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Dürers „jVVelancholie"
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Allred Winterst ein
Wien
Sonderabdrud aus „Imago, Zeitschrift für Anwendung der
Psychoanalyse auf die Natur- und Geisteswissenschaften"
(herausgegeben von Sigm. Jcreud), Bd. XV (igag)
1929
Internationaler Psychoanalytischer Verlag
.Leipzig / YVi e n / Zürich.
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Alle Rechte,
insbesondere die der Übersetzung,
vorbehalten
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INTERNATIONAL
PSYCHOANALYTIC
UNIVERSITY
DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN
Druck: Christoph Reisser"» Söhne. Wien V
„. . . eigentlich ergreift der Aberglaube nur falsche
Mittel, um ein wahres Bedürfnis zu befriedigen, und ist
deswegen weder so scheltenswert, als er gehalten wird,
noch so selten in den sogenannten aufgeklärten Jahr-
hunderten und bei aufgeklärten Menschen.
Denn wer kann sagen, daß er seine unerläßlichen
Bedürfnisse immer auf eine reine, richtige, wahre, un-
tadelhafte und vollständige Weise befriedige; daß er
sich nicht neben dem ernstesten Tun und Leisten, wie
mit Glauben und Hoffnung, so auch mit Unglauben und
Wahn, Leichtsinn und Vorurteil hinhalte?"
(Goethe: Materialien zur Geschichte der Farbenlehre,
Roger Bacon. Cottasche Jubiläumsausgabe. Bd. 40, S. 165.)
Der Inhalt des Kupferstiches „-Mlelencoha I"
Albrecht Dürers Kupferstich „Melencolia I", ungefähr gleichzeitig (1514)
mit „Hiercmymus im Gehäus" (1514) und „Ritter, Tod und Teufel" (1513)
entstanden und mit diesen Blättern, namentlich dem „Hieronymus" gern
in einen inneren Zusammenhang 1 gebracht, hat durch seine krause Sym-
bolik und problematische Düsternis seit jeher den Scharfsinn der Kunst-
gelehrten herausgefordert. Mag auch die Erklärung der Figuren und Geräte
im einzelnen noch so weit auseinandergehen: die künstlerische Gesamt-
wirkung des Blattes auf den Betrachter ist von zwingender Eindeutigkeit.
Kein Empfänglicher kann sich der Gewalt der Stimmung entziehen, die
von der „Melancholie" ausgeht; man vergißt dabei ganz, daß der Künstler
in der bildnerischen Wiedergabe einer subjektiven „Stimmung" die Kunst
seines Zeitalters weit hinter sich gelassen hat. Das Kompliziert-Rätselhafte
des Eindrucks läßt sich zunächst einmal auf drei Bildelemente verteilen:
auf die nächtlich-mystische Beleuchtung, auf die unharmonische, rahmen-
lose Komposition und auf die scheinbare Zusammenhanglosigkeit der ein-
zelnen Figuren und Gegenstände. Eine geflügelte Frauengestalt mit einem
Schlüsselbund am Gürtel sitzt, ganz schwer in sich versunken, auf einer
Stufe neben einem turmartigen (unvollendeten?) Gebäude, zu dem eine
schräge Leiter aufragt. Das Weib stützt das bekränzte Haupt mit dem
1) Man hat die drei Stiche als eine unvollendete Folge von Temperamentsdarstel-
lungen auffassen wollen. Auf die innige Beziehung zwischen der „Melancholie" und
dem „Hieronymus" wurde besonders deswegen hingewiesen, weil Dürer beide Blätter
zusammen zu verschenken pflegte. Siehe hingegen H. Wölfflin (Die Kunst Albrecht
Dürers. München 1905, S. 185)- — Die älteren Erklärungsversuche sind zusammen-
gestellt bei Paul Weber: Beiträge zu Dürers Weltanschauung. (Studien zur deutschen
Kunstgeschichte, Heft 23, Straßburg 1900.)
Alfred Winterstein
wirren Haargesträhn wie entmutigt in die geschlossene Faust, indes die
rechte Hand im Schöße zerstreut mit einem Zirkel spielt; daneben liegt
ein geschlossenes Buch. Der düstere Blick geht ins Leere hinaus, wandert
ziellos hin und her. Unheimlich kontrastiert das Weiße des Auges mit
der Schwärze des Angesichtes. Zu Füßen der Frau liegt eine Kugel; es
scheint, daß sie ihr vom Schöße gerollt ist. Allerlei Handwerks- und
Meßgerät befindet sich noch im Vordergrunde, halbverhüllt durch den
Rock des Weibes auch eine kleine Klistierspritze. In den unteren Falten
des Rockes birgt sich ein Beutel. Dicht bei der Kugel steht ein Tinten-
faß; dort kauert auch, in sich zusammengekrochen, ein halbverhungerter
Hund, der zu schlafen scheint. Der unregelmäßige riesige Steinblock
hinter dem Hunde droht auf ihn herabzufallen; er zieht den Blick des
Beschauers fast ebensosehr auf sich wie die Figur der Melancholie selbst.
Links vom Polyeder gewahrt man einen Alchimistentiegel und eine Kohlen-
zange. Ein bis zum Horizonte glattes, dunkles Meer, rechts begrenzt durch
eine reichgegliederte Küstenlandschaft, ladet im Durchblick ein, sich von
dem Chaos im Vordergrunde auf seinen Weiten zu erholen. Der nächt-
liche Himmel darüber ist wieder voll Bewegung. Die Garbe zuckender
Strahlen geht wohl von einem Kometen aus, darüber spannt sich ein
Regenbogen. Eine flatternde Fledermaus trägt ein Band mit der Inschrift
„Melencolia I - 1
Betrachten wir nun die rechte obere Hälfte des Bildes, so fällt uns vor
allem das auf einem Mühlstein (oder Schleifstein?) hockende Engelsknäblein
auf, das fast dieselbe Stellung wie die Frauengestalt zeigt. In wirksamem
Gegensatze zu deren tatenloser Schwermut ist aber der Putto mit kindlichem
Eifer damit beschäftigt, sein Täf eichen zu beschreiben. Über dem Engels-
kinde befindet sich an der Mauer eine Waage. An der angrenzenden Mauer-
fläche zu Häupten der Melancholie hängt eine Sanduhr und eine Glocke;
unterhalb dieser ist ein magisches Zahlenquadrat (sog. mensula Jovis) in die
Steine eingemeißelt. Was bedeutet das alles?
1) Es dürfte sich um das erste Blatt einer nicht ausgeführten Temperamenten-
folge handeln. Es wäre auch denkbar, „Melencolia i" (Geh' fort, Melancholie!) zu
lesen. Diese Lesart ist im Hinhlick auf den Wartburgspruch („Flieh'— Melancholie!")
nicht so „kurios", wie Wölfflin (a. a. O. S. 192) findet.
II
JDie historisdien Voraussetzungen des JJürerischen JVonzeptes
Jahrzehntelang müht sich Gelehrtenfleiß und Gelehrtenscharfsinn um
eine befriedigende Ausdeutung des Blattes, ohne daß eine restlose Klärung
bis heute erfolgt wäre. Man hat einmal in Dürers Stich eine Darstellung
des forschenden Menschengeistes, des tiefen spekulativen Denkens erblicken
wollen oder gemeint, im Zusammenhalt mit dem „Hieronymus" symbolisiere
das Blatt den Zusammenbruch des weltlichen Wissens gegenüber der Be-
seligung, die aus der Offenbarung stamme: das Faustische „ — und sehe,
daß wir nichts wissen können gelange hier zu geheimnisvollem Ausdruck. 1
Wölfflin (S. 195) bestreitet, daß in der „Melancholie" auf faustische Pro-
bleme hingewiesen werde, und findet in ihr nur die Verkörperung einer
völlig apathischen Stimmung, jenes Zustandes, dem der melancholisch ver-
anlagte geistige Mensch so leicht ausgesetzt sei. Ein zweiter Dürerforscher,
Max I. Friedländer, 3 bezeichnet den Stich als Selbstbekenntnis Dürers,
der aus eigener Erfahrung Depressionen als üble Folgen grüblerischer
Gedankenarbeit kenne. Karl Giehlow hat in einer Abhandlung „Dürers
Stich .Melencolia I' und der maximilianeische Hum anist enkr eis" die histo-
rischen Voraussetzungen des Dürerischen Konzeptes aufzuhellen versucht: 3
er betrachtet das Blatt — wohl mit Unrecht — als eine hieroglyphisch
geschriebene Urkunde, deren Bildzeichen nur die Eingeweihten im Kreise
1) Zitiert nach Wölfflin, a. a. 0. S. 192. Eine möglichst vollständige Aufzählung
aller Deutungs versuche liegt keineswegs in unserer Absicht, es sollen nur Stichproben
gegeben werden.
2) Albrecht Dürer. (Deutsche Meister, herausgegeben von Karl Scheffler und Kurt
Glaser, Leipzig 1921.)
3) Mitteilungen der Gesellschaft für vervielfältigende Kunst. (Beilage der „Graphi-
schen Künste", Wien 1903/1904.)
Alfred Wintersteii
des Kaisers Maximilian lesen konnten. Giehlow möchte glauben, daß das
Programmkonzept überhaupt nicht von der Hand Dürers, sondern von der
Pirckheimers oder eines anderen humanistischen Beraters des Künstlers
herrührt; unzweifelhaft sei der Anteil Pirckheimers am Inhaltlichen des
Stiches größer als der Dürers.
Auf Giehlows grundlegende Vorarbeit geht eine quellen- und typen-
geschichtliche Untersuchung über Dürers „Melencolia I von Erwin P an ofsky
und Fritz Saxl 1 zurück, die unveröffentlichte Forschungsergebnisse des früh
verstorbenen Gelehrten zum Teil benützt und durch eigene Studien ergänzt.
Daneben bilden auch die Resultate einer Abhandlung von A. Warburg
(„Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten" 2 ) einen
Ausgangspunkt für unsere Betrachtung des Kupferstiches. Wir verzichten
an dieser Stelle auf eine Inhaltsangabe der beiden Werke, da wir uns in
unserer Arbeit ohnedies vorwiegend auf das dort niedergelegte Material
stützen.
Schon bei Giehlow finden wir einen Hinweis auf den Wechsel in der
Bewertung des melancholischen Temperamentes seit den Tagen des Aristo-
teles, der in seinen Problemata 3 als erster in wissenschaftlicher Weise
einen Zusammenhang zwischen schöpferischem Talent und melancholischer
Veranlagung behauptet hatte. Im Mittelalter wurde dann diese Anschauung
namentlich unter dem Einfluß der Ärzte von der entgegengesetzten ver-
drängt, daß die Melancholie die schlechthin unedelste „Komplexion" unter
den vier „Komplexionen" oder Temperamenten* sei. Im ersten Viertel des
sechzehnten Jahrhunderts ändert sich wieder diese im Mittelalter landläufige
Auffassung: die melancholische Anlage beginnt vielmehr als eine Eigen-
tümlichkeit der geistig hervorragenden Menschen, der Gelehrten und Weisen
zu gelten. Dieser Wandel ist aber nicht das Ergebnis erneuten Studiums
1) Dürers „Melencolia I". Studien der Bibliothek Warburg, Leipzig-Berlin 1925.
2) Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist.
Klasse, 1919-
3) Problemata XXX, 1. (Ed. C. E. Ruelle 1922, p. 266.) Im Anhang zur Abhandlung
von Panofsky-Saxl mit gegenübergestellter deutscher Übersetzung abgedruckt.
4) Bekanntlich wird nach dieser Lehre jedes Temperament durch das Vorherrschen
eines der vier „Grundsäfte" oder „Humores" bestimmt. Im Melancholiker beispiels-
weise überwiegt gegenüber dem normalen Mischungsverhältnis die schwarze Galle.
Der von der antiken Medizin behauptete Zusammenhang zwischen Melancholie und
Gallenerkrankung besteht vielleicht tatsächlich zu Recht. Vgl. hiezu F. Alexanders
Aufsatz: „Der neurotische Charakter" (Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse XIV,
1928, S. 43 f.), in dem auf Balzacs Novelle „Vetter Pons" verwiesen wird, die diese
Beziehung in der Darstellung einer Krankengeschichte verwertet.
Dürers »Melancholie«
der Aristotelischen Problemata, sondern die Wirkung der Lektüre eines
zeitgenössischen Werkes, nämlich der drei Bücher „de Vita triplici" (zwischen
1482 und 1489 entstanden), die den Florentiner Marsiglio Ficino, den
Übersetzer Piatos und Plotins, Arzt, Theologen, Astrologen und Philosophen,
zum Verfasser haben und eine Diätetik des saturnischen Menschen (des
unter dem Unglücksplaneten Saturn geborenen) darstellen.
Die von Giehlow nur flüchtig skizzierte Geschichte des Melancholie-
begriffs wird von Panofsky-Saxl unter Berücksichtigung aller medizinischen,
astrologischen und naturphilosophischen Einflüsse in ihrem Wandel durch
die Jahrhunderte ausführlich behandelt. Die beiden Verfasser verweisen zu-
nächst einmal auf die wichtige Vermittlerrolle, die arabische Gelehrsam-
keit auch hinsichtlich der Temperamentslehre und der Astrologie 1 zwischen
der hellenistischen Spätantike und dem christlichen Mittelalter gespielt hat.
Die bereits von dem antiken Arzt Galenus angebahnte Zuordnung der
vier „Grundsäfte" oder „Humores" (Blut, Phlegma, gelbe und schwarze
Galle), die bei den Griechen ursprünglich mit Ausnahme des Blutes als
humores viciosi Krankheitsstoffe bezeichneten, 2 zu bestimmten Charakter-
eigentümlichkeiten erfährt bei den Arabern des neunten und zehnten Jahr-
hunderts ihre endgültige Formulierung in den vier uns geläufigen Tempera-
mentsnamen als Bezeichnungen für verschiedene psychophysische Grund-
typen. Auf spätantike astrologische und physiologische Anschauungen, die
wieder von der antiken Mythologie entscheidend bestimmt sind, geht auch
die mittelalterliche (schon in den arabischen Quellen angedeutete) Vor-
stellung zurück, daß jede der vier Komplexionen einem bestimmten Planeten
unterworfen sei, nämlich jenem, der nach seiner Natur dem betreffenden
„Grundsaft" entspricht und dessen Erzeugungsort „beherrscht". So gehört
die als erdiges Element aufgefaßte kalt-trockene schwarze Galle, der „Humor"
der Melancholie, als deren Erzeugungsort die Milz (splen) z betrachtet wurde,
dem ebenfalls finsteren, schweren, trockenen und kalten Saturn, dem
höchsten und langsamsten Planeten. Auf Grund dieser Eigenschaften können
wir nun zur Not verstehen, daß der Saturn als Planet der Melancholiker, 4
Ackerbauer und Totengräber gilt, als Dämon der Erdentiefe und der Schätze,
1) Deren Weg ging von Bagdad über Toledo und Padua nach Norden.
2) Daher war, als die Krankheitsbezeichnungen Temperamentsnamen wurden, für
das sanguinische Temperament kein griechischer Name vorhanden.
5) Das englische Wort spieen leitet sich von dem lateinischen spien ab.
4) Im Englischen bezeichnet man noch heute einen schwermütigen, mürrischen
Menschen als saturnine. Saturday ist der Tag des Saturn.
Alfred Winterstein
des Greisenalters und des Todes, aber was sollen wir dazu sagen, daß in
der astrologischen Hauptquelle des Mittelalters, der großen Einleitung des
arabischen Kompilators Abu Ma'äar (die aus dem neunten Jahrhundert
stammt und seit dem zwölften in zwei lateinischen Übersetzungen vorliegt)
folgende diametral widersprechende Eigenschaften und Zuordnungen u. a.
aufgezählt sind. 1 Der Saturn ist trocken, oft aber auch feucht, er bedeutet
die höchste Armut, aber auch großen Besitz und Reichtum, Täuschung,
aber auch Wahrhaftigkeit, Wohnstätten, aber auch weite Seereisen und Ver-
bannung; die unter dem Saturn geborenen Menschen sind Sklaven und
Verbrecher, aber auch Herrscher und Menschen von hoher Tugend und
Weisheit. Wir führen noch folgende Bestimmungen an, die vom psycho-
analytischen Standpunkte bemerkenswert sind: Die Natur des Saturn hat
einen stinkenden Wind. Er (d. h. der Saturn oder der unter ihm geborene
Mensch) ißt viel und ist treu in der Liebe (oder: Freundschaft). Er be-
zeichnet die Geschenke, geheimen Haß, Traurigkeit, Einsamkeit, Menschen-
scheu, Hochmut, Stolz, Vergewaltigung und Zorn, Langsamkeit und Be-
dächtigkeit, Fernsein des Sprechens, Beharrlichkeit und Festhalten an einem
Weg (Verfahren). Ferner weist er hin auf die schwerfälligen Leute, auf
Furcht und Trübsal, auf Geizige, auf Leute, welche die Dinge zählen, auf
Eunuchen, auf Wortkargheit. Er teilt niemandem mit, was er denkt oder
empfindet, und läßt es niemanden merken. Er weist ferner hin auf Elend
und Fragen der Langenweile.
In dieses Chaos von disparaten, zum Teil völlig gegensätzlichen Angaben
kommt Ordnung, sobald wir in Betracht ziehen, daß diese eben nicht nur
auf die Begriffe der astronomischen und kosmologischen Naturwissenschaft,
sondern auch auf die Vorstellungen der Saturn-, Kronos- und Chronos-
mythologie zurückgehen. Wollte man einmal einen Himmelskörper mit
einer Gottheit identifizieren, so lag es ja nahe, die älteste, düsterste und
einsamste Gottheit in Beziehung zum langsamsten, lichtschwächsten und
erdfernsten Planeten zu setzen, „so daß Prädikate, wie die der Trägheit,
Dunkelheit und Abgesondertheit sowohl astronomisch als mythologisch er-
klärt werden könnten" (Panofsky-Saxl, S. 7 f.). Auch die analogisierende
Begriffsbildung des magischen Denkens wird von den Verfassern mit Recht
herangezogen, um gewisse sich nicht unmittelbar aus dem mythologischen
Komplex ergebende Bestimmungen des Abu Ma'sar-Textes verständlich zu
machen. Daß beispielsweise dem Saturn alle alten Dinge und Menschen,
1) Zitiert nach Panofsky-Saxl, a. a. 0. S. 4 k
Dürers »AlclanAolie« 11
Großväter, Väter, ja älteren Brüder unterstehen, — diese Zuordnung soll
sich auf das hohe Alter des Gottes gründen. Panofsky und Saxl versuchen
dann, für die krasse Gegensätzlichkeit verschiedener Saturnprädikate, die
ihnen vor allem für die obige Zusammenstellung charakteristisch erscheint,
eine befriedigende Erklärung zu finden, da weder das Zusammenwachsen ver-
schiedener Mythologeme noch der Unterschied zwischen mythologischen und
astronomisch-naturwissenschaftlichen Vorstellungen für das Nebeneinander-
bestehen so antithetischer Begriffe, wie Armut und Reichtum, Seßhaftigkeit
und Wanderschaft, Gefangenschaft und Menschenbeherrschung, eine aus-
reichende Begründung abgeben. Unsere Autoren erblicken dieLösungdes Rätsels
in der polaren Struktur der mythologischen Kronosvorstellung als solcher,
welche die auch die übrigen griechischen Götter kennzeichnende Doppelnatur
(gute und böse Wirkungen) an Schärfe und Umfang noch um einiges über-
trifft. Diese den Vaterkomplex beherrschende Ambivalenz des Kronosbegriffes
hat dann in der späthellenistischen Lehre von der „Himmelsreise der Seelen"
mit ihren beiden gegensätzlichen Versionen eine metaphysische Verankerung
erfahren, die der Polarität der astrologischen Saturnanschauung ' bleibende
Bedeutung sicherte. Nach der pessimistischen, gnostischen Gedankengängen
verwandten Version wird der Abstieg der menschlichen Seele aus den höheren
Sphären in das irdische Dasein als ein Sündenfall angesehen, in dessen Ver-
lauf die Seele von jedem der sieben Planeten unheilvolle Eigenschaften
empfängt. (Daraus haben sich die sieben Todsünden der christlichen Theo-
logie entwickelt; die Unheilsgabe des Saturn ist acedia = Trauer, Stumpf-
sinn, Trägheit.) Als durchaus heilsam faßt hingegen der Neuplatonismus
die Geschenke der Planeten auf; der Saturn verleiht nach dieser optimisti-
schen Weltansicht die hohe philosophische Kontemplation.
Die Astrologie hat sich beide Anschauungen zu eigen gemacht, indem
sie dem Saturn eine grundsätzlich doppelseitige Wirkung zuschrieb. Man
wird unter seinem Einfluß entweder ein völlig materieller oder ein äußerst
spiritueller Mensch. Doch selbst da, wo dem saturnischen Menschen das
günstigere Los der vita contemplativa zugefallen ist, behält das Schicksal
seine düstere Färbung. Wir dürfen also unbedenklich den saturnischen
Menschen dem Melancholiker gleichsetzen ; dieselbe Polarität, die den Saturn-
begriff kennzeichnet, beherrscht auch die Melancholievorstellung. Das eine
Extrem ist die „natürliche" Melancholie als Temperament des genialen
1) Der von den Griechen ursprünglich Phainon genannte Planet hieß Aster Kronou
(Stem des Kronos), ehe er mit dem Gotte selbst identifiziert wurde (Röscher: Aus-
führliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie. Artikel Kronos).
Alfred Winterstein
Menschen (die neue Auffassung des Aristoteles), das andere die „krank-
hafte Melancholie des Trübsinnigen. Doch von dem einen Extrem zum
anderen ist infolge der labilen seelischen Gleichgewichtslage der Hoch-
begabten nur ein Schritt. Es heißt schon bei Aristoteles (Problemata XXX, 1) :
„Wenn sie sich nicht in acht nehmen, verfallen sie leicht den melancholi-
schen Erkrankungen, sie werden heimgesucht von Epilepsie, von gewaltigen
Depressionen, von Furchtanfällen und umgekehrt von Anwandlungen der
Tollkühnheit. Wir würden sagen, sie neigen zu depressiven und mani-
schen Verstimmungen. Nicht unerwähnt soll auch an dieser Stelle bleiben,
daß für Plato — im Gegensatze zu Aristoteles — die mania die Voraus-
setzung aller bedeutenden geistigen Leistungen ist. Die beiden Philosophen
haben mit dem Melancholie-Manie-Begriff des genialen Menschen ein Thema
angeschlagen, das über zwei Jahrtausende später unter dem Namen „Genie
und Irrsinn" Bedeutung erlangt hat. 1
Nach aristotelischer Auffassung entscheiden quantitative und qualitative
Momente darüber, ob der Hochbegabte einer melancholischen oder mani-
schen (vorübergehenden) Stimmung verfällt und ob die melancholische
Veranlagung innerhalb der Gesundheitsbreite einen genialen Menschen
oder einen Sonderling hervorbringt. Auch der Saturn hat eine ähnliche
Sonderstellung unter den Planeten wie die Melancholie unter den Tempera-
menten: er läßt die unter seinem Einflüsse Geborenen entweder in tiefster
geistiger Finsternis verharren oder erhebt sie zu den höchsten Höhen des
Geistes. Doch stets umschleicht die genialen Menschen die Gefahr, in die
Abgründe geistiger Störungen geschleudert zu werden.
