SEPARAT ABDRUCK aus IMAGO
Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften.
HcrausKeKcben von Prof. Dr. SIGM. FREUD, redigiert von Dr. OTTO RANK u. Dr. HANNS SACHS.
VI. Jahrgang, 1920. 4. Heft.
Internationaler psychoanalytischer Verlag Ges. m. b. H.
Die Nausikaaepisode in der Odyssee.
Von Dr. ALFRED WINTERSTEIN.
»Immer zerreißet den Kranz des Homer und zählet die Väter
Des vollendeten ewigen Werks!
Hat es doch eine Mutter nur und die Züge der Mutter,
Deine unsterblichen Züge, Natur!« Schiller.
L
Allen Lesern der Odyssee unvergeßlich, nimmt die Nausikaa-
/ \ episode einen Ehrenplatz im reichen Bildersaale homerischer
J. ^-Poesie ein. »Die einzige jungfräuliche Gestalt Homers«
<R. M, Meyer), in Gegensatz gestellt zu dem vielerfahrenen Dulder
und Abenteurer, einsam zurückbleibend nach der Abreise des ge=
heimnisvollen Fremdlings, mußte seit jeher auch die Phantasie des
nachschaff enden Dichters 1 beschäftigen,- Sophokles und Goethe sind
hier vor allen zu nennen.
Eine eigene zauberische, man möchte sagen, morgendliche
Stimmung umspielt den sechsten Gesang der Odyssee, »es ist, als
ob hier ein Wunder der Liebe geschehen sollte« <Fries>. Nichts der-
gleichen geschieht: wenn sich Nausikaa vor der Stadt von Odysseus
trennt, bricht die Episode ab,- erst am Ende des siebenten Gesanges
erscheint eine kurze Abschiedsszene als Fortsetzung.
Dem aufmerksamen Leser wird nicht nur der Umstand auf-
fällig dünken, daß Nausikaa im sechsten Gesang eine unverhältnis-
mäßig große Rolle spielt, um dann fast spurlos zu verschwinden,
er wird auch an manchem anderen Widerspruch Anstoß nehmen.
-Kritiker haben daraus die Folgerung abgeleitet, daß die Nausikaa-
episode ein Vorsatzstück zu dem Phäakenabenteuer des Odysseus
bildet, das aus einem poetischen Bruchstück unsicherer Herkunft ent-
standen ist,- der frühere, urprüngliche Zusammenhang muß ein anderer
gewesen sein als in der Odyssee. Ohne Rüdtsicht auf die psycho-
logische Motivierung haben dann einige Forscher, von einer vor»
gefaßten Meinung über die sittlichen Anschauungen einer primitiven
1 Einer der ältesten indischen Diditer, Alkman, behandelt die Begegnung
des Odysseus und der Nausikaa in einem umfangreichen Gedicht, aus dem noch
mehrere Fragmente erhalten sind. In komödienhafter Weise haben den Stoff be=
arbeitet: Philyllios in den TIMvtQtai 1) Navor/Aa, Eubulos in der Navdtv.äa und
vielleicht Alexis im 'Oöoooe-bg d.-roi'iJdjU6i'oc;. Von Ovids Jugendfreund Tuticanus
stammt ein episches Odyll: Phaeacis. Über Nausikaatragödien siehe den Schluß
meiner Untersuchung.
'J
INTERNATIONAL
OANALYTIC
UNIVERSITY
DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN
Die Nausikaaepisode in der Odyssee 351
aber trotzdem, erkennen zu können, wie hier durch alle Ver*
Schiebungen und Verschleierungen, die im Gesamtzusammenhange
des Epos vorgenommen werden mußten, der alte mythische Kern
durchblickt. Diesem Nachweis sollen die nachstehenden Erörtungen
gewidmet sein.
Odysseus hat den Riesen Polyphem, den Sohn des Poseidon
geblendet, deshalb versucht der Gott in seinem Zorn, die Landung
des Odysseus bei den Phäaken zu verhindern. Er zertrümmert das
Floß, auf dem Odysseus die Fahrt von Ogygia, der Insel der Ka=
lypso, angetreten hat, im Angesicht des Gestades der Phäaken, doch
wird dem Odysseus knapp vorher in Gestalt der Meeresgöttin
Leukothea Rettung. (Od. V, 333 u. ff.>:
»Aber die Tochter des Kadmos, die lieblich wandelnde Ino,
Leukothea, voreinst ein redender Mensch, aber jetzo
Unter den Göttern verehrt der salzigen Fläche, die sah ihn,-
Und es jammerte sie Odysseus' Leiden und Irrsal.
Da entflog sie dem Rande der See und glich einer Möwe,
Setzte sich ihm zuseiten aufs Floß und sagte die Worte:
Sage, du Armer, warum der Stranderschütterer Poseidon
Dir so fürchterlich zürnt und säete alle dies Übel?
Aber getrost, er bringt dich nicht um, wie sehr er auch wütet.
Jetzt aber höre mein Wort — du scheinst mir klug und besonnen:
Reiße die Kleider vom Leib,- das Floß überlasse den Winden,-
Denke der Heimat, Freund, und schwimme mit rüstigen Armen
Gegen das Land der Phäaken,- denn dort entgehst du dem Schicksal.
Nimm dies göttliche Tuch, den Schleier, bind ihn dir feste
Unter die Brust, so droht dir umsonst das grause Verderben.
Wenn du jedoch hernach das Land mit Händen ergriffest,
Lös ihn ab und wirf ihn zurück in die dunklen Gewässer,
Weit übers Ufer hinaus, und wende dich selber von dannen.c
Als eine mächtige Woge das Floß auseinanderreißt, schwingt
sich Odysseus auf einen Balken hinauf, »schrittlings als gelt' es ein
Reiten« 1 , reißt sich die Kleider vom Leib und springt ins Meer.
Dort treibt er zwei Tage und zwei Nächte umher, bis sich am
dritten Tage der Wind legt. Odysseus gelangt, die Brandung
aber schon längst die im atlantischen Meer versunkene hesperische Insel Atlantis
entdeckt worden. • .
Inwieweit die Insel der Phäaken als Insel der beiigen, als Unterwelt aut*
gefaßt wurde, wird weiter unten erörtert werden. Nach Hagen <Die Schwanen»
sage, Abh. der Berliner Akad. d. Wiss. 1845, S. 513-577) ließe sich die Ver*
gleichung des Ulysses mit Helias noch dadurch fortführen, daß jener im Schiffe
schlafend allein wieder zur Heimat kommt, die ihm ganz fremd erscheint, während
die angelsächsisch^friesische Sage von Sceaf, Odins Ahnherrn, den Knaben im
Schiff lein schlafend und gerüstet auf der skandinavischen Insel anlangen und dort
König werden läßt. Diese Schiffssage soll wieder an den im schwimmenden Ei
ruhenden Eros der griechischen Kosmogonie erinnern.
1 Vergleiche, was Gilgamesch vor der Landung bei Xisuthros »an der
Mündung der Ströme« an gleicher Stelle der Sage tut (P. Jensen, Das Gilgamesch=
epos in der Weltliteratur, Straßburg 1906, I., S. 33>.
. .
350 Dr. Alfred Winterstein
und einer kultivierteren Epoche beherrscht, die Entscheidung herbei«
zuführen versucht, welche Bestandteile alter Odysseuspoesie, älteren
Einlagen anderen Ursprungs und erweiternden Zusätzen des Dichter«
Bearbeiters zuzuweisen sind. Unsere anders gerichtete Arbeitsr^e*
thode wird hingegen bestrebt sein, für das mehrfach zusammengesetzte
Problem der Nausikaaepisode eine einheitliche Lösung auf Grund
einer psychologischen Betrachtung zu finden.
O. Rank hat in einer grundlegenden Arbeit über den »Mythus
von der Geburt des Helden« <Leipzig und Wien, 1909) nachgewiesen,
daß ein großer Komplex von Sagen sich trotz der mannigfachsten
Verschiedenheiten im einzelnen auf das Schema einer uralten, unter
allen Kulturvölkern weitverbreiteten mythischen Erzählung zurüdi«
führen läßt, die die wunderbare Geburt und das ruhmvolle Leben
des Helden schildert. Diese Durchschnittssage hat etwa folgende Gestalt
<Rank, Mythus, S. 61 >:
»Der Held ist das Kind vornehmster Eltern, meist ein Königssohn.
Seiner Entstehung gehen Schwierigkeiten voraus wie Enthaltsamkeit
oder lange Unfruchtbarkeit oder heimlicher Verkehr der Eltern infolge äußerer
Verbote oder Hindernisse. Während der Schwangerschaft oder schon früher
erfolgt eine vor seiner Geburt warnende Verkündigung <Traum, Orakel),
die meist dem Vater Gefahr droht.
Infolgedessen wird das neugeborene Kind, meist auf Veranlassung
des Vaters oder der ihn vertretenden Person, zur Tötung oder Aussetzung
bestimmt,- in der Regel wird es in einem Kästchen dem Wasser übergeben.
Es wird dann von Tieren oder geringen Leuten (Hirten) gerettet und
von einem weiblichen Tiere oder einem geringen Weibe gesäugt.
Herangewachsen, findet es auf einem sehr wechselvollen Wege die
vornehmen Eltern wieder, rächt sich am Vater einerseits, wird anerkannt
anderseits und gelangt zu Größe und Ruhm.«
Auf den ersten Blick wird dem Leser eine Zusammenstellung
dieses Sagenschemas mit dem Phäakenabenteuer des vielwandernden,
vielgewandten Odysseus ziemlich ungereimt erscheinen 1 , wir glauben
1 Die Kenntnis des angelsächsisch=dänischen Skeafmythus, der die Grund-
züge der Lohengrinsage enthält, ist von einigen Forschern schon dem Tacitus zu» ,
geschrieben worden, da dieser im dritten Kapitel der Germania beiläufig die Be=
merkung fallen läßt, daß manche behaupten, Ulysses sei auf seiner langen Irrfahrt
auch den Rhein aufwärts gekommen und hätte dort Asciburgium gegründet <Rank,"
op. cit. S. 157). Der Kopenhagner Schulrektor Jonas Ramus hat in seinem traetat.
hist. geogr. quo Ulyssem et Outinum unum eundemque esse ostenditur. Hauniae,
1716, mit vorstehender Überlieferung die nordische Mythe von Odins Einwanderung
aus dem Urland der Äsen nach dem germanischen Norden und seiner Erneuung
der alten Asenburg, Asgard, in Verbindung gebracht. Ebenso soll der Held des
Volksbuches vom Schwanritter, Helias, der Rheinschiffer, ursprünglich Ulysses sein,
der sogar die Totenwelt heimsudite, von Göttern geschützt, weit umher schiffte,
Städte und Reiche gründete wie, laut späterer Sage bei Solinus, das von ihm be*
nannte Lissabon, Ulixibona. Dort in der Westwelt ist auch bei Homer die elysische .
Flur, die Inseln der Seligen bei Hesiod: und so hat nordische Phantasie das elysi=
sehe Eiland in der noch Insel (L'isle,- Lille, lat. insulae) genannten Heimat des
Schwanenritters zwischen der Scheide und Lys gefunden : in derselben Gegend war
Die Nausikaaepisode in der Odyssee 351
aber trotzdem, erkennen zu können, wie hier durch alle Ver-
schiebungen und Verschleierungen, die im Gesamtzusammenhange
des Epos vorgenommen werden mußten, der alte mythische Kern
durchblickt. Diesem Nachweis sollen die nachstehenden Erörtungen
gewidmet sein.
Odysseus hat den Riesen Polyphem, den Sohn des Poseidon
geblendet, deshalb versucht der Gott in seinem Zorn, die Landung
des Odysseus bei den Phäaken zu verhindern. Er zertrümmert das
Floß, auf dem Odysseus die Fahrt von Ogygia, der Insel der Ka=
iypso, angetreten hat, im Angesicht des Gestades der Phäaken, doch
wird dem Odysseus knapp vorher in Gestalt der Meeresgöttin
Leukothea Rettung. <Od. V, 333 u. ff.>:
»Aber die Tochter des Kadmos, die lieblich wandelnde Ino,
Leukothea, voreinst ein redender Mensch, aber jetzo
Unter den Göttern verehrt der salzigen Fläche, die sah ihn,-
Und es jammerte sie Odysseus' Leiden und Irrsal.
Da entflog sie dem Rande der See und glich einer Möwe,
Setzte sich ihm zuseiten aufs Floß und sagte die Worte:
Sage, du Armer, warum der Stranderschütterer Poseidon
Dir so fürchterlich zürnt und säete alle dies Übel?
Aber getrost, er bringt dich nicht um, wie sehr er auch wütet,
fetzt aber höre mein Wort — du scheinst mir klug und besonnen:
Reiße die Kleider vom Leib,- das Floß überlasse den Winden,-
Denke der Heimat, Freund, und schwimme mit rüstigen Armen
Gegen das Land der Phäaken,- denn dort entgehst du dem Schicksal.
Nimm dies göttliche Tuch, den Schleier, bind ihn dir feste
Unter die Brust, so droht dir umsonst das grause Verderben.
Wenn du jedoch hernach das Land mit Händen ergriffest,
Lös ihn ab und wirf ihn zurück in die dunklen Gewässer,
Weit übers Ufer hinaus, und wende dich selber von dannen.«
Als eine mächtige Woge das Floß auseinanderreißt, schwingt
sich Odysseus auf einen Balken hinauf, »schrittlings als gelt' es ein
Reiten« 1 , reißt sich die Kleider vom Leib und springt ins Meer.
Dort treibt er zwei Tage und zwei Nächte umher, bis sich am
dritten Tage der Wind legt. Odysseus gelangt, die Brandung
aber schon längst die im atlantisdien Meer versunkene hesperische Insel Atlantis
entdeckt worden. ■ • . . • . • .
Inwieweit die Insel der Phäaken als Insel der Seligen, als Unterwelt aut=
Refaßt wurde, wird weiter unten erörtert werden. Nach Hagen <Die Schwanen-
sage, Abh. der Berliner Akad. d. Wiss. 1845, S. 513-577) ließe sich die Ver*
gleichung des Ulysses mit Helias noch dadurch fortführen, daß jener im Schiffe
schlafend allein wieder zur Heimat kommt, die ihm ganz fremd erscheint, während
die angelsächsisch=friesische Sage von Sceaf, Odins Ahnherrn, den Knaben im
Schiff lein schlafend und gerüstet auf der skandinavischen Insel anlangen und dort
König werden läßt. Diese Schiffssage soll wieder an den im schwimmenden Ei
ruhenden Eros der griechischen Kosmogonie erinnern.
1 Vergleiche, was Gilgamesch vor der Landung bei Xisuthros »an der
Mündung der Ströme« an gleicher Stelle der Sage tut <P. Jensen, Das Gilgamesch^
epos in der Weltliteratur, Straßburg 1906, I., S. 33).
352 Dr. Alfred Winterstein
meidend, an die Mündung eines Flußes und von dort ans Ufer
der Phäakeninsel. Zu Tode ermattet, kriecht er unter zwei dicht*
verwachsene Ölbäume, bereitet sich ein Lager aus trockenen Blättern,
in denen er wie ein »Funke, von der Asche behütet«, liegt, und
schläft, bis ihn Mädchenstimmen wecken.
Unterdessen hat Nausikaa den Traum gehabt, in dem Athene
in Gestalt ihrer liebsten Gespielin sie mit dem Hinweis auf ihre
bevorstehende Hochzeit mahnt, Männer« und Weibergewänder bei
den Spülplätzen am Fluß zu reinigen. Gewaltig über den Traum
staunend, erbittet sich die Königstochter einen Wagen von ihrem
Vater, verschweigt ihm aber den Grund der beschleunigten Wäsche.
Nachdem Nausikaa in Gemeinschaft mit den anderen Mädchen ihre
Arbeit verrichtet und gebadet und geschmaust hat, treten alle zum
Ballspiel an. Nausikaa will den Ball einem der Mädchen zuwerfen,
verfehlt jedoch ihr Ziel/ er fällt ins Wasser. Die Mädchen schreien
auf,- Odysseus erwacht, richtet sich auf und tritt »wie ein Leu des
Gebirgs« hervor, mit einem starken, belaubten Zweig seine Blöße
deckend.
