuelle nennen, sind eben nur die bewußt
und manifest Invertierten, deren Anzahl neben jener der latent
homosexuellen verschwindet. Wir sind aber genötigt, die Objekt-
wahl aus dem eigenen Geschlecht geradezu als eine regelmäßige
Abzweigung des Liebeslebens zu betrachten, und lernen immer
mehr, ihr eine besonders hohe Bedeutung zuzuerkennen. Gewiß
sind die Unterschiede zwischen der manifesten Homosexualität
und dem normalen Verhalten dadurch nicht aufgehoben; ihre
praktische Bedeutung bleibt bestehen, aber ihr theoretischer
‚Wert wird ungemein verringert. Von einer bestimmten Affek-
tion, die wir nicht mehr zu den Übertragungsneurosen rechnen
können, der Paranoia, nehmen wir sogar an, daß sie gesetzmäßig
aus dem Versuch der Abwehr überstarker homosexueller Re-
gungen hervorgeht. Vielleicht erinnern Sie sich noch, daß die
eine unserer Patientinnen (S. 295) in ihrer Zwangshandlung
einen Mann, ihren eigenen verlassenen Ehemann, agierte; eine
solche Produktion von Symptomen in der Person eines Mannes
ist bei neurotischen Frauen sehr gewöhnlich. Wenn es auch
nicht selbst der Homosexualität zuzurechnen ist, so hat es doch
mit den Voraussetzungen derselben viel zu tun.
Wie Sie wahrscheinlich wissen, kann die hysterische Neu-
rose ihre Symptome an allen Organsystemen machen und da-
durch alle Funktionen stören. Die Analyse zeigt, daß dabei
Freud, Vorlesungen. III. 23
352 XX. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
nn nn nn nn nn
alle pervers genannten Regungen zur Äußerung kommen, welche
das Genitale durch andere Organe ersetzen wollen. Diese Or-
gane benehmen sich dabei wie Ersatzgenitalien; wir sind gerade
durch die Symptomatik der Hysterie zur Auffassung gelangt,
: daß den Körperorganen außer ihrer funktionellen Rolle eine
sexuelle — erogene — Bedeutung zuzuerkennen ist, und daß sie
in der Erfüllung dieser ersteren Aufgabe gestört werden, wenn
die letztere sie allzusehr in Anspruch nimmt. Ungezählte Sen-
sationen und Innervationen, welche uns als Symptome der Hy-
sterie entgegentreten, an Organen, die anscheinend nichts mit
der Sexualität zu tun haben, enthüllen uns so ihre Natur als
Erfüllungen perverser Sexualregungen, bei denen andere Organe
die Bedeutung der Geschlechtsteile an sich gerissen haben.
Dann ersehen wir auch, in wie ausgiebiger Weise gerade die
Organe der Nahrungsaufnahme und der Exkretion zu Trägern
der Sexualerregung werden können. Es ist also dasselbe, was
uns die Perversionen gezeigt haben, nur war es bei diesen ohne
Mühe und unverkennbar zu sehen, während wir bei der Hy-
sterie erst den Umweg über die Symptomdeutung machen müssen
und dann die betreffenden perversen Sexualregungen nicht dem
Bewußtsein der Individuen zuschreiben, sondern sie in das
Unbewußte derselben versetzen.
Von den vielen Symptombildern, unter denen die Zwangs-
neurose auftritt, erweisen sich die wichtigsten als hervorge-
rufen durch den Drang überstarker sadistischer, also in ihrem
Ziel perverser, Sexualregungen, und zwar dienen die Symptome,
wie es der Struktur einer Zwangsneurose entspricht, vorwiegend
der Abwehr dieser Wünsche, oder drücken den Kampf zwischen
Befriedigung und Abwehr aus. Aber auch die Befriedigung
selbst kommt dabei nicht zu kurz; sie weiß sich auf Umwegen
im Benehmen der Kranken durchzusetzen und wendet sich mit
BEZIEHUNGEN ZWISCHEN SYMPTOMEN UND PERVERSIONEN. 353
Vorliebe gegen deren eigene Person, macht sie zu Selbstquälern.
Andere Formen der Neurose, die grüblerischen, entsprechen
einer übermäßigen Sexualisierung von Akten, die sich sonst als
Vorbereitungen in den Weg zur normalen Sexualbefriedigung
einfügen, vom Sehen-, Berührenwollen und Forschen. Die große
Bedeutung der Berührungsangst und des Waschzwanges findet
hier ihre Aufklärung. Von den Zwangshandlungen geht ein
ungeahnt großer Anteil als verkappte Wiederholung und Modi-
fikation auf die Masturbation zurück, welche bekanntlich als
einzige, gleichförmige, Handlung die verschiedenartigsten For-
men des sexuellen Phantasierens begleitet.
Es würde mich nicht viel Mühe kosten, Ihnen die Be-
ziehungen zwischen Perversion und Neurose noch weit inniger
darzustellen, aber ich glaube, das Bisherige wird für unsere
Absicht genügen. Wir müssen uns aber dagegen verwahren,
daß wir nach diesen Aufklärungen über die Symptombedeutung
Häufigkeit und Intensität der perversen Neigungen der Men-
schen nicht überschätzen. Sie haben gehört, daß man an der
Versagung der normalen Sexualbefriedigung neurotisch erkran-
ken kann. Bei dieser realen Versagung wirft sich aber das
Bedürfnis auf die abnormen Wege der Sexualerregung. Sie
werden später einsehen können, wie das zugeht. Jedenfalls ver-
stehen Sie, daß durch eine solche „kollaterale“ Rückstauung
die perversen Regungen stärker erscheinen müssen, als sie aus-
gefallen wären, wenn sich der normalen Sexualbefriedigung kein
reales Hindernis entgegengestellt hätte. Ein ähnlicher Einfluß
ist übrigens auch für die manifesten Perversionen anzuerkennen.
Sie werden in manchen Fällen dadurch provoziert oder aktiviert,
daß einer normalen Befriedigung des Sexualtriebes allzu große
Schwierigkeiten gemacht werden, imfolge vorübergehender Um-
stände oder dauernder sozialer Einrichtungen. In anderen Fällen
23*
394 XX. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
sind die Perversionsneigungen freilich von solchen Begünsti-
gungen ganz unabhängig; sie sind sozusagen für dieses Indi-
viduum die normale Art des Sexuallebens.
Vielleicht haben Sie im Augenblicke den Eindruck, als
hätten wir das Verhältnis zwischen normaler und perverser
Sexualität eher verwirrt als geklärt. Halten Sie sıch aber an
folgende Überlegung: Wenn es richtig ist, daß die reale Er-
schwerung oder die Entbehrung einer normalen Sexualbefrie-
digung bei Personen perverse Neigungen zum Vorschein brin-
gen, die sonst keine solchen gezeigt hatten, so muß bei diesen
Personen etwas anzunehmen sein, was den Perversionen ent-
gegenkommt; oder wenn Sie so wollen, sie müssen in latenter
Form bei ihnen vorhanden sein. Auf diesem Wege kommen
wir aber auf die zweite Neuheit, die ich Ihnen angekündigt
habe. Die psychoanalytische Forschung ist nämlich genötigt
worden, sich auch um das Sexualleben des Kindes zu beküm-
mern, und zwar dadurch, daß die Erinnerungen und Einfälle
bei der Analyse der Symptome regelmäßig bis in frühe Jahre
der Kindheit zurückführten. Was wir dabei erschlossen haben,
ist dann Punkt für Punkt durch unmittelbare Beobachtungen
an Kindern bestätigt worden. Und da hat sich dann ergeben,
daß alle Perversionsneigungen in der Kindheit wurzeln, daß
die Kinder zu ihnen allen Anlage haben und sie in dem ihrer
Unreife entsprechenden Ausmaß betätigen, kurz, daß die per-
verse Sexualität nichts anderes ist als die vergrößerte, in ihre
Einzelregungen zerlegte infantile. Sexualität. .
Jetzt werden Sie die Perversionen allerdings in einem an-
deren Lichte sehen und deren Zusammenhang mit dem mensch-
lichen Sexualleben nicht mehr verkennen, aber auf Kosten
welcher Überraschungen und für Ihr Gefühl peinlichen Inkon-
gruenzen! Sie werden gewiß geneigt sein, zuerst alles zu be-
PERVERSE UND INFANTILE SEXUALITÄT. 355
a gs
._—
streiten, die Tatsache, daß die Kinder etwas haben, was man
als Sexualleben bezeichnen darf, die Richtigkeit unserer Be-
obachtungen und die Berechtigung, an dem Benehmen der Kinder
eine Verwandtschaft mit dem, was späterhin als Perversion
verurteilt wird, zu finden. Gestatten Sie also, daß ich Ihnen
zuerst die Motive Ihres Sträubens aufkläre und dann die
Summe unserer Beobachtungen vorlege. Daß die Kinder kein
Sexualleben — sexuelle Erregungen, Bedürfnisse und eine Art
der Befriedigung — haben, sondern es plötzlich zwischen 12 und
14 Jahren bekommen sollten, wäre — von allen Beobachtungen
abgesehen — biologisch ebenso unwahrscheinlich, ja unsinnig,
wie daß sie keine Genitalien mit auf die Welt brächten und
die ihnen erst um die Zeit der Pubertät wüchsen. Was um
diese Zeit bei ihnen erwacht, ist die Fortpflanzungsfunktion,
die sich eines bereits vorhandenen körperlichen und seelischen
Materials für ihre Zwecke bedient. Sie begehen den Irrtum,
Sexualität und Fortpflanzung miteinander zu verwechseln, und
versperren sich durch ihn den Weg zum Verständnis der Sexu-
alität, der Perversionen und der Neurosen. Dieser Irrtum ist
aber tendenziös. Er hat seine Quelle merkwürdigerweise darin,
daß Sie selbst Kinder gewesen und als Kinder dem Einfluß
der Erziehung unterlegen sind. Die Gesellschaft muß es näm-
lich unter ihre wichtigsten Erziehungsaufgaben aufnehmen, den
Sexualtrieb, wenn er als Fortpflanzungsdrang hervorbricht, zu
bändigen, einzuschränken, einem individuellen Willen zu unter-
werfen, der mit dem sozialen Geheiß identisch ist. Sie hat
auch Interesse daran, seine volle Entwicklung aufzuschieben,
bis das Kind eine gewisse Stufe der intellektuellen Reife er-
reicht hat, denn mit dem vollen Durchbruch des Sexualtriebes
findet auch die Erziehbarkeit praktisch ein Ende. Der Trieb
würde sonst über alle Dämme brechen und das mühsam er-
356 XX, ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE,
richtete Werk der Kultur hinwegschwemmen. Die Aufgabe,
ihn zu bändigen, ist auch nie eine leichte, sie gelingt bald
zu wenig, bald allzu gut. Das Motiv der menschlichen Gesell-
schaft ist im letzten Grunde ein ökonomisches; da sie nicht
genug Lebensmittel hat, um ihre Mitglieder ohne deren Arbeit
zu erhalten, muß sie die Anzahl ihrer Mitglieder beschränken
und ihre Energien von der Sexualbetätigung weg auf die Ar-
beit lenken. ‘Also die ewige, urzeitliche, bis auf die Gegen-
wart fortgesetzte Lebensnot.
Die Erfahrung muß wohl den Erziehern gezeigt haben,
daß die Aufgabe, den Sexualwillen der neuen Generation lenk-
sam zu machen, nur dann lösbar ist, wenn man mit den Be-
einflussungen sehr frühzeitig beginnt, nicht erst den Sturm
der Pubertät abwartet, sondern bereits in das Sexualleben der
Kinder eingreift, welches ihn vorbereitet. In dieser Absicht
werden fast alle infantilen Sexualbetätigungen dem Kinde ver-
boten und verleidet; man setzt sich das ideale Ziel, das Leben
des Kindes asexuell zu gestalten, und hat es im Laufe der
Zeit endlich dahin gebracht, daß man es wirklich für asexuell
hält, was dann die Wissenschaft als ihre Lehre verkündet. Um
sich mit seinem Glauben und seinen Absichten nicht in Wider-
spruch zu setzen, übersieht man dann die Sexualbetätigung des
Kindes, was keine geringe Leistung ist, oder begnügt sich in
der Wissenschaft damit, sie anders aufzufassen. Das Kind gilt
als rein, als unschuldig, und wer es anders beschreibt, darf
als Tuchloser Frevler an zarten und heiligen Gefühlen der
Menschheit verklagt werden.
Die Kinder sind die einzigen, die an diesen Konventionen
nicht mittun, in aller Naivität ihre animalischen Rechte geltend
machen und immer wieder beweisen, daß sie den Weg zur
Reinheit erst zurückzulegen haben. Merkwürdig genug, daß
DIE ANGEBLICHE ASEXUALITÄT DER KINDER. 357
die Leugner der kindlichen Sexualität darum in der Erziehung
nicht nachlassen, sondern gerade die Äußerungen des Verleug-
neten unter dem Titel der „kindlichen Unarten“ aufs strengste
verfolgen. Von hohem theoretischen Interesse ist es auch, daß
die Lebenszeit, welche dem Vorurteil einer asexuellen Kindheit
am grellsten widerspricht, die Kinderjahre bis fünf oder sechs,
dann bei den meisten Personen von dem Schleier einer Amnesie
verhüllt wird, den erst eine analytische Erforschung gründlich
zerreißt, der aber schon vorher für einzelne Traumbildungen
durchlässig gewesen ist.
Nun will ich Ihnen vorführen, was sich vom Sexualleben
des Kindes am deutlichsten erkennen läßt. Lassen Sie mich
zweckmäßigkeithalber auch den Begriff der Libido einführen.
Libido soll, durchaus dem Hunger analog, die Kraft be-
nennen, mit welcher der Trieb, hier der Sexualtrieb wie beim
Hunger der Ernährungstrieb, sich äußert. Andere Begriffe,
wie Sexualerregung und Befriedigung, bedürfen keiner Erläu-
terung. Daß bei den Sexualbetätigungen des Säuglings die
Deutung am meisten zu tun hat, werden Sie selbst leicht ein-
sehen oder wahrscheinlich als Einwand benützen. Diese Deu-
tungen ergeben sich auf Grund der analytischen Untersuchun-
gen durch Rückverfolgung vom Symptom her. Die ersten Re-
gungen der Sexualität zeigen sich beim Säugling in Anlehnung
an andere lebenswichtige Funktionen. Sein Hauptinteresse ist,
wie Sie wissen, auf die Nahrungsaufnahme gerichtet; wenn er
an der Brust gesättigt einschläft, zeigt er den Ausdruck einer
seligen Befriedigung, der sich später nach dem Erleben des
sexuellen Orgasmus wiederholen wird. Das wäre zu wenig,
um einen Schluß darauf zu gründen. Aber wir beobachten,
daß der Säugling die Aktion der Nahrungsaufnahme wieder-
holen will, ohne neue Nahrung zu beanspruchen; er steht also
358 XX. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
dabei’ nicht unter dem Antrieb des Hungers. Wir sagen, er
lutscht oder ludelt, und daß er bei diesem Tun wiederum mit
seligem Ausdruck einschläft, zeigt uns, daß die Aktion des
Lutschens ihm an und für sich Befriedigung gebracht hat.
Bekanntlich richtet er sich’s bald so ein, daß er nicht ein-
schläft, ohne gelutscht zu haben. Die sexuelle Natur dieser
Betätigung hat ein alter Kinderarzt in Budapest, Dr. Lind-
ner, zuerst behauptet. Die Pflegepersonen des Kirdes, die keine
theoretische Stellungnahme beabsichtigen, scheinen das Lutschen
ähnlich zu beurteilen. Sie zweifeln nicht daran, daß es nur
einem Lustgewinn dient, stellen es zu den Unarten des Kindes
und zwingen das Kind durch peinliche Eindrücke zum Verzicht
darauf, wenn es die Unart nicht selbst aufgeben will. Wir
erfahren also, daß der Säugling Handlungen ausführt, die keine
andere Absicht als die des Lustgewinnes haben. Wir glauben,
daß er diese Lust zuerst bei der Nahrungsaufnahme erlebt, aber
bald gelernt hat, sie von dieser Bedingung abzutrennen. ‚Wir
können den Lustgewinn nur auf die Erregung der Mund- und
Lippenzone beziehen, heißen diese Körperteile erogene Zo-
nen und bezeichnen die durch Lutschen erzielte Lust als eine
sexuelle. Über die Berechtigung dieser Benennung werden
wir gewiß noch diskutieren müssen.
Wenn der Säugling sich äußern könnte, würde er gewiß
den Akt des Saugens an der Mutterbrust als das weitaus Wich-
tigste im Leben anerkennen. Er hat für sich nicht so unrecht,
denn er befriedigt durch diesen Akt in einem beide großen
Lebensbedürfnisse. Wir erfahren dann aus der Psychoanalyse
nicht ohne Überraschung, wieviel von der psychischen Bedeu-
tung des Aktes fürs ganze Leben erhalten bleibt. Das Saugen
an der Mutterbrust wird der Ausgangspunkt des ganzen Sexual-
lebens, das unerreichte Vorbild jeder späteren Sexualbefrie-
DIE SEXUELLE BETÄTIGUNG DES SÄUGLINGS. 359
digung, zu dem die Phantasie in Zeiten der Not oft genug
zurückkehrt. Es schließt die Mutterbrust als erstes Objekt
des Sexualtriebes ein; ich kann Ihnen keine Vorstellung davon
vermitteln, wie bedeutsam dies erste Objekt für jede spätere
Objektfindung ist, welch tiefgreifende Wirkungen es in seinen
Wandlungen und Ersetzungen noch auf die entlegensten Gebiete
unseres Seelenlebens äußert. Aber zunächst wird es vom Säug-
ling in der Tätigkeit des Lutschens aufgegeben und durch einen
Teil des eigenen Körpers ersetzt. Das Kind lutscht am Daumen,
an der eigenen Zunge. Es macht sich dadurch für den Lust-.
gewinn von der Zustimmung der Außenwelt unabhängig und
zieht überdies die Erregung einer zweiten Körperzone zur Ver-
stärkung heran. Die erogenen Zonen sind nicht gleich ergiebig;
es wird darum ein wichtiges Erlebnis, wenn der Säugling, wie
Lindner berichtet, bei dem Herumsuchen am eigenen Körper
die besonders erregbaren Stellen seiner Genitalien entdeckt und
so den Weg vom Lutschen zur Onanie gefunden hat.
Durch die Würdigung des Lutschens sind wir bereits mit
zwei entscheidenden Charaktern der infantilen Sexualität be-
kannt geworden. Sie erscheint in Anlehnung an die Befriedigung
der großen organischen Bedürfnisse und sie benimmt sich auto-
erotisch, das heißt, sie sucht und findet ihre _Objekte am
eigenen Körper. Was sich am deutlichsten bei der Nahrungs-
aufnahme gezeigt hat, wiederholt sich zum Teil bei den Aus-
scheidungen. Wir schließen, daß der Säugling Lustempfinden
bei der Entleerung von Harn und von Darminhalt hat, und
daß er sich bald bemüht, diese Aktionen so einzurichten, daß
sie ihm durch entsprechende Erregungen der erogenen Schleim-
hautzonen einen möglichst großen Lustgewinn bringen. An
diesem Punkte tritt ihm, wie die feinsinnige Lou Andreas
ausgeführt hat, zuerst die Außenwelt als hemmende, seinem
360 XX. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
m
Luststreben feindliche Macht entgegen und läßt ihn spätere
äußere wie innere Kämpfe ahnen. Er soll seine Exkrete nicht
in dem ihm beliebigen Moment von sich geben, sondern wann
andere Personen es bestimmen. Um ihn zum Verzicht auf diese
Lustquellen zu bewegen, wird ihm alles, was diese Funktionen
betrifft, als unanständig, zur Geheimhaltung bestimmt, erklärt.
Er soll hier zuerst soziale Würde für Lust eintauschen. Sein
Verhältnis zu den Exkreten selbst ist von Anfang an ein ganz
anderes. Er empfindet keinen Ekel vor seinem Kot, schätzt
ihn als einen Teil seines Körpers, von dem er sich nicht leicht
trennt, und verwendet ihn als erstes „Geschenk“, um Personen
auszuzeichnen, die er besonders schätzt. Noch, nachdem der
Erziehung die Absicht gelungen ist, ihn diesen Neigungen zu
entfremden, setzt er die Wertschätzung des Kotes auf das
„Geschenk“ und auf das „Geld“ fort. Seine Leistungen im Uri-
nieren scheint er dagegen mit besonderem Stolz zu betrachten.
Ich weiß, daß Sie mich schon längst unterbrechen wollten,
um mir zuzurufen: Genug der Ungeheuerlichkeiten! Die Stuhl-
entleerung soll eine Quelle der sexuellen Lustbefriedigung sein,
die schon der Säugling ausbeutet. Der Kot eine wertvolle Sub-
stanz, der After eine Art von Genitale! Das glauben wir
nicht, aber wir verstehen, warum Kinderärzte und Pädagogen
die Psychoanalyse und ihre Resultate weit von sich weg gewiesen
haben. Nein, meine Herren! Sie haben bloß daran vergessen,
daß ich Ihnen die Tatsachen des infantilen Sexuallebens im
Zusammenhalt mit den Tatsachen der sexuellen Perversionen
vorführen wollte. Warum sollen Sie nicht wissen, daß der After
bei einer großen Anzahl von Erwachsenen, Homosexuellen wie
Heterosexuellen, wirklich im Geschlechtsverkehr die Rolle der
Scheide übernimmt? Und daß es viele Individuen gibt, welche
die Wollustempfindung bei der Stuhlentleerung durch ihr
DIE VERWECHSLUNG VON SEXUALITÄT UND FORTPFLANZUNG. 361
ganzes Leben behalten und sie als gar nicht so gering be-
schreiben? Was das Interesse am Akt der Defäkation und das
Vergnügen beim Zuschauen der Defäkation eines anderen be-
trifft, so können Sie es von den Kindern selbst bestätigt hören,
wenn sie einige Jahre älter geworden sind und Mitteilung davon
machen können. Natürlich dürfen Sie diese Kinder nicht vor-
her systematisch eingeschüchtert haben, sonst verstehen sie wohl,
daß sie darüber zu schweigen haben. Und für die anderen
Dinge, die Sie nicht glauben wollen, verweise ich Sie auf die
Ergebnisse der Analyse und der direkten Kinderbeobachtung
und sage Ihnen, es ist geradezu eine Kunst, dies alles nicht
oder es anders zu sehen. Ich habe auch gar nichts dagegen,
wenn Ihnen die Verwandtschaft der kindlichen Sexualtätigkeit
mit den sexuellen Perversionen recht auffällig wird. Es ist
eigentlich selbstverständlich; wenn das Kind überhaupt ein
Sexualleben hat, so muß es von perverser Art sein, denn dem
Kinde fehlt noch bis auf wenige dunkle Andeutungen, was
die Sexualität zur Fortpflanzungsfunktion macht. Anderseits
ist es der gemeinsame Charakter aller Perversionen, daß sie das
Fortpflanzungsziel aufgegeben haben. In dem Falle heißen wir
eine Sexualbetätigung eben pervers, wenn sie auf das Fort-
pflanzungsziel verzichtet hat und die Lustgewinnung als da-
von unabhängiges Ziel verfolgt. Sie verstehen also, der Bruch
und Wendepunkt in der Entwicklung des Sexuallebens liegt
in der Unterordnung desselben unter die Absichten der Fort-
pflanzung. Alles, was vor dieser Wendung vorfällt, ebenso
alles, was sich ihr entzogen hat, was allein dem Lustgewinn
dient, wird mit dem nicht ehrenvollen Namen des ‚„Perversen“
belegt und als solches geächtet.
Lassen Sie mich darum in meiner knappen Schilderung der
infantilen Sexualität fortfahren. Was ich von zwei Organ-
362 XX. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
systemen berichtet habe, könnte ieh durch die Berücksichtigung
der anderen vervollständigen. Das Sexualleben des Kindes er-
schöpft sich eben in der Betätigung einer Reihe von Partial-
trieben, die unabhängig von einander teils am eigenen Körper
teils schon am äußeren Objekt Lust zu gewinnen suchen. Unter
diesen Organen treten die Genitalien sehr bald hervor; es gibt
Menschen, bei denen sich die Lustgewinnung am eigenen Gre-
nitale, ohne Beihilfe eines anderen Genitales oder Objekts, ohne
Unterbrechung von der Säuglingsonanie bis zur Notonanie der
Pubertätsjahre fortsetzt und dann unbestimmt lange darüber
hinaus anhält. Mit dem Thema der Onanie würden wir übrigens
nicht so bald fertig werden; es ist ein Stoff für vielseitige
Betrachtung. |
Trotz meiner Neigung, das Thema noch weiter zu ver-
kürzen, muß ich Ihnen doch noch einiges über die Sexual-
forschung der Kinder sagen. Sie ist zu charakteristisch für
die kindliche Sexualität und zu bedeutsam für die Symptomatik
der Neurosen. Die infantile Sexualforschung beginnt sehr früh,
manchmal vor dem dritten Lebensjahr. Sie knüpft nicht an
dem Geschlechtsunterschied an, der dem Kinde nichts besagt,
da es — wenigstens die Knaben — beiden Geschlechtern das
nämliche männliche Genitale zuschreibt. Macht der Knabe
dann an einer kleinen Schwester oder Gespielin die Entdeckung
der Vagina, so versucht er zuerst das Zeugnis seiner Sinne zu
verleugnen, denn er kann sich ein ihm ähnliches menschliches
‚Wesen ohne den ihm so wertvollen Teil nicht vorstellen. Später
erschrickt er über die ihm eröffnete Möglichkeit, und etwaige
frühere Drohungen wegen zu intensiver Beschäftigung mit
seinem kleinen Glied gelangen nachträglich zur Wirkung. Er
gelangt unter die Herrschaft des Kastrationskomplexes, dessen
Gestaltung an seiner Charakterbildung, wenn er gesund bleibt,
DIE KINDLICHE SEXUALFORSCHUNG. 363
u
an seiner Neurose, wenn er erkrankt, und an seinen Wider-
ständen, wenn er in analytische Behandlung gerät, großen An-
teil hat. Von dem kleinen Mädchen wissen wir, daß es sich
wegen des Mangels eines großen und sichtbaren Penis für
schwer benachteiligt hält, dem Knaben diesen Besitz neidet und
wesentlich aus diesem Motiv den Wunsch entwickelt, ein Mann
zu sein, welcher Wunsch späterhin in der Neurose, die wegen
Mißgeschicks in ihrer weiblichen Rolle auftritt, wieder aufge-
nommen wird. Die Olitoris des Mädchens spielt übrigens im
Kindesalter durchaus die Rolle des Penis, sie ist der Träger einer
besonderen Erregbarkeit, die Stelle, an welcher die autoerotische
Befriedigung erzielt wird. Es kommt für die Weibwerdung des
kleinen Mädchens viel darauf an, daß die Clitoris diese Empfind-
lichkeit rechtzeitig und vollständig an den Scheideneingang ab-
gebe. In den Fällen von sogenannter sexueller Anästhesie der
Frauen hat die Clitoris die Empfindlichkeit hartnäckig festge-
halten.
Das sexuelle Interesse des Kindes wendet sich vielmehr
zuerst dem Problem zu, woher die Kinder kommen, demselben,
welches der Fragestellung der thebaischen Sphinx zu Grunde
liegt, und wird meist durch egoistische Befürchtung bei der
Ankunft eines neuen Kindes geweckt. Die Antwort, welche die
Kinderstube bereit hält, daß der Storch die Kinder bringe,
stößt viel häufiger, als wir wissen, schon bei kleinen Kindern
auf Unglauben. Die Empfindung, von den Erwachsenen um
die Wahrheit betrogen zu werden, trägt viel zur Vereinsamung
des Kindes und zur Entwicklung seiner Selbständigkeit bei.
Aber das Kind ist nicht im stande, dies Problem aus eige-
nen Mitteln zu lösen. Seiner Erkenntnisfähigkeit sind durch
seine unentwickelte Sexualkonstitution bestimmte Schranken ge-
setzt. Es nimmt zuerst an, daß die Kinder davon kommen,
364 XX. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE,
daß man etwas Besonderes in der Nahrung zu sich nimmt, und
weiß auch nichts davon, daß nur Frauen Kinder bekommen
können. Später erfährt man von dieser Einschränkung und gibt
die Ableitung des Kindes vom Essen auf, sie bleibt für das
Märchen erhalten. Das größer gewordene Kind merkt bald,
daß der Vater irgend eine Rolle beim Kinderbekommen spielen
müsse, kann aber nicht erraten, welche. Wenn es zufällig
Zeuge eines geschlechtlichen Aktes wird, so sieht es in ihm
einen Versuch der Überwältigung, eine Rauferei, das sadistische
Mißverständnis des Koitus. Es bringt diesen Akt aber zunächst
nicht mit dem Werden des Kindes in Zusammenhang. Auch
wenn es Blutspuren in Bett und Wäsche der Mutter entdeckt,
nimmt es sie als Beweis einer durch den Vater zugefügten
Verletzung. In noch späteren Kinderjahren ahnt es wohl, daß
das Geschlechtsglied des Mannes einen wesentlichen Anteil an
der Entstehung der Kinder hat, kann diesem Körperteil aber
keine andere Leistung zutrauen als die der Harnentleerung.
Von Anfang an sind die Kinder darin einig, daß die Ge-
burt des Kindes durch den Darm erfolgen müsse, das Kind
also zum Vorschein komme. wie ein Kotballen. Erst nach der
Entwertung aller analen Interessen wird diese Theorie verlassen
und durch die Annahme ersetzt, daß der Nabel sich öffne oder
daß die Region der Brust zwischen beiden Mammae die Ge-
burtsstätte sei. In solcher Weise nähert sich das forschende
Kind der Kenntnis der sexuellen Tatsachen oder geht durch
seine Unwissenheit beirrt an ihnen vorbei, bis es, meist in den
Jahren der Vorpubertät, eine gewöhnlich herabsetzende und un-
vollständige Aufklärung erfährt, die nicht selten traumatische
Wirkungen äußert.
Sie werden gewiß gehört haben, meine Herren, daß der
Begriff des Sexuellen in der Psychoanalyse eine ungebührliche
DIE ANGEBLICHE ERWEITERUNG DES BEGRIFFES SEXUALITÄT. 365
Erweiterung erleidet, in der Absicht, die Sätze von der sexu-
ellen Verursachung der Neurosen und von der sexuellen Be-
deutung der Symptome aufrecht zu erhalten. Sie können nun
selbst darüber urteilen, ob diese Erweiterung eine unberechtigte
ist. Wir haben den Begriff der Sexualität nur soweit ausge-
‘dehnt, daß er auch das Sexualleben der Perversen und das der
Kinder umfassen kann. Das heißt, wir haben ihm seinen rich-
tigen Umfang wiedergegeben. Was man außerhalb der Psycho-
analyse Sexualität heißt, bezieht sich nur auf ein einge-
schränktes, im Dienste der Fortpflanzung stehendes und normal
genanntes Sexualleben.
EINUNDZWANZIGSTE VORLESUNG.
ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
LIBIDOENTWICKLUNG UND SEXUALORGANISATIONEN.
Meine Herren! Ich stehe unter dem Eindruck, daß es mir
nicht gelungen ist, Ihnen die Bedeutung der Perversionen für
unsere Auffassung der Sexualität so recht überzeugend nahe
zu bringen. Ich möchte darum bessern und nachtragen, soviel
ich nur kann. =
Es verhält sich ja nicht so, daß die Perversionen allein
uns zu jener Abänderung des Begriffes Sexualität genötigt
hätten, welche uns so heftigen Widerspruch eingetragen hat.
Das Studium der infantilen Sexualität hat noch mehr dazu
getan, und die Übereinstimmung der beiden wurde für uns
entscheidend. Aber die Äußerungen der infantilen Sexualität,
so unverkennbar sie in den späteren Kinderjahren sein mögen,
scheinen sich doch gegen ihre Anfänge hin ins Unbestimmbare
zu verflüchtigen. Wer auf Entwicklungsgeschichte und ana-
lytischen Zusammenhang nicht achten will, wird ihnen den
Charakter des Sexuellen bestreiten und ihnen dafür irgend einen
undifferenzierten Charakter zuerkennen. Vergessen Sie nicht, wir
sind derzeit nicht im Besitze eines allgemein anerkannten Kenn-
zeichens für die sexuelle Natur eines Vorganges, es sei denn
wiederum die Zugehörigkeit zur Fortpflanzungsfunktion, die
wir als zu engherzig ablehnen müssen. Die biologischen Kri-
terien, wie die von W. Fließ aufgestellten Periodizitäten zu
23 und 28 Tagen, sind noch durchaus strittig; die chemischen
„SEXUELL“ UND „GENITAL“, a
Eigentümlichkeiten der Sexualvorgänge, die wir vermuten
dürfen, harren erst ihrer Entdeckung. Die sexuellen Perver-
sionen der Erwachsenen hingegen sind etwas Greifbares und
Unzweideutiges. Wie schon ihre allgemein zugestandene Be-
nennung erweist, sind sie unzweifelhaft Sexualität. Mag man sie
Degenerationszeichen oder anders heißen, es hat noch niemand
den Mut gefunden, sie anderswohin als zu den Phänomenen
des Sexuallebens zu stellen. Um ihretwillen allein sind wir
zur Behauptung berechtigt, daß Sexualität und Fortpflanzung
nicht zusammenfallen, denn es ist offenkundig, daß sie sämtlich
das Ziel der Fortpflanzung verleugnen.
Ich sehe da eine nicht uninteressante Parallele. Während
für die meisten „bewußt“ und „psychisch“ dasselbe ist, waren
wir genötigt, eine Erweiterung des Begriffes „psychisch“ vVOorT-
zunehmen und ein Psychisches anzuerkennen, das nicht bewußt
ist. Und ganz ähnlich ist es, wenn die anderen „sexuell“ und
„zur Fortpflanzung gehörig“ — oder wenn Sie es kürzer sagen
wollen: „genital“ — für identisch erklären, während wir nicht
umhin können, ein „sexuell“ gelten zu lassen, das nicht „genital“
ist, nichts mit der Fortpflanzung zu tun hat. Es ist nur eine
formale Ähnlichkeit, aber nicht ohne tiefere Begründung.
Wenn aber die Existenz der sexuellen Perversionen ein
so zwingendes Argument in dieser Frage ist, warum hat es
nicht bereits längst seine Wirkung getan und diese Frage er-
ledigt? Ich weiß es wirklich nicht zu sagen. Es scheint mir
daran zu liegen, daß die sexuellen Perversionen mit einer ganz
besonderen Acht belegt sind, die auf die Theorie übergreift
und auch ihrer wissenschaftlichen Würdigung in den Weg
tritt. Als ob niemand daran vergessen könnte, daß sie nicht
nur etwas Abscheuliches, sondern auch etwas Ungeheuerliches,
Gefährliches sind, als ob man sie für verführerisch hielte und
Freud, Vorlesungen. III. 24
368 XXI. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
im Grunde einen geheimen Neid gegen die sie Genießenden
niederzukämpfen hätte, etwa wie ihn der strafende Landgraf
in der berühmten Tannhäuserparodie eingesteht:
„Im Venusberg vergaß er Ehr’ und Pflicht!
— Merkwürdig, unser einem passiert so etwas nicht.“
“In Wahrheit sind die Perversen eher arme Teufel, die
außerordentlich hart für ihre schwer zu erringende Befriedigung
büßen.
Was die perverse Betätigung trotz aller Fremdheit des
Objektes und der Ziele zu einer so unverkennbar sexuellen
macht, ist der Umstand, daß der Akt der perversen Befrie-
digung doch zumeist in vollen Orgasmus und in Entleerung der
Genitalprodukte ausgeht. Das ist natürlich nur die Folge der
Erwachsenheit der Personen; beim Kinde sind Orgasmus und
Genitalexkretion nicht gut möglich, sie werden durch Anden-
tungen ersetzt, die wiederum nicht als sicher sexuell anerkannt
werden. ,
Ich muß noch etwas hinzufügen, um die. Würdigung der
sexuellen Perversionen zu vervollständigen. So verrufen sie
auch sein mögen, so scharf man sie auch der normalen Sexual-
betätigung gegenüberstellt, so zeigt doch die bequeme Beob-
achtung, daß dem Sexualleben der Normalen nur selten der
eine oder andere perverse Zug abgeht. Schon der Kuß hat
Anspruch auf den Namen eines perversen Aktes, denn er be-
steht in der Vereinigung zweier erogener Mundzonen an Stelle
der beiderlei Genitalien. Aber niemand verwirft ihn als pervers,
er wird im Gegenteil in der Bühnendarstellung als gemilderte
Andeutung des Sexualaktes zugelassen. Gerade das Küssen
kann aber leicht zur vollen Perversion werden, wenn es näm-
lieh so intensiv ausfällt, daß sich Genitalentladung und Or-
gasmus direkt daranschließen, was gar nicht so selten vor-
PERVERSE ZÜGE IM NORMALEN SEXUALLEBEN. 369
kommt. Im übrigen kann man erfahren, daß Betasten und
Beschauen des Objektes für den einen unentbehrliche Bedin-
gungen des Sexualgenusses sind, daß ein anderer auf der Höhe
der sexuellen Erregung kneift oder beißt, daß die größte Er-
regtheit beim Liebenden nicht immer durch das Genitale, son-
dern durch eine andere Körperregion des Objektes hervorgerufen
wird, und ähnliches in beliebiger Auswahl mehr. Es hat gar
keinen Sinn, Personen mit einzelnen solchen Zügen aus der
Reihe der Normalen auszuscheiden und zu den Perversen zu
stellen, vielmehr erkennt man immer deutlicher, daß das Wesent-
liche der Perversionen nicht in der Überschreitung des Sexual-
zieles, nicht in der Ersetzung der Genitalien, ja nicht einmal
immer in der Variation des Objektes besteht, sondern allein
in der Ausschließlichkeit, mit welcher sich diese Abweichungen
vollziehen, und durch welche der der Fortpflanzung dienende
Sexualakt beiseite geschoben wird. Sowie sich die perversen
Handlungen als vorbereitende oder als verstärkende Beiträge
in die Herbeiführung des normalen Sexualaktes einfügen, sind
sie eigentlich keine Perversionen mehr. Natürlich wird die
Kluft zwischen der normalen und der perversen Sexualität durch
Tatsachen dieser Art sehr verringert. Es ergibt sich ungezwun-
gen, daß die normale Sexualität aus etwas hervorgeht, was
vor ihr bestanden hat, indem sie einzelne Züge dieses Mate-
rials als unbrauchbar ausscheidet und die anderen zusammen-
faßt, um sie einem neuen, dem Fortpflanzungsziel, unterzu-
ordnen.
Ehe wir unsere Vertrautheit mit den Perversionen dazu
verwenden, um uns mit geklärten Voraussetzungen neuerlich
in das Studium der infantilen Sexualität zu vertiefen, muß ich
Sie auf einen wichtigen Unterschied zwischen beiden aufmerk-
sam machen. Die perverse Sexualität ist in der Regel ausge-
| .24*
370 XXI. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
eu ee
zeichnet zentriert, alles Tun drängt zu einem —- meist zu
einem einzigen — Ziel, ein Partialtrieb hat bei ihr die Ober-
hand, er ist entweder der einzig nachweisbare oder hat die
anderen seinen Absichten unterworfen. In dieser Hinsicht ist
zwischen der perversen und der normalen Sexualität kein an-
derer Unterschied, als daß die herrschenden Partialtriebe und
somit die Sexualziele verschiedene sind. Es ist sozusagen hier
wie dort eine gut organisierte Tyrannis, nur daß hier die eine,
dort eine andere Familie die Herrschaft an sich gerissen hat.
Die infantile Sexualität ist dagegen im großen und ganzen ohne
solche Zentrierung und Organisation, ihre einzelnen Partial-
triebe sind gleichberechtigt, ein jeder geht auf eigene Faust
dem Lusterwerb nach. Der Mangel wie die Anwesenheit der
Zentrierung stimmen natürlich gut zu der Tatsache, daß beide,
die perverse wie die normale Sexualität aus der infantilen her-
vorgegangen sind. Es gibt übrigens auch Fälle von perverser
Sexualität, die weit mehr Ähnlichkeit mit der infantilen haben,
indem sich zahlreiche Partialtriebe unabhängig von einander mit
ihren Zielen durchgesetzt oder besser: fortgesetzt haben. Man
spricht in diesen Fällen richtiger von Infantilismus des Sexual-
lebens als von Perversion.
Bo vorbereitet können wir an die Erörterung eines Vor-
schlages gehen, der uns sicherlich nicht erspart werden wird.
Man wird uns sagen: Warum steifen Sie sich darauf, die nach
Ihrem eigenen Zeugnis unbestimmbaren Äußerungen der Kind-
heit, aus denen später Sexuelles wird, auch schon Sexualität
zu nennen? Warum wollen Sie sich nicht lieber mit der phy-
siologischen Beschreibung begnügen und einfach sagen, beim
Säugling beobachte man bereits Tätigkeiten, wie das Lutschen
oder das Zurückhalten der Exkremente, die uns zeigen, daß
er nach Organlust strebt? Dadurch würden Sie doch die
DER INFANTILISMUS. — DIE ORGANLUST. 371
jedes Gefühl beleidigende Aufstellung eines Sexuallebens für
das kleinste Kind vermieden haben. — Ja, meine Herren, ich habe
gar nichts gegen die Organlust einzuwenden; ich weiß, daß die
höchste Lust der sexuellen Vereinigung auch nur eine an die
Tätigkeit der Genitalien gebundene Organlust ist. Aber können
Sie mir sagen, wann diese ursprünglich indifferente Organlust
den sexuellen Charakter bekommt, den sie in späteren Phasen
der Entwicklung unzweifelhaft besitzt? Wissen wir von der
„Organlust“ mehr als von der Sexualität? Sie werden ant-
worten, der sexuelle Charakter käme eben hinzu, wenn die Ge-
nitalien ihre Rolle zu spielen beginnen; sexuell deckt sich mit
senital. Sie werden selbst die Einwendung der Perversionen
ablehnen, indem Sie mir vorhalten, daß es bei den meisten
Perversionen doch auf die Erzielung des genitalen Orgasmus
ankomme, wenn auch auf einem anderen Wege als durch die
Vereinigung der Genitalien. Sie schaffen sich wirklich eine weit
bessere Position, wenn Sie aus der Charakteristik des Sexuellen
die infolge der Perversionen unhaltbare Beziehung zur Fort-
pflanzung streichen und dafür die Genitaltätigkeit voranstellen.
Aber dann sind wir nicht mehr weit auseinander; es stehen ein-
fach die Genitalorgane gegen die anderen Organe. Was machen
Sie aber nun gegen die vielfachen Erfahrungen, die Ihnen
zeigen, daß die Genitalien für die Lustgewinnung durch andere
Organe vertreten werden können, wie beim normalen Kuß, wie
in den perversen Praktiken der Lebewelt, wie in der Sympto-
matik der Hysterie? Bei dieser Neurose ist es ganz gewöhnlich,
daß Reizerscheinungen, Sensationen und Innervationen, selbst
die Vorgänge der Erektion, die an den Genitalien daheim sind,
auf andere entfernte Körperregionen verschoben werden (z. B.
bei der Verlegung nach oben auf Kopf und Gesicht). In solcher
Weise überführt, daß Sie nichts haben, was Sie zur Charak-
372 XXI. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
teristik Ihres Sexuellen festhalten können, werden Sie sich wohl
entschließen müssen, meinem Beispiel zu folgen und die Bezeich-
nung „sexuell“ auch auf die nach Organlust strebenden Betä-
tigungen der frühen Kindheit auszudehnen. Bi:
Und nun wollen Sie zu meiner Rechtfertigung noch
zwei weiteren Erwägungen Raum geben. ‚Wie Sie wissen,
heißen wir die zweifelhaften und unbestimmbaren Lustbetä-
tigungen der frühesten Kindheit sexuell, weil wir auf dem
‚Wege der Analyse von den Symptomen aus über unbestreit-
bar sexuelles Material zu ihnen gelangen. Es müßte nicht
darum auch selbst sexuell sein, zugestanden. Aber nehmen
Sie einen analogen Fall. Stellen Sie sich vor, wir hätten
keinen ‚Weg, die Entwicklung zweier dikotyledonen Pflanzen, |
des Apfelbaumes und der Bohne, aus ihren Samen zu be-
obachten, aber es sei uns in beiden Fällen möglich, ihre
Entwicklung vom voll ausgebildeten pflanzlichen Individuum
bis zum ersten Keimling mit zwei Keimblättern rückschreitend
zu verfolgen. Die beiden Keimblättehen sehen indifferent aus,
sind in beiden Fällen ganz gleichartig. Werde ich darum an-
nehmen, daß sie wirklich gleichartig sind, und daß die spezi-
fische Differenz zwischen Apfelbaum und Bohne erst später
in die Vegetation eintritt? Oder ist es biologisch korrekter
zu glauben, daß diese Differenz schon im Keimling vorhanden
ist, obwohl ich den Keimblättern eine Verschiedenheit nicht
ansehen kann. Dasselbe tun wir aber, wenn wir die Lüst bei
Säuglingsbetätigungen eine sexuelle heißen. Ob alle und jede
Organlust eine sexuelle genannt werden darf, oder ob es neben
der sexuellen eine andere gibt, welche diesen Namen nicht ver-
dient, das kann ich hier nicht diskutieren. Ich weiß zu wenig
von der Organlust und von ihren Bedingungen und darf mich
bei dem rückschreitenden Charakter der Analyse überhaupt
DIE SEXUELLE REINHEIT DES KINDES, 373
nn nn mn
nicht verwundern, wenn ich am letzten Ende bei derzeit un-
bestimmbaren: Momenten anlange. |
Und noch eins! Sie haben im ganzen für das, was Sie
behaupten wollen, für die sexuelle Reinheit des Kindes, sehr
wenig gewonnen, auch wenn Sie mich davon überzeugen’ können,
daß die Säuglingsbetätigungen besser als nicht sexuelle ein-
geschätzt werden: sollen. Denn schon vom dritten Lebensjahre
an ist das Sexualleben des Kindes all diesen Zweifeln ent-
zogen; um diese Zeit beginnen bereits die Genitalien sich zu
regen, es ergibt sich vielleicht regelmäßig eine Periode von
infantiler Masturbation, also Genitalbefriedigung. Die seelischen
und sozialen Äußerungen des Sexuallebens brauchen nicht mehr
vermißt zu werden; Objektwahl, zärtliche Bevorzugung ein-
zelner Personen, ja Entscheidung für eines der beiden Ge-
schlechter, Eifersucht, sind durch unparteiische Beobachtungen
unabhängig und vor der Zeit der Psychoanalyse festgestellt
worden und können von jedem Beobachter, der es sehen will,
bestätigt werden. Sie werden einwenden, an dem frühen Er-
wachen der Zärtlichkeit haben Sie nicht gezweifelt, nur daran,
daß diese Zärtlichkeit den „sexuellen“ Charakter trägt. Diesen
zu verbergen haben die Kinder allerdings zwischen drei und
acht Jahren bereits gelernt, aber wenn Sie aufmerksam sind,
können Sie für die „sinnlichen“ Absichten dieser Zärtlichkeit
immerhin genug Beweise sammeln, und was Ihnen dann noch
abgeht, werden die analytischen Ausforschungen mühelos in
reichem Maße. ergeben. Die Sexualziele dieser Lebenszeit
stehen in innigstem Zusammenhang mit der gleichzeitigen
Sexualforschung, von der ich Ihnen einige Proben gegeben
habe. Der perverse Charakter einiger dieser Ziele hängt na-
türlich von der konstitutionellen Unreife des Kindes ab, welches
das Ziel des Begattungsaktes noch nicht entdeckt hat,
BYE! XXI. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE,
Etwa vom sechsten bis achten Lebensjahr an macht sich
ein Stillstand und Rückgang in der Sexualentwicklung bemerk-
bar, der in den kulturell günstigsten Fällen den Namen einer
Latenzzeit verdient. Die Latenzzeit kann auch entfallen, sie
braucht keine Unterbrechung der Sexualbetätigung und der
Sexualinteressen auf der ganzen Linie mit sich zu bringen.
Die meisten Erlebnisse und seelischen Regungen vor dem Ein-
tritt der Latenzzeit verfallen dann der infantilen Amnesie, dem
bereits erörterten Vergessen, welches unsere erste Jugend ver-
hüllt und uns ihr entfremdet. In jeder Psychoanalyse stellt
sich die Aufgabe her, diese vergessene Lebensperiode in die
Erinnerung zurückzuführen; man kann sich der Vermutung
nicht erwehren, daß die in ihr enthaltenen Anfänge des Sexual-
lebens das Motiv zu diesem Vergessen ergeben haben, daß dies
Vergessen also ein Erfolg der Verdrängung ist.
Das Sexualleben des Kindes zeigt vom dritten Lebensjahr
an viel Übereinstimmung mit dem des Erwachsenen; es unter-
scheidet sich von dem letzteren, wie wir bereits wissen, durch
den Mangel einer festen Organisation unter dem Primat der
Genitalien, durch die unvermeidlichen Züge von Perversion und
natürlich auch durch weit geringere Intensität der ganzen
Strebung. Aber die für die Theorie interessantesten Phasen
der Sexual-, oder wie wir sagen wollen, der Libidoentwicklung,
liegen hinter diesem Zeitpunkt. Diese Entwicklung wird so
rasch durchlaufen, daß es der direkten Beobachtung wahr-
scheinlich niemals gelungen wäre, ihre flüchtigen Bilder fest-
zuhalten. Erst mit Hilfe der psychoanalytischen Durchforschung
der Neurosen ist es möglich geworden, noch weiter zurück-
liegende Phasen der Libidoentwicklung zu erraten. Es sind
dies gewiß nichts anderes als Konstruktionen, aber wenn Sie
die Psychoanalyse praktisch betreiben, werden Sie finden, daß
FRÜHERE PHASEN DER SEXUALORGANISATION. 37%
es notwendige und nutzbringende Konstruktionen sind. Wie es
zugeht, daß die Pathologie uns hier Verhältnisse verraten
kann, welche wir am normalen Objekt übersehen müssen, werden
Sie bald verstehen.
Vir können also jetzt angeben, wie sich das Sexualleben
des Kindes gestaltet, ehe der Primat der Genitalien hergestellt
ist, der sich in der ersten infantilen Epoche vor der :Latenzzeit
vorbereitet und von der Pubertät an dauernd organisiert. Es
besteht in dieser Vorzeit eine Art von lockerer Organisation,
die wir prägenital nennen wollen. Im Vordergrunde dieser
Phase stehen aber nicht die genitalen Partialtriebe, sondern
diesadistischen und analen. Der Gegensatz von männ-
lich und weiblich spielt hier noch keine Rolle; seine Stelle
nimmt der Gegensatz zwischen aktiv und passiv ein, den
man als den Vorläufer der sexuellen Polarität bezeichnen kann,
mit welcher er sich auch späterhin verlötet. Was uns an den
Betätigungen dieser Phase als männlich erscheint, wenn wir
sie von der Genitalphase her betrachten, erweist sich als Aus-
druck eines Bemächtigungstriebes, der leicht ins Grausame
übergreift. Strebungen mit passivem Ziel knüpfen sich an die
um diese Zeit sehr bedeutsame erogene Zone des Darmausganges.
Schau- und Wißtrieb regen sich kräftig; das Genitale nimmt
am Sexualleben eigentlich nur in seiner Rolle als Exkretions-
organ für den Harn Anteil. Es fehlt den Partialtrieben dieser
Phase nicht an Objekten, aber diese Objekte fallen nicht not-
wendig zu einem Objekt zusammen. Die sadistisch-anale Orga-
nisation ist die nächste Vorstufe für die Phase des Genital-
primats. Ein eingehenderes Studium weist nach, wieviel von
ihr für die spätere endgültige Gestaltung erhalten bleibt, und
auf welchen Wegen ihre Partialtriebe zur Einreihung in die
neue Genitalorganisation genötigt werden. Hinter der sadistisch-
376 XXL ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
analen Phase der Libidoentwicklung gewinnen wir noch den
Ausblick auf eine frühere, noch mehr primitive Organisations-
stufe, auf welcher die erogene Mundzone die Hauptrolle spielt.
Sie können erraten, daß die Sexualbetätigung des Lutschens
ihr angehört, und dürfen das Verständnis der alten Ägypter
bewundern, deren Kunst das Kind, auch den göttlichen Horus,
durch den Finger im Munde charakterisiert. Abraham hat
erst kürzlich Mitteilungen darüber gemacht, welche Spuren
diese primitive orale Phase für das Sexualleben späterer Jahre
hinterläßt.
Meine Herren! Ich kann ja vermuten, daß die letzten
Mitteilungen über die Sexualorganisationen Ihnen mehr Bela-
stung als Belehrung gebracht haben. Vielleicht bin ich auch
wieder zu weit in Einzelheiten eingegangen. Aber haben Sie
Geduld; was Sie da gehört haben, wird Ihnen durch spätere
Verwendung wertvoller werden. Halten Sie für jetzt an dem
Eindruck fest, daß das Sexualleben — wie wir sagen: die
Libidofunktion — nicht als etwas Fertiges auftritt, auch nicht
in seiner eigenen Ähnlichkeit weiterwächst, sondern eine Reihe
von aufeinanderfolgenden Phasen durchmacht, die einander nicht
gleichsehen, daß es also eine mehrmals wiederholte Entwicklung
ist wie von der Raupe zum Schmetterling. Wendepunkt der
Entwicklung ist die Unterordnung aller sexuellen Partial-
triebe unter den Primat der Genitalien und damit die Unter-
werfung der Sexualität unter die Fortpflanzungsfunktion. Vor-
her ein sozusagen zerfahrenes Sexualleben, selbständige Be-
tätigung der einzelnen, nach Organlust strebenden Partialtriebe.