Ein ähnliches Schicksal verbindet auch im Mittelalter die Melancholie-
und Saturnvorstellung. Die scholastische Theologie übernimmt mit einer
Umdeutung ins Christliche ebenso den positiven Melancholiebegriff des
Aristoteles, wie sie an dem positiven Saturnbegriff des Neuplatonismus fest-
hält. Die negative Bewertung der Melancholie beherrscht hingegen die ärzt-
liche Auffassung des Mittelalters ; ihr entspricht die astrologische Auffassung
des Saturn als eines Unglücksplaneten. Nach der Ansicht des Constantinus
Africanus, des Begründers der berühmten Salernitaner Schule, der ein eigenes
Werk über die Melancholie („de melancholia libri duo u ) verfaßt hat, ist die
Melancholie „ein körperliches Leiden mit geistigen Begleiterscheinungen"
(accidentia) ; diese sind: „timor de re non timenda, cogitatio de re non cogi-
1) Über die ganze Frage unterrichtet gründlich und nach neuen Gesichtspunkten
Wilhelm Lange-Eichbaum: Genie — Irrsinn und Ruhm. München 1928.
Dürers »Melandiolic«
tanda, certificatio rei terribilis et timorosae et tarnen non timendae, et sensus
rei, quae non est." (Panofsky-Saxl, S. 21, Fußnote 1. — Hier scheint der
Begriff der Melancholie die Krankheitsbilder der Psychoneurosen und der
Angstneurose zu umfassen.) An einer anderen Stelle (S. 22) schreibt Con-
stantinus Africanus: „Das Denken ist für den Geist eine Anstrengung
wie für den Körper das Gehen, und wie die körperliche Anstrengung ge-
fährliche Krankheiten erzeugen kann, so bewirkt die des Geistes die Melan-
cholie. ' Zur Bekämpfung der Melancholie pflegten die Ärzte unter anderem
eine bestimmte Diät, Regelung der Verdauung und vor allem Anhören von
Musik zu verordnen. Aus der medizinischen Literatur ist dann diese nega-
tive Beurteilung der Melancholie in die populäre der Komplexbüchlein und
Schäferkalender übergegangen. Volkstümliche Darstellungen zeigen einen an
einem Tische sitzenden Mann, der seinen Kopf faul in seine Arme vergräbt,
indes die Frau beim Spinnrocken eingeschlafen ist. Als Beleg für die Po-
larität der Melancholievorstellung mag die Tatsache dienen, daß dem Melan-
choliker auch Neigung zur Schlaflosigkeit zugeschrieben wird; in gleicher
Weise wird der Melancholiker bald als sexuell bedürfnislos, bald als maß-
los begehrlich bezeichnet. Auch beim Saturn setzt sich die negative An-
schauung (vertreten von der mittelalterlichen Astrologie des Abendlandes)
allmählich restlos in den populären Planetenkinderdarstellungen durch. Dem-
gegenüber bedeutete es wenig, daß man noch vereinzelt dem Melancholiker
auch gute Eigenschaften und seinem Gestirn günstige Wirkungen zuschrieb.
So galt der Saturn fast allgemein als der Planet der Reichen, allerdings jener,
die Geizhälse sind. Zum Siege gelangte die optimistische neuplatonische An-
schauung hinsichtlich der Melancholie und des Saturn erst in der Floren-
tiner Renaissance. Die positive Saturnauffassung konnte sich hier auf die
Autorität eines Dante berufen, der im XXI. Gesang des Paradieses die er-
habensten Vertreter der Vita contemplativa in der Saturnsphäre erscheinen läßt.
Eine durchaus gleiche Entwicklung nahm der Melancholiebegriff etwa seit den
Tagen Petrarcas, eines der ersten Vertreter des neuen Renaissancetypus, der
sich schon bewußt als Melancholiker empfand, wenn er auch seinen Zustand
1) Ganz im Sinne dieser medizinischen Auffassung schreibt Dürer in seiner un-
veröffentlichten Abhandlung: „Ein Unterricht der Malerei" oder „Ein Speis der Maler-
knaben": „.. .Das Sechst, ob sich der Jung zuviel übte, dovan ihm dieMele-
coley überhand mocht nehmen, daß er durch kurzwelig Saitenspiel zu lehren
dovan gezogen werd zu Ergetzlichkeit seines Geblüts." (Die einzige Stelle, wo bei
Dürer das Wort Melancholie vorkommt. — Lange -Fuhse: Dürers schriftl. Nachlaß.
Halle a. d. S. 1893, S. 283.)
»4
Alfred Wintersteil
noch mit dem theologischen Namen „acedia" bezeichnete. Die Melancholie
wurde dann vollends in der florentinischen Frührenaissance, „was sie bei-
nahe bis heute geblieben ist, zur typischen Haltung des modernen Genies" '
(Panofsky-Saxl, S. 30). Der Herold dieser Anschauung, die die schöpferische
Genialität des melancholischen Menschen und die Bedeutung des Saturn für
die kontemplative Geistigkeit behauptete, war Marsiglio Ficino. Es ist
bemerkenswert, daß dieser humanistische Arzt und Philosoph die historische
Entwicklung des Melancholie- und Saturnkomplexes erst sozusagen ontogene-
tisch in sich wiedererlebte, ehe er sich in seinem Werke „de Vita triplici"
zu der neuen Auffassung bekannte. Nach seiner Meinung sind nicht nur
die Saturnkinder zu geistigen Leistungen befähigt, sondern umgekehrt bringt
auch die geistige Tätigkeit die Menschen unter den Einfluß des Saturn. Es
handelt sich hier um das, was man in der Astrologie „Wahl-Planeten-Kind-
schaft" nennt. Ein Kapitel der libri de Vita triplici (Buch I, Kap. 3) trägt
auch in diesem Sinne die Überschrift: „Quot sint causae, quibus literati melan-
cholici sint velfiant." Die Gelehrten neigen also schon vermöge ihrer Tätig-
keit — auch wenn sie nicht den Saturn als Geburtsgebieter besitzen — zur
Melancholie und gegen deren Gefahren gilt es diese zu schützen. Die Mittel
sind eine Diätetik (zu der auch Musik und Gebrauch von Klistieren gehören),
Medikamente und die astrale Magie der Talismane. Freilich sind für Ficino
die Grenzen zwischen natürlichen und magischen Wirkungen fließend. Der
stärkste Bezwinger des schädlichen Saturneinflusses ist aber nach einer all-
gemein verbreiteten Ansicht der Planet Jupiter. „Was der Saturn us Übles
tut, das pringt der Jovis alles gut." Der Grund ist offensichtlich ein mytho-
logischer: Jupiter hat ja bekanntlich seinen Vater Kronos-Saturn in den
Tartarus gestoßen und dort gefesselt gehalten. Aber Ficino ist trotzdem
weit entfernt, in allen diesen Vorsichtsmaßregeln mehr denn Palliativ-
mittel zu erblicken. Die wahrhaft angemessene Einstellung dem Saturn
gegenüber ist willige Ergebung in sein Schicksal; dann bewährt sich dieser
Unglücksplanet als unser bester und treuester Freund, der vieles verhin-
dert, was unsere Wünsche gestaltet sehen möchten, was sich jedoch bei
seiner Verwirklichung als böser Irrtum enthüllt. Hier erhebt sich die astro-
logische Reflexion Ficinos zu den Höhen echter philosophischer Weisheit.
1) Es heißt bei Marsiglio Ficino: „Alle Männer, so in einer großen Kunst vor-
trefflich sind gewest, die sind alle melancholici gewest." Aus dieser Auffassung ent-
wickelte sich ein förmlicher Kultus der Melancholie, von dem wir ein klassisches Bei-
spiel in dem melancholischen Jacques des Shakespearischen Lustspiels „Wie es
euch gefallt" besitzen.
Dürers a Melancholie >
i5
Wird ja doch auch Saturn geradezu zum obersten Gott der „Platonischen
Akademie" 1 in Florenz ernannt. Mit Recht können daher Panofsky und
Saxl sagen, daß des Florentiners Werk trotz aller Angst vor dem noch
immer unheimlichen Dämon am Ende dennoch in einer Verherrlichung
des alten Saturn gipfelt.
1) Auch Plato gilt in dem Florentiner Humanistenkreis als Saturnkind.
III
Die Quellen zu Dürers „Melencolia I"
Es ist das Verdienst Giehlows, den Beweis dafür erbracht zu haben,
daß Dürer auf Grund seiner Freundschaft mit dem Nürnberger Huma-
nisten Willibald Pirckheimer Kenntnis von der neuen Melancholie- und
Saturnauffassung Ficinos erlangte und sie auch in seinem Kupferstich zum
Ausdruck brachte. Wenn man — wir folgen hier wiederum den Aus-
führungen Panofsky-Saxls (S. 49 f.) — Dürers Darstellung etwa mit den
Kalenderholzschnitten vergleicht, die die volkstümliche Vorstellung vom
melancholischen Temperament wiedergeben, so springt einem der Unter-
schied in die Augen. Dort „die unedelste Komplex" des trägen und stumpf-
sinnigen Dutzendmenschen, hier die erhabene Schwermut des forschenden,
grübelnden Geistes, die die Landschaft ringsum in ihr eigenes geheimnis-
volles Zwielicht taucht. Abgesehen von dieser allgemeinen Auffassung lassen
sich aber auch noch im einzelnen Beeinflussungen durch die Abhandlung
des Florentiners aufzeigen. An einer früheren Stelle unserer Arbeit erwähn-
ten wir bereits die drei von Ficino empfohlenen Arten von Gegenmitteln
gegen die schädlichen Wirkungen der Melancholie. Auf Dürers Kupfer-
stich sehen wir rechts unten eine durch das Gewand der „Melencolia"
halbverhüllte Klistierspritze. Und bei Ficino heißt es (S. 40, Fußnote 3):
„Das ist die allgemeine Vorschrift bei melancholischer Veranlagung, daß,
wenn es nottut, durch Klistiere der Unterleib stets glatt und gereinigt sei."
Die medikamentösen Mittel sind durch den Blätterkranz 1 vertreten, der
sich um das Haupt der Frau schlingt. Seine antimelancholische Heilkraft
1) Daß es sich bei dem Blätterkrani um die klassische antimelancholische Heil-
pflanze „Ttucrium" (Bittersüßer Nachtschatten, Solanum dulcamara) handelt, wird von
Giehlow bestritten (anders War bürg, a. a. O. S. 64 t)-
Dürers „Mclcncolia T"
Dürers Mutter Barbara
Dürers »Melancholie«
soll auch nach Ficinos Ansicht darin bestehen, daß die Pflanzenfeuchtig-
keit der trockenen Natur der schwarzen Galle entgegenwirkt. Die Be-
ziehung des Kranzes zum Kopf weist auf den Zusammenhang zwischen
der Melancholie und der geistigen Befähigung hin und entspricht der
magischen, analogisierenden Denkweise der damaligen Medizin: Denken
bedeutet Konzentration, gleichsam Wendung von der Peripherie zum
Zentrum; von der Peripherie zum Zentrum zu streben, ist eine Eigen-
schaft der Erde, der Erde entspricht die schwarze Galle, daher regt die
schwarze Galle zum Denken an, wie umgekehrt die Kontemplation als eine
andauernde „collectio" oder „compressio" einen melancholischen Charakter
zur Folge hat (S. 51, Fußnote 2). Wir werden uns später noch mit der
Frage beschäftigen, ob es sich im Vorstehenden vielleicht um tatsäch-
liche Zusammenhänge und Beziehungen handelt, die nur unrichtig ge-
deutet worden sind, und wenden uns nunmehr der Betrachtung der
magisch-astrologischen Mittel zu. Statt der von Ficino empfohlenen
Talismane mit den Bildern der Sterndämonen erblicken wir freilich auf
Dürers Stich an der vorderen Mauer des turmartigen Baues eines jener
magischen Zahlenquadrate, die aus dem islamischen Orient stammen sollen
und dem Abendlande bereits im dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert
als „Planetensiegel" bekannt waren (Warburg, S. 60 f.). Die ursprüngliche
zahlensymbolische Zauberbedeutung verbindet sich hier mit dem rein mathe-
matischen Problem, ein schachbrettartig eingeteiltes Quadrat in seinen
Feldern derart mit Zahlen zu besetzen, daß deren Addition für die Hori-
zontal-, Vertikal- und Diagonalreihen die gleiche Summe (in unserem Falle
die Zahl 34) ergibt. Das von Dürer dargestellte Planetensiegel ist — wir
möchten fast sagen: selbstverständlich — eine sogenannte mensula Jovis,
die die iatromathematische Bedeutung eines besonders wirksamen anti-
saturninischen Amuletts besitzt. Der Sohn Jupiter wird bei der Abwehr
des Vaters Saturn-Kronos als mächtigster Helfer aufgerufen.
Mit dem Nachweis einer Beeinflussung Dürers durch Ficinos Vorschriften
ist natürlich nur ein unwesentlicher Teil des Bedeutungsgehaltes des Stiches
erklärt, zumal aus der Gesamtstimmung des Blattes eher die Wirkungs-
losigkeit solcher antisaturninischer Mittel hervorzugehen scheint. Man muß
daher auch nach Ansicht Panofsky-Saxls andere Quellen zur Deutung heran-
ziehen. Daß jedes Einzelstück der reichen Bildfassade einen (manifesten
und latenten) Sinn hat, bedarf für den psychoanalytischen Betrachter wohl
keines näheren Beweises; der Künstler selbst bestätigt diese symbolische Auf-
fassung, indem er auf einem im British Museum befindlichen Skizzenblatt
Winterstein: Dürers „Melancholie".
Alfred "Winters tein
zum Putto der Melancholie vermerkt: „Schlüssel bedeutet Gewalt, Beutel
bedeutet Reichtum. Wenn also schon zwei nebensächlichen Attributen der
Frauenkleidung symbolische Bedeutung zukommt, wird man mit mindestens
der gleichen Berechtigung einen Sinn hinter den übrigen Bildelementen
suchen dürfen. Die beiden einzigen Deutungen, die Dürer selbst uns ge-
geben hat, zeigen die einzuschlagende Richtung an. Wir erinnern uns bei
dieser Gelegenheit, daß der Saturn-Kronos auch Reichtum bedeutet und
daß die unter ihm geborenen Menschen auch Herrscher sind. Es ist also
die Astrologie (in der ein so großes Stück der Mythologie fortlebt),
die manches Rätsel zu lösen verspricht. Die Bezeichnung BasiLeus ist bei
Kronos stereotyp, das „goldene" Zeitalter, dem Kronos vorgestanden haben
soll, leitet zu seiner Eigenschaft als Reich tum Spender und -behüter über.
Er gilt auch als Erfinder des gemünzten Geldes und als Schatzmeister 1
unter den Planetengöttern. Die Vorstellung, daß der Planetengott Saturn-
Kronos seinen Kindern Reichtum und Geiz (im Gegensatze zum fröhlichen
Reichtum der Jupiterkinder) verleiht, ist dann ein bleibender Bestandteil
der populären Melancholieauffassung geworden, der in zahlreichen bild-
lichen Darstellungen wiederkehrt, die den Melancholiker mit den Attri-
buten des Geldbesitzes (Beutel, Geldkasten, Tisch mit Goldstücken) zeigen.
Auch die Beziehung der Goldmacherkunst, der Alchimie zur Melancholie
gehört in diesen Zusammenhang. In dem Straßburger „Nüw Destillierbuch"
aus dem Jahre 1508 wird der Melancholiker als Alchimist veranschaulicht
(Panofsky-Saxl, Abb. 25), der sich, offenbar über die Erfolglosigkeit seiner
Bemühungen verstimmt, die Depression durch das Lautenspiel eines Jüng-
lings vertreiben läßt. (Das biblische Vorbild einer solchen Szene ist be-
kanntlich der schwermütige König Saul, den David durch Musik zu
erheitern versucht.) Alchimistentiegel und Kohlenzange auf Dürers Kupfer-
stich mahnen noch an den eben besprochenen Vorstellungskomplex, während
der Hinweis auf das Heilmittel der Musik gänzlich fehlt. Panofsky-Saxl
machen ferner darauf aufmerksam, daß die Gebärde des Alchimisten auf
dem Holzschnitt (das in die Hand gestützte Haupt) in der bildenden Kunst
seit den ältesten Zeiten eine typische Verwendung gefunden hat, um Trauer,
Erschöpfung oder Nachdenklichkeit zum Ausdruck zu bringen. (Alle drei
Zustände sind in der saturninischen Melancholie vereinigt.) Es ist erwähnens-
wert, daß eine antike Bronzestatuette im Museo Gregoriano Kronos mit
1) In einer deutschen Handschrift vom Jahre 1444. wird Saturn als ein an einem
Tische rechnender und (Geld?) zählender Mann abgebildet (Panofsky-Saxl, S. 55,
Fußnote 3).
_
Dürers »Ätelaiidiolie«
*9
aufgestütztem linken Arm zeigt 1 (Panofsky-Saxl, Abb. 24); ähnliche Dar-
stellungen existieren auch vom rasenden Herkules, der dem Aristoteles
als heroischer Ahne der Melancholiker galt. Dürer unterbricht diese jahr-
hundertealte Bildtradition durch einen neuen künstlerischen Zug: seine
„Melancholie" stützt das Antlitz in die geballte Faust, wodurch ein Aus-
druck verhaltener Affektivität, gehemmter Energie in das Bild kommt, der
das Qualvolle des dargestellten Zustandes noch stärker betont. 2 Das tradi-
tionell Überlieferte dient Dürer überhaupt nur als Mittel, um Stimmungs-
werte symbolisch zu veranschaulichen. Diese Eigentümlichkeit hebt ja
seine künstlerische Leistung so hoch über alle anderen, bloß allegorischen
Melancholiedarstellungen empor. Der Saturntext des Arabers Ibn Esra
spricht beispielsweise von der facies nigra des Melancholikers. Dürer be-
gnügt sich damit, auf das Gesicht der Frau einen tiefen Schatten fallen
zu lassen, der sich als Beleuchtungswirkung viel besser eignet, einen
seelischen Zustand auszudrücken, als etwa die dunkle Hautfarbe. Das
dem mythologischen Kronos zugeordnete feuchte Element^ ist auf Dürers
Stich durch eine weite Meereslandschaft vertreten, die sich vom Beschauer
weg in die Tiefe zu entfernen scheint und auch schon dadurch einen
seltsamen Stimmungsreiz hervorruft. Die am Boden um die Melancholie
verstreut herumliegenden Gegenstände werden von Dürer zwar auch in
feiner Weise als künstlerisches Mittel benützt, um „das Dissolute der geistigen
Verfassung" (Wölfflin) zu symbolisieren, besitzen aber, abgesehen von ihrem
Bildwert, an sich die Bedeutung von Hieroglyphen, die dem Saturn seit
jeher unterstellte Berufe und Tätigkeiten bezeichnen. Freilich hat Dürer
aus ihnen bloß eine Auswahl getroffen (es fehlt z. B. der Gärtner, der
Bauer, der Lederarbeiter, der Totengräber), und um diese Beschränkung
zu rechtfertigen, handelt es sich nun darum, die mannigfachen wissen-
schaftlichen und technischen Betätigungen auf einen gemeinsamen Mittel-
1) Warburg (a. a. O. S. 63) macht auf eine ganz ähnliche antike Flußgottpose
aufmerksam.
2) Auch die „Nacht" auf dem Grabmal des Giuliano de Medici (Michelangelo)
stützt ihr Haupt auf die zur Faust geballte Hand. Freud behandelt die bildnerische
Darstellung der Hemmung im „Moses des Michelangelo" (Ges. Schriften, Bd. X). Goethe
vergleicht einmal seinen seelischen Zustand geradezu mit einer geballten Faust. In
einem Briefe an Zelter vom 24. August 1825 heißt es: „Die Stimme der Milder, das
Klangreiche der Szymanowska, ja sogar die öffentlichen Exhibitionen des hiesigen
Jägerkorps falten mich auseinander, wie man eine geballte Faust freundlich-
flach läßt."
5) Quod Saturnus umoris totius et frigoris deus sit. (Schol. Verg. Georg. «, 12. Röscher«
Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, Artikel „Kronos".)
Alfred Wintersteiu
punkt zu beziehen. Wir schließen uns hier wieder den Ausführungen von
Panofsky-Saxl (S. 59 f.) an, da die beiden Verfasser eine einleuchtende
Deutung gefunden haben. Die Tätigkeitssymbole des Dürerischen Stiches:
Hobel und Profilholz, Säge, Richtscheit, Hammer, Zange und Nägel, ferner
die Kugel (Drechslerkugel?) illustrieren die Berufe des Holzarbeiters und
Baumeisters; auf den Beruf des letztgenannten weist vielleicht auch die an
den steinernen Bau angelehnte Leiter hin (die vom künstlerischen Stand-
punkte störend wirkt). Stein block und Mühlstein 1 dagegen versinnbildlichen
wohl den gleichfalls saturninischen Beruf des Steinmetzen. Es scheint, daß
Dürer hier in Abhängigkeit von den sogenannten Planetenkinder-Bildern
steht, namentlich von den Fresken im Salone von Padua, die auch die ver-
schiedenen Eigenschaften und Berufe der Saturnkinder in einem Bilderzyklus
darstellen. Zu diesen dem Saturn zugeordneten Tätigkeiten gehörte auch
nach mittelalterlich-scholastischer Auffassung, die jedem der sieben Planeten
eine der sieben freien Künste entsprechen ließ, die Astronomie, 2 welche
später ihren Platz an eine andere der artes liberales, an die Geometrie ab-
trat. Die Zuteilung der Geometrie in ihrer übertragenen theoretischen
Bedeutung soll sich aus dem Charakter des alten Saturn als Erdgott er-
klären, der noch bei Abu Ma sar die „Schätzung der Sachen und Teilung
der Ländereien (Erdmessung = Geometrie) bezeichnet. So wie der Zirkel
auf Dürers Kupferstich den Mittelpunkt des Blattes einnimmt, 3 ist die
Geometrie die Grundlage der übrigen symbolisch illustrierten Saturnberufe.