Also ging der Held, in den Kreis schönlockiger Jungfrauen
Sich zu mischen, so nackend er war/ ihn spornte die Not an.
Furchtbar erschien er den Mädchen, vom Schlamm des Meeres besudelt,-
Hierhin und dorthin entfiohn sie und bargen sich hinter die Hügel.
Nur Nausikaa blieb. Ihr hatte Pallas Athene
Mut in die Seele gehaucht und die Furcht den Gliedern entnommen.
<Od. VI, 135 u. ff.)
Es folgt nun Rede und Gegenrede zwischen dem schütz*
flehenden Odysseus und Nausikaa. Nachdem dieser gebadet und
die ihm übergebenen Gewänder angetan hat, verjüngt und ver*
schönt ihn Athene, so daß Nausikaa im Gespräch mit ihren Ge-
spielinnen dem Wunsche Ausdruck gibt, ihn zum Gemahl zu haben.
Beim Aufbruch ersucht sie Odysseus, vor Eintritt in die Stadt zu- .
rückzubleiben,- denn sie fürchtet, von den Einheimischen verdächtigt
zu werden, wenn sie mit dem Fremdling, den sie bald einem Schiff«
brüchigen, bald einem Gotte vergleicht, erblickt würde. Odysseus
verweilt ihrer Weisung gemäß bei dem Quell außerhalb der Stadt,
während Nausikaa im Wagen, von den Mädchen zu Fuß gefolgt,
zum väterlichen Palaste zurückkehrt.
Inzwischen hat sich Odysseus nach einem kurzen Gebet im
Hain der Athene wieder auf den Weg gemacht. Die Göttin tritt
ihm in Gestalt eines wasserholenden Mädchens entgegen, das sich
erbötig macht, ihm das gesuchte Haus zu weisen. In einen Nebel
gehüllt, der ihn jedem fremden Blid< unsichtbar macht, gelangt
Odysseus in den Palast des Alkinoos. Nachdem er beim Königs«
paar Aufnahme gefunden hat, fragt ihn Arete, die Königin, wer er
sei und woher er komme. Er antwortet ausweichend und gibt nur
Die Näusikaaepisode in der Odyssee 353
von seiner zwanzigtägigen Fahrt 1 von Ogygia nach Scheria, der
Phäakeninsel, Rechenschaft. Alkinoos schilt seine abwesende Tochter,
daß sie nicht Odysseus zugleich mit den Mädchen in die Wohnung
geleitet habe, Odysseus nimmt alle Schuld auf sich. Der König,
von der edeln Gesinnung des Fremden gerührt, trägt ihm gleich
seine Tochter an,- nichtsdestoweniger verspricht er ihm, ihn morgen
nachts als Schlafenden in einem Schiff in die Heimat führen zu lassen.
Der Aufenthalt des Odysseus, der sich tatsächlich noch bis zum
Abend des übernächsten Tages ausdehnt, vergeht mit allerlei Fest-
lichkeiten, die dem Gaste zu Ehren veranstaltet werden : Der Sänger
Demodokos singt von den Taten der Helden vor Troja, bei den
Wettspielen erringt Odysseus, von Euryalos höhnisch zum Kampf
herausgefordert, den Sieg im Diskoswerfen, der Rhapsode trägt das
Lied von Aphroditens und Ares' verstohlener Lust vor, der Königs-
sohn Laodamas und Halios werden als Ballspieler und Tänzer be^
wundert. Für die Abfahrt werden dem Odysseus Geschenke be-
reitet, ein Bad wird vor dem Gelage gerüstet, da tritt dem Helden
Nausikaa noch einmal in einer merkwürdig einsilbigen Abschieds-
szene- entgegen.
Von da an wird ihrer mit keinem Worte mehr Erwähnung
Demodokos ergreift beim Mahl wiederum die Leier und erzählt
die Mär vom hölzernen Pferd, Odysseus wird vom König, der seine
innere Bewegung merkt, neuerlich aufgefordert, seinen Namen zu
nennen. Er gibt sich endlich zu erkennen, seine Abenteuer halten
die Hörer bis in die späte Nacht wach. Der folgende Tag wird
eigentlich nur verzettelt, Odysseus wendet das Haupt nach den
schönen Worten des Dichters »gar oft zu des Helios blendender
Leuchte, wünschend, sie tauche hinab , sein Herz verlangte zur
Heimat« (Od. XIII, 28>. Als er sich abends mit seinen Geschenken
eingeschifft hat, die Ruderer sich abfahrtsbereit rückwärtsbeugen,
»fiel ihm auch wirklich ein Schlaf, unlösbar, über die Lider, ohn'
Erwachen und süß, dem Tod am nächsten vergleichlich«. <Od. XIII, 79.)
Schlafend landet Odysseus in seiner Heimat, die ihm fremd erscheint,
1 Nach zwanzig Jahren gelangt Odysseus in seine Heimat zurück!
8 >Aber Nausikaa stund, die Jungfrau, sdiön wie der Himmel,
Neben dem Pfosten der Tür, die gegen die Halle sich auftat,
Und ersähe bewundernden Augs den großen Odysseus.
Und sie begann und sprach alsbald die geflügelten Worte:
Nimm meinen Gruß nach Haus, o Gast, auf daß du auch dorten
Meiner gedenkst/ denn sieh, ich half dir gleich zu Beginne.
Da erwiderte ihr der bewanderte, kluge Odysseus:
O Nausikaa, Sproß von Alkinoos' heiligem Herzen,
Möge mir Heres Gemahl, der donnernde Zeus, es verleihen,
Daß ich nach Hause gelang' und schaue den Tag meiner Heimkehr!
Und du heißest mir fürder drheim der Himmlischen eine,
Alle die Tage/ denn du, o Jungfrau, wahrtest mein Leben!«
<Od. VIII, 457 u. ff.>
Imago VI/4 23
;
354
Dr. Alfred Winterstein
und auch hier hat er, indem er sich nicht zu erkennen geben darf,
einen siegreichen Kampf mit den unerwünschten Freiern der Penelope
zu bestehen. .
II.
Ich folge einem Fingerzeig von Carl Fries <»Das Zagmukfest
aufScheria« in den »Mitteilungen der Vorderasiatischen Gesellschaft«,
1910, 2 4), wenn ich in Nausikaa die Mutter des Helden zu erkennen
und so den Schlüssel zum Verständnis des Phäakenabenteuers in
Händen zu halten glaube. In astralmythologischen Anschauungen
befangen, hat dieser Forscher allerdings knapp vor der psycho^
analytischen Deutung haltgemacht.
Der Mythus von der Geburt des Helden hat in den zwei
Untersuchungen O. Ranks <»Der Mythus von der Geburt des
Helden«, Leipzig und Wien 1909,- »Die Lohengrinsage«, ebenda,
1911) eine so gründliche und überzeugende Behandlung erfahren,
daß ich mir wohl versagen kann, für jede meiner Behauptungen
das ganze Beweismaterial neuerlich anzuführen,- auch bei C. G. Jung
(»Wandlungen und Symbole der Libido« im Jahrb. f. psychoanalyt.
u. psychopath. Forschung, IV. Bd., 1. Hälfte, Leipzig und Wien 1912)
findet man manches Hiehergehörige.
Die Psychoanalyse hat uns gelehrt, in den Gesetzen dichterischer
Phantasiebildung die nämlichen Kräfte wirksam zu sehen, die in
unseren nächtlichen Träumen, in der Neurose und in den Tagest
Phantasien der Gesunden und Kranken tätig sind. Namentlidi die
letztgenannten zeigen eine enge Verwandtschaft mit den Schöpfungen
der Dichter. Aus der Kenntnis einer allgemeingültigen Symbolsprache
werden wir demnach vorerst im Schiffbruch des Odysseus eine
symbolische Darstellung der Geburt des Helden erblicken dürfen 1 .
»Eine intensive Beschäftigung mit den Träumen gesunder und
gemütskranker Menschen hat gestattet, gewisse typische, das heißt
bei allen Menschen immer mit der gleichen geheimen Bedeutung
wiederkehrende Traumgruppen aufzustellen. Eine derselben umfaßt
1 In diesen Zusammenhang reiht sich ein weiteres Detail gut ein: der
Sdilamm und Schaum, der den nackten Odysseus besudelt und ihn den Mägden
der Nausikaa so furchtbar erscheinen läßt <Od. VI, 137), erinnert an den von den
eigenen Fäkalien herrührenden Schmutz, der das neugeborene Kind bedeckt. Ver-
gleiche die Schilderung des von mir weiter unten behandelten typischen Nacktheits--
traumes durch den Maler Römer in Gottfried Kellers »Grünem Heinrich«: »Wenn
Sie einst getrennt von Ihrer Heimat und von Ihrer Mutter und allem, was Ihnen
Heb ist, in der Fremde umherschweifen, und Sie haben viel gesehen und viel er*
Tahren, haben Kummer und Sorge, sind wohl gar elend und verlassen: so wird
es Ihnen des Nachts unfehlbar träumen, daß Sie sich Ihrer Heimat nähern,- Sie
sehen sie leuchten iir den schönsten Farben, holde, feine und liebe Gestalten treten
Ihnen entgegen,- da entdecken Sie plötzlich, daß Sie zerfetzt, nackt und kotbedeck',
einhergehen,- eine namenlose Scham und Angst faßt Sie, Sie suchen sich zu be^
decken, zu verbergen und erwachen in Schweiß gebadet. Dies ist, solang es Menschen
gibt, der Traum des kummervollen, umhergeworfenen Mannes, und so hat Homer
jene Lage <des Odysseus vor Nausikaa) aus dem tiefsten und ewigen Leben der
Menschheit herausgenommen.«
1
Die Nausikaaepisode in der Odyssee 355
die sogenannten »Geburtsträume« (Freud, Traumdeutung, S. 199),
deren Studium uns ermöglicht hat, den verborgenen Sinn auch des
Aussetzungsmythus zu ergründen. Aus der Verwendung der gleichen
typischen Symbole läßt sich mit Sicherheit schließen, daß die Aus^
setzung des neugebornen Helden im Kästchen und Wasser, nichts
als einen symbolischen Ausdruck der Geburt darstellt. Die Kinder
kommen bekanntlich nicht nur in dem keineswegs so ungereimten
Storchglauben, sondern auch in Wirklidikeit aus dem Wasser dem
Fruchtwasser nämlich, und das so wohlverschlossene und den kleinen
Helden schützende Kästdien ist nidits als eine bildliche Darstellung
des Fruchtbehälters, des Mutterleibs. Das Herausziehen aus dem
Wasser aber, das im Aussetzungsmythus — wie mitunter auch im
Traume — aus gewissen in der Mythensdiöpfung begründeten
Tendenzen als ein Hineinstürzen dargestellt wird, symbolisiert direkt
den Geburtsvorgang.« »Völlig im Sinne dieser unbewußten Symbolik
scheint es auch gedacht, wenn der römische Dichter Lukrez die
Geburt mit einem Schiffbruch vergleicht, wobei das neugeborne
Kind nackt und bloß ans Ufer einer unbekannten Insel geworfen
wird: Siehe das Knäblein, wie ein durch die Wut der Wellen an
das Ufer geworfener Schiffer liegt es da, das arme Kind! Nackt,
auf der Erde, aller Lebenshilfe bedürftig, wenn es zuerst die
Natur aus dem Schöße der Mutter mit Schmerzen losgerissen hat.
Mit kläglichem Gewimmer erfüllt es seinen Geburtsort. Und das
wohl mit Recht, dem so viele Übel noch im Leben bevorstehen.
<Lukrez, de natura rerum, V, 222 — 227) 1 .«
Das Flutabenteuer des Odysseus läßt zwar ein Kästchen ver-
missen, aber dies erklärt sich auf natürliche Weise aus der durch
den Gesamtzusammenhang bedingten intellektuellen Überarbeitung
des Dichters nach Regeln der L#gik und Glaubwürdigkeit,- auch
dürfen wir als eine Art Bestätigung für die Riditigkeit unserer
Auffassung einen weiteren Zug des Epos ansehen, der durch ein
anderes, jedoch nicht minder verbreitetes Symbol den nämlichen
Vorgang ausdrückt: des Odysseus langer Schlaf im Bereich der ihn
umschlingenden Ölbäume und sein Hervortreten, als ihn Mädchen^
stimmen wecken. Der mit trodtenen Blättern zugededite todmüde
Held wird mit dem Keim eines Feuers, mit einem glimmenden
Brande verglichen, den Asdie ringsum einhüllt.
Eine derartige Wiederholung des nämlichen Motivs <der Geburt)
innerhalb eines Mythus ist eine häufig beobachtete Erscheinung. Dem
Kästchen entspricht in manchen Mythen die auch den Mutterleib
deutlich symbolisierende Höhle oder der eben erwähnte hohle Baum,
der regelmäßig auch »als Wohnsitz der ungebornen Seelen gedacht
wird« (Mannhardt, German. Mythen, S. 255). Osiris ruht auf den
Zweigen des Baumes, von ihnen wie im Mutterleib umwachsen,
1 Rank, Lohengrinsage, S. 19 ff., vgl. audi Rank, Mythus, S. 69 ff. und
Jung, Wandlungen, S. 253, 261.
23*
356 Dr. Alfred Winterstein
der Dionysosmythus der Griechen läßt diesen Gott 0ßvÖQkr)Q) aus
einem hohlen Baum kommen, das Heddernheimer Relief stellt den
Sonnengott Mithras dar, wie er mit halbem Leibe aus dem Wipfel
eines Baumes hervorragt, »der junge Sonnengott der indischen
Mythologie ruht schlafend in einer Lotosblume und erregt allgemeines
Erstaunen, wenn er jugendlidischnell den hüllenden wunderbaren
Baum verläßt und plötzlich unter die Menge tritt« <Fries>. Im
Schwanenmärchen erlöst die Heldin, in einem hohlen Baume sitzend,
die verwandelten Brüder, in Indonesien kommt das erste Menschen»
paar aus dem Bambus, in Polynesien aus dem Seegras, in Neu»
Holland wird der erste Mensch aus Baumknoten herausgeholt.
Nach Schurtz <Urgeschichte der Kultur, S. 578) leiten die chinesischen
Könige in yautscho ihr Geschlecht von einem Kinde ab, das in einem
hohlen Bambusrohr ans Ufer schwamm Verknüpfung der zwei
Geburtssymbole). Weitere Beispiele bei Rank, Jung, Fries und
Frobenius <Das Zeitalter des Sonnengottes, I. Bd. Berlin 1904).
Wenn wir nun in Nausikaa die Mutter des Helden erblicken,
die diesem nach dessen eigenen Worten das Leben rettet 1 , so stützen
wir uns vor allem auf die grundlegenden Ausführungen Freuds
über die »symbolische Bedeutung der Rettungsphantasie« 2 , in denen
es unter anderem heißt:
»Das Retten kann seine Bedeutung variieren, je nachdem es
von einer Frau oder von einem Mann phantasiert wird, Es kann
ebensowohl bedeuten: ein Kind machen = zur Geburt bringen
<für den Mann), wie: selbst ein Kind gebären <für die Frau).
Insbesondere in der Zusammensetzung mit dem Wasser lassen sich
diese verschiedenen Bedeutungen des Rettens in Träumen und
Phantasien deutlich erkennen. Wenn ein Mann im Traume eine Frau
aus dem Wasser rettet, so heiß* das: er macht sie zur Mutter, was
nach den vorstehenden Erörterungen gleichsinnig ist dem Inhalt: er
macht sie zu seiner Mutter. Wenn eine Frau einen andern <ein
Kind) aus dem Wasser rettet, so bekennt sie sich damit wie die
Königstochter in der Mosessage als seine Mutter, die ihn geboren hat.«
Im Lichte der neugewonnenen Anschauungen werden wir der
Ino^Leukothea (»voreinst ein redender Mensch, aber jetzo unter den
Göttern verehrt der salzigen Fläche«) 3 , die sich, einer Möwe gleichend,
zu Odysseus aufs Floß setzt und ihm den rettenden Schleier über-
gibt, eine tiefere Bedeutung zusprechen müssen: sie ist die aus dem
typischen Heldenmythus bekannte Mutter in Gestalt des hilfreichen
Tieres, die das Kind vor dem Zorn des Vaters (Poseidon)* bewahrt.