Diese Anarchie gemildert durch Ansätze zu „prägenitalen‘
Organisationen, zunächst die sadistisch-anale Phase, hinter ihr
die orale, vielleicht die primitivste. Dazu die verschiedenen,
noch ungenau bekannten Prozesse, welche die eine Organisations-
ENTWICKLUNG DER OBJEKTBEZIEHUNG., 377
stufe in die spätere und nächsthöhere überführen. Welche Be-
deutung es für die Einsicht in die Neurosen hat, daß die Libido
einen so langen und absatzreichen Entwicklungsweg zurück-
legt, werden wir ein nächstes Mal erfahren.
Heute werden wir noch eine andere Seite dieser Entwicklung
verfolgen, nämlich die Beziehung der sexuellen Partialtriebe
zum Objekt. Vielmehr wir werden einen flüchtigen Überblick
über diese Entwicklung nehmen, um bei einem ziemlich späten
Ergebnis derselben länger zu verweilen. Also einige der Kom-
ponenten des Sexualtriebes haben von vorneherein ein Objekt
und halten es fest, so der Bemächtigungstrieb (Sadismus), der
Schau- und Wißtrieb. Andere, die deutlicher an bestimmte
erogene Körperzonen geknüpft sind, haben es nur im Anfang,
solange sie sich noch an die nicht sexuellen Funktionen an-
lehnen, und geben es auf, wenn sie sich von diesen loslösen.
So ıst das erste Objekt der oralen Komponente des Sexual-
triebes die Mutterbrust, welche das Nahrungsbedürfnis des
Säuglings befriedigt. Im Akte des Lutschens macht sich die
beim Saugen mitbefriedigte erotische Komponente selbständig,
gibt das fremde Objekt auf und ersetzt es durch eine Stelle
am eigenen Körper. Der orale Trieb wird autoerotisch, wie
es die analen und die anderen erogenen Triebe von vornherein
sind. Die weitere Entwicklung hat, um es aufs knappste aus-
zudrücken, zwei Ziele: erstens den Autoerotismus zu verlassen,
das Objekt am eigenen Körper wiederum gegen ein fremdes
Objekt zu vertauschen, und zweitens: die verschiedenen Objekte
der einzelnen Triebe zu unifizieren, durch ein einziges Objekt zu
ersetzen. Das kann natürlich nur gelingen, wenn dies eine Ob-
jekt wiederum ein ganzer, dem eigenen ähnlicher Körper ist. Es
kann sich auch nicht vollziehen, ohne daß eine Anzahl der auto-
erotischen Triebregungen als unbrauchbar zurückgelassen wird.
378 XXI. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
‚Die Prozesse der Objektfindung sind ziemlich verwickelt,
haben bisher auch noch keine übersichtliche Darstellung ge-
funden. Heben wir für unsere Absicht hervor, daß, wenn der
Prozeß in den Kinderjahren vor der Latenzzeit einen gewissen
Abschluß erreicht hat, das gefundene Objekt sich als fast iden-
tisch erweist mit dem ersten, durch Anlehnung gewonnenen
Objekt des oralen Lusttriebes.. Es ist, wenn auch nicht die
Mutterbrust, so doch die Mutter. Wir nennen die Mutter das
erste Liebesobjekt. Von Liebe sprechen wir nämlich, wenn
wir die seelische Seite der Sexualstrebungen in den Vorder-
grund rücken und die zu Grunde liegenden körperlichen oder
„sinnlichen“ Triebanforderungen zurückdrängen oder für einen
Moment vergessen wollen. Um die Zeit, da die Mutter Liebes-
objekt wird, hat auch bereits beim Kinde die psychische Ar-
beit der Verdrängung begonnen, welche seinem Wissen die
Kenntnis eines Teiles seiner Sexualziele entzieht. An diese Wahl
der Mutter zum Liebesobjekt knüpft nun all das an, was unter
dem Namen des „Ödipuskomplexes“ in der psychoanalytischen
Aufklärung der Neurosen zu so großer Bedeutung gekommen
ist und einen vielleicht nicht geringeren Anteil an dem Wider-
stand gegen die Psychoanalyse gewonnen hat.
Hören Sie eine kleine Begebenheit an, die sich im Laufe
dieses Krieges zugetragen hat: Einer der wackeren Jünger
der Psychoanalyse befindet sich als Arzt an der deutschen
Front irgendwo in Polen und erregt die Aufmerksamkeit der
Kollegen dadurch, daß er gelegentlich eine unerwartete Be-
einflussung eines Kranken zu stande bringt. Auf Befragen
bekennt er, daß er mit den Mitteln der Psychoanalyse arbeitet,
und muß sich bereit erklären, den Kollegen von seinem Wissen
mitzuteilen. Allabendlich versammeln sich nun die Ärzte des
Korps, Kollegen und Vorgesetzte, um den Geheimlehren der
DER ÖDIPUSKOMPLEX 379
Analyse zu lauschen. Das geht eine Weile gut, aber nachdem
er den Hörern vom Ödipuskomplex gesprochen hat, erhebt sich
ein Vorgesetzter und äußert, das glaube er nicht, es sei eine
Gemeinheit des Vortragenden, ihnen, braven Männern, die für
ihr Vaterland kämpfen, und Familienvätern solche Dinge zu
erzählen, und er verbiete die Fortsetzung der Vorträge. Da-
mit war es zu Ende. Der Analytiker ließ sich an einen an-
deren Teil der Front versetzen. Ich glaube aber, es steht
schlecht, wenn der deutsche Sieg einer solchen „Organisation“
der Wissenschaft bedarf, und die deutsche Wissenschaft wird
diese Organisation nicht gut vertragen.
Nun werden Sie darauf gespannt sein zu erfahren, was
dieser schreckliche Ödipuskomplex enthält. Der Name sagt
es Ihnen. Sie kennen alle die griechische Sage vom König
Ödipus, der durch das Schicksal dazu bestimmt ist, seinen
Vater zu töten und seine Mutter zum Weib zu nehmen, der
alles tut, um dem Orakelspruch zu entgehen, und sich dann
durch Blendung bestraft, nachdem er erfahren, daß er diese
beiden Verbrechen unwissentlich doch begangen hat. Ich hoffe,
viele von Ihnen haben die erschütternde Wirkung der Tragödie,
in welcher Sophokles diesen Stoff behandelt, an sich selbst
erlebt. Das Werk des attischen Dichters stellt dar, wie die
längst vergangene Tat des Ödipus durch eine kunstvoll ver-
zögerte und durch immer neue Anzeichen angefachte Unter-
suchung allmählich enthüllt wird; es hat insofern eine gewisse
Ähnlichkeit mit dem Fortgang einer Psychoanalyse. Im Ver-
laufe des Dialogs kommt es vor, daß die verblendete Mutter-
Gattin Jokaste sich der Fortsetzung der Untersuchung wider-
setzt. Sie beruft sich darauf, daß vielen Menschen im Traum
zu teil geworden, daß sie der Mutter beiwohnen, aber Träume
dürfe man gering achten. Wir achten Träume nicht gering,
380 XXI. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE,
am wenigsten typische Träume, solche, die sich vielen Men-
schen ereignen, und zweifeln nicht daran, daß der von Jokaste
erwähnte Traum innig mit dem befremdenden und erschrecken-
den Inhalt der Sage zusammenhängt.
Es ist zu verwundern, daß die Tragödie des Sophokles
nicht vielmehr empörte Ablehnung beim Zuhörer hervorruft,
eine ähnliche und weit mehr berechtigte Reaktion als die un-
seres schlichten Militärarztes.. Denn sie ist im Grunde ein un-
moralisches Stück, sie hebt die sittliche Verantwortlichkeit des
Menschen auf, zeigt göttliche Mächte als die Anordner des
Verbrechens und die Ohnmacht der sittlichen Regungen des
Menschen, die sich gegen das Verbrechen wehren. Man könnte
leicht glauben, daß der Sagenstoff eine Anklage der Götter
und des Schicksals beabsichtige, und in den Händen des kri-
tischen, mit den Göttern zerfallenen Euripides wäre es wahr-
scheinlich eine solche Anklage geworden. Aber beim gläubigen
Sophokles ist von dieser Verwendung keine Rede; eine
fromme Spitzfindigkeit, es sei die höchste Sittlichkeit, sich
dem Willen der Götter, auch wenn er Verbrecherisches an-
ordne, zu beugen, hilft über die Schwierigkeit hinweg. Ich
kann nicht finden, daß diese Moral zu den Stärken des Stückes
gehört, aber sie ist für die Wirkung desselben gleichgültig.
Der Zuhörer reagiert nicht auf sie, sondern auf den geheimen
Sinn und Inhalt der Sage. Er reagiert so, als hätte er durch
Selbstanalyse den Ödipuskomplex in sich erkannt und den
Götterwillen sowie das Orakel als erhöhende Verkleidungen
seines eigenen Unbewußten entlarvt. Als ob er sich der Wünsche,
den Vater zu beseitigen und an seiner Statt die Mutter zum
‚Weibe zu nehmen, erinnern und sich über sie entsetzen müßte.
Er versteht auch die Stimme des Dichters so, als ob sie ihm
sagen wollte: Du sträubst dich vergebens gegen deine Verant-
DAS MENSCHLICHE SCHULDBEWUSSTSEIN. 381
wortlichkeit und beteuerst, was du gegen diese verbrecherischen
Absichten getan hast. Du bist doch schuldig, denn du hast
sie nicht vernichten können; sie bestehen noch unbewußt in dir.
Und darin ist psychologische Wahrheit enthalten. Auch wenn
der Mensch seine bösen Regungen ins Unbewußte verdrängt hat
und sich dann sagen möchte, daß er für sie nieht verantwortlich
ist, wird er doch gezwungen, diese Verantwortlichkeit als eın
Schuldgefühl von ihm unbekannter Begründung zu ver-
spüren. }
Es ist ganz unzweifelhaft, daß man in dem Ödipuskomplex
eine der wichtigsten Quellen des Schuldbewußtseins sehen darf,
von dem die Neurotiker so oft gepeinigt werden. Aber noch
mehr: in einer Studie über die Anfänge der menschlichen Re-
ligion und Sittlichkeit, die ich 1913 unter dem Titel ‚„Totem
und Tabu“ veröffentlicht habe, ist mir die Vermutung nahe
gekommen, daß vielleicht die Menschheit als Ganzes ihr Schuld-
bewußtsein, die letzte Quelle von Religion und Sittlichkeit, zu
Beginn ihrer Geschichte am Ödipuskomplex erworben hat. Ich
möchte Ihnen gerne mehr darüber sagen, aber ich unterlasse
es besser. Es ist schwer, von diesem Thema abzubrechen, wenn
man mit ihm begonnen hat, und wir müssen zur individuellen
Psychologie zurückkehren.
Was läßt also die direkte Beobachtung des Kindes zur
Zeit der Objektwahl vor der Latenzzeit vom Ödipuskomplex
erkennen? Nun, man sieht leicht, daß der kleine Mann die
Mutter für sich allein haben will, die Anwesenheit des Vaters
als störend empfindet, unwillig wird, wenn dieser sich Zärt-
lichkeiten gegen die Mutter erlaubt, seine Zufriedenheit äußert,
wenn der Vater verreist oder abwesend ist. Häufig gibt er
seinen Gefühlen direkten Ausdruck in Worten, verspricht der
Mutter, daß er sie heiraten wird. Man wird meinen, das sei
582 XXI. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
wenig im Vergleich zu den Taten des Ödipus, aber es ist tat-
sächlich genug, es ist im Keime dasselbe. Die Beobachtung
wird häufig durch den Umstand verdunkelt, daß dasselbe Kind
gleichzeitig bei anderen Gelegenheiten eine große Zärtlichkeit
für den Vater kundgibt; allein solche gegensätzliche — oder
besser gesagt: ambivalente — Gefühlseinstellungen, die
beim Erwachsenen zum Konflikt führen würden, vertragen
sich beim Kinde eine lange Zeit ganz gut miteinander, wie
sie später im Unbewußten dauernd nebeneinander Platz finden.
Man wird auch einwenden wollen, daß das Benehmen des kleinen
Knaben egoistischen Motiven entspringt und keine Berechtigung
zur Aufstellung eines erotischen Komplexes gibt. Die Mutter
sorgt für alle Bedürfnisse des Kindes, und das Kind hat darum
ein Interesse daran, daß sie sich um keine andere Person be-
kümmere Auch das ist richtig, aber es wird bald klar, dab
in dieser wie in ähnlichen Situationen das egoistische Interesse
nur die Anlehnung bietet, an welche die erotische Strebung an-
knüpft. Zeigt der Kleine die unverhüllteste sexuelle Neugierde
für seine Mutter, verlangt er, nachts bei ihr zu schlafen, drängt
sich zur Anwesenheit bei ihrer Toilette auf oder unternimmt
er gar Verführungsversuche, wie es die Mutter so oft fest-
stellen und lachend berichten kann, so ist die erotische Natur
der Bindung an die Mutter doch gegen jeden Zweifel gesichert.
Man darf auch nicht daran vergessen, daß die Mutter dieselbe
Fürsorge für ihr Töchterchen entfaltet, ohne dieselbe Wirkung
zu erzielen, und daß der Vater oft genug mit ihr in der Be-
mühung um den Knaben wetteifert, ohne daß es ihm gelänge,
sich dieselbe Bedeutung wie die Mutter zu erwerben. Kurz,
daß das Moment der geschlechtlichen Bevorzugung durch keine
Kritik aus der Situation zu eliminieren ist. Vom Stand-
punkt des egoistischen Interesses wäre es nur unklug von dem
DIE BEOBACHTUNG DES ÖDIPUSKOMPLEXES IN DER KINDHEIT. 383
kleinen Mann, wenn er nicht lieber zwei Personen in seinen
Diensten dulden würde, als nur eine von ihnen.
Ich habe, wie Sie merken, nur das Verhältnis des Knaben
zu Vater und Mutter geschildert. Für das kleine Mädchen ge-
staltet es sich mit den notwendigen Abänderungen ganz ähn-
lich. Die zärtliche Anhänglichkeit an den Vater, das Bedürfnis,
die Mutter als überflüssig zu beseitigen und ihre Stelle ein-
_ zunehmen, eine bereits mit den Mitteln der späteren Weiblich-
keit arbeitende Koketterie ergeben gerade beim kleinen Mädchen
ein reizvolles Bild, welches uns an den Ernst und die möglichen
schweren Folgen hinter dieser infantilen Situation vergessen
läßt. Versäumen wir nicht hinzuzufügen, daß häufig die El-
tern selbst einen entscheidenden Einfluß auf die Erweckung
der Ödipuseinstellung des Kindes üben, indem sie selbst der
geschlechtlichen Anziehung folgen und, wo mehrere Kinder
sind, in der deutlichsten Weise der Vater das Töchterchen und
die Mutter den Sohn in ihrer Zärtlichkeit bevorzugen. Aber
dıe spontane Natur des kindlichen Ödipuskomplexes kann nicht
einmal durch dieses Moment ernstlich erschüttert werden. Der
Ödipuskomplex erweitert sich zum Familienkomplex, wenn an-
dere Kinder dazukommen. Er motiviert nun mit neuerlicher
Anlehnung an die egoistische Schädigung, daß diese Geschwister
mit Abneigung empfangen und unbedenklich durch den Wunsch
beseitigt werden. Diesen Haßempfindungen geben die Kinder
sogar in der Regel weit eher wörtlichen Ausdruck als den
aus dem Elternkomplex entspringenden. Geht ein solcher Wunsch
in Erfüllung und nimmt der Tod den unerwünschten Zuwachs
binnen kurzem wieder weg, so kann man aus späterer Analyse
erfahren, ‘ein wie wichtiges Erlebnis dieser Todesfall für das
Kind gewesen ist, wiewohl er im Gedächtnis desselben nicht
gehaftet zu haben braucht. Das durch die Geburt eines Ge-
Freud, Voriesungen. III. 25
384 XXI ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
schwisterchens in die zweite Linie gedrängte, für die erste Zeit
von der Mutter fast isolierte Kind, vergißt ihr diese Zurück-
stellung nur schwer; Gefühle, die man beim Erwachsenen als
schwere Erbitterung bezeichnen würde, stellen sich bei ihm
ein und werden oft zur Grundlage einer dauernden Entfrem-
dung. Daß die Sexualforschung mit all ihren Konsequenzen
gewöhnlich an diese Lebenserfahrung des Kindes anknüpft,
haben wir schon erwähnt. Mit dem Heranwachsen dieser Ge-
schwister erfährt die Einstellung zu ihnen die bedeutsamsten
Wandlungen. Der Knabe kann die Schwester zum Liebesobjekt
nehmen als Ersatz für die treulose Mutter; zwischen mehreren
Brüdern, die um ein jüngeres Schwesterchen werben, ergeben
sich schon in der Kinderstube die für das spätere Leben be-
deutsamen Situationen einer feindseligen Rivalität. Ein kleines
Mädchen findet im älteren Bruder einen Ersatz für den Vater,
der sich nicht mehr wie in den frühesten Jahren zärtlich um
sie kümmert, oder sie nimmt eine jüngere Schwester zum Er-
satz für das Kind, das sie sich vergeblich vom Vater ge-
wünscht hat.
Solches und sehr viel mehr von ähnlicher Natur zeigt
Ihnen die direkte Beobachtung der Kinder und die Würdigung
ihrer klar erhaltenen, von der Analyse nicht beeinflußten Er-
innerungen aus den Kinderjahren. Sie werden daraus unter an-
derem den Schluß ziehen, daß die Stellung eines Kindes in
der Kinderreihe ein für die Gestaltung seines späteren Lebens
überaus wichtiges Moment ist, welches in jeder Lebensbeschrei-
bung Rücksicht finden sollte. Aber, was wichtiger ist, Sie
werden sich angesichts dieser mühelos zu gewinnenden Auf-
klärungen der Äußerungen der Wissenschaft zur Erklärung
des Inzestverbotes nicht ohne Lächeln erinnern können. Was
ist da nicht alles erfunden worden! Die geschlechtliche Nei-
DIE INZESTSCHEU. 385
gung soll durch das Zusammenleben von Kindheit her von den
andersgeschlechtlichen Mitgliedern derselben Familie abgelenkt
worden sein, oder eine biologische Tendenz zur Vermeidung der
Inzucht soll in der angeborenen Inzestscheu seine psychische
Repräsentanz finden! Wobei noch ganz daran vergessen wird,
daß es keines so unerbittlichen Verbotes durch Gesetz und Sitte
bedürfte, wenn es irgend verläßliche natürliche Schranken gegen
die Inzestversuchung gäbe. Im Gegenteil liegt die Wahrheit.
Die erste Objektwahl der Menschen ist regelmäßig eine in-
zestuöse, beim Manne auf Mutter und Schwester gerichtete,
und es bedarf der schärfsten Verbote, um diese fortwirkende
infantile Neigung von der Wirklichkeit abzuhalten. Bei den
heute noch lebenden Primitiven, den wilden Völkern, sind die
Inzestverbote noch viel schärfer als bei uns, und kürzlich hat
Th. Reik in einer glänzenden Arbeit gezeigt, daß die Puber-
tätsriten der Wilden, die eine Wiedergeburt darstellen, den
Sinn haben, die inzestuüöse Bindung der Knaben an ihre
Mutter aufzuheben und ihre Versöhnung mit dem Vater her-
zustellen.
Die Mythologie belehrt Sie, daß der von den Menschen
angeblich so verabscheute Inzest unbedenklich den Göttern zu-
gestanden wird, und aus der alten Geschichte können Sie er-
fahren, daß die inzestuöse Schwesterehe für die Person des
Herrschers geheiligte Vorschrift war (bei den alten Pharaonen,
den Incas von Peru). Es handelt sich also um ein der gemeinen
Menge versagtes Vorrecht.
Der Mutterinzest ist das eine Verbrechen des Ödipus, der
Vatermord das andere. Nebenbei erwähnt, es sind auch die
beiden großen Verbrechen, welche die erste “sozial-religiöse In-
stitution der Menschen, der Totemismus, verpönt. Wenden wir
uns nun von der direkten Beobachtung des Kindes zur ana-
25*
386 XXI. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
lytischen Erforschung des neurotisch gewordenen Erwachsenen.
Was leistet die Analyse zur weiteren Kenntnis des Ödipus-
komplexes? Nun, das ist kurz zu sagen. Sie weist ihn so
auf, wie ihn die Sage erzählt; sie zeigt, daß jeder dieser Neu-
rotiker selbst ein Ödipus war oder, was auf dasselbe ausgeht,
in der Reaktion auf den Komplex ein Hamlet geworden ist.
Natürlich ist die analytische Darstellung des Ödipuskomplexes
eine Vergrößerung und Vergröberung der infantilen Skizze. Der
Haß gegen den Vater, die Todeswünsche gegen ihn, sind nicht
mehr schüchtern angedeutet, die Zärtlichkeit für die Mutter
bekennt sich zum Ziel, sie als Weib zu besitzen. Dürfen wir
diese grellen und extremen Gefühlsregungen wirklich jenen
zarten Kinderjahren zutrauen oder täuscht uns die Analyse
durch die Einmengung eines neuen Moments? Es ist nicht
schwer, ein solches aufzufinden. Jedesmal, wenn ein Mensch
über Vergangenes berichtet, und sei er auch ein Geschicht-
schreiber, haben wir in Betracht zu ziehen, was er unabsicht-
lich aus der Gegenwart oder aus dazwischenliegenden Zeiten
in die Vergangenheit zurückversetzt, so daß er das Bild derselben
fälscht. Im Falle des Neurotikers ist es sogar fraglich, ob
diese Rückversetzung eine ganz und gar unabsichtliche ist;
wir werden Motive für sie später kennen lernen und der Tat-
sache des „Rückphantasierens“ in frühe Vergangenheit über-
haupt gerecht werden müssen. Wir entdecken auch leicht, daß
der Haß gegen den Vater durch eine Anzahl von Motiven ver-
stärkt ist, die aus späteren Zeiten und Beziehungen stammen,
daß die sexuellen Wünsche auf die Mutter in Formen gegossen
sind, die dem Kinde noch fremd sein mußten. Aber es wäre
ein vergebliches Bemühen, wenn wir das Ganze des Ödipus-
komplexes durch Rückphantasieren erklären und auf spätere
Zeiten beziehen wollten. Der infantile Kern und auch mehr
DER ÖDIPUSKOMPLEX BEIM NEUROTIKER. 387
oder weniger vom Beiwerk bleibt bestehen, wie ihn die direkte
Beobachtung des Kindes bestätigt.
Die klinische Tatsache, die uns hinter der analytisch fest-
gestellten Form des Ödipuskomplexes entgegentritt, ist nun von
der höchsten praktischen Bedeutung. Wir erfahren, daß zur
Zeit der Pubertät, wenn der Sexualtrieb zuerst in voller Stärke
seine Ansprüche erhebt, die alten familiären und inzestuösen
Objekte wieder aufgenommen und von neuem libidinös besetzt
werden. Die infantile Objektwahl war nur ein schwächliches,
aber Richtung gebendes Vorspiel der Objektwahl in der Pu-
bertät. Hier spielen sich nun sehr intensive Gefühlsvorgänge
in der Richtung des Ödipuskomplexes oder in der Reaktion
auf ihn ab, die aber, weil ihre Voraussetzungen unerträgliche
geworden sind, zum großen Teil dem Bewußtsein ferne bleiben
müssen. Von dieser Zeit an muß sich das menschliche Indi-
viduum der großen Aufgabe der Ablösung von den Eltern
widmen, nach deren Lösung es erst aufhören kann Kind zu
sein, um ein Mitglied der sozialen Gemeinschaft zu werden.
Die Aufgabe besteht für den Sohn darin, seine libidinösen
Wünsche von der Mutter zu lösen, um sie für die Wahl eines
realen fremden Liebesobjektes zu verwenden, und sich mit dem
Vater zu versöhnen, wenn er in Gegnerschaft zu ihm verblieben
ist, oder sich von seinem Druck zu befreien, wenn er in Reak-
tion auf die infantile Auflehnung in die Unterwürfigkeit ge-
gen ihn geraten ist. Diese Aufgaben ergeben sich für jeder-
mann; es ist beachtenswert, wie selten ihre Erledigung in
idealer Weise, d. h. psychologisch wie sozial korrekt, gelingt.
Den Neurotikern aber gelingt diese Lösung überhaupt nicht,
der Sohn bleibt sein lebelang unter die Autorität des Vaters
gebeugt und ist nicht im stande, seine Libido auf ein fremdes
Sexualobjekt zu übertragen. Dasselbe kann mit Veränderung
388 XXi. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE,
der Beziehung das Los der Tochter werden. In diesem Sinne.
gilt der Ödipuskomplex mit Recht als der Kern der Neurosen.
Sie ahnen, meine Herren, wie flüchtig ich über eine große
Anzahl von praktisch wie theoretisch bedeutsamen Verhält-
nissen, die mit dem Ödipuskomplex zusammenhängen, hinweg-
setze. Ich gehe auch auf seine Variationen und seine mögliche
Umkehrung nicht ein. Von den entfernteren Beziehungen des-
selben will ich Ihnen nur noch andeuten, daß er sich als höchst
bestimmend für die dichterische Produktion erwiesen hat.
Otto Rank hat in einem verdienstvollen Buch gezeigt, daß
die Dramatiker aller Zeiten ihre Stoffe hauptsächlich dem
Ödipus- und Inzestkomplex, dessen Variationen und Ver-
schleierungen, entnommen haben. Es soll auch nicht unerwähnt
bleiben, daß die beiden verbrecherischen Wünsche des Ödipus-
komplexes längst vor der Zeit der Psychoanalyse als die rich-
tigen Repräsentanten des ungehemmten Trieblebens erkannt wor-
den sind. Unter den Schriften des Enzyklopädisten Diderot
finden Sie einen berühmten Dialog „Le neveu de Rameau“,
den kein Geringerer als Goethe deutsch bearbeitet hat. Dort
können Sie den merkwürdigen Satz lesen: Si le petit sau-
vage etait abandonne a lui-m&me, qwil conserva
toute son imbecillite et qwWil reunit au peu de rai-
son de l’enfant au berceau la violence des passions
de ’homme de trente ans, il tordrait le cou & son
pere et coucherait avec sa mö&re.
Aber etwas anderes kann ich nicht übergehen. Die Mutter-
Gattin des Ödipus soll uns nicht vergeblich an den Traum
gemahnt haben. Erinnern Sie sich noch des Resultates unserer
Traumanalysen, daß die traumbildenden Wünsche so häufig
perverser, inzestuöser Natur sind oder eine nicht geahnte Feind-
seligkeit gegen nächste und geliebte Angehörige verraten? Wir
DER ÖDIPUSKOMPLEX IN DER LITERATUR. 389
haben es damals unaufgeklärt gelassen, woher diese bösen Re-
gungen stammen. Nun können Sie sich’s selbst sagen. Es sind
frühinfantile, fürs bewußte Leben längst aufgegebene Unter-
bringungen der Libido und Objektsbesetzungen, die sich nächt-
licherweile noch als vorhanden und als in gewissem Sinne
leistungsfähig erweisen. Da aber alle Menschen solche per-
verse, inzestuöse und todeswütige Träume haben, nicht bloß
die Neurotiker, dürfen wir den Schluß ziehen, daß auch die
heute Normalen den Entwicklungsweg über die Perversionen
und die Objektbesetzungen des Ödipuskomplexes zurückgelegt
haben, daß dieser Weg der der normalen Entwicklung ist, daß
die Neurotiker uns nur vergrößert und vergröbert zeigen, was
uns die Traumanalyse auch beim Gesunden verrät. Und dies
ist eines der Motive, weshalb wir das Studium der Träume
dem der neurotischen Symptome vorangeschickt haben.
ZWEIUNDZWANZIGSTE VORLESUNG,
ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
GESICHTSPUNKTE DER ENTWICKLUNG UND REGRESSION.
ÄTIOLOGIE.
Meine Damen und Herren! Wir. haben gehört, daß die
Libidofunktion eine weitläufige Entwicklung durchmacht, bis
sie in der normal genannten Weise in den Dienst der Fort-
pflanzung treten kann. Ich möchte Ihnen nun vorführen,
welche Bedeutung diese Tatsache für die Verursachung der
Neurosen hat. 2
Ich glaube, wir befinden uns im Einklang mit den Lehren
der allgemeinen Pathologie, wenn wir annehmen, daß eine solche
Entwicklung zweierlei Gefahren mit sich bringt, erstens die
der Hemmung und zweitens die der Regression. Das
heißt, bei der allgemeinen Neigung biologischer Vorgänge zur
Variation wird es sich ereignen müssen, daß nicht alle vorbe-
reitenden Phasen gleich gut durchlaufen und vollständig über-
wunden werden; 'Anteile der Funktion werden dauernd auf
diesen frühen Stufen zurückgehalten werden und dem Gesamt-
bild der Entwicklung wird ein gewisses Maß von Entwicklungs-
hemmung beigemengt sein.
Suchen wir uns Analogien zu diesen Vorgängen auf an-
deren Gebieten. Wenn ein ganzes Volk seine Wohnsitze ver-
läßt, um neue aufzusuchen, wie es in früheren Perioden der
Menschengeschichte oftmals geschah, so ist es gewiß nicht in
seiner Vollzahl an dem neuen Orte angekommen. Von anderen
PATHOGENE FOLGEN DER LIBIDOENTWICKLUNG. 391
Verlusten abgesehen, muß es sich regelmäßig N haben,
daß kleine Haufen oder Verbände der Wanderer unterwegs
Halt machten und sich an diesen Stationen niederließen, wäh-
rend die Hauptmenge weiterzog. Oder, um näherliegende Ver-
gleiche zu suchen, Sie wissen, daß bei den höchsten Säuge-
tieren die männlichen Keimdrüsen, die ursprünglich tief im
Inneren des Bauchraumes lagern, zu einer gewissen Zeit des
Intrauterinlebens eine Wanderung antreten, die sie fast un-
mittelbar unter die Haut des Beckenendes geraten läßt. Als
Folge dieser Wanderung findet man bei einer Anzahl von
männlichen Individuen, daß eines der paarigen Organe in der
Beckenhöhle zurückgeblieben ist, oder daß es eine dauernde
Lagerung im sogenannten Leistenkanal gefunden hat, den beide
auf ıhrer Wanderung passieren müssen, oder daß wenigstens
dieser Kanal offen geblieben ist, der normalerweise nach Ab-
schluß des Lagewechsels der Keimdrüsen verwachsen soll. Als
ich als junger Student meine erste wissenschaftliche Arbeit
unter der Leitung v. Brücke’s ausführte, beschäftigte ich mich
. mit dem Ursprung der hinteren Nervenwurzeln im Rücken-
mark eines kleinen, noch sehr archaisch gebildeten Fisches.
Ich fand, daß die Nervenfasern dieser Wurzeln aus großen
Zellen im Hinterhorn der grauen Substanz hervorgehen, was
bei anderen Rückenmarkstieren nicht mehr der Fall ist. Aber
ich entdeckte auch bald darauf, daß solche Nervenzellen sich
außerhalb der grauen Substanz an der ganzen Strecke bis zum
sogenannten Spinalganglion der hinteren Wurzel vorfinden,
woraus ich den Schluß zog, daß die Zellen dieser Ganglien-
haufen aus dem Rückenmark in die: Wurzelstrecke der Nerven
gewandert sind. Dies zeigt auch die Entwicklungsgeschichte;
bei diesem kleinen Fisch war aber der ganze Weg der Wan-
derung durch zurückgebliebene Zellen kenntlich gemacht. Bei
392 XXII. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
tieferem Eingehen wird es Ihnen nicht schwer fallen, die
schwachen Punkte dieser Vergleichungen aufzuspüren. Wir
wollen es darum direkt aussprechen, daß wir es für jede ein-
zelne Sexualstrebung für möglich halten, daß einzelne Anteile
von ihr auf früheren Stufen der Entwicklung zurückgeblieben
sind, wenngleich andere Anteile das Endziel erreicht haben
mögen. Sie erkennen dabei, daß wir uns jede solche Strebung
als eine seit Lebensbeginn kontinuierliche Strömung vorstellen,
die wir gewissermaßen künstlich in gesondert aufeinander-
folgende Schübe zerlegen. Ihr Eindruck, daß diese Vorstel-
lungen einer weiteren Klärung bedürftig sind, hat Recht, aber
der Versuch würde uns zu weit abführen. Lassen Sie uns noch
feststellen, daß ein solches Verbleiben einer Partialstrebung
auf einer früheren Stufe eine Fixierung (des Triebes näm-
lich) heißen soll.
Die zweite Gefahr einer so stufenweisen Entwicklung liegt
darin, daß auch die Anteile, die es weiter gebracht haben,
leicht in rückläufiger Bewegung auf eine dieser früheren
Stufen zurückkehren können, was wir eine Regression
nennen. Zu einer solchen Regression wird sich die Strebung
veranlaßt finden, wenn die Ausübung ihrer Funktion, also die
Erreichung ihres Befriedigungszieles, in der späteren oder höher
entwickelten Form auf starke äußere Hindernisse stößt. Es
liegt uns nahe anzunehmen, daß Fixierung und Regression
nicht unabhängig voneinander sind. Je stärker die Fixierungen
auf dem Entwicklungsweg, desto eher wird die Funktion den
äußeren Schwierigkeiten durch Regression bis zu jenen Fixie-
rungen ausweichen, desto widerstandsunfähiger erweist sich also
die ausgebildete Funktion gegen äußere Hindernisse ihres Ab-
laufes. Denken Sie daran, wenn ein Volk in Bewegung starke
Abteilungen an den Stationen seiner Wanderung zurückgelassen
. FIXIERUNG UND REGRESSION. 393
hat, so wird es den weiter Vorgerückten naheliegen, sich bis
zu diesen Stationen zurückzuziehen, wenn sie geschlagen werden
oder auf einen überstarken Feind stoßen. Sie werden aber auch
um so eher in die Gefahr der Niederlage kommen, je mehr sie
von ihrer Anzahl auf der Wanderung zurückgelassen haben.
Es ist für Ihr Verständnis der Neurosen wichtig, daß Sie
dies Verhältnis zwischen Fixierung und Regression nicht aus
den Augen lassen. Sie gewinnen dann einen sicheren Halt in
der Frage nach der Verursachung der Neurosen, in der Frage
der Neurosenätiologie, an welche wir bald herantreten werden.
Zunächst wollen wir noch bei der Regression verbleiben.
Nach dem, was Ihnen von der Entwieklung der Libidofunktion
bekannt geworden ist, dürfen Sie Regressionen von zweierlei
Art erwarten, Rückkehr zu den ersten von der Libido besetzten
Objekten, die bekanntlich inzestuöser Natur sind, und Rück-
kehr der gesamten Sexualorganisation zu früheren Stufen. Beide
kommen bei den Übertragungsneurosen vor und spielen in deren
Mechanismus eine große Rolle. Besonders die Rückkehr zu
den ersten inzestuösen Objekten der Libido ist ein Zug, der
sich bei den Neurotikern mit geradezu ermüdender Regel-
mäßigkeit findet. Weit mehr läßt sich über die Regressionen
der Libido sagen, wenn man eine andere Gruppe der Neurosen,
die sogenannten narzißtischen, mit heranzieht, was wir ja gegen-
wärtig nicht beabsichtigen. Diese Affektionen geben uns Auf-
schluß über noch andere, bisher nicht erwähnte Entwicklungs-
vorgänge der Libidofunktion und zeigen uns dementsprechend
auch neue Arten der Regression. Ich glaube aber, daß ich
Sie jetzt vor allem mahnen muß, Regression und Ver-
drängung nicht zu verwechseln, und Ihnen dazu verhelfen
muß, sich die Beziehungen zwischen den beiden Prozessen zu
klären. Verdrängung ist, wie Sie sich erinnern, jener Vorgang,
394 XXII. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE,
durch welchen ein bewußtseinsfähiger Akt, also einer, der dem
System Vbw. angehört, unbewußt gemacht, also in das System
Ubw. zurückgeschoben wird. Und ebenso nennen wir es Ver-
drängung, wenn der unbewußte seelische Akt überhaupt nicht
ins nächste vorbewußte System zugelassen, sondern an der
Schwelle von der Zensur zurückgewiesen wird. Dem Begriff
der Verdrängung haftet also keine Beziehung zur Sexualität
an; bitte, bemerken Sie das wohl. Er bezeichnet einen rein
psychologischen Vorgang, den wir noch besser charakterisieren
können, wenn wir ihn einen topischen heißen. Wir wollen
damit sagen, er habe mit den angenommenen psychischen Räum-
lichkeiten zu tun, oder, wenn wir diese grobe Hilfsvorstellung
wieder fallen lassen, mit dem Aufbau des seelischen Apparates
aus gesonderten psychischen Systemen.
Durch die angestellte Vergleichung werden wir erst auf-
merksam gemacht, daß wir das Wort ‚Regression‘ bisher nicht
in seiner allgemeinen, sondern in einer ganz speziellen Bedeu-
tung gebraucht haben. Geben Sie ihm seinen allgemeinen Sinn,
den einer Rückkehr von einer höheren zu einer niedrigeren
Stufe der Entwicklung, so ordnet sich auch die Verdrängung
der Regression unter, denn sie kann auch als Rückkehr zu
einer früheren und tieferen Stufe in der Entwicklung eines
psychischen Aktes beschrieben werden. Nur daß es uns bei
der Verdrängung auf diese rückläufige Richtung nicht an-
kommt, denn wir heißen es auch Verdrängung im dynamischen
Sinne, wenn ein psychischer Akt auf der niedrigeren Stufe
des Unbewußten festgehalten wird. Verdrängung ist eben ein,
topisch-dynamischer Begriff, Regression ein rein deskriptiver.
‚Was wir aber bisher Regression genannt und zur Fixierung
in Beziehung gebracht haben, damit meinten wir ausschließ-
lich die Rückkehr der Libido zu früheren Stationen ihrer Ent-
VERHÄLTNIS VON REGRESSION UND VERDRÄNGUNG. 395
wicklung, also etwas, was von der Verdrängung im Wesen
ganz verschieden und von ihr ganz unabhängig ist. Wir können
die Libidoregression auch nicht einen rein psychischen Vorgang
heißen und wissen nicht, welche Lokalisation im seelischen
Apparat wir ihr anweisen sollen. Wenn sie auch den stärksten
Einfluß auf das seelische Leben ausübt, so ist doch der orga-
nische Faktor an ihr der hervorragendste.
Erörterungen wie diese, meine Herren, müssen etwas dürr
geraten. Wenden wir uns an die Klinik, um etwas eindrucks-
vollere Anwendungen von ihnen zu machen. Sie wissen, daß
Hysterie und Zwangsneurose die beiden Hauptvertreter der
Gruppe der Übertragungsneurosen sind. Bei der Hysterie gibt
es nun zwar eine Regression der Libido zu den primären in-
zestuösen Sexualobjekten, und diese ganz regelmäßig, aber so
gut wie keine Regression auf eine frühere Stufe der Sexual-
organisation. Dafür fällt der Verdrängung im hysterischen
Mechanismus die Hauptrolle zu. Wenn ich mir gestatten darf,
unsere bisherige gesicherte Kenntnis dieser Neurose durch eine
Konstruktion zu vervollständigen, so könnte ich den Sachver-
halt in folgender Weise beschreiben: Die Einigung der Partial-
triebe unter dem Primat der Genitalien ist vollzogen, ihre Er-
gebnisse stoßen aber auf den Widerstand des mit dem Bewußt-
sein verknüpften vorbewußten Systems. Die Genitalorganisation
gilt also fürs Unbewußte, nicht ebenso fürs Vorbewußte, und
diese Ablehnung von seiten des Vorbewußten bringt ein Bild
zu stande, welches mit dem Zustand vor dem Genitalprimat
gewisse Ähnlichkeiten hat. Es ist aber doch etwas ganz anderes.
— Von den beiden Libidoregressionen ist die auf eine frühere
Phase der Sexualorganisation die bei weitem auffälligere. Da
sie bei der Hysterie fehlt und unsere ganze Auffassung der
Neurosen noch viel zu sehr unter dem Einflusse des Studiums
396 XXII. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
der Hysterie steht, welches zeitlich voranging, so ist die Be-
deutung der Libidoregression uns auch viel später klar ge-
worden als die der Verdrängung. Seien wir gefaßt darauf,
daß unsere Gesichtspunkte noch andere Erweiterungen und Um-
wertungen erfahren werden, wenn wir außer Hysterie und
Zwangsneurose noch die anderen, narzißtischen Neurosen in un-
sere Betrachtung einbeziehen können.
Bei der Zwangsneurose ist im Gegenteil die Regression
der. Libido auf die Vorstufe der sadistisch-analen Organisation
das auffälligste.und das für die Äußerung in Symptomen maß-
gebende Faktum. Der Liebesimpuls muß sich dann als sadis-
tischer Impuls maskieren. Die Zwangsvorstellung: ich möchte
dich ermorden, heißt im Grunde, wenn man sie von gewissen,
aber nicht zufälligen, sondere unerläßlichen Zutaten befreit
hat, nichts anderes als: ich möchte dich in Liebe genießen.
Nehmen Sie dazu, daß gleichzeitig eine Objektregression statt-
gehabt hat, so daß diese Impulse nur den nächsten und ge-
liebtesten Personen gelten, so können Sie sich von dem Ent-
setzen eine Vorstellung machen, welches diese Zwangsvorstel-
lungen beim Kranken erwecken, und gleichzeitig von der Fremd-
artigkeit, in- welcher sie seiner bewußten Wahrnehmung ent-
gegentreten. Aber auch die Verdrängung hat an dem Mecha-
nismus dieser Neurosen ihren großen Anteil, der in einer
flüchtigen Einführung wie der unserigen allerdings nicht leicht
auseinanderzusetzen ist. Regression der Libido ohne Verdrän-
gung würde nie eine Neurose ergeben, sondern in eine Per-
version auslaufen. Daraus ersehen Sie, daß die Verdrängung
jener Prozeß ist, welcher der Neurose am ehesten eigentümlich
zukommt und sie am besten charakterisiert. Vielleicht habe
ich aber auch einmal Gelegenheit, Ihnen vorzuführen, was wir
über den Mechanismus der Perversionen wissen, und Sie werden
DAS ÄTIOLOGISCHE MOMENT DER VERSAGUNG. 397
-dann sehen, daß auch hier nichts so einfach vor sich
wie man es sich gerne konstruieren möchte.
Meine Herren! Ich meine, Sie werden sich mit den eben
angehörten Ausführungen über Fixierung und Regression der
Libido am ehesten versöhnen, wenn Sie sie als Vorbereitung für
die Erforschung der Ätiologie der Neurosen gelten lassen wollen.
Ich habe Ihnen hierüber erst eine einzige Mitteilung gemacht,
nämlich daß die Menschen neurotisch erkranken, wenn ihnen
die Möglichkeit benommen ist ihre Libido zu befriedigen, also
an der „Versagung“, wie ich mich ausdrückte, und daß ihre
Symptome eben der Ersatz für die versagte Befriedigung sind.
Natürlich sollte das nicht heißen, daß jede Versagung der
libidinösen Befriedigung jeden, den sie trifft, neurotisch macht,
sondern bloß, daß in allen untersuchten Fällen von Neurose
das Moment der Versagung nachweisbar war. Der »Matz ist
also nicht umkehrbar. Sie werden wohl auch verstanden haben,
daß jene Behauptung nicht das ganze Geheimnis der Neurosen-
ätiologie aufdecken sollte, sondern eben nur eine wichtige und
unerläßliche Bedingung hervorhob. R
Man weiß jetzt nicht, soll man sich für die weitere
Diskussion dieses Satzes an die Natur der Versagung oder
an die Eigenart des von ihr Betroffenen halten. Die Ver-
sagung ist doch höchst selten eine allseitige und absolute;
um pathogen wirksam zu werden, muß sie wohl jene Weise
der Befriedigung betreffen, nach der die Person allein
verlangt, deren sie allein fähig ist. Es gibt im allge-
meinen sehr viele Wege, die Entbehrung der libidinösen Befrie-
digung zu vertragen, ohne an ihr zu erkranken. Vor allem
kennen wir Menschen, die im stande sind, eine solche Ent-
behrung ohne Schaden auf sich zu nehmen; sie sind dann nicht
glücklich, sie leiden an Sehnsucht, aber sie werden nicht krank.
398 XXI. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
Sodann müssen wir in Betracht ziehen, daß gerade die sexuellen
Triebregungen außerordentlich plastisch sind, wenn ich so
sagen darf. Sie können die eine für die andere eintreten,
eine kann die Intensität der anderen auf sich nehmen; wenn
die Befriedigung der einen durch die Realität versagt ist,
kann die Befriedigung einer anderen volle Entschädigung bie-
ten. Sie verhalten sich zueinander wie ein Netz von kommu-
nizierenden, mit Flüssigkeit gefüllten Kanälen, und dies trotz
ihrer Unterwerfung unter den Genitalprimat, was gar nicht
so bequem in einer Vorstellung zu vereinen ist. Ferner zeigen
die Partialtriebe der Sexualität, ebenso wie die aus ihnen zu-
sammengefaßte Sexualstrebung, eine große Fähigkeit ihr Ob-
jekt zu wechseln, es gegen ein anderes, also auch gegen ein
bequemer erreichbares, zu vertauschen; diese Verschiebbarkeit
und Bereitwilligkeit, Surrogate anzunehmen, müssen der patho-
genen Wirkung einer Versagung mächtig entgegenarbeiten. Un-
ter diesen gegen die Erkrankung durch Entbehrung schützenden
Prozessen hat einer eine besondere kulturelle Bedeutung ge-
wonnen. Er besteht darin, daß die Sexualbestrebung ihr auf
Partiallust oder Fortpflanzungslust gerichtetes Ziel aufgibt
und ein anderes annimmt, welches genetisch mit dem aufgege-
benen zusammenhängt, aber selbst nicht mehr sexuell, sondern
sozial genannt werden muß. Wir heißen den Prozeß ‚„Subli-
mierung“, wobei wir uns der allgemeinen Schätzung fügen,
welche soziale Ziele höher stellt. als die im Grunde selbst-
süchtigen sexuellen. Die Sublimierung ist übrigens nur ein
Spezialfall der Anlehnung von Sexualstrebungen an andere
nicht sexuelle. Wir werden in anderem Zusammenhange noch-
mals von ihr reden müssen.
Sie werden nun den Eindruck haben, daß die Entbehrung
durch alle diese Mittel sie zu ertragen zur Bedeutungslosigkeit
DAS ERTRAGEN DER VERSAGUNG. DIE SUBLIMIERUNG. 399
herabgedrückt worden sei. Aber nein, sie behält ihre pathogene
Macht. Die Gegenmittel sind allgemein nicht ausreichend. Das
Maß von unbefriedigter Libido, das die Menschen im Durch-
schnitt auf sich nehmen können, ist begrenzt. Die Plastizität
oder freie Beweglichkeit der Libido ist keineswegs bei allen
voll erhalten, und die Sublimierung kann immer nur einen
gewissen Bruchteil der Libido erledigen, abgesehen davon, daß
die Fähigkeit zu sublimieren vielen Menschen nur in geringem
Ausmaße zugeteilt ist. Die wichtigste unter diesen Einschrän-
kungen ist offenbar die in der Beweglichkeit der Libido, da
sie die Befriedigung des Individuums von der Erreichung einer
sehr geringen Anzahl von Zielen und Objekten abhängig
macht. Erinnern Sie sich nur daran, daß eine unvollkommene
Libidoentwicklung sehr ausgiebige, eventuell auch mehrfache
Libidofixierungen an frühe Phasen der Organisation und Objekt-
findung hinterläßt, welche einer realen Befriedigung meist
nicht fähig sind, so werden Sie in der Libidofixierung den
zweiten mächtigen Faktor erkennen, der mit der Versagung
zur Krankheitsverursachung zusammentritt. In schematischer
Verkürzung können Sie es aussprechen, daß die Libido-
fixierung den disponierenden, internen, die Versagung den
akzidentellen, externen Faktor der Neurosenätiologie reprä-
sentiert.
Ich ergreife hier die Gelegenheit, Sie vor der Partei-
nahme in einem ganz überflüssigen "Streit zu warnen. Im
wissenschaftlichen Betrieb ist es sehr beliebt, einen Anteil der
‚Wahrheit herauszugreifen, ihn an die Stelle des Ganzen zu
setzen und nun zu seinen Gunsten das Übrige, was nicht min-
der wahr ist, zu bekämpfen. Auf diesem ‚Wege haben sich
auch bereits aus der psychoanalytischen Bewegung mehrere
Richtungen abgespalten, von denen die eine nur die egoistischen
. Freud, Vorlesungen. III. 26
400 XXII. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
Triebe anerkennt, die sexuellen dagegen verleugnet, die andere
nur den Einfluß der realen Lebensaufgaben würdigt, den der
individuellen Vergangenheit aber übersieht u. dgl. mehr. Nun
bietet sich hier ein Anlaß zu einer ähnlichen Entgegenstellung
und Streitfrage: Sind die Neurosen exogene oder endogene
Krankheiten, die unausbleibliche Folge einer gewissen Konsti-
tution oder das Produkt gewisser schädigender (traumatischer)
Lebenseindrücke, im besonderen: werden sie durch die Libido-
fixierung (und die sonstige Sexualkonstitution) oder durch
den Druck der Versagung hervorgerufen? Dies Dilemma scheint
mir im ganzen nicht weiser als ein anderes, das ich Ihnen
vorlegen könnte: Entsteht das Kind durch die Zeugung des
Vaters oder durch die Empfängnis von seiten der Mutter?
Beide Bedingungen sind gleich unentbehrlich, werden Sie mit
Recht antworten. In der Verursachung der Neurosen ist das
Verhältnis, wenn nicht ganz das nämliche, doch ein sehr ähn-
liches. Für die Betrachtung der Verursachung ordnen sich die
Fälle der neurotischen Erkrankungen zu einer Reihe, innerhalb
welcher beide Momente — Sexualkonstitution und Erleben,
oder wenn Sie wollen: Libidofixierung und Versagung — so
vertreten sind, daß das eine wächst, wenn das andere ab-
nimmt. An dem einen Ende der Reihe stehen die extremen
Fälle, von denen Sie mit Überzeugung sagen können: Diese
Menschen wären infolge ihrer absonderlichen Libidoentwicklung
auf jeden Fall erkrankt, was immer sie erlebt hätten, wie sorg-
fältig sie das Leben auch geschont hätte. Am anderen Ende
stehen die Fälle, bei denen Sie umgekehrt urteilen müssen,
sie wären gewiß der Krankheit entgangen, wenn das Leben
sie nicht in diese oder jene Lage gebracht hätte. Bei den
Fällen innerhalb der Reihe trifft ein Mehr oder Minder von
disponierender Sexualkonstitution mit einem Minder oder Mehr
ERGÄNZUNGSREIHE VON VERSAGUNG UND LIBIDOFIXIERUNG. 401
von schädigenden Lebensanforderungen zusammen. Ihre Sexual-
konstitution hätte ihnen nicht die Neurose gebracht, wenn sie
nicht solche Erlebnisse gehabt hätten, und diese Erlebnisse
hätten nicht traumatisch auf sie gewirkt, wenn die Verhält-
nisse der Libido andere gewesen wären. Ich kann in dieser
Reihe vielleicht ein gewisses Übergewicht an Bedeutung für
die disponierenden Momente zugestehen, aber auch dies Zu-
geständnis hängt davon ab, wie weit Sie die Grenzen der Ner-
vosität abstecken wollen.
Meine Herren! Ich mache Ihnen den Vorschlag; Reihen
wie diese als Ergänzungsreihen zu bezeichnen, und be-
reite Sie darauf vor, daß wir Anlaß finden werden, noch an-
dere solche Reihen aufzustellen.
Die Zähigkeit, mit welcher die Libido an bestimmten
Richtungen und Objekten haftet, sozusagen die Klebrigkeit
der Libido, erscheint uns als ein selbständiger, ‚individuell
variabler Faktor, dessen Abhängigkeiten uns völlig unbekannt
sind, dessen Bedeutung für die Ätiologie der Neurosen wir ge-
wiß nicht mehr unterschätzen werden. Wir sollen aber auch
die Innigkeit dieser Beziehung nicht überschätzen. Eine eben-
solche ‚‚Klebrigkeit“ der Libido — aus unbekannten Gründen —
kommt nämlich unter zahlreichen Bedingungen beim Normalen
vor und wird als bestimmendes Moment bei den Personen ge-
funden, welche in gewissem Sinne der Gegensatz der Nervösen
sind, bei den Perversen. Es war schon vor der Zeit der Psycho-
analyse bekannt (Binet), daß in der Anamnese der Perversen
recht häufig ein sehr frühzeitiger Eindruck von abnormer
Triebriehtung oder Objektwahl aufgedeckt wird, an dem nun
die Libido dieser Person fürs Leben haften geblieben ist. Man
weiß oft nicht zu sagen, was diesen Eindruck dazu befähigt
hat, eine so intensive Anziehung auf die Libido auszuüben.
26*
402 XXII. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE,
Ich will Ihnen einen selbstbeobachteten Fall dieser Art er-
zählen. Ein Mann, dem heute das Genitale und alle anderen
Reize des Weibes nichts bedeuten, der nur durch einen be-
schuhten Fuß von gewisser Form in unwiderstehliche sexuelle
Erregung versetzt werden kann, weiß sich an ein Erlebnis
aus seinem sechsten Jahre zu erinnern, welches maßgebend für
die Fixierung seiner Libido geworden ist. Er saß auf einem
Schemel neben der Gouvernante, bei der er englische Stunde
nehmen sollte. Die Gouvernante, ein altes, dürres, unschönes
Mädchen mit wasserblauen Augen und aufgestülpter Nase, hatte
an diesem Tage einen kranken Fuß und ließ ihn darum, mit
einem Samtpantoffel bekleidet, ausgestreckt auf einem Polster
ruhen; ihr Bein selbst war dabei in dezentester Weise verhüllt.