Der Planetendämon wurde selbst bisweilen* mit dem Attribut des Zirkels
abgebildet; er „sendet uns die Geister, die uns lernent geometria", heißt
1) Der Zusammenhang zwischen Dürers „Mühlstein" und den dem Saturn zu-
gehörigen Xb&oi [ivXvcai einer alten astrologischen Quelle (zitiert bei Röscher, a. a. O.
Gemeint ist ein Lavastein, aus dem diese Mühlsteine vorzugsweise hergestellt wurden)
scheint den Verfassern fraglich. Sie neigen eher dazu, den Stein für einen großen
Schleifstein zu halten, wie er auch auf dem Fresko im Salone von Padua vorkommt.
2) Der Regenbogen und der Komet des Dürerstiches scheinen auf die Astronomie
hinzuweisen.
3) Der Zirkel in der Hand einer menschlichen Gestalt illustriert den Sieg,
den der Humanismus über die religiöse Gebundenheit des Mittelalters errungen
hatte. An Stelle Gott-Vaters mit dem Zirkel in der Hand, wie ihn Bilder dieser
früheren Zeit zeigen, tritt jetzt der Mensch im Bewußtsein seiner schöpferischen
Fähigkeiten.
4) So in einer Tübinger Handschrift des fünfzehnten Jahrhunderts (Panofsky-Saxl,
Abb. 25). In einer alchimistisch-rosenkreuzerischen Schrift aus der zweiten Hälfte des
siebzehnten Jahrhunderts findet sich eine Darstellung des Saturn (oder Hermes) mit
einer Sense und einem Zirkel in den Händen (siehe H. Silberer: Probleme der
Mystik und ihrer Symbolik. Wien 1914, S. 124).
Dürers sAtelaiiaioliee
es in einer deutschen Handschrift vom Ende des fünfzehnten Jahrhunderts.
Panofsky und Saxl ziehen auch noch zur Bekräftigung ihrer Anschauung
von der zentralen Bedeutung der Meßkunst eine Stelle aus Dürers Schrift
„Unterweisung der Messung" heran, deren Abfassung in die Zeit der Ent-
stehung der „Melancholie" (1514) fiel: „Demnach hoff ich, dies mein
Fürnehmen und Unterweisung werde kein Verständiger tadelen, dieweil
es aus einer guten Meinung und allen Kunstbegierigen zu Gut geschieht
und auch nicht allein den Maleren, sondern Goldschmieden, Bild-
haueren, Steinmetzen, Schreineren, und allen den, so sich des
Maß gebrauchen, dienstlich sein mag." 1 Im Sinne Dürers meinen also
die beiden Verfasser, Zirkel und Schreibzeug als Bepräsentanten der reinen
Geometrie, das Handwerksgerät als Symbol der angewandten und den
polyedrischen Block (der auch auf die Steinmetzentätigkeit hinweist) als
Vertreter der darstellenden Geometrie auffassen zu dürfen. Dazu stimmt,
daß die Mathematik nicht nur in dieser Zeit als die vornehmste Wissen-
schaft galt, 2 sondern auch in Dürers Schätzung den höchsten Bang ein-
nahm. Eine gewisse Schwierigkeit bildet noch die Deutung des Tiegels und
der dazugehörigen Kohlenzange. Hält man sich an die Dürerische Stelle,
so könnten die beiden Geräte auf den Beruf des Goldschmiedes bezogen
werden, der in einer Verbindung mit der Geometrie steht, aber freilich
dem Saturn nicht untergeordnet ist (Goldschmiede sind angeblich durch
die Venus beeinflußt). Obgleich die geistige Einheit durch die Interpreta-
tion Giehlows gestört würde, der alchimistisches Werkzeug in den
zwei Gegenständen erblickt, so erscheint uns seine Deutung doch plausibler;
denn die Alchimie als magische oder schwarze Kunst hat zwar keine Ver-
bindung mit der Geometrie, gehört hingegen zu den Saturnberufen. 3 Die
Melancholie, dieses fragwürdige Geschenk des Planetengottes Saturn an
seine Kinder, ist und bleibt ja das eigentliche Thema des Dürerischen
1) Lange-Puhse: Dürers schriftlicher Nachlaß, S. 181.
2) Ein Sprichwort dieser Zeit lautete: „Das Gold wird durchs Feuer erprobt, der
Geist durch Mathematik."
5) Eine ganze Anzahl von Dingen auf Dürers Blatt kann bei einigem guten Willen
auch als zum alchimistisch-freimaurerischen (rosenkreuzerischen) Symbolkreis
gehörig betrachtet werden. So der Zirkel, das Winkelmaß, die Schlüssel, die Kugel,
der Stein, die Leiter, der Turm (als Tabernakel), der Regenbogen, der Komet (das
hermetische sperma astrale). Die Schwärze des Gesichtes der „Melancholie" würde im
Sinne der Alchimie der Introversion und dem (ersten) mystischen Tod entsprechen.
Vgl. zu der ganzen Zeichen- und Bildersprache H. Silberer: Probleme der Mystik
und ihrer Symbolik, passim. Die Beziehung Dürers zur „königlichen Kunst" wäre
freilich erst zu beweisen.
AlfrcJ Wintcrsteii
Blattes und deshalb kommt der Meßkunst, mag auch Dürer ihren wesen-
haften Zusammenhang mit dem scharfsinnigen und erfinderischen Geiste
des Melancholikers betonen, im Programm des Stiches doch nur eine sekun-
däre Bedeutung zu. Auf die saturninische Meßkunst im weiteren Sinne
weisen nach der Ansicht Panofsky-Saxls auch die Waage und die Uhr (als
Zeitmesserin) hin. Was die Waage anbelangt, so berufen sich die beiden
Forscher auf folgende Stelle in der lateinischen Übersetzung des Saturn-
textes des Abu Ma'sar: „Eius (sc. Saturni) est . . . rerum dimensio et pondus."
Ob die Glocke, die die Tageszeiten verkündigt, in einen Vorstellungskreis
mit der Uhr gehört oder eine selbständige Bedeutung besitzt (etwa als
„ Glöckchen des Eremiten"), läßt sich nicht mit Sicherheit ausmachen.
Wenden wir uns nunmehr der Betrachtung der drei Lebewesen * — der
Frau, des Puttos und des Hundes — zu. Daß zwischen ihnen eine beson-
dere Beziehung besteht, haben auch Panofsky und Saxl erkannt, und zwar
scheint der abgemagerte, zusammengekauerte Hund die gleiche depressive,
tatenlose Stimmung wie die in sich versunkene Frauengestalt auszudrücken,
während das Engelsknäblein, dessen Stellung fast der der „Melancholie"
entspricht, die gegensätzliche — manische — Phase durch seine eifrige
intellektuelle Tätigkeit verkörpert. Die Frage nach dem Inhalte dieser
Tätigkeit ist hier dem Beschäftigtsein schlechthin gegenüber von neben-
sächlicher Bedeutung. Untersteht zwar auch der Hund nach astrologischer
Auffassung nicht dem Saturn, sondern dem Jupiter, so besitzt er doch sowohl
im Sinne Giehlows als auch Panofsky-Saxls eine innere Verwandtschaft mit
der saturninischen Melancholie. Für Giehlow ist er der Träger der hiero-
glyphischen 2 Bedeutung der Milz, „die so wichtige Funktionen bei der
Bildung des humor melancholicus versieht. Als Hieroglyphe für einen Pro-
pheten hat der schlafende Hund der Melencolia eine mystische Bedeutung;
sein Bild ist ein Glied in jener Kette von Vorstellungen, die über ihn als
mittelalterliches Symbol der Dialektik bis zum Schakal der ägyptischen
Priester zurück und weiter vor bis zum Pudel des Faust reichen" (a. a. O.
1904, S. 76). Panofsky-Saxl, die mit Recht den Versuch Giehlows als miß-
ungen betrachten, den Sinn des ganzen Dürerischen Blattes mit Hilfe
der Hieroglyphika des Horapollon zu entziffern, lehnen auch im einzelnen
eine ausschlaggebende Beeinflussung Dürers durch die hieroglyphische
1) Über das vierte Lebewesen, die Fledermaus, siehe weiter unten.
2) Giehlow hat außer den Hund nur das Schreibzeug mit dem Horapollon in —
keineswegs einwandfreie — Verbindung zu bringen vermocht. (Siehe Panofsky-
Saxl, S. 65, Fußnote 1.)
Dürers »MelanAolie« aS
Bedeutung des Hundes bei Horapollon ab und verweisen auf die zur Zeit
des Künstlers herrschende Auffassung von dem Hunde als einem ebenso
melancholischen als begabten Geschöpf. Dieser unmittelbare Eindruck
— den wenigstens einige Hunderassen tatsächlich hervorrufen — ermög-
lichte es Dürers Künstlerschaft, ein Lieblingsbegleittier 1 als Mittel zur Ver-
stärkung einer subjektiven Stimmungswirkung zu verwenden. Was endlich
die geflügelte Frauengestalt der Melancholie selbst anbelangt, so stellt diese
nicht mehr eine bestimmte Person, den „Melanckolicus oder die „Me-
lancholica" , in genrebildhaft-allegorischer Weise dar, sondern in echt sym-
bolischer Art das personifizierte Wesen eines seelischen Zustandes, der
ebensowohl eine vorübergehende Stimmung wie auch die eigentümliche
Äußerung einer melancholischen Veranlagung oder einer melancholischen
Erkrankung sein kann. (Panofsky-Saxl, S. 68.)
1) Ein Hund erscheint auf allen drei Meisterstichen Dürers. Der friedlich schlum-
mernde Hund des Hieronymus paßt ebensogut in die stille Stube des Heiligen wie
das halbverhungerte Tier in den unbegrenzten Raum um die „Melancholie". Dürers
Hundeliebe war sicherlich auch durch unbewußte Komplexe determiniert.
'
I
I
IV
Saturn, JMelancholie und Analcharakter
Wer auch nur einen Begriff von den Entstehungsbedingungen eines
Kunstwerks besitzt, noch dazu eines solchen wie Dürers „Melancholie",
das eine so starke, geheimnisvolle, mit der Bewußtseinspsychologie niemals
hinlänglich zu erfassende Wirkung auf den Betrachter ausübt, wird keinen
Augenblick glauben, daß der Kupferstich etwa bloß die bildliche Dar-
stellung astrologischer und medizinischer Vorstellungen über den Saturn
und die Melancholie ist, mit denen der Künstler durch seine humanisti-
schen Freunde bekanntgemacht wurde. Damit ein von persönlichem Leben
erfülltes, wirkliches Kunstwerk geschaffen werde, muß eine bestimmte
psychische Verfassung der Anregung von außen entgegenkommen, muß
der Künstler spüren, daß hier eine Möglichkeit vorliegt, unbewußte Wunsch-
regungen zu beleben und zu befriedigen, unbewußter Konflikte durch Ge-
staltung Herr zu werden. Nur aus solchen Antrieben heraus wird auch
Dürer zum Grabstichel gegriffen haben. Ist es aber nicht für einen Heutigen
unmöglich, ohne wirklich durchgeführte Analyse die geheimen Motive zu
erforschen, die im Künstler vor mehr als vierhundert Jahren wirksam
waren? Fließen doch gerade bei Dürer die Kenntnisquellen recht spär-
lich; seine eigenen schriftlichen Aufzeichnungen, ungelenk und trocken,
verraten im allgemeinen wenig von seinem Innenleben. Nur die Psycho-
analyse, die uns auf kleine und kleinste Zeichen achten gelehrt hat, ver-
mag in dieser Dunkelheit unsere Führerin zu sein; freilich wird es sich
bei den Ergebnissen immer nur um einen größeren oder geringeren Grad
von Wahrscheinlichkeit handeln, dem der psychoanalytisch Unerfahrene
zögern wird Glauben zu schenken. Als Vorbild mag uns eine Untersuchung
wie Freuds Studie über „Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da
Dürers »Melandiolieo
25
Vinci" 3 dienen, die durch intuitive Kombination verstreuter, nicht eben zahl-
reicher Züge aus dem Leben und Schaffen des großen Mannes ein tieferes Ver-
ständnis seines in seiner Persönlichkeit wurzelnden Schicksals und seiner
Leistungen ermöglicht hat. Allerdings hat Freud ausdrücklich das bedeutsame
Problem der künstlerischen Begabung als psychoanalytisch unzugänglich er-
klärt. Auch Panofsky-Saxl haben sich nicht dem Eindruck zu entziehen
vermocht, daß hier mehr vorliegt als „ein, wenn auch noch sehr veredeltes,
Temperaments- oder Krankheitsbild und daß der Künstler die drei anderen
„Komplexionen" deswegen nicht dargestellt hat, weil er sich eben mit ihnen
nicht identifizieren konnte. Sie bezeichnen unter Hinweis auf die melan-
cholische Veranlagung Dürers den Kupferstich als ein geistiges Selbstporträt :
„es ist das Antlitz des alten Saturn, das uns anblickt, allein wir haben ein
Recht, darin auch Dürers Züge wiederzuerkennen" (a. a. O. S. 76).
Welches ist aber der psychologische (nicht astrologische) Zusammen-
hang zwischen dem Planetengott und der Melancholie eines Dürer? In den
Lichtstrahlen, die die Psychoanalyse auf „das Antlitz des alten Saturn"
fallen läßt, entdecken wir plötzlich vertraute Züge, die die innere Beziehung
zur Melancholie erklären. Saturn-Kronos ist eine Vaterfigur, deren polare
Charakteristik sich aus der Ambivalenz 2 der anal-sadistischen Ent-
wicklungsstufe ableitet. Ein besonders hohes Maß von Ambivalenz
eignet nun sowohl der Melancholie als auch der (von depressiven Verstim-
mungen begleiteten) Zwangsneurose, 3 zwei Krankheitsformen, die durch
das Verharren der Libido auf der anal-sadistischen Stufe ausgezeichnet sind.
In Anlehnung an eine von Röheim 4 angeführte Äußerung Freuds könnte
man auch sagen, daß in der Melancholie der mythologische Kampf zwischen
Zeus und Kronos ins Ich introjiziert wurde und als Konflikt zwischen
Aktual-Ich und Ich-Ideal weiterlebt. Prüfen wir nunmehr mittels unserer
neuen psychoanalytischen Erkenntnis die astrologische Hauptquelle der
mittelalterlichen Saturnauffassung, den arabischen Text des Abu Ma Sar.
Einleitend möchten wir noch daran erinnern, daß die astrologische Wissen-
schaft auf Grund der magischen Methode der Analogie und der antiken
Lehre von den Urqualitäten (warm — feucht — kalt — trocken) die schwarze
1) Ges. Schriften, Bd. IX.
2) Für die Ambivalenz des Kronosbegriffes verweisen wir auf unsere früheren Aus-
führungen. Die dem Saturnkind empfohlene amor fati bedeutet psychoanalytisch die
feminine Unterwerfung unter die Vater-Imago.
3") Vgl. hiezu K. Abraham: Versuch einer Entwicklungsgeschichte der Libido.
(Neue Arbeiten zur ärztlichen Psychoanalyse II), 1924, S. 9.
4) G. Röheim: Nach dem Tode des Urvaters. Imago IX (1923), S. 9a.
Alfred Winterstein
Galle mit der Erde und dem Saturn in Entsprechung gesetzt hat, da alle
drei als eine Kombination von Kälte und Trockenheit aufgefaßt wurden.
Nun ist die Erde, wie wir seit Ferenczis vortrefflicher Arbeit „Zur
Ontogenie des Geldinteresses" 1 wissen, als ein Kotsymbol zu betrachten
und das gleiche gilt hier wohl auch von der schwarzen Galle, die ja
übrigens in tatsächlicher physiologischer Beziehung zum Darminhalt steht. 2
Die Eigenschaften der Kälte und Trockenheit sind Reaktionsbildungen des
zunehmenden Reinlichkeitssinnes auf die vom Kinde ursprünglich ge-
schätzten Qualitäten der Wärme und Feuchtigkeit der Fäzes. Wir dürfen dem-
gemäß auch das dritte Glied in der Reihe, das kalte, trockene Gestirn
Saturn, als Kotsymbol bezeichnen. "Vielleicht mindert sich das Befremden
über diese Interpretation, wenn wir daraufhinweisen, daß ein anderes Ge-
stirn, der Mond, abgesehen von seiner Mutter- und Phallusbedeutung, 3 für
das Unbewußte auch ein urethroanales Symbol darstellt. Die anale 4 Sym-
bolik des Vollmondes ist wohl die bewußtseinsfähigste und geläufigste und
leitet sich vor allein aus der runden Gestalt, sekundär vielleicht auch aus
den dunkeln Mondflecken (= Kot) ab. Die Beziehungen zwischen Mond,
Wasser, Urin und Feuer hat G. Röheim neuerdings an der Hand eines
reichen Sagenmaterials ausführlich erörtert (a. a. O. 442 f.). Daß der „bren-
nende" Harnreiz sich im Traum in einer Feuersymbolik äußert, hat die
psychoanalytische Forschung schon vor langer Zeit erkannt. Das Feuer hat
anderseits auch bisweilen exkrementeile Bedeutung; 5 so in den mexika-
nischen Bilderschriften, wo interessanterweise die Ackererde in der nämlichen
Art wie die Kriegshieroghyphe Atl-Tl achinolli gezeichnet wird, die ein
urethroanales (Feuer — Wasser) Symbol ist. 6 Da die Gestirne in erster Linie
als feurige Körper betrachtet werden, mag diese Anschauung ein assoziatives
Mittelglied für deren urethroanale Symbolik abgegeben haben. Aus dem
innigen Zusammenhang zwischen urethraler und analer Funktion erklärt
sich wohl auch die „amphimiktische" 7 Symbolik des Mondes und des Saturn.
1) S. Ferenczi: Bausteine zur Psychoanalyse. 1927, I. Bd., S. 1091.
2) Cabanis' Satz: „Das Gehirn scheidet Gedanken aus wie die Leber Galle",
wäre noch dahin zu ergänzen: wie der Darm die Exkremente.
3) G. Röheim: Mondmythologie und Mondreligion. Imago XIII (1927). S. 536.
4) Vgl. auch W.Stekel: Die Sprache des Traumes. Wiesbaden 1911, S. 262, Fußnote 1.
5) Kann nach E. Jones auch Flatus symbolisieren.
6) Alice Balint: Die mexikanische Kriegshieroglyphe Atl-Tlachinolli. Imago IX
(1925), S- 403, 411.
7) S. Ferenczi (Versuch einer Genitaltheorie. Internationale Psychoanalytische
Bibliothek, Bd. XV, 1924) versteht unter Amphimixis die Aneinanderlehnung analer und
urethraler Tendenzen.
Dürers »Alclandiolie«
Den Beweis für die Beziehung des Saturn zur Urethralität werden wir im
folgenden erbringen. Wir wollen nunmehr die dem Saturn und den von ihm
angestrahlten Menschen zugeschriebenen Eigenschaften und Zuordnungen
nach ihrer Herkunft aus analer, urethraler und sadistischer Quelle klassifizieren.
Als Grundlage dient uns der mehrfach erwähnte Saturntext des Abu Ma'sar.
Vorausgeschickt sei, daß sich die meisten Bestimmungen aus den mythologi-
schen Saturn-, Kronos- und Chronosvorstellungen (Vaterkomplex) ableiten
lassen und nur wenige bloß auf Erkenntnisse der antiken Astrologie zurück-
gehen (vgl. Panofsky-Saxl, II. Anhang); aus diesem Grunde und mit Rück-
sicht auf die besonderen Beziehungen zwischen Sadismus und Analerotik
lassen sich auch zahlreiche Bestimmungen in mehr als eine Rubrik einreihen.
Anal: 1 Kalt, trocken, bitter, schwarz, schwer, stinkender Wind, ißt viel,
treu in der Liebe (= beharrlich, ausdauernd), Arbeiten des Pflügens und
der Landwirtschaft, Besitzer der Landgüter, Gedeihen der Ländereien, Bau-
tätigkeit, 2 Wohnstätten, Schätzung der Sachen und Teilung der Ländereien,
Menge des Besitzes und der Landgüter, Geschenke, Traurigkeit, Einsamkeit,
Menschenscheu, Wahrhaftigkeit (moralische Reinlichkeit), Langsamkeit und
Bedächtigkeit, Verständnis, Erfahrung, vieles Nachdenken, 3 Fernsein des
Sprechens, Stolz, Anmaßung und Prahlerei, Beharrlichkeit und Festhalten
an einem Weg, schwerfällige Leute, Furcht, Schicksalsschläge, Sorgen und
Trauer, Trübsal, große Armut, Tote, Erbschaften,* Totengräber, Leichen-
schänder, Friedhofsdiebe, alte Dinge, Geizige, Leute, welchen die Weiber
am Herzen liegen (Beziehung zum Geldkomplex?), Gerber, 5 Leute, welche
1) Unerläßlich zum Verständnis des Folgenden ist die Kenntnis der wichtigsten
psychoanalytischen Arbeiten über den Analcharakter. (Freud: Charakter und Anal-
erotik. Ges. Schriften, Bd. V. E. Jones: Über analerotische Charakterzüge. Interna-
tionale Zeitschrift für Psychoanalyse. Bd. V, 1919. K. Abraham: Ergänzungen zur
Lehre vom Analcharakter. In: Psychoanalytische Studien zur Charakterbildung. Inter-
nationale Psychoanalytische Bibliothek, Bd. XVI, 1925.)
2) Saturn gilt schon bei den Astrologen der Kaiserzeit als „Herr der Hölzer und
Steine". Steine und Hölzer sind Umwandlungsprodukte des infantilen koprophilen
Interesses. Vgl. auch Jones, a. a. O. S. 88.
3) Die guten intellektuellen Eigenschaften sind vor allem dem „Zwangscharakter"
eigentümlich, den ein Vorwiegen der analen und sadistischen Triebkomponente aus-
zeichnet. Die oben erwähnte Bezeichnung der Kontemplation oder geistigen Konzen-
tration als compressio verrät die „Analisierung" des Denkaktes.
4) Nach E.Jones (a. a. O. S. 82) ein Kotsymbol. Die Gedankenverbindung führt
über den Begriff des hohen Wertes und über die Vorstellung der endgültigen Trennung
von etwas, der „Hinterlassenschaft".
