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Full text of "Zentralblatt für Psychoanalyse 1914 Band IV Heft 7/8 April/Mai"

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Zentralblatt 

für 

Psychoanalyse und Psychotherapie. 

* 

Medizinische Monatsschrift für Seelenkunde. 


Schriftleiter: 

Dr. Wilhelm Sfekel, Wien, Gonzagagasse 21. 


IV. Jahrgang, Heft 7/8. 

April/Mai. 


Wiesbaden. 

Verlag uon J. F. Bergmann. 
1914. 


Jährlich erscheinen 12 hefte im Gesamt-Umfang uon mindestens 
40 Druckbogen zum Jahrespreise uon IS Mark. 



Verlag von J. F. Bergmann in Wiesbaden. 


Über den 

nervösen Charakter. 

Grundzüge 

einer vergleichenden Jndividual- 
Psychologie und Psychotherapie. 

Von 

Dr. Alfred Adler in Wien. 

Preis geheftet Mk. 6.50, gebunden 31k. 7.70. 


Aus Besprechungen. 

Grundzüge einer vergleichenden Individualpsychologie und Psycho¬ 
therapie nennt Verf. selbst sein Buch. Dasselbe stellt sich als organischer 
Weiterbau dar auf Basis jener Anschauungen, welche er in der Studie 
über Minderwertigkeit von Organen seinerzeit niedergelegt. In einem aus 
drei Kapiteln bestehenden theoretischen Teil gibt Verf. seine Überzeugung 
wieder: „Am Anfang der Entwicklung zur Neurose steht drohend das 
Gefühl der Unsicherheit und Minderwertigkeit und verlangt mit Macht 
eine leitende, sichernde, beruhigende Zwecksetzung, um das Leben erträg¬ 
lich zu machen. Was wir das Wesen der Neurose nennen, besteht aus dem 
vermehrten Aufwand der verfügbaren psychischen Mittel. Unter diesen 
ragen besonders hervor: Hilfskonstruktionen und Fiktionen im Denken, 
Handeln und Wollen. . . . Wie die tastende Geste, wie die rückwärts 
gewandte Pose, .wie die körperliche Haltung bei der Aggression, wie die 
Mimik als Ausdrucksformen und Mittel der Motilität, so dienen die Charakter¬ 
züge, insbesondere die neurotischen, als psychische Mittel und Ausdrucks¬ 
formen dazu, die Rechnung des Lebens einzuleiten, Stellung zu nehmen, 
im Schwanken des Seins einen fixen Punkt zu gewinnen, um das sichernde 
Endziel, das Gefühl der Uberwertigkeit zu erreichen/* 

Die Durcharbeitung der Gedankengänge des Verf. im einzelnen, ist in 
einem kurzen Referate nicht zu erfassen; das Buch verkörpert eine Welt¬ 
anschauung mit Deutungen und S3mibolisierüngen, welche Verf. in die Natur 
hineinlegt. Auch im zweiten praktisch genannten Teil des Buches steht Verf. 
auf hoher, philosophischer Warte, er leitet Charakterzüge, wie wir sie bei 
Nervösen, richtiger Minderwertigen finden, von der fiktiven Idee ab und 
schliesst: „Minderwertige Organe und neurotische Phänomene sind Symbole 
von gestaltenden Kräften, die einen selbstgesetzten Lebensplan mit erhöhten 
Anstrengungen und Kunstgriffen zu erfüllen trachten/* 

Wiener Klinische Wochenschrift. 


Dr. Marcinowski, 

Sanatorium Haus Sielbeck a. üklci bei Eutin (Ost-Holstein) 

Klinisch-analytische Behandlung der 

Psychoneurosen. 










INTERNATIONAL 
PSYCHOANALYTIC 
UNIVERSITY BERLIN 



Die Fliess’sche Periodizitätslehre und ihre Bedeutung 
für die Sexualbiologie 1 ). 

Von Dr. Bruno Saaler, Charlottenburg. 

Meine Damen und Herren! Wenn wir in den biologischen Wissen¬ 
schaften von Periodizität sprechen, so verstehen wir darunter die Neigung 
von endogenen Ereignissen sich in gesetzmässigen Intervallen in gleicher 
oder wesensverwandter Form zu wiederholen. Es ist selbstverständlich, 
dass es sich um endogene, in der Konstitution des Lebewesens begründete 
Ereignisse handeln muss, es ist auch selbstverständlich, dass die Ereignisse 
ihrem Wesen nach gleich sein müssen, da sonst ihr innerer Zusammen¬ 
hang nicht plausibel erschiene. Der Nachweis der Wesensgleichheit bzw. 
Wesens Verwandtschaft mehrerer aufeinander folgender endogener Ereig¬ 
nisse genügt aber nicht, sie als periodisch erscheinen zu lassen. Zum 
Begriff der Periodizität gehört vielmehr noch, dass die Intervalle die 
Forderung der Gesetzmässigkeit erfüllen. Wollte man dem Begriff des 
Periodischen völlig gerecht werden, so müsste man eigentlich Gleichheit 
der Intervalle verlangen. Diese existiert aber nur in den seltensten Fällen. 
Es gibt keine Frau, die stets genau nach 28 Tagen menstruiert. Trotzdem 
ist gar nicht zu verkennen, dass eine innere Ordnung die Menstruations¬ 
termine bestimmt, von der wir ja auch nicht absehen können, wenn 
wir nicht die Gesetzmässigkeiten, denen wir auf Schritt und Tritt in den 
Naturwissenschaften begegnen, überhaupt ableugnen wollen. In der Tat 
wird die innere Ordnung im Ablauf periodischer Vorgänge auch von 
keiner Seite bestritten. Die Frage aber, die sich präsentiert, sobald ein 
periodischer Vorgang beobachtet wird, nämlich welcher Art die dem 
periodischen Geschehen zugrunde liegende Gesetzmässigkeit ist und warum 
die Gleichheit der Intervalle die Ausnahme bildet anstatt die Regel, 
steht im Buche der medizinischen Wissenschaft noch auf einem unbe¬ 
schriebenen Blatt. Diese Tatsache ist um so erstaunlicher, als das er¬ 
wähnte Problem durch die Flies s’sche Lehre vom periodischen Ablauf 
aller Lebensvorgänge im Doppeltakt der 28 und 23 Tage längst seine 
Lösung gefunden hat. In dem Umstand, dass eine doppelte Periodizität 
das regulierende Prinzip im biologischen Geschehen darstellt, liegt schon 
die Erklärung dafür, dass die Gleichheit der Intervalle, die wir allerdings 

D Nach einem Vortrag, gehalten am 19. Dezember 1913 in der Ärztlichen 
Gesellschaft für Sexualwissenschaft und Eugenik in Berlin. 

Zentralblatt für Psychoanalyse. IV 7 / 8 


22 



328 


Dr. Bruno Saaler. 


erwarten müssten, wenn eine einfache Periodizität vorläge, nicht 
existieren kann. 

Der Satz vom periodischen Ablauf aller Lebensvorgänge bildet zu¬ 
sammen mit dem von der dauernden Doppelgeschlechtigkeit der lebendigen 
Substanz die Grundlage der von Wilhelm F 1 i e s s begründeten Biologie. 
Die beiden voneinander untrennbaren Hauptgedanken der Lehre haben 
eine recht verschiedene Beurteilung erfahren. Während die Perioden¬ 
lehre von der medizinischen Wissenschaft wenigstens — man kann wohl 
sagen — glatt abgelehnt wurde, wurde die Richtigkeit der Anschauung 
von der dauernden Doppelgeschlechtigkeit wohl allgemein anerkannt. Dabei 
ist man aber, soweit ich es übersehen kann, dem Umfang und der Trag¬ 
weite der Flies s’scben Anschauung nicht ganz gerecht geworden. In 
seinem bekannten Werk „Das Sexualleben unserer Zeit“ sagt Iwan 
Bloch 1 ): „Die Idee der Bisexualität ist nicht neu, weder Fliess noch 
W e i n i n g e r sind ihre Entdecker. Sie war schon den Alten bekannt, 
fast mit den gleichen Worten wie W e i n i n g e r gibt schon H e i n s e im 
,Ardinghello‘ ihr Ausdruck.“ Was Weininger betrifft, so hat dieser, 
wie heute feststeht, seine Gedanken direkt oder indirekt von Fliess ent¬ 
lehnt; die Auffassung H e i n s e’s ist von der Fliess’schen aber doch 
um vieles verschieden. Fliess spricht nicht nur von der bisexuellen 
Keimanlage des Individuums, für ihn ist vielmehr jede Lebensäusserung 
der gesamten organischen Substanz der Ausdruck des steten Zusammen¬ 
wirkens männlicher und weiblicher Elemente. Alles was lebt, die niedersten 
Lebewesen wie die höchstorganisierten, die Pflanzenwelt nicht minder wie 
die tierische, ist dauernd doppeltgeschlechtig. Das Leben ist nichts anderes 
als eine fortgesetzte Vermählung männlicher und weiblicher Substanz, 
eine in periodischen Abständen wiederkehrende gegenseitige Befruchtung. 
Das männliche Individuum ist um so höher organisiert, je grösser die 
Menge weiblicher Substanz ist, die es neben dem Vollmass männlicher 
Substanz besitzt, das weibliche Individuum ist vollkommener, das ein 
den Durchschnitt überragendes Mass von männlicher Substanz neben dem 
Vollmass weiblicher Substanz sein eigen nennt. Was sagt dagegen 
H e i n s e ? Ich zitiere nach Bloch: „Der Mann ist der vollkommenste, 
der ganz aus männlichen Elementen zusammengesetzt ist, und das Weib 
vielleicht das vollkommenste, welches gerade nur soviel weibliche Elemente 
hat, um Weib bleiben zu können; so wie der Mann der schlechteste ist, 
der gerade nur soviel männliche Elemente hat, um Mann zu heissen.“ 
Das heisst nichts anderes als : wir alle sind zwar das Produkt männlicher 
und weiblicher Substanz, aber die männliche Substanz ist die bei weitem 
wertvollere, und die Vollkommenheit ist identisch mit einer möglichst 
grossen Eliminierung der weiblichen Substanz. Hingegen baut sich der 
Flies s’sche Gedanke von der Bisexualität auf der Gleichwertigkeit männ¬ 
licher und weiblicher Elemente auf, die aufeinander angewiesen sind, 
deren Existenz von ihrer Vereinigung abhängt, und die das eine ohne 
das andere ein Nichts sind. Die Sexualwissenschaft, sofern sie sich 
bewusst bleibt, dass sie nur auf dem Boden der Sexualbiologie eine 
exakte Wissenschaft ist, kann gar nicht anders als die Gleichwertigkeit 
beider Geschlechter anerkennen. Auch Moebius 2 ) hat in seinem bekannten 

1) J. Bloch, Das Sexualleben unserer Zeit. Berlin 1907. 

2 ) Moebius, Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes. Marhold, 

Halle. 



Die FJiess’sche Periodizitätslehre und ihre Bedeutung für die Sexualbiologie. 329 

Buch: „Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes“ meines Er¬ 
achtens nichts anderes bewiesen, als dass minderwertige Frauen in anderer 
Weise minderwertig sind als minderwertige Männer, also lediglich die 
Tatsache erhärtet, die uns allen bekannt ist, dass Mann und Weib ver¬ 
schieden sind, wie in ihren guten Eigenschaften so auch in ihren schlechten. 

Die Lehre von der dauernden Doppelgeschlechtigkeit der lebendigen 
Substanz gewinnt aber noch eine ganz andere Bedeutung, wenn wir sie 
im Zusammenhang mit dem von ihr in der Tat untrennbaren Gedanken 
des periodischen Ablaufs der Lebensvorgänge betrachten. Das Leben gleitet 
nach F 1 i e s s nicht wie ein ruhiger Strom dahin, sondern in periodischen 
Schüben treten Lebensänderungen auf, und zwar plötzlich, ruckartig. Die 
Intervalle sind selten gleich, können es auch nur selten sein, weil die 
periodischen Tage, die sie begrenzen, einer doppelten Periodizität, der 
der 28 und 23 Tage, ihre Entstehung verdanken. Die 28 Tage sind die 
Lebenszeit einer weiblichen, die 23 Tage die einer männlichen Substanz¬ 
einheit. Die Gesetzmässigkeit im periodischen biologischen Geschehen 
gründet sich auf die Kombination der 28 und 23 Tage, der Lebenszeit weib¬ 
licher und männlicher Substanzeinheiten. Dieser Periodizität sind alle 
Lebensäusserungen der gesamten organischen Welt unterworfen. Durch 
sie kommt das Ruckartige in das biologische Geschehen. Die Menstruation 
setzt plötzlich ein. Ein Kind lernt nicht allmählich laufen, wie meist 
angenommen wird, sondern eines schönen Tages macht es zu der Eltern 
Erstaunen und Freude die ersten Schritte; dann ist eine Zeitlang ein 
Fortschritt nicht zu bemerken, bis plötzlich mit einem Schlag sich die 
Sachlage ändert. Das Kind, das gestern mit knapper Not ein paar Schritte 
machen konnte, durchläuft heute ein paar Zimmer. Das Durchbrechen der 
Zähne, der Wehenbeginn der Gebärenden, Schmerzanfälle, Krämpfe, 
Blutungen, die kritische Lösung einer Krankheit, alles das erfolgt urplötz¬ 
lich aus inneren Ursachen an periodischen Tagen mit einer Pünktlichkeit, 
die, wie F 1 i e s s sagt, dem Glockenschlag der Uhr vergleichbar ist. Der 
Rhythmus, der durch die gesamte lebendige Substanz hindurchgeht, ist 
der der 28 und 23 Tage. „In diesen beiden Perioden“, ich zitiere nach 
F 1 i e s s, „flutet unser Leben, nach ihrem Gesetz werden wir empfangen 
und geboren, jauchzen und leiden wir, und wenn unser letzter Seufzer 
verhaucht, so hat unsere periodische Uhr ihr Stündlein geschlagen.“ „Die 
Perioden pulsen nicht nur im Einzelwesen, sie gehen gleichzeitig durch 
die lebendige Substanz einer ganzen Generation. Vater und Mutter hängen 
nicht allein durch das körperliche Erbgut mit ihren Kindern zusammen, 
sondern auch ihre Perioden schwingen in den Nachkommen fort. Die 
Kinder übernehmen, wie sie Gang, Blick und Sprache erben, von den 
Eltern auch den Rhythmus ihrer Tage. Und da Vater und Mutter selber 
wieder von ihren Eltern stammen, so schwingt in uns auch soviel von 
den Zeiten unserer Ahnen mit, als wir Körperliches von ihnen besitzen.“ 
Den Zusammenhang der Generationen, eine Erscheinung, die sich ja aus¬ 
gezeichnet mit der W e i s s m a n n’schen Theorie von der Kontinuität des 
Keimplasmas verträgt, hat F1 i e s s mit einer grossen Anzahl von ver¬ 
blüffenden Beobachtungen belegt. Ich kann hier natürlich nicht des 
Näheren darauf eingehen. Ich will nur darauf hin weisen, dass praktische 
Konsequenzen für das ärztliche Handeln beim Kind durch die Beachtung 
der periodischen Tage der Mutter sich ergeben. Der Tag, an dem die 
Mutter menstruiert, ist ein periodischer Tag auch im Leben des Kindes. 

22 * 


330 


Dr. Bruno Saaler. 


Man wird operative Eingriffe an solchen Tagen unterlassen müssen, weil 
die Gefahr einer Nachblutung, einer Störung in der Narkose u. dgl. mehr 
besteht. Flies s hält es sogar für wahrscheinlich, dass Mikroorganismen 
an periodischen Tagen leichter ihren Weg in den Körper finden, dass 
Störungen in der Wundheilung daher eher zu befürchten sind, wenn an 
solchen Tagen operiert wurde. 

Ich sagte bereits, dass die Würdigung, die die F 1 i e s s’sche Perioden¬ 
lehre bisher von der medizinischen Wissenschaft erfahren hat, in keinem 
Verhältnis steht zu ihrer immensen theoretischen und praktischen Be¬ 
deutung. Den Ruhm, sie zuerst erkannt zu haben, haben sich die Ärzte 
von 0 s t w a 1 d nehmen lassen, dem sich in letzter Zeit der Wiener 
Zoologe Carl Camillo Schneider 1 ) hinzugesellt hat. In allerjüngster 
Zeit werden allerdings auch unter den Medizinern Stimmen laut, die 
mahnen, der Lehre mehr Beachtung zu schenken; so bringt die „Med. 
Klinik“ in der ersten Oktobernummer dieses Jahres ein Referat von 
Dr. Liebe -Waldhof, das sich in diesem Sinne ausspricht. In weiten 
ärztlichen Kreisen hat man es aber immer noch nicht der Jlühe wert 
gefunden, sich auch nur einigermassen über die Lehre zu orientieren. 
M u g d a n 2 ) glaubt sich sogar notwendigerweise entschuldigen zu müssen, 
dass er sich überhaupt mit Fliess auseinander setzt. Er tut es auch 
nur, weil seiner Ansicht nach die frühere Kritik nicht die richtigen Denk¬ 
fehler der Flies s’schen Lehre aufgedeckt, sondern sie auf falschem Ge¬ 
biete gesucht hat. So wenig, wie es mir in Form eines kurzen Vortrages 
möglich ist, meine Damen und Herren, Sie über die Gesamtheit der Fliess- 
schcn Periodenlehre zu informieren, so wenig kann ich mich hier natürlich 
auf eine Auseinandersetzung mit den Kritiken einlassen, es ist das ja 
auch schon bis zum Überfluss geschehen. Ich verweise auf den in den 
0 s t w a 1 d’schen Annalen der Naturphilosophie erschienenen Aufsatz von 
Fliess: „Der Ablauf des Lehens und seine Kritiker“. Um Ihnen aber 
ein Bild davon zu geben, mit welch merkwürdigen Kritiken sich die Fliess- 
sche Lehre auseinandersetzen musste, will ich Ihnen nur die gewichtigen 
Gründe M u g d a n’s nennen, der ja der Ansicht ist, ganz allein die Denk¬ 
fehler bei Fliess auf gedeckt zu haben. Mugdan sagt erstens: Die 
Zahlen 28 und 23 haben nichts Spezifisches, es geht auch mit anderen 
Zahlen. Dieser Einwand war zwar nicht neu, denn Fliess hatte ihn 
schon in seinem Werk „Der Ablauf des Lebens“ 3 ) ausführlich widerlegt, 
bevor er überhaupt gemacht worden war. Er ist dann ja auch noch 
häufig genug gemacht worden, aber niemandem ist es gelungen, zwei Zahlen 
zu finden, mit denen sich die gleiche Ordnung aufdecken Hesse, wie 
Fliess sie mit 28 und 23 hergestellt hat — pardon, nicht Fliess, 
sondern die Natur. Denn die Zahlen 28 und 23 sind ja nicht willkürlich 
angenommen, sondern durch Naturbeobachtung mit auffallender Häufig¬ 
keit gefunden worden. Diese Tatsache vergessen die Herren immer wieder 
zu erwähnen, die behaupten, es gehe auch mit anderen Zahlen und dann 


D Carl Camillo Schneider: Tierpsychologisches Praktikum in Dialog¬ 
form. Veit & Comp. Leipzig 1912. 

2 ) Mugdan, Periodizität und periodische Geistesstörungen. Sammlung zwang¬ 
loser Abhandlungen aus dem Gebiete der Nerven- und Geisteskrankheiten. IX. Bd., 
Heft 4. Marhold, Halle 1911. 

3) W. Fliess, Der Ablauf des Lebens. Grundlegung zur exakten Biologie. 
Leipzig und Wien. Fr. Deuticke. 1906. 



Die Fliess’sche Periodizitätslehre und ihre Bedeutung für die Sexualbiologie. 331 

sogar noch den Beweis für diese kühne Behauptung absolut schuldig bleiben. 
Und zwar trotz aller Aufforderungen, die an sie gerichtet wurden. 

Der zweite Einwand M u g d a n s bewegt sich auf mathematischem 
Gebiet, und zwar führt er die mathematische Funktionentheorie gegen 
Fliess ins Feld. Er meint, weil es in der Mathematik keine doppelt 
periodische Funktionen gibt, deshalb nicht, weil sie sich stets als ein¬ 
fach periodische Funktionen darstellen lassen, deren Grundperiode der 
grösste gemeinschaftliche Teiler der ursprünglichen Perioden ist, bei 28 
und 23 also die 1, weil es das also in der Mathematik nicht gibt, könne 
es auch in der Natur nicht Vorkommen. Nun, nach meiner Meinung 
heisst es die Dinge auf den Kopf stellen, wenn man versucht, die Existenz 
naturwissenschaftlicher Befunde — denn darum handelt es sich in der 
Tat — mit Hilfe einer philosophischen Theorie zu bestreiten. Es erübrigt 
sich, hierauf näher einzugehen, da aus dem Lager der Mathematiker 
M u g d a n nicht nur kein Eideshelfer erstanden ist, sondern im Gegen¬ 
teil der Mathematiker Richard Pfennig 1 ) sich in den Annalen der 
Naturphilosophie mit Schärfe gegen die Anwendbarkeit der Funktionen¬ 
theorie auf die Biologie gewandt hat; er charakterisiert dieses Vorgehen 
M u g d a n’s, indem er darauf hinweist, dass es dazu führt, auch der Erde 
zu verwehren, ihre Achsendrehungsperiode, den Tag, und ihre Umlaufsperiode, 
das Jahr, oder den Menschen die Perioden der Atmung und des Puls¬ 
schlages, gleichzeitig zu besitzen. Die Verbände von 28 und 23 Tagen 
treten miteinander, wie Pfennig mit Recht hervorhebt, nicht anders 
in Beziehung, wie die Grössen zweier Bäume von 3 und 10 Meter Höhe, 
die doch einen Meter als Grundmass haben. Nach Mugdan können 
diese Bäume gar nicht vorhanden sein. So sehen die gewichtigen Gründe 
M u g d a n’s gegen die Flies s’sche Lehre aus. Und um die anderen Kritiken 
steht es nicht besser. Leere Worte sind es, die man bisher gegen die 
Fliess’sche Lehre gemacht hat; nicht aber Worte beweisen, sondern 
Tatsachen. Und dass Tatsachen mit absoluter Beweiskraft existieren, 
möchte ich Ihnen jetzt an einigen einfachen Fällen zeigen. Ich erwähne 
dabei gleich, dass es sich um ausgesuchte Fälle handelt. So wenig 
kompliziert wie bei ihnen liegen die Verhältnisse zwar häufig, aber längst 
nicht immer. Wenn dem so wäre, so gäbe es ja auch keine verschleierte, 
sondern eine jedem Kinde — möchte ich beinahe sagen — offenkundige 
Regelmässigkeit. Es kommt mir hier aber, wie ich schon sagte, nicht 
darauf an, Ihnen eine erschöpfende Erklärung der gesamten Periöden¬ 
lehre zu geben, sondern lediglich zu zeigen, dass sich die 28er und 23er 
Perioden in der Natur tatsächlich finden. Mein Beobachtungsfeld ist das 
der Nervenpathologie, ich zweifle aber nicht, dass sich auf den anderen 
Gebieten der Medizin dieselben Erfahrungen machen lassen 2 ). 

Der erste Fall betrifft den an Gehirnsyphilis inzwischen ge¬ 
storbenen Schriftsteller und Arzt Dr. N. Dieser Herr ist bis zum 19. 11. 10 
von Herrn Fliess behandelt worden, von dem ich die Daten bis zu 
diesem Tag erhalten habe. Den Anfall vom 24. 5. 11 habe ich dem 
Journal der Dr. Weiler’schen Anstalt in Westend entnommen, die zwei 

3 ) Pfennig, Ein neuer Einwand gegen Fliess’ Periodenlehre? Ostwalds 
Annalen der Naturphilosophie. IX. Bd., S. 373. 

2 ) Die Krankheitsgeschichten wurden mir in liebenswürdiger Weise von meinem 
früheren Chef, Herrn Professor Boedeker, leitendem Arzt des Sanatoriums Fichten¬ 
hof in Schlachtensee, zur Verfügung gestellt. 



332 


Dr. Bruno Saaler. 


letzten Daten stammen aus meiner eigenen Beobachtung im Sanatorium 
Fichtenhof in Schlachtensee. 

Der Patient hatte am 

30. 7. 10 um 6 Uhr nachmittags einen epileptischen Anfall. Am 

22. 8. 10 nach schlechter Nacht morgens Herpes labialis. Am 

14. 9. 10 asthmatische Beschwerden, Missbefinden, das bis zum 

12. 10. 10 anhielt, wo er nach guter Nacht sich wieder wohl befand. Am 

19. 11. 10 um 6 Uhr nachmittags hatte er den zweiten, am 

24. 5. 11 den dritten und am 

26. 11. 11 nachmittags den vierten epileptiformen Anfall. Am 
19. 12. 11 nachmittags stellte sich eine schwere Erregung ein, die zur 
Verlegung auf die Abteilung für unruhige Kranke Veranlas¬ 
sung gab. 

Die Intervalle sind: 

J x = 23, 

J 2 = 23, 

J 3 = 28, 

J 4 = 10, ergänzt J x —|— J 2 zu 2 X 28, 

J 5 = 28, 

J 6 = 186 = 5 X 28 -f- 2 X 23, 

J 7 = 186 = 5 X 28 -\- 2 X 23, 

J 8 = 23. 

Der Gesamtabstand vom 30. 7. 10 bis 19. 12. 11 ist 
14 X 28 -f 5 X 23. 

28 2 

14 X 28 = — hat eine besondere Bedeutung. Die Naturbeobach- 
£ 

tung lehrt nämlich, dass nicht allein die Perioden von 28 und 23 Tagen 
im biologischen Geschehen eine Rolle spielen, sondern auch das Jahr 
hat, wie auch Blütezeit und Brunst lehren, massgebenden Einfluss. Durch 
eine grosse Anzahl von Beobachtungen hat nun F1 i e s s den Nachweis 
erbracht, dass die Perioden von 28 und 23 Tagen sich zu Einheiten höherer 
Ordnung Zusammenschlüssen und in der Natur das Jahr äquivalent ver¬ 
treten können. Als Jahresäquivalente ergaben sich: 

14 X 28 = ^ 

und 14 X 23 = 2 8 ^ 23 Tage. 

£ 

Betrachten wir uns nun noch einmal das Spatium 14 X 28 + 5 X 23. 
28 2 

Da 14 X 28 = ein Jahresäquivalent, also eine Einheit für sich ist, 
£ 

dürfen wir vermuten, dass die Testierenden 5 X 23 Tage den Ausschnitt 
aus einer ebensolchen Einheit darstellen, der durch einen anderen zum 
Jahresverbande ergänzt wird. Nun habe ich aus der vor wenigen Tagen 
erschienenen Neuauflage des Buches „Vom Leben und vom Tod“ *) er 
sehen, dass den Beginn der Erkrankung dieses Herrn ein Anfall von 


i) Wilhelm Fliess. Vom Leben und vom Tod. 2. vermehrte Auflage. 
Eugen Diedericlis. Jena 1914. 





Die Fliess’sche Periodizitätslehre und ihre Bedeutung für die Sexualbiologie. 333 


Doppelsehen darstellte, der sich am 18. 8. 07 ereignete. Der Abstand 
von diesem Tage bis zum 30. 7. 10 ist 1077 Tage = 365 -j- 183 -(- 529 = 
l 1 / 2 Jahre -[- 23 2 Tage. Addieren wir zu diesem den Abstand vom 
30.7. 10 bis zum 19. 12. 11, so ergibt sich als Gesamtabstand 

28 2 

11/ 2 Jahre + - + 28 X 23. 


Sie sehen, wie sich die 5 X 23 durch den früheren Abstand har¬ 
monisch zu 28 X 23, dem Äquivalent von 2 Jahren, ergänzen. 

Diesen Fall hat Fliess, soweit seine Beobachtung reicht, also 
bis zum 19. 11. 10, im 10. Band der 0 s t w a 1 d’schen Annalen der Natur¬ 
philosophie veröffentlicht und ihm folgenden Parallelefall an die Seite 
gestellt: 


Eine Dame hat typische Gallensteinkolliken immer am Spätnach¬ 
mittag der Tage 


30. 7. 

14. 9. 

24. 9. 

12 . 10 . 

30. 10. 


10 j 46 = 2 X 23 I 
10 2 X 28 


10 


1 10 

I 18 


10 


10 J 


18 


46 = 2 X 23 


4X 23 


In dieser Tabelle finden sich dreimal die gleichen Daten wie in der 
des Dr. N., nämlich der 30. 7., der 14. 9. und der 12. 10. bei, wie F 1 i e s s 
betont, nicht verwandten, einander völlig fremden Personen mit verschie¬ 
denen körperlichen Leiden. Diese Kongruenz, die übrigens eine noch viel 
weiter gehende ist — ich brauche aber nicht näher darauf einzugehen —, 
wird man nicht anders deuten können als durch die Annahme, dass in 
beiden Fällen die gleichen Naturgesetze die Vorbedingungen für das Auf¬ 
treten der krankhaften Erscheinungen abgegeben haben. Solche Vorkomm¬ 
nisse sind übrigens gar nicht so selten. So erzählte mir ein befreundeter 
Arzt, dass eine Patientin ihn immer an dem Tage rufen lasse, an denen 
er gerade seine Migräne habe, so dass diese Patientin zu ihrem geringen 
Ergötzen immer wieder auf den Vertreter angewiesen war. Im Fichtenhof, 
einer Anstalt, deren Frauenabteilung eine Belegzahl von etwa 40 bis 
50 Kranken hat, wird bei dem täglichen Rapport des Oberpersonals stets 
auch über eine etwa eingetretene Menstruation berichtet. Dabei ist es 
den rapportierenden Schwestern selbst aufgefallen, dass immer von 
mehreren Patientinnen gleichzeitig zu berichten war, während oft Tage 
vergehen konnten, ohne dass eine Kranke menstruierte. Die gleichen 
Erfahrungen macht der Irrenarzt mit Bezug auf die Erregungszustände 
der Kranken, die ja fast durchweg periodisch auftreten; es gibt nur wenige 
Kranke, die chronisch erregt sind, und auch bei diesen lassen sich 
periodische Exazerbationen nachweisen. Ich habe es im Fichtenhof erlebt, 
dass auf der allerdings nicht sehr grossen Abteilung für unruhige Kranke 
tage-, ja mitunter sogar wochenlang die erquickendste Ruhe herrschte, 
während es Tage gab, an denen auch nahezu alle Kranke erregt waren. 





334 


Dr. Bruno Saaler. 


Mail pflegt angesichts dieser Tatsache zu sagen, die Kranken stecken sich 
gegenseitig an. Dies trifft aber nur in sehr beschränktem Masse zu. 
Selbst die weitgehendste Separierung ändert nichts daran. Auch die 
Aufnahmeziffer in Irrenanstalten unterliegt periodischen Schwankungen. 
Selbst in grösseren Anstalten kommt es vor, dass Wochen und nicht selten 
auch Monate vergehen, ohne dass im wesentlichen Aufnahmen erfolgen, 
so dass ein bekannter Psychiater sich sogar einmal zu der Äusserung 
verstieg: „Die Narren wollen nicht mehr“, bis dann plötzlich eines Tages 
ein Regen von Aufnahmen die Assistenten aus ihrer Ruhe aufscheucht. 
Alle diese Tatsachen hat man bisher so gut wie noch gar nicht gewürdigt 
in der begreiflichen Furcht, sich damit auf den schwankenden Boden 
der Metaphysik zu begeben. Diese Furcht, meine Damen und Herren, 
brauchen Sie keineswegs zu hegen, wenn Sie die erwähnten Vorkomm¬ 
nisse, zu denen auch die bekannte Duplizität der Fälle gehört, unter dem 
Gesichtswinkel der Periodenlehre betrachten. Sie werden sich dann sagen 
müssen, dass es Menschen gibt, die auf die gleiche Periodizität, auf den 
gleichen Lebensrhythmus abgestimmt sind. Eine künftige, auf der Perioden¬ 
lehre fussende Forschung wird zu zeigen haben, dass der Seelen Verwandt¬ 
schaft, der Sympathie, dem Hellsehen, dem persönlichen Magnetismus und 
anderen Dingen, deren sich infolge des Versagens der Wissenschaft der 
Okkultismus bemächtigt hat, nichts Übersinnliches innewohnt, dass hier 
lediglich ein auf den gleichen Rhythmus abgestimmtes Stück lebendiger 
Substanz auf die gleichen inneren Einflüsse in der gleichen Weise reagiert. 
Heute allerdings wird es Sie noch metaphysisch anmuten, wenn Sie 
sich einander fremde Menschen gewissermassen von der Natur zu einer 
kosmischen Einheit zusammengeschmiedet vorstellen sollen. Aber wie 
wollen Sie sich schliesslich erklären, dass eine Dame den Tod ihrer 
Busenfreundin zur selben Minute halluzinierte, in der derselbe plötzlich 
aus voller Gesundheit heraus erfolgt ist. Mit diesen Dingen hat die Nerven- 
physiologie die Pflicht, sich zu beschäftigen, und es ist uns gar nicht 
damit gedient, wenn man solchen verbürgten Tatsachen gegenüber ein 
ungläubiges Achselzucken oder den Hinweis parat hat, dass es zwischen 
Himmel und Erde Dinge gibt, die wir nie erkennen werden. Lange Jahre 
hat die psychiatrische Forschung sich vergebens bemüht, den Ursachen 
der Geisteskrankheit auf die Spur zu kommen. Man hat keine Methode 
der sogenannten exakten Forschung vernachlässigt, aber die jedem Laien 
bekannte Tatsache, dass eine grosse Anzahl nervöser Menschen in Vollmond¬ 
nächten eine Störung ihrer Seelentätigkeit aufweist, ist, soweit mir be¬ 
kannt, nie Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung geworden. Aber 
sie gerade zeigt, dass die inneren Einflüsse den Gesetzen des Kosmos 
gehorchen. Es ist vielleicht nicht deplaziert, an dieser Stelle an das 
G o e t h e’sche Wort zu erinnern: 

Nach ewigen, eh’rnen grossen Gesetzen 

müssen wir alle 

unseres Daseins Kreise vollenden. 

Der zweite Fall betrifft den Privatdozenten Dr. C., dessen Psychose 
in das Gebiet des manisch-depressiven Irrseins gehört. Seine Erkrankung 
setzte in den ersten Tagen des April 1912 mit einem aus heiler Haut 
heraus entstehenden Angstanfall ein. Das genaue Datum liess sich leider 
nicht eruieren, wahrscheinlich hat der Anfall aber am 2. April statt- 


Die Fliess’sche Periodizitätslehre und ihre Bedeutung für die Sexualbiologie. 335 

gefunden, denn der Kranke erinnerte sich, dass schon einige Tage seit 
dem Anfall vergangen waren, als er sich am 7. April wegen der Depression, 
die auf den Anfall gefolgt war, auf das Land begab. Er erholte sich schnell, 
arbeitete wieder, bis am 25. April abends wieder völlig unerwartet ein 
zweiter Angstanfall einsetzte. Er verreiste wiederum, erholte sich wieder, 
diesmal nicht ganz so schnell und fuhr am 18. Mai nach dem Orte seiner 
Tätigkeit zurück. Der Umstand, dass der Patient gerade 23 Tage nach 
dem zweiten Angstanfall zu seiner Arbeit zurückkehren wollte, lässt darauf 
schliessen, dass er sich an diesem Tage offenbar ganz besonders wohl 
fühlte. Diese Euphorie an periodischen Tagen ist etwas durchaus kon¬ 
stantes, sie findet sich stets als Auftakt aller krankhaften Erscheinungen; 
sie leitet eine sich in physiologischen Grenzen haltende Verstimmung 
ebenso ein, wie einen verhängnisvollen Krampfanfall, eine Perforation 
des Appendix usw., sie ist gewissermassen der lachende Sonnenschein vor 
dem Gewitter, der ja nichts Gutes weissagt. Sie ist dieselbe Euphorie, 
die, wie F1 i e s s betont, sich auch unmittelbar vor dem Tode einstellt, 
weil ja auch der Tod an einem periodischen Tage erfolgt. Zur Illustrierung 
dieser Tatsache erinnere ich an den unter so eigenartigen Umständen er¬ 
folgten Tod des Königs Christian von Dänemark, der am Abend, an dem 
ihn der Tod erreichte, sich so wohl fühlte, dass er ganz gegen seine Gewohn¬ 
heit nach 10 Uhr noch ohne Begleitung ausging. Sie wissen, dass er von 
diesem Spaziergang nicht mehr zurückkehrte und seine Leiche erst im 
Krankenhaus, wohin man den Sterbenden gebracht hatte, rekognosziert 
wurde. Auch unseren Patienten, dem seine Euphorie die Heilung vorge¬ 
täuscht hatte, erreichte sein Schicksal in Form des dritten Angstanfalls: 
im Zug auf der Reise nach Hause in der Nacht vom 18.—19. Mai. Die 
Psychose, die er im Anschluss hieran in unserer Anstalt durchmachte, 
interessiert hier nicht, sie war am 1. Juni bereits abgelaufen. Von da 
ab konnte Patient als völlig gesund bezeichnet werden. In der Nacht 
vom 10.—11. Juni, also wieder genau 23 Tage nach dem dritten Angst¬ 
anfall, trat der vierte auf, der aber wesentlich leichterer Art war. Es 
waren am 11. Juni neben Unruhe, Unlust, leichter Verstimmung, Stö¬ 
rungen im Bereiche des Sympathikus, Herzklopfen, Magenschmerzen, Ano¬ 
malien der Schweisssekretion u. a. nachweisbar. Am folgenden Tag fühlte 
er sich wieder völlig wohl. Sie erkennen aus diesem Falle die eminent 
praktische Bedeutung der Periodenlehre. !Es wäre zweifellos sehr wenig 
opportun gewesen, den Kranken vor dem 11. Juni zu entlassen. Ich 
habe mich sogar veranlasst gesehen, ihn danach noch weitere 23 Tage 
unter Beobachtung zu halten und erst, nachdem der folgende kritische 
Tag ohne Störung vorbeigegangen war, nach seiner fernen Heimat zu 
entlassen. 

Der nächste Fall betrifft den Leutnant a. D. B. Dieser Herr ist ein 
Psychastheniker mit zyklothymen Verstimmungen, der Typ eines Patienten, 
wie man sie gewöhnlich unter der Bezeichnung Neurastheniker in Kur¬ 
anstalten findet, deren Beschwerden meist als psychogene angesprochen 
werden, die man mit Willensgymnastik und anderen schönen Dingen zu 
beeinflussen sucht, und bei denen man doch so lange nichts erreicht, 
als sie infolge innerer Ursachen körperlich Kranke sind. Der Patient 
kam freiwillig, weil er sich seit einiger Zeit schlecht fühlte, über Magen- 
und Herzstörungen klagte, am 15. Oktober 1912 zu uns. ln der Nacht 
vom 14. auf den 15. war es ihm besonders schlecht ergangen, er hatte 


336 


Dr. Bruno Saaler. 


„furchtbares Brennen im Magen“ gehabt, sein „Herz arbeiten gefühlt“, war 
beim geringsten Geräusch zusammengeschreckt und hatte angeblich grosse, 
nicht motivierbare Angst ausgestanden. In den ersten Tagen des Anstalls¬ 
aufenthaltes — ich gebe hier natürlich nur die Hauptsachen wieder 
war die Stimmungslage leicht gedrückt, dabei bestanden unbestimmte 
Sensationen, Klagen über Schwäche im Darm, Ziehen in den Beinen, 
Empfindlichkeit gegen Geräusche und Licht usw., Erscheinungen, wie man 
sie meist als hypochondrisch zu bezeichnen gewohnt ist. Am 7. 11. er¬ 
zählte der Patient morgens, dass er nachts schwere Angsjtanfälle gehabt 
habe. Nun, bei einem Manne, den man als den Hypochonder kclt e^oxfjv 
kennen gelernt hat, der sich vor dem geringsten Geräusch fürchtet, mit 
zwei blauen Brillen vor den Augen herumschleicht, der dabei ein Riese 
ist und blühend aussieht, bei einem solchen Manne würde man vielleicht 
über die schweren Angstanfälle gelächelt haben, wenn am 7. 11. 'flicht 
genau 23 Tage seit dem 15. 10. vergangen gewesen wären. Objektiv doku¬ 
mentierte sich aber auch der 7. 11. als kritischer Tag durch eine ge¬ 
steigerte Reizbarkeit, schwereres Krankheitsgefühl, Furcht vor psychischer 
Erkrankung, ängstliche Vorstellungen u. dgl. m. Am 11. kann das Krank¬ 
heitsgefühl kein so schweres mehr gewesen sein, denn der Patient, der 
sonst immer im verdunkelten Zimmer zu Bett lag, so weit unter der Decke, 
dass man ihn bei der Visite zunächst vergeblich suchte, derselbe Patient 
machte am 11. im Vollgefühl seiner Männlichkeit einen Besuch in der 
Wohnung der Nachtpflegerin, angeblich ohne jeden Hintergedanken. Die 
Oberschwester dachte nun allerdings über den Besuch eines Leutnants bei 
•einer Krankenpflegerin weniger harmlos, wie ich glaube, mit Recht; denn 
der Patient war plötzlich ein ganz anderer geworden, er ging hoch auf¬ 
gerichtet herum und legte ein Kraftgefühl an den Tag, das sich heim Da¬ 
zwischentreten der Oberschwester in der Weise Luft machte, dass die 
Pflegerin anstatt der ihr zugedachten Zärtlichkeit eine Ohrfeige erhielt. 
Es war der Vorabend des 12. November und 28 Tage seit dem 14./15. Ok¬ 
tober. Am 12. November dauerte der euphorisch gereizte Zustand an. Der 
Patient war schon in aller Frühe elegant gekleidet auf den Beinen, pfiff 
sich eins, machte ironische Verbeugungen, ging spazieren, was vom ganzen 
Sanatorium als Zeichen und Wunder angesehen wurde. Am folgenden 
Tag lag er wieder in gewohnter Weise zu Bett, und so blieb es auch zu¬ 
nächst. Am 29. November war er morgens schon wieder sehr vergnügt, 
am Nachmittag kam die Reaktion in Form von gereizter Verstimmung und 
in der Nacht ein Anfall von ,,Herzschwäche“. Am 9. Dezember wieder¬ 
holte sich der Vorgang mit photographischer Treue. Am 29. bzw. 30. No¬ 
vember waren wiederum 23 Tage seit dem 6./7. verflossen, am 9. bzw. 
10. Dezember 28 Tage seit dem 11./12. November. Am 10. Dezember 
ging mir der Patient den ganzen Tag aus dem Weg, und am 11. lehnte 
er mich ohne äusseren Anlass als behandelnden Arzt ab, lediglich mit 
der Begründung, ich sei ebenso gereizt wie er selbst. Ich brauche wohl 
nicht zu betonen, dass dies nicht der Fall war. Nun trat in der Nacht 
zum 20. Dezember wieder plötzlich ohne äusseren Anlass ein heftiger 
Erregungszustand auf, 10 Tage nach dem 10. Dezember. Die 10 Tage 
ergänzen den folgenden Abstand von 13 Tagen zu 23. Es versteht sich 
von selbst, dass die 10, die Differenz von 2 X 28 uind 2 X 23, ebenso wie 
die 5, die Differenz von 28 und 23, sehr häufig als Intervall in Erschei¬ 
nung treten muss. Am 2. Januar 1913, also 23 Tage nach 'dem 10 Dez., 


Die Fliess’sche Periodizitätslehre und ihre Bedeutung für die Sexualbiologie. 337 


machte er wieder Krach, fühlte sich durch mich beeinträchtigt, und einen 
Tag später, am 3. Januar, lehnte er mich zum zweiten Male ab, genau 
wie 23 Tage vorher am 11. Dezember. Ich hatte mich an die erste Ab¬ 
lehnung natürlich nicht gekehrt, der Kranke ist auch bis zu diesem Tage 
nie wieder darauf zurückgekommen. Sie ersehen aus dieser Tatsache, 
wie genau nach der Uhr der periodische Ablauf der Lebensvorgänge 
erfolgt. Beide Male erfolgte die Ablehnung nicht am Vorabend des peri¬ 
odischen Tages und auch nicht an diesem selbst, sondern erst einen Tag 
darauf. Es ist immerhin nicht unwichtig, wenn man als Arzt weiss, an 
welchem Tage man von seinen Patienten herausgeworfen werden wird. 
Es erfolgte dann ein Erregungszustand am 23. Januar abends; dieser 
ist der einzige, den ich nicht in die Reihe hineinbringen kann 1 ). 
Am 25. Januar erkrankte der Patient an einer Angina, 23 Tage nach dem 
2. Januar. Ich erwähne das, weil es für die Richtigkeit der Flies s’schen 
Ansicht, dass die Infektionserreger an periodischen Tagen leichter den 
Weg in den Organismus finden, spricht. Am 6. Februar abendsl, 5 X 23 Tage 
seit dem Abend des 14. Oktober wurde er ohne äusseren Anlass so mass- 
los erregt, dass wir ihm im Interesse der übrigen Patienten den Vorschlag 
machen mussten, nach einem anderen Sanatorium überzusiedeln. Wenige 
Tage später ist der Kranke aus unserer Behandlung ausgeschieden. 


14. 15. X. 12 


6./7. XI. 12 


11./12. XI. 12 


29. 30. XI. 12 


9./10. XII. 12 

1. Ablehnung 

n. xii. 12 2 L 13 

2. Ablehnung 
3 T 13 

ö ' A * Angina 25. I. 12 
6-/7. II. 13 


i " i 


i ° i 


23 

5 

18 

10 

23 

23 


28 

23 

28 


I 13 = 5X23- 
— 2 (28 + 23) 


115 = 5 X 23 


Ich komme jetzt zu einigen Fällen, die die innigen Beziehungen 
der Periodenlehre zur Sexualbiologie illustrieren. Der eine betrifft ein 
16 jähriges Mädchen, Frl. G., bei dem wir seinerzeit die Diagnose „degene- 
ratives Irresein“ gestellt hatten. Später ist der Verdacht einer Verblödungs¬ 
psychose aufgetaucht, der sich inzwischen als berechtigt herausgestellt 
hat. Dieses intellektuell gut entwickelte, dabei aber psychasthenische 
und ethisch defekte junge Mädchen kam am 2. Januar d. J. in die Anstalt, 
nachdem es am 31. Dezember mit Unruhe und Erregung erkrankt war. 
Am 1. Januar hatte sich die Erregung zu einer förmlichen Tobsucht ge- 


i) Zweifellos erklärt sich dieses Datum durch den Jahreseinfluss, der nur 
nicht gezeigt werden kann, weil weiter zurückliegende Daten nicht bekannt sind. 