' Od. VIII, 468.
"■ Jahrb. II, S. 397 ff.
* Od. V, 334. v ,
4 Poseidon ist der Großvater des Alkinoos, vgl. Od. VII, 56 u. ff. Nach
einer rhodisdien Umbildung der Sage galt Leukothea als die verwandelte Halia,
eine Schwester der Teichinen, die dem Poseidon eine Tochter und sechs
Söhne gebar <Roscher, S. 2011). Die Göttin wurde auch mit Aphrodite identifiziert
Die Nausikaaepisode in der Odyssee 357
Wir haben also hier neuerlich eine Doublette nachgewiesen. In diesem
Zusammenhang wird die Blendung des Polyphem als Kastration
<des Vaters) aufzufassen sein. Über die Blendung als symbolischen
Ersatz der Entmannung siehe die Arbeiten von Ferenczi (Imago
1912, Bd. I, S. 281 f.), Rank <Jahrg. 1, Heft 2 der intern. Zeitschr.
f. ärztl. Psychoan.), Eder <ebd.> u. a.
Leukothea weist den Odysseus an, sich die Kleider vom Leibe
zu reißen und den göttlichen Schleier unter die Brust zu binden,
dann drohe ihm umsonst das grausame Verderben. Sobald er aber
gelandet ist, soll er den Schleier in die Gewässer zurüdtwerren und
sich selber abwenden.
Versuchen wir eine psychoanalytische Erklärung dieser bzene
an der Hand der Ergebnisse, zu denen O. Rank in seiner Abhand-
lung über »die Nacktheit in Sage und Dichtung« <Imago 1913,
II fahrg Heft 3 u. 4> gekommen ist. Wir werden sehen, daß diese
Episode" mit einigen andern später erörterten aufs innigste zu-
Samm NaA 8 Rank verdanken die Gestaltungen des Nacktheitsmotiv
in Dichtung und Sage ihre Triebkraft der kindlichen Entblößungs-
und Schaulust, aligemeiner gesagt, seiner Sexuaineug.erde, die sich
insbesondere auf den verbotenen Anblick der elterlichen Sexual-
funktionen und -organe (vornehmlich der Mutter) bezieht Dabei
finden die Regungen, die eine Befriedigung der verbotenen Gelüste
anstreben, in gleicher Weise ihren Ausdruck wie die hemmenden,
verdrängenden Strebungen des kulturell eingestellten Ich, wenn auch
bald die eine, bald die andere Regung im Phantasieprodukt vor-
herrscht.
enS Die Befriedigungsphantasie der Schaulust finden wir objek-
tiviert in dem unsichtbar machenden Wunschring, der anderseits in
der Strafphantasie den Aufenthalt des verborgenen Lauschers ver-
rät dessen Augen in anderen Überlieferungen für den Anblick des
VeVbotenTn geblendet werden. Diesem subjektiven Moment der
Blendung entspricht die denselben Effekt bewirkende objektive Un-
si^barkeit, „fcht der eigenen Person wie ***£**«£
Phantasie, sondern der angeboten Person, die durch ihr Ver-
schwinden dem Anblid< des Lüsternen ebenso entzogen wird wie
durch dessen eigene Blendung. ..
Wir vermuten bereits, daß das schon der alten indischen Über-
lieferung bekannte Motiv des unsichtbar machenden Schleiers in
unserer Episode eine nicht restlos geglüdcte Umbildung erfahren hat,
<ebd.>. Nadi einer anderen Sage springt Ino mit ihrem Kinde Palaimon-Melikertes
ins Meer (symbolischer Geburtsvorgang). Pausanias O , 24 3> erzahh nachstehende,
in der Stadt Brasiai an der lakonischen Küste heimische Legende' Die Einwohner
berichten, daß Semele nach der Geburt des Dionysos von Kadmos mit ihrem
Kinde in eine längliche Lade, eine XäQvaZ gelegt und ins Meer ausgesetzt wurde/
die Wellen trieben sie an diesen Teil der Küste, Semele starb und bald darauf
erschien Ino, um das Kind zu pflegen,
358
Dr. Alfred Winterstein
die uns den ursprünglichen Zusammenhang herzustellen gestattet. Es
ist nämlich auffällig, daß Leukothea die Wirksamkeit des Zauber-
schleiers an die Bedingung knüpft, daß Odysseus sich seiner Kleider
entledigt. Sonst würde er wohl trotz göttlichen Schutzes untergehen?
Dieser dem göttlichen Wesen widersprechende Zug ragt wie ein
unverstandener Rest in die Umarbeitung des Dichters herein,- die
rationalisierende Erklärung, daß Odysseus andernfalls bei der ersten
Begegnung mit Nausikaa nicht nackt wäre, befriedigt nicht völlig.
Wir meinen also, daß ursprünglich das Verbot des Anblicks der
ihrer Kleider entblößten Frau dem Sohne galt und daß seine Be--
strafung im Verschwinden des Liebesobjektes mit Hilfe des Schleiers
objektiviert wurde. Das Gebot, sich abzuwenden, fügt sich dem von
uns gefundenen Sinn, ebenso wie die Tierverwandlung ein in der
Sagenbildung häufig vorkommendes Mittel zur Symbolisierung des
den Schaulustigen abstoßenden weiblichen Genitales (Schlange, Drache,
Fisch, Vogel etc.) darstellt.
In der Übergabe des Zauberschleiers an den Mann dürfen wir
vielleicht die (psychologisch ursprünglichere) Verwertung des Un^
Sichtbarkeitsmotivs im Dienste der männlichen Schaulust selbst er*-
blidten. »Der Mann ist hier im Besitz eines dem weiblichen Schleier,
Hemd oder Mantel entsprechenden Zaubermittels, mit dessen Hilfe
er sich unsichtbar machen und alles, wonach ihn gelüstet, schauen
kann, wie er es einst als Kind so heiß gewünscht hatte.« Möglicher-
weise spielt bei dem Zwecke des Schleiers, Odysseus an das Ge=
Stade der Phäakeninsel zu tragen, auch die Insel <= Mutterleibs- 3
phantasie) eine Rolle,- auf das Typische dieser Phantasie hat zuerst
Riklin (Jahrb., Bd. II, S. 246 ff.) hingewiesen.
Wenden wir uns wieder der weiblichen Hauptgestalt unserer
Untersuchung zu, die sich in ihrer alten Bedeutung als Mutter offene
bart, so werden wir zunächst, eingedenk der Gesetze der Entstellung
und Umarbeitung, die die individuelle Phantasietätigkeit beherrschen,
keinen Anstoß daran nehmen, daß Nausikaa als Jungfrau geschildert
wird, indes uns Odysseus als Mann in der Blüte der Jahre ent=
gegentritt. ' Zeitweise muß er freilich älter aussehen, da er bei ver-=
schiedenen Gelegenheiten mit »Fremdling, Vater« angeredet wird.
Die Verjüngung der Mutter, ihre Umwandlung in eine Jung^
frau dient zur Verdedcung des Inzestes. Rank sagt darüber: »Es ist
begreiflich, daß der Sohn den Kontrast zwischen seiner zunehmenden
Reifung und Geschlechtstüchtigkeit und den abnehmenden Reizen und
Geschlechtsfähigkeiten der Mutter peinlich empfindet und diese Dis-
harmonie in der Phantasie einerseits durch Annäherung seiner Reife
an die des Vaters (Identifizierung), anderseits aber noch lieber durch
Verjüngung der Mutter 1 , durch Festhalten an den Reizen, mit denen
1 Durch diese Altersverschiebung ergibt sich sekundär ein Paar Vater-Tochter.
Die Deutung, die in dem Verhalten des Odysseus zu Nausikaa eine erotische Be=
ziehung zwischen Vater und Tochter erkennen will, trifft aber nicht den Ursprung*
liehen Sinn.
Die Nausikaaepisode in der Odyssee 359
sie seinerzeit dem Kinde geschmüdct schien, auszugleichen sucht.« In
der jungen Tochter dürfen wir eine durch Abspaltung der anmutigen,
begehrenswerten und der Liebe des Sohnes zugänglichen Seite der
Mutter geschaffene selbständige Gestalt sehen *.
Der sechste Gesang der Odyssee, der die erste Begegnung
des Odysseus mit Nausikaa schildert, wird durch einen Traum der
Königstochter eingeleitet, der an die für die Mythen von der Geburt
des Helden typischen prophetischen Träume erinnert.
Fries- will Übereinstimmungen zwischen Nausikaas Traum und
Ausfahrt mit der Jugendgeschichte des Buddha aufweisen. »Wie die
Mutter großer Helden oder Heiligen wird die Jungfrau im Traume
heimgesucht. Von ihrer nahe bevorstehenden Vermählung ist die
Rede,- man entsinnt sich ähnlicher Heimsuchungen, in denen den
Jungfrauen oder Frauen ein großer, berühmter Sohn angekündigt
wird. Odysseus wird eigentlich draußen vor der Stadt geboren,
Nausikaa ist eigentlich seine Mutter. Dann wird manches natürlicher,
was man nun einmal als selbstverständlich hinnimmt, ohne die darin
enthaltenen Seltsamkeiten zu beachten. Seltsam ist doch die Moti-
vierung für die Ausfahrt, die Vermählung stehe bevor. War denn
die Reinlichkeit und Ordnung im Hause des Alkinoos so wenig
geregelt, daß es erst eines Apparates von Theophanien und Traum-
bildern bedurfte, um dem abzuhelfen? . . . Wäre es die Gattin des
Königs, die zu einer ungewöhnlichen Fahrt von ihrem Gemahl Ur-
laub erbittet, wie z. B. in der Buddhageschichte, so wäre kein An-
stoß vorhanden. Seltsam aber mutet es, wie gesagt, an, daß Nausikaa
so viele Verstellungskünste und schamhafte Bitten für notwendig
erachtet, um die Wäsche des Hauses zu besorgen. Ist es denn das
erstemal, daß das geschieht? Bedarf es zu diesem Zweck so viel-
facher Motivierung? Ist das nicht ein selbstverständlicher Teil der
Hauswirtschaft? Die Fahrt zum Lumbinihain, wo der Buddha ge-
boren werden soll, und ähnliche Fälle erklären sich ungezwungen.
Die Szene der Nausikaaepisode umspielt eine eigene, zarte Erotik
die geradezu etwas geheim Verheißungsvolles enthält,- es ist, als ob
„hier eine hohe Vermählung geschehen sollte, etwa mit einem Gott,
oder die Geburt eines Götterkindes. Eine freudige, erwartungsvolle
Erregung wie bei Krischnas oder Apollons Geburt u. a erfüllt
diesen Teil der Erzählung,- die Göttin spricht verheißungsvoll von
Vermählung, Nausikaa gerät in freudige Erregung und beschleunigt
die Fahrt, verschämt deutet sie dem Vater ihre Absicht an, er errät
ihre geheimen Liebesgedanken: was aber ist der Erfolg? Nichts
von allem, ein Fremdling wird gefunden und heimgebracht, sonst
nichts.«
1 Bezeichnenderweise heißt Nausikaa in Goethes gleichnamigem Fragment*
im Text Arete — wie die Mutter der homerischen Nausikaa. Im sedisten Gesang
der Odyssee, V, 115, wird Nausikaa Königin genannt. Die Königin Arete war
wiederum die Nidite ihres Gatten <Od. VII, 65, 66>.
* Op. cit. S. 317 ff.
360 Dr. Alfred Winterstein
Audi Mülder 1 , der mit Recht vermutet, daß Nausikaa in der
älteren Vorlage eine viel bedeutendere Rolle gespielt habe, erblickt
in der Traumerzählung einen . Widerspruch zwischen Vers 27, der
von der bevorstehenden Hochzeit 2 redet, und Vers 34, der nur einen
allgemeinen Hinweis auf die vielen Freier der Nausikaa enthält,
und glaubt, die Umbiegung des ursprünglichen Motivs mit der Not=<
wendigkeit begründen zu müssen, Raum für die zwischen Odysseus
und der Königstochter spielende Erotik und das Heiratsangebot des
Allcinoos zu schaffen.
Anknüpfend an den von Freud in der »Traumdeutung«
<3. Aufl., S. 1 75 ff.> untersuchten typischen »Verlegenheitstraum der
Nacktheit« <in dem der entblößte Träumer entfliehen oder sich ver^
bergen will und dabei der eigentümlichen Hemmung unterliegt, daß
er nicht von der Stelle kann und sich unvermögend fühlt, die pein-
liche Situation zu verändern, deren er sich aufs tiefste sdiämt,
während die zahlreichen fremden Traumpersonen, die meist Zeugen
seiner Entblößung sind, nicht den geringsten Anstoß daran nehmen),
stellt Rank in seiner früher genannten Abhandlung die Behauptung
auf, daß die in der »Traumdeutung« erwähnte Nausikaasage die
eigentümliche Hemmung objektiviere, der der Betroffene untere
liegt, wenn auch in einer durch die Forderungen des Sagengefüges
entstellten Form. Hier ist es die schöne Nausikaa, die beim An-
blick des nackten Odysseus sich nicht von der Stelle zu rühren ver-
mag, während die zur Situation gehörige Empfindung der Scham
auf die sonst teilnahmslose Zuschauermenge, hier die Gespielinnen,
übertragen ist :1 . Freud hat diese Nacktheitsträume als Exhibitions-
träume aufgeklärt, als Reproduktion von Kinderszenen, die in eine
Zeit zurückgehen, wo sich der Mensch seiner Nacktheit noch nicht
zu schämen pflegt, und hat die auffallende Kontrastierung der eigenen
intensiven Scham zur Menge fremder teilnahmsloser Zuschauer als
Verdrängungsausdrudt der ursprünglichen Lustempfindung verstand^
lieh gemacht, mit der man die Entblößung einer einzelnen wohl-
vertrauten Person bot. Ich meine nun, daß die von Rank vor=
genommene psychoanalytische Durchleuchtung der Nausikaaepisode
eine willkommene Bestätigung und Ergänzung durch unsere Iden=
tifizierung der Nausikaa mit der Mutter des Helden erhält. Odys=
seus befriedigt zuerst seinen Nacktheitswunsch/ die später ein=
setzende Verdrängung drückt sich in den an die Mädchen gerichteten
Worten aus: »Doch bad' ich mich nicht in eurer Gesellschaft,- denn
1 D. Mülder: Die Phäakendiditung der Odyssee, Neue Jahrb. f. d. klass.
Altertum usw., IX. Jahrg., Leipzig 1906.
2 »Die Warnung vor Saumseligkeit, das Antreiben zur Eile, überhaupt die
ganze Motivierung läßt nur die eine Auffassung zu, daß die Hochzeit unmittel*
bar nahe ist, daß also bereits der Bräutigam, der Tag der Hochzeit usw. bereits
bestellt ist. Diese Eile liegt nicht bloß im Antrieb, sie liegt auch in der Ausführung,
die in der Frühe des nächsten Morgens beginnt«. <S. 31, 32.>
8 Vgl. die oben angeführten Verse <Od. VI, 137 u. ff>,
Die Nausikaaepisode in der Odyssee 361
ich schäme mich nackt vor den zierlich gescheitelten Mägden«
(Od. VI, 221, 222).