5) „Die Lederarbeit gehört, wie die deutschen Kalender sich ausdrücken, zu den
,Gewerben, die da stinken', und diese wiederum gehören zum Saturn, weil er selbst
»8
Alfred Winterstein
die Dinge zählen, Zauberer (schwarze Kunst, Alchimie), Eunuchen, langes
Nachdenken, Wortkargheit, Geheimnisse, er teilt niemanden mit, was er
denkt oder empfindet und läßt es niemanden merken, er kennt jede dunkle
(geheimnisvolle) Sache, Elend, Fragen der Langweile. 1
Urethral: 2 Feuchtigkeit, Arbeiten der Feuchtigkeit, Wasser und Flüsse,
Seereise.
Vaterkomplex: 3 Großväter, Väter und ältere Brüder, Scheiche, rauh (dicht
behaart). Verständnis, Erfahrung, vieles Nachdenken, Zauberei, Vornehme
und Sklaven, Reitknechte (?), Aufruhrer, Plebs, Eunuchen, Entehrte, Räuber,*
Täuschung, List, Ränke, Fesseln, Fußfesselung, Gefängnis, Elend, diejenigen,
die einander bekämpfen, ißt viel, schwierige Lage, Schikanen, Bedrängnis,
Verderben, lange Abwesenheit von der Heimat, weite, schlimme Reisen,
Tote, Totenklage, Erbschaft, Verwaisung.
Sadismus: Moralische Schlechtigkeit, geheimer Haß, Schaden, Hochmut
und tyrannisches Wesen, Stolz, Anmaßung und Prahlerei, diejenigen, welche
sich die Menschen dienstbar machen und die Herrschaft lenken, jederlei
Anwendung von Bösem, Gewalt, Vergeltung und Zorn, diejenigen, welche
einander bekämpfen, Fesseln, Fußfesselung, Gefängnis, wünscht niemandem
etwas Gutes, Entehrte und Räuber, wenn er zornig wird, kann er sich nicht
beherrschen, Schikanen, Bedrängnis, Verderben.
Unbestimmt: Unterpfand (mythologisch nicht belegt. Im Zusammen-
stinkend war — entweder in seiner Eigenschaft als Totengott oder aber ... in seiner
Funktion als Satunms Stercutius oder Sterculius, d. h. als Gott des Ackerdüngers"
(Panofsky-Saxl, S. 60).
1) Die Disposition des anal-sadistischen Typus zur Langweile wurde von mir in
einem in der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung am 7. März 1928 gehaltenen
(noch nicht veröffentlichten) Vortrag über „Die Reaktion auf das Neue" behandelt.
2) Vielleicht enthalten die vom Saturn beherrschten Tierkreiszeichen Steinbock und
Wassermann einen Hinweis auf die anal-sadistische und urethrale Natur des Stern-
dämons. Der magische Experimentator L. Staudenmaier („Die Magie als experi-
mentelle Naturwissenschaft", Leipzig 1912) behauptet ja, daß gewisse boshafte, als
Bocksgestalten personifizierte Teilseelen an die Funktion bestimmter Darmpartien ge-
bunden seien (S. 72, 11a). Nach Luthers Behauptung könne der Teufel vertrieben wer-
den, wenn man einen Wind lasse.
3) Die für das Greisenalter charakteristische Regression zur anal-sadistischen Stufe
läßt es verständlich erscheinen, daß anal-sadistische Charakterzüge in Beziehung zum
Vaterkomplex treten.
4) Anspielung auf die Entmannung und den Sturz des Kronos. — Sowohl der Saturn
als auch dessen Kind, der Melancholiker, werden bisweilen als Stehfuß (Anspielung
auf die Entmannung) abgebildet. Saturn wird auch als hinkender Mann, mit der Sichel
der Rechten (Attribut des römischen Saatengottes Saturn und Werkzeug, mit dem
Kronos Uranus entmannte) geschildert.
Dürers »Mclanciiolie«
29
hang mit den Fußfesseln erwähnt. Das Saturnbild in Rom trug wollene
Fesseln. Beziehung zur Kastration?)
Im Hinblick auf eine für die Deutung des Dürerischen Stiches wichtige
Bestimmung sei noch ein den Saturn betreffender deutscher Kalendertext,
der fast aus demselben Jahre stammt wie die „Melencolia , angeführt: 1
„Saturnus der höchst oberst Planet ist mannisch, bös, kalt und trucken, ain
veind des Lebens und der Natur, ain bedeuter der münich, ainsiedel, claussner,
der ser alten leut. Melancolici, hefner, ziegler, ledergerber, Schwartzferber,
permenter, der ackerleut, klayber, badreyber, Schlot- und winkel feger
und alles schnöden volcks, die mit stinkenden wasserigen un-
saubern dingen umgehn. Er bezaichet aus den Künsten die Geo-
metrei; die alten köstlichen vesten Ding und werck der Stete vesst
und hewser ..." Psychologisch bemerkenswert erscheint in dieser Aufzählung
die Zusammenstellung der Melancholiker mit den Leuten, die ein mehr oder
weniger unsauberes Gewerbe ausüben, ferner die Erwähnung der Geometrie,
einer rein formalen Wissenschaft, unmittelbar im Anschluß an die Letzt-
genannten. In anderen Schriften 2 erscheint die Geometrie (Erdmessung) in Ver-
bindung mit der Geographie (Erdbeschreibung) und Agrikultur (Erdbebauung)
dem Saturn unterworfen. Zweifellos stellt ja das Interesse für Geometrie eine
hochgradige Sublimierung analer Interessen dar und gleichzeitig eine Reaktions-
bildung auf das Verhalten zum Kot und seinen Symbolen, wie ja überhaupt
alles Messen (auch Zeit- und Wertmessen) in dieser Sphäre wurzelt; daneben
dürfen natürlich nicht die anderen sexuellen Quellen 3 (Schautrieb, Be-
rührungsdrang, namentlich in bezug auf den Körper der Mutter = Erdmutter)
1) Leonhard Reynmann: Nativitet-Kalender, Nürnberg 1515. Fol. D II V. (Bei
Panofsky-Saxl, S. 62, Fußnote 3.) Auch Giehlow ist bereits auf diese Stelle auf-
merksam geworden.
2) So in Giulio Camillos „Idea del Teatro" (Florenz 1550, p. 45 t". — Zitiert
bei Panofsky-Saxl, S. 63, Fußnote 2).
3) Ich führe eine bezeichnende Stelle aus Multatulis Briefen (herausgegeben
von W. Spohr, 2 Bände, S. 72 f.) an: „...Ich hoffe, ich hoffe, eine vereinfachte Methode
für die Trigonometrie zu finden. Alle Schüler werden mir dankbar sein. Ich habe
noch viele andere Dinge von dieser Art zu untersuchen. Es ist herrliche Poesie, das
Aufheben des keuschen Gewandes der Natur, das Suchen nach ihren Formen, das
Forschen nach ihren Verhältnissen, das Betasten ihrer Gestalt, das Eindringen
in die Gebärmutter der Wahrheit. Siehe da die Wollust der Mathematik!
Und — ich Tor — ich bin ihr Freund! Wahrlich, sie stößt mich nicht zurück,
ergibt sie sich gleich nicht mühelos. Just Mysterium genug, um gewünscht und be-
gehrt und angebetet zu bleiben. Nicht genug, um den stürmischen Bewerber mutlos
zu machen. Ich habe ihre Fußknöchel, ihre Knie gesehen, ja die Hüfte und die Lenden,
dann und wann... aber, aber, dann stößt sie mich weg und flieht dahin, Daphne, die
3o Alfred "Wmterstein
vernachlässigt werden. Im Sinne I. Hermanns 1 wäre man versucht, auch
als fakultogenen Faktor bei der geometrischen Begabung die konstitutionell
verstärkte Handerotik anzusprechen. Die Beherrschung der äußeren Formen
unter Vernachlässigung des Inhaltlichen scheint, als Beaktionsbildung be-
trachtet, eine Quelle in dem infantilen manuellen Spiel mit den Fäkal-
massen zu besitzen. Dieser Formalismus hängt vielleicht auch mit dem
Todeskomplex zusammen, wie auf Grund der Eigenschaften des Kalten und
Toten bereits Hermann vermutet hat, der allerdings nicht die durch den
Sadismus hergestellte Verbindung des Todestriebes mit der analen Sphäre
(aus der das Formale reaktiv hervorgeht) und die unbewußte Identifizierung
von Leiche und Fäzes 2 in Betracht zu ziehen Anlaß hatte. Die eigentliche
Handerotik äußert sich primär in dem Wunsche des Kindes, sich an die
Mutter anzuklammern, ihre Formen abzutasten, liefert auch einen Beitrag
zur Schaulust und wird später zum formalen Talente 3 sublimiert. Ein paar
Beispiele, die ich einer verdienstlichen Arbeit der Frau Dr. H. v. Hug-
Hellmuth über „Einige Beziehungen zwischen Erotik und Mathematik 04,
entnehme, mögen die vorhergehenden Behauptungen unterstützen und eine
Deutung des Dürerischen Stiches vorbereiten helfen. Hug-Hellmuth ver-
weist einmal darauf, daß sich die Wissenschaft der Geometrie noch heute
in den meisten Sprachen der Ausdrücke Schenkel, Sinus, Nabelpunkt (bei
gewissen gekrümmten Flächen) bedient. Die Wissenschaft selbst wird als
Weib personifiziert. Solchen Personifikationen begegnet man schon bei in-
dischen Mathematikern; wir finden sie wieder in einem im sechzehnten
Jahrhundert erschienenen Werk, in der „Margaritha Philosophica" des
Karthäuserpriors Gregor Reis eh. Auf dem Titelbilde jenes Teiles, der die
Geometrie behandelt, hält eine weibliche Gestalt, die die Geometrie dar-
stellt, in der Rechten einen Zirkel, mit dem sie Längen an einem Fasse
abzumessen im Begriffe steht; auf diesem liegt ein eingeteilter Maßstab,
ein Hinweis auf die Visierkunst. In der Linken hält sie einen als Winkel-
sie ist, Sylphe, die sie ist, Irrlicht, Courtisane, Jungfrau... Und bei alledem die große,
mächtige Isis, die Frau Jehovah, die ist, war und sein wird, unveränderlich, un-
antastbar, unvernichtbar: das Sein, die Wahrheit."
1) I. Hermann: Gustav Theodor Fechner. Imago XI (1925% S. 407 f.
2) Siehe E. Jones: Einige Fälle von Zwangsneurose. Jahrbuch für psychoana-
lytische und psychopathologische Forschungen, IV (1912), S. 582; ferner K. Abra-
ham: Versuch einer Entwicklungsgeschichte der Libido, S. 32, und G. Roheim: Nach
dem Tode des Urvaters, S. 109, Fußnote 3.
3) Die Hand wird auch eine Dienerin des nach außen gewendeten Todestriebes,
der mit dem Formalismus in Beziehung steht (I. Hermann).
4) Imago IV (1915), S. 66 f.
Dürers »Melancholie
instrument zu benutzenden Quadranten. Hug-Hellmuth bemerkt hiezu
„Daß Frau Geometria die Abmessungen gerade an einem Fasse vornimmt,
kann nicht allein einen Hinweis auf den praktischen Wert ihrer Kunst
bedeuten. Berücksichtigen wir die symbolische Bedeutung hohler Körper
im Traume, so haben wir damit vielleicht die unbewußte Absicht des
Verfassers erraten." In Kaestners Geschichte der Mathematik (II. Bd.,
S. 663) findet sich ferner folgende Stelle: „Ein Bild Typus Geometriae.
Eine Matrone, gar nicht so hübsch wie die Musik, hält in der linken
Hand ein geometrisches Quadrat, in der rechten einen Zirkel, vor ihr
ein Faß mit Visierstabe längs darüber, im Hindergrund ein Schiff mit
Rudern.
Die angebliche besondere Begabung des saturninischen Menschen (des
Melancholikers) für mathematisches Denken überhaupt 1 hat im Mittelalter
im dreizehnten Jahrhundert eine interessante psychologische Begründung
durch den Scholastiker Heinrich von Gent gefunden, der gegen den
Aristotelismus des Albert von Bollstädt und Thomas von Aquino eine dem
augustinischen Piatonismus angenäherte Lehrweise verteidigte. Er unter-
scheidet zwei Arten von Menschen s die rein metaphysisch gerichteten Geister,
deren Denken von allen anschaulichen Bedingungen befreit ist, und die
anderen, die eine Vorstellung nur denken können, wenn sie das Vorgestellte
räumlich anzuschauen vermögen: „Ihr Intellekt kann nicht hinaus über
die Grenze ihrer Anschauung . . . sondern was immer sie denken, ist etwas
Bäumliches (Quantum) oder besitzt doch einen Ort im Räume wie der
Punkt. Daher sind solche Leute melancholisch und werden die besten Mathe-
matiker, aber die schlechtesten Metaphysiker, denn sie vermögen es nicht,
ihren Geist emporzuspannen über die räumliche Vorstellung, auf der die
Mathematik beruht." Der neuplatonische Humanist PicodellaMirandola
führt diese Stelle in seiner Apologie (Apohgia, de descensu Christi ad inferos
disputatio) an und daraus leiten Panofsky und Saxl (S. 72 f.) die Vermutung
ab, daß Dürer auf dem Wege über die deutschen Humanisten mit der An-
schauung Heinrichs von Gent bekannt wurde. In diesem Zusammenhange
zitieren sie auch einen mehr scherzhaft gemeinten Ausspruch Luthers:
„Die Artzney macht Krancke, die Mathematic Travrige, und die Theology
Sündhaffte Leut." Die theologisch begründete Theorie des Scholastikers er-
klärt also den Zusammenhang zwischen Melancholie und mathematischer
l) Das Interesse für Mathematik, das Melancholiker zeigen sollen, mag sich viel-
leicht auch manchmal daraus erklären, daß die der Linderung ihrer abergläubischen
Saturnfürchtigkeit dienende Astrologie die mathematische Methode anwendet.
3a Alfred Winterstein
(wohl mehr: geometrischer) Begabung damit, daß der visuelle T)-pus (Be-
ziehung zum infantilen Schautrieb?) unfähig ist, die Ideen, etwa die
eines extramundanen „Nichts" oder einer intramundanen „Existenz ohne
Körper" (z. B. eines Engels), zu erfassen, und deshalb (aus religiösen
Motiven) melancholisch wird. Liegt hier nicht vielleicht die Rationali-
sierung eines unbewußten Konnexes zwischen verbotenem Schauen und
Schuldgefühl vor?
Im Rahmen des allgemeinen Problems Talent und Psychopathie hat
übrigens die psychiatrische Wissenschaft auch die Verknüpfung von mathe-
matischer Genialität und Psychopathie hervorgehoben. P. J. Möbius 1 fand
gerade unter Mathematikern sehr viele Psychopathen und W. Lange- Eich-
baum behauptet in seinem Werke „Genie — Irrsinn und Ruhm" (S. 345),
daß auch die originellsten und bedeutendsten unter den weiblichen Mathe-
matikerinnen ausgesprochene Psychopathinnen waren: er nennt Gaetana
Agnesi und Sophie Germain.
Vom psychoanalytischen Standpunkte durchsichtiger ist die dem Alchi-
misten zugeschriebene Neigung zur Melancholie; sie wurzelt im analen
Charakter, der sowohl dem Adepten der Goldmacherkunst als auch dem
Melancholiker 2 eigen ist. In Marsiglio Ficinos „Buch des Lebens" lauscht
der Melancholiker, von alchimistischen Arbeiten ermüdet, bei einer voll-
besetzten Tafel dem Spiel eines Harfners. 3 Hier wird also die Beschäftigung
mit der „schwarzen Kunst als für den Melancholiker typisch betrachtet.
Die Bedeutung der Exkremente und der damit in Beziehung stehenden in-
fantilen Zeugungstheorien für die alchimistische Symbolik geht aus H. Sil-
berers wertvoller Untersuchung über die „Probleme der Mystik und ihrer
Symbolik" (S. 81, 87, 89, 92 f., 259) unzweideutig hervor. So wird die prima
materia (Urmaterie) der Alchimie mehrfach mit dem Darmkot identifiziert,
die menschlichen Fäkalien (oder eine sonstige faulende Substanz) werden
als Zeugungsstoff aufgefaßt. Diese Idee spielt auch bei den Versuchen zur
Herstellung des Homunculus* und in der Schule der sogenannten Ster-
1) Über die Anlage zur Mathematik. Leipzig 1900. — Er führt (S. 128) von be-
rühmten Mathematikern an: Ampere, Fourier, J. Bolyai, Codazzi, Leverrier.
2) Jones bemerkt in seiner Arbeit „Übpr analerotische Charakterzüge" (S. 76): „In
jedem leicht erregbaren und chronisch mißgelaunten Menschen können wir einen falsch
behandelten kindlichen Analerotiker vermuten." — Der anale Charakter scheint sich
nach Abraham (Ergänzungen zur Lehre vom Analcharakter, S. 52) in manchen Fällen
auch physiognomisch durch einenmürrischen Gesichtsausdruckbemerkbarzu machen.
3) Giehlow, a. a. O. 1903. — Siehe auch das Straßburger „Nüw Destillierbuch".
Es handelt sich dort um eine deutsche Übersetzung Ficinos.
4) Vgl. H. Silber er: Der Homunculus. Imago III (1914).
Dürers »Melancholie« 33
koristen 1 eine große Rolle. Eine andere Verbindung zwischen dem saturni-
nischen Melancholiker und dem Jünger der hermetischen Kunst (oder
Alchimie im weiteren Sinne) führt über den Vergleich des Menschen im
Initialstadium der Demut und Ergebung mit dem Blei, dem weichen,
dunkeln Metall, das den Namen des Saturn trägt ( b" ). Die hermetische
Kunst reicht nämlich über das bloß Chemische und Physikalische hinaus,
da ihr Subjectum — der Mensch ist; man könnte sie geradezu als seelische
Alchimie bezeichnen. 2
Die Wirkung der Musik als eines antimelancholischen Heilmittels (vgl.
die Holzschnittillustration aus Marsiglio Ficinos „Buch des Leben") erklärt
sich wohl auch aus ihrer analerotischen Bedeutung; daß daneben durch
die Macht der Töne verdrängte Wunschregungen genitalen und egoistischen
Charakters befreit werden, ist natürlich ohne weiteres zuzugeben. Ferenczi^
und namentlich E. Jones* haben in überzeugender Weise dargetan, daß
das infantile Interesse für das Geräusch, das den Flatus begleitet, im späteren
Leben zur Musikalität sublimiert werden kann ; für den Erwachsenen stellt
im Unbewußten die Musik symbolisch die Darmgase vor. Die abstoßendste
und gröbste Vorstellung eignet sich ja gerade am besten zur Grundlage
einer höchstwertigen Sublimierung. Oder wie Freud 5 es ausgedrückt hat:
„Was im einzelnen Seelenleben dem Tiefsten angehört hat, wird durch die
Idealbildung zum Höchsten der Menschenseele im Sinne unserer Wertungen."
Jones verweist in diesem Zusammenhange auch auf die Tatsache, daß
Hermes (Merkur) nicht nur der Gott der Musik war, sondern auch der
Winde, der Sprache und des Geldes. Nun hat aber der Verfasser der „libri
de Vita triplici" , Marsiglio Ficino, gerade eine besonders innige Verwandt-
schaft zwischen Merkur und Saturn festgestellt (Panofsky-Saxl, S. 36,
Fußnote 3).
Die Assoziation Musik — saturninische Melancholie durch das unbewußte
Mittelglied: Flatus erfährt auch noch eine Bestätigung durch den Hinweis
auf die übrigen antisaturninischen Heilmittel. Da heißt es, daß bei melan-
cholischer Veranlagung der Unterleib stets durch Klistiere zu reinigen und
1) Saturn heißt auch Stercutius oder Sterculius als Gott des Ackerdüngers.
2) Das Verhältnis zur chemischen Praxis gleicht etwa dem der Freimaurerei zur
praktischen Baukunst.
5) Bausteine zur Psychoanalyse I, S. 180.
4) Zur Psychoanalyse der christlichen Religion (Imago-Bücher, Bd. XII), S. 55. Die
Bedeutung der analerotischen Zone wird auch von S. Pfeifer in seiner Arbeit über
„Musikpsychologische Probleme" (Imago IX 1923, S. 459) betont.
5) Das Ich und das Es. Ges. Schriften, Bd. VI.
Winterstein: Dürers „Melancholie". 3
'
34 Alfred "Winterstc
jegliche Unmäßigkeit zu vermeiden sei; Spazierengehen, geeignete Speisen,
Körpermassagen werden gleichfalls im Hinblick auf den Verdauungsprozeß
empfohlen. Die Vorschreibung von Medikamenten, die aus allerlei Pflanzen-
stoffen bereitet werden, erfolgt aus demselben Grunde; für die Auswahl der
Heilpflanzen ist auch der Geruch sehr bedeutsam, bei einigen von ihnen
werden überhaupt bloß die Gerüche eingeatmet. Auch hier ist die Ver-
bindung mit der analen Sphäre gegeben ; denn die Beziehung des Geruch-
sinnes zur Koprophilie (Riechen der Fäzes und der Darmgase) ist der Psycho-
analyse wohlbekannt und die besonders betonte Riechlust von ihr als analer
Charakterzug erkannt worden.
V
Dürers Lebensgescn.ich.te und Persönlichkeit
So vorbereitet, können wir jetzt darangehen, den symbolischen Gehalt
des Dürerischen Stiches psychoanalytisch zu deuten. Der latente Sinn mancher
Einzelheit der Komposition wird ja ohnedies schon beim Lesen der vorher-
gehenden Ausführungen klargeworden sein. Noch aber wissen wir zu wenig
von der Lebensgeschichte des Künstlers. Wir müssen also zunächst das
Wichtigste daraus mitteilen.
Albrecht Dürer wurde am ai. Mai 1471 in Nürnberg als drittes Kind
eines armen Goldschmiedes geboren und bei der Taufe nach ihm benannt.
Er galt als besonderer Liebling seines Vaters. Dieser scheint ein wortkarger,
rechtlich denkender, tüchtiger Handwerker gewesen zu sein, der einen
schweren Lebenskampf zu bestehen hatte und auch dem Sohne anfangs
Hindernisse in den Weg legte, bevor er sich entschloß, den fast ausgelernten
Goldschmied Maler werden zu lassen. Albrecht hat ihn zweimal porträtiert.