338 


Dr. Bruno Saaler. 


steigert. Bei der Aufnahme entfernten wir ihr zunächst einen Korken, 
den sie sich am Tage vorher, also am 1. Jan., in den Mastdarm hineingesteckt 
hatte. Anfangs war sie sehr erregt, voll hypochondrischer Vorstellungen 
und dokumentierte dabei eine durch Symbolik nur schlecht verhüllte 
sexuelle Erregung im Sinne der infantilen Sexualität. Schon nach wenigen 
Tagen setzte die Beruhigung ein, die bis zum 23. Januar anhielt. An 
diesem Tage begann genau der gleiche Zustand wie am 31. Dezember, 
also nach genau 23 Tagen. Am 24. Januar äusserte sie, es gehe ihr genau 
so wie damals, nämlich am 1. Januar, als sie sich den Korken in den After 
gesteckt habe; sie müsse es auch jetzt wieder tun, habe aber leider 
keinen, applizierte sich dann in Ermangelung eines Korkens ihr Taschen¬ 
tuch in den Mastdarm. Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass es sich 
hierbei um eine anal-erotische Betätigung handelt, und zwar deshalb, 
weil sich gleichzeitig auch die übrigen Komponenten der infantilen Sexuali¬ 
tät ziemlich unverhüllt offenbarten. Sie verschaffte sich nämlich die 
Hautreize sowie die Reize der übrigen erogenen Zonen auf eine charak¬ 
teristische Art und Weise, auf die ich hier nicht näher einzugehen brauche. 
Erwähnen möchte ich nur, dass die Reizung der Klitoris in der Hauptsache 
durch häufige Begiessungen mit Urin erfolgte. Um sich diesen Reiz häufiger 
verschaffen zu können, hielt die Kranke den Urin zurück und entleerte 
ihn auch auf eindringlichste Aufforderung hin nur in kleinen Portionen. 
Ganz ebenso verfuhr sie mit dem Stuhlgang. Man erkennt daraus die 
Berechtigung der Freu d’schen Theorie*) von der analerotischen Be¬ 
tätigung des Säuglings, die soviel ungläubiges Lächeln hervorgerufen hat. 
Es handelt sich bei den Äusserungen der infantilen Sexualität in der Tat 
um biologische Erscheinungen; ihre psychischen Komponenten, die Schau- 
und Grausamkeitstriebe, die sich auch bei unserer Kranken in ihren 
Phantasien, Träumen und Wahnvorstellungen zu erkennen gaben, sind 
mit ihr ebenso unlöslich verknüpft wie beispielsweise die erotischen 
Phantasien mit der Pollution. Die Erregung flaute wiederum nach wenigen 
Tagen allmählich ab, bis am 16. Februar, 23 Tage nach dem 24. Januar, 
eine neue Erregungsphase ruckartig einsetzte. Es begann jetzt ein mehr 
chronischer Zustand, bei dem, wie es im Journal heisst — ich selbst 
habe den Fall nur bis Mitte März beobachtet —, Tätlichkeiten an der 
Tagesordnung waren. Ich glaube aber, dass dieser Ausdruck eine rhetorische 
Übertreibung des Ref. ist, und zwar weil sämtliche von ihm im Journal 
mit Datum belegten Erregungszustände sich ohne Schwierigkeiten in die 
Periodizitätsreihe einfügen lassen. Es handelt sich um den 3. April, 

2 X 23 Tage nach dem 16. Februar, um den 1. Mai, 28 Tage nach dem 
3. April und den 24. Juli, 84 = 3 X 28 Tage nach dem 1. Mai. An diesem 
Tage war die Kranke so erregt, dass sie eine Hyoszin-Injektion bekommen 
musste und nach der Abteilung für unruhige Kranke verlegt wurde. 


i) Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Leipzig und Wien, Franz 
Deuticke 1910. 



Die Fliess’sche Periodizitätslehre und ihre Bedeutung für die Sexualbiologie. 339 
31. XII. 12./I 
23./24:. 

16 
3 
1 
24 

Bei der Betrachtung der Tabelle fällt auf, dass am 3. April die 
23er Perioden durch die 28er abgelöst werden. Ich habe bereits erwähnt, 
dass anfangs die periodischen Tage durch Äusserungen der infantilen 
Sexualität gekennzeichnet waren. Das muss später wohl nicht mehr der Fall 
gewesen sein, denn ich fand im Journal nichts mehr davon verzeichnet. 
Wären ähnliche Erscheinungen dagewesen, so würden entsprechende Ein¬ 
tragungen bestimmt erfolgt sein, da der Assistent der Abteilung, der das 
Journal führte, von mir gelernt hatte, darauf zu achten. Man wird also 
nicht ohne Berechtigung das Überwiegen der 23er Periode als ein charak¬ 
teristisches Kennzeichen der Äusserungen der infantilen Sexualität an¬ 
sprechen dürfen 1 ). Da, wie Sie wissen, die infantile Sexualität nach 
Freud ein Stück Männlichkeit darstellt, so haben wir hier eine Be¬ 
stätigung für die Flies s’sche Behauptung, dass die 23 Tage die Lebens- 
dauer einer Substanzeinheit männlichen Geschlechtes sind. 

Der folgende Fall, den ich früher ausführlich veröffentlicht 2 ) habe, 
betrifft eine 20 Jahre alte Frau von infantilem Habitus, die im Anschluss 
an die Hochzeitsnacht an einer Neurose erkrankte, die sich in allen ihren 
Symptomen sehr typisch als das Negativ ihrer sexuellen Perversion, die 
sie in der Hochzeitsnacht zu verdrängen suchte, zu erkennen gab. Ich habe 
detailliert nachgewiesen, dass die sexuelle Perversion, der sie bis zu 
ihrer Hochzeit gehuldigt hatte, sich zusammensetzte aus Trieben, die 
in ihrem Gesamtbild völlig dem entsprachen, das Freud von der in¬ 
fantilen Sexualität entworfen hat. Die Neurose war der Ausweg, den 
das Unbewusste aus dem Konflikte der um die Herrschaft ringenden 
perversen und normalen sexuellen Triebe suchte und fand. Ein anderer 
Ausweg war nicht möglich, weil die Kranke gegen normalen sexuellen 
Verkehr frigide war. Der psychosexuelle Konflikt nun war nicht allein 
die Folge des durch die Eingehung der Ehe bedingten Wunsches, normal 
geschlechtlich zu verkehren, sondern wurzelte in der mächtig erwachenden 
normalen Triebrichtung. Es gelang mir auf psychoanalytischem Wege 
die Wirksamkeit einer normalen, weiblichen, masochistischen Triebregung 
neben der infantilen sadistischen nachzuweisen. Ich brauche hier nicht 

1 ) Ich sage ausdrücklich: Das Überwiegen der 23er Periode. Denn, da es 
nichts Organisches gibt, das nicht männliche und weibliche Elemente enthielte, muss 
das Vorkommen der 23er und 28 er Perioden bei allen Lebensvorgängen sogar ge¬ 
fordert werden. Zeigen sich nur die 23er oder nur die 28er, so wird man sich das 
nur so erklären können, dass männliche und weibliche Elemente dominierend oder 
rezessiv sind im Sinne von Mendefschen Erbfaktoren. 

2 ) Saal er. Eine Hysterie-Analyse und ihre Lehren. Allg. Zeitschr. f. Psych. 
und psych.-gerichtl. Medizin. Bd. 69. S. 866. 


. I. 13 | 
I. 13 | 
. II. 13 ‘ 
. IV. 13 
. V. 13 
. VII. 13 


23 

23 

2 X 23 
28 

3X28 



340 


Dr. Bruno Sanier. 


näher auf die Einzelheiten einzugehen. Worauf ich hinaus will, ist 
folgendes: Körper und Psyche der Patientin waren der Tummelplatz zweier 
feindlicher, sich diametral gegenüber stehender Sexualitäten. Bald hatte 
die eine die Oberhand, bald die andere, bald war die eine in der Ver¬ 
drängung und bedrohte aus dem Unterbewusstsein die andere wie aus 
einem Hinterhalte heraus mittels hysterischer Symptome, bald ging es 
ihr so durch die andere. Dieser Kampf, der sich, wie gesagt, in der Neurose, 
in den Träumen, in dem Fühlen, Denken und Handeln, sowie in dem 
Gebahren der Patientin wiederspiegelte, dieser Kampf hatte noch eine 
Besonderheit, er wurde gewissermassen auf die Körperoberfläche projiziert. 
Es zeigte sich nämlich mit absoluter Regelmässigkeit, dass jedesmal mit 
der Verdrängung der infantilen Sexualität die Schmerzempfindung zuerst 
auf der linken, mit der Verdrängung der weiblichen Sexualität die Schmerz¬ 
empfindung zuerst auf der rechten Körperhälfte erlosch. Es ist mir sogar 
gelungen, diese Erscheinung mit der Sicherheit des Experiments nach¬ 
zuprüfen. Ich kann hier aber nicht näher darauf eingehen. Diese Tat¬ 
sache im Verein mit dem Umstande, dass die gleichzeitige Verdrängung 
beider Sexualitäten durch eine normal * empfindliche Mittellinie zum Aus¬ 
druck kam, die den Körper sagittal in zwei analgische Hälften zer¬ 
legte, legten mir den Gedanken nahe, dass die weibliche Triebrichtung, 
die ja nicht direkt aus der infantilen hervorgehen kann, da sie sonst nicht 
wie in diesem Falle neben ihr existieren würde, beim Weibe auf der linken 
Seite, die infantile, die die Vorstufe zur männlichen darstellt, auf der 
rechten Seite des Gehirns lokalisiert ist, dass also der Spaltung der Per¬ 
sönlichkeit in psychosexueller Hinsicht eine körperliche Spaltung ent¬ 
spricht. In dieser biologischen Tatsache erblicke ich die Grundlage für 
die sogenannte Verdoppelung der Persönlichkeit, für das Doppel-Ich Des- 
s o i r’s, das ja von der medizinischen Psychologie mit Recht abgelehnt 
wird, weil er es durch eine gleichwertige Gegenüberstellung des Bewusst¬ 
seins und Unterbewusstseins zu erklären sucht. Die Hypothese von der 
Rechts- und Linkslokalisation der Sexualzentren hat Freud in einem 
Schreiben an mich für unvereinbar mit psychologischem Denken erklärt, 
hat dabei aber übersehen, dass ich ausdrücklich gesagt habe: Selbstver¬ 
ständlich nehme ich an, dass das linke Zentrum vorwiegend die dem 
eigenen Geschlecht, das rechte vorwiegend die dem anderen Geschlecht 
angehörigen Triebe enthält, da nichts Organisches denkbar ist, das nicht 
männliche und weibliche Keimelemente zusammen enthielte. 

Als ich zu diesen Anschauungen kam, hatte ich noch nicht gewusst, 
dass F1 i e s s längst auf ganz anderem Wege zu der gleichen Über¬ 
zeugung gelangt war. Es würde mich zu weit führen, auf seine Anschau¬ 
ungen von der Bedeutung der bilateralen Symmetrie und auf die Links¬ 
betonung des Künstlers näher einzugehen. Ich will nur kurz erwähnen, 
dass nach F 1 i e s s die rechte Seite des Körpers vorwiegend dem eigenen, 
die linke vorwiegend dem anderen Geschlecht entspricht. Den Beweis 
für die Richtigkeit dieser Hypothese erhalten wir, wenn wir an den Herm¬ 
aphroditismus lateralis niedrig organisierter Tiere denken, bei denen die 
eine Hälfte nur männliche, die andere nur weibliche Geschlechtsdrüsen 
erzeugt. Man kennt ferner hermaphroditische Schmetterlinge und Bienen, 
deren eine Hälfte die charakteristische Gestalt männlicher Fühler, Augen 
und Flügel trägt und sich dadurch scharf von der anderen weiblichen unter¬ 
scheidet. 


Die Fliess’sche Periodizitätslehre und ihre Bedeutung für die Sexualbiologie. 341 


Das Wesen der Linksbetonung liegt darin, dass die linke, das andere 
Geschlecht repräsentierende Körperhälfte eine stärkere Entwickelung auf¬ 
weist als die rechte. Vielleicht werfen Sie nachher im Vorbeigehen draussen 
einen Blick auf die Büste B e r g m a n n’s. Es wird Ihnen nicht entgehen, 
dass die linke Gesichtshälfte bei weitem mächtiger entwickelt ist als 
die rechte. Wenn Sie sich erinnern, dass nach F1 i e s s, wie ich vor¬ 
hin schon sagte, der Mann der vollkommenere ist, der neben dem Voll- 
mass an männlicher Substanz noch ein über den Durchschnitt hinaus¬ 
gehendes Mass an weiblicher Substanz besitzt, so wird Ihnen die Be¬ 
deutung der Linksbetonung des Künstlers ohne weiteres klar sein. 

Ich kehre nun zu unserem Falle zurück. Die Beobachtung der 
Periodizität hat mir bei ihm eine meines Erachtens eindeutige Bestätigung 
der vorgetragenen Anschauungen geliefert. Die wichtigsten Daten 
der Krankheitsgeschichte ordnen sich in 2 Gruppen. Die 1. Gruppe enthält 
die Daten, an denen die infantile Sexualität aus der Verdrängung befreit 
wurde, was sich stets durch Wiederkehr der Hautempfindung bemerkbar 
machte, also die Daten, an denen die Sensibilitätsstörungen verschwunden 
sind. In der 2. Gruppe sind die Daten zusammengestellt, an denen eine 
sexuelle Erregung im Sinne der normalen weiblichen Triebrichtung, sei 
es im Positiv, sei es im Negativ, erfolgte. 


1. Gruppe. 


10. 12. 11 abends 
2 . 1 . 12 „ 

4. 2. „ „ 


28 


38 


2X28 


13. 3. „ morgens) 37 = 23 + 


28 


4X23 

+ 1 


2. Gruppe. 
20. 11. 11 abends 


13. 12. 11 
18. 12. 11 
15. 1. 12 
12. 2. 12 



| 28 
} 28 


23 

7. 3. 12 morgensJ 


In der 1. Gruppe hätte man anstatt des 13. 3. den 12. 3. erwarten 
sollen. Der Gesamtabstand wäre dann 4 X 23 gewesen. Der eine Tag, der 
hier zu viel zu sein scheint, ist wahrscheinlich durch einen Jahreseinfluss 
zu erklären. Es lässt sich das nicht zeigen, weil der Ausschnitt aus der 
Periodenreihe, den wir hier vor uns haben, ein zu kleiner ist. 

Also an den Daten der 1. Gruppe Erregungen im Sinne der in¬ 
fantilen, an denen der 2. Erregungen im Sinne der weiblichen Sexualität. 
Die beiden Gruppen lassen sich nicht aufeinander beziehen. Es ist daher 
anzunehmen, dass die physiologischen Vorgänge, die den Daten der 
1. Gruppe zugrunde liegen, von denen, die in der 2. Gruppe eine Rolle 
spielen, verschieden sind. In der 1. Gruppe sind die 23er Perioden 
vorherrschend, in der 2. Gruppe die 28er. Das Überwiegen der 23er 
Gruppe habe ich bereits beim vorigen Fall als ein Charakteristikum 
der infantilen Sexualität, weil die Vorstufe zur männlichen bildenden, 
gekennzeichnet. Das Überwiegen der 28er in der 2. Gruppe steht im 
Einklang mit der Annahme, dass hier echt weibliche Vorgänge eine Rolle 
spielen. Den zugrunde liegenden biologischen Vorgang denke ich mir so: 
Das innere Sekret der Ovarien reizt das auf der linken Hirnhälfte gelegene 
weibliche Sexualzentrum, das jetzt erst, mit dem Beginn der inneren 
Sekretion der Ovarien, also mit der Geschlechtsreife, seine Tätigkeit voll 




342 


Dr. Bruno Saaler. 


entfaltet, während ein anderer chemischer Stoff, vielleicht von männlicher 
interstitieller Keimdrüsensubstanz herrührend, auf das rechts gelegene 
männliche oder, besser gesagt, primitive Sexualzentrum einwirkt. Wir 
müssen natürlich annehmen, dass das innere Sekret der männlichen inter¬ 
stitiellen Substanz eine spezifische Affinität zum männlichen Sexualzentrum, 
das der Ovarien zum weiblichen hat. Das ist nichts Besonderes, denn 
eine ähnliche Affinität besitzt beispielsweise das Pankreassekret zu den 
zuckerbildenden Organen. Die Folge des Vorhandenseins beider Sekrete 
ist psychische Plermaphrodisie, eine Anschauung, die auch Herr Prof. 
Boruttau in dieser Gesellschaft vertreten hat, oder, wenn der Ver¬ 
drängungsprozess einsetzt, die Neurose. 

Im Anschluss hieran will ich Ihnen über einen paralytischen Kranken 
berichten, bei dem sich die in Betracht kommenden Daten ebenfalls in 
2 Gruppen absondern, und zwar wie im vorigen Fall nicht allein durch 
die Rechnung, sondern auch mit Hinblick auf die klinische Form der an 
den betreffenden Tagen aufgetretenen Erscheinungen. An den Tagen der 
1. Gruppe sind nämlich schwere epileptiforme Anfälle auf getreten, die 
die gesamte Körpermuskulatur in gleicher Weise betrafen, während die 
Daten der 2. Gruppe gekennzeichnet sind durch ausgesprochen aphasische 
Störungen, die sich zum Teil völlig isoliert eingestellt hatten, zum Teil 
von apraktischen Erscheinungen oder auch einer gewissen Verwirrtheit 
begleitet waren. 

1. Gruppe. 2. Gruppe. 



j 2x23 

18 

23 

135 = 4x28 + 23 
23 


13x23 + 7x28 


Todestag. 






Die Fliess’sche Periodizitätslehre und ihre Bedeutung für die Sexualbiologie. 343 


Die Daten der beiden Gruppen lassen sich nicht ohne weiteres auf¬ 
einander beziehen. Versuchen wir es, so bekommen wir zum Teil Zahlen, 
denen eine Gesetzmässigkeit nicht anzumerken ist. Zu der Aufstellung 
der beiden Gruppen bin ich aber, wie ich schon sagte, durch die Ver¬ 
schiedenheit der klinischen Erscheinungen legitimiert. Selbstverständlich 
ist aber, dass diese beiden Periodenreihen einem gemeinsamen Anfangs¬ 
und einem gemeinsamen Endpunkte zusteuern müssen. Der gemeinsame 
Anfangspunkt ist der Moment der Befruchtung, er ist zeitlich nicht zu 
eruieren, der gemeinsame Endpunkt ist natürlich der Todestag, den ich 
aus diesem Grunde in die Mitte zwischen beide Gruppen geschrieben 
habe. Nun sehen wir aber bei genauerer Betrachtung, dass sich doch ein 
Datum der 2. Gruppe auf zwei bedeutsame Daten der 1. Gruppe beziehen 
lässt. Es ist nämlich der 

iVbstand des 22. 9. 11 

vom 7. 5. 11 = 6 X 23 
und vom 23. 8. 12 — 12 X 28 Tage. 


Ich nenne diese zwei Daten, den 7. 5. 11 und den 23. 8. 12, deshalb 
bedeutsam, weil an ihnen der erste und letzte paralytische Anfall statt¬ 
gefunden hat. Es kann kein Zweifel sein, dass diese Daten in beide Gruppen 
passen. Der Anfall vom 23. 8. 12 war von ganz besonderer Schwere, 
er bildete gewissermassen den Schlussakkord, das Finale im Leben des 
Kranken. Nach diesem Anfall hat er nicht wieder das Bewusstsein er¬ 
langt; im unmittelbaren Anschluss an ihn entwickelte sich eine fieber¬ 
hafte Halsentzündung, es folgten bronchopneumonische Erscheinungen mit 
rapide fortschreitendem Verfall, und am 12. 9. wenige Minuten vor Mitter¬ 
nacht trat der Tod ein. Die Bedeutsamkeit dieses Datums ersehen Sie 
daraus, dass vom 22. 9. 11, einem Tage, der in beide Gruppen passt, bis 
zum 12. 9. 12 genau 357 Tage vergangen waren. 357 Tage sind aber 


q- , • v • , 2 8 2 ,23.28 

Sie werden sich erinnern, dass - ~ und —-— 

£ £ 


/28 2 23.28\ 

\" 2 " + ~~ 2 ~) 

das biologische Äquivalent 


eines Jahres darstellen. 

Eine andere bemerkenswerte Tatsache ist, dass der Abstand vom 
2. 11. 11 bis 8. 4. 12 = 158 Tage genau gleich dem Abstand vom 8. 4. 
bis zum Todestage ist. Die Kampferspritzen, die der Patient bekommen 
hat, haben ihm nicht über die Mitternacht hinübergeholfen, an der sein 
Leben verwirkt war. 

Erwähnen möchte ich noch, dass der Abstand vom 7. 5. 11, dem 
ersten Anfall, bis 23. 8. 12, dem letzten Anfall, = 12 X 28 -J- 6 X 23 
Tage ist. Der Koeffizient der 23 ist gleich der Hälfte des Koeffizienten der 
28. Auch hierin offenbart sich eine Gesetzmässigkeit. Sie sehen, dass 
die Zerlegung der Intervalle in 12 X 28 und 6 X 23 nicht durch unsere 
Rechnung geschieht, sondern hier rechnet die Natur, um mit Fliess 
zu sprechen, indem sie selbst das Spatium am 22. 9. 11 in die beiden 
Bestandteile 6 X 23 und 12 X 28 zerbricht. Die natürliche Zäsur steht 
also genau an derselben Stelle, wo das -f- - Zeichen die Zäsur der bio¬ 
logischen Rechnung macht. 

Zentralblatt für Psychoanalyse. IV 7 / 8 


23 





344 


Dr. Bruno Saaler. 


Aber hiermit noch nicht genug: Dieses Spatium 12 X 28 -[- 6 X 23 
ist genau das Dreifache des Spatiums vom 2. 11. bis 8. 4. und des gleich 
grossen Spatiums vom 8. 4. bis zum Tod. Diese beiden Spatien sind 
nämlich 158 = 4 X 28 -j- 2 X 23. Demnach ist der Abstand vom ersten 
bis zum letzten Krampfanfall dreimal so gross, wie der Abstand des 
letzten Aphasieanfalls vom Tod. Sie sehen, dahinter stecken noch Gesetz¬ 
mässigkeiten, deren Bedeutung erst eine spätere Forschung erkennen wird. 
Die Periodenlehre ist noch in ihren Anfängen, aber die Ausblicke, die 
sie bietet, sind gewaltige. 

Die Daten der zweiten Gruppe waren, wie bereits gesagt, durch 
aphasische Störungen gekennzeichnet, also Störungen im Bereich des auf 
der linken Hirnhälfte gelegenen Sprachzentrums. Diese Tatsache deutet 
darauf hin, dass an diesen Tagen auf der linken Hirnhälfte etwas vor 
sich ging. Wenn es sich dabei um kleinste Blutungen handelt, wie das 
ja für solche Fälle nachgewiesen ist, so bleibt doch immer noch die Tat¬ 
sache bestehen, dass infolge physiologischer periodischer Vorgänge auf 
der linken Hemisphäre eine Disposition für die Blutungen gesetzt worden 
sein muss. Es muss also im Körper periodische Vorgänge geben, die be¬ 
sondere Beziehungen zur linken Hirnhälfte haben. Daraus ergibt sich 
eine Übereinstimmung mit der bei dem vorigen Fall geäusserten Anschau¬ 
ung, dass wahrscheinlich eine besondere Affinität des auf der linken 
Hemisphäre gelegenen Sexualzentrums zum inneren Sekret der Keim¬ 
drüsen besteht. Auch das Überwiegen der 23er Perioden in der zweiten 
Gruppe ist im gleichen Sinne verwertbar. 

Ich erwähne jetzt einen Fall von manisch-depressivem Irresein (Frl. 
M.), aus dem Sie ersehen können, dass die Annahme der 357 — 7 
(28 -j- 23) Tage als Äquivalent eines Jahres nicht willkürlich ist, sondern 
aus der Naturbeobachtung resultiert. 

Die Dame erkrankte an einem manischen Anfalle am 12. 11. 09, 
dann wieder am 7. 9. 10. Am 22. 6. 11 hatte sie einen tobsüchtigen Er¬ 
regungszustand, der nach einer Periode vorwiegender Depression eine 
neue manische Phase einleitete. Im Frühjahr 1912 ging es ihr recht gut, 
im Juni stellte sich ein hypomanischer Zustand ein, der sich am 22. 6. 12 
derart steigerte, dass wir an diesem Tage mit dem Wiederausbruch der 
Psychose rechneten. Die Besonderheit des Tages kennzeichnet sich auch 
dadurch, dass die Menstruation einsetzte. Die Erregung ging aber wieder 
zurück, kam um Weihnachten allmählich wieder, um am 7. 2. 13 mit 
einem Schlage in eine schwere, noch jetzt bestehende Manie überzugehen. 

12. XI. 09) 

J x = 299 = 13 X 23 

7. IX. 10 

J 2 = 288 = 4 X 23 + 7 X 28 

22. VI. 11 

l J 3 = 1 Jahr 

22. VI. 12 J 

) J 4 = 230 = 10 X 23. 

7. II. 13. ) 


Der erste Bestandteil von J 2 , 4 X 23, ergänzt J 4 = 10 X 23 zu 

28 X 23 - g8 2 

-— — - dem Jahresäquivalent; der zweite Bestandteil 7 X 28 =-— 

-J T 



Die Flie3s’scbe Periodizitätslehre und ihre Bedeutung für die Sexualbiologie. 345 

ist das Äquivalent eines halben Jahres. Die Bedeutung von J 2 wird aber 
erst voll verständlich, wenn wir J L und J 2 zusammenzählen; wir erhalten 
dann 299 -f- 288 = 587. Das ist aber, wie wir beim ersten Blick er¬ 
kennen, 357 230 oder 7 (23 -j- 28) -j- 10 X 23. Es ist also: 

J t -4— J 2 = 7 (23 —[— 28) -f 10 X 23 
J 3 4 - J4 = 1 Jahr + 10 x 23 
oder, da 7 (23 -j- 28) einem Jahre äquivalent ist, 

^1 Hh J 2 IH h “f" J4 1 )- 

Dass die Trennung 1 Jahr -f- 10X23 nicht willkürlich ist, ersehen Sie 
auch hier wiederum daraus, dass die Natur selbst diese Trennung gemacht 
hat, indem sie den 22. 6. 12 als bedeutungsvollen Tag hervorgehoben hat. 

Der letzte Fall betrifft eine leicht imbezille Dame mit zirkulären 
Verstimmungen, bei der sich von ihrem 42. Lebensjahre an selten auf¬ 
tretende epileptische Anfälle bemerkbar machten. Bei den Anfällen, auf 
die ich im einzelnen nicht näher eingehen will, haben sich wiederholt 
Abstände von 276 = 12 X 23 Tage gezeigt. Nun ergibt die Berechnung 
des Alters der Dame zur Zeit des ersten Anfalls eine interessante Tatsache: 

Die Patientin ist geboren am 8. 5. 1860. 

Der erste Anfall war am 2. 9. 1902. 

Sie war damals 42 = 6 X 7 Jahre alt. Auf die Bedeutung der 
7 Jahre und ihres Vielfachen hat vor kurzem Swojboda aufmerksam 
gemacht. Aber was will das viel besagen? Die Patientin war ja nicht 
auf den Tag 42 Jahre alt. Vielmehr betrug ihr Alter am 2. September 
1902 genau 

15 456 Tage. 

Das sind aber 2 X 28 X 276 = 24 X 28 X 23 Tage. 28 X 23 ist, wie 
Sie jetzt wissen, das biologische Äquivalent zweier Jahre. Die Kranke war 
somit am Tage des ersten Anfalls auf den Tag 48 biologische Jahre alt. 

Damit sind die Fälle, mit denen ich Sie bekannt machen wollte, 
erschöpft. Ich hoffe, meine Damen und Herren, sie haben Ihnen die 
Überzeugung gebracht, dass die Periodenlehre keine Zahlenspielerei und 
Kabbalistik ist, wie früher behauptet wurde, sondern dass sie sich auf 
dem sicheren Fundament exakter Naturbeobachtung aufbaut. Sie werden 
ja nun, wenn Sie an Ihrem eigeinen Material Berechnungen anstellen!, 
mitunter Verhältnisse vorfinden, die minder einfach liegen, als es in den 
von mir berichteten Krankheitsfällen zutrifft. Dieser sich Ihnen bei der 
Analyse entgegenstellenden Schwierigkeiten werden Sie nur Herr werden 
können, wenn Sie an der Hand der Flies s’schen Werke die Rechen¬ 
technik erlernen, auf die ich naturgemäss nicht des näheren habe ein¬ 
gehen können. Sollten Sie trotzdem einigen Ihrer Resultate die Gesetz¬ 
mässigkeit nicht ansehen, so seien Sie versichert, die Lehre trägt daran 
keine Schuld. Die Gesetze der Periodizität gelten für die gesamte lebendige 
Substanz; die Analyse gelingt stets, und gerade die Fälle, die nicht zu 
stimmen scheinen, liefern die schönsten Bestätigungen. Das hat auch 
Schneider 2 ) betont, der in F1 i e s s den Entdecker künftiger echter 
biologischer Forschung feiert. „Sollen die Fliess’schen Lehren“ (wie die 

!) Das Zeichen |=J hat Fliess für den Begriff der biologischen Gleichheit 
eingeführt. 

2 ) Schneider 1. c. 


23* 



346 Dr. Bruno Saaler, Die Fliess’sche Periodizitätslehre und ihre Bedeutung etc. 

M e n d e Eschen, zu denen er sie in Parallele bringt) „auch Jahrzehnte¬ 
lang ungenützt liegen bleiben, weil die Forscher noch nicht reif für sie 
sind?“ ruft er aus. Über ihr endgültiges Schicksal ist er sich ebenso klar 
wie Wilhelm Ostwald, der schon vor Jahren von ihnen gesagt hat: 
„Mir sagt mein wissenschaftlicher Instinkt, dass der Strom der Zeit 
vielleicht einiges davon fortführen wird, dass aber das meiste als wert¬ 
volles Erz Zurückbleiben und in mannigfacher neuer Gestalt verwertet 
werden wird.“ Wir, meine Damen und Herren, als Vertreter einer neuen 
Wissenschaft, wie die Sexualwissenschaft hier mit Recht genannt wurde, 
tun gut daran, in der Verwertung dieser Ideen voranzugehen und ihnen 
auf unsere Forschungen den weitestgehenden Einfluss einzuräumen. Ihre 
Fruchtbarkeit für die uns beschäftigenden Fragen ist in der Tat eine grosse. 
So kann auch das Rätsel vom Wesen der sexuellen Anziehung nur auf 
Grund von Überlegungen gelöst werden, die auf F1 i e s s zurückgreifen. 
Wenn Sie sich fragen, woher es kommt, dass begabte und schöne Frauen 
mitunter ganz minderwertige Männer mit ihrer Liebe beglücken, so werden 
Sie zur Erklärung dieser merkwürdigen Tatsache nichts mit dem Darwin¬ 
schen Gedanken vom Sieg des Stärkeren anfangen können. In der Liebe 
siegt tatsächlich oft genug der Schwächere, nicht nur bei den Menschen, 
sondern nachgewiesenermassen auch bei Tieren. Die Findung eines all¬ 
gemeinen und speziellen Sexualobjekts ist keineswegs ausschliesslich Sache 
der höheren geistigen Faktoren, wie von vielen angenommen wird, son¬ 
dern hängt letzten Endes vom Mischungsverhältnis männlicher und weib¬ 
licher Elemente in dem Individuum ab. In diesem Sinne ist die Geschlechts¬ 
liebe nichts anderes als komplementäre Anziehung, das Streben der 
Substanz nach der für sie passenden Ergänzung. Diese Erklärung passt 
nicht allein für die sogenannte normale heterosexuelle Liebe, sondern 
auch für alle ihre Spielarten und für die Inversion. Auch die Liebe auf 
den ersten Blick erscheint uns von diesem Gesichtspunkte aus als etwas 
durchaus Natürliches, und wir brauchen zur Erklärung dieses Phänomens 
nicht notwendig die Annahme eines im Unbewussten wirkenden Komplexes, 
dem die medizinische Psychologie in solchen Fällen determinierenden 
Einfluss beimisst. Von der Bedeutung der Flies s’schen Lehren für ein 
vertieftes Verständnis der menschlichen Persönlichkeit muss vor allem 
die psycho-analytische Forschung durchdrungen sein. Es wird dadurch 
nicht allein eine befruchtende Wirkung auf ihre Ergebnisse erzielt, sondern 
auch der Anschluss an die Biologie vermittelt werden, auf den mir 
sowohl die Freud’schen wie die Adler’schen Arbeiten bereits hinzu¬ 
lenken scheinen. 



n. 

Dementia praecox oder reaktive Depression? 

Psychoanalytische Studie 

von Dr. Egon von Koehler, 

Privatdozent an der Genfer Universität, 
mit gefälliger Mitarbeit des Herrn Professor Asnaourow. 

Im Juli 1909 wurde in unsere Anstalt ein ungefähr 20 jähriger junger 
Mann aufgenommen, der bei seinem Eintritt für den oberflächlichen Be¬ 
obachter Symptome zeigte, die an eine Psychose organischen Ursprungs 
hätten denken lassen können. 

Für den ersten Augenblick machte es den Eindruck, als handelte 
es sich um ein Anfangsstadium einer Schizophrenie. 

Der Kranke, ein junger Mensch von schmächtigem Äusseren, sah 
bei seinem Eintritt sehr angegriffen und abgemagert aus. Sein Gang war 
hinkend infolge einer spastischen Kontraktur des linken Beines. Nur mit 
Mühe gelang es ihm, sein Zimmer zu erreichen. Dort angelangt, warf er 
sich angekleidet auf den Divan und blieb eine Zeitlang regungslos liegen. 
Seine Augen waren weit aufgerissen, der Unterkiefer hing herab, der Puls 
war langsam, und die an ihn gerichteten Fragen schien er nicht zu ver¬ 
stehen. Er befand sich sichtlich in einem Dämmerzustand, der 6 Minuten 
dauerte. Nach einem heftigen Zittern schien er wie aus einem Traume 
zu erwachen und fragte ganz eintönig, wo er sich befinde, und auf welche 
Art und Weise er hierher gekommen sei. Ich benützte diesen Augenblick, 
um an ihn die für eine Diagnose wichtigsten Fragen zu stellen. Er beant¬ 
wortete sie sämtlich dem Sinne nach richtig, brauchte aber sichtliche Mühe, 
um sich auf ein bestimmtes Objekt zu fixieren. Ausserdem fiel mir sofort 
auf, dass zwischen meiner Frage und seiner Antwort eine anormal 
lange Reaktionszeit lag. 

Bei einigen Fragen, wie z. B. nach seinem Geburtstag oder nach 
dem Namen seines Vaters, versagte er mir gänzlich. Er konnte sich nicht 
mehr daran erinnern, wo er geboren war und wie der Vorname seines un¬ 
längst verstorbenen Vaters war. Sagte ich ihm den Namen seines Vaters, 
oder sprach ich von seiner Mutter, vom Tode oder von irgend einer Frau, 
so lösten sich bei ihm Absenzen oder Sperrungen von variabler Dauer aus. 

Im Handeln war er ebenso gehemmt wie im Denken. Die Gesten, 
die seine Gespräche begleiteten, wurden energielos ausgeführt; — man 
hatte den Eindruck, dass er diese begleitenden Bewegungen nur mit sicht¬ 
licher Mühe in Übereinklang mit seinem Gedankengang bringen konnte. 
Oft verlor er den Faden eines begonnenen Satzes. Antwortete er in längeren 


848 


Dr. Egon v. Koehler, 


Phrasen, so konstatierte man einen monotonen Tonfall, der nach und 
nach in ein fast unverständliches Geflüster überging. Zuweilen gab er 
auch als Antwort Zeichen, welche hauptsächlich mit der rechten Hand aus¬ 
geführt wurden und welche, je länger er sprach, immer energieloser wurden, 
bis schliesslich die Hand schlaff herabsank. Man musste ihm heim Aus¬ 
kleiden behilflich sein. Bei der weiteren Untersuchung flüsterte er unver¬ 
ständliche Worte. Nach einiger Zeit verstand ich, dass er fortwährend 
den Satz „C’est inutile tout ga“ stammelte. 

Das weitere Examen ging ohne Schwierigkeit vor sich. Der Patient 
war, wie gesagt, stark abgemagert, die rechte Körperhälfte war kraftloser 
als die linke. Der linke Arm wie auch das linke Bein tvaren in einer 
Kontraktur von ungefähr 15—20° und widersetzten sich einem Ausgleiche 
mit ziemlicher Resistenz. Der Fuss war nach auswärts gerollt; seine 
Haltung war gebückt; der Kopf hing nach links infolge einer Kontraktur 
der Halsmuskulatur. An den Organen konnte nichts Pathologisches nach¬ 
gewiesen werden. 

Der Patient weiss wohl, dass er krank ist und scheint sehr schwer 
suggestibel zu sein. Die Sensibilität ist links stark vermindert. Der Aus¬ 
druck des Kranken ist ganz interesselos; nur während der Absenzen waren 
seine Augen weit aufgerissen, und es spiegelte sich in seinem Gesichte 
der Ausdruck einer grossen Angst. In dieser Angst war jede andere Motilität 
völlig erloschen. Die Sensibilität war völlig verschwunden, und zwar 
tiefe Nadelstiche wie auch heftiges Anschreien konnten keine Reaktion 
auslösen. In der Zwischenzeit verhielt sich der Patient teilnahmslos für 
die meisten Vorgänge der Aussenwelt. Er war seinen Angehörigen 
gegenüber völlig affektblind. Nur beim Aussprechen des Namens 
seines Vaters löste sich ein Weinkrampf aus. Von seiner Mutter er¬ 
fuhr ich, dass unser Kranker vor dem Tode seines Vaters von be¬ 
deutender Intelligenz und erstaunlich scharfsinniger Kombination ge¬ 
wesen sei. Er fasste leicht auf, war memorial gut veranlagt, strebte nach 
solider geistiger Nahrung und hätte eine solche ohne Schwierigkeit ver¬ 
daut, wenn sie ihm geboten worden wäre. Sein sehr optimistisch ver¬ 
anlagter Vater legte keinen grossen Wert auf diese Bestrebungen seines 
Sohnes. Er stellte ihm das Leben als leicht vor und versicherte ihm nur 
zu oft, dass er auch ohne sehr gewissenhaftes Studium, wenn er fest 
auf sein Glück vertraue, eine gute Karriere machen werde. Seit dem 
15. Jahre zeigte er eine überschwängliche Verehrung und Anbetung für 
seinen Vater. Fast konnte man es Schwärmerei nennen. Auch trachtete 
er, ihm in jeder Hinsicht nachzustreben. Er dichtete viel, weil es sein 
Vater tat, sah das reelle Leben mit fast leichtsinnigem Auge an, vertraute 
ziellos auf sein Glück. Man konnte schon damals bemerken, dass der 
junge Mann zeitweilig augenscheinlich unbegründeten Stimmungsschwan¬ 
kungen unterworfen war. Er zeigte auch eine Tendenz zum Übermasse in 
jeglicher Richtung: — ein kleines trauriges Ereignis konnte bei ihm eine 
grosse Depression hervorrufen, wie ein kleiner Witz ihn in einen Zustand 
euphorischer Exaltation versetzen konnte. In der Schule war er bis 
zu dem Augenblick, wo die fast unnatürliche Übertragung auf seinen 
Vater an den Tag trat, immer einer der besten Schüler. Gleichzeitig 
mit dem Auftreten der Stimmungsschwankungen nahm seine Ausdauer, 
einen gewissen Studienplan zu verfolgen, ab, und er wollte sich nicht die 
Mühe geben, mutig die sich einem ernsten Studium entgegenstellenden 


Dementia praecox oder reaktive Depression? 


349 


Schwierigkeiten zu bekämpfen, um zu einem endgültigen Resultat zu 
kommen. So kam es, dass er bis jetzt zu keinem definitiven Ziel gelangt 
war. Mit seinem 17. Lebensjahr fing er an, andauernd zu dichten. Seine 
Dichtungen waren schwärmerischer und traumhafter Natur. Er stellte 
in ihnen seinen Vater als sein Ideal und seinen Gott hin, von dem sein 
ganzes Glück abhinge, und ohne den alles in die Brüche gehen müsse. 

Das moralische Moment war von seiner Mutter von frühester Jugend 
an mit aller Sorgfalt gehegt worden. Bis zu seinem 14. Lebensjahr blieb 
der Patient in der Sexualfrage so gut wie unaufgeklärt. Er verdammte 
schon damals alles, was in der Gesellschaft als skandalös galt und hing 
an seinem Vater mit all seiner kindlichen Zärtlichkeit. Dieser war ein 
Mann von sehr anziehendem Äusseren und ausgezeichnet geistiger wie 
auch artistischer Vivacität, der sein Leben hauptsächlich in Gesellschaften 
und mit Einladungen verbrachte. 

In geschäftlicher Hinsicht war er wenig umsichtig. Die Folge davon 
waren schlechte Spekulationen und der Verlust notabler Summen. Als 
sein Sohn das 16. Jahr überschritten hatte, wurde er in Gesellschaften 
eingeführt, wo er bald begann, sich wohler zu fühlen als in der Schule 
oder mit seinen Altersgenossen. Er w T ar der Liebling seines Vaters, der 
ihn mit grosser Zärtlichkeit überhäufte und ihm frühzeitig die Rechte eines 
Erwachsenen zuteil werden liess. Seiner Mutter, die strenger mit ihm war 
als der Vater, schenkte er weniger Vertrauen als jenem. — Mit seinem 
17. Jahre machte sich unser Kranker mit den Geschäften seines Vaters 
vertraut, welche durch dessen Mangel an ökonomischer Einsicht negative 
Erfolge aufwiesen. Das kontinuierliche Scheitern der Pläne seines Vaters 
deprimierte unseren Kranken, und er begriff schon damals, dass, wenn 
es so weiterginge, der Ruin seiner ganzen Familie bevorstand. Jedoch ver¬ 
heimlichte er seinem Vater diesen Kummer. Während dieser Zeit traten 
die Stimmungsschwankungen mehr denn je zum Vorschein, ohne dass 
seine Umgebung einen plausiblen Grund dafür hätte finden können. 

Ein Jahr später schien sich das Glück seinem Vater zuzuwenden. 
Der Sohn reagierte darauf mit grosser Freude und glaubte sich dem Glücke 
nahe. Zu dieser Zeit schrieb sein Vater ein Operettenlibretto, das schon 
bei der Stichprobe viel versprach. Sein Sohn wollte sich nach der Aus¬ 
arbeitung des Libretto mit Edition und Aufführung befassen. Er trat zu 
diesem Zweck in Verbindung mit einem jungen Komponisten und setzte 
in das noch nicht beendete Werk seines Vaters viel Hoffnung. Er glaubte 
es schon mit Sicherheit an eine Bühne angenommen und bald aufgeführt. 

Nachdem die stilistische Arbeit vom Vater unseres Kranken be¬ 
endigt war, übergab er es jenem erwähnten Künstler zur Vertonung. 
Es entwickelte sich zwischen dem Komponisten, unserem Kranken und 
seinem Vater ein reger Verkehr, in welchem jeder des Anderen Lob und 
seine eigene Genugtuung zu erringen strebte. Drei Monate später erkrankte 
unser Patient an einer Lungenentzündung. Er erwähnte dabei oft, dass 
er unglücklich sei, die Komposition nicht weiter verfolgen zu können. — 
Nach drei Tagen erkrankte auch sein Vater an demselben Leiden, und 
zur gleichen Zeit wurde sein Bruder ins Militärspital gebracht. Bei unserem 
Kranken und seinem Bruder war der Krankheitsverlauf ein normaler, 
während sich bei seinem Vater ein Lungenabszess bildete, so dass man 
das Schlimmste befürchten musste. Noch als Rekonvaleszent verweilte 
unser Patient damals den grössten Teil seiner Nächte am Krankenbette 


350 


Dr. Egon v. Koehler, 


seines Vaters und suchte, ihn mit dem Aufgebot aller seiner Zärtlichkeit 
zu pflegen. Seine Mutter bemerkte schon damals eine Veränderung in 
seinem Wesen. Er war trauriger und schweigsamer als gewöhnlich, doch 
konnte man das damals für eine normale Reaktion, welche die ernsthafte 
Situation bedingte, halten. — Der Zustand seines Vaters verschlimmerte 
sich von Tag zu Tag, und die Situation wurde gefährlich. Eines Vor¬ 
mittags gegen 10 Uhr trat eine starke Atemnot ein. Der Kranke verlangte 
aufzustehen, fing heftig an zu husten und Blut zu brechen. Seine Frau 
liess ihren. Sohn sofort einen Arzt holen. Als er mit diesem zurückkam, 
lag sein Vater in den letzten Zügen. Dieser Anblick versetzte den Sohn 
in eine unsagbare Erregung. Bei jedem Seufzer seines Vaters wurde er 
starr und blickte wie ein Wahnsinniger auf ihn. Als der Arzt den ein¬ 
getretenen Tod konstatierte, schrie unser Patient laut auf: „Es ist 
meine Schuld!“ und stürzte zu Boden. Er blieb ungefähr eine Stunde 
lang in besinnungslosem Zustand. Als er erwachte, erinnerte er 
sich nur, dass sein Vater gestorben war, aber nicht an das, was 
vorhergegangen war, zum Beispiel dass er den Arzt geholt hatte. 
Er wiederholte in fast stereotyper Art die oben genannte Phrase, ohne 
irgendwie auf andere Fragen zu reagieren. Nachher sagte er ebenso: 
„Ich hätte meinen Vater retten können, wenn ich früher zum Arzt ge¬ 
gangen wäre.“ — Nachdem sich seine Erregung gelegt hatte, verfiel er 
in einen stuporähnlichen Zustand, verweigerte fast jede Nahrung, wurde 
affektblind und verlor das Interesse für alles, was nicht mit dem Tode 
seines Vaters zusammenhing. Während des Tages hatte er mehrere Wein¬ 
krämpfe, von denen einer regelmässig gegen 10 Uhr auftrat. Er fühlte 
sich so schwach, dass er dem Begräbnis seines Vaters, das nachmittags 
um 3 Uhr stattfand, nicht beiwohnen konnte. Zu verwundern war, dass 
er nicht einmal den Wunsch äusserte, hingehen zu dürfen. Nachdem seine 
Mutter von der Trauerfeier heimgekehrt war, weigerte er sich, sie zu 
umarmen und sagte unter Tränen: „Es ist nun alles verloren, und ich trage 
alle Schuld daran.“ — Er war für alles andere unempfindlich und befand 
sich ungefähr 4 Wochen lang in einem Dämmerzustand, der mit nur 
wenigen Unterbrechungen andauerte. Nach Auflösung dieses Zustandes 
wollte er seiner Mutter beim Ordnen der obligaten Angelegenheiten behilf¬ 
lich sein, wurde etwas gesprächiger und nahm auch etwas Nahrung zu 
sich. Von dieser Zeit an löste alles, was an seinen Vater erinnerte, einen 
Prostrationszustand mit nachfolgendem Stupor bei ihm aus. Auf Anraten 
des Hausarztes wurde er zu seinen Verwandten aufs Land geschickt. Dieser 
Wechsel schien seinem Zustand kaum abzuhelfen. Er wurde dort immer 
trauriger, wortkarger, impressions-, interesse- und affektloser; nicht viel 
später verfiel er in einen Dämmerzustand, der sehr einer Demenz ähnelte. 
Dieser wurde nur selten während des Tages durch grundlose Erregungen 
unterbrochen. Seine Mutter hob besonders hervor, dass der tagsüber fast 
ganz mutistische Kranke im Schlafe schrie und heftig gestikulierte. Da 
sich dieser Zustand während 4 Monaten nicht besserte, wurde er uns zur 
weiteren Beobachtung zugeschickt. In unserer Anstalt besuchte ich ihn 
mehrmals am Tag, und was ich aus ihm herausbringen konnte, notierte 
ich immer genau. Seine Nahrungsaufnahme war minimal, und alles Zu¬ 
reden, mehr zu sich zu nehmen, blieb erfolglos. Er hörte kaum die an ihn 
gerichteten Fragen und stellte sich ganz interesselos allem gegenüber. Er 
hatte zu einer gewissen Zeit Weinkrämpfe, verlangte zu einer gewissen 


Dementia praecox oder reaktive Depression? 