Ein so magerer, sehniger Fuß, wie er ihn damals an der Gou-
vernannte gesehen, wurde nun, nach einem schüchternen Ver-
such normaler Sexualbetätigung in der Pubertät, sein einziges
Sexualobjekt, und der Mann war widerstandslos hingerissen, -
wenn sich zu diesem Fuß noch andere Züge gesellten, welche
an den Typus der englischen Gouvernante erinnerten. Durch
diese Fixierung seiner Libido wurde der Mann aber nicht zum
Neurotiker, sondern zum Perversen, zum Fußfetischisten, wie
wir sagen. Sie sehen also, obwohl die übermäßige, zudem noch
vorzeitige, Fixierung der Libido für die Verursachung der
Neurosen unentbehrlich ist, geht ihr Wirkungskreis doch weit
über das Gebiet der Neurosen hinaus. Auch diese Bedingung
ist für sich allein so wenig entscheidend wie die früher er-
wähnte der Versagung.
Das Problem der Verursachung der Neurosen scheint sich
also zu komplizieren. In der Tat macht uns die psychoanalytische
Untersuchung mit einem neuen Moment bekannt, welches in
unserer ätiologischen Reihe nicht berücksichtigt ist, und das
DIE KLEBRIGKEIT DER LIBIDO. DER PSYCHISCHE KONFLIKT. 403
man am besten bei Fällen erkennt, deren bisheriges Wohl-
befinden plötzlich durch die neurotische Erkrankung gestört
wird. Man findet bei diesen Personen regelmäßig die An-
zeichen eines Widerstreites von Wunschregungen oder, wie wir
zu sagen gewohnt sind, eines psychischen Konfliktes. Ein
Stück der Persönlichkeit vertritt gewisse Wünsche, ein an-
deres sträubt sich dagegen und wehrt sie ab. Ohne solchen
Konflikt gibt es keine Neurose. Das schiene nun nichts Be-
sonderes. Sie wissen, daß unser seelisches Leben unaufhörlich
von Konflikten bewegt wird, deren Entscheidung wir zu treffen
haben. Es müssen also wohl besondere Bedingungen erfüllt
sein, wenn ein solcher Konflikt pathogen werden soll. Wir
dürfen fragen, welches diese Bedingungen sind, zwischen welchen
seelischen Mächten sich diese pathogenen Konflikte abspielen,
welche Beziehung der Konflikt zu den anderen verursachenden
Momenten hat.
Ich hoffe, Ihnen auf diese Fragen ausreichende Antworten
geben zu können, wenn sie auch schematisch verkürzt sein
mögen. Der Konflikt wird durch die Versagung heraufbe-
schworen, indem die ihrer Befriedigung verlustige Libido nun
darauf angewiesen ist, sich andere Objekte und Wege zu suchen.
Er hat zur Bedingung, daß diese anderen Wege und Objekte
bei einem Anteil der Persönlichkeit ein Mißfallen erwecken,
so daß ein Veto erfolgt, welches die neue Weise der Befrie-
digung zunächst unmöglich macht. Von hier aus geht der
Weg zur Symptombildung weiter, den wir später verfolgen
werden. Die abgewiesenen libidinösen Strebungen bringen es
zu stande, sich auf gewissen Umwegen doch durchzusetzen,
allerdings nicht ohne dem Einspruch durch gewisse Entstel-
lungen und Milderungen Rechnung zu tragen. Die Umwege
sind die Wege der Symptombildung, die Symptome sind die
404 XXII. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
neue oder Ersatzbefriedigung, die durch die Tatsache der Ver-
sagung notwendig geworden ist.
Man kann der Bedeutung des psychischen Konflikts auch
durch eine andere Ausdrucksweise gerecht werden, indem man
sagt: zur äußeren Versagung muß, damit sie pathogen wirke,
noch die innere Versagung hinzutreten. Äußere und innere
Versagung beziehen sich dann natürlich auf verschiedene Wege
und Objekte. Die äußere Versagung nimmt die eine Möglich-
keit der Befriedigung weg, die innere Versagung möchte eine
andere Möglichkeit ausschließen, um welche dann der Konflikt
losbricht. Ich gebe dieser Art der Darstellung den Vorzug,
weil sie einen geheimen Gehalt besitzt. Sie deutet nämlich
auf die Wahrscheinlichkeit hin, daß die inneren Abhaltungen
in den Vorzeiten menschlicher Entwicklung aus realen äußeren
Hindernissen hervorgegangen sind.
‚Welches sind aber die Mächte, von denen der Einspruch
gegen die libidinöse Strebung ausgeht, die andere Partei im
pathogenen Konflikt? Es sind, ganz allgemein gesagt, die
nicht sexuellen Triebkräfte. Wir fassen sie als „Ichtriebe“ zu-
sammen; die Psychoanalyse der Übertragungsneurosen gibt uns
keinen guten Zugang zu ihrer weiteren Zerlegung, wir lernen
sie höchstens einigermaßen durch die Widerstände kennen, die
sich der Analyse entgegensetzen. Der pathogene Konflikt ist
also ein solcher zwischen den Ichtrieben und den Sexualtrieben.
Es hat in einer ganzen Reihe von Fällen den Anschein, als
ob es auch ein Konflikt zwischen verschiedenen, rein sexuellen
Strebungen sein könnte; aber das ist im Grunde dasselbe, denn
von den beiden im Konflikt befindlichen Sexualstrebungen ist*
immer die eine sozusagen ichgerecht, während die andere die
Abwehr des Ichs herausfordert. Es bleibt also beim Konflikt
zwischen Ich und Sexualität.
AUSSERE UND INNERE VERSAGUNG.,. 405
Meine Herren! Oft und oft, wenn die Psychoanalyse ein
seelisches Geschehen als Leistung der Sexualtriebe in Anspruch
genommen hat, wurde ihr in ärgerlicher Abwehr vorgehalten,
der Mensch bestehe nicht nur aus Sexualität, es gebe im
Seelenleben noch andere Triebe und Interessen als die sexuellen,
man dürfe nicht „alles“ von der Sexualität ableiten u. dgl.
Nun, es ist hocherfreulich, sich auch einmal eines Sinnes mit
seinen Gegnern zu finden. Die Psychoanalyse hat nie daran
vergessen, daß es auch nicht sexuelle Triebkräfte gibt, sie hat
sich auf der scharfen Sonderung der sexuellen Triebe von den
Ichtrieben aufgebaut und vor jedem Einspruch behauptet, nicht
daß die Neurosen aus der Sexualität hervorgehen, sondern, daß
sie dem Konflikt zwischen Ich und Sexualität ihren Ursprung
danken. Sie hat auch gar kein denkbares Motiv, Existenz oder
Bedeutung der Ichtriebe zu bestreiten, während sie die Rolle
der sexuellen Triebe in der Krankheit und im Leben verfolgt.
Nur daß es ihr Schicksal geworden ist, sich in erster Linie
mit den Sexualtrieben zu beschäftigen, weil diese durch die
Übertragungsneurosen der Einsicht am ehesten zugänglich ge-
worden sind, und weil es ihr obgelegen hat, das zu studieren,
was andere vernachlässigt hatten. ;
Es trifft auch nicht zu, daß sich die Deyelanahe um
den nicht sexuellen Anteil der Persönlichkeit gar nicht geküm-
mert hat. Gerade die Sonderung von Ich und Sexualität hat
uns mit besonderer Klarheit erkennen lassen, daß auch die
Ichtriebe eine bedeutsame Entwicklung durchmachen, eine Ent-
wicklung, die von der der Libido weder ganz unabhängig
noch ohne Gegenwirkung auf diese ist. Wir kennen allerdings
die Ichentwicklung sehr viel schlechter als die der Libido,
weil nämlich erst das Studium der narzißtischen Neurosen
eine Einsicht in den Aufbau des Ichs verspricht. Doch liegt
406 XXII. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
bereits ein beachtenswerter Versuch von Ferencezi vor, die
Entwicklungsstufen des Ichs theoretisch zu konstruieren, und
an wenigstens zwei Stellen haben wir feste Anhaltspunkte für
die Beurteilung dieser Entwicklung gewonnen. Wir denken ja
nicht daran, daß sich die libidinösen Interessen einer Person
von vornherein im Gegensatz zu ihren Selbsterhaltungs-
interessen befinden; vielmehr wird das Ich auf jeder Stufe
bestrebt sein, mit seiner derzeitigen Sexualorganisation im Ein-
klang zu bleiben und sie sich einzuordnen. Die Ablösung der
einzelnen Phasen in der Libidoentwicklung folgt wahrschein-
lich einem vorgeschriebenen Programm; es ist aber nicht ab-
zuweisen, daß dieser Ablauf von seiten des Ichs beeinflußt
werden kann, und ein gewisser Parallelismus, eine bestimmte
Entsprechung der Entwicklungsphasen von Ich und Libido
dürfte gleichfalls vorgesehen sein; ja, die Störung dieser Ent-
sprechung könnte ein pathogenes Moment ergeben. Ein für uns
wichtiger Gesichtspunkt ist es nun, wie sich das Ich verhält,
wenn seine Libido an einer Stelle ihrer Entwicklung eine
starke Fixierung hinterläßt. Es kann dieselbe zulassen und
wird dann in dem entsprechenden Maß pervers oder, was das-
selbe ist, infantil. Es kann sich aber auch ablehnend gegen
diese Festsetzung der Libido verhalten, und dann hat das Ich
dort eine Verdrängung, wo die Libido eine Fixierung
erfahren hat. |
Auf diesem Wege gelangen wir zur Kenntnis, daß der
dritte Faktor der Neurosenätiologie, die Konfliktneigung,
von der Entwicklung des Ichs ebensosehr abhängt: wie von der
der Libido. Unsere Einsicht in die Verursachung der Neurosen
hat sich also vervollständigt. Zuerst als allgemeinste Bedin-
gung die Versagung, dann die Fixierung der Libido, welche
sie in bestimmte Richtungen drängt, und zu dritt die Konflikt-
ABHÄNGIGKEIT DES KONFLIKTS VON DER ICHENTWICKLUNG. 407
neigung aus der Ichentwicklung, die solche Libidoregungen ab-
gelehnt hat. Der Sachverhalt ist also nicht so sehr verworren
und schwer zu durchschauen, wie es Ihnen wahrscheinlich
während des Fortschrittes meiner Ausführungen erschienen ist.
Aber freilich, wir werden finden, daß wir noch nicht fertig
sind..e Wir müssen noch etwas Neues hinzufügen und etwas
bereits Bekanntes weiter zerlegen.
Um Ihnen den Einfluß der Ichentwicklung auf die Konflikt-
bildung und somit auf die Verursachung der Neurosen zu de-
monstrieren, möchte ich Ihnen ein Beispiel vorführen, das zwar
durchaus erfunden ist, aber sich in keinem Punkte von. der
Wahrscheinlichkeit entfernt. Ich will es in Anlehnung an den
Titel einer Nestroyschen Posse mit der: Charakteristik „Zu
ebener Erde und im ersten Stock“ versehen. Zu ebener Erde
wohnt der Hausbesorger, im ersten Stock der Hausherr, ein
reicher und vornehmer Mann. Beide haben Kinder, und wir
wollen annehmen, daß es dem Töchterchen des Hausherrn ge-
stattet ist, unbeaufsichtigt mit dem Proletarierkind zu spielen.
Dann kann es sehr leicht geschehen, daß die Spiele der Kinder
einen 'ungezogenen, das heißt sexuellen Charakter annehmen,
daß sie „Vater und Mutter‘ spielen, einander bei den intimen
Verrichtungen beschauen und an den Genitalien reizen. Das
Hausmeistermädchen, das trotz seiner fünf oder sechs Jahre
manches von der Sexualität der Erwachsenen beobachten konnte,
mag dabei die Rolle der Verführerin übernehmen. Diese Er-
lebnisse reichen hin, auch wenn sie sich nicht über lange Zeit
fortsetzen, um bei beiden Kindern gewisse sexuelle Regungen
zu aktivieren, die sich nach dem Aufhören der gemeinsamen
Spiele einige Jahre hindurch als Masturbation äußern. Soweit
die Gemeinsamkeit; der endliche Erfolg wird bei beiden Kin-
dern sehr verschieden sein. Die Tochter des Hausbesorgers wird
408 XXII. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
die Masturbation etwa bis zum Auftreten der Periode fort-
setzen, sie dann ohne Schwierigkeit aufgeben, wenige Jahre
später einen Geliebten nehmen, vielleicht auch ein Kind be-
kommen, diesen oder jenen Lebensweg einschlagen, der sie
vielleicht zur populären Künstlerin führt, die als Aristokratin
endigt. ‚Wahrscheinlich wird ihr Schicksal minder glänzend aus-
fallen, aber jedenfalls wird sie ungeschädigt durch die vorzeitige
Betätigung ihrer Sexualität, frei von Neurose, ihr Leben er-
füllen. Anders das Töchterchen des Hausherrn. Dies wird früh-
zeitig und noch als Kind die Ahnung bekommen, daß es etwas
Unrechtes getan habe, wird nach kürzerer Zeit, aber vielleicht
erst nach hartem Kampf, auf die masturbatorische Befriedigung
verzichten und trotzdem etwas Gedrücktes in seinem Wesen
behalten. Wenn sie in den Jungmädchenjahren in die Lage
kommt, etwas vom menschlichen Sexualverkehr zu erfahren,
wird sie sich mit unerklärtem Abscheu davon abwenden und
unwissend bleiben wollen. Wahrscheinlich unterliegt sie jetzt
auch einem von neuem auftretenden unbezwingbaren Drang
zur Misturbation, über den sich zu beklagen sie nicht
wagt. In den Jahren, da sie einem Manne als Weib gefallen
soll, wird die Neurose bei ihr losbrechen, die sie um Ehe und
Lebenshoffnung betrügt. Gelingt es nun durch Analyse Ein-
sicht in diese Neurose zu gewinnen, so zeigt sich, daß dies
wohlerzogene, intelligente und hochstrebende Mädchen seine
Sexualregungen vollkommen verdrängt hat, daß diese aber, ihr
unbewußt, an den armseligen Erlebnissen mit ihrer Kinder-
freundin haften. |
Die Verschiedenheit der beiden Schicksale trotz gleichen
Erlebens rührt daher, daß das Ich der einen eine Entwicklung
erfahren hat, welche bei der anderen nicht eingetreten ist. Der
Tochter des Hausbesorgers ist die Sexualbetätigung später
„ZU EBENER ERDE UND IM ERSTEN STOCK.“ 409
ebenso natürlich und unbedenklich erschienen wie in der
Kindheit. Die Tochter des Hausherrn hat die Einwirkung
der Erziehung erfahren und deren Ansprüche angenommen.
Ihr Ich hat aus den ihm dargebotenen Anregungen Ideale
von weiblicher Reinheit und Unbedürftigkeit gebildet, mit
denen sich die sexuelle Betätigung nicht verträgt; ihre in-
tellektuelle Ausbildung hat ihr Interesse für die weibliche
Rolle, zu der sie bestimmt ist, erniedrigt. Durch diese höhere
moralische und intellektuelle Entwicklung ihres Ichs ist sie
in den Konflikt mit den Ansprüchen ihrer Sexualität geraten.
Ich will heute noch bei einem zweiten Punkt in der Ich-
entwicklung verweilen, sowohl wegen gewisser weitschauender
Ausblicke, als auch darum, weil gerade das Folgende geeignet
ist, die von uns beliebte, scharfe und nicht selbstverständliche
Sonderung der Ichtriebe von den Sexualtrieben zu rechtfer-
tigen. In der Beurteilung der beiden Entwicklungen, des Ichs
wie der Libido, müssen wir einen Gesichtspunkt voranstellen,
der bisher noch nicht oft gewürdigt worden ist. Beide
sind ja im Grunde Erbschaften, abgekürzte Wiederholungen
der Entwicklung, welche die ganze Menschheit von ihren Ur-
zeiten an durch sehr lange Zeiträume zurückgelegt hat. Der
Libidoentwicklung, möchte ich meinen, sieht man diese phylo-
genetische Herkunft ohne weiteres an. Denken Sie daran,
wie bei der einen Tierklasse der Genitalapparat in die innigste
Beziehung zum Mund gebracht ist, bei der anderen sich vom
Exkretionsapparat nicht sondern läßt, bei noch anderen an die
Bewegungsorgane geknüpft ist, Dinge, die Sie in dem wert-
vollen Buch von W. Bölsche anziehend geschildert finden.
Man sieht bei den Tieren sozusagen alle Arten von Perversion
zur Sexualorganisation erstarrt. Nur wird der phylogenetische
Gesichtspunkt beim Menschen zum Teil durch den Umstand
410 XXI. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
verschleiert, daß das, was im Grunde vererbt ist, doch in der
individuellen Entwicklung neu erworben wird, wahrscheinlich
darum, weil dieselben Verhältnisse noch fortbestehen und auf
jeden einzelnen wirken, die seinerzeit zur Erwerbung genötigt
haben. Ich möchte sagen, sie haben seinerzeit schaffend ge-
wirkt, sie wirken jetzt hervorrufend. Außerdem ist es unzwei-
felhaft, daß der Lauf der vorgezeichneten Entwicklung bei
jedem einzelnen durch rezente Einflüsse von außen gestört und
abgeändert werden kann. Die Macht aber, welche der Mensch-
heit eine solche Entwicklung aufgenötigt hat und ihren Druck
nach der gleichen Richtung heute ebenso aufrechthält, kennen
wir; es ist wiederum die Versagung der Realität, oder wenn
wir ihr ihren richtigen großen Namen geben, die Not des
Lebens: die ’Avadyın. Sie ist eine strenge Erzieherin gewesen
und hat viel aus uns gemacht. Die Neurotiker gehören zu
den Kindern, bei welchen diese Strenge üble Erfolge gebracht
hat, aber das ist bei jeder Erziehung zu riskieren. — Diese
‚Würdigung der Lebensnot als des Motors der Entwicklung
braucht uns übrigens nicht gegen die Bedeutung von ‚inneren
Entwicklungstendenzen“ einzunehmen, wenn sich solche be-
weisen lassen.
Nun ist es sehr beachtenswert, daß Sexualtriebe und Selbst-
erhaltungstriebe sich nicht in gleicher Weise gegen die reale
Not benehmen. Die Selbsterhaltungstriebe und alles, was mit
ihnen zusammenhängt, sind leichter zu erziehen; sie lernen es
frühzeitig, sich der Not zu fügen und ihre Entwicklung nach
den Weisungen der Realität einzurichten. Das ist begreiflich,
denn sie können sich die Objekte, deren sie bedürfen, auf keine
andere Art verschaffen; ohne diese Objekte muß das Individuum
zu Grunde gehen. Die Sexualtriebe sind schwerer erziehbar,
denn sie kennen zu Anfang die Objektnot nicht. Da sie sich
VERSCHIEDENES VERHALTEN DER BEIDEN TRIEBE USW. All
gleichsam schmarotzend an die anderen Körperfunktionen an-
lehnen und am eigenen Körper autoerotisch befriedigen, sind
sie dem erziehlichen Einfluß der realen Not zunächst ent-
zogen, und sie behaupten diesen Charakter der Eigenwilligkeit,
Unbeeinflußbarkeit, das, was wir „Unverständigkeit‘“ nennen,
bei den meisten Menschen in irgend einer Hinsicht durchs ganze
Leben. Auch hat die Erziehbarkeit einer jugendlichen Person
in der Regel ein Ende, wenn ihre Sexualbedürfnisse in end-
gültiger Stärke erwachen. Das wissen die Erzieher und han-
deln danach; aber vielleicht lassen sie sich durch die Ergebnisse
der Psychoanalyse noch dazu bewegen, den Hauptnachdruck
der Erziehung auf die ersten Kinderjahre, vom Säuglingsalter
an, zu verlegen. Der kleine Mensch ist oft mit dem vierten
oder fünften Jahr schon fertig und bringt später nur allmäh-
lich zum Vorschein, was bereits in ihm steckt.
Um die volle Bedeutung des angezeigten Unterschiedes
zwischen beiden Triebgruppen zu würdigen, müssen wir weit
ausholen und eine jener Betrachtungen einführen, die ökono-
mische genannt zu werden verdienen. Wir begeben uns damit
auf eines der wichtigsten, aber leider auch dunkelsten Gebiete
der Psychoanalyse. Wir stellen uns die Frage, ob an der Arbeit
unseres seelischen Apparates eine Hauptabsicht zu erkennen
sei, und beantworten sie in erster Annäherung, daß diese Ab-
sicht auf Lustgewinnung gerichtet ist. Es scheint, daß unsere
gesamte Seelentätigkeit darauf gerichtet ist, Lust zu erwerben
und Unlust zu vermeiden, daß sie automatisch durch das Lust-
prinzip reguliert wird. Nun wüßten wir’um alles in der Welt
gerne, welches die Bedingungen der Entstehung von Lust und
Unlust sind, aber daran fehlt es uns eben. Nur soviel darf
man sich getrauen zu behaupten, daß die Lust irgendwie
an die Verringerung, Herabsetzung oder das Erlöschen der im
412 XX1I. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
Seelenapparat waltenden Reizmenge gebunden ist, die Unlust
aber an eine Erhöhung derselben. Die Untersuchung der inten-
sivsten Lust, welche dem Menschen zugänglich ist, der Lust bei
der Vollziehung des Sexualaktes, läßt über diesen einen Punkt
wenig Zweifel. Da es sich bei solchen Lustvorgängen um die
Schicksale von Quantitäten seelischer Erregung oder Energie
handelt, bezeichnen wir Betrachtungen dieser Art als ökono-
mische. Wir merken, daß wir die Aufgabe und Leistung des
Seelenapparates auch anders und allgemeiner beschreiben
können als durch die Betonung des Lustgewinnes. Wir können
sagen, der seelische Apparat diene der Absicht, die von außen
und von innen an ihn herantretenden Reizmengen, Erregungs-
größen, zu bewältigen und zu erledigen. Von den Sexualtrieben
ist es ohne weiteres evident, daß sie zu Anfang wie zu Ende
ihrer Entwicklung auf Lustgewinn arbeiten; sie behalten diese
ursprüngliche Funktion ohne Abänderung bei. Das nämliche
streben auch die anderen, die Ichtriebe, anfänglich an. Aber
unter dem Einfluß der Lehrmeisterin Not lernen die Ichtriebe
bald, das Lustprinzip durch eine Modifikation zu ersetzen. Die
Aufgabe, Unlust zu verhüten, stellt sich für sie fast gleich-
wertig neben die des Lustgewinns; das Ich erfährt, daß es
unvermeidlich ist, auf unmittelbare Befriedigung zu verzichten,
den Lustgewinn aufzuschieben, ein Stück Unlust zu ertragen
und bestimmte Lustquellen überhaupt aufzugeben. Das so er-
zogene Ich ist „verständig‘‘ geworden, es läßt sich nicht mehr
vom Lustprinzip beherrschen, sondern folgt dem Realitäts-
prinzip, das im Grunde auch Lust erzielen will, aber durch
die Rücksicht auf die Realität gesicherte, wenn auch aufge-
schobene und verringerte Lust.
Der Übergang vom Lust- zum Realitätsprinzip ist einer
der wichtigsten Fortschritte in der Entwicklung des Ichs. ‚Wir
LUST- UND REALITÄTSPRINZIP. 413
wissen schon, daß die Sexualtriebe dieses Stück der Ichentwick-
lung spät und nur widerstrebend mitmachen, und werden spä-
ter hören, welche Folgen es für den Menschen hat, daß seine
Sexualität sich mit einem so lockeren Verhältnis zur äußeren
Realität begnügt. Und nun zum Schlusse noch eine hieher ge-
hörige Bemerkung. Wenn das Ich des Menschen seine Ent-
wicklungsgeschichte hat wie die Libido, so werden Sie nicht
überrascht sein zu hören, daß es auch „Ichregressionen“ gibt,
und werden auch wissen wollen, welche Rolle diese Rückkehr
des Ichs zu früheren Entwicklungsphasen bei den neurotischen
Erkrankungen spielen kann.
DREIUNDZWANZIGSTE VORLESUNG.
ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
DIE WEGE DER SYMPTOMBILDUNG.
Meine Damen und Herren! Für den Laien sind es die Sym-
ptome, die das Wesen der Krankheit bilden, und Heilung ist ihm
die Aufhebung der Symptome. Der Arzt legt Wert darauf, die
Symptome von der Krankheit zu unterscheiden, und sagt, daß
die Beseitigung der Symptome noch nicht die Heilung der Krank-
heit ist. Aber was nach Beseitigung der Symptome Greifbares
von der Krankheit übrig bleibt, ist nur die Fähigkeit, neue
Symptome zu bilden. Darum wollen wir uns für jetzt auf den
Standpunkt des Laien stellen und die Ergründung der Sym-
ptome für gleichbedeutend mit dem Verständnis der Krankheit
halten.
Die Symptome — wir handeln hier natürlich von psychischen
(oder psychogenen) Symptomen und psychischem Kranksein —
sind für das Gesamtleben schädliche oder wenigstens nutzlose
Akte, häufig von der Person als widerwillig beklagt und mit
Unlust oder Leiden für sie verbunden. Ihr Hauptschaden liegt
in dem seelischen Aufwand, den sie selbst kosten, und in dem
weiteren, der durch ihre Bekämpfung notwendig wird. Diese
beiden Kosten können bei ausgiebiger Symptombildung eine außer-
ordentliche Verarmung der Person an verfügbarer seelischer
Energie und somit eine Lähmung derselben für alle wichtigen
Lebensaufgaben zur Folge haben. Da es für diesen Erfolg haupt-
sächlich auf die Quantität der so in Anspruch genommenen
DAS NEUROTISCHE SYMPTOM. 415
Energie ankommt, so erkennen Sie leicht, daß „Kranksein“ ein
im Wesen praktischer Begriff ist. Stellen Sie sich aber auf
einen theoretischen Standpunkt und sehen von diesen Quan-
titäten ab, so können Sie leicht sagen, daß wir alle krank,
d. i. neurotisch sind, denn die Bedingungen für die Symptom-
bildung sind auch bei den Normalen nachzuweisen.
Von den neurotischen Symptomen wissen wir bereits, daß
sie der Erfolg eines Konflikts sind, der sich um eine neue
Art der Libidobefriedigung erhebt. Die beiden Kräfte, die sich
entzweit haben, treffen im Symptom wieder zusammen, ver-
söhnen sich gleichsam durch das Kompromiß der Symptom-
bildung. Darum ist das Symptom auch so widerstandsfähig;
es wird von beiden Seiten her gehalten. Wir wissen auch, daß
der eine der beiden Partner des Konflikts die unbefriedigte
von der Realität abgewiesene Libido ist, die nun andere Wege
zu ihrer Befriedigung suchen muß. Bleibt die Realität uner-
bittlich, auch wenn die Libido bereit ist, ein anderes Objekt
an Stelle des versagten anzunehmen, so wird diese endlich ge-
nötigt sein, den Weg der Regression einzuschlagen und die
Befriedigung in einer der bereits überwundenen Organisationen
oder durch eines der früher aufgegebenen Objekte anzustreben.
Auf den Weg der Regression wird die Libido durch die Fixie-
rungen gelockt, die sie an diesen Stellen ihrer Entwicklung
zurückgelassen hat.
Nun scheidet sich der Weg zur Perversion scharf von
dem der Neurose. Erwecken diese Regressionen nicht den
Widerspruch des Ichs, so kommt es auch nicht zur Neurose,
und die Libido gelangt zu irgend einer realen, wenn auch nicht
mehr normalen Befriedigung. Wenn aber das Ich, das nicht nur
über das Bewußtsein, sondern auch über die Zugänge zur moto-
rischen Innervation und somit zur Realisierung der seelischen
Freud, Vorlesungen. III. 27
416 XXIII. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
Strebungen verfügt, mit diesen Regressionen nicht einverstanden |
ist, dann ist der Konflikt gegeben. Die Libido ist wie abge-
schnitten und muß versuchen irgendwohin auszuweichen, wo
" sie nach der Forderung des Lustprinzips einen Abfluß für ihre
Energiebesetzung findet. Sie muß sich dem Ich entziehen. Ein
solches Ausweichen gestatten ihr aber die Fixierungen auf ihrem
jetzt regressiv beschrittenen Entwicklungsweg, gegen welche sich
das Ich seinerzeit durch Verdrängungen geschützt hatte. In-
dem die Libido rückströmend diese verdrängten Positionen be-
setzt, hat sie sich dem Ich und seinen Gesetzen entzogen, dabei
aber auch auf alle unter dem Einfluß dieses Ichs erworbene
Erziehung verzichtet. Sie war lenksam, solange ihr Befrie-
digung winkte; unter dem doppelten Druck der äußern und
der innern Versagung wird sie unbotmäßig und besinnt sich
früherer besserer Zeiten. Das ist so ihr im Grund unveränder-
licher Charakter. Die Vorstellungen, denen jetzt die Libido ihre
Energie als Besetzung überträgt, gehören dem System des Un-
bewußten an und unterliegen den Vorgängen, die daselbst mög-
lich sind, insbesondere der Verdichtung und Verschiebung. Hie-
mit sind nun Verhältnisse hergestellt, die vollkommen denen
bei der Traumbildung gleichen. Wie dem im Unbewußten fertig
gewordenen eigentlichen Traum, der die Erfüllung einer unbe-
wußten Wunschphantasie ist, ein Stück (vor)bewußter Tätig-
keit entgegenkommt, welches die Zensurtätigkeit ausübt und
nach deren Abfindung ‘die Bildung eines manifesten Traumes
'als Kompromiß gestattet, so hat auch noch die Libidovertretung
im Unbewußten mit der Macht des vorbewußten Ichs zu rechnen.
Der Widerspruch, der sich gegen sie im Ich erhoben hatte,
geht ihr als „Gegenbesetzung“ nach und nötigt sie, jenen Aus-
druck zu wählen, der gleichzeitig sein eigener Ausdruck wer-
den kann. So entsteht denn das Symptom als vielfach ent-
ENTSTEHUNG DES SYMPTOMS AUS DEM KONFLIKT. 417
stellter Abkömmling der unbewußten . libidinösen Wunsch-
erfüllung, eine kunstvoll ausgewählte Zweideutigkeit mit zwei
einander voll widersprechenden Bedeutungen. Allein in diesem
letzteren Punkte ist ein Unterschied zwischen der Traum- und
der Symptombildung zu erkennen, denn die vorbewußte Ab-
sicht bei der Traumbildung geht nur dahin, den Schlaf zu
erhalten, nichts, was ihn stören würde, zum Bewußtsein drin-
gen zu lassen; sie besteht aber nicht darauf, der unbewußten
Wunschregung ein scharfes: Nein, im Gegenteile, entgegen-
zurufen. Sie darf toleranter sein, weil die Situation des Schlafen-
den eine minder gefährdete ist. Der Ausweg in die Realität ist
durch den Schlafzustand allein gesperrt.
Sie sehen, das Ausweichen der Libido unter den Bedin-
gungen des Konflikts ist durch das Vorhandensein von Fixie-
rungen ermöglicht. Die regressive Besetzung dieser Fixierun-
gen führt zur Umgehung der Verdrängung und zu einer Ab-
fuhr — oder Befriedigung — der Libido, bei welcher die Be-
dingungen des Kompromisses eingehalten werden müssen. Auf
dem Umwege über das Unbewußte und die alten Fixierungen
ist es der Libido endlich gelungen, zu einer allerdings außer-
ordentlich eingeschränkten und kaum mehr kenntlichen realen
Befriedigung durchzudringen. Lassen Sie mich zwei Bemer-
kungen zu diesem Endausgang hinzufügen. Wollen Sie erstens
beachten, wie enge sich hier die Libido und das Unbewußte
einerseits; das Ich, das Bewußtsein und die Realität anderseits
verbunden erweisen, obwohl sie von Anfang an keineswegs
zusammengehören, und hören Sie ferner meine Mitteilung an,
daß alles hier Gesagte und im weiteren Folgende sich nur auf
die Symptombildung bei der hysterischen Neurose bezieht.
Wo findet nun die Libido die Fixierungen, deren sie zum
Durchbruch der Verdrängungen bedarf? In den Betätigungen
27*
418 XXIII. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
und Erlebnissen der infantilen Sexualität, in den verlassenen
Partialstrebungen und aufgegebenen Objekten der Kinderzeit.
Zu ihnen kehrt die Libido also wieder zurück. Die Bedeutung
dieser Kinderzeit ist eine zweifache; einerseits haben sich in ihr
die Triebrichtungen zuerst gezeigt, die das Kind in seiner ange-
borenen Anlage mitbrachte, und zweitens sind durch äußere Ein-
wirkungen, akzidentelle Erlebnisse, andere seiner Triebe zuerst
geweckt, aktiviert worden. Ich glaube, es ist kein Zweifel daran,
daß wir ein Recht haben, diese Zweiteilung aufzustellen. Die
Äußerung der angeborenen Anlage unterliegt ja keinem krı-
tischen Bedenken, aber die analytische Erfahrung nötigt uns
geradezu anzunehmen, daß rein zufällige Erlebnisse der Kind:
heit im stande sind, Fixierungen der Libido zu hinterlassen.
Ich sehe auch keine theoretische Schwierigkeit darin. Die kon-
stitutionellen Anlagen sind sicherlich auch die Nachwirkungen
der Erlebnisse früherer Vorfahren, auch sie sind einmal erworben
worden; ohne solche Erwerbung gäbe es keine Heredität. Und
ist es denkbar, daß solche zur Vererbung führende Erwerbung
gerade bei der von uns betrachteten Generation ein Ende
nimmt? Die Bedeutung der infantilen Erlebnisse sollte aber
nicht, wie es mit Vorliebe geschieht, gegen die der Erlebnisse
der Vorfahren und der eigenen.Reife völlig vernachlässigt wer-
den, sondern im Gegenteile eine besondere Würdigung finden.
Sie sind um so folgenschwerer, weil sie in die Zeiten der un-
vollendeten Entwicklung fallen, und gerade durch diesen Um-
stand geeignet, traumatisch zu wirken. Die Arbeiten über Ent-
wicklungsmechanik von Roux und anderen haben uns gezeigt,
daß ein Nadelstich in die in Zellteilung begriffene Keimanlage
eine schwere Entwicklungsstörung zur Folge hat. Dieselbe Ver-
letzung der Larve oder dem fertigen Tier zugefügt, würde
schadlos vertragen werden.
EIN ÄTIOLOGISCHES SCHEMA, 419
Die Libidofixierung des Erwachsenen, die wir als Reprä-
sentanten des konstitutionellen Faktors in die ätiologische Glei-
chung der Neurosen eingeführt haben, zerlegt sich also jetzt
für uns in zwei weitere Momente, in die ererbte Anlage und
in die in der frühen Kindheit erworbene Disposition. Wir
wissen, daß ein Schema der Sympathie des Lernenden sicher
ist. Fassen wir also diese Verhältnisse in einem Schema
zusammen:
Verursachung Disposition durch akzidentelles Erleben
der Neurose ”” Libidofixierung (traumatisches)
Sexuelle Konstitution Infantiles Erleben
(Prähistorisches Erleben)
Die hereditäre Sexualkonstitution bietet uns eine große Mannig-
faltigkeit von Anlagen, je nachdem dieser oder jener Partial-
trieb für sich allein oder im Verein mit anderen in besonderer
Stärke angelegt ist. Mit dem Faktor des infantilen Erlebens
bildet die Sexualkonstitution wiederum eine „Ergänzungsreihe“,
ganz ähnlich der uns zuerst bekannt gewordenen zwischen
Disposition und akzidentellem Erleben des Erwachsenen. Hier
wie dort finden sich dieselben extremen Fälle und die näm-
lichen Beziehungen der Vertretung. Es liegt nahe, hier die Frage
aufzuwerfen, ob die auffälligste der Libidoregressionen, die auf
frühere Stufen der Sexualorganisation, nicht überwiegend durch
das hereditär konstitutionelle Moment bedingt wird; aber die
Beantwortung der Frage wird am besten aufgeschoben, bis man
eine größere Reihe der neurotischen Erkrankungsformen in Be-
tracht ziehen kann.
420 XXIII. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
Verweilen wir nun bei der Tatsache, daß die analytische
Untersuchung die Libido der Neurotiker an ihre infantilen
Sexualerlebnisse gebunden zeigt. Sie verleiht diesen so den Schein
einer enormen Bedeutsamkeit für das Leben und die Erkrankung
der Menschen. Solche Bedeutung verbleibt ihnen ungeschmälert,
insoweit die therapeutische Arbeit in Betracht kommt. Sehen wir
aber von dieser Aufgabe ab, so erkennen wir doch leicht, daß
hier die Gefahr eines Mißverständnisses vorliegt, das uns ver-
leiten könnte, das Leben allzu einseitig nach der neurotischen
Situation zu orientieren. Man muß doch von der Bedeutung
der Infantilerlebnisse in Abzug bringen, daß die Libido re-
gressiv zu ihnen zurückgekehrt ist, nachdem sie aus ihren spä-
teren Positionen vertrieben wurde. Dann liegt aber der Schluß
nach der Gegenseite sehr nahe, daß die Libidoerlebnisse zu
ihrer Zeit gar keine Bedeutung gehabt, sondern sie erst re-
gressiv erworben haben. Erinnern Sie sich, daß wir zu einer
solchen Alternative bereits bei der Erörterung des Ödipus-
komplexes Stellung genommen haben.
Die Entscheidung wird uns auch diesmal nicht schwer
werden. Die Bemerkung, daß die Libidobesetzung — und also
die pathogene Bedeutung — der Infantilerlebnisse in großem
Maße durch die Libidoregression verstärkt worden ist, hat un-
zweifelhaft recht, aber sie würde zum Irrtum führen, wenn
man sie einzig maßgebend werden ließe. Man muß noch andere
Erwägungen gelten lassen. Fürs erste zeigt die Beobachtung
in einer jeden Zweifel ausschließenden Weise, daß die infan-
tilen Erlebnisse ihre eigene Bedeutung haben und sie auch be-
reits in den Kinderjahren beweisen. Es gibt ja auch Kinder-
neurosen, bei denen das Moment der zeitlichen Zurückschiebung
notwendigerweise sehr herabgesetzt wird oder ganz entfällt, in-
dem die Erkrankung als unmittelbare Folge an die trauma-
DIE FIXIERUNG AN DIE KINDHEITSERLEBNISSE. 421
tischen Erlebnisse anschließt. Das Studium dieser infantilen
Neurosen schützt gegen manch ein gefährliches Mißverständ-
nis der Neurosen Erwachsener, ähnlich wie uns die Träume der
Kinder den Schlüssel zum Verständnis der Träume von
Erwachsenen gegeben haben. Die Neurosen der Kinder sind nun
sehr häufig, viel häufiger, als man glaubt. Sie werden oft
übersehen, als Zeichen von Schlimmheit oder Unartigkeit beur-
teilt, oft auch durch die Autoritäten der Kinderstube nieder-
gehalten, aber sie lassen sich in der Rückschau von später her
immer leicht erkennen. Sie treten zumeist in der Form einer
Angsthysterie auf. Was das heißt, werden wir noch bei
einer anderen Gelegenheit erfahren. Wenn in späteren Lebens-
zeiten eine Neurose ausbricht, so enthüllt sie sich durch die
Analyse regelmäßig als die direkte Fortsetzung jener vielleicht
nur schleierhaften, nur andeutungsweise ausgebildeten infantilen
Erkrankung. Es gibt aber, wie gesagt, Fälle, in denen sich
diese kindliche Nervosität ohne jede Unterbrechung in leben-
langes Kranksein fortsetzt. Einige wenige Beispiele von Kinder-
neurosen haben wir noch am Kind selbst — im Zustande der
Aktualität — analysieren können; weit häufiger mußte es uns
genügen, daß uns der im reifen Leben Erkrankte eine nach-
trägliche Einsicht in seine Kinderneurose gestattete, wobei wir
dann gewisse Korrekturen und Vorsichten nicht vernachlässigen
durften.
An zweiter Stelle muß man doch sagen, daß es unbegreif-
lich wäre, daß die Libido so regelmäßig auf Zeiten der Kind-
heit regrediert, wenn dort nichts wäre, was eine Anziehung
auf sie ausüben könnte. Die Fixierung, die wir an den einzelnen
Stellen des Entwicklungsweges annehmen, hat nur dann einen
Gehalt, wenn wir sie in der Festlegung eines bestimmten Be-
trages von libidinöser Energie bestehen lassen. Endlich kann
422 XXIII. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
ich Sie daran mahnen, daß hier zwischen der Intensität und
pathogenen Bedeutung der infantilen und der späteren Erleb-
nisse ein ähnliches Ergänzungsverhältnis besteht wie in den
früher von uns studierten Reihen. Es gibt Fälle, in denen das
ganze Schwergewicht der Verursachung auf die Sexualerlebnisse
der Kindheit fällt, in denen diese Eindrücke eine sicher trau-
matische Wirkung äußern und keiner anderen Unterstützung
dabei bedürfen, als ihnen die durchschnittliche Sexual-
konstitution und deren Unfertigkeit bieten kann. Daneben an-
dere, bei welchen aller Akzent auf den späteren Konflikten
liegt und die analytische Betonung der Kindereindrücke durch-
aus als das Werk der Regression erscheint; also Extreme der
„Entwicklungshemmung“ und der „Regression“ und zwischen
ihnen jedes Ausmaß von Zusammenwirken der beiden Momente.
Diese Verhältnisse haben ein gewisses Interesse für die Päd-
agogik, die sich eine Verhütung der Neurosen durch frühzeitiges
Eingreifen in die Sexualentwicklung des Kindes zum Vorsatz
nimmt. Solange man seine Aufmerksamkeit vorwiegend auf die
ıinfantilen Sexualerlebnisse gerichtet hält, muß man meinen, man
habe alles für die Prophylaxe nervöser Erkrankungen getan,
wenn man dafür sorgt, daß diese Entwicklung verzögert werde,
und daß dem Kinde derartige Erlebnisse erspart bleiben. Allein
wir wissen schon, daß die Bedingungen der Verursachung für
die Neurosen kompliziertere sind und durch die Berücksich-
tigung eines einzigen Faktors nicht allgemein beeinflußt wer-
den können. Die strenge Behütung der Kindheit verliert an
Wert, weil sie gegen den konstitutionellen Faktor ohnmächtig
ist; sie ist überdies schwerer durchzuführen, als die Erzieher
sich vorstellen, und sie bringt zwei neue Gefahren mit sich,
die nicht gering zu schätzen sind, daß sie zu viel erreicht, näm-
lich ein für die Folge schädliches Übermaß von Sexual-
DIE BEDEUTUNG DER KINDHEITSERLEBNISSE. 423
verdrängung begünstigt, und daß sie das Kind widerstands-
los gegen den in der Pubertät zu erwartenden Ansturm der
Sexualanforderungen ins Leben schickt. So bleibt es durchaus
zweifelhaft, wie weit die Kindheitsprophylaxe mit Vorteil gehen
kann, und ob nicht eine veränderte Einstellung zur Aktualität
einen besseren Angriffspunkt zur Verhütung der Neurosen
verspricht. |
Kehren wir nun zu den Symptomen zurück. Sie schaffen
also Ersatz für die versagte Befriedigung durch eine Regres-
sion der Libido auf frühere Zeiten, womit die Rückkehr zu
früheren Entwicklungsstufen der Objektwahl oder der Orga-
nisation untrennbar verbunden ist. Wir haben frühzeitig ge-
hört, daß der Neurotiker irgendwo in seiner Vergangenheit fest-
haftet; wir wissen jetzt, daß es eine Periode seiner Vergangen-
heit ist, in welcher seine Libido die Befriedigung nicht ver-
mißte, in der er glücklich war. Er sucht so lange in seiner
Lebensgeschichte, bis er eine solche Zeit gefunden hat, und müßte
er auch bis in seine Säuglingszeit zurückgehen, wie er sie erin-
nert oder sich nach späteren Anregungen vorstellt. Das Symptom
wiederholt irgendwie jene frühinfantile Art der Befriedigung,
entstellt durch die aus dem Konflikt hervorgehende Zensur,
in der Regel zur Empfindung des Leidens gewendet und mit
Elementen aus dem Anlaß der Erkrankung vermengt. Die Art
der Befriedigung, welche das Symptom bringt, hat viel Be-
fremdendes an sich. Wir sehen davon ab, daß sie für die Per-
son unkenntlich ist, welche die angebliche Befriedigung viel-
mehr als Leiden empfindet und beklagt. Diese Verwandlung
gehört dem psychischen Konflikt an, unter dessen Druck sich
das Symptom bilden mußte. Was dereinst dem Individuum eine
Befriedigung war, muß eben heute seinen Widerstand oder
seinen Abscheu erwecken. Wir kennen für solche Sinnes-
494 XXIlI. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
änderung ein unscheinbares, aber lehrreiches Vorbild. Dasselbe
Kind, das mit Gier die Milch aus der Mutterbrust gesogen
hat, pflegt einige Jahre später einen starken Widerwillen gegen
Milchgenuß zu äußern, dessen Überwindung der Erziehung
Schwierigkeiten bereitet. Dieser Widerwille steigert sich bis
zum Abscheu, wenn die Milch oder das mit ihr versetzte Ge-
tränk von einem Häutchen überzogen ist. Es ist vielleicht
nicht abzuweisen, daß diese Haut die Erinnerung an die einst
so heiß begehrte Mutterbrust heraufbeschwört. Dazwischen
liegt allerdings das traumatisch wirkende Erlebnis der Abge-
wöhnung.
Es ist noch etwas anderes, was uns die Symptome merk-
würdig und als Mittel der libidinösen Befriedigung unverständ-
lich erscheinen läßt. Sie erinnern uns so gar nicht an all das,
wovon wir normalerweise eine Befriedigung zu erwarten pflegen.
Sie sehen meist vom Objekt ab und geben damit die Beziehung
zur äußeren Realität auf. Wir verstehen dies als Folge der
Abwendung vom Realitäts- und der Rückkehr zum Lustprinzip.
Es ist aber auch eine Rückkehr zu einer Art von erweitertem
Autoerotismus, wie er dem Sexualtrieb die ersten Befriedigungen
bot. Sie setzen an die Stelle einer Veränderung der Außenwelt
eine Körperveränderung, also eine innere Aktion an die Stelle
einer äußeren, eine Anpassung anstatt einer Handlung, was wie-
derum einer in phylogenetischer Hinsicht höchst bedeutsamen
Regression entspricht. Wir werden das erst im Zusammenhange
mit einer Neuheit verstehen, die wir noch aus den analytischen
Untersuchungen über die Symptombildung zu erfahren haben.
Ferner erinnern wir uns, daß bei der Symptombildung die näm-
lichen Prozesse des Unbewußten wie bei der Traumbildung mit-
gewirkt haben, die Verdichtung und Verschiebung. Das Sym-
ptom stellt wie der Traum .etwas als erfüllt dar, eine Be-
DAS SYMPTOM ALS LIBIDINÖSE BEFRIEDIGUNG. 425
friedigung nach Art der infantilen, aber durch äußerste Ver-
dichtung kann diese Befriedigung in eine einzige Sensation
oder Innervation gedrängt, durch extreme Verschiebung auf
eine kleine Einzelheit des ganzen libidinösen Komplexes
eingeschränkt sein. Es ist kein Wunder, wenn auch wir
häufig Schwierigkeiten haben, in dem Symptom die ver-
mütete und jedesmal bestätigte libidinöse Befriedigung zu er-
kennen.
Ich habe Ihnen angekündigt, daß wir noch etwas Neues
zu erfahren haben; es ist wirklich etwas Überraschendes und
Verwirrendes. Sie wissen, durch die Analyse von den Symptomen
aus kommen wir zur Kenntnis der infantilen Erlebnisse, an
welche die Libido fixiert ist, und aus denen die Symptome ge-
macht werden. Nun, die Überraschung liegt darin, daß diese
Infantilszenen nicht immer wahr sind. Ja, sie sind in der Mehr-
zahl der Fälle nicht wahr, und in einzelnen Fällen im direkten
Gegensatz zur historischen Wahrheit. Sie sehen ein, daß dieser
Fund wie kein anderer dazu geeignet ist, entweder die Analyse
zu diskreditieren, die zu solchem Ergebnis geführt hat, oder
die Kranken, auf deren Aussagen die Analyse wie das ganze
Verständnis der Neurosen aufgebaut ist. Außerdem ist aber
noch etwas ungemein Verwirrendes dabei. Wenn die durch die
Analyse zu Tage geförderten infantilen Erlebnisse jedesmal real
wären, hätten wir das Gefühl, uns auf sicherem Boden zu be-
wegen; wenn sie regelmäßig gefälscht wären, sich als’ Er-
findungen, als Phantasien der Kranken enthüllten, müßten wir
diesen schwankenden Boden verlassen und uns auf einen an-
deren retten. Aber es ist weder so noch so, sondern der Sach-
verhalt ist nachweisbar der, daß die in der Analyse kon-
struierten oder erinnerten Kindererlebnisse einmal unstreitig
falsch sind, das andere Mal aber ebenso sicher richtig und in
426 XXIII. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
den meisten Fällen aus Wahrem und Falschem gemengt. Die
Symptome sind also dann bald die Darstellung von Erlebnissen,
die wirklich stattgefunden haben, und denen man einen Ein-
fluß auf die Fixierung der Libido zuschreiben darf, und bald
die Darstellung von Phantasien des Kranken, die sich zu einer
ätiologischen Rolle natürlich gar nicht eignen. Es ist schwer,
sich darin zurechtzufinden. Einen ersten Anhalt finden wir viel-
leicht an einer ähnlichen Entdeckung, daß nämlich die ver-
einzelten Kindheitserinnerungen, welche die Menschen von jeher
und vor jeder Analyse bewußt in sich getragen haben, gleich-
falls gefälscht sein können oder wenigstens reichlich ‚Wahres
mit Falschem vermengen. Der Nachweis der Unrichtigkeit macht
hier selten Schwierigkeiten, und so haben wir wenigstens die
eine Beruhigung, daß. an dieser unerwarteten Enttäuschung
nicht die Analyse, sondern irgendwie die Kranken die Schuld
tragen.
Nach einiger Überlegung verstehen wir leicht, was uns
an dieser Sachlage so verwirrt. Es ist die Geringschätzung
der Realität, die Vernachlässigung des Unterschiedes zwischen
ihr und der Phantasie. Wir sind in Versuchung beleidigt zu sein,
daß uns der Kranke mit erfundenen Geschichten beschäftigt
hat. Die Wirklichkeit erscheint uns als etwas von der Erfin-
dung himmelweit Verschiedenes, und sie genießt bei uns eine
ganz andere Einschätzung. Denselben Standpunkt nimmt
übrigens auch der Kranke in seinem normalen Denken ein. Wenn
er jenes Material vorbringt, welches hinter den Symptomen zu
den Wunschsituationen führt, die den Kindererlebnissen nach-
gebildet sind, so sind wir allerdings anfangs im Zweifel, ob
es sich um Wirklichkeit oder um Phantasien handelt. Später
wird uns die Entscheidung durch gewisse Kennzeichen ermög-
licht, und wir stehen vor der Aufgabe, sie auch dem Kranken
PSYCHISCHE UND MATERIELLE REALITÄT. 427
bekanntzugeben. Dabei geht es nun auf keinen Fall ohne
Schwierigkeiten ab. Eröffnen wir ihm gleich zu Beginn, daß
er jetzt im Begriffe ist, die Phantasien zum Vorschein zu brin-
gen, mit denen er sich seine Kindheitsgeschichte verhüllt hat,
wie jedes Volk durch Sagenbildung seine vergessene Vorzeit,
so bemerken wir, daß sein Interesse für die weitere Verfolgung
des Themas plötzlich in unerwünschter Weise absinkt. Er will
auch Wirklichkeiten erfahren und verachtet alle „Einbil-
dungen“. Lassen wir ihn aber bis zur Erledigung dieses Stückes
der Arbeit im Glauben, daß wir mit der Erforschung der realen
Begebenheiten seiner Kinderjahre beschäftigt sind, so riskieren
wir, daß er uns später Irrtum vorwirft und uns wegen unserer
scheinbaren Leichtgläubigkeit verlacht. Für den Vorschlag, Phan-
tasie und Wirklichkeit gleichzustellen und sich zunächst nicht
darum zu kümmern, ob die zu klärenden Kindererlebnisse das
eine oder das andere seien, hat er lange Zeit kein Verständnis.
Und doch ist dies offenbar die einzig richtige Einstellung zu
diesen seelischen Produktionen. Auch sie besitzen eine Art von
Realität; es bleibt eine Tatsache, daß der Kranke sich solche
Phantasien geschaffen hat, und diese Tatsache hat kaum gerin-
gere Bedeutung für seine Neurose, als wenn er den Inhalt die-
ser Phantasien wirklich erlebt hätte. Diese Phantasien besitzen
psychische Realität im Gegensatz zur materiellen, und
wir lernen allmählich verstehen, daß in der Welt der Neu-
rosen die psychische Realität die maßgebende ist.
Unter den Begebenheiten, die in der Jugendgeschichte der
Neurotiker immer wiederkehren, kaum je zu fehlen scheinen,
sind einige von besonderer Wichtigkeit, die ich darum auch
einer Hervorhebung vor den anderen für würdig halte. Ich
zähle Ihnen als Muster dieser Gattung auf: die Beobachtung des
elterlichen Verkehres, die Verführung durch eine erwachsene
428 XXIII. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
Person und die Kastrationsandrohung. Es wäre ein großer Irr-
tum anzunehmen, daß ihnen niemals materielle Realität zu--
kommt; diese ist im Gegenteil oft einwandfrei durch Nach-
forschung bei älteren Angehörigen zu erweisen. So ist es z. B.
gar keine Seltenheit, daß dem kleinen Knaben, welcher un-
'artig mit seinem Glied zu spielen beginnt und noch nicht weiß,
daß man solche Beschäftigung verbergen muß, von Eltern oder
Pflegepersonen gedroht wird, man werde ihm das Glied oder
die sündigende Hand abschneiden. Die Eltern gestehen es auf
Nachfrage oft ein, da sie mit solcher Einschüchterung etwas
Zweckmäßiges getan zu haben glauben; manche Menschen ha-
ben eine korrekte, bewußte Erinnerung an diese Drohung, be-
sonders dann, wenn sie in etwas späteren Jahren erfolgt ist.