Des Malers Mutter Barbara hatte noch als halbes Kind, mit fünfzehn Jahren
den über vierzig Jahre alten Mann geheiratet und gebar ihm im ganzen
achtzehn Kinder. Es fällt schwer, daran zu glauben, daß sie einst „eine
hübsche, gerade Jungfrau" war (wie ihr Sohn Albrecht sie nennt); denn
wir kennen ihr Bild nur aus jener unheimlich realistischen Kohlenstift-
zeichnung, die Dürer einige Wochen vor ihrem Tode (am 19. März, sie
starb am 16. Mai 1514) von ihr angefertigt hat. Über den Eindruck, den
der eingefallene Kopf der alten Barbara Dürerin macht, urteilt ein Kenner
wie Heinrich Wolf flin (a. a. O. S. 1): „Jene Zeichnung ist das Bild eines
Weibes, das von vielen Geburten erschöpft, in Not und Arbeit sich völlig
aufgezehrt hat und das verschrumpfte Gesicht mit den schielenden, vor-
tretenden Augen hat etwas Dumpfes und Hoffnungsloses, das fast erschreckend
3'
36 Alfred Winteratein
wirkt." Sie war sehr fromm; Albrecht Dürer schreibt in seinem Gedenk-
buch, 1 daß sie stets um sein und seiner Brüder Seelenheil besorgt war und
es an Ermahnungen nicht fehlen ließ. Ihre ständige Redensart war: „Geh'
im Namen Christi!" Der Vater starb im Jahre 1502; zwei Jahre nach
dessen Tode nahm Dürer die gänzlich mittellose Frau zu sich ins Haus.
Nachdem sie neun Jahre bei ihm gewesen (was Dürer in seinem Gedenk-
buch hervorhebt), erkrankte sie schwer, starb aber erst über ein Jahr später.
Es verdient erwähnt zu werden, daß Dürer in seinen schriftlichen Auf-
zeichnungen, die im allgemeinen nur Tatsachen in trockenem Tone be-
richten und viele pedantische Zahlenangaben bringen, dreimal warme, ja
wahrhaft ergreifende Worte gefunden hat: nach dem Tode seiner Eltern
und nach der Aufhebung Luthers bei dessen Rückkehr vom Reichstage zu
Worms (4. Mai 1521). In seiner Angst um das Schicksal Luthers („Und
lebt er noch oder haben sie ihn gemördert, das ich nit weiß ..." Lange-
Fuhse, a. a. O. S. 165) ruft er Erasmus von Rotterdam mit leidenschaftlichem
Pathos an, als Streiter Christi gegen das Papsttum aufzutreten. („Reit hervor,
du Ritter Christi!") Aus dieser Stelle des Tagebuches der niederländischen
Reise spricht der aufrührerische Sohn, während der liebende, von Schuld-
gefühl bedrückte seinen tiefen Schmerz über den Tod von Vater und Mutter
dem Gedenkbuch anvertraut. Über den am 20. September 1502 erfolgten
Tod des Vaters schreibt er u. a. (Lange-Fuhse, a. a. O. S. ia): „. . . Den ich
todt mit großen Schmerzen ansach, des ich nit wirdig bin gewesen, bei
seinem End zu sein . . . Der barmherzige Gott helfe mir auch zu eim
seligen End. Und hätt mein Mutter eine betrübte Wittwe gelossen, die er
mir allweg grosslich lobet, wie sie so ein frumm Frau war. Deshalb ich
mir fürnimm, sie nimmermehr zu lossen." Noch ausführlicher ergeht sich
Dürer über den Tod seiner Mutter (Lange-Fuhse, a. a. O. S. 13). Nachdem
er zunächst über ihre große Frömmigkeit gesprochen hat, - fährt er fort:
„. . . Diese meine frumme Mutter hat 18 Kind tragen und erzogen, hat
oft die Pestilenz gehabt, viel andrer schwerer merklicher Krankheit, hat
große Armut gelitten, Verspottung, Verachtung, höhnische Wort, Schrecken
und große Widerwärtigkeit, noch ist sie rochselig [rachsüchtig] gewest."
Dürer beschreibt dann in allen Einzelheiten ihr Sterben, das am 16. Mai 2
1514 stattfand („in ihrem Tod sach sie viel lieblicher, dann do sie noch
das Leben hätt"), und schließt mit den Worten: „Dovan hab ich solchen
Schmerzen gehabt, daß ichs nit aussprechen kann. Gott sei ihr gnädig."
1^1 Lange-Fuhse: Dürers schriftlicher Nachlaß. Gedenkbuch, S. 13.
2) Dürer nimmt irrtümlicherweise den 17. Mai an.
Dürers »Melandiolicn 3?
Von derartigen Gefühlsäußerungen, die dem verschlossenen Manne nur
schwer zu entreißen waren, hört man nichts weder in Bezug auf die Ge-
schwister (einer seiner Brüder, Hans, war gleichfalls Maler, eine Zeitlang
am Hofe des Polenkönigs tätig und in die Wiedertäuferhewegung verwickelt)
noch in bezug auf die eigene Frau. Sie hieß Agnes Frei und stammte aus
vermögendem Hause. Dürer hatte sie in jungen Jahren — nach der Sitte
der damaligen Zeit durch Vermittlung seines Vaters — geheiratet und lebte
mit ihr bis zu seinem Tode in einer durch keinerlei Leidenschaften be-
glückten und getrübten Ehe. Die bei Genies häufig vorkommende Kinder-
losigkeit war auch sein Los. Zwischen dem Künstler und der nüchternen
Frau mit den stumpfen Zügen scheint keine herzlichere Gefühlsbeziehung
bestanden zu haben. Deswegen muß sie aber noch keine Xanthippe gewesen
sein, als die sie bisweilen hingestellt wird.' Welchen Einfluß Dürers Reisen
auf sein Liebesleben ausgeübt haben oder auch: inwiefern diese Reisen
durch seine Erotik mitbedingt waren, 2 darüber sind höchstens Vermutungen
erlaubt. Im Jahre 1495 — kurz nach seiner Vermählung — dürfte er das
erstemal in Italien gewesen sein. Von der sinnlichen Luft dieses Landes
ist in den Stoffen, mit denen er sich nach seiner Rückkehr beschäftigte,
nichts zu spüren. Damals entstand die Holzschnittfolge der Apokalypse und
der Passion des Herrn. Dazu ist freilich zu bemerken, daß man um die
Jahrhundertwende allgemein den Untergang der Welt erwartete. Überall
sah man Zeichen und Wunder. Es wirkt fast wie der Beginn einer Massen-
Schizophrenie. Aus jener Zeit (1498) stammt auch der bekannte Spruch:
„Ich leb und weiß nit wie lang, ich stirb und weiß nit wann, ich fahr
und weiß nit wohin, mich wundert, daß ich fröhlich bin.
Als reifer Mann kommt Dürer im Herbst 1505 zum zweitenmal nach
Italien. Die Wirkung dieser Reise scheint viel nachhaltiger gewesen zu sein.
Wir wissen einiges darüber aus den Briefen, die der Künstler aus Venedig
an seinen väterlichen Freund Pirckheimer schrieb. Dürers Vater war seit
drei Jahren tot. Er redet Pirckheimer folgendermaßen an (Lange-Fuhse,
a. a. O. S. 21): „• • • Wann ich hab kein anderen Freund auf Erden denn
Euch . . . Wann ich halt euch nit änderst denn für einen Vater." Dichte-
rische Phantasie 3 hat den Künstler mit Venezianerinnen in gefühlvolle Liebes-
1) „Es gibt an dieser Ehe nichts zu retten; denn sie ist elend", urteilt Wilhelm
Hausenstein (Albrecht Dürer. Die Neue Rundschau, August 1928).
2) Vgl. hiezu meine Arbeit: Zur Psychoanalyse des Reisens. Imago I (19x2).
3) Hermann Kosel in seinem Roman „Albrecht Dürer" (Berlin 1923/24.). — In
Nürnberg findet man das Bild einer Venezianerin von Dürers Hand (seine Geliebte?).
38 Alfred "Winterstein
beziehungen bringen wollen; dem Lebemann Pirckheimer hat er keine
schriftlichen Geständnisse 1 darüber gemacht (wenigstens sind keine erhalten).
Bei der schwach entwickelten Objekterotik Dürers glauben wir viel eher,
daß die Veränderung in seinem Triebleben fast ausschließlich seiner Kunst
zugute kam. Venedig hat Dürer überhaupt erst zum Maler gemacht (Wölfflin,
a. a. O. S. 9), in Venedig erwuchs auch seine an Leonardo gemahnende Forde-
rung, daß der Maler eine vollkommene theoretische Einsicht in seine Kunst
haben müsse. Ungern dachte er an seine nordische Heimat. „O wie wird
mich nach der Sunnen frieren, hie bin ich ein Herr, doheim ein Schmarotzer."
Fünfzehn Jahre später tritt Dürer seine dritte und letzte große Reise an.
Ursprünglich zu geschäftlichen Zwecken unternommen, 2 gewann die Fahrt
nach den Niederlanden, bei der der Fünfziger diesmal von seiner Frau
begleitet wurde, für ihn eine große seelische Bedeutung. Er wurde wieder
zum Maler (Wölfflin) und erlebte als Künstler eine Art zweiter Pubertät.
In seinen Tagebuchnotizen hat uns Dürer einen ausführlichen, vom Glück
des Schauens erfüllten Bericht über die Reise hinterlassen. Aber in pedan-
tischer Weise verzeichnet er darin auch die kleinsten Geldauslagen („1 Stüber
für eine Schachtel. Ich hab 4 Stüber zum Trinkgeld geben, und dem Dok-
tor 6 Stüber") 5 — dies auch unmittelbar im Anschluß an hochpathetische
Stellen wie jene, wo Dürer, der im Herzen auf seiten der Reformation
stand, Erasmus anruft, als Streiter Christi hervorzutreten. Knapp sieben
Jahre nach seiner Rückkehr starb er an einem Leiden, das er sich schon
auf seiner niederländischen Reise zugezogen haben soll. Näheres darüber
ist nicht bekannt.
Ein Werk wie die „Melancholie", das so unmittelbar als Selbstbekennt-
nis wirkt, läßt das Interesse für die psychologische Artung des Schaffenden
besonders begreiflich erscheinen. Zu den paar Zügen, die wir bereits an-
gedeutet haben, wären noch folgende hinzuzufügen. Zweifellos war Dürer
in der Grundstimmung depressiv,* gedrückt. Sein Zeitgenosse Melanch-
1) Dagegen gebraucht er in einem Brief an Pirckheimer folgende zynischen Worte
über Agnes: „Und als Ihr schreibt, ich soll bald kommen, oder Ihr wollt mirs Weib
kristieren (klistieren), ist Euch unerlaubt, Ihr brautt sie denn zu Tod" (Zitiert
bei W. Hausenstein, a. a. O.).
2) Er wollte sich vom Nachfolger Maximilians I., dem jungen Kaiser Karl V.,
das Jahresgehalt neu bestätigen lassen.
5) Lange-Fuhse, a. a. O. S. 165.
4) Nach astrologischer Auffassung wurde Dürer unter dem Zeichen des Löwen
geboren. Solche Menschen sollen immer etwas zur Melancholie neigen (O. A. H.
Schmitz: Der Geist der Astrologie. München 1925, S. 228).
Dürers »Melancholie« -^9
thon spricht von der melancholia generosissima Dureri, 1 die Wahl so ernster
Stoffe wie der Apokalypse und der Passion bestätigt diese Auffassung, des-
gleichen ein Ausspruch Dürers über den Nutzen seiner Kunst: „Durch
Malen mag angezeigt werden das Leiden Christi." Man muß freilich auch
die Stimmung der damaligen Zeit berücksichtigen, um zu verstehen, in
welche seelische Bedrängnis tiefer veranlagte Menschen (z. B. Luther) durch
die Einwirkung einer angstvoll auf das Weltenende harrenden Umwelt
geraten konnten. In seinem Gedenkbuch erwähnt Dürer einen wunderbaren
Re<*en von Kreuzen, den er im Jahre 1505 erlebt haben will; er berichtet
auch ausführlich über einen Angsttraum aus dem Jahre 1525, in dem un-
geheure Wasserfluten vom Himmel herabstürzten, 2 und ergänzt die Schilde-
rung noch durch ein Bild. Ob er sich selber für einen Melancholiker ge-
halten hat, ist fraglich. An einer einzigen Stelle seiner Schriften kommt
das Wort Melancholie vor. In der (nicht gedruckten) Vorrede zum „Unterricht
der Malerei" oder „Speis der Malerknaben" heißt es (Lange-Fuhse, a. a. O.
S. 285) : „Das Sechst, ob sich der Jung zuviel übte, dovan ihm die Meleco-
ley überhand mocht nehmen, daß er durch kurzwelig Saitenspiel zu lehren
dovan gezogen werd zur Ergetzlichkeit seines Geblüts." Diese Äußerung
erinnert auffallend an eine früher erwähnte des Arztes Constantinus
Africanus, nach der die Melancholie eine Folge geistiger Anstrengung sei.
Auch die Empfehlung der Musik zur Bekämpfung der Melancholie ver-
rät den nämlichen ärztlichen Ursprung. Die falsche Verknüpfung: de-
pressive Stimmung, verursacht durch grüblerische Gedankenarbeit (während
doch in Wahrheit beides Symptome einer Krankheitsform sind), lebt noch
heute in der landläufigen Auffassung fort, daß man durch bloße geistige
Überarbeitung neurotisch oder gar psychotisch werde. Es war naheliegend,
— schon Lange und Fuhse haben darauf in einer Anmerkung hingewiesen, —
in Dürers obiger Bemerkung den Schlüssel zum Verständnis des Melancholie-
Stiches zu erblicken. 3
Bei Dürers zyklothymer Veranlagung ist es nicht weiter verwunderlich,
daß wir auch in seinen Schriften und künstlerischen Arbeiten kompen-
1) Melanchthon sagt: De Melancholicis ante dictum est, horuin est mirifica uanetas.
Pnmum üla heroica Scipionis, uel Augusti, uel Pomponij Attici, aut Dureri generosissima
est ut uirtutibus excellit omnis gtneris, regitur enim crasi temperata, et oritur a fausto positu
syderum (gemeint ist die Konjunktion von Saturn und Jupiter in der Waage). Zitiert
bei Warburg, a.a.O. S. 61, 62.
2) Der Traum läßt sich natürlich nicht einwandfrei deuten. Wasserträume sind
im allgemeinen Geburtsträume und weisen auf infantile Enuresis hin.
=1 So auch Max Friedländer in seinem Werk: Albrecht Dürer, S. 148.
4° AlfreJ Wintersteil
satorischen Äußerungen — nicht allzu vielen — begegnen, die ihn von
dem auf ihm lastenden Drucke vorübergehend befreit zeigen. Immerhin
ist es charakteristisch, daß freudige Ereignisse in den Aufzeichnungen nur
flüchtig erwähnt werden und die gehobene Stimmung sich künstlerisch
bloß in gelegentlichen idyllischen Szenen (Maria mit dem Jesuskind, „Hierony-
mus im Gehäus ) oder in „Aufschwüngen tragischer Erhabenheit" ' inner-
halb der Sphäre des Religiösen („Michaels Kampf mit dem Drachen",
„Ritter, Tod und Teufel") auswirkt.
Eine wertvolle Analyse von Dürers Eigenart, die wir Müller-Freien-
fels (a.a.O. S. 242 f.) verdanken, mag uns, ergänzt durch Ergebnisse der
Tiefenpsychologie, dazu dienen, das Bild des Schöpfers der „Melencolia"
abzurunden. Müller-Freienfels halt Dürer für keinen eigentlichen Gefühls-
menschen, wenn auch gelegentliche Gefühlsausbrüche eher darauf schließen
lassen, daß dieser starke Gefühle nur verdrängt hat. Was wir von seinen
Affekten erfahren, bezieht sich auf die Eltern, auf die Religion und auf —
theoretische Kunstprobleme. Seinen Mitmenschen stand Dürer jedenfalls
kühl gegenüber; intime seelische Beziehungen zu einer Frau scheinen zu
fehlen, über erotische Ausschreitungen anderer urteilt er streng. Wer so
weder Haß noch Liebe empfindet oder wer gleichgültig scheint, weil starker
Haß und starke Liebe einander die Waage halten, wird als Künstler durch
Sachlichkeit und objektive Darstellung ausgezeichnet sein. „Die Objektivität
des Dürerschen Geistes äußert sich inhaltlich in der minuziösen Naturtreue
und Sachlichkeit, formal im Herausarbeiten einer objektiven Form" (es
ist, wie Müller-Freienfels [S. 252] mit Recht hervorhebt, die schnörkel-
hafte, verwirrende Form der Gotik, Dürer hat wenig mit dem Kunstideal
der Renaissance zu schaffen). Als Künstler ist Dürer ein vollkommen kon-
kreter Typ; er ist von Natur auf das Einzelne, Besondere, ja Absonderliche
und auf die Vielheit eingestellt, seine unter fremdem Einfluß (Jacopo
de' Barbari) einsetzenden Bemühungen um das Abstrakte und Typische,
die zu seinem ursprünglichen Wesen im Gegensatze zu stehen scheinen,
sind doch nicht nur „aufgepfropft" (dagegen spricht schon die jahrelange
Beschäftigung), auch nicht bloße „Kompensation", sondern wohl durch
unbewußte Prozesse determiniert; vielleicht haben sie als „eine Art Kompro-
mißbildung zwischen den wiederbelebten infantilen Imagines des Unbe-
wußten und dem in Relation zur Außenwelt verbliebenen Stück der Per-
1) Müller-Freienfels: Persönlichkeit und Weltanschauung. Leipzig- 1919,
S. 253-
Dürers siVlelandioIiea ^1
sönlichkeit zu gelten." ' Jener Hang zum Formalismus, zum absoluten Ideal,
zur starren Abstraktion deutet auch in diesem Zusammenhange auf ein
stärkeres Hervortreten der destruktiven Komponente im Triebleben hin,
namentlich nach der zweiten italienischen Reise. 2
Was Dürers Sinnesleben anbelangt, so gehört er zweifellos dem visuell-
motorischen Typus an (vielleicht „Eidetiker 3 ) ; sein Stil ist mehr linear-
plastisch als farbig. Auch in der Theorie interessieren ihn räumliche Pro-
bleme viel stärker als Probleme der Malerei. Die Neigung zum Formalen
und die plastische Begabung lassen an I. Hermanns Theorie 4, der Hand-
erotik als Talentgrundlage (die erotisch-abtastende Rolle wird auch von den
Augen übernommen) denken. Als eine Bestätigung dieser Hypothese mag
vielleicht die Tatsache herangezogen werden, daß Dürer berühmt schöne
Hände besaß und Hände mit besonderer Kunst zeichnete. Die intensive
Einfühlung in alle Raum- und Tiefenwerte, die ungeheure Bewegtheit des
Linienspiels scheint bei ihm auch Ausdruck eines manischen Bewegungs-
dranges gewesen zu sein (zyklophrener Typus). Der erhöhte Narzißmus
Dürers ist eine dem Künstler überhaupt eigentümliche Erscheinung,
die keines besonderen Beweises hier bedarf. Ich brauche bloß an das ideale
Selbstporträt (in München) zu erinnern, in dem man etwas Christusmäßiges
gefunden hat (Größenphantasie). Dürers Idealköpfe sind fast alle nur männlich.
Die ursächliche Beziehung zwischen narzißtischer Fixierung und homo-
erotischer Einstellung 5 legt gerade im Falle Dürer die Vermutung nahe,
1) Siehe meine Arbeit: Psychoanalytische Anmerkungen zur Geschichte der Philo-
sophie. Imago II (1913), S. »83. Dort wird der Aufstieg Piatos zu den allgemeinen
Begriffen als Regressionsphänomen infolge Versagung zu erklären versucht.
2) Wölfflin (a. a. O. S. 11) äußert die Meinung, daß Dürer seit der (zweiten)
Reise nach Italien formalistisch geworden sei. Auch für Goethe bedeutete der Auf-
enthalt in Italien nicht die Wiedergeburt zum Künstler, vielmehr den Beginn der
nüchternen wissenschaftlichen Periode. Bei Goethe haben zweifellos sexuelle Erlebnisse
(Erlangung der orgastischen Potenz) den Umschwung bewirkt.
3) Nach E. Jaensch besitzen solche Menschen die Fähigkeit zur Erzeugung sub-
jektiver Anschauungsbilder von halluzinatorischer Deutlichkeit. Dürers Vorliebe für
das Absonderliche, Phantastische, Visionäre, sein „Seherkomplex" (Hermann) wurzelt
möglicherweise in dieser Begabung.
4) a. a. O. S. 407.
5) Narzißmus und Analität schaffen eine Disposition zur Homosexualität, die
durch Identifizierung mit der Mutter verstärkt wird. Die passiv-feminine Ödipus-
einstellung zum Vater (demütige Unterwerfung unter den Willen Gottes) liefert einen
weiteren Beitrag. Freud (Die Disposition zur Zwangsneurose. Ges. Schriften. Bd. V)
sieht als konstitutionelle Basis der Objekthomoerotik die prägenitale sadistisch-anale
Entwicklungsstufe der Libido an.
4=* Alfred Wintersteia
daß er ideell gleichgeschlechtlich gewesen ist. Auch anale Charakterzüge
sind uns bereits bei ihm begegnet. Die pedantische Aufzählung der kleinsten
Geldauslagen in seinem Reisetagebuch, selbst dort, wo unmittelbar vorher
starke Affekte zu Worte gekommen sind, ist auch dem Nicht-Psychoana-
lytiker aufgefallen. 1 „Ach Gott vom Himmel, erbarm' dich unser, o Herr
Jesu Christe, bitt' für dein Volk; erlös' uns zur rechten Zeit, behalt' in uns
den rechten wahren christlichen Glauben ..." Nach diesen leidenschaft-
lichen Worten folgt noch ein Zitat aus der Apokalypse, dann aber heißt
es durchaus überraschend: „Aber hab ich 1 fl. zu Zehrung gewechselt. Ich
hab dem Doktor aber 8 Stüber geben" (Lange-Fuhse, a. a. O. S. 165).
Freud hat in einem ähnlichen Falle (Leonardo da Vincis Aufzeichnungen
über die Auslagen beim Begräbnis seiner Mutter) die Vorgänge bei der
Zwangsneurose zur Aufklärung der kleinlichen Zahlenangaben herangezogen.
„Dort sehen wir die Äußerung intensiver, aber durch Verdrängung un-
bewußt gewordener Gefühle auf geringfügige, ja läppische Verrichtungen
verschoben." (Eine Kindheitserinnerung usw., S. 419.) Wir können bei
Dürer, der auch dem Zwangstypus nahegestanden zu sein scheint, nur
vermuten, daß sich irgendwelche vom Bewußtsein verleugneten starken
Regungen (vielleicht im Zusammenhang mit seiner negativen Vater-
einstellung) in dieser befremdenden Symptomhandlung zwanghaft Ausdruck
verschafft haben.