351 


Zeit seine Zeitung und seinen schwarzen Kaffee, — das waren die 
einzigen Wünsche, die er noch hatte. Als ich ihn über das Ge¬ 
lesene befragte, konnte er sich nicht mehr daran erinnern. Auch konnte 
er sich an seine Weinkrämpfe nicht erinnern. Nach einiger Deduktion 
gelang es aber, diese Erinnerungslücken mit den stattgefundenen Ereignissen 
auszufüllen. Obwohl er während der Nacht sprach, schien er sich an seine 
Träume nicht zu erinnern. Seine Mutter sagte mir, dass er jetzt statt des 
Namens seines Vaters einen Frauennamen, „Marie“, rufe. Mir blieb vorder¬ 
hand der assoziative Wert des letzteren unverständlich. Auch von seiner 
Mutter konnte ich diesbezüglich nichts Definitives erfahren. Ich wandte 
mich nun an ihn und fragte, ob er sich erinnere, während des Schlafes 
gesprochen zu haben, — und ob er jemand kenne, der Marie hiesse. 

Diese Frage genügte, um bei ihm einen Stupor auszulösen. Er 
lag völlig reaktionslos in seinem Bett und spürte nicht einmal heftige 
Nadelstiche. In der folgenden Zeit wurde sein Schlaf, der früher gut 
war, unruhiger. Er erwachte oft während der Nacht und zeigte grosse Er¬ 
regung. In der folgenden Woche machte es mir den Anschein, als ob er 
auf mich übertrage und als ob der Dämmerzustand öfters durch Luzid- 
momente unterbrochen würde. In diesen sprach ich vom Tode seines 
Vaters und trachtete, ihm klarzulegen, dass seine sich auf dies Ereignis 
beziehenden Reaktionen als krankhaft angesehen werden müssten, da ja 
viele andere ihren Vater unter peinlicheren Verhältnissen verloren hätten 
und doch nicht in einer derartigen Trauer dahinlebten, wie er es nun seit 
vielen Monaten täte. Ich versuchte auch, ihm auszureden, dass er schuld 
sei am Tode seines Vaters. Mir war es damals schon unverständlich, dass 
der Tod seines Vaters allein eine derartige Depression auszulösen imstande 
gewesen sein sollte. Ich vermutete hinter diesem Erlebnis andere Er¬ 
eignisse, die der Patient während der Rekonvaleszenz nach der Lungen¬ 
entzündung vergessen wollte und infolgedessen aus der Sphäre seines 
Bewusstseins verdrängt hatte. Das weitere Eindringen auf den Grund der 
Sache erschwerte sich sehr, weil es vorderhand der Prostration des Kranken 
wegen unmöglich war, mit ihm irgendeine Analyse vorzunehmen. Mein 
hauptsächliches Trachten ging darauf hin, eine Übertragung des Patienten 
auf mich zu bewerkstelligen, d. h. eine richtige Einstellung des Kranken 
auf den Arzt zu erreichen. Dies gelang mir auch. Durch sorgfältiges 
Beobachten und Interessezeigen brachte ich es so weit, dass mich der mir 
früher fast feindlich gesinnte Kranke während des Tages rufen liess 
und sagte, dass meine Gegenwart ihm gut täte. 

Nach mühseligem Suchen gelang es mir, aus dem Wenigen, was er 
gesprochen, Gedankenreihen zu konstruieren, die eventuell für eine Analyse 
den Ausgang bilden komiten. Er wiederholte mir fast immer, dass er 
schuld sei am Tode seines Vaters, und wenn ich ihn nach dem Grund 
dieser Aussage fragte, reagierte er mir jedesmal mit einer Absenz, hei 
welcher er den Gesichtsausdruck eines Dementen annahm. Ich vermutete 
hinter dieser Aussage einen ihm unbewusst gewordenen Komplex, der ihn 
berechtigte, eine derartige Anschuldigung auszusprechen. Dass dieser Kom¬ 
plex eventuell mit früher Erlebtem im Zusammenhang stehen müsse, schien 
annehmbar. In den Halluzinationen, die er zuweilen hatte, sprach er 
laut mit seinem Vater, hört u. a. Glockengeläute, sieht seinen Vater 
sterben, wiederholt den Namen „Marie“, spricht mit derselben, — auch 
redet er mitunter von einer Operation, wiederholt oft mit Unterbrechungen 


352 


Dr. Egon v. Koehler, 


und deutlicher Resistenz. „Es ist meine Schuld-ich habe dem Arzt 

nicht rechtzeitig gesagt,-dass er-kommen solle —-. 

Es ist meine Schuld-ich kann nicht gesund werden-. Ich 

hatte meinen Vater so lieb-— ich kann ohne ihn nicht leben/ 4 — 

Nachdem er dies 2—3 mal in derselben Reihefolge wiederholt hatte, ver¬ 
fiel er dann in einen Schlaf. 

In den Momenten, wo er luzid war, versuchte ich, ihn auf einige 
Worte frei assoziieren zu lassen. Unter anderem assoziierte er mir auf 

Arzt folgendes: „Krank (4)“-— „schlecht (3)“. „Tot (12)- 

— — Ich(2) — — — schlecht (5) — — — mein Kind (17)- 

Vater (11)-Mörder (26)-zwei Töchter (10)-— 

Ich konnte diese Experimente nicht fortsetzen, weil mir der Patient nach 
der letzten Assoziation jede Antwort versagte. Von seiner Mutter erfuhr 
ich, dass er mir für meine Besuche sehr dankbar sei, — dass ich ihn ver¬ 
stünde und ihm wohltäte. — Ein kleines Ereignis fiel vor, welches ich 
hier erwähnen möchte. Wir hatten eine Wärterin, die sich allgemeiner 
Beliebtheit bei unseren Kranken erfreute. Sie war unserem Kranken nicht 
unsympathisch. Als er aber erfuhr, dass sie Marie heisse, wurde sie für ihn 
ein Gegenstand, der Angst und Schrecken auslöste, so dass wir gezwungen 
waren, ihm eine andere Wärterin mit anderem Namen zu geben. Auch 
bemerkte ich, dass es ihm viel Mühe kostete, Worte, die mit „Ma“ 
begannen, auszusprechen. Es kam mir auch sonderbar vor, dass er, als 
ich ihm einmal eine Zigarette „Maryland 44 anbot, in einen Stupor verfiel. 
Ich suchte für diese so unsinnigen Reaktionen eine konditionierende Ur¬ 
sache und einen determinierenden Grund. 

Im Laufe der folgenden Wochen ereignete sich nichts Auffälliges. 
Der Zustand des Patienten schien sich jedoch zu verschlechtern. Er 
wurde noch interesseloser, verzichtete auf das Lesen der Zeitung, stellte 
sich mir wieder feindlich gegenüber, ass fast gar nichts, nur verlangte 
er täglich um 3 Uhr seinen schwarzen Kaffee, nach welchem er zu 
weinen begann. Sein Schlaf war noch unruhiger als früher, er machte 
während der Nacht ganz unsinnige Handlungen, schrie oft nach seinem 
Vater. Ich sah mich nun gezwungen, da ich auf zu grosse Resistenz für 
eine Behandlung stiess, mir das in der Nacht Gesprochene von der Wärterin 
notieren zu lassen. Diese berichtete mir folgendes: „Ich gehe spazieren, 
— ich habe dich so lieb, Marie, — erinnerst du dich, als wir noch zu¬ 
sammen waren, als Papa lebte? Zu Weihnachten? Ich habe deine Tochter 
unglücklich gemacht und meinen Bruder.“ Dann schrie er: „Ich bin 
der Mörder meines Vaters!“ und erwachte darauf. 

Tags darauf erhielt seine Mutter ein Telegramm, und als ihr Sohn 
sah, wie sie es öffnete, fing er an zu zittern; in seinem Gesicht war der 
Ausdruck grosser Angst. Er wollte die Mutter verhindern, die Depesche 
zu lesen. Ich wurde gerufen, und als er mich sah, fiel er in sein Bett 
zurück und war ganz reaktionslos sowohl auf Anrufen als auch auf 
Nadelstiche. Nachdem er erwacht war, erinnerte er sich nicht mehr 
an das, was vorgefallen war. 

Als ich ihn abends fragte, warum er sich beim Erhalten des Tele¬ 
gramms so aufgeregt hätte, antwortete er mir, dass alle Telegramme bei 
ihm einen Angstzustand verursachten, den er sich nicht erklären könne. 
Er hätte auch im Anschluss an ein Telegramm das Gefühl, als könne 


Dementia praecox oder reaktive Depression? 


353 


etwas Schlimmes geschehen. Jedenfalls war es sonderbar, dass er eine 
derartige Reaktion gegeben hatte, und ich konnte nicht glauben, dass 
ein Telegramm allein, ohne dass assoziativ durch dasselbe ein anderer 
unbewusster Komplex berührt wurde, unseren Kranken derartig erregen 
konnte. — Der Kranke war also schon einen Monat in unserer Behand¬ 
lung; es war aber noch nicht möglich, eine erwähnenswerte Besserung bei 
ihm zu konstatieren, ausser, dass eine leidliche Übertragung auf den Arzt 
sich bewerkstelligt hatte. Wir konnten uns nur sagen — und das mit 
grosser Reserve —, dass es den Anschein hatte, er laboriere an einigen 
schweren Komplexen, mit denen er nicht fertig werden konnte, oder, 
dass eine retrogade Amnesie für alles, was vor dem Tode seines Vaters 
sich ereignet hatte, bestehe. 

Jedenfalls konnte man annehmen, dass die Depression bei ihm 
konditioniert war. Dies konnte man aus den nicht den Reizen pro¬ 
portionierten Affektentladungen ersehen, die der Kranke ganz deutlich 
an den Tag legte. Als Beispiele mögen die Angst und das Unbehagen dienen, 
welches durch den Namen Marie und alles, was diesem ähnelte, ausgelöst 
wurde —, wie auch die abnormale Trauer, die er über den Tod seines 
Vaters zeigte. Die während des Schlafes gehaltenen Gespräche von einem 
tagsüber verschwiegenen, fast ganz verstummten Kranken sind nicht so 
bedeutungslos, wie es hätte auf gefasst werden können. Wir wissen, dass 
während des Schlafes die Resistenz, die das Vordringen verdrängter 
Komplexe ins Bewusste verhindert oder erschwert, gerade bei Nervösen 
erheblich vermindert ist. So gelingt es manchmal, aus dem während des 
Schlafes gehaltenen Gespräch oder auch nur aus einzelnen Worten Anhalts¬ 
punkte zu einer Analyse zu finden. 

Ich lasse nun einige mir teilweise von der Wärterin gelieferten 
Berichte folgen, die mir weitere Anhaltspunkte für das psychologische 
Begründetsein der Depression gaben: Der Tag verlief wie gewöhnlich. Um 
10 Uhr ein Weinkrampf von 35 Minuten Dauer, nach welchem er zu 
trinken verlangte. Dann nahm er sein Bad. Er spricht nicht, ist sehr traurig. 
Fragt, ob der Doktor schon gekommen sei. Nach dem Bade war Patient 
ruhiger und luzider, sprach mit seiner Mutter über das Gefühl, welches 
er bei seinen Weinkrämpfen hatte. Er sagte, er höre immer die Stimme 
seines Vaters, dann Glockengeläute, und dann sehe er einen Leichenzug. 
Bei diesem Bilde angelangt, könne er nicht weiter denken. — Es möge an 
dieser Stelle gleich daran erinnert werden, dass unser Patient dem Be¬ 
gräbnis seines Vaters damals krankheitshalber nicht beiwohnen konnte. — 
Er war in diesem Augenblick gegen seine Mutter sehr zärtlich und wollte 
sie umarmen. Kaum hatte er seine Arme ausgestreckt, als er in einen 
Stupor verfiel und Bewegungen der Abwehr gegen jeden anderen Zärt¬ 
lichkeitsbeweis seiner Mutter machte. Er sagte dabei leise ,,Es ist meine 
Schuld!“ und blieb für jede Zärtlichkeit unempfindlich. — Nach ungefähr 
einei* halben Stunde verflachte der Stupor, er nahm seine gewöhnliche 
Ausdrucks weise an, verweigerte fast jede Nahrung, verlangte seinen Kaffee. 
Um 3 Uhr hatte er einen Weinkrampf, der eine Stunde anhielt. Er schützte 
seinen Vater als Ursache vor. Wie ich auch später erfahren konnte, waren 
alle diese zu einer gewissen Zeit eintretenden Weinkrämpfe durch das 
verdrängte Ereignis, dass er dem Begräbnis nicht beigewohnt hatte, 
bedingt. 


354 


Dr. Egon v. Koehler, 


Bis zum Abend war er stumm, ass kaum etwas und legte sich gegen 
9 Uhr zu Bett. Gegen 12 Uhr begann er folgendes zu sprechen: „Papa, 

Papa, er spielt, er spielt — — wie schön ist doch das Lied-Ich 

soll tanzen mit dir-— niemals mehr-(Weinen). Ma- 

Ma — — — es ist meine Schuld — — — ich hätte es nicht zulassen 

sollen-Papa, komm doch-ich will alles wieder gut machen 

-- ■— Ich habe zwei Töchter unglücklich gemacht — — — mein Bruder 

— — Tod-Musik-Oper-Opera-in Lausanne 

-nicht sterben-Ma-Ma-Ich will keine Mary¬ 
land -Schwester, Mama.“ Er erwachte, sehr erregt, jedoch sprachlos. 

Eine Stunde später schlief er wieder ein. 

Der Rest der Nacht verlief, ohne etwas besonders Auffälliges dar¬ 
zubieten. 

Beim Erwachen klagte er über Schwere im Kopf, — und dass er 
nicht gut geschlafen hätte. 

Nach der Weinkrise, die er immer zu derselben Zeit hatte, machte 
ich ein Assoziationsexperiment. Das Resultat war folgendes : 

Kopf: Schmerz (3) Tod (5) Papa (7) Kind (4) Tochter (7) Zwei 

T- Grün: Baum (2) Schatten (5) Sonne (3) Mond (2) Licht (6) 

Birne (2) Gelb (2) Laub (1).-Wasser, Meer (4) Grün (5) 

Kalt (4) See (3) Lugano (11) Stadt (9) Hotel (23)- Stechen: 

Nadel (6) Zwirn (3) Weiss (5) Kleidung (7) Mädchen (9)-— 

V. Engel: Schwester (3) Engel (2) Engel (5) Gesicht (4)-— 

Lang: Neben (6) Sterben (3) Tod (5) Strasse (6)- 

Schiff: See (12) Fahren (9) Schiff (5) Rudern (6) Schon (3)- 

- Liebe Ma-Ma (10) (Weint)- 

Wolle: Wolle (9)-Weiss (12)-- 

Tisch: Tisch-— (8) Rund (5) —- 

Tragen: Tragen (7). 

Staat: Staat —--- 

Liebenswürdig: Ma-Ma-Ich kann nicht mehr 

— -(22) denken. — 

Er verfällt wieder in einen stuporähnlichen Zustand. Ich benutzte in 
diesem Falle, so weit es mir möglich war, die Kettenassoziation. Dieses 
Verfahren unterscheidet sich von dem Jung’schen dadurch, dass man das 
letzte Reaktionswort als folgendes Reizwort verwendet. 

Aus diesem Stupor erwachte er nach ungefähr 15 Minuten. Der 
Rest des Tages brachte nichts Neues. Immer dasselbe Verhalten, wie zu 
Anfang seiner Krankheit. Nach dem Zeitungslesen hatte er wie immer 
seinen Weinkrampf. 

Um 9,30 ging er zu Bett. Gegen Mitternacht soll er folgendes ge¬ 
sprochen haben: 

„Ich möchte dich nicht haben — — — Warum ist das gerade mir 

passiert? —-Ich habe immer und immer gelitten-Weil ich 

nicht wollte-Brief damit-nichts weiss-zu spät 

-Telegramm-- Angst-letzter Brief-Tod 

— -Opera-Mama — — — ich weiss es — — — er liebt 

-ich nicht-Er schlägt dabei in seinem Bett herum, 

•schreit diese Worte mehr, als dass er sie spricht! Dann schläft er weiter 
bis zum Morgen. — Nach dem Frühstück liess er mich zu sich rufen 


Dementia praecox oder reaktive Depression? 


355 


und sagte mir: „Ich möchte so gern mit Ihnen sprechen, doch jedes¬ 
mal, wenn Sie mich um etwas Wichtiges fragen, kann ich kein Wort 
finden, um meine Gefühle auszudrücken. Heute geht es mir etwas besser 
und ich möchte sprechen, viel sprechen.“ Als ich ihn fragte, was er 
sprechen wollte, gab er mir keine Antwort mehr. Es ist dies bei ihm eine 
Reaktion, die ich schon öfters bemerkt habe. So oft ich tiefer in seine 
Komplexe eindringen wollte, versagte mir der Kranke völlig. 

Ich sagte ihm, wenn dies so weiter ginge, so wolle ich ihn einmal 
hypnotisieren, damit er ohne Anstrengung frei sprechen könne. Ich hatte 
keine so heftige Reaktion bei dem Kranken erwartet. Er fing mit dem 
Aufwand aller seiner Kräfte an zu sprechen und bat mich, das nicht zu 
tun. Ich beruhigte ihn wieder, so gut ich konnte, und sagte, ich würde 
diesen Weg nur dann einschlagen, wenn er trotz allen guten Zuredens 
versagen würde. Bei dieser Gelegenheit stellte ich ihm auch vor, er solle 
doch an seine Mutter denken, die seine Genesung so sehr wünsche. 
Er solle sich zusammennehmen und, so gut er es nur könne, gegen die 
Depressen ankämpfen, ich von meiner Seite wolle ihm, so viel es in 
meinen Kräften stehe, helfen. Er solle nicht den Mut verlieren, es würde 
alles besser werden, nur müsse er bereitwillig den Vorschriften des Arztes 
folgen und nicht glauben, dass alles verloren sei. Ich wolle gegen 11 Uhr 
bei ihm Vorkommen, um das gestern begonnene Experiment fortzusetzen. 
Um 10 Uhr hatte er seinen Weinkrampf eine halbe Stunde lang. Um 11 Uhr 
setzte ich das Assoziationsexamen fort: 

Gut: Doktor (6) — — — Schwester (5) Mutter (7) Sommer (5) 
— — — Heiss (4) — — — 

Trotzig: Kind (4)-Schwester (5) Mutter (7) Unglücks- 

Sonne (4)-Heiss 

Orange: Frucht (3)-Baum-(5) Schatten (4)- 

Kühl (3)- 

Tanzen: (21) Tanzen-Musik (12)-Walzer- 

(15) (weint). 

See: Schiff-(9) Rudern-(7) Schön-(3) Kühl (3) 

Krank: Vater — — (5) — — — (Versagt für 7 Minuten.) 

Hochmut: Hochmut (6) — — — Was haben Sie gesagt? Ich 
kann nicht mehr weiter, ich finde keine Worte mehr. 

Ich versuchte vergebens, ihn auf andere Reizworte reagieren zu 
lassen, — er war nicht mehr imstande, das Reizwort zu behalten. Es 
machte mir den Eindruck, als würde er von einem mir unbekannten 
Komplex völlig beherrscht, der ihm jede weitere Auffassung unmöglich 
machte. Er lag von neuem in einem Zustand von Benommenheit, der ihm 
jedes Aspirieren der Ereignisse der Aussenwelt erschwerte oder, sagen 
wir es offen, einfach unmöglich machte. — 

Am Abend desselben Tages setzte ich die Assoziationen fort nach 
Verabreichung eines Grammes Veronal (in heisser Lösung): 

Kochen: Suppe-See (3)-Kaffee (9)-Kaffee 

( 8 )- 

Tinte: (2) Schreiben-(6) Briefe-(12) Briefe- 

Schlimm: Schlimme Sache-(7) Lage (4)-Ver¬ 
dächtig -(9) Verdacht (4) 


356 


Dr. Egon v. Koehler, 


Nadel: Nähen-Kleider (3)-Schöne (6)- 

Toiletten — — — (9) X.(9) 

Schwimmen: Schwan (4)-Schiff (7)-1-(19) 

Reise: Schweiz — — — (4) •—-Bern-(4) Lugano 

(6) H-(9). 

Blau: Himmel — — (5) Kleid — — Toilette (9). Ich denke an 
einen Ball. (Weint und zittert.) 

Brot: Brot-— (7). 

Drohen: Nicht drohen, Herr Doktor — — Ich kann nicht mehr. 
Ich fühle, dass meine Gedanken nicht mehr beieinander sind! Ich möchte 
schlafen! 

Ich drang nicht weiter in ihn, da ich der Erfahrung nach wusste, 
dass es beiderseits eine vergebene Anstrengung sein würde und das Resultat 
der Mühe nicht entsprechen würde. 

In der Nacht soll er folgendes gesprochen haben: „Dein blaues Kleid 

steht dir aber gut — — Tanze, ja tanze — — ich fein-Marie 

— — Mar- 

Papa, warum habe ich getanzt — — — Es wäre sonst nichts ge¬ 
schehen — — — Mama — — Ma — —!“ (erwacht), ist die ganze! 
Nacht hindurch unruhig, steht auf, legt sich auf den Divan — klagt über 
schweres Kopfweh. Erst am Morgen gegen 5 Uhr legt er sich ins Bett 
und schläft bis 9 Uhr ruhig, ohne zu sprechen. 

Wohl war uns durch die Beobachtung viel Material geboten, doch 
wegen des Zustandes des Kranken war es uns unmöglich, dasselbe psycho¬ 
therapeutisch zu verwerten, da von seiner Seite noch so viel Resistenz 
geboten wurde. Nur konnten wir aus dem Ganzen schliessen, dass in 
unserem Falle die Prognose eine bessere sein durfte, als es im Anfang 
den Anschein gehabt hatte. Wir konnten zwar einen dementieilen Prozess 
noch nicht völlig ausschliessen, aber jedenfalls war dieser, wenn er wirk¬ 
lich vorhanden gewesen, im Abklingen begriffen. Diese Behauptung konnte 
man deswegen begründen, weil wir sahen, dass sowohl bezüglich der 
Affektivität wie seines Willens Fortschritte gemacht worden waren. Es 
war auch nicht nötig, den Patienten noch länger in der Anstalt zu be¬ 
obachten, deshalb schlug ich seiner Mutter vor, es zu Hause mit ihm 
zu versuchen. Die Frau siedelte gegen den Willen des Sohnes in eine 
andere Stadt über und übergab ihn einem dortigen Psychiater zur weiteren 
Behandlung. Da sich der Zustand nach dieser Umsiedlung bedeutend 
verschlechterte, wurde ein Konsilium herbeigezogen, welchem ich assi¬ 
stieren sollte. Als der Patient davon hörte, sagte er spontan: „Wie 
freue ich mich, dass mein Doktor kommt, ich möchte so gern mit ihm 
sprechen!“ Von diesem Augenblicke an stellte sich bei ihm neuerdings 
ein progressiver Erregungszustand ein. Der Schlaf wurde unruhig, er 
zitterte oft, sah fortwährend nach der Tür, war schlaflos, nahm keine 
Nahrung zu sich und sagte öfters während des Tages, er müsse absolut 
mit dem Doktor sprechen. Er bereitete auch für mich eine kleine Über¬ 
raschung in Form eines Geschenkes vor und bat seine Mutter, mir, wenn 
er selbst nicht dazu kommen sollte, dasselbe zu übergeben. 

Während des Konsiliums machte er im allgemeinen einen Eindruck, 
der ein Initialstadium einer Dementia praecox vorschützen konnte. Nach¬ 
her ging ich zu ihm, um ihm den versprochenen Besuch zu machen. 


Dementia praecox oder reaktive Depression? 


357 


Er war sehr erregt und äusserte Selbstmordgedanken mit der Begründung, 
einerseits sich, andererseits seine Mutter aus dieser Lage befreien zu 
müssen, — er leide zu sehr darunter, und er kenne keinen anderen Aus¬ 
weg, da sein Leben ohnedies verpfuscht und zwecklos sei, und weil er sich 
nicht von dem Gedanken befreien könne, den Tod seines Vaters ver¬ 
schuldet zu haben. Auf meine Frage nach dem Grund dieser Behauptung 
sagte er den alten Satz: „Ich bin zu spät gekommen, ich hätte den Tod 
meines Vaters verhindern können, wenn ich rechtzeitig zum Arzt gegangen 
wäre. Es wäre auch das Unglück nicht eingetroffen.“ Dies brachte er 
unter Zittern, Weinen, Seufzen und Stöhnen hervor. Auf meine wieder¬ 
holten Fragen, durch welche ich tiefer auf den Grund der Dinge gehen 
wollte, erhielt ich keine andere Antwort als die: er müsse sich absolut 
das Leben nehmen. — Dann übergab er mir ein kleines Andenken, welches 
ich als Dankesbezeugung für alles Gute, was ich ihm getan hätte, an¬ 
nehmen solle. 

Es gelang mir, ihn zu überreden, mir das Versprechen zu geben, 
dass er auf meinen nächsten Besuch warten werde —, dann wollte ich 
ihm sagen —, versprach ich ihm —, ob tatsächlich nichts anderes zu 
machen sei, als aus dem Leben zu gehen. 

Am nächsten Morgen fand ich ihn in demselben Zustand, und 
seine erste Frage war, ob ich mir die Sache überlegt hätte —, denn er 
wolle so schnell wie möglich sein Vorhaben ausführen, und.wenn er mir 
alles sagen würde, so würde ich ihn begreifen —, nur weigerte er sich, 
in seiner Wohnung darüber zu sprechen aus Angst, belauscht zu werden. 
Ich gab ihm für den nächsten Morgen ein Rendezvous bei mir. Er kam, 
von seiner Mutter begleitet, — heftig erregt warf er sich auf den Divan 
und machte ein Zeichen, die Mutter solle sofort Weggehen. Als er völlig 
sicher war, dass sie sich entfernt hatte, fing er in grosser Erregung folgendes 
zu sprechen an: „Ich muss mich töten, und wenn Sie den Grund wüssten, 
würden Sie mir recht geben.“ Fortwährend schrie und weinte er, und 
immer wiederholte er diesen Satz. Ich versuchte, ihn zu beruhigen, aber 
seine Erregung steigerte sich immer mehr und mehr. Er schrie, er könne 
seine Gedanken nicht mehr konzentrieren, und er sei verrückt. Darauf 
schien er etwas ruhiger zu werden, und ich benutzte die Gelegenheit, 
um einige Passes zu machen. Diese schienen eine beruhigende Wirkung 
auf ihn auszuüben. Nach 10 Minuten ungefähr befand er sich in tiefem 
Schlaf. Ich vermutete, dass er in Hypnose sei und versuchte, ohne ein 
Resultat zu erwarten, einige Fragen an ihn zu richten. 

Warum sind Sie krank? 

Antw.: Ich bin ein Mörder. — Meines Vaters. 

Warum? 

Antw.: Ich bin zu spät gekommen. — Ich hätte es nicht tun 
sollen — Lieben ihn — Sie 

Wer ist das? 

A n t w.: Eine geschiedene Frau (er zittert heftig) — Zwei Töchter 
— Ein Mord (sehr grosse Erregung) — Ich kann nicht mehr lieben — Ich 
bin ein Mörder — Ich habe geliebt — Marie — Eine Freundin meiner 
Mutter. 

Ich forderte ihn auf, mir die Geschichte mit der Marie zu erzählen, 
und der Kranke sagte mir folgendes ganz unzusammenhängend: „Herbst 


358 


Dr. Egon v. Koehler, 


— -Wald-— Spazieren-Mailand — Hotel-Besuch 

im Zimmer allein-Mein Vater wusste —-Ich gab ihm das 

Wort — — Ich verabscheue Sie — — Warum? Ekelhaft — — — i Ich 
bin ein Mörder — — — Ich habe ein Telegramm erhalten und war ein¬ 
verstanden -Wie, das kann gefunden werden?-Ich habe meine 

Zustimmung für diese Tat gegeben — — Ich bin (heftiger Krampfanfall 
mit Zittern und Weinen) -— — Der Mörder meines Kindes — — ich bin 

bestraft worden durch den Tod meines Vaters--Wegen meiner 

telegraphischen Zustimmung — —Während er das sagte, wurde seine 
Erregung so stark, dass es ihm unmöglich war, artikuliert zu sprechen. 
Ich musste infolgedessen wieder einige Passes machen, um ihn etwas 
zu beruhigen. Dann gab ich ihm das Reizwort „Vater“. Antwort: „Vater 

— — — mein Gott-liebte auch —-Ich wusste es, ich wollte 

die Briefe fortnehmen-kam aber zu spät-mein Vater betrog meine 

Mutter, und ich wusste es.“ — — — 

Ich fragte ihn: „Warum können Sie nicht gehen?“ — „Ich will 
nicht darauf antworten, ich will nicht mehr mit Ihnen gehen.“ Während 
er dies sagte, nahm das Bein, das vorher in Kontraktur befangen war, eine 
normale Position ein. Ich suggerierte ihm, dass er von nun an ohne jegliche 
Beschwerden gehen können würde. 

„Warum essen Sie nicht?“ — „Ich will sterben.“ — „Warum 
können Sie Ihre Gedanken nicht konzentrieren?“ ■— „Ich weiss nicht, was 
mich daran hindert.“ 

Ich redete ihm ein, dass seine abreagierten Komplexe ihn daran 
gehindert hätten, und von nun an würde keine Hinderung mehr eintreten. 

„Warum halten Sie den Kopf nicht aufrecht?“ — „Mein Vater ist 
gestorben; er legte seinen Kopf nach links in die Arme meiner Mutter.“ 
Darauf richtete er mit einem tiefen Seufzer den Kopf auf. 

Nun hiess ich ihn, genau das auszuführen, was ich ihm befehlen 
würde. Ich gab ihm meine Uhr in die Hand, und er hielt sie ohne 
Schwierigkeit. „Sie werden in 10 Minuten erwachen und werden folgendes 
fühlen: 

1. Sämtliche Hemmungszustände psychischen Ursprungs sollen bis 
zum Auftauchen eines neuen, Ihnen unbekannten Komplexes ausbleiben. 
Sie werden mit mir über alles in der Hypnose Besprochene reden können, 
ohne durch Stupor unterbrochen zu werden. 

2. Sie haben kein Recht dazu, zu glauben, dass Sie am Tode Ihres 
Vaters schuld seien. 

3. Der Liebesroman, den Sie gehabt haben, ist etwas Natürliches, 
und diesen in Zusammenhang zu bringen mit dem Tode Ihres Vaters, 
ist als unberechtigt anzusehen. Sie werden in Zukunft Ihr Möglichstes 
tun, um Ihrer Gesundheit nicht zu schaden.“ Ich sagte ihm auch, dass er 
bezüglich des Abortes kein Verbrechen begangen hätte, und dass er 
seine Krankheit als Sühne für alles das ansehen solle, dessen er sich 
beschuldige. — Darauf erwachte der Patient, und sämtliche Krankheits¬ 
erscheinungen waren so gut wie verschwunden. Es machte mir den Ein¬ 
druck, als ob er aus einem Demenzzustand, der fast fünf Monate gedauert 
hatte, erwacht sei, und dass er selbst darüber staune, wieder normal zu 
sein. Er wmsste nichts von dem, was vorgefallen war, — jedenfalls war 
es ihm nach dieser aus der Hypnose heraus gegebenen Beichte leichter 
ums Herz als früher. Aus dem, was er abreagiert hatte und was zu- 


Dementia praecox oder reaktive Depression? 


359 


sammenhangslos hervorgestammelt worden war, konnten wir feststellen, 
dass unser Patient tatsächlich an Komplexen laborierte, mit denen er 
selbständig nicht hatte fertig werden können. Diese in das Unbewusste 
verdrängten Ereignisse lebten in ihm als Komplexe weiter, die sich soma¬ 
tisch als Symptom äusserten. Diese für ihn so peinlichen Ereignisse 
konnten sich leider fixieren, da er durch eine Lungenentzündung ge¬ 
schwächt war. 

Wir können in unserem Falle den Vater-Komplex als dominierenden 
Grundkomplex hinstellen, welcher dem jungen Mann noch bewusst zugäng¬ 
lich war. An diesen knüpften sich eine Reihe von Nebenkomplexen, die 
völlig aus der Bewusstseinssphäre verdrängt waren. Der Vaterkomplex 
emanierte vorwiegend durch die Anschuldigung, sein Mörder zu sein. Diese 
x4nschuldigung ist wie jede andere als eine Affektreaktion, die aus dem infan¬ 
tilen Moralmoment stammt, was bei fast allen jugendlichen Kranken kon¬ 
statiert werden kann, zu betrachten, die eine kausale und dementsprechende 
Ursache haben muss. Das Anschuldigungsmoment muss gleich sein der 
Affektreaktion, und erster es muss in normalen Fällen gleich sein der 
konditioneilen Ursache. Diese kann als Aktion für jede Affektreaktion 
betrachtet werden. Es ist wohl damit gesagt, dass die Aktion aus einem 
einzigen Faktor bestehen soll. Es können mehrere verdrängte Ereignisse 
peinlicher Natur zu einer Affektreaktion führen, die uns, wenn wir nicht 
genau analysieren, als anormal scheinen könnte. 

Dies war auch bei unserem Kranken der Fall gewesen, denn obwohl 
das Sterben seines Vaters hatte einen Weinkrampf her vorrufen können, 
so war dennoch dieses Ereignis nicht der einzig aktive Bestandteil seines 
aus dem Unterbewussten emanieren - wollenden Ideenkomplexes. Folg¬ 
lich können wir bei unserem Falle die meisten Reaktionen, die uns, wenn 
wir oberflächlich beobachten, als völlig sinnlos und spontan erscheinen, 
konditionell begründet hinstellen, nur hätte bei einer normalen Psyche 
ein derartiges Ereignis wie der Tod seines Vaters für sich allein niemals 
eine derartig symptomatische Reaktion hervorrufen können. Wir können 
wohl daher den Schluss ziehen, dass bei unserem Patient der Tod des 
Vaters als psychisches Trauma aufgefasst werden kann, das eine schon 
durch frühere Komplexe ermüdete Psychik erschüttert hatte und doppelt 
schwer bei ihm verarbeitet wurde. 

Sein psychischer Normalzustand musste also zu dieser Zeit schon 
durch andere Traumen geschädigt gewesen sein, was sich auch deutlich 
zeigte, denn unser Kranker beschäftigte sich schon vor seiner Krankheit 
und während derselben mit der Verdrängung der Komplexe betreffs seines 
Liebesverhältnisses und dessen eventuellen Folgen. Dass diese so un¬ 
glücklich aus dem Bewusstsein verdrängt worden waren, kann seinen 
Grund in dem durch sein organisches Leiden geschwächten Organismus 
haben. 

Wie bereits erwähnt ist, fühlte sich unser Patient unmittelbar nach 
der Abreaktion völlig genesen. Ich liess ihn in diesem Glauben, obwohl 
ich von Anfang an nicht der Ansicht war, dass sich keine Rezidive mehr 
einstellen würden, denn derartige Psychoneurosen dauern selbst bei 
guter Psychoanalyse 2—3 Jahre. Ich meine, dass die Wiederherstellung des 
normal-psychischen Gleichgewichts und das Wegschaffen eines psycho- 
neurotischen Inferioritätsgefühles mit seinen daraus entspringenden Kon¬ 
flikten nicht eher stattfinden kann. — Also 23 Tage nach seiner relativen 

Zentralblatt för Psychoanalyse. IV V 8 . 24 


360 


Dr. Egon v. Koehler, 


Genesung trat ein Rezidiv ein, welches ihn in seinen früheren Dement¬ 
zustand zurückversetzte. Er selbst bat mich um eine Sitzung, bei welcher 
er wieder einige Komplexe abreagierte, von welchen der Liebeskomplex 
der betonteste war. Nach der Sitzung fühlte er sich wieder wohl. Es 
würde zu weit führen, hier alles wiederzugeben, was er mir erzählte. 
Im Grunde genommen waren es nur sexuelle Schocks, welche er während 
seines Romans erlitten hatte. Ausserdem klagte er sich an, der Sorgfalt und 
die Liebe seiner Mutter nicht würdig zu sein. Er begründete dies durch 
die Handlungsweise, hinter ihrem Rücken mit einer Freundin von ihr ein 
Liebesverhältnis gehabt zu haben. — Er behauptete, dass jede Zärtlich¬ 
keit seiner Mutter das gleiche Empfinden wachrufe wie das, welches er 
bei seinem früheren Liebesobjekt gefühlt hatte. 

Um dies näher verständlich zu machen, erlaube ich mir zu er¬ 
wähnen, dass unser Kranker eine besondere Entwickelung der erogenen 
Mundzone zeigte, und dass fast jede Rerührung mit derselben nach dem 
Ereignis einen sexuellen Reiz auslöste. Dieser sexuelle Reiz löste sich 
während seiner Krankheit beim Kusse der Mutter aus. — Der Vater¬ 
komplex an und für sich schien während dieser Sitzung mehr oder 
weniger assoziiert zu sein. Völliges Wohlbefinden während 21 Tagen* 
dann ein kleiner Rückfall, der durch das spontane Auftreten des Tochter¬ 
komplexes verursacht wurde. (Sein Bruder liebte die Tochter der Dame, 
mit welcher der Patient ein Liebesverhältnis hatte.) Nachdem er am 
Weihnachtsabend sich wie alle Gesunden an der Feier beteiligt hatte, trat 
plötzlich eine kurze Krise ein bei der Melodie des Walzers aus ,,Die ge¬ 
schiedene Frau“. Analyse: Erster Ball, erstes Decollete, erstes Sexual¬ 
empfinden. 

(Wir finden das Unterdrücken-wollen dieses Komplexes schon zu 
Anfang seiner Krankheit bei einem Assoziationsversuch. Ich werde nach¬ 
träglich noch darauf hin weisen.) 

Darauf folgende Assoziation: Weihnachtsabend zu Hause; der Vater 
lebt noch. Patient macht den Vergleich zwischen diesem Weihnachten 
und dem Fest vor einem Jahr. Darauf reagierte er in retrogader Reihen¬ 
folge alle Begebenheiten, die zwischen Beginn des Liebesverhältnisses und 
dem Tode des Vaters lagen, regelrecht ab. 

Dann war er zwei Monate ohne jeglichen Anfall. Nach ungefähr 
zwei Monaten vernahm er durch die Zeitungen, dass der Komponist, der 
das Libretto seines Vaters in Musik gesetzt hatte, gestorben sei. Dies löste 
eine Krise aus, mit welcher er selbständig im Laufe von drei Tagen fertig 
wurde. Es ist wohl zu erwähnen, dass bei den täglichen Visiten dem 
Kranken neue Prinzipien für Selbstanalyse eingeschärft wurden. Im 
späteren Verlauf seiner Rekonvaleszenz zeigten sich bei verschiedenen 
Anlässen assoziativen Wertes kleine Rückfälle, die mit den ersten nicht zu 
vergleichen waren und von selbst vergingen. Diese Rückfälle traten in 
Intervallen von 11—12 Tagen auf. 

Während der Krisen zeigte er affektives Interesse sowohl seiner 
Mutter gegenüber als auch für Neuigkeiten, die ihn früher nicht berührt 
hatten. Er war tätig, gesellig und arbeitsfreudig, beim Schreiben nicht 
gehemmt. Auch schien sich sein psychisches Leben auf normale Art 
und Weise abzuspielen. Ein Punkt, der mir derzeit für jede auftretende 
Depression massgebend schien, war, dass beim Fehlgehen eines auch noch 


Dementia praecox oder reaktive Depression? 


361 


so kleinen Unternehmens sich bei ihm ein derartiges Inferioritätsgefühl 
entwickelte, dass es ihm unmöglich war, den peinlichen Eindruck, welcher 
dadurch entstand, zu sublimieren. Ich konnte in fast allen Neurosen eine 
derartige Basis nachweisen. Dieses Inferioritätsgefühl war bei ihm das 
jetzige Leitthema seines Lebens, und in allen peinlichen Situationen kam 
dasselbe früher oder später an die Oberfläche, und dies war, wie er selbst 
sagte, der Grund zu seiner Depression. Die Depressionen waren von 
vorübergehendem Charakter, und er brauchte keine ärztliche Hilfe mehr, 
um sich von ihnen zu befreien. 

Auf mein Anraten hin besuchte er später eine Handelsschule mit 
relativem Erfolg. 

Anschliessend an das Inferioritätsgefühl war der Vaterkomplex noch 
nicht völlig kompensiert. Massenhafte Fehlreaktionen, die bei der Be¬ 
rührung dieses Themas zutage traten, zeugten von seiner noch nicht völlig 
bewussten Existenz. Von dieser her stammte das bei dem Kranken sich 
stets zeigende Inferioritätsgefühl. Später konnte ich ersehen, in welchem 
Zusammenhang diese beiden standen. 

Wie wir wissen, war sein Vater, den er für ein Ideal in geschäft¬ 
licher Hinsicht gehalten hatte, durch unglückliche Spekulationen, bei 
welchen er offenbar nicht genug Vorsicht bewiesen hatte, finanziell stark 
heruntergekommen. Unser Kranker schloss daraus, sein Vater sei in 
sozialer wie in finanzieller Hinsicht minderwertig (ein soziales Moment!). 
Ausserdem wurde sein Idealismus dem Vater als Gatten gegenüber zer¬ 
stört durch das Aufdecken eines Liebesverhältnisses mit einer jungen Dame, 
jedenfalls einer Freundin seiner Mutter. (Sein Vater war also für ihn 
moralisch minderwertiger als die anderen geworden). Die übergrosse 
affektive Verankerung an seinen Vater mochte also bei unserem Kranken 
wohl darauf beruht haben, dass er, weil er seinem Vater ähnelte, dessen 
(Minderwertigkeit) Inferiorität auf sich projizierte und sich sagte: „Was 
soll ich arbeiten, wenn ich so bin wie mein Vater? Ich werde doch immer 
den anderen in sozialer wie in moralischer Hinsicht nachstehen!“ — 

Ich glaube kaum, dass wir recht hätten, wenn wir die Wurzel des 
Inferioritätsgefühls in einer psychisch-sexuellen Impotenz suchten. Auch 
fehlen uns viele andere Stigmata, die uns zu einer derartigen Annahme 
berechtigen könnten. Ausserdem fühlt er sich heute noch den anderen 
gegenüber minderwertig, weil ihm alle Komplexe zum Bewusstsein zugäng¬ 
lich sind! (Fortsetzung folgt.) 


Resümee. 

Ein junger Mann von ungefähr 20 Jahren verfiel nach dem Tode 
seines Vaters — also nach einem psychischen Trauma — in einen Zustand 
von progressiver Prostration und Gedächtnisschwäche, zu welchem sich 
später eine Verkümmerung der Willens- und Affektsphäre gesellte. Er 
legte massenhaft anscheinend ganz unbegründete Selbstbeschuldigungen 
an den Tag, wurde suizidgefährlich, wurde unfähig, sich an die Bedürf¬ 
nisse eines selbständigen Lebens anzupassen. Als andere für einen demen- 
tiellen Prozess sprechende Symptome konnten wir leichten Negativismus, 
Muskelspannung, Perseveranz, Hemmungen, Sperrungen und grundlose 
Affektentladungen konstatieren. 


24* 


362 


Dr. Egon v. Koehler, 


Erst als durch kontinuierliches Interesse und Beweise des Wohl¬ 
wollens dem Kranken gegenüber seinerseits eine Einstellung auf den Arzt 
erreicht war — im Freu d’schen Sinn: als der Kranke auf den Arzt über¬ 
trug —, gelang es, durch assoziatives und psychoanalytisches Verfahren 
zu einem definitiven Schluss zu gelangen. 

Wir brachten dann in Erfahrung, dass die oben erwähnten Sym¬ 
ptome, was sonst bei Schizophrenia fast nie vorkommt, kausal und psycho¬ 
logisch bedingt waren. Diese stellten sich als Resultat einer Verdrängungs¬ 
arbeit von reellen, aus dem Leben entnommenen Ereignissen traumatischer 
Natur heraus, die, dem Bewusstsein entrückt, als unbewusste Komplexe, 
infolgedessen nicht abreagierten, in der Psyche des Kranken weiter 
existierten und sich als Ersatzsymptome äusserten. 

Durch psychoanalytisches Verfahren gelang es also, die Resistenz, 
welche sich dem Vordringen dieser Komplexe ins Bewusstsein entgegen¬ 
stellte. zu überbrücken und eine Abreaktion mit gleichzeitigem Ver¬ 
schwinden der entsprechenden Symptome zu bewerkstelligen. Als erster, 
in das Bewusstsein auftauchender Komplexe war die Anschuldigung, der 
Mörder seines Vater zu sein; aus diesem entsprang der zweite: er müsse 
auch sterben; und der dritte: weil alles verloren sei. — So unsinnig diese 
Anschuldigungen für den ersten Augenblick schienen, so waren sie doch 
der Ausgangspunkt für jede weitere psychische Behandlung. 

Er behauptete nämlich folgendes: „Ich hin der Mörder meines Vaters, 
weil ich einem Abortus zustimmte, welcher das Resultat eines Liebes¬ 
romans mit einer geschiedenen Frau war; ich bin folglich der Mörder 
meines Kindes. — 1. Ich bin ein Mörder, und weil die ewige Gerechtig¬ 
keit (infantiles Moralmoment) Gleiches mit Gleichem vergelten musste, 
so entriss sie mir mein Liebstes. Mein Vater starb also durch meine 
Schuld; ich bin zu spät zum Arzt gekommen. Ich bin ein Mörder, 
der entdeckt werden kann. Es liegt das Telegramm meiner Zustimmung 
vor; um dieser Schande auszuweichen, muss ich sterben, 2. und wenn 
ich es nicht kann, so ist 3. alles verloren — ich bin jetzt unfiähig zu 
allem, es ist dies die Bestrafung für meinen kriminellen Akt —, folg¬ 
lich bin ich der Mörder meines Vaters.“ 

Aus diesem Circulus vitiosus seines Ideenganges konnte er, weil ihm 
eine Abreaktion aus vorher erwähnten Gründen unmöglich war, nicht 
herauskommen. Es herrschte also während seiner Krankheit eine durch 
Verdrängung entstandene retrograde Amnesie für die Ereignisse, welche 
sich vom Beginn seines Liebesromans bis zum Tode seines Vaters er¬ 
streckte. Sie war ersatzsymptomatisch nachweisbar, da sich jedes der 
Ereignisse somatisch exteriorisierte. 