‚Wemn die Mutter oder eine andere weibliche Person die
Drohung ausspricht, so schiebt sie ihre Ausführung gewöhn-
lich dem Vater oder dem — Arzt zu. In dem berühmten
„Struwwelpeter‘ des Frankfurter Kinderarztes Hofimann,
der seine Beliebtheit gerade dem Verständnis für die sexuellen
und andere Komplexe des Kindesalters verdankt, finden Sie
die Kastration gemildert, durch das Abschneiden der Daumen
als Strafe für hartnäckiges Lutschen ersetzt. Es ist aber in
hohem Grade unwahrscheinlich, daß die Kastrationsdrohung so
oft an die Kinder ergehe, als sie in den Analysen der Neu-
rotiker vorkommt. Wir sind damit zufrieden zu verstehen, daß
sich das Kind eine solche Drohung auf Grund von Andeutun-
gen, mit Hilfe des Wissens, daß die autoerotische Befriedigung
verboten ist, und unter dem Eindruck seiner Entdeckung des
weiblichen Genitales, in der Phantasie zusammensetzt. Ebenso
ist es keineswegs ausgeschlossen, daß das kleine Kind, solange
man ıhm kein Verständnis und kein Gedächtnis zutraut, auch
in anderen als Proletarierfamilien zum Zeugen eines Geschlechts-
TYPISCHE PHANTASIEN. 429
aktes zwischen den Eltern oder anderen Erwachsenen wird, und
es ist, nicht abzuweisen, daß das Kind nachträglich diesen
Eindruck verstehen und auf ihn reagieren kann. Wenn aber
dieser Verkehr mit den ausführlichsten Details beschrieben wird,
die der Beobachtung Schwierigkeiten bereiten, oder wenn er
sich, wie überwiegend häufig, als ein Verkehr von rückwärts,
more ferarum, herausstellt, so bleibt wohl kein Zweifel über
die Anlehnung dieser Phantasie an die Beobachtung des Ver-
kehres von Tieren (Hunden) und die Motivierung derselben durch
die unbefriedigte Schaulust des Kindes in den Pubertätsjahren.
Die äußerste Leistung von dieser Art ist dann die Phantasie
von der Beobachtung des elterlichen Koitus, während man sich
noch ungeboren im Mutterleib befunden hat. Besonderes Inter-
esse hat die Phantasie der Verführung, weil sie nur zu oft
keine Phantasie, sondern reale Erinnerung ist. Aber zum Glück
ist sie doch nicht so häufig real, wie es nach den Ergebnissen
der Analyse zuerst den Anschein hatte. Die Verführung durch
ältere oder gleichaltrige Kinder ist immer noch häufiger als
die durch Erwachsene, und wenn bei den Mädchen, welche diese
Begebenheit in ihrer Kindergeschichte vorbringen, ziemlich regel-
mäßig der Vater als Verführer auftritt, so leidet weder die
phantastische Natur dieser Beschuldigung noch das zu ihr
drängende Motiv einen Zweifel. Mit der Verführungsphantasie,
wo keine Verführung stattgehabt hat, deckt das Kind in der
Regel die autoerotische Periode seiner Sexualbetätigung. Es er:
spart sich die Beschämung über die Masturbation, indem es
ein begehrtes Objekt in diese frühesten Zeiten zurückphan-
tasiert. Glauben Sie übrigens nicht, daß sexueller Mißbrauch
des Kindes durch die nächsten männlichen Verwandten durch-
aus dem Reiche der Phantasie angehört. Die meisten Analytiker
werden Fälle behandelt haben, in denen solche Beziehungen real
430 XXIII. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
waren und einwandfrei festgestellt werden konnten; nur ge-
hörten sie auch dann späteren Kindheitsjahren an und waren
in frühere eingetragen worden.
Man empfängt keinen anderen Eindruck, als daß solche
Kinderbegebenheiten irgendwie notwendig verlangt werden, zum
eisernen Bestand der Neurose gehören. Sind sie in der Realität
enthalten, dann ist es gut; hat sie die Realität verweigert, so
werden sie aus Andeutungen hergestellt und durch die Phan-
tasie ergänzt. Das Ergebnis ist das gleiche, und es ist uns
bis heute nicht gelungen, einen Unterschied in den Folgen nach-
zuweisen, wenn die Phantasie oder die Realität den größeren
Anteil an diesen Kinderbegebenheiten hat. Hier besteht eben
wieder nur eines der so oft erwähnten Ergänzungsverhältnisse ;
es ist allerdings das Befremdendste von allen, die wir kennen
gelernt haben. Woher rührt das Bedürfnis nach diesen Phan-
tasien und das Material für sie? Über die Triebquellen kann
wohl kein Zweifel sein, aber es ist zu erklären, daß jedesmal
die nämlichen Phantasien mit demselben Inhalt geschaffen wer-
den. Ich habe hier eine Antwort bereit, von der ich weiß, daß
sie Ihnen gewagt erscheinen wird. Ich meine, diese Ur-
phantasien — so möchte ich sie und gewiß noch einige an-
dere nennen — sind phylogenetischer Besitz. Das Individuum
greift in ihnen über sein eigenes Erleben hinaus in das Erleben
der Vorzeit, wo sein eigenes Erleben allzu rudimentär gewor-
den ist. Es scheint mir sehr wohl möglich, daß alles, was uns
heute in der Analyse als Phantasie erzählt wird, die Kinder-
verführung, die Entzündung der Sexualerregung an der Beob-
achtung des elterlichen Verkehrs, die Kastrationsdrohung, —
oder vielmehr die Kastration — in den Urzeiten der mensch-
lichen Familie einmal Realität war, und daß das phantasierende
Kind einfach die Lücken der individuellen Wahrheit mit prä-
DIE URPHANTASIEN. ENTSTEHUNG DER PHANTASIETÄTIGKEIT. 431
historischer Wahrheit ausgefüllt hat. Wir sind wiederholt auf
den Verdacht gekommen, daß uns die Neurosenpsychologie mehr
von den Altertümern der menschlichen Entwicklung aufbewahrt
hat als alle anderen Quellen.
Meine Herren! Die letzterörterten Dinge nötigen uns, auf
die Entstehung und Bedeutung jener Geistestätigkeit näher ein-
zugehen, die „Phantasie“ genannt wird. Sie genießt, wie Ihnen
bekannt ist, allgemein eine hohe Schätzung, ohne daß man über
ihre Stellung im Seelenleben klar geworden wäre. Ich kann
Ihnen folgendes darüber sagen. Wie Sie wissen, wird das Ich
des Menschen durch die Einwirkung der äußeren Not langsam
zur Schätzung der Realität und zur Befolgung des Realıtäts-
prinzips erzogen und muß dabei auf verschiedene Objekte und
Ziele seines Luststrebens — nicht allein des sexuellen — vor-
übergehend oder dauernd verziehten. Aber Lustverzicht ist dem
Menschen immer schwer gefallen; er bringt ıhn nicht ohne
eine Art von Entschädigung zu stande. Er hat sich daher eine
seelische Tätigkeit vorbehalten, in welcher all diesen aufge-
gebenen Lustquellen und verlassenen Wegen der Lustgewinnung
eine weitere Existenz zugestanden ist, eine Form der Existenz,
in welcher sie von dem Realitätsanspruch und dem, was wir
Realitätsprüfung nennen, frei gelassen sind. Jedes Streben er-
reicht bald die Form einer Erfüllungsvorstellung; es ist kein
Zweifel, daß das Verweilen bei den Wunscherfüllungen der
Phantasie eine Befriedigung mit sich bringt, obwohl das Wis-
sen, es handle sich nicht um Realität, dabei nicht getrübt ist.
In der Phantasietätigkeit genießt also der Mensch die Freiheit
vom äußeren Zwang weiter, auf die er in Wirklichkeit längst
verzichtet hat. Er hat es zu stande gebracht, abwechselnd noch
Lusttier zu sein und dann wieder ein verständiges Wesen. Er
findet mit der kargen Befriedigung, die er der Wirklichkeit ab-
Freud, Vorlesungen. III. 28
432 XXIII. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
ringen kann, eben nicht sein Auskommen. ‚Es geht überhaupt
nicht ohne Hilfskonstruktionen“, hat Th. Fontane einmal ge-
sagt. Die Schöpfung des seelischen Reiches der Phantasie findet
ein volles Gegenstück in der Einrichtung von „Schonungen“,
„Naturschutzparks“ dort, wo die Anforderungen des Ackerbaues,
des Verkehres und der Industrie das ursprüngliche Gesicht der
Erde rasch bis zur Unkenntlichkeit zu verändern drohen. Der
Naturschutzpark erhält diesen alten Zustand, welchen man sonst
überall mit Bedauern der Notwendigkeit geopfert hat. Alles
darf darin wuchern und wachsen, wie es will, auch das Nutzlose,
selbst das Schädliche. Eine solche dem Realitätsprinzip entzogene
Schonung ist auch das seelische Reich der Phantasie.
Die bekanntesten Produktionen der Phantasie sind die so-
genannten „Tagträume“, die wir schon kennen, vorgestellte Be-
friedigungen ehrgeiziger, großsüchtiger, erotischer Wünsche, die
um so üppiger gedeihen, je mehr die Wirklichkeit zur Be-
scheidung oder zur Geduldung mahnt. Das Wesen des Phantasie-
glücks, die Wiederherstellung der Unabhängigkeit der Lust-
gewinnung von der Zustimmung der Realität, zeigt sich in
ihnen unverkennbar. Wir wissen, solche Tagträume sind Kern
und Vorbilder der nächtlichen Träume Der Nachttraum ist
im Grunde nichts anderes als ein durch die nächtliche Frei-
heit der Triebregungen verwendbar gewordener, durch die nächt-
liche Form der seelischen Tätigkeit entstellter Tagtraum. Wir
haben uns bereits mit der Idee vertraut gemacht, daß auch ein
Tagtraum nicht notwendig bewußt ist, daß es auch unbewußte
Tagträume gibt. Solche unbewußte Tagträume sind also eben-
sowohl die Quelle der nächtlichen Träume wie — der neuro-
tischen Symptome.
Die Bedeutung der Phantasie für die Symptombildung
wird Ihnen durch die folgende Mitteilung klar werden. Wir
BEDEUTUNG DER PHANTASIE FÜR DIE SYMPTOMBILDUNG. 433
haben gesagt, im Falle der Versagung besetze die Libido
regressiv die von ihr aufgelassenen Positionen, an denen
sie doch mit gewissen Beträgen haften geblieben ist. Das wer-
den wir nicht zurücknehmen oder korrigieren, aber wir haben
ein Zwischenglied einzusetzen. Wie findet die Libido ihren Weg
zu diesen Fixierungsstellen? Nun, alle aufgegebenen Objekte
und Richtungen der Libido sind noch nicht in jedem Sinne
aufgegeben. Sie oder ihre Abkömmlinge werden noch mit einer
gewissen Intensität in den Phantasievorstellungen festgehalten.
Die Libido braucht sich also nur auf die Phantasien zurück-
zuziehen, um von ihnen aus den Weg zu allen verdrängten
Fixierungen offen zu finden. Diese Phantasien erfreuten sich
einer gewissen Duldung, es kam nicht zum Konflikt zwischen
ihnen und dem Ich, so scharf auch die Gegensätze sein moch-
ten, solange eine gewisse Bedingung eingehalten wurde. Eine
Bedingung quantitativer Natur, die nun durch das Rück-
fluten der Libido auf die Phantasien gestört wird. Durch diesen
Zuschuß wird die Energiebesetzung der Phantasien so erhöht,
daß sie anspruchsvoll werden, einen Drang nach der Richtung
der Realisierung entwickeln. Das macht aber den Konflikt zwi-
schen ihnen und dem Ich unvermeidlich. Ob sie früher vor:
bewußt oder bewußt waren, sie unterliegen jetzt d ' Verdrän.
gung von seiten des Ichs und sind der Anziehung von seiten
des Unbewußten preisgegeben. Von den jetzt unbewußten Phan-
tasien wandert die Libido bis zu deren Ursprüngen im Unbe-
wußten, bis zu ihren eigenen Fixierungsstellen zurück.
Der Rückgang der Libido auf die Phantasie ist eine
Zwischenstufe des Weges zur Symptombildung, welche wohl
eine besondere Bezeichnung verdient. ©. G. Jung hat den sehr
geeigneten Namen der Introversion für sie geprägt, ihn aber
in unzweckmäßiger Weise auch anderes bedeuten lassen. Wir
28*
454 XXIII. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
wollen daran festhalten, daß Introversion die Abwendung der
Libido von den Möglichkeiten der realen Befriedigung und die
Überbesetzung der bisher als harmlos geduldeten Phantasien
bezeichnet. Ein Introvertierter ist noch kein Neurotiker, aber
er befindet sich in einer labilen Situation; er muß bei der
nächsten Kräfteverschiebung Symptome entwickeln, wenn er
nicht noch für seine gestaute Libido andere Auswege findet.
Der irreale Charakter der neurotischen Befriedigung und die
Vernachlässigung des Unterschiedes zwischen Phantasie und
Wirklichkeit sind hingegen bereits durch das Verweilen auf
der Stufe der Introversion bestimmt.
Sıe haben gewiß bemerkt, daß ich in den letzten Er-
| örterungen einen neuen Faktor in das Gefüge der ätiologischen
Verkettung eingeführt habe, nämlich die Quantität, die Größe
der in Betracht kommenden Energien; diesen Faktor müssen
wir überall noch in Rechnung bringen. Mit rein qualitativer
Analyse der ätiologischen Bedingungen reichen wir nicht aus.
Oder um es anders zu sagen, eine bloß dynamische Auf-
fassung dieser seelischen Vorgänge ist ungenügend, es bedarf
noch des ökonomischen Gesichtspunktes. Wir müssen uns
sagen, daß der Konflikt zwischen zwei Strebungen nicht los-
bricht, ehe nicht gewisse Besetzungsintensitäten erreicht sind,
mögen auch die inhaltlichen Bedingungen längst vorhanden sein.
Ebenso richtet sich die pathogene Bedeutung der konstitutio-
nellen Faktoren danach, wie viel mehr von dem einen Partial-
trieb als von einem anderen in der Anlage gegeben ist; man
kann sich sogar vorstellen, die Anlagen aller Menschen seien
qualitativ gleichartig und unterscheiden sich nur durch diese
quantitativen Verhältnisse. Nicht minder entscheidend ist das
quantitative Moment für die Widerstandsfähigkeit gegen neu-
rotische Erkrankung. Es kommt darauf an, welchen Betrag
DIE INTROVERSION. DER ÖKONOMISCHE GESICHTSPUNKT. 435
der unverwendeten Libido eine Person in Schwebe erhalten kann,
und einen wie großen Bruchteil ihrer Libido sie vom Sexu-
ellen weg auf die Ziele der Sublimierung zu lenken vermag.
Das Endziel der seelischen Tätigkeit, das sich qualitativ als
Streben nach Lustgewinn und Unlustvermeidung beschreiben
läßt, stellt sich -für die ökonomische Betrachtung als die Auf-
gabe dar, die im seelischen Apparat wirkenden Erregungsgrößen .
(Reizmengen) zu bewältigen und deren Unlust schaffende Stau-
ung hintanzuhalten.
Soviel wollte ich Ihnen also über die Symptombildung bei
den Neurosen sagen. Ja aber, daß ich nicht versäume, es noch-
mals ausdrücklich zu betonen: Alles hier Gesagte bezieht sich
nur auf die Symptombildung bei der Hysterie. Schon bei der
Zwangsneurose ist — bei Erhaltung des Grundsätzlichen —
vieles anders zu finden. Die Gegenbesetzungen gegen die Trieb-
anforderungen, von denen wir auch bei Hysterie gesprochen
haben, drängen sich bei der Zwangsneurose vor und beherrschen
durch sogenannte „Reaktionsbildungen“ das klinische Bild. Eben-
solche und noch weiter reichende Abweichungen. entdecken wir
bei den anderen Neurosen, wo die Untersuchungen über die
Mechanismen der Symptombildung noch an keinem Punkte ab-
geschlossen sind.
Ehe ich Sie heute entlasse, möchte ich aber Ihre Aufmerk-
samkeit noch eine Weile für eine Seite des Phantasielebens in
Anspruch nehmen, die des allgemeinsten Interesses würdig ist.
Es gibt nämlich einen Rückweg von der Phantasie zur Realität,
und das ist — die Kunst. Der Künstler ist im Ansatze auch
ein Introvertierter, der es nicht weit zur Neurose hat. Er wird
von überstarken Triebbedürfnissen gedrängt, möchte Ehre, Macht,
Reichtum, Ruhm und die Liebe der Frauen erwerben; es fehlen
ihm aber die Mittel, um diese Befriedigungen zu erreichen.
436 XXIII. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
Darum wendet er sich wie ein anderer Unbefriedigter von der
Wirklichkeit ab und überträgt all sein Interesse, auch seine
Libido, auf die Wunschbildungen seines Phantasielebens, von
denen aus der Weg zur Neurose führen könnte. Es muß wohl
vielerlei zusammentreffen, damit dies nicht der volle Ausgang
seiner Entwicklung werde; es ist ja bekannt, wie häufig gerade
Künstler an einer partiellen Hemmung ihrer Leistungsfähig-
keit durch Neurosen leiden. Wahrscheinlich enthält ihre Kon-
stitution eine starke Fähigkeit zur Sublimierung und eine ge-
wisse Lockerheit der den Konflikt entscheidenden Verdrän-
gungen. Den Rückweg zur Realität findet der Künstler aber
auf folgende Art. Er ist ja nicht der einzige, der ein Phantasie-
leben führt. Das Zwischenreich der Phantasie ist durch allge-
mein menschliche Übereinkunft gebilligt, und jeder Entbehrende
erwartet von daher Linderung und Trost. Aber den Nicht-
künstlern ist der Bezug von Lustgewinn aus den Quellen der
Phantasie sehr eingeschränkt. Die Unerbittlichkeit ihrer Ver-
drängungen nötigt sie, sich mit den spärlichen Tagträumen,
die noch bewußt werden dürfen, zu begnügen. Wenn einer ein
rechter Künstler ist, dann verfügt er über mehr. Er versteht
es erstens, seine Tagträume so zu bearbeiten, daß sie das allzu
Persönliche, welches Fremde abstößt, verlieren und für die an-
deren mitgenießbar werden. Er weiß sie auch soweit zu
mildern, daß sie ihre Herkunft aus den verpönten Quellen
nicht leicht verraten. Er besitzt ferner das rätselhafte Ver-
mögen, ein bestimmtes Material zu formen, bis es zum ge-
treuen Ebenbilde seiner Phantasievorstellung geworden ist, und
dann weiß er an diese Darstellung seiner unbewußten Phan-
tasıe so viel Lustgewinn zu knüpfen, daß durch sie die Ver-
drängungen wenigstens zeitweilig überwogen und aufgehoben
werden. Kann er das alles leisten, so ermöglicht er es den An-
DIE KUNST ALS RÜCKWEG VON DER PHANTASIE ZUR REALITÄT. 437
deren, aus den eigenen unzugänglich gewordenen Lustquellen
ihres Unbewußten wiederum Trost und Linderung zu schöp-
fen, gewinnt ihre Dankbarkeit und Bewunderung und hat nun
durch seine Phantasie erreicht, was er vorerst nur in seiner
Phantasie erreicht hatte: Ehre, Macht und Liebe der Frauen.
VIERUNDZWANZIGSTE VORLESUNG.
ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
DIE GEMEINE NERVOSITÄT.
Meine Damen und Herren! Nachdem wir in den letzten
Besprechungen ein so schweres Stück Arbeit hinter uns ge-
bracht haben, verlasse ich für eine Weile den Gegenstand und
wende mich zu Ihnen. |
Ich weiß nämlich, daß Sie unzufrieden sind. Sie haben sich
eine „Einführung in die Psychoanalyse‘ anders vorgestellt. Sie
haben lebensvolle Beispiele zu hören erwartet, nicht Theorie.
Sie sagen mir, das einemal, da ich Ihnen die Parallele vor-
trug „Zu ebener Erde und im ersten Stock“, da haben Sie
etwas von der Verursachung der Neurosen begriffen, nur hät-
ten es wirkliche Beobachtungen sein sollen und nicht kon-
struierte Geschichten. Oder als ich Ihnen zu Beginn zwei — hof-
fentlich nicht auch erfundene — Symptome erzählte, deren Auf-
lösung und Beziehung zum Leben der Kranken entwickelte, da
leuchtete Ihnen der „Sinn“ der Symptome ein; Sie hofften, ich
würde in dieser Art fortsetzen. Anstatt dessen gab ich Ihnen
weitläufige, schwer übersehbare Theorien, die nie vollständig
waren, zu denen immer noch etwas Neues hinzukam, arbeitete
mit Begriffen, die ich Ihnen noch nicht vorgestellt hatte, fiel
aus der deskriptiven Darstellung in die dynamische Auffassung,
aus dieser in eine sogenannte „ökonomische“, machte es Ihnen
schwer zu verstehen, wie viele von den angewendeten Kunst-
worten dasselbe bedeuten und nur aus Gründen des Wohllautes
KRITIK UND RECHTFERTIGUNG DER DARSTELLUNG. 439
miteinander abwechseln, ließ so weitausgreifende Gesichtspunkte
wie das Lust- und Realitätsprinzip und den phylogenetisch er-
erbten Besitz vor Ihnen auftauchen, und anstatt Sie in etwas
einzuführen, ließ ich etwas, was sich immer mehr von Ihnen
entfernte, vor Ihren Augen vorüberziehen.
Warum habe ich die Einführung in die Neurosenlehre nicht
mit dem begonnen, was Sie selbst von der Nervosität kennen
und was längst Ihr Interesse erweckt hat? Mit dem eigentüm-
lichen Wesen der Nervösen, ihren unverständlichen Reaktionen
auf menschlichen Verkehr und äußere Einflüsse, ihrer Reiz-
barkeit, Unberechenbarkeit und Untauglichkeit? Warum Sie
nicht schrittweise vom Verständnis der einfacheren alltäglichen
Formen bis zu den Problemen der rätselhaften extremen Er-
scheinungen der Nervosität geführt?
Ja, meine Herren, ich kann Ihnen nicht einmal Unrecht
geben. Ich bin nicht so vernarrt in meine Darstellungskunst,
daß ich jeden ihrer Schönheitsfehler für einen besonderen Reiz
ausgeben sollte. Ich glaube selbst, es hätte sich mit mehr Vor-
teil für Sie anders machen lassen; es lag auch in meiner Ab-
sicht. Aber man kann seine verständigen Absichten nicht immer
durchführen. Im Stoff selbst ist oft etwas, wodurch man kom-
mandiert und von seinen ersten Absichten abgelenkt wird. Selbst
eine so unscheinbare Leistung wie die Anordnung eines wohl-
bekannten Materials unterwirft sich nicht ganz der Willkür
des Autors; sie gerät, wie sie will, und man kann sich nur
nachträglich befragen, warum sie so und nicht anders ausge-
fallen ist.
Einer der Gründe ist wahrscheinlich, daß der Titel ‚Ein:
führung in die Psychoanalyse“ für diesen Abschnitt, der die
Neurosen behandeln soll, nicht mehr zutrifft. Die Einführung
in die Psychoanalyse gibt das Studium der Fehlleistungen und
440 XXIV. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
des Traumes; die Neurosenlehre ist die Psychoanalyse selbst. Ich
glaube nicht, daß ich vom Inhalt der Neurosenlehre in so kurzer
Zeit Ihnen anders als in so konzentrierter Form hätte Kennt-
nis geben können. Es handelte sich darum, Ihnen Sinn und Be-
deutung der Symptome, äußere und innere Bedingungen und
Mechanismus der Symptombildung im Zusammenhange vorzu-
führen. Das habe ich zu tun versucht; es ist so ziemlich der
Kern dessen, was die Psychoanalyse heute zu lehren hat. Dabei
war von der Libido und ihrer Entwicklung vieles zu sagen,
einiges auch von der des Ichs. Auf die Voraussetzungen un-
serer Technik, auf die großen Gesichtspunkte des Unbewußten
und der Verdrängung (des Widerstandes) waren Sie schon durch
die Einführung vorbereitet. Sie werden in einer der nächsten
Vorlesungen erfahren, an welchen Stellen die psychoanalytische
Arbeit ihren organischen Fortgang nimmt. Vorläufig habe ich
Ihnen nicht verheimlicht, daß alle unsere Ermittlungen nur aus
dem Studium einer einzigen Gruppe von nervösen Affektionen,
den sogenannten Übertragungsneurosen, stammen. Den Mecha-
nismus der Symptombildung habe ich sogar nur für die hy-
sterische Neurose verfolgt. Wenn Sie auch kein solides Wis-
sen erworben und nicht jede Einzelheit behalten haben sollten,
so hoffe ich doch, daß Sie so ein Bild davon gewonnen haben,
mit welchen Mitteln die Psychoanalyse arbeitet, welche Fra-
gen sie angreift, und welche Ergebnisse sie geliefert hat.
Ich habe Ihnen den Wunsch unterlegt, daß ich die Dar-
stellung der Neurosen mit dem Gehaben der Nervösen hätte be-
ginnen sollen, mit der Schilderung der Art, wie sie unter ihrer
Neurose leiden, wie sie sich ihrer erwehren und sich mit ihr
einrichten. Das ist gewiß ein interessanter und wissenswerter
Stoff, auch nicht sehr schwierig zu behandeln, aber es ist nicht
unbedenklich, mit ihm zu beginnen. Man läuft Gefahr, das Un-
DER NERVÖSE CHARAKTER. # 441
bewußte nicht zu entdecken, dabei die große Bedeutung der
Libido zu übersehen und alle Verhältnisse so zu beurteilen, wie
sie dem Ich des Nervösen erscheinen. Daß dieses Ich keine
verläßliche und unparteiische Instanz ist, liegt auf der Hand.
Das Ich ist ja die Macht, welche das Unbewußte verleugnet
und es zum Verdrängten herabgesetzt hat, wie sollte man ihm
zutrauen, diesem Unbewußten gerecht zu werden? Unter die-
sem Verdrängten stehen die abgewiesenen Ansprüche der Sexua-
lität in erster Linie; es ist ganz selbstverständlich, daß wir
deren Umfang und Bedeutung nie aus den Auffassungen des
Ichs erraten können. Von dem Moment an, da uns der Ge-
sichtspunkt der Verdrängung aufdämmert, sind wir auch ge-
warnt davor, daß wir nicht die eine der beiden streitenden
Parteien, überdies noch die siegreiche, zum Richter über den
Streit einsetzen. Wir sind vorbereitet darauf, daß uns die Aus-
sagen des Ichs irreführen werden. Wenn man dem Ich glauben
will, so war es in allen Stücken aktiv, so hat es selbst seine
Symptome gewollt und gemacht. Wir wissen, daß es ein gutes
Stück Passivität über sich ergehen ließ, die es sich dann ver-
heimlichen und beschönigen will. Allerdings getraut es sich
dieses Versuches nicht immer; bei den Symptomen der Zwangs-
neurose muß es sich eingestehen, daß etwas Fremdes sich ihm
entgegenstellt, dessen es sich nur mühsam erwehrt.
Wer sich durch diese Mahnungen nicht abhalten läßt, die
Verfälschungen des Ichs für bare Münze zu nehmen, der hat
freilich dann ein leichtes Spiel und ist all den Widerständen
entgangen, die sich der psychoanalytischen Betonung des Un-
bewußten, der Sexualität und der Passivität des Ichs entgegen-
setzen. Der kann wie Alfred Adler behaupten, daß der ‚„ner-
vöse Charakter‘ die Ursache der Neurose sei, anstatt die Folge
derselben, aber er wird auch nicht im stande sein, ein einziges
442 XXIV. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
Detail der Symptombildung oder einen einzelnen Traum zu
erklären.
Sie werden fragen: Sollte es denn nicht möglich sein, dem
Anteil des Ichs an der Nervosität und an der Symptombildung
gerecht zu werden, ohne dabei die von der Psychoanalyse auf-
gedeckten Momente in gröblicher Weise zu vernachlässigen? Ich
antworte: Gewiß muß es möglich sein und es wird auch irgend
einmal geschehen; es liegt aber nicht in der Arbeitsrichtung
der Psychoanalyse, gerade damit zu beginnen. Es läßt sich wohl
vorhersagen, wann diese Aufgabe an die Psychoanalyse heran-
treten wird. Es gibt Neurosen, bei welchen das Ich weit inten-
siver beteiligt ist als bei den bisher von uns studierten; wir
nennen sie „narzißtische‘ Neurosen. Die analytische Bearbeitung
dieser Affektionen wird uns befähigen, die Beteiligung des Ichs
an der neurotischen Erkrankung in unparteiischer und zuver-
lässiger Weise zu beurteilen.
Eine der Beziehungen des Ichs zu seiner Neurose ist aber
so augenfällig, daß sie von Anfang an Berücksichtigung fin-
den konnte. Sie scheint in keinem Falle zu fehlen; man er-
kennt sie aber am deutlichsten bei einer Affektion, die unserem
Verständnis heute noch ferne steht, bei der traumatischen
Neurose. Sie müssen nämlich wissen, daß in der Verursachung
und im Mechanismus aller möglichen Formen von Neurosen
immer wieder dieselben Momente in Tätigkeit treten, nur fällt
hier dem einen, dort dem anderen dieser Momente die Haupt-
bedeutung für die Symptombildung zu. Es ist wie mit dem
Personal einer Schauspielertruppe, unter dem jeder sein festes
Rollenfach hat: Held, Vertrauter, Intrigant usw.; es wird aber
jeder ein anderes Stück für seine Benefizvorstellung wählen.
So sind die Phantasien, die sich in die Symptome umsetzen,
nirgends greifbarer als in der Hysterie; die Gegenbesetzungen
DAS VERHÄLTNIS DES ICHS ZU SEINER NEUROSE. 443
oder Reaktionsbildungen des Ichs beherrschen das Bild bei der
Zwangsneurose; was wir für den Traum sekundäre Bear-
beitung genannt haben, steht als Wahn obenan in der
Paranoia usw.
So drängt sich uns bei den traumatischen Neurosen, beson-
ders bei solchen, wie sie durch die Schrecken des Krieges ent-
stehen, unverkennbar ein selbstsüchtiges, nach Schutz und
Nutzen strebendes Ichmotiv auf, welches die Krankheit nicht
etwa allein schaffen kann, aber seine Zustimmung zu ihr gibt
und sie erhält, wenn sie einmal zu stande gekommen ist. Dies
Motiv will das Ich vor den Gefahren bewahren, deren Drohung
der Anlaß der Erkrankung ward, und wird die Genesung nicht
eher zulassen, als bis die Wiederholung dieser Gefahren aus-
geschlossen scheint, oder erst nachdem eine Entschädigung für
die ausgestandene Gefahr erreicht ist.
Aber ein ähnliches Interesse nimmt das Ich in allen an-
deren Fällen an der Entstehung und dem Fortbestand der Neu-
rose. Wir haben schon gesagt, daß das Symptom auch vom
Ich gehalten wird, weil es eine Seite hat, mit welcher es der
verdrängenden Ichtendenz Befriedigung bietet. Überdies ist die
Erledigung des Konflikts durch die Symptombildung die be-
quemste und die dem Lustprinzip genehmste Auskunft; sie er-
spart dem Ich unzweifelhaft eine große und peinlich empfundene
innere Arbeit. Ja, es gibt Fälle, in denen selbst der Arzt zu-
gestehen muß, daß der Ausgang eines Konflikts in Neurose
die harmloseste und sozial erträglichste Lösung darstellt. Er-
staunen Sie nicht, wenn Sie hören, daß also selbst der Arzt
mitunter die Partei der von ihm bekämpften Krankheit nimmt.
Es steht ihm ja nicht an, sich gegen alle Situationen des Le-
bens auf die Rolle des Gesundheitsfanatikers einzuengen, er
weiß, daß es nicht nur neurotisches Elend in der Welt gibt,
444 XXIV. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
sondern auch reales, unabstellbares Leiden, daß die Notwendig-
keit von einem Menschen auch fordern kann, daß er seine Ge-
sundheit zum Opfer bringe, und er erfährt, daß durch ein sol-
ches Opfer eines einzelnen oft unübersehbares Unglück für viele
andere hintangehalten wird. Wenn man also sagen konnte, daß
der Neurotiker jedesmal vor einem Konflikt die Flucht in
die Krankheit nimmt, so muß man zugeben, in manchen
Fällen sei diese Flucht vollberechtigt, und der Arzt, der die-
sen Sachverhalt erkannt hat, wird sich schweigend und
schonungsvoll zurückziehen.
Aber sehen wir ven diesen Ausnahmsfällen für die weitere
Erörterung ab. Unter durchschnittlichen Verhältnissen erkennen
wir, daß dem Ich durch das Ausweichen in die Neurose ein
gewisser innerer Krankheitsgewinn zu teil wird. Zu die-
sem gesellt sich in manchen Lebenslagen ein greifbarer äußerer,
in der Realität mehr oder weniger hoch einzuschätzender Vor-
teil. Betrachten Sie den häufigsten Fall dieser Art. Eine Frau,
die von ihrem Manne roh behandelt und schonungslos ausge-
nützt wird, findet ziemlich regelmäßig den Ausweg in die
Neurose, wenn ihre Anlagen es ihr ermöglichen, wenn sie zu
feige oder zu sittlich ist, um sich im geheimen bei einem an-
deren Manne zu trösten, wenn sie nicht stark genug ist, sich
gegen alle äußeren Abhaltungen von ihrem Mann zu trennen,
wenn sie nicht die Aussicht hat, sich selbst zu erhalten oder
einen besseren Mann zu gewinnen, und wenn sie überdies durch
ihr sexuelles Empfinden noch an diesen brutalen Mann gebunden
ist. Ihre Krankheit wird nun ihre Waffe im Kampfe gegen
den überstarken Mann, eine Waffe, die sie zu ihrer Ver-
teidigung gebrauchen und für ihre Rache mißbrauchen kann.
Sie darf über ihre Krankheit klagen, während sie sich wahr-
scheinlich über ihre Ehe nicht beklagen durfte. Sie findet einen
DER KRANKHEITSGEWINN. 445
Helfer im Arzt, sie nötigt den sonst rücksichtslosen Mann, sie
zu schonen, Aufwendungen für sie zu machen, ihr Zeiten der
Abwesenheit vom Hause und somit der Befreiung von der ehe-
lichen Unterdrückung zu gestatten. Wo ein solcher äußerer oder
akzidenteller Krankheitsgewinn recht erheblich ist und keinen
realen Ersatz finden kann, da werden Sie die Möglichkeit einer
Beeinflussung der Neurose durch Ihre Therapie nicht groß ver-
anschlagen dürfen.
Sie werden mir vorhalten, was ich Ihnen da vom Krankheits-
gewinn erzählt habe, spricht ja durchaus zu Gunsten der von
mir zurückgewiesenen Auffassung, daß das Ich selbst die Neu-
rose will und sie schafft. Gemach, meine Herren, es bedeutet
vielleicht weiter nichts, als daß das Ich sich die Neurose ge-
fallen läßt, die es doch nicht verhindern kann, und daß es
das Beste aus ihr macht, wenn sich überhaupt etwas aus ihr
machen läßt. Es ist nur die eine Seite der Sache, die angenehme
allerdings. Soweit die Neurose Vorteile hat, ist das Ich wohl mit
ihr einverstanden, aber sie hat nicht nur Vorteile. In der Regel
stellt sich bald heraus, daß das Ich ein schlechtes Geschäft
gemacht hat, indem es sich auf die Neurose einließ. Es hat
eine Erleichterung des Konflikts zu teuer erkauft, und die
Leidensempfindungen, welche an den Symptomen haften, sind
vielleicht ein äquivalenter Ersatz für die Qualen des Konflikts,
wahrscheinlich aber ein Mehrbetrag von Unlust. Das Ich möchte
diese Unlust der Symptome los werden, den Krankheitsgewinn
aber nicht herausgeben, und das bringt es eben nicht zu stands.
Dabei erweist sich dann, daß es nicht so durchaus aktiv war,
wie es sich geglaubt hat, und das wollen wir uns gut merken.
Meine Herren, wenn Sie als Arzt mit Neurotikern um-
gehen, werden Sie bald die Erwartung aufgeben, daß diejenigen,
' die über ihre Krankheit am stärksten jammern und klagen,
446 XXIV. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
der Hilfeleistung am bereitwilligsten entgegenkommen und ihr
die geringsten Widerstände bereiten werden. Eher das Gegen-
teil. Wohl aber werden Sie es leicht verstehen, daß alles, was
zum Krankheitsgewinn beiträgt, den Verdrängungswiderstand
verstärken und die therapeutische Schwierigkeit vergrößern
wird. Zu dem Stück des Krankheitsgewinnes, welches sozusagen
mit dem Symptom geboren wird, haben wir aber auch noch
ein anderes hinzuzufügen, das sieh später ergibt. Wenn solch
eine psychische Organisation wie die Krankheit durch längere
Zeit bestanden hat, so benimmt sie sich endlich wie ein selb-
ständiges Wesen; sie äußert etwas wie einen Selbsterhaltungs-
trieb, es bildet sich eine Art von modus vivendi zwischen ihr
und anderen Anteilen des Seelenlebens, selbst solchen, die ihr im
Grunde feindselig sind, und es kann kaum fehlen, daß sich
Gelegenheiten ergeben, bei denen sie sich wieder nützlich und
verwertbar erweist, gleichsam eine Sekundärfiunktion er-
wirbt, die ihren Bestand von neuem kräftigt. Nehmen Sie an-
statt eines Beispiels aus der Pathologie eine grelle Erläuterung
aus dem täglichen Leben. Ein tüchtiger Arbeiter, der seinen
Unterhalt erwirbt, wird durch einen Unfall in seiner Beschäf-
tigung zum Krüppel; mit der Arbeit ist es jetzt aus, aber
der Verunglückte empfängt mit der Zeit eine kleine Unfalls-
rente und lernt es, seine Verstümmelung als Bettler zu ver-
werten. Seine neue, wiewohl verschlechterte Existenz, gründet
sich jetzt gerade auf dasselbe, was ihn um seine erste Existenz
gebracht hat. Wenn Sie seine Verunstaltung beheben können,
so machen Sie ihn zunächst subsistenzlos; es eröffnet sich die
Frage, ob er noch fähig ist, seine frühere Arbeit wieder auf-
zunehmen. Was bei der Neurose einer solchen sekundären Nut-
zung der Krankheit entspricht, können wir als sekundären
Krankheitsgewinn zum primären hinzuschlagen.
KRITIK DES KRANKHEITSGEWINNS. 447
Im allgemeinen aber möchte ich Ihnen sagen, unterschätzen
Sie die praktische Bedeutung des Krankheitsgewinnes nicht und
lassen Sie sich in theoretischer Hinsicht nicht von ihm impo-
nieren. Von jenen früher anerkannten Ausnahmen abgesehen,
mahnt er doch immer an die Beispiele „von der Klugheit der
Tiere“, die Oberländerin den „Fliegenden Blättern“ illustriert
hat. Ein Araber reitet auf seinem Kamel einen schmalen Pfad,
der in die steile Bergwand eingeschnitten ist. Bei einer Wendung
des Weges sieht er sich plötzlich einem Löwen gegenüber, der
sieh sprungbereit macht. Er sieht keinen Ausweg; auf der einen
Seite die senkrechte Wand, auf der anderen der Abgrund; Um-
kehr und Flucht sind unmöglich; er gibt sich verloren. Anders
das Tier. Es macht mit seinem Reiter einen Satz in den Ab-
grund — und der Löwe hat das Nachsehen. Besseren Erfole für
den Kranken haben in der Regel auch die Hilfeleistungen der
Neurose nicht. Es mag daher kommen, daß die Erledigung
eines Konflikts durch Symptombildung doch ein automatischer
Vorgang ist, der sich den Anforderungen des Lebens nicht ge-
wachsen zeigen kann, und bei dem der Mensch auf die Verwer-
tung seiner besten und höchsten Kräfte verzichtet hat. Wenn
es eine Wahl gäbe, sollte man es vorziehen, im ehrlichen Kampf
mit dem Schicksal unterzugehen.
Meine Herren! Ich bin Ihnen aber noch die weitere Moti-
vierung schuldig, weshalb ich in einer Darstellung der Neurosen-
lehre nicht von der gemeinen Nervosität ausgegangen bin. Viel-
leicht nehmen Sie an, ich tat es darum, weil mir dann der Nach-
weis der sexuellen Verursachung der Neurosen größere
Schwierigkeiten bereitet hätte. Aber da würden Sie irre gehen.
Bei den Übertragungsneurosen muß man sich erst durch die
Symptomdeutung durcharbeiten, um zu dieser Einsicht zu kom-
men. Bei den gemeinen Formen der sogenannten Aktual-
Freud, Vorlesungen. III. 29
448 XXIV. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
neurosen ist die ätiologische Bedeutung des Sexuallebens eine
grobe, der Beobachtung entgegenkommende Tatsache. Ich bin
vor mehr als zwanzig Jahren auf sie gestoßen, als ich mir
eines Tages die Frage vorlegte, warum man denn beim Examen
der Nervösen so regelmäßig ihre sexuellen Betätigungen von
der Berücksichtigung ausschließt. Ich habe damals diesen Unter-
suchungen meine Beliebtheit bei den Kranken zum Opfer ge-
bracht, aber ich konnte schon nach kurzer Bemühung den Satz
aussprechen, daß es bei normaler vita sexualis keine Neurose —
ich meinte: Aktualneurose — gibt. Gewiß, der Satz setzt sich
zu leicht über die individuellen Verschiedenheiten der Menschen
hinweg, er leidet auch an der Unbestimmtheit, die von dem
Urteil „normal“ nicht zu trennen ist, aber er hat für die grobe
Orientierung noch heute seinen Wert behalten. Ich bin damals
so weit gekommen, spezifische Beziehungen zwischen bestimm-
ten Formen der Nervosität. und besonderen sexuellen Schädlich-
keiten aufzustellen, und ich zweifle nicht daran, daß ich heute
dieselben Beobachtungen wiederholen könnte, wenn mir noch
ein ähnliches Material von Kranken zu Gebote stünde. Ich er-
fuhr oft genug, daß ein Mann, der sich mit einer gewissen Art
von unvollständiger sexueller Befriedigung begnügte, z. B. mit
der manuellen Onanie, an einer bestimmten Form von Aktual-
neurose erkrankt war, und daß diese Neurose prompt einer an-
deren den Platz räumte, wenn er ein anderes, ebensowenig un-
tadeliges sexuelles Regime an die Stelle treten ließ. Ich war
dann im stahde, aus der Änderung im Zustand des Kranken
den Wechsel in seiner sexuellen Lebensweise zu erraten. Ich er-
lernte es damals auch, hartnäckig bei meinen Vermutungen zu
verharren, bis ich die Unaufrichtigkeit der Patienten über-
wunden und sie zur Bestätigung gezwungen hatte. Es ist wahr,
sie zogen es dann vor, zu anderen Ärzten zu gehen, die sich
nicht so eifrig nach ihrem Sexualleben erkundigten.
ÄTIOLOGIE DER AKTUALNEUROSEN. 449
Es konnte mir auch damals nicht entgehen, daß die Ver-
ursachung der Erkrankung nicht immer auf das Sexualleben
hinwies. Der eine war zwar direkt an einer sexuellen Schäd-
lichkeit erkrankt, der andere aber, weil er sein Vermögen ver-
loren oder eine erschöpfende organische Krankheit durchgemacht
hatte. Die Erklärung für diese Mannigfaltigkeit ergab sich spä-
ter, als wir in die vermuteten Wechselbeziehungen zwischen
dem Ich und der Libido Einsicht bekamen, und sie wurde um
so befriedigender, je tiefer diese Einsicht reichte. Eine Per-
son erkrankt nur dann neurotisch, wenn ihr Ich die Fähigkeit
eingebüßt hat, die Libido irgendwie unterzubringen. Je stärker
das Ich ist, desto leichter wird ihm die Erledigung dieser Auf-
gabe; jede Schwächung des Ichs aus irgend einer Ursache muß
dieselbe Wirkung tun wie eine übergroße Steigerung des An-
spruches der Libido, also die neurotische Erkrankung ermög-
lichen. Es gibt noch andere und intimere Beziehungen zwi-
schen Ich und Libido, die aber noch nicht in unseren Gesichts-
kreis getreten sind, und die ich darum zur Erklärung hier
nicht heranziehe. Wesentlich und aufklärend für uns bleibt, daß
in jedem Falle und gleichgültig, auf welchem Wege die Er-
krankung hergestellt wurde, die Symptome der Neurose von
der Libido bestritten werden und so eine abnorme Verwendung
derselben bezeugen.
Nun muß ich Sie aber auf den entscheidenden Unterschied
zwischen den Symptomen der Aktualneurosen und denen der
Psychoneurosen aufmerksam machen, von denen uns die erste
Gruppe, die der Übertragungsneurosen, bisher so viel beschäftigt
hat. In beiden Fällen gehen die Symptome aus der Libido her-
vor, sind also abnorme Verwendungen derselben, Befriedigungs-
ersatz. Aber die Symptome der Aktualneurosen, ein Kopidruck,
eine Schmerzempfindung, ein Reizzustand in einem Organ, die
29*
#
450 XXIV. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
Schwächung oder Hemmung einer Funktion, haben keinen „Sinn“,
keine psychische Bedeutung. Sie äußern sich nicht nur vor-
wiegend am Körper, wie auch z. B. die hysterischen Symptome,
sondern sie sind auch selbst durchaus körperliche Vorgänge,
bei deren Entstehung alle die komplizierten seelischen Mecha-
nismen, die wir kennen gelernt haben, entfallen. Sie sind also
wirklich das, wofür man die psychoneurotischen Symptome so
lange gehalten hat. Aber wie können sie dann Verwendungen
der Libido entsprechen, die wir als eine im Psychischen wirkende
Kraft kennen gelernt haben? Nun, meine Herren, das ist sehr
einfach. Lassen Sie mich einen der allerersten Einwürfe auf-
frischen, die man gegen die Psychoanalyse vorgebracht hat.
Man sagte damals, sie bemühe sich um eine rein psychologische
Theorie der neurotischen Erscheinungen, und das sei ganz aus-
sichtslos, denn psychologische Theorien könnten nie eine Krank-
heit erklären. Man hatte daran zu vergessen beliebt, daß die
Sexualfunktion nichts rein Seelisches ist, ebensowenig wie etwas
bloß Somatisches. Sie beeinflußt das körperliche wie das see-
lische Leben. Haben wir in den Symptomen der Psychoneurosen
die Äußerungen der Störung in ihren psychischen Wirkungen
kennen gelernt, so werden wir nicht erstaunt sein, in den Aktual-
neurosen die direkten somatischen Folgen der Sexualstörungen
zu finden. ;
Für die Auffassung der letzteren gıbt uns die medizinische
Klinik einen wertvollen, auch von verschiedenen Forschern be-
rücksichtigten Fingerzeig. Die Aktualneurosen bekunden in den
Einzelheiten ihrer Symptomatik, aber auch in der Eigentüm-
lichkeit, alle Organsysteme und alle Funktionen züu beeinflussen,
eine unverkennbare Ähnlichkeit mit den Krankheitszuständen,
die durch den chronischen Einfluß von fremden Giftstoffen und
durch die akute Entziehung derselben entstehen, mit den Intoxi-
KLINISCHE STELLUNG DER AKTUALNEUROSEN. bl
kationen und Abstinenzzuständen. Noch enger werden die bei-
den Gruppen von Affektionen aneinandergerückt durch die Ver-
mittlung von solchen Zuständen, die wir wie den M. Base-
dowii gleichfalls auf die Wirkung von Giftstoffen zu beziehen
gelernt haben, aber von Giften, die nicht als fremd in den
Körper eingeführt werden, sondern in seinem eigenen Stoff-
wechsel entstehen. Ich meine, wir können nach diesen Analogien
nicht umhin, die Neurosen als Folgen von Störungen in einem
Sexualstoffwechsel anzusehen, sei es, daß von diesen Sexual-
toxinen mehr produziert wird, als die Person bewältigen kann,
sei es, daß innere und selbst psychische Verhältnisse die richtige
Verwendung dieser Stoffe beeinträchtigen. Die Volksseele hat
von jeher solchen Annahmen über die Natur des sexuellen
Verlangens gehuldigt, sie nennt die Liebe einen „Rausch“ und
läßt die Verliebtheit durch Liebestränke entstehen, wobei sie
das wirkende Agens gewissermaßen nach außen verlegt. Für
uns wäre hier der Anlaß, der erogenen Zenen und der Be-
hauptung zu gedenken, daß die Sexualerregung in den ver-
schiedensten Organen entstehen kann. Im übrigen aber ist
uns das Wort ,„Sexualstoffwechsel‘ oder „Chemismus der
Sexualität“ ein Fach ohne Inhalt; wir wissen nichts darüber
und können uns nicht einmal entscheiden, ob wir zwei Sexual-
stoffe annehmen sollen, die dann ‚„männlich“ und ‚„weiblich“
heißen würden, oder ob wir uns mit einem Sexualtoxin be-
scheiden können, in dem wir den Träger aller Reizwirkungen
der Libido zu erblicken haben. Das Lehrgebäude der Psycho-
analyse, das wir geschaffen haben, ist in Wirklichkeit ein
Überbau, der irgend einmal auf sein organisches Fundament
aufgesetzt werden soll; aber wir kennen dies noch nicht.
Die Psychoanalyse wird als Wissenschaft nıcht durch den
Stoff, den sie behandelt, sondern durch die Technik, mit der
452 XXIV. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE,
sie arbeitet, charakterisiert. Man kann sie auf Kulturgeschichte,
Religionswissenschaft und Mythologie ebensowohl anwenden wie
auf die Neurosenlehre, ohne ihrem Wesen Gewalt anzutun. Sie
beabsichtigt und leistet nichts anderes als die Aufdeckung des
Unbewußten im Seelenleben. Die Probleme der Aktualneurosen,
deren Symptome wahrscheinlich durch direkte toxische Schä-
digung entstehen, bieten der Psychoanalyse keine Angrifis-
punkte, sie kann nur wenig für deren Aufklärung leisten und
muß diese Aufgabe der biologisch-medizinischen Forschung
überlassen. Sie verstehen jetzt vielleicht besser, warum ich
keine andere Anordnung meines Stoffes gewählt habe. Hätte
ich Ihnen eine „Einführung in die Neurosenlehre“ zugesagt,
so wäre der Weg von den einfachen Formen der Aktualneurosen
zu den komplizierteren psychischen Erkrankungen durch Libido-
störung der unzweifelhaft richtige gewesen. Ich hätte bei den
ersteren zusammentragen müssen, was wir von verschiedenen
Seiten her erfahren haben oder zu wissen glauben, und bei
den Psychoneurosen wäre dann die Psychoanalyse als das wich-
tigste technische Hilfsmittel zur Durchleuchtung dieser Zu-
stände zur Sprache gekommen. Ich hatte aber eine „Einfüh-
rung in die Psychoanalyse“ beabsichtigt und angekündigt; es
war mir wichtiger, daß Sie eine Vorstellung von der Psycho-
analyse, als daß Sie gewisse Kenntnisse von den Neurosen ge-
winnen, und da durfte ich die für die Psychoanalyse unfrucht-
baren Aktualneurosen nicht mehr in den Vordergrund rücken.
Ich glaube auch, ich habe die für Sie günstigere Wahl ge-
troffen, denn die Psychoanalyse verdient wegen ihrer tief-
greifenden Voraussetzungen und weitumfassenden Beziehun-
gen einen Platz im Interesse eines jeden Gebildeten; die
Neurosenlehre aber ist ein Kapitel der Medizin wie andere
auch.
EINTEILUNG DER AKTUALNEUROSEN. 453
Sie werden indes mit Recht erwarten, daß wir auch für
die Aktualneurosen einiges Interesse aufbringen müssen. Schon
ihr intimer klinischer Zusammenhang mit den Psychoneurosen
nötigt uns dazu. Ich will Ihnen also berichten, daß wir drei
reine Formen der Aktualneurosen unterscheiden: die Neur-
asthenie, die Angstneurose und die Hypochondrie.
Auch diese Aufstellung ist nicht ohne Widerspruch geblieben.
Die Namen sind zwar alle im Gebrauch, aber ihr Inhalt ist
unbestimmt und schwankend. Es gibt auch Ärzte, die jeder
Sonderung in der wirren Welt von neurotischen Erscheinungen,
jeder Heraushebung von klinischen Einheiten, Krankheits-
individuen, widerstreben und selbst die Scheidung von Aktual-
und Psychoneurosen nicht anerkennen. Ich meine, sie gehen zu
weit und haben nicht den Weg eingeschlagen, der zum Fort-
schritt führt. Die genannten Formen von Neurose kommen ge-
legentlich rein vor; häufiger vermengen sie sich allerdings mit-
einander und mit einer psychoneurotischen Aftektion. Dieses
Vorkommen braucht uns nicht zu bewegen, ihre Sonderung auf-
zugeben. Denken Sie an den Unterschied von Mineralkunde
und Gesteinkunde in der Mineralogie. Die Mineralien werden
als Individuen beschrieben, gewiß mit Anlehnung an den Um-
stand, daß sie häufig als Kristalle, von ihrer Umgebung schart
abgegrenzt, auftreten. Die Gesteine bestehen aus Gemengen
von Mineralien, die sicherlich nicht zufällig, sondern infolge
ihrer Entstehungsbedingungen zusammengetroffen sind. In der
Neurosenlehre verstehen wir noch zu wenig von dem Her-
gang der Entwicklung, um etwas der Gesteinlehre Ähn-
liches zu schaffen. Wir tun aber gewiß das Richtige, wenn
wir zunächst aus der Masse die für uns kenntlichen kli-
nischen Individuen isolieren, die den Mineralien vergleich-
bar sind.