Ich muß mir versagen, die vielen überzeugenden Details aus
Ranks Untersuchungen einzeln anzuführen, begnüge mich, einige
charakteristische hervorzuheben. »Die in den wirklichen Verhältnissen
durchaus nicht gerechtfertigte Begründung der Traummahnung durch
das Motiv der bevorstehenden Hochzeit verrät sich ohne weiteres als
die dem Traumleben eigentümliche Wunsdierfüllungstendenz, welche
dem Mädchen die Erfüllung ihres sehnsüchtigsten Wunsches als un=
mittelbar bevorstehend vortäuscht . . . Aus der unbewußten Unter*
fütterung des Traumes <Entblößungsgelüste> würde sich erst die
Scheu erklären, die das Mädchen davon abhält, gerade dieses Detail
des Traumes, die Begründung der Wäsche mit der bevorstehenden
Hochzeit, dem Vater mitzuteilen, wie anderseits das bald darauf in
Gesellschaft ihrer Mädchen genommene Bad <V. 96> den Ent=
blößungs wünsch teilweise befriedigt . . . Ist also die Empfindung der
Nacktheit und das Gefühl der Scham dem Odysseus als dem Helden
der Erzählung zugeschrieben, so verstehen wir die Sensation der
Hemmung bei der von seinem Anblidv festgebannten Nausikaa als
Ergänzung jenes Details der Brautnachtsphantasie 1 , das sich in ihrem
Traume nicht in Form der eigentlich ersehnten Entblößung durch=
zusetzen vermochte. Sie träumt also nicht direkt vom Naditheits=
wünsch, der ihr erst mit der Erscheinung des Odysseus bewußt
wird, sondern infolge der intensiven Verdrängung zur Scham von
seinem Gegensatz, von einer Menge prächtiger und kostbarer
Kleider, die zur möglichst weitgehenden Verhüllung der Nacktheit
dienen.«
Bevor wir an der Hand der Rankschen Arbeit die aus der
Schaulust entspringenden Motive der Unsichtbarkeit und Entblößung
bei zwei weiteren Episoden 2 betrachten <die Leukotheaepisode scheint
Rank entgangen zu sein), verlohnt es sich, kurz unsere Aufmerk=
samkeit dem Ballspiel zuzuwenden, das das Erwachen des Odysseus
und sein Zusammentreffen mit Nausikaa herbeiführt.
»Also warf die Herrin den Ball gen eine der Mägde
Und verfehlte die Magd. Er fiel in den reißenden Strudel.
Weithin scholl das Geschrei: da erwadite der große Odysseus.« .
<Od. VI, 115 u. ff.) •
1 Rank deutet zum Beweis für deren Bestehen auf den Umstand hin, daß
Nausikaa sich den schönen Mann sogleich zum Gemahl wünscht:
»Würde mir doch ein Gemahl von solcher Bildung bescheret,
Unter den Fürsten des Volks, und gefiel es ihm selber zu bleiben!« <245.)
Ein Wunsch, den auch ihr Vater, »der alles merkte«, dem Fremdling gegenüber
wiederholt <V, 311 ff.>. '
- Das wiederholte Vorkommen des Motivs der Schaulust in der Odyssee
<die Polyphemsage gehört nach Rank auch hierher) ist für den blinden Homer
bezeichnend.
362 Dr. Alfred Winterstein
Für Fries stellt sich die ganze Ballspielszene als ein Motiv
der Astrallegende dar, was in einem gewissen Sinn zweifellos richtig
ist. Er schreibt darüber: »Der Fehlwurf des Balles durfte vielleicht
nicht ausbleiben, das scheinbare Mittel zum Zweck ist vielleicht, wie
oft in der Geschichte der Mythen, ursprünglich Selbstzwedi. Es war
schon von Sagen die Rede, in denen das Ballspiel eine große Rolle
spielt und in denen der Ball einmal in die Tiefe stürzt, statt
sein Ziel zu treffen, wie hier. Es zeigte sich, daß damit wahr*
scheinlich das Verschwinden der Sonne beziehungsweise des Mondes
gemeint ist. Dies Hinabstürzen wird man dem Untergang der Hirn*
meislichter vergleichen.«
Wir werden uns bei der Erklärung, daß der Ball bloß die
Sonne vorstellt, nicht beruhigen, sondern einer tiefer schürfenden
psychologischen Betrachtung einräumen müssen, daß der Sonnenball
hier ein Symbol des (väterlichen) Phallus 1 (unter Umständen auch
des weiblichen Genitales) ist. Die sexuelle Beziehung des Balles
erhellt aus nachfolgenden bei Fries erwähnten Beispielen:
In gewissen Gegenden Norddeutschlands ziehen die Burschen
und Mädchen zwei Sonntage vor Ostern zum Hause neuvermählter
Paare und spielen dort Ball 2 . Eine Mansfcldische Sage erzählt: Zur
Zeit der Tag= und Nachtgleiche saß ein Mann am Wege, um zu
ruhen. Da sah er auf. einmal vor sich einen schönen Garten mit
einem Schloß. Eine grüngekleidete Jungfrau erschien und verschwand
im Schloß. Dann standen neun Kegel da. Sechs Herren erschienen und
warfen mit Kugeln nach den Kegeln. Eine Stunde währte das Spiel,
dann verschwand alles 3 . In dem dänischen Lied von Jung Svendal
wird erzählt, daß der Held Ballspielen wollte. Aber der Ball flog
in den Jungfrauensaal, er sucht ihn und ihm wird die Aufgabe ge=
stellt, eine Jungfrau zu erlösen 4 . Das Märchen vom Froschkönig''
gehört auch hieher. Besonders bemerkenswert sind die Sagen vom
mißlungenen Ballwurf, der zur Erlösung eines Unglücklichen, Ver=
zauberten führt. In der griechischen Mythologie wird erzählt, daß
die drei Graien mit ihrem gemeinsamen Auge Fangball spielen. Die
1 Analysen von Neurotikern und Geisteskranken, die durch Tatsachen der
Völkerpsychologie bestätigt werden, haben nämlich die bisexuelle Symbolik der
Sonne, die nicht bloß den Vater (beziehungsweise dessen überwachendes Auge
oder seinen Glanz), sondern auch die Mutter darstellt, unzweideutig erwiesen.
Wenn wir aber die Identität von Auge und Sonne anerkennen, so kann nach
Abraham (Einschränkungen und Umwandlungen der Schaulust, Jahrb. 1914> auch
der Sonne die gleiche phallische Bedeutung wie dem Auge des Vaters zuge=
schrieben, werden. Reiches, namentlich aus Traumanalysen stammendes Beweis-
material (vgl. die Arbeiten von Rank, Jones, Bleuler, Eder u. a.) läßt mit Gewiß-
heit erkennen, daß das Auge bald männliche, bald weibliche Genitalbedeutung
haben kann.
- Kuhn und Schwarz, Norddeutsche Sagen, Märchen und Gebräuche, S. 372
Mannhardt, Baumkultus, 471 ff., 488 ff.
3 Größler, Sagen aus Mansfeld, S. 52.
4 Wislicenus, Symbolik von Sonne und Tag, S. 31 f. Zürich 1867.
5 Grimm, Märchen 1.
i
y
Die Nausikaaepisode in der Odyssee 363
Graien erinnern an die in den Sagen sehr verbreiteten Wesen, die
nur ein Auge besitzen, das sich mitten auf der Stirn befindet
<Polyphem>'. Wenn wir uns der oben aufgestellten Gleichung: Auge
= Sonne = Genitale erinnern, werden wir verstehen, wieso die
Naturmythologen zu ihrer solaren Deutung derartiger mythologischer
Gestalten kamen. Aeschylus (Prometh. v. 791 ff.) gibt eine Schilde-
rung der Phorkiden <= Graien), die er als xvüvöfMOQCpOU, von Schwanen--
gestalt bezeichnet. Die Schwanenjungfrauen werden weiter unten
mit den Phäaken zusammengestellt.
Ein mittelamerikanischer Mythus mag die Reihe der Beispiele
beschließen. Auf dem Ballspielplatz läßt der Sonnengott Uitzlopochtli
ein Loch für das Hindurchgehen des Balles anlegen, das Loch wird
zum Brunnen, auch ringsum breitet sich Wasser aus, in dem allerlei
Gewächse, darunter Zypressen, gedeihen. Diese Befehle erteilt der
Gott unsichtbar, d. h. vor dem Sonnenaufgang. Darauf erscheint er,
opfert seine Schwester, den Mond, an dem Loche des Ballspielplatzes
und reißt auch den Sternen das Herz heraus. Sich umsehend, durch*-
bohrt er dann das Wasser der Morgenröte und bringt es zum Ab=-
laufen. Waitz <Anthrop. d. Naturvölker, I, 464, Anm.) erwähnt,
daß der nämliche Gott Uitzlopochtli von einem Weibe geboren
wurde, das einen vom Himmel herabfliegenden Federball in ihrem
Busen aufnahm. .
Nach Preuß 2 hat das Ballspiel 3 den zLauberzweck, Erfolg,
Glück und Gesundheit herbeizuführen. Es handelt sich wohl um
Glück — in der Liebe.
Das dem Ballspiel folgende Auftauchen des Odysseus, das
wir oben als Geburt gedeutet haben, läßt ohnehin im Sturz des
Balles neben der oberflächlicheren, astralen Bedeutung ein Symbol
des Sexualaktes vermuten.
Gegenüber dem Umstände, daß Nausikaa vor dem nadcten
Manne, der sich selber scheut, vor den Mädchen zu baden, keinerlei
Empfindung der Scham zeigt, muß das Bedenken der Jungfrau auf*
fällig scheinen, sich vor anderen Leuten in Begleitung des Odysseus
sehen zu lassen, mit ihm zu »gehen« (vgl. »marcher avec quelqu'un«,-
Inzestscheu?). Wir werden auch hier — trotz der durch logische
und psychische Gründe gebotenen Entstellung - an die von Freud
nachgewiesene Pubertätsphantasie des Sohnes erinnert, der gegen
die Mutter den Vorwurf der Untreue <mit dem Vater) erhebt. Der
brünstig erflehte Gott wird nämlich in einen Gegensatz zu den
Jungen, die sie mißachtet, gebracht 4 .
1 »Das« Auge ersetzt ein Organ, das nur in der Einzahl vorhanden ist
(Abraham, op. cit. S. 38>.
2 Zeitschr. d. Ges. f. Erdkde, S. 364 ff. Berlin 1905, Globus LXXXV1I,
S. 136 ff.
3 Wie eine endopsychische Wahrnehmung des inzestuösen Charakters des
Ballspieles ersdieint es, wenn Makk. 2, 4, 14 das Ballspiel als eines der heidnischen
Greuel verurteilt, mit denen man Israel verderben will.
4 Od. VI, 280 u. ff.
364 Dr. Alfred Winterstein
Bevor Odysseus die Phäakenstadt betritt, verhüllt ihn der
Nebel der Athene allen Blicken. Kurz darauf begegnet ihm die
Göttin in Gestalt eines wasserholenden Mädchens. Man fragt sich
zunächst: Warum das? denn erstens ist es Abend, wenn der Fremdling
in die Stadt kommt, und zweitens bedarf es wahrhaftig keiner
göttlichen Führerin, um dem Odysseus das Haus des Alkinoos, das
nach Nausikaas eigenen Worten leicht kenntlich ist, zu zeigen,- jedes
beliebige junge Mädchen würde für diese Aufgabe genügen.
Rank hat auch hier Licht in die Frage gebracht, indem er auf
die positive Betätigung der Schaulust mittels der eigenen Unsicht-
barkeit hinwies. Athene, die dem Helden in allen schwierigen Lagen
schützend zur Seite steht, hat ja zweifellos hervorragend mütter^
liehen 1 Charakter. In dem Geborgensein, das dem Kind unbehin«
dertes Beschauen des weiblichen Genitales gestattet und gleichzeitig
Sicherheit vor allen Belästigungen durch die Außenwelt gewährt,
schaffen sich sowohl der Inzestwunsch wie die Mutterleibsphantasie
Erfüllung. In der Absicht, Odysseus vor Fragen 2 der Phäaken zu
bewahren, klingt das typische »Frageverbot« an.
Odysseus wird bei Alkinoos aufs gastfreundlichste aufge=
nommen, der König verspricht ihm baldiges Geleit in die Heimat,
eine' prächtige Lade mit Geschenken wird ihm überreicht, Wettspiele
werden dem Fremdling zu Ehren veranstaltet, Alkinoos trägt dem
unbekannten Mann *» sonderbar genug - seine eigene Tochter
an: aber noch immer bleibt die Frage, »wer er sei, woher?« unbe=
antwortet,- erst nachdem Demodokos zur Leier gegriffen und das
Lied von Aphroditens und Ares' verbotener Lust und die Mär vom
hölzernen Pferd gesungen hat, legt Odysseus von sich und seinen
Abenteuern Rechenschaft ab.
Nun hat Rank in seiner Untersuchung über die »Lohengrin-
sage« als Grund des Frageverbotes die Ermöglichung der Mutterehe
angegeben,- soll der Sohn die Mutter heiraten können, so ist natür*
lieb die erste Bedingung, daß der Inzest unbewußt vollzogen werde 8 .
Voraussetzung für die Durchführung ist aber auch die unerkannte
Beseitigung des rivalisierenden Vaters; beide Gegenstücke sind in
der Oedipussage psychologisch folgeriditig ineinander gearbeitet. .
Die Odyssee scheint zunächst keines der beiden Motive zu
enthalten, wenn wir jedoch auf die manchmal geradezu raffinierte
Art der Dichtung Bedacht nehmen, so wie der Traum psychologisch
Bedeutsames durch unwesentliche Details und Verschiebung auf
Nebenepisoden, die keinen manifesten Zusammenhang mit der
1 Audi nach Jensen, auf dessen Werk wir weiter unten zurückkommen,
ist ein Zusammenhang zwischen der Wasserträgerin und der Mutter des Helden
wahrscheinlich.
1 >Daß ihn keiner im adligen Volk der stolzen Phäaken
Fand und fragte ihn aus und kränkte mit Spotten sein Herze.«
<Od. VII, 16, 17.?
3 Ebenda S. 98.
Die Nausikaaepisode in der Odyssee 365
Haupthandlung zeigen, zu maskieren, dürfen wir vielleicht die ge-
suchten Motive in dem Wettkampf des Euryalos mit dem Odysseus
und in der Demodokoseinlage, die die Liebe des Ares und der
Aphrodite besingt, wieder erkennen. Odysseus, bei dem die Doppelt
rolle als Sohn und eigener Vater auch äußerlich abwechselnd zum
Ausdruck gelangt — er wird bald an Schönheit mit einem Gotte
verglichen, bald mit »Fremdling, Vater« angeredet «-> wird bei den
Wettkämpfen, die unter der Leitung des Laodamas, des Sohnes des
Königs, dem Gastfreund zu Ehren stattfinden, von Euryalos mit
spottenden Worten gereizt und zur Teilnahme herausgefordert.
Vorerst ein Wort über den Agonvorsteher. Es ist der nämliche
Laodamas, den Alkinoos nach Eintritt des Odysseus in den Königs*-
saal auf eine Bemerkung des Echeneos hin aufstehen heißt — worin
Mülder 1 einen Zug des Bearbeiters erblicken will, der die Absicht
hatte, Laodamas, der in dem benutzten Gedichtbruchstück bei den
Spielen eine so selbständige Stelle innehat, in ein Verhältnis der
Unterordnung zu Alkinoos zu bringen, aber so, daß er doch geeignet
blieb, den König in einem besonderen Fall zu vertreten.
Laodamas, der dem Odysseus den Platz einräumt und den
im Agon zu bekämpfen Odysseus sich weigert 2 , gehört — nicht
unähnlich dem Laertes im »Hamlet« — in die Reihe der Vaterfiguren,
wie Alkinoos 3 <der mächtige, gütige Vater), Euryalos <der Vater
als Rivale bei der Mutter), Hephaistos <der betrogene Vater), Helios
<der allwissende Vater) und Poseidon (der zürnende Vater).
Durch die höhnenden Worte des Euryalos gereizt, ergreift
Odysseus den schwersten Diskos und wirft die sausende Scheibe 4
weit über alle übrigen hinaus. Der Widersacher, den Odysseus mit
Eurytos vergleicht, der sich mit Phoibos Apollon zu streiten vermaß
und deshalb vom Gotte getötet wurde, überreicht zum Zeichen der
Versöhnung dem Odysseus später ein Schwert als Geschenk: Das
Schwert tritt in Sagen und Mythen als typisches Symbol des mann-
liehen Gliedes auf, die Schwertübergabe ist hier vielleicht als Milderung
der ui sprünglichen Entmannung aufzufassen 5 .
Euryalos, »gleich an Gestalt dem zermalmenden Ares«, einer
der schönsten Jünglinge unter den Phäaken, ist sicherlich ein Freier
der Nausikaa fi . Als solcher, der so wie die Freier auf Ithaka \on
' Op. cit. S. 25.
"■ Od. VIII 207, 208.