Nachdem der Hauptkomplex, der in diesem Fall meiner Ansicht 
nach der Abortuskomplex war, mit allen seinen Nebenzweigen wieder 
ins Bewusstsein eingeführt und assoziativ richtig verarbeitet worden war, 
wurde unser Patient neuerdings sozial verwertbar. 

Diese Studie ist insofern von Interesse, weil es, allem Anschein 
nach, durch psychoanalytische Behandlung gelang, den Heilprozess zu 
beschleunigen. 

Man kann nicht behaupten, dass bei jenem jungen Mann eine 
absolute psychische Intaktheit vor seiner Krankheit bestand, und wenn 


Dementia praecox oder reaktive Depression? 


363 


wir bei seinen Verwandten Umschau halten, so finden wir einen Grad 
von degenerativer Entartung hysterischer Natur, insbesondere väterlicher¬ 
seits. Dies könnte vielleicht der J a ne t’schen'Theorie, von der viele 
Psychoanalytiker abgekommen sind, recht geben. 

Ich glaube, dass eine mangelhafte Verarbeitung von Assoziationen 
lind Komplexen, die eine Psychoneurose konditionieren, ausschliesslich 
in einem hereditär oder durch Erschöpfung schon geschädigten Gehirne 
Platz greifen und dann in ein Symptom verwandelt werden kann. Diese 
primäre Schädigung zeigt sich in den meisten Fällen als ein Mangel 
der Fähigkeit des psychischen Ausgleiches, d. h. der Unfähigkeit, die Er¬ 
eignisse richtig zu klassieren und ihre Kompensation anzustreben. Auf 
dieser oder ähnlicher Basis konnte sich das von Adler so sehr betonte, 
fast bei allen Psychoneurosen vorkommende Inferioritätsgefühl entwickeln. 
Dieses dürfte seinen Ursprung mehr in den kontinuierlichen psychischen 
Konflikten, denen eine derartige Natur ausgesetzt ist, also in der Unter¬ 
schätzung einer sexuellen Wertigkeit haben. 

Bestände bei den Neurosen keine primäre Schädigung, so bliebe 
es unklar, warum gerade bei diesen, und nicht hei jenem, dieselben 
Ereignisse —• es gibt doch solche, denen ein jeder von uns ausgesetzt ist 
— eine Psychoneurose hervorrufen. 



III. 

Individualpsychologische Darstellung eines nervösen 

Symptoms. 

Von Dr. J. Birstein (Odessa). 

Die aus der Wiener psychoanalytischen Schule A d 1 e r’s hervor¬ 
gegangenen individualpsychologischen Untersuchungen auf dem Gebiete 
der Neurosen, sowie die von derselben in bezug auf die Genesis, das 
Wesen, die Symptome, die Therapie und Prognose der „nervösen Zustände“ 
ausgearbeiteten Grundsätze ermöglichen es mir, ein recht charakteristisches,, 
von mir während einer psychotherapeutischen Arbeit bei einer meiner 
Patientinnen konstatiertes Symptom einer psychologischen Deutung zu 
unterziehen. 

Beim Besprechen dieses Falles werde ich mich vom Wunsche leiten 
lassen, die Richtigkeit der vom betreffenden „Verein für Indivi¬ 
dualpsychologie in Wien“ festgestellten psychischen Gesetze zu 
beweisen. 

Daher beabsichtige ich, ehe ich mich der Besprechung des inneren 
Wesens des von mir konstatierten Symptoms zuwende, meinen Aus¬ 
führungen einige Worte über die allgemeinen Grundsätze, auf denen das 
wohlgeordnete System der Individualpsychologie in ihrer Anwendung in 
der Sphäre der nervösen, funktionellen Erkrankungen beruht, voran¬ 
zuschicken. 

Schematisch lässt sich jede Neurose mit allen ihren mannigfaltigen 
Attributen als ein unbewusstes, auf die Erreichung eines bestimmten 
Ideals des persönlichen „Ich“ zielendes Arrangement des Patienten 
deschiffrieren. 

Die neurotischen Symptome sind somit willkürliche (obgleich un¬ 
bewusste) Kunstgriffe oder, richtiger gesagt, zum Bestände der allgemeinen 
charakterologischen Konstellationen gehörende Inszenierungen. 

Die Disposition zur nervösen Erkrankung wurzelt bereits im frühen 
Kindesalter und entsteht hauptsächlich auf der Grundlage der Organ¬ 
minderwertigkeit. 

Bekanntlich bedingt letztere von seiten aller organischen Energien 
die Kompensationstendenz. Wenn infolge irgendwelcher ungünstiger Um¬ 
stände solch eine Kompensation misslingt, so gibt dieses traurige, im Be- 


Dr. J. Birstein, Individualpschologische Darstellung eines nervösen Symptoms. 365 

wusstseiri des jugendlichen Individuums sich abspiegelnde Resultat den 
Anstoss zu einem gefühlsmässigen Streben in der Richtung der 
Überkompensation. 

Von da ab gestaltet sich der Charakter (Psychik, „Seele“, Natur) 
entsprechend dem Inhalte der Überkompensation und dem von diesem 
festgesetzten Lebensplane. 

Bei näherer Betrachtung eines derartigen Lebensplanes • bemerken 
wir, dass im Mittelpunkte desselben das Streben „nach oben“ steht 
und bereits nicht in bezug auf die vorhandene Organminderwertigkeit, 
sondern in bezug auf den allgemeinen psychischen Inhalt, d. h. auf Ein¬ 
stellung der Persönlichkeit über die Umgebung. 

Ein derartiger Lebensplan, der alle Kennzeichen einer Abweichung 
von der Norm in sich trägt, ist seinem Wesen nach fiktiv, denn 1. er be¬ 
ruht auf dem fiktiven Gefühl der a 11 s e i t i g e n Minderwertigkeit, und 2. er 
führt zu Begehren, die in der realen Welt keine Erfüllung finden können, 
wie: stärker, besser, klüger, edler, schöner, talentvoller, reicher, macht¬ 
voller sein, als alles andere Lebende auf der Welt, mit anderen Worten, 
über allen, „oben“, über dem Realen, über dem Irdischen — Bestehenden 
sein = sich mit der Gottheit identifizieren. 

Es versteht sich, dass solch eine Identifikation irreal, fiktiv ist, 
und doch schrickt das Subjekt um ihres Triumphes willen vor nichts 
zurück und arrangiert auf Umwegen eine Psychose oder, in geringerem 
Grade, eine Psychoneurose. 

In letzterem Falle entsteht eine Als-ob-Spaltung der Persön¬ 
lichkeit oder, richtiger gesagt, eine Unterdrückung logischer Vor¬ 
stellungen mit einem Verdrängen derselben in die unbewusste, g e - 
fühlsmässige Sphäre, und dadurch eine Umformung der Realität 
zum Zwecke der Anpassung solcher an die Leitlinie des Charakters, an 
seine neurotische idee fixe. 

Zu Diensten einer solchen seelischen Manipulation werden Symp¬ 
tome - Konstruktionen geschaffen, die nicht selten ungeheure 
Leiden für den Neurotiker mit sich bringen, die aber trotzdem so unent¬ 
behrlich für das wahre Ziel seiner Persönlichkeit sind, dass er, mitunter 
im Laufe seines ganzen Lebens, sich zähe an sie festklammert. 

Trotzdem er alle Mittel der Therapie zu Hilfe ruft, mit Eifer und 
Pedanterie jede Verordnung von Spezialisten befolgt, sich von einer Seite 
zur anderen wirft, von einer Heilmassregel zur anderen — von wissen¬ 
schaftlich - therapeutischen Ordinationen zu sympathetischen, Quack¬ 
salbereien oder Hausmitteln übergeht, jedermann von den Qualen seiner 
„unheilbaren Krankheit“ vorerzählt und von der Seeligkeit der bevor¬ 
stehenden Genesung schwärmt — bleibt er doch „krank“. 

Warum? Richtiger: wozu? 

Weil nur durch Inszenierung der Krankheitskonstruktionen er in 
den Stand gesetzt wird, auch nicht einen einzigen Millimeter von der 
charakterologischen Linie seines fiktiven, überkompensatorischen Lebens¬ 
planes abzuweichen. Darin liegt die ZweckmässigkeitderNeuröse 
und ihre Gefühlsdynamik. 

In einer seiner letzten iVrbeiten führt Adler 1 ), gelegentlich der 
Besprechung der Frage von der inneren Notwendigkeit der Schaffung 

i) Dr. A. Adler, Individualpsychologische Behandlung der Neurosen. Jahres¬ 
kurse f. ärztliche Fortbildung, Maiheft 1913. 



366 


Dr. J. Birstein, 


von Symptomen oder der Betonung letzterer in Fällen, wo der Persönlichkeit 
eine wirkliche oder vermeintliche Gefahr der Verkürzung droht, das 
Arrangement der Neurose, d. h. die sichtbare Demonstration der Krank¬ 
heit, auf folgende Kardinalmomente zurück. Er meint, dass diese Krank¬ 
heitsbeweise nötig sind, „um 1. als Vorwände zu dienen, wenn das 
Leben die ersehnten Triumphe verweigert, 2. damit alle Entschei¬ 
dungen hinausgeschoben werden können, 3. um etwaige erreichte 
Ziele in stärkerem Lichte erglänzen zu lassen, da sietrotzdesLeidens 
erreicht wurden. Diese und andere Kunstgriffe zeigen mit Klarheit das 
Streben des Nervösen nach dem Schein“. 

Schon Nietzsche hat seinerzeit einen solchen psychologischen 
Zustand als „Wille zum Schein“ bezeichnet. 

Das Unterscheidungsmerkmal der nervösen Konstellation ist die 
Neigung zur Apperzeption des Gegensatzes. 

Als traurige Folge des sozialen Vorurteils von der Überlegenheit 
des männlichen Elements entsteht folgende schematische, gefühlsmässige 
Gegensatzerfassung: das Minderwertige, Weibliche, Schwache, „unten“ sich 
Befindende und, auf der anderen Seite, das Vollwertige, Männliche, Starke, 
„oben“ Befindliche usw. 

Was das verhältnismässig öftere Antreffen sexualer Komplexe bei 
der Untersuchung der Neurosen betrifft, so erklärt sich dies, nach der 
auch von uns geprüften Behauptung A d 1 e r’s, nur dadurch, dass die 
Sexualität, wie es nicht besser sein kann, sich der Formel des „männ¬ 
lichen Protestes“ anpasst, den wir soeben in der Form des gefühls- 
mässigen neurotischen Schemas: „Mann — Weib“, „oben — unten“ u. ä. 
angedeutet haben. Die unbewusste Konstellation des Neurotikers würde, 
in die Bewusstseinssprache übersetzt, folgendermassen lauten: „ich fühle 
mich als Weib (im engen und weiten Sinne des Minderwertigkeitsgefühls), 
protestiere jedoch dagegen und will ein Mann sein, ja sogar ein Ü b e r - 
m a n n. [Dieses letztere bezieht sich stets auf nervöse Männer: das sind 
die Don- Juan- und Casanova- (F u r t m ü 11 e r) Typen.] 

Im Novemberheft der „Internationalen Zeitschrift für ärztliche Psycho¬ 
analyse“ verrät Prof. F r e u d die sichtliche Neigung, sich vom Dogma 
der autokratischen Macht der Libido loszusagen und schliesst sich an¬ 
scheinend dem individualpsychologischen System der neurologischen Aus¬ 
einandersetzungen und deren Grundsätzen: dem männlichen Pro¬ 
test, der Überkompensation und der Furcht vor dem gegengeschlecht¬ 
lichen Partner, an. So sagt er: „Die Sexualität des weiblichen Kindes steht, 
wie wir wissen, unter der Herrschaft eines männlichen Leitorgans (der 
Klitoris) und benimmt sich vielfach wie die des Knaben. Ein letzter Ent¬ 
wicklungsschub zur Zeit der Pubertät muss diese männliche Sexualität 
wegschaffen und die von der Kloake abgeleitete Vagina zur herrschenden 
erogenen Zone erheben. Es ist nun sehr gewöhnlich, dass in der 
hysterischen Neurose der Frauen eine Reaktivierung 
dieser verdrängten männlichen Sexualität statthat, gegen welche 
sich dann der Abwehrkampf von seiten der ichgerechten 
Triebe richtet 1 ).“ 

Wir wissen jedoch aus der Praxis, dass solch ein „Abwehrkampf“ 
= männlicher Protest, nachdem ihm die Möglichkeit sur Reali- 


i) Von mir gesperrt. 



Individualpsychologische Darstellung eines nervösen Symptoms. 


367 


sierung fehlt, bestrebt ist, sich in, mitunter recht wunderlichen, äusseren 
Formen — konstruktiven Mitteln — zum Ausdruck zu bringen, so z. B. in 
der für das Persönlichkeitsideal direkt gegensätzlichen Form, nämlich 
der unbewusst-bedachten Betonung seiner Weiblichkeit bis zur 
Grenze der sichtlichen Über Weiblichkeit. 

Welcher Sinn mag in solcher tendenziösen, pseudomasochistischen 
Konstellationen liegen, und welchen Zweck verfolgt diese konstruktive Affekt- 
hetonung auf den wunden Brennpunkt — der weiblichen, subjektiv-minder¬ 
wertigen Persönlichkeit ? Natürlich nur den der Gefühlserhaltung des 
„männlichen Protestes“, welcher, dank solcher weiblicher Mittel, 
nicht nur von seiner Affektivität nichts einbüsst, sondern, im Gegenteil, 
noch tiefer in den Komplex der idealistischen Zielsetzungen eindringt 
und als eine Art seelischen Akkumulators, immer neue Mengen potentialer 
Energie in sich ansammelt. 

Die Entladungen eines solchen psychischen Akkumulators realisieren 
sich in der Richtung der Charakterleitlinie — in einer Fülle äusserer 
Ergebnisse, die den Zweck verfolgen, nicht von dem fixierten Lebensplane 
abzuweichen und sich unseren Blicken als eine Menge neurotischer 
Symptome-Konstruktionen darstellen. Der partiale Sinn jedes ein¬ 
zelnen Symptoms liegt in der Selbstverteidigung der Persönlich¬ 
keit (S i c h e r u n g s t e n d e n z), d. h. im Entgegenwirken dem Eindringen 
des Minderwertigkeitsgefühls in das Bewusstsein. 

Diese Sicherheitsmassnahmen, die dazu dienen sollen, die Persön¬ 
lichkeit auf der halluzinatorischen Überhöhe zu erhalten, berauben den 
Menschen der Unmittelbarkeit im Verkehr mit den übrigen Menschen, 
verwandeln den Neurotiker in ein anti- und asoziales Wesen, denn, 
dank dem gegensätzlichen Fühlen und Denken, sie bedingen die Trennung 
der gesamten Welt in zwei Extreme: „ich — und alles übrige“. 

Indem ich mich für diesmal auf eine so gedrängte und bei weitem 
nicht erschöpfende Übersicht über die theoretischen Grundsätze beschränke, 
gehe ich nunmehr zur Darstellung und psychologischen Beleuchtung der 
symptomatischen Erscheinungen bei meiner Patientin über. 

A. P., 25 Jahre alt, erscheint bei mir mit folgenden Klagen: Ungefähr 
seit ihrem 15. Lebensjahr macht sich bei ihr eine starke Sexualerregung 
bemerkbar, infolge derer sie genötigt gewesen, bis zum vergangenen Jahre 
zu masturbieren. Im vergangenen Jahre gesellte sich zu der noch stärker 
gewordenen Erregung die sonderbare und der Patientin unverständliche 
Erscheinung, nämlich das Gefühl der beständigen Berauschung, 
verbunden mit einem angenehmen Schwindelgefühl, hinzu. Alkohol und 
Narkotika wurden nicht gebraucht; im Gegenteil, es wurden verschiedene 
Sedativa, wie Brom, Kampfer u. a., angewandt. In diese Zeit fällt auch 
der Anfang des ausserehelichen geschlechtlichen Verkehrs. Die Kranke 
klagt., dass die Sache in Verbindung damit noch schlimmer wurde: das 
Gefühl der Berauschung wurde intensiver, das Bedürfnis nach sexuellem 
Verkehr erreichte eine ungeheure Höhe, so dass „nicht ein einziger 
von den ihr zur Verfügung stehenden Männern sie in den 
Zustand der geschlechtlichen Befriedigung zu bringen vermochte“. (In 
Wirklichkeit figuriert nur ein Mann, mit sicheren Andeutungen auf eine 
psychische Impotenz). Nachts schläft Patientin nicht, am Tage 
ist sie ausserstande irgend etwas zu tun; sie raucht viel, isst nichts, 


368 


Dr. J. Bilstein, 


wird blass, magert ab und „wird hässlich“. Der letztgenannte Umstand 
veranlasst sie, die Gesellschaft zu meiden. Sie spaziert allein in belebten 
Strassen, in ziemlich herausfordernder Toilette, des Abends besucht sie 
Cafes bestimmter Sorte, bestellt sich Kaffee, Zeitungen, raucht Zigaretten, 
kurz — legt Züge eines psychischen Hermaphroditismus an 
den Tag; mit der Halbweltdame sich identifizierend, demonstriert sie 
gleichzeitig männliche Eigenschaften der Selbständigkeit und Ignorierung 
mancher sozialer Vorurteile in bezug auf das Betragen der Frau. 

Patientin ist die Tochter einer stadtbekannten Persönlichkeit. Diesen 
Umstand hervorhebend, spricht sie ihr Bedauern darüber aus, dass sie 
sich nicht wie eine echte Prostituierte benehmen kann, da dies ihre 
Familie erfahren könnte, mit der sie immerhin zu rechnen habe. Infolge¬ 
dessen (?) kommen die Verhältnisse mit Männern nur vereinzelt vor 
und werden sorgfältig vor der Welt geheim gehalten. 

Indem sie ferner verschiedene ärztliche therapeutische Verordnungen 
aufzählt und die Erfolglosigkeit dieser betont, bittet sie mich dennoch 
(„letzter Versuch!“) sie von diesem drückenden Zustande durch 
Verordnung irgend eines „Radikalmittels“ gegen die erwähnten Symptome 
zu befreien. 

Auf meine Hinweisungen über den psychogenen Charakter ihrer 
Krankheit und die Möglichkeit einer psychotherapeutischen Einwirkung 
erklärte Patientin sich mit letzterer einverstanden. 

Die Dauer der Behandlung war aber recht kurz: Patientin besuchte 
mich zweimal nacheinander, dann einmal nach zwei Wochen und schliess¬ 
lich — zum letzten Male — nach einem Monat, vom Beginn der Behand¬ 
lung an gerechnet. 

Trotz der so kurzen Fühlung mit der Patientin habe ich hieraus 
doch viel Lehrreiches und die allgemeinen Grundsätze der individual¬ 
psychologischen Schule der Adle r’schen Richtung Bestätigendes gewonnen. 

Nachdem ich ohne besondere Mühe in das Wesen der psychischen 
Konstitution meiner Patientin, sowie in den inneren Sinn ihrer Symptome- 
Kunstgriffe eingedrungen war, machte ich mich mit der notwendigen Vor¬ 
sicht an die psychologische Analyse ihres nervösen Charakters. (An dieser 
Stelle muss ich bemerken, dass ich den grössten Teil des charaktero- 
logischen Materials nicht dem Ausfragen, der Assoziationstechnik und 
direkten Anspielungen zu verdanken habe, sondern ausschliesslich den 
freiwilligen und zwanglosen Mitteilungen der Patientin über ihr Vorleben 
und ihren gegenwärtigen Zustand.) 

Nachdem wir auf diese Weise ein genügendes Material zusammen¬ 
gebracht hatten, machten w i r uns an seine psychologische Bearbeitung, 
bestrebt, die äusseren Erscheinungen in bezug auf ihr inneres, wahres 
Wesen aufzuklären. 

Gegen Ende der zweiten Sitzung zeigte die intelligente Patientin 
ein ziemlich klares Verständnis für die individualen Mechanismen, die 
sämtliche Äusserungen ihrer Neurose regulieren*; sie erfasste das Haupt¬ 
gesetz — das Arrangement der Neurose mit ihren sämtlichen Symptomen- 
Kunstgriffen, ebenso wie das unbewusste Leitmotiv ihrer eigenen Natur. 

Dies alles wurde einfach und rasch aufgedeckt: 1. Organminder¬ 
wertigkeit in der Kindheit (Rachitismus, Plumheit, Ungeschicktheit, kleiner 
Wuchs), 2. gefühlsmässiges Erfassen der Minderwertigkeit, 3. tendenziöser 


Individualpsychologische Darstellung eines nervösen Symptoms. 369 

Vergleich mit der älteren, schönen Schwester, 4. Neigung zum Aufent¬ 
halt unter Knaben, zu deren Unterhaltungen und Streichen, zum Ver¬ 
kleiden in deren Kleider, 5. schlechtes Verhältnis zur Mutter und Schwester, 
Starrsinn, Trotz, Neid, Jähzorn, leichte Reizbarkeit u. a., kurz, fast alle mit 
der misslungenen Kompensation im Zusammenhang stehende und für den 
überkompensatorischen Komplex oder, was dasselbe ist, dem 
„männlichen Protest“ typische affektive Züge. 

Zu Beginn der Geschlechtsreife haben wir die Masturbation als 
einen typischen Protest gegen die mögliche und, natürlich, be¬ 
ängstigende Situation der unterjochten Frau. Es vergehen einige Jahre, 
und ein derartiger (quantitativer, wenn man sich so ausdrücken kann) Grad 
des Protestes und der Entwertung erweist sich als ungenügend. Die 
eigenartige psychische Konstitution der Patientin verlangt gebieterisch nach 
Auslebung ihres Inhalts in noch höherem Masse. 

Und jetzt wird eine ausserordentlich scharfsinnige und folgerichtige 
neurotische Konstruktion geschaffen, die nicht einen einzigen Schritt von 
dem formierten und fixierten Lebenswege abweicht. 

Unsere Patientin verwandelt sich in ein als-ob echtes Weib, 
ja sogar in ein Ü b e r w e i b , wenn man ihr übermässig entwickeltes Ge¬ 
schlechtsgefühl berücksichtigt. Sie fängt an, ein als-ob normales 
Geschlechtsleben zu führen, produziert Symptome einer libi- 
dinösen Benommenheit und, indem sie sich (unbewusst) sym¬ 
ptomatischen Leiden unterzieht, behauptet sie kategorisch: „Ich bin 
tief davon überzeugt, dass ich auf der ganzen Welt 
keinen solchen Mann finde, der mich in den Zustand 
der sexuellen Befriedigung zu versetzen vermöchte.“ 

Hinter einer solchen Antizipation schaut deutlich der Wunsch her¬ 
vor, ihre Überlegenheit über den Mann zu bewahren. Er¬ 
reicht wird dies durch Entwertung der männlichen Kraft und Potenz. 
Dabei darf man nicht vergessen, dass die Wahl der Patientin in Wirklich¬ 
keit auf 1—2 Männer gefallen ist, die „zufällig“ über keine aus¬ 
gesprochene Potenz verfügen und eher neurotische Züge des Effeminismus 
aufweisen. 

Infolge der Angst vor dem „echten“ Manne isolierte sie sich, indem 
sie die Gesellschaft mied, und erreichte auf diese Weise ein gewisses 
Sicherheitsgefühl, indem sie ihre Persönlichkeit vor einer möglichen Nieder¬ 
lage bewahrte. 

Wenn wir das Vorhergesagte zusammenfassen, so gelangen wir zu 
folgender genauer Formel ihrer psychischen Konstitution: männlicher 
Protest •— der Wunsch, ein Mann zu sein, Einsicht von der 
Unmöglichkeit einer solchen Verwandlung, daher innerer Kampf mit dem 
möglichen Eindringen des Minderwertigkeitsgefühls in das Bewusstsein 
und als Resultat dieses Kampfes Verkürzung und Entwertung alles Männ¬ 
lichen, um der Zwangsidee der Gleichberechtigung und weiter auch der 
Überlegenheit willen. 

Im vorliegenden Falle realisiert sich das Streben nach diesem fiktiven 
Ideale auf dem Wege pseudo masochistischer Kunstgriffe, wie 
z. B. der symptomatischen Betonung ihrer weiblichen Schwäche (beständige 
geschlechtliche Erregung und das Gefühl libidinöser Benommenheit) und 
folglich voller Abhängigkeit (im Sinne „erwünschter“ Befriedigung) vom 
Manne. 


370 


Dr. J. Birstein, 


Es stellt sich heraus, dass, indem sie zur Schaffung einer solchen 
seelischen Konstellation ihre Zuflucht nimmt, sie unentwegt die Richtung 
ihrer „heiligen“ Ziele bewahrt und, indem sie sämtliche Männer 
entwertet, verharrt sie in der illusorischen Fixation ihres „Ich“ auf der 
Idee der Überlegenheit über das unerreichbar hohe männliche Element. 

Ich bemerke übrigens, dass in anderen Fällen das gleiche Ziel 
mit Hilfe von Konstruktionen sexualer Idiosynkrasie, sexualer Frigidität, 
sogar Asketismus, bei Männern durch Arrangierung von Impotenz u. a. 
erreicht werden kann. Das charakterologische Prinzip bleibt dasselbe. 

Was das Verhältnis des Neurotikers zum Arzte anbelangt, so ist 
es ganz natürlich, dass er auch an diesen mit dem ganzen pathologischen 
Inhalt seiner Natur herantritt, ja noch mehr: in tendenziöser Weise die 
Persönlichkeit des Arztes überschätzend, ihm die Rolle des Erziehers, 
des Vaters aufzwingend, ihn über sich hinstellend als einen an Kraft, 
Geist, Wissen usw. überlegenen Menschen, demonstriert er von Beginn 
der Behandlung, ja vielleicht noch früher, alle seine subjektiven Bereit¬ 
schaften, sein ganzes neurotisches Empfindungssystem, das wiederum das 
bestimmte Ziel verfolgt, und zwar: den Arzt von dem für ihn, vom Patienten 
selbst, errichteten Postamente hinabzustürzen, sich über ihn zu stellen, 
ihn zu entwerten. . . . 

Wie karikiert erscheint uns die so mystische Theorie der Freud- 
schen Schule von der „Übertragung“ und dem „Widerstande“. Wir sind 
überzeugt, dass der Neurotiker, vermöge psychoanalytischer 
Durchforschung seiner verdrängten Komplexe, absolut nichts auf 
den Arzt „überträgt“ und keinen sogenannten „Widerstand“ nach Verlauf 
einiger Zeit vom Beginn des therapeutischen Eingriffs an den Tag legt, 
sondern mit einer fertigen charakterologischen Einstellung 
vor den Arzt tritt, wie vor jeden anderen Vertreter der Menschheit, 
von dessen Überlegenheit er überzeugt sein will. 

In der oben erwähnten Arbeit A d 1 e r’s x ) spricht der Verfasser 
die Vermutung aus, dass, falls es dem Arzte nicht rechtzeitig gelingt, 
die Gefühlsattitude des Patienten zu durchschauen, ein solches Übersehen 
entweder den Weggang des Patienten von dem von ihm entwerteten Arzt 
odereine bedeutende Verschlimmerung der Symptome zur Folge haben kann, 
wodurch der Arzt in eine schwierige, ja mitunter recht peinliche Lage 
geraten kann. 

Auf Grund persönlicher Beobachtungen und insbesondere auf Grund 
des vorliegenden Falles kann ich zu dem Gesagten hinzufügen, dass der 
Weggang des Patienten nicht selten auch in entgegengesetzten Fällen 
stattfindet und zwar, wenn der Patient genötigt ist, die geheime (unbe¬ 
wusste) Anwendung seiner charakterologischen Kunstgriffe dem Arzte gegen¬ 
über einzugestehen. Übrigens, es gibt auch solche Fälle, wo es dem 
Patienten dank besonders hoch entwickelter schöpferischer Schlagfertig¬ 
keit gelingt, die gemeinsam dechiffrierten Konstruktionen durch andere, 
besser maskierte zu ersetzen. 

In meinem Falle war die Auswahl der psychischen Bereitschaften 
offenbar nicht gross, denn die Patientin blieb sofort nach Aufdeckung 
ihrer üblichen symptomatischen Kunstgriffe, in Anwendung auf meine 


D A. Adler, Nervenkrankheiten, 1. c. 




Individualpsychologische Darstellung eines nervösen Symptoms. 


371 


Person, aus. Ich muss betonen, dass diese Aufdeckung von mir unter 
reger Beteiligung der Patientin selbst und entschieden schmerzlos, in bezug 
auf ihre Überempfindlichkeit, vorgenommen wurde. Das Gespräch trug 
zwanglosen, fast kameradschaftlichen Charakter, und sein Inhalt war un¬ 
gefähr folgender: Nachdem ich bemerkt hatte, dass der Gesprächsfaden 
allzuoft durch die Erklärung der Patientin, dass sie „jetzt nichts erfassen 
kann, nichts hört, nichts sieht, dass sie sich berauscht fühlt und die 
Vorempfindung hat, dass die psychoanalytische Arbeit m i t 
mir wohl auf die Dauer unmöglich wird“, unterbrochen wurde, begann 
ich sehr vorsichtig, sie zum Verstehen derartiger Angaben und Zustände 
zu bringen. 

Nach zweistündiger Arbeit eröffnete sich ihr der wahre Sinn ihres 
allgemeinen neurotischen Arrangements und insbesondere die mir gegen¬ 
über angewendeten Kunstgriffe desselben. 

Pseudomasochistische Mittel anwendend, erschien sie vor mir in 
der Rolle eines vollkommen wehrlosen (halbtrunkenen) weib¬ 
lichen Objekts, von dem ich zur Befriedigung meiner sexualen Gelüste 
Gebrauch machen könnte — von ihrem Gesichtspunkte aus — mache n 
müsste 1 ). 

Wenn diese unbewusste, allein charakterologische Provokation 
ihr Ziel erreicht hätte, so wäre ihr Triumph gross gewesen und wohl noch 
grösser als in anderen analogen Fällen, da im vorliegenden Falle zum 
schablonenhaften Begriff „Mann“ noch die Vorstellung von dem, vermöge 
seines Berufes, für ihre Entwertungstendenzen unerreichbaren Arzt liinzu- 
kam. Es wurde hier die für ihre unbewussten Leitziele typische Falle 
konstruiert, in die ich um ihres charakterologischen Finals — des „männ¬ 
lichen Protestes“ — willen hineingeraten sollte. 

Im Gegensatz zu dem so üblichen Ableugnen der Resultate der statt¬ 
gehabten Analyse erkannte Patientin unsere gemeinsamen Schlüsse als 
durchaus richtig an und, zu einem raschen Frontwechsel, ebenso wie zur 
Anwendung irgend eines anderen strategischen Griffes keine Möglichkeit 
findend, hielt sie es für den „vernünftigsten“ und „besten“ Ausweg, sich 
zurückzuziehen, was sie auch unter der Bedeckung irgendwelcher nichtiger 
Motive ausführte. 

Nachdem ich so eine kurze Übersicht über den oben angeführten 
Fall gegeben habe, will ich nochmals die Frage über die „Übertragung 
und den Widerstand“ der Freud’schen Schule berühren. 

Wie aus dem Vorhergesagten hervorgeht, hatte eine „Übertragung“ 
in der Tat stattgefunden; jedoch wodurch charakterisierte sie sich? Aus¬ 
schliesslich dadurch, dass auf den Arzt vom ersten Moment der 
Begegnung an alle fertigen Attitüden seiner nervösen Natur über¬ 
tragen wurden. Dasselbe gilt auch von dem „Widerstand“. Un¬ 
geachtet der sichtbaren Inszenierung der Widerstandslosigkeit war der 
Widerstand zweifellos in der Perspektive der künftigen (erwünschten) 
Verkürzung des männlichen Elements (in gleicher Weise auch von 
Anfang an) vorhanden. 


1 ) Solche Attitüden verbanden sich bei ihr stets mit der Bitte, ihr Zigaretten 
zu reichen. (Siehe die Bemerkungen über den psychischen Hermaphroditismus in 
meiner Abhandlung „Zur Psychologie des Rauchens“. Erscheint demnächst.) J. B. 



372 Dr. J. Birstein, Individualpsychologische Darstellung eines nervösen Symptoms. 

Solchen Fällen von „blitzartigen“ Übertragungen und scharf¬ 
sinnig konstruierten Widerständen begegnen wir stets auf dem Wege der 
Leitlinie des nervösen Charakters. Keinesfalls entstehen sie 
während der analytischen Arbeit im Sinne der Freud- 
schen Schule, die deren Erscheinen durch eine ganze Reihe dunkler 
Beziehungen zwischen der analytischen Vertiefung in die verdrängten 
Komplexe und den aus letzteren entstehenden Gefühlsregungen dem Arzte 
gegenüber zu erklären sucht. 

Schon eine teilweise Befreiung von derartiger Voreingenommenheit 
ist überaus wichtig für einen weiteren Formwechsel der neurologischen 
Prinzipien, und wir verfolgen daher mit gespannter Aufmerksamkeit jene 
Schwankungen in der orthodoxen psychoanalytischen Gruppe, die als 
durchsichtige Anspielungen aus der Feder des Prof. Freud in seiner 
letzten Arbeit 1 ) geflossen sind. Sie lässt vorläufig noch zaghafte Schritte 
in der Richtung der individualpsychologischen Anschauungen über das 
Wesen der nervösen Zustände erkennen. Wie die fernere Evolution in den 
Kreisen der Anhänger der Freu d’schen Richtung sein wird, können wir 
mit Bestimmtheit nicht Voraussagen. 

Jedenfalls scheint das feste Eis gebrochen zu sein. . . . Wäre das 
nicht wohl ein Zeichen des beginnenden Tauwetters und aufblühenden 
Frühlings?! . . . 

0 Sigm. Freud, Die Disposition zur Zwangsneurose. Intern. Zeitschrift f. 
ärztliche Psychoanalyse. 1913, Heft 6, S. 532. 




IV. 

Über einen durch Psychoanalyse geheilten Fall von 

Dyspareunie 1 ). 

Von med. Dr. S. A. Tannenbaum, New York. 

(Aus dem Englischen übersetzt von med. Dr. Ph. Aszkenasy.) 

Immer wieder müssen wir Psychoanalytiker uns die Frage vorlegen, 
wie wir unsere Erfahrungen wiedergeben sollen. Sollen wir uns an die 
historische Reihenfolge halten, wie wir die Tatsachen erfahren haben, 
oder sollen auch künstlerische Momente in der Abfassung einer Kranken¬ 
geschichte gelten? Beide Methoden haben ihre Vor- und Nachteile. Die 
erste wäre eine unzusammenhängende verwirrende Geschichte, die den 
Leser ermüden würde (auch eine Menge unwesentliche Details müsste sich 
vordrängen), während die zweite Methode eine plastische Wiedergabe 
ermöglicht, uns jedoch keinen Einblick in das Wesen und die Mechanik 
der Psychoanalyse gewährt. Ich setze aber psychoanalytisch geschulte 
Hörer voraus und entscheide mich für die zweite Methode. 

Folgender Fall ist für mich von besonderem Interesse, erstens weil 
es der erste von mir mittels Psychoanalyse behandelter Fall war, zweitens 
weil ich im Laufe der Behandlung, zu meiner grossen Überraschung, 
öfters Gelegenheit gehabt habe, Freu d’s Anschauungen zu bestätigen, 
und nichts fand, das seine Schlussfolgerungen auch in den weniger wich¬ 
tigen Details widerlegen könnte. 

Patientin ist 23 Jahre alt, verheiratet, keine Kinder. Sympathisches, 
anziehendes Äusseres, kräftig gebaut, von gesunder Konstitution. Clitoris 
typus (Mae der); besuchte in New York die öffentliche Elementarschule 
sowie ein Jahr höhere Schule. 

Familienanamnese negativ. Patientin hat 6 Brüder und 5 Schwestern; 
Mutter 49 Jahre alt und leidet seit 6 Jahren an „Angstneurose“. Vater; 
gesund. 

Patientin besuchte mich im April 1911 in Begleitung ihres Mannes 
und klagte über öftere Attacken von Abdominalschmerz, über hartnäckige 
Obstipation, Schmerz im Rektum, grosse Reiz- und Erregbarkeit, unan¬ 
genehme Träume, plötzliches Erwachen aus dem Schlafe, Furcht vor 
Alleinbleiben zu Hause; Depression, Selbstmordideen sowie über intensive 
Schmerzen von bohrendem, stechendem Charakter während des Koitus. 


!) Vortrag gehalten vor der New Yorker Psychoanalytischen Gesellschaft. 



374 


Dr. S. A. Tannenbaum, 


Vor 3 Monaten Abortus, nach welchem sie kurettiert wurde. Den Schmerz 
während des Koitus verspürte sie beim ersten Koitus versuch nach dem 
Kurettement. 

Physikalische Untersuchung ergab keine Verletzung des Vaginal¬ 
traktes oder innerer Genitalorgane; kleiner Hämorrhoidalknoten am Anus 
mit Tendenz zum Prolaps der Rektalschleimhaut während der Defäkation. 
Keine hysterischen „Stigmata“. Ich ordinierte Bromide, Vaginalspülungen, 
Laxantia etc. und versicherte die Patientin, dass ihr Genitale normal 
sei, und dass der Schmerz bei Befolgung meiner Verordnungen verschwinden 
werde. Eine Woche später ist sie, über heftige Schmerzen klagend, zurück¬ 
gekommen und drohte mit einem Suicid, wenn ich ihr keine Heilung ver¬ 
schaffe. Physikalische Untersuchung ergab wiederum negatives Resultat. 
Dieselbe Therapie noch einmal verordnet. Nach einer Woche kommt 
Patientin zum dritten Male und stellt mir, wenn ich sie nicht beschwerde¬ 
frei mache, Konsultation eines Spezialisten in Aussicht. Genaue Unter¬ 
suchung kann weder Ulzeration noch Riss noch irgend eine andere Ver¬ 
letzung der Vulva oder Vagina entdecken, und so beantrage ich Behand¬ 
lung mittels Psychoanalyse. Patientin gibt ihre Einwilligung dazu und 
nun erfahre ich folgende „Geschichte“: 

Sie ist in Russland geboren und in ihrem sechsten Lebensjahre nach 
den Vereinigten Staaten gekommen. Im Kindesalter machte sie Masern 
und Pneumonie durch; mit 8 Jahren Scharlach; mit llA/g Diphtherie. 
Die Schule begann sie im 9. Lebensjahre zu besuchen. Menses mit 
11 Jahren. Aus der Volksschule im 14. Jahre entlassen, frequentierte 
sie bloss ein Jahr noch die höhere Schule. Dann arbeitete sie in ver¬ 
schiedenen „Jobs“; heiratete im Sommer 1910. Drei Monate nachher 
Abortus. Sie wurde plötzlich in einer Nacht, einige Wochen nach statt¬ 
gefundenem Abortus, sehr libidinös, und als sie einen Koitus versuchte, 
verspürte sie einen derart heftigen Schmerz, dass sie ohnmächtig wurde. 
Seit dieser Zeit litt sie an heftigen Schmerzen bei jedem Koitusversuche. 

Bei der nächsten Visite fügte Patientin hinzu, dass sie bereits vor 
zwei Jahren einen Ohnmachtsanfall erlitt, als ihre Mutter zwecks Ope¬ 
ration in ein Krankenhaus übergeführt werden musste. Eine Woche nach¬ 
her wurde sie mit ihrem zukünftigen Gemähte bekannt; nach einem Monate 
erfolgte die Verlobung. Zu jener Zeit musste sie einige Monate durch 
sämtliche häusliche Arbeiten verrichten, sowie Kinder beaufsichtigen; im 
April 1910 sei ihre Herzensfreundin gestorben. Sie erkrankte damals, 
indem sie öfters unverständliche Laute hervorstiess und von Selbstmord¬ 
gedanken verfolgt war. Während des Spitalaufenthaltes ihrer Mutter 
badete sie dreimal die Kinder und jedesmal hatte sie Ohnmachtsanfälle, 
während welcher sie mehrmals unverständliche Laute hysterisch hervor¬ 
stiess (crying spells). Schliesslich sei sie derart herabgekommen, dass 
sie im Juni für einige Wochen aufs Land geschickt werden musste. Einige 
Monate nachher heiratete sie und fühlte sich wohl bis zur Fehlgeburt. 
Während der Trauungszeremonie wurde sie ohnmächtig. Patientin leugnete 
entschieden, jemals masturbiert, überhaupt irgendwelche Kenntnis sexueller 
Dinge vor der Verheiratung oder infantile sexuelle Erfahrungen gehabt zu 
haben. Sie behauptete, auch weiter nichts von sexuellen Dingen zu 
wissen, sowie männliche Geschlechtsorgane nie früher oder auch jetzt 
gesehen oder berührt zu haben, da schon der blosse Gedanke Ekel in 
ihr hervorrufe. Dass letzteres wahr sei, bewiesen ihr Mienenspiel und 


Über einen durch Psychoanalyse geheilten Fall von Dyspareunie. 


375 


ein heftiger Schauer, der gleichzeitig ihren Körper durchzuckte. Sie sei 
fest entschlossen, keine Kinder zu gebären — eher würde sie sterben, 
denn schwanger werden — allein schon aus materiellen Gründen, da ihr 
Mann ein armer Arbeiter sei; post coitum condomatum macht sie immer 
Lysolspülungen, sogar nach einem erfolglosen Versuche. 

Während der nächsten Visite erzählt Patientin folgenden Traum, 
den sie angeblich einen Tag vor ihrem ersten Besuche hei mir geträumt 
habe, und der einen tiefen Eindruck auf sie machte: ,,Ich liege am Sofa 
und lese in einem Buche. Plötzlich erscheint vor mir Frau R. (meine 
verstorbene Freundin) im halbzerrissenen Grabtuche. Ihr Gesicht ist zur 
Hälfte in Fäulnis übergegangen, Nase und Augen fehlen. Ihre Erscheinung 
hatte alle jene Kennzeichen der Veränderungen aufgewiesen, die meiner 
Meinung nach entsprechend dem Zeiträume des Todes bei ihr stattfinden 
müssten. Ich war sehr erschrocken. Sie blickt mich starr an und sagt 
zweimal „spring, spring“, worauf ich zweimal sehr hoch springe. Dann 
laufe ich in mein Schlafzimmer hinein.“ 

Ich zerlegte den Traum in mehrere Teile und ersuchte sie, mir 
alle Gedanken, die im Anschluss an jedes Fragment bei ihr entstehen 
würden, mitzuteilen. Auf diese Weise gelangte ich in Besitz eines beträcht¬ 
lichen Materials, das nur teilweise von Wichtigkeit, zum andern Teil aber 
ganz belanglos war. Nachher stellte ich mir eine Liste mehrerer Hundert 
Worte zusammen, darunter mehrere charakteristische Ausdrücke vom 
Traume her, andere wieder von ihren Erzählungen 1 ). 

Nun erzählte sie mir, an einzelne unten zitierte Worte anknüpfend, 
folgendes: 

Ihre frühesten Erinnerungen datieren aus dem 3. Lebensjahre. Sie 
ist einmal mit ihrem kleinen Bruder an einem Seeufer gesessen und hatte 
mit grösster Spannung zwei badende Männer beobachtet, deren Genitale 
sie ungemein faszinierte. In ihrem 4. Lebensjahre spielte sie mit einem 
kleinen Mädchen „Doktor und Patient“, wobei das Mädchen die Doktor¬ 
rolle übernahm. Sie legte sich auf einen Rasen und das Mädchen ergriff 
einen Zweig und stiess ihn mit grosser Kraft quasi als Thermometer in 
ihre Vagina hinein. Die kleine Patientin sprang mit gellendem Schrei auf 
und rannte, unterwegs blutend, zu ihrer Mutter hin; sie musste 4—5 Tage 
zu Bette liegen und hatte grosse Schmerzen sowie Harnbeschwerden. 
Da sie einen beträchtlichen Weg bis an das Klosett zurücklegen musste, 
so hatte sie öfters, um den Weg nicht machen zu müssen, den Urin in 

D 3. Berg, Bild 17-- 

11. fühlen, Hand 20- 

15. braun, studieren 18- 

30. weiss, Handtuch 20- 

32. tanzen, nett 17 rund 
37. gefühlt, ihn 25- 

44. füllen, auf 48- 

45. privat, Affären 22- 

50. gehen, sie ihm 50 schnell 
55. Kopf, schön 27 modellieren 

65. sorglos, Mädchen 23- 

76. Stock, machen 24 Stift 
71. ziehen, schwer 31 
78. Laster, Präsident 68 
85. krank werden, schnell 25 
90. Mannesalter, verloren 69. 

Zentralblatt für Psychoanalyse. IV 7 / 8 . 


25 



376 


Dr. S. A. Tannenbaum, 


sich gehalten, was später immer eine Empfindung des Harndranges in 
ihr hervorgerufen habe. Zu jener Zeit war sie sehr eitel und pflegte öfters, 
vor dem Spiegel stehend, ihr schönes Haar zu bewundern und fühlte da¬ 
bei jedesmal ein Kitzeln in der Vagina und hatte gleichzeitig Lust, an 
der Vagina zu manipulieren. Nach dem Harnlassen verschwand dieses 
Gefühl. Sie pflegte immer mit den wie zum Beten zusammengefalteten 
Händen zwischen den Oberschenkeln einzuschlafen. 