454 XXIV. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
Eine beachtenswerte Beziehung zwischen den Symptomen
der Aktual- und der Psychoneurosen bringt uns noch einen
wichtigen Beitrag zur Kenntnis der Symptombildung bei den
letzteren; das Symptom der Aktualneurose ist nämlich häufig
der Kern und die Vorstufe des psychoneurotischen Symptoms.
Man beobachtet ein solches Verhältnis am deutlichsten zwischen
der Neurasthenie und der Konversionshysterie genannten Über-
tragungsneurose, zwischen der Angstneurose und der Angst-
hysterie, aber auch zwischen der Hypochondrie und den später
als Paraphrenie (Dementia praecox und Paranoia) zu erwäh-
nenden Formen. Nehmen wir als Beispiel den Fall eines hyste-
rischen Kopf- oder Kreuzschmerzes. Die Analyse zeigt uns,
daß er durch Verdichtung und Verschiebung zum Befriedigungs-
ersatz für eine ganze Reihe von libidinösen Phantasien oder
Erinnerungen geworden ist. Aber dieser Schmerz war auch
einmal real, und damals war er ein direkt sexualtoxisches
Symptom, der körperliche Ausdruck einer libidinösen Erregung.
Wir wollen keineswegs behaupten, daß alle hysterischen Sym-
ptome einen solchen Kern enthalten, aber es bleibt bestehen,
daß es besonders häufig der Fall ist, und daß alle — normalen
oder pathologischen — Beeinflussungen des Körpers durch die
libidinöse Erregung geradezu für die Symptombildung der
Hysterie bevorzugt sind. Sie spielen dann die Rolle jenes
Sandkorns, welches das Muscheltier mit den Schichten von
Perlmuttersubstanz umhüllt hat. In derselben Weise werden
die vorübergehenden Zeichen der sexuellen Erregung, welche
den Geschlechtsakt begleiten, von der Psychoneurose als das
bequemste und geeignetste Material zur Symptombildung ver-
wendet.
Ein ähnlicher Vorgang bietet ein besonderes diagnostisches
und therapeutisches Interesse. Es kommt bei Personen, die zur
BEZIEHUNGEN ZWISCHEN AKTUAL- UND PSYCHONEUROSEN. 455
Neurose disponiert sind, ohne gerade an einer floriden Neurose
zu leiden, gar nicht selten vor, daß eine krankhafte Körper-
veränderung — etwa durch Entzündung oder Verletzung —
die Arbeit der Symptombildung weckt, so daß diese das ihr
von der Realität gegebene Symptom eiligst zum Vertreter aller
jener unbewußten Phantasien macht, die nur darauf gelauert
hatten, sich eines Ausdrucksmittels zu bemächtigen. Der Arzt
wird in solchem Falle bald den einen, bald den anderen Weg
der Therapie einschlagen, entweder die organische Grundlage
wegschaffen wollen, ohne sich um deren lärmende neurotische
Verarbeitung zu bekümmern, oder die zur Gelegenheit ent-
standene Neurose bekämpfen und deren organischen Anlaß ge-
ringachten. Der Erfolg wird bald dieser bald jener Art der
Bemühung Recht oder Unrecht geben; allgemeine Vorschriften
lassen sich für solche Mischfälle kaum aufstellen.
FÜNFUNDZWANZIGSTE VORLESUNG.
ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
DIE ANGST.
Meine Damen und Herren! Was ich Ihnen in der letzten
Vorlesung über die allgemeine Nervosität gesagt habe, werden
Sie sicherlich als die unvollständigste und unzulänglichste mei-
ner Mitteilungen erkannt haben. Ich weiß das und ich denke
mir, nichts anderes wird Sie mehr verwundert haben, als daß
darin von der Angst nicht die Rede war, über die doch die
meisten Nervösen klagen, die sie selbst als ihr schrecklichstes
Leiden bezeichnen, und die wirklich die großartigste Intensität
bei ihnen erreichen und die tollsten Maßnahmen zur Folge haben
kann. Aber darin wenigstens wollte ich Sie nicht verkürzen; ich
habe mir im Gegenteil vorgenommen, das Problem der Angst
bei den Nervösen besonders scharf einzustellen und es aus-
führlich vor Ihnen zu erörtern.
Die Angst selbst brauche ich Ihnen ja nicht vorzustellen ;
jeder von uns hat diese Empfindung, oder richtiger gesagt,
diesen Affektzustand irgend einmal aus eigenem kennen ge-
lernt. Aber ich meine, man hat sich nie ernsthaft genug ge-
fragt, warum gerade die Nervösen so viel mehr und so viel
stärkere Angst haben als die anderen. Vielleicht hielt man es
für selbstverständlich; man verwendet ja gewöhnlich die Worte
„nervös“ und „ängstlich“ so. für einander, als ob sie dasselbe
bedeuten würden. Dazu hat man aber kein Recht; es gibt
NEUROTISCHE UND REALANGST. - 4517
ängstliche Menschen, die sonst gar nicht nervös sind, und außer-
dem Nervöse, die an vielen Symptomen leiden, unter denen
aber die Neigung zur Angst nicht aufgefunden wird.
Wie immer das sein mag, es steht fest, daß das Angst-
problem ein Knotenpunkt ist, an welchem die verschiedensten
und wichtigsten‘ Fragen zusammentreffen, ein Rätsel, dessen
Lösung eine Fülle von Licht über unser ganzes Seelenleben
ergießen müßte. Ich werde nicht behaupten, daß ich Ihnen
diese volle Lösung geben kann, aber Sie werden gewiß er-
warten, daß die -Psychoanalyse auch dieses Thema ganz an-
ders angreifen wird als die Medizin der Schulen. Dort scheint
man sich vor allem dafür zu interessieren, auf welchen ana-
tomischen Wegen der Angstzustand zu stande gebracht wird.
Es heißt, die Medulla oblongata sei gereizt, und der Kranke
erfährt, daß er an einer Neurose des Nervus vagus leidet. Die
Medulla oblongata ist ein sehr ernsthaftes und schönes Objekt.
Ich erinnere mich ganz genau, wieviel Zeit und Mühe ich
vor Jahren ihrem Studium gewidmet habe. Aber heute muß
ich sagen, ich weiß nichts, was mir für das psychologische
Verständnis der Angst gleichgültiger "sein könnte als die
Kenntnis des Nervenweges, auf dem ihre Erregungen ablaufen.
Von der Angst kann man zunächst eine ganze Weile han-
deln, ohne der Nervosität überhaupt zu gedenken. Sie verstehen
mich ohne weiteres, wenn ich diese Angst als Realangst be-
zeichne, im Gegensatz zu einer neurotischen. Die Real-
angst erscheint uns nun als etwas sehr Rationelles und Be-
greifliches. Wir werden von ihr aussagen, sie ist eine Reaktion
auf die Wahrnehmung einer äußeren Gefahr, d. h. einer er-
warteten, vorhergesehenen Schädigung, sie ist mit dem Flucht-
reflex verbunden, und man darf sie als Äußerung des Selbst-
erhaltungstriebes ansehen. Bei welchen Gelegenheiten, d. h. vor
458 XXV. ALLGEMEINE :NEUROSENLEHRE.
welchen Objekten und in welchen Situationen die Angst auf-
tritt, wird natürlich zum großen Teil von dem Stande unseres
Wissens und von unserem Machtgefühl gegen die Außenwelt
abhängen. Wir finden es ganz begreiflich, daß der Wilde
sich vor einer Kanone fürchtet und bei einer Sonnenfinsternis
ängstigt, während der Weiße, der das Instrument handhaben
und das Ereignis vorhersagen kann, unter diesen Bedingungen
angstfrei bleibt. Anderemal ist es gerade das Mehrwissen, was
die Angst befördert, weil es die Gefahr frühzeitig erkennen
läßt. So wird der Wilde vor einer Fährte im Walde er-
schrecken, die dem Unkundigen nichts sagt, ihm aber die Nähe
eines reißenden Tieres verrät, und der erfahrene Schiffer mit
Enntsetzen ein Wölkchen am Himmel betrachten, das dem Passa-
gier unscheinbar dünkt, während es ihm das Herannahen des
Orkans verkündet.
Bei weiterer Überlegung muß man sich sagen, daß das
Urteil über die Realangst, sie sei rationell und zweckmäßig,
einer gründlichen Revision bedarf. Das einzig zweckmäßige
Verhalten bei drohender Gefahr wäre nämlich die kühle Ab-
schätzung der eigenen Kräfte im Vergleich zur Größe der
Drohung und darauf die Entscheidung, ob die Flucht oder die
Verteidigung, möglicherweise selbst der Angriff, größere Aus-
sicht auf einen guten Ausgang verspricht. In diesem Zusam-
menhang ist aber für die Angst überhaupt keine Stelle; alles,
was geschieht, würde ebensowohl und wahrscheinlich besser
vollzogen werden, wenn es nicht zur Angstentwicklung käme.
Sie sehen ja auch, wenn die Angst übermäßig stark ausfällt,
dann erweist sie sich als äußerst unzweckmäßig, sie lähmt dann
jede Aktion, auch die der Flucht. Für gewöhnlich besteht die
Reaktion auf die Gefahr aus einer Vermengung von Angst-
affekt und Abwehraktion. Das geschreckte Tier ängstigt sich
IST DIE REALANGST RATIONELL? 459
und flieht, aber das Zweckmäßige daran ist die „Flucht“,
nicht das „sich ängstigen“.
Man fühlt sich also versucht zu behaupten, daß die Angst-
entwicklung niemals etwas Zweckmäßiges ist. Vielleicht ver-
hilft es zu besserer Einsicht, wenn man sich die Angstsituation
sorgfältiger zerlegt. Das erste an ihr ist die Bereitschaft auf
die Gefahr, die sich in gesteigerter sensorischer Aufmerksam-
keit und motorischer Spannung äußert. Diese Erwartungs-
bereitschaft ist unbedenklich als vorteilhaft anzuerkennen, ja
ihr Wegfall mag für ernste Folgen verantwortlich gemacht
werden. Aus ihr geht nun einerseits die motorische Aktion
hervor, zunächst Flucht, auf einer höheren Stufe tätige Ab-
wehr, anderseits das, was wir als den Angstzustand empfinden.
Je mehr sich die Angstentwicklung auf einen bloßen Ansatz,
auf ein Signal einschränkt, desto ungestörter vollzieht sich
die Umsetzung der Angstbereitschaft in Aktion, desto zweck-
mäßiger gestaltet sich der ganze Ablauf. Die Angstbereitschaft
scheint mir also das Zweckmäßige, die Angstentwieklung das
Zweckwidrige an dem, was wir Angst heißen, zu sein.
Ich vermeide es, auf die Frage näher einzugehen, ob
unser Sprachgebrauch mit Angst, Furcht, Schreck das Näm-
liche oder deutlich Verschiedenes bezeichnen will. Ich meine
nur, Angst bezieht sich auf den Zustand und sieht vom Objekt
ab, während Furcht die Aufmerksamkeit gerade auf das Objekt
richtet. Schreck scheint hingegen wirklich einen besonderen
Sinn zu haben, nämlich die Wirkung einer Gefahr. hervorzu-
heben, welche nicht von einer Angstbereitschaft empfangen wird.
So daß man sagen könnte, der Mensch schütze sich durch die
Angst vor dem Schreck.
Die gewisse Vieldeutigkeit und Unbestimmtheit im Ge-
brauche des Wortes „Angst“ wird Ihnen nicht entgangen sein.
460 XXV. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
Zumeist versteht man unter Angst den subjektiven Zustand,
in den man durch die Wahrnehmung der „Angstentwicklung“
gerät, und heißt diesen einen Affekt. Was ist nun im dyna-
mischen Sinne ein Affekt? Jedenfalls etwas sehr Zusammen-
gesetztes. Ein Affekt umschließt erstens bestimmte motorische
Innervationen oder Abfuhren, zweitens gewisse Empfindungen,
und. zwar von zweierlei Art, die Wahrnehmungen der statt-
gehabten motorischen Aktionen und die direkten Lust- und
Unlustempfindungen, die dem Affekt, wie man sagt, den
Grundton geben. Ich glaube aber nicht, daß mit dieser Auf-
zählung das Wesen des Affektes getroffen ist. Bei einigen
Affekten glaubt man tiefer zu blicken und zu erkennen, daß
der Kern, welcher das genannte Ensemble zusammenhält, die
Wiederholung eines bestimmten bedeutungsvollen Erlebnisses ist.
Dies Erlebnis könnte nur ein sehr frühzeitiger Eindruck von
sehr allgemeiner Natur sein, der in die Vorgeschichte nicht
des Individuums, sondern der Art zu verlegen ist. Um mich
verständlicher zu machen, der Affektzustand wäre ebenso ge-
baut wie ein hysterischer Anfall, wie dieser der Niederschlag
einer Reminiszenz. Der hysterische Anfall ist also vergleich-
bar einem neugebildeten individuellen Affekt, der normale
Affekt dem Ausdruck einer generellen, zur Erbschaft gewor-
denen Hysterie.
Nehmen Sie nicht an, daß dasjenige, was ich Ihnen hier
über die Affekte gesagt habe, ein anerkanntes Gut der Normal-
psychologie. ist. Es sind im Gegenteil Auffassungen, die auf
dem Boden der Psychoanalyse erwachsen und nur dort hei-
misch sind. Was Sie in der Psychologie über die Affekte er-
fahren können, z. B. die James-Langesche Theorie, ist für
uns Psychoanalytiker geradezu unverständlich und undisku-
tierbar. Für sehr gesichert halten wir aber unser Wissen um
AFFEKTTHEORIEN. 461
die Affekte auch nicht; es ist ein erster Versuch, sich auf
diesem dunkeln Gebiet zu orientieren. Ich setze nun fort:
Beim Angstaffekt glauben wir zu wissen, welchen frühzeitigen
Eindruck er als Wiederholung wiederbringt. Wir sagen uns,
es ist der Geburtsakt, bei welchem jene Gruppierung von
Unlustempfindungen, Abfuhrregungen und Körpersensationen
zu stande kommt, die das Vorbild für die Wirkung einer
Lebensgefahr geworden ist und seither als Angstzustand von
uns wiederholt wird. Die enorme Reizsteigerung. durch die
Unterbrechung der Bluterneuerung (der inneren Atmung) war
damals die Ursache des Angsterlebnisses, die erste Angst also
eine toxische. Der Name Angst — angustiae, Enge — betont
den Charakter der Beengung im Atmen, die damals als Folge
der realen Situation vorhanden war und heute im Affekt fast
regelmäßig wiederhergestellt wird. Wir werden es auch als
beziehungsreich erkennen, daß jener erste Angstzustand aus
der Trennung von der Mutter hervorging. Natürlich sind wir
der Überzeugung, die Disposition zur Wiederholung des ersten
Angstzustandes sei durch die Reihe unzählbarer Generationen
dem Organismus so gründlich einverleibt, daß ein einzelnes
Individuum dem Angstaffekt nicht entgehen kann, auch wenn
es wie der sagenhafte Macduff ‚aus seiner Mutter Leib ge-
schnitten wurde“, den Geburtsakt selbst also nicht erfahren
hat. Was bei anderen als Säugetieren das Vorbild des Angst-
zustandes geworden ist, können wir nicht sagen. Dafür wissen
wir auch nicht, welcher Empfindungskomplex bei diesen Ge-
schöpfen unserer Angst äquivalent ist.
Es wird Sie . vielleicht interessieren zu hören, wie man
auf eine solche Idee kommen kann, wie daß der Geburtsakt
die Quelle und das Vorbild des Angstaffektes ist. Die Speku-
lation hat den geringsten Anteil daran; ich habe vielmehr bei
462 XXV, ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
dem naiven Denken des Volkes eine Anleihe gemacht. Als wir
vor langen Jahren junge Spitalsärzte um den Mittagstisch im
Wirtshause saßen, erzählte ein Assistent der geburtshilflichen
Klinik, was für lustige Geschichte sıch bei der letzten
Hebammenprüfung zugetragen. Eine Kandidatin wurde ge-
fragt, was es bedeute, wenn sich bei der Geburt Mekonium
(Kindspech, Exkremente) im abgehenden Wasser zeigen, und
sie antwortete prompt: Daß das Kind Angst habe. Sie wurde
ausgelacht und war durchgefallen. Aber ich nahm im stillen
ihre Partei und begann zu ahnen, daß das arme Weib aus
dem Volke unbeirrten Sinnes einen wichtigen Zusammenhang
bloßgelegt hatte.
Übergehen wir nun zur neurotischen Angst, welche neue
Erscheinungsformen und Verhältnisse zeigt uns die Angst bei
den Nervösen? Da ist viel zu beschreiben. Wir finden erstens
eine allgemeine Ängstlichkeit, eine sozusagen frei flottierende
Angst, die bereit ist, sich an jeden irgendwie passenden Vor-
stellungsinhalt anzuhängen, die das Urteil beeinflußt, die Er-
wartungen auswählt, auf jede Gelegenheit lauert, um sich
rechtfertigen zu lassen. Wir heißen diesen Zustand ‚„Erwar-
tungsangst‘“ oder „ängstliche Erwartung“. Personen, die von
dieser Art Angst geplagt werden, sehen von allen Möglich-
keiten immer die schrecklichste voraus, deuten jeden Zufall
als Anzeige eines Unheils, nützen jede Unsicherheit im schlim-
men Sinne aus. Die Neigung zu solcher Unheilserwartung fin-
det sich als Charakterzug bei vielen Menschen, die man sonst
nicht als krank bezeichnen kann, man schilt sie überängstlich
oder pessimistisch; ein auffälliges Maß von Erwartungsangst
gehört aber regelmäßig einer nervösen Affektion an, die ich
als „Angstneurose‘“ benannt habe und zu den Aktual-
neurosen rechne.
ERWARTUNGSANGST UND PHOBIEN. 4653
Eine zweite Form der Angst ist im Gegensatze zu der
eben beschriebenen vielmehr psychisch gebunden und an gewisse
Objekte oder Situationen geknüpft. Es ist die Angst der über-
aus mannigfaltigen und oft sehr sonderbaren „Phobien“.
Stanley Hall, der angesehene amerikanische Psychologe, hat
sich erst kürzlich die Mühe genommen, uns die ganze Reihe
dieser Phobien in prunkender griechischer Namengebung vor-
zuführen. Das klingt wie die Aufzählung der zehn ägyp-
tischen Plagen, nur daß deren Anzahl weit über die Zehn
hinausgeht. Hören Sie, was alles Objekt oder Inhalt einer
Phobie werden kann: Finsternis, freie Luft, offene Plätze,
Katzen, Spinnen, Raupen, Schlangen, Mäuse, Gewitter, scharfe
Spitzen, Blut, geschlossene Räume, Menschengedränge, Einsam-
_ keit, Überschreiten von Brücken, See- und Eisenbahnfahrt usw.
Bei einem ersten Versuch der Orientierung in diesem Gewim-
mel liegt es nahe, drei Gruppen zu unterscheiden. Manche der
gefürchteten Objekte und Situationen haben auch für uns
Normale etwas Unheimliches, eine Beziehung zur Gefahr, und
diese Phobien erscheinen uns darum nicht unbegreiflich, wie-
wohl in ihrer Stärke sehr übertrieben. So empfinden die
meisten von uns ein widerwärtiges Gefühl beim Zusammen-
treffen mit einer Schlange. Die Schlangenphobie, kann man
sagen, ist eine allgemein menschliche, und Ch. Darwin hat
sehr eindrucksvoll beschrieben, wie er sich der Angst vor einer
auf ihn losfahrenden Schlange nicht erwehren konnte, wiewohl
er sich durch eine dieke Glasscheibe vor ihr geschützt wußte.
Zu einer zweiten Gruppe stellen wir die Fälle, in denen noch
eine Beziehung zu einer Gefahr besteht, wobei wir aber ge-
wöhnt sind, diese Gefahr geringzuschätzen und sie nicht
voranzustellen. Hieher gehören die meisten Situationsphobien.
Wir wissen, daß es auf der Eisenbahnfahrt eine Chance des
Freud, Vorlesungen. III. 30
464 XXV. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
Verunglückens ‘mehr gibt, als wenn wir zu Hause bleiben, näm-
lich die des Eisenbahnzusammenstoßes, wissen auch, daß ein
Schiff untergehen kann, wobei man dann in der Regel er-
trinkt, aber wir denken nicht an diese Gefahren und reisen
angstfrei mit Eisenbahn und Schiff. Es ist auch nicht zu
leugnen, daß man in den Fluß stürzen würde, wenn die Brücke
in dem Moment einstürzte, in dem man sie passiert, aber das
geschieht so überaus selten, daß es als Gefahr gar nicht in
Betracht kommt. Auch die Einsamkeit hat ihre Gefahren, und
wir vermeiden sie auch unter gewissen Umständen; es ist aber
nicht die Rede davon, daß wir sie unter keiner Bedingung
auch nur einen Moment lang nicht vertragen. Ähnliches gilt
für das Menschengedränge, für den geschlossenen Raum, das
Gewitter u. dgl. Was uns an diesen Phobien der Neurotiker
befremdet, ist überhaupt nicht so sehr der Inhalt als die
Intensität derselben. Die Angst der Phobien ist geradezu in-
appellabel!l Und manchmal bekommen wir den Eindruck, als
ängstigten sich die Neurotiker gar nicht vor denselben Dingen
und Situationen, die unter gewissen Umständen auch bei uns
Angst hervorrufen können, und die sie mit denselben Namen
belegen.
Es erübrigt uns eine dritte Gruppe von Phobien, denen
unser Verständnis überhaupt nicht mehr nachkommt. Wenn
ein starker, erwachsener Mann vor Angst nicht durch eine
Straße oder über einen Platz der ihm so wohlvertrauten Heimat-
stadt gehen kann, wenn eine gesunde, gut entwickelte Frau
in eine besinnungslose Angst verfällt, weil eine Katze an ihren
Kleidersaum gestreift hat oder ein Mäuschen durchs Zimmer
gehuscht ist, wie sollen wir da die Verbindung mit der Ge-
fahr herstellen, die offenbar doch für die Phobischen besteht’?
Bei den hieher gehörigen Tierphobien kann es sich nicht um
GRUPPIERUNG DER PHOBIEN. 465
die Steigerung allgemein menschlicher Antipathien handeln,
denn es gibt wie zur Demonstration des Gegensatzes zahlreiche
Menschen, die an keiner Katze vorbeigehen können, ohne sie
zu locken und zu streicheln. Die von den Frauen so gefürchtete
Maus ist gleichzeitig ein Zärtlichkeitsname erster Ordnung;
manches Mädchen, das sich mit Befriedigung von seinem Ge-
liebten so nennen hört, schreit doch entsetzt auf, wenn es
das niedliche Tierchen dieses Namens erblickt. Für den Mann
mit Straßen- oder Platzangst drängt sich uns die einzige Er-
klärung auf, daß er sich benehme wie ein kleines Kind. Ein
Kind wird durch die Erziehung direkt angehalten, golche
Situationen als gefährlich zu vermeiden, und unser Agora-
phobiker ist wirklich vor seiner Angst geschützt, wenn man
ihn über den Platz begleitet.
Die beiden hier beschriebenen Formen der Angst, die frei
flottierende Erwartungsangst und die an Pbobien gebundene,
sind 'unabhängig voneinander. Die eine ist nicht etwa eine
höhere Stufe der anderen, sie kommen auch nur ausnahmsweise
und dann wie zufällig miteinander vor. Die stärkste allge-
meine Ängstlichkeit braucht sich nicht in Phobien zu äußern;
Personen, deren ganzes Leben durch eine Agoraphobie einge-
schränkt wird, können von der pessimistischen Erwartungs-
angst völlig frei sein. Manche der Phobien, z. B. Platzangst,
Eisenbahnangst, werden nachweisbar erst in reiferen Jahren
erworben, andere, wie Angst vor Dunkelheit, Gewitter, Tieren
scheinen von Anfang an bestanden haben. Die der ersteren
Art haben die Bedeutung von schweren Krankheiten; die
letzteren erscheinen eher wie Sonderbarkeiten, Launen. Wer
eine von diesen letzteren zeigt, bei dem darf man in der Regel
noch andere, ähnliche vermuten. Ich muß hinzufügen, daß wir
diese Phobien sämtlich zur Angsthysterie rechnen, d. h.
30*
466 XXV, ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
also sie als eine der bekannten Konversionshysterie sehr ver-
wandte Affektion betrachten.
Die dritte der Formen neurotischer Angst stellt uns vor
das Rätsel, daß wir den Zusammenhang zwischen Angst und
drohender Gefahr völlig aus den Augen verlieren. Diese Angst
tritt z. B. bei der Hysterie auf als Begleitung der hysterischen
Symptome, oder unter beliebigen Bedingungen der Aufregung,
wo wir zwar eine Affektäußerung erwarten würden, aber ge-
rade den Angstaffekt am wenigsten, oder losgelöst von allen
Bedingungen, für uns und den Kranken gleich unverständlich,
als freier Angstanfall. Von einer Gefahr oder einem Anlaß,
der durch Übertreibung dazu erhoben werden könnte, ist dann
weit und breit keine Rede. Bei diesen spontanen Anfällen er-
fahren wir dann, daß der Komplex, den wir als Angstzustand
bezeichnen, einer Aufsplitterung fähig ist. Das Ganze des
Anfalles kann durch ein einzelnes, intensiv ausgebildetes Sym-
ptom vertreten werden, durch ein Zittern, einen Schwindel, eine
Herzpalpitation, eine Atemnot, und das Gemeingefühl, an dem
wir die Angst erkennen, kann dabei fehlen oder undeutlich
geworden sein. Und doch sind diese Zustände, die wir als
„Angstäquivalente‘“ beschreiben, in allen klinischen und ätio-
logischen Beziehungen der Angst gleichzustellen.
Nun erheben sich zwei Fragen. Kann man die neurotische
Angst, bei welcher die Gefahr keine oder eine so geringe
Rolle spielt, in Zusammenhang mit der Realangst bringen,
welche durchwegs eine Reaktion auf die Gefahr ist? Und wie
läßt sich die neurotische Angst verstehen? Wir werden doch
zunächst die Erwartung festhalten wollen: wo Angst ist, muß
auch etwas vorhanden sein, vor dem man sich ängstigt.
Für das Verständnis der neurotischen Angst ergeben sich
nun aus der klinischen Beobachtung mehrere Hinweise, deren
Bedeutung ich vor Ihnen erörtern will.
SPONTANE ANGST BEI HYSTERIE. 467
a) Es ist nicht schwer festzustellen, daß die Frwartungs-
angst oder allgemeine Ängstlichkeit in enger Abhängigkeit von
bestimmten Vorgängen im Sexualleben, sagen wir: von ge-
wissen Verwendungen der Libido steht. Der einfachste und
lehrreichste Fall dieser Art ergibt sich bei Personen, die sich
der sogenannten frustranen Erregung aussetzen, d. h. bei denen
heftige sexuelle Erregungen keine genügende Abfuhr erfahren,
nicht zu einem befriedigenden Abschluß geführt werden. Also
z. B. bei Männern während des Brautstandes, und bei Frauen,
deren Männer ungenügend potent sind oder die den Geschlechts-
akt aus Vorsicht verkürzt und verkümmert ausführen. Unter
diesen Umständen schwindet die libidinöse Erregung und an
ihrer Stelle tritt Angst auf, sowohl in der Form der Erwartungs-
angst als auch in Anfällen und Anfallsäquivalenten. Die vor-
sichtige Unterbrechung des Geschlechtsaktes wird, wenn sie als
sexuelles Regime geübt wird, so regelmäßig Ursache der Angst-
neurose bei Männern, besonders aber bei Frauen, daß es sich
in der ärztlichen Praxis empfiehlt, bei derartigen Fällen in
erster Linie nach dieser Ätiologie zu forschen. Man kann dann
auch ungezählte Male die Erfahrung machen, daß die Angst-
neurose erlischt, wenn der sexuelle Mißbrauch abgestellt wird.
Die Tatsache eines Zusammenhanges zwischen sexueller
Zurückhaltung und Angstzuständen wird, soviel ich weiß,
auch von Ärzten, die der Psychoanalyse fernestehen, nicht mehr
bestritten. Allein ich kann mir wohl denken, daß der Versuch
nicht unterlassen wird, die Beziehung umzukehren, indem man
die Auffassung vertritt, es handle sich dabei um Personen,
die von vornherein zur Ängstlichkeit neigen und darum auch
in sexuellen Dingen Zurückhaltung üben. Dagegen spricht
aber mit Entschiedenheit das Verhalten der Frauen, deren
Sexualbetätigung ja wesentlich passiver Natur ist, d. h. durch
468 XXV. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
die Behandlung von seiten des Mannes bestimmt wird. Je
temperamentvoller, also je geneigter zum Sexualverkehr und
befähigter zur Befriedigung eine Frau ist, desto sicherer wird
sie auf die Impotenz des Mannes oder auf den Coitus inter-
ruptus mit Angsterscheinungen reagieren, während solche Mib-
handlung bei anästhetischen oder wenig libidinösen Frauen eine
weit geringere Rolle spielt.
Dieselbe Bedeutung für die Entstehung von Angstzustän-
den hat die jetzt von den Ärzten so warm empfohlene sexuelle
Abstinenz natürlich nur dann, wenn die Libido, der die be-
friedigende Abfuhr versagt wird, entsprechend stark und nicht
zum größten Teil durch Sublimierung erledigt ist. Die Ent-
scheidung über den Krankheitserfolg liegt ja immer bei den
quantitativen Faktoren. Auch wo nicht Krankheit sondern
Charaktergestaltung in Betracht kommt, erkennt man leicht,
daß sexuelle Einschränkung mit einer gewissen Ängstlichkeit
und Bedenklichkeit Hand in Hand geht, während Unerschrocken-
keit und kecker Wagemut ein freies Gewährenlassen der sexu-
ellen Bedürftigkeit mit sich bringen. So sehr sich diese Be-
ziehungen durch mannigfache Kultureinflüsse abändern und
komplizieren lassen, so bleibt es doch für den Durchschnitt
der Menschen bestehen, daß die Angst mit der sexuellen Be-
schränkung zusammengehörig ist.
Ich habe Ihnen noch lange nicht alle Beobachtungen mit-
geteilt, die für die behauptete genetische Beziehung zwischen
Libido und Angst sprechen. Dazu gehört z. B. noch der Ein-
fluß gewisser Lebensphasen auf die Angsterkrankungen, denen
man, wie der Pubertät und der Zeit der Menopause, eine erheb-
liche Steigerung in der Produktion der Libido zuschreiben darf.
In manchen Zuständen von Aufregung kann man auch die Ver-
mengung von Libido und Angst und die endliche Ersetzung
HERVORGEHEN DER ANGST AUS DER LIBIDO. 469
der Libido durch die Angst direkt beobachten. Der Eindruck,
den man von all diesen Tatsachen empfängt, ist ein zweifacher,
erstens daß es sich um eine Anhäufung von Libido handelt,
die von ihrer normalen Verwendung abgehalten wird, zweitens,
daß man sich dabei durchaus auf dem Gebiete somatischer
Vorgänge befindet. Wie aus der Libido die Angst entsteht,
ıst zunächst nicht ersichtlich; man stellt nur fest, daß Libido
vermißt und an ihrer Statt Angst beobachtet wird.
b) Einen zweiten Fingerzeig entnehmen wir aus der Ana-
lyse der Psychoneurosen, speziell der Hysterie. Wir haben ge-
hört, daß bei dieser Affektion häufig Angst in Begleitung der
Symptome auftritt, aber auch ungebundene Angst, die sich als
Anfall oder als Dauerzustand äußert. Die Kranken wissen
nicht zu sagen, wovor sie sich ängstigen, und verknüpfen sie
durch eine unverkennbare sekundäre Bearbeitung mit den
nächstliegenden Phobien, wie: Sterben, Verrücktwerden, Schlag-
anfall. Wenn wir die Situation, aus welcher die Angst oder
von Angst begleitete Symptome hervorgegangen sind, der Ana-
Iyse unterziehen, so können wir in der Regel angeben, welcher
normale psychische Ablauf unterblieben ist und sich durch
das Angstphänomen ersetzt hat. Drücken wir uns anders aus:
Wir konstruieren den unbewußten Vorgang so, als ob er keine
Verdrängung erfahren und sich ungehindert zum Bewußtsein
fortgesetzt hätte. Dieser Vorgang wäre auch von einem be-
stimmten Affekt begleitet gewesen, und nun erfahren wir zu
unserer Überraschung, daß dieser den normalen Ablauf be-
gleitende Aftekt nach der Verdrängung in jedem Falle durch
Angst ersetzt wird, gleichgültig, was seine eigene Qualität ist.
Wenn wir also einen hysterischen Angstzustand vor uns ha-
ben, so kann sein unbewußtes Korrelat eine Regung von ähn-
lichem Charakter sein, also von Angst, Scham, Verlegenheit,
470 XXV. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
ebensowohl aber eine positiv libidinöse Erregung oder eine feind-
selig aggressive, wie Wut und Ärger. Die Angst ist also die
allgemein gangbare Münze, gegen welche alle Affektregungen
eingetauscht werden oder werden können, wenn der dazugehörige
Vorstellungsinhalt der Verdrängung unterlegen ist.
c) Eine dritte Erfahrung machen wir bei den Kranken
mit Zwangshandlungen, die in bemerkenswerter Weise von der
Angst verschont zu sein scheinen. Wenn wir sie an der Aus-
führung ihrer Zwangshandlung, ihres Waschens, ihres Zere-
moniells zu hindern versuchen, oder wenn sie selbst den Ver:
such wagen, einen ihrer Zwänge aufzugeben, so werden sie
durch eine entsetzliche Angst zur Gefügigkeit gegen den Zwang
genötigt. Wir verstehen, daß die Angst durch die Zwangs-
handlung gedeckt war, und daß diese nur ausgeführt wurde,
um die Angst zu ersparen. Es wird also bei der Zwangs-
neurose die Angst, die sich sonst einstellen müßte, durch
Symptombildung ersetzt, und wenn wir uns zur Hysterie wen-
den, finden wir bei dieser Neurose eine ähnliche Beziehung,
als Erfolg des Verdrängungsvorganges entweder reine Angst-
entwicklung oder Angst mit Symptombildung oder vollkom-
menere Symptombildung ohne Angst. Es schiene also in einem
abstrakten Sinne nicht unrichtig zu sagen, daß Symptome über-
haupt nur gebildet werden, um der sonst unvermeidlichen Angst-
entwicklung zu entgehen. Durch diese Auffassung wird die
Angst gleichsam in den Mittelpunkt unseres Interesses für die
Neurosenprobleme gerückt.
Aus den Beobachtungen an der Angstneurose hatten wir
geschlossen, daß die Ablenkung der Libido von ihrer normalen
Verwendung, welche die Angst entstehen läßt, auf dem Boden
der somatischen Vorgänge erfolgt. Aus den Analysen der
Hysterie und der Zwangsneurose ergibt sich der Zusatz, daß
NEUROTISCHE ANGST IST ANGST DES ICHS VOR DER LIBIDO. a1
die nämliche Ablenkung mit demselben Ergebnis auch die
Wirkung einer Verweigerung der psychischen Instanzen sein
kann. So viel wissen wir also über die Entstehung der neu-
rotischen Angst; es klingt noch ziemlich unbestimmt. Ich sehe
aber vorläufig keinen Weg, der weiter führen würde. Die zweite
Aufgabe, die wir uns gestellt haben, die Herstellung einer
Verbindung zwischen der neurotischen Angst, die abnorm ver-
wendete Libido ist, und der Realangst, welche einer Reaktion
auf die Gefahr entspricht, scheint noch schwieriger lösbar. Man
möchte glauben, es handle sich da um ganz disparate Dinge,
und doch haben wir kein Mittel, Realangst und neurotische
Angst in der Empfindung voneinander zu unterscheiden.
Die gesuchte Verbindung stellt sich endlich her, wenn wir
den oft behaupteten Gegensatz zwischen Ich und Libido zur
Voraussetzung nehmen. Wie wir wissen, ist die Angstentwick-
lung die Reaktion des Ichs auf die Gefahr und das Signal
für die Einleitung der Flucht; da liegt uns denn die Auffassung
nahe, daß bei der neurotischen Angst das Ich einen ebensolchen
Fluchtversuch vor dem Anspruch seiner Libido unternimmt,
diese innere Gefahr so behandelt, als ob sie eine äußere wäre.
Damit wäre die Erwartung erfüllt, daß dort, wo sich Angst
zeigt, auch etwas vorhanden ist, wovor man sich ängstigt. Die
Analogie ließe sich aber weiter fortführen. So wie der Flucht-
versuch vor der äußeren Gefahr abgelöst wird durch Stand-
halten und zweckmäßige Maßnahmen zur Verteidigung, so
weicht auch die neurotische Angstentwicklung der Symptom-
bildung, welche eine Bindung der Angst herbeiführt.
Die Schwierigkeit des Verständnisses liegt jetzt an an-
derer Stelle. Die Angst, welche eine Flucht des Ichs vor seiner
Libido bedeutet, soll doch aus dieser Libido selbst hervorge-
gangen sein. Das ist undurchsicehtig und enthält die Mahnung,
472 XXV. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
nicht daran zu vergessen, daß die Libido einer Person doch
im Grunde zu ihr gehört und sich ihr nicht wie etwas Äußer-
liches entgegenstellen kann. Es ist die topische Dynamik der
Angstentwicklung, die uns noch dunkel ist, was für seelische
Energien dabei ausgegeben werden und von welchen psychi-
schen Systemen her. Ich kann Ihnen nicht versprechen, auch
diese Frage zu beantworten, aber wir wollen es nicht unter-
lassen, zwei andere Spuren zu verfolgen und uns dabei wieder
der direkten Beobachtung und der analytischen Forschung zu
bedienen, um unserer Spekulation zu Hilfe zu kommen. Wir
wenden uns zur Entstehung der Angst beim Kinde und zur
Herkunft der neurotischen Angst, welche an Phobien ge-
bunden ist. |
Die Ängstlichkeit der Kinder ist etwas sehr Gewöhnliches,
und die Unterscheidung, ob sie neurotische oder Realangst ist,
scheint recht schwierig. Ja, der Wert dieser Unterscheidung
wird durch das Verhalten der Kinder in Frage gestellt. Denn
einerseits verwundern wir uns nicht, wenn sich das Kind vor
allen fremden Personen, neuen Situationen und Gegenständen
ängstigt, und erklären uns diese Reaktion sehr leicht durch
seine Schwäche und Unwissenheit. Wir schreiben also dem
Kinde eine starke Neigung zur Realangst zu, und würden es
für ganz zweckmäßig ansehen, wenn es diese Ängstlichkeit als
Erbschaft mitgebracht hätte. Das Kind würde hierin nur das
Verhalten des Urmenschen und des heutigen Primitiven wie-
derholen, der infolge seiner Unwissenheit und Hilflosigkeit vor
allem Neuen Angst hat und vor so viel Vertrautem, was uns
heute keine Angst mehr einflößt. Auch entspräche es durch-
aus unserer Erwartung, wenn die Phobien des Kindes wenig-
stens zum Teil noch dieselben wären, die wir jenen Urzeiten
der menschlichen Entwicklung zutrauen dürfen.
DIE ANGSTNEIGUNG DER KINDER. 475
Anderseits können wir nicht übersehen, daß nicht alle
Kinder in gleichem Maße ängstlich sind, und daß gerade die
Kinder, welche eine besondere Scheu vor allen möglichen Ob-
jekten und Situationen äußern, sich späterhin als Nervöse er-
weisen. Die neurotische Disposition verrät sich also auch durch
eine ausgesprochene Neigung zur Realangst, die Ängstlichkeit
erscheint als das Primäre, und man gelangt zum Schlusse, das
Kind und später der Heranwachsende ängstigen sich vor der
Höhe seiner Libido, weil sie sich eben vor allem ängstigen. Die
Entstehung der Angst aus der Libido wäre hiemit abgelehnt,
und wenn man den Bedingungen der Realangst nachforschte,
gelangte man konsequent zu der Auffassung, daß das Bewubt-
sein der eigenen Schwäche und Hilflosigkeit — Minderwer-
tigkeit in der Terminologie von A. Adler — auch der letzte
Grund der Neurose ist, wenn es sich aus der Kinderzeit ins
reifere Leben fortsetzen kann.
Das klingt so einfach und bestechend, daß es ein Anrecht
auf unsere Aufmerksamkeit hat. Es würde allerdings eine Ver-
schiebung des Rätsels der Nervosität mit sich bringen. Der Fort-
bestand des Minderwertigkeitsgefühls — und damit der Angst-
bedingung und der Symptombildung — scheint so gut gesichert,
daß es vielmehr einer Erklärung bedarf, wenn ausnahmsweise
das, was wir als Gesundheit kennen, zu stande kommen sollte.
Was läßt aber eine sorgfältige Beobachtung der Ängstlichkeit
der Kinder erkennen? Das kleine Kind ängstigt sich zu aller-
erst vor fremden Personen; Situationen werden erst dadurch
bedeutsam, daß sie Personen enthalten, und Gegenstände kom-
men überhaupt erst später in Betracht. Vor diesen Fremden
ängstigt sich das Kind aber nicht etwa darum, weil es ihnen
böse Absichten zutraut und seine Schwäche mit deren Stärke
vergleicht, sie also als Gefahren für seine Existenz, Sicherheit
474 XXV. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
und Schmerzfreiheit agnosziert. Ein derart mißtrauisches, von
dem weltbeherrschenden Aggressionstrieb geschrecktes Kind ist
eine recht verunglückte theoretische Konstruktion. Sondern
das Kind erschriekt vor der fremden Gestalt, weil es auf den
Anblick der vertrauten und geliebten Person, im Grunde der
Mutter, eingestellt ist. Es ist seine Enttäuschung und Sehn-
sucht, welche sich in Angst umsetzt, also unverwendbar ge-
wordene Libido, die derzeit nicht in Schwebe erhalten werden
kann, sondern als Angst abgeführt wird. Es kann auch kaum
zufällig sein, daß in dieser für die kindliche Angst vorbild-
lichen Situation die Bedingung des ersten Angstzustandes wäh-
rend des Geburtsaktes, nämlich die Trennung von der Mutter,
wiederholt wird. | |
Die ersten Situationsphobien der Kinder sind die vor der
Dunkelheit und der Einsamkeit; die erstere bleibt oft durchs
Leben bestehen, beiden gemeinsam ist das Vermissen der ge-
liebten Pflegeperson, der Mutter also. Ein Kind, das sich ın
der Dunkelheit ängstigte, hörte ich ins Nebenzimmer rufen:
„Tante, sprich doch zu mir, ich fürchte mich.“ „Aber was hast
du davon? Du siehst mich ja nicht“; darauf das Kind: „Wenn
jemand spricht, wird es heller.“ Die Sehnsucht in der Dunkel-
heit wird also zur Angst vor der Dunkelheit umgebildet. Weit
entfernt, daß die neurotische Angst nur sekundär und ein
Spezialfall der Realangst wäre, sehen wir vielmehr beim kleinen
Kinde, daß sich etwas als Realangst gebärdet, was mit der
neurotischen Angst den wesentlichen Zug der Entstehung aus
unverwendeter Libido gemein hat. Von richtiger Realangst
scheint das Kind wenig mitzubringen. In all den Situationen,
die später die Bedingungen von Phobien werden können, auf
Höhen, schmalen Stegen über dem Wasser, auf der Eisenbahn-
fahrt und im Schiff, zeigt das Kind keine Angst, und zwar
AUFFASSUNG DER INFANTILEN ANGST. 65)
um so weniger, je unwissender es ist. Es wäre sehr wünschens-
wert, wenn es mehr von solehen lebenschützenden Instinkten zur
Erbschaft bekommen hätte; die Aufgabe der Überwachung, die
es daran verhindern muß, sich einer Gefahr nach der anderen
auszusetzen, wäre dadurch sehr erleichtert. In Wirklichkeit
aber überschätzt das Kind anfänglich seine Kräfte und be-
nimmt sich angstfrei, weil es die Gefahren nicht kennt. Es
wird an den Rand des Wassers laufen, auf die Fensterbrüstung
steigen, mit scharfen Gegenständen und mit dem Feuer spielen,
kurz alles tun, was ihm Schaden bringen und seinen Pflegern
Sorge bereiten muß. Es ist durchaus das Werk der Erziehung,
wenn endlich die Realangst bei ihm erwacht, da man ihm
nicht erlauben kann, die belehrende Erfahrung selbst zu
machen.
Wenn es nun Kinder gibt, die dieser Erziehung zur Angst
ein Stück weit entgegenkommen, und die dann auch selbst Ge-
fahren finden, vor denen man sie nicht gewarnt hat, so reicht
für sie die Erklärung aus, daß sie ein größeres Maß von
hbidinöser Bedürftigkeit in ihrer Konstitution mitgebracht
haben oder frühzeitig mit libidinöser Befriedigung verwöhnt
worden sind. Kein Wunder, wenn sich unter diesen Kindern
auch die späteren Nervösen befinden; wir wissen ja, die größte
Erleichterung für die Entstehung einer Neurose liegt in der
Unfähigkeit, eine ansehnlichere Libidostauung durch längere
Zeit zu ertragen. Sie merken, daß hier auch das konstitutio-
nelle Moment zu seinem Recht kommt, dem wir seine Rechte
ja nie bestreiten wollen. Wir verwahren uns nur dagegen, wenn
jemand über diesem Anspruch alle anderen vernachlässigt und
das konstitutionelle Moment auch dort einführt, wo es nach
den vereinten Ergebnissen von Beobachtung und Analyse nicht
hingehört oder an die letzte Stelle zu rücken hat.
476 XXV. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
Lassen Sie uns aus den Beobachtungen über die Ängst-
lichkeit der Kinder die Summe ziehen: Die infantile Angst
hat sehr wenig mit der Realangst zu schaffen, ist dagegen
der neurotischen Angst der Erwachsenen nahe verwandt. Sie
entsteht wie diese aus unverwendeter Libido und ersetzt das
vermißte Liebesobjekt durch einen äußeren Gegenstand oder
eine Situation.
Nun werden Sie es gerne hören, daß uns die Analyse der
Phobien nicht mehr viel Neues zu lehren hat. Bei diesen
geht nämlich dasselbe vor wie bei der Kinderangst; es wird
unausgesetzt unverwendbare Libido in eine scheinbare Real-
angst umgewandelt und so eine winzige äußere Gefahr zur Ver-
tretung der Libidoansprüche eingesetzt. Die Übereinstimmung
hat nichts Befremdliches, denn die infantilen Phobien sind
nicht nur das Vorbild für die späteren, die wir zur „Ängst-
hysterie‘“ rechnen, sondern die direkte Vorbedingung und das
Vorspiel derselben. Jede hysterische Phobie geht auf eine
Kinderangst zurück und setzt sie fort, auch wenn sie einen
anderen Inhalt hat und also anders benannt werden muß. Der
Unterschied der beiden Affektionen liegt im Mechanismus.
Beim Erwachsenen reicht es für die Verwandlung der Angst
in Libido nicht mehr hin, daß die Libido als Sehnsucht augen-
blicklich unverwendbar geworden ist. Er hat es längst erlernt,
solche Libido schwebend zu erhalten oder anders zu verwenden.
Aber wenn die Libido einer psychischen Regung angehört,
welche die Verdrängung erfahren hat, dann sind ähnliche Ver-
hältnisse wiederhergestellt' wie beim Kind, das noch keine
Scheidung zwischen Bewußtem und Unbewußtem besitzt, und
durch die Regression auf die infantile Phobie ist gleichsam
der Paß eröffnet, über den sich die Verwandlung der Libido
in Angst bequem vollziehen kann. Wir haben ja, wie Nie sich
DIE AFFEKTVERWANDLUNG ALS FOLGE DER VERDRÄNGUNG. 477
erinnern, viel von der Verdrängung gehandelt, aber dabei
immer nur das Schicksal der zu verdrängenden Vorstellung
verfolgt, natürlich weil dieses leichter zu erkennen und dar-
zustellen war. Was mit dem Affekt geschieht, der an der ver-
drängten Vorstellung hing, das haben wir immer beiseite ge-
lassen, und wir erfahren erst jetzt, daß es das nächste Schick-
sal dieses Affekts ist, in Angst verwandelt zu werden, in
welcher Qualität immer er sich sonst bei normalem Ablauf
gezeigt hätte. Diese Affektverwandlung ist aber das bei weitem
wichtigere Stück des Verdrängungsvorganges. Es ist nicht so
leicht davon zu reden, weil wir die Existenz unbewußter Affekte
nicht in demselben Sinne behaupten können wie die unbewußter
Vorstellungen. Eine Vorstellung bleibt bis auf einen Unter-
schied dasselbe, ob sie bewußt oder unbewußt ist; wir können
angeben, was einer unbewußten Vorstellung entspricht. Ein
Affekt aber ist ein Abfuhrvorgang, ganz anders zu beurteilen
als eine Vorstellung; was ihm im Unbewußten entspricht, ist
ohne tiefergehende Überlegungen und Klärung unserer Voraus-
setzungen über die. psychischen Vorgänge nicht zu sagen. Das
können wir hier nicht unternehmen. Wir wollen aber den Ein-
druck hochhalten, den wir nun gewonnen haben, daß die Angst-
entwicklung innig an das System des Unbewußten geknüpft ist.
Ich sagte, die Verwandlung in Angst, besser: die Abfuhr
in der Form der Angst, sei das nächste Schicksal der von der
Verdrängung betroffenen Libido. Ich muß hinzufügen: nicht
das einzige oder endgültige. Es sind bei den Neurosen Prozesse
im Gange, welche sich bemühen, diese Angstentwicklung zu
binden, und denen dies auch auf verschiedenen Wegen gelingt.
Bei den Phobien z. B. kann man deutlich zwei Phasen des
neurotischen Vorganges unterscheiden. Die erste besorgt die
Verdrängung und die Überführung der Libido in Angst, welche
478 XXV. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
an eine äußere Gefahr gebunden wird. Die zweite besteht in
dem Aufbau all jener Vorsichten und Sicherungen, durch welche
eine Berührung mit dieser wie eine Äußerlichkeit behandelten
Gefahr vermieden werden soll. Die Verdrängung entspricht
einem Fluchtversuch des Ichs vor der als Gefahr empfundenen
Libido. Die Phobie kann man einer Verschanzung gegen die
äußere Gefahr vergleichen, die nun die gefürchtete Libido ver-
tritt. Die Schwäche des Verteidigungssystems bei den Phobien
liegt natürlich darin, daß die Festung, die sich nach außen
hm so verstärkt hat, von innen her angreifbar geblieben ist.
Die Projektion der Libidogefahr nach außen kann nie gut ge-
lingen. Bei den anderen Neurosen sind darum andere Systeme
der Verteidigung gegen die Möglichkeit der Angstentwieklung
im Gebrauch. Das ist ein sehr interessantes Stück der Neurosen-
psychologie, leider führt es uns zu weit und setzt gründlichere
Spezialkenntnisse voraus. Ich will nur noch eines beifügen.
Ich habe Ihnen doch bereits von der „Gegenbesetzung“ gespro-
chen, die das Ich bei einer Verdrängung aufwendet und dau-
ernd unterhalten muß, damit die Verdrängung Bestand habe.
Dieser Gegenbesetzung fällt die Aufgabe zu, die verschiedenen
Formen der Verteidigung gegen die Angstentwicklung nach der
Verdrängung durchzuführen.
Kehren wir zu den Phobien zurück. Ich darf nun sagen,
Sie sehen ein, wie unzureichend es ist, wenn man an ihnen
nur den Inhalt erklären will, sich für nichts anderes interessiert,
als woher es kommt, daß dies oder jenes Objekt oder eine
beliebige Situation zum Gegenstand der Phobie gemacht wird.
Der Inhalt einer Phobie hat für diese ungefähr dieselbe Be-
deutung wie die manifeste Traumfassade für den Traum. Es
ist mit den notwendigen Einschränkungen zuzugeben, daß unter
diesen Inhalten der Phobien sich manche befinden, die, wie
MECHANISMUS DER PHOBIEN. 479
Stanley Hall hervorhebt, durch phylogenetische Erb-
schaft zu Angstobjekten geeignet sind. Ja es stimmt dazu,
daß viele dieser Angstdinge ihre Verbindung mit der Gefahr
nur durch eine symbolische Beziehung herstellen können.
Wir haben uns so überzeugt, welche geradezu zentral zu
nennende Stelle das Angstproblem in den Fragen der Neurosen-
psychologie einnimmt. Wir haben einen starken Eindruck da-
von empfangen, wie die Angstentwicklung mit den Schicksalen
der Libido und dem System des Unbewußten verknüpft ist.
Nur einen Punkt empfanden wir als unverbunden, als eine
Lücke in unserer Auffassung, die eine doch schwer bestreit-
bare Tatsache, daß die Realangst als eine Äußerung der Selbst-
erhaltungstriebe des Ichs gewertet werden muß.
Freud, Vorlesungen. III. 31
SECHSUNDZWANZIGSTE VORLESUNG.
ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
DIE LIBIDOTHEORIE UND DER NARZISSMUS.