Gelegentlich kommt auch bei Dürer eine ganz ursprüngliche Freude
am Analen in derber Weise zum Vorschein. So existieren Reime von ihm,
in denen mit sichtlichem Behagen die volkstümlichen Bezeichnungen für
diese Sphäre gebraucht werden (Lange-Fuhse, a. a. O. S. 81 f.).
Melanchthon 2 berichtet, daß bei Dürer die Schätzung der eigenen Arbeit
zumeist nur kurz vorhielt. Sofern Jones 3 recht hat, ist die Gleichgültigkeit
gegen das spätere Schicksal der eigenen Erzeugnisse ein reaktiv entstandener
analer Charakterzug. * Keineswegs führen wir solche Einzelheiten an (wie
1) Wilhelm Dessauer: Dürers Reisetagebuch. Neue Freie Presse, Nr. 22830, vom
6. April 1928.
2) Manlius, loc. comm. collectio Bas. 1565. VI, 22 und 301. (Zitiert bei Wölfflin,
a. a. O. S. 12, Fußnote 1.)
3) Über analerotische Charakterzüge, a. a. O. S. 89.
4) Siehe auch die Äußerung Freuds in der Leonardo-Studie (S. 435f-) : «Für Leo-
nardos Schaffen als Maler hatte die Identifizierung mit dem Vater eine verhängnis-
volle Folge. Er schuf sie und kümmerte sich nicht mehr um sie, wie sein Vater sich
nicht um ihn bekümmert hatte." Die eine Motivierung schließt die andere natürlich
nicht aus.
Dürers »MelandioIIee 43
die Gegner analytischer Tiefenforschung empört behaupten), um eine Per-
sönlichkeit wie Dürer zu erniedrigen, sondern nur, um die Triebgrund-
lagen aufzuzeigen, auf denen sich der in so hohe Wertsphären ragende
Überbau der künstlerischen Leistung erhebt.
VI
Der Tod der M.utter
Von der Wesensart des Schöpfers wieder zu dessen Werk zurückkehrend,
wollen wir uns nunmehr die Frage vorlegen, auf Grund welchen erregenden
Erlebnisses Dürer den Kupferstich „Melencolia" geschaffen haben mag. Der
Schleier, der gerade über diesem Bilde liegt, läßt vermuten, daß besonders
tiefreichende affektive Eindrücke des Künstlers in seine Schöpfung ein-
gegangen sind. Die „Melencolia" ist 1514 datiert, aus demselben Jahre
stammt auch die Kohlenzeichnung der Mutter (19. März), die am 16. Mai
nach mehr als einjähriger Krankheit starb; sie hatte die letzten zehn Jahre
im Hause ihres Sohnes Albrecht verlebt. Obwohl der genaue Zeitpunkt der
Entstehung des Kupferstiches nicht bekannt ist, liegt es doch nahe, einen
Zusammenhang zwischen ihm und dem Tode der Mutter anzunehmen. Dies
haben denn auch verschiedene Autoren getan, denen die psychoanalytische
Feststellung wohl fremd war, daß sich der gesamte psychologische Vorgang
in der Melancholie, die so oft nur eine neurotische Form der Trauer ist,
vorwiegend um die Mutter bewegt und daß ein Objektverlust dem Ausbruch
der melancholischen Verstimmung regelmäßig vorausgeht. 1 Bezeichnender-
weise sind es namentlich die Dichter mit ihrer intuitiven Seelenkenntnis,
die den Tod der Mutter oder eine Liebesenttäuschung im allgemeinen als
das determinierende Erlebnis des Künstlers Dürer ansehen. So Hermann
Kosel in seinem großen Roman „Albrecht Dürer, ein deutscher Heiland"
(Berlin 1923/24) und Frau Beda Prilipp in ihrem Dürer-Roman „Wahr-
heitssucher" (Berlin igi6). Auch einzelne Kunsthistoriker weisen auf die
1) Vgl. hiezu namentlich K. Abraham: Versuch einer Entwicklungsgeschichte
der Libido, S. 6, 7, 50.
Dürer* »Melandiolieo ^5
ursächliche Beziehung hin. M. Friedländer (a. a. O. S. 142) begnügt
sich freilich damit, die beiden Ereignisse nebeneinander zu erwähnen:
„Die Melencolia ist 1514 datiert, in diesem Jahr wurde Dürer durch die
schwere Krankheit und den Tod seiner Mutter tief bewegt. Bestimmter
drückt sich Rudolf Wustmann in seinem Aufsatz „Als Dürers Mutter starb"
aus (Kunstchronik 19012/03, S. 427): „Viele, die diesen Schmerz (über den
Tod der Mutter) kennen, wissen, wie er den Menschen geistig in heftige
Tätigkeit setzt. Dürer arbeitete die Melancholie . . . Für den Nürnberger
von 1500 bedeutete Melancholie in erster Linie Trauer." Psychoanalytisch
interessant ist die schroffe Art der Ablehnung der Möglichkeit einer Beziehung
zwischen dem Verlust der Mutter und der Konzeption der „Melancholie"
durch Wölfflin. Dieser schreibt (a. a. O. 206 f.): „Die Zeichnung der Mutter
stammt aus dem Jahre 1514, dem Jahre der Melancholie. Es ist zugleich
das Todesjahr der Frau gewesen und man hat schon gemeint, den Stich
in einen bestimmten sachlichen Zusammenhang damit bringen zu müssen.
Das geht nicht an, wohl aber besteht in der einzigartigen Innerlichkeit
ein Zusammenhang zwischen Zeichnung und Stich." Einige Zeilen weiter
aber heißt es: „Was Dürer als Ausdruck vorschwebte, als er die Mutter
zeichnete, ist dem Inhalt nach der Melancholie nicht unähnlich und er
hat denn auch — in der Überschneidung des emporgerichteten Auges —
auf dieselben Darstellungsmittel gegriffen." Kann man sich von der Unart
der Psychoanalyse nicht freimachen, Kleinigkeiten als Beweismaterial heran-
zuziehen, die auch eine andere, weniger tiefgreifende Erklärung zulassen
(Freud), 1 so wird man gerade in dieser Übereinstimmung eine Bestätigung
unserer Auffassung erblicken dürfen, daß die geflügelte Frauengestalt des
Melancholiestiches die Mutter des Künstlers darstellt, wenn auch gleichsam
idealisiert, 2 verklärt, als Engel. Übrigens existiert eine Modellstudie für
die Melancholie aus dem gleichen Jahre 1514 (Federzeichnung, London,
Britisches Museum), 3 die eine ehrsame, wohlbeleibte Matrone mit Schlüssel-
bund, ohne jeden Hinweis auf eine veredelnde Personifikation zeigt (entweder
Dürers Schwägerin oder Frau).*
„Jeder Maler malt stets sich selbst" — diesen Satz Leonardos da
1) Ein religiöses Erlebnis. Imago XIV (1928), S. 9.
2) Hermann (a. a. O. S. 414, Fußnote 2) verweist darauf, daß der Todesgedanke,
das Erlebnis des Todes (des Fernseins) auch dem Idealisieren einen mächtigen Antrieb
verleiht (Ideal = eidolon = Seele eines Toten. Röheim).
5) Bei Panofsky-Saxl, a. a. O. Abb. 2.
4) „Sie ist die trübe Hausmuse des Künstlers, der das lähmend-schöne Sonett von
der Melancholie in Kupferstich gedichtet hat" (W. Hausenstein, a. a. O.).
46 Alfred "Winterstein
Vinci 1 hat die Psychoanalyse dahin erweitert: oder ein infantiles Liebes-
objekt. Freud hat in seiner Leonardo-Studie überzeugend dargetan, daß
das Lächeln der Mona Lisa das wiedergefundene Lächeln der eigenen
Mutter ist. Daß es sich in „La Gioconda" um eine Verkörperung der
Mutterimago handelt, hat ein so feinsinniger Kunstkenner wie der Engländer
Walter Pater 2 geahnt und in schwärmerischen Worten umschrieben. Be-
zeichnenderweise erwähnt er, in der Absicht, eine Kunstschöpfung ähnlicher
Art zum Vergleiche heranzuziehen, gerade Dürers Blatt: „,La Gioconda' ist
im eigentlichsten Sinne Leonardos Meisterwerk, die Offenbarung seiner Art
zu denken und zu arbeiten. An Suggestivität 5 käme höchstens Dürers
,Melancholie' daneben in Betracht; doch stören keine aufdringlichen Sym-
bole die Wirkung ihrer ganz rätselhaften Anmut" (S. 170).
Wir begegnen auch sonst in der Geschichte der Kunst Beispielen, daß
Werke von hohem Rang unter der Einwirkung des Todes eines Elternteils
— wenn wir an dieser Annahme für die Entstehung des Melancholie-
stiches festhalten wollen — geschaffen wurden. Im Bereiche der drama-
tischen Kunst erwähne ich nur Shakespeares „Hamlet" und „Coriolanus".
Der „Hamlet , dessen Held auch ein Saturnkind ist, wurde unmittelbar
nach dem Tode von Shakespeares Vater geschrieben; in dieses Jahr (1601)
fällt auch eine schwere Depression des Dichters. Sieben Jahre später entstand
der Coriolanus als Reaktion auf den Tod der Mutter. Otto Rank 4 hat
mit Recht darauf hingewiesen, daß es das einzige Drama außer Hamlet ist
dem das Verhältnis zur Mutter zugrundeliegt. Von einer melancholischen
Depression, die einen Künstler nach dem Tode seines Vaters befiel, berichtet
uns auch Freud in seiner Abhandlung „Eine Teufelsneurose im siebzehnten
Jahrhundert". 5 Hier verschreibt sich aber der Maler (Christoph Haitzmann)
dem Teufel, um von seiner Gemütsdepression befreit zu werden ; denn die von
ihm im Zusammenhange mit dem Pakt angefertigten farbigen Zeichnungen
1) Leonardo spricht über den allgemeinen Fehler der Maler „de diletiarsi et far
cose iimili ä se u . Hieher gehört auch ein Satz Dürers, „daß viel Moler machen das
ihn geleich ist".
2) Die Renaissance. Leipzig 1902, S. 170 f.
3) Freud schreibt einmal (Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben): „Weiß
doch niemand und bekümmert sich auch niemand zu wissen, was die Suggestion ist,
woher sie rührt und wann sie sich einstellt; genug, daß man alles im Psychischen
Unbecpieme , Suggestion' heißen darf."
4) Das Inzestmotiv in Dichtung und Sage. 2. Auflage. Wien 1926, S. 214.
5) Ges. Schriften, Bd. X. — Der Bericht des Abtes Franciscus spricht von „aeeepta
aliqua pusillanimitate ex morte parentis", was freilich auch den Tod der Mutter be-
deuten könnte (a. a. O. S. 9).
Dürers »Melandiolie« 47
haben keinen selbständigen künstlerischen Wert, sondern dienen bloß zur
Illustration der Szenen der Verschreibung und Erlösung sowie der späteren
Erscheinungen des Teufels. Anders als bei diesem unbedeutenden Maler,
der auch an einer Arbeitshemmung litt, gegen die er beim Teufel Abhilfe
sucht, ist bei Dürer das Jahr des Todes seiner Mutter künstlerisch sehr be-
deutungsvoll gewesen. Seit der Reise nach Italien hatte Dürers Empfindung
ja zweifellos an Wärme und Unmittelbarkeit verloren, „aber jetzt kommt
es auf einmal wieder in warmen, vollen Wellen" (Wölfflin, a.a.O. S. 11);
statt um formale Rechnungen bemüht sich Dürer nunmehr um die Dar-
stellung seelischer Stimmungen. Der erste der drei Meisterstiche: „Ritter,
Tod und Teufel", entstanden 1513, gehört noch teilweise der früheren Stil-
periode an und ist inhaltlich wohl aus dem trotzigen Vaterkomplex zu er-
klären, während die Schöpfungen der neuen Kunst: „Melencolia" und
„Hieronymus im Gehäus", ungefähr gleichzeitig mit der Kohlenzeichnung
der Barbara Dürerin ersonnen, durch die Mutterimago inspiriert erscheinen.
(Die ruhig-heitere Stimmung des geschlossenen Raumes mit dem behaglich
zusammengerollten Hunde im „Hieronymus" spiegelt gleichsam die Ge-
borgenheit im Mutterleibe wider.)
VII
Die psychoanalytische Deutung der „jVlelencolia I"
Wir wenden uns wieder der Betrachtung des geflügelten Weibes auf dem
Melancholie-Blatte zu, in dem wir eine ideale Mutterfigur zu erkennen
glauben. Dann aber ist wahrscheinlich auch der trotz des Parallelismus der
Stellung kontrastierende Putto nichts anderes als ein irdisches kleines Kind.
Was bedeutet jedoch in diesem Zusammenhange — einen solchen zwischen
den drei Gestalten im Sinne der infantilen Konstellation anzunehmen, fühlen
wir uns genötigt — der zusammengekauerte, abgemagerte, schlafende Hund ?
Aus Analysen von Thierphobien der Kinder 1 wissen wir, daß die in ihnen
auftretenden Tiere (Hunde, Pferde, Wölfe u. a.) zumeist einen Vaterersatz
darstellen. Auch in Träumen kann ein Hund den Vater bedeuten (als Re-
präsentanten der männlichen Sexualität). Wir verweisen ferner auf den Zu-
sammenhang zwischen dem schwarzen Pudel des Faust 2 und dem Teufel
der ja ebenfalls nach Freud ein Vaterersatz ist. Aus allen diesen Gründen
wollen wir, um den latenten, unbewußten Sinn des Bilderrätsels bemüht,
das der Melancholiestich, ähnlich wie eine Traumfassade, darstellt, für den
canis dormitans 5 die Gestalt des Vaters einsetzen. Keineswegs möchten wir
1) Siehe Freud: Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben (Ges. Schriften,
Bd. VIII) und: Märchenstoffe in Träumen (Ges. Schriften, Bd. III). Ferner S. Ferenczi:
Ein kleiner Hahnemann (Bausteine, S. 185). Die Identität wurde von Freud zur Auf-
klärung des Totemismus verwertet in „Totem und Tabu" (Ges. Schriften, Bd. X).
2) Bei Giehlow (a. a. 0. 1904, S. 76) heißt es: „. . . sein Bild (sc. der schlafende
Hund) ist ein Glied in jener Kette von Vorstellungen, die über ihn als mittelalter-
liches Symbol der Dialektik bis zu dem Schakal der ägyptischen Priester zurück und
weiter vor bis zum Pudel des Faust reichen."
5) Inschrift auf einer Kopie nach einer verschollenen Studie Dürers zum Hund der
Melancholie (Panofsky -Sa xl, Abb. 5). — Auch die phallische Symbolik des „schlafen-
den Hundes" darf nicht übersehen werden.
Dürers »Melancholie« ^9
deshalb die Zulässigkeit der oder jener „anagogischen Deutung des mani-
festen Inhalts bestreiten, die ja neben der unseren ruhig bestehen mag. Aus
der Traumsymbolik wissen wir, daß Schlafende Tote bedeuten. 1 Der tote
Vater, die Mutter und das Kind — diese Situation entspricht doch wohl
einer Wunschphantasie des Ödipuskomplexes. Mutter und Kind reagieren
aber völlig gegensätzlich auf das Ereignis des Todes. Das geflügelte Knäb-
lein hockt vergnügt auf dem Mühlstein (gerade unterhalb der Waage, deren
Schalen einen fast an ein Paar Brüste denken lassen; auch der Mühlstein
hat weibliche Bedeutung) und beschreibt mit manischem Eifer sein Täfelchen,
indes das Weib in schwermütiger Untätigkeit vor sich hinbrütet. Die rechte
Hand ruht im Schöße und hält einen aufgestellten Zirkel, daneben liegt
ein geschlossenes Buch. Auffällig, fast lebendig wirkt der große Block im
Mittelgrunde des Kupferstiches ; es sieht so aus, als ob er sich im nächsten
Augenblicke nach vorne neigen und auf den schlafenden Hund stürzen wollte.
Den seltsamen Eindruck faßt Wölfflin (a. o. O. S. 195) in die Worte zu-
sammen: „Als etwas ganz Unverdauliches liegt der große Block im Bilde."
Die manische 2 und die melancholische Reaktion auf den Tod des Vaters
scheint also bei Dürer auf die Figur des Sohnes und der Mutter verteilt
zu sein, was für den Sohn, von dessen Standpunkt aus die Darstellung
konzipiert ist, eine psychische Entlastung bedeutet. Im Zusammenhalt mit
den obigen Überlegungen werden wir vielleicht auch das Schreiben des
Puttos 3 als symbolischen Ersatz für die sexuelle Betätigung (Griffel = Penis)
interpretieren dürfen, der sich das Kind, nicht mehr gestört durch die
Kastrationsdrohung des Vaters, hingibt. Wenn wir auch den Zirkel in der
Hand der Melancholie als Symbol des Phallus auffassen, werden wir bei dem-
jenigen wahrscheinlich geringeres Befremden hervorrufen, der unsere Aus-
führungen über die Beziehungen zwischen Geometrie und Erotik aufmerksam
gelesen hat. Daß die Kugel am Boden das weibliche Gegenstück zum Zirkel
vorstellt,* geht gleichfalls aus dem vorher Gesagten hervor. Zirkel und
1) Siehe auch W. Stekel: Die Sprache des Traumes. Wiesbaden lgii, S. 365.
2) Auf dem verlorenen Melancholiebilde Mantegnas sind sechzehn fanciulli an-
gebracht.
3) Auf einer Vorstudie Dürers ist der Putto stehend gezeichnet und mit Lot und
Sextanten beschäftigt.
4) Warburg (a.a.O. S. 63 f.) verweist auf die alte Mülichsche Übersetzung
des Ficino, nach der Zirkel und Kreis, also auch die Kugel das Denksymbol der
Melancholie sind: „Aber die natürlich Ursach ist, das zur erfolgung und erlangung
der Weißheit und der lere, besunder der schweren Kunst, ist not das das gemüt
gezogen werd von den äussern dingen zu dem innern zu gleicher weiß als von dem
umblauff des zirkeis hinzu zu dem mittelpuncten, centrum genannt, und sich selbs
Winterstein: Dürers „Melancholie". ♦
5o Alfred "V/intersteii
Kugel als Attribute der Frau Melencolia finden sich auch auf einem fünf-
undzwanzig Jahre später entstandenen Kupferstich Hans Sebald Behams 1
und auf einem der drei Melancholiegemälde des Lucas Cranach. 2
Auch auf diesen sind als Kontrast zur weiblichen Hauptfigur spielende,
ausgelassene Kinder dargestellt, die auf dem ersten Bilde mit einem Hunde
raufen, auf dem zweiten mit Stecken eine große Kugel bearbeiten, indes
von hinten ein kläffender Hund das Spiel zu stören droht. Der Hund als
Spielverderber vertritt den Vater, der auf Dürers Kupferstich bereits „ent-
schlafen erscheint. Auf dem dritten Gemälde Cranachs, wo kein Hund
vorkommt, erscheint dafür in den Lüften ein gespenstisches Greisenhaupt,
das wohl auch auf die Vorstellung des (getöteten) Vaters hindeutet. Die
auf allen drei Bildern wiederkehrende, den Kunsthistorikern unerklärlich
gebliebene Beschäftigungsart der Hauptfigur, die mit dem Messer einen
Stecken anzuspitzen scheint, verrät im Sinne einer gebräuchlichen Symbolik
Beziehungen zum Kastrationskomplex. Wir glauben also, den unbewußten
Inhalt der drei Bilder Cranachs ebenfalls aus der infantilen Ödipuskonstel-
lation erklären zu dürfen, die hier nur eine andere künstlerische Fassade
als bei Dürer erhalten hat. Daß der Zirkel — um zur Deutung der „Melen-
colia" zurückzukehren — ein schöpferisches Werkzeug des Vaters ist (ähnlich
das geschlossene Buch), das bei einer Mutterfigur zunächst befremdet, 3 be-
weisen auch die älteren Darstellungen (Panofsky-Saxl, S. 6 1 f.) ; dort wird
nur Gottvater oder Saturn mit dem Zirkel abgebildet. Wir stoßen bei der
Hauptfigur von Dürers Kupferstich auf die nämliche Vereinigung von
männlichen und weiblichen Geschlechtsmerkmalen, die Freud bei dem
Geier der Kindheitsphantasie Leonardos festgestellt hat. Er klärt dort den
androgynen Charakter des Phantasiegebildes mit Hilfe der infantilen Sexual-
theorien auf, denen zufolge sich das Kind, bevor es unter die Herrschaft
des Kastrationskomplexes geriet, die Mutter als mit einem Penis ausgestattet
vorstellt. Der Zusammenhang, den Freud zwischen Leonardos Kinder-
dar zu fügen und schicken." — Der Wunsch, bei allem zum „Mittelpunkt" oder auf
den „Grund" zu gelangen, das Streben, die „zentrale" Bedeutung des Lebens, des
Weltalls usw. herauszufinden, ist nach E. Jones (Einige Fälle von Zwangsneurose.
Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische Forschungen. Bd. IV, Heft 1,
S. 585) analen Ursprungs. Vgl. S. 117 und S. 27, Fußnote 5 dieser Arbeit. Natürlich
ist diese Tendenz auch durch die Mutterlibido determiniert.
1) Abbildungen bei Wölfflin, S. 196 und Panofsky-Saxl, Tafel XXI (Abb. 58V
2) Panofsky-Saxl, S. 149^; Abb. 63, 64, 65.
3) Die Vermännlichung der Mutter entspringt der Tendenz, dem Inzestwunsch
durch eine stärkere Bindung an den Vater zu begegnen.
Dürers »Melandiolie«
Verhältnis zu seiner Mutter und seiner späteren erotischen Einstellung ver-
mutet, ließe sich wegen der Ähnlichkeit so vieler Charakterzüge 1 zwischen
beiden Künstlern mit einigem Recht auch hei Dürer annehmen; gegen
diese ursächliche Beziehung scheinen jedoch, wenn man auf die von Freud
angeführten begünstigenden Momente Bedacht nimmt, zwei Tatsachen zu
sprechen: einmal, daß die Mutter von 18 Kindern kaum ein Kind über-
mäßig verzärtelt haben wird, dann, daß der Einfluß des Vaters hinter dem
der als nicht besonders energisch geschilderten Mutter 2 gewiß nicht zurück-
trat. 3 Daß es sich bei dem Zirkel im Sinne der ödipusphantasie um das
kastrierte Glied des Vaters handeln könnte, wäre also ebensogut möglich;
der Kastrationskomplex scheint jedenfalls, ob man nun diese oder jene
Phantasie zugrundelegt, der unbewußt gestaltende Faktor gewesen zu sein.