In der Schule war sie ein Wildfang im wahren Sinne des Wortes 
und spielte oft allerlei üble Streiche ihren Lehrern. In ihrem 8. Lebens¬ 
jahre verlor sie das Interesse für Mädchengesellschaften. Nach Beendigung 
der Volksschule kam sie in eine höhere, von der sie jedoch nach einem 
Jahre Abschied nehmen musste, nachdem sie dem einen Lehrer einen mit 
Gummi bestrichenen Zettel auf seinen Kahlkopf angeklebt hatte. Diesem 
consilium abeundi schreibt Patientin ihr Missgeschick im Leben zu, da sie 
dadurch an ihrer weiteren Ausbildung und Ergreifen des Schauspielerin¬ 
berufes verhindert worden ist. Als sie 10 Jahre alt war und eines Tages 
vor einer Geschäftsauslage stand, trat an sie ein italienischer Arbeiter 
heran, knöpfte schnell die Hose auf und zog dann einen „schrecklich 
langen“ Penis hervor, welchen er bis an ihr Gesicht führte, und dann 
rief er ihr „komm mit“ zu. Erschrocken rannte sie weg. Ungefähr 3 Monate 
später passierte ihr wieder etwas Ähnliches, und wiederum machte auf 
sie die Grösse des Phallus tiefen Eindruck. Einige Monate nachher reifte 
in ihr der Entschluss, nie zu heiraten (es war dies Furcht vor dem grossen 
Membrum). In ihrem 11. Jahre entdeckte sie zufällig, dass sie ebenso 
hoch springen und hüpfen kann, wie die Mädchen, die dafür bezahlt 
wurden, und ein Tanzmeister nahm sich ihrer an und erteilte ihr Tanz¬ 
unterricht. Trotz des Widerstandes der Eltern tanzte sie und zeigte 
allabendlich in Klubs etc. akrobatische Künste. Mit 14 Jahren wurde 
sie für Kinderrollen in einem New Yorker Theater engagiert, wo sie auch 
zu tanzen und ihre Künste zu zeigen hatte. Ihr Manager versuchte sie 
zweimal zu verführen, und sie dann, als ihm das nicht gelungen ist, 
zu überrumpeln. Sie gab daher dieses Engagement auf, setzte aber das 
abendliche Tanzen durch einige Jahre ohne Wissen der Eltern fort. 

In ihrem 15. Lebensjahre erfuhr sie von einem befreundeten Mäd¬ 
chen alles über den sexuellen Verkehr, Gravidität, Gebären etc. Bis 
damals glaubte sie, dass das Abdomen einer Frau geöffnet werden muss, 
um ein Kind auf die Welt herausbefördern zu können, auf welchen Ge¬ 
danken sie durch den Anblick des Blutes gekommen sei, welches sie 
nach einer jedesmaligen Geburt zu sehen bekam. Ungefähr um diese 
Zeit begegnete sie einem Manne, Herrn H., den sie liebgewonnen hat 
und mit dem sie 4 Jahre trotz Widerstandes seitens der Eltern zusammen¬ 
gelebt hatte. H. war ein sympathischer, edler Mensch, „sehr gut und 
unschuldig“. Er wurde später Advokat. Nachdem sie die Bühnenkarriere 
aufgegeben hat, versuchte sie sich in einem Schnittwarengeschäfte; nach 
kuizer Zeit aber verursachte ihr ihr lebhaftes Naturell grossen Verdruss. 
Ihr Chef erlaubte sich ihr gegenüber „kleine Freiheiten“ aller Art und 
als er eines Tages sie verführen wollte», verliess sie ihn. Bald darauf 
bekam sie einen Posten als Modistin, auf welchem sie 6 Monate 
hindurch verblieb. Hier musste sie sehr schwer, auf einem niedrigen 
Schemel sitzend, arbeiten. Eines Tages wurde sie in der Toilette ohn- 


Über einen durch Psychoanalyse geheilten Fall von Dyspareunie. 377 

mächtig. Einem der Mädchen, mit welchem sie in der Folgezeit herz¬ 
liche Freundschaft verband, fiel ihr langes Zurückbleiben in der Toilette 
auf. Sie ging daher nachschauen, ob ihr nicht was Übles zugetroffen 
sei. Da die Türe von innen abgesperrt war, kletterte sie über den Quer¬ 
balken und als sie sie in Ohnmacht liegend erblickte, brachte sie ihr Hilfe. 
Seit jener Zeit begann sie Schmerzen im Rektum und an Coccygodynie zu 
leiden. Schliesslich hatte sie den Posten verlassen und wurde Klavier¬ 
spielerin in einem Kino, gab aber diesen Beruf bald auf und versuchte! 
wieder auf die Bühne zu kommen. Der Theateragent, an welchen sie sich 
gewendet hatte, bot sich an, sie bei einem reichen Manne einzuführen, 
welcher eine Hausdame benötigte — eine Proposition, welche sie mit 
Empörung zurückgewiesen hat. Beim Verlassen seines Bureaus ist sie 
sehr freundlich von einem älteren Herrn angesprochen worden, der ihr 
sehr liebenswürdig vom ersten Momente an erschienen sei. Er hat dem 
ärmlichen Mädchen einen Posten in einem Geschäft, das Theaterszenerien 
fabrizierte, zu verschaffen versprochen, und hat auch sein Versprechen ge¬ 
halten. Nach kurzer Zeit jedoch verlor sie die Lust an dieser Arbeit, 
und R. F., ein berühmter New Yorker Künstler — das war nämlich ihr 
Wohltäter — stellte ihr den Antrag, für ihn Modell zu sitzen. Sie ging 
darauf gleich ein, merkte es aber bald, dass er ihr den Gehalt umsonst 
zahle; er hat sie nämlich überhaupt nicht beschäftigt und sie sass nur 
müssig in seinem Arbeitszimmer. Sie sträubte sich dagegen und nun habe 
er ihr also angetragen, anderen Künstlern Modell zu sitzen, bei welchen 
Sitzungen er jedoch als ihr Hüter mit anwesend sein werde. Sie war sehr 
zufrieden mit diesem Arrangement und auf diese Weise fristete sie ein 
kümmerliches Dasein. Da die Künstler gewusst haben, sie sei ein Schütz¬ 
ling des R. F., haben sie sie nicht im geringsten belästigt. 

Hier müssen wir etwas zurückgreifen. Mit 17 Jahren, kurz bevor 
sie mit R. F. bekannt geworden sei, ging sie einmal in Begleitung eines 
älteren Herrn, mit welchen sie in ein Gespräch über Ibsen vertieft war, 
über eine Brücke. Plötzlich umarmte sie der Mann und gab ihr einen: 
Kuss. „In dem Momente“, erzählte sie, „entdeckte ich, was Liebe ist. 
Ich wurde ganz heiss und rot im Gesicht und fühlte ein Kitzeln in meinen 
Schamteilen, als hätte ich sie berührt.“ Sie wies die Zutraulichkeiten 
des Mannes empört zurück und ging nach Hause. Folgende Nacht habe 
sie sehr unruhig verbracht und konnte überhaupt nicht einschlafen.. 
Endlich verfiel sie in einen Halbschlaf, um mit ähnlicher Empfin¬ 
dung, wie sie sie bei Tag gehabt habe, dreimal zu erwachen — ein 
Kitzeln und Nässe in der Vagina. „Auf einmal verstand ich“, sagte sie, 
„warum Frauen heiraten.“ Am nächsten Tage schilderte sie einer ver¬ 
heirateten Frau ihre Empfindungen und wollte von ihr erfahren, ob das 
dasselbe war, was man während des Koitus empfindet. In der Folgezeit 
masturbierte sie nachts öfters. Ihr Missgeschick fügte es, dass diese ver¬ 
heiratete Frau sie auch über die Art und Weise aufgeklärt habe, wie man 
es erkennt, ob ein Mann leidenschaftlich sei oder nicht, und so begann 
sie in bezug auf diesen Punkt jeden Mann, mit dem sie zusammengetroffen 
sei, zu beobachten. Sie gestand, sie sei derart leidenschaftlich geworden, 
dass, sobald ein Mann sie berührte oder sogar nur über Literatur oder? 
Kunst mit ihr sprach, sie sogleich eine „Emissio“ hatte. 

Wie vorauszusehen war, hatte R. F., ein Künstler von hoher Kultur, 
Weltkind und edel zugleich, der auch die Kunst des Lebens verstanden 

25* 


378 


Dr. S. A. Tannenbaum, 


hat, ihre Leidenschaftlichkeit aufs höchste gesteigert, „er versetzte ihr 
Blut in helles Feuer“. Auch er wurde seinerseits seines Einflusses auf 
sie gewahr und „schien seine Lust daran zu haben, mit ihr über Brow¬ 
ning, Liebe etc. zu sprechen und zuzuschauen, wie sie errötete und 
wie ihre Augen wollüstig glänzten“. Während solcher Gespräche hatte 
sie eine „Emission“ nach der anderen, und obwohl sie sich immer das 
Wort gab, nie mehr derartige Gespräche zu führen, wurden all ihre Ent¬ 
schlüsse zunichte, sobald sie mit ihm nur zusammenkam. R. F. pflegte 
sie ins Theater, auf Automobilausflüge etc. mitzunehmen und durch seine 
Vermittelung hatte sie freien Eintritt in die Oper bekommen. „Während 
dieser ganzen Zeit hing sie zärtlich am „unschuldigen“ H., der keine Ahnung 
von ihren Verbindungen hatte, auch davon nicht, auf welche Weise sie 
den Lebensunterhalt bestreitet. Sogar ihre ^Eltern waren der Meinung, 
sie sei angestellt in irgend einem Geschäfte. Sie manöverierte so, dass 
die beiden, H. und R. F., nie zusammentrafen, obwohl letzterer sie 
öfters als „Freund“ besuchte. Während der ganzen Zeit litt sie an Schlaf¬ 
losigkeit und schrecklichen Träumen. Eines Tages sei H. auf einer Bank 
im Zentral-Park gesessen, und als er vom Buche, das er gelesen, em¬ 
porgeschaut hat, trafen sich ihre Blicke, als sie gerade an ihm in Be¬ 
gleitung von R. F. im Auto vorbeifuhr. Sie bat R. F., anzuhalten, er lehnte 
es aber ab. Einige Tage später besuchte sie H., hat aber mit keinem 
Worte das Vorgefallene erwähnt; auch sie war zu „stolz“, das Thema 
zu berühren; H. verabschiedete sich bald — um nie mehr wiederzukommen. 
Ihr Herz wurde gebrochen und sie wurde krank. H. hat New York ver¬ 
lassen, um nach dem Westen zu gehen. Sie hat zwar seine Adresse er¬ 
fahren und an ihn geschrieben — keine Antwort jedoch bekommen. 

Hier müssen wir den Faden der Erzählung, die wir oben unter¬ 
brochen haben, wieder aufnehmen. Nachdem sie eine Zeitlang Modell 
gesessen ist, wurde sie von 'einem Akademiker, der sich ihrer annahm, 
ermahnt, diesen Beruf aufzugeben, da, wenn sie auch momentan bloss 
für Kopf- und Händestudien sass, isie später gezwungen sein werde zu 
immer grösseren Studien und schliesslich zu vollem Akt zu sitzen. Als 
sie ihm darauf erwiderte, sie sei auf diesen Erwerb als Lebensunterhalt 
angewiesen, hatte er ihr eine ‘Stelle als Empfangsdame bei einem Den¬ 
tisten verschafft. Das war gerade um die Zeit, als ihr Geliebter sie 
verlassen hat. Ihre Mutter bemerkte 'ihren zerrütteten Seelenzustand und 
bat sie daher, ihr alles zu entdecken. Pat. gestand, dass sie sehr leiden¬ 
schaftlich wurde, dass sie ferner von unangenehmen Träumen heimge¬ 
sucht und öfters „nass“ werde. Das sowie häusliche Sorgen und Kummer 
beeinflussten derart den Gesundheitszustand der Mutter, dass sie in 
eine Krankheit verfiel, die alle Symptome einer typischen Angstneu rose 
aufgewiesen hat. Auch ihr Vater war sehr um sie besorgt. Sie hat sich 
nun ihrerseits fest entschlossen, den ersten besten Mann, mit dem sie 
der Zufall zusammenbringen werde, zu heiraten, um „unschuldig“ zu 
bleiben, der ewigen Plage und Mühsal der Arbeit loswerden zu können, 
und so die Lebensweise, die sie bis nun geführt habe, aufzugeben. 

Ungefähr um diese Zeit also fand sie Beschäftigung als Buchhalterin 
in einem Dentaldepot. Der Inhaber »des Geschäftes war, ihren Worten 
gemäss, „ein hässlicher, ekelerregender Mensch, ein Kokainfreund; er 
versuchte immer beim Hineinschauen in die Bücher meine Brüste zu 


Über einen durch Psychoanalyse geheilten Fall von Dyspareunie. 379 

erfassen und öfters steckte er seine Hand in meine Matrosenbluse hinein. 
Ich musste es ertragen, von ihm gekniffen zu werden, bloss um meinen 
Posten nicht zu verlieren. Eines Tages trieb er sein Spiel soweit, dass 
er mich roh gepackt hatte, auf seinen Schoss geworfen und an mein Geni¬ 
tale anzukommen versuchte. Ähnliche Szenen wiederholten sich im Laufe 
einiger Monate mehrmals und machten mich zum ,Wreck‘.“ Zu jener 
Zeit verliess R. F. New York, um nach Japan zu gehen. Ein grau¬ 
sames Geschick wollte es, dass er vor seiner Reise ein Abschiedsdiner 
für einige seiner Freunde, darunter unsere Patientin, gab. Nach dem Diner 
begleiteten ihn alle zur Bahn, wobei sie neben ihn kam. Er nutzte so 
die gute Gelegenheit aus, und lud sie ein, den Zug nach A 1 b a n y x ) zu 
benützen und dort eine Nacht in einem Hotel mit ihm zusammen zu ver¬ 
bringen. Diesen Antrag hatte sie mit Entrüstung zurückgewiesen und ihn 
sofort verlassen, von dem unangenehmen Gedanken verfolgt, dass er sich 
allen anderen Männern gleich, mit denen sie in Berührung gekommen ist, 
erwiesen hatte. Nach einigen Monaten erhielt sie einen Brief von R. F., 
dass er mit H. zusammengetroffen sei und mit ihm gesprochen habe, jener 
aber weigere sich, sich wieder ihr zu nähern. Nun begegnete sie Herrn D., 
einem sympathischen, jungen Manne, guten Sänger, welcher von Beruf 
Schaffner war, und den sie zu heiraten beschloss, obschon er mittellos 
war. Sie begann einen Flirt mit ihm, er ging willig darauf ein, und 
sie verlobten sich. Während der Brautzeit entwickelte sich bei ihr eine 
äusserst typische Angsthysterie. Zu dieser Zeit musste ihre Mutter sich 
einer Gallensteinoperation unterziehen, und die ganze Last der Wirt¬ 
schaftsführung wurde auf sie hinübergewälzt. Damals sind bei ihr plötz¬ 
lich der „Ohnmachtsschrei“ und andere Symptome, wie wir es oben 
bereits berichtet haben, zum Vorschein gekommen. Nach ihrer Rückkehr 
vom Lande hat sich ihr Zustand wesentlich gebessert und sie heiratete auch 
bald darauf. Am Tage der Hochzeit hat ihre ältere Schwester entbunden, und 
unsere Patientin war sehr darüber auf gehalten, weil sie zu bemerken glaubte, 
dass die Verwandten aus Anlass ihrer Hochzeit die Schwester vernach¬ 
lässigen, und weil der diensthabende Arzt sie scherzend gefragt habe, wann 
die Reihe an sie kommen wird. Im Laufe des Tages machten einige ihrer 
Freundinnen unverhohlen Anspielungen auf sexuelle Dinge, welche sie 
jedoch ärgerlich zurückwies; während der Trauungszeremonie verfiel sie 
in Ohnmacht. Beim dritten Koitus, ungefähr eine Woche nach der Ver¬ 
heiratung, fühlte sie plötzlich ein Sausen in den Ohren, ein Nebel ver¬ 
schleierte ihre Augen, sie bekam Herzklopfen, ein Gefühl von Wärme 
durchzog ihren ganzen Körper, und sie wurde ohnmächtig. Seit dieser 
Zeit hatte sie keine unangenehmen Zufälle beim Koitus bis zu ihrem 
ersten Versuche nach dem Abortus. Trotz aller Vorsichtsmassregeln gegen 
die Konzeption blieb bei ihr eine Periode aus, und sie begann daher über 
ihren Zustand vor sich hinzubrüten und über Mittel zum Hervorbringen; 
eines Abortus nachzusinnen. Eines Morgens, gestand sie zögernd, stand 
sie auf einem Klaviersesse], mit dem Abstauben eines Bildes beschäftigt, 
das „Beethovens Mondscheinsonate“ betitelt war, und wo eine Person 
Ähnlichkeit mit R. F. aufwies, als sie plötzlich, impulsiv ein Gedanke, 
„herunterzuspringen“, ergriffen hat. Gedacht, getan. Die Nachtjacke, die 
sie damals getragen hatte, war ziemlich lang, und als sie einen „wirklich 


i) Eine Stadt bei New York. 


380 


Dr. S. A. Tannenbaum, 


grossen Sprung“ machen wollte, fiel sie zu Boden. Einige Tage später 
hat sie zu bluten begonnen. Sie beschloss, nie mehr zu springen. Ein 
Arzt wurde geholt, konnte aber die Blutung nicht stillen. Am dritten Tage 
wurde ich gerufen und habe ein Kurettement vorgenommen. Zeichen einer 
Schwangerschaft waren nicht vorhanden. Vier Monate später, beim ersten 
Koitusversuche, hatte sie einen derartig heftigen Schmerz ad ostium vaginae 
plötzlich verspürt, dass sie ihren Mann, trotz ihrer ungeheuren Libido, 
während welcher sie ihn gezwickt und gebissen hatte, mit ihrer ganzen 
Kraft weggestossen und zu schreien begonnen habe. 

In der Zeit von 8 Wochen, während welcher sie öfters in meine 
Konsultationstunde gekommen war, habe ich noch folgendes erfahren: 
Eine ihrer liebsten Freundinnen (Frau R. vom Traume), hatte eine schmerz¬ 
volle Enttäuschung in der Liebe erlebt und musste später einen Grob¬ 
schmied heiraten. Nach einem qualvollen, zerrütteten Leben in grosser 
Armut ist sie, zwei Kinder hinterlassend, an Kehlkopfkrebs gestorben. 
Eine andere Freundin hatte auch einen Mann, den sie nicht liebte, ge¬ 
heiratet, ihn jedoch nach einem Jahre unerquicklichen Zusammenlebens 
verlassen, weil sie, wie sie sich ausdrückte, „glücklich genug war, noch 
nicht schwanger geworden zu sein“. Die Leiden ihrer Mutter sowie anderer 
Verwandten im Wochenbett, haben sich lebhaft in ihr Gedächtnis einge¬ 
prägt. Sie gestand, dass sie den im fernen Westen weilenden H. weiter 
liebte, obschon er einen Fuss bei einem Eisenbahnunfalle verloren hat, 
und würde er zurückkehren, dann glaubt sie, sie werde der Versuchung 
nicht widerstehen können, ihren Mann seinetwegen zu verlassen — selbst¬ 
verständlich, wenn sich der erste geneigt zeigen würde, sie wieder aufzu¬ 
nehmen. Auch konnte sich Patientin an die unangenehme Empfindung 
während des Anlegens des Verbandes bei der Mutter erinnern, als sie die 
herabhängenden schlaffen Brüste und Hängebauch, was sie mehreren durch¬ 
gemachten Graviditäten zuschrieb, gesehen hat. 

Jetzt war alles klar. Ihr intensiver Schmerz beim Koitus war 
Ausdruck einer Art hysterischer Abwehr, die sich folgendermassen ent¬ 
wickelte: Sie heiratete einen Mann, den sie nicht liebte; ihr Geliebter hatte 
sie verlassen, sie hoffte jedoch (unbewusst), dass er zurückkommen werde; 
war zu arm, um sich die Ausgaben, die mit Mutterschaft und Kindererzie¬ 
hung verbunden sind, zu erlauben, aber doch war sie zu eitel, den Verlust 
ihrer Schönheit durch Wartung von Kindern zu riskieren; sie verlor noch 
immer nicht die Hoffnung, eines Tages auf der Bühne wieder auftreten zu 
können, und dann würde ihr die Mutterschaft den Weg zur Erfüllung dieser 
Sehnsucht versperren; schliesslich müsste die Erziehung eines Kindes so¬ 
viel Geld verschlingen, dass es ihrem Manne dann unmöglich wäre, seine 
Studien zur Erlangung eines Rechtsanwalttitels, die er ohnehin nur nachts 
betrieben hatte, fortzusetzen. Durch das Erlebnis mit dem kleinen Mäd¬ 
chen während ihrer Kindheit war der Charakter ihrer wesentlichsten Be¬ 
schwerde — des Schmerzes ‘— bedingt. Andere Symptome waren zweifel¬ 
los Folge einer Angstneurose, die durch das Nichtbefriedigen sexueller 
Wünsche zustande gekommen ist. Mit dieser Deutung und mit dem Rat¬ 
schlage, den Coitus condomatus aufzugeben und normale sexuelle Be¬ 
ziehungen aufzunehmen, entliess ich die Patientin. Am nächsten Tage 
erschien sie wiederum hei mir äusserst aufgeregt. Der Schmerz wäh¬ 
rend des Coitus condomatus ist verschwunden, die Haupt- 


Über einen durch Psychoanalyse geheilten Fall von Dyspareunie. 


381 


beschwerden jedoch haben sich eher gesteigert. Und nun hat sie zum 
ersten Male gestanden, dass seit ihrer Fehlgeburt jeder Koitus versuch 
mit solchen Begleiterscheinungen einherging, wie sehr intensives Ekel¬ 
gefühl, Brechreiz, und zeitweilig sogar Erbrechen. Demjenigen, der mit 
•der Psychoanalyse vertraut ist, hat die unerwartete Enthüllung neuer 
Symptome seitens einer Patientin, von der man glaubt, sie sei bereits 
geheilt worden, an sich nichts Ungewöhnliches. Wie immer, konnte die 
Patientin sich angeblich an diese Symptome nicht erinnern und wir waren 
gezwungen, die Analyse wieder von neuem zu beginnen. Mit Hilfe anderer 
Träume brachte ich noch folgende Tatsachen ans Licht, welche zu ent¬ 
decken die Patientin während unserer vorhergegangenen Sitzungen pein- 
lichst gehütet hatte, derart, dass sie nicht im geringsten zögerte, zur Lüge 
Zuflucht zu nehmen, sobald meine Fragen verraten haben, dass ich auf 
die Spur ihres Geheimnisses gekommen bin. 

„Seit ihrer Verheiratung rief in ihr der Anblick des Penis Ekel 
hervor. Sie hatte ihn nie berührt, sogar der zufällige Kontakt des 
Gliedes mit ihrem Oberschenkel oder irgend einem anderen Teil des 
Körpers liess letzteren mit einen Schauer des Ekels durchzucken. Ja, 
sogar ein Gespräch darüber oder der Anblick eines männlichen Porträts 
en face (nicht aber in Seitenansicht) löste bei ihr Brechreiz aus. Jeder, 
der ihr beim Sprechen über diese Dinge zuhörte und ihr Mienenspiel dabei 
.sah, konnte absolut an die Intensität ihres Ekelgefühles nicht zweifeln. 
Über den Phallus sprechend sagte sie: „Er ist einer Schlange gleich; 
er ist so lebhaft, es steckt in ihm so viel Energie, dass allein der Gedanke 
daran eine Empfindung des Schleichens bei mir hervorruft. Eine Frau 
ist nichts anderes als ein Fleischklumpen und sogar ihre Lage während 
des Aktes ist bloss ein Symbol ihrer Inferiorität und Dienstbarkeit. Die 
Bibel sogar macht die Frau zur Sklavin etc. etc.“ 

Endlich hatte sie sich auf wiederholtes Drängen und Fragen, wann 
sie zum ersten Male nach ihren Erlebnissen in der Kindheit einen Penis 
zu Gesicht bekommen habe, eines Tages verraten, nachdem sie mir sonst 
„erst nach meiner Verheiratung“ zur Antwort gab. Sie sagte folgendes 
in zornerfülltem Tone: „Sie sollen mich nie mehr mit solchen Fragen 
belästigen; ich habe nichts mehr zu erzählen, als was ich bereits erzählt 
habe; ich habe vor Ihnen wie vor niemandem anderen mein ganzes Leben 
-enthüllt.“ Ihr Zornausbruch bestärkte mich nur in der Annahme, sie ver¬ 
hehle etwas vor mir. Sanft und taktvoll mit ihr umgehend hielt ich doch an 
meiner Frage fest und jedesmal kam es zu temperamentvollen Ausbrüchen 
ihrerseits, wobei sie in ihre Lippen hineinbiss, bis sie bluteten, die Fäuste 
zusammenballte, gleichzeitig sprühten ihre Augen Funken, ihr Gesicht 
war heiss und rot und sie ging zornig im Zimmer auf und ab. Schliess¬ 
lich drohte sie, ihre Besuche bei mir aufzugeben, wenn ich diese Frage 
nicht unterlassen werde. Trotzdem aber führte sie ihre Drohung nicht 
aus und besuchte mich weiter. Als ich ihr vorgehalten habe, ihr ganzes 
Handeln spreche gegen ihre Behauptung, dass sie sich an nichts mehr 
erinnern kann, was sie mir bereits nicht gesagt habe, begann sie hysterisch 
zu lachen, „sie habe so nur deswegen gehandelt, um zu sehen, ob sie 
mich hinter das Licht werde führen können“. Ich habe sie aber solange 
und beharrlich ins Kreuzverhör genommen, bis ich von ihr einige An¬ 
deutungen über ein unangenehmes Erlebnis mit einem Manne — einem 


382 


Dr. S. A. Tannenbaum, 


Künstler, mit dem sie aus Anlass eines Arbeitsangebotes zusammen¬ 
gekommen sei — herausbekommen habe. Eines Nachmittags sind ihrem 
Munde einige Worte entschlüpft, die mir den Schlüssel zur ganzen Situation 
gegeben haben. Sie behauptete, unter keiner Bedingung mir das Geheimnis 
ihres Erlebnisses enthüllen zu wollen, auch auf den Fall, ihre Heilung 
so zu vereiteln, da ihre Erfahrung mit C. schrecklich, schmerzhaft ge¬ 
wesen sei. 

Sie ward nicht gewahr, dass ihr der Vorname des Mannes ent¬ 
schlüpft sei. Da es kein alltäglicher Name war, habe ich mit Hilfe des. 
Direktoriums auch seinen Zunamen erfahren. Während des nächsten 
Besuches forderte ich si<* auf, mir nähere Angaben über ihre Bekanntschaft 
mit M. C. zu machen. Sie äusserte nicht die 'geringste Verwunderung, 
als sie von mir den vollen Namen hörte, ein Zeichen dafür, dass die 
Erwähnung des Namens absichtlich, wenn auch nicht bewusst, erfolgte. 
Sie weigerte sich, die Begebenheit zu erzählen und begann etwas zu 
summen, gleichzeitig mit den Fingern auf der Tafel zum Takt trommelnd. 
Als ich sie fragte, was es für eine Melodie sei, wurde sie sehr zornig* 
Schliesslich, nach einer Weile leeren Schwatzens, während welcher sie 
Mut schöpfte, sagte sie, es sei das ein Musikstück, welches ihr von M. C* 
an einem Februarnachmittag 1910 vorgespielt wurde. Nun habe ich von 
folgender Begebenheit erfahren. Als sie einmal eine Zeitlang postenlos. 
war, habe sie eines Tages von einem Bildhauer einen Brief bekommen* 
worin er sie zum Besuche seines Ateliers betreffs einer Arbeit eingeladen 
hat. Sie ergriff gerne die Gelegenheit, einige Dollar zu verdienen, und ging 
an die angegebene Adresse. Sie hörte früher bereits von diesem Manne 
und alle Modellmädchen lobten ihn sehr. Das Atelier befand sich am 
Gipfel einer dicht bewaldeten Anhöhe in einsamer Gegend, nahe der Stadt. 
Als sie das Atelier betreten hat, empfing sie der Künstler sehr freundlich, 
erzählte ihr, er habe eine Skulptur gesehen, deren Arme seine Bewunderung 
hervorgerufen haben, und zu welcher sie als Modell gesessen haben sollte; 
er würde sich sehr freuen, wenn sie ihm einen Abdruck ihrer Hände zu 
machen erlauben würde, wofür er ihr einen guten Preis in Aussicht stellte. 
Sie fühlte sich sehr geschmeichelt und war froh, „schnell und leicht“ 
Geld verdienen zu können. Am nächsten Tage erschien sie sehr pünkt¬ 
lich im Atelier des Künstlers. Herr M. C. führte sie im Hause herum, 
spielte ihr manches vor und dann gingen sie ins Untergeschoss, um 
am Guss zu arbeiten. Als ihre beiden Arme, die Hände inbegriffen, 
eingegipst wurden, schien M. C. plötzlich die Beherrschung über seine 
Sinne verloren zu haben. Hier schreibe ich wörtlich den ganzen Vorgang 
nieder, wie ich ihn von der Patientin zu hören bekommen habe: Im 
Raume war es sehr warm, es brannte ein Feuer; M. C. trug einen langen 
Überzug; als der Gips zu erstarren anfing, begann ich allmählich ein 
Brennen in den Armen zu spüren. Plötzlich knöpfte er seinen Überzug auf, 
dann auch seine Hosen. Ich schrie vor Angst auf, wollte aufspringen — 
konnte mich aber nicht bewegen. Ich beschwöre ihn, den Guss herunter¬ 
zunehmen, mich loszulassen. Ich schrie: „Ich werde ohnmächtig, ich er¬ 
breche“, er aber erwiderte ruhig: „Ich will nicht, bis, bis . . .“ Dann zog 
er seinen . . . hervor und begann mit ihm zu . . . spielen. Ich schloss 
meine Augen, er drohte aber näher zu kommen, wenn ich ihn nicht an¬ 
schauen würde; ich musste aus Furcht die Augen wieder öffnen; er setzte 


Über einen durch Psychoanalyse geheilten Fall von Dyspareunie. 


333 


sich auf einen Divan nieder und sprach fortwährend und grinste mich an. 
Ich bat ihn flehentlich, aufzuhören, er aber wollte nicht bis . . . Seine 
Augen schwollen an, sein Mund war weit geöffnet und der Speichel floss 
herunter. Plötzlich erblickte ich ein etwas Weisses, Fadenziehendes und 
(da begann sie krampfhaft zu schluchzen und mit den Nägeln dlie Hände sich 
direkt zu zerfleischen) er warf mir das Stück ins Gesicht mit den Worten: 

„Da hast Du es, schmutziges.. .“ Was weiter geschehen ist, 

daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Ob ich mein Gesicht gewaschen, 
wie ich mich angekleidet habe, wie der Guss entfernt, weiss ich bis heute 
nicht. Alles, an was ich mich erinnern kann!, ist, dass ich vom Berge 
fast ohne Besinnung, mit dem Hute in der Hand, herunterrannte, und 
in einen Wagen hineingesprungen war, der zufällig vorbeifuhr. Dabei 
quälte mich noch das Bewusstsein, dass ich zu Hause kein Wort vom 
Vorgefallenen erwähnen darf, da sonst meine Eltern und Bekannten von 
meinem ganzen früheren Lebenswandel erfahren müssten. Seit diesem 
Ereignisse wurde ich immer ohnmächtig, sobald ich an M. C. gedacht habe. 
„Sein Penis war schrecklich dick.“ 

Dieses grauenvolle Erlebnis erklärte also ihren „Ohnmachtsschrei“ 
(crving spells), daran sie im Laufe des Frühjahrs öfters zu leiden hatte, 
sowie ihren Ekel am Koitus etc. etc. Während der Trauungszeremonie 
tauchte in ihr plötzlich der Gedanke an M. C. auf, und sie fiel in Ohn¬ 
macht. Dieses Erlebnis hatte auch teilweise Schuld an ihren „Ohnmachts¬ 
anfällen“ während des Badens der Kinder, obzwar die Hauptschuld ihrer 
Erinnerung an onanistische Manipulationen während des Kindesalters zu¬ 
geschrieben werden muss. Gleichzeitig mit diesem „Erwachen aus den 
Toten“ ihrer längst begrabenen Erlebnisse ist sie auch von ihrer Krankheit 
geheilt worden und die Heilung hält seit dieser Zeit an. 

Nachtrag. — Patientin befindet sich seit der Zeit der Analyse, 
d. i. seit 3 Jahren, in ausgezeichnetem Gesundheitszustände und sieht 
in einigen Monaten Mutterfreuden entgegen. 




V. 


Die Psychoanalyse der Lady Macbeth 1 ). 

Von Isidor H. Coriat M. D., Boston. 

Das erste Keimen des Mordkomplexes findet sich jbei Macbeth schon, 
bevor er diese Mordgedanken durch eine Art psychischer Infektion auf 
seine Gattin durch den Brief überträgt, der ihren verräterischen ersten 
Monolog einleitet. 

Nachdem König Duncan ihn mit dem Titel Than von Cawdor belehnt 
hat, bricht der Komplex zum ersten Mal durch. 

„Glamis und Than von Cawdor! 

Das grösste steht noch aus.“ (I, 3.) 

So haben die Worte der Hexen schon im Unbewussten zu arbeiten 
und reifen begonnen. 

„Heil, Heil, Macbeth, der sein wird König einst.“ (I, 3.) 

Weiter heisst es dann: 

„Warum beschleicht mich die Versuchung, 

Vor deren Graungestalt aufsträubt mein Haar 
Und so das Herz mir an die Rippen pocht, 

Fest von Natur sonst.“ (I, 3.) 

Die Suggestion ist bei Macbeth zur Zwangsvorstellung geworden, 
und diese Zwangsvorstellung ist auch grundlegend für die Entwickelung 
der psychischen Erkrankung von Lady Macbeth, eine Zwangsvorstellung, 
die schliesslich ihre ganze Persönlichkeit beherrscht und ausfüllt. 

Die Hexen sind mythische Wesen und gleich allen mythischen Ge¬ 
bilden nicht wörtlich zu nehmen, sondern symbolisch, als Erreger einer 
„fixen Idee“ des Ehrgeizes, welchen sie Macbeth einpflanzen. Diese fixe 
Idee, der „Wille zur Macht“ wirkt dann im Psychischen wie eine hyp¬ 
notische Suggestion. Macbeth war so beeindruckt durch die Prophezeiung 
der Hexen, weil er einerseits diese Prophezeiung als Ausgleich für seine 
Kinderlosigkeit betrachtete, andererseits weil sie mit seinem schon be¬ 
stehendem, unbewusstem Wunsch König zu werden, übereinstimmte. Auf 
Banquo machte die Szene keinen besonderen Eindruck, er bedurfte keiner 
Kompensation, war weder kinderlos noch hatte er den Wunsch König 
zu werden. Das ist meiner Ansicht nach die richtige Auslegung, während 
die allgemein übliche, die angibt, dass Macbeth kriminell von Natur sei, 

i) Autorisierte Übersetzung des V. Kapitels des Buches „Die Hysterie der 
Lady Macbeth“. (Verlag von Moffat, Yard and Company, Newyork 1912. 



Isidor H. Coriat, Die Psychoanalyse der Lady Macbeth. 385 

während Banquo es nicht ist, irrig erscheint. Macbeth war vollständig 
betäubt, wie hypnotisiert durch die Worte der Hexen, was aus der Art 
und Weise hervorgeht, in der Banquo den Hexen gegenüber Macbeth er¬ 
wähnt : 

„Den edlen Freund grüsst ihr 

Mit nahem Segen und zukünftigem 

An edler Hab’ und königlicher Hoffnung, 

Dass ganz verzückt er steht!“ (I, 3.) 

In diesem halbhypnotischem Zustand wirkten die Prophezeiungen 
der Hexen wie eine machtvolle Suggestion auf ihn, übten auch später 
einen mächtigen Einfluss auf seine Handlungen aus, da sie ja mit seinen 
unbewussten Wünschen vollkommen übereinstimmten. 

Lady Macbeth erscheint zuerst in der fünften Szene des ersten 
Aktes, den Brief ihres Mannes lesend, in dem sein Zusammentreffen mit 
den drei Hexen flüchtig geschildert wird. Alle diesbezüglichen Gedanken 
der Lady Macbeth sind auf die in dem Brief ausgdrückten Anspielungen 
und Wünsche zurückzuführen, die dann in dem Selbstgespräch zum Aus¬ 
druck kommen, das einen wahren Taumel des Ehrgeizes offenbart. Dieser 
erste Monolog ist bemerkenswert, es ist ihr erster Tagtraum des Ehrgeizes, 
so stark und alles beherrschend, dass sie zu besitzen glaubt, was sie 
in Wirklichkeit nicht hat — nämlich Tapferkeit und Mut. Es ist 
diese imaginäre Wunscherfüllung Königin zu sein, welche später die 
hysterische Dissoziation verursacht. Wie aus der Episode des Nacht- 
wandelns bewiesen werden kann, war der Tagtraum der Tapferkeit nur 
eine Selbsttäuschung, eine Maske für die Verwirklichung des plötzlichen 
Hervorbrechens ihres Ehrgeizes. Die zugrunde liegende Feigheit wurde 
verdrängt. — — 

Aber der verdrängte Ehrgeizkomplex wird nun dominierend und 
schreckt vor nichts zurück, um sein Ziel zu erreichen. Anfangs bewusst 
angestachelt, handelt er bald selbsttätig, unkontrollierbar und so wird 
Lady Macbeth von der fixen Idee beherrscht, die ihre Krankheit und das 
Nachtwandeln verursacht. Als der Bote die Nachricht bringt „der König 
kommt zu Nacht“ brechen der verdrängte Wunschkomplex, Königin zu 
sein und die Mittel, die zu diesem Ziele führen, zum ersten Mal durch 
die Hüllen des Bewusstseins. Wie das Versprechen im täglichen Leben 
nach Ansicht der modernen Psychopathologie nicht zufällig ist, sondern 
durch unbewusste Komplexe bestimmt wird, so ist in diesem Fall die 
Antwort nicht der übliche Willkommengruss, sondern durch ihre ehrgeizigen 
Träume und das erste blutige Dämmern der Mordgedanken gefärbt und 
verändert. Hier wird der sich vordrängende Gedanke durch den ver¬ 
drängten Komplex verursacht und sie antwortet: 

„Du sprichst wie toll.“ 

Dann kommt es ihr plötzlich zum Bewusstsein, dass sie sich selbst 
und ihre innersten Gedanken enthüllt hat, und um den Verdacht zu ent¬ 
waffnen, ist der Rest der Erwiderung alltäglich. 

Der Wechsel von freiem Sprechen und Verdrängung ist ein cha¬ 
rakteristisches Merkmal von Lady Macbeth’ psychischer Erkrankung. In 
Anwesenheit des Boten wird, nachdem sich der Komplex offenbart hat, 
ein Kompromiss mit dem Unbewussten geschlossen, und sie ist wieder 
die ruhige Lady Macbeth, die in gleichgültiger Haltung vorgibt, dass 


386 


Isidor G. Coriat, 


der Mangel an Vorbereitungen für den unerwarteten Besuch des Königs 
diesen Gefühlsausbruch hervorgerufen hat. 

„Ist nicht dein Herr bei ihm? der, war es so, 

Es nur vorher schon hätte angezeigt.“ (I, 5.) 

Nachdem der Bote fort ist, bricht der verdrängte Komplex wieder 
hervor in dem brennenden Wunsch und Verlangen Königin zu sein. Sie 
phantasiert den Mord, unterdrückt aber den Gedanken (soweit man aus 
ihren Worten schliessen kann), dass jetzt der günstige Augenblick ge¬ 
kommen ist, und der König in die ihm gestellte Falle hineingehen wird. 
Um für das bevorstehende Werk stark zu sein — rasch rücken durch ihr 
Bewusstsein die Pläne zur Beseitigung des Königs Duncan —, gibt sie sich 
wieder der Selbsttäuschung hin, dass sie tapfer wäre zu einer Tat, mit 
der sich ihr Innerstes schon wiederholt beschäftigt hat. Dies scheint 
mir die logische Auslegung des letzten Teiles des bedeutsamen Selbst¬ 
gespräches • 

„Selbst der Rab’ ist heiser. 

Der Ducan’s unglückseligen Besuch 

Ankrächzt in meine Burg. Kommt, all’ ihr Geister, 

Die Mordgedanken sä’n, entweiht mich hier! 

Füllt mich vom Wirbel bis zur Zeh’ randvoll 
Mit wilder Grausamkeit! verdickt mein Blut, 

Sperrt jeden Zugang, jeden Pass der Reu’, 

Dass keine Regung kehrender Natur 
Erschüttre meinen grässlichen Entschluss, 

Noch Frieden lege zwischen die Vollstreckung 
Und ihn! An meine Weibesbrüste kommt, 

Tauscht meine Milch mit Galle, Morddämonen, 

Wo auch in unsichtbarem Nebel ihr 

Lau’rt auf Naturverderb! Komm, dichte Nacht, 

Und mäntle dich in düstern Höllendampf! 

Dass nicht mein Mordstahl sehe, wo er trifft, 

Noch durch den Flor der Himmel schau’ und rufe: 

Halt! Halt!“ (I, 5.) 

Beim ersten Erscheinen von Macbeth vor seiner Frau kommt es 
in der Unterhaltung deutlich zum Ausdruck, wie es im Innern der Lady 
Macbeth arbeitet und gärt. Nur im wachen Zustand beherrscht sie die 
Situation, beeinflusst ihren Mann und hält ein logisches Verhältnis zu 
ihrer Umgebung aufrecht. Das geschieht aber nicht aus eigenem Antrieb, 
sondern infolge der Verdrängung, die durch eine kolossale Willensan¬ 
strengung zustande gekommen ist. Während des Nachtwandeins verliert 
sie diese Fähigkeit, wird feig und verfällt in eine Depression, die schliess¬ 
lich zum Selbstmord führt. 

Es kann nachgewiesen werden, dass Macbeth seit Jahren, schon 
vor der Prophezeiung der Hexen, den unbewussten Wunsch hatte König 
zu werden. Dieser heiss ersehnte aber verbotene Wunsch wurde unter¬ 
drückt, und die Prophezeiung der Hexen versetzte ihn vom Unbewussten 
ins Bewusste, mit anderen Worten, es fand eine Projektion innerer Ge¬ 
danken nach aussen statt. Hier verwandelte sich der nach aussen pro¬ 
jizierte Wunsch des Macbeth in elementare Furcht. Wie kam es nun, 
dass ein Feigling wie Macbeth durch eine Frau von der Art der Lady 


Die Psychoanalyse der Lady Macbeth. 


337 


Macbeth angezogen wurde? Nicht etwa, weil sie männlich war, denn 
alle männlichenl Züge, die sich vielleicht bei ihr zeigen, waren nur 
oberflächlich angenommen, nicht in ihrem Wesen begründet. Sie war 
tatsächlich ausgesprochen weiblich, sonst hätte sie für einen Mann w T ie 
Macbeth keine Anziehungskraft gehabt. Macbeth mit seinen Mordimpulsen 
und unbewussten, aber unerfüllten Wünschen fühlte sich zu Lady Mac¬ 
beth hingezogen, weil sie die Fähigkeit besass, diese Neigungen bei ihm 
zu entfachen, Neigungen, die nach Ausdruck rangen und bemüht waren, sich 
nach aussen zu projizieren, bis sie sich schliesslich zu einem unbeherrsch¬ 
baren Impuls verdichteten. In der Tat gehört die Übertragung der Emotionen 
zu den alltäglichen psychischen Vorkommnissen des Dramas. Lady Macbeth 
wurde durch ihre verdrängten Impulse zu dem Mord getrieben. Der 
Wunsch Königin zu sein verbarg diese Impulse in ähnlicher Weise, wie 
auch die politischen und patriotischen Ambitionen einer Charlotte Corday 
und Jeanne d’Arc nur Masken ihrer verdrängten unbewussten Triebe 
waren. 

Diese Übertragung findet mehr auf unbewusste und verborgene Weise, 
als durch bewusste Taten oder Worte statt. Wenn das unbewusste Motiv 
durchbricht, haben wir eine Tragödie oder, wie Wittels es ausdrückt: 
„die Ursache aller Tragödie ist das ins Bewusstsein Dringen des vernunft¬ 
widrigen, unsittlichen, unbewussten Selbst“. In den Shakespearschen 
Dramen zeigt sich eine solche Übertragung im Verhältnis von Othello 
und Desdemona, von Lear und Cordelia und von Hamlet und seiner Mutter. 

Dieser Mechanismus gibt uns den Schlüssel zum Wesen des Macbeth. 
Wir werden sehen, wie Shakespeare dies ausführt, nicht etwa als ob 
er ein Gelehrter gewesen wäre und eine gelehrte Abhandlung hätte geben 
wollen, sondern um zu zeigen, wie seine schöpferische Fähigkeit unbewusst 
und intuitiv das Ringen und Kämpfen der geistigen Mechanismen schildert, 
was seinem bewussten Verstand vielleicht entgangen wäre. 

Dies zeigt folgender Dialog: 


Lady M.: 


Mach.: 

L a d y M.: 
Mach.. 
Lady M.: 


Mein grosser Glamis! würd’ger Cawdor! 

Grösser als beid’, auf das: Heil König einst! 

Dein Brief hat mich herausgerückt aus dieser 
Blödsicht’gen Gegenwart; ich fühle schon 
Die Zukunft in dem Jetzt. 

Geliebtes Weib, 

Duncan kommt her zu Nacht. 

Und geht von hier? 

Schon morgen denkt er. 

0 nie soll den Morgen 
Die Sonne sehn! 

Dein Antlitz, Than, ist wie ein Buch, man liest 
Seltsames drin. — Die Zeit zu hintergehn, 

Sieht gleich der Zeit. Trag guten Tag im Aug’ 

In Zung’ und Hand; sich harmlos wie das Blümlein, 
Doch sei die Schlange drunter. Er, der kommt, 

Muss wohl beherbergt sein; und du vertrau 
Dies grosse Nachtgeschäft ganz meinem Fleiss. 

Für alle Zukunft uns, für Tag und Nacht, 

Schafft dies allein Herrschaft und Obermacht. 


388 


Isidor H. Coriat, 


M a c b.: Wir sprechen mehr davon. 

Lady M.: Nur heiter schau! 

Wer Mienen wechselt, trägt die Furcht zur Schau 
Lass all das andre mir! 

Mach.: Wird nicht jeder überzeugt, 

Wenn wie mit Blut bespritzt die beiden Diener, 

Die bei ihm sind, und ihren Dolch gebraucht, 

Dass sie’s getan? (I, 5.) 

Diese letzten Worte des Macbeth bilden ein Kompromiss zwischen 
Wünschen und Furcht. 

Während des folgenden kurzen Gespräches zwischen dem König 
und Lady Macbeth gibt sie auf des Königs Begrüssung eine Antwort/die 
die Quintessenz von Heuchelei ist und als Substituierung für den allmählich 
zur Herrschaft kommenden, aber noch verdrängten Komplex ausgelegt 
werden kann. 

„All unser Dienst, 

Zweimal getan stückweis’, und noch einmal, 

Wär’ arm und allzu einfach, zu bestehn 

Vor solcher Ehren Unzahl, wie Eur’ Hoheit 

Gehäuft auf unser Haus. Für so viel alte 

Und neue Wohltat bleiben wir Euch stets 

Andächt’ge Klausner.“ (I, 6.) 

Dann, als die Tat näher rückt und Macbeth schwankend wird, treibt 
sie ihn mit den Worten an: 

„Ich hab’ gesäugt und weiss 
Wie süss die Liebe zu dem Säugling ist; 

Und doch, indem er mich anlächelte, 

Riss’ ich die Brust ihm aus zahnlosem Mund 

Und schlüg’ ihm’s Hirn aus, hätt’ ich so geschworen, 

Wie du dies schwurst.“ (I, 7.) 