3 »Wahrlich, ein Licht ging aus, wie Sonnen» oder wie Mondlicht,
Durch des erhabenen Herrn, Alkinoos, hohe Behausung.«
<Od. VII, 84, 85.)
* <Sonnen>scheibe = Penissymbol?
5 Vgl. Rank, Das Inzestmotiv in Diditung und Sage, Leipzig und Wien
1912, S. 269.
6 »Längst schon freien um dich die edelsten jungen Gesellen
Rings im phäakischen Gau, der dich und die Deinen geboren.«
<Od. VI, 34, 35.)
366 Dr. Alfred Winterstein
dem unerkannten Odysseus weggeschafft wird, spielt er die Rolle
des Vaters, eine antike Überlieferung will jedoch auch in ihm einen
Sohn des Odysseus sehen. Auf jeden Fall steht er in einer be-
sonderen Affektbeziehung zu ihm. Dieser Euryalos ist der Sohn
des Odysseus und der Euippe und Held einer sophokleischen
Tragödie/ Inhalt und Vorfabel der Tragödie lauten nach Wekker 1 :
Nach dem Siege über die Freier war Odysseus gewisser
Orakel wegen nach Epirus gegangen und hatte dort mit Euippe,
der Tochter seines Gastfreundes Tyrimmas, einen Sohn gezeugt,
namens Euryalos, den seine Mutter, als er herangewachsen war,
mit einem Erkennungszeichen und einem verschlossenen Brief nach
Ithaka sandte, um den Vater aufzusuchen. Odysseus war gerade
vom Hause abwesend und seine Gemahlin Penelope, die inzwischen
seinen Treubruch mit Euippe erfahren hatte, beschloß, sich zu rächen.
Sie bewog also den heimgekehrten Odysseus, bevor er noch die
Wahrheit erfahren konnte, den Euryalos als einen Feind zu töten.
So Wurde Odysseus, ohne es zu wissen, der Mörder seines Sohnes.
Rank 2 bemerkt dazu: »Daß die Gattin des Odysseus den
Mord aus Eifersucht veranlaßt, weist nicht nur auf den sexuellen
Hintergrund des Ganzen hin, sondern erinnert auch auffällig an den
Uriasbrief, den nach Uias <VI, 166 ff.) König Proitos dem Bellero-
phontes mitgibt, den die Gattin des Königs nach einem vergeblichen
Verführungsversuch beim König unerlaubter Nachstellungen be*
schuldigt. Hier schimmert eine tiefere Motivierung für die An-
schuldigungen des Euryalos durch die auch sonst von zudringlichen
Freiern belästigte Penelope und für die Mordtat des Odysseus aus
Eifersucht durch, der ja auch sonst die seiner Gattin unbequemen
Freier skrupellos tötet.«
Zusammenfassend können wir sagen, daß der Kampf zwischen
Vater und Sohn im Agon zwischen Odysseus und Euryalos bereits
ein sehr fortgeschrittenes Verdrängungsstadium erreicht hat a .
1 Zitiert nach Rank, Inzestmotiv, S. 180.
2 I. c.
3 Nach einem nicht erhaltenen Tragödienfragment des Sophokles: 'OfHxiattfc;
6y.av&o:i/.!ig ■/} Nl:noa (Odysseus vom Rochenstachel getötet oder das Fuß-
bad), dessen Inhalt wir aus der Tragödie Niptra des römischen Dichters Pacuvius
ergänzen dürfen, wird Odysseus von einem seiner unehelichen Söhne, von Telegonos,
dem Sohn der Kirke, unwissentlich getötet/ im Sinne der Sage tötet aber vorher
Odysseus seinen Sohn Telemachos durch ein Wurfgeschoß <einen Rochen Stachel).
Eine uns nur in Fragmenten erhaltene epische Fortsetzung des homerischen Ge-
dichtes, die »Telegonie« des Eugamnon, endigt mit zwei Eheschließungen: Telegonos
nimmt die Witwe seines Vaters, die Penelope, zur Frau, "während Telemachos,
sein ehelicher Sohn, die Kirke, die Mutter des Telegonos, heiratet.
Entspricht der nichterhaltene »Euryalos« den Gefühlen des Vater gewordenen
Sohnes, also dem Haß gegen den Sohn, der so zugleich im Sinne der Vergeltung
die Bestrafung empfängt <bei Homer scheint Euryalos als Rivale bei Nausikaa
noch die Rolle des Vaters zu spielen), so realisiert der »Telegonos« die Empfindungen
des Sohnes, also den Haß gegen den Vater in Verbindung mit der Neigung zur
Mutter. In der Tötung des Odysseus liegt auch eine reuige Selbstbestrafimg des
Vater gewordenen Sohnes vor (vgl. Rank, Inzestmotiv, S. 17S u. ff.).
J
Die Nausikaaepisode in der Odyssee 367
Was nun folgt, berührt uns einigermaßen seitsam. Ohne zu=
längliche Worte der Anerkennung für Odysseus zu finden und ohne
Euryalos gleich aufzufordern, sich mit jenem zu versöhnen — was
erst nachträglich geschieht — , behauptet Alkinoos plötzlich, die Phäaken
seien eigentlich gar nicht Kämpfer und Ringer, ihre Lieblingsbe=
schäftigungen seien vielmehr Tanz und Saitenspiel. Indes die Tänzer
»auf der Vielernährerin Erde« 1 tanzen, singt Demodokos zur Leier
das Lied von Aphroditens und Ares' verstohlener Lust.
Rank hat in seiner schon öfter zitierten Abhandlung über »die
Nadctheit in Sage und Dichtung« auch die Demodokoseinlage zum
Gegenstand einer eindringenden Untersuchung gemacht. Mit Recht
hebt er hervor, daß diese sdieinbar ganz äußerlich und beziehungs^
los eingeflochtene Erzählung »mit der ihr unmittelbar vorausgehenden
Nausikaaepisode in der allerinnigsten, tiefstreichenden Beziehung
steht und es so die größte innere Wahrscheinlichkeit gewinnt, daß
diese beiden psychologisch aufs engste verknüpften Partien der Odyssee
aus der Seele desselben Dichters oder mit Rüdisicht auf ihre un^
sichere (mythologische) Herkunft aus dem gleichen psychischen Komplex
entsprungen seien. Demodokos erzählt, wie der schöne Ares mit der
goldenen Aphrodite, der Gattin des mißgestalteten Hephaistos, gebuhlt
habe. Als der gekränkte Gatte von dem Allseher Helios die sichere
Kunde erhält, daß er die beiden in geheimer LImarmung gesehen
habe, ersinnt er eine feine Rache, Er schmiedet, um die beiden fest
auf ewig zu binden, starke und unauflöslidie Ketten, dabei aber:
,Zart wie Spinnengewebe, die keiner zu sehen vermöchte,
Selbst von den seligen Göttern: so wunderfein war die Arbeit!'
Diese kunstvollen Fesseln hatte er in seinem Hochzeitsgemach
im Bereiche des Ehebettes derart ausgebreitet, daß er damit die beiden
Verliebten im gemeinsamen Schlummer festbannen konnte <v. 298) :
,Und sie vermochten kein Glied zu bewegen oder zu heben,
Aber sie merkten es erst, da ihnen die Flucht sdion gehemmt war.'
Zu diesem Schauspiel ruft nun Hephaistos alle Götter herbei,
,aber die Göttinnen blieben vor Scham in ihren Gemächern' <v. 324),
und befreit die beiden Liebenden nicht früher aus ihrer peinlichen
Situation, bis er von dem einzigen ernst gebliebenen Poseidon die
Zusicherung der Genugtuung empfangen hat.
Wir stoßen also hier wieder wie in der Nausikaasage auf die
poetische Einkleidung der peinlichen Empfindung des Gehemmtseins,
welche die offenbar in ihrer Nacktheit zur Schau gestellten Liebenden
der großen Götterversammlung gegenüber befällt, die den Vorlall
zwar nicht teilnahmslos, aber immerhin mit einer für uns befremde
liehen Heiterkeit aufnimmt. Die Scham der beiden Bloßgestellten
wird als selbstverständlich nicht näher beschrieben,- es wird nur er-
1 Od. VIII, S. 378.
368 Dr. Alfred Winterstein
wähnt, daß sie im Augenblicke der ,Lösung' hurtig davonsprangen
und daß Aphrodite sich beeilte, möglichst bald wieder nach Kypros
zu ihren Charitinnen zu kommen, die sie ,mit schönen und wunder-
vollen Gewanden schmückten' <v. 366>«.
Im weiteren Verlaufe der Untersuchung heißt es dann:
»Während in der Traumsituation wie in der Nausikaaszene die
Hemmung als rein psychische Sensation empfunden und dargestellt
wird, ist sie in der göttlichen Liebesgeschichte als Fesselung ver*
sinnlicht, objektiviert, und es tritt uns diese gewissermaßen rationa*
lisierte Form der Motivgestaltung bei weitem öfter entgegen, als
die rein psychologische. Mag nun dieser Projektion der seelischen
Empfindung nach außen das Bedürfnis einer logischen Erklärung für
die unverstandene Sensation zugrunde liegen oder mögen andere
uns noch unbekannte Motive an dieser Veräußerlichung Anteil haben,
immerhin macht es gerade das Demodokoslied unzweifelhaft, daß
das Motiv der Fesselung als Objektivierung der rein subjektiven
Traumhemmung aufzufassen ist. Nicht so sehr, weil das Gefühl
der Hemmung die beiden Buhlenden im Schlafe <Traum> befällt, als
deswegen, weil ja die Fesseln hier ausdrücklich als unsichtbare
Bande geschildert werden, was einem getreuen sprachlichen Abbild
der unerklärlichen Traumhemmung entspricht.«
Soweit Rank. Indem ich in der Vereinigung des Ares mit der
Aphrodite den entstellten Ausdrudt eines Inzestes 1 zwischen Sohn
und Mutter erblicke, setze ich mich nicht in Gegensatz zu ihm,
glaube vielmehr, seine Betrachtungsweise zu ergänzen.
Für den inzestuösen Gharakter der Szene spricht der Betrug
am hinkenden 2 Herrscher Hephaistos, dem rechtmäßigen Gemahl, und
ein weiteres Detail, auf das in anderem Zusammenhange zuerst K.
Abraham' 1 aufmerksam gemacht hat. Einmal heißt es:
»Helios hatte von fern ihr buhlerisch Treiben gesehen.«
An einer anderen Stelle:
»Helios machte den Späher und hatte ihm alles gemeldet.«
1 Audi rein mythologisdi findet ein Inzest zwischen Geschwistern statt.
Die Demodokoseinlage entspricht dem Schauspiel im »Hamlet« (vgl. Rank,
Das »Schauspiel« in »Hamlet«, Imago, IV, 1915, Heft 1>. Wie .für Hamlet das
Schauspiel die Handlungen ersetzen muß, die er infolge mächtiger innerer Hem-
mungen nicht ausführen kann, so tritt die vom Sänger geschilderte Vereinigung
zwischen dem Gott und der Göttin infolge des heftigen psychischen Widerstandes
an Stelle des Inzestes zwischen Mutter und Sohn.
s Hinken als symbolischer Ersatz der männlichen Schwächung und Kastration.
Hephaistos hat seinem Vater diese Entstellung zuzuschreiben, da ihn dieser aus
Zorn über die Parteinahme für die Mutter beim Fuße packte und aus dem Himmel
schleuderte. Motiv der Vergeltung. .
Nach der Darstellung auf der Francoisvase kehrt Hephaistos, als Kind in
die Flut versunken, später im bacchischen Festzug, von Dionysos selber begleitet, in
den Olymp zurück, wo er seine gefesselte Mutter befreit.
8 K. Abraham, Einschränkungen und Umwandlungen der Schaulust usw.,
Jahrbuch für Psychoanalyse, VI, 1914, S. 32.
Die Nausikaaepisode in der Odyssee 369
Helios führt in den homerischen Gedichten ständig den Bei-
namen: »der alles beobachtet und belauscht.« Das alles beobach-
tende Auge ist nun — wie auch aus zahlreichen Analysen von
Ncurotikern und Psychotikern hervorgeht — das Auge des Vaters.
Die Gleichung Vater == Sonne ist der Psychoanalyse bereits
geläufig.
Wir verstehen von hier aus auch, warum Poseidon der einzige
ernst gebliebene Zuschauer ist. Er identifiziert sich eben mit dem
betrogenen Vater. »Wer den Schaden hat, braucht für den Spott
nicht zu sorgen.« Die Hemmungsempfindung aber ist nicht nur durch
den Widerstreit zwischen Entblößungstrieb und Verdrängung deter-
miniert, in ihr findet gleichfalls der Widerstand gegen den Inzest,
der eine weitgehende Entstellung der ursprünglichen Szene herbei*
geführt hat, noch einmal seinen Ausdruck. Wie weit in der Schau-
stellung des buhlenden Paares eine Bestrafung vorliegt, steht dahin.
Nachdem Demodokos beim Festmahl noch die Mär vom
hölzernen Pferd gesungen hat, wird Odysseus neuerlich aufge-
fordert, seinen Namen und seine Herkunft zu künden/ endlich gibt
er sich zu erkennen und beginnt die lange Erzählung seiner
Abenteuer.
Entzückt lauschen die Zuhörer bis in die späte Nacht seinen
»AstoXoyoM, er erjyirbt sich bei ihnen Ruhm und Anerkennung.
»Also sprach er/ und allen erstarb das Wort in der Kehle,
Daß sie Bezauberung hielt ringsum im schattigen Saale.«
Der König aber schmeichelt ihm:
». . . dein Wort klingt süß/ und innen wohnet die Klugheit.
Wahrlich, du hast es uns allen beredt wie der Sänger verkündet,
Aller Adiäer traurig Geschick und deines besonders.«
Der nächste Tag vergeht mit den Vorbereitungen für die Ab-
reise des Heide». Die Abfahrt erfolgt bezeichnenderweise erst nach
Sonnenuntergang. ^^ ^^
Wandte das Haupt gar oft zu des Helios blendender Leuchte,
Wünschend, sie tauche hinab. Sein Herz verlangte zur Heimat.«
Wir werden an die geheimnisvolle Abfahrt des Schwanritters
erinnert, die als Ausdruck seines Todes zu. deuten ist, den »die
mythische Phantasie in Übereinstimmung mit kindlichen und neu-
rotischen Vorstellungen als Abreise in ein fernes Land, als eine
Rückkehr in den Mutterleib faßt« 1 .
Auch in unserem Epos heißt es:
»Fiel ihm auch wirklich ein Schlaf, unlösbar, über die Lider,
Ohn' Erwachen und süß, dem Tod aber nächstens vergleichlich.«
<Od. XIII., 79, 80.)
1 Rank, Lohengrinsage, S. 51.
Imago VI/4 24
370 Dr. Alfred Winterstein
Hiemit erledigen sich Mülders 1 Zweifel, der nirgends die Spur
einer Begründung für den seiner Ansicht nach merkwürdigen Bescheid
des Alkinoos findet, daß Odysseus schlafend befördert werden soll.
Der Held »stirbt in gleicher Weise, wie er zur Welt gekommen
war, er kehrt an den Ausgangspunkt seiner Lebensreise, in die
Unterwelt, wie die Mythologen sagen, in den Mutterleib, wie uns
die Symbolik der Volksmeinung gelehrt hat, zurück, von wo er
einstens, vielleicht auch nach einem früheren Tode, ausgegangen
war und nach seinem jetzigen Tode wieder ausgehen wird« 2 .
So wie Odysseus nach zwanzigtägiger Fahrt von der Insel
der Kalypso zu den Phäaken gelangt ist, kehrt er auch nach zwanzig^
jähriger Abwesenheit nach Ithaka zurück.
Jammernd erkennt er die Heimat nicht 3 , als ein fremder Bettler
kommt er in die Stadt zu Penelope und muß den Kampf mit den
unwillkommenen Freiern aufnehmen, um sich sein Weib wieder zu
gewinnen.
So sehen wir auch hier jene zyklische Form des Mythus, die
Rank in Anlehnung an Wilhelm Müller 4 als Eigentümlichkeit der
Lohengrinsage festgestellt hat. Sie wird uns — nach Ranks eigenen
Worten — psychologisch verständlich aus der Jünglingsphantasie,
sein eigener Vater zu sein, die eben in der zyklischen Form des
Mythus ihren »funktionalen Ausdruck« <H. Silberer) gefunden hat.