Objektive Gewißheit wird sich natürlich darüber niemals erzielen lassen.
Rationale Einwände der Kritiker gegen diese „willkürliche psychoanalytische
Deutelei" haben nur so lange eine gewisse Berechtigung, als sie die reiche,
aus Analysen erworbene Erfahrung vernachlässigen zu dürfen glauben und
den psychischen Zusammenhang übersehen, in den auch diese Einzelheit
sinnvoll einzuordnen ist.
Nun wissen wir auf Grund der Forschungen K. Abrahams, 4 daß bei den
männlichen Melancholischen der Kastrationskomplex sich überwiegend gegen
die Mutter und den ihr angedichteten Penis richtet; die aus dem ödipus-
1) Die Ähnlichkeit der libidinösen und künstlerischen Struktur zwischen Dürer und
Leonardo erscheint recht weitgehend. („Es lag ein deutscher Zug im Wesen dieses
Geistes«, sagt von Leonardo Walter Pater.) Auch Dürer ist vielleicht als psychisch
gleichgeschlechtlich zu charakterisieren ; er scheint so wie Leonardo sexuell wenig aktiv
und bar jeder intimeren seelischen Beziehung zu einer Frau gewesen zu sein (unbewußte
Mutterfixierung). Beide sind narzißtische Typen (stattliche Erscheinungen), innerlich
eher gleichgültig gegen ihre Nebenmenschen, dem grüblerischen Zwangstypus nahe-
stehend, depressiv veranlagt, ausgezeichnet durch analerotische Charakterzüge sowie
durch einen stark entwickelten Schau- und Wißtrieb; gleichzeitig Künstler und Forscher,
mit den Jahren zunehmende Wendung von der Kunst zur Wissenschaft. Interesse für
technische Probleme, theoretisches Ringen um das Problem der Schönheit.
Bei Leonardo stärkere Hemmungen im Sexualleben und in der künstlerischen
Produktion, dafür intensiverer Wissensdrang (in der infantilen Sexualforschung vom
Vater nicht eingeschüchtert, irreligiös im Gegensatze zu Dürer).
2) Vgl. hiezu Dürers dem Gedächtnis seiner Mutter gewidmeten Worte: „. . . hat
große Armut gelitten, Verspottung, Verachtung, höhnische Wort, Schrecken und große
Widerwärtigkeit, noch ist sie rochselig gewest."
3) Als der junge Dürer den väterlichen Beruf des Goldschmiedes aufgeben wollte,
um Maler zu werden, setzte diesem Wunsche sein Vater anfangs heftigen Widerstand
entgegen. Den Vater „reute die verlorene Zeit", berichtet Dürer in der Familienchronik.
4) Versuch einer Entwicklungsgeschichte der Libido, S. 50.
**
5s Alfred Winterstei
komplex entnommene Feindschaft der Melancholiker ist die Folge wieder-
holter Liebesenttäuschungen, die das ursprünglich stark ambivalente neuroti-
sche Kind früh bei der Mutter erlitten hat. Da die Ambivalenz sich aber
ebenso auf den Vater bezieht, wird auch seine Person sekundär in den
Prozeß der Introjektion, der der Melancholie eigentümlich ist, einbezogen.
Dadurch, daß das aufgegebene Liebesobjekt, das letzten Endes immer nur
eine Wiederholung eines Elternteiles ist, im Ich wieder aufgerichtet wird,
ergeben sich verschiedene Formen des Introjektionsvorganges: der Melancholi-
sche setzt in seinen Selbstvorwürfen nicht nur die Aggression gegen das
verlorene Liebesobjekt (Vater oder Mutter) fort, sondern die Selbstkritik
richtet sich auch bisweilen gegen ihn selbst als gleichsam von der intro-
jizierten Person ausgehende Aggression. Das Ineinandergreifen dieser Äuße-
rungsformen der Introjektion führt auch in einzelnen Fällen nach dem
Ergebnis der Analyse dazu, daß die Selbstkritik sich als abfälliges Urteil
der introjizierten Mutter über den introjizierten Vater (mit dem sich
Abrahams Patient identifizierte) oder auch umgekehrt enthüllt (Abraham,
a. a. O. S. 50 f.). Bei Dürer dürfen wir eine — vielleicht nur neurotische 1 —
Depression nach dem Tode seiner Mutter voraussetzen. Die auf dem Melan-
cholieblatte nach der Meinung mancher Gelehrter verbildlichte Klage über
die Vergeblichkeit weltlicher Forschertätigkeit könnte also vielleicht als eine
von der introjizierten frommen Mutter an den theoretischen Bemühungen
des Sohnes geübte Kritik 2 gedeutet werden. Das zu dieser negativen, skepti-
schen Geisteshaltung kontrastierende positive Gegenstück, der „Hieronymus",
würde dann als ein Zeugnis nachträglichen Gehorsams gegenüber der
Mutter die aus dem Glauben erfließende Beseligung im Bilde leidenschafts-
losen Geborgenseins (der Heilige und seine im Gehäus friedlich ruhenden
Tiere) darstellen. So ergänzt eine Deutung die andere. Die Melancholie,
die Albrecht Dürer nach dem Tode seiner Mutter befallen haben mag,
projiziert er im Bilde nicht nur auf die geflügelte Mutterfigur, sondern
auch auf den schlafenden Hund als Vaterersatz. Der Hund galt näm-
lich als Vertreter des melancholischen Temperamentes unter den Tieren. 5
1) S. Rad6 (Das Problem der Melancholie. Internationale Zeitschrift für Psycho-
analyse Xni, S. 455) meint, daß dieser depressive Prozeß sich ganz nach dem Mecha-
nismus der echten Melancholie vollzieht.
2) Siehe auch R. WälderS Deutung eines schizophrenen „Lehrsatzes". (Über
schizophrenes und schöpferisches Denken. Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse,
Bd. XII, 1926.)
3) Vgl. zu dem Hund die schlafende Melancholische, wie sie volkstümliche Dar-
stellungen zeigen.
Dürers »Melancholie« 53
Giehlow (a. a. O. S. 76) schreibt hiezu: „Als Trabant der saturnischen Melan-
cholia besitzt der Hund die hieroglyphische Bedeutung der Milz, die so
wichtige Funktionen bei der Bildung des humor melancholicus versieht. Als
Hieroglyphe für einen Propheten 1 hat der schlafende Hund der Melencolia
eine mystische Bedeutung." Man wäre versucht anzunehmen, daß durch
den Verlust der Mutter auch Dürers ambivalenter Vaterkomplex mächtig
angerührt wurde. Die Schwierigkeiten beim seinerzeitigen Berufswechsel
und die durch den Vater veranlaßte Verehelichung mit einem ungeliebten
Weibe mögen die negative Sohneseinstellung noch verstärkt haben, für
die positive Seite zeugen hingegen auch die zwei liebevoll ausgeführten
Bildnisse des Vaters (1490 und 1497, namentlich das zweite) und des Malers
Verhalten zu seinem väterlichen 2 Freunde Willibald Pirckheimer. Der Tod
des Vaters scheint jedenfalls bei Albrecht Dürer so wie bei vielen Zwangs-
neurotikern Schuldgefühle ausgelöst zu haben; er schreibt nämlich zum
ao. September 1502: 3 „Den ich todt mit großem Schmerzen ansah, des
ich nit wirdig bin gewesen, bei seinem End zu sein." Als nach neun-
jährigem Aufenthalte im Hause des Sohnes Barbara Dürer tödlich erkrankte,
könnte der drohende Verlust der geliebten Mutter Dürer wie eine Bestrafung
für die Bealisierung seiner unbewußten ödipusphantasie (Zusammenleben
mit der Mutter nach dem Tode des Vaters) erschienen sein und neuerlich
sein Schuldgefühl dem Vater gegenüber vertieft haben. Wir wissen nicht,
ob es die Deutung zu weit treiben heißt, wenn wir darauf hinweisen, daß
auf dem Melancholiestich der Knabe und die Frau (Sohn und Mutter)
Flügel tragen, also gewissermaßen beide als Tote dargestellt sind. Liegt
darin vielleicht auf seiten des Sohnes neben der Wunscherfüllung auch
eine Sühnehandlung?
Die Zahl der Jahre, die Dürers Mutter im Hause des Sohnes bis zu
ihrer schweren Erkrankung verbrachte, kehrt in einer der Ziffern der
mensula Jovis auf dem Kupferstiche wieder. Man wird natürlich einwenden,
daß ja auch fünfzehn andere Zahlen auf der Tafel erscheinen, von denen
doch nicht jeder eine besondere Bedeutung zuzusprechen ist. Ohne hier
ausführlich auf diesen Einwand einzugehen, wollen wir nur an eine ältere
Ansicht* erinnern, die in den Zahlen der mittleren beiden Reihen eine
1) Hermanns „Seherkomplex" hängt auch mit der Vateridentifikation zusammen.
2) An den Genannten schreibt Dürer aus Venedig (Lange-Fuhse, S. 21): „.. .Wann
ich halt Euch nit änderst denn für ein Vater."
5) Lange-Fuhse, S. 12.
4) Auch von R. Wustmann (a. a. O. S. 428, Anm. 2) herangezogen.
54 Alfred Wintersteir
Anspielung auf das Todesdatum der Mutter, den 17. Mai 1514, erblickt.
Diese Zahlen geben unten das Jahr (1514), oben addiert den Monat
(5 = Mai), in der Mitte über das Kreuz gelesen zweimal den von Dürer
fälschlich angenommenen Tag (17.) des Todes der Mutter an. Ferner
weisen wir darauf hin, daß vor einigen Jahren von der „Melancholie" ein
erster Zustand entdeckt worden ist mit verkehrter „9" in der Zahlentafel ;'
wir wollen auch noch erwähnen, daß die sich bei der jedesmaligen Addition
ergebende Endsumme = 34 eine Umkehrung von 43 ist und daß Dürer im
Jahre 1514 gerade dreiundvierzig Jahre alt war. Wer an eine Zufälligkeit 2
im psychischen Geschehen und folglich auch im künstlerischen Schaffen
nicht glaubt, wird also auch in der Verkehrung 3 gerade der Zahl q"
eine Symptomhandlung erblicken, die einen Rückschluß auf die unbewußte
Bedeutung der Zahl gestattet. 4 Der Sinn der Neunzahl ist dem Analytiker
aus Träumen und neurotischen Phantasien gut bekannt. Wir lesen bei
Freud in seiner Abhandlung über „Eine Teufelsneurose im siebzehnten
Jahrhundert" (S. 17): „Sie (die Neunzahl) ist die Zahl der Schwanger-
schaftsmonate und lenkt, wo immer sie vorkommt, unsere Aufmerksamkeit
auf eine Schwangerschaftsphantasie hin. Bei unserem Maler handelt es sich
freilich um neun Jahre, nicht um neun Monate, und die Neun, wird man
sagen, ist auch sonst eine bedeutungsvolle Zahl. Aber wer weiß, ob die
Neun nicht überhaupt ein gutes Teil ihrer Heiligkeit ihrer Rolle in der
Schwangerschaft verdankt; und die Wandlung von neun Monaten zu neun
Jahren braucht uns nicht zu beirren. Wir wissen vom Traum her, wie
die .unbewußte Geistestätigkeit' mit den Zahlen umspringt . . . Neun Jahre
im Traum können also ganz leicht neun Monaten der Wirklichkeit ent-
sprechen. Zu diesen Bemerkungen wäre noch in bezug auf unseren Fall
hinzuzufügen, daß die die Mutter betreffende unbewußte Graviditätsphantasie
durch den Ausbruch der „tödlichen" Krankheit gerade nach neun Jahren
angeregt worden sein mochte, da ja bekanntlich im Unbewußten Gegen-
sätze wie Geburt und Tod besonders nahe beieinander wohnen. Die durch
den Tod der Mutter gleichzeitig bewirkte Bestrafung und (symbolische)
1) Britisches Museum; Berlin, Kupferstichkabinett.
2) Auch ein Kunsthistoriker wie Paul Weber (a. a. O.) meint, daß in Dürers
Stich nichts zufällig und bis in die kleinsten Kleinigkeiten ein sinnvolles Schaffen
erwiesen sei.
3) Wir übersehen nicht im Verkehren den von Jones (a. a. O. S. 79) hervor-
gehobenen analerotischen Charakterzug.
4) Dies natürlich nur unter der Voraussetzung, daß das Verkehren der Ziffer nicht
durch das vom Künstler unabhängige technische Verfahren bewirkt wurde.
Dürers »Melancholie« 55
Wunscherfüllung haben dann nach unserer Auffassung auch Dürers Schuld-
gefühle dem Vater gegenüber mobilisiert.
Unter den Bedingungen, deren Zusammenwirken erst die spezifischen
Erscheinungen der melancholischen Depression hervorruft, führt Abraham
(a. a. O. S. 46 f.) neben den wiederholten Liebesenttäuschungen eine kon-
stitutionelle Verstärkung der Munderotik und eine dadurch ermöglichte
besondere Fixierung der Libido auf der oralen Entwicklungsstufe an. Die
Erogeneität der Mundzone erscheint bei Dürer schon durch die sinnliche
Fülle seiner Lippen angedeutet (vgl. namentlich das Münchner ideale Selbst-
porträt). Es ist nicht dieses Ortes, auf die Einzelheiten des melancholischen
Mechanismus weiter einzugehen; wir möchten nur noch auf eine Bemerkung
Rad ös (a. a. O. S. 445 f.) reflektieren, daß die tiefste Fixierungsstelle der
depressiven Disposition in der „Gefahrsituation des Liebesverlustes" (Freud), 1
des näheren in der Hungersituation des Säuglings zu erblicken ist. „Das
Trinken an der Brust aber bleibt das strahlende Vorbild der unausbleib-
lichen verzeihenden Liebeszuwendung. Es ist gewiß kein Zufall, daß die
stillende Madonna mit dem Kind zum Sinnbild einer mächtigen Religion
und durch ihre Vermittlung zu dem einer ganzen Epoche unserer abend-
ländischen Kultur geworden ist." Daß ein Maler wie Dürer so oft die
Mutter Gottes mit dem Jesuskinde zum Gegenstande künstlerischer Darstel-
lung gemacht hat, zeigt auch seine orale Fixierung an. 2 Auf die ähnliche
Mutter-Kind-Situation des Melancholieblattes haben wir bereits aufmerksam
gemacht. Während das Engelsknäblein einen gesättigten, euphorischen Ein-
druck macht, scheint der am Boden liegende Hund halbverhungert zu sein.
Radö (a. a. O. S. 454) führt die Manie des Erwachsenen letzten Endes auf
den „alimentären Orgasmus" des an der Mutterbrust trinkenden Säuglings
zurück und die Ablehnung der Nahrungsaufnahme, die sich bei schwerer
Ausbildung des melancholischen Zustandes als Selbstbestrafung für kanni-
balische Antriebe kundgibt, auf das Hungern des kleinen Kindes. Auf
Dürers Stich erscheint es thematisch völlig gerechtfertigt, dieses Symptom
vom Sohn auf den Vater zu projizieren; denn der Hund ist ja zugleich
ein Symbol der Melancholie.
Wenden wir uns schließlich den leblosen Symbolen zu. Da ist zunächst
einmal der Polyeder zu erwähnen, der aussieht, als ob er auf den Hund
1) Hemmung, Symptom und Angst. Ges. Schriften, Bd. XI.
2) Die idyllischen Stimmungen bei Dürer haben fast ausschließlich das innige
Zusammensein von Mutter und Kind zum Gegenstande.
^6 Alfred Winterstein
fallen wollte, also eine Angstsituation verewigt, ähnlich dem Steine über
dem Haupte des Tantalos. Wir haben schon oben Wolf f lins charakteristi-
sche Äußerung (a. a. O. S. 193) angeführt: „Als etwas ganz Unverdauliches
liegt der große Block im Bilde." An einer anderen Stelle seiner Dürer-
Monographie heißt es wieder: „Er (der Block) steht so auffällig im Bilde,
daß man immer wieder meint, hier drin müsse der Anstoß des Leidens
beschlossen sein."
Indem wir hier auf unsere früheren Ausführungen über die unbe-
wußten Quellen des Interesses für Geometrie verweisen, nehmen wir an,
daß der Block, der Bepräsentant der darstellenden Geometrie, als den
man ihn bezeichnet hat, 1 zugleich die unbewußte Bedeutung eines Ex-
krementalsymbols besitzt. Wir erinnern in diesem Zusammenhange auch
an Ferenczis 2 Feststellung, daß Steine von den Kindern bei fortschreiten-
der Erziehung zur Reinlichkeit als Ersatzbildung für das ursprüngliche
Spielzeug, nämlich die eigenen Fäkalmassen, verwendet werden. Eine
weitere Parallele bildet der Quarzkristall des australischen Medizinmannes,
den G. Röheim in seiner Abhandlung „Nach dem Tode des Urvaters"
(Imago IX, 1923, S. 100 f.) als den von seinen Söhnen gegessenen und
dann zum Kote gewordenen Vater gedeutet hat. Röheims Ansicht ist für
uns um so bedeutungsvoller, als er in seiner Arbeit die phylogenetische
Wurzel der Melancholie und Manie aufzuzeigen versucht. Die gegensätz-
liche Gleichung Kind = Fäzes ermöglicht uns wiederum ein besseres Ver-
ständnis des antiken Sagenzuges, daß Rhea dem Kronos statt ihres jüngsten
Kindes Zeus einen in Windeln gehüllten Stein reichte, den er verschlang.
Identifizieren wir Kronos mit Chrono s, der Zeit.3 so wird, da die Zeit
nach J. Härniks Formulierung* im Unbewußten als der psychische Ab-
kömmling des verschlungenen und zum Kote gewordenen Urvaters auf-
gefaßt wird, auch Kronos, nicht nur sein Sohn Zeus, in Verbindung
mit dem Darminhalt und dessen Symbolen gebracht werden dürfen. Da-
1) Die darstellende Geometrie erblickte damals in der mathematischen und per-
spektivischen Konstruktion derartiger Vielflächner eine ihrer hauptsächlichsten Auf-
gaben. (Vgl. Panofsky-Saxl, S. 136 und 137.)
2) Zur Ontogenie des Geldinteresses. Bausteine xur Psychoanalyse. Wien ig27,
I. Bd., S. 114.
3) Zwar verwirft die Sprachforschung diese Herleitung, doch dürfte trotzdem eine
unbewußte Brücke vorhanden sein.
4) Die triebhaft-affektiven Momente im Zeitgefühl. Imago XI (1925), S. 45. —
Harnik geht von der Entstehung des Zeitgefühls auf der oralen Stufe der Libido-
entwicklung und der Bildung des Ich-Ideals durch Introjektion der Vater-Imago aus.
Dürers »Melaridiolie» 07
durch wird die uns bereits geläufige Beziehung des Saturn-Kronos zur analen
Sphäre noch verstärkt.
Wir haben den Stein bisher nur als Symbol des (verschlungenen) Vaters
oder Sohnes kennengelernt. Welche Bedeutung kommt ihm aber im beson-
deren auf dem Melancholiestiche zu, der, wie wir vermutet haben, die
künstlerische Beaktion auf den Tod der Mutter darstellt? Wenn sich der
trauernde 1 Sohn gemäß dem Introjektionsmechanismus der Melancholie die
Mutter „einverleibt", macht er sie nicht nur zu seinem Ich-Ideal, sondern
gleichsam auch zu seinem Körperinhalt, als dessen bewußtseinsfähige Be-
präsentanz der Block auf dem Blatte erscheint. Der Stein als zu bearbeitende
Materie hat ja an sich einen exquisit mütterlich- weiblichen Symbol wert.
Neben den kannibalischen Triebimpulsen spielen aber auch in den seelischen
Produktionen der Melancholiker, wie uns Abraham in seiner bedeutsamen
Veröffentlichung (Versuch einer Entwicklungsgeschichte der Libido) gezeigt
hat, anal-sadistische Antriebe eine Bolle; sie haben zum Ziel, das Liebes-
objekt wie Körperinhalt auszustoßen und zu vernichten. Die endgültige
Befreiung vom Objekt, die dann den Prozeß der archaischen Trauer ab-
schließt, als welche Abraham 2 die Melancholie betrachtet, wird vom Un-
bewußten ebenfalls als Entleerungsvorgang bewertet. Der dem Beschauer
des Dürerischen Stiches sich aufdrängende Eindruck, daß der Steinblock
zum Fallen neigt, entspringt wohl sicherlich auch unbewußten Ten-
denzen des Künstlers, die verschiedene Deutungsmöglichkeiten zulassen.
Hat darin die beginnende Ausstoßung des Liebesobjektes Ausdruck ge-
funden? Ist das „Fallen" als Nachgiebigkeit gegen eine erotische Ver-
suchung zu interpretieren? Verrät sich in der Bedrohung des Hundes
von hinten durch den überhängenden Stein eine gegen den Vater gerich-
tete feindselige Begung? Wir glauben, daß sich analytischer Scharfsinn
hier dem psychologischen Takt unterzuordnen hat, der einer weiteren
Untersuchung Halt gebietet.
Wölfflins Worte über den Polyeder gewinnen so im Lichte unserer
obigen Bemerkungen einen Sinn, den der Autor mehr dunkel geahnt als
klar erkannt hat. Der Anstoß des Leidens ist wirklich im Steine beschlossen,
denn er ist ja nichts anderes als ein Symbol der Mutter. Auch den Block
1) Daß es sich um eine echte Melancholie bei Dürer gehandelt hat, möchten
wir bezweifeln. Er entging ihr eben durch seine Fähigkeit zu künstlerischer Sub-
limierung.
2) Nach Abrahams Ansicht vollzieht sich die Trauerarbeit des Gesunden in
tiefen psychischen Schichten ebenfalls in der archaischen Form (a. a. O. S. 25).