Hier ist das Beispiel einer Substituierung des Sexualkomplexes in 
Ehrgeiz, ein bei Hysterie häufiger Vorgang. Das Thema der Kinderlosigkeit 
wird hier zum ersten Mal berührt. Die Transformation kann unter Um¬ 
ständen so stark werden, dass der Hysterische unfähig ist, die den P^rank- 
heitserscheinungen zugrunde liegenden sexuellen Gedanken zu erkennen, 
und diese erst durch die Psychoanalyse entdeckt werden. Sowohl bei 
Lady Macbeth wie auch bei Macbeth ist die sexuelle Energie transformiert, 
bei ersterer ist der Ehrgeiz die Folge, bei letzterem die Kriminalität. In 
dem interessanten Dialog zwischen Lady Macbeth und ihrem Mann sehen 
wir wie durch beständige Wiederholung der Komplexe allmählich bewusst 
wird; ein identischer Vorgang findet sich in einer der Szenen zwischen 
Jago und Roderigo in der fortwährenden Wiederholung von: „Put money 
in thy purse“. 

Als der entscheidende Augenblick des Mordes herannaht, verliert 
Lady Macbeth die Courage, die sie zu besitzen glaubte; sie wird zusehends 
schwächer und greift zum Alkohol, um sich Mut zu machen. Dass sie 
von Natur nicht tapfer, sondern feig ist, geht aus folgenden Zeilen hervor: 
„Was trunken sie gemacht, mich macht es kühn; 

Was sie gelöscht hat, gab mir Glut.“ 


Die Psychoanalyse der Lady Macbeth. 


389 


Diese Feigheit äussert sich später noch einmal in den Worten, die 
sie nach dem ersten Schrei des Macbeth, der aus des Königs Zimmer dringt, 
ausstösst — als sie fürchtet, dass der Trank nicht berauschend genug 
gewesen sein könnte und die Diener oder der König erwacht wären. 
Diese Worte sind eine kluge Entschuldigung, ein Ersatz für ihre Feigheit 
und nicht wie ein Kritiker behauptet, weil ihr eine Ähnlichkeit mit ihrem 
Vater auffiel und hierdurch ihr erhobener Arm zurückgehalten wurde, 
gleichsam auf ihr Gewissen einwirkend. Hier liegt der Beweggrund tiefer 
— ein symptomatisches, unbewusstes Substitut für ihre Feigheit und nicht 
durch Gewissensbisse oder das Verhältnis des Kindes zum Vater hervor¬ 
gerufen. So gewinnen die Worte: 

Mach. „Hin legt ich ihre Dolche 

Die musste finden. — Und sähe der König nicht im Schlaf 
Meinem Vater ähnlich — ich hätt es selbst getan.“ (II, 2.) 

eine neue Bedeutung im Licht der modernen Psychopathologie. 

Als Macbeth wieder eintritt, bricht in dem stammelnden Flüstern 
zwischen ihm und Lady Macbeth ihre Aufregung und Furcht trotz des 
Alkohols von neuem hervor, wird aber eben so schnell wieder unterdrückt 
und gedämpft. Diese Unterdrückung ihrer Feigheit wie auch die Ver¬ 
drängung des Wissens von den Mördern des Duncan, Banquo und der 
Frau und Kinder des Macduff war die Ursache von der allmählichen 
Entwickelung der seelischen Dissoziation und des Nachtwandeins. 

Nach erfolgter Tat zeigt sich die erste Warnung der bevorstehenden 
psychischen Dissoziation und des Selbstmordes. Furcht und Entsetzen 
quälen sie aufs schrecklichste, die Verdrängung ist so stark, dass sie 
vor dem fürchterlichen Geheimnis zurückschreckt, und hier ist der An¬ 
fang der hysterischen Dissoziation. Sie wählt Verdrängung anstatt freier 
Aussprache in der falschen Erwartung, dass erstere die Gefühlserschüt¬ 
terung unwirksam machen wird. So zeigt ihre Warnung an Macbeth: 

„Solchen Taten darf 

Man so nicht nachgehn, ’s macht uns rasend sonst.“ 
eine Stellungnahme, die charakteristisch ist für eine bevorstehende psy¬ 
chische Disintegration. 

Später in derselben Szene zeigen ihre Worte: „Schlafende und Tote 
sind nichts als Bilder“ die beginnende Dissoziation der Persönlichkeit 
an, indem sie versucht, die Gedanken an die Tragödie von ihrer übrigen 
Erfahrung abzusondern und schliesslich zu verdrängen. 

Dass Shakespeare davon unterrichtet war, dass Gefühlsverdrängung 
nicht nur schmerzhaft, sondern auch gefährlich ist, geht aus den Worten 
des Malcolm an Macduff hervor, nachdem man letzterem den Mord seiner 
Frau und Kinder mitgeteilt hat. 

„Wie Mann? Nicht drücke so den Hut ins Auge — 

Den Gram sprich aus! Ein stumm verhaltner Schmerz 
Wühlt in geschwellter Brust und bricht das Herz.“ 

Nach dem Mord wird Macbeth vorübergehend von Halluzinationen 
verfolgt; die verdrängten Komplexe und die Furcht haben sich in Sinnes¬ 
phänomene umgesetzt. So war der störende Mechanismus, der die Basis 
dieser Halluzinationen bildete, in Macbeth’ Unterbewusstsein zu finden, her¬ 
vorgerufen durch die Kraft seiner eigenen Gedanken. Die Worte: „Ich kann 


390 


Isidor H. Coriat, 


nicht mehr schlafen!“ in ihrer monotonen Wiederholung waren nicht 
zufällig, sondern Folge eines störenden und leitenden unbewussten Mecha¬ 
nismus, entstanden durch vorhergehende Komplexe. Derselbe Mechanis¬ 
mus war schon früher tätig, sowohl in der Halluzination mit dem Dolch, 
wie auch später, als ihm Banquo’s Geist erscheint. Es ist auffallend, 
wie fragmentarisch diese Halluzinationen waren, hier und da nur eine 
Phrase, ein Zustand der sich bei manchen psychischen Erkrankungen 
findet, wo Gehörshalluzinationen Vorkommen. 

Das Klopfen am Tor schafft einen bestimmten Gefühlskontrast zu 
dieser Schreckensszene, ein Hereinbrechen der Realität gegenüber den 
unwirklichen Dingen, die Lady Macbeth durchschauern. Das Schweigen 
und das Flüstern; die Erscheinungen, die Macbeth in den Halluzinationen 
hat und von denen er seiner Frau erzählt, die Gespanntheit der Lady 
Macbeth, dies alles, wird durch die Realität des Klopfens unterbrochen. 
Man kann sich leicht vorstellen, dass unter diesen Umständen das Klopfen 
wie ein psychisches Trauma auf die Gemütsbewegung der Lady Macbeth 
wirkte, wie es die künstlich angenommene Tapferkeit in überwältigende 
Furcht verwandelte, und wie diese Vorgänge schon an und für sich die 
Entwickelung einer hysterischen Erkrankung hervorrufen konnten. Die 
Verdrängung des Geheimnisses vom Morde, der imaginäre Wunsch, die 
Mutter von Königen zu sein, fällt im Bewusstsein mit Schreck und Er¬ 
regung zusammen. Die verdrängten Gemütsbewegungen werden halbbe¬ 
wusst, sie drohen ins Bewusstsein zu brechen — und von diesem Momente 
bricht die Hysterie aus. 

So waren schon zwei Komplexe im Bewusstsein von Lady Macbeth 
tätig, und diese zwei Komplexe oder deren Verdrängung führten die 
seelische Dissoziation herbei. Der Ehrgeizkomplex basiert auf Tagträumen 
des Ehrgeizes, weniger für sich selbst als für ihren Mann. Er ist ein 
Ersatz tür ihre Kinderlosigkeit oder vielmehr für die Kinder, die sie ver¬ 
loren hat und kann so als ein sublimierter Sexualkomplex bezeichnet 
Werden. Bei Freud findet sich eine interessante Stelle bezüglich dieses 
Punktes. Er berichtet: 

„Shakespeare verlor früh einen Sohn namens Hamnet. Wie im 
Hamlet das Verhältnis des Sohnes zum Vater behandelt wird, so ist 
im Macbeth die Kinderlosigkeit das Thema. So lernen wir die Bedeutung 
tiefer Gemütsbewegungen auf das Seelenleben des schaffenden Künstlers 
verstehen.“ 

Zwei bedeutende Shakespearekritiker (Ulrici und Brandes) weisen 
auch auf die Kinderlosigkeit der Lady Macbeth hin und auf den Einfluss, 
den dies auf die Entwickelung ihres abnormen seelischen Zustandes hatte. 
Das geht aus verschiedenen Äusserungen hervor — aus einem Selbst¬ 
gespräch der Lady Macbeth und aus Macduffs Rede, die anfängt: „Er hat 
nicht Kinder“. 

Die zweite grosse Verdrängung ist die des Mordkomplexes, der aus 
dem ersten entstanden ist und ebenso zur seelischen Disharmonie beige¬ 
tragen hat. 

Lady Macbeth wusste nichts von der Tatsache, dass Macbeth die 
Diener gleichzeitig mit dem König ermordet hatte, denn wie sie von ihrer 
grausen Tat zurückkehrte, die schlafenden Diener mit Blut zu beschmieren, 
glaubte sie noch, dass sie schlaftrunken daliegen: Tod und Natur wetteifern 
miteinander, ob sie am Leben sind — ob Tote. — 


Die Psychoanalyse der Lady Macbeth. 


391 


Als Macbeth später den Söhnen des Duncan ankündigte, er habe die 
Diener getötet, da sie den König gemordet hätten, ist die Gemütserschütte¬ 
rung durch diese unvermittelte Nachricht so gross, dass Lady Macbeth 
in Ohnmacht fällt. Diese Ohnmacht hat zu einer lebhaften Streitfrage 
geführt, ob dieselbe wirklich oder simuliert war. Ich halte die Ohnmacht 
für wirklich und das erste Symptom der hysterischen Dissoziation. Es ist 
ein echter hysterischer Anfall infolge der überwältigenden Emotionen 
und des Schreckens. Es ist weder Vorwand noch Gefühlsumschwung. 
.Macbeth verhielt sich der Ohnmacht seiner Frau gegenüber gleichgültig, 
denn er war zu der Zeit nur von dem Wunsch beherrscht, sich weder 
durch Wort noch durch Tat zu verraten. Diese Gleichgültigkeit für den 
Zustand seiner Frau ist daher kein Beweis, dass Macbeth die Ohnmacht 
für fingiert hielt. 

Die Tatsache, dass Lady Macbeth bei der Schilderung des Mordes 
mit seinen abstossenden Einzelheiten in Ohnmacht fiel (eben weil er 
ihrem Vater „ähnlich“ sah), während sie beim Anblick des toten Königs 
nicht ohnmächtig wurde und dann noch die blutigen Dolche an den Ge¬ 
sichtern der scheinbar schlafenden Diener ab wischte, wird durch zweierlei 
erklärt. Die Wirkung des Alkohols, der sie anfangs aufrecht erhielt, war 
ganz vorüber, und zweitens überwältigte sie die plötzliche Offenbarung, 
dass ihr Mann ausser dem König auch die Diener getötet hatte. 

Im dritten Akt bezeichnen die Worte des gemurmelten Monologes: 
„Weit besser, selbst sein das, was wir zerstört, 

Als wenn Zerstörung fester Freud’ entbehrt.“ 

die Vorstufe zum Nachtwandeln und ihrem späteren Selbstmord. 

Die Vorbereitungen zu Banquos Mord sind fertig, und sowohl Mann 
als Frau befinden sich in einem Zustand der seelischen Qual und des 
Schreckens. Selbst während des Schlafes brechen die verdrängten Kom¬ 
plexe im Traum durch. 

„Eh’ unser Mahl in Furcht wir essen, eh’ 

Angstvoll wir 'schlafen vor der Träume Schreck, 

Die nachts uns schütteln. Besser, sein beim Toten, 

Als auf der Seelenfolter dazuliegen 

In ewger Qual.“ — (III, 2.) 

Diese Worte zeigen, dass auch Lady Macbeth unter schrecklichen 
Träumen litt, und dass sie sich gegenseitig ihre Träume erzählten. Wir 
wissen, dass im wachen Zustand Komplexe durch die Zensur des Be¬ 
wusstseins verdrängt bleiben können. Während des Schlafes erschlafft 
die Zensur und die verdrängten Erlebnisse treten als unverhüllte oder 
symbolische Träume auf. So sind Träume nicht zufällige Gaukelbilder 
schlafstörender Gedanken, sondern das logische Resultat auf gespeicherter, 
aber verdrängter Erlebnisse. Träume sind stets individuell und stimmen 
mit dem gewöhnlichen geistigen Niveau der Person überein. Dieser 
Mechanismus, der sich auch im alltäglichen Leben zeigen kann, tritt 
besonders häufig bei Hysterie auf. Bei Lady Macbeth war ein identischer 
Mechanismus tätig, das Wiederauftreten verdrängter Komplexe in ihren 
Träumen, die den Schlaf störten und später zum Nachtwandeln führten. 

Macbeth ist augenscheinlich um den Zustand seiner Frau besorgt, 
denn er sagt ihr nichts von dem Anschlag gegen Banquo. 

Zentralblatt für Psychoanalyse. IV 7 / 8 


26 


392 


Isidor H. Ooriat, 


Das kann man aus dem Dialog sehen: 

„Mach.: 0 voll Skorpionen ist mein Herz, lieb Weib! 

Du weisst ja, Banquo lebt noch und sein Sohn. 

Lady M.: Doch keinem gab Natur Unsterblichkeit. 

M a c b.: Das ist mein Trost noch, sie sind angreifbar. 

Drum mutig! Eh’ die Fledermaus noch fliegt 
Einsamen Flug, eh’ Hekaten im Dienst 
Der hartbeschalte Käfer, schläfrig summend, 

Die träge Nacht einläutet, soll geschehn 
Ein Ding furchtbarer Art. 

Lady M.: Was soll geschehn? 

Mach.: Sei schuldlos am Mitwissen, trautes Weib, 

Bis du frohlockst der Tat.“ (III, 2.) 

Im dritten Akt während des Banketts nehmen Macbeth’ Halluzina¬ 
tionen zu. Früher hatte er noch Zweifel, ob die Vision mit dem Dolch 
wirklich sein könnte. 

„Oder bist du 

Nur ein Gedankendolch, ein Wahngebild, 

Vorschwebend aus dem fieberhaften Hirn?“ 

In diesem Fall war die Vision des Dolches eine symbolische unbe¬ 
wusste Idee, die durch ihre Intensität in eine Ich-Halluzination verwandelt 
wurde. 

In der Bankettszene ist der Einblick in den imaginären Charakter 
der falschen Vorstellung endgültig geschwunden, und der Geist des Banquo 
wird im Gegensatz zu dem Geist von Hamlets Vater von niemand ausser 
Macbeth gesehen, wodurch der Erscheinung das Gepräge einer echten 
Halluzination gegeben wird. 

T a i n e, der diese Szene der pathologischen Kategorie zuweist, 
schildert sie sehr lebendig: „Mit zuckenden Muskeln, weit geöffneten 
Augen und vor Schreck verzerrtem Mund sieht er, wie die Erscheinung 
ihren blutigen Kopf schüttelt, und bricht in heisseres Schreien aus, das 
man nur in den Zellen der Wahnsinnigen hört. Sein Körper zuckt wie 
in epileptischen Krämpfen, mit zusammengepressten Zähnen und Schaum 
vor dem Mund fällt er zu Boden, seine Glieder zittern, während Schluchzen 
seine Brust erschüttert und in seiner gepressten Kehle erstirbt.“ 

Macbeth hat Anlage zur Epilepsie und starke Gemütserregungen 
führen bei ihm, wie auch bei Othello, zu epileptischen Konvulsionen. 
Das erklärt eine Phase der Macbethschen Kriminalität — er ist kriminell 
einerseits, weil er ein Epileptiker ist, andererseits, weil der Wunsch König 
zu sein wie eine hypnotische Suggestion wirkt. 

Wie mag nun diese schreckliche Szene auf Lady Macbeth gewirkt 
haben, und was für Veränderungen wurden dadurch in ihr hervorgerufen,, 
die doch schon das Opfer einer sich schnell entwickelnden Hysterie 
war? Sie weiss nicht, wer Banquo gemordet hat, dennoch ahnt sie viel¬ 
leicht, dass ihr Mann auch dieses Verbrechens schuldig ist. Sie kann ihn 
nicht verraten, und so tritt wieder die Verdrängung ein, und sie entschuldigt 
seinen plötzlichen Wahnsinn beim Bankett mit den Worten: 

„Bleibt Freunde, bleibt! So ist der König oft 
Und wars von Jugend auf! Behaltet Platzt 


Die Psychoanalyse der Lady Macbeth. 


393 


Der Anfall währt nicht lang, den Augenblick 

Erhebt er sich!“ (III, 4.) 

Dass das Erlebnis beim Bankett ins Unbewusste verdrängt wurde, 
zeigt sich während des Nachtwandeins in einem späteren Akt, wo die 
wahre seelische Verfassung offenbar wird. 

„Pfui, mein Gemahl, pfui! 

Ein Krieger und furchtsam?“ 

In der Nachtwandelszene erreicht Shakespeares Kunst im Schildern 
abnormer Seelenzustände ihren Höhepunkt. Wenn auch vielleicht über 
einige Episoden im Hamlet mehr geschrieben und diskutiert wurde, so 
ist doch im Hamlet vieles problematisch, während bei Lady Macbeth nur 
eine Auslegung möglich ist: es ist ein Fall von hysterischem Nachtwandeln, 
der mit allen bekannten Gesetzen psychologischer Phänomene während 
des Nachtwandeins übereinstimmt. Die Szene gibt uns ein herrliches 
Beispiel von Shakespeares Einblick in den seelischen Mechanismus, be¬ 
sonders in abnorme Zustände des Bewusstseins. 

Die Nachtwandelszene wird vorherbestimmt durch die vorhandenen 
verdrängten Komplexe. Es ist ein unbewusster Automatismus. Lady Mac¬ 
beth ist während dieser Szene weder bewusstlos noch im Schlaf; ihr Be¬ 
wusstsein ist sogar sehr tätig, aber es ist ein Zustand von Bewusstseim 
Spaltung. In solcher seelischen Verfassung können sehr komplizierte, natur- 
gemässige Handlungen vollzogen werden. 

Die Phänomene während des Nachtwandeins erscheinen in ihrer 
Wiederholung durch die enge Gedankenassoziation mechanisch und auto¬ 
matisch. Da die seelische Verfassung, in der sie Vorkommen, jede freie 
Willensäusserung ausschliesst, so gehen sie, wenn einmal in Bewegung 
gesetzt, unvermeidlich denselben Weg. Dies ereignete sich auch bei 
Lady Macbeth. Wie die Analyse des seelischen Zustandes ihres Nacht¬ 
wand eins deutlich zeigt, stimmen die Erscheinungen genau mit der Krank¬ 
heitsform überein, die als Somnabulismus mit einer bestimmten Vor¬ 
stellung bezeichnet wird. 

Ich stimme ganz mit C ol e r i d g e überein, dass Lady Macbeth im 
wesentlichen zu dem Typus gehört, der sich mit Tagträumen abgibt. Es 
ist interessant zu konstatieren, dass in allen sorgfältig analysierten Fällen 
von Hysterie die Tagträume eine wesentliche Rolle spielen. Teils waren 
sie durch Ehrgeiz hervorgerufen, teils sexueller Art — beides imaginäre 
Wunscherfüllungen, Königin zu werden und einen Sohn als Kompensation 
ihrer Kinderlosigkeit zu bekommen, somit einen Thronerben zu haben, 
nachdem die Hexen Macbeth als Vater von Königen begrüsst hatten. Die 
Tagträume der Lady Macbeth geben uns den Schlüssel zu ihren späteren 
Nachtträumen und dem Nachtwandeln. Tagträume können sich in ver¬ 
schiedenen hysterischen Symptomen und Anfällen äussern, wie Nacht¬ 
wandeln, plötzliche Bewusstlosigkeit und Amnesie, alles Erscheinungen, 
die sich bei Lady Macbeth finden. Dies ereignet sich dann besonders 
häufig, wenn die Tagträume und Komplexe absichtlich vergessen und 
ins Unbewusste verdrängt werden, ein seelischer Mechanismus, der für 
Lady Macbeth charakteristisch ist. Aus diesem Mechanismus der Ver¬ 
drängung entwickelt sich schliesslich das Nachtwandeln. 

Das Nachtwandeln wird in Holinshed nicht erwähnt und muss daher 
aus Shakespeares eigener schöpferischer Imagination hervorgegangen sein. 

26* 


394 


Isidor H. Coriat, 


Lady Macbeth hatte keine der gewöhnlichen Schlafstörungen, aber sie zeigte 
mit überraschender Genauigkeit alle Symptome des hysterischen Somnambu¬ 
lismus. Nachtwandeln ist nicht Schlaf, sondern ein besonderer seelischer 
Zustand, der aus dem Schlaf durch einen bestimmten Mechanimus ent¬ 
steht. Die Nachtwandelszene ist die logische Folge des vorhergehenden 
seelischen Zustandes. Aus dem Mechanismus dieses seelischen Zustandes 
heraus war solche Entwickelung unvermeidlich. Lady Macbeth ist nicht 
das Opfer eines blinden Schicksals oder Verhängnisses oder durch ein 
moralisches Gesetz bestraft, sondern von einer psychischen Erkrankung 
befallen. 

Aus den ersten Worten des Arztes in der Nachtwandelszene geht 
klar hervor, dass Lady Macbeth schon früher Anfälle von Nachtwandeln 
gehabt hatte. Dass es sich um wirkliches Nachtwandeln handelt, sieht 
man aus der Schilderung, dass die Augen offen und nicht geschlossen 
sind. Verschiedene Komplexe oder Gruppen von verdrängten Gedanken 
mit emotionellem Charakter zeigen sich in dieser Szene. Die Tätigkeit 
dieser Komplexe basiert auf Erinnerungen an vergangene, verdrängte Er¬ 
fahrungen. 

Der erste Komplex bezieht sich auf den Mord des Duncan und wird 
durch das beständige Händewaschen demonstriert, eine früher nicht be¬ 
obachtete Handlung, die sich während des Nachtwandeins ausbildete. 
Diese automatische Handlung steht in Zusammenhang mit ihrer Äusse¬ 
rung nach dem Mord des Duncan „Ein wenig Wasser reint uns von 
der Tat“. 

Der zweite Komplex weist auf den Mord des Banquo hin, was durch 
die Worte ausgedrückt wird: „Ich sag’ dir noch einmal: Banquo ist längst 
begraben, er kann nicht wiederkommen aus dem Grab;“ gleichzeitig will 
sie zu verstehen geben, dass sie auch von diesem Mord ihres Gatten 
Kenntnis hat. 

Der dritte Komplex, der in der Nachtwandelszene eine Rolle spielt, 
berührt den Mord der Frau und der Kinder des Macduff. 

„Der Than von Tife hatte ein Weib; w t o ist sie nun?“ — 

Verschiedene fragmentarische Erinnerungen brechen sich in dieser 
Szene Bahn, z. B. die Furcht des Macbeth beim Bankett mit den Worten: 
„Nichts mehr davon, mein Gemahl, nichts mehr davon! Ihr verderbt 
alles mit diesem Hinstarren“; das Schlagen der Uhr, ehe König Duncan 
gemordet wird und das Lesen von Macbeth’ erstem Brief mit der Prophe¬ 
zeiung der Hexen. So zieht ein lebhaftes und zusammengedrängtes Pano¬ 
rama aller ihrer Missetaten an ihr vorüber. 

In allen Fällen von hysterischem Nachtwandeln wird die Episode 
nicht durch eine, sondern durch alle abnormen fixen Ideen und ver¬ 
drängten Komplexe der betreffenden Person hervorgerufen. Der Anblick 
und Geruch des Blutes, den sie empfindet, gehört zu den Fällen von 
Halluzinationen, die sich aus unbewussten fixen Ideen, die mit einer 
gewissen Intensität auftreten, entwickeln, wie in der Halluzination des 
Macbeth mit dem Dolch. Da Blut in dieser Tragödie dominiert, ist es 
ein Beweis von Shakespeares grossem Einblick, dass die vorherrschende 
Halluzination in dieser Szene sich mit Blut befasst. Die Analyse der 
Szene erschliesst uns auch andere geistige Mechanismen von hoher Wich¬ 
tigkeit. 


Die Psychoanalyse der Lady Macbeth. 


395 


Ich hatte Gelegenheit, den Fall eines jungen Mädchens zu beobachten, 
die ihre Hände täglich mehrere Male wusch. Sie konnte diesen Impuls 
nicht erklären. Die Psychoanalyse ergab, dass das Waschen der Hände 
mit dem Gedanken an kirchliche Absolution von bestimmten Gedanken¬ 
gründen zusammenhing und als Abwehr gegen diese Befleckung ent¬ 
standen war. Ähnliche Symptome zeigen sich bei Lady Macbeth. In der 
Nachtwandelszene kommt folgender Dialog vor: 

Arzt: Was macht sie da? Seht, wie sie sich die Hände reibt. 

Kammerfrau: Das ist etwas Gewöhnliches bei ihr, dass sie so 
ihre Hände zu waschen scheint; ich seh sie’s schon eine Viertelstunde 
lang so tun. — 

In derselben Szene spricht Lady Macbeth später folgende Worte, 
wodurch der Komplex, der diese scheinbar bedeutungslose Handlung hervor¬ 
rief, enthüllt wird. „Was, wollen diese Hände nicht mehr rein werden? . . 
Hier riechts noch immer nach Blut! Alle Wohlgerüche Arabiens ver- 
süssen nicht diese kleine Hand.“ 

Hier entsteht das Symptom dadurch, dass Lady Macbeth eine Gruppe 
unangenehmer Erinnerungen oder Komplexe von persönlicher emotioneller 
Bedeutung auf eine gleichgültige Handlung überträgt. Das Händewaschen 
ist ein Kompromiss für Selbstvorwürfe und verdrängte Gedanken. Der 
Mechanismus ist hier derselbe wie bei den Zwangsneurosen, ein neuer 
Beweis von Shakespeares tiefem Verständnis für das Arbeiten des mensch¬ 
lichen Geistes. Die Worte des Arztes: „diese Krankheit geht über meine 
Kunst“ zeigen, welche Stellung die medizinische Profession zu diesen 
psychoneurotischen Symptomen nahm, ehe die moderne Psychopathologie 
darüber Aufklärung brachte. 

Die Worte: „Fort, verdammter Fleck, fort sag ich 1“ zeigen einen 
unbewussten selbsttätigen Ausbruch des Mechanismus. Es ist sehr zweifel¬ 
haft, ob Lady Macbeth diese Worte in normalem, wachem Zustand ge¬ 
braucht haben würde. Der Unterschied zwischen der Persönlichkeit der 
Lady Macbeth während des Nachtwandeins und in normalem Zustand 
zeigt die tiefe Kluft, die zwischen diesen beiden Typen des Bewusstseins 
liegt. Man kann von Lady Macbeth sagen, dass sie zwei Persönlichkeiten 
in sich vereinte, die je nach den Schwankungen ihres geistigen Niveaus 
kamen und gingen. In normalem wachem Zustand sind die Verdrängung 
und die angenommene Tapferkeit zu beachten. Während des Schlafens 
oder Nachtwandeins weicht die Verdrängung freier Ausdrucksmöglichkeit, 
und die ihr innewohnende Feigheit dominiert. Wenn sie wach ist, fürchtet 
sie kein Blut, schaudert aber während des Nachtwandeins davor zurück. 
Die Ermahnungen an ihren Mann sind in wachem Zustand von gefühlloser 
Grausamkeit; so lange sie nachtwandelt, zeigt sie Mitleid und Reue. 
Könnte man an die Weiblichkeit der Lady Macbeth glauben, so müsste ihre 
schlafende Persönlichkeit als die wahre betrachtet werden, weil diese 
der Hemmung und der Zensur der freiwilligen Verdrängung entrückt ist. 

So hat Shakespeare die Nachtwandlerszene übereinstimmend mit 
allen Symptomen des pathologischen Nachtwandeins gestaltet — das 
heisst — der Kranke hört und sieht alles, die Entwickelung ist regel¬ 
mässig, er wiederholt dieselben Worte, macht die gleichen Bewegungen 
wie bei dem wirklichen Anfall, um schliesslich mit Wiederkehren der 


396 


Isidor H. Coriat, 


normalen Persönlichkeit, wenn der Anfall vorüber ist, jede Erinnerung 
an denselben zu verlieren, mit anderen Worten, sie ist vollkommen 
amnestisch für ihren Komplex! Das Handeln der Lady Macbeth 
während des Nachtwandeins ist sehr kompliziert; es zeigt, dass sie sich 
an die vergangenen verdrängten Erlebnisse gut erinnern kann und die¬ 
selben genau wiederholt. Sie hat Überlegung und Assoziationsfähigkeit, 
was bei nicht bestehendem Bewusstsein im Schlaf unmöglich sein würde 
und nur bei aktivem Bewusstsein stattfinden kann. 

So ist Nachtwandeln nicht Schlaf, sondern ein abnormer seelischer 
Zustand, getrennt von dem gewöhnlichen seelischen Zustand der Person. 
Nachtwandeln kann als eine seelische Verfassung bezeichnet werden, in 
welcher man besondere Gedanken hat und besondere Handlungen voll¬ 
zieht, deren man sich bei Wiederkehr des normalen Bewusstseins nicht 
mehr erinnert. Die Amnesie des Nachtwandeins gleicht allen hysterischen 
Amnesien — die Person ist unfähig, mit ihrer normalen Persönlichkeit 
die Erinnerungen an das Nachtwandeln zu verbinden. 

Die moderne Psychopathologie hat über eine Anzahl von Fällen 
berichtet, deren Symptome grosse Ähnlichkeit mit dem Nachtwandeln der 
Lady Macbeth haben. 

Mehrere Fälle dieses Typus sind ärztlich beobachtet worden. Einer 
derselben war ein junges Mädchen, bei der sich Hysterie nach dem plötz¬ 
lichen Tode ihrer Mutter entwickelte, deren Todeskampf sie unfreiwillig 
mit ansehen musste. 

Ein anderer Fall von Hysterie entstand durch Schreck über einen 
grossen nächtlichen Brand. 

In beiden Fällen zeigte sich Nachtwandeln, während dem jede der 
Patienten bis ins kleinste Detail die emotionelle Episode spielte, die 
ursprünglich die hysterische Dissoziation herbeigeführt hatte. Beim Er¬ 
wachen konnte sich keiner der Patienten an die während des Nacht- 
wandelns vollzogenen Handlungen besinnen — es bestand komplette Am¬ 
nesie dafür. 

Ja net berichtet über verschiedene derartige Fälle. So reproduzierte 
eine junge Frau, die von Einbrechern überfallen worden war, den ganzen 
Überfall während des Nachtwandeins, ohne hinterher irgendwelche Er¬ 
innerung daran zu haben. 

Bei einem anderen Fall entwickelte sich die Hysterie bei einer 
jungen Frau, die von Löwen überfallen worden war, während sie sich 
in der Nähe des Löwenkäfigs aufhielt. Es zeigte sich bei ihr ein sonder¬ 
bares Delirium im Zustand des Nachtwandeins, in welchem sie die Löwen 
genau imitierte und sogar den Versuch machte, Photographien von Kindern 
zu verschlingen. Nach jeder Krise trat vollständige Amnesie ein, und 
die Erinnerungen konnten nur durch Hypnose wachgerufen werden. 

Ich hatte selbst Gelegenheit einen ähnlichen Fall von Hysterie zu 
beobachten und gebe einen Teil der schon früher veröffentlichten Kranken¬ 
geschichte hier wieder. 

Miss F. litt seit einer Reihe von Jahren an zeitweise auftretenden 
Anfällen von Kopfweh, Herzklopfen und Zuckungen beider Arme, besonders 
des linken Armes. Jeder dieser Anfälle dauerte mehrere Monate. In 
den Intervallen zwischen den Anfällen fühlte sie sich ganz wohl. Manch- 


Die Psychoanalyse der Lady Macbeth. 


397 


mal traten die Zuckungen so stark auf, dass die Kranke eine Woche lang 
das Bett hüten musste, wobei sie einmal zwei Tage lang in einem 
Zustand von stuporöser Betäubung war. Die Anfälle sollten Folge einer 
Aufregung sein, welche die Patientin im Alter von acht Jahren hatte, eines 
Schreckens beim Anblick ihres als Geist verkleideten Vetters. Die Patientin 
war nicht fähig, sich die Einzelheiten des Vorganges ins Gedächtnis zu¬ 
rückzurufen. 

Miss F. war leicht zu hypnotisieren ; beim Erwachen aus der Hyp¬ 
nose zeigte sich Amnesie. Während der Hypnose konnte sie sich deut¬ 
lich aller mit der Gemütserregung zusammenhängenden Einzelheiten er¬ 
innern, weckte man sie auf, so verlor sie das Gedächtnis für diesen 
Vorfall. Als sie während der Hypnose aufgefordert wurde, über ihre 
Erlebnisse mit dem Geist zu sprechen, gab sie in lakonischer Weise 
folgenden Bericht: „Jetzt sehe ich es alles. Er macht Lärm. Er kommt 
in meine Nähe. Es ist finster. -Ich sehe eine weisse Gestalt und schreie. 
Er sagt mir, dass er es wäre, und ich sollte nicht weinen. Dann weisis ! 
ich nichts mehr bis der Doktor kam.“ 

Während der Hypnose teilt sie dann noch weitere Erinnerungen 
mit, erzählt, dass sie gerungen und gebissen hätte und schliesslich durch 
Chloroform bewusstlos wurde. Die Patientin war erst acht Jahre alt, 
als sie diese Träume erlebte. Während die Patientin in der Hypnose 
von dem Erlebnis mit dem Geist sprach, war die Reaktion ganz dramatisch. 
Sie seufzte, fröstelte, knirschte mit den Zähnen, der ganze Körper zitterte, 
der linke Arm zuckte, und das Gesicht verzerrte sich wie in Todes¬ 
angst. Ab und zu schrie sie auf: „Geist“, „weiss“, „der Geruch“. 

So wurden in der Hypnose die quälenden Erinnerungen der Ver¬ 
gangenheit wieder lebendig. Beim Erwachen aus der Hypnose hörten alle 
abnormen Symptome sofort auf (mit Ausnahme der Zuckungen am linken 
Arm). Die Patientin hatte keine Erinnerung an die seltsamen Vorgänge 
während der Hypnose, noch an ihre Erzählung des Erlebnisses. Man 
wird bemerken, dass die Wiederholung des ursprünglichen emotionellen 
Erlebnisses in der Hypnose, die ein künstlicher Somnabulismus ist, Ähn¬ 
lichkeit mit dem hysterischen Nachtwandeln der Lady Macbeth hat. 

Ein merkwürdiger Fall von Nachtwandeln ist der von Irene, über den 
Jan et ausführlich berichtet. Auch dieser Fall gleicht dem der Lady 
Macbeth. Irene war ein junges Mädchen von zwanzig Jahren, die durch 
Gemütserschütterungen infolge des Todes ihrer Mutter zwei Jahre lang 
schwere hysterische Erscheinungen zeigte, die sich hauptsächlich durch 
Nachtwandeln, verbunden mit Halluzinationen, äusserten. Der Fall wird 
von J anet folgendermassen beschrieben: 

„Wir kehren nun zu der Geschichte eines jungen Mädchens von 
zwanzig Jahren, namens Irene, zurück, die aus Verzweifluug über den 
Tod ihrer Mutter krank wurde. Man muss bedenken, dass der Tod dieser 
Frau sehr rührend und dramatisch war. Die arme Frau hatte im letzten 
Stadium der Schwindsucht mit ihrer Tochter allein in einer armseligen 
Dachstube gelebt. Der Tod kam langsam mit Erstickungsanfällen, Blut¬ 
spucken und den anderen quälenden Symptomen dieser Krankheit. Das 
Mädchen kämpfte hülflos gegen das Unerbittliche. Sie wachte sechzig 
Nächte lang bei ihrer Mutter und bemühte sich an der Nähmaschine das 


893 


Isidor H. Coriat, 


zum Unterhalt Notwendige zu verdienen. Nachdem die Mutter gestorben 
war, versuchte sie den Leichnam wieder zu beleben, den Atem zurück¬ 
zurufen; als sie dann die Glieder aufrichten wollte, fiel die Leiche zu 
Boden, und es kostete sie die grösste Anstrengung, sie wieder ins Bett 
zu heben. Sie können sich diese trostlose Szene vorstellen! Bald nach 
dem Begräbnis zeigten sich merkwürdige Symptome. Es war einer der 
merkwürdigsten Fälle von Nachtwandeln, die ich gesehen habe. Die Krisen 
dauerten stundenlang, und die Aufführung der traurigen Szene war dra¬ 
matisch so vollendet, dass wohl keine Schauspielerin es besser hätte 
darstellen können. Das junge Mädchen hat die sonderbare Gewohnheit, 
alles was sich beim Tode ihrer Mutter ereignete, bis aufs kleinste Detail 
wieder vorzuführen. Manchmal spricht sie nur, erzählt mit grosser Ge¬ 
läufigkeit alles, was sich ereignet hat, fragt und antwortet abwechselnd 
oder stellt nur Fragen; manchmal scheint sie nur den Anblick zu haben 
und sieht mit erschrockener Miene und starrem Blick die verschiedenen 
Szenen vorüberziehen. Dann vereinigt sie wieder alle Halluzinationen, 
Worte, Handlungen und scheint ein sehr sonderbares Drama aufzuführen. 
Ist der Tod eingetreten, so führt sie diesen Gedanken weiter fort und 
bereitet alles zu ihrem eigenen Selbstmord vor. Sie erörtert dies laut, 
scheint mit ihrer Mutter zu sprechen, von ihr Rat zu bekommen, sie 
stellt sich vor, dass sie sich von einer Lokomotive überfahren lassen wird. 
Dies beruht auf einem wirklichen Ereignis ihres Lebens. Sie stellt sich 
vor, auf dem Wege dahin zu sein, streckt sich auf dem Boden des Zimmers 
aus und wartet mit einem Gemisch von Angst und Ungeduld auf den 
Tod. Sie spielt die Szene, und ihr Mienenspiel ist bewunderungswürdig. 
Der Zug kommt vor ihren entsetzten Augen an, sie stösst einen fürchter¬ 
lichen Schrei aus, fällt hin und bleibt regungslos liegen. Bald steht sie 
wieder auf, um dasselbe Spiel von neuem zu beginnen. Tatsächlich sind 
diese beständigen Wiederholungen eine für das Nachtwandeln eigentüm¬ 
liche Erscheinung. Nicht nur, dass die verschiedenen Anfälle sich immer 
gleichen, dieselben Bewegungen, dieselben Worte und derselbe Ausdruck 
wiederkehren, sondern auch im Verlauf desselben Anfalles wird dieselbe 
Szene in derselben Weise fünf- bis zehnmal wiederholt. Schliesslich lässt 
die Aufregung nach, der Traum wird weniger deutlich, und der Kranke 
kehrt allmählich oder auch plötzlich in den Zustand des normalen Bewusst¬ 
seins zurück, nimmt seine gewöhnliche Beschäftigung wieder auf, als 
ob nichts geschehen wäre.“ 

So der Fall von Jan et. Kehren wir zu Lady Macbeth zurück. — 
Nach der Nachtwandelepisode kommt die letzte Szene — das Schluss¬ 
bild der Katastrophe — die einzig mögliche Lösung von J^ady Macbeth’ 
seelischer Erkrankung — nämlich ihr Selbstmord. Wir bleiben ganz 
im Unklaren über Art und Weise der Ausführung — sowohl Drama wie 
Chronik schweigen. Der Impuls zum Selbstmord folgt gelegentlich dem 
hysterischen Nachtwandeldelirium (hysterical somnambulistic delirium), hat 
sich aber auch schon während einem Anfall gezeigt. 

So sind wir nun Lady Macbeths psychischer Erkrankung durch 
alle Phasen ihrer Entwickelung gefolgt, von der Entstehung des ersten 
Komplexes bis zu seiner Lösung und dem Selbstmord. Der grundlegende 
Mechanismus der Krankheit war eine Verdrängung gewisser emotioneller 
Gedanken, die zu psychischer Dissoziation und dem Wiedererscheinen 


Die Psychoanalyse der Lady Macbeth. 


399 


dieser Gedanken während des Nachtwandeins führten. Es war nötig 
im Verlauf dieses Essays zwei andere Phasen der Tragödie zu erörtern, 
die eng mit Lady Macbeth’ psychischer Krankheit verknüpft sind, näm¬ 
lich die Kriminalität und Epilepsie des Macbeth und die Hexen, welche 
eine Suggestion des Verbrechens und Ehrgeizes symbolisieren. 

Das unbarmherzige Schicksal griechischer Tragödie, des Hamlet, 
König Lear, Othello, Rosmersholm beherrscht auch die Tragödie des Mac¬ 
beth. Bei Lady Macbeth besteht ein fortgesetzter Kampf zwischen freiem 
Willen und Determination. Der Determinismus siegt, weil Lady Macbeth 
sich nicht von den verdrängten Komplexen, die ihre psychische Störung 
verursachen, befreien kann. Sie glaubt ihre Handlungen selbst zu bestim¬ 
men, während in Wirklichkeit die unbewussten Komplexe für sie ent¬ 
scheiden. Auch Macbeth ist das Opfer des gleichen psychischen Mecha¬ 
nismus. 

Der ethischen Unbarmherzigkeit der Tragödie mit ihren starken deter¬ 
ministischen Faktoren ist Lady Macbeth’ Hysterie zuzuschreiben. Weil 
Lady Macbeth während des Nachtwandeins eine andere ist als die wache 
Lady Macbeth, leidet sie an einer Dissoziation der Persönlichkeit. Morton 
Prince hat besonders darauf hingewiesen, dass alle Hysterie auf psychi¬ 
scher Dissoziation beruht. Lady Macbeth hatte eine zwiespältige Persön¬ 
lichkeit, Normales und Anormales wechselt miteinander ab. 

Die Dissoziation rührte von verdrängten unbewussten Motiven und 
Konflikten her und war nicht einer plötzlichen Emotion, sondern einer 
Gruppe von verdrängten Komplexen zuzuschreiben. 

In der Macbethtragödie bewegen wir uns in einer symbolischen Welt. 
Die Macbeth Legende ist ein Symbol, in der das Thema der Kinderlosig¬ 
keit in ähnlicher Weise enthalten ist, wie ein Traum starke persönliche 
Interessen und Motive symbolisieren kann. Das ist die Wirklichkeit, die 
hinter dem Symbol steht. Die Gestalt des Macbeth ist primitiv, sagen¬ 
haft und es ist jetzt ganz bekannt, dass der Bildung von Mythen und 
Legenden derselbe Mechanismus zugrunde liegt wie bei der Gestaltung 
von Träumen. Bei Macbeth wie in den Träumen bewegen wir uns in 
einer Welt übernatürlicher Kräfte — Hexen und Geister, übertriebene und 
heroische Taten, ja sogar gefühllose Morde, Mechanismen, die denen der 
Träume verwandt sind. Die Hexen sind sagenhafte Wesen, geschlechts¬ 
lose alte Frauen, gefühllos und doch Ehrgeiz erregend, ohne Beweggründe 
und doch Träger des Hauptmotivs. An ihnen können wir sehen, wie nahe 
verwachsen Shakespeares Gestaltungskraft mit dem Primitiven, Sagen¬ 
haften war. Sie üben ihre Macht auf Macbeth und auch auf Lady Macbeth 
aus, weil sie dem unbewussten und verdrängten Wunsch König zu sein 
neuen Antrieb geben. So sind die Hexen die Anstifter der ganzen Tra¬ 
gödie und der unbewussten Wünsche der Hauptcharaktere. Sie setzen die 
Maschine in Gang, ähnlich wie ein Traum durch die Ereignisse des Tages 
hervorgerufen werden kann. Ihre Bedeutung wird klar im Licht der Psycho¬ 
analyse. Sie sind erotische Symbole, das Sinnbild der Zeugungskraft in 
der Natur, obgleich selbst geschlechtslos. In der ,,Höllenbrühe“ sind fremd¬ 
artige Stoffe enthalten, deren sexuelle Bedeutung schon hei oberflächlicher 
Analyse zutage tritt. 


400 


Isidor H. Coriat, Die Psychoanalyse der Lady Macbeth. 


Man wird fragen: warum dieses ungewöhnliche Sinnbild ? Wohl 
deshalb, weil sie die Embryowünsche und halbentwickelten Gedanken des 
Macbeth zur Reife bringen. Wenn Macbeth vor der Tat zurückschaudert, 
so ist es nicht vor dem Entsetzlichen, das ihre Prophezeiung in sich 
schliesst, sondern vor seinen eigenen blassen Wünschen, die nach Er¬ 
füllung verlangen, und den seelischen Konflikten. Der Schauder vor der 
unseligen Tat wird überwunden. Aber wie? Nur durch das unablässige 
Bohren und Drängen der unbewussten Wünsche, die sich schliesslich 
zu einer Zwangsvorstellung verdichten. Das sind die seelischen Wurzeln 
der Verbrechen Macbeths. Durch psychische Infektion überträgt er seine 
Konflikte auf seine Gattin, sie finden bei ihr einen günstigen Boden, 
wachsen und überwuchern das Bewusstsein, so dass sich eine typische 
Hysterie entwickelt. (Übersetzt von T. v. E.) 



Referate und Kritiken. 


401 


Referate und Kritiken. 

Dr. Otto Rank und Dr. Hanns Sachs. Dießedeutung der Psychoanalyse 
für die Geisteswissenschaften. J. F. Bergmann. Wiesbaden 1913. 