Glauben wir, in der psychologischen Analyse der Phäakenepisode
die ursprünglichen Elemente des zugrundeliegenden Mythenmateriales :
geheimnisvolle Ankunft, Heirat und Abfahrt des Helden, erkannt zu
haben, so erübrigt uns nur noch, der Frage nach der Einheitlichkeit
der Phäakenepisode von dem von uns gewonnenen Standpunkt aus
näher zu treten.
Die durch den gleichen psychischen Komplex bedingte innere
Zusammengehörigkeit ist zweifellos vorhanden, mag es sich nun in
unserem Fall um die Seele eines einzigen Dichters, von dem uns
aber jede Nachricht fehlt, handeln, oder um einen D,jchter=Bearbeicer,
der eine Anzahl kleinerer selbständiger epischer Gesänge von ver=
schiedenen Dichtern, die altüberliefertes Mythenmaterial verwerteten,
auf Grund der gleichen in ihm wirksamen Komplexe zu einem
einheitlichen Gebilde verschmolz 5 .
Von der Annahme ausgehend, daß dem Mythus von Odysseus
ein nicht mehr verstandener Ritus zugrunde liegt, gelangt auch Fries 6
1 1. c, S. 36.
s Inwieweit die geheimnisvolle Abreise des Odysseus auch umgekehrt als
ein Verlassen der Unterwelt aufgefaßt werden kann, wird weiter unten klar werden.
3 Auch ein Ölbaum spielt hier wieder eine Rolle wie bei der Landung in
Scheria.
4 Die Sagt vom Schwanritter (Germania*, Vierteljahrsschrift für deutsche
Altertumskunde, herausgegeben von Franz Pfeiffer. I. Jahrgang, Stuttgart 1856,
S. 418 4—41).
Ä Vgl. Rank, Die Nadctheit usw., S. 278.
6 Op. cit., S. 315 ff.
Die Nausikaaepisode in der. Odyssee 371
zu dem gleichen Ergebnis hinsichtlich der inneren Geschlossenheit
der Phäakenepisode, ja darüber hinaus zu einem Urteil über die
ursprüngliche Zugehörigkeit der Apologe zu dieser.
Odysseus ist ein Frühlingsgott,- wir finden hier die aus Sagen
und volkstümlichen Gebräuchen bekannte Laubeinkleidung und ßin=
holung, »wobei das Laub wohl auf die neue Vegetation der bisher
winterlich nackten Erde hindeutet«. Das Reinigungsbad soll an das
Plynterienfest erinnern, bei dem das Idol der Gottheit zum Strome
hinausgefahren, gewaschen, mit neuer Gewandung versehen und in
die Stadt zurückgeführt wird. Nausikaa fährt allein im Wagen hinaus,
die anderen Mädchen gehen nebenher,- in einigen Kulten hatten die
Priesterinnen das Vorrecht, im Wagen zu fahren. »Der Weg, den
die Prinzessin dem Odysseus beschreibt, entspricht der Prozessions^
Straße, auf der der Gott vom fernen Tempel in die Stadt zurück*
gebracht wird. Auch für sein Zurückbleiben vor der Stadt finden
sich Entsprechungen. Das Kultbild mußte heimlich, vor ungeweihten
Blicken geschützt, zurückgeführt werden.« Der Königspalast ist der
Tempel, den die Gottheit nach den Plynterien neu bezieht. Im
Vergleich des Glanzes der Behausung mit Sonnen* und Mondlicht 1
und in den an verschiedenen Stellen genannten Zahlen erblickt Fries
einen Hinweis auf astrale Motive. Im Wettkampf- des Odysseus
mit Euryalos offenbart sidi Kampf und Sieg des Lichthelden über
den Drachen, das Nachtungeheuer. Wie auf den Sieg des Lichtgottes
Jubel und Lustbarkeit folgt, schließen sich an die Euryalosepisode
die orchestischen Darbietungen der Phäaken an. Tanz und Spiel mit
dem Purpurball, ausgeführt von Halios und Laodamas, symbolisieren
auch deutlich den Lichtkampf. Den Höhepunkt der Festzeit aber
bezeichnet die große Erzählung von den Leiden und Gefahren, die
Odysseus überstanden hat. In den Apologen will Fries die Kult-
legende wiedererkennen/ die der Priester in der Maske des Gottes
Hier wirft sich die Frage auf: Sind die » 'AjtoXoyoi«. ursprüng-
licher Bestandteil des Phäakenliedes oder für einen späteren Zusatz
zu halten? Aus der Verschiedenartigkeit der Stimmung einen Schluß
zu ziehen, erscheint Fries nicht möglich, da er in beiden Partien
das gleiche helle Kolorit, den gleichen Humor entdeckt, der sich vom
trüberen Hintergrund der in Ithaka spielenden Gesänge deutlich
1 Beziehung zu den Eltern. . .
* Ich vermag mich nicht der Ansicht Fries anzuschließen, daß d.esem speziel en
Mythus ein spezieller Ritus zugrunde liegt, wenn ich auch nicht daran zweifle, da»
im allgemeinen der Ritus das Primäre ist, aus dem sich der Mythus entwickelt,
sobald der ursprüngliche Sinn des Ritus nicht' mehr verstanden wird, hs durfte
aber auch Mythen geben, die auf andere Weise entstanden sind.
In den Zügen der Phäakenepisode einen Wiedergeburtsritus (Tötung und
Geburt aus Poseidon) zu erkennen, wie einige wollen, erscheint mir gezwungen/
was sich zugunsten dieser Anschauung anführen läßt, erklärt sich eben aus der
Ärmlichkeit der Symbolsprache des Unbewußten, die da und dort notwendigerweise
die gleichen Bilder verveendet.
372 Dr. Alfred Winterstein
abhebt 1 . Auch die sich in der Einführung der langen Erzählung
kundgebende feine künstlerische Kompositionsgabe würde die Ent*
Scheidung zugunsten der ursprünglichen Einheitlichkeit beeinflussen.
Trotzdem ist das künstlerische Verdienst nach Fries nicht dem Dichter
der Odyssee, sondern einem viel älteren Dichter zuzuschreiben. Im
Gilgameschepos erzählt mitten in der Darstellung der »Vater«
Utnapischtim <auch Xisuthros genannt) in breitester Ausführlichkeit
sein Flutabenteuer, d. h. die Sonnenlegende in Form der Flut-
erzählung. »Das Epos feiert nichts als den Sonnenheros Gilgamesch,
der den Tierkreis durchwandert. Inmitten des Weges lauscht er dem
Bericht des Greises, der in anderer Form wieder die Flutlegende
vorträgt« (Fries).
Im ersten Band seines Werkes: Das Gilgameschepos in der
Weltliteratur, hat P. Jensen einen zweiten (bisher nicht erschienenen)
Band mit Ausführungen über Homer, die Odysseus- und andere
griechische Sagen angekündigt. Aber schon aus jenem Buche kann
das über Odysseus zu Sagende zum guten Teil herausgelesen werden f
wir werden uns auf .einige Bemerkungen über die Gestalt der
Nausikaa beschränken und so, der zyklischen Form Rechnung tragend,
zum Ausgangspunkt unserer Betrachtungen zurückkehren.
Vorausgeschickt sei, daß Jensen eine Wanderung der Gilgamesch=
sage nach Griechenland über Südisrael vermutet.
Zwar sagt der keilinschriftliche Bericht direkt nichts über eine
Tochter des entrückten Xisuthros <die Jensen mit der griechischen
Nausikaa identifiziert), aber der Bericht der Berosus, eines babylonischen
Priesters im 3. Jahrhundert vor Christus, tut ihrer Erwähnung und
eine Tochter des entrückten Xisuthros, die bei dem Entrüdtten
wohnt, kennt die israelitische Gilgameschsage so gut wie die griechische.
Das Gilgameschepos weiß, soweit erhalten, im Gegensatz zur israeli-
tischen Gilgameschsage 2 nichts von einer mit Gilgamesch oder etwa
ihm und seinem Begleiter hurenden Xisuthros-Tochter — so wenig
wie die griechische Gilgameschsage in ihrem manifesten Inhalt. Jensen
läßt die Frage" offen, ob dieses Novum sich erst auf israelitischem
Boden entwickelt habe oder bereits auf dem Wege von Babylonien
nach Palästina entstanden sei. Er hält es nicht für unmöglich, daß
das anscheinend neue Motiv in der israelitischen Sage dem Doppelsinn
eines oder zweier hebräischer Wörter (hinter dem Wohnen versteckt
sich ein einstiges Beiwohnen) zu verdanken sei 3 .
1 Vgl. die weiter unten gebotene tiefere Motivierung hiefür.
2 Z. B. Rahab, Thamar, die Hure von Gaza, die Tochter des alten Mannes
in Gibea (Gilgameschsage in Ephraim), Abisag, Sara.
3 Von den zwei Kundschaftern in Jericho heißt es in der Josuasage, daß
sie in das Haus der Hure Rahab kommen und sich schlafen legen, von Simson,
daß er zu der Hure in Gaza kommt und in ihrem^ Hause schläft. Der in beiden
Geschichten gebrauchte Ausdruck für »kommen«, bö, bedeutet aber in Verbindung
mit el — »zu« auch »begatten« und ebenso ist auch das für »sich schlafen legen«
oder »schlafen« in beiden Geschichten gebrauchte Wort, schäkab, doppelsinnig und
bedeutet gleichfalls »begatten«. <Jensen, S. 495.)
.
Die Nausikaaepisode in der Odyssee 373
Aus den Ausführungen Jensens ergibt sich deutlich, daß im
Unbewußten die Hierodule, die Eabani bei der Wasserstelle trifft,
= der buhlenden Göttin Ischtar == der Göttin der Weisheit und
Schutzgottheit des Lebens Siduri = der Gattin des Xisuthros =
der Mutter des Gilgamesch zu setzen ist, d. h. jede einzelne Frauen-
gestalt bedeutet im Gilgamesdiepos eine Abspaltung, die Personifi-
zierung einer Tendenz der Mutter, richtiger: eine Projektion einer
der verschiedenen psychischen Einstellungen des Sohnes gegen sie.
Die später hinzugekommene Xisuthros /Tochter bildet das letzte Glied
in der Gleichung.
Jensen weist nun in schlagender Weise Parallelen zu den
Muttergestalten des babylonischen Epos in der gesamten israelitischen
Sage bis zur Jesussage nach. Ich muß mir leider versagen, Einzelheiten
anzuführen, da dies den Rahmen meiner Arbeit überschreiten würde,
möchte nur auf einige Gegenstücke zur Begegnung des Odysseus
mit Athene in Gestalt eines wasserholenden Mädchens aufmerksam
machen, von denen diese Episode neues Licht empfängt.
Jensen, nach dessen Annahme der jährliche Sonnenlauf und
das Gilgameschepos sich decken 1 , stellt in einem einleitenden Kapitel
eine Übereinstimmung zwischen dem Aufenthalt des Gilgamesch bei
Xisuthros (entspricht der Phäakenepisode) und dem Stande der Sonne
im Zeichen des Wassermannes oder Wasserkruges fest 2 .
Ich möchte aber nicht so sehr aus dem Namen des Wasser-
kruges eine Beeinflussung der Odyssee* Szene ableiten, da wir ja nicht
wissen, ob die Babylonier den Wassermann oder Wasserkrug hatten,
ein passenderes Vorbild bietet sich uns in der Hierodulenepisode,
in der Eabani bei der Wasserstelle die Hierodule erblickt und zu
ihr in Liebe entbrennt/ sie verlockt ihn, in die Stadt, nach Erech,
zu ziehen, wo gerade ein Fest gefeiert wird, Frauen und Mädchen,
die ihnen begegnen, zeigen ihm den Weg zu Gilgamesch. Jensen
liefert dazu Parallelen in Sauls Brunnenszene; in ähnlichen Szenen
in der Moses«, Jakob-, Isaak-, Tobias-, Elias-Sage 3 und schließlich
in Jesu Begegnung mit dem samaritanischen Weib am Brunnen in Sichar.
Auch mit der Märchen* und Sagenwelt anderer Völker bietet
die Odyssee die merkwürdigsten Übereinstimmungen.
Jülg hat im Jahre 1868 auf der Würzburger Philologenver-
Sammlung einen Vortrag Ȇber die griechische Heldensage im
1 »Das Gilgameschepos bietet in seinem Kern eine Darstellung der bemerkens*
wertesten Ereignisse des Sonnenjahrs und des Sonnentages am Himmel und
auf der Erde unter Anlehnung an das scheinbare Lokal und die Richtung des
täglichen Sonnenlaufs.« (Op. cit. S. 109.) .'„,.«, wr _i <• i
s Gilgamesch unterzieht sich auf Xisuthros Befehl einer Waschung, auf Jesu
Befehl badet der Blinde im Teiche Siloah, vgl. die Waschung des Odysseus bei
den Phäaken.
3 »Moses, Jakob und Elieser treffen ein Mädchen an einem Brunnen und
begeben sich darnach in dessen Stadt oder doch an dessen Wohnsitz und Moses
und Jakob bleiben dort vorläufig und heiraten das Mädchen, um später dessen
Wohnsitz wieder zu verlassen.« <Op. cit. S. 580, 581.) -
374 Dr. Alfred Winterstein
Widerscheine bei den Mongolen« gehalten, worin er nachzuweisen
sucht, daß einzelne Hauptzüge der griechischen Heldensage, namentlich
der Odyssee, sich in dem mongolischen Heldengedichte »Die Taten
Bogda Gesser Chan's, des Vertilgers der Wurzel der zehn Übel
in den zehn Gegenden« wiederfinden. Manche Ähnlichkeiten sind in
der Tat überraschend/ uns interessieren hier die Stellen, die Jülg
mit der Nausikaaepisode in Verbindung bringt.
Gesser bricht auf, um an den drei Chanen von Schiraigol,
die ihm seine Gemahlin Rogmo Goa geraubt haben, Rache zu nehmen.
Den Gedanken und der Ausführung nach haben w[r des Odysseus
Szenen der Rache an den Freiern vor uns. Einzelne Szenen darunter
führen aber auch auf die von uns behandelte Episode. Ich lasse
Jülgs Schilderung folgen:
»Die Töchter der drei Chane von Schiraigol pflegen sich zu einer
köstlichen Quelle zu begeben, um Wasser zu holen und sich zu baden.
Als hundertjähriger Bettelmann lagert sich Gesser an diesem Brunnen.
Ahnlich wie Nausikaa zur Wäsche an den Fluß fährt, erscheint die eine
Tochter mit ihrem Gefolge am Brunnen,- wie Nausikaa und die Gespielinnen
Ball werfen, so spielen die Mongolinnen mit einer Obstfrucht und diese
fällt dem rücklings liegenden Bettler in den offenen Mund, wie jener Ball
der spielenden Phäakinnen den Odysseus aus seinen Schlummer weckt.
Staunen ergreift die Mädchen/ der Bettler bittet sie, ihm die Frucht zu
lassen und, da er sich nicht rühren könne, ihm auszuweichen. Doch sie
nehmen ihm die Frucht und schreiten über ihn hinweg. Der zweiten Tochter
mit ihren Gespielinnen begegnet das Gleiche, ebenso der dritten. Doch diese,
Tsoisum Goa, ganz Nausikaas Ebenbild, nimmt sich seiner an. Sie wird
auf Gesser aufmerksam durch den Traum einer ihrer Gespielinnen, gerade
wie Nausikaa infolge des Traumes sich zu den Waschtrögen begeben hatte.