58 Alfred Wintersteir.
„unverdaulich" zu nennen, paßt nicht übel zu seiner unbewußten Bedeu-
tung als Darminhalt. Klistier und Alchimistentiegel brauchen wir hier nur
noch gerade zu erwähnen; daß die Sanduhr gleichfalls in diesen Zusammen-
hang gehört, wird hingegen nicht ohne weiteres einleuchten, auch wenn
bereits die unbewußte Beziehung der Zeit zu den Entleerungsfunktionen
betont wurde. Die Sanduhr ist eines der ältesten Zeitmeßinstrumente ;'
Harnik (S. 49. f.) beschäftigt sich in seiner wertvollen Studie über „Die
triebhaft-affektiven Momente im Zeitgefühl" auch mit ihr: „Es ist ganz
offenkundig, daß diese Vorrichtung dem Defäkationsvorgang nachgebildet
ist, daß der goldbraune Sand dem Kot, der trichterförmige Behälter dem
Darm, die Öffnung dem After entspricht." (Ferenczi 2 spricht ja geradezu
von einem Sandzeitalter des infantilen koprophilen Interesses, das auf das
Kotzeitalter unmittelbar folgt.) Es heißt dann bei Harnik weiter: „Beson-
deres Interesse verdient, daß die Sanduhr den Zeitraum mißt, den die
Entleerung des Sandes beansprucht, während bei der zum Vorbild ge-
nommenen Körperfunktion die Zeitdauer der Zurückhaltung von Bedeu-
tung ist." Diese Umkehrung beruht auf einem auch sonst zu beobach-
tenden Übergreifen urethral-entleerender Tendenzen auf die Analbetätigung,
auf einer „Amphimixis der Erotismen" im Sinne Ferenczis.3 Der aus
der Sanduhr rinnende Sand repräsentiert und mißt daher „die fließende
Zeit" (Harnik).
Die Erwägung, daß die Zeit im Vorstellungsleben des Depressiven, der
ja dem anal-sadistischen Typus nahesteht, eine wichtige Bolle spielt (hier-
her gehört auch das Gefühl der Langweile), rechtfertigt jedenfalls die Sym-
bolik der Sanduhr auf dem Melancholiestich. Man hat auch die Glocke
oberhalb der Zahlentafel als Tageszeitenglocke mit der Uhr zusammen-
bezogen; eine andere Auffassung erblickt in ihr das „Eremitenglöckchen",
einen Hinweis auf die Neigung des saturninischen Menschen zur Einsamkeit!
Für zweifellos verfehlt halten wir einen dritten Erklärungsversuch, der die
Glocke als Symbol der Musik (antimelancholisches Mittel) interpretiert
(Panofsky-Saxl, S. 64). So wie die Waage der „Melencolia" in der tiefsten
Deutungsschicht ein Symbol der weiblichen Brüste,+ die Sanduhr ein Symbol
1) Die Sanduhr ist geschichtlich wahrscheinlich jüngeren Ursprungs als die Wasser-
uhr (Klepsydra). °
2) Zur Ontog-enie des Geldinteresses, a. a. O. S. 114.
3) Versuch einer Genitaltheorie (Internationale Psychoanalytische Bibliothek, Bd. XV).
Wien 1924, S. 7 f. '
4) Die für den Melancholiker charakteristische Sehnsucht nach der Mutterbrust
Dürers »MelanAolie« 5o,
der analen Zone zu sein scheint, stellt wohl die Glocke ein Symbol des männ-
lichen Gliedes dar. Das magische Zahlenquadrat, das unterhalb der Glocke
in die Mauer eingemeißelt ist, verrät gleichsam durch seine räumliche
Nachbarschaft mit dieser die unbewußt-psychische Beziehung zwischen den
Penisfunktionen und dem Zählen (neurotischer Zählzwang). 1 Diese ganze
Auffassung, die manchem sehr gekünstelt erscheinen mag, erhält eine
gute Stütze, wenn wir das turmartige Gebäude, den Träger der erwähnten
Geräte, im Sinne einer gebräuchlichen Symbolik als Frauenleib 2 auf-
fassen. Die Figur der Mutter mit dem phantastischen Penis, der Melan-
cholie, erscheint hier also gleichsam in einer leblosen Doublierung, ein Vor-
gang, der für das symbolische Schaffen, auch des Traumes, eigentümlich
ist. Unsere Deutung wird aufs glücklichste ergänzt durch die an das Ge-
bäude angelehnte große Leiter; denn „Stiegen, Leitern, Treppen, respektive
das Steigen auf ihnen, und zwar sowohl aufwärts als abwärts, sind sym-
bolische Darstellungen des Geschlechtsaktes". 3 Ob es sich um einen ver-
hüllten Inzest oder um den Verkehr des Vaters mit der Mutter* handelt,
bleibt unentschieden.
Vom künstlerischen Standpunkte stört jedenfalls die Leiter nur. „Widrig,
als unreine Harmonie wird die Schräglinie der Leiter empfunden", bemerkt
Wölfflin (S. 195 f.) und fügt hinzu: „Wie der Eindruck sich gleich be-
ruhigt, wenn man die Leiter zudeckt!"
Die dritte Art von Symbolik, die auf dem Melancholiestiche unsere Auf-
merksamkeit auf sich zieht, ist die landschaftliche des Hintergrundes: eine
weite, dunkle Meeresfläche, rechts begrenzt durch eine reichgegliederte Küste,
darüber ein nächtlicher Himmel, der sein Licht von einem Regenbogen und
(siehe Abraham, a. a. O. S. 47) finden wir auch in einem Gedichte von Lenau an-
gedeutet: „An die Melancholie." Die Endstrophe lautet:
„Meiner Toten dann gedenk' ich,
Wüd hervor die Träne bricht,
Und an deinen Busen senk' ich
Mein umnachtet Angesicht."
1) Analysenbeispiele bei Harnik, a. a. O. S. 51.
2) Der Turm symbolisiert eigentlich den verschlossenen, jungfräulichen Leib
(Phantasie der Unberührtheit der Mutter). — In einem von Dürer zusammengestellten
kleinen Versgebet an die heilige Barbara (die Mutter hieß Barbara) wird diese so wie
in einem anderen Gebet die Mutter Gottes als „reine Maid" angerufen.
3) Vgl. Freud: Die Traumdeutung (Ges. Schriften, Bd. III), S. 71.
4) Das Kind als Zeuge bei der Urszene: das mit dem Griffel hantierende Engels-
knäblein würde dann das durch den Anblick der erotischen Szene erregte, am Genitale
herumspielende Kind vorstellen.
Alfred Winterstei
Kometen empfängt ; durch die Lüfte flattert aufwärts eine Fledermaus, deren
Flügeln das Wort „Melencolia I" eingeschrieben ist. Aus der Traumdeutung
und Mythenforschung kennen wir die mütterliche Symbolik des Wassers.
Das Meer auf Dürers Blatt versinnbildlicht also wahrscheinlich eine Geburts-
phantasie des Sohnes (Wunsch, sich selber mit der Mutter neu zu zeugen),
ist aber vielleicht auch durch eine Enuresis nocturna determiniert, die wir
schon früher auf Grund des Traumes von den ungeheuren Wasserfluten beim
Künstler vermutet haben. Mit der Geburtsphantasie scheint auch die gleichsam
aus dem Wasser aufgetauchte Fledermaus 1 im Einklänge zu stehen, die sowohl
das Kind wie auch den Phallus (Darstellung der eindringenden Bewegung
durch das Gegenteil) symbolisieren dürfte. Entsprechend der Schichtung der
Bedeutungen soll natürlich nicht die Beziehung der dunkeln Wasserfläche
zur „urethralen" Seite des Saturn (Wassermann) außer acht gelassen werden;
„syn Kinder", heißt es in der Tübinger Handschrift (Panofsky-Saxl, S. 58^
Fußnote 5), „wonent gern by wasser oder in erde". Auch die Fleder-
maus ist dem Saturn zugeordnet; in K.W. Ramlers 2 „Kurzgefaßter Mytho-
logie" flattern Fledermäuse um den Melancholiker, der anderwärts geradezu
mit diesem Nachttier verglichen wird. Dürer hat ja gleichfalls diese Be-
deutung der Fledermaus zum Ausdruck gebracht, denn gerade die Fleder-
maus trägt die Zettelinschrift „Melencolia I". (Nach volkstümlichem Wort-
gebrauch soll damals Fledermaus auch „Steckbrief" bedeutet haben.) Aus
Mythen, neurotischen Phantasien usw. kennen wir die kosmische Vater-
symbolik des Himmels und der Lichterscheinung im Gegensatze zur mütter-
lichen des Wassers und der Erde. Im besonderen dürfte die Lichtgarbe
des Kometen als spermatischer Ausfluß 3 zu betrachten sein. Der Regen-
bogen, der Himmel und Erde (Wasser), Mann und Weib verbindet, ist
wohl nur ein Zeichen des Liebesbundes. Man ist aber gewiß auch berech-
tigt, im Regenbogen und Kometen* des Dürerstiches eine Anspielung auf
die dem Saturn untergeordnete Astronomie und Meteorologie zu erblicken,
„die ja als auchmathematische Wissenschaften ohnehin mit den von der
u n d ) G°b e ur!) edermaU$ ^ aUCh alS Todesbote («^«wüßter Zusammenhang von Tod
2) 5. Aufl., 1821, S. 360 (zitiert bei Panofsky-Saxl, S. 57, Fußnote 1).
3) In der hermetischen Philosophie wird ein Ausfluß ans der Lichtwelt ober
uns der Sputum lunac« oder „sperma astrale« („Sternenschleim«) heißt, als erste
Materie für das Werk unserer Erleuchtung empfohlen (siehe Silber er, a. a. O.
S. 105). — Die Sternschnuppen stehen wahrscheinlich im Zusammenhang mit den
Kometen. °
4.) Kometen galten im allgemeinen ah unheilbringend.
Dürers »MelanAolie«
•Geometrie abgeleiteten Tätigkeiten durchaus zusammengehören" (Panofsky-
Saxl, S. 62, Fußnote 4).
Wenn wir jetzt auf alle drei Arten von Symbolen noch einmal einen
Blick zurückwerfen, gelangen wir zu dem Ergebnis, daß ungefähr der
nämliche unbewußte Inhalt sowohl in der Reihe der lebendigen Figuren
.als auch in einem Teile der leblosen Gegenstände und in der Gruppe der
kosmischen Elemente, also gleichsam in dreifachem Material symbolischen
Ausdruck gefunden hat. Wir kennen diese Erscheinung bereits aus der Traum-
lehre, 1 die deren Gesetzmäßigkeit für alle Träume derselben Nacht festgestellt
hat. Die im landschaftlichen Hintergrunde des Dürerischen Stiches bildlich
dargestellte Wiedergeburtsphantasie ist nur das Endglied in der Kette jener
infantilen Regungen, die, vielleicht an der Beobachtung des elterlichen
Verkehres entzündet, zu dem Wunsche, die Mutter zu besitzen und den
störenden Vater zu beseitigen (Kastration und Tötung), geführt haben. Die
tatenlose stumme Schwermut der Hauptfigur, in der wir auf Grund der
Identifikation mit der toten Mutter auch ein Selbstporträt des Sohnes er-
blicken dürfen, scheint aber darauf hinzudeuten, daß der Verwirklichung
der ödipusphantasie die passiv-feminine Einstellung zum Vater und die
Angst vor der Mutter mit dem Penis hemmend entgegenstehen. Einge-
schüchterte infantile Sexualforschung hat sich hier zum Faustischen „Und
sehe, daß wir nichts wissen können" sublimiert. „Dann die Lügen ist in
unsrer Erkenntnus, und steckt die Finsternuß so hart in uns, daß auch
unser Nachtappen fehlt", heißt es in Dürers Formulierung. 2 Und gedemütigt
muß er bekennen: „Das Problem der geometrisch zu bestimmenden ab
soluten Schönheit weiß nur Gott allein." 3 Wie die Mutter ist, erkennt bloß
•der Vater.
Dieses väterliche Ichideal beherrscht den Sohn. Gleich einem drohen-
den Gebieter erhebt sich auf dem Melancholieblatte der große Block zu
1) „Alle Träume derselben Nacht gehören ihrem Inhalt nach zu dem nämlichen
■Ganzen; ihre Sonderung in mehrere Stücke, deren Gruppierung und Anzahl, all das
ist sinnreich und darf als ein Stück Mitteilung aus den latenten Traumgedanken auf-
gefaßt werden. Bei der Deutung von Träumen, die aus mehreren Hauptstücken be-
stehen, oder überhaupt solchen, die derselben Nacht angehören, darf man auch die
Möglichkeit nicht vergessen, daß diese verschiedenen und aufeinanderfolgenden Träume
dasselbe bedeuten, die nämlichen Regungen in verschiedenem Material zum Ausdruck
bringen. Der zeitlich vorangehende dieser homologen Träume ist dann häufig der
entstelltere schüchterne, der nachfolgende ist dreister und deutlicher." (Freud:
Traumdeutung. Ges. Schriften, Bd. III, S. Sl.1
2) Lange-Fuhse, a. a. O. S. 222 (aus der gedruckten Proportionslehre).
3) In zwei Varianten bei Dürer (Lange-Fuhse, a. a. O. S. 221 und 359).
6a Alfred Winterstein
Häupten des am Boden zusammengekauerten Hundes, der in diesem Zu-
sammenhange auch den unterwürfigen Sohn 1 symbolisiert. Warum bei
Dürer die passive Seite des vollständigen Ödipuskomplexes nach dem Tode
der Mutter psychisch im Vordergrunde stand, haben wir bereits früher zu
erklären versucht. Das Wiederaufleben frühkindlicher Schuldgefühle gegen-
über dem Vater spiegelt sich dann auch in der künstlerischen Komposition
der „Melancholie". 2
1) Nach Abraham (Einschränkungen und Umwandlungen der Schaulust usw.
Jahrbuch der Psychoanalyse, VI, 1914, S. 81) vertritt ein bestimmtes Tier nicht nur
den Vater oder die Mutter, sondern oft auch den Träumer selbst. Er erwähnt ferner
einen Traum, in dem der Vater des Träumers, der Träumer seihst und dessen Sohn
durch das gleiche Symboltier (Hund) bezeichnet werden.
2) Laut Wiener Zeitungsberichten („Reichspost" vom 24. Februar 1929, „Neues
Wiener Journal" vom 12. März 1929) soll dem Verlagsbuchhändler Kurt Stockhausen
in Nürnberg die Lösung des Rätsels von Dürers „Melancholie" gelungen sein. Er
betrachtet die „Melancholie" als geistiges Selbstporträt des Grüblers und Forschers
Dürer und zugleich als Vexierbild; auf dem Steinblock glaubt Stockhausen Dürers
Antlitz und in den Schattenpartien des Gewandes der „Melancholie" zwei andere
Gesichter zu erkennen, die die Doppelnatur der Melancholie symbolisch darstellen.
Der Künstler habe auf Grund seiner Kenntnis der altgermanischen Astrologie und
Runenkunde noch andere geheime Schlüsselzeichnungen in den Stich hineingearbeitet.
So will Stockhausen die Bedeutung der Inschrift „Melencolia I" dadurch erklären
daß er das Zeichen „I" als eine „Ich-Rune" und das vorgehende Schnörkelzeichen
als ein altgermanisches Heils- und Segenszeichen auffaßt, das sich angeblich schon
auf altgermanischen Lanzenspitzen der Bronzezeit findet. Danach heiße das Titelwort
nichts anderes als ungefähr : „Melancholie (als Befähigung zu den höchsten geistigen
Leistungen) möge segensreich wirken auf das Ich." Stockhausen hat auch das magi-
sche Zahlenquadrat in allen seinen Zahlenbildern ausgelegt; es seien 52 verschiedene
Zahlenkombinationen in Form geometrischer Figuren, Quadrate, Rechtecke, Parallelo-
gramme, deren vier Eckzahlen tatsächlich jeweils die Endsumme 54 ergeben. Daß 34
die Umkehrung von 45 (Dürers Alter im Jahre 1514) ist, hat auch dieser Forscher
bemerkt. Die Entdeckung soll durch einen Kunsthistoriker bearbeitet und demnächst
als Druckschrift der Öffentlichkeit übergeben werden. (Eine briefliche Anfrage bei
Herrn Stockhausen wurde dahin beantwortet, daß es noch fraglich sei, ob und wann
die Abhandlung erscheinen werde.) Es bleibt abzuwarten, wie er seinen Deutungs-
versuch des näheren begründet; die uns zur Verfügung stehende Reproduktion läßt
auch nicht mit einiger Sicherheit den Vexierbildcharakter des Stiches erkennen. —
Zur Zahlensymbolik sei noch nachgetragen, daß die Ziffern 52 und 34, nach okkulter
Regel (5 und 2, 3 und 4) jeweils addiert, die gleiche Zahl 7 (die sog. Saturnzahl)
ergeben.
VIII
Zur Abwehr
Welchen Zweck, wird sicherlich mancher in seinen ästhetischen Empfin-
dungen verletzter Leser fragen, haben derartige Untersuchungen, die mit
ermüdender Gleichförmigkeit die höchsten Schöpfungen des menschlichen
Geistes aus einer und derselben unsauberen Triebquelle ableiten? Dem ist
zunächst zu entgegnen, daß der Versuch einer Verständigung geringe Aus-
sicht auf Erfolg bietet, solange dieser Leser an der abfälligen Bewertung des
Trieblebens überhaupt festhält. Die Psychoanalyse wertet als Naturwissen-
schaft vom Seelischen überhaupt nicht und könnte höchstens entgegenhalten,
daß etwas, was als aus dunklen Tiefen treibende Kraft oder als unbewußter
Inhalt selbst in jenen Kunstwerken nachzuweisen ist, die zu den kostbarsten
Besitztümern der Kulturmenschheit gehören, doch nicht so völlig unwürdig
des im Lichte bewunderten Endergebnisses sein dürfte. Daß die Gesamtheit
jener frühkindlichen, auf die Eltern gerichteten affektiven Regungen, die
wir ödipus- oder Inzestkomplex heißen, für das künstlerische, insbesondere
dichterische Schaffen von wesentlicher Bedeutung ist, wird heute auch schon
von Nicht-Analytikern stillschweigend oder ausdrücklich 1 anerkannt. Freilich
gibt es noch immer nicht wenige Zeitgenossen, die den Analytikern krank-
haft verderbte Phantasie und Vergewaltigung von Tatsachen zum Vorwurfe
machen. Der erste Teil des Vorwurfes ist wohl nur als eine Äußerung der
Sexualablehnung zu betrachten, und was den zweiten Teil anbelangt, so darf
der Analytiker auf die empirischen Ergebnisse der Traum- und Neurosen-
forschung verweisen, die auch ein entscheidendes Licht auf den künstlerischen
Schaffensprozeß geworfen haben, und zu seinen Gunsten noch anführen,
1) So von W. Lange-Eichbaum (Genie — Irrsinn Und Ruhm, S. 397).
&4 Alfred Winterstein
daß in vielen Fällen erst die psychoanalytische Deutung einen sinnvollen 1
Zusammenhang erkennen läßt. Damit wird nicht geleugnet, daß das Wesen
der künstlerischen Leistung an sich uns noch größtenteils unzugänglich ist
und daß eine subjektive Untersuchungsmethode wie die psychoanalytische
auf Historisches nur teilweise anwendbar erscheint, auch wird damit keines-
wegs einer herabsetzenden Kunstbetrachtung das Wort geredet. Daß Respekt
vor einer künstlerischen Persönlichkeit sich sehr gut mit einer psychoanaly-
tischen Untersuchung ihrer seelischen und intellektuellen Entwicklung ver-
trägt, hat uns gerade Freud mit seiner Leonardo-Studie vorbildlich bewiesen.
So wie jener sich nur die Erklärung der Hemmungen in Leonardos Sexual-
leben und in seiner künstlerischen Betätigung zum Ziele gesetzt hat, haben
auch wir bloß unsere Aufgabe darin erblickt, die „geheimnisvoll lockende
Dunkelheit des Inhaltlichen" (Friedländer) in Dürers Kupferstich „Melen-
colia", der „dem künstlerischen Gefühl so unmittelbar verständlich erscheint"
(Panofsky-Saxl), durch Beziehung auf persönliche Erlebnisse und Charakter-
eigentümlichkeiten seines Schöpfers ein wenig aufzuhellen. Und wenn Fried-
länder (S. 142) über die „Melencolia" bemerkt: „Das Problematische, der
Widerstand gegen völlig befriedigende Ausdeutung gehört zu seiner Geistig-
keit", so weiß der Psychoanalytiker, welcher Natur dieser (auf das Bild pro-
jizierte) „Widerstand" ist. Warum Kunstwerke, denen „das Geheimnisvolle",
d. h. eben die Beziehung zum Affektleben, fehlt, uns trotz aller formalen
Vollkommenheit kalt lassen, hat E. Jones an dem Beispiel des Malers
Andrea del Sarto (Imago II, 1913) einleuchtend gemacht. Die künstlerisch-
vergeistigende Umformung, die Dürers aus den Tiefen seines Unbewußten
geborenes Phantasiegebilde natürlich erfahren mußte, um den offenen Kon-
flikt mit den Mächten der Verdrängung zu vermeiden, wurde von uns im
Verlaufe unserer Untersuchung bereits ausführlich gewürdigt, so daß uns
nicht mehr der Vorwurf der Einseitigkeit gemacht werden kann ; eine solche
intellektualistische Interpretation widerspricht ja auch keineswegs der psycho-
analytischen Erklärung und läßt sich ihr im Sinne H. Silberers als „natur-
wissenschaftliche" oder als „anagogische" Deutung sehr wohl an die Seite
stellen.
1) Wir unterscheiden im Sinne H. Freyers (Theorie des objektiven Geistes.
Leipzig 1925, S. 50) den seelisch-physiognomischen vom gegenständlichen Sinn.
Inhaltsverzeichnis
Seite
I) Der Inhalt des Kupferstiches „Melencolia I 5
II) Die historischen Voraussetzungen des Düreri-
schen Konzeptes 7
III) Die Quellen zu Dürers „Melencolia I ... 16
IV) Saturn, Melancholie und Analcharakter ... 24
V) Dürers Lebensgeschichte und Persönlichkeit . 55
VI) Der Tod der Mutter 44
VII) Die psychoanalytische Deutung der „Melen-
colia I" 48
VIII) Zur Abwehr 65
Ku 11 stb eil age
Dürers „Melencolia I" ]
y nach Seite 10
Dürers Mutter Barbara
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= Im „Internationalen Psychoanalytischen Verlag'
erschien Irüher von
| Alfred Winterstein:
1 Der Ursprung der Xragöoie
Ein psychoanalytischer JDeitrag zur
M Gesell ichte de* griechischen lheaters
Geheftet M. 8.5o } Ganzleinen M. 10. —
Inhalt: Der Karneval von Viza und die Einweihungsriten
der Wilden — Dithyrambus und Totenklage — Bocksgesang —
Tod und Wiedergeburt als sittliches Werden
Die Pubertätsriten der JViüdchen
Geheftet M.. 3. so, Ganzleinen iu. 4.60
Ein Ereignis, das heute unter dem Namen Konfirmation oder
Firmung für unsere heranwachsende Jugend im allgemeinen
keine tiefere Bedeutung mehr besitzt, der Übergang zum gc-
schlechtsreifen Menschen, wird bei den Primitiven noch hoch
bewertet. W. versucht von psychoanalytischer Seite her den
Sinn der Brauche bei der Mädchenweihe zu deuten
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