Um das Buch auch in der Psychoanalyse nicht erfahrenen Lesern zugänglich 
zu machen, schicken die Verff. eine kurze Besprechung des Unbewussten und seiner 
Ausdrucksformen voraus. Sodann werden Mythen- und Märchenforschung, Reli¬ 
gionswissenschaft, Ethnologie und Linguistik, Ästhetik und Künstlerpsychologie, 
Philosophie, Ethik und Recht und schliesslich Pädagogik und Charakterologie be¬ 
sprochen, soweit sich Berührungspunkte mit der Psychoanalyse ergeben. Am meisten 
Beachtung verdienen zweifellos die Kapitel über Mythen- und Märchenforschung 
sowie über Religionswissenschaft. Wenn in ihnen auch im grossen und ganzen 
früher Gesagtes lediglich wiederholt wird, so rechtfertigt doch die klare und ein¬ 
drucksvolle Darstellungsweise eine ausführlichere Wiedergabe. An der Hand von 
Beispielen, die in der Tat im Sinne der Anschauungen der Verff. als typisch gelten 
können (das Grimm’sche Märchen von den zwei Brüdern, die ägyptische Geschichte 
der Brüder Anup und Bata, die Mythe von Isis und Osiris u. a.), wird der tiefere 
Sinn gezeigt, der den Märchen und Mythen innewohnt. Naive Naturauffassung stellt 
nur eine der vielen mythengestaltenden Kräfte dar; die Naturphänomene spielen etwa 
die Rolle des aktuellen Tagesmaterials bei der Traumbildung, während die eigent¬ 
lichen Triebkräfte im Unbewussten liegen. „Der Mythus ist ein Ersatz für abge¬ 
leugnete psychische Realitäten. — Die Psychoanalyse rekonstruiert die ehemals be¬ 
wusst geduldete, dann verbotene und nur in Gestalt des Mythus wieder entstellt 
zum Bewusstsein zugelassene Wunschdurchsetzung, deren Aufgeben den Anstoss 
zur Mythenbildung bot.“ 

Vom Mythus zur Religionswissenschaft ist nur ein kleiner Schritt. „Der 
Mythus teilt mit der Religion die Funktion der Aufnahme und symbolisch ein¬ 
gekleideten Befriedigung sozial unverwendbarer Triebregungen. Diese geht vom 
Verhältnis des Kindes zu den Eltern aus und gipfelt in einem grossartigen 
Kompromissprodukt der darin enthaltenen ambivalenten Gefühlsregungen.“ Im 
Mittelpunkt der Betrachtung steht natürlich der Inzestkomplex. Totemismus und 
Tabu als Vorstufen der Religion „sollen einen mit grosser Mühe und Energieauf¬ 
wand zustande gebrachten für das Wohl der Gesamtheit wichtigen Verzicht sichern. 
Als eine der wichtigsten Funktionen des Totemismus stellt sich die Verhinderung 
des Inzests dar, und der bedeutsamste Fall des Tabu, das Tabu der Herrscher, ist 
deutlich darauf berechnet die Gewaltanwendung gegen das Oberhaupt, das ja ur¬ 
sprünglich mit dem Familienoberhaupt zusammenfiel,, unmöglich zu machen.“ Die 
Folge der Verbote ist die Angst vor ihrer Übertretung. Diese wird auf imaginäre 
Objekte der Aussenwelt projiziert; so entsteht der Dämonenglaube, der später da¬ 
durch eine neue Richtung erhält, dass die Geister zu eindrucksvollen Naturvorgängen 
in Beziehung gebracht werden. Aus den Dämonen werden nun Götter. Der Um¬ 
schwung der Einstellung, der jetzt vor sich geht, beruht auf der Ambivalenz der 
an allen religiösen Bildungen beteiligten Triebkräfte. Der Sohn fühlt sich nicht 
mehr nur als Rivale des Vaters, er ist nicht mehr ausschliesslich als sein Feind 
darauf bedacht ihn zu beseitigen, er fängt vielmehr an, ihn zu lieben und zu ver¬ 
ehren. Nun gibt es also nicht mehr nur zürnende und strafende, sondern auch huld¬ 
volle Götter. Damit dieser Umschwung möglich war, musste erst die Inzestschranke 
gefestigt sein. Dann erst konnte die im Liebesieben nicht verwertbare Zärtlichkeit 
in der religiösen Phantasiewelt Befriedigung finden. Die Figur der mütterlichen 
Gottheit — Istar, Isis, Rhea, Maria — wird geschaffen. Eine sekundäre Bearbeitung 


402 


Referate und Kritiken. 


fasst die einzelnen Legenden „in einem dem ethischen und rationalen Niveau der 
Epoche angepassten Religionssystem zusammen.“ 

Die Verdrängungsneigung gegen den Inzest erkennt man auch aus der 
grossen Rolle, die „der frühe Tod eines jugendlichen in geschlechtliche Beziehungen 
zur Mutter — Gattin gebrachten Sohnes“ in vielen Kulten spielt. Er ist die Strafe 
für den verpönten Inzest. Ihm entspricht in anderen Mythen die Kastration. Durch 
Anknüpfung an die Naturvorgänge (Sonnenuntergang — Sonnenaufgang, Schwinden 
und Wiederkehr der fruchtbaren Jahreszeiten), in der Hauptsache aber in dem Be¬ 
streben die harte Notwendigkeit des Todes vor dem eigenen Bewusstsein abzuleugnen, 
bildete sich der Auferstehungsgedanke heraus. Die Symbolik der Erde als Mutter 
aller Lebewesen verleiht der Inzestphantasie eine breitere Grundlage und einen neuen 
Sinn. Das Sterben ist eine Rückkehr in den Mutterleib, aus dem die geopferten 
Gottheilande wiedergeboren werden. „Aus dem abgeschnittenen Zeugungsglied des 
Gattensohnes, das die Mutter — Gattin sorgfältig bewahrt (Isis, Kybele, Astarte 
etc.), spriesst die neue Vegetation und so erhebt sich auch, aus der Mutter Erde, in 
die der geopferte Gott oder sein wesentlichstes Attribut, der Phallus, eingesenkt 
wird, der wiedererstandene Gott zu neuem Leben.“ Die Ablehnung des Vaters, an 
dessen Stelle sich der Sohn gesetzt hat, in den meisten philosophisch geläuterten 
Religionssystemen ist eine Folge der infantilen Rivalität und der Feindseligkeit, 
die sich im Unbewussten erhalten und von dort aus im religiösen Leben durch¬ 
setzen. Der extremste Ausdruck der Überwindung des Vaters ist der Atheismus. 

Die Kapitel, die den übrigen Geisteswissenschaften gewidmet sind, sind wesent¬ 
lich kürzer. Das Festhalten an dem Inzestkomplex und den Rivalitätstendenzen 
als dem Boden, auf dem alle Geisteskultur gewachsen, zeugt zwar von System, 
macht die Lektüre aber nicht sonderlich anregend. Immerhin enthalten auch diese 
Kapitel mancherlei Bemerkenswertes. Dr. B. Saal er. 


Dr. Wilhelm Stekel, Die Träume der Dichter, eine vergleichende 
Untersuchung der unbewussten Triebkräfte bei Dichtern, Neu¬ 
rotikern und Verbrechern. Bausteine zur Psychologie des Künstlers und 
des Kunstwerks. Wiesbaden, Bergmann, 1912. 

In dem Untertitel der geistreichen Arbeit hat Stekel sein Buch richtig bezeichnet: 
Es soll eine vergleichende Studie der unbewussten Triebkräfte beim Dichter, Ver¬ 
brecher und Neurotiker sein. In welcher Weise ihm seine Absicht gelungen ist, 
mag jeder Leser des fesselnden Buches selbst entscheiden; in einem kurzen Referat 
ist es nur möglich, die allgemeinen Grundgedanken des Buches wiederzugeben. 

Jeder Neurotiker ist zugleich, ohne Ausnahme, ein grosser Dichter, nur ist 
ein Unterschied zwischen ihnen: Jener lebt in der Phantasie, in Tagträumen, in seinen 
Träumen des Nachts, während dieser die Kunstwerke, die Dichtungen schafft. Dies 
belegt Stekel zunächst mit Beispielen aus seiner Praxis. 

Die Grundlage alles Schaffens sind die Triebe des Menschen, von denen 
zwei, der Zerstörungstrieb und der Schaffenstrieb eine hervorragende Rolle spielen: 
Der Dichter ist, in gewissem Sinne ein Verbrecher, er ist gleich diesem gewisser- 
massen eine Rückschlagserscheinung. Zahlreiche Beweise für seine Hypothese bringt 
Stekel teils aus den Werken von Dichtern (Goethe, Hebbel, Storni, Shake¬ 
speare), teils aus der Geschichte (Kaligula, Robespierre, Borgia). Der Dichter ist 
zugleich wie das Kind, universell kriminell, er ist ebenso wie der Neurotiker ein 
Kind, beide stecken noch im psychischen Infantilismus. 

Von den Verbrechern werden natürlich unter Ausschluss der Geisteskranken 
unter ihnen (Lombroso) nur diejenigen betrachtet, die nicht die Stärke in sich 


Referate und Kritiken. 


403 


fühlen, dem ungünstigen Milieu zu widerstehen, also die sogenannten Gelegen¬ 
heit s Verbrecher. 

Einmal ist ihre Ähnlichkeit mit manchen Neurotikern körperlich (Kleinheit 
des Schädels, fliehende Stirn, Henkelohren, spärlicher Bartwuchs etc.), dann aber 
hauptsächlich psychisch vorhanden: Dichtende Verbrecher sind keine Ausnahme, 
ferner ist bei beiden vor allem ausgeprägt: Neid, Misstrauen, Eitelkeit, Trotz, Grau¬ 
samkeit und Eifersucht. 

Die gleichen Eigenschaften finden wir beim Neurotiker, nur etwas abgeschwächt: 
und es kommt noch bei ihm etwas hinzu: Unzufriedenheit mit sich und der Welt, 
er hält sich einerseits für einen schlechten Menschen, für minderwertig, aber auch 
wieder zugleich für besser als die andern, er kann Lob und Liebe im Unmass ver¬ 
tragen, dagegen nicht eine Spur von Tadel: Er kennt nur die Extreme. 

Der Dichter zeigt nun alle Charaktereigenschaften des Neurotikers und des 
Verbrechers in erhöhtem Ma ass e. Interessant ist ein angeführter Zug des grössten 
deutschen Dichters, von Goethe: Goethe konnte eine Nacht nicht schlafen, weil 
man seinem Freunde Schiller einen Fackelzug bringen wollte. Allen dreien gemeinsam 
ist eine oft krankhaft gesteigerte Ich liebe. 

Nur nehmen die Dichter einen höheren Standpunkt ein als die beiden andern: 
Sie können sich durch ihre Kunst helfen, sie können ihre verbrecherischen Triebe 
entladen in ihren Werken. 

Bei Shakespeare, Schiller, Kleist, Grillparzer und Hebbel steht, namentlich in 
ihren Jugendwerken, abgesehen von den Dichterlingen, bei denen zuletzt alles unter¬ 
geht, der Zerstörungstrieb obenan. 

Der Traum lässt nun bekanntlich den wahren Charakter eines Menschen 
erraten, wir müssen also bei der Analyse der Dichterträume alle jene aufgeführten 
Eigenschaften wiederfinden. 

Um eine Übersicht über die Träume (stereotype, immer wiederkehrende Träume 
des Nachts und auch Tagträume) zu erhalten, hat Stekel folgende Rundfrage bei 
bekannten Dichtern veranstaltet: 

1. Haben Sie typische (sich wiederholende) Träume? 

2. Können Sie mir einen Traum mitteilen, der Ihnen einen grossen Eindruck 
gemacht hat? 

3. Haben Sie Tagträume? 

4. Haben Sie in Ihren Träumen kriminellen Einschlag? 

5. Sind Ihre Träume nüchtern oder phantastisch? 

6. Verwerten Sie Ihre Träume zur dichterischen Produktion? 

Die Rundfrage ergab ein reiches Resultat. Hier seien nur die Resultate 
wiedergegeben: 

Fast alle Dichter zeigen kriminelle Träume und ein starkes Triebleben; fast 
alle Dichter träumen vom Fliegen, d. h. sie haben das Bestreben, auf der anderen 
Seite sich von den Trieben loszulösen und zum Himmel sich zu erheben. Wir sehen 
in ihren Träumen die geheime Religiosität der Dichter, die sich im Prüfungstraum 
äussert, dann der Traum von der schönen Landschaft (Rückblick auf die Vergangen¬ 
heit), das Schwelgen in historischen Phantasien, die Neigung zu telepathischen 
Phänomenen, und endlich ein tiefes Schuldbewusstsein bei allen Dichterträumen 
ständig wiederkehren. 

Letzteres, das tiefe Schuldbewusstsein, erklärt Stekel aus ihrer Unfähigkeit 
zur Liebe, aus ihrem Mangel an Liebe, zweier Eigenschaften bzw. Tatsachen, deren 
sie sich wohl bewusst sind und die sie sehr schwer empfinden. Sie lechzen nach 


404 


Referate und Kritiken. 


der Wertschätzung der anderen, aber nur — um ihre Liebe zu sich selbst, ihre 
grenzenlose Ich liebe zu steigern. Die Liebe zur Familie ist nur eine von Reue 
diktierte nachträgliche Korrektur einseitiger Lieblosigkeit. 

Dies alles hat der Dichter mit dem Neurotiker und Verbrecher gemeinsam: 
Nur unterscheidet er sich in hohem Maasse von ihnen beiden, dass er den Mangel 
an Liebe als Fehler empfindet und sich aus Hass und Verachtung zur Liebe und 
Nächstenliebe durchringt. 

Die Liebe spielt übrigens im Traumleben — und zwar nur in diesem — des 
Dichters eine ganz untergeordnete Rolle: es ist mehr nur der Wunsch zu lieben, 
der infolge ihrer empfundenen Minderwertigkeit aufkommt. 

Das grösste Band, das Dichter, Verbrecher und Neurotiker verbindet, ist der 
Glaube an die grosse historische Mission, von dem sie ganz erfüllt sind und der ihr 
ganzes Denken, Fühlen und Wollen bestimmt: 

Der Dichter fühlt sich als Auserwählter Gottes, er beneidet Christus um 
seine erhabene Mission. 

Der Verbrecher hat denselben Glauben, besonders der Anarchist: Er will die 
Menschen erlösen, und eine Haupttriebfeder seines Handelns ist der Neid gegen die 
Auserwählten der Erde. 

Beim Neurotiker finden wir ganz dasselbe: Jeder Neurotiker ist ein Messias, 
berufen, die Geschicke der Welt zu lenken. 

Ich schliesse mit Stekels eigenen Worten, die zugleich die Sprache, in der 
das Buch geschrieben ist, veranschaulichen mögen: „Nun nehmen wir von den 
Träumen der Dichter und dem Leser Abschied. Wir haben einen Eimer in den 
tiefen Brunnen hinabgelassen und seinen Inhalt zutage gefördert. Es werden viele 
Eimer auf und nieder laufen, ehe das Rätsel des Traumes vollkommen gelöst wird. 
Doch vollkommen wird es ja nie gelöst werden. Der tiefe Brunnen ist uner¬ 
schöpflich. Er steht mit dem Meere in Verbindung. Wir werden das Meer niemals 
ergründen. Wir gleichen Planktonforschern, die ihr Netz in die Tiefe fallen lassen 
und auf gut Glück etwas von den unermesslichen Schätzen erhaschen. Ich weiss, 
dass mein Netz diesmal nicht allzu schwer beladen war. Aber ich hoffe, die Fahrt 
war wenigstens anregend und wird der Traumforschung neue Freunde werben“. 

Dr. E. Bloch, Kattowitz. 


1. Nr. 9. Sept. 1918. 

The Journal of Nervous and Mental Disease. Vol. 40. 

Aus dem Inhalt dieses Heftes verweisen wir auf den Original-Artikel von 
Georges E. Prince: „Über psychische Epilepsie ohne andere epilep¬ 
tische Phänomene“, in dem der Autor das Krankheitsbild eines Patienten bietet, 
der zeitweise an Anfällen leidet, die sich um dessen eheliche Eifersucht herum 
gruppieren und sich daher, insoweit, als diese Eifersucht unter fiktivem Einfluss steht, 
mit Halluzinationen verbindet. Die Prognose der psychischen Epilepsie sei diejenige 
der Epilepsie im allgemeinen und das gleiche sei von der Behandlung zu sagen. 
Was das Ergebnis der Behandlung im vorliegenden Falle ist, darüber erfahren 
wir nichts. 

Eine kurze Zusammenfassung gibt den Inhalt eines Vortrages, den Dr. S. E. 
Jelliffe über die Übertragung in New York 1 ) gehalten hat. (Some Notes on 


i) New York. Neurol. Society. June 3. 1913. 



Referate und Kritiken. 


405 


„Transference“ in Psychoanalysis.) Obgleich Jelliffe als Kenner und wohl auch 
Anhänger der Freud’schen Lehren gilt, so machen doch seine Auseinandersetzungen 
den Eindruck, dass er kaum mehr als eine äusserliche, occasionelle Beziehung zu 
ihnen habe. Lobspender und Propheten hat Freud in grosser Zahl, nur kann man 
bezweifeln, ob damit der Wissenschaftlichkeit einer Richtung geholfen ist. Und 
Jelliffe tut auch nicht mehr: Erbeschränkt sich darauf, zu sagen, dass der Neuro¬ 
loge seit je mit der Tatsache der Übertragung rechnete, dass es jedoch als ganz 
besonderer Erfolg der Psychoanalyse anzusehen sei, wenn es ihr gelang, diese Über¬ 
tragung begrifflich zu erfassen, sie bewusst in die Methode der ärztlichen Praxis 
einzubeziehen. Ac quid novi? Derlei haben wir schon oft gehört, aber wir sind 
noch nicht überzeugt, dass das Problem der Übertragung schon so vollständig er¬ 
ledigt, ihre Tatsache allgemein anerkannt sei. Wir können z. B. auf die Anschau¬ 
ung, die Dr. Adler im „Verein für Individualpsychologie“ begründet hat, verweisen, 
die jede Übertragung und das, was Freud und andere in dieses Wort gelegt haben, 
leugnet, weil wir, wenn wir das Individuum als biologische Einheit erfassen wollen, 
von diesem Standpunkt aus erkennen werden, dass dieses Individuum in jeder Lage 
immer nach dem biologischen Schema seiner spezifischen Reaktionstendenz, also unter 
allen Umständen seiner „Leitlinie“ treu handeln wird. M. Cresta. 

2. Nr. 11. Nov. 1913. 

William J. M. A. Moloney, Furcht und Ataxie. 

Der Autor führt an der Hand von drei Fällen als Ergebnis seiner Unter¬ 
suchungen aus, das Entstehen der Ataxie, die immer von Angstgefühlen begleitet 
sei, hänge vom geistigen Zustand des Individuums im Moment des „Shocks“ ab, 
ihre Vorbedingung sei also in der psychischen Lage des Individuums zu suchen. 
Zwei Elemente seien an der Entwicklung der Ataxie beteiligt, das Anwachsen des 
Furchtkomplexes als Ergebnis der tabetischen Symptome und das Umsichgreifen der 
physiologischen Störung. Für den Diabetiker sei die Furcht ein Ergebnis der Ataxie 
und die Ataxie ein Ergebnis der Furcht. M. Cresta. 

3. Nr. 12. Dez. 1913. 

Ch. L. Dana, „Die Zukunft der Neurologie“. Vortrag in der Amer. NeuroL 
Ass. 5., 6. und 7. Mai 1913. 

Der Autor gibt zunächst einen gedrängten geschichtlichen Überblick der Ent¬ 
wicklung der „Neurologie“. Daran schliesst er eine Aufzählung der Aufgaben und 
Pflichten, deren Erfüllung man eigentlich schon heute vom Neurologen erwarten 
sollte: Er sei nicht nur ein Pathologe, er hätte auch Einfluss auf das normale Leben 
des Menschen zu nehmen, als ein Pädagoge im weitesten Sinne des Wortes, als 
ein Berater dort, wo es sich um Entscheidungen im individuellen Leben handelt 
(Eheschliessung, Berufswahl usw.). Wollen wir dem Autor so weit unseren Beifall 
nicht versagen, als wir vom Neurologen mehr verlangen können als eine Pathologie, 
sagen wir vielleicht, die Fähigkeit, das Individuum in seiner psychischen Eigenart 
zu verstehen, so erscheinen uns doch die Anforderungen, die Dana an den „Neuro¬ 
logen der Zukunft“ stellt, als übertrieben. Zunächst fordert er eine Spezialisierung: 
Es sollte Forscher der „organischen Neurologie“, der „funktionellen Neurologie“, 
„Psycho-Therapeuten“, „Psycho-Analytiker“, „Elektrotherapeuten“ usw. geben, der 
grosse Neurologe, der „Übermensch der Neurologie“ werde derjenige sein, der dies 
alles in seiner Hand vereinigen werde, ein Arzt der Kultur, des Fortschrittes u. d. m. 
Wir wollen genügsamer sein und dafür etwas strenger. M. Cresta. 


406 


Referate und Kritiken. 


Dr. HeinrichKaliane: Über psych ische Depressionen. Wiener klin. Wochen¬ 
schrift. 1913. Nr. 46. 

Dass diese Arbeit, die gar keine neuen Gesichtspunkte über die wichtige Frage 
der psychischen Depressionen bringt und ein Konglomerat aus Dubois und den Ge¬ 
dankengängen darstellt, die der Autor in seinem Buche ,,Der defekte Mensch“ publi¬ 
ziert hat, an erster Stelle erscheint, hat seinen besonderen Grund. Diese Publikation 
enthält nämlich eine der jetzt so beliebten und lohnenden Angriffe auf Freud und 
seine Schule. Man wird mir das Zeugnis nicht versagen, dass ich mich von diesem 
Einflüsse frei gemacht habe und strenge Kritik an vielen der kritiklosen Publikationen 
der letzten Zeit übe. Aber ich mache es offen und ehrlich, nenne die Namen und 
weise die Fehler auf. Aber diese Arbeit nennt keinen Namen und gefällt sich in 
dunklen Anspielungen und Hinweisen. ... Sie ist ein Überfall aus dem Hinterhalte. 
Und zu so etwas gibt sich die erste führende medizinische Zeitschrift Österreichs 
her, einem Manne gegenüber wie Freud, der die ganze Welt mit seinen Ideen be¬ 
fruchtet hat und selbst in seinen Fehlern grösser ist, als seine Gegner, die ihn und 
die Grösse seiner Auffassung und seines Kampfes nicht verstehen! Dass man heute 
von einer Wiener Schule spricht, verdanken wir Freud, der uns einen neuen Weg 
zur Forschung und Heilung gezeigt hat. Dass er sich in Irrtümer verrannt hat, dass 
er auf Abwege geraten ist, gibt Menschen, die von der Tragweite seiner Ideen 
noch keine Ahnung haben, nicht das Recht, ihn mit ein paar lächerlichen Bemerkungen 
abzutun. Der Autor wendet sich gegen die „oft belletristische Wissenschaft“ der 
Psychoanalyse. Er hätte am wenigsten Grund über Belletristik und Journalismus 
loszuziehen. Glaubt er, dass seine journaliste Tätigkeit vergessen ist? Dass man 
nicht weiss, dass er sich viele Jahre und noch heute mit erotischen Witzblättern 
intim und mit dem Herausgeber eng liiert befasst? Ich brauche nur auf die bekannten 
„Wiener Karikaturen“ hinzuweisen. Und dieser Forscher, der doch von dieser Mit¬ 
arbeiterschaft her die Bedeutung des Sexualtriebes wenigstens als Erwerbsquelle 
kennen sollte, wagt es von hoher ethischer Auffassung der Duboisschule im Gegen¬ 
satz zur Psychoanalyse zu schreiben! Die Psychoanalyse ist wenigstens ehrlich. 
Wir bringen im nachfolgenden die Ausführungen des Autors und versprechen, uns 
einmal eingehender mit diesem Thema zu befassen. Kahane schreibt: 

„Die Indikation der psychischen Therapie bei neurasthenisch-bysterischen Krank¬ 
heitsbildern war schon lange in weiten ärztlichen Kreisen akzeptiert, als ein unglück¬ 
licher Griff einiger Theoretiker die ganze so überaus wichtige Disziplin auf ver¬ 
hängnisvolle Abwege führte und durch die hieraus folgenden Konsequenzen die 
psychische Therapie in einem sehr bedauernswerten Misskredit brachte. 

Wir meinen die sattsam bekannte Lehre vom Primat der Sexualität im 
Menschen und von der Entstehung der Neurosen aus sexuellen Erlebnissen und 
Triebrichtungen. 

Wohl selten ist in irgendeiner Wissenschaft mit solcher Eilfertigkeit und Ein¬ 
seitigkeit vorgegangen worden, wie in der Psychologie, die ja seit jeher eine Frei¬ 
stätte für die sonderbarsten Forschungsmethoden gewesen ist. 

Mögen die sonstigen Fehlgriffe und Oberflächlichkeiten in dieser so oft rein 
belletristisch betriebenen Wissenschaft weiter keine ernsten Folgen gehabt haben 
— so haben sie den theoretischen Ausbau der exakten Psychologie verzögert, und 
erschweit. 

Aber jene oben erwähnte Theorie hat sich als ein verhängnisvoller Irrtum er¬ 
wiesen, der die bedauerlichsten Folgen für die junge Wissenschaft selbst und ins¬ 
besondere für Geltung und Wirksamkeit der Psychotherapie gezeitigt hat. 

Es ist absolut unhaltbar und spricht jeder rationellen Psychomechanik Hohn, 
den Sexualtrieb als die eigentliche Achse der Psyche hinzustellen und alle anderen 


Referate und Kritiken. 


407 


Vorstellungskomplexe, Triebrichtungen und Gefühlsreaktionen demgemäss sexuell 
umzudeuten. 

Nie war der Sexualtrieb etwas anderes als eine spezielle Unterart des allge¬ 
meinen Lebenserhaltungstriebes und niemals ist auf längere Zeit der Erhaltungstrieb 
von seinem Primat zu verdrängen. 

Mag auch die erotische Erregung gelegentlich sehr steil ansteigen und in ge¬ 
wissen Momenten das Bewusstsein ausfüllen, so ist doch, wenn man längere Zeit¬ 
räume und die Gesamtmasse des Vorstellens und Wollens betrachtet, immer und 
überall der rein individuelle Erhaltungstrieb im Vordergrund und nicht daraus zu ver¬ 
drängen. 

Einen grossen Teil des individuellen Lebens (Kindheit und Alter) charakteri¬ 
siert ein beinahe asexuales Verhalten, und nur die gequälteste Deutelei konnte es 
zuwege bringen, dem Kinde an der Mutterbrust sexuale Regungen zuzusprechen, 
wobei eine unverzeihliche Fahrlässigkeit jede Lust gleich als sexuelle „Libido“ 
charakterisiert. 

Der Erwachsene soll mit Wonne sein Getränk schlürfen, der Säugling aber 
an der Mutterbrust nicht Ernährungs-, — sondern Sexualwonne empfinden! — eine 
Verkehrtheit des Denkens, die unfassbar wäre, wüsste man nicht, welch einen Zauber 
jegliche Sexualmonomanie und Deutelei auszuüben pflegt. 

Die verhängnisvolle Oberherrschaft des Erotischen in Kunst und Literatur 
macht alles, was aus der wissenschaftlichen Sphäre über diese Dinge an die Öffent¬ 
lichkeit kommt, sofort äusserst interessant und weckt eine oft sehr unwillkommene 
Resonanz, welche der vermeintlich unfehlbaren wissenschaftlichen Lehre mit eigenen 
Ansichten und Phantasien entgegenkommt. 

Ein grosser Teil der Hysteriker und Neurastheniker ist überdies in der Tat 
mit sexuellen Torheiten oder Gebrechen belastet und wird so zum Medium einer ge¬ 
fährlichen gegenseitigen Suggestion, welche manchmal Arzt und Patienten langsam 
und sicher im Morast sexueller Phantastik und Deutelei versinken lässt. 

Und doch beruht die Überschätzung der Sexualität auf äusserst oberflächlicher 
vulgärer Betrachtung und dilettantischer Unkenntnis der wirklichen psychischen 
Mechanik und sozialen Statistik. 

Wie sehr wird doch immer wieder die Tatsache vergessen, dass die Erotik 
beinahe niemals von den Trieben der individuellen Selbsterhaltung zu befreien ist 
und namentlich beim Weibe das Liebesglück zugleich Erhaltung und Ernährung 
bedeutet, weshalb die erotischen Fragen hier so sehr im Vordergrund stehen. 

Auch beim Manne lässt gewöhnlich das erotische Feuer in raschem Tempo 
nach, und die Liebe mündet gar oft in das Behagen des Familientisches, der trau¬ 
lichen Wohnung, der geregelten Ordnung und des warmen, ruhigen Schlafzimmers. 

Man vergleiche die Zahl der Selbstmorde aus Furcht vor Krankheit und Er¬ 
werbslosigkeit mit denen aus unglücklicher Liebe und halte sich die Tatsache vor 
Augen, dass die überwältigende Mehrzahl der erotischen Selbstmörder im Leben 
Schiffbruch gelitten hat und ihrer sozial unterhöhlten Existenz ein Ende macht, in¬ 
dem der erotische Misserfolg nur den Schlusspunkt eines auch sonst verfehlten 
Lebens bildet. 

Man kann ruhig die Behauptung wagen, dass der Sexualtrieb in der Psyche 
nicht mehr relativen Raum einnimmt als der Sexualapparat im G-esamtorganismus, 
wobei die jähen eruptiven Formen, welche dieser Trieb gelegentlich annimmt, nach 
einem bekannten psychologischen Gesetz so sehr imponieren, dass leicht die Sug¬ 
gestion von einem absoluten Primat des Erotischen selbst bei kritischen Ge¬ 
bildeten auftreten kann. 

Im allgemeinen kann ich nur raten, über sexuelle Dinge nicht allzu viel zu 
Zentralblatt für Psychoanalyse. IV 7 / 8 . 27 


408 


Referate und Kritiken. 


sprechen, da auf keinem Gebiet die Suggestion so rasch und verhängnisvoll einsetzt 
wie auf diesem. 

Der durchgreifende Erfolg der Dubois’schen Lehre und Praxis hat aber aller 
psychotherapeutischen Mystik und Phantastik ein dauerndes Ende bereitet.“ 

So äussert sich Dr. Kahane über den Sexualtrieb und die Erotik. Er ver¬ 
kündet orbi et urbi den Tod der Psychoanalyse und den Sieg von Dubois. Er brüstet 
sich mit seinen Erfolgen, die er einer nicht erkannten Übertragung verdankt. Wir 
möchten gerne nähere Angaben über die Dauer seiner Erfolge. Auch meine Patienten, 
die an Platzangst leiden, beginnen in der ersten Woche allein herumzugehen. Die 
Erage ist nur, wie lange dieser schöne Erfolg dauert, wenn man nicht auf die tieferen 
Ursachen eingeht. Kahane aber rät, nicht viel über sexuelle Dinge zu sprechen 
und überlässt die sexuelle Aufklärung und Auflösung den „Wiener Karikaturen“. 

Stekel. 

Dr. H. W. Frink, The Freudian Conception of the Psychoneuroses. — 
Medial Record (U. Y.), 29. Nov. 1912. 

Die vorliegende Studie ist ein aussergewöhnlich gut beschriebenes Essay und 
so gemacht, dass es das Interesse des praktischen Arztes im allgemeinen an der 
Psychoanalyse vom theoretischen wie vom praktischen Standpunkt erwecken muss. 
Dr. Frink ist fraglos einer der wenigen Ärzte in Amerika, die die psychoanalytische 
Theorie begriffen haben und die das notwendige Geschick für ihre technische Hand¬ 
habung besitzen. Schliesslich ist er imstande — und dies ist eine vom erzieherischen 
Standpunkt aus sehr hoch zu veranschlagende Eigenschaft — ein deutliches Englisch 
zu schreiben. — Zunächst teilt er die Psychoneurosen in die drei heute wohlbekannten 
Unterabteilungen ein. Hysterische Konversion, Angsthysterie und Zwangsneurose 
und dann stellt er die hauptsächlichen Charaktereigenschaften jeder Gruppe dar. Es 
ist nur bedauerlich, dass er noch immer an den ungeeigneten Ausdrücken „anxiety“ 
und „compulsion“ festhält, während er „apprehension“ und „Obsession“ meint. 

Er will damit die Existenz von unbewussten Komplexen im Geiste und ihren 
Einfluss in der Detiminierung des Verhaltens des Individuums illustrieren, und ver¬ 
weist hiebei auf posthypnotische Phänomene. Sodann weist er darauf hin, von 
welcher Bedeutuug es sei, diese Komplexe ins Bewusstsein zu heben. Die Methode 
der „freien Assoziation* wird einfach und klar beschrieben, und es folgt sodann eine 
Erklärung der Bedeutung und des Wesens der Unterdrückung. Dass der Inhalt der 
unterdrückten Komplexe nicht immer sexueller Natur ist, ein Irrtum, an dem die 
Nichtfreudianer hartnäckig festbalten, wird vollkommen klar gemacht. Desgleichen 
die Tatsache, dass die neurotischen Symptome verkleidete Wunscherfüllungen sind. 
In diesem Zusammenhänge glaube ich auf einen Irrtum des Autors hinzuweisen, wenn 
er auf die inkorrekte Benützung des Wortes „gemessen“ (enjoy), in der Phrase 
„schlechte Gesundheit geniessen“ („enjoy poor health“) aufmerksam macht. Die 
Phrase bezieht sich auf Personen, die an anderen Krankheiten neben den Neurosen 
leiden — das Wort bezieht sich auf das Substantiv nicht auf das Adjektiv. — 
Dr. Frink beleuchtet sodann seine Ausführungen durch Zitierung eines ausserordent¬ 
lich interessanten Falles von hysterischen Schwangerschafts-Phantasien, die jeden un¬ 
beeinflussten Leser überzeugen müssen. Sodann erklärt er den Mechanismus der Angst¬ 
hysterie und illustriert ihn durch eine kurze Analyse einer aus unterdrücktem analem 
Erotismus stammenden Phobie. Der Mechanismus der Neurose mit Obzessionen wird 
dann durch Auszüge aus der Analyse eines solchen Falles erklärt und beleuchtet. — 
Für Psychoanalytiker bringt die Schrift nichts Neues. Die beigefügte Bibliographie 
ist von einer so erbärmlichen Dürftigkeit und offenbar so zwecklos, dass sie besser 
weggelassen worden wäre. Warum pflegen die Psychoanalytiker sich nicht selbst 


Referate und Kritiken. 


409 


zu analysieren, um den Grund zu finden, aus dem sie eine so lächerliche Bibliographie 
beigeben, in der sie sich selbst, aber keinen ihrer unmittelbaren Kollegen erwähnen? 

Dr. S. A. Tannenbaum, 

Dr. C. P. Oberndorf, The Scope and Technique ofPsychoanalysis, medical 
Record (U. Y.) id. 

Es handelt sich hier um einen sehr ehrgeizigen Versuch, die ganze psycho¬ 
analytische Theorie und ihren Zusammenhang mit allen Kundgebungen normaler und 
abnormaler Gedankenführung aufzurollen. Doch bei dem engen Raume, in dem der 
Autor diese Riesenaufgabe durchzuführen sucht, ist er nicht imstande, sich ganz klar 
auszudrücken. In der Unterabteilung seiner Schrift, die sich auf das Unbewusste 
bezieht, stellt er zwei Behauptungen auf, die nicht auf allgemeinen Beifall stossen 
werden, nämlich 1. „Die meisten der unbewussten Gedanken, die pathologischen 
Charakters sind, werden in der Kindheit aufgenommen.“ 2. „Dass die psychischen 
und physischen Traumata im Leben der Erwachsenen, innerlich mit unbewussten 
pathologischen Prozessen oder psychischen Insulten sexueller Natur, die in der Kind¬ 
heit vorgefallen sind, verknüpft sind.“ Auch kann ich mich nicht mit der Behaup¬ 
tung einverstanden erklären (Seite 974), dass während der frei vor sich gehenden 
Assoziationen des Patienten der Arzt „seine Aufmerksamkeit .... auf anscheinend 
belanglose Details lenkt, als Mittel, um die Determination seines sexuellen infantilen 
Lebens zu entdecken“; ferner finde ich es nicht richtig, dass „die Widerstände im 
Geiste des Patienten durch Unwissenheit zur Zeit der traumatischen Erlebnisse er¬ 
zeugt worden sind. Dr. Oberndorf behauptet fest, dass die Suggestion eine be¬ 
deutsame Rolle bei glücklichen Psychanalysen spielt und dass die blosse Erklärung, 
die Entdeckung der Komplexe eines Patienten müssen ein Verschwinden der Symptome 
herbei führen, an sich eine mächtige Suggestion sei. Dass dem nicht so ist, scheint 
mir aus dem Umstand klar hervorzugehen, dass die Symptome nicht verschwinden, 
wenn wir nicht die Ursache finden, und dass die Patienten nie eine andere Erklärung 
als die richtige akzeptieren wollen. Dr. Oberndorf geht in seinen Psychoanalysen 
immer noch auf die Assoziationstechnik zurück, obgleich die meisten Forscher heute 
diese Methode, die Komplexe des Patienten herauszulocken, als mühsam, unwissen¬ 
schaftlich, unverlässlich und trügerisch betrachten. Wie sie von Dr. Oberndorf 
praktiziert wird, muss aufs Strengste verurteilt werden. Er benützt für seine Zwecke 
Worte, die eine doppelte Bedeutung haben, er gebraucht den charakteristischen 
Ausdruck „double — barrehed words“; z. B.: prick (= phallus oder stechen), ball 
(testikel oder Kugel) etc. 

Solche Worte müssen zu viele Widerstände wachrufen und den Patienten ver¬ 
scheuchen.— Dann folgt eine kurze Darlegung der Traumtheorie und der Funktionen 
der Träume. Die Abschnitte, die sich auf den Symbolismus und auf die Erklärung 
der Widerstände beziehen, sind wohl die besten Teile des Buches. Dass der Autor 
in psychoanalytischer Hinsicht noch viel zu lernen hat, geht klar hervor aus seinen 
Einwendungen gegen die Analyse „der alten und der modernen Literatur“. Das Buch 
schliesst mit einer kurzen und im ganzen korrekten Darlegung der Prinzipien, die 
uns in der Auslese der Fälle leiten sollten und legt dar, welche berechtigten Ver¬ 
sprechungen wir unseren Patienten machen können. Die bibliographischen Hinweise 
bestehen aus drei (!) Punkten. Dr. S. A. Tannenbaum. 

Dr. A. B. Habermann, The Psychoanalytic Delusion. A criticism and a 
Review. — The Medical Record. 6. Sept. 1913. 

Es handelt sich um einen höchst typischen — nämlich für den Autor typischen — 
Angriff auf die Psychoanalyse und die Psychoanalytiker. Das Essay ist in einem 

27* 


410 


Referate und Kritiken. 


so bombastischen, kindischen und offenbar rachsüchtigem Geiste geschrieben, dass 
es der Beachtung kaum wert ist. Der Autor beschränkt sich darauf, aufgelesene 
Brocken von Kritiken aus der Anti-Freud literatur aufzufischen. Eine so wertlose 
und neurotische Darstellung ist uns noch nicht zu Augen gekommen. Der Autor 
würde und sollte ein ausgezeichnetes Subjekt für eine Psychoanalyse sein. 

Dr. S. A. T. 

Oberarzt Dr. Wern, H. Becker: Die sozial-ärztlichen Aufgaben in der 
Irrentherapie. (Beiträge zur forensischen Medizin, Bd. I, Heft 4, 1912, Adler- 
Verlag, Berlin). 

Da viele Irre vom sozialen und forensischen Standpunkt aus trotz der Ver¬ 
schiedenheit ihrer Erkrankung gleich zu werten sind, teilt Verf. sie in vier Klassen. 
Im Anschluss an die Psychosen des reiferen Alters weist er auf die Bedeutung des 
Trauma hin und sagt: „Psychosen können durch Trauma hervorgerufen werden 
(nach Mendel): 1. indem sie das Gehirn in der Entwicklung beeinträchtigen, 2. dadurch, 
dass sie in dem entwickelten Gehirn einen krankhaften Zustand herbeiführen, 
3. durch die schreckauslösenden Begleitumstände (Schieckpsychosen, Railwaybrain). 
Häufig ist der Traum nicht allein schuld, sondern es fungiert mehr als auslösendes 
Moment —“. Die Arbeit verdient es, gelesen zu werden, denn sie bringt in ge¬ 
drängter Form das, was jeder Hausarzt wissen und erstreben muss; zudem ermög¬ 
lichen zahlreiche Literaturnachweise eine genaue Information. Hans Schnorr. 

Dr. med. Ernst Burcliard: Zur Psychologie der Seibstbezichtigung. 
(ibidem, 1913, Heft 5.) 

Die physiologischen Formen der Selbstbezichtigung entspringen dem Selbster¬ 
haltungstriebe und „können sowohl ethischen wie intellektuellen Motiven entspringen“, 
während bei den pathologischen Formen „der Selbstvernichtungstrieb bald mehr, bald 
weniger ausgesprochen das Leitmotiv darstellt.“ Zwischen diesen beiden Formen 
liegen zahlreiche, oft dunkle Übergänge. Bei jedem Fall von Selbstbezichtigung 
müssen zwei Momente sehr sorgfältig berücksichtigt werden: der Tatbestand und 
die Persönlichkeit des Täters. Es wird eine Reihe „berühmter Verbrechen“ geschildert 
und an Hand dieser auf die Wichtigkeit der degenerativ-hysterischen Konstitution, 
Versündigungsideen, den Wunsch, Strafe zu erleiden etc. hingewiesen. Auffallend 
häufig bezichtigten sich selbst Individuen, die sich bereits des Betrugs und der 
Urkundenfälschung schuldig gemacht hatten. Hans Schnorr. 

Alfred Hegar: Zur chinesischen, deutschen, amerikanischen Krimi¬ 
nalistik. Der Kampf gegen Minderwertigkeit und Verbrecher. 
Verlag von J. F. Bergmann in Wiesbaden, 1914. 

Eine sehr interessante Arbeit, welche die chinesischen, amerikanischen Rechts¬ 
anschauungen mit den deutschen vergleicht. Der Frage der Kastration der Verbrecher 
wird eine eingehende Besprechung gewidmet. Ich kann mich der Anschauung des 
Verfassers nur anschliessen, wenn er meint, der einzig richtige Grundsatz wäre es, 
die Entstehung der Verbrecher zu verhüten. Aber das kann nie durch die Kastra¬ 
tion zu stände kommen. Nur die entsprechende soziale Fürsorge, die allgemeine 
Aufklärung und eine Reform der Erziehung können einen wirklichen Erfolg erzielen. 
Die Verbrecher sind das Produkt einer kranken Gesellschaft. Mit der Kastration 
wird nur ein geringer Prozentsatz der künftigen Verbrecher ausgerottet. Die grosse 
Mehrzahl wird von den Übelständen des Milieus gezüchtet_ Stekel. 



Varia. 


411 


Varia. 

Die Kastrationsdrokung und ihr Gegenstück. 

Der vielgereiste, welterfahrene Johann Fischart berichtet in seiner „Geschichts¬ 
klitterung“ (1575) im 14. Kapitel, Yon des Gargantua Adelicher Jugend vnd Jugend- 
gemäser Thugend, über das Ver ältnis des 3- bis 5 jährigen Gargantua zu seinen 
Ammen und Wärterinnen Folgendes: 

. . . dass klein Hurenjägerlin griff allzeit seinen Seugammen zum Aug, weiss 
nicht wie hoch, binden und fornen. Harri hotta Schelme: vnd fieng schon an sein 
gelätz zuexerciren, darumb schmückten jn alle Tag seine Priapische abgebrüete 
Ammen vnnd Wärterin mit Blumen, zierten jhn mit Krentzlin, vnd hatten jre lust 
vnnd freud damit, nur dass er jhnen vnter die Hend wie ein Magdalonisch Zepfflin 
gerhiet: alsdann lachten sie, kütterten und schnatterten wie die Storcken auff dem 
Schornstein zusammen, wann er die Oren auffrichtet, als ob jhm das Spiel gefallen 
bette: eine nannt jhn mein kleiner Dille, mein Deitelkölblin, die ander mein Gulden- 
glüflin, mein Guffenspitzlin, die dritt mein Guldenästlin von Cural, mein Korallen- 
zincklin, mein Wolffszänlin, mein Billersteifferlin, mein Zuckerdeichelin, mein Vibre- 
win, mein Wurstzipflin, mein Mörsel-Stöszlin, mein Capellenglöcklim, Glocken¬ 
schwengelin, Ofenstenglin, Kochbenglein, Ziechzipflin, Ei mein Henckelosche, mein 
Thorschellelein, mein Beutelstecklein, mein lebendiges Weckerlein, mein rohe 
freud, ach rauch vnd breit, mein klein frisch Andowillewürstlin, mein lispelend 
Klappersecklin, mein Kitzeltrutlin, es ist mein, sagt die ein, ist mein eygen, sagt 
die ander, vnd was soll ich haben, sagt die dritt, solt ich lehr ausgehn? Hey bei 
meiner trew, so will ichs jhm abschneiden: was schneiden? sagt die ander, jhr 
würden jhm weh thun, liebe Fraw, hawet jhr den Kindern also die dinglin ab, so 
wird er Junckher von Degenbloss vnnd Wadellosz werden, der Monsier sans queue. 
Herr Batt mit dem glatten Schaden, der die Zwillingbrüderlein im Bauch verbirgt, 
vnnd seycht hinden ausz wie des Meyers Stut .... H. P. 

Napoleon als — Psychoanalytiker. 

Napoleon glaubte bekanntlich felsenfest an „seinen Stern“, und hieraus er¬ 
klärt sich die folgende Symboldeutung, die Saphir als Anekdote erzählt: 

Es war den 9. Februar 1807, als am französischen Hofe grosses Konzert mit 
Ballett am Schlüsse eines Festes stattfinden sollte. Eine glänzende Gesellschaft 
hatte sich versammelt, denn man erwartete den Kaiser und Crescentini sollte diesen 
Abend singen. Zur bestimmten Stunde wird in der Tat der Kaiser gemeldet; er 
tritt ein und begibt sich auf seinen Platz; das Programm liegt vor ihm. Das Konzert 
beginnt: nachdem die Ouvertüre geendet hat, nimmt der Kaiser das Programm zur 
Hand, liest es, und während das Gesangstück vorgetragen wird, ruft er mit lauter 
Stimme den Marschall Duroc und sagt ihm einige Worte ins Ohr; dieser geht 
hierauf quer durch den Saal zu Herrn Gregor, dessen Amt als Sekretär der Musik 
des Kaisers es war, die Programme zu machen, und sagte in strengem Tone zu ihm: 
„Herr Gregor, der Kaiser hat mich beauftragt, Ihnen zu sagen, künftig keinen Witz 
in die Programme zu bringen.“ Der arme Sekretär bleibt bestürzt sitzen und wagt 
kein Auge aufzuschlagen, indem er nicht begreifen kann, was der Marschall damit 
sagen will. In den Pausen zwischen den Musikstücken wird er von jedem mit leiser 
Stimme nach dem Grunde dieser groben Beleidigung gefragt, und der unglückliche 
Gregor, hierdurch nur noch betrübter gemacht, erwidert stets: „Ich weiss ebenso 
wenig als Sie einen Grund; ich begreife es nicht.“ Er erwartet, am nächsten 


412 


Varia. 