Sie führt Gesser in der Gestalt eines Bettlerknaben an den fürstlichen Hof
des Vaters, ganz wie Nausikaa. Gesser weiß sich durch eine Menge von
Künsten hervorzutun. Wie Euryalos bei den Pkäaken <VIII. 160) den
Odysseus reizt und kränkt, so fordert hier Büke Tsagan Manglei den
Knaben Gesser spottend heraus, seinen Bogen zu spannen und den Ringkampf
mit ihm aufzunehmen. Gesser erwidert wie Odysseus <VIII. 165—185),
Bescheidenheit ratend. Und wie dann Odysseus den Diskus weit über alle
hinwegwirfi <VIII. 185—200) und sich seiner Kunst im Bogenschießen rühmt
<VIII. 216 ff.), ebenso spannt Gesser den Bogen, den jener für unspannbar
hielt, und tötet ihn im Ringkampf. Dann versetzt uns aber diese Probe mit
dem Bogen mitten unter die Freier/ wie Odysseus, so erhält auch Gesser
nur mit Mühe die Erlaubnis,- und wie das Abschießen des gespannten
Bogens durch alle Äxte hindurch für Odysseus der Beginn des Totengerichtes
über die Freier ist, so tötet dann auch Gesser im Ringkampf die aus-
gezeichnetsten Helden der drei Chane.«
Die Verjüngung des Odysseus und die Vermengung des Freier»
kampfes mit der Buryalosszene bestätigen gewissermaßen die Richtig»
keit unserer Deutung.
Wir werden weniger erstaunt sein, Anklänge an die Odyssee
in indischen Mythen und Märchen zu begegnen.
Die Nausikaaepisode in der Odyssee 375
G. Gerland (Altgriechische Märchen in der Odyssee, Magde-
burg 1869) weist namentlich auf die in der Märchensammlung des
Somadeva erzählte Geschichte des Brahmanen Saktiveda hin, der aus-
gezogen ist, um die Königstochter Kanakarekhä für sich zu gewinnen,
denn diese will nur einen Mann heiraten, der in der goldenen Stadt
war. Saktiveda gelangt nach mancherlei Abenteuern und Fährlich-
keiten in die goldene Stadt und in den königlichen Palast, »der von
diamantenen Säulen getragen und von goldenen Mauern umgeben
war«. Mit Recht vergleicht Gerland den Aufenthalt des Brahmanen
bei den Vidyädharen, den halbgöttlichen Bewohnern dieser Stadt,
mit dem Aufenthalt des Odysseus bei den Phäaken. Auch hier kommt
es zu einer Begegnung zwischen dem Helden der Erzählung und
der Königin, der jungfräulichen Tochter des Königs, die von einem
Traum erzählt, den sie vormals gehabt hat <»Mir erschien einst die
Mutter der Götter im Traum und sagte: Ein Sterblicher, meine Tochter,
wird dein Gemahl werden «>,• sie behauptet, sie habe alle trefflichen
Vidyädharen, die ihr Vater ihr. als Freier gebracht hätte, ausge-
schlagen — und sagt nicht Nausikaa dasselbe? Von ihrer bevor-
stehenden Vermählung mit Saktiveda ist die Rede, doch verstößt
dieser vorher gegen das Verbot, die mittlere Terrasse des Uartens
zu betreten. Vor dieser Terrasse war ein See, der ihn zum Baden
lockte. Als er wieder aus dem Wasser stieg, fand er am Ufer ein
prächtiges Roß, das er besteigen wollte,- allein mit einem kräftigen
Hufschlag schleudert es ihn in den See zurück, er taucht tief unter
und als er wieder emporkommt, findet er sich im Teich wieder, -der
in dem Garten seines väterlichen Hauses ist. Das erinnert an den
magischen Schlaf, in dem Odysseus in sein Vaterland entruckt wurde.
Erst nach neuen Gefahren und Anstrengungen gelangt oaktiveda
an sein Ziel. Wie Saktiveda, der ein anderes Mädchen in seiner
Heimat liebt (die in Wahrheit ihre Schwester ist), die Königin
wenigstens fürs erste nicht erhält, so verläßt auch Odysseus das Land,
um in seine Heimat zu seiner geliebten Gattin zurückzugelangen
Gerland zeigt nun an einzelnen Zügen die Verwandtschart der
Phäaken mit den Vidyädharen auf. Diese treten erst spat in der
indischen Mythologie auf, leiten sich wohl von den Apsarasen und
Gandharven ab und sind »Halbgötter mit himmlischer Weisheit mit
Unsterblichkeit, vollendeter Schönheit und GlüAsehgke.t begabt die
einen eigenen Staat und König für sich haben und mit den Menschen,
obwohl diese nur durch Wunderschicksale zu ihnen gelangen können,
in vielfachen Wechselbeziehungen stehen«. -
Es heißt dort weiter <S. 10, 11): »Die goldene Stadt der
Vidyädharen kann kein Sterblicher auffinden, wenn ihn nicht die
Götter oder die größten Abenteuer hinführen,- gelangt er aber hinein,
so geschieht dies plötzlich durch ein Wunder und zum größten Er-
staunen der Vidyädharen selbst, und geht er, so geschieht es un-
freiwillig und ohne daß er selbst Besinnung hat . . .« Bei den Phäaken
ist es nicht anders. Nausikaa ruft ihren Mädchen zu <Od. VI, 201 - 205):
376 Dr. Alfred Winterstein
»Noch reget er sicfi, der Sterbliche, lebet auch nie wohl,
Welcher zu uns herkommt in das Land der phäakischen Männer,
Feindschaft tragend und Streit,- denn sehr geliebt von den Göttern
Wohnen wir weit abwärts, in der endlos wogenden Meerflut,
Ganz am End'-und keiner der andern Menschen besucht uns.«
Und dieses Abgeschiedensein von den anderen Sterblichen, von
denen sie nur noch Rhadamanthys <Od. VII, 323) besucht hat, wird
oft und ganz besonders betont. Odysseus kommt, verschlagen vom
Sturm,, getragen vom Schleier des Leukothea, also mit göttlicher Hilfe
nach Scheria,- unbekannt durchwandelt er die' Stadt, bis plötzlich der
Nebel, den eine andere Göttin um ihn gegossen, sinkt, und er der
erstaunten Königin Knie umfaßt. Auch sein Gehen ist wunderbar
und ihm unbewußt: im Zauberschlaf, den ihm Alkinoos vorher ver=
kündet hat, und der
»unerwecklich und süß und fast dem Tode vergleichlich«
ist, wird er, ohne daß er es merkt, nach Ithaka gefahren und ans
Land gebracht,
»erwacht, und erkennt jammernd das Vaterland nicht,«
bis ihm wieder die Göttin die Augen öffnet. Das Land der Phäaken
aber verschwindet für immer den Augen der Sterblichen. Das Schiff,
welches ihn zurückgeführt hat und das von dem hierüber erzürnten
Poseidon in einen Felsen verwandelt wird, schließt den Hafen und
die ganze Stadt entrückt ein hohes Gebirge, welches gewiß wie jene
Versteinerung des Schiffes nicht bloß angedroht, sondern von dem
erzürnten Gott wirklich aufgetürmt wird, der übrigen Welt auf ewig,
gerade wie das Land der Vidyädharen dem sterblichen Besucher
gänzlich verschwindet.
Die Vidyädharen scheinen auch mit Kuvera," dem Gott des
Reichtums, in näherem Zusammenhang zu stehen wie die Phäaken
mit Hephaistos (vielleicht auch etymologisch). Dem von diamantenen
Säulen getragenen und von goldenen Mauern umgebenen Palast in
der goldenen Stadt entspricht der Königspalast des Alkinoos. Die
Vidyädharen geben immer unendlich reiche Geschenke,- wir werden
an die Freigebigkeit der Phäaken gegen Odysseus erinnert.
Ein weiteres, worin Phäaken und Vidyädharen zusammen-
stimmen, ist die allgemeine höchste Glückseligkeit, die bei ihnen
herrscht, noch eigentümlicher ist jedoch der Zug, daß ihre Weiber
sich den Sterblichen besonders geneigt zeigen.
Ein Unterschied ist freilich da, und zwar ein nicht geringer:
die Phäaken sind ein Inselvolk, doch vermutet Gerland, daß diese
Umänderung auf historische und mythologische Gründe zurückgeht.
Gerland erklärt nämlich die Tatsache, daß eine ganze Gruppe
von Mythen und Märchen auf Inseln spielt, aus einer Vermischung
zweier Mythenkreise. Man dachte sich — um seine eigenen Worte
Die Nausikaaepisode in der Odyssee 377
zu zitieren - jene Vidyädharenländer (ihr indischer Name soll uns
für alle gelten) abgeschlossen von der übrigen Welt, aber voll von
jeglicher Glückseligkeit. Nun dachte man sich aber auch die Wohnung
der seligen Geister der abgeschiedenen Seelen in einem ebenfalls
abgeschlossenen Land, und zwar bei allen Völkern auf Inseln oder
doch wenigstens jenseits eines Stromes, eines Meeres. Lag es da
nicht nahe, daß beide so nah verwandten Mythenkreise sich berührten?
Ja mußte nicht nach der Natur der menschlichen Phantasie eine Ver-
schmelzung derselben eintreten? Lind das ist vielfach geschehen.
Die Schilderung der »Insel der Seligen« durch Protheus in der
Odyssee (Od. IV, 561-569) könnte auch vom Phäakenlande gesagt
sein. Wir fanden früher den Rhadamanthys auch bei den Phäaken,
wenngleich nur als Gast. ,
Das Ergebnis der Betrachtungen Gerlands ist, dal) der Desuch
des Odysseus bei den Phäaken einer Fahrt in die Unterwelt ent-
spricht 1 . Die Dämonen der Unterwelt, die man sich als Totenreich
im äußersten Westen dachte, werden bald als freundliche, bald als
feindliche Wesen aufgefaßt. Als jene bezeichnen sie die Fülle des
Reichtums, des irdischen Glanzes, wie er im" Golde glänzt, wie er
sich zeigt in hoher Kunstfertigkeit, in tiefer Zauberweisheit. Die
hellen Dämonen heißen in Indien Vidyädharen, in Griechenland
leben sie weiter unter dem Namen der Leuchtenden, der Phäaken,
in Deutschland als Lichtelben, als Walküren und Schwanen-
Jungfrauen. "Die Phäaken aber gehören mit den Kyklopen, Kalypso
und Nekyia ohne Zweifel zu den Urmythologemen, da sie sich nach
Gerland als Naturmythen, und zwar als Sonnenmythen aus-
weisen. Die Phäaken sind ursprünglich als' Genien des Morgens, des
werdenden Lichtes zu denken. »Der Morgen streut sein Gold üb§r
die ganze Welt: und so wäre auch' ihr Zusammenhang mit dem
Gotte des Reichtums gerechtfertigt, wie die Schätze der Schwarz-
eiben das Gold des Abendhimmels bezeichnen,- er steigt so vielen
Völkern aus dem Meere: 'und so könnte auch dieser Umstand mit-
gewirkt haben, daß man den Wohnsitz der Phäaken auf eirie ferne
Insel versetzte.« ■ • , .
Wenn wir im Aufenthalt des Odysseus bei den Phäaken einen
Besuch in der Unterwelt erkannt haben, müssen wir auch hinzu-
fügen, daß Odysseus so gut wie der mongolische Held Gesser an
einer anderen Stelle des Epos nach dem ausdrüddichen Wortlaut
• Im Hitopadesa, einer indischen Fabelsammlung, die älter ist als Somadcva,
gelangt ein Prinz von Ceylon auf der Fahrt nach einem schönen Madchen zu einer
goldenen Stadt, die sich auf dem Grunde des Meeres befindet. -
Vielleicht liegt auch ein Hinweis auf die Unterwelt in dem Umstand, dal)
Odysseus nach Sonnenuntergang auf Scheria erwachte. <Od. VII, 289>:
>Aber die Sonne versank: da verschwand der erquickende Schlummer.«
In diesen Zusammenhang gehört die Deutung der Möwe als Seelen- oder
Totenvogel, der Apologe als Rechenschaft vor dem Totengericht.
378 Dr. Alfred Winterstein
des Dichters in die Unterwelt steigen und dort ~ im ersten Fall
scheinbar zufällig, im zweiten absichtlich — ihrer Mutter begegnen.
In der Nekyia heißt es <Od. XI, 204 u. ff.>:
»Ich aber, durchbebt von inniger Sehnsucht,
Wollte umarmen die Seele der abgeschiedenen Mutter.
Dreimal strebt ich hinan, voll heißer Begier der Umarmung,-
Dreimal hinweg aus den Händen, wie nichtige Schatten im Traumbild,
Flog sie/ und heftiger ward in meinem Herzen die Wehmut.«
Der Seher Teiresias aber kündet dem Helden wie der Ahn«
herr Utnapischtim im Gilgameschepos sein künftiges Schicksal.
Diese Wiederholung der gleichen Motive in der nämlichen
Erzählung, wenn auch in Abwandlungen oder verschiedenen Graden
der Deutlichkeit, findet sich häufig in Träumen, Märchen und Mythen.
Mari kann dann aus der Vergleichung der einzelnen Erscheinungen
des Motivs auf seinen wahren Gehalt schließen, indem man gleich»
sam die Linie der zunehmenden Deutlichkeit im Sinne ihrer eigenen
Tendenz vervollständigt <vgl. H. Silberer, Probleme der Mystik und
ihrer Symbolik, Wien und Leipzig 1914).
Nun ist die Unterwelt, mythologisch betrachtet, nicht nur das
Land, wohin die Sterbenden gehen, sondern auch woher die Lebenden
gekommen sind, also für den Einzelmenschen und insbesondere für
unsere Helden der Uterus der Mutter.
Wüßten wir nicht schon aus der Nekyia, wer die Frau ist,
die Odysseus in der Unterwelt umarmen will, so könnten wir uns
auf die Erfahrung berufen, daß das vom Helden gesuchte und er»
kämpfte Weib in tieferer psychologischer Beziehung immer die Mutter
zu sein scheint.
Das Herabsteigen in die Unterwelt aber entspricht psychologisch
der »Introversion« im Sinne C. G. Jungs,- das nähere darüber kann
bei ihm (Jahrb. f. psychoanalyt. u. psychopath. Forsch., III., S. 159 ff.)
und H. Silberer <1. c> nachgelesen werden. »Bleibt die Libido im
Wunderreich der inneren Welt hängen, so ist der Mensch für die
Oberwelt zum Schatten geworden, er ist so gut als ein Toter oder
Schwerkranker. Gelingt es aber der Libido, sich wieder loszureißen
und zur Oberwelt emporzudringen, dann zeigt sich ein Wunder:
diese Unterweltfahrt war ein Jungbrunnen für sie gewesen und aus
ihrem scheinbaren Tode erwacht neue Fruchtbarkeit.« <Silberer.)
Durch die Angleichung des Libidoschicksals an den Sonnenlauf
gelangte man dazu, den Reichtum der Innenwelt im Bilde des Lichtes,
des Feuers, des Goldes, der Kostbarkeit überhaupt zu schauen. Beim
günstfgen Ausgang der Introversion, d. h. wenn man den Wider»
sacher, den Drachen besiegt hat, befreit man einen wertvollen Schatz,
nämlich eine ungeheure psychische Energie oder Libidomenge. Wir
haben ja oben von den reichen Geschenken der Phäaken an Odysseus
gelesen, von denen Poseidon spricht <Od. XIII, 146 u. ff.>:
Die Nausikaaepisode in der Odyssee 379
»Gaben ihm Erz und Gold und Gewand, die Hülle und Fülle.
Ja, ihr Geschenk ward mehr, als wenn selbst damals Odysseus
All seinen Raub mit glücklicher Fahrt in Troja gelandet.«
Uns obliegt noch die Aufgabe, einen scheinbaren Widerspruch
aufzuklären, der darin erblickt werden könnte, daß die Phäaken-
episode in einem früheren Teil der Arbeit als Geburt, Heirat und
Tod des Helden gedeutet wurde, während wir jetzt in dem Auf*
enthalt auf Scheria einen Unterweltsbesuch zu entdecken glauhten. Die
menschliche Phantasie kann sich eben das Leben in einer anderen Welt
nach dem Tode nur nach dem Vorbilde des gegenwärtigen und mit
der durch ihre Wünsche bedingten Korrektur vorstellen,- die Schwellen-
Symbolik des Eintretens und Abgehens aber ist auf die wenigen
Bilder des Unbewußten angewiesen, die auch zur Darstellung der
Geburt und des Todes dienen. H. Silberer <op. cit. S. 25) schreibt
darüber:
»Es ist eine durch genügende Beobachtungen erhärtete Tat-
sache, daß sich in hypnagogischen Halluzinationen <Halbschlafbildern
vor dem Einschlafen) neben allerhand Gedankenmaterial auch der
Vorgang des Einschlafens selbst gerne abmalt, ebenso wie sich auch
in Traumschlüssen oder in hypnopompischen Halluzinationen beim
Erwachen der Vorgang des Erwachens häufig bildmäßig darstellt.