Meine Damen und Herren! Wir haben wiederholt und
erst vor kurzem wieder mit der Sonderung der Ichtriebe und
der Sexualtriebe zu tun gehabt. Zuerst hat uns die Verdrän-
gung gezeigt, daß die beiden in Gegensatz zueinander treten
können, daß dann die Sexualtriebe formell unterliegen und ge-
nötigt sind, sich auf regressiven Umwegen Befriedigung zu
holen, wobei sie dann in ihrer Unbezwingbarkeit eine Ent-
schädigung für ihre Niederlage finden. Sodann haben wir ge-
lernt, daß die beiden von Anfang an ein verschiedenes Ver-
hältnis zur Erzieherin Not haben, so daß sie nicht dieselbe
Entwicklung durchmachen und nicht in die nämliche Beziehung
zum Realitätsprinzip geraten. Endlich glauben wır zu erkennen,
daß die Sexualtriebe durch weit engere Bande mit dem Affekt-
zustand der Angst verknüpft sind als die Ichtriebe, ein Re-
sultat, welches nur noch in einem wichtigen Punkte unvoll-
ständig erscheint. Wir wollen darum zu seiner Verstärkung
noch die bemerkenswerte Tatsache heranziehen, daß die Un-
beiriedigung von Hunger und Durst, der zwei. elementarsten
Selbsterhaltungstriebe, niemals deren Umschlag in Angst zur
Folge hat, während die Umsetzung von unbefriedigter Libido
in Angst, wie wir gehört haben, zu den bestgekannten und
am häufigsten beobachteten Phänomenen gehört.
An unserem guten Recht, Ich- und Sexualtriebe zu son-
dern, kann doch wohl nicht gerüttelt werden. Es ist ja mit
ICHTRIEBE UND SEXUALTRIEBE. DER BEGRIFF „LIBIDO“. 481
der Existenz des Sexualstrebens als einer besonderen Betätigung
des Individuums gegeben. Es kann sich nur fragen, welche
Bedeutung wir dieser Sonderung beilegen, für wie tief ein-
schneidend wir sie halten wollen. Die Beantwortung dieser
Frage wird sich aber nach dem Ergebnis der Feststellung
richten, inwiefern sich die Sexualtriebe in ihren somatischen
und seelischen Äußerungen anders verhalten als die anderen,
die wir ihnen gegenüberstellen, und wie bedeutsam die Folgen
sind, die sich aus diesen Differenzen ergeben. Eine übrigens
nicht recht faßbare Wesensverschiedenheit der beiden Trieb-
gruppen zu behaupten, dazu fehlt uns natürlich jedes Motiv.
Beide treten uns nur als Benennungen für Energiequellen des
Individuums entgegen, und die Diskussion, ob sie im Grunde
eins oder wesensverschieden sind, und wenn eines, wann sie
sich voneinander getrennt haben, kann nicht an den Begriffen
geführt werden, sondern muß sich an die biologischen Tat-
sachen hinter ihnen halten. Darüber wissen wir vorläufig zu
wenig, und wüßten wir selbst mehr, es käme für unsere ana-
lytische Aufgabe nicht in Betracht.
‚Wir profitieren offenbar auch sehr wenig, wenn wir nach
dem Vorgang von Jung die uranfängliche Einheit aller Triebe
betonen und die in allem sich äußernde Energie „Libido“
nennen. Da sich die Sexualfunktion durch keinerlei Kunst-
stick aus dem Seelenleben eliminieren läßt, sähen wir uns
dann genötigt, von sexueller und von asexueller Libido zu
sprechen. Der Name Libido bleibt aber mit Recht für die
Triebkräfte des Sexuallebens vorbehalten, wie wir es bisher
geübt haben.
Ich meine also, die Frage, wie weit die unzweifelhaft be-
rechtigte Sonderung von Sexual- und Selbsterhaltungstrieben
fortzusetzen ist, hat für die Psychoanalyse nicht viel Belang;
31*
482 XXVI. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
sie ist auch nicht kompetent dafür. Von seiten der Biologie
ergeben sich allerdings verschiedene Anhaltspunkte dafür, daß
sie etwas Wichtiges bedeutet. Die Sexualität ist ja die ein-
zige Funktion des lebenden Organismus, welche über das Indi-
viduum hinausgeht und seine Anknüpfung an die Gattung be-
sorgt. Es ist unverkennbar, daß ihre Ausübung dem Einzel-
wesen nicht immer Nutzen bringt wie seine anderen Leistungen,
sondern ihn um den Preis einer ungewöhnlich hohen Lust in
Gefahren bringt, die sein Leben bedrohen und es oft genug
verwirken. Es werden auch wahrscheinlich ganz besondere,
von allen anderen abweichende Stoffwechselvorgänge erforder-
lich sein, um einen Anteil des individuellen Lebens als Dispo-
sition für die Nachkommenschaft zu erhalten. Und endlich ist
das Einzelwesen, das sich selbst als Hauptsache und seine
Sexualität als ein Mittel zu seiner Befriedigung wie andere
betrachtet, in biologischer Anschauung nur eine Episode in
einer Generationsreihe, ein kurzlebiges Anhängsel an ein mit
virtueller Unsterblichkeit begabtes Keimplasma, gleichsam der
zeitweilige Inhaber eines ihn überdauernden Fideikommisses.
Indes braucht es für die psychoanalytische Aufklärung
der Neurosen nicht so weitreichender Gesichtspunkte. Mit Hilfe
der gesonderten Verfolgung von Sexual- und Ichtrieben haben
wir den Schlüssel zum Verständnis der Gruppe der Über-
tragungsneurosen gewonnen. Wir konnten sie auf die grund-
legende Situation zurückführen, daß die Sexualtriebe in Zwist
mit den Erhaltungstrieben geraten oder biologisch — wenn
auch ungenauer ausgedrückt —, daß die eine Position des Ichs
als selbständiges Einzelwesen mit der anderen als Glied einer
Generationsreihe in Widerstreit tritt. Zu solcher Entzweiung
kommt es vielleicht nur beim Menschen, und darum mag im
ganzen und großen die Neurose sein Vorrecht vor den Tieren
BIOLOGISCHE MOTIVE FÜR DEREN SONDERUNG. 483
sein. Die überstarke Entwicklung seiner Libido und die viel-
leicht gerade dadurch ermöglichte Ausbildung eines reich ge-
gliederten Seelenlebens scheinen die Bedingungen für die Ent-
stehung eines solchen Konflikts geschaffen zu haben. Es ist
ohne weiteres ersichtlich, daß dies auch die Bedingungen der
großen Fortschritte sind, die der Mensch über seine Gemein-
schaft mit den Tieren hinaus gemacht hat, so daß seine Fähig-
keit zur Neurose nur die Kehrseite seiner sonstigen Begabung
wäre. Aber auch das sind nur Spekulationen, die uns von un-
serer nächsten Aufgabe ablenken. |
Es war bisher die Voraussetzung unserer Arbeit, daß wir
Ich- und Sexualtriebe nach ihren Äußerungen voneinander un-
terscheiden können. Bei den Übertragungsneurosen gelang dies
ohne Schwierigkeit. Wir nannten die Energiebesetzungen, die
das Ich den Objekten seiner Sexualstrebungen zuwendet,
„Libido“, alle anderen, die von den Selbsterhaltungstrieben
ausgeschickt werden, „Interesse“ und konnten uns durch die
Verfolgung der Libidobesetzungen, ihrer Umwandlungen und
ihrer endlichen Schicksale eine erste Einsicht in das Getriebe
der seelischen Kräfte verschaffen. Die Übertragungsneurosen
boten uns hiefür den günstigsten Stoff. Das Ich aber, seine
Zusammensetzung aus verschiedenen Organisationen, deren Auf-
bau und Funktionsweise, blieb uns verhüllt, und wir durften
vermuten, daß erst die Analyse anderer neurotischer Störungen
uns diese Einsichten bringen könnte.
Wir haben frühzeitig damit begonnen, die psychoanaly-
tischen Anschauungen auf diese anderen Affektionen auszu-
dehnen. Schon 1908 sprach K. Abraham nach einem Ge-
dankenaustausch mit mir den Satz aus, es sei der Haupt-
charakter der (zu den Psychosen gerechneten) Dementia prae-
cox, daß ihr die Libidobesetzung der Objekte ab-
a ne u
h——
———
484 XXVI. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
gehe. („Die psychosexuellen Differenzen der Hysterie und der
Dementia praecox.‘“) Dann erhob sich aber die Frage, was ge-
schieht mit der von den Objekten abgewandten Libido der
Dementen?’ Abraham zögerte nicht, die Antwort zu geben:
sie wird auf das Ich zurückgewandt, und diese reflexive
Rückwendung ist die Quelle des Größenwahns
der Dementia praecox. Der Größenwahn ist durchaus der im
Liebesleben bekannten Sexualüberschätzung des Objektes zu
vergleichen. Wir haben so zum erstenmal einen Zug einer
psychotischen Affektion durch die Beziehung auf das normale
Liebesleben verstehen gelernt.
Ich sage es Ihnen gleich, diese ersten Auffassungen von
Abraham haben sich in der Psychoanalyse erhalten und sind
die Grundlage für unsere Stellungsnahme zu den Psychosen ge-
worden. Man machte sich also langsam mit der Vorstellung
vertraut, daß die Libido, die wir an den Objekten: haftend
finden, die der Ausdruck eines Bestrebens ist, an diesen Ob-
jekten eine Befriedigung zu gewinnen, auch von diesen Objekten
ablassen und an ihrer Statt das eigene Ich setzen kann, und
man baute diese Vorstellung allmählich immer konsequenter
aus. Den Namen für diese Unterbringung der Libido — Nar-
zıßmus — entlehnten wir einer von P. Näcke beschrie-
benen Perversion, bei welcher das erwachsene Individuum den
eigenen Leib mit all den Zärtlichkeiten bedenkt, die man sonst
für ein fremdes Sexualobjekt aufwendet.
Man sagte sich dann alsbald, wenn es eine solche Fixierung
der Libido an den eigenen Leib und die eigene Person anstatt
an ein Objekt gibt, so kann dies kein ausnahmsweises und kein
geringfügiges Vorkommnis sein. Es ist vielmehr wahrschein-
lich, daß dieser Narzißmus der allgemeine und ursprüngliche
Zustand ist, aus welchem sich erst später die Objektliebe
DER BEGRIFF DES NARZISSMUS. 485
herausbildete. ohne daß darum der Narzißmus zu verschwinden
brauchte. Man mußte sich ja auch aus der Entwicklungs-
geschichte der Objektlibido daran erinnern, daß viele Sexual-
triebe sich anfänglich am eigenen Körper, wie wir sagen: auto-
erotisch befriedigen, und daß diese Fähigkeit zum Auto-
erotismus das Zurückbleiben der Sexualität in der Erziehung
zum Realitätsprinzip begründet. So war also der Autoerotis-
mus die Sexualbetätigung des narzißtischen Stadiums der Libido-
unterbringung.
Um es kurz zu fassen, wir machten uns von dem Ver-
hältnis der Ichlibido zur Objektlibido eine Vorstellung, die ich
Ihnen durch ein Gleichnis aus der Zoologie veranschaulichen
kann. Denken Sie an jene einfachsten Lebewesen, die aus einem
wenig differenzierten Klümpchen protoplasmatischer Substanz
bestehen. Sie strecken Fortsätze aus, Pseudopodien genannt, in
welche sie ihre Leibessubstanz hinüberfließen lassen. Sie können
diese Fortsätze aber auch wieder einziehen und sich zum
Klumpen ballen. Das Ausstrecken der Fortsätze vergleichen
wir nun der Aussendung von Libido auf die Objekte, während
die Hauptmenge der Libido im Ich verbleiben kann, und wir
nehmen an, daß unter normalen Verhältnissen Ichlibido unge-
hindert in Objektlibido umgesetzt und diese wieder ins Ich
aufgenommen werden kann.
Mit Hilfe dieser Vorstellungen können wir nun eine ganze
Anzahl von seelischen Zuständen erklären oder, bescheidener
ausgedrückt, in der Sprache der Libidotheorie beschreiben, Zu-
stände, die wir dem normalen Leben zurechnen müssen, wie
das psychische Verhalten in der Verliebtheit, bei organischem
Kranksein, im Schlaf. Wir haben für den Schlafzustand die
Annahme gemacht, daß er auf Abwendung von der Außenwelt
und Einstellung auf den Schlafwunsch beruhe. Was sich als
486 _ XXVI. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
nächtliche Seelentätigkeit im Traume äußerte, fanden wir im
Dienste eines Schlafwunsches und überdies von durchaus
egoistischen Motiven beherrscht. Wir führen jetzt im Sinne
der Libidotheorie aus, daß der Schlaf ein Zustand ist, in wel-
chem alle Objektbesetzungen, die libidinösen ebensowohl wie
die egoistischen, aufgegeben und ins Ich zurückgezogen werden.
Ob damit nicht ein neues Licht auf die Erholung durch den
Schlaf und auf die Natur der Ermüdung überhaupt geworfen
wird? Das Bild der seligen Isolierung im .Intrauterinleben,
welches uns der Schlafende allnächtlich wieder heraufbeschwört,
wird so auch nach der psychischen Seite vervollständigt. Beim
Schlafenden hat sich der Urzustand der Libidoverteilung wie-
derhergestellt, der volle Narzißmus, bei dem Libido und Ich-
interesse noch vereint und ununterscheidbar in dem sich selbst
genügenden Ich wohnen.
Hier ist Raum für zwei Bemerkungen. Erstens, wie un-
terscheiden sich Narzißmus und Egoismus begrifflich? Nun,
ich meine, Narzißmus ist die libidinöse Ergänzung zum Egois-
mus. Wenn man von Egoismus spricht, hat man nur den
Nutzen für das Individuum ins Auge gefaßt; sagt man Nar-
zıBmus, so zieht man auch seine libidinöse Befriedigung in
Betracht. Als praktische Motive lassen sich die beiden ein
ganzes Stück weit gesondert verfolgen. Man kann absolut
egoistisch sein und doch starke libidinöse Objektbesetzungen
unterhalten, insofern die libidinöse Befriedigung am Objekt zu
den Bedürfnissen des Ichs gehört. Der Egoismus wird dann
darauf achten, daß die Strebung nach dem Objekt dem Ich
keinen Schaden bringe. Man kann egoistisch sein und dabei
auch überstark narzißtisch, d. h. ein sehr geringes Objekt-
bedürfnis haben und dies wiederum entweder in der direkten
Dexualbefriedigung oder auch in jenen höheren, vom Sexual-
GEGENSATZ VON NARZISSMUS UND OBJEKTLIEBE. 487
bedürfnis abgeleiteten Strebungen, die wir gelegentlich als
„Liebe“ in einen Gegensatz zur „Sinnlichkeit“ zu bringen
pflegen. Der Egoismus ist in all diesen Beziehungen das Selbst-
verständliche, Konstante, der Narzißmus das variable Element.
Der Gegensatz von Egoismus, Altruismus, deckt sich be-
grifflich nicht mit libidinöser Objektbesetzung, er sondert sich
von ihr durch den Wegfall der Strebungen nach sexueller Be-
friedigung. In der vollen Verliebtheit trifft aber der Altruis-
. mus mit der libidinösen Objektbesetzung zusammen. Das Sexual-
objekt zieht in der Regel einen Anteil des Narzißmus des Ichs
auf sich, was als die sogenannte „Sexualüberschätzung“ des Ob-
jektes bemerkbar wird. Kommt noch die altruistische Überleitung
vom Egoismus auf das Sexualobjekt hinzu, so wird das Sexual-
objekt übermächtig; es hat das Ich gleichsam aufgesogen.
Ich denke, Sie werden es als Erholung empfinden, wenn
ich Ihnen nach der im Grunde trockenen Phantastik der
Wissenschaft eine poetische Darstellung des ökonomischen Gegen-
satzes von Narzißmus und Verliebtheit vorlege. Ich entnehme
sie dem Westöstlichen Divan Goethes.
„Suleika: Volk und Knecht und Überwinder
Sie gestehn zu jeder Zeit:
Höchstes Glück der Erdenkinder
Sei nur die Persönlichkeit.
Jedes Leben sei zu führen,
Wenn man sich nicht selbst vermißt;
Alles könne man verlieren,
Wenn man bliebe, was man ist.
Hatem: Kann wohl sein! So wird gemeinet;
Doch ich bin auf andrer Spur:
Alles Erdenglück vereinet
Find’ ich in Suleika nur.
488 XXVL ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
Wie sie sich an mich verschwendet,
Bin ich mir ein wertes Ich;
Hätte sie sich weggewendet,
Augenblicks verlör’ ich mich.
Nun mit Hatem wär’s zu Ende;
Doch schon hab’ ich umgelost;
Ich verkörpere mich behende
In den Holden, den sie kost.“
Die zweite Bemerkung ist eine Ergänzung zur Traum-
theorie. Wir können uns die Entstehung des Traumes nicht
erklären, wenn wir nicht die Annahme einfügen, daß das ver-
drängte Unbewußte eine gewisse Unabhängigkeit vom Ich ge-
wonnen hat, so daß es sich dem Schlafwunsch nicht fügt und
seine Besetzungen behält, auch wenn alle vom Ich abhängigen
Objektbesetzungen zu Gunsten des Schlafes eingezogen werden.
Erst dann ist zu verstehen, daß dies Unbewußte sich die nächt-
liche Aufhebung oder Herabsetzung der Zensur zu nutze ma-
chen kann, und daß es sich der Tagesreste zu bemächtigen
weiß, um mit ihrem Stoff einen verbotenen Traumwunsch zu
bilden. Anderseits mögen schon die Tagesreste ein Stück ihrer
Resistenz gegen die vom Schlafwunsch verfügte Libidoeinziehung
einer bereits bestehenden Verbindung mit diesem verdrängten
Unbewußten verdanken. Diesen dynamisch wichtigen Zug wollen
wir also in unsere Auffassung von der Traumbildung nach-
träglich einfügen.
Organische Erkrankung, schmerzhafte Reizung, Entzün-
dung von Organen schafft einen Zustand, der deutlich eine Ab-
lösung der Libido von ihren Objekten zur Folge hat. Die ein-
gezogene Libido findet sich im Ich wieder als verstärkte Be-
setzung des erkrankten Körperteiles. Ja man kann die Be-
EINE ERGÄNZUNG ZUR TRAUMTHEORIE. 489
hauptung wagen, daß unter diesen Bedingungen die Abziehung
der Libido von ihren Objekten auffälliger ist als die Abwen-
dung des egoistischen Interesses von der Außenwelt. Von hier
aus scheint sich ein Weg zum Verständnis der Hypochondrie
zu eröffnen, bei welcher ein Organ in gleicher Weise das Ich
beschäftigt, ohne für unsere Wahrnehmung krank zu sein.
Aber ich widerstehe der Versuchung, hier weiterzugehen oder
andere Situationen zu erörtern, die uns durch die Annahme
einer Wanderung der Objektlibido in das Ich verständlich
oder darstellbar werden, weil es mich drängt, zwei Einwen-
dungen zu begegnen, die, wie ich weiß, jetzt Ihr Gehör haben.
Sie wollen mich erstens zur Rede stellen, warum ich beim Schlaf,
in der Krankheit und in den ähnlichen Situationen durchaus
Libido und Interesse, Sexualtriebe und Ichtriebe unterscheiden
will, wo sich die Beobachtungen durchwegs mit der Annahme
einer einzigen und einheitlichen Energie erledigen lassen, die,
frei beweglich, bald das Objekt, bald das Ich besetzt, sowohl
in den Dienst des einen wie des anderen Triebes tritt. Und
zweitens, wie ich mich getrauen kann, die Ablösung der Libido
vom Objekt als Quelle eines pathologischen Zustandes zu be-
handeln, wenn solche Umsetzung der Objektlibido in Ichlibido
— oder allgemeiner Ichenergie — zu den normalen und täglich,
allnächtlich, wiederholten Vorgängen in der seelischen Dynamik
gehört.
Darauf ist zu erwidern: Ihr erster Einwand klingt gut.
Die Erörterung der Zustände des Schlafes, des Krankseins, der
Verliebtheit hätte uns an sich wahrscheinlich niemals zur
Unterscheidung einer Ichlibido von einer Objektlibido, oder der
Libido ‘vom Interesse geführt. Aber Sie vernachlässigen dabei
die Untersuchungen, von denen wir ausgegangen sind, und in
deren Licht wir jetzt die in Rede stehenden seelischen Situa-
490 XXVI. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
tionen betrachten. Die Unterscheidung von Libido und Inter-
esse, also von Sexual- und Selbsterhaltungstrieben, ist uns durch
die Einsicht in den Konflikt aufgedrängt worden, aus welchem
die Übertragungsneurosen hervorgehen. Wir können sie seit-
dem nicht wieder aufgeben. Die Annahme, daß sich Objekt-
libido in Ichlibido umsetzen kann, daß man also mit einer
Ichlibido zu rechnen hat, ist uns als die einzige erschienen,
welche das Rätsel der sogenannten narzißtischen Neurosen, z. B.
der Dementia praecox, zu lösen vermag, von deren "Ähnlich-
keiten und Verschiedenheiten im Vergleich mit Hysterie und
Zwang Rechenschaft geben kann. Auf Krankheit, Schlaf und
Verliebtheit wenden wir nun an, was wir anderwärts als un-
abweisbar bewährt gefunden haben. Wir dürfen mit solchen
Anwendungen fortfahren und sehen, wie weit wir damit rei-
chen. Die einzige Behauptung, die nicht direkter Niederschlag
unserer analytischen Erfahrung ist, geht dahin, daß Libido
Libido bleibt, ob sie nun auf Objekte oder auf das eigene
Ich gewendet wird, und sich niemals in egoistisches Interesse
umsetzt und ebenso das Umgekehrte. Diese Behauptung ist aber
eleichwertig mit der bereits kritisch gewürdigten Sonderung
von Sexual- und Ichtrieben, an der wir bis zum möglichen
Scheitern aus heuristischen Motiven festhalten wollen.
Auch Ihre zweite Einwendung greift eine berechtigte
Frage auf, aber sie zielt in falscher Richtung. Gewiß ist die
Einziehung der Objektlibido ins Ich nicht direkt pathogen;
wir sehen ja, daß sie jedesmal vor dem Schlafengehen vorge-
nommen wird, um mit dem Wachen wieder rückgängig zu
werden. Das Protoplasmatierchen zieht seine Fortsätze ein, um
sie bei nächstem Anlaß wieder auszuschicken. Aber etwas ganz
anderes ist es, wenn ein bestimmter, sehr energischer Prozeß
die Abziehung der Libido von den Objekten erzwingt. Die
DIE RÜCKKEHR DER LIBIDO INS ICH, 491
narzıßtisch gewordene Libido kann dann den Rückweg zu den
Objekten nicht finden, und diese Behinderung in der Beweg-
lichkeit der Libido wird allerdings pathogen. Es scheint, daß
die Anhäufung der narzißtischen Libido über ein gewisses
Maß hinaus nicht vertragen wird. Wir können uns auch vor-
stellen, daß es eben darum zur Objektbesetzung sekommen ist,
daß das Ich seine Libido ausschicken mußte, um nicht an ihrer
Stauung zu erkranken. Wenn es in unserem Plane läge, uns
mit der Dementia praecox eingehender zu beschäftigen, würde
ich Ihnen zeigen, daß jener Prozeß, der die Libido von den
Objekten ablöst und ihr den Rückweg zu ihnen versperrt, dem
Verdrängungsprozeß nahesteht, als ein Seitenstück zu ihm aul-
zufassen ist. Vor allem aber würden Sie bekannten Boden
unter Ihren Füßen spüren, indem Sie erfahren, daß die Be-
dingungen dieses Prozesses fast identisch sind — soviel wir
bis jetzt erkennen — mit denen der Verdrängung. Der Kon-
flikt scheint der nämliche zu sein und sich zwischen denselben
Mächten abzuspielen. Wenn der Ausgang ein so anderer ist
als z. B. bei der Hysterie, so kann der Grund davon nur
in einer Verschiedenheit der Disposition liegen. Die Libido-
entwicklung hat bei diesen Kranken ihre schwache Stelle an
einer anderen Phase; die maßgebende Fixierung, welche, wie
Sie sich erinnern, den Durchbruch zur Symptombildung ge-
stattet, liegt anderswo, wahrscheinlich im Stadium des primi-
tiven Narzißmus, zu welchem die Dementia praecox in ihrem
Endausgang zurückkehrt. Es ist ganz bemerkenswert, daß wir
für alle narzißtischen Neurosen Fixierungsstellen der Libido
annehmen müssen, welche in weit frühere Phasen der Entwick-
lung zurückreichen als bei der Hysterie oder der Zwangs-
neurose. Sie haben aber gehört, daß die Begriffe, die wir im
Studium der Übertragungsneurosen erworben haben, auch zur
499 | XXVI, ALLGEMEINE NEUROÖSENLEHRE.
Orientierung in den praktisch so viel schwereren narzißtischen
Neurosen ausreichen. Die Gemeinsamkeiten gehen sehr weit;
es ist im Grunde dasselbe Erscheinungsgebiet. Sie können sich
aber auch vorstellen, wie aussichtslos die Aufklärung dieser
schon der Psychiatrie zufallenden Affektionen sich für den
gestaltet, der nicht die analytische Kenntnis der Übertragungs-
neurosen für diese Aufgabe mitbringt.
Das Symptombild der Dementia praecox, das übrigens
sehr wechselvoll ist, wird nicht ausschließlich durch die Sym-
ptome bestimmt, welche aus der Abdrängung der Libido von
den Objekten und deren Anhäufung als narzißtische Libido
im Ich hervorgehen. Einen breiten Raum nehmen vielmehr an-
dere Phänomene ein, die sich auf das Bestreben der Libido
zurückführen, wieder zu den Objekten zu gelangen, die also
einem Restitutions- oder Heilungsversuch entsprechen. Diese
Symptome sind sogar die auffälligeren, die lärmenden; sie
zeigen eine unzweifelhafte Ähnlichkeit mit denen der Hysterie
oder seltener der Zwangsneurose, sind aber doch in jedem
Punkte anders. Es scheint, daß die Libido bei der Dementia
praecox in ihrem Bemühen, wieder zu den Objekten, d. h. zu
den Vorstellungen der Objekte zu kommen, wirklich etwas von
ihnen erhascht, aber gleichsam nur ihre Schatten, ich meine,
die ihnen zugehörigen Wortvorstellungen. Ich kann hier nicht
mehr darüber sagen, aber ich meine, dies Benehmen der rück-
strebenden Libido hat uns gestattet, eine Einsicht in das zu
gewinnen, was wirklich den Unterschied zwischen einer be
wußten und einer unbewußten Vorstellung ausmacht.
Ich habe Sie nun in das Gebiet geführt, auf welchem die
nächsten Fortschritte der analytischen Arbeit zu erwarten sind.
Seitdem wir uns getrauen, den Begriff der Ichlibido zu hand-
haben, sind uns die narzißtischen Neurosen zugänglich ge-
DIE DEMENTIA PRAECOX. 493
worden; es hat sich die Aufgabe ergeben, eine dynamische Auf-
klärung dieser Affektionen zu gewinnen und gleichzeitig unsere
Kenntnis des Seelenlebens durch das Verständnis des Ichs zu
vervollständigen. Die Ichpsychologie, die wir anstreben, soll
nicht auf die Daten unserer Selbstwahrnehmungen, sondern wie
bei der Libido, auf die Analyse der Störungen und Zerstörun-
gen des Ichs begründet sein. Wahrscheinlich werden wir von
unserer bisherigen Kenntnis der Libidoschicksale, die wir aus
dem Studium der Übertragungsneurosen geschöpft haben, ge-
ring denken, wenn jene größere Arbeit geleistet ist. Aber da-
für sind wir in ihr auch noch nicht weit gekommen. Die nar-
zißtischen Neurosen sind für die Technik, welche uns bei den
Übertragungsneurosen gedient hat, kaum angreifbar. Sie wer-
den bald hören, warum. Es geht uns mit ihnen immer so,
daß wir nach kurzem Vordringen vor eine Mauer zu stehen
kommen, die uns Halt gebietet. Sie wissen, auch bei den
Übertragungsneurosen sind wir auf solche Widerstandsschranken
gestoßen, aber wir konnten sie Stück für Stück abtragen. Bei
den narzißtischen Neurosen ist der Widerstand unüberwindbar ;
wir dürfen höchstens einen neugierigen Blick über die Höhe
der Mauer werfen, um zu erspähen, was jenseits derselben vor
sich geht. Unsere technischen Methoden müssen also durch
andere ersetzt werden; wir wissen noch nicht, ob uns ein solcher
Ersatz gelingen wird. Es fehlt uns allerdings auch bei diesen
Kranken nicht an Material. Sie geben vielerlei Äußerungen
von sich, wenn auch nicht als Antworten auf unsere Fragen, und
wir sind vorläufig darauf angewiesen, diese Äußerungen mit
Hilfe des Verständnisses, das wir an den Symptomen der Über-
tragungsneurosen gewonnen haben, zu deuten. Die Übereinstim-
mung ist groß genug, um uns einen Anfangsgewinn zuzusichern.
Wie weit diese Technik reichen wird, bleibt dahingestellt.
494 xXVl. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
Andere Schwierigkeiten kommen hinzu, um unseren Fort-
schritt aufzuhalten. Die narzißtischen Affektionen und die
an sie anschließenden Psychosen können nur von Beobachtern
enträtselt werden, die sich durch das analytische Studium der
Übertragungsneurosen geschult haben. Aber unsere Psychiater
studieren keine Psychoanalyse und wir Psychoanalytiker sehen
zu wenig psychiatrische Fälle Es muß erst ein Geschlecht
von Psychiatern herangewachsen sein, welches durch die Schule
der Psychoanalyse als vorbereitender Wissenschaft gegangen ist.
Der Anfang dazu wird gegenwärtig in Amerika gemacht, wo
sehr viele leitende Psychiater den Studenten die psychoanaly-
tischen Lehren vortragen, und wo Anstaltsbesitzer und Irren-
hausdirektoren sich bemühen, ihre Kranken im Sinne dieser
Lehren zu beobachten. Immerhin ist es ‚auch uns hier einige
Male geglückt, einen Blick über die narzißtische Mauer zu
werfen, und ich will Ihnen im Folgenden einiges berichten,
was wir erhascht zu haben glauben.
Die Krankheitsform der Paranoia, der chronischen syste-
matischen Verrücktheit, nimmt in den Klassifikationsversuchen
der heutigen Psychiatrie eine schwankende Stellung ein. An
ihrer nahen Verwandtschaft mit der Dementia praecox ist in-
des kein Zweifel. Ich habe mir einmal den Vorschlag erlaubt,
Paranoia und Dementia praecox unter. der gemeinsamen Be-
zeichnung der Paraphrenie zusammenzufassen. Die For-
men der Paranoia werden nach ihrem Inhalt als: Größenwahn,
Verfolgungswahn, Liebeswahn (Erotomanie), Eifersuchtswahn
usw. beschrieben. Erklärungsversuche werden wir von der
Psychiatrie nicht erwarten. Als Beispiel eines solchen, aller-
dings ein veraltetes und nicht ganz vollwertiges Beispiel, er-
wähne ich Ihnen den Versuch, ein Symptom mittels einer intel-
lektuellen Rationalisierung aus einem anderen abzuleiten: Der
-
ZUR ANALYSE DER PARANOIA PERSECUTORIA. 495
Kranke, der sich aus primärer Neigung verfolgt glaubt, soll
aus dieser Verfolgung den Schluß ziehen, er müsse doch eine
ganz besonders wichtige Persönlichkeit sein, und darum den
Größenwahn entwickeln. Für unsere analytische Auffassung ist
der Größenwahn die unmittelbare Folge der Ichvergrößerung
durch die Einziehung der libidinösen Objektbesetzungen, ein
sekundärer Narzißmus als Wiederkehr des ursprünglichen früh-
infantilen. An den Fällen von Verfolgungswahn haben wir
aber einiges beobachtet, was uns veranlaßte, eine gewisse Spur
zu verfolgen. Es fiel uns zunächst auf, daß in der überwie-
genden Mehrzahl der Fälle der Verfolger von demselben Gre-
schlecht war wie der Verfolgte. Das war immer noch einer
harmlosen Erklärung fähig, aber in einigen gut studierten
Fällen zeigte es sich klar, daß die in normalen Zeiten am
besten geliebte Person des gleichen Geschlechtes sich seit der
Erkrankung zum Verfolger umgewandelt hatte. Eine weitere
Entwicklung wird dadurch möglich, daß die geliebte Person
nach bekannten Affinitäten durch eine andere ersetzt wird,
za. B. der Vater durch den Lehrer, den Vorgesetzten. Wir
zogen aus solchen, sich immer vermehrenden, Erfahrungen den
Schluß, daß die Paranoia persecutoria die Form ist, in der
sica das Individuum gegen eine überstark gewordene homo-
sexuelle Regung zur Wehre setzt. Die Verwandlung der Zärt-
lichkeit in Haß, die bekanntlich zur ernsthaften Lebens-
bedrohung für das geliebte und gehaßte Objekt werden kann,
entspricht dann der Umsetzung libidinöser Regungen in Angst,
die ein regelmäßiges Ergebnis des Verdrängungsvorganges ist.
Hören Sie z. B. den wiederum letzten Fall meiner diesbezüg-
lichen Beobachtungen. Ein junger Arzt mußte aus seinem
Heimatsort verschickt werden, weil er den Sohn eines dortigen
Universitätsprofessors, der bis dahin sein bester Freund ge-
Freud, Vorlesungen. III 32
496 XXVI. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
wesen war, am Leben bedroht hatte. Er schrieb diesem ein-
stigen Freund wahrhaft teuflische Absichten und eine dämo-
nische Macht zu. Er war schuld an allem Unglück, das in
den letzten Jahren die Familie des Kranken getroffen hatte,
an jedem familiären und sozialen Mißgeschick. Aber nicht ge-
nug damit, der böse Freund und sein Vater, der Professor,
hatten auch den Krieg verursacht, die Russen ins Land ge-
rufen. Er hatte sein Leben tausendmal verwirkt, und unser
Kranker war überzeugt, daß mit dem Tode des Missetäters
alles Unheil zu Ende gebracht wäre. Und doch war seine alte
Zärtlichkeit für ihn noch so stark, daß sie seine Hand gelähmt
hatte, als sich ihm einmal die Gelegenheit bot, den Feind aus
nächster Nähe niederzuschießen. In den kurzen Besprechungen,
die ich mit dem Kranken hatte, kam zum Vorschein, daß das
freundschaftliche Verhältnis zwischen den beiden weit in die
Gymnasialjahre zurückreichte. Wenigstens einmal hatte es die
Grenzen der Freundschaft überschritten; ein nächtliches Bei-
sammensein war ihnen der Anlaß zu vollem sexuellen Ver-
kehr geworden. Unser Patient hatte nie die Gefühlsbeziehung
zı den Frauen gewonnen, die seiner Altersphase und seiner
einnenmenden Persönlichkeit entsprochen hätte. Er war einmal
mit einem schönen und vornehmen Mädchen verlobt, aber dieses
brach das Verlöbnis ab, weil es bei seinem Bräutigam keine
Zärtlichkeit fand. Jahre später brach seine Krankheit gerade
in dem Momente aus, als es ihm zum erstenmal geglückt war,
ein Weib voll zu befriedigen. Als diese Frau ihn dankbar und
hingebungsvoll umarmte, bekam er plötzlich einen rätselhaften
Schmerz, der wie ein scharfer Schnitt um die Schädeldecke
lief. Er deutete sich diese Sensation später, als ob an ihm der
Schnitt ausgeführt wurde, mit dem man bei einer Sektion das
Gehirn bloßlegt, und da sein Freund pathologischer Anatom
PARANOIA UND HOMOSEXUALITÄT. 497
geworden war, entdeckte er langsam, daß nur dieser ihm diese
letzte Frau zur Versuchung geschickt haben könne. Von da
an gingen ihm auch die Augen über die anderen Verfolgungen
auf, deren Opfer er durch das Betreiben des einstigen Freun-
des werden sollte.
Wie ist es nun aber mit den Fällen, bei denen der Ver-
folger nicht desselben Geschlechtes ist wie der Verfolgte, deren
Anschein also unserer Erklärung einer Abwehr homosexueller
Libido widerspricht? Ich habe vor einiger Zeit Gelegenheit
gehabt, einen solchen Fall zu untersuchen, und aus dem schein-
baren Widerspruch eine Bestätigung entnehmen können. Das
junge Mädchen, welches sich von dem Manne verfolgt glaubte,
dem sie zwei zärtliche Zusammenkünfte zugestanden, hatte in
der Tat zuerst eine Wahnidee gegen eine Frau gerichtet, die
man als Mutterersatz auffassen kann. Erst nach der zweiten
Zusammenkunft machte sie den Fortschritt, dieselbe Wahnidee
von der Frau abzulösen und auf den Mann zu übertragen.
Die Bedingung des gleichen Geschlechtes für den Verfolger
war also ursprünglich auch in diesem Falle eingehalten wor-
den. In ihrer Klage vor dem Rechtsfreund und dem Arzt
hatte die Patientin dieses Vorstadium ihres Wahnes nicht er-
wähnt und so den Anschein eines Widerspruches gegen unser
Verständnis der Paranoia erweckt.
Die homosexuelle Objektwahl liegt dem Narzißmus ur-
sprünglich näher als die heterosexuelle. Wenn es dann gilt,
eine unerwünscht starke homosexuelle Regung abzuweisen, so
ist der Rückweg zum Narzißmus besonders erleichtert. Ich
habe bisher sehr wenig Gelegenheit gehabt, Ihnen von den
Grundlagen des Liebeslebens, soweit wir sie erkannt haben, zu
sprechen, kann es auch jetzt nicht nachholen. Ich will nur
soviel herausheben, daß die Objektwahl, der Fortschritt ın der
33#
498 XXVI. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE,
Libidoentwicklung, der nach dem narzißtischen Stadium ge-
macht wird, nach zwei verschiedenen Typen erfolgen kann.
Entweder nach dem narzißtischen Typus, indem an die
Stelle des eigenen Ichs ein ihm möglichst ähnliches tritt, oder
nach dm Anlehnungstypus, indem die Personen, die
‚durch Befriedigung der anderen Lebensbedürfnisse wertvoll ge-
worden sind, auch von der Libido zu Objekten gewählt werden.
Eine starke Libidofixierung an den narzißtischen Typus der
Objektwahl rechnen wir auch in die Disposition zur manifesten
Homosexualität ein.
Sie erinnern sich, daß ich Ihnen in der ersten Zusammen-
kunft dieses Semesters von einem Fall von Eifersuchtswahn
bei einer Frau erzählt habe. Nun da wir so nahe dem Ende
sind, möchten Sie gewiß gerne hören, wie wir psychoanalytisch
eine Wahnidee erklären. Aber ich habe Ihnen dazu weniger
zu sagen, als Sie erwarten. Die Unangreifbarkeit der Wahnidee
durch logische Argumente und reale Erfahrungen erklärt sich
' ebenso wie die eines Zwanges durch die Beziehung zum Un-
bewußten, welches durch die Wahnidee oder Zwangsidee reprä-
sentiertt und niedergehalten wird. Der Unterschied zwischen
beiden ist in der verschiedenen Topik und Dynamik der beiden
Affektionen begründet.
Wie bei der Paranoia, so haben wir auch bei der Melan-
cholie, von der übrigens sehr verschiedene klinische Formen
beschrieben werden, eine Stelle gefunden, an welcher ein Ein-
blick in die innere Struktur der Affektion möglich wird. Wir
haben erkannt, daß die Selbstvorwürfe, mit denen sich diese
Melancholiker in der erbarmungslosesten Weise quälen, eigent-
lich einer anderen Person gelten, dem Sexualobjekt, welches
sie verloren haben, oder das ihnen durch seine Schuld entwertet
worden ist. Daraus konnten wir schließen, der Melancholiker
NARZISSTISCHE IDENTIFIZIERUNG BEI MELANCHOLIE. 499
habe zwar seine Libido von dem Objekt zurückgezogen, aber
durch einen Vorgang, den man „narzißtische Identifizierung“
heißen muß, sei das Objekt im Ich selbst errichtet, gleich-
sam auf das Ich projiziert worden. Ich kann Ihnen hier nur
eine bildliche Schilderung, nicht eine topisch-dynamisch ge-
ordnete Beschreibung geben. Nun wird das eigene Ich wie das
aufgegebene Objekt behandelt und erleidet alle die Aggressionen
und Äußerungen der Rachsucht, die dem Objekt zugedacht
waren. Auch die Selbstmordneigung der Melancholiker wird
durch die Erwägung begreiflicher, daß die Erbitterung des
Kranken mit demselben Schlage das eigene Ich wie das geliebt-
gehaßte Objekt trifft. Bei der Melancholie wie bei anderen
narzißtischen Affektionen kommt in sehr ausgeprägter Weise
ein Zug des Gefühlslebens zum Vorschein, den wir seit Bleuler
als Ambivalenz zu bezeichnen gewohnt sind. Wir meinen
damit die Richtung entgegengesetzter, zärtlicher und feind-
seliger, Gefühle gegen dieselbe Person. Ich bin im Verlaufe
dieser Besprechungen leider nicht in die Lage gekommen, Ihnen
mehr von der Gefühlsambivalenz zu erzählen.
Außer der narzißtischen Identifizierung gibt es eine hyste-
rische, die uns seit sehr viel längerer Zeit bekannt ist. Ich
wollte, es wäre schon möglich, Ihnen die Verschiedenheiten der
beiden durch einige klargestellte Bestimmungen zu erläutern.
Von den periodischen und zyklischen Formen der Melancholie
kann ich Ihnen etwas mitteilen, was Sie gewiß gerne hören |
werden. Es ist nämlich unter günstigen Umständen möglich
— ich habe die Erfahrung zweimal gemacht —, durch ana-
lytische Behandlung in den freien Zwischenzeiten der Wieder-
kehr des Zustandes in der gleichen oder entgegengesetzten
Stimmungslage vorzubeugen. Man erfährt dabei, daß es sich
auch bei der Melancholie und Manie um eine besondere Art
500 XXVI ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
der Erledigung eines Konfliktes handelt, dessen Voraussetzun-
gen durchaus mit denen der anderen Neurosen übereinstimmen.
Sie können sich denken, wieviel es auf diesem Gebiete noch
für die Psychoanalyse zu erfahren gibt.
Ich sagte Ihnen auch, daß wir durch die Analyse der
narzißtischen Affektionen eine Kenntnis von der Zusammen-
setzung unseres Ichs und seinem Aufbau aus Instanzen zu ge-
winnen hoffen. An einer Stelle haben wir den Anfang dazu
gemacht. Aus der Analyse des Beobachtungswahnes haben wir
den Schluß gezogen, daß es im Ich wirklich eine Instanz gibt,
die unausgesetzt beobachtet, kritisiert und vergleicht und sich
solcherart dem anderen Anteil des Ichs entgegenstellt. Wir
meinen also, daß der Kranke uns eine noch nicht genug ge-
würdigte Wahrheit verrät, wenn er sich beklagt, daß jeder
seiner Schritte ausgespäht und beobachtet, jeder seiner Ge-
danken gemeldet und kritisiert wird. Er irrt nur darin, daß
er diese unbequeme Macht als etwas ihm Fremdes nach außen
verlegt. Er verspürt das Walten einer Instanz in seinem Ich,
welche sein aktuelles Ich und jede seiner Betätigungen an
einem Ideal-Ich mißt, das er sich im Laufe seiner Entwick-
lung geschaffen hat. Wir meinen auch, diese Schöpfung ge-
schah in der Absicht, jene Selbstzufriedenheit wiederherzustellen,
die mit dem primären infantilen Narzißmus verbunden war,
die aber seither so viel Störungen und Kränkungen erfahren
hat. Die selbstbeobachtende Instanz kennen wir als den Ich-
zensor, das Gewissen; sie ist dieselbe, die nächtlicherweile die
Traumzensur ausübt, von der die Verdrängungen gegen unzU-
lässige Wunschregungen ausgehen. Wenn sie beim Beobachtungs-
wahn zerfällt, so deckt sie uns dabei ihre Herkunft auf aus den
Einflüssen von Eltern, Erziehern und sozialer Umgebung, aus
der Identifizierung mit einzelnen dieser vorbildlichen Personen.
SCHLUSS AUS DEM BEOBACHTUNGSWAHN. 501
Dies wären einige der Ergebnisse, welche uns die An-
wendung der Psychoanalyse auf die narzißtischen Affektionen
bisher geliefert hat. Es sind gewiß noch zu wenige, und sie
entbehren oft noch jener Schärfe, die erst durch sichere Ver-
trautheit auf einem neuen Gebiete erreicht werden kann. Wir
verdanken sie alle der Ausnützung des Begriffes der Ichlibido
oder narzißtischen Libido, mit dessen Hilfe wir die Auffas-
sungen, die sich bei den Übertragungsneurosen bewährt haben,
auf die narzißtischen Neurosen erstrecken. Nun werden Sie
aber die Frage stellen, ist es möglich, daß es uns gelingt, alle
Störungen der narzißtischen Affektionen und der Psychosen
der Libidotheorie unterzuordnen, daß wir überall den libidi-
nösen Faktor des Seelenlebens als den an der Erkrankung
schuldigen erkennen und niemals eine Abänderung in der
Funktion der Selbsterhaltungstriebe verantwortlich zu machen
brauchen? Nun, meine Damen und Herren, diese Entscheidung
scheint mir nicht dringlich und vor allem nicht spruchreif zu
sein. Wir können sie ruhig dem Fortschritt der wissenschaft-
lichen Arbeit überlassen. Ich würde mich nicht verwundern,
wenn sich das Vermögen der pathogenen Wirkung wirklich
als ein Vorrecht der libidinösen Triebe herausstellte, so daB
die Libidotheorie auf der ganzen Linie von den’ einfachsten
Aktualneurosen bis zur schwersten psychotischen Entfremdung
des Individuums ihren Triumph feiern könnte. Kennen wir
es doch als charakteristischen Zug der Libido, daß sie der
Unterordnung unter die Realität der Welt, die Ananke, wider-
strebt. Aber ich halte es für überaus wahrscheinlich, daß die
Ichtriebe durch die pathogenen Anregungen der Libido sekundär
mitgerissen und zur Funktionsstörung genötigt werden. Und
ich kann kein Scheitern unserer Forschungsrichtung darin er-
blicken, wenn uns die Erkenntnis bevorsteht, daß bei den
502 XXVI. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
schweren Psychosen die Ichtriebe selbst in primärer Weise
irregeführt werden; die Zukunft wird es, Sie wenigstens,
lehren. Lassen Sie mich aber noch für einen Moment zur Angst
zurückkehren, um eine letzte Dunkelheit, die wir dort ge-
lassen haben, zu erleuchten. Wir sagten, es stimme uns nicht
zu der sonst so gut erkannten Beziehung zwischen Angst und
Libido, daß die Realangst angesichts einer Gefahr die Äuße-
rung der Selbsterhaltungstriebe sein sollte, was sich aber doch
kaum bestreiten läßt. Wie wäre es aber, wenn der Angst-
affekt nicht von den egoistischen Ichtrieben, sondern von der
Ichlibido bestritten würde? Der Angstzustand ist doch auf
alle Fälle unzweckmäßig, und seine Unzweckmäßigkeit wird
offenkundig, wenn er einen höheren Grad erreicht. Er stört
dann die Aktion, sei es der Flucht oder der Abwehr, die
allein zweckmäßig ist und der Selbsterhaltung dient. Wenn
wir also den affektiven Anteil der Realangst der Ichlibido,
die Aktion dabei dem Icherhaltungstrieb zuschreiben, haben
wir jede theoretische Schwierigkeit beseitigt. Sie werden übri-
gens doch nicht im Ernst glauben, daß man sich flüchtet,
weil man Angst verspürt? Nein, man verspürt die Angst
und man ergreift die Flucht aus dem gemeinsamen Motiv,
das durch die Wahrnehmung der Gefahr geweckt wird. Men-
schen, die große Lebensgefahren bestanden haben, erzählen,
sie haben sich gar nicht geängstigt, bloß gehandelt, z. B. das
Gewehr auf das Raubtier angelegt, und das war gewiß das
Zweckmäßigste.
SIEBENUNDZWANZIGSTE VORLESUNG.
ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
DIE ÜBERTRAGUNG.
Meine Damen und Herren! Da wir uns jetzt dem Ab-
schluß unserer Besprechungen nähern, wird eine bestimmte Er-
wartung bei Ihnen rege werden, die Sie nicht irreführen soll.
Sie denken es sich wohl, daß ich Sie nicht durch Dick und
Dünn des psychoanalytischen Stoffes geführt habe, um Sie
am Ende zu entlassen, ohne Ihnen ein Wort von der Therapie
zu sagen, auf welcher doch die Möglichkeit beruht, überhaupt
Psychoanalyse zu treiben. Ich kann Ihnen dieses Thema auch
unmöglich vorenthalten, denn dabei sollen Sie aus der Beob-
achtung eine neue Tatsache kennen lernen, ohne welche das
Verständnis der von uns untersuchten Erkrankungen in fühl-
barster Weise unvollständig bliebe.
Ich weiß, Sie erwarten keine Anleitung in der Technik,
wie man die Analyse zu therapeutischen Zwecken ausüben soll.
Sie wollen nur im allgemeinsten wissen, auf welchem Wege
die psychoanalytische Therapie wirkt, und was sie ungefähr
leistet. Und das zu erfahren, haben Sie ein unbestreitbares
Recht. Ich will es Ihnen aber nicht mitteilen, sondern bestehe
darauf, daß Sie es selbst erraten. |
Denken Sie nach! Sie haben alles Wesentliche von den
Bedingungen der Erkrankung sowie alle die Faktoren, die bei
der erkrankten Person zur Geltung kommen, kennen gelernt.
Wo bleibt da ein Raum für eine therapeutische Einwirkung?
504 XXVII. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
Da ist zunächst die hereditäre Disposition; — wir kommen nicht
oft auf sie zu sprechen, weil sie von anderer Seite energisch
betont wird und wir nicht Neues zu ihr zu sagen haben. Aber
glauben Sie nicht, daß wir sie unterschätzen; gerade als Thera-
peuten bekommen wir ihre Macht deutlich genug zu spüren.
Jedenfalls können wir nichts an ihr ändern; sie bleibt auch
für uns etwas Gegebenes, was unserer Bemühung Schranken
setzt. Dann der Einfluß der frühen Kindererlebnisse, den wir
in der Analyse voranzustellen gewohnt sind; sie gehören der
Vergangenheit an, wir können sie nicht ungeschehen machen.
Dann all das, was wir als die „reale Versagung“ zusammen-
gefaßt haben, als das Unglück des Lebens, aus dem die Ent-
behrung an Liebe hervorgeht, die Armut, der Familienzwist,
das Ungeschick in der Ehewahl, die Ungunst der sozialen Ver-
hältnisse und die Strenge der sittlichen Anforderungen, unter
deren Druck eine Person steht. Da wären freilich Handhaben
genug für eine sehr wirksame Therapie, aber es müßte eine
Therapie sein, wie sie nach der Wiener Volkssage Kaiser Josef
geübt hat, das wohltätige Eingreifen eines Mächtigen, vor
dessen Willen Menschen sich beugen und Schwierigkeiten ver-
schwinden. Aber wer sind wir, daß wir solches Wohltun als
Mittel in unsere Therapie aufnehmen könnten? Selbst arm und
gesellschaftlich ohnmächtig, genötigt von unserer ärztlichen
Tätigkeit unseren Unterhalt zu bestreiten, sind wir nicht ein-
mal in der Lage, unsere Bemühung auch dem Mittellosen zu-
zuwenden, wie es doch andere Ärzte bei anderen Behandlungs-
methoden können. Unsere Therapie ist dafür zu zeitraubend
und zu langwierig. Aber vielleicht klammern Sie sich an eines
der angeführten Momente und glauben dort den Angriffspunkt
für unsere Beeinflussung gefunden zu haben. Wenn die sitt-
liche Beschränkung, die von der Gesellschaft gefordert wird,
DAS „SEXUELLE AUSLEBEN“, 505
ihren Anteil an der dem Kranken auferlegten Entbehrung hat,
so kann ihm ja die Behandlung den Mut oder direkt die An-
weisung geben, sich über diese Schranken hinauszusetzen, sich
Befriedigung und Genesung zu holen unter Verzicht auf die
Erfüllung eines von der Gesellschaft hochgehaltenen, doch so
oft nicht eingehaltenen Ideals. Man wird also dadurch gesund,
daß man sich sexuell ‚„auslebt“. Allerdings fällt dabei auf
die analytische Behandlung der Schatten, daß sie nicht der
allgemeinen Sittlichkeit dient. Was sie dem Einzelnen Zu-
wendet, hat sie der Allgemeinheit entzogen.
Aber, meine Damen und Herren, wer hat Sie denn so
falsch berichtet? Es ist nicht die Rede davon, daß der Rat,
sich sexuell auszuleben, in der analytischen Therapie eine
Rolle spielen könnte. Schon darum nicht, weil wir selbst ver-
kündet haben, bei den Kranken bestehe ein hartnäckiger Kon-
flikt zwischen der libidinösen Regung und der Sexualverdrän-
gung, zwischen der sinnlichen und der asketischen Richtung.
Dieser Konflikt wird dadurch nicht aufgehoben, daß man einer
dieser Richtungen zum $Sieg über die gegnerische verhilft.