Morgen seines Amtes entsetzt zu sein, und waffnefc sich schon mit Mut, eine Ungnade 
zu ertragen, welche ihm unvermeidlich scheint, zufrieden, dass er sich keiner 
Schuld bewusst ist. Das Konzert ist zu Ende, ebenso das Ballet. Der Kaiser ver¬ 
lässt den Saal, und das Programm bleibt auf seinem Lehnstuhle liegen; Gregor, der 
es bemerkt, läuft hinzu, ergreift es und liest es, liest fünf bis sechs Male, ohne 
darin etwas Tadelhaftes zu entdecken; er zeigt es den Herren Lesueur, Rigel, 
Kreutzer, Baillot, welche alle ebenfalls nichts weiter darin linden können, als was 
vollkommen schicklich ist. Schon fangen die abgeschmackten Scherze der Musiker 
an, auf den unglücklichen Sekretär zu regnen, als ein plötzlicher Einfall ihm den 
Schlüssel zu diesem Rätsel gibt und seinen Schrecken verdoppelt. Das Progamm 
fing nämlich mit den Worten an: „Musique de l’Empereur“, und statt darunter 
wie gewöhnlich eine einfache Linie zu ziehen, hatte Gott weiss welcher Einfall den 
unglückseligen Gregor verleitet, eine Menge Sterne in Form eines Halbkreises dar¬ 
unter zu zeichnen, welche von der einen Seite aufsteigend bis zur Mitte immer 
grösser wurden und von da an bis zur anderen Seite ebenso wieder abnahmen. 
Sollte man glauben, dass Napoleon, damals auf dem höchsten Gipfel seines Ruhmes, 
in dieser unschuldigen Verzierung eine Anspielung auf sein vergangenes, gegen¬ 
wärtiges und zukünftiges Glück sah. Eine Anspielung ebenso unangenehm für ihn, 
als unverschämt von seiten des Unglückspropheten, von dem er sie planmässig ge¬ 
macht glaubte, denn sie gab ihm zu verstehen durch die beiden ganz unmerklichen 
sich gegenüber stehenden Endsterne sowohl, als durch die übermässige Grösse der Mittel¬ 
sterne, dass das kaiserliche Gestirn, damals so glänzend, nach und nach abnehmen, sich 
verringern und in umgekehrtem Verhältnis verlöschen würde, als es ihm gefolgt war 
bis auf diesen Tag. Die Zeit hat bewiesen, dass es also sein sollte; aber der Geist 
des grossen Namens hatte es ihm schon damals entschleiert, was das Schicksal ihm 
aufbewahre. Diese seltsame Empfindlichkeit dürfte es glauben machen. H. P. 

Die Philanthropie als sexual-neurotisches Ritual. 

Folgender Traum wurde von einem Mädchen von 12 Jahren geträumt: 

„Ich war in einem grossen Hause mit vielen Treppen und Zim¬ 
mern. Als ich auf die Strasse kam, sah ich viele kleine Kinder spielen. 
Wir bekamen herrliche längliche Kuchen auf silbernen Schüsseln und 
tranken eine Tasse Tee. Diese wurden uns gebracht aus einem grossen Re¬ 
staurant, der das Liebes-Restaurant hiess, deren Bewohner alles umsonst 
haben und sich noch reich dabei fühlten.“ 

Der Schluss des Traumes ist eine Reminiszenz aus dem Tagleben. Das Kind 
singt mit Vorliebe ein Lied, das übersetzt so lautet: „Selig, selig, selig — ist der¬ 
jenige, der gibt, was er hat, und sich reich fühlt dabei.“ 

Das Uubewusste deutete die gut gemeinte moralische Le$on ins Erotische um. 
Der hohe Lustwert dieser Umdeutung offenbart sich in die fortwährende Wieder¬ 
holung des „Gesanges“. 

Eine erwachsene Frau (20 Jahre) erzählte mir als eine wunderliche Jugend¬ 
erfahrung, (durch sie religiös gedeutet!), dass Sie einmal als Kind von 10—12 Jahren 
beim Spiel durch eine so grosse Seligkeit „übermannt“ wurde, dass sie alles 
fortgeben wollte. 

Vielleicht ist auch bei älteren Personen das Geben ein sexual-neurotisches 
Ritual? A. J. Re sink. 


Aus der kindlichen Seele. 

Ein Herr Dr. L. W. erzählt in der Frankfurter Zeitung, 31. Aug. 1913 2. Morgenbl. 
folgende kleine Geschichtchen : 


Varia. 


413 


Als ich meiner Familie, die vor mir in Ferien gegangen, in die Sommerfrische 
nachgereist war, da zeigte mir Klein-Lotte sofort nach meiner Ankunft mit grossem 
Eifer alle die grossen und kleinen Schönheiten unseres Aufenthaltsortes. Ich be¬ 
wunderte natürlich alles gebührend. „Ja,“ sagte dann Lotte, die in Religion ihre 
beste Note hat und auf die seinerzeit die Schilderung des Lebens von Adam und 
Eva im Paradiese einen grossen Eindruck gemacht hatte, „ja, Papa, Du brauchst 
Deinen Koffer gar nicht auszupacken, Frau N. sagte, hier sei es wie im Paradiese, 
und da brauchst Du, wie Adam, auch nur ein Feigenblatt za tragen!“ 

Einige Tage später lag ich mit Lotte im Grase; wir sahen einem Grashüpfer 
zu. Dann schauten wir in den Himmel. Da frug mich die Vierjährige: 

,,Papi, wie ist denn die Telephon-Nummer vom lieben Gotte?“ 

„Ja, Kind, warum willst Du denn das wissen?“ 

„Ich möchte den lieben Gott gerne was fragen.“ 

„Was denn Lotte? Vielleicht kann ich Dir es auch sagen.“ 

„Nein, ich möchte den lieben Gott selbst sprechen.“ 

„Das geht nicht, Kind; der liebe Gott hat kein Telephon.“ 

Lotte sieht mich erstaunt an and lächelt etwas spöttischüberlegen, gerade als 
wollte sie sagen: „Na, Leute, die wir kennen, haben doch Telephon.“ Sie begriisst 
nämlich zu Hause jeden Tag schon am Morgen ihren Grossvater telephonisch. Ich 
fühle mich deshalb verpflichtet, zu erklären, warum der liebe Gott kein Telephon 
habe. Sie scheint aber von der Richtigkeit meiner Ausführungen überzeugt zu sein, 
denn sie sagt: „Wenn der liebe Gott wirklich kein Telephon hat, dann will ich Dich 
fragen; vielleicht weisst Du es auch. Ich möchte gerne wissen, was ich gewesen 
bin, ehe ich bei Euch Kind geworden bin.“ 

Wir sehen hier, wie stark sich die Kleine für die Frage von der Herkunft 
der Kinder interessiert und wie wenig sie der Auskunft der Erwachsenen in diesem 
Punkte Glauben schenkt, denn sie möchte darüber direkt „den lieben Gott selbst 
sprechen“. Leo Kaplan. 


Ein Wahrt raum. 

Eine bei mir wohnende Dame, die die Kur gebrauchte, vermisst eines Tages 
ihren Schirm. Das Haus wird danach abgesucht, im Badehause, in jedem Geschäfte, 
wo sie die letzten Tage verkehrte, wird nachgefragt, doch ohne Erfolg. Und sie 
findet sich nach mehreren Tagen schon darein, den wertvollen Schirm verloren zu 
haben, als sie am nächsten Morgen früh eilig aus ihrem Zimmer kommt, und mir 
erzählt, sie habe geträumt und ihren Schirm am Hauptbrunnen stehen sehen. 
Sie wolle nun sofort hin, ihn holen. Und richtig bat sie den Schirm dort durch das 
Brunnenmädchen wieder erhalten, das ihn eines Abends dorten stehen fand. 

Der Gedanke, den Schirm auch dorten zu suchen, wo sie täglich 3 mal hinging, 
ist der Dame im Wachen nicht gekommen, trotzdem es das Nächstliegende gewesen 
wäre. J. Pag e. 

Zur Psychologie der Narkose. 

In der „Münch. Medizin. Wochenschr.“ gibt Dr. LudwigFinckh seine Gefühle 
wieder, die er bei einer Narkose wegen einer Kniescheibenoperation hatte. „Als sich 
die Maske über mich senkte, dachte ich: ich will es ihnen erleichtern; ich will 
sofort einschlafen. Atmete dreimal tief mit offenem Munde, trank in richtigen 
Zügen den Ätherdunst und versank leise in einen Abgrund. Es ist ein seliges 
Wonnegefühl, so wie ich mir den Opiumrausch denke, ein Bodenverlieren, ein 
Hinunterschweben auf sanften Flügeln. Plötzlich hebt ein Klopfen in den Ohren an, 


414 


Varia. 


als ob mit zehntausend Dampfhämmern drauf losgeschlagen würde, und dann: der 
Gaul geht durch, rasend, der ganze Organismus saust dahin, die Seele fährt aus 
dem Leib. Schlaf. Das ist der Tod. Man existiert nicht mehr. Anders kann der 
Tod nicht sein. Ich erwachte in einem Krankenbett. Zwei Stunden waren ver¬ 
gangen. Der erste Gedanke: So, jetzt weiss ich’s: euch bin ich hinter eure Schliche 
gekommen; jetzt weiss ich, wie der Tod ist. Ein läppisches Frohlocken erfüllte 
mich, und es fiel mir sofort ein, dass ich mit dem Gedanken an einen Freund ein¬ 
geschlafen war; hat er es nicht kürzlich genau so erzählt, diesen Punkt, von dem 
ab man geliefert ist, wehrlos, ohne Hilfe? Ein paar Tropfen mehr, und man wacht 
nicht mehr auf. Vom Vorhofe des Todes in den Tod — ohne Unterschied, ohne es 
zu merken. Ein Zorn erfasste mich über diese Machtlosigkeit. Übrigens stellte sich 
heraus, dass dieses Gespräch mit dem Freunde nie stattgefunden hatte. — Mühsam 
holte ich nun ein paar Gedanken in meinem Hirn zusammen, ich spürte sie beinahe 
körperlich entstehen, sie lagen da herum, und ich musste sie fassen, eine gewisse 
närrische, tölpelhafte Heiterkeit versuchte einen halben Spass zu machen . . . 
Übrigens glaube ich, dass sich jede Narkose rasch und günstig vollzieht, wenn der 
Kranke vorher darüber aufgeklärt und bereit ist, dass er mit bestem Willen mit¬ 
helfen soll. Ich war in einer halben Minute friedlich eingeschlummert.“ 

Selbstbeobachtungen eines Stotterers. 

Welch wertvolles Heilmittel die Psychoanalyse für den Neurotiker bildet, 
lässt sich erst ermessen, wenn aus allen Vorfällen seines täglichen Lebens und 
seien es die harmlosesten — die verschwiegenen Gründe des Leidens ans Tageslicht 
gehoben werden. 

Als Beispiel mögen meine eigenen Selbstgespräche dienen, die an sich nichts 
Absonderliches — doch deutlich auf die Existenz gewissermassen eines zweiten Ichs 
verweisen. Ich gebe sie in folgender Form wieder. 

|: Ich zeige auf der Strasse spazierengehend meinem zweiten Ich einige 
architektonisch hervorragende Gebäude. Ich spreche dabei manchmal nur in Ge¬ 
danken, dann wieder halblaut vor mich hin :|: ,.Siehst du, ein hübsches Haus! Das 
habt ihr nicht, ihr armen Schlucker. Dergleichen gibts nur da, in der Provinz |: ich 
bin in der Provinz geboren und verlebte dort 16 Jahre :| würde z. B. dieses hier 
Aufsehen erregen. Ja, ja, bewundere nur, mir ists recht.“ 

„Der Mann da, nicht wahr, sehr elegant. Ich möchte ihn doch einmal in 
X sehen, wie die Leute gaffen und ihn einen Gecken nennen würden! Armer 
Teufel, an dem Anblick musst du dich gewöhnen. Das ist in unserem Wien etwas 
ganz Gewöhnliches.“ 

„Hier Pathefon! Lies: Pathefon-Konzertsalon. Sehr hübsch und Parfümgeruch. 
Da kannst du närrisch werden, wenn du willst.“ 

|: Ich empfinde eine lebhafte Freude, wenn ich meinem zweiten Ich dergestalt 
dozierend vorangehen kann. Daher wohl auch mein Hang, allein auch durch die 
schmutzigsten Gassen zu gehen; ihm die halbverfallenen Häuser neben den Palästen 
zu zeigen und zu sagen: 

„Du, möchtest du hier wohnen. Ich verstehe nicht, wie die Leute in diesen 
Löchern alt werden können. Hm, schau, wie merkwürdig! Gehen wir!“ 

Und einträchtig spazieren wir weiter, bis es bei der Begrüssung mit einem 
Freunde meines Vaters' oder einem älteren Herrn als ich plötzlich widerspenstig 
wird. Es sagt: 

„Du wirst doch nicht mit ihm sprechen! Und zerrt mich und presst mir die 
Kehle zu, ich erschrecke und meine Antwort auf einen freundlichen Gruss wird ein 
verlegenes Stammeln. 


Varia. 


415 


Meine beiden Ichs beobachten sich gegenseitig: 

„Du schwimmst tadellos, obschon du dich Jahre nicht mehr geübt hast.“ So 
spricht es. Das glaube ich. Und weit ausgreifend und im Vollgefühl meiner Kraft 
schwimme ich weiter. 

Besonders abends nehme ich einen Stuhl und Spiegel her und betrachte nahezu 
eine Stunde lang mein Gesicht, wende es nach allen Seiten, lächle mir zu, freue 
mich darüber, dass mein Profil gut geraten ist und möchte wohl wünschen, dass 
diese und jene Dame mich bzw. mein Profil einmal würdigen und einer näheren Be¬ 
trachtung unterziehen würde. 

Dann lege ich mich ins Bett, nehme den Spiegel vor und lächle mich an 
und denke mir: „Es ist jammerschade, dass dich jetzt niemand sieht. Das weisse 
Hemd, der rosige Teint, ein ganzes Mädchen.“ Dann küsse ich mich im Spiegel, 
d. h. ich ziehe den Spiegel mich darin besehend langsam an meine Lippen. Ich küsse 
also derart mein zweites Ich und bewundere sein gutes Aussehen. Wissen möchte 
ich, ob es ein weibliches oder männliches Wesen darstellt. 

Es fühlt sich nur in Damengesellschaft wohl und ist ganz dabei, wo es gilt, 
zu glänzen. Es ist ein schlechter Kerl, denn nur wenn wir übereinstimmend handeln, 
habe ich Erfolge aufzuweisen. Loquens. 


Die „Philosophie“ der Verdrängung 1 ) und der Aufhebung der Verdrängung. 

I. Die archaische Psychologie sieht im postmortalen Leben der Psyche ein 
autopsychoanalytisches Problem (Fegefeuer, Kamaloka), in welchem die 
Seele von den libidinöstriebmässigen Komplexen gereinigt wird und so sich ver¬ 
allgemeinert 2 ), was auch der Zweck der Wissenschaft ist! Darum ist 
Yama, die Personifikation dieser postmortalen Autopsychoanalyse auch der Gründer 
und Leiter der Mysterienkulte. Die „moderne“ Wissenschaft hat das Problem im 
„Zweck der Wissenschaft überhaupt“ noch nicht ernsthaft gestellt, wie Kant die 
„transzendentalen Bedingungen der Wissenschaft überhaupt“ untersuchte. 
(Hier liegt der Angelpunkt der Thosophie.) 

II. Diese reinigende (sublimierende) Kraft des transzendentalen 
„Ich bin“ (vgl. JamMauvs in Secret Doctrine. Index = Ichkomplex Ju ngs? = Ich- 
trieb der Psychoanalyse?) ist in verschiedenen Mythen symbolisiert 
(S. Michael, der Heros Invincibilis der Kath. Hymne, Mithras, der unüberwindliche 
Kämpfer — das ganze Buch der Toten in den ägyptischen Mysterien — der Mythen 
von Narada im Orient, der „Spion“, das „Affengesicht“ 3 ), der „Zwistsucher“ usw., 
vergl. Secr. Doctr. II. 52.) 

III. Der autopsychoanalytische Prozess ist inden verschiedenen 
Mythen und so we it er vom,»letzten Gericht“ symbolisiert. Diese werden 
metapsychologisch erweitert zu der Theorie vom Weltuntergang (denn Seele und 
Welt sind analog gebildet, das transzendentale quid juris der metapsychologischen 
Methode). Vergleiche z. B. folgendes Zitat aus Comtesse Agenor de Gasparin, 
Horizons celestes, 250. „Die Vergangenheit lebt und spricht, die entrückten Hori¬ 
zonte reihen sich im Vordergründe auf. Das Vergessen, dieses Gebrechen 
unserer Natur ist vernichtet. Was der Mensch empfunden hat, was er ge- 

1 ) Ist nicht publikationsreif. Das Sammeln des erhärtenden Beweismaterials 
ist für diese psychischen Probleme äusserst schwierig, wenigstens in meiner Lage. 

2 ) „Osirified“ im „Book of the head“ Der Ägypter etc. 

3 ) Ist „Affe“ im Traume und bei Dementia praecox ein Ich-Triebsymbol? Ich 
habe einige Fälle gesammelt. 



416 


Varia. 


tan hat, was die Jahrhunderte mit ihren Schleiern überdeckt hatten, alles tritt ins 
volle Licht.“ (Postmortale Psychoanalyse) 

IV. Diese „Aufhebung der Y erdrängung“, die hier als organisch 
(Gebrechen unserer Natur) gedacht wird, vollzieht sich auch bei der infantilen 
Regression und bei der Initiation 1 ). Es gilt, das Gemeinschaftliche aus 
diesen zwei Tatsachenkomplexen zu finden. Das Problem des relativen Wahrheits¬ 
gehaltes (wie im „gebrochenen Spiegel“) des Schirophrenen, die Mythenbildung und 
die Dementia praecox als „abortive Initiation“ sind nur so diskussionsfähig zu 
machen. 

V. Das Ich (die Monade, der Pilger in verschiedenen Mythen 2 ), die Ahnen¬ 
erinnerung, die Reinkarnation und so weiter) ist eine implicite Mannigfaltigkeit, die 
durch die postmortale Autopsychoanalyse die Erfahrungen des irdischen Lebens 
(Komplexe), es ist also Putnams sublimierender Grund des moralischen Impulses, 
zu Vermögen sublimiert. Ohne Theosophie ist keine wissenschaftliche 
Redukation möglich. Als Ende des „Sterbens“ und des Initiation ist hier auch der 
Anfang der „Geburt“ und der Wiedergeburt im Leben gegeben. Bei geheilten 
Fällen von Dementia praecox kann man bisweilen diese drei Phasen 
derlnitiation, Sterben, Devacha und Reakirnation wieder erkennen. 
Die alte Lehre von der „Prüfung zur Initiation“ ist der Jung’schen Theorie von der 
Dementia praecox nahe verwandt. 

Ich möchte folgenden für mich sehr instruktiven Fall berichten: Ein Kata- 
toniker, Patient des Professor G elgersma Leides (Endegeest), der seit Jahren nicht 
mehr gesprochen hat, wurde von einem mir befreundeten Maler (J. J. Doeser), einem 
Theosophen, dessen künstlerisches Sehnen nur die Wiedergeburt der Mysterien ist, 
gemalt. Nach stundenlanger Konzentration sagte der Kranke, der regungslos dage¬ 
standen war, plötzlich „ja“ (wie das deutsche Ja). 

Was der gelehrte Psychiater nicht vermocht hatte, konnte die künstlerische Ein¬ 
fühlung erreichen: Die „devachanische“ Stufe des von der Krankheit nicht berührten 
Ichkomplexes zur Mitteilung zu reizen. Von unserem theosophischen Gesichtspunkt 
glaubten wir in diesem Patienten, (es handelt sich in diesem um einen besonderen 
Fall und nicht um alle Kranken) eine „abortive Initiation“ (die nicht zur vollständigen 
Wiedergeburt führte) annebmen zu dürfen. Das Gemälde befindet sich im Be¬ 
sitze des Herrn H. P. van Tuyll van Terooskerkes, Amsterdam Koniginenweg 191. 

Durch Einfühlung in diese devachanische Stufe der Psyche kann man bei 
Künstlern experimentell 3 ) höchst interessante „autosymbolische Haluzinationen“ von 
wunderbarer Schönheit auslösen, deren Analyse jedoch nicht leicht ist. Einen Teil 
des diesbezüglichen Materiales habe ich Herrn Dr. B. van de Linde, Huites (Holland), 
Mitarbeiter der Zeitschrift für Psychoanalyse übergeben. Die diesbezüglichen Ex¬ 
perimente sind meines Erachtens nach der Schlüssel zu der Magie der Initiation. 
(Vergl. z. B. de Jong, Das ankike Mysterienwesen, 78 u. f.) Dr. Re sink. 

1) Vgl. Secr. Doctr. III 435: Sobald jemand ins Noviziat tritt, ergeben sich 
gewisse geheime Wirkungen. Die erste dieser Wirkungen ist, dass alle verborgenen 
Seiten der Menschennatur nach auswärts fliessen, seine Fehler, seine Gewohnheiten, 
seine guten Eigenschaften oder seine unterdrückten Wünsche, gleichgültig, ob sie 
gut, schlecht oder gleichgültig sind. 

2) Z. B. die gnostische Hymne „Robe of Glory“, übersetzt von G. R. S. Mead 
in „World Mystery“, soweit ich mich erinnere. 

3) Auch telepatisch und psychometrisch. 



Varia. 


417 


Über Echtheit und Unechtheit von Gefühlen. 

In dem Rahmen dieses Problemes behandelt Willi Haas in der „Zeitschrift 
für Pathopsychologie“ einige hochinteressante allgemeine Bestimmungen, die als philo¬ 
sophische Gesichtspunkte für die Psychoanalyse in Betracht kommen. Nicht Quali¬ 
täten, sondern allein die Struktur des Ich, meint der Autor, ist bestimmend für 
Echtheit und Unechtheit. Ist also das Ich einer gegebenen Zeit einheitlich, das 
heisst, folgt es nur der Grundrichtung, so resultiert die Echtheit des entsprechenden 
Gefühls. Dagegen ist, um ein Gefühl unecht sein zu lassen, notwendig, dass es 
Tendenzen repräsentiere, welche ausser der Grundrichtung vorhanden sind. Doch 
muss man bedenken, dass mit der formalen Einheitlichkeit der Grundrichtung sehr 
wohl eine Doppelheit von Gefühlen vereinbar ist. Das echte Gefühl ist das der 
tieferen Schichte im Gegensatz zu dem der oberflächlichen, und es ist ein Wider¬ 
stand aus tieferer Schichte, der ein Gefühl zum unechten macht. Es gibt in der 
Tat ein Erlebnis, in welchem das Spezifische der Type absolut eindeutig zum Be¬ 
wusstein kommt. Es ist in Sonderheit der Fall des aufsteigenden Gefühls: wie 
wenn etwa in einer Situation der Zorn oder die Trauer nicht plötzlich packt, sondern 
allmählich eindringt. Wir erleben da, wie das von den aufsteigenden Gefühlen noch 
gänzlich freie Ich in merkwürdiger Weise das Gefühl der Ruhe und Indifferenz seiner 
neuen Bestimmtheit opfern muss. Damit zugleich haben wir aber ein sicheres Ge¬ 
fühl, dass es unsere eigentliche Bestimmtheit ist, und wir fühlen uns in unserer 
Ruhe in eigentümlicher Weise bedroht und erschüttert. Sie erscheint als unecht. 
Das von dem herannahenden tieferen Gefühl noch freie Ich fühlt sich der neuen 
Bestimmung ausgeliefert. Selbst wenn nur ein Gefühl im Bewusstsein gegeben ist, 
wenn es also eo ipso echt ist, kann die Unwidersprochenheit noch ausdrücklich durch 
ein Gefühl von der Einstimmigkeit mit den inneren Tendenzen des Ich sich kund¬ 
geben in dem Erlebnis, das wir mit den Worten beschreiben: Ich bin wahrhaft 
glücklich. Ebenso kann die Unechtheit noch im besonderen Gefühl der Oberfläch¬ 
lichkeit betont sein, so namentlich wie wenn ein Gefühl absichtlich hervorgerufen 
ist, wie wenn ich für jemanden Sympathie heuchle und dieses Gefühl tatsächlich in 
irgend einem Grade entsteht; dann widerspricht ihm als unechten nicht nur das 
Gefühl innerer Indifferenz, sondern man hat noch ein besonderes Gefühl seiner 
Forciertheit. 

Es kann sich auch das Gefühl der Gültigkeit und Eigentlichkeit bisweilen an 
ein unechtes Gefühl heften. Diese fälschende Verschiebung erklärt sich daraus, 
dass oft für ein unechtes Gefühl gerade weil es der Grundrichtung widerspricht, be¬ 
sonders wirksame Motive bestehen, die sein Festhalten wünschenswert machen, um 
ihm so im Gefühl der Eigentlichkeit für’s Bewusstsein die Echtheit zu verleihen. In 
der Gesamtheit dieser Erlebnisse, des Gültigkeitsgefühles für das Echte, des Un¬ 
eigentlichkeitsgefühles für das Unechte, erschöpft sich das Echtheits- beziehungsweise 
Unechtsbewusstsein. Der eine Begriff der Tiefe hat mit dem für Echtheit nicht das 
geringste zu tun. So wird zum Beispiel eine tief erlebte Trauer unecht, wenn ihr 
in der tieferen Schicht ein leichtes Gefühl der Gleichgültigkeit widerspricht. Der 
zweite Begriff der Tiefe ist der, welcher diese an die Zugehörigkeit zum Ich als 
Charakter misst. Der Gesichtspunkt der Anordnung ist also die zum Teil fixierte 
zum Teil noch im Fluss befindliche Persönlichkeit und der Grad der Tiefe wird be¬ 
messen nach dem Grade, ia dem das Gefühl als für die Konstituierung des Charakters 
wesentlich betrachtet wird. Zwischen echtem und charakteristischem Gefühl besteht 
gar kein innerer Zusammenhang, so dass ein Gefühl, das dem Charakter widerspricht, 
sehr wohl echt sein kann. Es entspricht etwa meinem Wesen froh und lebendig zu 
sein, aber ich bin in einer gewissen Situation missgestimmt und gelähmt, habe 
aber ein deutliches Bewusstsein, dass ich meiner Natur nach froh sein sollte. An- 


418 


Varia. 


dererseits mag ein im übrigen für das Individuum charakteristisches Gefühl als un¬ 
echt auftreten und bleibt charakteristisch, wie in diesem Beispiel der Frohsinn. So 
pflegen unechte Gefühle überhaupt charakteristischer zu sein als echte und reichere 
Ausbeute für die Feststellung der Individualität zu liefern. Schon deshalb, weil 
die Zahl allgemein zirkulierender Gefühle, die widerspruchslos angenommen werden, 
sehr gross ist, und die für den einzelnen charakteristischen Gefühle erst neben diesen 
zu finden sind. Nur muss die Bedeutung der unechten Gefühle erst erschlossen 
werden durch Rückgang auf vielleicht unbewusste Motive, die das unechte Gefühl 
zur Folge hat. So wird man in die Individualität selbst geführt und entdeckt in 
ihr verborgene Regungen. 

Für cjie Psychoanalyter sind die Ausführungen über die Phänomenologie des 
Widerspruchs der Empfindungen interessant. Es muss immer ein echtes Gefühl da 
sein. Das unechte Gefühl kann isoliert nicht Vorkommen. Die beiden Gefühle 
mögen nebeneinander ruhig liegen. Es tritt eines der beiden zum anderen in die 
eigenartige Beziehung zur Tiefe — etwa der besonders dazu prädestinierte Eckel als 
das tiefere — meist aber nicht notwendig wird mit dieser grundsätzlichen Verän¬ 
derung der Dignität auch die Tendenz, zur Irradiation sich einstellen. Das will dann 
sagen, dass der Eckel eine solche Stelle im Ich hat, dass er, sich auf sein ursprüng¬ 
liches Objekt nicht mehr beschränkend, die innerliche Verfassung des Ich allein be¬ 
stimmt, und so ist damit, dass im Grunde alles eckelhaft erscheint, auch das noch 
vorhandene Gefühl der Sympathie für eine andere Person unecht. Gerade für die 
unechten Gefühle bestehen Motive, die sie wünschenswert sein lassen. Eine Person 
hatte etwa Gründe, eine andere ihren Zorn fühlen zu lassen oder ihr Mitleid, ob¬ 
gleich es echt ist, zu verbergen. Sie flieht also vor diesem, und verbohrt 
sich gleichsam in den Zorn, dessen Intensität dadurch unnatürlich steigernd. Und 
die Scheidung zwischen echtem und unechtem Gefühl kann phänomenal so weit 
aufgehoben sein, dass sie zu einem relativ einheitlichen Mischgefühl ver¬ 
schmelzen. 

Es gibt einen Punkt im Ich, der in jedem Moment die Erlebnisse fundamental 
sondert, in echte und unechte. Ihn müssen die Erlebnisse passieren, um in die 
Schichte der Echtheit einzurücken welche das neue Verhältnis zum Ich, das der 
Eigentlichkeit bezeichnet. Dieser kritische Punkt verschiebt sich beständig im Ab¬ 
lauf des Psychischen und ist einer fortwährend variierenden Reizschwelle vergleich¬ 
bar. Das echte Gefühl ist gleichsam der stumme Hüter der Schwelle. Es gibt für 
das Passieren des kritischen Punktes ein Erlebnis: das Spielen mit einem Gefühl, 
das unecht ist, wir haben auch das Bewusstsein, innerlich nicht berührt zu werden. 
Aber plötzlich erfolgt ein Umschlag und, was bisher unecht und äusserlich war, 
wird plötzlich unweigerliche Bestimmtheit des Ich. In dieser Umkehr passiert also 
das Unechte den kritischen Punkt und besetzt die Schichte der Echtheit. Indem 
das echte Gefühl für jeden Moment die Lage des kritischen Punktes augibt, ist es 
auch der einzige Massstab, an dem Echtheit und Unechtheit gemessen werden 
können. 

Man kann ein phänomenales Datum in immer tiefere Schichten zurückverfolgen, 
Bestimmtheit taucht hinter Bestimmtheit auf, ohne dass sie phänomenal gegeben 
wären. Und eine Psyche ist desto komplizierter, je weniger die Bedeutung eines 
phänomenalen Datums, sich in dem, was eben phänomenal ist, erschöpft, je reicher 
die möglichen Ersetzungen sind. Es entscheidet weder die Aufrichtigkeit noch Un¬ 
aufrichtigkeit der Überzeugung, noch die der Willensrichtung über Echtheit und Un¬ 
echtheit des Gefühles; die erste nicht, weil sie sich schon auf das schon Fixierte 
bezieht, die letztere nicht, weil sie nicht alle in der bestimmten Zeit gegebenen Ten¬ 
denzen übersehen kann. Interpretiert man den Tatbestand der Echtheit und Un- 


Varia. 


419 


echtheit mit Rücksicht auf die Gesamtheit des Ich, so kann man sagen: Die Vor- 
handenheit des unechten Gefühls als des aus der Tiefe widersprochenen weist hin auf 
den Mangel innerer Einstimmigkeit. Einen grundehrlichen Charakter nennt man 
den, bei dem durch Naturanlage oder Selbsterziehung die unechten Gefühle gänzlich 
ausgeschaltet sind. 


Die Verpflichtung des Namens. 

In seinen Memoiren berichtet ßenvenuto Cellini von einer Reise, die 
er mit zwei Männern nach Venedig machte. Der eine hiess Trebolo, der andere 
Lamentino. Also im Deutschen ausgedrückt Zitterer und Jammerer. Beide machten, 
wie der Übersetzer bemerkt, ihrem Namen grosse Ehre. Sie waren beide ausser¬ 
ordentlich furchtsam. Jammerer und Zitterer bewährten sich auf der ganzen Reise 
als das, was ihr Name von ihnen kündete. Stekel. 


Eine Verwahrung gegen irrtümliche Beurteilung der Jugend-Psyclianalyse. 

Die Unterzeichneten Pädagogen erklären gegenüber der auf irrtümlichen und 
einseitigen Annahmen beruhenden in Breslau beschlossenen „Warnung vor den Über¬ 
griffen der Jugend-Psychanalyse“: 

1. Mit den beiden Hauptsätzen der Erklärung sind wir einverstanden. Wir be¬ 
trachteten die psychanalytische Methode von jeher lediglich als eine Methode 
neben anderen und verwerfen ihre direkte Anwendung am normalen Kinde, so¬ 
fern sie zu einer „Entharmlosung“ (Stern) führen kann. 

2. Dagegen halten wir eine vorsichtig angewendete Psychanalyse gewisser kranker 
Kinder durch den taktvollen und kundigen Arzt oder unter seiner Leitung durch 
den besonders ausgebildeten Erzieher für ein höchst wertvolles Mittel zur Heilung 
und „Verharmlosung“, zumal wo ein Kind unter bewussten oder unbewussten 
hässlichen Vorstellungen bereits leidet; vor dilettantischer Kinderanalyse ist zu 
warnen. 

3. Die Pädagogik hat ein starkes Interesse an der Ausbildung der wissenschaft¬ 
lichen Pädanalyse, sofern die an kranken Kindern und Jugendlichen, sowie an 
Erwachsenen gewonnenen Analysen wichtige Rückschlüsse auf die psychologi¬ 
schen Vorgänge und die pädagogische Beeinflussung normaler Kinder zulassen. 

4. Die Unterzeichner der Breslauer Erklärung kennen nur die eine Seite der Psych¬ 
analyse: Die Untersuchung und Aufdeckung der Sexualität. Wir sehen jedoch 
in der Psycho-Analyse, der Bedeutung des Wortes entsprechend, nicht nur dies. 
Denn wir sind überzeugt, dass auch diejenigen Kräfte des unbewusten Seelen¬ 
lebens zu erkennen sind, die den Menschen seiner höchsten Bestimmung zu¬ 
führen. Somit wird die Psychanalyse ganz besonders auch bewusst zu machen 
haben, welche unbewussten Hemmungen zu beseitigen, und welche persönlichen 
Lebensaufgaben zu erfüllen sind. In wissenschaftlicher Hinsicht soll die Päd¬ 
analyse derjenigen Interpretationen den Vorzug geben, die den Normen der In¬ 
duktion entsprechen. 

H. Baur, Pfarrer in Basel; G. Blattmann, Lehrer in Luino (Italia); Uni¬ 
versitätsprofessor Dr. P. Bovet, Direktor der „Ecole des Sciences de l’Education 
(Institut J. J. Rousseau)“, Genf; Prof. Dr. med. E. Claparede, Redaktor der 
„Archives de psychologie“, Genf; E. Etter, Pfarrer in Rorschach (Kt. St. Gallen). 
Th. Flournoy, Prof, der Psychologie an der Universität Genf; U. Heller, Pfarrer 
a. D., Direktor des Knabeninstitutes Rorschach; R. Heusser, Lehrer in Zürich; 



420 


V aria. 


Adolf Keller, Pfarrer in Zürich; Prof. Dr. W. Klinke, Seminarlehrer für Päda- 
gogik, Zürich; Ernst Linde, Lehrer und Schriftleiter, Gotha; A. Lüthi, Seminar¬ 
lehrer für Pädagogik, Kiisnacht (Kt. Zürich); Dr. phil. 0. Mensendieck, Lehrer 
am Sanatorium Dr. Bircher, Zürich; Prof. Dr. 0. Messmer, Seminarlehrer für Päda¬ 
gogik, Rorschach (Kt. St. Gallen); J. Niedermann, pädagogischer Leiter des ärztl. 
Landerziehungsheims Breitenstein, Ermatingen (Kt. Thurgau); Ad. Pfister, Lehrer 
in Zürich; Dr. phil. 0. Pfister, Pfarrer und Seminarlehrer, Zürich; Dr. F. Pinkus, 
Schriftleiter der Zeitschrift für Jugenderziehung und Jugendfürsorge, Zürich; Dr. E. 
Schneider, Dir. des kant. Oberseminars, Bern; Dr. phil. Eugenia Sokolnicka, 
Zürich; J. Stelzer, Sekundarlehrer, Meilen (Kt. Zürich); H. Steiger, Sekundar- 
lehrer, Zürich; A. Waldburger, Irrenhausgeistlicher, Ragaz (Kt. St. Gallen). 


Redaktionelle Mitteilungen. 

Eine ,,Zeitschrift für Sexualwissenschaft“ (Internationales Zentralblatt für 
die Biologie, Psychologie, Pathologie und Soziologie des Sexuallebens) werden Pro¬ 
fessor A. Eulenburg und Dr. Iwan Bloch im Verlage von A. Marcus & Weber 
(Dr. jur. Albert Ahn) in Bonn herausgegeben. 


Dr. Max Hirsch (Berlin) gibt ein neues Archiv heraus: Das Archiv für 
Frauenkunde. Es soll das gesamte Frauenleben von biologischen und psycholo¬ 
gischen Gesichtspunkten erforschen. Eine Reihe bedeutender Mitarbeiter sichert 
dem Archiv ein allgemeines Interesse. 

Grenzfragen der Medizin und Pädagogik. Unter diesem Titel gibt Dr. 
Wilhelm Stekel eine längere Reihe kleiner Schriften heraus, die sich mit den 
Erziehungsfragen auf Grund ärztlicher Erfahrung befassen werden. Die ersten Hefte 
enthalten: Amtsgerichtsrat Dr. Erich Wulffen: Kriminalität und Erziehung; Dr. 
Magnus Hirschfeld und Dr. Ernst Burchardt: Homosexualität und Erziehung; 
Dr. Beni Buxbaum: Der Kopfschmerz ein Erziehungsproblem; Dr. Wilhelm 
Stekel: Die Prophylaxe des Stotterns. Mitarbeiter, welche einschlägige Themen 
behandeln wollen, werden ersucht, sich an Dr. Stekel zu wenden. Der Umfang 
jeder Arbeit darf drei Druckbogen nicht überschreiten. 


In der im Verlage von L. Staackmann in Leipzig erscheinenden neuen Revue 
„Der Turmhahn“ behandelt Dr. Wilhelm Stekel die Wandlungen der Psycho¬ 
analyse in einem Artikel „Probleme der modernen Seelenforschung“. 



Verlag von J. F. Bergmann in Wiesbaden. 


Sexualleben = 

und 

e== Nervenleiden. 

Nebst einem Anhang 

Über Prophylaxe und Behandlung 
der sexuellen Neurasthenie. 

Von 

Hofrat Dr. L. Löwenfeld, 

Spezialarzt für Nervenkrankheiten in München. 

Fünfte zum Teil umgearbeitete und sehr vermehrte Auflage, 


Preis Mk. 11—, gebd. Mk. 12.—. 


Aus Besprechungen. 

Der bekannte Münchener Nervenarzt hat sich auch in der vorliegenden 
neuen Auflage als ein trefflicher und kenntnisreicher Gelehrter erwiesen, der 
das schwierige Gebiet des Zusammenhanges zwischen Sexualleben und Nerven¬ 
leiden in hervorragender Weise beherrscht. Angesichts der wachsenden 
Literatur über das Thema und der neuen Erfahrungen und Kenntnisse darüber, 
die Verfasser in ausgiebiger Weise verwertet und erörtert, ist es natürlich, 
dass das neue Buch einen erheblich grösseren Inhalt aufweist als die früheren 
Auflagen. Neu eingefügt wurden auch die Kapitel über nervöse und psychische 
Störungen während der Schwangerschaft, des Wochenbettes und der Still¬ 
periode. Zu den Meinungsverschiedenheiten, die bezüglich des Sexuallebens 
in medizinischen Kreisen herrschen, hat der Autor in objektivster Weise, wenn 
auch mit selbstverständlicher und berechtigter Hervorkehrung seiner eigenen 
Anschauungen und Auffassungen, Stellung genommen. So bietet das Werk 
noch mehr als bisher in seiner neuesten Auflage eine wertvolle Bereicherung 
des medizinischen Bücherschatzes, zugleich aber auch eine bedeutsame Fund¬ 
grube für den Nervenarzt wie für den praktischen Arzt. Wir können das Buch 
aufs wärmste empfehlen. Medico. 













Verlag von J. F. Bergmann, Wiesbaden. 


Die 

Lokalisation im Grosshirn 

und der 

Abbau der Funktion durch kortikale Herde 

von 

Dr. med. C. v. Monakow, 

Professor der Neurologie und Direktor des hirnanatomischen Institutes 
sowie der Nerven-Poliklinik an der Universität in Zürich 


Mit 268 Abbildungen im Text und 2 Tafeln. 

Preis Mk. 48.—, gebunden Mk. 50.—. 


Aus dem Inhalt: 

I. Allgemeines über die kortikalen Ausfallserscheinungen. 

II. Allgemeine Bemerkungen über die Forschungsmethoden. 

III. Lokalisation der Bewegungen im Kortex. 

IV. Die Lokalisation der Sensibilität im Kortex. 

V. Lokalisation des Gesichtssinnes im Kortex. 

VI. Lokalisation der Agnosie. 

VII. Die Lokalisation der Apraxie. 

VIII. Lokalisation der Aphasie. 

IX. Die Frontalregion und das Problem der Lokalisation 
geistiger Vorgänge. 






Verlag von J. F. Bergmann in Wiesbaden. 

Die Sprache des Traumes. 

Eine Darstellung der Symbolik und Deutung des Traumes 
in ihren Beziehungen zur kranken und gesunden Seele 

für 

Ärzte und Psychologen 

von 

Dr. Wilhelm Stekel, 

Spezialarzt für Psychotherapie und Nervenleiden in Wien. 

Preis Mk. 12.00. geb. Mk. 14.-. 


Aus Besprechungen: 

In seinem Buche „Die Sprache des Traumes“ bringt Stekel ausführlich 
alles Bemerkenswerte über das Wesen und die Deutung des Traumes. Ihm 
kommt es im wesentlicher, darauf an, die Symbolik des Traumes zu ergründen 
und zu zeigen, dass das primitive Denken ursprünglich symbolisch gewesen sei. 
Im Traume spielen hauptsächlich zwei Faktoren eiue überwiegende Bolle: das 
Erotische und das Kriminelle, so dass man nahezu sagen kann: der geheime Ver¬ 
brecher in uns tobt sich im Traum aus, doch es stellt das Kriminelle fast stets im 
Dienste des Sexuellen. Die Analyse des Traumes muss von der Deutung der 
einzelnen Traumeleiucnte ausgehen, wobei es nach Freud zweifelhaft ist, ob das 
Traumelement: a) im positiven oder negativen Sinne gewonnen werden soll (Gegen¬ 
satzrelation); b) historisch zu deuten ist (als Reminiszenz); e) symbolisch oder ob 
d) seine Verwertung vom Wortlaut ausgehen soll. An der Hand von 594 Träumen, 
die eingehend analysiert und in ein bestimmtes System eingegliedert werden, führt 
uns Stekel in dies Gebiet ein. Er zeigt die Bedeutung der Traumeutslellung, 
der Reden im Traume, der Affekte im Traume, er erklärt besonders ausführlich die 
Bedeutung der Todessymbolik. Zum Schlüsse beschreibt er die Technik der Traum¬ 
deutung, indem er den Gang einer Psychoanalyse vorführt. 

Zcntralblatl für'Physiologie. 

Die Träume der Dichter. 

Eine vergleichende Untersuchung der unbewussten Triebkräfte 
bei Dichtern, Neurotikern und Verbrechern. 

Bausteine zur Psychologie des Künstlers und des Kunstwerkes 

von 

Dr. Wilhelm Stekel in Wien. 

Mk. 6.65, gebunden Mk. 7.85. 

Stekel geht nun der für den ersten Augenschein verblüff en¬ 
den Verbindung: Neurose — Verbrechen — Dichtung in oft un hei m- 
lichen Tiefen nach. Seine Methode ist dabei die eines mit durchdringendem 
Blick begabten Sehers, was natürlich seine Darstellung für den Leser desto an¬ 
ziehender macht. Er durfte, um die oben erwähnten Zusammenhänge zu ergründen, 
nicht an der Oberfläche der Erscheinungen bleiben, sondern musste in die 
Regionen der unbewusst treibenden Kräfte der Menschenseele 
hinabsteigen. Den Schlüssel zu diesen Regionen liefern aber die Träume. Durch 
eine Rundfrage verschaffte sich der Autor ein reiches Material von Träumen wohl¬ 
bekannter Dichter und Schriftsteller, welches allein schon hinreichen würde, um 
dem vorliegenden Buch im Publikum grosses Interesse zu gewinnen. 

Allgemeine Sportzeitung. 













Inhalts-Verzeichnis, des VII/VIII. Heftes. 


Seite 

Öriginalarbeiten: 

J. Die Fliess’sche Periodizitätslehre und ihre Bedeutung für die Sexual¬ 
biologie. Von Dr. BrunoSaaler .327 

11. Dementia praecox oder reaktive Depression? Psychoanalytische 

Studie von Dr. Egon Koeliler .347 

III. Individualpsychologische Darstellung eines nervösen Symptoms. Von 

Dr. J. Birstein .364 

IV. Über einen durch Psychoanalyse geheilten Fall von Dyspareunie. 

Von med. Dr. S. A. Tannen bäum .373 

V. Die Psychoanalyse der Lady Macbeth. Von Isidor H. Coriat . 384 

Referate und Kritiken: 

Dr. Otto Rank und Hanns Sachs: Die Bedeutung der Psychoanalyse 

für die Geisteswissenschaften.401 

Dr. Wilhelm Stekel: Die Träume der Dichter, eine vergleichende Unter¬ 
suchung der unbewussten Triebkräfte bei Dichtern, Neurotikern und 

Verbrechern.402 

The Journal of Nervous and Mental Disease.404 

William J. M. A. Moloney: Furcht und Ataxie.405 

Ch. L. Dana: Die Zukunft der Neurologie.405 

Dr. Heinrich Kaliane: Über psychische Depressionen.405 

Dr. H. W. Frink: The Freudian Conception of the Psychoneurosea . . 408 

Dr. C. P. Oberndorf: The Scope and Technique of Psychoanalysis . . 409 

Dr. A. B. Habei mann: The Psychoanalytic Delusion.410 

Oberarzt Dr. Wern, H. Becker: Die sozial-ärztlichen Aufgaben in der 

Irrentherapie. 410 

Dr. med. Ernst Burchard: Zur Psychologie der Selbstbezichtigung . . 410 

Alfred Hegar: Zur chinesischen, deutschen, amerikanischen Kriminalistik. 

Der Kampf gegen Minderwertigkeit und Verbrecher ..410 

Varia: 

Eine Kastrationsdrohung und ihr Gegenstück.411 

Napoleon als Psychoanalytiker.411 

Die Pkilantrophie als sexual-neurotisches Ritual.412 

Aus der kindlichen Seele.412 

Ein Wahrtraum.413 

Zur Psychologie der Narkose. 418 

Selbstbeobachtungen eines Stotterers.414 

Die Philosophie der Verdrängung und der Aufhebung der Verdrängung . 415 

Über Echtheit und Unechtheit von Gefühlen.417 

Die Verpflichtung des Namens. 419 

. Eine Verwahrung gegen die irrtümliche Beurteilung der Jugend-Psycho¬ 
analyse .419 

Redaktionelle Mitteilungen.. . 420 


Druck der KGnigL Universitätsdruckerei H. Stiirtz A. G„ Würzburg.