Die Symbolik des Erwachens bringt etwa Bilder wie das Abschied»
nehmen, das Abreisen, das Öffnen einer Türe, das Versinken, das
Hinausgelangen ins lichte Freie aus einer dunklen Umgebung, das
Nachhausekommen usw. Die Bilder für das Einschlafen sind z. B.
das Sinken, das Eintreten in ein Gemach, einen Garten, einen
dunklen Wald.
Dasselbe Waldsymbol kennt auch das Märchen. Ob ich beim
Versinken in Schlaf die Empfindung habe, aus der Helligkeit des
Tages in einen dunklen Wald zu treten oder ob sich der Held
des Märchens in einen Wald begibt <was freilich auch noch andere
Bedeutungswurzeln hat), oder ob' der Wanderer in -der Parabola
ins Dickicht gerät, das kommt alles auf eins heraus/ immer ist
es die Einleitung zum Phantasieleben, der Eintritt ins Theater des
Traumes \
Wir dürfen die nämliche Schwellensymbolik auch auf den
Mythus 8 anwenden. Wir erinnern uns an das Auftauchen des
Odysseus aus den Wogen am Ufer der Phäakeninsel, an den
Zauberschleier, an das Hervortreten aus dem finstern Gebüsch
1 Vgl. die Arbeiten desselben Autors über die Schwellensymbolik. (Jahrb.
f. psych. Forsch. III., S. 621 ff., IV., S. 675 ff.)
3 Wie leiebt Traum und Mythus ihrer psychischen Struktur nach ineinander-
gehen, erhellt aus einem von Rank <1. c> mitgeteilten Bericht von Reidiensperger
(I. W. Wolf, Beiträge zur deutsdien Mythologie, IL, 21 1>, wonach die ganze
wunderbare Wasserfahrt des Schwanritters, ähnlich wie in der Kyrossage, auch als
sein Traum gedacht wurde <vgl. dazu den Aufsatz von Hocker in der Zeitschr. f.
deutsche Mythol. I, 405 ff..: Frouwa und der Schwan).
380 Dr. Alfred Winterstein
dann wieder an das Einschlafen des Odysseus nach Sonnenunter-
gang bei seiner Abfahrt von Scheria/ in der Geschichte des Brah-
manen Saktiveda gelangt dieser auf dem Rücken eines Riesenvogels
in die goldene Stadt, im königlichen Garten schleudert ihn ein Roß 1 ,
das er besteigen will, mit einem kräftigen Hufschlag in den See
zurück, er taucht tief unter und als er emporkommt, findet er sich
im Teich, der im Garten seines väterlichen Hauses ist.
Der Teich im Garten. des väterlichen Hauses spricht eine deut»
liehe Sprache.
Haben wir als tiefste Schicht eines ganzen Sagenkomplexes
eine Mutterleibs- und Wiedergeburtsphantasie bloßgelegt, so erwächst
uns schließlich noch die Verpflichtung, auf die vielen ungelösten Auf-
gaben, die eine eindringende Betrachtung der Nausikaaepisode bot,
kurz hinzuweisen.
Die Frage, ob die indische und mongolische Sage von der
griechischen beeinflußt wurde, ob umgekehrt von Indien her eine
Entlehnung stattfand, ob alle auf einen gemeinsamen Lirmythus
zurückführen oder nur von den gleichen psychischen Komplexen,
jede für sich, gestaltet wurden, durfte von uns mit Rücksicht auf
die gebotene Beschränkung so wenig behandelt werden, wie das
Problem der Urheberschaft der homerischen Gedichte durch unsere
Untersuchung eine restlos befriedigende Klärung erfuhr. Gerade für
den Psychoanalytiker wird sich auch die Reduktion auf das Ur«
material im Hinblick auf die bereits reichlich erhärtete Erfahrung von
der Bedeutung des Inzestkomplexes für die dichterische Produktion 2
nur als ein Teil der zu leistenden Arbeit darstellen/ nun erst erhebt
sich die schwierigere Frage nach den Umwandlungsmechanismen, die
der Urstoff an sich erfahren hat 3 . Es scheint, als ob hier — abge-
sehen von den der Traumarbeit ähnlichen Mechanismen — auch die
noch nicht näher erforschte dichterische Technik, die es ermögliefit,
das Kunstwerk zu einer sozialen Lustquelle zu gestalten, ein ge=
wichtiges Wort mitzusprechen hätte. In unserer Dichtung dürfte
namentlich die Sublimierung des wieder selbständig gewordenen
Schau* und Zeigetriebes, einer Komponente des ursprünglich am
inzestuösen Objekt fixierten Sexualtriebes, mit einem guten Stück
der »sekundären Bearbeitung« zusammenfallen.
Kehren wir abschließend zu dem positiven Ergebnis unserer
Untersuchung zurück, so läßt uns alle Eurückführung auf ein im
einzelnen mannigfach abgewandeltes Hauptmotiv, das ein typisches
individuelles Phantasiematerial widerspiegelt, an dem das kindliche
und Pubertätsphantasieleben in gleicher Weise beteiligt sind, nur
1 Nach Jung <1. c. S. 461 > symbolisiert das Pferd den positiven, aktiven
Teil der Libido, das Streben nach beständiger Erneuerung.
* Vgl. namentlich O. Rank, Das Inzestmotiv in Dichtung und Sage. Leipzig
und Wien 1912.
s Mündliche Äußerung von Prof. Freud.
Die Nausikaaepisode in der Odyssee 381
um so mehr das Genie des erdichteten Dichters bewundern, der hier
für unzählige Geschlechter ein Höchstes an Kunst geschaffen, der aus
den wenigen großen urtümlichen Motiven des Unbewußten gebildet
hat ein »göttlich Lied der Abenteuer, Lied des Heimwehs: Odyssee«.
Im Anhang seien einige Worte Goethes Fragment »Nausikaa«
gewidmet,- Dichter haben meistens einen feinen Sinn für die Ver-
wertungsmöglichkeit der einem Stoffe zugrundeliegenden unbewußten
Komplexe. Daß die Ausführung des Dramas, über das Goethe an
Frau von Stein am 18. April 1787 schrieb: »Was ich euch bereite,
gerät mir glücklich. Ich habe sdion Freudentränen vergossen, daß
ich euch Freude bereiten werde,« nur auf Grund äußerer Störungen
unterblieben wäre, wird kein Einsichtiger glauben. Schon Rank 1 hat
vermutet, daß der Schau- und Entblößungslust, die eine domi-
nierende Komponente im Triebleben des Dichters bildete, zu mächtige
Hemmungen entgegenwirkten, die auch durch die besondere per-
sönlidie Art der Behandlung des geplanten Stoffes verstärkt wurden.
Wir werden am besten den Zugang zum Verständnis der
Hemmung finden, wenn wir die Änderungen betrachten, die Goethe
am überlieferten Stoffe vorgenommen hat. Außer dem Schema und
einzelnen ausgeführten Stellen ist uns nur ein viel später — 1814,
bei Bearbeitung der »Italienischen Reise« — entworfenen Plan zur
»Nausikaa« erhalten. »Der Hauptsinn war der: in der Nausikaa
eine treffliche, von vielen umworbene Jungfrau darzustellen, die, sich
keiner Neigung bewußt, alle Freier bisher ablehnend behandelt, durch
einen seltsamen Fremdling aber gerührt, aus ihrem Zustand heraus»
tritt und durch eine voreilige Äußerung ihrer Neigung sich kom-
promittiert, was die Situation vollkommen tragisch macht.« Merk-
würdigerweise kommt im ganzen Schema sowie in dem ausgeführten
ersten Auftritt der Name Nausikaa gar nicht vor und ist statt
dessen stets Arete — bei Homer der Name der Mutter — gesetzt.
Nur in den Bruchstücken zur Ausführung des dritten Aufzugs steht
richtig: Nausikaa. Völlig überraschend ist, daß im Schema, und
zwar in der Inhaltsangabe des vierten . Auftritts des fünften Auf-
zuges Arete einmal richtig als Mutter der Nausikaa steht. Wenn
H. Schreyer 2 als Grund für diese Abweichung, die doppelt auf-
fällig ist, weil das Stück selbst von Goethe immer unter dem Namen
»Nausikaa« erwähnt wird und auch die Fragmente diesen Namen
festhalten, zwar nicht einen Gedächtnisirrtum, aber eine später wieder
fallen gelassene metrische Rücksicht annimmt, insofern sich die vier-
silbigen Namen weniger leicht dem Vers fügen als die dreisilbigen,
so werden wir uns, an der Überdeterminiertheit psychischer Produkte
festhaltend, mit dieser Rationalisierung nicht begenügen, sondern
\ Die Nacktheit usw., S. 295, 296.
2 Goethe und Homer, Naumburg a. S. 1884.
382 Dr. Alfred Winterstein
die Wahl des mütterlichen Namens bedeutsam finden. Mit der
einzigen früher erwähnten Ausnahme sieht es ja so aus, als ob die
Mutter der Arete als verstorben zu denken wäre und gar nicht auf*
treten würde. Dazu kommt in dem weiter fortgeschrittenen Plan das
bei Homer nur beiläufig erwähnte Motiv der werbenden und ab*
gewiesenen Freier. Ulysses gibt sich als unverheiratet aus und wird
von Nausikaa noch als junger Mann betrachtet <»Du hältst ihn
doch für jung? sprich!«). In Anlehnung an die nachhomerische Sage 1
läßt schließlich der Dichter Olysses dem Alkinoos seinen Sohn
Telemachos zum Gatten der Nausikaa antragen.
Treten so durch Unterstreichen beziehungsweise Verwischen
gewisser Züge des überlieferten Stoffes die ursprünglichen Umrisse
der zugrunde liegenden typischen Knabenphantasie deutlicher hervor,
so bleibt uns noch als letzte Aufgabe, eine Bestätigung für die
Macht dieses infantilen Elternkomplexes in dem Leben des Dichters
selbst zu suchen,- erst dann werden wir die für die Psychologie der
Entwürfe und Fragmente maßgebende Hemmung befriedigend auf-
klären können.
In einer früheren Arbeit <Imago, I. Jahrgang, 1912) habe ich
unter den Motiven für Goethes italienische Reise seine Furcht er*
wähnt, sich an Frau von Stein zu verlieren, die eine Wiederholung
von Mutter und Schwester 3 war. Gleichzeitig ist aber diese Reise
nach Italien auch eine Flucht in die Kindheit. Es ist das eine Über«
tragung des Zeitlichen ins Räumliche, wie sie von Freud auch in
Träumen nachgewiesen wurde. »Vielleicht« — schrieb ich damals —
»gehört das Phäakenland der Odyssee ebenfalls hieher.« Der
Kompromißcharakter einer solchen Reise — gewissermaßen Wieder*
1 Nach Hellanikos und Aristoteles heiratet Tefemachos die Nausikaa und
erzeugt mit ihr den Perseptolis <= Ptolipbrthes, Ptoliporthos). Ptoliporthos ist
aber auch der Beiname des Odysseus! Nach einer Thesprotis <des Musaios?>
gebiert Penelope dem Odysseus nach seiner Heimkehr einen Sohn: Ptoliporthes.
2 Der Literarhistoriker R. M. Meyer <»Goethe«, Berlin 1898> erblickt in
der Gestalt Nausikaas ein Denkmal des Schuldbewußtseins Goethes gegenüber
Friederike v. Sesenheim. Goethe erzählt in »Dichtung und Wahrheit« <3 Teil,
11. Buch), wie die nächtliche Einbildungskraft dem in Sesenheim zu Besuch
weilenden verliebten Dichter die Folgen jenes Fluches darstellt, den die Straß»
butger Tanzmeisterstochter Lucinde über ihn ausgesprochen hatte: er sieht durch
die Verwünschung, die eigentlich nur der Schwester Emilie galt, das fremde, schuld-
lose Mädchen bedroht. Der nachhaltige Eindruck dieser Phantasie läßt sich wohl nur
so psychologisch erklären, daß Goethe, der den Tod Friederikes fürchtet, zuerst im Un*
bewußten Lucinde den Tod gewünscht hatte. Vielleicht liegt dem ein infantiler Wunsch
nach dem Tode der eigenen Schwester zugrunde, der von dem Streben nach Allein-
besitz der Mutter seinen Ausgang genommen hat. Für die infantile Bedingtheit
des merkwürdigen Verhaltens Goethes gegen Friederike spricht auch folgende Stelle
eines Briefes an Salzmann von Sesenheim: »Sind nicht die Träume deiner Kind-
heit alle erfüllt? frag ich mich manchmal, wenn sich mein Aug' in diesem
Horizont von Glückseligkeiten herumweidet/ sind das nicht die Feengärten,
nach denen du dich sehntest? — Sie sind's, sie sind's! Ich fühl' es, lieber Freund
und fühle, daß man um kein Haar glücklicher ist, wenn man erlangt, was man
wünschte. Die Zugabe! die Zugabe! die uns das Schicksal zu jeder Glückseligkeit
drein wiegt.«
Die Nausikaaepisode in der Odyssee 383
kehr des Verdrängten im Verdrängenden — ist ein aus der Psycho-
logie des Unbewußten reichlich bekanntes Phänomen. Es ist be«
zeichnend, daß Goethe auf der italienischen Reise wiederholt seine
eigene Lage mit der des Odysseus vergleicht und sich selbst ge=
wissermaßen mit diesem identifiziert 1 . Was Wunder dann, daß ihm
in. Nausikaa immer wieder die weibliche Gestalt entgegentrat, deren
Bann er zu entfliehen suchte und die ihn doch stets an .seine miß«
glückte innere Ablösung erinnerte? Seinem Widerstände gelang es
schließlich, den Affekt auf ein unpersönlicheres Objekt zu verschieben.
Als er in Palermo am 17. April 1787 »mit dem festen, ruhigen
Vorsatz, seine dichterischen Träume fortzusetzen«, nach dem öffent=
liehen Garten ging, erhaschte ihn, ehe er sich's versah, ein anderes
Gespenst, das ihm schon diese Tage nachgeschlichen: die Urpfianze.
»Gestört war mein guter poetischer Vorsatz, der Garten des Alkinous
war verschwunden, ein Weltgarten hatte sich aufgetan« 2 .
Daß die Urpfianze ein alles Anstößigen entkleidetes Mutter«
derivat vorstellt, braucht wohl nicht besonders betont zu werden.
Diese Störung war keine vorübergehende. Zwar kehrt Goethe noch
hie und da zu seiner »Nausikaa« zurück, aber der Plan wird immer
wieder infolge des Inzestwiderstandes in den Hintergrund gedrängt
und zuletzt ganz fallen gelassen 3 .
1 Nach Hitschmann, (Gottfried Keller, Imago, IV. 1916) hat die Gestalt
des homerischen Odysseus auch auf Keller, der sich in ihm mit dem Vater
identifizierte, tiefen Eindruck gemacht. Über den Nacktheitstraum Kellers, der so
wie Goethe ein ausgesprochen optischer Dichter war, siehe oben.
s Italienische Reise, Dienstag, den 17. April 1787: »Warum sind wir
Neueren doch so zerstreut, warum gereizt zu Forderungen, die wir nicht erreichen
noch erfüllen können!«
3 Andere Nausikaadramen : »Nausikaa« oder die Wäscherinnen« von
Sophokles (»NavOixda i) ID.tivTQiai*, vielleicht als zweites Stüdc der Tetralogie
><Paiäxeg«), »Nausikaa«, Trauerspiel in 5 Aufzügen in freier Ausführung des
Goetheschen Entwurfes von Hermann Schreyer <HalIe a. S. 1884), ferner Nausikaa-
dramen von H. Hango <Wien 1897), S. Anger <Neisse 1900), R. Faesi (Zürich
1912) und ein Musikdrama gleichen Namens von A. Bungert <1901>.