Wir sehen es ja, daß beim Nervösen die Askese die Oberhand
behalten hat. Die Folge davon ist gerade, daß sich die unter-
drückte Sexualstrebung in Symptomen Luft schafft. Wenn wir
jetzt im Gegenteil der Sinnlichkeit den Sieg verschaffen wür-
den, so müßte sich die beiseite geschobene Sexualverdrängung
durch Symptome ersetzen. Keine der beiden Entscheidungen
kann den inneren Konflikt beenden, jedesmal bliebe ein Anteil
unbefriedigt. Es gibt nur wenige Fälle, in denen der Konflikt
so labil ist, daß ein Moment wie die Parteinahme des Arztes
den Ausschlag geben kann, und diese Fälle bedürfen eigentlich
keiner analytischen Behandlung. Personen, bei welchen dem
Arzt ein solcher Einfluß zufallen kann, hätten denselben Weg
506 XXVII. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
auch ohne den Arzt gefunden. Sie wissen doch, wenn ein
abstinenter junger Mann sich zum illegitimen Sexualverkehr
entschließt oder eine unbefriedigte Frau bei einem anderen
Manne Entschädigung sucht, so haben sie in der Regel nicht
auf die Erlaubnis eines Arztes oder gar des Analytikers ge-
wartet.
Man übersieht an dieser Sachlage gewöhnlich den einen
wesentlichen Punkt, daß der pathogene Konflikt der Neurotiker
nicht mit einem normalen Kampf seelischer Regungen, die auf
demselben psychologischen Boden stehen, zu verwechseln ist.
Es ist ein Widerstreit zwischen Mächten, von denen die eine
es zur Stufe des Vorbewußten und Bewußten gebracht hat,
die andere auf der Stufe des Unbewußten zurückgehalten wor-
den ist. Darum kann der Konflikt zu keinem Austrag gebracht
werden; die Streitenden kommen so wenig zu einander wie in
dem bekannten Beispiel der Eisbär und der Walfisch. Eine
wirkliche Entscheidung kann erst fallen, wenn sich die beiden
auf demselben Boden treffen. Ich denke, dies zu ermöglichen
ist die einzige Aufgabe der Therapie.
Und überdies kann ich Ihnen versichern, daß Sie falsch
berichtet sind, wenn Sie annehmen, Rat und Leitung in den
Angelegenheiten des Lebens sei ein integrierendes Stück der
analytischen Beeinflussung. Im Gegenteil, wir lehnen eine
solche Mentorrolle nach Möglichkeit ab, wollen nichts lieber
erreichen, als daß der Kranke selbständig seine Entscheidungen
treffe. In dieser Absicht fordern wir auch, daß er alle lebens-
wichtigen Entschlüsse über Berufswahl, wirtschaftliche Unter-
nehmungen, Eheschließung oder Trennung über die Dauer der
Behandlung zurückstelle und erst nach Beendigung derselben
zur Ausführung bringe. Gestehen Sie nur, das ist alles an-
ders, als Sie es sich vorgestellt haben. Nur bei gewissen sehr
KRITIK DER KONVENTIONELLEN SITTLICHKEIT. 507
m 1 70 0.0
jugendlichen oder ganz hilf- und haltlosen Personen können
wir die gewollte Beschränkung nicht durchsetzen. Bei ihnen
müssen wir die Leistung des Arztes mit der des Erziehers kom-
binieren; wir sind dann unserer Verantwortung wohl bewußt
und benehmen uns mit der notwendigen Vorsicht.
Aus dem Eifer, mit dem ich mich gegen den Vorwurf
verteidige, daß der Nervöse in der analytischen Kur zum Sich-
ausleben angeleitet wird, dürfen Sie aber nicht den Schluß
ziehen, daß wir zu Gunsten der gesellschaftlichen Sittsamkeit
auf ıhn wirken. Das liegt uns zum mindesten ebensoferne. Wir
sind zwar keine Reformer, sondern bloß Beobachter, aber wir
können nicht umhin, mit kritischen Augen zu beobachten, und
haben es unmöglich gefunden, für die konventionelle Sexual-
moral Partei zu nehmen, die Art, wie die Gesellschaft die
Probleme des Sexuallebens praktisch zu ordnen versucht, hoch
einzuschätzen. Wir können es der Gesellschaft glatt vorrech-
nen, daß das, was sie ihre Sittlichkeit heißt, mehr Opfer
kostet, als es wert ist, und daß ihr Verfahren weder auf Wahr-
haftigkeit beruht noch von Klugheit zeugt. Wir ersparen es
unseren Patienten nicht, diese Kritik mitanzuhören, wir ge-
wöhnen sie an vorurteilsfreie Erwägung der sexuellen Ange-
legenheiten wie aller anderen, und wenn sie, nach Vollendung
ihrer Kur selbständig geworden, sich aus eigenem Ermessen
zu irgend einer mittleren Position zwischen dem vollen Aus-
leben und der unbedingten Askese entschließen, fühlen wir
unser Gewissen durch keinen dieser Ausgänge belastet. Wir
sagen uns, wer die Erziehung zur Wahrheit gegen sich selbst
mit Erfolg durchgemacht hat, der ist gegen die Gefahr der
Unsittlichkeit dauernd geschützt, mag sein Maßstab der Sitt-
lichkeit auch von dem in der Gesellschaft gebräuchlichen
irgendwie abweichen. Übrigens, hüten wir uns davor, die Be-
508 XXVII. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE,
deutung der Abstinenzfrage für die Beeinflussung der Neu-
rosen zu überschätzen. Nur in einer Minderzahl kann der
pathogenen Situation der Versagung mit darauffolgender Libido-
stauung durch die Art von Sexualverkehr ein Ende gemacht
werden, die mit geringer Mühe zu erreichen ist.
Durch die Gestattung des sexuellen Auslebens können Sie
also die therapeutische Wirkung der Psychoanalyse nicht er-
klären. Sehen Sie sich nach anderem um. Ich denke, während
ich diese Ihre Mutmaßung abwies, hat eine Bemerkung von
mir Sie auf die richtige Spur geführt. Es muß wohl: die
Ersetzung des Unbewußten durch Bewußtes, die Übersetzung
des Unbewußten in Bewußtes sein, wodurch wir nützen.
Richtig, das ist es auch. Indem wir das Unbewußte zum Be-
wußten fortsetzen, heben wir die Verdrängungen auf, besei-
tigen wir die Bedingungen für die Symptombildung, verwan-
deln wir den pathogenen Konflikt in einen normalen, der irgend-
wie eine Entscheidung finden muß. Nichts anderes als diese
eine psychische Veränderung rufen wir beim Kranken her-
vor; soweit diese reicht, so weit trägt unsere Hilfeleistung. Wo
keine Verdrängung oder ein ihr analoger psychischer Vorgang
rückgängig zu machen ist, da hat auch unsere Therapie nichts
zu suchen.
Wir können das Ziel unserer Bemühung in verschiedenen
Formeln ausdrücken: Bewußtmachen des Unbewußten, Auf-
hebung der Verdrängungen, Ausfüllung der amnestischen Lücken,
das kommt alles auf das gleiche hinaus. Aber vielleicht werden
Sie von diesem Bekenntnis unbefriedigt sein. Sie haben sich
unter dem Gesundwerden eines Nervösen etwas anderes vor-
gestellt, daß er ein anderer Mensch werde, nachdem er sich
der mühseligen Arbeit einer Psychoanalyse unterzogen hat,
und dann soll das ganze Ergebnis sein, daß er etwas weniger
WIRKUNGSWEISE DER ANALYTISCHEN THERAPIE. 509
Unbewußtes und etwas mehr Bewußtes in sich hat als vor-
her. Nun Sie unterschätzen wahrscheinlich die Bedeutung
einer solchen inneren Veränderung. Der geheilte Nervöse ist
wirklich ein anderer Mensch geworden, im Grunde ist er aber
natürlich derselbe geblieben, d. h. er ist so geworden, wie er
bestenfalls unter den günstigsten Bedingungen hätte werden
können. Aber das ist sehr viele Wenn Sie dann hören, was
man alles tun muß und welcher Anstrengung es bedarf, um
jene anscheinend geringfügige Veränderung in seinem Seelen-
leben durchzusetzen, wird Ihnen die Bedeutung eines solchen
Unterschiedes im psychischen Niveau wohl glaubhaft erscheinen.
Ich schweife für einen Augenblick ab, um zu fragen, ob
Sie wissen, was man eine kausale Therapie nennt? So heißt
man nämlich ein Verfahren, welches nicht die Krankheits-
erscheinungen zum Angriffspunkt nimmt, sondern sich die Be-
seitigung der Krankheitsursachen vorsetzt. Ist nun unsere
psychoanalytische eine kausale Therapie oder nicht? Die Ant-
wort ist nicht einfach, gibt aber vielleicht Gelegenheit, uns
von dem Unwert einer solchen Fragestellung zu überzeugen.
Insoferne die analytische Therapie sich nicht die Beseitigung
der Symptome zur nächsten Aufgabe setzt, benimmt sie sich
wie eine kausale. In anderer Hinsicht können Sie sagen, sie
sei es nicht. Wir haben nämlich die Kausalverkettung längst
über die Verdrängungen hinaus verfolgt bis zu den 'Trieb-
anlagen, deren relativen Intensitäten in der Konstitution und
den Abweichungen ihres Entwicklungsganges. Nehmen Sie nun
an, es wäre uns etwa auf chemischem Wege möglich, in dies
Getriebe einzugreifen, die Quantität der jeweils vorhandenen
Libido zu erhöhen oder herabzusetzen oder den einen Trieb
auf Kosten eines anderen zu verstärken, so wäre dies eine
im eigentlichen Sinne kausale Therapie, für welche unsere
5i0 XXVII. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE,
Analyse die unentbehrliche Vorarbeit der Rekognoszierung ge-
leistet hätte. Von solcher Beeinflussung der Libidovorgänge
ist derzeit, wie Sie wissen, keine Rede; mit unserer psy-
chischen Therapie greifen wir an einer anderen Stelle des
‘ Zusammenhanges an, nicht gerade an den uns ersichtlichen
‚Wurzeln der Phänomene, aber doch weit genug weg von den
Symptomen, an einer Stelle, die uns durch sehr merkwürdige
Verhältnisse zugänglich geworden ist.
Was müssen wir also tun, um das Unbewußte bei unserem
Patienten durch Bewußtes zu ersetzen? Wir haben einmal ge-
meint, das ginge ganz einfach, wir brauchten nur dies Un-
bewußte zu erraten und es ihm vorzusagen. Aber wir wissen
schon, das war ein kurzsichtiger Irrtum. Unser Wissen um
das Unbewußte ist nicht gleichwertig mit seinem Wissen; wenn
wir ihm unser Wissen mitteilen, so hat er es nicht an Stelle
seines Unbewußten, sondern neben demselben, und es ist sehr
wenig geändert. Wir müssen uns vielmehr dieses Unbewußte
topisch vorstellen, müssen es in seiner Erinnerung dort auf-
suchen, wo es durch eine Verdrängung zu stande gekommen
ist. Diese Verdrängung ist zu beseitigen, dann kann sich der
Ersatz des Unbewußten durch Bewußtes glatt vollziehen. Wie
hebt man nun eine solche Verdrängung auf? Unsere Aufgabe
tritt hier in eine zweite Phase. Zuerst das Aufsuchen der Ver-
drängung, dann die Beseitigung des Widerstandes, welcher diese
Verdrängung aufrecht hält.
Wie schafft man den Widerstand weg? In der nämlichen
‚Weise: indem man ihn errät und dem Patienten vorhält. Der
‚Widerstand stammt ja auch aus einer Verdrängung, aus der
nämlichen, die wir zu lösen suchen, oder aus einer früher vor-
gefallenen. Er wird ja von der Gegenbesetzung hergestellt, die
sich zur Verdrängung der anstößigen Regung erhob. Wir tun
SSR DYNAMIK DER THERAPEUTISCHEN ARBEIT. 5li
also jetzt dasselbe, was wir schon anfangs tun; wollten, deuten,
erraten und es mitteilen; aber wir tun es jetzt an der rich-
tigen Stelle. Die Gegenbesetzung oder der Widerstand gehört
nicht dem Unbewußten, sondern dem Ich an, welches unser
Mitarbeiter ist, und dies selbst, wenn sie nicht bewußt sein
sollte. Wir wissen, es handelt sich hier um den Doppelsinn
des Wortes „unbewußt‘, einerseits als Phänomen, anderseits als
System. Das scheint sehr schwierig und dunkel; aber nicht
wahr, es ist doch nur Wiederholung? Wir sind längst darauf
vorbereitet. — Wir erwarten, daß dieser Widerstand aufgegeben,
die Gegenbesetzung eingezogen werden wird, wenn wir dem
Ich die Erkenntnis desselben durch unsere Deutung ermöglicht
haben. Mit welchen Triebkräften arbeiten wir denn in einem
solchen Falle? Erstens mit dem Streben des Patienten gesund
zu werden, das ihn bewogen hat, sich in die gemeinschaftliche
Arbeit mit uns zu fügen, und zweitens mit der Hilfe seiner
Intelligenz, welche wir durch unsere Deutung unterstützen.
Es ist kein Zweifel, daß die Intelligenz des Kranken es leichter
hat, den Widerstand zu erkennen und die dem Verdrängten
entsprechende Übersetzung zu finden, wenn wir ihr die dazu
passenden Erwartungsvorstellungen gegeben haben. Wenn ich
Ihnen sage: schauen Sie auf den Himmel, da ist ein Luft-
ballon zu sehen, so werden Sie ihn auch viel leichter finden,
als wenn ich Sie bloß auffordere hinaufzuschauen, ob Sie
irgend etwas entdecken. Auch der Student, der die ersten
Male ins Mikroskop guckt, wird vom Lehrer unterrichtet, was
er sehen soll, sonst sieht er es überhaupt nicht, obwohl es
da und sichtbar ist.
Und nun die Tatsache. Bei einer ganzen Anzahl von
Formen nervöser Erkrankung, bei den Hysterien, Angstzustän-
den, Zwangsneurosen trifft unsere Voraussetzung zu. Durch
Freud, Vorlesungen. 311. 33
512 XXVII. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
solches Aufsuchen der Verdrängung, Aufdecken der Wider-
stände, Andeuten des Verdrängten gelingt es wirklich, die Auf.
gabe zu lösen, also die Widerstände zu überwinden, die Ver-
drängung aufzuheben und das Unbewußte in Bewußtes zu ver-
wandeln. Dabei gewinnen wir den klarsten Eindruck davon,
wie sich um die Überwindung eines jeden Widerstandes ein
heftiger Kampf in der Seele des Patienten abspielt, ein nor-
maler Seelenkampf auf gleichem psychologischem Boden zwi-
schen den Motiven, welche die Gegenbesetzung aufrechthalten
wollen, und denen, die bereit sind, sie aufzugeben. Die ersteren
sind die alten Motive, die seinerzeit die Verdrängung durch-
gesetzt haben; unter den letzteren befinden sich die neu hinzu-
gekommenen, die hoffentlich den Konflikt in unserem Sinne
entscheiden werden. Es ist uns gelungen, den alten Ver-
drängungskonflikt wieder aufzufrischen, den damals erledigten
Prozeß zur Revision zu bringen. Als neues Material bringen
wir erstens hinzu die Mahnung, daß die frühere Entscheidung
zur Krankheit geführt hat, und das Versprechen, daß eine
andere den Weg zur Genesung bahnen wird, zweitens die groß-
artige Veränderung aller Verhältnisse seit dem Zeitpunkt jener
ersten Abweisung. Damals war das Ich schwächlich, infantil,
und hatte vielleicht Grund, die Libidoforderung als Gefahr
zu ächten. Heute ist es erstarkt und erfahren und hat über-
dies in dem Arzt einen Helfer zur Seite. So dürfen wir er-
warten, den aufgefrischten Konflikt zu einem besseren Ausgang
als dem in Verdrängung zu leiten, und wie gesagt, bei den
Hysterien, Angst- und Zwangsneurosen gibt der Erfolg uns
prinzipiell recht.
Nun gibt es aber andere Krankheitsformen, bei denen
trotz der Gleichheit der Verhältnisse unser therapeutisches Vor-
gehen niemals Erfolg bringt. Es hat sich auch bei ihnen um
ERFOLGLOSIGKEIT DER THERAPIE BEI GEWISSEN FORMEN. 513
einen ursprünglichen Konflikt zwischen dem Ich und der
Libido gehandelt, der zur Verdrängung geführt hat — mag
diese auch topisch anders zu charakterisieren sein —, es ist
auch hier möglich, die Stellen aufzuspüren, an denen im Leben
des Kranken die Verdrängungen vorgefallen sind, wir wenden
das nämliche Verfahren an, sind zu denselben Versprechungen
bereit, leisten dieselbe Hilfe durch Mitteilung von Erwartungs-
vorstellungen, und wiederum läuft die Zeitdifferenz zwischen
der Gegenwart und jenen Verdrängungen zu Gunsten eines
anderen Ausganges des Konflikts. Und doch gelingt es uns
nicht, einen Widerstand aufzuheben oder eine Verdrängung zu
beseitigen. Diese Patienten, Paranoiker, Melancholiker, mit
Dementia praecox Behaftete, bleiben im ganzen ungerührt und
gegen die psychoanalytische Therapie gefeit. Woher kann das
kommen? Nicht von dem Mangel an Intelligenz; ein gewisses
Maß von intellektueller Leistungsfähigkeit wird bei unseren Pa-
tienten natürlich erforderlich sein, aber daran fehlt es z. B.
den so scharfsinnig kombinierenden Paranoikern sicherlich nicht.
Auch von den anderen Triebkräften können wir keine vermissen.
Die Melancholiker z. B. haben das Bewußtsein, krank zu sein
und darum so schwer zu leiden, das den Paranoikern abgeht,
in sehr hohem Maße, aber sie sind darum nicht zugänglicher.
Wir stehen hier vor einer Tatsache, die wir nicht verstehen,
und die uns darum auch zweifeln heißt, ob wir den möglichen
Erfolg bei den anderen Neurosen wirklich in all seinen Bedin-
gungen verstanden haben.
Bleiben wir bei der Beschäftigung mit unseren Hyste-
rikern und Zwangsneurotikern, so tritt uns alsbald eine zweite
Tatsache entgegen, auf die wir in keiner Weise vorbereitet
waren. Nach einer Weile müssen wir nämlich bemerken, daß
diese Kranken sich gegen uns in ganz besonderer Art be-
33#
514 XXVII. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
nehmen. Wir glaubten ja, uns von allen bei der Kur in Be-
tracht kommenden Triebkräften Rechenschaft gegeben zu haben,
die Situation zwischen uns und dem Patienten voll rationa-
lisiert zu haben, so daß sie sich übersehen läßt wie ein Rechen-
exempel, und dann scheint sich doch etwas einzuschleichen, was
in dieser Rechnung nicht in Anschlag gebracht worden ist.
Dieses unerwartete Neue ist selbst vielgestaltig, ich werde zu-
nächst die häufigere und leichter verständliche seiner Er-
scheinungsformen beschreiben.
Wir bemerken also, daß der Patient, der nichts anderes
suchen soll als einen Ausweg aus seinen Leidenskonflikten, ein
besonderes Interesse für die Person des Arztes entwickelt. Alles,
was mit dieser Person zusammenhängt, scheint ihm bedeutungs-
voller zu sein als seine eigenen Angelegenheiten und ihn von
seinem Kranksein abzulenken. Der Verkehr mit ihm gestaltet
sich demnach für eine Weile sehr angenehm; er ist besonders
verbindlich, sucht sich, wo er kann, dankbar zu erweisen, zeigt
Feinheiten und Vorzüge seines Wesens, die wir vielleicht nicht
bei ihm gesucht hätten. Der Arzt faßt dann auch eine gün-
stige Meinung vom Patienten und preist den Zufall, der ihm
gestattet hat, gerade einer besonders wertvollen Persönlichkeit
Hilfe zu leisten. Hat der Arzt Gelegenheit, mit Angehörigen
des Patienten zu sprechen, so hört er mit Vergnügen, daß dies
Gefallen gegenseitig ist. Der Patient wird zu Hause nicht
müde, den Arzt zu loben, immer neue Vorzüge an ihm zu
rühmen. „Er schwärmt für Sie, er vertraut Ihnen blind;
alles, was Sie sagen, ist für ihn wie eine Offenbarung“, er-
zählen die Angehörigen. Hie und da sieht einer aus diesem
Chorus schärfer und äußert: Es wird schon langweilig, wie
er von nichts anderem spricht als von Ihnen und immer nur
Sie im Munde führt.
DAS TATSÄCHLICHE DER „ÜBERTRAGUNG“, 515
Wir wollen hoffen, daß der Arzt bescheiden genug ist,
diese Schätzung seiner Persönlichkeit durch den Patienten auf
die Hoffnungen zurückzuführen, die er ihm machen kann, und
auf die Erweiterung seines intellektuellen Horizonts durch die
überraschenden und befreienden Eröffnungen, die die Kur mit
sich bringt. Die Analyse macht unter diesen Bedingungen auch
prächtige Fortschritte, der Patient versteht, was man ihm an-
deutet, vertieft sich in die Aufgaben, die ihm von der Kur
gestellt werden, das Material von Erinnerungen und Einfällen
strömt ihm reichlich zu, er überrascht den Arzt durch die
Sicherheit und Triftigkeit seiner Deutungen, und dieser kann
nur mit Genugtuung feststellen, wie bereitwillig ein Kranker
alle die psychologischen Neuheiten aufnimmt, die bei den Ge-
sunden in der Welt draußen den erbittertsten ‘Widerspruch
zu erregen pflegen. Dem guten Einvernehmen während
der analytischen Arbeit entspricht auch eine objektive,
von allen Seiten anerkannte Besserung des Krankheits-
zustan des. |
So schönes Wetter kann es aber nicht immer geben. Eines
Tages trübt es sich. Es stellen sich Schwierigkeiten in der Be-
handlung ein; der Patient behauptet, es falle ihm nichts mehr
ein. Man hat den deutlichsten Eindruck, daß sein Interesse
nicht mehr bei der Arbeit ist, und daß er sich leichten Sinnes
über die ihm gegebene Vorschrift hinaussetzt, alles zu sagen,
was ihm durch den Sinn fährt, und keiner kritischen Abhaltung
dagegen nachzugeben. Er benimmt sich wie außerhalb der Kur,
so, als ob er jenen Vertrag mit dem Arzt nicht abgeschlossen
hätte; er ist offenbar von etwas eingenommen, was er aber
für sich behalten will. Das ist eine für die Behandlung ge-
fährliche Situation. Man steht unverkennbar vor einem ge-
waltigen Widerstand. Aber was ist da vorgefallen?
516 XXVII. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
Wenn man im stande ist, die Situation wieder zu klären,
so erkennt man als die Ursache der Störung, daß der Patient
intensive zärtliche Gefühle auf den Arzt übertragen hat, zu
denen ihn weder das Benehmen des Arztes, noch die in der
Kur entstandene Beziehung berechtigt. In welcher Form sich
diese Zärtlichkeit äußert und welche Ziele sie anstrebt, das
hängt natürlich von den persönlichen Verhältnissen der beiden
Beteiligten ab. Handelt es sich um ein junges Mädchen und
einen jüngeren Mann, so werden wir den Eindruck einer nor-
malen Verliebtheit bekommen, werden es begreiflich finden,
daß sich ein Mädchen in einen Mann verliebt, mit dem sie
viel allein sein und Intimes besprechen kann, der ihr in der
vorteilhaften Position des überlegenen Helfers entgegentritt,
und werden darüber wahrscheinlich übersehen, daß bei dem
neurotischen Mädchen eher eine Störung der Liebesfähigkeit
zu erwarten wäre. Je weiter sich dann die persönlichen Ver-
hältnisse von Arzt und Patient von diesem angenommenen Fall
entfernen, desto mehr wird es uns befremden, wenn wir trotz-
dem immer wieder dieselbe Gefühlsbeziehung hergestellt fin-
den. Es mag noch angehen, wenn die junge, in der Ehe un-
glückliche Frau von einer ernsten Leidenschaft für ihren
selbst noch freien Arzt erfaßt scheint, wenn sie bereit ist,
die Scheidung ihrer Ehe anzustreben, um ihm anzugehören,
oder im Falle sozialer Hemmnisse selbst kein Bedenken äußert,
ein heimliches Liebesverhältnis mit ihm einzugehen. Der-
gleichen kommt ja auch sonst außerhalb der Psychoanalyse vor.
Man hört nun aber unter diesen Umständen mit Erstaunen
Äußerungen von seiten der Frauen und Mädchen, welche eine
ganz bestimmte Stellungnahme zum therapeutischen Problem
bekunden: Sie hätten immer gewußt, daß sie nur durch die
Liebe gesund werden können, und von Beginn der Behandlung
DIE ÜBERTRAGUNG ALS WIDERSTAND. | 517
an erwartet, daß ihnen durch diesen Verkehr endlich geschenkt
werde, was ihnen das Leben bisher vorenthalten. Nur dieser
Hoffnung wegen hätten sie sich so viel Mühe in der Kur ge-
geben und alle Schwierigkeiten der Mitteilung überwunden.
‚Wir werden für uns hinzusetzen: und alles, was sonst zu
glauben schwer fällt, so leicht verstanden. Aber ein solches
Geständnis überrascht uns; es wirft unsere Berechnungen über
den Haufen. Könnte es sein, daß wir den wichtigsten Posten
aus unserem Ansatz weggelassen haben?
Und wirklich, je weiter wir in der Erfahrung kommen,
desto weniger können wir dieser für unsere Wissenschaftlichkeit
beschämenden Korrektur widerstreben. Die ersten Male konnte
man etwa glauben, die analytische Kur sei auf eine Störung
durch ein zufälliges, d. h. nicht in ihrer Absicht liegendes
und von ihr nicht hervorgerufenes Ereignis gestoßen. Aber
wenn sich eine solche zärtliche Bindung des: Patienten an den
Arzt regelmäßig bei jedem neuen Falle wiederholt, wenn sie
unter den ungünstigsten Bedingungen, bei geradezu grotesken
Mißverhältnissen immer wieder zum Vorschein kommt, auch
bei der gealterten Frau, auch gegen den graubärtigen Mann,
auch dort, wo nach unserem Urteil keinerlei Verlockungen be-
stehen, dann müssen wir doch die Idee eines störenden Zufalles
aufgeben und erkennen, daß es sich um ein Phänomen handelt,
welches mit dem Wesen des Krankseins selbst im Innersten
zusammenhängt.
Die neue Tatsache, welche wir also widerstrebend aner-
kennen, heißen wir die Übertragung. Wir meinen eine
Übertragung von Gefühlen auf die Person des Arztes, weil
wir nicht glauben, daß die Situation der Kur eine Ent-
stehung solcher Gefühle rechtfertigen könne. Vielmehr ver-
muten wir, daß die ganze Gefühlsbereitschaft anderswoher
518 XXVII. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
stammt, in der Kranken vorbereitet war und bei der, Ge-
legenheit der analytischen Behandlung auf die Person des
Arztes übertragen wird. Die Übertragung kann als stürmische
Liebesforderung auftreten oder in gemäßigteren Formen; an
Stelle des Wunsches, Geliebte zu sein, kann zwischen dem jun-
gen Mädchen und dem alten Mann der Wunsch auftauchen,
als bevorzugte Tochter angenommen zu werden, das libidinöse
Streben kann sich zum Vorschlag einer unzertrennlichen, aber
ideal unsinnlichen Freundschaft mildern. Manche Frauen ver-
stehen es, die Übertragung zu sublimieren und an ihr zu
modeln, bis sie eine Art von Existenzfähigkeit gewinnt; an-
dere müssen sie in ihrer rohen, ursprünglichen, zumeist un-
möglichen Gestalt äußern. Aber es ist im Grunde immer das
gleiche und läßt die Herkunft aus derselben Quelle nie ver-
kennen.
Ehe wir uns fragen, wo wir die neue Tatsache der Über-
tragung unterbringen wollen, wollen wir ihre Beschreibung
vervollständigen. Wie ist es denn bei männlichen Patienten?
Da dürfte man doch hoffen, der lästigen Einmengung der
Geschlechtsverschiedenheit und Geschlechtsanziehung zu ent-
gehen. Nun nicht viel anders als bei weiblichen, muß die Ant:
wort lauten. Dieselbe Bindung an den Arzt, dieselbe Über-
schätzung seiner Eigenschaften, das nämliche Aufgehen in
dessen Interessen, die gleiche Eifersucht gegen alle, die ihm
im Leben nahestehen. Die sublimierten Formen der Über-
tragung sind zwischen Mann und Mann in dem Maße .häu-
figer und die direkte Sexualforderung seltener, in welchem
die manifeste Homosexualität gegen die anderen Verwendungen
dieser Triebkomponente zurücktritt. Bei seinen männlichen
Patienten beobachtet der Arzt auch häufiger als bei Frauen
eine Erscheinungsform der Übertragung, welche auf den ersten
DIE NEGATIVE ÜBERTRAGUNG. 519
Blick allem bisher Beschriebenen zu widersprechen scheint, die
feindselige oder negative Übertragung.
Machen wir uns zunächst klar, daß die Übertragung sich
vom Anfang der Behandlung an beim Patienten ergibt und
eine Weile die stärkste Triebfeder der Arbeit darstellt. Man
verspürt nichts von ihr und braucht sich auch nicht um sie
zu bekümmern, solange sie zu Gunsten der gemeinsam betrie-
benen Analyse wirkt. Wandelt sie sich dann zum Widerstand,
so muß man ihr Aufmerksamkeit zuwenden und erkennt, daß
sie unter zwei verschiedenen und entgegengesetzten Bedin-
gungen ihr Verhältnis zur Kur geändert hat, erstens wenn
sie als zärtliche Neigung so stark geworden ist, so deutlich
die Zeichen ihrer Herkunft aus dem Sexualbedürfnis verraten
hat, daß sie ein inneres Widerstreben gegen sich wachrufen
muß, und zweitens, wenn sie aus feindseligen anstatt aus zärt-
lichen Regungen besteht. Die feindseligen Gefühle kommen
in der Regel später als die zärtlichen und hinter ihnen zum
Vorschein; in ihrem gleichzeitigen Bestand ergeben sie eine
gute Spiegelung der Gefühlsambivalenz, welche in den meisten
unserer intimen Beziehungen zu anderen Menschen herrscht.
Die feindlichen G:fühle bedeuten ebenso eine Gefühlsbindung
wie die zärtlichen, ebenso wie der Trotz dieselbe Abhängigkeit
bedeutet wie der Gehorsam, wenn auch mit entgegengesetztem
Vorzeichen. Daß die feindlichen Gefühle gegen den Arzt den
Namen einer „Übertragung“ verdienen, kann uns nicht zweifel-
haft sein, denn zu ihrer Entstehung gibt die Situation der Kur
gewiß keinen zureichenden Anlaß; die notwendige Auffassung
der; negativen Übertragung versichert uns so, daß wir in der Be-
urteilung der positiven oder zärtlichen nicht irregegangen sind.
‘Woher die Übertragung stammt, welche Schwierigkeiten
sie uns bereitet, wie wir sie überwinden, und welchen Nutzen
520 XXVII. ALLGEMEINE NEUROSENLERHRE.
——
wir schließlich. aus ihr ziehen, das ist ausführlich in einer
technischen Unterweisung zur Analyse zu behandeln und soll
heute von mir nur gestreift werden. Es ist ausgeschlossen, daß
wir den aus der Übertragung folgenden Forderungen des Pa-
tienten nachgeben, es wäre widersinnig, sie unfreundlich oder
gar entrüstet abzuweisen; wir überwinden die Übertragung,
indem wir dem Kranken nachweisen, daß seine Gefühle nicht
aus der gegenwärtigen Situation stammen und nicht der Person
des Arztes gelten, sondern, daß sie wiederholen, was bei ihm
bereits früher einmal vorgefallen ist. Auf solche Weise nötigen
wir ihn, seine Wiederholung in Erinnerung zu verwandeln. Dann
wird die Übertragung, die, ob zärtlich oder feindselig, in jedem
Falle die stärkste Bedrohung der Kur zu bedeuten schien, zum
besten Werkzeug derselben, mit dessen Hilfe sich die ver-
schlossensten Fächer des Seelenlebens eröffnen lassen. Ich
möchte Ihnen aber einige Worte sagen, um Sie von dem Be-
fremden über das Auftreten dieses unerwarteten Phänomens
zu befreien. Wir wollen doch nicht daran vergessen, daß die
Krankheit des Patienten, den wir zur Analyse übernehmen,
nichts Abgeschlossenes, Erstarrtes ist, sondern weiterwächst
und ihre Entwicklung fortsetzt wie ein lebendes Wesen. Der
Beginn der Behandlung macht dieser Entwicklung kein Ende,
aber wenn die Kur sich erst des Kranken bemächtigt hat,
dann ergibt es sich, daß die gesamte Neuproduktion der Krank-
heit sich auf eine einzige Stelle wirft, nämlich auf das Ver-
hältnis zum Arzt. Die Übertragung wird so der Cambium-
schicht zwischen Holz und Rinde eines Baumes vergleichbar,
von welcher Gewebsneubildung und Dickenwachstum des Stam-
mes ausgehen. Hat sich die Übertragung erst zu dieser Be-
deutung aufgeschwungen, so tritt die Arbeit an den Erinne-
rungen des Kranken weit zurück. Es ist dann nicht unrichtig
WÜRDIGUNG UND BEHANDLUNG DER ÜBERTRAGUNG. 521
zu sagen, daß man es nicht mehr mit der früheren Krankheit
des Patienten zu tun hat, sondern mit einer neugeschaffenen
und umgeschaffenen Neurose, welche die erstere ersetzt. Diese
Neuauflage der alten Affektion hat man von Anfang an ver-
folgt, man hat sie entstehen und wachsen gesehen und findet
sich in ihr besonders gut zurecht, weil man selbst als Objekt
in ihrem Mittelpunkt steht. Alle Symptome des Kranken haben
ihre ursprüngliche Bedeutung aufgegeben und sich auf einen
neuen Sinn eingerichtet, der in einer Beziehung zur Über-
tragung besteht. Oder es sind nur solche Symptome bestehen
geblieben, denen eine solche Umarbeitung gelingen konnte. Die
Bewältigung dieser neuen künstlichen Neurose fällt aber zu-
sammen mit der Erledigung der in die Kur mitgebrachten
Krankheit, mit der Lösung unserer therapeutischen Aufgabe.
Der Mensch, der im Verhältnis zum Arzt normal und frei
von der Wirkung verdrängter Triebregungen geworden ist,
bleibt auch so in seinem Eigenleben, wenn der Arzt sich wieder
ausgeschaltet hat.
Diese außerordentliche, für die Kur geradezu zentrale Be-
deutung hat die Übertragung bei den Hysterien, Angsthysterien
und Zwangsneurosen, die darum mit Recht als „Über-
tragungsneurosen‘ zusammengefaßt werden. Wer sich
aus der analytischen Arbeit den vollen Eindruck von der Tat-
sache der Übertragung geholt hat, der kann nicht mehr be-
zweifeln, von welcher Art die unterdrückten Regungen kind,
die sich in den Symptomen dieser Neurosen Ausdruck ver-
schaffen, und verlangt nach keinem kräftigeren Beweis für
deren libidinöse Natur. Wir dürfen sagen, unsere Überzeugung
von der Bedeutung der Symptome als libidinöse lirsatzbefrie-
digungen ist erst durch die Einreihung der Übertragung end-
gültig gefestigt worden.
522 XXVII. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
Nun haben wir aber allen Grund, unsere frühere dynamische
Auffassung des Heilungsvorganges zu verbessern und sie mit
der neuen Einsicht in Einklang zu bringen. Wenn der Kranke
den Normalkonflikt mit den Widerständen durchzukämpfen
hat, die wir ihm in der Analyse aufgedeckt haben, so bedarf
er eines mächtigen Antriebes, der die Entscheidung in dem
von uns gewünschten, zur Genesung führenden Sinne beeinflußt.
Sonst könnte es geschehen, daß er sich für die Wiederholung
des früheren Ausganges entscheidet und das ins Bewußtsein
Gehobene wieder in die Verdrängung gleiten läßt. Den Aus-
schlag in diesem Kampfe gibt dann nicht seine intellektuelle
Einsicht — die ist weder stark noch frei genug für solche
Leistung —, sondern einzig sein Verhältnis zum Arzt. Soweit
seine Übertragung vom positiven Vorzeichen ist, bekleidet sie
den Arzt mit Autorität, setzt sie sich in Glauben an seine
Mitteilungen und Auffassungen um. Ohne solche Übertragung,
oder wenn sie negativ ist, würde er den Arzt und dessen
Argumente nicht einmal zu Gehör kommen lassen. Der Glaube
wiederholt dabei seine eigene Entstehungsgeschichte; er ist ein
Abkömmling der Liebe und hat zuerst der Argumente nicht
bedurft. Erst später hat er ihnen so viel eingeräumt, daß er
sie in prüfende Betrachtung zieht, wenn sie von einer ihm
lieben Person vorgebracht werden. Argumente ohne solche
Stütze haben nicht gegolten, gelten bei den meisten Menschen
niemals im Leben etwas. Der Mensch ist also im allge-
meinen auch von der intellektuellen Seite her nur’ insoweit
zugänglich, als er der libidinösen Objektbesetzung fähıg
ist, und wir haben guten Grund, in dem Ausmaß seines
Narzißmus eine Schranke für seine Beeinflußbarkeit auch
für die beste analytische Technik zu erkennen und zu
fürchten.
GLEICHSTELLUNG VON ÜBERTRAGUNG UND SUGGESTION. 5923
Die Fähigkeit, libidinöse Objektbesetzungen auch auf
Personen zu richten, muß ja allen normalen Menschen zuge-
sprochen werden. Die Übertragungsneigung der genannten Neu-
rotiker ist nur eine außerordentliche Steigerung dieser allge-
meinen Eigenschaft. Nun wäre es doch sehr sonderbar, wenn
ein menschlicher Charakterzug von solcher Verbreitung und
Bedeutung nie bemerkt und nie verwertet worden wäre. Das
ist auch wirklich geschehen. Bernheim hat die Lehre von
den hypnotischen Erscheinungen mit unbeirrtem Scharfblick auf
den Satz begründet, daß alle Menschen irgendwie suggerierbar,
„suggestibel“ sind. Seine Suggestibilität ist nichts anderes als
die Neigung. zur Übertragung, etwas zu enge gefaßt, so daß
die negative Übertragung keinen Ranm darin fand. Aber
Bernheim konnte nie sagen, was die Suggestion eigentlich
ist und wie sie zu stande kommt. Sie war für ihn eine Grund-
tatsache, für deren Herkunft er keinen Nachweis geben konnte.
Er hat die Abhängigkeit der „Suggestibilite‘“ von der Sexua-
lität, von der Betätigung der Libido nicht erkannt. Und wir
müssen gewahr werden, daß wir in unserer Technik die Hypnose
nur aufgegeben haben, um die Suggestion in der Gestalt der
Übertragung wiederzuentdecken.
Jetzt halte ich aber ein und lasse Ihnen das Wort. Ich
merke, eine Einwendung schwillt bei Ihnen so mächtig an,
daß sie Ihnen die Fähigkeit rauben würde zuzuhören, würde
man sie nicht zu Worte kommen lassen: „Also Sie haben end-
lich zugestanden, daß Sie mit der Hilfskraft der Suggestion
arbeiten wie die Hypnotiker. Das haben wir uns ja schon
lange gedacht. Aber dann, wozu der Umweg über die Erin-
nerungen der Vergangenheit, die Aufdeckung des Unbewußten,
die Deutung und Rückübersetzung der Entstellungen, der un-
geheure Aufwand an Mühe, Zeit und Geld, wenn das einzig
524 XXVII. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
Wirksame doch nur die Suggestion ist? Warum suggerieren
Sie nicht direkt gegen die Symptome, wie es die anderen tun,
die ehrlichen Hypnotiseure? Und ferner, wenn Sie sich ent-
schuldigen wollen, auf dem Umweg, den Sie gehen, haben Sie
zahlreiche bedeutsame psychologische Funde gemacht, die sich
bei der direkten Suggestion verbergen: wer steht denn jetzt
für die Sicherheit dieser Funde ein? Sind die nicht auch ein
Ergebnis der Suggestion, der unbeabsichtigten nämlich; können
Sie denn nicht dem Kranken auch auf diesem Gebiete auf-
drängen, was Sie wollen und was Ihnen richtig scheint?“
Was Sie mir da einwerfen, ist ungemein interessant und
muß beantwortet werden. Aber heute kann ich’s nicht mehr,
es fehlt uns die Zeit. Auf nächstes Mal also. Sie werden
sehen, ich stehe Ihnen Rede. Für heute muß ich noch das
Begonnene zu Ende bringen. Ich habe versprochen, Ihnen mit
Hilfe der Tatsache der Übertragung verständlich zu machen,
warum unsere therapeutische Bemühung bei den narzißtischen
Neurosen keinen Erfolg hat.
Ich kann es mit wenigen Worten tun, und Sie werden
sehen, wie einfach sich das Rätsel löst, und wie gut alles zu-
sammenstimmt. Die Beobachtung läßt erkennen, daß die an
narzißtischen Neurosen Erkrankten keine Übertragungsfähig-
keit haben oder nur ungenügende Reste davon. Sie lehnen den
Arzt ab, nicht in Feindseligkeit, sondern in Gleichgültigkeit.
Darum sind sie auch nicht durch ihn zu beeinflussen; was
er sagt, läßt sie kalt, macht ihnen keinen Eindruck, darum
kann sich der Heilungsmechanismus, den wir bei den anderen
durchsetzen, die Erneuerung des pathogenen Konfliktes und
die Überwindung des Verdrängungswiderstandes bei ihnen
nicht herstellen. Sie bleiben, wie sie sind. Sie haben häufig
bereits Herstellungsversuche auf eigene Faust unternommen,
DIE UNZUGÄNGLICHKEIT DER NARZISSTISCHEN NEUROSEN. 525
die zu pathologischen Ergebnissen geführt haben; wir können
nichts daran ändern.
Auf Grund unserer klinischen Eindrücke von diesen Kran-
ken hatten wir behauptet, bei ihnen müsse die Objektbesetzung
aufgegeben und die Objektlibido in Ichlibido umgesetzt wor-
den sein. Durch diesen Charakter hatten wir sie von der
ersten Gruppe von Neurotikern (Hysterie, Angst- und Zwangs-
neurose) geschieden. Ihr Verhalten beim therapeutischen Ver-
such bestätigt nun diese Vermutung. Sie zeigen keine Über-
tragung und darum sind sie auch für unsere Bemühung un-
zugänglich, durch uns nicht heilbar.
a
ACHTUNDZWANZIGSTE VORLESUNG.
ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE,
DIE ANALYTISCHE THERAPIE.
Meine Damen und Herren! Sie wissen, worüber wir heute
sprechen werden. Sie haben mich gefragt, warum wir uns in
der psychoanalytischen Therapie nicht der direkten Suggestion
bedienen, wenn wir zugeben, daß unser Einfluß wesentlich
auf Übertragung, d. i. auf Suggestion, beruht, und haben
daran den Zweifel geknüpft, ob wir bei einer solchen Vor-
herrschaft der Suggestion noch für die Objektivität unserer
psychologischen Funde einstehen können. Ich habe versprochen,
Ihnen ausführliche Antwort zu geben.
Direkte Suggestion, das ist Suggestion gegen die Äuße-
rung der Symptome gerichtet, Kampf zwischen Ihrer Autorität
und den Motiven des Krankseins. Sie kümmern sich dabei um
diese Motive nicht, fordern vom Kranken nur, daß er deren
Äußerung in Symptomen unterdrücke. Es macht dann keinen
prinzipiellen Unterschied, ob Sie den Kranken in Hypnose ver-
setzen oder nicht. Bernheim hat wiederum mit.der ihn
auszeichnenden Schärfe behauptet, daß die Suggestion das
Wesentliche an den Erscheinungen des Hypnotismus sei, die
Hypnose aber selbst schon ein Erfolg der Suggestion, ein sugge-
rierter Zustand, und er hat mit Vorliebe die Suggestion im
Wachen geübt, die dasselbe leisten kann wie die Suggestion
in der Hypnose.
VORZÜGE UND NACHTEILE DER HYPNOTISCHEN THERAPIE. 527
m Ta SEE EEE Br 1 Tun DER SE ne A ee
Was wollen Sie nun in dieser Frage zuerst anhören, die
Aussagen der Erfahrung oder theoretische Überlegungen?
Beginnen wir mit der ersteren. Ich war Schüler von
Bernheim, den ich 1889 in Nancy aufgesucht und dessen
Buch über die Suggestion ich ins Deutsche übersetzt habe.
Ich habe Jahre hindurch die hypnotische Behandlung geübt,
zunächst mit Verbotsuggestion und später mit der Breuer-
schen Ausforschung des Patienten kombiniert. Ich darf also
über die Erfolge der hypnotischen oder suggestiven Therapie
aus guter Erfahrung sprechen. Wenn nach einem alten Ärzte-
wort eine ideale Therapie rasch, verläßlich und für den Kran-
ken nicht unangenehm sein soll, so erfüllte die Bernheim-
sche Methode allerdings zwei dieser Anforderungen. Sie lieb
sich viel rascher, d. h. unsagbar rascher, durchführen als die
analytische, und sie brachte dem Kranken weder Mühe noch
Beschwerden. Für den Arzt wurde es auf die Dauer — mono-
ton, bei jedem Fall in gleicher Weise, mit dem nämlichen
Zeremoniell den verschiedenartigsten Symptomen die Existenz -
zu verbieten, ohne von deren Sinn und Bedeutung etwas er-
fassen zu können. Es war eine Handlangerarbeit, keine wissen-
schaftliche Tätigkeit und erinnerte an Magie, Beschwörung
und Hokuspokus; aber das kam ja gegen das Interesse des
Kranken nicht in Betracht. Am dritten fehlte es; verläßlich
war das Verfahren nach keiner Richtung. Bei dem einen ließ
es sich anwenden, bei dem anderen nicht; bei einem gelang
vieles, beim anderen sehr wenig, man wußte nie warum. Ärger
als diese Launenhaftigkeit des Verfahrens war der Mangel an
Dauer der Erfolge. Nach einiger Zeit war, wenn man von
den Kranken wieder hörte, das alte Leiden wieder da, oder
es hatte sich durch ein neues ersetzt. Man konnte von neuem
hypnotisieren. Im Hintergrunde stand die von erfahrener Seite
Freud, Vorlesungen. III. 34
528 XXVIII. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
ausgesprochene Mahnung, den Kranken nicht durch häufige
Wiederholung der Hypnose um seine Selbständigkeit zu brin-
gen und ihn an diese Therapie zu gewöhnen wie an ein Nar-
kotikum. Zugegeben, manchmal gelang es auch ganz nach
Wunsch; nach wenigen Bemühungen hatte man vollen und
dauernden Erfolg. Aber die Bedingungen eines so günstigen
Ausganges blieben unbekannt. Einmal geschah es mir, daß
ein schwerer Zustand, den ich durch kurze hypnotische Be-
handlung gänzlich beseitigt hatte, unverändert wiederkehrte,
nachdem mir die Kranke ohne mein Dazutun gram geworden
war, daß ich ihn nach der Versöhnung von neuem und weit
gründlicher zum Verschwinden brachte, und daß er doch wie-
derkam, nachdem sie sich mir ein zweites Mal entfremdet
hatte. Ein andermal erlebte ich, daß eine Kranke, der ich
wiederholt von nervösen Zuständen durch Hypnose geholfen
hatte, mir während der Behandlung eines besonders hart-
näckigen Zufalles plötzlich die Arme um den Hals schlang.
Das nötigte einen doch, sich mit der Frage nach Natur und
Herkunft seiner suggestiven Autorität, ob man wollte oder
nicht, zu beschäftigen.
Soweit die Erfahrungen. Sie zeigen uns, daß wir mit dem
Verzicht auf die direkte Suggestion nichts Unersetzliches auf-
gegeben haben. Nun lassen Sie uns einige Erwägungen daran
knüpfen. Die Ausübung der hypnotischen Therapie legt dem
Patienten wie dem Arzt nur eine sehr geringfügige Arbeits-
leistung auf. Diese Therapie ist in schönster Übereinstimmung
mit einer Einschätzung der Neurosen, zu der sich noch die
Mehrzahl der Ärzte bekennt. Der Arzt sagt dem Nervösen:
Es fehlt Ihnen ja nichts, es ist nur nervös, und darum kann
ich auch Ihre Beschwerden mit einigen Worten in wenigen
Minuten wegblasen. Es widerstrebt aber unserem energetischen
UNTERSCHIEDE ZWISCHEN HYPNOT. UND ANALYT. THERAPIE. 599
Denken, daß man durch eine winzige Kraftanstrengung eine
große Last sollte bewegen können, wenn man sie direkt und
ohne Hilfe geeigneter Vorrichtungen angreift. Soweit die Ver-
hältnisse vergleichbar sind, lehrt auch. die Erfahrung, daß
dieses Kunststück bei den Neurosen nicht gelingt. Ich weiß
aber, dieses Argument ist nicht unangreifbar; es gibt auch
„Auslösungen“. |
Im Lichte der Erkenntnis, welche wir aus der Psychoanalyse
gewonnen haben, können wir den Unterschied zwischen der
hypnotischen und der psychoanalytischen Suggestion in folgender
Art beschreiben : Die hypnotische Therapie sucht etwas im Seelen-
leben zu verdecken und zu übertünchen, die analytische etwas
freizulegen und zu entfernen. Die erstere arbeitet wie eine
Kosmetik, die letztere wie eine Chirurgie. Die erstere benützt
die Suggestion, um die Symptome zu verbieten, sie verstärkt
die Verdrängungen, läßt aber sonst alle Vorgänge, die zur
Symptombildung geführt haben, ungeändert. Die analytische
Therapie greift weiter wurzelwärts an, bei den Konflikten,
aus denen die Symptome hervorgegangen sind, und bedient sich
der Suggestion, um den Ausgang dieser Konflikte abzuändern.
Die hypnotische Therapie läßt den Patienten untätig und un-
geändert, darum auch in gleicher Weise widerstandslos gegen
jeden neuen Anlaß zur Erkrankung. Die analytische Kur legt
dem Arzt wie dem Kranken schwere Arbeitsleistung auf, die
zur Aufhebung innerer Widerstände verbraucht wird. Durch
die Überwindung dieser Widerstände wird das Seelenleben des
Kranken dauernd verändert, auf eine höhere Stufe der Ent-
wicklung gehoben und bleibt gegen neue Erkrankungsmöglich-
keiten geschützt. Diese Überwindungsarbeit ist die wesentliche
Leistung der analytischen Kur, der Kranke hat sie zu voll-
ziehen, und der Arzt ermöglicht sie ihm durch die Beihilfe
34*
530 XXVIO. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
der im Sinne einer Erziehung wirkenden Suggestion. Man
hat darum auch mit Recht gesagt, die psychoanalytische Be-
handlung sei eine Art von Nacherziehung.
Ich hoffe, Ihnen nun klar gemacht zu haben, worin sich
unsere Art, die Suggestion therapeutisch zu verwenden, von
der bei der hypnotischen Therapie allein möglichen unter-
scheidet. Sie verstehen auch durch die Zurückführung der
Suggestion auf die Übertragung die Launenhaftigkeit, die uns
an der hypnotischen Therapie auffiel, während die analytische
bis zu ihren Schranken berechenbar bleibt. Bei der Anwendung
der Hypnose sind wir von dem Zustande der Übertragungs-
fähigkeit des Kranken abhängig, ohne daß wir auf diese selbst
einen Einfluß üben könnten. Die Übertragung des zu Hypno-
tisierenden mag negativ oder, wie zu allermeist, ambivalent
sein, er kann sich durch besondere Einstellungen gegen seine
Übertragung geschützt haben; wir erfahren nichts davon.
In der Psychoanalyse arbeiten wir an der Übertragung selbst,
lösen auf, was ihr entgegensteht, richten uns das Instru-
ment zu, mit dem wir einwirken wollen. So wird es uns
möglich, aus der Macht der Suggestion einen ganz anderen
Nutzen zu ziehen; wir bekommen sie in die Hand; nicht der
Kranke suggeriert sich allein, wie es in seinem Belieben steht,
sondern wir lenken seine Suggestion, soweit er ihrem Einfluß
überhaupt zugänglich ist.
Nun werden Sie sagen, gleichgültig, ob wir die treibende
Kraft unserer Analyse Übertragung oder Suggestion heißen, es
besteht doch die Gefahr, daß die Beeinflussung des Patienten
die objektive Sicherheit unserer Befunde zweifelhaft macht. Was
der Therapie zu gute kommt, bringt die Forschung zu Schaden.
Es ist dies die Einwendung, welche am häufigsten gegen die
Psychoanalyse erhoben worden ist, und man muß zugestehen,
DIE ZWEIFEL AN DER OBJEKTIVITÄT DER ANALYT. RESULTATE. 531
———
wenn sie auch unzutreffend ist, so kann man sie doch nicht als
unverständig abweisen. Wäre sie aber berechtigt, so würde die
Psychoanalyse doch nichts anderes als eine besonders gut ver-
kappte, besonders wirksame Art der Suggestionsbehandlung sein,
und wir dürften alle ihre Behauptungen über Lebenseinflüsse,
psychische Dynamik, Unbewußtes, leicht nehmen. So meinen es
auch die Gegner; besonders alles, was sich auf die Bedeutung
der sexuellen Erlebnisse bezieht,. wenn nicht gar diese selbst,
sollen wir den Kranken „eingeredet“ haben, nachdem uns in
der eigenen verderbten Phantasie solche Kombinationen gewach-
sen sind. Die Widerlegung dieser Anwürfe gelingt leichter durch
die Berufung auf die Erfahrung als mit Hilfe der Theorie. Wer
selbst Psychoanalysen ausgeführt hat, der konnte sich unge-
zählte Male davon überzeugen, daß es unmöglich ist, den Kran-
ken in solcher Weise zu suggerieren. Es hat natürlich keine
Schwierigkeit, ihn zum Anhänger einer gewissen Theorie zu
machen und ihn so auch an einem möglichen Irrtum des Arztes
teilnehmen zu lassen. Er verhält sich dabei wie ein anderer,
wie ein Schüler, aber man hat dadurch auch nur seine Intelligenz,
nicht seine Krankheit beeinflußt. Die Lösung seiner Konflikte
und die Überwindung seiner Widerstände glückt doch nur, wenn
man ihm solche Erwartungsvorstellungen gegeben hat, die mit
der Wirklichkeit in ihm übereinstimmen. Was an den Ver-
mutungen des Arztes unzutreffend war, das fällt im Laufe der
Analyse wieder heraus, muß zurückgezogen und durch Rich-
tigeres ersetzt werden. Durch eine sorgfältige Technik sucht
man das Zustandekommen von vorläufigen Suggestionserfolgen
zu verhüten; aber es ist auch unbedenklich, wenn sich solche
einstellen, denn man begnügt sich nicht mit dem ersten Erfolg.
Man hält die Analyse nicht für beendigt, wenn nicht die Dunkel-
heiten des Falles aufgeklärt, die Erinnerungslücken ausgefüllt,
532 XXVIH. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
die Gelegenheiten der Verdrängungen aufgefunden sind. Man
erblickt in Erfolgen, die sich zu früh einstellen, eher Hinder-
nisse als Förderungen der analytischen Arbeit und zerstört diese
Erfolge wieder, indem man die Übertragung, auf der sie be-
ruhen, immer wieder auflöst. Im Grunde ist es dieser letzte Zug,
welcher die analytische Behandlung von der rein suggestiven
scheidet und die analytischen Ergebnisse von dem Verdacht be-
freit, suggestive Erfolge zu sein. Bei jeder anderen suggestiven
Behandlung wird die Übertragung sorgfältig geschont, unbe-
rührt gelassen; bei der analytischen ist sie selbst Gegenstand
der Behandlung und wird in jeder ihrer Erscheinungsformen
zersetzt. Zum Schlusse einer analytischen Kur muß die Über-
tragung selbst abgetragen sein, und wenn der Erfolg jetzt sich
einstellt oder erhält, so beruht er nicht auf der Suggestion,
sondern auf der mit ihrer Hilfe vollbrachten Leistung der Über-
windung innerer Widerstände, auf der in dem Kranken er-
zielten inneren Veränderung.
Der Entstehung von Einzelsuggestionen wirkt wohl ent-
gegen, daß wir während der Kur unausgesetzt gegen Widerstände
anzukämpfen haben, die sich in negative (feindselige) Über-
tragungen zu verwandeln wissen. Wir werden es auch nicht
versäumen, uns darauf zu berufen, daß eine große Anzahl von
Einzelergebnissen der Analyse, die man sonst als Produkte der
Suggestion verdächtigen würde, uns von anderer einwandireier
Seite bestätigt werden. Unsere Gewährsmänner sind in diesem
Falle die Dementen und Paranoiker, die über den Verdacht
suggestiver Beeinflussung natürlich hoch erhaben sind. Was
uns diese Kranken an Symbolübersetzungen und Phantasien er-
zählen, die bei ihnen zum Bewußtsein durchgedrungen sind,
deckt sich getreulich mit den Ergebnissen unserer Untersuchun-
gen an dem Unbewußten der Übertragungsneurotiker und be-
HEILUNGSMECHANISMUS IN DEN FORMELN D. LIBIDOTHEORIE. 533
kräftigt so die objektive Richtigkeit unserer oft bezweifelten
Deutungen. Ich glaube, Sie werden nicht irre gehen, wenn Sie
in diesen Punkten der Analyse Ihr Zutrauen schenken.
Wir wollen jetzt unsere Darstellung vom Mechanismus der
Heilung vervollständigen, indem wir sie in die Formeln der
Libidotheorie kleiden. Der Neurotiker ist genuß- und leistungs-
unfähig, das erstere, weil seine Libido auf kein reales Objekt
gerichtet ist, das letztere, weil er sehr viel von seiner sonstigen
Energie aufwenden muß, um die Libido in der Verdrängung
zu erhalten und sich ihres Ansturmes zu erwehren. Er würde ge-
sund, wenn der Konflikt zwischen seinem Ich und seiner Li-
bido ein Ende hätte und sein Ich wieder die Verfügung über
seine Libido besäße. Die therapeutische Aufgabe besteht also
darin, die Libido aus ihren derzeitigen, dem Ich entzogenen
Bindungen zu lösen und sie wieder dem Ich dienstbar zu machen.
Wo steckt nun die Libido des Neurotikers? Leicht zu finden;
sie ist an die Symptome gebunden, die ihr die derzeit einzig mög-
liche Ersatzbefriedigung gewähren. Man muß also der Symptome
Herr werden, sie auflösen, gerade dasselbe, was der Kranke von
uns fordert. Zur Lösung der Symptome wird es nötig, bis auf
deren Entstehung zurückzugehen, den Konflikt, aus dem gie
hervorgegangen sind, zu erneuern und ihn mit Hilfe solcher
Triebkräfte, die seinerzeit nicht verfügbar waren, zu einem an-
deren Ausgang zu lenken. Diese Revision des Verdrängungs-
prozesses läßt sich nur zum Teil an den Erinnerungsspuren der
Vorgänge vollziehen, welche zur Verdrängung geführt haben.
Das entscheidende Stück der Arbeit wird geleistet, indem man
im Verhältnis zum Arzt, in der „Übertragung“, Neuauflagen
jener alten Konflikte schafft, in denen sich der Kranke benehmen
möchte, wie er sich seinerzeit benommen hat, während man ihn
durch das Aufgebot aller verfügbaren seelischen Kräfte zu einer
534 XXVIII. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
anderen Entscheidung nötigt. Die Übertragung wird also das
Schlachtfeld, auf welchem sich alle miteinander ringenden Kräfte
treffen sollen.
Alle Libido wie alles Widerstreben gegen sie in
auf das eine Verhältnis zum Arzt gesammelt; dabei ist es un-
vermeidlich, daß die Symptome von der Libido entblößt werden.
An Stelle der eigenen Krankheit des Patienten tritt die künstlich
hergestellte der Übertragung, die Übertragungskrankheit, an
Stelle der verschiedenartigen irrealen Libidoobjekte das eine
wiederum phantastische Objekt der ärztlichen Person. Der neue
Kampf um dieses Objekt wird aber mit Hilfe der ärztlichen
Suggestion auf die höchste psychische Stufe gehoben, er ver-
läuft als normaler seelischer Konflikt. Durch die Vermeidung
einer neuerlichen Verdrängung wird der Entfremdung zwischen
Ich und Libido ein Ende gemacht, die seelische Einheit der Per-
son wieder hergestellt. Wenn die Libido von dem zeitweiligen
Objekt der ärztlichen Person wieder abgelöst wird, kann sie
nicht zu ihren früheren Objekten zurückkehren, sondern steht
zur Verfügung des Ichs. Die Mächte, die man während dieser
therapeutischen Arbeit bekämpft hat, sind einerseits die Ab-
neigung des Ichs gegen gewisse Richtungen der Libido, die sich
als Verdrängungsneigung geäußert hat, und anderseits die Zähig-
keit oder Klebrigkeit der Libido, die einmal von ihr besetzte
Objekte nicht gerne verläßt.
Die therapeutische Arbeit zerlegt sich also in zwei Phasen;
in der ersten wird alle Libido von den Symptomen her in die
Übertragung gedrängt und dort konzentriert, in der zweiten der
Kampf um dies neue Objekt durchgeführt und die Libido von
ihm freigemacht. Die für den guten Ausgang entscheidende Ver-
änderung ist die Ausschaltung der Verdrängung bei diesem er-
neuerten Konflikt, so daß sich die Libido nicht durch die Flucht
DIE NEUGESCHAFFENE „ÜBERTRAGUNGSNEUROSE“, 535
ins Unbewußte wiederum dem Ich entziehen kann. Ermöglicht
wird sie durch die Ichveränderung, welche sich unter dem Ein-
fluß der ärztlichen Suggestion vollzieht. Das Ich wird durch
die Deutungsarbeit, welche Unbewußtes in Bewußtes umsetzt,
auf Kosten dieses Unbewußten vergrößert, es wird durch Be-
lehrung gegen die Libido versöhnlich und geneigt gemacht, ihr
irgend eine Befriedigung einzuräumen, und seine Scheu vor den
Ansprüchen der Libido wird durch die Möglichkeit, einen Teil-
betrag von ihr durch Sublimierung zu erledigen, verringert. Je
besser sich die Vorgänge bei der Behandlung mit dieser idealen
Beschreibung decken, desto größer wird der Erfolg der psycho-
analytischen Therapie. Seine Schranke findet er an dem Mangel
an Beweglichkeit der Libido, die sich sträuben kann, von ihren
Objekten abzulassen, und an der Starrheit des Narzißmus, der
die Objektübertragung nicht über eine gewisse Grenze an-
wachsen läßt. Vielleicht werfen wir ein weiteres Licht auf die
Dynamik des Heilungsvorganges durch die Bemerkung, daß wir
die ganze der Herrschaft des Ichs entzogene Libido auffangen,
indem wir durch die Übertragung ein Stück von ihr auf uns
ziehen. ie
Es ist auch die Mahnung nicht unangebracht, daß wir aus
den Verteilungen der Libido, die sich während und durch die Be-
handlung herstellen, keinen direkten Schluß auf die Unter-
bringung der Libido während des Krankseins ziehen dürfen. An-
genommen, es sei uns gelungen, den Fall durch die Herstellung
und Lösung einer starken Vaterübertragung auf den Arzt glück-
lich zu erledigen, so ginge der Schluß fehl, daß der Kranke
vorher an einer solchen unbewußten Bindung seiner Libido an
den Vater gelitten hat. Die Vaterübertragüung ist nur das
Schlachtfeld, auf welchem wir uns der Libido bemächtigen; die
Libido des Kranken ist von anderen Positionen her dorthin ge-
536 XXVIII. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
lenkt worden. Dies Schlachtfeld muß nicht notwendig mit einer
der wichtigen Festungen des Feindes zusammenfallen. Die Ver-
teidigung der feindlichen Hauptstadt braucht nicht gerade vor
deren Toren zu geschehen. Erst nachdem man die Übertragung
wieder gelöst hat, kann man die Libidoverteilung, welche wäh-
rend des Krankseins bestanden hatte, in Gedanken rekonstruieren.
Vom Standpunkt der Libidotheorie können wir auch noch
ein letztes Wort über den Traum sagen. Die Träume der Neu-
rotiker dienen uns wie ihre Fehlleistungen und ihre freien Ein-
fälle dazu, den Sinn der Symptome zu erraten und die Unter-
bringung der Libido aufzudecken. Sie zeigen uns in der Form
der Wunscherfüllung, welche Wunschregungen der Verdrängung
verfallen sind, und an welche Objekte sich die dem Ich ent-
zogene Libido gehängt hat. Die Deutung der Träume spielt
darum in der psychoanalytischen Behandlung eine große Rolle
und ist in manchen Fällen durch lange Zeiten das wichtigste
Mittel der Arbeit. Wir wissen bereits, daß der Schlafzustand
an sich einen gewissen Nachlaß der Verdrängungen herbeiführt.
Durch diese Ermäßigung des auf ihr lastenden Druckes wird
es möglich, daß sich die verdrängte Regung im Traume einen
viel deutlicheren Ausdruck schafft, als ihn während des Tages
das Symptom gewähren kann. Das Studium des Traumes wird
so zum bequemsten Zugang für die Kenntnis des verdrängten
Unbewußten, dem die dem Ich entzogene Libido angehört.
Die Träume der Neurotiker sind aber in keinem wesent-
lichen Punkte von denen der Normalen verschieden; ja sie sind
von ihnen vielleicht überhaupt nicht unterscheidbar. Es wäre
widersinnig, von den Träumen Nervöser auf eine Weise Rechen-
schaft zu geben, welche nicht auch für die Träume Normaler
Geltung hätte. Wir müssen also sagen, der Unterschied zwischen
Neurose und Gesundheit gilt nur für den Tag, er setzt sich nicht
EIN NACHTRAG ZUR TRAUMTHEORIE. 537
ins Traumleben fort. Wir sind genötigt, eine Anzahl von An-
nahmen, die sich beim Neurotiker infolge des Zusammenhanges
zwischen seinen Träumen und seinen Symptomen ergeben, auch
auf den gesunden Menschen zu übertragen. Wir können es nicht
in Abrede stellen, daß auch der Gesunde in seinem Seelenleben
das besitzt, was allein die Traumbildung wie die Symptom-
bildung ermöglicht, und müssen den Schluß ziehen, daß auch
er Verdrängungen vorgenommen hat, einen gewissen Aufwand
treibt, um sie zu unterhalten, daß sein System des Unbewußten
verdrängte und noch energiebesetzte Regungen verbirgt, und daß
ein Anteil seiner Libido der Verfügung seines
Ichs entzogen ist. Auch der Gesunde ist also virtuell
ein Neurotiker, aber der Traum scheint das einzige Symptom
zu sein, das zu bilden er fähig ist. Unterwirft man sein Wach-
leben einer schärferen Prüfung, so entdeckt man freilich, was
diesen Anschein widerlegt, daß dies angeblich gesunde Leben
von einer Unzahl geringfügiger, praktisch nicht bedeutsamer
Symptombildungen durchsetzt ist.
Der Unterschied zwischen nervöser Gesundheit und Neurose
schränkt sich also aufs Praktische ein und bestimmt sich nach
dem Erfolg, ob der Person ein genügendes Maß von Genuß-
und Leistungsfähigkeit verblieben ist. Er führt sich wahrschein-
lich auf das relative Verhältnis zwischen den frei gebliebenen
und den durch Verdrängung gebundenen Energiebeträgen zurück
Yan ist von quantitativer, nicht von qualitativer Art. Ich
brauche Sie nicht daran zu mahnen, daß diese Einsicht die Über-
zeugung von der prinzipiellen Heilbarkeit der Neurosen, trotz
ihrer Begründung in der konstitutionellen Anlage, theoretisch
begründet.
Soviel dürfen wir aus der Tatsache der Identität der Träume
bei Gesunden und bei Neurotikern für die Charakteristik der Ge-
538 XXVIII. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
sundheit erschließen. Für den Traum selbst ergibt sich aber
die weitere Folgerung, daß wir ihn nicht aus seinen Beziehungen
zu den neurotischen Symptomen lösen dürfen, daß wir nicht
glauben sollen, sein Wesen sei durch die Formel einer Über-
setzung von Gedanken in eine archaische Ausdrucksform er-
schöpft, daß wir annehmen müssen, er zeige uns wirklich vor-
handene Libidounterbringungen und Objektbesetzungen.
Wir sind nun bald zu Ende gekommen. Vielleicht sind Sie
enttäuscht, daß ich Ihnen zum Kapitel der psychoanalytischen
Therapie nur Theoretisches erzählt habe, nichts von den Be-
dingungen, unter denen man die Kur einschlägt, und von den
Erfolgen, die sie erzielt. Ich unterlasse aber beides. Das erstere,
weil ich Ihnen ja keine praktische Anleitung zur Ausübung der
Psychoanalyse zu geben gedenke, und das letztere, weil mehr-
fache Motive mich davon abhalten. Ich habe es zu Eingang
unserer Besprechungen betont, daß wir unter günstigen ‚Um-
ständen Heilerfolge erzielen, die hinter den schönsten auf dem
Gebiete der internen Therapie nicht zurückstehen, und ich kann
etwa noch hinzusetzen, daß dieselben durch kein anderes Ver-
fahren erreicht worden wären. Würde ich mehr sagen, so käme
ich in den Verdacht, daß ich die laut gewordenen Stimmen der
Herabsetzung durch Reklame übertönen wollte. Es ist gegen
die Psychoanalytiker wiederholt, auch auf öffentlichen Kon-
gressen, von ärztlichen „Kollegen“ die Drohung ausgesprochen
worden, man werde durch eine Sammlung der analytischen MiB-
erfolge und Schädigungen dem leidenden Publikum die Augen
über den Unwert dieser Behandlungsmethode öffnen. Aber eine
solche Sammlung wäre, abgesehen von dem gehässigen, denun-
ziatorischen Charakter der Maßregel, nicht einmal geeignet, ein
richtiges Urteil über die therapeutische Wirksamkeit der Analyse
THERAPEUTISCHE ERFOLGE UND MISSERFOLGE. 539
zu ermöglichen. Die analytische Therapie ist, wie Sie wissen,
jung; es hat lange Zeit gebraucht, bis man ihre Technik fest-
stellen konnte, und dies konnte auch nur während der Arbeit
und unter dem Einfluß der zunehmenden Erfahrung geschehen.
Infolge der Schwierigkeiten der Unterweisung ist der ärztliche
Anfänger in der Psychoanalyse in größerem Ausmaße als ein
anderer Spezialist auf seine eigene Fähigkeit zur Fortbildung
angewiesen, und die Erfolge seiner ersten Jahre werden nie
die Leistungsfähigkeit der analytischen Therapie beurteilen .
lassen.
Viele Behandlungsversuche mißlangen in der Frühzeit der
Analyse, weil sie an Fällen unternommen waren, die sich über-
haupt nicht für das Verfahren eignen, und die wir heute durch
unsere Indikationsstellung ausschließen. Aber diese Indikationen
konnten auch nur durch den Versuch gewonnen werden. Von
vornherein wußte man seinerzeit nicht, daß Paranoia und De-
mentia praecox in ausgeprägten Formen unzugänglich sind, und
hatte noch das Recht, die Methode an allerlei Affektionen zu
erproben. Die meisten Mißerfolge jener ersten Jahre sind aber
nicht durch die Schuld des Arztes oder wegen der ungeeigneten
Objektwahl, sondern durch die Ungunst der äußeren Bedingungen
zu stande gekommen. Wir haben nur von den inneren Wider-
ständen gehandelt, denen des Patienten, die notwendig und über-
windbar sind. Die äußeren Widerstände, die der Analyse von
den Verhältnissen des Kranken, von seiner Umgebung bereitet
werden, haben ein geringes theoretisches Interesse, aber die
größte praktische Wichtigkeit. Die psychoanalytische Behand-
lung ist einem chirurgischen Eingriff gleichzusetzen und hat
wie dieser den Anspruch, unter den für das Gelingen günstigsten
Veranstaltungen vorgenommen zu werden. Sie wissen, welche
Vorkehrungen der Chirurg dabei zu treffen pflegt: geeigneter
540 XXVIII. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
Raum, gutes Licht, Assistenz, Ausschließung der Angehörigen
usw. Nun fragen Sie sich selbst, wie viele dieser Operationen
gut ausgehen würden, wenn sie im Beisein aller Familien-
mitglieder stattfinden müßten, die ihre Nasen in das Operations-
feld stecken und bei jedem Messerschnitt laut aufschreien wür-
den. Bei den psychoanalytischen Behandlungen ist die Da-
zwischenkunft der Angehörigen geradezu eine Gefahr, und zwar
eine solche, der man nicht zu begegnen weiß. Man ist gegen
die inneren Widerstände des Patienten, die man als notwendig
erkennt, gerüstet, aber wie soll man sich gegen jene äußeren
Widerstände wehren? Den Angehörigen des Patienten kann man
durch keinerlei Aufklärung beikommen, man kann sie nicht
dazu bewegen, sich von der ganzen Angelegenheit fernzuhalten,
und man darf nie gemeinsame Sache mit ihnen machen, weil man
dann Gefahr läuft, das Vertrauen des Kranken zu verlieren, der
— übrigens mit Recht — fordert, daß sein Vertrauensmann auch
seine Partei nehme. Wer überhaupt weiß, von welchen Spal-
tungen oft eine Familie zerklüftet wird, der kann auch als Ana-
Iytiker nicht von der Wahrnehmung überrascht werden, daß die
dem Kranken Nächsten mitunter weniger Interesse daran ver-
raten, daß er gesund werde, als daß er so bleibe, wie er ist. Wo,
wie so häufig, die Neurose mit Konflikten zwischen Familien-
mitgliedern zusammenhängt, da bedenkt sich der Gesunde nicht
lange bei der Wahl zwischen seinem Interesse und dem der
Wiederherstellung des Kranken. Es ist ja nicht zu verwundern,
wenn der Ehemann eine Behandlung nicht gerne sieht, in wel-
cher, wie er mit Recht vermuten darf, sein Sündenregister auf-
gerollt werden wird; wir verwundern uns auch nicht darüber,
aber wir können uns dann keinen Vorwurf machen, wenn unsere
Bemühung erfolglos bleibt und vorzeitig abgebrochen wird,
weil sich der Widerstand des Mannes zu dem der kranken
ÄUSSERLICHE ERSCHWERUNGEN. 841
Frau hinzuaddiert hat. Wir hatten eben etwas unternom-
men, was unter den bestehenden Verhältnissen undurchführ-
bar war.
Ich will Ihnen anstatt vieler Fälle nur einen einzigen er-
zählen, in dem ich durch ärztliche Rücksichten zu einer leiden-
den Rolle verurteilt wurde. Ich nahm — vor vielen Jahren —
ein junges Mädchen in analytische Behandlung, welches schon
seit längerer Zeit aus Angst nicht auf die Straße gehen und
zu Hause nicht allein bleiben konnte. Die Kranke rückte lang-
sam mit dem Geständnis heraus, daß ihre Phantasie durch zu-
fällige Beobachtungen des zärtlichen Verkehres zwischen ihrer
Mutter und einem wohlhabenden Hausfreund ergriffen worden
sei. Sie war aber so ungeschickt — oder so raffiniert — der
Mutter einen Wink von dem zu geben, was in den Analysen-
stunden besprochen wurde, indem sie ihr Benehmen gegen die
Mutter änderte, darauf bestand, von keiner anderen als der
Mutter gegen die Angst des Alleinseins beschützt zu wer-
den, und ihr angstvoll die Türe vertrat, wenn sie das
Haus verlassen wollte. Die Mutter war früher selbst sehr
nervös gewesen, hatte aber in einer Wasserheilanstalt vor
Jahren die Heilung gefunden. Setzen wir dafür ein, sie hatte
in jener Anstalt die Bekanntschaft des Mannes gemacht, mit dem
sie ein sie nach jeder Richtung befriedigendes Verhältnis ein-
gehen konnte. Durch die stürmischen Anforderungen des Mäd-
chens stutzig gemacht, verstand die Mutter plötzlich, was
die Angst ihrer Tochter bedeutete. Sie ließ sich krank werden, um
die Mutter zur Gefangenen zu machen und ihr die für den Ver-
kehr mit dem Geliebten notwendige Bewegungsfreiheit zu rauben.
Rasch entschlossen machte die Mutter der schädlichen Be-
handlung ein Ende. Das Mädchen wurde in eine Nervenheil-
anstalt gebracht und dort durch lange Jahre als „armes Opfer
642 XXVIII. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE.
der Psychoanalyse“ demonstriert. Ebensolange ging mir die üble
Nachrede wegen des schlechten Ausganges dieser Behandlung
nach. Ich bewahrte das Schweigen, weil ich mich durch die
Pflicht der ärztlichen Diskretion gebunden glaubte. Lange Zeit
nachher erfuhr ich von einem Kollegen, der jene Anstalt be-
sucht und das agoraphobische Mädchen dort gesehen hatte, daß
das Verhältnis zwischen ihrer Mutter und dem vermögenden
Hausfreund stadtbekannt sei und wahrscheinlich die Billigung
des Gatten und Vaters habe. Diesem BchEBDINe N war also
die Behandlung geopfert worden.
In den Jahren vor dem Kriege, als der Zulauf aus vieler
Herren Ländern mich von der Gunst oder Mißgunst der Vater-
stadt unabhängig machte, befolgte ich die Regel, keinen Kran-
ken in Behandlung zu nehmen, der nicht sui juris, in seinen
wesentlichen Lebensbeziehungen von anderen unabhängig wäre.
Das kann sich nun nicht jeder Psychoanalytiker gestatten. Viel-
leicht ziehen Sie aus meiner Warnung vor den Angehörigen den
Schluß, man solle die Kranken zum Zwecke der Psychoanalyse
aus ihren Familien nehmen, diese Therapie also auf die Insassen
von Nervenheilanstalten beschränken. Allein ich könnte Ihnen
hierin nicht beistimmen ; es ist weit vorteilhafter, wenn die Kran-
ken — insoferne sie nicht in einer Phase schwerer Erschöpfung
sind — während der Behandlung in jenen Verhältnissen bleiben,
in denen sie mit den ihnen gestellten Aufgaben zu kämpfen
haben. Nur sollten die Angehörigen diesen Vorteil nicht durch
ihr Benehmen wettmachen und sich überhaupt nicht der ärzt-
lichen Bemühung feindselig widersetzen. Aber wie wollen Sie
diese für uns unzugänglichen Faktoren dazu bewegen! Sie wer-
den natürlich auch erraten, wieviel von den Aussichten einer
Behandlung durch das soziale Milieu und den kulturellen Zu-
stand einer Familie bestimmt wird.
VORURTEILE. 543
Nicht wahr, das gibt für die Wirksamkeit der Psycho-
analyse als Therapie einen trüben Prospekt, selbst wenn wir die
überwiegende Mehrzahl unserer Mißerfolge durch solche Rechen-
schaft von den störenden äußeren Momenten aufklären können!
Freunde der Analyse haben uns dann geraten, einer Sammlung
von Mißerfolgen durch eine von uns entworfene Statistik der
Erfolge zu begegnen. Ich bin auch darauf nicht eingegangen.
Ich machte geltend, daß eine Statistik wertlos sei, wenn die
aneinander gereihten Einheiten derselben zu wenig gleichartig
seien, und die Fälle von neurotischer Erkrankung, die man in
Behandlung genommen hatte, waren wirklich nach den ver-
schiedensten Richtungen nicht gleichwertig. Außerdem war der
Zeitraum, den man überschauen konnte, zu kurz, um die Halt-
barkeit der Heilungen zu beurteilen, und von vielen Fällen
konnte man überhaupt nicht Mitteilung machen. Sie betrafen
Personen, die ihre Krankheit wie ihre Behandlung geheim ge-
halten hatten, und deren Herstellung gleichfalls verheimlicht
werden mußte. Die stärkste Abhaltung lag aber in der Ein-
sicht, daß die Menschen sich in Dingen der Therapie höchst
irrationell benehmen, so daß man keine Aussicht hat, durch ver-
ständige Mittel etwas bei ihnen auszurichten. Eine therapeutische
Neuerung wird entweder mit rauschartiger "Begeisterung aufge-
nommen, wie z.B. damals, als Koch sein erstes Tuberkulin gegen
die Tuberkulose in die Öffentlichkeit brachte, oder mit abgrund.
tiefem Mißtrauen behandelt, wie die wirklich segensreiche
Jennersche Impfung, die heute noch ihre unversöhnlichen
Gegner hat. Gegen die Psychoanalyse lag offenbar ein Vor-
urteil vor. Wenn man einen schwierigen Fall hergestellt hatte,
so konnte man hören: Das ist kein Beweis, der wäre auch von
selbst in dieser Zeit gesund geworden. Und wenn eine Kranke,
die bereits vier Zyklen von Verstimmung und Manie absolviert
Freud, Vorlesungen. III. 35
544 XXVIII. ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE,
hatte, in einer Pause nach der Melancholie in meine Behandlung
gekommen war und drei Wochen später sich wieder zu Beginn
einer Manie befand, so waren alle Familienmitglieder, aber auch
die. zu Rate gezogene hohe ärztliche Autorität, überzeugt, daß
der neuerliche Anfall nur die Folge der an ihr versuchten Ana-
lyse sein könne. Gegen Vorurteile kann man nichts tun; Sie
sehen es ja jetzt wieder an den Vorurteilen, die die eine Gruppe
von kriegführenden Völkern gegen die andere entwickelt hat.
Das: Vernünftigste ist, man wartet und überläßt sie der Zeit,
welche sie abnützt. Eines Tages denken dieselben Menschen über
dieselben Dinge ganz anders als bisher; warum sie nicht schon
früher so gedacht haben, bleibt ein dunkles Geheimnis.
. Möglicherweise ist das Vorurteil gegen die analytische
Therapie schon jetzt in Abnahme begriffen. Die stete Aus-
breitung der analytischen Lehren, die Zunahme analytisch be-
handelnder Ärzte in manchen Ländern scheint es zu verbürgen.
Als ich ein junger Arzt war, geriet ieh in einen ebensolchen
Entrüstungssturm der Ärzte gegen die hypnotische Suggestiv-
behandlung, die heute von den „Nüchternen“ der Psychoanalyse
entgegengehalten wird. Der Hypnotismus hat aber als therapeu-
tisches Agens nicht gehalten, was er anfangs versprach; wir
Psychoanalytiker dürfen uns für seine rechtmäßigen Erben aus-
geben und vergessen nicht, wie viel Aufmunterung und theore-
tische Aufklärung wir ihm verdanken. Die der Psychoanalyse
nachgesagten Schädigungen schränken sich im wesentlichen auf
vorübergehende Erscheinungen von Konfliktsteigerung ein, wenn
die Analyse ungeschickt gemacht, oder wenn sie mittendrin ab-
gebrochen wird. Sie haben ja Rechenschaft darüber gehört, was
wir mit den Kranken anstellen, und können sich ein eigenes Ur-
teil darüber bilden,-ob unsere Bemühungen geeignet sind, zu einer
dauernden Schädigung zu führen. Mißbrauch der Analyse ist
SCHLUSS. | 545
nach verschiedenen Richtungen möglich; zumal die Übertragung
ist ein gefährliches Mittel in den Händen eines nicht gewissen-
haften Arztes. Aber vor Mißbrauch ist kein ärztliches Mittel
oder Verfahren geschützt; wenn ein Messer nicht schneidet, kann
es auch nicht zur Heilung dienen.
Ich bin nun zu Ende, meine Damen und Herren. Es ist
mehr als die gebräuchliche Redensart, wenn ich bekenne, daß
die vielen Mängel der Vorträge, die ich Ihnen gehalten habe,
mich selbst empfindlich bedrücken. Vor allem tut es mir leid,
daß ich so oft versprochen habe, auf ein kurz berührtes Thema
an anderer Stelle wieder zurückzukommen, und dann hat der
Zusammenhang es nicht ergeben, daß ich mein Versprechen hal-
ten konnte. Ich habe es unternommen, Ihnen von einer noch
unfertigen, in Entwicklung begriffenen Sache Bericht zu geben,
und meine kürzende Zusammenfassung ist dann selbst eine un-
vollkommene geworden. An manchen Stellen habe ich das Ma-
terial für eine Schlußfolgerung bereit gelegt und diese dann
nicht selbst gezogen. Aber ich konnte es nicht beanspruchen,
Sie zu Sachkundigen zu machen; ich wollte Ihnen nur Auf-
klärung und Anregung bringen.
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Register.
Fehlleistungen 1—80.
Traum 80—270.
Anspielung auf den Traumgedanken 126,
162, 191.
Allgemeine Neurosenlehre 270—545. | Antike Traumdeutung 34, 162, 266.
Absicht der Fehlleistungen 26, 31, 34, 46,
49, 56, 70.
Absicht der neurotischen Symptome 295,
339.
Absicht des Traumes 136.
„ der Zwangshandlung 297,
Abwehr gegen Erinnerungsunlust 76.
Abwehrmittel 179.
Affekte im Traum 240.
Affektleben und Intellekt 333.
Affekttheorien 460.
Agoraphobie 297, 465, 542.
Aktualneurosen 448 ff., 501.
Akzentverschiebung 150, 191, 212, 422.
Ambivalenz 382, 499, 530.
Amnesie 222 f., 320f., 374.
Anale Partialtriebe 375.
„ Phase der Libidoentwicklung 376.
Ananke 4i0, 501.
Anästhesie, sexuelle 363,
Angst, neurotische 462.
Angstäquivalente 466 f.
Angstentwicklung, Dynamik 472.
Angsthysterie 305, 341, 421, 465.
Angstneigung der Kinder 473.
Angstneurose 453, 462.
Angstsimulation 302.
Angsttheorie 456, 502.
Angstträume 240 f.
Anthropophyteia 176, 179.
Archaismen 198, 221, 224.
Asexualität des Kindes 356, 373.
Assoziation, freie 109, 113, 119, 151, 326.
Assoziationsexperiment 112 f.,
Assoziative Beziehungen 23, 59, 66.
Ätiologie der Aktualneurosen 449,
ö „ Neurosen 397, 406, 434.
Aufmerksamkeitsstörung 18, 21, 36 f., 66.
Autoerotismus 359, 363, 377, 411, 424,
429, 485.
Bedürfnisträume 142,
Befriedigungsersatz 341, 350, 397, 423,
449, 454,
Beobachtungswahn 500.
Bequemlichkeitsträume 143, 213.
Berührungsangst 353.
Beschädigen von Gegenständen 49, 77.
Beseitigungswünsche 226, 386, 389.
Bewußtsein (s. auch Unbewußtes) 10, 316,
336, 387.
Bilderschrift 192, 221, 258.
Böse Regungen 157, 226, 235, 381.
Charakter der fehlhandelnden Person 45.
Charaktereigenschaften, latente 45, 331,
339.
Charaktereigenschaften und Neurose 468.
Coitus interruptus 467.
548
Darstellung der Organe 96.
r „ Relationen 195.
» durch Zwangshandlung 295.
er von Erlebnissen 426.
d „ Phantasien 426.
a „ Worten 127, 192.
Deckerinnerungen 223.
Definition des Traumes 86, 201.
Degenerationszeichen 350, 367.
Delirien 288.
Dementia praecox 304, 454, 483, 490 f.,513.
Determinismus 16, 109, 111, 154, 276.
Deutungsarbeit 57, 187, 282, 300, 511, 535.
Deutungsbeweis (s. auch Traumdeutung)
44, 45, 50, 53, 532.
Dichterische Darstellung 26, 48, 100, 181,
229, 232, 388.
Disposition, neurotische 419, 473, 491, 504,
Druckfehler 20.
Dynamik psychischer Erschei-
nungen 64, 237, 254, 319, 331, 472.
Effekt des Versprechens 21, 24, 35, 39.
Egoismus der Kindheit 227, 363, 382.
= „ Träume 217.
= und Narzißmus 486.
Eifersuchtswahn 280, 494.
Eigennamen-Vergessen 13, 17, 46, 55, 65,
74, 113, 115.
Einfall, erster 40, 107, 119, 151.
Elternkomplex 229, 378, 383, 387.
Entstellungen (s. Traumentstellung) 22,
33, 44.
Erbliche Disposition 281, 285, 418.
Erektionsangst 301.
Ergänzungsreihen 401, 419, 422, 430,
Erinnerungsfälschungen 322.
Erinnerungslücken 222 f., 320 f., 374
Erinnerungsreste, infantile 223.
Erogene Zonen 352, 358, 368, 451.
Ersatzbefriedigung 341, 350, 397,
423, 449, 521, 533.
Ersetzung der Genitalien 352, 360, 369.
REGISTER.
Ersetzungen beim Versprechen 22, 62.
Erwartungsangst 462.
Erziehung 233, 355, 360, 411, 422, 475,
500, 507, 530.
Experimentale Traumforschung 86.
Experimentalpsychologie 8,91,99,109, 112.
KF'amilienkomplex 383.
Fehlleistungen, Begünstigungen 37, 39, 75.
> der Neurotiker 536.
” gehäufte 50.
” Erklärung 17, 55.
r Kasuistik 50.
P und Zufallshandlungen 56.
ö Verkettung 20.
Verschiedenheit 55.
Folischlanhn 348, 402.
Fixierung 309, 392, 399, 406, 415,
421, 433, 491.
Flucht in die Krankheit 444.
„ vor dem Libidoanspruch 471, 478.
„ der Unlust 74, 411 f., 444.
Flogträume 167,
Folklore 172, 180.
Fortpflanzungsfunktion 347, 361, 367, 376.
Funktion des Traumes 135, 139.
&efühlsambivalenz 499, 519.
Gegenbesetzung 416 f., 435, 442,478,
510.
Gegeneinander wirkende Tendenzen 34,
57 f., 137 f,, 152, 156, 245, 334, 343,
403, 434.
Gegensatzbeziehungen 23, 32, 39, 46, 58,
156, 195, 246, 291, 342.
Gegensinn der Urworte 197, 258.
Gegenwille 73.
Genitalprimat der N 374,
395.
Genitalsymbolik 165, 175, 179, 211, 300.
Gesch wisterkomplex 334,
Größenwahn 484, 494,
Grundsprache 182.
REGISTER. 549
Haßregungen 225, 228. Kindheitserlebnisse, phantasierte 425.
Haussymbolik 164, 169, 172. Komplexe 112, 285, 301.
Hemmung 390, 422. Kompromißergebnisse, psychische 63, 137,
Heredität 281, 285, 418, 504. 343, 415.
Homosexualität 347, 360, 495, 518. Konflikt, neurotischer 403, 415£., 423,
= latente 351. Fan, 443, 208, 512, 533.
Hypnose 104, 154, 332, 523f., 544. Konflikte der Kinderstube 228.
Hypnotische Therapie 526. ” psychische 58, 156, 245, 403,
Hypochondrie 453, 489. DT ZI,
Hysterie 304, 306, 342, 395, 417, 435, | Konfliktneigung 206,
440 f. Konfliktsdarstellung 58, 403, 415.
Hysterie, Symptomatik 352, 466. Konsätalien, Bozuniin 400, 419, 475, 537.
Hysterische Anfälle 322, 460. Konversionshysterie 341, 454.
Krankheitsgewinn 444.
Ich, Entwicklungsstufen 406. . sekundärer 446.
„Ich“ im Traum 217. 32 Kriegsneurosen 443,
Ich, Wechselbeziehung zur Libido 449, 471. Kunst, Psy cholo gi e der 435.
Ichlibido 489 £., 501. Küssen, das 346, 368, 371,
Ichmotiv der Neurosen 443.
Ichregressionen 413. Lautbevorzugungen 23, 24, 38, 66.
Ichpsychologie 493 Latente Traumgedanken 117,.250.
Iehtriebe 404f, 480. Latenzzeit der Sexualentwicklung 374.
Imago 183 Libido 153, 357, 374, 390, 395 f£,
411 f., 481 f.
Infantile Angst 472, 476. er : .
Züchnine a Kindheitseriehminse, | 20: Peer ee
Sexnalität 232. 354, 360, 418 n Fixierung 397 f£.,415, 419,433, 491.
’ ? ? * . .
Träume 132, 134, 238, 243, 421.| ” an un
Infantilismus 235, 370, 406. “ g
Intellekt und Affektleben 333, 522 » und Angst 488, 495, 502,
"; Auäcl z „ und Ich 449, 489.
> u ee, ae, und Interesse 483 ff.
’° "| Libidoentwieklung 376 f., 396, 498.
Sukereenle 433. Libidoregression, s. Regression.
Invertierte 347. Libidostauung 416, 491, 508.
Inzestkomplex 153, 234, 384, 393. Libidotheorie 485 £., 501, 536.
Irrtümer 14, 65, 75. Liebeskonkurrenz, infantile 230.
Kastrationskomplex 169, 180, 211, 232, | Tiebeswahn 494.
n
n
, 862, 428, ' Literatur der Symptomdeutung 304.
Kastrationssymbolik 303. Lustprinzip 35, 74, 4i1f., 424, 431,
Kinderneurosen 420. 443,
Kinderpsychologie 227 f., 355 f., 362, 373. | Lutschen 358.
Kinderträume 132, 134, 238, 421. Manie 499, 543.
Kindheitserlebnisse 76, 221, 354, | Manifester Trauminhalt 117, 199, 250,
418, 504. 307, 478.
550 | REGISTER.
Manifeste und latente Traumelemente 131. | Objektregression 396, 415.
Maskierung der F'ehlleistung 54, Obszöne Versprechen 35.
Masochismus 349. Ödipuskomplex 231, 378£., 420.
Masturbation 346, 353, 373. Ökonomische Gesichtspunkte 311, 411,434.
Melancholie 498, 513, 544. Onanie 169, 180, 359, 362, 448.
Migräne 17. Orale Phase der Libidoentwicklung 376.
Minderwertigkeitsgefühl 474, Organdarstellung 96.
Mischbildungen 34, 188. Organlust 370, 376.
Mißbrauch, sexueller 429, 467.
Mnemotschnik 75. Paranoia 64, 351, 443, 454, 494, 513.
Moralische Entwicklung und Sexualität | Paraphrenie 454, 494.
409, 507. Partialträume 194.
Mythen und Märchen 172, 174, 181, 427.| Partialtriebe 362, 370, 375, 398, 418,
Mythologie 385, 452, 434.
Pathoneurosen 455.
Namenvergessen und Traumdeutung 115. | Perverse Züge der Normalen 369.
Narzißmus 484, 491, 522, 535. Perversion 232, 346, 354, 360, 370, 389,
Narzißtische Libidoentwicklung 498. 396, 402, 409, 415.
N Identifizierung 499. Perversion, latente 354.
„Nein“ im Traum 196. 5 und Neurose 358, 371.
Nervosität 439, 448. Phantasie und prähistorische Entwicklung
M und Neurose 537. 430.
Neurasthenie 453. Phantasie, Psychologie der 427f.
Neurose, Ätiologie 397, 406, 434. N und Symptombildung 433, 442,
allgemeiner Charakter 310. Phantasien, typische 429.
Mechanismus 393. Phobien 463, 476.
4 narzißtische 393, 405, 442, 490, | Phylogenetische Beziehungen 221, 404,
501, 524. 409, 418, 424, 430, 460, 472, 479.
n
N
Neurose, Sekundärfunktion der 446, Physiologische Beziehungen 8, 17, 36f.,
@ sexueller Inhalt 303, 447. 55, 61.
M traumatische 311, 442. Plastische Wortdarstellung 127, 192.
N und Übertragung 521. Platzangst 297, 465.
Neurotik und Traumdeutung 184, 249, | Polaritäten 23, 32, 39, 246, 291, 342.
252, 269, 536. Pollutionstraum 142.
Neurotische Disposition 419, 473. Prägenitale Sexualorganisation 375.
Neurotisches Symptom, s. Symptom. Prähistorische Entwicklung 430.
Nomenklatur der psychischen Systeme 336. | Prophylaxe 422.
Not des Lebens 410, 431, 480. Prospektion des Traumes 267.
Nüchterne Träume 97, 210. Psychiatrie 3, 8, 183, 279, 285f., 293,
315, 494. |
Objektbeziehungen 377, 387, 398, 410, | Psychische Akte 25, 56, 63, 101, 134,
486 f., 497. 154, 250,
Objektlibido, s. Libido, Psychische Freiheit 41, 109.
REGISTER. 551
Psychische Konflikte 58, 156, 245, 403,
415 f., 505£.
Psychische Mechanismen 36,62, 145£.,
283, 416, 435, 479, 533.
Psychische Realität 41, 68, 427.
B Situation 44, 48, 68, 163, 257.
r Systeme 336, 394.
Psychoanalyse, Charakter und Richtung
7, 133, 286, 442.
Psychoanalyse, Einwände und Widerstre-
ben 9ff., 41, 80, 185, 231, 239, 323,
379, 405, 450, 530, 540f.
Psychoanalyse, Früherfolge 530.
Realitätsprinzip 412, 424, 431, 480.
Regeln der Traumdeutung 118.
Regression 198, 221, 235, 390, 4Al4ff,,
476, 484, 492.
Reizträume, somatische 92, 140, 269.
R psychische 135.
Rückphantasieren 386, 429.
Sadismus 348, 352, 377.
Sadistisch-anale Sexualorganisation 396.
Sadistische Partialtriebe 375.
Säuglingssexualität 357, 370.
Schätzung der Träume 84£.
# Grundregel 326. Schaulust 377, 429.
Indikation 539. Schlaflosigkeit 245.
F künftige Fortschritte 492. | Schlaf und Traum 87, 136, 244, 486, 536.
r Schwierigkeiten 1f., 327, | Schlafzeremoniell 297.
539. Schuldbewußtsein 381.
Psychoanalyse, Stoff 15, 439, 451. Sekundäre Bearbeitung 200, 443.
R Technik 4, 40, 42, 115, |Sekundärfunktion der Neurose 446.
300, 319, 329, 440, 451, 493, 503.
Psychoanalyse, Therapie 8, 286, 317, 326,
331, 341, 445, 455, 503 ff., 526 ff.
Psychoanalyse und Geisteswissenschaften
183, 452.
Psychoanalyse, Überwindungsarbeit 529.
“ Unterricht 3f., 40, 50,213,
520.
Psychoanalyse, Wirkungsweise 509, 538.
Psychologie 8, 10, 41, 56, 64, 74, 183,
238, 319, 460.
Psychologie der Symptombildung 337.
Psychoneurosen 449f.
Psychose 494, 501.
Psychophysiologische Erklärung 18, 38, 95.
Psychopathologie des Alltagslebens 28, 50.
Pubertät 355, 387, 429, 468,
Pubertätsriten der Primitiven 385.
Selbsterhaltungstriebe 404f., 410,
501.
Sexualeinschüchterung 232.
Sexualforschung 362.
Sexualität, Begriff 345, 364, 482.
Sexualleben 166, 232, 297, 345, 356, 448,
467, 505, 531.
Sexualobjekte 347, 368,
Sexualorganisation 374, 393, 406,
Sexualstoffwechsel 451.
Sexualstörungen 450.
Sexualsymbolik 165, 171, 176, 211.
Sexualtheorien, infantile 364, 384.
Sexualtriebe 11,233, 340, 353 f., 405 f., 480.
Sexualtriebe und Ichtriebe 480f.
Sexualvorstellungen, Entwicklung 170.
Sexualziele 347, 368, 370, 373.
Sexuelle Wunschbefriedigung 340.
Soxueller Inhalt der Neurosen 303.
“ A „ Träume 213.
Sinn der Fehlleistungen 25, 31, 33, 47, 56.
„ » neurotischen Symptome 81, 184,
270, 283, 289, 438, 521, 536.
BMaumangst 305.
Reaktionsbildungen in der Zwangsneurose
435, 443,
Realität und Wahnidee 280.
552 REGISTER.
Tagträumen 99, 137, 432.
Todessymbolik 218.
Todeswunsch 155, 209, 224, 386, 389,
Topik der psychischen Vorgänge
394, 506, 510.
Topophobie 305.
Totemismus 385.
Trauer und Neurose 313.
Traum 132.
als Befriedigung 141, 213, 240.
„ Schlafhüter 136.
aus dominierenden Situationen 143,
Definition 250.
der Neurotiker 536.
Form 194.
Fremdartigkeit 89, 184, 190.
Funktion 135, 139,
Gemeinsames 89.
Hauptcharaktere 136.
Mannigfaltigkeit 91.
Mehrdeutigkeit 258.
sexueller Inhalt 213.
typischer 307.
Unbestimmtheit 83, 258.
und Symptom 538.
Unsinnigkeit 195, 206.
Verschiedenheiten 97.
Zerlegung 194.
Traumarbeit 187 f., 250.
Traumatische Erlebnisse 420, 442.
Traumbeispiele 205.
Traumbildung und Symptombildung 416.
Traumbücher 161.
Sinn der Träume 81, 154, 184, 248.
»„ n» Zwangshandlungen 294, 314.
Sonderbarkeiten, Launen 465.
Soziale Beziehungen 5, 11, 229, 353, 355,
387, 443, 500, 507.
Sprachentwicklung 183, 196, 201, 258.
Sprachgebrauch 99, 138, 172, 181.
Stolpern 54.
Störende Tendenzen 36, 39, 57#,, 137,
152, 245.
Straftendenzen 78, 245.
Struktur des seelischen Apparates 337, 338.
Sublimierung 11, 398, 435, 518, 535.
Suggestion 20, 105, 523£., 530£.
Symbole (s. auch Traumsymbolik) 162 £.,
479, 532.
Symptombildung aus dem Konflikt 417,
443.
Symptombildung, Dynamik 319.
Mechanismus 414, 435,
”
440.
‚ Symptombildung, Psychologie 337.
und Angstentwicklung
”
470.
Symptombildung und Phantasie 433.
und Symptomlösung 334.
Vorbedingung 3383, 508.
R Wege 403, 414, 449,
Symptomdeutung 300, 438.
Symptome 323, 415.
Befriedigung durch die 423,
Resistenz 315.
Sinn 81,184, 270, 283, 289, 321.
2
n
n
”
n
H Tendenz 323, 541. Traumdeutung, irrige Wege 267.
5 typische 305, 306. 5 Technik 103 f., 257, 326.
+ Verschiebbarkeit 291. “ Voraussetzungen 101.
N Verschwinden 317. m Willkür 256.
„ Widerstandsfähigkeit 415. Traumelemente, manifeste und latente 131.
Symptomhandlung 56, 275. “ stumme 161.
Traumentstellung 135, 145, 150, 184,
Systeme im Psychischen 335.
187, 239.
Traumerinnerung 195.
Tabuvorschriften 285.
Traumerreger 97, 137, 226.
Tagesreste 133, 254, 488.
REGISTER. 553
Traumgedanken 117, 126, 162, 250. Verliebtheit 487, 490.
5 Transskription 190, Verlieren 14, 48, 55, 65, 77.
Traumreden 200. 5 Vieldeutigkeit 77.
Traumsymbolik 163 ff., 173 ff., 181 £.,| Versagung 341, 353, 397 f., 410, 504, 508.
198, 219, 295. Verschiebung 150, 190, 223, 283, 338,
Traumtheorie 237, 254, 488, 416, 424, 454,
Traumwünsche 152 f., 224, 388, Verschreiben 21, 36, 37, 55, 65 £.
Triebleben 11, 388. Versprechen 13, 21, 31 ff., 55—66, 188.
Verwertung der Fehlhandlungen und
Träume 54, 84.
Vieldeutigkeit 48, 77, 190, 191.
Virginitätskomplex 301.
Völkerkunde 176, 285, 385, 472.
Vorbewußtes 336 f., 394, 416.
Vortraum 194.
Vorzeichen 53, 64, 84.
Übertragung 329, 514 f., 533.
“ negative 519, 532.
Übertragungsfähigkeit 524, 530.
Übertragungskrankheit, künstliche 521,
534.
Übertragungsneurosen 341, 393, 405, 440,
483, 521.
Umkehrungen 197.
Umsetzung der Gedanken 192, 238, 258,
Unbeabsichtigte Handlungen 17.
Unbewußte Afiekte 477,
Unbewußtes 10, 61, 104, 159, 181,
201, 235 f£., 250, 283, 314, 335, 416,
492, 531.
Ungeduldsträume 143, 213.
Unterdrückung (s. auch Verdrängung) 62,
233.
Urphantasien 430.
Weahnidee 280, 283, 443,
Weckträume 93, 243.
Widerstand 41 fi, 61, 121, 151,
325 ff., 512.
Widerstand aus der Übertragung 519 f.
Wiederholen in der Zwangsneurose 307.
Wissenstrieb 377.
Witz 34, 172, 188, 191, 265.
Wortassoziationen 24, 38, 69.
Wortdarstellung 127, 192.
Wortentstellungen 34, 44.
Wunscherfüllung 135, 238 f£., 340,
416, 536.
Vaterkomplex 209, 303, 310, 330, 387.
Verdichtung 32, 187 ff., 223, 338, 416,
424, 454,
Verdrängung 334f., 374, 394, 406,
433, 441, 469, 476, 495, 508, 533.
Verfolgungswahn 494,
Vergessen 13, 36, 55, 65, 70, 76.
Zensur 145 fi., 184, 190, 236, 244,
338, 416.
Zeremoniell 291. ®
Zerstreutheit 17, 36, 52.
Mr von Fremdworten 65, 74. Zufallshandlungen 56.
Ar „ Vorsätzen 13, 17, 46, 52, | Züricher Schule 112, 399, 433, 481.
55, 65, 70. Zwangshandlungen 290, 470.
Vergreifen 17, 36, 65, 78.
Verhören 13, 65.
Verkürzung 32, 58, 126, 162.
Verlegen 13, 36, 48, 55, 65, 77.
Verlesen 13, 36, 65, 68.
‘ Sinn 294, 314.
3 Tendenz 296.
Zwangsneurose 289, 341, 395, 435, 441,470.
Zwangssymptome 293.
Zwangsyorstellungen 83, 290, 396.
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In VI. J ahrgang erscheinen :
Internationale Zeitschrift
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Internationalen Psychoanalytischen’ Verinigung
' Herausgegeben von En SL Else
Prof. Dr. Sigm. Freud
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‚ Unter Mitwirkung von
Dr. Karl Abraham (Berlin), Dr. J. van ads a. ER
Dr. 8. Ferenezi (Budapest), Dr. Ed. Hitschmann (Wien, |
Dr. Ernest Jones (London), Dr. Emil Dbernalanr RR 18 ah
"Redigiert von
Dr. Otto Rank
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Zeitschrift für Anwendung d. Tyan en
auf die Geisteswissenschaften
Herausgegeben von. WR
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Redigiert von Me
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LEIPZIG — WIEN
Nr. 1
* Zur Psychoanalyse der Kriegsnenrosen
Internationale Parcha un |
Diskussion mit Beiträgen von Prof, Freud (W ien), Dr. Abraham Ban, | Kt hi
Dr. Ferencezj (Budapest), Dr. Jones (London), Dr. Simmel ı ja )
6 Bogen Groß-Oktav.
Nr. 2
Dr. S. Ferenezi
Hysterie und Pathonenrosen
6 Bogen Groß- Oktav.
INT.FaB
Prof. Dr. Sigm. Freud
Zur Psychopathologie des gs
6. verm. Auflage. — 20 ‚Bogen Groß- OktaR:| Ra
Nr.:4 2,4 ö N
Dr. Otto Rank
27 ‚Bogen Groß-Oktav.
Psychoanalytische Beiträge zur Vin
Nr. 5
Dr. Theodor Reik
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20 Aid Oktav.
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Dr. 66za Köherm.
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Gottfried Keller:
Drei des Dichters, seiner Gestalten und Motive. Be il.
| 8 Bogen Klein-Oktav. Er
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Druck- und Verlagshaus Karl Prochaska, Teschen. R N, RER
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